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ZGMTH Zeitschrift der

Gesellschaft für Musiktheorie

Ariane Jeßulat
»Richard Cohn, Audacious Euphony – Chromaticism and the
Triad’s Second Nature, New York: Oxford University Press 2012«
ZGMTH 11/2 (2014)
Hildesheim u. a.: Olms
S. 289–298

http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/755.aspx
Richard Cohn, Audacious Euphony – Chromaticism and the Triad’s
Second Nature, New York: Oxford University Press 2012

Neo-Riemannian-Theories – ein amerika- Im Vorwort des Oxford Handbook ist von


nischer Diskurs? der Erwartung die Rede, dass Neo-Riemanni-
an-Theories die Kategorien primär anglopho-
In den Jahren 2011 und 2012 erschienen mit ner Musiktheorie zu erneuern in der Lage sein
Edward Gollins und Alexander Rehdings Ox- werden, indem sie echte Alternativen zu den
ford Handbook of Neo-Riemannian Music etablierten, in Textbooks allerdings auch der
Theories1 und Richard Cohns Audacious Eu- Verfestigung ausgesetzten Theorien Heinrich
phony in enger zeitlicher Folge zwei Publika- Schenkers und Allen Fortes böten. Auch die
tionen bei Oxford University Press, in denen Traditionen, auf die Audacious Euphony er-
die seit der ersten Buffalo Conference von neuernd antwortet, sind, abgesehen von ganz
19932 erarbeiteten Ansätze zu einer neuen gelegentlichen Reflexen auf Lendvais Ach-
Theorie chromatischer Harmonik integrativ sentheorie4, genau dort zu vermuten. Die im
und ausdrücklich an eine größere Leserschaft Buch selbst ausgesprochen sorgfältig formu-
gerichtet dargestellt und dabei ebenso his- lierten Anknüpfungspunkte an ältere Theorien
torisch wie systematisch verankert wurden. und aktuelle Kritiken an Cohns Ansatz geben
Beiden grundverschiedenen Büchern ist das somit weniger die sensiblen Punkte wieder,
Bemühen um eine adäquate Auseinanderset- an denen Audacious Euphony auf eine primär
zung mit historischen Vorbildern, nämlich der deutschsprachige musiktheoretische Ausei-
entschieden modernen, vornehmlich deutsch- nandersetzung mit romantischer Harmonik
sprachigen Musiktheorie zwischen 1850 und träfe. Dies scheint zunächst absurd, da ja das
1920, gemein. Henry Klumpenhouwer hat in Prädikat ›neo-Riemannian‹ gerade nichts an-
seiner Rezension von 2012 mit einigem Recht deres bedeutet als eine Aktualisierung histori-
darauf hingewiesen, dass Cohns Monographie scher deutscher Musiktheorie. Es ist in der Tat
und das Oxford Handbook sich gewisserma- aber doch ganz so, wie Cohn im Vorwort zu
ßen gegenseitig kommentieren.3 Audacious Euphony formuliert: Nicht Hugo
Bei einem derart den aktuellen musikthe- Riemanns Texte selbst gaben den Anstoß für
oretischen Diskurs prägenden Autor wie Ri- seine Theorie und Methoden, sondern David
chard Cohn und bei einem Buch wie Auda- Lewins gruppentheoretische Aufbereitung
cious Euphony, das den Versuch unternimmt, einiger Riemannscher Dreiklangsverbindun-
als systematisch überhöhende Antwort nicht gen in der von ihm und Brian Hyer geprägten
nur einen Diskurs zusammenzufassen und Transformational Theory (XIII). Auf diese Wei-
fortzusetzen, sondern auch traditionelle Hör- se ist die Re-Lektüre Riemanns vor allem ein
und Denkmuster eines überwältigenden Re- amerikanischer Dialog, und die Abweichun-
pertoires romantischer Musik umzuwerten gen von deutscher Riemann-Rezeption be-
und neu zu überschreiben, ist die Zeitspanne schränken sich nicht auf verschiedene Werk-
von mehr als drei Jahren für eine erneute Re- zeuge und Terminologien, sondern arbeiten
zension sehr lang und wäre ohne einen aktua- mit kategoriell verschiedenen Begriffen und
lisierenden Fokus auch kaum zu rechtfertigen. Begriffsgeschichten, in einigen Fällen sogar
mit grundsätzlich verschiedenen Vorstellun-
gen davon, was musikalische Analyse leisten
1 Gollin / Rehding 2011. soll und kann. Dennoch – auch wenn diese
2 Vgl. die Dokumentation bei Cohn 2012, XI–XII.
3 Vgl. Klumpenhouwer 2011, 159. 4 Vgl. Cohn 2012, 125.

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in Audacious Euphony nicht benannt werden Topoi und kadenzieller, den Quintfall bevor-
und auch wenn diese mit Riemann-Rezeption zugender Hierarchien als nun emanzipierte
im engeren Sinne gar nichts zu tun haben Fortschreitungen auf die Struktur des Drei-
müssen – gibt es Anknüpfungspunkte und klangs selbst. Die in traditionell diatonischer
lose Enden sowohl in der Anwendbarkeit von Harmonielehre ausgehend von Rameau, spe-
Cohns Pan-Triadic Syntax als auch zu den in zieller allerdings noch von Georg Joseph Vog-
deutschsprachiger Musiktheorie bevorzugten ler und Gottfried Weber geprägte Bedeutung
historisch informierten Analysemethoden. Auf des Dreiklangs durch die konsonante Evidenz
der anderen Seite gehören klassische Werk- seiner akustischen Oberfläche erfährt eine zu-
zeuge der Pan-Triadic Syntax wie ›Tonnetz‹, sätzliche theoriefähige Dimension als mathe-
›Torus‹, ›Cube dance‹ und die verschiede- matisches Objekt, das im Raum der 12 ›pitch
nen graphischen Darstellungen der 12 ›pitch classes‹ durch seine Vernetzungsoptionen auf
classes‹ zum Instrumentarium der Ausein- der Basis halbtöniger Fortschreitungen (›mini-
andersetzung mit atonaler Musik, wie sie in mal voice leading‹, ›parsimonious voice lea-
der Tradition Fortes, aber ebenso am IRCAM ding‹) definiert ist. Diese bewusst konstruierte
(Institut de Recherche et Coordination Acous- Antithese zwischen einem skalar basierten
tique / Musique) in Paris genutzt werden. Ein und einem dreiklangsbasierten Paradigma
Bezug auf Hugo Riemann ist somit weniger harmonischen Denkens spielt in Audacious
in der Natur der Sache als in dem Willen be- Euphony die Rolle einer konstanten Ausgangs-
gründet, eine historische Analogie gerade zu frage, auf die Cohn vielfach wie auf einen
derjenigen musikalischen Epoche herzustel- Prüfstein seines Ansatzes zurückkommt.
len, in der ein auch heute noch relevantes Ausgehend von einer enharmonisch mehr-
Abstraktionsniveau im Nachdenken über har- deutigen Passage aus dem Kopfsatz von Franz
monische Zusammenhänge erreicht wurde: Schuberts Sonate in B-Dur D 960 (T. 217–256)
Mit Hauptmann und Riemann und letztlich spitzt Cohn ein Problem traditionell diatoni-
der idealistisch gespeisten Idee der harmo- scher Harmonielehren dahingehend zu, dass
nischen Funktion wurde ein Meta-Diskurs in Dreiklangsverbindungen wie B-Dur und
Gang gesetzt, der die Möglichkeit bot, über ges  / 
fis-Moll trotz ihrer zwingenden Nähe
die konkrete Satztechnik hinaus eine Theorie durch die Stimmführung und trotz der eviden-
von harmonischen Bewegungen zweiter Ord- ten ›Richtigkeit‹ ihrer Verbindung in romanti-
nung in ihren Strukturen zu präzisieren und scher Musik bzw. in der auf Quintprogressio-
systematisch auszubauen. nen und Tonartenverwandtschaft basierenden
Harmonielehre in der Rameau-Nachfolge
Pan Triadic Syntax – Der Ansatz von nicht erklärt werden können.
Audacious Euphony In der den Titel des Buches inspirierenden
Passage aus Riemanns Musik-Lexikon7 (IX)
Das Prädikat ›pan triadic‹, welches Cohn an- wird ebensolchen mediantischen Verbindun-
stelle des in seinem Tribut an Riemann etwas gen einerseits Richtigkeit und andererseits
irreführende ›neo-Riemannian‹ zur Charakte- Kühnheit attestiert, so als gäbe es einen vom
risierung des in Audacious Euphony präsen- Quintenturm traditioneller Kadenzharmonik
tierten Ansatzes vorschlägt, ist von Evan Co- weitestgehend unabhängigen Raum, dessen
pley übernommen5, der damit seinerseits auf Koordinaten durch Stimmführungsarbeit defi-
Nicolas Slonimskys6 ›pan-diatonic‹ antworte- niert sind. Gemessen in den Einheiten dieses
te. Gemeint ist mit ›pan-triadic‹ demnach eine sogenannten ›parsimonious voice leading‹ be-
Rückführung traditionell diatonischer, also auf trägt der Abstand zwischen B-Dur und ges-
der Verwandtschaft von Skalen beruhender bzw. fis-Moll lediglich drei Halbtonschritte
(= ›minimal voice leading units‹), allerdings
5 Vgl. Copley 1991.
6 Slonimsky 1937. 7 Riemann 1909.

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sieben Quinten in Abwärtsrichtung bzw. fünf cles‹ ­(17–33), deren sechs Dreiklangstrans-
Quinten in Aufwärtsrichtung der diatonischen formationen durch die Verschiebung um nur
Quintensäule. einen Halbton­schritt erreicht werden können
Unter dem bezeichnenden Titel »Mapping (P und L sowie das zusammengesetzte H als
the Triadic Universe« (1) unternimmt Cohn an- ›hexatonic pole‹), und den ›Weitzmann regi-
hand zahlreicher Analysen romantischen, aber ons‹ ­(59–81), innerhalb deren ebenfalls sechs
auch klassischen Repertoires den Versuch, die Stationen es jeweils zweier Halbtonschritte an
Vorstellung einer harmonischen Distanz oder ›voice leading work‹ bedarf. Beide Regionen
Orientierung von Dreiklängen und deren Kor- teilen die latente Struktur des übermäßigen
respondenz im musikalischen Raum durch Dreiklangs, da ein sogenannter ›hexatonic
Anreicherung mit Hörerlebnissen plastisch cycle‹ strukturell einen Großterzzirkel be-
erfahrbar zu machen. Wenn ›parsimonious schreibt (C-c-As-as-E-e) und die sechs Drei-
voice leading‹ im Unterschied zu konkreten klänge einer ›Weitzmann region‹ im kons-
kontrapunktischen Gerüstsätzen prinzipiell tanten Abstand von einem Halbton um einen
klar definierte Wege von Dreiklangstransfor- übermäßigen Dreiklang herum angeordnet
mationen mit ganz bestimmten Operationen, sind (sogenannte ›Weitzmann waterbugs‹,
und damit eine mehrdimensionale Maßeinheit d. h. um den übermäßigen Dreiklang auf c
beschreibt, und demzufolge nicht mit Formen herum C-E-As und f-a-des). ›Hexatonic cy-
­
der Reduktion verwechselt werden darf, die cles‹ überbrücken den Raum zwischen ›Weit-
ein Mindestmaß kreativer Entscheidung zulas- zmann regions‹ und umgekehrt.
sen, dann heißt das dennoch nicht, dass die Im Zusammenspiel von ›hexatonic cycles‹
damit verbundenen Vorstellungen nicht eben- und ›Weitzmann regions‹ kann nicht nur der
so als ›Tiefe‹ oder ›Entfernung‹ empfunden Raum der 12 ›pitch classes‹ als ›triadic uni-
und gehört werden können wie die traditio- verse‹ zyklisch gefiltert und auf bestimmten
nelle Vorstellung einer Modulation in entfernte Wegen navigiert werden, sondern es bilden
Tonarten. Entscheidend für die Metaphorizität sich auch bestimmte Topoi, z. T. in Form von
der Werkzeuge ist auch hier das musikalische Überwerfungen, wie z. B. der ›double agent
Repertoire, an das sie gebunden werden. complex‹ (72–81). Im einfachsten Falle wer-
Die strukturelle Idee einer durch ›maps‹ den damit Formen eines Halbschlusses in
anstatt wie vertraut durch rhetorische Inter- Moll beschrieben, wobei es zur enharmoni-
punktion vermittelten musikalischen Syntax schen Überlagerung von dominantischem
(13–15) steht ebenfalls im Dienste einer Er- Leitton und der Moll-Subdominant-Terz der
neuerung der inneren Vorstellungswelt: Die parallelen Durtonart kommt, ein Topos, der
in Audacious Euphony beschriebenen har- besonders in Robert Schumanns Dichterliebe
monischen Bewegungen sind mit der an die eine zentrale Rolle zu spielen scheint (so im
Weltbilder von Gravitation und Magnetis- ersten Lied des Zyklus [76] zu den Textworten
mus gebundenen gestisch-akzentuierenden »da ist in meinem Herzen die Liebe aufgegan-
Kadenz-Harmonik, auf deren Grundlage Rie- gen« zwischen dem ais als Terz von Fis-Dur
mann seine Theorien entwickelte, nicht kom- und dem b als Terz von g-Moll).
mensurabel. Das Imaginieren von Wegen, Des Weiteren werden zahlreiche reale
Brücken und Regionen auf Landkarten prägt Sequenzen vor allem aus Werken von Schu-
wesentlich andere Hierarchien aus. bert und Brahms als patternartige Wege durch
Erfahrbar macht Cohn diese Form von
Syntax als Zusammenschluss von Einzelope-
8 P = Mollvariante, L = Leittonwechselklang,
rationen des ›parsimonious voice leading‹
R = Paralleltonart, N = Nebenverwandt, S =
(es sind dies die üblichen P, L, R, N, S und Terzgleichheit, H = ›Hexatonic Pole‹ (d. h. die
H8 und deren Kombinationen) durch die Er- Verbindung zwischen einem Durdreiklang
arbeitung von Pattern und Topoi, die er zwei und dem Molldreiklang des eine große Terz
Regionen zuteilt: den ›hexatonic regions / cy- tiefer liegenden Grundtons, wie z. B. C-as).

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›Weitzmann regions‹ und ›hexatonic regions‹ durch Cohns Terminologie und Graphiken
beschrieben. Um die Wege und Operatio- haftet. Besonders einleuchtend ist hierbei die
nen zu verdeutlichen, werden dabei neben Analyse des letzten Durchführungsabschnit-
verschiedenen Varianten von Tonnetz-Dar- tes (T. 246–302) aus dem Kopfsatz von Johan-
stellungen vor allem die aus der Theorie ato- nes Brahms 2. Sinfonie (117–121).
naler Musik vertrauten Zifferblatt-Graphiken Nicht früher als im siebenten Kapitel
verwendet. Sie dienen zur Illustration zykli- (139 ff.) ist es möglich, Dissonanz als Element
scher ›modulo 12-Berechnungen‹ der ›pitch von Transformationen zu behandeln, was
classes‹, darunter die Zusammenführung von streng genommen, anders als der Dreiklang,
›regions‹ und ›cycles‹ im multivalenten Ziffer- nicht einmal ein phänomenales Äquivalent in
blatt von Jack Douthetts ›Cube Dance‹ (86). traditionell diatonischer Harmonielehre hat
Einen theoretischen Schwerpunkt prägt si- und eher noch bei Georg Capellen9 als bei
cherlich das fünfte Kapitel aus, in dem Cohn Riemann eine Entsprechung finden könnte.
die gruppentheoretische Aussagekraft seiner Mit dem systematisch gerechtfertigten Ziel,
Werkzeuge zum ersten Mal nicht lediglich Vierklangstransformationen gänzlich analog
nutzt, um tonalen Denkmustern eine stabile zu den Dreiklangsoperationen darzustellen,
Struktur entgegenzusetzen, sondern um aus wobei die ›hexatonic cycles‹ zu ›octatonic cy-
der mathematisch differenzierteren Artiku- cles‹ erweitert werden sowie die ›Weitzmann
lation von Informationen heraus ein neues regions‹ durch strukturell analoge ›Boretz
Abstraktionsniveau der harmonischen Ana- regions‹ ersetzt werden, besteht eine analyti-
lyse durch Äquivalenzen zu erarbeiten. Die sche Schwierigkeit und somit auch ein arbi­
sogenannten ›voice leading zones‹ und ihre trärer Raum um die Frage herum, welche Vier-
Anwendung in der Analyse kommen dabei und Mehrklänge auf Dreiklänge zu reduzieren
dem, was tatsächlich im Riemann’schen (und und welche als genuin dissonante Klänge zu
Hauptmann’schen) Sinne als Funktion ver- behandeln sind. Die Entscheidung führt Cohn
standen werden könnte, sehr nahe. Während jeweils nach stilistischer Evidenz in Werkana-
das rechnende Operieren mit ›voice leading lysen herbei, wenn er z. B. in überzeugender
zones‹ an der Oberfläche zunächst einfach Argumentation Septakkorde im Parsifal ange-
zu sein scheint, da die einzelnen Zonen de- sichts der strukturellen Bedeutung der ›hexa-
ckungsgleich mit der Struktur der bekannten tonic poles‹ auf Dreiklänge reduziert, im Tris-
›pitch classes‹ sind, ist die Idee der Äquiva- tan hingegen – vereinfacht gesprochen – auf
lenz dahinter sowie ihre analytische Anwen- Grund der ›oktatonischen‹ Struktur großfor-
dung anspruchsvoll, da sie – ähnlich Arnold maler Zusammenhänge die Septakkorde, das
Schönbergs schwebender und aufgehobener sogenannte ›Tristan genus‹ (148) oder im An-
Tonalität – die tonikale Gravitation eines ein- schluss auch Scriabins ›mystic species‹ (166),
zelnen Dreiklangs auflöst und auf benachbar- als strukturell relevante Dissonanzen erhält.
te Zonen (d. h. Dur- und Moll-Dreiklänge im
Großterzabstand) verteilt bzw. den jeweiligen, Umgang mit Historie und ästhetischer
vom Einzelwerk abhängigen Abstand durch Impuls der Analysen
›voice leading work‹ nun als höhere Einheit in
Zonen umrechnet. Obwohl natürlich die Um- Schon Klumpenhouwer hat durchaus nicht in
rechnungsarbeit von Halbtonschritten in Zo- Form von negativer Kritik darauf hingewie-
nen rechnerisch lediglich eine Vereinfachung
bedeutet, ist der Gewinn an metaphorischem
9 So wie Capellens ›Rechtslinksklänge‹ und
Potential immens, da die Errichtung netzar-
die weiterführenden Gedanken zur Symme-
tiger, harmonisch kaum vektorisierter Zonen trie des ›Dur-Doppelklangsystems‹ nur in der
vermittelt durch reale Sequenzen tatsächlich Analyse dissonanter, aus mehreren Dreiklän-
zu analytischen Einsichten führt, deren Quali- gen geschichteter Klänge zur Anwendung
tät auch gerade an dieser Vor- und Darstellung kommen (vgl. Capellen 1908, 36–37).

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sen, dass Cohns Umgang mit den historischen auf Hegelrezeption zurückgehende Idee von
Quellen der Riemann-Zeit weniger davon Kadenz gruppentheoretisch ausdifferenziert
getragen ist, diese möglichst nahe an ihrem wird, so ist doch die metaphorische Konse-
ursprünglichen Selbstverständnis zu rekons- quenz und Reflektiertheit, mit der Cohn die-
truieren, als sie in systemfähige Zusammen- sen ästhetischen Kontext verfolgt, bemerkens-
hänge, deren Voraussetzungen zu ihrer Zeit wert. Dies zeigen nicht zuletzt die wichtigsten
schlicht nicht gegeben waren, instrumentali- Leitmetaphern seiner Präsentation:
sierend einzubeziehen.10 Cohn selbst benennt
diese Instrumentalisierungs-Strategie mehr- Entropie
fach, und es wäre meiner Ansicht nach auch
zu einfach, diesen Zugang als vornehmlich or- Im Unterkapitel »Remarks on Disjunction and
namental oder historisch inadäquat zu kritisie- Entropy« (106) wendet sich Cohn scheinbar
ren: Sogar im Falle des in Audacious Euphony wenig vermittelt mit der direkt vorhergehen-
zu enormer Größe aufgebauten Carl Friedrich den Darstellung der ›voice leading zones‹
Weitzmann, dessen reduktiver Ansatz im Ori- der ästhetischen und sozusagen soziologisch
ginal möglicherweise nicht immer Ausdruck konnotierten Qualität asymmetrisch-privile-
eines Strebens nach Systemfähigkeit mit allen gierter Situationen zu, wie sie meist in Form
Implikationen eines theoretischen Überbaus von Dualismen artikuliert werden (z. B. das
ist wie bei Hauptmann, sondern schlicht eine herkömmliche Verständnis von Konsonanz
didaktische Reduktion am Vehikel der Dar- und Dissonanz). Die angefügte weltanschau-
stellung von Exzerpten am Klavier, finden sich liche Skizze (106) ist in ihrer plakativen Kürze
bereitliegende Momente zur Vorbereitung sicher eher illustrativ zu verstehen, markiert
einer systematisierbaren Denkstruktur: Der aber doch unmissverständlich die wesentliche
Paradigmenwechsel in der komprimierenden Rolle des ursprünglich aus der Thermodyna-
Speicherung von Informationen11 mit Hilfe mik stammenden Begriffs der Entropie und
symbolisierender, verschlüsselnder und im des damit verbundenen dezentralen Bildes
Sinne der Naturwissenschaften funktionali- von Konsonanz- und Dissonanzverteilung
sierender Werkzeuge ab dem letzten Drittel zweiter Ordnung (hier: all-intervall-Verteilun-
des 19. Jahrhunderts ist Weitzmanns Denken gen auf der Basis von ›voice leading zones‹).
ebenso anzumerken wie der Philosophie der Ähnlich dem Konkurrenz-Prinzip in der Sozio-
Zeit (Universitäts-Philosophie und vor allem logie beschreibt es – von Robert Morris’ Ana-
Neu-Kantianismus) und der ebenso naturwis- lysen der Musik Elliott Carters inspiriert – eine
senschaftlichen Wende in den ›geisteswis- optimale Verteilung im Dienste der Stabilität
senschaftlichen‹ Disziplinen vor dem ersten eines Systems und ist damit nichts weniger als
Weltkrieg. In diesem Sinne ist der Rückgriff auf eine Variante des für Werkästhetik üblichen
Gedankengut des späten Idealismus durchaus Varietas-Prinzips.
nicht oberflächlich, sondern zehrt wesent-
lich von der analogen Größenordnung der Near Evenness
Denkmodelle. Interessant ist dabei jedoch die
diametral entgegengesetzte ästhetische Aus- Die Eigenschaft von Dur- und Molldreiklän-
richtung des fachsprachlichen Vokabulars und gen vornehmlich, aber auch von Domi-
der Werkzeuge, die sich vor dem Hintergrund nantsept- und halbverminderten Septakkor-
der Gemeinsamkeiten abzeichnet: So findet den, nur um die ›minimal voice leading unit‹
auf allen Ebenen eine Entsubjektivierung der eines Halbtonschritts von perfekt symmet-
Riemann’schen Ansätze statt. Auch wenn es rischen Drei- bzw. Vierklängen entfernt zu
trivial klingen mag, dass eine ursprünglich sein, ist Voraussetzung für ihre Vernetzbarkeit
in symmetrischer Syntax und somit auch ihrer
10 Vgl. Klumpenhouwer 2011, 170–171. gruppenbildenden Stabilität, die die Pan-Tria-
11 Vgl. Lachmann 1993, XX und XXII. dic Syntax erst zu generieren in der Lage ist

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(37). An die Stelle der traditionellen Vorstel- dann auch der Raum für dualistische Ansät-
lung tonaler Gravitation tritt hier eine fraktale ze harmonischer Funktionen (mit implizitem
Stabilität, deren strukturell relevante Symmet- Verweis auf Schenker [121], mit Verweis auf
rien (übermäßige Dreiklänge und verminderte Schönberg, Lendvai und Meeùs [125]), die
Septakkorde) kaum Anziehungskraft ausüben, in ihrer traditionellen Vektorisierung mit dem
sondern als Verteiler in den Hintergrund tre- Verhalten der Dreiklangstransformationen in
ten können. Auch dieses, von Dimitri Tymo- der Pan-Triadic Syntax nur schwer zu verein-
czko12 inspirierte und vornehmlich geome- baren sind, da sie dort punktuelle Akzente set-
trisch angelegte Konzept umfasst tonale wie zen müssten, wo nach planaren Netzwerken
atonale Strukturen. gesucht wird.

Skript und Marketplace Berührungspunkte mit diatonisch fundier-


ten Analysemethoden
Ebenfalls im Zuge eines Paradigmenwechsels
vom hierarchisch extrem positionierten Künst- Cohn selbst widmet die letzten beiden Kapitel
lersubjekt, das Meisterwerke schafft, hin zu des Buchs einerseits der Generalisierbarkeit
dezentralisierenden Modellen sind die Meta- des Ansatzes zur Übertragung auf atonale
phern aus der Reise-, Handels- und aktuellen bzw. weniger dreiklangsbasierte Kontexte
›Handwerks-Sphäre‹ (Informatik) zu verste- und andererseits der Re-Integration in diato-
hen. Sie wirken zunächst wie die Lektüre fass- nisch verankerte Situationen. Damit antwortet
licher und angenehmer machende Attribute, er teilweise auf Vorlagen eines ›Riemannis-
stellen sich dann aber geschlossen in den mus‹, dessen regelhafte Geschlossenheit sich
Dienst einer depolarisierenden ästhetischen weder historisch noch aktuell in einer Lehre
Aussage. So ist die sehr sorgfältig präsentier- niedergeschlagen hat, der aber dennoch ganz
te Umgebung des übermäßigen Dreiklangs konkret wurde in der an Cohns Arbeiten seit
ebenso als das Gebäude einer Innung (»a den 1990er-Jahren formulierten Kritik und der
corridor with six adjacent rooms«, 60) charak- daher relevante Fragestellungen birgt. Nun
terisiert wie als »free-commerce zone« (65); kommt es an keinem Punkt, wenn eine rigide
insgesamt also eher als ein Biotop denn als Vorstellung von Diatonik in der Kadenz gegen
ein zwingend strukturiertes Kraftfeld wie die Sequenzmodelle ausgespielt wird, zu echten
abendländisch relevante ›concordia discors‹ Berührungen mit vornehmlich deutschspra-
in der Prägung durch Athanasius Kircher.13 Zu chigen Ansätzen, die sich mit romantischer
diesem gravierenden Umschlag des ästheti- Harmonik beschäftigen. Zu eigenständig war
schen Paradigmas der Werkbetrachtung passt die Auseinandersetzung mit Sequenzmodel-
ebenso, dass großformale Strategien in Form len14, und auch Riemanns kadenzielle Logik
von gruppenweise gerichteten Transformatio- bot seinerzeit in einer langen Tradition von
nen wie ›upshifting‹ und ›downshifting‹ oder Harmonielehre15 Kompromisse und durchaus
›departure‹ und ›return‹ im ›minimal-work sinnvolle Momente von unschärferer Betrach-
model‹ mit dem Titel »Compositional scripts« tung.16 So ist Pan-Triadic Syntax nicht wirklich
(111) versehen werden, wobei mit Skripten notwendig, um chromatische Fortschreitun-
dann tatsächlich so etwas wie überschreib- gen in einer Sequenzfolge überhaupt theore-
bare, allen zugängliche Programmstrukturen tisch zu erfassen. Das leisten Stimmführungs-
gemeint sind, die nun z. B. auf der formalen modelle in der Tradition der Generalbass- und
Größenordnung der ›Sonatenform‹ analy- Partimentolehre ebenso wie intervallische Ka-
tisch greifen. Auf der Ebene dieser flächigen nonstrukturen und anderweitige Gerüstsätze
Ausrichtung von Stimmführungsmustern ist
14 Vgl. Seidel 1969 als eher frühes Beispiel.
12 Vgl. vor allem Tymoczko 2011. 15 Vgl. Fétis 1844, 27.
13 Vgl. Leinkauf 2009, 76–82. 16 Vgl. Sprick 2012, 95 ff.

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älterer Formen von Mehrstimmigkeit, was in Gestalt bei Weitzmann ohne ein dualistisches
der für Audacious Euphony argumentativ eher Konzept einer Symmetrie von Dur und Moll
entgegenkommenden Überbetonung kaden- nur schwer fassen. In einer diatonisch geer-
zieller Beschränktheit von diatonisch fundier- deten Kadenz-Situation beschreibt der Begriff
ten Erklärungsmodellen nicht vergessen wer- ›nebenverwandt‹ die plagale Bewegung von
den sollte. Von Interesse ist allerdings nicht der Mollsubdominante zur Tonika, und zwar
die theoretische Erfassbarkeit durch Modelle entschieden in einem ursprünglich duralen
oder Terminologien überhaupt, sondern wie- Zusammenhang durch chromatische Alterati-
der das sich über die Modelle verkörpernde on der leitereigenen großen zur kleinen Sexte,
Verhalten harmonischer Bewegung; im Falle die nun ein künstlicher Leitton zur Quinte des
der berühmten ›hexatonic poles‹ also das, Zielklangs wird. Für Hauptmann19 wird die
was die identische Dreiklangsfolge in ihrem Wendung interessant durch die Spiegelsym-
Erscheinen bei Gesualdo von der Dreiklangs- metrie zur Dominante, da sie dualistische Ide-
motivik des Parsifal unterscheidet.17 Zur Be- alisierungen zu bestätigen scheint (auf C-Dur
antwortung dieser sehr heiklen Kategorie von bezogen das Muster f-as-c-e-g-h-d), so dass er
Fragestellungen sind Cohns Überlegungen zur sie als hybrides Phänomen romantischer Har-
›syntactic interaction‹ bzw. zur ›double syn- monik, als ›Moll-Dur-Tonart‹ charakterisiert.
tax‹, mit denen er die Integrierbarkeit vor al- Die Stimmführungsnähe durch die Altera-
lem in diatonische, eher vektorisierende und tion qualifiziert die Folge für die ›Weitzmann
Gravitationsregeln unterworfene Vorstellun- region‹, wo allerdings systembedingt ihre
gen und Modelle demonstriert, von großem eigentliche kadenzielle Besonderheit verlo-
Nutzen. Besonders klar wird sein Standpunkt rengeht und sie wie ein schlichter Quintfall
in der Auseinandersetzung mit einer funk- in Moll behandelt wird. Sowohl der plagale
tional vektorisierten Variante des Tonnetz- Ursprung als auch die ihren Charakter aus-
Modells von Steven Rings (170–171 und vor machende chromatische Alteration durch die
allem 183, wenn diatonisch-vektorisierende Dur-Moll-Vermischung, die auch für Weitz­
Stationen in theoretisch unendliche Ausdeh- mann relevant ist, sind nun nicht etwa dia-
nungen des Tonnetzes eingearbeitet werden). lektisch aufgehoben, sondern werden fürs
In einer vergleichbaren Iuxtaposition durch Erste schlicht fallengelassen. Obwohl dieser
›double syntax‹ wird auch eine seit dem vier- Informationsverlust für die Anwendung der N-
ten Kapitel ausstehende Unstimmigkeit be- Transformation in der Analyse und für einen
antwortet, nämlich die Frage nach der histo- Abgleich mehrerer Ebenen harmonischer Wir-
rischen wie systematischen Stimmigkeit der kung im Erleben des tatsächlich Erklingenden
N-Transformation. Sie ist von der terminolo- durchaus eine Rolle spielt, wird die planare
gisch mit Hauptmanns Denken sehr verwand- Gleichgültigkeit der N-Transformation nach
ten Idee der ›Nebenverwandtschaft‹18 abge- einer kurzen einführenden Definition (46–47)
leitet und lässt sich auch in ihrer reziproken nicht problematisiert, und zwar bis kurz vor
Schluss des Buches, wenn die N-Transfor-
17 Vgl. auch dazu Cohn 2004. mation in ihrer ursprünglichen Bedeutung
18 Vgl. die Darstellung der Moll-Dur-Tonart bei als Substitution innerhalb eines diatonischen
Hauptmann (1853, 39–40), die Notwendig- Sets wieder in die Diskussion geholt wird.
keit der Tiefalteration der Sexte in Dur bei Bezeichnenderweise geschieht das wiederum
Weitzmann (1853, 16–17) und die Deckungs- im Dienste einer ›double syntax‹, also von Er-
gleichheit der immanenten Spiegelsymmet- eignissen, deren Lesarten am ›Tonnetz‹ zwar
rie bei d’Alambert / Rameau (Marpurg 1757,
gefiltert, aber durch mehrere Interpretations-
14–16) um die relevante Unterscheidung der
Nebenverwandtschaft zu einem Quintfall wege nicht in die Enge hermeneutischer Ein-
wenigstens skizzenhaft in den Kontext einer deutigkeit gezwungen werden (185).
musiktheoretischen Tradition der Rameau-
Nachfolge einzubetten. 19 Vgl. Fétis 1844, 27.

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Ebenso müsste Cohns Ansatz demzufolge wenn er im Zusammenhang mit dieser Voka-
eine Betonung rhetorischer Akzente zulas- bel technisch möglicherweise nicht genau die
sen, wenn z. B. Situationen des ›double agent »falschen Dreiklänge«23 meinte, von denen
complex‹ mit Varianten des phrygischen Lewin spricht 24, sondern eine stilistische Di-
Halbschlusses, der der punktuellen Geste alektik von ›Tristan-Chromatik‹ und ›Meister-
bedarf, oder ›N-R-chains‹ mit Varianten des singer-Diatonik‹.
›Parallelismus‹-Modells überlagert werden Gemeint ist eine möglicherweise notwen-
und diese Überlagerung in der formalen Dra- dig auf Intertextualität beruhende motivische
maturgie des zu analysierenden Werkes eine Arbeit zur Realisierung übernatürlicher, trans-
Rolle spielt. formierender Momente, deren harmonische
›Siebenmeilenstiefel‹ oder noch darüber hi-
Transformation als Idee – Wenn Vorder- naus zu empfindende qualitative Umschläge
grund und Hintergrund zusammenfallen gerade durch die Gegenüberstellung mit ihren
diatonischen Varianten stattfinden; so z.  B.
Im schließenden Abschnitt seiner Rezension das von Cohn überzeugend präsentierte Ver-
greift Klumpenhouwer eine kritische Anmer- hältnis zwischen dem sogenannten ›Dresd-
kung Rings dahingehend auf, dass die Ge- ner Amen‹ als diatonischer Vorlage und den
schlossenheit des in Audacious Euphony prä- ›hexatonic poles‹, mit denen Wagner die ar-
sentierten systematischen Ansatzes die Gefahr chaische Kadenz bewusst und immer wieder
berge, außergewöhnliche Momente romanti- konfrontiert. In diesem Sinne wäre nun durch-
scher Musik über den angemessenen Grad aus kritisch zu fragen, ob nicht das Bild von
hinaus zu integrieren und ihre Wirkung dabei konventioneller Diatonik – was Cohn konstant
analytisch zu glätten.20 Klumpenhouwer re- als linear historischen Prozess von barock-
agiert auf diesen Einwurf mit dem Argument, klassischer Satzlehre zu ihrer romantischen
dass ein notwendiger Wechsel des Bezugssys- Entgrenzung hin idealisiert und verkürzt –
tems analytischer Betrachtung durchaus Au- nicht durchaus Teil der ästhetischen Fiktion
ßergewöhnlichkeit indiziere: ist, die Komponisten wie Schubert, Brahms
und vor allem Wagner als Narrative in die
»Perhaps it will be enough here to point out Form des jeweiligen Werks einbinden, wobei
that in the particular case of Cohn´s model, die stilistische Markiertheit der chromatischen
one might regard the switch from one coherent Passagen einen Kommentar durch Textgebun-
system (conventional diatonic theory) to an- denheit oder ähnliches nicht voraussetzen
other (Cohn´s pan-triadic syntax) as sufficient muss. Wie bereits Sechter eine Art Maßein-
indication of the appearance of the X-factor.«21 heit für das Tempo harmonischer Information
aus dem Ablauf der schematisierten Quinten-
Dieser Wechsel des Bezugssystems, in dem kette abzuleiten versuchte, ist eine manchmal
der Terminus ›Transformation‹ durchaus eine zum Vexierbild komprimierte Konkurrenz von
metaphorische Konnotation hat, die über diatonisch und transformatorisch berechneter
seinen technologischen Rahmen hinausgeht, harmonischer Distanz im metaphorischen
verweist auf den musikalischen Anlass dafür, Rand der in romantischer Musik komponier-
mit einer zweiten Natur des Dreiklangs über- ten harmonischen Erlebnisse eingeschrieben.
haupt zu rechnen und diese systematisch er- Eine zu rigide Konstruktion von älterer und
fassen zu wollen. Dieser Gedankenkomplex neuerer Harmonielehre und damit eine histo-
ist sicherlich dem sehr nahe, was Dahlhaus ristische Verengung ist somit möglicherweise
als »Zweite Diatonik«22 bezeichnete, auch nicht immer notwendig, um den gemeinten

20 Vgl. Klumpenhouwer 2011, 173–174. 23 Lewin 1987, 178 f.


21 Ebd., 174. 24 Vgl. Lewin 1992/93, 49–58; zur Diskussion
22 Dahlhaus 2008, 247. vgl. vor allem Janz 2006, 246–251.

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R e z en s i o n en

›X-factor‹ adäquat in der Einzelanalyse zu dimensionaler Bewegungen in einem hören-


benennen, gerade wenn es zum Abgleich den oder im weitesten Sinne ästhetischen Er-
zwischen tradierten Stimmführungsmodellen leben nicht nur räumliche Vorstellungskraft,
und einer räumlichen Bewegung im Pan-Tri- sondern auch gründliche und detaillierte Re-
adic Model kommt, wie es z. B. Cohn bei der pertoirekenntnis verlangt.
Analyse der transformierten Plagalkadenz der Es wäre sehr zu wünschen, dass die Mög-
›Faith Proclamation‹ aus dem Parsifal-Vorspiel lichkeiten des Buches zum Anschluss an syste-
herausarbeitet (89–191). Und es ist in diesem matisierende und dezentralisierende Ansätze
Sinne einer nicht nur heuristischen, sondern aktueller Musiktheorie nicht auf die Verbin-
eben auch komponierten ›double syntax‹ dung zu post-tonaler Musik oder primär auf
durchaus gerechtfertigt, über die ›hexatonic die Erfassung von Zusammenklängen be-
poles‹ im Parsifal als Form der erfahrbaren schränkt bleiben, sondern in Forschung und
Dissonanz oder Scheinkonsonanz25 innerhalb Lehre die Chancen, auch Durchlässigkeit zu
eines Dreiklangs-Systems zu sprechen, das für modalem oder durch kontrapunktische Pro-
die Beschreibung arbiträrer Stimmführungs- jektionen strukturiertem Repertoire – welchen
dissonanzen keinen Raum bietet. Stiles auch immer – genutzt und sorgfältig auf-
Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass gearbeitet werden. Audacious Euphony würde
Audacious Euphony auch aus der hier ge- dann möglicherweise nicht nur als Resümee
wählten hermeneutischen Perspektive nichts verschiedenster Neo-Riemannian Theories
von seiner Großartigkeit verliert, selbst wenn (miss)verstanden, sondern sein integratives Po-
die adäquate Lektüre des Buchs auch bei wie- tential käme auch tatsächlich zur Anwendung.
derholtem Studium sehr fordernd ist, da das
simultane Umsetzen modellhafter und mehr- Ariane Jeßulat

Literatur
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25 Vgl. auch Cohn 2004, 308–317.

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