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ZGMTH Zeitschrift der

Gesellschaft für Musiktheorie

Kilian Sprau
»Barnabé Janin, Chanter sur le livre. Manuel pratique d’improvisation polyphonique
de la Renaissance (XVe et XVIe siècles), 2. Auflage, Lyon: Symétrie 2014«
ZGMTH 11/2 (2014)
Hildesheim u. a.: Olms
S. 271–274

http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/763.aspx
Barnabé Janin, Chanter sur le livre. Manuel pratique d’improvisation
polyphonique de la Renaissance (XVe et XVIe siècles), 2. Auflage,
Lyon: Symétrie 2014

Polyphone Musik singend improvisieren? gen im perfekten Konsonanzabstand beim


Voneinander unabhängige Stimmen eines ›Singen über dem Buche‹ nicht immer er-
sinnvollen Satzgefüges ›spontan‹ zu mehre- folgreich vermieden wurden, wird im zeitge-
ren realisieren – in einem Vorgang, der kei- nössischen Schrifttum bezeugt.4 Doch selbst
nerlei Absprachen mehr erlaubt, sobald der angesichts solcher Zugeständnisse bleibt die
musikalische Ablauf einmal in Gang gesetzt Vorstellung frappierend, dass es im 15. und
ist, bei dem »Erfindung und Ausführung zeit- 16. Jahrhundert Musiker gab, für die die kol-
lich zusammenfallen«1? Skepsis gegenüber lektive Improvisation von mehrstimmigen
einem solchen Vorhaben wäre verständlich. Sätzen, die den komplexen Stilanforderungen
Andererseits ist überliefert, dass Musiker der jener Zeit im Wesentlichen gerecht wurden,
Renaissance genau dazu imstande waren, ja, eine Selbstverständlichkeit darstellte. Freilich:
dass Fertigkeiten im ›cantare super librum‹ Mit der vornehmlich von der Genieästhetik
– im ›Singen über dem Buche‹, wie man die geprägten Auffassung, wonach die musika-
»spontane Erfindung von Zusatzstimmen«2 zu lische Improvisation einer ›creatio ex nihilo‹
einem gegebenen ›cantus firmus‹ seinerzeit vergleichbar und die entsprechenden Fähig-
nannte – zu den Einstellungsvoraussetzungen keiten auf wunderbare Weise »angeboren«5
gehörten, wollte man im 16. Jahrhundert Ka- wären, wird man der historischen Praxis des
pellsänger an einer renommierten Institution ›cantare super librum‹ keinesfalls gerecht. Die
werden. Von einem Kapellmeister in spe ver- heutige Forschung weiß, dass Improvisation
langte man unter Umständen sogar, dass er generell auf der Nutzung »zweckdienliche[r]
drei Stimmen zu gleicher Zeit improvisieren Wissensstruktur[en]«6 beruht, die durch die
konnte: eine davon in gesungenen Tonhöhen, Bereitstellung von »Mustern«, »Formeln«7,
eine weitere, deren Töne er im gesungenen »Patterns«8 eine rasche Aktivierung erlernter
Text benannte, eine dritte, deren Verlauf er Verhaltensweisen ermöglicht. Das ›Singen
mit der Hand anzeigte.3 über dem Buche‹ macht hiervon keine Aus-
Man darf zwar davon ausgehen, dass die nahme. Eine ›erfolgreiche‹ Improvisations-
Regeln, nach denen mehrere simultan erklin- leistung wird demnach möglich durch die
gende Stimmen zu konzipieren waren, beim Fähigkeit, auf mehr oder minder (un)erwar-
›contrappunto alla mente‹ weniger streng tet auftretende spezifische Problemstellun-
befolgt wurden als bei der schriftlichen Aus-
arbeitung. Dass z.  B. Parallelfortschreitun- 4 Vgl. Welker 1996, 554. Möglicherweise wur-
de bei der Simultanimprovisation von Zusatz-
1 So bestimmt Frisius (1996, 540) eine der Be- stimmen zu einem ›cantus firmus‹ in Bezug
dingungen, unter denen sich jene »Unerwar- auf deren wechselseitige Koordination die
tetheit oder Unerwartbarkeit von Ereignissen« Gültigkeit bestimmter Satzregeln von vornhe-
(ebd., 539) einstellen kann, die gemäß seiner rein außer Kraft gesetzt bzw. stark relativiert.
Definition zum Phänomen der Improvisation Zur kontroversen Forschungsdiskussion hier-
gehört (vgl. ebd., 538). über vgl. Welker 1996, 555 f.
2 Welker 1996, 555. Vgl. auch Palisca 1996, 604. 5 Andreas 1996, 599.
3 Diese Information geht auf Forschungen von 6 Ebd., 598.
David Mesquita zurück; sie wird von Haymoz
in der Préface zur hier besprochenen Publika- 7 Dahlhaus 2000, 406.
tion (6) referiert. 8 Vgl. Andreas 1996, 598.

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gen mithilfe erworbenen Wissens in ange- entsprechende Unternehmungen aus dem


messener Weise zu reagieren.9 Dabei wird frankophonen Raum sind im deutschsprachi-
der Grad der ›Angemessenheit‹ durch ein gen musiktheoretischen Diskurs auf Resonanz
»Referenzsystem«10, etwa die Vorgaben eines gestoßen, besonders klangvoll etwa bei Auf-
bestimmten musikalischen Stils, bestimmt. tritten des Ensembles Le Chant sur le livre,
Was dem uneingeweihten Zuhörer als »spon- wie auf dem 9. Jahreskongress der GMTH
tane originelle Produktion[..]«11, ja als »einzig- in Mainz 2009 und auf der International Or-
artig und letztlich nicht begreifbar«12 erschei- pheus Academy for Music and Theory 2009 in
nen mag, erweist sich vor diesem Hintergrund Gent.17 Die im Jahr 2003 gegründete franko-
als durchaus erlernbares »Handwerk«13 schweizerische Vokalistenformation Le Chant
– ohne dass damit in einer Zeit, welche die sur le livre hat die Kunst, die sie im Namen
Genieästhetik als historisches Phänomen und trägt, in einer Weise perfektioniert, die ihren
»Ideologie«14 erkannt hat, noch eine negative öffentlichen Auftritten ein begeistertes Publi-
Wertung verbunden werden müsste.15 kum sichert. Bei den gerade von Fachleuten
In jüngerer Zeit ist wachsendes Interesse an bestaunten18 Aufführungen dieser Gruppe, der
einer Wiederbelebung des ›Singens über dem Lehrende an hochrangigen französischen und
Buche‹ zu beobachten. Für den deutschspra- Schweizer Institutionen angehören, bewähren
chigen Raum sind hier Forschung und Lehre sich die Ergebnisse von Forschung und Lehre
an Institutionen wie der Schola Cantorum unmittelbar in der künstlerischen Praxis.
Basel und der Hochschule für Musik Freiburg Mit Barnabé Janin (Lyon), der als Haupt-
zu nennen: Ergebnisse und Erfahrungen aus autor genannt wird, und Jean-Yves Haymoz
mittlerweile jahrzehntelanger Arbeit wurden (Genf), der wichtige Abschnitte des Buches
und werden dort in der Auseinandersetzung beigesteuert hat19, legen nun zwei Mitglieder
mit Traktaten historischer Theoretiker gewon- dieses Ensembles ein Lehrbuch zum improvi-
nen, in der hochschulpädagogischen Praxis sierten Kontrapunkt vor: Chanter sur le livre.
erprobt, in der musiktheoretischen Ausbil- Manuel pratique d’improvisation polypho-
dung vermittelt und publik gemacht.16 Auch nique de la Renaissance (XVe et XVIe siècles).
Janin zufolge (9) gehen die darin angebotenen
9 Vgl. ebd., 595 f.
Inhalte im Wesentlichen auf die seit Anfang
10 Ebd., 598. der 1990er Jahre von Haymoz an der Haute
11 Ebd., 596. École de Musique in Genf praktizierte Lehr-
12 Ebd., 599. methode zurück, die Janin selbst in seiner Un-
13 Ebd., 596. terrichtstätigkeit am Konservatorium von Lyon
14 Schmidt 2004, XI. weitervermittelt und -entwickelt. Angesichts
solcher Expertise darf man erwarten, dass die
15 Vgl. die Ausführungen zu den problemati-
schen Begriffen der »Originalität« und »Spon- Projekttagen Improvisation an der Freibur-
taneität« bei Dahlhaus 2000, 413 f. ger Musikhochschule im Juni 2014 bot Hans
16 Vgl. einige der Vorträge und Workshops auf ­Aerts einen Workshop zum Thema »Contrap-
dem 9. Jahreskongress der GMTH in Mainz, punto alla mente« an, gewidmet dem »Ken-
der unter dem Motto »Musiktheorie und nerlernen und Ausprobieren von Techniken
Improvisation« stand; darunter: Markus Jans der improvisierten vokalen Mehrstimmigkeit
(Basel): »›Über dem Buche singen‹. Drei- und […], die in Traktaten des 15. bis 18. Jahrhun-
vierstimmige homophone und zwei- und drei- derts beschrieben sind« (Aerts 2014).
stimmige Kanonimprovisation im Stilbereich 17 Vgl. Gesellschaft für Musiktheorie 2009, 20,
des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts« und Söllner 2011, 196.
(Gesellschaft für Musiktheorie 2009, 8; vgl.
ebd., 30, sowie Jans 2015); David Mesqui- 18 Vgl. Söllner 2011, 196.
ta / Florian Vogt (Freiburg / Trossingen): »Wie 19 Nämlich einen wichtigen Abschnitt der Pré-
improvisiert man eine Josquin-Motette?« face (6 f.) und Teile der Melodiesammlung in
(Ebd., 39; vgl. Mesquita / Vogt 2015) Auf den Kapitel 18 (115 ff.).

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in diesem Buch angebotenen Anleitungen und kungen zu den »Quellen« (»sources«, 9) der
Handreichungen nicht nur den künstlerischen dem Lehrbuch zugrundeliegenden Methodik.
Praxistest durchlaufen und erfolgreich bestan- Ausgewählte Begrifflichkeiten und Kategorien
den haben, sondern auch hohen Ansprüchen (»Chanter sur le livre«, »Musique écrite, mu-
an wissenschaftliche Fundierung und didakti- sique improvisée«, 10) werden im Vorfeld der
sche Aufbereitung genügen. Diese Erwartung Übungen geklärt und besprochen. Die lang-
wird nicht enttäuscht. jährige Erfahrung des Autors schlägt sich nicht
Der Aufbau des Manuel ist schlüssig zuletzt in vorbereitenden Hinweisen zu ganz
und übersichtlich. Der von Janin und Hay- pragmatischen Aspekten der Gruppenimpro-
moz gemeinsam verfassten Einleitung folgt visation nieder (»Conseils pour improviser«,
der Hauptanteil des Buches, bestehend aus 12), von Ratschlägen zur geeigneten Wahl des
Übungen zur überwiegend ›cantus firmus‹- Trainingslokals (Akustik!) über Tipps zur musi-
basierten Improvisation (Kapitel 1–17) und kalischen Artikulation (»Chantez legato.«) bis
einer umfangreichen Sammlung von entspre- hin zur Behandlung übestrategischer Fragen
chenden Melodievorlagen (Kapitel 18). Am (»Halten Sie nicht bei jedem falschen Schritt
Ende stehen eine Übersicht zu essenziellen an, um ihn zu kommentieren! […] Beenden
»Éléments de théorie«, die eine Moduslehre Sie [das Stück], fangen Sie dann von vorne an:
in Grundzügen und einen Glossar der wich- das zweite Mal wird stets besser sein«22, 12).
tigsten Fachbegriffe enthält (Kapitel 19), sowie Die Kapitel mit Übungen sind nach stei-
eine Bibliographie, in der historische Quellen gender Stimmenzahl (von der Zwei- bis zur
und moderne Forschungsliteratur überblicks- Fünfstimmigkeit) und global progressivem
artig aufgeführt werden (Kapitel 20). Rekurse Schwierigkeitsgrad angeordnet. Typischerwei-
der methodisch aufbereiteten Inhalte auf Pri- se beginnt eine Trainingseinheit mit der Erläu-
mär- und Sekundärliteratur werden, ohne stets terung bestimmter »principes«, gefolgt von der
explizit ausgewiesen zu sein20, im Verlauf des Aufforderung, diese in die Tat umzusetzen (»À
Buchs immer wieder deutlich.21 vous de jouer!« / »Jetzt sind Sie dran!«). Stets
Die aufschlussreiche Préface informiert werden didaktische Hilfestellungen gegeben;
über historische Aspekte der Improvisation »à Orientierung bietet z. B. der häufig gemachte
la Renaissance« (6) sowie über entscheidende Vorschlag, in »étapes« vorzugehen (etwa ei-
Stationen der Forschungsgeschichte zu diesem nen gegeben ›cantus firmus‹ erst einmal uni-
Thema (6 f.); sie enthält außerdem wichtige sono zu singen, sich bei der anschließenden
Benutzerhinweise für die im Hauptteil folgen- Improvisation einer Zusatzstimme zunächst
den Übungen (8) und allgemeine Bemer- auf die Kadenzwendungen zu beschränken
und erst in einem dritten Durchgang eine
komplette Zweitstimme zu versuchen, 29).
20 Der wissenschaftlich interessierte Leser wird
sich während der Lektüre des Buchs gelegent-
Zahlreiche farbig gestaltete Notenbeispiele vi-
lich explizite Quellenverweise in Form eines sualisieren in übersichtlicher Weise exempla-
Fußnotenapparats wünschen. Der an den risch angestrebte Klangergebnisse. Gelegent-
praktischen Aspekten des Buchs interessier- lich werden Vorübungen angeboten, die bei
te Leser freilich wird die aus dem Fehlen des der Bewältigung besonders anspruchsvoller
Apparats folgende Übersichtlichkeit der Dar- Aufgaben helfen (vgl. 69 und 71: »Exercices
stellung schätzen. préparatoires«). Treten bei einzelnen Übun-
21 So etwa im Rückgriff auf das Notat eines drei- gen spezifische Herausforderungen auf, wer-
stimmigen Satzes, das aus einem Traktat Vin- den diese explizit benannt, selbstverständlich
centino Lusitanos (1553) stammt und auch bei
Dahlhaus (1959, 164–166) und Sachs (1984,
179 f.) besprochen wird (68). Vgl. auch die 22 »Ne vous arrêtez pas à chaque faux pas pour
Angaben zu den Intervallverhältnissen bei le commenter! […] Terminez, puis recom-
dreistimmiger Improvisation über einem ›can- mencez: la 2e fois sera toujours meilleure.«
tus firmus‹ (92) mit Jans 1986, 111. (Janin 2014, 12)

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unter Hinweis auf hilfreiche Maßnahmen (vgl. Fünfstimmig


etwa die Anmerkungen zur Gefahr vermin-
derter Quintzusammenklänge im zweistim- 16. Vier diminuierte Stimmen über einem
migen Oberquintkanon, 21). Auch auf die cantus firmus (109–110)
konkreten Gegebenheiten der individuellen 17. Doppelkanon über dem cantus firmus
Umsetzung wird eingegangen, so durch Ad- (111–113)
aption der Übungen an bestimmte Konstella-
tionen von Stimmlagen in improvisierenden Das Buch Seite für Seite zu studieren, ist nicht
Ensembles (z. B. »Vérifiez les ambitus«, 15; »À die einzige Möglichkeit sinnvoller Lektüre;
voix égales«, 56). zahlreiche Querverweise ermöglichen auch
Ins Deutsche übertragen lauten die einen Zickzack-Kurs durch das Trainingspro-
Übungskapitel im Einzelnen:23 gramm, z. B. orientiert an bestimmten Formen
der musikalischen Improvisation. Wer etwa
Zweistimmig bei der Improvisation zweistimmiger Gymels
(25–29) Lust auf Vielstimmigkeit bekommt,
1. Kanons (13–24) muss nicht erst Erfahrung im Diminuieren
2. Gymel (25–34) struktureller Tonhöhenverläufe (30  f.) sam-
3. Eine diminuierte Stimme über dem cantus meln; er kann auch gleich der Anweisung
firmus (35–38) »Poursuivez …« (29) folgen, um auf den Seiten
4. Zarte Mischungen zu zwei Stimmen 51 ff. zu erfahren, wie man die Zweistimmig-
(39–42) keit durch eine hinzuimprovisierte Bassstim-
me zur Dreistimmigkeit erweitert.
Dreistimmig Freilich hat das Vorgehen ›Seite für Sei-
te‹ klare Vorteile: Die gewissermaßen ›ne-
5. Fauxbourdon (43–50) benbei‹ erfolgende Vermittlung und Schu-
6. Gymel mit Contratenor bassus (51–56) lung satztechnischer Kompetenzen kann so
7. Gymel mit gemischtem Contratenor24 besser aufgenommen werden, etwa die auf
(57–60) viele Einzelinformationen verteilte Kadenz-
8. Kanons über dem cantus firmus (61–66) lehre, deren Elemente jeweils anlassbezo-
9. In Dezimparallelen mit dem CF (67–72) gen dargeboten werden (z. B. 24, 27, 45, 52).
10. In Dezimparallelen um den CF herum Auch versteht sich, dass spätere Kapitel häu-
(73–76) fig auf früheren aufbauen. So wird mit der
11. Zu zwei diminuierten Stimmen oberhalb Formulierung ›Zarte Mischungen‹ (»Doux
des cantus firmus (77–80) mélanges«) die Kombination von jeweils im
12. Kanons zu drei Stimmen (81–84) Vorangegangenen erörterten Improvisations-
13. Zarte Mischungen zu drei Stimmen techniken bezeichnet. Auch die eher lapidare
(85–90) Kürze der Kapitel zur vier- und fünfstimmigen
Improvisation verweist explizit (104, 106, 110)
Vierstimmig oder implizit auf vorausgegangene Übungen.
Der erste Abschnitt des Hauptteils (Kapitel
14. Drei Stimmen über einem figurierten 1–4), der Übungen zur Zweistimmigkeit ver-
cantus (91–102) sammelt, bildet dabei das Fundament des
15. Drei diminuierte Stimmen über einem Kursus. Er behandelt die basalen Techniken
cantus firmus (103–108) der mehrstimmigen Improvisation, auf die die
späteren Kapitel immer wieder zurückgrei-
23 Vgl. Janin 2014, 5 (Hervorhebungen im Original). fen. Auf diesen Abschnitt, der einen guten
24 Gemeint ist eine Contratenorstimme, die im Eindruck vom Stil des Manuel insgesamt ver-
selben Satz sowohl oberhalb als auch unterhalb mittelt, soll im Folgenden näher eingegangen
des Tenors eingesetzt wird (vgl. Janin 2014, 57). werden.

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Kapitel 1 »Les canons« schläge zur Ambituswahl, schließlich werden


»étapes« für die Übung vorgeschlagen:
»Einige einfache Regeln gestatten es, einen
zweistimmigen Kanon zu improvisieren, ihn Etappe 1: […] Die führende Stimme impro-
zu verzieren und ihn mit schönen Kadenzen visiert auf der Grundlage von Terz- und
zu versehen.«25 (13) Quintsprüngen. […]
Etappe 2: […] Fügen Sie Sexten, Oktaven
So lautet das Versprechen zu Beginn von und Tonwiederholungen hinzu. Streuen
Kapitel 1 (»Kanons«). Zunächst werden die Sie Pausen ein: Ruhepunkt für den Impro-
grundlegenden »principes« dargelegt: »Die visierenden wie für den Hörenden, ge-
führende Stimme improvisiert die Melodie. stattet die Pause darüber hinaus, ›verbo-
Die nachfolgende Stimme wiederholt die Me- tene‹ Intervallsprünge wie Sekunden und
lodie eine Zählzeit später, in einem festgeleg- Quarten zu machen […]
ten Intervallabstand.«26 (14) Dieses Verfahren Etappe 3: diminuierter Kanon […] Füllen Sie
gestattet der Melodie nur bestimmte Intervall- die Terzen mit Durchgangsnoten […],
progressionen, was mithilfe zweier Notenbei- schmücken Sie die Tonwiederholungen
spiele für die Fälle ›Kanon im Unisono‹ und mit Wechselnoten […] trotz der von den
›Kanon im Oberquintabstand‹ veranschau- Durchgangsnoten hergestellten Schrittbe-
licht wird. (14) Es folgen einige »praktische wegungen gibt es durchaus gelegentlich
Ratschläge«, die vor allem Anfängern den Ein- auch Terzsprünge. […]
stieg erleichtern sollen: Etappe 4: [Singen Sie] mit Text. Siehe ›Prak-
tische Ratschläge‹ auf der vorherge-
»Stellen Sie sich einander gegenüber auf, so henden Seite.28
dass Sie bequem Blickkontakt herstellen kön-
nen […] Wählen Sie einen Modus aus und Auch hier erleichtern Notenbeispiele das Ver-
überprüfen Sie die vokalen Ambitus […] Ma- ständnis (Abb. 1). Es folgen Vorschläge zur
chen Sie ihren Kanon kurz und beenden Sie Auszierung der Kanonmelodie, die sich mit-
ihn mit einem schönen Abschluss«.27 (14) hilfe zahlreicher Notenbeispiele als ›Muster‹
auswendig lernen lassen (16), schließlich erste
Auf der anschließenden Buchseite (Abb. 1) Schritte zur Kadenzbildung, unter Einführung
werden dann die bisher allgemein gehalte- von Sopran- und Tenorklausel (»Comment
nen »principes« für einen Kanon im Unisono terminer un canon?«, 17). Auf den übrigen
konkretisiert. Zunächst werden dazu die in Seiten des Kapitels werden die bis hierhin
dieser Konstellation möglichen Intervallpro- behandelten Strategien auf Kanons im Oktav-
gressionen angegeben (Prim, Terz, Quint, auf- (18 f.) Quint- (20–23) und Quartabstand (23)
steigende Sexte, Oktave). Danach folgen Rat- übertragen.

25 »Quelques règles simples permettent d’im- 28 »Étape 1: […] L’antécédent improvise à base
proviser un canon à 2 voix, de l’orner et de lui de 3ces et de 5tes. […] Étape 2: […] Ajoutez des
donner de belles cadences.« (Janin 2014, 13) 6tes, 8ves et unissons. Saupoudrez de silences:
reposant pour l’improvisateur comme pour
26 »L’antécédent improvise la mélodie. Le l’auditeur, le silence permet en outre de faire
conséquent répète la mélodie un temps plus des intervalles ›interdits‹, comme les 2des et les
tard, à un intervalle donné.« (Ebd., 14) 4tes […] Étape 3: canon fleuri […] Remplissez
27 »Conseils pratiques […] Placez-vous l’un vis- les 3ces avec des notes de passage (P), ornez
à-vis de l’autre de façon à être en contact les unissons de broderies (B). […] malgré les
visuel confortable […] Choisissez un mode mouvements conjoints créés par les notes de
et vérifiez les ambitus vocaux […] Faites un passage, on a bien des 3ces d’un temps à l’autre.
canon bref se terminant par une belle fin« […] Étape 4: avec paroles. Voyez ›Conseils
(ebd.). pratiques‹ page précédente.« (Ebd., 15)

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Abbildung 1: Barnabé Janin, Chanter sur le livre, Kanonimprovisation im Unisono29

29 Ebd., 15 (Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlags Symétrie).

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Kapitel 2 » Gymel« Synkopendissonanzen und rhythmische Rela-


tionen verschiedener Art zulässt. (36–38)
Kapitel 2 greift mit dem ›Gymel‹ einen Satz-
typ auf, der hauptsächlich auf parallelgeführ- Kapitel 4 »Doux mélanges à 2 voix«
ten Terzen, Sexten und deren Oktavtranspo-
sitionen basiert.30 Hier findet der Einstieg in Das vierte Kapitel kombiniert die drei bis dahin
die ›cantus firmus‹-basierte Improvisation vorgestellten Improvisationstechniken mitein-
statt. Ab hier wird auch auf die den Übungen ander, zugleich »den Ohren der Zuhörer eine
folgenden »Mélodies pour improviser« (115– angenehme Vielfalt« bietend und »der Arbeit
180) regelmäßig verwiesen. Die Sammlung der Improvisierenden Würze verleihend«.32
weist eine große stilistische Bandbreite auf. Sie (39) Bis zu welcher Virtuosität der Improvisa-
ist in Abteilungen wie ›Gregorianischer Cho- tion dabei bereits mit den bisher vorgestellten
ral‹ (117–124), ›Hymnen‹ (125–140), ›Carols‹ Strategien gelangt werden kann, führt der auf
(141 f.) gegliedert und enthält neben geistli- Seite 41 notierte Satz zur Liedmelodie Gentils
chen Gesängen auch weltliches Liedgut (z. B. gallants (Chansonnier de Bayeux) vor Augen.
aus dem Lochamer Liederbuch, 145–148). Die in den folgenden Kapiteln angebotenen
Kommentare verdeutlichen, für welche der in Übungen schaffen für diese Strategien dann
Kap. 1–17 vorgestellten Übungen welche Me- neue Anwendungsgebiete, von der verhält-
lodie sich besonders eignet. Analog dazu sind nismäßig einfachen Fauxbourdontechnik als
die Literaturhinweise innerhalb der Übungs- einer dem Gymel verwandten basalen Form
kapitel sehr gezielt formuliert; für Übungen improvisierter Dreistimmigkeit (43–50) bis hin
zum verzierten Gymel im Terzabstand etwa zur Stegreifausführung doppelkanonischer
werden gezielt Melodien aus Abteilungen wie Strukturen über einem ›cantus firmus‹ (111–
›Carol‹, ›Laudes‹, ›Chansonnier de Bayeux‹ 113). Dabei wird der Entscheidungsspielraum
u. a. ausgewählt (»Choisissez une mélodie«, des einzelnen Improvisierenden mit wach-
30). sender Stimmenzahl natürlicherweise zuneh-
mend eingeschränkt; gelegentlich ergibt sich
Kapitel 3 »À 1 voix fleurie sur cantus firmus« aber auch eine Erweiterung der Möglichkeiten
(etwa im Gebrauch des Quartzusammen-
Dem Gymel-Kapitel folgt eine Unterweisung klangs33).
in der Improvisation diminuierter Zweitstim-
men zu ›cantus firmus‹-Vorlagen. Hier wer- ***
den der gegebenen Melodie unabhängige
Tonhöhenbewegungen zugeordnet. Zunächst Die Verdienste von Chanter sur le livre sind
werden »principes« angegeben, die die Aus- offensichtlich. Eine Materie von gewaltiger
wahl der zugelassenen Zusammenklänge, Stofffülle wird hier in einer übersichtlichen,
deren Anordnung im zeitlichen Verlauf und höchst anschaulichen Form präsentiert, die
grundlegende Verfahren der Melodiebildung dem für jede Improvisationsanweisung gelten-
regulieren. (36) Hieran schließt eine Dimi- den Anspruch an »Komplexitätsreduktion«34
nutionslehre an, die sich im didaktischen vollauf gerecht wird. Was von Improvisieren-
Aufbau am Spezieskontrapunkt mit der seit den nicht nur prinzipiell ›gewusst‹, sondern
Banchieri (1614) geläufigen Reihenfolge der
›Gattungen‹31 orientiert, vom durchweg kon- 32 »Combinées dans une même pièce musicale,
sonanten »contrepoint simple (note contre les techniques présentées dans les chapitres
note)« bis hin zum »contrepoint fleuri«, der précédents amèneront une agréable variété
aux oreilles des auditeurs, tout en pimentant
le travail des improvisateurs.« (Janin 2014, 39)
30 Vgl. Sachs 1995, 1732. 33 Vgl. ebd., 62.
31 Vgl. Palisca 1996, 611. 34 Andreas 1996, 598.

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auch während der Ausführung im geeigneten Dynamiken in Gang setzen können – z. B.
Moment als angemessene ›Problemlösungs- Profilierungsbedürfnisse einzelner, Konkur-
strategie‹ aktiviert werden soll, darf ja nicht renzverhalten sowie, damit zusammenhän-
zu einem allzu kompliziertes Netzwerk von gend, die Sucht nach ›Originalität‹ und die
›Wenn-Dann‹-Entscheidungen führen; daraus Angst vor Fehlern – ist ebenfalls ein bekanntes
ergibt sich für den Autor des Lehrbuchs die an- Phänomen.37 Zu den unabdingbaren Voraus-
spruchsvolle Aufgabe, das vielfältige satztech- setzungen gelingender Improvisation gehört
nische Detailwissen, welches der zum ›Refe- daher die Bereitschaft »gutgelaunt« und »mit
renzsystem‹ erhobene polyphone Stil fordert, Würde zu scheitern«.38 Das Buch Chanter sur
in ein zwar hinreichend differenziertes, dabei le livre gibt hier immer wieder auf charmante
aber möglichst prägnantes System von Regeln Weise wertvolle Hilfestellung. In der Préface
zu überführen. Der aus dieser doppelten Her- z. B. erzählt Haymoz eine von Lodovico Zac-
ausforderung folgende Zwang zur verantwor- coni (1555–1627) berichtete Anekdote: Dem-
tungsvollen didaktischen Reduktion macht nach hatte der später u. a. als Komponist und
das Buch zu einem wertvollen Unterrichtsmit- Musiktheoretiker zu Ehren gekommene Zac-
tel auch für Studien, die nicht explizit auf die coni als Schüler
Entwicklung improvisatorischer Praxis abzie-
len, z. B. den Tonsatzunterricht. Ausdrücklich »zwei Meister! Der eine […] unterbrach ihn
rät Janin selbst zum Gebrauch des Lehrbuchs beim ersten Fehler und zeigte ihm, wie er es
als Ergänzung der musiktheoretischen Lehre zu machen habe, aber Lodovico konnte [so]
(8), so wie er umgekehrt empfiehlt, die Arbeit keinerlei Fortschritt erzielen; der zweite –
mit dem Lehrbuch durch ein eingehendes Stu- der bessere – ließ ihn Übungen über einen
dium von Originalwerken und die Erstellung ›cantus firmus‹ machen ohne ihn anzuhalten,
schriftlicher Tonsatzarbeiten zu ergänzen (10). schlug ihm aber bei jeder Wiederholung klei-
Eine E-book-Version (als pdf-Dokument), die ne Beschränkungen vor, die es ihm ermöglich-
sich für die praktische Verwendung im Unter- ten, sich nach und nach wirkliches Können
richt empfiehlt, ist vom Verlag angekündigt. anzueignen.«39 (7)
Einzigartige Qualität erhält das Buch durch
seine bis in den sprachlichen Tonfall hinein Dies ist der Geist, der auch aus Janins Lehr-
spürbare Verankerung in langjähriger Praxis buch spricht: »Irrtümer sind unvermeidlich
der Gruppenimprovisation. So wird etwa auch und notwendig, wenn man Fortschritte ma-
dem wichtigen psychosozialen Faktor35 sol- chen möchte.«40 (12) Gerade ein gewisser
cher Unternehmungen die angemessene Auf-
merksamkeit geschenkt. Dass zu den »emo- 37 Im Bereich der kollektiven Improvisation wur-
tionalen Bedingungen« kreativer Prozesse de es besonders eindrucksvoll für das Impro-
»relative Angstfreiheit, Vertrauen, positive Er- visationstheater beschrieben. Vgl. etwa Wolf
fahrungen mit emotionaler Kommunikation«36 2015, 39 f.
gehören, versteht sich; dass aber zielgerich- 38 Johnstone 1998, 33. Vgl. ebd., 96–103.
tete Gruppenprozesse auch gegenläufige 39 »Lodovico Zacconi […] a eu deux maîtres!
Le premier, nous dit-il, l’interrompait à la pre-
35 Gagel (2010, 194) beschreibt Gruppenim- mière erreur et lui montrait comment faire,
provisationen als kommunikative Prozesse, mais Lodovico ne pouvait pas progresser;
bei denen »Improvisierende […] aufeinander le second – le meilleur – lui faisait faire des
reagierend, miteinander kooperierend, musi- exercices sans l’arrêter sur un cantus firmus
kalische Strukturen in einem System gegen- en lui proposant à chaque fois de petites
seitiger Wahrnehmung, Akzeptanz und Acht- contraintes qui lui ont permis, petit à petit, de
samkeit und auf der Basis ihrer jeweiligen se construire un véritable savoir-faire« (Janin
Kompetenzen, Fähigkeiten und Engagements 2014, 7; Hervorhebung original).
[schaffen].« 40 »Les erreurs sont inévitables et nécessaires
36 Andreas 1996, 600. pour progresser.« (Ebd., 12)

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Spielcharakter, ein sportiver Aspekt41 ist es, Formats: Den Benutzern wird empfohlen,
der nach Ansicht des Autors die gruppenim- sich bei der Improvisation nach historisch ver-
provisatorische Auseinandersetzung mit der bürgter Weise um das auf einem Pult platzier-
anspruchsvollen Materie ›Renaissancekontra- te Buch zu gruppieren. (12) Das großzügige
punkt‹ ratsam erscheinen lässt: DIN A4-Format, verbunden mit der ästhe-
tisch ansprechenden Wiedergabe der ›cantus
»Natürlich kann man alleine arbeiten, wenn firmus‹-Melodien (teils im originalen, farbigen
man die vorgegebenen Melodien [vorher] Druckbild) begünstigt dieses Verfahren.
elektronisch aufzeichnet, aber man kommt Freilich darf man sich vom lockeren Ton-
mit Kollegen besser voran, da selbst deren fall des Autors und der verlockenden Ausstat-
Fehler uns voranbringen können! Und weil tung nicht darüber hinwegtäuschen lassen,
die Improvisation Vergnügen bereitet, werden dass das Manuel nicht nur zu vergnüglichen
Sie mit guter Laune arbeiten!«42 (7) Spielereien auffordert, sondern auch zu har-
ter, schweißtreibender Arbeit. Die meisten
Den besten Gewinn aus dem Lehrbuch Chan- der in Chanter sur le livre gegebenen Hand­
ter sur le livre zieht demnach derjenige, der lungsanweisungen sind keineswegs leicht zu
es in einer zwischen Arbeit und Vergnügen bewältigen. In jedem Fall muss ausgeprägte
wohlausbalancierten Atmosphäre gebraucht: Fertigkeiten im Bereich der Gehörbildung
»regelmäßiges Üben«43 (8) ist unabdingbar, besitzen, wer das Lehrbuch in der vom Autor
doch am besten im freundlich herausfordern- vorgesehenen Weise nutzen möchte. Keines-
den ›Spiel‹ gemeinsamen »mit Freunden und falls ist es als Lehrgang für ›Anfänger‹ in dieser
solchen, die es werden wollen.«44 (12) Zu den Disziplin zu empfehlen; es richtet sich eindeu-
herausragenden Merkmalen von Chanter sur tig an ›Fortgeschrittene‹. Auch sollte die Ver-
le livre gehört die in solchen Äußerungen trautheit mit grundlegenden Kategorien des
spürbare Lust an der positiven Motivation. theoretischen Umgangs mit polyphoner Mu-
Auch die ansprechende optische Ge­ sik der Renaissance gegeben sein; aufgrund
staltung (Illustrationen: Marie Gourdon) soll ihrer notwendigen Knappheit erscheinen die
an dieser Stelle als ›motivationsförderndes‹ sprachlichen Formulierungen vielfach für eine
Charakteristikum des Manuel genannt wer- ›Erstbegegnung‹ mit der Materie ungeeignet.
den, ebenso wie die praxisnahe Wahl des Insbesondere ist häufig nicht der Raum für
die ausführliche Begründung satztechnischer
41 Vgl. das betont antiakademische Vorge- Regeln.45
hen Keith Johnstones (einer Zentralfigur des Ähnlich lakonisch, obgleich insgesamt
modernen ›Impro-Theaters‹), der den soge- sehr zahlreich, fallen oft auch die pragmati­
nannten »Theatersport« (Johnstone 1998, 28) schen Hinweise zur Ausführung der Übun-
kreierte, bei dem spielerisch konkurrierende gen aus. Dass das gemeinsame Gestalten von
Schauspielerteams einander durch gegenseiti- Kadenzen im zweistimmig improvisierten
ge »Herausforderungen« (ebd., 57) und deren
Kanon durch Handzeichen erleichtert werden
Bewältigung im spielerischen Wettkampf zu
›besiegen‹ versuchen.
42 »Bien sûr, on peut travailler seul en enregis- 45 Vgl. eine Anweisung wie die folgende zur
trant les mélodies données mais on avancera zweistimmigen Kanonimprovisation über ei-
mieux avec des collègues, dont même les er- nem ›cantus firmus‹: »Die Quinte [als melo-
reurs peuvent nous faire avancer! Et comme dische Fortschreitung] ist nur möglich, wenn
l’improvisation crée du plaisir, vous travaille- ihr die Terz folgt (außer manchmal, wenn im
rez dans la bonne humeur!« (Janin 2014, 7) CF ein Tonwechsel stattfindet)« (»La 5te n’est
acceptée que si elle est suivie de la 3ce [sauf
43 »[…] une pratique régulière avec des musi- parfois en cas de changement de note du
ciens amis« (ebd., 8). CF]« [Janin 2014, 66]). Eine solche Formu-
44 »Improvisez avec des amis ou futurs amis.« lierung überlässt die Herleitung der Satzregel
(Ebd., 12) vollständig dem Leser.

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kann, ist gut vorstellbar. (17) Komplexer schon eine individuelle, gut eingespielte Form der
ist die Aufgabe, den Mitgestaltern eines drei­ Gruppenkommunikation entwickelt haben.
stimmigen Satzes manuell die improvisierte Der Weg dorthin wird vom Lehrbuch Chanter
Rhythmisierung einer ›cantus firmus‹-Tonfolge sur le livre nicht im Einzelnen aufgezeigt; er
anzuzeigen. (46) Geradezu provozierend muss von ambitionierten Nutzern selbststän-
klingt jedoch die launige Aufforderung an dig erarbeitet werden. Nicht umsonst emp-
die Improvisateure eines diminuierten zwei­ fiehlt Janin die Begleitung der gemeinsamen
stimmigen Satzes über einer ›cantus firmus‹- Arbeit durch eine erfahrene Lehrperson. (8)
Melodie, einander in der Stimmführung wie Auch die erwähnten Ratschläge zur Gestal-
Goldfische zu ›umkreisen‹ und dabei die tung gruppendynamischer Prozesse und zum
Absichten des jeweils anderen zu »erraten«.46 Umgang mit frustrierenden Erfahrungen er­
(78) Wer Erfahrung mit Gruppenimprovisation scheinen in diesem Zusammenhang beson-
besitzt, weiß natürlich, dass Reaktionen durch ders angebracht.
intensives Training auf die Dauer zu »réflexes« Alles in allem handelt es sich bei Chanter
(66, 70) werden können und schließlich die sur le livre um ein höchst empfehlenswertes
wechselseitige »anticipation« (103) von Ver- Lehrbuch, das viel verspricht und viel hält.
haltensweisen möglich machen. Dennoch Leider liegt es bislang nicht in deutscher Über-
liegt es auf der Hand, dass derlei Anweisungen setzung vor. Es bleibt zu wünschen, dass sich
nur von fortgeschrittenen Gruppen genutzt dies baldmöglichst ändert.
werden können, die bereits viel – und v.a.
viel gemeinsame – Expertise gesammelt und Kilian Sprau

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ter Mehrstimmigkeit im 16. Jahrhundert«,
Musica 13, 163–167.

46 »L’art de chaque improvisateur consistera


à rester à l’écoute de l’autre, à deviner ses
intentions, de manière à éviter de se retrouver
à l’unisson avec lui sur plus d’une note, ou
de faire dissonance avec lui. L’avez-vous
remarqué? Ainsi font deux poissons rouges
en un bocal, qui se croisent et se recroisent
harmonieusement, sans jamais se heurter«
(ebd., 78; vgl. auch 94).

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