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«PIERROT LUNAIRE»

V O N A R N O L D S C H Ö N B E R G VONNK
, OLAJROSLAVEC

Äusserlich handelt es sich um einen Zyklus von 21 kleinen Mit der Schaffung neuer «Harmonieformen» erreicht
Melodramen: um ein vertontes Poem des französischen Schönberg die allergrösste Originalität und Selbständigkeit
Dichters Albert Giraud, das über die Leiden und Erlebnisse in Bezug auf die verschiedenartigsten Traditionen. Seine
Pierrots im Mondlicht berichtet. Das Stück ist für «Sprech- Harmonien sind nicht das Ergebnis zufällig oder vorsätzlich
stimme» (etwas zwischen Rezitativ und Gesang) kompo- zusammengefügter Funde auf der Grundlage des Dur-Moll-
niert, begleitet von Klavier, Flöte (oder Piccolo), Klarinette Systems (so wie die harmonische Methode Debussys und der
(oder Bass-Klarinette), Violine (oder Viola) und Violoncello, Mehrheit gegenwärtiger «Modernisten»), sondern stellen ein
die verschiedene Kombinationen mit der Hauptstimme vollkommen neues, einheitliches und logisch vollendetes
bilden. System dar, welches auf anderen Grundlagen beruht.2 Die-
«Pierrot lunaire» wurde 1912 von Schönberg komponiert sem System liegt die zwölftönige temperierte chromatische
und mit Op. 21 bezeichnet. Für jeden, der das Schaffen Skala zugrunde, aus deren Tönen Schönberg seine «viel-
Schönbergs studieren möchte, muss dieses Stück ganz etagigen» harmonische Gebilde aufbaut, wobei er gerne alle
bestimmt zum Ausgangspunkt werden. Wie im Brennpunkt Stufen des Modus gleichzeitig erklingen lässt. Ganz klar,
sind hier die typischsten Merkmale des Schönbergschen Stils dass bei solch einer vereinfachten Einstellung das gesamte
konzentriert, die sich überdies auf eine relativ einfache und komplizierte Gefüge der auf Prinzipien des klassischen
leicht zugängliche Weise darstellen. D«r-Mo//-Systems erbauten harmonischen Vorstellungen
Man sollte jedoch nicht «Pierrot lunaire» für ein Doku- unvermeidlich zusammenbricht.
ment halten (etwa wie «Prométhée» bei unserem Skrjabin), Schönbergs harmonische Neuerung besteht jedoch nicht
das einen Wendepunkt im schöpferischen Denken Schön- in der Ablösung der Dur-Moll-he'üer durch die «ausser-
bergs markierte, wo er sich auf den Kampf für den neuen tonale» chromatische Skala. Die chromatische Skala als
Stil ausrichtete. Solch ein Dokument war für Schönberg harmonische Grundlage ist schon längst in der komposito-
eigentlich Op. 11, «Drei Klavierstücke», geschrieben bereits rischen Praxis verwirklicht und erlangte sogar, wenn Sie
im Jahre 1909 direkt nach dem bekannten Streichquartett wollen, «akademische» Anerkennung. So findet man
fis-Moll Op. 10. Schon in diesem Quartett, insbesondere problemlos heraus, dass jedes wohlgesinnte Handbuch für
in den letzten Sätzen, fühlt man den Anfang einer «Umwer- Harmonielehre die «Bürgerrechte» der Töne bestätigt, die
tung» und eines Sondierens neuer Ausdrucksmittel. Dieses dem siebenstufigen diatonischen System fremd sind. Zu
Quartett liefert ein sehr eigenartiges psychologisches Zeug- diesen Tönen (bezeichnet übrigens als Durchgangsnoten)
nis einer Krise des schöpferischen Bewusstseins, das gleich- gehören die verminderte 2. Stufe, die erhöhte 2. und 4. Stufe
sam von einer plötzlich aufgetauchten Vision neuer schöpfe- (z.B. im doppelt übermässigen Terzquartakkord) sowie die
rischer Perspektiven überrumpelt worden ist. Äusserst verminderte 6. Stufe (harmonisches Dur): insgesamt vier
auffällig in dieser Hinsicht sind solche für das Quartett Töne, welche zusammen mit den sieben Haupttönen der dia-
charakteristischen Züge wie eine nervöse Brüchigkeit und tonischen Skala eine elfstufige chromatische Leiter, d. h. fast
Zerstreuung des Stils, welche weder in den früheren noch in die ganze chromatische Skala bilden, wo nur ein einziger Ton
den folgenden Werken Schönbergs zu beobachten sind. fehlt, der durch Alterierung der 6. oder 7. Stufe erzeugt wer-
Wie gesagt fängt Schönberg bereits in den «Drei Klavier- den kann. Schönbergs wichtigste Neuerung auf dem Gebiet
stücken» an, seine neuen Probleme der Tonanschauung zu der Harmonik besteht darin, dass er endgültig die archaische
lösen, und stellt sich von diesem Zeitpunkt an «jenseits von Entgegensetzung von Konsonanz und Dissonanz beseitigte,
Gut und Böse» nicht nur hinsichtlich der klassischen Musik, indem er diese Entgegensetzung der naiven Hypothese eines
sondern auch der modernen musikalischen Richtungen. Von unvollkommenen Hörens zuschrieb, das geneigt ist, alle
nun an ist er ein Revolutionär, ein Neuerer, der alle heiligen einfachen und dadurch leicht wahrnehmbaren Tonkomplexe,
Grundsätze bricht und neue Wege in der Kunst einschlägt. die aus den zum Grundton nächsten Obertönen der Natur-
Schliesslich tritt er in «Pierrot lunaire» mit aller Kraft als skala entstehen, auf den Begriff der «Konsonanz» zurück-
Meister auf, welcher Formen neuer Tonanschauung erschafft zuführen, die Kombinationen dagegen, in welchen entfernte,
und, unbeirrt und kühn, hundertjährige Vorstellungen der vom ungeübten Ohr schwer zu integrierende Obertöne prä-
Menschheit von der Schönheit in der Tonkunst umwirft. sent sind, mit dem Begriff der «Dissonanz» in Zusammen-
Um sich ein mehr oder weniger richtiges Bild von Schön- hang zu bringen. Schönberg hat ganz recht mit der Ansicht,
bergschen kreativen Prinzipien zu machen, die dem von uns dass der Eindruck eines Wohl- oder Missklanges rein subjek-
betrachteten Werks zu Grunde liegen, muss man die Haupt- tiv ist und ausschliesslich vom gehörsmässigen Kultiviert-
bestandteile der Schönbergschen Musik analysieren,d.h. heitsniveau des Wahrnehmenden abhängig ist. Das ist eine
Harmonik, Melos und Rhythmus (letzterer verstanden als Sache der Hörgewöhnung. Sie führte uns zur Beseitigung
Grundlage der formalen Konstruktion). des Hörvorurteils, das seinerzeit die Intervalle der Terz und
Natalia Sergeewna
Gontscharowa:
«Flugzeug
über dem.
Zug» (1913)

der Sexte der Dissonanz zurechnete; sie ist letzten Endes tung», eines Spieles irgendwelcher blinder Elementarkräfte, Ganz absichtlich
fähig, unseren Begriff vom Wohlklang derart auszuweiten, lasse ich eine detail-
und irgendwelche «transzendentalen» Merkmale sind ihnen lierte Analyse sowie
dass alle Akkorde ungezwungen in unser Bewusstsein ein- durchaus fremd. Im Gegenteil: sie sind sehr «irdisch», eine die Formulierung der
Schönbergschen Har-
gehen können.3 Frucht von Anstrengungen des tiefen und konzentrierten monieverfahren weg:
Man soll also weder «Konsonanzen» noch «Dissonanzen» Denkens, das immer weiss, wohin es geht und was es will. Ich meine, dass sie,
solange sie vom Kom-
in den Schönbergschen Harmonien suchen. Die Tonkom- Aus diesem Grund gibt es nichts an ihnen, was zufällig, ponisten in der Praxis
verwendet werden,
plexe sind hier das Gewebe aus komplexen Verbindungen «mystisch» wäre: Jeder ihrer Töne ist überlegt, geschliffen seine private Sache,
(teilweise polyharmonischer Art), deren Entstehung durch und an den richtigen Platz gesetzt. sogar vielleicht sein
Geheimnis bleiben
das innere Bedürfnis des Künstlers bestimmt ist, seine Idee Kein einziger Ton kann einem Schönbergschen Thema sollen; dieses Geheim-
auf die geeigneteste Weise auszudrücken. * nis aufzudecken, wäre
zugefügt oder weggenommen werden, genauso kein einziger in vielerlei Hinsicht
Es wäre bestimmt ein Fehler, zu behaupten, dass Schön- Ton in ihm geändert werden, ohne das ganze Thema zu zer- voreilig, abgesehen
von einer Indiskretion
bergs Verzicht auf offensichtliche Vorteile des Dur-Moll- stören. Das betrifft nicht nur das Thema, sondern auch das dem Künstler gegen-
Systems, welches grössere Vielfalt harmonischer Verfahren harmonische Gewebe, welches es bekleidet. Trotz der schein- über, der, wie wir wis-
sen, vorläufig dieses
bietet, eine grauere und trübere Harmoniepalette zur Folge baren Unabhängigkeit der melodischen Linie von der sie Geheimnis hütet.
haben müsste. Alles Mögliche, nicht aber Mangel an Farbig- begleitenden Harmonie ist diese melodische Linie nichts-
keit und Ausdruckskraft, kann der Schönbergschen Harmo- destoweniger mit ihrer harmonischen Grundlage organisch
nik vorgeworfen werden. Ganz im Gegenteil verdienen eher verschweisst. Jeder Ton der Melodie ist im Grunde genom-
die blendende Pracht und die Kühnheit des harmonischen men auch eine der Harmoniestimmen; jedoch stellt die
Gewandes einen gewissen Vorwurf, denn sie sind viel zu auf- gesamte Melodik durchaus nicht eine einfache Folge von
fällig, ziehen die ganze Aufmerksamkeit fast ausschliesslich Akkordtönen der sogenannten «harmonischen Figuration»
auf sich. Es wäre vielleicht kluger und zweckmässiger, wenn (wie bei Skrjabin in der nachprometheischen Periode) dar.
der Meister seinen heftigen harmonischen Strom in ein ruhi- Dies ergibt sich aufgrund folgender Umstände: Die Schön-
geres Bett führte. Aber... über Sieger richtet man nicht. bergsche grundlegende Leiter ist, wie wir wissen, die zwölf-
So ist im grossen und ganzen die Schönbergsche harmo- stufige chromatische Skala. Für Schönberg ist diese, wenn
nische Sprache. Ihre Wirkung ist äusserst streng, herb und Sie wollen, eine «Tonalität», ein Modus, in dem alle Töne
hart. Sie ist unerbittlich und verachtet die «Schönheit», derart organisch miteinander verwandt sind, dass sie unge-
jene sinnliche, würzige und raffinierte Tonschönheit, die hindert in einem Tonkomplex verschmelzen können.4 In-
von der Generation der absterbenden impressionistischen folgedessen verfügt Schönberg beim Komponieren einer
Epoche zum ästhetischen Prinzip erhoben worden ist. Sie ist Melodie über eine grosse Freiheit in der Wahl der Töne, was
jung und deswegen schonungslos. Sie ist Wortführer einer ihm erlaubt, eine melodische Linie aufzubauen, die schein-
neuen Schönheit, die erst noch aus den Tiefen eines neuen bar völlig von ihrem harmonischen Gerüst emanzipiert, mit
Bewusstseins geboren wird, welches auf dem Stängel einer ihm aber im Grunde doch organisch verschweisst ist. Hieraus
jungen Kultur aufblüht. Diese neue Schönheit wurde nur von wird klar, warum jeder Ton der melodischen Kette in jedem
wenigen verspürt, und einer der ersten war Schönberg. beliebigen Moment eine harmonische Funktion überneh-
Betrachten wir zunächst das Schönbergsche Melos. men, eine «reale Stimme» der Harmonie werden kann, ohne
Allein der flüchtige Blick auf die scharfen Brüche der seinen in die gesamte harmonische Masse eingebundenen
Schönbergschen Melodien macht offensichtlich, dass diese Prototyp zu wiederholen. Solche Funktionen liegen poten-
die Frucht einer erstaunlichen Erfindungskraft und riesigen tiell in den Tönen, kraft ihrer modalen Qualitäten.
Meisterschaft sind. Immer originell, kühn und markant, Hieraus wird auch klar, warum die Schönbergsche Melodie
kraftvoll und ausdrucksvoll, sind diese Melodien jedoch nicht auf den Begriff «harmonische Figuration» zurück-
keineswegs Ergebnis der sogenannten «göttlichen Erleuch- geführt werden kann. Letztere ist nämlich das Ergebnis eines 24/25
«mechanisierten» Prozesses, einer Wiederholung von
Elementen, die in der fertigen, schon früher existierenden
Klangformel des Akkords angelegt sind: Diese Methode zur
Bildung der Melodie könnte als analytische bezeichnet wer-
den, ausgedrückt durch die Formel «von der Harmonie zur
Melodie». Eine Melodie des Schönbergschen Typs stellt hin-
gegen das Ergebnis eines viel komplizierteren organischen
Prozesses dar, bei welchem die Schaffung der melodischen
Kontur sich parallel und gleichzeitig mit der Schaffung ihres
harmonischen Fundaments vollzieht, was uns veranlasst, die
sich hieraus ergebende Methode melodischer Konstruktion
synthetisch zu nennen.
So sind in grossen Zügen die Bildungsprinzipien des
Schönbergschen Melos. Auch auf diesem Gebiet ist unser Olga
Meister ein Neuerer, obwohl hier für viele die neuen Züge Wladimirowna
weniger als auf dem harmonischen Gebiet erkennbar sind. Rosanowa:
Für mich ist jedoch ganz klar, dass die Schönbergsche syn- «Stadtlandschaft»
thetische Methode eine neue Methode ist, welche keine (1913/14)
Wurzeln in der klassischen Musik besitzt, denn in letzterer
herrscht beim Komponieren des Melos ausschliesslich ein
dem Schönbergschen entgegengesetztes Prinzip, das ich als
analytisches definierte, und zwar das Prinzip der «harmoni-
schen Figuration», das die Brücke zwischen dem Schaffen sieht ist «Pierrot lunaire» ein unerschöpflicher Ausbund an
Mozarts und Debussys, Beethovens und Skrjabins schlägt.5 kontrapunktischen Feinheiten aller Art. Selbstverständlich
Dies behaupte ich kategorisch, auf das Risiko hin, für meine gewinnen all diese «Archaismen» in Schönbergs Händen
Meinung bei der Mehrheit kein Verständnis zu finden, und einen völlig neuen Sinn: mit ihrem früheren Dasein bleiben
könnte es beweisen, wenn ich nicht befürchtete, damit den sie manchmal sozusagen nur terminologisch verbunden.
Rahmen meines Artikels weit über die gesetzte Grenze zu So ist im grossen und ganzen die Sprache formaler Kon-
überschreiten. struktionen im «Pierrot lunaire». Diese Sprache ist ziemlich
Uns bleibt nun übrig, die dritte Seite des Schönbergschen komplex und für die Wahrnehmung durch ein unerfahrenes
Schaffens kennenzulernen: die in seinen Werken verwende- Bewusstsein bestimmt schwierig. In dieser Hinsicht aber
ten Methoden zur Bildung der rhythmischen Struktur, ihrer trifft Schönberg sicher keine Schuld: Zu ungewöhnlich und
Architektonik, was in der Musikterminologie als «Form» im zu neu ist das Klangmaterial selbst, mit dem er es zu tun hat.
engeren Sinne bezeichnet wird. Wir haben ein mehr oder weniger komplettes Bild des
Auch hier treffen wir auf die für den Komponisten typi- Schaffens Schönbergs gezeichnet, wie es sich in seinem
schen innovatorischen Tendenzen. Vom Prinzip zwei- und «Pierrot lunaire» widerspiegelt. Dieses Bild zeigt uns Schön-
dreiteiliger formaler Konstruktionen (der klassischen «Lied- berg als einen der stärksten Künstler der Gegenwart, als
form») kann keine Rede sein. Dies ist, gewiss, ganz verständ- meisterhaften Neuerer, der mit erfahrener und fester Hand
lich, wenn wir uns erinnern, dass im Schönbergschen harmo- die Tonkunst auf einen neuen Weg orientiert. Die
nischen System alle Voraussetzungen fehlen, die für die Schönbergschen Schaffensprinzipien und -methoden
Bildung der traditionellen «Liedformen» notwendig sind. erobern allmählich das musikalische Denken der modernen
Diese Formschemen werden bei Schönberg durch freie künstlerischen Jugend, und schon jetzt kann man von der
Formen improvisatorischer Art ersetzt, die manchmal moti- «Schönberg-Schule» als einer Tatsache reden, die für die
visch-thematisch, d.h. äusserlich, vereint sind; meistens nächste Musikzukunft eine entscheidende Bedeutung hat.
erscheinen jedoch diese Formen als Organismen, die Damit könnten wir eigentlich diesen Artikel beenden,
ausschliesslich durch innere psychologische, ähnlich wie wäre da nicht noch etwas im «Pierrot lunaire», was sympto-
die Harmonik wirkende Einheit festgeschweisst sind. matisch und charakteristisch für dieses Stück und seinen
In diesen Fällen wird jeder musikalische Gedanke ganz Autor ist, was man nicht verschweigen kann, ohne die allge-
und vollkommen ausgedrückt, verbleibt aber im Zustand meine Perspektive des Schönbergschen Schaffens zu entstel-
ständiger Gravitation zum nächsten Gedanken und bildet len. Ganz recht hatte einer der Kritiker Schönbergs, als er
mit ihm eine ununterbrochene logische Kette. Dies wird bemerkte, dass alle sich gegenseitig widersprechenden Ele-
durch Kontrastwechsel von rhythmischen Elementen mente des Schönbergschen Schaffens sich am plastischsten
bewirkt, von denen gewisse einen psychologisch stabilen im «Pierrot lunaire» widerspiegelt hatten. Einer der wesent-
Charakter besitzen und andere im Gegenteil einen unstabi- lichsten und ernsthaftesten Widersprüche in diesem Stück
len; die ersteren finden in sich selber die Lösung der Wider- ist meiner Ansicht nach der Zwiespalt zwischen seinem
sprüche, die sie erzeugen, während die letzteren eine Stütze «Inhalt» und seiner «Form»: zwischen der poetischen
ausserhalb suchen und diese in neuen Rhythmus-Strukturen Gestalt, erzeugt vom Dichter, und der musikalischen Gestalt,
finden, die sie damit ins Leben rufen. Das in der Zeit entfal- geschaffen vom Komponisten. In der Tat: Der feine, auserle-
tete Schönbergsche Gebäude lässt auf diese Weise ein sene Impressionist Giraud, ein Ästhet durch und durch, der
eigenartiges Spiel der «Konsonanz» und «Dissonanz» auf so sinnlich, so geniesserisch die ephemerste poetische Ge-
dem Gebiet des Rhythmus (!) erkennnen. stalt, eine Blume seiner krankhaften und übersättigten Phan-
Um seine konstruktiven Aufgaben zu lösen, verwendet tasie, kostet, und die revolutionäre, gesunde und ungestüme
Schönberg eigenartigerweise manchmal alte, längst Natur Schönbergs, ein Mensch von diszipliniertem Intellekt
abgenutzte Formen (so ist die Nr. 8 im «Pierrot lunaire», und eisernem Willen, mit einer Psyche und Mentalität, die im
«Nacht», in Passacaglia-Form geschrieben). Ausserdem wer- Gegensatz zum Impressionismus stehen, ein Neuerer dabei,
den zahlreiche polyphone Formen benutzt, von der «Imita- der in der Kunst eine Richtung schafft, die dem Impressio-
tion» bis hin zum kompliziertesten «Kanon». In dieser Hin- nismus entgegengesetzt, dessen vollkommene Antithese ist.
Ein merkwürdiges Amalgam der sich gegenseitig abschlies- Epochen entstehen, wo das nach der Hervorbringung neuer
senden Mentalitäten, nicht wahr? Formen strebende neue künstlerische Bewusstsein, unfähig,
Gewiss konnte es in diesem Fall zu keiner organischen in sich den atavistischen Zauber der Vergangenheit zu über-
Verschmelzung zweier auf den gemeinsamen Zweck der winden, gehorsam nach Formen der Selbstverwirklichung in
Kunstwerkgestaltung gerichteter Schaffenskräfte kommen, den Idealen der in die Ewigkeit eingehenden Epoche sucht?
und ein einheitlicher und vollkommener künstlerischer (Übersetzung und Anmerkungen: Marina Lobanova)
Organismus, eine Frucht der Synthese zwischen den zwei
1. Nik. Roslavec, «Lunnyj P'ero» Arnol'da Sënberga, in: K novym beregam
Kunstelementen, der Poesie und Musik, könnte ja nur auf- 3/1923,3.28-33.
grund solch einer Vereinigung zustande kommen. Statt einer
2. Die Evolution des klassischen Systems, die zur Emanzipation der Domi-
Vereinigung ergab sich ein Konflikt, ein Zusammenstoss nante und der Dissonanz sowie zur neuen Akkordik und Auflösung traditio-
neller harmonischer Funktionen führte, endete Roslavec' Meinung nach in
zweier unverträglicher schöpferischer Individualitäten im einer Sackgasse: Neue harmonische Strukturen wurden durch Akkorde
Kampf um die Gestalt des Kunstwerks. In diesem Kampf begrenzt, die aus nicht mehr als fünf Tönen bestanden. Ausbrüche aus
diesem Denken in Nonakkorden erblickt Roslavec in Westeuropa in Schön-
musste jemand gewinnen. Und der Stärkere, Schönberg, bergs zweiter Periode (Op. 11) und in Russland bei Skrjabin (Prométhée)
siegt: der Stärkere, weil er den «lebenden Geist» einer neuen und bei sich selbst. Hier unterstreicht Roslavec von neuem den «offenen
Bruch» mit dem klassischen System und den Anfang eines freien, allein
Kultur trägt, die die absterbende Kultur des Impressionisten dem Hören verpflichteten Weges. Zu Anfang dieses Weges herrscht das
Chaos «freier Atonalität»; dann ergibt sich die Notwendigkeit eines organi-
Giraud ablöst; der Stärkere, weil er zu uns gehört, da alles, sierenden Prinzips, eines Systems, weichem strenge Gesetze zu Grunde
was er erschafft, uns nah und verständlich wird, da es eine liegen. Dieses System sollte grundsätzlich neu sein. Roslavec betont
überall die Unmöglichkeit von jeglichem «Zurück-Zu», einer künstlichen
lebendige Verwirklichung unserer Gedanken, Gefühle und Wiederherstellung des klassischen Systems heutzutage: Zürn klassischen
Bestrebungen ist. System können wir nicht zurückkehren, aber ich glaube, wir müssen zu
einem bestimmten System zurückkehren, wo man sich genau so fühlen
Seinen Sieg erreichte jedoch Schönberg um den Preis würde wie Beethoven, als er seine grössten Werke schuf (N. Roslavec,
Novaja sistema organizacii zvuka i novye metody prepodavanija kompozlcii,
einer Entstellung der Gestalt, die der Dichter in seinem Werk, S. 22f.).
welches zur Grundlage der musikalischen Schöpfung wurde, Vieles in den Äusserungen Roslavec' aus verschiedenen Jahren entspricht
den Grundlagen der Schönbergschen Harmonielehre: u.a. bestätigt der
erzeugt hatte. Die Gestalt des Pierrot, so wie sie uns in der Komponist das neue Verhältnis zur Dissonanz, die frei verwendet wird, und
Musik Schönbergs vorgestellt wird, ist nicht mehr ein Pierrot zur Chromatik, die ein zwölfstufiges System darstellt, sowie die dadurch
erzielte Einheit von vertikaler und horizontaler Dimension der musikalischen
«lunaire», ein gespenstischer Pierrot mit seinem zärtlichen Komposition. Die Tonalität wird als historisch lokales Phänomen betrachtet:
die tonalen Beziehungen sollten sich in Richtung allmählicher Lockerung
Seufzen, in dem ein Spiel mit den feinsten Harmonien entwickeln, was zu Anfang des 20. Jahrhunderts zur Krise der Tonalität
Debussys erscheint, sondern ein «Stahlbeton»-Pierrot, ein führt; während der Musikevolution beherrsche das Gehör nach und nach
die Töne der Obertonreihe; im Prozess dieser Entwicklung gehe die Disso-
Kind der modernen industriellen Stadtgiganten, ein der nanz in die Konsonanz über. (Vgl.: N. Roslavec, Novaja sistema... und
A. Schönberg, Stil und Gedanke, hrsg. von I. Vojtech, in: A. Schönberg,
Menschheit noch unbekannter neuer Pierrot, in dessen Seuf- Gesammelte Schriften I, Frankfurt am Main 1976)
zen man den Knall des Metalls, das Rasseln des Propellers
3. Roslavec betrachtete alle harmonischen Systeme, darunter das klassi-
und das Gebrüll der Autohupen hört. Dieser Pierrot bei sche, als historisch-relative; er schrieb: Ein einheitliches, ewiges, absolutes
Schönberg ist zwar auch mit Lichteffekten ausgestaltet, aber und allumfassendes System gibt es nicht. (N. Roslavec, Novaja sistema...,
S. 6). Das klassische System sei nur eine der zahlreichen Etappen innerhalb
die Quelle der Lichtenergie ist hier keineswegs mehr der eines unendlichen Prozesses, in dem sich das Gehör allmählich das nicht
Mond, sondern ein mächtiger elektrischer Projektor... organisierte Material aneignet. Die Erziehung des Hörens führe zu einer
immer stärkeren Komplizierung: zunächst handle es sich um harmonie-
Wenn ich das behaupte, übertreibe ich keineswegs meinen fremde Töne (der Dreikiang kompliziert sich durch die Septime, dann auch
durch die None); weiter würden Durchgangsnoten und alterierte Akkorde
Eindruck von der Schönbergschen musikalischen Gestalt. normativ. Als Endergebnis dieser Entwicklung schaffe sich bei Liszt,
Wagner, Reger, R. Strauss und Skrjabin die klassische Tonalität selbst ab:
Versuchen Sie nur, Schönbergs einundzwanzig «Melo- Diese Komponisten ersetzten sie durch das chromatische System, das nur
dramen» auf dem Klavier zu spielen, hören Sie auf deren entfernt auf der Tonalität basiere. Hier wurzelt der Übergang in die Atona-
lität oder Omnitonalität. Debussy breche mit dem klassischen System,
ständig (sogar an den «delikatesten» Stellen!) nach indem er die tonalen Prinzipien über Bord werfe (N. Roslavec, Novaja
Knirschen und Rattern klingenden Harmonien, verfolgen sistema..., S.6). Im Endergebnis einer solchen Entwicklung des tonalen
Systems, behauptete Roslavec, könnten beliebige Akkorde untereinander
Sie die scharfen, ja stählernen Brüche der Melodien, stellen in Verbindung treten; gleichzeitig würden die klassischen Stimmführungs-
formeln beseitigt. Die Komplizierung der Akkorde führe zur Emanzipation
Sie sich das Ganze in der vom Komponisten erdachten bizar- der Dominante; die Harmonie gründe sich auf den «dominantischen Proto-
ren, «leuchtenden» Klanglichkeit vor, und Sie müssen zuge- typ». Als künstlerisches Beispiel führt Roslavec hier Skrjabins «zweite Peri-
ode» (Poème de l'Extase) an. Vier- und fünftönige Akkorde sowie die früher
ben, dass ich recht habe. den alterierten zugerechneten Akkorde würden nicht mehr als Dissonanzen
verstanden; im Prozess dieser Entwicklung festige die Dissonanz endgültig
Ich sagte vorher, dass die Pierrot-Gestalt in der Musik ihr Bürgerrecht und gehe in die Konsonanz über (N. Roslavec, Novaja siste-
eine Entstellung der poetischen Gestalt ist. Es wäre für mich ma..., S. 7).

viel angenehmer, etwas anderes feststellen zu können,


4. Obwohl Roslavec Schönbergs Unabhängigkeit von der Tradition des
nämlich, dass Schönberg eine neue, eigenständige Gestalt Dur-Moll-Sys\ems betont, benutzt er gleichzeitig die alte Terminologie:
u.a. spricht er im Zusammenhang von Schönbergs System von Tonalität
geschaffen hätte. Doch ich bin gezwungen, auf meiner frühe- und Leiter (allerdings äussert er sich hier metaphorisch). Charakteristisch
ren Feststellung zu bestehen, da sie auf der konkretesten ist auch, dass er dabei ein anderes Problem berührt: die dauernde innere
Entwicklung des Dur- Mo//-Systems und die damit verbundene Komplizie-
Tatsache, dem Werk Schönbergs, beruht. Jedes Wort, jeder rung, die dessen Wiedergeburt zur Folge hatte, führten seiner Meinung
Vers der Dichtung Girauds, wie sie aus der Schönbergschen nach bei Schönberg zu einem direkten Widerspruch: die Komplizierung
schlug in eine Vereinfachung um.
Musik hervorgehen, zeigen uns eine durchaus andere
5. Diese Terminologie verwendet Roslavec viel früher als Zofia Lissa, die
Pierrot-Gestalt, die ihrer musikalischen Darstellung unähn- 1934 das System Schönbergs mit dem im Spätwerk Skrjabins verglich und
lich ist. Diese Gestalt ist kraft des Musikelements zwar deren Ähnlichkeit als «synthetisches harmonisches Suchen» im Gegensatz
zum traditionellen «analytischen» formulierte. S.: Z. Lissa, Vorformen der
unterdrückt, bleibt aber in ihm durch den Akt künstlerischer Zwölftontechnik. In: Acta musicologica 7/1935, S. 15-21.
Umwandlung unaufgelöst; sie lebt deswegen weiter ihr
eigenes Leben und gerät unvermeidlich in Konflikt mit
dem fremden Kreis, in dem sie verschlossen ist. Der «Stahl-
beton»-Pierrot besiegte den Pierrot «lunaire», brachte ihn
aber nicht ums Leben; und jetzt wird diese bleiche, gespensti-
sche Gestalt ewig durch die Seiten des Schönbergschen
Werks schweben und an die in seiner Tiefe verborgene,
unaufgelöst bleibende Dissonanz erinnern.
Beruht denn nicht auf solch tragischer Spaltung der künst-
lerischen Gestalt alles, was wesentlich und historisch wert-
voll an Kunstdenkmälern ist, die an der Schwelle zweier
Roslavec, Nikolaj Andreevič, and Marina Nikolaevna Lobanova (translator), "Pierrot lunaire von
Arnold Schönberg", Dissonanz /61 (Lausanne, Switzerland: August 1999), 24-27.

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