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Beate Kellner

Minnesang als Spiel

Formen lyrischer Selbstbezüglichkeit bei Reinmar und Walther

1. Neue Aufmerksamkeit auf die Artifizialität und Poetologie der Lieder im


Lichte der Medialitäts- und Performanzdebatte

Im Zentrum der Forschung zum Minnesang standen in den vergangenen Jahr-


zehnten besonders Fragen nach der Medialität der Lieder und ihrer Perfor-
manz. Seit Hugo Kuhn in den 1960er Jahren die These aufgestellt hat, dass
mittelalterliche volkssprachliche Lyrik von ihrem Vortrag vor dem höfischen

Minnesangs verfestigt.1 Anknüpfend an Kuhns Überlegungen hat man die


Kommunikationssituation der Lieder mit Begrifflichkeiten, die dem Modell

Längst hat man in


2

der Forschung die blinden Flecke dieses Paradigmas gesehen und betont, die
gesamte Vorstellung lasse sich historisch nicht verifizieren, sei mit romanti-
schen Prämissen durchsetzt und nehme ahistorische Anleihen bei neuzeitli-
chen Theatermodellen. 3 Zudem musste man akzeptieren, dass es nicht weiter

1
Vgl. HUGO KUHN: Minnesang als Aufführungsform [1968]. In: ders.: Kleine Schriften.
Bd. 2: Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 182 190.
2
Besonders SCHWEIKLEs Einführungsbuch zum Minnesang fungierte unter Studierenden,
aber auch Lehrenden in der Mediävistik als Multiplikator in diese Richtung. Vgl. GÜNTHER
SCHWEIKLE: Minnesang. 2., korr. Aufl. Stuttgart 1995 (1989) (Sammlung Metzler 244), prä-
gnant S.
Rollenspiel, stellen auf eine fiktionale Bühne ein relativ begrenztes fiktives Personal, welches
erotische Situationen, Zweierbeziehungen und Sozialbindungen ste
Zur Veränderung der Rollen von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit vgl. auch RÜDIGER
SCHNELL: Vom Sänger zum Autor. Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Min-
nesangs. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 1450. Hg. von URSULA PE-
TERS. Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 96 149, mit
zahlreichen Hinweisen auf die Forschungsdiskussion. Einspruch gegen die Vorstellung von
der Rollenhaftigkeit des Sangs wurde in der jüngeren Forschung besonders von HARALD
HAFERLAND erhoben. Vgl. HARALD HAFERLAND: Hohe Minne. Zur Beschreibung der
Minnekanzone. Berlin 2000 (ZfdPh, Sonderheft 10), hier vor allem S. 26 37.
3
Vgl. schon die kritische Auseinandersetzung bei PETER STROHSCHNEIDER: Auffüh-
rungssituation. Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangfor-
schung. In: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des
Augsburger Germanistentages 1991. Hg. von JOHANNES JANOTA. Bd. 3: Methodenkon-
kurrenz in der germanistischen Praxis. Tübingen 1993, S. 56 71; MICHAEL SCHILLING: Min-
nesang als Gesellschaftskunst und Privatvergnügen. Gebrauchsformen und Funktionen der
Kommunikations-
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führt, über die konkrete mündliche oder schriftliche Produktion und Rezep-
tion einzelner Lieder zu spekulieren.
Doch dessen ungeachtet hat sich die Diskussion um das Aufführungspara-
digma weiter im Kreis gedreht und haben sich die Argumentationen zur Auf-
führung der Lieder und zur Rekonstruktion ihrer Medialität in Zirkelschlüssen
verfangen. Als Konsens, der zwischen den konträren Positionen vermittelt, hat
sich inzwischen abgezeichnet, dass sich aus den Quellen das Bild eines Neben-
einanders von mündlicher und schriftlicher Produktion und Rezeption sowie
von individueller und gemeinschaftlicher Aufnahme der Lieder ergibt. 4 Inso-
fern scheint es an der Zeit, sich im Lichte der Forschungsdiskussionen und
aufbauend auf ihre mediengeschichtlichen und medientheoretischen Erträge
wieder verstärkt, aber mit methodisch neuen Akzenten, der Artifizialität und
Poetologie der Lieder selbst zuzuwenden.

2. Dynamik der Hohen Minne-Fiktion

Allerdings finden wir bis heute oft ein zu eindimensionales Verständnis von
Minnesang, nach dem besonders der Hohe Sang auf ein monotones Kreisen
um die Paradoxie der Hohen Minne festgelegt wird. Tatsächlich wird in vielen
Liedern des Hohen Sangs das paradoxe amoureux zelebriert, nach welchem der
Sänger um eine hochstehende Dame wirbt, deren Liebe er erreichen will, ohne
dass er sich die Erfüllung in der Liebe wünschen darf. Solange man freilich nur
diese Leitidee, die sich an der Oberfläche vieler Lieder findet, ins Zentrum der
Beobachtung stellt, wird man immer wieder ein zu enges Bild des Hohen San-
ges zeichnen. Anstatt diese Vorstellung über den Hohen Sang weiter zu verfe-
stigen, ist daher zunächst zu unterstreichen, dass jedes Lied seine ganz eigene
Dynamik von Variation und Wiederholung der Hohen Minne-Fiktion zeigt.
Der Diskurs über die höfische Liebe, dessen Breite und Facettenreichtum ins-
besondere Rüdiger Schnell herausgestellt hat,5 ist auch im Minnesang differen-
zierter, als man vielfach angenommen hat. Sobald man den Reichtum an The-

formen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hg. von MICHAEL SCHIL-


LING und PETER STROHSCHNEIDER. Heidelberg 1996 (GRM, Beih. 13), S. 103 121; THO-
MAS CRAMER: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer
Ästhetik. Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148), S. 9 49; ALBRECHT HAUS-
MANN: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur program-
matischen Identität. Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), S. 31 36.
4
-Symposion
1994. Hg. von JAN-DIRK MÜLLER. Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Be-
richtsbände 17); CRAMER, Waz hilfet [Anm. 3], S. 9 49; JAN-DIRK MÜLLER: Performa-
tiver Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar [1999]. In: ders.: Minnesang und
Literaturtheorie. Hg. von UTE VON BLOH und ARMIN SCHULZ [u. a.]. Tübingen 2001,
S. 209 231, hier S. 209.
5
RÜDIGER SCHNELL über die Liebe. In:
Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hg. von JOSEF FLE-
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men und das Spektrum der verschiedenen Sprechhaltungen und Sprechinstan-


zen, die Varianz und Komplexität der Nuancen erkennt, wird man sehen, dass
die Lieder keineswegs System der Regeln der Hohen Minne folgen,
das vermutlich selbst eine Erfindung der philologischen Forschung ist. Was auf
den ersten Blick als statisches Kreisen um die Ideale der Hohen Minne erschei-
nen mag, zeigt sich bei näherem Hinsehen als dynamisch, fragil und flexibel.
Es sind zweitens gerade die Gegenstrebigkeiten und Ambivalenzen, welche
die Dynamik des Hohen Sangs bedingen. So gibt es gegenläufig zur Idealisie-
rung der Dame, die prima vista im Sang als die Vollkommene gefeiert wird,
vielfache Kritik an der Umworbenen, die bis zur expliziten Schelte gehen kann.
Dementsprechend kann die Darstellung der Dame zwischen dem Ideal einer
Verkörperung von tugent und der Klage über ihre Hartherzigkeit changieren
und bis zur Dämonisierung ihrer Person reichen. Und weiter: Während die Sän-
ger immer wieder beteuern, der Dame alle ihre Tage und Jahre, ja ihr ganzes
Leben widmen zu wollen, kommt doch auch die Sicht zum Vorschein, dass der
Dienst bloße Zeitverschwendung sei. Dementsprechend wird mit Absage und
mit dem Davonziehen zu anderen Damen gedroht. Zwar gilt das Postulat der
Schönheit der Dame eigentlich als unhintergehbar, doch wird mitunter auch
auf die Prozesse ihres Alterns, den drohenden Verfall ihrer Schönheit, ihre
Sterblichkeit und Kreatürlichkeit verwiesen. Implizit oder explizit wird die Da-
me damit aufgefordert, die Zeit zu nutzen, bevor ihre Schönheit verblasst und
sie als Frau uninteressant zu werden droht.
Die Erfüllung der Liebe ist d a s Tabu des Hohen Sangs, und dennoch exi-
stieren rhetorische Strategien der Abschwächung dieses Verbots und seiner
virtuellen Umgehung. 6 Unter diesem Aspekt möchte ich besonders auf eine
poetische Strategie aufmerksam machen, die ich als inszenierte Imagination
verstehe und die sowohl auf der Ebene des Singens von der Liebe wie auf jener
der impliziten Poetologie bedeutsam ist. Über Träume, Wünsche und Hoff-
nungen des Minners wird es möglich, gegenläufig zur Vorstellung von der Un-
möglichkeit einer Liebeserfüllung in der Hohen Minne Verbote zu umgehen.
Daher scheinen solche Imaginationen perfekte Strategien zu sein, das Paradox
der Hohen Minne auf der einen Seite zu erfüllen und das Tabu auf der anderen
nen Phantasien und
Reflexionen kann der Liebende und Sänger nicht nur in engen Kontakt mit der
Dame kommen, sich in ihre intime Nähe hineindenken, was in der Hohen
Minne unmöglich sein sollte, sondern er kann auch die Hierarchien zwischen
den Positionen des Liebenden und Sängers und der Geliebten auf den Kopf
stellen. Während die Dame der Hohen Minne-Fiktion entsprechend eigentlich
hoch über den liebenden Sänger erhoben und gepriesen werden sollte, kann
der Sänger und Liebende in der Imagination die Oberhand über sie bekommen,

CKENSTEIN. Göttingen 1990 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte


100), S. 230 301.
6
Vgl. dazu mit einer Fülle von Beispielen BEATE KELLNER: Spiel der Liebe im Minnesang.
Paderborn 2018.
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sie aufs Glatteis führen und zeigen, dass er der eigentliche Meister ist. Indem
man die Texte in dieser Perspektive liest, kommt eine Instabilität und Variabi-
lität der Geschlechterordnung zum Vorschein, die ganz verschieden ist von den
Rollen, die man in Liedern der Hohen Minne erwarten würde und die auch an
der Oberfläche vieler Lieder (aber nur dort) zumeist als die gültigen erscheinen.
Nicht zuletzt aus diesen Spannungen ergibt sich, dass die Lieder, statt klare
Botschaften und Bekenntnisse zu vermitteln, häufig in Uneindeutigkeiten
münden. Es lässt sich geradezu als ihr Signum bestimmen, dass man oft nicht
so leicht ausmachen kann, was am Ende einer Strophe oder eines Liedes gilt
oder gelten soll. Dies resultiert auch aus einer Rhetorik, die ich als eine der
Relativierung und des inneren Widerspruchs fassen möchte, denn im Fortgang
der Lieder werden Argumente und Standpunkte entwickelt, die nicht selten
wieder abgeschwächt oder zurückgenommen werden, was bis zur revocatio und
ihrer Steigerung in der revocatio der revocatio führen kann. Eine damit zusam-
menhängende rhetorische Vorgehensweise ist jene der Bildung und Schichtung
von Hypothesen, die nicht zwingend einer aufeinander aufbauenden kausalen
Logik folgen, aber immer wieder den nur gedachten Status des Gesagten un-
terstreichen. Die ältere Forschung hat die Lieder häufig durch Umstellung der
Strophen oder Weglassung von Strophen gegen die Überlieferung im Sinne ei-
ner höheren syntagmatischen Kohärenz zu vereindeutigen versucht. Umge-
kehrt möchte ich postulieren, dass die genannten Gegenstrebigkeiten, die in
der älteren Forschung bereits durch Tilgung ausgeblendet oder zumindest in
der Deutung vernachlässigt wurden, gerade die Dynamik des Hohen Sangs
ausmachen. Die spezifische historische und ästhetische Signatur des Hohen
Minnesangs, auf den ich mich hier konzentriere, kann man dagegen nur be-
stimmen, indem man diese Dynamiken der Hohen Minne stärker als in der
älteren Forschung üblich in den Blick bringt.
Im Schnittpunkt der genannten Gegenstrebigkeiten und polaren Spannun-
gen steht das Hin und Her zwischen der Akzentuierung der Liebeskonstella-
tion und der Reflexion auf den Sang. Da das Singen über den Sang und die
Minne zur Dame die zentrale Doppelcodierung der Lieder darstellen, lässt sich
eine Reihe von Umschlagspunkten zwischen autoreferentiellen und heterore-
ferentiellen Aspekten bestimmen. Im Wechselspiel zwischen dem Singen von
der Liebe und dem Singen vom Singen tritt ein ganzes Spektrum von Formen
lyrischer Selbstreflexivität und Selbstthematisierung zu Tage, die noch längst
nicht systematisch und umfassend untersucht worden sind. Sie reichen von der
Reflexion der eigenen Poetik über mise en abyme-
aemulatio mit anderen Sängern in den verschiedenen Spielar-
ten von Intertextualität und Parodie. Ich konzentriere mich im Folgenden auf
Strategien der poetischen Selbstermächtigung des Sängers, der im Durchgang
durch seine Imaginationen und Wünsche deutlich machen kann, dass er keines-
wegs nur unterlegen und vom Verhalten der umworbenen Dame abhängig ist.
Vielmehr scheint in manchen Liedern recht deutlich auf, dass die Geliebte ein
vom Sänger konstruiertes Idealbild ist, über das er verfügen kann. Über die
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exemplarische Analyse zweier Lieder möchte ich zeigen, wie die Dame als lite-
rarische Setzung entlarvt wird und der Minnesang sich damit als fiktionales
Spiel zu erkennen gibt.

3. Reinmar und Walther: Minnesang als Schachspiel


a. Reinmar, Ich wirbe umbe allez, daz ein man (MF 159,1/MFMT XXI,X)

Unter den genannten Aspekten möchte ich zwei aufeinander bezogene Lieder
Reinmars und Walthers in den Blick nehmen, nämlich Reinmars programma-
tisches Schachlied Ich wirbe umbe allez, daz ein man (MF 159,1/MFMT
XXI.X) und Walthers Parodie darauf, Ein man verbiutet ein spil âne pfliht (L.
111,22). Reinmars Lied ist jeweils fünfstrophig in den Handschriften A, b, C
und E7 überliefert, wobei die Strophenreihenfolge zwischen bC, A und E di-
vergiert. Unter Aspekten inhaltlicher Kohärenz wurde E in der Forschung
lange Zeit als stimmigste Version angesehen.8 Heute wird eher bC der Vorzug
gegeben.9 Ich richte mich im Folgenden nach dieser Strophenreihenfolge und

7
A = Heidelberg, UB, Cpg 357 ( ); C = Heidel-
berg, UB, Cpg 848 ( ); E = München, UB, Cod. ms.
731 ( ); b ist die von Karl Lachmann eingeführte Sigle für die
auf das Corpus Morungens folgende anonyme Fortsetzung der Lieder Reinmars
, Cod. HB XIII 1).
8
Vgl. noch das Präferenzzeichen der Strophenreihenfolge nach E in der 38. Auflage von
(i. F. MF): Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der
Ausgaben von KARL LACHMANN und MORIZ HAUPT, FRIEDRICH VOGT und CARL VON
KRAUS bearb. von HUGO MOSER und HELMUT TERVOOREN. Bd. 1: Texte. 38., erneut rev.
Aufl. Stuttgart 1988 (i. F. MFMT), hier S. 305. Von Lachmann und Haupt bis zu Carl von
Kraus lag diese Reihenfolge MF zugrunde; vgl. INGRID BENNEWITZ: Ein Schachmatt der
Minnesang-Philologie? Reinmars Lied MF 159,1 im Kontext der handschriftlichen
Überlieferung. In: Sô wold ich in fröiden singen. Festgabe für Antonius H. Touber zum 65.
Geb. Hg. von CARLA DAUVEN-VAN KNIPPENBERG und HELMUT BIRKHAN. Amsterdam
1995 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik. Sonderheft 43/44), S. 7 11; dazu
HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 177; RICARDA BAUSCHKE: Spiegelungen der
sog. Reinmar-Walther-
Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hg. von HORST BRUNNER.
Wiesbaden 2004 (Imagines medii aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung
17), S. 227 250.
9
Die maßgeblichen Ausgaben folgen heute bC. Vgl. MFMT mit Leithandschrift b; Rein-
mar, Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mittelhochdeutsch/Neuhoch-
deutsch. Hg., übers. und komm. von GÜNTHER SCHWEIKLE. Stuttgart 1986 (RUB 8318),
S. 138 147: Text nach b, S. 335 339: Kommentar; Deutsche Lyrik des frühen und hohen
Mittelalters. Edition der Texte und Kommentar von INGRID KASTEN. Übersetzungen von
MARGHERITA KUHN. Frankfurt a. M. 1995 (Deutscher Klassiker-Verlag 6 / Bibliothek des
Mittelalters 3), S. 308 310: Text nach C, S. 831 835: Kommentar; Minnesang. Mittelhoch-
deutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übers. und
komm. von DOROTHEA KLEIN. Stuttgart 2010 (RUB 18781), S. 239 246: Texte nach bC,
A und E; S. 494 498: Kommentar. Einen synoptischen Abdruck der Versionen bietet auch
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lege den Text von b zugrunde, einige semantisch bedeutsame Varianten zwi-
schen den Textzeugen diskutiere ich im Fortgang der Analyse. Signifikant ist
besonders das Wandern der sogenannten Kussraubstrophe, die in bC im Zen-
trum des Liedes steht, in AE hingegen das Achtergewicht bildet. Strophe II
findet sich in bC vor Strophe III und Strophe IV, in A und E hingegen folgt
sie unmittelbar auf IV. Die Positionierung der fünften Strophe nach bC an er-
ster Position in A ist singulär. Auf einen Blick zusammengefasst, ergibt sich
folgendes Überlieferungsschema:
MF b C A E
I (Ich wirbe) I (b 1) I (C 35) V (A 5) I (E 297)
II (Alse) II (b 2) II (C 36) I (A 6) IV (E 298)
III (Unde ist) III (b 3) III (C 37) IV (A 7) II (E 299)
IV (Si ist) IV (b 4) IV (C 38) II (A 8) V (E 300)
V (Diu jâr) V (b 5) V (C 39) III (A 9) III (E 301)
I Ich wirbe umbe allez, daz ein man
ze weltlichen vröiden iemer haben sol.
daz ist ein wîp, der ich enkan
nâch ir vil grôzem werde niht gesprechen wol.
5 lobe ich si, sô man ander vrouwen tuot,
daz engenimet si niemer tag von mir vür guot.
doch swer ich des, si ist an der stat,
dâs ûz wîplichen tugende n nie fuoz getrat.
dâ ist diu mat!
II Alse eteswenne mir der lîp

und mir gefriunde ein ander wîp,


sô wil iedoch daz herze niender wan dar.
5 wol ime des, daz ez sô rehte welen kan

doch hân ich mir ein liep erkorn,


deme ich ze dienst und wær ez al der welte zorn
wil sîn geborn.
III Unde ist, daz mirs mîn sælde gan,
daz ich abe ir wol redendem munde ein küssen mag versteln,
gît got, daz ich ez bringe dan,
sô wil ich ez tougenlîchen tragen und iemer heln.
5 und ist, daz siz für grôze swære hât
und vêhet mich durch mîne missetât,
waz tuon ich danne, unsælig man?
dâ nim eht ichz und trage ez hin wider, dâ ichz dâ nan,
als ich wol kan.

HUBERT HEINEN: Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frü-
hen 13. Jahrhunderts. Göppingen 1989 (GAG 515), S. 88 91, Texte nach A, bC und E.
Minnesang als Spiel 347

IV Si ist mir liep, und dunket mich,


wie ich ir volleclîche gar unmære sî.
waz dar umbe? daz lîde ich:
ich was ir ie mit stæteclichen triuwen bî.
5 nu waz, ob lîhte ein wunder an ir geschiht:
daz si mich eteswenne gerne siht?
sâ denne lâze ich âne haz,
swer giht, daz ime an vröiden sî gelungen baz:
der habe im daz.
V Diu jâr, diu ich noch ze lebenne hân,
swie vil der wære, ir wurde ir niemer tag genomen.
sô gar bin ich ir undertân,
daz ich niht sanfte ûz ir gnâden mohte komen.
5 ich vröiwe mich des, daz ich ir dienen sol.
si gelônet mir mit lîhten dingen wol,
geloube eht mir, swenne ich ir sage
die nôt, die ich an dem herzen trage
dike an dem tage.
(Text nach b)10

I 4 gro en. 6 verg t. III 2 ver telen.


Gleich die erste Strophe nach bC (und E) entfaltet jenen hyperbolischen Frau-
enpreis, auf den Walther polemisch reagiert hat (L. 111,22).11 Wie in Reinmars
Lied Swaz ich nu niuwer mære sage (MF 165,10/MFMT XXI.XIV) wird die

10
Der Text wurde überlieferungsnah aus der Handschrift erarbeitet.
11
Das Reinmar-Lied und seine Replik durch Walther wurden in der älteren Forschung ganz
-Walther-
PETER WAPNEWSKI: Der Sänger und die Dame. Zu Walthers Schachlied (111,23) [1966]. In:
ders.: Waz ist minne. Studien zur mittelhochdeutschen Lyrik. München 1975 (Edition Beck),
S. 74 108; distanziert bereits HELMUT BIRKHAN: Walther und die Minne. Zur ersten Dich-
terfehde am Wiener Hof. In: PBB (Tüb.) 93 (1971), S. 168 212. Mit differenzierter Kritik
zu biographischen Deutungen GÜNTHER SCHWEIKLE: Die Fehde zwischen Walther von der
Vogelweide und Reinmar dem Alten. Ein Beispiel germanistischer Legendenbildung. In:
ZfdA 115 (1986), S. 235 253; RICARDA BAUSCHKE - n der
Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung. Heidelberg 1999
(GRM, Beih. 15), S. 61 76. Vgl. zu diesem Lied darüber hinaus auch MANFRED EIKEL-
MANN: Denkformen im Minnesang. Untersuchungen zu Aufbau, Erkenntnisleistung und
Anwendungsgeschichte konditionaler Strukturmuster des Minnesangs bis um 1300. Tübin-
gen 1988, S. 283 285; HANS-JOACHIM BEHR: Die Aporie als Denkform. Zur Verwendung
konventioneller Sprach- und Literaturmuster in den Liedern Reinmars (von Hagenau). In:
ZfdPh 112 (1993), S. 344 357; BENNEWITZ, Schachmatt der Minnesang-Philologie [Anm. 8],
S. 7 11; SABINE OBERMAIER
. Tübingen 1995 (Hermaea N. F. 75), S. 77 80;
GERT HÜBNER: Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhoch-
deutschen Minnekanzone. 2 Bde. Baden-Baden 1996 (Saecvla spiritalia 34/35), S. 121 123,
433; HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 177 185; BAUSCHKE, Spiegelungen [Anm.
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Frau auch hier als d i e Quelle der weltlichen Freude schlechthin betrachtet
(v. 1 4). Im Unterschied zur dortigen Strophe mit ihrem Einsatz Sô wol dir
wîp, wie rein ein name! (III nach BC und E) geht es hier jedoch nicht in einem
allgemeinen Sinne um die Frau, sondern um die individuelle Werbung des Sän-
gers um seine Minnedame, denn der Sänger bekennt, dass er seine Dame nicht
ihrem (über)großen Wert entsprechend rühmen könne (v. 3f.). Im Abgesang
der Strophe wird deutlich, dass diese Dame nicht nur als ein Exemplum für
Tugend und Schönheit hervorgehoben wird, sondern als die Beste vor allen an-
deren (v. 5 9). Sie ist also nicht nur die angesehenste von allen, sondern auch die
anspruchsvollste, denn sie würde Lob, mit dem man bei anderen Frauen durch-
aus aufwarten könne, ganz und gar nicht akzeptieren (v. 5f.). Damit wird sie
nicht als passives Ideal dargestellt, sondern als Triebkraft des Frauenpreises. 12
Diese Haltung, die ihr der Sänger unterstellt, wirft nun, und darum geht es
ganz besonders, ein Licht auf ihn selbst. Man gewinnt nachgerade den Ein-
druck, als werde die Dame in ihrem Wert so sehr ins Unermessliche gesteigert,
dass aus der Perspektive dieser Höhe auch die Bedeutung des Liebenden als
Sänger zwingend ersichtlich werden muss. Wenn jener konzediert hat, er kön-
ne sie nicht ihrer Würde entsprechend rühmen (v. 4), erscheint dies letztend-
lich als purer Topos der Bescheidenheit, der dem Sänger durch die Vermeidung
des verpönten Selbstruhms umso vortrefflicher ansteht. De facto spiegelt sich
jedoch der Ruhm des Sängers im Ruhm der Dame, die er verehrt. 13 Hier zeigt
sich, wie die Liebeskonstellation implizit in eine Reflexion der Fähigkeiten des
Liebenden als Sänger umschlägt und zur Reflexion der Dichtung in der Dichtung
wird. Der Sänger ist derjenige, der sich am besten auf Lobpreis versteht, und er
führt diese Ausprägung des Sanges, nämlich das Lob, im Lied performativ vor.
Denkt man die argumentative Raffinesse der Strophe zu Ende, dann sind
die drei Schlussverse mit ihrem Schwur und der Mattansage dementsprechend
nicht nur als eine Provokation für die anderen Frauen und Mitglieder der hö-
fischen Gesellschaft, sondern besonders auch als eine Kampfansage an die ande-
ren Sänger zu verstehen.14 Doch betrachten wir den genauen Wortlaut der drei
Schlussverse in seinen Divergenzen zwischen den verschiedenen Textzeugen:
doch swer ich des, si ist an der stat,
dâs ûz wîplichen tugende n nie fuoz getrat.
dâ ist diu mat! (b, v. 7 9, C mit unwesentlichen Abweichungen)
doch swer ich daz, si stêt noch hiute an der stat,
dâs ûzer wîplichen tugenden nie fuoz getrat.
daz ist iu mat! (A, v. 7 9)

8], S. 227 250; BEATE KELLNER, Spiel der Liebe [Anm. 6], 239 252. Die vorliegende Inter-
pretation folgt den Ausführungen in der Monographie.
12
Vgl. HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 180.
13
Insofern lese ich die Strophe in hohem Maße als Selbstdarstellung des Sängers. Anders
HAUSMANN, ebd.
14
Vgl. dazu BURGHART WACHINGER: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung
des 13. Jahrhunderts. München 1973 (MTU 42), S. 104.
Minnesang als Spiel 349

doch swüere ich wol, sie ist an der stat,


dô sie ûz wîplichen tugenden nie fuoz getrat.
dâr ist in mat! (E, v. 7 9)
Den Varianten nach A und E ist auf den ersten Blick mehr Sinn abzugewinnen
als jenen nach bC.15 Nach A könnte man den Text, bezogen auf die Vortreff-
re ich
dies, sie steht auch heute noch an der Position, wo sie aus dem Raum weiblicher
Tugenden nie einen Fuß heraussetzte. Das heißt für e Festzuhalten
ist, dass die Schachmetaphorik schon mit dem Begriff stat für Feld beginnt und
dass sich auch das getrat darauf beziehen lässt.16 Daher könnte man präziser auf
den Bildbereich des Schachspiels bezogen
ich dies, sie steht auch heute noch an der Position weiblicher Vollkommenheit
auf dem Spielfeld, von wo sie nie herausrückte. Von dieser Position aus gese-

nach A direkt an das Publikum. E schwächt den Schwur gegenüber A konjunk-


tivisch ab und bezieht die Mattsetzung auf das Pronomen in der dritten Person
Plural. Dahinter könnte man einen Verweis auf die höfische Gesellschaft im
Allgemeinen und die höfischen Damen im Besonderen sehen. Sinngemäß er-

kommenheit, wo sie nie einen Fuß heraussetzte, also [im Sinne des Schach-
spiels]

schwöre ich dies, sie steht an der Position weiblicher Vollkommenheit, wo sie
17
Der Sänger
könnte in einem möglichen Vortrag damit pointiert witzig und polemisch die
eine oder andere Dame meinen oder im generalisierenden Sinne auch alle an-
deren ansprechen.
Ganz abgesehen von diesen Varianten gilt: Reinmars Dame kommt in je-
dem Falle die Position der Königin im Schach zu, wodurch alle anderen her-
abgesetzt werden. Darin liegt zum einen eine Provokation im Blick auf die Lie-
besthematik, zum anderen wird durch die Schachmetaphorik der Charakter
des Minnesangs als Kompetition betont. Letztendlich ist es der Sänger, der die
Schachfiguren auf dem Brett bewegt, was die poetologische Lesart der Strophe
stützt. Die Dame Reinmars sticht die anderen Damen aus, doch sein Sang mit
dem herausragenden Lob bedeutet auch ein Schachmatt für seine Konkurren-
ten. Das Lied selbst ist ein Schachzug in diesem Spiel, die Dame, so gesehen,
eine Schachfigur. Berücksichtigt man diese zweite Ebene und belastet sie stär-
ker als in der älteren Forschung, ergibt sich, dass die Verfügungsgewalt des
Sängers über die Dame im Spiel der Liebe und des Sangs exponiert wird. Auch

15
Der Text von MFMT lehnt sich in v. 9 an E an; SCHWEIKLE (Hg.), Reinmar [Anm. 9],
S. 138, entscheidet sich für A. Vgl. auch KASTEN (Hg.), Deutsche Lyrik [Anm. 9], S. 308.
16
Vgl. WAPNEWSKI, Der Sänger und die Dame [Anm. 11], S. 94f.
17
In eine andere Richtung weisen die Überlegungen von SCHWEIKLE (Hg.), Reinmar
[Anm. 9], Kommentar, S. 338.
350 Beate Kellner

die Vorstellung ihrer literarischen Gemachtheit im Lob des Sängers liegt in der
Fluchtlinie dieser Metaphorik. Minnesang wird als literarisches Spiel deutlich
gemacht.
Die zweite Strophe veranschaulicht einen inneren Konflikt des Minners
und ist insofern geradezu als Pendant zur vierten Strophe des Liedes Swaz ich
nu niuwer mære sage (MF 165,10/MFMT XXI.XIV) einzuschätzen.18 Geht es
dort um einen Widerstreit der Gedanken im Herzen (MF 165,37; Strophe IV
in allen Versionen), so erfolgt hier eine Imagination von der Dissoziation von
lîp (v. 1 3) und herze (v. 4), die als verschiedene Ich-Instanzen gegeneinander
ausgespielt werden. Während der lîp mit seinem verwerflichen Wankelmut
(v. 2) dem Liebenden und Sänger bisweilen rät, sich doch eine andere Frau als
Freundin zu suchen, die das darf man wohl so weiterdenken williger und
geneigter zur Liebe sein könnte als die seine, bleibt das Herz standhaft und will
nirgendwo anders hin als zu der bereits erwählten Geliebten (v. 4). Beständig-
keit und Unbeständigkeit, Treue und Untreue, Drängen und Zurückhaltung,
sexueller Trieb und Mäßigung werden hier über die Dichotomie von herze und
lîp kontrastiert. Das Ich ist zerrissen in diese Instanzen19 und behält doch auch
eine übergeordnete Funktion. Es goutiert wie ein Schlichter im Streit die rich-
tige Entscheidung des Herzens (wol ime des, v. 5) und nimmt dafür die süeze
arbeit, wie es im Oxymoron des sechsten Verses formuliert ist, willig in Kauf.
Dennoch deutet sich in der Imagination der Dissoziation von Herz und Leib
an, dass die als richtig betrachtete Entscheidung des Herzens durch die
unstæte des lî(bes), also durch körperliche Begierden, unterminiert wird. Auf
der Ebene des Liebesdiskurses wird damit angedeutet, dass sich die Dame des
Sängers seiner trotz aller Versicherungen von Beständigkeit und Treue doch
nie vollständig gewiss sein kann. Immerhin gibt es diese Wankelmütigkeit des
Leibes und die Gedanken, sich anderen Frauen zuzuwenden. Darin liegt zwi-
schen den Zeilen gelesen eine leise Drohung.
Die Schlussterzine bekundet demgegenüber noch einmal die Ausschließ-
lichkeit der Liebesbindung an die Dame: Der Sänger fühlt sich zu dieser Liebe
geboren und er will sie unter allen Umständen, und das heißt auch gegen den
Unwillen und Widerstand der ganzen Welt, verfolgen (v. 7 9).20 Die Wendung
richtet sich zweifellos gegen mögliche Einwände der höfischen Gesellschaft.
Damit erscheint der Minner und Sänger ganz auf sich zurückgeworfen: 21 Die
Kämpfe der Liebe trägt er in seinem Inneren aus, seine Entscheidungen fällt er
allein unbeeinflusst vom Verhalten der Dame und von Reaktionen der ande-

18
Auf diese Nähe weist auch HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 180f., hin.
19
Vgl. auch Friedrich von Hausen, Mîn herze und mîn lîp die wellent scheiden (MF
47,9/MFMT X.VI), hier mit Bezug zum Kreuzzugsthema.
20
Den Zwangscharakter dieser Liebe betonen die Handschriften A und E mit der Variante
muoz für wil in v. 9.
21
Anders HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 180, der davon ausgeht, dass der
die
aufbricht.
Minnesang als Spiel 351

ren. Seine Liebe besteht ganz unabhängig von den äußeren Bedingungen und
dem Willen der Dame. Das Spiel mit den Ich-Instanzen zeigt, dass es vielmehr
darum geht, die imaginativen Kämpfe im Inneren zu gewinnen.
Die beiden thematisch auch untereinander eng verbundenen Strophenpaare
I und II, IV und V gruppieren sich in b und C um die sogenannte Kussraub-
strophe als das Zentrum des Liedes. Sie stellt eine erotische Imagination des
Liebenden vor Augen, welche die Tabus der Hohen Minne sprengt. 22 Der Sän-
ger stellt sich vor, dass es ihm sein Glück gönnen würde, sich einen Kuss vom
Mund der Dame zu stehlen (v. 1f.). Für diesen fiktiven Fall sichert er Diskre-
tion zu, wenn er den Kuss denn mit Gottes Hilfe davontragen könnte (v. 3f.).
Der Sänger begeht damit vor dem Publikum seines Liedes gleich eine zweifache
Indiskretion. Sie besteht zum einen darin, dass er bekennt, sich überhaupt in
eine solche Nähe zu seiner Dame hineinzudenken, zum anderen darin, dass er
vorab ausplaudert, was er tun würde, wenn er eine entsprechende Gelegenheit
bekäme. Die vermeintliche Diskretion wird damit schon im Vorfeld einer mög-
lichen Handlung konterkariert. Zugleich wird die hohe Stillage des Lobes, das
der Sänger eingangs des Liedes angestimmt hatte, gewissermaßen herunterge-
holt. Es sollte um ein exorbitantes Lob der besten, der tugendhaftesten Dame
gehen. Anbieten würde sich ein Tugendpreis, doch der Sänger setzt die Kuss-
raubphantasie an dessen Stelle.
Der Kuss wird hier auf witzige Weise verdinglicht, er ist ein Etwas, das man
erhalten, wegtragen und verbergen kann. Er erscheint damit schon im Aufge-
sang als Trophäe der Liebe, durch deren Besitz der Sänger triumphieren würde.
Beruhend auf dieser Verdinglichung des Kusses, entfaltet der Abgesang nun die
eigentliche Pointe der Strophe. Der Sänger verkündet, dass er dazu bereit wäre,
diesen Trumpf auch wieder zurückzubringen (v. 8f.), wenn die Dame ihn für
seinen Diebstahl (v. 6) anfeinden und großen Kummer über den Verlust des
Kusses empfinden würde (v. 5). Es versteht sich, dass die Kussrückgabe einen
erneuten Kuss bedeuten würde, zu dem sich der Sänger bereitwillig herbeiließe.
Der implizite Wunsch der Dame nach einer solchen Rückgabe wird dabei vor-
ausgesetzt, weshalb sie nun als die Begehrende erscheint. Der Sänger hat also
im Spiel mit der Pointe den Spieß umgedreht und macht klar, dass er mit sei-
nem imaginierten Verhalten ohnehin nur die heimlichen Wünsche der Dame
erfüllen würde.23 Der Minner und Sänger zeigt im Modus der Imagination, was
er mit der Dame alles machen kann. Die Imagination erweist sich als Möglich-
keitsraum, in dem er der Dame nicht nur gefährlich nahe kommen kann, son-

22
Vgl. zum Charakter der Strophe als Gedankenexperiment besonders EIKELMANN, Denk-
formen im Minnesang [Anm. 11], S. 283 285. Vgl. auch die Kussphantasien bei Morungen
(MF 141,37) und Walther (L. 54,7). Erotische Imaginationen im Hohen Sang werden in der
Zusammenschau untersucht bei KELLNER, Spiel der Liebe [Anm. 6], S. 187 299.
23
Keineswegs würde ich daraus schließen, dass es sich um eine Substantialisierung der Frau
handelt, die dem Ethos der Verinnerlichung bei Reinmar entgegenwirkem könnte. Anders
HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 184f. Meiner Interpretation nach ist die insze-
nierte Phantasie gerade ein Ausdruck der Verinnerlichung der Liebeskonstellation.
352 Beate Kellner

dern in dem es ihm auch nach Belieben gelingt, die Oberhand über sie zu ha-
ben. Dadurch dass er sich mit dieser Strophe in die Imagination begibt, den
Raum also, in dem die realen Grenzen und Tabus verschwinden, macht er klar,
wie er Liebesfreude aus eigener Kraft erfahren und steigern kann. Darin liegt
zweifellos eine poetische Selbstermächtigung, die sehr gut zur Schachspielme-
taphorik der Eingangsstrophe passt. Diejenige, die eigentlich in höchstem Ma-
ße gelobt werden sollte, wird mit dieser Phantasie düpiert. Der Sänger zeigt:
Er hat das Spiel in der Hand, er kann die Spielfigur der Dame positionieren,
wie er will. Auf der Metaebene wird deutlich, dass die Dame eine literarische
Fiktion ist, die der Sänger selbst produziert hat.
Die hochreflexiven Strophen IV und V bestätigen diese Lesart. Der Minner
und Sänger formuliert hier das Ethos seiner Liebe als Bekenntnis für sein Pu-
blikum. Er hat sich bis zu dem Grad in seinem Dienst eingerichtet und unab-
hängig von der Außenwelt, der Gesellschaft und der Dame gemacht, dass er es
hinnehmen kann, wenn er seiner Dame ganz und gar gleichgültig ist (v. 1f.):
waz dar umbe? daz lîde ich (v. 3). Es geht ganz offensichtlich weniger um die
Dame als um seine Befindlichkeit, Beständigkeit und Treue (v. 4). Im vierten
Vers nach bC blickt der Minner auf seine immerwährende Treue in der Ver-
gangenheit zurück, nach den Handschriften A und E betont er sie in der Ge-
genwart und setzt diese mit einem adversativen doch seinem Leiden entgegen.24
Wenn ein Wunder geschähe25 und sie ihn doch noch beachten würde, dann be-
fände er sich in solcher Freude, dass er sich mit jedem messen könnte, der von
sich behaupten würde, er hätte noch größere Freuden. Der Sänger hätte dann
gar keinen Grund zum Neid und würde jedem sein Glück, möge es auch noch
so groß sein, von Herzen gönnen (v. 5 9). Hier wird der Zustand, den der
Minner und Sänger gewohnt ist und den er auch weiterhin zu erwarten hat,
sein Normalzustand also, von einem zweiten Zustand abgehoben, in den er nur
durch ein Wunder lîhte (v. 5 nach bCA), vielleicht gelangen könnte, näm-
lich dem Zustand höherer Freude. Im Umkehrschluss könnte man nun fragen,
ob der Dienst, wie ihn der Sänger Tag um Tag und Jahr um Jahr erfüllt, allein
durch Trauer gekennzeichnet ist.
Die Antwort darauf gibt die fünfte Strophe. Sie betont nicht nur die Dauer
des Dienstes, in welcher der Dame kein Tag der Lebensjahre des Liebenden
verloren gehen darf (v. 1f.), sondern sie hebt auch hervor, dass das Dienen an
sich bereits eine Freude ist. Zentral ist der fünfte Vers, mit dem der Abgesang
beginnt: ich vröiwe mich des, daz ich ir dienen sol (v. 5). An die Dame stellt der
Sänger kaum Anforderungen, er begnügt sich mit kleinen Zuwendungen, lîhten
dingen (v. 6), als Lohn. Wie die Schlussterzine zeigt, scheint es ihm dabei schon
zu reichen, wenn sie ihm seine Gefühle und seine Not glaubt, wenn er davon

24
Zur Interpretation vgl. HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 182. Nach HAUS-
MANN ergibt sich aus dem Präsens und dem adversativen doch des vierten Verses der Hand-
schriften A und E, dass der Sänger sein Leiden nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit
hinnimmt wie in bC.
25
A und C beziehen das Wunder auf den Sänger (mir, v. 5), E und b auf die Dame (ir, v. 5).
Minnesang als Spiel 353

zu ihr spricht (sage, v. 7 nach bCE) oder darüber klagt (klage, v. 7 nach A). Die
Dame wird in dieser Inszenierung zur Zuhörerin seiner Rede und auf anderer
Ebene zur Rezipientin seines Liedes, es geht ihm um die Vermittlung der Au-
thentizität seiner Liebe und seines Sangs.

mehr hoffen kann und mithin nichts Besseres zu erwarten hat? Das Gegenteil
scheint der Fall zu sein, denn die hier angesprochene Freude ist nicht an den
Augenblick gebunden wie jene, die aus einer leidenschaftlichen Liebeserfül-
lung resultieren würde, sondern sie ist dauerhaft. Sie macht ihn unabhängig
und frei. Statt von den äußeren, mitunter vielleicht willkürlichen Affekten ei-
ner vrouwe abhängig zu sein, ist der Liebende ganz auf sein Inneres bezogen,
ja kann er Konflikte und widerstreitende Neigungen mit sich selbst austra-
gen.26 Sein eigentlicher Rückzugsraum ist sein Inneres. Mit der Virtuosität die-
ses Dienens, die nicht zwingend auf sexuelle Erfüllung ausgerichtet ist und sich
auch von den Meinungen der höfischen Gesellschaft gelöst hat, ist der Sänger
unschlagbar. Für alle anderen Sänger bedeutet das schachmatt. Das eigentliche
Lob gebührt, zieht man die Fluchtlinien der Analyse aus, dem Sänger selbst, er
hat die Virtuosität seines Dienstes und seiner Fähigkeiten als Sänger facetten-
reich vor Augen gestellt.

b. Walther, Ein man verbiutet ein spil âne pfliht (L. 111,22)

Das Lied hat in Walther von der Vogelweide einen Rezipienten gefunden, der
Reinmars Pointen auf das Beste zu parodieren wusste.27 Beide in C überliefer-
ten Strophen von Ein man verbiutet ein spil âne pfliht (L. 111,22) nehmen
schon durch die einmalige Tonüberschrift In dem dône: Ich wirbe umb allez
daz ein man ganz eindeutig auf Reinmar Bezug.28 Die Interpretationen der äl-
teren Forschung waren mehr oder weniger deutlich von dem postulierten Ge-

26
Anders akzentuiert HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 180f.
27
Vgl. Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um
Fassungseditionen erweiterte Auflage der Ausgabe KARL LACHMANNs, aufgrund der 14.,
von CHRISTOPH CORMEAU bearbeiteten Ausgabe, mit Erschließungshilfen und textkriti-
schen Kommentaren versehen von THOMAS BEIN. Berlin, Boston 2013, Ton 81 in hand-
schriftennaher Version und als metrisch gebesserte Textfassung. Beide Strophen bieten eini-
ge Verständnisschwierigkeiten, die jedoch nicht von vorneherein durch Besserungen geglättet
werden sollten. Die Konjekturen der älteren Forschung haben oftmals nicht geholfen, den
Sinn der Strophen zu erhellen.
28
Ganz offensichtlich sind sowohl die metrischen Abweichungen der beiden Walther-Stro-
phen untereinander und mit Reinmars Lied nach der Auffassung der C-Schreiber gedeckt.
Hier wird deutlich, dass die Vorstellung von Tongleichheit im Mittelalter wohl großzügiger
gehandhabt wurde, als sich heutige Philologen das im Sinne einer ganz exakten Einhaltung
eines metrischen Schemas immer wieder ausmalen. Der dôn bezeichnete wohl ein metrisch-
musikalisches Muster, das Variationen durchaus zuließ. Der lässige Umgang mit dem Ton
354 Beate Kellner

samtzusammenhang der sogenannten Reinmar-Walther-Fehde geprägt.29 Erst


nachdem man sich davon distanziert hatte, ergaben sich neue Perspektiven auf
die beiden Strophen und ihre intertextuellen Bezüge. 30
In dem dône: Ich wirbe umb allez daz ein man
I Ein man verbiutet ein spil âne pfliht,
des im nieman wol gevolgen mag.
er giht, wenne sîn ouge ein wîb ersiht,
si sî sîn ôsterlicher tag.

Reinmars in den Walther-Strophen könnte dabei allerdings auch ein gezieltes Element der
Parodie sein. Vgl. zu den metrischen Abweichungen im einzelnen Walther von der Vogel-
weide. Werke. Hg., übersetzt und kommentiert von GÜNTHER SCHWEIKLE. Bd. 2: Liedly-
rik. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. 2., verbesserte und erweiterte Ausgabe. Hg. von
RICARDA BAUSCHKE-HARTUNG. Stuttgart 2011 (RUB 820), Kommentar, S. 616f. Vgl. zur
Bewertung auch FRANZ-JOSEF HOLZNAGEL: Habe ime wîs und wort mit mir gemeine ... Re-
textualisierungen in der deutschsprachigen Lyrik des Mittelalters. Eine Skizze. In: Retextua-
lisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von JOACHIM BUMKE und URSULA PETERS.
Berlin 2005 (ZfdPh, Sonderheft 124), S. 47 81, hier S. 49f.
29
Vgl. etwa WAPNEWSKI, Der Sänger und die Dame [Anm. 11], S. 74 108; PETER WAP-
NEWSKI: Reinmars Rechtfertigung. Zu MF 196,35 und 165,10 [1965]. In: ders.: Waz ist min-
ne [Anm. 11], S. 181 194, hier S. 193; distanzierend bereits BIRKHAN, Walther und die Min-
ne [Anm. 11], S. 168 212; vgl. aber noch GERHARD HAHN: Walther von der Vogelweide.
Eine Einführung. 2. Aufl. München, Zürich 1989 (Artemis-Einführungen 22), S. 44 49; HER-
MANN REICHERT: Gewollte oder ungewollte Mißverständnisse um 1200? In: Verstehen
durch Vernunft. Fs. für Werner Hoffmann. Hg. von BURKHARDT KRAUSE. Wien 1997 (Phi-
lologica Germanica 19), S. 279 301; kritisch zu diesen Richtungen und neue Impulse gebend
SCHWEIKLE, Germanistische Legendenbildung [Anm. 11], S. 246 251; BAUSCHKE, -
[Anm. 11], S. 25 42, 59 76; HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3],
S. 186 190.
30
Vgl. etwa WILLIAM E. JACKSON
erman Lan-
guage and Literature Monographs 9), S. 165 179; FREDERICK GOLDIN: Walther versus Rein-
mar. The Regeneration of Poetic Language in Medieval German Literature. In: Vernacular
Poetics in the Middle Ages. Hg. von LOIS A. EBIN. Kalamazoo (Michigan) 1984 (Studies in
Medieval Culture 16), S. 57 92, hier S. 74 77; JOACHIM KNAPE: Rolle und lyrisches Ich bei
Walther. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von HANS-
DIETER MÜCK. Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), S. 171 190, hier S. 174
181; CLAUDIA HÄNDL
Studi medievali. Serie 3, 34 (1993), S. 573 594; OBERMAIER,
Nachtigallen [Anm. 11], S. 78 80; JENS KÖHLER: Der Wechsel. Textstruktur und Funktion
einer mittelhochdeutschen Liedgattung. Heidelberg 1997 (Beiträge zur älteren Literaturge-
schichte), S. 212 215; MARTIN J. SCHUBERT: Parody in Thirteenth-Century German Poet-
ry. In: Parody. Dimensions and Perspectives. Hg. von BEATE MÜLLER. Amsterdam, Atlanta
1997 (Rodopi Perspectives on Modern Literature 19), S. 237 273, hier S. 259 262; HUBER-
TUS FISCHER: Reinmar Balbulus oder die Kunst der Infamie. Anmerkungen zu Walthers
Schachlied mit einem Ausblick auf die Battlekultur. In: Die Kunst der Infamie. Vom Sänger-
krieg zum Medienkrieg. Hg. von dems. Frankfurt a. M. [u. a.] 2003, S. 11 80; VALESKA
LEMBKE: Minnekommunikation. Sprechen über Minne als Sprechen über Dichtung in Epik
und Minnesang um 1200. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 14), S. 378 387.
Minnesang als Spiel 355

5 wie wære uns andern liuten sô geschehen,


solten wir im alle sînes willen jehen?
ich bin der eine, derz versprechen muoz:
bezzer wære mîner frouwen senfter gruoz.
dâ ist mates buoz.
II
sô stæte an êren und ouch alsô wol gemuot:
ich trûwe ouch noch vil wol genesen,
daz mit selkem stelne nieman keinen schaden tuot.
5 swer aber küssen hie ze mir gewinnen wil,
der werbe ez mit vuoge und ander spil.
ist, daz ez im wirt i e sâ,
er muoz sîn iemer sîn mîn dieb und habe imz dâ

(Text nach C)31

II 4 mir.
Die erste Walther-Strophe bezieht sich nicht nur auf die erste Strophe des
Reinmar-Liedes Ich wirbe umbe allez daz ein man , sondern sie zielt auch auf
Reinmars Bezeichnung seiner Dame als ôsterlicher tac, die sich im Lied Ich wil
allez gâhen (MF 170,1/MFMT XXI.XIX) findet. Schon am Beginn der ersten
Strophe greift Walther die Spielmetaphorik aus Reinmars Schachlied auf (v. 1f.).
Ein Mann, so polemisiert er hier gegen seinen Sängerkonkurrenten, treibe sein
Spiel ohne Recht durch Überbietung soweit, dass wohl niemand mehr mit-
halten und folgen könne.32 Man erfährt sogleich, dass der andere dem Ge-
schmack dieses Sprechers nach mit dem Lob seiner Dame zu weit gegangen
sei, indem er sie als seinen Ostertag bezeichnet habe (v. 3f.). Aus Reinmars Si
ist mîn ôsterlîcher tac (MF 170,1; III nach bC, v. 5) macht Walther parodistisch
das stammelnde, lispelnde, fast schon zungenbrecherische si sî sîn ôsterlicher
tag (v. 4). Damit wird nicht nur Reinmars Hyperbolik, sondern auch seine
Sprache und seine Fähigkeit als Sänger lächerlich gemacht. Zugleich unterstel-
len die beiden Verse Reinmars Minnewerbung auch eine gewisse Beliebigkeit,

31
Der Text wurde überlieferungsnah aus der Handschrift erarbeitet.
32
Zugrunde liegt die Bedeutung von verbieten
SCHWEIKLE/BAUSCHKE-HARTUNG
(Hg.), Walther [Anm. 28], Kommentar, S. 621; BEIN (Hg.), Walther [Anm. 27], S. 413; UL-
RICH SEELBACH: Besseres liefern. Ein Vorschlag . 111,23).
In: Walther verstehen Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen.
Hg. von THOMAS BEIN. Frankfurt a. M. [u. a.] 2004 (Walther-Studien 2), S. 253 266, hier
S. 258f., plädiert für verbieten im S LEMBKE,
Minnekommunikation [Anm. 30], S. 378 387, ihre Interpretation auf. Reinmar habe, so
LEMBKE, S.
los und das Spiel für beendet
aber sollte in der Mattansage Reinmars ein Verbot des Spiels liegen?
356 Beate Kellner

misst man der Wendung ein wîb eine indefinite Bedeutung zu.33 Das hieße im
parodistischen Sinne: Wenn jener irgendeine Frau sieht, dann preist er sie schon
in den höchsten Tönen. Es könnte zudem sein, dass Walther hier die Verinner-
lichungstendenz bei Reinmar in dem Sinne zu Ende denkt, dass es auf die Per-
son der Dame gar nicht mehr ankommt, weil der Sänger sie als Kunstprodukt
deutlich gemacht hat und unabhängig von ihr auf dem Umweg der Imagination
und der reflexiven Umwertung des Leides zur Freude gelangen kann. Der hy-

Die zweite Provokation, die Walther ebenfalls schon in der ersten Strophe
. 9),
die im Lied Ich wirbe umb allez daz ein man nicht nur alle anderen Damen,
sondern meiner Deutung nach auch alle anderen Sänger zurücksetzen soll.
Der Sänger Walther macht deutlich, dass er und die anderen sich dadurch an-
gegriffen fühlen (v. 5f.).34 Diesen Schachzug will er sich nicht gefallen lassen.
Wer, wenn nicht er, sollte widersprechen? Er setzt also dagegen (v. 5 7), er ant-
wortet, wenn man so will, mit einem anderen Schachzug (v. 8) und hebt die
Mattsetzung auf: dâ ist mates buoz (v. 9).35
Worin besteht nun dieser Konter? Walther benötigt eine einzige Verszeile,
um sein Gegenprogramm zu formulieren: bezzer wære mîner frouwen senfter
gruoz (v. 8). Hier sind zwei Lesarten zu diskutieren. Seit Wapnewski hat man
sich daran gewöhnt, mîner frouwen als Dativ aufzufassen.36 Die Verszeile hieße

würde den Übertreibungen Reinmars damit einen angemesseneren, maßvollen


Stil der Werbung entgegensetzen und das Schachmatt von hier aus zurückwei-
sen. Das Possessivpronomen, das die frouwe eindeutig dem Sprecher, also dem
Walther-Ich zuordnet, wird von Wapnewski

wird dann argumentiert, dass es sich um die gemeinsame Herrin beider Sänger
37
Diese Implikationen von Wapnewskis
Lesart, die in der weiteren Argumentation auch historisch und biographisch

33
So bereits BIRKHAN, Walther und die Minne [Anm. 11], S. 197; dagegen HAUSMANN,
Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 188f.
34
WACHINGER, Sängerkrieg [Anm. 14], S.

35
Vgl. auch die Kritik in Wolframs Parzival , 115,5ff.: Sîn lop hinket ame spat, swer allen
frouwen sprichet mat durch sîn eines frouwen. Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach
der Ausgabe KARL LACHMANNs rev. und komm. von EBERHARD NELLMANN, übertragen
von DIETER KÜHN. 2 Bde. Berlin 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8/1,2 / Bibliothek deut-
scher Klassiker 110).
36
Vgl. WAPNEWSKI, Der Sänger und die Dame [Anm. 11], S. 88 106; kritisch dazu schon
HANS BLOSEN: Waz ist bezzer? Zu Walthers Lied 111,22. In: ZfdA 101 (1972), S. 271 280.
Der Vorschlag von SEELBACH, Besseres liefern [Anm. 32], S. 261 266, bezzer were! von wern
im Sinne von
37
WAPNEWSKI, Der Sänger und die Dame [Anm. 11], S. 91.
Minnesang als Spiel 357

konkretisiert werden,38 werden heute meist nicht mehr mit vollzogen, doch
geblieben ist die Auffassung von mîner frouwen als Dativ.39
Der anderen Lesart nach ist mîner frouwen als Genitiv zu senfter gruoz auf-
zufassen. Handelt es sich um einen Genitivus objectivus, ähnelt die Bedeutung
rter Gruß für die
Genitivus subjectivus

junktivisch formuliert erschiene sie als diejenige, von welcher der Gruß ausge-
hen würde. Ich neige diesem Verständnis des Verses aus zwei Gründen zu: Er-
stens passt die Vorstellung sehr gut zur zweiten Strophe, in der Walther die
Dame Reinmars auftreten lässt. Damit würde Reinmars Position von zwei Da-
men zurückgewiesen, durch seine eigene in der zweiten Strophe und Walthers
frouwe in der ersten. Die Idee, Reinmar durch die beiden Frauen in Bedrängnis
zu bringen, erscheint mir bestechend. Zweitens würde die Dame Walthers die
versuchte Mattsetzung aufheben, wenn sie sich durch einen Gruß wohlwollend
zeigen würde. Damit wäre sie in der Tat der unnahbaren Reinmar-Dame über-
legen, die ihrerseits vielleicht nur noch eine Projektion seiner Gedankenspiele
ist. Während Reinmar mit vielen Worten die Verinnerlichung seiner Minne um-
kreist, seine inneren Konflikte darstellt und sich schließlich mit einer Freude
bescheidet, die jetzt aus Sicht des Kontrahenten ins Negative gewendet, mehr
oder weniger im bloßen Dienen besteht, macht Walther, so verstanden, in einer
Verszeile klar, was in der Liebe beglücken kann, nämlich der sanfte Gruß der
Herrin. In diesem könnte sich das Entgegenkommen der Dame ausdrücken.
Ein solcher Gruß wäre der Logik der Strophe Walthers nach zweifellos wert-
volle
mars, die offensichtlich kein Echo bei der unnahbaren Dame zu finden ver-
mag.40 Dass Walther diesen Gruß im Konjunktiv formuliert, ist zudem, folgt
man der Lesart weiter, rhetorisch raffiniert, denn so kann er mit dieser Strophe
nicht nur Reinmar zurückschlagen, sondern auch seiner eigenen Herrin zuset-
zen. Er antizipiert sozusagen konjunktivisch den Gruß, den er sich in seiner
eigenen Werbung erhofft. Wenn es dem Sänger gelänge, den Gruß seiner Dame
zu erhalten und damit Erfolg in seiner Werbung zu haben, könnte er einmal
mehr über den Konkurrenten triumphieren, der sich entweder mit der ableh-
nenden Haltung der Dame begnügen muss oder sich Nähe wie ein Dieb er-
schleichen will.
In der zweiten Strophe lässt das Walther-Ich nun gewissermaßen als wei-
teren Schachzug die Dame Reinmars als weitere Mitspielerin auftreten. Das
Intrikate besteht auch darin, dass Walther Reinmars Pointen aus der Kussraub-
strophe (MF 159,37) nun mit Reinmars Dame untergräbt. Die Spielanordnung
heißt demnach: Der Sänger Walther zieht mit Reinmars Dame gegen Reinmar

38
Ebd., S. 97 106.
39
So etwa auch SCHWEIKLE/BAUSCHKE-HARTUNG (Hg.), Walther [Anm. 28], S. 167.
40
BEIN (Hg.), Walther [Anm. 27], S. 413, weist diese Deutung zurück.
358 Beate Kellner

zu Felde! Indem die Dame auftritt und spricht, erscheinen die beiden Strophen
als Wechsel. Nicht mehr das Reinmar-Ich, sondern das Walther-Ich ist der
Dame Reinmars im Wechsel zugeordnet. Dabei gilt: Der Sänger und die Dame
sprechen nicht zueinander, sondern über Reinmar. Die Dame macht klar, dass
sie sich keineswegs so übertölpeln ließe, wie Reinmar sich dies im Lied Ich
wirbe umbe allez daz ein man erträumt hat. Ihr inszenierter Auftritt verleiht
ihren Worten weit mehr Gewicht, als die Phantasterei Reinmars beanspruchen
kann. Die Dame besteht auf ihrer Ehre (v. 2) und macht klar, dass sie eine
Grenzüberschreitung, wie der Minner sie sich in der Reinmar-Strophe in seiner
Imagination erlaubt, keineswegs dulden würde (v. 3f.). Damit ist der Sänger
Reinmar nicht nur zurückgewiesen, sondern auch des verpönten rüemens über-
führt. Doch nicht genug, die Dame fährt fort: Wer einen Kuss von ihr erwer-
ben wolle, müsse sich schon auf andere Spielregeln einlassen, sich mit vuoge
(v. 6) darum bemühen und dürfe nicht wie ein Dieb vorgehen (v. 5f.). Zuletzt
ruiniert sie die eigentliche Pointe der Reinmar-Strophe, indem sie deutlich
macht, dass sie auch auf den Trick mit der Kussrückgabe keinesfalls hereinfal-
len würde. Vielmehr solle der, der einen Kuss von ihr gestohlen habe, ihn be-
halten und anderswo hin legen (v. 7 9). Denkt man dies mit der zweiten Stro-
phe des Reinmarliedes Ich wirbe umbe allez, daz ein man zusammen, so zeigt
sich, dass die Dame den Sänger Reinmar implizit dazu auffordert, sich an-
derswo, bei anderen Damen umzusehen. Er könnte also getrost das tun, wozu
ihm seiner Darstellung nach seine körperliche Begierde, die des
lî(bes) (MF 159,1, II, v. 1 3), ohnehin rät. Die Dame Reinmars erscheint ihrem
Sänger und Werber damit deutlich überlegen. Er hingegen wird blamiert und
muss sich ihre Scheltrede gefallen lassen. Indem sie sagt, man müsse schon ein
anderes Spiel spielen, wenn man bei ihr zum Zug kommen will, zeigt sie, dass
er ein schlechter Spieler ist. Sie scheint auf das übersteigerte Lob Reinmars
nicht angewiesen zu sein, sie weiß selbst nur zu gut, wie vortrefflich sie ist.
Und sie macht nicht den Eindruck, als würde sie sich von Reinmar auf dem

nach denen man um sie zu werben hat (v. 6).


Die Phantasterei Reinmars wird auf diese Weise auf den Boden der Tatsa-
chen heruntergeholt, so könnte man folgern. Doch keineswegs darf man dem

Dame als historische Person auf.41 Dann nämlich würde man den zweiten Spie-
ler ausblenden, den Sänger Walther, der die Dame Reinmars auftreten lässt, um
seinem Konkurrenten gegen dessen Grenzüberschreitungen in der Phantasie
die Tabus des Hohen Minnesangs erklären zu lassen. Höfische Distanz statt
erschlichene Nähe ist es, worauf die Dame jedenfalls in der zweiten Strophe
besteht. Indem das Walther-Ich die Kritik an Reinmar selbst ausspricht (I),

41
Die ältere Forschung hat hier vielfach historische Referenzen gesehen. Vgl. etwa WAP-
NEWSKI, Der Sänger und die Dame [Anm. 11] S. 97 106; dazu SCHWEIKLE/ BAUSCHKE-
HARTUNG (Hg.), Walther [Anm. 28], Kommentar, S. 618.
Minnesang als Spiel 359

aber auch die beiden Damen ins Spiel bringt (I und II), demonstriert es seine
Überlegenheit und hebt dessen Mattsetzung auf.

4. Fazit

Die genauen Anspielungen auf Reinmar in den beiden Walther-Strophen dürf-


ten nur von einem Publikum entschlüsselbar gewesen sein, das mit dessen Lie-
dern bestens vertraut war. Die Pointen, in denen es um das Aushandeln von
Nähe und Distanz, um Tabu und Tabubruch im Hohen Minnesang geht, lassen
sich jedoch auch ohne genaue Kenntnis der Referenzstrophen zumindest bis
zu einem gewissen Grad nachvollziehen und verstehen. Dazu kommt, dass das
Motiv des Kussraubs weiter verbreitet war, und dass auch der Vergleich der
Dame mit dem Ostertag nicht singulär ist,42 weshalb die Strophen insgesamt
in einem größeren intertextuellen Horizont zu sehen sind.43 Sie geben schlag-
lichtartig Einblick in eine Praxis mittelalterlichen Parodierens in der Lyrik, bei
der die Autoren mit Motiven, Versen, Strophen, Strophenformen und Tönen
ihrer Konkurrenten spielten. Die Tatsache, dass Walthers Parodie nur einmal
überliefert ist und die Tonnennung des Konkurrenten in C einmalig ist, zeigt,
dass wir in der Minnesangüberlieferung wohl nur die Spitze dieser Praxis grei-
fen können.44 Insgesamt sind die Strophen als schlagendes Beispiel für die Zur-
schaustellung des Spielcharakters im Minnesang zu lesen. Dabei werden die
Damen, auch wenn sie im inszenierten Auftritt beanspruchen, selbst die Spiel-
regeln vorzugeben, letztendlich von den Sängern wie Spielfiguren geführt und
zum Einsatz gebracht. Sie werden als literarische Setzung deutlich gemacht.
Dass Walther den Fiktivitätscharakter dieses Spiels entblößt, indem er sich auf
die Spielmetaphorik seines Konkurrenten einlässt, wird ebenfalls sichtbar.45 Es
geht darum, Zug um Zug mit dem Konkurrenten zu ringen und diesen, der
angeblich in seinem Spiel zu weit geht, zu überbieten. Unter der Oberfläche
des Lobs auf die Dame geht es um den Ruhm der Dichter.

42
Auch Morungen kennt den Vergleich der Dame mit dem ôsterlîchen tac (MF 140,11).
43
Vgl. auch Reinmar, Herzeclîcher vröide wart mir nie sô nôt (MF 196,35/MFMT
XXI.LI). Der Sänger nimmt hier offensichtlich Bezug auf das Lied Ich wirbe umbe allez,
daz ein man (MF 159,1/MFMT XXI.X).
44
WALTER RÖLL: Zum Zitieren als Kunstmittel in der älteren deutschen Lyrik. In: PBB
(Halle) 105 (1983), S. 66 79, hier S. 75 79, hat auf parallele Verfahren im romanischen Be-
reich aufmerksam gemacht.
45
Anders HAUSMANN, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 190. Er
beiden Strophen L. 111,23 und L.

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