Sie sind auf Seite 1von 11

ÖSTERREICHISCHE

MUSIKZEITSCHRIFT
G E G R Ü N D E T VON DR. P E T E R L A F I T E f

28. JAHRGANG MÄRZ 1973 HEFT 3

D E U T S C H E DICHTER —
ÖSTERREICHISCHE KOMPONISTEN Paul Schilhawsky

Die Festrede des Rektors der Hochschule für Musik und darstellende Kunst
Mozarteum wurde anläßlich des Salzburger Ländertreffens Österreich —
Deutschland der Rotary-Clubs gehalten. Der Verfasser möchte betonen, daß
die Rede sich nicht an ein Fachpublikum richtete, hofft aber trotzdem, auch den
Lesern der Musikzeitschrift mit dem Artikel einige anregende Gedanken ver-
mitteln zu können.

Wir leben in einem Zeitalter, in dem Klischeevorstellungen immer weniger


Gültigkeit haben, in dem die Strahlungswellen der Kulturkreise immer weiter
reichen und zugunsten einer höheren Einheit der Humanitas manche frühere
Eigenart aufgegeben wird. Aber nicht nur die einst so festgefügten ethnolo-
gischen Regrrffe, die in der spezifisch landschaftsbedingten Begrenzimg ihre
Kraft fanden, haben sich verändert, sondern die gesamte Mentalität ist eine
andere. Aus dem kreativ Kontemplativen des erzwungenermaßen Seßhaften
wurde in unserer Zeit das Kosmakommeridelle des Welthandlungsreisenden.
Wir haben den Weg vom schöpferischen über den nachschöpferischen zum
„abschöpferischen" Menschen zurückgelegt.
Würde Heinrich Heine heute leben, er wäre über Paris nach New York
emigriert und dort — der Wechsel der Sprache wäre für ihn eine Leichtig-
keit gewesen —• zu einem verwöhnten, gefeierten Feuilletonisten geworden.
Goethe würde viel Zeit und Kraft an die Idee des geeinten Europa ver-
wenden und selbst Mörike wäre auf Vortragsreisen zu finden. Und doch:
so vieles ist gleich gebheben, hat sich nur in der Form verändert. Die jungen
Männer singen sich nach wie vor in die Herzen der Mädchen, sie tun das
mit anderen Rhythmen, anderen Instrumenten, anderen Harmonien und ver-
vielfachter Lautstärke, aber sie tun«.
Die Romantik lebt. Sie lebt und hat schon immer gelebt, noch bevor man sie
als Stil eingerichtet und bezeichnet hat. Natur, Subjektivismus und Erlösung
sind die drei Axiome der Romantik. Wie schon oft in der Geschichte, verlangt
man auch heute nach Natürlichkeit, ist man subjektiv bis zum Egoismus
und hofft auf Erlösung aus einer allzu systemisierten Welt und aus den Ver-
lockungen der Bequemlichkeiten, die uns schuldig werden lassen.

105
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
Die Aktualität der Poesie der ausklingenden Klassik und daranschließenden
Romantik liegt keineswegs im Stilistischen, sie liegt im Menschlichen, im
Nachspüren, ja Selbstempfinden seiner Probleme und dem Wunsch, sie mit
künstlerischen Mitteln der Umwelt, vielleicht aber auch sich selbst, zu ver-
deutlichen. Daß dabei in den Jahrzehnten, um die es hier geht, Dichtung
und Musik in naher Verwandtschaft zusammenwirken, ist sicherlich kein
Zufall, denn seit den Zeiten der Minnesängen gab es nicht mehr so viele
dichtende Komponisten und komponierende Dichter wie in der Romantik.
Das gesteigerte Gefühl, das sich in Worten nicht mehr fassen läßt, man läßt
es jubeln und klagen in der Sprache der Musik. Die Dichter schreiben Lieder,
die Komponisten vertonen Texte, die ihnen ans Herz gehen, der Tondichter
entsteht.

Aber nicht davon soll hier die Rede sein, sondern von dem Wunder, dal3
größte Kunstwerke ihren Ursprung in den Schöpfungen zweier verschiedener
Autoren haben, die einander gar nicht kannten, und von der Selbstverständ-
lichkeit, mit welcher die Meister zueinander finden; wie viel stärker also
Geist und Sprache sind als Zeit und Raum.
Der Grund aber, die Wurzel des nötigen Einverständnisses auf höchster
künstlerischer Ebene ist das Menschliche, das Subjekt, und ist die Ein-
stellung zur Natur als ewiggültigem Vergleich zum menschlichen Schicksal.
Was hätte der beste Komponist davon, wenn ihm der Text des Gedichtes
nicht — wie Beethoven sagte — „die Funken aus dem Hirn schlüge", und
was hätte der größte Dichter davon, wenn der Inhalt seines Liedes durch
die Musik entstellt würde? Naturgemäß fällt bei diesem Zusammenwirken
dem Komponisten die noch sensiblere Aufgabe zu, da er sich in eine Gegeben-
heit einzufügen hat und dabei doch so lebendig und persönlich bleiben
muß, daß die künstlerische Überhöhung stattfindet, die gleichzeitig verdeut-
licht und beglückt, und gleichzeitig so logisch eindringlich imd für den
Aufnehmenden mühelos erscheinen muß, daß man sich das Gedicht gar nicht
mehr anders als gesungen vorstellen kann. Dann ist Goethes Aufforderung
erfüllt, die heißt: „Lass' die Saiten rasch erklingen, und dann sieh' ins Buch
hinein, nicht nur lesen, immer singen, und ein jedes Blatt ist dein!"

Das betont Rhythmische und Einprägsame im Ausdruck dieser Zeilen findet


sich in allen Gedichten Goethes, die er selbst als Lieder bezeichnete und
damit der Vertonung vorbestimmte. Er wußte also, worum es für den Kompo-
nisten ging, und wenn er auf musikalischem Gebiet auch lange nicht so be-
wandert war wie auf den meisten Gebieten der Naturwissenschaft, so blieb
doch der Einfluß der Musik auf sein Schaffen ebenso beständig wie seine
Bewunderung für sie. Mozart, dessen kurzes Leben ganz von dem langen
Leben Goethes umschlossen war, wurde für Goethe zum Inbegriff der
Genialität. „Was ist Genie anderes", sagte er, „als jene produktive Kraft,
wodurch Taten erstehen, die vor Gott und Natur sich zeigen können und
die eben deswegen Folge haben imd von Dauer sind. Alle Werke Mozarts
sind dieser Art; es liegt in ihnen eine zeugende Kraft, die von Geschlecht
zu Geschlecht fortwirket und so bald nicht erschöpft und verzehrt sein
dürfte."
Bei anderer Gelegenheit stellt Goethe Mozart in eine Reihe mit Raffael und
Shakespeare und betont dabei, daß er ihm unter den Musikern überhaupt
den ersten Platz zuteilt. Wir wissen, daß Goethe nach dem Erscheinen der

106
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
„Entführung aus dem Serail" bemerkte, daß sie alles „niederschlug", daß
er die weiteren Opern Mozarts in Weimar aufführte und daß er die „Zauber-
flöte" in einem zweiten Teil fortsetzen wollte. Eine Ironie des Schicksals
aber wollte es, daß Goethe die einzige Vertonung eines eigenen Werkes
durch Mozart, nämlich das „Veilchen", nie gehört hat und daß weiter
Mozart dieses Gedicht — es gehört eigentlich zu den Balladen Goethes —
zufällig in einer „Sammlung deutscher Lieder", wo es noch dazu irrtümlich
unter Gleims Namen statt unter dem Goethes veröffentlicht war, gefunden hat.
Mozart hatte keine Hemmung, dem Gedicht noch die Worte: „das arme
Veilchen — es war ein herz'ges Veilchen" eigenmächtig hinzuzufügen, sicher,
weil es ihm für den musikalischen Ablauf richtiger und runder erschien. Wir
können uns heute das Lied ohne diesen Schluß gar nicht mehr denken.
Auch wenn Mozart damals schon gewußt hätte, von wem das Gedicht
wirklich ist — es hätte ihm nicht viel ausgemacht. Mozart hat kaum je von
Goethes Dasein Notiz genommen. Er war außerhalb seiner Welt, der Welt
der Oper, nicht eigentlich belesen oder gebildet, er konnte es gar nicht sein,
weil ihm die Zeit dazu fehlte. Seine Einstellung zur Dichtung war also keines-
wegs literar-ästhetisch, wie später die Einstellung Schumanns oder Hugo
Wolfs, sondern er komponierte, ähnlich Schubert, was ihm gefiel. So ist die
historisch erste Verschmelzung zweier ganz großer Geister, ist das Entzünden
eines Genies am anderen, anonym verlaufen, ungewollt, könnte man sagen,
ohne Pathos, ohne Aufsehen.

Sehen wir aber von den Umständen, unter denen das „Veilchen" komponiert
wurde, ab, so beweisen die Affinitäten Goethes und Mozarts die iimere
Logik dieses Zufalls. Der Sammelbegriff Klassik hilft hier nicht weiter, da
es klassische Musik im antikisierend-hellenistischen Stil gar nicht gibt. Wohl
aber ist die Mitte zwischen reinem Dienst und persönlichstem Erleben als
Ausdruck in Mozarts Schaffen als klassisch anzusehen. Ebenso woUen Goethes
Werke gleichzeitig Spiegel des Einzelnen und des Gesamtmenschlichen sein.
In dieser Vereinigung des besonderen Schicksals mit dem Allgemeinen liegt
die Hauptparallele der beiden Meister, die sie nun — eine weitere Parallele —
in sensibelster Kenntnis für das Maß der Dinge, für die Form endgültig,
unverrückbar, — also im übertragenen Sinne — klassisch, hinzustellen ver-
mögen. Das trifft ebenso für Goethes Grabrede auf Schiller zu, wie auf das
Finale des zweiten Aktes von „Figaros Hochzeit". Es ist bezeichnend, daß
es Goethe vorbehalten blieb, das Große dieser Verwandtschaft zu erkeimen
und sich davon beeindrucken zu lassen; Mozart hätte für diese Werte kein
Verständnis gehabt, — er hätte sie ja nicht komponieren können.
Ganz anders als Goethes Einstellung zu Mozart, ja fast umgekehrt, war die
zu Schubert. Hier ist der Komponist der Bewunderer, der als imtertänigster
Diener zum Bittsteller an einen Herrn wird, der ihn nicht zur Kenntnis
nimmt. Man soll aber die etwas novellistische Tragik in der äußeren Beziehung
der beiden Meister nicht überbewerten. Goethe war zu dieser Zeit eine inter-
national anerkannte Autorität, seine Gedichte vmrden immer und immer wieder
vertont, er erhielt zahllose Zuschriften von Musikern mit der Bitte, die Ver-
tonung seiner Lieder ihm widmen zu dürfen, und gab schon kaum mehr darauf
acht, wer ihn da und womit „molestierte". Noch dazu waren Schuberts
Versuche beide Male denkbar ungeschickt eingeleitet worden. Auch die Tat-
sache, daß Goethe Schubert praktisch ebenso wenig kannte wie Mozart
Goethe, fällt dabei noch nicht ins Gewicht. Entscheidend in diesem Spiel

107
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
der Umkehrungen ist, daß Schubert in voller Anerkennung und instinktiv
einfühlsamstem Verständnis der Lyrik Goethes 73 seiner Gedichte und
Balladen vertonte, wobei das „Gretchen am Spinnrade" und der „Erlkönig"
als op. 1 und op. 2 für Schuberts künstlerische Bestimmung zum Lied-
komponisten ohne Übertreibung als schicksalhaft angesehen werden können.
Mit diesen beiden Liedern hat Schubert die Form für sein ganzes späteres
Liedschalffen gefunden, mit ihnen beginnt eine neue Epoche der Lied-
komposition. Ab da wird nicht zu einem Text Musik gemacht, sondern
aus dem Text Musik gemacht, wobei das Tonmalerische in der Begleitung
gleichzeitig zum Ausdruck der Seele wird. Wenn hier eingeflochten in Erin-
nerung gebracht wird, daß man in dem Klavierpart zu „Gretchen am Spinn-
rade" außer dem Spinnrad auch die Unruhe des Mädchens hört, so soll
dieses eine Beispiel für die nun folgenden über 600 Lieder Schuberts stehen,
in denen sich dasselbe Phänomen wiederholt. Man könnte von einer neu-
gewonnenen Dimension sprechen. Sie ist die Verschmelzung von Sehen und
Erleben, eine Dimension denkbar stärkster Spannung, gleichgültig, ob sich
in ihr das Geschehen bildhaft dramatisch, wie in „Gretchen am Spinnrade",
oder mild jenseitig verhalten, wie in „Wanderers Nachtlied", darstellt.

In der Klassik wurden Lieder mehr als Gelegenheitskompositionen gemacht,


Meisterstücke wie das „Veilchen" sind höchst selten zu finden, jetzt aber
folgt ein Wurf dem anderen. Ab Schubert gibt es den Liedkomponisten,
den Komponisten, der dieser Gattung sein ganzes Können und oft durch
lange Zeit seine ganze Konzentration widmet. Aus dem Wollen, aus einer
gelegentlichen Laune, wird ein Müssen. Goethes Wort: „Was ich nicht lebte
und was mir nicht auf die Nägel brannte und zu schaffen machte, hab' ich
auch nicht gedichtet und ausgesprochen" gilt auch für Schubert und die
folgenden Liedkomponisten. Das unübersetzbare deutsche Wort „Lied" wird
zum Leben. Den Impuls zu dieser hereinstürzenden Entwicklung verdanken
wir letzten Endes Goethes Gedichten, die es als erste vermochten, Schubert
so stark zu beeindrucken, daß er in ihnen aufging. Wieder ist eine Ironie des
Schicksals festzustellen, denn der neue musikalische Stil war den konserva-
tiven Anschauungen Goethes entgegengesetzt und konnte, wenn überhaupt,
nur sehr bedingt dessen Beifall finden. Das unschätzbar Wertvolle, das End-
gültige, Dauerhafte, also im höchsten Sinn wieder Klassische dieser Musik,
koimte er durch die für ihn „detestable Tonmalerei" hindurch nicht erkennen.
Von Mozart hätte er sich vielleicht umstimmen lassen, von Schubert nicht.
Denkt man darüber nach, so ist das verzeihlich und sogar verständlich.

Schubert liebte es, ähnlich wie später Hugo Wolf, seine Lieder in Gruppen
zu schreiben, die sich jeweils nur mit einem Dichter beschäftigten. Im ganzen
hat er etwa 85 Dichter vertont. Bedeutendste und weniger Bedeutende, wie
seine dichtenden Freunde Spaun und Mayrhofer. Es wäre natürlich unmög-
hch, hier auf alle einzugehen. Die musikfremde Gedankenlyrik Schillers hat
Schubert vorübergehend noch vor der Bekanntschaft mit Goethes Lyrik be-
schäftigt, die Lyrik Matthisons konnte ihm trotz ihrer etwas sentimenta-
lischen Pathetik Meisterlieder entlocken, Höltys sinnlichere Gedichte fanden
offensichtlich starken Widerhall in der ästhetischen Seele Schuberts, besonders
gefesselt aber war er von den Gedichten Wilhelm Müllers, des Textdichters
der „Schönen Müllerin" und der „Winterreise". In den beiden großen Zyklen,
die novellistische Züge haben, verschmelzen Dichtung und Komposition zu
einer solchen Einheit, daß man geneigt ist, den Ursprung von zwei Autoren

108
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
zu vergessen. Schuberts persönlichstes Wesen, seine Melancholie, das Dunkle
in seiner Einstellung gegenüber dem Leben, der Friede dem Tod gegenüber
und das Prophetische einer Dramatik, vor der er gelegentlich selbst zu
erschauern scheint, sind in diesen Meisterwerken enthalten. Kaum je ver-
nehmen wir in diesen Zyklen den Anklang an ein Wiener Lokalkolorit, wie
bei der Romanze aus „Rosamunde" oder bei der Vertonung von Uhlands
,,Frühldngsglaube", und doch ist das alles Schubert persönlich, ist alles ur-
österreichisch und macht vergessen, daß das schicksalhafte Rächlein der
Müllerlieder ein Nebenfluß der Spree oder der Leine ist und daß der
Lindenbaum nahe „Unter den Linden" und nicht in Grinzing steht. Die
Texte Wilhelm Müllers sind nicht anspruchsvoll, aber sehr plastisch, sie haben
nicht annähernd Goethes Sprache, aber sie waren für Schuberts Inspiration
ideal. Die ungeheure Macht der Musik vermag es, auch mit Hilfe eines
künstlerisch weniger hochstehenden Partners, das denkbar Höchste an Kunst
zu erreichen. So manche Oper macht das besonders deutlich. War somit
Wilhelm Müller für Schubert nur ein unbewußter, glücklicher Helfer, der
wie zum Dank dafür mit in die Sterne gehoben wurde, so tritt schließlich
in Heinrich Heine noch einmal ein eigenständiger Lyriker in Schuberts Leben.

1827 hatte Heine ein „Ruch der Lieder" herausgegeben, welches nach eige-
nem Wunsch seine dichterische Entwicklung in drei Phasen eingeteilt fest-
hält: „Junge Leiden", „Lyrisches Intermezzo" und „Heimkehr". Die sechs
Heine-Vertonungen Schuberts sind im Todesjahr geschrieben und stammen
alle aus „Heimkehr". Sie wurden zusammen mit anderen nachgelassenen
Liedern gedruckt, wobei der Herausgeber für die Sammlung den zugkräftigen
Titel „Schwanengesang" erfand. Die Eigenart, ja Eigentümlichkeit dieser Lieder,
die sie stark von den übrigen Schubertliedern abhebt, kann nur auf Heines
Gedichte zurückgeführt werden. Freilich, der Roden für dieses künstlerische
„Gipfeltreffen" war denkbar günstig, die Affinitäten sind unübersehbar.
Heine hatte manche Eigenschaft, der sich ein so typischer Österreicher v^^e
Schubert verwandt fühlen mußte: das leichte, sichere Gefühl dafür, wann
Spannung, wann aber auch Entspannung nötig ist, die gelegentlichen Aus-
brüche, von deren Nutzlosigkeit man schon vorher überzeugt ist, die Vorliebe
für das immer lichte und schöne Reich der Träume und der Drang, sein
eigenes Schicksal mit dem des ewig hoffnungslos Liebenden zu verbinden
— selbst wenn man's im eigenen Leben gar nicht so ernst damit meint.
Man vermeidet ©s aber auch, allzu direkt, persönlich zu werden, man ist ja
so verwundbar, man will ja so verwundbar sein und läuft Gefahr, durch
einen tragischen Todesstoß um den Rest seiner Leiden gebracht zu werden.
Kommt der Tod aber, so findet er Einsichtige, Mutige, die sich unter Gesang,
Lachen und Tränen ein ganzes Leben lang auf ihn vorbereitet haben. So hat
Schubert zahllose Male das Sterben vertont und immer positiv gesehen,
immer aus dem Frieden von Dur-Dreiklängen. So aber hat auch Heine
gedacht, wenn er von dem Hinübergehen in sein Traumreich schrieb:
„Es kommt der Tod — jetzt will ich sagen, was zu verschweigen ewiglich
mein Herz gebot: für dich, für dich, es hat mein Herz für dich geschlagen."
Über die Mentalitätsnähe hinaus hatte Heine die für Schubert so besonders
wichtige Gabe, ähnlich Goethe, in kurzen, eindringlichen, also ausgezeichnet
vertonbaren Versen zu dichten. Für den Witz, die Ironie und das Versteckte
in Heines Lyrik scheint Schubert kein Verständnis gehabt zu haben und
vieles, wofür er sicher seinen persönlichen musikalischen Ausdruck gefunden

109
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
hätte, mußte, bedingt durch die kurze Zeit der Bekanntschaft, unausgeschöpft
bleiben. Allein die bestürzende Wucht des „Doppelgängers" und das schil-
lernde Gemälde der „Stadt" zeigen ungeahnte Möglichkeiten auf. Umso höher
schätzen wir den Besitz der sechs Meisterlieder.
Genau 60 Jahre nach Schuberts Tod, also 1888, beginnt Hugo Wolf sich auf
das Liedschaffen zu konzentrieren, womit zum zweiten Mal im selben Jahr-
hundert, und zwar in noch ausschließlicherer Weise, das Lied zum Lebens-
inhalt eines österreichischen Komponisten wird. Wolf war damals 28 Jahre
alt, von dem frühreifen Genie Schuberts hatte er also nichts; außerdem war
er nur durch zahlreiche Widerstände hindurch zur Musik gelangt, er hat
sich immer mit seinen Lehrern überworfen, weshalb er den zeitraubenden
Werdegang eines Autodidakten auf sich nehmen mußte, und er war ein
außerordentlich kritisch veranlagter Mensch anderen, aber auch sich selbst
gegenüber. Diese Hemmungen und Hemmnisse hatten andererseits ihr Gutes,
denn sie boten dem aus reinem Gefühlsüberschwang heraus schaffenden
jungen Musiker Gelegenheit, an der gedanklichen Welt großer Dichter Halt
und Form zu finden.

Die Dichter bestimmten das Werk Wolfs, der die Jahre vor 1888 selbst als
Suchen und Irren bezeichnete. Die Dichter wurden seine eigentlichen Lehrer.
Endlich konnte er sich diese selbst auswählen, und da bewies der Autodidakt
einen zwar sehr persönlichen, aber absolut qualitätssensiblen Geschmack.
Goethe war zunächst für die Bildung entscheidend wichtig, ohne daß sich
Wolf damals schon als Komnonist im späteren Ausmaß an ihn herangewagt
hätte. Es folgen eine Lenau-Periode und der diesem etwas verwandte Heinrich
Heine; bald aber findet er zu Kleist, der ihn sein ganzes Leben lang begleiten
sollte und, mit Ausnahme von Wolfs nie sehr glücklichem Lieblingswerk,
der sinfonischen Dichtung „Penthesilea", zwar nicht den Musiker, wohl aber
den Menschen Wolf inspiriert und formt. Wolf nahm am Schicksal der
Amazone, an dem heftigen leidenschaftlichen Aufstieg und tragisch tiefen
Fall ihrer Seele ebenso stark Anteil wie am menschlichen Schicksal des
Dichters Kleist, dessen depressives Leben und dessen Selbstmord ihn bewegten
und beeinflußten. Kleists ewig suchende, irrende, sich aufbäumende und
morbide Geisteshaltung steht beispielhaft für ganze Künstlergenerationen der
romantischen Dichter Deutschlands, die ihre kranken Schatten des Wahn-
sinns und des Selbstmordes bis in die „Fin de siecle-Generationen" werfen
und die heute, sehr unbegründet arrogant, leider oft mit dem Wort ,,verlogen"
abgetan werden — als ob Wahnsinn und Lebenshoffnungslosigkeit Lüge
wären!
Wie stark mußte in solch labil-depressiver Stimmung die Kraft Richard
Wagners gewirkt haben! Sicher, auch da gab es viel Dunkles; Schopenhauer
und Nietzsche sorgten dafür, aber es gab auch sehr viel Licht und Heldisches,
hier war von Selbstmord nicht die Rede, hier war wieder einer, der es
ähnlich Goethe verstand, die Wirrnisse des eigenen Lebens durch künst-
lerische Gestaltung unschädlich zu machen. Wolf hat seinen Abgott Wagner
nie nachgeahmt, Wolf ist immer eigenständig geblieben, aber er hat von
Wagner das Sprachmelodische übernommen, hat in untrennbarer Verschmel-
zung von Dichtung und Musik dem Sänger das Gedicht und dem Klavier
die Musik, also das, was Worte nicht mehr sagen können, gegeben. Wolf
hat Wagners Wunsch, daß der gemeinsamen Schaffenskraft von Dichter und

110
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
Komponisten das wirkliche, von der Dichtung wie von der Melodie untrenn-
bare Lied erblühen möge, erfüllt. Voraussetzung für solche Homogenität ist
freilich ein völliges Einverständnis und das denkbar tiefste Sichversenken
in eine gleichgestimmte Dichterseele.
Diese Voraussetzung war für Wolf bei Eduard Mörike gegeben. Mörike hat
es unbewußt sehr erleichtert, da Musik eine unbeschreibliche Macht auf ihn
ausübte, die ihn auch nie verließ und sich fast zwangsläufig in der Dichtung
niederschlagen mußte; Sender und Antenne in einer Person, genau wie auch
Hugo Wolf, der also nur die richtige Wellenlänge einzustellen hatte, um
zum Einverständnis mit Mörike zu kommen. Die Skala dieser Wellen reicht
von der phantasievollen Begeisterungsfähigkeit in „Weylas Gesang an Orplid"
über die ebenso für die Zeit des Biedermeier wie für die ohristHche, ja sogar
für die hellenistische Philosophie gültige Genügsamkeit im „Gebet" und
„die Mitte" bis zur Entsagung in „Lebe wohl". Daneben gibt es aber auch
die Entrücktheit von „Laß' o Welt, o laß' mich sein", weiters eine skurrile
Märchenwelt — und Humor.
Bei all dem war Mörike nicht etwa ein Erlebnisdichter wie Goethe. Die
eigenen Erlebnisse waren nur Anlaß aber nicht Gegenstand seiner Kunst.
Vieles wird verschwiegen, man sieht den Dichter nicht durch sein Werk,
man ahnt ihn nur dahinter. Nicht zu übersehen ist aber auch, daß der
Pfarrer Mörike einer der realistischsten Dichter der Weltliteratur war, einer
der glutvollsten und buntesten. Wolf verstand es, all diese Eigenschaften
des Dichters in Musik umzusetzen. Der gewissermaßen „gemeinsame Nenner"
ist dabei der Begriff „Stimmung"; je gemischter diese Stimmungen im Text
sind, desto reizvoller ist der Text für die Komposition. Mörike — übrigens
selbst Maler — hat eine reiche Palette der Stimmungen zu bieten, jede der
Stimmungen ist durch Gebrauch von Farben lebendigst vergegenständlicht.
Es ist hier sicher nicht der Anlaß gegeben, sich über die sogenannte Ton-
artenpsychologie zu verbreiten, nur so viel sei gesagt, daß Wolf durch die
Wahl der ihm entsprechend scheinenden Tonarten all die Farben Mörikes
in Musik verwandelte und auf diese Weise die Malerei in die Musik einbe-
zog. Wie man in Mörikes herrlichem Gedicht ,,Auf einer Wanderung" die
Farben der sinkenden Sonne, die bunten Blumen an den Fenstern des mittel-
alterlichen Städtchens, die Blüten des Frühlings und das Gold der Glocken-
töne hört, ist stilistisch gesehen vorimpressionistisch und künstlerisch gesehen
eine der beglückendsten, sublimsten Erfüllungen von Wagners Wunsch nach
dem Gesamtkunstwerk. So bedeutete Mörike für Wolf dasselbe, was Goethe
für Schubert bedeutete, nämlich die inspirierende Kraft, die zur Erkenntnis
des eigenen Weges führt, die den Quell eigener Inspiration aufbricht, der
bis zu Krankheit und Tod nicht mehr versiegt.
Wolf war von Mörikes Lyrik und dem, was sie ihm gab, tief beeindruckt,
Mörike-Vertonungen nannte er nicht mehr Lieder, er nannte sie „Gedichte
für eine Singstimme und Klavier". Monatelang las Wolf Mörikes Gedichte,
er las sie, obwohl er sie lange auswendig kannte, um möglichst lange der
ausschließlich Aufnehmende zu sein. Dann hatten sich in ihm die Worte in
Musik verwandelt und zwar so fest, so sicher und unwiderruflich, daß er
pro Tag bis zu sechs Lieder niederschrieb, ohne auch nur eine einzige Note
zu ändern. Das Werk zeigt, daß die Verbindung Mörike—^Wolf, ohne
jede persönliche Kontaktnahme, eine der glücklichsten der Kulturgeschichte
war. Sie kann nicht aus einer zeitbedingten Gemeinsamkeit der Ideen erklärt

III
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
werden, das wäre chronologisch unmöglich. War es die kulturelle Verwandt-
schaft zwischen Schwaben und Österreich, die auf der weitausstrahlenden
Macht der Gebiete um den Bodensee, diesem mittelländischen Meer, beruht,
oder wird einfach dem tiefen Einverständnis zweier Geistex Ausdruck ver-
liehen, die nicht nach außen leuchten konnten, weil sie sich nach innen
verbrannten? Das sind vielleicht müßige Fragen, auf die es nur unbeweisbare
Antworten gäbe. Manches bleibt offen, wie immer manches offen bleibt, wenn
man Sternstunden zu deuten versucht.
Aus Gründen der Konzentration soll im Zusammenhang mit Hugo Wolf nur
noch ein weiterer Dichter besprochen werden: Joseph von Eichendorff.
Als sich Wolf intensiv mit der Lyrik Joseph von Eichendorffs zu befassen
begann, war der Dichter schon dreißig Jahre tot, die Mehrzahl der Gedichte
fünfzig und mehr Jahre alt, ihre jugendMohe Kraft aber ungöbrochen. Mörike
und Eichendorff waren völlig gegensätzliche Naturen. Mörike ein schwer-
blütiger, schwermütiger, ganz nach innen gerichteter Mensch; Eichendorff
licht, leicht und aufgeschlossen. Mörike, der schwäbische evangelisch© Pfarrer,
der immer auf der Suche nach Gott blieb, Eichendorff, der schlesische
katholische Laie, der in seinem heiteren Katholizismus ruhte. Mörike immer
in finanziellen Schwierigkeiten, Eichendorff fast nie. Mörike immer krän-
kelnd, Eichendorff gesund; Mörike stets unglücklich in der Liebe, Eichendorff
stets glücklich. Bis in die scheinbar banalsten Dinge hinein, wie „Pech" oder
„Glück" im Leben, kann man diese Gegensätze weiter verfolgen und fest-
halten, und es entsteht die Frage, wieso Wolf, der seinem ganzen Wesen
nach eindeutig zum Typ Mörikes gehörte, sich so von Eichendorffs erlebnis-
hafter, ungrüblerischer, lichter Welt gefangennehmen ließ, daß er gegen
dreißig seiner Gedichte vertonte.
Die einfachste Erklärung für Wolfs Einstellung zu Eichendorff wird die
richtigste sein: gerade der Gegensatz war es, der ihn anzog. Ein Mensch,
der so von teils unverschuldetem, teils selbstverschuldetem Unglück im Leben
verfolgt wird, von dem ihn der Tod erst nach über fünfjährigem Aufenthalt
in Irrenanstalten erlösen sollte, muß als Konsequenz entweder selbst ver-
suchen, dieses Leben zu beenden, oder er muß sich an Positives halten.
Wolf tat beides. Wir wissen von seinem mißlungenen Selbstmordversuch und
wir haben eine Fülle von Liedern, die der lichten Begegnung mit Eichendorff
entstammen, der Begegnung, die für Wolf lebenserhaltend gewesen sein muß.
Wir müssen es den Liedern entnehmen, denn obwohl Wolfs Korrespondenz
erhalten ist und wir aus noch sehr naher authentischer Überlieferung viele
seiner Aussprüche kennen, hat sich dieser verschlossene Mensch eigentlich
doch nur in seinem Werk geoffenbart, hat er nur durch die Musik seine
innersten Gedanken zur Umwelt ausgesprochen.
Eichendorffs glücklichste Jahre waren die seines Aufenthaltes in Wien, Wolfs
glücklichste Zeiten die der vier ausgedehnten Reisen durch Deutschland, wo
er die ersten großen Aufführungen seiner Werke erlebte. Beide Künstler
aber waren ihrer engeren Heimat so verbunden, daß sie wieder dahin zurück-
kehrten, beide konnten nicht über den Schatten der „Maingrenze" springen.
Stilistische Impulse gingen von den glückhaften Wanderschaften sicher nicht
aus, dazu waren beide Persönlichkeiten zu stark in sich gefestigt, fraglos
aber viel Verständnis für die anderen Landschaften und die anderen Menschen.
Das — wie Hofmannsthal sagt — „Beglänzte, Traumüberhangene, das Schwei-
fende, mit Lust Unmündige im deutschen Wesen Eichendorffs, worin etwas

112
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
Bezauberndes ist", hat Wolf mit der behutsamen Hand des Österreichers
in seinen Liedern gepflegt. Manchmal nähert er sich sogar dem Volksliedhaften,
in den späteren Vertonungen freilich bekommen der Mond, die Sterne des
Nachthimmels, wie ihn Eichendorff immer wieder aus der Sicht seiner schle-
sischen Jugendzeit sieht, bekommen die Bäche und das Waldesrauschen um
Schloß Lubowitz einen zarten, seidigen Schleier, der sie in Eichendorffs
herrlichem Spätwerk „Nachtzauber" vorimpressionistisch entgegenständlicht, so
daß der Inhalt des Gedichtes dem Titel weicht — alles ist Stimmung.
In den humorvollen Gedichten Eichendorffs entwickelt Wolf so viel charmante
Fröhlichkeit, daß er darin sogar zu einem anderen Menschen zu werden
scheint. Unter den vielen Schichten des Wagnerianers Wolf und des austro-
philen Eichendorff fügen sich die Schichten des Humors besonders gut zu-
sammen. Wenn sich schon im allgemeinen viel Fruchtbares aus der Ideen-
verbindung ihrer konträren Temperamente ergeben hat, so erreicht sie im
Humor vielleicht ihre glücklichste, weil selbstverständlichste Einheit.
Geographisch zwischen Mörike und Eichendorff steht der Schweinfurter
Friedrich Rückert. Zeitlich umfaßt sein Leben, in großen Zügen gerechnet,
ungefähr den selben Abschnitt. Ein eigenartiger Zwiespalt durchzieht das
Werk dieses fraglos großen Geistes. Er schwankt zvidschen Gelehrsamkeit,
erlebnisreicher, zutiefst empfundener Poesie und einer manchmal geradezu
verhängnisvollen Geschicklichkeit, die ihm so viel Freude zu bereiten schien,
daß er ihr gelegentlich recht skrupellos die andere, die wahre Dichterbegabung
opferte. Sein Spezialgebiet, die Philologie, und innerhalb dieser wieder die
Orientalistik, machten ihn stark sprachbezogen; er konnte, laut eigenem Aus-
spruch, in jeder Sprache leben, die Menschen schreiben.
Nun ist nicht zu leugnen, daß Reimvirtuosentum und Prägnanz in der Form
große Anziehung auf Komponisten ausüben müssen, weil sie sich rhythmisch-
metrisch leicht vertonen lassen. Ein Blick auf die Wahl der Gedichte durch
große Komponisten zeigt aber, daß sie der Versuchung im wesentlichen
widerstanden und mehr den poetisch gehaltvollen Gedichten Rückerts nach-
spürten. Schubert hat sich mit fünf Vertonungen des damals allerdings noch
jungen Rückert begnügt, darunter das unvergängliche „Du bist die Ruh",
das wienerisch-weich apotheotische „Sei mir gegrüßt" und „Lachen und
Weinen".
Wolf hat Rückert überhaupt nicht vertont, aber etwas später gewinnt der
Dichter wieder mehr an Bedeutung — bei Gustav Mahler. Mahler war zwar
in erster Linie Symphoniker, die in seine Instrumentalwerke aber immer
wieder eingestreuten Gesänge und vollends das „Lied von der Erde" beweisen
sein starkes Interesse am Lied. Entsprechend seiner starken Vorliebe für das
Volksliedhafte entstammt die Mehrzahl seiner Liedertexte der Sammlung
„Des Knaben Wunderhorn", die wir den deutschen Dichtern Achim von
Arnim und Clemens Brentano verdanken; sie hat Mahler zu dem ersten
Liederzyklus, den „Liedern eines fahrenden Gesellen", angeregt. Der zweite
Zyklus, die „Kindertotenldeder", und die sdeiben Lieder aus letzter Zeit aber
sind der Lyrik von Friedrich Rückert verbunden. Innerhalb dieser Auslese
aus Rückerts poetischen Werken war es vor allem das geistvoll Philo-
sophische, das Mahler ansprechen konnte. Der Komponist übersah dabei
keineswegs kleine dichterische Schwächen. Das beweist einmal die Sorgfalt
bei der Auswahl seiner Kindertotenlieder aus einer reichen Gedichtsammlung
Rückerts, der ihnen den für ihn so bezeichnenden, leicht wortspielerischen

113
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
Titel „Lieder des Leidens" gab, zum anderen aber auch die Textveränderungen
in den schließlich komponierten Liedern. Diese Textveränderungen stammen
höchstwahrscheinlich von Mahlers eigener Hand. Rückert schrieb die Gedichte
unter dem Eindruck des Verlustes seiner Kinder, die — an Scharlach erkrankt —
erblindet starben. Auch Mahler hat sie, wie er sagte, aus der Vorahnung des
Todes seiner Tochter empfunden. Ureigenstes äußeres und inneres Erleben
verband also die beiden Autoren in dem Thema der „Kindertotenlieder".
Ein tiefes Einverständnis der Mentalitäten ist gegeben, das die Dichtung
ohne den geringsten Bruch in die Musik hinüberführt und sich immer dort
am stärksten zeigt, wo des Vaters Wunsch auf die Hoffnung für ein besseres
Schicksal der Kinder im Jenseits mit solcher Erschütterung vorgebracht wird,
daß der Zweifel auf die Erfüllung des Wunsches fühlbar wird. Die so überaus
gelungene Schöpfung „Kindertotenheder" gibt allerdings noch keine Erklärung
dafür, was Mahler eigentlich an Rückert anzog. Vielleicht läßt sich diese oft
gestellte Frage am besten negativ beantworten: das unbekümmert Frische
Eichendorffs war Mahler zu kunstvoll, da wendete er sich lieber gleich an die
Volkslieder aus des „Knaben Wunderhorn"; das Erotische Mörikes lag dem
Asketen Mahler nicht, für den ironischen Intellekt Heines aber war er zu
orthodox. Rückerts reimgeschickte Philosophie ließ Mahler noch am ehesten
den für seine Persönlichkeit nötigen Raum zwischen Inspiration und Ver-
pflichtung, es ist der Raum scheuer, musiikalisch veredelter Gefühlsregungen
in „Ich atmet einen linden Duft" oder „Liebst du um Schönheit". Mahler
beherrscht hier das Werk, und das scheint für ihn richtig zu sein. Wer ednes
sedner herrlichsten Lieder, das Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen",
durchdenkt, findet, wie schwer es dem Interpreten und dem Zuhörer gemacht
wird, durch das Suggestive der zarten Resignation in Mahlers Musik das
Positive in Rückerts Gedicht zu verstehen. Die Liebe zum Leid war Mahlers
stärkste Inspiration; dem Komponisten konnte nur dienen, wer ihn darin
nicht störte.
SelbstverständMoh ist mit der Betrachtung Rückert—-Mahler das Thema
nicht erschöpft, brechen die Beziehungen österreichischer Komponisten zu
deutschen Dichtern nicht ab, doch war die letzte schöpferische Berührung,
bei der die Dichtung den Ausschlag gab, die Romantik. Die Zeiten, in
denen der Dichter sang und der Sänger dichtete, sind vorüber.
Keineswegs aber soll verschwiegen werden, daß Arnold Schönberg Stefan
George, Dehmel und Nietzsche vertonte, daß es von Anton Webern Lieder
nach George und Goethe gibt, daß Ernst Kreneks Werk Dichtungen von
Klopstock, Goethe, Mommsen und Storm enthält und daß sich Alban Berg
außer in Liedern, deren Textdichter Storm, Hebbel, Mombert und Hart-
leben waren, in seinen Opern „Lulu" und „Wozzeck" in sehr persönlicher
Weise mit Wedekind und Büchner auseinandersetzte und nicht zuletzt dank
deren hervorragender Texte Opern von absolutem Gültigkeitswert geschaffen
hat. Ebenfalls mit einem Büchner-Text, mit „Dantons Tod", errang der öster-
reichische Komponist Gottfried von Einem seinen ersten durchschlagenden
Erfolg; auch hier war die Wahl des Librettos von ausschlaggebender Bedeutung.
Um die Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert tauchten
Ideen und Gespräche darüber auf, ob das Nationale im Leben und in der
Kunst wertvoller sei als das Internationale. Die kultivierten Menschen von
heute haben sich eindeutig für das Internationale entschieden. Die Kunst
muß, zumindest in Europa, fast nicht mehr Brücken bauen. Um so höher

114
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM
ist es der deutschen und österreichischen Kunst anzurechnen, daß sie diese
Brücken schon früher, durch hundert Jahre, von Mozart bis Mahler, unge-
achtet der Wirren der napoleonischen Zeit und des Jahres 1866, gebaut hat.
Noch einmal zurück zu den schon eingangs abgelehnten Klischeevorstellungen:
man kann und soll nicht einem Volk gewisse Qualitäten generell zu- und
einem anderen Volk aberkennen, man kann und soll nicht typisieren. Wohl
aber kann und soll man häufig auftretende Begabungen eines Volkes besonders
aufmerksam pflegen und mit denen anderer Völker in Verbindung bringen.
Das ist in der Hochblüte des Liedes geschehen, das war Kultur. Die weit-
offenen Landschaften Deutschlands sind für die Entwicklung des sprach-
lichen Ausdrucks der Gedanken seines Volkes günstiger als die wortkargen
Alpen. Die südlichen und östlichen Winde unseres Landes aber brachten
jenen Hauch von Sinnlichkeit, der sich hier in Musik verwandelt.
Der Deutsche hat's gesagt, der Österreicher hat's gesungen.

STILKUNDLICHE ANMERKUNGEN ZUM


ÖSTERREICHISCHEN L I E D D E S 20. JAHRHUNDERTS Robert Schollum

Mischung und Synthese haben immer zum österreichischen, vor allem zum
Wiener Wesen gehört. Es soll dazu eingangs hier zitiert werden, was ich am
Beginn meines Buches über die „Wiener Schule" (Verlag Elisabeth Lafite,
Wien 1969) geschrieben habe. Es heißt dort in bezug auf den Wiener
Raum (S. 7): „Wie buntscheckig war doch etwa sowohl uniform- als klang-
mäßig das Bild der Garnison Wien! Da waren — einschließlich ihrer Militär-
musik . . . — zu den Wienern noch Tschechen (u. a. etwa das Landwehr-
Infanterie-Regiment 24), Magyaren, Serben, Bosnier (für ihr Temperament
erfand der Wiener die heute noch gebräuchliche Bezeichnung .Bosnigl'),
Männer der Herzegowina eingezogen. Man mußte sich verstehen, sollten nicht
unablässig gefährliche Explosionen auf dem engen Raum der durch Kaserne
zernierten, schutzwallumgebenen Stadt vor sich gehen; und man war als
Folge der zwangsläufig geübten Toleranz bereit, voneinander anzunehmen . . ."
Dieses Voneinander-Annehmen ergab reizvolle und eine weite Welt spiegelnde
stilistische Feinheiten, deren Darstellung in der Interpretation keineswegs ganz
einfach ist und oft genug bei der „Musik aus Wien" vernachlässigt wird.
Man denke nur daran, wie gefährlich die Fehldeutung von Schuberts Italianitä
als „gefühlvolle (um nicht zu sagen: sentimentale) melodische Aussage" in
der Folge geworden ist: die gesamte Männerchor-Komposition des Wiener
Bodens ist damit ins Abrutschen gekommen; der Stumpfsinn des „Drei-
mäderlhauses" konnte entstehen, und noch immer bewegt sich die Schubert-
Interpretation, vor allem der Lieder, auf falschen Wegen, schwankend zwischen
übertrieben-absurder Sprachgestaltung und gefühlvoll-undiszipliniertem
Schwelgen.

Der Wiener Boden ist nicht so konservativ, wie er gewöhnlich hingestellt


wird. Es ist als geschichtliches Ergebnis zu verstehen, wenn das Neue nur

115
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 8/2/15 4:50 PM

Das könnte Ihnen auch gefallen