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Wilfried H. Mellers
Ein Drahtseilartist und ein Tänzer sind die beiden Geschöpfe, die sich
in jedem Künstler vereinigt finden, der mich bewegt. Jedes neue Werk ist
wie ein Drahtseil – gespannt über eine Wegstrecke ohne Ende. (…) Heute
sehen wir, welch extreme Vorsichtsmaßregeln Künstler wie Strawinsky
und Satie benötigen, um das Seil zu überqueren, das ihnen als einziger
Weg offenbleibt.
Georges Auric
Schwerlich war eine andere Figur der modernen Musik so hartnäckig igno-
ranter Anschwärzung ausgesetzt wie Erik Satie. Die Angst, sich einem genuin
neuartigen oder doch verstörend unbehaglichen Phänomen zu stellen, veran-
laßte Beurteiler, die mit seinem Werk kaum oberflächlich vertraut waren, Satie
als inkompetenten Blagueur abzutun, als einen Exzentriker, der seltsame Sen-
tenzen über Musik von sich gab, dessen Kompositionen aber mit frohgemuter
Unverantwortlichkeit ignoriert oder allenfalls mit Attributen wie »dünn« weg-
gewischt werden konnten. Vorab setze ich dem entgegen, daß Satie zumindest
ein Kennzeichen mit den allergrößten Genies der Geschichte teilt, nämlich
absolute emotionale Unverlogenheit sowie Integrität und Reinheit der Hal-
tung, und daß seine offensichtlich andere Statur, also die Tatsache, daß er ein
»kleinerer« und kein »größerer« Komponist ist, mit ebendieser Unverlogenheit
zusammenhängt und daherrührt, daß er mit so seltener wie bedeutsamer Kon-
sequenz und Strenge »seiner Zeit verpflichtet« war. Die Gründe, warum Satie
in Opposition zum Verfließenden des Impressionismus allen Wert auf Rein-
heit der melodischen Kontur, überhaupt auf skrupulöse Wahrhaftigkeit der
Mittel legte, die Gründe der scheinbaren »Dünnheit« und »Ausgezehrtheit«
seiner musikalischen Texturen bilden gerade das Geheimnis seines besonderen
Interesses und seiner eigenartigen Bedeutung.
Denn »hohe Kunst«, schrieb W. B. Yeats, »ist eine traditionelle Bekräfti-
gung bestimmter heroischer und religiöser Wahrheiten, wie sie von einem
Zeitalter aufs nächste kommen und durch individuelle Genies zwar verän-
dert, doch niemals aufgegeben werden. Die Revolte des Individualismus kam,
weil die Tradition verfallen, oder genauer: weil falsche Nachbilder an ihrer
Stelle angenommen worden waren«. Nimmt man Religion, was immer sie
8 Wilfried H. Mellers
sonst noch sein mag, als symbolischen Ausdruck der Fülle des Lebens hier
und jetzt durchs Ritual, so ergibt sich ein wichtiger Zusammenhang mit der
Kunst, und wir erraten, daß in einer Zivilisation, der nichts Königliches, Lei-
denschaftliches oder Prophetisches eignet, auch der Kunst schwerlich etwas
Großartiges oder Hinreißendes zukommt. Saties Musik ist insofern von gera-
dezu dokumentarischem Interesse, als sie gänzlich unreligiös und fast völlig
unsentimental ist. »Je suis venu au monde très jeune dans un temps très
vieux«, sagte er, und wenn er einem Kind gleicht, so weil er jene Unschuld
besitzt, die einem Künstler zustatten kommt, und nicht weil er infantil wäre.
Es macht seine eigentümliche Leistung aus, daß er in einer Zeit, in der das
hervorstechende Kennzeichen der künstlerischen Sensibilität die Isolation ist,
die geistige Kargheit und Dürre akzeptierte, zu der ihn »cette terre si terrestre
et si terreuse« verhielt, ob er sich gleich darüber im klaren sein mußte, daß
diese Hinnahme letztlich eine Art Tod bedeutete; daß er es standhaft ablehn-
te, seine Haltung im geringsten zu verfälschen oder zu entstellen – in einem
Zeitalter, da die Versuchungen zu emotionaler Unaufrichtigkeit vielleicht
stärker sind denn jemals zuvor. Deshalb glaube ich, daß es keine zeitgenössi-
sche Musik gibt, die über Position und Lage des Komponisten in der moder-
nen Welt mehr sagt als die dieses dürftigen und scheinbar unbedeutenden
Autors; und deshalb halte ich es für der Mühe wert, die Entwicklung seines
musikalischen Idioms in einigen beachtlichen Einzelheiten zu verfolgen.
II
Komponist. Sein musikalischer Bau ist aus traditionellen und soliden Klin-
kersteinen gefügt, wenn sie gleich in exzentrischen Kombinationen und in
unrechten Winkeln gesetzt sind. »Rekonstruktion« meinte für Satie die
Anstrengung, unverlogen zu sein: er hätte kein Wundermittel in einem revo-
lutionären »neuen Tonsystem« oder in einem geistigen Utopia finden können.
Von den frühen Werken sind jene, die mit dem Mystizismus der Rosen-
kreuzer-Malerschule zusammenhängen, am wenigsten gelungen, wiewohl
ihre extrem dünne Art recht besehen nichts Mystisches hat, sondern sich als
notwendige Stufe der kompositorischen Entwicklung Saties verstehen läßt.
Technisch greifen sie – denn der Desintegrationsprozeß muß bei den Grund-
lagen ansetzen – auf Gregorianik und Organum zurück, jedoch keineswegs in
antiquarischem Geist, sondern weil Satie in der Unpersönlichkeit und Ent-
legenheit, dem aller subjektiven dramatischen Spannung so Fernen dieser
Musik Qualitäten erkannte, die mit entsprechenden Modifikationen seiner
einzigartig einsamen Ausdrucksweise nahekommen mochten. Diese Modifi-
kationen erfolgen durch die Einführung raffinierter Harmonien in scheinbar
ihrer spottende, primitive Kontexte sowie durch den beißend verqueren Cha-
rakter, den Folgen unbeweglicher, in sich selber nicht untraditioneller Akkor-
de annehmen, wenn sie nach Maßgabe einer »persönlichen« Logik unter
Ausschluß der anerkannten harmonischen Relationen verbunden werden:
Von Anbeginn seines Komponierens ist daher jener sonderbare Eindruck eines
Fehlens harmonischer Perspektive markant, den Constant Lambert scharfsin-
nig kommentierte; deshalb ruft die Messe des Pauvres, vielleicht das beste dieser
frühen Stücke, bei einer sensitiven Aufführung Gefühle der Einsamkeit und
Hilflosigkeit hervor, deren Gewalt angesichts einer so betont schlaffen Technik
paradox anmutet. Daß sich aber die Schlaffheit nicht »technischer Inkompe-
tenz« verdankt, sollte allein schon williges Zuhören erweisen, um nicht erst die
kontrapunktische Ökonomie späterer Kompositionen zu bemühen.
Insgesamt freilich sind die Rosenkreuzer-Werke nicht recht gelungen; weit
mehr Interesse bieten die frühen Tanzstücke – Werke, in denen sich die for-
malen Prinzipien ausbilden, denen Satie dann während seiner gesamten Lauf-
bahn folgen wird. In den Sarabandes ähneln die raffinierten Sept- und
Nonakkorde denen der Rosenkreuzer-Musik, und sie brachten es zu einer
gewissen zufälligen Berühmtheit, da sie eine »Vorwegnahme Debussys« gewe-
sen sein mögen. Doch sind die unbeweglichen Harmonien hier einem re-
stringierten, allerdings äußerst subtilen und delikaten Sinn der melodischen
Linie nachgeordnet. In den Gymnopédies und Gnossiennes wird die »kubisti-
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sche« Reintegration von der Harmonik auf die Linie nachgeordnet. In den
Gymnopédies und Gnossiennes wird die »kubistische« Reintegration von der
Harmonik auf die Linie übertragen, während die Harmonien selber gerade
ihrer Einfachheit wegen »sprechender« werden. Diese Linie, mag sie ein
Geringes noch immer dem gregorianischen Gesang schulden – demjenigen
aller musikalischen Idiome, das dem üppigen Klima der französischen Musik
der 1890er Jahre am fernsten steht –, ist Saties einzigartige Création, der Aus-
druck einer Einsamkeit des Geistes, welcher jede persönliche Wehleidigkeit
fehlt. Die Ausgeglichenheit und Unpersönlichkeit ist teils das Werk der küh-
len Sensitivität und exquisit »vokalen« Kontur der Phrase selbst – in den
Gymnopédies hauptsächlich äolisch, in den Gnossiennes lydisch und quasi-ori-
entalisch; teils das der statuarischen Symmetrie des übergreifenden Phrasen-
baus. Auf Entwicklung der »Themen« wird verzichtet, stattdessen stellen sich
komplexe Strukturen dadurch her, daß lyrische Phrasen von bisweilen höchst
ungleichartiger, ja unvereinbarer emotionaler Intensität in unablässig »fri-
sche« Relationen zueinander gesetzt werden, ferner sich die Charaktere dieser
Phrasen selber modifizieren, indem die ihnen unterlegten elliptischen harmo-
nischen Muster Rückungen erfahren. Die harmonische Überraschung besitzt
hier melodische Logik, denn sie fungiert als Angelpunkt, um die melodische
Phrase gleichsam zu drehen, die darüber oft ihren emotionalen Sinn verän-
dert (vgl. insbesondere die erste und die dritte der Gnossiennes).
III
Erik Satie
Aus dem ersten Zyklus der Pièces froides, den Airs à faire fuir, sei die zweite
Nummer herausgegriffen, um Wesen und Bedeutung des Satieschen Humors
zu bedenken. Der Humor dieses zerbrechlich frohen Stücks lebt teils von der
»bon enfant«-Atmosphäre des traditionellen französischen Ammenliedes, teils
von der Bombenstimmungsmelodik der Pariser comédie musicale des ausge-
henden neunzehnten Jahrhunderts; man stößt hier auf das typisch französische
Element in der Kunst Saties, das jener Pariser Popularkultur entstammt, die
einen Chabrier hervorbrachte und dazu herhält, die einsame Unpersönlich-
keit, die ich zu beschreiben versuchte, schadlos zu halten. Demnach wäre der
Humor, der in Saties Musik aufscheint, lediglich ein Zug, der keinem genui-
nen Künstler abgehen darf: die Ausnützung der Möglichkeiten, die seine
Umgebung ihm bietet. Der Einfluß der Zeit, die Satie 1903 als Kapellmeister
eines café-concert absolvierte, ist in mancher seiner späteren Musiken ersicht-
lich, und der gepfefferte Pfiff der kleindosierten Orchestration von La Belle
Excentrique würde allein hinreichen, ihm zusammen mit Chabrier den Platz
eines Komponisten zuzuweisen, der den angeborenen Esprit des französischen
Temperaments zum Ausdruck bringt, ganz abgesehen von der tieferen Bedeu-
tung dieses Werks und seiner Musik überhaupt.
Sein Parisianismus ist insofern, als er den kritisch ironischen Intellekt zu
bewußterer Geltung bringt, eigentümlicher als der Chabriersche. Das soll
nicht heißen, daß Chabrier naiv in einem pejorativen Sinn wäre. Aber die
sich reckende Lebenslust wird im zweiten Air à faire fuir durch die luzide Cli-
chéverhöhnung der Harmonik Lügen gestraft; und wenn die dem charman-
12 Wilfried H. Mellers
In den Morceaux en forme de poire und den Quatre Petites Mélodies – um ein
frühes und ein spätes Werk herauszugreifen – erweisen sich die beiden Modi als
ununterscheidbar: hier verschränken sich pariserischer Leichtsinn und klaglose
Melancholie zu einer Musik des unvergleichlichen Ausgleichs, hoch zivilisiert
in ihren sanften Synkopierungen und zugleich vorzeitlich vereinsamt in der
Keuschheit ihrer Linie. Und es ist offensichtlich, daß diese beiden Aspekte
Saties nicht weniger in seiner Person als in seiner Kunst miteinander zusam-
menhängen. Seine Freude an dem, was er »rudes salopperies« nannte, bildete
einen Teil seiner Feindschaft gegen die Welt, wie sie ihm entgegentrat. Über
Jack in the Box sagte er: »Cette pantalonnade me console un peu et sera ma gri-
mace aux méchants hommes peuplant notre monde« – eine Bemerkung, die
wohl kaum nur ironisch gemeint war.
IV
Zwischen 1900 und 1908 kombiniert Saties Musik, grob gesagt, das robuste
Vergnügen der Pariser café-concert-Melodik mit der zerbrechlichen Reinheit
einer Sensibilität »réduite à l’isolement« innerhalb einer wie in den Frühwer-
Erik Satie und das Problem der »zeitgenössischen« Musik 13
ken zwar tonal flexiblen, doch weithin homophonen Technik. Von 1908 bis
1916 aber entsteht eine Reihe von Werken, in denen die beiden Modi eine
neue Einheit vermöge einer Ökonomie der technischen Mittel bilden, die auf
dem Kontrapunkt der Schola Cantorum beruht: es tritt eine Reduktion aufs
Allerwesentlichste der traditionellen modalen und diatonischen Systeme ein,
so daß die Musik, ob sie gleich eine persönliche Neuhervorbringung darstellt,
zugleich kraft ihrer technischen Verdünnung und ihres geistigen Klimas das
Ende der großen französischen klassischen Tradition von Pérotin bis Fauré
markiert – ein feierliches und dennoch quasi-humoriges »post obitum«. Die
Melodik zeichnet sich durch äußerst kurze, doch geschmeidig schöne Phrasen
aus, deren ironische Abgelöstheit durch ihre Balance und die absolute Regel-
mäßigkeit der rhythmischen Perioden, in denen sie gruppiert sind, gezeitigt
wird. Die harmonische Textur – aus der schon zur Zeit der Pièces froides (1897)
die früheren Chromatismen verbannt worden waren – besteht nunmehr
hauptsächlich aus diatonischen Zusammenklängen, wobei die Subtilität von
den originellen Kontexten herrührt, in denen sie sei’s aus der ebenso zwin-
genden wie biegsamen Stimmführung resultieren, sei’s als unaufgelöste Ap-
poggiaturen oder sogar in polytonalen Kombinationen erscheinen. In den ver-
hältnismäßig seltenen Fällen, wo überhaupt eine komplexere Dissonanz ein-
geführt wird, handelt es sich um besondere Punkte des musikalischen
Diskurses, die einen solchen Klang gleichsam neu erzeugen und ihm eine
leuchtende Präzision verleihen, die er als Teil des vorrätigen musikalischen
Vokabulars längst eingebüßt hatte – ich denke an Phänomene wie beispiels-
weise die Tritoni und kleinen Nonen am Ende von Sur le vaisseau, die fließende
Tritonusfigur in der Mitte von Sur une lanterne – beide Stücke gehören zu den
Descriptions automatiques – oder die relativ saftige Passage am Ende von Celle
qui parle trop:
Die Subtilität all dieser Werke erweist sich zunehmend im Modellcharakter des-
sen, was in ihnen zusammenschießt aus an sich durchschaubar simplen lyri-
schen Fragmenten, rigiden Rhythmen und Harmonien. Die Leichtigkeit, mit
der sie unter Bedingungen engster Beschränkung des Materials für jedes
Stück – zwei oder drei kontrastierende Phrasen, ein klar definierter Rhythmus,
ein paar überraschend verbundene Harmonien – hingeworfen sind, ist ein Tri-
umph technischer Geschicklichkeit. Und diese äußerste Ökonomie der Mittel,
Erik Satie und das Problem der »zeitgenössischen« Musik 15
lischen Ernst. Es sei an die Worte erinnert, die sein Freund und Kollege Jean
Cocteau über ihn schrieb: »Ecœuré de flou, de fondu, de superflu, des gar-
nitures, des passes-passes modernes, et souvent tenté par une technique dont
il connaît la moindre ressource, Satie se privait volontairement pour tailler en
plein bois, demeurer simple, net, lumineux.«
Von den Werken, die Satie in der Zeit komponierte, die ich im vorigen
Abschnitt ein wenig behandelte – sie fällt ungefähr mit dem Großen Krieg
zusammen –, ist das Ballett Parade (1916) am gewichtigsten. Der Ballettkult
während der Kriegsjahre verdankte sich zu einem Gutteil dem Bemühen, vor
sich selber zu fliehen, und viel von seiner Attraktion hing mit einer Unper-
sönlichkeit zusammen, die Flaubert als »Selbstverlust« beschrieb. Das neue
Ballett war »die Vereinfachung des Alltagslebens zu etwas Reichem und Wun-
dersamen«; insofern war es aber der luzideste äußere Ausdruck der ästhetischen
Ideale, denen Satie und seine Mitarbeiter – Cocteau, Picasso und Picabia –
anhingen. Was Satie erstrebte, war selbstverständlich nicht »reine Musik« –
falls unterstellt werden sollte, daß es so etwas geben könnte –, sondern Reinheit
der emotionalen Haltung. Indem er das »Menschliche« wegschüttete und sich
mit depersonalisierten Puppen einließ, wollte Satie wie seine Kollegen den
Kontakt zu den Dingen wiederherstellen, sich zu den Dingen »selbst« statt zu
der Ansicht, die sie durch zu subjektiven oder konventionellen oder senti-
mentalen Rauch hindurch bieten, verhalten. Sie versuchten, ihre Persönlich-
keiten in den Dingen zu verlieren, die das Material des Alltagslebens bilden,
auf daß diese Dinge »reich und wundersam« würden. Parade, das kubistische
Manifest, war die bewußt unternommene Anstrengung, das Ballett endlich
einer Bestimmung zuzuführen; die Methode ist von Cocteau selbst in Le Coq et
l’Arlequin erläutert worden: »Nos bonshommes ressemblèrent vite aux insectes
dont le film dénonce les habitudes féroces. Leur danse était un accident orga-
nisé, des faux pas qui se prolongent et s’alternent avec une discipline de fugue.
La gêne pour se mouvoir sous ses charpentes, loin d’appauvrir le choréographe,
l’obligeait à rompre avec d’anciennes formules, à chercher son inspiration, non
dans ce qui bouge, mais dans ce autour de quoi on bouge, dans ce qui remue
selon les rythmes de notre marche.«
In Saties Partitur mögen die Stimmen für Schreibmaschine, Dynamo, Lot-
terierad, hohe und tiefe Sirene, Wassergläser, elektrische Klingel, Revolver,
leere Flaschen und dergleichen ideologisch naiv gewesen sein; sie wurden
denn auch nie in einer Aufführung benützt.* Aber sie waren mehr als ein Pro-
* Anm. des Übers. – Unterdessen fanden z. B. unter Igor Markévitch Aufführungen und Aufnah-
men statt, in denen sie benützt wurden. Sie bedürfen keiner Verteidigung mehr, denn die Kon-
sequenzen, die Cage und später Schnebel aus der Verwendung solcher Accessoires gezogen haben,
machen sie zu einem eher zentralen Element des Interesses an Parade.
Erik Satie und das Problem der »zeitgenössischen« Musik 17
dukt des fürchterlich unspaßhaften Dadaismus: zur rechten Zeit ins Spiel
gebracht, waren sie buchstäblich »Geräusche«, die wie Picassos »Objekte« zur
Verwandlung in »etwas Reiches und Wundersames« anstanden. Satie selbst
bemerkt bescheiden: »J’ai composé un fond à certains bruits que Cocteau
juge indispensables pour préciser l’atmosphère de ces personnages.« Es war
ein vollkommen seriöses Unternehmen, dem sich Satie mit der ihm eigenen
Gewissenhaftigkeit und Konzentration hingab.
Wie die Art der Prämissen es nicht anders erwarten ließ, wurde Saties
Musik zu Parade die »kubistischste« aller seiner Kompositionen. Die hier neu
erstandene »Ordnung« ist so symmetrisch, daß jeder Satz sowohl als auch die
Aufeinanderfolge der Sätze, die das Ganze ergibt, auf einer Spiegelstruktur
beruhen, die dem Werk seine Distanz und seine objektive Selbstgenügsam-
keit verleihen; gleichwohl gedeihen hier, in dieser transparenten Balance, die
exzentrischsten Verbindungen, die überraschendsten Kontraste der sich in
Phrase und Rhythmus ausdrückenden emotionalen Härtegrade – die merk-
würdige tonale Ellipse und der zweideutig springende Rhythmus im Thema
des Managers, die zärtliche »insouciance« der »petite fille américaine«, der
eisige Glitzer der Akrobaten. Die Verve der music-hall steht leicht und unver-
mittelt neben dem bündigen Kontrapunkt von Choral und Fuge; schmieg-
same lyrische Phrasen werden durch mechanische Ostinati begleitet, deren
Blöße und Simplizität »shocking« ist, aber auch durch synkopierte Rhythmen
von mathematischer Monotonie. Überall ist die Musik exquisit »geschmie-
det« und ganz auf sich selber gestellt – doch zugleich stets darauf bedacht,
einen »tapis résonnant« für die Schritte der Tänzer zu bilden. Die Orchestra-
tion ist dünn und setzt klare Schnitte, sie unterstreicht die zerbrechliche
lineare Struktur, ohne sie koloristisch aufzuputzen. Parade ist immer noch
eines der wichtigsten und »zeitgenössischsten« Diaghilew-Ballette, zumindest
unter dokumentarischem Gesichtspunkt wichtiger als Strawinskys Petrusch-
ka. In Petruschka werden die Puppen zum Leben erweckt; die Essenz von
Parade ist, daß die Puppen Puppen sind.
Das Ballett Mercure (1924) gehört zwar chronologisch nicht in diese Peri-
ode, doch paßt seine Erörterung deshalb hierher, weil es mit dieser Phase des
Satieschen Werks – wie auch die Lieder Ludions aus demselben Jahr – enger
als mit den Kompositionen der »letzten« Manier zusammenhängt. In Zusam-
menarbeit mit Massine und Picasso entstanden, ist es historisch weniger
bedeutsam als Parade, aber brillanter und von stärkerem Reiz. Satie
beschreibt die Absicht so: »Ce sont simplement des personnages forains et la
musique, naturellement, est une musique de foire. Je crois que la musique
traduira exactement ce que nous avons voulu exprimer. J’ai voulu que’elle ne
fût pas harmonie de music-hall, mais bien composée de rythmes très parti-
culiers aux trétaux.«
Die Partitur bietet einige der triumphalsten Beispiele für Saties urban dis-
tinguierte, lineare Orchestration – so die delikate, abgeschiedene Ruhe von
La Nuit mit ihren düsteren Klarinetten, die springende Tuba der robusten
18 Wilfried H. Mellers
VI
Erik Satie
Es ist nun an der Zeit, in die Erörterung von Socrate und Relâche einzutreten:
der Werke, in denen das letzte der stets logischen »changements de peau«
Saties, seine letzte »Häutung« sich vollzieht. Die Differenz zwischen den frü-
hen »unpersönlichen« Stücken und den reifen Werken aus der Zeit der Bal-
lette mag so beschrieben werden, daß die Ironie, die in der »Abgelöstheit« der
frühen Kompositionen latent bleibt, in den Werken der reifen Periode durch
die schneidenden Kontraste zwischen den Phrasen und die überraschenden
Wendungen, die der flüssige Kontrapunkt in die leuchtende Diatonik bringt,
manifest und explizit wird, ohne daß die Abgelöstheit nachließe. In Socrate
kommt nun wieder die alte Bemühung um den Modellcharakter ins Spiel,
aber nicht um Widersprüche bizarr zu versöhnen; und explizite Ironie fehlt
jetzt ganz. Satie hatte in diesem Werk den moralischen Mut, ohne den Schutz
der Ironie die »Negation« seines Lebens darzustellen: Konsequenz der Isola-
tion, die er als junger Mann so authentisch in den Klaviertänzen ausgedrückt
hatte. Deshalb ist Socrate, diese gemeinhin – und keineswegs ganz zu
Unrecht – als »abstraktes Werk« angesehene Komposition, gerade das persön-
lichste Dokument Saties überhaupt, dem sich in dieser Hinsicht keines seiner
Erik Satie und das Problem der »zeitgenössischen« Musik 19
anderen Werke an die Seite stellen läßt; ein Dokument, das jeden irgend
empfindlichen und intelligenten Menschen der zeitgenössischen Welt inte-
ressieren muß. Gewiß haben nicht wenige Komponisten und andere Künstler
von anerkanntem Einfluß Saties Musik zu den bedeutsamsten Leistungen
unserer Epoche gezählt und in Socrate jene besonders erschreckende Qualität
der Vereinsamung gewahrt. Aufs Programm der Uraufführung hatte Satie
drucken lassen: »Ceux qui ne comprendront pas sont priés, par moi,
d’observer une attitude toute de soumission, toute d’infériorité.« Das hielten
jedoch wenige für mehr als einen mutwilligen Scherz, und die Kicherer
kicherten, wie der Komponist es erwartet hatte. Ihre einzige Entschuldigung
mag sein, daß Socrate in der Tat ein Werk von extremer und dabei höchst
eigentümlicher Schwierigkeit ist.
Den besten Zugang vermitteln vielleicht die Klavier-Nocturnes aus demsel-
ben Jahre 1919, die den Charakter von Socrate bestätigen. In diesen außer-
ordentlich schönen Stücken finden wir wiederum den unmittelbaren
Ausdruck der Isolation, wie er sich in den allerfrühesten Tänzen verkörpert
hatte, jedoch mit diesem Unterschied: in der vollendeten Luzidität des linea-
ren Satzes hat sich die Erfahrung eines ganzen Lebens niedergeschlagen. »J’ai
cinquante ans, je n’ai rien vu.« Das mag in gewissem Sinn das Eingeständnis
eines Bankrotts sein, aber es gehört ungewöhnliche Intelligenz und geistige
Unverlogenheit dazu, dieses Geständnis in der Kunst so umfassend abzulegen
wie Satie. Auch trifft es nicht in irgendeinem leichten oder geschwätzigen
Sinn zu, denn diese Musik verdankt sich, ihrer »klassischen« Ruhe zum Trotz,
objektiviertem Leidensinstinkt. Formal sind die typischen keusch geschnitte-
nen, hauptsächlich aus sanglichen Quart- und Quintintervallen gebauten
Phrasen kennzeichnend, denen etwas sonderbar Zeitloses eignet; begleitet
werden sie durch ein fließendes perpetuum mobile von kompromißloser
Strenge im 12/8-Takt. Da die Satztechnik genuin linear ist, wirkt die Harmo-
nik merkwürdig hohl und unentschlossen; Quarten überwiegen:
20 Wilfried H. Mellers
lische Inkarnation des Pathos und Leidens zu begreifen, das mit der Negation
einhergeht, die aus der Einsamkeit schlüssig folgt. Der springende Punkt ist
die Objektivität des Sachverhalts: dies Leiden ist völlig unpersönlich, es hat
nichts mit den partikularen, persönlichen Mißerfolgen oder Enttäuschungen
zu schaffen, die Satie zum Zeitpunkt der Komposition oder irgendwann
sonst widerfuhren.
Daher ist die »Einsamkeit« der Satieschen Musik grundverschieden von
der, die etwa in Stücken Chopins oder John Fields begegnet. In diesen drückt
sich die Einsamkeit einer partikularen Persönlichkeit in einer partikularen
Umgebung aus, in jedem Takt sind die weißen zerbrechlichen Finger, das
schwindsüchtig sehrende Antlitz, der Hintergrund raschelnder Seide in
exklusiven Salons gegenwärtig. Die kühl flutende Symmetrie der Satieschen
Musik kennt keinen solchen Hintergrund: es scheint, als ob die Musik von
Socrate nur durch unaufhörliche Wiederholung überhaupt präsent zu halten
wäre, ja als ob wir nur, wenn wir sie auf unserem Instrument selber spielen,
Ohren für sie hätten. Diese Musik kennt keine menschliche Bevölkerung: die
ausbalancierten Phrasen tönen endlos in ein leeres Zimmer, dessen Wände
aus parallelen Spiegeln gebaut sind. Nichts gibt an, daß dabei die Zeit ver-
geht; es ist eine winzige leere Welt, doch unendlich in sich selbst reflektiert.
Daß die Humanität fehlt, bezeichnet selbstredend die enge Beschränktheit
dieser Musik, aber es macht auch ihre einzigartige Bedeutung aus. Es gibt kei-
ne Musik, die ihr gleichkäme, denn niemals zuvor empfand ein Künstler apa-
thisch genug – nicht antipathisch, was etwas anderes wäre – der Menschheit
gegenüber, um sich eine derart absonderliche Leistung zu ermöglichen. Nur
eine sehr außergewöhnliche Persönlichkeit konnte einen solchen Grad der
Unpersönlichkeit erreichen, daß ihre Musik nicht zum Ausdruck der Einsam-
keit eines Einzelnen, sondern zu einem in Klang verwandelten Aspekt des
modernen Bewußtseins geriet.
VII
Erik Satie
Viel möchte ich über die höchst kuriose Komposition Relâche nicht sagen;
doch erwähnen muß ich sie, denn sie hat mit dem letzten Aspekt der Satie-
schen Musik, den ich noch behandeln will, zu tun. Relâche, hallet instantanéiste
entstand 1924 in Zusammenarbeit mit Picabia, kurz nach Mercure; während
aber das letztgenannte Werk eher Parade nahesteht, gehört Relâche unverkenn-
bar zu den Arbeiten des Satieschen Spätstils. Die Negation, die diesen Spätstil
ausmacht, verbindet sich hier jedoch überraschend mit authentischen popu-
lären music-hall-Melodien, freilich ohne die mindeste explizite Ironie. Diese
verquere Kombination verleiht dem Werk künstliche Vitalität mit der ver-
Erik Satie und das Problem der »zeitgenössischen« Musik 23
mehr oder minder die Muster der visuellen Bilder unterstreichen – eine Tech-
nik, deren Elemente offenkundig in Saties nicht-funktionellen Musiken
implizit ist.
Komposition für den Stummfilm unterlag der Bedingung, eine ununter-
brochene Begleitung bieten zu müssen, so daß keine der anerkannten musi-
kalischen Formen überhaupt in Frage kam. Melodische Themen mußten sich
meist in die Begrenzungen recht kurzer filmischer Episoden zwängen, und da
diese Episoden rasch wechselten, war es erforderlich, daß die Musik gerade in
der Art und Weise, wie sie in bestimmtem Maß diese Wechsel mitvollzog,
verhältnismäßig einförmig zu Werke ging – das heißt ohne allzu gewaltsame
oder in den Scharnieren knarrende melodische oder rhythmische Alteratio-
nen, ausgenommen selbstverständlich die wenigen Fälle, wo ein besonderer
»Effekt« beabsichtigt war: die Musik hatte ja die Aufgabe, die innere drama-
tische Kontinuität des Films zu verstärken, jedenfalls wenn eine solche vor-
handen war; ging sie einem Film ab, so mußte die Musik vor allem diesen
Mangel verdecken. Satie ging von diesen Prämissen aus und transzendierte
sie: da er in Relâche mit René Clair zusammenarbeitete, war ihm ein intelli-
gentes und künstlerisches Drehbuch an die Hand gegeben, und so brachte er
ein Modell der Komposition für den Film hervor, das bis heute nicht über-
troffen werden konnte.
Mit dem Aufkommen des Tonfilms hat sich das Problem freilich modifiziert:
da die musikalische Begleitung nicht mehr durchgehend sein muß, besteht
eher die Möglichkeit, Abwandlungen traditioneller musikalischer Formen zu
benützen – namentlich Ableger der primitiveren Formen, etwa des Rondos –,
aber auch realistische Klangeffekte in eine unpersönliche und stilisierte
musikalische Machart einzubeziehen. Dennoch halten die von Satie aufge-
stellten Prinzipien noch immer stand, und die intelligentesten der heute
lebenden Filmmusik-Komponisten – so Hanns Eisler, Aaron Copland und
Jean Wiéner, auf musikalisch niedrigerem Niveau sogar Chaplin mit seiner
Musik zu Modern Times – verraten ohne Ausnahme seinen Einfluß. Die
Herstellung klingender Muster aus kurzen linearen Motiven wird von allen
diesen Komponisten verwendet: sie bemühen sich nicht um Illustration,
sondern um Übersetzung der dramatischen und visuellen Situation in inhä-
rent musikalische Begriffe, ähnlich wie Satie in Mercure eine essentiell musi-
kalische Lösung gefunden hatte, um die dramatische Idee des Chaos
darzustellen. Zum Beispiel bildet Coplands Musik zu jener Szene in Of Mice
and Men, wo der angefallene große Tölpel wieder seiner Sinne Herr wird
und Curlys Faust zermalmt, einen unmittelbaren Parallelfall, denn die
Musik, die den rüden Anschlag begleitet, besteht aus einer Serie explosiver,
unverbundener Akkorde, die über den gesamten Orchesterumfang hinge-
pfeffert werden und sich in dem Augenblick, wo die Hand zermalmt wird,
zu einer kreischenden Riesendissonanz vereinigen. Bei Satie wie bei Copland
ist die musikalische Stilisierung aus der dramatischen Wirkung abgeleitet
Erik Satie und das Problem der »zeitgenössischen« Musik 25
und zugleich ganz sich selber gemäß; »Funktion« und »Kunst« werden Syno-
nyme.
Darüber hinaus nahm Saties ausgedünnte, klar gezeichnete, geradezu
geschnittene Orchestration – »sans sauce« – jene Transparenz in Klang und
Umriß, die später das Mikrophon erheischen sollte, um zwanzig Jahre vor-
weg. Nolens volens schrieb Satie für den Stummfilm, sein Orchester aber hät-
te sich für den heutigen Tonfilm so ausgesprochen geeignet wie das eigens für
ihn ersonnene streicherlose Orchester Eislers, in dem Trompeten, Klarinet-
ten, Posaunen und Saxophone – die lieblicheren Holzbläser wie Flöten und
Oboen fehlen – die Melodien über eine rhythmische und harmonische Basis
legen, die aus Klavier und Schlagzeug besteht. Saties Orchestertechnik so gut
wie seine Stimmbehandlung drängen den Gedanken auf, er hätte, würde er
heute leben, eine neue Form populärer Kunst in Gestalt einer kinematogra-
phischen opéra bouffe entwickeln können. Die Chancen, jemals eine Kino-
form der großen Oper – sollte dergleichen gewünscht werden – zu
entwickeln, sind verschwindend, denn der Film lockt den Zuschauer in zu
gefährlich intime Beziehungen mit den vorgeführten Charakteren. Die enor-
me Welle von Zeichentrickfilmen jedoch läßt ahnen, daß im Kino Möglich-
keiten für eine extrem stilisierte Form der komischen Oper angelegt sein
könnten, deren Charaktere entpersönlichte Puppen wären. Einer solchen
Kleinkunstform wäre Saties luzide und objektive Technik aufs schönste ange-
messen; sein Werk enthält sogar einen Präzedenzfall, denn – abgesehen von
einer so evidenten Wahl wie der Marionettenoper Geneviève de Brabant –
würde Le Piège de Méduse (1913), »comédie en un acte de M. Erik Satie, avec
musique du même monsieur«, wenn sich ein so typisch französischer Künst-
ler wie René Clair der Produktion annähme, einen unglaublichen Tonfilm
abgeben, und zwar fast ohne daß adaptierend eingegriffen werden müßte.
Musikalisch ist es eines der schönsten »populären« Werke Saties, von bezau-
bernder Verve und feinem Witz, und seine saubere, deutliche Instrumentati-
on – für Klarinette, Trompete, Posaune, Violine, Violoncello, Kontrabaß und
Schlagzeug – käme den Erfordernissen des Mikrophons bestens entgegen. Ist
Saties »ernste« Musik psychologisch ein cul-de-sac, so liegen in seiner
Gebrauchsmusik ungenutzte Möglichkeiten beschlossen, die bis heute kaum
erkundet wurden.
VIII
Von all den verwirrenden Problemen, die bestürzend auf der Zukunft der
Musik lasten, wiegt das ihrer »Funktion« wohl am schwersten: auf dem Spiel
steht sowohl die weitere Existenz des Komponisten als auch die geistige
Gesundheit derer, die seine Zuhörerschaft bilden – beides ist in Wahrheit
untrennbar. Daß das Problem Satie so außerordentlich beschäftigte, beweist
wiederum, wie »zeitgenössisch« er war: die Redlichkeit der Negativität seiner
26 Wilfried H. Mellers
»ernsten« Musik ist die Kehrseite der Redlichkeit, mit der seine »populäre«
Musik eine Funktion erfüllt; utilitäre Unverlogenheit ist einzig kraft einer Auf-
richtigkeit des Geistes erreichbar, die in einer Welt ohne Glauben nicht leicht
vorkommt, dafür aber umso leichter frösteln macht. Es ist diese Insistenz auf
technischer und geistiger Redlichkeit, die für zeitgenössische Künstler die Fas-
zination seines Werks ausmacht: die Künstler werden ihn nicht vergessen, auch
wenn ihn die Geschichtsbücher längst vergessen haben und alles, was das »kon-
zertläufige« Publikum zur Zeit von ihm kennt, die Debussysche Orchestration
zweier Gymnopédies ist, die völlig danebengeht, indem sie pseudoarchaische
Süßigkeiten in Debussys eigener früher Manier daraus macht.1 Saties Bedeu-
tung für zeitgenössische Künstler geht weit über den Wert seiner persönlichen
Kompositionen hinaus. Er erteilte uns zwei Lehren: einmal die Notwendigkeit
technischer Wahrhaftigkeit – »l’artiste n’a pas le droit de disposer inutilement
du temps de son éditeur« –, zum andern die schmerzhafte Schwierigkeit jener
Unschuld des Geistes, von der technische Wahrhaftigkeit abhängt. »Les
enfants«, sagte er, »aiment les choses nouvelles: ce n’est qu’avec l’âge de raison
qu’ils perdent le goût de la nouveauté. Instinctivement ils détestent les vieilles
idées. Ils se doutent que ce sont elles qui les raseront dans l’avenir, quand
ils seront en possession de leur ›intelligence‹ … Tout petit, l’enfant observe
l’homme et il le connaît. Croyez bien qu’il ne lui faut pas longtemps pour voir
quel ›mufle‹ il a devant lui.« Wenn wir sagen, daß Satie »nie erwachsen wurde«,
so ist das ohne die übliche Insinuation zu nehmen: gegenüber der Welt des
zwanzigsten Jahrhunderts nahm er jene privilegierte Position ein, von der er
fühlte, daß das Kind sie dem Erwachsenen gegenüber besitzt. »Je suis venu au
monde très jeune dans un temps très vieux.«
1 Ein sehr wirkungsvolles und Satie gemäßes Arrangement der Gymnopédies für Militärkapelle
stammt von Lionel Salter.
Mellers, Wilfrid, and Heinz-Klaus Metzger (translator), "Erik Satie und das Problem der
'zeitgenössischen' Musik", Musik-Konzepte /11 (München, Germany: 1980), 7-26.
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