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Musik-Konzepte Sonderband 2022, 24.11.

2022

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BURKHARD MEISCHEIN

Gegen den »blauen Dunst


der Idealisierungen«
Ensemblelieder und Melodramen in der Nachfolge des Pierrot lunaire

»In dieser großen Zeit, (…) in der geschehen muss, was


man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es,
es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode
gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte,
von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich
selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser
lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie
der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte,
welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir
kein eigenes Wort erwarten.«1
Phrasen- und Sprachkritik waren ein wichtiger Bestandteil des kulturellen
Diskurses der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, Karl Kraus war einer ihrer
Protagonisten. Seine Kritik an Leerformeln, an sprachlichen Äußerungen,
die hochtrabend daherkamen, sich aber dann doch nur als getragen von
Ideologien und Klischees erwiesen hatten, waren legendär, auch in der Wie-
ner Schule um Schönberg.
Nun hatte die Sprachkritik auch schon ihre Traditionen, aber auch ihre
Fortsetzer. Gegen den »blauen Dunst der Idealisierungen« wandte sich der
Schriftsteller Peter Weiss in seinem 1969 erstmals erschienenen Band Rap-
porte2. Und eine ganze Reihe von Autoren vor allem der 1960er und 1970er
Jahre griff zurück auf Kraus und seine Fackel, aber auch auf Ausdrucksfor-
men, die sich bereits am Beginn des Jahrhunderts herausgebildet hatten.
Für Peter Weiss war es der Surrealismus in Literatur und Malerei, den er
mit seiner betont marxistischen Haltung in Einklang zu bringen suchte.
Kunst sollte mit Hilfe des Surrealismus aus ihren angestammten Reservaten
geholt, ihr institutioneller Rahmen und der überlieferte künstlerische
Werteordo infrage gestellt werden.
Warum erschienen 1913 ebenso wie 1975 surrealistische Ausdrucksfor-
men als adäquate künstlerische Mittel? Die Antwort wird man auf verschie-
denen Ebenen zu suchen haben. Das »Surreale« ist ein Zustand des Geistes,
an dem eine Verschmelzung von Traum und Wirklichkeit erlebt wird. Der
Surrealismus war aber immer auch mehr als eine künstlerische Ausdrucks-

1  Karl Kraus in seiner ersten Lesung nach Kriegsausbruch am 19.11.1914, gedruckt in: Fackel
Nr. 404, S. 1.
2  Peter Weiss, Rapporte, Frankfurt/M. 1968, S. 34.
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form. Er war zugleich eine ethische Bewegung, die nicht nur ein neues Kon-
zept des künstlerischen Schaffens zu initiieren suchte, sondern auch eine
neue Art des Fühlens. Die Empfindung – auch der Schock, die Groteske, die
so oft mit dem Surrealismus verbunden sind – ist kein Selbstzweck. Sie ist
vielmehr ein Durchgang zur Erkenntnis. Das Wunderbare wird durch Ver-
haltensweisen hervorgerufen, die eine Verschmelzung des Imaginären und
des Realen bewirken. Das kann durch erschreckende Eindrücke geschehen,
aber auch durch die »Magie« bestimmter Orte, Klänge, aber auch romanti-
scher Topoi. Die Ethik des Surrealismus weist dem Unbewussten und der
Libido eine treibende Rolle in der Kunst und in der Wahrnehmung künst-
lerischer Produkte zu. Der Surrealismus ist zudem intensiv mit dem Lachen
verbunden, trotz der Ernsthaftigkeit, die er von jeder künstlerischen Praxis
fordert. Er ist verbunden mit Sarkasmus und Polemik gegen alles, was den
Aufstieg über die Empfindung zur Erkenntnis zu behindern scheint. Biede-
rer Realismus und andere traditionelle ästhetischer Haltungen werden ih-
rerseits als geradezu vulgär empfunden.
Surrealismus und Musik traten zusammen in einem der bekanntesten
Musikwerke des 20. Jahrhunderts, in Arnold Schönbergs Pierrot lunaire von
1912/13, einer Folge von hoch expressiven Melodramen, die seit jeher ge-
radezu als Gründungsdokument der neuen Musik galten; in jedem Fall han-
delt es sich um eines der bekanntesten Stücke Schönbergs. Frank Schneider
hat das Werk – 1974 war eine russische Ausgabe erschienen3 – 1976 in ei-
nem Gedenkband der Akademie der Künste der DDR anlässlich des 25. To-
destages Schönbergs so charakterisiert:
»Außergewöhnlich ist die scheinbar naive musikantische, und doch bitter
satirische Grundhaltung, die Aura von Beardsley, Wedekind, Kabarett
und Jugendstil, außergewöhnlich sind die verfremdende melodramati-
sche Vortragsart mit fixierten Rhythmen und approximativer Diastema-
tik, die wechselnden Kombinationen des heterogenen Begleitensembles,
die Verknüpfung der ›atonalen‹ Faktur mit strengen Satzformen und Ge-
brauchsgenres, außergewöhnlich auch die betonte ›tonmalerische Dar-
stellung der im Text gegebenen Vorgänge und Gefühle‹, der, wie Schön-
berg selbst betonte, hier ›geradezu tierisch unmittelbare Ausdruck
sinnlicher und seelischer Bewegungen‹ und schließlich die Wirkung des
Werks als des erfolgreichsten und vielleicht auch musikhistorisch folgen-
reichsten seines Œuvres überhaupt. Der Ton der Melodramen ähnelt dem
grimassenhaften Lachen eines verhöhnten und gepeinigten Narren. Er
zeigt in der Pose des halluzinatorischen Galgenhumors die verrückten,
gespenstischen, sinnlosen und grotesken Züge einer Welt die sie erst zu
erkennen gibt, wenn sie der Zwänge des Tages ledig und unterm fahlen
Mondlicht enthemmt ist. Da enthüllt sich ein morbides, grausiges Bild
nach dem anderen, und dem eigentlich viel verständigen, großherzigen
3  Leningrad 1974, Verlag Musyka.
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Spaßmacher – ja wohl einem Künstler?! – erstirbt alles Lachen und bleibt
das Bonmot im Halse stecken. Ihm bleibt, mitleidlos jene makabre Fan-
tasmagorie in eigenen Maskierungen nachzuahmen, den Mummen-
schanz, um ihn zu verklagen und zu verschrecken, die eigene Melodie
vorzuspielen. Schönbergs Vorstoß in musikalisches Neuland, der in sei-
nen technologischen Details oft genug beschrieben worden ist, war unter
den konkreten geschichtlichen Bedingungen einer Welt, die, voller revo-
lutionärer Spannungen, ihrem ruhmlosen Ende entgegen stürzte, und
unter dem kritischen, verzweifelten Blick eines bürgerlichen Musikers,
der seine humanistischen Illusionen im kompromisslosen Alleingang zu
retten hoffte, notwendig auf das Thema der Einsamkeit und des Bindungs-
verzichts fixiert. Doch es gibt in dieser Phase kein Werk, dass solches ab-
gedichtetes Für-Sich-Sein preisend kultivierte, das nicht dessen Qualen
austrüge und sich der Spannungen stellte, die aus der Lösung vom Kollek-
tivsubjekt erwachsen. Allenthalben ist der sehnsuchtsvolle Blick nach
dem ›einst‹ und dem ›anderen‹ geistig und technisch präsent.«4
Mit den von Schneider hier angesprochenen Aspekten der Verfremdung des
Sprechens, der satirischen Grundhaltung, der sentimentalen Beziehungen
zu älterer Musik, aber auch mit dem Thema der Individualisierung und der
als schmerzlich empfundenen Loslösung aus dem Kollektivsubjekt sind zen-
trale Aspekte des Werkes angesprochen, die in ihrer Perspektivierung aber
auch Familienähnlichkeiten zu Werken der DDR-Musikgeschichte zu be-
gründen vermögen.

I
In der Musikwissenschaft ist der Einfluss von Pierrot lunaire auf zeitgenössi-
sche oder spätere Werke bereits relativ intensiv diskutiert worden. 5 Musik
aus der DDR spielt dabei bislang allerdings keine Rolle. Dabei könnte das
neue Perspektiven ergeben: Gesellschaft und Kulturkritik, Humor, Theatra-
lik, Subversion, Doppeldeutigkeit und Hintersinn, die Bindungen zum lite-
rarischen Kabarett, zum Skurrilen und Parodistischen bieten sich als Denk-
anstöße an.
Ensembles mit vokalen Anteilen sind nicht mehr selten in den 1960er
und 1970er Jahren. Und doch scheint es bei den hier angesprochenen Wer-

4  Mathias Hansen/Christa Müller (Hrsg.), Arnold Schönberg 1874–1951. Zum 25. Todestag des Kom-
ponisten, Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik, Sektion Musik, Arbeits-
hefte Nr. 24, Berlin 1976, S. 37.
5  V.a. in dem wichtigen Buch von Andreas Meyer, Ensemblelieder in der frühen Nachfolge (1912–17)
von Arnold Schönbergs »Pierrot lunaire« op. 21: Eine Studie über Einfluß und »misreading«, München
2000 (= Theorie der Schönen Künste: Texte und Abhandlungen). Aber auch schon in der DDR war die
Thematik angesprochen worden: Eberhardt Klemm, »Phantastisch. ›Pierrot lunaire‹ – vertont von
Arnold Schönberg und anderen«, in: Mitteilungen des Museums der bildenden Künste Leipzig, 9. Jg.,
H. 24, Leipzig 1988 (auch in: ders., Spuren der Avantgarde, Schriften 1955–1991, hrsg. von Gisela
Gronemeyer und Reinhard Oehlschlägel, Köln 1997, S. 156–161).
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ken eine Häufung bei der Generation der zwischen 1930 und 1945 Gebore-
nen zu geben. Nur skizzenhaft soll hier erinnert werden an historische Dis-
kussionen und Umstände, die hier möglicherweise mit hineingewirkt haben:
Ab 1962/63 gibt es in der DDR ein überraschend großes Interesse an Lyrik
und damit zusammenhängend eine intensive Auseinandersetzung um Mög-
lichkeiten und Grenzen des sprachlichen Ausdrucks und nicht zuletzt auch
um die Rolle von Liedern und liedähnlichen Kompositionen sowie ihre
»Aufgaben im sozialistischen Staat«. Die meisten der im Zusammenhang
mit der Pierrot-Rezeption zu nennenden Kompositionen beziehen aller-
dings eine ausgesprochen sprachkritische Position und sehen sich in einer
denkbar großen Distanz zur Liedästhetik der Zeit. Gleichwohl sind die zu
nennenden Werke gedruckt und aufgeführt worden; die Liberalisierung in
der frühen Honecker-Ära mit dem VIII. Parteitag der SED 1971 machte der-
artige Werke möglich.

II
Mit der inhaltlichen, das Skurrile und humoristische miteinbeziehenden
Seite ist nur ein Aspekt der Beziehungen zwischen den Stücken genannt.
Ludwig Wittgenstein hat mit dem Begriff der »Familienähnlichkeit« eine
schöne Denkfigur etabliert, die auch hier – wo es um nicht unmittelbar
sichtbare Beziehungen geht – gute Dienste leistet.6 Wittgenstein geht aus
vom Begriff des »Spiels« und erinnert daran, dass es kein allen Spielen ge-
meinsames »Wesen« gebe, sondern verschiedene, in unterschiedlicher
Weise miteinander verbundene Phänomene, Techniken und Handlungs-
weisen, die unter dem Begriff des Spiels zusammengefasst werden können,
weil die verschiedenen Phänomene durch ein Netz von Ähnlichkeiten mit-
einander verbunden sind, ohne dass sie durch ein einzelnes definierendes
Merkmal verbunden sind. Nach Wittgenstein ist der Begriff des »Spiels«
konstituiert nicht durch ein einzelnes zentrales Merkmal, sondern durch ein
vergleichbar einem Seil konstituiertes Mit- und Ineinander verschiedener
miteinander verbundener Stränge.
Das »ensemblebegleitete Sololied« – der Terminus hat sich ausgehend
von Andreas Meyers Buch durchgesetzt – steht in einer deutlichen Differenz
zu Klavierlied und Orchestergesang. Der liedhafte – oder auch vom Melo-
dram inspirierte und mehr oder weniger gesprochene vokale Anteil – wird
begleitet durch ein klanglich heterogenes und gegenüber dem Orchester re-
duziertes »Ensemble«, eine Instrumentengruppe »mittlerer Größe«. 7 Jeden-
falls zeigen die entsprechenden Werke einen großen Abstand zu den tradi-
tionellen – und oft genug affirmativen – Gattungen der instrumentalen oder

6  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition, hrsg. von Joa-


chim Schulte, Frankfurt/M. 2001, S. 786–788.
7  Meyer, Ensemblelieder in der frühen Nachfolge (Anm. 5), S. 11.
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Vokalmusik, also zur Sinfonie, zum Streichquartett, zur Oper, zum Orato-
rium oder zum Klavierlied.
Der Begriff »Ensemblelied« scheint ein solcher Familienähnlichkeitsbe-
griff zu sein: Es gibt offenbar – außer einem vokalen Anteil und der Beset-
zung – kein einzelnes Merkmal, das alle Phänomene gemeinsam haben, die
als Ensemblelied bezeichnet werden können. Der Begriff nimmt auf eine
Vielzahl unterschiedlicher, wenn auch in unterschiedlicher Weise zusam-
menhängender Phänomene Bezug. Und doch gibt es noch weitere Gemein-
samkeiten, die allerdings nicht leicht auf den Begriff zu bringen sind.
Das Ensemble mit seiner Zusammenstellung heterogener Klänge, Sub-
jektivität und Individualität des nicht-liedhaften Gesangs waren verdächtig,
denunzierbar als Ausdruck von Privatheit und bloß individuellen Sprechens
und als Wendung gegen verordnete Vorstellungen von Volkstümlichkeit, die
mit der vokalen Musik und dem Lied gern verbunden wurden. Insofern
wenden sich diese Ensemblestücke mit vokalen Bestandteilen, die gerade die
Heterogenität und Individualität ihrer Bestandteile betonen, gegen die Be-
schwörung von Kollektiv und Gemeinschaftsideologie.
Das ensemblebegleitete Sololied stellt die Frage des Verhältnisses von
Kollektiv und Individuum tatsächlich in besonderer Weise. Dieses Verhält-
nis war eines der zentralen Themen in der kulturbezogenen Diskussion in
der DDR der 1960er und 1970er Jahre. Viel diskutiert wurde das anhand
eines Gedichts von Volker Braun:
JAZZ
Das ist das Geheimnis des Jazz:
Der Baß bricht dem erstarrten Orchester aus.
Das Schlagzeug zertrommelt die geistlosen Lieder.
Das Klavier seziert den Kadaver Gehorsam.
Das Saxophon zersprengt die Fessel Partitur:
Bebt, Gelenke: wir spielen ein neues Thema aus
Wozu ich fähig bin und wessen ich bedarf: ich selbst zu sein –
Hier will ich es sein: ich singe mich selbst.
Und aus den Trümmern des dunklen Bombasts Akkord
Aus dem kahlen Notenstrauch reckt sich was her über uns
Herzschlag Banjo, Mundton der Saxophone:
Reckt sich unsere Harmonie auf: bewegliche Einheit –
Jeder spielt sein Bestes aus zum gemeinsamen Thema.
Das ist die Musik der Zukunft: jeder ist ein Schöpfer.
Du hast das Recht, du zu sein und ich bin ich:
Und mit keinem verbünden wir uns, der nicht er selber ist
Unverwechselbar er im Lieben, im Haß.8

8  Volker Braun, »Jazz« (erstmals 1965, später vom Autor überarbeitet), hier nach: Volker Braun,
Texte in zeitlicher Folge, Bd. 1, Halle – Leipzig 1989, S. 60.
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Es ist nicht nur die Parteinahme für eine in den 1960er Jahren noch ver-
pönte Musikrichtung, sondern auch ein Plädoyer für individuelle Freiheits-
rechte, für eigene Entfaltung außerhalb der durch das Kollektiv vorgegebe-
nen Zwänge und persönliche Selbstentfaltung.

III
Georg Katzers Szene für Kammerensemble, 1975 bei der Edition Peters ge-
druckt, verwendet als Text eine Passage aus den Gesprächen Eckermanns mit
Goethe, und zwar vom Sonntag, den 14. Januar 1827, gelegentlich sind aller-
dings auch Passagen aus anderen der Eckermann-Gespräche eingefügt.
Tonhöhen und Rhythmen sind ungefähr vorgegeben, an anderen Stellen
aber auch freigestellt. Die Instrumentalisten wechseln zwischen ihrem Spiel
auf der Basis teils exakt vorgeschriebener, teils freier, teils mehr oder weni-
ger gelenkter Improvisation und dem Vortrag des Eckermann-Textes. Teils
tragen Einzelne der beteiligten Musiker Passagen des Textes vor, teils treten
mehrere Stimmen zusammen. Die Besetzung umfasst Oboe, Bratsche, Kla-
vier, Cello, Kontrabass, Posaune, Schlagzeug, Englischhorn, Violine und
Schlagzeug. Dazu kommen ein Lineal (»40 cm«), vier Wäscheklammern
zum Abdämpfen der Becken, ein Brummkreisel mit H-Dur-Akkord, Triola
oder Blasharmonika, Donnerblech und Kuhglocken.
Eckermann berichtet in der von Katzer verwendeten Passage von einer
»musikalischen Abendunterhaltung«, bei der »das Quartett eines« – nicht
namentlich genannten – »berühmten jungen Komponisten« gespielt wurde.
Goethe ist aber ablehnend gegenüber der gehörten neuen Musik. Ecker-
mann zitiert Goethe so:
»›Es ist wunderlich‹, sagte Goethe, ›wohin die aufs höchste gesteigerte
Technik und Mechanik die neuesten Komponisten führt; ihre Arbeiten
bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen
Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist
und Herzen nichts mehr unterlegen. Wie ist es Ihnen? Mir bleibt alles in
den Ohren hängen.‹«9
Anschließend erklingen Lieder von Zelter und Eberwein, und Goethe »war
im hohen Grade befriedigt«.10
Die Groteske ergibt sich hier aus der ungewollten Komik der zweifel-
haften musikalisch-ästhetischen Urteilsfähigkeit des – gerade auch in der
DDR – gefeierten Dichterfürsten einerseits und der Art des Textvortrags in
Katzers Vertonung andererseits. Denn der Text wird von den Musikerinnen
und Musikern des Ensembles teils gesprochen, teils gemurmelt, insgesamt
mit theatralischen Anteilen »aufgeführt«. So heißt es bei dieser Textpassage:
9  Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Berlin – Wei-
mar 1982, S. 172.
10  Ebd., S. 173.
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»Der Musiker vom Fach hört beim Zusammenspiel des Orchesters jedes In-
strument und jeden einzelnen Ton heraus, während der nicht Kenner in der
massenhaften Wirkung des Ganzen befangen ist« – die übrigens einem an-
deren der Eckermann-Gespräche, einem aus dem Jahr 1824, entnommen
ist – in den Vortragsangaben Katzers: »Immer lauter werden – schreiend,
um sich verständlich zu machen – wendet sich wieder um und winkt ab« 11.
Es dürfte kein Zufall sein, dass in dieser interpolierten und besonders her-
vorgehobenen Textpassage erneut das Verhältnis zwischen Kollektiv und
Individuum angesprochen ist. Und es folgt eine wiederum aus einem ande-
ren Gespräch interpolierte Passage, nun aus dem Jahr 1828: »Der Sinn für
Musik und Gesang ist in keinem Lande verbreitet wie in Deutschland.«
Diese Passage wird ohne jede Begleitung vom Kontrabassisten vorgetragen,
Rhythmus und ungefähre Tonhöhen sind vorgegeben, und allein das tiefe
Absinken der Stimme am Schluss der Phrase bei »Deutschland« hat eine
ausgesprochen komische Wirkung.
Goethe galt in der DDR lange als Erbe und Vorbild für eine sozialistische
Literatur. An ihm und seinem Werk entzündeten sich einige beträchtliche
Kontroversen; die dramatischen Ereignisse im Zusammenhang des sich von
Goethe distanzierenden Faustus-Librettos von Hanns Eisler ist die wohl
bekannteste.
Katzer markiert in seinem Stück eine scharfe Differenz zu den gewohn-
ten ästhetischen Normen. Er setzt die komische Groteske gegen Klassizis-
mus, Beschränktheit und angemaßte Seriosität. Er verspottet die Autorität
und zugleich jede didaktische Haltung und unmittelbare Brauchbarkeit.
Humor und Ironie setzt er gegen angemaßte Bedeutungsschwere. Und es
gibt eine weitere Parallele zwischen dem Stück und Schönbergs Pierrot: An
mehreren Stücken ruft Katzer einen romantisch-sentimentalen Tonfall auf
und erinnert an musikalische Tonfälle der traditionellen politisch-ästheti-
schen Ordnung; selbstredend werden auch diese Partikel überlieferter to-
naler Musik verfremdet und ironisiert.
Katzer wendet sich gegen Autonomieästhetik und zelebrierte Autor-
schaft, gegen das Pathos des großen Meisters. Und er tut das, indem er den
Musikern Stimmen verleiht, sie befreit aus der klingenden Sprachlosigkeit,
indem sie – sprechend und improvisierend – heraustreten aus der ihre Iden-
tität fixierenden Rolle des auf die Wiedergabe des exakt Notierten festgeleg-
ten Instrumentalisten.

IV
Friedrich Schenker hat mit Karl Mickels Gedicht »Die Friedensfeier. Zeitge-
nössische Phantasie auf einen noch zu erkämpfenden Tag« einen noch weit
aggressiveren Text gewählt, den er 1982 als »Aria di bravoura für Tenor und

11   Partitur, S. 54 f.
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acht Instrumente« komponiert hat. Mickels Text erinnert mit Alexandrinern


und Endreimen an den Ton hymnischer Weltanschauungslyrik von Klop-
stock oder Hölderlin, im aggressiv-frechen Ton an den frühen Brecht:
Zuerst werden wir uns blütenweisse Hemden kaufen
Dann lassen wir uns drei Tage lang voll laufen
Wenn wir wieder nüchtern und kalt abgeduscht sind
Machen wir unseren Frauen jeder ein Kind
Dann starren wir rauchend den sternvollen Himmel an.
Morgens dann, viertel nach vier geht der run
Auf Schneidbrenner los, die begehrten Artikel
Einen davon nimmt Mickel.
Dann verteilen wir uns über Luft, Land und Meer
Und machen uns über das Kriegsgerät her
Und alles hackt und schneidet, zerrt, reisst, schweisst
Spuckt an, pisst dran, sitzt oben drauf und scheisst
Und schmeisst mit Steinen, sprengt mit Sprengstoff weg:
Das ist des Sprengstoffs höchsterrungener Zweck!
In Geschützrohre bohren wir kleine Löcher hinein
Dort ziehen dann Spechte und Stare ein
Wer’s kann, kann auf ausgeblasnen Raketen
Wie auf Taminos Zauberflöte flöten
Mit U-Booten fangen wir Haie und andere Fische
Die Frauen decken die Generalstabstische
An Schlagbäumen werden Ochsen und Hammel gebraten
Von nackten Männern, die waren Soldaten
Und besser als es Uniformen können
Wärmt sie das Feuer, drin die Uniformen brennen.
Rot glühn die Martinsöfen auf, in ihren Bäuchen
Vergehn, entstehen Welten! Wie wir keuchen
Vor Wollust, wenn wir sehen: hart wird weich
Und wenn sichs wieder härtet, wird zugleich
Das Krumme grad. Wir waren krumm und dumm!
Wir schleppen Schrott, wir schmieden, pflügen um:
Wenn wir dann die müd-müden Rücken recken
Durchstossen die Köpfe die Zimmerdecken
Nur in den Nächten jahrein, jahraus
Wir träumen uns ins Mauseloch als Maus.
Die lustvoll-obszöne Ausmalung der Zerstörung des militärischen Geräts
und seine Verwandlung zu menschlich-natürlichen Zwecken vertont Schen-
ker in einem parodistischen Tonfall, der der schnoddrigen Derbheit des
Textes entspricht; geradezu absurd lange Koloraturen bekommt das Wort
»scheisst«, und das Beethoven’sche »Seid umschlungen, Millionen« vertont
bei Schenker die Gedichtzeile »Das ist des Sprengstoffs höchsterrungener
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Zweck!«, und das Hauptthema des Finales derselben 9. Sinfonie erklingt zu
»In Geschützrohre bohren wir kleine Löcher hinein«. Musikalischer Gestus
und Tonfall sind völlig anders als bei Katzer, in der ironisch-theatralen
Grundhaltung ist die Familienähnlichkeit zu Schönbergs Pierrot begründet.

V
Reiner Bredemeyer äußerte mehrfach eine besondere Nähe zu Schönbergs
Pierrot. Über eine Aufführung des Stückes in Aix-en-Provence, an der Bre-
demeyer teilnehmen konnte, sagte er: »Der Einfluss muss außerordentlich
gewesen sein. (…) Das war (…) ein bleibender Eindruck mit Spätzündung.
Es war nicht so, dass man nach Hause ging und vor sich hin jubelte. Es war
ein eher tiefer sitzender Schlag, der nun Langzeitwirkung zeigte.«12 Und an-
gesprochen auf seine eigene Inszenierung des Pierrot im »Theater im Pa-
last« – also in dem im Ost-Berliner Palast der Republik beheimateten Thea-
ter – sagte Bredemeyer:
»Ich habe versucht, die gestischen Momente der Partitur zu verdeutli-
chen. Aber immer stand das Musikalische im Zentrum; d. h., die Sänge-
rin ging zum Flötisten beim ›Kranken Mond‹, sie hatte zum Cello Kon-
takt in der ›Serenade‹, und ›die Kreuze‹ begannen wie ein Klavierkonzert.
Spurenelemente des Parodistischen sollten durchaus deutlich werden.
Meiner Meinung nach ist die ›Brettl‹-Ebene in der Partitur kräftig vor-
handen. Die ›Vereinnahmung‹ des ›Pierrot‹ durch die sogenannte Elite
schien mir immer eine falsche Lösung. Das ist keine Musik für die
›Happy Few‹, sondern ein sehr nah beim Volkstheater angesiedeltes
Stück.«13
Bredemeyers Stück Synchronisiert: asynchron (1975) für Sopran, Violine,
Oboe, Violoncello, Posaune, Schlagzeug, Klavier und Tonband ist eine Ver-
tonung von Texten des kubanischen Dichters Nicolás Guillén. Der Text er-
klingt sowohl im spanischen Original als auch (bei der Wiedergabe) in der
vom Komponisten angefertigten deutschen Übersetzung. Die deutsche Fas-
sung ist also auf Tonband zu hören, während die spanische Originalfassung
live gesungen wird. Dieses Übereinanderblenden von Texten in verschiede-
nen Sprachen erweist sich als weitere Form der Sprachkritik, der Absage an
das verständliche Wort.
Noch einen Schritt weiter gehen in dieser Richtung Komponisten, die in
dem vokalen Anteil auf Texte vollständig verzichten und die bloße Vokalität
thematisieren. Manfred Schuberts Evocazione per undici esecutori für So-
pran, Klarinette, Fagott, Horn, Schlagzeug, Harfe, Violine, Viola, Violon-
cello und Kontrabass von 1975 und Siegfried Matthus’ Vokalisen für Sopran,
12  Mathias Hansen (Hrsg.), Komponieren zur Zeit. Gespräche mit Komponisten der DDR, Leipzig
1988, S. 12.
13  Ebd., S. 29.
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Kontrabass und Schlagzeug von 1969 sind klanglich und von der stilisti-
schen Haltung denkbar weit voneinander entfernt. Matthus erprobt einen
an Tonfälle des Jazz und der Popmusik angenäherten Stil, wohingegen Schu-
bert dissonant-avantgardistisch komponiert. Gemeinsam aber ist beiden
Werken der Verzicht auf jeglichen Text. Das Singen auf Vokalen bzw. einfa-
chen Silben liegt ebenso wie die Übereinanderlagerung mehrerer sprachli-
cher Ebenen in der Konsequenz von Ironisierung und Sprachkritik, denn
das Verschwinden der Sprache, die Absage an das eigene Wort, der Zweifel
an der adäquaten Darstellbarkeit steht in einer Linie mit der Phrasenkritik,
wie sie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hat und zugleich in
der DDR in neuer Weise aktuell werden konnte, vielleicht aktuell werden
musste. Das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen »Ich«
und »Wir«, war in der DDR von weit größerer Relevanz als im Westen. Da-
mit eng verbunden war die Frage nach dem Verhältnis des Individuums zur
Sprache. Im Anknüpfen an die ironische Haltung, den surrealistischen Ton-
fall und die Musiksprache des Pierrot lunaire thematisieren die Komponis-
ten in unterschiedlicher Weise Sprachverlust und Phrasenkritik. Mehr oder
weniger offen war damit ein konfrontativer Gestus verbunden, ein Provoka-
tionspotenzial gegen die Eindimensionalität des sozialistischen Realismus
und die Liedästhetik der Zeit. Die Autonomie der Kunst wurde gegenüber
der Vereinnahmung durch politische und ästhetische Vorgaben verstärkt.
Der Rückgriff auf surrealistische Gestaltungsweisen, wie sie Schönbergs
Werk ausprägte, war geeignet Distanz zu schaffen oder zu halten, entzogen
die Werke sich doch der vordergründigen Gemeinschaftlichkeit; dem ge-
genüber waren konventionelle Muster allzu häufig Symptome von Affir­
mation und Angepasstheit, gerade auch im Bereich des Liedes und des
instrumental begleiteten Singens. Die Thematisierung von Fragen nach
musikalischer, sprachlicher und gedanklicher Kohärenz, nach Entfremdung
und Ich-Verlust in einer scheinbar homogenen Gesellschaft verbinden diese
Komponisten in der DDR mit vergleichbaren Fragestellungen aus der Zeit
der Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg; die Pierrot-Rezeption ist dafür
ein Indiz.
Title: Gegen den "blauen Dunst der Idealisierungen": Ensemblelieder und Melodramen in der Nachfolge des Pierrot lunaire

Author(s)/Editor(s): Burkhard Meischein

Source: Musik-Konzepte Sonderband (November 2022) 35–44) 35–44

ISSN: 0931-3311

e-ISSN: 0000-0000

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