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Vorwort Seite 4

1 Vorwort

Es gibt verschiedene Wege, die zu Liszt führen, dann aber am Ende zusammenlaufen. Der eine
führt über die Instrumentalpraxis: Ich kam aus meinem Auslandsaufenthalt in den USA mit meinem
Langzeit-Lieblingsstück, Beethovens Appassionata, zurück, die ich dann, wieder in Deutschland,
meiner Klavierlehrerin vorspielte. Die Sonate führte mich auf ein neues technisches Niveau und
zugleich suchte ich, nachdem ich sozusagen meinen Kindheitstraum erfüllt hatte, nach etwas
komplett Neuem und Herausforderndem. Kurz vor Weihnachten fragte ich dann meinen Vater, ob
es von Liszt überhaupt etwas Vernünftiges gebe – prompt bekam ich zu Weihnachten Liszts h-moll
Sonate. Ich brauchte meine Zeit, um durch den Oktavenwirrwarr durchzublicken, um mein Ohr auf
die Musik einzustellen. Dass man dem Klavier derartige Klänge entlocken kann, war mir bis dahin
noch nie bewusst. - Liszt musste ein Vielfaches dieser Wirkung auf seine Zeitgenossen haben. - Es
stand mir jedoch noch einiges an Fingerbrechen und Sehnenscheidenentzündungen bevor, bis ich in
der Lage war, die gewünschten Stücke zu spielen.

In dieser Zeit stand auch eine Exkursion mit dem Deutsch-Kurs nach Weimar an, in deren
Zusammenhang wir zu einzelnen Gebäuden und Personen Referate halten sollten. Ich wählte Franz
Liszt als Referatthema aus. Auf diesem Wege lernte ich Liszt auch außerhalb der Praxis und der
Musik kennen und mir fiel sehr bald auf, dass wohl nur wenige Musiker zuvor derartig in das
Geschehen ihrer Zeit verstrickt waren. Liszt hatte mich für sich gewonnen. Ich las mir zunehmend
mehr Wissen über Liszt an und wollte dieses irgendwie verarbeiten. Am Klavier? Irgendwelche
Stücke von Liszt ein- und vorzuspielen macht zwar Spaß, doch legt man ein Stück sehr schnell
beiseite, wenn es vorgespielt ist; vor allem ist dies eine Gewohnheit des Durchschnitts-
Auditoriums, das sich mit den entsprechenden Stücken nicht derartig auseinandersetzt, wie der
Interpret es tut.1 Abgesehen davon ist es eine Unsitte unserer Zeit, dass „man“ klassische Musik als
zu kompliziert und/oder altmodisch abtut - und das sogar bei der „klassischen Musik“ der Moderne
- mit Liszt als wesentlichem Neuerer. Wenn die Ohren also überfordert sind, dann müssen
verstandesgerechte Erläuterungen her, die das musikalisch nicht Verstandene näher erklären. In
dieser Arbeit soll das von einem historischen Ansatz aus geschehen. Man wird Liszt durchaus
gerecht - seine Zeit fiel in den Aufstieg des Historismus -, wenn man ihn von dieser Seite her
angeht. Ein Schwerpunkt soll dabei auf Liszts Verhältnis zur Revolution liegen. Für solche
„Erläuterungen“ gibt es wohl keine bessere Gelegenheit, als sie die besondere Lernleistung bietet.
Voilà: Hier sind wir.

1
Auch zu Liszts Zeiten wurde so genannte „klassische Musik“ meist als Unterhaltung angesehen und als
„Hintergrundmusik“ konsumiert. Die Missachtung von Musik ist also ein Phänomen, das nicht nur der Moderne zu
eigen ist.
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2 Einleitung
2.1 Ansatz und Vorgehen
Das Ziel dieser besonderen Lernleistung ist es, sich Liszt von der historischen Seite anzunähern und
in seiner Person die Widerspiegelungen seiner Gesellschaft und Zeit aufzufangen. Liszt bleibt
jedoch, anders als etwa ein Gottsched, nicht auf seine Zeit begrenzt. Gerade der alte Liszt wirft
eigene Licht- und Schattenblicke in die Zukunft. Er antizipiert zum Teil die Entwicklung der
musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts; er ahnt eine Entgleisung des Nationalismus voraus.
Die Annäherung an Liszt von der historischen Seite aus heißt jedoch nicht, dass Liszts musikalische
„Saite“ vollkommen vernachlässigt wird. Liszts tatsächlich eigenständiger produktiver Bereich ist
nämlich derjenige der Musik, einer „geistigen Revolution“.

Die Arbeit strukturiert sich nach Liszts Fortschreiten in und mit der Zeit. Ich folge also dem Verlauf
der Biographie Liszts. Da weite Teile von Liszts Biographie exemplarisch für die Zeit sind, bietet
es sich an, typische Ereignisse und Strömungen, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder geistiger
Natur, genauer zu erklären. Daher gebe ich zum Beispiel am Anfang des Kapitels, das Liszts Zeit in
Weimar beschreibt, zunächst einmal einen kurzen Abriss der 1848er Revolution in Europa, bevor
ich auf Liszts Stellung gegenüber dieser zu sprechen komme. Diese duale Vorgehensweise, einmal
dem zeitlichen Ablauf von Liszts Biographie folgend, zum anderen den historischen Phänomenen
nachgehend, die im entsprechendem Abschnitt von Liszts Biographie auftraten, ermöglicht es
zugleich, Differenzen oder auch Gemeinsamkeiten reflektierend herauszustellen. Ich mache es mir
daher zum Vorsatz, am Ende jedes Kapitels oder eines der Reflektion bedürftigen Sinnabschnittes
Resümees zu ziehen.

Die verwendeten Materialen sind zum einen geeignete Internetquellen, zum anderen Fachliteratur
und Primärquellen zu Liszt und den politischen Revolutionen seiner Zeit. Einen äußeren Rahmen
geben Biografien Liszts.

2.2 Thematische Einleitung

„Liszt - Musiker im Zeitalter der Revolutionen“ ist der Titel der Arbeit. Ich möchte an dieser Stelle
den mehrdeutigen Revolutionsbegriff differenzieren. So will Marx unter dem Begriff der
Revolution nur eine 'tatsächliche', politisch-wirtschaftliche Umwälzung als Revolution gelten
lassen. Auf eine Revolution der Ideen, auf eine Revolution in den Künsten will er den
Revolutionsbegriff nicht ausgeweitet sehen. Sie gehören im marxistischen Verständnis zum Bereich
der Ideologie, sind ein Epiphänomen der materiellen Verhältnisse und im schlimmsten Fall „Opium
Einleitung Seite 6

des Volkes“2. Dies ist eine sehr eingeschränkte Auffassung von 'Revolution', die im Übrigen auch
nie befriedigend sein kann, denn es lässt sich oft mit großer Eindeutigkeit zeigen, dass tatsächlichen
Umwälzungen geistesgeschichtliche Entwicklungen vorausgehen. Zudem verfängt sich Marx hier
selbst in Widersprüchen: Seine „Kritik der politischen Ökonomie“ ist ebenfalls zunächst eine
Ideenrevolution. Sie wurde erst über ihre Umwandlung in Lenins „Was tun?“ zum Antrieb
politisch-revolutionärer Praxis. Und auch dieses Bild ist noch zu einfach, denn oftmals entfalteten
die politisch-wirtschaftliche Umwälzungen einen auf die leitenden Ideen rückwirkenden Einfluss,
der wiederum auf die Praxis zurückstrahlte; man lernte aus den Revolutionen.

Dem marxistischen Revolutionsbegriff nach wäre Liszt in seinem Streben nicht einmal ein Rebell,
geschweige denn ein Revolutionär gewesen. Er gehörte der bürgerlichen Klasse an, fühlte sich
zunehmend als Adliger und war als Romantiker der typische 'Gefühlsmensch'. Er hing zwar dem
zeittypischen revolutionären Gedankengut an - hier wäre Liszts Gefolgschaft zu Saint-Simon und
Lamennais zu nennen, die sich ihrerseits zum größten Teil nicht unter dem marxistischen Begriff
von Revolution fassen lassen – aber Liszt war selbst nie aktiver Barrikadenkämpfer. Der Saint-
Simonismus blieb immer utopisch, blieb immer eine Umwälzung von politischen, wirtschaftlichen
und religiösen Ideen. Lamennais kritisierte seine Gesellschaft, stellte jedoch nie wirklich ein
vollständiges, eigenes Staaten- und Gesellschaftssystem auf. Und Liszts aktive Rolle war auf die
seiner Unterstützung des flüchtigen Barrikadenkämpfers Wagner und des Veranstalters von
Benefiz-Konzerten beschränkt.

Im Zusammenhang mit der Kunst und vor allem speziell auf die Musik bezogen entwickelte Liszt
jedoch eigene Ideen3, zumal in seiner Schrift: „Über zukünftige Kirchenmusik“, wenn er hier auch
stark unter dem Einfluss von Lamennais und Saint-Simon bzw. des Saint-Simonismus stand. Noch
weit bedeutender für die heutige Musikforschung ist, dass Liszt in der Musik unbekanntes Terrain
erforschte. Er musste hier jedoch häufig Kritik durch seine Zeitgenossen hinnehmen wie durch
Chopin, Heinrich Heine, George Sand und, bezogen auf sein Spätwerk, nachher auch durch Richard
Wagner, die, bei allem Respekt, Liszts Erweiterung des musikalischen Horizonts verkannten. Trotz
allem blieb Liszt ihnen immer treu verbunden: Über Chopin schrieb er eine Biographie, die er nach
dessen Tod veröffentlichte, Wagner beeinflusste er durch Neuerungen der Harmonik und seine Art,
ein Orchester zu instrumentalisieren und zu führen4, und George Sand und Heine als Literaten

2
Marx, Karl. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1, S. 378.
3
Eine vollkommen eigenständige Leistung war die Erfindung von Meisterkursen, der heute üblichen Praxis für be-
sonders begabte Schüler. In einer wettkampfartigen Atmosphäre werden von einem sehr erfahrenen Lehrer Aus-
drucksnuancen vermittelt – die entsprechende Technik wird vorausgesetzt (Liszt sagte zu Schülern, die die Technik
nicht beherrschen, dass sie ihre „schmutzige Wäsche zu Hause waschen“ sollten.). Eine weitere, relativ eigenständi-
ge Leistung war die Erfindung des „Recitals“, eines Solokonzerts für einen Vokalisten oder Instrumentalisten. Liszt
war auch der Erste, der überhaupt auswendig spielte, ganz abgesehen davon, dass er der Erste war, der ein derartig
großes Repertoire präsent hatte
4
Den berühmten Tristan-Akkord, der neue Maßstäbe in der Harmonielehre setzt, hat Wagner von Liszt übernommen.
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zollte er immer Respekt.

Zu dem Revolutionsbegriff gehören, zumindest im 19. Jahrhundert, auch der Nationalismus, die
Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen. Eine Identifikation mit einem imaginären „Vaterland
Ungarn“ gab es bei Liszt sicherlich relativ durchgehend in seiner Lebensgeschichte. Jedoch wurde
es selten handlungsbestimmend – denkt man an Liszts Gleichgültigkeit gegenüber den Aufständen
in Ungarn von 1848 - und es war häufig die Identifikation eines Unpolitischen. Zudem sind
nationalistisch motivierte Umstürze nicht notwendig gesellschaftlich zukunftsweisend.

Es ist offensichtlich, dass Liszt äußerst vielgesichtig war. Das gesamte Jahrhundert hatte viele
Gesichter. Mehrere Revolutionen, die sich auf fast ganz Europa auswirkten, Volksbewegungen und
aufkommendes Nationalbewusstsein legten den Grundstein für Demokratien und Liberalismus, aber
auch für den Fremdenhass und das „banale Böse“ - wie Hannah Arendt es später nennen wird – das
im folgenden Jahrhundert eine so große Rolle spielen wird. In diesem Jahrhundert wird auch eine
gänzlich neue Musikergeneration aufwachsen. Es ist erstaunlich, wie sehr sich das Schaffen dieser
Musikerpersönlichkeiten bei aller Verflechtung der Einflüsse unterscheidet. Man muss Liszts Zeit
und Zeitgenossen verstehen, um zu begreifen, wie weit er sich von ihnen unterscheidet oder ihnen
ähnelt.

Hierbei streiten sich die Gelehrten, ob der Akkord zunächst Liszts Vertonung des Heine Gedichtes „Loreley“ ent-
stammt oder seiner Vertonung des Herwegh Textes „Ich möchte hingehn“. Liszt entwickelte zusammen mit Wagner
auch das moderne, expressive Dirigieren. Bis dahin hatte man sich lediglich auf Taktangaben mit dem Taktstock
beschränkt.
Die Jugend und das Ringen um die magyarische Identität Seite 8

3 Die Jugend und das Ringen um die magyarische Identität

3.1 Liszts „Ungarn“

Als Liszt auf die Welt kam, schwelten in Ungarn bereits Unruhen. Das damalige Ungarn bestand
aus Teilen des heutigen Rumänien, der Ukraine, kleinen Teilen von Polen, der Slowakei und
Kroatiens. Als Königreich war es dem Kaiserreich Österreich untergeordnet. Es gab also nach
außen gegen die zunehmend als Unterdrücker empfundenen Habsburger wie auch innerhalb
Ungarns genug Stoff für Konflikte. 1703-1711 hatten sich die Kuruzen5 unter Fürst Franz II
Rákóczi6 gegen die Habsburger erhoben. Der Aufstand wurde jedoch von dem habsburgischen
General Sigbert Heister niedergeschlagen. Dies bedeutete das Ende für die gewaltsamen
Erhebungen gegen Österreich bis 1848. Innerhalb Ungarns schwelten jedoch sehr bald neue
Konflikte: Die ethnische Gruppe der Magyaren, die eine knappe Mehrheit von 54%7 des damaligen
Ungarn ausmachte, verlangte eine Assimilierung der anderen Völker in Ungarn. So war es Nicht-
Magyaren nicht erlaubt, in das Land einzuwandern, es sei denn, sie würden die Sprache und die
Sitten der Magyaren adaptieren8. Den Höhepunkt der Magyarisierung stellte die Revolution von
1848/49 dar, während der die Magyaren Kriege gegen Serben, Slowaken, Rumänen, Kroaten,
schließlich auch Deutsche und vor allem gegen die Habsburger führten. Die Kriege und Aufstände
wurden jedoch mit Russlands Hilfe blutig niedergeschlagen, was der Magyarisierung vorläufig ein
Ende setzte. Die Magyarisierung war wohl mit ein Grund, warum Liszt sich immer als Magyar
adliger Abkunft verstanden hat, obwohl man mittlerweile davon ausgeht, dass Liszt
deutschstämmig war.9 Trotz seines Bewusstseins als Magyar lernte Liszt nie richtig Ungarisch zu

5
Die Herkunft des Ausdrucks ist umstritten; es wird allgemein angenommen, dass es sich bei Kuruzen um ehemalige
Kreuzzugsteilnehmer handelt (lat. crux heißt Kreuz). Im weiteren Sinne sind Kuruzen jedoch antihabsburgische
Milizen und (vor allem ehemalige habsburgische) Militärs.
6
Liszt würde später auf eine Melodie von 1730 den Rákóczy Marsch schreiben und eine abgewandelte Version des
Marsches als 15. Ungarische Rhapsodie in seine 19 Ungarischen Rhapsodien integrieren. Zeitgenossen wie Hector
Berlioz („Die Verdammung Fausts“) verwendeten diese Melodie ebenfalls. Die Melodie stammte aus dem Rákóczi-
nóta (Rákóczi-Lied), welches das Unglück der Magyaren beklagt und die habsburgische Unterdrückung verfluchte.
Fürst Francis Rákóczi II. gilt bis heute als ungarischer Nationalheld.
Dass Liszt magyarenfreundlich war, lässt sich daraus ersehen, dass neben dem Rákóczi Marsch und über die
Ungarischen Rhapsodien hinaus (das Wort 'Ungar' leitet sich von 'Magyar' ab) die Ungarische Rhapsodie Nr. 16
noch einmal ausdrücklich den Beinahmen Magyar rapszódiá und Nr. 18 den Beinahmen Magyar rapszódiák hat. In
einem Brief schreibt er: „Man darf mir wohl gestatten, daß ungeachtet meiner beklagenswerten Unkenntnis der
ungarischen Sprache, ich, von Geburt bis zum Grabe, im Herzen und Sinne, Magyar verbleibe und demnach die
Kultur der Musik ernstlich zu fördern wünsche.“ - unveröffentlichter Brief an Baron Augusz (nach Kapp: Liszt-
Brevier, Leipzig, 1910; S.80 f.) zitiert nach: „Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das
Experiment“ von Reinhard Haschen; S. 24). vgl. zu diesem Zusammenhang:
http://en.wikipedia.org/wiki/Hungarian_Rhapsodies.
http://en.wikipedia.org/wiki/R%C3%A1k%C3%B3czi_March.
http://en.wikipedia.org/wiki/Francis_R%C3%A1k%C3%B3czi_II; (alle vom 29.09. 2007).
7
Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Magyarisierung. (12. 10. 07).
8
Vgl.: http://uk.geocities.com/gogastransylvania/Seton-Watson/RacialProblems05.htm; (25. 9. 07).
9
Eine erste Untersuchung zu Liszts Genealogie wurden 1936 durch H.E. Wamser veröffentlicht. Ihre Ergebnisse zu
Liszts deutscher Abstammung wurden 1973 durch die Dokumentation Ernö Békefis („Liszt Ferenc származása és
családja“, Budapest 1973) bestätigt. Als Liszt im Zusammenhang der Verleihung des Ritterkreuzes des Ordens der
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sprechen. Unterrichtet wurde er in Deutsch. Aufgrund seines späteren, sehr langen Aufenthalts in
Paris stieg Französisch zu seiner Hauptsprache auf.

Statt Ungarisch zu lernen, ‚komponierte‘ sich Liszt ein imaginäres Ungarn. Er zollte damit der
zeittypischen nationalen Prägung von Identität Tribut. Liszts Sprache ist nicht Magyarisch, sondern
die europäische lingua franca der Musik. Liszts Ungarn lässt sich letztlich nur auf dem Kontinent
der Musik kartografisieren.

3.3 Musikalische Anfänge im Zeichen Ungarns

Liszts musikalisches Talent wurde mit jungen sechs Jahren entdeckt. Seinen ersten Klavier-
unterricht erhielt er von seinem Vater und mit neun gab er sein erstes Konzert (Es-Dur
Klavierkonzert von Ferdinand Ries10). Schon bald erhielt Liszt von ungarischen Adligen, allen
voran dem Fürstenhaus Esterházy, ein Stipendium, was laut Meinung des Liszt Biographen Werner
Felix politisch motiviert war:

„Diese Unterstützung des Knaben Liszt ist gewiss nicht allein auf die augenblickliche Begeisterung für
das Wunderkind oder die besonders ausgeprägte Kunstliebe der Spender zurückzuführen. Hier dürfte ein
anderes Moment eine ganz wesentliche Rolle gespielt haben, nämlich das immer stärker werdende
ungarische Nationalbewusstsein. [...] In einer solchen Situation musste das Auftreten des kleinen Franz
Liszt nicht nur musikalische Begeisterung wecken – seine Förderung, die finanzielle Sicherung seiner
11
musikalischen Ausbildung, war ein Bekenntnis zur ungarischen Musikkultur.“

Der Autor argumentiert hier nicht ganz sauber. Denn Ungarn hatte nicht nur eine Musikkultur -
abgesehen davon, dass der junge Liszt noch gar nicht zu ihr beigetragen hatte. Die große ethnische
Vielfalt in Ungarn sorgte dafür, dass es mehrere Musikkulturen gab. Liszt verstand unter
ungarischer Musik vor allem ungarische Zigeunermusik und schrieb viele seiner Stücke auf der
Basis der Zigeunertonleiter12. Erst einige Jahrzehnte nach Liszt würde der ungarische Komponist
Béla Bartók mit dieser Gleichsetzung aufräumen. Richtig ist jedoch sicherlich, dass Liszt sein
Stipendium nicht nur wegen des großen Kunstinteresses seiner Gönner bekam. Man wollte wohl,

Eisernen Krone durch Kaiser Franz Josef im Jahr 1859 in den österreichischen Adelsstand erhoben wurde,
bescheinigte er selbst vorausgegangenen Recherchen nach adligen Vorfahren ungarischer Abstammung, dass die
Auskünfte der ungarischen Behörden zu geadelten Personen mit Namen „List“, „Listhi“ oder „Listhius“ seinen
Zwecken nicht dienten. Er war sich also der Tatsache bewusst, dass sich eine Abstammung aus ungarischem Adel
nicht nachweisen ließ. Den schließlich verliehenen österreichischen Adelstitel ließ er 1867 auf seinen Onkel Dr.
Eduard (von) Liszt, damals Stellvertreter des Generalprokurators in Wien, übertragen. Vgl. insgesamt Haschen,
Reinhard. Franz Liszt oder Die Überwindung der Romantik durch das Experiment, S. 14 u. 22f.
10
http://de.wikipedia.org/wiki/Liszt; (13. 10 .07).
11
Felix, Werner. Franz Liszt, S. 11.
12
„Zigeunertonleiter, in der südslawischen Volksmusik und der Zigeunermusik verwendete siebenstufige Tonleiter,
gekennzeichnet durch zwei übermäßige Sekundschritte und Gleichheit der jeweils zweiten Viertongruppe in der
Dur- und Mollform: c des e f/g as h c1; c d es fis/g as h c1.“ Vgl. http://lexikon.meyers.de/meyers/Zigeunertonleiter;
(27. 12. 2007). Zigeunertonleiter in Dur: 2. und 6. Stufe der Tonleiter sind jeweils um einen Halbtonschritt
vermindert; Zigeunertonleiter in Moll: 3. und 6. Stufe vermindert, 4. Stufe erhöht.
Die Zeit der Julirevolution Seite 10

indem man Liszt und dessen Familie ins Ausland sandte, eine größere Aufmerksamkeit für Ungarn
in der restlichen Welt schaffen. Dafür spricht auch, dass Liszt große Unterstützung vom
ungarischen Adel in der Form von Empfehlungsschreiben bekam, als er vom Pariser
Konservatorium abgelehnt wurde (s. u.). Diese Schreiben ermöglichten es ihm, in den Pariser
Salons aufzutreten.

Die Hoffnungen der Fürsten blieben langfristig unerfüllt. Bei der Unabhängigkeitsbewegung
1848/1849 zeigte Liszt wenig von der magyarischen Begeisterung, die er noch nach der
französischen Julirevolution erkennen ließ. Er sah sich auch durch seine Anhängerschaft zu
Napoleon III und durch die wenig militante, früh scheiternde Revolution in Deutschland, von der er
ohnehin im weltentrückten Weimar kaum etwas mitbekam, nicht zu politischer Parteinahme
aufgefordert. Liszt sah sich selbst zudem später als Adligen. Der Adel jedoch gehörte traditionell
dem konservativen politischen Lager an. Die magyarische Identität erfuhr zuletzt einen Wandel
ihrer Funktion, gleichsam verschoben von der räumlichen Position einer imaginären
Heimatgeografie ins Zeitliche einer imaginären Genealogie: Hier suchte Liszt nach den Wurzeln
jenes „Adels“, den er in seiner Sonderstellung als Musiker in sich fühlte. Wie Liszts Ungarn, so ist
auch die Geschichte der Identitäts-Projektionen Liszts letztlich in der Musik zu suchen.
Die Zeit der Julirevolution Seite 11

4 D ie Ze i t der Ju li re vo lu tio n
Liszt und die „maladie du siècle“

4.1 Stationen musikalischer Schulung – Wien und Paris

Um Liszt eine bessere musikalische Ausbildung zu bieten, zog die Familie Liszt 1821 nach Wien,
neben Paris die traditionelle Hauptstadt der Musik, in der vor allem Mozart gewirkt hatte. Liszts
Vater wandte sich an den damals führenden Klaviervirtuosen Johann Nepomuk Hummel, doch
dieser verlangte ein zu hohes Honorar, weshalb sich Liszt mit dem ehemaligen Beethovenschüler
Carl Czerny zufrieden geben musste. Für zwei Jahre erhielt er auch Unterricht in Komposition von
Antonio Salieri („Gegenspieler“ des zu der Zeit schon verstorbenen Mozart), bis die Familie Liszt
nach Paris umsiedelte. Das berühmte Pariser Konservatorium, was das eigentliche Ziel der Reise
war, lehnte Liszt jedoch mit der Begründung ab, dass nur Franzosen aufgenommen würden. Liszt
erhielt dann für einige Jahre Unterricht bei Antonin Reicha und Ferdinando Paer, die zu Liszts
späterer Karriere wohl kaum beigetragen haben. Er gab in dieser Zeit einige Konzerte und trat in
Salons auf, bis sein Vater – Liszt war gerade 16 Jahre – verstarb. Sein Schicksal traf Liszt tief und
für einige Jahre lebte Liszt äußerst introvertiert13. Diese Zeit nutzte er, um sich mit seiner Religion
(er war Katholik) auseinanderzusetzen und die durch ständiges Umziehen und ständige
Konzerttourneen etwas vernachlässigte Schulbildung nachzuholen, indem er sich mit dem
damaligen Literaturkanon auseinandersetzte. In diese Zeit fiel auch, dass er sich in seine
Klavierschülerin Caroline de Saint-Cricq verliebte. Doch deren Vater vereitelte früh
Annäherungsversuche Liszts - schließlich schloss der Standesunterschied jegliche Beziehungen aus.
Liszt zog sich noch mehr in sich zurück und spielte mit dem Gedanken, Priester zu werden.

4.2 Die Julirevolution im Kontext der Zeit:

In der Zeit nach der großen französischen Revolution und ihrem Schrecken, der „Terreur“, wurde
man wieder in moderatem Maße konservativ. Dies verschaffte einem Napoleon Bonaparte, der
seine Karriere durch die Revolution machte, die Möglichkeit, als Kaiser um die Anerkennung durch
die alten Dynastien zu ringen und eine zentralistische Verwaltung mit Mittelpunkt in Paris zu
schaffen. Auf der anderen Seite „zwang“ er seinem Großreich, das sich mit einem System von
Abhängigkeiten über fast das ganze Kontinentaleuropa erstreckte, den „Code Civil“ auf, in dem als
Erbe der Revolution Grundprinzipien wie die Gleichheit aller vor dem Gesetz, der Schutz der
Freiheit des Individuums und des Eigentums und die strikte Trennung von Kirche und Staat

13
In der französischen Zeitung Étoile erschien sogar ein Nekrolog über ihn. Vgl.
http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Liszt. (26. 09. 07).
Die Zeit der Julirevolution Seite 12

festgeschrieben waren.14 Mit Überschreitung des Gipfels seiner Macht nach dem Frieden von Tilsit
(7. Juli 1807) verstärkten sich allerdings im Innern despotische und restaurative Tendenzen. 15

Während der erzkonservative Metternich Europa wieder auf den Stand von vor 1789
zurückzusetzen versuchte, war auch vielen französischen Royalisten die Herrschaft Louis XVIII
(seit 1814 französischer König) zu liberal und sie ermordeten hunderte Revolutionsanhänger; Louis
XVIII. war machtlos. Nach seinem Tod (1824) kam der wesentlich repressivere Bruder als Karl X.
an die Macht (bis 1830). Dessen Politik wurde nun von den Liberalen scharf angegriffen, deren
Kritik im Volk nicht unwillig aufgenommen wurde. Zu dieser politischen Unzufriedenheit trat auch
noch ein ganz anderes Phänomen hinzu, nämlich die industrielle Revolution, die soziale Missstände
verursachte. Die Entwicklung von frühsozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsutopien, wie
bei Saint-Simon oder Charles Fourier, fällt in diese Zeit. Noch hatte der dritte Stand kein
Bewusstsein seiner Klasse und demnach keine Schlagkraft, wie dies auch Marx feststellte. So
waren die Weberaufstände in Lyon nur eine verzweifelte Überlebensaktion der Berufsklasse der
Seidenweber, keine geschlossen organisierte Revolution. Es brodelte jedoch.

Weder die Julirevolution von 1830, noch die November-Aufstände des gleichen Jahres in Lyon -
noch sind Politik und Wirtschaft relativ getrennt im Bewusstsein ihrer Akteure - bringen eine
Lösung der sozialen Krise. Das psychologische Phänomen der Sublimierung, in dem unbefriedigte
(politische) Wünsche in kulturelle Leistungen umgewandelt werden, lässt sich hier deutlich
nachzeichnen: George Sand beginnt ihr Schaffen, Victor Hugo, der zunächst bekennender Royalist
gewesen war, schreibt 1829 „Le dernier jour d'un condamné à mort“, eine indirekte Regimekritik,
und reformiert das Theater, begleitet von einer Meinungs-„Bataille“ um sein Drama „Hernani“16,
Heinrich Heine verlässt Deutschland und kommt nach Paris, Hector Berlioz veröffentlicht seine
„Symphonie fantastique“, Chopin siedelt nach Paris über, Liszt 'erwacht'. Paris ist für einige
Jahrzehnte die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“.17

14
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Code_Civil. (01. 11. 2007).
15
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Napol%C3%A9on_Bonaparte#Der_Aufstieg_des_Kaiserreiches_und_die
_Neuordnung_Europas. (01. 11. 2007).
16
Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Hugo (27. 09.07) und http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_um_Hernani
(27. Dezember 2007). Victor Hugo schlug sich in der Februarrevolution von 1848 auf die Seite der Revolutionäre,
nach dem Juni-Aufstand der vom Staat entlassenen Arbeiter vertrat er jedoch als Abgeordneter der „Zweiten
Republik“ die Politik der konservativen „Parti de l'ordre“ (Partei der Ordnung), irritierte freilich wiederholt seine
Parteifreunde durch sozial engagierte und politisch liberale Reden. Gegenüber Napoleon III. (1849 bis 1852
französischer Präsident und nach einem Staatsstreich 1852 bis 1870 Kaiser) äußert er sich nach dessen Staatsstreich
kritisch und muss ins Exil. Im Exil verfasste er unter anderen 1962 den sozialkritischen Roman Les Misérables über
das Elend der proletarisierten Arbeitermassen. 1871, nach dem Sturz Napoleons III., kehrt er aus dem Exil zurück
und wirkt noch einmal kurz in der Politik der „Dritten Republik“ mit.
17
Titel eines Exposées zu dem „Passagen“-Werk von Walter Benjamin.
Die Zeit der Julirevolution Seite 13

4.3 Die Revolutionssymphonie

Als 1830 die Julirevolution in Paris ausbrach, begann Liszt sich schlagartig zu wandeln, schwamm
bald im Fahrwasser der Revolutionäre und entwarf sogar Skizzen für eine Revolutionssymphonie,
die drei leitende Themen erhalten sollte:

„einen alten Choral der revolutionären Hussitenbewegung aus dem 15. Jahrhundert, den
protestantischen Choral „Ein' feste Burg“, den Friedrich Engels als die „Marseillaise der
Bauernkriege“ bezeichnete18, und schließlich die Marseillaise19, das Lied der Französischen
Revolution von 1789.“20

Laut Paul Merrick in seinem Buch „Revolution and Religion in the Music of Liszt“ gab es noch
eine vierte Melodie, die Liszt in seine Symphonie mit einfließen ließ: „Vive Henri IV“. „Vive Henri
IV“ sollte, so Paul Merrick, die Herrschaft der Royalisten darstellen, die von den Revolutionären
gestürzt würde, musikalisch dargestellt durch die Transition des „Vive Henri IV“ zur Marseillaise.
Die Symphonie sollte wohl in dem Hussiten-Lied und den protestantischen Choral kulminieren, laut
Merrick eine symbolisch dargestellte Rechtfertigung der Revolution durch Gott. Hier jedoch
widerspreche ich Merrick, der den letzten beiden Stücken ausschließlich religiösen Charakter
zugesprochen haben will. Zwar will ich die Symbolik und den religiösen Charakter, der für Liszt
sicherlich mit entscheidend war, den Stücken nicht komplett absprechen, doch war die
Hussitenbewegung genauso revolutionär wie religiös. Der Gründer Jan Hus verkündete nicht nur,
ähnlich wie Saint-Simon (siehe unten), dass der Papst nicht unfehlbar sei. In der Hussitenbewegung
lehnten sich Adlige sowohl als auch Bauern nach dem ersten Prager Fenstersturz auf und verfassten
die „Vier Prager Artikel“, in denen
1. die Freiheit für die Predigt
2. die Freiheit für den Kelch
3. die Freiheit von säkularer Kirchenherrschaft und
4. die Freiheit von ungerechter weltlicher Herrschaft

gefordert wurden21. Auch Luthers Choral „Ein' feste Burg ist unser Gott“ wurde ein sehr
weitgehender aktueller Bezug abgelesen. So heißt es unter anderem:

„Ein’ feste Burg ist unser Gott,


Ein gute Wehr und Waffen;

18
Ähnliches hat übrigens auch Heinrich Heine über das Lied geäußert: „Ein Schlachtlied war jener trotzige Gesang,
womit er [Luther] und seine Begleiter in Worms einzogen. Der alte Dom zitterte bey diesen neuen Klängen, und die
Raben erschraken in ihren obscuren Thurmnestern. Jenes Lied, die Marseiller Hymne der Reformazion, hat bis auf
unsere Tage seine begeisternde Kraft bewahrt…“.
Zit nach http://www.historicum.net/themen/reformation/mythos-reformation/audio-visuelle-dimension/2c-
musik/#rlmp_officelib_footnote_bottom_1. (26. 09. 07).
19
Die Marseillaise war übrigens in der Zeit der Restauration nach dem Wiener Kongress verboten worden. Nach der
Julirevolution wurde sie wieder erlaubt, jedoch dauerte es bis 1871, bis sie in der Dritten Republik wieder die
Nationalhymne Frankreichs wurde.
20
Felix, Werner. Franz Liszt, S. 27.
21
http://de.wikipedia.org/wiki/Hussiten. (26. 09. 07).
Die Zeit der Julirevolution Seite 14

Er hilft uns frei aus aller Not,


Die uns jetzt hat betroffen.“

Zwei Strophen später antizipiert Luther einen göttlichen Richterspruch über „den“ weltlichen
Fürsten.

„Der Fürst dieser Welt,


Wie sau’r er sich stellt,
Tut er uns doch nicht,
Das macht, er ist gericht’t,
Ein Wörtlein kann ihn fällen.“22

Luther überlässt es ein Stück weit dem Leser, dem „Wörtlein“, das die Fürsten fällen kann, einen
theologischen oder einen weltlichen Sinn abzulesen. Zumal „Der Fürst“ doch schon vor Gott
gerichtet ist und die (jenseitige) Tätigkeit des Richtens schon abgeschlossen ist, ist der Leser
geradezu versucht, diesem „Wörtlein“ einen weltlichen Sinn zu geben und – mit Gott – gegen seine
Herren zu ziehen. Luther selbst meinte, dass ein „Wörtlein“ Gottes genügt, den Fürsten zu fällen;
und der „Fürst dieser Welt“ ist in Luthers Sprache vor allem der Satan.23 Auf der anderen Seite
konnte kein Zeitgenosse überlesen, dass sich Luthers Metaphorik bei den politischen Verhältnissen
seiner Zeit bedient und ihre theologische Prägnanz der Sinnfälligkeit ihrer politischen Bilder
verdankt – und so verstanden es die Bauern.

In einer programmatischen Skizze zur Symphonie wirft Liszt Ideen auf das Papier, die musikalisch
umgesetzt werden sollen:

„indignation, vengeance, terreur, liberté! désordre, cris confus (vague, bizarre), fureur...refus, marche de
la garde royale, doute, incertitude, parties croisantes...8 parties différentes, attaque bataille...marche de
la garde nationale, enthousiasme, enthousiasme, enthousiasme!...fragment de la Vive Henri IV dispersé.
Combiner „Allons enfants de la patrie“ (Unwillle (Zorn), Rache, Schrecken, Freiheit! Verwirrung
(Unordnung , Ausschweifung), verwirrtes Geschrei, Gewoge, Durcheinander, Ruhepunkt (Abschnitt),
Marsch der königlichen Garde, Zweifel (Besorgnis) , Ungewissheit, ...8 verschiedene Teile (Stimmen),
Angriff, Schlacht,...Marsch der Nationalgarde, Begeisterung, Begeisterung, Begeisterung! Bruchstück aus
„Es lebe Heinrich IV“ [französisches Volkslied] verbunden mit „Allons enfants de la patrie“
[Marseillaise])“24

Die „Revolutionssymphonie“ war eines der ersten programmatischen25 Stücke überhaupt. Die

22
http://www.cyberhymnal.org/non/de/festburg.htm. (25. 09. 07).
23
Es sei an dieser Stelle eingeräumt, dass Luther selbst mit seinem Lied keine revolutionären Ansichten außerhalb
seiner religiösen Reformation verficht. Die eher antirevolutionäre Einstellung Luthers wird auch dadurch bestätigt,
dass Luther sich während der Bauernkriege auf die Seite der Fürsten schlug. Jedoch bekommt der Inhalt des Liedes
eine ganz neue Dimension von Bedeutung vor dem Hintergrund der Bauernkriege, wo es das selbsterwählte
Kriegsmotto der Bauern war. In diesem Kontext dürfte auch Liszt dieses Lied gesehen haben, war er doch nie
Lutheraner (Liszt war zeitlebens ein ziemlich entschiedener Gegner des Protestantismus Luthers – eine der wenigen
Ansichten, die er mit Konsequenz vertrat).
24
Felix, Werner. Franz Liszt, S. 28f.
25
Die Gelehrten streiten sich darüber, was genau Programmmusik ist. Die generelle Definition lautet, dass
Programmmusik Motive aus Literatur, Wissenschaften oder den bildenden Künsten nimmt und versucht, sie
Die Zeit der Julirevolution Seite 15

Revolution, wie Liszt sie sieht, erscheint hier - zumindest auf die Musik bezogen - als ein Chaos
und nicht als eine Umwälzung, die eine notwendige und insofern `geordnete´ Folge einer
geschichtlichen Entwicklung wäre, so wie Marx oder, in Ansätzen, Saint-Simon es sehen würden.
Sie wäre eher eine Revolte, wie Zeitgenossen sie in den Aufständen der Weber kennen lernten.

So viel zum revolutionären Gedankengut in Liszts erstem programmatischem Werk. Als Grund
dafür, dass die „Revolutionssymphonie“ nie über fragmentarische Skizzen hinausging, nennt
Merrick, dass das Scheitern der Revolution in seiner beschämenden Wirklichkeit kein Thema war,
eine Symphonie darüber zu komponieren, beschreibe die geplante Symphonie doch vor allem einen
Sieg der Revolutionäre. Es lässt sich hier auch eine andere Begründung vermuten: Im Hinblick auf
das Programm hätten wohl für dessen Umsetzung derartig avantgardistische musikalische Mittel
eingesetzt werden müssen, dass Liszt sich zu dem Zeitpunkt eher weniger in der Lage dazu fand26.
Die Skizzen dieser „Revolutionssymphonie“ wurden übrigens später von Liszt in der
symphonischen Dichtung „Heroide Funèbre“ verarbeitet, was die Nachhaltigkeit des Themas bei
Liszt zeigt. Zudem tauchen die in der Revolutionssymphonie verarbeiteten musikalischen Themen
vereinzelt in späteren Werken wieder auf: Das Hussiten-Lied wurde 1840 für Klavier
umgeschrieben, allerdings wurde auch das für sich „restaurativ“ wirkende „Vive Henri IV“ für das
Klavier transkribiert (1870-1880).

4.4 Liszts Saint-Simonismus

Schon vor der Julirevolution hatte sich Liszt mit den Schriften Saint-Simons auseinandergesetzt, ihr
Gedankengut wurde aber erst während der Julirevolution handlungsbestimmend. Saint-Simon war
seinerzeit unter dem Oberbefehl des Marquis de Lafayette gegen die Engländer im amerikanischen
Unabhängigkeitskrieg marschiert und sympathisierte zunächst mit der Revolution von 1789. Er gab
sich sogar als Adliger den bürgerlichen Namen: „Claude Bonhomme“27, um dann während der Zeit
der 'Terreur' nur knapp der Guillotine zu entkommen. Über das Scheitern der Revolution würde
Saint-Simon später sagen, dass die so genannten Industriellen28 noch kein Bewusstsein ihrer
historischen Mission hätten und damit zu sehr dem veralteten feudalen System verhaftet geblieben
seien. Saint-Simon teilte die Gesellschaft in drei Körperschaften ein: in empfindsame und
gefühlsbetonte Menschen, in Intellektuelle und in praktisch veranlagte, körperbetonte Menschen. In

musikalisch umzusetzen.
26
Die These kann dadurch gestützt werden, dass Liszt sich zwei Jahre später bei seinem Stück „Harmonies poétiques
et religieuses“ wegen des außergewöhnlichen Charakters des Stückes sehr unsicher war und es sogar ins Feuer
werfen wollte - und das, obwohl er die „musikalische Revolution“ in diesem Stück von dem sicheren Boden einer
programmatisch vorgegebenen Religiösität aus vorantrieb. Vielleicht war ihm die Austragung einer „musikalischen
Revolution“ auf dem Boden eines solch politisch so aufrührerischen Themas wie der Julirevolution erst recht zu
brisant. Doch das lässt sich nur vermuten.
27
http://de.wikipedia.org/wiki/Henri_de_Saint-Simon. (26. 09. 07).
28
Der Begriff „Industrieller“ bezieht sich bei Saint-Simon auf alle Produzierenden, also auch auf einfache Arbeiter.
Die Zeit der Julirevolution Seite 16

seinem Systementwurf einer Leistungsgesellschaft forderte Saint-Simon die Förderung des


jeweiligen Talentes der Menschen, wobei immer nur ein Talent gefördert werden sollte, um die
„Produktivkräfte“ möglichst gut auszunutzen. Dementsprechend einseitig fällt auch die Zielsetzung
der Förderung aus: Die Fähigkeiten sind nur Mittel zum Zweck. So sollen gefühlsbetonte Menschen
- Saint-Simon bezeichnet hiermit vor allem Künstler - die Gesellschaft mental auf das neue System,
das „Goldene Zeitalter“ vorbereiten, die Intellektuellen sollen das System wissenschaftlich
fundieren und nach rationalen Maßstäben verbessern, während der Industrielle, der rational-
körperbetonte Mensch, das System sozusagen ausführt. Interessant ist in Bezug auf Liszt vor allem
die (im Spätwerk zunehmend wichtige) Rolle des Künstlers:

„[...] ils [die Künstler] passionneront la société pour l'accroissement de son bien-être, en lui présentant
un riche tableau de prospérité nouvelles, [...]; ils chanteront les bienfaits de la civilisation [...]“ 29

(Sie [die Künstler] werden die Gemeinschaft für das Wachstum ihrer Wohlfahrt begeistern, indem sie ihr
eine reiche Übersicht neuer Reichtümer vorführen […] Sie werden die Wohltaten der Zivilisation
besingen; Übers. Madeleine Koch)

Stellt der Künstler zunächst nur den Vermittler des neuen Systems, während der Industrielle, als
Systemausführender, die wichtigste Rolle erhält, so bekommt der Künstler zunehmend höheren
30
Stellenwert, freilich um den Preis der Überdehnung des Begriffs des „Künstlers“. Als Saint-
Simons System wenig Resonanz bei Wissenschaftlern und Industriellen fand, wandte er sich den
Künstlern zu und verkündete, dass sie die wahre Avantgarde seien.31 Mit der Rolle des Künstlers
veränderte sich auch die Rolle der Religion, deren Bedeutung ebenfalls im Spätwerk zunahm. Der
Klerus war in seinem Erbarmen mit Armen sozialpädagogisches Vorbild für das Volk. Zugleich
beschuldigte Saint-Simon, der in seinen letzten Jahren verbittert feststellte, dass sich die Missstände
der Armen eher verschlechtert als verbessert hatten, den Papst und viele andere der Häresie32.

Es ist wohl vor allem das Spätwerk Saint-Simons, das Liszt beschäftigt hat. Hier findet sich nicht
nur eine relativ große Übereinstimmung der Ansichten, sondern auch rein zeitlich gesehen passt

29
Zitiert nach Fehlbaum, Rolf Peter. Saint-Simon und die Saint-Simonisten – Vom Laissez-Faire zur Wirtschafts-
planung, S. 52.
30
Saint-Simon fasst den Kunstbegriff viel weiter als wir heute. Sein Kunstbegriff umfasst unter anderem auch
Moralisten (im französischen Sinn von Gesellschafts- und Sittenkritikern), in seinem Spätwerk auch Priester und
Pfarrer – kurz: nahezu sämtliche 'sozial' fühlenden Menschen. Vor allem der Priester genießt in Saint-Simons
Spätwerk höchste Achtung. Diese Vermischung des Künstlerbegriffs hatte auf Liszt sicherlich einen großen
Einfluss, lebte er doch immerzu als eine Mischung aus dem Künstler und dem zutiefst religiösen Menschen in ihm.
Interessant ist auch, dass Liszt meistens dann musikalisch am revolutionärsten ist, wenn er besonders religiös ist.
Vgl. „Harmonies poétiques et religieuses“ und nahezu das gesamte Spätwerk, wo wir es mit einem extrem religiös-
katholischen Liszt zu tun haben.
31
Vgl. Fehlbaum, Rolf Peter. Saint-Simon und die Saint-Simonisten – Vom Laissez-Faire zur Wirtschaftsplanung,
S.51. Heine würde sich später (1839) negativ über die Rolle des Künstlers bei Saint-Simon bzw. den Saint-
Simonisten äußern, bleibt dieser doch auch im Spätwerk ein Instrument des Systems: „Bei den Saint-Simonisten
stehen die Künste tief im Hintergrunde, wir Poeten wären in ihrem Staate untergegangen“ Zit. nach Dömling,
Wolfgang. Franz Liszt, S. 71.
32
Vgl. Emge, R. Martinus. Saint-Simon. Einführung in ein Leben und Werk, eine Schule, Sekte und
Wirkungsgeschichte, S. 127.
Die Zeit der Julirevolution Seite 17

beides zusammen. Saint-Simons Schrift „Nouveau Christianisme“, mit der er zum Mitbegründer der
'Christlichen Soziallehre' wurde, ist posthum 1825 veröffentlicht worden, was ungefähr in die Zeit
von Liszts religiösem Streben nach dem Tod seines Vaters passt.

Die prädestinierte sozialpädagogische Rolle des Künstlers als Herold des neuen Systems und – bei
Liszt noch viel gewichtiger – als empathischer Helfer und Beschützer der Armen und Schwachen
nimmt Liszt schon sehr bald nach seinem Erwachen aus der Apathie wahr. Über sein 'Erwachen'
äußert sich seine Mutter in einem viel zitierten Ausspruch: „C'est le canon qui l'a guéri!“ (Die
Kanone hat ihn geheilt!)33)

Liszt fand zur Zeit der Revolution Zugang zu Salons der Saint-Simonisten, in denen er häufiger
auftrat. Verschafft wurde ihm dieser durch den Saint-Simonisten Émile Barrault, der übrigens die
besondere Stellung der Künstler noch einmal betonte:

„Only the artist [...] by the power of that sympathy that embraces God and society, is fit to direct
humanity“ (Nur der Künstler, kraft der Symphathie, die Gott und Gesellschaft umfasst, ist zur
unmittelbaren Humanität geeignet; Übers. Julian Koch)34

Liszt wandte sich jedoch, wenn nicht von der Lehre Saint-Simons, so doch bald von der Lehre
einiger Saint-Simonisten ab. Der wohl einflussreichste Saint-Simonist um 1830-1832 neben Saint-
Amand Bazard war Barthélemy Prosper Enfantin, der im Jahr 1831 das Amt des „Père suprême“
übernahm, sozusagen als Papst der Organisation. Aus einem Streit heraus spalteten sich die Saint-
Simonisten in zwei Gruppen, die eine unter der Führung von Amand Bazard, die andere unter der
Enfantins. Die Spaltung bedeutete ein baldiges Ende der Saint-Simonisten, zumal Bazard kurz
darauf während einer Diskussion mit Enfantin starb und Enfantin wiederum eine kurze Zeit später
wegen Verletzung der öffentlichen Moral eingesperrt wurde. Die Gleichstellung der Frau und
Enfantins Anmaßung der Rolle als Gottesgesandter wurden zunehmend von religiösen Saint-
Simonisten und anderen Gläubigen kritisiert, vertrat Enfantin doch zudem noch das Konzept freier
Liebe. Eine rückblickende Bemerkung aus späteren Jahren lässt schließen, dass auch Liszt in dieser
Zeit auf Distanz ging35 und sich zunehmend, wenn nicht von Saint-Simon, so doch von einigen
Hauptvertretern der Saint-Simonisten abwandte.

Wenn auch saint-simonistisches Gedankengut bei Liszt zeitlebens latent mitschwang, so sollte man
dadurch nicht den Glauben anhängen, dass Liszt ein Sozialrevolutionär war. Der Saint-Simonismus,

33
Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die die Überwindung der Romantik durch das Experiment, S. 37.
34
Merrick, Paul. Revolution and Religion in the Music of Liszt, S. 5.
35
Liszt äußerte sich später negativ über Enfantin; so schreibt er über Heines Verehrung für Enfantin: „I remember
how, during the time I lived outside the Church, I was outraged by Heine's dedication of his book on Germany – in
which he asked permission from P.Enfantin to commune with him across eternity“ (Ich erinnere mich, wie ich mich
in der Zeit, in der ich außerhalb der Kirche lebte [gemeint ist die Zeit, bevor Liszt Abbé wurde], über Heines
Widmung seines Buches über Deutschland empörte – in der er bei P. Enfantin um Erlaubnis gebeten hat, mit ihm
über die Ewigkeit zu reden; Übers. J. Koch). Zitiert nach: Merrik, Paul. Revolution and Religion in the Music of
Liszt, S. 6.
Die Zeit der Julirevolution Seite 18

das soll an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betont werden, war eine von der Revolution,
allerdings nicht vom Zeitgeist unabhängige Strömung, die auch keineswegs das Ziel einer
Revolution verfolgte. Die Umsetzung der (utopischen) Gedanken Saint-Simons und seiner
Anhänger konnte lediglich zur Gruppenbildung politischer Sektierer mit umstürzlerischen
Ambitionen führen.

4.5 Liszts Zuwendung zu Lamennais

Das durch Liszts Abwendung vom Saint-Simonismus entstandene politisch-


gesellschaftsideologische Vakuum füllte die Lehre des Abbé de Lamennais. Diese These passt auch
zeitlich. Lamennais Zeitung „L'Avenir“ (Die Zukunft), die ihn bekannt machte, erschien drei
Monate nach der Julirevolution. Regelmäßiger Briefwechsel zwischen Liszt und Félicité Lamennais
fand allerdings erst gegen 1835 statt.36 Merrick berichtet, dass die Freundschaft zwischen den
beiden im April 1834 begann.37 In Lamennais fand Liszt einen väterlichen Freund, der ihn in seinen
religiösen Ansichten wie auch als Musiker beeinflusste.

Auch Lamennais erlebte, wie Saint-Simon, die französische Revolution und war ihr ebenfalls
zunächst wohlgesonnen. Aus der Erfahrung der „Terreur“ flüchtete er sich jedoch, wie viele
Franzosen, in die religiöskonservativen Schriften eines Chateaubriand; als charakteristischstes ist
hier das Werk „Le Génie du Christianisme“ - Der Geist des Christentums – von 1802 zu nennen.
Chateaubriand war 1800 einem Aufruf Napoleons an emigrierte Adlige gefolgt, nach Frankreich
zurückzukehren, und veröffentlichte in den Folgejahren seine einflussreichsten Werke. Später
machte er unter der bourbonischen Restauration politische Karriere und stellte das
schriftstellerische Werk hintan, bis ihn die Julirevolution zum Rückzug aus der Politik zwang. 38 Er
war ein Antiaufklärer, der auf die romantische Bewegung durch seine Wiederentdeckung des
Christentums als Quell ganz neuer Empfindungen einen großen Einfluss übte, vor allem innerhalb
Frankreichs und namentlich auf Victor Hugo, der mit 13 Jahren sich zum Ziel setzte,
„Chateaubriand zu werden oder nichts“39.

Hatte Lamennais jedoch zunächst die Heilige Allianz gerechtfertigt, so wechselte er 1822 – also
ungefähr zwei Jahre vor dem bezeichneten Thronwechsel – seine Position und kritisierte öffentlich
in einer Zeitschrift deren reaktionäre Politik.40 Auch in seiner generellen Tendenz wurde Lamennais
in der Vorphase der Julirevolution zunehmend revolutionär. Er prangerte die sozialen Missstände
im Leben der Arbeiter an: „Die moderne Politik sucht in den Armen nur eine Arbeitsmaschine, aus

36
http://www.gutenberg.org/dirs/etext03/1lofl10.txt; (26. 09. 07).
37
Merrick, Paul. Revolution and Religion in the Music of Liszt, S.7.
38
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Fran%C3%A7ois-Ren%C3%A9_de_Chateaubriand. (01. 11. 2007).
39
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Hugo. (01. 11. 2007).
40
Raubaum, Jörg. Für Gott und die Freiheit, S. 238.
Die Zeit der Julirevolution Seite 19

der man in einer bestimmten Zeit möglichst großen Gewinn herauspressen muss“41. Den Anspruch
von Papst und Fürsten auf Gottesgnadentum bestritt er. Er monierte, dass der Papst viele Christen
zum Bruch mit dem Katholizismus gebracht habe, da er alle Reformen ablehne. Lamennais
deklarierte das Selbstbestimmungsrecht der Völker.42 In seiner Zeitschrift „L'Avenir“, die sich als
Losung „Für Gott und die Freiheit“ erwählt hatte, forderte er die Trennung von Kirche und Staat.
Zugleich unterstützte die Redaktion die Unabhängigkeitsbewegungen in Belgien, 43 Irland und
Polen.44 Er stellte sich so offen auf die Seite der aufständischen Lyoner Seidenweber, 45 dass
Metternich, der Lamennais schon lange im Auge hatte, anordnete, dessen Korrespondenz zu
öffnen.46

Liszt, fasziniert von Lamennais‘ Lehre und Person, spielte schon im zweiten Aufstand der
Seidenweber (der diesmal nur vier Tage dauerte: 9. bis 12. April 1834) eine Rolle: Als er mit seiner
damaligen Freundin, der Gräfin Marie d'Agoult, auf einer seiner Reisen in Lyon einen
Zwischenstopp machte, war er von den Verhältnissen derartig schockiert, dass er ein
Wohltätigkeitskonzert gab und das marschartige Stück „Lyon“ komponierte. Dem Stück ist das
Motto der Arbeiter: „Vive en travaillant ou mourir en combattant (arbeitend leben oder kämpfend
sterben)“47 vorangesetzt und es ist laut Auskunft von Merrick Lamennais gewidmet.48 In einem
Brief von 1837, als Liszt wieder einmal durch Lyon reiste, berichtete er Genaueres von den
Missständen:

„Ich fand mich plötzlich inmitten so entsetzlicher Leiden, eines so fürchterlichen Elends, dass mein
Gerechtigkeitssinn empört protestierte. [...] Wie diese Menschen leben, in pestilenzialischen Löchern
zusammengepfercht! Wie sie ihre glücklicheren Genossen um den geringen Lohn beneiden. [...] O,
grausame Gesetze, der zum Fluch gewordenen Gesellschaft! Wann wird der Zornesengel ihre Erztafeln
49
zerbrechen.“

Wenig später (30.April 1834) gab Lamennais sein Aufsehen erregendes Buch „Paroles d'un
croyant“ (Worte eines Gläubigen) heraus. Es ist dem Volk gewidmet; eine der Passagen lautet:

„It is sin which has made princes, because, instead of loving [...] each other [...] men have commenced

41
Daselbst, S.238.
42
Daselbst, S.239.
43
Belgien war seit dem ersten Koalitionskrieg (1793-1797) französisch und fiel nach dem Wiener Kongress 1815 an
die Niederlande. 1830 erhielt es seine Unabhängigkeit.
44
Daselbst, S. 241.
45
Deren Erhebung vom 21.11. bis 05 12. 1831 wurde - wie zwei weitere in den Jahren 1834 und 1848 – durch Militär
niedergeworfen.
46
Daselbst; S. 244.
47
Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das Experiment, S. 54.
48
Das Stück gehört zu einem musikalischen Zyklus über Liszts Reiseerfahrungen, den Liszt mit „Album d’un
Voyageur“ (Album eines Reisenden) betitelt. Es wird später zu den „Années de Pelerinage“ (Jahre der Wanderung)
umgeschrieben, die aus insgesamt drei Zyklen bestehen. In den Années taucht Lyon nicht mehr auf, sondern ist
ersetzt worden durch „Chapelle de Guillaume Tell“, ebenfalls ein Stück über einen Aufstand, zu Ehren Wilhelm
Tells.
49
Zitiert nach: Felix, Werner. Franz Liszt, S. 53.
Die Zeit der Julirevolution Seite 20

by injuring each other. And the power of these usurpers [...] is the power of Satan [...]. And therefore [...]
everyone may, and sometimes must [...] resist them“ 50 (Es ist Sünde, die Prinzen hat entstehen lassen,
denn statt sich gegenseitig zu lieben, haben Menschen begonnen sich gegenseitig zu verletzen. Und die
Macht dieser Thronräuber [gemeint sind die Fürsten] ist die Macht Satans. Und daher mag jeder - und
zu manchen Zeiten muss jeder ihnen Widerstand leisten – Übersetzung: Julian Koch. Auslassungen von
mir werden mit […] bezeichnet).

Dieses Buch wurde vom Vatikan zensiert (unter anderem mit Bezug auf die oben angeführte
Stelle), von Liszt jedoch wurde diese Lektüre zeitlebens favorisiert. Er verteidigte sie sogar gegen
seine eigene Lebensgefährtin, die er fast diffamierend angriff:
„You maliciously object to me that the 'Paroles d'un croyant' are not evangelical, so allow me to answer
you with the Gospel: 'The Kingdom of Heaven suffereth violence, and the violent take it by force.' The Son
of Man did not come to bring peace, but the sword. [...] Christianity is a state of dumb servility,
completely occupied in getting cheap means of subsistence and a few pennies from charity, stupidly
stammering a few decrepit formulas, lying stretched out on the ground, guntless, impotent and foolish in
face of the countless evils and terrible iniquities of society. Oh! If the Son of Man were to come now,
where do you think he would find faith...?
I appreciate all the criticisms and clever remarks that can be made about this magnificent book. But
in all conscience, is it for you, or me, or both of us, to throw stones at the great priest who with his fiery
51
words and winged pen has consecrated Liberty and Equality, the two great dogmas of Humanity?“
(Du wendest mir bösartigerweise ein, dass die 'Paroles d'un croyant' nicht mit den Evangelien
übereinstimmen, also erlaube mir mit den Evangelien zu antworten. 'Das Königreich des Himmels litt
unter Gewalt und die Gewalttätigen nehmen es mit Gewalt.' Der Menschensohn kam nicht Frieden,
sondern das Schwert zu bringen. […] Das Christentum ist in einem Zustand dummer Unterwürfigkeit,
vollständig besessen davon, billige Mittel zum Überleben und ein paar Pfennige Almosen zu bekommen,
dümmlich einige hinfällige Beschwörungsformeln zu stammeln, während man ausgestreckt am Boden
liegt, feige, unfähig und blöde im Angesicht der unzähligen Übel und schrecklichen Ungerechtigkeiten
der Gesellschaft. Oh! Wenn der Menschensohn jetzt auf die Erde käme, wo glaubst du würde er Glauben
finden...?
Ich anerkenne all die Kritik und schlauen Bemerkungen, die über dieses herausragende Buch gemacht
werden können. Aber bei bestem Gewissen, ist es an dir oder an mir oder uns beiden, Steine zu werfen
auf den großen Priester, der mit seinen feurigen Worten und seiner beflügelten Feder sich der Freiheit
und Gleichheit widmet, den beiden großen Dogmen der Humanität? – Übersetzung: Julian Koch.
Auslassungen von mir werden mit […] bezeichnet)
Hier widerspricht Liszt seinem eigenen Handeln, veranstaltete er selbst doch
Wohltätigkeitskonzerte für diejenigen, die in diesem „Zustand dummer Unterwürfigkeit“
„vollständig besessen davon“ waren „ein paar Pfennige Almosen“ zu bekommen.52

50
Zitiert nach: Merrick, Paul. Revolution and Religion in the music of Liszt, S. 13.
51
Zitiert nach: Merrick, Paul. Revolution and Religion in the music of Liszt, S. 14.
52
Der erste Aufstand der Lyoner Seidenweber scheiterte unter anderem daran, dass diese ihren Anfangserfolg mangels
eines politischen Programms nicht zu nutzen wussten. Sie wollten ausdrücklich nicht die Republik, sondern nur ihre
Tarifforderungen durchsetzen. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Aufstand_der_Seidenweber_in_Lyon. (01. 11. 2007).
Die Zeit der Julirevolution Seite 21

An anderem Ort schreibt Liszt:


„The „Paroles d'un croyant“ are merely simple advice to the brutal governments who humiliate and
crush us. Before resorting to arms, we shall exhaust all peaceful and progressive means. But, finally, if
the day comes when it is plain to all that it is absolutely impossible to reconcile the privileges of the few
with the well-being of the majority – then if we must fight, we will; if we must die, we shall not fail...“53
(Die „Paroles d'un croyant“ sind lediglich eine simple Auskunft zu den brutalen Regierungen, die uns
entwürdigen und uns auspressen. Bevor wir die Waffen ergreifen, sollen wir alle friedlichen Methoden
ausschöpfen. Aber, letztendlich, wenn der Tag kommt, wenn es für alle klar ist, dass es absolut unmöglich
ist, die Privilegien der wenigen mit dem Wohl der Allgemeinheit auszugleichen – dann, wenn wir kämpfen
müssen, werden wir es; wenn wir sterben müssen, so werden wir nicht versagen... - Übersetzung Julian
Koch)
Liszt weiß sehr wohl, dass seine Anhängerschaft zu Lamennais als einem Abtrünnigen der
katholischen Kirche nicht mit dem Katholizismus, wie der Papst ihn predigt, vereinbar ist. Liszt
wendet sich nun vollständig von seiner Jugendzeit ab, in der er noch Priester werden wollte:
„This Church [gemeint ist die katholische Kirche] which is only concerned with muttering old formulas
and living comfortably for as long as possible in its dilapidated state, this Church which can only make
use of excommunication and anathema upon those whom it should exalt and bestow blessing upon [hier
bezieht er sich auf Lamennais] [...] has completely ceased to win the love and respect of our age. […].“54
(Diese [katholische] Kirche, die sich nur mit dem Murmeln alter Beschwörungsformeln und dem
möglichst langem, komfortablem Ausharren in diesem Zerfallszustand beschäftigt, diese Kirche, die sich
des Mittels der Exkommunizierung und des Bannfluchs gegenüber denen bedient, die sie verherrlichen
sollte, die sie mit Segen beschenken sollte […], hat komplett dabei versagt, die Liebe und den Respekt
unserer Generation zu gewinnen. – Übersetzung: Julian Koch. Auslassungen von mir werden mit […]
bezeichnet)

Es sind harte Worte, die Liszt formulierte, vor allem für einen Katholiken. Man muss jedoch im
Hinterkopf behalten, dass Liszt, typisch oder fast stereotypisch „romantisch“55, an alle Themen mit
Leidenschaft heranging. Die obigen Texte wurden höchstwahrscheinlich im Affekt gegen die
Opposition von Marie d'Agould und unter der einflussreichen Aura von Lamennais verfasst, dessen
außergewöhnlicher Charakter angeblich auch George Sand beeindruckt hatte. Liszt war immer ein
Unterstützer der Armen aus Empathie und „Liebe“, von der er in seinen Briefen so oft schreibt. Die
Psyche eines solchen Charakters lässt nicht die Formulierung einer stringenten Argumentation oder
Theorie zu, zu der er sein Leben lang stehen würde, wie dies Lamennais (in Teilen und zumindest
für Phasen) getan hat. Liszt folgte, mit Ausnahme seines musikalischen Schaffens, geradezu
53
Zitiert nach: Merrick, Paul. Revolution and Religion in the music of Liszt, S.15.
54
Zitiert nach: Merrick, Paul. Revolution and Religion in the music of Liszt, S. 17.
55
Die Romantik in der Musik ist zeitlich etwas später anzusetzen, als in der Literatur. Man kann sie mit Schubert
beginnen lassen (1. Symphonie in D-Dur von 1813 – die erste öffentliche Aufführung war 1814) Ihr Ende wurde vor
allem durch die Symphonien und Lieder Gustav Mahlers markiert (z.B. „Lied von der Erde“ 1905). Damit liegt die
musikalische Romantik deutlich später als die Romantik z.B. in der deutschen Literatur (von ca. 1795-1830,
Ausläufer bis Mitte des 19.Jhs. oder in der französischen, zum Teil über Mme. de Staël von Deutschland aus (De
l'Allemagne 1810) beeinflussten Literatur (z.B. Chateaubriand (Atala, 1801; Le Génie du Christianisme, 1802) bis
ca. 1848).
Die Zeit der Julirevolution Seite 22

empathisch dem 'Zeitgeist': Folgte er in seiner Jugend der von Chateaubriand 'wiederentdeckten'
katholischen Lehre, so wurde er während der Julirevolution Saint-Simonist. Er hatte sich zwar
schon zuvor mit dessen Werken auseinandergesetzt, doch prägten diese sein äußeres Handeln erst
nach der Revolution. Kurz darauf schloss er sich der Weltanschauung eines Lamennais an, in die
bei Liszt auch noch etwas vom Saint-Simonismus hineinspielte. Im hohen Alter wurde er wiederum
erzkatholisch.

Es ist ersichtlich, dass Liszt innerhalb kürzester Zeit krasseste Kehrtwendungen bezüglich seiner
philosophischen Orientierung machte. Immerzu war es der Affekt, der ihn zu solchen veranlasste.
So brauchte er in seiner Jugend Trost für seine unmögliche Liebe zu Caroline de Saint-Cricq und
den Verlust seines Vaters, Trost, den er in der katholischen Religionslehre suchte, die Liszt für
seinen Vater ein Leben im Himmelsreich erhoffen ließ. In der Zeit des allgemeinens Aufruhrs, der
Revolution, der Kampfesreden war Liszt dann begeistert vom Chaos der Revolution, vom Umbruch
(wobei es ihm weniger darauf ankam, was für ein Umbruch es war), wie es auch seiner Skizze zur
Revolutionssymphonie zu entnehmen ist. Liszt begab sich dann jedoch bald wieder in die
geordneten Bahnen einer damals anerkannten Lehre, die gerade ihre Renaissance erfahren hatte: des
Saint-Simonismus. Diese erfüllte zugleich Liszts Bedürfnis nach einer allgmeinen Weltanschauung,
die sich als Universalerklärung für ökomische, politische und auch religiöse Probleme anbot. Als
Bazard starb und der zusehends unpopuläre Enfantin die Schule weiterführte, war es natürlich auch
Liszt, der sich abwandte, auch wenn Enfantins Konzept der freien Liebe Liszts ‚Betthuscherei‘
gelegen kommen müsste. Doch war dies etwas, was man nicht öffentlich proklamierte. Liszt war
schon durch die Revolution und den Saint-Simonismus auf die soziale und rebellische Spur gesetzt
worden, weshalb Lamennais in die Lücke passte. Liszt hatte schon im Saint-Simonismus religiöse
Praktiken außerhalb kirchlicher Institutionen erfahren und ausgeübt, weshalb Lamennais Kritik an
dem Papst mit Liszts temporärer Affinität für das Rebellische durchaus vereinbar war. Lamennais
befriedigte Liszts Bedürfnis nach Empathie für die sozial Schwachen.

4.6 Liszt und Heine – konträre Migrantenperspektiven

Liszts Zeitgenosse, Heinrich Heine, wusste um Liszts wandelbaren Charakter und kritisiert diesen
mit der für Heine typischen ironischen Schärfe:

„Ich brauche Ihnen von seinem Talente nicht zu reden; sein Ruhm ist europäisch. Er ist unstreitig
derjenige Künstler, welcher in Paris dir [sic] unbedingtesten Enthusiasten findet, aber auch die eifrigsten
Widersacher. Das ist ein bedeutendes Zeichen, daB [sic] niemand mit Indifferenz von ihm redet. Ohne
positiven Gehalt kann man in dieser Welt der [sic – es müsste „weder“ heißen, J. Koch] günstige noch
feindliche Passionen erwecken. Höchst merkwürdig sind auch seine Geistesrichtungen, er hat große
Anlagen zur Spekulation, und mehr noch als die Interessen seiner Kunst, interessieren ihn dir [sic]
Die Zeit der Julirevolution Seite 23

Untersuchungen der verschiedenen Schulen, die sich mit der Lösung der großen, Himmel und Erde
umfassenden Frage beschäftigen. Er glühte lange Zeit für die schöne St.-Simonistische Weltansicht,
später umnebelten ihn die spiritualistischen oder vielmehr vaporistischen Gedanken von Ballanche 56 jetzt
schwärmt er für die republikanisch-katholischen Lehren eines Lamennais, welcher die Jakobinermütze
aufs Kreuz gepflanzt hat . . . [sic] Der Himmel weiß, in welchem Geistesstall er sein nächstes
Steckenpferd finden wird. Aber lobenswert bleibt immer dieses unermüdliche Lechzen nach Licht und
Gottheit, es zeugt von seinem Sinn für das Heilige, für das Religiöse. Dass ein so unruhiger Kopf, der von
allen Nöten und Doktrinen der Zeit in die Wirre getrieben wird, der das Bedürfnis fühlt, sich um alle
Bedürfnisse der Menschheit zu bekümmern, und gern die Nase in alle Töpfe steckt, worin der liebe Gott
die Zukunft kocht: dass Franz Liszt kein stiller Klavierspieler für ruhige Staatsbürger und gemütliche
Schlafmützen sein kann, das versteht sich von selbst.“ 57

Liszt antwortete nicht ohne Empfindlichkeit, sah er sich durch Heine doch nicht primär als
Musiker kritisiert, sondern als Mensch angegriffen.58 Und doch klingt seine Antwort schon
fast entschuldigend und zuletzt versöhnlich:

„Vouz m’accusez d’ avoir un caractére mal assis59, et pour preuve, vous énumérez nombreuses causes
que J’ai, suivant vous, embrassées avec ardeur; les ècuries philosophique oú j’ai tour à tour choisi mon
dada. Mais, dites? cette accusation, que vous faites peser sur moi tout seul, ne devrait-elle pas, pour être
équitable, peser sur notre génération tout entière? Est-ce donc moi seul qui suis mal assis dans le temps
où nous vivons? ou plutôt, malgré nos beaux fauteuils gothiques et nos coussins à la Voltaire, ne sommes-
nous pas tous assez mal assis entre un passé dont nous ne voulons plus, et un avenir que nous ne
conaisssons pas encore?” „Sie beschuldigen mich, einen verschrobenen, unbequemen [mal assis] 60
Charakter zu haben, und zum Beweis zählen Sie viele Dinge her, auf die ich mich, wie Sie behaupten, mit
Eifer stürze; die Geistesställe, aus denen ich ein Steckenpferd nach dem anderen wählte. Aber sagen Sie:
Sollte diese Beschuldigung, die Sie auf mir ganz allein lasten lassen, nicht, um gerecht zu sein, auf
unserer ganzen Generation lasten? Bin denn ich es ganz allein, der sich unbequem [mal assis] fühlt in
dieser Zeit, in der wir leben? Oder sind wir es nicht alle, die – trotz unserer schönen gothischen Sessel
und unserer Kissen à la Voltaire – unbequem [mal assis] sitzen zwischen einer Vergangenheit, die wir
nicht mehr wollen, und einer Zukunft, die wir noch nicht kennen““
61 62

56
Liszt gehörte nie wirklich zur Anhängerschaft eines Pierre-Simon Ballanche. Es gibt Nachweise, dass er Bücher von
diesem gelesen hat („Essais sur les institutions sociales“, 1818), jedoch dürfte dies im Zusammenhang mit der
frühsozialistischen Wirtschaftslehre von Saint-Simon geschehen sein. Vgl.
http://www.musicaltimes.co.uk/archive/obits/188609liszt.html. (27. 09.07).
57
Heine, Heinrich. SW, Bd IV; S.558; zitiert nach: Betz, Albrecht. Avantgarde, Revolution, Restauration. Heinrich
Heine über Franz Liszt. In: Kiss, Endre / Lichtmann, Tamás (Hg.). Heine (1797 – 1856), S. 323-324. Heines offener
Brief war in französischer Übersetzung am 4. Februar 1838 in der „Gazette musicale“ erschienen.
58
Vgl. Liszt, Franz. Sämtliche Schriften. Hg. v. Altenburg, Detlef. Band 1. S. 172/173.
59
Die recte gesetzten Wörter sind wörtlich der französischen Fassung von Heines Brief entnommen.
60
Wörtlich: schlecht hingesetzt (zwischen die Stühle gesetzt o. ä.); Betz übersetzt mit „schwankenden“ (daselbst, S.
324).
61
Vgl. Liszt, Franz. Daselbst. S. 172 (franz. Original) und 173 (Übers. d. Hg.).
62
Liszt rechnet Heine in der Folge dessen eigene intellektuelle Wendungen vor und antwortet auf die Spitzen gegen
sein religiöses Empfinden mit einem Ausfall gegen Heines taktische, wenn auch in ihren Auswirkungen auf seine
berufliche Karriere zunächst wenig erfolgreiche Konversion: „Es ist wahr, dass sie das Kreuz von Golgatha immer
besser entbehren konnten als ich; dennoch haben Sie mit Nachdruck die Anschuldigung von sich gewiesen, zu jenen
zu gehören, die es für den Erlöser der Welt errichtet haben . . . Und die Jakobinermütze, was sagen sie dazu? Wäre
es nicht möglich, dass man sie bei gründlichem Suchen wiederfände in Ihrer Garderobe, ein wenig verblichen […]?“
Die Zeit der Julirevolution Seite 24

Liszt selbst wusste darum, wie sehr er von seiner Zeit bewegt worden ist. Aber er beanspruchte für
sich als Musiker eine Sonderlizenz gegenüber dem Schriftsteller oder Praktiker, in deren Welt die
Worte sich stoßen oder auch Wort und Wirklichkeit sich aneinander messen:

„le siècle est malade; nous sommes tous malades avec lui, et, voyez vous, le pauvre musicien a encore la
responsabilité la moins lourde, car celuis qui ne tient pas la plume et quis ne porte pas l’epée peut
s’abandonner sans trop de remords à ses curiosités intellectuelles, et se tourner de tous les côtés où il
croit apercevoire la lumière.“ „Das Zeitalter ist krank; wir alle sind krank mit ihm, und sehen Sie, der
arme Musiker hat noch die geringste Verantwortung, denn wer keine Feder führt und keinen Säbel trägt,
kann sich ohne allzu große Gewissensbisse seiner intellektuellen Neugierde überlassen und sich überall
dort hinwenden, wo er das Licht zu bemerken glaubt.“63

Heine wusste um die Ersatzfunktion der Musik in seiner Zeit. Er vermutete, dass:

„in den Annalen der Kunst unsere heutige Gegenwart vorzugsweise als das Zeitalter der Musik
eingezeichnet werden dürfte . . . [sic] die gesteigerte Spiritualität, das abstrakte Gedankentum, greift
nach Klängen und Tönen, um eine lallende Überschwenglichkeit auszudrücken, die vielleicht nichts
anderes ist als die Auflösung der ganzen materiellen Welt: die Musik ist vielleicht das letzte Wort der
Kunst, wie der Tod das letzte Wort des Lebens . . . [sic] Daß man hier fast in lauter Musik ersäuft, dass es
in Paris fast kein einziges Haus gibt, wohin man sich wie in eine Arche retten kann vor dieser klingenden
Sündflut, daß die edle Tonkunst unser ganzes Leben überschwemmt – die ist für mich ein bedenkliches
Zeichen… [sic]“64

Der Liszt, den man heute kennt, ist jedoch nicht der von seiner Zeit Hin- und Hergerissene. Der
heute bekannte Liszt ist der stürmische 'Eroberer' der Klaviere und Frauenherzen, eine Art Rockstar
des 19. Jahrhunderts in dessen Kapitale Paris und auf Tournee in ganz Europa. Erinnert wird auch
weniger der unter Heines Verdacht stehende Flüchtling aus seiner Zeit, mehr der musikalische
Neuerer.

Liszt, Franz. Daselbst, S. 175. Liszt bedient sich eines seit den Kreuzzügen grassierenden katholisch-
antijudaistischen Klischees. Betz verweist hier ohne nähere Belege darauf, man vermute, dass Marie d’Agoult für
den Textpassus mitverantwortlich sei. Vgl. Betz, Albrecht. Daselbst, S. 324.
63
Liszt, Franz. Sämtliche Schriften. Hg. v. Altenburg, Detlef. Band 1. S. 174 (franz.) /175 (dt. Übers. d. Hg.).
64
Heine, Heinrich. SW Bd. VI, S. 259; zitiert nach: Betz, Albrecht. Avantgarde, Revolution, Restauration. Heinrich
Heine über Franz Liszt. S. 326. Heine wird sich in den 40-ger Jahren zunehmend radikalisieren, in „Deutschland.
Ein Wintermärchen“ scharf mit dem Land seiner Herkunft abrechnen, sich im „Weberlied“ mit dem Aufstand der
schlesischen Weber 1844 solidarisieren und endgültig mit Liszt brechen, der im gleichen Zeitraum Orden und
Auszeichnungen des restaurierten Ancien Régime annimmt und 1844 in großherzogliche Dienste in Weimar tritt.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 25

5 Virtuosenzeit und musikalische Revolution


5.1 Vereinigungsvisionen im Zeichen der Musik
Die Zeit von 1835-1844 wird gemeinhin als Liszts „Virtuosenzeit“ bezeichnet. Es war die Zeit, in
der er zwischen den größten Städten Europas hin- und hergereist ist. Wenn man sämtliche
Entfernungen zusammennimmt, reiste er – auf europäischem Boden - zweimal um den Globus und
würde damit der erste „europäische“ Musiker werden.65

Es war auch die Zeit, in der er mit Marie d'Agould drei Kinder zeugte, unter anderem auch Cosima,
die die spätere Frau von Liszts Schüler Hans von Bülow und danach die Frau von Liszts
ehemaligen Freund, Richard Wagner, werden würde. Er hatte sie 1833 bei einem Konzert kennen
gelernt und zog mit ihr 1835 in die Schweiz. Nach verschiedenen Reisen in der Schweiz übernahm
Liszt gegen Ende 1835 in Genf eine Klavierklasse an dem neu eröffneten Konservatorium. Dieses
scheinbar beiläufige Datum seiner Biografie ist mehr als eine Fußnote wert, denn Liszts
musikpädagogisches Wirken war von ihm einem extremen Anspruch unterworfen worden, in dem
die Gesellschaftsutopien aus dem Umkreis der Julirevolution nachwirkten. 1834 nämlich hatte
Liszt in einer Skizze eine Vision „Über zukünftige Kirchenmusik“ (1834) entwickelt. Der erste Satz
markiert die Signatur der Zeit:

„Dahin sind die Götter, dahin die Könige, aber Gott bleibt ewig und die Völker erstehen: verzweifeln wir
darum nicht an der Kunst.“66

Von der Kunst erwartete er einen Fortschritt von „massenbezwingendem Einfluß“67. Als „Kirchenmusik“
galt ihm hier die Musik schlechthin, denn die Zeiten, in denen der Altar die Menschen versammelte
und die Musik in einer dienenden Funktion genügen konnte, waren vorbei. Musik müsse im
öffentlichen Raum Volk und Gott verbinden. Ihr Muster: die Marseillaise! Liszt will sie die
„humanistische Musik“ nennen. Sie

„se i w eih e vo l l, sta r k u n d w i rk sa m, sie ve re in ig e in ko lo s sa len Ve rh ä ltn i s sen Th ea te r


u n d K i rch e , s ie s ei zu g lei ch d ra ma ti sch u n d h eil ig , p ra ch ten tfa lten d u n d ein fa ch ,
fei er li ch u n d ern st , feu rig u n d u n g e zü g e lt, stü rm i sch u n d ru h e vo l l, kl a r u n d in n ig .
Die Marseillaise […] und die schönen Freiheitsgesänge sind die furchtbar prächtigen Vorläufer dieser

65
Weitere Reisen waren: Liszt reiste 1837 nach Wien, um dort, wegen einer großen Überschwemmung in Ungarn,
Wohltätigkeitskonzerte für die Betroffenen zu geben und ihnen das Geld zukommen zu lassen. Liszt kehrte nachher
mehrfach nach Wien zurück und verbrachte einige Zeit in Ungarn (Budapest, Poszony, Pest), Schottland, Russland,
Belgien und Deutschland).
Liszt hat wohl auf seinen Reisen relativ selbstbewusst seine Ansichten vertreten. Wie selbstbewusst er war, lässt
sich an einem Zitat verdeutlichen: „Le concert c'est moi“ (Zitiert nach Walker, Alan. „Liszt the Progressive“ -
„Preface“; S. 1; eine Quelle ist nicht angegeben) Mit solchem Selbstbewusstsein weigerte Liszt sich „vor der
spanischen Königin Isabella II. zu spielen, da die spanische Hofetikette es untersagte, daß Liszt der Königin
vorgestellt wurde. Bekannt ist, daß er dem Zaren Nikolaus I. In aller Öffentlichkeit eine Lektion erteilte, nachdem
dieser über Liszt geäußert hatte, daß ihm `sein Haar und seine politischen Ansichten´ (!) mißfiehlen. […]“ Zitiert
nach: Felix, Werner. Franz Liszt; S. 82; eine Quelle ist nicht angegeben.
66
Liszt, Franz Gesammelte Schriften II, hg. v. L. Ramann. Leipzig 1881; S. 55.
67
Daselbst.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 26

Musik.“68

Als wäre das Ziel schon erreicht, beschwört Liszt eine frühsozialistische Utopie, die in ihrer Vision
einer Verschmelzung der Klassen weit über saint-simonistische Vorstellung einer gesellschaftlichen
Arbeitsteilung hinausgeht und in ihrer Idee einer Verschmelzung aller Künste, der Politik und
Religion im Zeichen der Musik weit über die romantischen Konzepte des Gesamtkunstwerks und
der Kunstreligion, die letztlich doch im Reservat der Kunst verblieben:

„Ja, verbannen wir jeden Zweifel: bald hören wir in Feldern, Wäldern, Dörfern, Vorstädten, in den
Arbeitshallen und in den Städten nationale, sittliche, politische und religiöse Lieder, Weisen und Hymnen
erschallen. die […] gesungen werden von Arbeitern, Tagelöhnern, Handwerkern, von Burschen und
Mädchen, von Männern und Frauen des Volks. Alle großen Künstler, Dichter und Musiker werden ihren
Beitrag zu diesem volksthümlichen, sich ewig verjüngenden Harmonieschatz spenden […] und alle
Klassen werden sich endlich verschmelzen in Einem religiösen, großartigen und erhabenen
Gemeingefühl. Dieses wird das fiat lux der Kunst sein“.69 (Alle Hervorhebungen außer der ersten Julian
Koch)

Die Zeit der „Offenbarung“ feierte Liszt zugleich mit religiöser Emphase als Zeit der „Erlösung“
von Rücksichten auf ein „`Publikum´“70, sowie auch als Zeit der „Erlösung“ von dem Gegensatz
von Künstler und Auditorium, der im „Virtuosentum“ so bezeichnend ist.

Liszt griff mit seinem utopischen Projekt in gewisser Weise dem „Esquisse d'une Philosophie“
seines Inspirators Lamennais vor, der nach den „Paroles d'un croyant“ (1834) in seinem zweiten
Hauptwerk zwischen 1841 und 1846 die Idee eines Christentums jenseits der Kirche entwickelt
hatte, in dem der Künstler und vor allem der Musiker eine zentrale Rolle bei der Vereinigung der
Massen und ihrer Leitung zum Fortschritt im Zeichen der „Caritas“ erhielt:
„The notion of art originally includes that of creation; for creation is the outward manifestation of a pre-
existing idea, a bringing to expression in a sensible form. God, whom Plato . . . calls the „Eternal
Geometrician“, is also the highest artist: His work is the world.
Since, then, God Himself is the prototype which, He produces outwardly in creating it, the Divine
artist expresses Himself in His own work ... and reveals Himself through it. His work, therefore ...
expresses the infinitely beautiful, but ... broken ... by the opaque medium of the world of appearances ...
Each corporeal form represents its ideal type, and each ideal type, as it belongs to ... the Divine form, is a
partial reflection of it. If, then, all the types now existing in God were realized, the world would be the
perfect expression of the ... infinite ... But as the infinite is in opposition to the essence of the world, it
follows that the infinite is the ideal aim which it approaches ... without ever reaching it, and therefore the
work of God is eternally progressive; and Divine art, through the ever-increasing variety of infinite forms
harmoniously united, strives incessantly to reproduce the unity of infinite form, or the absolutely beautiful
– primordial beauty…

68
Daselbst, S. 56, Passus im Original insgesamt gesperrt, Hervorhebungen fett.
69
Daselbst, S. 56; Hervorheb. i. Orig..
70
Alle Zitate daselbst, S. 57.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 27

No art originates in itself, and none subsists by itself, so to speak, alone for itself. Art for the sake of
art is therefore platitude. Its aim is the perfectioning of beings, whose progress it expresses.
Music, a sister of poetry, effects the union of the arts, which appeal directly to the senses, with those
which belong to the spirit; their object is ... to second the efforts of humanity, that it may fulfil its destiny
of raising them from the earth, and therefore by inciting to a continual upward striving.
Art then ... in binding the laws of organism with those of love ... leads them to aim at the perfection
of all that is loftiest in human nature.
Therefore it appears that art, like science, is infinitely progressive, that it is trivial to suppose that an
eternal, impassable final boundary exists for it.
Art therefore is an expression of God; her works are infinite manifold reflection of Him.” 71
(Der Begriff der Kunst schließt ursprünglich den der Schöpfung (bzw. des 'künstlerischen Schaffens') mit
ein; Schöpfung ist die entäußerte Manifestation einer zuvor existierenden Idee, ein Zum-Ausdruck-
Bringen in einer (durch die Sinne) erfahrbaren Form. Gott, den Platon als den ewigen Geometriker
bezeichnet, ist auch der höchste Künstler: Seine Arbeit (Schöpfung) ist die Welt. Da ja Gott selbst der
Prototyp ist, den er durch seine Schöpfung veräußert, drückt sich der göttliche Künstler selber in seiner
Arbeit (Schöpfung) aus und offenbart sich durch dieselbe. Sein Schaffen folglich drückt das unendlich
Schöne aus, jedoch gebrochen durch das undurchsichtige Medium der weltlichen Erscheinungen. Jede
körperliche Form (Erscheinung) repräsentiert ihr ideales Urbild und jedes ideale Urbild, so wie es der
göttlichen Form (Göttlichkeit) angehört, ist eine partielle Reflektion der Göttlichkeit. Wenn alle Urbilder,
die in Gott existieren, realisiert werden würden, würde die Welt der perfekte Ausdruck des Unendlichen
sein. Aber da das Unendliche im Gegensatz zur Essenz (dem endlichen Wesen) der Welt steht, folgt
daraus, dass das Unendliche (nur) das ideale Ziel ist, dass sie (die Welt) verfolgt, ohne es je zu erreichen,
und daher ist das Werk Gottes unendlich fortschreitend; und göttliche Kunst, durch die ständig
wachsenden Arten der unendlichen Formen, die sich harmonisch vereinen, strebt immerzu danach, die
Einzigartigkeit der unendlichen Formen oder der absoluten Schönheit – ursprünglichen Schönheit – zu
reproduzieren. Musik, als Schwester der Dichtung, bewirkt die Vereinigung der Künste, die direkt auf
die Sinne einwirken, und der Künste, die dem (göttlichen) Geist gehören; ihr Ziel ist es, die
Anstrengungen in der Menschheit zu unterstützen, auf dass sie ihre Bestimmung erfülle, diese (Künste)
von der Erde zu erheben, und ein kontinuierliches Aufwärtsstreben anregt. Kunst, indem sie die Gesetze
des Organismus’ mit denen der Liebe verbindet, führt die Künste dazu, das Ziel der Vollendung alles
Erhabenen in der menschlichen Natur zu verfolgen. Folglich mutet es an, dass Kunst, wie die
Wissenschaften, unendlich fortschreitend ist, dass es trivial ist anzunehmen, dass eine endliche,
unpassierbare Grenze für sie existiert. Kunst ist daher die Entäußerung Gottes, ihre Werke sind eine
unendliche, mannigfaltige Reflektion seiner selbst. (Übersetzung u. Hervorhebungen Julian Koch))

Musik ist Manifestation des Göttlichen, der Musiker Spiegel seiner Reflexion; er vereinigt in der
Musik die geistigen und sinnlichen Künste und führt die Menschheit unendlich über sich hinaus
ihrer Bestimmung zu.

Der künstlerischen, pointiert politisch-gesellschaftlichen und religiösen Vereinigungsutopie ent-

71
Ramann, Lina, (trans. E. Cowdery). Franz Liszt, Artist and Man, 1811-1840 (London 1882), 375 - 9. Zitiert nach:
Merrick, Paul. Revolution and Religion in the music of Liszt, S.18-19. Alle Auslassungen […] entsprechend der
Zitiervorlage.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 28

spricht bei Liszt ein pragmatisch angelegtes musikpädagogisches Programm, das er 1835 in „De la
situation des artistes et de leur condition dans la société“ (Über die Lage der Künstler und ihre
Stellung in der Gesellschaft) entwickelt:

„Wir fordern alle Musiker, alle diejenigen, welche ein weites und tiefes Kunstgefühl besitzen, auf: ein
Band der Gemeinschaft, der Verbrüderung, ein heiliges Band zu knüpfen, einen allgemeinen
Weltverband zu begründen, dessen Aufgabe darin bestehe:

1) die emporstrebende Bewegung und die unbeschränkte Entwicklung 72, zu ermutigen und
betätigen;

2) die Stellung der Künstler zu heben und zu adeln durch die Abschaffung der Mißbräuche [sic]
und Ungerechtigkeiten, denen sie ausgesetzt sind, und die notwendigen Maßregeln im Interesse
ihrer Würde zu treffen.

Im Namen aller Künstler und des sozialen Fortschritts fordern wir:

a) die Gründung einer alle fünf Jahre abzuhaltenden Versammlung für religiöse, dramatische und
symphonische Musik durch welche die bestbefundenen Werke dieser drei Gattungen einen Monat
lang im Louvre feierlichst aufgeführt und hierauf von der Regierung erworben und auf deren Kosten
veröffentlicht werden sollen – mit anderen Worten: die Gründung eines neuen musikalischen
Museums;

b) die Einführung des Musikunterrichts in den Volksschulen, seine Verbreitung in andere Schulen und
bei dieser Gelegenheit das Inslebenrufen einer neuen Kirchenmusik; [...]

d) Generalversammlungen der philharmonischen Gesellschaften nach Art der großen Musikfeste


Englands und Deutschlands;

e) ein Théâtre lyrique73; Konzerte; Kammermusik-Aufführungen, organisiert nach dem im vorigen Artikel
über das Konservatorium74 entworfenen Plan;

f) eine Fortschrittsschule für Musik, gegründet außerhalb des Konservatoriums, geleitet von den
hervorragendsten Künstlern – eine Schule, deren Verzweigungen sich auf alle Hauptstädte der Provinz
erstrecken müßten;

[…]

h) eine wohlfeile Ausgabe der bedeutendsten Werke alter und neuer Komponisten seit der Renaissance
der Musik bis auf unsere Zeit.“ (Hervorhebungen Julian Koch)75

Die Spannung zwischen dem utopischen Visionär Liszt und dem pragmatischen Planer auch der

72
Die Vorstellung einer unbeschränkten Höherentwicklung knüpft an das Perfektibilitätsstreben des 18. Jhs. im
Zeichen von Vernunft und Aufkärung an, gewinnt aber in der Romantik ein religiöses Moment hinzu, wie sich am
zitierten Lamennais-Text ablesen lässt. Nicht Vollendung im Ideal, sondern das unendliche Fortschreiten
(progressus in infinitum) – und zuletzt das Fortschreiten über alles Sagbare hinaus ins Unbestimmte (progressus in
indefinitum) standen nun im Vordergrund. Nicht umsonst kritisiert George Sand an Liszts „Harmonies poétiques et
religieuses“ deren „Unbestimmtheit“ und „Weitläufigkeit“ (s. u.).
73
Hier spiegelt sich u. a. das Opernwerk von Berlioz in Liszts Programm.
74
Gemeint ist das Pariser Konservatorium und der Unterpunkt (a).
75
Zitiert nach Dömling, Wolfgang. Franz Liszt und seine Zeit, S. 30; Liszts Vorschläge gehen noch weit mehr ins
organisatorische Detail, als hier zitiert werden kann.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 29

trivialen organisatorischen Details eines Musikbetriebs, als der Liszt sich dann vor allem in der
Weimarer Zeit bewiesen hat, kann kaum größer sein, so sehr in den zitierten Programmen auch
deutlich wird, wie eng das eine mit dem anderen verbunden ist. Nicht weniger kann die Spannung
zwischen dem utopischen Visionär einer universalen „Kirchenmusik“, der kein „Publikum“ mehr
gegenübersteht, und dem Bühnenstar und Publikumsmagneten der „Virtuosenzeit“ kaum größer
sein. Und doch ist der Impuls, der Liszt in dieser Zeit antrieb und die Möglichkeiten des
Klavierspiels in jeder Dimension erweitern ließ, nicht von seinen Visionen ablösbar: räumlich – in
der ausgedehnten Konzerttätigkeit -, historisch und gattungsbezogen – in der Erweiterung des
Repertoires – technisch – in der „exécution transcendante“ (s. u.) und musikalisch – in der
Revolutionierung der Harmonielehre.

5.2 Grenzüberschreitungen in Artistik und Chromatik


Die so genannte „Virtuosenzeit“ ist die am schwersten überschaubare Phase in Liszts Leben. Liszt
legte sich ein gigantisches musikalisches Repertoire an. In diesem Fall lebte er, was er predigte:
Hatte er in seinem Reformprogramm zur Situation der Künstler und namentlich in „Über
Volksausgaben bedeutender Werke“ (1836)76 eine Werkausgabe für die wichtigsten Werke in der
Musikgeschichte gefordert, so legte er sich selber ein gigantisches Repertoire zu und präsentierte
die wichtigsten Werke der Klassik, des Barock und der Romantik in Klaviertranskriptionen. Damit
war Liszt der erste Pianist, der nicht nur über ein riesiges eigenes Repertoire verfügte, sondern auch
in signifikanter Weise und Menge Werke anderer Pianisten und Komponisten gespielt hat.77

Die Voraussetzungen zu Liszts Virtuosenkarriere lassen sich vielfach mit persönlichen


Begegnungen und musikalischen Einflüssen im Umkreis der Julirevolution verknüpfen. Liszt lernte
Hector Berlioz und sein für die Zeit umstürzend neues Orchesterwerk „Symphonie fantastique“
(1830) kennen, die er mit eigenen, neuen Techniken der Transkription auch für Klavier umschrieb.
Berlioz gab Liszt die wichtigsten Anstöße zur Entwicklung seiner eigenen Programmmusik, die
keineswegs als reine Nachahmung der originalen Vorlage in Musik verstanden werden darf,
sondern in romantiktypischer Grenzüberschreitung als ein Versuch der Verbindung der Künste im
Streben nach Totalität. Liszt begegnete in diesen Jahren ferner Chopin, der die Form der Etüde
revolutioniert hatte, und – als wohl wichtigstem Anstoß für einen musikalischen Neuanfang –
Niccolò Paganini, dem berühmtesten Geiger seiner Generation.78 Im März 1831 hörte Liszt ihn zum

76
Liszt, Franz Gesammelte Schriften II, hg. v. L. Ramann. Leipzig 1881; S. 58 – 63.
77
Thalberg, Alkan, und auch Chopin spielten vorrangig eigene Werke. Ein Konzertprogramm besagt, dass Liszt ca.
600 Stücke in 10 Wochen zur Aufführung brachte.
78
Man schätzt, dass einige Stücke von Paganini erst rund 50 Jahre nach seinem Tod ohne Vereinfachung spielbar
gewesen seien. Paganini bekam bald den Ruf als „Teufelsgeiger“. Er wollte nach seinem Tod in 'geweihter' Erde
begraben werden. Der katholischen Kirche war Paganinis Ruf als Teufelsgeiger nicht geheuer. Als Paganinis
Freunde jedoch seinen Nachlass der Kirche übergaben, war der Weg für ein kirchliches Begräbnis frei.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 30

ersten Mal. Liszt war überwältigt von Paganinis Spiel und wollte ein Paganini des Klaviers werden.
In einem Brief aus der Zeit heißt es:
„Seit vierzehn Tagen arbeiten mein Geist und meine Finger wie zwei Verdammte – Homer, die Bibel,
Plato, Locke, Byron, Hugo, Lamartine, Chateaubriand, Beethoven, Bach, Hummel, Mozart, Weber sind
alle um mich herum. Ich studiere sie, ich denke über sie nach, ich verschlinge sie mit Feuereifer: Im
übrigen übe ich vier, fünf Stunden (Triolen, Sextolen, Oktaven, Tremolos, Tonwiederholungen, Kadenzen
usw.). Ach, wenn ich nicht verrückt werde, wirst Du einen Künstler in mir wiederfinden! Ja, einen
Künstler so wie Du ihn verlangst, so wie er heute sein muss!

„Auch ich bin ein Maler“ rief Michelangelo, als er zum ersten Male ein Meisterwerk
sah. - Dein Freund [Liszt meint sich selber], wie klein und armselig er auch sein mag,
ruft unaufhörlich diese Worte des großen Mannes aus, seit dem letzten Auftreten
Paganinis. René, welch ein Mann, welch eine Geige, welch ein Künstler! O Gott, was
für Qualen, für Elend, für Marter in diesen vier Saiten! ... Und sein Ausdruck, seine
Art zu phrasieren, und endlich seine Seele“79

Das Resultat waren zunächst die relativ frei variierende „Grande Fantaisie des Bravoure sur La
Clochette de Paganini“ (Große Paradephantasie über das Glöckchen von Paganini) (1831/32).

Es folgte die Klaviertranskription „Études d'exécution transcendante d'après Paganini“80 (Etüden


nach Paganini für eine- / in einer grenzüberschreitende/n81 Ausführung) (1838), eine Sammlung
von Stücken, die zu den schwersten gehören, die ein Pianist spielen kann.

Am bekanntesten aus den letztgenannten Etüden ist das Stück „La Campanella“ (Das Glöckchen),
das, wie schon die „Grande Fantasie“, sein Thema aus dem zweiten Violinkonzert von Paganini

Liszt selber war Paganinis unheimliche Aura nicht geheuer: „Man munkelt, dass er seine Seele dem Bösen
verschrieben und dass jene vierte Saite, der er so zauberische Weisen entlockt, der Darm seines Weibes sei, das er
eigenhändig erwürgt habe." Franz Liszt, 1840, in seinem Nachruf auf Paganini; Liszt kolportiert hier ein
zeitgenössisches Gerücht. Zitiert nach: Rothe, Martin. Paganini-online: http://www.paganini-online.de.vu/. o. J. (27.
09. 2007). Vgl. ferner: http://de.wikipedia.org/wiki/Niccol%C3%B2_Paganini. (27. 09. 2007).
79
Liszt, Franz. Briefe, Bd. 8, S. 396; zitiert nach: Felix, Werner. Franz Liszt, S. 25 - 27.
80
Sie wurden 1851 umgearbeitet zu den „Grandes Étüdes de Paganini“ und werden in der Regel unter dem abgekürz-
ten Titel der „Paganini-Etüden“ benannt.
81
Die Bedeutung des „d'exécution transcendante“ bleibt in der Musikforschung umstritten. Höchstwahrscheinlich
meint es, dass diese Etüden alle bisherigen Schwierigkeitsgrade übersteigen (transzendierend also in dem Sinne von
technisch-'grenzüberschreitend'). Dafür spricht auch eine spätere zweite Verwendung des Begriffs „transzendent“.
1837 überarbeitet Liszt eine Jugendkomposition, die „Étude en douze exercices“ von 1826, zu den „Douze Grandes
Études“, seinem pianotechnisch anspruchsvollsten Werk. Eine weitere Überarbeitung, die dritte Version, erhält 1851
den Titel „Études d’execution transcendante“. Allerdings ist der spieltechnische Anspruch hier leicht
zurückgenommen.
Zu den „Études d'exécution transcendante“ schrieb übrigens Sergei Lyapunow (1859-1924) in den Jahren 1897-
1905 ein komplementäres Set von zwölf Etüden (die zwölfte ist eine Elegie für Liszt), in den von Liszt nicht
ausgeschöpften zwölf Tonarten. Man nimmt an, dass Liszt, der ursprünglich 24 Etüden angekündigt hatte und dann
doch nur 12 fertig stellte, jeweils eine Etüde pro Tonart schreiben wollte.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 31

entnimmt. Liszt war hier gleich in mehrfachem Sinne „revolutionär“: Es


wird ihm zum Anlass, die oben bereits erwähnte Kompositionstechnik der
Transkription82 zu entwickeln, das Umschreiben von Orchesterstücken oder
Stücken, die ursprünglich für ein anderes Instrument gedacht waren, hier für
das Klavier. Liszt transkribierte später Opern und sämtliche Beethoven-
Symphonien - Liszt war ein großer Beethoven-Verehrer83 -, ohne den
majestätischen 'Orchestereffekt' am Solo-Klavier preiszugeben. Wenn er als
„Virtuose“ einen ganzen musikalischen Kosmos in seinen Konzerten
eröffnete – und das Klavier zu einem ganzen musikalischen Kosmos
erweiterte -, so war diese Wirkung nicht zuletzt von der Klaviertranskription
aus möglich geworden.

Neu war zum andern der schiere Schwierigkeitsgrad der Etüden. Liszt trat
mit seinen Etüden in die Nachfolge des Etüden-Werks von Chopin, um
zugleich die technischen Möglichkeiten seines Instruments noch weiter als
dieser auszureizen.84

Die musikalisch gewichtigste Revolution Liszts gehört aber in den Bereich der Harmonielehre. Im
Jahre 1832 begann Liszt ein Stück zu schreiben, das ihn selbst in seiner Neuartigkeit zu verwundern
schien. Er brauchte für die Fertigstellung des Stückes zwei Jahre. Es basiert auf dem Gedichtzyklus
„Harmonies poétiques et religieuses“ (poetische und religiöse Harmonien) des französischen
Dichters Alphonse de Lamartine. Mit dem gleichnamigen Stück griff Liszt der Entwicklung seiner

82
Was das Thema Transkription anbetrifft, so lässt sich darüber Lesenswertes finden in dem Kapitel „Wie instru-
mentiert man auf dem Klavier? Liszts Bearbeitungen und Paraphrasen“ in Brendel, Alfred. Nachdenken über Musik,
S. 132 – 139.
83
Im Programmheft zum 5. Meisterkonzert von Mari Kodama (sie spielte einige Beethoven Sonaten) heißt es im Text
von Barbara Graebsch: „Franz Liszt etwa hegte eine besondere Vorliebe für diese [Mondschein Sonate] Sonate und
trug sie erschütternd und selbst erschüttert vor. Seinen Schülern soll er nicht erlaubt haben, das Werk im Unterricht
zu spielen, lieber setzte er sich selbst ans Klavier und trug die ersten beiden Sätze vor – für den letzten erklärte er
sich zu schwach.“ Ebenfalls im Programmheft heißt es, dass Beethoven von der „Mondschein Sonate“ (der Titel
stammt nicht von ihm) immer von einer „Sonata quasi una fantasia“ gesprochen habe. In seinem „Années de
pèlerinage“, im zweiten Teil des Zyklus (Italie), komponiert Liszt „Après une lecture du Dante“, das den Untertitel
trägt: „Fantasia quasi una Sonata“. Komplementär ist die Dante-Sonate auch musikalisch: Während der allseits
bekannte erste Satz der Mondscheinsonate für Frauen damals wie heute besonders „schön“ klang, ist die Dante-
Sonate finster und zornig: Sie beginnt mit dem Tritonus, dem ‚Teufel der Musik‘, für damalige Ohren besonders
dissonant.
84
Chopin widmete seine Etüden Opus 10 übrigens Liszt, die Etüden Opus 25 sind Liszts damaliger Lebensgefährtin,
Marie d'Agould, gewidmet. Chopin selbst, kein besonderer Freund von Liszt (obwohl Liszt umgekehrt sich immer
als ein Freund von Chopin verstand), bewunderte die Art, wie Liszt seine Etüden spielte. Vgl. den Brief von Chopin
an Ferdinand Hiller: „Ich schreibe ohne zu wissen, was meine Feder kritzelt, weil Liszt in diesem Augenblick meine
Etüden spielt und mich aller vernünftigen Gedanken beraubt. Ich möchte ihm die Art und Weise rauben, wie er
meine eigenen Etüden spielt“ - FLB I; S.9; zitiert nach: Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder Überwindung der
Romantik durch das Experiment, S. 48. Liszt muss zu kaum glaublichen Leistungen am Klavier fähig gewesen sein:
„Liszts Fähigkeit zur Assimilation fremder Werke war schier unbegrenzt. Sie ermöglichte es ihm zum Beispiel,
zwei der schwierigsten Chopin-Etüden eine halbe Stunde nach Vollendung ihrer Komposition auswendig und
technisch vollendet öffentlich zu spielen“. Zitiert nach: Haschen, Reinhard. Daselbst, S. 93. Haschen verweist hier
auf Walker. Vgl. daselbst, S.27.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 32

Person und seines kompositorischen Schaffens um Jahrzehnte vor. Im hohen Alter suchte Liszt
Zuflucht in der Religion und schrieb disharmonische und zum Teil sogar atonale Stücke. Zugleich
verfinsterte sich seine emotionale Stimmung. Das Stück „Nuages Gris“ (Graue Wolken) kann hier
als Seismograph von Liszts Befindlichkeit angesehen werden. Das Stück „Harmonies poétiques et
religieuses“ stammt jedoch nicht vom resignierten alten Liszt, sondern vom jungen und
revolutionären. Es ist der gleiche Liszt, der 1834 die katholische Kirche zum Untergang
verdammte, der gleiche Liszt, der im selben Jahr sein Stück „Lyon“ schrieb, der gleiche Liszt, den
mit seiner Lebensgefährtin Marie d'Agould eine intensive Leidenschaft verband. Und trotzdem: Das
Stück reflektiert eine Melancholie Liszts, die er wohl schon seit langem in sich trug und die, viel
stärker, im Alter zum Ausbruch kommt. Dem Stück sind Worte aus Lamartines „Avertissement“
(Vorankündigung, auch: Vorwarnung) seines Gedichtzyklus´ vorangestellt. Charakteristisch – nicht
nur für Lamartine - ist die Verbindung der Überzeugung von einer religiösen Mission der Kunst mit
melancholischem Rückzug:
„Es gibt beschauliche Seelen, die sich in stiller Einsamkeit und Betrachtung
unwiderstehlich zu überirdischen Ideen, zur Religion, erhoben fühlen. Jeder
Gedanke wird bei ihnen Begeisterung und Gebet, und ihr ganzes Sein ist eine
stumme Hymne an die Gottheit und an die Hoffnung. In sich selbst und in der
umgebenden Schöpfung suchen sie nach Stufen, um zu Gott aufzusteigen; nach
Worten und Bildern, um ihn sich selbst und um sich ihm zu offenbaren. Möchte es
mir gelungen sein, ihnen in diesen Harmonieen [sic] etwas solcher Art dargeboten
zu haben!
Es gibt Herzen, die, von Schmerzen gebrochen, von der Welt zertreten, sich
in die Welt ihrer Gedanken, in die Einsamkeit der Seele flüchten, um zu
weinen, zu harren oder anzubeten. Möchten sich diese von einer Muse
heimsuchen lassen, die einsam ist, gleich ihnen; möchten sie in den Tönen
derselben Einklang und Zusammenstimmung finden, und manchmal bei
dem Liede derselben ausrufen: Wir beten mit deinen Worten, wir weinen
mit deinen Thränen, wir flehen mit deinen Gesängen!“85

Diese „Harmonien“ sind, für ihre Zeit, jedoch ganz unharmonisch. Das ist kein Missverständnis.
Liszt erweiterte im Sinne der allseitigen Grenzüberschreitung den Begriff der Harmonie. Er
untersuchte in seinem monothematischen Stück die Ausdrucksmöglichkeiten der Chromatik, die in
seinem Spätwerk so dominant werden würde.

In der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ (Leipzig) wurde das Stück als „schwierig und von der
höchsten Eigentümlichkeit in Gedanken und Formen“86 beschrieben. Auch Liszt selber schien von
Zweifeln geplagt:

85
Zitiert nach: http://imslp.net/images/a/ae/Liszt_-_S154_Harmonies_Poetiques_et_Religieuses.pdf. (02. 10. 2007).
86
Torkewitz, Dieter: „Harmonisches Denken im Frühwerk Franz Liszts. München, Salzburg 1978; S. 78. Zitiert nach:
Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das Experiment, S. 51.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 33

„Um diese Zeit (um 1834) [sic] schrieb ich mehrere Stücke 87, die notwendigerweise den Charakter des
Fiebers, das mich verzehrte, in sich trugen. Das Publikum fand sie bizarr, unverständlich, Sie selbst
[George Sand], mein Freund, haben mir zuweilen das Unbestimmte, Weitläufige derselben vorgehalten.
Ich war soweit entfernt, gegen diese zweifache Verurteilung zu appellieren, daß es meine erste Sorge
gewesen – sie ins Feuer zu werfen“.88

Liszt tat dies jedoch nicht. Später überarbeitete er die „Harmonies“ zu einem gleichnamigen Zyklus
(1847), in dem das Stück selber unter dem Titel eines Lamartine-Gedichtes als „Pensée des morts“
(„Gedanken von Toten“) umgearbeitet wurde.

Schon bald stieg Liszts Stern, er wurde europaweit und zum Teil sogar bis in die USA bekannt (er
bekam während seiner Zeit in Weimar aus den USA Steinway-Pianos). Die 'Lisztomanie', die nun
um sich griff, war jedoch auch oft Anlass zur Kritik. Heine, der, das sei an dieser Stelle bemerkt,
mit Liszt vieles gemeinsam hat und deswegen noch häufiger in der Arbeit erwähnt wird (er war
immerhin genauso wie Liszt begeistert von der Julirevolution, hing dem Saint-Simonismus an und
war Künstlerkollege), schildert einen Konzertabend Liszts und die danach folgende 'Manie' – die an
Wahn grenzende Raserei - vor allem der Frauen:

„Es war eine glänzende Soirée, und nichts fehlte an den herkömmlichen Ingredienzien des
gesellschaftlichen Vergnügens: genug Licht89, um beleuchtet zu werden, genug Spiegel, um sich
betrachten zu können, genug Menschen, um sich heiß zu drängen, genug Zuckerwasser und Eis, um sich
abzukühlen. Man begann mit Musik. Franz Liszt hatte sich an das Fortepiano drängen lassen, strich die
Haare aufwärts über die geniale Stirn und lieferte eine seiner brillantesten Schlachten. Die Tasten
schienen zu bluten . . . [sic] Im ganzen Saale erblassende Gesichter, wogende Busen, leises Atmen
während der Pausen, endlich tobender Beifall. Die Weiber sind immer wie berauscht, wenn Liszt ihnen
etwas vorgespielt hat. Mit tollerer Freude überließen sie sich jetzt dem Tanz.“ 90

„Die Lösung der Frage [wieso Liszt die Frauen nachlaufen, Julian Koch] gehört vielleicht eher in die
Pathologie als in die Ästhetik. Ein Arzt, dessen Spezialität weibliche Krankheiten sind und den ich über
den Zauber befragte ... [sic] lächelte äußerst sonderbar und sprach dabei allerlei von Magnetismus,
Galvanismus, Elektrizität, von der Ansteckung in einem schwülen, mit unzähligen Wachskerzen und
einigen hundert parfümierten und schwitzenden Menschen angefüllten Saale ... [sic] von den
Phänomenen des Kitzelns, von musikalischen Spanischen Fliegen und anderen Dingen, welche, glaub'
ich, Bezug haben auf die Mysterien der Guten Göttin ... [sic]“91

87
Von diesen sind leider nur die „Harmonies poétiques et religieuses“ erhalten.
88
Gesammelte Schriften von Franz Liszt. Hrsg. von Lina Ramann. 6 Bände. Leipzig 1880-1883, S.129 f. Zitiert nach:
Haschen, Reinhard. Daselbst, S. 51.
89
Liszt liebte die Selbstinszenierungen, er war der Erste, der die Möglichkeiten des elektrischen Lichts im Konzertsaal
ausnutzte, so dass nur ein Lichtkegel auf ihn schien und ihn damit noch mehr in den Mittelpunkt des Geschehens
rückte. Er war auch der Erste, der, wie heute üblich, den Flügel mit der offenen Klappe zum Publikum hinstellte,
damit es im wahrsten Sinne des Wortes besser 'beschallt' werden konnte.
90
Elster, Ernst (Hg.): Heine. Sämtliche Werke. Leipzig und Wien 1890. Bd. IV, S. 365; zitiert nach: Betz, Albrecht.
Avantgarde, Revolution, Restauration. Heinrich Heine über Franz Liszt, S. 322-323.
91
Elster, Ernst (Hg.): Heine. Sämtliche Werke. Leipzig und Wien 1890. Bd. IV, S. 447; zitiert nach: Betz, Albrecht.
Daselbst, S. 323. Aus der „Spanischen Fliege“ wird ein Aphrodisiakum hergestellt.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 34

Karikatur eines Liszt-Konzertes; koloriertes Titelkupfer zu


Brennglas, A. (Glasbrenner). Berlin wie es ist und - trinkt“, 14.
Heft, 1842.92

Im 19. Jahrhundert war der Musiker hauptsächlich zu Unterhaltungs-


zwecken da, ähnlich einem Zirkuskünstler. Der virtuose Pianist ist ge-
fragt, der die Finger über die Tasten fliegen lässt und mit großer Geste
die Augen beim Adagio an die Decke wirft (in etwa wie Lang Lang, der
dies bis zur Perversion treibt). Dieser Generation entspringen Virtuosen
wie Sigismund Thalberg, Charles-Valentin Alkan und, in gewisser Weise
ein Anti-Virtuose, der mimosenhafte Chopin. Liszt selbst unterstützte
durch das manierierte Verhalten seiner „Virtuosenzeit“ die 'Lisztomanie'
und die Rolle des Künstlers als Zirkuskünstler. Es gibt schier unglaubliche Berichte über Liszts
pianistisches Vermögen.93 Neben der Ehrung der „Klassiker“ führte Liszt auch immer wieder
Virtuosenstücke auf, um dem Publikum Genüge zu tun. Der „Grand Galop Chromatique“ von 1838
ist wohl eines der charakteristischsten Stücke der Virtuosenzeit.94 Musikalisch gesehen ist er recht
oberflächlich, bietet jedoch alle virtuosen Effekte, um selbst auf Musikliebhaber zumindest
vorübergehend einen faszinierenden Eindruck zu machen. Ein anderes Stück, das hier noch zu
nennen wäre, ist die Opernfantasie „Reminiscences de Don Juan“ aus Mozarts vierstündiger Oper
„Don Giovanni“ – eine martialische Schinderei von über 18 Minuten, selbst für die routinierte
Hand. 95 Auch der Klavierwettstreit zwischen Liszt und Thalberg, 96 der vom Publikum gefordert
war, den beide Pianisten aber nicht sehr ernst nahmen, war der Seriosität der Künstlerrolle nicht

92
Quellenangabe aus Felix, Werner. Franz Liszt. S. 75; Bildquelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Karikatur_Liszt.jpg.
(29. 09. 2007).
93
Stellvertretend für andere hier nur eine Anekdote. Liszt soll einmal eine ihm unbekannte Sonate für Geige und
Klavier a vista vom Blatt abgespielt und gleichzeitig die Geigenstimme mit in die Klavierfassung integriert haben.
Grieg, der die Geigenstimme hätte übernehmen sollen, aber durch Liszts Vortrag entmutig war, zeigte sich vollauf
begeistert: „Und wie spielte er! Mit einer Größe, Schönheit, Genialität sondergleichen“ habe Liszt doch noch
einiges ausgeschmückt. Vgl. Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das
Experiment, S. 95.
94
Eine im besten Sinne „virtuose“ Interpretation dieses Stückes von George Cziffra lässt sich in youtube sehen.
95
Über das Stück berichtet eine aufschlussreiche Anekdote: Der russische Pianist und Komponist Alexander Skrjabin
verletzte sich beim Einüben der Paraphrase die Hand und schrieb, als die Ärzte ihm prophezeiten, dass er nie wieder
mit der Hand so spielen könnte wie zuvor, einen Trauermarsch (1. Sonate Opus 6) für seine rechte Hand.
96
Da man keinen der Pianisten für schlagbar hielt, entstand das Bonmot: „Thalberg ist der erste aller Klavierspieler,
Liszt der einzige“ http://de.wikipedia.org/wiki/Liszt. (29. 09. 2007) Über den Streit urteilt der Biograf Liszts,
Reinhard Haschen: „Thalberg war ein Grandseigneur am Klavier, sicher mit edlem Ton und lupenreiner Lauf- und
Arpeggientechnik, Liszt aber der schöpferische Pianist und Komponist, dessen Priorität durch die Geschichte
besiegelt ist“. Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das Experiment, S.65.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 35

gerade förderlich. Aus späterer Zeit stammt die oben in Auszügen wiedergegebene, in Ungarn
97
erschienene Karikaturenserie zu Liszts Auftritten. Wie Zeitgenossen ganz allgemein auf die
Artistik der „Virtuosen“ und den Voyeurismus ihres Publikums reagierten, mag – gleichsam als
Fußnote – eine formal recht avantgardistische Karikatur aus einer Serie Wilhelm Buschs
illustrieren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Nase und
Haartracht des Virtuosen auf den ersten Bildern der Serie an
Liszt erinnern, auch wenn dessen „Virtuosenzeit“ längst
abgeschlossen war, als Busch 1868 - und der ungarische
Zeichner 1873 - zur Feder griffen. 98
So sehr Liszt selbst den Typus des Virtuosen mit ausprägte,
so sehr hat er immer wieder bedauert, dass die Musik nur
Zirkuskunst und die gesellschaftliche Stellung der Kunst
beklagenswert sei, so etwa in seiner Schrift „De la situation des artistes et de leur condition dans la
société“ (1835):

„Alle bejammernswerten Umstände, die wir anführen könnten, ergeben sich leicht als Konsequenz der
untergeordneten Stellung der Künstler und des Mangels an künstlerischer Überzeugung. [...] Überall
sehen wir tatsächlich, daß Lücken auszufüllen, Mißbräuche aufzuheben, daß Entwicklungen und
Erweiterungen anzubahnen sind, daß wichtige Reformen vorgenommen werden müssen, und wir glauben
ganz im Sinne der Majorität des Publikums und der Aufgeklärten zu sprechen, wenn wir feststellen: daß
der Zustand der verschiedenen oben genannten Anstalten [Konservatorium, lyrisches Theater,
philharmonische Gesellschaften, Julian Koch] sehr weit davon entfernt ist, der Kunst zu genügen und ihr
genugzutun“99

Und noch viel deutlicher in einem Brief:

„Ich war wie erdrückt von den Unmöglichkeiten, die sich auf allen Seiten dem Wege entgegenstellten, den
sich mein Gedanke vorgezeichnet hatte. Nirgends ein sympathisches Wort des Gleichgesinntseins findend
– nicht unter den Weltleuten und noch weniger unter den Künstlern ..., überkam mich ein bitterer
Widerwille gegen die Kunst, wie ich sie vor mir sah: erniedrigt zum mehr oder weniger einträglichen
Handwerk, gestempelt zur Unterhaltungsquelle vornehmer Gesellschaft. Ich hätte alles in der Welt lieber
sein mögen als Musiker im Solde großer Herren, protegiert und bezahlt von ihnen wie ein Jongleur oder
wie der kluge Hund Munito.“100

97
Die abgedruckten Liszt-Karikaturen erschienen 1873 in Ungarn. Bildquellen: Felix, Werner. Franz Liszt, S. 60ff.
98
Busch, Wilhelm. Die Bildergeschichten. Bindlach 2002, S. 891. Die Bilderserie stammt aus dem „Münchener
Bilderbogen“ von 1868.
99
Liszt, Franz. Gesammelte Schriften. Bd. 2, S. 4 ff; zitiert nach: Felix, Werner. Franz Liszt, S. 38.
100
Franz Liszt in einem offenen Brief vom Januar 1837 an George Sand. Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 127 ff.;
zitiert nach: Felix, Werner. Daselbst, S. 25. - Um 1825 avancierte der Zirkushund Munito zur Attraktion. Er
antwortete auf Fragen, indem er auf Buchstaben verwies, die auf Pappkartons aufgemalt waren. Im Berliner Zirkus
Renz trat 1866 ein "studierter Esel" auf, in Hamburg ein mathematisch "begabter" Hengst. Die abgerichteten Tiere
unterstrichen den kulturellen Imperativ der Alphabetisierung und allgemeinen Schulpflicht. Literarisch gespiegelt
werden sie vom gelehrten Gaul in Büchners Woyzeck (1836) bis zu „Ein Bericht für eine Akademie“ des
Kafkaschen Affen (1917). Vgl. insgesamt Macho, Thomas: http://www.culture.hu-berlin.de/tm/?node=77 (27. 12.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 36

Liszts Virtousentum, seine Anziehung auf Frauen sah Liszt selber also nicht nur positiv. Liszt hatte
mit seinen „Harmonies poétiques et religieuses“ eine Ernsthaftigkeit bewiesen, die ihm selbst schon
fast unheimlich schien, eine Ernsthaftigkeit, die sich im hohen Alter noch weiter ausprägte, als er
das Virtuosentum abgelegt hatte (wenn es auch Überlieferungen gibt, die besagen, dass er ihm
hohen Alter immer noch ein besonderes Verhältnis zu seinen Schülerinnen hatte).

Die Kompositionen Thalbergs wurden vom zeitgenössischen Publikum bewundert. Liszt verriss sie
und die Art, wie die Gesellschaft sie aufnahm, in Zeitungen als inhaltslos. Liszts eigene
Kompositionen wie die „Études d'exécution transcendante“ waren eher weniger beliebt. Liszt bezog
seine Motivation wohl aus dem unmittelbaren Glauben daran, in seiner Kunst sei jene „Reflexion
der Göttlichkeit“ wiederzufinden, von der Lamennais spricht.

5.3 Die musikalische Entwicklung im Spiegel von Werkvarianten

Wichtige musikalische Neuerungen, die zur Voraussetzung für Liszts „Virtuosenkarriere“ wurden,
zum Teil aber auch spätere Entwicklungen vorbereiteten, wurden bereits im ersten Unterabschnitt
dieses Kapitels und zu Beginn des zweiten angesprochen. Hier bleibt eher eine besondere Art der
musikalischen „Reise“ anzusprechen: Liszts Entwicklung im Spiegel der wiederholten Umarbeitung
seiner eigenen Werke.

Liszt verarbeitete seine Reiseerfahrungen zunächst in seinem „Album d'un Voyageur“ (1835-1836)
(das Stück Lyon aus diesem Zirkel ist ja schon behandelt worden) und danach noch einmal
überarbeitet in den ersten beiden „Jahren“ der „Années de Pèlerinage“ (Suisse 1848-1854 und Italie
1837-1849). Die „Années de Pèlerinage“ sind im Wesentlichen unpolitisch101 (mit Ausnahme des
schon erwähnten Stückes „Chapelle de Guillaume Tell“ und in gewisser Hinsicht „Sunt lacrimae
Rerum“), was nicht allzu verwunderlich ist, stand Liszt zu der Zeit des Vorläufers, des Albums,
doch unter dem Einfluss der Liebesbeziehung mit Marie d'Agould und war zur Zeit der „Années“
politisch wesentlich gesetzter. Dennoch gehören gerade die „Années de Pèlerinage“ und deren
Vorläufer, das „Album d'un Voyageur“, zu den interessantesten Stücken Liszts. Ihre Entstehung
zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben Liszts. Stammt das Album noch aus einer frühen
Schaffensperiode, so erscheinen die ersten zwei „Jahre“ der „Années de Pèlerinage“ etwas
gesetzter, zeugen von einem reiferen Komponisten. Das „dritte Jahr“ (veröffentlicht 1883) zeigt
einen alten, sehr ruhigen Liszt, der musikalisch immer weiter auf Neuland vorstößt. Bemerkenswert

2007) – So sehr Liszt der Zeittendenz Tribut zollte, so klar war ihm bewusst, welchen Markt er bediente und in
welcher Rolle.
101
Es gibt von Liszt durchaus auch sehr widersprüchliche Aussagen, was die Politik anbetrifft. Zum einen vertritt er in
seiner Jugendzeit das utopisch-politische-Wirtschaftssystem Saint-Simons, zum andern bekennt er an einer Stelle in
einem Brief an Carl Gille: „Ich, der ich immer die Politik verabscheut habe“ - Franz Liszt an Carl Gille. In: Liszt,
Franz. Briefe IV; S. 29. Zitiert nach Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das
Experiment; S. 219.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 37

sind die Zurückgezogenheit und eine gewisse Grundmelancholie des alten Liszt. So sind zwei
Stücke Threnodien, eines ein Trauermarsch und das Stück „Sunt lacrimae Rerum“ eine Klage über
den fehlgeschlagenen Aufstand in Ungarn (1848-1849, siehe unten).

Ähnlich aufschlussreich wie die „Années de Pèlerinage“ sind die „Études d'exécution
transcendante“, die bis auf Vorstufen aus der Jugendzeit zurückgehen, deren Bearbeitung sich
allerdings, anders als bei den „Années de Pèlerinage“, nicht ins hohe Alter fortsetzt. Im zarten Alter
von fünfzehn Jahren, unter dem Einfluss seines Lehrers Czerny (der ebenfalls für seine Etüden
bekannt ist), schrieb Liszt die „Étude en douze exercises“ (1826). Es lässt sich zumeist die
Frühform der späteren Etüden erkennen, trotzdem stellen die späteren „Douze Grandes Études“
eine radikale Neuerung dar.

Die Entwicklung lässt sich beispielhaft an der Etüde Nummer vier „Douze Grandes Études“
darstellen, die ab der dritten Version den Namen „Mazeppa“ trägt, unter dem sie heute vor allem
bekannt ist (s.u. Anhang 1). In deren Frühversion ist nur das Terzmotiv vorhanden, das bekannte
Leitthema der späteren Etüde „Mazeppa“ fehlt noch. In der zweiten, wohl schwersten Version der
Etüden – aus den erwähnten „Douze Grandes Études“102 - ist das Leitthema schon erkennbar,
jedoch folgt nach jedem Terzenlauf ein Motiv mit absteigenden Oktaven, ein Überbleibsel aus der
Erstversion, bevor das Leitthema anschließt. Auch gibt es noch nicht das imposante Intro der
letzten Fassung. Etüde Nummer vier, als einzige Etüde, erfährt noch eine Zwischenbearbeitung, die
schon „Mazeppa“ genannt wurde. Liszt fügte dort schon eine einfache Variante des arpeggierten
Anfangsthemas hinzu, der darauffolgende Lauf erscheint jedoch erst im Zusammenhang der dritten
und heute bekanntesten Version der Etüden („Études d'exécution transcendante“ von 1851). bzw.
vierten Version von „Mazeppa“.

„Mazeppa“ ist eine programmatische Umsetzung des gleichna-


migen Gedichtes von Victor Hugo, das von einer Jugendepisode
des späteren ukrainischen Kosakenführers (ab 1687) handelt -
ukrainisch Іван Степанович Мазепа (1644 – 1709), einer
Symbolfigur der ukrainischen Unabhängigkeit. Er wurde in Porträt von Мазепа auf dem aktuellen 10-
Hrywnja-Schein der Ukraine
seinen Jugendjahren als Page am Hof des polnischen Königs
Johann Kasimir 1663 von einem der Magnaten entdeckt, als er mit dessen Frau in Intimitäten
verwickelt war. Der Graf ließ ihn nackt auf ein Pferd binden und dieses durch die Steppe jagen. Der
Sage nach lief das Pferd in seine Heimat, die Ukraine, und brach dort unter Mazeppa zusammen.
Der letzte Vers des Gedichts ist auf dem Werk abgedruckt: "il tombe, et se relève roi!" (er fällt und

102
Die Etüden waren so schwer, dass sie Liszts Freund Robert Schumann zu der Aussage veranlassten, dass die Stücke
von "at the most, ten or twelve players in the world." (höchstens zehn oder zwölf Klavierspielern in der Welt)
gespielt werden konnten; vgl.: http://en.wikipedia.org/wiki/Transcendental_Etudes; (29.12. 2007).
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 38

erhebt sich als König).103

So wild wie der Ritt ist auch das Stück, es beinhaltet Sprünge im tatsächlichen und im übertragenen
Sinne, so springt man zwischen Terzen und Oktaven, deren Wirkung zum Teil durch eine
hinzugefügte Terz noch verstärkt wird. Einzelne Abschnitte werden zumeist durch Oktavsprünge
oder Oktavläufe auf eine andere Ebene transportiert.104 Zum Schluss hin wird das Stück sehr ruhig
– verharrt in Klage über dem Sturz Mazeppas - und bleibt harmonisch 'offen' - das Schicksal
Mazeppas ist ungewiss - bis das Stück, wiederum durch einen Oktavenlauf, von D-Moll in
majestätisches D-Dur transponiert wird und mit volltönenden Akkorden Mazeppa als König preist.

Ob Liszt mit seiner Vertonung des Gedichtes zugleich eine politische Botschaft senden wollte, ist
nicht gesichert. Hugo selbst versteckt einige Hinweise auf die französische Revolution chiffrenartig
im Text. So erwähnt er an einer Stelle, wo Mazeppas Ritt ins Metaphysische transzendiert, „Die
sechs Monde, die Herschel zählte, den Ring des alten Saturns [...]“ (Übersetzung meiner
Großmutter Madeleine Koch). Der Originaltext lautet: „Les six lunes d'Herschel, l'anneau du vieux
Saturne [...]“105). Herschel entdeckte 1789 (erste, 'große' französische Revolution) zwei weitere zu
den damals bekannten Saturnmonden. Die Umlaufbahn von Himmelskörper nannte man
ursprünglich „révolution“; erst im 18. Jahrhundert wurde der astronomische Begriff der
„révolution“ auf politische Umwälzungen angewandt. Diese „révolution“ im übertragenen und
tatsächlichen Sinne wird metaphorisch durch den Saturnring und seine umliegenden Monde
codiert.106

Es kann sein, dass Liszt, als Magyarenfreund und damit als Gegner sowohl der Russen als auch der
Habsburger, Mazeppas Traum von einer unabhängigen Ukraine auf Ungarn übertrug. Der
historische Mazeppa hatte sich – nach zwanzigjährigen Diensten für Peter den Großen - mit den
Schweden verbündet, als alle Anzeichen auf eine Wende im Nordischen Krieg (1700 – 1721) und
eine direkte Konfrontation zwischen Schweden und Russland hindeuteten. Schweden garantierte im

103
Vgl.: http://en.wikipedia.org/wiki/Transcendental_Etude_No._4_%28Liszt%29; (29. 12. 2007).
104
Ich behandele „Mazeppa“ hier so ausführlich, weil ich es mir als eines der Stücke ausgesucht habe, das ich im
praktischen Teil der Arbeit vorführen werde.
105
Aus: Victor Hugo „Oevres Poétiques“. Vol I. Avant l'exil. 1802-1851. Ed. Par Pierre Albouy. Paris (Éditions
Gallimard – Bibliothèque de la Pléiade); S. 671 – 675.
106
Charakteristisch ist auch die Zeit, in der das Gedicht geschrieben wurde: Es entstand in der Vorphase der
Julirevolution. Der Gedichtband „Les Orientales“ mit „Mazeppa“ als einem der dort versammelten Gedichte
erschien 1829. Das Gedicht Mazeppa ist mit einem Motto von Lord Byrons Mazeppa (1819) versehen: „Vorwärts!
Vorwärts!“ Im englischen Original heißt es „Away! Away!“ und bezieht sich eindeutig auf das angetriebene Pferd –
auf Deutsch übertragen soviel wie hinweg / hinfort. Vgl. Lord Byron. Mazeppa. http://readytogoe-
books.com/MZP21.htm; (29. 09. 2007).
Es ist relativ offensichtlich, dass Hugo dieses „Away“ falsch mit „En avant“ übersetzte, was im französischen
Kontext auch als revolutionärer Aufruf gemeint sein kann. Der wüste Ritt läse sich als ein metaphorisches
Fortschreiten, bis in letzter Konsequenz Mazeppa zum König gekrönt und die Ukraine unabhängig und frei wird. Es
sei bemerkt, dass sich der damalige Victor Hugo kurz zuvor (1826) vom Royalisten zum Liberalen entwickelt hatte,
dokumentiert unter anderem in seinem Roman „Bug-Jargal“ über den Sklavenaufstand in Haiti (1791), der Haiti
von der Kolonialmacht Frankreich unabhängig machte.
Virtuosenzeit und musikalische Revolution Seite 39

Falle eines Sieges der Ukraine die Unabhängigkeit von der russischen Vormacht. Die
Auseinandersetzungen kulminierten in der Schlacht von Poltawa (1709), die Schweden verlor.
Mazeppas Traum lag in Stücken. Er starb noch im gleichen Jahr.

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier noch einmal betont, dass Liszt, selbst wenn er dem
Gedicht einen revolutionären Charakter beimaß, dessen Gehalt gemäß seiner romantischen
Gesinnung nur als verklärendes Ideal, wenn überhaupt, auf die Realität bezogen hat. So ergibt sich
eine doppelte Verklärung: Ist der revolutionäre Inhalt schon in Hugos Gedicht auf einige
Anspielungen beschränkt, so lässt sich von Liszts romantischem Verständnis her eine weitere Stufe
der Verklärung vermuten. Zur Zeit seiner Überarbeitung der Etüden war Liszt, wie schon zuvor
erwähnt, politisch sehr gesetzt. Seine politische Wahrnehmung und ein Niederschlag derselben in
musikalischen Kompositionen lassen sich lediglich an „Sunt Lacrimae rerum“ und einigen weiteren
Stücken (s.u.) eindeutig festmachen. Trotzdem entspräche es dem romantischen Zeitalter und vor
allem dem Charakter Liszts, wenn er mit der Figur Mazeppas ferne Zukunftsvisionen für Ungarn
verbunden hätte, entsprechend seiner Anfälligkeit für utopisches Gedankengut. Er wäre der
Suggestionskraft seiner eigenen Utopie (s. o. Kapitel 3.1) erlegen.
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 40

6 Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48er Revolution


6.1 Die Revolution 1848/49 und ihre Bedingungen
Als Liszt durch die Großherzogin Maria Pawlowna 1842 nach Weimar berufen wurde, waren sich
die Herzogin und ihr Hofmusiker in „außerordentlichen Diensten“ einig, in dieser Stadt nach dem
„goldenen Zeitalter“ Wielands, Goethes, Schillers und Herders ein „silbernes“ zu begründen im
Zeichen der Musik Liszts und Wagners. Die Stelle als Hofkapellmeister bedeutete zunächst nichts
anderes, als dass Liszt jeweils drei Monate eines Jahres in Weimar verbringen und in dieser Zeit
dirigieren und konzertieren musste. Es kam zu einer Phase ausgedehnter Wirkung Liszts als
Organisator, Veranstalter und treibende Kraft der Kulturpolitik bis zum Tod der Großherzogin 1859
und Liszts Abreise nach Rom 1861.107

1844 - 1845 markiert das Ende von Liszts Virtuosenkarriere. Das Konzert von 1844, das er in Paris
gab, und die Konzerte von 1845 in Spanien waren ein leises (oder lautes, wie man’s nimmt)
Abklingen seiner bewegten Jahre. 1847 lernte Liszt im Alter von 35 Jahren die 28-jährige Carolyne
Iwanowska, verheiratete von Sayn-Wittgenstein kennen, mit der er später eng zusammenlebte und
Heiratspläne verfolgte. Das Treffen mit ihr bedeutet ein endgültiges Ende der Virtuosenphase. 1847
gab Liszt sein letztes Virtuosenkonzert in Elisabethgrad. Carolyne Sayn-Wittgenstein hatte einen
erheblichen Einfluss auf seine Rückbesinnung zum Katholizismus und hielt ihn zu Stetigkeit und
Ausdauer an. Ihr Einfluss wirkt sich bis in sein kompositorisches Schaffen hinein aus, das innerhalb
der Gesamtwirkung Liszts einen neuen Stellenwert erhielt.

Die Zeit um 1847/1848 stand schon im Zeichen der heraufkommenden Revolution: Im Jahre 1847
nahm Liszt an einer großen Tonkünstlerversammlung in Leipzig teil. Ziel war der Zusam-
menschluss der Musiker – gleichsam eine „Erste Musikalische Internationale“. Die
Tonkünstlerversammlung richtete, laut Biograph Werner Felix, „eine große „Eingabe“ an die
Preußische Regierung“, die „bürgerlich-demokratische Verhältnisse“ im „Musikleben“ durchsetzen
sollte. Die Forderungen dieser Eingabe waren sehr ähnlich denen aus Liszts Schrift über die soziale
Stellung der Musiker108 (s. o. den Unterabschnitt „Vereinigungsvisionen“).

In Frankreich hatte Louis Phillippe die liberalen Grundsätze, deretwegen er als „Bürgerkönig“
gewählt worden war, zunehmend verraten und sich sogar der „Heiligen Allianz“ angenähert. Die
sozialen Probleme, insbesondere in Verbindung mit dem sich ausbildenden frühmodernen
Proletariat und den Bauern, die zu den Verlierern der Julirevolution gehörten, blieben ungelöst.109

107
Vgl. Jonté, Gabriele. Maria Pawlowna Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach. In: http://mugi.hfmt-
hamburg.de/grundseite/grundseite.php?id=pawl1786; (20. 03. 2008). Vgl. Neue Zürcher Zeitung 16. 09. 2002: Weimars
silbernes Zeitalter. In: http://www.nzz.ch/2002/09/16/fe/article8AP42.html; (20. 03. 2008).
108
Zitate nach Felix, Werner. Franz Liszt, S. 88.
109
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Philipp_(Frankreich) (29. 12. 2007).
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 41

In den deutschen Staaten waren, ausgelöst durch die Eroberungspolitik Napoleons I., seit 1806/07
nationale Einheitsbestrebungen erwacht. Der Nationalismus war anfangs antifranzösisch
motiviert.110 Auf dem Wiener Kongress 1815 waren durch die Neuordnung Europas unter der
Führung Metternichs nach dem Legitimitätsprinzip, d.h. nach dynastischen Ansprüchen und nicht
nach dem Prinzip der Volkssouveränität, die gewachsenen Erwartungen auf politische Erneuerung
und nationale Einheit enttäuscht worden. Metternichs Politik war rückwärtsgewandt und knüpfte an
das mit dem Westfälischen Frieden sich durchsetzende territorialstaatliche Denken an (der Fürst als
Eigner eines Territoriums, das die Bewohner – ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit – als
Untertanen einschloss). Das paternalistische Verständnis des Herrschers, das einzelne deutsche
Fürsten in der Folge entwickelten, namentlich der „Romantiker“ Friedrich Wilhelm IV von Preußen
(1840 – 1858), wies sogar weiter zurück auf das personenverbandsrechtliche Denken des
Mittelalters. Schon bald nach dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 1806
und erst recht nach dem Wiener Kongress trat der anfangs rein anti-französische Fremdenhass
zunehmend in den Hintergrund gegenüber einem `positiven´ Nationalbewusstsein, das sich aus der
historisch gewachsenen Identität des eigenen Volkes111 definierte. Durch eine Ironie der Geschichte
hatte nicht zuletzt Napoleon mit der Verbreitung von Teilen der Ideen der französischen Revolution
mittels des „Code Civil“112 (s.o.) und der Bereinigung der deutschen, durch Kleinstaaterei
geprägten Landkarte im Zuge seiner Eroberungen den Anstoß dafür gegeben, den Gedanken von
einem Selbstbestimmungsrecht der Völker auf dem Boden der Volkssouveränität
weiterzuentwickeln.

Im deutschen Sprach- und Kulturraum waren die Verhältnisse freilich doppelt kompliziert, insofern
dieser Sprach- und Kulturraum noch nie territorial geeint war bzw. staatliche Gebilde auf seinem
Territorium wie die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie ein Vielvölkergemisch
zusammenbanden. Die Vorstellung einer nationalen Identität durch Sprache, Geschichte, Literatur,
Mythen, Sitten, Religion usw. war im „deutschen“ Kulturraum – ins Territoriale übersetzt – stets im

110
Der deutsche Nationalismus behielt immer eine antifranzösische Unterströmung, die – je nach politischem Anlass –
wieder in den Vordergrund trat. Als 1840 Adolphe Thiers französische Ansprüche auf den Rhein als natürliche
Grenze Frankreichs und damit auf linksrheinische deutsche Gebiete proklamierte (unterstützt z.B. auch von Victor
Hugo), antwortete in Deutschland Max Schneckenburger mit der „Wacht am Rhein“ (1840), lange Zeit eine Quasi-
Nationalhymne der Deutschen; Nikolaus Becker dichtete das „Rheinlied“ („Sie sollen ihn nicht haben, den freien
deutschen Rhein“) (1840), auf das wiederum von französischer Seite de Musset auftrumpfend und Lamartine
vermittelnd (mit einer „Friedensmarseilleise) (1841)) antworteten. Heinrich Heine hatte in „Deutschland. Ein
Wintermärchen“ (1844) für die nationale Erregung in Deutschland und namentlich für Becker nur Spott übrig. Dass
das spätere Deutsche Reich 1871 ausgerechnet auf dem Hintergrund einer militärischen Niederlage Frankreichs in
Versailles ausgerufen wurde, lag auf der Linie eines nationalistischen Ressentiments und sollte mit Reaktion und
Gegenreaktion die deutsch-französische Geschichte bis in die Mitte des 20. Jhs. bestimmen.
111
Dieser Gedanke einer auf den Volkscharakter begründeten staatlichen Identität war schon Ende des 18. Jahrhunderts
bei Johann Gottfried Herder ausgebildet worden und wirkte von dort aus auf die deutsche Romantik.
112
Der Code Civil sicherte insbesondere: Die Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit für jeden, Schutz des Privateigen-
tums, strikten Laizismus, Abschaffung des Zunftzwangs, Gewerbefreiheit und freie Berufswahl, Schaffung der
juristischen Basis für die Marktwirtschaft; http://de.wikipedia.org/wiki/Code_Civil (01. 11. 2007).
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 42

Wortsinn „u-topisch“ – also ohne Ort. Unbeschadet dessen artikulierte sich das deutsche
Nationalbewusstsein unter anderem auf den Wartburg-Festen, insbesondere dem von 1817, und
dem Hambacher Fest von 1832, das durch die Julirevolution in Frankreich inspiriert war. Zu den
national und demokratisch motivierten politischen Bestrebungen in Deutschland kamen, ähnlich
wie sich dies in Frankreich mit den Aufständen der Seidenweber zeigte, wirtschaftlich und sozial
motivierte Unruhen (wie oben schon erwähnt, waren damals Wirtschaft und Politik im Bewusstsein
der Menschen weitgehend getrennt): 1844 lehnten sich die Weber113 in Schlesien auf, um ihre
missliche Lage anzuprangern. Heine, Freiligrath, Pfau und Weerth dichteten Weberlieder114.

In Ungarn waren es vor allem zunächst die Adligen, die Ungarn unabhängig sehen wollten,
während die einfachen Bauern und verschiedenen Nationalitäten sich zuerst von den – nach den
Josefinischen Reformen verbliebenen – letzten Resten des Jochs der Leibeigenschaft befreien
wollten.115 In den Unabhängigkeitsbestrebungen bei liberalen ungarischen Adligen verband sich der
Wunsch nach Unabhängigkeit mit Ressentiments gegenüber den anderen Völkern in Ungarn. Es
gab in Ungarn weniger ein Nationalbewusstsein, als ein Bewusstsein der jeweiligen Völker, die ihre
eigenen politischen Visionen durchsetzen wollten. Das Volk, auf das ich besonders ein Auge
werfen werde, sind die Magyaren, welche als Majorität im Lande schon zuvor durch die
Magyarisierung Ressentiments provoziert und praktiziert hatten.

All dies kam zum Ausbruch in den nahezu europaweiten Revolutionen von 1848/1849. Und Liszt
war in Weimar. Ausgelöst und inspiriert durch die Februarrevolution in Frankreich (Louis Philippe
hatte ein Bankett zur Reform des Wahlrechts116 verboten) verbreitete sich die Revolution wie ein
Flächenbrand nach Österreich, Deutschland, Ungarn, Polen und Italien, wo es zuvor schon
geköchelt und gebrannt hatte. Als in Wien Aufstände stattfanden, erhoben sich in Ungarn die
Magyaren, die Zensur und Leibeigenschaft wurden abgeschafft, eine Verfassung in einer
Nationalversammlung beschlossen. Jedoch stand hier die Revolution zunächst unter dem Einfluss
der liberalen Adligen, die es noch nicht wagten, sich vollständig von der Herrschaftsform der
Monarchie loszusagen. So warteten sie noch auf eine Beglaubigung des Königs, bevor sie ein
eigenständiges Ministerium gründeten117. Zudem wollten die meisten Magyaren (allen voran
wieder die liberalen Adligen) den verschiedenen Völkern in Ungarn zwar eine Gleichberechtigung

113
Der Hauptgrund war wohl die Konkurrenz der Weber mit den neuen automatischen Webstülen Vgl.
http://de.wikipedia.org/wiki/Webmaschine#Geschichte; (14.11. 07).
114
Vgl. Heine: „Die schlesischen Weber“ (1844), Pfau: „Der Leineweber“ (1847), Freiligrath: „Aus dem Schlesischen
Gebirge“ (1844), Weerth: „Hungerlied“ (1844).
115
Vgl. Ursprung, Daniel. Leibeigenschaft (Ungarn). In: https://claroline.uni-klu.ac.at/eeo/index.php/Leibeigenschaft_(Ungarn);
(20. 03. 2008).
116
Wegen des Zensuswahlrechts waren von 35 Millionen Franzosen rund 240.000 wahlberechtigt. Vgl. zur
Februarrevolution http://geschichtsverein-koengen.de/Revolution1848.htm; (30. 12. 2007) und http://de.wikipe-
dia.org/wiki/Februarrevolution_1848; (30. 12. 2007).
117
Vgl. Köpeczi, Béla. Rebell oder Revolutionär? Petöfi im Spiegel seiner Tagebuchaufzeichnungen, Briefe,
Streitschriften und Gedichte. Letztes Kapitel.
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 43

auf persönlicher Ebene, jedoch keine kulturelle und politische Eigenständigkeit gewähren (so auch
Lajos Kossuth, der spätere Führer der Revolution in Ungarn). Den Kroaten, Rumänen, Slowaken,
Ruthenen und Serben118war dies bewusst und sie hofften, bei Parteinahme für Österreich von
diesem ihre ersehnte Eigenständigkeit zu erhalten (die ihnen natürlich nach der Revolution von
österreichischer Seite aus nicht gewährt wurde). Auch Ungarn rüstete auf, allen voran war es Lajos
Kossuth,119 der Freiwilligenverbände der Magyaren zusammenschloss und aus dem Boden
stampfte, um dem relativ mächtigen Kroatenheer unter Jellachich entgegen zu ziehen. In
Deutschland (bzw. in Preußen und Bayern) ging man in Berlin und München auf die Barrikaden.
Neben Bürgerlichen waren hauptsächlich Handwerker und einfache Arbeiter unter den
Aufständischen. Marx und Engels hatten im Februar des gleichen Jahres das „Manifest der
kommunistischen Partei“ veröffentlicht und darin unter anderem vorausgesehen, dass sich die
oppositionellen Kräfte in Bürgertum und Proletariat aufspalten würden – was dann vor allem in
Frankreich einer der Gründe für das Scheitern der Revolution wurde.

6.2 „Träume an der Ilm“ während und nach der 48er Revolution

Während im Mai die Frankfurter Nationalversammlung tagte, während der Niederschlagung der
Juniaufstände der Arbeiter in Paris und des Anfangs vom Ende der Revolution, während im Juli die
Heere der Aufständischen aus Piemont-Sardinien von österreichischen Truppen vernichtend
geschlagen wurden, während im September in Ungarn der republikanische Lajos Kossuth zum
Ministerpräsident gewählt wurde und April des Jahres 1849 auch noch als Reichsverweser
diktatorische Vollmachten erhielt120, komponierte Liszt in Weimar seine berühmte Symphonische
Dichtung „Les Préludes“121, die „Ungaria-Kantate“, einige weniger wichtige Werke und seinen

118
http://de.wikipedia.org/wiki/Revolution_von_1848/49_im_Kaisertum_%C3%96sterreich#Ungarn_und_Kroatien;
(04.10. 2007).
119
http://de.wikipedia.org/wiki/Lajos_Kossuth; (24.10.07). Er war dem magyarischen Adel nur bedingt willkommen. Er
verlangte die Besteuerung des Adels (wie dies auch Sàndor Petöfi in seinen Gedichten tat) und an manchen Stellen forderte
er, dass man den Adel „ohne Erbarmen ausrotten“ soll. Kossuth, Lajos. Kossuths gesammelte Schriften, Bd. II. In: Google-
Books: http://books.google.com/books?id=qEwCAAAAMAAJ&pg=PA6&dq=inauthor:Kossuth&as_brr=1#PPA13,M1;
(4.10. 2007), Seite 13.
120
Zu den Details des Revolutionsverlaufs 1848/49 in Österreich-Ungarn vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Re-
volution_von_1848/49_im_Kaisertum_%C3%96sterreich; (30. 12. 2007)
121
Deren Fanfare wurde von den Nazis als Eingangssignal für „Erfolgsmeldungen“ von der Ostfront missbraucht.
Ursprünglich (1848) war es als Einleitung zu „Les Quatres Éléments“ gedacht. Erst später stellte Liszt ihm einen
erläuternden Text voran, gleichsam eine programmatische Uminterpretation im Nachhinein, die den Missbrauch
durch die Nazis mit angeregt haben mag. Dort heißt es: "Was anderes ist unser Leben, als eine Reihenfolge von
Präludien zu jenem unbekannten Gesang, dessen erste und feierliche Note der Tod anstimmt? Dennoch trägt der
Mann nicht lang die wohlige Ruhe inmitten besänftigender Naturstimmungen, und »wenn der Drommete
Sturmsignal« ertönt, eilt er, wie immer der Krieg heißen möge, der ihn in die Reihe der Streitenden ruft, auf den
gefahrvollsten Posten, um im Gedränge des Kampfes wieder zum ganzen Bewusstwerden seiner selbst und in den
vollen Besitz seiner Kraft zu kommen." (Übersetzung Peter Cornelius) Zitiert nach Hufner, Martin. Les Préludes –
Sinfonische Dichtung Nr. 3. (1999): http://www.kritische-musik.de/noframes/liszt.shtml; (30. 12. 2007) vgl. dort
auch die Hinweise zum Hintergrund und zu Liszts nicht-mimetischer Konzeption von Programmmusik. Der erste
Satz aus Liszts nachgetragenem Kommentar passt zwar nicht zu den vorgeblichen Siegesmeldungen der Nazis –
darin gebe ich Hufner Recht – wohl aber zu ihrem Todeskult. Den heutigen Leser befremdet die Selbst-
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 44

„Arbeiterchor“. Werner Felix feiert ihn als Liszts Beitrag zur Revolution, verweist jedoch zugleich
auf die zeitbedingten Grenzen seiner gesellschaftlichen Analyse und Aussage122:
„Herbei, den Spat' und Schaufel ziert, Das Vaterland ist unser Feld,
herbei, wer Schwert und Feder führt, von unsern Händen wird’s bestellt,
herbei, wer Fleiß und Mut und Kraft, von unsern Herzen wird’s bewacht,
wer Großes oder Kleines schafft. in Frost und Glut, bei Tag und Nacht.
Der Schweiß, der unsere Stirne netzt, Die Freiheit bleibt ein Hammer fest,
der gilt als Perlenkrone jetzt, den keiner mehr aus Händen läßt,
die Kraft, die unsere Nerven spannt, ein Amboß bleibt sie für und für,
die gilt als Schild in unserer Hand. drauf pochen wir, drauf pochen wir.
Wir schaffen froh und unverzagt, Und jedes Werk sei Gott vertraut,
solang das Herz noch hofft und wagt, wer auf ihn baut, hat wohl gebaut.
solang noch Kraft in unserem Arm, Der Stahl zum Schwert und Werkzeug gab,
solang das Blut noch rot und warm. blickt segnend jetzt auf uns herab.
Solang noch eine Esse braust, Drum schließt den großen Bruderbund,
solang noch eine Spindel saust, ein Vater sieht vom Himmel drein,
solange noch ein Kessel kocht, wir wollen alle Brüder sein,
solange noch ein Mühlrad pocht. wir müssen alle Brüder sein!“
123
(Hervorhebungen Julian Koch)

Die ersten Verse rufen die Menschen aller Klassen – Bauern und Arbeiter („Spat und Schaufel“),
Soldaten („Schwert“) und Intellektuelle („Feder“) – zum Einsatz für die „Freiheit“ auf, die in der
sechsten Strophe beschworen wird. Letztlich aber mündet der Text in einer Verbrüderung in Gott.
Jeglicher Revolutions- oder Kampfbezug wird metaphorisch verschleiert oder getilgt: So lautet der
erste Vers der fünften Strophe: „Das Vaterland ist unser Feld“, und der Zeitgenosse der 48-er
Revolution würde hier das Schlachtfeld eines Aufstandes hineinlesen. Eine Bestätigung dieser
Assoziation findet sich jedoch nicht oder nur sehr indirekt: „von unseren Händen wird’s bestellt“,
schließt der Folgevers an. Seine Metaphorik lässt zwar noch immer die Interpretationsmöglichkeit
zu, dass hier von einem Aufstand, einer Schlacht oder Ähnlichem die Rede sein könnte, jedoch
wird die deutlichere Sprache des revolutionären Appells124 durch die Analogie dieses 'Feldes' mit
einem Acker, den man als Bauer bestellt, gleichsam zensiert. 125 Felix verweist darauf, dass Liszt
selbst, nach Ausbruch der Revolution, den Druck des „Arbeiterchors“ aufschob – mit einer
bezeichnenden Begründung in einer Notiz auf dem Korrekturexemplar. Er schiebe den Druck auf,
„da die Zeitumstände einen ganz abnormen Kommentar zur Arbeiterfrage liefern.“126 Liszt selbst

verständlichkeit, mit der hier der Krieg als solcher zum Ausdruck des männlichen Selbstbewusstseins erklärt wird.
Im Zusammenhang meines Themas befremdet umso mehr, dass Liszt, die Aufstände und Freiheitskriege seiner Zeit
vor Augen, den Krieg so interpretiert, als wären seine politisch-sozialen und nationalen Ziele völlig gleichgültig!
122
vgl. Felix, Werner. Franz Liszt, S. 89 – 91.
123
Zitiert nach: Felix, Werner. Daselbst, S. 90.
124
Im Vergleich zur Brisanz von Gedichten Heines und vor allem von Gedichten des ungarischen Dichters Sàndor
Petöfi steht das Lied Liszts weit zurück. Vgl. von Petöfi: „Nationallied“, „Revolution“, „Helden in Lumpen“,
„Kampf war...“, „Der ungarische Edelmann“: http://mek.oszk.hu/01000/01008/01008.pdf. (04. 10. 2007)
125
Im direkten Umfeld der Revolution hätte Liszt eine offene Sprache sprechen können – wenn es ihm darum
gegangen wäre. In Ungarn zum Beispiel wurde zu der Zeit sogar die Zensur aufgehoben. Vgl: Betz, Albrecht.
Avantgarde, Revolution, Restauration. Heinrich Heine über Franz Liszt, S. 328.
126
Zitiert nach Felix, Werner. Franz Liszt; S. 89 (es ist leider keine Quelle angegeben).
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 45

sähe demnach den „Arbeiterchor“ durch die – radikaleren – „Zeitumstände“ überholt. Dass Liszt
diese umstandslos begrüßte, lässt sich freilich aus seiner Rede von einem „ganz abnormen
Kommentar“ nicht ableiten. Er wollte also höchstwahrscheinlich nicht, dass sein Chor im radikalen
Kontext einer Revolution stand.

Auch die „Ungaria-Kantate“ ist eher weniger revolutionär. Ihr Text127 verweist auf alte ungarische
Größen wie Attila und Corvinus.128

Im Mai nimmt Liszt Wagner auf, der als Barrikadenkämpfer in Dresden verfolgt wird. Wagner geht
nach Paris ins Exil, während Liszt für ihn stellvertretend Lohengrin aufführt. Das soll aber nicht als
die Förderung und Verbreitung der politisch-revolutionären Ideen Wagners gesehen werden. Liszt
wertet aus musikalischem Grundsatz zeitgenössische Werke als gleichrangig zu klassischen. Er
hatte schon zuvor im Februar eine Oper Wagners aufgeführt: Den „Tannhäuser“.

Als dann im August 1849 die Aufstände der Magyaren mit einem vereinten Heer von Kroaten,
Russen und Österreichern niedergeschlagen wurden, dirigierte Liszt die Goethe-Festspiele zur Feier
von dessen hundertstem Todestag in Weimar. Heine, der mit den Ungarnaufständen auch eine
persönliche Verbundenheit empfand, war er doch vertraut mit Petöfis meist sehr persönlichen und
kämpferischen Gedichten (deren Autor noch dazu auf dem Schlachtfeld der Revolution starb),
Heine, der gleichzeitig seine radikalste, revolutionäre Phase durchmachte,129 schrieb mit seinem
Gedicht „Im Oktober 1849“ geradezu ein Kunstwerk an Bösartigkeit (siehe Anhang 2) in einer
Satire auf Liszts Indolenz.

Liszt komponierte, als die Revolution in Ungarn fehlschlug, sein Stück „Funérailles“, das übrigens
zu den „Harmonies poétiques et religieuses“ gehört (dem ausgebauten Zyklus) und als Untertitel
„Oktober 1849“ trägt.130 Der anfängliche Trauermarsch, der einem Streifzug über das Schlachtfeld
gleicht, verwandelt sich in einen Oktavensturm, die Darstellung einer erneuten Erhebung der
Ungarn, und endet in einem offen gehaltenen Schluss. Gleichzeitig komponierte Liszt „Heroide

127
„Aus Osten aus der Sonne Tor / wälzt sich ein dunkler Strom hervor,/ stolzblickende, trotzige Scharen./ In der Hand
den sausenden Busogan,/ die Erde zittert, wenn sie nahn,/ die Hunnen sind's, die Magyaren.// Und die Schönheit lebt
in der Ungarn Blut,/ man sah sie trotz Greuel und Kriegswut - / einst staunend als Blüte Europas blühn./ Und der
edle Gärtner, der pflegt,/ um den sich, was kräftig und herrlich, bewegt,/ ist der große Matthias Corvin.“
Textausschnitt, zitiert nach Felix, Werner. Franz Liszt; S.93.
128
Matthias Corvinus (1443 - 1490), eigentlich Hunyadi (ungarisch Hunyadi Mátyás), König von Ungarn, Böhmen und
Kroatien; beanspruchte auch die Herrschaft über Österreich. Er war tat sich hervor als Kämpfer gegen die Türken.
Während seiner Herrschaft erlebte das Königreich Ungarn eine Blütezeit. Zwischenzeitlich steht er in wechselhafter
Beziehung zu Vlad III. Dracul Tepes (Vlad III Drachensohn, der Pfähler) – dem Vorbild für Bram Stokers
„Dracula“.
129
1844 schrieb er seine Abrechnung „Deutschland. Ein Wintermärchen“, er nimmt Kontakt zu Marx auf und verfasst
1848 Berichte über die Revolution.
130
Der Titel hat einzelne Musikwissenschaftler vermuten lassen, dass es gleichzeitig eine Hommage an den im selben
Jahr und Monat verstorbenen Freund Liszts, Chopin, darstellt. Zudem klingen die Schlussoktaven im Bass, die sich
durch die letzten Seiten im Stück ziehen, sehr ähnlich zu den Oktaven in der berühmten Chopin'schen Polonaise Nr.
6 op. 53 in As-Dur mit dem Beinamen „Heroische“. Funérailles ist im Übrigen auch hauptsächlich in F-Moll
geschrieben, der im Quintenzirkel komplementären Tonart zu As-Dur.
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 46

Funèbre“, eine trauermarschartige Symphonische Dichtung. In ihr verarbeitete er Ideen und Motive
seiner skizzenhaft gebliebenen „Revolutionssymphonie“. All das lässt schließen, dass die
Revolution nicht mit ähnlicher Anteilnahme von Liszt beobachtet worden ist, wie zuvor die
Julirevolution. Die Tatsache jedoch, dass „Heroide Funèbre“ als Trauermarsch gehalten ist, legt die
Vermutung nahe, dass Liszt sich vor allem insoweit mit dem Thema auseinandergesetzt hat, als
ungarische Kameraden gefallen sind, zu deren Gedenken das Stück geschrieben worden ist (siehe
Anhang 3). Ähnlich, wie auch die soziale Frage von Liszt immer nur empathisch aufgenommen
wird, nimmt er Anteil an der Revolution in einem rein empathischen Mitfühlen mit den Gefallenen.
Dass Liszt selber wohl kaum ungeduldig auf eine Revolution gewartet hat, lässt sich am besten an
seinen eigenen Worten belegen. Er genießt es, dass:

„...unser liebes Weymar, nicht nur von der großen Cholera, sondern selbst von den geringeren, jedoch
ziemlich unangenehmen periodisch politischen Cholerien fortdauernd befreit, an seiner Ilm ruhig
träumen durfte...“131

Doch Liszt war auf der anderen Seite auch kein Konterrevolutionär. Er vertrat immer noch den
Fortschrittsgedanken. Er wollte nur keine Revolution, als plötzlichen Umsturz, sondern eher eine
auf Reformen basierende Neuerung und Besserung. Sprach er vormals mit Begeisterung von der
Marseillaise in seiner Schrift „Über zukünftige Kirchenmusik“, deren Wert sogar alte Kultur-
vermächtnisse übersteige (siehe oben), so äußerte er sich jetzt relativ negativ. Als eine Freundin
ihm erschüttert vor Begeisterung von der berühmten Schauspielerin Rachel erzählte, die die
Marseillaise sang, erwiderte Liszt entgeistert (1. Mai 1848):

„>>Wie ist das möglich! Wie hat Sie das erschüttern können? Wie haben Sie das zu bewundern
vermocht? - Es ist ja Torheit, Verbrechen, es ist eine Sünde, jetzt die Marseillaise zu singen. Was hatte
diese jetzige Revolution mit jener im vorigen Jahrhundert gemein? Was soll uns der blutdürstende
Hymnus bei einer sozialen Umwälzung, deren Grundprinzip die Liebe, deren einzige Lösung nur durch
die Liebe möglich ist? - Wo sind jetzt die féroces soldats132 [wilden Soldaten]? Wo ist le sang impur133
[das unreine Blut]? es handelt sich darum, den Frieden in die Welt zu bringen, indem man gerecht wird
gegen die Einzelnen in der Gesamtheit! Es handelt sich darum, die Ideen triumphieren zu machen, deren
einstiger Sieg als ein gewisser vorauszusehen ist.<< Um welche Ideen handelte es sich? >> ... ebenso um
nationalökonomische Dinge, um tiefe Studien, die zu unternehmen sind, als [im Sinne von: „wie ebenso“]
darum, daß man endlich Ernst macht mit der Liebeslehre des Christentums. <<“134

131
Franz Liszt Briefe I; S.73, zitiert nach Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch
das Experiment, S. 220.
132
Zitiertes Feindbild aus der Marseillaise: „Auf, Kinder des Vaterlands! / Der Tag des Ruhms ist da./ Gegen uns
wurde der Tyrannei / Blutiges Banner erhoben. / Hört Ihr auf den Feldern / die grausamen Krieger brüllen? / Sie
kommen bis in Eure Arme, / Eure Söhne, Eure Ehefrauen zu erwürgen! http://de.wikipedia.org/wiki/Marseillaise;
(05.10. 2007).
133
Ein Vers aus dem Refrain der Marseillaise; er lautet: Zu den Waffen, Bürger! / Formiert eure Bataillone, / Vorwärts,
marschieren wir! / Damit unreines Blut / unserer Äcker Furchen tränke! http://de.wikipedia.org/wiki/Marseillaise;
(05.10. 2007).
134
Fanny Lewald „Zwölf Bilder nach dem Leben“, Berlin 1888; S.342f. zitiert nach Reinhard Haschen „Franz Liszt
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 47

„Studien“ über „nationalökonomische Dinge“ blieben zwar von Bedeutung, waren aber nie die
Sache Liszts, und der kämpferische Impuls tritt zurück. Liszts Vorstellungen waren nun weitgehend
umgeschlagen zu einer Ansicht, die sich vor allem aus einem subjektiven Empathieempfinden
ableitet. In Weimar schwand auch zunehmend der hier im Ideal der Liebesgemeinschaft noch
nachhallende Einfluss Lamennais', der ohnehin 1854 starb.

Der Anspruch auf sozialen und politischen Wandel und der Anspruch auf nationale Identität –
unter der Leitidee der Freiheit war beides im 19. Jahrhundert kaum zu trennen. Entsprechend
wirkten die natürlich immer begründbare Skepsis, die Bereitschaft zum Kompromiss und zur
Resignation in die Gegebenheiten auf der einen Seite immer auch zurück auf die Einstellung der
anderen Seite.

Wie sehr Liszt sich von der sozialen und politischen Revolution abwandte, lässt sich daran
erkennen, dass er von dem 1849 zunächst demokratisch gewählten Präsidenten Charles Louis
Napoléon, dann jedoch 1852 zum Kaiser der Franzosen sich aufschwingenden Napoleon III.
durchweg begeistert war, während sein kritischerer Freund, Victor Hugo, ins Exil gehen musste.
Victor Hugo machte Napoleon III. in seinen Gedichten lächerlich und brandmarkte ihn als blutigen
Despoten, der ihm als Symbol für unterdrückte und fehlgeschlagene Revolutionen galt.135 Liszt
reagierte mit wenig Freude auf Hugos Kritik Napoleons; so schreibt er über eine Schrift Hugos zu
Petrarca:

„[...] this strikes me as bombastic and false; and so, in spite of my profound admiration for V. Hugo's
genius and his astonishing accomplishment, I refuse to follow him in his demagogic aberrations. No, and
again No, the Marseillaise is not the 'voice of the future'.“ (Das geht mir als schwülstig und falsch gegen
den Strich; und so, trotz meiner tiefgreifenden Achtung vor V. Hugos Genie und seinen beeindruckenden
Leistungen, weigere ich mich, ihm auf seinen demagogischen Irrwegen zu folgen. Nein und nochmals
Nein, die Marseillaise ist nicht die 'Stimme der Zukunft'.)

Hier widerspricht er nicht nur einem alten Freund (Liszt hatte zeitlebens Kontakt zu Hugo), sondern
auch sich selbst. Wie oben an anderer Stelle schon angeführt, verneint er jetzt die Rolle der
Marseillaise als Vorläufer einer 'Musik der Zukunft,'136 die er zuvor in seiner Schrift „Über
zukünftige Kirchenmusik“ noch proklamiert hatte. Das hat Liszt in dem obigen Zitat bis in den
Wortlaut hinein widerrufen.

Liszts Gefolgschaft zu Napoleon III. ging so weit, dass er sich mit Wagner überwarf, der beim
Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 Partei für Deutschland ergriff137:

oder die Überwindung der Romantik durhc das Experiment“; S. 220.


135
Vgl. Hamburger, Klára. Liszt and french romanticism: His Lieder on poems by Victor Hugo and Alfred de Musset.
In: Liszt the Progressive, S. 57-58.
136
s. o. S. 23 f.
137
Beim Deutsch-Österreichischen Krieg ergreift er seltsamer Weise die Partei Österreichs, wahrscheinlich, weil es
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 48

„Augusz ist sehr beunruhigt durch die Berichte über die preußischen Siege. Seine Sympathien gehören
völlig Frankreich. Ich beruhige ihn, indem ich eine baldige Revanche und mehr als das für Frankreich
vorhersage. Unmöglich, daß dieser Krieg keine Alternativen habe. Wichtiger als der erste Sieg ist der
138
letzte.“

Als Napoleon zwei Jahre später stirbt, findet Liszt rührende Worte:

„Napoleon III. Tot! Eine große Seele, rasche Intelligenz, umfassender Verstand, Weisheit aus Erfahrung,
sanfter und großzügiger Charakter, - und unseliges Geschick! Ein gefesselter und geknebelter Caesar,
aber von Hauch des göttlichen Caesar belebt, ideale Personifizierung der irdischen Herrschaft! [Liszt
zählt hier noch einige Errungenschaften Napoleons auf, unter anderem auch die Tatsache, dass er zum
139
„Wohl der Landbevölkerung und Arbeiterklasse beigetragen hat“]

Aus heutiger Sicht vorausschauend wirkt demgegenüber die Distanz, die Liszt zunehmend
gegenüber Nationalbewusstsein und Patriotismus gewann, die sich immer wieder mit
revolutionären Forderungen – hier symbolisiert in der Kokarde – verbanden:

„Wie für Humboldt ist der Patriotismus für mich eine sehr relative und verstümmelte Form der
Empfindung. Als Künstler habe ich wenig Geschmack für die Kokarden, die sich leicht zum Spaß eignen
140
und in den Gegenden, die wir heimsuchen, wenig zu suchen haben“

Er spürt den kommenden Ungeist, wenn er schreibt:

„Der Patriotismus ist gewiß ein großes und bewundernswertes Gefühl, aber wenn er, aufgereizt, dich
nicht mehr in den nötigen Grenzen hält und sich nur noch von fieberhaften Eingebungen leiten läßt,
141
ereignet es sich, daß [man] 'Wind sät und Sturm erntet'.“

Es ist gar nicht so abwegig, Liszt als letztlich patriotisch ungebundenen Künstler zu deuten, wie es
zunächst scheint. Zwar erklärte sich Liszt an mehreren Stellen als Ungar, doch im Kapitel zu Liszts
Jugend wurde bereits herausgestellt, wie sehr dieses Ungarn einer imaginären Geographie und
Genealogie angehört. Liszt wusste letztlich darum.142 Ein großer Teil seiner Musik ist immerhin in
gewissem Sinne ungarisch und dann wiederum auch nicht: Es ist darauf hingewiesen worden, dass
Liszt die Zigeunermusik und die Zigeunertonleiter, auf der viele seiner Stücke beruhen, als
ungarische Musik missverstand. Von den Franzosen, in deren Land er ungefähr die Hälfte seines

Teil der Doppelmonarchie Österreich-Ungarns ist. Es mutet jedoch seltsam an, dass er nun die Partei eben der
Österreicher ergreift, die 18 Jahre zuvor die Aufstände in Ungarn blutig niedergeschlagen haben.
138
Franz Liszt Briefe VI; S. 260 f., zitiert nach Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik
durch das Experiment, S. 223.
139
Franz Liszt Briefe VII; S. 2 f. Zitiert nach Haschen, Reinhard. A.a.O., S. 223-224. Der Korrektheit halber führe ich
hier auch noch ein gegenüber Frankreichs Kaiserreich kritisches Zitat Liszts an: „...Das zweite Kaiserreich 1853-
1870! Vergessen wir nicht den entscheidenden Anteil, den die Gärung der nationalen Eitelkeiten an seinem Fall
gehabt hat!“ Franz Liszt Briefe VI; S. 292, zitiert nach Haschen, Reinhard. A.a.O., S. 223.
140
Franz Liszt Briefe IV, S. 224, zitiert nach Reinhard Haschen „Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik
durch das Experiment“; S. 220.
141
Franz Liszt – Baron Augusz Korrespondenz, S.224, zitiert nach Reinhard Haschen „Franz Liszt oder die
Überwindung der Romantik durch das Experiment“; S. 220.
142
S.o., Kapitel 3.1.
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 49

Lebens verbrachte, deren Sprache er als einzige perfekt beherrschte, deren politisch-
gesellschaftlich-religiöse Ideen ihn beeinflussten, in deren Salons und Konzertsälen er zu seinem
eigenen musikalischen Idiom fand, von eben diesen Franzosen ist er zeitlebens als Deutscher
gesehen worden. Musikalisch hat dies sicherlich auch eine Berechtigung, denn abgesehen von dem
Einfluss, den Berlioz und Chopin hatten (dessen Wirkung auf Liszt ohnehin gering war), kann man
ihn in Teilen als Nachfolger Beethovens sehen.

6.2 Die „Neudeutsche Schule“

Durch Carolyne von Sayn-Wittgenstein beeinflusst - laut ihrer eigenen Aussage habe es Liszt an
Genius nicht gefehlt, jedoch an Arbeitsamkeit143 - begann Liszt in Weimar eine weitere große
Schaffensperiode nach seinem „Erwachen“ und den Erträgen der „Virtuosenzeit“. Er überarbeitete
Altes und schaffte Neues, und das gleich im doppelten Sinn des Wortes. Sechs Jahre nach seiner
Niederlassung in Weimar konnte er ein Meisterwerk verbuchen: Sein berühmtestes Werk, die „h-
moll Sonate“, ist das am meisten eingespielte Klavierwerk überhaupt (nein, nicht die Mondschein-
Sonate). Vielen Pianisten, Musikern und Musikwissenschaftlern gilt sie als das wichtigste Werk
Liszts überhaupt und sie zählte sicher zu den bedeutendsten der Romantik. Die h-moll Sonate war
und ist in nahezu jeder Hinsicht außergewöhnlich. Sie ist in großen Passagen monothematisch,
durchkomponiert und verschreibt sich einer 'Idée fixe' (einer festgelegten Idee, einem Leitmotiv) -
ähnlich wie es sich auch in Berlioz' „Symphonie fantastique“ findet. Ganz außergewöhnlich für eine
Sonate besteht sie aus einem einzigen, gigantischen Satz, der über eine halbe Stunde dauern kann.
Die Themen sind miteinander verwoben, einige anfangs angreifende, heftig bewegte Themen
verwandeln sich in schwermütige oder sehr schmelzende Melodien. Statt einer Trennung in Sätze
und damit auch einer Trennung der Hauptthemen werden diese dicht aneinandergebunden. Kurz:
Durch den Kompositionsstil der h-moll Sonate türmt sich die Sonatenform zu einem unglaublich
weitläufigen musikalischen Bauwerk auf, was viele verschiedene Facetten von Interpretationen
zulässt - wahrscheinlich ein Hauptgrund der Beliebtheit der Sonate. Die Sonate wurde jedoch von
den meisten Zeitgenossen Liszts mit Distanz aufgenommen, sogar von Schumann, dem sie
gewidmet war.

Neben unzähligen Aufführungen144 (unter anderem auch seiner Klavierkonzerte), dem


umfangreichen 'Training', das Liszt dem Weimarer Theater verschaffte, um seine ausgedehnten

143
Brief von Sayn-Wittgenstein 1882; vgl. Dömling, Wolfgang. Franz Liszt und seine Zeit, S.24-25.
144
Wie wichtig Liszts Tätigkeit als Orchesterdirigent war, lässt sich heute kaum ermessen, wo es nahezu in jeder
Weltstadt eine Philharmonie gibt und auch kleinere Städte zum Teil Orchester unterhalten können. Damals war es
nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, Werke von Berlioz in einer so kurzen Folge aufzuführen, wie es heute
geschehen könnte – einige Werke sogar harrten ihrer Uraufführung. Als Liszt eine Berlioz Woche veranstaltete,
reiste dieser eigens nach Weimar, um dem beizuwohnen. Liszt brachte einen Großteil von Wagners Werken zur
Uraufführung, auch das machte ihn so bekannt.
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 50

Programmpläne zu ermöglichen, trat Liszt 1859 durch die Gründung der so genannten
„Neudeutsche[n] Schule“145 in den Mittelpunkt des deutschen Musikbetriebs. Deren Sprachrohr war
die „Neue Zeitschrift für Musik“ unter der Redaktion von Franz Brendel, von dem auch der Name
der „Schule“ stammt. Brendels Zeitschrift war jedoch durch die Veröffentlichung von Wagners
Essay „Über das Judentum in der Musik“ vorbelastet. Wichtige Angehörige dieser „Neudeutschen
Schule“ waren neben Brendel und Liszt Hector Berlioz, Richard Wagner, Peter Cornelius, Felix
Draeseke und Richard Strauss. Sie verteidigten unter anderem die Programmmusik und gewisse
Vorstellungen von Harmonielehre gegen konservativere Vorstellungen, die unter anderem auch von
Brahms, dem Geiger Joseph Joachim, dem Musikkritiker Eduard Hanslick und nachher sogar Hans
von Bülow vertreten wurden. Die konservativen Gegner beharrten darauf, dass Musik von sich aus
wirken müsse. Die „Neudeutsche Schule“ prägte auch den Begriff der „Musik der Zukunft“, der
später mit verächtlicher Nebenbedeutung als „Zukunftsmusik“ in die deutsche Sprache einging und
schließlich auch im übertragenen Sinne verwendet wurde. Zwischen den beiden Schulen wurden
zum Teil diffamierende Kommentare gewechselt. Joseph Joachim, den Liszt für seine
Konzertaufführungen nach Weimar geholt hatte, trat aus dem Orchester aus und auch Brahms, dem
Liszt, als dieser noch jung und unbekannt war, eine wohlwollende Empfehlung für einen
Musikverlag geschrieben hatte, wandte sich gegen Liszt. Hanslick trennte zwischen dem
Komponisten und Klavierspieler Liszt. Während er den Klavierspieler zutiefst verehrte, kannte er
für den Komponisten nur Geringschätzung. Neben der wachsenden Unbeliebtheit der Musik Liszts
und seines Kreises stieß Liszt durch sein Zusammenleben mit Carolyne Sayn-Wittgenstein, deren
Scheidung vom Papst und ihrem Ehemann nicht zugelassen wurde, bei den konservativen
Bewohnern Weimars auf wenig Wohlwollen. Als dann Peter Cornelius' Oper „Der Barbier von
Bagdad“ ausgebuht wurde, legte Liszt 1859 sein Hofkapellmeisteramt nieder.

Liszts Neudeutsche Schule animierte Heinrich Heine, der musikalisch jedoch eher ein Amateur war
und sicherlich Liszts Talent in diesem Bereich verkannte, zu einer herrlichen Spitze von
Boshaftigkeit, die ich keinem Leser vorenthalten will:

„Jung-Katerverein146 für Poesiemusik147


Der philharmonische Katerverein Es paßt kein Sommernachthochzeitstraum,
War auf dem Dache versammelt Es passen nicht Lieder der Minne
Heut nacht - doch nicht aus Sinnenbrunst; Zur Winterjahrzeit, zu Frost und Schnee;
Da ward nicht gebuhlt und gerammelt. Gefroren war jede Rinne.

145
http://de.wikipedia.org/wiki/Neudeutsche_Schule; (5.10.07).
146
Der Begriff Katzenmusik für 'jämmerlich' klingende, meist besonders dissonante Musik ist relativ geläufig. Heines
Katerverein bezeichnet die „Neudeutsche Schule“. Die Veränderung von Katzenmusik zu Katermusik, verdeutlicht
wahrscheinlich Liszts „Männlichkeit“, dieser hatte nämlich, trotz seines Alters und der Beziehung zu Carolyne von
Sayn-Wittgenstein, seine Leidenschaft für Frauen nicht abgelegt.
147
Der Begriff der Poesiemusik bezieht sich abwertend auf Programmmusik.
er
Weimars „silbernes Zeitalter“ und die 48 -Revolution Seite 51

Auch hat überhaupt ein neuer Geist Das war ein Tauhu-Wauhu, als ob
Der Katzenschaft sich bemeistert; In der Arche Noä anfingen
Die Jugend zumal, der Jung-Kater ist Sämtliche Tiere unisono
Für höheren Ernst begeistert. Die Sündflut zu besingen.
Die alte frivole Generation O welch ein Krächzen und Heulen und Knurren
Verröchelt; ein neues Bestreben, Welch ein Miaun und Gegröhle!
Ein Katzenfrühling der Poesie Die alten Schornsteine stimmten ein
Regt sich in Kunst und Leben. Und schnauften Kirchenchoräle.
Der philharmonische Katerverein, Zumeist vernehmbar war eine Stimm,
Er kehrt zur primitiven Die kreischend zugleich und matte
Kunstlosen Tonkunst jetzt zurück, Wie einst die Stimme der Sontag149 war,
Zum schnauzenwüchsig Naiven. Als sie keine Stimme mehr hatte.
Er will die Poesiemusik, Das tolle Konzert! Ich glaube, es ward
Rouladen ohne Triller, Ein großes Tedeum150 gesungen,
Die Instrumental- und Vokalpoesie, Zur Feier des Siegs, den über Vernunft
Die keine Musik ist, will er. Der frechste Wahnsinn errungen.
Er will die Herrschaft des Genies, Vielleicht auch ward vom Katerverein
Das freilich manchmal stümpert, Die große Oper probieret,
Doch in der Kunst oft unbewußt Die Ungarns größter Pianist
Die höchste Staffel erklimpert. Für Charenton151 komponieret.
Er huldigt dem Genie, das sich Es hat bei Tagesanbruch erst
Nicht von der Natur entfernt hat, Der Sabbath ein Ende genommen;
Sich nicht mit Gelehrsamkeit brüsten will Eine schwangere Köchin ist dadurch
Und wirklich auch nichts gelernt hat. Zu früh in die Wehen gekommen.
Dies ist das Programm des Katervereins, Die sinnebetörte Wöchnerin
Und voll von diesem Streben Hat ganz das Gedächtnis verloren;
Hat er sein erstes Winterkonzert Sie weiß nicht mehr, wer der Vater ist
Heut nacht auf dem Dache gegeben. Des Kindes, das sie geboren.
Doch schrecklich war die Exekution War es der Peter? War es der Paul?
Der großen Ideen, der pompösen - Sag, Lise, wer ist der Vater?
Häng dich, mein treuer Berlioz, Die Lise lächelt verklärt und spricht:
Daß du nicht dabei gewesen! O Liszt! du himmlischer Kater!...“
152

Das war ein Charivari148, als ob


Einen Kuhschwanzhopsaschleifer
Plötzlich aufspielten, branntweinberauscht,
Drei Dutzend Dudelsackpfeifer.

148
Lärmende Veranstaltung, Katzenmusik, wie sie z.B. als Studentenulk oder als Polterabend veranstaltet wird. Das
Wort bezeichnet auch Veranstaltungen der Baseler Fastnacht, im Bayerischen lärmende Musik, und findet sich
schließlich als Name verschiedener satirischer Zeitschriften.
149
Gemeint ist die Opernsängerin Henriette Sontag (1806 – 54). Sie hatte sich nach ihrer Ehe völlig von der Bühne
zurückgezogen, war aber durch den Vermögensverlust im Zusammenhang der 48-er Revolution zu einem
Comeback gezwungen, dem ihr früher Tod ein Ende setzte.
150
Lat. von „Te deum laudamus“ - Dich Gott loben wir. Anfang eines gregorianischen Lob- und Bittgesangs in der
katholischen Kirche, der insbesondere zu herausgehobenen feierlichen Anlässen gesungen wird.
151
Gemeint ist L'asile de Charenton, ein psychiatrisches Hospital in Paris.
152
http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=1136&kapitel=11&cHash=3da378c6dbheine#gb_found; (5.10.07)
Ausklang – und „Zukunftsmusik: sans tonalité Seite 52

7 Ausklang – und „Zukunftsmusik“: sans tonalité


Ein Jahr nach der Niederlegung seines Amtes reiste Liszt mit seiner Lebensgefährtin nach Rom, um
die Scheidung anerkennen zu lassen. Doch einen Tag vor der geplanten Hochzeit wurden russische
Prozessakten verlangt. Diese hatten den päpstlichen Ansprüchen anscheinend nicht genügt, Carolyn
von Sayn-Wittgenstein verzichtete auf die Scheidung und eine Eheschließung fand nicht statt.
Beide blieben jedoch in Rom, sie, um zu studieren, er, um sich mehr dem von ihm vernachlässigten
Katholizismus zu widmen und um sich mit den Messen in Rom genauer zu befassen. Liszt erfüllte
sich seine Vision von „zukünftiger Kirchenmusik“, allerdings nun in dem geläufigeren Wortsinn
und in konservativer Rückbindung an den kirchlichen Rahmen. Er komponierte die „Legende von
der heiligen Elisabeth“, ein Oratorium, das wegen des Bruchs mit kirchenmusikalischen
Traditionen von der Kirche jedoch kritisch beäugt wurde. Zugleich vollendete er den „Christus“,
ebenfalls ein Oratorium, dessen Komposition er schon zehn Jahre vorher begonnen hatte. 1864
empfing Liszt die niederen Weihen als Abbé. 1867 wurde Franz Josef I, Kaiser von Österreich, zum
ungarischen König gekrönt (seine Frau ist die allseits bekannte Sissi), womit offiziell die beiden
Länder als versöhnt galten. Liszt hatte in Erwartung des Ereignisses seine „Ungarische
Krönungsmesse“ (Missa Coronationalis) komponiert. Die ungarische Seite verlangte, dass das
Werk des 'ungarischen Komponisten' Liszt zur Krönungsmesse aufgeführt werden sollte. Es kam
zwar zur Aufführung am 8. Juni, jedoch nicht bei dem geplanten Anlass der Krönung des Königs.
Nach der Aufführung marschierte Liszt allein aus der Kirche und die vor der Kirche versammelte
Menge jubelte. 1870 schrieb Liszt als späte Zugabe noch den „Ungarischen Marsch zur
Krönungsfeier in Ofen-Pest am 8. Juni 1867“.

Als Liszt sich 1869 wieder eine Wohnung in Weimar nahm, war er, wie in seiner Jugendzeit, völlig
in sich gekehrt. Seine Lebensfreude aus der Virtuosenzeit wich einer tiefreichenden Melancholie.
Es war in dieser Zeit, in der er zwar nicht seine quantitativ, jedoch wohl seine qualitativ
bedeutendste Schaffensperiode durchmachte. Schon 1874 statuierte Liszt in einem viel zitierten
Bonmot:

„Mein einziger Ehrgeiz als Musiker war und wäre, meinen Speer in die endlosen Räume der Zukunft zu
153
schleudern“

Gesagt, getan: Mit „Nuages Gris“ (Graue Wolken) komponierte Liszt wohl eines der düstersten
Stücke der Musikgeschichte. Es stößt mit seinen für die Zeit extremen Dissonanzen schon an die
Grenzen der Tonalität154. Diese Grenzen wurden 1885 – ein Jahr vor seinem Tod – überschritten:

153
Franz Liszt Briefe VII; S. 58f., zitiert nach Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik
durch das Experiment, S. 251.
154
1873 sagt Liszt zu Vincent d'Indy, einem französischen Musiktheoretiker und Komponisten, er strebe die
„Überwindung [supression] der Tonalität“ an. „Cours de composition musicale II. Paris 1909-1950; S.318; zitiert
nach Haschen, Reinhard. A.a.O., S. 258.
Ausklang – und „Zukunftsmusik: sans tonalité Seite 53

Das harmonisch wohl revolutionärste Stück für seine Zeit und einige Dekaden danach – es wurde
auch erst 1956 veröffentlicht - ist die „Bagatelle sans tonalité“ (Bagatelle155 ohne Tonart). Es ist das
erste Stück, dass nicht auf irgendeiner Tonart basiert, sondern vollständig aus chromatischen
Elementen besteht. Liszts „distanzielle“ Tonhöhenordnungen, die den Oktavraum jenseits der
klassischen Tonarten in gleiche oder periodisch alternierende Abstände aufteilen, weisen über
Debussy und Bartók hinaus bis auf die Modi von Olivier Messiaen vor.

Sogar Wagner, der durch die Harmonieschule Liszts156 gegangen war und in heutigen
Harmonielehren durch sein Vorspiel zu „Tristan und Isolde“, das neue harmonische Maßstäbe
setzte, einen historischen Platz erhält - eine Entwicklung, die er ohne die Freundschaft zu Liszt
wohl nie durchgemacht hätte - wandte sich von den Stücken des alten Liszt ab. Er hielt selbst einige
Stücke, die nicht annähernd so kühn waren wie die Bagatelle oder „Nuages gris“, - den
„Weihnachtsbaum“ von 1874-1879, die „Valse oubliée“ von 1881 und die „Romance oubliée“ von
1880 - für „keimenden Wahnsinn“.157

Liszt starb im Jahre 1886.

155
Eine Bagatelle ist ein unscheinbares, kurzes Musikstück.
156
Es wurde oben (Anmerkung 4) bereits erwähnt, dass Wagner den Akkord bei Liszt entlehnt hat. Natürlich bekommt
der Akkord, wenn er, wie im Tristan-Vorspiel in immer neue Tonarten aufgelöst wird und sich leitmotivisch
wiederholt, eine wesentlich größere Bedeutung. Dennoch stammt der Akkord aus Liszts Hand. Dass dieser,
harmonisch gesehen, auch schon zur Zeit der Wagnerschen Anleihe kein 'Greenhorn' war, zeigt sich in dem Stück
„Il Pensieroso“ (zwischen 1837 u. 49 komponiert) aus dem zweiten Jahr der „Années de pelèrinage“, dessen
chromatische Harmonien „Tristan und Isolde“ (1865) um fast 20 Jahre vorweg nehmen (Alfred Brendel statuierte
diese These auch in einem seiner Bücher). Die Tatsache, dass Wagner sich bei seinem Tristan anscheinend aus
einem Stück oder Stücken von Liszt bedient hat, wäre nicht das erste Mal gewesen. Beim Vorspiel zu Wagners
„Parsifal“ sagte Wagner zu Liszt: „Ich habe dich bestohlen, gib acht, jetzt kommt was von dir“, woraufhin Liszt
erwiderte: „Macht nichts, dann hört man es wenigstens einmal.“ Kapp, Richard Wagner und Franz Liszt; S. 105;
zitiert nach Haschen, Reinhard. Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das Experiment, S. 198.
157
Wagner, Cosima, Tagebücher Bd. II; S. 1059; zitiert nach Haschen, Reinhard. A.a.O., S. 201.
Schlüsse am Schluss Seite 54

8 Schlüsse am Schluss

Wie ersichtlich, ist Liszt weniger sozial und politisch gesehen ein Revolutionär, will man nicht
schon seinen von Heine satirisch gegeißelten Versuch, „sich überall dort hin[zu]wenden, wo er das Licht zu
bemerken glaubt“ – insbesondere im Umkreis der Julirevolution, als revolutionären Akt werten.
Revolutionärer „Aktivist“ ist Liszt vor allem musikalisch.

Liszts Vielseitigkeit und seine mit allen Sprüngen und Rückwendungen des Gangs der Geschichte
sich wandelnden Ansichten bleiben jedoch auch in historischer Perspektive ein interessantes
Zeitporträt, und das gilt für Liszts Person sogar im wörtlichen Sinne: Keine Persönlichkeit im 19.
Jahrhundert ist so oft porträtiert, karikiert oder photographiert worden wie Liszt. Seine Berühmtheit
ließ ihn mitten unter den Männern wandeln, die zusammen mit Liszt das Jahrhundert prägten und
wandelten. Liszt hinterließ eine riesige Schülerschaft (was unter anderem auch daran liegt, dass er
von seiner Virtuosenzeit an immer umsonst unterrichtete) und prägte damit die Kunst des
Klavierspiels bis ins 20. Jahrhundert. Ich muss Alfred Brendel, der Liszt in vielen Essays verteidigt
hat und unter anderem auch für eine neue Blütezeit von Liszts Stücken verantwortlich ist (sein
Klavierlehrer, Edwin Fischer, war der Schüler eines Liszt-Schülers), völlig recht geben, wenn er
behauptet, dass jeder (professionelle) Pianist, sei es technisch, sei es musikalisch, sei es durch die
Größe des Repertoires oder nur durch die von Liszt entwickelte Didaktik des Meisterkurses, in
irgendeiner Form „von Liszt herkommt“. Mit seinen harmonischen Neuerungen hat Liszt noch
direkt auf den musikalischen Impressionismus gewirkt - namentlich auf Debussy, den er noch
kennenlernte. Seine „Feux Follets“, „Au bord d'une source“ und „Les Jeux d'eaux de la Villa
d'Este“ sind der Beweis dafür. Letzteres verarbeitete Debussy in seiner „L'isle joyeuse“ - die
Begleitfigur zum Hauptthema stimmt mit Teilen aus Liszts „Les Jeux d'eaux de la Villa d'Este“
völlig überein. Weitere musikalische Entwicklungen antizipierte Liszt, ohne dass eine direkte
Wirkung angenommen werden kann, schon weil insbesondere sein Spätwerk lange nicht zur
Kenntnis genommen wurde.

Obwohl er sich häufiger bei einzelnen Ansichten widersprach, blieb Liszt jedoch einem Ideal
immer treu: Getreu der christlichen Nächstenliebe versuchte er immer wieder, den sozial
Schwachen durch Wohltätigkeitskonzerte zu helfen. Oftmals vermachte er sämtliche und meist
beträchtliche Einnahmen den Armen – und lebte selbst meist bescheiden. Dass Liszt kein
Revolutionär im Sinne von Marx und Engels war, nicht zur intellektuellen Avantgarde
geschichtlich vorwärtsdrängender Kräfte wurde, lässt sich auch aus der naiv wirkenden Utopie
erklären, aus der dieses Ideal entspringt. Ein praktisches, organisatorisches „Was tun?“ (Lenin)
konnte er nur im Blick auf die „Stellung des Künstlers“ und der Kunst entwerfen und auch hier nur
in Teilen realisieren. Aber gerade weil Liszt nicht der Revolutionär auf politisch-gesellschaftlicher
Schlüsse am Schluss Seite 55

Ebene war, sondern in der fernab liegenden, fast meta-physischen Welt der Musik, müsste man mit
Liszt die Umwälzungen in einem der wichtigsten Teile der Musikgeschichte verkennen, würde
man den politisch-gesellschaftlichen Revolutionsbegriff zum alleinigen Maßstab der
entscheidenden Bewegungen in der Geschichte des Menschen machen. Der Mensch ist eben nicht
auf die materielle Welt beschränkt und seine „Produktivkräfte“ sind wohl doch nicht vornehmlich
ökonomische.
Nachwort Seite 56

Nachwort

Ich möchte mich an dieser Stelle im Nachhinein für die Vielzahl der Anmerkungen entschuldigen.
Das heißt jedoch nicht, dass ich deren Bedeutung zurücknehme, denn ich glaube, das Thema lässt
sich in seiner Komplexität durch weiterführende Randbemerkungen, wenn nicht vollständig
umfassen, so doch um ein gutes Stück mehr erfassen. Zudem sind es gerade diese Anmerkungen, in
denen es erlaubt ist, auf einige Kuriositäten der Musikgeschichte anzuspielen, die so viel Spaß
machen: Wer hätte gedacht, dass man zu Paganinis Zeiten glaubte, dass dieser eine Geigensaite aus
dem Darm seiner Frau gedreht hat. Kann man die Dämonie der Wirkungsmacht von Musik – und
die schwarze Lust ihres Publikums an deren Kitzel – in ein plastischeres Bild fassen?

Im Rückblick auf die Arbeit bereue ich keineswegs, dass ich sie gemacht habe. Selbst wenn keine
Aussicht auf eine Notenverbesserung bestünde, hätte ich eine ähnliche angefertigt. Es ist nicht
zuletzt dieses wissenschaftliche Arbeiten zwischen verschiedenen Fächern, was mir am meisten
Spaß macht. Ich konnte meine Freude am scheinbar beiläufigen Detail des literarischen Textes,
meine Lust an der Entschlüsselung versteckter Bezüge, mein Interesse für den historischen
Zusammenhang philosophischer, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen, meine
Neugierde auf die inneren und äußeren Widersprüche der menschlichen Charaktere, meinen
Ehrgeiz, mich am Klavier technischen Herausforderungen zu stellen – und mein Verlangen nach
Musik, Musik, Musik … verbinden. Kein Klausurthema sperrte mich in die Grenzen eines Faches,
keine Uhr tickte mir den Takt, und ich durfte mich in meinen langen Sätzen verirren. Es gab immer
noch einen nächsten Tag . . .

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