Sie sind auf Seite 1von 5

ZGMTH Zeitschrift der

Gesellschaft für Musiktheorie

Immanuel Ott
»Johannes Menke, Kontrapunkt I:
Die Musik der Renaissance (= Grundlagen der Musik 2),
hg. von Felix Diergarten und Manuel Gervink, Laaber 2015«
ZGMTH 12/1 (2015)
Hildesheim u. a.: Olms
S. 129–132

http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/801.aspx
REZENSIONEN

Johannes Menke, Kontrapunkt I: Die Musik der Renaissance


(= Grundlagen der Musik 2), Laaber 2015

Der Kontrapunkt der Renaissance ist eine schen Ansätzen, denen viele Kontrapunkt-
Kerndisziplin des musiktheoretischen Curricu- lehren bislang gefolgt sind: dem Gattungs-
lums. Nach Publikationen wie Thomas Dani- kontrapunkt und dem sukzessiven Aufbau
els in erster Auflage 1997 erschienenem Kon- der Stimmenzahl vom zweistimmigen zum
trapunkt. Eine Satzlehre zur Vokalpolyphonie (mindestens) vierstimmigen Satz. (15) Den
des 16. Jahrhunderts, dem 2002 noch Zwei- Verzicht auf den Gattungskontrapunkt be-
stimmiger Kontrapunkt: Ein Lehrgang in 30 gründet Menke mit dem Hinweis auf die äs-
Lektionen desselben Autors nachfolgte, und thetischen Unzulänglichkeiten der auf diese
zuletzt Thomas Krämers Kontrapunkt. Poly- Weise entstehenden Sätze. Dass der mehr als
phone Musik in Selbststudium und Unterricht zweistimmige Satz im Zentrum des Buches
aus dem Jahre 2012 hat nun Johannes Men- stehen soll, wird wiederum damit legitimiert,
ke, Professor für Historische Satzlehre an der dass »die Musik vor allem der zweiten Hälfte
Schola Cantorum Basiliensis, den Band Kontra- des Cinquecento nur selten zweistimmig« sei
punkt I: Die Musik der Renaissance vorgelegt. und »Zweistimmigkeit schwerer [ist] als man
Das Buch gliedert sich in eine Einleitung, denkt.« (15 f.) Dass es möglich ist, von Anfang
vier Kapitel als Hauptteil und ein Nachwort an den mehr als zweistimmigen Satz ins Auge
sowie Autoren- und Werkregister. Im ersten zu fassen, verdankt sich einer besonderen
Kapitel »Allgemeine Grundlagen« werden Perspektive, die Menke in Bezug auf ›Kon-
das Tonsystem, die modale Ordnung und die trapunkt‹ einnimmt: »In vielen Lehrwerken
Notation der Musik der Renaissance thema- fällt auf, dass Kontrapunkt nicht die Lehre der
tisiert. In den darauf folgenden drei Kapiteln kunstvollen Polyphonie ist, sondern zunächst
entwickelt der Autor einen Zugang zur Mu- einmal nur vermittelt, wie Mehrstimmigkeit zu
sik des 16. Jahrhunderts, der sich bislang in organisieren ist.« (14 f.) Die hier angesproche-
Lehrbüchern dergestalt nicht fand. So nutzt ne Art der Organisation von Mehrstimmigkeit
Menke die historisch verbürgte Differenzie- bezieht sich auf den vertikalen Aspekt von
rung zwischen dem ›Contrapunctus simplex‹ Klangorganisation, denn der »einfache Kont-
(gleichnamiges zweites Kapitel), einem Note- rapunkt entspricht im Grunde dem, was heute
gegen-Note-Satz, und dem ›Contrapunctus die sogenannte Harmonielehre leistet: Er be-
diminutus‹ (gleichnamiges drittes Kapitel), schreibt, wie Klangfolgen organisiert werden.«
der diminuierten Form des ›Contrapunctus (14) Der Begriff ›Kontrapunkt‹ beschreibt des-
simplex‹. Im vierten Kapitel »Musica poetica« halb nach Menke auch nicht unbedingt ›Po-
werden die zuvor entwickelten Satztechni- lyphonie‹ (177), sondern einen »Gerüstsatz,
ken und Setzweisen auf ihre Verwendung in der durch Ornamente weiter ausgeschmückt
größeren Formen hin dargestellt. Das Buch wird«. (70)
schließt mit einem »Nachwort«, das vor allem Dieser Auffassung von ›Kontrapunkt‹ ent-
die Empfehlungen an junge Kontrapunktschü- sprechend wird nur eine Auswahl der im
ler und Komponisten aus Gallus Dresslers 16. Jahrhundert genutzten Satztechniken er-
Præcepta musicæ poëticæ (1563–64) enthält. fasst. Besonders fokussiert werden dabei sol-
Mit diesem inhaltlichen Aufbau nimmt che, die in deutlicher Beziehung zu den Tech-
Menke ausdrücklich Abstand von methodi- niken des ›Contrapunto alla mente‹ stehen

ZGMTH 12/1 (2015) | 129


R E Z EN S I O N EN

und die später im Rahmen des Generalbasses Der Unterschied der Betrachtungsweisen
in anderer Form erneut in Erscheinung treten. ist allerdings im Gegenstand selbst ange-
Betrachtungen über die Bildung stilistisch an- legt, denn die Musik des 16. Jahrhunderts,
gemessener melodischer Linien oder über das eines Jahrhunderts, das mit seiner Vielzahl
Verhältnis der Stimmen zueinander finden sich von musikalischen Stilen, Auffassungen und
in Menkes Lehrgang hingegen nur am Rande. Praktiken möglicherweise als ›Übergangszeit‹
Diese inhaltliche Ausrichtung hat ihre Entspre- gelten darf, kann sowohl vom 15. Jahrhundert
chung in den abgedruckten und zur Erläute- als auch vom 17. Jahrhundert aus betrachtet
rung herangezogenen Musikbeispielen. Sie werden. An den Kompositionen eines Lasso
sind in den meisten Fällen Theorietraktaten, oder Palestrina lässt sich ebenso die ältere (im
nicht aber Kompositionen der Zeit entnom- herkömmlichen Sinne) ›polyphone‹ Schreib-
men und nicht selten von geringer ästheti- art beobachten wie das Entstehen ›proto-ba-
scher Qualität, weil sie nur zur Demonstration rocker‹ Merkmale.
eines satztechnischen Sachverhalts entwickelt Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung
worden sind (vgl. 91 und 228). Kompositio- und sollten in einem modernen Kontrapunkt-
nen von Palestrina oder Morales erscheinen lehrbuch einander ergänzend nebeneinander
nur in Ausschnitten, weshalb es für den Le- (und nicht gegeneinander) gestellt werden.
ser schwierig sein dürfte, ein Gespür für die Begrüßenswert ist folglich, dass Menke satz-
Wechselbeziehung der Linien in einer mehr- technische Phänomene des 16. Jahrhunderts
stimmigen Komposition, kurz: für Polyphonie, diskutiert, die in dieser Zeit eine große Rolle
zu erlangen. Allerdings ist dieses Lernziel vom spielen, von Daniel aber nicht oder nur am
Autor, demzufolge ›Polyphonie‹ wie erwähnt Rande erwähnt werden, so etwa Gymel, Faux-
durch die Verzierung eines ›Contrapunctus bourdon oder Dezimensätze. Es wäre aller-
simplex‹ im Rahmen des ›Contrapunctus di- dings wünschenswert gewesen, dass Melodik
minutus‹ entsteht, erklärtermaßen auch nicht und der Aspekt des Zusammenspiels der me-
beabsichtigt: »Dadurch wird es möglich, Stim- lodischen Linien innerhalb einer Komposition
men in rhythmischer Hinsicht unterschiedlich einen größeren Raum in der Diskussion erhal-
zu gestalten, d. h. damit ist erst die Vorausset- ten hätten. Auch wenn Menkes Ansatz durch
zung für deutlich wahrnehmbare Polyphonie die inhaltliche Konzentration ein hohes Maß
geschaffen.« (177) an Stringenz aufweist, wird dadurch die Musik
So entwickelt Menke – gestützt auf be- des 16. Jahrhunderts von ihren historischen
stimmte historische Aussagen – ein Bild von Vorläufern abgespalten, und der Durchbruch
›Kontrapunkt‹, das Thomas Daniel in der Ein- der satztechnischen Neuerungen, der sich
leitung seines Buches noch kritisiert hatte: im Laufe dieses Jahrhunderts anbahnt, in den
»Drittens begegnet die Beschäftigung mit der Hintergrund gedrängt. Schon in der nicht un-
›Klassischen Vokalpolyphonie‹ der Gefahr, problematischen Gleichsetzung der Komposi-
daß Kontrapunkt zu einer ›Harmonielehre mit tionsweise der zwischen 1475 und 1525 gebo-
Zwischentönen‹ verkommt.«1 Gewissermaßen renen Komponisten mit der von Monteverdi
stehen sich Menkes und Daniels Buch antipo- so genannten »Prima prattica« (12) wird eine
disch gegenüber: Während Menke die Musik historisch spätere Perspektive eingenommen:
des 16. Jahrhunderts von der vertikalen Klang- »Die Generation um Ockeghem übte als Ge-
konstruktion aus betrachtet, beabsichtigt neration der ›Großeltern‹ mehr die Funktion
Daniel, die melodischen Linien eines mehr- einer zwar anerkannten, aber nicht im einzel-
stimmigen Satzes »nach Maßgabe der Zusam- nen rezipierten Autorität aus, die Generation
menklänge zu organisieren, jedoch ohne sich von Josquin und vor allem dieser selbst wurde
von Akkord zu Akkord fortzutasten.«2 zwar allerseits bewundert, man schlug aber
natürlich auch eigene, neue Wege ein. Diese
1 Daniel 2002, 12. Wege führen letztendlich zum Barock.« (12 f.)
2 Ebd. Die Konsequenz ist, dass die satztechnischen

130 | ZGMTH 12/1 (2015)


R E Z EN S I O N EN

Bedingungen der Zeit um 1600 und in diesem kompositionen dargestellt und erläutert oder
Zusammenhang vor allem der Generalbass für wenn er dem Buch eine Liste mit geeigneten
zu maßgeblich erachtet werden. Auch wenn Cantus firmi beigegeben hätte. So aber erweist
der Generalbass als Endpunkt einer Entwick- sich das Fehlen von Übungen und Übungsma-
lung anzusehen ist, die spätestens im 16. Jahr- terial als größte Schwäche des Buchs. Ohne
hundert beginnt, erscheint es unangemessen, praktische Anwendungsmöglichkeiten ver-
die Musik dieser Zeit allein von ihm aus zu bleibt der Leser weitestgehend in einer rezi-
betrachten und beispielsweise die ›Sextak- pierenden Haltung. Zu zeigen, »was man alles
korde‹ am Anfang des Gloria aus Palestrinas machen kann« und »wie man es macht« (86),
Missa Aeterna Christi munera in Verbindung sind unterschiedliche Aufgaben, und während
zu Francesco Bianciardis Breve Regola zu set- Menkes Buch die erstgenannte mit interes-
zen (171). Menkes Legitimierungsversuch für santen Ergebnissen angeht, bleibt die zweite
dieses Vorgehen überzeugt letztendlich nicht: ungelöst.
»Mit Generalbass-Augen auf den Kontrapunkt Was die äußere Form des Buchs angeht,
zu blicken ist daher nicht unhistorisch, son- stört die Vielzahl der typographischen, ortho-
dern die Perspektive der Generation der um graphischen und grammatikalischen Fehler.
1600 aktiven Musiker.« (166) Denn was für So finden sich durch den gesamten Band
die Komponistengeneration um 1600 stimmen hinweg Verwechslungen von Gedanken- mit
mag, muss es nicht in Bezug auf eine frühere. Bindestrichen, doppelte und gelegentlich
Es bleibt unklar, welcher Zweck innerhalb des fehlende Leerzeichen sowie falsche Apo­
Buches mit dieser Erklärungsstrategie verfolgt stroph-Setzungen. Neben Tippfehlern wie
wird, zumal sich die interessantesten Einblicke »Richard Wagners Liebensdrama« (80) tau-
und Erkenntnisse in Menkes Buch immer dann chen falsch geschriebene Fachbegriffe auf,
ergeben, wenn ein satztechnisches Phänomen etwa »Prothus« statt »Protus« (43) und »Conn-
tatsächlich kontrapunktisch erklärt wird. Sol- trapunctus« (272). Auf Seite 185 ist die Feh-
che Abschnitte gewähren neue und lehrreiche lerdichte besonders hoch: die Schreibweise
Einblicke. Besonders hervorzuheben sind in »Missa de beate Virgine« statt »Missa de Bea-
diesem Zusammenhang die Ausführungen ta Virgine« (vgl. 180), das überflüssige »s« bei
zur Kadenzbildung (115–130 und 208–219) »Charakters«3 sowie die beiden letzten No-
und die Katalogisierung der Transitusfiguren tenbeispiele, die in der Unterstimme statt auf
(190–203). dem Ton d mit dem Ton e enden. Schließlich
Die Beschränkung auf die vertikalen Be- schmälert der Verzicht sowohl auf ein Sach-
dingungen des musikalischen Satzes und der register als auch auf ein Literaturverzeichnis
weitgehende Verzicht auf originale Musik- den Nutzen des Buches erheblich. Letzteres
beispiele führen zu einem grundsätzlichen wiegt schwer angesichts einiger unvollständi-
Problem: Das Buch kann den Anspruch, ein ger Fußnoten (etwa auf Seite 17, Anm. 2 oder
Kontrapunkt-Lehrbuch des 16. Jahrhunderts auf Seite 251, Anm. 7).
zu sein, nur bedingt erfüllen, weil es auf eine Menkes Buch liest sich wie eine Vorberei-
Darstellung der Verknüpfungsmöglichkeiten tung auf den bislang (Juli 2016) noch nicht er-
der im Einzelnen beschriebenen satztechni- schienenen Band »Kontrapunkt II: Die Musik
schen Phänomene verzichtet. Nur im Zusam- des Barock«.4 Es steht zu erwarten, dass sich
menhang mit den Kadenz- und Satzmodellen im Zusammenspiel beider Bände reizvolle
tauchen Hinweise zu der Frage auf, nach Perspektiven auf die Musik des 17. Jahrhun-
welchen Kriterien Klänge aufeinanderfolgen derts ergeben werden. Der vorliegende Band
können. Ohne diese Information ist es jedoch
nahezu unmöglich, einen musikalischen Satz 3 »Dann soll die Unterstimme ihren Charakters
mit den dargestellten Techniken zu verfassen. [sic] als Cantus firmus verlieren und ebenfalls
Diesem Problem hätte der Autor begegnen diminuiert werden« (185)
können, wenn er die Setzweisen an Beispiel- 4 Der Band ist für Januar 2017 angekündigt.

ZGMTH 12/1 (2015) | 131


R E Z EN S I O N EN

gibt deshalb als Lesebuch neue und interes- ser Zeit zu sein, wird es jedoch nur bedingt
sante Einblicke in einen bestimmten Aspekt gerecht.
der Musik des 16. Jahrhunderts, dem An-
spruch, ein Lehrbuch zum Kontrapunkt die- Immanuel Ott

Literatur
Daniel, Thomas (2002), Kontrapunkt. Eine Satzlehre zur Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts,
2. Aufl., Köln: Dohr.

132 | ZGMTH 12/1 (2015)

Das könnte Ihnen auch gefallen