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Christian Utz

Vom gekerbten zum offenen Raum


Gedanken zum Verhältnis von Schichtengewebe, Intertextualität und kulturellem Kontext in
der Musik

Es mag erstaunen, dass trotz der kaum zu übersehenden Omnipräsenz eines Schichten-
und Schichtungsdenkens in der neuen Musik seit ihren Anfängen um 1900 bis heute nur
zaghafte Ansätze zu einer Theorie musikalischer Stratifizierung existieren. Das mag zum
einen daran liegen, dass Schichtungsverfahren in der Musiktheorie und -analyse oft unter
konventionellere Begriffe wie Struktur oder Polyphonie subsumiert werden, möglicherweise
aber auch daran, dass sie aufgrund inhärenter Regel- und Grenzüberschreitungen meist
schwer generalisierbar sind. Denn eine Abgrenzung zwischen Schichtungsverfahren und
polyphonen Verfahren wäre etwa darin festzumachen, dass ein in diesen stets
unausgesprochen vorausgesetztes übergeordnetes Regel- oder Bezugssystem (etwa die
verschiedenen Arten von Tonalität) in jenen sehr leicht torpediert, außer Kraft gesetzt
werden kann. Anders formuliert könnte man von Schichtenphänomenen in der Musik dann
sprechen, wenn einzelne Ebenen simultan als autonome, individualisierte „Personen“ aus
dem Gefüge der Musik hervortreten, in ihrer Heterogenität hörend erfassbar werden und ihre
Querbeziehung nicht trivial, evident oder systemimmanent ist. Dabei ist das ständige
Oszillieren zwischen solchen Prozessen der Konturierung von Substrata und dem Umschlag
in den texturhaften Eindruck eines Gesamtklangs für viele kompositorische
Schichtungsverfahren charakteristisch und lässt sich mit Helmut Lachenmanns
Unterscheidung zwischen Struktur- und Texturklang in Verbindung bringen, wobei in
unserem Zusammenhang die von Lachenmann betonte Verzahnung der verschiedenen
Klangtypen1 von Bedeutung ist. Die Beziehung zwischen Detail und Ganzem ist im
Strukturklang nicht-linear und übersummativ, der Gesamtcharakter ist keine
Pauschalqualität, sondern etwas „virtuell Neues“ und bedarf einer „formalen Projektion in
einen abzutastenden Zeit-Raum“.2 Gerade diese Prozesshaftigkeit, die Klang- und
Formvorstellung im Strukturklang zur Deckung kommen lässt, ist auch für die hier anvisierten
Schichtungsverfahren vorauszusetzen. Gemeint sind also nicht automatisierte Schemata, die
kompositorisches Denken ersetzen, sondern Netzwerke, die neuartige, überraschende und
nicht-lineare Verknüpfungen ermöglichen − eine Dimension, die durch Lachenmanns
bekannte Formulierung der Struktur als einer „Polyphonie von Anordnungen“ nur
unzureichend erfasst wird, da mit ihr ein territorialisierter, „gekerbter“ musikalischer Raum
abgesteckt wird, nämlich die (potentiellen) Regelsysteme der mittels „Polyphonie“

1
Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966 - 1995, hrsg. von Josef
Häusler. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, S. 20.
2
Ebda., S. 17f.

1
organisierten „Anordnungen“. Die angesprochene Autonomie der mittels komplexer
Schichtungstechniken verknüpfter Gestalten oder Personen dagegen kann diese mitunter zu
eigenständigen musikalischen Texten werden lassen, oder − umgekehrt betrachtet − die
kompositorische Versuchsanordnung, unterschiedliche musikalische Texte oder Kontexte
miteinander in nicht-lineare Beziehungen setzen zu wollen, kann zu komplexen
Schichtungsverfahren führen, deren Resultat eine weitreichende Deterritorialisierung, ein
offener musikalischer Raum sein kann. Die darin entstehende Intertextualität hebt sich dabei
wesentlich von konventionelleren Montage- oder Collageverfahren ab, kann sich aber unter
Umständen auch deren Plastizität und deren Verfremdungsverfahren vorübergehend zu
eigen machen.

In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass Komponisten, deren Musik „wuchernde“
Tendenzen ausbildete und dadurch von zunehmend komplexen Schichtungsverfahren
bestimmt wurde, versuchten, die hörend meist schwer zu erfassenden Tempo-, Metrum oder
Timbreschichtungen durch exterritoriale Zitate oder verwandte intertextuelle
Verweisungstechniken schärfer zu konturieren. Hintergrund für diesen Wunsch war also die
starke Tendenz zum Texturhaften, die sich als eine Konsequenz komplexer Schichtungen
beobachten ließ, etwa in der Musik Bernd Alois Zimmermanns. Eine Problematik seiner
Zitatverfahren ließe sich vielleicht darin festmachen, dass die gezielt dekontextualisierten
zitierten Melodien und Idiome zumeist in ein rigoroses Gefüge eingepasst und damit
territorialisiert werden − ihre Funktion ist eine Verdeutlichung, nicht eine Kritik des
Schichtungsgefüges. Andererseits wird ihr exterritorialer Charakter innerhalb der
Grundidiomatik von Zimmermanns Musiksprache durchaus vernehmbar, ihr
systemsprengendes Potenzial aber kann sich nur selten durchsetzen − wobei hierbei auch
aufführungspraktische Aspekte eine Rolle spielten, etwa der Unwille der Interpreten, die
polytemporale Schichtung in Zimmermanns Soldaten oder Dialogen tatsächlich umzusetzen.
Noch mehrdeutiger ist das Verhältnis von Schichtungstechnik und Intertextualität im Werk
von Charles Ives. Ives’ geistreiche musikalische Wortspiele schaffen eine parataktische,
konfliktreiche formale Spannung, in der Selbst-, Fremd- und Pseudozitate ununterscheidbar
werden. Die Doppeldeutigkeit der Zitate oder Zitatfragmente ist dabei entscheidend durch
das Ineinandergreifen von Symbolik und Struktur bestimmt und führt so zu einem
einzigartigen Wuchern, einer ständigen taktilen Verschiebung des musikalischen Raums. Die
im 2. Satz der 4. Symphonie bei Zif. 8 einsetzende Montage aus insgesamt sechs
Hymnenzitaten bzw. -allusionen und einem Selbstzitat legt über den bei Zif. 7 begonnenen
Adagioabschnitt im 3/2-Takt, der den Marsch von Fußpilgern symbolisiert, eine
Allegroschicht im 4/4-Takt, aus dem sich zunächst die stark verfremdete Beulah Land-
Hymne in den Trompeten (T. 43-45, G-Dur), dann in den Posaunen (T. 47-50, F-Dur)

2
heraushebt. Nach 8 Takten verschwindet die Allegro-Schicht plötzlich mittels einer
„Klangausblendung“ und die Adagio-Schicht der Fußpilger, denen der Ruß der
vorbeifahrenden Allegro-Eisenbahn ins Gesicht geblasen hat, kann ihren Weg fortsetzen:
Eine multidimensionale Schichtung mit Verbindungslinien zwischen und innerhalb der
Temposchichten, aus der doch immer wieder konturierte Gestalten heraustreten mit einem
programmatischen Kontext, der sich zugleich auf philosophische Grundkonzepte beziehen
lässt (die flächige, beharrende Adagio-Schicht entspricht dem Streichersatz in The
Unanswered Question und steht für ein transzendentes, überzeitliches Prinzip, die
vorüberrauschende Allegro-Schicht für den vergänglichen Taumel der Welt). Erst im
Zusammenwirken all dieser Faktoren, die zu einer „Überdetermination“3 der musikalischen
Struktur führen, ist Ives’ einzigartige Form von intertextueller Schichtung fassbar.
Die transzendentalistisch geprägte Symbolik stellt sich zwar, wie angedeutet, als
entscheidende Motivation von Ives’ multipolaren Schichtungsverfahren dar, dient aber
zugleich einer Auflösung dieser Multipolarität im affirmativen, emphatischen Umschlag der
Heterogenität in eine hierarchische Struktur bzw. des offenen Raums in einen gekerbten
Raum − wie etwa im Finale der 4. Symphonie oder am Ende vieler anderer Werke, wenn die
„Urform“, der Urgrund der Musik als einzige, Reinheit symbolisierende Schicht der Musik
zurückbleibt.4 Dies weist darauf hin, dass die Komplexität eines Schichtengewebes und
intertextueller Querbezüge allein nicht für ästhetische Qualität bürgt. Entscheidend sind
vielmehr die, wie immer auch symbolisch konnotierten, formalen Prozesse, die durch sie
ausgelöst, ermöglicht werden.

Bei Zimmermann und noch stärker bei Ives kann man also auch beobachten, wie die in den
Schichtungsverfahren verknüpften musikalischen Texte oft in musikalisch-kulturelle Kontexte
umschlagen − ein oft von den Komponisten bewusst kultivierter Abstraktionsprozess, der
zweifellos mit der mitunter reichlich plumpen Wirkung allzu eindeutiger Zitate
zusammenhängt. Während ein solches Zitat sich in einer Weise dem Hörer aufdrängen
kann, dass es das Schichtengewebe als Ganzes verflacht und so unterminiert, bietet der
Kontext, intelligent artikuliert, den Vorteil grundsätzlicher Ambiguität. Diese wird besonders
dort relevant, wo unterschiedliche musikkulturelle Kontexte miteinander in Beziehung gesetzt
werden sollen, etwa in Werken für westliche und nicht-westliche Instrumente. Hier stellt sich
die Frage, ob eher kulturelle Differenz, also Heterogenität, oder die Verknüpfung des
Differenten durch die Schichtungsverfahren akzentuiert wird bzw. in welcher Weise
überhaupt die Thematisierung kultureller Texte und Kontexte vorgenommen wird.

3
Wolfgang Rathert, Charles Ives. Darmstadt : Wiss. Buchgesellschaft, 21996, S. 98.
4
Vgl. Lawrence Kramer, Classical Music and Postmodern Knowledge. Berkeley u.a.: University of
California Press 1995, S. 192-195.

3
Unter ostasiatischen Komponisten ist spätestens seit Tōru Takemitsus November Steps
(1967) die kulturgeschichtlich dringliche Tendenz zu beobachten, der Gravitationswirkung,
der Vereinnahmungsgeste des westlichen Musikdiskurses nachhaltig eine besondere
Akzentuierung des kulturell Nicht-Konsumierbaren, Differenten entgegen zu setzen. Dabei ist
man mittlerweile über das Paradox von Takemitsus Werk deutlich hinausgelangt, das sich
darin zeigt, dass der Komponist eine Koexistenz, ein Nebeneinanderschichten von
japanischen Soloinstrumenten und westlichem Orchester anstrebte, letztlich aber ein zartes
Gewebe weicher Übergänge zwischen diesen vermeintlich separaten Welten komponierte.
Takemitsus Übergänge sind linear, modulatorisch, transformatorisch und verbleiben dadurch
im „gekerbten“ Raum, ihnen fehlt die „zweite Wirklichkeit“, ein über solche einfachen
Verbindungslinien hinaus weisendes polylineares Schichtengewebe. Damit soll nun nicht
behauptet werden, die Anordnung eines solchen Gewebes allein garantiere bereits den
angestrebten offenen musikalischen Raum. Im Gegenteil, die hohe Dichte des damit
suggerierten Schichtenmodells scheint sogar einen Widerspruch zum liubai-Prinzip, dem
Freilassen des Raumes, zu dem Gedanken, dass das Zentrum der Kalligrafie dort ist, wo
keine Schrift ist, darzustellen. Man darf die Dichte, die Multipolarität hier also nicht nur in der
Komplexität des Partiturbilds suchen. Verdichtung kann auch im Zwischenraum von
Partituranweisungen, auralen instrumentalen Traditionen und konzisen
Kommunikationsmodellen liegen, in einem konzeptuellen eher als in einem
kompositionstechnischen Schichtengewebe also, wie etwa in den sozial-kommunikativen
Experimenten Yūji Takahashis oder José Macedas.5 Daneben gibt es aber sehr wohl auch
gelungene materiale interkontextuelle Stratifizierungen, etwa in den besten Werken Tan
Duns wie Orchestral Theatre I: Xun (1990) oder manchen Szenen aus Marco Polo (1991-95)
oder in Qin Wenchens He-Yi (1999) für Zheng und Kammerensemble.6 Der gemeinsame
Nenner dieser Werke ließe sich vielleicht darin fassen, dass unterschiedliche, zueinander
heterogene Idiome permanent durch ihren „Ton“ präsent sind, ohne jemals direkt zitiert zu
werden, wobei ständige Transformationen einer neu gehörten chinesischen Musiktradition in
zentrale Gestaltbildungsmittel aus dem Bereich der westlichen neuen Musik (und umgekehrt)
stattfinden. Gerade Tan Duns Werke zeigen aber freilich auch, wie dünn die Grenze
zwischen solchen Verdichtungen und jenen bereits oben skizzierten Momenten ist, in denen
die Direktheit der heterogenen Texte den gespannten und geöffneten Raum kartenhausartig
in sich zusammenfallen lässt.

5
Vgl. dazu Christian Utz, „Aurale Überlieferung und Verschriftlichung in der Musik Yūji Takahashis
und José Macedas“, in: Musicologica Austriaca 25, 2005 (im Druck).
6
Zu Tans Marco Polo vgl. meine Analyse in Christian Utz, Neue Musik und Interkulturalität. Von John
Cage bis Tan Dun, Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 51, Stuttgart 2002, S. 460-474 zu Qins
He-Yi vgl. Christian Utz, „Gravitation und Differenz? Die interkulturelle Dimension in neuer
ostasiatischer Musik seit den 1990er Jahren“, in: welt@musik. Musik interkulturell, Veröffentlichungen
des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 43, Mainz: Schott 2004, S. 72-86.

4
Dieses Problem zeigt sich im Grunde immer dann, wenn die exponierte Idiomatik
ungebrochen und affirmativ auftritt − wozu im interkulturellen Kontext dann der Schritt zum
kulturellen Essentialismus, der mitunter auch noch nationalistisch akzentuiert auftritt, nicht
mehr weit ist. Innerhalb der europäischen Musik wurde eine solche ungebrochene
Hinwendung an ein scheinbar „abgesichertes“ Repertoire musikalischer Zeichen oder
gestischer Typen bereits in Brian Ferneyhoughs Kritik an der „Neuen Einfachheit“ artikuliert.7
Das Vertrauen auf ein solches begrenztes Repertoire, das gezielt auf bestimmte rezeptive
Fähigkeiten des Hörers zielt, bezeichnete Ferneyhough polemisch als „Pavlovschen
Semantizismus“. Die Authentizität eines musikalischen Dialekts sei durch eine solche
Interpretation der Oberfläche nicht zu rekonstruieren, entscheidend sei vielmehr eine
Wiederherstellung des Kontakts zwischen Oberflächencharakteristika und subkutaner
Triebkraft und eine kompositorische Haltung, die sich des energetischen Potenzials von
Gesten wieder bewusst würde.
Auch wenn eine Diskussion darüber, ob Ferneyhoughs eigene Musik diesen Anspruch
tatsächlich immer in gelungener Weise einlöst, durchaus geführt werden muss, so zeigt sich
doch im Bild der musikalischen Oberfläche und einem ihr inhärenten triebhaften Potenzial
ein Weg, der abschließend zu zwei meiner eigenen Werke führen soll. Im Mittelpunkt steht
dabei die Klangvorstellung einer groß angelegten Klangmasse, die vergleichbar einem
Kaleidoskop oder einer Computeranimation ihre Zusammensetzung und damit ihre
Oberflächenstruktur, ihren Vorder- und Hintergrund, ihre Höhe, Tiefe und „Breite“ ständig
verändert. Diese dreidimensionale Situation machte eine intensivere Auseinandersetzung mit
der Konzeption verzahnter Schichten notwendig, die letztlich auch zu einer Einbeziehung
einfacher algorithmischer Formalisierungen führte.

Meine Komposition Unsichtbares Theater aus dem Jahr 2001 für sieben Instrumente (4
Bläser, 2 Streicher und Klavier) und Live-Elektronik (Max/MSP) geht von einem bekannten
Stück des Repertoires der koreanischen Hofmusik aus, dem Satz Sang-R’young-San aus
der bekannten Suite Yongsan Hoesang, sowie von Isang Yuns Duo together (1989) für
Violine und Kontrabass. Die Hauptmelodie von Sang-R’young-San liegt in den beiden tiefen
Zithern Kayagum und Komungo und wird von den anderen Instrumenten heterophon
umspielt, wobei die Umspielungen bereits zu Anfang sehr eigenständig werden und sich zu
einer gewebeartigen Textur verbinden. Eine ständig wechselnde Metrik wiederholt die Folge
von 6-4-4-6 Grundwerten. Für die Basisstruktur meines Werkes habe ich zunächst die
Grundmelodie aus Kayagum und Komungo notiert und zwar die vier Strophen des Satzes
untereinander, um Analogien und Abweichungen ersichtlich zu machen. Als „Gegenstimme“

7
Brian Ferneyhough, Form, Figur, Stil eine vorläufige Einschätzung, in: MusikTexte 37 (1990), S. 7-
10.

5
dazu erscheint der abstrahierte Tonhöhenprozess aus dem 2. Satz von Isang Yuns
Together. Es handelt sich um vier Abschnitte von zunehmender Länge, die allerdings in der
Realisation dann durch eine Temposteigerung wieder ausgeglichen bzw. sogar ins Gegenteil
verkehrt werden.
Ein entscheidender kompositorischer Gedanke war nun, die variantenreiche und rhythmisch
sehr flexible und dadurch auch unvorhersehbare Art der Heterophonie der koreanischen
Hofmusik durch eine Art der Zeitschichtung weiterzudenken, die exakte rhythmische
Synchronisierung vermeidet. Grundlage dafür bietet ein Metrum-Tempo-Schema, das auf
dem metrischen Grundmodell der koreanischen Vorlage 6-4-4-6 beruht, wobei das Ensemble
in drei Gruppen geteilt ist (4 Bläser, 2 Streicher sowie Klavier mit Elektronik). Während die
Bläsergruppe immer den 6/4-Takt beibehält und alle 2 Takte das Tempo im Verhältnis 2:3
bzw. 3:2 ändert, wechseln die Streicher im selben Abstand bei gleichbleibendem Tempo
zwischen einem 9/4 und einem 6/4-Takt. Das Klavier wiederum steht zum Schema der
Bläsern im Verhältnis 2:3.
Durch den sehr freien Umgang mit dem vorgegebenem Tonhöhenmaterial und einer
„Radikalisierung“ des Heterophonie-Prinzips ergibt sich bereits kurz nach Beginn eine sehr
hohe notationelle und klangliche Dichte. Wichtig ist dabei, dass die Notation zwar so exakt
wie möglich realisiert werden soll, es aber nie um mechanische oder mathematische
Exaktheit geht, sondern vielmehr um das ständige Pendeln zwischen der Konzentration auf
den eigenen Part und einem gemeinsamen „Atmen“. Dieses ist vor allem zu Beginn eines
jeden Taktes von Bedeutung und soll vom gesamten Ensemble sehr bewusst ausgeführt
werden (allerdings ohne eine wirklich auffallende Zäsur oder Verlangsamung zu erzeugen).
Dazu tragen die aus dem koreanischen Modell analog übernommenen perkussiven Akzente
bei. Die Elektronik nähert die Tonhöhen des Klavier durch einen Pitch-Shifting-Effekt der
ständig gleitenden, bewusst instabilen Tonhöhengestaltung der anderen Instrumente an.
Entscheidend ist nun nicht die Verstrebung dieser Schichten als solche, sondern vielmehr
der Formprozess, der aus der so erzeugten inneren Spannung hervorgeht. Während das
Schichtengewebe zunächst die lineare Zeitlichkeit gleichsam aufhebt, werden nach und nach
zielgerichtete, „punktgenaue“ Prozesse eingeführt. Zum einen sind die vier
Ensembleabschnitte durch drei zunehmend das implizit Theatralische nach außen kehrende
Soli (Klavier, Violoncello, Viola) unterbrochen, aber sie entwickeln sich auch in sich weiter.
Im zweiten Ensembleabschnitt treten innerhalb einer nochmals zugenommenen Dichte
vermehrt synchronisierte Bewegungsverläufe wie das Abreißen einer spiralartig
aufsteigenden Bläserfigur oder Tonrepetitionen auf, die dem Geschehen verstärkt Kontur
geben. Dieser Prozess der Konturierung wird im dritten Ensembleabschnitt verstärkt, wobei
sich zunehmend blockhafte Ballungen und Synchronizitäten bilden. Im letzten Abschnitt ist
dann bis auf einen kurzen Einschub die polymetrische Gruppierung ganz aufgehoben, die

6
Musik „reißt“ sich los und die bis dahin tatsächlich weitgehend „unsichtbaren“ theatralischen
Anteile der Musik drängen energetisch durch Rufe und Aktionen der Musiker an die
Oberfläche.
Die Komplexität der Schichtungstechnik und der verwobenen intertextuellen Bezüge sind
hier nicht Selbstzweck, sondern lösen konzise formale Prozesse aus, wobei sie gut dazu
geeignet ist, den angestrebten Eindruck eines Pendelns zwischen Exaktheit und „Losigkeit“
wiederzugeben. Dabei kann zugleich der kulturelle Kontext der koreanischen Musik ohne
direktes Zitat, aber doch sehr nahe an einem „Originaltext“ in einen offenen musikalischen
Raum gestellt werden.

Die weiter oben umschriebene reliefartige Klangvorstellung wurde in the wasteland of minds
(2003/2004) für 2 chinesische und 4 westliche Instrumente (sheng, zheng, Klarinette in A,
Akkordeon, Violine, Violoncello) mit Live-Elektronik zum zentralen Ausgangspunkt. Das
komplexe, hier mittels einer frei gehandhabten Formalisierung gewobene Schichtennetz
dient als Leinwand, auf der ständig Farben durch Verdickung hervorgehoben, abgekratzt
oder übermalt werden. Die Schichtenverstrebungen ergeben einen äußerst kompakten, stark
energetisch aufgeladenen Gesamtklang, dessen Oberflächenstruktur sich aber ständig
wandelt. Vorder- und Hintergrund wechseln fortgesetzt und erzeugen Verschmelzungen,
Dissoziationen oder Spaltungen der instrumentalen Farben.
Von den insgesamt 10 unterschiedlichen rhythmischen Schichten sind je zwei durch das
Verhältnis 9:8 aneinander gekoppelt, wobei die Schichtenperioden im Verhältnis 6:5:4:3:2
stehen. Dadurch wird ein Prozess in Gang gesetzt, der erst nach 48 6/4-Takten (der ersten
ca. 5-minütigen Phase der insgesamt etwa 16-minütigen Musik) wieder am Ausgangspunkt
anlangt, dazwischen entsteht eine ständige innere Spannung, eine Reibungsenergie, die
kompositorisch produktiv gemacht werden kann − das Netz wird mit einer inneren Dynamik
gefüllt, in der sich die kompositorische Fantasie frei entfalten kann. Dies zeigt sich etwa an
der ständigen Varianz musikalischer Details, die doch auf acht Grundmodelle rückbeziehbar
sind. Niemals im gesamten Stück bedeutet „Periode“ dabei das mechanische Wiederholen
eines solchen Modells, sondern auch in der Substruktur findet ein ständiger
„Beleuchtungswechsel“ statt. Die Live-Elektronik ist ebenfalls in dieses Wechselspiel mit
eingebunden; sie färbt diejenigen Instrumente ein, die der langsamsten Schicht folgen und
schafft dadurch einen permanent leicht „aufgerauten“ musikalischen Untergrund.
Die kulturelle Interkontextualität beschränkt sich hier vor allem auf die aus der Organologie
der beiden chinesischen Instrumente abgeleitete harmonische Organisation. Das am Beginn
stehende 9-Ton-Zentrum geht von einer speziellen mikrotonalen Stimmung der im

7
traditionellen Kontext pentatonisch gestimmten Zither Zheng8 aus, deren Brücken
verschiebbar sind und die so vielfältige Möglichkeiten der Tonhöhensystematisierung bietet,
was sich auch in den zum Teil sehr unterschiedlichen regionalen Stimmungskonventionen
Chinas spiegelt. Die beiden anderen Zentren wurden aus „Maximalklängen“ der Mundorgel
Sheng gewonnen, einen 16-Ton-Klang (mit 11 verschiedenen Tonhöhen, es fehlt nur der
Ton d) und einen 12-Ton-Akkord (der sämtliche 12 Tonhöhen enthält). Dabei dienen gleiche
Tonhöhen zur Modulation zwischen den Feldern, aber auch Prinzip des „cliché negativ“ spielt
eine wichtige Rolle, so kann etwa der Ton d als Negativ des 16-Ton-Klangs auftreten.
Mehr noch als im Unsichtbaren Theater erzeugt das interkontextuelle Schichtengewebe hier
eine Spannung zwischen Konstruktion und klanglicher Realisation, die das Energiepotential
dieser Musik ständig erneuert. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die spontane
kompositorische Entscheidung durch die Konstruktion nicht behindert, sondern vielmehr erst
ermöglicht wird, wobei dem Oszillieren zwischen Struktur und Textur, zwischen „weicher“
Verknüpfung und formalisierter Simultaneität eine Schlüsselstellung zufällt. Die beiden
Begriffe des japanischen Philosophen Kitarō Nishida (1870-1945) „widersprüchliche
Selbstidentität“ (mujunteki jikodoitsu) und „diskontinuierliche Kontinuität“ (hirenzoku no
renzoku) beschreiben eine Vision, an die sich die Musik freilich nur bescheiden annähern
kann.9 Dasselbe gilt natürlich für die eingangs entworfene Ästhetik des offenen
musikalischen Raumes. Als Gegensatz zum „gekerbten“, territorialisierten, hierarchisierten
Raum der Stadt entwerfen Deleuze/Guattari den glatten, schwer zu besetzenden, vektorialen
Raum des Meeres.10 Vielleicht sollten Komponisten Fische oder − ein mir noch
sympathischeres Bild − Schildkröten werden.

8
Die Achsentöne dieser Stimmung sind D, cis, es1, c2 und h2, auf denen fünf mikrotonal gespreizte
Varianten des traditionellen Pentachords aufgebaut sind (alle Pentachorde habe dieselbe
Intervallfolge: gestauchte große Sekund, gespreizte Quart, kleine Sekund, gespreizte große Sekund),
dazu tritt das Kontra-Fis als weiterer Achsenton. Zu diesen 6 Tönen treten noch die drei Spitzentöne
von A-Klarinette, Violine und Akkordeon hinzu, so dass sich ein 9-Ton-Klang (ohne die Töne e, gis, a)
ergibt.
9
Kitarō Nishida, Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, übersetzt und hrsg.
von Rolf Elberfeld. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999.
10
Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve
1992, S. 663-669.

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