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1498 VIII.

Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik

Seneca rhetor (1974): Controversiae. Ed. and transl. by Michael Winterbottom. 2. Bd. Cambridge,
Mass./London.
Spengel, Leonhard (Hrsg.) (1856): Rhetores Graeci. Bd. 3. Leipzig.
Tryphon siehe Spengel (1856), 191⫺206.
Usher, Stephen (1974): Dionysius of Halicarnassus. Critical Essays. Ed. and transl. by Stephen
Usher. 1. Vol. Cambridge, Mass./London.
West, Martin (1965): Tryphon De Tropis. In: The Classical Quarterly N.S. 15, 230⫺248.

Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)

90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik


1. Sprachimmanente Voraussetzungen
2. Systematik ⫺ Behandlungsgegenstand ⫺ Prinzipien
3. Die Satzlehre in ihrer historischen Entwicklung
4. Moderne Analyse der Satzkomposition
5. Literatur (in Auswahl)

Abstract
The Greek and Latin languages are characterized, on the one hand, by rhythm based on
pitch and, on the other, by a great flexibility in word order since both rely on morphology
to express syntactical relations. Within the framework of these specific linguistic conditions,
the rhetorical theory of sentence composition sets as its goal the melodious and rhythmical
structuring of the period. Compositio as part of elocutio is for this reason treated under
the quality of style (ornatus) and concerns itself with the smaller and larger components
of the sentence, from the disposition of single words to kommata to kola. According to this
doctrine, the arrangement of these elements should adequately reflect the thought ex-
pressed. At the same time, the structure should be audible in the rhythmical, yet never
poetical, patterning of the elements, especially at the end of the kola (clausulae). The
theory, whose sudden beginnings are to be found in Aristotle’s Rhetoric, attains its highest
degree of elaboration in Cicero’s Orator and then receives its final systematic shape in
Quintilian’s Institutio oratoria. On the basis of a systematic and historical summary, a
look at the modern analysis of classical texts will also cast light on the rhetorical practice
of sentence composition.

1. Sprachimmanente Voraussetzungen
Die antike griechische wie die lateinische Sprache weisen zwei Grundphänomene auf,
die den modernen europäischen Kultursprachen nicht im selben Maße bzw. gar nicht
eigen sind. Zum einen ist ganz abgesehen von der größeren Differenzierung der gramma-
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tischen Kategorien (Kasus, Diathese, Modus) allein ihre Morphologie so signifikant,


dass syntaktische Bezüge meist nicht zusätzlich durch die geregelte Abfolge der Satzkon-
stituenten generiert werden müssen.
Zum anderen ist die Aussprache in höchstem Grade musikalisch: Sie ist geprägt von
der Unterscheidung zwischen langen und kurzen Silben im Verhältnis 2 :1 (ç ⫽ ) und
⫺ besonders im Griechischen ⫺ zwischen verschiedenen Tonhöhen der Silben; die musi-
kalische Akzentuierung ergibt sich, anders als etwa der expiratorische Akzent der germa-
nischen Sprachen, aus der Dauer der Silben, so dass sich beim Vortrag ein rhythmisch
intoniertes Klangbild ergibt (Norden 1915, Bd. I, 55⫺57).
Beide Eigenschaften boten die Grundlage für eine ungeheure Vielfalt an Ausdrucks-
möglichkeiten, durch die eine Aussage im Rahmen der logischen Sprachrichtigkeit klang-
lich gestaltet werden konnte. Das eindeutige syntaktische Verweissystem eröffnete den
Raum für eine relativ freie Wortstellung, durch die ein mehr oder weniger hervortre-
tender musikalischer Sprachklang bewirkt wurde.
Dadurch geprägt und aufgrund kultureller Gegebenheiten ist die poetische, dann die
prosaische Sprachkunst der Antike auf akustische Wahrnehmung angelegt. Diese akroa-
matische Natur bestimmt die mit Homer im 8. Jh. v. Chr. einsetzende antike Literatur
bis in die Spätantike. Von grundlegender Bedeutung war sie für die Entwicklung und
damit das Verständnis der Rhetorik als praxisbezogene Disziplin und analytische
Theorie. Eines ihrer wichtigsten stilistischen Prinzipien war der Wohlklang (Euphonie),
und zwar jedweden sprachlichen Ausdrucks. Denn auch alle literarischen Werke wurden
durch die in der Antike generell laute Lektüre klanglich wahrgenommen.
In besonderer Weise hat die beschriebene stilistische Variabilität antiker Sprachen
Auswirkungen auf die in rednerischer Theorie thematisierte und der Literatur prakti-
zierte Satzkomposition (lat. compositio, gr. σύνθεσι/sýnthesis; zur Terminologie Pohl
1968, 6⫺11) gehabt, die hier auf die Prosa bezogen in dreierlei Hinsicht ⫺ systematisch,
historisch und analytisch ⫺ zur Behandlung steht.
Die Frage nach der Satzlehre schließt übergeordnete sprachhistorische Konstanten
ein. Es existieren allgemeingültige natürliche Gesetze, welche die sprachliche Generie-
rung einer Satzaussage unbewusst, unabhängig von stilistischen Erwägungen, bestim-
men. So steht etwa fest, dass im Ur-Indogermanischen, und damit ferner im Griechi-
schen und Lateinischen, unbetonte ein- und zweisilbige Wörter wie Pronomen, Partikeln
und die Kopula in der Regel enklitisch an die zweite Stelle eines Satzes treten (,Wacker-
nagels Gesetz‘; Wackernagel 1892). Ebenso besteht aufgrund eines intuitiven rhyth-
mischen Gefühls vor allem in gehobener Sprache die natürliche Tendenz, syntaktisch
gleichwertige Satzglieder der Reihe nach quantitativ anwachsen zu lassen (,Behaghels
Gesetz der wachsenden Glieder‘; Behaghel 1932, 139), woraus freilich rhetorische Ein-
zelvorschriften in Hinblick auf die meist damit inhaltlich einhergehende qualitative Stei-
gerung (Klimax, gradatio) entwickelt werden können (vgl. Dem. 50⫺52).

2. Systematik  Behandlungsgegenstand  Prinzipien


Insofern für ein syntaktisches Gefüge die ästhetische Ausarbeitung auf der Grundlage
der grammatisch-logischen Korrektheit im Zentrum steht, betrifft dies den Bereich der
Satzlehre, die dem rhetorischen Arbeitsstadium des Ausdrucks (elocutio) zugehört und
die sich, in ihrer Ausrichtung auf die Strukturierung einer Aussage, in besonderer Weise
auf den Vortrag (actio) auswirkt.
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Die Theorie der Strukturierung von Sätzen nimmt zum einen größere, bis hin zu
Nebensätze umfassende (κṽλα/kóla, membra, Glieder) und kleinere aus mindestens zwei
Wörtern bestehende Bestandteile (κόμματα/kómmata, incisa, Abgehauenes) des Satzgan-
zen in den Blick (Lausberg 1960, §§ 912⫺947), zum anderen innerhalb dieser Komponen-
ten die Abfolge bzw. Fügungen der Wörter hinsichtlich der klanglich-rhythmischen Qua-
lität (Lausberg 1960, §§ 948⫺1054).
Das Ziel der satzkompositorischen Bemühungen besteht in der Konzinnität (Cic. Or.
80 f.), d. h. darin, die Konvenienz (aptum) zwischen dem durch Schmuck (ornatus) auf-
bereiteten Ausdruck (verba) und den Gedanken (res) zu erreichen. Hierbei kommt neben
der rhetorischen Figurenlehre dem sich durch jede sprachliche Äußerung unwillkürlich
einstellenden musikalischen Rhythmus (numerus), der Abfolge langer und kurzer Silben,
größte Bedeutung zu. Während innerhalb der Kompositionslehre auf die Figurenlehre
als selbständigen Themenbereich der elocutio nur rekurriert wird, steht der Rhythmus
als ornatives Kernelement im Zentrum der Betrachtung. Von großem Gewicht ist die
Rhythmisierung, die das Ende der Satzkomponenten bzw. der Periode anzeigt (Klausel-
rhythmus).
Der Einsatz des Sprachrhythmus birgt über seine generelle psychologische Wirkung
hinaus auch eine strukturierende Kraft in sich, durch welche die Grenzen eines Kolons
oder einer Periode akustisch markiert werden können. Als Ersatz für die in der Antike
seit dem Hellenismus nur sporadisch und danach nicht generell angewandten Satzzeichen
kann vor allem die rhythmische Schlussklausel durch ihren kadenzierenden Charakter
dort eine Atempause evozieren, wo ein Sinneinschnitt vorliegt (vgl. Arist. 1409a 19⫺21).
Insgesamt gelten nach den Theoretikern für die Rhythmisierung der Prosarede zwei
Grundprinzipien: Das erste besteht darin, dass sich im Normalfall kein poetischer
Rhythmus ergeben darf, was wiederum durch den zweiten Grundsatz erreicht wird, wo-
nach die aufeinanderfolgenden Metren variieren müssen (Cic. Or. 213).
Nach dem Rhetoriklehrer Quintilian (1. Jh. n. Chr.), dessen Systematik hierzu kano-
nisch ist, kann die compositio in Anlehnung an Cicero als das rhetorische Pendant zum
poetischen Versbau, der versificatio, betrachtet werden (Quint. 116; Cic. Or. 222). Hier
mag die antike Auffassung im Hintergrund stehen, wonach die Kunstprosa eine Weiter-
entwicklung der Dichtkunst darstellt (vgl. Kassel 1981, 11⫺19). Demgemäß begegnet in
den antiken Rhetoriken immer wieder eine Methode, die die Poetik als Vergleichsfolie
für die Prinzipien des prosaischen Satzbaus heranzieht. Beispielsweise wird in Analogie
zur vierversigen Strophe die aus vier Gliedern bestehende Periode als Ideal gefordert,
das Kolon als Entsprechung des Verses und das Komma als durch Zäsuren abgetrenntes
Versstück begriffen.
Bei den meisten Rednern und bei vielen Autoren hat das Streben nach Wohlklang
dazu geführt, in der Wortfügung das Aufeindertreffen von End- und Anfangsvokalen
(Hiat ⫽ Klaffen), wie es in der Dichtung generell unmöglich ist und durch Vokalausfall
(Elision, Aphärese) oder -verschleifung (Synalöphe, Krasis) umgangen wird, zu meiden.
Zur Frage der Hiatmeidung haben die Theoretiker regelmäßig Position bezogen.
Insbesondere erfolgt die Analyse des Rhythmus durch die in der Poetik gebräuch-
lichen Regeln der Prosodie (⫽ „das, was als Gesang hinzukommt“), wobei die Abfolge
langer (⫺) und kurzer ([) Silben durch den entsprechenden Versfuß (pes) bezeichnet
wird.
Von 14 bei Cicero und Quintilian (88 ff.) genannten Versfüßen seien hier die gebräuch-
lichsten mit den jeweiligen (im folgenden verwendeten) Abkürzungen genannt:
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Choreus (Trochäischer Fuß) Cho ⫺ [


(⫺ [ ⫺ [
Dichoreus)
Creticus Cr ⫺ [ ⫺
[ [ [ ⫺
Paion a minore Pmi
Paion a maiore Pma ⫺[[[
Spondeus Sp ⫺⫺
[ ⫺
Iambus Ia
Dactylus Da ⫺[[
[ ⫺ ⫺
Baccheus Ba
Nach der Zusammensetzung dieser metrischen Elemente wird der Rhythmus (numerus)
der Prosarede, oft auch nur der Klausel (clausula) bestimmt. Zur Analyse des Klausel-
rhythmus werden die zwei oder drei letzten Versfüße betrachtet (Cic. Or. 216, 224;
Quint. 95).
Eine kurze Silbe vor einer Sprechpause, vor syntaktischen Einschnitten also, wirkt
wie an Versenden lang, so dass der häufige kretische Schlussfuß (⫺ [ ⫺) auch dadurch
zustande kommt (Cic. Or. 217). Die Meinungen gingen darin auseinander, ob ein Fuß
mehr als drei Silben umfassen darf, was sich auf die Terminologie auswirkt (Dochmius
⫽ IaCr bzw. BaIa; vgl. Cic. Or. 218; Quint. 97).
Einige moderne Analytiker der Kunstprosa unterscheiden zwischen den Termini
Rhythmus/rhythmisch und Metrum/metrisch, indem sie unter ersteren einen Oberbegriff
des zweiten verstehen, ähnlich dem Verhältnis Rhythmus ⫺ Takt in der Musik (Primmer
1968, 12 f.).
Insgesamt wird in der antiken Theorie der Rhythmisierung nach Gattungen differen-
ziert und zudem den verschiedenen Autoren ein individueller Stil zugestanden. Die His-
toriographie betreffend erfährt beispielsweise der „ruhig fließende“ Rhythmus Herodots
genauso wie der „aufgeregtere“ des Thukydides eine Würdigung, wohingegen in Reden
immer wieder zur Ruhe kommende Gliederungsrhythmen anzustreben seien (Cic. Or. 39;
Quint. 18). Wie jeder rhetorische Kunstgriff ist auch die klanglich-rhythmische Ge-
staltung von dem persönlichen Empfinden des Sprechers/Autors abhängig, der eine sub-
jektive Wirkungsabsicht verfolgt und nicht zuletzt durch die Mode der jeweiligen Zeit
beeinflusst ist. Diesem variablen Moment wird systematisch dadurch Rechnung getragen,
dass die compositio spätestens seit Cicero mit den drei kanonischen Stilarten ⫺ dem
erhabenen (grande), mittleren (medium) und feinen (tenue) Stil ⫺ in Zusammenhang ge-
bracht wird und sie diesbezüglich je spezifischen Regeln genügen muss. Dementspre-
chend wird auch ihr Verhältnis zu den drei Redegattungen ⫺ der Prunkrede, der Ge-
richtsrede und der beratenden Rede ⫺ gesondert in den Blick genommen und je nach
Gelegenheit und Gegenstand nach dem richtigen ,Ton‘ gesucht (Quint. 130).
Was die Satzarten im Zusammenhang angeht, lassen sich insgesamt drei Redestile
gemäß der Sprechsituation unterscheiden: Die schlichteste Form ist die meist dialogische
Alltagssprache, in welcher oft nur einzelne syntaktische Elemente locker und willkürlich
aneinandergefügt werden (oratio soluta Cic. Or. 183 f.; διαλελυμένη λέξι/dialelyménē
léxis nach Dem. 193); sie gehört nur insofern zur Rhetorik, als ihre Imitation in bestimm-
ten Bereichen zum Tragen kommt (z. B. im Briefstil).
Die fortlaufende parataktische Reihung von syntaktisch vollständigen Sätzen ent-
sprechend dem gradlinigen Fortschreiten des Gedankens, „gereihte Ausdrucksweise“
(εiœρομένη λέξι/eiroménē léxis), gilt nach Aristoteles als archaische Darstellungsform,
wie sie etwa in der Geschichtsschreibung Herodots zu erkennen ist.
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Das eigentliche Ideal rhetorischer Formulierungskunst besteht in einem Satzbau, bei


dem mehrere Gedanken so aufeinander bezogen sind, dass anfangs eine Spannung ent-
steht, die am Ende ihre Auflösung erfährt. In Hinblick auf diese Rückkehr zum
Ausgangspunkt spricht man von Periode, „Umlauf“ (circuitus, ambitus) und gebundener
bzw. „in sich umbiegender“ Sprache (oratio vincta; κατεστραμμένη/katestramménē).
Hier gilt das poetische Ordnungsprinzip der organischen Einheit, das als erster Platon
(Phaidr. 264 A4⫺E2; Gorg. 505C10⫺D3) formuliert hat und das von da an kanonisch
wurde (Cic. De or. 3,179; Ps.-Long. 40).
Die innere Logik des auzudrückenden Gedankens (διάνοια/diánoia, sententia) muss
vollständig mit der Form der Periode koinzidieren. Die einzelnen Gedankenelemente
treten formal in den Kola hervor, die entsprechend ihrer intellektuellen Übersichtlichkeit
in einer Atemlänge referierbar sein sollen. Der Umfang kann von zwei Wörten bis hin
zu größeren Nebensätzen variieren, weshalb irgendwann vor Cicero von hellenistischen
Gelehrten für kleinste Elemente die Kategorie des Kommas eingeführt wurde (Cic. Or.
211 u. ä.), welches Quintilian „nicht wie andere als Teile eines Kolons“, sondern gemäß
Cicero (223 f.) als „abgeschlossenen Gedanken ohne vollständige Klausel“ (Quint. 122)
versteht.
Das Kernphänomen der gegenseitigen Beziehung der Satzkomponenten (Kola, Kom-
mata) aufeinander ist die Antithese, die durch Klangfiguren verstärkt werden kann. Über
die Anzahl der Kola, die in der Periode enthalten sein dürfen, gehen die Meinungen der
Rhetoren auseinander: Häufig wird die Zweizahl als Mindestumfang angegeben und die
Vierzahl als Optimum, das nicht überschritten werden soll. Schon Aristoteles spricht
über die eingliedrige Periode, wohingegen Quintilian, der literarischen Praxis ganz an-
gemessen, die Überschreitung der Vierzahl akzeptiert. Beim Monokolon kann der Span-
nungsbogen durch die gesperrte Stellung unmittelbar aufeinander bezogener Satzteile
entstehen (Hyperbaton).
Im Detail wird freilich die stilistische Gestaltung der Wortabfolge in der nicht zum
Kernbereich der compositio gehörenden Lehre über die Figuren erörtert. Diese kommen
auf der Basis der syntaktischen und idiomatischen Sprachkorrektheit durch die
grundsätzlichen rhetorischen Änderungskategorien der transmutatio (Veränderung, μετα-
σκευή/metaskeué; z. B. Inversion, Hyperbaton, Tmesis), adiectio (Hinzufügung, πρόσθεσι/
prósthesis; z. B. Pleonasmus, Tautologie) und detractio (Minderung, aœφαίρεσι/aphaı́resis;
z. B. Ellipse), spezieller auch durch die immutatio (Vertauschung, aœλλοίωσι/alloı́ōsis; z. B.
Enallage) zustande (Dion. 6; Quint. 1,5,38; Fortun. 3,11).

3. Die Satzlehre in ihrer historischen Entwicklung

3.1. Überblick

Die genauen Anfänge der rhetorischen Kompositionslehre liegen im Dunkeln. Das erste
und zugleich wichtigste Zeugnis ist Aristoteles’ Grundlegung zur Satzkomposition in
seiner Rhetorik (vgl. unten Abschnitt 3.2). Auf ihrer Basis wurden in der nachfolgenden
rhetorischen Tradition die Regeln zur compositio mit Blick auf die großen Stilvorbilder
interpretiert und vertieft, wobei der Ansatz zur Lehre des Klauselrhythmus differenzier-
teste Ausgestaltung erfuhr.
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Bei Aristoteles lassen sich Anzeichen für vorausgehende Lehrbücher finden. Wenn er
(Arist. 1408b 32⫺1409a 1) drei rhythmische Grundtypen mit ihren je charakteristischen
Stimmungen nennt ⫺ den erhabenen heroischen Rhythmus (Da, Anapäst, Spondeus ⫽
Metren 1:1), den gemeinen Iambus und den vulgären Trochäus (⫽ 1: 2/2 :1), die allesamt
wegen ihrer ,metrischen‘ Rhythmen in die Poesie gehörten ⫺ so geht dies in den Grund-
zügen auf den Musiklehrer Damon zurück (5. Jh. v. Chr.). Die von diesem erörterten
Wirkmechanismen einzelner Rhythmen hatte schon Platon im Staat (400B1⫺C6; vgl.
397B) für seine Auswahl ethisch vertretbarer Dichtung zugrunde gelegt.
Aristoteles definiert an der genannten Stelle den Paion mit seinem Verhältnis 1:1 ½
als optimale Mischform für die Prosarede. Unbewusst hätten diesen Rhythmus, wie er
sagt, schon die Gefolgsleute des aus Chalkedon am Bosporus stammenden Thrasy-
machos benutzt. Diese Namenserwähnung legt nahe, dass in dem vor allem aus Platons
Staat bekannten Rhetor aus der 2. Hälfte des 5. Jhs., den das späte byzantinische Lexi-
kon Suda (s. v.) als Erfinder der Kola anführt, bereits Aristoteles den ersten Theoretiker
des Periodenbaus sah. Cicero nennt ihn später den Erfinder des Prosarhythmus (Cic.
Or. 175).
Einen weiteren Hinweis auf die Vorgeschichte der Satzlehre bietet Aristoteles bei der
Besprechung der Figuren, welche den antithetischen Aufbau der Periode unterstützen
können (Arist. 1410a 24⫺1410b 2). Er nennt die Parisosis, die er unter Einschluss des
Isokolons als Gleichheit der Silbenzahl und der Satzteilabfolge entsprechender Kola ver-
steht, und die Paromoiosis, bei der zwei parallele Kola entweder am Anfang durch
ähnliche Wörter oder am Ende durch Endsilbengleichheit (Homoioptoton, Homoioteleu-
ton), Kasusvariation desselben Wortes (Polyptoton) oder Wortwiederholung (Epipher)
markiert werden. Aristoteles nimmt hier deutlich Bezug auf die Kompositionskunst des
Sophisten Gorgias, der im Jahre 427 v. Chr. aus Sizilien nach Athen kommend zum
ersten Mal die verführerische Wirkung der Rhetorik mittels dieser Klangmittel nutzte
und lehrte.
Wenn auch der reine gorgianische Stil schon durch Platons Kritik als zu artifiziell
galt, wurden Gorgias’ rhetorische Ideale dennoch durch die Schule des Redelehrers Iso-
krates, auf den Aristoteles direkt rekurrieren dürfte, maßvoll tradiert.
Die besagten gorgianischen Figuren bilden den Ursprung der europäischen Reim-
kunst, die dann in der Antike keine nennenswerte Weiterentwicklung mehr erfahren hat.
Erst im 9. Jh. gelangt der Endreim, vielleicht unter dem Einfluss der hebräischen Dich-
tung, über die lateinische Hymnik in die Poesie der europäischen Sprachen (Norden
1915, Bd. I, 810⫺908).
Der Zeitgenosse Platons, Isokrates, ist von richtungsweisender Bedeutung für die Sti-
listik des Satzes. Wenn auch von ihm keine technischen Detailanweisungen überliefert
sind, so hat er doch der Nachwelt durch seine praktische Rednertätigkeit im Zusammen-
hang mit der von ihm begründeten ersten Rednerschule entscheidende Impulse gegeben.
Fortan galt seine Wortkunst, die sich durch wohlgeordnete Perioden und ausgeklügelte
Wortfügungen auszeichnet und die er selbst als „wohlrhythmisiert und musikalisch“ (Cic.
Or. 13,6) auffasste, als Musterstück des „mittleren“ ausgewogenen Stils.
Der Aristotelesschüler und -nachfolger Theophrast (ca. 371⫺287 v. Chr.) hat wie viele
Themenbereiche so auch die Rhetorik seines Lehrers systematisch verfeinert. Seine
Ausführungen Über den Stil sind zwar nur noch in wenigen Fragmenten greifbar, sie
haben aber sicherlich die gesamte nachfolgende Tradition bis hin zu Cicero fundamental
geprägt (vgl. Cic. Or. 79). Theophrast hatte nämlich die Lehre der vier sog. Stilqualitäten
(hellenismus ⫺ Sprachrichtigkeit, perspicuitas ⫺ Klarheit, aptum ⫺ Angemessenheit, or-
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natus ⫺ Redeschmuck) und wohl auch der drei Stilarten entworfen. Indem er die Wortfü-
gung und somit den Periodenbau neben der Wortwahl und der Figurenlehre als Unter-
kapitel des ornatus anlegte, hat er auf alle folgenden Systematiken gewirkt.
Höchstwahrscheinlich gehen auf ihn viele der seit Cicero anzutreffenden Überlegungen
zu Stilhöhe und einem adäquaten stilistischen Satzbau zurück.
Gegen die ästhetisch-rhetorische Sprachbetrachtung der Peripatetiker erhob im 3. Jh.
v. Chr. die Stoa durch Chrysipp heftigen Widerspruch. Hier vertrat man eine sprachwis-
senschaftliche Theorie, nach welcher der Sprachgebrauch den auf stillschweigender
Übereinkunft beruhenden Gesetzen folgt; die natürlich-richtige Komposition eines
Satzes entschied sich allein an der logischen Gedankenabfolge, zudem wurde das Postu-
lat der Kürze erhoben (Dion. 4 f.).
Durch die verstärkte Aneignung der attischen Leitkultur im Hellenismus entwickelten
sich besonders in Kleinasien manierierte Stilimitationen im Bereich der praktischen Rhe-
torik. Ohne Rücksicht auf das aptum, wie Cicero meinte, werde eine möglichst pathe-
tisch-wirkungsvolle Satzgestaltung angestrebt, die in den schlimmsten Fällen durch
versähnliche Satzgebilde, Rythmus provozierende Füllwörter, Wortumstellungen und
monotone Schlussklauseln wie Gesang daherkomme (Cic. Or. 27; 57; 226; 230). Eine
Bewegung strenger Literaturrichter ächtete die verschiedenen Entwicklungen, die sie als
eine dem attizistischen Ideal widerstrebende einheitliche ,asianische‘ Gegenbewegung
überzeichnete und als deren Archegeten sie Hegesias aus Magnesia (3. Jh. v. Chr) aus-
machte (Wilamowitz 1900).
Sogar Cicero, der nach dem Urteil Quintilians die compositio in seinem eigenen Le-
benswerk am sorgfältigsten ausgearbeitet hatte (Quint. 1), wurde zur Last gelegt, der aus
Asien eingedrungenen verweichlichten Stilart anzuhängen. Der Redner bekennt zwar, in
seiner Jugendzeit hellenistischen Übertreibungen verfallen gewesen zu sein, doch später
habe er durch die Ausbildung auf Rhodos seinen Stil gemäßigt (Cic. Brut. 316). Cicero,
der überhaupt erst die ein Jahrhundert zuvor in Rom eingeführte griechische Rhetorik
durch Schrift und Wort fest inkulturiert hat, verteidigt sich im Jahre 46 v. Chr. mit dem
Orator. Seine Erwiderung verdeutlicht, dass selbstverständlich jeder Rhetor eine
persönliche attizistische Spielart für sich beanspruchte (vgl. Cic. Brut. 51); für sich selbst
nennt er Demosthenes als Vorbild. Das apologetische Anliegen ist verbunden mit der
Behandlung der Satzkomposition in all ihren Aspekten. Und so ist das Werk, wenn es
auch systematische und terminologische Schärfe vermissen lässt, die bedeutendste Dar-
legung zu diesem Thema (vgl. 3.3).
Gänzlich unberührt von diesen Strömungen ist noch die in Ciceros Zeit zu datierende
anonyme Rhetorik an Herennius; sie sieht die Hauptaufgabe der compositio, die als
eigenständige Redetugend eine gleichmäßige Ausfeilung gewährleisten soll, allein in der
Vermeidung des Hiats und aller Arten von lautlichen Wiederholungen (Rhet. ad Her. 4,18).
In den Kreis der attizistischen Literaturwächter gehört der griechische Rhetor und
Geschichtschreiber Dionysios aus Halikarnass, der von 30 bis 8 v. Chr. in Rom lehrte.
Neben anderen rhetorisch-literaturkritischen Werken, in welchen er wie Cicero ein an
Demosthenes orientiertes Stilideal verfocht, widmete er den Wortfügungen eine eigene
Schrift (De compositione verborum). Im Zentrum dieses Werkes, in dem Beispielpassagen
aus griechischer Poesie und Prosa hinsichtlich der Satzkomposition kritisch geprüft wer-
den, steht nach Betrachtungen über Wesen und Wirkung der Synthesis (Kap. 1⫺5), ihrer
Aufgaben (6⫺9) sowie ihrer Ziele und Mittel (10⫺20) eine auf die ältere hellenistische
Musiktheorie zurückgehende Darstellung dreier Grundtypen der Wortfügung (21⫺24;
vgl. Pohl 1968). Letztere, neben Figuren und Wortwahl ein Teil der elocutio, beschreibt
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik 1505

Dionysios als „Harmonie“ (a«ρμονία), da ihre Qualität auf Klang und Rhythmus beruhe.
So wird denn der stoischen Hypothese einer natürlich-logischen Wortfolge scharf wider-
sprochen (Dion. 5). Als Repräsentant der rauhen Fügung (αyœστηρὰ a«ρμονία/austērá
harmonı́a; 21 f.), mit ihren Hiaten, der gesperrten Wortstellung, der Meidung symmet-
risch gebauter Perioden und metrisch regulierter Schlüsse, wird für die Prosa (als Pen-
dant zu Pindar für die Dichtung) der Historiker Thukydides genannt. Die Charakteris-
tika der „glatten, feinen“ (γλαφυρά/glaphyrá; 23) Harmonie sind Wohlklang durch Hiat-
meidung, gorgianische Figuren, abgerundete Perioden; ihr Vertreter ist Isokrates.
Zwischen diesen beiden Fügungstypen gibt es den „wohlgemischten“ (εyκρατο/eúkra-
tos; 24), der die positiven Qualitäten der anderen beiden je verschieden in sich vereinigt; ihn
beherrschten Herodot, Demosthenes und Platon.
Die zwar unter dem Namen des Theophrastschülers Demetrios von Phaleron überlie-
ferte, aber wohl um die Zeitenwende verfasste Schrift De elocutione scheint im Hinblick
auf die von Seiten des Attizismus pauschal kritisierte Redeart ein differenzierteres Kon-
zept zugrunde zu legen. Mit ihrer Behandlung des „Erschütterung“ (δεινότη/deinótēs)
hervorrufenden Stils, der den drei kanonischen Stilarten an die Seite gestellt wird, ist sie
ähnlich der anonymen Schrift Vom Erhabenen (Ps.-Longinus: De sublimitate) ein Werk
sui generis, das zwischen rhetorischer Lehrschrift und Literaturkritik steht. In der
Theorie des Ps.-Demetrios bildet gerade die Satzkomposition Grundlage und Instru-
ment, um die beim Hörer beabsichtigte Wirkung zu erzielen (Dem. 1⫺35). So seien
„kurze Satzglieder um der Furchtbarkeit willen von Nutzen“. Die Verwendung von poe-
tischen Metren und die Abfolge langer Silben gelten als Verstoß gegen das aptum (117).
Von einer übertriebenen rednerischen Praxis, bei der die Überstilisierung des
Wortlautes nicht mehr im rechten Verhältnis zur Aussage stand, zeugt die Kritik der
Abhandlung Vom Erhabenen. Ps.-Longinus warnt vor dichtgedrängten kurzsilbigen
Wortfolgen und „weichlichen und eiligen Rhythmen“, die zu verspielt und unpathetisch
klängen, so dass sie „wie Arien“ den Hörer vom Inhalt ablenkten und ihn dazu animier-
ten, im Empfinden des Rhythmus nur noch „die zu erwartende Schlußkadenz mitzuklop-
fen“ (Ps.-Long. 41). Diese Bemerkung weist voraus auf die hoch musikalischen Satzkom-
positionen der zweiten Sophistik und Spätantike (2.⫺5. Jh. n. Chr.), als professionelle
Rhetoren und mancher christliche Prediger geradezu als ,Konzertredner‘ auftraten.
Schließlich ist es der Rhetoriklehrer Quintilian, der im 1. Jh. n. Chr. mit seiner Insti-
tutio oratoria, wie sonst auch hier die gesamte Lehr-Tradition über die Satzkomposition
systematisch bündelt und damit die weitere Geschichte der Rhetorik bis in die moderne
Theoriebildung beeinflusst und inspiriert (vgl. unten Abschnitt 3.4).
Geradezu singulär ist im zweiten Jh. n. Chr. das Bemühen des griechischen Gramma-
tiklehrers Apollonios Dyskolos, der sich in dem Werk De constructione als Vetreter der
rationalen Syntaxlehre zeigt. Auf ihn stützt sich Priscian, der in seiner Satzlehre die
natürlich-logische Ordnung zum Prinzip macht und damit die moderne Syntax-Gram-
matik begründet hat (Scaglione 1981, 92 f.).
Aus der Fülle der rhetorischen Handbücher bietet die lateinische Ars rhetorica des
Systematikers Fortunatianus (4./5. Jh. n. Chr.) einige Detailangaben zur Satzkomposi-
tion, die hier structura genannt ist.
Einer der letzten großen Redelehrer Athens, der sich den einzelnen Bereichen der
compositio am Beispiel der großen alten Stilvorbilder in Anlehnung an Dionysios wid-
mete, war der nur fragmentarisch überlieferte Lachares; er schrieb zwar über den quanti-
tierenden Prosarhythmus, lässt aber selbst schon durch Druckakzent bestimmte Klauseln
erkennen (Graeven 1895).
1506 VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik

3.2. Aristoteles, Rhetorik 3,8-9

Aristoteles befasst sich in der Rhetorik innerhalb des zweiten Hauptteils über die elocutio
(λέξι/léxis) unter dem Thema „Gestalt des Ausdrucks“ (σχη̃μα τη̃ λέξεω/schéma tēs
léxeōs) als erster analytisch mit der Frage nach der besten Struktur eines Satzes.
In Hinblick auf sein Hauptkriterium, die psychologische Wirkung der jeweiligen Aus-
drucksform auf den Hörer, zentriert er die Betrachtung zunächst auf den Rhythmus (vgl.
Schmid 1959, 112⫺130), dessen objektive Messgröße die einzelnen Metren sind. Gleich
zu Anfang spricht er eines der fernerhin gültigen Grundprinzipien aus: „Die Ausdrucks-
weise darf weder gänzlich metrisch [sc. wie die Dichtung] noch unrhythmisch [sc. ohne
feingliedrigen Redefluss] sein“. Denn im ersten Falle bleibe durch Künstelei die Glaub-
würdigkeit auf der Strecke, und man werde als Hörer abgelenkt, im zweiten sei wegen
der fehlenden Abmessungen die Rede unerquicklich und nicht erfassbar.
Die Anwendung des schon von Thrasymachos bevorzugten Paions, den er im Ver-
gleich mit den von Damon und Platon behandelten drei Hauptrhythmen als bestes Pro-
sametrum erweist, wird dahingehend präzisiert, dass Pma am Anfang und Pmi am Ende
eines Satzes zu bevorzugen sei (vgl. Cic. Or. 218).
Die bei Aristoteles angedeutete Unterscheidung der Eigenschaften des Sprachrhyth-
mus, einerseits als Ausdruck eines bestimmten Sprachniveaus, andererseits als Markie-
rung der Sinneinschnitte, liegt der Betrachtung und Kritik der nachfolgenden antiken
Theoretiker zugrunde.
Erst im Anschluss an die Forderung nach strukturierender qua rhythmischer Aussa-
gegestaltung behandelt Aristoteles die allgemeinere Frage nach den Satztypen (Arist. 9).
Er unterscheidet für die literarische Prosa zwei mögliche Grundarten: die durch Kon-
junktionen „aneinanderreihende“ (εiœρομένη/eiroménē) Ausdrucksweise, die im Stil dem
Kultgesang des Dionysos (Dithyrambus) verwandt als archaisch verworfen wird und die
„in sich umbiegende“ (κατεστραμμένη/ketestramménē) Ausdrucksweise, die strukturell
dem lyrischen Modell von Strophe und Antistrophe entspricht. Die hier neu entwickelte
Terminologie beruht auf der Vorstellung einer Laufstrecke, die der Sprecher als Akteur
vor dem Hörer als Betrachter innerhalb eines Satzes zurücklegt und die als „Umlauf“
(περίοδο/perı́hodos ⫽ Periode) immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurückbiegt (vgl.
Schmid 1959, 117⫺126); Ps.-Demetrios führt später dieses Bild im Detail aus (Dem. 11).
Während die parataktische Rede immer weiter davonläuft, zur Unzufriedenheit des
Hörers in ihr selbst kein Ende abzusehen ist und sie sich ermüdend verliert, „hat die
Periode in sich Anfang und Ende und eine gut überschaubare Größe“, so Aristoteles’
Definition. Wenn er betont, sie sei gut zu behalten, weil sie Maß und Ziel in sich trage,
wobei wieder die Metren ins Spiel kommen, steht die aus der Epik ererbte Maxime im
Hintergrund, nach welcher eine professionelle Ausdrucksweise mit Rücksicht auf Memo-
rierbarkeit verfasst sein muss.
Aus der metaphorischen Ebene ergeben sich die weiteren Präzisierungen zur Theorie
über die Muster-Periode, die aus zwei Schenkeln oder Gliedern (κṽλα/kŏla) ⫺ „Hin-
und Rückbahn“ ⫺ bestehen und darin von mittlerer Länge sein soll, damit der Hörer
weder durch vorzeitige Abkürzung ins Straucheln gerät noch aufgrund unerwarteter
Weiterführung, wie bei der aneinanderreihenden Ausdrucksweise, zurückbleibt.
Nach Aristoteles kann nun die zweigliedrige Ausdrucksform „dihäretisch“ sein, indem
ein Inhalt in komplementäre Bestandteile zergliedert wird, oder sie ist „antithetisch“,
wenn zwei konträre Begriffe gegenübergestellt sind. Die Antithese sei als gefälligste Rede-
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik 1507

weise anzuraten, weil Gegensätze ⫺ zumal in paralleler Setzung ⫺ am leichtesten zu


erfassen seien und eine dem Syllogismus ähnliche logische Struktur entstünde, insofern
als auch der widerlegende Schluss aus Gegensätzen resultiere.
Am Ende seiner Satzlehre, welche in der Forderung nach antithetischer Ausdrucks-
weise das antike Prinzip der polaren Denkfigur zur Geltung bringt, nennt Aristoteles
formale Klang-Stilmittel (gorgianische Figuren, s. o.), welche die logisch-oppositive
Zweigliedrigkeit unterstreichen.

3.3. Cicero, Orator

Cicero antwortet im Orator auf die enge Sicht der zeitgenössischen Jungattiker mit einem
Gegenentwurf des perfekten Redners, der mit dem richtigen Gespür für das aptum wie
das große Vorbild Demosthenes alle drei Stilarten beherrschen muss (69⫺112). Jede von
ihnen verlangt, wie hier zum ersten Mal ausgesprochen wird, eine eigene Satzgestaltung.
So seien etwa im feinen Stil Rhythmus und Hiatmeidung freier handhabbar, und ganz
unauffällig solle Sorgfalt auf kurze Perioden verwandt werden, solange alle Grund-
anforderungen, wie Sprachrichtigkeit, Klarheit und Schicklichkeit, erfüllt sind (75⫺79).
Das Prinzip der Situationsangemessenheit bildet den Hintergrund für die Lehre der Satz-
komposition (collocatio); allein sie könne die geordnete und klanglich gefällige Verbin-
dung aller anderen Stilmittel gewährleisten und mache somit den perfekten Redner erst
aus.
Fast die gesamte zweite Hälfte des Orator ist von diesem Hauptthema eingenommen,
welches nach Erläuterungen zum geforderten Wohlklang der Einzelwörter (149⫺164)
und zur von selbst sich einstellenden Symmetrie paralleler Kola durch gorgianische Fi-
guren (164⫺167) am Höhepunkt die Theorie der Rhythmisierung umfasst (168⫺236;
vgl. Schmid 1959, 30⫺72).
Schon im Dialog Über den Redner (3,173⫺199) hatte Cicero ein „Breviarium der
rhythmischen Kunst“ (Schmid 1959, 111; vgl. 82⫺109) vorgelegt, in welchem das Kunst-
prinzip der Rhythmisierung aus der allgemeinen Ordnung der Natur hergeleitet wird. Im
Orator bietet er nun gemäß eigener Aussage (174; 227) die ausführlichste Theorie
darüber: Nach einer Vorrede über das naturgegebene Beurteilungsvermögen (sensus) hin-
sichtlich des Rhythmus und über den Grundsatz der Übereinstimmung des Gedankens
mit der rhythmischen Gestaltung wird ihr Ursprung (origo; 174⫺176) bei den traditionel-
len Begründern, ganz besonders in den ausgefeilten Prosarhythmen des Isokrates gese-
hen. Als ihre Ursache (causa; 177 f.) bringt Cicero wieder naturgegebene Faktoren ins
Spiel, wie die akustische Ausrichtung auf und das Bedürfnis nach gliederndem Maß.
Ein Abschnitt zum Wesen des Prosarhythmus (natura; 179⫺203) behandelt einen
umfänglichen Fragenkatalog, innerhalb dessen die Darlegung des Aristoteles ⫺ unter
Einschluss uns nicht mehr erhaltener rhetorischer Schriften des Peripatos ⫺ ausgelegt
und bisweilen richtiggestellt wird. Die grundsätzlichen Erwägungen über das Vorhan-
densein und die Umsetzung des Rhythmus in Prosarede sind auf den gesamten Satz
bezogen. Wie bei Aristoteles gilt definitiv die Mittelstellung der Kunstprosa zwischen
gänzlich ungebundener Alltagssprache und poetischem Versmaß, welches aus Unacht-
samkeit fehlerhaft in jede Rede eindringen kann; doch Cicero macht sich zudem für das
Prinzip der variatio stark, die er in der Anweisung seines Vorgängers, den Paion zu
benutzen, nicht verwirklicht sieht (vgl. 214 f.). Daraus ergibt sich die Forderung nach
1508 VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik

einem ausgewogenen Mischungsverhältnis der in den verschiedenen Redegattungen na-


turgemäß vorhandenen Metren, von denen der Iambus (d. h. allgemein 2 :1-Rhythmen,
auch Tr) die niedere (humile) Umgangssprache dominiere, der Paion eher in den höheren
Genera verwendet werde und der Daktylus (d. h. auch An, Sp) überall anzutreffen sei.
Folgerichtig widerspricht er der verbreiteten Ansicht, nur der Schlussrhythmus verdiene
Beachtung, und legt dar, wie in der kunstvollen Periode ein durchgängiger Rhythmus,
im wörtlichen Sinne eines dynamischen Fließens, durch ebenso bewusstes wie unauffäl-
liges Maß auf das Ende als wichtigste Klangmarkierung hinzielen muss.
Mit einer Reihe damals kontrovers behandelter Fragen zu Umfang und Gliederung
eines Satzes, die dann aber nicht abgearbeitet werden, wird das letzte Kapitel über die
praktische Anwendung (usus; 204⫺236) eröffnet. Der Autor hat vor allem die forensische
Rede im Blick. Zwar sei die oratio vincta (Periode) für die Geschichtsschreibung und die
auf Unterhaltung (delectare) zielende epideiktische Rede nach Art des Isokrates das al-
lein passende Instrument, bei den Gerichts- und den beratenden Volksreden hingegen
dürfe man sie nur an bestimmten Stellen (etwa beim Lob oder zur amplificatio) einsetzen,
weil sonst das künstliche Gepräge durchschaut würde und dadurch Mitempfinden wie
Vertrauen verloren gingen. In Einzelheiten wird erklärt, wo welche Art der rhythmisier-
ten Rede angewandt werden soll; Cicero empfiehlt als Klausel insbesondere den Dicho-
reus (ChCh), der in Asien allerdings zu ausschweifend Anwendung finde. Als weitere
abschließende Metren nennt er Cr statt des von Aristoteles und seinen Nachfolgern an-
geratenen Pmi, bei Kommata den behäbigen Sp, in Verbindung mit vorausgehendem Ia,
Tr oder Da generell die Schlussfüße Ch bzw. Sp. Der Dochmius (IaCr) dürfe wegen
seiner Auffälligkeit nicht häufiger gesucht werden. Über allem steht aber die Forderung,
dass sich die oratio numerosa, die nie den Verdacht einer regelhaften Rhythmisierung
erwecken darf, aufgrund der gekonnten Komposition der Worte zwanglos von selbst ein-
stellt.
Am Schluss tritt das apologetische Anliegen der Schrift klar hervor: Cicero verteidigt
die in der forensischen Gattung übliche Redeweise durch Monokola und „dolchartige“
Kommata, die durch eingeflochtene Perioden immer wieder ins Maß gebracht werde,
gegenüber der asiatischen Praxis, bei der ausschließlich kleinteilige Sätze mit monotonen
Rhythmen wie kleine Verse aneindergereiht würden. Auf der anderen Seite führt er
seinen attizistischen Gegnern vor, wie eine ungebundene Aussage durch gekonnte
Wortstellung in eine den Gedankengang abzeichnende Periode überführt werden kann,
bei der ein zwangloser Rhythmus seine Wirkung auf den Hörer entfaltet.

3.4. Quintilian, Institutio oratoria 9,4

Infolge der von Aristoteles begonnenen Systematisierung wird die compositio fest im
Lehrgebäude der Rhetorik integriert, so dass sie schließlich bei Quintilian innerhalb der
„Ausformulierung“ (elocutio) der Stilqualität des Schmucks (ornatus) zugeordnet ist. Die
Satzlehre bildet hier einen eigenständigen Bereich neben der Figurenlehre und umfasst
die Reihenfolge der Wörter (ordo), die Wortverbindung (iunctura) und den Rhythmus
(numerus). Die rhetorische Satzkomposition kommt nach den drei Änderungskategorien
adiectio, detractio und mutatio zustande; ihr Ziel besteht darin, den Satz in seiner Qua-
lität ehrwürdig (honesta), seiner Wirkung angenehm (iucunda) und seiner Ausführung
abwechslungsreich (varia) zu gestalten (146).
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik 1509

Nach anfänglichen Erwägungen zur Bedeutung der compositio und zur gebundenen
Rede als ihr Behandlungsgegenstand (series conexa gegenüber soluta) wird das Thema
nach den drei Gliederungspunkten behandelt:
Die Wortanordnung (ordo; 23⫺32) darf nie auf Kosten der Klarheit (perspicuitas)
erfolgen; in ihr soll sich möglichst eine Steigerung des Gedankens oder des Ausdrucks
abzeichnen, wobei konzediert wird, dass unveränderliche natürliche Reihenfolgen der
Wörter in idiomatischen Ausdrücken existieren (Mann und Frau, Tag und Nacht). Das
stoische Verständnis einer natürlichen und damit die Disziplin der Rhetorik nicht tan-
gierenden Regelung der Wortfügung wird freilich rundweg abgelehnt. Wichtigstes Krite-
rium für jede Wortfolge, besonders die Setzung des Verbs, in dem die Kraft der Rede
liegt, ist der jeweils entstehende Rhythmus.
Unter dem Aspekt der Verbindung (iunctura; 32⫺44) gibt Quintilian lautliche Regeln,
so etwa, dass eine Schlusssilbe und die folgende Anfangssilbe kein unanständiges Wort
ergeben oder auch nur gleich sein dürfen. Der Hiat soll nach der Art des Demosthenes
und des Cicero nur insofern gemieden werden, als sich keine übertriebene Ängstlichkeit
wie bei Isokrates und Theopomp erkennen lässt. Bisweilen können sogar Vokalzusam-
menstöße den Ausdruck stilistisch verstärken (Cic. Or. 77) und andererseits Konsonan-
tenfolgen den Redefluss behindern. Das Aneinanderfügen einsilbiger bzw. kurzer oder
aber ganz langer Wörter ist zu meiden, ebenso mehrere Wörter mit gleichem Rhythmus
und gleicher Endsilbe. Kurzum, in allem soll der Grundatz der varietas herrschen.
In den Darlegungen zum Prosarhythmus (numerus; 45⫺120) stehen Erwägungen zur
Terminologie an erster Stelle. Um nicht in den Verdacht zu geraten, poetische Satzrhyth-
men zu favorisieren, wenn generell von numeri gesprochen wird, führt der Rhetoriker in
Anlehnung an Cicero (Cic. Or. 190) die Bezeichnung „rednerischer Rhythmus“ (oratorius
numerus) in einem spezifischen Sinne für die Klausel ein; die diesbezüglichen Regeln
gewinnt Quintilian aus einer aufwendigen Analyse der ciceronianischen Reden. Im Hin-
blick auf ihre die Satzkomponenten distinguierende Funktion wird den rhythmischen
Kadenzen, in welchen wie in der Dichtung lange Wörter zu unterlassen seien, größte
Beachtung geschenkt. Doch dürfen sich Prosarhythmus und Versrhythmus (z. B. Klausel
und Hexameterkadenz; 102) keineswegs entsprechen, passend hingegen seien Vers-
anfänge als Klausel und Versenden als Satzanfang. In der Satzmitte dürfe keinesfalls
eine Häufung von Kürzen einen hüpfenden Missklang erzeugen.
Das Kapitel wird beschlossen mit subtilen Überlegungen zu den Anwendungsberei-
chen der Periode (122⫺30), die an Cicero orientiert sind, und zu Eigenarten und Wirk-
mechanismen der Rhythmen (131⫺146). Am Ende steht das Fazit, dass die Rede, wie
sehr sie auch gebunden (vincta) ist, ungebunden (soluta) scheinen soll, „damit es so aus-
sieht, als habe sich der Rhythmus von selbst eingestellt“ (147).

4. Moderne Analyse der Satzkomposition


4.1. Satzteilabolge
Schon in der Antike meinte Chrysipp, einen natürlichen Satzbau des Griechischen in der
folgenden Weise wiederzuerkennen: Subjekt (S)/Objekt (O), Prädikat (P), Adverb, ⫺
wobei Substantive vor Adjektiven stehen (Dion. 5). Dionysios widerlegt diese Ansicht,
und nach ihm entkräftet Quintilian für das Lateinische ausdrücklich die Festellung „ge-
1510 VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik

wisser Leute“, dass die Abfolge der Satzteile bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliege,
rät aber im Normalfall zur chronologischen Reihung der Aussagen und zur Endstellung
des Verbes (Quint. 25 f.), in dem die „Kraft der Sprache“ (sermonis vis) liege.
Die moderne Analyse konnte zur Abfolge der einzelnen Satzteile nur schwerlich all-
gemeine Regeln formulieren, da sich Unterschiede je nach Stilart und Epoche ergeben.
Aufgrund satzrhythmischer und satzmelodischer Faktoren bilden die Schriftsteller, sei es
bewusst oder unbewusst individuelle Gewohnheiten aus (Frisk 1932, 178). Es lässt sich
nachweisen, dass Schriften kommunikativen Charakters (wie Reden, Platon-Dialoge) in
Hauptsätzen zur Abfolge S O P tendieren, hingegen die Historiker seit Herodot und
im hellenistischen Griechisch zwischen den Wortstellungen S P O und S O P variieren.
Gegenüber dem klassischen Griechisch ist im späteren, zur regelhafteren Wortstellung
strebenden Gemeingriechischen, der Koinĕ, die häufige Voranstellung des Prädikates in
temporalen und relativen Nebensätzen bei nichtpronominalem Subjekt auffällig. Was
allerdings als habituell statistisch erkennbar wird, kann jederzeit aus logischen bzw. stilis-
tischen Gründen durchbrochen werden (Frisk 1932, 14⫺34).
Dies gilt etwa auch für die Stellung der attributiven Adjektive, von denen die primär
das Bezugswort aus einer Allgemeinheit distinguierenden, determinativen (wie irdisch,
hölzern) in der älteren griechischen Prosa wie im Lateinischen normalerweise nachstehen
und nur zur logischen oder affektiven Betonung vor ihr Bezugswort treten, was wiede-
rum für die qualifikativ bzw. quantitativ wertenden Attribute (wie gut, groß) die unpoin-
tierte Stellung ist. Wo die Verbindung des vorangestellten Attributs durch Zwischenstel-
lung anderer Wörter unterbrochen ist (Hyperbaton), lässt sich wegen der entstehenden
Spannung eine hervorhebende Wirkung erkennen (Marouzeau 1922, 218 f.; Bergson
1960, 101⫺108).
Für das Lateinische ist ein allgemeines Grundprinzip der syntaktischen Wortstellung
ersichtlich, welches auf der psychologischen Tatsache beruht, dass Anfang oder Ende
eines Satzes bzw. Nebensatzes am intensivsten wahrgenommen werden; dort stehen dann
auch die betonten Satzkomponenten (Hale/Buck 1903, 334⫺340). Demgemäß ist die
normale, freilich rhetorisch jederzeit modifizierbare Reihenfolge: S und seine Bestim-
mungen, entlegenere Bestimmungen, indirektes und direktes O, Adv, P.
Diese seit der Antike in der Rhetorik betriebene stilistische Analyse der Syntax wird
ergänzt durch die von Eduard Fraenkel (1964) für sämtliche antike Texte geforderte
Kolometrie, bei welcher für die Erfassung der stilistischen Eigenart eines Autors die Text-
Strukturierung nach Kola (in einigen Texteditionen auch optisch im Schriftbild) heraus-
gestellt wird. Entgegen der antiken Theorie können hier die Anfangsworte eines Satzes
als außerhalb des ersten Kolons stehende ,Auftakte‘ begriffen werden.

4.2. Moderne Analyse des Prosarhythmus


Albert W. de Groot (1921) hat die Entwicklung des griechischen Prosarhythmus in drei
Stufen beschrieben: In der ersten Phase wirkt noch der Einfluss der Epik auf die histo-
rischen und philosophischen Texte, was sich z. B. an den Daktylen und den Hexame-
terschlüssen bei Herodot zeigt (Norden 1915, Bd. I, 45). Ein zweiter Entwicklungsschritt
ist durch „dithyrambische Prosametrik“ (ChoIa, ChIa, Cr, DaAn) bestimmt. In der drit-
ten und letzten Phase, die, angefangen bei Gorgias, die attische Rhetorik repräsentiert,
erfolgte die Konzentration auf die Schlussmetrik. Auf zwei markante Stilisten, Platon
für die Kunstprosa, Demosthenes für die politische Rede, sei kurz eingegangen.
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik 1511

Platons Dialoge, allen voran der Phaidros, zeugen durch ihren charakteristischen Stil-
mix und die Imitation der kritisierten Sophisten von ausgereiftem Gespür für rhyth-
mische Periodisierung innerhalb der jeweiligen Sprachniveaus (Thesleff 1967, 63⫺94). Die
oft zum Poetischen neigende Gestaltung brachte dem Autor bei einigen antiken Kritikern
den Vorwurf ein, der Stil sei dithyrambisch, ausgelassen und unbeherrscht (Norden 1915,
Bd. I, 104⫺113).
In Platons Gesamtwerk zeichnet sich aber ein Übergang von der zweiten in die dritte
Phase ab: Während er in den früheren Werken den Hiat nicht unbedingt mied, ist in den
spät verfassten Gesetzen neben der strikten Meidung des Hiats eine eigene Prosametrik
entwickelt. Hier treten die in der mittleren Schaffensphase vorhandenen Formen der
Poesie (ChIa, Cr, DaAn sowie Hexameterschluss) zurück, und wie kein anderer antiker
Autor zeigt Platon eine Vorliebe für die Klausel Pmi, was alles aufs Engste mit Aristo-
teles’ Anweisungen in der Rhetorik kongruiert (de Groot 1921, 45⫺62).
Die bevorzugte Klausel des Demosthenes ist ChCh (vgl. Quint. 97); häufig geht auch
ein Choriambus einem Creticus voran (ChIaCr). Im Satzrhythmus selbst finden sich
choriambische Rhythmen neben daktylischen, sowie die Häufung von Cr. Drei Kürzen
(Tribrachys) und mehr werden, wo immer möglich, gemieden (sog. ,Blass’sches Gesetz‘;
Blass 1893, 105), ebenso die als umgangssprachlich empfundene Häufung von Kürzen
neben Längen (Ia, Sp). Den Hiat meidet Demosthenes nicht in derselben Strenge wie
Isokrates; öfter als bei diesem ist das Zusammentreffen von Vokalen durch Ausstoßen
des ersten Vokals (Elision; vgl. Cic. Or. 152), Verschmelzung (Krasis) oder konsonan-
tische Lesung des Iota bei Diphthongen aufgehoben, z. B. kaj statt kai (Blass 1893,
103 f.). Dabei fällt auf, dass offenbar in weniger genau redigierten Reden mehr Hiate
stehengeblieben sind als in den überarbeiteten Texten.
Die Ausprägungen der griechischen rhythmisierten Prosa haben auf die römische Li-
teratur eingewirkt. Nach einer ersten Epoche, in der die Rede wie bei Cato (3./2. Jh.
v. Chr.) durch kunstvolle Antithesen und Wortstellungen eine gefühlsmäßige Rhythmisie-
rung erfährt (Gell. X 3), setzt mit C. Gracchus (2. Jh. v. Chr.) die Zeit der ausgewogenen
Satz-Komposition im Sinne einer bewusst geregelten Anwendung der Prosametren ein
(Gell. XI 13). Seit Q. Metellus sind fast alle überlieferten Texte nach den Regeln der
griechischen Schlussmetrik durchgestaltet. Neben individuellen Vorlieben herrschen die
gängigen Schlussklauseln vor: ChCh, CrCr, PmaCh, CrCh(Ch), ChChIa. In Opposition
zu den wirkungsvollen Stilisten, zu denen allen voran Cicero und Cäsar gehören, gibt
sich eine kleinere archaisierende Strömung als geradezu ametrisch zu erkennen (vgl. Taci-
tus dial. 23). Die beiden Pole stehen aber nicht in Analogie zur Konstruktion einer asia-
nischen bzw. attischen Richtung, welch letztere gegenüber der ersteren jede Prosametrik
abgelehnt hätte (de Groot 1921, 97 gegen Nordens Konzept).
Die Analyse der Texte Ciceros lässt erkennen, dass er tatsächlich auf die Kritik der
Attizisten reagiert hat, welche die rhythmische Variatio forderten. Während in den Jah-
ren 57/56 v. Chr. die Formen (Cr)CrCho 42 % seiner Klauseln ausmachen, ergibt eine
Stichprobe für die 40er Jahre nur noch 28,3 %. Passend zu den autobiographischen An-
gaben ist überhaupt eine Entwicklung vom jugendlichen Dilettantismus hin zur Ab-
geklärtheit im Alter erkennbar (Norden 1915, Bd. I, 226⫺233).
Primmer (1968, 106⫺9) unterscheidet in seiner Analyse zwischen schlussstarken und
schlussschwachen Klauseln, indem er deren Stellung an syntaktisch schwächeren oder
stärkeren Einschnitten vergleicht („Stufenvergeich“): Wenn man die Häufigkeiten be-
stimmter Klauseln innerhalb der drei verschiedenen Unterteilungen Komma, Kolon, Pe-
1512 VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik

riode untersucht, stellt sich z. B. heraus, dass das Metrum der Form esse videatur
(PmaCh) im Vergleich zu anderen Formen signifikant häufig, nämlich zu fast 50 % seines
Auftretens, am Periodenende zum Einsatz kommt.
Wie die zahlreichen meist statistischen Einzeluntersuchungen zeigen, hatten die über-
lieferten Autoren entsprechend ihren Stilvorbildern bestimmte Vorlieben für Satzkom-
position und Rhythmen (de Groot 1921, 73⫺92).
Wilhelm Meyer (1893, 241⫺258) meinte in der lateinischen Prosa ab dem 2. Jh. n. Chr.
eine allgemeingültige Grundregel für Klauseln erkennen zu können, wonach diese auf
zwei oft aufgelösten und manchmal auch zum Baccheus verschobenen Kretikern be-
ruhten.
Wie in der späteren Systematik des fragmentarisch überlieferten Caesius Bassus er-
kennbar, tritt in der Rhetorik nach Quintilian allmählich immer mehr die Beachtung der
Silbenquantitäten hinter derjenigen von Akzentuierung und Silbenanzahl bzw. Wortgren-
zen zurück, wenn sich auch große Stilistiker wie der Kirchenvater Augustinus in genauer
Kenntnis der rhetorischen Satzlehre (De doctr. christ. 4,13; 4,40; 4,41) noch dem quanti-
tierenden Rhythmus verpflichtet zeigen (Zwierlein 2002). Aus den gängigen quantitieren-
den Klauseln der ciceronianischen Prosa gehen schließlich die schon im 2. Jh. bei Plinius
d. Jüngeren und Apuleius erkennbaren und im 12 Jh. kanonisierten cursus hervor, welche
sich in drei Grundtypen je nach den Betonungen (X) der beiden Schlusswörter eines
Kolons unter Beachtung der Silbenanzahl des letzten Wortes unterscheiden lassen: c.
velox … Xxx |xxXx am häufigsten, außerdem c. planus … Xx |xXx und c. tardus … Xx
|xXxx. Bei den lateinischen Panegyrikern und den christlichen Schriftstellern ab dem
4. Jh. n. Chr. erkennt man außerdem die mit der modernen Bezeichnung cursus trispon-
daicus oder dispondaicus benannte Klausel, mit drei Senkungen zwischen den betonten
Silben: … Xx |xxXx (Oberhelman 1988).
Entsprechend diesen rhythmischen Schlüssen und vielleicht davon beeinflusst tritt in
griechischer Kunstprosa seit Synesios von Kyrene kurz vor 400 n. Chr. eine ähnliche
Gesetzmäßigkeit zutage (,Meyersches Gesetz‘), nach welcher in Perioden bei den „Silben,
die einer Sinnespause unmittelbar vorangehen“ nur noch der Wortakzent beachtet wird
und „vor der letzten Hebung mindestens 2 Senkungen stehen“, wobei bisweilen der Ak-
zent vorangehender „Hilfswörter“ wie Artikel, Pronomina, Präpositionen u. ä. unberück-
sichtigt bleibt (Meyer 1891, 206; vgl. Hörander 1981, 26⫺37). Im 4. Jh. zeigen sich Stilis-
tiker wie Kaiser Julian und Libanios noch völlig unbeeindruckt von der Entwicklung,
bei der die musikalische Akzentuierung zugunsten der exspiratorischen Betonung verlo-
rengeht. Doch seit dem 5. Jh. wandten alle bedeutenden Schriftsteller bis weit in die
byzantinische Zeit hinein die auf dem Druckakzent beruhenden Klauseln an (Hörander
1981, 54⫺61).

5. Literatur (in Auswahl)

Apollonius Dyscole (1997): De la construction ⫽ Perı̀ syntáxeōs. Texte grec accompagné de notes
critiques, introduction, traduction, notes exégétiques, index par Jean Lallot. 2 Bde. Paris (His-
toire des doctrines de l’antiquité classique, 19).
Apollonius Dyskolos (1877): Vier Bücher über die Syntax. Übers. u. erl. v. Alexander Buttmann.
Berlin.
90. Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik 1513

Arist. ⫽ Aristoteles (1980): Rhetorik. Übers., mit e. Bibliogr., Erl. u. e. Nachw. von Franz G.
Sieveke, hier: Buch 3, Kap. 8⫺9. München.
Arist. ⫽ Aristoteles (1976): Ars rhetorica. Hrsg. v. Rudolf Kassel. Berlin.
Augustinus (1963): Sancti Augustini opera. Sect. 6, Ps. 6: De doctrina Christiana libri quattuor. Ed.
by William M. Green. Vindobonae (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, 80). Dt.:
Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte praktische Schriften. Übers. v. Si-
gisbert Mitterer. München 1925, 160⫺225.
Behaghel, Otto (1909): Beziehungen zwischen Umfang und Reihenfolge von Satzgliedern. In: Indo-
germanische Forschungen 25, 110⫺142.
Bergson, Leif (1960): Die Stellung des Adjektivs in der älteren griechischen Prosa. Uppsala.
Blass, Friedrich (1887⫺1898): Die Attische Beredsamkeit. Bde. I (1887), II (1892), III.1 (1893), III.2
(1898). 2. Aufl. Leipzig.
Caesius Bassus (1874): De compositionibus. In: Heinrich Keil (Hrsg.): Grammatici Latini. 7 Bde.,
hier: Bd. 6. Leipzig, 308⫺312.
Cic. Brut. ⫽ Cicero (1990): Brutus. Hrsg. u. übers. von Bernhard Kytzler. München.
Cic. Or. ⫽ Cicero (1998): Orator. Lat./dt. Hrsg. v. Bernhard Kytzler. 4. Aufl. München/Zürich
(Sammlung Tusculum).
Cic. De or. ⫽ Cicero (2007): De oratore. Über den Redner. Lat./dt. Hrsg. u. übers. v. Theodor
Nüßlein. Düsseldorf.
Dem. ⫽ Ps.-Demetrios von Phaleron (1969): De elocutione. Griech./engl. Hrsg. u. übers. v. William
Rhys Roberts. Nachdruck Cambridge 1902. Hildesheim.
Dem. ⫽ Demetrius Phalereus (1923): Vom Stil. Übers. v. Emil Orth. Saarbrücken/München.
Denniston, John Dewar (1952): Greek Prose Style. Oxford.
Dion. ⫽ Dionysios von Halikarnass (1987): De compositione verborum. Griech./engl. Hrsg. u.
übers. v. William Rhys Roberts. Nachdruck London 1910. New York u. a.
Dräger, Paul (2003): Periode. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6, Sp. 750⫺760.
Fortun. ⫽ Consultius Fortunatianus (1863): Ars rhetorica [3,10⫺12]. In: Karl Halm (Hrsg.): Rhe-
tores Latini minores. Leipzig, 127,7⫺128,19.
Fraenkel, Eduard (1964): Kleine Beiträge zur klassischen Philologie. 2 Bde., hier Bd. 1: Zur Sprache.
Zur griechischen Literatur. Rom, 73⫺139 (Storia e letteratura, 95).
Frisk, Hjalmar (1932): Studien zur griechischen Wortstellung. Göteborg (Göteborgs Högskolas Års-
skrift, 39).
Gell. ⫽ Gellius, Aulus (1903): Noctes Atticae. Post Martinum Hertz ed. Carolus Hosius. 2 Bde.
Leipzig.
Gell. ⫽ Gellius, Aulus (1967⫺1970): The attic nights of Aulus Gellius. Lat./engl. Transl. by John
C. Rolfe. Reprint London/Cambridge, Mass. 1927. London/Cambridge, Mass.
Graeven, Hans (1895): Ein Fragment des Lachares. In: Hermes 30, 291⫺298.
de Groot, Albert W. (1921): Der antike Prosarhythmus. Zugleich Fortsetzung des Handbook of
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Hale, William Gardner/Carl Darling Buck (1903): A Latin Grammar. Boston/London.
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Lausberg, Heinrich (1960): Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literatur-
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Ps.-Long. ⫽ Ps.-Longinus (1965): Peri hypsous/Du sublime. Texte établi et traduit par Herni Le-
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Ps.-Long. ⫽ Ps.-Longinus (1988): Peri hypsous/Vom Erhabenen. Griech./dt. Übers. u. hrsg. v. Otto
Schönberger. Stuttgart.
Marouzeau, Jules (1922): L’ordre des mots dans la phrase latine. 3 Bde., hier Bd. 1: Les groupes
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Gregor Staab, Köln (Deutschland)

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