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DOI 10.

1515/zrs-2012-0033  ZRS 2012; 4: 162–166

Dmitrij Dobrovol’skij & Elisabeth Piirainen. 2009. Zur Theorie der Phraseolo-
gie. Kognitive und kulturelle Aspekte (Stauffenburg Linguistik 49). Tübingen:
Stauffenburg. 211 S.

Arbeiten zur Phraseologie des Deutschen und anderer Sprachen sind zwar an
sich kaum mehr überschaubar, sprachtheoretisch ausgerichtete Studien zur Er-
fassung des Untersuchungsgegenstandes sind jedoch nicht gerade in Überzahl
vorhanden. Umso mehr ist es zu begrüßen, wenn Grundlagen einer allgemeinen
Theorie der Phraseologie erarbeitet werden, wie es in dem vorliegenden Band
aus der Feder zweier renommierter Phraseologen der Fall ist. Eine solche Theo-
rie muss nach Ansicht der Autoren „erklären können, warum es in der Sprache
Idiome gibt und worin deren besondere Leistung liegt“ (S. 11), da sie als kom-
plexe sprachliche Einheiten gegenüber einfachen Einheiten sprachökonomi-
schen Anforderungen nur in geringerem Maße genügen.
Wie aus der allgemeinen Zielsetzung ersichtlich ist, geht es den Autoren –
anders als der Titel eigentlich erwarten lässt – nicht um die Gesamtheit der
Phraseme, sondern sie stellen die Idiome als Kernbereich der Phraseologie in
den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Die Fokussierung jener Einheiten, die sich
gegenüber anderen festen Mehrworteinheiten in vielen Fällen durch seman-
tisch-syntaktische Besonderheiten, bisweilen auch Irregularitäten, auszeichnen,
gründet sich darauf, dass es sich um „eine besondere Art von bildlichen Lexi-
koneinheiten“ (S. 12) handelt, die viele Gemeinsamkeiten mit anderen metapho-
rischen und übertragen zu verstehenden Einheiten aufweisen. Aus diesem
Grund ist eine allein in der Phraseologie verortete Untersuchung nicht ausrei-
chend. Vielmehr ist als weitere sprachtheoretische Komponente eine Betrach-
tung aus der Perspektive des bildlichen Lexikons erforderlich (vgl. ebd.), um
der „zweischichtige[n] Semantik“ (ebd.) aus lexikalisierter bzw. figurativer Be-
deutung und wörtlicher Bedeutung bzw. dem mentalen Bild, das der semanti-
schen Entwicklung eines Idioms zugrunde liegt, gerecht zu werden.
Die bildliche Bedeutungskomponente, d. h. die jeweiligen „Spuren des Bil-
des in der Bedeutung des Idioms“ (S. 13), steht demzufolge im Zentrum der
Überlegungen und legt einerseits eine kognitive, andererseits eine kulturorien-
tierte Perspektive nahe. Denn zum einen können die mentalen Bilder, die den
Idiomen zugrunde liegen, nur kognitionslinguistisch angemessen erfasst wer-
den, da es sich um Wissensstrukturen handelt; zum anderen stellen sie ein kul-
turgebundenes Phänomen dar, da sie sehr oft kulturell relevante Wissensele-
mente enthalten und bewahren. Leitlinie für die Entwicklung des theoretischen
Ansatzes ist für die Autoren daher folgende Grundannahme:
Zur Theorie der Phraseologie  163

„Die Bildkomponente (eine besondere konzeptuelle Struktur, die zwischen der lexika-
lischen Struktur und der lexikalisierten Bedeutung vermittelt) ist ein relevantes Element
der Semantik einer bildlichen Lexikoneinheit, darunter auch eines Idioms.“ (S. 13)

Diese Annahme entfalten die Autoren im Blick auf verschiedene Aspekte der
Idiomstruktur in vier großen Teilen: Semantik und Motivation, Syntax und Se-
mantik, Semantik und Pragmatik sowie Kontrastive Perspektive.
Den Ausgangspunkt bilden Überlegungen zur synchronischen Motivation
(bzw. Motivierbarkeit) und zu einer Typologie der Motivation von Idiomen. Un-
ter Rückgriff auf theoretische Konzepte wie Kognitive Metapherntheorie und
Frametheorie werden zunächst Formen der am häufigsten beobachtbaren se-
mantischen Motivation erläutert und unterschieden: die metaphorische Motiva-
tion, die durch unterschiedliche Aspekte des kulturellen Wissens bestimmt wird
(z. B. jmdn. hinters Licht führen als Ausdruck der konzeptuellen Metapher TÄU-
SCHUNG IST STÖRUNG DES SEHVERMÖGENS, ein rotes Tuch für jmdn. sein als frameba-
sierte Metapher unter Rekurs auf den Frame STIERKAMPF), die symbolische, auf
semiotischen Konventionen beruhende Motivation (z. B. ein goldenes Herz ha-
ben, dessen motivierende Verbindung zwischen Bild und figurativer Bedeutung
auf dem Kultursymbol GOLD in den Funktionen des Guten, Wertvollen usw. be-
ruht) und der Sonderfall der intertextuellen Motivation (z. B. gegen/mit Wind-
mühlen kämpfen). Eher selten sind daneben Fälle „indexaler Motivation“, die
auf in der Form des Idioms angelegten phonischen (z. B. den heiligen Ulrich an-
rufen ‚sich übergeben‘) oder pragmatischen (z. B. und ich bin der Kaiser von Chi-
na ‚das ist äußerst unglaubwürdig‘) Verweisen beruhen und andere Beschrei-
bungskonzepte wie das der pragmatischen Implikaturen erfordern. Dass sich in
Ausnahmefällen in einem Idiom mehrere Motivationstypen gleichzeitig nieder-
schlagen können, bezeichnen die Autoren als „Blending der Motivationstypen“
(S. 39) (z. B. sich wie im siebten Himmel fühlen – u. a. mit Wirksamkeit der Orien-
tierungsmetapher RÄUMLICHE HÖHE IST GLÜCKSEMPFINDUNG, Anspielung auf den
Frame HIMMEL als Ort des GLÜCKLICHSEINS und auf den Symbolwert der Zahl SIE-
BEN).
Im Teil „Syntax und Semantik“, den die Autoren für die Theoriebildung als
„Grammatik der Idiome“ bezeichnen, werden in zwei Kapiteln die semantische
Teilbarkeit der Idiomstruktur und die syntaktischen Transformationen mit ihren
semantischen Ursachen diskutiert. Die Autoren erörtern zunächst die Möglich-
keit der semantischen Teilbarkeit von Idiomen, d. h. ob bzw. inwieweit idioma-
tische Ausdrücke in sinnvolle Bestandteile zerlegt werden können (Er hat in sei-
nem Leben schon so manches Porzellan zerschlagen). Sehr umsichtig wird an
Beispielen zunächst grundsätzlich herausgearbeitet, dass „der Grad der syntak-
tischen Flexibilität nicht ohne weiteres als Kriterium für die Bestimmung des
Teilbarkeitsgrades postuliert werden kann“ (S. 50) (vgl. z. B. Hans hat den Vogel
164  Stephan Stein

abgeschossen – Den Vogel hat Hans abgeschossen – Den Vogel abgeschossen hat
Hans – *Abgeschossen hat Hans den Vogel). Die klassische Annahme einer
Nichtkompositionalität der Idiombedeutung (vgl. ins Gras beißen) relativieren
die Autoren dahingehend, dass für die Dekompositionalität eines Idioms nicht
die Syntax, sondern die Semantik ausschlaggebend ist, da die semantischen Be-
sonderheiten, die die Teilbarkeit betreffen, auf der Struktur der zugrunde liegen-
den Metapher basieren (vgl. S. 60), und zwar je nachdem, ob die Strukturen im
Ausgangs- und im Zielbereich übereinstimmen oder nicht.
Dass die Bildkomponente nicht nur für die Motivation maßgeblich ist, son-
dern auch über die Teilbarkeit entscheidet und damit auch über Aspekte der Syn-
tax der Idiome, wird im Hinblick auf syntaktische Transformationen und trans-
formationelle Defekte diskutiert. Zugrunde liegt die Annahme, dass sich das
syntaktische Verhalten und die entsprechenden Restriktionen von Idiomen nicht
ausschließlich nach dem Sprachusus richten, sondern tiefer liegende semanti-
sche Ursachen haben (vgl. S. 61). Welche Faktoren und Regularitäten für die syn-
taktische Modifizierbarkeit von Idiomen ausschlaggebend sind, wird sehr
ausführlich in exemplarischer Weise am Beispiel der (gut erforschten, wenn auch
kontrovers diskutierten) Passivtransformation beschrieben. Wenn dabei auch an-
dere Transformationen und transformationelle Beschränkungen (z. B. Topikali-
sierung, anaphorische Pronominalisierung einzelner Idiomkonstituenten, Adjek-
tiverweiterung usw.), die andere Erklärungen und Beschreibungsansätze fordern,
ausgeklammert werden, so vermitteln die Überlegungen zur Passivierbarkeit von
Idiomen doch einen umfassenden Eindruck davon, welche strukturellen und
pragmatischen Faktoren das syntaktische Verhalten von Idiomen beeinflussen
bzw. steuern können. Die für die Passivierbarkeit u. a. notwendige Bedingung ei-
ner idiominternen NP-Promovierung (jmdm. einen Bären aufbinden – jmdm. wird
ein Bär aufgebunden) bekräftigt außerdem, dass die traditionelle Auffassung von
Idiomen als semantischen und syntaktischen Simplizia zu kurz greift, da (seman-
tisch teilbare) Idiome durchaus eine nicht-idiomatischen Wortverbindungen ver-
gleichbare syntaktische Flexibilität aufweisen können.
Unter der Überschrift „Semantik und Pragmatik“ setzen sich die Autoren
mit zwei Aspekten der Phrasemverwendung auseinander. Im Mittelpunkt stehen
zunächst usualisierte Wortspiele mit Idiomen. Ausgehend von einem kurzen
Überblick über die Prädisponiertheit von Phrasemen für Wortspiele und die Vor-
kommen okkasioneller Phrasemmodifikationen in der Literatur, in der Werbung
und in der Presse gehen die Autoren auf lexikalisierte Wortspiele mit Phrase-
men ein, die lexikographisch nachgewiesen, wenn auch nicht zwangsläufig all-
gemein bekannt sind (z. B. nachtragend wie ein Wasserbüffel sein). Phraseologi-
sche lexikalisierte Wortspiele kommen als Modifikation bereits bestehender
Phraseme (fix und foxi sein) und als eigenständige Phraseme (es rauscht im Blät-
Zur Theorie der Phraseologie  165

terwald) vor. Ihre Wirkung resultiert daraus, dass sie gegen grammatische Nor-
men (am dransten sein) bzw. gegen Kompatibilitätsbeschränkungen (stimmts
oder hab ich recht?) verstoßen oder dass sie die bildliche Konsistenz durch Blen-
ding zerstören (von Pontius zu Pilatus laufen).
Bekräftigen usualisierte Wortspiele die besondere Stellung der Bildkom-
ponente in der Inhaltsstruktur von Idiomen, wird in einem weiteren Schritt am
Beispiel geschlechtsspezifischer Restriktionen von Phrasemen bzw. geschlechts-
spezifisch markierter Phraseme (unter dem Pantoffel stehen – die Hosen anhaben)
die These überprüft, ob bzw. inwieweit geschlechtsspezifische Markierungen
auf die bildliche Bedeutungskomponente zurückzuführen sind. „Geschlechts-
spezifik“ wird dabei als „semantisch-pragmatische Markierung eines Ausdrucks
verstanden, der entweder im Zusammenhang nur mit männlichen oder nur mit
weiblichen Personen gebraucht werden kann“ (ebd.). Angesichts der lexikogra-
phischen Defizite in diesem Bereich der Phraseologie (vgl. S. 118ff.) prüfen die
Autoren potenzielle geschlechtsspezifische Restriktionen in exemplarischer
Weise für eine kleine Gruppe von zehn auf etwas „Männliches“ verweisenden
Idiomen, die auf die drei Themenbereiche ‚Tierkonzepte‘ (z. B. jmdm. schwillt
der Kamm), ‚soziokulturell bedingte Faktoren‘ (z. B. sich auf den Schlips getreten
fühlen) und ‚anatomische Spezifika‘ (sich etw. in den Bart murmeln/brummen)
bezogen sind. Eine Korpusanalyse liefert im Hinblick auf die Kookkurrenz mit
männlichen und weiblichen Aktanten den Nachweis dafür, dass die bildliche
Komponente in die lexikalisierte Idiombedeutung eingeht und dass sich für die
zugrunde gelegten Idiome Gebrauchsbeschränkungen ausschließlich oder über-
wiegend auf männliche Personen nachweisen lassen (vgl. S. 140).
„Kontrastive Aspekte“ bilden den abschließenden Teil der Überlegungen.
Angesprochen werden am Beispiel des Sprachvergleichs Deutsch-Russisch se-
mantische, syntaktische und pragmatische Aspekte der zwischensprachlichen
Äquivalenz von Idiomen, insbesondere soweit sie Differenzen zur Folge haben,
die auf unterschiedliche semantische Strukturen der figurativen Lesarten oder
auf die Unterschiedlichkeit der hervorgerufenen mentalen Bilder zurückzufüh-
ren sind. Dabei zeigt sich, dass die in zwei- und mehrsprachigen Wörterbüchern
angegebenen Äquivalenzbeziehungen in vielen Fällen zu relativieren sind. Wel-
che Konsequenzen sich daraus für die Übersetzbarkeit ergeben, ist Gegenstand
des letzten Kapitels, in dem, geordnet nach semantischen Klassen, auf einer
Korpusanalyse beruhende „kombinatorische Cluster“ mit ihren semantischen
Lesarten erläutert werden (vgl. S. 175). Die Autoren bekräftigen auf dieser
Grundlage die Auffassung, dass ein Verlust an semantischer und/oder pragma-
tischer Information in Kauf zu nehmen ist und dass die Übersetzung eines L1-
Idioms mit einem quasi- oder pseudoäquivalenten L2-Idiom in der Regel „eine
weniger akzeptable Lösung darstellt als eine nichtidiomatische Übersetzung“
166  Stephan Stein

(S. 181), da die bildliche Bedeutungskomponente in die lexikalisierte Bedeutung


hineinwirken und eine zwischensprachliche Non-Äquivalenz nach sich ziehen
kann.
Die Autoren räumen in ihren Schlussbemerkungen ein, dass nicht eine „glo-
bale“ Theorie der Phraseologie angestrebt wird – die es angesichts der Vielfalt
und Heterogenität der als phraseologisch klassifizierten Einheiten vermutlich
auch nicht geben kann –, sondern „eine geeignete theoretische Grundlage für
die Erforschung bestimmter semantischer, syntaktischer und pragmatischer As-
pekte der Phraseologie“ (S. 184). Diesem Anspruch wird die Darstellung ohne
Zweifel gerecht, denn sie führt nicht nur verschiedene theoretische Ansätze (Ko-
gnitive Metapherntheorie, Frametheorie, Kultursemiotik u. a.) zusammen und
verbindet in der Phraseologieforschung etablierte Konzepte, sondern weitet den
Blickwinkel unter der Perspektive der bildlichen Bedeutungskomponente immer
wieder auch auf andere Einheiten des bildlichen Lexikons aus, so dass die
Überlegungen zu idiomatischen Einheiten in einen größeren theoretischen Zu-
sammenhang gestellt werden.
Aus einem Guss ist das vorliegende Buch dennoch nicht – dafür erweist
sich die Auswahl der diskutierten Phänomene als zu heterogen. Es bietet aber
theoretisch anspruchsvolle, in der Darstellungs- und Argumentationstiefe, in
der Methodik und im Beispielmaterial durchgehend überzeugende wie anregen-
de Überlegungen zur Analyse wesentlicher Eigenschaften von Idiomen und
stellt insgesamt einen wichtigen Beitrag zur theoretischen Modellierung ins-
besondere syntaktisch-semantischer Eigenschaften von Idiomen dar. Besonders
hervorzuheben ist, dass es den Autoren gelingt, einen Weg aufzuzeigen, „die
häufig praktizierte isolierte Betrachtung phraseologischer Ausdrücke zu über-
winden und in eine gesamthafte Betrachtung des (bildlichen) Lexikons einzu-
binden“ (S. 183). In dieser Hinsicht ist die Arbeit von Dobrovol’skij & Piirainen
zwar keine umfassende „Theorie der Phraseologie“, aber eine ausgesprochen
wichtige Ergänzung zu jenen sprachtheoretischen Arbeiten, die dem Bestand
syntaktisch-semantisch regulär gebildeter fester Wortverbindungen gewidmet
sind, wie es etwa im Konzept der „idiomatischen Prägung“ vor dem Hintergrund
einer pragmatischen Auffassung von Phraseologie der Fall ist.


Stephan Stein: Universität Trier, Fachbereich II – Germanistik, Universitätsring 15, D-54286
Trier, stein@uni-trier.de

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