Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Herausgegeben von
Klaus Baumgärtner und Peter von Matt
Textgrammatik
Beiträge zum Problem der Textualität
Herausgegeben von
Michael Schecker und Peter Wunderli
ISBN 3-484-22016-3
Vorwort VII
H. Weinrich
Skizze einer textlinguistischen Zahlentheorie 1
H. Vater
Pro-Formen des Deutschen 20
P. Wunderli
Der Prosatz «on. Substitutionsprobleme im Rahmen der transphrastischen
Syntax 43
H. Genaust
Voici und voilà. Eine textsyntaktische Analyse 76
M. Schecker
Verbvalenz und Satzthema 107
R. Meyer-Hermann
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen 146
R. Harweg
Präsuppositionen und Rekonstruktion. Zur Erzählsituation in Thomas
Manns Tristan aus textlinguistischer Sicht 166
P. Chr. Kern
Textproduktionen. Zitat und Ritual als Sprachhandlungen 186
Index 215
Vorwort
Allerdings ist der Text als Medium nicht zugänglich unter Ausschluß der Mei-
nungen, die im Text geäußert werden; Gadamer 5 hat dies zu Recht betont, und
auch Apel 6 hat darauf hingewiesen, daß hier eine spezifisch wissenschaftstheo-
retische Schwierigkeit der Linguistik liege. Daß man die Linguistik nicht den
hermeneutischen Wissenschaften zurechnen kann und daß sie nicht mit den Li-
teraturwissenschaften zusammengestellt werden darf 7 , soll später noch angedeu-
tet werden.
Nun gilt für den Text als Medium gerade nicht, was für den Text als ,Menge
von Meinungen' Gültigkeit hat, nämlich: daß ich beim Verstehen der Meinungen
eines Textes diese immer auch schon auf mich selber anwende 8 . Hier liegt ein
erster und entscheidender Unterschied zwischen dem literaturwissenschaftlichen
Textbegriff und demjenigen der Linguistik. Entsprechend handelt es sich bei den
von der Sprachwissenschaft ermittelten Regeln (z. B. der Artikelselektion, der
Pronominalisierung usw.) nicht um .praktische Regeln' (Habermas) 9 , wie sie für
den Einsatz sprachlicher Mittel, z. B. im Rahmen des Rollenverhaltens einer Ein-
kaufssituation, formuliert werden können 1 0 . Es handelt sich vielmehr um .tech-
nische Regeln' 11 , deren Kenntnis unser praktisches Wissen nicht erweitert und
unser Bewußtsein nicht verändert, kurz: die keine bessere Handlungsorientierung
bewirken.
Wenn man sich den Konsequenzen, die sich aus dem Gesagten ergeben, nicht
verschließt, so scheint der Textlinguist im Gegensatz zum Literaturwissenschaft-
ler nicht durch ein .praktisches' oder .emanzipatorisches Erkenntnisinteresse'
geleitet zu werden 1 2 , wenn er Texte als Medium zum Untersuchungsgegenstand
macht; und doch hängen solche Untersuchungen in ganz anderer Weise mit prak-
tisch-emanzipatorischen Bestrebungen zusammen, als diese z. B. in den Naturwis-
senschaften der Fall ist. Dies wird deutlich u. a. bei der Analyse von Gerichts-
urteilen und den typischen Versatzstücken ihrer Tatschilderungen oder bei der
Analyse der Kommunikationssituation bestimmter Texte (z.B. Werbung) (und
zwar nicht nur bei Kommunikationssituationen, die vom Text selber verbal vor-
gestellt werden, sondern auch bei solchen, auf die der Text implizit verweist
(etwa über Präsuppositionen).
Allgemein kann man sagen, daß der besondere Gebrauch, den ein Sprecher
vom Medium Sprache macht, zumindest potentiell auf dieses Medium selber zu-
rückschlägt und es verändert 13 ; nur in einem solchen Spannungsraum zwischen
sprachlichen Mitteln einerseits und individuellem Gebrauch 14 andererseits ist
Sprachwandel denkbar und jene vieldiskutierte schöpferische Produktivität des
,native Speaker' möglich, — letzteres wohl nur teilweise gemäß Chomsky 15 . Un-
ter der Kategorie der Arbeit würde der Text als Medium bzw. eine Sprache als
Menge von Mitteln nicht nur ,Organ der Arbeit' sein, sondern zugleich auch
.Produkt der Arbeit', durchaus vergleichbar dem Beispiel der menschlichen Hand
bei Engels16.
Nun dürfen freilich solche Überlegungen nicht dazu verführen, auch den Text
qua Medium ausschließlich als ,Kulturgegenstand' im weitesten Sinne zu ver-
stehen. Hier kann das Bild der Hand täuschen, und doch wirkt es zugleich auch
belehrend. Die Hand ist ja auch .Naturgegenstand' 17 , und zwar in dem Sinne,
daß sie bei aller Entwicklung rückgebunden bleibt an biologische Wachstums-
gesetze usw. Andererseits macht es aber allein eine solche Doppelseitigkeit des
Gegenstands möglich, bei aller Geschichtlichkeit der textkonstitutiven Mittel
einerseits zurückzugehen auf die generellen Bedingungen und Faktoren einer
jeweiligen Textkonstitution, und andererseits entsprechende Untersuchungen
in systematischer Weise auf praktisch-emanzipatorische Bestrebungen zu bezie-
hen. Um es nochmals zu betonen: das ist mehr noch als jene heuristische Ver-
Zum Schluß bleibt uns noch die angenehme Pflicht, Herrn Dr. H. Genaust für
seine Mithilfe an der Publikation dieses Sammelbandes zu danken. Er hat sämtliche
Korrekturen mitgelesen und die Endredaktion des Index mit großer Umsicht be-
sorgt. Ohne seinen Einsatz wäre eine erhebliche Verzögerung des Erscheinens des
Bandes nicht zu vermeiden gewesen.
Singular, Plural und die Zahlen — wo steckt da das Problem? Singular ist „Ein-
zahl", Plural ist „Mehrzahl", und diese Frage bereitet seit den Pythagoreern, die
die Eins nicht zu den Zahlen rechneten, niemandem mehr Kopfzerbrechen1. Ich
meine nun aber, daß es interessant sein könnte, hier ein linguistisches Problem zu
entdecken. Das setzt eine bestimmte linguistische Theorie voraus. Ich wähle
eine Theorie, die sich an den Begriffen Kommunikation, Instruktion und Text
orientiert (mnemotechnisches Stichwort: C-I-T-Linguistik).. Das besagt insbe-
sondere für die syntaktischen Sprachzeichen, daß sie daraufhin befragt werden
sollen, welche Instruktion sie in einem Text für die Kommunikation geben.
Wenn man diese Bedingungen stellt, wird auch das Strukturproblem von Sin-
gular und Plural sowie das textlinguistische Problem der Zahlen erkennbar.
In den europäischen Sprachen, die keinen Dual (mehr) kennen, bilden Singu-
lar und Plural eine binäre Opposition, die Numerus-Opposition. Die Numerus-
Morpheme verbinden sich, bei geringen Unterschieden je nach den einzelnen
Sprachen, mit den drei Lexem-Klassen Verb, Nomen und Adjektiv und tragen
auf diese Weise zur textuellen Kongruenz bei. Wenn also in einem kurzen
Textsegment der französischen Sprache wie /les jeux sont faits/ der Plural
phonetisch zweimal und orthographisch sogar viermal bezeichnet wird, so ist
diese Erscheinung ein wichtiges Merkmal der Textualität.
Unter den Gesichtspunkten Kommunikation und Instruktion soll nun wei-
ter gefragt werden, inwiefern die Numerus-Morpheme als Anweisungen aufgefaßt
werden können, durch die ein Sprecher einem Hörer in einem Sprachspiel be-
1 Zur antiken Zahlentheorie vgl. insbesondere: B.L. van der Waerden, Die Arithmetik
der Pythagoräer, in: Mathematische Annalen 120 (1947/49), 127-153 und 676 bis
700. - Léon Robin, La théorie platonicienne des idées et des nombres, Paris 1908,
Nachdruck Hildesheim 1963.
2 H. Weinrich
Das sind nun aber nur die Kommunikanten im Singular. In Verbindung mit
den Morphemen des Plurals verändert sich das Modell der Kommunikanten
(die „Kommunikations-Ellipse") in charakteristischer Weise. Das Modell kann
ja nicht im Sinne einer trivialen Numerus-Auffassung „vermehrt" werden. Es
Textlinguistische Zahlentheorie 3
kann nur anders organisiert werden. Das geschieht auch tatsächlich, wenn die
Kommunikanten sich mit dem Plural-Morphem verbinden. Während das Singu-
lar-Morphem dem Hörer die Anweisung gibt, die Kommunikanten, die ja als
Terme einer Opposition unterscheidbar sind, auch tatsächlich zu unterscheiden,
wird der Hörer durch das Plural-Morphem angewiesen, die Unterscheidbarkeit
der Kommunikanten nicht zu aktualisieren und diese vielmehr zusammenzu-
fassen. Die Möglichkeit der Zusammenfassung beginnt bei zwei Elementen. Hier
beginnt also auch der Plural. Der „Sender-Plural" ist in diesem Sinne an die
folgenden Strukturbedingungen geknüpft: [+S], [+X]; zu lesen: verlangt wird die
Zusammenfassung des Senders [S] und mindestens eines weiteren Elementes
[X] (das kann der Empfänger und/oder ein Element aus der großen Restka-
tegorie des Referenten sein). Der „Empfänger-Plural" hat die Merkmale [+ E],
[+Y], [—SJ ; zu lesen: verlangt wird die Zusammenfassung des Empfängers
[E] und mindestens eines weiteren Elementes [Y], das nicht Sender sein darf.
Und der „Referenten-Plural" hat schließlich die Strukturformel: [+X], [+Y],
[—S], [—E]; zu lesen: verlangt wird die Zusammenfassung mindestens zweier
verschiedener Elemente, die beide weder der Sender noch der Empfänger sein
dürfen.
i 1
SENDER-PLURAL I [+S], [ + E ]
_J
S E N D E R - P L U R A L II [ + S ] , [+X], [ - E l
: EMPFÄNGER-PLURAL [ + E ] , [ + Y ] , [ — S]
REFERENTEN-PLURAL ( + X J , [ + Y ] , [ —SJ, [— EJ
4 H. Weinrich
Aus dieser kleinen Skizze wird nun deutlich, daß die Anweisungen der Nu-
merus-Morpheme, ebenso wie alle anderen syntaktischen Morpheme, auf die
Kommunikation bezogen sind und dem Hörer kommunikations-pragmatische
Hilfen für die Dekodierung anbieten. Daß nun überhaupt das Plural-Morphem
in diesem Zusammenhang eine Hilfe darstellt, ergibt sich aus der drei-elemen-
tigen Struktur des Kommunikanten-Modells. Wenn man ein Paradigma mit
drei Termen vor sich hat, ist es ökonomisch, mindestens zwei dieser Terme
zusammenfassen zu können. Das eben leistet das Plural-Morphem. Die Nu-
merus-Morpheme können daher als kommunikationssteuernde Signale ange-
sehen werden und erfüllen die textlinguistisch-pragmatischen Bedingungen,
die allgemein für Morpheme der Syntax gestellt sind.
Ich habe nun mehrfach den Begriff „Element" gebraucht, von dem be-
kannt ist, daß auch die Mathematik sich seiner bedient. Elemente sind in
der Mathematik (Mengenlehre) immer Elemente einer Menge. Diese Über-
einstimmung im Begriff ist mir nicht unangenehm, ich will sie vielmehr aus-
drücklich aufgreifen und thematisieren. Die Grammatik der Einzelsprachen
muß im Kapitel des Numerus so beschaffen sein, daß nicht nur weitere Ka-
pitel der Grammatik (Numeralia, Indefinita usw.) daran anschließen können,
sondern möglicherweise auch einige Kapitel unserer mathematischen Lehrbü-
cher. In diesem Sinne definiere ich nun die Numerus-Opposition Singular
vs. Plural wie folgt: Singular bedeutet Menge (von Elementen). Plural bedeu-
tet Elemente (einer Menge).
Die vorgestellten Definitionen bedürfen einiger Erläuterungen, damit sie
für die linguistische Argumentation nutzbar werden. Ich muß hier in aller
Kürze auf das Verhältnis von Syntax und Semantik zu sprechen kommen.
Gemeint ist natürlich, wie es sich im Rahmen einer Textlinguistik von selbst
versteht, eine Textsyntax und Textsemantik. Die Textsemantik fragt nun
nicht nach der Bedeutung eines Sprachzeichens in der Isolierung, sondern
interessiert sich an erster Stelle für die Bedeutung, die ein Sprachzeichen
in einem Text hat. Wir wollen diese die Text-Bedeutung oder Meinung nen-
nen und sie scharf von der Kode-Bedeutung oder Bedeutung schlechthin ua-
terscheiden. Die Meinung (Text-Bedeutung) eines Sprachzeichens im Text
unterscheidet sich von der Bedeutung (Kode-Bedeutung) dieses Sprachzei-
chens, wenn man es sich isoliert denkt, durch eine mehr oder minder starke
Determination, die vom sprachlichen und/ oder situativen Kontext geleistet
wird. Je nach der Länge und Beschaffenheit dieses Kontextes kann für die
je besonderen Zwecke eines Textes die Meinung eines Sprachzeichens nach
dem semantischen Umfang und Inhalt bestimmt („eingestellt") werden. Die
Textsemantik hat es daher insgesamt mit einer gleitenden semantischen Ska-
la zwischen dem Pol des Allgemeinen und dem Pol des je Besonderen zu
tun. Unter den textuellen Determinanten, die diese Textualisierung und Prä-
zisierung der Bedeutung zur mehr oder weniger konkreten Meinung besor-
gen, findet man nun an bevorzugter Stelle die Morpheme der Syntax. Ob
beispielsweise in der Umgebung eines Nomens ein bestimmter oder ein un-
bestimmter Artikel steht, das ist für den Hörer eine wichtige Instruktion, nach
der er entweder die Vorinformation (beim bestimmten Artikel) oder die Nach-
information (beim unbestimmten Artikel) zur Determination des entspre-
chenden Nomens heranziehen soll. Ähnliches gilt auch für die anderen Mor-
pheme der Syntax. Es gilt insbesondere auch für die Numerus-Morpheme.
Ob ein Nomen mit dem Singular-Morphem verbunden ist („im Singular steht")
oder mit dem Plural-Morphem verbunden ist („im Plural steht"), das instruiert
6 H. Weinrich
den Hörer bei der Dekodierung dieses Textsegmentes und verhilft ihm ins-
besondere dazu, für dieses Nomen die richtige, das heißt vom Sprecher ge-
wollte Einstellung auf der semantischen Skala zu finden. Ich unterstreiche
aber, daß diese Leistung nicht von den Numerus-Morphemen allein, sondern
immer in Konkomitanz mit anderen Morphemen vollbracht wird. Um aber
nun in der Analyse die Instruktion des Numerus-Morphems genau zu erfassen,
ist es notwendig, diese nicht mit den Instruktionen anderer syntaktischer
Morpheme zu verwechseln. Es darf insbesondere dem Numerus-Morphem
keine Funktion zugeschrieben werden, die der Artikel-Opposition bestimm-
ter Artikel vs. unbestimmter Artikel zukommt. Es kommt also darauf an,
genau die begrenzte Funktion zu erkennen, die jedes Morphem für sich hat
und die erst im Text im Zusammenwirken mit der Funktion anderer Mor-
pheme die gesamte textuelle Instruktion ergibt. Für das Problem von Singu-
lar und Plural besagt das insbesondere, daß mit dem Begriff der Menge nichts
über den Umfang der Menge gesagt ist, ebensowenig wie im Begriff des Ele-
mentes genaue Angaben über die Zahl der Elemente enthalten sind. Der Be-
griff der Menge (= Singular) hat also ein sehr weites Anwendungsfeld von
der jeweilig möglichen „Gesamtmenge" (= potentielle Vielheit) als oberem
Grenzfall bis zur „Einermenge" (= ein-elementige Menge) als unterem Grenz-
fall. Ob im Einzelfall dann die Menge mehr im Sinne der Gesamtmenge oder
mehr im Sinne der Einermenge oder schließlich im Sinne irgendeiner Teil-
menge zwischen den beiden Extremwerten gemeint ist, muß der Hörer aus
den zusätzlichen Anweisungen anderer syntaktischer Signale entnehmen.
In gleicher Weise ist im Begriff der Elemente (= Plural) nicht vorentschie-
den, ob es sich im oberen Grenzfall vielleicht um „alle möglichen", d. h.
alle vom Kode her zulässigen Elemente handelt oder im unteren Grenzfall
um nur zwei Elemente. Wenn der Hörer genaueres über die Zahl der bei ei-
nem Sprachspiel beteiligten Elemente erfahren soll, muß er auf die Zusatz-
informationen anderer syntaktischer Morpheme achten, insbesondere auf die
Zahlen (Zahlwörter).
Die Numerus-Morpheme mit der Opposition Singular vs. Plural stellen
also selber keine Zahlenangaben dar, sondern sind, wie alle grammatischen
Zeichen, Anweisungen zur Dekodierung des Textes, insbesondere im Hin-
blick auf das semantische Spiel der Bedeutungs-Determination zwischen den
Polen der Kode-Bedeutung und der Text-Bedeutung (Meinung).
Elementarzahlen
Wir wollen im folgenden annehmen, daß ein Hörer zur Dekodierung eines
Textes, insbesondere zum genauen Verständnis eines Nomens, präzisere An-
Textlinguistische Zahlentheorie 1
Weisungen erhalten will oder erhalten soll. Für diesen Zweck gibt es in> der
Syntax ein Paradigma der Zahlen (Numeralia, Zahlwörter). Es ist nun für
die weitere Argumentation unerläßlich, über die Zahlen nicht nach mathe-
matischen, sondern nach linguistischen Spielregeln nachzudenken. Man soll-
te sich daher die Zahlen auch nicht in symbolischer — arabischer oder rö-
mischer — Notation vorstellen, sondern in ihrer Lautgestalt, und zwar in
der jeweilig einzelsprachlichen Lautgestalt. Um diese Bedingung nicht aus
den Augen zu lassen, argumentiere ich auch im folgenden an den Zahlwör-
tern der französischen Sprache als einer Fremdsprache weiter. Alle Formen
des mathematischen Universalismus bleiben also einstweilen im Hinter-
grund.
Wenn man die Zahlen einer gegebenen Einzelsprache nach diesen Spiel-
regeln untersucht, muß als erstes die Frage aufgeworfen werden, ob diese
Zahlen überhaupt ein Paradigma im Sinne der Grammatik bilden. Die Ma-
thematik hat uns ja daran gewöhnt, uns die Zahlenreihe als unendlich vor-
zustellen. Ein unendliches Paradigma wäre aber ein Widerspruch im Begriff.
Nun kann man aber für die französische Sprache (und analog dazu für andere
Einzelsprachen) mühelos den Nachweis führen, daß diese Morpheme, wie
alle anderen grammatischen Morpheme, tatsächlich ein endliches und über-
schaubares Paradigma bilden 1 . Diese Morpheme erfüllen darüber hinaas, wie-
derum in Analogie zu den anderen Morphemen der Grammatik, die Bedin-
gungen der morphologischen Kürze und der relativ hohen Frequenz in der
Sprache. In diesem Sinne kann man feststellen, daß das Paradigma der mit
dem Plural-Morphem kombinierbaren Zahlen in der französischen Sprache
genau 22 Zahlmorpheme umfaßt. Es sind die folgenden: deux, trois, quatre,
cinq, six, sept, huit, neuf, dix, onze, douze, treize, quatorze, quinze, seize,
vingt, trente, quarante, cinquante, soixante, cent, mille. In Belgien, Kanada,
der französischen Schweiz und in Teilen Ostfrankreichs ist dieses Paradigma
noch um drei Zahlmorpheme erweitert, nämlich septante, octante/huitante,
nonante. Außerhalb dieser Regionen kennt der französische Sprachgebrauch
diese drei Zahlmorpheme nicht; sie werden jedoch verstanden.
Die unendliche Zahlenreihe, deren sich die Mathematik bedient, wird nicht
durch Erweiterung dieses Paradigmas, sondern durch Kombinatorik seiner
Morpheme zustande gebracht. Dabei gelten für die gesprochene französische
Sprache die folgenden Kombinationsregeln:
1. Wenn die kleinere Zahl der größeren nachfolgt, wird sie ihr additiv zuge-
rechnet (cent cinq = 100 + 5).
1 Vgl. hierzu (in der Theorie abweichend) Georges Gougenheim, Système grammati-
cal de la langue française, Paris 1938, p. 68 s.
8 H. Weinrich
2. Wenn die kleinere Zahl der größeren voraufgeht, wird sie ihr multiplika-
tiv zugerechnet (cinq cents = 5 x 100).
Die beiden Typen der Kombinatorik lassen sich ihrerseits noch einmal
kombinieren; auf diese Weise erhält man beispielsweise den Zahlenwert 82:
quatre-vingt-deux und andere Zahlenwerte bis 999.999 als Höchstwert. Jen-
seits dieses Höchstwertes werden die sehr großen Zahlenwerte der französi-
schen Sprache mit Nomina gebildet, z. B. un million, deux milliards, trois
billions.
Alle diese Zahlmorpheme verbinden sich im Text mit dem Plural-Mor-
phem. Da wir nun vom Plural gesagt haben, daß er die Elemente einer Menge
bezeichnet, können wir die 22 Zahlmorpheme Elementarzahlen nennen.
Diese Elementarzahlen sind aber, wie alle Morpheme der Grammatik, für
den Gebrauch in Texten bestimmt. Ich gebe dafür ein Textbeispiel und wäh-
le die bekannte Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung nach dem
Evangelisten Lukas in französischer Version:
Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent:
Renvoie cette multitude, afin quils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont
aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans
un lieu désert.
Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous n'avons
que cinq pains et deux poissons; à moins que nous n'allions acheter des vivres pour
tout ce peuple.
Car ils étaient environ cinq mille hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-
les asseoir par rangs de cinquante personnes chacun.
Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir.
Alors Jésus prit les cinq pains et les deux poissons, et levant les yeux au ciel,
il les bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant
le peuple.
Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta douze paniers pleins
de morceaux qui restèrent (Luc IX, 1 2 - 1 7 ) .
Mengenzahlen
Es war bisher nur von den Elementarzahlen die Rede, jenen (anaphorischen
oder kataphorischen) Numeral-Artikeln also, die sich mit dem Plural verbin-
den lassen. Ihr niedrigster Wert ist deux (les deux). Die Zahl mit dem Zah-
lenwert 1 gehört nicht zu diesem Paradigma. Es verläuft also eine sprach-
liche Strukturgrenze zwischen dem Zahlenwert 1 und allen anderen Zahlen-
werten der Zahlenreihe. Die linguistische Mathematik ist eine pythagoreische
Mathematik. Denn man kann in einer linguistischen Analyse nicht ohne wei-
teres davon absehen, daß sich die Morpheme mit dem Zahlenwert 1 nicht
mit dem Plural-Morphem, sondern mit dem Singular-Morphem verbinden.
Es handelt sich also im prägnanten Sinne der oben gegebenen Definition
des Plurals nicht um Elementarzahlen. Die Morpheme mit dem Zahlenwert
1 sind Mengenzahlen. Ich habe hier nun absichtlich gesagt: die Morpheme
mit dem Zahlenwert 1. Tatsächlich gibt es in der französischen Sprache,
analog zu den Elementarzahlen, auch für die Mengenzahl mit dem Zahlen-
wert 1 eine doppelte Form, je nach der textuellen Verwendung als anapho-
risches oder kataphorisches Signal. Nur für die Verwendung als kataphorisches
Signal hat die Mengenzahl die von der (sprechenden) Mathematik favorisierte
Form un (une). Diese Form ist strukturell identisch mit dem unbestimmten
Artikel. Für den wesentlich häufigeren Gebrauch als anaphorisches Signal
hat jedoch die Mengenzahl die Form le (la) und ist in dieser Form struk-
turell identisch mit dem bestimmten Artikel. In der textuellen Verwendung
10 H. Weinrich
verhält sich also die Form un zu der Form le ebenso, wie sich die Form
deux zu der Form les deux verhält.
Nach den vorausgehenden Überlegungen ist es wohl eindeutig, daß von
der (singularischen) Mengenzahl im Unterschied zu den (pluralischen) Ele-
mentarzahlen überhaupt nur mit Vorbehalten und Einschränkungen gesagt
werden darf, sie habe den Zahlenwert 1. Es kann ja keine Rede davon sein,
daß die Morpheme un (une) und le (la), die diesen Numeral-Artikel im Sin-
gular ausdrücken, immer einen Gegenstand bezeichnen. Die Auffassung als
Menge besagt ja gerade, daß der Hörer die Zahl und Verschiedenheit der
Gegenstände, die möglicherweise unter einer Bedeutung zusammengefaßt
sind, als irrelevant ansehen soll. Nur in diesem Sinne kann von einer „Ein-
heit" gesprochen werden; die Aufmerksamkeit des Hörers wird auf die Ge-
meinsamkeit der Menge hingelenkt und von einer möglicherweise in ihr ent-
haltenen Vielheit verschiedener Elemente abgelenkt. Das gilt sowohl bei ana-
phorischer als auch bei kataphorischer Verwendung. Ich will das in den fol-
genden knapp gefaßten Beispielen für die Extremwerte der Gesamtmenge
und der Einermenge kurz illustrieren.
1. Gesamtmenge:
/Le pain est une nourriture fondamentale./
jII faut savoir préparer un poisson./
Der Hörer kann in beiden Fällen den Singular (le pain, un poisson) als Gesamt-
menge interpretieren, d.h. über alle möglichen Unterschiede zahlloser Brote und
Fische hinwegsehen, und zwar auf Grund der vorhandenen (und fehlenden!) Zu-
satzsignale im Kontext dieser kurzen Texte.
2. Einermenge:
/Jesus prit un pain et le donna à ses disciples./
/Dieu avait envoyé un grand poisson pour engloutir Jonas, et Jonas de-
meura dans le ventre du poisson trois jours et trois nuits./
Hier kann der Hörer jeweils den Singular {un pain, du poisson) als Einer-
menge interpretieren, weil der Kontext, insbesondere wegen der in ihm
enthaltenen Eigennamen, ausreichend präzise Determinanten enthält. Nur
unter textuellen Bedingungen wie den hier skizzierten ist der Singular tat-
sächlich „Einzahl" in dem Sinne, daß er sich auf einen einzelnen Gegen-
stand bezieht.
Es kommt also, wie bei allen Sprachzeichen, auf den Kontext an. Das
zeigt sich auch darin, daß die Mengenzahl un (une) unter bestimmten Be-
dingungen mit gewissen Elementarzahlen kombinierbar ist, z. B. in den Zah-
len vingt-et-un, quatre-vingt un, cent un, un million usw. In diesen Kombi-
nationen ist un (une) Bestandteil einer Elementarzahl, und auch die textuel-
le Kongruenz wird mit Pluralmorphemen hergestellt (vingt-et-un députés ont
Textlinguistische Zahlentheorie 11
Ordinalzahlen
Elementarzahlen und Mengenzahlen entsprechen zusammen den Kardinal-
zahlen der Mathematik. Von ihnen sind bekanntlich die Ordinalzahlen zu
unterscheiden. Diese bilden ebenfalls ein doppeltes Paradigma, je nachdem
ob sie anaphorische oder kataphorische Funktion im Text haben. Die ana-
phorische Reihe (le premier, le second oder le deuxième, le troisième . . .)
ist jedoch wesentlich häufiger als die kataphorische Reihe (un premier, un
second oder un deuxième, un troisième . . .). Dieser Unterschied in der Fre-
quenz entspricht insgesamt einer Distribution, wie sie für den bestimmten
und den unbestimmten Artikel charakteristisch ist. Ordinalzahlen sind nun
ebenfalls auf die Begriffe Menge und Element bezogen. Sie greifen aus einer
Menge entweder ein Element (= Singular) oder mehrere Elemente (= Plural)
heraus und geben deren Reihenfolge in der Menge an. Die Reihenfolge der
Elemente bei pluralischen Ordinalzahlen verweist dabei entweder auf die
Anordnung in der Textfolge oder auf die Anordnung in der Situation. Da-
mit kommt ein neuer Gesichtspunkt in die linguistische Zahlentheorie. Wäh-
rend die Kardinalzahlen nur die Alternative Menge oder (mehrere) Elemente
kennen, können die Ordinalzahlen aus einer Menge auch ein Element zur
Unterscheidung herausgreifen: le premier, le second, le troisième (...); dieses
ist jeweils ein Element, das zu unterscheiden ist von den anderen Elementen
dieser Menge, die auf diese Weise als geordnete Menge erscheint. Die Oppo-
sition zwischen Mengenzahlen und Elementarzahlen ist folglich bei den Ordinal-
zahlen neutralisiert.
Mit einer Kombination von Kardinalzahlen (fur den Zähler) und Ordinal-
zahlen (für den Nenner) drückt man in der französischen Sprache Bruchzah-
len aus (trois dixièmes = 3/10). Ich will auf Zusammenhänge wie diese hier
nur kurz aufmerksam machen, um darauf hinzuweisen, daß auch solche ma-
thematischen Zahlenbildungen wie Bruchzahlen usw. grundsätzlich einer text-
linguistischen Betrachtungsweise zugänglich sind. Die eigentlichen mathema-
tischen Operationen wie Addition, Multiplikation usw. müssen dabei natür-
lich zusätzlich auf andere Kapitel der Grammatik (Konjunktionen, Präposi-
tionen usw.) bezogen werden. Auch hier ist jedenfalls die mathematische Ope-
ration, die ein bestimmtes mathematisches Kalkül in Gang bringt, grundsätz-
lich als ein Sonderfall jener sprachlichen Anweisungen aufzufassen, die von
der Instruktions-Linguistik für alle Sprachzeichen angenommen werden.
12 H. Weinrich
Rundzahlen
Zahlen sind genaue Numeral-Artikel. Wir können nun in diese ganze Betrach-
tungsweise die sogenannten Indefinita der Grammatik dadurch einbeziehen,
daß wir sie als Rundzahlen auffassen, die nur ungenaue Annäherungswerte
geben1. Die Rundzahlen der französischen Sprache sind nun in ihrer Unge-
nauigkeitsstruktur insgesamt dadurch bestimmt, daß die als Menge von Ele-
menten aufgefaßte Bedeutung in eine größere und eine kleinere Teilmenge
gegliedert wird. Die größere Teilmenge enthält die Mehrzahl der Elemente,
die kleinere Teilmenge enthält die Minderzahl der Elemente. Man kann diese
Struktur durch ein kleines Schaubild verdeutlichen, das ich den Mengenraum
nennen will:
9
peu de .wenige'
moins de .weniger'
(. . .)
•Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent:
Renvoie cette multitude, afin qu'ils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont
aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans
un lieu désert.
Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous n'avons
que peu de pains et trèus peu de poissons; à moins que nous n'allions acheter des
vivres pour tout ce peuple.
Car ils étaient beaucoup d'hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-les asseoir par
rangs de plusieurs personnes chacun.
Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir.
Alors Jésus prit les quelques pains et poissons, et levant les yeux au ciel, il les
bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant le peuple.
Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta bien des paniers pleins
de morceaux qui restèrent.
Der Sinn der Parabel läßt diese Texttransposition in gewissen Grenzen zu, wenn
man voraussetzt, daß für die beteiligten Personen (der biblische Erzähler, Jesus,
die Jünger) die ganze Situation einschließlich des Wunders grundsätzlich zu den
erwartbaren Ereignissen gehört. Am Anfang steht zwar eine Erwartungsdifferenz:
Jesus scheint angesichts der vielen Menschen gar nicht die Schwierigkeit zu be-
denken, wie sie alle zu beköstigen sind. Er scheint also die geringe Zahl der
Brote und Fische nicht zu erwarten. Aus diesem Grunde geben ihm die Jünger
mit dem Morphem ne ... que zu erkennen, daß er seine Erwartungen herabset-
zen muß. Dadurch wird der Gleichstand der Erwartungen hergestellt, und es
können nun immer erwartete Rundzahlen folgen, sowohl für die vielen Personen
(beaucoup d'hommes, plusieurs personnes) als auch für die wenigen Nahrungs-
mittel (les quelques pains et poissons), bis schließlich die (grundsätzlich erwart-
bare) wunderbare Vermehrung der Brote und Fische (bien des paniers) den Kon-
trast aufhebt.
Unerwartete Rundzahlen
füllt werden können. Das vermutet auch der Sprecher, und so stellt er sich
mit seiner Erwartungs-Erwartung auf die abweichende Erwartung des Hörers
ein und korrigiert sie mit seinen unerwarteten Rundzahlen. Ich stelle das im
folgenden Schaubild so dar, daß der Mengenraum des Hörers und der (gleich
strukturierte) Mengenraum des Sprechers u m 180° gegeneinander gedreht
sind:
beaucoup de .viele'
bien des .ziemlich viele'
pas mal de .nicht wenige'
moins de .weniger' quantité de .eine Menge (von)'
trop peu de ,zu wenige' nombre de .eine Anzahl (von)'
si peu de ,so wenige' de nombreux .zahlreiche'
(...) (• • •)
•Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent:
Renvoie cette multitude, afin qu'ils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont
aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans
un lieu désert.
Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous avons
moins de pains et de poissons que tu ne penses; à moins que nous n'allions acheter
des vivres pour tout ce peuple.
Car il y avait trop d'hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-les asseoir par
rangs de cinquante personnes chacun.
Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir.
Alors Jésus prit plus de pains et de poissons qu'ils n'avaient pensé, et levant les yeux
au ciel, il les bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant
le peuple.
Textlinguistische Zahlentheorie 17
Es ist an dieser Version des Textes erkennbar, daß bei Jesus zunächst ei-
ne überschießende Erwartung in bezug auf die Quantität der Brote und Fi-
sche zu bestehen scheint. Während in der authentischen Version und in mei-
ner ersten Veränderung diese Erwartungsdifferenz durch die Anweisung ne ...
que ausgeglichen wird, habe ich dieses Signal nun ausgelassen. Nun wird die
überhöhte Erwartung durch die Rundzahl selber ausgeglichen, und es steht
eine unerwartete Rundzahl (moins de pains et de poissons). Der Erzähler
stellt dann das Mißverhältnis zwischen der Zahl der Personen und der Zahl
der Brote und Fische „objektiv" fest: es widerspricht der Norm jeder Erwar-
tung (trop d'hommes). Am Ende des Textes habe ich jetzt glaubensschwä-
chere Textadressaten angenommen, deren niedrig gestimmte Erwartung von
dem Erzähler nach oben hin korrigiert wird (plus de paniers).
Die unerwarteten Rundzahlen treten nur als kataphorische Rundzahlen
auf. Wären sie anaphorisch, kämen sie nicht mehr unerwartet. Die katapho-
rische Anweisung der unbestimmten Rundzahlen richtet die Aufmerksam-
keit des Hörers auf die Nachinformation, in der nach der Korrektur der fal-
schen Erwartung nunmehr die richtige Instruktion gegeben werden kann.
Häufig ist das im Text dann auch gleichzeitig eine genaue Anweisung, also
keine Rundzahl, sondern eine Zahl, deren Wert sich auch in Ziffern ausdrücken
läßt.
Allquantoren
Der obere Grenzwert aller Zahlen wird durch ein Morphem bezeichnet, das
wir mit einem Ausdruck der Logik den Allquantor nennen wollen. Der All-
quantor hat in der französischen Sprache verschiedene Formen je nach seiner
Funktion im Text und entspricht damit paradigmatisch den anderen Nume-
ral-Morphemen1:
1 Vgl. Sven Andersson, Etudes sur la syntaxe et la sémantique du mot français tout,
Lund 1954 (Etudes romanes de Lund 11). - Ders., Nouvelles études sur la syntaxe
et la sémantique du mot français tout, Lund 1961 (Etudes romanes de Lund 14).
- Ders., Quelques glanures syntaxiques sur le mot français tout, Studia Neophilolo-
gica 42 (1970), 7 2 - 8 9 . - Christian Rohrer, Zur Bedeutung von ,tout'und .chaque'
im Französischen, in: Interlinguistica. Sprachvergleich und Übersetzung. Festschrift
zum 60. Geburtstag von Mario Wandruszka, Tübingen 1971, p. 5 0 9 - 5 1 7 .
18 H. Weinrich
Die Instruktion für den Hörer besteht darin, daß dieser angewiesen wird,
unter den Determinationsangeboten der Vorinformation (beim anaphorischen
Allquantor) oder der Nachinformation (beim - seltenen - kataphorischen
Allquantor) keine Auswahl zu treffen. Der Hörer wird vielmehr zum textuel-
len Resümee eingeladen. Unter diesen Bedingungen steht der Allquantor auch
jenseits der Unterscheidung von Zahlen und Rundzahlen sowie von erwarte-
ten oder unerwarteten Rundzahlen. Was die Unterscheidung von Kardinal-
zahlen und Ordinalzahlen betrifft, so ist er den Kardinalzahlen zuzurechnen.
Als Ordinalzahl gibt es in der französischen Sprache einen eigenen Allquan-
tor. Er hat die invariable Form chaque (die freie Form, variabel nach dem Ge-
nus, heißt chacun, chacune), wobei auch die Opposition Singular vs. Plural neu-
tralisiert ist. Das Archimorphem des Numerus wird durch den Singular ver-
treten (chaque pain a été béni). Der Allquantor chaque weist den Hörer an,
alle in einer geordneten Reihe (le premier pain, le second pain, le troisième
pain u s w j aufzählbaren Determinanten des Textes anzunehmen und fur die
Dekodierung des Nomens zu verwenden. Seine Anweisung ist anaphorisch.
Es ist wohl unvermeidlich, daß die hier vorgetragene Auffassung auf den ersten
Blick einiges Befremden auslöst. Sie ist ja, so scheint es, nicht mit den Grund-
lagen der nachpythagoreischen Mathematik, oder sagen wir einfacher: des bür-
gerlichen Rechnens („nach Adam Riese") in Einklang zu bringen, die uns seit
unseren frühesten Lebensjahren bekannt und geläufig sind, so daß sie norma-
lerweise jeglicher Kritik und Grundlagen-Revision entzogen sind. Warum soll-
te man sie auch revidieren, so mag wohl jemand einwerfen, da man mit ihnen
doch offenbar erfolgreich rechnen kann? Ich will das auch nicht bezweifeln.
Der Gewinn bei der hier vorgeführten Analyse soll nicht darin bestehen, daß
man auf diese Weise besser (aber auch nicht schlechter!) rechnen kann, sondern
daß hiermit eine Möglichkeit eröffnet wird, Grammatik und Zahlentheorie
Text linguistische Zahlentheorie 19
Der Begriff der Pro-Form 1 , der in der neueren linguistischen Literatur eine
große Rolle spielt, ist eine Verallgemeinerung des traditionellen Begriffs „Pro-
nomen". So wie ein Pronomen stellvertretend fur ein Nomen (genauer: eine
NP) steht, so steht eine Pro-Form stellvertretend für eine grammatische Kate-
gorie beliebiger Art. Die Interpretation der Pronomina als besonderer Wort-
art erweist sich daher als unangebracht: Mit dem gleichen Recht, mit dem man
Pro-Formen für Nominalphrasen als eine Klasse zusammenfaßt, müßte man
das auch mit den Pro-Formen für andere Kategorien — also z.B. Pro-Adjek-
tiven und Pro-Adverbialen — tun. Natürlich würde man damit jedoch eine
wichtige Verallgemeinerung unterdrücken, nämlich daß Pro-Formen immer
den gleichen kategoriellen Status haben wie die Formen, die sie vertreten.
Harris definiert Pro-Formen - die er „pro-morphemes" nennt - folgen-
dermaßen:
1 Statt „Pro-Form" finden sich in der linguistischen Literatur noch andere Termini,
so unter anderem „Pro" (Jerrold Katz - Paul Postal, An Integrated Theory of Lin-
guistic Descriptions, Cambridge (Mass.) 1964), „designated element", „designated
representative" und „abstract dummy element" (Noam Chomsky, Current Issues
in Linguistic Theory, The Hague 1964), „pro-morpheme" (Zellig S. Harris, Co-Occur-
rence and Transformation in Linguistic Structure, Language 33 (1957), 283-340),
„pro-formative" (Robert Lees, The Grammar of English Nominalizations, Blooming-
ton Ind. 1960) und „pro-Element" (Wolfdietrich Härtung, Die zusammengesetzten
Sätze des Deutschen, Berlin (Studia grammatica IV) 1964; Wolfgang Mötsch, Können
attributive Adjektive durch Transformationen erklärt werden? , Folia Linguistica 1
(1967), 23-48).
Pro-Formen des Deutschen 21
(which occupies the stated position relative to them). Such morphemes will be called
pro-morphemes of the class Y, or pro-Y.
Zellig S. Harris, Co-occurrence and Transformation in Linguistic Structure, Language
33 (1957), 2 8 3 - 3 4 0 , p. 301s.
Each major category has associated with it a „designated element" as a member. This
designated element may actually be realized (e.g., it for abstract nouns, some (one
thing)), or it may be an abstract „dummy element". It is this designated representa-
tive of the category that must appear in the underlying strings for those transfor-
mations that do not preserve, in the transform, a specification of the actual ter-
minal representative of the category in question."
Noam Chomsky, Current Issues in Linguistic Theory, The Hague 1964, p. 41.
2 Eine „major category" ist eine lexikalische Kategorie sowie jede andere Kategorie,
die eine Kette . . . X . . . dominiert, wobei X eine lexikalische Kategorie ist (cf.
Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge [Mass.] 1965).
3 Chomskys Bemerkung, daß es dieser ^designated representative" ist, der tilgbaren
Elementen zugrunde liegt, bezieht sich offenbar nur auf die unbestimmten Pro-For-
men, denn bestimmte Pro-Formen sind ja a) noch nicht in der zugrundeliegenden
Struktur vorhanden (sie werden durch Transformationen eingeführt), b) in vielen
Sprachen (z. B. im Englischen und Deutschen) nicht weglaßbar.
22 H. Vater
nur die allgemeinsten Merkmale der jeweiligen Kategorie besitzen, nicht aber
die spezifischeren, können sie ihre Stellvertreter-Funktion ausüben.
So hat die Pro-Form jemand nur die Merkmale [+N] und [+Menschlich]4
und kann daher sowohl für Junge als auch für Mann stehen, denn es ist nicht
für [+Erwachsen] spezifiziert; ebenso kann jemand auch für Frau stehen,
da es nicht für [+Männlich] spezifiziert ist.
Die Pro-Form er andrerseits kann zwar auch für Junge und Mann eintre-
ten, nicht aber für Frau; jedoch kann er auch Tisch oder Baum oder Hund
repräsentieren: Er enthält neben dem Merkmal [+N] nur noch das (morpho-
logisch-syntaktische) Merkmal [+Maskulin], das es ihm ermöglicht, für Lebe-
wesen und Nicht-Lebewesen einzutreten. Da Bezeichnungen für weibliche
Lebewesen im Deutschen aber immer feminines Genus haben5, kann er nicht
für Frau eintreten.
Renate Steinitz schränkt in ihrem Artikel „NominalePro-Formen" 6 den
Kreis der Pro-Formen auf diejenigen ein, die bereits im Text erwähnte sprach-
liche Formen mit gleicher Referenz aufnehmen. Sie sieht „Pro-Fortführung"
also stärker unter dem Gesichtspunkt der Referenzkennzeichnung als unter
dem der Ersetzungsfunktion. Nicht das stellvertretende Vorkommen für ein
Element der gleichen sprachlichen Kategorie ist für sie entscheidend, sondern
das Wiedervorkommen eines Referenzträgers7 im gleichen Text, wobei das
erste Vorkommen eines Referenzträgers die Markierung [—m] (nicht vorer-
wähnt) erhält und jedes neue Vorkommen des gleichen Referenzträgers inner-
halb desselben Textes die Markierung [+m] (vorerwähnt). Steinitz' Begriff
der Pro-Form ist damit einerseits enger als der oben angeführte, da Formen
wie jemand und etwas — die ja nicht Wiederaufnahmen anderer sprachlicher
Formen mit gleicher Referenz sind — außerhalb der Betrachtung bleiben; an-
drerseits ist er weiter, da alle Sprachformen, die als Wiederaufnahme eines
8 Das Beispiel ist Steinitz, Pro-Formen, entnommen und hat dort ebenfalls die Nummer
(1).
9 Die meisten der von Chomsky, Aspects, als „syntaktische Merkmale" bezeichneten Merk-
male werden von anderen Linguisten (z.B. Katz, Semantic Theory) als „semantische
Merkmale" bezeichnet. Chomsky selbst diskutiert das Problem der Abgrenzung
von semantischen und syntaktischen Merkmalen (Aspects, p. 75 und 153ss.). So
sagt er über die Subkategorisierung mit Hilfe syntaktischer Merkmale (Aspects,
p. 75): it is not obvious to what extent this information should be provided
by the syntactic component at all". Bechert faßt beide Merkmalgruppen als „seman-
tosyntaktische Merkmale" zusammen (Johannes Bechert, Ad-hoc-Merkmale in der
generativen Phonologie, in: Dieter Wunderlich (Hg.), Probleme und Fortschritte der
Transformationsgrammatik: Referate des 4. Linguistischen Kolloquiums Berlin 1969,
München 1971, p. 2 9 - 3 7 , hier p. 29).
10 Das Problem der Abgrenzung echter Pronomina von Substantiven, die eine Obermen-
ge bezeichnen, wird u. a. auch diskutiert von Emmon Bach, Nouns and Noun Phra-
ses, in: E. Bach - R. Harms (Hg.), Universals of Linguistic Theory, New York 1968,
p. 91-122, ferner auch von Friedrich Braun, Studien zu Konstituentenstruktur und
Merkmalanalyse englischer Sätze, Hamburg 1969. Bach erwähnt auch Fälle, wo ne- •
gative Oberbegriffe (wie idiot) als eine Art Pro-Form benutzt werden, z. B. in
Nave you heard from Algernon lately? - The idiot called me up yesterday. Steinitz
erörtert sehr interessante Fälle, wo das den Oberbegriff bezeichnende Substantiv zur
Wiederaufnahme ungeeignet ist; so kann man z. B. nach Satz (1 a) nicht fortfahren:
*Dieses Lebewesen war mit einem Gummiknüppel bewaffnet.
24 H. Vater
12 Im Deutschen, wie auch in einigen anderen Sprachen (z. B. im Englischen und Fran-
zösischen) besteht anscheinend eine Lücke im System der Fragepronomina: Man
kann nach Personen und nach Sachen (einschließlich Pflanzen) fragen, aber es gibt
keine spezifischen Fragepronomina für Tiere. Man kann im Deutschen mit gutem
Gewissen weder fragen Wer hat die Milch aufgeleckt? (wenn man nicht sicher ist,
was für ein Tier das getan hat) noch Was hat die Milch aufgeleckt? Trotzdem scheint
wer - wie auch hier in (2) - Bezug auf Tiere nehmen zu können, nämlich dann,
wenn Tiere und Menschen gleichermaßen in Frage kommen.
26 H. Vater
(b) Aus stilistischen Gründen (z. B. um die Spannung zu erhöhen oder sei-
ner Aussage größeren Nachdruck zu verleihen) macht der Sprecher zu-
nächst eine unspezifische Angabe, die er dann selbst spezifiziert. Das
ist in (6), (7) und (8) der Fall. Alternative Ausdrucksweisen, die sich
von der gleichen Tiefenstruktur ableiten lassen und nicht den gleichen
(Spannungs- oder Emphase-) Effekt haben, wären (6'), (7') und (8').
(c) Die Wahl einer unspezifischen Pro-Form kann bedeuten, daß der Spre-
cher keine genaueren Angaben machen kann (ohne aber, wie in (a), um
Spezifizierung zu bitten) oder will (aus Gründen der Höflichkeit, Vor-
sicht usw.). Wenn in diesem Fall eine spätere Spezifizierung durch einen
zweiten Sprecher erfolgt, so ist das eine mögliche, aber keine notwen-
dige Konsequenz aus der Äußerung der unspezifizierten Pro-Form, denn
der erste Sprecher hat nicht zum Ausdruck gebracht, daß er eine Er-
gänzung seiner Angabe erwartet 1 4 . Fall (c) wird illustriert durch die Bei-
spiele (3), (4) und (5). Die Äußerung des ersten Sprechers in (3) kann
eine einfache Feststellung sein, die vom Angesprochenen (bzw. den An-
gesprochenen) kommentarlos hingenommen wird. Auf die Frage in (4)
würde auch Ja als Antwort genügen (z. B. wenn es nur darauf ankommt,
daß die Fenster überhaupt zugemacht wurden, damit es nicht reinregnet).
Der erste Satz in (5) wäre eine in sich vollständige Äußerung, und die Spe-
zifizierung durch den zweiten Sprecher könnte dem ersten Sprecher so-
gar unangenehm sein (sei es, daß er Annas Namen nicht in diesem Zusam-
menhang erwähnt wissen will, sei es, daß er die Art, in der Sprecher B
sein Wissen ungefragt zum besten gibt, nicht leiden kann) — aber hier,
wie auch in (3) und (4) ist die spätere Spezifizierung durchaus möglich.
Ich halte die in (A) und (B) genannten Gemeinsamkeiten der unbestimmten
(oder unspezifizierten) Pro-Formen mit den bestimmten für entscheidend ge-
nug, um beide Gruppen gemeinsam als Pro-Formen anzusehen. Charakteristisch
für Pro-Formen wäre demnach a) ihre (auf einem Minimum an Merkmalen be-
ruhende) Möglichkeit, stellvertretend für andere sprachliche Elemente der glei-
chen Kategorie einzutreten, b) die Tatsache, daß sie auf eine „ausspezifizier-
te" sprachliche Form im gleichen Text mit identischer Referenz verweisen
oder — wie das bei den unbestimmten Pro-Formen der Fall ist — zum minde-
sten verweisen können.
i s Das trifft ohne Einschränkungen jedoch nur für unbestimmte Pro-Formen zu (cf. N 3).
28 H. Vater
tionsregeln eingeführt 16 . Die Alternative dazu bildet die Annahme eines syn-
taktischen Merkmals [+Pro]. So verfährt z. B. Postal, der nicht nur alle un-
bestimmten, sondern auch einen Teil der bestimmten nominalen Pro-Formen
auf ein Merkmal [+Pro] in einem N der Tiefenstruktur zurückfuhrt 17 . Ähn-
lich verfahren auch Mötsch und Vater 18 .
Weitaus eingehender als mit den unbestimmten Pro-Formen haben sich die
Linguisten in den letzten Jahrzehnten mit den bestimmten, durch Transfor-
mationen eingeführten, Pro-Formen befaßt. Für die Einsetzung bestimmter
Pronomina gilt dabei im wesentlichen noch immer die von Lees und Klima
1963 entwickelte Pronominalisierungsregel 19 :
Voraussetzung ist dabei die Identität von Nom und Nom', wobei Nom (nach
Lees und Klima) eine Konstituente des Matrixsatzes und Nom' eine Konsti-
tuente des eingebetteten Satzes ist.
Was sich seit Formulierung dieser Regel 1963 geändert hat, sind im wesent-
lichen zwei Dinge:
(a) Der Kreis der auf diese Weise eingeführten Pronomina ist erweitert wor-
den;
(b) die Bedingungen für die Durchführung dieser Transformation wurden
modifiziert.
Zu den Pronomina, die man zunächst nicht durch die Pronominalisierungs-
regel einführte, gehören die Personalpronomina der ersten und zweiten Per-
son. Diese Pronomina werden z. B. bei Mötsch und Postal als Kategorien
der Basis, also durch Formationsregeln, eingeführt 20 . Mit Recht kritisiert
16 So z.B. bei Manfred Bierwisch, Grammatik des deutschen Verbs, Berlin 1963 (Stu-
dia grammatica II) und bei Härtung, Die zusammengesetzten Sätze.
17 Paul Postal, On so-called ,pronouns' in English, in: Dinneen (Hg.), Report on the
Seventeenth Annual Round Table Meeting on Linguistics and Language Studies,
Washington 1966, p. 1 7 7 - 2 0 6 .
18 Mötsch, Attributive Adjektive; Heinz Vater, Zur Tiefenstruktur deutscher Nominal-
phrasen, in: Hugo Steger (Hg.), Vorschläge für eine strukturale Grammatik des Deut-
schen, Darmstadt 1970, p. 1 2 1 - 1 4 9 .
19 Robert Lees, E. Klima, Rules for English Pronominalization, Language 39 (1963),
17-28.
20 Wolfgang Mötsch, Untersuchungen zur Apposition im Deutschen, in: Studia gramma-
tica V, Berlin 1965, p. 8 7 - 1 3 2 . Cf. auch N 17.
Pro-Formen des Deutschen 29
Boeder diesen Ansatz und weist nach, daß die Restriktionsbeziehungen die-
ser Pronomina und die Referenzbeziehungen, die eindeutig zwischen ihnen
und dem Sprecher der Äußerung bzw. dem Angeredeten herrschen, eine an-
dere Erklärung verlangen 21 . Die Lösung findet er in der Einfuhrung zweier
Konstituenten, die Sprecher und Angeredeten (bzw. Vokativ) bezeichnen,
und der obligatorischen Pronominalisierung aller in einem Satz auftretenden
NP, die mit der Sprecher- bzw. Vokativ-Konstituente referenzidentisch sind 22 .
Boeders Vorschlag ist nicht nur in Übereinstimmung mit den Beobachtungen
Ross' und Wunderlichs, die sie dazu führten, eine die Tiefenstruktur jedes
Satzes dominierende performative Struktur anzunehmen 23 , sondern auch mit
der Behandlung der Pronomina der dritten Person, die allgemein durch eine
Transformationsregel der in (9) illustrierten Art, auf Grund von Referenziden-
tität mit einer vorerwähnten NP, eingeführt werden.
Die Bedingungen für die Pronominalisierung sind besonders von Langacker
1969 eingehend neu untersucht worden 2 4 . Langacker fand heraus, daß die von
Lees und Klima postulierte Restriktion, daß NP a (die als Antezedens vorkom-
mende NP) im Matrixsatz und NPP (die pronominalisierte NP) im eingebette-
ten Satz vorkommen muß, nicht entscheidend ist, denn in (10) liegen die Din-
ge genau umgekehrt: Pronominalisiert wurde eine NP im Matrixsatz auf Grund
von Referenzidentität mit einer NP im eingebetteten Satz:
(10) The woman who is to marry Ralph will visit him tomorrow.
Ebenso ist die lineare Anordnung der Konstituenten nicht allein entscheidend
dafür, welche NP in der Kette pronominalisiert werden kann, da Pronomi-
nalisierung vorwärts und rückwärts möglich ist, wobei allerdings Rückwärts-
pronominalisierung nicht möglich ist, wenn NP? NP a vorausgeht und höher
im Stammbaum ist:
„We will say that a n o d e A ,commands' another node B if (1) neither A nor B
dominates the other; and (2) the S-node that most immediately dominates A also
dominates B . "
Langacker, O n Pronominalization, p. 167.
Wie sich aus 1. und 2. ergibt, kann man Pro-Formen nach zwei Gesichtspunk-
ten klassifizieren:
a) nach ihrer Funktion im Text (vorerwähnt/nicht-vorerwähnt),
b) nach ihrem kategoriellen Status (Pro-NP, Pro-VP, Pro-S usw.).
Eine Subklassifizierung von Pro-Formen auf Grund der beiden genannten
Kriterien soll im folgenden an Hand deutscher Pro-Formen exemplifiziert
werden.
Typisch für u n b e s t i m m t e Pro-Formen ist es, daß sie nicht nur in reiner F o r m
v o r k o m m e n wie in (15) und (16), sondern auch in einer Art „ S y m b i o s e " mit
anderen Elementen, vorzugsweise d e m Frage- u n d dem Negations-Element 2 6 ;
vgl. ( 1 7 ) - ( 2 1 ) .
Jemand u n d etwas sind „ r e i n e " Pro-Formen, in diesem Fall Pro-NP mit den
Merkmalen [ + N ] , [+Pro] und [+Menschl] bzw. [ - B e l e b t ] 2 7 .
Dagegen sind wer, was und worauf Kombinationen aus einem N (mit den
Merkmalen [+N], [+Pro] und [+Menschl] bzw. [ - B e l e b t ] ) und einem Frage-
25 (12) und (13) können als Resultate von Extrapositions- bzw. Permutations-Trans-
formationen erklärt werden (cf. 12') und (13')). Die Ableitung von (14) durch Per-
mutation und Tilgungen aus einer zugrundeliegenden Struktur des Typs (14') ist
etwas ad hoc.
26 Frage- und Negations-Element als Tiefenstruktur-Konstituenten werden ausführlich
in Katz, Postal, An Integrated Theory, behandelt; das Negationselement und seine Rea-
lisationen im Deutschen untersucht Gerhard Stickel, Untersuchungen zur Negation
im heutigen Deutsch, Braunschweig 1970.
27 Der Kategorie nach sind alle Pronomina N. Wie echte (d. h. Nicht-Pro-) N können sie
jedoch für eine gesamte NP stehen (vgl. 3. 2. 1). Die Unterscheidung zwischen N und
NP fällt natürlich weg, sobald man einen Dependenz-Ansatz wählt (cf. Heinz Vater,
Dänische Subjekt- und Objektsätze: Ein Beitrag zur generativen Dependenzgramma-
tik, Tübingen 1973), da es in einer Dependenz-Grammatik nur terminale Elemente
gibt.
32 H. Vater
28 Cf. dazu Christian Rohrer, Zur Theorie der Fragesätze, in: Dieter Wunderlich (Hg.),
Probleme und Fortschritte der Transformationsgrammatik, München 1971, p. 1 0 9 -
126.
29 Bei der Form nimmer (die nicht zu meinem aktiven Sprachschatz gehört) bin ich mir
allerdings nicht sicher, ob es sich wirklich um eine unbestimmte Pro-Form handelt.
Pro-Formen des Deutschen 33
die überhaupt nicht für ein Substantiv, sondern zusammen mit einem Sub-
stantiv stehen. Es handelt sich um die Determinantien dieser, jener, jeder,
all(er), mancher, einige, mehrere, die Possessivpronomina mein, dein, sein,
unser, euer und ihr u.a. 30 .
Andere Pro-Formen (wie z. B. die adverbialen Pro-Formen hier, da, dort, jetzt,
damals, wo, wann usw.) wurden gar nicht als Pro-Formen erkannt oder sie
wurden — mit dem ebenso monströsen wie unzutreffenden Terminus „Pro-
nominaladverb" versehen — als eine Kreuzung aus Pronomen und Adverb be-
handelt — offenbar, weil man sich die Pro-Funktion nur in Verbindung mit
Pronomina vorstellen konnte.
Nimmt man, wie es hier getan wird, die Vertretungs- bzw. Ersetzungs-Funk-
tion als das Charakteristikum aller Pro-Formen und baut man auf Chomskys
Beobachtung auf, daß Pro-Formen major categories vertreten, dann ergibt sich,
daß sich Pro-Formen sinnvoll danach subkategorisieren lassen, welche Katego-
rie sie vertreten. Folgende Untergruppen werden fürs Deutsche zunächst ange-
nommen: Pronomina 31 , Proverben, Proadverbiale, Proattribute und Prosätze.
Der Ausdruck „Proattribut" fällt dabei insofern aus dem Rahmen, als er nicht
auf die Kategorie, sondern auf die Funktion der betreffenden Pro-Formen
Bezug nimmt 32 . Die Attributs-Funktion kann bekanntlich von Formen ver-
schiedener kategorieller Zugehörigkeit ausgefüllt werden, nämlich von Adjektiv-
phrasen, Nominalphrasen im Genitiv, Präpositionalphrasen und Relativsätzen.
Für all diese verschiedenen Kategorien stehen im Deutschen jedoch die glei-
chen Pro-Formen zur Verfugung: welch(er), was für ein, solcher und so ein\
da das einzig Verbindende all der verschiedenen vertretenen Kategorien die
gleiche Funktion ist, scheint der Name „Proattribute" für Pro-Formen die-
ser Art gerechtfertigt zu sein.
3.2.1 Pronomina
Pronomina stehen nicht nur für den substantivischen Kern einer NP, sondern
auch für die Verbindung Det + N und im Fall der bestimmten Pronomina so-
30 Alle diese Formen wurden zusammen mit der, ein und der 0-Form des Artikels bei
Heinz Vater, Das System der Artikelformen im gegenwärtigen Deutsch, Tübingen 1963,
unter dem Terminus „Artikel" zusammengefaßt, später, in Vater, Tiefenstruktur, dem
Gebrauch in der generativen Grammatik entsprechend, als „Determinantien".
31 Der traditionelle Terminus „Pronomen" wird, da er immer noch allgemein gebräuchlich
ist, beibehalten, obwohl „Pro-NP" genauer wäre. Analog dazu wird auch „Proverb"
gebraucht (was auch dem englischen Terminus „pro-verb" entspricht).
32 Zum Unterschied zwischen Kategorie und Funktion cf. Chomsky, Aspects, Kap. 2.
34 H. Vater
gar auch für die Verbindung Det + N + Attribut, d. h. für die Gesamt-NP 33 ,
wie die folgenden Beispiele demonstrieren.
(23) Ein Mann war da. Er will Sie sprechen.
(24) Mancher Mensch denkt, er kann tun, was er will.
(25) Unsere Katze schnurrt immer, wenn man sie streichelt.
(26) Der kleine karierte Koffer ist nicht da. Ist er im Keller?
(27) Der junge Mann mit dem flotten BMW denkt, die Autobahn sei nur
für ihn da.
Er in (23) nimmt ein Mann wieder auf, er in (24) mancher Mensch, sie in (25)
unsere Katze, er in (26) der kleine karierte Koffer und ihn in (27) ist eine Pro-
Fortführung von der junge Mann mit dem flotten BMW.
Unbestimmte Pronomina können ein Attribut bei sich haben; sie repräsen-
tieren dann nur den Kern einer NP (mit eventuellem Determinans):
(28) Niemand mit gesundem Menschenverstand würde so etwas machen.
(29) Niemand auf der Welt würde mit ihm tauschen.
(30) Nichts auf Erden kann ihn erschüttern.
(31) Karl glaubt grundsätzlich nichts, was in Zeitungen steht.
(32) Jemand, der so etwas sagt, ist ein Dummkopf.
(33) Da geschah etwas, worauf ich lange gewartet hatte.
(34) Wer in Europa glaubt ihm noch?
(35) Wer, der den letzten Krieg mitgemacht hat, will noch einmal Soldat
spielen?
(36) Was in aller Welt soll das bedeuten?
Dabei scheinen für wer und was stärkere Beschränkungen zu bestehen als für
die anderen unbestimmten Pronomina:
(37) *Wer mit Schnurrbart war das?
(38) *Was mit Eis möchten Sie trinken?
Satz (38) könnte allenfalls scherzhaft geäußert werden - unter der Voraus-
setzung, daß der Fragende von vornherein weiß, daß der Angeredete nur etwas
mit Eis trinkt; der Satz wäre aber wohl auch dann ungrammatisch, und zwar
bewußt gegen die Regeln konstruiert, wie das ja häufig bei scherzhaftem,
ironischem und poetischem Sprachgebrauch der Fall ist.
Die Tatsache, daß unbestimmte Pronomina ein Attribut haben können
(wenn auch mit Einschränkungen), bestimmte dagegen nicht, hat offenbar
mit der verschiedenen Ableitungsart zu tun: Für unbestimmte Pronomina,
die ja schon in der Tiefenstruktur vorhanden sind, gelten anscheinend annä-
hernd die gleichen Beschränkungen wie für „normale" Substantive, also N
mit dem Merkmal [ - P r o ] , während bestimmte Pronomina durch eine Trans-
formation jeweils für eine ganze vorerwähnte NP beliebigen Komplexitäts-
grads eingesetzt werden.
Zu den unbestimmten Pronomina gehören außer den bereits erwähnten
noch die Verbindungen mit irgend: irgendjemand, irgendetwas, irgendeiner,
irgendwer und irgendwas. Diese Pro-Formen unterscheiden sich von jemand
und etwas durch das zusätzliche Merkmal [-spezifisch]. Sie drücken notwen-
dig aus, daß es sich um ein beliebiges Exemplar innerhalb der Klasse aller
N, die etwas Menschliches bzw. etwas Nicht-Belebtes bezeichnen, handelt,
während jemand und etwas in dieser Hinsicht merkmallos sind, d. h. sie kön-
nen etwas Beliebiges bezeichnen wie die irgend-¥ormeti, aber auch etwas, das
zwar nicht vorerwähnt oder als bekannt vorausgesetzt, aber doch näher spezi-
fiziert ist (z. B. durch einen restriktiven Relativsatz) 34 . In den folgenden Bei-
spielen sind die Sätze unter (ii) jeweils ungrammatisch, weil in ihnen die un-
spezifischen Pronomina mit einem spezifizierenden Zusatz verbunden sind.
34 Cf. dazu Vater, Artikelformen, ferner James McCawley, Where Do Noun Phrases Come
From? , in: R. Jacobs - P. Rosenbaum (Hg.), Readings in English Transformational
Grammar, Waltham (Mass.) 1970, p. 1 6 6 - 1 8 3 , ferner auch Odo Leys, Nicht-referen-
tielle Nominalphrasen, Deutsche Sprache 2 (1973), 1 - 1 5 . .
35 Die komplizierte Syntax und Semantik von man sind bisher noch nicht gründlich er-
forscht worden. Interessante Ergebnisse sind hier von einer noch in Arbeit befindlichen
Dissertation von Tilman Höhle zu erwarten, wo z. B. mehrere Varianten von man un-
terschieden werden, die sich auch syntaktisch verschieden verhalten.
36 H. Vater
(41) (i) Man hat sich lange darüber gestritten, welche Funktion die Mandeln
im menschlichen Körper haben,
(ii) *Jemand hat sich lange darüber gestritten, welche Funktion die Man-
deln im menschlichen Körper haben.
(42) (i) Wie geht es dir? - Man lebt.
(ii) *Wie geht es dir? - Jemand lebt.
Die Zahl der bestimmten Pronomina ist anscheinend auf er, sie und es be-
schränkt. Einige Determinantien kommen zwar ohne Substantiv vor in Fäl-
len, wo sie mit einer vorerwähnten NP referenzidentisch sind, jedoch han-
delt es sich dabei nicht um Pro-Form-Ersetzung, sondern um Tilgung des sub-
stantivistischen Kerns (vgl. (43) — (47)). Gestützt wird diese Annahme da-
durch, daß in solchen Fällen ein Attribut erhalten bleiben kann, was bei ech-
ten bestimmten Pronomina nicht möglich ist (vgl. (48) und (49)).
(43) Hier zweigen zwei Wege ab. Welcher ist der richtige?
(44) Zehn Menschen waren anwesend. Einer hat es gesehen.
(45) Zehn Menschen waren anwesend. Keiner hat es gesehen.
(46) Viele Vorschläge wurden gemacht. Dieser ist der einzig vernünftige.
(47) Alle Namen hat er aufgerufen, meinen hat er vergessen.
(48) Du hast so schöne Kleider. Mußt du ausgerechnet das rote anziehen?
(49) Wer ist denn jetzt Klaras Freund, der mit dem Bart oder der mit dem
Silberblick?
Haskell nennt solche Formen, die nicht so sehr vorangegangene Einheiten er-
setzen als deren optionale Anwesenheit implizieren, „unechte Pro-Formen" 3 6 .
Um eine echte Pro-Form dürfte es sich allerdings bei der im folgenden Bei-
spiel handeln.
(50) Otto Meyer ist da. - Der hat mir gerade noch gefehlt!
Der ersetzt Otto Meyer, es ist nicht ein Determinans, dessen übergeordne-
tes Substantiv getilgt wurde; im allgemeinen haben Eigennamen ja auch kein
Determinans. In (50) — wie auch in vielen anderen Fällen — hat der im Ge-
gensatz zu er eine negative Konnotation. Das ist jedoch durchaus nicht immer
der Fall, vgl. (51).
(51) Kennen Sie Peter Müller? - Der ist mein bester Freund.
3.2.2 Proverben
Diese These erklärt auch, warum das Objektpronomen bei der Wiederauf-
nahme von intransitiven und sogar unpersönlichen Verben steht (vgl. (56)
und (57)). Es wäre wenig sinnvoll, eine Transformation von zugrundeliegen-
dem schwimmen oder regnen zu es tun anzunehmen, aber eine Transforma-
tion, die in tut regnen den Infinitiv durch es oder das ersetzt, ist durchaus
einleuchtend und innerhalb des Gesamtsystems gerechtfertigt, wenn man be-
denkt, daß es und das zu den neutralsten und allgemeinsten Pro-Formen ge-
hören, die z. B. auch für ganze Sätze eintreten können.
Haskeils Ansatz ist im Einklang mit Isaienkos Beobachtungen, wonach
es und das das Hauptverb in Perfekt- oder Modalkonstruktionen (samt sei-
nem Objekt, falls ein solches vorhanden ist) ersetzen 38 :
(61) Hat Peter seinen Freund getroffen? Ja, das hat er.
(62) Darf Peter seinen Apfel essen? Ja, er darf es.
Auch die von R. Steinitz als Proverben behandelten Verben geschehen, statt-
finden, eintreten, sich abspielen, sich ereignen, beginnen u. a. erklärt Haskeil
als unechte Proverben, die den Aspekt des Infinitiwerbs (bzw. nominalisier-
ten Verbs) angeben 39 .
3.2.3 Proadverbiale
Proadverbiale sind Pro-Formen für Adverbiale, d. h. Adverbien, Präpositio-
nalphrasen oder eingebettete Sätze in adverbialer Funktion 4 0 . Wie bei den
Pronomina kommen unbestimmte und bestimmte Formen vor. Hier einige
Beispiele für unbestimmte Formen:
(63) Wo ist der braune Koffer? - Im Keller.
(64) Wann fährst du nach Rom? - Am Dienstag.
(65) Wie kommst du zum Bahnhof? - Mit einer Taxe.
(66) Weshalb hat Anna den ganzen Abend nichts gesagt? - Weil sie schüch-
tern ist.
3.2.4 Proattribute
Als unbestimmte Proattribute werden die Formen was für (ein) und welcher
benutzt, letztere Form kann jedoch auch Vorerwähnung voraussetzen (vgl.
(43) und (83)), nämlich Vorerwähnung einer Menge, aus der durch welcher
ein Einzelelement ausgewählt ist, das selbst unbestimmt (d. h. nicht identi-
fiziert) ist.
40 H. Vater
3.2.5 Prosätze
Bei Prosätzen handelt es sich stets um Pro-Formen für eingebettete Sätze.
Als Pro-Formen für Subjekt- und Objektsätze dienen die Formen das, dies
und es, als Proformen für adverbiale Sätze und Satzeinbettungen, die als prä-
unbestimmt bestimmt
[+Menschlich] [-Belebt]
jemand etwas er, sie, es
42 der, die, das43
man was
dieser, diese, dies44
a irgendjemand irgendetwas
g irgendwer irgendwas
g irgendeiner
o
&
niemand nichts
42 Es handelt sich hier um (umgangssprachliches) was in Fällen wie Es muß was passiert
sein.
43 Es geht um der (als Demonstrativum) in Fällen, wo es nicht Determinans ist, d.h. nicht
durch Tilgung des Substantivs alleiniger Repräsentant einer NP geworden ist, cf. (50),
(51) und (87).
44 Cf. dies in Beispiel (88).
45 Woran, worauf usw. als Pro-Formen für präpositionale Objekte (cf. 3.2.3).
46 Hier ist eine Pro-Form für den Ort des Sprechers, dort für den Ort des Angesprochenen;
da ist neutral, d. h. es kann sich sowohl auf den Ort des Sprechers, als auch auf den Ort
des Angesprochenen beziehen; vgl. die in einem Telefongespräch übliche Frage Ist Herr X
da? und die Antwort Er ist nicht da, wo das erste da durch dort, und das zweite durch
hier ersetzt werden kann.
47 Da wie in Da war's um ihn geschehen.
Peter Wunderli
— non in Formeln wie non seulement, non plus, non loin usw., aber auch
non pas, da es sich um erstarrte Wendungen handelt, die auf einen früheren
Sprachzustand zurückgehen; ihre Bildung kann daher nicht aufgrund der Re-
geln der freien Syntax des Modernfranzösischen erklärt werden.
*
im einen oder anderen Sinn verändern würden. Es ist erstaunlich, daß diese
Darstellung in d e m großen, für das 20. J a h r h u n d e r t repräsentativen Werk
nur geringfügig verändert wieder a u f g e n o m m e n wird. Maurice Grevisse be-
ginnt sein Kapitel über die Negation folgendermaßen:
Les adverbes de négation sont, à proprement dire: non, forme accentuée, et ne, forme
atone.
Bon Usage, § 8 7 3
3 Mehr oder weniger gleich gehen z. B. vor: J . - C . Chevalier et al., Grammaire Larousse
du français contemporain, Paris 1964, § 6 2 2 ss.; R.-L. Wagner - J. Pinchon, Grammaire
du français classique et moderne, Paris 1962, § 4 6 9 / 7 0 ; Ph. Martinon, Comment on
parle en français, Paris 1927, p. 5 2 6 ss.; G. und R. Le Bidois, Syntaxe du français
moderne II, Paris 2 1 9 6 7 , § 9 8 3 / 8 4 ; C. de Boer, Syntaxe du français moderne, Leiden
' 1947, p. 17ss.; G. Gougenheim, Système grammatical de la langue française, Paris
1939, p. 2 5 9 ss.; usw.
46 P. Wunderli
Ein anderer Versuch, das Wesen der Negation zu erfassen, wurde von Fer-
dinand Brunot in seinem berühmten Werk La pensée et la langue4 unternom-
men. Das Ziel dieses Buches ist es, die grammatischen und syntaktischen
Mittel des Französischen unter einem onomasiologischen Gesichtspunkt dar-
zustellen5 . Leider wird die Art und Weise, wie Brunot zu seinen logischen
Kategorien gelangt, kaum diskutiert; wir erfahren nur, daß sie der Psycholo-
gie und der Logik entstammen — nicht etwa der Psychologie und der Logik,
die Brunot „rein" nennt, sondern einer „psychologie ou . . . logique reflé-
tées dans le langage d'un peuple."6 Im Rahmen dieser Onomasiologie auf
vorwissenschaftlicher Basis wird die Negation folgendermaßen dargestellt:
Lorsqu'on veut répondre négativement c'est non qu'on emploie dans la langue
soit ancienne, soit moderne: Venez-vous? Non. On nie purement et simplement
la chose énoncée. Cette formule essentielle se suffit à elle-même.
Brunot, La pensée et la langue, p. 494
Durch einen Rückgriff auf die Etymologie wird in der Folge die Partikel ne
(und ihre Zusammensetzungen) zu non in Beziehung gesetzt. Diese Art, die
Negation zu behandeln, ruft ebenso nach Vorbehalten wie die Versuche von
Girault-Duvivier, Grevisse und vielen anderen. Sicher, Brunot hat nicht den
Fehler begangen, die Negation durch eine mehr oder weniger vollständige
Aufzählung der Negationszeichen definieren zu wollen. Aber ist die Zuflucht
zur Etymologie etwa weniger anfechtbar? Überdies bringt Brunots Vorge-
hen erneut keine Definition dessen, was die Termini nier, négation für den
Linguisten bedeuten: er versucht nirgends, ihre populäre, vorwissenschaft-
liche Bedeutung durch eine wissenschaftliche Definition zu ersetzen7.
Außerdem leidet die Darstellung der Beziehungen zwischen non und sei-
nem Kontext unter einigen recht ärgerlichen Ungenauigkeiten. Brunot be-
hauptet, daß einfach der „ausgesagte Inhalt" verneint werden müsse, um ne-
gativ zu antworten. Aber was ist dieser „ausgesagte Inhalt"? Etwa das außer-
sprachliche Faktum „X vient" oder sogar „je viens"? Aber dieses Faktum
wird nicht als solches gesagt; das, was ausgesagt wird, ist eine Frage, die sich
auf dieses Faktum bezieht. Oder sollte Brunot an die Frage Venez-vous?
denken, wenn er von „ausgesagtem Inhalt" spricht? Eine solche Interpre-
tation ist nicht weniger unbefriedigend, denn wir werden sehen 8 , daß non
nicht einem „venez-vous + Negation" (-> ne venez-vous pas?) gleichgesetzt
werden darf.
Wir müssen somit festhalten, daß Brunots Analyse der Beziehungen zwi-
schen der Negation und ihrem Kontext unzureichend ist, und daß es ihm
auch nicht gelungen ist, das Gebiet der Negation befriedigend abzugrenzen.
Dieser Mißerfolg zeigt uns nochmals, daß eine exakte Definition dessen, was
man unter Negation verstehen will, unabdingbare Voraussetzung für die wis-
senschaftliche Untersuchung dieses Phänomens ist; überdies muß herausge-
arbeitet werden, worauf eine Negation sich nun wirklich bezieht. Hierfür
scheint es mir unumgänglich, auf die Logik zu rekurrieren — allerdings nicht
im Sinne von Brunot, sondern in demjenigen von Charles Bally, Ducrot —
Todorov usw. 9 Eine logische Aussage besteht aus einem Argument (z. B.
Pierre) und einem Prädikat (z. B. dort). Die Gesamtheit von Argument und
Prädikat kann man ein Diktum nennen {Pierre + dort). Das Diktum darf nun
aber noch nicht der Aussage gleichgesetzt werden. Diese enthält außer dem
Diktum noch eine Stellungnahme des Sprechers zum existentiellen Charakter
des Diktums. Dieses existentielle Urteil wird Modus oder Modalität genannt;
es kann affirmativ, negativ, interrogativ, imperativ usw. sein und manifestiert
sich auf der Ebene des Satzes durch das, was Coseriu als „ontische Bedeu-
tung" bezeichnet 1 0 . Wir können also sagen, daß sich eine Aussage aus Modali-
tät und Diktum zusammensetzt, wobei das Letztere seinerseits in Argument
und Prädikat zerfällt. Wenn wir nun wieder zu unserem Beispiel zurückkeh-
ren, so stellen wir fest, daß die Aussage Pierre dort ein Argument (Pierre)
und ein Prädikat (dort) enthält, die zusammen das Diktum bilden, und au-
ßerdem eine Modalität, welche in diesem Fall diejenige der Affirmation ist.
Nun wird in unserem Beispiel die Modalität (oder ontische Bedeutung) in
8 Cf. p . 56 SS.
9 Cf. Ch. Bally, Linguistique générale et linguistique française, Berne ^1965, § 27 ss.;
O. Ducrot - T. Todorov, Dictionnaire encyclopédique du langage, Paris 1972, p.
394/95 (cf. auch die bibliographischen Hinweise, p. 397).
10 Cf. E. Coseriu, Die Lage der Linguistik, Innsbruck 1973, p. 10.
48 P. Wunderli
der Redekette durch kein spezifisches Element markiert - Bally spricht des-
wegen von einer „modalité implicite". Aber man kann die Dinge auch an-
ders sehen. Da das Fehlen eines besonderen Merkmals immer bedeutet, daß
wir es mit affirmativer Modalität zu tun haben, könnte man hier von einem
Nullzeichen sprechen: dem signifié ,Affirmation' entspräche ein signifiant 0 1 1 .
Welche Lösung man auch immer wählt, der Entscheid bleibt ohne Konse-
quenzen für die Probleme, die uns hier interessieren. Wichtig für unsere Fra-
gestellung ist, daß die affirmative Modalität immer expliziert werden kann,
indem wir auf lexikalische und syntaktische Mittel zurückgreifen, cf. z. B.:
Il est vrai
Il est juste que Pierre dort.
etc.
Was uns im Bereich des Modus besonders interessiert, ist natürlich die nega-
tive Modalität. Ersetzt man die implizite (Pierre dort) oder die explizite affir-
mative Modalität (il est vrai que Pierre dort) durch eine negative Modalität,
erhält man einen Satz vom Typ II est faux que Pierre dort. In diesem Fall
wird die explizite Negation in erster Linie mit Hilfe lexikalischer Mittel zum
Ausdruck gebracht (être faux); hinzu kommt als sekundäre, von der ersten
abhängige Erscheinung die syntaktische Unterordnung. Die erwähnte Form
stellt die normale Periphrase der logischen Negation dar. Auf sprachlicher
Ebene kann nun eine Konstruktion von Typ Pierre ne dort pas, wo der lexi-
kalischen Negation eine morphosyntaktische Einheit entspricht, als äquiva-
lent angesehen werden. Den beiden Typen gemeinsam ist, daß sie die Aufhe-
bung oder besser Verweigerung der die (reelle oder fiktive) Existenz des Dik-
tums betreffenden Affirmation markieren 12 . Unter diesem Blickwinkel ist die
Negation mit der Frage (Est-ce que vous venez? ) und mit der Bedingung
verwandt (Si tu viens, nous irons au cinéma), obwohl es sich in diesen Fällen
nicht um eine Aufhebung der Verweigerung der Affirmation handelt: bei
der Frage kann man von einer verschobenen oder aufgeschobenen Affirma-
tion sprechen, bei der Hypothese von einer Affirmation, die von der Realisie-
rung einer gegebenen Bedingung abhängig gemacht wird.
Diese logisch begründeten Überlegungen erlauben es uns, ein erstes Ele-
ment der gesuchten Negationsdefinition zu isolieren. Wir halten fest:
11 Cf. zu diesem Problem jetzt auch S. J. Schmidt, Texttheoretische Aspekte der Ne-
gation, ZGL 1 ( 1 9 7 3 ) , 1 7 8 - 2 0 8 , bes. p. 180, sowie den dort erwähnten Interpre-
tationsvorschlag von J. S. Petöfi.
12 Cf. hierzu auch Schmidt, ZGL 1 (1973), 1 7 8 - 2 0 8 , bes. p. 1 8 0 - 1 9 3 .
Der Prosatz „non" 49
Eine Negation ist ein (einfaches oder komplexes) Zeichen, das die Verwei-
gerung der existentiellen Affirmation eines Diktums markiert.
Fügen wir noch hinzu, daß die Modalität, die einem Diktum zugeordnet wird,
immer sprecherabhängig ist: sie hat demnach subjektiven Charakter. Eine
affirmative oder negative Modalität gibt uns a priori keinen Aufschluß über
die objektive Existenz oder Nicht-Existenz des Diktums, sondern nur über
ihre Annahme bzw. Nicht-Annahme durch das modale Subjekt (Sprecher) 13
Nach diesem Exkurs in den Bereich der Logik kommen wir zu unserer
eigenen Fragestellung zurück. Vom linguistischen Standpunkt aus ist die er-
arbeitete Definition der Negation deshalb noch unbefriedigend, weil sie es er-
laubt, unter dieser Bezeichnung alle möglichen Erscheinungen zu klassieren,
denen auf der Ebene des Sprachsystems die verschiedensten Grundwerte zu-
kommen. Es ist eine derart weitgefaßte (implizite) Negationskonzeption, die
es z. B. Ferdinand Brunot erlaubt, auch Ausdrücke wie allons donc!, par exem-
ple! oder joliment! in den folgenden Beispielen als Negationen zu bezeich-
nen 1 4 :
Allons donc! je vous dis que j'ai de bonnes raisons pour savoir que cela ne se
peut pas.
Musset, Lorenzaccio, IV/10
13 Unsere Definition des negativen Satzes gleicht in gewisser Hinsicht den von Dubois-
Lagane und Wartburg - Zumthor gegebenen Bestimmungen. Cf. J. Cubois - R. La-
gane, La nouvelle grammaire du français, Paris 1973, p. 163: „Une phrase négative
est une phrase où on nie une affirmation"; W. v. Wartburg - P. Zumthor, Précis
de syntaxe du français contemporian, Berne 21958, p. 43: „La phrase négative
exprime l'inexistence d'un fait. Elle implique une attitude spéciale d'esprit chez le
sujet parlant; celui-ci infirme un jugement qui pourrait être porté par un autre . . ."
- Vgl. auch Schmidt, ZGL 1 (1973), 180 ss.
14 Cf. Brunot, La pensée et la langue, p. 501; cf. auch Tesnière, Eléments, § 8 8 / 1 1 - 1 2 .
50 P. Wunderli
Eine Negation ist ein (einfaches oder komplexes) Morphem, dessen auf der
Ebene der langue gegebene Funktion darin besteht, die existentielle Affirma-
tion eines Diktums zu verweigern.
Wir betrachten als Negation also nur das, was Lucien Tesnière die marquants
de la négation16 nennt, d.h. diejenigen Zeichen, denen die Negationsfunktion
auf der Ebene der langue zukommt und die zu geschlossenen Paradigmen
gehören.
Wir haben somit den Bereich der Negation genau umrissen; es bleibt uns
die Aufgabe, den Platz zu definieren, den non in diesem Bereich einnimmt —
ein Problem, das eng mit der Frage zusammenhängt, was denn eigentlich durch
die verschiedenen Negationen verneint wird. Unsere Klassifikation von non
erfolgt aufgrund von zwei Kriterien. In einem ersten Schritt werden wir non
und dessen Ersatzformen (non pas, pas du tout, point du tout etc.) den Ne-
gationen vom Typ ne.. . pas, ne. . . point gegenüberstellen. Diese Oppo-
sition kann zunächst in syntagmatischer Hinsicht definiert werden. Non bil-
det ein Paradigma mit den Morphemen oui und si, und wie diese übt es für
sich allein die Funktion eines Satzes bzw. Teilsatzes aus 17 : Es steht in Kor-
relation entweder mit der Intonation eines autonomen Aussage-, Ausruf- oder
Fragesatzes, oder aber mit derjenigen des affigierten Elements (A) eines seg-
mentierten Satzes (Typ AZ oder ZA) 1 8 . Wenn non durch seine Satzfunktion
charakterisiert ist, so liegen die Dinge bei ne . . . pas usw. anders. Ein ein-
faches Beispiel wie Pierre ne dort pas und die Unmöglichkeit, mit ne . . . pas
allein eine nicht-metasprachliche Aussage zu machen, beweisen zur Genüge,
daß dieser Negationstypus immer Bestandteil eines Satzes oder Teilsatzes sein
muß, der auf anderen sprachlichen Einheiten beruht. Wir können also mit L.
Bloomfield sagen, daß ne. . . pas eine gebundene, non dagegen eine freie
Form sei 19 .
Indessen unterscheiden sich unsere beiden Negationen nicht nur durch ihren
freien (phrastischen) bzw. gebundenen (nichtphrastischen) Charakter, sondern
auch aufgrund der recht unterschiedlichen Beziehungen, die in diesen beiden
Fällen zwischen Negation und Diktum bestehen. Ein Satz wie Pierre ne dort
pas kann in allen möglichen Kontexten vorkommen: er kann die Antwort
auf eine Frage vom Typ Est-ce que Pierre dort? bilden, er kann ein Korrek-
turelement zu einer vorhergehenden Affirmation vom Typ Pierre dort dar-
stellen, er kann eine einfache Feststellung im Rahmen einer gegebenen Situa-
tion auch ohne sprachlichen Kontext zum Ausdruck bringen, usw. Schon die-
se Beispiele genügen, um deutlich zu machen, worauf es hier ankommt: die
Bedeutung des Satzes Pierre ne dort pas bleibt immer gleich, sie ist unabhängig
vom Kontext 20 . Aus diesen Gegebenheiten folgt, daß das negierte Diktum Be-
standteil desselben Satzes ist wie die Negation ne . . . pas selbst; die Reichwei-
te dieser Negation überschreitet offensichtlich die Grenzen des Satzes bzw.
Teilsatzes nicht. Deshalb werden wir diesen Negationstypus — in Anlehnung
an die Terminologie der Kopenhagener Schule21 — homonex nennen, d. h.
,auf denselben Nexus (= Satz bzw. Teilsatz) bezogen'.
Wenn wir jetzt auf unser altes Beispiel Venez-vous? - Non zurückkommen,
so ist auf Anhieb klar, daß die Beziehungen zwischen Negation und Diktum
hier anderer Art sind. Wir haben gesagt, non sei ein freies Morphem und übe
für sich allein Satzfunktion aus. Obwohl wir die Frage, welches nun eigentlich
bei diesem Negationstyp das negierte Diktum sei, noch nicht gelöst haben,
könne wir gleichwohl schon jetzt feststellen, daß die Bedeutung dieses ein-
gliedrigen Satzes nicht unabhängig vom Kontext ist. In den Beispielen:
Venez-vous? - Non.
Sors! - Non.
II s'est endormi. - Non.
muß diese Bedeutung je nach Kontext mit ,Je ne viens pas', ,Je ne sors pas'
oder ,11 ne s'est pas endormi' umschrieben werden. Die Bedeutung von non
hängt also vom Kontext ab. Überdies wird das von der Negation betroffene
Diktum nicht im von diesem Morphem gebildeten Satz expliziert, und die
gleiche Feststellung trifft auch auf segmentierte Sätze wie non, je ne viens
pas zu. Die Reichweite dieser Negation geht also über die Satzgrenzen hinaus;
non betrifft ein Diktum, das außerhalb des monoremen negativen Satzes liegt 22 .
20 Diese Feststellung gilt aber nur für diejenigen Kontexte, die ich „normal" nennen
würde; sie trifft nicht zu für metasprachliche, metaphorische, ironische usw. Kontex-
te.
21 Zur Definition von Nexus cf. K. Togeby, Structure immanente de la langue française,
Paris ^ 1965, p. 67: „Nexus: syntagme caractérisé par des morphèmes extenses (ver-
baux)"; für die Termini homonex und heteronex cf. z. B. G. Boysen, Subjonctif et
hiérarchie, Odense 1971, p. 16, 26, 32, 40.
22 Für den Terminus Monorem (= eingliedriger Satz) cf. Bally, LGLF, § 49; A. Seche-
haye, Essai sur la structure logique de la phrase, Paris ^1950, p. 9 ss.
Der Prosatz „non" 53
Wir tragen diesen Gegebenheiten Rechnung, indem wir den vorliegenden Ne-
gationstypus als heteronex bezeichnen.
Eine homonexe Negation ist demnach eine Negation, die ein Diktum be-
trifft, das in demselben Satz wie das Negationsmorphem zum Ausdruck ge-
bracht wird, eine heteronexe Negation dagegen bezieht sich auf ein Diktum,
das im Kontext des Negativsatzes steht. Für die transphrastische Syntax und
damit fur die Textlinguistik ist v. a. dieser zweite Typ von Interesse23.
Bleibt das zweite Klassifikationskriterium, das sowohl im Bereich der homo-
nexen wie in demjenigen der heteronexen Negation zum Tragen kommt. Be-
ginnen wir mit der heteronexen Negation, da hier die Gegebenheiten leichter
zu fassen sind. Eine Negation kann sich auf einen ganzen Satz beziehen, oder
besser: der Kern dieses Satzes, d.h. das Verb, kann ihr untergeordnet sein 24 .
Dies ist der Fall in den Sätzen Pierre ne vient pas, Pierre ne vend pas sa voi-
ture, Pierre ne part pas demain usw. Da das zentrale Element des Satzes von
der Negation dominiert wird, betrifft diese nicht nur das Verb allein, sondern
indirekt auch alle anderen Positionen, die von diesem Kern abhängig sind, d. h.
die Aktanten und die Zirkumstanten. Greift man auf die Terminologie zu-
rück, die die traditionelle Grammatik im Bereich der Frage benutzt, so könn-
te man von einer totalen Negation sprechen25 ; da wir aber bereits den Termi-
nus Nexus verwendet haben, um den Satzkern zu bezeichnen, ziehe ich es vor,
diesen Typus nexuelle Negation zu nennen 26 . Eine Negation muß sich indes-
sen nicht unbedingt auf einen Nexus als Ganzes beziehen, sie kann auch nur
23 Schmidt, ZGL 1 (1973), 184 ss. bespricht den Fall der homonexen Negation dt.
nicht, deren Bezugselement (eines der verschiedenen Satzglieder) erst aufgrund von
Kontext- und/oder Situationsindikatoren festgelegt würde. Hier liegt zweifellos ein
textlinguistisches Problem vor, aber meiner Auffassung nach nicht eines, das die (ho-
monexe) Negation als solche betrifft: negiert wird immer der nicht enthaltende Satz
als Ganzes; alles Weitere ist ein Problem der Hervorhebung bzw. der Thema-/Rhema-
struktur des Textes. Dies gilt selbst für die Stellung von nicht, die von dieser Thema-/
Rhemastruktur abhängig ist; gleichwohl negiert nicht nie etwas anderes als den
Satz als Ganzes (cf. auch den Fall des Französischen, wo die Stellung von ne . . . pas
etc. fest ist, sich aber aufgrund von Hervorhebung bzw. Thema-/Rhemastruktur die
gleichen Sinneffekte erzielen lassen wie im Deutschen mit „beweglichem" nicht).
24 Mit Tesnière und der Valenzgrammatik betrachte ich das Verb als das Zentrum des
Satzes; cf. Tesnière, Eléments, p. 11 ss.
25 Cf. Wagner-Pinchon, Grammaire du français classique et moderne, p. 389 ss.
26 Nach Tesnière, Eléments, p. 218 ss. betrifft die Negation vom Typ Piere ne vient
pas die Konnexion zwischen Subjekt und Verb, d. h. sie wäre eigentlich dem Verb
untergeordnet (cf. auch G. Bamicaud, M . - A . Compare, O. Ducrot, A. Vidal, Le
problème de la négation dans diverses grammaires françaises, Langages 7 [ 1 9 6 7 ] ,
5 7 - 8 3 , besonders p. 65 ss.). Diese Auffassung scheint mir aber wenig adäquat zu
sein, denn sie erklärt nicht, warum in diesem Fall die Negation auch für den zwei-
54 P. Wunderli
eine der nicht verbalen Positionen des Satzes betreffen, d. h. einen der Ak-
tanten oder Zirkumstanten 27 . Hier einige Beispiele mit Angabe des Elements,
auf das sich die Negation bezieht:
ten Aktanten, den dritten Aktanten und die Zirkumstanten Gültigkeit hat; es ist
offensichtlich, daß die nexuelle Negation dem Verb übergeordnet sein muß (cf. hier-
zu auch H.-J. Seiler, Zum Problem der sprachlichen Possessivität, Köln 1972 [Arbeitspa-
pier 20 des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Köln], p. 6; Wunderli, Die
Teilaktualisierung des Verbalgeschehens [Subjonctif] im Mittelfranzösischen, Tübingen
1970, p. 203 u. passim). Indem ich Guillaumes Inzidenztheorie dahingehend mo-
difiziere, daß ich das Verb (anstelle des Subjekts) ins Zentrum des Satzes stelle und
indem ich für das Verb eine neue Inzidenz auf die Sprecherorigo (Bühler) einführe (akti-
vatorische Inzidenz), kann ich die Negation ne . . . pas als die Inzidenz Verb - Spre-
cherorigo betreffendes Adverb auffassen. Die graphische Darstellung eines Satzes
wie Pierre ne vend pas sa voiture müßte dann folgendermaßen aussehen:
X (Sprecher-Origo)
•
(Neg.)
ne . . . pas ^
vend
Die verschiedenen Positionen des Satzbauplanes werden bei Tesnière als Nu-
klei bezeichnet 2 9 . Da bei diesem Negationstypus ein Nukleus allein, unter Aus-
schluß der übrigen Satzelemente, von der Negation betroffen ist, werden wir
mit Tesnière von einer nuklearen Negation sprechen 3 0 .
Man kann dieselbe Unterscheidung zwischen nexueller und nuklearer Ne-
gation auch im heteronexen Bereich machen. In unserem Beispiel „ Venez-
vous? - Non. " haben wir das Element non mit je ne viens pas umschrieben;
es entspricht also einer nexuellen Negation im homonexen Bereich und ist
deshalb selbst als nexuell zu bezeichnen; dasselbe gilt fur die Ersatzformen
non pas, pas du tout usw. Die Einheiten jamais, rien, nulle part usw. können
ebenfalls allein als Satz fungieren; in diesem Fall beziehen sie sich aber auf
ein in einem anderen Satz ausgedrücktes Diktum und müssen zu den hetero-
nexen Negationen gezählt werden, cf. z.B.:
Die obigen Antworten können umschrieben werden mit je ne l'ai jamais revue,
je ne fais rien, il n 'est allé nulle part. Heteronexes jamais, rien, nulle part,
personne usw. entsprechen somit nuklearen Negationen im homonexen Be-
reich und sollen deshalb ebenfalls als nuklear bezeichnet werden.
Nachdem wir bereits definiert haben, was für uns eine Negation ist, können
wir nun non auch noch genau situieren im Bereich der französischen Nega-
tion:
Feststellung ausgehen, daß non eine heteronexe Negation ist, d. h. daß es ein
Diktum verneint, das außerhalb des negativen monoremen Satzes zum Aus-
druck gebracht wird. Aus dieser Charakterisierung werden sich alle für die
transphrastische Syntax wesentlichen Aspekte ergeben. Bevor wir diese prä-
sentieren können, müssen wir aber noch ein anderes Problem lösen: die Fra-
ge nach dem Diktum, das durch non negiert wird.
Es ist vollkommen unmöglich zu sagen - wie dies z. B. Ferdinand Brunot
tut —, non negiere „purement et simplement la chose énoncée". Gehen wir
von einem literarischen Beispiel Molières Misanthrope aus:
Philinte
Alceste
Non, l'amour que je sens pour cette jeune veuve
ne ferme point mes yeux aux défauts qu'on lui treuve,
Die Negation non kann sich nur auf den Stimulus „(ou) les excusez-vous? "
beziehen, denn auf die vorhergehenden Fragen müßte man mit si antworten.
Non stellt nun aber sicherlich weder die Negation von „les excusez-vous? "
(-»«e les excusez vous pas? ) noch diejenige des affirmativen Gegenstücks
„vous les excusez" ( -*• vous ne les excusez pas) dar. Diese Feststellung machen
wir zunächst einmal rein intuitiv, aber wir müssen uns nicht damit begnügen:
es ist möglich, einen linguistischen Beweis zu erbringen. Dieser Beweis beruht
auf der Tatsache, daß eine heteronexe Negation im Rahmen eines segmentier-
ten Satzes immer von einer homonexen Negation wieder aufgenommen wer-
den kann. Diese redundante Weise des Negationsausdrucks hat den großen
rigkeit zu einer anderen Stilschicht, z.B.: pas du tout: besondere Betonung der Ne-
gation; non pas, non point: besondere Betonung und (regionaler oder literarischer)
Archaismus; du tout: besondere Betonung und familiär.
Der Prosatz „non" 57
Vorteil, daß so das Diktum expliziert wird, das der heteronexen Negation zu-
gründe liegt: beide Negationen beziehen sich ja auf den gleichen Tatbestand,
Hier noch ein weiteres literarisches Beispiel aus dem Misanthrope, das dieses
Phänomen illustriert:
Oronte
Philinte
32 Hinsichtlich des Stimulus haben wir hier eine kleine Abweichung aufgrund der Tat-
sache, daß das Objektspronomen bei der homonexen Negation implizit bleibt; für
unsere weitere Argumentation spielt dies jedoch keine Rolle.
33 Wenn der Stimulus in der Höflichkeitsform steht (Pl.), muß in der Antwort auch
der Plural des Stimulus durch den Singular ersetzt werden; die umgekehrte Erschei-
nung findet man dann, wenn die erste Person des Stimulus sich auf eine Person
bezieht, die der zweite Sprecher in der Höflichkeitsform anzusprechen pflegt (cf.
Suis-je fou? - Non, vous n'êtes pas fou).
34 Diese Feststellung ist nicht ohne Ausnahme. Es kommt vor, daß in bestimmten Si-
tuationen nicht der Angesprochene, sondern der Besprochene auf den Stimulus rea-
58 P. Wunderli
Wir stellen also fest, daß der monoreme Satz non mit mindestens einem
Satz seines Kontextes durch Suppletionsmechanismen verbunden ist. Vom
Standpunkt der transphrastischen Syntax aus ist es nun wichtig zu wissen,
ob diese Beziehung eine Beziehung nach rückwärts, d. h. mit dem, was vor-
ausgeht (Anapher), oder ob es sich um eine Beziehung nach vorwärts, d.h.
mit dem, was folgt, handelt (Katapherj. In allen bisher behandelten Beispie-
len ging non im Text ein wirklicher Stimulus voraus, der nach unserer In-
terpretation die für die Rekonstruktion des Diktums notwendigen Elemente
enthielt. Wir können somit sagen, non besitze auf jeden Fall die Fähigkeit,
als anaphorische heteronexe Negation zu fungieren. Aber ist dieser anapho-
rische Charakter obligatorisch? Handelt es sich um einen charakteristischen
Zug, der non auf der Ebene der langue zukommt? Diese Frage muß verneint
werden. Es gibt nicht nur keine zweite Negation gleicher Art, die die kata-
phorische Relation markieren würde, es läßt sich auch nicht übersehen, daß
— trotz des viel häufigeren anaphorischen Gebrauchs — non auch in Kon-
texten vorkommt, wo das Diktum nur aufgrund des Nachfolgenden ergänzt
werden kann 3 5 . Hierfür nochmals zwei aus dem Misanthrope stammende Bei-
spiele. Der vierte Akt dieser Komödie beginnt folgendermaßen:
Philinte
Auf der Ebene des Textes geht dem non nichts voran; die Zäsur zwischen dem
dritten und dem vierten Akt ist absolut, denn die Personen auf der Bühne
wechseln zwischen III/5 und IV/1 — es gibt also keine Möglichkeit, eine Be-
ziehung zu einem Stimulus in der vorhergehenden Szene herzustellen. Um das
Diktum, auf das sich non bezieht, zu rekonstruieren, müssen wir uns an das
Nachfolgende halten, d. h. an das Element Z des segmentierten Satzes (AZ),
der dem ersten Vers entspricht. Ein ähnlicher Fall findet sich einige Verse
weiter in derselben Szene. Philinte zitiert die Worte Alcestes:
giert (vgl. Il est bête. - [überraschend tritt die besprochene Person auf] Non, je ne
suis pas bête). Sobald der Besprochene das Wort ergreift, müssen auch Pronomina
der dritten Person, die sich auf ihn beziehen, umgesetzt werden.
35 Cf. auch Gaatone, Système, p. 29.
Der Prosatz „non" 59
Philinte
Nichts, was dieser Szene vorangeht, könnte als Stimulus angesehen werden.
Das Zitat setzt plötzlich ein, Alcestes Worte sind offensichtlich aus ihrem
Originalkontext herausgelöst; um dieses überraschende non zu interpretieren,
müssen wir erneut zum nachfolgenden Text Zuflucht nehmen. In beiden
Fällen liegt somit ein kataphorischer Gebrauch von non vor. Man könnte
natürlich unserer Sicht entgegenhalten, im ersten Fall gebe es sicherlich einen
in unserem Text nur nicht berücksichtigten Stimulus — entweder in Philintes
Gedanken oder in seiner Rede — und im zweiten Fall sei Alcestes Worten im
Originalkontext ganz ohne Zweifel ein Stimulus vorangegangen, der dieses non
hervorgerufen habe. All dies mag zutreffen, ist aber ohne jede Bedeutung für
uns. Wir haben die Aufgabe, den Aufbau und das Funktionieren eines vorge-
gebenen, als solcher autonomen Textes zu beschreiben. Um die beiden non
zu interpretieren, um zu erfahren, auf welches Diktum sich diese Negation
jeweils bezieht, bleibt uns nur die Möglichkeit, den nachfolgenden Kontext
zu befragen. Wir müssen somit festhalten, daß die Negation non im Text eben-
so gut kataphorische wie anaphorische Funktion haben kann. Auf der Ebe-
ne des Sprachsystems ist non neutral in Bezug auf die Opposition anapho-
risch /v/ kataphorisch, es ist nur durch die Verpflichtung zur Kontextbin-
dung charakterisiert; die Richtung dieser Inzidenz wird erst auf Redeebene
festgelegt. Es gibt sogar Fälle, wo non gleichzeitig anaphorische und kata-
phorische Partikel ist, wo man zur Rekonstruktion des Diktums sowohl auf
den vorhergehenden als auch auf den nachfolgenden Kontext rekurrieren
kann; cf. unser bereits zitiertes Beispiel Vous me flattez . . . - Non, je ne
flatte point. Natürlich wird man es bei Beispielen dieser Art im Rahmen einer
spontanen Interpretation von non vorziehen, vom vorangehenden Kontext
auszugehen, aber eine auf dem nachfolgenden Kontext beruhende Interpre-
36 In unseren beiden Beispielen ist das Bezugselement des kataphorischen non ein ne-
gativer Satz (homonexe Negation); obwohl dieser Typ frequenzmäßig dominiert,
ist er nicht der einzig mögliche. Alceste hätte z. B. auch sagen können: „Non . . .
je devrais me dédire? " usw.
60 P. Wunderli
37 Sie kann sogar die einzig mögliche sein in Fällen wie dem oben erwähnten Zitat
von Alceste, wo der Stimulus unterdrückt worden ist, oder wenn jemand in einer
Unterhaltung von mehreren Personen das dem non Vorangegangene nicht gehört
oder nicht verstanden hat (Lärm, Unaufmerksamkeit usw.).
38 Es scheint, daß die kettenbildende Kraft sich nach dem ersten Element in beiden
Richtungen (Anapher und Katapher) jeweils erschöpft. Um längere, sich linear fort-
setzende Ketten zu erhalten, muß man auf andere Verknüpfungsmittel zurückgreifen.
Der Prosatz „non" 61
39 Für die Zugehörigkeit des Bauplanes zur Ebene der langue cf. auch P. Wunderli, Zur
Stellung der Syntax bei Saussure, ZRPh. 88 (1972), 483-506.
40 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 97, 211/12.
41 Cf. H. Boll, Dr. Murkes gesammeltes Schweigen, Köln-Berlin 1958.
p
62 - Wunderli
je viens A k t . ' - V.
1 2 3
j'ai vendu cette voiture a ton ami Akt. - V. - Akt. - Akt.
il arrivera demain à Paris A k t . ' - V. - Zirk.* - Zirk.'
43
Non kann alle diese Baupläne vertreten; auf der Ebene der langue ist es somit
an keinen von ihnen gebunden. Diese Feststellung wird weiter gestützt durch
die Tatsache, daß non sich nicht unbedingt nur auf ein einziges Diktum be-
ziehen muß, sondern auch gleichzeitig mehrere betreffen kann; cf. z.B.:
Harpagon
Dis-moi un peu: Marianne ne m'a-t-elle point encore vu?
N'a-t-elle point pris garde à moi en passant?
Prosine
Man kann non hier als Partikel ansehen, die die beiden vorangehenden Fragen
wieder aufnimmt und ihr Diktum negiert: es vereinigt sie gewissermaßen zu
einem Büschel. Es gebricht somit non offensichtlich nicht nur an lexikalischem
Gehalt, es geht ihm auch ein spezifischer Bauplan ab. Unsere heteronexe Ne-
42 Wenn man dem Terminus Pronomen einen so weiten Sinn gibt wie R. Harweg, könn-
te man non in seine Kategorie der „neuen Pronomina" einreihen (vgl. R. Harweg,
Pronomina und Textkonstruktion, München 1968, passim). - Für den Terminus
Prosatz cf. auch Teodora Cristea, La structure de la phrase négative en français con-
temporain, Bucarest 1971, p. 141 s.
43 V. = Verb; A k t . 1 = erster Aktant; A k t . 2 = zweiter Aktant; A k t . 3 = dritter Aktant;
Zirk. 1 = temporaler Zirkumstant; Zirk. 1 = lokaler Zirkumstant.
Der Prosatz „non 63
gation enthält nur die Merkmale .Negation' und ,Satz' (ohne jede Spezifizie-
rung) 44 ; sie ist auf der Ebene der langue nichts weiter als ein minimaler ne-
gativer Prosatz. Aus diesem Grundwert leitet sich die diskursive Funktion
von non ab: da ein aktivierter Satz immer einen einem Bauplan überlager-
ten lexikalischen Gehalt besitzt, muß der in der Rede verwendete Prosatz
non die ihm als Systemeinheit fehlenden Komponenten (lexikalischer Gehalt,
Satzbauplan) mit Hilfe von außerhalb seiner Grenzen liegenden Elementen
ergänzen: er muß sich auf den Kontext stützen (= Inzidenz). Daraus ergibt
sich die erwähnte „Kontexthungrigkeit", die allen vier Normfunktionen von
non gemeinsam ist und die nichts weiter als die diskursive Reinterpretation
des Systemwertes des Prosatzes darstellt.
Die Interpretation von non als negativer Prosatz ermöglicht es nun, eine
Reihe von Problemen zu klären, die die traditionelle Grammatik nicht befrie-
digend zu lösen vermochte. Ihre Schwierigkeiten gehen v. a. auf die Gewohn-
heit zurück, non als Adverb zu betrachten 4 5 . Ein Adverb fügt sich normaler-
weise ohne besonderes Merkmal und ohne jede Transposition in einen „ge-
bundenen Satz" (phrase liée) ein 46 — immer unter der Voraussetzung natür-
lich, daß es tatsächlich die Funktion eines Adverbs ausübt (cf. z. B. II est
vraiment heureux; Je viens demain; Il ne consentira jamais; usw.). Dies gilt
nun aber gerade nicht für non41, oui und si: um sie in einen „gebundenen
44 Was den Negationsmechanismus angeht, so muß das negative Element von non auf
die aktivatorische Inzidenz (-»Sprecherorigo) des Prosatzes bezogen werden, domi-
niert sie doch den Prosatz als Ganzes. Die Verhältnisse entsprechen somit im Prinzip
den bei ne . . . pas festgestellten (cf. N 26). Es darf aber nicht übersehen werden,
daß es sich im Fall von ne . . . pas um eine syntaktisches Phänomen handelt, wäh-
rend wir es hier mit einem Problem der Anordnung (Hierarchie) der Seme zu tun
haben. Außerdem darf non als Systemeinheit nicht als auf eine gegebenen Sprecher-
origo bezogen angesehen werden; die aktivatorische Inzidenz ist auf dieser Ebene
rein virtuell und hat Valenzcharakter:
(Sprecher-Origo)
Neg.'.
, Prosatz'
45 Vgl. z. B. Grammaire Larousse du français contemporain, § 622; Grevisse, Bon usage,
§ 873; Wartburg-Zumthor, Précis, p. 5 6 / 5 7 ; J. Dubois et al., Dictionnaire du français
contemporain, Paris 1970, p. 773; Petit Robert, Paris 1970, p. 1158; M. D a v a u - M .
Cohen - M. Lallemand, Dictionnaire du français vivant, Paris-Bruxelles-Montréal 1972,
p. 829; usw.
46 Zum Begriff der phrase liée (die zur phrase coordonnée und zur phrase segmentée
in Opposition steht) cf. Bally, LGLF, § 100 ss.
47 Im Rahmen unserer Argumentation sind diejenigen Fälle, wo non nicht negativer Pro-
64 P. Wunderli
Satz" integrieren zu können, muß ihnen obligatorisch die Partikel que voran-
gestellt werden; daraus ergeben sich Konstruktionen wie dire que non, pré-
tendre que non, usw. 4 8 Hier einige literarische Beispiele dieses Typs:
La bonne a apporté le thé. Francine lui a demandé si elle n'en prenait pas. La
bonne a répondu que non, ça l'empêchait de dormir.
R. Pinget, Le fiston, p. 129 (Gaatone, Système, p. 30)
Je ressemble à n'importe qui, vous savez. - J'espère bien que non.
H. Bazin, La mort du petit cheval, p. 171 (Gaatone, Système, p. 30)
J'ai d'abord cru qu'elle était sourde; la servante prétend que non . . .
A. Gide, La symphonie pastorale, p. 12 (Gaatone, Système, p. 30)
usw.
satz ist, nicht zu berücksichtigen. Es gibt ein non, das als Präfix fungiert, und das
ich non^ nennen möchte {non pertinent, non interrompu, non-adaptation, non-con-
comitance usw.), und ein weiteres non, das Bestandteil gewisser erstarrter, sich auf-
grund eines früheren Sprachzustands erklärender adverbialer Wendungen ist (non seule-
ment, non plus, non loin usw.); cf. hierzu Gaatone, Système, p. 21 s.; Wartburg-
Zumthor, p. 58/59; Grevisse, Bon usage, § 874b; ferner oben, p. 43.
48 Cf. auch dire que oui/si; wie non muß man also auch oui und si zu den Prosätzen
zählen (oui: affirmativer Prosatz; si: oppositiver Prosatz).
49 Vgl. Petit Robert, p. 1524. Der transitive Gebrauch von répondre mit nominalem Ob-
jekt ist selten, die Konstruktion mit Objektsatz dagegen hat nichts Außergewöhnliches
an sich.
50 Cf. hierzu Bally, LGLF, § 179 ss. (für que § 183); Tesnière, Eléments, p. 361 ss.,
v. a. p. 546-48.
Der Prosatz „non" 65
genden Sequenz. Da non Prosatz ist, ist es nichts weiter als natürlich, daß
es dort, wo es in einem Bauplan die Funktion des 2. Aktanten ausübt, gleich
behandelt wird wie ein Vollsatz: der Prosatz non wird durch que in ein
einem 2. Aktanten entsprechendes Substantiv (proposition complétive)
transponiert 51 . Was das Diktum angeht, auf welches ein solcher transponier-
ter Prosatz sich bezieht, so muß es offensichtlich außerhalb des komplexen
Satzes gesucht werden, zu dem non gehört; es kommt recht häufig vor, daß
es von seinem Stimulus durch mehrere eingeschobene Sätze getrennt ist 52 .
Das zweite Problem, das sich jetzt beinahe von selbst löst, ist die Frage,
warum non mittels ou einem Satz beigeordnet werden kann, cf. z. B. :
Pour elle, qu'elle l'avouât ou non, les maîtres étaient les maîtres et les domesti-
ques étaient les gens que mangeaient à la cuisine.
M. Proust, Le côté de Guermantes, p. 1027 (Gaatone, Système, p. 31)
Ou ist eine koordinierende Konjunktion, die aber nur zur Verbindung von
gleichartigen Elementen eingesetzt werden kann: zwei Substantiven (mon
père ou ma mère), zwei Adverbien (demain ou après-demain), zwei Sätzen
(il vient ou il ne vient pas) usw., nicht aber von zwei Einheiten, die in morpho-
syntaktischer Hinsicht verschiedenen Kategorien oder verschiedenen Hierar-
chiestufen angehören (z. B. Subst. + Adv., Satz + Subst. usw.). Wenn man
non als Adverb ansieht, bleibt die Interpretation der zitierten Beispiele ge-
zwungenermaßen unbefriedigend. Sieht man in non hingegen einen negativen
Prosatz, ergibt sich die Erklärung von selbst: ou koordiniert in diesem Fall
51 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 546 und Cristea, Structure, p. 143/44. Beispiele wie
das folgende, wo que fehlt, sind selten:
Pour faire dire oui aux hésitants, il importe avant tout de ne pas les laisser dire
non, donc de changer de sujet.
H. Bazin, Qui j'ose aimer, p. 110 (Gaatone, Système, p. 29)
Oui, non sind in diesem Fall nicht transponiert, da sie wie Zitate behandelt werden:
sie stehen in einem metasprachlichen Kontext. Diese spezifische Situation erklärt
auch die Tatsache, warum es im Kontext kein Diktum gibt, auf welches oui und
non sich beziehen könnten; selbst auf Redeebene bleiben sie leere Prosätze.
52 Ein analoger Gebrauch von non und out findet sich in Bedingungssätzen, cf. z. B.
„si tu viens, nous irons au cinéma; si non, je me coucherai tôt". Der Prosatz wird
mit Hilfe des Translativs si in einen Zirkumstanten umgesetzt (proposition circon-
stantielle). Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 593.
66 P. Wunderli
zwei Sätze ( -* la tumeur invisible est fiévreuse ou [la tumeur invisible n 'est
pas fiévreuse] ; elle l'avoue ou [elle ne l'avoue pas] usw.).
Bleibt ein dritter Fall, die Erklärung von Beispielen wie:
Je m'éveillais brusquement avec, dans l'oreille, un grand cri - mais est-ce encore
ce mot-là qui convient? Evidemment non.
G. Bernanos, Journal d'un curé de campagne, p. 1099 (Gaatone, Système, p. 29)
Vous croyez avoir quelque influence sur elle? - Non certes, pour le moment.
G. Bernanos, Journal d'un curé de campagne, p. 1172 (Gaatone, Système, p. 29)
Man liest häufig, die Adverbien évidement, certes usw. würden die
Negation „verstärken" 53 . Eine solche Formulierung scheint mir aber nicht
statthaft zu sein, denn Existenz und Nicht-Existenz sind keiner Abstufung
fähig 54 . Man könnte allenfalls sagen, daß in Formeln wie non non, non pas,
pas du tout usw. der Ausdruck der Negation verstärkt ist, daß man auf die
Negation insistiert5S. Aber sind Adverbien wie évidemment, certes, certaine-
ment, assurément usw. in der Lage, den Ausdruck der Negation zu
verstärken? Dies scheint mir äußerst zweifelhaft, denn der Semantismus
dieser Adverbien ist als solcher weder negativ noch affektiv oder quanti-
tativ. Und er braucht es auch gar nicht zu sein, denn wenn man unsere De-
finition von non akzeptiert, müssen wir in diesen Adverbien nicht „Ver-
stärkungen" der Negation oder des Negationsausdrucks sehen. Certes, vrai-
ment usw. beziehen sich nicht auf non als Negation, sondern als Prosatz:
sie fungieren als Satzadverbien und unterstreichen den sicheren, offensicht-
lichen wahren Charakter der Aussage in ihrer Gesamtheit.
53 Vgl. z. B. Gaatone, Système, p. 29; Wartburg - Zumthor, Précis, p. 59; Grevisse, Bon
usage, § 874 d; Brunot, La pensée et la langue, p. 502; usw. - Für eine der mei-
nen verwandte Interpretation cf. Cristea, Structure, p. 143.
54 Cf. auch Barnicaud et al., Langages 7 (1967), 59/60.
55 Cf. o b e n N 31.
56 Cf. z. B. Wartburg-Zumthor, Précis, p. 56; „II (se. non) est sur plusieurs points, dans
l'usage actuel, concurrencé par pas"; vgl. auch Grevisse, Bon usage, § 874 a Rem. 1;
Der Prosatz „non" 67
point usw. seien homonexe Negationen 57 ; als solche können sie aber keine
Prosätze sein. Wenn non auf den Bereich von pas übergreift, dann muß man
sich entweder fragen, ob es eine Variante von non gibt, die nicht Prosatz
ist, oder aber die angebliche Prosatzfunktion überhaupt in Zweifel ziehen.
In einer ersten Serie von Beispielen scheint non nicht einen ganzen Satz
wieder aufzunehmen, sondern nur das Verb:
Dieser erste Typ ist jedoch leicht in unseren Ansatz zu integrieren. Einmal
haben wir gesagt, das Verb stelle das Zentrum des Satzes bzw. Teilsatzes
dar und alle Aktanten und Zirkumstanten seien von ihm abhängig. Auch
wenn non in unseren Beispielen nur das Verb wieder aufnehmen würde,
wäre es doch Proform für das zentrale Element des Satzes; dies könnte es
rechtfertigen, ihm trotz allem den Wert eines Prosatzes zuzubilligen. Eine
solche Lösung scheint mir aber gleichwohl wenig zufriedenstellend zu sein,
denn sie impliziert eine vorschnelle Gleichsetzung von Satz und Verb (bzw.
Vorhandensein eines Verbs). Wir wissen aber, daß man oft Zeichenketten
in Satzfunktionen findet, die kein Verb enthalten; es ist deshalb besser, die-
se Erklärung aufzugeben. Und wenn wir uns die obigen Beispiele nochmals
etwas näher ansehen, dann wird bald klar, daß sie gar keine besondere Er-
klärung erheischen. Geht man von der Meinung dieser Konstruktion aus,
so ist es unmöglich zu sagen, non beziehe sich allein auf die Verben déci-
der und être; das Diktum der Negation ist im ersten Fall vielmehr „(la force
toute nue) décidera de la divinité de l'homme", im zweiten Fall „la jument
est aussi rapide que l'étalon". Überdies ist der Tatsache Rechnung zu tragen,
daß in unseren beiden Beispielen die Sequenz „ou non" ohne jede Bedeu-
tungsveränderung auch an das Satzende gestellt werden könnte — allerdings
mit einem spürbaren Verlust an stilistischer Eleganz:
. . . la terra déserte sera livrée à la force toute nue qui décidera de la divinité
de l'homme ou non.
Cet appel demande également à toutes les organisations, politiques ou non, d'ap-
puyer les mesures . . . du gouvernement.
Le Monde, 30. 3. 63, p. 7 (Gaatone, Système p. 31)
Aber auch hier trügt der Schein, denn das, was durch non aufgenommen
wird, ist nicht ein Adjektiv als solches. In beiden Fällen haben wir es mit
segmentierten Sätzen zu tun, in denen die Gruppe „Adj. + ou non" dem
Element A entspricht; im ersten Beispiel geht das Thema A dem Rhema
Z voran, im zweiten ist A in Z eingeschoben58. Nun ist das Element A eines
segmentierten Satzes immer selbst einem Satz bzw. Teilsatz äquivalent,
selbst wenn es kein Verb enthält. Dies gilt auch für unsere Beispiele, ja
mehr noch: obwohl sie kein Verb enthalten, müssen die A-Elemente dieser
segmentierten Sätze als komplexe Themen angesehen werden, die sich aus
zwei durch ou koordinierten Elementen zusammensetzen und deren zwei-
tes das erste unter negativer Modalität wieder aufnimmt. Wir könnten so-
mit diese Themen folgendermaßen paraphrasieren:
C'était une vague allusion à l'amour, non une promesse, non une invitation pres-
sante.
J. Romains, Les hommes de bonne volonté I, p. 536 (Gaatone, Système, p. 32)
Ma jalousie naissait par des images, pour une souffrance, non d'après une proba-
bilité.
M. Proust, La prisonnière, p. 24 (Gaatone, Système, p. 32)
59 Dieselbe Argumentation gilt für Fälle, wo der Satz sich auf ein Substantiv oder ein
Adverb reduziert.
60 Man müßte dann von einem non^ sprechen (vgl. auch N 47).
61 Cf. oben p. 66.
70 P. Wunderli
C'était une vague allusion à l'amour, ce n'était pas une promesse, ce n'était
pas une invitation pressante.
Ma jalousie naissait par des images, pour une souffrance, ma jalousie ne naissait
pas d'après une probabilité.
In diesen Umformungen haben wir die Funktionen expliziert, die non als
Prosatz global erfüllt. Worin unterscheidet sich dieser Typ nun von jenen
Fällen, wo der heteronexen Negation kein Substantiv, Adverb (Präposition
+ Substantiv) usw. folgte? Wir können feststellen, daß in unseren Bei-
spielen Subjekt und Verb des Ausgangssatzes im koordinierten Negativ-
satz wieder aufgenommen werden; in dieser Hinsicht sind der substituierte
und der substituierende Satz identisch. Sie unterscheiden sich in einem
einzigen Punkt: im Beispiel von Romains betrifft dieser Unterschied das
Prädikatsnomen: „une vague allusion à l'amour" im Ausgangssatz wird im
ersten Negativsatz durch „une promesse", im zweiten durch „une invitation
pressante" ersetzt. In Prousts Beispiel betrifft der Unterschied einen Zir-
kumstanten: die zweifache Ergänzung „par des images, par une souffrance"
im substituierten Satz wird im negativen Substitut durch „d'après une pro-
babilité" ersetzt. Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten würde ich
die Rolle von non in Konstruktionen dieser Art folgendermaßen deuten:
non ist ein negativer Prosatz, der alle Elemente des Stimulus (des substi-
tuierten Satzes) wieder aufnimmt, die nicht kontraindiziert sind. Kontra-
indikatoren treten immer dann auf, wenn eine bestimmte Position im ur-
sprünglichen Satzbauplan ausfüllende lexikalische Einheiten nicht zum ver-
neinten Substitut gehören sollen, wenn sie also von der Wiederaufnahme
durch non auszuschließen sind. Das Prinzip dieses Mechanismus ist sehr
einfach: die Position, deren lexikalischer Gehalt eliminiert werden soll, wird
nach der Negation non gesondert wieder aufgegriffen und mit neuem lexi-
kalischem Material besetzt 62 . Durch diese Wiederaufnahme eines Aktanten,
62 In Ausnahmefällen geht diese Expansion des Prosatzes sogar dem non voran; cf.
Grammaire Larousse du français contemporain, p. 428 (il a fait souffrir tout le monde
autour de lui, ses gens, ses chevaux, ses amis non, car il n'en avait pas un seul [Gide]J;
Wagner-Pinchon, Grammaire de français classique et moderne, p. 404 Rem.
Der Prosatz „non" 71
et non
Il s'agit d ' u n règlement de c o m p t e s particulier, d ' u n e c o n t e s t a t i o n sur le bien, et
non d ' u n e lutte universelle entre le mal et le bien.
A. Camus, L ' h o m m e révolté, p. 4 4 (Gaatone, Système, p. 33)
mais non
On p a r d o n n e les crimes individuels, mais non la participation à u n crime collectif.
M. Proust, Le c ô t é de G u e r m a n t e s , p. 152 ( G a a t o n e , Système, p. 33)
Unsere Erklärung gilt auch für Fälle, wo sich der Blockademechanismus nicht
auf eine lexikalische Einheit (und deren Determinanten), sondern auf in
Teilsätze transponierte Sätze bezieht:
So fügen sich selbst die Beispiele, die zunächst aus dem normalen Rahmen
zu fallen schienen, in unser Interpretationsschema ein; dieses erweist sich
somit als fähig, alle Verwendungen von non als Einheit einer lebendigen
72 P. Wunderli
und freien Syntax zu erklären 63 . Was die Textlinguistik bzw. die Textkon-
stitution betrifft, so muß noch beigefügt werden, daß non als koordinierter
(nach Pause, ou, et, mais) und als untergeordneter Prosatz (nach que) nie
eine kataphorische Beziehung markiert; sieht man von der seltenen Verwen- ..
dung als eingeschobener Satz ab64, haben wir es immer mit anaphorischen
Konstruktionen zu tun. Und da bei unabhängigem Gebrauch (Antworten
usw.) die Anapher ebenfalls deutlich überwiegt, können wir sagen, daß -
obwohl die Opposition anaphorisch / v / kataphorisch auf der Ebene der
langue neutralisiert ist - die anaphorische Beziehung auf den Ebenen des
discours und der Norm eindeutig bevorzugt ist und frequenzmäßig domi-
niert.
*
Eigentlich sind wir nun ans Ende unserer Untersuchung der Negation non
gelangt. Eine letzte Frage bleibt jedoch noch zu klären. Wir haben gesagt,
die Negation pas konkurrenziere non regelmäßig in den Fällen, wo dieses
als koordinierter Prosatz verwendet wird (nach Pause, ou, et und mais).
Muß man daraus schließen, daß pas in der modernen Sprache in den Be-
reich von non eindringt, daß es dabei ist, sich selbst in einen Prosatz zu
verwandeln? Eine solche Erklärung kann nicht von vornherein ausgeschlos-
sen werden, denn anstelle von non gebrauchtes pas wird oft als Merkmal der
familiären Sprache angesehen65 ; sollte es bereits eine stilistische Variante von
non darstellen? Bevor wir auf diese Frage eingehen, sollen hier einige Beispie-
le gegeben werden, wo pas die Stelle von non eingenommen zu haben scheint:
63 Nur die erstarrten Formeln und das Gebiet der Wortbildung sind gesondert zu behan-
deln, cf. N 47.
64 Vgl. noch einen weiteren Einschubstyp, der sich von dem p. 67/68 erwähnten unterschei-
det:
Choisissez non le succès, mais l'honneur
Grevisse, Bon usage, § 874a
Non ist hier von einer Expansion gefolgt; außerdem fungiert es nicht als koordinier-
ter Terminus, sondern ist in den ersten Teil der Konstruktion integriert, was das Auf-
treten von mais nach der Pause nach sich zieht.
65 Cf. z.B. Grevisse, Bon usage, § 874a; Wartburg-Zumthor, Précis, p. 58; Gaatone, Système
p. 45.
Der Prosatz „non" 73
S'il me plaît d'engager toute ma vie pour elle, trouverais-tu plus beau que je lie mon
amour par des promesses? Pas moi.
A. Gide, La porte étroite, p. 51 (Gaatone, Système, p. 44)
nach ou:
Elle parlait beaucoup, et toujours, de choses qui étaient si belles . . . qu'il allait je
ne sais pas, de mon honneur de . . . les voir ou pas.
M. Duras, Le marin de Gibraltar, p. 33 (Gaatone, Système, p. 44)
nach et:
Vous avez confiance en des inconnus, et pas en moi?
H. de Montherlant, Le démon du bien, p. 1349 (Gaatone, Système, p. 44)
Pierre souffrait pourtant de savoir qu'elle était à un autre, et pas à lui.
L. Aragon, Les voyageurs de l'impériale, p. 372 (Gaatone, Système, p. 44)
nach mais:
Ces noms. . . elle les reconnaissait au passage, mais pas tous.
G. Bernanons, Sous le soleil de Satan, p. 205 (Gaatone, Système, p. 44)
Je ne veux pas savoir s'il est difficile ou non, Madame Desbaresdes, dit la dame.
Difficile ou pas, il faut qu'il obéisse.
; M. Duras, Modérato cantabile, p. 13 (Gaatone, Système, p. 45)
difficile ou pas / non, grève ou pas / non usw. obligatorisch ist, sobald das er-
ste Element nach der Negation wiederholt wird 6 7 , cf. z.B.:
Aussi, guerre ou pas guerre, il était certain que nous entrions pour de bon dans
une période assez fertile en désagréments.
C. Simon, La corde raide, p. 140 (Gaatone, Système, p. 45)
Zeigt uns das erste Faktum, daß pas nicht als Äquivalent von non angese-
hen werden darf, daß man es also nicht als Prosatz betrachten kann, so
scheint mir die zweite Erscheinung einen Hinweis zu liefern, wie die be-
schränkte Kommutationsmöglichkeit von pas und non erklärt werden muß.
Wir haben p. 68 gesagt, in Konzessivsätzen dieser Art übe das erste Element
Satzfunktion aus, ganz gleichgültig, ob es sich um ein Substantiv, ein Ad-
jektiv oder ein Adverb handelt. Wenn nun ein solches Element nach der
Konjunktion ou wieder aufgenommen wird, so muß dies in derselben Funk-
tion geschehen, die es vor ou ausübt, d. h. als Satzrepräsentant und nicht
einfach als Substantiv, Adjektiv usw. Da guerre, difficile usw. selbst als
Prosatz fungieren, bleibt kein Platz mehr für die heteronexe Negation (Pro-
satz) non: sie können nur durch die homonexe Negation negiert werden,
die dann Bestandteil des durch ein Substantiv, Adjektiv oder Adverb reprä-
sentierten Satzes ist. Für all die Fälle, wo pas eine nicht-verbale Einheit be-
gleitet, schlage ich vor, diese als Satzrepräsentanten anzusehen und der Ne-
gation ihre normale Funktion zuzuweisen: diejenige einer homonexen Ne-
gation. Diese Interpretation ist nicht nur für die Fälle gültig, wo eine be-
stimmte Lexie wiederholt wird, sondern auch dort, wo wir vom ersten zum
zweiten Glied des koordinierten Komplexes eine lexikalische Substitution
haben. Und die Fälle, wo auf pas weder ein Adjektiv noch ein Substantiv
oder Adverb folgt (cf. difficile ou pas usw.)? Wir befinden uns hier in ei-
ner Grenzsituation, wo die Funktionen der beiden Negationen zusammen-
zufallen scheinen. Man kann sie nur noch differenzieren, wenn man annimmt,
die erste satzhafte Komponente des koordinierten Komplexes werde durch
ein Nullelement wiederaufgenommen und die homonexe Negation pas ne-
giere diesen Nullrepräsentanten 68 .
So kommen wir zum Schluß, daß selbst in den Fällen, wo pas und non
frei kommutierbar zu sein scheinen, wo die Sinneffekte, die man aufgrund
der beiden Konstruktionen erzielt, praktisch identisch sind, gleichwohl zwei
grundverschiedene Mechanismen vorliegen; unter den vergleichbaren „Ober-
flächenstrukturen" verbergen sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich der
„Tiefenstruktur".
Negation möglich ist (Que fais-tu? - Rien; Quand V'as-tu revue? - Jamais; uswj ;
pas kann nur innerhalb eines „gebundenen" Satzes nach einer koordinierenden Kon-
junktion allein stehen. Zweitens kann pas nicht durch que in einen Objektsatz um-
gewandelt werden, was wiederum im Fall von jamais, rien usw. möglich ist (il dit
que jamais usw.). Es ist somit eindeutig, daß pas nicht als Prosatz betrachtet werden
darf.
H e l m u t Genaust
4 Auch Damourette-Pichon (EGLF VI, § 2185) haben deutlich dieses syntaktische Ver-
halten erkannt, mit Rücksicht auf die bestehenden Differenzen die Zuordnung zur
Klasse Verb aber vermieden.
5 Dem aspect immanent Guillaumes entspricht der von G. Hilty vorgeschlagene Ter-
minus Aktionsstand des accomplissement.
78 H. Genaust
System/Norm stilschichtengebundene
Variante
unpersönliche Ausdrücke il 0
voici/voilà <t> -t-il; je usw.
Es scheint ferner, als inzidiere eine solche Äußerung mit voici/voild nicht allein
auf die Situation und den allocutaire, sondern als sei dieser auch an dem in
voici/voild selbst ausgedrückten „verbalen Geschehen" in Form eines 1. Aktan-
ten beteiligt, wie eine Substitution auf Redeebene nahelegt:
2 Les cigarettes que voilà sont à moi
entspricht etwa „Les cigarettes que vous voyez là-bas, que vous trouvez (sur la
table), que vous avez dans votre main, sont à moi". Eine weitergehende Rede-
bedeutung wie etwa „Les cigarettes qui sont i c i . . . " ist zwar durchaus möglich,
trägt aber schon nicht mehr dem syntaktischen Charakter der Wendung mit
dem Relativum que Rechnung.
Es geht also nicht an, in voici/voild unpersönliche Verben zu sehen. Ulrich
Mauch, der sich erst jüngst eingehend mit den unpersönlichen Ausdrücken be-
faßt h a t 7 , führt denn aus verständlichen Gründen beide Einheiten gar nicht auf.
Voici/voild ist somit weder ein unipersonales Verb (in unpersönlicher Ver-
wendung) noch besitzt es überhaupt eine grammatische Person 8 . Dem wider-
sprechen keineswegs die zwei Beispiele, die Moignet (p. 197) — weil unverein-
bar mit seiner These — als Konfusion „dans la pensée de ceux qui possèdent
imparfaitement le système de la langue", als Fälle aus der „grammaire des
fautes" weginterpretiert:
3 Ah! te voilà? - Oui, je voilà.
5jähriges Kind, Beobachtung Moignets p. 197
7 U. Mauch, Geschehen „an sich" und Vorgang ohne Urheberbezug im modernen Fran-
zösisch, Bern 1969 (RH 80).
8 Cf. EGLF, § 2 1 8 5 : „Ce qui les en [ = voici/voild du verbe] distingue essentiellement,
c'est leur absence de support".
80 H. Genaust
9 (1901-1937), erster Dichter Madagaskars in frz. Sprache. Sein Name ist im EGLF
unklar gedruckt.
10 Cf. M. Wilmet, Gustave Guillaume et son école linguistique, Paris-Bruxelles 1972,
p. 47—49;P. Wunderli, VRom 32 (1973), 13/14.
Voici und voilà 81
Tatsache abhängig, daß eine Äußerung mit voici/voild situationeil und zeitlich
an den Moment der Sprechhandlung gebunden ist: „Voici-voilà, qui ne sort
pas du moment de la parole, est incompatible avec le temps virtualisé que
signifie le mode subjonctif (p. 198).
Es liegt hier zum einen Verwechslung der Inzidenz auf die Situationelle
Präsenz der Kommunikationspartner mit der temporalen Einheit Präsens vor,
zum anderen ist zu fragen, warum hier denn nicht gerade der Subjonctif (we-
gen der partiellen Tempusgliederung) oder besser Infinitiv (als geringster
Aktualisierungsgrad des Verbs) auftreten müßte. Auch Infinitive können ja
in präsentischer Rede Träger der Verbalhandlung anstelle eines finiten Verbs
sein! Daß voici/voild keine Konjunktive sein können, beweist Moignet damit,
daß sie weder in unabhängigen Sätzen noch in Complétiven jussiven (besser:
volitiven) Wert haben und nie mit konjunktivischen Formen in abhängigen
Sätzen kommutiert werden können. Ungrammatikalisch sind also:
5 *Je veux que le voilà.
*Tu souhaites que le voilà.
*I1 faut que le voilà.
*Dépêche-toi de partir avant que le voilà.
Ich meine, daß aus solchen durch den Semantismus der Einheiten voici/voilà
gegebenen Selektionsbeschränkungen nicht ex negativo auf den Modus des
vermeintlichen Verbs geschlossen werden darf.
c) Tempus: „ Voici-voilà ne connaît pas la variation temporelle parce qu'il
appartient à un seul temps, le présent. Il signale, exclusivement, le moment
dans lequel le locuteur énonce" (p. 198). Nach dem oben Gesagten braucht
nicht noch einmal die Brüchigkeit solcher Argumentation wiederholt zu wer-
den; wenn keine Tempusgliederung da ist, gibt es auch kein Tempus, ja nicht
einmal einen Indikativ. Äußerungen, die sich inzidenziell auf die Situation,
auf den Moment des Sprechens beziehen, müssen nicht notwendigerweise
präsentisch sein, sondern sind eher tempusindifferent und können den Rede-
wert „Gegenwart" eben aus der Anwesenheit der Loquenten, ihrem Hier und
Jetzt, erhalten, wie dies etwa beim lateinischen oder deutschen Imperativ zu
beobachten ist.
Es besteht also kein Grund, voici/voilà ein Tempus und damit einen
Modus zuzusprechen, weil es seinen Bezugspunkt im Moment der Sprechhand-
lung habe, und mit diesem Argument die These vom verbalen Charakter bei-
der Lexien zu stützen.
Eher könnte dies von einem Beispiel her geschehen, das Moignet (p. 198) 11
aus Damourette-Pichon zitiert:
11 Im Widerspruch zu seiner Behauptung „II n'est pas possible de mettre voici-voilà au
passé" (p. 198).
82 H. Genaust
oui, si, non einordnen und dieser letzten Gruppe das gleiche distinktive Merk-
mal „anaphorisch" zuweisen:
Tesnière: EGLF:
phrasillons logiques factifs strumentaux
incomplets anaphoriques épidictiques anaphoriques
voici/voilà oui/si, non voici/voilà oui/si, non
Bei Damourette-Pichon fehlt auch nicht der Hinweis, daß die Determination
durch eine deiktische Geste oder durch Inzidenz auf den Kontext vervollstän-
digt werden muß (§ 2181); doch soll nicht verkannt werden, daß beide Ansät-
ze auf verschiedenen, gleichwohl originellen Gedanken beruhen.
Was nun die in beiden Werken als anaphorisch definierten Entsprechungen
von voici/voilà angeht, so hat Peter Wunderli im Rahmen dieses Sammelban-
des17 in überzeugender Weise dargelegt, daß die Negation non den linguisti-
schen Status eines Prosatzes hat, dessen einziges semantisches Merkmal „+ ne-
gativ" ist; seinen spezifischen Gehalt und seinen Satzbauplan erhält non erst
auf Redeebene kraft Inzidenz auf Kontext und Situation. Auch die übrigen
Einheiten wird man ohne weiteres als Prosätze interpretieren dürfen.
II
17 Cf. p. 4 3 - 7 5 .
Voici und voilà 85
gie — zum Symbolwert von voici/voild. Offener tritt dies in der typischen
Appellsituation, dem Befehl, zutage: Im Imperativ, auch im Neufranzösischen,
wird das Subjekt eingespart, weil es in der Person des allocutaire situationeil
präsent ist. Der gleiche Einsparungsmechanismus liegt nach unserer Meinung
auch im Falle von voici/voilà vor1®.
Was die Frage nach der Repräsentation eines Zirkumstanten angeht, so er-
scheint dies fur die Ortsangabe gesichert. Dies ergibt sich nicht so sehr wegen
der variablen Signifikantelemente /si/ und /la/, die ja eher - wie beim nfrz.
pronom démonstratif - die Orientierung ± seitens des Sprechers markieren,
als vielmehr aus dem Semantismus der Wendung: Voici/voild lenken die Auf-
merksamkeit des lokal kopräsenten Adressaten auf den durch den 2. Aktan-
ten bezeichneten Gegenstand oder Sachverhalt; es besteht ferner Kombina-
tionsbeschränkung mit anderen struments locaux. Dagegen ist die Verbin-
dung mit Zeitadverbien, die ein „Jetzt" markieren, wie z. B. maintenant,
aujourd'hui, erlaubt, so daß der temporale Zirkumstant nicht implizit re-
präsentiert ist.
Verb voici/voilà
transitives Verb
(z.B. .wahrnehmen, sehen')
/vuasi/, /vuala/
+ 2. Aktant
chronischen Analyse des neufranzösischen Materials und stellt sich die Defini-
tion einer sprachlichen Einheit auf Systemebene, nicht die Beschreibung einer
Redekonstellation zum Ziel. Überdies ist es nicht notwendig, noch aus mo-
dernfranzösischer Sicht im Element /vua/ das Verb voir zu sehen. Sondern so
wie dessen morphologische Indizien vollständig neutralisiert sind, so dürfte
auch die ursprünglich differenzierte Semstruktur auf ein minimales Maß re-
duziert worden sein. Die Leistung von voici/voild besteht demnach darin, daß
der Sprecher eine Sparform zur Hand hat, die es erlaubt, die (nicht nur optische,
sondern auch akustische) Aufmerksamkeit des Adressaten auf einen Gegen-
stand oder Sachverhalt zu lenken, ohne daß das Subjekt, die gesamte Aktuali-
sierungshierarchie 26 des Verbs und dessen jeweiliges Semantem bei der Ab-
wahl aktiviert werden müssen. Als kontextuelle Bedeutung kann auf Rede-
ebene auch eine Umwertung des transitiven Verbs in ein Zustandsverb erfol-
gen, wenn ohne psychologischen Rekurs auf den 1. Aktanten einfach eine
Anwesenheit konstatiert wird (cf. te voilà = tu es là).
Es ist nun zu sehen, ob die hier vorgeschlagene Deutung auch für die übri-
gen Verwendungstypen zutrifft.
1. Voici/voild + Nomen (Substantiv/Pronomen). Wie in Beispiel 7 - 8 dar-
gelegt, fungiert das Nomen als 2. Aktant, cf.:
9 Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches. Et puis voici mon cœur,
qui ne bat que pour vous.
Verlaine, Romances sans paroles. Green, v. 1/2
10 Epargner, pardonner, consoler, voilà toute la science de l'amour.
A. France, Balthazar. Abeille, XXII, p. 192 (EGLF, § 2187)
11 Tenez, le v'ia . . . Allez-vous en . . .
A. Flament, La vie de Manet I, p. 7
ist dessen anaphorischer Ersatz durch das Pronomen en, das damit zum
2. Aktanten von voici/voilà wird:
13 Tu as besoin d'argent. Tiens en voilà! (en = „de l'argent")
En kann auch den Wert eines redundanten Objekts erhalten, wenn dessen
source sémantique als 2. Aktant folgt (kataphorischer Gebrauch):
14 En voilà une de femme! . . . s'écria Florine.
Balzac, Splendeur et misère des courtisanes I (t. XI, p. 497)
15 En voilà une d'histoire! . . . dit Malaga.
Balzac, Esquisse d'homme d'affaires (t. XII, p. 195)
Zur Erklärung führen Damourette-Pichon an, daß hier nicht (wie mit Hilfe
des unbetonten Pronomens) die Anwesenheit des Adressaten konstatiert,
sondern daß seine Person als exemplarisch hingestellt werden soll.
Dem Nomen kann ein Attribut angegliedert sein:
17 Deux Coqs vivoient en paix; une Poule survint,
Et voilà la guerre allumée.
La Fontaine, Fables VII, 12
18 Le voici installé petit commerçant quelque part.
J. et J. Tharaud, L'ombre de la croix I, p. 26 (kommentiert EGLF,
§ 2186, p. 108)
Daß voici/voild mit ihrem nominalen Objekt einen vollständigen Satz bilden,
zeigen die folgenden Beispiele, wo diese Verbindungen durch entsprechende
Translativa genau wie Sätze mit explizitem Subjekt und Verb in untergeord-
nete Sätze umgeformt werden können, wie als Relativsatz (cf. II, 4):
19 Au point où me voilà . . .
Complétive:
20 Je crois que voici M. Choulette.
A. France, Le lys rouge, p. 130
21 Tu parles qu'en voilà un qui ne doit pas être malheureux.
Proust, A la recherche du temps perdu III, p. 85
Konditionalsatz:
22 Et si le voilà malade, qu'est-ce qui va arriver?
Mme EP, 4 . 5 . 1 9 2 3 (EGLF § 2187)
Komparativsatz:
23 Peut-être vous semble-t-il qu'il est impossible d'obtenir d'un prisonnier plus que
n'en voici obtenu.
J. Rivière, L'Allemand I, 2, p. 85 (EGLF, § 2188)
90 H. Genaust
24 J'aurais encore mon enfant, voire peut-être un gendre avec des petits-fils qui
seraient sur mes genoux; ah! je serais un autre roi que ne me voilà!
G. Polti et P. Morisse, trad. de Novalis, Henri d'Ofterdingen III, p. 64
(EGLF, § 2188)
Die beiden letzten Beispiele sind besonders eindrucksvoll, weil sie auch nach
der Substitution von Subjekt und Verb die syntaktische Konstruktion mit
Setzung des ne discordantiel beibehalten 2 7 . Auch Pro-Formen, die ganze
Sätze repräsentieren wie non, oui, können diese Bedingungen zum Teil er-
füllen (cf. Wunderli, oben p. 64):
25 II dit que oui.
26 Et si non, vous me payez tout.
Das erste Beispiel kennzeichnet den einfachen Hinweis auf ein Objekt, das
dem Adressaten vor Augen geführt wird; das zweite markiert eine plötzliche
Einsicht, die der Sprecher an seine eigene Adresse richtet, die ihm einen
Sachverhalt durchschaubar macht; es liegt also hier eine erweiterte Inzidenz
auf Situation und Kontext vor. Deshalb ist es erlaubt, von einem impliziten,
durch 0 bezeichneten 2. Aktanten zu sprechen. Das ist auch der Fall in den
stehenden Wendungen:
31 Tiens voilà!
32 Voilà pour toi!
33 Voilà c'est comme ça!
27 Dies aber ist kein Beweis dafür, daß voilà deshalb ein Verb ist, wie Moignet p. 191
meint.
28 Cf. Grevisse, Bon usage ( 9 1969), § 948, Rem. 2.
Voici und voilà 91
Es gibt sogar Fälle, in denen aus stilistischen Gründen auf die Markierung
des Objekts verzichtet wird „pour exprimer qu'on ait dit tout ce qu'on avait
à dire sur un objet donné" 2 9 . Voilà erhält hier auf Redeebene zwar den Wert
einer Interjektion (wie in den Beisp. 2 9 - 3 0 ) , aber die stilistische Wirkung re-
sultiert gerade aus der Setzung des (¡)-Objekts:
34 Et si, sacré nom de Dieu, vous n'êtes pas augmenté de huit jours, au rapport de
demain matin, je veux être changé en bénitier! Voilà.
Courteline, Le train de 8 h. 47 III, 3, p. 106 (EGLF, § 2182)
Der gleiche Redeeffekt wird bei einem in Form des Adjektivs tout vorhande-
nen 2. Aktanten in der Wendung voilà tout als Ausdruck der Resignation er-
zielt:
35 La justice est gratuite, seulement les moyens d'arriver à elle ne le sont pas, voilà
tout.
Brieux, La robe rouge III, 2 (EGLF, § 2182)
In dem Beispiel
36 Voici. C'est moi.
Grevisse führt noch (Bon usage, § 948, Rem. 5) Beispiele aus höflicher Kon-
versation an, in denen nach seiner Auffassung voici/voilà als Varianten von
oui, s'il vous plaît usw. auftreten:
38 Ayez la bonté de m'apporter ce livre. - Voilà, monsieur.
Tatsächlich sind diese Redewerte nicht identisch, da oui usw. die Antwort
vor, voici/voild die Antwort nach der ausgeführten Handlung ist. Es liegt also
anaphorisch-heteronexer Gebrauch vor wie auch in:
39 Joseph: - Monsieur a sonné?
Paul: - Vite! une plume, du papier, que je refasse ma carte.
Joseph: - Voilà! voilà!
Labiche et Choler, Les marquises de la fouchette, sc. VIII (EGLF, § 2187)
29 EGLF, § 2182.
92 H. Genaust
wo gemäß EGLF, § 2186, eine Entsprechung von voici quelque chose de plus
sérieux zu sehen ist.
30 Moignet spricht deshalb von einem qui neutre, die Grammaire Larousse du fr. cont.
(p. 85) von Formen „sans antécédent (valeur indefinie)".
31 Précis p. 128, § 222.
Voici und voilà 93
Hier ist einmal me (Beisp. 19), das anderemal le contenu, le modèle, la peinture
das Objekt von voici/voilà. Anders liegen Fälle, in denen das Relativum selbst
den 2. Aktanten — natürlich in der dieser Bedingung entsprechenden Form que —
darstellt, so daß also der Relativsatz auf Relativum + voici/voilà verkürzt ist:
56 Qu'as-tu fait, ô toi que voilà
Pleurant sans cesse,
94 H. Genaust
Aber auch andere Semanteme des Verbs sind nicht nur in älteren Texten
möglich:
62 Ta, ta, ta, ta. Voilà bien instruire une affaire!
Racine, Les plaideurs III, 3
63 Et voici commencer le rêve de Shakespeare.
J. Lemaître, Impressions du théâtre I, p. 116 (Grevisse, § 1007 a)
64 Voici croître en mon cœur guéri de ses chimères L'ennui des voluptés dont on
touche le fond.
J. Tellier, Prière (A. France, La vie littéraire IV, p. 186) (EGLF, § 2186)
Der Infinitiv kann auch für sich allein 2. Aktant von voilà sein:
65 Voilà parler!
Le Temps, 10.12.1921, p. 1 (EGLF, § 2186)
Der hier erzielte Nutzwert entspricht — bei größerer Prägnanz — dem von
Voild ce que c'est que de parler!
In allen Fällen werden Sätze, deren Verb in der Form der Nullaktualisierung
erscheint, durch 0-Translativ in einen nominalen 2. Aktanten transponiert, der
die gleiche syntaktische Rolle wie das Substantiv in voici le train qui arrive
(arriver) spielt.
Anders als diese infinitivischen Complétiven muß ein Typus interpretiert
werden, der fälschlich hierher gestellt worden ist 32 :
32 Grammaire Larousse du fr. cont., p. 117.
Voici und voilà 95
Aktant wird von dem folgenden Nebensatz geliefert, der durch das Translativ
que in ein nominales Objekt transponiert wird. Es liegen also echte Compléti-
ven vor 34 . Der Eindruck eines Adverbs (in Beisp. 69, 71 identisch mit dem
explizierten Adverb maintenant, soudain) oder der eines Präsentativs ergibt
sich lediglich als Nutzwert aus diesem besonderen Redetypus.
8. Voici/voild + pourquoi/comment (indirekter Fragesatz). Neben Relativ-
satz. Infinitivsatz und Complétive können auch indirekte Fragesätze die Funk-
tion des 2. Aktanten von voici/voild ausüben, allerdings nur, wenn das Translat
den Wert eines Substantivs 'la cause, la manière' hat:
73 Et voilà pourquoi j'avais mis en vous mon espoir.
E. Estaunié, L'ascension de M. Baslèvre I, 5, p. 55 (EGLF, § 2186)
74 Voilà comment les choses se passent: le pays limitrophe s'avance jusque sur les
bords de la frontière.
M. Aymé, Silhouette du scandale, p. 149 (Grevisse, § 948)
Auch Einsparung aller Elemente des Fragesatzes bis auf das Fragewort selbst
ist möglich, so daß scheinbar ein Adverb die Ergänzung von voici/voilà bildet:
75 Voici comment.
76 Voilà pourquoi.
Tatsächlich handelt es sich hier gleichfalls um einen 2. Aktanten, nämlich
Nomina, die freilich Translationen von reduzierten Fragesätzen als knappstem
Ausdruck der Frage nach den Ursachen, der Vorgangsweise eines Sachverhal-
tes sind, cf. entsprechend:
77 Je ne savais pas pourquoi, comment.
Moignet (p. 201) bestreitet die Annahme eines Fragesatzes nach voici/voild,
da ja statt comment auch comme stehen könne:
78 Voilà comme il faut agir!
Er übersieht, daß comme auch heute noch als freie Variante des interrogativen
Adverbs comment35 eintreten, ja selbst wie dieses als reduzierter Fragesatz vor-
kommen kann, wie ein Beispiel aus La Fontaine beweist:
79 Je t'attraperai bien, dit-il, et voici comme.
Fables VIII, 10
Wir haben somit 8 Typen von Sätzen kennengelernt, in denen das Objekt
von voici/voild auf verschiedene Weise zum Ausdruck kommen kann. Alle
Typen bestätigen gerade dadurch unsere Definition, daß voici/voild eine Pro-
Form mit 2 Aktanten ist und daß beide Elemente zusammen erst Äquivalent
eines vollständigen Satzes bilden.
Es bleiben nun noch Fälle zu besprechen, in denen sich diese Pro-Form mit
den Modalitäten der Negation und/oder der Frage verbindet und wo sie mit
einer Zeitangabe in einen temporalen Zirkumstanten transponiert wird.
9. Negation (ne voild-t-ilpas, ne voild pas, usw.). Ein Verwendungstypus
von voild (nicht voici) scheint der bislang vorgeführten Erklärung zuwiderzu-
laufen:
81 Ne voilà-t-il pas que vous n'avez aveint que six morceaux de sucre, m'en faut huit.
Balzac, Eugénie Grandet (t. V, p. 253)
82 Faisons enfin observer que les salaires étaient beaucoup plus élevés dans les villes
à corporations que dans les villes libres. Ne voilà-t-il pas une nouvelle preuve de
l'utilité des corporations.
Henri, comte de Paris, Le prolétariat I, 1, p. 23
83 Mais ne voilà-t-y pas un bébé? - A-t-on idée de pleurer comme ça!
Courteline, Les linottes II, p. 53
(b) das Element -t-il gar nicht als Verbindung von -t- und Personalprono-
men il, sondern vielmehr als orthographische Variante (neben -t-y in
Beisp. 83, -t-i in Beisp. 87) des volkssprachlichen Fragemorphems ti31
zu deuten ist, wie dies auch die Grammaire Larousse du français
contemporain vermutet: „Elle [ = particule interrogative ti\ a eu plus
de succès comme élément de renforcement d'un voilà nié" (p. 99.
§ 135),
(c) die Modalität der Frage gar nicht zum Tragen kommt, da in der Mehr-
zahl der bekannten Fälle ein Ausruf (meist des Erstaunens) vorliegt
(Beisp. 84,85, 87), sonst das Konstatieren einer Tatsache (Beisp. 81,
82). Beisp. 83 und 86 enthalten rhetorische Fragen. Das Signifikat „Frage"
ist also in diesem Typus zum großen Teil durch den Kontext neutra-
lisiert und wird auf Redeebene durch die beschriebenen Redebedeu-
tungen verdrängt,
(d) ebensowenig die Modalität der Negation (um die es hier geht) durch-
schlägt, sondern daß vielmehr „durch syntagmatische Kombination
beider Modalitäten ein positiver Gesamtnutzwert erzielt" 38 wird,
so daß also eine ausdrucksseitige Verstärkung der Aussage eintritt.
Tatsächlich wird in keinem unserer Belege ein Sachverhalt durch
die Negationsmorpheme negiert, auch nicht in der rhetorischen Frage
(Beisp. 86), wo der Sinn nicht als „Ist das nicht. . . ?," sondern als
„Ist das denn . . . ? " zu interpretieren ist.
Keine Negation, nicht einmal ein „engagement minimal en négativité" (wie
Moignet p. 200 glaubt) liegt in den Beispielen 23—24 vor, in denen ein
Morphem ne in einem aus voici/voild und seinem Objekt gebildeten Kom-
parativsatz enthalten war. Dieses ne markiert nun nicht die Negation des
vermeintlichen Verbs voici/voild, sondern die Diskordanz des im Komparativ-
satz durch die Pro-Form substituierten Sachverhaltes zu dem Geschehen des
Obersatzes, so daß man angemessener mit Damourette-Pichon von einem ne
discordantiel zu reden hat.
Es bleiben noch Fälle zu besprechen, wo voilà (nicht nur in präpositionel-
ler Verwendung) in syntagmatischer Konstellation mit einer Zahlenangabe
negiert zu sein scheint:
37 Cf. die Literatur zum frz. Fragesatz von G. Paris, Ti, signe d'interrogation, R 6
(1877), 4 3 8 - 4 2 (Mélanges linguistiques, Paris 1909, p. 2 7 6 - 8 0 ) ; E. Rolland, Ti,
signe d'interrogation, R 7 (1878), 599, über E. Fromaigeat, Les formes d'interroga-
tion en français moderne, VRom. 3 (1938), 1 - 4 7 , bis hin zu P. Behnstedt, Viens-tu?
Est-ce que tu viens? Tu viens? Formen und Strukturen des direkten Fragesatzes im
Französischen, Diss. Tübingen 1973, p. 1 4 - 3 5 .
38 P. Wunderli, VRom. 30 (1971), 316.
Voici und voilà 99
Wertet Moignet anfangs (p. 191) diese Fälle als „formes de la négation et de
l'uniception réservées aux formes verbales", so schränkt er diese Ansicht
später wieder ein: „II s'agit, en réalité, par la négation, de suggérer, non pas
l'idée d'une durée nulle, mais celle d'une durée positive numériquement
inférieure: le sens est: „voilà moins de trois jours que . . . " C'est le numéral,
plutôt que ce qui l'introduit, qui est sous négation" (p. 200). Es liegt also
auch hier positiver Nutzwert vor, obwohl syntaktisch die Setzung der Nega-
tionsmarke dank des in voild substituierten verbalen Elements möglich ist.
10. Voild + Fragemorphem. Die vorhergehenden Beispiele haben gezeigt,
daß durch Kombination von Frage- und Negationsmorphemen ein positiver
Gesamtnutzwert erreicht wird. Es gibt aber auch Fälle, in denen voild (nicht
voici) mit der Interrogationsmarke allein ausgestattet ist, was nicht überrascht,
da bekanntlich alle Sätze, also auch deren Pro-Formen, mit dem Fragemor-
phem, namentlich dem Prosodem „Ansteigen der Intonationskurve", kombi-
nierbar sind:
9 0 Le voilà?
91 Est-ce que le voilà?
92 Te voilà-t-il?
Alle drei Typen sind zum einen durch Intonation mit Zeichencharakter,
Beisp. 91 zusätzlich durch das Morphem est-ce que gekennzeichnet; im dritten
Beispiel macht eine Transformation deutlich, daß kein invertiertes Personal-
pronomen vorliegt, sondern eine Variante des populärsprachlichen Fragemor-
phems ¡ti/ (cf. N 37):
93 Te verra-t-il? Il te verra.
Te voilà-t-il? Te voilà
(*I1 te voilà ist ausgeschlossen)
Es scheinen allerdings mit Moignet (p. 200/01) keine echten Fragen vorzuliegen,
sondern ein „cas minimal de l'interrogation, celui qui vise à obtenir, non pas
une information, mais la simple confirmation d'un fait déjà énoncé ou attendu".
Fragen nach den Aktanten dieser Sätze sind jedenfalls ungrammatikalisch.
11. Voici/voild + Zeitangabe. Schließlich ist noch eine verbreitete Kombi-
nation zu diskutieren, in der als 2. Aktant von voild, seltener von voici, eine
Zeitangabe (sémiome de temps, A. Henry), am häufigsten gebildet aus Nume-
rale + Substantiv aus dem Wortfeld „Zeiteinheit" auftritt. Dabei sind drei
strukturell verschiedene Typen zu unterscheiden:
100 H. Genaust
Der aus voilà (voici) und seinem Objekt gebildete Satz wird in diesen Beispie-
len durch 0-Translativ in einen temporalen Zirkumstanten transponiert.
Henry, der speziell diesen Verwendungstypus untersucht hat 3 9 , spricht in
Anlehnung an Damourette-Pichon vom Produkt einer „taxiematischen Me-
tasematisation" (p. 99) aus einer Verbform, die direkt mit der Umsetzung des
Syntagmas il y a in ein strument temporel vergleichbar wäre. Tatsächlich kann
man auch in den Beisp. 94—98 il y a bzw. (Beisp. 96) il y aura kommutieren.
Wir haben hier den Übergang von der phrase segmentée zur phrase liée vor
uns, am deutlichsten greifbar in Beisp. 97.
Es liegt natürlich auf der Hand, aus synchronischer Sicht in voilà/voici eine
Präposition zu sehen, wie auch geschehen, zumal in Beisp. 96 und öfter voild
auch mit depuis kommutabel ist. Diese Möglichkeit reicht aber noch nicht aus,
um schon von einer Präposition zu sprechen, wie Moignet betont: „On est en
39 C'était „il y a" des lunes. Etude de syntaxe française, Paris 1968 (Bibliothèque
française et romane A 15), p. 9 9 - 1 0 4 . - Siehe noch M. Wilmet, Note sur l'évolu-
tion sémantique et syntaxique de il y a, TLL 9/1 (1971), 2 8 3 - 3 0 7 .
Voici und voilà 101
Aber Henry zögert aus guten Gründen, dieser Gebrauchsweise den Status
eines Zeichens Yx „Präposition" zuzuweisen, obschon eine Metasematisation
vollzogen ist; immerhin handelt es sich um ein teilweise konjugiertes, oder —
genauer gesagt — mit einem indice chronologique versehenes strument tem-
porel, das auch noch in Negation auftreten kann. Henry folgert daher: „Yx
(il y a, il y avait) est un strument temporel que la parole a donné à la langue.
On découvre ici, une nouvelle fois, la souplesse avec laquelle la parole a
utilisé un donné de la langue . . . pour, finalement, enrichir la langue elle-
même d'un nouveau mécanisme" (p. 67)
Der Kommutabilität von voici/voilà mit il y a und depuis sind freilich
Grenzen gesetzt; alle drei Einheiten haben unterschiedliche Distribution und
Systemwerte. Was den Vergleich mit il y a angeht, bemerkt Henry: „Voici-
voilà a en commun avec Yx d'être un situant „relatif, mais moins riche de
possibilités d'ordre chronologique. Voici-voilà, du point de vue du fonctionne-
ment, équivaut, en pratique, uniquement à il y a nynégocentrique . . . Quoique
appartenant au même „sous-système" que Yx, voici-voild n'a pas la liberté de
déplacement de Yx sur la ligne de temps, si caractéristique" (p. 103). Ent-
scheidend ist also der größere Aktionsradius von il y a, der die Leistungsberei-
che des präpositioneil verwendeten voilà (voici) einschließt und letztlich auf
der noch funktionierenden Verbalität von il y a beruht. Il y a gehört deshalb
nach unserer Auffassung nicht dem gleichen Teilsystem wie voici/voild an,
weil es selbst Teilsatz mit den Komponenten Verb, 1. Aktant und Ortsangabe
und nicht Pro-Form dieser Elemente ist.
Im Unterschied zu voilà lenkt depuis den Blick von der Vergangenheit als
Ausgangspunkt auf die Origo des Sprechers, wie Moignet (p. 198) einleuch-
tend darstellt:
101 II est parti depuis huit jours.
d e p u i s . . . . f—t—f—f *
12 3
Dagegen ist der Ausgangspunkt der Blickrichtung von voilà, dem oben be-
schriebenen Semantismus der Pro-Form entsprechend, diese Origo selber, das
moi-ici-maintenant des Sprechers:
102 II est parti voilà huit jours.
voilà . . . M f—f—,—i
3 21
Damit ist erklärt, daß das Geschehen in der Gegenwart des Sprechens vollen-
det sein muß: „Voici-voilà suivi d'un sémiome de temps situe dans le passé
l'événement accompli" 42 . Unmöglich ist also ein Typus:
103 *I1 travaille voilà huit jours.
Ebenso ist die Setzung von voilà unvereinbar mit einem in der Vergangen-
heit oder in der Zukunft liegenden Bezugspunkt, wie Jacqueline Pinchon43
jüngst gezeigt hat, cf. z. B.
104 *I1 sera parti voilà un mois demain (la semaine prochaine).
105 *I1 est parti voilà dix ans la semaine prochaine.
(Henry, p. 103 N 10)
Wir haben es also bei genauer Betrachtung mit einer Variante des Typus
Voild le train qui arrive (Beisp. 51) zu tun, in dem der propos in einen Relativ-
satz verlegt wird.
Es ist noch daraufhinzuweisen, daß voici/voild bei identischem Grundwert
in der Verbindung mit Zeitangabe + que. .. zwei verschiedene Nutzwerte er-
zielen kann, die vom Aktionsstand des im Nachsatz enthaltenen Verbs gesteu-
ert werden. Liegt dort accomplissement (aspect immanent) vor, wie in den
Beisp. 1 0 6 - 1 0 8 , dann markiert voici/voilà „l'espace de temps depuis lequel
dure l'action" 4 4 .
Bei Inzidenz auf ein accompli {aspect transcendant, Guillaume) des folgen-
den Verbs dagegen bezeichnet voilà „qu'un certain laps de temps s'est écoulé
entre l'accomplissement de l'action et le m o m e n t où l'on parle" 4 4 :
112 Voilà bien longtemps que je n'ai eu de tes nouvelles.
E. Manet, Lettre à Mme Manet, 3 0 . 9 . 1 8 7 0 (A. Flament, La vie de Manet,
p. 290) (EGLF, § 2189)
113 C'est voilà un an qu'ils sont partis déjà!, nous rappelait la vieille aux sodas.
Céline, Voyage au bout de la nuit I, p. 4 4 (Henry, p. 103)
Henry und Jacqueline Pinchon 45 werten hier voild als semantisch neutral und
führen das Beispiel als Beleg für den Fall an, wo der Bezugspunkt unbestreit-
bar in der Vergangenheit situiert ist. Deutlicher scheint das in einem Beispiel
aus dem gleichen Werk 46 :
115 . . . avec sa Petite Entente, qui avait, voilà deux siècles, au-dessous de l'Europe
alors apparente, acclame Poquelin.
op. cit., p. 183
Es sei jedoch bemerkt, daß auch hier keine den Beisp. 112—113 vergleichbare
Gebrauchsweise vorliegt.
III
Oder kürzer 4 9 :
„Voici. . . désigne ce qui est rapproché ou ce qui suit, voilà, ce qui est éloigné ou
ce qui précède".
Diese Auffassung, die schon bei Girault-Duvivier 50 vertreten ist, wird nun
durch eine synchronische Analyse des Materials nicht gestützt. Geht man die
Beispiele durch, so überwiegt voild bei weitem, ja in einzelnen Verwendungs-
typen, wie namentlich bei Négations- und Fragemarkierung, ist es der einzig
bekannte Vertreter, in anderen (Complétive, präpositionaler Gebrauch, Zeit-
angabe + <7«e-Satz) tritt es fast ausschließlich auf. Voici dagegen findet sich
häufiger in engem Kontakt mit den Verben, die eine Bewegung auf den
Standort des Sprechenden hin bezeichnen, so vor allem in den Beisp. 58—59,
67, darüber hinaus, wenn der Sprecher eigens auf die Nähe des Referenzob-
jektes verweisen will (cf. Beisp. 9, 54, 57).
In den wenigsten Fällen markieren voici/voild also von sich aus den Ort
des Verbalgeschehens oder sind gar in der Lage, diaphorische Textbezüge her-
zustellen, sieht man von den Beisp. 3 7 - 3 9 ab, wo der 2. Aktant im Kotext
selbst gegeben war. Das bedeutet aber, daß die behauptete Opposition zwi-
schen beiden Einheiten nicht oder nicht mehr besteht, zumindest nicht in der
Norm des gesprochenen Französisch, geschweige denn in populärsprachlichen
Texten. Diese Erkenntnis findet sich seit Brunot-Bruneau s l : „Dans le fran-
çais parlé d'aujourd'hui, voici est rare (comme ceci), voilà (prononcé parfois
vlà) est à peu près seul employé (de même que cela, ç a ) " u n d wird über
Damourette-Pichon 5 2 , Grevisse 53 und Wartburg-Zumthor 5 4 bis hin zur
Grammaire Larousse du français contemporain wiederholt: „La distinction
entre voilà (ce qui précède) et voici (ce qui suit) semble aujourd'hui à ranger
dans les distinctions périmées" (p. 86, § 125), ohne daß die linguistischen
Konsequenzen daraus gezogen werden 5 5 .
Sofern eine Opposition zwischen voici und voilà noch besteht und nicht
jede der Einheiten schon in bestimmten Verwendungstypen lexikalisiert ist,
kann sie deshalb nur inklusiver Natur sein: voilà markiert die in dieser Pro-
Form enthaltene Deixis, voici zusätzlich den näheren Bezug zum Sprecher:
+ Deixis
r
v o i 1 à"1
i + beim Sprecher
56 „Contrairement à ce que semblent indiquer les exemples écrits où les auteurs ont
coutume de ne noter v'ià que dans les bouches vulgaires, la prononciation [v 1 à]
n'est en réalité pas spécifiquement vulgaire. Elle s'entend couramment dans la con-
versation familière des personnes de la meilleure société" (EGLF, § 2183).
57 PS. - Während der Satzarbeiten zu diesem Band erschien der kurze Aufsatz von Karel
§ prunk, Analyse syntaxique de la phrase type Voilà mon père, Philologica Pragensia 17
(1974), 187-92, der sich nur auf den einfachsten, bei uns mit (1) bezeichneten Ver-
wendungstypus voilà + Substantiv beschränkt. Kritisch anzumerken ist, daß Sprunk den
grundlegenden Beitrag Moignets überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Seine
eigene, nicht sehr originelle und auch nicht widerspruchsfreie Deutung gipfelt darin, in
dem zur Diskussion stehenden Syntagma eine zweigliedrige phrase à un membre (d. h.
ein Monorem) zu sehen (p. 190). Es liegt contradictio in adiecto vor, will man einen ein-
gliedrigen Satz noch in zwei Elemente unterteilen, und die Benennung von voilà als
prédicatif scheint eine weitere Etikette, aber keine Lösung des linguistischen Problems
darzustellen.
M i c h a e l Schecker
Vorbemerkung *
Ich möchte zunächst das Thema näher ausführen, in der Hoffnung, daß so der
Zusammenhang der Detailfragen durchsichtiger wird. — Der erste Teil des Ti-
tels — „Verbvalenz" — verweist auf den Satz, der zweite Teil — „Satzthema" —
auf die kommunikative Ausnützung des Satzes in einer Situation oder in einem
Text, die für den einzelnen Satz so etwas wie Thema-Rhema-Strukturen ergibt.
Thema ist dabei zunächst einmal dasjenige, über das geredet wird, Rhema hin-
gegen dasjenige, was über das Thema jeweils ausgesagt wird.
Wenden wir uns nochmals der Valenz zu, so deutet dieser Bestandteil des
Titels bereits auf die Art und Weise, in der ich den Satz begreife; ganz wesent-
lich nämlich werde ich mich dabei auf die Valenzgrammatik 1 und auch auf
die Kasusgrammatik stützen, die ich freilich beide extensional oder extensio-
nal-semantisch zu interpretieren versuche.
Für die Thema-Rhema-Struktur des Satzes gibt es mancherlei Darstellungs-
modi. Hier werde ich vor allem an die Überlegungen der sogenannten funk-
tionalen Satzperspektive (Mathesius, dann u.a. Dahl und Sgall 2 ) anknüpfen.
* Inhalt: I Vorbemerkung
II Einleitung: Rahmen und Zielsetzung
III Hauptteil Satz
a) Zur Analyse von Sätzen
b) Satzinhalte, Satzinhaltsformen und der Begriff des Sachverhaltes
c) Diskussion verwandter Ansätze
IV Hauptteil Text
a) Ansätze zur Beschreibung von Thema-Rhema-Strukturen
b) Thema-Rhema und Satzinhaltsform
V Ausblicke
18 Extension ist hier aufgefaßt gemäß Carnaps Unterscheidung von Intensionen und
Extensionen, die ähnlich funktioniert wie Freges Unterscheidung von Sinn und Be-
deutung; cf. Franz v. Kutschera, Sprachphilosophie, München 1971, insbesondere
p. 143 ss. Welche Unterschiede dennoch zu Carnaps Begriff der Extension bestehen,
wird im folgenden ausgeführt.
19 Cf. Gottlob Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, Göttingen 1969 , hier insbesondere:
Über Sinn und Bedeutung, p. 4 0 - 6 5 .
20 Cf. Bertrand Russell, On denoting, in: Mind 14 (1905) und Bertrand Russell, An in-
quiry into meaning and truth, London 1940, und Bertrand Russell, Human knowled-
ge, its scope and limits, London 1948, hier insbesondere p. 3 1 0 - 3 2 5 .
21 Cf. P.F. Strawson, Bedeuten, in: Rüdiger Bubner (Hg.), Sprache und Analysis, Göt-
tingen 1968, p. 6 3 - 9 5 .
22 Cf. John R. Searle, Sprechakte, Frankfurt a.M. 1971.
23 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 5 1968.
112 M. Schecker
daß hier an die Stelle der Realität im ontologischen Sinne das Konzept einer
möglichen Welt gestellt wird. „Mögliche Welt" baut dabei auf einer Unterschei-
dung semantischer Inkompatibilitäten in Widersprüche und ungewöhnliche
bzw. nicht normgerechte Kombinationen auf. Widersprüche liegen vor, wenn
die analytischen Urteilen 2 4 zugrundeliegenden Beziehungen verletzt sind;
Beispiel mag der „quadratische Kreis" sein. Hier ergibt sich unter allen denk-
baren Umständen keinerlei Wahrheitswert bzw. keinerlei Sachverhalt. Hinge-
gen können normmäßig festgelegte synthetische Urteile verletzt sein, so dann,
wenn jemand doch einmal mit Genuß gelbe Glühbirnen 2 5 oder auch Rasierklin-
gen verzehrt 2 6 , so aber wohl auch, wenn wider Erwarten der Wolf im „Rotkäpp-
chen" sprechen kann; hier ergeben sich durchaus Wahrheitswerte, womit der
Satz also sinnvoll ist, doch ergibt sich für unsere Alltagswelt der Wahrheits-
wert „falsch", hingegen in einer Märchenwelt der Wahrheitswert „ w a h r " 2 7 .
Formal läßt sich eine mögliche Welt als Verallgemeinerung der Carnapschen
Zustandsbeschreibung charakterisieren. Eine Zustandsbeschreibung in S (wo-
bei für Camap S eine prädikatenlogische Sprache ist) ist die „vollständige Be-
schreibung eines möglichen Weltzustandes, soweit sie in den Ausdrücken von
S gegeben werden k a n n " 2 8 . Im einzelnen werden dabei „sämtliche durch Aus-
drücke in S bezeichneten Individuen [ . . . ] bezüglich aller ihrer Attribute
(Eigenschaften und Beziehungen), die durch Prädikate [Prädikate dabei im
prädikatenlogischen Sinne] ausdrückbar sind, charakterisiert^ . . . ] " 2 8 . Dabei
reduziert sich die Vielzahl möglicher Weltzustände (soweit sie mit S beschrie-
ben werden können) über die Beschränkung aufgrund der möglichen wider-
spruchsfreien Ausdrücke von S hinaus durch Bedeutungsbeziehungen, die Car-
nap in Bedeutungspostulaten formuliert sehen will. „Drückt z.B. F 2 eine sym-
metrische Beziehung aus, so gelten u.a. die Äquivalenzen F 2 (a,b) = F 2 (b,a),
[ . . . ] , d.h. man könnte jeweils einen der beiden äquivalenten elementaren
Sätze fortlassen [ . . . ] " 2 8 . Der Vorteil einer solchen extensionalen Behand-
lung auf der Grundlage des Konzepts einer möglichen Welt wird vor allem bei
modalen Kontexten - so der Modallogik - ersichtlich: Hier gilt
24 Analytische und synthetische Urteile hier im Sinne von Jerrold K.J. Katz, Philoso-
phie der Sprache, Frankfurt a.M. 1969, p. 170 ss.
25 Das ist das berühmte Beispiel von Katz, an dem er die Funktion der Projektionsre-
geln seiner interpretativen Semantik vorführt; im wesentlichen geht es dabei darum,
daß bei Homonymie oder Polysemie der Kontext die Funktion hat, das zutreffende
Semem abzuwählen, mithin eine Monosemierung zu erreichen.
26 Eigenes Erlebnis auf dem Boulevard St. Michel in Paris.
27 Im Unterschied zu Autoren wie Lewis und Hintikka gehe ich nicht von der Wirklich-
keit als einer ausgezeichneten Welt aus, auf welche die anderen Welten als möglich be-
zogen sind.
28 Dieter Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, Reinbek bei Hamburg 1974, p. 247.
Verbvalenz und Satzthema 113
z.B. für „es ist notwendig, daß . . . daß die nun folgende, syntaktisch als
Nebensatz formulierte Aussage in allen Welten wahr ist (was die Aussage
Carnaps untermauert, daß alle Aussagen über die Bedeutung von Ausdrücken
Extensionsaussagen sein können bzw. alle Intensionsaussagen sich in Exten-
sionsaussagen umformulieren lassen, nicht aber umgekehrt 2 9 ).
Eine Veränderung einer solchen ,Carnapschen Zustandsbeschreibung' (eine
erste ist in der impliziten Trennung von Aussage und Sachverhalt 3 0 angelegt —
siehe weiter oben) ergibt sich bei Ausweitung des Gegenstandsbegriffs auf
Eigenschaften und Beziehungen, und hier wird die Trennung von Sachverhalt
und Aussage explizit. Denn auch Eigenschaften und Beziehungen können als
Gegenstand aufgegriffen werden 3 1 , so in „Dein Lachen gefällt mir nicht".
Damit entpuppt sich uns der Begriff des Gegenstandes als sachverhaltstheoreti-
scher Begriff, hingegen Eigenschaften und Beziehungen als aussagentheoretische
Begriffe; man könnte dem gerecht werden, indem man davon spricht, daß
etwas „als Gegenstand" aufgegriffen wird, so daß z.B. auch ein Gegenstand
„als Gegenstand" aufgegriffen werden kann (und muß). Weitere Einzelheiten
kann ich mir unter Hinweis auf meine Darstellung in „ .Bedeutung' als sprach-
philosophisches und psycholinguistisches Problem" 3 2 ersparen.
Wir hatten schon angedeutet, daß man unter dem Thema eines Satzes zu-
mindest recht häufig dasjenige versteht, über das man spricht, ganz gleich,
wie wir den Gesprächsgegenstand auffinden oder bestimmen können, und
daß das Rhema dasjenige ist, was über das Thema jeweils ausgesagt wird. Er-
sichtlich wird zumeist nichts über die Wörter ausgesagt, die ein Thema sprach-
lich repräsentieren, sondern über den Gegenstand (in unserer Sicht), und
Gleiches gilt wohl auch für die Rhemata. Die Rhemata ihrerseits fassen wir
dabei gegebenenfalls als komplexe Prädikate auf 3 3 — Prädikat als aussagen-
theoretischer Begriff, und das dann, wenn das Rhema nicht identisch ist mit
dem Verb eines Satzes, was der häufigere Fall sein dürfte. Unter Einbezug des
Hauptteil Satz
Wenden wir uns nach diesen vorbereitenden Bemerkungen dem Problem der
Verbindung von Satz- und Textstruktur zu, dann gilt es zunächst zu erläutern,
was hier unter Satzstruktur bzw. Verbvalenz verstanden werden soll. Dabei
wollen wir ausgehen von konkreten Sätzen und eine Reihe von Testverfahren
vorfuhren, wie sie vor allem von Heringer 36 entwickelt wurden. Wenden wir
zunächst einmal den Substitutionstest an, so ergibt das u.a. kleinste bedeutungs-
tragende Segmente, deren Beziehungen untereinander Satzstruktur heißen sol-
len. Heringer hat zur Ermittlung solcher Satzstrukturen ein Teilungsverfahren
34 Cf. Ballmer, der mögliche Welten ausdifferenziert u.a. gemäß Zeit- und Raumkoordi-
naten, aber darüber hinaus feststellt, daß unterschiedliche mögliche Welten auch vor-
liegen beim „Wechsel der Kultur, der Gesellschaftsstruktur oder [beim] Wechseln der
persönlichen Einstellung" (Thomas T. Ballmer, Einführung und Kontrolle von Dis-
kurswelten, in: Wunderlich (Hg.), Pragmatik, p. 189). Cf. hierzu auch Petöfi, der
Modalkontexte als Subweiten einer möglichen Welt führt; cf. insbesondere auch
C.I. Lewis, Studies in Word, Cambridge (England) 1967.
35 Diese Unterscheidung lehnt sich an die Unterscheidung von A- und B-Welten bei
C. I. Lewis an - siehe Lewis, Studies und Ballmer, Diskurswelten - und ist in
Schecker, Bedeutung, hinsichtlich eines Begriffs der Lebensgeschichte angesprochen,
wie ihn die Psychoanalyse verwendet.
36 Cf. insbesondere Hans-Jürgen Heringer, Theorie der deutschen Syntax, München
1970.
Verbvalenz und Satzthema 115
des Satzes 37 entwickelt, das mit irgendeiner Teilung beginnt und diese dann
auf ihre Zulässigkeit hin überprüft. Das geschieht so, daß man zu den entste-
henden Teilen Paradigmen bildet; lassen sich die Elemente eines solchen Pa-
radigmas alle im nächsten Schritt in der gleichen Weise teilen — etwa in die
Teile a und b, so muß die erste Teilung in A und B etwa für B aufgegeben
werden zugunsten einer Teilung in A und a und b. Für einen Satz wie ,.Der
Vater bestrafte den Sohn" und die Teilung in A = „Der Vater bestrafte" und
B = „den Sohn" ergibt sich z. B. für das Paradigma zum Teil A, daß alle seine
Elemente eine weitere Teilung ermöglichen vor dem finiten Verb, so daß die
erste Teilung aufgegeben werden muß zugunsten der Teilung in a = „Der Va-
ter", b = „bestrafte" und B = „den Sohn". Für die Ebene der sogenannten
Satzglieder ergibt ja der Permutations- oder Umstelltest ein gleiches Bild.
Haben wir mit den genannten Testverfahren Heringers alle Positionen eines
Satzes ermittelt, so geht es weiter mit dem Deletionstest bzw. der Weglaßpro-
be, die einen gegebenen Satz auf sein Minimum reduziert. Einer solchen Re-
duktion kann man den Hjelmslevschen Begriff der Abhängigkeit zweier Posi-
tionen zugrundelegen, der wie folgt definiert ist: Liegen zwei Positionen PI
und P2 vor, so ist P2 von PI dependent genau dann, wenn zwar PI ohne P2 in
einem Satz stehen kann, nicht aberP2 ohne P I . Nach allem sind die Satzglie-
der unter Einschluß des finiten Verbs eines Minimalsatzes untereinander inter-
dependent 3 8 . — Zu den Schwierigkeiten bei der Ermittlung von freien Anga-
ben sei noch angemerkt, daß sie bei Einbezug von Kommutationszusammen-
hängen zumindest für das Deutsche relativ leicht zu beseitigen sind. So können
freie Angaben mit Ausnahme vielleicht der Adverbiale der Art und Weise zu
jedem Verb hinzugefügt werden; hingegen sind die Ergänzungen bzw. Aktan-
ten 39 , die jeweils stehen müssen, vom Verb bestimmt, und das auch hinsicht-
lich semantischer Eigentümlichkeiten. Dem werden Valenzgrammatiker und
das Valenzwörterbuch von Helbig/Schenkel 40 durch eine mehrstufige Auf-
37 Heringer, Theorie, p. 73 s.
38 Heringer, Theorie, p. 78.
39 Die Diskussion um Aktanten (Tesnière) versus (notwendige) Ergänzungen (u.a. Hei-
big und Heringer) dürfte bekannt sein und spitzt sich im wesentlichen zu zur Frage
des Status von notwendigen Präpositionalphrasen; Tesnière nämlich geht von einer
formalen/syntaktischen Beschreibung der Aktanten aus - nicht also von deren In-
halten - und rechnet mit wenigen Ausnahmen Präpositionalphrasen den Zircum-
stanten zu, so daß es dann notwendige Zircumstanten geben müßte. Zu Tesnïere cf.
Lucien Tesnière, Eléments de syntaxe structurale, Paris 2 1969, p. 105 ss., insbeson-
dere p. 1 2 7 - 1 2 9 .
40 Gerhard Helbig - Wolfgang Schenkel, Wörterbuch zur Valenz und Distribution deut-
scher Verben, Leipzig 1973.
116 M. Schecker
Schlüsselung der Verben gerecht 4 1 ; das schlägt sich aber auch in der Subkate-
gorisierung der generativen G r a m m a t i k C h o m s k y s nieder derart, daß zumin-
dest lokale und temporale freie Angaben nichts zur sogenannten strikten
Subkategorisierung der Verben beitragen u n d entsprechend auch nicht direkt
von einem Symbol VP dominiert werden 4 2 (was sicherlich auch für kausale
und daraus abzuleitende Erweiterungen gilt). Bleibt eine Reihe von freien
Angaben, die offensichtlich — obwohl nicht notwendig — zur Subkategori-
sierung des Verbs beitragen bzw. in ihrer Wahl vom jeweiligen Verb ab-
hängen 4 3 . Eben hier aber hat Renate Bartsch in einer schon genannten Ar-
beit 4 4 zur Geltung gebracht, daß diese also Prädikatsadverbiale sind, die
sich von Satzadverbialen dadurch unterscheiden, daß sie im Hauptsatz nur
mit emphatischer Betonung u n d im Nebensatz gar nicht am A n f a n g stehen
k ö n n e n ; Renate Bartsch, die offensichtlich zwischen T o p i c / C o m m e n t u n d
T h e m a / R h e m a unterscheidet, drückt das so aus, daß sie sagt, daß entspre-
chende Prädikatsadverbiale nicht topikalisiert werden k ö n n e n .
Minimalsätze der angedeuteten Art bestehen aus einem finiten Verb u n d
den vom Verb geforderten Ergänzungen 4 5 bzw. A k t a n t e n oder auch Nomi-
nalphrasen, wenn man die Terminologie der generativen G r a m m a t i k
Chomskys verwendet. Wenn wir uns im folgenden auf solche Nominalphrasen
konzentrieren, so ist das beispielhaft gemeint. Anders ausgedrückt k ö n n t e die
folgende Argumentation auch für das finite Verb vorgetragen werden, wobei
es wesentlich u m das gehen wird, was Bally 4 6 mit dem Terminus „Aktualisie-
rung" oder Wunderli 4 7 mit dem Terminus „Aktivierung" bezeichnen, die übri-
gens Bally und dann z. B. auch Raible 4 8 für das Verb an den T e m p u s m o r p h e -
men des finiten Verbs festmachen. — Bei den Nominalphrasen wären als ver-
gleichbare P h ä n o m e n e im Deutschen u. a. die Kasusmorpheme, im Französi-
schen die vergleichsweise feste Wortstellung zu nennen; sie drücken zusammen
41 Entsprechend werden neben den vom jeweiligen Verb geforderten Stellen für notwen-
dige Ergänzungen im Sinne der Chomskyschen Subkategorisierungen angegeben die
syntaktisch-kategoriale Umgebung und die semantische Umgebung - diese in Form
einer Strukturbeschreibung im Sinne der strukturellen Semantik.
42 Noam Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt a.M. 1969, u.a. p. 134.
43 Ib.
44 Bartsch, Satzreihung.
45 Eine solche Auffassung des Satzes rückt diesen an die Aussage im Sinne der Prädika-
tenlogik heran, die auch aus einem ein- oder mehrstelligen Funktor und den von ihm
geforderten Argumenten besteht.
46 Charles Bally, Linguistique générale et linguistique française, Berne 4 1965, p. 77 ss.
47 Peter Wunderli, Die Teilaktualisierung des Verbalgeschehens (Subjonctif) im Mittel-
französischen, Tübingen 1970.
48 Raible, Text, p. 90 ss., insbesondere p. 93/94.
Verbvalenz und Satzthema 117
Dabei kennzeichnet P die Proposition des Satzes, mithin den Satz unter Aus-
schluß einer Anzahl von modalen Relationen u n d / o d e r O p e r a t o r e n 5 3 ; was da-
bei zu P gehört und was nicht — für T e m p u s m o r p h e m e wird das z u m Problem,
da sie u.a. die Welt gemäß Zeitkoordinaten angeben, in der ein entsprechender
Sachverhalt z. B. b e h a u p t e t wird —, diese Frage soll hier nicht weiter verfolgt
werden. — K kennzeichnet einen Tiefenkasus im Sinne Filimores, Ci und C j
4 9 Cf. Charles J. Fillmore, Plädoyer für Kasus/The case for case, in: Werner Abraham
(Hg.), Kasustheorie, Frankfurt a.M. 1971, p. 1 - 1 1 8 .
5 0 Cf. die Bestimmungen der einzelnen Kasus in Fillmore, Plädoyer, p. 3 4 - 3 5 .
51 Jane J. Robinson, Kasus, Kategorie und Konfiguration, in: Abraham, Kasus, p. 1 1 9 -
153.
52 Angelehnt an Robinson, Kasus, p. 144.
53 Cf. Fillmore, Plädoyer, p. 3 2 / 3 3 , aber auch Herbert Ernst Brekle, Generative Satzse-
mantik und Transformationelle Syntax im System der englischen Nominalkomposi-
tion, München 1970, u.a. p. 57.
118 M. Schecker
Wir müssen an dieser Stelle auf Gedanken Freges 57 und dann auch Strawsons 5 8
und Searles 59 zurückgreifen. Gemäß ihren Ausfuhrungen kann man zwischen
Sinn und Bedeutung (= Frege) 6 0 unterscheiden, wobei uns hier vor allem die
Bedeutung interessieren soll. Mit Frege beginnend läßt sich als Bedeutung z.B.
einer Kennzeichnung wie „die Tankstelle dahinten" der Gegenstand angeben,
auf den ich mich mit der Kennzeichnung beziehe, eben „die/eine bestimmte
Tankstelle". Wie aber — fragt Russell 61 —, wenn der Gegenstand, auf den ich
mich mit einer Kennzeichnung beziehe, gar nicht existiert? Frege hatte darauf
eine Lösung vorgeschlagen, die formal sicherlich haltbar ist, wegen ihrer Absurdi-
tät jedoch nicht recht überzeugt; er nämlich würde dann von einer Nullklasse
von Gegenständen sprechen, auf die ich mich beziehe — so wie ich mich sonst
auf eine Einerklasse beziehe - ; mithin würde ich mich so gesehen auf eine
Klasse von Gegenständen beziehen, die kein Element enthält. Russell seiner-
seits beantwortet seine Frage dahingehend, daß er eine Kennzeichnung zerlegt
in eine Existenzbehauptung einerseits und eine Prädikation andererseits, eine
Lösung, die sich bis heute in der Prädikatenlogik durchgehalten hat, freilich
mit der Einschränkung, daß dabei Existenz nicht mehr ontologisch verstan-
den, sondern als Quantifikation — nämlich Existenzquantifikation „es gibt
mindestens ein X, und X i s t . . . " — verstanden wird; vergleiche zum letzteren
insbesondere Quine 62 und seinen sogenannten kategorischen Satz I.
Gegen Russell läßt sich nun freilich einwenden, daß seine Existenzbehaup-
tung im Sinne einer ontologischen Existenz nicht recht einsichtig ist. Denn —
so könnte man mit Strawson 63 formulieren — eine Kennzeichnung kann ja
auch nur erwähnt werden z.B. a) als Aussage eines anderen: ist damit dann
auch die/eine Existenz behauptet — wer behauptet sie dann? ; b) kann es sich
um einen Beispielsatz der Grammatik handeln: dann ist doch sicherlich keine
Existenzbehauptung damit verbunden. Und man könnte durchaus noch im
Sinne Strawsons fortfahren mit solchen Aussagen, in denen die Existenz eines
Gegenstandes festgestellt oder behauptet wird: wird sie dann zweimal behaup-
tet? Oder wie sieht es bei verneinten Existenzbehauptungen aus — gilt dann
die in der Kennzeichnung enthaltene Existenzbehauptung oder die sich an-
schließende Existenzverneinung? Strawson und Searle ziehen daraus den
Schluß, daß hier eine Vermischung der Kennzeichnung mit dem Gebrauch
einer Kennzeichnung vorliegt, zugleich damit auch eine Vermischung von Satz
und Gebrauch eines Satzes 64 . Searle hat diesen Vorwurf zudem auf der Grund-
lage seiner Sprechakttheorie dahingehend erweitert, daß Russell überdies den
illokutionären Akt des Behauptens mit der propositionalen Teilaktivität des
Referierens auf etwas „in einen Topf wirft" (dabei bildet - vereinfacht gesagt
— die Proposition einen Sachverhalt ab; hingegen gibt die Illokution die Ver-
wendung oder den Verwendungssinn wieder, gibt also wieder, ob die Propo-
sition als Frage oder Behauptung usw. gemeint ist).
Ich halte den Vorwurf Searles für nicht berechtigt, da einerseits die Illo-
kution keine Angelegenheit der Sprache und des Gebrauchs einer Sprache in-
soweit ist, als dieser systematisch in der Sprache angelegt ist. Andererseits
aber geht es Russell um die Existenzbehauptung als systematisch in einer
Sprache angelegtes Phänomen, und so gesehen hat die Searlesche Behaup-
tung nichts mit der Russellschen Behauptung zu tun, die man besser eine
Voraussetzung im Sinne einer Existenzpräsupposition nennen würde. Von
Voraussetzung sollte man dabei deshalb sprechen, weil ein Gegenstand voraus-
gesetzt werden m u ß , damit man über ihn etwas aussagen kann. — Nun steckt
in der Kritik an Searle die Behauptung, daß Illokutionen nicht systematisch
in einer Sprache angelegt sind. Dem würden zumindest die Versuche von Ross 65
und auch von R. Lakoff und G. Lakoff 6 6 widersprechen, wobei Ross davon
ausgeht, daß die Illokutionen der Sprechakttheorie als übergeordnete perfor-
mative Sätze in der Tiefenstruktur im Sinne einer generativen Grammatik re-
präsentiert werden müssen. Nun hat Grewendorf 6 7 den Ross'schen Versuch
ausführlich widerlegt und gezeigt, daß bei Ross eine Vermischung der Art von
Sätzen mit der Art der Verwendung von Sätzen vorliegt. Daß z.B. ein Satz
zu den Fragesätzen gehört, heißt nicht, daß man mit ihm nicht auch etwas
behaupten oder eine Erklärung abgeben k a n n 6 8 ; bestenfalls besagt die Zuge-
hörigkeit zu den Fragesätzen, daß ich auf eine bestimmte Verwendung von
Sätzen — dann aber als Sachverhalt — Bezug nehmen kann, z.B. in Form
einer Proposition (so bei den performativen Vordersätzen der Sprechakttheorie),
deren Verwendung ihrerseits damit keinesfalls festgelegt ist69. Folglich sind
wir zurückverwiesen auf die Kritik Strawsons an Russell, mithin auf die
nicht-sprechakttheoretische Unterscheidung von Satz und Gebrauch eines
Satzes, vielleicht noch Art des Satzes und Art der Verwendung eines Satzes,
letzteres dann, wenn wir die Wittgensteinsche Unterscheidung von Verwen-
dung und Gebrauch einbeziehen derart, daß eben die Art der (jeweils kon-
kreten) Verwendung der Gebrauch ist, den ich von Sätzen und damit auch
von Kennzeichnungen mache.
Strawsons Kritik an Russell beruht im wesentlichen darauf, daß er von den
Aussagen Russells einiges dem Satz bzw. der Kennzeichnung, anderes dem
Gebrauch einer Kennzeichnung zuschlägt. Schlägt er entsprechend den Ge-
genstand, auf den ich mit einer Kennzeichnung referiere, dem Gebrauch einer
Kennzeichnung zu — unter Einschluß der Tatsache, daß jemand, der die
Kennzeichnung gebraucht, zu verstehen gibt, daß er annimmt, daß der zuge-
hörige Gegenstand auch wirklich existiert —, so bleibt für die Kennzeich-
nung selber einsichtigerweise nur eine Menge allgemeiner Anweisungen
zum Referieren auf Gegenstände. Gegen eine solche Vorstellung kann freilich
eingewendet werden, daß die Menge allgemeiner Anweisungen zum Referieren
auf Gegenstände eigentlich nicht der Kennzeichnung insgesamt zukommt, son-
dern der Position entsprechender sprachlicher Einheiten im Satz bzw. in der
Aussage. Verben bzw. Prädikate nämlich können schon gemäß Frege 70 nicht
zum Referieren auf Gegenstände gebraucht werden, und in einer Fügung wie
„Ich habe Hunger" gehört „Hunger" — obgleich Nomen — zur Position des
Verbs, taugt also nicht zum Referieren. In gleicher Weise kennen wir substan-
tivierte Infinitive — und hiermit knüpfen wir explizit an unsere Vorüberlegun-
gen und die dort getroffene Unterscheidung von Aussage/Satz und Sachverhalt 71
an —, die durchaus als Kennzeichnungen im besprochenen Sinne Verwendung
finden, obgleich sie doch Verben bzw. verbale Lexeme sind. Mit anderen Wor-
ten: Dasjenige, was ein Substantiv als Substantiv aktualisiert, hat im Sinne
Strawsons zur Bedeutung eine Menge allgemeiner Anweisungen zum Referie-
ren auf Gegenstände, nicht aber dasjenige, was dann als Substantiv aktualisiert
wird, nämlich entsprechende nominale oder auch verbale Lexeme. Durchsich-
tiger wird dieser Tatbestand dann, wenn wir ein Begriffspaar Hjelmslevs auf-
greifen, nämlich „Substanz" und „Form", die hier relativ zur jeweiligen
sprachlichen Hierarchieebene definiert werden sollen 72 ; entsprechend wäre
ein Lexem relativ zu den es umfassenden Bedeutungskomponenten F o r m 7 3 ,
diese hingegen wären Substanz. Umgekehrt stellt das Lexem in Bezug auf die
Position des Satzes, in die es dann gleichsam eingesetzt wird, eine Substanz dar,
wobei diesmal die Satzposition bzw. das Gefüge der Satzpositionen des be-
treffenden Satzes die dazugehörige Form abgibt. Wir heben hier auf das Ge-
füge der Satzpositionen eines Satzes insgesamt ab, weil ja die einzelne Satz-
position nicht als autonome Gegebenheit gedacht werden darf. 7 4 Für mini-
male Sätze als nicht weiter zerlegbare Ganzheiten 75 ergibt das zudem, daß
ihre Form Zeichencharakter hat bzw. ein elementares Zeichen darstellt. Das
aber hat im Sinne einer Kritik an Strawson zur Konsequenz, daß die Unter-
scheidung von Kennzeichnung und Gebrauch einer Kennzeichnung hinfällig
wird; eine Kennzeichnung bedeutet insofern immer schon den Gebrauch oder
die Verwendung von Sprache, als es sich dabei bereits um ein komplexes
Zeichen handelt, daß aus der Kombination zweier oder mehrerer elementarer
Zeichen entstanden ist, nämlich aus der Kombination einer Satzform mit
lexikalischen Einsetzungen. Für einen so verstandenen Gebrauch von Zeichen
aber stellt sich damit die alte Frage Russells an Frege erneut, was denn die
Bedeutung einer Kennzeichnung ist, wenn der Gegenstand, auf den ich mit
einer Kennzeichnung referiere, nicht existiert.
Bevor hier Möglichkeiten der Beantwortung der obigen Frage angedeutet
werden können, müssen wir noch einmal auf die Form einer Kennzeichnung
zurückkommen. Wesentlich an ihr scheint mir, daß sie einen Teil einer ele-
mentaren, also nicht weiter zerlegbaren Satzform abgibt, sofern man sich
hier auf minimale Sätze beschränkt. Das aber lassen einen die Ausführungen
Freges und Russells nur allzu leicht vergessen, denn — so könnte man für
die Kennzeichnung fragen — auf was verweise ich z. B. mit der Subjektskenn-
zeichnung „der Mann/ein bestimmter Mann" in dem Satz „der Mann/ein be-
stimmter Mann lachte": auf einen bestimmten Mann/den Mann oder auf den
lachenden Mann? 76 Entgegen Russell darf folglich nicht von einer Existenz-
behauptung in Bezug auf den Gegenstand gesprochen werden, auf den ich
mit einer Kennzeichnung eines Satzes referiere, bzw. bestenfalls davon, daß
ich so etwas wie die Existenz eines Sachverhaltes behaupte, vielleicht auch
einfach nur das Bestehen (oder eben Nicht-Bestehen) eines Sachverhaltes.
Allgemein unterliegt den obigen Formulierungen die Konvention, u.a. von
der Existenz von Gegenständen und auch davon zu sprechen, daß ihnen z.B.
eine Eigenschaft zukommt, und auch diese letztere Redensart muß schon in-
sofern abgelehnt werden, als nach allem ja auch die Eigenschaften und Be-
ziehungen von Gegenständen keine von einem jeweiligen Sachverhalt losge-
löste Größen darstellen. Mit anderen Worten wird hier abgelehnt, was wir
noch weiter oben im Rahmen der Vorbemerkungen als Zustandsbeschreibung
eines möglichen Weltzustandes ausgeführt haben, daß nämlich die Welt letzt-
75 In der Anlage ist ein solches Konzept bereits bei Saussure zu finden, cf. Peter Wunder-
Ii, Zur Stellung der Syntax bei Saussure, ZRPh. 88 (1972), 4 8 3 - 5 0 6 .
76 Für einen entsprechenden Hinweis bin ich Rainer Marten, Freiburg, zu Dank ver-
pflichtet.
Verb valenz und Satzthema 123
lieh aus Individuen besteht, wenn auch diese bestimmte Eigenschaften besit-
zen und/oder in bestimmten Beziehungen zueinander stehen; implizit war
eine solche Kritik freilich schon in der Ausweitung des Gegenstandsbegriffs
auf Eigenschaften und Beziehungen angeklungen, siehe dazu noch weiter un-
ten. Zusammenfassend ergibt das: Die Welt besteht aus Sachverhalten. Daß
auch das noch einmal — wenn auch nur geringfügig — revidiert werden muß,
werden wir später sehen.
Man kann der hier vorgetragenen Ansicht Sätze aus dem Tractatus 77 un-
terlegen, die den Zusammenhang bestätigen, vielleicht auch deutlicher wer-
den lassen. So sagt Wittgenstein, daß — wenn ich mir den Gegenstand im Ver-
bände des Sachverhalts denken kann — ich ihn mir nicht außerhalb — bei
Wittgenstein sagt, scheint sich bereits im Tractatus zu finden: „Die Möglich-
(Satz 2.0121). Und auch die/eine Rückführung auf den Formbegriff des Sat-
zes und damit die Unterscheidung nach Form und Substanz bzw. Inhalt, wie
Wittgenstein sagt, scheint sich bereits im Tractatus zu finden: „Die Möglich-
keit seines Vorkommens in Sachverhalten ist die Form des Gegenstandes"
(Satz 2.0141). Und dennoch wird bei Wittgenstein eine Unterscheidung unter-
lassen bzw. anders getroffen, als wir das hier im nächsten Schritt vorhaben:
ich meine die Unterscheidung von Satz oder Aussage und von Sachverhalt 78 ,
allerdings sprachlich konstituiertem Sachverhalt - entsprechend in einer
möglichen Welt. Die Unterscheidung von aussagentheoretischen und sachver-
haltstheoretischen Begriffen ist dabei eine Unterscheidung, die im Rahmen nur
eines einzigen Satzes nicht oder bestenfalls nur sehr intuitiv getroffen werden
kann, die aber sofort einsichtig wird, wenn wir über den Satz hinaus auf
den Satz- und Aussagenzusammenhang rekurrieren. Hier nämlich gilt, daß jedes
Verb oder Prädikat in einem nächsten Satz wieder aufgegriffen werden kann
in Form einer Kennzeichnung (nicht aber umgekehrt). Ja, will man einen Prä-
dikatskomplex explizit aufgreifen, dann muß man ihn sogar „als Gegenstand"
aufgreifen. Figge79 hat diesen Tatbestand mit der sehr einsichtigen Unterschei-
dung von „Situierung von Kommunikationsgegenständen" (hier wäre das Verb
das aktive Syntaktem) und „Manifestierung von Kommunikationsgegenstän-
den" (hier wären die nominalen Syntakteme die aktiven Syntakteme) ausgedrückt,
was bei gleichbleibendem Referenzpunkt nur bedeuten kann, daß dieser unab-
hängig ist davon, ob er als Gegenstand oder als Eigenschaft/Beziehung ange-
sprochen wird. Bleibt man bei den eingebürgerten Begriffen „Gegenstand" und
„Eigenschaft"/„Beziehung", so müßte gemäß aussagentheoretischem und sach-
77 Wittgenstein, Tractatus.
78 Cf. schon weiter oben bzw. Harweg, Subjekt.
79 Figge, Syntagmatik.
124 M. Schecker
und damit auf etwas als Gegenstand nur im Zusammenhang von Sachverhal-
ten referiere; das erweist zuguterletzt, daß „etwas als Gegenstand identifizie-
ren" oder auch z.B. „eine Eigenschaft zuschreiben" die Art und Weise des
sprachlichen Zugriffs kennzeichnet und von dem zu trennen ist, was im je-
weiligen sprachlichen Zugriff zum Ausdruck k o m m t , ein Ergebnis, das sich
eben auch daraus ergibt, daß ich z.B. eine Eigenschaft in einem nächsten Satz
referenzidentisch als Gegenstand wieder aufgreifen kann.
Freilich müssen wir nun unter neuen Vorzeichen auf die alte Frage Russells zu-
rückkommen, was denn von all unseren Ausführungen übrig bleibt, wenn der Ge-
genstand nicht existiert bzw. der Sachverhalt nicht besteht, in dessen Rahmen ich
auf einen Gegenstand referiere. Und wir kommen auf die Frage Russells zurück unter
Einschluß der Überlegung, daß bei Wegfall der Rede von den Gegenständen
bzw. der Existenz der Gegenstände eigentlich auch fortfällt, daß einem Ge-
genstand Eigenschaften zukommen bzw. zu Recht oder zu Unrecht zuge-
schrieben werden. Die Konsequenz daraus aber ist, daß dann auch nichts mehr
über das Bestehen oder Nicht-Bestehen von Sachverhalten ausgesagt werden
kann, denn die Rede vom Bestehen eines Sachverhaltes gründet ja gerade dar-
auf, daß einmal Gegenstände existieren, zum zweiten darauf, daß ihnen z. B.
eine Eigenschaft zu Recht zukommt.
Nun, wir haben uns mit solchen Überlegungen demjenigen Konzept bereits
sehr genähert, das — bei einer Vielzahl von Modifikationen — eine Antwort
auf die Frage Russells sein könnte, dem Konzept der möglichen Welten 8 3 , so
wie wir es weiter oben schon angesprochen haben. Dort war auch bereits die
Rückführung der Wahrheitswerte „wahr" und „falsch" - soweit damit ontolo-
gische Realität intendiert war — auf die Feststellungen „sinnvoll" und „sinn-
los" vorgeführt worden, was darauf aufmerksam macht, daß der unserem Be-
griff der möglichen Welt zugrundeliegende Begriff der Zustandsbeschreibung
eines möglichen Weltzustandes sprachrelativ in Bezug auf eine jeweilige natür-
liche Sprache ist; mit anderen Worten liegen wir damit dicht an der sprachli-
chen Relativität der Sapir-Whorf-Hypothese, so sehr auch der Begriff der
Möglichkeit historisch gesehen als Produkt unserer Erfahrungen im Umgang
mit realer Wirklichkeit gekennzeichnet werden muß. Mit anderen Worten er-
gibt sich z. B. die Zahl möglicher Welten „allein aus der Reichhaltigkeit [ . . . ]
einer jeweiligen Umgangssprache und nicht aufgrund irgendwelcher ontologi-
scher Überlegungen" 8 4 . Wie weit eine solche Konzeption dann von der Car-
napschen Vorstellung der Zustandsb.eschreibung abweicht, kann ich hier —
auch für das Folgende — nicht diskutieren.
83 Cf. N 34.
84 Wunderlich, Grundlagen, p. 248.
126 M. Schecker
87 Cf. Lorenzers Mutter-Kind-Dyade und die Einführung von Sprache, wie ich sie in
Schecker, Bedeutung, konzipiert habe aufgrund Alfred Lorenzer, Sprachzerstörung
und Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 1972.
88 Brekle, Satzsemantik, insbesondere p. 57.
89 Das bedeutet eine sehr fundamentale Kritik an jeder Form der strukturellen Semantik
von Greimas über Fodor/Katz bis hin zur generativen Semantik etwa eines McCawley.
128 M. Schecker
Form und Substanz, die wir u.a. ja schon kritisch gegen Strawson und auch
gegen Searle wendeten — mit dem Ergebnis, daß die dort getroffene Unter-
scheidung von Kennzeichnung und Gebrauch einer Kennzeichnung aufgege-
ben werden mußte. In gleicher Weise muß die Unterscheidung von Form und
Substanz gegen die generative Semantik gerichtet werden, hier z.B. gegen
McCawley 9 0 und G. L a k o f f 9 1 , die ebenfalls den Unterschied zwischen lexikali-
schen Inhaltssubstanzen und Satzinhaltsformen unterschlagen. Das wirkt sich
dann bei der Dekomposition von Verben wie „öffnen" oder „umgeben" aus,
in deren Rahmen McCawley ein abstraktes Element „Kausativ" 92 bzw. Robert
Binnick 93 das nicht weiter zerlegbare Verb „to cause" / „verursachen" auf-
führt, was dann Stammbäume der folgenden Art ergibt: 94
V NP NP
verursachen x S
V NP
werden S
V NP
nicht S
V NP
lebendig y
90 Cf. James D. McCawley, Bedeutung und die Beschreibung von Sprachen, in: Ferenc
Kiefer (Hg.), Semantik und generative Grammatik II, Frankfurt a.M. 1972, p. 361 —
388; cf. ferner auch James D. McCawley, Lexikalische Einsetzungen in eine transfor-
mationelle Grammatik ohne Tiefenstruktur, in: Steffen Stelzer (Hg.), Probleme des
„Lexikons" in der Transformationsgrammatik, Frankfurt a.M. 1972, p. 4 2 - 5 6 .
91 Cf. u.a. G. Lakoff, Natürliche Logik und lexikalische Zerlegung, in: Stelzer (Hg.),
Lexikon, p. 6 8 - 9 7 ; cf. ferner auch G. Lakoff, Über generative Semantik, in: Kiefer
(Hg.), Semantik, p. 3 0 5 - 3 5 9 .
92 Cf. McCawley, Bedeutung, p. 366.
93 Robert Binnick, Die Beschaffenheit der „Lexikoneinheit", in: Stelzer (Hg.), Lexikon,
p. 2 0 - 2 8 , hier p. 24.
94 Werner Abraham - Robert Binnick, Syntax oder Semantik als erzeugende Komponen-
ten eines Grammatikmodells? , Linguistische Berichte 4 (1969), 1 - 2 8 , hier p. 21.
Verbvalenz und Satzthema 129
wobei uns Details nicht näher zu interessieren brauchen. Damit aber ist das
ursprüngliche Substantiv gleichsam in Form und Substanz getrennt, wobei
die letztere in einer Verb- bzw. Prädikatform wieder auftaucht. Also wird im
Rahmen der Position des ursprünglichen Substantivs die Substantiv-Funktion
des „identifizierenden Referierens auf etwas " mit der Verb-Funktion des
„Prädizierens" (beides gemäß Searle) vermischt. Das setzt sich im Rahmen der
amerikanischen generativen Semantik fort bei einer ganzen Reihe von soge-
nannten expressiven Termen, die ebenfalls als prädikative Einheiten ausge-
führt werden, wobei ich hier im wesentlichen wieder Bartsch und Vennemann
folgen kann. Unter expressiven Termen versteht man mit Reichenbach 99 , „Ele-
mente der symbolischen Logik", eben solche Terme, die wir zur Satzform
rechnen würden, Einheiten also, „die gewisse Zeichenstrukturen erzeugen und
so gesehen etwas tun, aber nichts sagen", wie es Reichenbach ausdrückt. Spe-
ziell die Negation „nicht" u.a. in den Stammbäumen R. Binnicks trifft diese
Kritik; sie als prädikative Einheiten ausführen heißt, sie mit Einheiten wie
„falsch" und wohl auch „verneinen" vermischen. Bartsch und Vennemann
führen dagegen aus, daß „nicht" kein Prädikat sei, sondern ein Operator über
Propositionen. Sgall100 würde wohl auch das ablehnen. Er bezeichnet solche
Negationen als Operatoren, die ein jeweiliges Verb modifizieren; genauer noch
führt er aus, daß im Unterschied zur Negation in der Logik diese in natürlichen
Sprachen rückbezogen werden muß auf die kommunikative Strukturierung des
Satzes derart, daß die kontextgebundenen Aktanten eines Satzes auf jeden
Fall außerhalb des Skopus der Negation liegen. Bartsch hat freilich in einem
Vortrag 101 dagegen Stellung bezogen; ihr folgend scheint mir eine solche Dis-
kussion nur fruchtbar, wenn sauber zwischen Systemwerten der Negation und
Nutzwerten 102 — etwa unter Einschluß von kontextgegebenen Präsuppositio-
nen — unterschieden wird; doch können wir der Problematik hier nicht weiter
folgen.
Mit Brekle kommen wir auf einen Ansatz zurück, der unserem
sehr viel enger verwandt ist als die generative Semantik eines McCawley usw.
Brekle zerlegt wie schon angedeutet den Satz in einen „semantischen Kern",
dessen Struktur wesentlich auf der Grundlage einer valenzmäßig interpretier-
ten Kasusgrammatik formuliert wird, ferner in eine Anzahl von modalen Re-
lationen, z.B. Assertion, Qualifikation, Negation, Modi usw., „die den Satz-
schlägt", und dadurch: „der Hund wird geschlagen" ist es möglich, daß der
Knabe einem Kameraden gedroht hat, ihn — den Kameraden — zu schlagen,
und daß dieser daraufhin die Gegendrohung ausgestoßen hat, daß er aber dann
den Hund des Knaben schlagen werde; statt den Knaben selber zu
schlagen rächt man sich — um so empfindlicher — an seinem Lieblingstier.
Die vorgetragenen Schwierigkeiten Brekles scheinen mir wie schon ange-
deutet implizit bereits Schwierigkeiten Russells zu sein. Dieser verwirft Einzel-
nes bzw. Individuen bzw. Gegenstände in unserem Sinne als Subjekt von
Sätzen 109 — Ausnahmen sind vielleicht die Eigennamen — und reduziert so den
Satz bzw. die Aussage auf eine Verbindung mehrerer prädikativer Einheiten,
die als solche gleichartig und gleichberechtigt sind. Entweder ist hier also der
fundamentale Unterschied von Aussage/Satz und von Sachverhalt vernach-
lässigt und etwas für die Aussage postuliert, was bestenfalls für den Sachver-
halt zutrifft — siehe hierzu schon weiter oben —, oder aber es wird hier die
Position Freges, daß Prädikate sich auf Begriffe als ihre Bedeutung beziehen —
wir hatten bisher nur die Gegenstände als Bedeutung von Kennzeichnungen
und damit auch von Subjekten diskutiert —, nur verdoppelt und damit die
Fregesche Überzeugung, daß Subjekte sich im Gegensatz zu Prädikaten auf
Gegenstände als ihre Bedeutung beziehen, verneint, auch dann übrigens ver-
neint, wenn wir Strawson und auch Searle und unsere Korrekturen an Searle
und Strawson mit einbeziehen. Das aber ist nach allem, was hier im Namen
der Satzinhaltsform gesagt wurde, eine nicht einsichtige Position, die zwar
für die in einen Satz eingebrachten Lexeme als solche gilt, aber verkennt, daß
diese als Lexeme niemals einen Satz bilden können, sondern als Substanz zu-
sätzlich der besagten Satzform bedürfen. Wollte man den Unterschied der
Brekleschen Konzeption zu meiner auf einen prägnanten Nenner bringen, so
könnte man — allerdings beiderseits stark reduzierend — sagen, daß Brekle
a) alles auf den Satz bzw. auf die Aussage konzentriert und b) diese'„auflöst"
in eine Verbindung von prädikativen Einheiten, ich hingegen a) alles auf den
Sachverhalt in einer möglichen Welt konzentriere und b) diesen als Verbin-
dung von Gegenständen darstelle; eine solche Konzeption hätte mit Carnap
übrigens auch für Klassen von Gegenständen, mithin für die Carnapschen
Quasigegenstände 110 , Gültigkeit, denn entsprechende Aussagen könnten ohne
weiteres in Aussagen rückübersetzt werden, die über „echte" Gegenstände
handeln.
109 Genauer geht es hier nur um Subjekt-Prädikat (im logischen Sinne) -Sätze; die Ver-
hältnisse gestalten sich jedoch bei Sätzen mit mehrwertigen Verben nicht anders.
110 Carnap, Welt/Philosophie, p. 35 ss.
Verbvalenz und Satzthema 133
Brekles Reduzierung des Satzes macht nun auch den systematischen Stand-
ort seiner Relationskonstanten deutlich, die Relationen zwischen gleichartigen
und gleichberechtigten Prädikaten kennzeichnen und so — gewollt oder unge-
wollt — mehrstellige Prädikate zweiter Stufe im Sinne einer mehrstufigen Prä-
dikatenlogik darstellen. Damit aber komme ich zu einem letzten Punkt meiner
Kritik an Brekle, daß seine Relationskonstanten zwar Prädikate zweiter Stufe
darstellen — das könnte ein Vorteil gegenüber McCawleys Behandlung seman-
tischer Primitive sein —, aber — so weit ich sehe — nicht als metasprachliche
Prädikate verstanden werden — das wäre nun wieder ohne Unterschied zu
McCawley. Damit muß ihnen im Objekt- oder Gegenstandsbereich in direkter
Weise etwas entsprechen 111 , und so ist es ja von Brekle auch wohl gemeint; mit
anderen Worten betrifft die Theorie spräche, in der solche Relationskonstan-
ten formuliert sind, nur die Ausdrucksseite 112 , und das dürfte der logischen
Typenlehre widersprechen. Wenn weiterhin ein eigener Relator postuliert wird,
der erst einen jeweiligen Aktanten ans finite Verb bindet, so gilt mit gleichem
Recht — immer bezogen auf die Ebene der Objektsprache —, daß dann auch
ein Relator R' (X, Y) angesetzt werden muß, der den oben genannten Relator
R (x,y) z.B. an den Aktanten bindet, usw., d.h. wir kommen zu einem unend-
lichen Regreß, den man wie folgt graphisch veranschaulichen könnte:
111 Genauer sind sie damit selber Objekt- oder Gegenstandsbereich, der hier freilich im
Unterschied zur „natürlichen Ausdrucksseite" der betreffenden natürlichen Sprache
mit einer theoriesprachlichen Ausdrucksseite versehen ist.
112 Zusammengefaßt würde ich den entscheidenden Fehler darin sehen, daß so das Kon-
strukt, d.h. die rationale Nachkonstruktion einer Wirklichkeit, mit der Wirklichkeit
selber „in einen Topf geworfen wird". Das aber lehne ich ab, da Wirklichkeit nur in
Form einer rationalen Nachkonstruktion zugänglich ist - so sehr darin auch als not-
wendige Voraussetzung die Hypothese einer von der Nachkonstruktion unabhängi-
gen Wirklichkeit steckt.
134 M. Sehecker
Hauptteil Text
116 Sgall, T o p i c .
117 Brekle, S a t z s e m a n t i k , p. 7 7 .
1 1 8 Brekle, S a t z s e m a n t i k , p. 1 3 1 .
136 M. Schecker
denz im Sinne Hjelmslevs unterschlagen. Zwar kann man fur das morpholo-
gische Subjekt — zumindest im Deutschen — eine gewisse Vorrangstellung vor
den anderen Aktanten feststellen, die z.B. auch Raible verzeichnet, und das
findet darin seinen Ausdruck, daß bei Umformung z.B. attributiver Adjektive
in Relativsätze bzw. in Konstituentensätze einer syntaktischen Tiefenstruk-
tur das Bezugsnomen des attributiven Adjektivs stets Subjekt des entstehen-
den Relativsatzes oder dann eines solchen Hauptsatzes ist, der u. a.
ohne Wortstellungstransformationen aus dem entsprechenden Konstituenten-
satz der Tiefenstruktur abgeleitet ist. Zwar kann man also eine Vorrangstellung
des ersten Aktanten verzeichnen; doch Brekle kann sich nicht einmal darauf
berufen, sondern scheint mir eine weitere Inkonsequenz in sein System einge-
baut zu haben; hier nämlich geht er plötzlich vom psychologischen Subjekt
aus: „Der Setzung eines ,topic' als psychologisches Subjekt im Satzbereich
entspricht im Kompositionsbereich die Setzung eines ,topic' als sog. ,deter-
minatum' eines Kompositums" 119 . Faßt man zusammen, so bringt Brekle
drei Erscheinungen zusammen, die z.B. noch Bally relativ sauber getrennt hat,
wenn er von „déterminé (— déterminant)", „thème (— propos)" und „dictum
( - m o d a l i t é ) " spricht 120 .
Operationalisiert man die Rede vom psychologischen Subjekt bzw. vom
Thema, über das gesprochen wird, derart, daß man von allen kontextgebunde-
nen Satzgliedern — alles zunächst noch im Bereich von Minimalsätzen — als
Themen spricht, so sind wir beim Gegenstand angelangt, Gegenstand in unse-
rem Sinne. Freilich besteht ein gewisser Unterschied darin, daß die Themen
Gegenstände jeweils eines einzigen Textes sind, Gegenstände selber hingegen sich
auf Grund gleichsam einer Vielzahl potentieller Texte konstituieren können. —
Bedenkt man nun, daß die Kontextgebundenheit von Aktanten und Verb
explizit in Erscheinung tritt bei den sogenannten „neuen Pronomina" Har-
wegs 121 , so läßt sich auch sagen, daß ich als Thema eines Satzes dasjenige be-
trachte, was in einer Substitutionsreihe jeweils substituiert wird. Soweit folge
ich dann auch z.B. Sgall, der neben der „kommunikativen Relevanz" ebenfalls
die Kontextgebundenheit für die „kommunikative Dynamik" eines Satzes be-
rücksichtigt. Vor einem solchen Hintergrund wird weiterhin deutlich, daß ich
nicht — wie z.B. Firbas — differenzierter neben dem Thema und dem Rhema
noch eine „Transition" vom Thema zum Rhema annehmen kann 1 2 2 . Freilich
sind andere Formen der Ausdifferenzierung dennoch möglich, die jedoch we-
sentlich den Bereich des Themas betreffen. Zwar geht es dabei nicht darum,
im Sinne Sgalls den durch die Situation gebundenen Teilen einen höheren
Stellenwert in der „kommunikativen Dynamik" des Satzes zuzubilligen123,
wohl aber darum, daß diejenigen kontextgebundenen Teile, die im Vorder-
grund stehen, einen höheren Wert in der „kommunikativen Dynamik" besit-
zen als jene Teile, die sich im Hintergrund befinden. „Vordergrund" und
„Hintergrund" sind dabei nicht im Sinne Weinrichs124 zu verstehen, sondern
beziehen sich auf den gemeinsamen Wissensbestand von Sprecher/Schreiber
und Hörer/Leser, soweit er den Text betrifft; so gesehen wird der Vorder-
grund thematisch jeweils durch das im Text neu eingeführte Thema gebildet,
also durch jene Themen, die nicht schon länger gleichsam im Gespräch sind.
Der Unterschied, den ich vor allem zu Sgall mache, betrifft die sich auf-
grund seines Vorschlags ergebende „links-rechts-Orientierung" der Werte der
„kommunikativen Dynamik". Ich werde an ihre Stelle eine hierarchische
Gliederung125 setzen derart, daß in einer Themenhierarchie — siehe dazu noch
später — das jeweils unterste Thema den größten Neuigkeitswert — wie man
auch sagen könnte — erhält. Das scheint mir einerseits sinnvoll, weil so die
Zahl der Hierarchieebenen einer Themenhierarchie ein Maß für die „Arbeit"
des Hörers zu sein scheint beim Einordnen eines Satzes in das Ganze eines
Textes bzw. einer Themenhierarchie. Zum anderen bringt eine Themenhier-
archie — jeweils eines einzelnen Textes — erstmals über die bloße Verkettung
von Sätzen über einen identischen Referenzpunkt hinaus eine genuin text-
mäßige Strukturierung zum Ausdruck. Von einer Themenhierarchie nun spre-
chen wir hier insofern, als ja die Reihe der Sätze eines Textes durchaus auch
durch mehr als nur eine Substitutionsreihe miteinander verbunden sein kann;
nehmen wir beispielsweise die Kette der Sätze (minimale Sätze bzw. Satzin-
halte bzw. — mit Brekle — Satzbegriffe) Si bis S 5 an und gehen davon aus,
daß Si bis S 3 einschließlich durch das Thema (Substitut) T a , hingegen zu-
gleich Si bis S s durch Tb miteinander verbunden sind, so ergibt sich rein
intuitiv aufgrund der größeren Reichweite von Tb, daß Tb dem Thema T a über-
geordnet ist. Wir werden diese Redeweise von der Überordnung und der Hier-
archie später noch näher spezifizieren müssen; das schließt eine Reihe von Mo-
difikationen mit ein.
Beschränken wir uns auf diesen Ausdruck — wobei das durch Punkt abgetrenn-
te und nachgestellte ai den Gegenstand kennzeichnet, der in einer Aussage
thematisiert wird —, so beinhaltet unsere Teilklasse nur ein Element 1 2 8 , näm-
lich jenen Sachverhalt, der durch den prädikatenlogischen Ausdruck F ( a i , a 2 )
(z.B. = Klaus ( a j ) schlägt (F) Fritz (a 2 )) ausgedrückt wird. Das widerspricht
freilich insofern unserer Auffassung vom Gegenstand, als dieser nur Gegen-
stand ist kraft des Tatbestandes, daß er den Bestandteil mindestens zweier
Sachverhalte abgibt, und wir hatten weiter oben ja auch von der Klasse der
Sachverhalte einer Substitutionsreihe von Sätzen insgesamt gesprochen. In
welcher Weise also die Thematisierung eines Satzinhaltes zusammenhängt mit
der Thematisierung der Satzinhalte der anderen Sätze einer Substitutionsreihe
von Sätzen, gilt es noch zu klären; freilich soll das zurückgestellt werden, bis
die Funktionsweise des Lambda-Operators näher ausgeführt ist.
Jenseits der formalen Explikation des Lambda-Operators soll im folgenden
nochmals eine Herleitung aus Ausdrücken der Umgangssprache vorgeführt
werden, wobei ich im wesentlichen Ballmer in einem internen Arbeitspapier
folge 1 2 9 . Ziel ist es, einerseits das Verständnis des „Funktionierens" eines
Lambda-Ausdrucks zu erleichtern; andererseits soll so eine zusätzliche Recht-
fertigung für die Einführung des Lambda-Operators beigebracht werden. Ge-
hen wir dabei von „der Mann hat Hunger" aus, abgekürzt
hunger (mann) bzw.
hu (m), so läßt sich in einer solchen Funktion u.a. der Individuenausdruck
durch eine Variable ersetzen, und wir erhalten
hu (x). Spreche ich nun wieder von „dem Mann" und meine jenen Mann,
um dessen Hunger es weiter oben ging, so können wir das als Lambda-Aus-
druck herleiten wie folgt:
das jemandem „er hat Hunger"-Zuordnen bzw.
das jemandem sein „ H u n g e r haben" Zuordnen,
das Zuordnen jemandem sein „Hunger haben",
das Zuordnen jemandem das „Hunger haben" von ihm,
das Zuordnen jemandem x das „Hunger haben" von ihm x ,
das Zuordnen jemandem x Hunger haben (X),
ordne zu!: dem X Hunger haben (X),
X X Hu (X),
128 Weiter unten werden wir dann korrekter als hier den Punkt, der den thematisierten
Gegenstand abtrennt, als Elementator einführen.
129 Thomas T. Ballmer, Zum Aufbau einer Textgrammatik, Vorlage zum Kolloquium
„Linguistische Strukturbeschreibungen von Texten", Kiel 1.-4.10.1973.
140 M. Schecker
für den oben genannten bzw. gemeinten Mann ergibt sich so als Thematisierung
XX Hu (X) • der Mann. Angemerkt werden sollte hier n o c h , daß prädikaten-
logische Ausdrücke wie
Hu (X) oder auch
F ( a i , a 2 ) als theoriesprachliche — und d . h . metasprachliche — Ausdrücke •
nur insofern Gültigkeit h a b e n , als mit ihnen die traditionelle T r e n n u n g in Ge-
genstände einerseits und Eigenschaften u n d Beziehungen andererseits eben
nicht impliziert sein darf. Mit anderen Worten gibt es in Bezug auf eine prädi-
katenlogische Theoriesprache durchaus auch relationale Gegenstände, was
technisch das Gleiche b e d e u t e t , als ob wir umgekehrt alle Individuenausdrücke
als nullstellige F u n k t i o n e n behandeln würden, wie das z.B. auch Ballmer 1 3 0 vor-
schlägt. Mithin gilt die T r e n n u n g von Aussage u n d Sachverhalt selbstverständlich
auch für eine prädikatenlogische Theoriesprache.
Im folgenden wollen wir den vorgetragenen Gedankengang übertragen auf
den Mittelsatz in „ein Mann betrat ein Café (in . . . ) , setzte sich an einen Tisch
und zog eine Zeitung aus seiner Tasche". Ganz offensichtlich ist hier die Rede
von dem Tisch des Cafés, das der b e t r e f f e n d e Mann laut T e x t zuvor gerade
betreten h a t t e . Das m a c h t eine F u n k t i o n der Erweiterungen von Minimalsät-
zen deutlich, die für die Konstitution von T e x t e n sehr wichtig ist, nämlich im
Falle eines tatsächlichen oder auch nur potentiellen Nicht-Verstehens die
Gegenstände deutlich zu m a c h e n , auf die sich zwei u n d mehr Sätze gleicher-
m a ß e n beziehen, u n d so die „ K o n t i n u i t ä t " des Gegenstandes von Satz zu Satz
bzw. seine Identität von Sachverhalt zu Sachverhalt zu sichern. Vorgreifend
sei deshalb vermerkt, daß unser Tisch u n d das Café in einer möglichen Welt
insofern referentiell zusammenhängen als sie in einer Teil-Ganzes-Beziehung
stehen, wie sie z.B. auch Dane!. 131 im R a h m e n seiner thematischen Progres-
sion k e n n t . Daneben k ö n n e n Gegenstände u n t e r Einschluß der Carnapschen
Quasigegenstände untereinander in einer Element-Klasse-Beziehung stehen;
entsprechend der Teil-Ganzes-Beziehung gilt zugleich eine Teil-Teil-Beziehung
als Grundlage textkonstituierender Referenzbezüge, entsprechend der Ele-
ment-Klasse-Beziehung gilt ein Gleiches für die Element-Element-Beziehung.
Nicht also nur die Identität des thematisierten Gegenstandes selber ist Grund-
lage satzübergreifender Beziehungen.
Beziehen wir solche Überlegungen auf unseren obigen Beispielsatz, so läßt
er sich umformulieren zu
der M a n n x setzte sich an einen Tisch (des Cafés)y.
Die mit x u n d y indizierten Satzglieder sind k o n t e x t g e b u n d e n u n d also The-
132 Natürlich nur syntaktisch; nicht aber wird hier behauptet, daß sich der Charakter der
semantischen Beziehung verändert, wenngleich es gute Gründe gibt, das anzuneh-
men.
133 Cf. Ballmer, Textgrammatik.
142 M. Schecker
F ? / 2 ( X ) = F ( X , X, a 3 , . . . a n )
Mit anderen Worten werden die thematisierten Satzpositionen in einem sol-
chen Fall als komplexes Prädikat aufgefaßt und thematisiert wie ein elementa-
res Prädikat bzw. ein einzelnes Verb auch. Vollständig ist ein Satzinhalt also
erst dann thematisiert, wenn solche komplexen Prädikate bzw. entsprechen-
de Prädikatsbildungen mit einbezogen sind. Freilich kann an dieser Stelle nicht
gesagt werden, ob alle darstellungsmäßig möglichen Komplexierungen auch
tatsächlich für eine bestimmte natürliche Sprache vorkommen. — Interessant
werden die weiter oben vorgeführten Komplexierungen nun auch für gleich-
sam normale Thematisierungen, d.h. für einfache Thematisierungen jeweils
eines Aktanten. Auch hier nämlich ist das Ergebnis ein komplexes Prädikat,
das diesmal freilich das Rhema bildet. Konzentrieren wir uns an dieser Stelle
auf die Umfange von Prädikaten 1 3 5 und fuhren deshalb den Elementator ein,
134 = Äquivalenz.
135 Cf. zum Folgenden Franz v. Kutschera, Alfred Breitkopf, Einführung in die moderne
Logik, Freiburg-Miinchen 2 1 9 7 1 , p. 150 ss., insbesondere p. 152.
Verbvalenz und Satzthema 143
so können wir den Umfang des Prädikats vermittels der dyadischen Relation
des Elementators auf ein Argument als Element des Umfangs beziehen. Ent-
sprechend wird ein Ausdruck wie F ( a j , a 2 , . . . a n ) als geordnetes n-Tupel
Element des Umfangs Kpn des n-stelligen Funktors F i und durch den Elemen-
tator e wie folgt dem Umfang als Menge von n-Tupeln zugeordnet:
<ai, a 2 , . . . an> e Kpn, wobei einige der zugehörigen Lambda-Terme
lauten:
X Xi (<Xlt a 2 , . . . an> e Kpn), oder auch
Wichtiger jedoch als technische Details ist die damit verbundene Konsequenz
für den einzelnen thematisierten Satzinhalt bzw. Satzbegriff, a) daß er pro
Thematisierung einer oder mehrerer Satzpositionen in eine Funktion der Art
X e Kp bzw. FU(X) zerfällt — aus der der Lambda-Operator XX eine Klasse
macht 1 3 6 , doch siehe dazu noch später — und in einen thematisierten Gegen-
stand; angesichts des hier behandelten Gegenstandsbereichs muß eine Funk-
tion FU(X) zudem genauer als Sachverhaltsfunktion bezeichnet werden. Ver-
steht man b) den Gebrauch von Zeichen (siehe dazu schon weiter oben) als
Gebiet der Pragmatik und bedenkt zudem, daß im Rückbezug auf Punkt a)
der Satzinhalt auch als die Menge seiner potentiellen thematisch gebundenen
Sachverhaltsfunktionen bezeichnet werden darf, so stellt der Satz ein pragma-
tisches Funktionspotential zur Konstitution von Sachverhalten (selbstver-
Ausblicke
137 Cf. zur Umrechnung in eine mengenalgebraische Schreibweise Helmut Seiffert, Ein-
führung in die Logik, München 1973, p. 142.
Reinhard Meyer-Hermann
0. Vorbemerkung
Pronomen steht. Ein Korrolar dieses Arguments ist die Bewertung von isolier-
ten Sätzen, wie the man arrived at six o 'clock und he arrived then usw. als
„ungrammatical discourses" und dementsprechend von Sätzen wie a train
arrived at six o'clock und you arrived sometime usw. als „fully grammatical
monosentential discourses"6.
Lang zufolge trifft die Bewertung von isolierten Sätzen des Types er
kommt und der andere Kerl grinste bloß usw. als „semi-grammatisch"7 nicht
den Kern des Problems. Insbesondere lasse sich daraus nicht die Notwendig-
keit einer Erweiterung der Beschreibungsdomäne, d.h. die Notwendigkeit
einer Textgrammatik ableiten. Denn „als Satz, d.h. als Ergebnis der Anwen-
dung bestimmter Kombinations- und Distributionsregeln der Einheiten des
Sprachsystems innerhalb fixierter Spielräume ( . . . ) ist er kommt heute ge-
wiß vollgrammatisch"8.
Die u.a. von Sanders (s.o.) vertretene Auffassung, isolierte Sätze des Typs
er kommt heute als ungrammatisch zu bezeichnen, wird m.E. durch Längs
Einwand nicht erfaßt, da sie einen Grammatikalitäts-Begriff impliziert, wel-
cher von dem durch Lang vertretenen differiert, und zwar hinsichtlich der
Integration bzw. Nichtintegration einer ad hoc vielleicht „pragmatisch" oder
„kommunikativ-funktional" zu nennenden Komponente. Lang definiert Gram-
6 Gerald A. Sanders, On the natural domain of grammai, Linguistics 63 (1970), 5 1 - 1 2 3 ,
p. 82.
Da hier nicht der Ort ist für eine ausfuhrliche Diskussion des Begriffs „grammatisch in
der Sprache L", muß ich mich an dieser Stelle mit einer kurzen Anmerkung zu einem
Punkt in dem entsprechenden Kapitel von Dieter Wunderlich, Grundlagen der Lingui-
stik, Reinbek 1974, begnügen. Wunderlich diskutiert den in Chomsky, Syntactic struc-
tures, The Hague 1957, zugrundegelegten Grammatikbegriff, und dabei u.a. die Vor-
aussetzung: „The grammar of L will [. . .] be a device that generates all of the
grammatical sequences of L and none of the ungrammatical ones" (p. 13). Wunder-
lich weist p. 220 auf die Zirkularität dieser Voraussetzung hin und fordert: „Um die-
sen Zirkel zu vermeiden, müssen wir unabhängig von der Grammatik wissen, welche
Sätze grammatisch sind und welche nicht. Es ergibt sich die Notwendigkeit eines
vortheoretischen Begriffs „grammatisch in L", der in Befragungen, Beobachtungen o. ä.
verwendet werden kann. Die Grammatik von L soll dann die Ergebnisse der empiri-
schen Untersuchung rekonstruieren." Dieser Vorschlag enthält eben die Zirkularität,
der Wunderlich zu entgehen sucht. Die in Befragungen durch Informanten vorge-
nommene Bewertung von Sätzen als „(un-)grammatisch" erfolgt natürlich immer
unter Rekurs auf eine Grammatik, d.h. auf das, was der Informant als „grammatisch"
anzusehen gelernt hat. Es ist fraglich, ob es überhaupt eine Möglichkeit geben kann,
den theoriegebundenen Begriff „grammatisch in der Sprache L" auf empirischem
Wege zu definieren. Beobachten läßt sich demgegenüber zumindest bis zu einem ge-
wissen Maße, ob Kommunikation stattfindet und ob sie erfolgreich stattfindet.
7 Lang, p. 293.
8 Lang, p. 293.
148 R. Meyer-Hermann
9 Lang, p. 286.
10 Lang, p. 286.
11 Cf. Lang, p. 294.
12 Cf. dazu Lang, p. 294: „Die Akzeptabilität, mit der wir es hier zu tun haben, wird
aber bestimmt durch funktionale Aspekte der Kommunikation. Dafür ist der richtige
theoretische Ort erst noch zu suchen."
13 Cf. W. Kallmeyer/W. Klein/R. Meyei-Hermann/K. Netzer/H. J. Siebert, Lektürekolleg
zur Textlinguistik, Band 1: Einführung, Frankfurt 1974, p. 66 s.
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen 149
14 Deshalb auch spricht Sanders, On the natural domain of grammar, p. 82, in Bezug auf
he arrived then etc. von „ungrammatical discourse" und nicht etwa von „ungrammati-
cal sentence".
15 Vergleiche dazu auch W. Kallmeyer/R. Meyer-Hermann, Textlinguistik, in: H.P.Alt-
haus et alii (Hrsg.), Lexikon der germanistischen Linguistik, Tübingen 1973, p . 2 2 1 -
231.
16 Die meisten der hier zu behandelnden Probleme stellen sich nicht speziell in Bezug
auf das Französische, das somit hier lediglich eine Objektsprache neben möglichen
anderen ist, an welchen dieselbe Argumentation demonstriert werden könnte. Vgl.
zum Portugiesischen meinen Aufsatz Some topics in the study of the referentials in
spoken Portuguese, in: J. Schmidt-Radefeldt (ed.), Portuguese studies, Amsterdam 1975.
17 Vgl. dazu im einzelnen R. Meyer-Hermann, in: Lektürekolleg zur Textlinguistik, Einfüh-
rung, Kap. 7, p. 1 7 7 - 2 5 2 .
150 R. Meyer-Hermann
2. Forschungsüberblick
In seiner „Grammaire structurale du français" führt J. Dubois die Existenz
des Phänomens „substitution" zurück auf das „principe de l'économie générale
du message codé" 1 8 . Er betont, daß die damit verbundene Reduktion der Äu-
ßerungslänge mit einem mehr oder weniger großen Verlust an Informations-
übermittlung einhergeht. Denn da es nur eine begrenzte Anzahl von „substi-
tuts" gebe, diese außerdem höhere Frequenzen haben als die Elemente, wel-
che sie ersetzen („remplacent"), sei ihre „quantité d'information plus faible" 1 9 .
Dubois definiert dann die Funktion der „substituts" folgendermaßen: „Les
substituts remplacent un segment ou un ensemble de segments et évitent la
répétition d'un trop grand nombre de formes, mais cela ne se produit qu'au
prix de la perte d ' i n f o r m a t i o n " 2 0 . Mit der Auffassung, daß „substitution" mit
Informationsverlust verbunden sei, steht Dubois nicht nur im Widerspruch zu
der gängigen Meinung, wonach zwischen „antécédent" (Bezugselement) und
„substitut" (Verweisform) Referenzidentität herrsche. Es scheint sich auch
ein Widerspruch zu ergeben, wenn Dubois selbst an anderer Stelle seiner Gram-
matik in Bezug auf eine Substitutionsfolge, die aus den Elementen le dernier
roman de Steinbeck als Bezugselement („antécédent") sowie V und en als Ver-
weisform („substitut") besteht, schreibt: „ . . . ces deux segments [ / ' und en]
sont supposés donner les mêmes informations que les syntagmes nominales
qu'ils remplacent" 2 1 .
31 Gaatone, p. 41.
Der Grundgedanke dieser Konzeption dürfte auf Ruth Crymes, Some Systems of
Substitution Corrélations in Modern American English, The Hague 1968 (Janua
Linguarum, series maior 23), zurückgehen. Essentiell für die Auffassung Ruth Crymes'
ist, daß sie zwischen der Funktion „reference" eines „Substitute" und dessen Funk-
tion zu „substituieren" unterscheidet: „A Substitute with an antecedent refers to its
antecedent, but, (. . . ) , it does not Substitute for the antecedent. It Substitutes for a
non-occurring potentially occurrent construction or word. For example, in there's a
chair over there - take it, it refers t o a chair over there, but it replaces the chair over
there. " (p. 34). Für weitere Details dieser Konzeption cf. R. Crymes, Some Systems,
p. 34 s.
32 Gaatone, p. 41: „II faut d'ailleurs remarquer qu'identité lexicale ne signifie pas néces-
sairement même référence extra-linguistique. Dans Pierre a des amis, j'en ai aussi, je
154 R. Meyer-Hermann
préfère les miens à ceux de Paul, les syntagmes sous-jacents aux substituts en, les miens,
et ceux comportent bien tous un m ê m e élément ami, mais ne désignent pas toujours
les mêmes personnes."
33 Maurice Gross, On grammatical reference, in: F. Kiefer - N. Ruwet (eds.), Generati-
ve Grammar in Europe, Dordrecht 1973, p. 2 0 3 - 2 1 7 .
34 Gross, p. 204.
35 Cf. Oswald Ducrot, Dire et ne pas dire. Principes de sémantique linguistique, Paris 1972.
36 Cf. Michel Maillard, Essai de typologie des substituts diaphoriques (Supports d'une
anaphore et/ou d'une cataphore), Langue Française 21 (1974), 5 5 - 7 1 .
37 Cf. Gérard Moignet, La suppléance du verbe en français, FM 28 ( 1 9 6 0 ) , 1 3 - 2 4 ,
107-124.
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen 155
M
Referenzanweisungen Referenz-
//
anweisungen
Konnexionsanweisungen
Zur weiteren Erläuterung und Präzisierung der oben gegebenen ersten Funk-
tionsbeschreibung einer pronominalen Verweisform gehen wir von folgendem
Textbeispiel (5) aus; es m a c h t deutlich, daß je n a c h d e m , m i t welchen sprach-
lichen Elementen über das hervorgehobene P r o n o m e n il prädiziert wird, il sich
auf ein verschiedenes Bezugselement bezieht:
(5) A la poursuite du garçon qui avait pris la fuite en direction de la forêt le commissaire i
traversait la forêt, accompagné de son assistant2. C'était quelques mois seulement
111 avait été nommé commissaire.
qu'
112 appartenait â la police.
(7) Je parlais „salaires" avec ces garçons. „Un principal, combien ça gagne? " -
„Oui, mais chez vous un contrôleur, ça fait quoi? "
(Les policiers parlent, p. 66)
(8) Je m'approche, je traverse les groupes qui étaient déjà formés, puis je vais à la
grande grille et je me pointe là tout seul.
(Les policiers parlent, p. 66)
(9) Je ne me savais pas valoir aussi cher (six cents francs) du kilo! Je m'en suis
aperçue au bout de quinze jours sur une health farm de la campagne anglaise . . .
Moi aussi, j'y étais pour maigrir.
(Nouvel Observateur 501, 1974, p.49)
44 Die Tatsache der Polyfunktionalität von Verweisformen oder, anders formuliert, die
Tatsache, daß ein und dasselbe Oberflächenelement an der Realisierung verschiede-
ner Verweis-Relationen beteiligt ist, stellt ein Problem dar bei dem Bemühen, Ver-
weisformen so zu benennen und in die Textgrammatik zu integrieren, daß aus der
Benennung einer Verweisform ihre Funktion abgelesen werden kann, d.h. abgelesen
werden kann, auf welche Bezugselemente sie verweisen. J. Pinchon, Les pronoms
adverbiaux, p. 4 kritisiert Versuche „de distinguer des pro-noms, des pro-adjectifs,
des pro-verbes, et même des pro-phrases" mit dem bekannten Argument: „ . . . il n'est
pas rare, que le même mot puisse prendre la place de plusieurs parties du discours
différentes . . . Vgl. zu diesem Fragenkomplex ausführlicher R. Meyer-Hermann, in:
Lektürekolleg zur Textlinguistik, Band 1: Einführung, p. 247 ss.
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen 159
(10) Il faut que le type sente que s'il veut se débarrasser du flic, il va falloir qu'il le
démolisse.
(Les policiers parlent, p. 55)
(11) Mais même pour mieux connaître le programme de son candidat favori, l'électeur
français estime aujourd'hui que la télévision est le meilleur moyen. [ . . . ] La radio
est nettement distancée par la télévision. Elle /'est même - de peu, il est vrai -
par la presse écrite.
(Nouvel Observateur 497, 1974, p. 33)
(12) Si ceux qui ont les meilleurs postes ne veulent rien changer, ce n'est pas la faute
aux principes de la République, c'est la faute à la médiocrité des hommes, à leur
aveuglement, à leur paresse. Il fallait le rappeler.
(Les policiers parlent, p. 36 s.)
(13) Dans les universités, tout le monde le sait ça fait cinq ans que les étudiants et une
grande partie des enseignants demandaient des réformes.
(Les policiers parlent, p. 44)
Wenn wir oben gesagt haben, daß die Verweisform le auf einen bis n Sätze
als Bezugselement verweisen könne, so stellt diese Formulierung eine Verein-
fachung dar, die nicht den Anspruch erheben kann, das als „Satzpronominali-
sierung" bekannte Problem formuliert zu haben. Es scheinen dazu wenigstens
einige zusätzliche Anmerkungen nötig, die im übrigen auch die Verwendungs-
möglichkeiten von cela und ça als auf Sätze verweisend mit einbeziehen. Ge-'
hen wir von folgendem Textbeispiel aus:
(14) Homme du Nord, il [Hans Apel] est, lui aussi, fermé à toutes les subtilités de la
latinité. Dans le Marché commun, cela compte.
(Nouvel Obervateur 497, 1974, p. 39)
Fragen wir uns, worauf sich cela bezieht bzw. auf welche mit compte zu
kombinierende Referenzanweisungen der Hörer durch cela verwiesen wird.
Nicht die Tatsache, daß Apel als Mann des Nordens den „subtilités de la lati-
nité" gegenüber verschlossen ist, ist es, die im Gemeinsamen Markt zählt; was
im Gemeinsamen Markt zählt, ist (ganz allgemein) kein Verständnis für die
Latinität zu haben. Mit anderen Worten, worauf cela verweist, ist informal
formuliert, der Inhalt der Aussage über Apel, d.h. wieder anders formuliert,
die Referenzanweisungen der Prädikationen über das Thema des vorangegan-
genen Satzes, — jedenfalls nicht der vorangegangene Satz, sei es seine Oberflä-
chenstruktur oder die dieser zugrundeliegende Tiefenstruktur. Der dargelegte
Unterschied käme etwa durch die Differenz der beiden folgenden Formulie-
rungen zum Ausdruck, wobei (b) das beschriebene Bezugselement von cela in
(14) verbalisiert:
(14) (a) . . . ce qui compte dans le Marché commun, c'est que Apel . . . est fermé . . .
(b) . . . ce qui compte dans le Marché commun, c'est d'être fermé . . .
160 R. Meyer-Hermann
Fragen der hier nur an zwei Beispielen skizzierten Probleme der „Satzprono-
minalisierung" sind auch Gegenstand der Erörterung in Osten Dahls Aufsatz
„On so-called ,sloppy identity' " 4 S . Dahl geht dabei aus von Stalnakers Unter-
scheidung zwischen „proposition" und „sentence" 46 . Dahl vertritt die Auffas-
sung, daß die Regeln für die sog. Satzpronominalisierung „in terms of identity
of propositions" 47 formuliert werden müßten.
In einem Dialog wie z.B.:
A. Je t'aime.
B. Je ne le crois pas.
könne das Pronomen le nicht „under identity from a répétition of A's utteran-
ce" 48 abgeleitet werden, denn natürlich will B nicht sagen: „Je ne crois pas que
je t'aime". Die Identität, die hier vorliege, sei eine Identität der Propositionen 49 .
45 Synthese 26 (1973), 8 1 - 1 1 2 .
46 Cf. R.C. Stalnaker, Pragmatics, Synthese 22 (1970), 2 7 2 - 2 8 9 ; dt. in: S. J. Schmidt
(Hrsg.), Pragmatik I, München 1974, p. 1 4 8 - 1 6 5 .
47 Dahl, Sloppy identity, p. 91.
48 Dahl, Sloppy identity, p. 92.
49 Vgl. zu diesem Fragenkomplex weiter Dahl, Sloppy identity, p. 100 ss.; Traugott
Schiebe, Zum Problem der grammatisch relevanten Identitäten: F. Kiefer - N. Ruwet
(eds.), Generative Grammai in Europe, Dordrecht 1973, p. 482-529,bes. p. 499 s. und 516 :
Steven Cushing, The semantics of sentence pronominalization, Foundations of Lan-
guage 9 (1972), 1 8 6 - 2 0 8 .
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen 161
Von grundsätzlicher Natur für die Struktur einer Textgrammatik der Verweis-
form ist auch eine Stellungnahme in einer Frage, welche durch die folgende Be-
hauptung Maillards gekennzeichnet werden kann, der schreibt: „... dans
le chapitre 3 de La Chute, des pages 61 à 68 le substitut /elles/ garde une pâ-
leur' sémantique constante, à savoir le signifié .femmes' " so . Verallgemeinert lau-
tet diese These: in einer durch eine Nominalgruppe eingeleiteten Verweiskette
mit n nachfolgenden nicht-referentiellen Verweisformen vom Typ il verwei-
sen die jeweiligen Realisationen von il auf die am Beginn der Verweiskette ste-
hende Nominalgruppe 51 .
Aus unserer oben gegebenen Definition der Funktion der nicht-referentiel-
len Verweisformen il, wonach il essentiell eine Konnexionsanweisung zur Kom-
bination von Referenzanweisungen gibt, ist abzuleiten, daß wir im Widerspruch
zu dieser „Konstanten"-Theorie stehen. Unsere Vorstellung geht demgegen-
über dahin, daß in einer Verweiskette wie in dem folgenden Textstück ange-
deutet,
(16) Un jeune homme\ entra; il\ avait l'air fatigué; après un moment d'hésitation ü\
s'assit tout près de la cheminée . . .
das erste il dem Hörer die Anweisung gibt, die Referenzanweisungen von
avait l'air fatigué mit den Referenzanweisungen des Bezugselementes un jeune
homme und den Referenzanweisungen von entra zu kombinieren. Wollte man
das erste il dementsprechend durch einen sprachlichen Ausdruck substituie-
ren, welcher die genannten, mit avait l'air fatigué zu kombinierenden Refe-
renzanweisungen gibt, müßte es heißen: le jeune homme qui était entré. Für
das zweite il würde es demnach heißen: le jeune homme qui était entré et qui
avait l'air fatigué s'assit... etc. Bei der Instanz von il wird also im Prin-
zip das Gesamt der bis dahin gegebenen Referenzanweisungen über le jeune
homme mit den Referenzanweisungen der jeweils neuen Prädikationen kom-
biniert 52 . Nur die Annahme einer solchen Akkumulation und — ggf. (auch
Merkmale, die einem Referenten im Laufe eines Textes zugeordnet wurden, bei jeder
neuen Erwähnung des Referenten wiederholt werden müßten. Stattdessen empfiehlt
sich die Einführung von Referenzindices als Abkürzung der erwähnten Merkmale . . . u
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen 163
2.) „Identität" des Lexems der Verweisform mit dem lexematischen Bestand-
teil einer im Text vorangegangenen Prädikation („Prädikatsnominalisie-
rung"):
(18) Si vous donnez un coup de crosse au foie à quelqu'un, vous l'étendez par terre.
Quand on amène quelqu'un dans cet état-là le chef de poste ne peut pas le garder
au poste. Il est obligé de le conduire à l'hôpital et il se trouve indirectement
responsable. Cette responsabilité a souvent limité les excès.
(Les policiers parlent, p. 59 s.)
samedi soir en effet que le président des Etats-Unis a annoncé ce coup de poker,
comme on le qualifie désormais à Washington.
(Rundfunknachrichten, Europe I)
(23) Que fera l'industrie européenne du nord quand la main-d'œuvre étrangère reflu-
era vers le sud et se tarira? A défaut de s'automatiser, tel est le dilemme, force lui
sera de suivre sa main-d'œuvre de se déplacer direction sud, deux autres donnees
l'y inciteront: la pollution premièrement . . .
(Europe I)
4. Zusammenfassung
54 Nach W. Kummer (in Vorb.) sind „Kategorien definitorisch von Klassifikationen da-
durch unterschieden, daß die Klassifikationen Kategorien zugeordnet werden können,
während Kategorien nicht Untermengen anderer Mengen repräsentieren können . . . "
55 Vgl. dazu auch in W. Raible, Satz und Text. Untersuchungen zu vier romanischen
Sprachen, Tübingen 1972, p. 150 s., den Begriff der „Wiederaufnahme auf Abstrak-
tionsebene".
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen 165
1.
zähler, den fiktiven Rezipienten und den fiktiven Sachverhalten der fiktio-
nalen Erzählungen betrifft, vier Kategorien von Möglichkeiten unterschei-
den, und zwar
1) die, in der der Erzähler sich im Verhältnis der Nachzeitigkeit zu den Sachver-
halten und im Verhältnis der Vorzeitigkeit zu seinen Rezipienten befindet
2) die, in der der Erzähler sich im Verhältnis der Nachzeitigkeit zu den Sachverhal-
ten und im Verhältnis der Gleichzeitigkeit zu seinen Rezipienten befindet
3) die, in der der Erzähler sich im Verhältnis der Gleichzeitigkeit zu den Sachverhal-
ten und im Verhältnis der Vorzeitigkeit zu seinen Rezipienten und
4) die, in der der Erzähler sich im Verhältnis der Gleichzeitigkeit sowohl gegenüber
den Sachverhalten als auch gegenüber den Rezipienten befindet.
Versucht man, und zwar mit Hilfe der Opposition „räumliches Beieinan-
der" versus „räumliche Getrenntheit", eine Kategorisierung der räumlichen
Konstellationen zwischen dem fiktiven Erzähler, den fiktiven Rezipienten
und den fiktiven Sachverhalten, so erhält man ebenfalls vier verschiedene Ka-
tegorien, nämlich
1) diejenige, in der der Erzähler sich an einem anderen Ort befindet als die Rezipien-
ten und beide wiederum an einem anderen Ort als die Sachverhalte
2) diejenige, in der der Erzähler sich an demselben Ort befindet wie die Rezipienten,
aber an einem anderen Ort als die Sachverhalte
3) diejenige, in der der Erzähler sich an demselben Ort wie die Sachverhalte, aber an
einem anderen Ort als die Rezipienten befindet und
4) diejenige, in der der Erzähler, die Rezipienten und die Sachverhalte sich alle an
ein und demselben Ort befinden 5 .
Eine fünfte Möglichkeit, nämlich die, daß der Erzähler sich an einem ande-
ren Ort befindet als die Rezipienten und die Sachverhalte, diese aber sich an
ein und demselben Ort befinden, schließe ich als unrealistisch aus.
manen erzählten Ereignisse müssen für den Erzähler und die Rezipienten ja bereits ver-
gangen sein. Das aber können sie, als Ereignisse von Zukunftsromanen, nicht für den
realen Erzähler und viele seiner realen Rezipienten.
5 Die Konzepte Räumliches Beieinander" und „Einheit des Ortes" betreffen das Beiein-
ander im bzw. die Einheit des natürlichen visuellen Umfeldes von Erzähler und Rezi-
pient und tragen damit sowohl die (noch zu erläuternde) Möglichkeit der lokalen
Autodeixis als auch die (ebenfalls noch zu erläuternde) Möglichkeit der lokalen He-
terodeixis in sich. Räumliche Getrenntheit, im Sinne dieser Konzeption, beginnt da-
mit erst dort, wo die in Rede stehenden Konstellationspole, nämlich Erzähler, Rezi-
pienten und Sachverhalte, einander nicht überlappenden visuellen Feldern oder Um-
feldern angehören.
170 R. Harweg
Prüft man die vier Möglichkeiten zeitlicher und die vier Möglichkeiten
räumlicher Konstellationen zwischen den drei in Rede stehenden Grundpara-
metern fiktionaler Kommunikationssituationen auf ihre Kombinierbarkeit
zu raum-zeitlichen Konstellationen dieser Grundparameter hin, so stellt man
fest, daß letztlich, d.h. bei Einbeziehung von rahmenerzählerisch beschriebe-
nen und auf Kommunikationskanäle wie Brief, Fernsehen und Telefon rekur-
rierenden Kommunikationssituationen, zwar alle sechzehn der vier mal vier
Kombinationsmuster irgendwie möglich sind — so z.B. könnte jemand, der
vor einem Fernsehschirm der Originalübertragung eines Fußballspiels folgt,
gleichzeitig jemand anders per Telefon den Verlauf dieses Fußballspiels erzäh-
len - , daß aber die meisten dieser sechzehn Kombinationsmuster mehr oder
weniger ungewöhnlich sind, einige davon hochgradig. Klammert man darüber
hinaus die rahmenerzählerisch beschriebenen Kommunikationssituationen
aus, so kommen, wie es scheint, überhaupt nur ganz wenige der sechzehn
Kombinationsmuster in Betracht, und unter diesen wenigen gibt es noch ein-
mal zwei Muster, die sich gewissermaßen als die Normalfälle herausheben
lassen: ich meine die Kombination aus der zeitlichen Konstellationskategorie
(1) und der räumlichen Konstellationskategorie (1) und die Kombination aus
der zeitlichen Konstellationskategorie (2) und der räumlichen Konstellations-
kategorie (2) — zwei Kombinationen, von denen die erstere den Normalfall
schriftlicher und die letztere den Normalfall mündlicher Erzählsituationen
darstellt, schriftlicher Erzählsituationen, wie sie etwa im Falle von Brieferzäh-
lungen und Tatsachenberichten in Illustrierten vorliegen mögen (denn die
Verhältnisse in den fiktiven Welten sind möglichst analog denen unserer realen
Welt zu konzipieren), und mündlicher Erzählsituationen, wie sie vorliegen mögen,
wenn jemand im Freundeskreis einen Schwank aus seiner Jugend erzählt.
Welcher dieser beiden Normalfälle im konkreten Einzelfall eines bestimmten
fiktionalen Erzähltextes vorliegen mag, ist, bei rahmenlosen Erzählungen, in
der Regel nicht explizit gesagt, sondern allenfalls zu erschließen, zu erschlie-
ßen auf Grund von Kriterien wie z.B. denen des Stils oder auch der relativen
Länge einer Erzählung, Kriterien, die allerdings, auf Grund einer gewissen
Kulturbereichsabhängigkeit, gewissen Schwankungen unterworfen sein
mögen. Eindeutiger, dabei jedoch den soeben genannten unter Umständen
zuwiderlaufend, sind Kriterien wie z.B. die Begriffe, mit denen der fiktive
Erzähler auf seine Tätigkeit sowie auf seine Rezipienten Bezug nimmt, Kri-
terien, nach denen z.B. Thomas Manns Roman Bekenntnisse des Hochstaplers
Felix Krull (in dem der fiktive Ich-Erzähler davon spricht, daß er die Feder
ergreife, um seine Geständnisse dem geduldigen Papier anzuvertrauen 6 , und
2.
Von diesen fünf Situationen sind die Rundfunkreporter- und die Tonfilm-
kommentatorsituation die einzigen, die kein räumliches Beieinander von Er-
zähler und Rezipient implizieren. Diese Situationen kommen jedoch als
„Erzählsituationen" für Satz (1) bei genauerer Betrachtung nicht in Frage, die
erstere deshalb nicht, weil der Ausdruck Winfried", das Sanatorium zu unge-
nau ist 11 , und die letztere schon aus dem Grunde nicht, weil der Tonfilm-
kommentator keine Möglichkeit hat, auf die betreffende Filmstelle zu zeigen.
Das bedeutet, daß die auf Grund von Satz (1) rekonstruierbare Erzählsituation
eine Situation ist, in der zumindest der fiktive Erzähler und die fiktiven Rezi-
pienten räumlich beieinander sind.
Doch nicht nur die Rundfunkreporter- und die Tonfilmkommentator-
situation, auch die Jahrmarktschreier- und die Moritatenerzählersituation
kommen — obwohl nur sie das Ausrufungszeichen am Ende des Satzes recht-
fertigen könnten — als Erzählsituationen für Satz (1) nicht in Betracht,
die erstere nicht aus dem einfachen Grunde, weil der Satz in ihrem Rahmen
nur auf Transportables bezogen werden kann, und die letztere deshalb nicht,
weil das Deiktikon hier in ihr auf ein Bild oder einen Bildausschnitt verweisen
9 Mann, Erzählungen, p. 2 1 6 .
10 Mit dieser Interpretation revoziere ich die Interpretation dieses /»'er-Vorkommens als
zweidimensionales Substituens in Roland Harweg, Pronomina und Textkonstitution,
München 1 9 6 8 , p. 165.
11 In dieser Ungenauigkeit wäre Satz (1) lediglich, allerdings auch nur mit interpoliertem
wieder, bei einer wiederholten Meldung aus dem Sanatorium im Rahmen einer soge-
nannten Konferenzschaltung denkbar.
Präsuppositionen und Rekonstruktion 173
müßte, dazu aber, wenn es, wie in Satz (1), nicht aufzählungsartig-antithe-
tisch verwendet ist, nicht in der Lage ist, da Erzähler und Rezipient — anders
als vielfach auf Landkarten — auf diesem Bild keinerlei Standort haben und
das Deiktikon hier den Standort des Sanatoriums somit nicht, wie seman-
tisch von ihm gefordert 1 2 , in Relation zu dem des Erzählers (und gegebenen-
falls auch dem der Rezipienten) bezeichnen kann. Hinzu k o m m t , als ein
sekundärer Grund, daß die Moritatenerzählersituation auch bestimmte nach-
folgende Deiktika, wie z.B. das lokale Deiktikon hierselbst13 und das tempo-
rale Deiktikon Anfang Januar1*, nicht erklären könnte.
Bleibt also die Fremdenführersituation, eine Situation, die, angesichts von
Satz (1), nicht nur den Erzähler, als den Führer, und die Rezipienten, als die
Geführten, sondern auch Erzähler und Rezipienten auf der einen und das
Sanatorium auf der anderen Seite räumlich beieinander sein läßt, ja nicht nur
räumlich beieinander, sondern darüber hinaus auch zeitlich. Die Fremdenfüh-
rersituation ist damit eine Situation, deren raum-zeitliches Konstellations-
muster zwischen den drei genannten Größen, Erzähler, Rezipienten und Sana-
torium, einer Kombination aus Kategorie (4) der räumlichen und Kategorie (4)
der zeitlichen der weiter oben aufgestellen Konstellationskategorien ent-
spricht.
Der Fremdenführer könnte, nach Maßgabe von Satz (1), ein öffentlicher
oder ein privater und entsprechend auch die Führung eine öffentliche oder
eine private sein. Bestimmte nachfolgende Textdaten sprechen jedoch dafür,
daß es sich bei dieser Führung um eine private handelt. Wir rekonstruieren
also folgende Situation: Ein Privatmann, wohnhaft in der Nähe des Sanato-
riums, macht mit einem Besucher von auswärts einen Spaziergang, in dessen
Verlauf die beiden auch auf das Sanatorium stoßen.
12 Von dieser Auflage kann das Deiktikon hier, wenn es auf Bildpunkte zeigt, nur dann
entbunden werden, wenn es in mehreren, aufzählungsartig-antithetisch miteinander
kontrastierenden, d.h. auf verschiedene Punkte ein und desselben Bildes zeigenden
Vorkommen auftritt - ein Fall, in welchem die Standorte der gezeigten Gegenstände
nicht mit dem Ort des Erzählers, sondern mit den wechselnden Örtem seines auf dem
Bilde wandernden Zeigefingers oder Zeigestockes in Beziehung gesetzt werden. Zeigt
das Deiktikon hier statt auf Bildpunkte auf ganze Bilder, so bedarf es, entsprechend,
eines aufzählungsartig-antithetischen Zeigens auf verschiedene nebeneinander befind-
liche Bilder. Soll indes nur auf einen Bildpunkt bzw. ein Bild gezeigt wer.den, so muß
an Stelle des Deiktikons hier das Deiktikon das hier verwendet werden; man muß also
statt *Hier ist Dürer sagen: Das hier ist Dürer; das Deiktikon hier, bezogen auf ein,
und nur ein Bild, kann nämlich nur dann verwendet werden, wenn es statt auf das Ab-
gebildete auf die Abbildung verweist - so, wie z. B. in dem Satz Hier ist ein Dürer.
13 Mann, Erzählungen, p. 217.
14 Mann, Erzählungen, p. 218.
174 R. Harweg
Der Anfangssatz des Mannschen Textes schließt sich, allerdings nicht als
Ausruf, sondern mit normaler Lautstärke gesprochen — das Ausrufungszei-
chen ist deshalb zu streichen — , an diesen Dialog an. Er tut dies jedoch nicht
unmittelbar. Das verbietet die für diesen Satz als Anfangssatz eines — etischen18
— Textes anzunehmende Betonungsstruktur, eine Struktur, die durch Akzente
auf den Ausdrücken Einfried und Sanatorium gekennzeichnet ist, und diese
Betonungsstruktur verlangt nicht nur, daß zwischen der Äußerung dieses Satzes
und dem genannten Dialog eine gewisse Zeit- und damit auch Wegesspanne
liegt, sondern auch, daß die Weggenossen, wenn sie in der Zwischenzeit ein
Gespräch führen sollten, über andere Dinge als das Sanatorium reden 19 . Eine
gewisse Wahrscheinlichkeit spricht ferner dafür, daß das Sanatorium, wenn es
sich schließlich den Blicken der Weggenossen darbietet, in ihrer unmittelba-
ren Nähe liegt, daß es bis zu diesem Augenblick den Blicken der Weggenossen
völlig entzogen gewesen ist. Dies läßt sich schließen aus der Verwendung des
Deiktikons hier an Stelle des Deiktikons da hinten.
Das Deiktikon hier in Satz (1) ist ein Heterodeiktikon, d.h. ein Deiktikon,
dessen Deixisobjekt den Deixispartnern, statt sie zu umgeben, gegenüberliegt.
Dem entspricht, zumal mit den nun zwanglos als Bezeichnungen visueller Zeig-
objekte interpretierbaren Ausdrücken seinem langgestreckten Hauptgebäude,
seinem Seitenflügel, des weiten Gartens, seinen Schieferdächern und die
Berge, auch die Perspektive des folgenden Satzes, dennoch aber fügt sich die-
ser Satz nicht in die auf Grund von Satz (1) rekonstruierte Erzählsituation
ein, sondern stellt, textologisch und sprechhandlungstheoretisch gesehen, einen
Bruch dar. Dieser Bruch besteht darin, daß er Informationen gibt, und zwar
Informationen, wie man sie einem Rezipienten, der, wie unser Besucher, das
Objekt selber vor Augen hat, nicht gibt. Will man diesen Bruch beseitigen,
so besteht jedoch die Möglichkeit, den propositionalen Gehalt dieses Satzes
in einen Aufforderungssatz einzubetten und etwa zu sagen: Sehen Sie nur,
wie weiß und geradlinig es mit seinem langgestreckten Hauptgebäude und
seinem Seitenflügel inmitten des weiten Gartens ( . . . ) liegt und wie hinter
seinen Schieferdächern ( . . . ) die Berge himmelan ragen.
Im zweiten Absatz des Textes kommt der Fremdenführer-Erzähler auf den
Leiter des Sanatoriums zu sprechen, aber auch dies, wie die verschiedenen
Präsuppositionen20 des ersten Satzes dieses Absatzes, des Satzes
18 Als etische Texte bezeichne ich Texte, die durch textexterne Kriterien definiert und
delimitiert sind. Der Kontrastbegriff ist „emischer Text". Cf. Harweg, Pronomina,
p. 152 ss., und ders., Textanfänge in geschriebener und in gesprochener Sprache,
Orbis 17 (1968), p. 3 4 3 - 3 8 8 , bes. p. 344.
19 Cf. dazu Roland Harweg, Die textologische Rolle der Betonung, in: Wolf-Dieter
Stempel (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik, München 1971, p. 1 2 3 - 1 5 9 .
20 Die Präsuppositionen sind: 1) daß der Rezipient Doktor Leander bereits, wenn auch
nur vom Hörensagen, kennt, 2) daß er weiß, daß Doktor Leander der Leiter des Sana-
toriums ist oder dies zumindest für eine bestimmte zurückliegende Zeit gewesen ist,
176 R. Harweg
einem Dialog, an den sich, mit dem Vorschlag Nein, nein, Satz (2) als Antwort
des Fremdenführer-Erzählers anschließt, seinerseits fortgeführt mit dem Inter-
polat Ein eigentümlicher Mann21 und, daran anschließend, mit dem nächsten
Satz des Mannschen Originaltextes.
Im dritten Absatz des Textes kommt die Rede auf ein Fräulein von Oster-
loh, das Faktotum der Anstalt. Doch wie schon auf Doktor Leander und das
Sanatorium selber kommt auch auf dieses Faktotum die Rede nicht unver-
mittelt. Der Ausdruck was Fräulein von Osterloh betrifft (der den Absatz ein-
leitet) präsupponiert nämlich, daß der Fremdenführer-Erzähler weiß oder an-
nimmt, daß sein Besucher-Rezipient auch Fräulein von Osterloh bereits, zu-
mindest vom Hörensagen, kennt, ja mehr noch: er präsupponiert, auch er,
wiederum einen kurzen voraufgegangenen Dialog zwischen dem Fremden-
führer-Erzähler und dem Besucher-Rezipienten. Dieser Dialog könnte etwa
lauten:
(III) Besucher-Rezipient: Übrigens, ist da nicht auch ein gewisses Fräulein von
Osterloh in diesem Sanatorium? - Fremdenführer-Erzähler: Ganz recht.
Kennen Sie die Dame? - Besucher-Rezipient: Oh, nur vom Hörensagen,
3) daß er einmal gehört hat, das Sanatorium würde womöglich bald einen anderen
Leiter bekommen und 4) daß er dies alles dem Erzähler, in irgendeiner Form, mitge-
teilt hat.
21 Dieses Interpolat trägt der Tatsache Rechnung, daß man an dieser Stelle zu hören er-
wartet, was für ein Mann dieser Doktor Leander ist, und nicht unmittelbar, was er tut.
Präsuppositionen und Rekonstruktion 177
statt durch den Ausdruck so steht sie mit unermüdlicher Hingabe dem Haus-
halte vor durch den Ausdruck so ist sie die Person, die dem Haushalt vorsteht
- und wie sie ihm vorsteht: mit einer Hingabe, die geradezu unermüdlich zu
nennen ist.
Der nächste Satz, der Satz
(3) Mein Gott, wie tätig sie, treppauf und treppab, von einem Ende der An-
stalt zum anderen eilt!,22
gibt uns Auskunft über einen gewissen Bestandteil der Lebensgeschichte des
Fremdenführer-Erzählers selber. Denn dieser Satz, nicht reine Information
des Besucher-Rezipienten, sondern halb selbstgesprächshafte, situationsver-
gessene Erinnerungsevokation, verrät, daß der Fremdenführer-Erzähler das
Sanatorium auch, und zwar am naheliegendsten als Patient, von innen kennen-
gelernt hat, ein Eindruck, der durch die Beschreibung Doktor Leanders im
zweiten Absatz nur erst vage aufgekommen, in den folgenden Sätzen dieses
dritten Absatzes nur noch verstärkt, ja geradezu zur Gewißheit wird.
Trotz der Tatsache, daß der Fremdenführer-Erzähler selber eine gewisse
Zeitlang in dem Sanatorium zugebracht haben muß, stellt sich, mit Beginn des
folgenden Absatzes, die für die Rekonstruktion der fiktiven Erzählsituation
im Tristan höchst bedeutsame Frage, ob der Fremdenführer-Erzähler als
fiktiver Erzähler ausreicht. Die Anstöße zu dieser Frage liegen in zweierlei:
einmal in dem nunmehr beginnenden Auftreten eines neuen Typus von
Deiktika, des Typus der sozunennenden Autodeiktika, und zum andern in
der Tatsache, daß die nachfolgenden Äußerungen, auch für einen ehemaligen
Patienten des Sanatoriums, zu detaillierte Kenntnisse über die Interna dessel-
ben, vor allem für die Zeit seit seiner Entlassung, voraussetzen. Zwar ist —
was diese letztere Tatsache betrifft — nicht auszuschließen, daß der Fremden-
führer über die Interna des Sanatoriums für die Zeit zwischen seiner Entlassung
und der Erzählsituation vom Hörensagen her unterrichtet ist, doch ist die Be-
schreibung bestimmter Details im Verhalten der Patienten, wie z.B. die Schil-
derung der Art und Weise, wie die keines Gedankens mehr fähige Pastorin
Höhlenrauch seit einem Jahr am Arm ihrer Privatpflegerin durch das ganze
Haus irrt, nämlich von einer blöden Unrast getrieben, starr und stumm, ziellos
und unheimlich 23 , eher die eines Augenzeugen- als die eines Hörensagener-
zählers, und wenn es von dem Tod der sogenannten Schweren heißt, nie-
mand, selbst der Zimmernachbar nicht 2 4 , erfahre etwas davon 25 , so dürfte es
sich auch nicht um die Äußerung eines Patienten handeln.
rnen) müßte es, in diesem Kontext, strenggenommen heißen: nicht einmal der Zim-
mernachbar.
25 Mann, Erzählungen, p. 217.
Präsuppositionen und Rekonstruktion 179
schenzeitlich weiter auf das Sanatorium zubewegt haben, und dies wiederum
ist kaum ohne verbale Vorbereitung — etwa in Form der Erzähler-Äußerung
Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir mal in das Sanatorium hinein. Ich kenne
dort nämlich einige Leute - denkbar. Am Sanatorium angelangt, aber noch
im Freien (so daß man sich ihn demonstrativ den Sauerstoff, auf den er hin-
weist, einsaugend denken kann), äußert der Fremdenführer-Erzähler noch den
ersten Satz des vierten Absatzes und müßte dann seinem Nachfolger begegnen
— einem Internen, den er von seinem eigenen Sanatoriumsaufenthalt her noch
gut kennt und den man sich am besten als eine Art von Pfleger vorstellt. Die-
sem stellt er, nach kurzer Begrüßung, seinen Besucher-Rezipienten vor und
sagt dann etwa: Ich sagte gerade zu Herrn Meier (dies sei der Name des Be-
sucher-Rezipienten), für Lungenkranke ist „Einfried" ja wohl aufs wärmste
zu empfehlen - eine Bemerkung, die der Pfleger aufnimmt mit den Worten:
Richtig. Aber (und mit diesem Wort geht das Original weiter) es halten sich
nicht nur Phthisiker (ein Wort, das, als textologische Wiederaufnahme des
Wortes Lungenkranke normalerweise nicht ganz korrekt 2 6 , durch die Annah-
me besagten Erzählerwechsels eine geradezu feinsinnig-hintergründige Recht-
fertigung erfährt), es halten sich Patienten aller Art, Herren, Damen und so-
gar Kinder hier auf.
Der Pfleger-Erzähler nennt sodann, indem er (in textgrammatisch nicht
völlig korrekter Handhabung des stilistischen Variationsprinzips) aus der
Aufzählung von Patiententypen in eine Aufzählung von Vorgängen überwech-
selt und dabei schließlich auch noch das Autodeiktikon hier unterschlägt 27 ,
einige der in Einfried sich aufhaltenden Patiententypen und Patienten bei
Namen. Die Namensnennungen der letzteren erfolgen dabei in einer Form, die
die Patienten als bei den beiden Rezipienten bekannt voraussetzt, einer Form,
die in deutlichem Gegensatz, ja Widerspruch steht zu der keinerlei Vorwissen
der Rezipienten präsupponierenden Erzählhaltung, die der Pfleger-Erzähler
ansonsten einnimmt. Dieser Widerspruch kann, will man die Namensnennun-
gen nicht von jener Voraussetzung befreien und an die Stelle der Ausdrücke
wie die Magistratsrätin Spatz und die Pastorin Höhlenrauch die Ausdrücke so
zum Beispiel eine Magistratsrätin, namens Spatz bzw. eine gewisse Pastorin
Höhlenrauch setzen, nur so beseitigt werden, daß man annimmt, daß der Pfle-
ger-Erzähler sich einmal an den einen und ein andermal an den andern seiner
beiden Rezipienten wendet, daß er, wenn er sagt: Es gibt hier gastrisch Leiden-
de, in Richtung des keinerlei Kenntnisse über den Patientenbestand des Sana-
toriums besitzenden Besucher-Rezipienten blickt und spricht, daß er aber,
wenn er fortfährt: wie die Magistratsrätin Spatz, Blick und Rede, etwa mit der
zu interpolierenden Ergänzung nicht wahr, Herr Schmidt (dies sei der Name
des Fremdenführers), dem die Rätin von seinem eigenen Sanatoriumsaufent-
halt her bereits kennenden Fremdenfiihrer-Rezipienten zuwendet — und bei
dem Übergang von dem Ausdruck eine fünfzigjährige Dame zu dem Ausdruck
die Pastorin Höhlenrauch ganz genau so 2 8 .
Namensnennungen, die den Namensträger bei den Adressaten als bekannt
voraussetzen, sind auch die — innerhalb der Rede des Pfleger-Erzählers erst-
eingeführten — Ausdrücke Doktor Leander und Fräulein von Osterloh im vier-
ten bzw. sechsten Absatz des Tristan-Textes. Aber diese Ausdrücke sind,
anders als die Ausdrücke wie die Magistratsrätin Spatz und die Pastorin Höh-
lenrauch, nicht parenthetischer Natur und erlauben somit auch nicht jenen
gleichsam parenthetischen Blick- und Redeschwenk des Pfleger-Erzählers von
dem Besucher- auf den Fremdenführer-Rezipienten. Sie müssen deshalb ent-
weder ersetzt oder ergänzt werden, ersetzt durch oder ergänzt um die Aus-
drücke unser Chef bzw. unserm Faktotum. Dabei ist jedoch der Ergänzung der
Vorzug zu geben, da sie und nur sie eine entsprechende Behandlung der Aus-
drücke Doktor Leander im sechsten und Herrn Doktor Leander im siebten
Absatz überflüssig macht.
Der Erzähler und seine Rezipienten befinden sich, auch zum Zeitpunkt
dieser letzteren Namensnennungen, weiterhin am oder im Sanatorium, also
jedenfalls auf dessen Terrain. Das zeigen deutlich die verwendeten Deiktika,
am deutlichsten, gewissermaßen als eine Art von Schlüsseldeiktikon, das be-
reits genannte Autodeiktikon hierselbst, dann aber auch das Autodeiktikon
hier, auf das der Erzähler rekurriert, wenn er von einem sich in Einfried auf-
haltenden Schriftsteller sagt, daß er „hier dem Herrgott die Tage stiehlt". An
einigen Stellen freilich ist die Deixis nicht deutlich genug herausgearbeitet —
so, wenn der Erzähler von dem „Portier, am Eingange des Seitenflügels" spricht
und nicht von dem „Portier, am Eingang des Seitenflügels dort" (d.h. „dort"
oder „hier", je nach Standort der Gruppe, aber doch wohl eher „dort", da
sonst eine direktere Bezugnahme auf den Portier, nämlich durch den Aus-
druck der Portier hier, am Platze gewesen wäre); so ferner, wenn der Erzäh-
ler, etwas unkorrekt, sagt: Sogar ein Schriftsteller ist da und nicht, wie es
korrekt heißen müßte, Sogar ein Schriftsteller ist hier (denn der Ausdruck
da, obwohl nicht im Sinne von dort, sondern eher im Sinne von anwesend
verwendet, ist dennoch nicht akzeptabel, da er zugleich die Nuance des Ge-
kommenseins impliziert, und zwar eines Gekommenseins, das zudem als das
Ergebnis eines zuvor bereits diskutierten Kommens zu interpretieren ist) —
und so schließlich auch, wenn der Erzähler sagt: Übrigens ist, neben Herrn
Doktor Leander, noch ein zweiter Arzt vorhanden und nicht: Übrigens haben
wir hier, neben Herrn Doktor Leander, noch einen zweiten Arzt29.
Der Sprecher der zweiten Version des zuletzt genannten Satzes, ist, wie
sollte es anders sein, der Pfleger-Erzähler. Halten wir jedoch an der ersteren,
der Originalversion fest, so könnte er — da wir ja, zumindest für gewisse In-
halte, zwei Erzähler zur Verfügung haben — auch und meines Erachtens mit
noch größerer Wirkung der Fremdenführer-Erzähler sein. Dabei müßte freilich
die unmittelbare Fortsetzung dieser Bemerkung, der Ausdruck für die leichten
Fälle und die Hoffnungslosen, eingeleitet von dem zu interpolierenden Kom-
mentar ja richtig, bereits wieder aus dem Munde des Pfleger-Erzählers kom-
men, und es müßte auch der Pfleger-Erzähler sein, der dann schließlich, mit
einem augenzwinkernd-skurrilen Humor, noch anmerkt: Aber er heißt Müller
und ist überhaupt nicht der Rede wert30.
Die beiden letztgenannten Ausdrücke sind, da sie nicht, der erstere nur
schwerlich, der letztere aber überhaupt nicht, im Sinne erlebter Rede inter-
pretierbar sind, zugleich Indizien für den genauen O r t der Erzählsituation,
den O r t , an dem sich der Erzähler u n d seine beiden Rezipienten, wenigstens
an diesem P u n k t e der Erzählung, b e f i n d e n : Es ist das Zimmer, aus dessen
Perspektive die genannten Ausdrücke zu verstehen sind, das Konversations-
zimmer, genauer: die Stelle, an der das Klavier gestanden hat und vermutlich
noch steht.
„Und vermutlich noch steht" — für das Klavier ist die Identität seiner Stand-
orte, das heißt seines Standortes während der erzählten u n d seines Standortes
während der Erzählzeit, nur zu vermuten. Für die durch den Ausdruck die Tür
dort hinten bezeichnete Tür demgegenüber ist sie als sicher a n z u n e h m e n . Das
aber b e d e u t e t , daß der diesen Ausdruck näher charakterisierende Relativsatz
die zum Korridor führte40 nicht im Präteritum stehen darf, sondern im Präsens
zu stehen hat — ähnlich wie z.B. die Parenthese denn es führte keine Anfahrt
zum Hause41, ein Ausdruck, der j e d o c h aus der Perspektive der rekonstruierten
Erzählsituation, außer mit Einfügung der Vorwissen beschwörenden Partikel
ja (hinter dem - bereits substituierten - Präsens führt), gar nicht mehr for-
mulierbar ist, ebensowenig wie gewisse Teile der Beschreibung des Konversa-
tionszimmers auf p. 2 2 8 — es sei d e n n , der Erzähler stellte vergleichend Be-
züge z u m Z e i t p u n k t der Erzählsituation her, etwa, indem er sagte: Das Konver-
sationszimmer war, wie noch heute, geräumig und schön.
3.
fiktiven Erzählsituation hatte, und es ist diese — wie auch immer motivierte —
Halbherzigkeit, auf die jene erzählsituationellen Ungereimtheiten, im Tristan
und anderswo, zurückgehen mögen. Zu Tage treten solche Ungereimtheiten
in der Regel erst dann, wenn man versucht, die auch für das Auge des Analysa-
tors zunächst nur leitfossilienhaft, nämlich im wesentlichen an den verwende-
ten Deiktika, erkennbare implizite fiktive Erzählsituation zu rekonstruieren.
Ich für meinen Versuch am Beispiel des Tristan jedenfalls muß bekennen, daß
ich, als ich mit diesem Versuch begann, die Erzählung bereits etliche Male ge-
lesen hatte, ohne daß mir auch nur eine einzige dieser Ungereimtheiten zu Be-
wußtsein gekommen gewesen wäre.
Das Ergebnis dieses Rekonstruktionsversuchs ist, im Falle des Tristan, der
Aufweis eines verborgenen textuellen Rahmens. Das bedeutet, daß die Erzäh-
lung in jener der Rekonstruktion ihrer Erzählsituation noch harrenden Form,
die ihr ihr realer Autor, nämlich Thomas Mann, verliehen hat, eine verstüm-
melte und damit zugleich verkappte Rahmenerzählung ist.
Die Rekonstruktion dieser Rahmenerzählung hat, wie wir gesehen haben,
einen mündlichen und zudem nichtprofessionellen Erzähler zu Tage gefördert.
Für einen solchen aber erzählt der Erzähler des Tristan entschieden zu flüssig,
zu elaboriert und zu planvoll, mit einem Wort: zu literarisch — theoretisch be-
trachtet zweifellos eine weitere Ungereimtheit 4 2 . Aber diese Ungereimtheit
hat, im Unterschied zu den anderen von mir aufgewiesenen Ungereimtheiten,
die, wenn man so will, fatale Eigenschaft, nicht eigentlich beseitigt werden zu
können, und zwar weder von der Seite der eingebetteten Erzählung noch von
der des sie einbettenden (und teilweise rekonstruierten) Rahmens her: von der
ersteren her nicht, weil die Änderungen im Erzählstil des Erzählers allzu tief-
greifend sein müßten, und von der letzteren her nicht, weil eine Beseitigung
des Rahmens dem textimmanenten Prinzip der Dominanz der vorangehenden
Textteile über die nachfolgenden zuwiderliefe. Wir müssen diese Ungereimt-
heit also hinnehmen — hinnehmen, wie wir es bisher immer und auch ohne,
daß Rekonstruktionen im Spiele gewesen wären, getan haben, wenn wir kei-
nerlei Anstoß nahmen an literarisch überhöhter Figurenrede, an Versen im
Drama oder auch an — originalen, d.h. nicht rekonstruierten — Rahmener-
zählungen nichtprofessioneller mündlicher Erzähler.
Andererseits ist — und dies ist die Kehrseite solcher Rekonstruktionen —
nicht auszuschließen, daß Rekonstruktionen von der Art der vorgeführten
den Effekt haben können, die künstlerisch-ästhetische Wirkung der Texte,
4 2 Zu bedenken wäre hier ferner auch noch der ganze Fragenkomplex der Wissenserlan-
gungspotenz des Erzählers, doch klammere ich diesen Komplex an dieser Stelle bewußt
aus.
Präsuppositionen und Rekonstruktion 185
auf die sie angewandt werden, mehr oder weniger stark zu schwächen — so,
wie es denn ja auch sonst, in anderen Bereichen der Kunst, bisweilen vorkom-
men mag, daß ein Gebilde als Torso eine ungleich stärkere Wirkung auf uns
ausübt als in seiner etwaigen Ganzheit. Es kann demzufolge — u n d das m u ß
mit aller Deutlichkeit gesagt werden — auch nicht die Absicht solcher Rekon-
struktionen sein, irgendetwas für die Steigerung der künstlerisch-ästhetischen
Wirkung des b e t r e f f e n d e n Textes zu leisten. Was sie anstreben, ist somit einzig
und allein die Vertiefung unserer Einsichten in die S t r u k t u r von T e x t e n sowie
die allgemeinen Gesetze des Erzählens, die ihnen zugrunde liegen.
Peter Chr. Kern
Textreproduktionen
Reproduzierte Texte
Der Normalfall mündlicher Kommunikation ist, daß der Text sich unmittel-
bar und ad hoc aus der Redekonstellation ergibt, daß er „spontan" entsteht.
Je nach Zahl, Art und Grad der beteiligten Faktoren der Redekonstellation
entstehen unterschiedliche Textexemplare, und es macht gerade die Schwie-
rigkeit der linguistischen Beschreibung aus, daß zuviele psychologische, sozio-
logische, thematische und situative Elemente zu berücksichtigen sind, als daß
man einen konkreten Text vollständig erfassen könnte. 1
Wenn die Situationskomplexität, zu der vor allem das persönlich-indivi-
duelle Beteiligtsein der Kommunikationspartner gehört, nicht ihren adäqua-
ten Ausdruck in einer ebenso komplexen Textstruktur findet, dann wird die
Äußerung und/oder der Sprecher diskriminiert durch die bekannten umgangs-
sprachlichen Bezeichnungen wie „Klischeevorstellungen", „Inoriginalität",
„Allgemeinplätze", „Phrasendrescherei" usw. Diese Werturteile beruhen auf
der richtigen Einsicht des Hörers, daß ein Text, der „nur" wiederholt, re-pro-
duziert, was schon einmal so gesprochen wurde, der je neuen Eigenart der
Sprachsituation nicht angemessen sein kann und darum auf ein unreflektier-
tes, unverantwortliches Sprachhandeln des Sprechers schließen läßt. Freilich
nur, wenn der Hörer glaubt, der Sprecher wisse nicht um die Inoriginalität
seiner Formulierungen; die Äußerung wird sofort einen völlig anderen kom-
munikativen Stellenwert einnehmen, wenn man weiß, der Einsatz vorgepräg-
ter Textmuster geschehe bewußt.
1 Sie sind aus diesem Grund nicht logisch analysierbar, nur nachvollziehend beschreib-
bar. Daraufhat zuletzt überzeugend B. Switalla hingewiesen: „Methodische Verstän-
digung über Handlungsverstehen und sprachliches Handeln scheint mir nur über die
Thematisierung derartiger Verstehenskonflikte vom Standpunkt des gedanklich mit-
handelnden Dritten aus möglich zu sein; anders gesagt: theoretisches Verstehen
sprachlich vermittelter Interaktionen, sprachlicher Handlungen setzt praktisches
(Mit-)Verstehen voraus." (B. Switalla, Zu handlungslogischen Implikationen linguisti-
scher Aussagen, In: Studien zur Texttheorie und zur deutschen Grammatik, hrg. von
H. Sitta und K. Brinker, Düsseldorf 1973, p. 175).
Textreproduktionen 187
Dieser letztgenannte Fall soll hier näher untersucht werden, allerdings nicht
im Rahmen jenes komplizierten dialektischen Steuerungsprozesses von alter
und ego, von antizipierter und tatsächlicher, expliziter und impliziter Reak-
tion, wie das für umfassende Sprachhandlungsanalysen notwendig wäre 2 ; ich
glaube nicht, daß der Sachverhalt verfälscht wird, wenn die folgenden Über-
legungen den Sprecher in den Vordergrund rücken, der einen festgelegt-vorge-
prägten Text bewußt re-formuliert und damit rechnet, daß der Hörer das auch
weiß.
Selbstverständlich sind alle, auch alle spontanen sprachlichen Äußerungen
unbewußt mustergeprägt und jeder Text ist nichts anderes als eine je-spezifische
Kompilation solcher Wiederholungen von grammatischen und sprechaktlichen
Mustern; das ist hier jedoch nicht angesprochen, denn wir setzen voraus, daß
der Sprecher sich seiner Musterbezogenheit bewußt ist und in voller Absicht
so sprechhandelt. Das kann mehrere Gründe haben: soziale, ökonomische, ver-
weisende und rituelle. Soziale in jenen Fällen, wo jemand die Diktion seines
Partners oder der Partnergruppe bis in Einzelheiten nachahmt (und so zwangs-
läufig das eine- oder anderemal ganze Sprachhandlungen nach Mustern ablau-
fen); ökonomisch bedingt sind Prägungen, wo vom Thema oder der Situation
her sich Wiederholungen anbieten („Vom Süddeutschen Rundfunk hören Sie
jetzt Nachrichten", „Betreten verboten"), wo aber durchaus die Möglichkeit
bestünde, durch individuelle Variationen den Text zu verändern.
Von diesen beiden nur kasuell reproduzierenden Typen unterscheiden sich
die beiden anderen. Der Sprecher weiß nicht nur um die Vorgeprägtheit des
Textes, er ist auch gehalten, ihn unverändert zu wiederholen: Zitat und Ritual.
Der Unterschied dieser beiden liegt vor allem im Verbindlichkeitsanspruch
und ist daher sprechakttheoretischer Natur. Während im Zitat eine vorgeprägte
Äußerung (Text oder Teiltext) 3 nur wiederholt wird und der Sprecher für sich
nicht in Anspruch nimmt, voll verantwortlich dafür zu sein, findet eben diese
Identifikation mit dem Text beim Ritual statt (vgl. „Im Namen des Gesetzes
sind Sie verhaftet"; „Und ich als beauftragter Diener der Kirche verkünde Euch
hiermit die Vergebung all Euerer Sünden"; „Im Namen des Volkes ergeht fol-
gendes Urteil: Der Angeklagte wird . . . "; „Und somit erkläre ich die 10.
Olympischen Spiele für eröffnet"; „XY hat sich um den Staat verdient ge-
2 Vgl. hierzu vor allem den kritischen Überblick, den Hans Haferkamp zu den Theorien
des symbolischen Interaktionismus gibt (H. Haferkamp, Soziologie als Handlungs-
theorie, Düsseldorf 1972).
3 Als Text verstehe ich unter Umgehung der aktuellen Diskussion im Sinne der Um-
gangssprache jedes von einer Person erzeugte, kontinuierliche Sprachprodukt, das
nicht unbedingt abgeschlossen sein muß; auch Teile einer Äußerung (ein Wort, ein
Satzbruchstück, aber auch Satzkomplexe) können Text sein.
188 P. Kern
macht"). Beiden gemeinsam ist, daß die Textgestalt prinzipiell unverändert ist.
Im „Zitat" ist das (abgesehen vom Sonderfall der Travestie) ohnehin selbstver-
ständlich. Das „Ritual" wurde in letzter Zeit, vor allem in handlungstheoreti-
schen Zusammenhängen, gleichbedeutend mit „schabionisiert" verstanden
(„Rituale des Alltags" usw.), wodurch sich eine Vermischung mit dem ergab,
was ich ökonomisch bedingte Musterbezogenheit nenne. Ich möchte in seinem
ursprünglichen Sinn definieren, wie er heute noch in krichlichen und zum Teil in
politischen amtlichen Handlungen praktiziert wird, nämlich Musterhaftigkeit
als conditio sine qua non des Vollzugs. Zitat und Ritual sind Extremfälle, die
jeweils eine sehr spezielle Sprechhaltung voraussetzen, deren Untersuchung
aber auch dem besseren Verständnis jener Äußerungen dienen kann, die we-
niger rigid musterbezogen sind.
Da der Unterschied zwischen Zitat und Ritual in erster Linie ein sprachhand-
lungsbedingter ist, sollen einige theoretische Bemerkungen hierzu voraus-
geschickt werden. Daß die Austin/Searlesche Differenzierung des Sprechaktes
in einen (wie immer benannten) inhaltlichen und einen intentionalen Teil in
mehrfacher Hinsicht ergänzungsbedürftig ist, hat die Diskussion der letzten
Jahre deutlich gemacht. Fundamentale Forderungen waren die nach einer
prinzipiellen Einbeziehung des Hörers als antizipierten Sprechers, der Dialek-
tik des Kommunikationsvorgangs überhaupt. Darüber hinaus bemühte man sich
um eine Differenzierung der Dichotomie Illokution-Proposition selbst, ange-
sichts der unbefriedigenden Ergebnisse, die mit diesem Zweierschema erzielt
werden können. So hat sich gezeigt, daß für die Proposition einer Äußerung
Existenzmodalitäten einbezogen werden müssen, die nicht durch die Illoku-
tion abgedeckt werden: Faktoren des Gültigkeitsanspruchs, der dem proposi-
tionalen Inhalt vom Sprecher zugemessen wird (ob der Inhalt einer Propo-
sition als vorhanden oder möglich, als notwendig oder möglich, als wün-
schenswert oder existent anzusetzen ist). Ernst Ulrich Große hat hier mit seinem
Begriff der „metapropositionalen Basis" eine überzeugende Ergänzung vor-
geschlagen: Zwischen den „performativen Modus" und die Proposition setzt
er sie als Steuerungsniveau, das den modalen Status der Proposition b e s t i m m t 4 ,
Ich teile mit (ohne Appell) ich glaube Wir sind in Quiberon
Ich kann allerdings nicht ganz damit einverstanden sein, wie Große diesen
Aspekt in ein umfassendes Beschreibungssystem einbaut. Die durch die meta-
propositionale Basis modalisierte Proposition koppelt er an drei (alternative)
performative M o d i 7 , den bewirkenden (CAUS), den demonstrativen (DEM)
und den eine Absicht kundgebenden (INT). Wenn DEM = „durch ein Mittel
zeigen" die Kundgabe eines Sachverhalts (im Unterschied zu der Kundgabe
einer Absicht) meint, dann sind die drei Modi gleichzusetzen mit den her-
kömmlich als Bewirken, Mitteilen und Auffordern benannten Sprachhand-
lungen. Meint DEM dagegen so etwas wie „Selbstdarstellung", dann enthält
das soviel „Absicht", daß es nicht in Opposition zu INT stehen dürfte. Ich
ziehe deshalb die herkömmliche Einteilung vor, stimme allerdings mit Große
überein in der Unterordnung der „Frage unter die Aufforderungen" 8 (eine
Frage ist die Aufforderung zur sprachlichen Handlung, nämlich der Mittei-
lung). Die drei Grundformen sprachlichen Agierens (MITT; AUFF; CAUS) 9
verhalten sich nun unterschiedlich in ihrer Verknüpfung mit der Proposition.
Im Bewirkungsakt CAUS kann es keine metapropositionale Differenzierung
geben: man bewirkt etwas oder bewirkt es nicht. Die Olympischen Spiele sind
mit der Eröffnungsformel nicht eventuell oder hoffentlich oder notwendiger-
weise, sondern eben nur „eröffnet"; das ist nicht von Vorbehalten, Einschrän-
kungen, Wünschen u. dgl. gesteuert; das Glücken oder Mißglücken hängt nicht
von Intentionen des Sprechers ab, sondern einzig vom Konsensus der Be-
troffenen mit der Aktion und ihrem Effekt, also von der Stabilität des
Strukturzusammenhangs, in dem durch CAUS eine Veränderung vorgenom-
men wird. Demnach bleibt hier die Stelle der Metaproposition leer. 10
Ähnliches gilt für Aufforderungen. Da sie direkt den Kommunikations-
partner und nicht ein tertium betreffen (Objekt der Performation und Sub-
jekt der Proposition sind referenzidentisch), wäre eine Differenzierung nach
Gültigkeitsmodalitäten unsinnig. Das DU steht ja nicht in Frage, sondern ist
persönlich anwesend, essentieller Bestandteil der Redesituation und als sol-
cher nicht Modalitäten in Hinblick auf Wünschbarkeit oder Denkbarkeit unter-
worfen. Auch die Großesche Unterscheidung von VOL und OBL trifft nicht
7 Vgl. Große, op. cit., p. 54 s.
8 Dies im Unterschied zu Maas, der die drei prinzipiellen Sprachhandlungen Auffordern,
Mitteilen, Fragen (unter Vernachlässigung von Bewirken) auffuhrt und in ein hand-
lungstheoretisches Gesamtkonzept integrieren will (cf. U. Maas, Sprachliches Handeln,
in: Funkkolleg Sprache II, Frankfurt a. M. 1973, p. 144).
9 Man müßte evtl. als vierten Modus noch die phatische Sprechhaltung hinzunehmen, die
nichts anderes beabsichtigt als auf sich als Kommunikationspartner aufmerk-
sam zu machen oder eine Sprachhandlung zu eröffnen (z.B. „Hallo" usw.).
10 Zu diskutieren wäre evtl., ob CAUS eine Metaproposition nach sich ziehen kann, die
auf [+ASS; -SUBJ] beschränkt sein müßte, etwa: Ich bewirke, daß feststeht, daß . . .
Textreproduktionen 191
zu; ob eine Aufforderung als Wunsch oder als Verpflichtung zu verstehen ist,
hängt nicht von der Intention, sondern vom sozialen Status des Sprechers im
Vergleich zum sozialen Status des Hörers in der Kommunikationssituation ab.
Natürlich sind je nach Verpflichtungsgrad unterschiedliche sprachliche Signa-
le einsetzbar („Komm bitte" / „Du hast zu kommen"), doch sind diese nicht
Ausdruck einer unterschiedlichen Metaproposition, sondern Ausfluß der spezi-
fischen Verhältnisse auf der Beziehungsebene. Darüber wird unten noch zu
lesen sein. Auch hier also bleibt die Metaproposition leer.
Anders bei MITT: Behauptungen oder Feststellungen unterscheiden sich sehr
wohl von Willenskundgebungen und müssen metapropositional getrennt werden
in ASS und VOL. Dagegen sind subjektive Meinungsäußerungen und „objek-
tive" Behauptungen nicht substantiell, sondern nur im Grad der persönlichen
Überzeugtheit voneinander verschieden, so daß sie nur durch ein zusätzliches
nicht aber alternatives Merkmal zu ASS zu kennzeichnen sind. Als (vorläufi-
ges) Schema ergibt sich also
+AUFF;. . . - DU . . . Aufforderung
Ich beanspruche als Sprecher, nicht aber für das Gesprochene ernstgenom-
men zu werden, wenn . . . = ironische Äußerung.
Ich beanspruche als Sprecher und mit meiner Ä u ß e r u n g ernstgenommen zu
werden, wenn . . . = neutral-ernste Ä u ß e r u n g
Ich beanspruche als Sprecher ernster g e n o m m e n zu werden als bisher,
wenn . . . = (in sich noch graduierbar) ärgerliche Äußerung.
Ich beanspruche ernstgenommen zu werden, ohne es wirklich zu erwarten,
wenn . . . = resignative Äußerung usw. 1 4
Als viertes S t r a t u m bringt die Metaillokution sprachliche u n d parasprach-
liche Elemente in die Sprachhandlung ein, die ohne sie bei der Analyse unbe-
rücksichtigt bleiben müßten. Poly- und monoverbale Interjektionen ( „ . . . -
was soll's - . . . " ; „ . . . aber wirklich . . . " ; „ . . . doch . . . " ; „ . . . endlich . . . "
usw.), bestimmte Wortstellungstypen, Betonungsdifferenzierungen gehören
ebenso hierher, wie Durchbrechungen der Grammatikalität ( A n a k o l u t h e usw.).
Vor allem aber sind auf diese Weise auch viele F o r m e n indirekten R e d e n s 1 5
näher zu bestimmen, die aufgrund der besonderen Verhältnisse in der Be-
ziehungsebene gewählt werden. Wenn etwa eine deutlich als B e h a u p t u n g zu
verstehende Ä u ß e r u n g mit „Ich k ö n n t e mir vorstellen, daß . . . " eingeleitet
wird, ist das die Folge der besonderen Situation u n d S t i m m u n g des Spre-
chenden, der sich in der unterlegenen Position in einem k o m p l e m e n t ä r e n
Kommunikationsverhältnis fühlt und deshalb nur bedingte Verbindlich-
keit seiner Äußerung beansprucht.
Es m u ß einer eigenen Arbeit vorbehalten bleiben, dieses System ausführ-
licher darzustellen und die mannigfachen Probleme anzureißen, die sich dar-
aus ergeben, Fragen der Systematisierbarkeit von A f f e k t e n , der Segmentier-
barkeit von Sprachmitteln, der Stringenz der Z u o r d n u n g e n von Haltung u n d
Mitteln u. dgl. Für die vorliegende Untersuchung ist j e d o c h nur wichtig, auf
diese Ebene als Steuerungsniveau für Äußerungen hinzuweisen, weil unsere
Absicht ist, z. B. für das Ritual nachzuweisen, daß die metaillokutionären Mög-
lichkeiten aufs äußerste, nämlich auf eine, restringiert sind.
tionen von ICH, wobei ICH zu erkennen gibt, daß er für sich eine dominieren-
de Position im gegenwärtigen Kommunikationssystem beansprucht. In unser
Schema übertragen: der performative Modus MITT wird mit der Metaproposi-
tion VOL (= zukünftige Aktion von ICH) und der Proposition mit der Struk-
tur ICH TUN DIR Z [+negativ] gekoppelt. Der soziale Dominanzanspruch
findet als Element der Beziehungsebene in einer entsprechenden Metailloku-
tion (je nach Grad: Ernst, Ärger, Zorn u. dgl.) seinen Niederschlag.
Nur dann und immer dann, wenn all diese Sprachhandlungsfaktoren
bei einer Äußerung explizit oder implizit vorhanden sind, kann sie den An-
spruch, kommunikativ als „Drohung" zu wirken, erfüllen. In „Ich kann dir
nur sagen, daß du noch was von mir erleben wirst" ist die Metaillokution durch
„nur", „kann" und durch „noch", der performative Modus durch „sagen", die
Metaproposition durch „wirst" und die Proposition durch „erleben" explizit
vertreten und daher unmißverständlich als Drohung verstehen. Bei entspre-
chendem Kontext und in entsprechender Intonation kann „warte nur" auch
eine „Drohung" sein, ist aber der geringeren Explizitheit halber (= zahlreiche
Eleminierungen im Transformationsprozeß) sehr viel mißverständlicher.16
Die Sprechakte sind nach unserem Konzept das Ergebnis einer spezifischen
Kombination von beteiligten Sprachhandlungsfaktoren auf verschiedenen Ebe-
nen. In der stark am Vorhandensein performativer Verben17 orientierten Inter-
pretation Searles wird diese Tatsache verwischt, da der Sprechakt als kompak-
te, statische Größe angesetzt ist. Der hier angebotene Vorschlag will die
Sprechakttheorie um einen Erzeugungsmechanismus ergänzen, der dem dyna-
mischen Aspekt von Sprachhandlungen Rechnung trägt und damit gleichzeitig
eine größere Differenzierung erlaubt.
Nach Searle würde beispielsweise „Zitieren" als ein Sprechakt auszubrin-
gen sein, der zwar hinsichtlich Mißlingen und Gelingen, also nach seinen logischen
Voraussetzungen, nicht nach seiner sprachhandlungstheoretischen Struktur unter-
sucht wird, deren Funktion die sprachliche Form ist.
16 Die Metaillokution kann eine Drohung nur verstärken, differenzieren oder abschwä-
chen, nicht aufheben. Eine „ironische Drohung" ist eben keine: Der Sprecher macht
durch die Metaillokution deutlich, daß die Bemerkung zwar der Form, nicht aber dem
Inhalt nach eine Drohung ist. Umgekehrt können der Form nach „neutrale" Äuße-
rungen auf eine Tiefenstruktur zurückgehen, die alle Merkmale der „Drohung" ent-
hält: diese sind dann nur mehr oder weniger absichtlich während des Transformations-
prozesses verwischt worden.
17 Vgl. u.a. Wunderlich, op. cit., p. 67
196 P. Kern
Das Zitat
Wenn ich zitiere („Hebbels Meister Anton sagte schon ,Ich verstehe die Welt
nicht mehr' " oder „Ich hab' es getragen sieben Jahr"), äußere ich einen vor-
formulierten Text, differenziere dabei aber — mehr oder weniger deutlich —
zwischen mir als Sprecher und dem Autor des Textes. 18 Das besagt, daß die
beiden Ichs verschiedenen Ebenen der Sprachhandlungsbasis angehören: das
Sprecher-Ich der Illokution (und Metaillokution), ein Zitat-Ich der Proposi-
tion. 19
Diese ist ja nicht prinzipiell an den ICH-DU-JETZT-HIER-Status der Illo-
kution gebunden, deshalb ist es (im Unterschied zum Sprachritual) gleichgül-
tig, welche Personalform und sonstige deiktischen Mittel im Zitat enthalten
sind, sie beziehen sich prinzipiell nicht auf die Sprechsituation. Im Beispiel
„ . . . und dann sagte Goethe: ,Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind
in der Mitten' " ist klar, daß sich die Seitenkennzeichnung auf Goethe und
nicht auf den Sprecher des Satzes bezieht. Komplizierter liegt der Fall, wenn
der Sprecher sich in einer Situation befindet, die derjenigen Goethes ähnelt,
und er deshalb, sich des Satzes erinnernd, zitiert. Hier handelt es sich um einen
Annäherungs- oder Vergleichsprozeß, eine Übernahme der Kommunikations-
konstellation des Zitierten (freilich nicht um eine Identifikation). Die sprach-
handlungsmäßige Tiefenstruktur wäre etwa zu umschreiben: ,Ich adaptiere
den folgenden Satz Goethes für meine eigene Situation, wenn ich sage . . . ' .
Es ist also ein Unterschied zu machen zwischen zwei Möglichkeiten des
Zitierens, die ich Apostrophierung und Adaption nennen will, die auch, aber
nicht nur, durch das Merkmal [+_ ADAPT] auseinandergehalten sind.
Die Apostrophierung ist unproblematisch: der Sprecher teilt mit, daß eine
(ihm bekannte oder unbekannte) Person X den folgenden Text gesprochen
habe. Eine persönliche Stellungnahme muß damit nicht verbunden sein. Die
Proposition der Sprachhandlung umfaßt folglich tiefenstrukturell den Zitat-
autor und Zitattext; dieser ist also nur die zweite Ergänzung zu einem zweiwerti-
gen verbum dicendi als Prädikat der Proposition.
X sagen
(Zitattext)
18 Im Selbstzitat ist Sprecher-Ich und Autor-Ich zwar personal-, nicht aber referenziden-
tisch.
19 Entsprechend natürlich andere deiktischen Elemente. Vgl. hierzu u.a. D. Wunderlich,
Pragmatik, Sprechsituation, Deixis, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und
Linguistik 1 (1971), 1 5 3 - 9 0 . und des., Redeerwähnung, In: Funkkolleg Sprache,
Studienbegleitbrief 9, Weinheim-Basel 1972, p. 89 ss.
Textreproduktionen 197
20 [-ADAPT] ist fakultativ, wird aber meist expliziert: bereits Wendungen wie „Wenn
Goethe sagt: ,Edel sei der Mensch'..." oder „Goethe sagt auch: ,Edel . . . ' " ent-
halten Distanzierungssignale.
198 P. Kern
[. . . + ADAPT
Zitattext
(a und b stehen für beliebige nichtzitierte Teile der Sprachhandlung, in die der
Zitattext eingebettet sein kann)
Der Zitatautor X ist bei der Adaption nicht von Bedeutung, er kann, m u ß
aber nicht genannt werden. Er gehört nicht wie in der Apostrophierung
in die Proposition. Der Sprecher übernimmt für den Text selbst die Verantwor-
tung und nicht der nur die Behauptung, X habe ihn gesagt.
In einem Satz „Da kann ich nur mit Schiller sagen: ,von der Stirne heiß'
in dem die ganze Sprechhandlung expliziert ist, wird deutlich, daß die Nen-
nung des Zitatautors nicht Teil der Proposition sein kann. Vielmehr ist ,mit
Schiller' ein Hinweis, daß hier keine selbstformulierte Äußerung vorliegt,
gleichwohl aber deren Inhalt in Anspruch genommen wird. Es handelt sich
also um eine der möglichen Aktualisierungen von [ +ADAPT] und signalisiert
jene spezifische Mischung von Identifikation und Distanz, die die metailloku-
tionäre Eigentümlichkeit von Adaptionen ist. Dieses Merkmal allein bewirkt die
Unterscheidung von Nicht-Zitaten. Wenn es nicht deutlich gekennzeichnet
wird, besteht die Gefahr, daß man den Sprecher mit seiner Äußerung voll
identifiziert und ihn — je nach Form und Inhalt des Zitates und dem Vor-
wissen des Hörers — des Plagiats, der Inoriginalität oder der Abwegigkeit be-
zichtigt. 22
Daneben kann es auch zu Verwechslungen von Apostrophierung und
Adaption kommen, wenn nämlich im Verlauf des Transformationsprozesses
die Unterschiede der Tiefenstrukturen verschwinden. „Rilke sagt: ,Du mußt
dein Leben ändern' " könnte — aus dem Kontext gerissen — Adaption sein mit
der Tiefenstruktur:
[. . . + ADAPT [+AUFF [
mit Rilke ich fordere auf Du m u ß t . . .
oder Apostrophierung mit der Tiefenstruktur
[...-ADAPT [+MITT [+ASS;-SUB [Xsagt^^]]]]
ich sage es ist der Fall: Rilke sagt: Du . . .
22 „Ich verstehe die Welt nicht mehr" kann ohne weiteres als spontane Äußerung ver-
standen werden, wenn der Sprecher nicht mindestens durch den Tonfall seine Adap-
tionsabsicht deutlich macht. Ein nicht als Adaption gekennzeichnetes „Prophete
r e c h t s . . . " dürfte beim Nicht-Kenner ein Kopfschütteln hervorrufen. Und wenn
Linguisten immer mit dem gleichen Beispielsatz „Der Teufel holt den Soldaten"
bzw. „Colorless green ideas sleep furiously" arbeiten, ohne den Ursprung der Bier-
wisch oder Chomsky anzugeben, geraten sie mit Recht in den Geruch des Nach-
schwätzens.
200 P. Kern
4. Wenn der Z i t a t t e x t im Stil oder Inhalt von der Verhaltensnorm des Spre-
chers abweicht, ist er allein dadurch als Zitat kenntlich. Wenn kein A u t o r ge-
nannt wird oder kein - A D A P T gesetzt ist, k o m m t nur Adaption in Frage.
Nur in den Fällen, w o keine dieser Markierungen eingesetzt ist u n d d e n n o c h
der Zitatautor genannt wird, bleibt es unsicher, ob Adaption u n d Apostro-
phierung vorliegt. Wo dies nicht die Folge sprachlicher Ungeschicklichkeit ist,
dient es der manipulatorischen und apologetischen Verschleierung. J e m a n d
will den Eindruck erwecken (oder hat nichts dagegen, w e n n der Eindruck ent-
steht), er identifiziere sich mit einem Z i t a t ; wenn er darauf festgenagelt wird,
kann er sich zurückziehen: er habe ja „nur" zitiert.
Damit sind die V e r w e n d u n g s k o n t e x t e angesprochen, in denen Zitate vor-
k o m m e n . Für die Adaption läßt sich sicherlich sagen, daß sie gebraucht wird,
wenn der Sprecher sich, aus welchen Gründen immer, der A u t o r i t ä t des Zitats
zur Wirkungssteigerung seiner eigenen I n t e n t i o n bedienen will. Diese A u t o r i t ä t
k a n n im Rang u n d Namen des Zitatautors begründet sein, kann aber auch im
Bekanntheitsgrad des Textes (vgl. Sprichwörter, Redensarten usw.) oder in der
besonderen Zustilisierung auf die Sprechsituation, ihrer Treffsicherheit liegen.
Der Sprecher will sich hinter der A u t o r i t ä t verstecken, will seine eigene Mei-
nung intensivieren oder sich selbst (etwa durch seine Belesenheit) in ein be-
sonderes Licht rücken. Als eine vorläufige pauschale Zusammenfassung läßt
sich immerhin andeuten: das Zitat steht in der Adaption statt einer eigenen,
nicht wie in der Apostrophierung als eigene Aussage. Das glaubt der Sprecher
nötig zu haben, weshalb sich als metaillokutionärer Kern herausschält: Ich
beanspruche größere A u f m e r k s a m k e i t als bisher (die anderen usw.), weil ich
mehr zu bieten habe als einen eigenen T e x t , w e n n ich zitierend . . . 2 3
Ein entsprechender metaillokutionärer Kern für Apostrophierungen läßt
sich dagegen nicht ausmachen. Die ihnen innewohnende Distanzhaltung be-
zieht sich ja nur auf den Gegenstand, nicht auf den K o m m u n i k a t i o n s p a r t n e r .
Deshalb sind für diese F o r m des Zitats all jene metaillokutionären Möglich-
keiten anzusetzen, die einem spontanen Mitteilungstext z u k o m m e n . Weitere
Aussagen iassen sich vorläufig darüber nicht machen. Die übliche Erschei-
nungsform für die Apostrophierung bei neutraler Metaillokution ist der Be-
leg, bei metaillokutionärer Abwehrhaltung die Polemik, die als ironische Imita-
tion, als Parodie, als Verriß usw. a u f t r e t e n kann. Unter Distanzhaltung ent-
stehen Apostrophierungen, für die ein Musterbeispiel jenes Gespräch aus
Lessings „Nathan" zwischen Tempelherr und Klosterbruder ist, in dem
letzterer den Zitatcharakter seiner Äußerungen immer wieder b e t o n t
(„ . . . meint der Patriarch"), u m nicht selbst damit identifiziert zu werden.
23 Das kann sehr wohl mit weiteren metaillokutionären Merkmalen ausgestattet sein,
etwa Ironie usw., die dann freilich sekundärer Natur wären.
Textreproduktionen 201
Das Ritual
Niemand würde auf die Idee kommen, ein Pfarrer zitiere (seine Vorgänger? ,
die Agenda? ), wenn er in der Abendmahlsfeier spricht: „Und ich als beauftrag-
ter Diener der Kirche verkünde euch hiermit die Vergebung all euerer Sünden".
Dennoch handelt es sich hier (wie in den vergleichbaren, weiter oben angeführ-
ten Beispielen) eindeutig um einen vorfabrizierten Text. Man spricht umgangs-
sprachlich etwa von „gestanzten Formen", die vorgesehen, z.T. sogar vorge-
schrieben sind, wenn die Sprachhandlung gelingen soll. Wie unterscheiden sich
solche Texte von Zitaten und wie von nichtzitierenden Äußerungen?
Beim Zitat ist der vorgegebene Text nur Teil der Sprechhandlung. Die Nicht-
identität von Sprecher- und Zitat-Ich steht fest. Was in der Proposition nicht zur
Sprechersituation paßt, kann deshalb auch in der Adaption nicht stören, so-
lange irgendein tertium comparationis die Reprojektion auf den Sprecher und
seine Situation ermöglicht. Oft lösen gerade Diskrepanzen und Abwegigkeiten
des Zitatinhalts ein Zitat aus, weil sie besonders geeignet sind, jene Aufmerk-
samkeit zu erregen, die wir als metaillokutionäre Voraussetzung für die Adap-
tion festgehalten haben. Die Reaktion: es ist ja nur Zitat, erhellend, interes-
sant, ähnlich zwar, aber eben nur ähnlich, letztlich unverbindlich.
Absolute Verbindlichkeit aber verlangen Texte wie die zitierte Absolutions-
formel. Hier dürfen keine Diskrepanzen referenzieller Art zwischen Illokution
202 P. Kern
24 Der persönlich anwesende Priester teilt die Absolution nicht nur mit; er erteilt -
bewirkt - sie: „Verkünden" repräsentiert eine transformationeil bedingte Integration
von performativem Modus (+ CAUS) + evtl. Metaprop. ( + ASS; - SUBJ) + Prop.
(X gilt als Y). „Euch" ist sowohl Objekt der Performation als Subjektattribut
der Proposition. „Hiermit" ist Adverbialbestimmung des performativen Modus.
Textreproduktionen 203
daß für den einzelnen Teilnehmer in der Tat das eine oder andere im Ritual
neu ist; gerade dieser Hörer ist aber für die Sprachhandlung nicht vorgesehen,
seine spontane Neugierde wird auch nicht befriedigt, das Ritual nimmt ohne
Rücksicht auf ihn seinen Verlauf. Die Meßliturgie z.B. wird ohne Blick auf den
Partner zelebriert: er ist zwar vorgesehen, aber auch ohne seine Anwesenheit
findet sie statt. Beim Gerichtsurteil ist es ebenso, die Anwesenheit des Ange-
klagten und schon gleich die Anwesenheit weiterer Zuhörer ist nicht für den
Ablauf des Rituals unbedingt erforderlich. Streng genommen bedeutet das,
daß Mitteilungen und Aufforderungen für reproduzierende Sprachhandlungen
nicht in Frage kommen. Mitteilungen sind nur dann welche, wenn ein Infor-
mationstransport von einem Wissenden zu einem Noch-Nicht-Wissenden er-
folgt. Wird etwas schon Bekanntes übermittelt — und bei Reformulierungen
muß der Sprecher immer damit rechnen, daß der Partner den Text kennt — ,
dann kann das allenfalls eine Reaktualisierung bedeuten, den Hinweis auf die
Wichtigkeit für den Moment. Aufforderungen setzen voraus, daß der Spre-
cher glaubt, daß der Angesprochene nicht weiß, was von ihm im Augenblick
verlangt wird und es ohnehin nicht tun würde. Aufforderungen mit vorformu-
lierten Texten können also auch höchstens Aktualisierungsfunktion haben, daß
der Zeitpunkt, nicht aber der Inhalt der Aufforderung signalisiert wird. „Unser
Herr Jesus, in der Nacht da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und
brach's und gab's seinen Jüngern . . . " oder „Der Beschuldigte wird des Dieb-
stahls in Tateinheit . . . angeklagt"; „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr"
brauchen keinen Mitteilungs- oder Aufforderungswert für den Empfänger zu
besitzen, um dennoch vollwertige Sprachhandlungen zu sein: Ihre wesentliche
Funktion liegt in ihrem Stellenwert in Struktur und Ablauf des Rituals. Dieses
füllen, stützen, regeln sie, während sie ihre ursprüngliche Funktion (die sich in
ihrem sprachlichen Duktus spiegelt) aufgegeben haben.
Wenn diese Pseudoformen sprachlichen Handelns allein ein Ritual ausmach-
ten, wäre es zum ewig sich selbst reproduzierenden Verlauf verurteilt, weil alle
Teile in einem zwar strukturellen Zusammenhang stünden, aber keine hand-
lungstheoretisch relevante, d.h. strukturtranszendente Funktion hätten. 27
Falls dem Ritual eine handlungstheoretische Relevanz eignen soll, dann
darf in seinem Zentrum keine (Sprach-) Handlung stehen, die echt mitteilen-
den oder appellativen performativen Modus hat. Es kommt zwar auf die Äu-
ßerung des Textes an, aber sie gelingt auch (besonders? ) (nur? ) dann, wenn
27 Vgl. die Hofzeremonielle, die Universitätsrituale („der Muff von 1000 Jahren") usw.,
die tatsächlich weitgehend Selbstzweckcharakter haben und mehr (oder nur noch)
der Daseinsbestätigung der Institution dienen, als daß sie relevante Handlungen reprä-
sentierten.
206 P. Kern
der propositionale Inhalt vorher bekannt ist. Eben dies ist der Fall bei allen
CAUS-Aktionen.
Große legt diesen bewirkenden Äußerungen das Schema [ICH CAUS - X
gilt als Y ] zugrunde. 2 8 „Gilt als" trifft sehr genau die Funktion dessen, was
da passiert. Eine typische CAUS-Handlung ist etwa die Eheschließung durch
den Standesbeamten. Materiell verändert sich nichts bei den beteiligten Perso-
nen, wohl aber hat sich ihr Stellenwert innerhalb des Gesellschaftssystems ver-
ändert; nämlich dadurch, daß jeder Betroffene um diese Strukturveränderung
weiß, sie akzeptiert und hinfort seine Tätigkeit nach den neuen Gegebenheiten
ausrichtet. Der Mann und die Frau, aber auch alle Angehörigen der gleichen
Gesellschaft leben nach der Trauung in einer neuen Wirklichkeit, die aber nicht
sinnlich faßbar, sondern nur im Bewußtsein vorhanden, nicht „wahr", wohl
aber gültig ist. Sowohl die Strukturveränderung als auch deren bloßer menta-
ler Habitus sind also sehr zutreffend mit: „X gilt als Y " als semantischer Satz-
präsentation umschrieben. 2 9 Da das Ereignis nicht materiell sichtbar ist,
braucht es ein Zeichen 3 0 , das die Strukturveränderung anzeigt: das ist der
Text des Standesbeamten. Andererseits erfüllt dieses Zeichen nur dann seinen
Zweck, wenn bei den Beteiligten über das Vorher und das Nachher der Zustands-
änderung Klarheit herrscht, da es ja sonst keine manifesten Anhaltspunkte da-
für gibt. Sicherlich m u ß der symbolische Akt in irgendeiner Weise auf das Er-
eignis referieren, verbal ausbreiten m u ß er die Verhältnisse jedoch nicht. Da-
mit wäre die oben aufgestellte Forderung (notwendige Äußerung bei zu ver-
nachlässigendem Inhalt) erfüllt,und es läßt sich als These aufstellen:
31 Cf. N 10.
32 Ernennen: ICH CAUS + X gilt als Y/X: nomen proprium; Y: Appellativ + Element einer
Ämterhierarchie.
Taufen: ICH CAUS + X gilt als Y/X: Du; Y: nomen proprium.
Verurteilen: ICH CAUS + X gilt als Y/X: nomen proprium; Y: schuldig
usw.
33 Z. B. die Rückführung von Beichte und Abendmahl auf die biblische Ursituation.
34 Z. B. „Der hier anwesende X und die hier anwesende Y sind bereit in den Stand der
Ehe einzutreten" oder die pauschalen Begründungen für Habilitationen u. dgl.
35 Z. B. Maßgaben, die sich aus dem durch CAUS initiierten neuen Status für den betrof-
fenen ergeben.
208 P. Kern
Da aber nur Bekanntes vermittelt wird, 3 7 bleibt nach wie vor ein gewisses Un-
behagen, sie in gleichem Maße wie die CAUS-Aktion als vollverbindliche
Sprachhandlungen zu verstehen. Aktualisierung allein ist n u n einmal nicht das
essentielle Merkmal einer Mitteilung. Wenn ein Pfarrer im Zusammenhang
mit dem Abendmahlvollzug die Einsetzungsworte Jesu als Aitiologie rituell-
wiederholend vorträgt, fragt man sich, ob er wirklich „ m i t t e i l t " . Es sei daher
folgendes zur Diskussion gestellt: die in Frage stehenden Mitteilungen u n d
A u f f o r d e r u n g e n sind keine der CAUS-Aktion vergleichbaren T e x t r e p r o d u k -
tionen, sondern „Adaptionen" im oben definierten Sinn. Der Sprecher adaptiert
aus Gründen der Situationsähnlichkeit (der Ritus will ja eine Situation wieder-
holen) einen für die Urkonstellation geprägten T e x t , ohne daß er — wie bei
CAUS — diesen Textteil in völliger Eigenverantwortlichkeit realisiert.
Ein sprachlicher Ritus wäre in seinem Ablauf zu definieren als eine
CAUS-Handlung, u m die sich eine Reihe von A d a p t i o n e n gruppiert, die die
metaillokutionären u n d metapropositionalen Voraussetzungen von CAUS
übernehmen, aber entsprechend ihrer S t r u k t u r nicht den vollen Verbindlich-
keitsgrad des Ritualkerns b e s i t z e n 3 8 .
Bisher w u r d e nur u n t e r s u c h t , w a r u m die Verwendung vorgeprägter, fixier-
ter Texte im Ritus möglich ist oder naheliegt und u n t e r welchen Bedingungen
sie vollzogen wird; nicht geklärt ist die Frage w a r u m m a n überhaupt auf sol-
che Texte zurückgreift. Hier spielen zweifellos in erster Linie psychologische
Gründe eine Rolle, atavistische u n d ästhetische F a k t o r e n , die das Bewußtsein
steuern, über die wir nichts aussagen k ö n n e n 3 9 ; unsere Frage lautet vielmehr:
seinen angemessenen Ausdruck findet; nach dem Spieltrieb und dem ihm innewohnen-
den Sinn für Wiederholungen; nach der kognitiven und affektiven Funktion von Ken-
nen und Wiedererkennen usw.
40 Neben den erwähnten expliziten Bezugnahmen auf die Rollenfunktion trifft man des-
Textreproduktionen 211
Die rituelle Sprachhandlung stellt somit genau das dar, was Roland Bar-
thes 4 1 ein m y t h i s c h e s Zeichen nennt: zunächst b e z e i c h n e t der T e x t einen
b e s t i m m t e n Sachverhalt (das, was mit d e m C A U S - A k t erreicht werden soll).
In seiner festgelegten Form verweist der T e x t als solcher darüber hinaus aber
n o c h auf die N o t w e n d i g k e i t , Aktivität, Existenz, m. a. W. die Daseinsberechti-
gung der Institution und damit der Gesellschaft s e l b s t 4 2 .
Zusammenfassung
halb auch häufig auf Passivkonstruktionen ohne logisches Subjekt: „Hiermit wird die
Republik proklamiert" oder „Das Verfahren ist eröffnet". Darüber hinaus wird meist
durch außerverbale Mittel (Knieen, Bedeckung oder Entblößung des Kopfes, Aufste-
hen usw.) der Sonderstatus, die Sondersituation, der Sonderaugenblick betont.
41 Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 2 1970, p. 93 s. Im Sinne
eines solchen Überzeichens wäre der Großesche performative Modus DEM (Große,
op. cit., p. 54) zu erklären, dürfte dann aber nicht auf einer Stufe mit INT und
CAUS stehen.
42 Je fester eine Zeit an die Eigenständigkeit und Unentbehrlichkeit von Institutionen
glaubt, desto mächtiger werden Rituale sein. Umgekehrt muß man aber auch sehen,
daß das Ritual nicht nur im amtlich-institutionellen Sinn, sondern auch im privaten
Bereich seinen Sinn hat; es erleichtert dem einzelnen sowohl die Deklaration einer
erhofften oder gewußten Gruppenzugehörigkeit als auch die Verschleierung von
persönlichen Affekten: Traueranzeigen z.B. sind stark durchritualisierte Texte, die
nicht nur aus sprachökonomischen Gründen (etwa: dieses Muster einer Traueranzei-
ge hat sich bewährt und daher verwende ich es) immer wieder reproduziert werden.
212 P. Kern
1.1 Jedes dieser Strata hält eine Reihe von Alternativen bereit, aus denen p r o
Redekonstellation eine spezifische kommunikative T i e f e n s t r u k t u r mit hier-
archischem A u f b a u erstellt wird:
2.1 Zitate n e h m e n eine Sonderstellung ein, weil bei ihnen nicht die gleiche
Bandbreite an Aktualisierungsmöglichkeiten vorliegt. Hier besteht nicht die
Möglichkeit, auch anders zu formulieren. Z u unterscheiden sind
2.2.1 Das gilt zumindest für den Ritualkern, der immer den performativen
Modus [+ CAUS] aufweist; darüberhinaus ist die Metaillokution auf die Mög-
lichkeit / Neutraler Ernst / beschränkt.
Textreproduktionen 213
Oberflächenstruktur 75 159 160 191 Prädikation 130 131 134 159 161-63
206/07 Prädikatsadverbiale 116
Objektpronomen 38 Prädikatsnomen 71
Objektsprache 133/34 Präfix 43
Ökonomieprinzip 4 150 188 Pragmatik 4 106 143 144 147 155
Onomasiologie 46 Präposition 76 lOOss.
Ontologie 111/12 119 125 Präsens 81 168 172 183
Operator 117 129 N 96 130 Präsentativ 76 85 87 96
Opposition 1 2 13 77 104 106 Präsupposition 32 166-85
Ordinalzahlen llss. 18 Präteritum 183
Organon-Modell 166 Primitive, semantische 133
Origo 54 N 26 57 63 N 44 87 102 „Pro" 21
Ort 86 105 166 178 183 Pro-Adjektiv 20
- theoretischer 148 153 Pro-Adverbiale 20 33 38/39 41 42
Pro-Attribut 33 39/40 42
Pro-Form 2 0 - 4 2 87 97 98 100-02 106
Paradigma 7 11 51 115 149
Paradigmatik 43 50 152 - bestimmte 28ss. 42
Paraphrase 129 138 - unbestimmte 2 4 - 2 8 30ss. 40 42
Parataxe 109 Pro-Fortführung 22 24 30
Parenthese 109 Pro-Konstituente 27
Parodie 200 Pro-Morphem 20
parole 166 Pronomen 20 32ss. 62 146 147 152-54
Partizip 95 156 158
Passiv 135 - bestimmtes 35/36
Performanz X 148 - unbestimmtes 34/35
Performation 192 204 Pronominaladverb 33 39
performativer Modus 188/89 190-92 194 Pornominalisierung 28ss. 149
195 197 205 211 212 propos 103 136
performative Verben 108 195 Proposition 117 119 120 130 141 160
Periphrase 48 50 188 189 194-98 201 202 206 207
PERLE F. 76 211 212
Permutation 31 N 25 115 Prosatz 33 40/41 4 3 - 7 5 84 87 159
Person 78ss. 83 182 Prosodem 99
Personalpronomen 35 90 146-65 199 Pro-Verb 33 37ss.
PETÖFI J. 110/11 Psychologie 46
PICHON E. 8 2 - 8 4 87 89 98 100 105
PINCHON Jacqueline 102-04 151/52
Plagiat 199 Qualifikator 194
Plural 1 - 1 9 Qualifikation 130
Polemik 200 QUINE W.V. 119 134
Polyfunktionalität 158
Polysemie 112 N 25
Possessiva 33 Rahmenerzählung 184
POSTAL P.M. 21 27/28 RAIBLE W. 109 116 118 136
Prädikat 47 113 123 124 126 127 130 Raum 170 173 202
132-35 138 142 143 Reaktualisierung 205
Prädikatenlogik 119 124 133 139 140 Rede 59 60 79 84 98 100 125
220 Index