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Herausgegeben von
Klaus Baumgärtner und Peter von Matt
Textgrammatik
Beiträge zum Problem der Textualität
Herausgegeben von
Michael Schecker und Peter Wunderli
ISBN 3-484-22016-3
Vorwort VII
H. Weinrich
Skizze einer textlinguistischen Zahlentheorie 1
H. Vater
Pro-Formen des Deutschen 20
P. Wunderli
Der Prosatz «on. Substitutionsprobleme im Rahmen der transphrastischen
Syntax 43
H. Genaust
Voici und voilà. Eine textsyntaktische Analyse 76
M. Schecker
Verbvalenz und Satzthema 107
R. Meyer-Hermann
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen 146
R. Harweg
Präsuppositionen und Rekonstruktion. Zur Erzählsituation in Thomas
Manns Tristan aus textlinguistischer Sicht 166
P. Chr. Kern
Textproduktionen. Zitat und Ritual als Sprachhandlungen 186
Index 215
Vorwort
Allerdings ist der Text als Medium nicht zugänglich unter Ausschluß der Mei-
nungen, die im Text geäußert werden; Gadamer 5 hat dies zu Recht betont, und
auch Apel 6 hat darauf hingewiesen, daß hier eine spezifisch wissenschaftstheo-
retische Schwierigkeit der Linguistik liege. Daß man die Linguistik nicht den
hermeneutischen Wissenschaften zurechnen kann und daß sie nicht mit den Li-
teraturwissenschaften zusammengestellt werden darf 7 , soll später noch angedeu-
tet werden.
Nun gilt für den Text als Medium gerade nicht, was für den Text als ,Menge
von Meinungen' Gültigkeit hat, nämlich: daß ich beim Verstehen der Meinungen
eines Textes diese immer auch schon auf mich selber anwende 8 . Hier liegt ein
erster und entscheidender Unterschied zwischen dem literaturwissenschaftlichen
Textbegriff und demjenigen der Linguistik. Entsprechend handelt es sich bei den
von der Sprachwissenschaft ermittelten Regeln (z. B. der Artikelselektion, der
Pronominalisierung usw.) nicht um .praktische Regeln' (Habermas) 9 , wie sie für
den Einsatz sprachlicher Mittel, z. B. im Rahmen des Rollenverhaltens einer Ein-
kaufssituation, formuliert werden können 1 0 . Es handelt sich vielmehr um .tech-
nische Regeln' 11 , deren Kenntnis unser praktisches Wissen nicht erweitert und
unser Bewußtsein nicht verändert, kurz: die keine bessere Handlungsorientierung
bewirken.
Wenn man sich den Konsequenzen, die sich aus dem Gesagten ergeben, nicht
verschließt, so scheint der Textlinguist im Gegensatz zum Literaturwissenschaft-
ler nicht durch ein .praktisches' oder .emanzipatorisches Erkenntnisinteresse'
geleitet zu werden 1 2 , wenn er Texte als Medium zum Untersuchungsgegenstand
macht; und doch hängen solche Untersuchungen in ganz anderer Weise mit prak-
tisch-emanzipatorischen Bestrebungen zusammen, als diese z. B. in den Naturwis-
senschaften der Fall ist. Dies wird deutlich u. a. bei der Analyse von Gerichts-
urteilen und den typischen Versatzstücken ihrer Tatschilderungen oder bei der
Analyse der Kommunikationssituation bestimmter Texte (z.B. Werbung) (und
zwar nicht nur bei Kommunikationssituationen, die vom Text selber verbal vor-
gestellt werden, sondern auch bei solchen, auf die der Text implizit verweist
(etwa über Präsuppositionen).
Allgemein kann man sagen, daß der besondere Gebrauch, den ein Sprecher
vom Medium Sprache macht, zumindest potentiell auf dieses Medium selber zu-
rückschlägt und es verändert 13 ; nur in einem solchen Spannungsraum zwischen
sprachlichen Mitteln einerseits und individuellem Gebrauch 14 andererseits ist
Sprachwandel denkbar und jene vieldiskutierte schöpferische Produktivität des
,native Speaker' möglich, — letzteres wohl nur teilweise gemäß Chomsky 15 . Un-
ter der Kategorie der Arbeit würde der Text als Medium bzw. eine Sprache als
Menge von Mitteln nicht nur ,Organ der Arbeit' sein, sondern zugleich auch
.Produkt der Arbeit', durchaus vergleichbar dem Beispiel der menschlichen Hand
bei Engels16.
Nun dürfen freilich solche Überlegungen nicht dazu verführen, auch den Text
qua Medium ausschließlich als ,Kulturgegenstand' im weitesten Sinne zu ver-
stehen. Hier kann das Bild der Hand täuschen, und doch wirkt es zugleich auch
belehrend. Die Hand ist ja auch .Naturgegenstand' 17 , und zwar in dem Sinne,
daß sie bei aller Entwicklung rückgebunden bleibt an biologische Wachstums-
gesetze usw. Andererseits macht es aber allein eine solche Doppelseitigkeit des
Gegenstands möglich, bei aller Geschichtlichkeit der textkonstitutiven Mittel
einerseits zurückzugehen auf die generellen Bedingungen und Faktoren einer
jeweiligen Textkonstitution, und andererseits entsprechende Untersuchungen
in systematischer Weise auf praktisch-emanzipatorische Bestrebungen zu bezie-
hen. Um es nochmals zu betonen: das ist mehr noch als jene heuristische Ver-
Zum Schluß bleibt uns noch die angenehme Pflicht, Herrn Dr. H. Genaust für
seine Mithilfe an der Publikation dieses Sammelbandes zu danken. Er hat sämtliche
Korrekturen mitgelesen und die Endredaktion des Index mit großer Umsicht be-
sorgt. Ohne seinen Einsatz wäre eine erhebliche Verzögerung des Erscheinens des
Bandes nicht zu vermeiden gewesen.
Singular, Plural und die Zahlen — wo steckt da das Problem? Singular ist „Ein-
zahl", Plural ist „Mehrzahl", und diese Frage bereitet seit den Pythagoreern, die
die Eins nicht zu den Zahlen rechneten, niemandem mehr Kopfzerbrechen1. Ich
meine nun aber, daß es interessant sein könnte, hier ein linguistisches Problem zu
entdecken. Das setzt eine bestimmte linguistische Theorie voraus. Ich wähle
eine Theorie, die sich an den Begriffen Kommunikation, Instruktion und Text
orientiert (mnemotechnisches Stichwort: C-I-T-Linguistik).. Das besagt insbe-
sondere für die syntaktischen Sprachzeichen, daß sie daraufhin befragt werden
sollen, welche Instruktion sie in einem Text für die Kommunikation geben.
Wenn man diese Bedingungen stellt, wird auch das Strukturproblem von Sin-
gular und Plural sowie das textlinguistische Problem der Zahlen erkennbar.
In den europäischen Sprachen, die keinen Dual (mehr) kennen, bilden Singu-
lar und Plural eine binäre Opposition, die Numerus-Opposition. Die Numerus-
Morpheme verbinden sich, bei geringen Unterschieden je nach den einzelnen
Sprachen, mit den drei Lexem-Klassen Verb, Nomen und Adjektiv und tragen
auf diese Weise zur textuellen Kongruenz bei. Wenn also in einem kurzen
Textsegment der französischen Sprache wie /les jeux sont faits/ der Plural
phonetisch zweimal und orthographisch sogar viermal bezeichnet wird, so ist
diese Erscheinung ein wichtiges Merkmal der Textualität.
Unter den Gesichtspunkten Kommunikation und Instruktion soll nun wei-
ter gefragt werden, inwiefern die Numerus-Morpheme als Anweisungen aufgefaßt
werden können, durch die ein Sprecher einem Hörer in einem Sprachspiel be-
1 Zur antiken Zahlentheorie vgl. insbesondere: B.L. van der Waerden, Die Arithmetik
der Pythagoräer, in: Mathematische Annalen 120 (1947/49), 127-153 und 676 bis
700. - Léon Robin, La théorie platonicienne des idées et des nombres, Paris 1908,
Nachdruck Hildesheim 1963.
2 H. Weinrich
Das sind nun aber nur die Kommunikanten im Singular. In Verbindung mit
den Morphemen des Plurals verändert sich das Modell der Kommunikanten
(die „Kommunikations-Ellipse") in charakteristischer Weise. Das Modell kann
ja nicht im Sinne einer trivialen Numerus-Auffassung „vermehrt" werden. Es
Textlinguistische Zahlentheorie 3
kann nur anders organisiert werden. Das geschieht auch tatsächlich, wenn die
Kommunikanten sich mit dem Plural-Morphem verbinden. Während das Singu-
lar-Morphem dem Hörer die Anweisung gibt, die Kommunikanten, die ja als
Terme einer Opposition unterscheidbar sind, auch tatsächlich zu unterscheiden,
wird der Hörer durch das Plural-Morphem angewiesen, die Unterscheidbarkeit
der Kommunikanten nicht zu aktualisieren und diese vielmehr zusammenzu-
fassen. Die Möglichkeit der Zusammenfassung beginnt bei zwei Elementen. Hier
beginnt also auch der Plural. Der „Sender-Plural" ist in diesem Sinne an die
folgenden Strukturbedingungen geknüpft: [+S], [+X]; zu lesen: verlangt wird die
Zusammenfassung des Senders [S] und mindestens eines weiteren Elementes
[X] (das kann der Empfänger und/oder ein Element aus der großen Restka-
tegorie des Referenten sein). Der „Empfänger-Plural" hat die Merkmale [+ E],
[+Y], [—SJ ; zu lesen: verlangt wird die Zusammenfassung des Empfängers
[E] und mindestens eines weiteren Elementes [Y], das nicht Sender sein darf.
Und der „Referenten-Plural" hat schließlich die Strukturformel: [+X], [+Y],
[—S], [—E]; zu lesen: verlangt wird die Zusammenfassung mindestens zweier
verschiedener Elemente, die beide weder der Sender noch der Empfänger sein
dürfen.
i 1
SENDER-PLURAL I [+S], [ + E ]
_J
S E N D E R - P L U R A L II [ + S ] , [+X], [ - E l
: EMPFÄNGER-PLURAL [ + E ] , [ + Y ] , [ — S]
REFERENTEN-PLURAL ( + X J , [ + Y ] , [ —SJ, [— EJ
4 H. Weinrich
Aus dieser kleinen Skizze wird nun deutlich, daß die Anweisungen der Nu-
merus-Morpheme, ebenso wie alle anderen syntaktischen Morpheme, auf die
Kommunikation bezogen sind und dem Hörer kommunikations-pragmatische
Hilfen für die Dekodierung anbieten. Daß nun überhaupt das Plural-Morphem
in diesem Zusammenhang eine Hilfe darstellt, ergibt sich aus der drei-elemen-
tigen Struktur des Kommunikanten-Modells. Wenn man ein Paradigma mit
drei Termen vor sich hat, ist es ökonomisch, mindestens zwei dieser Terme
zusammenfassen zu können. Das eben leistet das Plural-Morphem. Die Nu-
merus-Morpheme können daher als kommunikationssteuernde Signale ange-
sehen werden und erfüllen die textlinguistisch-pragmatischen Bedingungen,
die allgemein für Morpheme der Syntax gestellt sind.
Ich habe nun mehrfach den Begriff „Element" gebraucht, von dem be-
kannt ist, daß auch die Mathematik sich seiner bedient. Elemente sind in
der Mathematik (Mengenlehre) immer Elemente einer Menge. Diese Über-
einstimmung im Begriff ist mir nicht unangenehm, ich will sie vielmehr aus-
drücklich aufgreifen und thematisieren. Die Grammatik der Einzelsprachen
muß im Kapitel des Numerus so beschaffen sein, daß nicht nur weitere Ka-
pitel der Grammatik (Numeralia, Indefinita usw.) daran anschließen können,
sondern möglicherweise auch einige Kapitel unserer mathematischen Lehrbü-
cher. In diesem Sinne definiere ich nun die Numerus-Opposition Singular
vs. Plural wie folgt: Singular bedeutet Menge (von Elementen). Plural bedeu-
tet Elemente (einer Menge).
Die vorgestellten Definitionen bedürfen einiger Erläuterungen, damit sie
für die linguistische Argumentation nutzbar werden. Ich muß hier in aller
Kürze auf das Verhältnis von Syntax und Semantik zu sprechen kommen.
Gemeint ist natürlich, wie es sich im Rahmen einer Textlinguistik von selbst
versteht, eine Textsyntax und Textsemantik. Die Textsemantik fragt nun
nicht nach der Bedeutung eines Sprachzeichens in der Isolierung, sondern
interessiert sich an erster Stelle für die Bedeutung, die ein Sprachzeichen
in einem Text hat. Wir wollen diese die Text-Bedeutung oder Meinung nen-
nen und sie scharf von der Kode-Bedeutung oder Bedeutung schlechthin ua-
terscheiden. Die Meinung (Text-Bedeutung) eines Sprachzeichens im Text
unterscheidet sich von der Bedeutung (Kode-Bedeutung) dieses Sprachzei-
chens, wenn man es sich isoliert denkt, durch eine mehr oder minder starke
Determination, die vom sprachlichen und/ oder situativen Kontext geleistet
wird. Je nach der Länge und Beschaffenheit dieses Kontextes kann für die
je besonderen Zwecke eines Textes die Meinung eines Sprachzeichens nach
dem semantischen Umfang und Inhalt bestimmt („eingestellt") werden. Die
Textsemantik hat es daher insgesamt mit einer gleitenden semantischen Ska-
la zwischen dem Pol des Allgemeinen und dem Pol des je Besonderen zu
tun. Unter den textuellen Determinanten, die diese Textualisierung und Prä-
zisierung der Bedeutung zur mehr oder weniger konkreten Meinung besor-
gen, findet man nun an bevorzugter Stelle die Morpheme der Syntax. Ob
beispielsweise in der Umgebung eines Nomens ein bestimmter oder ein un-
bestimmter Artikel steht, das ist für den Hörer eine wichtige Instruktion, nach
der er entweder die Vorinformation (beim bestimmten Artikel) oder die Nach-
information (beim unbestimmten Artikel) zur Determination des entspre-
chenden Nomens heranziehen soll. Ähnliches gilt auch für die anderen Mor-
pheme der Syntax. Es gilt insbesondere auch für die Numerus-Morpheme.
Ob ein Nomen mit dem Singular-Morphem verbunden ist („im Singular steht")
oder mit dem Plural-Morphem verbunden ist („im Plural steht"), das instruiert
6 H. Weinrich
den Hörer bei der Dekodierung dieses Textsegmentes und verhilft ihm ins-
besondere dazu, für dieses Nomen die richtige, das heißt vom Sprecher ge-
wollte Einstellung auf der semantischen Skala zu finden. Ich unterstreiche
aber, daß diese Leistung nicht von den Numerus-Morphemen allein, sondern
immer in Konkomitanz mit anderen Morphemen vollbracht wird. Um aber
nun in der Analyse die Instruktion des Numerus-Morphems genau zu erfassen,
ist es notwendig, diese nicht mit den Instruktionen anderer syntaktischer
Morpheme zu verwechseln. Es darf insbesondere dem Numerus-Morphem
keine Funktion zugeschrieben werden, die der Artikel-Opposition bestimm-
ter Artikel vs. unbestimmter Artikel zukommt. Es kommt also darauf an,
genau die begrenzte Funktion zu erkennen, die jedes Morphem für sich hat
und die erst im Text im Zusammenwirken mit der Funktion anderer Mor-
pheme die gesamte textuelle Instruktion ergibt. Für das Problem von Singu-
lar und Plural besagt das insbesondere, daß mit dem Begriff der Menge nichts
über den Umfang der Menge gesagt ist, ebensowenig wie im Begriff des Ele-
mentes genaue Angaben über die Zahl der Elemente enthalten sind. Der Be-
griff der Menge (= Singular) hat also ein sehr weites Anwendungsfeld von
der jeweilig möglichen „Gesamtmenge" (= potentielle Vielheit) als oberem
Grenzfall bis zur „Einermenge" (= ein-elementige Menge) als unterem Grenz-
fall. Ob im Einzelfall dann die Menge mehr im Sinne der Gesamtmenge oder
mehr im Sinne der Einermenge oder schließlich im Sinne irgendeiner Teil-
menge zwischen den beiden Extremwerten gemeint ist, muß der Hörer aus
den zusätzlichen Anweisungen anderer syntaktischer Signale entnehmen.
In gleicher Weise ist im Begriff der Elemente (= Plural) nicht vorentschie-
den, ob es sich im oberen Grenzfall vielleicht um „alle möglichen", d. h.
alle vom Kode her zulässigen Elemente handelt oder im unteren Grenzfall
um nur zwei Elemente. Wenn der Hörer genaueres über die Zahl der bei ei-
nem Sprachspiel beteiligten Elemente erfahren soll, muß er auf die Zusatz-
informationen anderer syntaktischer Morpheme achten, insbesondere auf die
Zahlen (Zahlwörter).
Die Numerus-Morpheme mit der Opposition Singular vs. Plural stellen
also selber keine Zahlenangaben dar, sondern sind, wie alle grammatischen
Zeichen, Anweisungen zur Dekodierung des Textes, insbesondere im Hin-
blick auf das semantische Spiel der Bedeutungs-Determination zwischen den
Polen der Kode-Bedeutung und der Text-Bedeutung (Meinung).
Elementarzahlen
Wir wollen im folgenden annehmen, daß ein Hörer zur Dekodierung eines
Textes, insbesondere zum genauen Verständnis eines Nomens, präzisere An-
Textlinguistische Zahlentheorie 1
Weisungen erhalten will oder erhalten soll. Für diesen Zweck gibt es in> der
Syntax ein Paradigma der Zahlen (Numeralia, Zahlwörter). Es ist nun für
die weitere Argumentation unerläßlich, über die Zahlen nicht nach mathe-
matischen, sondern nach linguistischen Spielregeln nachzudenken. Man soll-
te sich daher die Zahlen auch nicht in symbolischer — arabischer oder rö-
mischer — Notation vorstellen, sondern in ihrer Lautgestalt, und zwar in
der jeweilig einzelsprachlichen Lautgestalt. Um diese Bedingung nicht aus
den Augen zu lassen, argumentiere ich auch im folgenden an den Zahlwör-
tern der französischen Sprache als einer Fremdsprache weiter. Alle Formen
des mathematischen Universalismus bleiben also einstweilen im Hinter-
grund.
Wenn man die Zahlen einer gegebenen Einzelsprache nach diesen Spiel-
regeln untersucht, muß als erstes die Frage aufgeworfen werden, ob diese
Zahlen überhaupt ein Paradigma im Sinne der Grammatik bilden. Die Ma-
thematik hat uns ja daran gewöhnt, uns die Zahlenreihe als unendlich vor-
zustellen. Ein unendliches Paradigma wäre aber ein Widerspruch im Begriff.
Nun kann man aber für die französische Sprache (und analog dazu für andere
Einzelsprachen) mühelos den Nachweis führen, daß diese Morpheme, wie
alle anderen grammatischen Morpheme, tatsächlich ein endliches und über-
schaubares Paradigma bilden 1 . Diese Morpheme erfüllen darüber hinaas, wie-
derum in Analogie zu den anderen Morphemen der Grammatik, die Bedin-
gungen der morphologischen Kürze und der relativ hohen Frequenz in der
Sprache. In diesem Sinne kann man feststellen, daß das Paradigma der mit
dem Plural-Morphem kombinierbaren Zahlen in der französischen Sprache
genau 22 Zahlmorpheme umfaßt. Es sind die folgenden: deux, trois, quatre,
cinq, six, sept, huit, neuf, dix, onze, douze, treize, quatorze, quinze, seize,
vingt, trente, quarante, cinquante, soixante, cent, mille. In Belgien, Kanada,
der französischen Schweiz und in Teilen Ostfrankreichs ist dieses Paradigma
noch um drei Zahlmorpheme erweitert, nämlich septante, octante/huitante,
nonante. Außerhalb dieser Regionen kennt der französische Sprachgebrauch
diese drei Zahlmorpheme nicht; sie werden jedoch verstanden.
Die unendliche Zahlenreihe, deren sich die Mathematik bedient, wird nicht
durch Erweiterung dieses Paradigmas, sondern durch Kombinatorik seiner
Morpheme zustande gebracht. Dabei gelten für die gesprochene französische
Sprache die folgenden Kombinationsregeln:
1. Wenn die kleinere Zahl der größeren nachfolgt, wird sie ihr additiv zuge-
rechnet (cent cinq = 100 + 5).
1 Vgl. hierzu (in der Theorie abweichend) Georges Gougenheim, Système grammati-
cal de la langue française, Paris 1938, p. 68 s.
8 H. Weinrich
2. Wenn die kleinere Zahl der größeren voraufgeht, wird sie ihr multiplika-
tiv zugerechnet (cinq cents = 5 x 100).
Die beiden Typen der Kombinatorik lassen sich ihrerseits noch einmal
kombinieren; auf diese Weise erhält man beispielsweise den Zahlenwert 82:
quatre-vingt-deux und andere Zahlenwerte bis 999.999 als Höchstwert. Jen-
seits dieses Höchstwertes werden die sehr großen Zahlenwerte der französi-
schen Sprache mit Nomina gebildet, z. B. un million, deux milliards, trois
billions.
Alle diese Zahlmorpheme verbinden sich im Text mit dem Plural-Mor-
phem. Da wir nun vom Plural gesagt haben, daß er die Elemente einer Menge
bezeichnet, können wir die 22 Zahlmorpheme Elementarzahlen nennen.
Diese Elementarzahlen sind aber, wie alle Morpheme der Grammatik, für
den Gebrauch in Texten bestimmt. Ich gebe dafür ein Textbeispiel und wäh-
le die bekannte Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung nach dem
Evangelisten Lukas in französischer Version:
Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent:
Renvoie cette multitude, afin quils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont
aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans
un lieu désert.
Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous n'avons
que cinq pains et deux poissons; à moins que nous n'allions acheter des vivres pour
tout ce peuple.
Car ils étaient environ cinq mille hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-
les asseoir par rangs de cinquante personnes chacun.
Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir.
Alors Jésus prit les cinq pains et les deux poissons, et levant les yeux au ciel,
il les bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant
le peuple.
Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta douze paniers pleins
de morceaux qui restèrent (Luc IX, 1 2 - 1 7 ) .
Mengenzahlen
Es war bisher nur von den Elementarzahlen die Rede, jenen (anaphorischen
oder kataphorischen) Numeral-Artikeln also, die sich mit dem Plural verbin-
den lassen. Ihr niedrigster Wert ist deux (les deux). Die Zahl mit dem Zah-
lenwert 1 gehört nicht zu diesem Paradigma. Es verläuft also eine sprach-
liche Strukturgrenze zwischen dem Zahlenwert 1 und allen anderen Zahlen-
werten der Zahlenreihe. Die linguistische Mathematik ist eine pythagoreische
Mathematik. Denn man kann in einer linguistischen Analyse nicht ohne wei-
teres davon absehen, daß sich die Morpheme mit dem Zahlenwert 1 nicht
mit dem Plural-Morphem, sondern mit dem Singular-Morphem verbinden.
Es handelt sich also im prägnanten Sinne der oben gegebenen Definition
des Plurals nicht um Elementarzahlen. Die Morpheme mit dem Zahlenwert
1 sind Mengenzahlen. Ich habe hier nun absichtlich gesagt: die Morpheme
mit dem Zahlenwert 1. Tatsächlich gibt es in der französischen Sprache,
analog zu den Elementarzahlen, auch für die Mengenzahl mit dem Zahlen-
wert 1 eine doppelte Form, je nach der textuellen Verwendung als anapho-
risches oder kataphorisches Signal. Nur für die Verwendung als kataphorisches
Signal hat die Mengenzahl die von der (sprechenden) Mathematik favorisierte
Form un (une). Diese Form ist strukturell identisch mit dem unbestimmten
Artikel. Für den wesentlich häufigeren Gebrauch als anaphorisches Signal
hat jedoch die Mengenzahl die Form le (la) und ist in dieser Form struk-
turell identisch mit dem bestimmten Artikel. In der textuellen Verwendung
10 H. Weinrich
verhält sich also die Form un zu der Form le ebenso, wie sich die Form
deux zu der Form les deux verhält.
Nach den vorausgehenden Überlegungen ist es wohl eindeutig, daß von
der (singularischen) Mengenzahl im Unterschied zu den (pluralischen) Ele-
mentarzahlen überhaupt nur mit Vorbehalten und Einschränkungen gesagt
werden darf, sie habe den Zahlenwert 1. Es kann ja keine Rede davon sein,
daß die Morpheme un (une) und le (la), die diesen Numeral-Artikel im Sin-
gular ausdrücken, immer einen Gegenstand bezeichnen. Die Auffassung als
Menge besagt ja gerade, daß der Hörer die Zahl und Verschiedenheit der
Gegenstände, die möglicherweise unter einer Bedeutung zusammengefaßt
sind, als irrelevant ansehen soll. Nur in diesem Sinne kann von einer „Ein-
heit" gesprochen werden; die Aufmerksamkeit des Hörers wird auf die Ge-
meinsamkeit der Menge hingelenkt und von einer möglicherweise in ihr ent-
haltenen Vielheit verschiedener Elemente abgelenkt. Das gilt sowohl bei ana-
phorischer als auch bei kataphorischer Verwendung. Ich will das in den fol-
genden knapp gefaßten Beispielen für die Extremwerte der Gesamtmenge
und der Einermenge kurz illustrieren.
1. Gesamtmenge:
/Le pain est une nourriture fondamentale./
jII faut savoir préparer un poisson./
Der Hörer kann in beiden Fällen den Singular (le pain, un poisson) als Gesamt-
menge interpretieren, d.h. über alle möglichen Unterschiede zahlloser Brote und
Fische hinwegsehen, und zwar auf Grund der vorhandenen (und fehlenden!) Zu-
satzsignale im Kontext dieser kurzen Texte.
2. Einermenge:
/Jesus prit un pain et le donna à ses disciples./
/Dieu avait envoyé un grand poisson pour engloutir Jonas, et Jonas de-
meura dans le ventre du poisson trois jours et trois nuits./
Hier kann der Hörer jeweils den Singular {un pain, du poisson) als Einer-
menge interpretieren, weil der Kontext, insbesondere wegen der in ihm
enthaltenen Eigennamen, ausreichend präzise Determinanten enthält. Nur
unter textuellen Bedingungen wie den hier skizzierten ist der Singular tat-
sächlich „Einzahl" in dem Sinne, daß er sich auf einen einzelnen Gegen-
stand bezieht.
Es kommt also, wie bei allen Sprachzeichen, auf den Kontext an. Das
zeigt sich auch darin, daß die Mengenzahl un (une) unter bestimmten Be-
dingungen mit gewissen Elementarzahlen kombinierbar ist, z. B. in den Zah-
len vingt-et-un, quatre-vingt un, cent un, un million usw. In diesen Kombi-
nationen ist un (une) Bestandteil einer Elementarzahl, und auch die textuel-
le Kongruenz wird mit Pluralmorphemen hergestellt (vingt-et-un députés ont
Textlinguistische Zahlentheorie 11
Ordinalzahlen
Elementarzahlen und Mengenzahlen entsprechen zusammen den Kardinal-
zahlen der Mathematik. Von ihnen sind bekanntlich die Ordinalzahlen zu
unterscheiden. Diese bilden ebenfalls ein doppeltes Paradigma, je nachdem
ob sie anaphorische oder kataphorische Funktion im Text haben. Die ana-
phorische Reihe (le premier, le second oder le deuxième, le troisième . . .)
ist jedoch wesentlich häufiger als die kataphorische Reihe (un premier, un
second oder un deuxième, un troisième . . .). Dieser Unterschied in der Fre-
quenz entspricht insgesamt einer Distribution, wie sie für den bestimmten
und den unbestimmten Artikel charakteristisch ist. Ordinalzahlen sind nun
ebenfalls auf die Begriffe Menge und Element bezogen. Sie greifen aus einer
Menge entweder ein Element (= Singular) oder mehrere Elemente (= Plural)
heraus und geben deren Reihenfolge in der Menge an. Die Reihenfolge der
Elemente bei pluralischen Ordinalzahlen verweist dabei entweder auf die
Anordnung in der Textfolge oder auf die Anordnung in der Situation. Da-
mit kommt ein neuer Gesichtspunkt in die linguistische Zahlentheorie. Wäh-
rend die Kardinalzahlen nur die Alternative Menge oder (mehrere) Elemente
kennen, können die Ordinalzahlen aus einer Menge auch ein Element zur
Unterscheidung herausgreifen: le premier, le second, le troisième (...); dieses
ist jeweils ein Element, das zu unterscheiden ist von den anderen Elementen
dieser Menge, die auf diese Weise als geordnete Menge erscheint. Die Oppo-
sition zwischen Mengenzahlen und Elementarzahlen ist folglich bei den Ordinal-
zahlen neutralisiert.
Mit einer Kombination von Kardinalzahlen (fur den Zähler) und Ordinal-
zahlen (für den Nenner) drückt man in der französischen Sprache Bruchzah-
len aus (trois dixièmes = 3/10). Ich will auf Zusammenhänge wie diese hier
nur kurz aufmerksam machen, um darauf hinzuweisen, daß auch solche ma-
thematischen Zahlenbildungen wie Bruchzahlen usw. grundsätzlich einer text-
linguistischen Betrachtungsweise zugänglich sind. Die eigentlichen mathema-
tischen Operationen wie Addition, Multiplikation usw. müssen dabei natür-
lich zusätzlich auf andere Kapitel der Grammatik (Konjunktionen, Präposi-
tionen usw.) bezogen werden. Auch hier ist jedenfalls die mathematische Ope-
ration, die ein bestimmtes mathematisches Kalkül in Gang bringt, grundsätz-
lich als ein Sonderfall jener sprachlichen Anweisungen aufzufassen, die von
der Instruktions-Linguistik für alle Sprachzeichen angenommen werden.
12 H. Weinrich
Rundzahlen
Zahlen sind genaue Numeral-Artikel. Wir können nun in diese ganze Betrach-
tungsweise die sogenannten Indefinita der Grammatik dadurch einbeziehen,
daß wir sie als Rundzahlen auffassen, die nur ungenaue Annäherungswerte
geben1. Die Rundzahlen der französischen Sprache sind nun in ihrer Unge-
nauigkeitsstruktur insgesamt dadurch bestimmt, daß die als Menge von Ele-
menten aufgefaßte Bedeutung in eine größere und eine kleinere Teilmenge
gegliedert wird. Die größere Teilmenge enthält die Mehrzahl der Elemente,
die kleinere Teilmenge enthält die Minderzahl der Elemente. Man kann diese
Struktur durch ein kleines Schaubild verdeutlichen, das ich den Mengenraum
nennen will:
9
peu de .wenige'
moins de .weniger'
(. . .)
•Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent:
Renvoie cette multitude, afin qu'ils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont
aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans
un lieu désert.
Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous n'avons
que peu de pains et trèus peu de poissons; à moins que nous n'allions acheter des
vivres pour tout ce peuple.
Car ils étaient beaucoup d'hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-les asseoir par
rangs de plusieurs personnes chacun.
Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir.
Alors Jésus prit les quelques pains et poissons, et levant les yeux au ciel, il les
bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant le peuple.
Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta bien des paniers pleins
de morceaux qui restèrent.
Der Sinn der Parabel läßt diese Texttransposition in gewissen Grenzen zu, wenn
man voraussetzt, daß für die beteiligten Personen (der biblische Erzähler, Jesus,
die Jünger) die ganze Situation einschließlich des Wunders grundsätzlich zu den
erwartbaren Ereignissen gehört. Am Anfang steht zwar eine Erwartungsdifferenz:
Jesus scheint angesichts der vielen Menschen gar nicht die Schwierigkeit zu be-
denken, wie sie alle zu beköstigen sind. Er scheint also die geringe Zahl der
Brote und Fische nicht zu erwarten. Aus diesem Grunde geben ihm die Jünger
mit dem Morphem ne ... que zu erkennen, daß er seine Erwartungen herabset-
zen muß. Dadurch wird der Gleichstand der Erwartungen hergestellt, und es
können nun immer erwartete Rundzahlen folgen, sowohl für die vielen Personen
(beaucoup d'hommes, plusieurs personnes) als auch für die wenigen Nahrungs-
mittel (les quelques pains et poissons), bis schließlich die (grundsätzlich erwart-
bare) wunderbare Vermehrung der Brote und Fische (bien des paniers) den Kon-
trast aufhebt.
Unerwartete Rundzahlen
füllt werden können. Das vermutet auch der Sprecher, und so stellt er sich
mit seiner Erwartungs-Erwartung auf die abweichende Erwartung des Hörers
ein und korrigiert sie mit seinen unerwarteten Rundzahlen. Ich stelle das im
folgenden Schaubild so dar, daß der Mengenraum des Hörers und der (gleich
strukturierte) Mengenraum des Sprechers u m 180° gegeneinander gedreht
sind:
beaucoup de .viele'
bien des .ziemlich viele'
pas mal de .nicht wenige'
moins de .weniger' quantité de .eine Menge (von)'
trop peu de ,zu wenige' nombre de .eine Anzahl (von)'
si peu de ,so wenige' de nombreux .zahlreiche'
(...) (• • •)
•Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent:
Renvoie cette multitude, afin qu'ils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont
aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans
un lieu désert.
Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous avons
moins de pains et de poissons que tu ne penses; à moins que nous n'allions acheter
des vivres pour tout ce peuple.
Car il y avait trop d'hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-les asseoir par
rangs de cinquante personnes chacun.
Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir.
Alors Jésus prit plus de pains et de poissons qu'ils n'avaient pensé, et levant les yeux
au ciel, il les bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant
le peuple.
Textlinguistische Zahlentheorie 17
Es ist an dieser Version des Textes erkennbar, daß bei Jesus zunächst ei-
ne überschießende Erwartung in bezug auf die Quantität der Brote und Fi-
sche zu bestehen scheint. Während in der authentischen Version und in mei-
ner ersten Veränderung diese Erwartungsdifferenz durch die Anweisung ne ...
que ausgeglichen wird, habe ich dieses Signal nun ausgelassen. Nun wird die
überhöhte Erwartung durch die Rundzahl selber ausgeglichen, und es steht
eine unerwartete Rundzahl (moins de pains et de poissons). Der Erzähler
stellt dann das Mißverhältnis zwischen der Zahl der Personen und der Zahl
der Brote und Fische „objektiv" fest: es widerspricht der Norm jeder Erwar-
tung (trop d'hommes). Am Ende des Textes habe ich jetzt glaubensschwä-
chere Textadressaten angenommen, deren niedrig gestimmte Erwartung von
dem Erzähler nach oben hin korrigiert wird (plus de paniers).
Die unerwarteten Rundzahlen treten nur als kataphorische Rundzahlen
auf. Wären sie anaphorisch, kämen sie nicht mehr unerwartet. Die katapho-
rische Anweisung der unbestimmten Rundzahlen richtet die Aufmerksam-
keit des Hörers auf die Nachinformation, in der nach der Korrektur der fal-
schen Erwartung nunmehr die richtige Instruktion gegeben werden kann.
Häufig ist das im Text dann auch gleichzeitig eine genaue Anweisung, also
keine Rundzahl, sondern eine Zahl, deren Wert sich auch in Ziffern ausdrücken
läßt.
Allquantoren
Der obere Grenzwert aller Zahlen wird durch ein Morphem bezeichnet, das
wir mit einem Ausdruck der Logik den Allquantor nennen wollen. Der All-
quantor hat in der französischen Sprache verschiedene Formen je nach seiner
Funktion im Text und entspricht damit paradigmatisch den anderen Nume-
ral-Morphemen1:
1 Vgl. Sven Andersson, Etudes sur la syntaxe et la sémantique du mot français tout,
Lund 1954 (Etudes romanes de Lund 11). - Ders., Nouvelles études sur la syntaxe
et la sémantique du mot français tout, Lund 1961 (Etudes romanes de Lund 14).
- Ders., Quelques glanures syntaxiques sur le mot français tout, Studia Neophilolo-
gica 42 (1970), 7 2 - 8 9 . - Christian Rohrer, Zur Bedeutung von ,tout'und .chaque'
im Französischen, in: Interlinguistica. Sprachvergleich und Übersetzung. Festschrift
zum 60. Geburtstag von Mario Wandruszka, Tübingen 1971, p. 5 0 9 - 5 1 7 .
18 H. Weinrich
Die Instruktion für den Hörer besteht darin, daß dieser angewiesen wird,
unter den Determinationsangeboten der Vorinformation (beim anaphorischen
Allquantor) oder der Nachinformation (beim - seltenen - kataphorischen
Allquantor) keine Auswahl zu treffen. Der Hörer wird vielmehr zum textuel-
len Resümee eingeladen. Unter diesen Bedingungen steht der Allquantor auch
jenseits der Unterscheidung von Zahlen und Rundzahlen sowie von erwarte-
ten oder unerwarteten Rundzahlen. Was die Unterscheidung von Kardinal-
zahlen und Ordinalzahlen betrifft, so ist er den Kardinalzahlen zuzurechnen.
Als Ordinalzahl gibt es in der französischen Sprache einen eigenen Allquan-
tor. Er hat die invariable Form chaque (die freie Form, variabel nach dem Ge-
nus, heißt chacun, chacune), wobei auch die Opposition Singular vs. Plural neu-
tralisiert ist. Das Archimorphem des Numerus wird durch den Singular ver-
treten (chaque pain a été béni). Der Allquantor chaque weist den Hörer an,
alle in einer geordneten Reihe (le premier pain, le second pain, le troisième
pain u s w j aufzählbaren Determinanten des Textes anzunehmen und fur die
Dekodierung des Nomens zu verwenden. Seine Anweisung ist anaphorisch.
Es ist wohl unvermeidlich, daß die hier vorgetragene Auffassung auf den ersten
Blick einiges Befremden auslöst. Sie ist ja, so scheint es, nicht mit den Grund-
lagen der nachpythagoreischen Mathematik, oder sagen wir einfacher: des bür-
gerlichen Rechnens („nach Adam Riese") in Einklang zu bringen, die uns seit
unseren frühesten Lebensjahren bekannt und geläufig sind, so daß sie norma-
lerweise jeglicher Kritik und Grundlagen-Revision entzogen sind. Warum soll-
te man sie auch revidieren, so mag wohl jemand einwerfen, da man mit ihnen
doch offenbar erfolgreich rechnen kann? Ich will das auch nicht bezweifeln.
Der Gewinn bei der hier vorgeführten Analyse soll nicht darin bestehen, daß
man auf diese Weise besser (aber auch nicht schlechter!) rechnen kann, sondern
daß hiermit eine Möglichkeit eröffnet wird, Grammatik und Zahlentheorie
Text linguistische Zahlentheorie 19
Der Begriff der Pro-Form 1 , der in der neueren linguistischen Literatur eine
große Rolle spielt, ist eine Verallgemeinerung des traditionellen Begriffs „Pro-
nomen". So wie ein Pronomen stellvertretend fur ein Nomen (genauer: eine
NP) steht, so steht eine Pro-Form stellvertretend für eine grammatische Kate-
gorie beliebiger Art. Die Interpretation der Pronomina als besonderer Wort-
art erweist sich daher als unangebracht: Mit dem gleichen Recht, mit dem man
Pro-Formen für Nominalphrasen als eine Klasse zusammenfaßt, müßte man
das auch mit den Pro-Formen für andere Kategorien — also z.B. Pro-Adjek-
tiven und Pro-Adverbialen — tun. Natürlich würde man damit jedoch eine
wichtige Verallgemeinerung unterdrücken, nämlich daß Pro-Formen immer
den gleichen kategoriellen Status haben wie die Formen, die sie vertreten.
Harris definiert Pro-Formen - die er „pro-morphemes" nennt - folgen-
dermaßen:
1 Statt „Pro-Form" finden sich in der linguistischen Literatur noch andere Termini,
so unter anderem „Pro" (Jerrold Katz - Paul Postal, An Integrated Theory of Lin-
guistic Descriptions, Cambridge (Mass.) 1964), „designated element", „designated
representative" und „abstract dummy element" (Noam Chomsky, Current Issues
in Linguistic Theory, The Hague 1964), „pro-morpheme" (Zellig S. Harris, Co-Occur-
rence and Transformation in Linguistic Structure, Language 33 (1957), 283-340),
„pro-formative" (Robert Lees, The Grammar of English Nominalizations, Blooming-
ton Ind. 1960) und „pro-Element" (Wolfdietrich Härtung, Die zusammengesetzten
Sätze des Deutschen, Berlin (Studia grammatica IV) 1964; Wolfgang Mötsch, Können
attributive Adjektive durch Transformationen erklärt werden? , Folia Linguistica 1
(1967), 23-48).
Pro-Formen des Deutschen 21
(which occupies the stated position relative to them). Such morphemes will be called
pro-morphemes of the class Y, or pro-Y.
Zellig S. Harris, Co-occurrence and Transformation in Linguistic Structure, Language
33 (1957), 2 8 3 - 3 4 0 , p. 301s.
Each major category has associated with it a „designated element" as a member. This
designated element may actually be realized (e.g., it for abstract nouns, some (one
thing)), or it may be an abstract „dummy element". It is this designated representa-
tive of the category that must appear in the underlying strings for those transfor-
mations that do not preserve, in the transform, a specification of the actual ter-
minal representative of the category in question."
Noam Chomsky, Current Issues in Linguistic Theory, The Hague 1964, p. 41.
2 Eine „major category" ist eine lexikalische Kategorie sowie jede andere Kategorie,
die eine Kette . . . X . . . dominiert, wobei X eine lexikalische Kategorie ist (cf.
Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge [Mass.] 1965).
3 Chomskys Bemerkung, daß es dieser ^designated representative" ist, der tilgbaren
Elementen zugrunde liegt, bezieht sich offenbar nur auf die unbestimmten Pro-For-
men, denn bestimmte Pro-Formen sind ja a) noch nicht in der zugrundeliegenden
Struktur vorhanden (sie werden durch Transformationen eingeführt), b) in vielen
Sprachen (z. B. im Englischen und Deutschen) nicht weglaßbar.
22 H. Vater
nur die allgemeinsten Merkmale der jeweiligen Kategorie besitzen, nicht aber
die spezifischeren, können sie ihre Stellvertreter-Funktion ausüben.
So hat die Pro-Form jemand nur die Merkmale [+N] und [+Menschlich]4
und kann daher sowohl für Junge als auch für Mann stehen, denn es ist nicht
für [+Erwachsen] spezifiziert; ebenso kann jemand auch für Frau stehen,
da es nicht für [+Männlich] spezifiziert ist.
Die Pro-Form er andrerseits kann zwar auch für Junge und Mann eintre-
ten, nicht aber für Frau; jedoch kann er auch Tisch oder Baum oder Hund
repräsentieren: Er enthält neben dem Merkmal [+N] nur noch das (morpho-
logisch-syntaktische) Merkmal [+Maskulin], das es ihm ermöglicht, für Lebe-
wesen und Nicht-Lebewesen einzutreten. Da Bezeichnungen für weibliche
Lebewesen im Deutschen aber immer feminines Genus haben5, kann er nicht
für Frau eintreten.
Renate Steinitz schränkt in ihrem Artikel „NominalePro-Formen" 6 den
Kreis der Pro-Formen auf diejenigen ein, die bereits im Text erwähnte sprach-
liche Formen mit gleicher Referenz aufnehmen. Sie sieht „Pro-Fortführung"
also stärker unter dem Gesichtspunkt der Referenzkennzeichnung als unter
dem der Ersetzungsfunktion. Nicht das stellvertretende Vorkommen für ein
Element der gleichen sprachlichen Kategorie ist für sie entscheidend, sondern
das Wiedervorkommen eines Referenzträgers7 im gleichen Text, wobei das
erste Vorkommen eines Referenzträgers die Markierung [—m] (nicht vorer-
wähnt) erhält und jedes neue Vorkommen des gleichen Referenzträgers inner-
halb desselben Textes die Markierung [+m] (vorerwähnt). Steinitz' Begriff
der Pro-Form ist damit einerseits enger als der oben angeführte, da Formen
wie jemand und etwas — die ja nicht Wiederaufnahmen anderer sprachlicher
Formen mit gleicher Referenz sind — außerhalb der Betrachtung bleiben; an-
drerseits ist er weiter, da alle Sprachformen, die als Wiederaufnahme eines
8 Das Beispiel ist Steinitz, Pro-Formen, entnommen und hat dort ebenfalls die Nummer
(1).
9 Die meisten der von Chomsky, Aspects, als „syntaktische Merkmale" bezeichneten Merk-
male werden von anderen Linguisten (z.B. Katz, Semantic Theory) als „semantische
Merkmale" bezeichnet. Chomsky selbst diskutiert das Problem der Abgrenzung
von semantischen und syntaktischen Merkmalen (Aspects, p. 75 und 153ss.). So
sagt er über die Subkategorisierung mit Hilfe syntaktischer Merkmale (Aspects,
p. 75): it is not obvious to what extent this information should be provided
by the syntactic component at all". Bechert faßt beide Merkmalgruppen als „seman-
tosyntaktische Merkmale" zusammen (Johannes Bechert, Ad-hoc-Merkmale in der
generativen Phonologie, in: Dieter Wunderlich (Hg.), Probleme und Fortschritte der
Transformationsgrammatik: Referate des 4. Linguistischen Kolloquiums Berlin 1969,
München 1971, p. 2 9 - 3 7 , hier p. 29).
10 Das Problem der Abgrenzung echter Pronomina von Substantiven, die eine Obermen-
ge bezeichnen, wird u. a. auch diskutiert von Emmon Bach, Nouns and Noun Phra-
ses, in: E. Bach - R. Harms (Hg.), Universals of Linguistic Theory, New York 1968,
p. 91-122, ferner auch von Friedrich Braun, Studien zu Konstituentenstruktur und
Merkmalanalyse englischer Sätze, Hamburg 1969. Bach erwähnt auch Fälle, wo ne- •
gative Oberbegriffe (wie idiot) als eine Art Pro-Form benutzt werden, z. B. in
Nave you heard from Algernon lately? - The idiot called me up yesterday. Steinitz
erörtert sehr interessante Fälle, wo das den Oberbegriff bezeichnende Substantiv zur
Wiederaufnahme ungeeignet ist; so kann man z. B. nach Satz (1 a) nicht fortfahren:
*Dieses Lebewesen war mit einem Gummiknüppel bewaffnet.
24 H. Vater
12 Im Deutschen, wie auch in einigen anderen Sprachen (z. B. im Englischen und Fran-
zösischen) besteht anscheinend eine Lücke im System der Fragepronomina: Man
kann nach Personen und nach Sachen (einschließlich Pflanzen) fragen, aber es gibt
keine spezifischen Fragepronomina für Tiere. Man kann im Deutschen mit gutem
Gewissen weder fragen Wer hat die Milch aufgeleckt? (wenn man nicht sicher ist,
was für ein Tier das getan hat) noch Was hat die Milch aufgeleckt? Trotzdem scheint
wer - wie auch hier in (2) - Bezug auf Tiere nehmen zu können, nämlich dann,
wenn Tiere und Menschen gleichermaßen in Frage kommen.
26 H. Vater
(b) Aus stilistischen Gründen (z. B. um die Spannung zu erhöhen oder sei-
ner Aussage größeren Nachdruck zu verleihen) macht der Sprecher zu-
nächst eine unspezifische Angabe, die er dann selbst spezifiziert. Das
ist in (6), (7) und (8) der Fall. Alternative Ausdrucksweisen, die sich
von der gleichen Tiefenstruktur ableiten lassen und nicht den gleichen
(Spannungs- oder Emphase-) Effekt haben, wären (6'), (7') und (8').
(c) Die Wahl einer unspezifischen Pro-Form kann bedeuten, daß der Spre-
cher keine genaueren Angaben machen kann (ohne aber, wie in (a), um
Spezifizierung zu bitten) oder will (aus Gründen der Höflichkeit, Vor-
sicht usw.). Wenn in diesem Fall eine spätere Spezifizierung durch einen
zweiten Sprecher erfolgt, so ist das eine mögliche, aber keine notwen-
dige Konsequenz aus der Äußerung der unspezifizierten Pro-Form, denn
der erste Sprecher hat nicht zum Ausdruck gebracht, daß er eine Er-
gänzung seiner Angabe erwartet 1 4 . Fall (c) wird illustriert durch die Bei-
spiele (3), (4) und (5). Die Äußerung des ersten Sprechers in (3) kann
eine einfache Feststellung sein, die vom Angesprochenen (bzw. den An-
gesprochenen) kommentarlos hingenommen wird. Auf die Frage in (4)
würde auch Ja als Antwort genügen (z. B. wenn es nur darauf ankommt,
daß die Fenster überhaupt zugemacht wurden, damit es nicht reinregnet).
Der erste Satz in (5) wäre eine in sich vollständige Äußerung, und die Spe-
zifizierung durch den zweiten Sprecher könnte dem ersten Sprecher so-
gar unangenehm sein (sei es, daß er Annas Namen nicht in diesem Zusam-
menhang erwähnt wissen will, sei es, daß er die Art, in der Sprecher B
sein Wissen ungefragt zum besten gibt, nicht leiden kann) — aber hier,
wie auch in (3) und (4) ist die spätere Spezifizierung durchaus möglich.
Ich halte die in (A) und (B) genannten Gemeinsamkeiten der unbestimmten
(oder unspezifizierten) Pro-Formen mit den bestimmten für entscheidend ge-
nug, um beide Gruppen gemeinsam als Pro-Formen anzusehen. Charakteristisch
für Pro-Formen wäre demnach a) ihre (auf einem Minimum an Merkmalen be-
ruhende) Möglichkeit, stellvertretend für andere sprachliche Elemente der glei-
chen Kategorie einzutreten, b) die Tatsache, daß sie auf eine „ausspezifizier-
te" sprachliche Form im gleichen Text mit identischer Referenz verweisen
oder — wie das bei den unbestimmten Pro-Formen der Fall ist — zum minde-
sten verweisen können.
i s Das trifft ohne Einschränkungen jedoch nur für unbestimmte Pro-Formen zu (cf. N 3).
28 H. Vater
tionsregeln eingeführt 16 . Die Alternative dazu bildet die Annahme eines syn-
taktischen Merkmals [+Pro]. So verfährt z. B. Postal, der nicht nur alle un-
bestimmten, sondern auch einen Teil der bestimmten nominalen Pro-Formen
auf ein Merkmal [+Pro] in einem N der Tiefenstruktur zurückfuhrt 17 . Ähn-
lich verfahren auch Mötsch und Vater 18 .
Weitaus eingehender als mit den unbestimmten Pro-Formen haben sich die
Linguisten in den letzten Jahrzehnten mit den bestimmten, durch Transfor-
mationen eingeführten, Pro-Formen befaßt. Für die Einsetzung bestimmter
Pronomina gilt dabei im wesentlichen noch immer die von Lees und Klima
1963 entwickelte Pronominalisierungsregel 19 :
Voraussetzung ist dabei die Identität von Nom und Nom', wobei Nom (nach
Lees und Klima) eine Konstituente des Matrixsatzes und Nom' eine Konsti-
tuente des eingebetteten Satzes ist.
Was sich seit Formulierung dieser Regel 1963 geändert hat, sind im wesent-
lichen zwei Dinge:
(a) Der Kreis der auf diese Weise eingeführten Pronomina ist erweitert wor-
den;
(b) die Bedingungen für die Durchführung dieser Transformation wurden
modifiziert.
Zu den Pronomina, die man zunächst nicht durch die Pronominalisierungs-
regel einführte, gehören die Personalpronomina der ersten und zweiten Per-
son. Diese Pronomina werden z. B. bei Mötsch und Postal als Kategorien
der Basis, also durch Formationsregeln, eingeführt 20 . Mit Recht kritisiert
16 So z.B. bei Manfred Bierwisch, Grammatik des deutschen Verbs, Berlin 1963 (Stu-
dia grammatica II) und bei Härtung, Die zusammengesetzten Sätze.
17 Paul Postal, On so-called ,pronouns' in English, in: Dinneen (Hg.), Report on the
Seventeenth Annual Round Table Meeting on Linguistics and Language Studies,
Washington 1966, p. 1 7 7 - 2 0 6 .
18 Mötsch, Attributive Adjektive; Heinz Vater, Zur Tiefenstruktur deutscher Nominal-
phrasen, in: Hugo Steger (Hg.), Vorschläge für eine strukturale Grammatik des Deut-
schen, Darmstadt 1970, p. 1 2 1 - 1 4 9 .
19 Robert Lees, E. Klima, Rules for English Pronominalization, Language 39 (1963),
17-28.
20 Wolfgang Mötsch, Untersuchungen zur Apposition im Deutschen, in: Studia gramma-
tica V, Berlin 1965, p. 8 7 - 1 3 2 . Cf. auch N 17.
Pro-Formen des Deutschen 29
Boeder diesen Ansatz und weist nach, daß die Restriktionsbeziehungen die-
ser Pronomina und die Referenzbeziehungen, die eindeutig zwischen ihnen
und dem Sprecher der Äußerung bzw. dem Angeredeten herrschen, eine an-
dere Erklärung verlangen 21 . Die Lösung findet er in der Einfuhrung zweier
Konstituenten, die Sprecher und Angeredeten (bzw. Vokativ) bezeichnen,
und der obligatorischen Pronominalisierung aller in einem Satz auftretenden
NP, die mit der Sprecher- bzw. Vokativ-Konstituente referenzidentisch sind 22 .
Boeders Vorschlag ist nicht nur in Übereinstimmung mit den Beobachtungen
Ross' und Wunderlichs, die sie dazu führten, eine die Tiefenstruktur jedes
Satzes dominierende performative Struktur anzunehmen 23 , sondern auch mit
der Behandlung der Pronomina der dritten Person, die allgemein durch eine
Transformationsregel der in (9) illustrierten Art, auf Grund von Referenziden-
tität mit einer vorerwähnten NP, eingeführt werden.
Die Bedingungen für die Pronominalisierung sind besonders von Langacker
1969 eingehend neu untersucht worden 2 4 . Langacker fand heraus, daß die von
Lees und Klima postulierte Restriktion, daß NP a (die als Antezedens vorkom-
mende NP) im Matrixsatz und NPP (die pronominalisierte NP) im eingebette-
ten Satz vorkommen muß, nicht entscheidend ist, denn in (10) liegen die Din-
ge genau umgekehrt: Pronominalisiert wurde eine NP im Matrixsatz auf Grund
von Referenzidentität mit einer NP im eingebetteten Satz:
(10) The woman who is to marry Ralph will visit him tomorrow.
Ebenso ist die lineare Anordnung der Konstituenten nicht allein entscheidend
dafür, welche NP in der Kette pronominalisiert werden kann, da Pronomi-
nalisierung vorwärts und rückwärts möglich ist, wobei allerdings Rückwärts-
pronominalisierung nicht möglich ist, wenn NP? NP a vorausgeht und höher
im Stammbaum ist:
„We will say that a n o d e A ,commands' another node B if (1) neither A nor B
dominates the other; and (2) the S-node that most immediately dominates A also
dominates B . "
Langacker, O n Pronominalization, p. 167.
Wie sich aus 1. und 2. ergibt, kann man Pro-Formen nach zwei Gesichtspunk-
ten klassifizieren:
a) nach ihrer Funktion im Text (vorerwähnt/nicht-vorerwähnt),
b) nach ihrem kategoriellen Status (Pro-NP, Pro-VP, Pro-S usw.).
Eine Subklassifizierung von Pro-Formen auf Grund der beiden genannten
Kriterien soll im folgenden an Hand deutscher Pro-Formen exemplifiziert
werden.
Typisch für u n b e s t i m m t e Pro-Formen ist es, daß sie nicht nur in reiner F o r m
v o r k o m m e n wie in (15) und (16), sondern auch in einer Art „ S y m b i o s e " mit
anderen Elementen, vorzugsweise d e m Frage- u n d dem Negations-Element 2 6 ;
vgl. ( 1 7 ) - ( 2 1 ) .
Jemand u n d etwas sind „ r e i n e " Pro-Formen, in diesem Fall Pro-NP mit den
Merkmalen [ + N ] , [+Pro] und [+Menschl] bzw. [ - B e l e b t ] 2 7 .
Dagegen sind wer, was und worauf Kombinationen aus einem N (mit den
Merkmalen [+N], [+Pro] und [+Menschl] bzw. [ - B e l e b t ] ) und einem Frage-
25 (12) und (13) können als Resultate von Extrapositions- bzw. Permutations-Trans-
formationen erklärt werden (cf. 12') und (13')). Die Ableitung von (14) durch Per-
mutation und Tilgungen aus einer zugrundeliegenden Struktur des Typs (14') ist
etwas ad hoc.
26 Frage- und Negations-Element als Tiefenstruktur-Konstituenten werden ausführlich
in Katz, Postal, An Integrated Theory, behandelt; das Negationselement und seine Rea-
lisationen im Deutschen untersucht Gerhard Stickel, Untersuchungen zur Negation
im heutigen Deutsch, Braunschweig 1970.
27 Der Kategorie nach sind alle Pronomina N. Wie echte (d. h. Nicht-Pro-) N können sie
jedoch für eine gesamte NP stehen (vgl. 3. 2. 1). Die Unterscheidung zwischen N und
NP fällt natürlich weg, sobald man einen Dependenz-Ansatz wählt (cf. Heinz Vater,
Dänische Subjekt- und Objektsätze: Ein Beitrag zur generativen Dependenzgramma-
tik, Tübingen 1973), da es in einer Dependenz-Grammatik nur terminale Elemente
gibt.
32 H. Vater
28 Cf. dazu Christian Rohrer, Zur Theorie der Fragesätze, in: Dieter Wunderlich (Hg.),
Probleme und Fortschritte der Transformationsgrammatik, München 1971, p. 1 0 9 -
126.
29 Bei der Form nimmer (die nicht zu meinem aktiven Sprachschatz gehört) bin ich mir
allerdings nicht sicher, ob es sich wirklich um eine unbestimmte Pro-Form handelt.
Pro-Formen des Deutschen 33
die überhaupt nicht für ein Substantiv, sondern zusammen mit einem Sub-
stantiv stehen. Es handelt sich um die Determinantien dieser, jener, jeder,
all(er), mancher, einige, mehrere, die Possessivpronomina mein, dein, sein,
unser, euer und ihr u.a. 30 .
Andere Pro-Formen (wie z. B. die adverbialen Pro-Formen hier, da, dort, jetzt,
damals, wo, wann usw.) wurden gar nicht als Pro-Formen erkannt oder sie
wurden — mit dem ebenso monströsen wie unzutreffenden Terminus „Pro-
nominaladverb" versehen — als eine Kreuzung aus Pronomen und Adverb be-
handelt — offenbar, weil man sich die Pro-Funktion nur in Verbindung mit
Pronomina vorstellen konnte.
Nimmt man, wie es hier getan wird, die Vertretungs- bzw. Ersetzungs-Funk-
tion als das Charakteristikum aller Pro-Formen und baut man auf Chomskys
Beobachtung auf, daß Pro-Formen major categories vertreten, dann ergibt sich,
daß sich Pro-Formen sinnvoll danach subkategorisieren lassen, welche Katego-
rie sie vertreten. Folgende Untergruppen werden fürs Deutsche zunächst ange-
nommen: Pronomina 31 , Proverben, Proadverbiale, Proattribute und Prosätze.
Der Ausdruck „Proattribut" fällt dabei insofern aus dem Rahmen, als er nicht
auf die Kategorie, sondern auf die Funktion der betreffenden Pro-Formen
Bezug nimmt 32 . Die Attributs-Funktion kann bekanntlich von Formen ver-
schiedener kategorieller Zugehörigkeit ausgefüllt werden, nämlich von Adjektiv-
phrasen, Nominalphrasen im Genitiv, Präpositionalphrasen und Relativsätzen.
Für all diese verschiedenen Kategorien stehen im Deutschen jedoch die glei-
chen Pro-Formen zur Verfugung: welch(er), was für ein, solcher und so ein\
da das einzig Verbindende all der verschiedenen vertretenen Kategorien die
gleiche Funktion ist, scheint der Name „Proattribute" für Pro-Formen die-
ser Art gerechtfertigt zu sein.
3.2.1 Pronomina
Pronomina stehen nicht nur für den substantivischen Kern einer NP, sondern
auch für die Verbindung Det + N und im Fall der bestimmten Pronomina so-
30 Alle diese Formen wurden zusammen mit der, ein und der 0-Form des Artikels bei
Heinz Vater, Das System der Artikelformen im gegenwärtigen Deutsch, Tübingen 1963,
unter dem Terminus „Artikel" zusammengefaßt, später, in Vater, Tiefenstruktur, dem
Gebrauch in der generativen Grammatik entsprechend, als „Determinantien".
31 Der traditionelle Terminus „Pronomen" wird, da er immer noch allgemein gebräuchlich
ist, beibehalten, obwohl „Pro-NP" genauer wäre. Analog dazu wird auch „Proverb"
gebraucht (was auch dem englischen Terminus „pro-verb" entspricht).
32 Zum Unterschied zwischen Kategorie und Funktion cf. Chomsky, Aspects, Kap. 2.
34 H. Vater
gar auch für die Verbindung Det + N + Attribut, d. h. für die Gesamt-NP 33 ,
wie die folgenden Beispiele demonstrieren.
(23) Ein Mann war da. Er will Sie sprechen.
(24) Mancher Mensch denkt, er kann tun, was er will.
(25) Unsere Katze schnurrt immer, wenn man sie streichelt.
(26) Der kleine karierte Koffer ist nicht da. Ist er im Keller?
(27) Der junge Mann mit dem flotten BMW denkt, die Autobahn sei nur
für ihn da.
Er in (23) nimmt ein Mann wieder auf, er in (24) mancher Mensch, sie in (25)
unsere Katze, er in (26) der kleine karierte Koffer und ihn in (27) ist eine Pro-
Fortführung von der junge Mann mit dem flotten BMW.
Unbestimmte Pronomina können ein Attribut bei sich haben; sie repräsen-
tieren dann nur den Kern einer NP (mit eventuellem Determinans):
(28) Niemand mit gesundem Menschenverstand würde so etwas machen.
(29) Niemand auf der Welt würde mit ihm tauschen.
(30) Nichts auf Erden kann ihn erschüttern.
(31) Karl glaubt grundsätzlich nichts, was in Zeitungen steht.
(32) Jemand, der so etwas sagt, ist ein Dummkopf.
(33) Da geschah etwas, worauf ich lange gewartet hatte.
(34) Wer in Europa glaubt ihm noch?
(35) Wer, der den letzten Krieg mitgemacht hat, will noch einmal Soldat
spielen?
(36) Was in aller Welt soll das bedeuten?
Dabei scheinen für wer und was stärkere Beschränkungen zu bestehen als für
die anderen unbestimmten Pronomina:
(37) *Wer mit Schnurrbart war das?
(38) *Was mit Eis möchten Sie trinken?
Satz (38) könnte allenfalls scherzhaft geäußert werden - unter der Voraus-
setzung, daß der Fragende von vornherein weiß, daß der Angeredete nur etwas
mit Eis trinkt; der Satz wäre aber wohl auch dann ungrammatisch, und zwar
bewußt gegen die Regeln konstruiert, wie das ja häufig bei scherzhaftem,
ironischem und poetischem Sprachgebrauch der Fall ist.
Die Tatsache, daß unbestimmte Pronomina ein Attribut haben können
(wenn auch mit Einschränkungen), bestimmte dagegen nicht, hat offenbar
mit der verschiedenen Ableitungsart zu tun: Für unbestimmte Pronomina,
die ja schon in der Tiefenstruktur vorhanden sind, gelten anscheinend annä-
hernd die gleichen Beschränkungen wie für „normale" Substantive, also N
mit dem Merkmal [ - P r o ] , während bestimmte Pronomina durch eine Trans-
formation jeweils für eine ganze vorerwähnte NP beliebigen Komplexitäts-
grads eingesetzt werden.
Zu den unbestimmten Pronomina gehören außer den bereits erwähnten
noch die Verbindungen mit irgend: irgendjemand, irgendetwas, irgendeiner,
irgendwer und irgendwas. Diese Pro-Formen unterscheiden sich von jemand
und etwas durch das zusätzliche Merkmal [-spezifisch]. Sie drücken notwen-
dig aus, daß es sich um ein beliebiges Exemplar innerhalb der Klasse aller
N, die etwas Menschliches bzw. etwas Nicht-Belebtes bezeichnen, handelt,
während jemand und etwas in dieser Hinsicht merkmallos sind, d. h. sie kön-
nen etwas Beliebiges bezeichnen wie die irgend-¥ormeti, aber auch etwas, das
zwar nicht vorerwähnt oder als bekannt vorausgesetzt, aber doch näher spezi-
fiziert ist (z. B. durch einen restriktiven Relativsatz) 34 . In den folgenden Bei-
spielen sind die Sätze unter (ii) jeweils ungrammatisch, weil in ihnen die un-
spezifischen Pronomina mit einem spezifizierenden Zusatz verbunden sind.
34 Cf. dazu Vater, Artikelformen, ferner James McCawley, Where Do Noun Phrases Come
From? , in: R. Jacobs - P. Rosenbaum (Hg.), Readings in English Transformational
Grammar, Waltham (Mass.) 1970, p. 1 6 6 - 1 8 3 , ferner auch Odo Leys, Nicht-referen-
tielle Nominalphrasen, Deutsche Sprache 2 (1973), 1 - 1 5 . .
35 Die komplizierte Syntax und Semantik von man sind bisher noch nicht gründlich er-
forscht worden. Interessante Ergebnisse sind hier von einer noch in Arbeit befindlichen
Dissertation von Tilman Höhle zu erwarten, wo z. B. mehrere Varianten von man un-
terschieden werden, die sich auch syntaktisch verschieden verhalten.
36 H. Vater
(41) (i) Man hat sich lange darüber gestritten, welche Funktion die Mandeln
im menschlichen Körper haben,
(ii) *Jemand hat sich lange darüber gestritten, welche Funktion die Man-
deln im menschlichen Körper haben.
(42) (i) Wie geht es dir? - Man lebt.
(ii) *Wie geht es dir? - Jemand lebt.
Die Zahl der bestimmten Pronomina ist anscheinend auf er, sie und es be-
schränkt. Einige Determinantien kommen zwar ohne Substantiv vor in Fäl-
len, wo sie mit einer vorerwähnten NP referenzidentisch sind, jedoch han-
delt es sich dabei nicht um Pro-Form-Ersetzung, sondern um Tilgung des sub-
stantivistischen Kerns (vgl. (43) — (47)). Gestützt wird diese Annahme da-
durch, daß in solchen Fällen ein Attribut erhalten bleiben kann, was bei ech-
ten bestimmten Pronomina nicht möglich ist (vgl. (48) und (49)).
(43) Hier zweigen zwei Wege ab. Welcher ist der richtige?
(44) Zehn Menschen waren anwesend. Einer hat es gesehen.
(45) Zehn Menschen waren anwesend. Keiner hat es gesehen.
(46) Viele Vorschläge wurden gemacht. Dieser ist der einzig vernünftige.
(47) Alle Namen hat er aufgerufen, meinen hat er vergessen.
(48) Du hast so schöne Kleider. Mußt du ausgerechnet das rote anziehen?
(49) Wer ist denn jetzt Klaras Freund, der mit dem Bart oder der mit dem
Silberblick?
Haskell nennt solche Formen, die nicht so sehr vorangegangene Einheiten er-
setzen als deren optionale Anwesenheit implizieren, „unechte Pro-Formen" 3 6 .
Um eine echte Pro-Form dürfte es sich allerdings bei der im folgenden Bei-
spiel handeln.
(50) Otto Meyer ist da. - Der hat mir gerade noch gefehlt!
Der ersetzt Otto Meyer, es ist nicht ein Determinans, dessen übergeordne-
tes Substantiv getilgt wurde; im allgemeinen haben Eigennamen ja auch kein
Determinans. In (50) — wie auch in vielen anderen Fällen — hat der im Ge-
gensatz zu er eine negative Konnotation. Das ist jedoch durchaus nicht immer
der Fall, vgl. (51).
(51) Kennen Sie Peter Müller? - Der ist mein bester Freund.
3.2.2 Proverben
Diese These erklärt auch, warum das Objektpronomen bei der Wiederauf-
nahme von intransitiven und sogar unpersönlichen Verben steht (vgl. (56)
und (57)). Es wäre wenig sinnvoll, eine Transformation von zugrundeliegen-
dem schwimmen oder regnen zu es tun anzunehmen, aber eine Transforma-
tion, die in tut regnen den Infinitiv durch es oder das ersetzt, ist durchaus
einleuchtend und innerhalb des Gesamtsystems gerechtfertigt, wenn man be-
denkt, daß es und das zu den neutralsten und allgemeinsten Pro-Formen ge-
hören, die z. B. auch für ganze Sätze eintreten können.
Haskeils Ansatz ist im Einklang mit Isaienkos Beobachtungen, wonach
es und das das Hauptverb in Perfekt- oder Modalkonstruktionen (samt sei-
nem Objekt, falls ein solches vorhanden ist) ersetzen 38 :
(61) Hat Peter seinen Freund getroffen? Ja, das hat er.
(62) Darf Peter seinen Apfel essen? Ja, er darf es.
Auch die von R. Steinitz als Proverben behandelten Verben geschehen, statt-
finden, eintreten, sich abspielen, sich ereignen, beginnen u. a. erklärt Haskeil
als unechte Proverben, die den Aspekt des Infinitiwerbs (bzw. nominalisier-
ten Verbs) angeben 39 .
3.2.3 Proadverbiale
Proadverbiale sind Pro-Formen für Adverbiale, d. h. Adverbien, Präpositio-
nalphrasen oder eingebettete Sätze in adverbialer Funktion 4 0 . Wie bei den
Pronomina kommen unbestimmte und bestimmte Formen vor. Hier einige
Beispiele für unbestimmte Formen:
(63) Wo ist der braune Koffer? - Im Keller.
(64) Wann fährst du nach Rom? - Am Dienstag.
(65) Wie kommst du zum Bahnhof? - Mit einer Taxe.
(66) Weshalb hat Anna den ganzen Abend nichts gesagt? - Weil sie schüch-
tern ist.
3.2.4 Proattribute
Als unbestimmte Proattribute werden die Formen was für (ein) und welcher
benutzt, letztere Form kann jedoch auch Vorerwähnung voraussetzen (vgl.
(43) und (83)), nämlich Vorerwähnung einer Menge, aus der durch welcher
ein Einzelelement ausgewählt ist, das selbst unbestimmt (d. h. nicht identi-
fiziert) ist.
40 H. Vater
3.2.5 Prosätze
Bei Prosätzen handelt es sich stets um Pro-Formen für eingebettete Sätze.
Als Pro-Formen für Subjekt- und Objektsätze dienen die Formen das, dies
und es, als Proformen für adverbiale Sätze und Satzeinbettungen, die als prä-
unbestimmt bestimmt
[+Menschlich] [-Belebt]
jemand etwas er, sie, es
42 der, die, das43
man was
dieser, diese, dies44
a irgendjemand irgendetwas
g irgendwer irgendwas
g irgendeiner
o
&
niemand nichts
42 Es handelt sich hier um (umgangssprachliches) was in Fällen wie Es muß was passiert
sein.
43 Es geht um der (als Demonstrativum) in Fällen, wo es nicht Determinans ist, d.h. nicht
durch Tilgung des Substantivs alleiniger Repräsentant einer NP geworden ist, cf. (50),
(51) und (87).
44 Cf. dies in Beispiel (88).
45 Woran, worauf usw. als Pro-Formen für präpositionale Objekte (cf. 3.2.3).
46 Hier ist eine Pro-Form für den Ort des Sprechers, dort für den Ort des Angesprochenen;
da ist neutral, d. h. es kann sich sowohl auf den Ort des Sprechers, als auch auf den Ort
des Angesprochenen beziehen; vgl. die in einem Telefongespräch übliche Frage Ist Herr X
da? und die Antwort Er ist nicht da, wo das erste da durch dort, und das zweite durch
hier ersetzt werden kann.
47 Da wie in Da war's um ihn geschehen.
Peter Wunderli
— non in Formeln wie non seulement, non plus, non loin usw., aber auch
non pas, da es sich um erstarrte Wendungen handelt, die auf einen früheren
Sprachzustand zurückgehen; ihre Bildung kann daher nicht aufgrund der Re-
geln der freien Syntax des Modernfranzösischen erklärt werden.
*
im einen oder anderen Sinn verändern würden. Es ist erstaunlich, daß diese
Darstellung in d e m großen, für das 20. J a h r h u n d e r t repräsentativen Werk
nur geringfügig verändert wieder a u f g e n o m m e n wird. Maurice Grevisse be-
ginnt sein Kapitel über die Negation folgendermaßen:
Les adverbes de négation sont, à proprement dire: non, forme accentuée, et ne, forme
atone.
Bon Usage, § 8 7 3
3 Mehr oder weniger gleich gehen z. B. vor: J . - C . Chevalier et al., Grammaire Larousse
du français contemporain, Paris 1964, § 6 2 2 ss.; R.-L. Wagner - J. Pinchon, Grammaire
du français classique et moderne, Paris 1962, § 4 6 9 / 7 0 ; Ph. Martinon, Comment on
parle en français, Paris 1927, p. 5 2 6 ss.; G. und R. Le Bidois, Syntaxe du français
moderne II, Paris 2 1 9 6 7 , § 9 8 3 / 8 4 ; C. de Boer, Syntaxe du français moderne, Leiden
' 1947, p. 17ss.; G. Gougenheim, Système grammatical de la langue française, Paris
1939, p. 2 5 9 ss.; usw.
46 P. Wunderli
Ein anderer Versuch, das Wesen der Negation zu erfassen, wurde von Fer-
dinand Brunot in seinem berühmten Werk La pensée et la langue4 unternom-
men. Das Ziel dieses Buches ist es, die grammatischen und syntaktischen
Mittel des Französischen unter einem onomasiologischen Gesichtspunkt dar-
zustellen5 . Leider wird die Art und Weise, wie Brunot zu seinen logischen
Kategorien gelangt, kaum diskutiert; wir erfahren nur, daß sie der Psycholo-
gie und der Logik entstammen — nicht etwa der Psychologie und der Logik,
die Brunot „rein" nennt, sondern einer „psychologie ou . . . logique reflé-
tées dans le langage d'un peuple."6 Im Rahmen dieser Onomasiologie auf
vorwissenschaftlicher Basis wird die Negation folgendermaßen dargestellt:
Lorsqu'on veut répondre négativement c'est non qu'on emploie dans la langue
soit ancienne, soit moderne: Venez-vous? Non. On nie purement et simplement
la chose énoncée. Cette formule essentielle se suffit à elle-même.
Brunot, La pensée et la langue, p. 494
Durch einen Rückgriff auf die Etymologie wird in der Folge die Partikel ne
(und ihre Zusammensetzungen) zu non in Beziehung gesetzt. Diese Art, die
Negation zu behandeln, ruft ebenso nach Vorbehalten wie die Versuche von
Girault-Duvivier, Grevisse und vielen anderen. Sicher, Brunot hat nicht den
Fehler begangen, die Negation durch eine mehr oder weniger vollständige
Aufzählung der Negationszeichen definieren zu wollen. Aber ist die Zuflucht
zur Etymologie etwa weniger anfechtbar? Überdies bringt Brunots Vorge-
hen erneut keine Definition dessen, was die Termini nier, négation für den
Linguisten bedeuten: er versucht nirgends, ihre populäre, vorwissenschaft-
liche Bedeutung durch eine wissenschaftliche Definition zu ersetzen7.
Außerdem leidet die Darstellung der Beziehungen zwischen non und sei-
nem Kontext unter einigen recht ärgerlichen Ungenauigkeiten. Brunot be-
hauptet, daß einfach der „ausgesagte Inhalt" verneint werden müsse, um ne-
gativ zu antworten. Aber was ist dieser „ausgesagte Inhalt"? Etwa das außer-
sprachliche Faktum „X vient" oder sogar „je viens"? Aber dieses Faktum
wird nicht als solches gesagt; das, was ausgesagt wird, ist eine Frage, die sich
auf dieses Faktum bezieht. Oder sollte Brunot an die Frage Venez-vous?
denken, wenn er von „ausgesagtem Inhalt" spricht? Eine solche Interpre-
tation ist nicht weniger unbefriedigend, denn wir werden sehen 8 , daß non
nicht einem „venez-vous + Negation" (-> ne venez-vous pas?) gleichgesetzt
werden darf.
Wir müssen somit festhalten, daß Brunots Analyse der Beziehungen zwi-
schen der Negation und ihrem Kontext unzureichend ist, und daß es ihm
auch nicht gelungen ist, das Gebiet der Negation befriedigend abzugrenzen.
Dieser Mißerfolg zeigt uns nochmals, daß eine exakte Definition dessen, was
man unter Negation verstehen will, unabdingbare Voraussetzung für die wis-
senschaftliche Untersuchung dieses Phänomens ist; überdies muß herausge-
arbeitet werden, worauf eine Negation sich nun wirklich bezieht. Hierfür
scheint es mir unumgänglich, auf die Logik zu rekurrieren — allerdings nicht
im Sinne von Brunot, sondern in demjenigen von Charles Bally, Ducrot —
Todorov usw. 9 Eine logische Aussage besteht aus einem Argument (z. B.
Pierre) und einem Prädikat (z. B. dort). Die Gesamtheit von Argument und
Prädikat kann man ein Diktum nennen {Pierre + dort). Das Diktum darf nun
aber noch nicht der Aussage gleichgesetzt werden. Diese enthält außer dem
Diktum noch eine Stellungnahme des Sprechers zum existentiellen Charakter
des Diktums. Dieses existentielle Urteil wird Modus oder Modalität genannt;
es kann affirmativ, negativ, interrogativ, imperativ usw. sein und manifestiert
sich auf der Ebene des Satzes durch das, was Coseriu als „ontische Bedeu-
tung" bezeichnet 1 0 . Wir können also sagen, daß sich eine Aussage aus Modali-
tät und Diktum zusammensetzt, wobei das Letztere seinerseits in Argument
und Prädikat zerfällt. Wenn wir nun wieder zu unserem Beispiel zurückkeh-
ren, so stellen wir fest, daß die Aussage Pierre dort ein Argument (Pierre)
und ein Prädikat (dort) enthält, die zusammen das Diktum bilden, und au-
ßerdem eine Modalität, welche in diesem Fall diejenige der Affirmation ist.
Nun wird in unserem Beispiel die Modalität (oder ontische Bedeutung) in
8 Cf. p . 56 SS.
9 Cf. Ch. Bally, Linguistique générale et linguistique française, Berne ^1965, § 27 ss.;
O. Ducrot - T. Todorov, Dictionnaire encyclopédique du langage, Paris 1972, p.
394/95 (cf. auch die bibliographischen Hinweise, p. 397).
10 Cf. E. Coseriu, Die Lage der Linguistik, Innsbruck 1973, p. 10.
48 P. Wunderli
der Redekette durch kein spezifisches Element markiert - Bally spricht des-
wegen von einer „modalité implicite". Aber man kann die Dinge auch an-
ders sehen. Da das Fehlen eines besonderen Merkmals immer bedeutet, daß
wir es mit affirmativer Modalität zu tun haben, könnte man hier von einem
Nullzeichen sprechen: dem signifié ,Affirmation' entspräche ein signifiant 0 1 1 .
Welche Lösung man auch immer wählt, der Entscheid bleibt ohne Konse-
quenzen für die Probleme, die uns hier interessieren. Wichtig für unsere Fra-
gestellung ist, daß die affirmative Modalität immer expliziert werden kann,
indem wir auf lexikalische und syntaktische Mittel zurückgreifen, cf. z. B.:
Il est vrai
Il est juste que Pierre dort.
etc.
Was uns im Bereich des Modus besonders interessiert, ist natürlich die nega-
tive Modalität. Ersetzt man die implizite (Pierre dort) oder die explizite affir-
mative Modalität (il est vrai que Pierre dort) durch eine negative Modalität,
erhält man einen Satz vom Typ II est faux que Pierre dort. In diesem Fall
wird die explizite Negation in erster Linie mit Hilfe lexikalischer Mittel zum
Ausdruck gebracht (être faux); hinzu kommt als sekundäre, von der ersten
abhängige Erscheinung die syntaktische Unterordnung. Die erwähnte Form
stellt die normale Periphrase der logischen Negation dar. Auf sprachlicher
Ebene kann nun eine Konstruktion von Typ Pierre ne dort pas, wo der lexi-
kalischen Negation eine morphosyntaktische Einheit entspricht, als äquiva-
lent angesehen werden. Den beiden Typen gemeinsam ist, daß sie die Aufhe-
bung oder besser Verweigerung der die (reelle oder fiktive) Existenz des Dik-
tums betreffenden Affirmation markieren 12 . Unter diesem Blickwinkel ist die
Negation mit der Frage (Est-ce que vous venez? ) und mit der Bedingung
verwandt (Si tu viens, nous irons au cinéma), obwohl es sich in diesen Fällen
nicht um eine Aufhebung der Verweigerung der Affirmation handelt: bei
der Frage kann man von einer verschobenen oder aufgeschobenen Affirma-
tion sprechen, bei der Hypothese von einer Affirmation, die von der Realisie-
rung einer gegebenen Bedingung abhängig gemacht wird.
Diese logisch begründeten Überlegungen erlauben es uns, ein erstes Ele-
ment der gesuchten Negationsdefinition zu isolieren. Wir halten fest:
11 Cf. zu diesem Problem jetzt auch S. J. Schmidt, Texttheoretische Aspekte der Ne-
gation, ZGL 1 ( 1 9 7 3 ) , 1 7 8 - 2 0 8 , bes. p. 180, sowie den dort erwähnten Interpre-
tationsvorschlag von J. S. Petöfi.
12 Cf. hierzu auch Schmidt, ZGL 1 (1973), 1 7 8 - 2 0 8 , bes. p. 1 8 0 - 1 9 3 .
Der Prosatz „non" 49
Eine Negation ist ein (einfaches oder komplexes) Zeichen, das die Verwei-
gerung der existentiellen Affirmation eines Diktums markiert.
Fügen wir noch hinzu, daß die Modalität, die einem Diktum zugeordnet wird,
immer sprecherabhängig ist: sie hat demnach subjektiven Charakter. Eine
affirmative oder negative Modalität gibt uns a priori keinen Aufschluß über
die objektive Existenz oder Nicht-Existenz des Diktums, sondern nur über
ihre Annahme bzw. Nicht-Annahme durch das modale Subjekt (Sprecher) 13
Nach diesem Exkurs in den Bereich der Logik kommen wir zu unserer
eigenen Fragestellung zurück. Vom linguistischen Standpunkt aus ist die er-
arbeitete Definition der Negation deshalb noch unbefriedigend, weil sie es er-
laubt, unter dieser Bezeichnung alle möglichen Erscheinungen zu klassieren,
denen auf der Ebene des Sprachsystems die verschiedensten Grundwerte zu-
kommen. Es ist eine derart weitgefaßte (implizite) Negationskonzeption, die
es z. B. Ferdinand Brunot erlaubt, auch Ausdrücke wie allons donc!, par exem-
ple! oder joliment! in den folgenden Beispielen als Negationen zu bezeich-
nen 1 4 :
Allons donc! je vous dis que j'ai de bonnes raisons pour savoir que cela ne se
peut pas.
Musset, Lorenzaccio, IV/10
13 Unsere Definition des negativen Satzes gleicht in gewisser Hinsicht den von Dubois-
Lagane und Wartburg - Zumthor gegebenen Bestimmungen. Cf. J. Cubois - R. La-
gane, La nouvelle grammaire du français, Paris 1973, p. 163: „Une phrase négative
est une phrase où on nie une affirmation"; W. v. Wartburg - P. Zumthor, Précis
de syntaxe du français contemporian, Berne 21958, p. 43: „La phrase négative
exprime l'inexistence d'un fait. Elle implique une attitude spéciale d'esprit chez le
sujet parlant; celui-ci infirme un jugement qui pourrait être porté par un autre . . ."
- Vgl. auch Schmidt, ZGL 1 (1973), 180 ss.
14 Cf. Brunot, La pensée et la langue, p. 501; cf. auch Tesnière, Eléments, § 8 8 / 1 1 - 1 2 .
50 P. Wunderli
Eine Negation ist ein (einfaches oder komplexes) Morphem, dessen auf der
Ebene der langue gegebene Funktion darin besteht, die existentielle Affirma-
tion eines Diktums zu verweigern.
Wir betrachten als Negation also nur das, was Lucien Tesnière die marquants
de la négation16 nennt, d.h. diejenigen Zeichen, denen die Negationsfunktion
auf der Ebene der langue zukommt und die zu geschlossenen Paradigmen
gehören.
Wir haben somit den Bereich der Negation genau umrissen; es bleibt uns
die Aufgabe, den Platz zu definieren, den non in diesem Bereich einnimmt —
ein Problem, das eng mit der Frage zusammenhängt, was denn eigentlich durch
die verschiedenen Negationen verneint wird. Unsere Klassifikation von non
erfolgt aufgrund von zwei Kriterien. In einem ersten Schritt werden wir non
und dessen Ersatzformen (non pas, pas du tout, point du tout etc.) den Ne-
gationen vom Typ ne.. . pas, ne. . . point gegenüberstellen. Diese Oppo-
sition kann zunächst in syntagmatischer Hinsicht definiert werden. Non bil-
det ein Paradigma mit den Morphemen oui und si, und wie diese übt es für
sich allein die Funktion eines Satzes bzw. Teilsatzes aus 17 : Es steht in Kor-
relation entweder mit der Intonation eines autonomen Aussage-, Ausruf- oder
Fragesatzes, oder aber mit derjenigen des affigierten Elements (A) eines seg-
mentierten Satzes (Typ AZ oder ZA) 1 8 . Wenn non durch seine Satzfunktion
charakterisiert ist, so liegen die Dinge bei ne . . . pas usw. anders. Ein ein-
faches Beispiel wie Pierre ne dort pas und die Unmöglichkeit, mit ne . . . pas
allein eine nicht-metasprachliche Aussage zu machen, beweisen zur Genüge,
daß dieser Negationstypus immer Bestandteil eines Satzes oder Teilsatzes sein
muß, der auf anderen sprachlichen Einheiten beruht. Wir können also mit L.
Bloomfield sagen, daß ne. . . pas eine gebundene, non dagegen eine freie
Form sei 19 .
Indessen unterscheiden sich unsere beiden Negationen nicht nur durch ihren
freien (phrastischen) bzw. gebundenen (nichtphrastischen) Charakter, sondern
auch aufgrund der recht unterschiedlichen Beziehungen, die in diesen beiden
Fällen zwischen Negation und Diktum bestehen. Ein Satz wie Pierre ne dort
pas kann in allen möglichen Kontexten vorkommen: er kann die Antwort
auf eine Frage vom Typ Est-ce que Pierre dort? bilden, er kann ein Korrek-
turelement zu einer vorhergehenden Affirmation vom Typ Pierre dort dar-
stellen, er kann eine einfache Feststellung im Rahmen einer gegebenen Situa-
tion auch ohne sprachlichen Kontext zum Ausdruck bringen, usw. Schon die-
se Beispiele genügen, um deutlich zu machen, worauf es hier ankommt: die
Bedeutung des Satzes Pierre ne dort pas bleibt immer gleich, sie ist unabhängig
vom Kontext 20 . Aus diesen Gegebenheiten folgt, daß das negierte Diktum Be-
standteil desselben Satzes ist wie die Negation ne . . . pas selbst; die Reichwei-
te dieser Negation überschreitet offensichtlich die Grenzen des Satzes bzw.
Teilsatzes nicht. Deshalb werden wir diesen Negationstypus — in Anlehnung
an die Terminologie der Kopenhagener Schule21 — homonex nennen, d. h.
,auf denselben Nexus (= Satz bzw. Teilsatz) bezogen'.
Wenn wir jetzt auf unser altes Beispiel Venez-vous? - Non zurückkommen,
so ist auf Anhieb klar, daß die Beziehungen zwischen Negation und Diktum
hier anderer Art sind. Wir haben gesagt, non sei ein freies Morphem und übe
für sich allein Satzfunktion aus. Obwohl wir die Frage, welches nun eigentlich
bei diesem Negationstyp das negierte Diktum sei, noch nicht gelöst haben,
könne wir gleichwohl schon jetzt feststellen, daß die Bedeutung dieses ein-
gliedrigen Satzes nicht unabhängig vom Kontext ist. In den Beispielen:
Venez-vous? - Non.
Sors! - Non.
II s'est endormi. - Non.
muß diese Bedeutung je nach Kontext mit ,Je ne viens pas', ,Je ne sors pas'
oder ,11 ne s'est pas endormi' umschrieben werden. Die Bedeutung von non
hängt also vom Kontext ab. Überdies wird das von der Negation betroffene
Diktum nicht im von diesem Morphem gebildeten Satz expliziert, und die
gleiche Feststellung trifft auch auf segmentierte Sätze wie non, je ne viens
pas zu. Die Reichweite dieser Negation geht also über die Satzgrenzen hinaus;
non betrifft ein Diktum, das außerhalb des monoremen negativen Satzes liegt 22 .
20 Diese Feststellung gilt aber nur für diejenigen Kontexte, die ich „normal" nennen
würde; sie trifft nicht zu für metasprachliche, metaphorische, ironische usw. Kontex-
te.
21 Zur Definition von Nexus cf. K. Togeby, Structure immanente de la langue française,
Paris ^ 1965, p. 67: „Nexus: syntagme caractérisé par des morphèmes extenses (ver-
baux)"; für die Termini homonex und heteronex cf. z. B. G. Boysen, Subjonctif et
hiérarchie, Odense 1971, p. 16, 26, 32, 40.
22 Für den Terminus Monorem (= eingliedriger Satz) cf. Bally, LGLF, § 49; A. Seche-
haye, Essai sur la structure logique de la phrase, Paris ^1950, p. 9 ss.
Der Prosatz „non" 53
Wir tragen diesen Gegebenheiten Rechnung, indem wir den vorliegenden Ne-
gationstypus als heteronex bezeichnen.
Eine homonexe Negation ist demnach eine Negation, die ein Diktum be-
trifft, das in demselben Satz wie das Negationsmorphem zum Ausdruck ge-
bracht wird, eine heteronexe Negation dagegen bezieht sich auf ein Diktum,
das im Kontext des Negativsatzes steht. Für die transphrastische Syntax und
damit fur die Textlinguistik ist v. a. dieser zweite Typ von Interesse23.
Bleibt das zweite Klassifikationskriterium, das sowohl im Bereich der homo-
nexen wie in demjenigen der heteronexen Negation zum Tragen kommt. Be-
ginnen wir mit der heteronexen Negation, da hier die Gegebenheiten leichter
zu fassen sind. Eine Negation kann sich auf einen ganzen Satz beziehen, oder
besser: der Kern dieses Satzes, d.h. das Verb, kann ihr untergeordnet sein 24 .
Dies ist der Fall in den Sätzen Pierre ne vient pas, Pierre ne vend pas sa voi-
ture, Pierre ne part pas demain usw. Da das zentrale Element des Satzes von
der Negation dominiert wird, betrifft diese nicht nur das Verb allein, sondern
indirekt auch alle anderen Positionen, die von diesem Kern abhängig sind, d. h.
die Aktanten und die Zirkumstanten. Greift man auf die Terminologie zu-
rück, die die traditionelle Grammatik im Bereich der Frage benutzt, so könn-
te man von einer totalen Negation sprechen25 ; da wir aber bereits den Termi-
nus Nexus verwendet haben, um den Satzkern zu bezeichnen, ziehe ich es vor,
diesen Typus nexuelle Negation zu nennen 26 . Eine Negation muß sich indes-
sen nicht unbedingt auf einen Nexus als Ganzes beziehen, sie kann auch nur
23 Schmidt, ZGL 1 (1973), 184 ss. bespricht den Fall der homonexen Negation dt.
nicht, deren Bezugselement (eines der verschiedenen Satzglieder) erst aufgrund von
Kontext- und/oder Situationsindikatoren festgelegt würde. Hier liegt zweifellos ein
textlinguistisches Problem vor, aber meiner Auffassung nach nicht eines, das die (ho-
monexe) Negation als solche betrifft: negiert wird immer der nicht enthaltende Satz
als Ganzes; alles Weitere ist ein Problem der Hervorhebung bzw. der Thema-/Rhema-
struktur des Textes. Dies gilt selbst für die Stellung von nicht, die von dieser Thema-/
Rhemastruktur abhängig ist; gleichwohl negiert nicht nie etwas anderes als den
Satz als Ganzes (cf. auch den Fall des Französischen, wo die Stellung von ne . . . pas
etc. fest ist, sich aber aufgrund von Hervorhebung bzw. Thema-/Rhemastruktur die
gleichen Sinneffekte erzielen lassen wie im Deutschen mit „beweglichem" nicht).
24 Mit Tesnière und der Valenzgrammatik betrachte ich das Verb als das Zentrum des
Satzes; cf. Tesnière, Eléments, p. 11 ss.
25 Cf. Wagner-Pinchon, Grammaire du français classique et moderne, p. 389 ss.
26 Nach Tesnière, Eléments, p. 218 ss. betrifft die Negation vom Typ Piere ne vient
pas die Konnexion zwischen Subjekt und Verb, d. h. sie wäre eigentlich dem Verb
untergeordnet (cf. auch G. Bamicaud, M . - A . Compare, O. Ducrot, A. Vidal, Le
problème de la négation dans diverses grammaires françaises, Langages 7 [ 1 9 6 7 ] ,
5 7 - 8 3 , besonders p. 65 ss.). Diese Auffassung scheint mir aber wenig adäquat zu
sein, denn sie erklärt nicht, warum in diesem Fall die Negation auch für den zwei-
54 P. Wunderli
eine der nicht verbalen Positionen des Satzes betreffen, d. h. einen der Ak-
tanten oder Zirkumstanten 27 . Hier einige Beispiele mit Angabe des Elements,
auf das sich die Negation bezieht:
ten Aktanten, den dritten Aktanten und die Zirkumstanten Gültigkeit hat; es ist
offensichtlich, daß die nexuelle Negation dem Verb übergeordnet sein muß (cf. hier-
zu auch H.-J. Seiler, Zum Problem der sprachlichen Possessivität, Köln 1972 [Arbeitspa-
pier 20 des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Köln], p. 6; Wunderli, Die
Teilaktualisierung des Verbalgeschehens [Subjonctif] im Mittelfranzösischen, Tübingen
1970, p. 203 u. passim). Indem ich Guillaumes Inzidenztheorie dahingehend mo-
difiziere, daß ich das Verb (anstelle des Subjekts) ins Zentrum des Satzes stelle und
indem ich für das Verb eine neue Inzidenz auf die Sprecherorigo (Bühler) einführe (akti-
vatorische Inzidenz), kann ich die Negation ne . . . pas als die Inzidenz Verb - Spre-
cherorigo betreffendes Adverb auffassen. Die graphische Darstellung eines Satzes
wie Pierre ne vend pas sa voiture müßte dann folgendermaßen aussehen:
X (Sprecher-Origo)
•
(Neg.)
ne . . . pas ^
vend
Die verschiedenen Positionen des Satzbauplanes werden bei Tesnière als Nu-
klei bezeichnet 2 9 . Da bei diesem Negationstypus ein Nukleus allein, unter Aus-
schluß der übrigen Satzelemente, von der Negation betroffen ist, werden wir
mit Tesnière von einer nuklearen Negation sprechen 3 0 .
Man kann dieselbe Unterscheidung zwischen nexueller und nuklearer Ne-
gation auch im heteronexen Bereich machen. In unserem Beispiel „ Venez-
vous? - Non. " haben wir das Element non mit je ne viens pas umschrieben;
es entspricht also einer nexuellen Negation im homonexen Bereich und ist
deshalb selbst als nexuell zu bezeichnen; dasselbe gilt fur die Ersatzformen
non pas, pas du tout usw. Die Einheiten jamais, rien, nulle part usw. können
ebenfalls allein als Satz fungieren; in diesem Fall beziehen sie sich aber auf
ein in einem anderen Satz ausgedrücktes Diktum und müssen zu den hetero-
nexen Negationen gezählt werden, cf. z.B.:
Die obigen Antworten können umschrieben werden mit je ne l'ai jamais revue,
je ne fais rien, il n 'est allé nulle part. Heteronexes jamais, rien, nulle part,
personne usw. entsprechen somit nuklearen Negationen im homonexen Be-
reich und sollen deshalb ebenfalls als nuklear bezeichnet werden.
Nachdem wir bereits definiert haben, was für uns eine Negation ist, können
wir nun non auch noch genau situieren im Bereich der französischen Nega-
tion:
Feststellung ausgehen, daß non eine heteronexe Negation ist, d. h. daß es ein
Diktum verneint, das außerhalb des negativen monoremen Satzes zum Aus-
druck gebracht wird. Aus dieser Charakterisierung werden sich alle für die
transphrastische Syntax wesentlichen Aspekte ergeben. Bevor wir diese prä-
sentieren können, müssen wir aber noch ein anderes Problem lösen: die Fra-
ge nach dem Diktum, das durch non negiert wird.
Es ist vollkommen unmöglich zu sagen - wie dies z. B. Ferdinand Brunot
tut —, non negiere „purement et simplement la chose énoncée". Gehen wir
von einem literarischen Beispiel Molières Misanthrope aus:
Philinte
Alceste
Non, l'amour que je sens pour cette jeune veuve
ne ferme point mes yeux aux défauts qu'on lui treuve,
Die Negation non kann sich nur auf den Stimulus „(ou) les excusez-vous? "
beziehen, denn auf die vorhergehenden Fragen müßte man mit si antworten.
Non stellt nun aber sicherlich weder die Negation von „les excusez-vous? "
(-»«e les excusez vous pas? ) noch diejenige des affirmativen Gegenstücks
„vous les excusez" ( -*• vous ne les excusez pas) dar. Diese Feststellung machen
wir zunächst einmal rein intuitiv, aber wir müssen uns nicht damit begnügen:
es ist möglich, einen linguistischen Beweis zu erbringen. Dieser Beweis beruht
auf der Tatsache, daß eine heteronexe Negation im Rahmen eines segmentier-
ten Satzes immer von einer homonexen Negation wieder aufgenommen wer-
den kann. Diese redundante Weise des Negationsausdrucks hat den großen
rigkeit zu einer anderen Stilschicht, z.B.: pas du tout: besondere Betonung der Ne-
gation; non pas, non point: besondere Betonung und (regionaler oder literarischer)
Archaismus; du tout: besondere Betonung und familiär.
Der Prosatz „non" 57
Vorteil, daß so das Diktum expliziert wird, das der heteronexen Negation zu-
gründe liegt: beide Negationen beziehen sich ja auf den gleichen Tatbestand,
Hier noch ein weiteres literarisches Beispiel aus dem Misanthrope, das dieses
Phänomen illustriert:
Oronte
Philinte
32 Hinsichtlich des Stimulus haben wir hier eine kleine Abweichung aufgrund der Tat-
sache, daß das Objektspronomen bei der homonexen Negation implizit bleibt; für
unsere weitere Argumentation spielt dies jedoch keine Rolle.
33 Wenn der Stimulus in der Höflichkeitsform steht (Pl.), muß in der Antwort auch
der Plural des Stimulus durch den Singular ersetzt werden; die umgekehrte Erschei-
nung findet man dann, wenn die erste Person des Stimulus sich auf eine Person
bezieht, die der zweite Sprecher in der Höflichkeitsform anzusprechen pflegt (cf.
Suis-je fou? - Non, vous n'êtes pas fou).
34 Diese Feststellung ist nicht ohne Ausnahme. Es kommt vor, daß in bestimmten Si-
tuationen nicht der Angesprochene, sondern der Besprochene auf den Stimulus rea-
58 P. Wunderli
Wir stellen also fest, daß der monoreme Satz non mit mindestens einem
Satz seines Kontextes durch Suppletionsmechanismen verbunden ist. Vom
Standpunkt der transphrastischen Syntax aus ist es nun wichtig zu wissen,
ob diese Beziehung eine Beziehung nach rückwärts, d. h. mit dem, was vor-
ausgeht (Anapher), oder ob es sich um eine Beziehung nach vorwärts, d.h.
mit dem, was folgt, handelt (Katapherj. In allen bisher behandelten Beispie-
len ging non im Text ein wirklicher Stimulus voraus, der nach unserer In-
terpretation die für die Rekonstruktion des Diktums notwendigen Elemente
enthielt. Wir können somit sagen, non besitze auf jeden Fall die Fähigkeit,
als anaphorische heteronexe Negation zu fungieren. Aber ist dieser anapho-
rische Charakter obligatorisch? Handelt es sich um einen charakteristischen
Zug, der non auf der Ebene der langue zukommt? Diese Frage muß verneint
werden. Es gibt nicht nur keine zweite Negation gleicher Art, die die kata-
phorische Relation markieren würde, es läßt sich auch nicht übersehen, daß
— trotz des viel häufigeren anaphorischen Gebrauchs — non auch in Kon-
texten vorkommt, wo das Diktum nur aufgrund des Nachfolgenden ergänzt
werden kann 3 5 . Hierfür nochmals zwei aus dem Misanthrope stammende Bei-
spiele. Der vierte Akt dieser Komödie beginnt folgendermaßen:
Philinte
Auf der Ebene des Textes geht dem non nichts voran; die Zäsur zwischen dem
dritten und dem vierten Akt ist absolut, denn die Personen auf der Bühne
wechseln zwischen III/5 und IV/1 — es gibt also keine Möglichkeit, eine Be-
ziehung zu einem Stimulus in der vorhergehenden Szene herzustellen. Um das
Diktum, auf das sich non bezieht, zu rekonstruieren, müssen wir uns an das
Nachfolgende halten, d. h. an das Element Z des segmentierten Satzes (AZ),
der dem ersten Vers entspricht. Ein ähnlicher Fall findet sich einige Verse
weiter in derselben Szene. Philinte zitiert die Worte Alcestes:
giert (vgl. Il est bête. - [überraschend tritt die besprochene Person auf] Non, je ne
suis pas bête). Sobald der Besprochene das Wort ergreift, müssen auch Pronomina
der dritten Person, die sich auf ihn beziehen, umgesetzt werden.
35 Cf. auch Gaatone, Système, p. 29.
Der Prosatz „non" 59
Philinte
Nichts, was dieser Szene vorangeht, könnte als Stimulus angesehen werden.
Das Zitat setzt plötzlich ein, Alcestes Worte sind offensichtlich aus ihrem
Originalkontext herausgelöst; um dieses überraschende non zu interpretieren,
müssen wir erneut zum nachfolgenden Text Zuflucht nehmen. In beiden
Fällen liegt somit ein kataphorischer Gebrauch von non vor. Man könnte
natürlich unserer Sicht entgegenhalten, im ersten Fall gebe es sicherlich einen
in unserem Text nur nicht berücksichtigten Stimulus — entweder in Philintes
Gedanken oder in seiner Rede — und im zweiten Fall sei Alcestes Worten im
Originalkontext ganz ohne Zweifel ein Stimulus vorangegangen, der dieses non
hervorgerufen habe. All dies mag zutreffen, ist aber ohne jede Bedeutung für
uns. Wir haben die Aufgabe, den Aufbau und das Funktionieren eines vorge-
gebenen, als solcher autonomen Textes zu beschreiben. Um die beiden non
zu interpretieren, um zu erfahren, auf welches Diktum sich diese Negation
jeweils bezieht, bleibt uns nur die Möglichkeit, den nachfolgenden Kontext
zu befragen. Wir müssen somit festhalten, daß die Negation non im Text eben-
so gut kataphorische wie anaphorische Funktion haben kann. Auf der Ebe-
ne des Sprachsystems ist non neutral in Bezug auf die Opposition anapho-
risch /v/ kataphorisch, es ist nur durch die Verpflichtung zur Kontextbin-
dung charakterisiert; die Richtung dieser Inzidenz wird erst auf Redeebene
festgelegt. Es gibt sogar Fälle, wo non gleichzeitig anaphorische und kata-
phorische Partikel ist, wo man zur Rekonstruktion des Diktums sowohl auf
den vorhergehenden als auch auf den nachfolgenden Kontext rekurrieren
kann; cf. unser bereits zitiertes Beispiel Vous me flattez . . . - Non, je ne
flatte point. Natürlich wird man es bei Beispielen dieser Art im Rahmen einer
spontanen Interpretation von non vorziehen, vom vorangehenden Kontext
auszugehen, aber eine auf dem nachfolgenden Kontext beruhende Interpre-
36 In unseren beiden Beispielen ist das Bezugselement des kataphorischen non ein ne-
gativer Satz (homonexe Negation); obwohl dieser Typ frequenzmäßig dominiert,
ist er nicht der einzig mögliche. Alceste hätte z. B. auch sagen können: „Non . . .
je devrais me dédire? " usw.
60 P. Wunderli
37 Sie kann sogar die einzig mögliche sein in Fällen wie dem oben erwähnten Zitat
von Alceste, wo der Stimulus unterdrückt worden ist, oder wenn jemand in einer
Unterhaltung von mehreren Personen das dem non Vorangegangene nicht gehört
oder nicht verstanden hat (Lärm, Unaufmerksamkeit usw.).
38 Es scheint, daß die kettenbildende Kraft sich nach dem ersten Element in beiden
Richtungen (Anapher und Katapher) jeweils erschöpft. Um längere, sich linear fort-
setzende Ketten zu erhalten, muß man auf andere Verknüpfungsmittel zurückgreifen.
Der Prosatz „non" 61
39 Für die Zugehörigkeit des Bauplanes zur Ebene der langue cf. auch P. Wunderli, Zur
Stellung der Syntax bei Saussure, ZRPh. 88 (1972), 483-506.
40 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 97, 211/12.
41 Cf. H. Boll, Dr. Murkes gesammeltes Schweigen, Köln-Berlin 1958.
p
62 - Wunderli
je viens A k t . ' - V.
1 2 3
j'ai vendu cette voiture a ton ami Akt. - V. - Akt. - Akt.
il arrivera demain à Paris A k t . ' - V. - Zirk.* - Zirk.'
43
Non kann alle diese Baupläne vertreten; auf der Ebene der langue ist es somit
an keinen von ihnen gebunden. Diese Feststellung wird weiter gestützt durch
die Tatsache, daß non sich nicht unbedingt nur auf ein einziges Diktum be-
ziehen muß, sondern auch gleichzeitig mehrere betreffen kann; cf. z.B.:
Harpagon
Dis-moi un peu: Marianne ne m'a-t-elle point encore vu?
N'a-t-elle point pris garde à moi en passant?
Prosine
Man kann non hier als Partikel ansehen, die die beiden vorangehenden Fragen
wieder aufnimmt und ihr Diktum negiert: es vereinigt sie gewissermaßen zu
einem Büschel. Es gebricht somit non offensichtlich nicht nur an lexikalischem
Gehalt, es geht ihm auch ein spezifischer Bauplan ab. Unsere heteronexe Ne-
42 Wenn man dem Terminus Pronomen einen so weiten Sinn gibt wie R. Harweg, könn-
te man non in seine Kategorie der „neuen Pronomina" einreihen (vgl. R. Harweg,
Pronomina und Textkonstruktion, München 1968, passim). - Für den Terminus
Prosatz cf. auch Teodora Cristea, La structure de la phrase négative en français con-
temporain, Bucarest 1971, p. 141 s.
43 V. = Verb; A k t . 1 = erster Aktant; A k t . 2 = zweiter Aktant; A k t . 3 = dritter Aktant;
Zirk. 1 = temporaler Zirkumstant; Zirk. 1 = lokaler Zirkumstant.
Der Prosatz „non 63
gation enthält nur die Merkmale .Negation' und ,Satz' (ohne jede Spezifizie-
rung) 44 ; sie ist auf der Ebene der langue nichts weiter als ein minimaler ne-
gativer Prosatz. Aus diesem Grundwert leitet sich die diskursive Funktion
von non ab: da ein aktivierter Satz immer einen einem Bauplan überlager-
ten lexikalischen Gehalt besitzt, muß der in der Rede verwendete Prosatz
non die ihm als Systemeinheit fehlenden Komponenten (lexikalischer Gehalt,
Satzbauplan) mit Hilfe von außerhalb seiner Grenzen liegenden Elementen
ergänzen: er muß sich auf den Kontext stützen (= Inzidenz). Daraus ergibt
sich die erwähnte „Kontexthungrigkeit", die allen vier Normfunktionen von
non gemeinsam ist und die nichts weiter als die diskursive Reinterpretation
des Systemwertes des Prosatzes darstellt.
Die Interpretation von non als negativer Prosatz ermöglicht es nun, eine
Reihe von Problemen zu klären, die die traditionelle Grammatik nicht befrie-
digend zu lösen vermochte. Ihre Schwierigkeiten gehen v. a. auf die Gewohn-
heit zurück, non als Adverb zu betrachten 4 5 . Ein Adverb fügt sich normaler-
weise ohne besonderes Merkmal und ohne jede Transposition in einen „ge-
bundenen Satz" (phrase liée) ein 46 — immer unter der Voraussetzung natür-
lich, daß es tatsächlich die Funktion eines Adverbs ausübt (cf. z. B. II est
vraiment heureux; Je viens demain; Il ne consentira jamais; usw.). Dies gilt
nun aber gerade nicht für non41, oui und si: um sie in einen „gebundenen
44 Was den Negationsmechanismus angeht, so muß das negative Element von non auf
die aktivatorische Inzidenz (-»Sprecherorigo) des Prosatzes bezogen werden, domi-
niert sie doch den Prosatz als Ganzes. Die Verhältnisse entsprechen somit im Prinzip
den bei ne . . . pas festgestellten (cf. N 26). Es darf aber nicht übersehen werden,
daß es sich im Fall von ne . . . pas um eine syntaktisches Phänomen handelt, wäh-
rend wir es hier mit einem Problem der Anordnung (Hierarchie) der Seme zu tun
haben. Außerdem darf non als Systemeinheit nicht als auf eine gegebenen Sprecher-
origo bezogen angesehen werden; die aktivatorische Inzidenz ist auf dieser Ebene
rein virtuell und hat Valenzcharakter:
(Sprecher-Origo)
Neg.'.
, Prosatz'
45 Vgl. z. B. Grammaire Larousse du français contemporain, § 622; Grevisse, Bon usage,
§ 873; Wartburg-Zumthor, Précis, p. 5 6 / 5 7 ; J. Dubois et al., Dictionnaire du français
contemporain, Paris 1970, p. 773; Petit Robert, Paris 1970, p. 1158; M. D a v a u - M .
Cohen - M. Lallemand, Dictionnaire du français vivant, Paris-Bruxelles-Montréal 1972,
p. 829; usw.
46 Zum Begriff der phrase liée (die zur phrase coordonnée und zur phrase segmentée
in Opposition steht) cf. Bally, LGLF, § 100 ss.
47 Im Rahmen unserer Argumentation sind diejenigen Fälle, wo non nicht negativer Pro-
64 P. Wunderli
Satz" integrieren zu können, muß ihnen obligatorisch die Partikel que voran-
gestellt werden; daraus ergeben sich Konstruktionen wie dire que non, pré-
tendre que non, usw. 4 8 Hier einige literarische Beispiele dieses Typs:
La bonne a apporté le thé. Francine lui a demandé si elle n'en prenait pas. La
bonne a répondu que non, ça l'empêchait de dormir.
R. Pinget, Le fiston, p. 129 (Gaatone, Système, p. 30)
Je ressemble à n'importe qui, vous savez. - J'espère bien que non.
H. Bazin, La mort du petit cheval, p. 171 (Gaatone, Système, p. 30)
J'ai d'abord cru qu'elle était sourde; la servante prétend que non . . .
A. Gide, La symphonie pastorale, p. 12 (Gaatone, Système, p. 30)
usw.
satz ist, nicht zu berücksichtigen. Es gibt ein non, das als Präfix fungiert, und das
ich non^ nennen möchte {non pertinent, non interrompu, non-adaptation, non-con-
comitance usw.), und ein weiteres non, das Bestandteil gewisser erstarrter, sich auf-
grund eines früheren Sprachzustands erklärender adverbialer Wendungen ist (non seule-
ment, non plus, non loin usw.); cf. hierzu Gaatone, Système, p. 21 s.; Wartburg-
Zumthor, p. 58/59; Grevisse, Bon usage, § 874b; ferner oben, p. 43.
48 Cf. auch dire que oui/si; wie non muß man also auch oui und si zu den Prosätzen
zählen (oui: affirmativer Prosatz; si: oppositiver Prosatz).
49 Vgl. Petit Robert, p. 1524. Der transitive Gebrauch von répondre mit nominalem Ob-
jekt ist selten, die Konstruktion mit Objektsatz dagegen hat nichts Außergewöhnliches
an sich.
50 Cf. hierzu Bally, LGLF, § 179 ss. (für que § 183); Tesnière, Eléments, p. 361 ss.,
v. a. p. 546-48.
Der Prosatz „non" 65
genden Sequenz. Da non Prosatz ist, ist es nichts weiter als natürlich, daß
es dort, wo es in einem Bauplan die Funktion des 2. Aktanten ausübt, gleich
behandelt wird wie ein Vollsatz: der Prosatz non wird durch que in ein
einem 2. Aktanten entsprechendes Substantiv (proposition complétive)
transponiert 51 . Was das Diktum angeht, auf welches ein solcher transponier-
ter Prosatz sich bezieht, so muß es offensichtlich außerhalb des komplexen
Satzes gesucht werden, zu dem non gehört; es kommt recht häufig vor, daß
es von seinem Stimulus durch mehrere eingeschobene Sätze getrennt ist 52 .
Das zweite Problem, das sich jetzt beinahe von selbst löst, ist die Frage,
warum non mittels ou einem Satz beigeordnet werden kann, cf. z. B. :
Pour elle, qu'elle l'avouât ou non, les maîtres étaient les maîtres et les domesti-
ques étaient les gens que mangeaient à la cuisine.
M. Proust, Le côté de Guermantes, p. 1027 (Gaatone, Système, p. 31)
Ou ist eine koordinierende Konjunktion, die aber nur zur Verbindung von
gleichartigen Elementen eingesetzt werden kann: zwei Substantiven (mon
père ou ma mère), zwei Adverbien (demain ou après-demain), zwei Sätzen
(il vient ou il ne vient pas) usw., nicht aber von zwei Einheiten, die in morpho-
syntaktischer Hinsicht verschiedenen Kategorien oder verschiedenen Hierar-
chiestufen angehören (z. B. Subst. + Adv., Satz + Subst. usw.). Wenn man
non als Adverb ansieht, bleibt die Interpretation der zitierten Beispiele ge-
zwungenermaßen unbefriedigend. Sieht man in non hingegen einen negativen
Prosatz, ergibt sich die Erklärung von selbst: ou koordiniert in diesem Fall
51 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 546 und Cristea, Structure, p. 143/44. Beispiele wie
das folgende, wo que fehlt, sind selten:
Pour faire dire oui aux hésitants, il importe avant tout de ne pas les laisser dire
non, donc de changer de sujet.
H. Bazin, Qui j'ose aimer, p. 110 (Gaatone, Système, p. 29)
Oui, non sind in diesem Fall nicht transponiert, da sie wie Zitate behandelt werden:
sie stehen in einem metasprachlichen Kontext. Diese spezifische Situation erklärt
auch die Tatsache, warum es im Kontext kein Diktum gibt, auf welches oui und
non sich beziehen könnten; selbst auf Redeebene bleiben sie leere Prosätze.
52 Ein analoger Gebrauch von non und out findet sich in Bedingungssätzen, cf. z. B.
„si tu viens, nous irons au cinéma; si non, je me coucherai tôt". Der Prosatz wird
mit Hilfe des Translativs si in einen Zirkumstanten umgesetzt (proposition circon-
stantielle). Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 593.
66 P. Wunderli
zwei Sätze ( -* la tumeur invisible est fiévreuse ou [la tumeur invisible n 'est
pas fiévreuse] ; elle l'avoue ou [elle ne l'avoue pas] usw.).
Bleibt ein dritter Fall, die Erklärung von Beispielen wie:
Je m'éveillais brusquement avec, dans l'oreille, un grand cri - mais est-ce encore
ce mot-là qui convient? Evidemment non.
G. Bernanos, Journal d'un curé de campagne, p. 1099 (Gaatone, Système, p. 29)
Vous croyez avoir quelque influence sur elle? - Non certes, pour le moment.
G. Bernanos, Journal d'un curé de campagne, p. 1172 (Gaatone, Système, p. 29)
Man liest häufig, die Adverbien évidement, certes usw. würden die
Negation „verstärken" 53 . Eine solche Formulierung scheint mir aber nicht
statthaft zu sein, denn Existenz und Nicht-Existenz sind keiner Abstufung
fähig 54 . Man könnte allenfalls sagen, daß in Formeln wie non non, non pas,
pas du tout usw. der Ausdruck der Negation verstärkt ist, daß man auf die
Negation insistiert5S. Aber sind Adverbien wie évidemment, certes, certaine-
ment, assurément usw. in der Lage, den Ausdruck der Negation zu
verstärken? Dies scheint mir äußerst zweifelhaft, denn der Semantismus
dieser Adverbien ist als solcher weder negativ noch affektiv oder quanti-
tativ. Und er braucht es auch gar nicht zu sein, denn wenn man unsere De-
finition von non akzeptiert, müssen wir in diesen Adverbien nicht „Ver-
stärkungen" der Negation oder des Negationsausdrucks sehen. Certes, vrai-
ment usw. beziehen sich nicht auf non als Negation, sondern als Prosatz:
sie fungieren als Satzadverbien und unterstreichen den sicheren, offensicht-
lichen wahren Charakter der Aussage in ihrer Gesamtheit.
53 Vgl. z. B. Gaatone, Système, p. 29; Wartburg - Zumthor, Précis, p. 59; Grevisse, Bon
usage, § 874 d; Brunot, La pensée et la langue, p. 502; usw. - Für eine der mei-
nen verwandte Interpretation cf. Cristea, Structure, p. 143.
54 Cf. auch Barnicaud et al., Langages 7 (1967), 59/60.
55 Cf. o b e n N 31.
56 Cf. z. B. Wartburg-Zumthor, Précis, p. 56; „II (se. non) est sur plusieurs points, dans
l'usage actuel, concurrencé par pas"; vgl. auch Grevisse, Bon usage, § 874 a Rem. 1;
Der Prosatz „non" 67
point usw. seien homonexe Negationen 57 ; als solche können sie aber keine
Prosätze sein. Wenn non auf den Bereich von pas übergreift, dann muß man
sich entweder fragen, ob es eine Variante von non gibt, die nicht Prosatz
ist, oder aber die angebliche Prosatzfunktion überhaupt in Zweifel ziehen.
In einer ersten Serie von Beispielen scheint non nicht einen ganzen Satz
wieder aufzunehmen, sondern nur das Verb:
Dieser erste Typ ist jedoch leicht in unseren Ansatz zu integrieren. Einmal
haben wir gesagt, das Verb stelle das Zentrum des Satzes bzw. Teilsatzes
dar und alle Aktanten und Zirkumstanten seien von ihm abhängig. Auch
wenn non in unseren Beispielen nur das Verb wieder aufnehmen würde,
wäre es doch Proform für das zentrale Element des Satzes; dies könnte es
rechtfertigen, ihm trotz allem den Wert eines Prosatzes zuzubilligen. Eine
solche Lösung scheint mir aber gleichwohl wenig zufriedenstellend zu sein,
denn sie impliziert eine vorschnelle Gleichsetzung von Satz und Verb (bzw.
Vorhandensein eines Verbs). Wir wissen aber, daß man oft Zeichenketten
in Satzfunktionen findet, die kein Verb enthalten; es ist deshalb besser, die-
se Erklärung aufzugeben. Und wenn wir uns die obigen Beispiele nochmals
etwas näher ansehen, dann wird bald klar, daß sie gar keine besondere Er-
klärung erheischen. Geht man von der Meinung dieser Konstruktion aus,
so ist es unmöglich zu sagen, non beziehe sich allein auf die Verben déci-
der und être; das Diktum der Negation ist im ersten Fall vielmehr „(la force
toute nue) décidera de la divinité de l'homme", im zweiten Fall „la jument
est aussi rapide que l'étalon". Überdies ist der Tatsache Rechnung zu tragen,
daß in unseren beiden Beispielen die Sequenz „ou non" ohne jede Bedeu-
tungsveränderung auch an das Satzende gestellt werden könnte — allerdings
mit einem spürbaren Verlust an stilistischer Eleganz:
. . . la terra déserte sera livrée à la force toute nue qui décidera de la divinité
de l'homme ou non.
Cet appel demande également à toutes les organisations, politiques ou non, d'ap-
puyer les mesures . . . du gouvernement.
Le Monde, 30. 3. 63, p. 7 (Gaatone, Système p. 31)
Aber auch hier trügt der Schein, denn das, was durch non aufgenommen
wird, ist nicht ein Adjektiv als solches. In beiden Fällen haben wir es mit
segmentierten Sätzen zu tun, in denen die Gruppe „Adj. + ou non" dem
Element A entspricht; im ersten Beispiel geht das Thema A dem Rhema
Z voran, im zweiten ist A in Z eingeschoben58. Nun ist das Element A eines
segmentierten Satzes immer selbst einem Satz bzw. Teilsatz äquivalent,
selbst wenn es kein Verb enthält. Dies gilt auch für unsere Beispiele, ja
mehr noch: obwohl sie kein Verb enthalten, müssen die A-Elemente dieser
segmentierten Sätze als komplexe Themen angesehen werden, die sich aus
zwei durch ou koordinierten Elementen zusammensetzen und deren zwei-
tes das erste unter negativer Modalität wieder aufnimmt. Wir könnten so-
mit diese Themen folgendermaßen paraphrasieren:
C'était une vague allusion à l'amour, non une promesse, non une invitation pres-
sante.
J. Romains, Les hommes de bonne volonté I, p. 536 (Gaatone, Système, p. 32)
Ma jalousie naissait par des images, pour une souffrance, non d'après une proba-
bilité.
M. Proust, La prisonnière, p. 24 (Gaatone, Système, p. 32)
59 Dieselbe Argumentation gilt für Fälle, wo der Satz sich auf ein Substantiv oder ein
Adverb reduziert.
60 Man müßte dann von einem non^ sprechen (vgl. auch N 47).
61 Cf. oben p. 66.
70 P. Wunderli
C'était une vague allusion à l'amour, ce n'était pas une promesse, ce n'était
pas une invitation pressante.
Ma jalousie naissait par des images, pour une souffrance, ma jalousie ne naissait
pas d'après une probabilité.
In diesen Umformungen haben wir die Funktionen expliziert, die non als
Prosatz global erfüllt. Worin unterscheidet sich dieser Typ nun von jenen
Fällen, wo der heteronexen Negation kein Substantiv, Adverb (Präposition
+ Substantiv) usw. folgte? Wir können feststellen, daß in unseren Bei-
spielen Subjekt und Verb des Ausgangssatzes im koordinierten Negativ-
satz wieder aufgenommen werden; in dieser Hinsicht sind der substituierte
und der substituierende Satz identisch. Sie unterscheiden sich in einem
einzigen Punkt: im Beispiel von Romains betrifft dieser Unterschied das
Prädikatsnomen: „une vague allusion à l'amour" im Ausgangssatz wird im
ersten Negativsatz durch „une promesse", im zweiten durch „une invitation
pressante" ersetzt. In Prousts Beispiel betrifft der Unterschied einen Zir-
kumstanten: die zweifache Ergänzung „par des images, par une souffrance"
im substituierten Satz wird im negativen Substitut durch „d'après une pro-
babilité" ersetzt. Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten würde ich
die Rolle von non in Konstruktionen dieser Art folgendermaßen deuten:
non ist ein negativer Prosatz, der alle Elemente des Stimulus (des substi-
tuierten Satzes) wieder aufnimmt, die nicht kontraindiziert sind. Kontra-
indikatoren treten immer dann auf, wenn eine bestimmte Position im ur-
sprünglichen Satzbauplan ausfüllende lexikalische Einheiten nicht zum ver-
neinten Substitut gehören sollen, wenn sie also von der Wiederaufnahme
durch non auszuschließen sind. Das Prinzip dieses Mechanismus ist sehr
einfach: die Position, deren lexikalischer Gehalt eliminiert werden soll, wird
nach der Negation non gesondert wieder aufgegriffen und mit neuem lexi-
kalischem Material besetzt 62 . Durch diese Wiederaufnahme eines Aktanten,
62 In Ausnahmefällen geht diese Expansion des Prosatzes sogar dem non voran; cf.
Grammaire Larousse du français contemporain, p. 428 (il a fait souffrir tout le monde
autour de lui, ses gens, ses chevaux, ses amis non, car il n'en avait pas un seul [Gide]J;
Wagner-Pinchon, Grammaire de français classique et moderne, p. 404 Rem.
Der Prosatz „non" 71
et non
Il s'agit d ' u n règlement de c o m p t e s particulier, d ' u n e c o n t e s t a t i o n sur le bien, et
non d ' u n e lutte universelle entre le mal et le bien.
A. Camus, L ' h o m m e révolté, p. 4 4 (Gaatone, Système, p. 33)
mais non
On p a r d o n n e les crimes individuels, mais non la participation à u n crime collectif.
M. Proust, Le c ô t é de G u e r m a n t e s , p. 152 ( G a a t o n e , Système, p. 33)
Unsere Erklärung gilt auch für Fälle, wo sich der Blockademechanismus nicht
auf eine lexikalische Einheit (und deren Determinanten), sondern auf in
Teilsätze transponierte Sätze bezieht:
So fügen sich selbst die Beispiele, die zunächst aus dem normalen Rahmen
zu fallen schienen, in unser Interpretationsschema ein; dieses erweist sich
somit als fähig, alle Verwendungen von non als Einheit einer lebendigen
72 P. Wunderli
und freien Syntax zu erklären 63 . Was die Textlinguistik bzw. die Textkon-
stitution betrifft, so muß noch beigefügt werden, daß non als koordinierter
(nach Pause, ou, et, mais) und als untergeordneter Prosatz (nach que) nie
eine kataphorische Beziehung markiert; sieht man von der seltenen Verwen- ..
dung als eingeschobener Satz ab64, haben wir es immer mit anaphorischen
Konstruktionen zu tun. Und da bei unabhängigem Gebrauch (Antworten
usw.) die Anapher ebenfalls deutlich überwiegt, können wir sagen, daß -
obwohl die Opposition anaphorisch / v / kataphorisch auf der Ebene der
langue neutralisiert ist - die anaphorische Beziehung auf den Ebenen des
discours und der Norm eindeutig bevorzugt ist und frequenzmäßig domi-
niert.
*
Eigentlich sind wir nun ans Ende unserer Untersuchung der Negation non
gelangt. Eine letzte Frage bleibt jedoch noch zu klären. Wir haben gesagt,
die Negation pas konkurrenziere non regelmäßig in den Fällen, wo dieses
als koordinierter Prosatz verwendet wird (nach Pause, ou, et und mais).
Muß man daraus schließen, daß pas in der modernen Sprache in den Be-
reich von non eindringt, daß es dabei ist, sich selbst in einen Prosatz zu
verwandeln? Eine solche Erklärung kann nicht von vornherein ausgeschlos-
sen werden, denn anstelle von non gebrauchtes pas wird oft als Merkmal der
familiären Sprache angesehen65 ; sollte es bereits eine stilistische Variante von
non darstellen? Bevor wir auf diese Frage eingehen, sollen hier einige Beispie-
le gegeben werden, wo pas die Stelle von non eingenommen zu haben scheint:
63 Nur die erstarrten Formeln und das Gebiet der Wortbildung sind gesondert zu behan-
deln, cf. N 47.
64 Vgl. noch einen weiteren Einschubstyp, der sich von dem p. 67/68 erwähnten unterschei-
det:
Choisissez non le succès, mais l'honneur
Grevisse, Bon usage, § 874a
Non ist hier von einer Expansion gefolgt; außerdem fungiert es nicht als koordinier-
ter Terminus, sondern ist in den ersten Teil der Konstruktion integriert, was das Auf-
treten von mais nach der Pause nach sich zieht.
65 Cf. z.B. Grevisse, Bon usage, § 874a; Wartburg-Zumthor, Précis, p. 58; Gaatone, Système
p. 45.
Der Prosatz „non" 73
S'il me plaît d'engager toute ma vie pour elle, trouverais-tu plus beau que je lie mon
amour par des promesses? Pas moi.
A. Gide, La porte étroite, p. 51 (Gaatone, Système, p. 44)
nach ou:
Elle parlait beaucoup, et toujours, de choses qui étaient si belles . . . qu'il allait je
ne sais pas, de mon honneur de . . . les voir ou pas.
M. Duras, Le marin de Gibraltar, p. 33 (Gaatone, Système, p. 44)
nach et:
Vous avez confiance en des inconnus, et pas en moi?
H. de Montherlant, Le démon du bien, p. 1349 (Gaatone, Système, p. 44)
Pierre souffrait pourtant de savoir qu'elle était à un autre, et pas à lui.
L. Aragon, Les voyageurs de l'impériale, p. 372 (Gaatone, Système, p. 44)
nach mais:
Ces noms. . . elle les reconnaissait au passage, mais pas tous.
G. Bernanons, Sous le soleil de Satan, p. 205 (Gaatone, Système, p. 44)
Je ne veux pas savoir s'il est difficile ou non, Madame Desbaresdes, dit la dame.
Difficile ou pas, il faut qu'il obéisse.
; M. Duras, Modérato cantabile, p. 13 (Gaatone, Système, p. 45)
difficile ou pas / non, grève ou pas / non usw. obligatorisch ist, sobald das er-
ste Element nach der Negation wiederholt wird 6 7 , cf. z.B.:
Aussi, guerre ou pas guerre, il était certain que nous entrions pour de bon dans
une période assez fertile en désagréments.
C. Simon, La corde raide, p. 140 (Gaatone, Système, p. 45)
Zeigt uns das erste Faktum, daß pas nicht als Äquivalent von non angese-
hen werden darf, daß man es also nicht als Prosatz betrachten kann, so
scheint mir die zweite Erscheinung einen Hinweis zu liefern, wie die be-
schränkte Kommutationsmöglichkeit von pas und non erklärt werden muß.
Wir haben p. 68 gesagt, in Konzessivsätzen dieser Art übe das erste Element
Satzfunktion aus, ganz gleichgültig, ob es sich um ein Substantiv, ein Ad-
jektiv oder ein Adverb handelt. Wenn nun ein solches Element nach der
Konjunktion ou wieder aufgenommen wird, so muß dies in derselben Funk-
tion geschehen, die es vor ou ausübt, d. h. als Satzrepräsentant und nicht
einfach als Substantiv, Adjektiv usw. Da guerre, difficile usw. selbst als
Prosatz fungieren, bleibt kein Platz mehr für die heteronexe Negation (Pro-
satz) non: sie können nur durch die homonexe Negation negiert werden,
die dann Bestandteil des durch ein Substantiv, Adjektiv oder Adverb reprä-
sentierten Satzes ist. Für all die Fälle, wo pas eine nicht-verbale Einheit be-
gleitet, schlage ich vor, diese als Satzrepräsentanten anzusehen und der Ne-
gation ihre normale Funktion zuzuweisen: diejenige einer homonexen Ne-
gation. Diese Interpretation ist nicht nur für die Fälle gültig, wo eine be-
stimmte Lexie wiederholt wird, sondern auch dort, wo wir vom ersten zum
zweiten Glied des koordinierten Komplexes eine lexikalische Substitution
haben. Und die Fälle, wo auf pas weder ein Adjektiv noch ein Substantiv
oder Adverb folgt (cf. difficile ou pas usw.)? Wir befinden uns hier in ei-
ner Grenzsituation, wo die Funktionen der beiden Negationen zusammen-
zufallen scheinen. Man kann sie nur noch differenzieren, wenn man annimmt,
die erste satzhafte Komponente des koordinierten Komplexes werde durch
ein Nullelement wiederaufgenommen und die homonexe Negation pas ne-
giere diesen Nullrepräsentanten 68 .
So kommen wir zum Schluß, daß selbst in den Fällen, wo pas und non
frei kommutierbar zu sein scheinen, wo die Sinneffekte, die man aufgrund
der beiden Konstruktionen erzielt, praktisch identisch sind, gleichwohl zwei
grundverschiedene Mechanismen vorliegen; unter den vergleichbaren „Ober-
flächenstrukturen" verbergen sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich der
„Tiefenstruktur".
Negation möglich ist (Que fais-tu? - Rien; Quand V'as-tu revue? - Jamais; uswj ;
pas kann nur innerhalb eines „gebundenen" Satzes nach einer koordinierenden Kon-
junktion allein stehen. Zweitens kann pas nicht durch que in einen Objektsatz um-
gewandelt werden, was wiederum im Fall von jamais, rien usw. möglich ist (il dit
que jamais usw.). Es ist somit eindeutig, daß pas nicht als Prosatz betrachtet werden
darf.
H e l m u t Genaust
4 Auch Damourette-Pichon (EGLF VI, § 2185) haben deutlich dieses syntaktische Ver-
halten erkannt, mit Rücksicht auf die bestehenden Differenzen die Zuordnung zur
Klasse Verb aber vermieden.
5 Dem aspect immanent Guillaumes entspricht der von G. Hilty vorgeschlagene Ter-
minus Aktionsstand des accomplissement.
78 H. Genaust
System/Norm stilschichtengebundene
Variante
unpersönliche Ausdrücke il 0
voici/voilà <t> -t-il; je usw.
Es scheint ferner, als inzidiere eine solche Äußerung mit voici/voild nicht allein
auf die Situation und den allocutaire, sondern als sei dieser auch an dem in
voici/voild selbst ausgedrückten „verbalen Geschehen" in Form eines 1. Aktan-
ten beteiligt, wie eine Substitution auf Redeebene nahelegt:
2 Les cigarettes que voilà sont à moi
entspricht etwa „Les cigarettes que vous voyez là-bas, que vous trouvez (sur la
table), que vous avez dans votre main, sont à moi". Eine weitergehende Rede-
bedeutung wie etwa „Les cigarettes qui sont i c i . . . " ist zwar durchaus möglich,
trägt aber schon nicht mehr dem syntaktischen Charakter der Wendung mit
dem Relativum que Rechnung.
Es geht also nicht an, in voici/voild unpersönliche Verben zu sehen. Ulrich
Mauch, der sich erst jüngst eingehend mit den unpersönlichen Ausdrücken be-
faßt h a t 7 , führt denn aus verständlichen Gründen beide Einheiten gar nicht auf.
Voici/voild ist somit weder ein unipersonales Verb (in unpersönlicher Ver-
wendung) noch besitzt es überhaupt eine grammatische Person 8 . Dem wider-
sprechen keineswegs die zwei Beispiele, die Moignet (p. 197) — weil unverein-
bar mit seiner These — als Konfusion „dans la pensée de ceux qui possèdent
imparfaitement le système de la langue", als Fälle aus der „grammaire des
fautes" weginterpretiert:
3 Ah! te voilà? - Oui, je voilà.
5jähriges Kind, Beobachtung Moignets p. 197
7 U. Mauch, Geschehen „an sich" und Vorgang ohne Urheberbezug im modernen Fran-
zösisch, Bern 1969 (RH 80).
8 Cf. EGLF, § 2 1 8 5 : „Ce qui les en [ = voici/voild du verbe] distingue essentiellement,
c'est leur absence de support".
80 H. Genaust
9 (1901-1937), erster Dichter Madagaskars in frz. Sprache. Sein Name ist im EGLF
unklar gedruckt.
10 Cf. M. Wilmet, Gustave Guillaume et son école linguistique, Paris-Bruxelles 1972,
p. 47—49;P. Wunderli, VRom 32 (1973), 13/14.
Voici und voilà 81
Tatsache abhängig, daß eine Äußerung mit voici/voild situationeil und zeitlich
an den Moment der Sprechhandlung gebunden ist: „Voici-voilà, qui ne sort
pas du moment de la parole, est incompatible avec le temps virtualisé que
signifie le mode subjonctif (p. 198).
Es liegt hier zum einen Verwechslung der Inzidenz auf die Situationelle
Präsenz der Kommunikationspartner mit der temporalen Einheit Präsens vor,
zum anderen ist zu fragen, warum hier denn nicht gerade der Subjonctif (we-
gen der partiellen Tempusgliederung) oder besser Infinitiv (als geringster
Aktualisierungsgrad des Verbs) auftreten müßte. Auch Infinitive können ja
in präsentischer Rede Träger der Verbalhandlung anstelle eines finiten Verbs
sein! Daß voici/voild keine Konjunktive sein können, beweist Moignet damit,
daß sie weder in unabhängigen Sätzen noch in Complétiven jussiven (besser:
volitiven) Wert haben und nie mit konjunktivischen Formen in abhängigen
Sätzen kommutiert werden können. Ungrammatikalisch sind also:
5 *Je veux que le voilà.
*Tu souhaites que le voilà.
*I1 faut que le voilà.
*Dépêche-toi de partir avant que le voilà.
Ich meine, daß aus solchen durch den Semantismus der Einheiten voici/voilà
gegebenen Selektionsbeschränkungen nicht ex negativo auf den Modus des
vermeintlichen Verbs geschlossen werden darf.
c) Tempus: „ Voici-voilà ne connaît pas la variation temporelle parce qu'il
appartient à un seul temps, le présent. Il signale, exclusivement, le moment
dans lequel le locuteur énonce" (p. 198). Nach dem oben Gesagten braucht
nicht noch einmal die Brüchigkeit solcher Argumentation wiederholt zu wer-
den; wenn keine Tempusgliederung da ist, gibt es auch kein Tempus, ja nicht
einmal einen Indikativ. Äußerungen, die sich inzidenziell auf die Situation,
auf den Moment des Sprechens beziehen, müssen nicht notwendigerweise
präsentisch sein, sondern sind eher tempusindifferent und können den Rede-
wert „Gegenwart" eben aus der Anwesenheit der Loquenten, ihrem Hier und
Jetzt, erhalten, wie dies etwa beim lateinischen oder deutschen Imperativ zu
beobachten ist.
Es besteht also kein Grund, voici/voilà ein Tempus und damit einen
Modus zuzusprechen, weil es seinen Bezugspunkt im Moment der Sprechhand-
lung habe, und mit diesem Argument die These vom verbalen Charakter bei-
der Lexien zu stützen.
Eher könnte dies von einem Beispiel her geschehen, das Moignet (p. 198) 11
aus Damourette-Pichon zitiert:
11 Im Widerspruch zu seiner Behauptung „II n'est pas possible de mettre voici-voilà au
passé" (p. 198).
82 H. Genaust
oui, si, non einordnen und dieser letzten Gruppe das gleiche distinktive Merk-
mal „anaphorisch" zuweisen:
Tesnière: EGLF:
phrasillons logiques factifs strumentaux
incomplets anaphoriques épidictiques anaphoriques
voici/voilà oui/si, non voici/voilà oui/si, non
Bei Damourette-Pichon fehlt auch nicht der Hinweis, daß die Determination
durch eine deiktische Geste oder durch Inzidenz auf den Kontext vervollstän-
digt werden muß (§ 2181); doch soll nicht verkannt werden, daß beide Ansät-
ze auf verschiedenen, gleichwohl originellen Gedanken beruhen.
Was nun die in beiden Werken als anaphorisch definierten Entsprechungen
von voici/voilà angeht, so hat Peter Wunderli im Rahmen dieses Sammelban-
des17 in überzeugender Weise dargelegt, daß die Negation non den linguisti-
schen Status eines Prosatzes hat, dessen einziges semantisches Merkmal „+ ne-
gativ" ist; seinen spezifischen Gehalt und seinen Satzbauplan erhält non erst
auf Redeebene kraft Inzidenz auf Kontext und Situation. Auch die übrigen
Einheiten wird man ohne weiteres als Prosätze interpretieren dürfen.
II
17 Cf. p. 4 3 - 7 5 .
Voici und voilà 85
gie — zum Symbolwert von voici/voild. Offener tritt dies in der typischen
Appellsituation, dem Befehl, zutage: Im Imperativ, auch im Neufranzösischen,
wird das Subjekt eingespart, weil es in der Person des allocutaire situationeil
präsent ist. Der gleiche Einsparungsmechanismus liegt nach unserer Meinung
auch im Falle von voici/voilà vor1®.
Was die Frage nach der Repräsentation eines Zirkumstanten angeht, so er-
scheint dies fur die Ortsangabe gesichert. Dies ergibt sich nicht so sehr wegen
der variablen Signifikantelemente /si/ und /la/, die ja eher - wie beim nfrz.
pronom démonstratif - die Orientierung ± seitens des Sprechers markieren,
als vielmehr aus dem Semantismus der Wendung: Voici/voild lenken die Auf-
merksamkeit des lokal kopräsenten Adressaten auf den durch den 2. Aktan-
ten bezeichneten Gegenstand oder Sachverhalt; es besteht ferner Kombina-
tionsbeschränkung mit anderen struments locaux. Dagegen ist die Verbin-
dung mit Zeitadverbien, die ein „Jetzt" markieren, wie z. B. maintenant,
aujourd'hui, erlaubt, so daß der temporale Zirkumstant nicht implizit re-
präsentiert ist.
Verb voici/voilà
transitives Verb
(z.B. .wahrnehmen, sehen')
/vuasi/, /vuala/
+ 2. Aktant
chronischen Analyse des neufranzösischen Materials und stellt sich die Defini-
tion einer sprachlichen Einheit auf Systemebene, nicht die Beschreibung einer
Redekonstellation zum Ziel. Überdies ist es nicht notwendig, noch aus mo-
dernfranzösischer Sicht im Element /vua/ das Verb voir zu sehen. Sondern so
wie dessen morphologische Indizien vollständig neutralisiert sind, so dürfte
auch die ursprünglich differenzierte Semstruktur auf ein minimales Maß re-
duziert worden sein. Die Leistung von voici/voild besteht demnach darin, daß
der Sprecher eine Sparform zur Hand hat, die es erlaubt, die (nicht nur optische,
sondern auch akustische) Aufmerksamkeit des Adressaten auf einen Gegen-
stand oder Sachverhalt zu lenken, ohne daß das Subjekt, die gesamte Aktuali-
sierungshierarchie 26 des Verbs und dessen jeweiliges Semantem bei der Ab-
wahl aktiviert werden müssen. Als kontextuelle Bedeutung kann auf Rede-
ebene auch eine Umwertung des transitiven Verbs in ein Zustandsverb erfol-
gen, wenn ohne psychologischen Rekurs auf den 1. Aktanten einfach eine
Anwesenheit konstatiert wird (cf. te voilà = tu es là).
Es ist nun zu sehen, ob die hier vorgeschlagene Deutung auch für die übri-
gen Verwendungstypen zutrifft.
1. Voici/voild + Nomen (Substantiv/Pronomen). Wie in Beispiel 7 - 8 dar-
gelegt, fungiert das Nomen als 2. Aktant, cf.:
9 Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches. Et puis voici mon cœur,
qui ne bat que pour vous.
Verlaine, Romances sans paroles. Green, v. 1/2
10 Epargner, pardonner, consoler, voilà toute la science de l'amour.
A. France, Balthazar. Abeille, XXII, p. 192 (EGLF, § 2187)
11 Tenez, le v'ia . . . Allez-vous en . . .
A. Flament, La vie de Manet I, p. 7
ist dessen anaphorischer Ersatz durch das Pronomen en, das damit zum
2. Aktanten von voici/voilà wird:
13 Tu as besoin d'argent. Tiens en voilà! (en = „de l'argent")
En kann auch den Wert eines redundanten Objekts erhalten, wenn dessen
source sémantique als 2. Aktant folgt (kataphorischer Gebrauch):
14 En voilà une de femme! . . . s'écria Florine.
Balzac, Splendeur et misère des courtisanes I (t. XI, p. 497)
15 En voilà une d'histoire! . . . dit Malaga.
Balzac, Esquisse d'homme d'affaires (t. XII, p. 195)
Zur Erklärung führen Damourette-Pichon an, daß hier nicht (wie mit Hilfe
des unbetonten Pronomens) die Anwesenheit des Adressaten konstatiert,
sondern daß seine Person als exemplarisch hingestellt werden soll.
Dem Nomen kann ein Attribut angegliedert sein:
17 Deux Coqs vivoient en paix; une Poule survint,
Et voilà la guerre allumée.
La Fontaine, Fables VII, 12
18 Le voici installé petit commerçant quelque part.
J. et J. Tharaud, L'ombre de la croix I, p. 26 (kommentiert EGLF,
§ 2186, p. 108)
Daß voici/voild mit ihrem nominalen Objekt einen vollständigen Satz bilden,
zeigen die folgenden Beispiele, wo diese Verbindungen durch entsprechende
Translativa genau wie Sätze mit explizitem Subjekt und Verb in untergeord-
nete Sätze umgeformt werden können, wie als Relativsatz (cf. II, 4):
19 Au point où me voilà . . .
Complétive:
20 Je crois que voici M. Choulette.
A. France, Le lys rouge, p. 130
21 Tu parles qu'en voilà un qui ne doit pas être malheureux.
Proust, A la recherche du temps perdu III, p. 85
Konditionalsatz:
22 Et si le voilà malade, qu'est-ce qui va arriver?
Mme EP, 4 . 5 . 1 9 2 3 (EGLF § 2187)
Komparativsatz:
23 Peut-être vous semble-t-il qu'il est impossible d'obtenir d'un prisonnier plus que
n'en voici obtenu.
J. Rivière, L'Allemand I, 2, p. 85 (EGLF, § 2188)
90 H. Genaust
24 J'aurais encore mon enfant, voire peut-être un gendre avec des petits-fils qui
seraient sur mes genoux; ah! je serais un autre roi que ne me voilà!
G. Polti et P. Morisse, trad. de Novalis, Henri d'Ofterdingen III, p. 64
(EGLF, § 2188)
Die beiden letzten Beispiele sind besonders eindrucksvoll, weil sie auch nach
der Substitution von Subjekt und Verb die syntaktische Konstruktion mit
Setzung des ne discordantiel beibehalten 2 7 . Auch Pro-Formen, die ganze
Sätze repräsentieren wie non, oui, können diese Bedingungen zum Teil er-
füllen (cf. Wunderli, oben p. 64):
25 II dit que oui.
26 Et si non, vous me payez tout.
Das erste Beispiel kennzeichnet den einfachen Hinweis auf ein Objekt, das
dem Adressaten vor Augen geführt wird; das zweite markiert eine plötzliche
Einsicht, die der Sprecher an seine eigene Adresse richtet, die ihm einen
Sachverhalt durchschaubar macht; es liegt also hier eine erweiterte Inzidenz
auf Situation und Kontext vor. Deshalb ist es erlaubt, von einem impliziten,
durch 0 bezeichneten 2. Aktanten zu sprechen. Das ist auch der Fall in den
stehenden Wendungen:
31 Tiens voilà!
32 Voilà pour toi!
33 Voilà c'est comme ça!
27 Dies aber ist kein Beweis dafür, daß voilà deshalb ein Verb ist, wie Moignet p. 191
meint.
28 Cf. Grevisse, Bon usage ( 9 1969), § 948, Rem. 2.
Voici und voilà 91
Es gibt sogar Fälle, in denen aus stilistischen Gründen auf die Markierung
des Objekts verzichtet wird „pour exprimer qu'on ait dit tout ce qu'on avait
à dire sur un objet donné" 2 9 . Voilà erhält hier auf Redeebene zwar den Wert
einer Interjektion (wie in den Beisp. 2 9 - 3 0 ) , aber die stilistische Wirkung re-
sultiert gerade aus der Setzung des (¡)-Objekts:
34 Et si, sacré nom de Dieu, vous n'êtes pas augmenté de huit jours, au rapport de
demain matin, je veux être changé en bénitier! Voilà.
Courteline, Le train de 8 h. 47 III, 3, p. 106 (EGLF, § 2182)
Der gleiche Redeeffekt wird bei einem in Form des Adjektivs tout vorhande-
nen 2. Aktanten in der Wendung voilà tout als Ausdruck der Resignation er-
zielt:
35 La justice est gratuite, seulement les moyens d'arriver à elle ne le sont pas, voilà
tout.
Brieux, La robe rouge III, 2 (EGLF, § 2182)
In dem Beispiel
36 Voici. C'est moi.
Grevisse führt noch (Bon usage, § 948, Rem. 5) Beispiele aus höflicher Kon-
versation an, in denen nach seiner Auffassung voici/voilà als Varianten von
oui, s'il vous plaît usw. auftreten:
38 Ayez la bonté de m'apporter ce livre. - Voilà, monsieur.
Tatsächlich sind diese Redewerte nicht identisch, da oui usw. die Antwort
vor, voici/voild die Antwort nach der ausgeführten Handlung ist. Es liegt also
anaphorisch-heteronexer Gebrauch vor wie auch in:
39 Joseph: - Monsieur a sonné?
Paul: - Vite! une plume, du papier, que je refasse ma carte.
Joseph: - Voilà! voilà!
Labiche et Choler, Les marquises de la fouchette, sc. VIII (EGLF, § 2187)
29 EGLF, § 2182.
92 H. Genaust
wo gemäß EGLF, § 2186, eine Entsprechung von voici quelque chose de plus
sérieux zu sehen ist.
30 Moignet spricht deshalb von einem qui neutre, die Grammaire Larousse du fr. cont.
(p. 85) von Formen „sans antécédent (valeur indefinie)".
31 Précis p. 128, § 222.
Voici und voilà 93
Hier ist einmal me (Beisp. 19), das anderemal le contenu, le modèle, la peinture
das Objekt von voici/voilà. Anders liegen Fälle, in denen das Relativum selbst
den 2. Aktanten — natürlich in der dieser Bedingung entsprechenden Form que —
darstellt, so daß also der Relativsatz auf Relativum + voici/voilà verkürzt ist:
56 Qu'as-tu fait, ô toi que voilà
Pleurant sans cesse,
94 H. Genaust
Aber auch andere Semanteme des Verbs sind nicht nur in älteren Texten
möglich:
62 Ta, ta, ta, ta. Voilà bien instruire une affaire!
Racine, Les plaideurs III, 3
63 Et voici commencer le rêve de Shakespeare.
J. Lemaître, Impressions du théâtre I, p. 116 (Grevisse, § 1007 a)
64 Voici croître en mon cœur guéri de ses chimères L'ennui des voluptés dont on
touche le fond.
J. Tellier, Prière (A. France, La vie littéraire IV, p. 186) (EGLF, § 2186)
Der Infinitiv kann auch für sich allein 2. Aktant von voilà sein:
65 Voilà parler!
Le Temps, 10.12.1921, p. 1 (EGLF, § 2186)
Der hier erzielte Nutzwert entspricht — bei größerer Prägnanz — dem von
Voild ce que c'est que de parler!
In allen Fällen werden Sätze, deren Verb in der Form der Nullaktualisierung
erscheint, durch 0-Translativ in einen nominalen 2. Aktanten transponiert, der
die gleiche syntaktische Rolle wie das Substantiv in voici le train qui arrive
(arriver) spielt.
Anders als diese infinitivischen Complétiven muß ein Typus interpretiert
werden, der fälschlich hierher gestellt worden ist 32 :
32 Grammaire Larousse du fr. cont., p. 117.
Voici und voilà 95
Aktant wird von dem folgenden Nebensatz geliefert, der durch das Translativ
que in ein nominales Objekt transponiert wird. Es liegen also echte Compléti-
ven vor 34 . Der Eindruck eines Adverbs (in Beisp. 69, 71 identisch mit dem
explizierten Adverb maintenant, soudain) oder der eines Präsentativs ergibt
sich lediglich als Nutzwert aus diesem besonderen Redetypus.
8. Voici/voild + pourquoi/comment (indirekter Fragesatz). Neben Relativ-
satz. Infinitivsatz und Complétive können auch indirekte Fragesätze die Funk-
tion des 2. Aktanten von voici/voild ausüben, allerdings nur, wenn das Translat
den Wert eines Substantivs 'la cause, la manière' hat:
73 Et voilà pourquoi j'avais mis en vous mon espoir.
E. Estaunié, L'ascension de M. Baslèvre I, 5, p. 55 (EGLF, § 2186)
74 Voilà comment les choses se passent: le pays limitrophe s'avance jusque sur les
bords de la frontière.
M. Aymé, Silhouette du scandale, p. 149 (Grevisse, § 948)
Auch Einsparung aller Elemente des Fragesatzes bis auf das Fragewort selbst
ist möglich, so daß scheinbar ein Adverb die Ergänzung von voici/voilà bildet:
75 Voici comment.
76 Voilà pourquoi.
Tatsächlich handelt es sich hier gleichfalls um einen 2. Aktanten, nämlich
Nomina, die freilich Translationen von reduzierten Fragesätzen als knappstem
Ausdruck der Frage nach den Ursachen, der Vorgangsweise eines Sachverhal-
tes sind, cf. entsprechend:
77 Je ne savais pas pourquoi, comment.
Moignet (p. 201) bestreitet die Annahme eines Fragesatzes nach voici/voild,
da ja statt comment auch comme stehen könne:
78 Voilà comme il faut agir!
Er übersieht, daß comme auch heute noch als freie Variante des interrogativen
Adverbs comment35 eintreten, ja selbst wie dieses als reduzierter Fragesatz vor-
kommen kann, wie ein Beispiel aus La Fontaine beweist:
79 Je t'attraperai bien, dit-il, et voici comme.
Fables VIII, 10
Wir haben somit 8 Typen von Sätzen kennengelernt, in denen das Objekt
von voici/voild auf verschiedene Weise zum Ausdruck kommen kann. Alle
Typen bestätigen gerade dadurch unsere Definition, daß voici/voild eine Pro-
Form mit 2 Aktanten ist und daß beide Elemente zusammen erst Äquivalent
eines vollständigen Satzes bilden.
Es bleiben nun noch Fälle zu besprechen, in denen sich diese Pro-Form mit
den Modalitäten der Negation und/oder der Frage verbindet und wo sie mit
einer Zeitangabe in einen temporalen Zirkumstanten transponiert wird.
9. Negation (ne voild-t-ilpas, ne voild pas, usw.). Ein Verwendungstypus
von voild (nicht voici) scheint der bislang vorgeführten Erklärung zuwiderzu-
laufen:
81 Ne voilà-t-il pas que vous n'avez aveint que six morceaux de sucre, m'en faut huit.
Balzac, Eugénie Grandet (t. V, p. 253)
82 Faisons enfin observer que les salaires étaient beaucoup plus élevés dans les villes
à corporations que dans les villes libres. Ne voilà-t-il pas une nouvelle preuve de
l'utilité des corporations.
Henri, comte de Paris, Le prolétariat I, 1, p. 23
83 Mais ne voilà-t-y pas un bébé? - A-t-on idée de pleurer comme ça!
Courteline, Les linottes II, p. 53
(b) das Element -t-il gar nicht als Verbindung von -t- und Personalprono-
men il, sondern vielmehr als orthographische Variante (neben -t-y in
Beisp. 83, -t-i in Beisp. 87) des volkssprachlichen Fragemorphems ti31
zu deuten ist, wie dies auch die Grammaire Larousse du français
contemporain vermutet: „Elle [ = particule interrogative ti\ a eu plus
de succès comme élément de renforcement d'un voilà nié" (p. 99.
§ 135),
(c) die Modalität der Frage gar nicht zum Tragen kommt, da in der Mehr-
zahl der bekannten Fälle ein Ausruf (meist des Erstaunens) vorliegt
(Beisp. 84,85, 87), sonst das Konstatieren einer Tatsache (Beisp. 81,
82). Beisp. 83 und 86 enthalten rhetorische Fragen. Das Signifikat „Frage"
ist also in diesem Typus zum großen Teil durch den Kontext neutra-
lisiert und wird auf Redeebene durch die beschriebenen Redebedeu-
tungen verdrängt,
(d) ebensowenig die Modalität der Negation (um die es hier geht) durch-
schlägt, sondern daß vielmehr „durch syntagmatische Kombination
beider Modalitäten ein positiver Gesamtnutzwert erzielt" 38 wird,
so daß also eine ausdrucksseitige Verstärkung der Aussage eintritt.
Tatsächlich wird in keinem unserer Belege ein Sachverhalt durch
die Negationsmorpheme negiert, auch nicht in der rhetorischen Frage
(Beisp. 86), wo der Sinn nicht als „Ist das nicht. . . ?," sondern als
„Ist das denn . . . ? " zu interpretieren ist.
Keine Negation, nicht einmal ein „engagement minimal en négativité" (wie
Moignet p. 200 glaubt) liegt in den Beispielen 23—24 vor, in denen ein
Morphem ne in einem aus voici/voild und seinem Objekt gebildeten Kom-
parativsatz enthalten war. Dieses ne markiert nun nicht die Negation des
vermeintlichen Verbs voici/voild, sondern die Diskordanz des im Komparativ-
satz durch die Pro-Form substituierten Sachverhaltes zu dem Geschehen des
Obersatzes, so daß man angemessener mit Damourette-Pichon von einem ne
discordantiel zu reden hat.
Es bleiben noch Fälle zu besprechen, wo voilà (nicht nur in präpositionel-
ler Verwendung) in syntagmatischer Konstellation mit einer Zahlenangabe
negiert zu sein scheint:
37 Cf. die Literatur zum frz. Fragesatz von G. Paris, Ti, signe d'interrogation, R 6
(1877), 4 3 8 - 4 2 (Mélanges linguistiques, Paris 1909, p. 2 7 6 - 8 0 ) ; E. Rolland, Ti,
signe d'interrogation, R 7 (1878), 599, über E. Fromaigeat, Les formes d'interroga-
tion en français moderne, VRom. 3 (1938), 1 - 4 7 , bis hin zu P. Behnstedt, Viens-tu?
Est-ce que tu viens? Tu viens? Formen und Strukturen des direkten Fragesatzes im
Französischen, Diss. Tübingen 1973, p. 1 4 - 3 5 .
38 P. Wunderli, VRom. 30 (1971), 316.
Voici und voilà 99
Wertet Moignet anfangs (p. 191) diese Fälle als „formes de la négation et de
l'uniception réservées aux formes verbales", so schränkt er diese Ansicht
später wieder ein: „II