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Konzepte

der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von
Klaus Baumgärtner und Peter von Matt
Textgrammatik
Beiträge zum Problem der Textualität

Herausgegeben von
Michael Schecker und Peter Wunderli

Max Niemeyer Verlag


Tübingen 1975
Herausgeber fiir Sprachwissenschaft
Klaus Baumgärtner (Universität Stuttgart)

Herausgeber für Literaturwissenschaft


Peter von Matt (Universität Zürich)

ISBN 3-484-22016-3

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975


Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch
nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu ver-
vielfältigen. Printed in Germany
Satz: Rothfuchs Dettenhausen
Inhaltsverzeichnis

Vorwort VII

H. Weinrich
Skizze einer textlinguistischen Zahlentheorie 1

H. Vater
Pro-Formen des Deutschen 20

P. Wunderli
Der Prosatz «on. Substitutionsprobleme im Rahmen der transphrastischen
Syntax 43

H. Genaust
Voici und voilà. Eine textsyntaktische Analyse 76

M. Schecker
Verbvalenz und Satzthema 107

R. Meyer-Hermann
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen 146

R. Harweg
Präsuppositionen und Rekonstruktion. Zur Erzählsituation in Thomas
Manns Tristan aus textlinguistischer Sicht 166

P. Chr. Kern
Textproduktionen. Zitat und Ritual als Sprachhandlungen 186

Index 215
Vorwort

Die Textlinguistik scheint eine Teildisziplin der Linguistik darzustellen, obwohl


unter ihrem Namen auch Veröffentlichungen aus dem Bereich der Literaturwis-
senschaft erschienen sind 1 . Und in der Tat kann auch die Literaturwissenschaft
den Anspruch erheben, eine Textwissenschaft zu sein, was seinen programma-
tischen Niederschlag u. a. in den Studienmodellen von Weinrich und Iser gefun-
den hat 2 : hier verpflichtet Iser die Literaturwissenschaft so ausschließlich auf
den Text qua Anordnung sprachlicher Zeichen, daß man mit Recht die gesell-
schaftlichen und historischen Zusammenhänge vermißt 3 .
Der vorliegende Band „Textgrammatik" soll deutlich unterschieden sein von
Unternehmen, die durch das oben angedeutete Selbstverständnis der Literatur-
wissenschaft charakterisiert sind. Generell geht es um übertriebene oder doch
zumindest mißverständliche Ansprüche im Namen des Gegenstands „ T e x t " ; denn
welcher Textlinguist — und nicht nur er — könnte die Konsequenzen, die sich
aus Isers Textbegriff und seinen Fachvorstellungen ergeben, mit gutem Gewis-
sen akzeptieren: daß nämlich radikal geschieden werden muß zwischen einer-
seits den Texten und andererseits den gesellschaftlichen und historischen Zu-
sammenhängen?
Immerhin scheinen die obigen Überlegungen eine Unterscheidung zu bein-
halten, die zur näheren Charakterisierung des Textbegriffs in der Literaturwis-
senschaft einerseits, der Linguistik andererseits beitragen könnte. Wir meinen,
daß zu differenzieren ist zwischen dem Text als,Menge von Meinungen', u m die
sich Leser/Hörer verstehend bemühen, und dem Text als Medium, als,Menge
sprachlicher Mittel', die zur Widergabe solcher Meinungen eingesetzt werden 4 .

1 Cf. etwa Tamara Silman, Probleme der Textlinguistik, Heidelberg 1974.


2 Wolfgang Iser, Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Studienmodell,
Querheft 1 (1969), 5 3 - 6 2 ; Harald Weinrich, Überlegungen zu einem Studienmodell
der Linguistik, Querheft 1 (1969), 6 2 - 6 9 .
3 Cf. zJB. Johannes Meyer-Ingwersen, Sprachwissenschaft in der Deutschlehrerausbildung,
DU 22 (1973), 3 9 - 8 2 , bes. p. 41 ss.
4 Cf. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 2 1 9 6 5 , bes. p. 381, 382 und
373.
VIII Vorwort

Allerdings ist der Text als Medium nicht zugänglich unter Ausschluß der Mei-
nungen, die im Text geäußert werden; Gadamer 5 hat dies zu Recht betont, und
auch Apel 6 hat darauf hingewiesen, daß hier eine spezifisch wissenschaftstheo-
retische Schwierigkeit der Linguistik liege. Daß man die Linguistik nicht den
hermeneutischen Wissenschaften zurechnen kann und daß sie nicht mit den Li-
teraturwissenschaften zusammengestellt werden darf 7 , soll später noch angedeu-
tet werden.
Nun gilt für den Text als Medium gerade nicht, was für den Text als ,Menge
von Meinungen' Gültigkeit hat, nämlich: daß ich beim Verstehen der Meinungen
eines Textes diese immer auch schon auf mich selber anwende 8 . Hier liegt ein
erster und entscheidender Unterschied zwischen dem literaturwissenschaftlichen
Textbegriff und demjenigen der Linguistik. Entsprechend handelt es sich bei den
von der Sprachwissenschaft ermittelten Regeln (z. B. der Artikelselektion, der
Pronominalisierung usw.) nicht um .praktische Regeln' (Habermas) 9 , wie sie für
den Einsatz sprachlicher Mittel, z. B. im Rahmen des Rollenverhaltens einer Ein-
kaufssituation, formuliert werden können 1 0 . Es handelt sich vielmehr um .tech-
nische Regeln' 11 , deren Kenntnis unser praktisches Wissen nicht erweitert und
unser Bewußtsein nicht verändert, kurz: die keine bessere Handlungsorientierung
bewirken.
Wenn man sich den Konsequenzen, die sich aus dem Gesagten ergeben, nicht
verschließt, so scheint der Textlinguist im Gegensatz zum Literaturwissenschaft-
ler nicht durch ein .praktisches' oder .emanzipatorisches Erkenntnisinteresse'
geleitet zu werden 1 2 , wenn er Texte als Medium zum Untersuchungsgegenstand
macht; und doch hängen solche Untersuchungen in ganz anderer Weise mit prak-
tisch-emanzipatorischen Bestrebungen zusammen, als diese z. B. in den Naturwis-
senschaften der Fall ist. Dies wird deutlich u. a. bei der Analyse von Gerichts-
urteilen und den typischen Versatzstücken ihrer Tatschilderungen oder bei der
Analyse der Kommunikationssituation bestimmter Texte (z.B. Werbung) (und

5 Gadamer, Wahrheit, p. 417.


6 Karl-Otto Apel, Noam Chomskys Sprachtheorie und die Philosophie der Gegenwart,
in: ders., Transformationen der Philosophie, Bd. II, Frankfurt a. M. 1973, p. 2 6 4 - 3 1 0 .
7 Cf. auch Michael Schecker, Begriff und Gegenstand in der Linguistik, in: Dittmann/
Marten/Schecker, Gegenstand und Wahrheit, Tübingen 1975 (in Vorb.)
8 Gadamer, Wahrheit, p.375.
9 Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1967, p. 170 s.
10 Cf. den Kode-Begriff Wunderlichs und entsprechende Regeln in: Dieter Wunderlich,
Begriffszusammenhang innerhalb der Soziolinguistik, in: Engel/Schwencke (Hg.), Ge-
genwartssprache und Gesellschaft, Düsseldorf 1972, p. 6 4 - 7 0 , bes. p. 66.
11 Cf. N 9.
12 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als
Ideologie, Frankfurt a. M. 2 1969, p . 1 4 6 - 1 6 8 , bes.p.155 und p.160.
Vorwort IX

zwar nicht nur bei Kommunikationssituationen, die vom Text selber verbal vor-
gestellt werden, sondern auch bei solchen, auf die der Text implizit verweist
(etwa über Präsuppositionen).
Allgemein kann man sagen, daß der besondere Gebrauch, den ein Sprecher
vom Medium Sprache macht, zumindest potentiell auf dieses Medium selber zu-
rückschlägt und es verändert 13 ; nur in einem solchen Spannungsraum zwischen
sprachlichen Mitteln einerseits und individuellem Gebrauch 14 andererseits ist
Sprachwandel denkbar und jene vieldiskutierte schöpferische Produktivität des
,native Speaker' möglich, — letzteres wohl nur teilweise gemäß Chomsky 15 . Un-
ter der Kategorie der Arbeit würde der Text als Medium bzw. eine Sprache als
Menge von Mitteln nicht nur ,Organ der Arbeit' sein, sondern zugleich auch
.Produkt der Arbeit', durchaus vergleichbar dem Beispiel der menschlichen Hand
bei Engels16.
Nun dürfen freilich solche Überlegungen nicht dazu verführen, auch den Text
qua Medium ausschließlich als ,Kulturgegenstand' im weitesten Sinne zu ver-
stehen. Hier kann das Bild der Hand täuschen, und doch wirkt es zugleich auch
belehrend. Die Hand ist ja auch .Naturgegenstand' 17 , und zwar in dem Sinne,
daß sie bei aller Entwicklung rückgebunden bleibt an biologische Wachstums-
gesetze usw. Andererseits macht es aber allein eine solche Doppelseitigkeit des
Gegenstands möglich, bei aller Geschichtlichkeit der textkonstitutiven Mittel
einerseits zurückzugehen auf die generellen Bedingungen und Faktoren einer
jeweiligen Textkonstitution, und andererseits entsprechende Untersuchungen
in systematischer Weise auf praktisch-emanzipatorische Bestrebungen zu bezie-
hen. Um es nochmals zu betonen: das ist mehr noch als jene heuristische Ver-

13 Cf. Habermas, Logik, p. 138; cf. auch Gadamer, Wahrheit, p. 422.


14 Es scheint uns wichtig, hier einmal mehr an den Strukturalismus, speziell an das Ver-
hältnis von langue und parole zu erinnern, ferner auch an strukturalistische Vorstel-
lungen speziell zur Sprachveränderung.
15 Noam Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt a. M. 1969, bes. p. 16 s. und
p. 19. Zu Chomskys Geschichtsverständnis bzw. quasi-romantischer geschichtlicher Her-
leitung seiner Überlegungen vgl. Bertram Kienzle, Rede und Gesinnung - G. Franklins
Sprachlehre von 1778, Deutsche Sprache (1974), 141-152. - Auch nach Bernard
Imhasly, Der Begriff der sprachlichen Kreativität in der neueren Linguistik, Tübingen
1974, p.9 ss., versteht Chomsky die Kreativität sowohl im Sinne eines rein technischen
(operationeilen) Generierens wie auch als ein (substantielles) Erzeugen im Sinne Humboldts.
16 Friedrich Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, Berlin 1972, p . l l .
17 „Wenngleich die Dispositionen also Naturfakten sind, sind Entsprechungen zwischen
den Dispositionen . .. prinzipiell keine Naturfakten. Die Linguistik hat es aber gerade
mit diesen Entsprechungen . . . zu tun." (Quine, gemäß Helmut Schnelle, Sprachphilo-
sophie und Linguistik, Reinbek bei Hamburg 1973, p. 112).
X Vorwort

mittlung von „hermeneutischen und technologisch/instrumentalen Aspekten",


wie sie z. B. Wunderlich vorschwebt 18 .
Nun müssen wir mit unserer Standortbestimmung der hier anvisierten Text-
linguistik in einem entscheidenden Punkt noch weitergehen. Alle bisherigen Aus-
führungen über den Text hatten auch Gültigkeit für die Sprache schlechthin —
und dies ist keineswegs ein Kunstfehler. Es geht hier nicht um einen zusätzlichen
Untersuchungsgegenstand, um den Text z. B. neben dem Satz; Textlinguistik ist
vielmehr durch ihre besondere Perspektive gekennzeichnet, unter der sie auch
den Satz (also nicht nur satzübergreifende Beziehungen) beschreibt 19 . Verschärft
bedeutet dies für den Satz, daß die Prozesse der Satzkonstitution (gemäß Chomsky
die Kompetenz) mit jenen der Textkonstitution (bei Chomsky wohl die Per-
formanz, da auf Referenzobjekte Bezug genommen wird) zusammen gesehen
werden. Das kann nur heißen, daß eine rein innersprachliche Kompetenz besten-
falls als nachträgliche Abstraktion irgendwelche Gültigkeit beanspruchen darf 20 .
Die Bildung z. B. korrekter Sätze erschöpft sich auch nicht im korrekten Rück-
bezug auf eine als solche wieder abstrakte Situation, abstrakt deshalb, weil es im
wesentlichen nur um den/einen physikalistischen Aspekt von Situation geht 21 ;
vielmehr ist in der Bildung korrekter Sätze die Berücksichtigung der Situation
als einer gesellschaftlichen Gegebenheit konstitutiv miteingeschlossen: es gibt
keine Komplexion sprachlicher Zeichen zu Verbänden höheren Ranges außer-
halb des Gebrauchs, den ich von den so entstehenden Sequenzen im weitesten
Sinne zu machen gedenke, und sei es auch nur der Gebrauch Dokumentation
eines grammatischen Problems' oder ,Beispiel für eine Übersetzungsschwierig-
keit zwischen Ausgangs- und Zielsprache' 22 .
Wendet man sich gegen einen rein innersprachlichen Kompetenzbegriff, dann
muß man auch eine darauf aufbauende .kommunikative Kompetenz' 2 3 oder ,kom-
18 Wunderlich, Soziolinguistik, p.69.
19 Als Beleg für die hier vertretene Textlinguistik kann bei allen Unterschieden im Detail
u. a. gelten Kallmeyer/Klein/Meyer-Hermann/Netzer/Siebert, Lektürekolleg zur Text-
linguistik, bes. Bd. I, F r a n k f u r t a. M. 1974, p. 24 s.
20 Cf. zum folgenden Michael Schecker, T e x t k o n s t i t u t i o n - Ein hochschuldidaktischer
Vorschlag, in Vorb. Vgl. auch die „Eisschranksätze" gemäss R . Marten, Existieren,
Wahrsein und Verstehen, Berlin- New York 1972, p. 101.
21 Cf. Dieter Wunderlich, Pragmatik, Sprechsituation, Deixis, LiLi 1/2 (1971), 1 5 3 - 1 9 0 ,
der dennoch - freilich o h n e Konsequenzen zu ziehen - so etwas wie den Honorativ
im Japanischen erörtert.
22 Eben das dürfte der Gebrauchstyp sein, der d e m Satz „Der König von Frankreich ist
weise" bei Strawson, Bedeuten, in Rüdiger Bubner (Hg.), Sprache und Analysis, Göt-
tingen 1968, p. 6 3 - 9 5 , zugrundeliegt.
23 Cf. Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der k o m m u n i k a -
tiven K o m p e t e n z , in Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechno-
logie, F r a n k f u r t a. M. 1971, 1 0 1 - 1 4 1 .
Vorwort XI

munikative Verhaltenskompetenz' 2 4 ablehnen, und das v. a. dann, wenn solche


Sekundärkompetenzen lediglich additiv 25 zur rein sprachlichen Kompetenz hin-
zugefugt werden. Näher liegt es, hier auf den alten Begriff der sprachlichen Mit-
tel oder Möglichkeiten zurückzugreifen (dies durchaus im Sinne eines Sprach-
systems, freilich mit all den Einschränkungen, die z. B. Coseriu 26 zu diesem
Punkte vorträgt), zu denen in der Nachfolge Saussures u. a. auch Satzbaupläne 27
gehören (vielleicht auch Textbaupläne 2 8 ?). Der Zusammenschluß der elemen-
taren Zeichen zu Komplexionen höheren Ranges wird dann durch die kommu-
nikative Kompetenz geleistet (bei Saussure ein Teil der faculté du langage29).
Eine solche Kompetenz liefert das Bindeglied zwischen den zugrundeliegenden
sprachlichen Mitteln und dem konkreten Gebrauch, d. h. sie vermittelt zwischen
Bedeutung und Meinung und bestimmt ihr Verhältnis, wie es implizit schon im-
mer anklang in der Diskussion um Grund- und Nutzwerte eines sprachlichen
Zeichens 30 .

24 Cf. Funkkolleg Sprache - Eine Einführung in die moderne Linguistik, Studienbegleit-


brief 10, Weinheim-Basel 1972, p.70 ss.
25 Bereits Formulierungen wie „Eine Theorie der kommunikativen Kompetenz muß die
Leistungen erklären, die Sprecher oder Hörer mit Hilfe pragmatischer Universalien vor-
nehmen, wenn sie Sätze in Äußerungen transformieren" (Habermas, Kompetenz, p.103),
legen das nahe.
26 Eugenio Coseriu, Synchronie, Diachronie und Geschichte, München 1974, u.a. p. 9ss.
27 Cf. Peter Wunderli, Zur Stellung der Syntax bei Saussure, ZRPh. 88 (1972), 483-506.
28 Unter Bauplänen werden hier elementare Zeichen verstanden, an deren Stelle beim
Text laut Udo L. Figge, Syntagmatik, Distribution und Text, in: Wolf-Dieter Stempel
(Hg.), Beiträge zur Textlinguistik, München 1971, p. 61-182, Distributionen nicht nur
von Sätzen, sondern primär von Satzpositionen treten. (M. Sch.) - Doch ließen sich
auf jeden Fall auch Textbaupläne für besondere Satzfolgen wie solche mit Sprecher-
wechsel denken, also: Frage - Antwort, Frage - Rückfrage, Aussage - Rückfrage,
Befehl - Protest usw. Für die Fixierung der Typen scheint es sinnvoll zu sein, die
beiden Sprecheranteile auf einen jeweils einzigen Satz (eine einzige Position) im Text-
bauplan zu reduzieren und für die Expansion dieser Position eine Rekursivitätsregel
einzuführen, in deren Rahmen auch Verflechtungsmechanismen wie Thema-/Rhema-
strukturierung, Pronominalisierung, Anaphorisierung/Kataphorisierung usw. zu berück-
sichtigen sind. Ausgehend von dieser Darstellung dürfte es sich als sinnvoll erweisen,
rein beschreibende, erzählende usw. Texte, die nur auf einen einzigen Sprecher zurück-
gehen, primär ebenfalls als Einsatztexte darzustellen und sie - wenn nötig - über ent-
sprechende Expansionsregeln zu erweitern. (P. W.)
29 Cf. hierzu P. Wunderli, Saussure und die Kreativität, VRom.33 (1974), 1 - 3 1 .
30 Cf. etwa die Diskussion um den generalisierenden und partikularisierenden Artikelge-
brauch oder auch die Behandlung der Negation in „Der Prosatz ,non"' in diesem Band
oder auch den Vortrag von Renate Bartsch, Die Beziehung von Intonation und Wort-
XII Vorwort

Beziehen wir unsere Ausführungen auf den vorliegenden Sammelband zurück,


so muß betont werden, daß es sich bei den vorgelegten Beiträgen nicht um eine
geschlossene Meinungsfront handelt, nicht einmal um nur einen einzigen Gegen-
stand, der verhandelt wird: ein .Konzept' in diesem Sinne stellt der Band also
nicht dar. Dies liegt wohl v. a. daran, daß sich im gegenwärtigen Zeitpunkt die
Textlinguistik in voller Entwicklung befindet. Natürlich läßt sich schon manche
Schulenbildung verzeichnen 31 ; was jedoch generell noch fehlt, ist ein Entwurf —
vergleichbar Chomskys generativer Syntax für die Satzlinguistik —, welcher die
weitere Forschung zumindest für eine gewisse Zeit auf ein einziges oder doch
nahezu einziges .Paradigma' 32 festlegt und so eine einheitliche Aufarbeitung und
Interpretation der Detailfragen ermöglicht.
Im einzelnen behandelt eine ganze Gruppe von Beiträgern Probleme der Ar-
tikelselektion und Pronominalisierung, und man kann gerade an diesen Arbei-
ten die neuartige Perspektive der Betrachtung von Phänomenen ablesen, die zwar
durchaus in den Bereich des einzelnen Satzes fallen, aber eben doch gleichzeitig
für die Beziehung zwischen den Sätzen bedeutungsvoll sind. Spricht man hier
von Morphosyntax, was immer einen Ansatzpunkt auf der Ausdrucksseite der
sprachlichen Phänomene impliziert, so erlaubt das zu fragen, was denn in diesem
Fall .ausgedrückt' wird. Daß es sich dabei nicht um rein sprachinterne Inhalts-
betrachtung handeln kann, sondern daß es hier um die Extension sprachlicher
Ausdrücke geht, um die Referenz also, kann nur angedeutet werden 33 .
.Ausdruckssyntax' und .Inhaltssyntax' 34 laufen dann wieder zusammen, wenn
die Kommunikationssituation thematisiert wird, auf die hin ein Text gearbeitet
ist. Wenn dann schließlich Texte als Sequenzen von Sprechhandlungen angegan-
gen werden, was den Versuch eines differenzierten Neueinsatzes zur Sprechakt-
theorie miteinschließt, so steht das in einer folgerichtigen Beziehung zur The-
matisierung der Kommunikationssituation eines Textes.
*

Ordnung zur semantischen Repräsentation, 9. Linguistisches Kolloquium Bielefeld,


2 7 . - 3 0 . August 1974.
31 Cf. die (ehemalige) Konstanzer Projektgruppe zur Textlinguistik u. a. mit Janos Petöfi
und Hannes Rieser, oder die Bielefelder Gruppe, cf. N 19.
3 2 Cf. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M.
1967.
33 Cf. Z. Hintikka, Semantik für Positionsaussagen, in: S. Kanngiesser - G. Lingrün (Hg.),
Studien zur Semantik, Kronberg/Ts. 1974, p. 6 1 - 9 7 .
34 Die Termini sind übernommen und verwendet von Georg Stötzel, Ausdrucksseite und
Inhaltsseite der Sprache, München 1970, bes. Kap. 5, Ausdrucks- und Inhaltsvalenz.
Vorwort XIII

Zum Schluß bleibt uns noch die angenehme Pflicht, Herrn Dr. H. Genaust für
seine Mithilfe an der Publikation dieses Sammelbandes zu danken. Er hat sämtliche
Korrekturen mitgelesen und die Endredaktion des Index mit großer Umsicht be-
sorgt. Ohne seinen Einsatz wäre eine erhebliche Verzögerung des Erscheinens des
Bandes nicht zu vermeiden gewesen.

Freiburg im Breisgau, im Januar 1975 Michael Schecker


Peter Wunderli
Harald Weinrich

Skizze einer textlinguistischen Zahlentheorie

Singular, Plural und die Zahlen — wo steckt da das Problem? Singular ist „Ein-
zahl", Plural ist „Mehrzahl", und diese Frage bereitet seit den Pythagoreern, die
die Eins nicht zu den Zahlen rechneten, niemandem mehr Kopfzerbrechen1. Ich
meine nun aber, daß es interessant sein könnte, hier ein linguistisches Problem zu
entdecken. Das setzt eine bestimmte linguistische Theorie voraus. Ich wähle
eine Theorie, die sich an den Begriffen Kommunikation, Instruktion und Text
orientiert (mnemotechnisches Stichwort: C-I-T-Linguistik).. Das besagt insbe-
sondere für die syntaktischen Sprachzeichen, daß sie daraufhin befragt werden
sollen, welche Instruktion sie in einem Text für die Kommunikation geben.
Wenn man diese Bedingungen stellt, wird auch das Strukturproblem von Sin-
gular und Plural sowie das textlinguistische Problem der Zahlen erkennbar.

Numerus des Verbs

In den europäischen Sprachen, die keinen Dual (mehr) kennen, bilden Singu-
lar und Plural eine binäre Opposition, die Numerus-Opposition. Die Numerus-
Morpheme verbinden sich, bei geringen Unterschieden je nach den einzelnen
Sprachen, mit den drei Lexem-Klassen Verb, Nomen und Adjektiv und tragen
auf diese Weise zur textuellen Kongruenz bei. Wenn also in einem kurzen
Textsegment der französischen Sprache wie /les jeux sont faits/ der Plural
phonetisch zweimal und orthographisch sogar viermal bezeichnet wird, so ist
diese Erscheinung ein wichtiges Merkmal der Textualität.
Unter den Gesichtspunkten Kommunikation und Instruktion soll nun wei-
ter gefragt werden, inwiefern die Numerus-Morpheme als Anweisungen aufgefaßt
werden können, durch die ein Sprecher einem Hörer in einem Sprachspiel be-

1 Zur antiken Zahlentheorie vgl. insbesondere: B.L. van der Waerden, Die Arithmetik
der Pythagoräer, in: Mathematische Annalen 120 (1947/49), 127-153 und 676 bis
700. - Léon Robin, La théorie platonicienne des idées et des nombres, Paris 1908,
Nachdruck Hildesheim 1963.
2 H. Weinrich

deutet, wie er sich bei seinen Dekodierungsaufgaben im Kommunikationspro-


zeß zurechtfinden soll. Ich muß zu diesem Zweck auf das bekannte und in-
zwischen bereits triviale Kommunikationsmodell der Informationstheorie zu-
rückkommen. Es besagt bekanntlich, daß ein Sprecher und ein Hörer, die an
einem gemeinsamen Kode Anteil haben, in einem bestimmten Medium mittels
Zeichen Nachrichten austauschen. Als bekannt kann weiterhin gelten, daß
dieses Kommunikationsmodell in der Syntax durch das Paradigma der Perso-
nal-Pronomina oder ähnlicher Morpheme gespiegelt wird. Solche Morpheme
finden sich in allen Sprachen; es handelt sich um ein übereinzelsprachliches
Universale. Wir wollen daher diese Morpheme generell Kommunikations-
Morpheme oder kurz Kommunikanten nennen. Unter Vernachlässigung der
häufig mit ihnen verbundenen Genus-Oppositionen können wir nun weiterhin
zum Bestand der Universalien rechnen, daß die Kommunikanten eine Oppo-
sition mit drei Termen bilden: Sender (1. Person), Empfänger (2. Person)
und Referent (3. Person). Die Positionen des Senders und des Empfängers
sind nun im jeweiligen Sprachspiel sehr genau festgelegt und können prag-
matisch verifiziert werden. Die Position des Referenten (3. Person) ist dem-
gegenüber eine gewaltige, kaum konturierte Restkategorie: Referent ist alles,
was in einem Sprachspiel nicht Sender und nicht Empfänger ist. Was es dann
genau ist, muß durch zusätzliche Informationen des Textes ausgedrückt wer-
den. Wenn man die Struktur der Kommunikanten graphisch darstellen will,
kann man das Bild einer Ellipse wählen, mit dem Sender und dem Empfän-
ger als Brennpunkten und der Ellipsenfläche als Veranschaulichung der Rest-
kategorie Referent:

Das sind nun aber nur die Kommunikanten im Singular. In Verbindung mit
den Morphemen des Plurals verändert sich das Modell der Kommunikanten
(die „Kommunikations-Ellipse") in charakteristischer Weise. Das Modell kann
ja nicht im Sinne einer trivialen Numerus-Auffassung „vermehrt" werden. Es
Textlinguistische Zahlentheorie 3

kann nur anders organisiert werden. Das geschieht auch tatsächlich, wenn die
Kommunikanten sich mit dem Plural-Morphem verbinden. Während das Singu-
lar-Morphem dem Hörer die Anweisung gibt, die Kommunikanten, die ja als
Terme einer Opposition unterscheidbar sind, auch tatsächlich zu unterscheiden,
wird der Hörer durch das Plural-Morphem angewiesen, die Unterscheidbarkeit
der Kommunikanten nicht zu aktualisieren und diese vielmehr zusammenzu-
fassen. Die Möglichkeit der Zusammenfassung beginnt bei zwei Elementen. Hier
beginnt also auch der Plural. Der „Sender-Plural" ist in diesem Sinne an die
folgenden Strukturbedingungen geknüpft: [+S], [+X]; zu lesen: verlangt wird die
Zusammenfassung des Senders [S] und mindestens eines weiteren Elementes
[X] (das kann der Empfänger und/oder ein Element aus der großen Restka-
tegorie des Referenten sein). Der „Empfänger-Plural" hat die Merkmale [+ E],
[+Y], [—SJ ; zu lesen: verlangt wird die Zusammenfassung des Empfängers
[E] und mindestens eines weiteren Elementes [Y], das nicht Sender sein darf.
Und der „Referenten-Plural" hat schließlich die Strukturformel: [+X], [+Y],
[—S], [—E]; zu lesen: verlangt wird die Zusammenfassung mindestens zweier
verschiedener Elemente, die beide weder der Sender noch der Empfänger sein
dürfen.

Schaubild der Kommunikations-Ellipse

i 1
SENDER-PLURAL I [+S], [ + E ]
_J

S E N D E R - P L U R A L II [ + S ] , [+X], [ - E l

: EMPFÄNGER-PLURAL [ + E ] , [ + Y ] , [ — S]

REFERENTEN-PLURAL ( + X J , [ + Y ] , [ —SJ, [— EJ
4 H. Weinrich

Aus dieser kleinen Skizze wird nun deutlich, daß die Anweisungen der Nu-
merus-Morpheme, ebenso wie alle anderen syntaktischen Morpheme, auf die
Kommunikation bezogen sind und dem Hörer kommunikations-pragmatische
Hilfen für die Dekodierung anbieten. Daß nun überhaupt das Plural-Morphem
in diesem Zusammenhang eine Hilfe darstellt, ergibt sich aus der drei-elemen-
tigen Struktur des Kommunikanten-Modells. Wenn man ein Paradigma mit
drei Termen vor sich hat, ist es ökonomisch, mindestens zwei dieser Terme
zusammenfassen zu können. Das eben leistet das Plural-Morphem. Die Nu-
merus-Morpheme können daher als kommunikationssteuernde Signale ange-
sehen werden und erfüllen die textlinguistisch-pragmatischen Bedingungen,
die allgemein für Morpheme der Syntax gestellt sind.

Menge und Elemente

Die bisher am Verbalsystem aufgezeigte Numerus-Struktur findet sich im


Nominalsystem der Sprache wieder. Auch das Nomen wird nach Singular
und Plural unterschieden: le jeu vs. les jeux (wenn ich weiter am Beispiel
der französischen Sprache argumentieren darf). Da das Nomen, wenn es
als Subjekt steht, mit dem Verb textuell kongruent sein muß, gelten die für
das Verb skizzierten Strukturbedingungen grundsätzlich auch für das Nomen.
Das Plural-Morphem verlangt also, daß mindestens zwei Elemente zusammen-
gefaßt werden. Da nun gewöhnlich die situativ eindeutigen Positionen des
Senders und des Empfängers nur durch Morpheme (Endungen, Personal-Pro-
nomina usw.) bezeichnet werden, treten Nomina im Text fast immer in
Verbindung mit der Position des Referenten (3. Person) auf. Das ist auch
verständlich, da die Position des Referenten ja im Sinne der voraufgehenden
Überlegungen eine große und wenig konturierte Restkategorie darstellt. Sie
wird durch die Nomina des Textes in vielfältiger Weise ausgefüllt und prä-
zisiert. Hier sind also auch Möglichkeit und Bedarf für pluralische Anwei-
sungen am größten. Unter diesen Umständen verzeichnen wir grundsätzlich
auch bei den Nomina, sofern wir sie uns als pluralische Nomina des Tex-
tes vorstellen, die Strukturformel [+X], [+Y], [ - S ] , [ - E ] ; also genau jene
Formel, die wir im Verbalsystem beim „Referenten-Plural" festgestellt ha-
ben. Mit anderen Worten, das Plural-Morphem kann dann mit einem Nomen
verbunden werden, wenn mindestens zwei verschiedene Elemente zusammen-
gefaßt werden können. Nach oben hin wollen wir für die Zahl der Elemente
einstweilen keine Grenze angeben; diese Unscharfe entspricht generell der Un-
schärfe des Referenten als einer Restkategorie.
Text linguistische Zahlentheorie 5

Ich habe nun mehrfach den Begriff „Element" gebraucht, von dem be-
kannt ist, daß auch die Mathematik sich seiner bedient. Elemente sind in
der Mathematik (Mengenlehre) immer Elemente einer Menge. Diese Über-
einstimmung im Begriff ist mir nicht unangenehm, ich will sie vielmehr aus-
drücklich aufgreifen und thematisieren. Die Grammatik der Einzelsprachen
muß im Kapitel des Numerus so beschaffen sein, daß nicht nur weitere Ka-
pitel der Grammatik (Numeralia, Indefinita usw.) daran anschließen können,
sondern möglicherweise auch einige Kapitel unserer mathematischen Lehrbü-
cher. In diesem Sinne definiere ich nun die Numerus-Opposition Singular
vs. Plural wie folgt: Singular bedeutet Menge (von Elementen). Plural bedeu-
tet Elemente (einer Menge).
Die vorgestellten Definitionen bedürfen einiger Erläuterungen, damit sie
für die linguistische Argumentation nutzbar werden. Ich muß hier in aller
Kürze auf das Verhältnis von Syntax und Semantik zu sprechen kommen.
Gemeint ist natürlich, wie es sich im Rahmen einer Textlinguistik von selbst
versteht, eine Textsyntax und Textsemantik. Die Textsemantik fragt nun
nicht nach der Bedeutung eines Sprachzeichens in der Isolierung, sondern
interessiert sich an erster Stelle für die Bedeutung, die ein Sprachzeichen
in einem Text hat. Wir wollen diese die Text-Bedeutung oder Meinung nen-
nen und sie scharf von der Kode-Bedeutung oder Bedeutung schlechthin ua-
terscheiden. Die Meinung (Text-Bedeutung) eines Sprachzeichens im Text
unterscheidet sich von der Bedeutung (Kode-Bedeutung) dieses Sprachzei-
chens, wenn man es sich isoliert denkt, durch eine mehr oder minder starke
Determination, die vom sprachlichen und/ oder situativen Kontext geleistet
wird. Je nach der Länge und Beschaffenheit dieses Kontextes kann für die
je besonderen Zwecke eines Textes die Meinung eines Sprachzeichens nach
dem semantischen Umfang und Inhalt bestimmt („eingestellt") werden. Die
Textsemantik hat es daher insgesamt mit einer gleitenden semantischen Ska-
la zwischen dem Pol des Allgemeinen und dem Pol des je Besonderen zu
tun. Unter den textuellen Determinanten, die diese Textualisierung und Prä-
zisierung der Bedeutung zur mehr oder weniger konkreten Meinung besor-
gen, findet man nun an bevorzugter Stelle die Morpheme der Syntax. Ob
beispielsweise in der Umgebung eines Nomens ein bestimmter oder ein un-
bestimmter Artikel steht, das ist für den Hörer eine wichtige Instruktion, nach
der er entweder die Vorinformation (beim bestimmten Artikel) oder die Nach-
information (beim unbestimmten Artikel) zur Determination des entspre-
chenden Nomens heranziehen soll. Ähnliches gilt auch für die anderen Mor-
pheme der Syntax. Es gilt insbesondere auch für die Numerus-Morpheme.
Ob ein Nomen mit dem Singular-Morphem verbunden ist („im Singular steht")
oder mit dem Plural-Morphem verbunden ist („im Plural steht"), das instruiert
6 H. Weinrich

den Hörer bei der Dekodierung dieses Textsegmentes und verhilft ihm ins-
besondere dazu, für dieses Nomen die richtige, das heißt vom Sprecher ge-
wollte Einstellung auf der semantischen Skala zu finden. Ich unterstreiche
aber, daß diese Leistung nicht von den Numerus-Morphemen allein, sondern
immer in Konkomitanz mit anderen Morphemen vollbracht wird. Um aber
nun in der Analyse die Instruktion des Numerus-Morphems genau zu erfassen,
ist es notwendig, diese nicht mit den Instruktionen anderer syntaktischer
Morpheme zu verwechseln. Es darf insbesondere dem Numerus-Morphem
keine Funktion zugeschrieben werden, die der Artikel-Opposition bestimm-
ter Artikel vs. unbestimmter Artikel zukommt. Es kommt also darauf an,
genau die begrenzte Funktion zu erkennen, die jedes Morphem für sich hat
und die erst im Text im Zusammenwirken mit der Funktion anderer Mor-
pheme die gesamte textuelle Instruktion ergibt. Für das Problem von Singu-
lar und Plural besagt das insbesondere, daß mit dem Begriff der Menge nichts
über den Umfang der Menge gesagt ist, ebensowenig wie im Begriff des Ele-
mentes genaue Angaben über die Zahl der Elemente enthalten sind. Der Be-
griff der Menge (= Singular) hat also ein sehr weites Anwendungsfeld von
der jeweilig möglichen „Gesamtmenge" (= potentielle Vielheit) als oberem
Grenzfall bis zur „Einermenge" (= ein-elementige Menge) als unterem Grenz-
fall. Ob im Einzelfall dann die Menge mehr im Sinne der Gesamtmenge oder
mehr im Sinne der Einermenge oder schließlich im Sinne irgendeiner Teil-
menge zwischen den beiden Extremwerten gemeint ist, muß der Hörer aus
den zusätzlichen Anweisungen anderer syntaktischer Signale entnehmen.
In gleicher Weise ist im Begriff der Elemente (= Plural) nicht vorentschie-
den, ob es sich im oberen Grenzfall vielleicht um „alle möglichen", d. h.
alle vom Kode her zulässigen Elemente handelt oder im unteren Grenzfall
um nur zwei Elemente. Wenn der Hörer genaueres über die Zahl der bei ei-
nem Sprachspiel beteiligten Elemente erfahren soll, muß er auf die Zusatz-
informationen anderer syntaktischer Morpheme achten, insbesondere auf die
Zahlen (Zahlwörter).
Die Numerus-Morpheme mit der Opposition Singular vs. Plural stellen
also selber keine Zahlenangaben dar, sondern sind, wie alle grammatischen
Zeichen, Anweisungen zur Dekodierung des Textes, insbesondere im Hin-
blick auf das semantische Spiel der Bedeutungs-Determination zwischen den
Polen der Kode-Bedeutung und der Text-Bedeutung (Meinung).

Elementarzahlen
Wir wollen im folgenden annehmen, daß ein Hörer zur Dekodierung eines
Textes, insbesondere zum genauen Verständnis eines Nomens, präzisere An-
Textlinguistische Zahlentheorie 1

Weisungen erhalten will oder erhalten soll. Für diesen Zweck gibt es in> der
Syntax ein Paradigma der Zahlen (Numeralia, Zahlwörter). Es ist nun für
die weitere Argumentation unerläßlich, über die Zahlen nicht nach mathe-
matischen, sondern nach linguistischen Spielregeln nachzudenken. Man soll-
te sich daher die Zahlen auch nicht in symbolischer — arabischer oder rö-
mischer — Notation vorstellen, sondern in ihrer Lautgestalt, und zwar in
der jeweilig einzelsprachlichen Lautgestalt. Um diese Bedingung nicht aus
den Augen zu lassen, argumentiere ich auch im folgenden an den Zahlwör-
tern der französischen Sprache als einer Fremdsprache weiter. Alle Formen
des mathematischen Universalismus bleiben also einstweilen im Hinter-
grund.
Wenn man die Zahlen einer gegebenen Einzelsprache nach diesen Spiel-
regeln untersucht, muß als erstes die Frage aufgeworfen werden, ob diese
Zahlen überhaupt ein Paradigma im Sinne der Grammatik bilden. Die Ma-
thematik hat uns ja daran gewöhnt, uns die Zahlenreihe als unendlich vor-
zustellen. Ein unendliches Paradigma wäre aber ein Widerspruch im Begriff.
Nun kann man aber für die französische Sprache (und analog dazu für andere
Einzelsprachen) mühelos den Nachweis führen, daß diese Morpheme, wie
alle anderen grammatischen Morpheme, tatsächlich ein endliches und über-
schaubares Paradigma bilden 1 . Diese Morpheme erfüllen darüber hinaas, wie-
derum in Analogie zu den anderen Morphemen der Grammatik, die Bedin-
gungen der morphologischen Kürze und der relativ hohen Frequenz in der
Sprache. In diesem Sinne kann man feststellen, daß das Paradigma der mit
dem Plural-Morphem kombinierbaren Zahlen in der französischen Sprache
genau 22 Zahlmorpheme umfaßt. Es sind die folgenden: deux, trois, quatre,
cinq, six, sept, huit, neuf, dix, onze, douze, treize, quatorze, quinze, seize,
vingt, trente, quarante, cinquante, soixante, cent, mille. In Belgien, Kanada,
der französischen Schweiz und in Teilen Ostfrankreichs ist dieses Paradigma
noch um drei Zahlmorpheme erweitert, nämlich septante, octante/huitante,
nonante. Außerhalb dieser Regionen kennt der französische Sprachgebrauch
diese drei Zahlmorpheme nicht; sie werden jedoch verstanden.
Die unendliche Zahlenreihe, deren sich die Mathematik bedient, wird nicht
durch Erweiterung dieses Paradigmas, sondern durch Kombinatorik seiner
Morpheme zustande gebracht. Dabei gelten für die gesprochene französische
Sprache die folgenden Kombinationsregeln:
1. Wenn die kleinere Zahl der größeren nachfolgt, wird sie ihr additiv zuge-
rechnet (cent cinq = 100 + 5).

1 Vgl. hierzu (in der Theorie abweichend) Georges Gougenheim, Système grammati-
cal de la langue française, Paris 1938, p. 68 s.
8 H. Weinrich

2. Wenn die kleinere Zahl der größeren voraufgeht, wird sie ihr multiplika-
tiv zugerechnet (cinq cents = 5 x 100).
Die beiden Typen der Kombinatorik lassen sich ihrerseits noch einmal
kombinieren; auf diese Weise erhält man beispielsweise den Zahlenwert 82:
quatre-vingt-deux und andere Zahlenwerte bis 999.999 als Höchstwert. Jen-
seits dieses Höchstwertes werden die sehr großen Zahlenwerte der französi-
schen Sprache mit Nomina gebildet, z. B. un million, deux milliards, trois
billions.
Alle diese Zahlmorpheme verbinden sich im Text mit dem Plural-Mor-
phem. Da wir nun vom Plural gesagt haben, daß er die Elemente einer Menge
bezeichnet, können wir die 22 Zahlmorpheme Elementarzahlen nennen.
Diese Elementarzahlen sind aber, wie alle Morpheme der Grammatik, für
den Gebrauch in Texten bestimmt. Ich gebe dafür ein Textbeispiel und wäh-
le die bekannte Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung nach dem
Evangelisten Lukas in französischer Version:

Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent:
Renvoie cette multitude, afin quils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont
aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans
un lieu désert.
Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous n'avons
que cinq pains et deux poissons; à moins que nous n'allions acheter des vivres pour
tout ce peuple.
Car ils étaient environ cinq mille hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-
les asseoir par rangs de cinquante personnes chacun.
Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir.
Alors Jésus prit les cinq pains et les deux poissons, et levant les yeux au ciel,
il les bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant
le peuple.
Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta douze paniers pleins
de morceaux qui restèrent (Luc IX, 1 2 - 1 7 ) .

Die Verwendung der Elementarzahlen in diesem Text läßt insbesondere


erkennen, daß sie in ihren distributionellen Eigenschaften mit dem Artikel
übereinstimmen. Ebenso wie man nämlich einen bestmimten (anaphorischen)
und einen unbestimmten (kataphorischen) Artikel unterscheidet, so gibt es
auch jede Elementarzahl in zweifacher Gestalt. Neben deux gibt es les deux,
neben trois gibt es les trois, und so weiter für das ganze Paradigma. Die textu-
ellen Verwendungsregeln für die beiden Reihen entsprechen genau den Ver-
wendungsregeln für den bestimmten und den unbestimmten Artikel. Wir wol-
len daher die Reihe les deux, les trois, les quatre... als die Reihe der ana-
phorischen („bestimmten") Elementarzahlen von der Reihe deux, trois, quatre . . .
Textlmguistische Zahlentheorie 9

als der Reihe der kataphorischen („unbestimmten") Elementarzahlen unter-


scheiden. Auf unseren Beispieltext bezogen, bedeutet das insbesondere, daß
die fünf Brote und zwei Fische, von denen vorher im biblischen Text noch
nicht die Rede war, zunächst mit kataphorischen Elementarzahlen eingeführt
werden. Nachdem sie dieserart in den Text eingeführt worden sind (cinq
pains, deux poissons), kann der biblische Erzähler mit den anaphorischen
Elementarzahlen des gleichen Zahlenwertes fortfahren (les cinq pains, les
deux poissons). Das gleiche gilt, was der Textausschnitt allerdings nicht er-
kennen läßt, für die Verwendung der Elementarzahl douze (hier als freie,
nicht als gebundene Form verwendet). Am Anfang des Textausschnittes
kann nur deshalb die anaphorische Elementarzahl les douze verwendet wer-
den, weil kurz vorher im biblischen Bericht und diesmal mit einer katapho-
rischen Elementarzahl (,, ... il en choisit douze d'entre eux, qu'il nomma
apötres") von der Auswahl dieser zwölf Apostel schon die Rede war (Luc
VI, 13).

Mengenzahlen

Es war bisher nur von den Elementarzahlen die Rede, jenen (anaphorischen
oder kataphorischen) Numeral-Artikeln also, die sich mit dem Plural verbin-
den lassen. Ihr niedrigster Wert ist deux (les deux). Die Zahl mit dem Zah-
lenwert 1 gehört nicht zu diesem Paradigma. Es verläuft also eine sprach-
liche Strukturgrenze zwischen dem Zahlenwert 1 und allen anderen Zahlen-
werten der Zahlenreihe. Die linguistische Mathematik ist eine pythagoreische
Mathematik. Denn man kann in einer linguistischen Analyse nicht ohne wei-
teres davon absehen, daß sich die Morpheme mit dem Zahlenwert 1 nicht
mit dem Plural-Morphem, sondern mit dem Singular-Morphem verbinden.
Es handelt sich also im prägnanten Sinne der oben gegebenen Definition
des Plurals nicht um Elementarzahlen. Die Morpheme mit dem Zahlenwert
1 sind Mengenzahlen. Ich habe hier nun absichtlich gesagt: die Morpheme
mit dem Zahlenwert 1. Tatsächlich gibt es in der französischen Sprache,
analog zu den Elementarzahlen, auch für die Mengenzahl mit dem Zahlen-
wert 1 eine doppelte Form, je nach der textuellen Verwendung als anapho-
risches oder kataphorisches Signal. Nur für die Verwendung als kataphorisches
Signal hat die Mengenzahl die von der (sprechenden) Mathematik favorisierte
Form un (une). Diese Form ist strukturell identisch mit dem unbestimmten
Artikel. Für den wesentlich häufigeren Gebrauch als anaphorisches Signal
hat jedoch die Mengenzahl die Form le (la) und ist in dieser Form struk-
turell identisch mit dem bestimmten Artikel. In der textuellen Verwendung
10 H. Weinrich

verhält sich also die Form un zu der Form le ebenso, wie sich die Form
deux zu der Form les deux verhält.
Nach den vorausgehenden Überlegungen ist es wohl eindeutig, daß von
der (singularischen) Mengenzahl im Unterschied zu den (pluralischen) Ele-
mentarzahlen überhaupt nur mit Vorbehalten und Einschränkungen gesagt
werden darf, sie habe den Zahlenwert 1. Es kann ja keine Rede davon sein,
daß die Morpheme un (une) und le (la), die diesen Numeral-Artikel im Sin-
gular ausdrücken, immer einen Gegenstand bezeichnen. Die Auffassung als
Menge besagt ja gerade, daß der Hörer die Zahl und Verschiedenheit der
Gegenstände, die möglicherweise unter einer Bedeutung zusammengefaßt
sind, als irrelevant ansehen soll. Nur in diesem Sinne kann von einer „Ein-
heit" gesprochen werden; die Aufmerksamkeit des Hörers wird auf die Ge-
meinsamkeit der Menge hingelenkt und von einer möglicherweise in ihr ent-
haltenen Vielheit verschiedener Elemente abgelenkt. Das gilt sowohl bei ana-
phorischer als auch bei kataphorischer Verwendung. Ich will das in den fol-
genden knapp gefaßten Beispielen für die Extremwerte der Gesamtmenge
und der Einermenge kurz illustrieren.
1. Gesamtmenge:
/Le pain est une nourriture fondamentale./
jII faut savoir préparer un poisson./
Der Hörer kann in beiden Fällen den Singular (le pain, un poisson) als Gesamt-
menge interpretieren, d.h. über alle möglichen Unterschiede zahlloser Brote und
Fische hinwegsehen, und zwar auf Grund der vorhandenen (und fehlenden!) Zu-
satzsignale im Kontext dieser kurzen Texte.
2. Einermenge:
/Jesus prit un pain et le donna à ses disciples./
/Dieu avait envoyé un grand poisson pour engloutir Jonas, et Jonas de-
meura dans le ventre du poisson trois jours et trois nuits./
Hier kann der Hörer jeweils den Singular {un pain, du poisson) als Einer-
menge interpretieren, weil der Kontext, insbesondere wegen der in ihm
enthaltenen Eigennamen, ausreichend präzise Determinanten enthält. Nur
unter textuellen Bedingungen wie den hier skizzierten ist der Singular tat-
sächlich „Einzahl" in dem Sinne, daß er sich auf einen einzelnen Gegen-
stand bezieht.
Es kommt also, wie bei allen Sprachzeichen, auf den Kontext an. Das
zeigt sich auch darin, daß die Mengenzahl un (une) unter bestimmten Be-
dingungen mit gewissen Elementarzahlen kombinierbar ist, z. B. in den Zah-
len vingt-et-un, quatre-vingt un, cent un, un million usw. In diesen Kombi-
nationen ist un (une) Bestandteil einer Elementarzahl, und auch die textuel-
le Kongruenz wird mit Pluralmorphemen hergestellt (vingt-et-un députés ont
Textlinguistische Zahlentheorie 11

été élus). Im Kontext von Elementarzahlen wird die Mengenzahl notwendig


als Einermenge (ein-elementige Menge) determiniert und kann daher als ein
Element hinzugezählt werden.

Ordinalzahlen
Elementarzahlen und Mengenzahlen entsprechen zusammen den Kardinal-
zahlen der Mathematik. Von ihnen sind bekanntlich die Ordinalzahlen zu
unterscheiden. Diese bilden ebenfalls ein doppeltes Paradigma, je nachdem
ob sie anaphorische oder kataphorische Funktion im Text haben. Die ana-
phorische Reihe (le premier, le second oder le deuxième, le troisième . . .)
ist jedoch wesentlich häufiger als die kataphorische Reihe (un premier, un
second oder un deuxième, un troisième . . .). Dieser Unterschied in der Fre-
quenz entspricht insgesamt einer Distribution, wie sie für den bestimmten
und den unbestimmten Artikel charakteristisch ist. Ordinalzahlen sind nun
ebenfalls auf die Begriffe Menge und Element bezogen. Sie greifen aus einer
Menge entweder ein Element (= Singular) oder mehrere Elemente (= Plural)
heraus und geben deren Reihenfolge in der Menge an. Die Reihenfolge der
Elemente bei pluralischen Ordinalzahlen verweist dabei entweder auf die
Anordnung in der Textfolge oder auf die Anordnung in der Situation. Da-
mit kommt ein neuer Gesichtspunkt in die linguistische Zahlentheorie. Wäh-
rend die Kardinalzahlen nur die Alternative Menge oder (mehrere) Elemente
kennen, können die Ordinalzahlen aus einer Menge auch ein Element zur
Unterscheidung herausgreifen: le premier, le second, le troisième (...); dieses
ist jeweils ein Element, das zu unterscheiden ist von den anderen Elementen
dieser Menge, die auf diese Weise als geordnete Menge erscheint. Die Oppo-
sition zwischen Mengenzahlen und Elementarzahlen ist folglich bei den Ordinal-
zahlen neutralisiert.
Mit einer Kombination von Kardinalzahlen (fur den Zähler) und Ordinal-
zahlen (für den Nenner) drückt man in der französischen Sprache Bruchzah-
len aus (trois dixièmes = 3/10). Ich will auf Zusammenhänge wie diese hier
nur kurz aufmerksam machen, um darauf hinzuweisen, daß auch solche ma-
thematischen Zahlenbildungen wie Bruchzahlen usw. grundsätzlich einer text-
linguistischen Betrachtungsweise zugänglich sind. Die eigentlichen mathema-
tischen Operationen wie Addition, Multiplikation usw. müssen dabei natür-
lich zusätzlich auf andere Kapitel der Grammatik (Konjunktionen, Präposi-
tionen usw.) bezogen werden. Auch hier ist jedenfalls die mathematische Ope-
ration, die ein bestimmtes mathematisches Kalkül in Gang bringt, grundsätz-
lich als ein Sonderfall jener sprachlichen Anweisungen aufzufassen, die von
der Instruktions-Linguistik für alle Sprachzeichen angenommen werden.
12 H. Weinrich

Rundzahlen

Zahlen sind genaue Numeral-Artikel. Wir können nun in diese ganze Betrach-
tungsweise die sogenannten Indefinita der Grammatik dadurch einbeziehen,
daß wir sie als Rundzahlen auffassen, die nur ungenaue Annäherungswerte
geben1. Die Rundzahlen der französischen Sprache sind nun in ihrer Unge-
nauigkeitsstruktur insgesamt dadurch bestimmt, daß die als Menge von Ele-
menten aufgefaßte Bedeutung in eine größere und eine kleinere Teilmenge
gegliedert wird. Die größere Teilmenge enthält die Mehrzahl der Elemente,
die kleinere Teilmenge enthält die Minderzahl der Elemente. Man kann diese
Struktur durch ein kleines Schaubild verdeutlichen, das ich den Mengenraum
nennen will:

24> beaucoup de .viele'


S bien des .ziemlich viele'
plus de .mehr'
trop de ,zu viele'

9
peu de .wenige'
moins de .weniger'
(. . .)

Im Einklang mit allen anderen Numeral-Artikeln können wir auch bei


den Rundzahlen die folgenden beiden Unterscheidungen machen:
1. Singularische Rundzahlen (peu de pain) vs. pluralische Rundzahlen
(quelques poissons). Singularische Rundzahlen geben dem Hörer an, wie
die Menge ungefähr quantitativ beschaffen ist. Pluralische Rundzahlen las-
sen hingegen den Hörer wissen, wieviele Elemente ungefähr in der Menge
enthalten sind.

1 Vgl. auch zu diesem Thema Ulrich Dausendschön, Textsyntax der Indefinitartikel


im Französischen, Diss. Köln 1974.
Textlinguistische Zahlentheorie 13

2. Anaphorische („bestimmte") Rundzahlen (les nombreux pains) vs. kata-


phorische Rundzahlen (beaucoup de poissons). Kataphorische Rundzah-
len haben eine wesentlich höhere Frequenz als anaphorische Rundzah-
len. Man verwendet nämlich normalerweise im Text keine Rundzahlen,
wenn in der Vorinformation bereits genaue Zahlen gegeben sind. Häufig
findet man daher eine Distribution der Art, daß ein Nomen zunächst mit
einer kataphorischen Rundzahl eingeführt wird, die dann im weiteren
Verlauf des Textes bei Bedarf durch genaue Elementarzahlen präzisiert
wird (plusieurs poissons - cinq poissons - les cinq poissons).

Gegenüber den auch in anderen Paradigmen des Artikel-Systems vorfind-


baren Oppositionen Menge (Singular) vs. Elemente (Plural) und Anaphorik
vs. Kataphorik zeichnen sich die Rundzahlen im Inventar ihrer Merkmale
durch eine weitere Opposition aus. Diese setzt den Begriff der Erwartung
voraus. Es gehört zu den Grundannahmen der Textlinguistik, daß beim Hö-
rer eines Textes nicht nur entsprechend dem bisher vernommenen und ver-
standenen Text ein bestimmter Informationsstand angenommen wird, son-
dern auf der Grundlage dieses Informationsstandes auch eine bestimmte Er-
wartung über den wahrscheinlichen weiteren Verlauf des Textes. Es wird wei-
terhin angenommen, daß auch der Sprecher mit dieser Erwartung des Hörers
rechnet, also seinerseits bestimmte Erwartungen über die Erwartungen des
Hörers hat (Erwartungs-Erwartungen). Es kann nun sein, daß die Erwartun-
gen des Sprechers und des Hörers sich decken. Dann ist die Verständigung
verhältnismäßig problemlos. Es ist aber auch möglich, daß die Erwartungen
des Sprechers und des Hörers aus dem einen oder anderen Grunde nicht zur
Deckung kommen, sondern mehr oder weniger weit auseinanderklaffen. Ei-
ne solche Differenz der Erwartungen kann sich insbesondere bei Quantitä-
ten zeigen, sich also entweder auf eine Menge von Elementen oder auf die
Elemente einer Menge erstrecken. Das kann naturgemäß verhältnismäßig leicht
zu einer Störung der Kommunikation führen. Dagegen ist aber nun wiederum
in der Syntax Vorsorge getroffen, und zwar gerade im Paradigma der Rund-
zahlen. Wir können nämlich, wiederum in einer binären Opposition, zwischen
erwarteten und unerwarteten Rundzahlen unterscheiden. Dabei ist grundsätz-
lich die Erwartung des Hörers gemeint, der sich jedoch die (Erwartungs-)Er-
wartung des Sprechers und Erwartungen anderer Personen (Referenten) bei-
gesellen können. Die Opposition der erwarteten und der unerwarteten Rund-
zahlen steht natürlich wiederum in einem kombinatorischen Zusammenhang
mit den vorher erwähnten Oppositionen der Numeral-Artikel. Von diesen
wollen wir aber in der folgenden Beschreibung absehen und bei den erwar-
teten und unerwarteten Rundzahlen nur solche berücksichtigen, die den Cha-
14 H. Weinrich

rakter von kataphorischen Elementarzahlen haben. Nicht berücksichtigt wer-


den also anaphorische Elementarzahlen, anaphorische Mengenzahlen sowie
kataphorische Mengenzahlen. Mit diesen Einschränkungen, die nur um der
Einfachheit der Darstellung willen vorgenommen sind, läßt sich die textuelle
Funktion der Rundzahlen wiederum mit dem Vorstellungsbild des Mengen-
raumes darstellen. Der Mengenraum ist — ich darf daran erinnern — dadurch
gegliedert, daß er aus einer größeren und einer kleineren Teilmenge besteht.
Bei den erwarteten Rundzahlen ist nun vorausgesetzt, daß die Äußerungen
des Sprechers und die Erwartungen des Hörers durch den gleichen Mengen-
raum charakterisiert sind. Die Instruktion der erwarteten Rundzahl beaucoup
de kann also als Anweisung des Sprechers an den Hörer gelesen werden, daß
dieser das betreffende Nomen unter quantitativen Gesichtspunkten in den
Bereich der größeren Teilmenge einordnen soll, wie dieser es auch erwartet
hatte. Das folgende Schaubild soll die Struktur des für den Sprecher und den
Hörer erwartungsgleichen Mengenraumes veranschaulichen.

Anweisung (des Sprechers) = Erwartung (des Hörers)

beaucoup de ,viele' beaucoup de .viele'


bien des .ziemlich viele' bien des .ziemlich viele'
pas mal de ,nicht wenige' pas mal de .nicht wenige'
quantité de ,eine Menge (von)' — •
quantité de .eine Menge (von)'
nombre de ,eine Anzahl (von)' nombre de .eine Anzahl (von)'
de nombreux .zahlreiche' de nombreux .zahlreiche'
(• - •) (. . .)

peu de ,wenige' peu de .wenige'


quelques .einige' quelques .einige'
différents .verschiedene' différents .verschiedene'
divers .diverse' divers .diverse'
(. . .) (. . .)

Die Liste der hier in den Mengenraum beider Kommunikationspartner ein-


geschriebenen erwarteten Rundzahlen ist nicht erschöpfend. Es gibt außer
diesen, den häufigsten Rundzahlen des Paradigmas natürlich noch weitere
Rundzahlen (bon nombre de, énormément de . . .), die außerdem noch ad-
verbial nuanciert sein können (très peu de, infiniment de . . .).
Wenn es gestattet ist, einen biblischen Text zu linguistischen Zwecken
zu variieren, so will ich in der Lukas-Parabel einmal an einigen Textstellen die
genauen Zahlen durch (erwartete) Rundzahlen ersetzen:
Textlinguistische Zahlentheorie 15

•Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent:
Renvoie cette multitude, afin qu'ils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont
aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans
un lieu désert.
Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous n'avons
que peu de pains et trèus peu de poissons; à moins que nous n'allions acheter des
vivres pour tout ce peuple.
Car ils étaient beaucoup d'hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-les asseoir par
rangs de plusieurs personnes chacun.
Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir.
Alors Jésus prit les quelques pains et poissons, et levant les yeux au ciel, il les
bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant le peuple.
Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta bien des paniers pleins
de morceaux qui restèrent.

Der Sinn der Parabel läßt diese Texttransposition in gewissen Grenzen zu, wenn
man voraussetzt, daß für die beteiligten Personen (der biblische Erzähler, Jesus,
die Jünger) die ganze Situation einschließlich des Wunders grundsätzlich zu den
erwartbaren Ereignissen gehört. Am Anfang steht zwar eine Erwartungsdifferenz:
Jesus scheint angesichts der vielen Menschen gar nicht die Schwierigkeit zu be-
denken, wie sie alle zu beköstigen sind. Er scheint also die geringe Zahl der
Brote und Fische nicht zu erwarten. Aus diesem Grunde geben ihm die Jünger
mit dem Morphem ne ... que zu erkennen, daß er seine Erwartungen herabset-
zen muß. Dadurch wird der Gleichstand der Erwartungen hergestellt, und es
können nun immer erwartete Rundzahlen folgen, sowohl für die vielen Personen
(beaucoup d'hommes, plusieurs personnes) als auch für die wenigen Nahrungs-
mittel (les quelques pains et poissons), bis schließlich die (grundsätzlich erwart-
bare) wunderbare Vermehrung der Brote und Fische (bien des paniers) den Kon-
trast aufhebt.

Unerwartete Rundzahlen

In Opposition zu den erwarteten Rundzahlen ist bei den unerwarteten Rund-


zahlen vorausgesetzt, daß der Sprecher mit seinen Äußerungen nicht den Er-
wartungen des Hörers entspricht. Auch die unerwarteten Rundzahlen haben
den Mengenraum nach einer größeren und einer kleineren Teilmenge gegliedert.
Das Sprachspiel kann jedoch im Einzelfall so beschaffen sein, daß der Hörer
nach der textuellen oder situativen Vorinformation andere quantitative Er-
wartungen hat, als sie vom Sprecher im weiteren Textverlauf tatsächlich er-
16 H. Weinrich

füllt werden können. Das vermutet auch der Sprecher, und so stellt er sich
mit seiner Erwartungs-Erwartung auf die abweichende Erwartung des Hörers
ein und korrigiert sie mit seinen unerwarteten Rundzahlen. Ich stelle das im
folgenden Schaubild so dar, daß der Mengenraum des Hörers und der (gleich
strukturierte) Mengenraum des Sprechers u m 180° gegeneinander gedreht
sind:

Äußerung (des Sprechers) Erwartung (des Hörers)

plus de .mehr' peu de .wenige'


tant de ,so viele' quelques .einige'
trop de ,zu viele' différents .verschiedene'
(• • •) divers .diverse'
(• • •)

beaucoup de .viele'
bien des .ziemlich viele'
pas mal de .nicht wenige'
moins de .weniger' quantité de .eine Menge (von)'
trop peu de ,zu wenige' nombre de .eine Anzahl (von)'
si peu de ,so wenige' de nombreux .zahlreiche'
(...) (• • •)

Die Opposition der erwarteten und der unerwarteten Rundzahlen kann


mit der Form autant de .ebenso viele' neutralisiert werden.
Ich will die Funktion der unerwarteten Rundzahlen wiederum an unse-
rem kleinen Textstück zeigen und variiere dementsprechend noch einmal die
biblische Szene an einigen Textstellen:

•Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent:
Renvoie cette multitude, afin qu'ils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont
aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans
un lieu désert.
Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous avons
moins de pains et de poissons que tu ne penses; à moins que nous n'allions acheter
des vivres pour tout ce peuple.
Car il y avait trop d'hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-les asseoir par
rangs de cinquante personnes chacun.
Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir.
Alors Jésus prit plus de pains et de poissons qu'ils n'avaient pensé, et levant les yeux
au ciel, il les bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant
le peuple.
Textlinguistische Zahlentheorie 17

Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta plus de paniers pleins


de morceaux qu'ils n'avaient eu auparavant de pains et de poissons.

Es ist an dieser Version des Textes erkennbar, daß bei Jesus zunächst ei-
ne überschießende Erwartung in bezug auf die Quantität der Brote und Fi-
sche zu bestehen scheint. Während in der authentischen Version und in mei-
ner ersten Veränderung diese Erwartungsdifferenz durch die Anweisung ne ...
que ausgeglichen wird, habe ich dieses Signal nun ausgelassen. Nun wird die
überhöhte Erwartung durch die Rundzahl selber ausgeglichen, und es steht
eine unerwartete Rundzahl (moins de pains et de poissons). Der Erzähler
stellt dann das Mißverhältnis zwischen der Zahl der Personen und der Zahl
der Brote und Fische „objektiv" fest: es widerspricht der Norm jeder Erwar-
tung (trop d'hommes). Am Ende des Textes habe ich jetzt glaubensschwä-
chere Textadressaten angenommen, deren niedrig gestimmte Erwartung von
dem Erzähler nach oben hin korrigiert wird (plus de paniers).
Die unerwarteten Rundzahlen treten nur als kataphorische Rundzahlen
auf. Wären sie anaphorisch, kämen sie nicht mehr unerwartet. Die katapho-
rische Anweisung der unbestimmten Rundzahlen richtet die Aufmerksam-
keit des Hörers auf die Nachinformation, in der nach der Korrektur der fal-
schen Erwartung nunmehr die richtige Instruktion gegeben werden kann.
Häufig ist das im Text dann auch gleichzeitig eine genaue Anweisung, also
keine Rundzahl, sondern eine Zahl, deren Wert sich auch in Ziffern ausdrücken
läßt.

Allquantoren

Der obere Grenzwert aller Zahlen wird durch ein Morphem bezeichnet, das
wir mit einem Ausdruck der Logik den Allquantor nennen wollen. Der All-
quantor hat in der französischen Sprache verschiedene Formen je nach seiner
Funktion im Text und entspricht damit paradigmatisch den anderen Nume-
ral-Morphemen1:

1 Vgl. Sven Andersson, Etudes sur la syntaxe et la sémantique du mot français tout,
Lund 1954 (Etudes romanes de Lund 11). - Ders., Nouvelles études sur la syntaxe
et la sémantique du mot français tout, Lund 1961 (Etudes romanes de Lund 14).
- Ders., Quelques glanures syntaxiques sur le mot français tout, Studia Neophilolo-
gica 42 (1970), 7 2 - 8 9 . - Christian Rohrer, Zur Bedeutung von ,tout'und .chaque'
im Französischen, in: Interlinguistica. Sprachvergleich und Übersetzung. Festschrift
zum 60. Geburtstag von Mario Wandruszka, Tübingen 1971, p. 5 0 9 - 5 1 7 .
18 H. Weinrich

Menge (Singular) Elemente (Plural)

anaphorisch tout le (toute la) tous les (toutes les)


(bestimmt)

kataphorisch tout (toute) tous (toutes)


(unbestimmt)

Die Instruktion für den Hörer besteht darin, daß dieser angewiesen wird,
unter den Determinationsangeboten der Vorinformation (beim anaphorischen
Allquantor) oder der Nachinformation (beim - seltenen - kataphorischen
Allquantor) keine Auswahl zu treffen. Der Hörer wird vielmehr zum textuel-
len Resümee eingeladen. Unter diesen Bedingungen steht der Allquantor auch
jenseits der Unterscheidung von Zahlen und Rundzahlen sowie von erwarte-
ten oder unerwarteten Rundzahlen. Was die Unterscheidung von Kardinal-
zahlen und Ordinalzahlen betrifft, so ist er den Kardinalzahlen zuzurechnen.
Als Ordinalzahl gibt es in der französischen Sprache einen eigenen Allquan-
tor. Er hat die invariable Form chaque (die freie Form, variabel nach dem Ge-
nus, heißt chacun, chacune), wobei auch die Opposition Singular vs. Plural neu-
tralisiert ist. Das Archimorphem des Numerus wird durch den Singular ver-
treten (chaque pain a été béni). Der Allquantor chaque weist den Hörer an,
alle in einer geordneten Reihe (le premier pain, le second pain, le troisième
pain u s w j aufzählbaren Determinanten des Textes anzunehmen und fur die
Dekodierung des Nomens zu verwenden. Seine Anweisung ist anaphorisch.

Linguistik und Mathematik

Es ist wohl unvermeidlich, daß die hier vorgetragene Auffassung auf den ersten
Blick einiges Befremden auslöst. Sie ist ja, so scheint es, nicht mit den Grund-
lagen der nachpythagoreischen Mathematik, oder sagen wir einfacher: des bür-
gerlichen Rechnens („nach Adam Riese") in Einklang zu bringen, die uns seit
unseren frühesten Lebensjahren bekannt und geläufig sind, so daß sie norma-
lerweise jeglicher Kritik und Grundlagen-Revision entzogen sind. Warum soll-
te man sie auch revidieren, so mag wohl jemand einwerfen, da man mit ihnen
doch offenbar erfolgreich rechnen kann? Ich will das auch nicht bezweifeln.
Der Gewinn bei der hier vorgeführten Analyse soll nicht darin bestehen, daß
man auf diese Weise besser (aber auch nicht schlechter!) rechnen kann, sondern
daß hiermit eine Möglichkeit eröffnet wird, Grammatik und Zahlentheorie
Text linguistische Zahlentheorie 19

als ein System mit einheitlicher Grundstruktur zu begreifen. Es wird hier


zwar nicht zum ersten Mal der Versuch gemacht, Linguistik und Mathema-
tik miteinander in Verbindung zu bringen. Aber die bisherigen Versuche sind
im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß linguistische Strukturen „ma-
thematisiert" werden. Hier geht es umgekehrt um die Bemühung, mathema-
tische Kalküle, angefangen von den einfachsten Rechenoperationen des bür-
gerlichen Rechnens, als Texte im Sinne der Linguistik aufzufassen, sie also im
Sinne der Textlinguistik zu „linguistisieren". Die Mathematik ist, wenn die-
se Auffassung mit Erfolg verteidigt werden kann, ein Sonderfall der Gramma-
tik. In der mathematischen Sondergrammatik werden die Zeichen und Ver-
wendungsregeln, wie sie für die allgemeine Grammatik der natürlichen Spra-
chen gelten, in ihren Grundstrukturen nicht außer Kraft gesetzt, sondern nur
für besondere Verwendungszwecke zugleich erweitert und eingeschränkt. Der
Beweis für diese Auffassung ist dann in der Weise zu fuhren, daß das jeweili-
ge mathematische Programm als Deviation eines linguistischen Programms be-
schrieben wird, das grundsätzlich aus der Grammatik der Einzelsprachen stammt,
jedoch nach bestimmten Regeln der übereinzelsprachlichen Vereinheitlichung,
insbesondere durch eine piktographische Orthographie, auch als universales
Programm behandelt werden kann. Aber selbst unter diesen Bedingungen
ist dann der mathematische Universalismus nur ein Grenzfall des linguisti-
schen Universalienproblems.
Heinz Vater

Pro-Formen des Deutschen

1. Definition von „Pro-Form"

Der Begriff der Pro-Form 1 , der in der neueren linguistischen Literatur eine
große Rolle spielt, ist eine Verallgemeinerung des traditionellen Begriffs „Pro-
nomen". So wie ein Pronomen stellvertretend fur ein Nomen (genauer: eine
NP) steht, so steht eine Pro-Form stellvertretend für eine grammatische Kate-
gorie beliebiger Art. Die Interpretation der Pronomina als besonderer Wort-
art erweist sich daher als unangebracht: Mit dem gleichen Recht, mit dem man
Pro-Formen für Nominalphrasen als eine Klasse zusammenfaßt, müßte man
das auch mit den Pro-Formen für andere Kategorien — also z.B. Pro-Adjek-
tiven und Pro-Adverbialen — tun. Natürlich würde man damit jedoch eine
wichtige Verallgemeinerung unterdrücken, nämlich daß Pro-Formen immer
den gleichen kategoriellen Status haben wie die Formen, die sie vertreten.
Harris definiert Pro-Formen - die er „pro-morphemes" nennt - folgen-
dermaßen:

There exist morphemes whose X-co-occurrents (for each class X in constructional


relation to them), in each sentence, equal the X-co-occurrents of a morpheme (of
class Y) occupying a stated position . . . relative to them, in the same sentence (or
sequence of sentences), and whose X-co-occurrents in all appearances of these mor-
phemes equal the sum of the X-co-occurrents of all the members of the class Y

1 Statt „Pro-Form" finden sich in der linguistischen Literatur noch andere Termini,
so unter anderem „Pro" (Jerrold Katz - Paul Postal, An Integrated Theory of Lin-
guistic Descriptions, Cambridge (Mass.) 1964), „designated element", „designated
representative" und „abstract dummy element" (Noam Chomsky, Current Issues
in Linguistic Theory, The Hague 1964), „pro-morpheme" (Zellig S. Harris, Co-Occur-
rence and Transformation in Linguistic Structure, Language 33 (1957), 283-340),
„pro-formative" (Robert Lees, The Grammar of English Nominalizations, Blooming-
ton Ind. 1960) und „pro-Element" (Wolfdietrich Härtung, Die zusammengesetzten
Sätze des Deutschen, Berlin (Studia grammatica IV) 1964; Wolfgang Mötsch, Können
attributive Adjektive durch Transformationen erklärt werden? , Folia Linguistica 1
(1967), 23-48).
Pro-Formen des Deutschen 21

(which occupies the stated position relative to them). Such morphemes will be called
pro-morphemes of the class Y, or pro-Y.
Zellig S. Harris, Co-occurrence and Transformation in Linguistic Structure, Language
33 (1957), 2 8 3 - 3 4 0 , p. 301s.

Für Harris ist d e m n a c h entscheidend, daß sich die Gesamt-Co-occurrence einer


Pro-Form, ihr Co-occurrence-Bereich, mit d e m Co-occurrence-Bereich der Klas-
se v o n E l e m e n t e n deckt, für die die Pro-Form i m einzelnen eintreten kann.
C h o m s k y präzisiert, daß es sich bei den Kategorien, die durch eine Pro-
F o r m vertreten werden k ö n n e n , u m „major categories" 2 handelt; er n e n n t
Pro-Formen „designated e l e m e n t s " 3 .

Each major category has associated with it a „designated element" as a member. This
designated element may actually be realized (e.g., it for abstract nouns, some (one
thing)), or it may be an abstract „dummy element". It is this designated representa-
tive of the category that must appear in the underlying strings for those transfor-
mations that do not preserve, in the transform, a specification of the actual ter-
minal representative of the category in question."
Noam Chomsky, Current Issues in Linguistic Theory, The Hague 1964, p. 41.

A u f C h o m s k y s Darstellung aufbauend, definieren Katz u n d Postal „Pro-Form"


(wofür sie „Pro" sagen) folgendermaßen:

„The function of the constituent Pro is to characterize formally at the syntactic


level the class of all, and only, such representatives of major categories."
Jerrold Katz - Paul Postal, An Integrated Theory of Linguistic Descriptions, Cam-
bridge (Mass.) 1964, p. 80.

Allen diesen Darstellungen ist gemeinsam, daß „Pro-Form" definiert wird


als ein Element, das stellvertretend für beliebige E l e m e n t e der gleichen syn-
taktischen Kategorie stehen kann; dabei wird v o n C h o m s k y u n d anderen Ver-
tretern der generativen Transformationsgrammatik b e t o n t , daß Pro-Formen
nur innerhalb der „major categories" auftreten — es gibt also beispielsweise
keine Pro-Formen für Präpositionen, T e m p o r a oder Numeri. A u ß e r d e m ist
charakteristisch für Pro-Formen, daß sie merkmalsarm sind; gerade weil sie

2 Eine „major category" ist eine lexikalische Kategorie sowie jede andere Kategorie,
die eine Kette . . . X . . . dominiert, wobei X eine lexikalische Kategorie ist (cf.
Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge [Mass.] 1965).
3 Chomskys Bemerkung, daß es dieser ^designated representative" ist, der tilgbaren
Elementen zugrunde liegt, bezieht sich offenbar nur auf die unbestimmten Pro-For-
men, denn bestimmte Pro-Formen sind ja a) noch nicht in der zugrundeliegenden
Struktur vorhanden (sie werden durch Transformationen eingeführt), b) in vielen
Sprachen (z. B. im Englischen und Deutschen) nicht weglaßbar.
22 H. Vater

nur die allgemeinsten Merkmale der jeweiligen Kategorie besitzen, nicht aber
die spezifischeren, können sie ihre Stellvertreter-Funktion ausüben.
So hat die Pro-Form jemand nur die Merkmale [+N] und [+Menschlich]4
und kann daher sowohl für Junge als auch für Mann stehen, denn es ist nicht
für [+Erwachsen] spezifiziert; ebenso kann jemand auch für Frau stehen,
da es nicht für [+Männlich] spezifiziert ist.
Die Pro-Form er andrerseits kann zwar auch für Junge und Mann eintre-
ten, nicht aber für Frau; jedoch kann er auch Tisch oder Baum oder Hund
repräsentieren: Er enthält neben dem Merkmal [+N] nur noch das (morpho-
logisch-syntaktische) Merkmal [+Maskulin], das es ihm ermöglicht, für Lebe-
wesen und Nicht-Lebewesen einzutreten. Da Bezeichnungen für weibliche
Lebewesen im Deutschen aber immer feminines Genus haben5, kann er nicht
für Frau eintreten.
Renate Steinitz schränkt in ihrem Artikel „NominalePro-Formen" 6 den
Kreis der Pro-Formen auf diejenigen ein, die bereits im Text erwähnte sprach-
liche Formen mit gleicher Referenz aufnehmen. Sie sieht „Pro-Fortführung"
also stärker unter dem Gesichtspunkt der Referenzkennzeichnung als unter
dem der Ersetzungsfunktion. Nicht das stellvertretende Vorkommen für ein
Element der gleichen sprachlichen Kategorie ist für sie entscheidend, sondern
das Wiedervorkommen eines Referenzträgers7 im gleichen Text, wobei das
erste Vorkommen eines Referenzträgers die Markierung [—m] (nicht vorer-
wähnt) erhält und jedes neue Vorkommen des gleichen Referenzträgers inner-
halb desselben Textes die Markierung [+m] (vorerwähnt). Steinitz' Begriff
der Pro-Form ist damit einerseits enger als der oben angeführte, da Formen
wie jemand und etwas — die ja nicht Wiederaufnahmen anderer sprachlicher
Formen mit gleicher Referenz sind — außerhalb der Betrachtung bleiben; an-
drerseits ist er weiter, da alle Sprachformen, die als Wiederaufnahme eines

4 Dazu kommen redundante Merkmale wie [+Belebt], [+Konkret] und f+Zählbar],


die nicht spezifiziert zu werden brauchen, da sie durch universelle Redundanzregeln
eingeführt werden (cf. Jerrold Katz, Semantic Theory, New York 1972).
5 Die Beziehungen zwischen semantischen Merkmalen (wie „männlich" und „weiblich")
und morphologischen Merkmalen (wie den Genus-Merkmalen im Deutschen) werden
ausführlich behandelt bei Manfred Bierwisch, Syntactic Features in Morphology: Ge-
neral Problems of so-called Pronominal Inflection in German, in: To Honor Roman
Jakobson. Essays on the Occasion of His Seventieth Birthday I, p. 2 3 9 - 2 7 0 .
6 Renate Steinitz, Nominale Pro-Formen, Unveröffentlichte Mimeographie, Berlin
1968.
7 Wie aus dem Kontext ersichtlich, meint Steinitz mit „Referenzträger" offenbar das
Gleiche wie „Referent", also den Gegenstand (im weitesten Sinne), auf den eine
sprachüche Form Bezug nimmt.
Pro-Formen des Deutschen 23

Referenzträgers möglich sind, eingeschlossen sind, wie z.B. der Mann in


de)8.

(1) (a) In großer Eile bog ein Polizist u m die Ecke.


(b) Der Polizist war mit einem Gummiknüppel bewaffnet.
(c) Er war mit einem Gummiknüppel bewaffnet.
(d) Der Hüter der öffentlichen Ordnung war mit einem Gummiknüp-
pel bewaffnet.
(e) Der Mann war mit einem Gummiknüppel bewaffnet.

Das Verhältnis zwischen Pronomen und „ge-PRO-tem" N o m e n wird als ein


Verhältnis zwischen Mengen gesehen: Der Referenzträger „B" repräsentiert
die Obermenge eines durch die Lexikoneintragung A bezeichneten Referenz-
trägers „A", wenn B weniger und keine anderen (syntaktisch-)semantischen
Merkmale 9 enthält als A. Diese Mengeninklusion trifft für das Paar Polizist:
Mann (ebenso wie auch für Student: Mann usw.) zu. Der Mann wäre nach
dieser Definition ebenso eine nominale Pro-Form wie er10. Pronomina wie
er sind ein Sonderfall von Mengeninklusion: Durch ihren minimalen Bestand
an semantischen Merkmalen sind sie von allen übrigen möglichen nominalen
Wiederaufnahmen verschieden.

8 Das Beispiel ist Steinitz, Pro-Formen, entnommen und hat dort ebenfalls die Nummer
(1).
9 Die meisten der von Chomsky, Aspects, als „syntaktische Merkmale" bezeichneten Merk-
male werden von anderen Linguisten (z.B. Katz, Semantic Theory) als „semantische
Merkmale" bezeichnet. Chomsky selbst diskutiert das Problem der Abgrenzung
von semantischen und syntaktischen Merkmalen (Aspects, p. 75 und 153ss.). So
sagt er über die Subkategorisierung mit Hilfe syntaktischer Merkmale (Aspects,
p. 75): it is not obvious to what extent this information should be provided
by the syntactic component at all". Bechert faßt beide Merkmalgruppen als „seman-
tosyntaktische Merkmale" zusammen (Johannes Bechert, Ad-hoc-Merkmale in der
generativen Phonologie, in: Dieter Wunderlich (Hg.), Probleme und Fortschritte der
Transformationsgrammatik: Referate des 4. Linguistischen Kolloquiums Berlin 1969,
München 1971, p. 2 9 - 3 7 , hier p. 29).
10 Das Problem der Abgrenzung echter Pronomina von Substantiven, die eine Obermen-
ge bezeichnen, wird u. a. auch diskutiert von Emmon Bach, Nouns and Noun Phra-
ses, in: E. Bach - R. Harms (Hg.), Universals of Linguistic Theory, New York 1968,
p. 91-122, ferner auch von Friedrich Braun, Studien zu Konstituentenstruktur und
Merkmalanalyse englischer Sätze, Hamburg 1969. Bach erwähnt auch Fälle, wo ne- •
gative Oberbegriffe (wie idiot) als eine Art Pro-Form benutzt werden, z. B. in
Nave you heard from Algernon lately? - The idiot called me up yesterday. Steinitz
erörtert sehr interessante Fälle, wo das den Oberbegriff bezeichnende Substantiv zur
Wiederaufnahme ungeeignet ist; so kann man z. B. nach Satz (1 a) nicht fortfahren:
*Dieses Lebewesen war mit einem Gummiknüppel bewaffnet.
24 H. Vater

In (lb) und (ld) handelt es sich ebenfalls um eine „Pro-Fortfiihrung";


wortidentische Wiederaufnahme (ein Polizist - der Polizist) und Wiederauf-
nahme durch ein Synonym (ein Polizist - der Hüter der öffentlichen Ord-
nung) können als Mengeninklusion beschrieben werden. Es handelt sich hier
jeweils um identische Merkmalmengen: Der Referenzträger „A" stellt in die-
sen Fällen eine unechte Teilmenge des Referenzträgers „B" dar. Es wird
nicht völlig klar, ob der Polizist und der Hüter der öffentlichen Ordnung
in den obigen Beispielen auch als eine Art Pro-Formen angesehen werden,
doch läßt der Terminus „Pro-Fortführung", der ausdrücklich diese Fälle mit-
einschließt, vermuten, daß Steinitz sie tatsächlich zu den Pro-Formen rech-
net.
Einer solchen Auffassung des Begriffs „Pro-Form" könnte ich mich nicht
anschließen, weil ich sie für zu weit halte: Jede lexikalische Einheit könnte
dann Pro-Form sein, denn Wiederaufnahme eines Referenzträgers durch die
gleiche lexikalische Einheit ist ja immer möglich.
Ich halte es für sinnvoller, den Kreis der Pro-Formen auf diejenigen ein-
zuschränken, deren Referenten echte Obermengen der vorerwähnten Refe-
renten bilden, möglichst sogar auf die merkmalärmsten unter ihnen, die -
wie die Pronomina er, sie, es — überhaupt nur in dieser (von R. Steinitz
„Pro-Fortführung" genannten) Funktion vorkommen.11 In der zuletzt gemach-
ten rigorosen Beschränkung wären dann auch Formen wie der Mann nicht
als Pro-Form anzusehen, da sie nicht einen minimalen Merkmalbestand (wie
er) aufweisen und auch nicht nur zur Pro-Fortfiihrung bénutzt werden (son-
dern z. B. auch generalisierend, was bei echten Pro-Formen unmöglich ist,
z. B.: Der Mann hat jahrhundertelang die Rechte der Frau beschnitten).
Andrerseits sollten „unbestimmte Pro-Formen" - so werden hier Formen
wie jemand und etwas genannt, die nicht der Wiederaufnahme des gleichen
Referenten dienen — aus zwei Gründen auch zu den Pro-Formen gerechnet
werden:
(A) Sie haben mit den „bestimmten" (wiederaufnehmenden) Pro-Formen
die Merkmalarmut (d. h. den Minimalbestand an Merkmalen) gemein.
(B) Sie können im Text eine ähnliche Funktion wie die bestimmten Pro-
Formen ausüben: Ihre Referenten können Oberklassen von Referenten
bilden, die im gleichen Text — aber gewöhnlich ihnen folgend — durch
spezifischere lexikalische Einheiten ausgedrückt sind. Das Verhalten

11 So wird in einigen klassischen Arbeiten über Pronomina verfahren, z. B. bei Roman


Jakobson, Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb, Cambridge (Mass.)
1957 und bei Roland Harweg, Pronomina und Textkonstitution, München 1968.
Pro-Formen des Deutschen 25

unbestimmter Pro-Formen gegenüber spezifischeren lexikalischen Ein-


heiten mit identischer Referenz im gleichen Text ist gewissermaßen
gegenüber dem Verhalten bestimmter Pro-Formen zu vorerwähnten
identischen Referenten spiegelverkehrt: PrOy^ — R gegenüber R — Pro^
(wobei Pro u b eine unbestimmte Pro-Form, Pro^ eine bestimmte Pro-
Form und R die lexikalische Einheit mit identischer Referenz bezeich-
nen).
Die Beispiele (2) — (8) sollen das veranschaulichen:
(2) Wer hat meinen Schlüssel genommen? - Karl.
(3) Jemand hat die Uhr angehalten. - Das war Karl.
(4) Hat jemand die Fenster zugemacht? — Ja, Karl.
(5) Man hat Karl in Chicago gesehen. — Ich weiß, wer ihn dort gesehen
hat: Anna.
(6) Ich weiß, was dir fehlt: Ruhe.
(7) Was Peter besonders bekümmerte, war, daß Karl gelogen hatte.
(8) Karl tat etwas, was er später bereute: Er log.
In all diesen Fällen wird auf einen Referenten zunächst in unspezifischer Wei-
se (durch eine unbestimmte Pro-Form), dann, im weiteren Text, in spezifi-
scherer Weise Bezug genommen. Dabei muß die Spezifizierung nicht von der
gleichen Person vorgenommen werden, wie die Beispiele (2), (3), (4) und (5)
zeigen (Voraussetzung dafür ist natürlich, daß es sich bei dem Text um einen
Dialog handelt). Es scheint vor allem drei Gründe zu geben, warum der Spre-
cher eine unbestimmte Pro-Form wählt:
(a) Der Sprecher kann keine genauere Angabe machen und bittet den An-
geredeten, seine Angaben zu spezifizieren (d. h. die fehlenden Merkma-
le zu ergänzen). Das ist in (2) der Fall. Mit der Angabe wer präsuppo-
niert der Sprecher nur, daß es einen Täter gibt und daß dieser mensch-
lich12 ist. Die spezifischeren Angaben liefert dann der Angeredete in
seiner Antwort.

12 Im Deutschen, wie auch in einigen anderen Sprachen (z. B. im Englischen und Fran-
zösischen) besteht anscheinend eine Lücke im System der Fragepronomina: Man
kann nach Personen und nach Sachen (einschließlich Pflanzen) fragen, aber es gibt
keine spezifischen Fragepronomina für Tiere. Man kann im Deutschen mit gutem
Gewissen weder fragen Wer hat die Milch aufgeleckt? (wenn man nicht sicher ist,
was für ein Tier das getan hat) noch Was hat die Milch aufgeleckt? Trotzdem scheint
wer - wie auch hier in (2) - Bezug auf Tiere nehmen zu können, nämlich dann,
wenn Tiere und Menschen gleichermaßen in Frage kommen.
26 H. Vater

(b) Aus stilistischen Gründen (z. B. um die Spannung zu erhöhen oder sei-
ner Aussage größeren Nachdruck zu verleihen) macht der Sprecher zu-
nächst eine unspezifische Angabe, die er dann selbst spezifiziert. Das
ist in (6), (7) und (8) der Fall. Alternative Ausdrucksweisen, die sich
von der gleichen Tiefenstruktur ableiten lassen und nicht den gleichen
(Spannungs- oder Emphase-) Effekt haben, wären (6'), (7') und (8').

(6') Ich weiß, dir fehlt Ruhe.


(7') Peter bekümmerte besonders, daß Karl gelogen hatte.
(8') Karl log. Das bereute er später.
In den drei betroffenen Sätzen ist es im ersten Fall eine NP, die durch eine
unbestimmte Pro-Form vorweggenommen wird, im zweiten ein eingebette-
ter Satz, im dritten eine VP (die hier nur aus V besteht) 1 3 .

(c) Die Wahl einer unspezifischen Pro-Form kann bedeuten, daß der Spre-
cher keine genaueren Angaben machen kann (ohne aber, wie in (a), um
Spezifizierung zu bitten) oder will (aus Gründen der Höflichkeit, Vor-
sicht usw.). Wenn in diesem Fall eine spätere Spezifizierung durch einen
zweiten Sprecher erfolgt, so ist das eine mögliche, aber keine notwen-
dige Konsequenz aus der Äußerung der unspezifizierten Pro-Form, denn
der erste Sprecher hat nicht zum Ausdruck gebracht, daß er eine Er-
gänzung seiner Angabe erwartet 1 4 . Fall (c) wird illustriert durch die Bei-
spiele (3), (4) und (5). Die Äußerung des ersten Sprechers in (3) kann
eine einfache Feststellung sein, die vom Angesprochenen (bzw. den An-
gesprochenen) kommentarlos hingenommen wird. Auf die Frage in (4)
würde auch Ja als Antwort genügen (z. B. wenn es nur darauf ankommt,
daß die Fenster überhaupt zugemacht wurden, damit es nicht reinregnet).
Der erste Satz in (5) wäre eine in sich vollständige Äußerung, und die Spe-
zifizierung durch den zweiten Sprecher könnte dem ersten Sprecher so-
gar unangenehm sein (sei es, daß er Annas Namen nicht in diesem Zusam-

13 Im Gegensatz zur Subjekts-NP kann VP nicht allein nachgestellt werden, sondern


nur mit (pronominalisiertem) Subjekt: *Karl tat etwas, was er später bereute:
log.
14 Die unbestimmten Pro-Formen in den Beispielen (3), (4) und (5) sind Beispiele da-
für, daß bei gleichbleibender Semantik doch der pragmatische Gehalt recht verschie-
den sein kann: Der Sprecher kann Pro-Formen wie man und jemand benutzen mit
der Absicht oder geheimen Hoffnung, von jemand anders eine (ihm fehlende) nähere
Spezifizierung zu bekommen, er kann aber auch solche Formen benutzen, weil es
ihm in diesem Teil der Aussage gar nicht auf eine nähere Spezifizierung ankommt
oder sogar, weil sie ihm unerwünscht ist.
Pro-Formen des Deutschen 27

menhang erwähnt wissen will, sei es, daß er die Art, in der Sprecher B
sein Wissen ungefragt zum besten gibt, nicht leiden kann) — aber hier,
wie auch in (3) und (4) ist die spätere Spezifizierung durchaus möglich.
Ich halte die in (A) und (B) genannten Gemeinsamkeiten der unbestimmten
(oder unspezifizierten) Pro-Formen mit den bestimmten für entscheidend ge-
nug, um beide Gruppen gemeinsam als Pro-Formen anzusehen. Charakteristisch
für Pro-Formen wäre demnach a) ihre (auf einem Minimum an Merkmalen be-
ruhende) Möglichkeit, stellvertretend für andere sprachliche Elemente der glei-
chen Kategorie einzutreten, b) die Tatsache, daß sie auf eine „ausspezifizier-
te" sprachliche Form im gleichen Text mit identischer Referenz verweisen
oder — wie das bei den unbestimmten Pro-Formen der Fall ist — zum minde-
sten verweisen können.

2. Generierung von Pro-Formen

Überprüft man die verschiedenen Vorschläge zur Behandlung von Pro-Formen


in der neueren linguistischen Literatur, so kann man zusammenfassend fest-
stellen, daß unbestimmte Pro-Formen im allgemeinen bereits in der Basis ein-
geführt werden, bestimmte dagegen durch Transformationen. Einige der wich-
tigsten Ansätze sollen hier kurz erläutert werden.

2.1 Unbestimmte Pro-Formen

Die beiden Hauptansätze zur Generierung unbestimmter Pro-Formen beste-


hen in der Einführung einer Pro-Konstituente einerseits und der Annahme
eines Pro-Merkmals andrerseits.
Den ersten Ansatz verfolgen z. B. Katz und Postal:
„We propose to guarantee unique recoverability by introducing a universal consti-
tuent, for which we use the term ,Pro' . . .".
Katz - Postal, An Integrated Theory, p. 80.

Diese Pro-Konstituente wird als Bestandteil einer universalen Grammatik an-


gesehen. Wichtigste Eigenschaft dieser universalen Pro-Konstituente ist, daß
sie frei tilgbar („freely deletable") ist 1 5 . Eine solche Pro-Konstituente wird
gelegentlich auch als nicht-universale Kategorie behandelt und durch Formá-

i s Das trifft ohne Einschränkungen jedoch nur für unbestimmte Pro-Formen zu (cf. N 3).
28 H. Vater

tionsregeln eingeführt 16 . Die Alternative dazu bildet die Annahme eines syn-
taktischen Merkmals [+Pro]. So verfährt z. B. Postal, der nicht nur alle un-
bestimmten, sondern auch einen Teil der bestimmten nominalen Pro-Formen
auf ein Merkmal [+Pro] in einem N der Tiefenstruktur zurückfuhrt 17 . Ähn-
lich verfahren auch Mötsch und Vater 18 .

2.2 Bestimmte Pro-Formen

Weitaus eingehender als mit den unbestimmten Pro-Formen haben sich die
Linguisten in den letzten Jahrzehnten mit den bestimmten, durch Transfor-
mationen eingeführten, Pro-Formen befaßt. Für die Einsetzung bestimmter
Pronomina gilt dabei im wesentlichen noch immer die von Lees und Klima
1963 entwickelte Pronominalisierungsregel 19 :

(9) X-Nom-Y-Nom'-Z => X - N o m - Y - N o m ' + P r o n - Z .

Voraussetzung ist dabei die Identität von Nom und Nom', wobei Nom (nach
Lees und Klima) eine Konstituente des Matrixsatzes und Nom' eine Konsti-
tuente des eingebetteten Satzes ist.
Was sich seit Formulierung dieser Regel 1963 geändert hat, sind im wesent-
lichen zwei Dinge:

(a) Der Kreis der auf diese Weise eingeführten Pronomina ist erweitert wor-
den;
(b) die Bedingungen für die Durchführung dieser Transformation wurden
modifiziert.
Zu den Pronomina, die man zunächst nicht durch die Pronominalisierungs-
regel einführte, gehören die Personalpronomina der ersten und zweiten Per-
son. Diese Pronomina werden z. B. bei Mötsch und Postal als Kategorien
der Basis, also durch Formationsregeln, eingeführt 20 . Mit Recht kritisiert

16 So z.B. bei Manfred Bierwisch, Grammatik des deutschen Verbs, Berlin 1963 (Stu-
dia grammatica II) und bei Härtung, Die zusammengesetzten Sätze.
17 Paul Postal, On so-called ,pronouns' in English, in: Dinneen (Hg.), Report on the
Seventeenth Annual Round Table Meeting on Linguistics and Language Studies,
Washington 1966, p. 1 7 7 - 2 0 6 .
18 Mötsch, Attributive Adjektive; Heinz Vater, Zur Tiefenstruktur deutscher Nominal-
phrasen, in: Hugo Steger (Hg.), Vorschläge für eine strukturale Grammatik des Deut-
schen, Darmstadt 1970, p. 1 2 1 - 1 4 9 .
19 Robert Lees, E. Klima, Rules for English Pronominalization, Language 39 (1963),
17-28.
20 Wolfgang Mötsch, Untersuchungen zur Apposition im Deutschen, in: Studia gramma-
tica V, Berlin 1965, p. 8 7 - 1 3 2 . Cf. auch N 17.
Pro-Formen des Deutschen 29

Boeder diesen Ansatz und weist nach, daß die Restriktionsbeziehungen die-
ser Pronomina und die Referenzbeziehungen, die eindeutig zwischen ihnen
und dem Sprecher der Äußerung bzw. dem Angeredeten herrschen, eine an-
dere Erklärung verlangen 21 . Die Lösung findet er in der Einfuhrung zweier
Konstituenten, die Sprecher und Angeredeten (bzw. Vokativ) bezeichnen,
und der obligatorischen Pronominalisierung aller in einem Satz auftretenden
NP, die mit der Sprecher- bzw. Vokativ-Konstituente referenzidentisch sind 22 .
Boeders Vorschlag ist nicht nur in Übereinstimmung mit den Beobachtungen
Ross' und Wunderlichs, die sie dazu führten, eine die Tiefenstruktur jedes
Satzes dominierende performative Struktur anzunehmen 23 , sondern auch mit
der Behandlung der Pronomina der dritten Person, die allgemein durch eine
Transformationsregel der in (9) illustrierten Art, auf Grund von Referenziden-
tität mit einer vorerwähnten NP, eingeführt werden.
Die Bedingungen für die Pronominalisierung sind besonders von Langacker
1969 eingehend neu untersucht worden 2 4 . Langacker fand heraus, daß die von
Lees und Klima postulierte Restriktion, daß NP a (die als Antezedens vorkom-
mende NP) im Matrixsatz und NPP (die pronominalisierte NP) im eingebette-
ten Satz vorkommen muß, nicht entscheidend ist, denn in (10) liegen die Din-
ge genau umgekehrt: Pronominalisiert wurde eine NP im Matrixsatz auf Grund
von Referenzidentität mit einer NP im eingebetteten Satz:

(10) The woman who is to marry Ralph will visit him tomorrow.
Ebenso ist die lineare Anordnung der Konstituenten nicht allein entscheidend
dafür, welche NP in der Kette pronominalisiert werden kann, da Pronomi-
nalisierung vorwärts und rückwärts möglich ist, wobei allerdings Rückwärts-
pronominalisierung nicht möglich ist, wenn NP? NP a vorausgeht und höher
im Stammbaum ist:

21 Winfried Boeder, Zur Stellung der Personalpronomina in der generativen Grammatik,


ZMaF 35 ( 1 9 6 8 ) , 2 4 4 - 2 5 4 .
22 Der Vokativ kann im Text vorkommen und gilt dann im allgemeinen für mehr als
einen Satz, nämlich so lange, bis er durch eine neue Anrede ersetzt wird, sonst
bis zum Ende des vom gleichen Sprecher gesprochenen (bzw. geschriebenen) Texts.
Der Sprecher kann dagegen nicht im Text spezifiziert werden.
23 John R. Ross, On Declarative Sentences, in: R. R. Jacobs - P. Rosenbaum (Hg.), Readings
in English Transformational Grammar, Waltham (Mass.) 1970, p. 2 2 2 - 2 7 2 .
Dieter Wunderlich, Pragmatik, Sprechsituation, Deixis, Stuttgart (Papier Nr. 9, Uni-
versität Stuttgart, Lehrstuhl für Linguistik) 1968; LiLi 1 ( 1 9 7 1 ) , 1 5 3 - 1 9 0 .
24 Ronald Langacker, On Pronominalization and the Chain of Command, in: D. Reibel,
S. Schane (Hg.), Modern Studies in English, Englewood Cliffs N. J. 1 9 6 9 , p. 1 6 0 -
186.
30 H. Vater

(11) *He is much more intelligent than Ralph looks.


Als entscheidend für die Möglichkeit der Pronominalisierung erweist sich für
Langacker die Relation „commands", die er folgendermaßen definiert:

„We will say that a n o d e A ,commands' another node B if (1) neither A nor B
dominates the other; and (2) the S-node that most immediately dominates A also
dominates B . "
Langacker, O n Pronominalization, p. 167.

Damit ist er in der Lage, die Pronominalisierungs-Restriktion adäquat zu for-


mulieren (loc. cit):
„NP a may pronominalize NPP unless (1) NPP precedes NP a ; and (2) NPP
commands N P a . "

3. Subklassifizierung deutscher Pro-Formen

Wie sich aus 1. und 2. ergibt, kann man Pro-Formen nach zwei Gesichtspunk-
ten klassifizieren:
a) nach ihrer Funktion im Text (vorerwähnt/nicht-vorerwähnt),
b) nach ihrem kategoriellen Status (Pro-NP, Pro-VP, Pro-S usw.).
Eine Subklassifizierung von Pro-Formen auf Grund der beiden genannten
Kriterien soll im folgenden an Hand deutscher Pro-Formen exemplifiziert
werden.

3.1 Subklassifizierung nach der Funktion im Text

In 1. wurde dargelegt, daß sich zwei Arten von Pro-Formen unterscheiden


lassen, die „bestimmte" und „unbestimmte" Pro-Formen genannt wurden.
Die bestimmten Pro-Formen zeichnen sich dadurch aus, daß sie eine sprach-
liche Form, die im gleichen Text vorkommt und sich auf den gleichen Re-
ferenten bezieht, wiederaufnehmen (was von R. Steinitz als „Pro-Fortfüh-
rung" bezeichnet wird). Die Termini „wiederaufnehmen" und „Pro-Fortfuh-
rung" sind insofern nicht ganz genau, als eine bestimmte Pro-Form auch als
erste Erwähnung eines Referenten im Text vorkommt; bestimmte Pro-For-
men können also sowohl wiederaufnehmen als auch vorausweisen. In (12),
(13) und (14) kommt die bestimmte Pro-Form jeweils als erste Erwähnung
eines Referenten vor.
Pro-Formen des Deutschen 31

( 1 2 ) Es ist wahr, daß Peter gelogen hat.


(13) Nachdem er abgeschlossen h a t t e , ging Peter weg.
(14) So habe ich Fritz noch nie gesehen: alt, müde und griesgrämig.

Es ist wahrscheinlich in allen derartigen Fällen möglich, die Position der


vorausweisenden b e s t i m m t e n Pro-Formen durch Transformationen zu er-
klären. Man vergleiche (12), (13) u n d (14) mit ( 1 2 ' ) , ( 1 3 ' ) u n d ( 1 4 ' ) 2 5 .

( 1 2 ' ) Daß Peter gelogen hat, ist wahr.


( 1 3 ' ) Peter ging weg, nachdem er abgeschlossen hatte.
( 1 4 ' ) Fritz war alt, müde u n d griesgrämig. So habe ich ihn noch nie gesehen.

Typisch für u n b e s t i m m t e Pro-Formen ist es, daß sie nicht nur in reiner F o r m
v o r k o m m e n wie in (15) und (16), sondern auch in einer Art „ S y m b i o s e " mit
anderen Elementen, vorzugsweise d e m Frage- u n d dem Negations-Element 2 6 ;
vgl. ( 1 7 ) - ( 2 1 ) .

(15) Jemand hat angerufen.


(16) Etwas ist geschehen.
(17) Wer hat angerufen?
(18) Was ist geschehen?
(19) Worauf wartest du?
(20) Niemand hat angerufen.
(21) Nichts ist geschehen.

Jemand u n d etwas sind „ r e i n e " Pro-Formen, in diesem Fall Pro-NP mit den
Merkmalen [ + N ] , [+Pro] und [+Menschl] bzw. [ - B e l e b t ] 2 7 .
Dagegen sind wer, was und worauf Kombinationen aus einem N (mit den
Merkmalen [+N], [+Pro] und [+Menschl] bzw. [ - B e l e b t ] ) und einem Frage-

25 (12) und (13) können als Resultate von Extrapositions- bzw. Permutations-Trans-
formationen erklärt werden (cf. 12') und (13')). Die Ableitung von (14) durch Per-
mutation und Tilgungen aus einer zugrundeliegenden Struktur des Typs (14') ist
etwas ad hoc.
26 Frage- und Negations-Element als Tiefenstruktur-Konstituenten werden ausführlich
in Katz, Postal, An Integrated Theory, behandelt; das Negationselement und seine Rea-
lisationen im Deutschen untersucht Gerhard Stickel, Untersuchungen zur Negation
im heutigen Deutsch, Braunschweig 1970.
27 Der Kategorie nach sind alle Pronomina N. Wie echte (d. h. Nicht-Pro-) N können sie
jedoch für eine gesamte NP stehen (vgl. 3. 2. 1). Die Unterscheidung zwischen N und
NP fällt natürlich weg, sobald man einen Dependenz-Ansatz wählt (cf. Heinz Vater,
Dänische Subjekt- und Objektsätze: Ein Beitrag zur generativen Dependenzgramma-
tik, Tübingen 1973), da es in einer Dependenz-Grammatik nur terminale Elemente
gibt.
32 H. Vater

Element, das im Deutschen — und auch in anderen Sprachen - niemals rein


auftritt, sondern immer nominale Pro-Formen als Aufhänger braucht. Dieses
Frage-Element charakterisiert den Satz, in dem es auftritt, als Fragesatz, wo-
bei der Skopus der Frage nicht den ganzen Satz, sondern nur die mit dem
Frage-Element verschmolzene NP umfaßt 2 8 . Man vergleiche (22) und (17).

(22) Hat jemand angerufen?


In (22) bezieht sich die Frage auf die Gesamt-Aussage; präsupponiert wird,
daß es ein X gibt und daß dieses X menschlich ist, und die Frage ist eine
Aufforderung, der Aussage „X hat angerufen" einen Wahrheitswert zuzuertei-
len. In (17) wird nicht nur präsupponiert, daß es ein X gibt und daß X mensch-
lich ist, sondern auch, daß X angerufen hat; die Frage bedeutet hier eine Auf-
forderung, X zu identifizieren. Wer, was, worauf usw. gehören zu den unbe-
stimmten Pro-Formen, die eine Spezifizierung im folgenden Text verlangen
(vgl. 1.).
Niemand und nichts sind Verschmelzungen unbestimmter nominaler Pro-
Formen mit dem Negationselement. Dies Negationselement kann im Deutschen
— im Gegensatz zum Frage-Element — in reiner Form auftreten (als nicht),
es kommt aber auch in Verbindung mit nominalen und adverbialen Pro-For-
men vor; außer niemand und nichts sind hier die noch zu behandelnden For-
men kein, nie(mals), nirgends, nirgendwo und nimmer zu erwähnen 29 .

3.2 Subklassifizierung nach dem kategoriellen Status

In der traditionellen Grammatik werden Pro-Formen weder methodisch ein-


heitlich noch den sprachlichen Tatsachen angemessen behandelt. Eindeutig
als Pro-Formen erkannt wurden nur die Pronomina. Aber der Terminus „Pro-
nomen" und die Interpretation dieses Terminus als Bezeichnung für eine Wort-
art verschleiern zweierlei;
(a) Die Pronomina können weder syntaktisch noch semantisch als besondere
Wortklasse angesehen werden.
(b) Sie stehen nicht durchweg für ein Nomen (d. h. genauer: ein Substantiv),
sondern auch für eine ganze Nominalphrase und sogar für einen Satz; and-
rerseits werden aber auch Sprachelemente zu den Pronomina gerechnet,

28 Cf. dazu Christian Rohrer, Zur Theorie der Fragesätze, in: Dieter Wunderlich (Hg.),
Probleme und Fortschritte der Transformationsgrammatik, München 1971, p. 1 0 9 -
126.
29 Bei der Form nimmer (die nicht zu meinem aktiven Sprachschatz gehört) bin ich mir
allerdings nicht sicher, ob es sich wirklich um eine unbestimmte Pro-Form handelt.
Pro-Formen des Deutschen 33

die überhaupt nicht für ein Substantiv, sondern zusammen mit einem Sub-
stantiv stehen. Es handelt sich um die Determinantien dieser, jener, jeder,
all(er), mancher, einige, mehrere, die Possessivpronomina mein, dein, sein,
unser, euer und ihr u.a. 30 .
Andere Pro-Formen (wie z. B. die adverbialen Pro-Formen hier, da, dort, jetzt,
damals, wo, wann usw.) wurden gar nicht als Pro-Formen erkannt oder sie
wurden — mit dem ebenso monströsen wie unzutreffenden Terminus „Pro-
nominaladverb" versehen — als eine Kreuzung aus Pronomen und Adverb be-
handelt — offenbar, weil man sich die Pro-Funktion nur in Verbindung mit
Pronomina vorstellen konnte.
Nimmt man, wie es hier getan wird, die Vertretungs- bzw. Ersetzungs-Funk-
tion als das Charakteristikum aller Pro-Formen und baut man auf Chomskys
Beobachtung auf, daß Pro-Formen major categories vertreten, dann ergibt sich,
daß sich Pro-Formen sinnvoll danach subkategorisieren lassen, welche Katego-
rie sie vertreten. Folgende Untergruppen werden fürs Deutsche zunächst ange-
nommen: Pronomina 31 , Proverben, Proadverbiale, Proattribute und Prosätze.
Der Ausdruck „Proattribut" fällt dabei insofern aus dem Rahmen, als er nicht
auf die Kategorie, sondern auf die Funktion der betreffenden Pro-Formen
Bezug nimmt 32 . Die Attributs-Funktion kann bekanntlich von Formen ver-
schiedener kategorieller Zugehörigkeit ausgefüllt werden, nämlich von Adjektiv-
phrasen, Nominalphrasen im Genitiv, Präpositionalphrasen und Relativsätzen.
Für all diese verschiedenen Kategorien stehen im Deutschen jedoch die glei-
chen Pro-Formen zur Verfugung: welch(er), was für ein, solcher und so ein\
da das einzig Verbindende all der verschiedenen vertretenen Kategorien die
gleiche Funktion ist, scheint der Name „Proattribute" für Pro-Formen die-
ser Art gerechtfertigt zu sein.

3.2.1 Pronomina
Pronomina stehen nicht nur für den substantivischen Kern einer NP, sondern
auch für die Verbindung Det + N und im Fall der bestimmten Pronomina so-

30 Alle diese Formen wurden zusammen mit der, ein und der 0-Form des Artikels bei
Heinz Vater, Das System der Artikelformen im gegenwärtigen Deutsch, Tübingen 1963,
unter dem Terminus „Artikel" zusammengefaßt, später, in Vater, Tiefenstruktur, dem
Gebrauch in der generativen Grammatik entsprechend, als „Determinantien".
31 Der traditionelle Terminus „Pronomen" wird, da er immer noch allgemein gebräuchlich
ist, beibehalten, obwohl „Pro-NP" genauer wäre. Analog dazu wird auch „Proverb"
gebraucht (was auch dem englischen Terminus „pro-verb" entspricht).
32 Zum Unterschied zwischen Kategorie und Funktion cf. Chomsky, Aspects, Kap. 2.
34 H. Vater

gar auch für die Verbindung Det + N + Attribut, d. h. für die Gesamt-NP 33 ,
wie die folgenden Beispiele demonstrieren.
(23) Ein Mann war da. Er will Sie sprechen.
(24) Mancher Mensch denkt, er kann tun, was er will.
(25) Unsere Katze schnurrt immer, wenn man sie streichelt.
(26) Der kleine karierte Koffer ist nicht da. Ist er im Keller?
(27) Der junge Mann mit dem flotten BMW denkt, die Autobahn sei nur
für ihn da.
Er in (23) nimmt ein Mann wieder auf, er in (24) mancher Mensch, sie in (25)
unsere Katze, er in (26) der kleine karierte Koffer und ihn in (27) ist eine Pro-
Fortführung von der junge Mann mit dem flotten BMW.
Unbestimmte Pronomina können ein Attribut bei sich haben; sie repräsen-
tieren dann nur den Kern einer NP (mit eventuellem Determinans):
(28) Niemand mit gesundem Menschenverstand würde so etwas machen.
(29) Niemand auf der Welt würde mit ihm tauschen.
(30) Nichts auf Erden kann ihn erschüttern.
(31) Karl glaubt grundsätzlich nichts, was in Zeitungen steht.
(32) Jemand, der so etwas sagt, ist ein Dummkopf.
(33) Da geschah etwas, worauf ich lange gewartet hatte.
(34) Wer in Europa glaubt ihm noch?
(35) Wer, der den letzten Krieg mitgemacht hat, will noch einmal Soldat
spielen?
(36) Was in aller Welt soll das bedeuten?
Dabei scheinen für wer und was stärkere Beschränkungen zu bestehen als für
die anderen unbestimmten Pronomina:
(37) *Wer mit Schnurrbart war das?
(38) *Was mit Eis möchten Sie trinken?
Satz (38) könnte allenfalls scherzhaft geäußert werden - unter der Voraus-
setzung, daß der Fragende von vornherein weiß, daß der Angeredete nur etwas
mit Eis trinkt; der Satz wäre aber wohl auch dann ungrammatisch, und zwar

33 Determinantien lassen sich von Attributen - abgesehen von ihrer oberflächenstruk-


turell festgelegten Position innerhalb von NP - vor allem durch ihre verschiedene Ab-
leitung abgrenzen: Während Attribute aus eingebetteten Sätzen abgeleitet werden (so
z.B. Mötsch, Apposition, und Renate Steinitz, Adverbial-Syntax, Berlin 1969), wer-
den Determinantien entweder als NP-Konstituenten bereits in der Tiefenstruktur an-
gesetzt (so bei Chomsky, Aspects) oder aus Merkmalen von N durch Segmentierungs-
Transformationen gewonnen (cf. Postal, Pronouns, und Vater, Tiefenstruktur).
Pro-Formen des Deutschen 35

bewußt gegen die Regeln konstruiert, wie das ja häufig bei scherzhaftem,
ironischem und poetischem Sprachgebrauch der Fall ist.
Die Tatsache, daß unbestimmte Pronomina ein Attribut haben können
(wenn auch mit Einschränkungen), bestimmte dagegen nicht, hat offenbar
mit der verschiedenen Ableitungsart zu tun: Für unbestimmte Pronomina,
die ja schon in der Tiefenstruktur vorhanden sind, gelten anscheinend annä-
hernd die gleichen Beschränkungen wie für „normale" Substantive, also N
mit dem Merkmal [ - P r o ] , während bestimmte Pronomina durch eine Trans-
formation jeweils für eine ganze vorerwähnte NP beliebigen Komplexitäts-
grads eingesetzt werden.
Zu den unbestimmten Pronomina gehören außer den bereits erwähnten
noch die Verbindungen mit irgend: irgendjemand, irgendetwas, irgendeiner,
irgendwer und irgendwas. Diese Pro-Formen unterscheiden sich von jemand
und etwas durch das zusätzliche Merkmal [-spezifisch]. Sie drücken notwen-
dig aus, daß es sich um ein beliebiges Exemplar innerhalb der Klasse aller
N, die etwas Menschliches bzw. etwas Nicht-Belebtes bezeichnen, handelt,
während jemand und etwas in dieser Hinsicht merkmallos sind, d. h. sie kön-
nen etwas Beliebiges bezeichnen wie die irgend-¥ormeti, aber auch etwas, das
zwar nicht vorerwähnt oder als bekannt vorausgesetzt, aber doch näher spezi-
fiziert ist (z. B. durch einen restriktiven Relativsatz) 34 . In den folgenden Bei-
spielen sind die Sätze unter (ii) jeweils ungrammatisch, weil in ihnen die un-
spezifischen Pronomina mit einem spezifizierenden Zusatz verbunden sind.

(39) (i) Jemand, der das sagt, ist verrückt.


(ii) ""Irgendjemand, der das sagt, ist verrückt.
(40) (i) Wasserski ist etwas, was ich noch nie probiert habe.
(ii) *Wasserski ist irgendetwas, was ich noch nie probiert habe.
Zu den unbestimmten Pro-Formen gehört weiterhin das Pronomen man. Es
unterscheidet sich von jemand unter anderem dadurch, daß es auf eine Viel-
heit Bezug nehmen kann und daß es unter Umständen mit den Personalpro-
nomina der ersten und zweiten Person austauschbar ist 35 .

34 Cf. dazu Vater, Artikelformen, ferner James McCawley, Where Do Noun Phrases Come
From? , in: R. Jacobs - P. Rosenbaum (Hg.), Readings in English Transformational
Grammar, Waltham (Mass.) 1970, p. 1 6 6 - 1 8 3 , ferner auch Odo Leys, Nicht-referen-
tielle Nominalphrasen, Deutsche Sprache 2 (1973), 1 - 1 5 . .
35 Die komplizierte Syntax und Semantik von man sind bisher noch nicht gründlich er-
forscht worden. Interessante Ergebnisse sind hier von einer noch in Arbeit befindlichen
Dissertation von Tilman Höhle zu erwarten, wo z. B. mehrere Varianten von man un-
terschieden werden, die sich auch syntaktisch verschieden verhalten.
36 H. Vater

(41) (i) Man hat sich lange darüber gestritten, welche Funktion die Mandeln
im menschlichen Körper haben,
(ii) *Jemand hat sich lange darüber gestritten, welche Funktion die Man-
deln im menschlichen Körper haben.
(42) (i) Wie geht es dir? - Man lebt.
(ii) *Wie geht es dir? - Jemand lebt.

Die Zahl der bestimmten Pronomina ist anscheinend auf er, sie und es be-
schränkt. Einige Determinantien kommen zwar ohne Substantiv vor in Fäl-
len, wo sie mit einer vorerwähnten NP referenzidentisch sind, jedoch han-
delt es sich dabei nicht um Pro-Form-Ersetzung, sondern um Tilgung des sub-
stantivistischen Kerns (vgl. (43) — (47)). Gestützt wird diese Annahme da-
durch, daß in solchen Fällen ein Attribut erhalten bleiben kann, was bei ech-
ten bestimmten Pronomina nicht möglich ist (vgl. (48) und (49)).

(43) Hier zweigen zwei Wege ab. Welcher ist der richtige?
(44) Zehn Menschen waren anwesend. Einer hat es gesehen.
(45) Zehn Menschen waren anwesend. Keiner hat es gesehen.
(46) Viele Vorschläge wurden gemacht. Dieser ist der einzig vernünftige.
(47) Alle Namen hat er aufgerufen, meinen hat er vergessen.
(48) Du hast so schöne Kleider. Mußt du ausgerechnet das rote anziehen?
(49) Wer ist denn jetzt Klaras Freund, der mit dem Bart oder der mit dem
Silberblick?

Haskell nennt solche Formen, die nicht so sehr vorangegangene Einheiten er-
setzen als deren optionale Anwesenheit implizieren, „unechte Pro-Formen" 3 6 .
Um eine echte Pro-Form dürfte es sich allerdings bei der im folgenden Bei-
spiel handeln.

(50) Otto Meyer ist da. - Der hat mir gerade noch gefehlt!

Der ersetzt Otto Meyer, es ist nicht ein Determinans, dessen übergeordne-
tes Substantiv getilgt wurde; im allgemeinen haben Eigennamen ja auch kein
Determinans. In (50) — wie auch in vielen anderen Fällen — hat der im Ge-
gensatz zu er eine negative Konnotation. Das ist jedoch durchaus nicht immer
der Fall, vgl. (51).

(51) Kennen Sie Peter Müller? - Der ist mein bester Freund.

36 Jocelyn Haskell, In Search of the German Pro-Verb, Language Sciences 25 (1973),


41-45, bes. p. 41.
Pro-Formen des Deutschen 37

3.2.2 Proverben

Das Englische macht häufig Gebrauch von Proverben; das meistgebrauchte


Proverb ist to do.
(52) I like swimming. — I do too.
(53) I hate ice cream. — Do you?
(54) Peter wants to go and so do I.
(55) Paul comes here frequently, doesn't he?
Zunächst scheint es, als ob die deutschen Verben machen und tun ungefähr
die gleiche Funktion haben wie do, nur daß sie stärkeren Restriktionen unter-
liegen, wie die folgenden Beispiele zeigen.
(56) (i) Peter schwimmt. Das tut er jeden Nachmittag,
(ii) Peter schwimmt. Das macht er jeden Nachmittag.
(57) (i) Regnet es viel in Hamburg? Das tut es fast täglich.
(ii) *Regnet es viel in Hamburg? Das macht es fast täglich.
(58) (i) *Ißt du gern Eis? Ja, ich tue es.
(ii) *Ißt du gern Eis? Ja, ich mache es.
Anscheinend ist machen nicht möglich bei Wiederaufnahme eines unpersönli-
chen Verbs und sowohl machen als auch tun können offenbar nicht eintreten,
wenn ein potentieller (noch nicht realisierter) Vorgang ausgedrückt wird (vgl.
(58)).
Bei näherer Inspektion zeigt es sich, daß ein wichtiger Unterschied zwischen
machen und tun einerseits und to do andrerseits besteht: Die beiden deutschen
Verben können ihre Pro-Funktion nur zusammen mit einem Objekt-Prono-
men (das oder es) ausfüllen, im Gegensatz zu to do, das ohne ein solches Prono-
men steht. Daraus hat Jocelyn Haskeil die Schlußfolgerung gezogen, daß ma-
chen und tun unechte Pro-Formen sind, ebenso wie die Determinantien. Sie
ersetzen nicht ein Verb bzw. eine VP, sondern sie sind Begleiter eines Verbs,
das selbst durch die Pro-Form es oder das aufgenommen wird. Ihre Funktion
ist es, den Aspekt des Hauptverbs anzuzeigen. Gestützt wird diese These da-
durch, daß tun, aber auch machen tatsächlich (also nicht nur in der vorauszu-
setzenden Tiefenstruktur) mit einem Verb im Infinitiv vorkommen, minde-
stens in der Umgangssprache, oder wenn das Hauptverb nominalisiert ist 3 7 :

(59) Was tut er? Schlafen tut er.


(60) Zuerst machte er eine Reise durch Frankreich, und dann fuhr er wei-
ter nach England.
37 Haskell, Pro-Verb, p 42.
38 H. Vater

Diese These erklärt auch, warum das Objektpronomen bei der Wiederauf-
nahme von intransitiven und sogar unpersönlichen Verben steht (vgl. (56)
und (57)). Es wäre wenig sinnvoll, eine Transformation von zugrundeliegen-
dem schwimmen oder regnen zu es tun anzunehmen, aber eine Transforma-
tion, die in tut regnen den Infinitiv durch es oder das ersetzt, ist durchaus
einleuchtend und innerhalb des Gesamtsystems gerechtfertigt, wenn man be-
denkt, daß es und das zu den neutralsten und allgemeinsten Pro-Formen ge-
hören, die z. B. auch für ganze Sätze eintreten können.
Haskeils Ansatz ist im Einklang mit Isaienkos Beobachtungen, wonach
es und das das Hauptverb in Perfekt- oder Modalkonstruktionen (samt sei-
nem Objekt, falls ein solches vorhanden ist) ersetzen 38 :

(61) Hat Peter seinen Freund getroffen? Ja, das hat er.
(62) Darf Peter seinen Apfel essen? Ja, er darf es.
Auch die von R. Steinitz als Proverben behandelten Verben geschehen, statt-
finden, eintreten, sich abspielen, sich ereignen, beginnen u. a. erklärt Haskeil
als unechte Proverben, die den Aspekt des Infinitiwerbs (bzw. nominalisier-
ten Verbs) angeben 39 .

3.2.3 Proadverbiale
Proadverbiale sind Pro-Formen für Adverbiale, d. h. Adverbien, Präpositio-
nalphrasen oder eingebettete Sätze in adverbialer Funktion 4 0 . Wie bei den
Pronomina kommen unbestimmte und bestimmte Formen vor. Hier einige
Beispiele für unbestimmte Formen:
(63) Wo ist der braune Koffer? - Im Keller.
(64) Wann fährst du nach Rom? - Am Dienstag.
(65) Wie kommst du zum Bahnhof? - Mit einer Taxe.
(66) Weshalb hat Anna den ganzen Abend nichts gesagt? - Weil sie schüch-
tern ist.

38 Alexander Isaöenko, Kontextbedingte Ellipse und Pronominalisierung im Deut-


schen, in: A. Isaienko et al. (Hg.), Beiträge zur Sprachwissenschaft, Volkskunde und
Literaturforschung, Berlin 1965, p. 1 6 3 - 1 7 4 , bes. p. 173.
39 Steinitz, Adverbial-Syntax, bes. p. 27.
40 Der Terminus „Adverbial" wird - in Anlehnung an R. Steinitz - statt des älteren, un-
handlichen Terminus „adverbiale Bestimmung" gebraucht. Ebenso wie bei „Proattri-
but" handelt es sich auch bei „Proadverbial" um eine Funktionsbezeichnung. Auch
hier verhalten sich Formen verschiedener Kategorien (NP, PP, Adv, S) gleich; so kann
damals Adverbiale wie letzten Sommer, im Jahr 1905, früher und als ich noch zur
Schule ging wiederaufnehmen.
Pro-Formen des Deutschen 39

(67) Irgendwann müssen wir mal nach Island fahren.


(68) Ich kann den Duden nirgendwo finden.
Ähnlich wie bei den Pronomina handelt es sich bei den W-Formen um Ver-
bindungen einer adverbialen Pro-Form mit einem Frage-Element und bei den
Zusammensetzungen mit nirgend um unspezifische unbestimmte Pro-Formen.
Die bestimmten Formen nehmen — falls sie nicht deiktisch verwendet
sind — eine vorerwähnte referenzidentische adverbiale Angabe wieder auf:
(69) Mit zwanzig Jahren kam er nach Berlin. Dort studierte er Musik.
(70) Ich lernte Amalie 1950 kennen. Damals war sie sehr hübsch.
(71) Herr Müller dachte lange nach. Dann erhob er sich plötzlich.
(72) Fritz raucht zu viel. So wird er nie richtig gesund werden.
(73) Franz tanzte sehr viel mit Amalie. Deshalb war seine Frau den ganzen
Abend eifersüchtig.
Die Proadverbiale in (71), (72) und (73) stehen für die eingebetteten Adver-
bialsätze nachdem er lange nachgedacht hatte, da er zu viel raucht und weil
Franz sehr viel mit Amalie tanzte.
Zu den Proadverbialen gehören auch die sogenannten „Pronominaladver-
bien"; sie sind nichts anderes als adverbiale Pro-Formen, die eine Präposition
enthalten (und dadurch etwas spezifischer sind als die bisher erwähnten ad-
verbialen Pro-Formen):
(74) In der Ecke steht ein Tisch. Darauf liegen Bücher.
(75) Hier ist ein Lappen. Damit kannst du den Tisch abwischen.
Pro-Formen, die Adverbiale ersetzen, können auch für präpositionale Objekte
stehen (vgl. (76) — (79); sie verhalten sich also genau so wie die entsprechen-
den Nicht-Pro-Formen, bei denen ebenfalls Adverbiale und präpositionale Ob-
jekte in gleicher morphologischer Gestalt (als Präpositionalphrasen) auftreten.

(76) Woran denkst du?


(77) Worauf wartest du?
(78) Peter ist gekommen. Damit habe ich nicht gerechnet.
(79) Wir fahren nach Italien. Darauf freue ich mich.

3.2.4 Proattribute
Als unbestimmte Proattribute werden die Formen was für (ein) und welcher
benutzt, letztere Form kann jedoch auch Vorerwähnung voraussetzen (vgl.
(43) und (83)), nämlich Vorerwähnung einer Menge, aus der durch welcher
ein Einzelelement ausgewählt ist, das selbst unbestimmt (d. h. nicht identi-
fiziert) ist.
40 H. Vater

(80) Was für Tee möchtest du trinken?


(81) Was für ein Kleid hatte Irene auf dem Ball an?
(82) Welchen Eindruck machte Herr Peters auf Sie?
(83) Das Haus hat drei Eingänge. Die Frage ist, durch welchen Eingang
der Mörder das Haus betreten hat.
Welcher in (82) kann durch was für ein ausgetauscht werden, welcher in (83)
nicht, da es vorerwähnt ist (oder sich jedenfalls auf eine vorerwähnte Ober-
menge bezieht) 41 . Die Formen was för ein und was für haben die gleiche
Distribution wie ein und 0 - F o r m des Artikels: was für ein steht bei singu-
larischen Substantiven, die Zählbares bezeichnen, was für bei pluralischen
Substantiven oder solchen, die Nicht-Zählbares bezeichnen.
In allen Fällen handelt es sich um die Verbindung einer unbestimmten
Pro-Form mit einem Frage-Element. Gefragt wird stets nach dem Attribut.
Die Antwort auf (80) könnte sein: grünen, oder Tee aus China (wobei der
Kern Tee wiederholt werden muß) oder Tee, der aus China kommt usw.
Ähnlich ist es in den anderen Fällen.
Bestimmte Proattribute sind solcher, solch ein und so ein.
(84) Ich bestellte grünen Tee. Solchen Tee hatte ich noch nie getrunken.
(85) Ich habe ein Auto mit Schiebedach. So ein Auto ist bei großer Hitze
sehr praktisch.
Es scheint, als ob die Form solcher nur bei nichtzählbaren Substantiven oder
zählbaren Substantiven im Plural möglich ist, die Form solch ein (bzw. so ein)
dagegen wohl unterschiedslos bei zählbaren und nicht-zählbaren.
Distribution und Verwendungsweisen von was für (ein), welcher, so ein
und solcher bedürfen noch eingehender Untersuchungen. Interessanterweise
gibt es im Deutschen keine Pro-Form für prädikative Adjektive. Für den eng-
lischen Satz (86) (i) mit so als Proadjektiv gibt es keine deutsche Entsprechung;
(86)i(ii) ist ungrammatisch.

(86) (i) Mr. Miller is very kind and so is his wife.


(ii) *Herr Müller ist sehr freundlich und so ist seine Frau.

3.2.5 Prosätze
Bei Prosätzen handelt es sich stets um Pro-Formen für eingebettete Sätze.
Als Pro-Formen für Subjekt- und Objektsätze dienen die Formen das, dies
und es, als Proformen für adverbiale Sätze und Satzeinbettungen, die als prä-

41 Cf. Vater, Artikelformen, und Vater, Tiefenstruktur.


Pro-Formen des Deutschen 41

positionales Objekt fungieren, dienen Pro-Formen wie daran, darauf, damit


usw. (vgl. 3.2.3).
(87) Peter kommt. Das freut mich.
(88) Fritz hat die Unwahrheit gesagt. Dies hat mich sehr erschüttert.
(89) Fritz hat die Unwahrheit gesagt. Es hat mich sehr erschüttert.
Die Tatsache, daß für Pro-Sätze nur Formen zur Verfügung stehen,die
auch als Pronomina und Proadverbiale verwendet werden, ist kein Zufall:
Eingebettete Sätze werden immer von einem NP- oder PP-Knoten dominiert,
sind also immer gleichzeitig eine NP (als Subjekt oder Objekt) oder eine PP
(als Adverbial oder präpositionales Objekt). Prosätze lassen sich deshalb nicht
als besondere Untergruppe innerhalb der Pro-Formen herausheben, da sie im-
mer gleichzeitig Pronomina oder Proadverbiale sind. Aus dem gleichen Grund
werden auch eingebettete Attributsätze durch die gleichen Pro-Formen ver-
treten, die für adjektivische und nominale Attribute verwendet werden.
Einbettungen verhalten sich im Hinblick auf ihre „Proisierung" (wie auch
in anderen syntaktischen Hinsichten) also genau so wie Nicht-Einbettungen
in gleicher Funktion (also z. B. Subjektsätze wie nominale Subjekte).
Die folgende Übersicht baut auf den vorangehenden Erörterungen und
Beispielen auf.
42 H. Vater

3.3 Tabellarische Übersicht über die gebräuchlichsten Pro-Formen des Deutschen*

unbestimmt bestimmt

[+Menschlich] [-Belebt]
jemand etwas er, sie, es
42 der, die, das43
man was
dieser, diese, dies44
a irgendjemand irgendetwas
g irgendwer irgendwas
g irgendeiner
o
&
niemand nichts

wer was der, die das (Relativpronomen)


woran, worauf
45
womit usw.

modal lokal temporal kausal modal lokal temporal kausal


Proadverbiale

wo wann warum so hier damals darum


ni'
5

woher weshalb da46 da47 deshalb


wohin weswegen dort dann deswegen
nirgend- nie dorthin darauf
wo
a>
¿ jS was fir (ein) solcher
£ C welcher so ein

* Unechte Pro-Formen (vgl. 3.2.1 und 3.2.2) wurden nicht berücksichtigt

42 Es handelt sich hier um (umgangssprachliches) was in Fällen wie Es muß was passiert
sein.
43 Es geht um der (als Demonstrativum) in Fällen, wo es nicht Determinans ist, d.h. nicht
durch Tilgung des Substantivs alleiniger Repräsentant einer NP geworden ist, cf. (50),
(51) und (87).
44 Cf. dies in Beispiel (88).
45 Woran, worauf usw. als Pro-Formen für präpositionale Objekte (cf. 3.2.3).
46 Hier ist eine Pro-Form für den Ort des Sprechers, dort für den Ort des Angesprochenen;
da ist neutral, d. h. es kann sich sowohl auf den Ort des Sprechers, als auch auf den Ort
des Angesprochenen beziehen; vgl. die in einem Telefongespräch übliche Frage Ist Herr X
da? und die Antwort Er ist nicht da, wo das erste da durch dort, und das zweite durch
hier ersetzt werden kann.
47 Da wie in Da war's um ihn geschehen.
Peter Wunderli

Der Prosatz „ n o n "


Substitutionsprobleme im Rahmen der transphrastischen Syntax

Es mag übertrieben erscheinen, der Analyse eines so einfachen Monems wie


non einen ganzen Aufsatz zu widmen. Handelt es sich hier nicht um eine
kleine, vollkommen problemlose Partikel, die von fast allen Grammatikern
in zwei Zeilen abgehandelt oder gar stillschweigend übergangen wird? Ich
hoffe mit meinen Ausführungen zu zeigen, daß in diesem Fall der Schein
trügt. Sobald man den Dingen nämlich auf den Grund zu gehen versucht,
kompliziert sich alles auf überraschende Art und Weise. Daraus muß man
wohl schließen, daß sich die Grammatiker bisher nicht genügend mit der Ne-
gation non auseinandersetzten, daß sie ihren Charakter nicht wirklich erfaß-
ten und sich vorschnell mit einem Büschel recht heterogener Erklärungen
zufriedengaben. Dies gilt teilweise sogar für David Gaatone, der in seiner wich-
tigen Arbeit über das französische Negationssystem non immerhin über 20
Seiten widmet.
Ich will versuchen, eine kohärente Erklärung für die verschiedenen syn-
taktischen Verwendungen von non zu geben, wobei ich mich bemühen wer-
de, diese verschiedenen syntagmatischen Funktionen auf ein und denselben
paradigmatischen Grundwert zurückzuführen. Was die Redeverwendungen
angeht, so weiß man heute, daß viele syntaktische (und semantische) Proble-
me nicht auf der Ebene des Satzes gelöst werden können. Dieser ist zwar
eine reale linguistische Einheit, aber er stellt nicht die größte Einheit dar, die
man bei der wissenschaftlichen Analyse von Kommunikation berücksich-
tigen muß. Diese Rolle kommt vielmehr dem Text zu. Ich werde deshalb
die syntagmatischen Funktionen von non v.a. aus der Perspektive der Text-
linguistik beschreiben und versuchen, seine Leistung im Rahmen der Text-
konstitution und der Satzverknüpfung herauszuarbeiten. Die Untersuchung
beschränkt sich auf den eigentlich syntaktischen Bereich; ausgeschlossen aus
unseren Betrachtungen werden demnach sein:
— das Präfix non in Lexien wie non pertinent, non interrompu, non-adaption,
non-concomitance usw., da es sich hier um das Gebiet der Wortbildungslehre
(wortinterne Syntax) handelt;
44 P. Wunderli

— non in Formeln wie non seulement, non plus, non loin usw., aber auch
non pas, da es sich um erstarrte Wendungen handelt, die auf einen früheren
Sprachzustand zurückgehen; ihre Bildung kann daher nicht aufgrund der Re-
geln der freien Syntax des Modernfranzösischen erklärt werden.
*

Um die sich im Zusammenhang mit der Negation non stellenden Fragen


zu klären, werde ich in drei Schritten vorgehen: ich werde zunächst versuchen,
non im allgemeinen Rahmen der Negation zu charakterisieren und zu situie-
ren; dann soll die Funktion von non im Hinblick auf die Textkonstitution
und die systematischen Gegebenheiten, nach denen diese Mechanismen ab-
laufen, untersucht werden; und schließlich werden wir uns mit einer bestimm-
ten Anzahl von Fällen beschäftigen, die auf den ersten Blick der vorgeschla-
genen Erklärung zu widersprechen scheinen, die aber ohne Schwierigkeiten
auf die Grundhypothese zurückgeführt werden können.

1. Um non den Platz zuweisen zu können, der ihm im allgemeinen Rahmen


der Negation zusteht, müssen wir uns zunächst fragen, was überhaupt eine
Negation ist. Und hier stößt man bereits auf die ersten Schwierigkeiten, denn
in den meisten der gängigen Grammatiken wird dieses Problem stillschwei-
gend übergangen1. Als Beispiel möchte ich nur die beiden bekanntesten Gram-
matiken des 19. und 20. Jahrhunderts anführen, die Grammaire des Grammai-
res von Girault-Duvivier und den Bon Usage von Maurice Grevisse2. In der
Grammaire des Grammaires lesen wir (unter dem Titel „De l'usage de la né-
gative ne, pas, point et autres mots divers, appelés négatifs"):
La négation s'exprime en français ou par ne ou non tout seul, ou par ne ou non,
accompagné de pas ou de point.
Grammaire des Grammaires, p. 846.
Darauf folgt eine lange Liste von Ausdrücken (darunter rien, jamais, nulle-
ment, aucun, nul, personne usw.), die - so der Verfasser - zwar selbst nicht
negativ wären, gleichwohl aber die Orientierung oder den Wert der Negation
1 Dies trifft selbst für die letzte große Studie zu, die sich mit der Negation im Fran-
zösischen beschäftigt: D. Gaatone, Etude descriptive du système de la négation
en français contemporain, Genève 1971. Was bei einem Autor, der das gesamte gram-
matikalische und syntaktische System einer Sprache darzustellen versucht, zur Not
noch entschuldbar ist, kann dort, wo sich die Studie nur auf das fragliche Phänomen
richtet, nicht mehr hingenommen werden.
2 Cf. Ch.-P. Girault Duvivier, Grammaire des grammaires ou analyse raisonnée des
meilleurs traités sur la langue française . . . , Paris 1 4 1 8 5 1 ; M. Grevisse, Le bon usage.
Grammaire française avec des remarques sur la langue française d'aujourd'hui, Gem-
bloux-Paris 8 1 9 6 4 .
Der Prosatz „non" 45

im einen oder anderen Sinn verändern würden. Es ist erstaunlich, daß diese
Darstellung in d e m großen, für das 20. J a h r h u n d e r t repräsentativen Werk
nur geringfügig verändert wieder a u f g e n o m m e n wird. Maurice Grevisse be-
ginnt sein Kapitel über die Negation folgendermaßen:

Les adverbes de négation sont, à proprement dire: non, forme accentuée, et ne, forme
atone.
Bon Usage, § 8 7 3

Und drei Seiten weiter finden wir folgende Ergänzung:


La négation ordinaire ne se trouve généralement accompagnée d'un des mots pas, aucun,
point, aucunement, guère, jamais, nul, nullement, personne, plus, que, rien, ou d'une
des expressions âme qui vive, qui que ce soit, quoi que ce soit, de ma vie, de (tel)
temps, de longtemps, nulle part etc.
Bon Usage, § 875a

In beiden Werken fehlt jeder Versuch, die Negation an sich zu definieren —


u n d das Gleiche gilt auch fur die meisten anderen Grammatiken. Bei genaue-
rem Zusehen finden wir in all diesen Darstellungen nichts weiter als eine m e h r
oder weniger lange Liste von (kontinuierlichen oder diskontinuierlichen) Mor-
p h e m e n oder gar Syntagmen, die als Negationsfunktion ausübend vorgestellt
w e r d e n 3 . Was eine Negation wirklich ist, wird aber nirgends gesagt. Obwohl
jeder intuitiv zu wissen glaubt, was m a n sich darunter vorzustellen hat, bleibt
diese Unterlassung nicht ohne schwerwiegende Folgen: das Inventar dessen,
was „ N e g a t i o n " genannt wird, fällt von Werk zu Werk verschieden aus. So
führt Girault-Duvivier u n t e r diesem Titel z. B. Lexien wie moins, pis, pire,
moindre, autre, autrement, rarement, sinon usw. auf, die sicherlich ein nega-
tives Element oder etwas Ähnliches enthalten; aber sind sie deswegen schon
Negationen? Die meisten modernen Grammatiker würden dies sicherlich ver-
neinen, u n d sie würden auch die Berücksichtigung von F o r m e l n wie âme qui
vive, qui que ce soit, de ma vie, de longtemps usw. im Inventar von Grevisse
beanstanden. Es ist offensichtlich, daß man die Negation nicht durch ein In-
ventar definieren k a n n ; das, was ins Inventar a u f g e n o m m e n werden kann
oder m u ß , hängt im Gegenteü von der Definition ab, die man dem Terminus
„ N e g a t i o n " zugrundelegt.

3 Mehr oder weniger gleich gehen z. B. vor: J . - C . Chevalier et al., Grammaire Larousse
du français contemporain, Paris 1964, § 6 2 2 ss.; R.-L. Wagner - J. Pinchon, Grammaire
du français classique et moderne, Paris 1962, § 4 6 9 / 7 0 ; Ph. Martinon, Comment on
parle en français, Paris 1927, p. 5 2 6 ss.; G. und R. Le Bidois, Syntaxe du français
moderne II, Paris 2 1 9 6 7 , § 9 8 3 / 8 4 ; C. de Boer, Syntaxe du français moderne, Leiden
' 1947, p. 17ss.; G. Gougenheim, Système grammatical de la langue française, Paris
1939, p. 2 5 9 ss.; usw.
46 P. Wunderli

Ein anderer Versuch, das Wesen der Negation zu erfassen, wurde von Fer-
dinand Brunot in seinem berühmten Werk La pensée et la langue4 unternom-
men. Das Ziel dieses Buches ist es, die grammatischen und syntaktischen
Mittel des Französischen unter einem onomasiologischen Gesichtspunkt dar-
zustellen5 . Leider wird die Art und Weise, wie Brunot zu seinen logischen
Kategorien gelangt, kaum diskutiert; wir erfahren nur, daß sie der Psycholo-
gie und der Logik entstammen — nicht etwa der Psychologie und der Logik,
die Brunot „rein" nennt, sondern einer „psychologie ou . . . logique reflé-
tées dans le langage d'un peuple."6 Im Rahmen dieser Onomasiologie auf
vorwissenschaftlicher Basis wird die Negation folgendermaßen dargestellt:

Lorsqu'on veut répondre négativement c'est non qu'on emploie dans la langue
soit ancienne, soit moderne: Venez-vous? Non. On nie purement et simplement
la chose énoncée. Cette formule essentielle se suffit à elle-même.
Brunot, La pensée et la langue, p. 494

Durch einen Rückgriff auf die Etymologie wird in der Folge die Partikel ne
(und ihre Zusammensetzungen) zu non in Beziehung gesetzt. Diese Art, die
Negation zu behandeln, ruft ebenso nach Vorbehalten wie die Versuche von
Girault-Duvivier, Grevisse und vielen anderen. Sicher, Brunot hat nicht den
Fehler begangen, die Negation durch eine mehr oder weniger vollständige
Aufzählung der Negationszeichen definieren zu wollen. Aber ist die Zuflucht
zur Etymologie etwa weniger anfechtbar? Überdies bringt Brunots Vorge-
hen erneut keine Definition dessen, was die Termini nier, négation für den
Linguisten bedeuten: er versucht nirgends, ihre populäre, vorwissenschaft-
liche Bedeutung durch eine wissenschaftliche Definition zu ersetzen7.

4 F. Brunot, La pensée et la langue, Paris ^1965 ( 3 e tirage).


5 Cf. Brunot, La pensée et la langue, p. VII: „Ce que j'ai voulu, c'est présenter un ex-
posé méthodique des faits de pensée, considérés et classés par rapport au langage,
et des moyens d'expression qui leur correspondent"; p. XVIII: „Entre les formes les
plus diverses de l'expression, entre les signes les plus disparates, il y a un lien, c'est
l'idée commune que ces signes contribuent à exprimer"; p. XX: „II faut se résoudre
à dresser ses méthodes de langage, où les faits ne soient plus rangés d'après l'ordre
des signes, mais d'après l'ordre des idées".
6 Cf. Brunot, La pensée et la langue, p. XX: „II ne s'agit pas du tout d'empiéter sur
la psychologie, ni de faire de la grammaire une branche de la philosophie. Si je
cherche à la reconstituer, c'est pour elle-même, pour ses fins propres comme par
ses moyens propres. Le résultat sera toujours de faire apparaître des dissemblances
profondes entre la psychologie ou la logique d'une part, de l'autre la psychologie
ou la logique reflétées dans le langage d'un peuple".
7 Cf. dazu auch G. Barnicaud, M . - A . Compare, O. Ducrot, A. Vidal, Le problème
de la négation dans diverses grammaires françaises, Langages 7 (1967), 59.
Der Prosatz „non" 47

Außerdem leidet die Darstellung der Beziehungen zwischen non und sei-
nem Kontext unter einigen recht ärgerlichen Ungenauigkeiten. Brunot be-
hauptet, daß einfach der „ausgesagte Inhalt" verneint werden müsse, um ne-
gativ zu antworten. Aber was ist dieser „ausgesagte Inhalt"? Etwa das außer-
sprachliche Faktum „X vient" oder sogar „je viens"? Aber dieses Faktum
wird nicht als solches gesagt; das, was ausgesagt wird, ist eine Frage, die sich
auf dieses Faktum bezieht. Oder sollte Brunot an die Frage Venez-vous?
denken, wenn er von „ausgesagtem Inhalt" spricht? Eine solche Interpre-
tation ist nicht weniger unbefriedigend, denn wir werden sehen 8 , daß non
nicht einem „venez-vous + Negation" (-> ne venez-vous pas?) gleichgesetzt
werden darf.
Wir müssen somit festhalten, daß Brunots Analyse der Beziehungen zwi-
schen der Negation und ihrem Kontext unzureichend ist, und daß es ihm
auch nicht gelungen ist, das Gebiet der Negation befriedigend abzugrenzen.
Dieser Mißerfolg zeigt uns nochmals, daß eine exakte Definition dessen, was
man unter Negation verstehen will, unabdingbare Voraussetzung für die wis-
senschaftliche Untersuchung dieses Phänomens ist; überdies muß herausge-
arbeitet werden, worauf eine Negation sich nun wirklich bezieht. Hierfür
scheint es mir unumgänglich, auf die Logik zu rekurrieren — allerdings nicht
im Sinne von Brunot, sondern in demjenigen von Charles Bally, Ducrot —
Todorov usw. 9 Eine logische Aussage besteht aus einem Argument (z. B.
Pierre) und einem Prädikat (z. B. dort). Die Gesamtheit von Argument und
Prädikat kann man ein Diktum nennen {Pierre + dort). Das Diktum darf nun
aber noch nicht der Aussage gleichgesetzt werden. Diese enthält außer dem
Diktum noch eine Stellungnahme des Sprechers zum existentiellen Charakter
des Diktums. Dieses existentielle Urteil wird Modus oder Modalität genannt;
es kann affirmativ, negativ, interrogativ, imperativ usw. sein und manifestiert
sich auf der Ebene des Satzes durch das, was Coseriu als „ontische Bedeu-
tung" bezeichnet 1 0 . Wir können also sagen, daß sich eine Aussage aus Modali-
tät und Diktum zusammensetzt, wobei das Letztere seinerseits in Argument
und Prädikat zerfällt. Wenn wir nun wieder zu unserem Beispiel zurückkeh-
ren, so stellen wir fest, daß die Aussage Pierre dort ein Argument (Pierre)
und ein Prädikat (dort) enthält, die zusammen das Diktum bilden, und au-
ßerdem eine Modalität, welche in diesem Fall diejenige der Affirmation ist.
Nun wird in unserem Beispiel die Modalität (oder ontische Bedeutung) in

8 Cf. p . 56 SS.
9 Cf. Ch. Bally, Linguistique générale et linguistique française, Berne ^1965, § 27 ss.;
O. Ducrot - T. Todorov, Dictionnaire encyclopédique du langage, Paris 1972, p.
394/95 (cf. auch die bibliographischen Hinweise, p. 397).
10 Cf. E. Coseriu, Die Lage der Linguistik, Innsbruck 1973, p. 10.
48 P. Wunderli

der Redekette durch kein spezifisches Element markiert - Bally spricht des-
wegen von einer „modalité implicite". Aber man kann die Dinge auch an-
ders sehen. Da das Fehlen eines besonderen Merkmals immer bedeutet, daß
wir es mit affirmativer Modalität zu tun haben, könnte man hier von einem
Nullzeichen sprechen: dem signifié ,Affirmation' entspräche ein signifiant 0 1 1 .
Welche Lösung man auch immer wählt, der Entscheid bleibt ohne Konse-
quenzen für die Probleme, die uns hier interessieren. Wichtig für unsere Fra-
gestellung ist, daß die affirmative Modalität immer expliziert werden kann,
indem wir auf lexikalische und syntaktische Mittel zurückgreifen, cf. z. B.:

Il est vrai
Il est juste que Pierre dort.
etc.

Was uns im Bereich des Modus besonders interessiert, ist natürlich die nega-
tive Modalität. Ersetzt man die implizite (Pierre dort) oder die explizite affir-
mative Modalität (il est vrai que Pierre dort) durch eine negative Modalität,
erhält man einen Satz vom Typ II est faux que Pierre dort. In diesem Fall
wird die explizite Negation in erster Linie mit Hilfe lexikalischer Mittel zum
Ausdruck gebracht (être faux); hinzu kommt als sekundäre, von der ersten
abhängige Erscheinung die syntaktische Unterordnung. Die erwähnte Form
stellt die normale Periphrase der logischen Negation dar. Auf sprachlicher
Ebene kann nun eine Konstruktion von Typ Pierre ne dort pas, wo der lexi-
kalischen Negation eine morphosyntaktische Einheit entspricht, als äquiva-
lent angesehen werden. Den beiden Typen gemeinsam ist, daß sie die Aufhe-
bung oder besser Verweigerung der die (reelle oder fiktive) Existenz des Dik-
tums betreffenden Affirmation markieren 12 . Unter diesem Blickwinkel ist die
Negation mit der Frage (Est-ce que vous venez? ) und mit der Bedingung
verwandt (Si tu viens, nous irons au cinéma), obwohl es sich in diesen Fällen
nicht um eine Aufhebung der Verweigerung der Affirmation handelt: bei
der Frage kann man von einer verschobenen oder aufgeschobenen Affirma-
tion sprechen, bei der Hypothese von einer Affirmation, die von der Realisie-
rung einer gegebenen Bedingung abhängig gemacht wird.
Diese logisch begründeten Überlegungen erlauben es uns, ein erstes Ele-
ment der gesuchten Negationsdefinition zu isolieren. Wir halten fest:

11 Cf. zu diesem Problem jetzt auch S. J. Schmidt, Texttheoretische Aspekte der Ne-
gation, ZGL 1 ( 1 9 7 3 ) , 1 7 8 - 2 0 8 , bes. p. 180, sowie den dort erwähnten Interpre-
tationsvorschlag von J. S. Petöfi.
12 Cf. hierzu auch Schmidt, ZGL 1 (1973), 1 7 8 - 2 0 8 , bes. p. 1 8 0 - 1 9 3 .
Der Prosatz „non" 49

Eine Negation ist ein (einfaches oder komplexes) Zeichen, das die Verwei-
gerung der existentiellen Affirmation eines Diktums markiert.

Fügen wir noch hinzu, daß die Modalität, die einem Diktum zugeordnet wird,
immer sprecherabhängig ist: sie hat demnach subjektiven Charakter. Eine
affirmative oder negative Modalität gibt uns a priori keinen Aufschluß über
die objektive Existenz oder Nicht-Existenz des Diktums, sondern nur über
ihre Annahme bzw. Nicht-Annahme durch das modale Subjekt (Sprecher) 13
Nach diesem Exkurs in den Bereich der Logik kommen wir zu unserer
eigenen Fragestellung zurück. Vom linguistischen Standpunkt aus ist die er-
arbeitete Definition der Negation deshalb noch unbefriedigend, weil sie es er-
laubt, unter dieser Bezeichnung alle möglichen Erscheinungen zu klassieren,
denen auf der Ebene des Sprachsystems die verschiedensten Grundwerte zu-
kommen. Es ist eine derart weitgefaßte (implizite) Negationskonzeption, die
es z. B. Ferdinand Brunot erlaubt, auch Ausdrücke wie allons donc!, par exem-
ple! oder joliment! in den folgenden Beispielen als Negationen zu bezeich-
nen 1 4 :

Allons donc! je vous dis que j'ai de bonnes raisons pour savoir que cela ne se
peut pas.
Musset, Lorenzaccio, IV/10

Ma faute à moi, par exemple!


Donay, La Patronne, III/3

La duchesse une amie! . . . Oui, joliment!


Daudet, L'immortel, 9

Weitere Ausdrücke dieser Art wären il n'y a pas de danger!, justement!, tu


parles!, usw. Es soll nicht bestritten werden, daß in den obigen Kontexten
allons donc!, par exemple! und joliment! eine Funktion ausüben, die in et-
wa mit derjenigen einer Negation vergleichbar ist. Aber erlaubt uns diese
Feststellung bereits, diese Ausdrücke zusammen mit non, ne pas usw. zu

13 Unsere Definition des negativen Satzes gleicht in gewisser Hinsicht den von Dubois-
Lagane und Wartburg - Zumthor gegebenen Bestimmungen. Cf. J. Cubois - R. La-
gane, La nouvelle grammaire du français, Paris 1973, p. 163: „Une phrase négative
est une phrase où on nie une affirmation"; W. v. Wartburg - P. Zumthor, Précis
de syntaxe du français contemporian, Berne 21958, p. 43: „La phrase négative
exprime l'inexistence d'un fait. Elle implique une attitude spéciale d'esprit chez le
sujet parlant; celui-ci infirme un jugement qui pourrait être porté par un autre . . ."
- Vgl. auch Schmidt, ZGL 1 (1973), 180 ss.
14 Cf. Brunot, La pensée et la langue, p. 501; cf. auch Tesnière, Eléments, § 8 8 / 1 1 - 1 2 .
50 P. Wunderli

klassieren, sie als eigentliche Negationen zu betrachten? Dies scheint mir


mehr als zweifelhaft, v. a., wenn man bedenkt, daß im dritten der zitierten
Beispiele eigentlich nicht joliment, sondern oui, joliment mit non kommit-
tiert; oui, das affirmative Antonym zu non, müßte somit ebenfalls zu den Ne-
gationen gerechnet werden, was vom paradigmatischen Gesichtspunkt aus
offensichtlich unsinnig ist! Um die Schwierigkeiten in den Griff zu bekom-
men, müssen wir konsequent zwischen der Ebene der langue und derjenigen
des discours unterscheiden. Zeichen wie non, ne . . . pas usw. sind negativ
auf der Ebene der langue, die Negativität ist ein Teil ihres Grundwertes. Ganz
anders liegen die Dinge bei den von Brunot zitierten Ausdrücken. Wenn wir
sie durch non ersetzen, bewahren wir zwar das negative Element des Aus-
drucks, in stilistischer Hinsicht kommen wir jedoch zu einem ganz anderen
Resultat: wir verlieren das affektische Element. Der affektische Charakter
aber ergibt sich aus der Tatsache, daß allons donc! usw. nur auf der Ebene
des discours Negationen sind: kontextuelle Determinationen verformen einen
anderen Grundwert in Richtung auf einen negativen Nutzwert hin. Man könn-
te deshalb von okkasioneller Negation sprechen oder besser noch von negati-
vierendem Gebrauch; auf jeden Fall handelt es sich nicht um Zeichen, denen
der negative Charakter bereits auf der Ebene der langue zukommt 1 5 . Was un-
sere Definition der Negation betrifft, so ist ihr eine Einschränkung beizufügen,
die es erlaubt, die okkasionellen Negationen auszuschließen und nur Zeichen
zu berücksichtigen, deren Grundwert ( > langue) die Negativität einschließt.
Eine zweite Einschränkung drängt sich auf. Die oben besprochenen okka-
sionellen Negationen wie auch die logischen Negationsperiphrasen vom Typ
il est faux que, c'est une erreur que usw. realisieren den negativen Sinneffekt
der Aussage aufgrund von lexikalischen Einheiten; benutzt man hingegen
non, ne . . . pas usw., bedient man sich morpho-syntaktischer Elemente. Daß
lexikalische und morpho-syntaktische Einheiten oft miteinander konkurrieren,
ist eine bekannte Tatsache, und auf der Ebene einer semantischen Satz- und
Textanalyse müßte man selbstverständlich beide Möglichkeiten zur Verwei-
gerung der existentiellen Affirmation eines Diktums gleichberechtigt behan-
deln. Da wir uns aber vorgenommen haben, eine syntaktische Analyse des
Negationsphänomens durchzuführen, sind wir gezwungen, die negativen lexi-
kalischen Einheiten auszuschließen.
Unsere endgültige Definition der morpho-syntaktischen Negation sieht des-
halb folgendermaßen aus:
15 Wenn m a n das Vorgehen von Brunot mit äußerster Konsequenz weiterführen wür-
de, sähe man sich gezwungen, auch jeden mit ironischem U n t e r t o n ausgesprochenen
Satz zu den Negationen zu stellen. Die Beschreibung des sprachlichen Modalsystems
würde damit schlechterdings unmöglich.
Der Prosatz „non" 51

Eine Negation ist ein (einfaches oder komplexes) Morphem, dessen auf der
Ebene der langue gegebene Funktion darin besteht, die existentielle Affirma-
tion eines Diktums zu verweigern.
Wir betrachten als Negation also nur das, was Lucien Tesnière die marquants
de la négation16 nennt, d.h. diejenigen Zeichen, denen die Negationsfunktion
auf der Ebene der langue zukommt und die zu geschlossenen Paradigmen
gehören.
Wir haben somit den Bereich der Negation genau umrissen; es bleibt uns
die Aufgabe, den Platz zu definieren, den non in diesem Bereich einnimmt —
ein Problem, das eng mit der Frage zusammenhängt, was denn eigentlich durch
die verschiedenen Negationen verneint wird. Unsere Klassifikation von non
erfolgt aufgrund von zwei Kriterien. In einem ersten Schritt werden wir non
und dessen Ersatzformen (non pas, pas du tout, point du tout etc.) den Ne-
gationen vom Typ ne.. . pas, ne. . . point gegenüberstellen. Diese Oppo-
sition kann zunächst in syntagmatischer Hinsicht definiert werden. Non bil-
det ein Paradigma mit den Morphemen oui und si, und wie diese übt es für
sich allein die Funktion eines Satzes bzw. Teilsatzes aus 17 : Es steht in Kor-
relation entweder mit der Intonation eines autonomen Aussage-, Ausruf- oder
Fragesatzes, oder aber mit derjenigen des affigierten Elements (A) eines seg-
mentierten Satzes (Typ AZ oder ZA) 1 8 . Wenn non durch seine Satzfunktion
charakterisiert ist, so liegen die Dinge bei ne . . . pas usw. anders. Ein ein-
faches Beispiel wie Pierre ne dort pas und die Unmöglichkeit, mit ne . . . pas
allein eine nicht-metasprachliche Aussage zu machen, beweisen zur Genüge,
daß dieser Negationstypus immer Bestandteil eines Satzes oder Teilsatzes sein
muß, der auf anderen sprachlichen Einheiten beruht. Wir können also mit L.
Bloomfield sagen, daß ne. . . pas eine gebundene, non dagegen eine freie
Form sei 19 .
Indessen unterscheiden sich unsere beiden Negationen nicht nur durch ihren
freien (phrastischen) bzw. gebundenen (nichtphrastischen) Charakter, sondern
auch aufgrund der recht unterschiedlichen Beziehungen, die in diesen beiden

16 Cf. L. Tesniere, Elements de syntaxe structurale, Paris "4966, p. 217.


17 Cf. auch die Grammaire Larousse du français contemporain, §623: „II [sc. non] joue
le rôle d'une proposition à un terme et alterne avec oui et Grevisse, Bon usage,
§ 874 a: ,JVon a, dans les réponses et ailleurs, la valeur d'une proposition reprenant
de façon négative une idée, une proposition; . . .";Dubois-Lagane, La nouvelle grammaire
du français, p. 165: „L'adverbe négatif non peut constituer à lui seul l'équivalent
de toute une phrase négative . . ."; usw.
18 Zum segmentierten Satz cf. Bally, LGLF, § 79ss.
19 Cf. L. Bloomfield, Language, London 2 1935, p. 160.
52 P. Wunderli

Fällen zwischen Negation und Diktum bestehen. Ein Satz wie Pierre ne dort
pas kann in allen möglichen Kontexten vorkommen: er kann die Antwort
auf eine Frage vom Typ Est-ce que Pierre dort? bilden, er kann ein Korrek-
turelement zu einer vorhergehenden Affirmation vom Typ Pierre dort dar-
stellen, er kann eine einfache Feststellung im Rahmen einer gegebenen Situa-
tion auch ohne sprachlichen Kontext zum Ausdruck bringen, usw. Schon die-
se Beispiele genügen, um deutlich zu machen, worauf es hier ankommt: die
Bedeutung des Satzes Pierre ne dort pas bleibt immer gleich, sie ist unabhängig
vom Kontext 20 . Aus diesen Gegebenheiten folgt, daß das negierte Diktum Be-
standteil desselben Satzes ist wie die Negation ne . . . pas selbst; die Reichwei-
te dieser Negation überschreitet offensichtlich die Grenzen des Satzes bzw.
Teilsatzes nicht. Deshalb werden wir diesen Negationstypus — in Anlehnung
an die Terminologie der Kopenhagener Schule21 — homonex nennen, d. h.
,auf denselben Nexus (= Satz bzw. Teilsatz) bezogen'.
Wenn wir jetzt auf unser altes Beispiel Venez-vous? - Non zurückkommen,
so ist auf Anhieb klar, daß die Beziehungen zwischen Negation und Diktum
hier anderer Art sind. Wir haben gesagt, non sei ein freies Morphem und übe
für sich allein Satzfunktion aus. Obwohl wir die Frage, welches nun eigentlich
bei diesem Negationstyp das negierte Diktum sei, noch nicht gelöst haben,
könne wir gleichwohl schon jetzt feststellen, daß die Bedeutung dieses ein-
gliedrigen Satzes nicht unabhängig vom Kontext ist. In den Beispielen:
Venez-vous? - Non.
Sors! - Non.
II s'est endormi. - Non.

muß diese Bedeutung je nach Kontext mit ,Je ne viens pas', ,Je ne sors pas'
oder ,11 ne s'est pas endormi' umschrieben werden. Die Bedeutung von non
hängt also vom Kontext ab. Überdies wird das von der Negation betroffene
Diktum nicht im von diesem Morphem gebildeten Satz expliziert, und die
gleiche Feststellung trifft auch auf segmentierte Sätze wie non, je ne viens
pas zu. Die Reichweite dieser Negation geht also über die Satzgrenzen hinaus;
non betrifft ein Diktum, das außerhalb des monoremen negativen Satzes liegt 22 .

20 Diese Feststellung gilt aber nur für diejenigen Kontexte, die ich „normal" nennen
würde; sie trifft nicht zu für metasprachliche, metaphorische, ironische usw. Kontex-
te.
21 Zur Definition von Nexus cf. K. Togeby, Structure immanente de la langue française,
Paris ^ 1965, p. 67: „Nexus: syntagme caractérisé par des morphèmes extenses (ver-
baux)"; für die Termini homonex und heteronex cf. z. B. G. Boysen, Subjonctif et
hiérarchie, Odense 1971, p. 16, 26, 32, 40.
22 Für den Terminus Monorem (= eingliedriger Satz) cf. Bally, LGLF, § 49; A. Seche-
haye, Essai sur la structure logique de la phrase, Paris ^1950, p. 9 ss.
Der Prosatz „non" 53

Wir tragen diesen Gegebenheiten Rechnung, indem wir den vorliegenden Ne-
gationstypus als heteronex bezeichnen.
Eine homonexe Negation ist demnach eine Negation, die ein Diktum be-
trifft, das in demselben Satz wie das Negationsmorphem zum Ausdruck ge-
bracht wird, eine heteronexe Negation dagegen bezieht sich auf ein Diktum,
das im Kontext des Negativsatzes steht. Für die transphrastische Syntax und
damit fur die Textlinguistik ist v. a. dieser zweite Typ von Interesse23.
Bleibt das zweite Klassifikationskriterium, das sowohl im Bereich der homo-
nexen wie in demjenigen der heteronexen Negation zum Tragen kommt. Be-
ginnen wir mit der heteronexen Negation, da hier die Gegebenheiten leichter
zu fassen sind. Eine Negation kann sich auf einen ganzen Satz beziehen, oder
besser: der Kern dieses Satzes, d.h. das Verb, kann ihr untergeordnet sein 24 .
Dies ist der Fall in den Sätzen Pierre ne vient pas, Pierre ne vend pas sa voi-
ture, Pierre ne part pas demain usw. Da das zentrale Element des Satzes von
der Negation dominiert wird, betrifft diese nicht nur das Verb allein, sondern
indirekt auch alle anderen Positionen, die von diesem Kern abhängig sind, d. h.
die Aktanten und die Zirkumstanten. Greift man auf die Terminologie zu-
rück, die die traditionelle Grammatik im Bereich der Frage benutzt, so könn-
te man von einer totalen Negation sprechen25 ; da wir aber bereits den Termi-
nus Nexus verwendet haben, um den Satzkern zu bezeichnen, ziehe ich es vor,
diesen Typus nexuelle Negation zu nennen 26 . Eine Negation muß sich indes-
sen nicht unbedingt auf einen Nexus als Ganzes beziehen, sie kann auch nur

23 Schmidt, ZGL 1 (1973), 184 ss. bespricht den Fall der homonexen Negation dt.
nicht, deren Bezugselement (eines der verschiedenen Satzglieder) erst aufgrund von
Kontext- und/oder Situationsindikatoren festgelegt würde. Hier liegt zweifellos ein
textlinguistisches Problem vor, aber meiner Auffassung nach nicht eines, das die (ho-
monexe) Negation als solche betrifft: negiert wird immer der nicht enthaltende Satz
als Ganzes; alles Weitere ist ein Problem der Hervorhebung bzw. der Thema-/Rhema-
struktur des Textes. Dies gilt selbst für die Stellung von nicht, die von dieser Thema-/
Rhemastruktur abhängig ist; gleichwohl negiert nicht nie etwas anderes als den
Satz als Ganzes (cf. auch den Fall des Französischen, wo die Stellung von ne . . . pas
etc. fest ist, sich aber aufgrund von Hervorhebung bzw. Thema-/Rhemastruktur die
gleichen Sinneffekte erzielen lassen wie im Deutschen mit „beweglichem" nicht).
24 Mit Tesnière und der Valenzgrammatik betrachte ich das Verb als das Zentrum des
Satzes; cf. Tesnière, Eléments, p. 11 ss.
25 Cf. Wagner-Pinchon, Grammaire du français classique et moderne, p. 389 ss.
26 Nach Tesnière, Eléments, p. 218 ss. betrifft die Negation vom Typ Piere ne vient
pas die Konnexion zwischen Subjekt und Verb, d. h. sie wäre eigentlich dem Verb
untergeordnet (cf. auch G. Bamicaud, M . - A . Compare, O. Ducrot, A. Vidal, Le
problème de la négation dans diverses grammaires françaises, Langages 7 [ 1 9 6 7 ] ,
5 7 - 8 3 , besonders p. 65 ss.). Diese Auffassung scheint mir aber wenig adäquat zu
sein, denn sie erklärt nicht, warum in diesem Fall die Negation auch für den zwei-
54 P. Wunderli

eine der nicht verbalen Positionen des Satzes betreffen, d. h. einen der Ak-
tanten oder Zirkumstanten 27 . Hier einige Beispiele mit Angabe des Elements,
auf das sich die Negation bezieht:

Personne n'est venu 1. Aktant (Subjekt)


Je ne vois rien 2. Aktant („Akkusativobjekt")
Je ne pense à rien 3. Aktant („Dativobjekt")
Il ne vient jamais temporaler Zirkumstant
Je ne le trouve nulle part lokaler Zirkumstant

ten Aktanten, den dritten Aktanten und die Zirkumstanten Gültigkeit hat; es ist
offensichtlich, daß die nexuelle Negation dem Verb übergeordnet sein muß (cf. hier-
zu auch H.-J. Seiler, Zum Problem der sprachlichen Possessivität, Köln 1972 [Arbeitspa-
pier 20 des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Köln], p. 6; Wunderli, Die
Teilaktualisierung des Verbalgeschehens [Subjonctif] im Mittelfranzösischen, Tübingen
1970, p. 203 u. passim). Indem ich Guillaumes Inzidenztheorie dahingehend mo-
difiziere, daß ich das Verb (anstelle des Subjekts) ins Zentrum des Satzes stelle und
indem ich für das Verb eine neue Inzidenz auf die Sprecherorigo (Bühler) einführe (akti-
vatorische Inzidenz), kann ich die Negation ne . . . pas als die Inzidenz Verb - Spre-
cherorigo betreffendes Adverb auffassen. Die graphische Darstellung eines Satzes
wie Pierre ne vend pas sa voiture müßte dann folgendermaßen aussehen:

X (Sprecher-Origo)

(Neg.)
ne . . . pas ^

vend

Pierre (sa) voiture

Zur Inzidenztheorie Guillaumes cf. Leçons de linguistique de Gustave Guillaume,


p.p. R. Valin, 1 9 4 8 - 1 9 4 9 , série B: Psycho-systématique du langage. Principes, mé-
thodes et applications I, Paris 1971, p. 149 ss. und v. a. G. Moignet, L'incidence
de l'adverbe et l'adverbialisation des adjectifs, TLL 1 (1963), 175 ss. Cf. auch un-
sere kritischen Bemerkungen in VRom.32 (1973), 1 - 2 1 .
Da für mich die Negation ne . . . pas nicht nur die Konnexion Verb - Subjekt
betrifft, sondern den Nexus als Ganzes, ersetze ich Tesnières Bezeichnung konnexio-
neile Negation durch nexuelle Negation.
27 Für die Termini Aktant und Zirkumstant vgl. Tesnière. Eléments, p. 102. - Die
Behauptung bei Schmidt, ZGL 1 (1973), 187 s., selbst eine nukleare Negation ent-
spreche letztlich immer einer nexuellen, scheint mir nicht zuzutreffen (cf. Pierre ne
voit pas X i Pierre ne voit personne [ Pierre voit que personne n'est là] ; usw.).
28 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 217/18.
Der Prosatz „non" 55

Die verschiedenen Positionen des Satzbauplanes werden bei Tesnière als Nu-
klei bezeichnet 2 9 . Da bei diesem Negationstypus ein Nukleus allein, unter Aus-
schluß der übrigen Satzelemente, von der Negation betroffen ist, werden wir
mit Tesnière von einer nuklearen Negation sprechen 3 0 .
Man kann dieselbe Unterscheidung zwischen nexueller und nuklearer Ne-
gation auch im heteronexen Bereich machen. In unserem Beispiel „ Venez-
vous? - Non. " haben wir das Element non mit je ne viens pas umschrieben;
es entspricht also einer nexuellen Negation im homonexen Bereich und ist
deshalb selbst als nexuell zu bezeichnen; dasselbe gilt fur die Ersatzformen
non pas, pas du tout usw. Die Einheiten jamais, rien, nulle part usw. können
ebenfalls allein als Satz fungieren; in diesem Fall beziehen sie sich aber auf
ein in einem anderen Satz ausgedrücktes Diktum und müssen zu den hetero-
nexen Negationen gezählt werden, cf. z.B.:

Est-ce que tu l'as revue? - Jamais.


Qu'est-ce que tu fais'.' - Rien.
Où est-il allé? - Nulle part,
usw.

Die obigen Antworten können umschrieben werden mit je ne l'ai jamais revue,
je ne fais rien, il n 'est allé nulle part. Heteronexes jamais, rien, nulle part,
personne usw. entsprechen somit nuklearen Negationen im homonexen Be-
reich und sollen deshalb ebenfalls als nuklear bezeichnet werden.
Nachdem wir bereits definiert haben, was für uns eine Negation ist, können
wir nun non auch noch genau situieren im Bereich der französischen Nega-
tion:

Non ist eine nexuelle heteronexe Negation.

2. Wir haben uns vorgenommen, im zweiten Teil unserer Ausfuhrungen das


Funktionieren der Negation non aus der Sicht der transphrastischen Syntax
zu untersuchen und die Rolle, die diese Partikel für die Textkonstitution
spielt, herauszuarbeiten 3 1 . Unsere Überlegungen müssen zweifellos von der

29 Vgl. Tesnière, Eléments, p. 45 (14, 39).


30 Obwohl letztlich auch das Verb ein Nukleus des Satzes ist, kann die dieses betreffen-
de Negation nicht zu den nuklearen Negationen gezählt werden: aufgrund der beson-
deren Stellung des Verbs im Satz hat sie immer für den gesamten Nexus Gültigkeit.
31 Die folgenden Überlegungen sind auch für die Morpheme, die non ersetzen können,
gültig: pas du tout, point du tout, non pas, du tout etc. Diese Formen unterschei-
den sich von non durch ihren affektischen Charakter und/oder durch die Zugehö-
56 P. Wunderli

Feststellung ausgehen, daß non eine heteronexe Negation ist, d. h. daß es ein
Diktum verneint, das außerhalb des negativen monoremen Satzes zum Aus-
druck gebracht wird. Aus dieser Charakterisierung werden sich alle für die
transphrastische Syntax wesentlichen Aspekte ergeben. Bevor wir diese prä-
sentieren können, müssen wir aber noch ein anderes Problem lösen: die Fra-
ge nach dem Diktum, das durch non negiert wird.
Es ist vollkommen unmöglich zu sagen - wie dies z. B. Ferdinand Brunot
tut —, non negiere „purement et simplement la chose énoncée". Gehen wir
von einem literarischen Beispiel Molières Misanthrope aus:

Philinte

La sincère Eliante a du penchant pour vous,


La prude Arsinôé vous voit d'un œil fort doux:
Cependant à leurs vœux votre âme se refuse,
Tandis qu'en ses liens Célimène l'amuse,
de qui l'humeur coquette et l'esprit médisant
Semble si fort donner dans les mœurs d'à présent.
D'où vient que, leur portant une haine mortelle,
Vous pouvez bien souffrir ce qu'en tient cette belle?
Ne sont-ce plus défauts dans un objet si doux?
Ne les voyez-vous pas? ou les excusez-vous?

Alceste
Non, l'amour que je sens pour cette jeune veuve
ne ferme point mes yeux aux défauts qu'on lui treuve,

Misanthrope 1/1 (v. 2 1 5 - 2 2 6 )

Die Negation non kann sich nur auf den Stimulus „(ou) les excusez-vous? "
beziehen, denn auf die vorhergehenden Fragen müßte man mit si antworten.
Non stellt nun aber sicherlich weder die Negation von „les excusez-vous? "
(-»«e les excusez vous pas? ) noch diejenige des affirmativen Gegenstücks
„vous les excusez" ( -*• vous ne les excusez pas) dar. Diese Feststellung machen
wir zunächst einmal rein intuitiv, aber wir müssen uns nicht damit begnügen:
es ist möglich, einen linguistischen Beweis zu erbringen. Dieser Beweis beruht
auf der Tatsache, daß eine heteronexe Negation im Rahmen eines segmentier-
ten Satzes immer von einer homonexen Negation wieder aufgenommen wer-
den kann. Diese redundante Weise des Negationsausdrucks hat den großen

rigkeit zu einer anderen Stilschicht, z.B.: pas du tout: besondere Betonung der Ne-
gation; non pas, non point: besondere Betonung und (regionaler oder literarischer)
Archaismus; du tout: besondere Betonung und familiär.
Der Prosatz „non" 57

Vorteil, daß so das Diktum expliziert wird, das der heteronexen Negation zu-
gründe liegt: beide Negationen beziehen sich ja auf den gleichen Tatbestand,
Hier noch ein weiteres literarisches Beispiel aus dem Misanthrope, das dieses
Phänomen illustriert:

Oronte

Vous me flattez, et vous croyez peut-être . . .

Philinte

Non, je ne flatte point.


Misanthrope 1/2 (v. 3 3 7 / 3 8 ) 3 2

Wenn im zweiten Beispiel non einem je ne flatte pas/point entspricht, muß


es im ersten Fall mit je ne les excuse pas gleichgesetzt werden. In beiden Fäl-
len ist das Diktum offensichtlich (je flatte, je les excuse) nicht mit dem Stimulus
(vous [me] flattez; les excusez-vous? ) identisch, aber es ist nicht weniger klar,
daß zwischen Stimulus und Diktum regelmäßige Beziehungen existieren. Wir
können also sagen, das Diktum der Negation non sei eine Ableitung aus dem
Stimulus — vorausgesetzt, es gelingt uns, die Regeln dieses Ableitungsmechanis-
mus offenzulegen. Es handelt sich um deren zwei. Um den Stimulus in ein
Diktum zu verwandeln, muß man v. a. von der Ausgangsmodalität abstrahie-
ren. Ganz gleichgültig, ob es sich um eine Frage, einen Befehl, eine Negation
usw. handelt, die Modalität des Stimulus muß immer durch die das Diktum
an sich charakterisierende affirmative Modalität (0-Modalität) ersetzt wer-
den. Zum zweiten muß man die Tatsache berücksichtigen, daß die gramma-
tische Person eine deiktische, von der Sprecherorigo abhängige Kategorie
ist. Findet ein Sprecherwechsel zwischen Stimulus und Antwort statt, müssen
die Personalpronomina dem neuen Sprechersystem angepaßt werden. So wird
eine 2. Person in eine 1. oder eine 1. Person in eine 2. umgesetzt 33 ; nur die
3. Personen bleiben im Prinzip unverändert (cf. z. B. Est-il venu? — Non,
il n'est pas venu)3*.

32 Hinsichtlich des Stimulus haben wir hier eine kleine Abweichung aufgrund der Tat-
sache, daß das Objektspronomen bei der homonexen Negation implizit bleibt; für
unsere weitere Argumentation spielt dies jedoch keine Rolle.
33 Wenn der Stimulus in der Höflichkeitsform steht (Pl.), muß in der Antwort auch
der Plural des Stimulus durch den Singular ersetzt werden; die umgekehrte Erschei-
nung findet man dann, wenn die erste Person des Stimulus sich auf eine Person
bezieht, die der zweite Sprecher in der Höflichkeitsform anzusprechen pflegt (cf.
Suis-je fou? - Non, vous n'êtes pas fou).
34 Diese Feststellung ist nicht ohne Ausnahme. Es kommt vor, daß in bestimmten Si-
tuationen nicht der Angesprochene, sondern der Besprochene auf den Stimulus rea-
58 P. Wunderli

Wir stellen also fest, daß der monoreme Satz non mit mindestens einem
Satz seines Kontextes durch Suppletionsmechanismen verbunden ist. Vom
Standpunkt der transphrastischen Syntax aus ist es nun wichtig zu wissen,
ob diese Beziehung eine Beziehung nach rückwärts, d. h. mit dem, was vor-
ausgeht (Anapher), oder ob es sich um eine Beziehung nach vorwärts, d.h.
mit dem, was folgt, handelt (Katapherj. In allen bisher behandelten Beispie-
len ging non im Text ein wirklicher Stimulus voraus, der nach unserer In-
terpretation die für die Rekonstruktion des Diktums notwendigen Elemente
enthielt. Wir können somit sagen, non besitze auf jeden Fall die Fähigkeit,
als anaphorische heteronexe Negation zu fungieren. Aber ist dieser anapho-
rische Charakter obligatorisch? Handelt es sich um einen charakteristischen
Zug, der non auf der Ebene der langue zukommt? Diese Frage muß verneint
werden. Es gibt nicht nur keine zweite Negation gleicher Art, die die kata-
phorische Relation markieren würde, es läßt sich auch nicht übersehen, daß
— trotz des viel häufigeren anaphorischen Gebrauchs — non auch in Kon-
texten vorkommt, wo das Diktum nur aufgrund des Nachfolgenden ergänzt
werden kann 3 5 . Hierfür nochmals zwei aus dem Misanthrope stammende Bei-
spiele. Der vierte Akt dieser Komödie beginnt folgendermaßen:

Philinte

Non, l'on n'a point vu d'âme à manière si dure,


ni d'accommodement plus pénible à conclure:

Misanthrope IV/1 (v. 113/34)

Auf der Ebene des Textes geht dem non nichts voran; die Zäsur zwischen dem
dritten und dem vierten Akt ist absolut, denn die Personen auf der Bühne
wechseln zwischen III/5 und IV/1 — es gibt also keine Möglichkeit, eine Be-
ziehung zu einem Stimulus in der vorhergehenden Szene herzustellen. Um das
Diktum, auf das sich non bezieht, zu rekonstruieren, müssen wir uns an das
Nachfolgende halten, d. h. an das Element Z des segmentierten Satzes (AZ),
der dem ersten Vers entspricht. Ein ähnlicher Fall findet sich einige Verse
weiter in derselben Szene. Philinte zitiert die Worte Alcestes:

giert (vgl. Il est bête. - [überraschend tritt die besprochene Person auf] Non, je ne
suis pas bête). Sobald der Besprochene das Wort ergreift, müssen auch Pronomina
der dritten Person, die sich auf ihn beziehen, umgesetzt werden.
35 Cf. auch Gaatone, Système, p. 29.
Der Prosatz „non" 59

Philinte

Et jamais différend si bizarre, je pense,


n'avoit de ces Messieurs occupé la prudence.
„Non, Messieurs, disoit-il, je ne me dédis point,
Et tomberai d'accord de tout, hors de ce point.

Misanthrope IV/1 (v. 1 I 3 7 - 4 0 ) 3 6

Nichts, was dieser Szene vorangeht, könnte als Stimulus angesehen werden.
Das Zitat setzt plötzlich ein, Alcestes Worte sind offensichtlich aus ihrem
Originalkontext herausgelöst; um dieses überraschende non zu interpretieren,
müssen wir erneut zum nachfolgenden Text Zuflucht nehmen. In beiden
Fällen liegt somit ein kataphorischer Gebrauch von non vor. Man könnte
natürlich unserer Sicht entgegenhalten, im ersten Fall gebe es sicherlich einen
in unserem Text nur nicht berücksichtigten Stimulus — entweder in Philintes
Gedanken oder in seiner Rede — und im zweiten Fall sei Alcestes Worten im
Originalkontext ganz ohne Zweifel ein Stimulus vorangegangen, der dieses non
hervorgerufen habe. All dies mag zutreffen, ist aber ohne jede Bedeutung für
uns. Wir haben die Aufgabe, den Aufbau und das Funktionieren eines vorge-
gebenen, als solcher autonomen Textes zu beschreiben. Um die beiden non
zu interpretieren, um zu erfahren, auf welches Diktum sich diese Negation
jeweils bezieht, bleibt uns nur die Möglichkeit, den nachfolgenden Kontext
zu befragen. Wir müssen somit festhalten, daß die Negation non im Text eben-
so gut kataphorische wie anaphorische Funktion haben kann. Auf der Ebe-
ne des Sprachsystems ist non neutral in Bezug auf die Opposition anapho-
risch /v/ kataphorisch, es ist nur durch die Verpflichtung zur Kontextbin-
dung charakterisiert; die Richtung dieser Inzidenz wird erst auf Redeebene
festgelegt. Es gibt sogar Fälle, wo non gleichzeitig anaphorische und kata-
phorische Partikel ist, wo man zur Rekonstruktion des Diktums sowohl auf
den vorhergehenden als auch auf den nachfolgenden Kontext rekurrieren
kann; cf. unser bereits zitiertes Beispiel Vous me flattez . . . - Non, je ne
flatte point. Natürlich wird man es bei Beispielen dieser Art im Rahmen einer
spontanen Interpretation von non vorziehen, vom vorangehenden Kontext
auszugehen, aber eine auf dem nachfolgenden Kontext beruhende Interpre-

36 In unseren beiden Beispielen ist das Bezugselement des kataphorischen non ein ne-
gativer Satz (homonexe Negation); obwohl dieser Typ frequenzmäßig dominiert,
ist er nicht der einzig mögliche. Alceste hätte z. B. auch sagen können: „Non . . .
je devrais me dédire? " usw.
60 P. Wunderli

tation ist gleichermaßen möglich und legitim 37 . Der Suppletionsmechanis-


mus fiir das Diktum von non liefert uns also nicht nur zweigliedrige (ana-
phorische oder kataphorische) Satzketten, er kann ebenso auch dreigliedri-
gen (anaphorischen und kataphorischen) Ketten zugrundeliegen38. Wie wir
noch sehen werden, sind diese Ketten nicht unbedingt linear; sie können auch
den Charakter von Büscheln haben.
Und noch eine letzte Bemerkung zur Bildung von Satzketten mittels non.
Wir wissen, daß ein sprachlicher Kontext fast immer durch einen situationei-
len ersetzt werden kann; und dies gilt auch für den Kontext von non. Neh-
men wir folgende Situation: Ich sitze am Tisch einer Bahnhofsgaststätte und
schütte unglücklicherweise mein Bier über die Hose meines Tischnachbarn (den
ich nicht kenne). Dieser ergreift ein Messer und stürzt sich auf mich. Erschrocken
schreie ich: Nein!, was .Stoßen Sie nicht zu' oder etwas Ähnliches bedeutet.
In diesem Beispiel wird das Diktum nirgendwo auf Redeebene expliziert, es
ist vielmehr in der Situation enthalten. In einem solchen Fall ist non offen-
sichtlich nicht an einen Kontext gebunden; man wird vielmehr sagen, daß
dort, wo der sprachliche, eine anaphorische oder kataphorische Interpreta-
tion von non ermöglichende Kontext fehlt, dieses zu einem Instrument wird,
das die Rede in der Situation verankert. Da die Situation in Bezug auf den
Text weder ein Vorher noch ein Nachher darstellt, sondern vielmehr dessen
Grundlage oder Fundament bildet, kann ein auf die Situation verweisendes
non weder anaphorischen noch kataphorischen Charakter haben. Wir nennen
diesen Gebrauch situativ.
Wir können somit vier Funktionen von non auf Text- und Redeebene unter-
scheiden: die anaphorische, die kataphorische, die anaphorisch-kataphorische
und die situative Funktion. Da es sich um Gebrauchstypen handelt, von de-
nen jeder in aktueller Rede in einer unbegrenzten Anzahl von Fällen reali-
siert wird, können wir sagen, diese Typen seien bereits auf der Ebene der
Norm gegeben. Als Einheit auf der Ebene der langue transzendiert das Zei-
chen non die vier Normfunktionen, es kennt die Anwendungsdifferenzierungen
nicht. Um non als Systemeinheit zu charakterisieren, können wir nur auf
diejenigen Züge zurückgreifen, die allen vier Normtypen gemeinsam sind.

37 Sie kann sogar die einzig mögliche sein in Fällen wie dem oben erwähnten Zitat
von Alceste, wo der Stimulus unterdrückt worden ist, oder wenn jemand in einer
Unterhaltung von mehreren Personen das dem non Vorangegangene nicht gehört
oder nicht verstanden hat (Lärm, Unaufmerksamkeit usw.).
38 Es scheint, daß die kettenbildende Kraft sich nach dem ersten Element in beiden
Richtungen (Anapher und Katapher) jeweils erschöpft. Um längere, sich linear fort-
setzende Ketten zu erhalten, muß man auf andere Verknüpfungsmittel zurückgreifen.
Der Prosatz „non" 61

Zu diesen zählt v. a. einmal das Negativitätsmerkmal. Weiterhin stellen wir


bei jedem Gebrauch von non die Notwendigkeit fest, sich auf ein Diktum
außerhalb des die Negation enthaltenden oder durch diese gebildeten Satzes
zu stützen. Es scheint mir aber wenig sinnvoll zu sein, dieses als „Kontext-
hungrigkeit" bezeichnete Phänomen mit einem Merkmal auf Systemebene
gleichzusetzen; da ein syntagmatischer Kontext nur auf der Ebene des dis-
cours existiert, würden wir bei einer solchen Beschreibung Gefahr laufen,
diese beiden Ebenen zu vermischen; gerade dies muß auf jeden Fall vermie-
den werden.
Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, wollen wir versuchen, das bisher
über die phrastische und propositionelle Funktion von non Gesagte zu ver-
tiefen. Bis jetzt waren unsere Formulierungen bewußt vorsichtig gehalten.
Wir haben gesagt, non werde als Satz gebraucht, es übe Teilsatzfunktion aus,
usw.: wir haben uns also immer auf die Ebene des discours und der Sinn-
effekte gestellt und uns gehütet, etwas über den hinter den konkreten Ver-
wendungen stehenden Systemwert (langue) auszusagen. Aber könnte man
nicht kurzerhand sagen, non sei ein vollständiger Satz auf der Ebene der
langue? Ein Satz besteht normalerweise aus einem Bauplan und einem seman-
tischen Komplex. Der Bauplan ist bereits auf der Ebene der langue gegeben;
er liefert uns eine Art Skelett des Satzes, das eine bestimmte Anzahl von
Positionen (Verb, Aktanten, Zirkumstanten usw.) enthält und die Beziehun-
gen zwischen diesen Positionen festlegt 39 . Der spezifische semantische Kom-
plex hingegen gehört auf die Ebene des discours; er umfaßt eine bestimmte
Anzahl von Lexien und deiktischen Morphemen, die den Bauplan bei der
Aktivierung (Übergang von der langue zum discours) auffüllen und ihm eine
„Meinung" verleihen. Wie wir gesehen haben, hat non alleine noch keine Be-
deutung; um zu einer solchen zu gelangen, brauchen wir einen Kontext (oder
eine Situation), der es uns erlaubt, das Diktum, auf das die Negation sich
bezieht, zu identifizieren 40 . Ein isoliertes non — z. B. herausgeschnitten aus
einem Tonband wie Dr. Murkes Pausen in der berühmten Novelle von Boll 41
- liefert uns nur die Hinweise .Negation' und ,Satz- bzw. Teilsatzfunktion'.
Sieht man vom Negationsmerkmal ab, ist non somit nichts weiter als ein se-
mantisch leeres Zeichen, ein Statthaltersymbol für einen Satz oder Teilsatz.
Dieses Phänomen findet man auch anderweitig im Sprachsystem, z. B. im
Nominalbereich; jeden Inhalts entleerte Substantive (oder besser: Nominal-

39 Für die Zugehörigkeit des Bauplanes zur Ebene der langue cf. auch P. Wunderli, Zur
Stellung der Syntax bei Saussure, ZRPh. 88 (1972), 483-506.
40 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 97, 211/12.
41 Cf. H. Boll, Dr. Murkes gesammeltes Schweigen, Köln-Berlin 1958.
p
62 - Wunderli

syntagmen) pflegt man Pronomina zu nennen (cf. z. B. il le boulanger,


le cuisinier, le vendeur usw.; ebenso le, celui-ci, qui, que usw.), und in An-
lehnung an die Relation zwischen Nomen und Pronomen werden wir im Fal-
le der Negation non von einem Prosatz sprechen 42 . Non ist ein Prosatz und
kein Satz, denn es ist ohne spezifischen lexikalischen Gehalt; dieser verändert
sich vielmehr von einer Verwendung zur anderen, er wechselt wie die sich
ständig der veränderten Umgebung anpassende Farbe eines Chamäleons. Genau
besehen muß man sogar sagen, non fehle noch mehr als der lexikalische Ge-
halt. Non kann sich auf ein Diktum wie je viens beziehen, aber auch auf j'ai
vendu cette voiture à ton ami oder il arrivera demain à Paris usw. ; also auf
grundverschiedene Satzbaupläne:

je viens A k t . ' - V.
1 2 3
j'ai vendu cette voiture a ton ami Akt. - V. - Akt. - Akt.
il arrivera demain à Paris A k t . ' - V. - Zirk.* - Zirk.'
43

Non kann alle diese Baupläne vertreten; auf der Ebene der langue ist es somit
an keinen von ihnen gebunden. Diese Feststellung wird weiter gestützt durch
die Tatsache, daß non sich nicht unbedingt nur auf ein einziges Diktum be-
ziehen muß, sondern auch gleichzeitig mehrere betreffen kann; cf. z.B.:

Harpagon
Dis-moi un peu: Marianne ne m'a-t-elle point encore vu?
N'a-t-elle point pris garde à moi en passant?
Prosine

Non; mais nous nous sommes fort entretenues de vous . . .


Molière, Avare III/1

Man kann non hier als Partikel ansehen, die die beiden vorangehenden Fragen
wieder aufnimmt und ihr Diktum negiert: es vereinigt sie gewissermaßen zu
einem Büschel. Es gebricht somit non offensichtlich nicht nur an lexikalischem
Gehalt, es geht ihm auch ein spezifischer Bauplan ab. Unsere heteronexe Ne-

42 Wenn man dem Terminus Pronomen einen so weiten Sinn gibt wie R. Harweg, könn-
te man non in seine Kategorie der „neuen Pronomina" einreihen (vgl. R. Harweg,
Pronomina und Textkonstruktion, München 1968, passim). - Für den Terminus
Prosatz cf. auch Teodora Cristea, La structure de la phrase négative en français con-
temporain, Bucarest 1971, p. 141 s.
43 V. = Verb; A k t . 1 = erster Aktant; A k t . 2 = zweiter Aktant; A k t . 3 = dritter Aktant;
Zirk. 1 = temporaler Zirkumstant; Zirk. 1 = lokaler Zirkumstant.
Der Prosatz „non 63

gation enthält nur die Merkmale .Negation' und ,Satz' (ohne jede Spezifizie-
rung) 44 ; sie ist auf der Ebene der langue nichts weiter als ein minimaler ne-
gativer Prosatz. Aus diesem Grundwert leitet sich die diskursive Funktion
von non ab: da ein aktivierter Satz immer einen einem Bauplan überlager-
ten lexikalischen Gehalt besitzt, muß der in der Rede verwendete Prosatz
non die ihm als Systemeinheit fehlenden Komponenten (lexikalischer Gehalt,
Satzbauplan) mit Hilfe von außerhalb seiner Grenzen liegenden Elementen
ergänzen: er muß sich auf den Kontext stützen (= Inzidenz). Daraus ergibt
sich die erwähnte „Kontexthungrigkeit", die allen vier Normfunktionen von
non gemeinsam ist und die nichts weiter als die diskursive Reinterpretation
des Systemwertes des Prosatzes darstellt.
Die Interpretation von non als negativer Prosatz ermöglicht es nun, eine
Reihe von Problemen zu klären, die die traditionelle Grammatik nicht befrie-
digend zu lösen vermochte. Ihre Schwierigkeiten gehen v. a. auf die Gewohn-
heit zurück, non als Adverb zu betrachten 4 5 . Ein Adverb fügt sich normaler-
weise ohne besonderes Merkmal und ohne jede Transposition in einen „ge-
bundenen Satz" (phrase liée) ein 46 — immer unter der Voraussetzung natür-
lich, daß es tatsächlich die Funktion eines Adverbs ausübt (cf. z. B. II est
vraiment heureux; Je viens demain; Il ne consentira jamais; usw.). Dies gilt
nun aber gerade nicht für non41, oui und si: um sie in einen „gebundenen

44 Was den Negationsmechanismus angeht, so muß das negative Element von non auf
die aktivatorische Inzidenz (-»Sprecherorigo) des Prosatzes bezogen werden, domi-
niert sie doch den Prosatz als Ganzes. Die Verhältnisse entsprechen somit im Prinzip
den bei ne . . . pas festgestellten (cf. N 26). Es darf aber nicht übersehen werden,
daß es sich im Fall von ne . . . pas um eine syntaktisches Phänomen handelt, wäh-
rend wir es hier mit einem Problem der Anordnung (Hierarchie) der Seme zu tun
haben. Außerdem darf non als Systemeinheit nicht als auf eine gegebenen Sprecher-
origo bezogen angesehen werden; die aktivatorische Inzidenz ist auf dieser Ebene
rein virtuell und hat Valenzcharakter:

(Sprecher-Origo)

Neg.'.

, Prosatz'
45 Vgl. z. B. Grammaire Larousse du français contemporain, § 622; Grevisse, Bon usage,
§ 873; Wartburg-Zumthor, Précis, p. 5 6 / 5 7 ; J. Dubois et al., Dictionnaire du français
contemporain, Paris 1970, p. 773; Petit Robert, Paris 1970, p. 1158; M. D a v a u - M .
Cohen - M. Lallemand, Dictionnaire du français vivant, Paris-Bruxelles-Montréal 1972,
p. 829; usw.
46 Zum Begriff der phrase liée (die zur phrase coordonnée und zur phrase segmentée
in Opposition steht) cf. Bally, LGLF, § 100 ss.
47 Im Rahmen unserer Argumentation sind diejenigen Fälle, wo non nicht negativer Pro-
64 P. Wunderli

Satz" integrieren zu können, muß ihnen obligatorisch die Partikel que voran-
gestellt werden; daraus ergeben sich Konstruktionen wie dire que non, pré-
tendre que non, usw. 4 8 Hier einige literarische Beispiele dieses Typs:

La bonne a apporté le thé. Francine lui a demandé si elle n'en prenait pas. La
bonne a répondu que non, ça l'empêchait de dormir.
R. Pinget, Le fiston, p. 129 (Gaatone, Système, p. 30)
Je ressemble à n'importe qui, vous savez. - J'espère bien que non.
H. Bazin, La mort du petit cheval, p. 171 (Gaatone, Système, p. 30)
J'ai d'abord cru qu'elle était sourde; la servante prétend que non . . .
A. Gide, La symphonie pastorale, p. 12 (Gaatone, Système, p. 30)
usw.

Es ist klar, daß diese Konstruktionen unmöglich im Rahmen der normalen


Adverbialsyntax erklärt werden können, denn einem als solches verwendeten
Adverb geht niemals que voran, welches auch immer die Konstruktion oder
der Kontext sein mag. Wenn wir dagegen non (oui, si) als Prosatz interpre-
tieren, macht die Erklärung keinerlei Schwierigkeiten. Alle Verben, denen
diese Konstruktion eignet, haben transitiven Charakter: dire la vérité, espérer
une récompense / un miracle oder gar répondre une renquête / la messe usw. 4 9
Nun wissen wir, daß die Position des zweiten Aktanten auch von einem
Satz eingenommen werden kann -vorausgesetzt, daß er durch die Partikel
que eingeleitet wird: que ist ein Translativ, das einen Satz in ein die Funk-
tion des 2. Aktanten ausübendes Substantiv (proposition complétive) über-
fuhrt 50 , cf. z. B. il dit que tu mens, elle espère que tu viendras, usw. Der
Transpositionsmechanismus hängt offenbar weder vom lexikalischen Gehalt
des umgesetzten Satzes noch von seinem spezifischen Bauplan ab, sondern
einzig von der Satzfunktion der in die Position des 2. Aktanten einzubrin-

satz ist, nicht zu berücksichtigen. Es gibt ein non, das als Präfix fungiert, und das
ich non^ nennen möchte {non pertinent, non interrompu, non-adaptation, non-con-
comitance usw.), und ein weiteres non, das Bestandteil gewisser erstarrter, sich auf-
grund eines früheren Sprachzustands erklärender adverbialer Wendungen ist (non seule-
ment, non plus, non loin usw.); cf. hierzu Gaatone, Système, p. 21 s.; Wartburg-
Zumthor, p. 58/59; Grevisse, Bon usage, § 874b; ferner oben, p. 43.
48 Cf. auch dire que oui/si; wie non muß man also auch oui und si zu den Prosätzen
zählen (oui: affirmativer Prosatz; si: oppositiver Prosatz).
49 Vgl. Petit Robert, p. 1524. Der transitive Gebrauch von répondre mit nominalem Ob-
jekt ist selten, die Konstruktion mit Objektsatz dagegen hat nichts Außergewöhnliches
an sich.
50 Cf. hierzu Bally, LGLF, § 179 ss. (für que § 183); Tesnière, Eléments, p. 361 ss.,
v. a. p. 546-48.
Der Prosatz „non" 65

genden Sequenz. Da non Prosatz ist, ist es nichts weiter als natürlich, daß
es dort, wo es in einem Bauplan die Funktion des 2. Aktanten ausübt, gleich
behandelt wird wie ein Vollsatz: der Prosatz non wird durch que in ein
einem 2. Aktanten entsprechendes Substantiv (proposition complétive)
transponiert 51 . Was das Diktum angeht, auf welches ein solcher transponier-
ter Prosatz sich bezieht, so muß es offensichtlich außerhalb des komplexen
Satzes gesucht werden, zu dem non gehört; es kommt recht häufig vor, daß
es von seinem Stimulus durch mehrere eingeschobene Sätze getrennt ist 52 .
Das zweite Problem, das sich jetzt beinahe von selbst löst, ist die Frage,
warum non mittels ou einem Satz beigeordnet werden kann, cf. z. B. :

. . . toute la science médicale du monde ne suffira pas à décider si la tumeur


invisible est fiévreuse ou non . . .
M. Proust, Le côté de Guermantes, p. 114 (Gaatone, Système, p. 30)

Pour elle, qu'elle l'avouât ou non, les maîtres étaient les maîtres et les domesti-
ques étaient les gens que mangeaient à la cuisine.
M. Proust, Le côté de Guermantes, p. 1027 (Gaatone, Système, p. 31)

Ou ist eine koordinierende Konjunktion, die aber nur zur Verbindung von
gleichartigen Elementen eingesetzt werden kann: zwei Substantiven (mon
père ou ma mère), zwei Adverbien (demain ou après-demain), zwei Sätzen
(il vient ou il ne vient pas) usw., nicht aber von zwei Einheiten, die in morpho-
syntaktischer Hinsicht verschiedenen Kategorien oder verschiedenen Hierar-
chiestufen angehören (z. B. Subst. + Adv., Satz + Subst. usw.). Wenn man
non als Adverb ansieht, bleibt die Interpretation der zitierten Beispiele ge-
zwungenermaßen unbefriedigend. Sieht man in non hingegen einen negativen
Prosatz, ergibt sich die Erklärung von selbst: ou koordiniert in diesem Fall

51 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 546 und Cristea, Structure, p. 143/44. Beispiele wie
das folgende, wo que fehlt, sind selten:

Pour faire dire oui aux hésitants, il importe avant tout de ne pas les laisser dire
non, donc de changer de sujet.
H. Bazin, Qui j'ose aimer, p. 110 (Gaatone, Système, p. 29)
Oui, non sind in diesem Fall nicht transponiert, da sie wie Zitate behandelt werden:
sie stehen in einem metasprachlichen Kontext. Diese spezifische Situation erklärt
auch die Tatsache, warum es im Kontext kein Diktum gibt, auf welches oui und
non sich beziehen könnten; selbst auf Redeebene bleiben sie leere Prosätze.
52 Ein analoger Gebrauch von non und out findet sich in Bedingungssätzen, cf. z. B.
„si tu viens, nous irons au cinéma; si non, je me coucherai tôt". Der Prosatz wird
mit Hilfe des Translativs si in einen Zirkumstanten umgesetzt (proposition circon-
stantielle). Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 593.
66 P. Wunderli

zwei Sätze ( -* la tumeur invisible est fiévreuse ou [la tumeur invisible n 'est
pas fiévreuse] ; elle l'avoue ou [elle ne l'avoue pas] usw.).
Bleibt ein dritter Fall, die Erklärung von Beispielen wie:

Je m'éveillais brusquement avec, dans l'oreille, un grand cri - mais est-ce encore
ce mot-là qui convient? Evidemment non.
G. Bernanos, Journal d'un curé de campagne, p. 1099 (Gaatone, Système, p. 29)

Vous croyez avoir quelque influence sur elle? - Non certes, pour le moment.
G. Bernanos, Journal d'un curé de campagne, p. 1172 (Gaatone, Système, p. 29)

Man liest häufig, die Adverbien évidement, certes usw. würden die
Negation „verstärken" 53 . Eine solche Formulierung scheint mir aber nicht
statthaft zu sein, denn Existenz und Nicht-Existenz sind keiner Abstufung
fähig 54 . Man könnte allenfalls sagen, daß in Formeln wie non non, non pas,
pas du tout usw. der Ausdruck der Negation verstärkt ist, daß man auf die
Negation insistiert5S. Aber sind Adverbien wie évidemment, certes, certaine-
ment, assurément usw. in der Lage, den Ausdruck der Negation zu
verstärken? Dies scheint mir äußerst zweifelhaft, denn der Semantismus
dieser Adverbien ist als solcher weder negativ noch affektiv oder quanti-
tativ. Und er braucht es auch gar nicht zu sein, denn wenn man unsere De-
finition von non akzeptiert, müssen wir in diesen Adverbien nicht „Ver-
stärkungen" der Negation oder des Negationsausdrucks sehen. Certes, vrai-
ment usw. beziehen sich nicht auf non als Negation, sondern als Prosatz:
sie fungieren als Satzadverbien und unterstreichen den sicheren, offensicht-
lichen wahren Charakter der Aussage in ihrer Gesamtheit.

3. Unsere Definition von non als „negativer Prosatz (heteronexe Negation)"


scheint also eindeutige Vorteile zu bieten. Bevor wir ihrer aber endgültig
froh werden können, müssen wir noch eine Reihe von Erscheinungen be-
sprechen, die mit unserer Charakterisierung nur schwer in Einklang zu brin-
gen sind oder die sie gar direkt zu widerlegen scheinen. Es handelt sich
um die in der modernen Sprache sehr häufigen Fälle, wo non anstelle von
pas (point) verwendet zu werden scheint 56 . Nun haben wir gesagt, pas,

53 Vgl. z. B. Gaatone, Système, p. 29; Wartburg - Zumthor, Précis, p. 59; Grevisse, Bon
usage, § 874 d; Brunot, La pensée et la langue, p. 502; usw. - Für eine der mei-
nen verwandte Interpretation cf. Cristea, Structure, p. 143.
54 Cf. auch Barnicaud et al., Langages 7 (1967), 59/60.
55 Cf. o b e n N 31.
56 Cf. z. B. Wartburg-Zumthor, Précis, p. 56; „II (se. non) est sur plusieurs points, dans
l'usage actuel, concurrencé par pas"; vgl. auch Grevisse, Bon usage, § 874 a Rem. 1;
Der Prosatz „non" 67

point usw. seien homonexe Negationen 57 ; als solche können sie aber keine
Prosätze sein. Wenn non auf den Bereich von pas übergreift, dann muß man
sich entweder fragen, ob es eine Variante von non gibt, die nicht Prosatz
ist, oder aber die angebliche Prosatzfunktion überhaupt in Zweifel ziehen.
In einer ersten Serie von Beispielen scheint non nicht einen ganzen Satz
wieder aufzunehmen, sondern nur das Verb:

L'impur, donc l'histoire, va devenir la règle et la terre déserte sera livrée à la


force toute nue qui décidera ou non de la divinité de l'homme.
A. Camus, L'homme révolté, p. 171 (Gaatone, Système, p. 31)
Il suffit de grouper des observations pour décider, si la jument est ou non aussi
rapide que l'étalon.
M. Monod, Le nuage, p. 70 (Gaatone, Système, p. 31)

Dieser erste Typ ist jedoch leicht in unseren Ansatz zu integrieren. Einmal
haben wir gesagt, das Verb stelle das Zentrum des Satzes bzw. Teilsatzes
dar und alle Aktanten und Zirkumstanten seien von ihm abhängig. Auch
wenn non in unseren Beispielen nur das Verb wieder aufnehmen würde,
wäre es doch Proform für das zentrale Element des Satzes; dies könnte es
rechtfertigen, ihm trotz allem den Wert eines Prosatzes zuzubilligen. Eine
solche Lösung scheint mir aber gleichwohl wenig zufriedenstellend zu sein,
denn sie impliziert eine vorschnelle Gleichsetzung von Satz und Verb (bzw.
Vorhandensein eines Verbs). Wir wissen aber, daß man oft Zeichenketten
in Satzfunktionen findet, die kein Verb enthalten; es ist deshalb besser, die-
se Erklärung aufzugeben. Und wenn wir uns die obigen Beispiele nochmals
etwas näher ansehen, dann wird bald klar, daß sie gar keine besondere Er-
klärung erheischen. Geht man von der Meinung dieser Konstruktion aus,
so ist es unmöglich zu sagen, non beziehe sich allein auf die Verben déci-
der und être; das Diktum der Negation ist im ersten Fall vielmehr „(la force
toute nue) décidera de la divinité de l'homme", im zweiten Fall „la jument
est aussi rapide que l'étalon". Überdies ist der Tatsache Rechnung zu tragen,
daß in unseren beiden Beispielen die Sequenz „ou non" ohne jede Bedeu-
tungsveränderung auch an das Satzende gestellt werden könnte — allerdings
mit einem spürbaren Verlust an stilistischer Eleganz:

Gaatone, Système, p. 31; G. Gougenheim, Système grammatical de la langue française,


Paris 1939, p. 261; Cristea, Structure, p. 145 ss.; usw.
57 Pas, point sind primär gebundene Varianten von ne . . . pas, ne . . . point; ihre Ver-
wendung ist obligatorisch, wenn das Verb eines Satzes implizit bleibt. Mit explizi-
tem Verb sind pas, point freie (stilistische) Varianten und konnotieren die familiäre
und vulgäre Sprache.
68 P. Wunderli

. . . la terra déserte sera livrée à la force toute nue qui décidera de la divinité
de l'homme ou non.

. . . si la jument est aussi rapide que l'étalon ou non.

Diese beiden Feststellungen scheinen mir zu beweisen, daß der Negations-


mechanismus in diesen Beispielen identisch ist mit demjenigen, den wir be-
reits oben (p. 65/66) bei mit einem Satz koordiniertem non herausgearbeitet
haben. Die beiden Typen unterscheiden sich voneinander durch die Stel-
lung der Gruppe „ou non" im Signifikanten des Satzbauplanes, in der li-
nearen Zeichenabfolge: hier ist der koordinierte Prosatz unmittelbar nach
dem Verb in den das Diktum liefernden Aussagesatz eingeschoben; wir ha-
ben es mit einer Art incise zu tun.
In den folgenden Beispielen komplizieren sich die Dinge, ist es hier doch
unmöglich, irgendeinen vollständigen Satz oder Teilsatz zu finden, den das
(koordinierte) non wieder aufnehmen könnte. Das mit der Negation koordi-
nierte Element ist anscheinend ein einfaches Adjektiv:

Creuse ou non, je ne puis m'y poser.


A. de Saint-Exupéry, Terre des hommes, p. 132 (Gaatone, Système, p. 31)

Cet appel demande également à toutes les organisations, politiques ou non, d'ap-
puyer les mesures . . . du gouvernement.
Le Monde, 30. 3. 63, p. 7 (Gaatone, Système p. 31)

Aber auch hier trügt der Schein, denn das, was durch non aufgenommen
wird, ist nicht ein Adjektiv als solches. In beiden Fällen haben wir es mit
segmentierten Sätzen zu tun, in denen die Gruppe „Adj. + ou non" dem
Element A entspricht; im ersten Beispiel geht das Thema A dem Rhema
Z voran, im zweiten ist A in Z eingeschoben58. Nun ist das Element A eines
segmentierten Satzes immer selbst einem Satz bzw. Teilsatz äquivalent,
selbst wenn es kein Verb enthält. Dies gilt auch für unsere Beispiele, ja
mehr noch: obwohl sie kein Verb enthalten, müssen die A-Elemente dieser
segmentierten Sätze als komplexe Themen angesehen werden, die sich aus
zwei durch ou koordinierten Elementen zusammensetzen und deren zwei-
tes das erste unter negativer Modalität wieder aufnimmt. Wir könnten so-
mit diese Themen folgendermaßen paraphrasieren:

qu'elle soit creuse ou non . . .


que les organisations soient politiques ou non . . .

Wir haben es also mit Konzessivkonstruktionen zu tun. Gleichwohl redu-

58 Cf. Bally, LGLF, § 79 ss., v. a. § 86.


Der Prosatz „non" 69

ziert sich der erste Teil dieser Koordinationskomplexe in der Originalform


(derjenigen der zitierten Beispiele) auf das Adjektiv; Verb, Subjekt, Konjunk-
tion bleiben implizit. Wir können also sagen, creuse und politiques seien
Repräsentanten von Sätzen, deren übrige konstitutiven Elemente implizit
bleiben. Es trifft somit zu, daß das koordinierte non die Einheiten creuse
und politiques wieder aufgreift, aber es nimmt sie als Satzrepräsentanten
und nicht als Adjektiv wieder auf 5 9 . Non übt auch in diesem Fall die
Funktion eines wirklichen Prosatzes aus.
In den bisher besprochenen Fällen folgte non immer auf die Konjunk-
tion ou und stellte für sich allein das koordinierte Element dar; vor allem
seine isolierte Stellung nach der koordinierenden Konjunktion erlaubte es,
non in allen Kontexten ohne größere Schwierigkeiten als einen eigentlichen
negativen Prosatz zu interpretieren. Die Schwierigkeiten werden sich aber
bei den jetzt zu besprechenden Typen nochmals erhöhen. In einer großen
Zahl von Fällen folgt non nicht allein auf die Konjunktion ou, um entwe-
der einen ganzen Satz oder einen Satzrepräsentanten unter negativer Mo-
dalität wieder aufzunehmen, sondern ist selbst — je nachdem nach einer
Pause, de oder mais — von einem Substantiv, einem Adverb, einem Adjek-
tiv usw. begleitet. Stoßen wir hier nicht endgültig in den Bereich von pas/
point vor, die als homonexe Negation normalerweise dazu dienen, einen
Satz mit implizitem Verb zu verneinen ? Sehen wir uns einige Beispiele
an, wo non auf eine Pause folgt:

C'était une vague allusion à l'amour, non une promesse, non une invitation pres-
sante.
J. Romains, Les hommes de bonne volonté I, p. 536 (Gaatone, Système, p. 32)
Ma jalousie naissait par des images, pour une souffrance, non d'après une proba-
bilité.
M. Proust, La prisonnière, p. 24 (Gaatone, Système, p. 32)

Fungiert non hier als homonexe Negation, hat es seinen Prosatzcharakter


verloren? Eine solche Interpretation scheint möglich 60 , aber sie drängt sich
nicht auf. Wir haben bereits gesehen, daß der Prosatz non durch Adverbien
wie certes, vraiment usw. expandiert werden kann 6 1 . Man muß sich nun
fragen, ob wir es in den oben zitierten Beispielen nicht ebenfalls mit Ex-
pansionen des Prosatzes zu tun haben, diesmal jedoch mit einem etwas an-

59 Dieselbe Argumentation gilt für Fälle, wo der Satz sich auf ein Substantiv oder ein
Adverb reduziert.
60 Man müßte dann von einem non^ sprechen (vgl. auch N 47).
61 Cf. oben p. 66.
70 P. Wunderli

deren Typ: es würde sich nicht mehr um Satzadverbien handeln, sondern


um Aktanten oder Attribute, die den Prosatz begleiten. Wir wollen unsere
Hypothese anhand der beiden Beispiele von J. Romains und M. Proust er-
läutern. Ersetzt man die heteronexe Negation durch eine homonexe, so
erhält man Konstruktionen vom folgenden Typ:

C'était une vague allusion à l'amour, ce n'était pas une promesse, ce n'était
pas une invitation pressante.
Ma jalousie naissait par des images, pour une souffrance, ma jalousie ne naissait
pas d'après une probabilité.

In diesen Umformungen haben wir die Funktionen expliziert, die non als
Prosatz global erfüllt. Worin unterscheidet sich dieser Typ nun von jenen
Fällen, wo der heteronexen Negation kein Substantiv, Adverb (Präposition
+ Substantiv) usw. folgte? Wir können feststellen, daß in unseren Bei-
spielen Subjekt und Verb des Ausgangssatzes im koordinierten Negativ-
satz wieder aufgenommen werden; in dieser Hinsicht sind der substituierte
und der substituierende Satz identisch. Sie unterscheiden sich in einem
einzigen Punkt: im Beispiel von Romains betrifft dieser Unterschied das
Prädikatsnomen: „une vague allusion à l'amour" im Ausgangssatz wird im
ersten Negativsatz durch „une promesse", im zweiten durch „une invitation
pressante" ersetzt. In Prousts Beispiel betrifft der Unterschied einen Zir-
kumstanten: die zweifache Ergänzung „par des images, par une souffrance"
im substituierten Satz wird im negativen Substitut durch „d'après une pro-
babilité" ersetzt. Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten würde ich
die Rolle von non in Konstruktionen dieser Art folgendermaßen deuten:
non ist ein negativer Prosatz, der alle Elemente des Stimulus (des substi-
tuierten Satzes) wieder aufnimmt, die nicht kontraindiziert sind. Kontra-
indikatoren treten immer dann auf, wenn eine bestimmte Position im ur-
sprünglichen Satzbauplan ausfüllende lexikalische Einheiten nicht zum ver-
neinten Substitut gehören sollen, wenn sie also von der Wiederaufnahme
durch non auszuschließen sind. Das Prinzip dieses Mechanismus ist sehr
einfach: die Position, deren lexikalischer Gehalt eliminiert werden soll, wird
nach der Negation non gesondert wieder aufgegriffen und mit neuem lexi-
kalischem Material besetzt 62 . Durch diese Wiederaufnahme eines Aktanten,

62 In Ausnahmefällen geht diese Expansion des Prosatzes sogar dem non voran; cf.
Grammaire Larousse du français contemporain, p. 428 (il a fait souffrir tout le monde
autour de lui, ses gens, ses chevaux, ses amis non, car il n'en avait pas un seul [Gide]J;
Wagner-Pinchon, Grammaire de français classique et moderne, p. 404 Rem.
Der Prosatz „non" 71

eines Zirkumstanten oder eines Prädikatsnomens wird die entsprechende


Position des Stimulus (substituierter Satz) neutralisiert oder blockiert und
kann nicht durch non repräsentiert werden.
Diese Interpretation erlaubt es uns zu sagen, non fungiere selbst dort als
negativer Prosatz, wo es einem Substantiv, einem Adjektiv oder einem Ad-
verb vorangeht, aber man muß hinzufügen, daß die Wiederaufnahmefähig-
keit der Negation in Bezug auf den substituierten Satz nicht mehr integra-
len Charakter hat: eine der Positionen des Stimulus ist von ihr ausgeschlos-
sen, da sie nach non als Expansion des Prosatzes neu eingeführt wird.
Unsere Erklärung ist nicht nur für die Fälle gültig, wo „non + Expan-
sion" nach einer Pause auftritt; derselbe Mechanismus kommt auch dort
zum Zuge, wo der negative Prosatz und der substituierte Satz durch die
koordinierenden Konjunktionen et und mais verbunden sind. Hier einige
Beispiele:

et non
Il s'agit d ' u n règlement de c o m p t e s particulier, d ' u n e c o n t e s t a t i o n sur le bien, et
non d ' u n e lutte universelle entre le mal et le bien.
A. Camus, L ' h o m m e révolté, p. 4 4 (Gaatone, Système, p. 33)

T o u t e reine qu'elle était, je voyais J e n n y pleurer parce q u e le g e n t i l h o m m e aimait


sa belle suivante et n o n elle, la reine.
E. Triolet, Personne ne m'aime, p. 22 (Gaatone, Système, p. 33)

mais non
On p a r d o n n e les crimes individuels, mais non la participation à u n crime collectif.
M. Proust, Le c ô t é de G u e r m a n t e s , p. 152 ( G a a t o n e , Système, p. 33)

Car la vieillesse n o u s rend d ' a b o r d incapables d ' e n t r e p r e n d r e , mais n o n de dé-


sirer.
M. Proust, La fugitive, p. 6 3 5 (Gaatone, Système, p. 33)

Unsere Erklärung gilt auch für Fälle, wo sich der Blockademechanismus nicht
auf eine lexikalische Einheit (und deren Determinanten), sondern auf in
Teilsätze transponierte Sätze bezieht:

Aimez q u ' o n vous conseille, et n o n pas q u ' o n vous loue.


Boileau, Art p o é t i q u e I (Grevisse, Bon usage, § 874a)

So fügen sich selbst die Beispiele, die zunächst aus dem normalen Rahmen
zu fallen schienen, in unser Interpretationsschema ein; dieses erweist sich
somit als fähig, alle Verwendungen von non als Einheit einer lebendigen
72 P. Wunderli

und freien Syntax zu erklären 63 . Was die Textlinguistik bzw. die Textkon-
stitution betrifft, so muß noch beigefügt werden, daß non als koordinierter
(nach Pause, ou, et, mais) und als untergeordneter Prosatz (nach que) nie
eine kataphorische Beziehung markiert; sieht man von der seltenen Verwen- ..
dung als eingeschobener Satz ab64, haben wir es immer mit anaphorischen
Konstruktionen zu tun. Und da bei unabhängigem Gebrauch (Antworten
usw.) die Anapher ebenfalls deutlich überwiegt, können wir sagen, daß -
obwohl die Opposition anaphorisch / v / kataphorisch auf der Ebene der
langue neutralisiert ist - die anaphorische Beziehung auf den Ebenen des
discours und der Norm eindeutig bevorzugt ist und frequenzmäßig domi-
niert.
*

Eigentlich sind wir nun ans Ende unserer Untersuchung der Negation non
gelangt. Eine letzte Frage bleibt jedoch noch zu klären. Wir haben gesagt,
die Negation pas konkurrenziere non regelmäßig in den Fällen, wo dieses
als koordinierter Prosatz verwendet wird (nach Pause, ou, et und mais).
Muß man daraus schließen, daß pas in der modernen Sprache in den Be-
reich von non eindringt, daß es dabei ist, sich selbst in einen Prosatz zu
verwandeln? Eine solche Erklärung kann nicht von vornherein ausgeschlos-
sen werden, denn anstelle von non gebrauchtes pas wird oft als Merkmal der
familiären Sprache angesehen65 ; sollte es bereits eine stilistische Variante von
non darstellen? Bevor wir auf diese Frage eingehen, sollen hier einige Beispie-
le gegeben werden, wo pas die Stelle von non eingenommen zu haben scheint:

nach einer Pause:


Tout homme qu'il rencontre attend, espère ou exige quelque chose de lui. Pas Fré-
dérique.
R. Vailland, La truite, p. 243 (Gaatone, Système, p. 44)

63 Nur die erstarrten Formeln und das Gebiet der Wortbildung sind gesondert zu behan-
deln, cf. N 47.
64 Vgl. noch einen weiteren Einschubstyp, der sich von dem p. 67/68 erwähnten unterschei-
det:
Choisissez non le succès, mais l'honneur
Grevisse, Bon usage, § 874a

Non ist hier von einer Expansion gefolgt; außerdem fungiert es nicht als koordinier-
ter Terminus, sondern ist in den ersten Teil der Konstruktion integriert, was das Auf-
treten von mais nach der Pause nach sich zieht.
65 Cf. z.B. Grevisse, Bon usage, § 874a; Wartburg-Zumthor, Précis, p. 58; Gaatone, Système
p. 45.
Der Prosatz „non" 73

S'il me plaît d'engager toute ma vie pour elle, trouverais-tu plus beau que je lie mon
amour par des promesses? Pas moi.
A. Gide, La porte étroite, p. 51 (Gaatone, Système, p. 44)

nach ou:
Elle parlait beaucoup, et toujours, de choses qui étaient si belles . . . qu'il allait je
ne sais pas, de mon honneur de . . . les voir ou pas.
M. Duras, Le marin de Gibraltar, p. 33 (Gaatone, Système, p. 44)

nach et:
Vous avez confiance en des inconnus, et pas en moi?
H. de Montherlant, Le démon du bien, p. 1349 (Gaatone, Système, p. 44)
Pierre souffrait pourtant de savoir qu'elle était à un autre, et pas à lui.
L. Aragon, Les voyageurs de l'impériale, p. 372 (Gaatone, Système, p. 44)

nach mais:
Ces noms. . . elle les reconnaissait au passage, mais pas tous.
G. Bernanons, Sous le soleil de Satan, p. 205 (Gaatone, Système, p. 44)

Besonders interessant ist nun das folgende Beispiel, w o die Konstruktionen


mit non und pas abwechseln:

Je ne veux pas savoir s'il est difficile ou non, Madame Desbaresdes, dit la dame.
Difficile ou pas, il faut qu'il obéisse.
; M. Duras, Modérato cantabile, p. 13 (Gaatone, Système, p. 45)

Alles scheint zugunsten einer identischen Interpretation der beiden Negatio-


nen zu sprechen. Aber eine solche Schlußfolgerung würde meiner Ansicht
nach zweierlei nicht berücksichtigen. Erstens: wenn pas wirklich ein Prosatz
wäre, müßte es dann nicht non in allen seinen Verwendungen ersetzen kön-
nen? Gaatone hat eindeutig festgestellt, daß dem nicht so ist: die beiden Ne-
gationen scheinen nur in den Fällen kommutierbar zu sein, wo die Negation
als mit einem Satz oder einem Satzrepräsentanten koordiniert angesehen wer-
den darf (also nach Pause, et, ou, mais)\ nach que oder als Antwort auf eine
Frage oder einen anderen unabhängigen Stimulus kann man dagegen non
nicht durch pas ersetzen 6 6 . Die Fälle, w o pas ausgeschlossen ist, sind genau
diejenigen, wo die Interpretation als Prosatz sich auf Anhieb aufdrängt. Au-
ßerdem hat Gaatone festgestellt, daß pas in Konzessivkonstruktionen wie

66 Cf. Gaatone, Système, p. 42/43.


74 P. Wunderli

difficile ou pas / non, grève ou pas / non usw. obligatorisch ist, sobald das er-
ste Element nach der Negation wiederholt wird 6 7 , cf. z.B.:

Aussi, guerre ou pas guerre, il était certain que nous entrions pour de bon dans
une période assez fertile en désagréments.
C. Simon, La corde raide, p. 140 (Gaatone, Système, p. 45)

Zeigt uns das erste Faktum, daß pas nicht als Äquivalent von non angese-
hen werden darf, daß man es also nicht als Prosatz betrachten kann, so
scheint mir die zweite Erscheinung einen Hinweis zu liefern, wie die be-
schränkte Kommutationsmöglichkeit von pas und non erklärt werden muß.
Wir haben p. 68 gesagt, in Konzessivsätzen dieser Art übe das erste Element
Satzfunktion aus, ganz gleichgültig, ob es sich um ein Substantiv, ein Ad-
jektiv oder ein Adverb handelt. Wenn nun ein solches Element nach der
Konjunktion ou wieder aufgenommen wird, so muß dies in derselben Funk-
tion geschehen, die es vor ou ausübt, d. h. als Satzrepräsentant und nicht
einfach als Substantiv, Adjektiv usw. Da guerre, difficile usw. selbst als
Prosatz fungieren, bleibt kein Platz mehr für die heteronexe Negation (Pro-
satz) non: sie können nur durch die homonexe Negation negiert werden,
die dann Bestandteil des durch ein Substantiv, Adjektiv oder Adverb reprä-
sentierten Satzes ist. Für all die Fälle, wo pas eine nicht-verbale Einheit be-
gleitet, schlage ich vor, diese als Satzrepräsentanten anzusehen und der Ne-
gation ihre normale Funktion zuzuweisen: diejenige einer homonexen Ne-
gation. Diese Interpretation ist nicht nur für die Fälle gültig, wo eine be-
stimmte Lexie wiederholt wird, sondern auch dort, wo wir vom ersten zum
zweiten Glied des koordinierten Komplexes eine lexikalische Substitution
haben. Und die Fälle, wo auf pas weder ein Adjektiv noch ein Substantiv
oder Adverb folgt (cf. difficile ou pas usw.)? Wir befinden uns hier in ei-
ner Grenzsituation, wo die Funktionen der beiden Negationen zusammen-
zufallen scheinen. Man kann sie nur noch differenzieren, wenn man annimmt,
die erste satzhafte Komponente des koordinierten Komplexes werde durch
ein Nullelement wiederaufgenommen und die homonexe Negation pas ne-
giere diesen Nullrepräsentanten 68 .

67 Cf. Gaatone, Système, p. 45.


68 Man könnte dieser Interpretation von pas entgegenhalten, daß wir allein verwende-
tes jamais, rien usw. ebenfalls als heteronexe Negation mit Prosatzfunktion angesehen
haben (cf. p. 55); wäre es da nicht konsequent, pas genauso zu behandeln? Ich
glaube, daß es gute Gründe gibt, um ihm eine andere Funktion zuzuweisen. Zunächst
kann pas nicht für sich einen unabhängigen Satz bilden, was bei einer nuklearen
Der Prosatz „non" 75

So kommen wir zum Schluß, daß selbst in den Fällen, wo pas und non
frei kommutierbar zu sein scheinen, wo die Sinneffekte, die man aufgrund
der beiden Konstruktionen erzielt, praktisch identisch sind, gleichwohl zwei
grundverschiedene Mechanismen vorliegen; unter den vergleichbaren „Ober-
flächenstrukturen" verbergen sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich der
„Tiefenstruktur".

Negation möglich ist (Que fais-tu? - Rien; Quand V'as-tu revue? - Jamais; uswj ;
pas kann nur innerhalb eines „gebundenen" Satzes nach einer koordinierenden Kon-
junktion allein stehen. Zweitens kann pas nicht durch que in einen Objektsatz um-
gewandelt werden, was wiederum im Fall von jamais, rien usw. möglich ist (il dit
que jamais usw.). Es ist somit eindeutig, daß pas nicht als Prosatz betrachtet werden
darf.
H e l m u t Genaust

Voici und voilà

Eine textsyntaktische Analyse

Selten ist im Bereich der französischen Sprachwissenschaft die Bestimmung


einer Wortklasse vielfältiger, selten die Divergenz der Meinungen über den
eigentlichen linguistischen Status eines Zeichens größer gewesen als im Falle
von voici/voilà. Die Definitionen, die von Präposition bis Adverb, von Demon-
strativum über présentatif bis factif strumental épidictique und von Interjek-
tion bis mot-phrase oder phrasillon logique reichen, lassen voici und voilà
als einen wahrhaften linguistischen Proteus erscheinen.
Wir brauchen diese Klassifikationsversuche nicht im einzelnen zu diskutie-
ren, sondern können uns ohne Vorbehalt der Kritik von Gérard Moignet 1 an-
schließen, der 1969 — mehr als 60 Jahre nach der vergessenen Programm-
schrift von Friedrich Perle 2 — dem Problem erstmals wieder einen eigenen
Beitrag aus der Schau des guillaumistischen Strukturalismus gewidmet hat.
Moignet schlägt auf der Grundlage einer synchronischen Analyse eine
neue Definition von voici/voild als V e r b 3 vor. Dieser Ansatz hat gegen-
über früheren den unbestrittenen Vorzug, sich statt auf logische, morphologi-
sche oder semantische Überlegungen auf syntaktische Fakten abstützen zu
können. Denn tatsächlich haben voici/voild das comportement syntaxique
eines Verbs: „Comme le verbe, voici-voild peut faire phrase à lui seul, peut
introduire un régime substantival, peut signifier ce régime sous la forme
d'un pronom personnel atone conjoint antéposé ou du pronom relatif que,

1 Le verbe voici-voilà, TLL 7/1 (1969), 1 8 9 - 2 0 2 . In seiner „Grammaire de l'ancien


français. Morphologie et syntaxe" (Paris 1973) nimmt Moignet jedoch offenbar wie-
der eine Abkehr von seiner These vor, wenn er afr. voi ci etc. als „particules pré-
sentâmes" (p. 90) vorstellt.
2 Voici und voilà. Ein Beitrag zur französischen Wortkunde und Stilistik, Progr. Halber-
stadt 1905.
3 Von verbalem Charakter oder verbalem Ursprung von voici/voilà sprechen auch J.
Dubois, G. Jouannon, R. Lagane, Grammaire française, Paris 1961, p. 123; Grammaire
Larousse du français contemporain, Paris 1964, § 85, 310, 567; W. v. Wartburg - P.
Zumthor, Précis de syntaxe du français contemporain, Berne 2 1958, § 615.
Voici und voilà 77

peut régir un infinitif, une phrase nominalisée par la conjonction que ou


d'autres nominalisateurs (qui, quoi, ce que, comme, comment, pourquoi,
etc.), peut être l'élément nodal d'une phrase nominalisée mise en position
de subordonnée, peut s'insérer entre ne et pas, entre ne et que, se mettre en
phrase interrogative grâce au tour est-ce que ou à l'indice t-il (ti), recevoir
l'incidence d'un adverbe" (p. 195, ähnlich schon p. 192) 4 .
Reichen diese Gründe aus, um voici/voild den linguistischen Status eines
Verbs zuzuweisen? Ich meine nein, da noch wesentliche morphosyntaktische
Charakteristika der Klasse Verb fehlen. Moignet sieht diese Einwände auch
und schränkt seine Definition entsprechend ein: „Nous proposons cependant
de voir en lui [ = voici/voild ] un verbe au cas-limite — indépassable — de la
défectivité, où la flexion se réduit à une seule f o r m e " (p. 196). Und weiter:
„ Voici-voilà est un verbe réduit à la forme unipersonnelle du présent de
l'indicatif de l'aspect i m m a n e n t 5 " (p. 196).
Dies ist nun das zentrale Argument, mit dem die Bestimmung als Verb
steht oder fällt: Wenn die syntaktische Distribution nicht beweiskräftig ist
und die in Frage stehende Einheit über keinerlei flexivische Varianz (außer
dem Wechsel von -ci und -là) verfügt, dann kann der ohnehin minimale verbale
Charakter nur noch durch den Nachweis von — und sei es gleichfalls minima-
len — Markierungen von Aktionsstand, Modus, Tempus, Person und Numerus
(Moignet wählt stattdessen Modalität), also die jedem Verb eignende Aktuali-
sierungshierarchie, erhärtet werden.
Moignet unternimmt diesen Versuch, der nach unserer Auffassung einer
Quadratur des Zirkels gleichkommt: Denn wie kann man, wenn die morpho-
logischen Oppositionen, wenn die Aktualisierungsmerkmale auf allen Hierar-
chiestufen neutralisiert sind, noch so eindeutige Zuweisungen machen? Bei
vollständiger Aufhebung aller termes marqués müßte ein Verb doch in seiner
„reinsten Form", in seinem geringsten Aktualisierungsgrad, und das heißt im
Infinitiv, erscheinen. Es ist unmöglich, wenn nicht methodologisch bedenk-
lich, bei Fehlen aller Personal-, Tempus- oder Modusmorpheme Zuordnungen
wie unipersonnel, présent, indicatif und aspect immanent vorzunehmen.
Dies will Moignet durch einzelne Indizien stützen, die im folgenden ge-
prüft werden sollen:

4 Auch Damourette-Pichon (EGLF VI, § 2185) haben deutlich dieses syntaktische Ver-
halten erkannt, mit Rücksicht auf die bestehenden Differenzen die Zuordnung zur
Klasse Verb aber vermieden.
5 Dem aspect immanent Guillaumes entspricht der von G. Hilty vorgeschlagene Ter-
minus Aktionsstand des accomplissement.
78 H. Genaust

a) Person: „En ce qui concerne la personne, il n'y a aucune difficulté à


assimiler voici-voilà au verbe impersonnel" (p. 196). Es läge die unipersonale 6
Form des Präsens, d. h. die 3. Pers. Sing, in unpersönlicher Gebrauchsweise,
vor. Dazu würde stimmen, daß seit dem 17. Jahrhundert das Morphem -t-il
in der Frage auftritt. Ein Personalpronomen il fände sich zwar nie in affirma-
tiven Äußerungen, aber das sei auch im Hinblick auf Wendungen wie faut le
faire, vaut mieux y aller entbehrlich. Es handele sich nicht etwa um 0-Person,
sondern um das, was Gustave Guillaume „personne d'univers" nannte, „tout
phénomène particulier s'inscrivant, en effet, dans le phénomène général qu'est
l'univers" (p. 197). Da Setzung des Pronomens generalisierenden Wert hätte,
„c'est sans doute parce qu'on reste avec lui dans le domaine du particulier que
voici-voilà refuse l'indice personnel il" (p. 197).
Ebenso schwer wie man hier Moignets Argumentation folgen wird, so auch
seinem Resultat:
(1) Es ist grundsätzlich, wie oben betont, unzulässig, bei fehlender Perso-
nalgliederung eine bestimmte Person herauszusondern.
(2) Das in Fragesätzen auftretende Element -t-il kann mit guten Gründen,
wie unten (II, 10) dargestellt wird, als Interrogativmorphem /ti/ interpretiert
werden, also nicht als Syntagma von / f / und Personalpronomen il.
(3) Dringlicher wäre der Nachweis eines solchen Personalpronomens in
affirmativen Äußerungen. Die beigeführten subjektlosen Konstruktionen
bringen hier keine Entlastung, da es sich um im Modernfranzösischen erstarr-
te Syntagmen handelt, die nur in diachronischer Schau erklärbar sind: Nur im
Altfranzösischen, nicht jedoch in der heutigen Sprache ist Nichtsetzung des
Subjektpersonalpronomens bei unpersönlichen Verben Norm. Relikthafte
Bewahrung eines solchen Phänomens liegt aber bei voici/voild nicht vor.
(4) Überdies sind Wendungen wie mieux vaudrait, peu importe, faut pas
faire ça nur freie Varianten sonst immer mit Personalindex kombinierter
Verben, sofern man nicht noch an populärsprachliche und damit schichten-
spezifische Varianten wie_y a un type qui te demande denken will. Solche
stilgebundene Variation ist in dieser Form für voici/voild aber nicht belegbar;
hier entfernt sich im Gegenteil Setzung des Pronomens gerade von der Norm:

6 Cf. G. Moignet, Personne humaine et personne d'univers. Contribution à l'étude du


verbe unipersonnel, TLL 8/1 (1970), 191-202; Verbe unipersonnel et voix verbale,
TLL 9/1 (1971), 267-82; Sur le système de la personne en français, TLL 10/1 (1972),
71-82.
Voici und voilà 79

System/Norm stilschichtengebundene
Variante

unpersönliche Ausdrücke il 0
voici/voilà <t> -t-il; je usw.

(5) Es ist weder syntaktisch noch semantisch einsichtig, warum voici/viold


als „unpersönliche" Konstruktionen (ohne Personenmarke, aber doch uniper-
sonal) gedeutet werden müssen. Im Gegensatz zu den echten unpersönlichen
Äußerungen, wie z. B.11 pleut toujours oder II est des gens qui ne rient jamais,
nehmen Äußerungen mit voici/voilà stets auf eine konkrete Situation Bezug,
an der Sprecher und besonders die angesprochene Person teilhaben. Kontext-
freier Gebrauch wäre im folgenden Beispiel ausgeschlossen:
1 Voilà des gens qui ne rient jamais.

Es scheint ferner, als inzidiere eine solche Äußerung mit voici/voild nicht allein
auf die Situation und den allocutaire, sondern als sei dieser auch an dem in
voici/voild selbst ausgedrückten „verbalen Geschehen" in Form eines 1. Aktan-
ten beteiligt, wie eine Substitution auf Redeebene nahelegt:
2 Les cigarettes que voilà sont à moi

entspricht etwa „Les cigarettes que vous voyez là-bas, que vous trouvez (sur la
table), que vous avez dans votre main, sont à moi". Eine weitergehende Rede-
bedeutung wie etwa „Les cigarettes qui sont i c i . . . " ist zwar durchaus möglich,
trägt aber schon nicht mehr dem syntaktischen Charakter der Wendung mit
dem Relativum que Rechnung.
Es geht also nicht an, in voici/voild unpersönliche Verben zu sehen. Ulrich
Mauch, der sich erst jüngst eingehend mit den unpersönlichen Ausdrücken be-
faßt h a t 7 , führt denn aus verständlichen Gründen beide Einheiten gar nicht auf.
Voici/voild ist somit weder ein unipersonales Verb (in unpersönlicher Ver-
wendung) noch besitzt es überhaupt eine grammatische Person 8 . Dem wider-
sprechen keineswegs die zwei Beispiele, die Moignet (p. 197) — weil unverein-
bar mit seiner These — als Konfusion „dans la pensée de ceux qui possèdent
imparfaitement le système de la langue", als Fälle aus der „grammaire des
fautes" weginterpretiert:
3 Ah! te voilà? - Oui, je voilà.
5jähriges Kind, Beobachtung Moignets p. 197

7 U. Mauch, Geschehen „an sich" und Vorgang ohne Urheberbezug im modernen Fran-
zösisch, Bern 1969 (RH 80).
8 Cf. EGLF, § 2 1 8 5 : „Ce qui les en [ = voici/voild du verbe] distingue essentiellement,
c'est leur absence de support".
80 H. Genaust

4 . . . mais ne me voilà-/e pas prêt depuis des mois, des années?


„Rabéarivolo (poète malgache)" (so Moignet p. 197), Calepins bleus, bei R.
Boudry, Mercure de France, 15 sept. 1938, p. 539 (EGLF § 2188)
Im ersten Fall liegt in kindersprachlichem Idiolekt falscher Umsetzungsme-
chanismus von te voilà zu je voild statt me voild vor, nicht aber, wie Moignet
annimmt, Assimilation von me voild an je suis Id. Im zweiten Beispiel wird
man — bei einem namhaften Dichter — wohl kaum an Unkenntnis des fran-
zösischen Sprachsystems zu denken haben, sondern gleichermaßen an einer
Fehleinschätzung Moignets, der auch den Namen von Jean-Joseph Rabéari-
vélo9 falsch wiedergibt: Es handelt sich um eine poetische Lizenz in Analogie
zu echten Fragesätzen vom Typus ne suis-je... , ne me trouvé-je.. ., keines-
falls jedoch um eine Bildung entsprechend dem Typus ne me voild-t-il pas
prêt... , wo der Bezug auf den Sprecher durch das Objektpronomen ausge-
drückt wird und ein scheinbarer Wechsel zur 3. Person als Subjekt stattfindet.
Überdies hat diese Wendung einen gänzlich anderen Redewert („da bin ich
doch . . . ! " ) ohne interrogativen Charakter, wie Moignet selbst an späterer
Stelle darlegt.
Beide Beispiele hätten Moignets Auffassung stützen können, voici/voild be-
säßen eine grammatische Person und seien deshalb Verb. Denn in beiden Fäl-
len wird ja von Seiten der Sprecher voild als Verb interpretiert und demzufol-
ge unter Verstoß gegen die Norm mit einer Personalmarke versehen.

b)Modus: „Voici-voild ne connaît pas la variation modale: il est, intégrale-


ment, du mode indicatif (p. 197). Diese kategorische Feststellung überrascht
wie die erste. Wir wiederholen ein weiteres Mal, daß bei Neutralisierung sämt-
licher Oppositionen auch eine Modusbestimmung undurchführbar ist. In guil-
laumistischer Sprachauffassung, zu der sich Moignet bekennt, sind Modus und
Tempus in der chronogénèse in der Weise verzahnt, daß auf einer ersten Stufe
(saisie A) in der geistigen Repräsentation das „Zeitbild" (image-temps) noch
nicht, auf der zweiten (saisie B) teilweise, auf der dritten (saisie Cj vollständig
realisiert ist. Diesen saisies entsprächen die Modi Infinitiv/Partizip (A), Sub-
jonctif (B), Indikativ (C) 10 . Das würde bedeuten, daß voici und voilà, sofern
sie Verb sind, die gesamten Stufen der Chronogenese durchlaufen hätten, ja
in jedem Sprechakt von neuem durchlaufen würden, und eine vollständige
Tempusgliederung ausbildeten, die aber — widersprüchlich genug — nur in
einem einzigen Tempus vorhanden sei. Dieser Schluß ist natürlich von der

9 (1901-1937), erster Dichter Madagaskars in frz. Sprache. Sein Name ist im EGLF
unklar gedruckt.
10 Cf. M. Wilmet, Gustave Guillaume et son école linguistique, Paris-Bruxelles 1972,
p. 47—49;P. Wunderli, VRom 32 (1973), 13/14.
Voici und voilà 81

Tatsache abhängig, daß eine Äußerung mit voici/voild situationeil und zeitlich
an den Moment der Sprechhandlung gebunden ist: „Voici-voilà, qui ne sort
pas du moment de la parole, est incompatible avec le temps virtualisé que
signifie le mode subjonctif (p. 198).
Es liegt hier zum einen Verwechslung der Inzidenz auf die Situationelle
Präsenz der Kommunikationspartner mit der temporalen Einheit Präsens vor,
zum anderen ist zu fragen, warum hier denn nicht gerade der Subjonctif (we-
gen der partiellen Tempusgliederung) oder besser Infinitiv (als geringster
Aktualisierungsgrad des Verbs) auftreten müßte. Auch Infinitive können ja
in präsentischer Rede Träger der Verbalhandlung anstelle eines finiten Verbs
sein! Daß voici/voild keine Konjunktive sein können, beweist Moignet damit,
daß sie weder in unabhängigen Sätzen noch in Complétiven jussiven (besser:
volitiven) Wert haben und nie mit konjunktivischen Formen in abhängigen
Sätzen kommutiert werden können. Ungrammatikalisch sind also:
5 *Je veux que le voilà.
*Tu souhaites que le voilà.
*I1 faut que le voilà.
*Dépêche-toi de partir avant que le voilà.
Ich meine, daß aus solchen durch den Semantismus der Einheiten voici/voilà
gegebenen Selektionsbeschränkungen nicht ex negativo auf den Modus des
vermeintlichen Verbs geschlossen werden darf.
c) Tempus: „ Voici-voilà ne connaît pas la variation temporelle parce qu'il
appartient à un seul temps, le présent. Il signale, exclusivement, le moment
dans lequel le locuteur énonce" (p. 198). Nach dem oben Gesagten braucht
nicht noch einmal die Brüchigkeit solcher Argumentation wiederholt zu wer-
den; wenn keine Tempusgliederung da ist, gibt es auch kein Tempus, ja nicht
einmal einen Indikativ. Äußerungen, die sich inzidenziell auf die Situation,
auf den Moment des Sprechens beziehen, müssen nicht notwendigerweise
präsentisch sein, sondern sind eher tempusindifferent und können den Rede-
wert „Gegenwart" eben aus der Anwesenheit der Loquenten, ihrem Hier und
Jetzt, erhalten, wie dies etwa beim lateinischen oder deutschen Imperativ zu
beobachten ist.
Es besteht also kein Grund, voici/voilà ein Tempus und damit einen
Modus zuzusprechen, weil es seinen Bezugspunkt im Moment der Sprechhand-
lung habe, und mit diesem Argument die These vom verbalen Charakter bei-
der Lexien zu stützen.
Eher könnte dies von einem Beispiel her geschehen, das Moignet (p. 198) 11
aus Damourette-Pichon zitiert:
11 Im Widerspruch zu seiner Behauptung „II n'est pas possible de mettre voici-voilà au
passé" (p. 198).
82 H. Genaust

6 Je te disais bien qu'en voilàait un [ . . . vwâlàè:œ:].


M. EP (5jähriger Knabe), 7.6.1931 (EGLF, § 2188)

Dieser Beleg wird natürlich von Moignet als Barbarismus eingestuft, da er


seiner Behauptung zuwiderläuft. Was hier vorliegt, ist nicht allein systemfrem-
der Bezug auf toncalen statt noncalen Standpunkt (so EGLF) - der Junge
wollte verzeihlicherweise die Inzidenz auf das Vergangenheitstempus des
Obersatzverbums markieren - , sondern ebenso ungewöhnliche Ausstattung
des voild mit Imperfekt- und Personalmorphem; genau wie später bei Moignet
ist hier von infantilem Sprecherbewußtsein voild als Verb interpretiert wor-
den, das es nach unserer Meinung nicht ist.

d) Modalität: „Le verbe voici-voilà n'est guère apte à sortir du domaine du


positif" (p. 200), d. h. es lägen allgemein keine Anzeichen expliziter Modali-
täten (Bally) vor. Dann ist aber auch dieses Argument für die These vom ver-
balen Charakter vollkommen unbrauchbar. Die Möglichkeiten einer Umsetzung
in Negation und Frage, die Moignet oben (p. 192, 195) noch für diese These
ins Feld geführt hatte, schränkt er an dieser Stelle eindeutig selbst wieder ein.
Es erweist sich also, wie unzureichend die Indizienbeweise sind, die Moi-
gnet zur Stützung seiner Definition anführt. Es handelt sich nicht um „une sorte
de verbe sans variation morphologique verbale, impersonnel, unimodal (indi-
catif), et unitemporel (présent), qui désigne ce qui est positivement dans le
moment même de la parole" (p. 201), sondern voici/voild sind, wie dargelegt,
apersonal, amodal, atemporal und — sofern man nicht an einen Infinitiv den-
ken will, was bisher niemand getan hat — auch averbal. Die bei Damourette-
Pichon und Moignet (hier ablehnend) genannten meist kindersprachlichen
Beispiele können nicht als Beweis gegen diese Folgerung dienen, sondern sind
umgekehrt zu deuten: Nicht weil in diesen Fällen Person und Tempus expli-
zit markiert sind, hat man von Verben zu sprechen, sondern da die kindlichen
Sprecher in voici/voild aus naheliegenden Gründen Verben zu sehen glaubten,
fügten sie Subjektpronomen und Tempusmorphem an. Ähnliche Fälle sind
aus der Literatur häufiger bekannt, cf. z. B. bei Martinet 12 : „On entend
même, dans la bouche des enfants, ça m'alairait bon pour ça m'avait l'air
bon".
Ein Einwand, den Moignet nicht bringt, könnte der Hinweis darauf sein,
daß voici/voild gewöhnlich ein Objekt bei sich haben, und dies wäre ja doch
Kennzeichen eines transitiven Verbs. Nun ist aber zu bedenken, daß die
Rektion eines 2. Aktanten erst zu den sekundären, variablen Merkmalen des
französischen Verbs gehört. Die konstanten, primären verbalen Charakteristi-

12 A. Martinet, Eléments de linguistique générale, Paris 4 1 9 6 7 , p. 194.


Voici und voilà 83

ka, wie Personen-, Numerus-, Tempus-, Modusgliederung, Aktionsstand,


Diathese und Existenz eines 1. Aktanten (Subjekt) fehlen dagegen bei voici/
voilà vollständig. Das aber kann zu keinem anderen Schluß als dem fuhren,
daß wir es hier gar nicht mit einem Verb zu tun haben, sondern mit einer
anderen Einheit, die über eine 2. Valenz verfügen kann und lediglich aufgrund
ihres syntaktischen Verhaltens bisweilen mit einem Verb identifiziert wird.
Wir haben noch auf den bei Moignet übergangenen Ansatz Lucien Tesniè-
res 13 einzugehen, der voici/voild als mot-phrase, genauer als phrasillon logique
incomplet einreiht, freilich mit der besonderen Feststellung, daß es sich hier
nicht um organismes ankylosés, um mots structuralement inanalysables wie
bei den sonstigen mots-phrases handelt (p. 95). Gemeinsam sei allen diesen
mots-phrases, daß sie Arten von Sätzen, nicht von Wörtern sind, da sie im
discours syntaktisch die gleiche Rolle wie vollständige Sätze spielen (p. 95).
Wenn nun Tesnière noch gegenüber diesen mots-phrases complets (z. B. den
Interjektionen) wieder eine Sondergruppe, die mots-phrases incomplets, aus-
gliedert, die wie voici/voilà nur Teile von Sätzen sind (p. 97), so setzt er sich
ein zweitesmal zu sich selbst in Widerspruch, da ja auch die strukturale (aus-
drucksseitige) Unanalysierbarkeit zu den Kennzeichen der Satzwörter zählt.
Nach semantischen Kriterien definiert Tesnière voici/voild alsphrasillons
logiques, „des mots-phrases dans lesquels la notion exprimée est purement
intellectuelle, sans aucun élément a f f e c t i f (p. 97). Nun ist nicht erkenntlich,
warum voici/voild jedes affektive Element abgesprochen werden muß, wo
andere Forscher 14 gerade diesen Aspekt hervorheben.
Ein entscheidender Einwand gegen Tesnière ist, daß voici/voild gemäß sei-
ner strengeren Definition gar keine mots-phrases sind, keine dem Monorem
Ballys 15 gleichzusetzende Einwortsätze, in denen nur der propos (Rhema)
explizit ausgedrückt ist, sondern daß (um Tesnières eigene Worte zu gebrau-
chen) „ils ne constituent que des fragments de phrases, qu'il est nécessaire de
compléter par d'autres éléments pour obtenir des phrases complètes" (p. 97).
Davon unberührt bleibt Tesnières Verdienst, mit den mots-phrases als „équi-
valents d'une phrase complète" der grammatikalischen Forschung eine neue
Perspektive eröffnet zu haben.
Es ist eine bemerkenswerte Parallele zu der Darstellung bei Tesnière daß
auch Damourette-Pichon 16 voici/voild in ein gemeinsames Teilsystem mit
13 Eléments de syntaxe structurale, Paris 1959 ( 2 1965), p. 9 4 - 9 9 .
14 Cf. z.B. Wartburg-Zumthor, Précis p. 306 (§ 615 c); p. 137 (§ 243); Moignet,
p. 201.
15 LGLF, Berne 4 1965, p. 5 3 - 5 6 .
16 Des mots à la pensée. Essai de grammaire de la langue française (= EGLF), livre VI,
chap. II (t. VI, § 2 1 3 0 - 8 0 ) . - Der Terminus épidictique (cf. gr. epideiktikös
„aufzeigend, zur Schau stellend") entspricht dem frz. présentatif.
84 H. Genaust

oui, si, non einordnen und dieser letzten Gruppe das gleiche distinktive Merk-
mal „anaphorisch" zuweisen:

Tesnière: EGLF:
phrasillons logiques factifs strumentaux
incomplets anaphoriques épidictiques anaphoriques
voici/voilà oui/si, non voici/voilà oui/si, non

Bei Damourette-Pichon fehlt auch nicht der Hinweis, daß die Determination
durch eine deiktische Geste oder durch Inzidenz auf den Kontext vervollstän-
digt werden muß (§ 2181); doch soll nicht verkannt werden, daß beide Ansät-
ze auf verschiedenen, gleichwohl originellen Gedanken beruhen.
Was nun die in beiden Werken als anaphorisch definierten Entsprechungen
von voici/voilà angeht, so hat Peter Wunderli im Rahmen dieses Sammelban-
des17 in überzeugender Weise dargelegt, daß die Negation non den linguisti-
schen Status eines Prosatzes hat, dessen einziges semantisches Merkmal „+ ne-
gativ" ist; seinen spezifischen Gehalt und seinen Satzbauplan erhält non erst
auf Redeebene kraft Inzidenz auf Kontext und Situation. Auch die übrigen
Einheiten wird man ohne weiteres als Prosätze interpretieren dürfen.

II

Es zeigt sich also, daß keiner der bisherigen Definitionsvorschläge akzeptabel,


d. h. mit den sprachlichen Fakten vereinbar ist. Offensichtlich ist eine Lösung
dieser Frage mit den Mitteln der traditionellen Grammatik ebensowenig wie
mit Hilfe strukturalistischer Beschreibungsmethoden möglich, solange diese
auf Wort- oder Satzebene beschränkt bleiben. Es empfiehlt sich daher, von
einer höheren Beschreibungsebene aus, unter Einbeziehung von Kontext und
Kotext, das Problem erneut anzugehen und anhand einer Analyse der Ver-
wendungstypen von voici/voilä nach einer widerspruchsfreieren Definition
ihres Grundwertes zu suchen.
Nehmen wir als Beispiele des wohl häufigsten Typus sprachliche Äuße-
rungen wie:
7 Voici votre chapeau!
8 Où est mon chapeau? - Le voici.

Wäre voici wirklich ein unpersönliches Zustandsverb, wie Moignet annimmt,

17 Cf. p. 4 3 - 7 5 .
Voici und voilà 85

hätten wir parallele Erscheinungen zu d e n p r é s e n t a t i f s wie c'est, il est zu er-


warten; auf jeden Fall aber müßte dann das ihm zugeordnete Nomen als 1.
Aktant erscheinen. Das aber ist durch das Beisp. 8 ausgeschlossen. Das Nomen,
das bei voici/voild steht, ist syntaktisch ein 2. Aktant und hierarchisch von
voici/voild abhängig.
Es bleibt nun zu erörtern, welchen Status voici hier haben muß, um einen
2. Aktanten regieren zu können, wenn es selbst kein Verb ist. Tesnières eige-
ner Vorschlag, voici sei ein mot-phrase incomplet, konstatiert nur das anhin
Bekannte und vermag nicht anzugeben, welche „équivalents d'une phrase
complète" in voici gespeichert sind.
Diese Frage wird uns nun beschäftigen. Akzeptiert man, daß voici — hier
unvollständiges — Äquivalent eines Satzes ist, dann müßte es auch einen
gleichfalls unvollständigen Satzbauplan repräsentieren. Welches Element aus
diesem Bauplan ausgegliedert ist, ist nun offenkundig: Es ist der 2. Aktant,
der explizit in Verbindung mit voici/voild gegeben werden muß, damit der
Satz vollständig ist. Im Gegensatz zu den eigentlichen mots-phrases ist also das
aus voici/voild + Nomen gebildete Syntagma variabel, da das Substantiv bzw.
der hinter dem Objektpronomen stehende Referent einer offenen Liste ange-
hört.
Wenn, wie angenommen, voici/voilà Äquivalent eines Satzes sind, in dem
die Stelle des 2. Aktanten noch aufzufüllen ist, dann repräsentieren sie min-
destens ein Verb als zentralen Knoten und einen 1. Aktanten, möglicherweise
auch einen Zirkumstanten. Die Stellvertretung eines Verbs läßt sich ohne
Schwierigkeiten einsehen, zumal sie die für voici/voilà kennzeichnende Valenz
über einen 2. Aktanten einleuchtend erklären würde.
Die These Moignets steht dieser Überlegung sehr nahe, doch sind als die
zwei wichtigsten Unterschiede hervorzuheben, daß Moignet (1) in voici/
voild selbst ein Verb und nicht einen ein solches einschließenden Repräsen-
tanten sieht; (2) nicht erkennt, daß voici/voild mehr als ein Verb darstellen.
Dieses Verb kann auch nicht mit Moignet als verbe d'existence, sondern nur
als transitives Verb gedeutet werden. Damit ist aber auch Moignets Ansatz
eines ausdrucksseitig zwar entbehrlichen unpersönlichen Subjekts hinfällig.
Es erscheint vielmehr angemessen, als Repräsentation des 1. Aktanten ein
persönliches Subjekt anzunehmen, das freilich — und dies ist ausschlaggebend —
situationeil bzw. kontextuell gegeben ist. Die bisherige Forschung hat zu
wenig darauf gesehen, daß die Setzung von voici/voild neben der Präsenz des
Sprechers die eines Adressaten verlangt, was namentlich in dialogischer Rede-
situation der Fall ist. Jede sprachliche Äußerung mit voici/voild gewinnt ihren
Sinn erst durch Inzidenz auf Situation und Kontext und den Appell an den
Hörer/Leser; die Signalfunktion gehört somit — nach Karl Bühlers Terminolo-
86 H. Genaust

gie — zum Symbolwert von voici/voild. Offener tritt dies in der typischen
Appellsituation, dem Befehl, zutage: Im Imperativ, auch im Neufranzösischen,
wird das Subjekt eingespart, weil es in der Person des allocutaire situationeil
präsent ist. Der gleiche Einsparungsmechanismus liegt nach unserer Meinung
auch im Falle von voici/voilà vor1®.
Was die Frage nach der Repräsentation eines Zirkumstanten angeht, so er-
scheint dies fur die Ortsangabe gesichert. Dies ergibt sich nicht so sehr wegen
der variablen Signifikantelemente /si/ und /la/, die ja eher - wie beim nfrz.
pronom démonstratif - die Orientierung ± seitens des Sprechers markieren,
als vielmehr aus dem Semantismus der Wendung: Voici/voild lenken die Auf-
merksamkeit des lokal kopräsenten Adressaten auf den durch den 2. Aktan-
ten bezeichneten Gegenstand oder Sachverhalt; es besteht ferner Kombina-
tionsbeschränkung mit anderen struments locaux. Dagegen ist die Verbin-
dung mit Zeitadverbien, die ein „Jetzt" markieren, wie z. B. maintenant,
aujourd'hui, erlaubt, so daß der temporale Zirkumstant nicht implizit re-
präsentiert ist.

Verb voici/voilà

1. Aktant* 2. Aktant Orts-* Zeit- 2. Aktant (Zeitadverb,


(Adressat) angabe fakultativ)

(Substituierte Satzkonstituenten sind durch * bezeichnet.)


Stellt man dagegen die repräsentierte Struktur als Inhaltsseite der Zeichens
voici/voild dar, so ergibt sich dieser Bauplan:

transitives Verb
(z.B. .wahrnehmen, sehen')

1. Aktant 2. Aktant Ortsangabe


(= Adressat)

/vuasi/, /vuala/
+ 2. Aktant

18 Cf. P. Wunderli, L'impératif de vouloir: subjonctif et indicatif, Actele celui de-al


XlI-lea Congres international de lingvisticâ y filologie romanicâl, Bucurejti 1970,
Voici und voilà 87

Voici/voild erweisen sich somit kraft ihrer Stellvertreterfunktion als linguisti-


sche Pro-Form, die von den eigentlichen Pronomina durch das Fehlen einer
innersprachlichen Relationalität, von den „neuen Pro-Nomina" Roland Har-
wegs 19 durch den primär nicht vorhandenen (anaphorischen oder katapho-
rischen) Textbezug unterschieden ist. Vielmehr handelt es sich wegen des Be-
zugs auf die Origo von Sprecher und angesprochener Person, auf deren ge-
meinsames Zeigfeld, um Deiktika, um Zeigwörter, wie Bühler20 sagt. Wir ge-
langen so auf anderem Wege zu einer Opposition, wie sie Damourette-Pichon
bei der Untergliederung der factifs strumentaux (anaphorique / vs / épidicti-
que) getroffen haben.
Die deiktische Funktion, die also letztlich aus dem Origobezug der Pro-
Formen voici und voild herrührt, ist auch an anderer Stelle unterstrichen
worden, so von Bally: „D'une façon plus générale, tous les signes appelés
déictiques n'ont pas d'autre fonction que de communiquer à l'entendeur
tout ou une partie d'une pensée" 21 , dann von Henry 22 und Moignet 23 . Sie
ist selbst Grundlage von Definitionen wie Demonstrativ oder Präsentativ
geworden.
Wir definieren somit voici/voilà vorläufig als eine deiktische Pro-Form, die
ein Verb, seinen Situationen gegebenen 1. Aktanten und beschränkt einen
lokalen Zirkumstanten repräsentiert und mit einem 2. Aktanten zu einem
vollständigen Satz aufgefüllt wird. In der Hierarchie der linguistischen Pro-
Formen stehen voici/voild damit über den Einheiten, die nur ein Satzglied (Verb,
Aktant, Zirkumstant) substituieren, aber unter dem Prosatz, wie ihn P. Wun-
derli am Beispiel von non für das Modernfranzösische nachgewiesen h a t 2 4 .
Man könnte unbefangen urteilen, daß sich die hier vorgeschlagene Defini-
tion ja einleuchtend aus der Etymologie von voici/voilà ergibt, nämlich aus
dem Imperativ des transitiven Verbs voir, dessen Subjekt Situationen präsent
ist, und dem Ortsadverb ci/ld. Doch sei betont, daß ich es für methodologisch
bedenklich halte, synchronische Phänomene mit diachronischen Argumenten
zu erklären 25 ; die hier gegebene Deutung beruht ausschließlich auf einer syn-

p. 5 5 7 - 6 8 ; Die Teilaktualisierung des Verbalgeschehens (Subjonctif) im Mittel-


französischen, Tübingen 1970, p. 109ss.; VRom 30 (1971), 145.
19 Cf. R. Harweg, Pronomina und Textkonstitution, München 1968, passim.
20 Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 2 1965, bes. p. 1 0 2 - 2 0
(Die Origo des Zeigfeldes und ihre Markierung).
21 LGLF, § 60, p. 52.
22 Im unten (N 39) genannten Werk, p. 99.
23 Moignet, p. 201.
24 Cf. N 17.
25 Dies geschieht z. B. bei Wartburg-Zumthor p. 306 und in der Grammaire Larousse du
88 H. Genaust

chronischen Analyse des neufranzösischen Materials und stellt sich die Defini-
tion einer sprachlichen Einheit auf Systemebene, nicht die Beschreibung einer
Redekonstellation zum Ziel. Überdies ist es nicht notwendig, noch aus mo-
dernfranzösischer Sicht im Element /vua/ das Verb voir zu sehen. Sondern so
wie dessen morphologische Indizien vollständig neutralisiert sind, so dürfte
auch die ursprünglich differenzierte Semstruktur auf ein minimales Maß re-
duziert worden sein. Die Leistung von voici/voild besteht demnach darin, daß
der Sprecher eine Sparform zur Hand hat, die es erlaubt, die (nicht nur optische,
sondern auch akustische) Aufmerksamkeit des Adressaten auf einen Gegen-
stand oder Sachverhalt zu lenken, ohne daß das Subjekt, die gesamte Aktuali-
sierungshierarchie 26 des Verbs und dessen jeweiliges Semantem bei der Ab-
wahl aktiviert werden müssen. Als kontextuelle Bedeutung kann auf Rede-
ebene auch eine Umwertung des transitiven Verbs in ein Zustandsverb erfol-
gen, wenn ohne psychologischen Rekurs auf den 1. Aktanten einfach eine
Anwesenheit konstatiert wird (cf. te voilà = tu es là).

Es ist nun zu sehen, ob die hier vorgeschlagene Deutung auch für die übri-
gen Verwendungstypen zutrifft.
1. Voici/voild + Nomen (Substantiv/Pronomen). Wie in Beispiel 7 - 8 dar-
gelegt, fungiert das Nomen als 2. Aktant, cf.:
9 Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches. Et puis voici mon cœur,
qui ne bat que pour vous.
Verlaine, Romances sans paroles. Green, v. 1/2
10 Epargner, pardonner, consoler, voilà toute la science de l'amour.
A. France, Balthazar. Abeille, XXII, p. 192 (EGLF, § 2187)
11 Tenez, le v'ia . . . Allez-vous en . . .
A. Flament, La vie de Manet I, p. 7

Verbreiteter als das mit article partitif eingeleitete Objekt:


12 Voici de l'argent

ist dessen anaphorischer Ersatz durch das Pronomen en, das damit zum
2. Aktanten von voici/voilà wird:
13 Tu as besoin d'argent. Tiens en voilà! (en = „de l'argent")

français contemporain p. 85.1m übrigen besteht nicht einmal in diachronischen Erklä-


rungen Einigkeit über den morphologischen Status und die Modalität des verbalen
Elements; es wird an Befehl, Aussage, selbst an Frage (Gamillscheg, Historische fran-
zösische Syntax, Tübingen 1957, p. 544) gedacht. Am ehesten wird man eine Neu-
tralisierung von Modalität, Modus, Tempus und Person in einem reinen Verballexem
annehmen, cf. J. Marouzeau, Composés à thème verbal, FM 20 (1952), 8 1 - 8 6 .
26 Cf. P. Wunderli, VRom. 28 (1969), 95; Teilaktualisierung (1970), p. 3 3 - 3 5 ; ZRPh. 85
(1970), 3 9 3 , 4 2 9 - 3 2 .
Voici und voilà 89

En kann auch den Wert eines redundanten Objekts erhalten, wenn dessen
source sémantique als 2. Aktant folgt (kataphorischer Gebrauch):
14 En voilà une de femme! . . . s'écria Florine.
Balzac, Splendeur et misère des courtisanes I (t. XI, p. 497)
15 En voilà une d'histoire! . . . dit Malaga.
Balzac, Esquisse d'homme d'affaires (t. XII, p. 195)

Selten ist die Setzung des prädikativen Personalpronomens als 2. Aktanten


wie in:
16 . . . celui qui se marie tard, comme voilà toi, il a des chances d'aller longtemps . . .
M. Aymé, Gustalin III, p. 34 (EGLF § 2409)

Zur Erklärung führen Damourette-Pichon an, daß hier nicht (wie mit Hilfe
des unbetonten Pronomens) die Anwesenheit des Adressaten konstatiert,
sondern daß seine Person als exemplarisch hingestellt werden soll.
Dem Nomen kann ein Attribut angegliedert sein:
17 Deux Coqs vivoient en paix; une Poule survint,
Et voilà la guerre allumée.
La Fontaine, Fables VII, 12
18 Le voici installé petit commerçant quelque part.
J. et J. Tharaud, L'ombre de la croix I, p. 26 (kommentiert EGLF,
§ 2186, p. 108)

Daß voici/voild mit ihrem nominalen Objekt einen vollständigen Satz bilden,
zeigen die folgenden Beispiele, wo diese Verbindungen durch entsprechende
Translativa genau wie Sätze mit explizitem Subjekt und Verb in untergeord-
nete Sätze umgeformt werden können, wie als Relativsatz (cf. II, 4):
19 Au point où me voilà . . .

Complétive:
20 Je crois que voici M. Choulette.
A. France, Le lys rouge, p. 130
21 Tu parles qu'en voilà un qui ne doit pas être malheureux.
Proust, A la recherche du temps perdu III, p. 85

Konditionalsatz:
22 Et si le voilà malade, qu'est-ce qui va arriver?
Mme EP, 4 . 5 . 1 9 2 3 (EGLF § 2187)

Komparativsatz:
23 Peut-être vous semble-t-il qu'il est impossible d'obtenir d'un prisonnier plus que
n'en voici obtenu.
J. Rivière, L'Allemand I, 2, p. 85 (EGLF, § 2188)
90 H. Genaust

24 J'aurais encore mon enfant, voire peut-être un gendre avec des petits-fils qui
seraient sur mes genoux; ah! je serais un autre roi que ne me voilà!
G. Polti et P. Morisse, trad. de Novalis, Henri d'Ofterdingen III, p. 64
(EGLF, § 2188)
Die beiden letzten Beispiele sind besonders eindrucksvoll, weil sie auch nach
der Substitution von Subjekt und Verb die syntaktische Konstruktion mit
Setzung des ne discordantiel beibehalten 2 7 . Auch Pro-Formen, die ganze
Sätze repräsentieren wie non, oui, können diese Bedingungen zum Teil er-
füllen (cf. Wunderli, oben p. 64):
25 II dit que oui.
26 Et si non, vous me payez tout.

Als seltene Variante von voici/voild treten revoici/revoilà auf:


27 Me revoici dans les bals.
L. Veuillot, Agnès de Lauvens XXXIV (Œuvres III, p. 378) (EGLF, § 2 1 8 6 )
28 Les revoilà encore qui viennent me dire adieu.
Mme de Sévigné, Lettres VII, p. 284/85 Mommerque
Diese wohl nur in Verbindung mit Personalpronomina existierende Variante
ist nicht als „voilà de nouveau" 28 zu interpretieren, weil sie nicht einen erneu-
ten Blick auf das Objekt lenken soll, sondern die Wiederkunft der bezeichneten
Person(en) anzeigt. Man könnte me voici revenu, les voilà revenus an ihrer Stel-
le einsetzen.

2. Voici/voilà + Q-Aktant. Der vorgeschlagenen Deutung scheinen Fälle zu


widersprechen, in denen voici/voild allein oder ohne explizites Objekt auftritt:
29 Voilà!
30 Ah, voilà!

Das erste Beispiel kennzeichnet den einfachen Hinweis auf ein Objekt, das
dem Adressaten vor Augen geführt wird; das zweite markiert eine plötzliche
Einsicht, die der Sprecher an seine eigene Adresse richtet, die ihm einen
Sachverhalt durchschaubar macht; es liegt also hier eine erweiterte Inzidenz
auf Situation und Kontext vor. Deshalb ist es erlaubt, von einem impliziten,
durch 0 bezeichneten 2. Aktanten zu sprechen. Das ist auch der Fall in den
stehenden Wendungen:
31 Tiens voilà!
32 Voilà pour toi!
33 Voilà c'est comme ça!

27 Dies aber ist kein Beweis dafür, daß voilà deshalb ein Verb ist, wie Moignet p. 191
meint.
28 Cf. Grevisse, Bon usage ( 9 1969), § 948, Rem. 2.
Voici und voilà 91

Es gibt sogar Fälle, in denen aus stilistischen Gründen auf die Markierung
des Objekts verzichtet wird „pour exprimer qu'on ait dit tout ce qu'on avait
à dire sur un objet donné" 2 9 . Voilà erhält hier auf Redeebene zwar den Wert
einer Interjektion (wie in den Beisp. 2 9 - 3 0 ) , aber die stilistische Wirkung re-
sultiert gerade aus der Setzung des (¡)-Objekts:
34 Et si, sacré nom de Dieu, vous n'êtes pas augmenté de huit jours, au rapport de
demain matin, je veux être changé en bénitier! Voilà.
Courteline, Le train de 8 h. 47 III, 3, p. 106 (EGLF, § 2182)

Der gleiche Redeeffekt wird bei einem in Form des Adjektivs tout vorhande-
nen 2. Aktanten in der Wendung voilà tout als Ausdruck der Resignation er-
zielt:
35 La justice est gratuite, seulement les moyens d'arriver à elle ne le sont pas, voilà
tout.
Brieux, La robe rouge III, 2 (EGLF, § 2182)

In dem Beispiel
36 Voici. C'est moi.

liegt nun nicht „emploi absolu" (Wartburg-Zumthor, p. 306, § 615 a) vor,


sondern auch hier sind die Substitutionsmechanismen und die Inzidenz auf
die Situation und den Kontext voll wirksam; man kann eher von katapho-
risch-heteronexer Verwendung sprechen, wie auch unter Bezug auf den Kon-
text in:
37 Et puis voilà: toute l'angoisse ramassée en elle se fixe là, sur cet éclat, ces trous
dans le bois.
Nathalie Sarraute (Grammaire Larousse du fr. cont., p. 85)

Grevisse führt noch (Bon usage, § 948, Rem. 5) Beispiele aus höflicher Kon-
versation an, in denen nach seiner Auffassung voici/voilà als Varianten von
oui, s'il vous plaît usw. auftreten:
38 Ayez la bonté de m'apporter ce livre. - Voilà, monsieur.

Tatsächlich sind diese Redewerte nicht identisch, da oui usw. die Antwort
vor, voici/voild die Antwort nach der ausgeführten Handlung ist. Es liegt also
anaphorisch-heteronexer Gebrauch vor wie auch in:
39 Joseph: - Monsieur a sonné?
Paul: - Vite! une plume, du papier, que je refasse ma carte.
Joseph: - Voilà! voilà!
Labiche et Choler, Les marquises de la fouchette, sc. VIII (EGLF, § 2187)

29 EGLF, § 2182.
92 H. Genaust

Ein nominales Objekt ist schließlich durch 0 substituiert in:


40 Voici pourtant plus sérieux: une caisse de porcelaine, qui contenait la vaisselle de
l'ambassadeur, s'est rompue dans le voyage.
M. Levaillant, Chateaubriand et son ministre des finances (Revue des deux
mondes, 15.6.1922, p. 863),

wo gemäß EGLF, § 2186, eine Entsprechung von voici quelque chose de plus
sérieux zu sehen ist.

3. Voici/voild + Relativsatz. Häufig anzutreffen sind Relativkonstruktionen


in Verbindung mit voild, seltener mit voici. Dabei übernimmt nach einem ge-
läufigen Mechanismus das „neutrale" Demonstrativum ce die Funktion des
2. Aktanten; der folgende Satz wird durch das Relativum in ein Attribut die-
ses Aktanten transponiert, wie in:
41 Voilà ce que je voulais vous faire dire.
H. Becque, Les Corbeaux III, 8
42 Voilà ce que c'est que d'aller au bois où sont les fées!
A. France, La vie littéraire, IV e série: Contes et chansons populaires, p. 82
(EGLF, § 2186)

Auffallender sind Konstruktionen, in denen das Relativum qui direkt an


voild (voici ist nicht belegt) tritt, ohne daß explizit ein 2. Aktant vorhanden
ist:
43 Voilà qui est fort bien agi!
44 Voilà qui est trop fort!
45 Voilà qui est bien, qui va bien.
46 Monsieur - faisant un nœud à son mouchoir: -Voilà qui m'y fera penser.
E. Chavette, Les petits drames de la vertu, p. 214

In allen diesen Beispielen, die zumeist schon formelhaften Charakter haben,


ist eine Referenz auf Personen ausgeschlossen; unmöglich ist:
47 *Voilà qui va vous répondre!
Moignet, p. 191
Es liegt stets Referenz auf einen Sachverhalt 30 , meist auf ein sich dem Be-
schauer darbietendes Resultat, vor, wobei im Hinblick auf die Situationsge-
bundenheit (cf. Beisp. 42) analog dem vorhergehenden Abschnitt der 2.
Aktant (das antécédent ce) durch 0-Form ausgedrückt, also eingespart ist.
Wartburg-Zumthor 31 sprechen denn auch, ohne die Gründe aufzuzeigen, von
einer Reduktion ce qui > qui:

30 Moignet spricht deshalb von einem qui neutre, die Grammaire Larousse du fr. cont.
(p. 85) von Formen „sans antécédent (valeur indefinie)".
31 Précis p. 128, § 222.
Voici und voilà 93

48 II est déjà arrivé! Voilà qui m'étonne!

ce à quoi > d quoi:


4 9 Voilà à quoi je ne m'attendais pas!

ce que > que:


5 0 Voilà que je trouve plaisant!

ce dont > dont (ohne Beleg).


Häufig ist noch ein Typus, in dem sich qui nicht auf ein „neutrales"
antécédent, sondern auf ein Nomen bezieht, das als 2. Aktant von voici/voild
regiert wird:
51 Voilà le train qui arrive (Bally, LGLF, p. 75, § 108)
52 Parlons à ce rival, le voilà qui s'avance.
Corneille, Sertorius II, 3
Diese Konstruktionen haben, wie Bally anläßlich Beisp. 51 bemerkt, die Funk-
tion, ein Element hervorzuheben, ohne daß die progressive Sequenz AZ
(thème-propos) verlorengeht; sie gehören mit ihrer populärsprachlichen Va-
riante il y a (y a). .. qui zu den oben kommentierten tours présentatifs, cf. :
53 II y a Paul qui m'a chipé mon couteau.
Bally, LGLF, p. 75

Gemeinsam ist den hier behandelten Relativkonstruktionen, daß sie als


scheinbarer, d. h. nur psychologisch relevanter 2. Aktant von voilà (voici)
fungieren, während das linguistische Objekt durch ce ausgedrückt oder durch
0 repräsentiert wird.

4. Voici/voild im Relativsatz. Es ist oben anhand des Beisp. 19 (Au point


où me voild ... ) schon dargelegt worden, daß ein aus voici/voild und seinem
2. Aktanten gebildeter Satz wie jeder andere Satz durch ein Relativum in
einen Relativsatz, d. h. in ein adjektivisches Attribut eines im Obersatz gege-
benen Nomens, transponiert werden kann:
54 un écrit dont voici le contenu
55 Tavernier, est-ce un pseudonyme de Charles Guérin dont voici le modèle, dont
voici la peinture?
Apollinaire (Gramm. Larousse du fr. cont. p. 86)

Hier ist einmal me (Beisp. 19), das anderemal le contenu, le modèle, la peinture
das Objekt von voici/voilà. Anders liegen Fälle, in denen das Relativum selbst
den 2. Aktanten — natürlich in der dieser Bedingung entsprechenden Form que —
darstellt, so daß also der Relativsatz auf Relativum + voici/voilà verkürzt ist:
56 Qu'as-tu fait, ô toi que voilà
Pleurant sans cesse,
94 H. Genaust

Dis, qu'as-tu fait, toi que voilà,


De ta jeunesse?
Verlaine, Sagesse. Le ciel est, par-dessus le toit
57 . . . rapports que j'ai essayé d'expliciter par le trapèze que voici:
G. Hilty, VRom. 32 (1973), 40

5. Voici/voild + Infinitiv. Die Funktion des 2. Aktanten kann auch durch


einen Infinitivsatz erfüllt werden, wobei, wie auch Moignet (p. 190/91) be-
merkt, die Kombination häufig auf Bewegungsverben, die ein Ankommen
oder Fortgehen markieren, beschränkt ist:
58 Voici venir les temps où vibrant sur sa tige
Chaque fleur s'évapore ainsi qu'un encensoir.
Baudelaire, Fleurs du mal. Spleen et idéal, XVIII. Harmonie du soir
59 Mais voici déboucher, à travers feuilles, une troupe de galantins.
J. Delteil, La Fayette II, p. 38 (EGLF, § 2186)
60 De l'Odéon au Moulin de la Galette, les voici partir pour la chasse aux Mimis
Pinsons.
P. Dufay, Au temps du Chat Noir (Mercure de France, 1.12.1931, p. 265)
(EGLF, § 2186)
61 Voici, de la maison, sortir un Salavin épineux et glacé.
G. Duhamel, Deux hommes, p. 209 (Grevisse, § 948a, 1007a)

Aber auch andere Semanteme des Verbs sind nicht nur in älteren Texten
möglich:
62 Ta, ta, ta, ta. Voilà bien instruire une affaire!
Racine, Les plaideurs III, 3
63 Et voici commencer le rêve de Shakespeare.
J. Lemaître, Impressions du théâtre I, p. 116 (Grevisse, § 1007 a)
64 Voici croître en mon cœur guéri de ses chimères L'ennui des voluptés dont on
touche le fond.
J. Tellier, Prière (A. France, La vie littéraire IV, p. 186) (EGLF, § 2186)
Der Infinitiv kann auch für sich allein 2. Aktant von voilà sein:
65 Voilà parler!
Le Temps, 10.12.1921, p. 1 (EGLF, § 2186)

Der hier erzielte Nutzwert entspricht — bei größerer Prägnanz — dem von
Voild ce que c'est que de parler!
In allen Fällen werden Sätze, deren Verb in der Form der Nullaktualisierung
erscheint, durch 0-Translativ in einen nominalen 2. Aktanten transponiert, der
die gleiche syntaktische Rolle wie das Substantiv in voici le train qui arrive
(arriver) spielt.
Anders als diese infinitivischen Complétiven muß ein Typus interpretiert
werden, der fälschlich hierher gestellt worden ist 32 :
32 Grammaire Larousse du fr. cont., p. 117.
Voici und voilà 95

66 Nous voilà à rire.


Hier ist nämlich das Pronomen 2. Aktant von voild, nicht der präpositionale
Infinitiv, der sich vielmehr diesem Pronomen hierarchisch in gleicher Funk-
tion wie ein Relativsatz unterordnet ; die Neutralisierung der verbalen Aktuali-
sierungsstufen in voild und à rire und die Einsparung von Zeichen verleiht sol-
chen Wendungen Spontaneität und Prägnanz.

6. Voici/voild + Partizip Perfekt. Dem vorigen Typus auch im Semantismus


des Verbs verwandt sind Wendungen, die äußerlich wie eine Umstellung der in
Beisp. 17—18 besprochenen Struktur wirken, in denen also ein Partizip die
Rolle des 2. Aktanten ausfüllt:
67 Voici revenus les beaux jouis!
6 8 Voilà passées une dizaine d'années.
P. L. Courier, Œuvres (Littré)
Der Unterschied in der Leistung gegenüber dem infinitivischen Objekt besteht
darin, daß diese Partizipien bereits eine erste Aktualisierungsstufe überschrit-
ten haben und den Aktionsstand des accompli, den bereits eingetretenen Sach-
verhalt, markieren.

7. Voici/voilà + Complétive. Eine recht unterschiedliche Beurteilung hat


ein Typus von Sätzen erfahren, die mit voici (voild) que. . . eingeleitet wer-
den:
6 9 Voilà qu'il galopait maintenant.
Flaubert, Trois contes, p. 19
70 Mais voilà que l'étude synchronique elle-même a fait surgir des questions auxquel-
les l'histoire seule peut répondre.
A. Henry, C'était il y a des lunes, p. 6 9
71 Jusqu'à ce soir fatal, elle n'était rien. Et voici soudain qu'elle existe.
F. de Miomandre, Ecrit sur de l'eau. Une fée apparaît, p. 7 (EGLF, § 2 1 8 6 )
72 Et voici qu'au contact glacé du doigt de fer
Un cœur me renaissait, tout un cœur pur et fier.
Et voici que, fervent d'une candeur divine,
Tout un cœur jeune et bon battait dans ma poitrine.
Verlaine, Sagesse. Bon chevalier . . , v. 1 1 - 1 4
Grevisse (§ 180, 1003 a) spricht von principales incomplètes, weil sie wie
Sätze vom Typus assurément que... , heureusement que. . . , peut-être que
. . . usw. kein Verb enthielten. Andere leiten aus diesem Vergleich die Deu-
tung von voici/voild als Adverb her. Bally empfindet diesen Satztypus als
Äußerung ohne Thema entsprechend den Monoremen. Tatsächlich aber han-
delt es sich um vollständige Sätze, in denen voici/voild stellvertretend für
1. Aktanten und Verb stehen, also nicht Adverb sein können 3 3 ; der 2.
33 Genau so wenig wie der Prosatz non im Satztypus Non que . . .
96 H. Genaust

Aktant wird von dem folgenden Nebensatz geliefert, der durch das Translativ
que in ein nominales Objekt transponiert wird. Es liegen also echte Compléti-
ven vor 34 . Der Eindruck eines Adverbs (in Beisp. 69, 71 identisch mit dem
explizierten Adverb maintenant, soudain) oder der eines Präsentativs ergibt
sich lediglich als Nutzwert aus diesem besonderen Redetypus.
8. Voici/voild + pourquoi/comment (indirekter Fragesatz). Neben Relativ-
satz. Infinitivsatz und Complétive können auch indirekte Fragesätze die Funk-
tion des 2. Aktanten von voici/voild ausüben, allerdings nur, wenn das Translat
den Wert eines Substantivs 'la cause, la manière' hat:
73 Et voilà pourquoi j'avais mis en vous mon espoir.
E. Estaunié, L'ascension de M. Baslèvre I, 5, p. 55 (EGLF, § 2186)
74 Voilà comment les choses se passent: le pays limitrophe s'avance jusque sur les
bords de la frontière.
M. Aymé, Silhouette du scandale, p. 149 (Grevisse, § 948)
Auch Einsparung aller Elemente des Fragesatzes bis auf das Fragewort selbst
ist möglich, so daß scheinbar ein Adverb die Ergänzung von voici/voilà bildet:
75 Voici comment.
76 Voilà pourquoi.
Tatsächlich handelt es sich hier gleichfalls um einen 2. Aktanten, nämlich
Nomina, die freilich Translationen von reduzierten Fragesätzen als knappstem
Ausdruck der Frage nach den Ursachen, der Vorgangsweise eines Sachverhal-
tes sind, cf. entsprechend:
77 Je ne savais pas pourquoi, comment.
Moignet (p. 201) bestreitet die Annahme eines Fragesatzes nach voici/voild,
da ja statt comment auch comme stehen könne:
78 Voilà comme il faut agir!
Er übersieht, daß comme auch heute noch als freie Variante des interrogativen
Adverbs comment35 eintreten, ja selbst wie dieses als reduzierter Fragesatz vor-
kommen kann, wie ein Beispiel aus La Fontaine beweist:
79 Je t'attraperai bien, dit-il, et voici comme.
Fables VIII, 10

Dem entspricht der Gebrauch von comme nach savoir:


80 J'attendais la catastrophe. Elle vint et l'on sait comme.
G. Duhamel, Cri des profondeurs, p. 87

34 Cf. Wartburg-Zumthor, Précis, p. 306; Dubois-Jouannon-Lagane, p. 93; Grammaire


Larousse du fr. cont., p. 112.
35 Cf. Grevisse, p. 773, § 835.
Voici und voilà 97

Wir haben somit 8 Typen von Sätzen kennengelernt, in denen das Objekt
von voici/voild auf verschiedene Weise zum Ausdruck kommen kann. Alle
Typen bestätigen gerade dadurch unsere Definition, daß voici/voild eine Pro-
Form mit 2 Aktanten ist und daß beide Elemente zusammen erst Äquivalent
eines vollständigen Satzes bilden.
Es bleiben nun noch Fälle zu besprechen, in denen sich diese Pro-Form mit
den Modalitäten der Negation und/oder der Frage verbindet und wo sie mit
einer Zeitangabe in einen temporalen Zirkumstanten transponiert wird.
9. Negation (ne voild-t-ilpas, ne voild pas, usw.). Ein Verwendungstypus
von voild (nicht voici) scheint der bislang vorgeführten Erklärung zuwiderzu-
laufen:
81 Ne voilà-t-il pas que vous n'avez aveint que six morceaux de sucre, m'en faut huit.
Balzac, Eugénie Grandet (t. V, p. 253)
82 Faisons enfin observer que les salaires étaient beaucoup plus élevés dans les villes
à corporations que dans les villes libres. Ne voilà-t-il pas une nouvelle preuve de
l'utilité des corporations.
Henri, comte de Paris, Le prolétariat I, 1, p. 23
83 Mais ne voilà-t-y pas un bébé? - A-t-on idée de pleurer comme ça!
Courteline, Les linottes II, p. 53

Ohne das Element t-il in Texten bis zum 17. Jahrhundert:


84 Ne voilà pas mon enragé de maître!
Molière, L'étourdi V, 7 (Moignet, p. 192)

In populärsprachlichem Kontext ohne das Element ne:


85 Voilà-t-il pas monsieur qui ricane déjà! 36
Molière, Tartuffe I, 1
86 J'ai eu tort de provoquer sa curiosité, - d'accord. Voilà-t-il pas un bien grand
crime?
L. Frapié, La maternelle III, p. 87
87 Mais vlà-t-i pas qu'en arrivant au pays, on était plusieurs!
H. Barbusse, Le feu VIII (Moignet, p. 192)

Alle diese Beispiele könnten gegen unsere Definition sprechen, weil


(a) ein 1. Aktant im Personalpronomen il vorhanden ist,
(b) die Inversion vom Typus voild-t-il (analoge a-t-il) für den verbalen
Charakter von voild spricht,
(c) die Modalitäten der Negation und der Frage dies gleichfalls nahelegen.
Dem ist entgegenzuhalten, daß
(a) es sich um populärsprachliche Wendungen handelt, die unterhalb der
Norm stehen,

36 Nicht als Frage (. . déjà?), wie Grevisse, § 948, Rem. 1, zitiert.


98 H. Genaust

(b) das Element -t-il gar nicht als Verbindung von -t- und Personalprono-
men il, sondern vielmehr als orthographische Variante (neben -t-y in
Beisp. 83, -t-i in Beisp. 87) des volkssprachlichen Fragemorphems ti31
zu deuten ist, wie dies auch die Grammaire Larousse du français
contemporain vermutet: „Elle [ = particule interrogative ti\ a eu plus
de succès comme élément de renforcement d'un voilà nié" (p. 99.
§ 135),
(c) die Modalität der Frage gar nicht zum Tragen kommt, da in der Mehr-
zahl der bekannten Fälle ein Ausruf (meist des Erstaunens) vorliegt
(Beisp. 84,85, 87), sonst das Konstatieren einer Tatsache (Beisp. 81,
82). Beisp. 83 und 86 enthalten rhetorische Fragen. Das Signifikat „Frage"
ist also in diesem Typus zum großen Teil durch den Kontext neutra-
lisiert und wird auf Redeebene durch die beschriebenen Redebedeu-
tungen verdrängt,
(d) ebensowenig die Modalität der Negation (um die es hier geht) durch-
schlägt, sondern daß vielmehr „durch syntagmatische Kombination
beider Modalitäten ein positiver Gesamtnutzwert erzielt" 38 wird,
so daß also eine ausdrucksseitige Verstärkung der Aussage eintritt.
Tatsächlich wird in keinem unserer Belege ein Sachverhalt durch
die Negationsmorpheme negiert, auch nicht in der rhetorischen Frage
(Beisp. 86), wo der Sinn nicht als „Ist das nicht. . . ?," sondern als
„Ist das denn . . . ? " zu interpretieren ist.
Keine Negation, nicht einmal ein „engagement minimal en négativité" (wie
Moignet p. 200 glaubt) liegt in den Beispielen 23—24 vor, in denen ein
Morphem ne in einem aus voici/voild und seinem Objekt gebildeten Kom-
parativsatz enthalten war. Dieses ne markiert nun nicht die Negation des
vermeintlichen Verbs voici/voild, sondern die Diskordanz des im Komparativ-
satz durch die Pro-Form substituierten Sachverhaltes zu dem Geschehen des
Obersatzes, so daß man angemessener mit Damourette-Pichon von einem ne
discordantiel zu reden hat.
Es bleiben noch Fälle zu besprechen, wo voilà (nicht nur in präpositionel-
ler Verwendung) in syntagmatischer Konstellation mit einer Zahlenangabe
negiert zu sein scheint:

37 Cf. die Literatur zum frz. Fragesatz von G. Paris, Ti, signe d'interrogation, R 6
(1877), 4 3 8 - 4 2 (Mélanges linguistiques, Paris 1909, p. 2 7 6 - 8 0 ) ; E. Rolland, Ti,
signe d'interrogation, R 7 (1878), 599, über E. Fromaigeat, Les formes d'interroga-
tion en français moderne, VRom. 3 (1938), 1 - 4 7 , bis hin zu P. Behnstedt, Viens-tu?
Est-ce que tu viens? Tu viens? Formen und Strukturen des direkten Fragesatzes im
Französischen, Diss. Tübingen 1973, p. 1 4 - 3 5 .
38 P. Wunderli, VRom. 30 (1971), 316.
Voici und voilà 99

88 II est parti ne voilà pas huit jours.


8 9 Ne voilà que deux de nos amis.

Wertet Moignet anfangs (p. 191) diese Fälle als „formes de la négation et de
l'uniception réservées aux formes verbales", so schränkt er diese Ansicht
später wieder ein: „II