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Friedemann Affolderbach
Öffentlichkeit von
Unten
Demokratie, Öffentlichkeit
und Politische Bildung
Politische Bildung
D30 - Der vorliegende Text des Buches wurde als Dissertation unter dem Originalti-
tel „Öffentlichkeit von Unten? – Demokratie, Öffentlichkeit und Politische Bildung –
Möglichkeiten und Grenzen von Selbstorganisation sozialer Bewegungen am Beispiel
einer (kommunalen) antirassistischen Initiative“ am Fachbereich Erziehungswissen-
schaften an der Goethe Universität Frankfurt am Main eingereicht. Die Disputation der
Arbeit erfolgte am 12.06.2018.
Gutachter*innen:
Erstgutachterin: Prof. Dr. Helga Cremer-Schäfer
Zweitgutachter: Prof. Dr. habil. Michael May
Drittgutachter: Prof. Dr. habil. Heinz Sünker
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Inhalt
Vorbemerkung .................................................................................................... 1
3 Öffentlichkeit........................................................................................... 107
3.1 Begriffsgeschichte Öffentlichkeit ..................................................... 107
3.2 Öffentlichkeitskonstruktion in der Gegenwart .................................. 110
3.3 Kritiken am normativen Verständnis von Öffentlichkeit .................. 114
3.3.1 Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft ........ 114
3.3.2 Öffentlichkeit versus Öffentlichkeiten ...................................... 118
3.3.3 Gegenöffentlichkeit – Dialektik von Öffentlichkeit und
Gegenöffentlichkeit .................................................................. 120
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie ...................... 123
3.4.1 Hegemonie = Herrschaft? ......................................................... 123
3.4.2 Hegemonie – Verhältnisbestimmung bei Gramsci.................... 124
3.4.3 „Kulturelle Unterscheidung“ – Gegenöffentlichkeit als
Wirkungszusammenhang von Bildung ..................................... 126
3.4.4 Gegenöffentlichkeit als Praxis von Bildung –
Alltagsverstand und Urteilskraft als Potenz von
Handlungsfähigkeit ................................................................... 128
Diese Arbeit stellt die zentrale Frage, inwieweit Öffentlichkeit ein Ermöglichungs-
raum für Formen emanzipatorischer Selbstorganisation von Menschen darstellen
kann. Kritischer Reibungspunkt ist dabei die Feststellung von Alex Demirovic,
dass der Begriff Öffentlichkeit entgegen den Annahmen aktueller Demokratiethe-
orien über ein erheblich geringeres emanzipatorisches Potenzial verfüge, als diese
unterstreichen würden (vgl. Demirovic 1997: 170). Die in dieser Überlegung ent-
haltene Kritik verweist auf Öffentlichkeit als ein Instrument von Herrschaft zur
Erzeugung von Hegemonie. Anknüpfend hieran werden in dieser Arbeit das Span-
nungsfeld von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit, die Formen der Entfaltung
sowie Blockierung subjektiver und kollektiver Handlungsfähigkeit am empiri-
schen Beispiel untersucht. Die dabei erkennbaren Reibungsflächen und Konflikt-
felder zeichnen Formen von Selbst- bzw. Fremdbestimmung der Individuen und
sind Ausdruck des Ringens um Hegemonie.
Der Ursprung meiner Forschungsarbeit liegt einige Jahre zurück. Damals ar-
beitete ich bei einem Mobilen Beratungsteam und war als Berater für Demokra-
tieentwicklung in verschiedenen Landkreisen in Sachsen unterwegs. In diesem
Zusammenhang begegnete ich folgender, kurz zu skizzierender Situation und ei-
ner Gruppe Jugendlicher, die sich als antirassistische Initiative gründete. Die
Kleinstadt (X) wurde in jüngerer Vergangenheit Ort eines Übergriffs auf „Auslän-
der“.1 Im Rahmen eines Stadtfestes kam es zu einem gewalttätigen Übergriff und
einer Verfolgung sowie schweren körperlichen Misshandlungen dieser Leute. Das
Spezifische der Situation war, dass die Gruppe der Verfolger aus ca. 80 Menschen
unterschiedlichen Alters und Geschlechts bestand, die allesamt zu den „normalen“
Bürgern der Stadt zählten.
Aufgrund der gewalttätigen Stimmung wurde das Ereignis deutschlandweit
und international bekannt. Diese umrissene Situation bildete den Hintergrund für
die Intensivierung meiner Kontakte zu den jungen Leuten aus (X), die sich kritisch
1 Den Namen der Kleinstadt habe ich mit (X) verfremdet. Außerdem habe ich die tatsächliche
Herkunft der Betroffenen weggelassen, um deren Anonymität zu wahren. Weiterhin benutze ich
an dieser Stelle den Begriff der „Ausländer“, weil er auf ein spezifisches Moment von Rassismus
aufmerksam macht, welches beim Übergriff auf dem Stadtfest eine zentrale Rolle gespielt hat.
Hiermit meine ich ein Moment der Abgrenzung, einer Unterscheidung zwischen „Wir hier “ und
„den anderen“, anders gesprochen, es geht darum, „sich der eigenen Besonderheit […] durch
Abgrenzung von anderen zu vergewissern“ (Osterkamp 1996: 181).
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F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_1
2 Vorbemerkung
2 Auf genaue zeitliche Angaben (Gründung der Gruppe, des Vereins, Zeitpunkt der Übergriffe
etc.) habe ich aus Gründen der Anonymisierung in dieser Arbeit verzichtet.
3 Negt/Kluge 1993, 32.
Vorbemerkung 3
4 Nicht zu vergessen zum Themenfeld auch Jacques Rancière (2010, oder [2002] 2016) bzw.
auch Ingolfur Blühdorn (Simulative Demokratie, 2001). An anderer Stelle wäre es lohnend, z.
B. die drei Perspektiven auf „Postdemokratie“ von Crouch, Rancière und Blühdorn verglei-
chend zu untersuchen.
1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien
Der „Typus der modernen liberalen Demokratie“ (Buchstein 2012: 199) bildet die
Reibungsfläche demokratietheoretischer Überlegungen empirisch-funktionaler
Demokratietheorien und ihrer unterschiedlichen theoretischen Ausformungen.
Diese werden unter Stichworten wie „Kanzlerdemokratie“, plebiszitär-autoritäre
Demokratietheorie im Anschluss an Max Weber, „Rational Choice“ – ökonomi-
sche Theorie der Demokratie von Downs oder auch Systemtheorie von Luhmann
diskutiert.5 Die theoretischen Entwürfe finden ihren Widerhall in unterschiedli-
chen Demokratievorstellungen, die sich „idealtypisch“ nach „Gesellschaftskon-
zeption“, „Art der Beteiligung der Bürger“ und „nach dem Ausmaß und der Reich-
weite der Beteiligung“ differenzieren lassen (vgl. Schultze 2010a: 138).6 Hierbei
werden verschiedene Kernelemente als inhaltlich bestimmend angenommen.
Dazu zählen nach Buchstein (2012) und Schmidt (2010) folgende Minimalbedin-
gungen: a) freie Wahlen, damit verbunden b) die durch Wahlen erzeugte Möglich-
keit des Wechsels politischer Führungen, c) freie Meinungsäußerung und d) der
Verfassungsstaat. Ausgehend von diesen Eckpunkten wird Demokratie als eine
politisch - methodische Verfahrensweise verstanden, verknüpft mit der Ausfor-
mung einer staatlich institutionalisierten Regulierung gesellschaftlichen Konflikt-
potenzials und politischer Mehrheitsentscheidungen. Ziel ist die Organisation des
„Zustandekommens verantwortlicher und zurechenbarer Entscheidungen“ (Gug-
genberger 2010: 147) der durch Wahl der Bürger bestimmten Repräsentanten. We-
sentlich ist hierbei die Form der Herrschaft durch Arbeitsteilung und Hierarchisie-
rung von Regierenden und Regierten. Für ein solches Verständnis sind der Ein-
fluss von Theorieentwürfen zur „Konkurrenzdemokratie“ von Schumpeter
(1947)7 oder auch die „ökonomische Theorie der Demokratie“ Down’s (1968) von
5 Vgl. Buchstein/Pohl (1999: 77-86); Neumann (1998: 1-78); allgemeiner Schmidt (2010); Saage
(2005).
6 Schultze (2010a) verweist auf Stichworte wie „totalitäre Einheitsdemokratie“, Repräsentative De-
mokratie“, „Mehrheitsdemokratie“ etc., auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann.
7 Ich ordne sie dem Feld der empirisch-funktionalistischen Demokratietheorien zu, da Schumpeter
den Bürgern eine politische Irrationalität unterstellt und sie seiner Auffassung nach einer elitären
Führung bedürfen. Damit zusammenhängend versteht er Demokratie als Methode zur politischen
Entscheidungsfindung (vgl. Schumpeter 2005 und kritisch Neumann 1998; Pohl/Buchstein
1999; Saage 2005). Das Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ von Joseph A.
Schumpeter erschien zunächst im Jahre 1942 in englischer Sprache und im Jahre 1946 in einer
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https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_2
6 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien
besonderer Bedeutung. Insbesondere die Position von Schumpeter gilt als impuls-
gebend für die Entwicklung sogenannter empirisch-realistischer Demokratietheo-
rien.8 Orientiert an „Ideen autoritärer Kritiker des modernen Liberalismus“
(Scheuermann 2002: 410) richtet Schumpeter seine Überlegungen gegen ein nor-
matives Verständnis von Demokratie und behauptet, dass mit einer Aufgabe nor-
mativer Orientierungen notwendigerweise eine realistische Perspektive auf De-
mokratie hervortreten würde. Mit der Sichtweise, Demokratie als methodische
Verfahrensweise zu verstehen, verbindet sich mit der Position Schumpeters noch
eine andere Problematik, die Idee einer elitären Führung. Dieser letzte Aspekt
führt meines Erachtens über die Konzentration auf Demokratie als eine methodi-
sche Verfahrensweise hinaus und deutet auf den Zusammenhang einer spezifi-
schen Vorstellung von Herrschaftssicherung aus einer Verknüpfung von „Demo-
kratieansprüchen und Elitismus“ hin (vgl. Kreisky 2001: 56). In diesem Sinne
spiegeln die Überlegungen Schumpeters die ideologisch-politische Praxis westli-
cher Demokratien wider (vgl. ebd.) und verdeutlichen gleichzeitig Reibungs-
punkte normativer Positionen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle kurz auf die
Positionen von Schumpeter eingehen.
ersten deutschen Auflage. Ich beziehe mich in meiner vorliegenden Arbeit auf die 8. Auflage
des Buches in deutscher Sprache aus dem Jahre 2005.
8 Vgl. hierzu Scheuermann (2002).
9 Vgl. Schumpeter zu Mill, Rousseau und Bentham z. B. (2005: 394 f.).
1.1 Demokratie als Methode (elitärer Führung) bei Joseph A. Schumpeter 7
ken der „gleichen Meinung“ sein müsse und sich in diesem Grundsatz wiederum
der „allgemeine Wille“, das „Gemeininteresse“, das Gemeinwohl ausdrücken
würde (ebd.). Seine Lesart des Gemeinwohls, als gleichmachende Vereinheitli-
chung unterschiedlicher Interessen, führt ihn zu der Einsicht, dass es „kein solches
Ding wie ein eindeutig bestimmbares Gemeinwohl (gibt), über das sich das Volk
kraft rationaler Argumente einig wäre oder zur Einigkeit gebracht werden könnte“
(2005: 399). Er begründet seine Sichtweise damit, dass „verschiedenen Individuen
und Gruppen das Gemeinwohl mit Notwendigkeit etwas Verschiedenes bedeuten
muss“ (ebd.). Hiermit zusammenhängend würde die Idee des Gemeinwohls den
„idealen Bürger“ voraussetzen, der „aus sich selbst heraus und unabhängig vom
Druck einzelner Gruppen und von irgendwelcher Propaganda“ die Fähigkeit besit-
zen müsse, „eindeutig [zu] wissen, wofür er sich einsetzen will“ (2005: 403).10
Grundsätzlich stellt Schumpeter eine Souveränität und Unabhängigkeit der Wählen-
den infrage und sieht in diesen, vergleichbar zu Konsumenten im Bereich der Öko-
nomie, eine durch „Reklametechniken“ (ebd.: 418) beeinflussbare Masse, die „zu
keiner anderen Handlung als der Panik fähig“ sei (ebd.: 450). Diese könne zum
einen durch entsprechende Manipulationen als „psychologische Menge [...] in ei-
nen Zustand der Raserei versetzt werden“ (ebd.: 409) und sei so dem rationalen
Austausch von Argumenten nicht zugänglich. Zum anderen sieht er in solchen
Prozessen die von ihm skizzierte Idee des Gemeinwohls in der „klassischen“ De-
mokratietheorie und dem damit verknüpften „Volkswillen“ nicht als impulsge-
bende Größe politischer Prozesse, sondern vielmehr als deren Produkt und Ergeb-
nis. Um Zustimmung für eine bestimmte Form der Politik zu erhalten, muss dem-
nach das Gemeininteresse oder der Volkswille durch Politiker erzeugt und orga-
nisiert werden. Im Sinne einer „Menschlichen Natur in der Politik“ (ebd.: 418)
sind für Schumpeter politische Argumentationen und ihre Begründungszusam-
10 Der Kern von Konzeptionen des Gemeinwohls kann hier nicht tiefgehender erörtert werden.
Allgemein kann zwischen „aposteriorischen“ und „normativ-apriorischen“ Konzeptionen des
Gemeinwohls unterschieden werden. Letztere gehen von der Annahme aus, dass es ein objektiv
bestimmbares, „allgemeines Wohl“ gibt, welches „nicht an die Zustimmung der Gesellschafts-
bzw. Gemeinschaftsmitglieder gebunden ist, dem sie sich jedoch unterzuordnen haben“
(Schultze 2010b: 299). Die Bestimmungen und Begründungen „normativer Zwecke“ des Ge-
meinwohls fallen dabei sehr unterschiedlich aus und reichen von Ideen des „tugendhaften Le-
bens“ in einer „wohlgeordneten Gemeinschaft“ über „Ideen des Rechts und Gerechtigkeit, des
Friedens“ bis hin zu Perspektiven der „allgemeinen Wohlfahrt und Selbstverwirklichung in und
durch politische Partizipation“ (vgl. ebd.). Die Kritik an diesen Vorstellungen richtet sich gegen
deren „harmonistische[...] und interessenneutrale[...] bzw. interessenausgleichende[...]“ Tenden-
zen (ebd.). Die Kritik und Gemeinwohlvorstellung Schumpeters kann als aposteriorische Per-
spektive skizziert werden, die Gemeinwohl als Ergebnis eines „eher naturwüchsig“ marktförmig
hergestellten Gleichgewichts unterschiedlicher Kräfteverhältnisse ansieht (vgl. ebd.: 300). Da-
niel Loick verdeutlicht außerdem, dass der Gemeinwille in der Konzeption von Rousseau und
sein Ausdruck als „sittliche Gesamtkörperschaft“ (Rousseau 2013: 18) sich einerseits „nach au-
ßen hin exklusiv“ und andererseits „nach innen inklusiv“ definiert (Loick 2012: 101).
8 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien
11 Schumpeter bestimmt das Prinzip der Konkurrenz und den Prozess einer „schöpferischen Zer-
störung“ als wesentliche Grundlagen des Kapitalismus (2005: 134 f.). Bop Jessop skizziert in
seinen staatstheoretischen Analysen (Stichwort Schumpeterian Workfare State) die Perspektive
Schumpeters im Unterschied zu Hayek, Friedman and Co. und betont die Idee der Innovation
bei Schumpeter als Triebkraft kapitalistischer Entwicklung. Der wesentliche Punkt ist der, dass
Schumpeter Innovation ins Zentrum seiner Analyse kapitalistischer Wachstumsdynamik stellt
und so die innovationsgetriebene strukturelle Wettbewerbsfähigkeit als eine zentrale Funktion
des modernen kapitalistischen Staates unterstreicht: „Schumpeter is being rediscovered as a the-
orist of the motive force of innovation in long waves. Thus the contrast between the two econo-
mists is far more specific than would be implied in any simple contrast between concern with
the demand- and supply-side. For Schumpeter’s interest in the latter differed markedly from that
of economists such as Hayek, Friedman, or Laffer. It is the supply of innovation that was central
to his analysis of capitalist growth dynamics rather than the supply-side implications of liberty,
money, or taxation. And it is innovation-driven structural competitiveness which is becoming
central to the successful performance of the economic functions of the contemporary capitalist
state“ (Jessop 1993: 17).
12 Die Übertragung von Schumpeters Idee der Konkurrenz aus dem Bereich der Ökonomie auf den
Bereich der politischen Organisation von Demokratie verdeutlicht Scheuermann wie folgt: „Die
1.1 Demokratie als Methode (elitärer Führung) bei Joseph A. Schumpeter 9
Stimmen der Wählenden eine Herstellung von Ordnung der verschiedensten Inte-
ressenlagen, weil der politische Führer in der Entwicklung seiner Positionen die
vorgefundenen „Willensäußerungen organisiert“ (ebd.: 430). Im Bilde Schumpe-
ters ist Führung eine naturwüchsige Größe, die durch „ein Mindestmaß an Wett-
bewerb der Eliten“ darauf gerichtet ist, „effektive politische Führer“ hervorzubrin-
gen, um „damit dauerhafte Stabilität zu erreichen“ (Scheuermann 2002: 420). In
diesem Sinne bestimmt er Demokratie zum anderen als eine Art Markthandel, bei
dem der Politiker „mit Stimmen handle, wie [andere] mit Öl handeln“ (Schumpe-
ter 2005: 453). Folgerichtig ist für Schumpeter Demokratie „die Herrschaft des
Politikers“, bei der „das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen
sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen“ (ebd.: 452). Das Funktionieren dieses „de-
mokratischen Spiels“ (ebd.: 478) benötige qualifiziertes Personal in Parteien und
Parlament sowie ein entsprechend „intellektuelles und moralisches Niveau der
Wählerschaft“ (Massing 2012: 226), verknüpft mit der Akzeptanz des Verfahrens
in „der großen Mehrheit der Bevölkerung“ (Schumpeter 2005: 478). Darüber hin-
aus bestehe die Notwendigkeit einer Institutionalisierung und ausgebauten Büro-
kratie als funktionssichernde Stützen dieser Prinzipien. An diesem Punkt verdeut-
licht sich der funktionale Zusammenhang seiner Idee von Demokratie. Demokra-
tie repräsentiert für Schumpeter ein Ordnungsprinzip zur Herstellung von Herr-
schaft und Unterordnung der Allgemeinheit unter eine Elite. Dabei ist für ihn we-
sentlich, dass „der wirksame Bereich politischer Entscheidung nicht allzu weit
ausgedehnt wird“ (ebd.: 463) und durch die institutionelle Organisation verschie-
denster Interessenlagen mithilfe politischer Führung entsprechend kanalisiert wer-
den kann. In diesem Sinne ist die von ihm für die „klassische“ Theorie diagnosti-
zierte Unmöglichkeit der Vernunft einer „Macht des politischen Entscheides“
(ebd.: 427) in der Gewalt des Volkes durch eine funktionale Einordnung der Wäh-
lenden in ein Prinzip der Stimmabgabe umzukehren und in der Folge durch Pro-
duktion einer Regierung elitärer Führung beherrschbar.13
kreativen Aktivitäten des Unternehmers, nicht die wechselnden Strömungen im Geschmack der
Konsumenten, sind für Schumpeter die Grundlage wirtschaftlicher Entwicklung. Verbraucher
reagieren lediglich auf unternehmerische Innovationen. Auf eine ähnliche Art reagiert der Wäh-
ler bestenfalls auf politische Initiativen derer, die das Glück haben, Führungsqualitäten zu besit-
zen“ (2002: 416).
13 Beispielsweise in diesem Gedanken sieht Schumpeter eine realistische Betrachtungsweise be-
gründet, weil Kollektive Führung benötigen würden und dies „der beherrschende Mechanismus
[...] jedes kollektiven Handelns“ (Schumpeter 2005: 429) sei. Die Wählenden sieht er als ein
zuzurichtendes, manipulierbares Kollektiv, was als „Wählermasse keiner andern Haltung als der
Panik fähig ist“ (ebd.: 450). Entsprechend erzeugen „Parteipolitiker und Parteimaschinen“ (ebd.)
ein die Wählenden ordnendes und führendes Prinzip.
10 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien
Der Anspruch von Schumpeter, eine realistische Idee von Demokratie zu entwi-
ckeln und den Diskurs von den „klassischen“ Vorstellungen mit ihren normativen
Ansprüchen zu befreien, ist verallgemeinernd als eine Verdoppelung der Welt zu
sehen. In Ignoranz einer historischen Entwicklung demokratischer Ideen und ihrer
politischen Ausdrucksformen ist das, was er als demokratietheoretische Überle-
gungen freilegt, eine Definition der Demokratie „durch ihren tatsächlichen Appa-
rat“ (Habermas 1973: 9). In diesem Zusammenhang steht vor allem die funktional
beschränkte Perspektive von Partizipation in der Kritik. Partizipation erfährt einen
Zuschnitt als formalistisches Prinzip mit der Funktion der Organisation staatlicher
Herrschaft. Pateman vermerkt dazu: „The only means of participation open to the
citizen in Schumpeter’s theory are voting for leaders and discussion. [...] All that
is entailed is that enough citizen participate to keep the electoral machinery – the
institutional arrangements – working satisfactorily“ (1970: 5). Partizipation der
Menschen als Staatsbürger versteht sich so als quantitative Größe, die „nur im
Hinblick auf das Funktionieren eines vorhandenen Systems bestimmt wird“ und
so gleichzeitig Ausdruck einer beschränkten Qualität „politischer Beteiligung“ sei
(Habermas 1973: 11). In der Perspektive, den Staat als Instrument zur Einrichtung
von Herrschaft zu betrachten, erkennt Habermas einen „Fortschritt“, der allerdings
mit dem Preis der Beschränkung von Demokratie als politischer Methode zu be-
zahlen ist: „Demokratie gilt fortan als eine bestimmte Methode; ihre Einrichtun-
gen erscheinen formal als ein System möglichen Gleichgewichts; und am Ende
brauchen nur die Gleichgewichtsbedingungen zureichend erkannt zu werden, um
den Apparat sachgemäß zu steuern“ (ebd.: 10). Demokratie in dieser „sozialtech-
nische[n] Auffassung“ löse sich „vom realen Prozess ihres gesellschaftlichen Ur-
sprungs“ und wird zum einen als methodisches Verfahren auf „beliebige Situatio-
nen“ übertragbar (ebd.: 10).14 Zum anderen wird „Beteiligung isoliert, losgelöst
von dem, woran man teil hat und worin solche Beteiligung sich erst verwirklicht“
(ebd.: 11). Ausgangspunkt der Kritik von Habermas ist eine zwar widersprüchli-
che, aber für ihn wesentliche Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, „die
politische Mündigkeit des Volkes“ und ein Wandel „vom Untertan zum Staatsbür-
ger“ (ebd.: 48). Diesen Zugewinn an politischer Selbstbestimmung sieht Haber-
mas in der Perspektive Schumpeters schwinden. In Anerkennung dieser Überle-
gung ist allerdings gleichzeitig ihre Engführung zu kritisieren, denn der Zugewinn
an politischer Emanzipation „emanzipiert nur den abstrakten Staatsbürger und
nicht den ganzen Menschen, nur den rechtlich-politischen Menschen und nicht
14 Vgl. hierzu z. B. auch Kreisky: Für die Idee von Demokratie als Methode ist „ein Minimum an
Spielregeln zu respektieren“ sie ist deshalb flexibel für „jede politische Ordnung geeignet“
(2001: 58).
1.3 Zu einer zweiten Kritik an Schumpeter 11
den Menschen als soziales Wesen“ (Kofler 1992: 261). Mit der Figur des recht-
lich-politisch freien Menschen als Staatsbürger ist eine rechtliche Gleichstellung
von Herrschenden und Volk verknüpft, was wiederum auch bedeutet, dass in der
so bestehenden formalen Gleichheit bestehende Herrschaftsverhältnisse nicht the-
matisiert und schon gar nicht aufgehoben sind. Mit Blick auf die Frage der politi-
schen Selbstbestimmung verweist Habermas darauf, dass sich die Tendenz der
Schumpeter’schen Auffassung in der Form des heutigen liberalen Rechtsstaates
widerspiegele, wenn sich beispielsweise das Grundgesetz in Deutschland „vom
Misstrauen gegen plebiszitäre Entscheidungen“ (Habermas 1973: 49) leiten lässt.
Hieran anknüpfend kritisiert Habermas die beschränkte Form der demokratischen
Mitbestimmung, die auf die Möglichkeit, „das Parlament zu wählen“ (ebd.), redu-
ziert sei. Im Widerspruch hierzu ist gleichzeitig der rechtliche Status des Staats-
bürgers im modernen Rechtsstaat vor allem durch Grundrechte und Gesetzge-
bungsverfahren begründet, die „den Staatsbürgern die Ausübung ihrer politischen
Autonomie sichern“ (Habermas 1998: 110) würden. Die hiermit verknüpfte Mög-
lichkeit einer Verbindung des subjektiven Rechts „auf die chancengleiche Teil-
nahme an der demokratischen Willensbildung mit der objektiv-rechtlichen Er-
möglichung einer institutionalisierten Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestim-
mung“ (ebd.: 209) sieht Habermas als den Ausdruck des Prinzips der Volkssou-
veränität. Den Unterschied zur Kanalisierung von Beteiligung im funktional-for-
malistischen Verständnis von Demokratie bestimmt Habermas daher als eine
„Ausübung von Herrschaft“, die sich durch Gesetzgebung legitimiert, „die sich
die Staatsbürger in einer diskursiv strukturierten Meinungs- und Willensbildung
selber geben“ (ebd.: 209-210).
bar sei, was gleichzeitig voraussetze, dass die Bürger ein Bewusstsein als Staats-
bürger entwickelten und sich „Herrschaft [...] durch die vernünftige Selbstbestim-
mung mündiger Menschen vermittelt“ (ebd.).15 Entsprechend müssten die Institu-
tionen der parlamentarischen Demokratie „darauf bedacht sein, auch mit Mitteln
der Meinungslenkung, dies Bewusstsein herzustellen und zu erhalten“ (ebd.).
Diese Bedingtheit eines verdichteten, normativen Gehalts der Institutionen parla-
mentarischer Demokratie wird von Schumpeter ausgeblendet.16 In der Folge be-
schränkt sich das Politische auf einen institutionell abgesteckten Funktionsraum
und findet seinen Ausdruck ausschließlich in der Ausformung einer staatlich-in-
stitutionalisierten, instrumentellen Praxis.17 Gleichzeitig werden „Handlungssphä-
ren außerhalb“ institutionalisierter demokratischer Formen ausgeschlossen oder
als unangemessene Ausweitung des Demokratischen angesehen (vgl. Scheuer-
mann 202: 425). Diese Sichtweise erlaubt es Schumpeter, die Trennung von „Pri-
vatem und dem Öffentlichen innerhalb des zeitgenössischen Kapitalismus“ (ebd.)
und letztlich das „Politische“ getrennt vom „Ökonomischen“ aufrechtzuerhalten.
Die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse bleiben unberührt. An dieser Stelle
tritt auch offen zutage, was Schumpeters grundlegende Schwierigkeit mit norma-
tiven Entwürfen der Demokratie ist. Der von ihm kritisierte Anspruch dieser The-
orien, ein „Gemeininteresse“ formulieren zu können, sieht in diesem Anliegen
nicht nur eine Form der Vereinheitlichung von Interessen und harmonistischer
Tendenzen zur Bereinigung gesellschaftlicher Konflikte. Schumpeters Kritik rich-
tet sich insbesondere gegen die mit der Idee des Gemeinwohls formulierten An-
sprüche von „unten“, Formen privilegierter Herrschaft infrage zu stellen und in
diesem Sinne das Private hin zum Öffentlichen zu verflüssigen.18 Dieser Gedanke
15 Habermas schreibt: „Die parlamentarischen Demokratien des Westens“ und ihre Idee von De-
mokratie haben „zur einzigen Legitimationsgrundlage [...] das Bewusstsein, dass die Staatsge-
walt vom freien und ausdrücklichen Consensus aller Bürger getragen ist“ (1973: 13).
16 Wie Scheuermann hervorhebt, war es Schumpeter nur möglich, eine realistische Perspektive auf
Demokratie zu behaupten, „weil er die Ideengeschichte der Demokratietheorie erheblich ver-
zerrte“ (2002: 425).
17 Grundsätzlich teilen Anthony Downs (1968) und Arend Lijphart (1999) diese instrumentelle
Perspektive des Politischen. Entsprechend konzentriert sich Downs auf den Aspekt des Wählens
und den Versuch seiner Berechenbarkeit. Lijphart geht es um einen systematischen Vergleich
von Strukturen unterschiedlicher staatlicher Demokratien (Stichworte sind hier z. B. die Diffe-
renzen von „majoritarian and consensus democracy“, 1999: 171 f.) und ihrer Leistungsfähigkeit.
18 Würde sich Schumpeters Kritik direkt auf Rousseau beziehen, wäre den im Gemeinwohl formu-
lierten Ansprüchen noch ein weiterer konflikthafter Punkt hinzuzufügen. Gemeinwohl bei
Rousseau versteht sich als das „Gemeinsame“ im Gesellschaftsvertrag zur „sittlichen Gesamt-
körperschaft“ zusammengeschlossene „gemeinschaftliche Ich“ (2013: 18). Die staatliche Kör-
perschaft verkörpere den Souverän (ebd.: 19 f.). In diesem Zusammenhang formuliert er Über-
legungen zum Grundbesitz: „Es ist nicht etwa so, dass durch den Akt der Besitz, indem er in
andere Hände übergeht, seine Natur änderte und Eigentum würde in den Händen des Souveräns:
aber da die Kräfte der Polis unvergleichlich größer sind als die eines Einzelnen, ist der öffentliche
1.3 Zu einer zweiten Kritik an Schumpeter 13
Besitz in der Tat auch stärker und unwiderruflicher, ohne rechtmäßiger zu sein. [...] Das Recht
eines [...] Besitznehmers wird [...] erst nach Einführung des Eigentumsrechts ein wirkliches
Recht. [...] In diesem Recht achtet man weniger, was einem anderen gehört, als das, was einem
selbst gehört“ (ebd.: 24). Hieran anknüpfend hat die „gemeinschaftliche Körperschaft“ aus der
sich der staatliche Souverän formuliert zwei Dimensionen. Zum einen gilt die Ansammlung und
Summierung des Grundbesitzes der Einzelnen als Grundlage des „Staatsgebiets“ verknüpft mit
der Situation einer „größere[n] Abhängigkeit“ der Besitzer vom staatlichen Souverän (vgl. ebd.:
25). Zum anderen kann es „vorkommen, dass die Menschen sich zu vereinigen beginnen, ohne
irgendetwas zu besitzen, und dass sie sich danach eines für alle ausreichenden Gebietes bemäch-
tigen und es gemeinsam nutzen oder unter sich aufteilen, sei es zu gleichen, sei es zu durch den
Souverän festgelegten Teilen“ (ebd.: 26). Der Reibungspunkt Schumpeters mit Rousseau wäre
dann: „Auf welche Weise dieser Erwerb auch vor sich geht, das Recht, das jeder Einzelne an
seinem eigenen Boden hat, ist immer dem Recht der Gemeinschaft auf alle untergeordnet“ (ebd.).
Letztlich geht es Schumpeter um die Frage der Freiheit einer privaten Verfügung über Eigentum
und – hiermit verknüpft – deren staatliche Absicherung. In der Frage der Auffassung von De-
mokratie als Ausformung eines institutionellen Arrangements sind sich Schumpeter und
Rousseau erstaunlich ähnlich (vgl. hierzu Rousseau zum Stichwort Demokratie 2013: 74 f.). Al-
lerdings ist an dieser Stelle nicht der Platz die Gemeinsamkeiten bzw. Differenzen sowie eine
notwendige Kritik an beiden herauszuarbeiten.
14 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien
19 Am Beispiel von Helmut Schmidt skizziert Wolfgang Fritz Haug Widersprüche zur Vorstellung
von Politik als Idee des Marktes: „Im Spiegel seines Bewusstseins erscheint das Feld der politi-
schen Kämpfe als Markt, der Politiker als Anbieter seiner selbst und des Programms seiner Par-
tei“ (2009: 53). Laut Schmidt stehe der Politiker in der Konkurrenz zu anderen in der Form der
„Eindruckskonkurrenz“ und kreiere sich und seine Partei als Marke. Im Kern setzt diese Idee
von Politik auf das „Ankommen“ analog zur Vorstellung vom „Ankommen von Waren“ (ebd.:
55). Politik versteht sich hierbei als Ware, die in den „Metaphern“ und der Sprache der Werber
zum „Konsumartikel“ geformt und nur verkauft werden müsse (vgl. ebd.: 55). Diese Perspektive
ist „fragwürdig, da Politik kein Konsumartikel“ sei und in diesem Denken die Interessen und
Bedürfnisse der Menschen zu „gleichgültigen Meinungsgegenständen“ würden (vgl. ebd.: 56).
1.3 Zu einer zweiten Kritik an Schumpeter 15
20 Pohl und Buchstein (1999) sehen Schumpeters Theorie als normativen Ansatz, da seine Absicht
darin bestehe, „Demokratie von überzogenen normativen Ansprüchen zu befreien“ (73). Unab-
hängig davon ist aber der Verweis von Pohl und Buchstein ein Hinweis darauf, dass empirisch-
funktionale Demokratietheorien „nie bloß die vorgefundene Wirklichkeit“ beschreiben, sondern
sie „interpretieren und organisieren sie unter einem besonderen Frageaspekt“ (Guggenberger
2010: 145). Auch insofern bauen Schumpeters Überlegungen auf normativen Annahmen auf.
Dieses Moment, meine ich, tritt in seiner Kritik bzw. Vorstellung von „Gemeinsinn“ und „Volks-
willen“ offen zutage. Vergleichbares gilt meines Erachtens auch für die demokratietheoretischen
Vorstellungen und Entwürfe von Downs, Dahl und Lijphart.
21 In diesem Zusammenhang muss die Vorstellung zum Sozialismus von Schumpeter entsprechend
eingeordnet werden. Zuspitzend setzt Sozialismus die formalisierte Form des Politischen in ge-
steigerter Art und Weise fort. Die hierin deutlich werdende konservative Position Schumpeters
(und unter Verwendung des Begriffs Sozialismus irreführende Kritik) kann mit Berthold Brecht
einsichtiger hervorgehoben werden: „Man darf nie vergessen, dass der Hauptvorwurf aller kon-
servativen Elemente gegen den Sozialismus, er stelle eine Fortführung (und also wenn man will:
eine Steigerung) des Kapitalismus dar, eine einfache Wahrheit ist, die noch nicht alle Sozialisten
begriffen haben“ (1977: 48).
16 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien
kratie sowie ihrer staatlich instrumentalisierten Form des Politischen wird die For-
malisierung zur Bedingung, die Trennung und den Widerspruch zwischen ökono-
mischer Macht und politischen Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft ausba-
lancieren zu können.22
Verallgemeinernd lässt sich der bis hier skizzierte Hintergrund als ein Span-
nungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen verstehen, welche
sich als Prinzipien konflikthaft und wechselseitig ausschließend gegenüberstehen.
Habermas deutet dieses Spannungsfeld an: „Rousseau [...] versteht Freiheit als
Autonomie des Volkes, als gleiche Teilnahme aller an der Praxis der Selbstgesetz-
gebung. [...] Die Kritiker machen geltend, dass sich die Fiktion des einheitlichen
Volkswillens nur um den Preis einer Verschleierung oder Unterdrückung der He-
terogenität der Einzelwillen verwirklichen lasse“ (1998: 610-611). Umstritten ist
somit nicht nur der von Schumpeter kritisierte „Volkswille“, sondern auch die hie-
ran geknüpfte Vorstellung einer Autonomie des Volkes. Mit Habermas gespro-
chen „ist es die Furcht des Bourgeois vor der Überwältigung durch den Citoyen“,
die als „Kritik an der ,Tyrannei der Mehrheit‘“ die „vorpolitischen Freiheiten des
Einzelnen in Gefahr“ sieht und Einschränkungen des Gleichheitsprinzips fordere
(ebd.: 612). Demgegenüber stehe die Idee der „praktischen Vernunft, die sich in
der Verfassung verkörpert“ und in diesem Moment in den Konflikt mit der Idee
des „souveränen Willen[s] der politischen Massen“ gerate (ebd.). An dieser Stelle
zeigt sich ein weiterer konflikthafter Bereich demokratietheoretischer Annahmen.
Dieser entzünde sich zentral an der Frage des Volkssouveräns sowie dessen grund-
legende Bestimmung. Die Idee der Volkssouveränität gilt als grundlegend „für
moderne, demokratisch verfasste Gesellschaften“ (vgl. Demirovic 1997: 100;
auch Maus 2011: 22 f.).
22 Vgl. zur letzten Überlegung Reimut Reiche und Bernhard Blanke mit ihren Überlegungen zu
Widersprüchen von „Kapitalismus, Faschismus und Demokratie“ (1972). Am Beispiel der his-
torischen Entwicklung vom Faschismus diskutieren sie demokratietheoretische Annahmen, die
versuchen, die Historie des Faschismus zu erklären. Hierbei verdeutlichen sie, dass formal-in-
strumentelle Modelle der Demokratie darauf zielten, „Individuen an die bestehende Herrschaft“
anzupassen sowie ein „gespaltetes Bürgertum [...] wieder zu vereinigen, wenn es gelingt, die
ökonomische Macht der einen mit den politischen Ansprüchen der anderen zu versöhnen. Das
leistet die formalisierte Pluralismustheorie. Je gründlicher sie die Trennung von Gesellschaft und
Staat, von Privatsphäre und Politik durchführt, desto besser lässt sich die alte Citoyenhoffnung
aufrechterhalten, die Konkurrenz freier und gleicher Individuen sei garantiert“ (ebd.: S. 29). Au-
ßerdem ist die Anmerkung von Eva Kreisky zu beachten: Die Form dieser Politik spiegelt sich
als „politische Praxis westlicher Demokratien“ wider, wie es etwa in der Kritik von Habermas
aufgegriffen worden ist (vgl. 2001: 56). Kreisky verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass
„Schumpeters Theoretisierung“ gleichzeitig die „passende Hintergrundideologie eben dieser De-
mokratieentwürfe des Westens abgibt“ (ebd.). Anknüpfend hieran spiegelt die Politikidee von
Schumpeter spezifische Politikformen von oben wider, die im Kontext neoliberaler Vergesell-
schaftung beispielsweise als Muster populistischer Politikkonzeptionen skizziert werden (vgl.
hierzu im Einzelnen: Jessop 1996a: 366 f.; Steinert 1998: 164 f.; Cremer-Schäfer 2015: 22 f.).
1.4 Volkssouveränität 17
Alex Demirovic zufolge verdichten sich in der Vorstellung vom Volk zwei Be-
deutungen: Zum einen ist es „letzter Referenzpunkt“, zum anderen „das Volk, auf
das eingewirkt wird“ (Demirovic 1997: 101). Existiert es als einheitliche Körper-
schaft „nur in Form der imaginären Inanspruchnahme in den Staatsapparaten [...],
kann es sich nicht dagegen wehren, ein repräsentatives Volk zu sein“ (ebd.). In
diesem Zusammenhang ist Volk als Souverän und identitäres Subjekt zu kritisie-
ren. Indem die verschiedenen sozialen Gruppen sich nicht dagegen wehren kön-
nen, „dass irgendjemand im Namen des Volkes spricht, weil sie ja selbst niemals
das ganze Volk sind“, ergibt sich ein Konflikt mit „undemokratischen Konsequen-
zen“ (ebd.). Entsprechend setzen sich in diesem Prozess nur einzelne Interessen
durch. Sind diese in der Form des Volkswillens verallgemeinert, entstehen kon-
flikthafte Situationen, bei denen einzelne soziale Gruppen feststellen, dass sie dif-
ferente eigene Interessen haben, und sie beginnen, für deren Legitimität, Verallge-
gemeinschaft nach „innen hin inklusiv“ und nach „außen hin exklusiv“ (Loick
2012: 101), wodurch in die Rechtsgemeinschaft ein Gewaltverhältnis eingeschrie-
ben ist (vgl. ebd.: 96 f. u.181 f.).
Ähnlich sieht Giorgio Agamben im Begriff des Volkes „eine dialektische Oszilla-
tion zwischen zwei entgegengesetzten Polen: auf der einen Seite die Menge „Volk“
als integraler politischer Körper, auf der anderen Seite die Untermenge „volk“ als
fragmentarische Vielfalt von bedürftigen und ausgeschlossenen Körpern“ (Agam-
ben 2002: 187). Entsprechend bestimmt er die im Begriff „Volk“ ausgedrückte „ori-
ginäre politische Struktur“ als kategorialen Gegensatz: „nacktes Leben (volk) und
politische Existenz (Volk), Ausschließung und Einschließung“ (ebd.). Entsprechend
zeichne sich „die moderne Politik“ dadurch aus, dass „die Ausnahme überall zur
Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt“ (ebd.: 19). Der
Ausnahmezustand, in dem das nackte Leben „zugleich von der Ordnung ausge-
schlossen und von ihr erfasst“ werde, habe gerade in seiner Abgetrenntheit das „ver-
borgene Fundament“ geschaffen, „auf dem das ganze politische System ruhte“
(ebd.). Diejenigen, die vom „politisch relevanten Leben“ (148) ausgeschlossen
seien, das „Volk der Ausgeschlossenen“ (188), stünden im „Niemandsland“ (100).
Zur Sprache gebracht ist damit ein menschliches Leben, welches durch die Flieh-
kräfte der oszillierenden Prozesse von Einschließung und Ausschließung nach außen
getrieben oder draußen gehalten wird. Da sowohl für bürgerliche Demokratien als
auch für totalitäre Staaten das „nackte Leben“ gleichermaßen, wenn auch auf unter-
schiedliche Weise, „zur fundamentalen Referenz“ geworden sei, verlören sich hier-
bei die „politischen Unterscheidungen“ (ebd.: 130).
Wolfgang Fritz Haug kritisiert, dass Agamben „hierdurch aller liberalen De-
mokratietheorie und Philosophie der Zivilgesellschaft den Garaus macht“ und „die
Perspektive ihrer Auf- und Höherhebung durch Überwindung der Klassengesell-
schaft zum Erlöschen“ bringt (Haug 2010: 51). Im Term des „nackten Lebens“
finde sich „die Reduktion der von der souveränen Macht Überwältigten“ (Bogdal
zit. nach ebd.: 52). Herrschaftsmacht werde zugleich „entnannt und totalisiert“,
der „Praxisperspektive progressiver Kritik“ der Boden entzogen (ebd.). Bei den an
Agamben anschließenden Interpretationen (wie z. B. von Raul Zelik) sei der An-
satz eines „popularen Souveränitätsbegriffs ausgeschaltet und Volkssouveränität
als konstituierende Macht von unten undenkbar“ (ebd.: 58). Indem alles Recht aus
der Gewaltsphäre jenseits allen Rechts abgeleitet werde, verschwinde eine „in
Wirklichkeit unhintergehbare geschichtliche Rechtsquelle“, die durch die „anta-
gonistische Reklamation von Gerechtigkeit [...] in die Setzung von Recht mündet
und in der dessen unaufhebbarer Kompromisscharakter gründet“. Im Unterschied
20 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien
zum politischen Kompromiss (den Walter Benjamin kritisiert) sei dies der Aus-
druck einer „ideologischen Verdichtung [...], die gleichsam die Sprache selbst,
nicht nur das Reden der Verhandelnden verändert und die widersprüchliche Leis-
tung der ideologischen Unterwerfung in der Form der Selbsttätigkeit ermöglicht“
(ebd.). Erscheinen bei Agamben die „Ausgeschlossenen“ als passiv, werden hier
die eigenaktiven Momente, wird somit Widerständiges überhaupt erst fassbar. Ins
Blickfeld rücken die alltäglichen Verhältnisse von Selbst- und Fremdbestimmung
und damit die Frage, wie „Oben“ und „Unten“ bzw. „das aktive Verhältnis der
Unterdrückten zum ideologisch Höchsten vermittelt sind“ (Haug 1987: 49).
Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie in diesem Verhältnis eine Perspektive poli-
tischer Souveränität als aktiv selbstbestimmtes Moment des Widerständigen arti-
kuliert werden kann.
Hierzu lassen sich aus Walter Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ wider-
ständige Dimensionen aus einer Akteursperspektive der Subalternen entwickeln.
Im Anschluss an Sorel differenziert er zwischen politischem und proletarischem
Streik. Beides seien Formen, die sich in jeweils spezifischer Weise gegen die Be-
schneidungen von Selbstbestimmung richten und so gleichzeitig Reibungspunkte
widerständigen Handels bilden. In diesem Sinne ist die Idee Benjamins auch eine
Skizze von Handlungsfähigkeit des Widerständigen sowie seiner Begrenzungen
als Ort von Souveränität. Hierfür lassen sich zwei Dimensionen beschreiben.
Mit Blick auf den politischen Streik kann man mit Benjamin das Widerstän-
dige als Reibung an gesetzten Grenzen skizzieren. Dabei zirkuliert Widerstand
widersprüchlich zwischen dem Anspruch, eingreifend zu handeln, und dessen Be-
grenzung. Diese liegt in der Orientierung am vorgegebenen Streikrecht, welches
zwar einerseits die Form des organisierten Protests ermöglicht, aber gleichzeitig
den Staat als intervenierende und das Recht relativierende Größe ins Spiel bringt
(z. B. Sonderverfügungen vgl. Benjamin 1965 b: 37). Entsprechend sei der politi-
sche Streik als gewalthafte Größe zu erkennen, da er „nur eine äußerliche Modifi-
kation der Arbeitsbedingungen veranlasst“ (ebd.: 51). Die entfremdete Form von
Arbeit und Gesellschaft werde nicht angetastet, sondern in ihrer hierarchischen
Gliederung aufrechterhalten. Die hiermit verknüpfte Form des Widerstands orien-
tiert sich am Rahmen vorgegebener Möglichkeiten, mit dem Effekt, die entfalteten
Aktivitäten auf eine Veränderung des Bereichs der Politik zu konzentrieren.25 Die
25 Hierzu ist anzumerken, dass Walter Benjamin das „Politische“ als das Staatliche versteht. Diese
Sichtweise unterscheidet sich beispielsweise vom erweiterten Verständnis des Politischen im
1.4 Volkssouveränität 21
heutigen Sinne als das „Vorstaatliche“, wie es etwa Oskar Negt und Alexander Kluge in ihrem
Buch Maßverhältnisse des Politischen (1993) umreißen.
22 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien
Ideen seien vor allem in ihrer Möglichkeit des Werdens hervorzuheben, um Herr-
schaftsverhältnisse und ihre Verfügungsgewalt erkennen, kritisieren und verän-
dern zu können.
Diese Überlegungen sind zur Gewinnung einer kritischen Vorstellung von
Souveränität weiter zu vertiefen. Ich möchte deshalb an dieser Stelle einige Ge-
danken von Ernst Bloch zu den Stichworten Freiheit, Gleichheit und Brüderlich-
keit aufnehmen und ihre aufeinander bezogene bedingte Dreiheit der Begriffe her-
ausarbeiten. Ihre Geschichte sei eine „voller Vieldeutigkeit“ und unterschiedlicher
Schichtungen (Bloch 1985c: 176; vgl. auch Bloch 1985b: 614 f.). Diesem Gedan-
ken soll am Beispiel des Verständnisses von Freiheit gefolgt werden. Sie bedeutet
zunächst, „dass einem Menschen nichts mehr von außen her aufgetragen wird“,
wobei die psychologische Freiheit des Willens nur in der Art vorausgesetzt sei, als
dem Menschen die Kraft zugestanden wird, „zwischen widerstreitenden Antrieben
wählen zu können“ (ebd.). Wahlfreiheit ist auf „verschiedenste Weise, organisch
wie sozial determiniert“ (ebd.) und es gilt, das hierin liegende „Reiz-Reaktions-
schema“ zu überwinden (vgl. Schiller 2012: 150 f.). In diesem Sinne hat der
Mensch eine „Wahlfreiheit“, derer „politisch-soziale Freiheit“ insofern bedarf, als
diese den Willen als die Entwicklung eines Bewusstseins von der Notwendigkeit
einer Befreiung von „Zwang“ und „Druck“ voraussetzt (Bloch 1985c: 177). So
wird der Blick auf „Handlungsfreiheit“, die im „politisch-sozialen Kampf“ tätig
angeeignet und verwirklicht werden muss (ebd.), ermöglicht. Freiheit ist gefasst
als eine Bewegung von einer „Freiheit von etwas“, „Freiheit von Druck“, der „den
aufrechten Gang verhinderte und verneinte“, hin zu Formen erweiterter Hand-
lungsfähigkeit (ebd.: 177 f.). Ist diese Perspektive positiv gerichtet, ist sie dennoch
in den historischen Prozessen gebrochen und in den hervorgebrachten Epochen
und Gesellschaftsordnungen widersprüchlich gebunden. Bloch verweist z. B. auf
den Wandel der feudalen Ordnung hin zur „bürgerlichen Lebensform“ (ebd.: 178).
Wesentliche Triebkraft für diesen Wandel sei den Produktivkräften zugekommen,
„denen die überkommene Lebens- und Gesellschaftsform zur Fessel geworden
war“ (ebd.). Die „Freiheit von der feudalen Ordnung“ sei der Gewinn „einer
neuen, zunächst bürgerlich geratenden Lebensordnung“ (ebd.) gewesen. Positiv
verknüpft sei hiermit einerseits die Assoziation von Freiheit gewesen; als „der Un-
verletzlichkeit der Würde der Person“, andererseits sei die mit der bürgerlichen
Gesellschaft gewonnene Freiheit eine gewesen, die im „Profitwillen“ die „Selbst-
bestimmung des mündigen Menschen“ (ebd.) in die eines „individuellen Wirt-
schaftssubjekts“ (ebd.: 178) kanalisiert und formalisiert habe. Insofern sei den
Produktivkräften eine Fessel genommen worden; Handlungsfreiheit aber „war bei
bleibender ökonomischer Abhängigkeit den meisten Menschen nach wie vor ver-
riegelt“ (ebd.).
1.4 Volkssouveränität 25
In der Perspektive von unten allerdings ist das Ideal von selbstbestimmter
Handlungsfreiheit nicht abgegolten. Im Gegenteil: Es erweiterte sich, um die mit
der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebrachte Entfremdung und somit perspekti-
visch „das Reich der undurchschaubaren Abhängigkeiten überhaupt verlassen“ zu
können (ebd.: 179). Impulsgebend hierfür bestimmt Bloch die Dimension der ethi-
schen Freiheit, die sich gegen eine „bloß inwendige“ Perspektive und damit gegen
die Privation einer Freiheitsidee richtete. Als Kernbestandteil von Handlungsfrei-
heit sei ethische Freiheit ein aktives Gestaltungsverhältnis in der Welt, das sich
„nicht in der Stille, sondern [...] im Strom der Welt“ bilde (ebd.: 181). Hieran an-
schließend sieht Bloch im „homo liber [...] das Gegenteil von Privatheit“ (ebd.:
180). Er zeichne sich durch „öffentliche Unbeugsamkeit aus“ (ebd.: 180 f.) und
könne somit als Praxis einer Verflüssigung der Privatheit hin zur Öffentlichkeit
verstanden werden. Die Zielrichtung sei hierbei eine „Fülle in Einheit. Das ist das
Gleiche wie Solidarität, als reich bewegter Zusammenklang der individuellen und
der gesellschaftlichen Kräfte“ (Bloch 1985b: 621). Das Moment der ethischen
Freiheit verweist auf die Notwendigkeit kollektiver Prozesse der Solidarisierung
zur Erlangung von Handlungsfreiheit. Gleichzeitig ist es die Absage an Vorstel-
lungen von Solidarität in gebrochenen Formen der Entfremdung eines „harmonis-
tischen Betrugs [...] der Volksgemeinschaft“ als „Umarmung von Bestien“ (Bloch
1985c: 193).
Der unterscheidende Impuls liege in der Perspektive der Unterdrückten,
„nicht mehr Objekte bleiben zu wollen“ (ebd.). Wie Bloch hervorhebt, ist dies die
Blickrichtung der Befreiung. Die Einsicht, „nicht mehr Objekte bleiben zu wol-
len“, der Fremdbestimmung selbstbestimmt entgegenzutreten, erzeugt die Mög-
lichkeit, den „Hass zwischen den Rassen, den Nationen, den Religionen“ aufzu-
heben (ebd.). Hierin liege zum einen die konkrete Erfahrung der Überschreitung
einer Grenze hin zur Erfahrung des „objektiv-real Möglichen“, menschlicher zu
sein, die Welt notwendig kollektiv eingreifend gestalten zu können (Bloch 1985a:
271 f.). Zum anderen erzeuge dieses Moment Gleichheit: „Der Freiheitskampf er-
zeugt Gleichheit; die Gleichheit als Ende der Ausbeutung und Abhängigkeit erhält
die Freiheit, die Brüderlichkeit lohnt eine Gleichheit, worin es keiner mehr nötig
hat, ja überhaupt in der Lage ist, dem anderen ein Wolf zu sein“ (Bloch 1985c:
194). Die Denk- und Handlungsweisen des Individuums sind Bloch zufolge mit
denen der anderen verknüpft. Die Handlungsmöglichkeit dieses kollektiven Zu-
sammenhangs hebe gleichzeitig die Notwendigkeit des individuellen Beitrages am
Gemeinsamen hervor. Gleichheit in diesem Sinne sei keine „mechanische“, keine
„statische“ Größe als Gradmesser eines „Durchschnitts“, sondern habe die Auf-
gabe, die „ungekommene menschliche Identität“ hervorzubringen (ebd.: 191). Sie
„markiert den Ernst“ und bildet den „soliden Corpus“ kollektiver Handlungsfä-
higkeit des Widerständigen (ebd.: 189).
26 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien
Für die weitere Bestimmung einer Perspektive des Politischen von unten können
drei Fragen als Orientierung dienen, die Oskar Negt und Alexander Kluge wie
folgt formuliert haben: 1. „Bleibt im Alltag etwas verborgen, vereinzelt und pas-
siv?“, 2. „Gelangt eine Konstellation alltäglicher Gefühle zu einem öffentlichen
politischen Ausdruck, bildet etwas eine gemeinsame Bewegung?“ und 3. „Hat
1.5 Begriff eines Politischen von unten 27
26 An dieser Stelle kann ich nicht vertiefend auf die Überlegungen zur „Produktion des Raumes“
von Henri Lefebvre eingehen. Interessant finde ich die Überschneidung und Wechselwirkung
dreier von ihm skizzierten Dimensionen, der „räumlichen Praxis“, den „Raumpräsentationen“
und den „Repräsentationsräumen“ (2012: 333). Letztere skizziert in dieser Dreiheit „Freiräume“,
die sich die Menschen z. B. durch Bilder und Symbole aneignen und in diesem Produktionspro-
zess Phantasien freilegen, Wünsche entdecken, die in ihrer Perspektive über die Idee der Gegen-
wart hinausschießen und so Möglichkeiten hervorbringen können, konkrete Praxen des eingrei-
fenden Handelns zu entwickeln.
28 1
bung und Aufhebung der Grenze zwischen dem Politischen und dem Ökonomi-
schen. Die hier angedeutete Dynamik eines Politischen von unten steht allerdings
im Widerspruch, sich durch die Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft zu formie-
ren. Dies bedeutet auch, dass der von mir skizzierte Begriff eines Politischen von
unten sich als Gegenstück zum Politischen des Formalen, des Funktionalen, des
Staatlichen versteht. Das Politische von unten und das Politische in seiner staatlich
institutionalisierten Form sind wechselseitig aufeinander bezogen. Im Begriff des
Politischen von unten artikuliert sich die emanzipatorische Hoffnung, die repres-
sive Form des Politischen zu verändern und zu überwinden. Einerseits wird so das
Politische als Entwicklungsprozess erkennbar, der sich aus dem „Rohstoff“ sozi-
aler Kooperation erzeugt, und andererseits ist das Politische von unten selbst nur
als kooperativer Zusammenhang denkbar. Habe ich mit Oskar Negt und Alexan-
der Kluge das Politische von unten als einen Entwicklungsprozess beschrieben,
der sich in Abhängigkeit vom „politischen Rohstoff“ entwickeln kann, ist die im
Rohstoff bezeichnete Vielfalt menschlicher Ausdrucksweisen durch den Begriff
des Politischen selbst schon wieder beschränkt. Die Momente, in denen die Men-
schen die Lebensformen hervorbringen und „das praktizieren, was ihnen lebens-
wert erscheint und worin sie sich selber als Sinn und Zweck ihrer Lebenstätigkeit
fassen“, sind in ihrer Vielfalt reichhaltiger und nicht allein im Politischen auszu-
drücken (vgl. Haug 1993: 53).27 Ihre Entsprechung findet diese Perspektive im
Ausdruck des Möglichen von Ernst Bloch. Das Mögliche „des Noch-Nicht“ ver-
steht Bloch in zwei „Formen, subjektiv und objektiv: subjektiv als Noch-nicht-
Bewusstes und objektiv als Noch-nicht-Gewordenes. Das eine ist innen, das an-
dere ist außen. Beides sind Formen und Repräsentationen von Zukünftigem, also
Neuem, und zwar echt Zukünftigem, was noch nie war“ (Bloch 1975: 17). In die-
sem Zusammenhang bezeichnet der Dreiklang aus Freiheit, Gleichheit und Brü-
derlichkeit ein angelegtes „Vor-Bewusstsein eines Zustandes, worin Klassenge-
sellschaft nicht mehr gilt“ (Bloch 1985c: 197). Insofern ist die menschliche Ent-
wicklung unabgeschlossen, ein Weg des Vortastens, des Experimentierens und of-
fen gehalten in Richtung der Entwicklung einer umfassenden Sinnlichkeit, wie ich
sie oben im Anschluss an Marx umrissen habe, die den „Rohstoff des Politischen“
einschließt.
27 Das von mir gewählte Zitat verweist auf die von Wolfgang Fritz Haug skizzierte Dimension des
„Kulturellen“, die wiederum in ihrer Verzahnung mit der Dimension des „Ideologischen“ zu
denken ist.
2 Normative Demokratietheorien
28 Auf die Theorie von Jürgen Habermas kann ich hier nicht eingehen. Die Überlegungen von Haber-
mas werden z. B. bei Demirovic (1997, 2007) einer kritischen Würdigung unterzogen. Eine Schwie-
rigkeit der demokratietheoretischen Überlegungen von Habermas, die Demirovic problematisiert,
ist die „Unterscheidung von Lebenswelt als der Sphäre der Alltagskommunikation und der gelebten
Intersubjektivität einerseits und den systemischen Bereichen von Ökonomie und Politik anderer-
seits“ (Demirovic 1997: 107). Die Bereiche der Ökonomie und Politik bleiben „von moralischen
Fragen“ entlastet und somit dem „Volkssouverän“ und dem gesellschaftlichen Einfluss entzogen
(ebd.). Dies bedeutet darüber hinaus auch, dass im Kontext deliberativer Demokratieentwürfe der
Bereich des Ökonomischen als eigene, unabhängige Handlungssphäre vom Bereich des Politischen
zu unterscheiden ist. Fragen der „Mitbestimmung“, die für den Bereich des Politischen von zentra-
ler Bedeutung sind (wie weiter oben erläutert), werden für den Kontext der Wirtschaft nicht thema-
tisiert (zur Problematisierung dieses Punktes vgl. Demirovic 2007: 101 f.). An anderer Stelle wäre
zu diesem Themenkomplex die Frage nach einer „demokratischen Planung“ im Bereich des Öko-
nomischen und dessen Verzahnung mit dem Politischen zu diskutieren. Carol Pateman hat dies
exemplarisch 1970 am Beispiel der Arbeiterselbstverwaltung in jugoslawischen Betrieben unter-
sucht (vgl. 1970: Kapitel V zum Stichwort „Workers’ self-management in Yugoslavia“, 85 f. und
Kapitel IV zum Stichwort „participation and democracy in industry“, 67 f.). Diese Thematik ist
weiterzudenken, dies in einer doppelten Weise. Einerseits sind die Erfahrungen mit der Arbeiter-
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_3
30 2 Normative Demokratietheorien
30 Vgl. z. B. auch die kommunitaristische Perspektive und Kritik bei Michael Walzer (1991, 1993,
1995).
32 2 Normative Demokratietheorien
Rechten und Linken Amerikas als auch im Ausland verfestigt (vgl. ebd.).31 Entspre-
chend lasse sich die Vorstellung einer „starken Demokratie“ nicht mehr begrenzt als
eine Reaktion auf ein amerikanisches Demokratiedefizit diskutieren, sondern müsse
im Kontext einer globalen Perspektive untersucht werden (ebd.: x).
Einen wesentlichen Grund, sich mit liberal geprägten Vorstellungen von Demo-
kratie auseinanderzusetzen, sieht Barber in der liberalen Auffassung vom mensch-
lichen Verhalten. Er schreibt: „Nach der liberalen Auffassung vom Menschen
wurde menschliches Verhalten als notwendigerweise selbstsüchtig, wenn auch auf
eine vormoralische Weise, dargestellt. Die Menschen gingen dabei soziale Bezie-
hungen ein, um sie für ihre individuellen Ziele zu nutzen“ (Barber 1994: 205 f.).
Mit Marx hält er die „Natur des Menschen als [...] gesellschaftlich bestimmt[...]“
und den „Menschen[...] als soziale[s] Wesen“ dagegen (ebd.: 206 f.). Kennzeichen
hierfür sei eine dialektische Interaktion, „in der sich Mensch und Welt einander
formen“ (ebd.: 207). Entsprechend gehe „die Theorie der starken Demokratie [...]
von der gesellschaftlichen Natur des in der Welt lebenden Menschen und der dia-
lektischen Interdependenz zwischen ihm und seiner Regierung aus. Folglich stellt
sie die Selbstverwirklichung des Menschen durch wechselseitige Transformation
in den Mittelpunkt des demokratischen Prozesses“ (ebd.: 207). Diese grundsätzli-
che Perspektive wird von Barber um drei Kritikpunkte am liberalen Verständnis
vom Politischen erweitert.32 Ein erster Kritikpunkt richtet sich gegen „reflexive
31 Heinz Steinert skizziert in seinen Erkundungen zur Demokratie in Amerika dieses Spannungs-
feld wie folgt: „In den letzten zwanzig Jahren haben wir in den USA das erstaunliche Schauspiel
einer Eroberung der Macht durch die Neo-Cons beobachten können, die in anderer Weise als die
ermüdend immer gleiche Herrschaftsproduktion Eigenschaften von Demokratie sichtbar macht,
die Tocqueville und der klassischen Demokratietheorie fern lagen: die Macht des Ressentiments
und seiner fundamentalistisch-religiösen Organisation; die Möglichkeit, dass eine solche Frak-
tion innerhalb einer großen Partei, den Republikanern, eine Position von bestimmendem Einfluss
gewinnen kann; vor allem aber den verblüffenden Effekt, dass dieses Ressentiment zugleich ge-
schürt und völlig von der Wirtschaft auf Moralfragen abgelenkt und insgesamt dazu benützt
werden kann, dieselben wirtschaftlichen Mechanismen, auf deren Effekt das Ressentiment be-
ruht, weiter freizusetzen, die Reichen reicher und den Armen das Leben noch schwerer zu ma-
chen. [...] Diese umfassende Machbarkeit hebt im Effekt alles auf, was mit ,Demokratie‘ einmal
in allgemeiner Beteiligung an der Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Zukunft gemeint war“
(2005: 545).
32 Mit einer Kritik am Liberalismus ist Barber im anglo-amerikanischen Kontext nicht allein.
Weitergehend formulieren Samuel Bowles und Herbert Gintis eine Kritik am Verhältnis von
Demokratie und Kapitalismus und stellen fest: „Capitalism, more than a system of resource
allocation and income distribution, is a system of governance“ ([1986] 1987: xi). In Orientierung
an Marx kritisieren sie den bürgerlich-liberalen Diskurs um Privatheit und Ökonomie. Die in
diesem Diskurs erfolgende Betonung von patriarchaler Familie (das Private) und Ökonomie als
2.1 Benjamin Barber – das Politische starker Demokratie 33
Ausgehend von den hier skizzierten Punkten geht es Barber mit seinem Modell der
starken Demokratie darum, die im politischen Liberalismus konservierte Privatheit
und funktionale Vorstellung von Demokratie zu öffnen. Eine funktionale Demokra-
tie als eine Regierungsform von oben lasse in ihrem Minimalismus und in einer Fo-
kussierung auf den „Schutz des Privatbereichs“ eine bürgerliche Kultur verkümmern
(Buchstein/Pohl 2012: 285). Ein hiermit verknüpfter autoritärer Habitus wirke letzt-
lich entpolitisierend – mit der Folge einer Passivierung der Menschen. Um diese
Verkümmerung zu verlebendigen und eine Aktivität der Bürger*innen von unten zu
entfalten, sieht Barber im Anschluss an John Dewey die Notwendigkeit einer De-
mokratie als Lebensform. Demokratie meint hierbei die Herausbildung einer „Poli-
tik menschlicher Beziehungen“ (Barber 1994: 10), die als Tätigkeit im menschlichen
Handeln gründet und aus diesem erwächst. Die Gestalt dieser Beziehungen sowie
die Richtung des Handelns gelten als konstitutiv für das Politische und insbesondere
für ein Verständnis dessen, was Demokratie sei.
Den Kern des Politischen bestimmt Barber allgemein als Handeln. Entspre-
chend sei die Zielrichtung politischen Handelns eine Beeinflussung menschlichen
Verhaltens sowie die Veränderung der Welt. Aufgrund verschiedener Perspekti-
ven und differenter Interessenlagen von Menschen sei politisches Handeln im We-
sentlichen durch das Treffen von Entscheidungen gekennzeichnet. Politisch sein
bedeute entsprechend, „entscheiden zu müssen“ sowie eine hieraus entspringende
Notwendigkeit „überlegt und verantwortlich“ zu handeln (Baber 1994: 105 f.). In
Orientierung an Hannah Arendt unterstreicht er sein Verständnis vom politischen
Handeln als Art und Weise „tätigen Lebens“. Politik sei etwas, was „wir tun, nicht
etwas, das wir (wie beispielsweise Macht) besitzen, verwenden, beobachten oder
worüber wir nachdenken“ (ebd.: 107). In diesem Zusammenhang lasse sich Politik
als zweckgerichtetes und instrumentelles Handeln vom politischen Handeln als
„Zweck an sich“ unterscheiden (ebd.: 102). Politisches Handeln sei nicht als „die
Lebensform schlechthin“ (ebd.: 100) bzw. als „erstarkte Daseinsweise“ (ebd.:
2.1 Benjamin Barber – das Politische starker Demokratie 35
101) zu verstehen, aber die Praxis starker Demokratie als „eine bestimmte Art [...],
sein Leben zu führen“, zu begreifen (ebd.). Politisches Handeln gilt als konstitutiv
für gesellschaftliches Leben. Diesen Anspruch unterstreicht Barber, wenn er in
seiner Bestimmung des Politischen von starker Demokratie davon ausgeht, dass
„Politik immer Vorrang vor der Wirtschaft“ habe, da im Bereich des Politischen
„die menschlichen Bedürfnisse ihre Rangordnung erhalten“ (1994.: 139). Entspre-
chend könnten die im Rahmen starker Demokratie entwickelten demokratischen
Handlungsformen auf den Bereich des Ökonomischen übertragen werden und so
eine „Demokratisierung der Arbeitswelt“ hervorbringen (vgl. ebd.: 287 f.). Mit
Bezug auf den Begriff des Handelns betont Barber die Idee starker Demokratie als
ein aktives Verhältnis zwischen den Menschen und versucht so, eine aktive Form
von passiven Formen des Demokratischen zu unterscheiden.
Politisches Handeln einer starken Demokratie versteht sich als öffentliches Han-
deln, dies in einer doppelten Weise. Die Öffentlichkeit als politisches „Wir“ ist
Ausgangspunkt sowie gleichzeitig Adressat der Folgen des Handelns. Öffentlich-
keit bildet eine Sphäre „vernünftige[r], öffentliche[r] Beratungen“, um „Entschei-
dungen fällen“ zu können (Barber 1994: 122). Basis dieser Prozesse seien Partizi-
pation und eine hieraus erwachsende Gemeinschaft durch den Einbezug der Bür-
ger*innen in die Entscheidungen. In diesem Sinne ist Öffentlichkeit nicht etwas,
was die Menschen haben, sondern etwas, was sich als Erfahrungszusammenhang
im Zusammenwirken der Menschen entwickelt. Politisches Handeln ist deshalb
als eine prozessorientierte „Politik der Bürgerbeteiligung“, konkret als eine
„Selbstregierung der Bürger“ (ebd.: 146), zu begreifen.34 Entsprechend formuliert
Barber eine Definition starker Demokratie: „Starke Demokratie als Bürgerbeteili-
gung löst Uneinigkeit bei Fehlen eines unabhängigen Grundes durch den partizi-
patorischen Prozeß fortwährender, direkter Selbstgesetzgebung sowie die Schaf-
fung einer politischen Gemeinschaft, die abhängige, private Individuen in freie
Bürger und partikularistische wie private Interessen in öffentliche Güter zu trans-
formieren vermag“ (ebd.: 147).
34 Starke Demokratie als „Selbstregierung der Bürger“ formuliere die Alternative zu Modellen ei-
ner Demokratie als Stellvertreterpolitik. Als Modelle einer Stellvertreterpolitik bezeichnet Bar-
ber die Form autoritativer Demokratie welche „zentralistische Exekutive Macht“ ausüben (Bar-
ber 1994: 131), die pluralistische Demokratie auf der Grundlage der Idee des Gesellschaftsver-
trages und ihrer Praxis, „Uneinigkeit durch Aushandeln und Tausch auf ,freien‘ Märkten“ (ebd.:
135) lösen zu wollen, sowie die repräsentative Demokratie und ihre Ausrichtung, „Willen und
Urteilsbildung der Bürger abstrakten Normen“ (ebd.: 141) unterzuordnen.
36 2 Normative Demokratietheorien
Grundsätzlich geht diese Vorstellung davon aus, dass mit unterschiedlichen Inte-
ressenlagen entsprechende Uneinigkeiten und Konflikte verbunden sind. In einem
Prozess des permanenten Austauschs und Dialogs sieht Barber die Möglichkeit,
die Interessenlagen zu verändern, ohne „die Konflikte [...] verschwinden zu las-
sen“ (ebd.: 126). Ein so verstandener Prozess des Dialogischen führe im Ergebnis
zu einer Entwicklung gemeinsamer Urteilskraft und hieraus resultierenden Hand-
lungsmöglichkeiten. Die mit den unterschiedlichen Interessenlagen verknüpften
Uneinigkeiten würden aufgrund von zwei Momenten einen Perspektivwechsel
nach sich ziehen. Zum einen sei das Dialogische dadurch gekennzeichnet, dass im
Prozess des Austausches die Menschen autonom handelten und dabei ihre Wert-
vorstellungen und Überzeugungen auf gleicher Stufe stünden (vgl. ebd.: 126).
Zum anderen könnten sich im Laufe des Prozesses der öffentlichen Beratung und
des öffentlichen Urteils die bisherigen Überzeugungen und Vorstellungen verän-
dern. Maßstab hierfür sei eine Veränderung und Transformation der individuellen
Positionen zu einem öffentlich geteilten Anliegen, welches im Prozess des Dialogs
sichtbar und beurteilbar werde. Im Verständnis Barbers ist das Dialogische als ein
partizipativer und „dynamischer Akt“ (ebd.) zu sehen. Die „Vorstellungskraft“ der
Menschen sei herausgefordert (vgl. ebd.). In Anlehnung an Hannah Arendts Idee
des „Stiftens“ kann hier das Dialogische als eine (hermeneutisch) interpretative
Praxis verstanden werden (vgl. hierzu Sigwart 2012: 386 f.).35 Entsprechend ver-
knüpfe sich damit eine Prüfung bestehender Positionen und Interessenlagen. Im
Unterschied etwa zu einer Praxis der Verhandlung von bzw. des Wählens zwi-
schen verschiedenen Möglichkeiten, entwickle sich im Prozess des Dialogischen
„das Urteilen“ in „Rücksicht auf all die anderen, nicht zu ignorierenden Menschen
– und das heißt d[er] Öffentlichkeit“ (Barber 1994: 128) und verlange „eine Ver-
änderung [der] Weltsicht“ (ebd.: 127). Diese Form des Politischen ziele auf einen
„kreativen Konsens“, eine „Übereinkunft“, in der „Konflikte durch Herstellung
eines gemeinsamen Bewusstseins und durch politisches Urteilen transformiert
werden“ (ebd.: 221).
35 Entsprechend versteht Barber den hier skizzierten Prozess des Dialogischen als eine Praxis re-
flexiven Handelns, welche immer „Hören als auch Reden, Fühlen und Denken, Handeln und
Reflexion“ umfasst (1994: 175). Handeln in diesem Sinne bildet so den Kontrast zu Formen
instrumentellen Handelns.
2.1 Benjamin Barber – das Politische starker Demokratie 37
36 Auf dieses Problem verweist Michael May mit seiner Kritik an der Vorstellung von Hannah
Arendt, ein Gemeinwesen „durch gemeinsame Interessen und wechselseitiges, handelndes An-
einander-Anschließen an die ,Initiativität‘ anderer“ erzeugen zu wollen (2015: 3). Es bleibt „die
Frage offen, was mit denjenigen passiert, deren Initiativität von niemandem aufgegriffen wird“
(ebd.). Beschränkt sich hierbei das Dialogische im Wesentlichen auf kognitive Verständigung,
wie es die Überlegungen Barbers nahelegen, bleiben auch andere Artikulationsweisen von Men-
schen unberücksichtigt (vgl. hierzu z. B. Butler 2016).
38 2 Normative Demokratietheorien
Demokratie, so schreibt Oskar Negt, „ist die einzige politisch verfasste Gesell-
schaftsordnung, die gelernt werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins
hohe Alter hinein“ (2010: 13). Träger eines solchen Lernprozesses sei der Mensch
als „Zoon politikon“, dessen „Ziel“ sich in „der freien Selbstbestimmung [als] au-
tonomiefähiger Bürger“ verwirkliche und so Demokratie als Lebensweise be-
gründe (vgl. ebd.). Die zwingende Notwendigkeit dieser Perspektive ergebe sich
aus einer tief greifenden gesellschaftlichen Krise der Gegenwart, die den „unge-
lösten Widersprüche[n] der Arbeits- und Erwerbsgesellschaft“ (Negt [2001] 2002:
102) entspringe, und in deren Folge die Lebensperspektiven der Menschen gebro-
chen seien. In diesem Zusammenhang vermerkt Negt, dass zum einen „die Ar-
beits- und Erwerbsgesellschaft zu einem gesellschaftspolitischen Kampfplatz ge-
worden ist“, auf dem „Machtkämpfe toben, bei denen Herrschaftspositionen und
materielle Privilegien auf dem Spiel stehen“ (ebd.: 11), und dass zum anderen die
Folge der Arbeitslosigkeit „ein Gewaltakt“, „ein Anschlag auf die körperliche und
seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit“ (ebd.: 10) der Menschen sei.
Die hieraus resultierenden „Existenzängste, zerbrochenen Lebensperspektiven
[...], Verlust der gesellschaftlichen Achtung und der materiellen Mindestausstat-
tung“ bereiteten einen „gesellschaftlichen Boden“, der, wie im Falle von „Frem-
denhass“ und „rechtsextremen Schlägerbanden“, eine Vergesellschaftung durch
Ausschluss von anderen als Lösung der gesellschaftlichen Krise in den Mittel-
punkt stelle und das „politische Zentrum unserer Gesellschaft [...] deutlich nach
rechts“ rücke (vgl. ebd.: 102).37 Die hier angedeutete Spannung versteht Negt als
37 Die von mir zitierten Stichworte beziehen sich auf einen Text von Oskar Negt, den er als Laien-
predigt im Jahr 1993 gehalten und im Buch „Arbeit und menschliche Würde“ ([2001] 2002)
veröffentlicht hat. Der Titel der Predigt heißt „Exodus und Asyl“ und setzt sich mit der damali-
gen Situation des gesellschaftlichen Umbruchs und dem Erstarken des Rechtsextremismus in
Deutschland auseinander. Als ich diesen Text 2015 vor dem aktuellen Hintergrund der Ver-
sammlungen rechtspopulistischer Bewegungen (mit dem Begriff rechtspopulistisch beziehe ich
mich auf Karin Priester und ihre Skizze gegenwärtiger populistischer Bewegungen; vgl. Priester
2012) wie Pegida in Dresden, Legida in Leipzig und dem starken Zuspruch der Menschen für
die Ideen einer rechtspopulistischen Partei wie der AfD wieder gelesen habe, hat der Text von
Negt für mich nichts an Aktualität verloren. Negt schreibt beispielsweise: „Für Deutschland
möchte ich den Verdacht aussprechen, dass mit der Asyldebatte ein öffentliches Medium ge-
schaffen wurde, die für gesellschaftliche Integration bisher notwendig erschienene Feindorien-
tierung, die auf ein Außen ging, die sich jedoch sichtbar zersetzte, ins Binnenverhältnis der Ge-
sellschaft zu verlagern. [...] Nicht der Missbrauch des Asyls durch die Asylsuchenden, sondern
der Missbrauch des Artikels durch die, die Legitimationsprofite daraus schlagen wollen, dass sie
die in den Strukturproblemen dieser Gesellschaft steckende Schwierigkeit auf Fremde als Ver-
ursacher projizieren konnten, ist der eigentliche Skandal der sogenannten Asyldebatte“ (ebd.:
105 f.). Der Impuls von Negt ist als ein Versuch des Verstehens einer prozesshaften Entwicklung
der neuen Rechten in den vergangenen 25 Jahren einzuordnen. Im Jahr 2015 reflektiert Daniel
40 2 Normative Demokratietheorien
Hierzu zählt er zum Ersten die Globalisierung. Mit dem Zusammenbruch der „au-
toritären Territorialstaaten des Ostens“ (Negt [2001] 2002: 131) habe sich „die
übersichtliche Aufteilung der Welt – Erste Welt, Zweite Welt, Dritte Welt – [...]
aufgelöst“ (Negt 2010: 163). Eine Folge dieses Umbruchsprozesses sei, dass zum
einen „die Logik des Marktes und des Kapitals“ und zum anderen „der westliche
Militärblock“ als „Ordnungsfaktoren übrig geblieben sind“ (ebd.: 164). An die
Stelle der kompromisshaften Lösungen des Sozialstaates trete eine Auflösung der
„Sozialsysteme“ (ebd.). Kennzeichen dieser Entwicklung sei außerdem eine ver-
änderte Konstellation „zwischen Staat und Kapital“ (ebd.). Deutlich werde, dass
„die wirtschaftlich Mächtigen von sich aus keine Verantwortung für die Ökonomie
des Ganzen Hauses, für das Gemeinwesen“, übernehmen (ebd.). Wirtschaftliche
Interessen und Handeln lösten sich aus dieser Bindung und verfolgten ihre Ziele
abgekoppelt vom „Zusammenhang kultureller Ziele und Zwecke“ des Gemeinwe-
sens (ebd.: 165). Deshalb sei unter dem Stichwort der Globalisierung nicht von
einer „Krise der Ökonomie“, sondern stattdessen von einer „Krise der Kulturbe-
deutung des Ökonomischen“ zu sprechen (ebd.). Diese komplexen gesellschaft-
Keil über diese Entwicklung und schreibt: „Pegida [...] ist Teil einer Konstellation völkischer
Erneuerung in der Krise [des Hightechkapitalismus], damit eine Reaktion auf (vermeintliche)
soziale Destabilisierungen und zugleich Teil einer Neuordnung des Konservatismus in Deutsch-
land [...]. Diese Entwicklung kam nicht aus dem Nichts und ist auch kein naturwüchsiges Kri-
senphänomen, sondern ist auf eine Krise des Konservatismus zurückzuführen, die selbst wiede-
rum von vielfältigen politischen Strategien angetrieben wurde und wird“ (373). Anzumerken ist
hierzu, dass eine Neuordnung des Konservatismus als ein Verhältnis durchaus gegenläufiger
Positionen zu verstehen ist, welches z. B. mit Blick auf Rassismus als Vergesellschaftung von
oben (z. B. durch Staatsbürgerschaft und Arbeitsmarkt) in Wechselwirkung mit dem Rassismus
von unten, der in Formen eines entfremdeten Protests „stecken bleibt“ (vgl. Haug 1999: 120)
zum Ausdruck kommt (vgl. hierzu Affolderbach 2016c). In diesem Sinne ist der Einwurf von
Negt tagesaktuell, weil er darauf hindeutet, dass der „Rohstoff des Politischen“ (Negt/Kluge
1993) in Krisenzeiten in besonderer Weise ideologisch umkämpft ist und die im „Rohstoff“ lie-
gende Dynamik (auch) in Vergesellschaftungsformen des Ausschlusses umschlagen kann. Des-
halb bemerkt Negt in seinem Text: „Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte
kann man mit Fug und Recht von einem faschistischen Potenzial reden. [...] Der räuberische,
jede Form der Solidarität und der Gefühlswelt des Mitleidens beschädigende Kampf um Erfolg,
diese Ausgeburt des Sozialdarwinismus, demzufolge nur die Bestausgestatteten Überlebens-
rechte haben, hat jetzt jene erfasst, die bei diesem Kampf auf der Strecke geblieben sind; es sind
die Kinder unserer Gesellschaft, Opfer und blutige Täter in einem“ (107; Hervorhebung F. A.).
Mit dem Blick von 1993 deutet das Stichwort des Potenzials auf die Tendenz, auf den umkämpf-
ten Prozess und die Reorganisation der Reaktion.
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform 41
38 Oskar Negt bezieht sich hier auf das Buch von Richard Sennett „Der flexible Mensch“ (vgl.
Sennett 2000).
42 2 Normative Demokratietheorien
erwerben, die ihnen das Lernen des Lernens ermöglichen“, um letztlich ein „zivi-
les Gemeinwesen verteidigen“ zu können (ebd.: 169).
Ein vierter Krisenherd bezeichnet das Spannungsfeld aus „technologischem
Fortschritt und Ethik“ (ebd.). Die „spektakuläre Entwicklung der Technologie,
insbesondere der Medizintechnik“ (Negt [2001] 2002: 133), berühre „die Integri-
tät und Identität der Lebenszusammenhänge der Einzelnen“ (Negt 2010: 169) und
führe zu einer Verschiebung von „unseren Wertvorstellungen und dem gesamten
Normensystem“ (Negt [2001] 2002: 132). Entsprechend seien bisher gültige Vor-
stellungen von „einem guten und gerechten Leben, von einer würdigen Lebens-
weise und einem würdevollen Sterben“ infrage gestellt und tief greifenden Verän-
derung unterworfen (vgl. ebd.: 132). Die sich hieraus ergebenden „alltäglichen
Orientierungsschwierigkeiten“ würden grundlegend die Existenzbedingungen der
Menschen bedrohen (vgl. ebd.: 133; vgl. auch Negt 2010: 169 f.). Besonders prob-
lematisch sei, dass sich diese Entwicklung „unterhalb der Öffentlichkeit, in Berei-
chen unterschlagener Wirklichkeit“ vollziehe und so etwa „Möglichkeiten des
Machtmissbrauchs durch gentechnologische Eingriffe in die Natur des Menschen
bergen“ (Negt 2010: 170). Grundsätzlich zeichne sich hier die Notwendigkeit der
ethischen Regulation eines Feldes ab, welches die nationalen Grenzen überschrei-
tet, und europaweite bzw. globale Regulationsprozesse und Lösungen erfordere.
Als einen fünften Krisenherd problematisiert Negt „die schleichende Ten-
denz der Entpolitisierung“ (ebd.: 171). Zwei Tendenzen dieser Entwicklung hebt
Negt als besondere Problemlagen hervor. Zum einen gehe mit einer Flexibilisie-
rung der Lebensverhältnisse der Menschen eine „gestörte Balance zwischen Nähe
und Distanz [-Erfahrungen]“ des sozialen Lebens einher (Negt [2001] 2002: 134).
Die Spannung zeige sich beispielsweise als widersprüchliche Wechselwirkung
zwischen den Gebilden im Kleinen, „reduziert auf fragmentierte Beziehungen“,
sowie den „Globalisierungs- und Flexibilisierungsprozessen“, die die „Distanz
zum eigenen Lebenszusammenhang“ vergrößern, sodass „der einzelne nicht mehr
nachvollziehen kann, was sein Anteil an der Mitbestimmung“ am Gesellschaftli-
chen ist (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang sieht Negt die „modernen Gesell-
schaften“ ihre „Basis für gelungene Subjektausstattungen [...] ruinieren, weil zwar
das Kapital und die Waren ortlos sein können, nicht aber die Sozialisation, Iden-
titätsbildung, das Lernen der Menschen“ (ebd.: 135). Als gegenläufige Perspektive
sei deshalb eine Praxis der „Wiederaneignung sinnlich-qualitativer Realitätsbe-
züge“ zu entwickeln (vgl. ebd.). In diesem Sinne beginnt Demokratie dort „wo die
Menschen leben, arbeiten, primäre Erfahrungen im öffentlichen Austausch ma-
chen“ (Negt 2010: 173). Zum anderen verknüpfe sich mit dieser Entwicklung eine
Störanfälligkeit der „Balance zwischen Demokratie und Öffentlichkeit“ (ebd.:
171). Zwar hätten die historisch gewachsenen Institutionen der Demokratie („Par-
lament, Gewaltenteilung, zivile Führung des Militärs, Parteien und Gewerkschaf-
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform 43
Die von Negt skizzierten Krisenherde sind gebrochen und vorangetrieben in einer
„sozialen Welt“ (vgl. Haug 2003: 123 f.), die selbst aufgespalten in „zwei Reali-
täten“ auseinanderfällt (vgl. Negt [2001] 2002: 244 f.) welche „in Konfrontation
zueinander stehen, [...] nicht nur die Sprache ist auseinandergefallen, sondern
Denkformen, Zeitperspektiven, Verhaltensorientierungen, spezifische Logiken
der Wahrnehmung, der Objektwelt ebenso wie der Selbstwahrnehmung. Diese
Spaltung der Realität hat eine viel größere Reichweite als die alte Klassenspaltung,
auf die sie sich allerdings in letzter Instanz gründet“ (ebd.: 244). Diese Spaltung
des Gesellschaftlichen durchzieht „Alltagserfahrungen“, „wissenschaftliche Kon-
zeptionen ebenso wie [...] politische Orientierungsformel[n]“ (ebd.: 245). Rei-
bungsfläche dieser Entwicklung bilden die Pole einer „ersten“ (ebd.: 308) und ei-
ner „zweiten Ökonomie“ (ebd.: 316). Als „erste Ökonomie“ bezeichnet Negt „je-
nen praktisch-theoretischen Zusammenhang, in dem die Realitätsmacht der über
die Produktion und die Arbeitsplätze Verfügenden den suggestiven Schein von
naturgesetzlichen Abläufen vermitteln, deren Mechanismus von keinem Men-
schen zu beeinflussen sei“ (ebd.: 308). Die „erste Ökonomie“ ist Ausdruck „toter
Arbeit“ technisch orientierter Abläufe „der Maschinensysteme, der Regelungs-
kreise der Kapital- und Marktlogik“, betriebswirtschaftlicher Kalkulation, ihrer
Ausschlussprinzipien und Unterdrückungsformen eines lebendigen Gemeinwe-
sens (vgl. ebd.: 309 f.). In diesem Sinne versteht Negt die „erste Ökonomie“ als
„Ausdruck einer Macht- und Herrschaftsposition“ und deren Praxis einer „Verfü-
gung über lebendige Arbeitskraft“ als „Herrschaftsinstrument“ (ebd.: 318). Unter
einer „Realität“ der „zweiten Ökonomie“ versteht Negt „alle ökonomischen Akti-
vitäten [...], die sich von der offiziellen Ökonomie abgekoppelt haben, sich staat-
licher Besteuerung entziehen und [...] den einzig stetig wachsenden Wirtschafts-
faktor darstellen“ (Haug 2003: 123; vgl. Negt [2001] 2002: 247 f.). Mit dem Be-
griff der „zweiten Ökonomie“ skizziert Negt die Entwicklung eines „eigene[n],
nicht an die Regeln der offiziellen Ökonomie gebundene[n] System[s] der Arbeit,
des Naturalientauschs [...] einer Ökonomie mit eigenen Gesetzen“ (Negt [2001]
44 2 Normative Demokratietheorien
2002: 246). In dieser Form der Ökonomie sieht Negt die Menschen und ihr Han-
deln als „eigensinnig, auf autonome Urteilsfähigkeit und eigentümliche Lebens-
stile bedacht“ und unterstreicht die hierin enthaltenen „rebellische[n] Elemente“
als Ausdruck des Widerstandes und als Reaktion auf „soziale Ungerechtigkeit“
und verworfene „politische Machtverhältnisse“ (vgl. ebd.: 322). An diesen Impuls
anknüpfend, rücke die „zweite Ökonomie“ die „konkrete Lebenswelt“ der Men-
schen „ins Zentrum der Betrachtungen“, um aus dieser Perspektive „Auswege aus
der Krise der Arbeitsgesellschaft“ zu formulieren (ebd.: 319). Entsprechend be-
zeichnet die „zweite Ökonomie“ eine auf „das Gemeinwesen gerichtete politische
Ökonomie lebendiger Arbeit, von der sich wirtschaftliches Handeln ohne totalen
Sinnverlust nie wird abtrennen können“ (ebd.: 316).
Beide Positionen befinden sich im Konflikt, sind „ineinander verwickelt und
[...] mit ganz unterschiedlichen Reichweiten ausgestattet“ (ebd.: 405). Da sich die
erste Ökonomie „um Macht- und Herrschaftsverhältnisse [...] organisiert“, sei die
Auseinandersetzung keine „bloße Frage des guten Willens und der überzeugenden
Argumente“ (ebd.: 322). Ihre Auseinandersetzung „ist ein politischer Kampf“
(ebd.: 322). In einer solchen „Kampfsituation“ sei es notwendig „Koalitions-
partner in allen gesellschaftlichen Schichten zu suchen und zu finden [...] – bei
aufgeklärten und verantwortungsbewussten Managern ebenso wie unter Lehrern
und Arbeitern“ (vgl. ebd.). Die Zielrichtung des Kampfes sei eine Gesellschafts-
reform, um die „zweite Ökonomie zur Ersten zu machen“ (ebd.: 322). Die zweite
Ökonomie sieht Negt in der Position, „die menschlichen Potentiale der lebendigen
Arbeit und des gesellschaftlichen Reichtums in eine vernünftige Organisation des
Gemeinwesens einzubringen“ (ebd.: 405). Dies deshalb, weil die zweite Ökono-
mie zum einen „aus den Potentialen der ersten Ökonomie schöpft“ und zum ande-
ren als Träger der lebendigen Arbeit eine „kulturelle Einbindung“ des Ökonomi-
schen in das Gemeinwesen ermöglichen sowie dessen „Grenzsetzungen und Zwe-
cke“ bestimmen könne (vgl. ebd.: 405). Die Klammer für eine Gesellschaftsreform
„einer politischen Ökonomie des Gemeinwesens“ bilden aufeinander bezogene
Projekte im „Entwurfsdreieck“ aus „lebendiger Arbeit, Kultur und Technik, auf
dem die Fundamente“ des Zusammenhaltes eines Gemeinwesens beruhten (vgl.
ebd.: 408). Vor allem die Frage nach der Kultur und –hiermit verbunden – insbe-
sondere die Herausbildung einer politischen Kultur in einem „lebendigen Arbeits-
prozess“ und dessen Ausrichtung auf eine „demokratische Lebensfähigkeit“ sind
deshalb für Negt von zentraler Bedeutung (ebd.: 526 f.).
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform 45
Dem vorangestellten Szenario eines zerrissenen und mit laufenden Brüchen durch-
zogenen Gemeinwesens stellt Oskar Negt die Frage nach Bedingungen zur Her-
stellung eines demokratischen Gemeinwesens gegenüber. Hierfür braucht es han-
delnde Menschen, genauer: politisch handelnde Menschen. Trägermedium des po-
litischen Handelns ist deshalb der Mensch mit einer ausgebildeten Urteilskraft,
einer ausgebildeten politischen Urteilskraft als „Zoon politikon“.
Grundsätzlich sieht Oskar Negt die Entwicklung einer politischen Urteils-
kraft an die Verknüpfung „spezifische[r] Forme[n] der Weltaneignung“ gebunden
(vgl. Negt 2010: 30). Die von ihm genannten Stichworte „Orientierung, Wissen,
Lernen, Erfahren, Urteilen, Charakterbildung“ skizziert er als „Aspekte“, die „in
ihrem inneren Zusammenhang zu entfalten“ und „das Resultat der Bildungspro-
zesse [...] beschreiben – das was unter einem politischen Menschen“ verstanden
werden könne (ebd.). In diesem Zusammenhang greift Oskar Negt den Begriff des
Handelns von Hannah Arendt auf und formuliert politisches Handeln als den Kno-
tenpunkt eines Ausdrucks des Menschen als „Zoon politikon“, als „ein auf Ge-
meinsinn angelegtes Lebewesen, das aber aktiv werden muss, damit seine Gesel-
ligkeit und seine Sorge um die Angelegenheiten anderer, die allgemeine Angele-
genheit sein könnten, öffentliche Ausdrucksformen gewinnen“ (ebd.: 342).
Grundsätzlich versteht sich so politisches Handeln als „öffentliches Handeln“, als
ein „Handeln in der Gemeinschaft und in der Gesellschaft“ (ebd.: 339). Mit Arendt
sieht Negt damit einen alternativen Begriff des Politischen, der sich von „rechts-
extremen oder milderen konservativen Positionen“ unterscheidet, da sich deren
Verständnis von politischem Handeln „in wiederbelebten Gemeinschaftskatego-
rien“ oder in der Bestimmung des „Intensitätsgrad[es einer] Trennung von Fein-
den und Freunden“ erschöpft und somit letztlich „politisches Handeln als Zerstö-
rung von Gemeinwesen“ konzipiert (vgl. ebd.). Die grundlegende Ausrichtung ei-
nes alternativen Verständnisses vom Politischen bedürfe neben seiner Begründung
als politisch öffentliches Handeln und seiner Grundlegung im „Menschen als ei-
nem auf Gemeinsinn angelegte[n] Lebewesen“ (vgl. ebd.: 342) der Klärung der
Frage, „worin“ politisch öffentliches Handeln „Gestalt für das Gemeinwesen an-
nimmt“ (vgl. ebd.: 340). Entscheidend für Negt ist deshalb, dass politisches Han-
deln auf eine Erweiterung der „Bedingungen und Ausdrucksformen des geselligen
Verkehrs“ zielen müsse (vgl. ebd.: 343). Folgerichtig gehörten unbedingt „Phan-
tasie und Einbildungskraft“ zum Begriff des Politischen (vgl. ebd.). In diesem
Verständnis schöpfe sich politisches Handeln selbst aus der „Vermittlung von
Sinnlichkeit und Verstand“ und bilde so die Kernstruktur einer „reflektierenden
Urteilskraft“ (ebd.).
46 2 Normative Demokratietheorien
Das Politische verstehe sich somit mehr als eine bloße „Daseinsweise“; es sei
„eine Art Existential“ des Menschen, „von dem er sich selbst dann nicht lösen
kann, wenn er im herkömmlichen Sinne politisch nicht tätig ist“ (ebd.: 389). In
diesem Sinne gilt das Politische als konstitutiv fürs Gesellschaftliche. Hierbei
liege der eigentliche „politische Kern“ in dem, was Hannah Arendt als das „Zwi-
schen“ versteht (ebd.: 390). Das Politische entwickle sich in dem, „was zwischen
den Menschen entsteht“, und unterscheide sich von der Vorstellung des Politi-
schen, welches „Politik [...] im Menschen“ fixiert (Sontheimer zit. nach Negt;
ebd.). In diesem Zusammenhang sei für Arendt die Verknüpfung aus „Freiheit und
Spontanität“ die „notwendige Voraussetzung [...] eines zwischenmenschlichen
Raumes [...], in dem Politik, wahre Politik erst möglich wird“ (ebd.). Von Politik
kann für Negt deshalb erst dann gesprochen werden, wenn es „öffentliche Erfah-
rungsräume und kollektive Erlebniszeiten gibt, die Spontanität und Freiheitsent-
scheidungen zulassen“ (ebd.). In diesem normativen Sinne bestimmt, wären insti-
tutionalisierte Formen des Politischen weder Ausdruck oder Ergebnis politischen
Handelns noch Ausdruck des Politischen selbst oder von Politik. Sie sind abge-
spalten, erscheinen unvermittelt als instrumental-herrschaftsbezogene Seiten der
Gesellschaft und stehen außerhalb des (wahren) Politischen.
In der Verknüpfung mit der Bestimmung des Politischen als zwischen-
menschlicher Raum ist für Negt die reflektierende von der bestimmenden Urteils-
kraft zu unterscheiden. Hier bezieht sich Negt auf eine spezifische Interpretation
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform 47
von Kants Kritik der Urteilskraft durch Hannah Arendt. Nach Arendt ist „die Ur-
teilskraft keine praktische Vernunft; praktische Vernunft ›räsoniert‹ und sagt mir,
was zu tun und zu unterlassen ist; sie schreibt das Gesetz vor und ist identisch mit
dem Willen, und der Wille gibt Befehle“ (Arendt zit. nach Negt; ebd.: 389). Hier-
von unterscheide sich die Entstehung des Urteils „aus einer ›bloß kontemplativen
Lust‹“ als „Urteilskraft [...] des menschlichen Geistes, sich mit dem Besonderen
zu befassen“ (ebd.). Ein Urteil über das Besondere – „dies ist schön; dies ist häß-
lich; dies ist richtig, dies ist falsch“ – entziehe sich der praktischen Vernunft (vgl.
ebd.). Die Form der bestimmenden Urteilskraft orientiere sich an einem „technisch
und herrschaftslogisch“ ausgerichteten „Erkenntnisinteresse“ (ebd.: 391). Ihr fehl-
ten das „Freiheitselement“ und – hiermit verbunden – die Impulse der „Einbil-
dungskraft“ und „Geselligkeit“ (ebd.). Vor dem skizzierten Hintergrund bestimmt
Negt das Politische reflektierender Urteilskraft als „das Vermögen“, „aus dem Be-
sonderen ein Allgemeines entwickeln zu können“ (ebd.) Dieses verwirkliche sich
als „das lustvolle Zusammenspiel von Kräften, die aus ihrer bornierten Vereinsei-
tigung gelöst und in einem Akt interessenlosen Wohlgefallens in Zusammenhänge
gebracht werden, die sie aus sich heraus nicht herzustellen vermögen“ (ebd.).
Mit Negt ist „Urteilskraft [...] ein gesellschaftlich gebildetes und praktiziertes
Vermögen“, welches „die Dimensionen des Gemeinwesens [...] in den Reflexi-
onsprozess“, also die Perspektiven und Konflikte der anderen, einbezieht (2010:
395). Dabei ist Urteilskraft vor allem eine „erweiterte[...] Denkungsart“ des ein-
zelnen Individuums, die auf Grundlage der Möglichkeit als „Selbstreflexion des
eigenen Urteilens“ herausgebildet werden kann (ebd.). Entsprechend bestehe eine
„Urteilsfähigkeit immer darin, dass ich meine eigenen Bedürfnisse, Interessen,
Phantasien verbinde mit der Vorstellung davon, wie es aussehen würde, wenn die-
ses höchst Individuelle zu einem allgemeinen Gesetz wird“ (ebd.: 32). Erst mit einer
ausgebildeten individuellen Urteilskraft, so scheint es, sind die Menschen in der
Lage, politisch zu handeln und Zusammenhänge herzustellen. Urteilskraft erscheint
in ihrer Zielstellung als ein substanzielles Vermögen, welches selbst scheinbar wi-
derspruchsfrei als Vorbedingung für Handlungsfähigkeit gilt.
Vor dem skizzierten Hintergrund gewinnt die Vorstellung von der „Herstellung
von Zusammenhang“ eine doppelte Bedeutung (vgl. ebd.: 29 f.). Die Herstellung
von Zusammenhang versteht sich zum einen als Entwicklung „kollektive[r] Ge-
bilde“, die „den Zugang der Menschen zu den größeren [gesellschaftlichen] Ein-
heiten konkret machen, [...] stärken, [...] fördern, alle Organisationsphantasie auf
solche gesellschaftlichen Gebilde [...] richten“ (ebd.: 173). Zum anderen ist die
Herstellung von Zusammenhang als Lernprojekt der Herausbildung einer
48 2 Normative Demokratietheorien
Die von Barber und Negt aufgemachte Perspektive knüpft an die Vorstellung vom
Menschen als einem politischen Wesen, dem „Zoon politikon“, an. Diese an der
2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Barber und Negt 49
griechischen Antike angelehnte Idee betont zwei Dimensionen. Zum einen wird
davon ausgegangen, dass der Mensch grundsätzlich ein sich gemeinschaftlich, im
Zusammenleben entfaltendes Wesen sei und – hiermit verknüpft – die Idee des
Politischen in einer bestimmten Lebensweise zum Ausdruck komme. Zum ande-
ren steht diese Überlegung in enger Verbindung zur Vorstellung vom Menschen
als einem „Zoon logon echon“, einem vernunft- und sprachbegabten Lebewesen,
welches sich gerade über diese Eigenschaft vergemeinschaftet und als „Zoon po-
litikon“ verwirklichen könne. In diesem Sinne sehen Barber und Negt das „Zoon
politikon“ als ein im Menschen angelegtes Vermögen. Bei Barber entfaltet und
verwirklicht es sich im dialogisch-reflexiven Handeln. Bei Negt hingegen muss es
entwickelt werden und findet durch Bildung zur Handlungsfähigkeit.
Verallgemeinernd sind an den Positionen von Barber und Negt zwei Punkte
hervorzuheben. Zunächst ist die Kritik von Barber und Negt an der vorherrschen-
den Vorstellung des Politischen zu betonen. Beide gehen davon aus, dass das Po-
litische als eine aktive Handlungsform menschlicher Tätigkeit zu verstehen sei,
welche auf die Erzeugung eines demokratischen Gemeinwesens gerichtet sei. Das
Politische erweist sich dabei als eine Form der Vergesellschaftung, deren Anknüp-
fungspunkte die alltäglichen Lebenszusammenhänge der Menschen bilden und im
Begriff des Handelns deren Eigentätigkeiten als Notwendigkeit einer demokrati-
schen Vergesellschaftung unterstreichen. In diesem Bild entsteht ein Kontrast zu
jenen politischen Formen, die einen zweckrationalen und instrumentellen Charak-
ter aufweisen und so einen Herrschaftszusammenhang von oben begründen. In
zweckrational ausgerichteten Vorstellungen vom Politischen erscheinen die Ei-
genaktivitäten der Menschen beschnitten, fremdbestimmten Zielsetzungen unter-
stellt und so passiviert. Barber und Negt unterscheiden sich hierbei im Zugang
ihrer Kritik. Kritisiert Barber das Politische als Ideologie eines beschränkten Li-
beralismus und dessen Verfügungsgewalt von oben, erweitert Negt diese Sicht um
eine gesellschaftstheoretische Kritik kapitalistischer Vergesellschaftung und de-
ren gewalttätiger Brechung demokratischer Errungenschaften in der gegenwärti-
gen Gesellschaft. Barber und Negt beanspruchen für sich, den „wahren“ Kern des
Politischen freizulegen, der für sie ganz zentral an den Begriff des Handelns, wie
ihn Hannah Arendt skizziert hat, gebunden ist. Erstaunlich ist deshalb auch, dass
sich Barber und Negt an keinem Punkt dafür interessieren, dass Hannah Arendt
ihren Begriff des Handelns mit einer spezifischen Vorstellung von Macht verbun-
den hat. Gehen bei Arendt die Einzelnen eine Verbindung mit den anderen ein,
bildet Handeln den Zusammenhang einer kollektiven „Ermächtigung“ (Weber
2001: 99). Handeln selbst verweist so auf die Möglichkeit einer Überwindung von
Ohnmacht. In diesem Bild erscheint Handeln auch als Gegenmacht und kann in
einer kritischen Perspektive weiterführend (und auch über Arendt hinaus) als Ver-
hältnisbestimmung von „Macht und Gegenmacht“ entwickelt werden (vgl. Gold-
50 2 Normative Demokratietheorien
schmidt 2015: 1486 f.). Diese notwendige Verhältnisbestimmung wird von Barber
und Negt nicht vorgenommen.
Positiv formuliert ist beiden die Idee einer Erweiterung des Politischen ge-
meinsam. Ist die hierin liegende normative Implikation einer Vorstellung
vom politischen Handeln als dialogischer Prozess bei Barber und der Her-
ausbildung einer Urteilskraft bei Negt unter dem Gesichtspunkt hand-
lungspraktischer Fragestellungen sozialer Bewegungen wichtig impulsge-
bend, ist sie unter dem Aspekt einer erkenntnistheoretischen Fragestellung
zu kritisieren. Denn: Negativ formuliert sind in dieser Perspektive Formen
des Zweckrationalen als Elemente oder Widersprüche des „wahren“ Poli-
tischen ausgeschlossen. Sie werden nicht als gesellschaftlich hervorge-
brachte Machtverhältnisse erkennbar und mit Blick auf das „Zoon poli-
tikon“ verleugnet.
Als das Spezifische einer Demokratie als Lebensweise sehen Barber und Negt das
Handeln. Handeln ist hierbei als eine öffentlich vergemeinschaftende Dimension
der Tätigkeit der Menschen zu verstehen, deren Kern ein Prozess der Herausbil-
dung einer Urteilskraft als Bürgerschaft (Barber) bzw. als Gemeinwesen (Negt)
ist. Für Barber ist dieser Prozess vor allem dadurch gekennzeichnet, „dass politi-
sches Wissen angewandt [und] praktisch“ ist (Barber 1994: 159). Entsprechend ist
„politisches Wissen vorläufig und wandelbar“ und in diesem Sinne abhängig von
der jeweiligen historischen Situation (ebd.). Außerdem versteht Barber den Pro-
zess des politischen Urteilens als „schöpferisch“ und als „etwas, das geschaffen
[...] wird“ (ebd.: 160). In der Verknüpfung von Handeln und Urteilen sieht Barber
eine „Form gesellschaftlicher Interaktion“, die „aus dem Bemühen von Indivi-
duen“ entsteht, ihre jeweiligen individuellen Erfahrungen „gemeinsam wahrzu-
nehmen“ (ebd.: 165). Politisches Handeln wird von Barber ausdrücklich in der
Tradition von Dewey und Arendt konzipiert.39 Im Unterschied zu Negt ist hier das
39 Wie Sigwart hervorhebt, ist politisches Handeln verallgemeinernd mit Dewey und Arendt als
„politische Praxis der hermeneutischen Autopoiesis der Gesellschaft“ zu interpretieren (Sigwart
2012: 312). Allerdings unterscheiden sich beide Positionen in ihrer Ausrichtung. Mit Blick auf
Dewey könne von einer „immanent[...] politische[n] Hermeneutik“ gesprochen werden (ebd.:
312). Deweys Perspektive kennzeichne eine „bewusste Selbstverortung inmitten der politischen
Praxis“ und unterscheide sich von einer „offenen politischen Hermeneutik“ bei Arendt. Diese
betone einen „politischen Modus des Verstehens“ (ebd.: 313) und skizziere Handeln vor allem
als Praxis kognitiver Verständigung. Zuspitzend ist zu formulieren: Mit Dewey werden die Er-
fahrungen des Alltäglichen Gegenstand einer gemeinsamen Urteilsbildung und eines gemeinsa-
men Handelns. Mit der Betonung des Kognitiven bei Arendt hingegen steht vor allem eine Ent-
wicklung (einer Urteilskraft) des Individuums im Austausch und in Beziehung mit anderen im
Mittelpunkt. Die Herausbildung der individuellen Urteilskraft ist gleichzeitig Zielrichtung und
2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Barber und Negt 51
Ausdruck des Handelns. Beide Positionen sieht Barber in seinem Begriff des Handelns aufge-
hoben.
40 Wichtig ist hier, hervorzuheben, dass sich Kooperation und Interaktion bei Barber nicht auf eine
Idee rationaler Kommunikation wie etwa bei Jürgen Habermas reduzieren lässt. Entsprechend
wichtig ist auch der Begriff der Erfahrung von John Dewey, auf den sich Barber bezieht. Erfah-
rung bei Barber bildet den „lebendigen“ Kern des Handelns und damit den Kontrast zu instru-
mentellen Formen der Kommunikation und Kooperation. Der Begriff Erfahrung wird an späterer
Stelle weiter vertieft.
52 2 Normative Demokratietheorien
41 Vgl. hierzu die Kritik von Nancy Fraser an den Konzeptionen „bürgerschaftlich-republikani-
scher“ Sichtweisen auf Öffentlichkeit (2001a: 140 f.).
2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Barber und Negt 53
42 Ähnlich argumentiert auch Ellen Meiksins-Wood und verweist darauf, dass gerade die Trennung
von Ökonomie und Politik in der bürgerlichen Gesellschaft sowie deren rechtliche Stabilisierung
dazu führe, dass die „Demokratie im Kapitalismus an ihre Grenze[n]“ stoße (vgl. Meiksins-
Wood 2010: 215).
56 2 Normative Demokratietheorien
sondern sie ermöglicht auch einen eigenen verändernden Beitrag, der unverwech-
selbar ist. Dieser Beitrag darf nicht aus der Institution zurückgezogen werden; er
kann auf gleiche Weise an keiner anderen Stelle geleistet werden“ (Heydorn 2004:
131; vgl. auch Sünker 2003: 66 f.). Und Heinz Sünker merkt an: „Bildung ist kein
selbständiges revolutionäres – und d.h. vor allem der kulturellen und sozialen Ent-
faltung des Menschen dienende[s] – Element“ (Sünker 2003: 67), sondern kann
dies nur „in Verbindung mit der gesamten geschichtlichen Bewegung“ (Heydorn
2004: 61) sein. Für politische Bildung und Selbstorganisation von Initiativen be-
deutet diese Überlegung auch, dass sie auf eine breite gesellschaftliche Einbin-
dung in Emanzipationsbewegungen angewiesen sind, um sich entwickeln und ihre
Stärken entfalten zu können. Die hier angedeuteten Differenzierungen ermögli-
chen z. B. das Zusammenwirken von verschiedenen funktionalen Elementen einer
Bildungseinrichtung analytisch zu unterscheiden. Eine Bildungsinstitution er-
scheint z. B. „zugleich als ökonomischer Betrieb, als Repressionsapparat [...], als
Hegemonialapparat“ oder eben auch als Ort der Entwicklung von Widerständigem
(vgl. Haug 2003: 853).
Der hier angedeutete Gedanke verweist darauf, dass eine Demokratisierung
vorhandener Institutionen und ihrer ausgebildeten Verfahrensweisen einer „ge-
meinsame[n] Regelung der gesellschaftlichen Angelegenheiten“ bedürfen, welche
sich nicht auf „den Punkt der Entscheidung“ reduzieren lässt, sondern gleichzeitig
„öffentliche Verständigungsprozesse“ voraussetzt (Hirschfeld 2007: 6). Für eine
solche Orientierung hat Jürgen Ritsert den Begriff der „reflexiven Institutionen“43
aufgegriffen. In Orientierung an Hegels anerkennungstheoretische Überlegungen
formuliert er: „Für kritische Theoretiker bemisst sich die Qualität von Institutio-
nen nicht allein an ihrer Effizienz im Sinne der Funktionstüchtigkeit. Sie bewerten
sie im Kontext von Anerkennungsverhältnissen. ,Anerkennung‘ liest sich auf die-
ser Stufe als institutionelle Bestätigung des freien Willens“ (Ritsert 2007: 65).
Entsprechend kann für auf Demokratisierung ausgerichtete institutionelle Zusam-
menhänge geschlussfolgert werden: „Als ,reflexiv‘ kann eine Institution mithin
erst dann gelten, wenn und insoweit sie den freien Willen der Einzelnen, seine
Empathie sowie anerkennende Interaktionen mit ihrerseits selbständigen Anderen
unterstützt und nicht untergräbt. Als ,repressiv‘ wäre eine Institution von daher
dann zu kritisieren, wenn sie Autonomie, damit die Würde des Subjekts in Frage
stellt oder gar zerstört“ (ebd.: 64). In diesem Sinne fordert der von Heydorn
43 Jürgen Ritsert greift hier den von Fritz Reusswig geprägten Begriff der „reflexiven Institutionen“
auf (vgl. Reusswig 1991). Helmut Brendel unterstreicht den Beitrag von Jürgen Ritsert und seine
Interpretation von Anerkennung bei Hegel als Beitrag zu einer „kritischen Theorie von Institu-
tionen“ (Brendel 1999: 265).
2.4 Erfahrung als Impuls von Handeln 57
44 Das Mögliche ist hier mit Ernst Bloch in seiner Dynamik, in seiner Prozesshaftigkeit und in den
von ihm ausformulierten Ausdifferenzierungen zu denken (vgl. hierzu Jung 2012).
45 Die „kennzeichnende Weite des Begriffs“ sieht Negt bei Adorno darin, dass dieser mit „Hegels
Dialektik und im materialistischen Horizont von Marx“ argumentiert sowie diese Perspektive
gleichzeitig „durch empirische Forschung“ öffnet und ausfüllt (vgl. Negt 1995: 170).
58 2 Normative Demokratietheorien
(vgl. ebd.: 278 f.). Grundsätzlich bezieht sich Negt auf den Begriff der Erfahrung,
wie ihn Adorno in seinen Schriften umrissen hat. An dieser Stelle kann eine Re-
konstruktion des Begriffes der Erfahrung bei Adorno nicht vorgenommen werden.
Dennoch sollen einige Aspekte angedeutet werden, die für die Perspektive A-
dornos und die Schlussfolgerungen Negts wichtig sind.
Den Kern der Erfahrung sieht Negt in der „Verknüpfung [...] reflektierten
Wissens“ sowie „des Bewusstseins der Vermitteltheit des jeweils Unmittelbaren“
(Negt 1995: 169). Mit Adorno könne so Erfahrung „als dialektische Bewegung,
als ein Prozess der Reflexion, in dem sich sowohl das Bewusstsein als auch sein
Gegenstand verändert“ (Kirchhoff 2004: 84) verstanden werden.
Im Unterschied zur Idee Hegels, wo dieser Prozess darin mündet, „dass der
Geist immer nur seinen eigenen Produkten begegnet“ und letztlich „das Ganze das
Wahre sei“ (ebd.: 85), kritisiere Adorno diese Perspektive. Richtig sei, dass der
„Geist die Welt als Totalität erfährt“; zu kritisieren sei aber, dass dies „Hegel [...]
als Versöhnung proklamiere“ (ebd.). Entsprechend verweise das „Nichtidenti-
sche“ auf die Erfahrung einer Widersprüchlichkeit der Welt, der „Undurchdring-
lichkeit des Sozialen“ und der Gesellschaft (vgl. ebd.: 86). Das Nichtidentische46,
so Negt, bezeichne „das Andere des Denkens, das schlechthin Widerständige des
Gedankens, dass [...] nichts letzthin Gegebenes ist, sondern sich als [...] durch Be-
griff Vermitteltes erweist“ (Negt 1995: 170).
In diesem Zusammenhang komme der „metaphysischen Erfahrung“ als ei-
nem Verhältnis aus Subjekt und Objekt, „in dem Vermitteltes und Unmittelbares
gleichzeitig Gültigkeit haben“ eine besondere Bedeutung zu (vgl. ebd.: 171). Me-
taphysische Erfahrung bei Adorno meine kein „religiöses Urerlebnis“, sondern z.
B. die Momente „des Glücks“ und „dem darin mitgesetzten prekären Verhältnis
von Nähe und Distanz der Glückserfahrungen“ (ebd. 170). Metaphysische Erfah-
rung „bezeichnet das dem Menschen eigentümliche Gefühl, dass das im Leben
Erfahrene nicht alles gewesen sein kann“ (ebd.: 171).
Christine Kirchhoff skizziert den Gedanken des Nichtidentischen von A-
dorno, der feststelle, „dass eine bestimmte Undurchdringlichkeit geradezu das
Wesen des Sozialen, des Gesellschaftlichen sei“ (Kirchhoff 2004: 86). Dieses Ge-
sellschaftliche oder „Gesellschaft bekomme man auf der Haut zu spüren, wenn
man auf irgendwelche kollektive Verhaltensweisen stößt, die das Moment der Un-
aussprechbarkeit haben und die vor allem unvergleichlich viel stärker sind, als die
einzelnen Individuen es sind, die diese Verhaltensweisen an den Tag legen, so
dass man sagen kann, dass Gesellschaft unmittelbar fühlbar wird, wo es wehtut“
(Adorno zit. nach Kirchhoff 2004: 86 f.). Kirchhoff schlussfolgert: „Solange es
46 Zur Herleitung des Stichwortes des „Nichtidentischen“ bei Adorno in seiner Auseinandersetzung
mit Hegel vgl. weiterführend Christine Kirchhoff (2004: 85 f.).
2.4 Erfahrung als Impuls von Handeln 59
wehtut, können die Einzelnen, so sehr sie auch Moment der Gesellschaft sind, in ihr
nicht aufgehen. Die Möglichkeit der Erfahrung der Gesellschaft wird zum Index der
Nichtidentität von Individuum und Gesellschaft“ (ebd.). In diesem Sinne ist es „die
Irrationalität des Ganzen [...], dass die Welt weit davon entfernt ist, vernünftig ein-
gerichtet zu sein, die hier zu spüren und zu erfahren ist“ (ebd.). Die Intention A-
dornos sei die Herausstellung eines „objektive[n] Moment[s]: [...]das nur individuell
erfahrbare und zugleich allgemeine Leiden an der Irrationalität der zur Undurchsich-
tigkeit verselbständigten Gesellschaft“ (ebd.). Adorno verweise in diesem Zusam-
menhang darauf, dass Gesellschaft mehr als die individuelle Erfahrung sei, die
„,man auf der Haut‘ zu spüren“ bekomme (vgl. ebd.: 88). Deshalb sei „die Erfahrung
der Gesellschaft auf die Theorie der Gesellschaft verwiesen“ (ebd.: 88). Deutlich
wird die Notwendigkeit eines reflexiven Elements von Erfahrung. Die reflexive Be-
wegung der Erfahrung mache Kritik erst möglich (vgl. ebd.: 89).
Oskar Negt sieht den „ideologiekritischen Impuls Adornos“ darin, „noch in den
subtilsten erkenntnistheoretischen und ästhetischen Gebilden gesellschaftliche Ver-
mitteltheit aufzuweisen“ (Negt 1995: 171). Entsprechend sei „nicht Subsumtion des
Besonderen unter das Allgemeine“ kennzeichnend für reflexive Erkenntnis, „son-
dern Grenzüberschreitung durch konsequentes Versenken ins Besondere, das unver-
meidlich über sich hinausgeführt wird und so auf ein Allgemeines, auf das Ganze
der Gesellschaft, auf Geschichte verweist“ (ebd.). Damit, so Negt, sei „Gesellschaft
[...] dem Individuum nichts Äußerliches. Vielmehr konstituiert sie dessen inneren
Kern“ (ebd.). Die Konstitution des Einzelnen und der Gesellschaft stehen Negt zu-
folge in einem wechselseitigen Verhältnis. In der Erfahrungsweise der Menschen
seien „Individuum und Gesellschaft einzigartig und konkret durcheinander vermit-
telt“ (ebd.: 172). Und weiter: „Nicht bloß ist der einzelne in sich gesellschaftlich
vermittelt, seine unwiederholbar-charakteristischen Züge sind immer zugleich auch
gesellschaftliche. Sondern umgekehrt bildet sich und lebt die Gesellschaft auch nur
vermöge der Individuen, deren Inbegriff sie ist“ (ebd.).
Erfahrung ist angewiesen auf das reflexive Element, um den Widerspruch des
Nichtidentischen zur Sprache bringen zu können bzw. um im subjektiven Moment
der Erfahrung das Allgemeine, die die individuelle Erfahrung durchziehenden ge-
sellschaftlichen Widersprüche, erkennen zu können. Wie Oskar Negt deutlich
macht, ist entsprechend ein weiter Erfahrungsbegriff notwendig. Dieser schließt
„die Phantasien, Träume, Interessen“ der Menschen sowie deren Bezug zur „Ge-
genstandswelt“ mit ein (2010: 31). Erfahren wird von Negt als Tätigkeit verstan-
den. Genauer: Erfahrung versteht sich, als „das Sammeln von Erfahrung[en]“
(2010: 31). Erfahrung steht damit nicht für sich allein, sondern erschließt sich nur
als prozesshafte Bewegung im Plural als Vielfalt unterschiedlichster Erfahrungs-
bestände. Erfahrung ist damit eine praktische und im Alltäglichen eingebettete
60 2 Normative Demokratietheorien
47 Dies unterstreicht auch Christine Kirchhoff, wenn sie in Orientierung an Adorno schreibt: „Bei-
des, Körper und Geist, sind Abstraktionen von ihrer Erfahrung, ihre radikale Differenz ein Ge-
setztes. [...] Eine Erfahrung ist gemeint, die alltäglich sich machen lässt“ (vgl. 2004: 89 f.).
2.4 Erfahrung als Impuls von Handeln 61
trägt Schuld nicht zum letzten, dass die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweck-
mäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen in bloße Handhabung
beschränkt, ohne einen Überschuss, sei’s Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selb-
ständigkeit des Dingens zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht
verzehrt wird vom Augenblick der Aktion“ (Adorno [1951] 2012: 44). Und A-
dorno spitzt diesen Gedanken zu: „Die praktischen Ordnungen des Lebens, die
sich geben, als kämen sie den Menschen zugute, lassen in der Profitwirtschaft das
Menschliche verkümmern, und je mehr sie sich ausbreiten, umso mehr schneiden
sie alles Zarte ab. Denn Zartheit zwischen Menschen ist nichts anderes als das
Bewusstsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen, das noch die Zweck-
verhafteten tröstlich streift“ (ebd.: 45; Hervorhebung F. A.). An diese Überlegun-
gen von Adorno anschließend, vermerkt Seel, dass „Freiheit an die Selbständigkeit
eines personalen oder sachlichen Gegenübers“ gebunden sei (vgl. Seel 2004: 32).
Entsprechend bedürfe diese Freiheit „einer Freiheit von der Fixierung auf die ei-
genen Zwecke“ (ebd.: 32). In diesem Sinne sei die Perspektive „zweckfreie[r] Be-
ziehungen zu anderem und anderen [der] Erfahrungskern“, der die Kritik von A-
dorno begründe und darauf ziele, die „Möglichkeiten“ hervorzuheben, „deren Ent-
faltung durch die Einrichtung der menschlichen Welt systematisch verschenkt
werden“ (ebd.: 34). In diesem Blickwinkel ziele Adorno auf die Offenlegung der
Momente und „Zustände nichtinstrumentellen Verhaltens“ (ebd.: 35). Diese Zu-
stände wiederum seien für Adorno „alles andere als Utopie. Inmitten der verwalteten
Welt gibt es sie. Sie können real erfahren werden“ (ebd.). Im Unterschied zu Vor-
stellungen von instrumentell-rationalem Handeln48 könne mit Adorno ein freies Le-
ben (zweckfreier Beziehungen) nicht einfach in „Verhaltensweisen“ bestehen, „die
für etwas gut sind, sondern nur in solchen, die selbst das Gute sind“ (vgl. ebd.: 37).
Hieraus ergebe sich aber die Schwierigkeit einer „Gegenüberstellung [...] von ergeb-
nis- und vollzugsorientierter Tätigkeit“ (ebd.). Adorno dränge auf die Notwendig-
keit, eine „Normativität des Handelns aus Situationen jenseits von Tausch und Aus-
tausch“ zu entwickeln (ebd.). Adorno unterscheide deshalb die „Augenblicke der
Kontemplation“ als „Grundmodell richtiger Praxis“ von „Kooperation und Kommu-
nikation“ (ebd.).49 Martin Seel plädiert dafür, Kontemplation nicht „als ein
48 Martin Seel verweist hier auf die „Anerkennungslehre“ von Jürgen Habermas: „Bei ihm ist An-
erkennung das Resultat einer in rationalen Bahnen geleisteten sozialen Koordination und Ko-
operation“ (vgl. 2004: 36 f.). Die Idee eines „zwanglosen Austausch[s] von Argumenten“ und
„die wechselseitige Entwicklung von Respekt und Wertschätzung“ verbleibe im Blickwinkel der
Kritik mit Adorno „in der Sphäre des instrumentellen Handelns“ und sei „lediglich um intersub-
jektive Selbsterhaltung“ bemüht, bei der „sich Subjekte ihrer gegenseitigen Akzeptanz verge-
wissern können“ (ebd.).
49 Kontemplation meint „bei Adorno ein Verhalten, in dem es um ästhetische Wahrnehmungen,
theoretisches Erkennen und praktische Anerkennung gleichermaßen geht“ (Seel 2004: 13 f.). In
diesem Sinne geht es um ein spezifisches Verständnis einer Einheit „von Theorie und Praxis“,
62 2 Normative Demokratietheorien
exklusives Verhalten“ zu sehen, „dem es aufgegeben ist, eines fernen Tages an die
Stelle der bisherigen Praxis zu treten“, sondern sie als eine „Dimension des Verhal-
tens“ zu verstehen, „die sich grundsätzlich in allen seinen Bereichen auftun kann“
(ebd.: 39). Unter diesem Blickwinkel könne „das individuelle Verhalten ebenso wie
die Institutionen der Gesellschaft möglichst auf ganzer Breite [...] andere und ande-
res frei machen“ (ebd.). Handeln und „Haltungen“ könnten der Prüfung unterzogen
werden, inwieweit sie die Möglichkeiten „einer nicht-instrumentellen Aufgeschlos-
senheit zulassen“ (ebd.:38); „Kommunikationen können danach eingestuft werden,
welchen Spielraum sie den Beteiligten lassen“ (ebd.: 39). In dieser Perspektive sei
daher nicht „eine weltfremde Abkehr vom instrumentellen und strategischen Ver-
halten“ das zentrale Motiv, „sondern [...] die innere Qualität von Verhaltensweisen“
bilde „den Mittelpunkt der sozialen Kritik“ (ebd.). Ausgangspunkt für Erfahrung sei
hierbei „ein[...] um seiner selbst willen durchlebte[s] Freisein[...] für andere und an-
deres“ und: „Die Subjekte dieser Erfahrung werden mit Situationen bekannt, die ih-
rem Handeln eine normative Richtung geben können“ (ebd.). In diesen Situationen
stecke die Möglichkeit, „einander in unwillkürlicher Aufmerksamkeit zu begeg-
nen“, und verknüpfe sich mit der Erfahrung „erfüllter Zeit: als individuelle Realisie-
rung eines allgemein lohnenden Daseins“ (ebd.: 39 f.). Bedingung sei allerdings,
dass diese Erfahrungen „in ihrer korrektiven Bedeutung“ für das Handeln erkannt
werden und „nicht zu einem Vorgriff auf paradiesische Zustände umgedeutet wer-
den“ (ebd.: 41). In diesem Sinne beinhalten diese Erfahrungen gleichzeitig die
„Möglichkeiten, die, wenn es gut geht, in Reichweite der individuellen und sozialen
Wirklichkeit liegen“ (ebd.).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar
Negt – zum Verhältnis von Handeln, Macht und
Handlungsfähigkeit50
Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt
Zu problematisieren ist zunächst der Bezug Barbers und Negts auf den Handlungs-
begriff von Hannah Arendt. An dieser Stelle ist nicht der Raum für eine umfas-
die in der Heraushebung „der zwanglosen Interaktion mit anderen, im philosophischen Denken,
in der ästhetischen Erfahrung von Natur und Kunst – ein Gegenmodell zu der instrumentellen,
von ökonomischen Imperativen beherrschten Praxis des alltäglichen Lebens“ erkennt; „als ,kalt-
herzige Kontemplation‘ ist sie mit der verkommenen gesellschaftlichen Praxis im Bunde; als
warmherzige aber geht sie ein Bündnis mit einer ,vorerst‘ verstellten Praxis ein, die den Primat
der instrumentellen Vernunft abgeschüttelt hat“ (ebd.: 12).
50 Auszüge dieses Kapitels auch in Affolderbach (2016 a).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 63
sende Auseinandersetzung mit Arendt gegeben; dennoch sind einige kritische Hin-
weise aufzunehmen. Wie z. B. Frigga Haug aus einer kritisch-feministischen Per-
spektive hervorhebt, ziele der Begriff des Politischen bei Hannah Arendt darauf,
die Grenze zwischen Politischem und Privatem „undurchlässig zu machen“ (2003:
253). In diesem Zusammenhang erscheint der Begriff des Handelns bei Hannah
Arendt als besonders problematisch. Für Arendt gelten „Sprechen und Handeln
[als] die höchsten und menschlichsten Tätigkeiten“ (Arendt [1972] 2013: 212).
Die Menschen würden im Handeln und Sprechen offenbaren, „wer sie sind“ (ebd.:
219). Arendt wendet sich gegen (vulgär-)materialistische Vorstellungen des Poli-
tischen, da diese „allem Handeln und Sprechen inhärente, die Person enthüllende
Fakten einfach übersehen“ (ebd.: 225), verfehlt damit aber die nicht ökonomis-
tisch verkürzten marxistischen Überlegungen (wie z. B. von Benjamin, Bloch oder
Gramsci). Das wesentliche Moment sieht Arendt in der „Tatsache“ eines „subjek-
tiven Faktors“ im interaktiven Austausch, bei dem die Menschen „sich selbst in
ihrer personalen Einmaligkeit zum Vorschein [...] bringen“, ihre Person „enthül-
len“ und ihr Handeln „weder durch Motive noch durch Ziele vorbestimmt [ist]“
(vgl. ebd.: 225 f.). Haug kritisiert diese Vorstellung Arendts als sozial inhaltsleer.
Handeln sei weder „nützlich-befriedigend“ noch als „verändernd-eingreifend auf
die menschlichen Lebensbedingungen“ zu verstehen, sondern reduziere sich auf
das, „was zwischen den Menschen ist“ (Haug 2003: 254).51 Handeln bei Arendt
verstehe sich demnach nicht als Resultat von und als ein Verhalten in gesellschaft-
lichen Verhältnissen. Auch das Öffentliche in der Verbindung mit dem Politischen
bei Arendt unterliege dieser Reduktion, da „die in der Öffentlichkeit Sprechenden
und Handelnden [...] gar keine Zwecke verfolgen, so auch nicht, für andere Men-
schen einzutreten, gegen Hunger, schlechtes Leben, Krankheit, Herrschaft, Unter-
drückung, Not einzuschreiten“ (ebd.: 255). Für Barber hingegen zeigt Arendt in
ihrem Buch vita activa das Verschwinden des Handelns und Tätigseins des Men-
schen als zentrale Elemente des Politischen auf (vgl. Barber 1994: 121). Ist für
51 Das „Zwischen“ ist eine zentrale Figur, mit der Hannah Arendt „den Raum des Politischen kon-
stituiert“ (vgl. Sigwart 2012: 387). Im Kern geht es ihr darum, eine Idee des Politischen zu ent-
werfen, in dessen Kontext politisches Handeln prozesshaft eine „stabilisierende[...], versteti-
gende[...] Wirkung[...]“ (ebd.) entfaltet und sich gleichzeitig von Formen zweckrationalen Han-
delns unterscheidet. Das „Zwischen“ steht dabei als Metapher für einen „politisch-hermeneuti-
schen Prozess der Selbsterkenntnis der Öffentlichkeit“ (vgl. ebd.). Entsprechend sei „das Grün-
den politischer Gemeinwesen und das Handeln einer politischen Öffentlichkeit [...] vor allem als
eine interpretative Praxis zu interpretieren“ (ebd.). Arendts Bestimmung des „Zwischen“ ist wi-
dersprüchlich. Einerseits betont sie, dass Handeln dadurch charakterisiert sei, dass sich die Men-
schen „unmittelbar aufeinander beziehen“ (ebd.: 392). In diesem Zusammenhang bleibe undeut-
lich, was das Politische meine; es „bezieht sich offensichtlich auf das Gemeinsame. Aber es ist
nicht klar, wo Arendt dieses Gemeinsame verorten will“ (ebd.). Andererseits verdeutliche
Arendt, dass sich das „Zwischen“ „nur dadurch konstituiert, dass sich Menschen im Handeln auf
das beziehen, was ,inter-esse‘, also zwischen ihnen ist“ (ebd.).
64 2 Normative Demokratietheorien
Arendt die griechische Polis Orientierung und damit die Aufrechterhaltung der
Trennung des Privaten vom Öffentlichen (sowie des Privaten vom Politischen)
bestimmend, liest Barber dies als Ausdruck einer Kritik an Vorstellungen magerer
Demokratie sowie ihrer Folgen einer „Passivität und Sprachlosigkeit der Bürger-
schaft“ (Barber 1994: 121 f.). In ähnlicher Weise argumentiert Negt. Für ihn ent-
wickelt Arendt mit ihrem Entwurf ein „Bewusstsein von dem komplexen Zusam-
menhang wirklichen Handelns, seiner Motive, seiner Utopien, der Verdrehungen
der Wirklichkeit“, welcher von Marx ausgelassen und von folgenden Generatio-
nen seiner „meisten“ Interpreten nicht gefüllt worden sei (vgl. Negt 2010: 337).
52 Ihre Überlegung formuliert sie im Kontrast zur Logik zweckrationalen Handelns in der „Weber-
schen Machtdefinition“ und dem „Weberschen Anstaltsstaat“ (Rieger/Schultze 2010: 263).
Hauke Brunkhorst kritisiert die Einseitigkeit der Lesarten von Arendts Machbegriff. Die Lesar-
ten würden sich hauptsächlich auf den „handlungstheoretischen“ Aspekt konzentrieren und da-
bei die Erweiterung von Arendt, Macht als „strukturellen Begriff (positiv) gründender Macht“,
übersehen (Brunkhorst 2007: 1 und 4).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 65
(2003: 259). Arendt gehe es nicht um „,Gesellschaftsgestaltung‘ [...], weil für ihre
,Machtpraxen‘ alle sozialen Aufgaben bereits gelöst sein müssen“ (ebd.). Ist bei
Arendt Macht und Handeln der Menschen darauf gerichtet, im „Miteinander-Spre-
chen [...] vor allem über sich selbst als Bürgerschaft [zu] sprechen“ (Sigwart 2012:
397 f.), bleibt Macht und Handeln im „zweckfreien Raum“ abgespalten von den
strukturellen Bedingungen des Gesellschaftlichen; die Klassen- und Geschlechter-
verhältnisse verschwinden.53
2.5.3 Empathische Lesarten von Macht bei Arendt und deren Bedeutung für
Handeln
53 Die Problematik der Abspaltung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen als strukturelle
Bedingtheiten des Gesellschaftlichen von Macht findet sich auch im Machtbegriff von Michel
Foucault wieder (vgl. Rehmann 2015: 1522).
66 2 Normative Demokratietheorien
und seinen Interaktionen als Zwang gesellschaftlicher Strukturen auf dessen Han-
deln wirken. Die in diesem Kontext zusammenwirkenden Kräfte kennzeichne
Bourdieu „als unterschiedliche Kapitalsorten: als ökonomisches, kulturelles und
soziales Kapital“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund ergebe sich ein „mehrdimensio-
naler Raum“, in dem die „Verfügung über bzw. der tendenzielle Ausschluss von
bestimmten Kapitalsorten“ die jeweilige „gesellschaftliche Position“ und damit
eine entsprechende „Teilhabe und Partizipation“ der Einzelnen und somit den je-
weiligen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen reguliere (ebd.). Der so ver-
standene „soziale Raum“ sei Abbild „einer fast unendlichen Vielzahl von Relati-
onen in und zwischen Sozialitäten“ (ebd.). Entsprechend drückten sich in „diesen
Relationen [...] Machtverhältnisse aus“, deren Gradmesser „der Umfang und die
Zusammensetzung der verfügbaren Kapitalien“ sei (ebd.). Deshalb würden
Kämpfe zwischen verschiedenen „Sozialitäten [...] um ihre als ,gerecht‘ oder ,un-
gerecht‘ erlebte soziale Platzierung“ geführt (vgl. ebd.: 16). Auf der Suche nach
der Möglichkeit zur „Erlangung einer gerechteren Position“ oder einer „Verbes-
serung“ bzw. „Verteidigung einer im Wesentlichen als ,gerecht‘ erlebten Position“
gehe es „um Macht bzw. um Überwindung von Ohnmacht“ (ebd.). Der Unter-
schied dieser Handlungsweisen zur Herrschaft institutionalisierter Formen der
Macht bestehe in den „soziale[n] Räumen und soziale[n] Zeiten, die quer (trans-
versal) zu den Herrschaftsstrukturen liegen“ (ebd.).
Die Interpretationen der angedeuteten Sichtweisen auf Macht beinhalten
zwei Dimensionen. Die eine kann als kollektive Handlungsmacht verstanden wer-
den, „bei der die Menschen gemeinsam eine größere Handlungsfähigkeit gewin-
nen“ (Rehmann 2015: 1527) können. Gleichzeitig kann sich hieraus „Herrschafts-
macht“ (ebd.) entwickeln, die wiederum als „Macht zur Befreiung und zur Gestal-
tung der befreiten Gesellschaft“ (Goldschmidt 2015: 1486) zum Ausdruck kom-
men oder sich als Passivierung in der Delegation von Macht verlieren kann.54
54 Aus den hier skizzierten Positionen ergeben sich Kritikpunkte am Machtbegriff von Michel
Foucault. An dieser Stelle kann der Machtbegriff von Foucault nicht rekonstruiert werden. Zu-
sammenfassende Interpretationen, die für den hier diskutierten Kontext von Bedeutung sind,
kommen z. B. von Alex Demirovic (insbesondere 2007: 232 f.) und Jan Rehmann (2015: 1520
f.). Zwei Kritikpunkte möchte ich hervorheben: Zunächst repräsentiere Foucaults „Machtkon-
zept“ eine Variante reduktionistischer Klassentheorie, welche sich in der verkürzten „Glei-
chung“ von „Klasse-Gewalt-Macht“ ausdrücke (vgl. Rehmann 2015: 1521). Zum anderen spalte
Foucault Macht vom Zwang der ökonomischen Verhältnisse ab und bringe dabei die strukturelle
Bedingtheit und Verzahnung von „Machtbeziehungen der Klassen- und Geschlechterverhält-
nisse zum Verschwinden“ (vgl. Rehmann 2015: 1522; durch die Betonung des „zweckfreien
Raumes“ im Machtbegriff von Hannah Arendt verschwinden die strukturellen Bedingtheiten des
Gesellschaftlichen, vergleichbar zum hier skizzierten Problem bei Foucault.). Als weiterführen-
der Impuls von Foucault gilt z. B. seine Kritik an schematischen Vorstellungen von Macht, die
Macht polarisierend betrachten und Macht als Mechanik zwischen denjenigen, die Macht haben,
und denjenigen, die keine Macht haben beschreiben (vgl. Demirovic 2007: 234). Demgegenüber
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 67
mache sich Foucault für eine Sichtweise stark, die Macht als „Plural“, als Wechselwirkung ver-
schiedenster Machtformen (Technologien) und Widerständigkeiten begreift (ebd.: 232 f.). Ähn-
lich unterstreicht Jan Rehmann die Idee des „Dispositivs“ als Dimension zur Erfassung von
„raum-zeitlichen“ Unterwerfungspraxen unter Machttechnologien „die sich in ideologischen
und repressiven Apparaten durchsetzen [...], mit deren Hilfe den Subjekten Disziplinartechniken
inkorporiert werden“ und die als Wirkungszusammenhang „neue gesellschaftliche Gegenstands-
bereiche“ erzeugen (vgl. Rehmann 2015: 1524). Für meine Position ist die Verknüpfung des
foucaultschen Dispositivs „mit einer Analyse ideologischer Superstrukturen“ von Bedeutung
(vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang gilt das „Ideologische nicht primär als Ideengebäude, son-
dern als ,äußere Anordnung‘ im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (ebd.: 1524). In
diesem Kontext werden die theoretischen Überlegungen von Antonio Gramsci zur Hegemonie
zentral und entsprechend wären z. B. das Verhältnis von Hegemonie und Gewalt zu erörtern und
das Stichwort der Passivierung sowie der Begriff des Alltagsverstandes von Antonio Gramsci in
ihrer bzw. seiner sozialen Wirkungsweise zu analysieren.
55 Claas Christophersen bemerkt zu Hannah Arendt: „Arendts Konzeption politischer Freiheit be-
inhaltet aber auch ein normatives Ideal, an dessen Verwirklichung sich reales Handeln und das
Nachdenken über dessen Möglichkeitsbedingungen messen lassen müsste“ (2010: 93). Genau
dieses Moment unterstreichen Joachim Weber und Timm Kunstreich.
56 Ohne hierauf genauer eingehen zu können, ist die Idee eines kommunikativ vermittelten Han-
delns im Sinne einer interaktiven „Enthüllung“ der Person (oder des menschlichen Wesens) bei
Hannah Arendt verallgemeinernd in einer Perspektive der Kooperation aufzuheben.
57 Das von mir verwendete Zitat von Frigga Haug entstammt einer spitzen Formulierung ihrer Kri-
tik an linken Lesarten von Arendt. Die Faszination erklärt sie so: „Die linke Arendtrezeption
68 2 Normative Demokratietheorien
2.5.4 Trennung des Politischen von der Gesellschaft und dessen Bedeutung
für Handeln
Mit Blick auf Arendt allerdings ist dieser Raum des Politischen strikt von der Ge-
sellschaft getrennt. Entsprechend bilden auch das Politische und das Ökonomische
zwei entgegengesetzte Sphären. Dieses Problem unterstreicht Hauke Brunkhorst
und verweist auf „die Weigerung Arendts, beide Sphären als differenzierte Sphä-
ren derselben Gesellschaft zu betrachten“ (2007: 5). Handeln, insbesondere als
konstitutives Element des Politischen, wird dabei „von der Gesellschaft ge-
trennt[...] und ihr normativ übergeordnet[...]“ (ebd.). In diesem Zusammenhang
sei „jede Vergesellschaftung der Politik als Verfall zu verstehen“ (ebd.). In der
Konsequenz stehe bei Arendt eine „dualistische Scheidung von innen und außen,
von ,Zivilisation‘ und ,Barbarei‘, des (human-zivilisierten) Politischen und der
(unmenschlich-barbarischen) Sphäre des Sozialen“ (ebd.: 10). Betont wird bei
Arendt somit die „konstituierende Seite politischen Handelns“ (Demirovic 2013a:
466). Als politisches Handeln gilt deshalb der Moment, in dem die Menschen zu-
sammenkommen und „gemeinsam handlungsfähig werden“ (ebd.: 463). In diesem
Zusammenhang erscheint politisches Handeln gleichzeitig als „Sphäre der Auto-
nomie und der Freiheit“ (ebd.). Vergessen wird allerdings, dass der konstituie-
rende Akt politischen Handelns einen „konstituierten politischen Prozess hervor-
bringt“, der im „Schatten der Normalität, der Gewöhnlichkeit, der Verwaltung, der
Polizei“ verschwindet (ebd.). Alex Demirovic sieht das Problem einer Betonung
und Bevorzugung des Moments „gemeinsamen Handelns“ als Schwierigkeit der
zeitgenössischen Auseinandersetzung um das Politische allgemein. Demnach un-
terscheiden „Arendt, Lefort, Laclau und Mouffe, Rancière, Badiou oder Žižek“ in
ihren Überlegungen das Politische als Sphäre gemeinsamen, insbesondere demo-
kratischen Handelns von der „Ökonomie mit ihrer Macht und ihren Sachzwängen“
(ebd.: 463 f.). Hierbei spalten sie nicht nur das Ökonomische vom Politischen,
sondern auch das Politische selbst. Das gespaltene Politische erscheint als Norma-
tiv, als gemeinsame Handlungsfähigkeit und in diesem Sinne als das „authentisch“
Politische, welches sich von der belastenden „verwaltende[n] und beherr-
schende[n] Seite“ als das andere distanziert und „ihm den Namen der Politik“ ab-
erkennt (vgl. ebd.: 466). Somit sind auch Widersprüchlichkeiten sowohl des Han-
delns selbst als auch im Politischen ausradiert. Gemeinsame Handlungsfähigkeit
speist sich aus dem Verlangen, Kapitalismuskritik zu verbinden mit dem Kampf für einen poli-
tischen Raum, in dem jeder Einzelne etwas bedeutet und bewirken kann“ (Haug 2003: 261).
Zweifelnd fügt sie hinzu: „Lässt sich Arendt in dieser Weise lesen und verstehen?“ (ebd.). Die
hier angedeutete Skepsis von Haug trifft dann zu, wenn Macht in einem verkürzten Sinne, aus-
schließlich als horizontal-verbindendes Element, abgespaltet von einer „Macht über“, gedacht
wird und dabei das Spannungsverhältnis von „Macht über“ und Gegenmacht zum Verschwinden
bringt.
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 69
Darüber hinaus stellt sich implizit die Frage nach dem Sinn und Zweck des Han-
delns, vor allem dann, wenn die Frage nach freiheitlichen Formen der Vergesell-
schaftung, die ja eine bestehende Form gesellschaftlicher Unfreiheit voraussetzen,
gestellt ist.59 Hannah Arendt verortet Zweck und Zweckhaftigkeit im „Bereich der
58 Der bei Arendt enthaltene „normative Bedeutungsüberschuss“ einer Idee selbstbestimmten Han-
delns nähert sich der Vorstellung von „einem expansiven und sozial inklusiven demokratischen
Experimentalismus“ (Brunkhorst 2007: 17). Weiter schreibt Brunkhorst: „Soweit geht Arendt
jedoch nicht. Sie möchte vielmehr die Dynamik und den inklusiven Sog politischen Handelns
durch einen unpolitischen Gesetzesstaat und unpolitische Landesgrenzen bremsen“ (ebd.; Her-
vorhebung F. A.).
59 Mit Blick auf die Sichtweisen von Timm Kunstreich und Joachim Weber ist zu schlussfolgern,
dass ihre Überlegungen zum Stichwort praktisch darauf zielen, die Legitimität eines Anspruches
von unten, solidarische, horizontale Formen der Vergesellschaftung zu begründen und sie gleich-
zeitig von gewalthaften, zwanghaften Formen der Vergesellschaftung (von oben) analytisch
70 2 Normative Demokratietheorien
Weiterführend wäre deshalb die Frage des Handelns als Frage nach dem Verhält-
nis von Handlungsfähigkeit zu Macht und Herrschaft zu stellen. An diesem Punkt
kann man sich auch von der Beschränkung in der Machtvorstellung von Arendt
lösen. Jan Rehmann beispielsweise nähert sich der Bedeutung von Macht etymo-
logisch. Zwei Dimensionen in der Sprachentwicklung und Bedeutung des Begrif-
fes Macht stellt Rehmann heraus. Zum einen verweise die sprachliche Wurzel auf
die Stichworte „Können/Vermögen“ und deren Bedeutungszusammenhang von
unterscheidbar zu machen. Mit dem Fokus auf Handlungsmöglichkeiten und hiermit verbunde-
nen Formen von Handlungsfähigkeit werden Fragen nach der Entstehung der Mächte, nach dem
Verhältnis von Macht und Gewalt, die Frage nach den Kämpfen der Machtverteilung oder auch
die Frage nach den Unterschieden von Macht zu Herrschaft sowie den Dimensionen von Hand-
lungsfähigkeiten, wie sie etwa Klaus Holzkamp im Kontext der kritischen Psychologie subjekt-
theoretisch als restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit beschreibt (vgl. hierzu
grundsätzlich Holzkamp 1985 und weiterführend Markard 2009), bedeutsam.
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 71
„gern wollen und gern haben“ (Rehmann 2014: 216). Die Bedeutung interpretiert
Rehmann als eine enge Verknüpfung von „Handlungskompetenz“ mit einem ent-
haltenen Impuls „eines zugewandten Wollens“ (ebd.). Zum anderen erfolge in der
Sprachentwicklung eine „Abzweigung“ zum Stichwort „Möglichkeit“ (ebd.). Aus
dieser kurzen Skizze lassen sich zwei Bedeutungsebenen in der Vorstellung von
Macht ableiten. Die eine bezeichnet Macht „als Vermögen [...] ,das Mögliche
wirklich zu machen‘“ (ebd., zit. Röttgers nach Rehmann). Die andere, in Assozi-
ation zu HandlungsKompetenz, bezeichnet jenes Vermögen von Macht, „dass sie
der Möglichkeit nach verallgemeinerbar und demokratisierbar ist“ (ebd.). In die-
sem Zusammenhang wird Macht von Herrschaft unterscheidbar. Herrschaft als
„Knotenpunkt[...] von Patriarchat und Klassenherrschaft“ bildet den „Standpunkt
des Herrn“ und ist „damit prinzipiell nicht demokratisierbar“ (ebd.). Ein empathi-
sches Verständnis von Macht als „das Mögliche wirklich zu machen“ ist unter
„antagonistischen Verhältnissen“ gebrochen und abhängig davon, welche „jewei-
lige Position“ die Individuen „im gesellschaftlichen System der Klassen-, Ge-
schlechter- und Rassenverhältnisse haben“ (ebd.). Dies bedeutet aber auch, dass
nicht einfach von Macht gesprochen werden kann, sondern vielmehr von wider-
streitenden Mächten, die auf ungleichzeitige Weise widersprüchlich, entgegenge-
setzt oder gekreuzt auftreten und am Beispiel „konkreter Situationen“ diskutiert
werden müssen (vgl. Haug 2010. 52). Insofern sind die Mächte nichts ein für alle
Mal Bestimmbares, sondern immer wieder neu in sich verändernden Verhältnissen
zu definieren.
Entsprechend sind sowohl der Begriff der Macht als auch die Erscheinungs-
formen der Macht in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen widersprüchlich
bzw. von Widersprüchen durchzogen. Einer dieser Widersprüche ist z. B., die in
der Macht liegende Handlungsfähigkeit als Vermögen und Möglichkeit, die in ih-
rer „Grundbedeutung des Könnens leicht hinübergleiten [kann] in die eines parti-
kularen Vermögens qua Herrschaftsmacht“ (ebd.). Grundsätzlich aber kann jetzt
zwischen Handlungsfähigkeit und Herrschaftsmacht unterschieden werden. Herr-
schaftsmacht versteht sich dabei als eine Macht, die über andere verfügt oder an-
dere gefügig macht. Jan Rehmann legt in Orientierung an Spinoza eine Bedeu-
tungsebene frei, die für den hier diskutierten Kontext wichtig ist. Er verweist da-
rauf, dass potentia agendi, übersetzt als Handlungsfähigkeit, bei Spinoza „an kei-
ner Stelle als Herrschaftsmacht über andere behandelt wird“ (2014: 221). Auch
schon die Idee „göttlicher Macht“ sei nicht absolut zu setzen, sondern durch „äu-
ßere Ursachen“ beeinflusst und beschränkt (vgl. ebd.). Entsprechend müsse „sich
der Mensch notwendig an die Natur anpassen und ist den Leiden (passionibus)
unterworfen“ (ebd.). Spinoza unterscheide „Leiden/Erleiden (passio/pati)“ von
„Handeln (agere)“ (ebd.). Leiden/Erleiden meine in diesem Zusammenhang „ein
Geschehen, das wir nicht selbst ,adäquat‘ verursachen, sondern dem wir ausgelie-
72 2 Normative Demokratietheorien
fert sind“ (ebd.). Handeln hingegen meint den Zusammenhang, „bei dem aus-
schließlich wir selbst die ,adäquate Ursache‘ bilden“ (ebd.). Das Besondere dieser
Sichtweise ist, dass beide Dimensionen als gleichzeitige Bestandteile der gesell-
schaftlichen Erfahrung des Menschen betrachtet werden. Handeln versteht sich
dabei als (eigen)aktives, selbstbestimmtes Moment menschlicher Aneignung der
Welt. Spinoza formuliert eine „Moralkritik“, indem er „den transzendental be-
gründeten Werten eine ,Geometrie‘ der Gefühle und Tugenden entgegensetzt“ und
nach deren „handlungsfördernden oder -hemmenden Eigenschaften“ untersucht
(ebd.). Den Ausgangspunkt für seine Kritik bilde eine Vorstellung von Macht, die
„als kooperatives Vermögen gefasst“ einen „Vergesellschaftungsmodus einer pro-
zessualen ,Transindividualität‘, die auf Synergie-Beziehungen mit anderen gerich-
tet ist“, beschreibe (ebd.). Diese Idee eines „kooperativen Zusammenschlusses“
bilde den Impuls für ein Handlungsvermögen, bei dem Macht das Vermögen be-
schreibe, „das die Menschen übereinstimmen lässt, während Unvermögen [...] und
passives Erleiden sie voneinander trennen und einander entgegensetzen“ (ebd.).
Handeln in diesem Sinne finde somit seinen Ausdruck in Formen „auf Verallge-
meinerung angelegte“ Handlungsfähigkeit, „indem man das Gut, das man für sich
begehrt, auch den übrigen Menschen wünscht“ (ebd.: 222). Eine in diesem Sinne
verallgemeinerte Handlungsfähigkeit verstehe sich als „kooperative Handlungs-
macht von unten“ (Rehmann zit. nach Haug 2010: 51). Entsprechend kann jetzt
„zwischen einer kooperativen Handlungsmacht von unten und einer Herrschafts-
macht von oben“ differenziert werden (ebd.).
Gleichzeitig entfaltet sich diese Vorstellung von Handeln als ein in die Welt
und ihre Verhältnisse aktiv eingreifendes Vermögen. Verallgemeinerte Hand-
lungsfähigkeit erschließt sich dabei als ein „Kräftezuwachs inmitten einer kom-
plexen Vielfalt von Kräfteverhältnissen“ (Reeling Brower 2001: 1169) und ver-
weist auf Momente einer alltäglichen Praxis, „das Rechte zu finden, um dessent-
willen es sich ziemt zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben“ (Bloch [1921]
1985: 13).60 Letztere Gedanken verweisen darauf, dass Handeln selbst ein Produkt
menschlicher Praxis ist, welches sich in Handlungsfähigkeiten differenziert. Han-
deln ist in gesellschaftlichen Prozessen vermittelt. Handeln ist demnach kein Nor-
mativ einer der Gesellschaft übergeordneten menschlichen Wesenheit, sondern als
menschliche Praxen im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“61 zu be-
greifen. Erst aus diesem Blickwinkel erschließt sich Handeln als Plural von
60 Diese Überlegung von Ernst Bloch wird von Wolfgang Fritz Haug aufgegriffen und er sieht den
Kern der benannten Momente als einen „Kristallisations[punkt] unterschiedlicher kultureller
Selbstzweckpraxen“, die sich in einem hegemonialen Feld platzieren, dessen „Anziehungskraft“
sich selbst die gegnerischen Klassen nicht ganz entziehen können (vgl. Haug 1985: 175).
61 Zum Stichwort „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ vgl. die 6. Feuerbachthese bei
Karl Marx (Marx/Engels 1969: 533 f.).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 73
63 Weiterführend zu den hier angedeuteten Gedanken, hat Wolfgang Fritz Haug zum Stichwort
„Assoziation“ einen zusammenfassenden Überblick der Überlegungen von Karl Marx zu einer
Gesellschaft assoziierter Produzenten sowie deren Diskussion im Kontext marxistischer
Theoriebildung geschrieben (vgl. Haug 1996: 639 f.).
64 Zum Stichwort der Entfremdung als Blockierung im Alltäglichen vgl. auch die Studie von Rahel
Jaeggi zur Entfremdung (Jaeggi 2005).
76 2 Normative Demokratietheorien
strukturelle Grundlage der Prozesse der Entfremdung ein Bewusstsein über die Ent-
fremdung selbst bricht, gar verhindert und in der „Privation oder [...] Frustration [...]
fixiert“ (ebd.: 464). Deshalb liege die „Option“, mit „einer entfremdenden und ent-
fremdeten Situation Schluss“ zu machen, darin, das Mögliche bewusst zu machen
und anzusteuern (vgl. ebd.). Dieser Prozess wiederum bedarf der Bildung und Wis-
senschaft65, um die Blockade erkennen und aufheben zu können.
Vor diesem Hintergrund betont verallgemeinerte Handlungsfähigkeit einer-
seits den Grad der Verdichtung von Möglichkeiten horizontaler und kooperativer
Formen der Vergesellschaftung, die „auf eine Erweiterung von Verfügungsmög-
lichkeiten zielen“ (Eichinger 2009: 14). Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit un-
terscheidet sich im Kontext der kritischen Psychologie von restriktiver Handlungs-
fähigkeit als der Form, bei der sich die Individuen mit den ihnen zur Verfügung
stehenden Handlungsmöglichkeiten im Kontext der gesellschaftlich gegebenen
herrschaftsbezogenen und unterdrückerischen Begrenzungen bewegen und in die-
sem Sinne aktiv-passiv bleiben.66 In den Begriffen verallgemeinerter und restrik-
tiver Handlungsfähigkeit spiegelt sich somit das Verhältnis von den Möglichkei-
ten und deren Beschränkungen wider.
65 Die Perspektive für Wissenschaft ist hierbei kritisch zu fassen. Sie erfordert ein „reflexives“
Verständnis von Wissenschaft selbst (vgl. hierzu Cremer-Schäfer/ Steinert 2014: 243 f.), um das
Eingebundensein von Wissenschaft in die bestehenden Herrschaftsverhältnisse „horizontaler Ar-
beitsteilung (das ,Nebeneinander‘ unterschiedlicher Spezialisierungen) mit denen der vertikalen
Arbeitsteilung (Befehlshierarchien)“ (vgl. Haug 1981: 530 f.) erkennen zu können. Erst mit die-
sem Zugang ergibt sich die Möglichkeit, die „Interessen an der Legitimation und Entlegitimie-
rung von gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen“ von Wissenschaft offen zu legen und
einer „Wissenschaftsauffassung“ als kritischer Tätigkeit Raum zu verschaffen (Cremer-Schä-
fer/Steinert 2014: 245). Für den in dieser Arbeit diskutierten Kontext müsste sich Letztere im
Dialog mit „sozialen Bewegungen“ bewähren oder, wie Wolfgang Fritz Haug deutlich macht:
„Mit den Methoden der Wissenschaft werden wir die für die Emanzipation nützlichen Methoden
und vor allem eine ,Sprache‘ aufnehmen aus den sozialen Bewegungen, an ihrer Kohärenz ar-
beiten, sie zurückgeben. Kritisch wird diese Tätigkeit, insofern sie wie Hefe im Teig der sozial-
kritischen Bewegungen wirkt. Gegen die herrschende Artikulation von Arbeit, Wissenschaft und
Kultur wird sie, mit den Mitteln und auf dem Niveau der wissenschaftlichen Entwicklung und
der kulturellen Prozesse, die Selbstartikulation dieser Kräfte fördern“ (Haug 1981: 530). In die-
sem Sinne gehe es nicht um eine „Befreiung [...] von der Wissenschaft“, sondern um ein Zusam-
menwirken sozialkritischer Bewegungen „im Bündnis mit befreiender Wissenschaft“ (ebd.:
531).
66 Vgl. hierzu grundsätzlich Klaus Holzkamp (1985: 371 f.) und Morus Markard (2009: 180 f.).
Ulrike Eichinger verweist außerdem darauf, dass in der Konzeption von Holzkamp erweitere
Handlungsfähigkeit zwar die Idee umfasse, eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten zu
bezeichnen, aber gleichzeitig vor der Schwierigkeit stehe, „auch das Risiko des Scheiterns und
damit die Zuspitzung von Problemlagen“ zu erhöhen (vgl. Eichinger 2009: 14). Morus Markard
macht außerdem deutlich, dass die Begriffe allgemeiner und restriktiver Handlungsfähigkeit in
„konkreten Analysen“ (Markard 2009: 199) konkretisiert werden müssten, um beschreiben zu
können, was die Widersprüche allgemeiner und restriktiver Handlungsfähigkeit sind (vgl. ebd.:
200; und zum Thema ausführlich vgl. ebd.: 180 f.).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 77
Hannah Arendt unterscheidet Macht von Gewalt.67 Im Kontrast zur Macht sei Ge-
walt durch ihren „instrumentalen Charakter“ (Arendt [1970] 2006: 47) gekenn-
zeichnet. Der Gewalt als einer „Fähigkeit [des Individuums] zu instrumentellem
Handeln“ stellt Arendt die Idee eines kommunikativ vermittelten Handelns gegen-
über (Rieger/Schultze 2010: 563).68 Grundsätzlich ist dem Gedanken, in Gewalt
ein instrumentelles und somit unterdrückerisches Moment zu erkennen, zu folgen.
Allerdings unterschlägt diese Sichtweise die Bedeutung von Gewalt als Not–Wen-
dung. An diesem Punkt zeigt sich Gewalt als widersprüchliches Verhältnis aus
Gewalt und Gegengewalt. Wichtig ist deren analytische Unterscheidung als Form
zur Legitimierung von Unterdrückung und spezifischer Form gewalttätiger Antwort
der Unterdrückten auf Unterdrückung. Letztere ist in dem „Wunsch begründet, das
Recht auf Menschsein zu verwirklichen“ (Freire 1973: 43). Hieran schließt sich die
Frage ab wann Gewalt notwendig ist, im Sinne einer Notwendung, also Notwehr.
Darko Suvin formuliert zwei Bedingungen, unter denen Gewalt erlaubt sein könnte:
„Erstens, in kurzfristiger Perspektive oder für die Gegenwart, dass sie in ihrem Kern
defensiv ist, die Abwehr noch schrecklicherer Gewalt; Zweitens, in langfristiger
Perspektive oder hinsichtlich der Zukunft, dass eine klare Aussicht darauf besteht,
den von Menschen in ihrem Machtstreben anderen Menschen absichtlich zuge-
fügten Schaden zu vermindern und die personale und psychophysische Integrität
in der Gesellschaft zu befördern“ (2005: S. 56). Mit Blick auf diesen Gedanken
bemerkt Philippe Bourgois in einer kritischen Selbstreflexion seiner Einschät-
67 Hauke Brunkhorst weist darauf hin, dass Arendt mit der „unglückliche[n] Unterscheidung von
Macht und Gewalt“ vor dem Problem stehe, „politische Macht nicht als gesellschaftliches Phä-
nomen [...] verstehen“ zu können (vgl. 2007: Fn. 1). Außerdem werde die Machttheorie von
Arendt „bislang immer nur handlungstheoretisch als Unterscheidung von Macht und Gewalt“,
als „konstitutive[...]“ und „repressive[...] Handlungsmacht“ gedeutet (vgl. ebd.: 4). Brunkhorst
verweist auf seine eigene erweiterte Interpretation, die erkennen lasse, dass Arendt auch die Un-
terscheidung zwischen „struktureller Repressionsmacht“ sowie „konstitutiven Machtstrukturen“
treffe (vgl. ebd.). Meines Erachtens besteht über den Dualismus von Macht und Gewalt hinaus
das Problem, im „mythischen Singular“ über Macht und Gewalt zu sprechen (vgl. Haug 2010:
52). Dabei wird übersehen, dass Macht und Gewalt unter antagonistischen Verhältnissen von
Widersprüchen durchzogen und „im Plural“ als „Mächte und Gewalten“ gleichzeitig/ungleich-
zeitig am wirken sind (vgl. ebd.).
68 Für den Kontext der Politikwissenschaften sei die Idee von Hannah Arendt in einen breiten Dis-
kurs um die Frage der Macht einzuordnen, für den auch die Impulse von Michel Foucault und
Pierre Bourdieu von zentraler Bedeutung sind. Anknüpfend hieran habe sich die Konzentration
der Politikwissenschaften auf „Herrschaftsverhältnisse“ verändert; Macht werde nicht mehr nur
als „,Macht‘ über“ verstanden, sondern differenzierter auch als „,Macht‘ zu“ begriffen (Gold-
schmidt 2015: 1485). Zu den Widersprüchen in der Bestimmung des Begriffes der Gewalt sowie
dem Verhältnis von Gewalt zu Macht und Herrschaft vgl. Balibar (2001: 693-695 und 1270-
1308).
78 2 Normative Demokratietheorien
zungen der revolutionären Bewegung in El Salvador, dass „eben jene Gewalt, ge-
gen die sie sich organisierte“, sie selbst traumatisiert und deformiert und sich spie-
gelbildlich auf die „Organisation und die inneren Beziehungen der Guerilla“ über-
tragen habe. Dies wiederum habe zu Gewalt innerhalb der Bewegung selbst und
so zur Blockade und Verwahrlosung der eigenen Ethik geführt (vgl. Bourgois
2005: 148-149).69
Diese Formen verdeutlichen Gewalt als Zusammenhang widersprüchlicher ge-
sellschaftlicher Verhältnisse, welche vor allem für eine Perspektive gesellschaftli-
cher Veränderung von unten von Bedeutung sind, da sich hieraus Begrenzungen o-
der Erweiterungen von Handlungsmöglichkeiten ergeben. Auch an diesem Punkt ist
anzumerken, dass wie schon am Verhältnis von Macht diskutiert, es „DIE GE-
WALT“ (vgl. Haug 2010: 52) nicht gibt. Im Kern, so Haug, „haben wir es mit An-
tagonismen im Plural zu tun, mit Differenzen, Gegensätzen oder Widersprüchen der
Mächte und Gewalten“, die sich wiederum nur an der „konkreten Situation“ spezi-
fizieren lassen (vgl. ebd.) Blickt man hierbei allein auf den „instrumentellen Cha-
rakter“ von Gewalt, entsteht eine Verkürzung; es stellt sich nicht mehr die Frage,
wie und warum Gewalt entsteht, und sie erscheint nur als Mittel zur Kompensation
von Schwäche. In diesem Zusammenhang werden die angedeuteten Formen von
Gegengewalt, deren Widersprüche, Begrenzungen, Legitimationen und Notwendig-
keiten als Bedingungen einer Befreiungsarbeit von unten nicht mehr denkbar und
stellen somit auch eine Begrenzung des theoretischen Werkzeugs der Kritik dar.
Eine Ausschließlichkeit instrumenteller Gewalt verliert z. B. auch den Blick auf die
Dialektik von Gewalt als Notwendung zur Befreiung und der Gleichzeitig- bzw. Un-
gleichzeitigkeit für den Moment, wo die Befreiungsbewegung in ihr Gegenteil kippt.
Aus der Perspektive „instrumenteller Gewalt“ ist dieser Moment unausweichbar und
außerhalb menschlicher Handlungsmöglichkeiten. In dieser Sicht verschwindet Be-
freiung in der Gestalt der Gewalt; Befreiung und Gewalt werden identisch. Grund-
sätzlich wäre zwischen herrschaftlicher Gewalt und Gewalt als Notwendigkeit im
Befreiungshandeln zu unterscheiden.
2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt
Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt
An dieser Stelle ist nicht der Raum für eine umfassende historische und theoreti-
sche Rekonstruktion des Begriffes der Zivilgesellschaft gegeben. Deshalb sollen
nur stichwortartig problematische Punkte unterstrichen werden, die mit einem
69 Weiterführend hierzu wären auch Walter Benjamins und seine Ausführungen zur Gewalt als
Recht setzender Gewalt zu diskutieren (vgl. etwa Loick 2012).
2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt 79
70 Vergleichbare Perspektiven werden etwa auch von den Autor*innen im Oxford Handbook of
Civil Society vertreten. Im Wesentlichen wird Zivilgesellschaft als ein eigenständiger, von
anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen unabhängiger Raum gedacht. Nur in einem
Beitrag wird die Idee Gramscis zur Zivilgesellschaft als eine von fünf unterschiedlichen
Vorstellungen von Zivilgesellschaft angedeutet, aber deren Bedeutung z. B. für die Frage von
Öffentlichkeit nicht vertiefend erläutert (vgl. Calhoun 2011: 311 f.).
80 2 Normative Demokratietheorien
Staat und Gesellschaft kritisiert). Wie Benjamin Opratko deutlich macht, kritisiert
Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften diese Sichtweise als „theoretischen
Irrtum“ (Opratko 2012: 41). Mit der „Unterscheidung von politischer Gesellschaft
und Zivilgesellschaft“ werde „aus einer methodischen Unterscheidung [...]
eine[...] organische[...]“ gemacht (vgl. ebd.). Der Versuch einer Unterscheidung
und einer eindeutigen Zuweisung von Konsens- und Gewaltapparaten verkürze
und verkenne die „komplexen gesellschaftlichen Realität[en]“ auf der Ebene der
Empirie (vgl. ebd.). Die von Gramsci entwickelten Begriffe, z. B. Zivilgesell-
schaft, „sind analytische Begriffe, die notwendigerweise mit Abstraktionen arbei-
ten“ (ebd.). Und Opratko weiter: „Wenn er also zwischen Zwang und Konsens,
zwischen politischer und Zivilgesellschaft unterscheidet, dann um verschiedene
Dimensionen der Praxis der Machtausübung im modernen Kapitalismus zu benen-
nen“ (ebd.), „die in der Analyse unterschieden werden können, auf der Ebene des
Empirischen aber nie allein auftreten“ (ebd.: 42). Der Hinweis, der hierin liegt, ist
der, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht einem gesellschaftlichen Be-
reich zugeschlagen werden können, sondern vielmehr in unterschiedlicher Weise,
Intensität und Überschneidungen quer durch alle gesellschaftlichen Felder und
quer durch die einzelnen Menschen hindurchgehen.
Zu seinem Verständnis von Zivilgesellschaft äußert sich Oskar Negt wie folgt:
„Zivilgesellschaft ist für mich ein anderer Ausdruck für eine funktionierende de-
mokratische Gesellschaft. Ich bevorzuge den Begriff der Demokratie, weil in der
gesamten Geschichte eine Reihe von Fragen gestellt sind, die unverwechselbare
Assoziationen hervorrufen. ,Zivilgesellschaft‘ klingt neutraler, hat aber in Europa
ihren eigentlichen Gegenpol verloren“ (Negt 2010: 171). Letzterer Gedanke be-
zieht sich darauf, dass angesichts der Auflösung des sozialstaatlichen Kompromis-
ses der Nachkriegszeit die gegenwärtige Situation durch eine Auflösung des Ge-
meinwesens, einhergehend mit einer Spaltung der Welt, gekennzeichnet sei. Deut-
lich wird allerdings, dass bei Negt Zivilgesellschaft und Demokratie in eins fallen,
wobei Demokratie in der von Negt skizzierten Krise die grundlegende Orientie-
rung für den politischen Menschen und sein Handeln bietet. Mit Blick auf die vo-
rangestellten Überlegungen bedeutet dies auch, dass sich Demokratie als Lebens-
form in der Spaltung der Welt als die Orientierung der „zweiten Ökonomie“ oder
71 Mit Blick auf das Zitat von Gramsci wird der hier skizzierte Gedanke in ähnlicher Weise auch
von Thomas Barfuss und Peter Jehle formuliert (vgl. Barfuss/Jehle 2014: 109).
2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt 83
Arbeit und Technik, die „ungewollt das gesellschaftliche Drama“ in ein „Verhält-
nis zwischen einer abstrakten Personifikation und einer mythisierten unpersönli-
chen Macht“ zuspitzt (vgl. 124 f.). Entsprechend verweist Haug auf Negts Per-
spektive (vgl. ebd.: 127): Negt sehe in der Entwicklung einer hochtechnologischen
Produktionsweise die „Herausbildung menschenfeindlicher Technologie“, die für
den Menschen „zur Lebensfrage“ geworden sei (Negt 2001 [2002]: 333 f.). Für
Negt stellt sich das Problem, ob es den Menschen gelingt, „diese subjektverlas-
sene, zu gespenstischer Gegenständlichkeit massierte Objektwelt, in der denkende
und fühlende Maschinen und Maschinensysteme ihr Unwesen zu treiben begin-
nen, wieder menschlichen Zwecken zu unterwerfen, also unter demokratische
Kontrolle zu bringen, oder ob sie nur ohnmächtig oder achselzuckend zuschauen
können, wie ihre zerstörerischen Wirkungen fortwuchern“ (ebd.: 334). Das kriti-
sche Potenzial der Einlassung von Negt sieht Haug schwinden, weil Negt in der
Tendenz die Entwicklung der Technik als gesellschaftlich vorherrschende Kraft
kritisiert und hierbei die gesellschaftliche Produktionsweise, die durch das Kapital
beherrscht wird, in den Hintergrund tritt. Deshalb schreibt Haug: „Ein Roboter,
auch wenn er nach dem technischen Wort für Arbeiter benannt ist, arbeitet nicht,
sondern funktioniert. Er stellt aber auch nicht die menschliche Arbeitskraft in
Frage, sondern allenfalls die Funktionalität ihrer dem vergangenen Produktivkräf-
testand entsprechenden Qualifikation“ (Haug 2003: 131). Und weiter: „Das irreale
Moment hierbei ist dies, dass Kapitalismus nicht = Technokratie ist. Nicht die
Technik, das Kapital herrscht“ (ebd.: 132). Anerkennend verweist Haug darauf,
dass Negt mit seiner Überlegung beginne, eine mögliche Veränderung des Gesell-
schaftlichen von unten über die gesellschaftlichen Produktionsprozesse zu den-
ken, hierbei allerdings versuche, „bestimmte Produktivkräfte [z. B. Atomkraft und
Gentechnik] als solche von jeder erdenklichen Nutzung auszuschließen“ (ebd.).
Dieser Gedanke, verkürzt in der „Technokratiethese“, erweise sich als Stolperstein
(vgl. ebd.: 132). Grundsätzlich möchte ich hier der Kritik von Haug folgen, sehe
aber in der Position von Negt eine Mahnung oder einen ethischen Impuls, der m.
E. nicht in den Wind zu schlagen und hier vielleicht als unfertiger Gedanke zu
formulieren ist. Zur von Haug eingeforderten Perspektive, die Widersprüchlich-
keit der Technikentwicklung im Kontext einer kapitalistischen Vergesellschaftung
zu verorten, ist ein hieraus entstehendes Problem aufzugreifen, welches implizit
von Negt aufgeworfen wird: Die im Zuge der gegenwärtigen Vergesellschaftung
herausgeforderten Technikfortschritte fordern gleichzeitig gesellschaftlich ein-
greifende Veränderungen, die in der Konsequenz unumkehrbar erscheinen (und
real auch sind), sodass wir als Menschen nicht mehr zurück können (Stichwort:
Gentechnik). Sind diese Entwicklungstendenzen dem (individuellen und kol-
lektiven) Einfluss der Menschen im Politischen und Ökonomischen entzogen,
ergibt sich hieraus der Zugriff auf Machtressourcen für einige Wenige mit unum-
2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt 85
72 Dies betrifft auch die „Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse“ unter einer gegenwärtigen
neoliberalen Reorganisation von Gesellschaft. Sind die staatlichen Verwaltungen unter dem
Stichwort der neuen Steuerung „reorganisiert und teilweise stark eingeschränkt oder privatisiert
worden“, werden „Zuständigkeiten, Hierarchien, Aufgaben, Ziele, Ausführungen [...] in enger
Kooperation mit Unternehmensberatern, lobbyistischen Gruppen, Anwaltskanzleien und Nicht-
regierungsorganisationen ständig verändert“ (Demirovic 2016a: 286). Entsprechend findet „die
Willensbildung [...] vielfach im Schatten des Staates in komplexen Governance-Architekturen
mit einer Vielzahl von privaten, zivilgesellschaftlichen, öffentlichen und politischen Akteuren
statt, die häufig ohne formellen Status und mit geringer Legitimation weitreichende politische
Entscheidungen vorbereiten und in enger Kooperation mit Parlamenten und Regierungen zur
Verabschiedung und Umsetzung bringen“ (ebd.). Demirovic skizziert das Problem wie folgt
weiter: „Dies umfasst eine Vielzahl von sehr heterogenen AkteurInnen – von Museumsdirekto-
rInnen und UniversitätspräsidentInnen über Hilfsorganisationen und Nichtregierungsorganisati-
onen bis hin zu Bewegungsgruppen – und Beteiligungsformen: BürgerInnenversammlungen,
Konsultationen, Anhörungen, Mediationen, Schlichtungen, Runde Tische, BürgerInnenhaus-
halte“ (ebd.). Mit diesen Formen einer „Partizipationskultur“ gehe gleichzeitig „ein Moment der
Entdemokratisierung“ einher, da diese im skizzierten Sinne Willensbildungs- und Entschei-
dungsprozesse privatisiere und diese somit dem öffentlichen Einfluss entziehe (ebd.; hierzu auch
Wagner 2016 und Eis 2016). Was diese Entwicklung für eine kritisch-politische Jugendarbeit
bedeutet, zeigt Affolderbach (2016).
86 2 Normative Demokratietheorien
de Reform (wie sie Negt vorschwebt) ist als widersprüchliches und umkämpftes
Terrain zu sehen, bei dem sich auch die Frage stellt: ob die derzeitigen „instituti-
onalisierten Selbsteinwirkungen und Konfliktregulierungen, die Gesellschaften
heute kennen“, und – hiermit verknüpft – „ob der Staat in seiner Form überhaupt
dazu geeignet ist“ (eine Frage die Negt nicht stellt), den gesellschaftlichen Not-
wendigkeiten zu genügen, oder ob die vorgegebenen Grenzen perspektivisch auf-
gelöst bzw. in einem Prozess der radikalen Demokratisierung erweitert werden
müssen (vgl. ebd.: 191).
73 Einen umfassenden Überblick über die historische Entwicklung der Demokratietheorien und ihre
verschiedenen, konflikthaft gegenüberstehenden Positionen gibt Richard Saage (2005).
74 Darüber hinaus ist hier insbesondere die Kritik feministischer Theoretikerinnen zu beachten. Sie
verweisen auf die patriarchale Struktur und Stabilität des Verständnisses von Demokratie, wel-
ches eine „Geschichte des Ausschlusses der Frauen aus dem und ihre Unterwerfung unter den
Demokratie konstituierenden Gesellschaftsvertrag zwischen Männern“ darstelle (Holland-Cruz
1996: 375). Demokratie als Idee von Gleichheit und Freiheit ist somit ein privilegiertes patriar-
chales Verhältnis, verbunden mit Ausschließungsmustern durch bestehende Geschlechterver-
hältnisse (vgl. hierzu auch Fraser 1994).
88 2 Normative Demokratietheorien
Alex Demirovic gibt für eine solche Perspektive den Impuls, das Verhältnis von
Demokratie und Kapitalismus als ein Verhältnis der Arbeitsteilung zu problema-
tisieren. In diesem Zusammenhang ergeben sich die skizzierten Widersprüche
zwischen Demokratie und Ökonomie aus „den materiellen Grundlagen einer be-
stimmten historischen Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung“ (Demirovic
1997: 20). Diese beruhe auf der „Trennung des Ökonomischen vom Politischen,
die private Verfügung über die Produktionsmittel, die Privatisierung der gesell-
schaftlichen Tätigkeiten, die geografische Arbeitsteilung zwischen den Zentren
einerseits und ihren Peripherien andererseits“ (ebd.). Entsprechend erweise sich
„gegenüber diesen entwickelten Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung [...] die
politische Form der Demokratie als unterkomplex, weil sie an die sie tragenden
Kräfte und sozialen Auseinandersetzungen nicht heranreicht“ (ebd.).76 Ist in die-
sem Zusammenhang Demokratie ein gesellschaftliches „Kampffeld“, auf dem um
die „richtige Form der Demokratie“ gestritten wird, werde eine „autonome Ver-
gesellschaftung der Individuen [...] auf diesem Weg nicht erreicht“ (ebd.: 19). Dies
deshalb, weil Demokratie „nur ein durch Verfahren gehegter und auf Dauer ge-
stellter unfriedlicher Zustand zwischen gesellschaftlichen Gruppen“ sei, bei „dem
einige von ihnen immer den Anspruch auf Allgemeinwohl und Führung erheben
können“ (ebd.). Mit den „Auseinandersetzungen um die beste Form der demokra-
tischen Führung“ verknüpfe sich allerdings eine Verschiebung des demokrati-
schen Versprechens, dass „alle frei und gleich sein werden“, in die Zukunft und
entferne sich damit von der Möglichkeit konkreter Realisierung unter den gegen-
wärtigen gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. ebd.).
Auch Ellen Meiksins Wood weist auf die Bedeutung der Arbeitsteilung und
die hiermit verknüpfte Trennung des Ökonomischen vom Politischen für das Ver-
hältnis von Kapitalismus und Demokratie hin. Sie unterstreicht, dass im Kapita-
lismus die politische Sphäre einen speziellen Charakter habe, da „die Zwangs-
macht, welche die kapitalistische Ausbeutung (unter)stützt, nicht direkt durch den
Aneigner ausgeübt wird“ (Meiksins Wood [1995] 2010: 39).77 Entsprechend sei
die „ökonomische Sphäre im Kapitalismus“ durch ihre „gesellschaftliche[...]
Funktion von Produktion und Distribution, Mehrwertabschöpfung und Aneignung
und [die] soziale Zuweisung von Arbeit“ (ebd.) sowie deren Privatisierung ge-
kennzeichnet.
Ist in diesem Zusammenhang auf dem Feld der gesellschaftlichen Kämpfe
die Perspektive der Demokratisierung handlungsleitend, reiche eine Orientierung
allein auf die „kommunikative Öffnung der bestehenden Institutionen und größere
Partizipation“ nicht aus (vgl. Demirovic 1997: 79). Die Erweiterung des Hand-
lungsspielraumes durch Demokratisierung hänge dabei „nicht allein und vielleicht
nicht einmal vorrangig von der Möglichkeit weiterer politischer Partizipation ab“,
wenn hiermit „nur eine Öffnung vorhandener politischer Entscheidungskanäle und
ein höheres Zeitaufkommen politischen Engagements [...], ohne dass grundle-
gende politische Entscheidungsmechanismen selbst zur Disposition gestellt wer-
den“, gemeint sind (vgl. ebd.: 79 f.). Demokratisierung müsse umfassender, als
eingreifendes Handeln der „tätigen und assoziierten Individuen“ verstanden wer-
den, die darauf drängen, „über die Art und die Verteilung der gesellschaftlichen
Tätigkeiten und Kooperationen“ und damit „über die Arbeitsteilung“ selbst zu ent-
scheiden (vgl. ebd.: 20).
Mächte“ auf den oberen Punkt einer Vertikalen. Ihnen gegenüber stehen die „Un-
tertanen“, die „Subjekte“ (ebd.: 105): „Das Subjekt ist das Daruntergeworfene“
(ebd.: 104).78 Dabei zielen „die ideologischen Mächte [...] darauf“ ab, „dass die
Individuen die Verhältnisse der Herrschaft von innen heraus, frei und verantwort-
lich leben“ (ebd.). Ideologische Mächte und Subjekte zeichnen ein Spannungsfeld
„ideologischer Subjektion“ als eines „Sich-Einordnen[s]“, einer Aktivität des
„Sich-zum-Subjekt-der-Verhältnisse-Machen[s]“ (vgl. ebd.: 104 f.). Im Schema
von Haug wird die horizontale Achse der „Arbeitsteilung - produktive Differenz“
ergänzt durch eine vertikale Achse mit den unterscheidenden Punkten „Ideologi-
sche Mächte – Subjekte“. Den Knotenpunkt beider Achsen durchläuft die Dimen-
sion der Klassenherrschaft mit ihren komplementären Gegensätzen von „Herr-
schenden (Kapital) – Beherrschten (Lohnarbeit)“.79 Die skizzierten Verhältnisbe-
stimmungen kreuzen sich, sind analytisch zu trennen, bleiben aber aufeinander
bezogen. Haug hebt hervor: „Die Arbeitsteilung kann sich nur entwickeln, indem
sich die Klassen entwickeln, und beides kann sich nur entwickeln, indem sich die
ideologischen Mächte entwickeln“ (ebd.: 103).80 Ist also von Arbeitsteilung die
Rede, ist ein dynamisches Bild verschiedenster gesellschaftlicher Verhältnisse in
ihren Wechselwirkungen und Überschneidungen in den Blick zu nehmen. Dies ist
auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil in diesem Zusammenhang das „Sich-
Einordnen“ der Subjekte in die Verhältnisse selbst ein widersprüchlicher Prozess
der Über- und Unterordnung in Herrschaft ist: „Wir sind eben nicht nur unterge-
ben, sondern auch überhoben, vorgesetzt“ (ebd.: 113). Fallen die umrissenen Ver-
hältnisse in der empirischen Realität untrennbar ineinander, müssen sie als „abs-
trakte Denkbestimmungen zur Rekonstruktion des Konkreten im Denken“ analy-
tisch auseinandergehalten werden (vgl. ebd.: 104). Haug erweitert die Skizze der
drei Achsen und fügt dem Bild die Geschlechterverhältnisse als vierte Dimension
hinzu. Er begründet dies damit, dass sich in den Geschlechterverhältnissen die Di-
mension der „,Arbeitsteilung‘ und ,Klassengegensatz‘ nicht empirisch auseinan-
der, nicht chronologisch nacheinander [...] zeigen, sondern als die beiden Seiten
einer Medaille“ erschienen (vgl. ebd.: 104). In ihrer historischen Entwicklung hat
sich in den Geschlechterverhältnissen die Arbeitsteilung zwischen Männern und
Frauen und damit gleichzeitig Herrschaft auf spezifische Weise verdichtet und ist
als gesellschaftliches Verhältnis immer wieder mitzudenken.
Die gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Horizontalen und ihre Spezialisie-
rungen von Tätigkeiten sind gleichzeitig in einer Vertikalen von Herrschaft gebro-
78 Der hier von Wolfgang Fritz Haug „absolut“ gesetzte Subjektbegriff wird ansonsten in dieser
Arbeit so nicht geteilt.
79 Vgl. Schaubild Wolfgang Fritz Haug (1993: 105).
80 Wolfgang Fritz Haug argumentiert hier historisch. An anderer Stelle wäre zu diskutieren, ob
seine Argumentation auch für die Gegenwart und Zukunft Gültigkeit haben kann.
92 2 Normative Demokratietheorien
chen, welche „die Gesellschaft [...] in ,oben‘ und ,unten‘“ spaltet (vgl. Hirschfeld
2015a: 21). In diesem Kontext verweisen die von Haug herausgestellten vier Di-
mensionen der „Arbeitsteilung“, „gesellschaftlicher Herrschaft“ und „politischer
oder ideologischer Herrschaftsmacht“ sowie die „Geschlechterverhältnisse“ auf
gesellschaftliche Spannungsfelder, die das Alltägliche durchdringen und in denen
sich „jedes Individuum [...] bewegen muss“ (Haug 1993: 105).81 Das Komplizierte
hierbei sind die Komplexität der Verhältnisse und deren Wechselwirkungen, die
sich „[gleichsam] in den Individuen [...] verknoten“, mit dem Effekt, dass die Sub-
jekte im Alltäglichen „die bestehenden Verhältnisse mehrfach stabilisiere[n]“
können (ebd.). Sind die Einzelnen in den skizzierten Verhältnissen auf eine ihnen
zugewiesene gesellschaftliche Stelle (Position) verstreut, stehen sie vor dem Wi-
derspruch, einerseits in den bestehenden Trennungen und Fremdbestimmungen
ihre Persönlichkeit entwickeln zu müssen, sowie andererseits „die Stelle, wo sie
hin verteilt sind in diesem System mit Sinn aus[zu]füllen“ (vgl. ebd.: 107). Im
Grunde verweist dies auf die verkehrte Situation, dass Fremdbestimmungen, da-
mit die Trennungen, zu bestimmenden Momenten eigenaktiven Handelns der
Menschen werden.82 Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die Frage eingreifen-
den Handelns als Demokratisierung der Verhältnisse Widersprüchliches:
Zum einen sehen sich die Menschen mit Mächten konfrontiert, die bestrebt
sind, gesellschaftliche Trennungen und Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhal-
ten sowie die Stellen zu besetzen, „die über das Zusammenbringen der Elemente
des Gesellschaftsprozesses entscheiden“ (ebd.). Hieraus entsteht die Notwen-
81 Wolfgang Fritz Haug skizziert mit seinem Modell vier besonders wichtige Dimensionen. Allerdings
sind dies nicht die einzigen gesellschaftlichen Verhältnisbestimmungen und wären um weitere zu
ergänzen, was aber die Anschaulichkeit des Bildes zerstören würde. Beispielsweise könnte dem
Bild auch das Mensch-Natur-Verhältnis hinzugefügt werden (vgl. hierzu etwa die Diskussion in:
Das Argument 313, 57. Jg. Heft 3/2015). Für den in dieser Arbeit diskutierten Zusammenhang ist
auch die Spaltung von Kopfarbeit und Handarbeit von Relevanz. Beispielsweise macht Uwe
Hirschfeld auf das widersprüchliche Verhältnis einer Trennung von „Theorie und Praxis“ und des-
sen Bedeutung für Bildung aufmerksam (vgl. 2015a: 22). Hiermit verknüpfe sich z. B. ein Herr-
schaftsverhältnis, welches „Kopfarbeit oben“ und „Handarbeit unten“ in ein hierarchisches Ver-
hältnis setze; so stünden sich Theorie und Praxis fremd gegenüber (vgl. ebd.: 21).
82 Die skizzierte Überlegung verweist auf das Stichwort der Entfremdung, auf welches an dieser
Stelle nur verwiesen werden kann. Henri Lefebvre hat die angedeutete Problematik der Entfrem-
dung als eine das Alltägliche bestimmende Formation von Verhältnissen umrissen (vgl. hierzu
Lefebvre 1987). In diesem Sinne kritisiert er auch die Vorstellung von Demokratie, die mit Po-
litik und Staat in eins falle und so als politische Form den Menschen fremd gegenübersteht (vgl.
1972: 103 f.). Für die Perspektive der Demokratisierung bestehe deshalb die Notwendigkeit einer
„Aufhebung der Politik (einschließlich der Demokratie), der Abschaffung des Staates (ausge-
hend vom demokratischen Staat selbst)“ (ebd.: 116). In diesem Sinne geht es um eine Umkeh-
rung, die Demokratie von der Spitze auf die Füße stellt, die die Einschränkung der politischen
Demokratie mit einer „Aufhebung des Politischen im Gesellschaftlichen durch das Gesellschaft-
liche“ zu den Menschen zurückführt (vgl. ebd.: 152).
2.7 Weitung des Blicks 93
digkeit, welche Oskar Negt als die „Herstellung von Zusammenhang“ umrissen
hat. Versteht sich Demokratisierung als eine Bewegung der Selbstvergesellschaf-
tung, besteht die Notwendigkeit, sich die Dimensionen der Trennungen als Zu-
sammenhang anzueignen und „Kompetenzen an den strategischen Stellen“ zu ent-
wickeln, um die „trennenden Kräfte“, die zwischen den Menschen stehen, „zu-
rückzudrängen“ (vgl. ebd.: 106 f.). Auch Haug verweist darauf, dass ein „Zusam-
menbringen [...] von unten [...] nur kollektiv angegangen, die entsprechenden
Kompetenzen nur kollektiv entwickelt werden“ könnten (ebd.).
Zum anderen schließt sich hieran die Schwierigkeit an, dass die Formen, in
denen wir uns den Herrschaftsmächten widersetzen, gleichzeitig die Formen sein
können, die eben diese Kräfte stabilisieren und die auf Selbstbestimmung gerich-
teten Aktivitäten passivieren. Haug verweist auf Beispiele intellektueller Tätigkeit
und Ausdrucksformen, die sich zwar der Herrschaft entgegenstellen, aber gleich-
zeitig in der von ihnen entwickelten Form „denen ,da unten‘“ verschlossen blei-
ben, Trennung aufrechterhalten und sich so Solidarisierungen entziehen würden
(vgl. ebd.: 111). Entsprechend ist „der demokratische Philosoph ,von unten‘ her
zu denken – und in der Perspektive sind die hierarchischen Bastionen zu schleifen,
an ihrer Stelle Einrichtungen zu konzipieren, die eine gesamtgesellschaftliche Re-
flexion ermöglichen. Die von Marx geforderte und von Gramsci geteilte ,revolu-
tionäre Praxis‘ lässt auch die Aufgaben und das Selbstverständnis der kritischen
Intellektuellen nicht unberührt“ (Hirschfeld 2015b: 110). In ähnlicher Weise kön-
nen Aktivitäten „von unten“, die „sich gegen ,die da oben‘ und gegen die ideolo-
gischen Mächte richten, dies in einer Form zu tun, in der sie sich selbst dazu ver-
urteilen, nichts ändern zu können“ (ebd.: 112). Paul Willis (19829 hat dies am
Beispiel seiner Untersuchung „Spaß am Widerstand“ deutlich gemacht und mit
den Begriffen der „Durchdringung“ und „Begrenzungen“ umrissen.
hierzu Clarke 2003 und Jessop 1993/1996b). Konkret bedeutet dies, dass sich For-
men solidarischer Verabredungen der Gesellschaft auflösen, die z. B. in wohl-
fahrtsstaatlichen Institutionen des Staates kompromisshaft verdichtet (Poulantzas
2002)83 und gebunden waren.84 An die Stelle staatlich regulierter „Klassenkom-
promisse“ (vgl. Hirschfeld 2000) und ihrer kompromisshaften Institutionalisie-
rung tritt die Organisation zur Optimierung nationaler Kapitalverwertung im
Spannungsfeld transnationaler Konkurrenzverhältnisse. Im Mittelpunkt steht die
Idee des Wettbewerbs bei gleichzeitiger Anrufung von Selbstverantwortung der
Individuen.85 Zum Zweiten wird die Idee der Selbstverantwortung durch eine Po-
litik des Kulturellen vorangetrieben: „Gefordert wird eine neue Kultur der kon-
sensuellen Zusammenarbeit, des Eigentums, von Eigenverantwortung, privater
Vorsorge, persönlicher Risikobereitschaft, kreativen und flexiblen Lebens- und
Arbeitsweisen, Aktienkultur, kosmopolitischen Konsumtionsweisen und diversi-
fizierten Lebensstilen“ (Candeias 2003: 408). Die hier angedeutete Subjektfunk-
tion ist eine, die zwischen „Selbstermächtigung und Selbstentmächtigung“
(Kaindl 2010: 86) sowie Selbst- und Fremdbestimmung zirkuliert. Die Einzelnen
86 Die skizzierten Prozesse sind als hegemoniale Bewegungen zu interpretieren, bei denen, wie z.
B. im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015, „der Staat momentan“ zu-
rückweicht, seine Kontrollfunktion für einen Moment zurücknimmt, sich gleichzeitig aber aus-
weitet und seine Handlungsfähigkeit durch Nutzung der „Solidarisierungswelle“ der Menschen
„bewahrt“ (Haug 2016: 462). Ähnliche hegemoniale Effekte lassen sich z. B. im Zusammenhang
mit der Auseinandersetzung zu Rechtsextremismus beschreiben und der dort formulierten Idee,
durch Stärkung von Zivilgesellschaft die Erstarkung rechtsextremer Strukturen eindämmen zu
wollen (zu den hierbei auftretenden Widersprüchen vgl. z. B. Affolderbach 2015 und 2016).
87 Er bezieht sich hier auf zwei Perspektiven. Ein Ergebnis sozialer Kämpfe gegen Ungerechtigkeit
und ihrer Naturalisierung sieht er in den „Nachkriegs-Regelungen“, die in den sozialstaatlichen
Kompromissen zur Ausrichtung „der Balance zwischen Öffentlichem und Privatem“ (ebd.: 44)
eingeflossen sind. Die andere Perspektive skizziert er als die Kämpfe der 1960er-, 1970er- und
1980er-Jahre mit ihren Problematisierungen von Rassismus, Diskriminierung, Geschlechterver-
hältnissen, gegen eine Biologisierung von Medizin und Behinderung inkl. der Versuchen, die
sozialen Bedingungen hierfür im öffentlichen Raum zu verändern. In der gegenwärtigen Gesell-
schaft artikuliere sich demnach nicht nur eine veränderte Produktionsweise, sondern auch eine
veränderte Politikform, die zwischen Neoliberalismus und Neokonservatismus zirkuliere (vgl.
ebd.). Im Kontext einer Politik von oben hat dies z. B. Bop Jessop als populistische Politik be-
zeichnet und Heinz Steinert bzw. Helga Cremer-Schäfer haben dies als „strukturellen Populis-
mus“ herausgearbeitet (vgl. Jessop 1996a: 366 f.; Steinert 1998c: 164 f.; Cremer-Schäfer 2015:
22 f.). Mit der Ausarbeitung des „strukturellen Populismus“ ist eine wesentliche Politikform
benannt, die Massen in Herrschaft und ihre institutionellen Ausprägungen zu integrieren. Wie
Christine Buci-Glucksmann deutlich macht, ist dies ein dynamischer Prozess, der z. B. demo-
kratische Bewegungen bremst und gleichzeitig „die gewaltige Flexibilität des Staates“, der „ide-
ologischen Mächte“ sowie deren Integrationskraft widersprüchlichster Interessen erkennen lässt
2.7 Weitung des Blicks 97
Die Popularität des Begriffes Rechtsextremismus und die mit ihm verknüpften In-
terventionsmodelle stehen m. E. auch im Zusammenhang mit den im Begriff ge-
bündelten und verdichteten gesellschaftlichen Phänomenen. Die hieraus resultie-
renden Vereinfachungen gesellschaftlicher Entwicklungen und Konflikte sind
Ausdruck und Mittel des Ideologischen, einer Form der Vergesellschaftung von
oben. In Verbindung mit den bisherigen Überlegungen zum Neoliberalismus hat
Bob Jessop in seiner Untersuchung von Spezifika der Thatcher-Ära eine sich ver-
ändernde Politikform ausgemacht. Im Kern geht es darum, dass politische Interes-
sen weniger in intermediären und durch intermediäre Instanzen wie Parteien oder
Gewerkschaften artikuliert und vermittelt werden, sondern dass dies, wie er am
Beispiel von Thatcher zeigt, durch direkte Ansprache der Menschen in Koopera-
tion mit den Massenmedien erfolgt (Jessop 1996a: 353 f.). In dieser Tendenz sieht
er eine „quasi-präsidiale, plebiszitäre“ Politik aufziehen, die medial als ein Wett-
bewerb „einer Elite um politische Ämter“ inszeniert werde (ebd.: 366). Hieraus
entspringe eine Überzeugungspolitik, die in der Zuspitzung politisch umstrittener
Themenfelder versuche, bisherige „Konsensmuster“ aufzulösen. Gleichzeitig
würde der Anspruch formuliert, die Allgemeinheit exklusiv zu vertreten. Der hier-
mit verknüpfte Effekt, so Jessop, sei die Hinwendung „zum plebiszitären Populis-
mus und zum starken Staat“ (ebd.: 367). Die Allgemeinheit werde dazu angehal-
ten, sich „gegen ihre Interessen auf das Große und Ganze“ (Steinert 1998: 166) zu
verpflichten. In diesem Sinne ist Populismus als „politisches Manöver“ darauf ge-
richtet, „Interessenpolitik durch Identitätspolitik abzulösen“, Interessenunter-
schiede durch „'naturalisierende' Kategorien von behaupteter Gemeinsamkeit“
(Cremer-Schäfer/Steinert 2014: 24) zu neutralisieren, um so eine „passive Teil-
nahme“ (Steinert 1998: 167) der Allgemeinheit zu organisieren. Das so skizzierte
Politikmuster wird im Begriff des „strukturellen Populismus“ zusammengefasst
und verweist darauf, dass die angedeuteten Punkte „inzwischen die Grundstra-
(vgl. Buci-Glucksmann 1982: 54). Dabei ist „Populismus“ eine von „verschiedenen Formen der
Politik“, zu denen auch „Korporatismus“ und „parlamentarischer Transformismus“ zu zählen
sind, die vor allem in ihren Wechselwirkungen und Überschneidungen ihre Kräfte entfalten kön-
nen (vgl. ebd.).
98 2 Normative Demokratietheorien
tegien von Politik“ bildeten (Cremer-Schäfer 2015: 28).88 Wie angedeutet, ist die
Verwendung von Kategorisierungen ein wesentliches Merkmal „strukturell popu-
listischer“ Politik. Wie Helga Cremer-Schäfer am Beispiel der Dimensionen von
Verbrechen und Strafe deutlich macht, formuliert populistische Politik beispiels-
weise das „,allgemeine Interesse‘ [...] als das, ,ohne Kriminalität‘ leben“ zu kön-
nen, bei gleichzeitiger Betonung der Notwendigkeit „mit dem staatlichen Strafen
zu leben“ (ebd.: 29). Historisch ist in diesem Zusammenhang auch der Diskurs
zum Stichwort Gewalt von Bedeutung, der sich im deutschen Kontext vor allem
als Vorwurf „gegen den ,linken Terrorismus‘ und die ,Jugend-Gewalt‘“ formte
(ebd.). Die assoziative Kraft von Gewalt „als ein Indikator und ,Verdichtungssym-
bol‘ für gefährliche Zustände der gesellschaftlichen Ordnung“ (Cremer-Schä-
fer/Steinert 2014: 117) ermöglicht Bilder vom „inneren Feind und Zerstörer“ so-
wie, „Bedrohungsszenarien als klassenübergreifend zu behaupten, die ein ent-
schiedenes bis kriegerisches Eingreifen des Staates verlangen“ (Cremer-Schäfer
2015: 30). Auf diese Weise sollen Prozesse der „inneren Ausschließung“ (ebd.)
plausibilisiert und legitimiert werden. Anknüpfend hieran hebt Cremer-Schäfer
hervor, dass im Diskurs um Kriminalität und Gewalt nicht nur die Stärkung des
„Gewaltmonopol[s] des Staates durchgesetzt und bekräftigt“ würde, sondern
gleichzeitig die „Durchsetzung eines autoritären Politik-Modells“ (ebd.) erfolge.
Das populistische Moment dieser Politik zeichne sich dadurch aus, „jedes Problem
als Teil einer umfassenden Ordnungskrise rahmen zu können“, um so ein „auf
personalisierende Kontrolle zielende[s] Analyse- und Politikmuster als das hege-
moniale“ (ebd.: 32) durchzusetzen.
88 Verknüpft ist „struktureller Populismus“ mit den „repräsentativen Formen der Demokratie“ und
deren Besonderheit, die gesellschaftliche Teilnahme der Bürger „nur als Teil eines übergeord-
neten Ganzen realisieren“ zu können (Cremer-Schäfer 2015: 27). Die Bürger sind eingebunden
als „ein ,anerkannter‘ Teil von Nation, Wahlberechtigten, Wirtschaftsstandort, Sozialstaat, west-
licher Zivilisation, Schicksalsgemeinschaft, Solidargemeinschaft“ (ebd.). Die Einbindung ist so-
mit exklusiv und gleichzeitig, z. B. durch Wahlen, auf die Form der Repräsentation und Delega-
tion beschränkt.
89 Die historische Entwicklung des Begriffes Extremismus reicht weiter zurück, als ich hier dar-
stellen kann. Die hier verwendete Begriffsfassung ist vor allem eine, die nach 1947 im Zusam-
menhang mit der Totalitarismustheorie populär und im demokratischen Verfassungsstaat als
2.7 Weitung des Blicks 99
lismus. Als politischer Begriff diente er vor allem dazu, die neue Linke (mit ihren
Gruppierungen sowie Aktivist*innen), als politisch Radikale zu kennzeichnen.
Die hiermit verknüpfte Kategorisierung erlaubte eine Kontrastierung des Rechts-
staats auf der einen mit den Radikalen auf der anderen Seite. Einen historischen
Scheitelpunkt der mit dieser Gegenüberstellung verbundenen Begrifflichkeiten
sieht beispielsweise Oppenhäuser im Radikalenerlass, der auch Extremismusbe-
schluss genannt wurde. Wesentlich hierbei ist, dass durch diesen Erlass die Grund-
lage geschaffen wurde, „Bewerber*innen für den öffentlichen Dienst vom Bun-
desamt für Verfassungsschutz“ (Oppenhäuser 2011: 39) überprüfen zu lassen. Der
Begriff wurde justiziabel, was z.B. zu Berufsverboten für eine Reihe von Akti-
vist*innen der neuen (und alten) Linken führte.90 In diesem Zusammenhang etab-
lierte sich z. B. in den jährlichen Berichten des Verfassungsschutzes das Wort des
politischen Extremismus als Kategorie zur Fassung politischer Orientierungen, die
als verfassungsfeindlich zu gelten haben. Zwei Tendenzen sind hiermit verbun-
den: Oppenhäuser verweist zum einen darauf, dass der Begriff Extremismus als
„juristische[r] Term der Verfassungsfeindlichkeit“ auf diesem Wege Einzug in
den „allgemeinen Sprachgebrauch“ gefunden habe (ebd.) sowie gleichzeitig ge-
heimdienstliches, polizeiliches und ordnungspolitisches Handeln der Politik aus-
richte und legitimiere. Zum anderen wurde diese Entwicklung durch eine Ausar-
beitung des Begriffes im Kontext der Sozialwissenschaften begleitet und der Be-
griff Extremismus als spezifischer Diskurs um Normalität auch im wissenschaft-
lichen Kontext etabliert.91 Im Kern geht es darum, dass mit der Polarität von links
und rechts gleichzeitig eine neutrale Mitte definiert wird, die sich selbst als Posi-
tion der Normalität versteht. Im Prozess des Definierens, was als abweichend, ext-
rem oder als politisch verächtlich zu gelten hat, formuliert sich das Normale als
„ein Bild gesellschaftlicher Ordnung“ und „legitimiert“ diese zugleich (vgl. Feus-
tel 2011: 118). Weil der Begriff Extremismus mit „seinen Konturen nichts prä-
zise“ bestimmen kann, „lässt er sich in der argumentativen Praxis breit gefächert
anwenden und provoziert Vorstellungen einer Ordnung, die auf einfache Weise
[...] gefährlich von ungefährlich“ (ebd.) zu unterscheiden vermag. Insofern ist der
Begriff des Extremismus Ausdruck einer spezifischen Form der Regulation von
Konzept der „wehrhaften Demokratie“ diskutiert wurde. Rechts und Links werden als Extremis-
men gleichgestellt und in Abgrenzung vom positiv gefassten demokratischen Verfassungsstaat
als dessen Gefährdung konstruiert (vgl. Fülberth 1997: 1208-1216).
90 Hierzu eine Anmerkung von Wolfgang Fritz Haug: „Politiken wie die der Berufsverbote kon-
trollieren den Zugang zu den ideologischen Apparaten“ (Haug 1993: 55). Insofern ist der Begriff
des Extremismus Ausdruck einer spezifischen Form zur Regulation von Herrschaft. Meine Be-
merkung zur „alten“ Linken verweist außerdem darauf, dass von Berufsverboten auch Mitglieder
der „alten“ KPD betroffen waren.
91 Prominent sind in diesem Zusammenhang Uwe Backes und Eckhard Jesse, die seit ca. 1989 das
„Jahrbuch Extremismus und Demokratie“ herausgeben (vgl. Oppenhäuser 2011: 40).
100 2 Normative Demokratietheorien
Herrschaft. In diesem Zusammenhang ist danach zu fragen, was mit dem Begriff
beherrscht werden soll. Rechtsextremismus als Ausdruck populistischer Politik
erzwingt nicht umstandslos Unterwerfung, sondern eröffnet ein Feld imaginärer
Teilhabe am Kollektiv der Normalität. Im Begriff ist Widersprüchliches vereint.
Problematisch ist z. B. eine mit dem Begriff einhergehende Unterscheidung von
„nützlichem“ und „gefährlichem“ Rassismus. In diesem Sinne wird Rassismus
zum aktiven Herrschaftsinstrument; mit Rassismus lässt sich Herrschaft legitimie-
ren. Etwas genauer: Rechtsextremismus ist eine Begriffskategorie, die es erlaubt,
Rassismus politisch „von oben“ zu gebrauchen und gleichzeitig den „von unten“
zu beschneiden, justiziabel zu machen sowie in „nützlichen“ und „gefährlichen“
zu unterscheiden. Der „nützliche“ wäre dann z. B. die Form politischer Kampag-
nen die auf bestimmte politische Interessen abzielen („Kinder statt Inder“); jedoch
rufen diese dabei auch immer Effekte hervor, die „gefährlich“ werden können und
beherrscht werden müssen. Rechtsextremismus ist in diesem Zusammenhang ein
Begriff, um diese Effekte politisch legitimiert zu begradigen und gleichzeitig an
„regulierenden“ Politiken, etwa im Zusammenhang mit Flüchtlingen oder Bevöl-
kerung, festhalten zu können, ohne diese Formen der Politik auf ihre rassistische
Praxis hinterfragen zu müssen. Im Kern unterstellt der Begriff Rechtsextremismus
klar abgrenzbare, geschlossene und starre Weltbilder mit zugehörigen Eigenschaf-
ten und entsprechenden Erkennungsmerkmalen, die das Wesen eines Individuums
ausmachen.
Ausdrucks [...] implizit der Überzeugung Raum [gibt], dass Rassen realiter exis-
tieren oder richtig erfasst werden könnten, oder besagt bestenfalls, dass die Ras-
senidee unbesehen akzeptiert wird“ (Miles 1991: 97).
An dieser Stelle ist deutlich zu machen, dass in den vergangenen Jahren der
Diskurs um Rassismus häufig von einer Biologisierung von Menschengruppen in
eine Naturalisierung von Kultur transformiert worden ist. Zum Beispiel wird
„Flüchtlingen und Asylsuchenden [...] attestiert, dass die einmal erlebte Kultura-
lisierung nicht mehr aufgehoben werden kann, woraus die Verdinglichung des
Menschen zu bloßen Kulturträgern folgt“ (Bauer 2015: 29). An die Stelle „biolo-
gistischer Modelle“ tritt ein reaktionärer Kulturalismus; er hat das „Ziel, stigma-
tisierte (fremde) Kulturen einzudämmen und die eigene [Kultur; F.A.] zu überhö-
hen“ (ebd.: 30). Die hierauf bauende „‚[i]dentitäre Bewegung‘ setzt auf den soge-
nannten Ethnopluralismus – die Übereinstimmung von Kultur und Raum – und
knüpft damit an völkische Vorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts an“
(ebd.: 30). Die Folge ist eine Hierarchisierung von Kulturen. Ausdruck dieser Po-
sition ist z. B. auch das Stichwort der Leitkultur, das in widersprüchlicher Weise
eine Hierarchisierung von Kulturen mit der Idee der Einpassung des Fremden ver-
knüpft. Kultur erscheint in diesem Zusammenhang veränderlich; als „Fremde“ hat
sie sich aber die Vorgaben einer leitenden Idee zu eigen zu machen und sich ent-
sprechend selbstformend in eine hierarchische Ordnung zu fügen. Vom reaktionä-
ren kann der konservative Kulturalismus unterschieden werden. Im Kern geht es
hierbei darum, „Kulturen in ihrer Eigenständigkeit“ anzuerkennen und als gleich-
wertig anzusehen; „das Gebot der Eindämmung wird vom Wunsch der Statik ver-
drängt“ (ebd.: 32). Die Äußerungsform des konservativen Kulturalismus sieht
Bauer beispielsweise im „Multikulturalismus“, bei dem „die kulturelle Eigenstän-
digkeit bewahrt“ wird und entsprechend vielfältige Ausdrucksformen als „Berei-
cherung des Stadtbezirks oder [der; F.A.] Region“ gelten (ebd.). Zugespitzt wird
diese Position im liberalen Kulturalismus, der dazu ermutigt, „die jeweilige Kultur
bei Beibehaltung zentraler Eigenschaften im Sinne eines diversity management
produktiv zu nutzen“ (ebd.). Für Rassismus und Kulturalismus ist eine spezifische
Form der Herstellung von Zusammenhängen kennzeichnend. Rassismus und Kul-
turalismus naturalisieren gesellschaftliche Zusammenhänge und organisieren so
die „soziale Welt“ durch „ethnische Teilungen des Sozialen“ (Scherschel 2006:
79). Die hierin liegende symbolische Macht und ihr „symbolischer Klassifikati-
onsmodus“ überschneiden sich mit einer „Ökonomisierungsfunktion des Rassis-
mus“ (ebd.). Diese besteht darin, dass in der Verfügung über Rassismus und Kul-
turalismus als symbolische Ressourcen die Möglichkeiten von Grenzziehungen
enthalten sind. So wird der Zugang zu und Ausschluss von „materieller und sym-
bolischer Teilhabe“ (ebd.) an gesellschaftlichen Ressourcen und somit der Ein- bzw.
Ausschluss gesellschaftlicher Gruppen geregelt (vgl. auch Miles 1991: 93f.). Hier-
102 2 Normative Demokratietheorien
mit verknüpfen sich zwei Dimensionen: Zum einen können Rassismus und Kultur-
alismus als Formen der Vergesellschaftung „von oben“ gesehen werden, bei der z.
B. Staatsbürgerschaft oder Arbeitsmarkt (mit den entsprechenden rechtlichen Ver-
dichtungen) als gesellschaftliche (territoriale, lokale) Strukturelemente entspre-
chend selektiv wirken.93 Gleichzeitig können Rassismus und Kulturalismus auch
Formen sein „in der sozialer Protest in Entfremdung steckenbleibt“ (vgl. Haug
1999: 120) und vor diesem Hintergrund eine an Ausschluss knüpfende Vergesell-
schaftung „von unten“ hervorbringen. Letztere „kann den Herrschenden Sorge be-
reiten, erst recht seine politische Verwertung durch oppositionelle Machtanwär-
ter“ (ebd.: 121). Sich widersprüchlich gegenüberstehend sind Rassismus und
Kulturalismus „von oben“ und Rassismus und Kulturalismus als entfremdeter
Protest „von unten“ ineinandergreifend Funktionsbedingung gesellschaftlicher
Herrschaft, sowie in ihrer Form und Färbung umkämpft. Einerseits bieten sie
das Material zur „politischen Machtgenerierung“ (ebd.). Andererseits vernichtet
„Kapitalismus [...] beständig herkömmliche Unterschiede und schafft neue“
(ebd.). Die hieraus resultierenden Konflikte mit ihren Krisen sieht Haug als
„Aufschrei der sozial getretenen Kreatur“, der „zum Hass-Schrei werden kann“
(ebd.). Dieser letzte Gedanke ist mit einer weiteren Überlegung anzureichern.
Im bis hier skizzierten Bild ist Rassismus als ideologisch-kultureller Zusammen-
hang bzw. als Form ideologischer Vergesellschaftung beschrieben worden. Ras-
sismus kann somit strategisches Mittel von Herrschaft oder Ausdruck einer ideo-
logischen Bearbeitung gesellschaftlicher Widersprüche sein.94 Unbestritten ist
dies auch so; allerdings kann dabei übersehen werden, dass Rassismus für ein-
zelne gesellschaftliche Gruppen mehr ist, sie „tatsächlich rassistisch“ sind (De-
mirovic 1992: 19).
Wie Alex Demirovic hervorhebt, ist es so, „dass es der Lebensweise des Bür-
gertums immanente Tendenzen gibt, die verbunden sind mit einer Orientierung an
guter Abstammung, der Reinhaltung des Blutes, der hohen Intelligenz und Kultur,
Tendenzen, die zu biopolitischen Maßnahmen führen, mit denen die organische
Zusammensetzung der Bevölkerung“ (ebd.: 18) reguliert werden soll. Vor diesem
93 Vgl. Terkessidis (2004). Er skizziert Rassismus als ein spezifisches Ungleichheitsverhältnis und
beschreibt dieses anhand „des unterdrückten Wissens“ (ebd.: 90) aus der Perspektive von Be-
troffenen.
94 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Rassismus und seine Konstruktionsweise
von Rassen dem Kapitalismus nicht als „funktionales Element“ entspringt. Historisch gewach-
sen stellt Rassismus ein eigenes gesellschaftliches Verhältnis dar. In diesem Zusammenhang
besteht die „Wirksamkeit von Rassenkonstruktionen und Rassismus“ in „ihrer Verknüpfung mit
der Gesamtheit der Verhältnisse innerhalb historisch spezifischer Gesellschaftsformationen“
(Miles 1991: 131). Dies heißt: „Rassismus hat nicht nur unterschiedliche Formen angenommen,
sondern ist auch mit ökonomischen und politischen Verhältnissen in kapitalistischen und nicht-
kapitalistischen Gesellschaftsformationen auf je unterschiedliche Art und Weise verknüpft wor-
den“ (ebd.).
2.7 Weitung des Blicks 103
95 Konsequenterweise, aber aus Platzgründen kann dies hier nicht weiter ausgeführt werden, ist auf
eine Differenzierung von Robert Miles hinzuweisen. Er unterscheidet zwischen Rassismus und
Rassenkonstruktion. Rassenkonstruktion bezeichnet dabei den Prozess, biologischen Merkma-
len von Menschen soziale Bedeutungen zuzuschreiben, sie so zu kategorisieren und in „diffe-
renzierte gesellschaftliche Gruppen“ (Miles 1991: 100) zu teilen. In der Definition der anderen
definiert sich gleichzeitig das davon zu unterscheidende Selbst. Als analytischer Begriff dient
Rassenkonstruktion dazu, Praktiken und Prozesse der Rassifizierung beschreiben zu können.
Rassismus bezeichnet bei Miles einen vielschichtigen ideologischen Diskurs einer spezifischen
Form der Eingrenzungs- und Ausgrenzungspraxis, deren Kern „gedanklich bestimmte beobach-
tete Regelmäßigkeiten widerspiegelt und eine kausale Interpretation konstruiert, die als mit die-
sen Regelmäßigkeiten übereinstimmend dargestellt werden kann und zur Lösung wahrgenom-
mener Probleme dient“ (ebd.: 107). Insofern ist Rassismus ein „spezifische[r] Fall eines umfas-
senderen (deskriptiven) Prozesses der Rassenkonstruktion“ (ebd.: 12). Deswegen ist Rassismus
als eigenständige Form der Ausgrenzung von anderen Formen der Ausgrenzung analytisch zu
unterscheiden.
2.7 Weitung des Blicks 105
Ideologien und die ideologische Ausformung von Rassismus nicht einfach von
den Menschen „aufgenommen“ werden, sondern als „Reaktion“ und „Konstruk-
tion“ in „Relation“ zu ihren „Lebensumständen“ entspringt, um „die Welt sinnhaft
zu begreifen“ (vgl. ebd.: 172 f.). Auch in diesem Zusammenhang ist Widersprüch-
liches zu vermerken. Rassismus kann demnach Ausdruck einer Bewältigung von
Widersprüchen, politisch – strategisch kalkulierte Größe sowie Ausdruck einer
elitären Weltsicht sein.96 Anknüpfend hieran ist in Orientierung an Antonio
Gramsci festzuhalten, dass „jede soziale Schicht“ ihre „eigenen Methoden“ hat,
ihre „Denkweisen“ zu formen und einen entsprechend widersprüchlichen Alltags-
verstand hervorzubringen (vgl. Hirschfeld 2015b: 99). Die skizzierten Rassismen
wären somit auch Ausdruck verschiedener Äußerungsformen und Praxen des All-
tagsverstandes. Hierbei kann davon ausgegangen werden, dass die unterschiedli-
chen Rassismen gleichzeitig in verschiedener Art und Weise miteinander verzahnt
oder überschnitten sind oder nebeneinander bestehen sowie sich gegenseitig wi-
dersprechende Klassenpositionen oder Zugehörigkeiten zu spezifischen sozialen
Schichten und Gruppen markieren. Drittens: „[D]ie Wirkungsweise des Rassis-
mus“ ist „immer mit den bestehenden politisch-ökonomischen Verhältnissen und
mit anderen Ideologien verknüpft“, was die „Subjekte und Objekte von Rassismus
in ein umfassendes Netz von gesellschaftlichen Verhältnissen“ einbindet (vgl. Mi-
les 1991: 173). Rassismus ist also immer in einem je spezifischen Kontext gesell-
schaftlicher Verhältnisse zu betrachten. Dies bedeutet auch, dass die mit Rassis-
mus „verbundenen Ausgrenzungspraktiken“ ihre eigenen „Besonderheiten“ haben
und zu „besonderen, gewissermaßen ,exklusiven‘ Erfahrungen“ (ebd.: 174) füh-
ren. Gemeinsam ist den Rassismen demnach die Form einer auf Ausschluss beru-
henden Vergesellschaftung, deren „materielle[s] Resultat, die Tatsache der Aus-
grenzung“ (ebd.), mit anderen (auch gerade über die skizzierten Widersprüche
hinweg) geteilt werden kann. Ein weiterer Effekt ist, dass in der Kennzeichnung
des anderen durch körperliche und kulturelle Differenzfaktoren sowie Eigenschaf-
ten sich hiervon absetzend das Selbst und die Zugehörigkeit zu einer spezifischen
Gruppe definieren. In der Verknüpfung und Überschneidung dieser beiden Mo-
mente liegt die hegemoniale und ausschließende Kraft von Rassismus.
96 Im Anschluss an Antonio Gramsci ist dieser Gedanke weiterzuführen und die Weltsicht als Welt-
auffassung zu begreifen, die nicht nur eine Gedankenwelt widerspiegelt, sondern als „praktische
Handlung“ vollzogen wird (vgl. Hirschfeld 2013 und 2015b).
3 Öffentlichkeit
Öffentlichkeit als Begriff im deutschen Sprachgebrauch bildete sich zum Ende des
18. Jahrhunderts heraus und markiert sprachlich den Wandel des Adjektivs „öf-
fentlich“, welches im Mittelalter in einer doppelten Bedeutung, einerseits „visu-
ell“ zur Markierung des Offensichtlichen, deutlich Sichtbaren und andererseits
„moralisch“ im Sinne von „redlich, wahr, rechtschaffen, rechtmäßig“, gebräuch-
lich war (Hölscher zitiert nach Liesegang 2004: 12). In der sprachlichen Verände-
rung vom Adjektiv hin zum Substantiv verdeutlicht sich ein gesellschaftlicher
Wandel im Sinne der Herausbildung bürgerlicher Gesellschaft und eines Herr-
schaftsanspruchs des Bürgertums.97 Wie Lucian Hölscher hervorhebt, sei diese
Entwicklung Ausdruck eines Verständniswandels, welcher „seit dem späten 18.
Jahrhundert [...] politische Handlungseinheiten [...] als Gesellschaften mit einer
kollektiven politischen Willensbildung“ auffasste, „die einer internen politischen
Öffentlichkeit bedürfen“ (1979: 137). Als Substantiv ist der Begriff der Öffent-
lichkeit deshalb auch Ausdruck einer historischen Entwicklung und strukturellen
Veränderung von Staatlichkeit, die als Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft
in einer Gegenüberstellung von Staat und Staatsbürgern, einhergehend mit der
Herausbildung politischer sowie institutionalisierter Kommunikationsstrukturen,
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_4
108 3 Öffentlichkeit
erkennbar wird.98 Diesen Prozess unterstreicht auch Jürgen Habermas und macht
deutlich, dass sich mit der Entwicklung des frühkapitalistischen „Waren- und Han-
delsverkehr[s]“ ([1962] 1990: 69 f.) der „moderne[...] Staat herausbilde“ (ebd.:
73) und in diesem Zusammenhang auch das Politische und Soziale „auseinander-
treten“ (ebd.: 77) würde.99 Entsprechend verändere sich der bis dahin gültige „alte
Kommunikationsbereich der repräsentativen Öffentlichkeit“ (ebd.: 72) hin zur
„Öffentlichkeit im modernen Sinne“ und bilde gleichzeitig die „Sphäre der öffent-
lichen Gewalt“ heraus (vgl. ebd.: 74). Das Stichwort „öffentlich“ stehe dabei als
Synonym für „staatlich“ (vgl. ebd.: 75) und markiere als „öffentliche Gewalt ein
greifbares Gegenüber für diejenigen, die ihr bloß unterworfen sind und an ihr zu-
nächst nur negativ ihre Bestimmung finden“ (ebd.: 74). Für den historischen Pro-
zess sei deshalb von Bedeutung, dass „die dem Staat gegenübertretende Gesell-
schaft einerseits von öffentlicher Gewalt einen privaten Bereich deutlich abgrenzt,
andererseits aber die Reproduktion des Lebens über die Schranken privater Haus-
gewalt hinaus zu einer Angelegenheit öffentlichen Interesses erhebt“ (Habermas
1990: 83). Eine hiermit verknüpfte Entwicklung gesellschaftlicher Verwaltung
dieses Zusammenhangs in Form der „öffentlichen Gewalt“ fordere „die Kritik des
räsonierenden Publikums heraus“ und werde so zur „öffentlichen Angelegenheit“
(ebd.). Ist in diesem Sinne eine (institutionelle) Verwaltung von Gesellschaft zur
„öffentlichen Angelegenheit“ geworden und hat sie gleichzeitig die Kritik des
Publikums herausgefordert, findet Letzteres ein Medium seiner Kritik in der He-
rausbildung der Presse (vgl. ebd.: 83). Entsprechend sieht Habermas die Entste-
hung eines neuen und für die bürgerliche Gesellschaft wesentlichen „Forums“,
„auf dem die zum Publikum versammelten Privatleute sich anschicken, die öffent-
liche Gewalt zur Legitimation vor der öffentlichen Meinung zu zwingen“ (ebd.:
84). Öffentliche Meinung steht hierbei als Synonym für die Kritik an öffentlicher
Gewalt. Grundsätzlich skizziert Habermas in seinem Buch „Strukturwandel der
Öffentlichkeit“ die Entwicklung eines „Idealtypus“ (1990: 12) sowie Dimensio-
nen des „Zerfalls“ (ebd.: 267 f.) von „bürgerlicher Öffentlichkeit“ (vgl. ebd.). Wie
schon angedeutet, sieht Habermas in der Trennung des Öffentlichen vom Privaten
ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft. In diesem Zusammen-
hang verweist Habermas darauf, dass „die Öffentlichkeit der zum Publikum ver-
sammelten Privatleute, die den Staat mit Bedürfnissen der Gesellschaft vermittelt,
selbst zum privaten Bereich zählt“ (ebd.: 268). In „der Verschränkung des öffent-
lichen mit dem privaten Bereich“ aber, werde dieses „Modell unanwendbar“ da
eine „repolitisierte Sozialsphäre“ entstehe, die nicht „unter Kategorien des Öffent-
lichen oder Privaten“ subsumiert werden könne (vgl. ebd.). Da sich hierbei „ver-
staatlichte Bereiche der Gesellschaft und die vergesellschafteten Bereiche des
Staates ohne Vermittlung politisch räsonierender Privatleute“ durchdringen wür-
den, werde das Publikum durch „andere Institutionen weitgehend entlastet“ (ebd.).
Es handelt sich hierbei um Institutionen wie „Verbände, in denen sich die kollektiv
organisierten Privatinteressen unmittelbar Gestalt zu geben suchen“, und „Par-
teien, die sich, mit Organen der öffentlichen Gewalt zusammengewachsen, gleich-
sam über Öffentlichkeit etablieren, deren Instrumente sie einst waren“ (ebd.). Hie-
raus entstehe in der gegenwärtigen Gesellschaft die Situation, dass sich einerseits
„der Prozess des politisch relevanten Machtvollzugs und Machtausgleichs [...] di-
rekt zwischen den privaten Verwaltungen, den Verbänden, den Parteien und der
öffentlichen Verwaltung“ vollziehe und dabei gleichzeitig „die Privatleute [...],
soweit sie Lohn- oder Gehaltsempfänger sind, ihre öffentlich relevanten Ansprü-
che kollektiv vertreten“ lassen müssen (vgl. ebd.: 268 f.). Ursprünglich sei histo-
risch im „Verhältnis der literarischen zur politischen Öffentlichkeit“ die „Identifi-
kation der Eigentümer mit ,Menschen‘ schlechthin konstitutiv“ gewesen, „ohne
dass darum beide ineinander aufgegangen wären“ (ebd.: 269). Im Unterschied
hierzu sei Öffentlichkeit in der Gegenwart „konsumkulturell entpolitisiert“ (ebd.).
In ähnlicher Weise argumentiert Adorno, wenn er schreibt, dass sich Öffent-
lichkeit in der Gegenwart „von den lebendigen Subjekten“ abspalte, „welche die
Substanz des Begriffes von Öffentlichkeit“ ausmachten (vgl. Adorno 2003: 534).
Mit der Institutionalisierung von Öffentlichkeit werde „ein gesellschaftlicher Teil-
sektor monopolisiert“ und durch eigene Interessenlagen geformt, was dazu führe,
dass sich „der Begriff der Öffentlichkeit [...] von den Bevölkerungen auf die In-
stitutionen“ verschiebt (vgl. ebd.: 533). In diesem Zusammenhang habe sich „das
110 3 Öffentlichkeit
Recht der Menschen auf Öffentlichkeit“ verkehrt „in ihre Belieferung mit Öffent-
lichkeit“ (ebd.: 534). Die Menschen würden entmündigt; sie würden von Subjek-
ten zu Objekten der Öffentlichkeit (vgl. ebd.). Adorno skizziert dies als ein zent-
rales Problem, welches Habermas als den Zerfall der Öffentlichkeit gekennzeich-
net habe. Allerdings stelle sich dabei die Frage, ob man historisch überhaupt von
einer funktionierenden Öffentlichkeit ausgehen könne. Und Adorno schreibt:
„Vielleicht war Öffentlichkeit in Wahrheit überhaupt nie verwirklicht“ (ebd.).
Auch Liesegang widerspricht aus begriffsgeschichtlicher Sicht der Überzeugung,
Öffentlichkeit könne, wie bei Habermas, historisch als „homogen, gewachsen[e]“
Struktur interpretiert werden (vgl. Liesegang 2004: 238).100 Vielmehr zeige sich
in der Herausbildung des Begriffes Öffentlichkeit ein widersprüchlicher Prozess
konkurrierender Theorien, verknüpft mit konkurrierenden Öffentlichkeiten und
entsprechenden Mustern ausschließender Kommunikation „dominierender Öf-
fentlichkeit“ vom Mittelalter bis zur Gegenwart (vgl. ebd.: 238). Öffentlichkeit
selbst ist in der Folge ein umkämpfter, widersprüchlicher Deutungs- und Hand-
lungsbereich bis in die Gegenwart.
100 Jürgen Habermas vertritt in seinem Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ den Anspruch, die
Entwicklung eines „Idealtypus von bürgerlicher Öffentlichkeit“ (1990: 12) nachzuzeichnen sowie
deren Zerfall nachzuweisen (vgl. ebd.: 267 f.). Ursprünglich sei im „Verhältnis der literarischen zur
politischen Öffentlichkeit“ die „Identifikation der Eigentümer mit ,Menschen‘ schlechthin konsti-
tutiv“ gewesen, „ohne dass darum beide ineinander aufgegangen wären“ (ebd.: 269). Im Unter-
schied hierzu sei Öffentlichkeit in der Gegenwart „konsumkulturell entpolitisiert“ (ebd.).
101 Vgl. auch Rucht (2010).
102 Vgl. grundsätzlich hierzu Peters (2007).
103 Ich beziehe mich hier im Folgenden auf einen Überblick normativer Vorstellungen von Öffent-
lichkeit die Bernhard Peters in seinem Aufsatz „Der Sinn von Öffentlichkeit“ zusammengetra-
gen hat (vgl. Peters 2007). Die Perspektive von Peters bezieht u. a. die Überlegungen von Jürgen
3.2 Öffentlichkeitskonstruktion in der Gegenwart 111
sphären und Räume, deren zentrales Kennzeichen die Trennung des Privaten vom
Öffentlichen sei. In diesem Zusammenhang versteht Peters „institutionalisierte
Handlungssphären“ als „Grenzziehungen“, bei denen die Stichworte privat und
öffentlich auf Handlungen verweisen, die sich auf „deren institutionelle Rahmen-
bedingungen (Rollen beziehungsweise Positionen, Kompetenzen) wie auch auf
sachliche Handlungsbedingungen (Verfügungen und Ressourcen) beziehen“
(ebd.: 56). Die Vorstellung vom Privaten sei hierbei vor allem eine Unterschei-
dung von „Privateigentum oder öffentlichem Eigentum“, welches jeweils entwe-
der „privater oder kollektiver Kontrolle unterlieg[t]“ (ebd.). Ist in diesem Zusam-
menhang von „Kollektiv [...] als Öffentlichkeit die Rede“, sei damit „die moderne
rechtlich-politische, staatliche Gemeinschaft“ gemeint (ebd.). Die Stichworte
„Kommunikation und Wissen“ bezeichnen eine zweite Dimension von Öffentlich-
keit (ebd.: 57). Wie Peters hervorhebt, verweise diese Dimension vor allem auf
jene Grenzziehung zwischen privat und öffentlich, bei der das Private in einer As-
soziation mit „[v]ertraulich“ oder „[g]eheim“ solche „Sachverhalte oder Aktivitä-
ten“ bezeichne, welche der allgemeinen Beobachtung entzogen und deren „Wis-
sensbestände oder Kommunikationen mit eingeschränkten Zugangsbedingungen“
belegt seien (vgl. ebd.: 57). Unterscheidend hiervon stehe das Öffentliche für jene
„Sachverhalte, Ereignisse oder Aktivitäten“, welche „jeder beobachten oder von
denen jeder wissen kann“ (ebd.) In diesem Sinne sei das Öffentliche durch den
freien Zugang zu „Wissensbeständen [...] und Kommunikationen, die jeder ver-
folgen oder an denen jeder beteiligt werden kann“ gekennzeichnet (ebd.). Die Be-
stimmung und Deutung der damit verbundenen Grenzen sei entsprechend um-
kämpft. Grundsätzlich sieht Peters in dieser Skizze zwei Sinnbestimmungen von
Öffentlichkeit enthalten, die sich wiederum von einer dritten Bedeutungsebene
unterscheiden. Öffentlichkeit könne erstens als ein Zusammenhang zur Vermitt-
lung gesellschaftlicher „Angelegenheiten und Aktivitäten“ verstanden werden,
„die Gegenstand organisierter kollektiver Verantwortlichkeiten und Entscheidun-
gen sind“ (ebd.: 58). Zweitens könne deshalb Öffentlichkeit als eine „soziale
Handlungssphäre“ interpretiert werden, „die mehr oder weniger frei zugänglich ist
und in der soziale Akteure sich an ein unabgeschlossenes Publikum wenden oder
jedenfalls der Beobachtung durch ein solches Publikum ausgesetzt sind“ (ebd.).
Diese beiden Sinnbestimmungen von Öffentlichkeit unterscheiden sich einerseits
von einer dritten Bedeutungsebene und sind gleichzeitig in dieser selbst aufgeho-
ben. Gemeint ist die Vorstellung eines normativen Modells, welches als „Öffent-
lichkeit im emphatischen Sinne“ umrissen werden könne (ebd.). In dieser Vorstel-
lung wird Öffentlichkeit als „eine Art Kollektiv“ verstanden, welches „auf einer
bestimmten Kommunikationsstruktur beruht [...] oder eine Sphäre kommunikati-
Habermas zur Öffentlichkeit verallgemeinernd mit ein, weshalb an diesem Punkt nur vereinzelt
auf Gedanken von Jürgen Habermas selbst eingegangen wird.
112 3 Öffentlichkeit
ven Handelns“ bildet (vgl. ebd.: 59). Für ein normatives Modell von „Öffentlich-
keit“ werden grundsätzlich vier tragende Elemente geltend gemacht. a) Im Ver-
ständnis eines emphatischen Modells konstituiere sich Öffentlichkeit über ihren
„Gegenstand: Es geht um Angelegenheiten von kollektivem Interesse und Prob-
leme, die ,alle‘ angehen oder interessieren sollten“ (ebd.: 60). Verhandelt werden
„Fragen des kollektiven Zusammenlebens“ und dessen „Handlungsbedingungen“,
also „kognitive und instrumentelle Probleme“, gleichermaßen „normative Fragen
des Ausgleichs von Ansprüchen und Interessen“ (ebd.). Wie Peters hervorhebt,
bestehe der Sinn dieser Diskurse darin, dass die Teilnehmenden „die Möglichkeit
gewinnen, auch eigene Interessen und Ansprüche zu reflektieren“ sowie darüber
hinaus „Motive“ zu entwickeln, die „zur kollektiven Willensbildung beitragen“
sollen (vgl. ebd.). b) Als Träger dieser diskursiven Verständigung gilt wiederum
eine „politische Öffentlichkeit von Staatsbürgern“, welche sich durch ihre norma-
tive Fassung „öffentlicher Verständigung stets [mit] universalistischen Ansprü-
chen verknüpfe“ und deshalb die „Möglichkeit einer internationalen Öffentlich-
keit oder Weltöffentlichkeit“ mitdenke (vgl. ebd.). c) Im normativen Verständnis
von Öffentlichkeit werden deshalb auch „besondere Qualitäten der Kommunika-
tionsformen“ geltend gemacht, die sich im „öffentlichen Raum aufspannen“ (ebd.:
61). Hierzu gehören: „Gleichheit und Reziprozität der kommunikativen Beziehun-
gen – eine prinzipielle Offenheit für Themen und Beiträge und eine adäquate Ka-
pazität zu ihrer Bearbeitung –, schließlich die diskursive Struktur von Kommuni-
kationen“ (ebd.). d) Letztere Stichworte gelten wiederum als Merkmale einer „öf-
fentlichen Kommunikation“, die „zu reflektierten Überzeugungen und Urteilen
des Publikums im Hinblick auf relevante kollektive Probleme führen“ soll (vgl.
ebd.: 62). In diesem Sinne hat Öffentlichkeit die Funktion der Herausbildung einer
„öffentlichen Meinung“. Hierbei gehe es darum, „das Publikum durch öffentliche
Diskurse und nur dadurch zu begründeten, kritisch geprüften, [...] vernünftigen
gemeinsamen Einsichten, Problemlösungen und Zielsetzungen kommen“ zu las-
sen (vgl. ebd.: 63). Öffentlichkeit versteht sich dabei „als Gesamtheit der Prozesse
diskursiver, auf kollektive Probleme bezogener Meinungs- und Willensbildung“
(ebd.). Öffentlichkeit komme damit die Funktion zu, eine „Kultivierung der Mei-
nungs- und Willensbildung der Staatsbürger durch öffentliche Diskurse [...] zu er-
bringen“ (ebd.). Habermas, so Peters, sehe in dieser Konzeption von Öffentlich-
keit die Lösung des praktischen Problems, dass sich „Demokratie als Selbstregie-
rung“ im diskursiven Handeln durch „Einigung auf Entscheidungen [...], die zu-
gleich freiwillig und vernünftig“ sind, verwirklichen könne (vgl. ebd.).
Erst mit dieser Sichtweise lasse sich ein Kontrast zu jenen Demokratietheo-
rien erzeugen, welche Öffentlichkeit im Wesentlichen auf einen „Mechanismus
zur Aggregation oder zum tausch- oder kompromissförmigen Ausgleich vorgege-
bener Interessen oder Präferenzen“ verkürzten (vgl. ebd.). Eine solch mechanisti-
3.2 Öffentlichkeitskonstruktion in der Gegenwart 113
sche Sichtweise auf Öffentlichkeit lasse sich dann als Reduktion kritisieren, die
den am politischen Prozess „beteiligten Akteuren“ lediglich „die Informationen
zur Verfügung“ stelle, „die sie benötigen, um ihre Strategien und Wahlentschei-
dungen zu optimieren, eingeschlossen Informationen über die Präferenzverteilung
unter der Wählerschaft“ (ebd.). Im Unterschied hierzu sei im „diskursiven Modell
[der] politische [...] Prozess“ auf „eine Reflexion vorgegebener Interessendefini-
tionen“ (ebd.: 63) gerichtet, um deren „egozentrischen individuellen Interessen-
horizont“ in „kollektive[...] oder allgemeine[...] Interessen“ zu transformieren
(vgl. ebd.: 64). Vor diesem Hintergrund beinhalte die Herausbildung einer „öf-
fentlichen Meinung“ auch ein „antiinstitutionelles Element“ und gewinne zum ei-
nen den „Sinn einer ideellen (oder intellektuellen) ,Gegenmacht‘“ sowie zum an-
deren eine „Irritationsfunktion der Öffentlichkeit“ selbst (vgl. ebd.). Letzteres
finde sich in „populären Konzeptionen der ,Zivilgesellschaft‘“ wieder (vgl. ebd.).
„Zivilgesellschaft“ gilt hierbei als „eine kritische, innovative und machtbegren-
zende Kraft von öffentlichen Kommunikationskreisläufen, die von sozialen Be-
wegungen, freiwilligen Assoziationen und informellen Milieus“ getragen wird
(vgl. ebd.). Im Unterschied zu Formen institutionalisierter Politik und einer „me-
chanistischen“ Vorstellung von Öffentlichkeit, würden „Zivilgesellschaft“ Eigen-
schaften „[wirklicher] Authentizität, Kreativität, die Sensibilität für Probleme und
die Offenheit für minoritäre, im formellen politischen Prozess nicht organisato-
risch repräsentierte Auffassungen oder Interessen zugesprochen“ (ebd.).
Im Verständnis von Habermas sind die von Peters skizzierten Merkmale spe-
zifische Eigenschaften eines normativen Verständnisses „politischer Öffentlich-
keit“. Habermas verweist „eigentliche“ Öffentlichkeit in den Bereich des Privaten,
es sei eine „Öffentlichkeit von Privatleuten“ ([1962] 1990: 90). In diesem Kontext
sei „Privatsphäre [als] die bürgerliche Gesellschaft im engeren Sinne“ zu verste-
hen, die den „Bereich des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit“ sowie
die „Familie mit ihrer Intimsphäre“ einschließe (vgl. ebd.). Hiervon unterscheide
sich die „politische Öffentlichkeit“. Habermas skizziert „politische Öffentlich-
keit“ als Sphäre zwischen Staat (als Sphäre der öffentlichen Gewalt) und Privat-
bereich (vgl. Habermas 1990: 86 f.). „Politische Öffentlichkeit“ bildet im Ver-
ständnis von Habermas einen eigenen, substanziellen gesellschaftlichen Bereich
und „vermittelt durch öffentliche Meinung den Staat mit Bedürfnissen der Gesell-
schaft“ (ebd.: 90). Die weiter oben skizzierte Kommunikations- und Handlungs-
struktur sowie Funktion von Öffentlichkeit bei Peters bildet für Habermas den
Kern „politischer Öffentlichkeit“ (vgl. Habermas 1998: 435 f.). Das Besondere
von Öffentlichkeit bestimmt sich für Habermas nicht über ihre Funktion oder In-
halte, sondern kennzeichnet sich durch den mittels Kommunikation und im ver-
ständigungsorientierten Handeln „erzeugten sozialen Raum“ (vgl. ebd.: 436). Die
Form der Vermittlung und den so erzeugten „sozialen Raum“ skizziert Habermas
114 3 Öffentlichkeit
Das Verständnis von Zivilgesellschaft als ein von der Politik und der Ökonomie
getrennter gesellschaftlicher Bereich ist mit Blick auf die Begriffsentwicklung von
Gramsci, der Zivilgesellschaft als analytisches Instrument versteht, zu kritisieren.
Gramscis Perspektive auf Zivilgesellschaft als analytischer Begriff, wie weiter
oben erläutert, eröffnet die Dimension des Ringens um Hegemonie.105 Ohne an
dieser Stelle noch einmal ausführlicher auf die Kritik am Begriff Zivilgesellschaft
einzugehen, sind mit Blick auf die Vorstellung von Zivilgesellschaft im Kontext
normativer Konzepte von Öffentlichkeit weitere Kritikpunkte aufzunehmen.
Wie ich weiter oben deutlich gemacht habe, gehen normative Vorstellungen
von Öffentlichkeit davon aus, dass sich Öffentlichkeit zum einen durch „nicht ver-
machtete Kommunikationsstrukturen“ (Habermas in Demirovic 1997: 170) aus-
zeichne und hierauf aufbauend einen „sozialen Raum“ entfalten würden, welcher
Kritik erzeuge, und so wiederum eine korrektive Einflussnahme auf Politik mög-
lich sei. Hiermit verknüpft sich die Vorstellung, dass herrschaftliche Verhältnisse
dem Bereich des Privaten (z. B. gesellschaftliche Arbeit: Lohnarbeit und Arbeits-
teilung)106 zugeschlagen werden, die wiederum im Diskurs von Öffentlichkeit
„durch öffentliche Thematisierung“ öffentlich gemacht werden sollen, um „dar-
über kollektiv und demokratisch“ entscheiden zu können (vgl. Demirovic 1997:
178). Insofern verbindet sich mit der Einrichtung von Öffentlichkeit die Hoffnung,
dass „Entscheidungen revidiert, Lebensweisen verändert, Gesellschaften demo-
kratisiert und rationalisiert werden“ könnten (ebd.). Wie Alex Demirovic deutlich
macht, ist dies keineswegs zwingend der Fall, sondern Öffentlichkeit habe „auf-
104 Zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft: Habermas (1990: 45 f. und 1998: 435
f.; kritisch: Demirovic 1997: 152 f. sowie165 f.).
105 Vgl. Demirovic (1997: 148-152); Opratko (2012: 39-43); Haug (2004: 1-25).
106 Vgl. hierzu etwa das Schaubild von Jürgen Habermas in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ auf
Seite 89.
3.3 Kritiken am normativen Verständnis von Öffentlichkeit 115
107 Alex Demirovic macht dies am Beispiel seiner Untersuchung zur medialen Öffentlichkeit deut-
lich und zeigt, dass „massenmediale Öffentlichkeit [...] in Teilöffentlichkeiten mit sehr unter-
schiedlichen Demokratie- und Öffentlichkeitskonzepten fragmentiert“ ist (vgl. Demirovic 1997:
173). Diese Teilöffentlichkeiten stünden sich „in einem agonalen und widersprüchlichen Ver-
hältnis gegenüber“ (ebd.). In diesem Zusammenhang würden beispielsweise soziale Protestbe-
wegungen „nicht als Kommunikationsteilnehmer anerkannt“; ihre Anliegen blieben damit nur
einer „inklusiven Teilöffentlichkeit“ zugänglich und von den Medien einer „exklusiven Teilöf-
fentlichkeit“ ausgeschlossen (vgl. ebd. 171 f.). Interessant sind in diesem Zusammenhang die
damit verknüpften demokratietheoretischen Implikationen, die das Inklusive und Exklusive be-
gründen. Wie Alex Demirovic hervorhebt, folgen „inklusive Teilöffentlichkeiten“ einem Selbst-
verständnis, welches davon ausgeht, dass eigenaktiv „aufgebrachte Themen“ sowie „Praxisfor-
men als legitime Inanspruchnahme der Kommunikationsrechte von BürgerInnen“ Ausdruck ei-
nes „Fortschritt[s] für den demokratischen Prozess selbst“ sind (vgl. ebd.: 173). Im Unterschied
hierzu entwickelten „die Medien der exklusiven Teilöffentlichkeiten eine demokratietheoreti-
sche Argumentation, die sie systematisch davor schützt, eine Selbstbindung an Argumente ein-
zugehen, die zu einer sich öffnenden und demokratisierenden Öffentlichkeit führen könnten“
(ebd.). Letztere Vorstellung orientiert sich an „konservativen elitetheoretischen“ Demokratie-
vorstellungen, welche „Eigenaktivität und Selbstorganisation in Form des Protestes von Aktiv-
bürgerInnen [als] Bruch mit dem Legalrahmen“ auffassen (ebd.). Beide Dimensionen stünden
sich in unterschiedlichsten Ausprägungen gegenüber und arbeiteten in alltäglichen „performati-
ven Praxen“ die jeweiligen „demokratietheoretischen Positionen“ heraus (vgl. ebd.). Gleichzei-
tig versuchten sie, ihre Positionen „gegeneinander in situativen öffentlichen Deutungskonflikten
[...] durchzusetzen“ (ebd.). Vergleichbare Probleme skizziert Karl-Heinz Stamm in seiner Un-
tersuchung zur „Alternativen Öffentlichkeit – Die Erfahrungsproduktion neuer sozialer Bewe-
gungen“ (Stamm 1988). Interessant ist hierbei seine Analyse der Funktion und des Zerfalls der
publizistischen Aktivität des „Informations-Dienst[s] zur Verbreitung unbeliebter Nachrichten“
(ebd.: 71 f.).
116 3 Öffentlichkeit
gen, Probleme und Konflikte einer „umfassenden und freien Diskussion“ und da-
mit der Öffentlichkeit entzogen blieben (vgl. ebd.). An diesen Gedanken anknüp-
fend repräsentiere die Vorstellung deliberaler Öffentlichkeit wie z. B. bei Haber-
mas „die zum Publikum versammelten Privatleute“ und meine damit diejenigen,
die „keine Amtsträger“, kein Staat, sondern Zivilgesellschaft sind (vgl. ebd.: 145).
Ist dieses Modell weiter oben schon kritisiert worden, verweist Fraser darauf, dass
in diesem Verständnis Zivilgesellschaft als Erzeugerin der „öffentlichen Mei-
nung“ gelte und ihre Grenze darin habe, dass sie sich „ausschließlich [auf die]
Meinungsbildung“ beschränke „und sich nicht auf die Beschlussfassung erstreckt“
(ebd.). Von dieser Form der „schwachen Öffentlichkeit“ sei „starke Öffentlich-
keit“ zu unterscheiden, „deren Diskurs sowohl die Meinungsbildung als auch die
Beschlussfassung“ einschließe (ebd.: 145 f.).108
Mit Blick auf die historische Entwicklung von Öffentlichkeit sei die Heraus-
bildung der „souveränen Parlamente“ ein Beispiel für „starke Öffentlichkeit“. Die
Besonderheit bestehe darin, als „öffentliche[...] Sphäre innerhalb des Staates“
Meinungsbildung und Beschlussfassung zusammenzuführen (vgl. ebd.: 146). Mit
dieser Historie sei auch ein gesellschaftlicher Ort entstanden, „rechtlich bindende
Beschlüsse“ zu erzeugen und so die „Ausübung staatlicher Macht“ zu autorisieren
(vgl. ebd.: 146). Eine deliberative Vorstellung von Zivilgesellschaft und Öffent-
lichkeit manifestiere hingegen mit ihrer Orientierung auf „bloße Meinungsbildung
[den] gehörigen Abstand zur autoritativen Beschlussfassung“ und verringere da-
mit die Reichweite öffentlicher Meinungsbildung auf die Möglichkeiten parla-
mentarischer Diskussion und Beschlussfassungen (vgl. ebd.: 148). Fraser geht es
aber um mehr. Sie sieht die Notwendigkeit einer „Vermehrung von starken Öf-
fentlichkeiten“ und deren Transformation in Formen selbstverwalteter Einrichtun-
gen (vgl. ebd.: 146). Diese sollten sich die Prinzipien einer starken Öffentlichkeit
zu eigen machen, indem sie Meinungsbildung und Beschlussfassung in der Praxis
von Selbstverwaltung miteinander verbinden und so dazu beitragen würden (über
die Parlamente hinaus) Orte zu gründen, „an denen [sich] direkte oder quasi di-
rekte Demokratie“ entwickeln könne (vgl. ebd.).109 Öffentlichkeit und Demokratie
108 Vgl. auch Nancy Fraser und einen früheren Artikel von Nancy Fraser, wo sie den Gedanken der
„starken“ und „schwachen“ Öffentlichkeiten entwickelt (1996: 151-182).
109 Fraser spricht hier beispielsweise von „selbstverwalteten Arbeitsplätzen, Kinderbetreuungsstät-
ten oder Wohnanlagen“ (Fraser 2001a: 146). Diese „könnten interne institutionelle Öffentlich-
keiten sowohl Arenen der Meinungsbildung als auch der Beschlussfassung sein“ (ebd.). Deswe-
gen: „Jedwede Konzeption der öffentlichen Sphäre, die eine scharfe Trennung zwischen Zivil-
gesellschaft (als Nexus der Assoziationen) und dem Staat verlangt, wird nicht in der Lage sein,
sich die Formen der Selbstverwaltung, der Koordination zwischen den Öffentlichkeiten und den
politischen Rechenschaftspflichten vorzustellen, die für eine demokratische und egalitäre Ge-
sellschaft wesentlich sind“ (ebd.: 148). Ihre Überlegung erinnert an den weiter oben angedeute-
ten Prozess einer Institutionalisierung des dialogischen Handelns bei Benjamin Barber.
118 3 Öffentlichkeit
Wie schon die bis hier skizzierten Überlegungen deutlich machen, verweisen die
Kritiken nicht nur auf ein problematisches Verständnis vom Verhältnis zwischen
Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, sondern sprechen im Plural von Öffentlich-
keiten. In diesem Bild wird eine weitere Kritik, vor allem am deliberalen Ver-
ständnis von Öffentlichkeit, deutlich. Wie ich weiter oben skizziert habe, versteht
Habermas bürgerliche Öffentlichkeit als „zum Publikum versammelte Privat-
leute“, die auf dem Wege verständigungsorientierten Handelns öffentliche Ange-
legenheiten diskutieren. Die von Habermas eingenommene Perspektive wurde als
Idealisierung bürgerlicher Öffentlichkeit kritisiert (Fraser 2001a: 113). Wie schon
weiter vorn angemerkt, hat auch Adorno infrage gestellt, ob bürgerliche Öffent-
lichkeit überhaupt verwirklicht gewesen sei. Damit stellt sich auch die Frage, ob
man von der idealisierten Skizze der einen Öffentlichkeit ausgehen kann. Fraser
geht mit ihrer Kritik aber weiter. Es könne nicht mehr davon ausgegangen werden,
„dass das liberale Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit lediglich ein unverwirk-
lichtes utopisches Ideal darstelle“ (Fraser 2001a: 119). Kern der Kritik bildet die
Feststellung, dass „trotz der rhetorisch bejahenden Publizität und Zugänglichkeit“
Öffentlichkeit in der Konzeption von Habermas „auf einer Reihe bedeutsamer
Ausschlüsse“ beruhe (vgl. ebd.: 113). Habermas hat diese Kritik grundsätzlich an-
erkannt und in seine Diskussion von Öffentlichkeit aufgenommen, indem er fest-
gestellt hat, dass es „falsch“ wäre, „vom Publikum im Singular zu sprechen“ und
man davon ausgehen müsse, dass es „konkurrierende Öffentlichkeiten“ gibt, und
dass auch die von der „Dynamik [einer] dominierenden Öffentlichkeit ausge-
schlossenen Kommunikationsprozesse“ berücksichtigt werden müssten (vgl. Ha-
bermas 1990: 15 f.). Dennoch sind meines Erachtens mit seinen Anmerkungen die
3.3 Kritiken am normativen Verständnis von Öffentlichkeit 119
Vor diesem Hintergrund plädiert Nancy Fraser dafür, anstatt von Gegenöf-
fentlichkeit im Plural von „subalternen Gegenöffentlichkeiten“ zu sprechen. Wie
sich historisch gezeigt habe, seien vor allem subalternen Gruppen die Zugänge zu
selbstbestimmten „Versammlungsorten, an denen kommunikative Prozesse statt-
finden könnten“, durch herrschaftliche Interessen verbaut oder die subalternen
Gruppen seien diesen unterworfen (vgl. Fraser 2001a: 129). Für subalterne Grup-
pen wie z. B. „Frauen, Arbeiter, Schwarze, Schwule und Lesben“ sei deshalb „die
Gründung alternativer Öffentlichkeiten“ von besonderer Bedeutung (vgl. ebd.).112
In diesem Kontext verdeutliche der Begriff „subalterner Öffentlichkeiten“ die Zu-
sammenhänge „parallel existierende[r] diskursive[r] Arenen [...], in denen Mit-
glieder untergeordneter sozialer Gruppen Gegendiskurse erfinden und verbreiten.
Die Gegendiskurse erlauben ihnen dann, oppositionelle Interpretationen ihrer
Identitäten, Interessen und Bedürfnisse zu formulieren“ (ebd.). Wie Nancy Fraser
hervorhebt, haben „subalterne Öffentlichkeiten“ in Klassengesellschaften einen
Doppelcharakter. Dieser besteht darin, dass sie „einerseits [...] die Funktion von
Räumen des Rückzugs und der Neugruppierung haben. Andererseits dienen sie
auch als Stützpunkte und Übungsplätze für agitatorische Betätigungen, die sich
auf größere Öffentlichkeiten richten“ (ebd.: 131). Und Fraser schlussfolgert: „Ge-
nau in der Dialektik zwischen diesen beiden Funktionen liegt ihr emanzipatori-
sches Potential“ (ebd.). Aus diesem Zusammenhang entstehe mithin das Potenzial
„subalterner Öffentlichkeiten“, „die ungerechten partizipatorischen Privilegien,
deren sich Mitglieder herrschender sozialer Gruppen in geschichteten Gesellschaf-
ten erfreuen, zwar nicht ganz und gar abzuschaffen, aber doch teilweise auszuglei-
chen“ (ebd.). Der optimistische Gehalt des „emanzipatorischen Potenzials“ ist al-
lerdings mit Demirovic infrage zu stellen. Wie ich weiter oben gezeigt habe, zwei-
felt Demirovic am emanzipatorischen Potenzial von Öffentlichkeit, da Öffentlich-
müsse auch erkannt werden, dass Öffentlichkeit nicht als das „unzweideutig[e] Instrument der
Autorisierung und Emanzipation“ gelten könne, da „statusbenachteiligte Gruppen“ einen „mög-
lichen Nutzen politischer Öffentlichkeit immer gegen die Gefahren des Verlusts ihrer Privatheit
abwägen“ (ebd.) würden. Christoph Spehr sieht in den skizzierten Perspektiven einer feministi-
schen Gegenöffentlichkeit die Schwierigkeit, dass, wie Nancy Fraser gezeigt hat, Gegenöffent-
lichkeit im Sinne von „öffentlich-Machen auch als Waffe gegen die Frauen gerichtet werden
kann“ (Spehr 2001: 9). Hieraus ergebe sich das Problem, dass feministische Gegenöffentlichkeit
„patriarchale Deutungsmacht über den Verlauf“ der Grenze zwischen privat und öffentlich an-
greifen müsse „und auf deren Verschiebung statt auf deren Aufhebung“ abziele (vgl. ebd.).
112 Dies unterstreichen auch Oskar Negt und Alexander Kluge, wenn sie darauf hinweisen, dass z.
B. Kinder im Diskurs um Öffentlichkeit nicht vorkommen. Öffentlichkeit sei ein Erwachsenen-
diskurs. In diesem Zusammenhang werden die Bedürfnisse der Kinder nach Selbstorganisation
und Selbstregulierung durch erwachsene Herrschaftsinteressen „bestritten“ und der „Freiraum“
der Kinder „mit massivem Realitätsentzug und Entzug der Erwachsenenwelt, zu der vor allem
die Beziehung der Urobjekte zueinander und zu den Kindern gehört“, beschnitten (vgl.
Negt/Kluge 1972: 466).
122 3 Öffentlichkeit
113 Vgl. auch grundsätzlich zum Stichwort einer Dialektik von Öffentlichkeit und Gegenöffentlich-
keit Spehr (2001).
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie 123
Vision eines veränderten Publikums beinhaltet“ (ebd.: 12). In diesem Sinne ist in
Gegenöffentlichkeit selbst die Möglichkeit zur Erweiterung von „Erfahrungs- und
Experimentierräumen“ enthalten und damit auch die Erfahrung möglichen Poten-
zials einer befreiten Gesellschaft angelegt.
Dieser optimistische „Erfahrungs-Gehalt“ ist allerdings in den skizzierten
Widersprüchen von Öffentlichkeit gebrochen und erst in reflexiven Lernprozessen
einer Kohärenzarbeit (Gramsci) sowie einer daraus folgenden Herstellung von Zu-
sammenhängen (Negt) möglich.114 Wichtig ist hierfür, dass in der Organisierung
von Gegenöffentlichkeit die Unterscheidung zwischen „dem Herrschaftselement“
als einer „fixierenden Wiederholung von Zwangssituationen“ einer bürgerlichen
Öffentlichkeit sowie „der Fähigkeit der unmittelbaren Erfahrung“ als „Element
der Autonomie“ gemacht wird (vgl. Negt/Kluge 1972: 470). Letzterer Gedanke ist
von zentraler Bedeutung, da, wie Ernst Bloch deutlich gemacht hat, „allein das
Begreifen der objektiv-realen Möglichkeiten“ und ihrer „realen Potentialität“ zu
deren Realisierung nicht ausreicht (vgl. Jung 2012: 308). Es bedarf des „realisie-
renden Subjekts“ in Verknüpfung mit den anderen, um „subjektives Vermögen in
Gang [zu] setzen“ (ebd.). Werner Jung weist darauf hin, dass die Betonung des
subjektiven Faktors für Bloch deswegen so wichtig sei, weil „Subjektivität [...]
nicht in der Masse, im Strom des objektiven Geschichtsverlaufs, in der Klasse,
Partei, Organisation etc. verloren gehen“ dürfe (ebd.). In diesem Sinne steht das
Subjektive als der erkennbare Beitrag der Einzelnen im Gemeinsamen dem Herr-
schaftselement als einer zwanghaften Vereinzelung in der Gesellschaft oder der
Auflösung des Subjekts im Kollektiven entgegen.
114 Vgl. Affolderbach (2016) und dort den Abschnitt zu „Alltagsverstand und Urteilskraft als Ge-
genstände einer Pädagogik des Sozialen“ (114-117).
124 3 Öffentlichkeit
Wie Wolfgang Fritz Haug deutlich macht, entwickelte sich die Vorstellung von
Hegemonie bei Gramsci selbst ein Prozess nach und nach in den Gefängnisheften.
Ausgangspunkt sei hierbei die Diskussion Gramscis in seinem Aufsatz „Einige
Gesichtspunkte der Frage des Südens“, wo er „Hegemonie als von der Arbeiter-
klasse anzustrebende“ Perspektive thematisiert (vgl. Haug 2004: 13). In diesem
Kontext sei „die Frage nach der Hegemonie des Proletariats“, genauer als „Frage
[nach] der sozialen Basis“ gestellt (vgl. ebd.). Hiermit verbinde sich eine Vorstel-
lung von „Hegemonie in Gestalt von Klassenbündnissen“, verknüpft mit der
Frage, wie eine „Mobilisierung der werktätigen Bevölkerung gegen den Kapita-
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie 125
lismus und den bürgerlichen Staat gelingen“ könne, um „zur führenden und herr-
schenden Klasse zu werden“ (ebd.).
Anknüpfend an diese Fragestellung ist „die Differenzierung von ,[F]ühren‘
und ,[H]errschen‘“ von zentraler Bedeutung für Gramsci (vgl. Barfuss/Jehle 2014:
25). Diese Unterscheidung wird zum „Hauptweg“ der weiteren Untersuchungen
Gramscis zur Hegemonie (vgl. Haug 2004: 13). Insbesondere interessiert sich
Gramsci für die Verhältnisbestimmung „von Führen und Herrschen“ (vgl. ebd.)
und formuliert, „dass eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich
›führend‹ und ›herrschend‹“ (Gramsci in Barfuss/Jehle 2014: 25). Und weiter:
„Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber
den gegnerischen Klassen. Deswegen kann eine Klasse bereits bevor sie an die
Macht kommt ›führend‹ sein (und muss es sein): wenn sie an der Macht ist, wird
sie herrschend, bleibt aber auch weiterhin ›führend‹“ (ebd.: 25 f.). Letzterer Ge-
danke Gramscis wird von ihm weitergedacht: „,Es kann und es muss eine politi-
sche Hegemonie auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur
auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die poli-
tische Führung oder Hegemonie auszuüben‘“ (ebd.). Wie Thomas Barfuss und Pe-
ter Jehle zeigen, deutet Gramsci mit „politischer Hegemonie“ den Zusammenhang
„der Französischen Revolution [...], wo die Jakobiner nicht nur ,aus dem Bürger-
tum die ›herrschende‹ Klasse machten, sondern (in gewissem Sinne) noch mehr
leisteten, aus dem Bürgertum die führende, hegemoniale Klasse machten, das
heißt, dem Staat eine dauernde Basis verliehen‘“ (vgl. ebd.).
Wolfgang Fritz Haug weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang
Gramsci den Intellektuellenbegriff erweiterte (vgl. Haug 2004: 14 f.). Mit Intel-
lektuellen meint Gramsci nicht „die gemeinhin unter dieser Bezeichnung begrif-
fenen [besonderen gesellschaftlichen] Schichten“, sondern „die ganze soziale
Masse, die organisierende Funktionen in weitem Sinne, sowohl auf dem Gebiet
der Produktion als auch auf dem Gebiet der Kultur und auf politisch-administrati-
vem Gebiet ausübt“ (Gramsci in Haug 2004: 14).
Im Prozess des Ringens um Hegemoniefähigkeit „einer ›geschichtlich pro-
duktiven‹ gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse“ bringen diese jeweils ihre eige-
nen Intellektuellen hervor. Die Intellektuellen würden so zu Akteuren und Vertre-
tern der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen und zu Organisatoren ihrer jewei-
ligen Interessenlagen (vgl. ebd.: 15). Bleiben in diesem Bild die jeweiligen Grup-
pen auf sich selbst beschränkt, setzte „Hegemoniefähigkeit [...] die Überwindung
des korporativen Stadiums einer ›geschichtlich produktiven‹ gesellschaftlichen
Gruppe oder Klasse voraus“ (ebd.). In diesem Zusammenhang würden die Intel-
lektuellen zu Akteuren einer „Universalisierung“ der Interessen ihrer jeweiligen
Gruppen und verlangen den von ihnen vertretenen Gruppen und Klassen „,Opfer‘
ab[...], um andere Klassen, Schichten und Gruppen ›mitnehmen‹ zu können,
126 3 Öffentlichkeit
indem sie ihnen Entfaltungsmöglichkeiten biete[n]“ (vgl. ebd.). Haug macht deut-
lich, dass sich damit Hegemonie nach Gramsci „nicht bloßer Überredung ver-
dankt, und auch ,kulturelle Hegemonie‘ ist nicht bloß kulturell, sondern muss ir-
gendeine faktisch-gegebene oder zumindest objektiv-mögliche Grundlage in der
Produktionssphäre haben“ (ebd.).
Wie Barfuss und Jehle hervorheben, kennzeichne „eine Kombination von
Zwang und Konsens“ die „normale Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch
gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes“ (Gramsci in Barfuss/Jehle
2014: 26). Hierbei würden „Zwang und Konsens“ ausbalanciert; „sie halten sich
die Waage, ohne dass der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt“ (ebd.). Entspre-
chend nehme hier „Hegemonie [...] die Bedeutung von ,Regierung mit dem Kon-
sens der Regierten‘“ an (vgl. ebd.). Gramsci benutzt den Hegemoniebegriff auf
verschiedene Weise als ein analytisches Instrument und dies immer in einer „Dop-
pelperspektive“, die „Zwang und Konsens [...] in verschiedenen Mischverhältnis-
sen analysiert; gelegentlich markiert Hegemonie auch direkt den Gegenpol zu
Zwang. Dieser Spielraum im Hegemoniebegriff erlaubt es Gramsci, ganz ver-
schiedenen Aspekten nachzuspüren“ (Barfuss/Jehle 2014: 27). In diesem Sinne
stellt sich Hegemonie als Frage auf allen Ebenen der Gesellschaft und forscht dort
nach den Verhältnisbestimmungen von Führen und Herrschen, von „Zwang und
Konsens, Abhängigkeit und Autonomie, passiver Subalternität und individueller
wie kollektiver Handlungsfähigkeit“ (ebd.: 29). Gleichzeitig steht die Frage nach
den Bedingungen und Widersprüchen einer Befreiungsperspektive der Subalter-
nen aus ihrer „Position relativer Schwäche“ (Haug 2004: 1).115 Beide Aspekte sind
in der Hegemoniefrage aufeinander bezogen. Diese Vorstellung von Hegemonie
unterstreicht eine prozesshafte Entwicklung, der „stets gesellschaftliche Antago-
nismen“ zugrunde liegen (vgl. ebd.: 20). Entsprechend ist Hegemonie „ein unab-
schließbares Umkämpftes“ (ebd.). Erscheinen in diesem Zusammenhang Hege-
monieverhältnisse als relative „Übermacht“, so „gibt es stets Formen der Gegen-
macht und Gegenöffentlichkeit, kurz der ,nichthegemonialen Hegemonie‘“ (ebd.).
115 Formen dieser Verhältnisbestimmung und mit ihnen verbundene Widersprüche wurden bereits
weiter vorn im Kapitel Volkssouveränität mit dem Stichwort der Passivierung oder im Kapitel
Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt mit der Kritik am Verständnis von
Zivilgesellschaft als einer positiv-empirischen Sphäre umrissen.
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie 127
Im Anschluss an Haug ist herausgestellt worden, dass sich mit der kulturellen Un-
terscheidung ein, in das Alltägliche eingebettet, widersprüchlicher Prozess kultu-
reller und ideologischer Praxen der Menschen verbindet, bei dem sie sich in ge-
sellschaftliche Verhältnisse einordnen und darin Handlungsfähigkeit erlangen.
Hierbei ist das Ringen um Öffentlichkeit abhängig von den Deutungen und Wahr-
nehmungen der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Einzelnen. Diese formen
sich im Alltäglichen als Alltagsverstand, sind Ausdruck einer widersprüchlichen
Weltauffassung und Knotenpunkt der Verbindungen zu den anderen. Der Alltags-
verstand „ist der Boden, auf dem wir uns alle immer schon bewegen“ (Barfuss/
Jehle 2014: 36).
Mit dem Begriff des Alltagsverstandes, „senso comune“ beziehe ich mich auf
die Überlegungen von Antonio Gramsci und seine Analysen in den Gefängnishef-
ten. Der Alltagsverstand bei Antonio Gramsci ist ein aus verschiedenen, wider-
sprüchlichen Elementen zusammengesetzter, unstrukturierter Zusammenhang.
Entsprechend formuliert er, dass sich im Alltagsverstand „Elemente des Höhlen-
menschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft,
Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Institu-
tionen einer künftigen Philosophie“ fänden (GH 6: 1376). Bei Gramsci hat der
Alltagsverstand eine doppelte Bedeutung. Zum einen verweist er auf „die inhalt-
liche Zusammensetzung des Denkens“ (Hirschfeld 2013: 92). Die Bedeutung des
Alltagsverstandes als Vorstellung einer „Gedankenwelt“ erweitert Gramsci um
den Begriff der „Weltauffassung“ (ebd.). Die „Weltauffassung einer Gedanken-
welt“ wird zur „Weltauffassung der Tätigkeitswelt“ (ebd.). In den Blick kommt
die soziale Praxis. In diesem Zusammenhang ist „der Alltagsverstand [...] nicht
mehr nur Bewusstsein, sondern [eine] in Praxis ausgedrückte Auffassung der
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie 129
Welt“ (Hirschfeld 2015: 100). Entsprechend ist der Alltagsverstand „nichts Er-
starrtes [...], sondern verändert sich fortwährend“ im Alltäglichen (vgl. GH 1: 136
f.). Der übergreifende Begriff der Weltauffassung verweist so auf „die soziale
Funktion der Vergesellschaftung der Individuen“ (ebd.). Die Weltauffassung er-
möglicht ein integrierendes Moment. Mit der „eigenen Weltauffassung gehört
man immer zu einer bestimmten Gruppierung [...] die ein- und dieselbe Denk- und
Handlungsweise teilen“ (GH 6: 1376). Weltauffassung in diesem Sinne wird „als
verbindendes, die soziale Existenz der Menschen bedingendes Element gedacht“;
die „soziale Zugehörigkeit“ (Hirschfeld 2015c: 103) und die „soziale Leistung der
Weltauffassung“ (Hirschfeld 2013: 92) werden betont. Dieser Punkt ist von zent-
raler Bedeutung. Auch wenn der Alltagsverstand in sich widersprüchlich und un-
zusammenhängend ist, „dient [er] der alltäglichen Bewältigung, dem Umgang mit
den Aufgaben und Herausforderungen“ (ebd.: 93) des alltäglichen Lebens. Zwei
Punkte sind hierbei hervorzuheben: Erstens ist der fragmentarische, widersprüch-
liche Charakter des Alltagsverstandes „der kritischen Selbstreflexion“ entzogen
und so Ausdruck „einer passiven Vergesellschaftung [...], keine selbstbestimmte,
eigenaktive, sondern eine passive“ (ebd.). Ist die gesellschaftliche Realität für die
Individuen in ihren alltäglichen Vollzügen „widersprüchlich und unzusammen-
hängend [...], leistet der bizarre Alltagsverstand eine für das Individuum wichtige
Orientierung und einen sozialen Zusammenhalt“ (ebd.), „der über einen, wie ima-
ginär auch immer gemeinsamen Begründungszusammenhang verfügt“ (Affolder-
bach/Hirschfeld 2015: 204). Zweitens dienen „nicht nur die einzelnen Versatzstü-
cke des Alltagsverstandes [...] der Lebensbewältigung, sondern es ist gerade ihre
Trennung, die ein Denken in Abteilungen erlaubt“ (und damit auch widersprüch-
liche Handlungsweisen erlaubt; Hirschfeld 2013: 93). Das spezifische Moment
des Alltagsverstandes wäre hier die Organisation der relativen Unabhängigkeit der
einzelnen „Abteilungen“, sodass sie sich nicht gegenseitig behindern. Eine Bear-
beitung und Befragung der skizzierten Dimensionen sei heikel, da hierbei „die
Gewohnheiten des Alltags“ infrage gestellt werden und „vermeintliche Sicherhei-
ten entschwinden“ (Hirschfeld 2013: 94). Hirschfeld betont deshalb, dass „Hand-
lungsfähigkeit in den ideologischen Verhältnissen der Gegenwart [...] von den In-
dividuen nicht aufgegeben werden“ können, „solange es keine praktischen Alter-
nativen gibt“ (ebd.). Die Richtschnur für eine politische Bildung ist deshalb, sozi-
ale Verbindungen hervorzubringen, „deren Qualität mindestens jener der alten Be-
ziehungen entspricht“ und welche darüber hinaus gleichzeitig Möglichkeiten er-
zeugen, die „eine kritische ,Inventur‘ des Denkens (Gramsci) befördern“ (Affol-
derbach/Hirschfeld 2015: 205).
Genau an diesem Punkt ist der normative Optimismus von Negt zur Heraus-
bildung einer (reflexiven) Urteilskraft kritisch zu machen und mit der Idee des
Alltagsverstandes zu vermitteln. Mit Negt ist „Urteilskraft [...] ein gesellschaftlich
130 3 Öffentlichkeit
bringen (vgl. Bloch [1961] 1985: 191). Mit dieser Skizze von Gramscis „Kohä-
renzarbeit“ lässt sich mit Blick auf das Verhältnis von Alltagsverstand, reflexiver
Urteilskraft und erweiterter Handlungsfähigkeit folgende Schlussfolgerung for-
mulieren: Es wird deutlich, dass sich „Kohärenzarbeit“ im Sinne Gramscis als ein
Prozess entfaltet, dessen Bedingtheiten und Widersprüchlichkeiten immer je his-
torisch am konkreten Beispiel zu bestimmen sind.
Kohärenzarbeit ist damit eine Arbeit, im Plural der Weltauffassungen das Ge-
meinsame herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang entwickelt sich gesell-
schaftliche Urteilskraft im Prozess des Kollektiven der „Kohärenzarbeit“ selbst.
Insofern gibt es auch nicht die Urteilskraft, sondern sie erschließt sich nur als Plu-
ral eines Bewusstseins erweiterter Handlungsfähigkeit. Urteilskraft ist demnach
keine abschließbare Größe, sondern immer vorläufig und in diesem Sinne eine
sich immer wieder erneuernde Kraft als Bestandteil von erweiterter Handlungsfä-
higkeit. Entsprechend ist eine Bildung erweiterter Handlungsfähigkeit darauf ge-
richtet, alle „Vergesellschaftungsprozesse auf ihre jeweiligen Anteile an Herr-
schaft und Solidarität“ zu befragen (vgl. Hirschfeld 2001: 24 f.). Und: „Produktiv
wird sie, wenn sie Experimentierräume schafft, so dass die Menschen selbst her-
ausfinden können, was ihnen lebenswert ist, ohne in die Vertikale der Herrschaft
eingebunden zu werden“ (ebd.: 25).
4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale
„räumlich Praxis“116
Wie deutlich geworden ist, beginnen sich die Kräfteverhältnisse des Alltagsver-
standes dann im Alltäglichen zu verschieben, wenn die Bildungsprozesse der Ko-
härenzarbeit die Möglichkeiten erzeugen, soziale Verbindungen hervorzubringen,
„deren Qualität mindestens jener der alten Beziehungen entspricht“ und welche
gleichzeitig Momente erzeugen, die „eine kritische ,Inventur‘ des Denkens
(Gramsci) befördern“ (vgl. Affolderbach/Hirschfeld 2015: 205). Beide Dimensi-
onen sind im Kontext einer emanzipatorischen Gegenöffentlichkeit als Teile eines
Wirkungszusammenhanges gegenhegemonialer Praxen zu sehen, die in spezifi-
scher Weise selbst erst die Experimentier- und Erfahrungsräume für eine notwen-
dige Kohärenzarbeit hervorbringen.
Aus dem Blickwinkel der Selbstorganisation sozialer Bewegungen sind hier
die Konflikte im „Zusammenstoß der offiziellen Gesellschaft“ von besonderer Be-
deutung (vgl. Haug 2004: 1231). Den Reibungspunkt bilden Formen institutionali-
sierter Politik und ihre entsprechenden Hierarchisierungen. Sie stehen im Konflikt
mit den Entwürfen der „Gegengesellschaft“ und ihren Vorstellungen alternativer
Vergesellschaftung, die darauf gerichtet sind, die „über ihnen“ liegenden Kompe-
tenzen umzukehren und in Formen der Selbstvergesellschaftung zu transformieren
bzw. ein alternatives Modell von „unten“ dem „oben“ entgegenzustellen (ebd.).
Jan Rehmann hat eine solche Konstellation am Beispiel von „Occupy Wall
Street“ (OWS) untersucht. Er hebt die Bedeutung gegenhegemonialer Praktiken
als wichtigen Aspekt der Selbstorganisation sozialer Bewegungen hervor. In die-
sem Zusammenhang stellt er fest, dass (aktuell) im Diskurs um die Organisation
von Gegenöffentlichkeit der Bewegung „Occupy Wall Street“ und ihrer Nieder-
lage die Frage nach der Konstitution des öffentlichen Raumes durch OWS vor
allem an der Präsenz „alliierter Körper“ (Butler 2016) festgemacht werde (vgl.
Rehmann 2012: 899). Mit Blick auf die Selbstorganisation der Bewegung müsse
aber „zwischen dem sichtbaren Schauplatz, den unterschiedlichen Praxen im
116 Mit dem Stichwort der „räumlichen Praxen“ bezieht sich Jan Rehmann auf Henri Lefebvre und
seine Überlegungen in: „The Production of Space“ (Lefebvre [1974] 1991). Jan Rehmann hat
diese Metapher in seinem Text „Occupy Wall Street und die Hegemoniefrage – eine gramscia-
nische Analyse“ aufgegriffen, auf den ich mich an dieser Stelle beziehe (Rehmann 2012).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_5
134 4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale „räumlich Praxis“
Die von Butler aufgemachte Perspektive der „,alliierten‘ Körper der Besetzer
[...], die den öffentlichen Raum konstituieren“, wird von Jan Rehmann als einseitig
kritisiert (vgl. Rehmann 2012: 899). Die Analyse von Butler zu OWS sei ver-
gleichbar zu Sichtweisen von Slavoj Žižek, Antonio Negri oder auch David Har-
vey. Žižek beispielsweise sehe in der Bewegung von OWS „den ,heiligen Geist‘
der frühchristlichen Gemeinden, im Sinne einer ,egalitären Gemeinschaft von
Gläubigen, die durch gegenseitige Liebe miteinander verbunden sind‘“ auferste-
hen (vgl. ebd.). Negri wiederum erkenne in OWS eine „konstituierende Macht“,
die „einen Exodus aus dem demokratischen Konsens und einen Bruch mit der re-
präsentativen Demokratie im Allgemeinen darstell[e]“ (ebd.). Harvey unterstrei-
che, „dass die kollektive Macht der Körper im öffentlichen Raum [im Unterschied
zu den neuen sozialen Medien] immer noch das wirksamste Mittel der Opposition
darstell[e]“ (vgl. Rehmann 2012: 899).
Enthielten diese „Interpretationen [...] Richtiges“, sei „aber die einseitige
Konzentration auf das Sicht- und Erlebbare im Raum“ gerichtet, was „leicht zur
Illusion der Unmittelbarkeit führe“ (ebd.: 900).117 Dies bedeutet beispielsweise,
dass die eigentlichen Praxen der Leute in den Hintergrund treten, die überhaupt
erst die Möglichkeit und Stabilisierung einer „Allianz“ der Körper im öffentlichen
Raum hervorbringen. In diesem Zusammenhang schlägt Rehmann vor, den Be-
griff der „räumlichen Praxis“ von Henri Lefebvre nutzbar zu machen, um das Han-
deln sozialer Bewegungen „hegemonietheoretisch aufzuschlüsseln“ (ebd.: 900).
Raum fasst Lefebvre als eine „Dreiheit“ aus „räumlicher Praxis“, den „Raum-
präsentationen“ und den „Repräsentationsräumen“ (2006: 333).118 Unter räumli-
cher Praxis versteht er diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse und „sozialen For-
mationen“, die einen „relativen Zusammenhalt“ sichern, das Alltägliche produzie-
117 Im Kontrast hierzu leide der „Erscheinungsraum“ unter „Idealisierung“ und führe zu einer Ver-
kürzung im Anspruch der Ausweitung von Demokratie (vgl. Rehmann 2012: 906). Demokratie
bleibe in der „Beschwörung von direkter Demokratie und Konsensprinzip in Vollversammlun-
gen“ stecken und verkenne die Notwendigkeit der Überschreitung dieser Grenze und eine Aus-
weitung der Demokratie „in Konzepte einer Wirtschaftsdemokratie“ (ebd.). Die Perspektive für
konkrete Anknüpfungspunkte an wirtschaftsdemokratische Strukturen und Initiativen in der Ge-
genwart komme der Sichtweise des „Erscheinungsraumes“ gar nicht in den Sinn und ignoriere
damit ein wesentliches Element von OWS, die „99%-Parole“, die „den grundliegenden Gegen-
satz zwischen Demokratie und Kapitalismus“ hervorhebe und damit „implizit bereits eine Be-
wegung für Wirtschaftsdemokratie“ enthalte, „ohne jedoch den Begriff explizit und systematisch
auszuarbeiten“ (ebd.). Mit der „Idealisierung des Erscheinungsraums“ als „alliierte Körper“
werde die für OWS tragende Rolle von z. B. Ideen und Praktiken, in der „Gründung von Genos-
senschaften“ oder „in sozialdemokratischen Koop- und Mitbestimmungsmodellen [...] ihren um-
fassenden und deutlichen Ausdruck fanden; und in den Traditionen der kommunistischen Räte-
bewegung“ Vorbilder hatten, nicht nur nicht wahrgenommen, sondern schlicht als notwendig
tragende und weiter zu entwickelnde Kräfte einer Handlungsperspektive auf der „Höhe des ge-
genwärtigen Hightech-Kapitalismus“ ignoriert und verkannt (vgl. ebd.).
118 Vgl. auch Lefebvre ([1974] 1991: 33 und 38 f.).
136 4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale „räumlich Praxis“
ren und reproduzieren (vgl. ebd.: 333). Es sind diejenigen räumlichen Praktiken,
die „die Alltagswirklichkeit (den Zeitplan) und die städtische Wirklichkeit (die
Wegstrecken und die Verkehrsnetze, welche Arbeitsplätze, Orte des Privatlebens
und der Freizeit [...]) miteinander verbinden“ (ebd.: 335). Mit Raumpräsentatio-
nen skizziert er den „konzipierten Raum [...] der Raumplaner, [...] der Technokra-
ten, die ihn zerschneiden und wieder zusammensetzen. [...] Dies ist der in einer
Gemeinschaft dominierende Raum“ (ebd.: 336). Es handelt sich hierbei um den
organisierten, administrativ bestimmten Raum, verknüpft mit spezialisierten
„Kenntnissen, Zeichen, Codes und frontalen Beziehungen“, mit denen Ordnung
durchgesetzt wird (vgl. ebd.: 333). Mit dem dritten Punkt, den Repräsentations-
räumen skizziert Lefebvre ein Feld, „vermittelt durch Bilder und Symbole, [...]
ein[en] Raum der Bewohner, der Benutzer. [...] Es ist der beherrschte, also erlit-
tene Raum, den die Einbildungskraft zu verändern und sich anzueignen sucht“
(ebd.: 336). Lefebvre verweist somit auf Momente, die einen Spannungsbogen von
Phantasien, Wünschen, dem Utopischen hin zum Möglichen, zu konkreten Praxen
und Aneignungsformen schlagen.
Vor diesem Hintergrund und orientiert an den konkreten Praxen analysiert
Rehmann den besetzten Zucotti Park „als raum-zeitliches Dispositiv eines alter-
nativen Hegemonialapparates, in dem verschiedene gegenhegemoniale Praxen
und Funktionen zusammengeführt“ worden seien: „politische Debatten und demo-
kratische Entscheidungsprozesse; Medienarbeit, sowohl bezogen auf die eigenen
als auch auf die Mainstream-Medien; Bildungsarbeit sowohl mit bekannten Intel-
lektuellen als auch in kleineren Arbeitsgruppen; eine Bibliothek“, kurz: „der im-
mer wieder gefährdete Versuch, Solidarität und Kooperation als Lebensweise zu
praktizieren“ (ebd.).119 Soziale Bewegungen bräuchten deshalb „stabile Stütz-
punkte“ als „Erfahrungs- und Experimentierräume“, „die es ermöglichen, die Kri-
tik am Kapitalismus und Alternativen immer wieder vorzutragen“, um „die buon
senso-Elemente des Alltagsverstandes vom Gewicht der herrschenden Ideolo-
gien“ zu entlasten sowie „stabile Institutionen und Diskurspositionen“, kurz: Zu-
sammenhänge, herstellen zu können (vgl. ebd.: 906). Subalterne Öffentlichkeit
entsteht in gegenhegemonialen Praxen. In den Mittelpunkt rücken dabei diejeni-
gen Dinge, welche die unterschiedlichen Initiativen praktisch tun und als Organi-
sationsformen hervorbringen Diese Sichtweise schließt performative Praktiken
119 Eine vergleichbare Perspektive vertreten Jan Rehmann und Willie Baptist in ihrem Buch „Peda-
gogy of the poor: building the movement to end poverty“. Das Buch versteht sich als Werkzeug
zur Analyse von Gesellschaft, um sich in gesellschaftlichen Widersprüchen bewegen und Hand-
lungsfähigkeiten entwickeln zu können. Insbesondere mit Gramscis hegemonietheoretischer
Perspektive lasse sich erkennen, welche Strategien der Einbindung „von oben“ zur Passivität
führen. Außerdem sei festzuhalten, „whether specific reforms help transform the existing power
structures, contribute to an alternative network of social forces from below, and open up per-
spectives that go beyond the existing system“ (Rehmann in Baptist/Rehmann 2011: 114).
4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale „räumlich Praxis“ 137
(wie sie Butler beschreibt) ein und vermeidet gleichzeitig, die Handlungsformen
subalterner Gegenöffentlichkeit normativ bestimmen zu wollen. Was die Praxen
subalterner Gegenöffentlichkeit sind, lässt sich demnach dann nur an konkreten
Beispielen diskutieren.
5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-
Organisieren
Kritischer Reibungspunkt ist die Feststellung von Alex Demirovic (1997), dass
der Begriff Öffentlichkeit entgegen den Annahmen aktueller Demokratietheorien
über ein erheblich geringeres emanzipatorisches Potenzial verfüge, als diese be-
haupten würden. Die in dieser Überlegung enthaltene Kritik verweist auf Öffent-
lichkeit als ein Instrument von Herrschaft zur Erzeugung von Hegemonie. Wie
weiter oben diskutiert wurde, besteht die Grenze dieser Kritik darin, diejenigen
Momente im Ringen um Öffentlichkeit nicht herausarbeiten zu können, die Nancy
Fraser als „subalterne Öffentlichkeiten“ (2001a) beschrieben hat. Deren Bedeu-
tung besteht nach Oskar Negt (2010), Wolfgang Fritz Haug (2004) und Christoph
Spehr (2001) darin, durch die Organisation von Gegenöffentlichkeiten gleichzei-
tig Situationen einer Erweiterung von gesellschaftlichen Experimentier- und Er-
fahrungsräumen hervorzubringen. Hierbei steht die Frage, inwieweit das Span-
nungsfeld Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit ein Ermöglichungsraum für
Formen emanzipatorischer Selbstorganisation von Menschen darstellen kann, im
Zentrum geht es im Folgenden darum, Formen der Entfaltung sowie Blockierung
subjektiver und kollektiver Handlungsfähigkeit zu untersuchen.
5.1.1 Meine Arbeit mit den Interviews zur Gewinnung einer Perspektive „von
unten“
Zunächst möchte ich mich kurz erinnern, was meine ursprüngliche Idee für meine
empirische Arbeitsweise in dieser Arbeit war. Dies möchte ich deshalb tun, weil
darin (m)eine Suchbewegung zum Ausdruck kommt, wie sich eine Erhebung einer
Perspektive „von unten“ entwickeln, aber auch gleichzeitig im Prozess der Ausei-
nandersetzung mit der Thematik verändern kann.
Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen im Hinblick auf eine geeignete
methodische Herangehensweise bildete eine praktische Erfahrung. Auf diese Er-
fahrung gehe ich zu einem späteren Zeitpunkt noch etwas genauer ein, wenn ich
über die einzelnen Interviews und hier insbesondere über das Gespräch mit Martin
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_6
140 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
berichte.120 Nur so viel: Meine Erfahrung mit Interviews war bis dahin gewesen,
dass ich selbst ein paarmal von Wissenschaftler*innen interviewt worden war. Sie
hatten sich entweder als Evaluator*innen für die Zusammenhänge meiner Arbeit
interessiert oder mich als Sozialwissenschaftler*innen zu spezifischen Problemen
und Themenstellungen befragt, die sie im Kontext meiner Arbeitstätigkeit interes-
sierten, wie etwa meine Erfahrungen im Umgang mit Rassismus in der Jugendar-
beit. Mein Eindruck war gewesen, dass diese Interviews immer dem gleichen
Muster folgten. Professionelle Leute, die als Wissenschaftler*innen arbeiteten,
hatten sich Gedanken gemacht. Entsprechend folgte ein Interview einem Leitfaden
und einem Gedankengang der Interviewenden, der mir als Interviewten verschlos-
sen blieb. Gleichzeitig wurden die Gespräche immer aufgezeichnet. Mir wurde
erklärt, was mit den Daten passieren würde, mit welchen Mitteln, Theorien oder
Methoden sie ausgewertet würden. Ich verstand davon nichts. Was ich erzählte
würde das Material von anderen, Mittel für deren Erkenntnisgewinn. Eine Rück-
kopplung zu mir oder ein weiterer Austausch zu den im Interview angesprochenen
Themen war nicht vorgesehen.
Vor diesem Hintergrund wollte ich es etwas anders versuchen. Meine Vor-
stellung war, die Interviewten in den Prozess des Interviews und in die Diskussion
des Interviewtextes einzubeziehen. Meinen ersten Versuch mit dieser Überlegung
machte ich mit Martin im Zusammenhang mit meiner Masterarbeit.121 Später habe
ich Martin im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit noch einmal interviewt.
Ich wollte die Erfahrung mit „Gewaltverhältnissen“ und Prozessen „gewaltsamer
Ausschließungen“ am konkreten Beispiel untersuchen. Hierfür führte ich mit Mar-
tin ein Gespräch, schrieb es ab und gab ihm die Abschrift mit der Bitte, den Text
zu lesen und aufkommende Fragen und Probleme zu notieren, damit wir diese in
einem zweiten Gespräch würden diskutieren können. Gleiches machte ich mit dem
Text des Interviews. Einige Zeit später trafen wir uns noch einmal, um die gefun-
denen Fragen und Probleme zu besprechen. Auf die inhaltlichen Punkte kann ich
hier nicht eingehen. Mit Blick auf die methodische Herangehensweise sind aber
einige Punkte anzumerken.
Das Interview mit Martin für meine Masterarbeit machte ich, entgegen der
Lehrmeinung meines damaligen Soziologieprofessors, ohne einen Interviewleit-
faden. Ich hatte hierfür zwei Gründe. Zum einen wollte ich auf diesem Wege ver-
suchen, ein Gespräch mit Martin zu entwickeln, welches in der Tendenz einem
dialogischen Austausch nahekäme. Zum anderen wollten wir eine Situation the-
120 Der Name Martin ist ein Pseudonym. Auch alle Namen meiner Interviewpartner*innen und die
von ihnen in unseren Gesprächen benutzten Namen sind von mir durch Pseudonyme zum Zwe-
cke der Anonymisierung ersetzt worden.
121 Auch an hier verzichte ich wieder auf konkrete zeitliche Angaben, um weitestgehende
Anonymität meiner Gesprächspartner*innen zu wahren.
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 141
matisieren, die wir beide in unterschiedlichen Rollen (er: Mitglied einer antiras-
sistischen Initiative, ich: Mitarbeiter Mobiles Beratungsteam) gemeinsam erlebt
hatten.
Ganz so einfach war es nicht. Ein Gespräch im angedeuteten Kontext als eine
Art des Dialogs zu entwickeln, ist nicht einfach und passiert keineswegs automa-
tisch. Aus meiner Erfahrung mit Martin kann ich sagen, dass dies nichts mit damit
zu tun hatte, einen Leitfaden zu haben oder nicht. Es war eher eine naive Vorstel-
lung einer Gleichheit, die ich im Zugang zum Gegenstand und zu damit verbun-
denen Fragen unterstellte. Auch ich war auf einmal zum Forscher geworden. Hie-
raus ergab sich eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Martin und mir. Ich
war derjenige, der ein Untersuchungsinteresse hatte, und zwar ein doppeltes. Zum
einen wollte ich natürlich eine Masterarbeit schreiben, brauchte dafür Material.
Zum anderen unterstellte ich ein gleiches Lerninteresse am von uns diskutierten
Gegenstand von Martin und mir. Nur die Fragen von Martin und mir gingen aus-
einander. Er interessierte sich für völlig andere Dinge, als ich unterstellte (und
unterstellen wollte).
In diesem Zusammenhang wurde mir deutlich, dass ich in einem wider-
sprüchlichen Verhältnis agierte. Ich selbst war in einer starken Position als For-
scher und Martin als Beforschter war Objekt meines Interesses. Zuspitzend ist dies
ein hierarchisches Verhältnis oder das Verhältnis einer Trennung von Subjekt und
Objekt und im schlechtesten Fall eine Trennung des Subjekts Martin von seiner
Interpretation der Thematik bzw. die Unterordnung seiner Überlegungen unter
meine. Weiter zuspitzend: In dieser Perspektive werden dann auch die Beforsch-
ten als passiv und die Forschenden als aktiv betrachtet. Ich erinnere mich daran,
dass ich dies so spürte und nicht in eine theoretische Sprache übersetzen konnte.
Das von mir hier angedeutete Dilemma habe ich erst später in Auseinandersetzung
mit der Aktionsforschung und hier insbesondere mit den Überlegungen von Heinz
Moser deuten können.
Auch in einem Prozess von Forschung, so wie ich ihn mir vorstellte – eine
„strenge Scheidung in Theoretiker und Praktiker [...] zugunsten“ einer kooperati-
ven Beziehung zu lockern – ist es so, dass „der Wissenschaftler im Erkenntnisakt
sich ein Gegenüber zum Objekt machen muss, wenn es überhaupt so etwas wie
Erkenntnis geben soll“ (vgl. Moser 1975: 137 f.). Verstehe ich dies als eine struk-
turelle Bedingtheit, die sich im von mir skizzierten Widerspruch ausdrückt, kann
aber im Forschungsprozess selbst durch „mein Handeln“ daran gearbeitet werden,
den anderen „nicht nur als Gegenstand“ zu betrachten, „sondern als mir entgegen-
gesetztes Subjekt, das selbst von Interpretationen der Situation, in der wir beide
sind, ausgeht und ebenso wie ich daraufhin sein Handeln abstimmt“ (ebd.). Und
Heinz Moser weiter: „Ich kann mich ihm gegenüber nicht als ihn vollständig kon-
trollierend verhalten, sondern muss auf seine Handlungsintentionen eingehen.
142 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Und Ziel des Handelns ist es, geradezu eine gemeinsame Interpretation dieser Si-
tuation zu finden, in der Verhandlung der subjektiven Handlungsintensionen zu
einem gemeinsamen Konsens zu gelangen“ (ebd.). Heinz Moser geht es zum einen
darum, die Beteiligten, z. B. in meinem Fall Martin und mich, als jeweils eigen-
ständig handelnde Subjekte wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Zum anderen
geht es darum, in der Orientierung auf das Subjekt oder, wie er sagt, in einem
„Subjektivierungspostulat“, das Instrumentelle forscherischen Handelns nicht zu
verleugnen und verschwinden zu lassen (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund for-
muliert Heinz Moser, dass nicht „jede einzelne Phase eines Forschungsprojektes
im Sinne kommunikativen Handelns zu gestalten“ sei, sondern vielmehr „der For-
schungsprozess insgesamt von diesem Charakteristikum“ geprägt sein solle (vgl.
ebd.). Entsprechend ginge es dann darum, in den Forschungsprozess Elemente
einzubauen, bei denen die gesammelten Daten, wie in meinem Falle z. B. das In-
terview mit Martin, „von allen Beteiligten [von Martin und mir] verhandelt wer-
den“ (ebd.).
Im Unterschied zu meinem Anliegen im Interview mit Martin und meiner
hier vorliegenden Arbeit beziehen sich die Überlegungen von Heinz Moser vor
allem auf eine Forschung, die selbst darauf zielt, gemeinsam mit Beforschten zu-
sammen zu handeln sowie das gemeinsame Handeln und gleichzeitig die (gesell-
schaftliche) Praxis forschend zu verändern. Den Anspruch, den Heinz Moser für
die Aktionsforschung formuliert, konnte ich nicht einfach auf mein Vorhaben
übertragen.122 Dies ging auch schon allein deswegen nicht, da mein Projekt, mit
einer antirassistischen Initiative ins Gespräch zu kommen, keine Untersuchung
war, die sich in einem laufenden, gemeinsam gestalteten Prozess verortete. Die
Initiative gab es zum Zeitpunkt meiner Untersuchung nicht mehr. Dennoch habe
ich aus den Überlegungen von Heinz Moser und aus meinen Erfahrungen im In-
terview mit Martin einige Punkte für mein Forschungsvorhaben mitgenommen,
welche, so meine ich, für die Herausarbeitung einer Perspektive „von unten“ von
Bedeutung sind.
122 Ich kann hier nicht näher auf die Aktionsforschung eingehen. Wie deutlich werden sollte, war
die Auseinandersetzung mit der Aktionsforschung für mich ein Zugang zur Reflexion meiner
Erfahrung und die Möglichkeit, die Erfahrung einer Widersprüchlichkeit zur Sprache bringen zu
können. Ich beziehe mich auch deshalb auf Heinz Moser, weil er, wie auch Chantal Munsch
deutlich macht, als Vertreter der Aktionsforschung eine Ausnahme bildet und aus „der Kritik an
der traditionellen, empirischen Forschung“ ein empirisch fundiertes Konzept entwickelt hat (vgl.
hierzu Munsch 2005: 924 und zum Konzept Moser: 1975, 1977a/b). Die Aktionsforschung
muss(te) sich Kritik gefallen lassen. Einmal wurde ihr vorgeworfen, das Verhältnis von Wissen-
schaftler*innen und Beforschten „zu wenig hinterfragt als gleichberechtigt postuliert“ zu haben
und ein andermal waren ihre Annahmen zu „gesellschaftspolitischen Veränderungsmöglichkei-
ten [...] zu idealistisch“ (ebd.). Chantal Munsch betont, dass sich bei Berücksichtigung der Kri-
tikpunkte dennoch ein sinnvoller Forschungsrahmen mit der Aktionsforschung, z. B. für „Pra-
xisforschungsprojekte“, gewinnen lasse (ebd.).
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 143
Mit den Überlegungen von Heinz Moser und meiner Erfahrung aus dem In-
terview mit Martin geht es im Kern darum, die Beforschten als Subjekte ihrer Er-
fahrungen ernst zu nehmen und sie in den Forschungsprozess einzubeziehen. Zu
berücksichtigen ist der oben skizzierte Widerspruch des Instrumentellen im Han-
deln des Forschers. Um die Akteure in den Forschungsprozess einzubinden, bedarf
es zum einen einer offenen Interviewmethode, die dialogische Elemente ein-
schließt. Aus meinem ersten Interview mit Martin habe ich die Erfahrung mitge-
nommen, dass es auch wichtig ist, eine offene Interviewmethode zu nutzen, wenn
es darum geht, von den Interviewten ihre Deutungen ihrer Handlungsweisen in
bestimmten Situationen zu erfahren. Für meine hier vorliegende Arbeit habe ich
mich deshalb für die Form narrativer Interviews entschieden. Letztere sind vor
allem von Fritz Schütze als Methode im Zusammenhang mit biografischer For-
schung in den Mittelpunkt gestellt worden (vgl. hierzu etwa Thomas Brüsemeister
2000). In meiner Untersuchung geht es mir nicht um eine Arbeit an Biografien.
Dennoch sehe ich im narrativen Interview eine Herangehensweise, um die Offen-
heit zu erzeugen, durch sie Momente entstehen, in denen die Interviewten am Bei-
spiel konkreter Situationen ihre Handlungsweisen und Bewältigungsformen erläu-
tern können. Es geht in diesem Zusammenhang um das Verstehen der konkreten
Vergesellschaftungsweisen und ihrer Widersprüche und darum, die damit ver-
knüpften Erfahrungen der Interviewten zur Sprache zu bringen. Die Wichtigkeit
dieses Punkts unterstreicht Helga Cremer-Schäfer: „Handlungsweisen lassen sich
nur verstehen, wenn die Bedeutungen, durch die Akteure die Gegebenheit einer
Situation definieren, in Erfahrung gebracht und ihre Strategien der Situationsbe-
wältigung darauf bezogen werden“ (Cremer-Schäfer 2010: 242). In das Blickfeld
rücken somit Situationen des Alltäglichen und die dortigen Bewältigungsformen
der befragten Akteure. In diesem Zusammenhang bestimmt sich dann, was als
Selbstorganisation einer antirassistischen Initiative verstanden werden kann, was
deren Vorstellungen einer Gegenöffentlichkeit ausmacht und wie sich diese Pro-
zesse im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstbestimmung entfalten oder bre-
chen, aus den Erfahrungen und in den Begriffen der Interviewten. Hierbei entsteht
die Möglichkeit, den von mir skizzierten Widerspruch des Instrumentellen und die
starke Position des Forschers im Verhältnis zu den Beforschten durch den Eintritt
von deren Perspektive in die Deutung und durch die Bestimmung, was Selbstor-
ganisation, Demokratie oder Gegenöffentlichkeit aus ihrer Sicht und ihren Worten
bedeutet, zu lockern.
Oben habe ich die Bedeutung einer offenen Interviewmethode für diese For-
schungsarbeit hervorgehoben. Gleichzeitig braucht es im Forschungsverlauf aber
auch Elemente einer Rückkopplung für die Beforschten. Mit Blick auf meine Er-
fahrung des Interviews mit Martin ist mir dieser Punkt wichtig geworden. Martin
und ich haben damals das abgeschriebene Interview gelesen. Wir trafen uns dann
144 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
noch einmal, um darüber zu diskutieren. Ich erinnere mich daran, dass wir mit
dem Interview einen gemeinsamen Gegenstand hatten. Am verschriftlichten Text
konnten wir unsere eigenen, aber auch die Gedankengänge des jeweils anderen
noch einmal nachvollziehen (Martin: seine Erzählpassagen, ich: meine Fragen und
Bemerkungen zu Martins Überlegungen) und die mit ihnen aufkommenden Fra-
gen, mit ihnen verbundenen unterschiedlichen Erfahrungen, Sichtweisen und
Möglichkeiten diskutieren sowie den Text des Interviews weiter interpretieren.
Auf diese Herangehensweise habe ich auch in der empirischen Arbeit für meine
hier vorliegende Forschungsarbeit zurückgegriffen. Jede und jeder Interviewte hat
von mir ihr oder sein verschriftlichtes Interview bekommen. Ich verband dies mit
der Bitte, zum einen zu überlegen, ob sie mit dem Gesagten so einverstanden sein
können, und mir zum anderen ein Zeichen zu geben, ob ich das Interview so für
meine Arbeit würde verwenden können. Des Weiteren bat ich sie, das Interview
zu lesen und Notizen, Fragen, Probleme oder Themen zu notieren, die ihnen beim
Lesen wichtig wurden. Diese Themen, Fragen und Probleme bildeten dann die
Grundlage oder besser die Ausgangspunkte für unser Gruppengespräch. Diese
Herangehensweise erwies sich als sehr produktiv, da sich die Interviewten tatsäch-
lich intensiv mit ihren Interviews beschäftigten und vor diesem Hintergrund je-
weils konkrete Problemstellungen und Themen für das Gruppengespräch mit-
brachten. Das Interessante war, dass wir uns recht schnell auf zwei Themen-
schwerpunkte einigen konnten, die alle auf ihren Notizzetteln als wichtige Erfah-
rungszusammenhänge ihrer Initiative hatten. Im Grunde markierten die von ihnen
aufgerufenen Themen, vergleichbar zu den „generativen Themen“ bei Paulo
Freire, Knotenpunkte ihrer Erfahrungen als Gruppe, die dann im Gruppengespräch
als spezifische Erfahrungen mit Grenzsituationen aus den jeweiligen Perspektiven
der Interviewten erkundet wurden. Ich als Forscher entwickelte mich in diesem
Prozess zum „Beobachter“ mit vereinzelten Nachfragen und Kommentaren, die
allerdings eher sperrige Einwürfe waren und die Dynamik der Diskussion der
Leute unnötig bremsten. Als ich das Gruppengespräch las, fiel mir dies besonders
auf, da die Interviewten unbeirrt von meinen Einwürfen ihre Themen weiterver-
folgten. Am Ende des Gesprächs machten die Interviewten den Vorschlag, das
Gruppengespräch zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu machen. Ein sol-
ches Gespräch haben wir dann letztlich nicht organisiert bekommen. Aber die In-
terviewten hatten weitere Themen gefunden, die sie interessierten und, vor allem,
zu denen sie meine Sichtweisen hören wollten. Auch dieses Gespräch habe ich
abgeschrieben und den Interviewten zum Lesen gegeben. Auch hier hatte ich die
Bitte, zu überlegen, ob sie mir die Mitschrift für meine Arbeit freigeben könnten.
Etwas vorsichtig möchte ich formulieren, dass mit den skizzierten Sequenzen
Elemente, oder kleine Bausteine zu erkennen sind, mithilfe derer die Beforschten
in den Forschungsprozess einzubeziehen sind. Ist hierbei der Maßstab das
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 145
Dialogische (in Orientierung an Paulo Freire und Martin Buber), geht es dabei
nicht einfach nur um eine Form der Beteiligung, die sich am Grad einer techni-
schen Realisierung der geschilderten Elemente messen ließe. Hierbei wäre der
Einbezug der Beforschten ein instrumenteller. Vielmehr geht es in dieser Perspek-
tive um die Einrichtung von Elementen zur Begrenzung fremdbestimmender Mo-
mente durch den Forscher zugunsten einer Erweiterung selbstbestimmter Sequen-
zen für die Interviewten.
Ein Interview ist ein „Untersuchungsinstrument“. Ein Interview wird zum „ge-
wonnenen Datenmaterial“. Die Interpretation eines Interviews wird zu einer Ver-
fahrensweise, zu einem technischen „Auswertungsverfahren“ zur Bearbeitung des
„Materials“, welches mithilfe einer „Kodifizierung“ wie im Falle der Grounded
Theory strukturell umgearbeitet wird. Schon die Sprache ist zumindest irritierend.
Gilt diese Form der Sprache auf der einen Seite als Ausdruck einer (professionel-
len) methodischen Arbeitsweise im Umgang mit Interviews und deren Interpreta-
tion, legen sich die benutzten technischen Begriffe auf der anderen Seite schwer
und bleiern auf die Erzählungen der Interviewten. Die Arbeit des Forschers gleicht
dann dem Tun eines Mechanikers, der in Orientierung an einer „Bedienungs-
matrix“ (Stehr 2016: 50) das Material bearbeitet und formt.
Eine Schwierigkeit, die ich sehe, hat Johannes Stehr am Beispiel der Groun-
ded Theory deutlich gemacht. Im Zuge einer „Konjunktur“ qualitativer Forschung
und einer damit verbundenen „Industrialisierung der Datenproduktion“ habe sich
der Zwang erhöht, „Methoden auszuarbeiten und qualitative Forschung lehr- und
lernbar sowie berechenbarer zu machen“ (Stehr 2016: 48). In diesem Zusammen-
hang habe sich die Grounded Theory zu einer „Forschungstechnologie entwickelt“
(ebd.). Johannes Stehr kritisiert an dieser Entwicklung insbesondere, dass die an-
fänglichen Bezüge der Grounded Theory zum symbolischen Interaktionismus, z. B.
zu „Blumers Idee der ,sensibilisierenden Konzepte‘“ abgeschnitten worden seien
(vgl. ebd.: 49). Die „sensibilisierenden Konzepte“ zielten auf eine geleitete „Inter-
aktion mit den Daten“, die in Verbindung mit der „Methode des ständigen Verglei-
chens“ die Interaktion mit den Daten „weiterentwickeln“ und vertiefen sollte (ebd.).
Einhergehend mit diesem „zyklischen Forschungsprozess“ und dessen „aduktive[r]
Logik“ gehe es darum, „auf der Basis der Entwicklung möglicher analytischer
Ideen in der Interaktion mit den Daten zu einem dichteren Konzept“ zu finden
(vgl. ebd.).
Mit Einführung der „Kodifizierung“ und der „Anleitung [...] zum Kodieren
qualitativer Daten“ und der Verfahrensweise „des offenen, axialen und selektiven
Kodierens“, so Stehr, seien die „kreativen Momente für die Durchführung qualitati-
146 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
123 Der von mir zitierte „zyklisch-iterative Charakter“ ist eine verdichtete Umformulierung des Ge-
dankens von Johannes Stehr durch mich. Bei ihm heißt es im Original: Die Kodifizierung führte
„nicht nur weg von den Ideen eines zyklischen, iterativen Charakters des sozialwissenschaftli-
chen Denkens und der Interaktion zwischen Daten und Ideen, sie haben auch die Entwicklung
der Grounded Theory zu einer Lehrbuch-Methodologie befördert“ (Stehr 2016: 50).
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 147
netste, weil authentischste Quelle für das (wissenschaftliche) Verstehen des inte-
ressierenden Erfahrungsbereichs“ (ebd.). Gleichzeitig unterliegen die Geschichten
„narrativen Gestaltungsprinzipien“, die bereits selbst Ausdruck „kondensierter Er-
fahrungen“ sind (vgl. ebd.). Die Geschichten der Interviewten „heben das Wesent-
liche [aus Sicht des Erzählers] hervor und sind damit Interpretationen und Abs-
traktionen – wenn auch in einer im wissenschaftlichen Kontext ‚unüblichen‘
Form“ (ebd.)
Mit Blick auf diesen Hintergrund unterscheiden Peter Ahlheit und Bettina
Dausien zwei Dimensionen im Umgang mit den Geschichten. Zum einen weisen
sie darauf hin, dass die Geschichten aus der Perspektive der Erzählenden „nicht in
eine wissenschaftliche Sprache übersetzt werden müssen [...], wenn es darum geht,
alltägliche Erfahrungszusammenhänge differenziert zu verstehen“ (ebd.). Das Be-
sondere dieser Geschichten liege in der Stärke ihrer „synthetischen Abstraktion
zentraler Erfahrungsdimensionen“, die „in narrativ dargestellten komplexen Situ-
ationen“ weit ausdruckskräftiger sind als „eine analytische Wissenschaftssprache“
(ebd.). Allerdings habe dies seine Gültigkeit „nur in den Grenzen der subjektiven
Binnenperspektive“ (ebd.). Im Unterschied hierzu bestehe die Notwendigkeit ei-
ner „analytische[n] Abstraktion[…] aus einer (wissenschaftlichen) Außenperspek-
tive“, insbesondere im „Vergleich unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen“ in-
nerhalb eines Interviews oder im Vergleich mit thematisch verwandten Episoden
aus anderen Interviews (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang geht es dann darum,
das Verhältnis „verschiedener Dimensionen untereinander und besonders [in] Be-
zugnahme auf Kategorien sozialwissenschaftlicher Theorien“ zu bestimmen
(ebd.). An dieser Stelle „‚sprechen‘ die Geschichten nicht mehr ‚für sich selber‘;
sie sind interpretationsbedürftig“ (ebd.).
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen unterstreichen Peter Ahlheit und
Bettina Dausin die Besonderheit der Funktion von „Dokumentation und Interpre-
tation“ im „hermeneutischen Prozess“ (ebd.: 123). Im Grunde geht es darum, eine
Verdopplung „des Rohmaterials“ zu vermeiden, indem ausgewählte Textab-
schnitte nacherzählt und anschließend im Hinblick auf „Sinnstrukturen und Mus-
ter“ untersucht werden (vgl. ebd.: 122). Problematisch hierbei ist, dass die ausge-
arbeiteten „Sinnstrukturen und Muster“ gleichzeitig als „Ergebnisse der Interpre-
tation“ verstanden werden (vgl. ebd.). Dies ignoriert, dass zwischen „Interview-
text“ und der wissenschaftlichen Sprache „interpretativer Rekonstruktion […]
keine vollständige Korrespondenz besteht“ (ebd.). In der Verfahrensweise der do-
kumentierenden Interpretation geht es dann darum die Texte nicht im Detail nach-
zuerzählen, sondern vielmehr darum, sie mit „Blick auf bestimmte Aufmerksam-
keitsrichtungen“ zu untersuchen (vgl. ebd.). Entsprechend dient eine „Dokumen-
tation der Interviewpassagen [...] nicht nur der konkreten Veranschaulichung und
Kontrolle der Interpretationen“, sondern „sorgt auch dafür, daß die Komplexität
148 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
und Differenziertheit der erzählten [Situationen und Erfahrungen] auf der Stufe
der thematischen Einzelfallanalysen noch weitgehend repräsentiert sind“ (ebd.).
In dieser Herangehensweise wird eine „Verdichtung“ und Theoretisierung des
Ausgangsmaterials „relativ weit nach hinten verschoben“, mithin an das Ende des
Prozesses verlagert (vgl. ebd.).
Der Forschungsprozess der dokumentierenden Interpretation gliedert sich in
zwei Phasen. In einer ersten Phase werden, orientiert am Prinzip des permanenten
Vergleichens (Strauss/Corbin 1996), die narrativen Sequenzen ausgewählt, wel-
che einen Bezug zum Erkenntnisinteresse haben. In Orientierung an den Begriffen
und an der Sprache der Interviewten werden die Sequenzen differenziert, thema-
tisch markiert und kodiert. Für meine Untersuchung bedeutete dies, dass ich in
einem ersten Lesezyklus diejenigen Situationen markierte, in denen die Interview-
ten ihre Perspektiven und Handlungsweisen der Selbstorganisation erläutern. In
einem zweiten Lesezyklus ging es darum, die Zusammenhänge der Selbstorgani-
sation an den konkreten Beispielen weiter zu differenzieren und in entsprechender
Weise in den Begriffen der Interviewten abzubilden. Konkret bedeutete dies bei-
spielsweise, zwischen den Erfahrungen der Selbstorganisation als Gruppe der
„Gartenlaube“ und denen als Verein zu unterscheiden. Gerade an diesem Punkt
zeigte sich, dass diese Unterscheidung in spezifischen Begriffen und an konkreten
Situationen durch die Interviewten deutlich gemacht wurden. Hieraus ergab sich
wiederum die Notwendigkeit eines dritten Lesezyklus. Hier ging es um die Per-
spektive der Bildung von Zusammenhängen. Von Bedeutung war in diesem Zu-
sammenhang die Frage nach den Verknüpfungen zwischen der Organisation als
Gruppe und der Herausbildung einer gemeinsamen Urteilskraft.
In einem vierten Lesezyklus untersuchte ich die Bedeutung der Dimension
Öffentlichkeit. Hier ging es zunächst darum, diejenigen Episoden zu markieren,
die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Frage der Selbstorganisation in den
Darstellungen der Interviewten von Bedeutung waren. Hieran anknüpfend erwei-
terte ich den Radius in einem fünften Lesezyklus. Dieser Schritt war auch notwen-
dig, um zwischen den Erfahrungen der Selbstorganisation als einer spezifischen
Ausdrucksweise von Gegenöffentlichkeit und den konkreten Erfahrungen der In-
terviewten mit Politik zu differenzieren.
In allen Lesezyklen wurden mehrere Reflexionsschleifen vollzogen. In all
diesen Durchgängen ging es um die Frage der Handlungsfähigkeiten und damit
verbundener Handlungsstrategien (zwischen Fremd- und Selbstbestimmung) aus
dem Blickwinkel der Akteure. Etwas allgemeiner gesprochen ging es in meinem
ersten Arbeitsschritt um die „Differenzierung und Kodierung“ der von den Inter-
viewten angesprochenen Aspekte des Spannungsfeldes zwischen Selbstorganisa-
tion, Öffentlichkeit und Demokratie.
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 149
Implizit habe ich die Frage des Arbeitsbündnisses mit meinen obigen Überlegun-
gen zur Aktionsforschung angedeutet. Dort ging es mir darum, das Verhältnis von
Forscher und Beforschten reflexiv aufzubrechen und zu erkennen, dass Forscher
und Beforschte im Forschungsprozess jeweils eigenständig handelnde Subjekte
sind, sowie gleichzeitig das Instrumentelle im forscherischen Handeln nicht zu
verleugnen. Diesen Gedanken unter dem Blickwinkel des Arbeitsbündnisses wei-
terentwickelnd, wäre das Verhältnis von Forscher und Beforschten als eines der
Interaktion zu verstehen. Und der Gedanke ist weiter zu fassen. Wie Christine
Resch deutlich macht, bezieht sich die Idee einer Reflexion des Arbeitsbündnisses
150 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
auf den gesamten Forschungsprozess, „von der Datenerhebung bis zur Veröffent-
lichung“ (Resch 1998: 22). In das Blickfeld rücken so die „hierarchischen Ver-
hältnisse: zu den Befragten, zum Material, das interpretiert wird und zum Publi-
kum, dem die Ergebnisse vorgelegt werden“ (ebd.). Mit dem Begriff der „Arbeits-
bündnisse“ geht es darum, diese Verhältnisse und ihre Widersprüchlichkeiten of-
fenzulegen und reflexiv zugänglich zu machen.
Der Begriff „Arbeitsbündnisse“ ist dem Kontext der Psychoanalyse entlie-
hen. Dort bezeichnet er das Verhältnis von Übertragung und Gegenübertragung
zwischen Therapeuten und Patienten, was auf diese Weise selbst Gegenstand des
Analyseprozesses wird (vgl. Resch 1998: 22 f.). Mit Blick auf die Sozialforschung
geht es dann darum, die Möglichkeit eines Verstehens vielfältiger Verhältnisbe-
stimmungen und ihrer Widersprüche die sich in der Forschungssituation und im
Forschungsprozess ergeben, zu eröffnen. Dies betrifft die „Handlungen, Haltun-
gen und Voraussetzungen aller Beteiligten, die notwendig sind, damit sich For-
schung realisiert“, sowie die „verschiedenen Verpflichtungen der Forscher*innen
(Auftraggeber, Wissenschaft, Beforschten)“ oder auch „kulturelle“ und „idio-
synkratische“ Aspekte (vgl. ebd.), die eine „Interaktion im einzelnen [beeinflus-
sen]“ (ebd.: 40).124
Entsprechend sind die gesamte Forschungssituation und der Forschungspro-
zess von einem „interaktionistischen Charakter“ geprägt (vgl. Herzog 2015: 75).
Eine Analyse der Arbeitsbündnisse in Forschungsprozessen der Sozialforschung
ist dabei nicht als eine „Standardisierung von Abläufen“, also, eine mechanisch-
methodische Arbeitsweise zu verstehen (vgl. ebd.). Es geht vielmehr um die Ent-
wicklung einer spezifischen Perspektive oder Aufmerksamkeitsrichtung, die Öff-
nung der forschenden Sichtweise, welche „Störungen und Irritationen“ sowie
gleichzeitig „Selbstverständlichkeiten und Tabuisierungen“ wahrnimmt und zur
Sprache bringt (vgl. ebd.). Kerstin Herzog verweist auf die Notwendigkeit, eine
hiermit verbundene „implizite Normativität“ der Forscher*innen zu erkennen; zu
erkennen ob sich „Forschung [...] an Auftraggeber*innen, der ,autonomen Wis-
senschaft‘ oder den Befragten orientiert“ (ebd.; oder zu diesem Aspekt Resch
1998: 25 f.). Erst aus dem Blickwinkel dieser Aspekte lässt sich dann die Wider-
sprüchlichkeit der Verhältnisse im Arbeitsbündnis herausarbeiten und verstehen.
Für meine Untersuchung ist z. B. der Aspekt von Bedeutung, den Christine Resch
als Punkt beschreibt, bei dem sich die „Forscher*innen den Befragten verpflichtet
fühlen“ (Resch 1998: 25).
124 In diesem Zusammenhang unterscheidet sich „der Interpret als Wissenschaftler [...] von dem des
Alltags dadurch, dass er diese Situation und damit sich selbst einbezieht und zum Ausgangspunkt
macht, dass er also reflexiv vorgeht. Der Alltagsinterpret hingegen ist in der genannten Haltung
des rechthaberischen Realismus darauf aus, von sich selbst abzusehen und etwas Objektives über
die Welt herauszufinden“ (Steinert 1998b: 54).
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 151
125 Kerstin Herzog bezieht sich in ihren Überlegungen auf Christine Resch. Christine Resch geht in
ihrem Text detaillierter darauf ein, was im Einzelnen als „kulturelle, institutionelle, situative,
interpersonelle und idiosynkratische Aspekte“ verstanden werden könne (vgl. hierzu Resch
1998: 40 f.).
152 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Interview Martin
Im Grunde hat die vorliegende Arbeit ihren Ursprung im weiter vorn erwähnten
Interview, das ich mit Martin für meine Masterarbeit geführt habe. Ich kannte
Martin schon als Mitglied einer kleinen, antirassistischen Initiative der Kleinstadt
(X), die meine damalige Kollegin und ich im Kontext unserer Arbeit als Mobiles
Beratungsteam kennengelernt hatten.
Wie ich weiter vorn deutlich gemacht habe, gab es in der Kleinstadt (X) in
der jüngeren Vergangenheit auf dem örtlichen Stadtfest einen Übergriff auf Men-
schen aus Asien, die im Ort lebten und ein Geschäft betrieben. Die negative Be-
sonderheit des Übergriffs bestand darin, dass sich ca. 80 Menschen auf dem Stadt-
fest zusammentaten, die erkennbar keine Nazis, sondern die „normalen“ Leute aus
der Stadt waren; diese griffen die Menschen, weil sie aus Asien waren, gewalttätig
an und jagten sie durch die Stadt. Die besondere Härte des Übergriffs, die gewalt-
tätige Masse von Menschen, konnte mit Begriffen wie „Rechtsextremismus“ nicht
verstanden werden und sorgte sowohl regional als auch international für ein me-
diales Aufsehen. Ich war damals im Ort und versuchte in Zusammenarbeit mit der
Polizei, den Bürgermeister und den Stadtrat zu einer öffentlichen Auseinanderset-
zung mit den Ereignissen zu bewegen. Diese Situation war sperrig, widersprüch-
lich. Eine blockierende Positionierung des Bürgermeisters und seine Beschwö-
rung eines schließenden „Wirs“ verhinderte hier eine sachlich Debatte.
Im Kontext der skizzierten Situation intensivierten sich meine Kontakte zu
den Leuten der antirassistischen Initiative. Wir überlegten, ob es gemeinsame
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 153
offenes und langes Gespräch. Ich schrieb damals das fast vierstündige Gespräch
ab und gab das Transkript Martin zu lesen. Wir trafen uns ca. vier Wochen später
zu einem weiteren Gespräch. Wir diskutierten gefundene Fragen und Probleme.
Von diesem Gespräch existieren allerdings keine Aufzeichnungen oder Notizen
mehr. Im Kontext meiner Masterarbeit stieß ich dann auf das Problem von Öffent-
lichkeit und mit ihr verbundener Machtstrukturen sowie auf das der unterschied-
lichen Kontextualisierung von Öffentlichkeit und Demokratie. Diese Punkte
konnte ich im Rahmen der Masterarbeit nicht weiter erläutern. Es waren Fundstü-
cke, die mich weiter beschäftigten und an die meine hier vorliegende Arbeit an-
knüpft.
Hierzu gehört eben auch das Interview mit Martin, das ich für meine Master-
arbeit mit ihm geführt habe. Ein zweites Interview führte ich mit Martin ca. vier
Jahre später. Dieses Mal in einer anderen Rolle und Funktion. Ich hatte ein Sti-
pendium bekommen und begonnen, an meiner Doktorarbeit zu schreiben. In die-
sem Zusammenhang hatten sich aus meinen Fundstücken komplexere Fragen ent-
wickelt. Im Mittelpunkt meines Interesses stand nun die Frage der Selbstorgani-
sation von Leuten und ich interessierte mich für ihre Erfahrungen mit den mit der
Selbstorganisation verknüpften Prozessen. Ich stellte mir die Frage, wie Selbstor-
ganisation in Theorien von Öffentlichkeit und Demokratie diskutiert würde und
welche Idee von Bildung benötigt würde, um eine Selbstorganisation von Leuten
„von unten“ in einem emanzipatorischen Sinne unterstützen zu können.
Ich kontaktierte Martin und erläuterte ihm meine Idee, mit ihm und anderen
Leuten der damaligen Initiative bzw. des Vereins Interviews machen zu wollen,
vergleichbar zu dem, wie ich es mit ihm schon einmal gemacht hatte. Alle sollten
die Abschriften ihrer Interviews bekommen und lesen, kommentieren, aufkom-
mende Fragen notieren. Allerdings wollte ich die gefundenen Fragen und Prob-
leme dann in einem Gruppengespräch gemeinsam diskutieren. Martin fand die
Idee prima. Er fand die Idee deshalb gut, weil die Geschichte der Initiative und
des Vereins die einer Auflösung, des Zusammenbruchs war. Die Leute der Initia-
tive hatten den Verein aufgelöst. Die Leute der Initiative waren (fast) alle aus (X)
weggezogen; sie waren im Konflikt auseinandergegangen. Martin erzählte mir,
dass seine Freundschaft mit Stefan im Laufe ihrer Zusammenarbeit im Verein in
die Brüche gegangen war. Martin wollte im Interview darüber sprechen, was sie
damals als Initiative gut gemacht hätten und was dazu geführt habe, dass sich die
Gruppe aufgelöst hatte. Insofern hatte ich den Eindruck, dass es ihm darum ging,
auf diesem Wege eine Form zu finden, auch mit den anderen noch einmal über
ihre Geschichte zu sprechen.
Wir trafen uns zum Gespräch bei Martin zu Hause. Er war mittlerweile aus
(X) weggezogen („der Hassliebe“, wie er sagte) und wohnte zum Zeitpunkt des
Interviews in Leipzig. Er hatte in der Zwischenzeit eine Berufsausbildung im
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 155
Kontext der öffentlichen Verwaltung gemacht und befand sich zum Zeitpunkt un-
seres zweiten Interviews mitten in einem berufsbegleitenden Studium. Bevor wir
mit der Aufzeichnung des Gesprächs begannen, erzählte er mir von den Problemen
und Möglichkeiten, die Verwaltungsvorschriften und Rechtsgrundlagen als Hand-
lungsrahmen öffentlicher Verwaltung mit sich bringen. Hierauf ging er dann auch
im aufgezeichneten Gespräch ein. Ein anderer Punkt, den er mir vor der Aufzeich-
nung des Gesprächs ans Herz legte, war der Konflikt mit Stefan. Er hatte Angst
vor einer offenen Begegnung mit Stefan im Gruppengespräch. Er wollte wissen,
ob Stefan überhaupt bereit sei, zum Gruppengespräch zu kommen, und was ich im
Konfliktfall machen würde. Zum Zeitpunkt des Gesprächs konnte ich ihm nicht
sagen, ob Stefan kommen würde. Dieser hatte sich dazu noch nicht geäußert. Was
ich im Konfliktfall machen würde: Ich hatte mit dieser Frage nicht gerechnet. Ich
sagte ihm, dass ich dies nicht wüsste und ich mir diese Frage noch nicht gestellt
hätte. Dieser Punkt war für mich selbst insofern wichtig, da ich mich zwar intensiv
damit beschäftigt hatte, wie ich die Leute für ein Interview gewinnen könnte und
was ich sie würde fragen wollen. Dabei war ich von meinem Erkenntnisinteresse
für meine zu schreibende Arbeit geleitet worden und vom damit verknüpften Ge-
genstand fasziniert gewesen. Damals dachte ich, dass ich durch mein Nachdenken
an Offenheit für die Leute gewonnen hätte. Wie die Nachfrage von Martin zeigte,
war dem jedoch nicht so. Vielmehr hatte ich nicht vor Augen, dass die von mir
angedachte Situation die mit der Auflösung des Vereins stillgelegten Konflikte
und Probleme durch mein Vorhaben wieder freigelegt werden würden.
Es zeigte sich aber, dass meine Offenheit gegenüber Martin gut war. Ich
fragte ihn, was er sich wünsche und von mir brauche. Er sagte, es wäre ihm wich-
tig, dass Elena beim Gruppengespräch dabei wäre, weil diese immer ausglei-
chende Dinge in Zeiten des Vereins gefunden hatte. Dies konnte ich ihm zusagen,
da Elena ihre Bereitschaft schon deutlich gemacht hatte.
Im Laufe meiner Lesezyklen der Interviews griff ich auch auf das erste Inter-
view mit Martin zurück. Mir war aufgefallen, dass er im zweiten Interview von
einigen Situationen sprach, die mir aus dem ersten Interview bekannt vorkamen.
Tatsächlich zeigte sich im Vergleich, dass einige Beispiel nahezu identisch waren.
Beim Vergleich beider Interviews fiel aber auch auf, dass vieles, worüber wir im
ersten Interview gesprochen hatten, im zweiten Interview nur angedeutet wurde.
Martin konnte vermutlich davon ausgehen, dass ich mich an die Inhalte unseres
ersten Gesprächs erinnerte und spezifischere Momente unseres Gesprächs von ihm
bei mir als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt werden konnten.
In meiner Interpretation für diese Arbeit habe ich mich dann dazu entschlos-
sen, einige Punkte des ersten Interviews aufzugreifen und in meine Überlegungen
einzubeziehen. Dies habe ich auch deshalb getan, weil die von mir aufgenomme-
nen Passagen einen tieferen Blick in die Widersprüche selbstbestimmten Handelns
156 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
ermöglicht haben, wie es etwa am Beispiel Martins deutlich wird, wenn er über
eine Situation spricht, wo das Mitsingen von „Landser-Liedern“ (gemeint ist die
Naziband Landser) für ihn zu einer Dilemmasituation wird, die spezifische Mo-
mente einer Passivierung deutlich machen und gleichzeitig die Bedeutung und
Notwendigkeit eines alternativen Bezugspunktes oder, allgemeiner, einer greifba-
ren gesellschaftlichen Idee unterstreichen, um in solchen Situationen bestehen o-
der sich solchen Situationen entziehen zu können. Solche erkenntnisreichen Mo-
mente waren für mich nur im Zusammenbringen der beiden Interviews möglich.
Im Interesse eines offenen Prozesses der Verwendung des Materials aus den In-
terviews für diese Arbeit, habe ich Martin, allerdings erst viel später, als mir die
Bedeutung des ersten Interviews für eine Interpretation deutlich geworden war,
gefragt, ob ich auch sein erstes Interview für meine Arbeit verwenden könne. Er
war damit einverstanden.
Interview Stefan
Eine Verabredung mit Stefan zum Interview war eine sehr herausfordernde Ange-
legenheit. Den Kontakt zu ihm bekam ich über Elena. Sie hatten sich auch nach
der Auflösung des Vereins nicht aus den Augen verloren. Ich hatte Elena gefragt,
ob sie mir mit einem Kontakt zu Stefan weiterhelfen könne. Sie sagte im Prinzip
ja, aber sie müsse erst fragen, ob Stefan sich einen Kontakt vorstellen könne und
wünsche. Aus diesem Grunde erklärte ich Elena mein Vorhaben und bat sie da-
rum, Stefan ein kleines Exposé, in dem meine Idee beschrieben war, zu geben.
Einige Zeit später gab mir Elena einen E-Mail-Kontakt von Stefan und meinte, ich
könne auf diesem Wege mit ihm in Kontakt treten. Stefan und ich kommunizierten
längere Zeit per E-Mail. Ich erklärte ihm auch auf diesem Wege mein Vorhaben
noch etwas detaillierter. Ich merkte aber, dass er sehr skeptisch war und sich nicht
festlegen wollte. Ich fragte ihn, was er von mir brauche, damit wir zusammen wür-
den ins Gespräch kommen können. Stefan war ziemlich trocken und meinte, dass
wir ja schon sprechen würden. Auch hier war für mich interessant, dass ich voll
auf die „eigentliche“ Umsetzung meiner Idee fixiert war und die Interaktionen im
Vorfeld zwar als Bestandteile meiner Tätigkeit für diese Arbeit betrachtete, aber
erst in dieser Situation begriff, dass mein Handeln auf ein Zustandekommen des
„Interviews“ fokussiert war. Als ich dies bemerkte, sprach ich es einfach an. Ste-
fan sagte mir daraufhin, dass er verstehe, worum es gehe, da er ja auch studiere
und mit diesem „Interviewzeug“ so seine Erfahrungen mache. Er meinte, sein
Problem sei weniger, ein Interview mitzumachen. Nach meiner Idee könne er das
Interview ja auch lesen und gegebenenfalls intervenieren. Vielmehr frage er sich,
ob er überhaupt über die damalige Zeit als Gruppe und seine Aktionen von damals
reden wolle. Einerseits sei die ganze Sache im Konflikt auseinandergegangen, was
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 157
konkret hieß, dass er mit Martin keine Freundschaft mehr habe und der Vertrau-
ensverlust von damals schwer wiege. Zum anderen stellte er die Frage, welchen
Nutzen meine Untersuchung für linke Bewegungsformen haben könne, da sie ja
als Initiative und Verein versagt und letztlich nichts erreicht hätten. Hier kamen
verschiedene Dinge zusammen und bildeten einen Knoten. Ich merkte, dass meine
Idee, ein Interview und anschließend ein Gruppengespräch machen zu wollen,
zwar für meine Planung gut gedacht war, aber für die Leute der Initiative eine
Grenzsituation darstellte, mit der sie sich als Einzelne erst intensiv beschäftigen
mussten, um hier zu einer Position für sich selbst finden zu können. Gleichzeitig
bemerkte ich eine tiefe Traurigkeit bei Stefan. Er sprach von Vertrauensverlust
und vom Verlust von Freundschaft. Dies sind tief greifende Erfahrungen. Darüber
zu sprechen, ist eine Überwindung, die Überwindung einer Grenze, und die Ent-
wicklung einer Aktivität, einer Aktivität, stillgelegte Konflikte wiederaufzuneh-
men, ohne wirklich zu wissen, was am Ende daraus wird, da sie im Zweifel zum
Arbeitsmaterial eines Doktoranden mutieren (und in ihrer Produktivität ihm selbst
entzogen werden oder nicht zur Verfügung stehen). Des Weiteren sprach Stefan
das Problem an, dass die Initiative versagt hätte. Hier fragte ich Stefan, was er
genau meine.
In unserem E-Mail-Kontakt wurde dann deutlich, dass er hier weniger die
Auflösung des Vereins und der Initiative meinte, sondern vielmehr sein Maßstab
seine negativen Erfahrungen mit den skizzierten Übergriffen und einem allgemein
negativen Klima in (X) waren. In diesem Zusammenhang sprach er von einem
bestehenden „Status quo“ (S: 37). Er meinte damit einerseits eine fehlende Öffent-
lichkeit zur Problematisierung der Übergriffe. Zum anderen wurde die fehlende
Öffentlichkeit von ihm als ein stillschweigendes Einverständnis mit den Übergrif-
fen durch eine Mehrheit der im Ort lebenden Menschen gedeutet. Eben dieser
„Status quo“ konnte nicht durch das Engagement der Initiative aufgelöst werden,
sondern hätte sich gegenteilig, so sein Eindruck, vielmehr verfestig.
Über den „Status quo“ sprach er dann auch im Interview (vgl. ebd.). Unsere
Korrespondenz im Vorfeld war wichtig. Sie sorgte für eine Offenheit und auch für
Klarheit. Klarheit in einem doppelten Sinne: Stefan wurde mit der Zeit klarer, was
ich mir so gedacht hatte und auf welchem theoretischen Hintergrund mein Vorha-
ben aufbaute. Gleichzeitig wurde mir selbst auch klarer, wo die Grenzen meiner
Arbeits- und Denkweise lagen, und ich war gezwungen, im Austausch mit Stefan
meine Ideen zu hinterfragen und zu öffnen. Wäre ich an diesem Punkt stur geblie-
ben und hätte steif mein Vorhaben verfolgt, hätte die damit verbundene Dominanz
des Instrumentellen letztlich ein Gespräch mit Stefan (aber auch mit den anderen)
verhindert.
Der Prozess mit Stefan dauerte ca. ein Dreivierteljahr. Er war bereit, sich mit
mir zu einem Interview zu treffen. Er wollte es nicht an einem (sog. neutralen) Ort
158 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
machen. Er stellte sich hier ein nichtssagendes Büro vor oder die Räumlichkeiten
eines Vereins. Er schlug vor, sich bei mir zu Hause zu treffen. Ich war damit ein-
verstanden. Bei mir zu Hause setzten wir uns in die Küche. Vor dem eigentlichen
Interview sprachen wir fast anderthalb Stunden miteinander. Ich erinnere mich
daran, dass es ein sehr schönes und offenes Gespräch war. Stefan erzählte mir,
dass er studiere. Er hatte auch Anschluss an neue Leute gefunden und war jetzt im
Kontext von verschiedenen Antifa-Gruppen organisiert. Auch Stefan war aus (X)
weggezogen und lebte zum Zeitpunkt des Interviews in Leipzig. Im Interview
selbst sprachen wir ca. zweieinhalb Stunden miteinander. Auch in diesem Ge-
spräch zeigte sich, dass ich meinen Interviewleitfaden nicht wirklich benötigte.
Stefan fing einfach von sich aus an, zu erzählen. Unser Interview entwickelte sich
eher als ein Gespräch, das auch dadurch geprägt war, dass er mir Fragen stellte,
auf die ich antwortete. Wir entwickelten das Thema des Gesprächs in diesem
Sinne (punktuell) gemeinsam. Diese Offenheit war auch insofern gut, da ich
merkte, dass Stefan so auch einen größeren Einfluss darauf hatte, den Gesprächs-
fluss und dessen Inhalte mitzusteuern und die Punkte, die heiße Eisen waren, vor-
sichtig zu entwickeln. Das Nachgespräch zum Interview entwickelte sich als eine
ausgedehnte Diskussion über Inhalte und Anliegen der aktuellen Antifa-Bewe-
gung. Für mich war dieses Gespräch sehr wertvoll. Wir saßen auf dem Balkon und
tranken zwei Bierchen. Stefan bat mich darum, dieses Gespräch für meine Arbeit
zu vergessen und die ausgetauschten Ideen in meiner Arbeit nicht zu verwenden.
Daran halte ich mich. Wir verabredeten, dass ich ihm die Abschrift des Interviews
schicken würde, er das Interview lesen und mir dann ein Zeichen geben würde, ob
er sich eine Teilnahme am Gruppengespräch vorstellen könne. Einige Zeit später
schickte mir Stefan eine E-Mail. Er fand das Interview ziemlich in Ordnung, aber
die Sprache komisch. Entsprechend könnte die Sprache im Interview vielleicht
manchmal missverständlich sein. Ich könne das Interview aber für meine Arbeit
so verwenden. Am Gruppengespräch würde er aber nicht mitmachen wollen. Et-
liche Zeit später traf ich Stefan auf einer Demonstration gegen Nazis wieder. Wir
sprachen wieder so offen miteinander wie auf dem Balkon. Interessant war, dass
er meinte, ich solle meine Arbeit mal endlich fertig machen, damit man sie mal
lesen könne. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass die Arbeit nicht ganz so einfach
sei, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Er meinte, ich hätte doch super Material, bei
so einem langen Interview; da könne es doch nicht so schwer sein, etwas draus zu
machen. Mit dem Material hatte er Recht. Und ich nahm seine Anmerkung auch
als einen Hinweis dafür, das Material nicht liegen zu lassen, also nicht zu verges-
sen, dass er (und die anderen) mir ihre Geschichten gegeben hatten, damit ich
(m)eine Arbeit würde schreiben können (und vielleicht Dinge finden würde, die
z. B. für Stefan interessant sein könnten).
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 159
Interview Elena
Elena hatte ich zusammen mit Martin als Mitglied der Gruppe der Gartenlaube
kennengelernt. Ähnlich wie bei Martin vertiefte sich unser Kontakt im Zusam-
menhang mit den Übergriffen auf dem Stadtfest. Hier überlegten wir gemeinsam
mit meiner damaligen Kollegin und anderen Leuten aus der Gruppe der Garten-
laube, wie dieses Ereignis zu deuten sein könnte. Ich erinnere mich noch daran,
dass wir viel über Rassismus diskutierten und das Mobile Beratungsteam gefragt
wurde, ob wir uns vorstellen könnten, zu diesem Thema einmal eine Fortbildung
zu machen. Ich weiß noch, dass meine Kollegin und ich zu diesem Themenfeld
Fortbildungsmodule entwickelten. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern,
ob wir gemeinsam mit den Leuten der Initiative wirklich solche Bildungsveran-
staltungen gemacht haben. Was allerdings in diesem Zusammenhang wichtig ist,
dass Elena mich fragte, ob ich bereit wäre, ihre Diplomarbeit als Zweitgutachter
zu begleiten. Elena beschäftigte sich damals insbesondere mit der antirassistischen
Perspektive von Critical-Whiteness-Theorien. Ich erinnere mich noch sehr gut da-
ran, wie intensiv sie sich mit dieser Thematik auseinandersetzte und wie sie ver-
suchte, in unseren Diskussionen ihre Fragen und Erkenntnisse auf ihre Erfahrun-
gen in (X) anzuwenden. Dies war auch für mich sehr anregend und wertvoll, da
Elena Fragen aufwarf, die ich aus der Perspektive meiner damaligen Praxis kannte
und die so zum Gegenstand meiner eigenen Auseinandersetzung wurden. Um mit
Elena diskutieren zu können, musste ich mich selbst mit dem Thema beschäftigen.
Aus dieser Auseinandersetzung ist dann auch ein Text entstanden, den ich zusam-
men mit meiner Kollegin geschrieben habe. Gegenstand unserer Auseinanderset-
zung war dort die Frage nach Möglichkeiten einer gemeinwesenorientierten Bera-
tungsarbeit durch Mobile Beratungsteams.
Auch in der Zeit, in der sich die Initiative daran machte, einen Verein zu
gründen, oder wir als Mobiles Beratungsteam im Nachgang der Ereignisse auf
dem Stadtfest in (X) aktiv wurden oder dann später, als wir in der konflikthaften
Situation vor dem Vereinshaus als Mobiles Beratungsteam aktiv waren, war Elena
eine wichtige Ansprechpartnerin und Brückenbauern von Kontakten in die Initia-
tive und den Verein. Vielleicht kann man ihre Position dort als Ausdruck einer
spezifischen Haltung oder Sichtweise umreißen. Stefan spricht im Interview von
seinem Selbstverständnis als einem „mit dem Kopf durch die Wand [...] rammeln“
(S: 1366) bzw. „unversöhnlich müssen wir rangehen“ (S: 125). Im Unterschied
hierzu beschreibt etwa Martin seine Position wie folgt: „die Spielräume, die man
hat, [...] wenigstens positiv ausnutzen“ (M/b: 588 f.). Markieren diese beiden Po-
sitionen in ihrer Zuspitzung zwei unterschiedliche oder auch gegensätzliche Pole
eines Spannungsfeldes, wäre Elenas Perspektive, das „Gemeinsame“ in den Mit-
telpunkt zu stellen. Elenas Position wäre dann darum bemüht, die Gegensätze
160 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Interview Sandra
Stefan hatte mich in unserem Gespräch gefragt, ob ich auch mit Sandra sprechen
würde. Ihm war es wichtig, dass ich mit ihr sprechen würde, weil er den Eindruck
hatte, dass sie in gewisser Weise ähnliche Positionen wie er selbst im Kontext des
Vereins vertreten habe. Den Kontakt zu Sandra bekam ich über Elena. In diesem
Zusammenhang erzählte mir Elena, dass Sandra ihre Schwester sei. Dies hatte ich
bis dahin nicht gewusst. Auch war mir Sandra bei meinen Kontakten zum Verein
nicht aufgefallen oder, besser, ich konnte mich nicht an sie erinnern. Auch Sandra
schickte ich eine E-Mail mit einem kleinen Exposé zu meinem Vorhaben. Kurze
Zeit später telefonierten wir miteinander und verabredeten ein Treffen für das In-
terview. Sie bat mich, sie in ihrem Büro zu besuchen, um dort miteinander zu
sprechen. Sandra hatte Geografie studiert und arbeitete zum Zeitpunkt unseres In-
terviews bei einem Verein in einer Stadt im benachbarten Landkreis. Der Verein
war über seine Landkreisgrenzen hinaus für sein soziokulturelles Engagement be-
kannt. Neben der Soziokultur war der Verein auch im Bereich Sozialer Arbeit ak-
tiv. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit war hier die Arbeit mit Flüchtlingen. Seine
überregionale Bekanntheit hatte der Verein seinem Engagement gegen Rassismus
und einer entsprechenden Bildungsarbeit zu verdanken. Der Verein war auch
162 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
deshalb in der Region von Bedeutung, da sich dort viele Leute treffen konnten, die
ähnliche Erfahrungen in Orten gemacht hatten, wie sie Sandra, Elena, Martin, Ste-
fan und Markus in den Interviews beschreiben. Im Unterschied zum „AJU“ (Al-
ternatives Jugendzentrum), von dem z. B. auch Sandra im Interview erzählt, gab
es bei dem Verein, wo Sandra zum Zeitpunkt des Interviews arbeitete, auch punk-
tuelle Unterstützung für ihre Ideen zur Organisation der antirassistischen Initiative
als Verein, für die sie sich engagierte.
Sandra arbeitete in dem Verein nun in einem Projekt politischer Bildungsar-
beit, welches sich mit Rassismus beschäftigte. Den Verein, in dem Sandra arbei-
tete, kannte ich ganz gut. Von ihrem Tätigkeitsfeld im Verein hatte ich allerdings
keine Ahnung. Als wir uns in den Räumlichkeiten des Vereins trafen, waren für
mich zwei Dinge interessant: Zum einen fragte mich Sandra, ob es in Ordnung sei,
wenn ihr Freund beim Interview anwesend sei. Sandra und er teilten sich ein Büro
und er hätte im Augenblick keinen anderen Raum, in den er gehen könne. Er würde
auch ganz ruhig bleiben und nichts sagen. Ich war etwas unsicher, wie ich damit
umgehen sollte. Ich sagte, es sei in Ordnung, wenn er dabei sei. Er könne sich auch
am Interview beteiligen, sodass wir ein Gespräch zu dritt machen würden. Ihren
Freund Lukas kannte ich auch, einerseits vom Verein in (X); andererseits wusste
ich, dass er Sozialarbeit studiert hatte und versuchte, über die Hochschule eine
Arbeitsgruppe kritischer Sozialarbeit zu gründen. Lukas meinte, er wolle nicht am
Interview teilnehmen, sondern lieber im Hintergrund an seinem Schreibtisch sit-
zen und sich still um ein paar Dinge kümmern. Hieraus entstand dann eine etwas
eigenartige Interviewsituation. Sandra setzte sich in ihren Arbeitssessel an ihren
Schreibtisch und drehte sich zu mir. Ich saß in einem Sessel an einem kleinen
Tisch, der zwischen uns beiden stand und auf dem ich mein Aufnahmegerät plat-
zierte. Rechts hinter mir, leicht schräg in meinem Rücken, saß Lukas an seinem
Schreibtisch.
Zum anderen machte Sandra zusammen mit Lukas für mich eine Hausfüh-
rung. Mir war am Anfang nicht ganz klar, warum, da sie wussten, dass ich den
Verein, die dort aktiven Leute und das Haus kannte. Sie zeigten mir die Büros,
den Veranstaltungsraum, dann die Küche. Dort sei gerade gekocht worden; ge-
meinsames Team-Essen gab es dann im Nachbarraum. Sie erklärten mir, dass dies
jetzt eine neue Einrichtung im Haus sei, weil jetzt auch mal vegan gekocht würde.
Dieser Punkt war wichtig. Er war Sandras Einstieg in unser Thema und dann spä-
ter auch ein Punkt in unserem Interview. Sandra erklärte mir, dass es ziemlich
schwierig gewesen sei, die Leute des Vereins davon zu überzeugen, dass man sich
auch einmal mit der Frage von Tierrechten, deren Vernutzung von Menschen und
damit auch einmal mit dem eigenen Konsum und der eigenen Ernährung beschäf-
tigen müsse. Dies sei ihr Anspruch als Mensch, der sich im Kontext eines antika-
pitalistischen, antirassistischen Projektes engagiere. Die Diskussionen mit den
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 163
ckeln zu können. Was Sandra mit dem Stichwort des Kapitalismus aufruft, ist dann
das folgende Dilemma: der Zwang, sich in den Grenzen des Kapitalismus bewe-
gen zu müssen und keinen Weg darüber hinaus entdecken zu können. Oder: Diese
Umstände fordern geradezu dazu auf, das Utopische als praktisch lebbare Mo-
mente (oder Elemente) in das Alltägliche wieder hineinzuholen, als Teile des ei-
genen Lebens, als Erfahrungen dort zugänglich zu machen. Nur wie? Und: Welche
Konflikte sind damit verbunden?
Leider habe ich diese Gedanken nicht in der konkreten Situation mit Sandra
entwickeln können. Sie bleiben mir als Nachsätze, die ich als Notizen zu meinem
Gespräch mit ihr angefertigt habe. In der konkreten Situation mit ihr war ich auf
die Konstellation mit Lukas konzentriert. Während des Interviews hörte ich, wie
er bei verschiedensten Punkten von Sandra oder mir tief Luft holte, als wolle er
etwas sagen. Ich konnte ihn leider nicht richtig sehen, nur hören. Ich fragte ihn, ob
er auch etwas sagen wolle. Er verneinte und meinte, dass Sandra dies schon tue.
In dieser Konstellation habe ich mich etwas unwohl gefühlt, war auch etwas un-
konzentriert. Beim Lesen des Interviews war dies allerdings nicht so zu merken.
Ich war überrascht, wie klar und präzise Sandra ihre Gedanken formuliert hatte.
Im Interview erklärte mir Sandra auch, welche Perspektive sie nach Auflösung der
Lagerfeuer-Gruppe und des Vereins für sich gefunden hatte. Auch sie war aus (X)
weggezogen und im Begriff, mit Lukas in die westlichen Bundesländer zu gehen.
Zum Zeitpunkt unseres Interviews engagierte sich Sandra in der linken autonomen
Tierrechtsbewegung. Sie meinte, dort hätte sie ihr zuhause gefunden. Ich interpre-
tierte dies damals so, dass sie dort eine konkrete Idee, eine sinnstiftende Perspek-
tive von Befreiung entdeckt hatte, die sich in konkreten Handlungsmöglichkeiten
materialisierte und so die Erfahrung eines eingreifenden Handelns, der Verände-
rung ermöglichte.126
Interview Markus
Den Kontakt zu Markus bekam ich über Martin. Beide wurden in der Zeit des
Vereins Freunde und sind es auch über dessen Auflösung hinaus geblieben. Als
ich Markus im Verein kennenlernte, machte er gerade eine Berufsausbildung. Zum
Zeitpunkt unseres Interviews arbeitete er auch in seinem Ausbildungsberuf. Auch
Markus war aus (X) weggezogen und lebte in Dresden. Markus lud mich für das
Interview nach Dresden ein und wir trafen uns bei ihm zu Hause. Einige Dinge
sind mir im Zusammenhang mit dem Interview mit Markus wichtig, zu erzählen.
Markus sprach vor der Aufzeichnung unseres Gesprächs über die Notwendigkeit
126 Von sich selbst oder der Gesellschaft oder wie diese zusammenhängen, spielte in unserem
Gespräch keine Rolle.
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 165
solch kleiner Initiativen wie dieser, die sie als Gruppe vom Lagerfeuer und als
Verein ins Leben gerufen hatten. Ich fragte ihn damals, warum dies so sehe. Er
sprach dann auch im Interview immer wieder darüber. Im Unterschied zu den Ak-
zenten im Interview betonte er im Vorgespräch die Besonderheit seiner persönli-
chen Erfahrung. Diese bestehe darin, dass durch die Gruppe in (X) und dann später
mit dem Verein für ihn eine alternative Möglichkeit entstanden sei, gemeinsam
mit anderen Leuten etwas Sinnvolles zu machen. Mit sinnvoll unterstrich Markus
den Punkt, dass der Verein die Situation im Ort so verändert habe, dass sich Leute
wie er nicht mehr ins Private, in ihr zuhause, zurückziehen mussten, wenn sie
nichts mit Nazis zu tun haben, oder sich deren Einflüssen entziehen wollten. An-
dere Treffpunkte waren nicht mehr zugänglich. Der Jugendclub wurde geschlos-
sen. Auf dem Markt hatte Markus (auch die anderen) immer wieder Probleme mit
Nazis. Die Zugänglichkeit eines alternativen Treffpunktes war für Markus auch
insofern wichtig, als er damals kein Auto oder Moped hatte, um sich woanders mit
Leuten treffen zu können. Zu seiner Ausbildung fuhr er zwar mit dem Bus in die
benachbarte Kreisstadt; er lebte aber nicht dort und wollte seine Kontakte in (X)
weiter pflegen. Außerdem erzählte mir Markus, dass für ihn der Verein sehr wich-
tig gewesen sei, um seine Weltsicht zu erweitern und zu verändern.
Interessant ist, dass ähnlich wie Markus z. B. auch Stefan (auch Martin und
Sandra gehen ganz kurz darauf ein) über die Effekte des Vereins sprach und fest-
stellte, dass verschiedene Leute, die dann zum Verein dazugekommen seien, sich
mit den Themen, die dort diskutiert wurden, beschäftigten und dann als „Neben-
effekt“ auch ihre Sichtweisen verändert hätten. Markus machte mir damit zwei
Dinge deutlich: zum einen, wie wichtig alternative Zusammenhänge inmitten ei-
nes „Status quo“ (S: 37) sind, um allein als Kontrast und gleichzeitig erweitert als
Zugang für Leute wie Markus Möglichkeiten aufzuzeigen, dass so wie es ist, es
nicht alles gewesen sein kann und es eben auch nicht so bleiben muss. Zum ande-
ren wurde mir klar, dass die alternativen Zusammenhänge auch erweiterte Erfah-
rungsräume herausbilden können, die wiederum selbst die Möglichkeit einer Bil-
dung entwickeln können, die sich als eine Praxis quer zu Formen einer hierarchi-
schen Vermittlung von Wissen herausbildet. Für meine Arbeit ist daher wichtig,
anzumerken, dass sich diese Formen oder die Art und Weise dieser Bildungsmo-
mente als selbstbestimmte Zusammenhänge entwickeln, aber von den Interview-
ten nicht als Momente von Bildung eingeordnet werden (und auch von mir selbst
erst im Nachhinein, im Nachdenken über z. B. mein Gespräch mit Markus als sol-
che erkannt werden). Meine Hypothese: Dominant ist die (gesellschaftliche) Er-
fahrung des Lernens in institutionellen Zusammenhängen (wie etwa Schule). Die
Art und Weise des dortigen Lernens wird als Bildung begriffen. Damit kann dann
der in den Interviews skizzierte „Nebeneffekt“ nicht unter diesem Begriff subsu-
miert werden, da die Erfahrung aus den Interviews etwas anderes, Gegenteiliges
166 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
verkörpert. Auf theoretischer Ebene wird diese Erfahrung erst mit einem weiten
Bildungsbegriff fassbar (hierzu vielleicht Heydorn 2004 und Sünker 1989). Auf
empirischer Ebene wird ein weiter Bildungsbegriff als Erfahrungen der Interview-
ten und ihre Bemühungen, in einem doppelten Sinne Zusammenhänge herauszu-
bilden, deutlich. Zusammenhänge bilden Verknüpfungen und Beziehungen quer
zwischen den Einzelnen heraus, bilden so Freundschaften, eine Gruppe und ein
Kollektiv. Diese Bewegung ist unmittelbar darauf angewiesen, über die alltägli-
chen Gegebenheiten nachzudenken, (kritisch) Fragen zu stellen, die individuellen
Perspektiven im Austausch mit den anderen zu prüfen und zu erweitern, was ich
als die Herausbildung einer Urteilskraft und Handlungsfähigkeit bezeichnen
möchte. Dieser Punkt könnte (oder muss an anderer Stelle) als ein eigenständiges
Arbeitsprogramm entwickelt und spezifischer untersucht werden. Auch wenn
Markus im Interview auf diesen Punkt nicht näher eingeht, unterstreicht er mit
seiner Einlassung im Interview – „wir waren schon notwendig“ – auch diesen von
mir skizzierten Aspekt.
Im Gespräch machte Markus auch deutlich, dass die umrissene Erfahrung für
ihn selbst weiterwirke oder, besser, für ihn weiter eine Bedeutung habe. Er erzählte
mir, dass er nach Auflösung des Vereins und seiner beruflichen Tätigkeit in Dres-
den nach neuen Zusammenhängen gesucht habe. Er habe weiter aktiv etwas tun
wollen, um die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht einfach so hinzunehmen.
Er machte mir dabei folgenden Zusammenhang deutlich: Zum einen habe seine
Erfahrung mit dem Verein Folgen für sein Verhalten im Kontext seiner Arbeit
(auch Martin berichtet Vergleichbares). Er fühle sich sicherer im Umgang mit po-
litischen Themen und habe hierzu eine festere Position. Hiermit verbundene Kon-
flikte könne er am Arbeitsplatz ansprechen und Vorschläge zu deren Befriedung
machen. Dieser Punkt war für Markus besonders wichtig, da in seinem beruflichen
Umfeld viel Sexismus und rechte politische Einstellungen die Arbeitsbeziehungen
kreuzten. Zum anderen habe er auch über die Zusammenhänge seiner Arbeit eine
Sensibilität für Ernährung entwickelt. Er erzählte mir, dass ihm dieses Thema des-
wegen wichtig sei, weil es hier einen Zusammenhang zwischen kapitalistischer
Wirtschaft, Ökologie und einer Vernutzung von Landschaft durch Landwirtschaft
gebe, was wiederum Auswirkungen auf die Herstellung z. B. unserer Lebensmittel
habe. Als er diesen Punkt für sich erkannt habe sei er Mitglied bei Greenpeace
geworden. Seitdem sei er in einer Lokalgruppe von Greenpeace aktiv. Das Thema
Ernährung habe für ihn aber auch noch aus einem anderen Grund an Bedeutung
gewonnen. Markus erzählte mir, dass er in Kürze mit seiner Freundin ein Kind
bekomme und auch deshalb bei ihm die Entschlossenheit, etwas zu tun gewachsen
sei.
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 167
Das Gruppengespräch
Wie ich schon angedeutet habe, war meine Idee, einige Zeit nach den Einzelinter-
views noch ein Gruppengespräch zu machen. Meine Idee war, dass alle, mit denen
ich ein Interview gemacht hatte, auch am Gruppengespräch teilnehmen würden.
Dies war nicht ganz so einfach und ein längerer Prozess der Auseinandersetzung
für Martin, Stefan, Elena, Markus und Sandra und auch für mich selbst. Wie ich
schon deutlich gemacht habe, hat Stefan letztlich seine Teilnahme am Gespräch
abgesagt. Auch Martin hat lange überlegt. Letztlich, so sagte mir Martin, habe
Markus gute Argumente gefunden, ihn davon zu überzeugen, am Gespräch teilzu-
nehmen. Elena war schon von Beginn an einem Gruppengespräch bereit gewesen
und hatte, wie ich skizziert habe, mit diesem Gespräch verschiedene Hoffnungen
verbunden. Sandra wollte am Gespräch teilnehmen, sagte dann aber ihre Teil-
nahme kurzfristig ab. Der verabredete Termin erwies sich als sehr ungünstig, da
sie in dieser Zeit ihren Umzug nach Bamberg zu realisieren hatte. Einen alternati-
ven Termin konnten wir leider nicht finden.
Letztlich führte ich dann mit Martin, Elena und Markus ein Gruppenge-
spräch. Wir trafen uns bei mir zu Hause in der Küche. Sie waren schon lebhaft am
Diskutieren. Sie erzählten, dass sie schon die ganze Fahrt über ihre Erfahrungen
von damals mit dem Verein gesprochen hatten. Alle hatten ihre eigenen Interviews
gelesen und durchgearbeitet. Sie hatten sich sehr gewissenhaft Notizen und Fragen
aufgeschrieben, über die wir diskutieren könnten, die aber auf jeden Fall für die
Einzelnen sehr wichtig waren. Wir einigten uns in unserer Vordiskussion auf zwei
Punkte, die alle als Fragen oder Problembeschreibungen in ihren Interviews ge-
funden hatten.
Zum einen hatten sich alle gefragt, wie es beim Stadtfest in (X) zur Situation
der Übergriffe hatte kommen können und, vor allem, was Leute dazu motivierte,
sich zusammenzutun und andere Menschen durch die Stadt zu jagen, zu verprü-
geln und auszugrenzen. Damit verbunden waren die Fragen: Was hätten wir in
dieser Situation getan? Was haben wir damals gemacht? Interessant war, dass im
Gruppengespräch deutlich wurde, dass alle beim Stadtfest nicht dabei waren, aber
unmittelbar danach aktiv wurden. Sie hatten gute Gründe gehabt nicht auf das
Stadtfest zu gehen. Sie hatten immer wieder selbst die Erfahrung gemacht, dass
sie dort von Leuten angegriffen und angepöbelt wurden, ihnen niemand zu Hilfe
kam, sodass sie diese Veranstaltung mieden und nicht mehr hingingen.
Zum anderen stellten sie im Gruppengespräch den Verlust des Vereins in den
Mittelpunkt. Hierbei zeigte sich ein Spannungsfeld. Auf der einen Seite war eine
tiefe Traurigkeit über den Verlust des Zusammenhangs erkennbar. Hiermit ver-
bunden gab es Zweifel, ob es richtig gewesen sei, ihre politischen Anliegen in
einem Verein organisiert und vertreten zu haben. Im Raum stand das Stichwort
168 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
des Versagens. Sie glaubten sie hätten versagt. Versagt, den Verein, das Haus auf-
rechtzuerhalten und das politische Anliegen im Ort zu platzieren. Demgegenüber
die Erfahrung, sie hätten etwas geschafft, erreicht und hergestellt. Die Erfahrung,
wie Martin im Gruppengespräch sagt, von „Zusammenhalt“ (G: 1319) oder, wie
Elena sagt, ein „festes Haus“ (E: 152). Sie seien nicht nur für sich selbst als Er-
fahrung wichtig gewesen, sondern auch für den Ort; sie waren mal etwas anderes
gewesen, auch etwas anderes als Feuerwehr, Schützenverein oder Faschingsclub.
Sie hätten eine Idee, politisch etwas anders machen zu wollen, und hätten diese
mit ihrem Vereinshaus in besonderer Weise auch materiell verkörpert.
Im Unterschied zu den Einzelgesprächen entwickelte sich die Situation zu
einer sehr offenen Diskussion der verschiedensten Argumente und Sichtweisen.
Mein Zutun war dafür nicht notwendig. Interessant war für mich, dass hier auch
Positionen, vergleichbar zu der von Stefan, stellvertretend erläutert und diskutiert
wurden.
Unter dem Stichwort „sich selbst organisieren“ heben die Interviewten drei Be-
deutungsebenen hervor. Sie unterscheiden zwischen ihren Treffen als Gruppe in
einer Gartenlaube und dem „sich Organisieren“ als Verein. Von besonderer Be-
deutung ist hierbei vor allem der Kontrast und damit der Zugang zu einer qualita-
tiven Unterscheidung zwischen ihren Treffen als Gruppe in der Gartenlaube und
dem „sich Organisieren“ als Verein. Im Kontrast zu dieser qualitativen Unter-
scheidung diskutieren die Interviewten vor allem die Möglichkeiten und Grenzen
ihres Handelns im Kontext der Selbstorganisation als Verein. Vor dem Hinter-
grund dieser beiden Ebenen lassen sich wiederum individuelle Handlungsstrate-
gien herausarbeiten, die für die Einzelnen als Orientierungen im Kontext ihrer
Prozesse der Selbstorganisation von Bedeutung sind.
Mit Blick auf meine Arbeitsnotizen127 ist hierzu eine Vorbemerkung zu machen.
Zwei der Interviewten, Stefan und Martin, kannten sich bereits vor den Anfängen
der Gruppe und ihren Treffen in der Gartenlaube. Sie waren damals Freunde. Die-
ser Punkt ist insofern von Bedeutung, da sich die Beziehung zwischen den beiden
mit der Gründung des Vereins konflikthaft zuspitzte und sich die Freundschaft
letztlich auflöste. Die Interviewten beziehen sich in ihren Äußerungen nicht im-
mer direkt auf diese Geschichte, verweisen aber in ihren Überlegungen auf zwei
unterschiedliche, gegenteilige Sichtweisen, die exemplarisch entweder als Posi-
tion von Martin oder Stefan markiert werden. Diese Positionen verweisen wiede-
rum auf ein Spannungsfeld in der Ausrichtung des gemeinsamen Handelns zu-
nächst als Gruppe und dann später als Verein. Auf diesen Punkt wird noch genauer
einzugehen sein. Stefan selbst wurde kein Vereinsmitglied. Vor diesem Hinter-
grund bilden seine recht ausführlichen Ausführungen im Interview zur Herausbil-
dung der Gruppe und den Treffen in der Gartenlaube einen Kontrast zu denen der
anderen Interviewten, deren Überlegungen sich vor allem auf die Handlungsmög-
lichkeiten und Konflikte rund um den Verein konzentrieren.
Stefan erinnert sich daran, dass sie sich bereits mit 16 oder 17 Jahren, zumindest
in der Zeit rund um das Abitur, als Gruppe getroffen hatten:
„Man entwickelt sich ja dann mit der Zeit, wir haben es ja auch, keine Ahnung, wann
waren die ersten Ideen, wann fing das an, da waren wir vielleicht so 17 oder so, 16,
17 in der Drehe rum. Und dann hat das ja über die, Ende, wo ich schon fertig war mit
dem Abitur, irgendwie davor fing das, da haben wir uns schon als feste Konstellation
getroffen so regelmäßig“ (S: 111-115).
127 Bei meinen Arbeitsnotizen handelt es sich um eine punktuelle und selbstreflexive Bestandsauf-
nahme meiner Erfahrungen aus meiner beruflichen Tätigkeit in einem Mobilen Beratungsteam
gegen Rechtsextremismus, welche ich parallel zur Aufnahme der Interviews und während der
Ausarbeitung meiner Dissertation angefertigt habe. Im Zusammenhang meiner Tätigkeit beim
Mobilen Beratungsteam lernte ich die von mir Interviewten als Mitglieder einer antirassistischen
Initiative kennen. Als ich sie kennenlernte waren sie eine Gruppe von ca. zehn Leuten und be-
fanden sich in der Abiturphase oder am Beginn einer Berufsausbildung. Sie waren damals etwa
17 Jahre alt. Auf die sogenannten Mobilen Beratungsteams kann ich nicht genauer eingehen.
Nur so viel: Es handelte sich um einen Paradigmenwechsel und neuen Ansatz in der lokalen
Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus im Osten Deutschlands. Im Unterschied etwa zum
Ansatz der „akzeptierenden Jugendarbeit“ (vgl. Krafeld 1996 u. 2002; eine kritische Würdigung
bei Reimer 2013) war es das Ziel, durch Stärkung bürgerschaftlichen Engagements rechtsext-
reme Erscheinungsformen zurückzudrängen (vgl. hierzu etwa Lynen v. Berg/Palloks/Steil 2007
oder, an einem Beispiel diskutiert Affolderbach/Höppner 2013; oder eine kritische Auseinander-
setzung mit den Grundannahmen dieses Ansatzes bei Affolderbach 2015).
170 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
128 Das Interview, das ich mit Martin für meine Masterarbeit geführt habe, ist im Folgenden mit M/a
gekennzeichnet. Das zweite, spätere Interview mit Martin, habe ich mit M/b kenntlich gemacht.
129 Zu ergänzen ist hierzu, dass ich gemeinsam mit meiner Kollegin an der örtlichen Schule und im
Gymnasium der benachbarten Kreisstadt verschiedene Workshops und Bildungsveranstaltungen
mit Lehrer*innen zum Thema Rechtsextremismus machte. In meiner Erinnerung handelt es sich
insgesamt um fünf Veranstaltungen in diesem Zeitraum. Im Zusammenhang dieser Workshops
und Bildungsveranstaltungen waren auch die Übergriffe während des Stadtfestes in (X) ein viel
diskutiertes Thema.
5.2 Sich selbst organisieren 171
Lehrer*innen ist, dass vor allem die Frage „Wie politisch dürfen Lehrer*innen
sein?“ ein zentraler Punkt der Auseinandersetzungen war. Erstaunlich war, dass
trotz Kenntnis des „Beutelsbacher Konsenses“ aufseiten der Lehrer*innen eine
tiefe Verunsicherung zu spüren war, sich mit politischen Fragen in den Work-
shops130 und im Unterricht mit den Schüler*innen auseinanderzusetzen. Die Leh-
rer*innen begründeten dies mit ihren Erfahrungen als Lehrer*innen in der Schule
zu Zeiten der DDR. Damals sei von ihnen erwartet worden, die Schüler*innen an
einer vorgegebenen politischen Orientierung auszurichten. Der übergeordnete An-
spruch sei mit der „Wende“ weggefallen und jetzt sei Meinungsfreiheit das Gebot
der Stunde. Das Besondere hierbei sei, dass Meinungsfreiheit eben keine Vorga-
ben dulde und sich frei entfalten müsse. Schule habe sich deshalb in besonderer
Weise zurückzunehmen und Politik weitestgehend aus der Schule herauszuhalten.
Die Lehrer*innen wiederum verpflichte dies zu politischer Neutralität. Politische
Diskussionen und Meinungsäußerungen wurden von den Lehrer*innen tabuisiert.
In der Konsequenz wurden entsprechende Situationen und Inhalte im Unterricht
gemieden oder unterbunden. Auf hiermit verbundene Probleme dieser Grundan-
nahme, einer Unterlassung politischer Bildung in der Schule und deren Bedeutung
für den Umgang z. B. mit Rechtsextremismus kann hier nicht näher eingegangen
werden. Diese Themen müssen an einem anderen Ort weiter diskutiert werden.
Interessant war, dass nur einzelne Lehrer*innen es für notwendig hielten, Politik
als Unterrichtsgegenstand zu betrachten und über politische Erfahrungen mit den
Schüler*innen im Unterricht zu sprechen.
Für die Einlassung von Martin ist bedeutend, dass sich scheinbar ein großer
Teil der Lehrer*innen nicht um eine Thematisierung von Politik im Unterricht
kümmert. Möglicherweise ist es auch so, dass Politik im Unterricht nicht in der
Art und Weise, die Martin anspricht oder die für ihn von Bedeutung ist, eine Rolle
spielt. Oder aber der Physikunterricht ist so langweilig und der Lehrer oder die
Lehrerin mit ihrem Gegenstand so weit von den Schüler*innen „entfernt“, dass sie
sich selbst behelfen und die Zeit mit den Dingen ausfüllen, die ihnen selbst wichtig
erscheinen. Letzteres erscheint aber unwahrscheinlich, da Martin das „spieleri-
sche[...] Lernen“ (M/a: 365) in diesem Zusammenhang betont. Auf jeden Fall
130 Dies kann natürlich auch am Format der Workshops gelegen haben, die möglicherweise einer-
seits die Erwartungen der Lehrer*innen nicht bedient haben oder aber andererseits trotz des An-
spruchs einer Subjektorientierung der Gegenstand der Auseinandersetzung (Rechtsextremismus)
ein von außen angetragenes Thema war, was unter Umständen eine Offenheit verhinderte, die-
jenigen Denk- und Handlungsweisen der Lehrer*innen zur Sprache kommen zu lassen, die für
sie im pädagogischen Alltag der Schule Sinn ergeben haben. Über solche Widersprüche und
Probleme politischer Bildungsarbeit hat beispielsweise Christina Kaindl nachgedacht und auf
die „Unmöglichkeit, emanzipatorische Ziele für andere zu setzen“ hingewiesen (vgl. Kaindl
2009).
172 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
schen Demokratie und deren Prozesse einer Institutionalisierung sowie einer da-
mit verknüpften Hierarchisierung von Arbeitsteilungen und Interessenlagen (wie
sie auch in der Schule üblich sind). Das vorhandene „Interessiert-Sein“ von Martin
und die in dieser Perspektive liegenden, vielfältig zu entfaltenden Möglichkeiten
von Handeln und Aktivität werden mit Konzentration auf den Gegenstand der or-
ganisierten Politik eingeschränkt.131 Pessimistisch formuliert: Das interessierte
Durchspielen als aktives Handeln, verbunden mit der Entdeckung potenzieller
Möglichkeiten zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit, steht dabei gleichzeitig
in der Spannung eingepasst, passiv zu werden.
Und dennoch: Das Ergebnis ist letztlich offen und, wie Martin zu erkennen
gibt, ist das Bewusstsein „irgendwas machen [zu müssen]“ (M/b: 26), gestärkt.
Die Formen, die Art und Weise, Ziele und Themen einer möglichen politischen
Selbstorganisation sind noch offen und müssen sich finden. Martin spricht davon,
an Politik interessiert zu sein. „Interessiert-Sein“ betont die Neugierde, das Fra-
gende, das Suchende. In den Blick kommt dabei eine aktive Form subjektiven
Handelns, die in der Feststellung „Politik hat uns sowieso interessiert“ (M/b: 24)
eine Überschneidung des Gemeinsamen heraushebt. Die aktive Form subjektiven
Handelns tritt in eine verbindende und wechselseitige Interaktion mit anderen. Am
Ende steht für Martin die Einsicht: „[W]ir müssen etwas machen“ (M/b: 25). Die-
sen Punkt des Gemeinsamen teilen Martin und Stefan. Es ist der Impuls dafür, sich
in einem erweiterten Kreis zusammenzutun. Es ist der Impuls dafür, sich außer-
halb von Schule mit anderen zusammenzutun.
Und eine Schlussfolgerung für Bildungsarbeiter*innen: Die Erfahrung, die
Martin beschreibt, verweist auf den skizzierten Widerspruch einer Passivierung,
aber, und dies ist der Punkt, letztlich bleibt seine Perspektive dennoch offen. Diese
Erfahrung ist eben trotz der institutionellen Rahmung und Ausrichtung des
131 Ich möchte an dieser Stelle nicht einfach von „Interesse“ sprechen und bevorzuge in Orientie-
rung an Martins Formulierung „Politik hat uns sowieso interessiert“ das Stichwort des „Interes-
siert-Seins“. Interesse ist als Begriff zu ungenau. Eine Nutzung dieses Begriffs unterstellt ein
scheinbar „objektives Interesse“, dem das Individuum, in diesem Falle Martin, fremdbestimmt
einfach folgen würde. Diese Sicht vernachlässigt „die subjekthaft-aktive[...] Komponente, also
[die] der Selbstbestimmung, in der individuellen Lebenstätigkeit“ und damit verbundene Hand-
lungsmöglichkeiten und die „Notwendigkeit der Individuen, über ihre Lebensumstände Verfü-
gung zu gewinnen bzw. diese zu erweitern“ (Rehmann 2004: 1355 f.). Jan Rehman verweist mit
dieser Überlegung auf die Kritik der kritischen Psychologie am Begriff des „Interesses“ in bür-
gerlicher Tradition sowie die Kritik am ökonomistisch – reduktionistischen Gebrauch des Be-
griffs im marxistischen Diskurs (vgl. zu letzterem Punkt auch Neuendorff 2014). Möglicher-
weise wäre der Begriff des Bedürfnisses in Anlehnung an die kritische Psychologie besser ge-
eignet, was hier aber nicht geklärt werden kann. Horst Kollan hat z. B. die Bedeutung des Be-
dürfnisbegriffes der kritischen Psychologie für eine kritische Jugendarbeit umrissen (vgl. Kollan
1980; zur Bedeutung des Bedürfnisbegriffes für die Bildungsarbeit siehe auch Affolderbach
2010).
174 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Den Punkt des Gemeinsamen unterstreicht auch Stefan. Hat Martin das „Interes-
siert-Sein“ an Politik als Bezugspunkt des Gemeinsamen hervorgehoben, betont
Stefan einen anderen Aspekt. Eine wichtige Grundlage für das Zusammenfinden
als Gruppe sieht er in der Herausbildung von Freundschaften und in einem damit
verbundenen Freundeskreis:
„Das waren alles Freunde, so ein Freundeskreis, so eine Peergroup sozusagen, die sich
durch Schule, und, wobei man halt komischerweise in der gleichen Kacke lebt wie
alle, sich zusammengefunden hat“ (S: 92-94).
Im Unterschied zum analytischen Gebrauch des Stichwortes „Peergroup“ etwa im
Kontext der Jugendforschung132 verdeutlicht der Alltagsgebrauch des Begriffes
132 Im Kontext der Jugendforschung wird der Begriff Peer oder Peergroup zur Beschreibung und
Untersuchung von spezifischen Sozialisationsprozessen Jugendlicher in ihrer jeweiligen
5.2 Sich selbst organisieren 175
durch Stefan vor allem eine Beziehungsebene (oder eine Art und Weise von Inter-
aktion), deren Verknüpfungen sich im Kontext der Schule gebildet hatten. Hier
hatten sie sich getroffen, kennengelernt, als Freunde und als Freundeskreis zusam-
mengefunden. Es ist aber noch mehr. Stefan stellt fest, „wobei man halt komi-
scherweise in der gleichen Kacke lebt wie alle“ (S: 93). Stefan weist auf das All-
tägliche hin. Dies beinhaltet verschiedene Dimensionen. Einerseits bildet der
schulische Alltag einen Bezugspunkt für die „gleiche Kacke“. Mit Blick auf das
Stichwort „Kacke“ scheint z. B. der schulische Alltag alles andere als entspannt
zu sein; verweist vielmehr auf einen konflikthaften, problemhaften oder auch
zwanghaften Kontext. In diesem Zusammenhang sind Stefan und seine Freunde
Schülerinnen und Schüler und müssen sich im dort vorgegebenen Bezugsrahmen
bewegen und die gesetzten Anforderungen als Einzelne bewältigen. In Anlehnung
an Henri Lefebvre kann man hier auch vom „erlittenen Raum“ sprechen. Als „er-
littenen Raum“ bezeichnet Lefebvre eine widersprüchliche Konstellation sozialen
Zusammenhangs (aus Raumpräsentationen und Repräsentationsräumen)133, wel-
che einerseits in Bildern, Symbolen und „frontalen Beziehungen“ ihren Ausdruck
findet sowie gleichzeitig „die Einbildungskraft“ herausfordert, welche darauf
drängt, das Erlittene „zu verändern und sich anzueignen“ (Lefebvre 2012: 336).
Das Stichwort „Peergroup“ (S: 92) ist in diesem Zusammenhang etwas sper-
rig, verweist auf eine Distanz. Stefan spricht rückblickend über die Zeit in der
Schule, erinnert sich an die damaligen Zusammenhänge. Sie erscheinen weit weg.
sozialen Bezugsgruppe der Gleichaltrigen genutzt (vgl. hierzu etwa die Diskussion der Bedeu-
tung von „Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanz“ in Harring/Böhm-Kasper/Rohlfs/Pa-
lentin 2010). Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können, ist aber die Feststellung
von Timm Kunstreich und Friedhelm Peters aus dem Jahre 1988 aufzunehmen, dass „Jugend“
„nicht als biologisch-anthropologische Grundkonstante“ zu begreifen sei, sondern vielmehr eine
„gesellschaftliche Kategorie“ darstelle, die eine bestimmte Existenzform kennzeichnet“ (1988:
43). Hiermit verbunden sei „Jugend“ als „gesellschaftliche Wertung“ zu verstehen, die „im we-
sentlichen [...] eine spezifische Form gesellschaftlicher Reproduktion kennzeichnet“ und in ihren
Deutungen umstritten ist (vgl. ebd.). Spricht man über „Jugend“, meint dies Zweierlei: zum einen
„eine empirisch feststellbare, in sich reich gegliederte Gruppe“ und zum anderen einen „Diskurs
darüber, was ,Jugend‘ sein soll“ (ebd.). In diesem Spannungsfeld ist m. E. auch der Diskurs um
„Peers“ und das wissenschaftliche Interesse an „Peers“ als Bildungs- und Sozialisationsinstanz
einzuordnen. In dieser Diskussion wird „Jugend“ ein starker „subjektiver“ Faktor eingeräumt
und die Jugendlichen werden „als aktive und kreative Träger [eines] kulturellen und gesellschaft-
lichen Wandels“ gesehen (vgl. Thole/Schoneville 2010: 147). Hat hierbei „Peers“ oder „Peer-
group“ eine positive Konnotation, handelt es sich dennoch um ein „gesellschaftliches Konzept,
welches vergleichbar den Begriffen „,Kindheit‘ und ,Jugend‘ (aber auch – um einen Modernis-
mus aufzugreifen - ,Senioren‘) ganze Bevölkerungsgruppen [...] einer pädagogischen Bearbei-
tung zugänglich“ macht, „ihnen [...] besondere Freiheiten zubilligt“, diese aber wiederum in spe-
zifischen Grenzen gehalten oder, wie Michael Winkler schreibt, „als ,Lebensphasen‘ getarnt“
separiert werden (vgl. Winkler 1988: 244).
133 Vgl. zu dieser Begriffskonstellation das Kapitel Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale
räumliche Praxen oder aber Lefebvre: „Production of Space“ ([1974] 1991).
176 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Die Freundschaften von damals haben sich zum Zeitpunkt unseres Gesprächs tief
greifend verändert; die Kontakte sind lose geworden oder haben sich zum Teil im
Konflikt aufgelöst. Von Bedeutung ist hierbei nicht nur dieser Rückblick und die
damit verbundene Entfernung von gemeinsamen Erfahrungen als Freunde und als
Freundeskreis, vielleicht auch einer möglichen Trauer, Traurigkeit um diese Zei-
ten. „Peergroup“ ist auch eine Metapher und deutet auf etwas Ähnliches, Ver-
gleichbares, auf so eine Art Freunde oder Freundeskreis hin. Die Verknüpfung des
Stichwortes „Peergroup“ mit Schule deutet auf eine mögliche Notwendigkeit hin,
sich unter gegebenen (vorgegebenen) Umständen (der Schule) zusammenzufin-
den, Verbindungen herzustellen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Diese Um-
stände sind nicht freiwillig, aber die Suchbewegung, die Entwicklung von Ver-
knüpfungen mit denjenigen, die zu Freunden werden, die Verbindungen, die zu
Freundschaften werden, benötigen das eigene Zutun, Freundschaften hervorzu-
bringen und deren Stabilität zu erzeugen. Diese Prozesse des „sich Zusammenfin-
dens“ organisieren sich quer zur Hierarchie der Schule. Sie lassen sich nicht be-
vormunden.
Folge ich an dieser Stelle dem „Grimm’schen Wörterbuch“134 und dem dor-
tigen Verweis auf den Begriff Freund, ohne diesen hier etymologisch rekonstruie-
ren zu können, ist Freund „ein geneigter, gleichgestimmter, gleichgesinnter, an-
hänglicher“ (ebd.: 161) Mensch, der an einem anderen „festhält“ (ebd.). Hiermit
ist keine zwanghafte Form der Vereinnahmung gemeint, sondern eine aktive, freu-
dige Zuwendung zu einem oder einer anderen; sie berühren sich „frei und froh“
(ebd.). Was hieraus entsteht, ist Freundschaft; deren Voraussetzung wiederum ist
die Anerkennung des oder der anderen als „frei“, als „sein selbes eigen, [...] keines
andern eigen“ (ebd., Stichwort frei: 94 f.). Die negative Konnotation wäre die Ver-
einnahmung, die Inbesitznahme, der Einschluss, die Gefangennahme, die Verhin-
derung, die Bevormundung, eine Hierarchisierung. Ähnlich argumentieren Gilles
Deleuze und Felix Guattari in ihrem Buch „Rhizom“, spitzen die Kritik aber weiter
zu. Sie schreiben: „Wenn in einer Gesellschaft zwei beliebige Individuen genau
einen Freund gemeinsam haben, dann gibt es ein Individuum, das der Freund aller
anderen ist“ (1977: 27). Dies sei insofern problematisch, da sich hiermit ein Mus-
ter der Hierarchisierung verknüpfe und der „gemeinsame Freund“ zum „Meister“
mutiere, was „Strukturen der Macht“ abbilde sowie gleichzeitig bedeute, dass hie-
rin Spuren des „Diktatorischen“ zu finden seien (vgl. ebd.: 27 f.). Freundschaft
oder ein freundschaftliches Verhältnis ist in diesem Blickwinkel eine widersprüch-
liche Metapher.
134 Genau muss es heißen: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32
Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Online-Version vom
26.05.2017. Ich kürze hier einfach mit GW ab.
5.2 Sich selbst organisieren 177
Was ist das Besondere der Metapher Freundschaft in der Perspektive von
Stefan? Noch einmal Stefan:
„Es gab quasi so ein, so als Gruppe, ja, also erstmal, weil wir halt auch gerade ein
freundschaftliches Verhältnis hatten zueinander, dadurch, dass man so, wir auf der
gleichen Art und Weise politisch interessiert waren eigentlich, ja gut, alle waren bissel
unterschiedlich drauf so, das ist aber ganz gut so“ (S: 67-70).
Im Kontrast zum obigen negativen Befund von Freundschaft unterstreicht Stefan
ein Wir als einen Zusammenhang in der Differenz, der Unterschiedlichkeit oder
Vielheit, wenn er sagt: „Alle waren bissel unterschiedlich drauf so, das ist aber
ganz gut so“ (S: 69 f.). Der Zusammenhang ist einer der Vielfalt, die Vielfalt ein
Verhältnis symmetrisch-wechselseitiger Beziehungen und damit verbundenen
Möglichkeiten von Erfahrungen sozialer Gemeinsamkeiten, sozialen Miteinan-
ders und Gleichheit. Wird diese Balance verletzt oder kann sie nicht aufrechterhal-
ten werden, kann die Symmetrie der Interaktion brechen und sich in asymmetri-
schen Mustern auflösen. Dies wäre dann auch das mögliche Ende dieses Zusam-
menhangs oder, in der Sprache von Stefan, das mögliche Ende von Freundschaft
oder einem freundschaftlichen Verhältnis.
Eine Herausbildung von Freundschaften und die Entdeckung gemeinsamen
„Interessiert-Seins“ (wie etwa an Politik) bildet Möglichkeiten, die Vereinzelung
im schulischen Rahmen (zumindest zeitweise und vor allem darüber hinaus) auf-
zuheben, dem Zwang der Institution etwas „Eigenes“ entgegenzuhalten und sich
diesem punktuell zu entziehen. Das „Eigene“ meint hierbei nicht die Form einer
individuellen, in sich geschlossenen Subjektivität der Einzelnen. Das „Eigene“
entwickelt sich aus einem Zusammenwirken der Einzelnen, als kooperativer Zu-
sammenhang, bei dem das „Eigene“ als Gemeinsames durch die Wechselwirkung
der individuellen „Teilbeiträge mit anderen Teilbeiträgen“ entsteht (vgl. Holz-
kamp-Osterkamp 1975: 312).
Freundschaft wäre entsprechend das Ergebnis und Medium dieses Verhält-
nisses. Entsprechend ist Freundschaft nur als Verhältnisbestimmung denkbar, als
freundschaftliches Verhältnis, als Herausbildung eines Zusammenhangs unter
Menschen, welcher die Vereinzelung aufhebt.135 Freundschaft oder ein freund-
135 Der Begriff Freundschaft muss nicht zwingend allein ein Beziehungsverhältnis zwischen zwei
Menschen bezeichnen. Etwas allgemeiner und weiter gefasst kann Freundschaft (ähnlich dem
Begriffsverständnis von Peergroup) auch als spezifische Art und Weise eines allgemeineren Ver-
hältnisses zwischen Menschen interpretiert werden. Zumindest legt dies das „Grimm’sche Wör-
terbuch“ nahe, welches die verschiedensten Bedeutungsebenen nebeneinanderstellt. Dort heißt
es ausschnittsweise unter dem Stichwort amicitia: „Wer sünde zudeckt, der macht freundschaft
[...] die leutlin aber erzeigeten uns nicht geringe freundschaft“ (1971, Bd. 4: 167). Ohne auf die
Begriffsgeschichte weiter eingehen zu können, scheinen hier zwei Bedeutungsebenen durch.
Zum einen ist Freundschaft im engeren Sinne die Art und Weise einer Beziehung zwischen zwei
Menschen und zum anderen etwas allgemeiner ein Verhältnis zwischen allgemein Menschen,
178 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
schaftliches Verhältnis bildet in diesem Sinne ein solidarisches Band und damit
einen Kontrast und ein Gegengewicht zu den „erlittenen“ zwanghaften Formen im
alltäglichen Schulbetrieb oder, etwas weiter gefasst, des Alltäglichen. Freund-
schaft oder ein freundschaftliches Verhältnis reicht über die Grenzen der Schule
hinaus.
Dem angedeuteten Widerspruch von Freundschaft kann ich nicht entfliehen;
ich kann ihn auch nicht aufheben. Für den hier diskutierten Zusammenhang einer
Selbstorganisation möchte ich aber einige Punkte in einem anderen Begriff aufhe-
ben oder besser hervorheben, die als wichtige Impulse in der Metapher von Stefan
enthalten sind. Sie verweisen auf Elemente einer Praxis, die Jan Rehmann in An-
lehnung an Gilles Deleuze und Felix Guattari als „rhizomatisches Netzwerk“ be-
zeichnet hat (vgl. Rehmann 2012: 899). Gemeint ist hiermit die Herstellung von
Zusammenhängen bei gleichzeitiger Wahrung und Ausbildung von Heterogenität
und Vielheit (vgl. Deleuze/Guattari 1977: 11 f.). Für den Kontext sozialer Bewe-
gungen bedeute dies, so Jan Rehmann, dass diejenigen Praxen der Leute ins Blick-
feld kommen können, die eine Entwicklung und Stabilisierung von Zusammen-
hängen ermöglichen (vgl. Rehmann 2012: 900 f.). Vergleichbar ist diese Idee zur
lebendigen Praxis politischer Bewegungen, die Heinz Steinert als „freischwe-
bende Solidarität“ charakterisiert hat (vgl. Steinert 1985).
Ein Element eines rhizomatischen Netzwerkes möchte ich als Bereitschaft
für „sinnliche Zugänglichkeit“ bezeichnen. Meines Erachtens nimmt dieser Be-
griff wesentliche Merkmale der schon skizzierten Dimensionen der Freundschaft
oder des freundschaftlichen Verhältnisses auf und erweitert diese. Ich habe deut-
lich gemacht, dass ein freundschaftliches Verhältnis im Sinne Stefans vor allem
durch eine (verletzbare) symmetrisch-wechselseitige Beziehung gekennzeichnet
ist, für die Erfahrungen sozialer Gemeinsamkeiten besonders wichtig sind. Zu-
gänglichkeit beschreibt eine Qualität von Aufgeschlossenheit und Zuneigung,
welche ein wechselseitiges, voraussetzungsloses (zweckfreies) Einlassen der
Menschen aufeinander meint. Die Bedeutung liegt hierin, dass Zugänglichkeit vor
allem den Raum an Vertrautheit erzeugen kann, in dem die Erfahrungen der
136 Das, was ich hier als vorsichtig bezeichnet habe, ist bei Heinz Steinert ein selbstkritisches, fra-
gendes (Heran)Tasten, um mit Worten Bewegungen und ihre Erscheinungsformen „von unten“
begrifflich greifbar machen zu können sowie gleichzeitig zu sehen, dass eben diese Begriffe
auch sperrig sein können. Dies führt zur fragenden Feststellung von Heinz Steinert: „Ich bin
unsicher, ob das alles sonderlich stark und tragfähig ist“ (Steinert 1985: 77).
137 In der Alltagssprache des Interviews spricht Stefan von „der gleichen Art und Weise“. Ich habe
diese Stelle des Interviews hier sprachlich angepasst.
180 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
sozusagen. Auch hier bleibt etwas offen. Mit Adorno (Jargon der Eigentlichkeit)
kann verallgemeinernd gesagt werden, der Eigentlichkeit steht die Uneigentlich-
keit gegenüber.138 Stefan: „wir [waren] auf der gleichen Art und Weise politisch
interessiert [...] eigentlich“ und „alle waren bissel unterschiedlich drauf“ (S: 69 f.)
verweist auf die Differenz, auf die Verschiedenheit, auf Positionen im Konflikt.
Eine Vielheit „freischwebender Solidarität“ (Steinert 1985: 78) ist in diesem Sinne
keine harmonistische Angelegenheit, sondern ein Handeln in Reibung, was auch
die unterschiedlichen Erfahrungen erst zum Vorschein bringt und die in ihnen lie-
genden Differenzen, die Uneinheitlichkeiten, die Brüche, das Leben als Fragment
erkennen lässt. Ein Zusammenhang „freischwebender Solidarität“ ist damit ver-
letzlich und kann nur als Praxis wechselseitiger Bereitschaft ausbalanciert werden.
Stefans Anmerkung, „wobei man komischerweise in der gleichen Kacke lebt“ (S:
93 f.), deutet auf weitreichendere Erfahrungen hin. Das Alltägliche bezieht sich
nicht nur auf Schule. Die „gleiche Kacke“ verweist auf im Alltagsleben erfahrene
Grenzen oder, etwas allgemeiner, auf Erfahrungen mit Gesellschaft und ihren
Herrschafts- und Machtstrukturen. Mehr noch: Stefan stellt fest, dass seine Erfah-
rungen vergleichbar sind, vergleichbar mit denen der anderen. Dieser Punkt ist
auch insofern bedeutsam, als in der negativen Betonung der „gleichen Kacke“ das
Adjektiv „gleich“ Momente der Reibung hervorhebt. Die Feststellung, dass die
„gleiche Kacke“ eben auch von den anderen erfahren werde, dass die erfahrenen
Umstände vergleichbar seien, setzt eine aktive Beschäftigung miteinander voraus
und ist in diesem Sinne eine Bewegung, die den privaten Gehalt einer scheinbar
individuellen Erfahrung durch gemeinsame Reflexion in die Verbindung mit an-
deren bringt. Gleichzeitig ist eine Distanzierung spürbar. Stefan stellt fest, sie leb-
ten in der „gleichen Kacke“. Eine Distanzierung bedeutet in diesem Falle keinen
Rückzug, kein Verharren in Passivität. Vielmehr eröffnet sich ein Feld von Fra-
gen: Muss dies so sein? Muss es so bleiben? In diesen Fragen stecken die Mög-
lichkeiten, das „Erlittene“ im wahrsten Sinne des Wortes zu Begreifen und Hand-
lungsformen hervorzubringen, die alltäglichen Zusammenhänge „von unten“ in
Bewegung zu bringen.
138 Auf den Diskurs um Adornos Kritik des Jargons der Eigentlichkeit kann ich hier nicht näher
eingehen. Zu erwähnen ist die Auseinandersetzung mit den Thesen von Adorno in der Zeitschrift
für philosophische Forschung aus dem Jahre 1967 und dort der Beitrag von Hermann Schwep-
penhäuser: Thomas Härtings Adorno-Kritik, Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 21,
1967, 554-569.
5.2 Sich selbst organisieren 181
Dem optimistischen Gehalt des letzteren Gedankens stehen eher vorsichtige Ein-
schätzungen von Elena und Sandra zum „Zusammenfinden“ als Gruppe und den
dortigen Aktivitäten gegenüber:
Sandra: „Also ich weiß noch, wir hatten dann irgendwie so ein kleines Gartengrund-
stück in irgend so einer Gartenanlage, mit einer kleinen Laube und mit einem Lager-
feuerplatz und dort haben wir uns immer dann getroffen und haben so ein bissel was
besprochen“ (Sa: 163-166).
Elena: „Als ich dann dazu gekommen bin, da [...] haben wir uns meistens in so einer
Gartenlaube von einem von den Leuten halt getroffen, die so ein bisschen außerhalb
irgendwie von (X) war und ja, da saßen wir halt in so alten Gartenstühlen irgendwie
um so ein Feuer drum rum und dann haben wir uns darüber unterhalten, wie, ja, wie
es [...] Na ja, was so in (X) gerade passiert, wie wir, wie wir, was wir da so für eine
Perspektive drauf haben und was wir uns vielleicht auch anders wünschen würden
und wie wir uns auch so das Zusammenleben oder so die Themensetzung im Ort an-
ders wünschen würden und was wir da, ja, vielleicht irgendwie machen könnten oder
auf was wir auch einfach Lust hätten, z. B. ein Konzert zu organisieren oder so“ (E:
140-156).139
Mit Blick auf die gegebenen Örtlichkeiten der Kleinstadt liegt die Gartenanlage
etwas außerhalb. Sie liegt am Rande und bildet nicht den Mittelpunkt der Stadt.
Ein kontrollierender Blick, etwa durch Stadtverwaltung, lokale Politik, Polizei,
Pädagogen, Sozialpädagogen oder auch Eltern, ist durchaus eingeschränkt. In ei-
ner Gartenanlage gibt es allerdings Gartennachbarn. Diese haben wiederum mög-
licherweise ein mehr oder weniger intensives Interesse an ihren Nachbarn. Eine
Gartenanlage ist damit auch ein Ort kleinräumlicher sozialer Kontrolle. Wiederum
sind die Gartenlaube, der Garten und der Lagerfeuerplatz privat. Das Private im
Gegenwartsdiskurs gilt allgemein als ein Zusammenhang, „von dem wir glauben“
wir sollten „uns nicht einmischen“ (Geuss 2013: 126). Hierbei versteht sich einer-
seits das Private als „Schutz eines Tätigkeitsbereichs, in dem keine Einmischung
in das Handeln stattfindet“ (ebd.: 111). Andererseits verstehen wir das Private „als
Schutz eines Handlungsbereiches, zu dem (ohne Erlaubnis der beteiligten Ak-
teure) niemand epistemischen Zugang hat“ (ebd.).140 Insofern unterscheidet sich
139 Das Zitat habe ich hier stark gekürzt, aber die Zeilenzählung der Interviewabschrift beibehalten.
140 Raymond Geuss hat sich mit der Frage der Privatheit und deren Bedeutung in den unterschied-
lichen Epochen der Menschheitsgeschichte bis hin zum liberalen Verständnis von Privatheit in
der Gegenwart auseinandergesetzt. Für die Gegenwartsgesellschaft hält er fest, dass „das Private
im Allgemeinen die Idee des Privilegs“, als Individuum über Privateigentum verfügen zu kön-
nen, sei (vgl. Geuss 2013: 106). Das Private gilt hier als eine nach außen hin abzusichernde
Sphäre, „indem keine Einmischung in das Handeln stattfindet, oder als Schutz eines Handlungs-
182 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
ein Treffpunkt in einer Gartenanlage etwa von einem Jugendclub oder einem
Treffpunkt auf dem Markt. Sind letztere beiden Orte öffentlich zugänglich und
damit von den verschiedensten Akteuren nutzbar und einsehbar, ist der Treff in
der Gartenlaube dieser Allgemeinheit entzogen.
Ein Gartengrundstück gewinnt in diesem Zusammenhang nicht nur die skiz-
zierten Bedeutungen des Privaten, sondern kann auch als privater Ort an Bedeu-
tung gewinnen, wenn die Notwendigkeit eines Rückzuges aus dem Öffentlichen
besteht, z. B., wenn sich der Zugang zu öffentlichen Räumen verengt oder von
unterschiedlichsten Akteuren verhindert wird. Insofern wäre dann der Rückzug
eine aktive Weise des Handelns als Reaktion auf Erfahrungen mit Prozessen ge-
sellschaftlicher Ausschließung.
Für junge Menschen trifft sich die Gruppe an einem recht ungewöhnlichen
Ort. Etwas negativ formuliert: Eine Gartenanlage mutet zunächst vielleicht etwas
spießig an oder als eine Angelegenheit für die älteren Leute.141 Allerdings ist diese
Annahme so nicht gerechtfertigt. Deshalb etwas positiver formuliert: Dort haben
sie als Gruppe ihre Ruhe. Das Lagerfeuer als Symbol für ihren Treffpunkt entfaltet
eine „sinnliche Zugänglichkeit“. Ein Lagerfeuer knistert, es flackert, es riecht nach
verbranntem Holz. Im besten Falle sitzen alle um das Feuer herum. Alle können
sich ansehen, miteinander reden oder einfach nur zuhören. Ein Miteinanderreden,
Ideen wie ein Funkenflug glühen auf und verglühen. Die Gedanken nehmen viel-
leicht auch eine andere Form an, bleiben als Gedanken woanders, bei anderen,
bereiches“ (ebd.: 111). Geuss kritisiert die normative Zuspitzung des liberalen Verständnisses,
welches darin bestehe, genau zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen unterscheiden zu
können, weil im liberalen Denken davon ausgegangen würde, für andere festlegen zu können,
„wer von einer gegebenen Handlung affiziert wird“, also wer potenziell „materiell“ verletzt oder
wessen „Interessen“ geschadet werden könnte (vgl. ebd.: 103). Das Private (und Öffentliche)
hingegen sei kein „abstraktes Vermögen“ oder gar eine „moralische Anforderung des Univer-
sums“ (ebd.: 132). Dessen Unterscheidung gewinne erst seine Sinnhaftigkeit und Bedeutung aus
dem konkreten Beispiel, dem konkreten Handeln der Menschen (vgl. ebd.).
141 Zugegeben, dies war damals meine erste Assoziation, als ich die Interviews führte. Interessant
ist auch, dass ich zum Zeitpunkt der Interviews vergessen hatte, dass ich die Gruppe schon zur
Zeit ihrer Treffen in der Gartenlaube kannte. Für mich hatte die Gartenlaube offensichtlich keine
tiefere Bedeutung gehabt (was vielleicht auch ein Fehler war, da ich die Bedeutung für die
Gruppe nicht erkannt hatte). Ich selbst habe das Gartengrundstück nicht besucht. Allerdings er-
zählten mir die Interviewten „off the record“, dass sie es dort ganz gemütlich gefunden hatten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sie mir dies außerhalb der Interviews erzählten,
obwohl sie die Gartenlaube in den Interviews erwähnen. Der Unterschied ist, dass sie sich in den
Interviews auch an den von mir gestellten Fragen orientieren und dabei pragmatisch das Garten-
grundstück als Verweis zur Markierung ihres Treffpunktes als Gruppe im Unterschied zur
Gruppe als Verein und deren Treffpunkt in einem Haus benutzen. Die Nachgespräche, ohne
meine Fragen und ohne Aufzeichnungsgerät, waren dann lockerer und die Interviewten erzählten
noch verschiedenste Details. Ich habe zu den Nachgesprächen nur einzelne Notizen angefertigt,
eher Stichworte und kurze Anmerkungen, die ich wichtig fand. Die hier aufgeschriebene Notiz
ist eine davon.
5.2 Sich selbst organisieren 183
hängen, bringen dort einen neuen Impuls für weitere Gedanken hervor. Die Be-
rührung der Gedanken ist nicht allein eine kognitive Angelegenheit, sondern eine
des ganzen Körpers. Gesellschaft ist auf der Haut spürbar142 und im Zusammen-
spiel mit den Gedanken besteht die Möglichkeit ihrer Verstehbarkeit. Oder, etwas
anders ausgedrückt: Die Ideen, Überlegungen, die Erfahrungen und Geschichten
werden prozesshaft (vor)tastend erschlossen. Beispielsweise hat Polly W. Wiess-
ner die Bedeutung des Lagerfeuers am Beispiel der Ju/’hoansi – Buschmänner in
Namibia und Botswana untersucht und vor diesem Hintergrund dessen Bedeutung
für die Menschheitsgeschichte herausgestellt. Sie formulierte: „Through stories
and subsequent discussion, people collected experiences of others and accumu-
lated knowledge of options that others had tried“ (Wiessner 2014: 14030).143 Ein
Austausch am Lagerfeuer eröffnet ein Feld wechselseitiger Vergewisserung und
begründet damit auch einen Ort aufkommender Fragen und Möglichkeiten, wel-
che die Vorstellungskraft und Phantasie der Beteiligten herausfordern und anre-
gen. In diesem Sinne hat der Ort der Gartenlaube und des Lagerfeuers etwas Ver-
bindendes.
Für den Kontext der Sozialen Arbeit hat Uwe Uhlendorff die Bedeutung der
„Feuerstelle“ hervorgehoben. Als Beispiel interpretiert er ein Bild des kanadi-
schen Künstlers Jeff Wall mit dem Titel „The Storyteller“.144 Uhlendorff schreibt:
„Die Feuerstelle [...] ist ein Modell für einen pädagogischen Ort, der durch Soziale
Arbeit geschaffen werden kann. Es handelt sich um einen Kommunikationsraum,
der ein Geben und Nehmen von Anteilnahme ermöglicht, der die Rekonstruktion
von Lebensgeschichten, Erfahrungen des Glücks und des Leids macht und es er-
laubt, Lebenspläne zu entwickeln, die Vergangenheit, Gegenwart und eine mögli-
che Zukunft aufzugreifen“ (2010: 284). Mit Jeff Wall lässt sich die Bedeutung
142 Ich habe dies in Anlehnung an den Gedanken von Adorno formuliert, den ich weiter vorn im
Kapitel „Erfahrung als Impuls von Handeln“ zitiert habe.
143 Vgl. hierzu Polly M. Wiessner (2014).
144 Auf das Bild kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur so viel: Bei dem Bild von Jeff Wall
handelt es sich um ein Foto, genauer: um ein Großbild-Dia, das in einem Lichtkasten von hinten
beleuchtet wird. Das Bild ist 2,29 m mal 4,37 m groß und im Jahre 1986 entstanden (vgl. Wall/
Linsley/Ammann 1992: 8 und 76). Das Bild zeigt rechts den Unterbau einer Autobahntrasse.
Links unten im Bild sitzen drei Menschen um eine Feuerstelle. Bei den abgebildeten Menschen
handelt es sich um Angehörige der First Nations Kanadas. Neben der Interpretation des Bildes
von Uhlendorff und dessen Schlussfolgerungen für die Sozialpädagogik sind auch die Interpre-
tationen von Robert Linsley (1992) und Verena Auffermann (1992) zu beachten. Linsley und
Auffermann setzten sich in ihren Aufsätzen kritisch mit dem Bild auseinander. Linsley stellt
etwa die Frage, inwiefern das Bild von Wall „politische Implikationen“ habe und die Darstellung
„Entwurzelung und Entfremdung“ in der Moderne thematisiere (vgl. 1992: 10). Gleichzeitig
führe das Bild zu einer Kontroverse, da „viele arme Indianer [...] als Betrachter oder als Kritiker
zunehmend ihrem Ärger Ausdruck“ verliehen, „wenn sie in dieser Weise dargestellt werden“
(ebd.: 11). Auch Auffermann beschäftigt sich in ihrer Interpretation des Bildes mit dieser Kritik
(1992).
184 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
dieses Gedankens mit Blick auf die von mir untersuchte Gruppe noch weitertrei-
ben. Im „Geschichtenerzähler“ sieht Walls „eine archaische Figur, ein[en] gesell-
schaftliche[n] Typus, der infolge der technischen Veränderungen [in der Gegen-
wart], die neue Formen der Aneignung und Weitergabe von Wissen geschaffen
[hätten], seine Funktion verloren“ habe (1992: 6). Allerdings würden solch „zer-
störte Figuren“ wie der „Geschichtenerzähler“ in „Krisenzeiten“ wieder an Be-
deutung gewinnen, da durch das Erzählen von Geschichten „an den Rand ge-
drängte und unterdrückte Gruppen sich ihre eigene Geschichte wieder aneignen
und neu lernen“ (ebd.) würden. Dies führe „zu einer veränderten Bewertung der
Aneignung und Weitergabe von Wissen, schafft Öffnungen für ein neues Konzept
einer modernen Kultur“ (ebd.).
Ich verstehe das Geschichtenerzählen als eine Art und Weise des miteinander
Sprechens. Einen bedeutenden Punkt dieses miteinander Sprechens hat Wolfdiet-
rich Schmied-Kowarzik in Anlehnung an Franz Rosenzweig hervorgehoben. Ro-
senzweig sehe „die menschliche Existenz erst durch die Sinnhorizonte von Schöp-
fung, Offenbarung und Erlösung zu sich selbst“ finden (Schmied-Kowarzik 2006:
55). In diesem Kontext bilde die Offenbarung eine zentrale Sinnsphäre, „die sich
in der Gegenwärtigkeit sprachlichen Sinnverstehens und Sinnverständigens ereig-
net“ (ebd.). Entsprechend offenbare sich in der Sprache für „den Menschen Sinn“.
Dabei sei „aber die Sprache keine abgehobene Ideenwelt“; sie ereigne „sich immer
in der Gegenwertigkeit des miteinander Sprechens“ (ebd.). Und weiter: „In diesem
Sinngeschehen finden wir erst existentiell zu uns selbst, also niemals aus unserem
je eigenen Dasein allein, sondern immer nur aus dem Angesprochensein durch den
Anderen“ (ebd.).
Miteinander Sprechen reduziert sich nicht auf eine mechanische Begriffs-
sprache, einen, wie es vielleicht Martin Buber sagen würde, „in die Begriffsspra-
che übersetzte[n] Glaube[n]“ (Kaplan 1963: 231). Vielmehr handelt es sich um
ein soziales „Werkzeug“145, ein lebendiges Verbindungselement, das sich nicht
auf Vernunft oder Denken reduzieren lässt. Im miteinander Sprechen können sich
die Menschen der „Zustände und Umstände des Lebens selbst“ vergewissern (vgl.
ebd.). Hieraus können die Möglichkeiten entstehen, die Erfahrungsgehalte der
Einzelnen im „Angesprochensein durch [die] Anderen“ (Schmied-Kowarzik
2006: 55) überhaupt zur Sprache zu bringen, miteinander zu verbinden, ein „Kol-
lektivgedächtnis“ zu entwickeln (vgl. Kaplan 1963: 164). Dieses Kollektivge-
dächtnis scheint mir ein wichtiges „Werkzeug“ zu sein. Das Kollektivgedächtnis
sehe ich als Überwindung des einsamen, isolierten Denkens. Das Kollektivge-
dächtnis ist eine soziale Praxis. Eine solche Praxis kann sich dem Absoluten ver-
weigern. Sie wird im Sinne Martin Bubers durch das „gemeinsame Erinnern“,
145 Auf den Begriff des Werkzeugs gehe ich später noch ein.
5.2 Sich selbst organisieren 185
durch das gemeinsame Erzählen „zusammengehalten und erhalten“ und bildet eine
sich selbst tragende „Existenz“, eine „sich selber tragende, nährende, belebende“
und schöpferische Kraft (vgl. ebd.). Bei der Verknüpfung der Erzählungen der
Einzelnen mit den Erzählungen der anderen entstehen Verbindungen der Sinnhaf-
tigkeit des eigenen und des gemeinsamen Handelns.
Es entstehen Momente, in denen die für die bürgerliche Gesellschaft typische
Trennung von „sinnlicher“ und „denkender Erkenntnis“ des Individuums146 bei
den Einzelnen aufgehoben wird und gleichzeitig die Einzelnen mit den anderen in
einen kollektiven Zusammenhang gebracht werden. Ein etwas vorsichtiger Ge-
danke: Mit Ernst Bloch können diese Momente auch als „höchste Zeit [...] des
erfüllten Augenblicks [...] die Aufschlagung seines Zeichens“ umrissen werden
(Bloch [1959] 1985: 1154). Und Bloch weiter: „[A]ls Aussage eines vorher Un-
gesagten“ mussten „den inneren Bildern [...] äußere antworten, sonst kamen weder
die einen noch die anderen hervor“ (ebd.). Im Grunde verweist Bloch auf Prozesse
einer wechselseitigen Verlebendigung von Erfahrungen, auf die Möglichkeit, die
nicht nur eine Trennung von „sinnlicher“ und „denkender Erkenntnis“ des Indivi-
duums aufheben kann, sondern situativ, nicht garantiert, aber potenziell eine Ver-
bindung zwischen Menschen schafft. Michael May hat diese Herausbildung von
Zusammenhang in Anlehnung an Oskar Negt und Alexander Kluge als Selbstre-
gulierung beschrieben (vgl. May 2004). Das Besondere hierbei ist die Dialektik
von toter und lebendiger Arbeit. Oskar Negt und Alexander Kluge sehen in der
„toten Arbeit [...] kein Arsenal von bloßen Dingen. Vielmehr sind es menschliche
Beziehungen, Subjektivität in Objekt gewordener Gestalt, ein gesellschaftliches
Verhältnis“ (1981: 98 f.). Prozesse der Verlebendigung bedürfen deshalb des ei-
genaktiven Zutuns lebendiger Arbeit. Für Oskar Negt und Alexander Kluge ist
Selbstregulierung als Ausdruck lebendiger Arbeit „angelegt in der Kooperation“;
und: „Berühren sich zwei Eigentätigkeiten, so produziert sich daraus eine Ten-
denz, die daraus folgende Reibung und Trennung von der reinen Eigentätigkeit
durch Bildung von Zusammenhang aufheben. Die Aufhebung stellt sich als eigen-
ständige Selbstregulierung mit eigenen Gesetzen dar, die zunächst lediglich auf
das, was sie zusammenfassen, passen, durchaus aber von oben nach unten wiede-
rum Reibung und Trennung setzen, die erneut Eigentätigkeitsketten freisetzt“
146 Ich kann hier nicht genauer darauf eingehen und kann nur auf die Arbeit von Klaus Holzkamp
zur sinnlichen Erkenntnis verweisen (Holzkamp: 1986). Nur so viel, Holzkamp versteht sinnli-
che und denkende Erkenntnis als ein wechselseitiges Verhältnis menschlicher Wahrnehmungs-
tätigkeit, welches im Alltäglichen der bürgerlichen Gesellschaft gebrochen ist. Ein besonderes
Problem bürgerlicher Psychologie sei z.B. die Ausklammerung der biologischen und gesell-
schaftlichen Funktionsgeschichte der Erkenntnis“, welche in der Folge eine „Erfassung der
Wirklichkeit durch sinnliche Erkenntnis aus der Notwendigkeit organismischer und gesellschaft-
licher Lebenserhaltung verborgen bleiben muss“ (Holzkamp 1986: 58).
186 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
147 In Anlehnung an Paulo Freires Überlegungen zum Dialogischen und dort zu den „generativen
Themen“ und den darin enthaltenen „Grenzsituationen“ (vgl. Freire 1973: 71 f.) formuliert
Timm Kunstreich: „[D]as gemeinsame Dritte [markiert] die Aktion der gemeinsam verantwor-
teten Grenzüberschreitung, der begrenzten Regelverletzung“ (2011: 11). Die in Erfahrungen ent-
haltenen Konflikte, Ideen, Vorstellungen von der Welt, Hoffnungen und Wünsche werden in den
Prozessen der Teilung wieder gegenwärtig, lebendig und bilden die Bezugspunkte für gemein-
sames Handeln. Das gemeinsame Dritte ist selbst Ausdruck des Handelns. Die generativen The-
men finden ihre „Konkretion“ in „einer generativen Grammatik des Handelns“: „Ist die Gram-
matik die Grundlage der Sprache, so sind die generativen Themen die Grundlage des Sprechens.
Der Unterschied zwischen Sprache (als Struktur) und Sprechen (als Tätigkeit) ist im Konzept
der ,generativen Themen‘ aufgehoben“ (Kunstreich 2005: 65).
148 Michael May und Timm Kunstreich formulieren ihre Überlegung in Orientierung an Ernst
Bloch. In meinem Zitat habe ich das Stichwort der Erfahrung in Klammern eingefügt, wo im
Original bei May und Kunstreich „Problemsituation“ steht. Das, was ich hier für die Lagerfeu-
errunde skizziere, kann weiterführend mit Michael May und Timm Kunstreich als Bildungspro-
zesse „des Sozialen und Bildung am Sozialen“ verstanden werden. Darauf kann ich an dieser
Stelle nicht näher eingehen (vgl. dazu May/Kunstreich 1999).
149 Das Motiv des Ortes hat auch Michael Winkler für die Theorie der Sozialpädagogik geprägt. Im
Unterschied zum „sozialpädagogischen Ortshandeln“ bei Winkler rückt hier die soziale Dimen-
5.2 Sich selbst organisieren 187
Hierin liegen verschiedene Erfahrungsebenen, die für die Frage der Selbstor-
ganisation wichtig sind. Mit der Gartenlaube und dem Lagerfeuer haben die Mit-
glieder der Gruppe einen Punkt, an dem sie sich regelmäßig treffen können. Sie
schaffen sich selbst einen Ort. Im Interview erzählt Sandra, sie hätten sich in der
Gartenanlage getroffen und „so ein bissel was besprochen“ (Sa: 166). Im lockeren,
assoziativen Austausch am Lagerfeuer kommt auch eine ernstere Dimension zum
Vorschein. Etwas „Besprechen“ verweist auf konkrete Themen, die gemeinsam
diskutiert und durchgesprochen werden. Es öffnet sich ein Raum gemeinsamer
Auseinandersetzungen mit wichtigen Fragen, mit unterschiedlichen Standpunkten
und Sichtweisen, wie Elena deutlich macht. Oder auch Stefan:
„Wir haben dann über gewisse Sachen, Themen, uns einmal so unterhalten so, wie
wir dazu stehen, also ganz banale Sachen, also, was ging da irgendwann auch mal in
die Globalisierungskritik, einen ganz komischen Scheiß so, was halt gar nichts mit
[X] hat, aber na ja, waren halt jung und hatten viel Redebedarf so. Und sich einfach
darüber auszutauschen, was könnte man machen so“ (S: 75-79).
Unterschiedliche Antworten und Erfahrungen der Beteiligten können zur Sprache
gebracht und deutlich gemacht werden. Diese Form des Austausches schafft einen
Ort. In der Auseinandersetzung entsteht der Ort. Man kann sich als Einzelner auf
diesen Ort beziehen. Die Einzelnen können sich damit auch auf die anderen bezie-
hen. Der reflexive Zugang zu Erfahrungen braucht diesen Ort. Der Ort als Treff-
punkt muss verlässlich sein und braucht Zugänglichkeit. Das Stichwort des Ortes
markiert dabei eine Praxis des Handelns. Die Bruchlinien sind damit nicht ein ad-
ministrativ bestimmbares Territorium, das zwanghaft einen Lebensort der Men-
schen naturalisiert (vgl. Lefebvre zum Stichwort Raum).
Dies ist auch insofern wichtig, als sich in der Vielheit von Erfahrungen eine
Spannung abzeichnet. Die Vielheit ist bestimmt von Differenz. Die Einzelnen er-
fahren und interpretieren die Welt jeweils unterschiedlich. Entsteht die Möglich-
keit eines gemeinsamen Erfahrungsortes, können die Einzelnen Erfahrungen mit
einem Zustand machen, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“, wie es
etwa Adorno in Minima Moralia ausdrückt (S: 114). Damit steht die Welt nicht
still; Geschichte ist nicht zu Ende; sie ist veränderbar. Bestimmend sind Formen
kooperativer Vergesellschaftung. Für die Lagerfeuerrunde war dies ein wichtiger,
sinnstiftender Zusammenhang „freischwebender Solidarität“.
Bei aller Widersprüchlichkeit in der Verbindung von Macht und Handeln
konstitutiver Prozesse „von unten“, verfügen die Zusammenhänge „freischweben-
sion ins Blickfeld, also die Perspektive der von mir interviewten Akteure und damit ihre eigenen
Erfahrungen, die sie mit der Aneignung von Gesellschaft machen (vgl. zum „sozialpädagogi-
schen Ortshandeln“ Winkler 1988 und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept von
Winkler durch Michael May 2016).
188 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
der Solidarität“ über eine „dezentrale Politikfähigkeit, die sich nichts von oben
vorschreiben lässt [...] und auch wenig verpflichtend ist, wenn man sich nicht da-
nach fühlt“ (Steinert 1985: 78). Heinz Steinert verwendet den Begriff der „dezent-
ralen Politikfähigkeit“ im Zusammenhang mit „freischwebender Solidarität“. Vor
diesem Hintergrund sind verschiedene Dimensionen zu unterscheiden. Übersetze
ich Politikfähigkeit mit der Fähigkeit zur Politik, ist mit Blick auf die Äußerungen
von Sandra und Elena weiter zu differenzieren.
Eine Fähigkeit zur Politik meint eine Handlungsfähigkeit im „arbeitsteiligen
entwickelten Sachbereich Politik“ (Hirschfeld 2015b: 140). Auch eine „dezentrale
Politikfähigkeit“ zielt darauf, Politik von ihrer Organisation her zu denken, bricht
aber mit einer Vorstellung hierarchischer Organisation von Politik. Die gewon-
nene Handlungsfähigkeit bleibt auf Politik (im engen) Sinne bezogen. Diese
Handlungsfähigkeit ist von einem „weiten“ Begriff des Politischen und von dem
dortigen Handeln zu unterscheiden. Oskar Negt und Alexander Kluge haben hier-
für die Metapher vom „Rohstoff des Politischen“ geprägt. Uwe Hirschfeld schreibt
hierzu: „Der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist, dass das Politische nicht als
Abteilung der Politik erscheint. Es wird i.d.R. nicht etwas ,politisch‘, weil es in
einem Verhältnis, sei es der Zuarbeit oder der Abgrenzung der Politik, zur institu-
tionellen Politik steht, sondern das Politische (in diesem Verständnis) entspringt
dem Ärger oder dem Erfolg“ im Alltäglichen, den Auseinandersetzungen mit Fa-
milie, Freunden, Kolleg*innen, „der Begeisterung für die Literatur und der Ableh-
nung von Horrorfilmen – oder umgekehrt“ (vgl. Hirschfeld 2015b: 140).
Hierin liegt z. B. auch die Offenheit von Sandras: Wir „haben so ein bissel
was besprochen“ (Sa: 166). Es handelt sich nicht um Unverbindlichkeit, sondern
im Gegenteil um eine Verbindlichkeit, die nur in der Verknüpfung mit den anderen
entstehen kann, wenn sich gemeinsame Themen mit gemeinsamen Erfahrungen
im wechselseitigen „Interessiert-Sein“ überschneiden. In solchen Prozessen tritt
der „Rohstoff des Politischen“ in unterschiedlichen „Intensitätsgraden“ hervor, als
„menschliche Haltungen, Energien, Gefühle, Hoffnungen, Träume, Ängste und
Befürchtungen“ (Hirschfeld 2015b: 141).150 „Interessiert-Sein“ richtet sich nicht
auf die Begrenzungen der Politik als ihrer Organisierung oder als Ausbildung ei-
ner Organisation, „sondern im Gegenteil, das Politische [ist] im scheinbar Privaten
zu entdecken (und damit zu entgrenzen)“ (ebd.). Von Bedeutung sind dann zu-
nächst der Austausch der unterschiedlichen Weltsichten, Hoffnungen, Träume,
Phantasien, Ängste sowie die Herstellung von Verknüpfungen zwischen diesen
„Rohstoffen“. Dies in einer doppelten Weise: Es geht dabei zum einen konkret um
die Herausbildung von tragfähigen und verlässlichen Beziehungen, um „den
150 Oder bei Oskar Negt und Alexander Kluge (1993): „Das Politische als Intensitätsgrad alltägli-
cher Gefühle, der durch besondere Aggregatzustände, die die Konflikte und Interessen anneh-
men, seine Form permanent verändert“ (S. 47 f.).
5.2 Sich selbst organisieren 189
5.2.3 Zur Bedeutung von „anders zusammenleben“ und „gegen Nazis sein“
Mit Blick auf die folgenden Zitate und Überlegungen ist eine Vorbemerkung zu
machen. Interessant ist, dass in den von mir geführten Interviews vor allem zwei
Punkte von den Interviewten betont werden, die sie als Kristallisationspunkte ihres
Engagements als Gruppe beschreiben. Alle sprechen davon, dass Perspektiven ei-
nes „anderen Zusammenlebens“ und eine Positionierung „gegen Nazis“ für sie
besonders wichtig gewesen seien. Auffällig ist, dass sie diese Punkte einerseits
stark betonen, andererseits diese Punkte nicht näher ausführen. In den Interviewsi-
tuationen selbst fiel mir dies nicht auf. Die Stichworte animierten mich nicht ein-
mal dazu näher nachzufragen. Auch beim Lesen und Durcharbeiten der verschrift-
lichten Interviewtexte fiel mir dies zunächst nicht auf. Erst im Laufe meines Be-
arbeitungsprozesses der Interviews und unter Einbezug meines ersten Interviews
mit Martin bemerkte ich dies. Hierfür kann es verschiedene Gründe geben. Zum
einen liegt zum Zeitpunkt der Interviews die Geschichte des gemeinsamen Enga-
190 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
gements der Gruppe und ihrer Organisation als Verein schon sechs Jahre zurück.
Für die einzelnen Interviewten werden dann möglicherweise andere Dinge wich-
tiger, denen sie dann im Gespräch auch mehr Raum geben. Zum anderen scheint
es ein stilles Einverständnis zwischen uns zu geben, die Thematik „anders zusam-
menleben“ und eine Positionierung „gegen Nazis“ nicht näher ausführen zu müs-
sen. Man könnte auch sagen, es handele sich um eine Selbstverständlichkeit, die
wir uns nicht näher erklären müssen.
An dieser Stelle ist deshalb auch das Stichwort des Arbeitsbündnisses als er-
klärender Baustein aufzurufen. Heinz Steinert gliedert unterschiedliche Schichten
eines Arbeitsbündnisses auf und schreibt, dass zwischen einem „persönlichen Ar-
beitsbündnis, das aufgrund individueller Erfahrungen in eine Situation hineinge-
tragen wird; [dem] organisatorische[n] Arbeitsbündnis einer bestimmten Einrich-
tung; [dem] institutionelle[n] Arbeitsbündnis, von dem ein ganzer gesellschaftli-
cher Praxis-Bereich bestimmt ist; [und dem] gesellschaftliche[n] Arbeitsbündnis,
das die Grundannahmen einer bestimmten Produktionsweise angibt“, unterschie-
den werden müsse (Steinert 1998b: 57). Und: „Auf allen Ebenen fragt man nach
dem Arbeitsbündnis, indem man sich das nicht Ausgesprochene an Wissen und
Normen erschließt, das vorausgesetzt ist, damit ein Phänomen [...] verstanden wer-
den kann (ebd.: 58).
Ich möchte deshalb an dieser Stelle kurz über das Arbeitsbündnis, das „nicht
Gesagte“, nachdenken, da sich mit den nicht ausgesprochenen „Selbstverständ-
lichkeiten“ auch „Tabuisierungen“ oder eine „implizite Normativität“ verknüpfen,
auf die ich mich als Forscher beziehe (vgl. Herzog 2015: 74 f.).151 Wie Kerstin
Herzog deutlich macht, ist gerade die Offenlegung einer „impliziten Normativität“
wichtig, um den „Interpretationspunkt“ deutlich zu machen, „von dem aus analy-
siert und gedeutet wird“ (ebd.). Zu allen Interviewten hatte ich eine unterschied-
lich intensiv ausgeprägte, aber persönliche Beziehung. Dies hängt unter anderem
damit zusammen, dass ich sie, wie ich schon weiter vorn skizziert habe, im Kon-
text meiner damaligen beruflichen Tätigkeit kennengelernt hatte. Meine berufli-
che Tätigkeit beim Mobilen Beratungsteam war eine Arbeit bei einer sogenannten
zivilgesellschaftlichen Initiative, die selbst organisiert als Verein durch Unterstüt-
zung mit staatlichen Fördermitteln eine Beratungsarbeit zur Unterstützung bürger-
schaftlichen Engagements gegen Rechtsextremismus in kommunalen Zusammen-
hängen entwickelte. Auf die Konflikthaftigkeit, als Vertreter einer staatlich geför-
151 Interessant ist, dass Kerstin Herzog von „verschiedenen Normativitäten“ spricht (vgl. Herzog
2015: 75). Dies korrespondiert mit meiner weiter vorn skizzierten Einsicht zum Alltagsverstand
und seiner sozialen Funktion, dass eben durch die Einzelnen in verschiedenen Zusammenhängen
unterschiedliche und sich widersprechende Einsichten und Positionen vertreten werden können.
In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass die einzelnen Interviews jeweils für sich unter-
schiedliche interaktive Arrangements abbilden, bei denen auch jeweils unterschiedliche Ele-
mente (einer) meiner „impliziten Normativität(en)“ zum Vorschein kommen.
5.2 Sich selbst organisieren 191
Es durchkreuzen sich im gegen Nazis sein“ zwei Linien. Die Fragen nach ei-
nem „anderen Zusammenleben“ der Menschen und die Auseinandersetzung mit
„Nazis“ sind für mich eng miteinander verbunden. Der Punkt eines „anderen Zu-
sammenlebens“ erweist sich für mich als ein Zusammenhang, den ich auch hier nicht
vollständig auflösen kann. Nur Stichworte müssen genügen. Prägend sind für mich
meine Erfahrungen in der DDR und die Versuche dort gesetzte Grenzen im Alltäg-
lichen zu verschieben, sowie die Erfahrungen nach der sogenannten „Wende“: mich
im folgenden Leben zurechtzufinden, der Zweifel, dass das „Neue“ die Freiheit sei
und das „Alte“ die Verdammnis repräsentiere, inklusive dem, wie ich gelebt hatte,
meine Versuche den aufziehenden Kapitalismus zu verstehen und die Demokratie
als Alternative zu suchen, und auch hier immer wieder die Auseinandersetzung mit
Nazis, die dann auch zur professionellen Tätigkeit wurde.152 Alles umkämpfte Dinge
und umkämpft war und ist für mich insbesondere die Selbstbestimmung und ihre
Gegenentwürfe zu fremdbestimmten Formen der Vergesellschaftung, zu Formen
gesellschaftlicher Ausschließung und den damit verknüpften Widersprüchen, die
zwischen „Ordnungsdenken und Befreiungsdenken“ zirkulieren (vgl. Cremer-Schä-
fer 2005: 153 f.). Ein vorsichtiger, aber wichtiger Punkt ist für mich in diesem Zu-
sammenhang, die Energie aufzubringen „Nein“ zu sagen und sich so wenigstens
fremdgesetzten Bedingungen zu verweigern.
Im Zusammenhang mit meinem „Nein“ habe ich den folgenden Gedanken
von Heinz Steinert in einem Text von Helga Cremer-Schäfer gefunden. Helga Cre-
mer-Schäfer schreibt über die Perspektive einer kritischen Theorie: „Aufgabe der
Theorie bleibt, die Prozesse für die Unmöglichkeit von Befreiung aufzuweisen“
(2005: 156). Und weiter über die Grenze und Möglichkeit intellektueller Arbeit
im institutionellen Kontext: „Kritik und Negativität kann als einziger Beitrag blei-
ben, ,den der Intellektuelle zum erbarmungslosen Getriebe der Gesellschaft allen-
falls zu machen hat. Wo das Einverständnis so überwältigend ist, hat man genug
mit der Aufgabe zu tun, ›nein‹ sagen zu müssen‘“ (Steinert in Cremer-Schäfer
2005: 156). Im letzten Punkt habe ich eine Verwandtschaft zu meinem „Nein“
entdeckt. Mein „Nein“ ist im skizzierten Zusammenhang sperrig, widersprüchlich.
Es enthält unterschiedliche Elemente. Sie signalisieren z. B. eine Grenze: bis hier-
her und nicht weiter. Gleichzeitig drängt das „Nein“ darauf, die Grenze zu über-
schreiten und eine Sprache für die Erfahrungen mit Fremdbestimmung und mit
Selbstbestimmung zu finden. Es drängt darauf, auch Vorstellungen davon zu ent-
wickeln, was hinter der Grenze liegen könnte. Hieraus können sich Situationen
oder Möglichkeiten ergeben, die dem eigenen Handeln eine „normative Richtung
geben können“ (Seel 2004: 39). In diesem Sinne ist mein „Nein“ auch normativ.
Mein „Nein“ hat aber auch eine resignative Färbung. Steht das „Nein“ nur für sich
152 Vorsichtige, kleine Ansätze einer Auseinandersetzung mit den damaligen Erfahrungen finden
sich in Affolderbach/Hirschfeld (2013) und Affolderbach (2015).
5.2 Sich selbst organisieren 193
allein, verliert die Verbindung zum Impuls, der das „Nein“ hervorgebracht hat,
kann es im Fatalismus münden, kann zur Nörgelei und Einpassung beitragen.
Mein „Nein“ ist damit auch im gesellschaftlichen Feld von Macht und Herrschaft
unterwegs und braucht wiederum die Kritik seiner selbst, ein Nachdenken über
das „Nein“ sowie eine Kritik dieses Nachdenkens.
Eine Interviewsituation erweist sich hier als Begrenzung. Auffällig ist an die-
ser Stelle ein Stillstand. Mit Blick auf die Interviews bleiben die inneren Differen-
zen oder unterschiedlichen Themen und Erfahrungsgehalte der beiden Stichworte
„anders zusammenleben“ und „gegen Nazis“ zwischen Interviewten und Intervie-
wer unausgesprochen.153 Vordergründig erscheint dies als eine Art Einverständ-
nis, vielleicht auch als Übereinstimmung in der Sache, die scheinbar keiner wech-
selseitigen Erklärung bedarf: auf der einen Seite der Forscher mit seinen Vorstel-
lungen gesellschaftlichen Zusammenlebens und persönlichen Erfahrungen mit
Nazis sowie gleichzeitig als Professioneller, der sich beruflich mit diesen Themen
beschäftigt; auf der anderen Seite die Interviewten und ihre Erfahrungen mit Na-
zis, ihre Erfahrungen einer Praxis, sich zu organisieren, und ihre Vorstellungen
eines Zusammenlebens. Genau bei diesem letzten Gedanken kommt mir der Zwei-
fel, ob er so stimmen kann. Berichten die Interviewten von ihren Erfahrungen mit
Nazis oder erzählen sie von ihren Erfahrungen damit, „gegen Nazis [zu] sein“?
Berichten sie über ihre Vorstellungen von einem Zusammenleben oder erzählen
sie über ihre Erfahrungen, „anders zusammenzuleben“? Die Interviewten sprechen
über ihre Erfahrungen mit und über ihr Handeln in spezifischen Situationen. Die
Interviewten erzählen davon, wie sie ihr „Leben in die eigenen Hände nehmen“
(Cremer-Schäfer 2010: 144).
153 An anderer Stelle ist weiter zu überlegen, ob die Stichworte „anders zusammenleben“ und „ge-
gen Nazis“ möglicherweise als Metaphern verstanden werden können. George Lakoff und Mark
Johnson haben in ihrer Untersuchung der Bedeutung von Metaphern für das Alltagsleben von
uns Menschen festgestellt, dass Metaphern nicht nur Elemente unserer Sprache seien, „sondern
auch unser Denken und Handeln“ durchdringen würden (vgl. Lakoff/Johnson [1980] 2014: 11).
Das Besondere hierbei ist, dass Metaphern „nicht zufällig sind, sondern kohärente Systeme bil-
den, nach denen wir unsere Erfahrungen konzeptualisieren“ (ebd.: 53). Ihre Bedeutung liegt da-
rin, dass sie „uns objektive Ähnlichkeiten vor Augen führen“ (vgl. ebd.: 240). Den Deutungs-
rahmen von Metaphern bilden nach George Lakoff sogenannte „Frames“ (Lakoff/Wehling 2014:
73). Letztere unterscheiden sich in „Surface Frames, durch die wir Bedeutungen einzelner Worte
und Sätze erfassen, also Frames auf der sprachlichen Ebene“ sowie „Deep Seated Frames“ als
im „Gehirn tiefverankerte Frames, die unser generelles Verständnis von Welt strukturieren“ und
„unseren eigenen Common Sense ausmachen“ (vgl. ebd.). Die Frames auf der sprachlichen
Ebene haben eine Ähnlichkeit zu den „generativen Themen“ bei Paulo Freire. Allerdings kann
ich diesen Zusammenhang hier nicht näher untersuchen und ausbauen. Vor dem Hintergrund
meiner kurzen Skizze lässt sich daher nur folgende Hypothese formulieren: „[A]nders zusam-
menleben“ und „gegen Nazis“ sind mit Lakoff und Johnson keine Metaphern, sondern verweisen
auf eine Verständigung in Frames oder bilden im Sinne Freires generative Themen.
194 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Was meine ich mit Situationen? Helga Cremer-Schäfer hat die herrschafts-
bezogene Dominanz der Nutzung des Begriffs „Situation“ im Zusammenhang mit
Sozialer Arbeit deutlich gemacht. Mit dem Begriff „Situation“ werde vor allem
ein „Interventionshandeln thematisiert“, welches darauf ziele, die „verhaltenssteu-
ernde Macht von Situationen“ durch „Fachkräfte des aktivierenden Sozialstaats“
als „Herrschaftstechniken“ (Cremer-Schäfer 2010: 239) nutzbar zu machen, damit
Individuen Handlungsformen entwickeln, um „unter fremd gesetzten Zielen“
gleichzeitig „aktiv, kreativ, demütig“ (Kaindl 2010: 93) zu agieren. Der Begriff
der Situation meint in diesem Zusammenhang vor allem Formen „situierte[n] Han-
deln[s]“, bei denen „Personen und ihre Veränderung“ zum Gegenstand „zugrei-
fender Interventionen werden“ (Cremer-Schäfer 2010: 241).154 Wie Helga Cre-
mer-Schäfer deutlich macht, gehen in dieser Sichtweise die inneren Widersprüche
von Situationen verloren. Beispielsweise sei eine „Handlungssituation von Sozi-
alarbeiter-Betroffener [...] tendenziell eine ,totale Situation‘“, da „beide Akteure“
zum einen „an Verdinglichungsprozessen zum Zweck der Disziplinierung und
Ausschließung“ mit Arbeiten sowie zum anderen „situativ dagegen arbeiten“
könnten (ebd.: 240).155 In diesem Zusammenhang könne zwischen einem Ver-
ständnis von Situation als „indirekter Verhaltenssteuerung“ einerseits sowie der
Akteursperspektive und ihrer Sicht auf Situationen als eine „Arbeit an Situatio-
nen“ unterschieden werden (vgl. ebd.). Mit letzterer Sichtweise können Situatio-
nen als „Möglichkeiten der Vergesellschaftung“ ins Blickfeld kommen (vgl. ebd.:
243). Situationen werden dann als Erfahrungszusammenhang unterschiedlicher
Anteile und Überschneidungen von Selbst- und Fremdbestimmung der Individuen
erkennbar. Bestimmend sind damit die „Handlungsstrategien“ der Leute, deren
Eigentätigkeiten, Situationen zu bearbeiten, „das Leben in die eigenen Hände zu
nehmen“ (ebd.: 244).
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal die Äußerung von Elena aufgreifen.
Elena: „[...] dann haben wir uns darüber unterhalten, wie, ja, wie es [...] Na ja, was so
in [...] gerade passiert, wie wir, wie wir, was wir da so für eine Perspektive drauf
haben und was wir uns vielleicht auch anders wünschen würden und wie wir uns auch
so das Zusammenleben oder so die Themensetzung im Ort anders wünschen würden
und was wir da, ja, vielleicht irgendwie machen könnten“ (E: 143-147).
154 Die bei Helga Cremer-Schäfer gesetzten Klammern um (und ihre Veränderung) habe ich in mei-
nem Zitat weggelassen, um die Zielrichtung der gemeinten Intervention hervorzuheben.
155 Helga Cremer-Schäfer bezieht sich bei ihrem Gedanken auf Timm Kunstreich. In meinem Zitat
habe ich diesen Bezug im Sinne einer besseren Lesbarkeit weggelassen.
5.2 Sich selbst organisieren 195
Ohne dass Elena auf die diskutierten Themen genauer eingeht, macht sie ihr ge-
meinsames Handeln als Gruppe deutlich. Die Gruppe spricht darüber, was gerade
passiert. Die Mitglieder sprechen über das, was sie erleben. Sie sprechen über Si-
tuationen ihres gegenwärtigen Alltags. Sie sprechen darüber, wie sie diese Situa-
tionen erlebt haben. Sie vergewissern sich gemeinsam. Sie vergewissern sich dar-
über, was die anderen in der Gruppe denken. Es öffnet sich ein Feld von Fragen:
Was würden sie tun? Welche Ideen haben sie? Welche unterschiedlichen Blick-
winkel ergeben sich? Welche verschiedenen Betrachtungsweisen haben sie? Wel-
che Zusammenhänge lassen sich herstellen? Sie sprechen über ihre Erfahrungen.
Sie sprechen über ihre Erfahrungen, die sie in ihrer Stadt machen. Und Elena wird
hier konkret: es handelt sich um Erfahrungen, die sie als Einzelne mit dem Zusam-
menleben in der Stadt machen.
Elena: gerade-passiert|vielleicht-anders-wünschen. Erkennbar ist hier ein Kon-
trast. Was gerade passiert, verweist auf konflikthafte oder problematische Zusam-
menhänge oder lässt zumindest Reibungspunkte erahnen, die eine gemeinsame Ver-
gewisserung herausfordern, eine gemeinsame Vergewisserung notwendig machen.
Durch gemeinsames Fragen, durch die unterschiedlichen Blickwinkel, die zum Vor-
schein kommen, können die Reibungspunkte, Probleme und Konflikte möglicher-
weise überhaupt erst als solche in Worte gefasst und zur Sprache gebracht werden.
Durch die gemeinsame Betrachtung entsteht eine Sicherheit, bestimmte Situationen
als tatsächlich konflikthafte Zusammenhänge erkannt zu haben. In der gemeinsamen
Betrachtung kann man seinen individuellen Erfahrungen trauen. Und mehr noch, die
verschiedenen Blickwinkel oder Blickrichtungen machen unterschiedliche Stand-
punkte deutlich, die selbst auch wieder Reibungspunkte bilden, konflikthaften Stoff
enthalten und gleichzeitig Phantasien der Möglichkeiten herausfordern, Perspekti-
ven von Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Elena: gerade-passiert | vielleicht-anders-wünschen | vielleicht-irgendwie-
machen-könnten |einfach-Lust-hätten. Was gerade passiert, braucht Alternativen,
Gegenentwürfe. „Vielleicht“ zeugt hierbei von einer Vorsicht, von einer suchen-
den Bewegung. Zunächst „wünschen“: Wünschen verweist auf ein Spannungs-
feld. In einer negativen Notation gleicht „wünschen“ einer Erwartung; sich etwas
erwarten, sich etwas ausrechnen, hat einen bestimmenden, festgelegten Charakter
(vgl. Stichwort wünschen Duden 2014). Die Vorsicht des „Vielleicht“ hingegen
in Verbindung mit „anders“ als Kontrast zu dem, was „gerade passiert“, ist nicht
festgelegt, benötigt ein Zutun; es braucht Phantasie. Ich möchte an dieser Stelle
„wünschen“ mit der Entwicklung von Vorstellungskraft übersetzen. Es ist eine
Aktivität, die Hoffen und Träumen braucht. Es ist eine Aktivität, die im Kontrast
zu den Erfahrungen des Alltäglichen tastend Vorstellungen davon (er)findet, was
anders sein könnte, wie es anders sein könnte, und im Feld der Vorstellungskraft
die Frage der Möglichkeiten entdeckt. Eine Vorstellungskraft, die den Zusammen-
196 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
hang herstellt, auch hier fragend „vielleicht irgendwie“ (E: 147), aber vom „Wün-
schen“ (E: 146) den Weg oder die Verbindung zum „Machen“ (E: 147) findet und
die Perspektive dafür öffnet, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Es ist ein
offener Entwicklungsprozess. Elena betont hierbei das „Wir“ (E: 147). Es ist ein
gemeinsamer Prozess. Die Vorstellungen von dem, was sie gemeinsam „machen
könnten“ und, konkreter noch, was sie „organisieren“ könnten, braucht die „Lust“
als sinnliche Erweiterung, als sinnlichen Zugang. „Lust“ in Verwandtschaft zur
Fröhlichkeit und zur Vergnügtheit, aber in Verbindung zum „hätten“ meint eine
Freude am Tun, eine Freude am Handeln. Es handelt sich nicht um eine billige
Lust eines Vergnügens auf Kosten anderer. Diese Lust wäre eine der Unterdrü-
ckung, eine der Spaltung, die in Unlust kippt. „Lust“ im Zusammenhang mit dem
„Wir“ von Elena betont eine „Bereitschaft zu Sympathie“ (Steinert 1985: 78), eine
auf Sympathie beruhende Wechselbeziehung, das „teilhaben an einer beschaffen-
heit“ (GW 20, Sp.: 1401), die „Teilhabe und Teilgabe“ (Evers/Hirschfeld 2011:
191) am gemeinsamen Handeln. Die Gegenwart wird nicht als feststehende Größe
verstanden. Sie ist begreifbar und veränderbar. An den konkreten Erfahrungen ent-
zünden sich „menschliche Haltungen, Energien, Gefühle, Hoffnungen, Träume,
Ängste und Befürchtungen“ (Hirschfeld 2015b: 141) und mit ihnen die Phantasie
der Gestaltbarkeit. In diesem Sinne entsteht Phantasie als eine Praxis, die über-
haupt erst die Möglichkeiten der Gestaltbarkeit hervorbringt.
Martin berichtet im ersten Interview über das Konflikthafte im Zusammenle-
ben der Menschen in seinem Lebensort156 und erläutert, welche Bedeutung dies
für sie als Gruppe und später in der Organisation als Verein hatte.
Martin: „Oder ganz einfach, dass man überhaupt anders miteinander umgeht, die
Menschen miteinander anders umgehen. Und gerade in [X] ist die Sache, da schießt
jeder gegen jeden. Das ist eigentlich, was mich freuen würde, dass wir vielleicht das
ein bisschen wieder aufholen, meine Generation zu Generation, was unsere Elternge-
neration ein bisschen verbockt hat. Mit unterschiedlichen Sachen, wie [Umweltskan-
dal] oder [Kieswerk] oder sonst was. Das geht ja schon seit Jahrzehnten so. Seit nach
der Wende geht das so, dass sie in [X] sich alle gegenseitig irgendwo anfeinden. Und
das stört mich eigentlich und das ist eigentlich bei uns häufig. Cool muss ich sagen,
bei uns im Haus sind mittlerweile drin, da sind Leute dabei, wo die Eltern gegen das
[Kieswerk] waren. Meine Eltern, mein Vater z. B., arbeitet dort. Der war natürlich
wieder dafür. Da haben wir Leute dabei von Schloss X, ein Sohn von den. Es sind
unterschiedliche Leute dabei, wo sich die Eltern zum Teil spinnefeind sind. Und das
find ich gut, das wär halt schön, wenn man das erreichen könnte nach und nach und
da wieder vielleicht mal ein Miteinander irgendwie hinzukriegen und nicht nur auf
allem rumhacken. Ich möchte auch mal Konzepte bringen, sagen, so könnte man es
156 In diesem Fall meine ich den Ort als räumliche Begrenzung, als die Grenzen der Kleinstadt.
Lebensort markiert in diesem Zusammenhang den Erfahrungskontext, von dem Martin in einem
engeren Sinne spricht. Er meint seine Erfahrungen in einer Kleinstadt.
5.2 Sich selbst organisieren 197
besser machen, gemeinsam überlegen, was man überhaupt machen sollte, gemeinsam
überlegen. Und nicht sagen, du machst das falsch, du machst das falsch, sondern sa-
gen, wollen wir das nicht ein bisschen verbessern, da machen das so und so [...] Was
man in der Politik immer wieder hört, aber nie gemacht wird. Das halt“ (M/a: 1000-
1019).
Auch Martin spricht ähnlich wie Elena darüber, die Dinge in die eigenen Hände
nehmen zu wollen. Er verknüpft dies mit konkreten Erfahrungen in der Kleinstadt:
„[D]a schießt jeder gegen jeden“ (M/a: 1001 f.). Die Konflikte liegen Martin zu
folge sehr tief. Martin verweist hierbei auf unterschiedliche Generationen und von
seinem Standpunkt aus, der Jugend, reichen die Konflikte lange Zeit zurück, bis
zur Wende, zu der Zeit, in der er geboren wurde. Von dort aus habe die Elternge-
neration das „ein bisschen verbockt“ (M/a: 1004). Er wird hierzu noch konkreter
und spricht vom Umweltskandal und vom Kieswerk.
Der Umweltskandal hat zum Zeitpunkt des Gespräches mit Martin für meine
Masterarbeit schon eine dreijährige Geschichte. Kurz zusammengefasst: Für die
örtliche Sportstätte waren Lärmschutzwände gebaut worden. Wie sich später her-
ausstellt waren beim Bau Gummiabfälle verwendet worden, die den notwendigen
Umweltstandards nicht genügten und von den Behörden als gefährlich eingestuft
wurden. Die Stadt hatte sich dann um deren Entsorgung zu kümmern. Um die
hierbei entstandenen Kosten im oberen sechsstelligen Bereich stritt sich die Stadt
mit ihrer vorgesetzten Behörde (Landratsamt) vor Gericht und musste am Ende
ca. ein Drittel der Kosten selbst tragen. Neben dem, dass dieses Geld für die Stadt
eine erhebliche Belastung des Haushaltes bedeutete, ist die Geschichte aber noch
mit einem Subtext versehen. Kritisiert werden, die Politik des Stadtrates und des-
sen Entscheidungen. Für die Kleinstadt selbst ging es vor allem darum, dass die
Kosten hätten vermieden werden können, wenn zum einen der Bürgermeister und
seine Verwaltung zuverlässig gearbeitet hätten. Sie hatten eigene rechtliche Prü-
fungen und gutachterliche Untersuchungen unterlassen. Zum anderen war zum da-
maligen Zeitpunkt das Thema Müll in der Region ein Dauerthema. Im Raum stan-
den Vermutungen zu undurchsichtigen Praktiken von politischen Vertretern des
Landkreises bei der Abfallentsorgung bis hin zu Bestechungsgeldern für den Bau
einer Müllverbrennungsanlage in der Region. In der Kritik standen vor allem so-
genannte „Club-Gespräche“ von verantwortlichen Politikern des Landkreises, bei
denen die Inhalte und Entscheidungen über die Auftragsvergabe der Öffentlichkeit
entzogen waren. Eine Folge der Praktiken waren sehr hohe Müllgebühren für den
gesamten Landkreis. Die „Club-Gespräche“ sind auch ein Synonym, das mir in
verschiedenen Gesprächen in der Kleinstadt (X) immer wieder begegnete. Codiert
wurde damit die Praxis der lokalen Politik. Insofern war der Umweltskandal von
(X) auch eine Kritik an der örtlichen politischen Praxis von „Hinterzimmergesprä-
198 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
chen“ und der Unklarheit darüber, welche Rolle dann die Entscheidungen des
Stadtrats spielen.157
Darüber hinaus war auch die Frage des Umweltschutzes ein Zankapfel im
Ort. Waren sich die Leute im Zusammenhang mit der Sportanlage darüber einig,
dass Standards des Umweltschutzes Geltung haben sollten, war aber gleichzeitig
der damit verbundene Kostenfaktor ein Problem. Es darf halt nichts kosten und
vor allem sollen entstehende Kosten nicht den Einzelnen aufgebürdet werden. In
einem vergleichbaren Spannungsfeld steht die Geschichte zum Kieswerk, von der
Martin berichtet. Hierbei handelt es sich nicht um einen öffentlichen Skandal mit
juristischen Konsequenzen. Es ist so, wie Martin erzählt, dass es verschiedene
Standpunkte zum Kiesabbau in der Region gab. Der Konflikt entzündete sich an
der Frage der Umwelt, einer Zerstörung der Landschaft und einer Belastung der
Umwelt in der Folge des Kiesabbaus. Demgegenüber stand die Position der Not-
wendigkeit (hier auch der Möglichkeit) realer Arbeitsplätze für Menschen aus dem
Ort. Letzteres hat natürlich für eine ländliche Region immer eine große Bedeu-
tung. Für die Menschen der Kleinstadt (X) war dies mit den Veränderungen nach
der „Wende“ allerdings auch zur existenziellen Frage geworden.
Ich möchte die Gedanken von Martin aufnehmen und in anderer Weise for-
mulieren, um so einen Kontrast herauszustellen, der die Tiefe des gesellschaftli-
chen Konfliktes, von dem er spricht, hervorhebt und gleichzeig deutlich macht,
welche Handlungsweise von Martin skizziert wird.
Da schießt jeder gegen jeden|schon seit Jahrzehnten|gegenseitig irgendwo anfein-
den|das ist eigentlich bei uns häufig|zum Teil spinnefeind sind
Umweltskandal|[Kieswerk]|[Die] gegen das [Kieswerk]|Vater arbeitet dort|war dafür
Anders miteinander umgeht|die Menschen miteinander anders umgehen|was mich
freuen würde|ein bisschen wieder aufholen|das wär halt schön|wenn man das errei-
chen könnte|nach und nach|mal ein Miteinander hinzukriegen|gemeinsam
Im Grunde verweist Martin auf ein Spannungsfeld kapitalistischer Vergesellschaf-
tung. In diesem Zusammenhang kommen unterschiedliche Interessenlagen zum
Vorschein, die, voneinander abgespalten, sich fremd (entfremdet) und im Konflikt
gegenüberstehen. Die einen sind gegen das Kieswerk aus Gründen des Umwelt-
schutzes. Die anderen sind für das Kieswerk, weil sie dort arbeiten und Geld ver-
dienen. Für beide gilt allerdings auch, dass sie über das Werk (die Arbeitsmittel)
nicht verfügen; die Produktionsmittel sind privat und ihnen entzogen. Beide Inte-
ressenlagen befinden sich in einer gesellschaftlich bedingten strukturellen Abhän-
157 Die Geschichte hat noch mehr Facetten, die ich hier nicht darstellen kann. Die skizzierte Ge-
schichte wurde medial diskutiert und ich habe sie zum Zwecke der Anonymisierung verfremdet.
Dies war eine Absprache und Bedingung, die Interviews für meine Arbeit verwenden zu können.
5.2 Sich selbst organisieren 199
gigkeit, die außerhalb ihres (vereinzelten) unmittelbaren Zugriffs liegt. Beide Inte-
ressenlagen – „für Umwelt sein“ und „für Arbeit sein“ – bilden Konflikte, zwei Sei-
ten ein und derselben Medaille. Kapitalismus bedeutet immer eine Ausbeutung von
Natur und menschlicher Arbeitskraft. Für die Aufhebung dieses Verhältnisses be-
deutet es notwendigerweise immer, eine Aufhebung des Ausbeutungsverhältnisses
des Menschen durch „eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse [und] die sie
tragenden Arbeitsstrukturen“ sowie eine Aufhebung der Ausbeutung der Natur
gleichermaßen in den Blick zu nehmen (vgl. hierzu Frigga Haug 1996: 575 f.). Diese
strukturelle Bedingtheit verfestigt sich im Kontext kapitalistischer Vergesellschaf-
tung in einer „Trennung des Ökonomischen vom Politischen“, „der privaten Verfü-
gung über die Produktionsmittel“ und „einer Privatisierung gesellschaftlicher Tätig-
keiten“ sowie – globaler – einer „geografischen Arbeitsteilung zwischen den [...]
Zentren und ihren Peripherien“ (vgl. Demirovic 1997: 20). Diese Auftrennung in
unterschiedliche Abteilungen, Interessenlagen und Territorien ist bis in das Lo-
kale158 spürbar, aber durch die Einzelnen nicht durchschaubar.159
Martin skizziert in seinen Überlegungen verschiedene Bearbeitungsweisen,
wie die Menschen im Ort mit strukturell bedingten Aufspaltungen und Trennun-
gen umgehen. Zuspitzend kann man sagen: Sie werden von den Menschen in un-
terschiedlicher Weise aktiv aufgenommen. Zum einen schildert Martin die ent-
standenen Konflikte als Probleme der Elterngeneration. Leute, die sich kennen,
feinden sich an, sind sich spinnefeind. Die strukturelle gesellschaftliche Bedingt-
heit der Konflikte tritt in den Hintergrund. Die von Martin skizzierten Konflikte
werden ins „Private“ verschoben.160 Hier erscheinen sie verhandelbar und gewin-
nen als persönliche Anfeindungen und Rivalitäten (z. B. der Eltern) an Bedeutung.
Nicht nur dies: In der Form personalisierter Konflikte gewinnen die Anfeindungen
und Rivalitäten auch die Bedeutung, „etwas tun zu können“. „Etwas tun zu kön-
nen“, das in der Macht der Einzelnen steht. Insofern ist eine Verschiebung auch
Handlungsweise, die in Relation zu den Lebensumständen der Menschen entsteht
und dort ihren Sinn entfaltet.
„Jeder gegen jeden“, sagt Martin (vgl. M/a: 1002). Das Besondere an Martins
Einsicht ist, dass in dieser Konstellation die Konflikte nicht bewältigt werden kön-
nen, sondern, im Gegenteil die Spaltung vertieft und spürbare Grenzen für alle
Leute im Alltäglichen setzt. Anfeindungen und Rivalität sind widersprüchlich. Der
eigenaktive Anteil dieser Auseinandersetzungen baut auf ausschließende Formen
von Vergesellschaftung. Das Eigenaktive als Versuche, die Kontrolle über die Le-
bensbedingungen zu gewinnen, reproduziert selbst die Spaltungen und
Begrenzung auf das „Private“. Es wird passiv. Die Handlungsfähigkeit der Ein-
zelnen beschränkt sich auf eine Personalisierung des Konflikts. Verantwortlich für
gesellschaftliche Verwerfungen ist dann der Nachbar, die anderen Eltern, der po-
litische Gegner, der Umweltaktivist der die Notwendigkeit von Arbeit nicht aner-
kennt, der Vater, der die Notwendigkeit von Arbeit unterstreicht und ein Engage-
ment für die Umwelt als Verhinderung erfährt.
Der Konflikt ist damit nicht mehr als ein allgemein gesellschaftlicher, als ein
öffentlicher von Bedeutung, sondern kann auch vonseiten der Politik ignoriert und
als Privatangelegenheit behandelt oder bei Eskalation ordnungspolitisch bearbei-
tet werden. Mehr noch: Durch die scheinbar unversöhnliche Gegenüberstellung
von einem Interesse am Schutz der Umwelt und einem Interesse am Zugang zur
Erwerbsarbeit ergibt sich auch die Möglichkeit (oder auch die Notwendigkeit),
diese Themen durch unterschiedliche politische Interessengruppen (gegeneinan-
der) zu gebrauchen und in den Rahmen einer hierarchischen Arbeitsteilung von
Politik einzugliedern. Hier wird der gesellschaftliche Konfliktstoff stellvertretend
durch unterschiedliche Interessengruppen, Parteien, Gewerkschaften, Umwelt-
gruppen, Wirtschaft usw. verhandelt und bleibt dem unmittelbaren Zugang „von
unten“ entzogen. Im negativsten Fall wird so die Trennung wieder zum Instrument
einer Politik „von oben nach unten“ mit der Folge, dass auch die Konfliktfelder
Umwelt und Arbeit ihre innere Verbindung zu den Menschen verlieren.
Gleichzeitig erscheinen die Deutungen von Martin selbst als eine Bearbei-
tungsweise in diesem Feld. Auch bei ihm wird das Konflikthafte der strukturellen
Bedingtheit verschoben. Er deutet den Konflikt als einen Generationskonflikt, als
Sachverhalte „die unsere Elterngeneration ein bisschen verbockt hat“ (M/a: 1004).
Im Unterschied zu den konfrontativen Formen des „jeder – gegen – jeden“, unter-
streicht Martin die Notwendigkeit eines Miteinanders (vgl. M/a: 1002 f.). Dieses
Miteinander hat verschiedene Dimensionen.
Das Miteinander bildet den Gegenentwurf zum „jeder – gegen – jeden“. Mar-
tin spricht davon, ein Miteinander „irgendwie hinzukriegen“ (M/a: 1013 f.). Er ist
sich nicht sicher, wie es gehen könne; es gibt hier keine fertige Lösung. Im Grunde
skizziert Martin eine prozesshafte Bewegung, eine Entwicklung „nach und nach“
(M/a: 1013). In diesem Zusammenhang ist auch das Miteinander selbst ein zu ent-
wickelnder Zusammenhang, der sich im „gemeinsamen überlegen“ damit beschäf-
tigt, „was man überhaupt machen sollte“ und wie man es gemeinsam „besser ma-
chen“ könnte (vgl. M/a: 1015). Martin berührt in seinen Überlegungen intuitiv
zwei wichtige Punkte. Zum einen rückt er die Entwicklung eines kooperativen
Zusammenhangs in den Fokus; die Einzelnen finden im Gemeinsamen zusammen.
Zum anderen beschreibt er einen Weg des gemeinsamen Überlegens, des Erken-
nens und, dem vorgelagert, herausfordernd, „was [man] überhaupt machen sollte“
(ebd.), fragt nach Möglichkeiten, braucht die Phantasie, sucht die „Vermittlung
5.2 Sich selbst organisieren 201
Beide wiederum werden als gegensätzliche Muster unter den Bedingungen kapi-
talistischer Vergesellschaftung hervorgebracht. Habe ich weiter oben geschrieben,
dass Kapitalismus immer gleichermaßen eine Ausbeutung von Natur und Arbeits-
kraft bedeutet, so ist das Stichwort der Verschiebung weiterzudenken. Denkbar ist
z. B., dass sich unter den Bedingungen einer kapitalistischen Vergesellschaftung
die Verhältnisse einer Ausbeutung der Arbeitskraft des Menschen und einer Aus-
beutung der Natur insofern verändern, dass beide zusammengedacht werden, also
sich z. B. ein Schutz der Umwelt an andere Formen der Arbeit bindet und umge-
kehrt. Hier könnte der Eindruck entstehen, dass Ausbeutung verschwunden sei,
weil sich in diesem Verhältnis der Umgang mit Natur und Arbeitskraft verändert.
Mit dem Blickwinkel der Verschiebung allerdings ist denkbar, dass sich Ausbeu-
tung dann auf andere Zusammenhänge, auf andere Dinge richtet, die ausgebeutet
werden (Tiere, Weltall). Ausbeutung würde nicht verschwinden, sondern sich ver-
schieben. Übertragen auf das Beispiel von Martin bedeutet dies, dass eine Ver-
schiebung innerhalb der gegebenen Verhältnisse Räume öffnen kann, sich zu be-
wegen, politisch etwas zu tun.
Meine erste Assoziation: „gegen Nazis sein“, Nazis ablehnen oder dagegen zu sein
oder vielleicht auch einfach nur Nein zu sagen, nicht einverstanden zu sein mit
Nazis, nicht einverstanden zu sein mit dem, wofür Nazis stehen. Schon der letztere
Gedanke erweist sich als nicht ganz so einfach. Das Nein setzt mindestens Erfah-
rungen voraus und diese Erfahrungen sind der Ausschlag dafür eine Grenze zu
ziehen, eine Grenze die in Kritik ihren Ausdruck findet. In diesem Sinne ist „gegen
Nazis sein“ sperrig und liegt einer kurzfassenden, geradlinigen Interpretation quer
im Weg. Nicht weniger ist der Begriff des „Nazis“ schwierig und reiht ein Bündel
von Assoziationen auf, das historische Dimensionen und reaktionäre Entwicklun-
gen in der Gegenwart einschließt. Auf jeden Fall aber bildet „Nazi“ einen sehr
starken Kontrast zu einer Position, die an dieser Stelle – vorläufig und noch nicht
näher beschrieben – als eine Haltung „gegen Nazis [zu] sein“ gefasst werden kann.
Möglicherweise handelt es sich auch um eine Kategorie oder auch um ein Muster
der Personalisierung von Konflikten. Im „Gegen – Nazis Sein“ kreuzen sich ver-
schiedenste Dimensionen, Erfahrungsgehalte und Konfliktlinien. Was sagen die
Interviewten?
Sandra: „Ganz groß war also dieses, Hauptsache, irgendwie gegen Nazis sein und also
ich hatte vorher auch in, also ich bin in [Y] zur Schule gegangen und hatte auch dort
immer Probleme irgendwie mit einigen Leuten und da waren halt nur so ganz normale
Mitschüler und Mitschülerinnen, die halt vielleicht, wo ein paar auch mal gesagt ha-
ben, Nazis sind scheiße, aber eigentlich hat immer keiner so richtig was gemacht und
5.2 Sich selbst organisieren 203
ja gut, im [AJU – alternativen Jugendzentrum] waren wir dann mal, aber dort kamen
wir irgendwie auch nicht so richtig rein und deswegen war es dann für mich halt ein-
fach irgendwie auch schön, mal eine Gruppe zu haben, wo man weiß, man hat irgend-
wie die gleichen Ziele, man kann zusammen was machen, auch weil dann der Jugend-
klub zu war und wir irgendwie eh unabhängig auch von dem Verein gesucht haben,
wo wir uns jetzt überhaupt noch treffen können, weil dann irgendwie nur noch auf
dem Markt rumsitzen möglich war oder halt zu Hause bleiben. Also wollten wir uns
sozusagen eh mit den Leuten, die da in dem Jugendklub waren, was Neues suchen
und da war das sozusagen dann ideal, dass es irgendwie auch einen Verein geben
sollte, der auch ja dann eine Räumlichkeit bräuchte und ja. Ach, ich glaube, so zum
Großteil war das einfach nur dieses gemeinsam irgendwas gegen die Nazis machen
können, um irgendwie zu zeigen, dass es halt auch noch was anderes gibt in [X], außer
das, was in den Medien bekannt geworden ist“ (Sa: 173-190).
Sandra beschreibt in kurzen Sequenzen Situationen, wo „gegen Nazis sein“ eine
Rolle gespielt hat. Sie spricht von der Schule in der von (X) benachbarten Kreis-
stadt, die sie besucht hat. Sie spricht vom alternativen Jugendzentrum, einem
selbstverwalteten Jugendzentrum in der benachbarten Kreisstadt. Sie spricht vom
Jugendklub und vom Markt, beides Orte, die wiederum wichtige Anlaufpunkte in
ihrem Wohnort bilden. Eine erste Überlegung: Die Orte bilden exemplarische
Punkte an deren Beispiel Sandra deutlich macht, was sie ursprünglich dort erwar-
tet hat. Sie sucht nach Freiräumen, nach Zusammenhängen, die „Hilfreiches“
(Cremer-Schäfer 2002: 217) zur Entwicklung von Handlungsfähigkeit bereithal-
ten, um selbstbestimmtes Handeln zu ermöglichen. Sandra deutet allgemein an,
dass schon „vorher“ (Sa: 174) „gegen Nazis sein“ (Sa: 174) für sie eine Bedeutung
gehabt habe. Gehe ich hierbei davon aus, dass sie orientiert an unserem Interview-
gegenstand von ihrem Zusammenkommen mit der Gruppe in der Gartenlaube
spricht, zeichnet sie anhand unterschiedlicher Stationen einen Prozess der Suche
nach Anschluss zu Leuten, mit denen sie ihr Verständnis von „gegen Nazis sein“
teilen kann.
In der Schule: Ich hatte|dort immer Probleme irgendwie|mit einigen Leuten|nur so
ganz normale Mitschüler und Mitschülerinnen|ein paar|auch mal was gesagt|Nazis
sind scheiße|eigentlich hat immer keiner so richtig was gemacht
Sandra entwickelt zwei Kritikpunkte. Sie kritisiert, dass nur einige ihrer Mitschü-
ler und Mitschülerinnen mal etwas gesagt hätten (vgl. Sa: 173 f.), konkreter: mal
gesagt hätten, dass Nazis scheiße seien. Eine kritische Distanzierung von „Nazis“
durch „Nazis sind scheiße“ (Sa: 177) erscheint hier als vereinzelte Ausnahme, als
unzusammenhängende Größe. Dadurch verliert die in der Distanzierung enthal-
tene Kritik scheinbar an Kraft, an Gehör, an Ernsthaftigkeit. Darüber hinaus kriti-
siert Sandra das Formelhafte. Formelhaft bezeichnet hier eine Spannung, die auf
der einen Seite eine kritische Äußerung meint, welche aber gleichzeitig auf der
204 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
161 Ich spreche hier bewusst von den historischen Dimensionen des Faschismus und nicht wie so oft
üblich im alltäglichen Sprachgebrauch von „Nationalsozialismus“. Nationalsozialismus ist eine
Selbstbezeichnung „vom Standpunkt der Nazis“ und läuft dabei Gefahr, schon „ein Stück weit
deren Standpunkt einzunehmen“ (Haug 2017: 239).
162 Ich habe das Zitat hier im Sinne einer besseren Lesbarkeit stark eingekürzt. Ich könnte an dieser
Stelle noch weitere solcher Erfahrungen aus den Interviews anfügen. Jede einzelne Passage kann
auch anders interpretiert und anders gelesen werden, als ich es hier tue. Es geht mir an dieser
Stelle nur darum, ein Spannungsfeld des Alltäglichen anzudeuten und nicht auszumalen. Das
angedeutete Spannungsfeld ist auf jeden Fall tief im Alltag verwurzelt und das Besondere ist die
Unberechenbarkeit der alltäglichen Zusammenhänge, in denen sich die Interviewten bewegen
und in denen sie ihre Erfahrungen mit Leuten und ihren Denk- und Handlungsweisen machen,
die sie dort nicht unmittelbar vermuten.
5.2 Sich selbst organisieren 205
widersprüchlich: Wie können sich Leute für Tiere stark machen und gleichzeitig
den Menschen verachten? Dies fordert eine Distanzierung, eine alternative Posi-
tion, eine alternative Handlungsweise heraus.
In ähnlicher Weise schildert Martin eine konflikthafte Situation. Bekannte,
Leute aus dem Freundeskreis, entwickeln Sympathien für eine Partei, die nationa-
listische, rassistische und antidemokratische Ziele als politisches Programm ver-
folgt. Und nicht nur dies: Einige Leute aus dem Freundeskreis geben zu erkennen,
dass sie durch diese Partei ihre Interessen vertreten sehen; sie wählen die NPD und
teilen eine Idee, dass Ausländer rausfliegen müssen. Vor allem von Leuten, von
denen Martin es nicht erwartet hatte, wird eine rassistische Position vertreten. Dies
stellt die Glaubwürdigkeit, die Verlässlichkeit der freundschaftlichen Beziehun-
gen infrage: Kann man mit Menschen befreundet sein, die Menschen verachten?
Was hat dies mit mir zu tun? Auch hier ist eine Positionierung, mehr noch: eine
doppelte Auseinandersetzung, gefordert: Man muss sich mit den Freunden, aber
auch mit sich selbst und seinen eigenen rassistischen Blickwinkeln auseinander-
setzen.
Das hiermit angedeutete Spannungsfeld ist tief im Alltag verwurzelt. Es ist
insofern verallgemeinerbar, als in den verschiedensten Kontexten vom gesell-
schaftspolitischen Engagement bis hin zum Bekannten- und Freundeskreis Situa-
tionen entstehen, welche Widersprüche aufwerfen, vermeintliche Eindeutigkeiten
infrage stellen, Grenzen markieren. Eine Grenze der skizzierten Beispiele ist die
Verachtung von Menschen. Diese Verachtung ist nicht allein eine des Denkens
oder isolierter Privatheit, sondern ist eine Art praktischen Handelns, die sich auch
in der Herausbildung konkreter Beziehungen zu anderen ausdrückt. Es wird Zu-
gehörigkeit hergestellt. Man kann auch sagen, diese Art des Handelns ist eine
Form negativer Vergesellschaftung, die auf dem Ausschluss von anderen beruht.
Die „einigen“ Leute, von denen Sandra im einführenden Zitat spricht, könn-
ten solche oder vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Auf jeden Fall deutet
die Äußerung von Sandra darauf hin, dass es Berührungspunkte mit Erfahrungen
mit der Verachtung von Menschen gegeben haben könnte, die der Impuls dafür
sein könnten, zu sagen: „Nazis sind scheiße“. Die „Einigen“, von denen Sandra
spricht, wissen, dass mit „Nazis“ verknüpfte Positionen problematische Dinge
sind und es deshalb gut ist, „Nazis“ abzulehnen.
Allerdings bleibt das Verhalten defensiv und passiv. Sandra: „[E]igentlich
hat immer keiner so richtig was gemacht“ (Sa: 177). Eine Distanzierung mit „Na-
zis sind scheiße“ bleibt äußerlich, seltsam abgetrennt und unverbindlich. Viel-
leicht: Ich bin kein „Nazi“; „Nazis“ sind andere. Entsprechend vermisst Sandra
die Konsequenz, die konkrete Auseinandersetzung, die einen Zusammenhang her-
stellt: Was hat dies mit mir zu tun? Und sie vermisst, dass eine Aktivität entwickelt
wird, die Aktivität, sich mit anderen zusammenzutun und sich einzumischen.
206 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Für Sandra ist dies alles gleichzeitig ein Ausdruck des Normalen. Die Nor-
malität, die sie beschreibt, wirft verschiedene Probleme auf. Als Problem erscheint
die Freiwilligkeit, „nichts zu tun“. Das hiermit verknüpfte Verhalten erscheint als
Form der eigenaktiven Einpassung oder Anpassung. Im Kontrast hierzu tritt die
Position von Sandra als eine hervor, die sich den Verhältnissen entgegenstellt oder
zumindest einer Oberflächlichkeit eine Ernsthaftigkeit entgegenhält. In Sandras
Perspektive erscheint so die Normalität als Verhalten der anderen. Sandras Orien-
tierung auf eine aktive Einmischung oder zumindest auf eine offensive Auseinan-
dersetzung mit „Nazis“ bleibt dabei isoliert. Beide Positionen sind Ausdruck einer
„einzunehmende[n] Lage“, einer „körperliche[n] Ausrichtung“ und „zugleich [...]
Einreihung des Körpers in die großen gesellschaftlichen ,Flüsse der Dinge‘“ (Su-
vin 2001: 1138). Darko Suvin formuliert seine Überlegung in Orientierung an
Bertold Brecht. Brecht wiederum versteht die „körperliche Ausrichtung“ und „ein-
zunehmende Lage“ als Ausdruck einer „Haltung“ (ebd.). Ihren Stoff beziehen sie
Suvin zufolge aus der gleichen Gesellschaft. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass
ein Verhalten in den Verhältnissen eine „doppelte Notwendigkeit“ nach sich ziehe,
„das Verhalten den Verhältnissen sowohl anzupassen als auch standhaft entgegen-
zusetzen“ (Suvin 2001: 1137).163 Die Dialektik dieser Bedingtheit bricht in der
Situation, von der Sandra spricht, auseinander und die Anpassung und Standhaf-
tigkeit stehen sich als ausschließende Fremde gegenüber.
In diesem Zusammenhang werden sowohl die Anpassung als auch die Stand-
haftigkeit nicht als Handlungsweisen erkannt, die beide, zwar auf unterschiedliche
Weise, aber mit den gleichen fremdbestimmten gesellschaftlichen Bedingungen
umgehen. „Nazis sind scheiße“ bildet den Knotenpunkt fremdbestimmter Mo-
mente.164 In diesem Punkt kommen sich Anpassung und Standhaftigkeit als unter-
schiedliche Strategien, um mit den gesellschaftlichen Bedingungen umzugehen,
163 Darko Suvin skizziert die „doppelte Notwendigkeit“, einer „einzunehmende[n] Lage“ im Zu-
sammenhang mit seiner Analyse des Begriffs der „Haltung“ bei Bertolt Brecht (vgl. Suvin 2001:
1138). Im Unterschied zum „bourgeois-individualistischen“ Verständnis und seinem „verinner-
lichten und isolierten Charakter (,Charakterkopf‘, ,Seelenkäse‘)“, fasse Brecht „Haltung“ als
„die körperliche Ausrichtung auf gewisse raumzeitliche Ziele und dient zugleich der Einreihung
des Körpers in die großen gesellschaftlichen ,Flüsse der Dinge‘“ (ebd.). Entsprechend: „Nicht
das Verhalten kommt aus der Anschauung, sondern umgekehrt. Es soll also die Anschauung aus
dem Verhalten kommen“ (ebd.). Wie Suvin deutlich macht, entwirft Brecht den Begriff der
„Haltung“ so als einen Gegenentwurf zu den „Naziphilosophen“ und deren „starr fixierte[m],
hierarchische[m] Haltungs-Begriff“ sowie dessen „rassisch“ aufgeladener „Bild- und Affekt-
sprache“ (ebd.: 1137).
164 Ich beziehe mich hier auf die weiter vorn im Kapitel: „Erweiterte Handlungsfähigkeit im Wider-
spruch von Selbstbestimmung und Passivierung – Notwendigkeit von Bildung“ skizzierte Prob-
lematik zur Entfremdung. Oder, wie Marcel Schmidt in Orientierung an Henri Lefebvre schreibt:
„Entfremdung [...] meint [...] einen zum Alltag gewordenen Prozess des Ersetzens [...] des Ei-
gensinns und der Eigenart“ (Schmidt 2017: 121) der Menschen, was wiederum als Stillstand und
Blockierung im Alltäglichen erlebt werde (vgl. Lefebvre [1975] 1987: 423 f.).
5.2 Sich selbst organisieren 207
165 Horst Rumpf spricht im Zusammenhang mit seiner Lerntheorie von „beunruhigenden Situatio-
nen“ (Rumpf 2010: 28 f.). Er hat diesen Begriff von John Dewey übernommen. Eine „beunruhi-
gende Situation“ kennzeichnet den Eintritt in eine Lernsituation, die sich vom „reinen Informa-
tions- und Besichtigungslernen“ dadurch unterscheidet, dass eine „offene Auseinandersetzung
mit dem beunruhigend Unbekannten“ eingegangen wird (vgl. Rumpf 2010: 31). Seine Kritik
208 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Anlehnung an Paulo Freire, eine Grenzsituation. Was meint eine Grenzsituation und
was bedeutet dies für den Gedanken von Sandra? Grenzsituationen meinen bei Paulo
Freire eine „konkrete historische Dimension einer gegebenen Wirklichkeit“, die von
den Menschen als Begrenzung erfahren wird (vgl. Freire 1973: 82). Im Unterschied
zu einer Vorstellung von Grenzen als „nicht übersteigbare [Hindernisse], wo die
Möglichkeiten enden“, meint Freire mit einer Grenzsituation „die Weise, wie sie
von Menschen in einem bestimmten historischen Moment begriffen werden: ob sie
nur als Schranken erscheinen oder als unüberwindbare Barrieren“ (ebd.). Eine
Grenzsituation bezeichnet somit ein Spannungsfeld oder eine Herausforderung
menschlichen Handelns, welches zwischen „Verneinung und Überwindung“ und ei-
ner „passive[n] Annahme des Gegebenen“ zirkuliert (ebd.).
Das Besondere hierbei ist, dass Grenzsituationen Themen enthalten, die „ent-
gegengesetzt“, „antithetisch“ sein können und komplexe Geflechte aus „Ideen,
Werten, Konzepten und Hoffnungen“ einer Epoche bilden, die „zugleich auf an-
stehende Aufgaben“ hindeuten (vgl. ebd.: 84). Und: „Die Aufgaben, die sie ein-
schließen, erfordern Grenzakte“ (ebd.: 85). Allerdings, und dies macht Freire deut-
lich, bedeutet es keineswegs, dass eine Aufgabe im Zusammenhang einer Grenz-
situation klar erkennbar sein muss; sie kann „verschleiert“ und „nicht klar begrif-
fen“ bleiben (ebd.). In dieser Situation „sind dann die Menschen unfähig, die
richtet sich gegen „Vorstellungen vom richtigen Lernen“, die nicht nur als dominante Modelle
das Lernen in der Schule strukturieren, sondern auch in „den Alltag“ und „andere Lebensberei-
che“ eingreifen. In diesem Zusammenhang droht „Wissen [...] zum Bescheidwissen zu schrump-
fen“, „Lehren [wird] zum Bescheidgeben und Lernen zum Übernehmen des in einer Gesellschaft
von den zuständigen Experten für gültig erklärtes Wissen“ (vgl. ebd.: 33). Damit sind „dem
vermittelten Wissen [...] die belebenden Fremdheitsstoffe entzogen“ (ebd.: 31). Von zentraler
Bedeutung sind für ihn daher das „Auffinden und Durcharbeiten beunruhigender Situationen“
(ebd.: 31), weil in der „Beunruhigung durch das Unerwartete [...] der Anstoß für alles spätere
reflexive Verhalten des Untersuchens und Lernens“ liege (vgl. Combe/Gebhard in Rumpf 2010:
35). Eine „Bearbeitung der Beunruhigung“ führe „über Fragen und Hypothesen schließlich zu
Handlungsversuchen“ und so „zu einer neuen Sicht der Dinge“ (ebd.). Das „Auffinden und
Durcharbeiten beunruhigender Situationen“ ist ein interessanter und zu Paulo Freires Grenzsitu-
ationen vergleichbarer Gedanke. Ich habe mich allerdings dafür entschieden Freire zu folgen, da
er die Grenzsituation selbst als widersprüchlich begreift, was dann auch bedeuten kann, dass die
darin liegenden Möglichkeiten verschleiert und ungenutzt bleiben oder als Bedrohung erfahren
werden (vgl. Freire 1973: 82 f.). Letzteren Punkt finde ich mit Blick auf Sandras Überlegungen
wichtig und weiterführend. Vergleichbar zu den „beunruhigenden Situationen“ von Horst Rumpf
und den „Grenzsituationen“ von Paulo Freire ist das Stichwort der „Diskrepanzerfahrung“ im
Kontext der Lerntheorie der Kritischen Psychologie. Interessant ist dort die Frage, in welchen
Lernkonstellationen und „jeweils konkreten Handlungszusammenhängen“ die Einzelnen „,von
mir aus‘ zu lernen beginnen“ (Holzkamp 1995: 211). Erst in diesem Zusammenhang werden die
„,äußeren‘ Lernanforderungen überhaupt als solche identifizierbar und ist [...] der mögliche Wi-
derspruch zwischen meinen subjektiven Lerninteressen und den fremdgesetzten Anforderungen
erkennbar und auf den Begriff zu bringen“ (ebd.: 212). Eine vergleichende Untersuchung mit
diesen Ansätzen wäre lohnend, kann in dieser Arbeit aber nicht erfolgen.
5.2 Sich selbst organisieren 209
nach Orten zu suchen, um mögliche Anschlüsse für „Hilfreiches“ und von „Ge-
wünschtem“ zu finden. Hier bleibt der Zugang verbaut und das alternative Jugend-
zentrum wird selbst Teil einer Beschränkung öffentlicher Erfahrungsräume.
Und der öffentliche Raum verengt sich weiter: In ihrem Wohnort wird der
Jugendklub geschlossen. Eine Politik „von oben“ entzieht die Möglichkeit, sich
zu treffen, schneidet Anknüpfungspunkte ab. Was bleibt, ist nur noch der Markt,
rumsitzen. Aber auch hier, Stefan: „wo ständig was passiert in dieser Stadt, weil
es andauernd mal Übergriffe gibt, Nazischmierereien und diese Leute sich halt
einfach offen treffen können“ (S: 38-39). Oder Martin in unserem ersten Inter-
view: „Und [T.] hatte hinten am Anger schon gesagt, da hat er schon Schiss gehabt
und hat gesagt, nein bleib dort. Der hatte am vorherigen Tag schon mal irgendwie
paar draufgekriegt, weil sie mit Kassettenrecorder über den Markt gelaufen sind“
(M/b: 657-660). Und weiter: „[D]ie anderen zweie sind weitergelaufen und haben
den abgeholt, den [A.], und sind dann noch von Leuten durch die Stadt gejagt
worden, halt, wurden direkt mit Knüppeln, Baseballschlägern, weiß der Fuchs. Auf
jeden Fall irgendwelche längeren Holzknüppel“ (M/b: 663-667). Vor diesem Hin-
tergrund wird auch das Rumsitzen auf dem Markt zum Risiko. Und dann? Sandra:
„halt zuhause bleiben“ (Sa: 184). Ein Rückzug ins Private, ein Zwang zur Vereinze-
lung. Dies gilt nicht nur für Sandra, sondern ist auch den anderen, den „Einigen“,
nicht unbekannt. Dies ist ein weiterer Subtext von „Nazis sind scheiße“. Und es ist
ein Bild, dass den Ernst der Lage verdeutlicht.
Es wird zu einem Kraftaufwand, eine Position zu vertreten, die sichtbar, hör-
bar, in diesem Sinne öffentlich wahrnehmbar ist. Es ist ein Kraftaufwand, diese
Position aufrechtzuerhalten und als Teil der eigenen Überzeugungen zu vertreten.
Angesichts des Zwanghaften, des Drucks „von oben“, des Drucks zur Vereinze-
lung hin zum Privaten und des Wunschs, diesem etwas Gemeinsames entgegen-
zuhalten, von dem noch unbekannt ist, wie und was und wohin, ist das „Nein“
durch „Nazis sind scheiße“ nicht zu verachten und gering zu schätzen. Es bewegt
sich in den skizzierten Grenzen und ist in den angedeuteten Widersprüchen veror-
tet, hin- und hergerissen. „Gegen Nazis sein“ und „Nazis sind scheiße“ gehören
zusammen. „Nazis sind scheiße“ ist auch Ausdruck davon sich das eigene Leben
nicht aus den Händen nehmen zu lassen. Aus diesen Erfahrungszusammenhängen
entspringt auch „gegen Nazis sein“. „Gegen Nazis sein“ ist Ausdruck einer Zu-
rückweisung gesellschaftlicher Zumutungen und gleichzeitig eine Perspektive,
aufrecht zu gehen. „Gegen Nazis sein“ steht für die Seite des Handelns, die Ver-
suche, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen.
An dieser Stelle sind die Gedanken von Sandra aus dem einführenden Zitat
wieder auf zu nehmen:
„Es [war] dann für mich halt einfach irgendwie auch schön, mal eine Gruppe zu ha-
ben, wo man weiß, man hat irgendwie die gleichen Ziele, man kann zusammen was
5.2 Sich selbst organisieren 211
machen, auch weil dann der Jugendklub zu war und wir irgendwie eh unabhängig
auch von dem Verein gesucht haben, wo wir uns jetzt überhaupt noch treffen können,
weil dann irgendwie nur noch auf dem Markt rumsitzen möglich war oder halt zu
Hause bleiben. Also wollten wir uns sozusagen eh mit den Leuten, die da in dem
Jugendklub waren, was Neues suchen und da war das sozusagen dann ideal, dass es
irgendwie auch einen Verein geben sollte, der auch ja dann eine Räumlichkeit
bräuchte und ja. Ach, ich glaube, so zum Großteil war das einfach nur dieses gemein-
sam irgendwas gegen die Nazis machen können, um irgendwie zu zeigen, dass es halt
auch noch was anderes gibt“ (Sa: 179-190).
Sandra macht auf verschiedene Notwendigkeiten aufmerksam, die sich als wichtig
für ihre Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen sich verengender öffentlicher
Erfahrungsräume erweisen. Von zentraler Bedeutung ist dabei: „mal eine Gruppe
zu haben, wo man weiß, man hat irgendwie die gleichen Ziele, man kann zusam-
men was machen“ (Sa: 179 f.). Sandra spricht hier von der Möglichkeit, mehr
noch: von der Notwendigkeit, „Experimentierräume“ zu schaffen, in denen sie
„selbst herausfinden können, was ihnen lebenswert ist, ohne in die Vertikale von
Herrschaft eingebunden zu werden“ (Hirschfeld 2001: 24f). „Nazis sind scheiße“
und „gegen Nazis sein“ bilden hierbei Knotenpunkte von Erfahrungen mit gesell-
schaftlichen Widersprüchen. Sandra und die anderen müssen durch diese hin-
durchtreten, um, wie Sandra sagt, „irgendwie zu zeigen, dass es halt auch noch
was anderes gibt“ (Sa: 189 f.). Dieses Andere sind Elemente einer anderen Kultur,
die es im gemeinsamen Handeln zu entwickeln gilt. Sandra unterstreicht die Not-
wendigkeit „egalitärer Solidaritäten“. Diese zu erzeugen, ist eine Frage der Praxis.
Grundelemente sind dabei Solidarisierungen mit anderen – „ohne Vorbedingun-
gen und ohne Erwartung einer unmittelbaren Gegenleistung“ (Cremer-Schäfer
2002: 217), gebunden an „Zugänglichkeit“, auf der Grundlage wechselseitiger Be-
ziehungen sowie des gemeinsamen „Interessiert Seins“. Ist dies die Perspektive
und greifbare Möglichkeit, kann Hilfreiches hervorgebracht werden, um mit den
eigenen Händen in Widersprüchen bestehen zu können. Es braucht dafür prakti-
sche Handlungsalternativen, welche für die Einzelnen sinnstiftende Elemente be-
reithalten, deren Besonderheit darin besteht, Perspektiven entwickeln zu können,
die als „Nichtanpassungen“ Lebendiges in die Widersprüche hineintragen und so
eine Dynamik entfachen, bei der sich „das individuell Mögliche und das individu-
ell Unmögliche einander gegenüberstehen“ (Lefebvre 1987: 313 f.). Es handelt
sich dabei um Momente, „wo die Geschichte des Individuums in der Geschichte
der Gesellschaft zutage tritt“ (ebd.). Hierbei entstehen Situationen „weitertrei-
bende[r] Widerstände und Fragen“, mit denen sich dann reale Handlungsmöglich-
keiten verknüpfen und „gesellschaftliche Veränderung als eine öffentliche“ be-
ginnt (vgl. Hirschfeld 2015b: 154).
212 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
An diesem Punkt ist noch einmal Sandras „aber eigentlich hat immer keiner so
richtig was gemacht“ (Sa: 177) anzuschauen. Die Form des Defensiven und Pas-
siven der anderen, der „Einigen“, die auch mal gesagt hätten, „Nazis sind scheiße“,
kann auch noch eine andere Motivation haben. Und, es ist nicht nur ein Problem
der anderen. Im Gegenteil, ein Teil der Interviewten kennt das Defensive und Pas-
sive aus eigener Erfahrung. Damit ist dieses Thema auch ein Reibungspunkt der
Gruppe.
Weiter oben habe ich geschrieben, dass Prozesse der Passivierung eine Form
der Eigenaktivität abbilden. Das Besondere hierbei ist, dass die Form der Eigen-
aktivität zu einer Einpassung in gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse führt,
ohne die damit verbundenen hierarchischen Verhältnisse aufzuheben. Trotz dieser
Widersprüchlichkeit, kann Eigenaktivität auch eine tastende, suchende, die Gren-
ze befühlende, die Grenze berührende Bewegung sein, die Grenzen kaum wahr-
nehmbar millimeterweise verschiebt, scheinbar unsichtbar bleibt, aber trotzdem in
einem Umfeld verschlossener Räume, verengter Erfahrungsräume, selbst eine Ab-
grenzung markiert und so den Moment eines anderen, die Möglichkeit einer Um-
formung des „erlittenen Raumes“, enthält, auf diese Weise den Blickwinkel einer
anderen Erfahrung sichtbar werden lässt. Dies ist natürlich für Sandra nicht zu-
frieden stellend. Vermutlich ist es auch für die „Einigen“ nicht zufriedenstellend.
Es deutet aber darauf, womit Sandra und die „Einigen“ konfrontiert sind. Die Kon-
zentration auf „Nazis sind scheiße“ ist kein freiwillige. Es sind im Alltäglichen
eingeschriebene Situationen, die Sandra und den anderen ein permanentes Han-
deln zwischen Fremd- und Selbstbestimmung abverlangen.
Im Sinnbild „Nazis sind scheiße“ drücken sich Dilemmata aus. Stefan macht
eine Dimension wie folgt deutlich.
Stefan: „Ich habe ja diese Stadt so wahrgenommen, dass die Leute genau wussten,
dass es da Nazis gibt, dass es, es haben ja auch viele Leute klammheimlich mit diesen
Menschen sympathisiert. Ja, klar, sie kommen ja meistens aus den gleichen, oder sind
dann Teile der Verwandtschaft so, wie ich schon gesagt habe mal, da gibt es keine
Nazis, sondern die Nazis sind halt höchstens mal ohne den Namen, wenn halt was
Schlimmes passiert, wenn es in der Zeitung steht, dann findet man auch die Nazis
scheiße, [...] ansonsten sind halt die Nazis die Nachbarsjungs, der eigene Sohn, der
Onkel, der Vater usw. usf. und dieser ganz eklige Status quo, wo ständig was passiert
in dieser Stadt, weil es andauernd mal Übergriffe gibt, Nazischmierereien und diese
Leute sich halt einfach offen treffen können und damit quasi auch eine Gefahr sind,
das öffentlich zu machen“ (S: 30-40).
5.2 Sich selbst organisieren 213
Die anderen, die „Nazis sind scheiße“ sagen, aber nichts machen, verweisen auf
ein (verallgemeinerbares) Dilemma. Sie stehen unter dem Zwang, sich nicht fest-
legen zu können. Oder vorsichtiger: Sie können sich nicht festlegen, da angesichts
der Verknappung öffentlicher Erfahrungsräume eine Festlegung auf eine sichtbare
(öffentliche) Position, gleichzeitig der Ausschluss aus den Zusammenhängen, in
denen sie sonst eingebunden sind, oder zumindest Konflikthaftes droht. Berück-
sichtige ich hierbei die Skizze von Stefan, heißt hier „Nazis sind scheiße“ mög-
licherweise auch, der Nachbar, der Onkel, Bruder usw. sind Teil des Problems.
Zumindest in der Phantasie ist auch der Ausschluss aus dem Privaten vorstellbar.
Damit kann „Nazis sind scheiße“ auch zu einer existenziellen Frage werden, zu-
spitzend eine der familiären und sozialen Absicherung, die Drohung einer sozialen
Ausschließung, welche die Frage ökonomischer Abhängigkeiten einschließt. Und
diese zu verlieren, ist im höchsten Grade beunruhigend und in unserer Gesellschaft
ein hohes Risiko.
Vor allem dann, wenn keine Anknüpfungspunkte, kein anderer Zusammen-
hang besteht, der das konflikthafte Potenzial abfedert, aufnimmt, ausgleicht, ver-
stehbar macht. Auf jeden Fall macht die Überlegung von Stefan eine Dynamik
kleinräumlicher sozialer Kontrolle deutlich, einem „ganz eklige[n] Status quo“ (S:
37). Die Kompliziertheit dieser Zusammenhänge spitzt sich dabei auch insofern
zu, dass mit dem Nachbarn, dem Onkel, dem Vater usw. die Erfahrung der Unter-
drückung von „Zartheit“, die Begegnung mit gewalthaften Formen der Vergesell-
schaftung, der Ausschluss, der fremdgesetzte Zweck, der Zwang dem sich zu fü-
gen ist, mit konkreten Personen in Verbindung gebracht werden kann. Es können
auch die Freunde sein. Und dann? Noch einmal Martin:
„Kleines Beispiel: […] Es ist ein Pub in [X]. Da waren wir eigentlich auch regelmäßig
zu sämtlichen Feiern und sonst was. Hier waren wir eigentlich immer. [...] Da war ein
Keller unten drin, wurden dann Landser Lieder gesungen und sonst was. Ich war zwar
immer gegen den Rechtsextremismus, aber zum einen war es im Freundeskreis, dann
waren die Leute teilweise trotzdem dabei. Das ist die eine Sache und die andere Sache
ist ganz einfach die, dass man das irgendwo dadurch als normal empfunden hat. Man
hat zwar drüber diskutiert, war zwar dagegen, aber hat gesagt, man hat zwar was ge-
gen die Meinung, aber nicht gegen die Person. Man hat es durchaus als Spaß angese-
hen, so ein Lied mal mitzusingen. Das hab ich selber mal gemacht. Einmal hab ich
das gemacht. Bis dann irgendein Freund gesagt hat: Bist du bescheuert. Was macht
machst du da eigentlich. Da hab ich gesagt: Oh, nein, da hab ich mich selber scheiße
gefühlt, muss ich sagen. [...] Wenn so was möglich ist und es sagt keiner was dagegen
und, wie gesagt, es saßen auch andere Leute dabei, die nicht rechts waren, die haben
mitgesungen, spaßeshalber. Es sind ja schöne Lieder, kann man ja schön mitsingen,
so ungefähr. Man muss es ja nicht ernst meinen, man weiß ja, wie man ist, so unge-
fähr. Aber man verinnerlicht das trotzdem. Und das ist der Punkt. Dann muss man
nicht gleich rechts sein oder sich als rechts bezeichnen. Aber das Ding ist halt, man
214 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
gewöhnt sich dran an die Sachen, an die Äußerung. Es verrückt irgendwo in die Nor-
malität rein und da in die Mitte rein und man sieht ja nicht mehr diesen negativen
Hintergrund. Das verliert sich irgendwo. Und dann ist der Punkt ganz […], wenn sol-
che Sachen entstehen, wenn Alkohol ins Spiel kommt, wo man sowieso ein bisschen
Hemmung fallen lässt und dann im Freundeskreis einige anfangen, da Parolen zu ru-
fen und Stimmung zu machen. Man muss ja nicht selber jemanden schlagen oder sonst
etwas. Aber mitreden und grölen und so was in der Richtung, so ein bisschen Grup-
penzwang dann auch. Macht ja auch Spaß, so ungefähr“ (M/b: 255-279).166
Die Situation, von der Martin spricht, ist widersprüchlich und konfliktreich. Mar-
tin verdeutlicht eine weitere Facette von dem, was Sandra und Stefan als Aspekte
der Normalität angedeutet haben. Die Stichworte „Nazis sind scheiße“ und „gegen
Nazis sein“ geraten vor dem Hintergrund der Gedanken von Martin ins Schwim-
men. Reibungspunkt bildet ein Song der Band Landser. Landser ist nicht irgend-
eine x-beliebige sogenannte Rechtsrock-Band. Die Texte von Landser sind nazis-
tisch, faschistisch, rassistisch, antisemitisch und voll tiefster Verachtung für Men-
schen.167 Dies weiß Martin. Dies wissen auch die anderen Leute aus dem Freun-
deskreis. Hier gilt es zunächst für Martin, es „als Spaß ansehen, so ein Lied mal
mitzusingen“ (M/b: 262 f.). Mitmachen. Und es gibt Leute im Freundeskreis, die
mit Landser mehr verbinden, die Martin im Spektrum Rechtsextremismus veror-
tet. Der Freundeskreis selbst erweist sich als Spannungsfeld. In diesem Zusam-
menhang sagt Martin: „Ich war zwar immer gegen den Rechtsextremismus“, aber
durch den Freundeskreis hat es Martin: „als normal empfunden“ (M/b: 260).
Wie ich weiter vorn deutlich gemacht habe, ist Rechtsextremismus eine po-
pulistische Kategorie der Politik, bei der die soziale Welt in eine „normale“ Mitte
und, hiervon abgespalten, in „extreme“ Ränder aufgetrennt wird. Die Mitte (als
das Gute) kann dabei scheinbar klar und deutlich von den Rändern (dem Bösen)
unterschieden werden. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Kategorie des
Rechtsextremismus als untauglich, um die Situation zu begreifen, von der Martin
spricht: „[M]an [muss] nicht gleich rechts sein oder sich als rechts bezeichnen“
(M/b: 271). Allerdings erfüllt das Stichwort des Rechtsextremismus, wie es Martin
166 Auch Markus berichtet von einer ähnlichen Erfahrung, die er gemeinsam mit Martin gemacht
hat: „Ich bin selber mit Martin, früher sind wir auch am Bahnhof rumgezogen und haben irgend-
welche, na ja, nicht faschistische Lieder, aber irgendwie solche, na, es waren schon bissel rechte
Lieder, aber das war uns damals halt nicht wirklich bewusst“ (Ma: 773-776).
167 Landser waren tief in das nazistische Nazi- und Musiknetzwerk Blood and Honour eingebunden.
Mitglieder der Band wurden wegen entsprechender Aktivitäten strafrechtlich verfolgt und ver-
urteilt. Die CDs heißen etwa „Republik der Strolche“, „Zigeunerfahrt“, „Final Solution – End-
lösung“, „Das Reich kommt wieder“, „Deutsche[r] Wut-Rock gegen oben“ oder „Tanzorchester
immervoll“. Bekannt wurde Landser unter anderem auch durch ihre Vernutzung bekannter Me-
lodien etwa von den Beatles, die sie mit ihren Texten überschrieben haben. Vergleiche hierzu
etwa: http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/41241/landser, abgerufen am
09.08.2017.
5.2 Sich selbst organisieren 215
gebraucht, für die skizzierte Situation den Zweck, sich zu distanzieren und gleich-
zeitig im Kontrast die Widersprüchlichkeit des eigenen Handelns deutlich zu ma-
chen: zwar gegen den Rechtsextremismus|aber. Das „Aber“: die eine Sache|es war
im Freundeskreis|die andere Sache|dadurch als normal empfunden. Das „Zwar“:
zwar drüber diskutiert|zwar dagegen|man hat zwar was gegen die Meinung.
Aber|zwar. Martin: „Das hab ich einmal selber gemacht“ (M/b: 263). Martin ringt
mit sich. Er hat sich auf Freunde eingelassen. Er hat mit ihnen Beziehungen aus-
gebildet. Er ist Teil von ihnen, teilt mit ihnen den Kreis von Freunden, teilt mit
ihnen das gemeinsame Tun als Freunde. Das gemeinsame Tun als Freunde schließt
hierbei die Distanzierung gegenüber nazistischen, antisemitischen und rassisti-
schen Positionen ein und erlaubt gleichzeitig, Songs mit eben diesen Inhalten zu
teilen, gemeinsam zu singen. Martin beschreibt eine Strategie, wie er damit um-
geht. Er unterscheidet zwischen der Meinung und der Person an sich. Im Gesamt-
eindruck erscheint dabei der Song von Landser als Ausrutscher, als zwar nicht zu
ignorierende Größe, aber als Moment, der die Balance der Beziehung unter Freun-
den nicht aus dem Gleichgewicht bringt. Das Gleichgewicht wird hierbei durch
Martin aktiv hergestellt, in dem er seine Kritik unterdrückt, sich selbst unterdrückt
und mitmacht. Er wird passiv. Vergleichbar ist dies mit dem, was Paulo Freire
naives Denken genannt hat. Martin steht hier im Widerspruch, sich nicht tiefer
gehend mit den Freunden auseinanderzusetzen, den Kontrast aufzumachen, der in
den Songtexten steckt, die Verachtung, die Vernichtung von Menschen zu prob-
lematisieren, seine eigene Unterdrückungsarbeit zu thematisieren. Er weicht dem
Konflikt aus. Er weicht dem Gewalthaften des Konfliktes aus. Er weicht der Un-
gewissheit aus. Es ist offen, wohin eine Auseinandersetzung führt. Und es ist of-
fen, wie die Auseinandersetzung im Zweifel geführt werden könnte. Gemessen an
den Songtexten von Landser zieht hier eine düstere Ahnung herauf, eine Ahnung
der Ausgrenzung, der Gewalt, dem Ende von Freundschaft, dem Ende von Zuge-
hörigkeit, dem Ende von Zugehörigkeit zu einem sozialen Zusammenhang. Un-
terstrichen wird dies dadurch, dass das Gewalthafte, das hierin liegt, Martin in
gewisser Weise selbst vorweggenommen hat und mit der Unterdrückung von sich
selbst auch gegen sich selbst richtet. Auch deshalb weiß er, worum es gehen kann.
Gleichzeitig ist seine Aktivität auch der Versuch, die Beziehungen zu retten.
Ihm stehen unter den gegebenen Umständen scheinbar keine anderen Mittel zur
Verfügung. Er ist auf sich selbst zurückgeworfen, vereinzelt. Die Anknüpfungs-
punkte zu den anderen findet er nur durch Unterordnung, durch das Zurückstellen
eigener Bedürfnisse. An diesem Punkt isoliert, wird er sich selbst zum Material,
das er formt. Er trennt sich selbst auf in Abteilungen, vergleichbar zu den weiter
vorn umrissenen Überlegungen zum Alltagsverstand, die ihn unter den skizzierten
Umständen funktionieren lassen. Seinem aktiven Einsatz für die freundschaftli-
chen Beziehungen und eine damit verbundene Solidarisierung „geht eine tiefere
216 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
strukturelle Einheit verloren“ (Willis 1982: 216). Sein aktiver Beitrag ist einer, der
den Zusammenhalt stärkt, aber gleichzeitig einen Zusammenhalt einrichtet, der
auf eine Hierarchisierung und Unterordnung baut. In diesem Moment schwindet
das Öffentliche als Perspektive eines egalitären, solidarischen Zusammenhangs.
Die Idee einer Privatheit, bei der das Private „keine Einmischung in das Handeln“
duldet, gewinnt an Dominanz (vgl. Geuss 2013: 111). Dies wäre dann auch zu
dem vergleichbar, was Martin als den Moment beschreibt, in dem der negative
Hintergrund verschwindet und zur Normalität wird: „Es verrückt irgendwo in die
Normalität rein und man sieht nicht mehr diesen negativen Hintergrund. Das ver-
liert sich irgendwo“ (M/b: 272 f.). Die Normalität ist dann die Trennung der Per-
sönlichkeit von der Meinung. Beides sind verschiedene, entgegengesetzte Dinge.
Die Meinung wird als privat behandelt, als eine Meinung, die dem Einzelnen zu
überlassen ist und in die man sich nicht einmischt.
Die skizzierte Trennung ist für Martin eine praktische, eine, die aus seinen
sozialen Zusammenhängen entsteht. Für den skizzierten Zusammenhang und
Martins Situation bedeutet es deshalb auch, dass er eine Chance verspielt hat, sich
nicht nur mit den rassistischen Anteilen der anderen auseinanderzusetzen, sondern
auch mit den eigenen rassistischen Anteilen, mit dem eigenen Verstricktsein in die
Gesellschaft.
Im Beispiel von Martin findet sich auch das Gegenstück, die Perspektive zur
Aufhebung des Getrennten. Interessant ist deshalb auch seine Einlassung: „Bis
dann irgendein Freund gesagt hat: Bist du bescheuert? Was machst du da eigent-
lich? Da hab ich gesagt: Oh, nein, da hab ich mich selber scheiße gefühlt, muss
ich sagen. [...] Wenn so was möglich ist und es sagt keiner was dagegen und, wie
gesagt, es saßen auch andere Leute dabei, die nicht rechts waren“ (M/b: 264 f.).
Martin blickt in die Tiefe eines Abgrundes; ihm wird klar, in welcher Situation er
sich eingerichtet hat. Und er stellt fest, dass ihm dies in der Situation selbst nicht
präsent, nicht gegenwärtig, nicht bewusst war. Auch hier eine leise Abwehr; auch
andere Leute handeln wie er selbst. Dies macht die Normalität aus, von der Martin
spricht. An diesem Punkt wird deutlich, dass die Trennung von Persönlichkeit und
Meinung nicht nur ihre Gültigkeit mit Blick auf die Freunde von Martin hat:
„[M]an hat zwar was gegen die Meinung, aber nicht gegen die Person“ (M/b: 262).
Dies trifft gleichsam auf ihn selbst zu. Er kann in der Situation nur bestehen, indem
er sich selbst zerlegt in Person und Meinung. Eine Meinung braucht er dann im
skizzierten Zusammenhang nicht zwingend zu vertreten. Oder er kann seine Mei-
nung vertreten und gleichzeitig gegenteilige Positionen einnehmen: „Man hat
zwar drüber diskutiert, war zwar dagegen, aber hat gesagt, man hat zwar was ge-
gen die Meinung, aber nicht gegen die Person. Man hat es durchaus als Spaß an-
gesehen, so ein Lied mal mitzusingen“ (M/b: 261 f.). Die Trennung von Person
und Meinung setzt den Widerspruch aus.
5.2 Sich selbst organisieren 217
Erst irgendein Freund bricht in die Logik dieses Musters ein: „Bist du be-
scheuert“ (M/b: 264). Es kommt zur Verunsicherung. Aus den Tiefen meldet sich:
„immer gegen Rechtsextremismus“, „war zwar dagegen“, „man hat zwar was ge-
gen die Meinung“. Die Trennung kommt in Bewegung, verliert ihr Gleichgewicht.
Die Zurückhaltung des Zwar|Aber schwindet. Und: gegen|dagegen|gegen die Mei-
nung treten unangenehm herausfordernd in den Vordergrund: „hab ich mich selber
scheiße gefühlt“.
Besonders wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang der Freund. Of-
fensichtlich ist auch die Beziehung von Martin zum ihm sehr wichtig. Martin er-
fährt durch sie nicht nur eine Intervention, die ihren Ausdruck in der Beschämung
findet: „hab ich mich selber scheiße gefühlt“ (M/b: 265 f.). Eine Beschämung
muss nicht zwingend eine Herstellung eines Zusammenhangs, eine Überbrückung
der skizzierten Trennungen nach sich ziehen. Sie kann auch eine Passivität ver-
stärken und zur weiteren Isolation führen. Der Freund: „Was machst du da eigent-
lich?“ (M/b: 265). Das Fragende hält „Hilfreiches“ bereit, um die Situation, in der
sich Martin bewegt, offenzulegen und anschaulich zu machen. Möglicherweise
verknüpfen sich mit dem Freund auch andere Erfahrungszusammenhänge, etwa
konkrete Erfahrungen mit anderen Formen freundschaftlicher Beziehungen, die
im Moment der Intervention einen Kontrast bilden, die Möglichkeit offenlegen,
dass freundschaftliche Beziehungen auch etwas anderes bedeuten können, andere
Beziehungsmöglichkeiten und damit verbundene Gemeinsamkeiten bereithalten,
bei denen die wechselseitig hilfreichen Dinge im Mittelpunkt stehen. Mit dem
Einwurf des Freundes werden andere Möglichkeiten kultureller Beziehungen
denkbar, praktisch greifbar. Aber Martin: „wenn sowas möglich ist und es sagt
keiner was dagegen“ (M/b: 266 f.). Martin unterstreicht die Bedeutung, „etwas
dagegen sagen“. In diesem Sinne macht Martin auch einen Lernprozess deutlich.
Er hat erkannt, wie wichtig es ist, (wenigstens) etwas dagegen zu sagen, die Dinge
nicht einfach unhinterfragt stehen zu lassen. Die Bedeutung liegt darin, die Stille
der Normalität zu unterbrechen und dabei gleichzeitig um das eigene Verstrickt-
sein in die Verhältnisse zu wissen.
Ich habe mich dazu entschlossen, meine Interpretation von Martin so stehen
zu lassen. Nachdem ich sie geschrieben hatte, nahm ich Henri Lefebvres Kritik
des Alltagslebens in die Hände, um noch einmal über das Alltägliche zu lesen. Er
skizziert in seiner Untersuchung verschiedene Schichten des Alltagslebens, wel-
che ineinandergreifend einen Prozess der Bewusstwerdung der Einzelnen und ih-
res Verstrickseins in die gesellschaftlichen Verhältnisse beschreibt. Im Grunde be-
schreibt Martin genau einen solchen Prozess, der erst am empirischen Beispiel
nachvollziehbar wird und den Lefebvre in abstrahierter Form so umreißt: „Erste
Schicht - [Das Individuum] widerstrebend [...] sperrt sich gegen störende Fragen.
Es umgeht Probleme, hält sich an Banalitäten, die anerkannten Normen der
218 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Wie ich schon im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Gartenlaube und zum
Lagerfeuer angedeutet habe, entwickelte die Gruppe am Lagerfeuer konkretere
Projektideen und diskutierte Fragen, wie sie diese als Gruppe realisieren könnten.
Hierbei entwickelte sich die Idee, einen Verein zu gründen. Dabei gilt der Verein
als eine weiterentwickelte Basis, auf deren Grundlage kulturelle und politische
Veranstaltungen organisatorisch getragen werden können. Vor diesem Hinter-
grund verweisen die Interviewten auf verschiedene Elemente, die für sie als tra-
gende Bestandteile ihres Vereins wichtig waren.
Doch bevor ich auf diese zu sprechen komme, möchte ich mir kurz Gedanken
darüber machen, was mit dem Stichwort einer „Basis“ im Diskurs von Intellektu-
ellen gemeint ist. Ich denke hier an Begriffe wie „Rohstoff“, „Ressource“ oder
„Werkzeug“. Diese Begriffe charakterisieren vor allem Anknüpfungspunkte und
Handlungsmöglichkeiten „von unten“, also die Mittel und Materialien, die Men-
schen nutzen oder herstellen, um eine politische Handlungsfähigkeit zu erlangen.
„Rohstoffe“, „Ressourcen“ oder „Werkzeuge“ bilden eine Grundlage oder Basi-
selemente für die Selbstorganisation, wie ich sie hier in dieser Arbeit diskutiere.
Oskar Negt und Alexander Kluge haben den Begriff vom „Rohstoff des Po-
litischen“ geprägt. Ich möchte die weiter vorn erläuterten Gedanken hierzu an die-
ser Stelle nicht wiederholen. Wichtig finde ich aber, dass Oskar Negt und Alexan-
der Kluge mit dem Begriff „Rohstoff“ davon sprechen, dass das Politische nicht
5.2 Sich selbst organisieren 219
als fertiger Zusammenhang „von oben“ zu denken ist, sondern als Zusammen-
hang, der von den Leuten hergestellt wird. Den „Rohstoff“ bilden unbearbeitete
„menschliche Haltungen, Energien, Gefühle, Hoffnungen, Träume, Ängste und
Befürchtungen“ (Hirschfeld 2015b: 141). Die Verarbeitungsweisen hin zum Poli-
tischen sind dabei widersprüchlich und können befreiende oder unterdrückende
Formen annehmen.
Ähnlich spricht Heinz Steinert mit Blick auf die Jugendbewegung der 1960er
– Jahre von „politischen Ressourcen“ (Steinert 1984: 428 f.).
Die in dieser Zeit entstandene „Subkultur“ war ein „Rückhalt“ der Jugend,
verbunden mit der Möglichkeit, unabhängig „von den traditionellen Mitteln der
politischen Artikulation“ eigene Ausdrucksformen zu entwickeln (vgl. Steinert
1984: 429). Eine Besonderheit bestand darin, dass sich „die Jugendkultur [um öf-
fentliche Orte] organisierte“ (ebd.). „Öffentliche Plätze“, „Veranstaltungen“,
„Szene-Lokale der Subkultur“ wurden zu Treffpunkten und Orten des Austau-
sches (vgl. ebd.). Auch „Universitäten mit ihrer studentischen Infrastruktur“ wa-
ren von großer Bedeutung (ebd.). Diese Orte der Subkultur entwickelten sich als
Knotenpunkte einer „Infrastruktur“ und wurden zu wichtigen „Stützpunkten“ des
informellen Austausches (ebd.). In diesem Sinne waren diese „Stützpunkte“ selbst
Ressource sowie ein Ort, an dem verschiedene andere Ressourcen gefunden wer-
den konnten.
Heinz Steinert schreibt: „Diese Infrastruktur mit ihren ‚Stützpunkten‘ ist des-
halb so wichtig, weil dort unter ‚Gleichgesinnten‘ die sonst gegebene Unsicherheit
einer feindseligen Umwelt gegenüber wegfällt, weil hier Mut geschöpft werden
kann, den man braucht, weil hier Umgangsformen gepflegt und weiterentwickelt
werden können, auf die man Wert legt, weil hier Ideen entstehen und organisiert
werden können“ (ebd.). Die „Stützpunkte“ bilden Orte „des erleichterten Kontakt-
aufnehmens und des gegenseitigen Aushelfens“ (ebd.). Die „Stützpunkte“ bilden
Orte informellen Austausches; es werden „Informationen vermittelt“; in Gesprä-
chen wird „ihre Interpretation ausgehandelt“ und „die Richtigkeit der Interpreta-
tion“ geprüft (ebd.). Die „Stützpunkte“ sind lebendige Orte einer Überschneidung
von Kultur und Politik, deren Besonderheit darin besteht, eine „Unabhängigkeit
von den etablierten Parteien und sonstigen Organisationen durchzuhalten“ (ebd.:
430). Im Zusammenwirken dieser Möglichkeiten entwickelte sich eine politische
Handlungsfähigkeit „von unten“. Deshalb bezeichnet Heinz Steinert diese Mög-
lichkeiten auch als „politische Ressourcen“ (ebd.: 428).
Heinz Steinert schreibt dies 1984. Obwohl sich seit 1984 die Ausdrucksfor-
men politischer Selbstorganisation „von unten“ stark verändert haben, scheint mir
seine Begrifflichkeit auch heute noch hilfreich. Begriffe wie „politischen Res-
source“ oder „Stützpunkte“ sind auch deswegen aktuell, da die „Auseinanderset-
zungen um diese Ressourcen“ auch heute geführt werden, als Kämpfe z. B. „um
220 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
die Benützbarkeit von Plätzen“ oder „um politische Instrumente“ (vgl. ebd.). Sol-
che Begriffe sind auch insofern wichtig, als wie Jan Rehmann deutlich gemacht
hat, der Fokus der gegenwärtigen Versuche, Bewegungsformen „von unten“ (wie
etwa Occupy Wall Street) zu beschreiben, eher oberflächlich bleiben und die kon-
kreten Werkzeuge, welche Handlungsmöglichkeiten „von unten“ erzeugen und
gleichzeitig Handeln stabilisieren können, nicht erfassen (vgl. Rehmann 2012).
Dabei sind die „Stützpunkte“ und ihre Ressourcen einem Druck „von oben“ aus-
gesetzt. Sie erscheinen von dort aus als gefährlich. Heinz Steinert: „Was als ge-
fährlich und bedrohlich erscheint, ist offensichtlich die autonome Infrastruktur,
die ,die Subkultur‘ sich aufgebaut hat, ist die Tatsache, dass sich hier ein Segment
der Bevölkerung, dem es offenbar nicht zusteht, selbständig macht“ (Steinert
1984: 431).168 „Politische Ressourcen – von unten“ sind demnach umkämpft.
Einen anderen Begriff, um „Ressourcen“ oder „Rohstoffe“ einer Handlungs-
fähigkeit „von unten“ zu beschreiben, wählen Les Back und Shamser Sinha im
Kontext einer Auseinandersetzung mit postkolonialen Diskursen. Sie untersuchen
in einem Artikel Erfahrungen von jungen Migranten empirisch. Les Back und
Shamser Sinha schreiben: „Die jungen Migrantinnen und Migranten, die London
als eine zerrissene Stadt erfahren – vom popularen, gegen die Einwanderung ge-
richteten Ressentiment bis hin zur institutionalisierten Marginalisierung, die ihnen
eine legale Arbeit vorenthält und sie zum Warten auf die Bearbeitung ihres Asyl-
antrages zwingt –, entwickeln gleichwohl eine konviviale Multikultur“ (Back/Sin-
ha 2016: 527).169
168 Bringen einerseits die Bewegungen „von unten“ Möglichkeiten hervor, um „die Organisations-
und Konfliktfähigkeit der die Bewegungen tragenden Interessen“ zu erzeugen, entstehen gleich-
zeitig Situationen, die die „vorhandenen Ressourcen“ verbrauchen können (vgl. Steinert 1984:
533). „Erfolgreiche und weiterhin vorhandene Ressourcen [werden] weiterhin eingesetzt“;
gleichzeitig besteht ein „Innovationsdruck“, Ressourcen „effektiver zu machen“ oder gar neue
„politische Ressourcen“ zu erschließen und so das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten zu
erweitern (vgl. ebd.). Heinz Steinert schreibt diese Überlegungen als Teilkapitel des Buches
„Protest und Reaktion“ nieder, als eine Analyse der „[s]ozialstrukturelle[n] Bedingungen des
‚linken Terrorismus‘ der 70er Jahre. Aufgrund eines Vergleichs der Entwicklungen in der Bun-
desrepublik Deutschland, in Italien, Frankreich und den Niederlanden“ (Steinert 1984). Von be-
sonderer Bedeutung waren deshalb „Elemente der Studentenbewegung und ihrer Taktiken der
begrenzten Regelverletzung“ sowie „anti-autoritäre Taktiken“; darüber hinaus als „neue politi-
sche Ressourcen“: „der Straßenkampf, die Bildung von Parteien mit mehr oder weniger Kader-
charakter, die Betriebsarbeit, der lange Marsch durch die Institutionen, der Ausbau der Sub- und
Alternativkultur, die Resignation und der Rückzug ins Private“ sowie der „Terrorismus“ (vgl.
Steinert 1984: 534).
169 Sie zitieren sich selbst aus einem Artikel aus dem Jahr 2012 (vgl. Back/Sinha 2012). Ihr engli-
scher Text untersucht die Auswirkungen der Debatte um „die Krise des Multikulturalismus“ auf
die Regulierung, Kontrolle und Überwachung von Migranten sowie deren Strategien, damit um-
zugehen, an einem Einzelbeispiel.
5.2 Sich selbst organisieren 221
Mit dem Begriff der „Konvivialität“ beziehen sie sich auf Ivan Illich, der mit
„Konvivialität“ eine spezifische Form menschlicher Produktivität bezeichnet.
Ivan Illich schreibt: „Ich wähle den Begriff ‚Konvivialität‘, um das Gegenteil der
industriellen Produktivität bezeichnen zu können. Er soll für den autonomen und
schöpferischen zwischenmenschlichen Umgang und den Umgang von Menschen
mit ihrer Umwelt als Gegensatz zu den konditionierten Reaktionen von Menschen
auf Anforderungen durch andere und Anforderungen durch eine künstliche Um-
welt stehen“ (Illich [1975] 2014: 28).
Für Les Back und Shamser Sinha ist der Begriff deswegen interessant, weil
sich mit ihm ein „alternatives Verständnis von Kultur“ skizzieren lässt, welches
„sich vor allem dafür interessiert, was die Leute in ihrem Alltag tun, statt sie im-
mer nur auf ihre kulturelle Herkunft zu reduzieren“ (Back/Sihna 2016: 526). Das
Besondere an der Idee von Ivan Illich ist, dass er den Begriff der „Konvivialität“
mit dem Begriff des „Werkzeuges“ verbindet (vgl. Illich [1975] 2014: 27 f.). Les
Back und Shamser Sinha greifen diesen Zusammenhang auf. Bei Illich finden sie
die Überlegung: „Gleichgültig, ob der Mensch wandert oder sesshaft ist, er braucht
Werkzeuge“ (Back/Sinha 2016: 527). Und sie schreiben weiter: „Interessant für
uns ist, dass es ihm um die ‚Struktur des Werkzeuges, nicht um die Charakterstruk-
tur des Individuums oder der Gemeinschaft‘ geht“ (vgl. ebd.: 527). Im Begriff der
„konvivialen Werkzeuge“ finden sie entsprechend eine Möglichkeit, die „Fähig-
keiten und Ressourcen“ zu untersuchen, die es den Migranten „ermöglichen, in
einer von Rassismus zerrissenen Stadt zu leben“ (ebd.).
Als ich die Texte von Back und Sinha las, kam mir noch ein weiterer Ge-
danke, der auch in den Ideen des Rohstoffs bei Oskar Negt und Alexander Kluge
und in den Überlegungen zur Ressource bei Heinz Steinert enthalten ist. Das Stich-
wort der „konvivialen Werkzeuge“ bei Les Back und Shamser Sinha hebt zwei
Ebenen hervor. Zum einen sind die von ihnen skizzierten Fähigkeiten und Res-
sourcen der Migranten Mittel und Möglichkeiten, mit denen sie ihr Leben gestal-
ten können und einen Weg finden, „durchs Leben im postkolonialen London zu
kommen“ (ebd.). Zum anderen sind die Werkzeuge durch die Migranten selbst
erzeugt. Sie stellen die Mittel und Möglichkeiten selbst her. Sie entwickeln die
„Fähigkeiten“ und die „Ressourcen“, den „Weg durchs Leben im postkolonialen
London“ selbst (ebd.). Im Grunde erzeugen die Migranten einen „Werkzeugkasten
konvivialer Fähigkeiten“ (ebd.). Bevor die Werkzeuge „konvivialer Fähigkeiten“
genutzt werden können, müssen sie erfunden, gefunden, probiert, gebaut werden.
Die Werkzeuge entwickeln sich prozesshaft in der Reibung mit dem alltäglichen
Leben. Die Werkzeuge sind nicht einfach gegeben. Vielmehr sind sie Ergebnis
einer Auseinandersetzung mit den erlebten Zumutungen des alltäglichen Lebens.
Die entwickelten Werkzeuge sind damit Ergebnis eines reflexiven Prozesses. Aus
diesem Zusammenhang ergeben sich dann die Möglichkeiten einer
222 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
ich nur immer wieder wiederholen. Aber es ist sehr subjektiv, also Stefan hat das z.
B. nicht so gesehen“ (Ma: 312-345).
Markus verweist zunächst noch einmal auf die Bedeutung ihrer Selbstorganisation
als Gruppe. Von diesem Punkt aus sieht er einen „ziemlichen Entwicklungspro-
zess“ (Ma: 312), einen Prozess der Verständigung verschiedener Meinungen und
Sichtweisen. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass unterschiedliche Sichtweisen
verschiedene Fragen und Problematisierungen aufwerfen würden, die miteinander
in Verbindung gebracht werden müssten. Verschiedene Antworten müssten ge-
meinsame Knotenpunkte finden und entwickeln. Damit dies möglich sei, brauchte
es eine „gewisse Basis“ (Ma: 316). Im Grunde beschreibt Markus hier zwei Seiten
einer Medaille, die wechselseitig aufeinander angewiesen sind, um eine Basis ge-
meinsamen Handelns entwickeln zu können. Die Entwicklung einer Basis braucht
den Diskurs der Vielen, die hiermit verknüpften (kreativen) Impulse. Die unter-
schiedlichen Antworten der Vielen brauchen wiederum die Bündelung in einigen-
den Motiven, die den Zusammenhang als Gruppe begründen und gleichzeitig wie-
derum Anknüpfungspunkte für weitere Diskussionen und andere Leute bilden
können, die den Zusammenhang erweitern. In der Überlegung von Markus ist die
skizzierte Dynamik Notwendigkeit und Möglichkeit in einem. Die Notwendigkeit
besteht unter anderem in der „Gewissheit, dass es hier irgendwie immer brauner
wird“ (Ma: 317 f.). Eine Basis, sich zusammenzutun ist dabei eine Antwort, ein
widerständiges oder widerstehendes Element, um sich dem Strom der braunen
Entwicklung entziehen zu können und gleichzeitig etwas Eigenes, Unabhängiges
zu entwickeln. In diesem Sinne bildet die Basis einen kulturellen Zusammenhang.
Markus und die anderen der Gruppe tun die Dinge, die ihnen wichtig sind. Markus
und die anderen der Gruppe organisieren sich selbst und entziehen sich damit ei-
nem unmittelbaren Zugriff (politischer Interessen) „von oben“, oder eben den
Kräften, die mit einer braunen Entwicklung einhergehen. Diese Basis des Kultu-
rellen ist wichtig. Sie bildet das Fundament, damit ein Raum für Alternativen über-
haupt möglich ist.170
Markus macht eine Spannung deutlich und unterstreicht eine widerständige
„List“ (Haug 2011: 85) oder, wie Heinz Steinert geschrieben hat, die „Ironie“, den
„ironischen Umgang mit dem Problem“, welcher eine Notwendigkeit ist, „wenn
man nicht auf repressive Ersatz-Formen hereinfallen will“ (Steinert 1985: 78). O-
der Markus: Wir haben „halt immer trotzdem versucht, immer basisdemokratisch
zu bleiben, weil es muss ja laut deutschem Recht, Vereinsrecht, es muss einen
Vorstand geben, da gibt es einen Vorstandsvorsitzenden, der deutsche Bürokrat
170 Mit dem Begriff des Kulturellen beziehe ich mich auf Wolfgang Fritz Haug. Beim Kulturellen
handelt es sich um „diejenigen Momente, in denen Individuen oder Gruppen sich als
Selbstzweck behandeln“ (Haug 2011: 85).
224 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
möchte ja alle seine Schubladen haben und möchte bitte einen Ansprechpartner
haben und das war dann immer schon ein bisschen witzig, bei jeder Veranstaltung,
die wir hatten, wenn irgendwas unterschrieben werden musste, kam immer erst
mal die Frage, wer hat denn hier den Hut auf? Und da haben wir erstmal gesagt,
ja, eigentlich alle“ (Ma: 330-336). Der bürokratische Anspruch einer Hierarchie
und einer Führung von oben nach unten wird gebrochen: Den Hut haben alle auf.
Der wichtige Punkt hierbei ist, dass so eine hierarchische Organisation von Ge-
sellschaft hinterfragbar wird und in Konfrontation mit einem alternativen Modell,
„eigentlich alle“, die Perspektiven kollektiver Vergesellschaftungsformen zum ge-
meinsam diskutierten Gegenstand werden können.
Mit dieser Einlassung von Markus verknüpfen sich gleichzeitig zwei Ele-
mente, die ihm als Erfahrung bei der Organisation und Einrichtung des Vereins
wichtig waren. Er spricht davon, dass es einer spezifischen Kommunikation oder
– mehr noch – einer spezifischen Interaktion bedürfe. Er spricht von „basisdemo-
kratisch“ (Ma: 319). Basisdemokratisch im Sinne von Markus meint hier einen
Prozess gemeinsamer Willensbildung und Entscheidungsfindung, den Prozess,
„unseren Konsens zu finden“ (Ma: 320). „Unseren Konsens zu finden“ meint aber
noch mehr: einen Prozess der Entwicklung. Markus spricht davon, dass sie „dis-
kutiert“ (Ma: 320) hätten. Hierzu gehört der Raum für Phantasie, in dem Verbin-
dungen entstehen, „Ideen“ (ebd.: 321) und „Vorschläge“ (ebd.) gebracht werden
können, dem „Brainstorming“ (ebd.) gefolgt werden kann, die Gedanken frei laufen
gelassen werden können. Die Besonderheit, die dabei zum Vorschein kommt, ist die
Entwicklung einer Zuständigkeit der Einzelnen für das Gemeinsame. Was meint
dies? Gemeint ist kein Durcheinander. Im Gegenteil: Es sind die unterschiedlichen
Teilbeiträge der Einzelnen gemeint, mit denen auch „die bewusste Aufeinanderbe-
zogenheit der Menschen“ und somit das Gemeinsame wachsen (vgl. Holzkamp-Os-
terkamp 1975: 312). Die Voraussetzung ist, dass die Einzelnen sich dem Gemeinsa-
men nicht blind unterordnen, sondern sich selbst in Verbindung mit den anderen
entwickeln können, also als Individuen erkennbar sind, oder, wie Markus sagt, „dass
man auch in der Gruppe vereint auch mal unterschiedlicher Meinung sein darf“
(Ma: 324). Hierfür braucht es eine „lebendige Streitkultur“ (Ma: 323). Das Leben-
dige ist die wechselseitige Anregung, eine Offenheit für Gedankenexperimente,
eine Offenheit, die keinen Gedanken verwirft und dadurch eine Gleichheit erzeugt,
die unterschiedliche Meinungen als weiter treibende Impulse aufnehmen kann und
nicht als störende Momente ausschließt oder unterbindet.
Markus spricht von „strukturiert“ (Ma: 326). In Verbindung mit seiner Idee,
basisdemokratisch zu handeln, beschreibt er zum einen die Art und Weise ihres
Handelns und zum anderen den Anspruch, an dem festzuhalten sei, einen Verein
als Organisation lebbar zu gestalten. Basisdemokratisch zu handeln, erweist sich
hier auch als Notwendigkeit und als Form einer systematischen, aber lebendigen
5.2 Sich selbst organisieren 225
Herangehensweise. Mit Blick auf den Verein sind es fremdgesetzte Normen, die
der Möglichkeit einer Organisation des Vereines einen Rahmen geben. Diese gilt
es systematisch zu erschließen, sich zu informieren, zu verstehen und zu durch-
schauen, welche gesellschaftlichen Motive sich in den rechtlichen Vorgaben fin-
den. Markus: „[E]s muss einen Vorstand geben, da gibt es einen Vorstandsvorsit-
zenden“ (Ma: 331 f.) und es „gibt [...] den Chef und das ist der Chef und der Rest,
der hat zu folgen“ (Ma: 338 f.). Und das durchschauende Moment, die aufde-
ckende Ironie: „Wenn irgendwas unterschrieben werden musste, kam immer erst
mal die Frage, wer hat denn hier den Hut auf? Und da haben wir erstmal gesagt,
ja, eigentlich alle. Wussten die Leute erstmal überhaupt nicht damit anzufangen,
weil das kennt man so direkt nicht“ (Ma: 335-338). Gleichzeitig entsteht eine Rei-
bungsfläche, ein Unbehagen, die Konfrontation mit Kräften, die als gesellschaft-
liche Strukturbedingungen beginnen, in das Selbstverständnis der Selbstorganisa-
tion einzugreifen. Eine Auseinandersetzung mit dem „deutschen Recht“ (Ma:
331), mit den „behördlichen Wege[n]“ (ebd.: 329), alles standardisierte, vorge-
zeichnete Pfade, die Begegnung mit dem „deutschen Bürokrat[en]“ (ebd.: 332),
einer „festgefahrenen Struktur“ (ebd.: 340), die Schubladen braucht und sich als
Modell verallgemeinert. Markus und die basisdemokratisch organisierte Gruppe
betreten die Pfade einer „festgefahrenen Struktur“, fremdgesetzter Vorgaben des
Rechts. Abverlangt wird eine Aktivität der Modellierbarkeit der Einzelnen und
ihre Formbarkeit als Gruppe, eine Selbstformung, die Erzeugung einer Passung,
sich auf vorgegebenen Pfaden bewegen zu können, um die Freigabe, die Anerken-
nung (der „Freiheit“) der Organisation als Verein zu erlangen.
Betrachte ich die Skizze von Markus zur „festgefahrenen Struktur“ im Sinne
von Oskar Negt und Alexander Kluge als „tote Arbeit“, so handelt es sich um ein
gesellschaftliches Verhältnis menschlicher Beziehungen, die im Recht eine ob-
jekthafte Gestalt angenommen haben.171 Dann ist das Zutun, „basisdemokratisch
unseren Konsens zu finden“ (Ma: 319-320), eine Verlebendigung dieses Verhält-
nisses, ein Zutun was gleichzeitig die gesellschaftlichen Widersprüche, die im
rechtlichen Objekt stillgelegt sind, wieder freisetzt. Konkret spricht Markus von
der Anforderung, bei der Einrichtung des Vereins einen Chef hervorbringen zu
müssen und so eine Trennung zu erzeugen: „der Chef und der Rest“ (Ma: 338).
Diese Trennung ist nicht pro forma. Es ist die Einrichtung einer hierarchischen
Arbeitsteilung und wird als Interaktionsweise (Organisationsweise) vom „deut-
schen Recht“, vom „deutschen Bürokrat[en]“ (Ma: 332) und im „behördlichen
Weg“ (Ma: 329) abgefordert. Dies ist tief greifend und, wie Markus deutlich
171 Meinen Gedanken habe ich in Anlehnung an Oskar Negt und Alexander Kluge formuliert. Bei
Oskar Negt und Alexander Kluge heißt es: „Tote Arbeit ist kein Arsenal von bloßen Dingen.
Vielmehr sind es menschliche Beziehungen, Subjektivität in Objekt gewordener Gestalt, ein ge-
sellschaftliches Verhältnis“ (1981: 98 f.; Fn.).
226 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
ganz interessant so, könnten wir mal mitmachen, also das war auch ein ganz gutes
Ding, aber so an sich, die Basis des Vereins stand halt vorher schon so da. Das waren
alles Freunde, so ein Freundschaftskreis, so eine Peergroup sozusagen, die sich durch
Schule und, wobei man halt komischerweise in der gleichen Kacke lebt wie alle, sich
zusammengefunden hat. Ja, und dann, wie gesagt, der Verein, also wir haben uns
quasi nicht getroffen, so Einzelpersonen so, halt der Bock jetzt, einen Verein zu grün-
den, sondern wir haben uns getroffen, das war halt so eine Art, ja fast wie so eine Art
Antifagruppe so, die dann gesagt hat, ja, wir machen aber was jetzt gegen solche
Dinge auf zivilem Wege“ (S: 74-99).
Im Grunde beschreibt Stefan seine Erwartungen an einen Verein und umreißt seine
Vorstellung davon, welche Funktion der Verein in seinen Augen hat. Die Basis
bilden die Leute als diskutierende Gruppe, die Ideen entwickelt und vorantreibt.
Auf dieser Grundlage beginnen die Leute ihre Basis zu erweitern. Die Grundlage
bildet die Entwicklung eines Zusammenhangs, der eine Form und Stabilität er-
zeugt, die es erlaubt, in seiner Erweiterung auch auf gesellschaftliche Ressourcen
zugreifen zu können, etwa Fördermittel, die zur Realisierung von Projektarbeit
notwendig sind. Hierfür bedarf es eines Mindestmaßes an institutioneller Ausprä-
gung, die den Normen zum Beispiel von Fördermittelgebern gerecht werden kön-
nen. Dies wären möglicherweise konkrete Ansprechpartner wie ein Vereinsvorsit-
zender, ein Vorstand, ein Verantwortungszusammenhang, der etwa für die Auf-
nahme, Abrechnung und die Richtigkeit der Fördermittel bürgt und den damit zu-
sammenhängenden bürokratischen Aufwand bewältigt. Der Verein muss selbst
eine Form der Bürokratie entwickeln und damit verbundene Aufgaben teilen, auf-
teilen, sich arbeitsteilig organisieren. Hierin sieht Stefan einen qualitativen Sprung
von der Gruppe hin zum Verein: „Der Verein war dann quasi dieser Schritt nur
weiter, ja, wir brauchen, wenn wir den halt anmelden, dann haben wir damit quasi
eine Basis, um halt besser arbeiten zu können“ (S: 84-86). Die neue Qualität drückt
sich dann darin aus, die Ideen, die diskutierten Möglichkeiten von Aktivitäten, die
ausgedachten Pläne in konkrete Projekte und Aktionen münden lassen zu können.
Es geht aber noch um mehr.
Stefan macht deutlich, dass ihr Zusammenhang als Gruppe vor allem dadurch
geprägt gewesen sei, nicht als „Einzelpersonen“ ihre Fragen und Ideen mit sich
selbst ausmachen zu müssen, sondern die Einzelnen als Gruppe ein einigendes
Motiv verbunden habe, „so eine Art Antifagruppe“ (S: 98) zu sein. Für eine Anti-
fagruppe sind verschiedenste Probleme und Konflikte rund um Themenfelder wie
etwa Antifaschismus, Rassismus und Nazis von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig
verknüpfen sich hiermit auch Versuche, anders leben zu wollen, wie ich sie weiter
oben skizziert habe. Allerdings, so kann man Stefans Überlegung verstehen, blei-
ben diese Versuche auf die Gruppe bezogen. Die Auseinandersetzung mit Rassis-
mus und angrenzenden Fragen bleiben Probleme der Gruppe und sind in diesem
Sinne begrenzt. Stefan geht es darum, die Konflikte und Probleme über den
228 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Zusammenhang der Gruppe hinauszuheben und damit z. B. Rassismus als ein ge-
sellschaftlich allgemeineres Problem zur Diskussion zu stellen. Es geht nicht nur
sie als Gruppe etwas an, sondern es geht die Gesellschaft etwas an; Rassismus ist
Stefan zufolge ein gesellschaftliches Problem.
Dazu noch ein weiterer Gedanke: Die Gruppe bearbeitet im Sinne von Negt
und Kluge ihren „Rohstoff“ (1993)172 und formt hieraus konkretere Frage- und
Problemstellungen (und Ideen für Projekte usw.), die über die „Schranken“ (Freire
1973: 82) der Gruppe hinausdrängen und eine erweiterte Aktivität herausfordern
oder den Punkt politischer Handlungsfähigkeit markieren, den „Kräftezuwachs in-
mitten einer komplexen Vielfalt von Kräfteverhältnisse[n]“ (Reeling Brower
2001: 1169) erkennen lassen, um eine eigene Position und Sichtweise auf die
Dinge der Welt auch öffentlich vertreten zu können. Oder: Es handelt sich um eine
Situation der „Gruppe“, die durch ihre Art und Weise der Diskussionen „weiter-
treibende Widerstände und Fragen“ entwickelt hat, aus denen sich reale Hand-
lungsmöglichkeiten ergeben, und nun ihr Handeln darauf drängt, eine „gesell-
schaftliche Veränderung als eine öffentliche“ zu beginnen (vgl. Hirschfeld 2015:
154). Oder Stefan: „Ja, und dann, wie gesagt, der Verein, also wir haben uns quasi
nicht getroffen, so Einzelpersonen so, halt der Bock jetzt, einen Verein zu grün-
den, sondern wir haben uns getroffen, das war halt so eine Art, ja fast wie so eine
Art Antifagruppe so, die dann gesagt hat, ja, wir machen aber was jetzt gegen
solche Dinge auf zivilem Wege“ (S: 95-99). Stefan skizziert hier die Entwicklung
eines qualitativen Sprungs, dessen kulturelle Grundlage die „Gruppe“ hervor-
bringt und so die Organisierbarkeit einer „dezentralen Politikfähigkeit“ (Steinert
1985: 78) als ein Element ihrer Handlungsfähigkeit möglich macht. Oder, anders
ausgedrückt: Als Freunde bilden sie einen Kreis. Sefan: „[S]o einen Freund-
schaftskreis“ (S: 93). Sie sind ein Freundeskreis, sie sind die „Gruppe“ der Gar-
tenlaube und vom Lagerfeuer. Der qualitative Sprung: Der Kreis, die „Gruppe“
wird zum Kollektiv. Der Freundeskreis selbst bildet eine Ressource und entwickelt
gleichzeitig Neues, auf dessen Basis dann ein Kollektiv entstehen kann. Insofern
verweist der von Markus und Stefan genutzte Begriff der „Basis“ auf diese zwei
unterschiedlichen Qualitäten: die des Freundeskreises und – daraus wachsend –
die der Möglichkeit bzw. der Entwicklung eines Kollektivs.
172 Vielleicht müsste man auch hier den Begriff als einen dynamischen fassen. Spreche ich von
Rohstoff, kann man von der irrigen Annahme ausgehen, es handle ich um eine Fokussierung,
um eine Konzentration auf einen einzelnen Gegenstand. Konsequenterweise müsste ich von
Rohstoffen sprechen, da Oskar Negt und Alexander Kluge mit ihrem Begriff auf die Vielschich-
tigkeit, die Überschneidungen und Wechselwirkungen „menschlicher Haltungen, Energien, Ge-
fühle, Hoffnungen, Träume, Ängste und Befürchtungen“ (Hirschfeld 2015b: 141) zielen und
darauf hinweisen, dass sich diese prozesshaft in ihren Formen „permanent verändern“ (vgl.
Negt/Kluge 1993: 47 f.).
5.2 Sich selbst organisieren 229
dass es, es war immer diese klare, einfache Antinazisache so, um es mal grob zusam-
menzufassen“ (S: 14-28).
Weiterführend verweist Stefan darauf, dass ein Verein als Basis für die skizzierten
Aktivitäten auch deshalb von Bedeutung sei, da hier die verschiedenen Aktivitäten
und verschiedensten Leute in einen organisatorischen Zusammenhang gebracht
werden könnten, welcher gleichzeitig bei staatlicher Anerkennung und in der Ver-
netzung mit anderen Akteuren eine andere Autorität verspreche, als wenn sie ihre
Anliegen als Einzelne oder vielleicht als „eine Art Antifagruppe“ (S: 98) vortragen
würden. Ein Verein, so die Annahme, könnte eine andere Autorität gewinnen,
könnte als Plattform besser geeignet sein, um die Erfahrungen mit dem, was ge-
rade passiert in der Stadt, öffentlich zu thematisieren und vor allem, um „ernst
genommen zu werden“. Letzteres formuliert Markus als negative Erfahrung:
„[M]an wurde nicht ernst genommen“ (Ma: 20-21). Ein Verein böte dann die
Möglichkeit einer Infrastruktur, einer anerkannten, aber politisch unabhängigen
Instanz, um die gemeinsamen Erfahrungen mit dem „Ernst der Lage“ zu einer ge-
meinsamen Sprache bringen zu können, sich öffentlich zu artikulieren und gleich-
zeitig „ernst genommen zu werden“.
Im Rückblick verbindet Stefan mit dieser Vorstellung eine Ambivalenz,
möglicherweise auch eine Enttäuschung: „[W]ir sind relativ naiv rangegangen“
(S: 17). Nicht nur die Organisation des Vereins scheint eine schwierige Sache ge-
wesen zu sein, sondern auch, die gemeinsamen Anliegen öffentlich zu machen.
Hier steht die Einschätzung von Stefan, „also es war wirklich eigentlich meiner
Meinung nach wirklich am Anfang alles eine pragmatische Sache mit diesem Ver-
ein“ (S: 390), im Widerspruch zu den skizzierten Überlegungen von Markus. Wie
ich deutlich gemacht habe, spricht Markus über die Widersprüchlichkeiten der
Einrichtung einer Organisation, welche zwischen der Aufrechterhaltung von
selbstbestimmten Elementen (basisdemokratisch und gleichzeitig strukturiert) und
fremdbestimmten Elementen das gemeinsame Handeln ausbalancieren muss. Eine
pragmatische Herangehensweise, im Sinne einer neutralen oder nüchternen Posi-
tion, die z. B. den Verein eher als Mittel zum Zweck betrachtet, wie sie Stefan für
sich reklamiert, steht hier vor einem Problem, wenn Stefan über den Verein sagt:
„nicht unbedingt zum Selbstzweck so [...], sondern halt einfach zu sagen, klar, ist
ganz günstig, wenn man die e. V. hat, so ein bissel was beantragen kann [...]. Nie-
mand kriegt Fördergelder [...], das geht halt nicht so“ (S: 391-392). Dies übersieht
die mit der Einrichtung einer Arbeitsteilung verknüpften Probleme. Die Stabilität
der Gruppe und die Organisation des Vereins werden an diesem Punkt selbst zu
umkämpften Gegenständen: Der Verein ist Mittel zum Zweck oder der Verein ist
selbst ein Zweck – „Selbstzweck“. Gleichzeitig steckt hierin eine Kritik von Ste-
fan. Der Verein kann sich durch seine Organisation selbst stillstellen und in seiner
Wirksamkeit beschränken. Dies passiert dann, wenn die aktiven Bemühungen, den
5.2 Sich selbst organisieren 231
Verein zu organisieren, damit beginnen, um sich selbst zu drehen, sich auf die
Organisierbarkeit zu beschränken. Hieraus kann das Problem folgen, dass die Or-
ganisation den Kontakt zu den geteilten Anliegen der Leute verliert (oder umge-
kehrt), sich die Organisation als institutionelles Gebilde und das Ensemble der
Anliegen im gemeinsamen Kontext des Vereins als fremde Zusammenhänge ge-
genüberstehen. Markus und Stefan zusammengedacht machen damit auf ein we-
sentliches Problem der Selbstorganisation aufmerksam. Die Herausforderung die
sich mit der Selbstorganisation verbindet, ist verallgemeinernd als ein Lernfeld zu
skizzieren. Die Positionen von Markus und Stefan zeichnen aufeinander bezogen
ein dynamisches Feld, in dem sie sich als Akteure bewegen. Sie sind gezwungen,
dieses Feld zu erschließen, es kennenzulernen, um sich zum einen überhaupt in
diesem Feld bewegen sowie zum anderen das Feld als Werkzeug für ihre Anliegen
nutzen zu können. In eine andere Sprache übersetzt, kann man mit Bertold Brecht
davon sprechen, dass es darum geht, ein „Operieren mit Antinomien“ zu (er)lernen
(vgl. Haug 2008: 27).174 Damit weisen Markus und Stefan auf ein zentrales Mo-
ment einer Bildungsnotwendigkeit hin, die sich aus der Perspektive „von unten“
ergibt (und an dem sich [kritische] politische Bildung zu messen hat).
Stefan spricht vorsichtig von „einer Art Antifagruppe“ (S: 98). Wichtig finde
ich dabei „Antifa“. Die Vorsicht im Sprachgebrauch von Stefan kann daher rüh-
ren, dass die Gruppe noch nicht ganz dem entspricht, was sich Stefan unter einer
Antifagruppe vorstellt. Insofern könnte „Antifa“ auf eine normative Vorstellung
hindeuten, welche zwischen den ernsthaften (wirklichen) „Antifas“ und den we-
niger ernsthaften „Antifas“ unterscheidet. Ich sehe aber noch einen anderen Punkt,
der mir mit Blick auf Stefan und die Gruppe als wichtig erscheint. Verstehe ich
„Antifa“ als Antifaschismus, eine Antifagruppe als eine Gruppe von Leuten, die
sich gegen Faschismus engagiert, erscheint hier ein gesellschaftlicher Konflikt.
Die Vorsicht bezieht sich dann auf den Begriff des Faschismus. Der Begriff des
Faschismus sagt mehr als etwa die Sprache über den „Nationalsozialismus“. Der
Begriff Faschismus verschwindet im gesellschaftlichen Diskurs und wird dort
durch die Dominanz des Begriffs „Nationalsozialismus“ unterdrückt. Es zeichnet
174 Wolfgang Fritz Haug bezieht sich hier auf einen Text von Bertold Brecht unter der Überschrift
„Analyse der Haltung der Parteileitung zum Zweck des Eingreifens“ (Haug 2008: 27). Brecht
setzt sich dort „mit dem Interessenkonflikt“ auseinander, „dass Arbeitslose und Arbeitsbesitzer
[...] jeweilig eine andere Konstruktion der Partei als Kampforganisation verlangen“ (ebd.). Der
Konflikt gleicht der Situation, die Markus und Stefan skizzieren. Entscheidend, finde ich, ist
hierbei die Anmerkung von Brecht, dass der Konflikt nur als praktisch dialektischer Zusammen-
hang konstruktiv zu handhaben ist, indem die Leute lernen, Widersprüche zu verstehen, lernen,
in Widersprüchen zu handeln oder eben „mit Antinomien operieren zu können“ (ebd.). Dieser
Gedanke ist m. E. als ein bestimmendes Moment politischer Bildung aufzunehmen. Hier kann
der Bildungsprozess kein isoliert kognitiver sein, in Didaktik oder Lehrpläne eingeschlossen
werden, sondern kann nur als Gemeinsames vom Standpunkt der Subalternen formuliert und
dann von dort aus vor allem gemeinsam praktiziert werden.
232 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
sich ein Kampffeld ab. Ulla Plener macht mit Blick auf einen Artikel von Karl
Heinz Roth aus dem Jahr 2004 die Problematik deutlich: „Der Begriff National-
sozialismus, schreibt er, verschleiere den militanten Antisozialismus der deut-
schen Faschisten, schlage die Brücke zur Totalitarismusdoktrin, sei germanozent-
risch, nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten
per definitionem ausschließt“ (vgl. Plener 2017: 236 f.). Und: „Der Begriff [Nati-
onalsozialismus] sei in der Bundesrepublik heute als Normkategorie [...] veran-
kert“ (ebd.: 237). Spezifische Kennzeichen des deutschen Faschismus sind Roth
zufolge der „völkisch-chauvinistische[...] Nationalismus, de[r] Ersatz des Prinzips
der Gewaltenteilung durch das Führer-System, die kolonialistischen Herrschafts-
praktiken, das ethnozentrische, zum Völkermord führende Herrenmenschen-Den-
ken, extreme Gewalttätigkeit, zur Raubtierpraxis gesteigerte[r] Rassismus und
Antisemitismus“ sowie „das Selbstverständnis der Faschisten als Hüter und Be-
wahrer des kapitalistischen Eigentums“ (ebd.). Ein Antifaschismus gewinnt hier-
bei die Sinnhaftigkeit einer Kritik des Faschismus (auch insbesondere in seiner
historisch spezifischen deutschen Ausprägung) sowie die Notwendigkeit einer
konkreten Handlungsform, einem aktuellen, gegenwärtigen „faschistischen Poten-
tial“ (Negt 2002: 107) entgegenzutreten. Die Möglichkeiten, aus dem Historischen
zu lernen und einen Zusammenhang (im Sinne von: Was hat es mit mir zu tun?)
zum aktuellen, gegenwärtigen „faschistischen Potential“ zu begreifen, wird im Be-
griff Nationalsozialismus aufgrund „seines Singularitätsanspruchs“ (Plener 2017:
237) stillgestellt und unterbunden. Rückt mit dem Begriff des „Nationalsozialis-
mus“ z. B. die Aktualität von Nationalismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus
oder Rassismus in eine historische Ferne, bricht der Kontakt zum Heute ab, wird
ein Fragen nach der Zukunft unterbunden und damit selbst ein Beitrag zur Spal-
tung geleistet. Gespalten oder getrennt wird hierbei die Verbindung zwischen Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Letztlich bedeutet dies, „Geschichte als auf-
gegebene gar nicht mehr denken zu wollen“ (Schmied-Kowarzik 2006: 56). Und
mehr noch: Zukunft verschwindet als ein „offener und wachsender Prozess“
(ebd.). Damit ist auch die Gegenwart eingeschlossen, erstarrt in Unbeweglichkeit
und erscheint als unveränderbar.
Spricht Stefan von „Antifa“ als Ausdrucksweise der Selbstorganisation als
Gruppe und als Anliegen des Vereins, bezieht er sich auf verschiedene Erfahrun-
gen, die er in der Kleinstadt (X) gemacht hat. Ein Kernerlebnis ist das „Schick-
salsdatum“ (S: 382) zu einer Zeit, wo sich die Leute noch als Gruppe in der Gar-
tenlaube getroffen haben. Stefan bezieht sich dabei auf ein Ereignis in seiner Stadt,
dem pogromartigen Übergriff auf in der Stadt lebende Menschen aus Asien wäh-
rend eines Stadtfestes. Das Besondere daran war, dass der Übergriff nicht einer
Gruppe von Nazis zugeordnet werden konnte. Stefan: „[D]as Stadtfest war dann
natürlich ein prägendes Ding“ (S: 396).
5.2 Sich selbst organisieren 233
Und weiter Stefan: „Also für mich war das halt einfach noch mal so dieser, ich meine,
mir war ja vorneweg klar, dass in der Stadt nicht alles ganz koscher ist so und auf dem
Dorf halt einiges scheiße läuft so, aber das war dann, gut, ich war dann bissel so, ich
hatte ein sehr ambivalentes Verhältnis eigentlich so. Einerseits ein Teil von mir hat
gesagt, na ja, musste früher oder später passieren, ist klar so, aber dann trotzdem, wie
diese Auswirkungen waren so, war dann trotzdem so, ja, schon ganz schön krass und
das direkt halt vor der Haustür so, das war dann schon, also es war schon bisschen
erschreckend war es schon oder so im Sinne von, ja, jetzt ist es halt doch so passiert
wie, also es war halt nicht so, dass ich komplett aus allen Wolken gefallen wäre. Also
für mich war klar, Potenzial ist da, zumindest an Nazis und dass die auch ein bissel
Rückendeckung so bei den Leuten haben, aber wie kollektiv das dann und vor allem,
wie die Stadt, was mich erschreckt hat, war wirklich, also was ich halt [X] nicht zu-
getraut hätte in dem Sinne, wirklich die Dummheit, wie die Leute damit umgegangen
sind so, einfach dann der Bürgermeister, was danach kam so halt, dass man das über-
haupt nicht reflektiert hat so, was ist hier passiert, sondern auf einmal war ja, kann ja
gar keine Hetzjagd gewesen sein, weil, die sind ja nur 330 m gerannt, weil ja [das
Geschäft von den Leuten aus Asien] gleich um die Ecke ist und das wird jetzt nur
wegen Sommerloch, die Medien haben halt nichts zum Berichten deswegen so, und
dieses Jahr hat dieses, also da hat sich ja, da ist ja richtig diese, ja, ich glaube, Volks-
gemeinschaft [die in X] entstanden so, dieses wir und alle sind sie gegen uns und […]
Und das war dann für mich halt noch mal der Grund, mehr, na jetzt erst recht unbe-
quem bleiben und halt mehr darauf rum pochen sozusagen. Und aber so an sich, also
das ist wie, keine Ahnung, wenn man weiß, früher oder später, man fährt jeden Tag
mit einem Arbeitskollegen auf Arbeit und der fährt wie eine gesengte Sau und man
weiß dann, früher oder später baue ich mit dem mal einen Unfall so. Man ist trotzdem
erschrocken in dem Moment, wo es passiert. So ist es halt, so war es mit dem Stadtfest.
Es war ja klar, also das Potenzial, irgendwas kann passieren so, aber wenn es dann
halt erstmal und in diesen Ausmaßen, alles was danach kam und wie die Stadt damit
umgegangen ist, das war dann natürlich trotzdem, also man, ich so, ja, ich habe es
euch immer gesagt, so läuft das so, sondern hat einen schon quasi mitgenommen in
einer gewissen Art und Weise“ (S: 405-435).
Es ist deutlich spürbar, wie hier Stefan mit seinen Gedanken oder besser mit seiner
Erfahrung ringt. Er ist unmittelbar betroffen, berührt und versucht die Erfahrung
in eine Sprache zu bringen. Er spricht davon, dass ihm das „Potenzial“ der „Nazis“
bewusst gewesen sei (vgl. S: 414 f.). In den „Nazis“ habe er eine Gefahr, eine
Bedrohung – oder vielleicht etwas schlichter – eine Beunruhigung gesehen. Auf
jeden Fall sei dies ein Thema gewesen, mit dem man sich habe beschäftigen müs-
sen. Was nun aber beim Stadtfest als Potenzial in Erscheinung tritt, ist mit dem
Begriff „Nazi“ nicht zu fassen. Es ist eben nicht bloß dies: „ein bissel Rückende-
ckung so bei den Leuten haben“ (S: 415). Stefan muss seine bisherige Annahme
korrigieren. Nicht die „Nazis“, die irgendwo als Grüppchen oder Cliquen oder im
Sinne einer rechtsextremen Gruppierung als geschlossene, fassbare Gruppen mit
erkennbaren Orientierungen ein gewisses Unterstützungspotenzial in den Reihen
234 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
der Leute, die in der Stadt leben, haben, sind das alleinige Problem. Im Gegenteil:
Das Kollektive, der Zusammenschluss aus der vermeintlichen Normalität der
Leute entwickelt sich zum bedrohlichen Potenzial, welches sich selbst aktiv mo-
bilisiert, sich gegen andere verbündet. Auch an anderer Stelle charakterisiert Ste-
fan diese Entwicklung als „dieses Volksgemeinschaftsding“ (S: 479) oder spricht
von „das war wirklich das Erschreckende, dass wirklich eigentlich alle dann dieses
Wir-Gefühl“ (S: 478) hatten. Stefan verweist damit auf zwei Aspekte. Zum einen
war „die Hetzjagd“ auf dem Stadtfest keine Naziangelegenheit, sondern eine Ak-
tion der „normalen“ Leute aus dem Ort. Zum anderen auf den Effekt, dass eine
Kritik an diesem Verhalten der Leute von diesen in einer Art und Weise aufge-
nommen wird, mit der Stefan so nicht gerechnet hat: „wirklich die Dummheit, wie
die Leute damit umgegangen sind so, einfach dann der Bürgermeister, was danach
kam so halt, dass man das überhaupt nicht reflektiert hat so, was ist hier passiert,
sondern auf einmal war ja, kann ja gar keine Hetzjagd gewesen sein, weil, die sind
ja nur 330 m gerannt, weil ja [das Geschäft von den Leuten aus Asien] gleich um
die Ecke ist und das wird jetzt nur wegen Sommerloch, die Medien haben halt
nichts zum Berichten deswegen so, und dieses Jahr hat dieses, also da hat sich ja,
da ist ja richtig diese, ja, ich glaube, Volksgemeinschaft [die in X] entstanden so“
(S: 417-424).
Wie Stefan deutlich macht, gewinnt nicht etwa ein selbstkritischer Blick auf
das Ereignis und das damit verknüpfte Verhalten für die Leute an Bedeutung. Im
Gegenteil: Sie wehren das Ereignis ab, sie bilden eine Schließung, ein „Wir“, die
Bewegung einer Abwehr, ein „Wir“ in dem die Leute und der Bürgermeister (stell-
vertretend für ein bedeutendes Element der Politik) miteinander verschmelzen,
eine Verbindung eingehen, bei der die hierarchische Trennung von Politik hier
und die Leute da scheinbar verschwindet. Der Effekt beruht im gemeinsamen Ein-
verständnis, das Verhalten der Leute nicht zum Thema zu machen. Eine Beson-
derheit spricht Stefan an: „die Medien“. Er spricht davon, dass diese das Thema
aufgreifen und im Sommerloch das Ereignis als Thema entdecken würden. Dieses
Problem ist auch für die anderen Interviewten wichtig.
Im Gruppengespräch reflektieren sie diese Erfahrung und erzählen von den
Effekten der Berichterstattung:
Elena: „Aber ich glaube auch, was du meintest mit dieser Opferhaltung, dann durch
diese Medienberichterstattung, also das ist mir, glaube ich, auch ziemlich oft auch in
Gesprächen begegnet, dass dann die sagen, ja, weiß nicht, die rassistischen Beweg-
gründe gar nicht mehr im Zentrum von den Gesprächen standen, sondern dann sofort
irgendwie kam, ja, und jetzt werden wir irgendwie negativ dargestellt und genau, das
ist dann, ganz schnell darüber weggestrichen“ (G: 162-167).
Martin: „So die Richtung, Hetzkampagne gegen [X], so ungefähr, anstatt die eigent-
lichen Themen zu bewältigen oder zu besprechen, hat man lieber gesagt, na, die
5.2 Sich selbst organisieren 235
Medien sind jetzt die Bösen, die hier irgendwas machen, so ungefähr, also haben sich
Leute als Opfer gesehen, so ungefähr, auch die Täter, sage ich mal. [D]ie Schuld bissel
von sich weggeschoben in die Richtung, die machen ja hier irgendwelche bösen Sa-
chen, so etwa“ (G: 168-173).
Was Stefan als die Entwicklung eines „Volksgemeinschaftsdings“ (S: 479) um-
reißt, bekommt in der Konfrontation mit den Medien eine eigene Dynamik. Das
„Wir“ kehrt die Rollen um. Zuspitzend: Die „Täter“ machen sich zu „Opfern“
(vgl. G: 171). Wie Elena und Martin deutlich machen, bietet die Berichterstattung
die Möglichkeit eines Gegenübers: „die Bösen“ (G: 170), welche eine „Hetzkam-
pagne“ (G: 168) einrichten. Interessant sind hierbei zwei Momente. Zunächst kann
die Verdichtung der Leute zu einem „Volksgemeinschaftsding“ (S: 479) und einer
„Opferhaltung“ (G: 162) eine Reaktionsweise auf die Enteignung eines Konfliktes
durch die Medien sein. Das Thema wird dem lokalen Zusammenhang entzogen
und im Verwertungsprozess eines kulturindustriellen Zusammenhangs, den Me-
dien, mit entsprechenden Eigeninteressen aufbereitet und diskutiert. Eine Öffent-
lichkeit durch Medien ist hier widersprüchlich. Medien nutzen die Thematik und
behindern gleichzeitig durch ihr Tun (auch eigene) aufklärende Tendenzen.
Es wird an anderer (von den Medien bestimmter) Stelle über die Leute und
ihr Verhalten diskutiert, ohne diese Leute in die Diskussion angemessen einzube-
ziehen. Insofern ist die Reaktionsweise einer Verdichtung in einem „Volksge-
meinschaftsding“ (S: 479) auch ein Verhalten und Effekt im Kontext kapitalisti-
scher Vergesellschaftungsprozesse sowie gleichzeitig eine widersprüchlich-nega-
tive Form der Vergesellschaftung „von unten“.175 Entsprechend formt sich ein
„negatives“, abgrenzendes „Wir“. Dieses „Wir“ nimmt die Differenz, dass an an-
derer Stelle über das Verhalten der Leute ohne sie diskutiert wird, auf. Das „Wir“
unterstreicht die Differenz: wir ≠ Medien. Wir hier|Medien da. Und mehr noch:
wir hier – gemeinsamer Gegner|Medien. Ein einigendes Motiv erscheint. Medien
werden zum gemeinsamen Gegner. Die Medien verschmelzen hier auch undiffe-
renziert zur Einheit. Sie erscheinen als Block einer (vermeintlich) einheitlichen
Meinung. Dieser besteht in den Geschichten, die sie über (X) erzählen. Damit grei-
fen sie den Ort an; mit ihren selbst gestrickten Geschichten überziehen sie die Öf-
fentlichkeit, egal ob diese auf Erfahrungsberichten von den Leuten im Ort beruhen
oder nicht. In den Augen der Leute erzählen die Medien damit etwas „Falsches“,
Dinge, die scheinbar nichts mit ihnen zu tun haben. Hieraus rechtfertigt sich dieses
„Wir-Gefühl“, das Stefan kritisiert (vgl. S: 478).
175 Diese negative Form und ihre Widersprüchlichkeit skizziert Wolfgang Fritz Haug am Beispiel
des „plebeijschen Rassismus“ und macht deutlich, dass hier Rassismus als politische Mittel „von
oben“ und Rassismus als widerständige Ausdrucksweise „von unten“ widersprüchliche Wir-
kungszusammenhänge entwickelten, die sich punktuell überschneiden und zusammenwirken o-
der gegenläufig verschiedene Interessen artikulieren würden (vgl. Haug 1999: 121).
236 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Mit Blick auf den skizzierten Umgang der Leute mit Medien (und umgekehrt)
kann der von Richard Johnson umrissene Kreislauf der Kultur auch auf diesen
Zusammenhang angewendet werden (vgl. Johnson 1999: 147-153). Für diese
Form der kulturellen Produktion von Bedeutungen beschreibt Richard Johnson ei-
nen Kreislauf der Kultur, den wir hier mit Blick auf Medien auch als einen Diskurs
medialer Ausdrucksweisen verstehen können (vgl. ebd.: 151). Er verweist bei sei-
nen Überlegungen darauf, dass sich kulturelle Produktion als eine „Bewegung
zwischen der öffentlichen Sphäre und der privaten Sphäre“ (ebd.) zeige. Dies
heißt: „Private Formen sind konkreter“ und auf Teile des Privaten bezogen (vgl.
ebd.: 152). Demgegenüber seien „öffentliche Formen [...] abstrakter [...] auf ein
breiteres Spektrum bezogen“ (ebd.). Für diesen Prozess beschreibt Richard John-
son drei Punkte: Erstens tritt eine kulturelle Ausdrucksweise, die symbolische
Kreativität, aus der Sphäre des Privaten heraus. Wird sie veröffentlicht, gewinnt
sie so „universelle“, allgemeinere Bedeutung. Auch die Botschaften werden „ver-
allgemeinert und erreichen ein sehr breites gesellschaftliches Spektrum“ (ebd.).
Zweitens erfolgt mit der Veröffentlichung eine Abstraktion der Botschaften sym-
bolischer Kreativität. Dies heißt, die Botschaften können „relativ isoliert von [...]
den Entstehungsbedingungen betrachtet werden“ (ebd.). Drittens werden die Bot-
schaften „anhand vieler unterschiedlicher Kriterien einem Prozess der öffentlichen
Bewertung unterzogen“ (ebd.). Sie werden so zum „Schauplatz außerordentlicher
Bedeutungskämpfe“ und führen zur Verallgemeinerung von Bedeutungen, die in
wertender Art und Weise für alle Menschen zu sprechen vorgeben. Im Moment
der Konsumtion, beispielsweise eines Filmes, werden wir aber „wieder auf die
Sphäre des Privaten, Partikularen und Konkreten zurückgeworfen, auch wenn die
von den Individuen benutzten Interpretationsmaterialien öffentlich, und damit al-
len zugänglich sind“ (ebd.: 153). Stuart Hall verweist in diesem Zusammenhang
darauf, dass der beschriebene Prozess auf einer analytischen Ebene differenzierter,
als eine Struktur, aufzufassen sei, welche „durch die Artikulation miteinander ver-
bundener, aber eigenständiger Momente produziert und aufrechterhalten wird“
(Hall 1999: 93). Der Diskurs erfolge als ein Kreislauf aus „Produktion, Zirkula-
tion/Distribution, Konsum, Reproduktion“ (ebd.). Hall verweist weiter darauf,
dass Bedeutungen in symbolischer Form als „besondere Zeichenträger“ kodiert
und „im Rahmen einer syntagmatischen Kette“ diskursiv organisiert würden
(ebd.). Entscheidend an dieser Überlegung, finde ich, ist, dass der Prozess durch
die Kodierung von Bedeutungen in einen Diskurs mündet, der wiederum „über-
setzt“ und „in gesellschaftliche Praktiken umgewandelt werden“ muss (vgl. ebd.).
Zu berücksichtigen ist, dass die im Diskurs vermittelten Bedeutungen und das da-
mit repräsentierte Wissen nicht das Produkt „der unmittelbaren Erscheinung des
Realen“ sind, sondern die Artikulation, die symbolische Vermittlung zu „realen
Verhältnissen und Bedingungen“, darstellt (vgl. ebd.). Die produzierten, kodierten
5.2 Sich selbst organisieren 237
176 Im skizzierten Sinne sind die Geschichten, die von den Medien erzählt werden, letztlich dem
Einfluss der Leute entzogen. Als ich die Erfahrungen der Interviewten gelesen habe, ist für mich
interessant gewesen, dass alle den umrissenen Umgang der Leute mit den Medien so hervorge-
hoben haben. Ich denke, was sie hiermit andeuten, ist, dass sich die Leute die medialen Ge-
schichten in der hier skizzierten Weise wieder aneignen und so umbauen, dass sie ihnen von
Nutzen sind. Im Kontext der Cultural Studies des CCCS haben sich etwa Paul Willis (1991) oder
Richard Johnson (1999) mit der Frage der Medienrezeption beschäftigt. .
238 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
„normalen“ Leute wird zum Ausrutscher, zur Bagatelle, zum Faustrecht auf einer
Massenveranstaltung, zur Normalität. In gewisser Weise liegt damit auch das Ver-
haltensmuster der Leute vom Stadtfest und ihre Rechtfertigung quer zu gesell-
schaftlichen Deutungsmustern, ihren Hierarchien und politischer Verfügung „von
oben“. Die Leute vom Stadtfest, deren Verhalten Stefan problematisiert, entkräf-
ten auf wirkungsvolle Weise Kritik, indem diese Leute den Wirkungszusammen-
hang eines ideologischen Zugriffs „von oben“ (durch die Medien) widerstehend
umarbeiten in eine moralische Abwehr. Die Medien sind das andere. Die Medien-
gewalt, eine, die über die Leute verfügt. Die Leute vom Stadtfest decken damit
einen Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit auf, freilich ohne sie anzutasten oder
aufzulösen. In diesem Kontrast hat das „Wir“ den Sinn, ein über soziale Unter-
schiede hinweg gleichmachendes Selbst herzustellen; es definiert die Zugehörig-
keit zu einer Art „Volksgemeinschaftsding“ (S: 479), ohne die Hierarchien z. B.
zwischen Politik (Bürgermeister) und dem Rest anzutasten.
Die Übergriffe auf dem Stadtfest, das „Volksgemeinschaftsding“ (S: 479)
und das „Wir-Gefühl“ (S: 478) als Momente einer auf Ausschluss beruhenden
Form der Vergesellschaftung erscheinen hier als negative Verfügungsmasse für
die Leute. Richtet sich das Handeln der Leute auf den Ausschluss von anderen,
haben sie unmittelbaren Zugriff auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge über
die sie verfügen. In diesem Zusammenhang ergibt das Handeln der Leute für sie
selbst einen (sozialen, gesellschaftlichen) Sinn. In negativer Weise wird hier prak-
tisch Ordnung hergestellt. Wir hier|die da. Entscheidend dabei ist, dass die hierar-
chischen Ordnungen der Welt nicht wirklich angegriffen werden. Im Gegenteil:
Sie werden als ausschließende Unterscheidung reproduziert. Rassismus als Kenn-
zeichnung der anderen ist dabei ein Mittel dieser Praxis. Die ganze Situation ist
sperrig und mit Widersprüchen durchzogen.
Und noch ein Gedanke: Das Stadtfest als Beispiel und Rohstoff der Medien.
Das Stadtfest als Beispiel der Interviewten. Das Stadtfest als Ereignis der Leute.
Ein Stadtfest ist ein singuläres Ereignis. Und genauso wird es von den Leuten
der Stadt behandelt.
Hierin liegt die Normalität. Es war eine einmalige Sache. Nicht der Rede
wert. Ausnahme. Oder wie Martin über den Bürgermeister berichtet, der über die
Ereignisse zum Stadtfest sagt: „Heil Hitler kann einem ja mal rausrutschen oder
so in der Richtung, oder Sieg Heil kann mal rausrutschen oder so. Als Bürgermeis-
ter sollte man sowas nicht sagen“ (M/a: 306-307). Über diese Normalität erzählen
die Interviewten. Die Unempfindlichkeit, das Spaltbare, das Trennbare, die Ver-
schiebungen, die Verdrängungen und die damit verbundene Rücksichtslosigkeit,
Unterdrückung. Und darüber, was die Leute gemacht haben. Martin: „war viel-
leicht einfach die Position, die sie immer eingenommen haben, lieber die rechts-
konservative Position als eine antifaschistische Position wahrscheinlich, obwohl
5.2 Sich selbst organisieren 239
eigentlich gleich wieder der Standpunkt vielleicht darauf beruht, eigentlich“ (M/a:
324-328). Interessant ist hier die Gegenüberstellung von „rechtskonservativ“ und
„antifaschistisch“. Erst im Begriff des „Antifaschistischen“ werden die Verhal-
tensweisen der Leute zumindest analytisch unterscheidbar, konkret in der Gegen-
überstellung von „antifaschistisch“ und „rechtskonservativ“. Der wichtige Hin-
weis von Martin ist: Im Kontrast formuliert sich keine moralisch saubere Mitte.
Im Gegenteil: Es stehen sich zwei unterschiedliche Vorstellungen von Vergesell-
schaftung gegenüber. Zuspitzend: antifaschistisch mit dem Anspruch der (kol-
lektiven) Selbstbestimmung ≠ rechtskonservativ als Hierarchisierung (eines Kol-
lektivs), verbunden mit Ausschluss und Fremdbestimmung.
Diesem Spannungsfeld kann man sich nicht einfach durch moralische Empö-
rung entziehen. Im Gegenteil: Das Verhalten steckt mitten drin, kann befreiend
oder unterdrückend sein. Es wird zur Frage der Gegenwart. Es wird zur Frage des
Handelns („einer Art Antifagruppe“, S: 98), einer Notwendigkeit, dem gegenwär-
tigen „faschistischen Potential“ (Negt 2002: 107) entgegenzutreten und ihm etwas
anderes entgegenzuhalten. Rückt mit dem Begriff des Nationalsozialismus z. B.
die Aktualität von Nationalismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus oder Ras-
sismus etc. in eine historische Ferne, bricht der Kontakt zum Heute ab. Gleichzei-
tig werden Fragen unterbunden: Wie war es? Muss es heute so sein? Warum ist es
so? Wie könnte es sein? Was wäre eine Alternative? Was wäre eine andere Vor-
stellung von Gesellschaft? Wie könnte sie aussehen? Wäre sie möglich? Und
wenn, Wie? Unterbunden wird ein Fragen. Unterbunden wird ein Fragen nach der
Zukunft. Unterbunden wird ein Fragen nach dem Möglichen und Alternativen.
Damit sind Begriffe wie Nationalsozialismus oder Rechtsextremismus selbst ein
Beitrag zur Spaltung. Gespalten, oder getrennt wird hierbei die Verbindung zwi-
schen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Trennung: Vergangenheit |
Gegenwart | Zukunft. Damit ist auch die Gegenwart eingeschlossen, erstarrt in
Unbeweglichkeit und erscheint als unveränderbar. Hier sehe ich die Bedeutung
von Stefans vorsichtiger Einlassung: „einer Art Antifagruppe“ (S: 98). Er deutet
auf den „zivile[n] Weg“ (S: 97) einer Auseinandersetzung hin, eine Zivilisierung
gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Keiner Befriedung im Sinne einer Unter-
drückung des Konflikts, sondern: dem Konflikt auf den Leib rücken, ihn an der
Wurzel packen, reflektieren, verstehen, vielleicht auch etwas ändern, die angedeu-
teten Fragen zu öffentlichen machen und gleichzeitig als Gruppe ein alternatives
Modell entwickeln, um das Leben in die eigenen Hände zu nehmen.
Ein energiegeladenes Unterfangen, selbst verstrickt in Widersprüchen,
Hilflosigkeit, Wut, Not. Die Suche nach Handlungsmöglichkeiten. Sich zu spüren.
Zu merken, dass eigenes Handeln etwas bewirkt. Verdammt. Stefan angesichts des
„Volksgemeinschaftsdings“ und seine Reaktion auf die Ereignisse beim
240 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Volksfest: „Deswegen sind wir dann an dem Abend noch los und haben […] Autos
von Nazis kaputt gemacht, musste sein“ (S: 490-491).
In Stefans „Volksgemeinschaftsding“ (S: 479) steckt aber noch eine weitere
Kritik. Sie geht über die Kritik an dem Verhalten der Leute auf dem Volksfest
hinaus. Es ist eine Kritik an einem „Wir“, bei dem die Einzelnen und ihr Verhalten
verschwinden. Sie können sich im „Wir“ verstecken, sich abschließen und gleich-
zeitig das Unliebsame, das Unerwünschte, das andere ausschließen. wir hier|die
da. Denke ich dies mit der Überlegung von Markus zusammen, „der Chef und der
Rest“ (Ma: 338), ist die Kritik von Stefan eine gesellschaftlich allgemeinere. In
den Bildern wir hier|die da oder „der Chef und der Rest“ (ebd.) drückt sich eine
Erfahrung mit einer alltäglichen Vergesellschaftung aus, die auch deshalb von Be-
deutung ist, da sie sich als Problem der Selbstorganisation wiederfindet, als Wi-
dersprüche im konkreten Handeln der Interviewten selbst. Oder wie Markus an-
deutet: „kleines soziales Experiment bei uns irgendwie, dass man eben aus dieser
festgefahrenen Struktur irgendwo immer ausbricht. Was eben aber dann, wie ge-
sagt, das ist durch Martins Überaktivismus da missverstanden worden, wo das
dann doch irgendwie in diese Richtung wieder ging, ah, hier, Martin will jetzt Boss
sein und wir anderen müssen machen, was er sagt. Was aber nicht der Fall war,
kann ich nur immer wieder wiederholen. Aber es ist sehr subjektiv, also Stefan hat
das z. B. nicht so gesehen“ (Ma: 339-345). In diesem Spannungsfeld ist die Kritik
von Stefan eine, die sich gegen die Blindheit einer Gemeinschaft (der Leute auf
dem Volksfest oder der Leute im Verein) richtet, welche sich freiwillig in einer
Hierarchie einrichtet, dieses Muster im „Wir“ leugnet und dabei die Gefahr ent-
steht, andere Leute auszuschließen und gleichzeitig Kritik an diesem „ekligen Sta-
tus qou“ (S: 37) zu unterbinden.
Der Verein entsteht kurze Zeit nach den Ereignissen auf dem Stadtfest. Vor
diesem Hintergrund: eine Art Antifagruppe|die dann gesagt hat|gegen solche
Dinge auf zivilem Wege|einen Verein zu gründen. Eine sinnstiftende Funktion des
Vereins wäre die „zivile“ Bearbeitung der skizzierten Konflikte, die „Zivilisie-
rung“ des Verhaltens, auch des eigenen. In diesem Sinne könnte der Verein zum
einen ein Faktor zur Stabilisierung des Lebens im Ort selbst sein und zum anderen
eine Stabilität im gemeinsamen Handeln erzeugen, die im Handeln der Einzelnen
oder auch als selbst organisierte Gruppe des Lagerfeuers so nicht möglich ist. Ab-
hängig ist dies in den Augen von Stefan im Wesentlichen davon, ob sie mit ihrer
Organisation als Verein „ernst genommen“ werden. Markus bringt dies negativ so
zum Ausdruck: „Also ich habe das Gefühl gehabt, man wurde nicht ernst genom-
men“ (Ma: 20-21).
Etwas andere Akzente setzt Elena, wenn sie über die neue Qualität spricht,
die sich mit der Gründung des Vereins verbindet. Das „Neue“ knüpft sich hier an
die Möglichkeiten, die sich mit einem Haus ergeben haben, welches sie als Verein
5.2 Sich selbst organisieren 241
Gartenlaube außerhalb der Stadt. Am Rand. Fast ein anonymer Ort, um sich zu
treffen und zu diskutieren. Ein Hauch des Subversiven. Ein Treffpunkt der
Gruppe, der durch ihr Tun zum Ort wird. Ein Ort, über den die Gruppe verfügt. In
einer weiteren Assoziation hat die Gartenlaube etwas „Zartes“. Im Wesentlichen
lebt der Treffpunkt Gartenlaube von der Interaktion der Gruppe, ihrem wechsel-
seitigen Austausch, der Schaffung eines „Erfahrungsraumes“, dem Raum für
Phantasie, um ein Bewusstsein füreinander und die Dinge zu entwickeln, die im
Ort passieren. Ihre Stabilität als Gruppe ruht hauptsächlich in den Verbindungen
ihrer Beziehungen, der Solidarität durch ihre Erfahrungen und Fragen, in der Form
damit verbundener Gleichheit, einer Gleichheit die im fragenden Suchen zwischen
den Verschiedenen entsteht. Verbindend ist dabei die Perspektive der Selbstbe-
stimmung als Ausdrucksweise von Freiheit, spürbar in den durch die Erfahrungen
und Fragen angestoßenen Antworten, von Vergewisserung bis Phantasie. Das, was
passiert, kann ja nicht alles gewesen sein. Es ist eine bewegliche, veränderliche,
sich entwickelnde Stabilität eines Geflechts unterhalb der Organisation. Die dabei
erzeugten Zusammenhänge sind verletzlich. Und dennoch: Diese Verletzlichkeit
ist wichtiger Bestandteil einer Stärke, einer gemeinsamen Kraft zur Entwicklung
von Handlungsfähigkeit.
„Ein festes Haus“ (E: 152). Die Betonung von festes durch Elena löst eine
Assoziationskette aus. Ein festes Haus ist robust, massiv, beständig, schützend,
verbindlich, trotzig (vgl. auch Stichwort „festes“ Duden 2014). Ein Fundament,
fest verankert im Boden. Ein Dach über dem Kopf. Ein Anlaufpunkt. Ein Treff-
punkt. Ein Haus als Stützpunkt für die Zartheit des Geflechts. Und, mit dem Blick
zurück, etwas Traurigkeit, aber die Erfahrung eines Glücks gelingender Verknüp-
fungen. Oder Martin im Gruppengespräch: „Da ist ein Zusammenhalt da gewesen,
der vorher nicht denkbar war, glaube ich, teilweise“ (G: 1319).
Und Martin im Gruppengespräch zu den ersten Aktionen: „die ersten Veran-
staltungen zur Anitfawoche damals, wo die erste Buchlesung [war]. Da waren über
50 Leute waren in dem Haus so, teilweise unten auf dem Boden, im Garten teil-
weise, die hat das auch teilweise gar nicht so brennend interessiert, die Vorlesung.
Die waren einfach da, weil die haben sich da zugehörig gefühlt. Das war einfach
nur der Hammer alles, war immer klasse“ (G: 1321-1325).
Die Erfahrung einer Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns. Dieses beschränkt
sich nicht nur auf die Interviewten selbst. Da sind „plötzlich noch 20 andere“ (E:
155). Die Erfahrung von Zugehörigkeit. Die „20 anderen“ „[hatten] einfach Lust“
(ebd.), haben einen sinnlichen Zugang gefunden. Eine Freude am konkreten Be-
arbeiten, der handwerklichen Gestaltbarkeit des Hauses. Das Haus in eine Form
bringen: „handwerklich“, „Decken abhängen“, „irgendwie den Putz abhacken“,
„tapezieren“, „streichen“ – Elemente um das Haus nutzbar zu machen (vgl. ebd.:
156 f.). Gemeinsames Gestalten ist eine prozesshafte Entwicklung, braucht die
5.2 Sich selbst organisieren 243
Notwendung, die Fähigkeiten zum Handeln, ein Fundament zu bauen, das gleich-
zeitig flexibel und stabil dem Druck „von oben“, mit seinen Erschütterungen und
Verdrängungseffekten trotzen kann: „festes Haus“.
Elena: „Und ja, das war also auch total schön zu sehen, dass dann wirklich so
ganz, ganz viele Leute plötzlich da waren und so mit Elan irgendwie, wir sind 18,
zwölf dann irgendwie was gemacht haben in dem Haus“ (E: 160-163). In Verknüp-
fung mit den Gedanken von Martin aus dem Gruppengespräch, „die haben sich da
zugehörig gefühlt“ (G: 1324 f.), ergibt Zugehörigkeit einen erweiterten Sinn. Zuge-
hörigkeit ist keine passive Angelegenheit. Sie wird als Verknüpfung im gemeinsa-
men Handeln mit den anderen hergestellt. Das Besondere an der Überlegung von
Martin ist, dass er von einer Situation erzählt, einen Kontrast zeichnet: die haben
sich da zugehörig gefühlt|nicht so brennend interessiert|Buchlesung|Vorlesung. Ver-
stehe ich hier Zugehörigkeit als horizontales Zusammensein der Vielen, deckt hier
Zugehörigkeit eine Praxis des Frontalen auf. Es wird vorgelesen. Für die einen ist
dies vielleicht ein Genuss. Für die anderen ist es eine Situation des Aushaltens, ver-
bunden mit der Gefahr, den Kontakt zu verlieren. Zugehörigkeit ist in diesem Zu-
sammenhang auch eine Praxis, über unterschiedliche Interessenlagen hinweg das
Gemeinsame auszubalancieren. Dennoch bleibt hier eine Schwierigkeit bestehen.
Ein unverstandener Konflikt. Die Frage nach Bildung.
Im Unterschied zur Situation einer Buchlesung skizziert Stefan eine andere
Situation: im Haus kommen Leute zusammen, der Freundeskreis, andere Leute.
Und dann „kamen halt die Freunde von den einen noch mit dazu und dadurch war
das dann, dass man sich dann auch teilweise Leute dann, die sich noch nie wirklich
über diese Themen, z. B. Nahost hat sich eigentlich nie einer wirklich groß dazu,
also wussten ja nicht mal, wo auf der Landkarte überhaupt Israel ist so, oder wieso
Israel eben gegründet wurde, was die Geschichte dahinter ist usw. usf. Und ja [...]
da kam das dann so nach und nach, dass, ja, genau. [...] Das war eigentlich auch
ein positiver Nebeneffekt so, dass man da, weil sonst hätten glaube ich, gewisse
Leute gar nicht sich darüber einen Kopf gemacht so über gewisse Themen. Das
war aber, glaube ich, wirklich nur eine Begleiterscheinung“ (S: 187-195).
Im Unterschied zur obigen Situation zeichnen sich mit dem Beispiel von Stefan
zwei unterschiedliche Bildungszusammenhänge ab. Ist eine Vorlesung eine frontale
Angelegenheit und eine Situation des „Bescheidgebens“ (Rumpf 2010: 33), entwi-
ckeln sich die Anknüpfungspunkte im Beispiel von Stefan „so nach und nach“ (S:
192) im Austausch untereinander. Dort entsteht eine Zugehörigkeit zu den Themen
der anderen. Diese liegt quer zu Vermittlungen „von oben“. Eine Buchlesung wird
in diesem Moment zur sperrigen, widersprüchlichen Angelegenheit. Beides sind
Teile des Zusammenhangs der Leute im Haus. Ihre Widersprüchlichkeit wird aller-
dings nicht als ein Problem von Bildung erkannt. Oder Bildung gilt als „Nebenef-
fekt“ (S: 193), als „Begleiterscheinung“ (S: 195) und nicht als Teil der
5.2 Sich selbst organisieren 245
dass es abwechselnd von verschiedenen Leuten moderiert wird, so ein Plenum und
dass halt Redelisten geführt wurden und ja, dann haben wir uns ja insofern irgendwie
auch so ein, na wie so einen gemeinsamen Wert oder wie so ein gemeinsames Ideal
auch erarbeitet, also indem wir halt geguckt haben, was ist uns wichtig und was wollen
wir nicht, nämlich dass nur die Lautesten reden und dann über alle anderen bestim-
men, sondern wir wollen alle gemeinsam entscheiden, wo es hingehen soll, was wir
machen wollen, ja, was er macht“ (E: 486-499).
Wie deutlich wird, handelt es sich um ein Lernfeld, im weiteren Sinne um ein Feld
der Bildung von Zusammenhang „von unten“. Wie geht dies? Fragend: „Wie wol-
len wir miteinander kommunizieren?“ (E: 487 f.). Die Leute im Haus beschäftigen
sich mit dieser Frage, entwickeln Ideen und Vorschläge. Diskussionen. Und dann:
„gemeinsam darauf geeinigt“ (E: 489). Den Knotenpunkt bildet, dass es „uns
wichtig ist“, dass: „jede Person gehört wird und sagen kann, was er oder sie für
wichtig hält“ (E: 490-491). Im Bild von Elena sind alle Leute des Hauses Teil des
Prozesses. Deshalb geht es um die Frage des „Wie“. Im „Wie“ verdichtet sich die
Idee selbstbestimmten Handelns, welches sich gegen die fremdbestimmten Mo-
mente ausbalancieren muss. Eine Dominanz des Formalen wird gebrochen in der
Zielrichtung eines „gemeinsamen Ideals“, einer normativen Richtung: „indem wir
halt geguckt haben, was ist uns wichtig und was wollen wir nicht“ (E: 496-497).
Deshalb: uns ist wichtig|dass|jede Person gehört wird.
Es ist der Versuch, die Lebendigkeit gemeinsamer Kommunikation bei
gleichzeitiger Notwendigkeit einer Ordnung der Stimmen der Vielen zu erhalten
und nicht einer Hierarchisierung zu opfern. Es soll keine Unterordnung erfolgen
unter die, die am „lautesten reden und dann über alle anderen bestimmen“ (E: 497
f.). Dies, so lässt sich die Erfahrung von Elena interpretieren ist ein offener Pro-
zess, des Probierens, des Experimentierens: „gemeinsam [gucken], wie sich das
realisieren lässt“ (E: 491-492). Dieser Prozess kann, so möchte ich schlussfolgern,
nicht abgeschlossen sein (oder werden).
Kommt der Prozess zum Abschluss, entsteht Stillstand. Die Funktion und das
Ideal brechen auseinander, werden sich fremd und maßregeln sich dann gegensei-
tig. Hier die Ordnung: So und so muss es richtig laufen; der technisch funktionale
Verstand orientiert sich dann am reibungslosen Ablauf, an Ideen der Effizienz, der
sortierten Transparenz. Das Formale tritt in den Vordergrund. Demgegenüber das
Ideal: So und so müsste es richtig laufen; so wie es funktioniert, ist es falsch. Eine
normative Annahme und Wertung tritt in den Vordergrund. Beide verlieren ihre
Beziehung zueinander, blenden wechselseitige Notwendigkeiten aus. Im negativs-
ten Fall lösen sie sich dann auch von den Leuten; sie erscheinen als fremde Dinge,
unnütze Werkzeuge oder als Werkzeuge im fremden Zweck, die nur einzelnen und
ihren Interessen nützen. Das Gemeinsame spaltet sich auf in die Positionen der
Einzelnen. Auch hier im negativsten Fall: Wer am lautesten redet, bestimmt. Die
5.2 Sich selbst organisieren 247
Stimmen der anderen erscheinen als Schweigen. Das Schweigen ist ein besonde-
res. Jeder schweigt für sich selbst; alle schweigen als Einzelne. Was sie verbindet
ist, die Vereinzelung ihrer Gedanken, ihrer Stimmen, die sich nicht berühren und
hören. Das Schweigen wird zum individuellen Problem. Es wird individualisiert.
Nicht zu reden, erscheint als Problem und Beschränkung der Einzelnen. Die struk-
turelle Verbindung wird ausgeblendet.
Der letzte Gedankengang ist ein assoziativer Lauf, angestoßen von der Trau-
rigkeit Elenas: „Also klar, irgendwie wo dann die Konflikte mehr wurden, sah das
dann auch anders aus, aber so am Anfang ist schon [...] konstruktiv“ (E: 171-173).
Die Traurigkeit: Die Balance der „Energie“ des „festen Hauses“ zu organi-
sieren und herzustellen, ist eine offene Angelegenheit. Im Prozess haben sie sich
verschiedene Werkzeuge geschaffen, die sie gebrauchen und nutzen. Dennoch ent-
wickeln sich Risse; Konflikte potenzieren sich. Der Optimismus: „am Anfang“.
Die skizzierte Erfahrung kann Elena nicht genommen werden. Die Erfahrung ist
Rohstoff, Ressource und Werkzeug in einem. Sie liegt quer zu Ansprüchen „von
oben“.
Und Elenas Erfahrung steht im Konflikt. Sie steht im Konflikt mit anderen Erfah-
rungen von Leuten aus der Gruppe. Auch Sandra spricht über ihre Erfahrung im
Haus.
Sandra: „Ich glaube, irgendwann ging es mal um, ob man das Sterni177 auch für
70 Cent statt für 60 Cent verkaufen kann und das ging irgendwie gar nicht, weil es ja
[...] billiger wäre und da war auch kein Verständnis dafür da, dass wir als Verein ir-
gendwie die Eigenmittel erbringen müssen und dass wir auch, wenn wir das Haus
ausbauen, dass wir das nicht gefördert kriegen, dass wir dafür Geld brauchen, das
interessierte alles nicht. Also es war immer schon viel, wenn sie irgendwie beim
Bauen mal mit angepackt haben und mal ein paar Handgriffe mitgemacht haben. Aber
so politisches Verständnis war halt wirklich nur dieses, ja, wir sind gegen Nazis, aber
warum, wieso, weshalb und dass man da auch mal irgendwie aktiver was machen
könnte außer bloß das immer wieder zu sagen, [kam] da halt nicht“ (Sa: 360-369).
Dem Optimismus von Elena steht hier die Nüchternheit von Sandra gegenüber.
Sandra ärgert sich. Sandra äußert ein Unverständnis. Sandra ärgert sich über eine
Gruppe von Leuten. Sie versteht ihr Verhalten nicht. Zwei unterschiedliche Inte-
ressenlagen, zwei verschiedene Themen: Bierpreise versus Eigenmittel. Die Bier-
preise scheinen den einen wichtiger zu sein als die finanziellen Zusammenhänge
des Vereins. Die finanziellen Zusammenhänge erscheinen den anderen wichtiger
als die Bierpreise. Im Grunde sind beide Interessenlagen zwei Seiten einer Me-
daille. Es artikuliert sich ein wirtschaftlicher Konflikt. Gleichzeitig artikuliert
Sandra eine Trennung. Verein|Haus. Wie schon weiter oben deutlich wurde, macht
auch Elena darauf aufmerksam, dass es im Haus verschiedene Gruppen gab. Sie
wird hierzu noch genauer.
Elena: „Ja, ich glaube, ich würde da einen Unterschied machen so zwischen den Leu-
ten, die tatsächlich im Verein so eingebunden im Sinne von Mitglied waren und aktiv
waren. Ich glaube, da ging es schon ganz viel so um so einen eigenen Anspruch oder
so eigene Ideale einfach, so auf gesellschaftliches Miteinander, geschäftliche Organi-
sationsformen, Zusammenleben usw. Dann gab es, glaube ich, noch Leute, die halt so
weniger, ich sage mal, weniger inhaltlich aktiv waren im Verein, die, glaube ich, so
Freundschaften eine große Rolle gespielt haben, quasi zu den aktiveren Vereinsmit-
gliedern, also hatte ich so das Gefühl. Und ja, quasi so von den, nennen wir das mal
so Sympathisant*innen des Vereins, was glaube ich, auch das beides ein bisschen und,
ich finde kein gutes Wort, also so im Sinne von irgendwie, dass auch mal so ein biss-
chen Bewegung da war in [X], also das, so was passiert war, was natürlich auch ir-
gendwie vielleicht auch etwas spannend war, weil es so neu war und wo man gerne
dabei sein wollte“ (E: 558-570).
Diese Differenzierung von Elena ist mit Blick auf die Äußerung von Sandra wich-
tig. Das Leben im Haus organisiert sich über unterschiedliche Gruppen. Hiermit
verbinden sich unterschiedliche Aktivitäten und Bindungen der Einzelnen an das
Haus. Die Gruppe der Mitglieder des Vereins diskutiert die grundlegende Orien-
tierung ihrer Vorstellungen, wie gesellschaftliches Miteinander aussehen könnte,
was dies für das Haus bedeutet und – hiermit verbunden – die Fragen der Organi-
sation, der Organisationsformen. Elena spricht hier von „inhaltlich“ (E: 563). Sie
unterscheidet diese Gruppe von den Leuten, die keine aktiven Mitglieder des Ver-
eins sind, aber engere Bindungen zu den Leuten haben, die sich aktiv im Verein
engagieren. Und es gibt die Gruppe der Sympathisant*innen des Vereins, eine Art
loses Umfeld, welches aber als Stütze für das Haus wichtig ist.
Auf den ersten Blick kann man die Überlegung von Elena so verstehen, dass
sie ein Zentrum formuliert, sie den Kern der Aktiven (Verein) und eine Peripherie
von Leuten, die weniger aktiv sind, beschreibt. Folge ich diesem Gedanken, ergibt
sich dabei auch ein Gefälle. Im Zentrum werden Dinge besprochen. Es sind wich-
tige Dinge, die einen wesentlichen Einfluss darauf haben, wie sich der Verein und
seine Peripherie, wie sich das Haus ausrichten soll. Im Zentrum konzentrieren sich
die Fragen des Miteinanders und der Organisation. Zuspitzend: Es ist das Privileg
5.2 Sich selbst organisieren 249
der aktiven Mitglieder, diese Fragen zu behandeln. Im Kontext eines Vereins ist
außerdem vorstellbar, dass dort auch Entscheidungen getroffen werden – Ent-
scheidungen, die letztlich alle etwas angehen; Entscheidungen, zu denen die we-
niger aktiven Leute, die Nichtmitglieder des Vereins und die Sympathisant*innen,
keinen unmittelbaren Zugang haben, obwohl letztere, wie Elena und Martin oben
deutlich machen, für das Haus von zentraler Bedeutung sind. Sie beleben durch
ihr Zutun das Haus. Sie sind Teil des Hauses, der Idee, die ohne sie keine Leben-
digkeit haben würde. Ein Kontrast: aktive Mitglieder|nicht aktive Mitglieder.
Diese Zuspitzung ist allerdings mit Blick auf die gewählte Sprache von Sandra
und Elena aufzulösen. Es ist zwischen Sandra und Elena zu unterscheiden.
Elena ist mit ihren Differenzierungen darum bemüht, graduelle Unterschiede
zu beschreiben, wie sich die Aktivitäten im Haus verteilen. Der entscheidende
Punkt dabei ist, dass hierbei das Haus als gemeinsames Projekt betrachtet wird.
Alle sind Teil des Hauses. Es kann aber graduell zwischen verschiedenen Formen
des Zutuns zum Haus unterschieden werden. Die Übergänge sind dabei fließend.
Elena: „tatsächlich im Verein so eingebunden im Sinne von Mitglied waren und
aktiv waren – Dann gab es, glaube ich, noch Leute, die halt so weniger, ich sage
mal, weniger inhaltlich aktiv waren im Verein – die, glaube ich, so Freundschaften
eine große Rolle gespielt haben, quasi zu den aktiveren Vereinsmitgliedern, also
hatte ich so das Gefühl – Und ja, quasi so von den, nennen wir das mal so Sympa-
thisant*innen des Vereins“ (E: 559-566). In diesem Sinne entfalten alle auf unter-
schiedliche Weise Aktivitäten, die zusammen das Leben des Hauses abbilden.
Entsprechend wären auch die bei Sandra als passiv erscheinenden Leute, die über
den Preis des „Sternis“ diskutieren, ebenfalls aktiver Teil des Ganzen.
Bei Sandra erscheint ein starker Kontrast. Zum einen werden diejenigen, die
sich für das „Sterni“ und „60 Cent“ stark machen, nicht beim Namen genannt.
Außer: „es war immer schon viel, wenn sie irgendwie beim Bauen mal mit ange-
packt haben“ (Sa: 365-366). Der Kontrast: wir als Verein|sie. Hier wir|sie da. In
diesem Bild erscheinen die Leute vom Verein als die Aktiven. Aktivität wird hier
von ihrer Organisation her gedacht. Die nicht aktiven Mitglieder erscheinen als
passiv. Sie haben „kein Verständnis“. „Kein Verständnis“ für den Zusammenhang
zwischen Bierpreis|Eigenmittel|Haus ausbauen. Und sie haben vermeintlich auch
kein (wirkliches) „politisches Verständnis“ (Sa: 367): wir sind gegen Nazis|aber
warum|wieso|weshalb|dass man da auch mal irgendwie aktiver was machen
könnte|außer bloß das immer wieder zu sagen| kann da halt nich. In der Überle-
gung von Sandra verlagert sich das Problem in die Einzelnen; es wird individua-
lisiert. Als Problem erscheint nicht mehr die Frage, wie die Leute des Hauses ge-
meinsam an bestehenden Problemen arbeiten könnten, sondern, wie diese sich ver-
halten. Ihr Verhalten der Uneinsichtigkeit wird zum Problem für Sandra.
250 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Hierin liegt aber noch mehr. Wie deutlich zu spüren ist, legt sich die Unein-
sichtigkeit der Leute, die über den Preis des „Sternis“ diskutieren, quer. Sie blo-
ckieren. Sie werden ungemütlich und sperrig. Es geht ihnen etwas gegen den
Strich. Was Sandra als Passivität erlebt, ist tatsächlich eine Bewegung, die sich
quer zu ihren Vorstellungen legt. Etwas Widerständiges liegt in der Luft. Und die-
ses Widerständige berührt die Fragen der Existenz des Vereins.
In der Überlegung von Sandra sind die „Sterni“-Leute abgekoppelt vom Ver-
ein. Sie erscheinen wie Gäste oder wie Leute, deren Bindungen an das Haus un-
glaubwürdig erscheinen, weil sich z. B. ihr „politisches Verständnis“ (Sa: 367) in
den Augen von Sandra nicht als ernst gemeintes Anliegen erweist. Oder weil sich
deren Interessen an Dinge knüpft, etwa preisgünstiges Bier trinken zu wollen. Ei-
nerseits braucht der Verein eine Beteiligung am Umsatz durch das Bier für die
Eigenmittel. Andererseits erscheint aber das Bier eher als Nebensache. Und dies
ist ein Irrtum. Im Konflikt artikuliert sich ein „unten“. Die „Sterni“-Leute machen
deutlich, dass sie Teil des Hauses sind. Das Sperrige. Was ist es? Die „Sterni“-
Leute nutzen das Mittel, das ihnen zur Verfügung steht. Und dies ist die Diskus-
sion über den Mehrbeitrag auf das Bier, den Mehrbeitrag, den andere als Eigenan-
teil für die Fördermittel gedacht haben. Scheinbar ohne die „Sterni“-Leute disku-
tiert und beschlossen. Oder, etwas weniger hart, es ist ein Thema, das die „Sterni“-
Leute bisher nicht erreicht hat, ein Thema dessen Bedeutung und Zusammenhang
unklar bleibt. Das Sperrige oder die quer liegende Haltung der „Sterni“-Leute legt
dies als Konflikt offen. Und die „Sterni“-Leute artikulieren mit ihren Mitteln: Wir
sind Teil des Hauses. Wir müssen uns einigen. Um uns zu einigen, müssen wir
verstehen. Es ist eine Aufforderung, zu teilen. Es ist eine Aufforderung, die Tren-
nung wir als Verein|sie|hier wir|sie da aufzuheben. Das Erstaunliche dabei ist, dass
gerade dies ein Beitrag zur Versachlichung der Debatte wäre, da sich hier die Dis-
kussion um die Frage der wirtschaftlichen Gestaltung des Hauses drehen könnte,
was wiederum ein Thema für alle ist. Oder, anders ausgedrückt, an diesem Punkt
hätten Sandra und die „Sterni“-Leute (und letztlich alle im Haus) ein gemeinsames
Thema, das ihre unterschiedlichen Perspektiven in einen gemeinsam geteilten Zu-
sammenhang bringen könnte.
An diesem Punkt wird auch deutlich, dass Sandra eine tendenzielle Überfor-
derung artikuliert. Die Einrichtung eines Vereins ist eine komplizierte Angelegen-
heit: die Trägerschaft eines Hauses, dessen Unterhaltung, die Ausgestaltung des
Vereins und des Hauses, ein Ausbau des Hauses nach den Bedürfnissen der Nut-
zer*innen, die verschiedenen kulturellen und politischen Anliegen, die aufzie-
hende Bürokratie, die Selbstverwaltung, die Wünsche der Vielen. Eine sehr kom-
plexe Angelegenheit, eine von den Leuten angenommene Herausforderung, die
höchsten Respekt verdient. Schon sind erste Hürden da. Fördermittel – diese Mög-
lichkeit nährt Phantasien. Dinge könnten möglich sein; ein Ausbau des Hauses,
5.2 Sich selbst organisieren 251
vielleicht auch etwas professioneller. Vorbilder gibt es; wie im Beispiel von
Sandra: das alternative Jugendzentrum AJU in der benachbarten Kreisstadt. Dort
fehlte allerdings die Zugänglichkeit. Im Haus könnte es anders werden. Hier liegt
es in den eigenen Händen.
Der mit den Fördermitteln verbundene Verwaltungsakt ist eine Begegnung
mit Kräften der Bürokratie. Es ist ein komplizierter Weg: den Antrag schreiben,
die Rahmenbedingungen verstehen, die z. B. von einer staatlichen Verwaltung
aufgestellt sind. Das Recht wirft juristische Fragen auf. Baufragen sind zu klären.
Darf überhaupt am Haus etwas gemacht werden? Wenn ja, wie und was? Viele
Wege sind zu gehen. Die Leute des Hauses müssen zum Rathaus zu laufen. Dort
ist die Baugenehmigung zu beantragen. Die Leute des Hauses begegnen im Rat-
haus den örtlichen Interessen. Die Verantwortlichen im Rathaus fragen, brauchen
wir so ein Haus? Die Leute des Hauses müssen sich rechtfertigen. Gleichzeitig
müssen die Leute im Haus ihre Phantasien in eine Konzeption bringen. Diskussi-
onen führen. Kompromisse bilden. Zuschnitte der Überzeugungen der Leute im
Haus. Es entsteht eine zwanghafte Situation mit Verkürzungen, die dazu führen,
dass die unterschiedlichen Interessen innerhalb des Hauses in der Spannung ste-
hen, auseinanderzufallen und sich im wechselseitigen Unverständnis, im Nicht-
verstehen der jeweils anderen Bedürfnisse zu Konfliktbündeln entwickeln. Das
Problem, das Sandra artikuliert, ist Ausdruck einer solchen Verkürzung. Die Kom-
plexität eines solchen Konfliktbündels ist in der Diskussion, „ob man das Sterni
auch für 70 Cent statt für 60 Cent verkaufen kann“ verdichtet. Die Komplexität
des zwanghaften Anteils, „Eigenmittel erbringen [zu] müssen“ (Sa: 363, Hervor-
hebung F.A.) erfährt eine Reduktion in der Konzentration auf das Verhalten der
„Sterni“-Leute. Das Zwanghafte wird weitergereicht als Idee einer Disziplinie-
rung, als ein Appell, das individuelle Verhalten zu modifizieren und in den Dienst
eines übergeordneten (fremden) Interesses zu stellen. Hierin liegt auch die tenden-
zielle Überforderung, ein Ausdruck von Hilflosigkeit, keine passende Idee dafür
zu haben, die Komplexität der Situation im gemeinsamen Zusammenhang verste-
hend erschließen zu können.
5.2.5.2 „Beim Verein ist halt immer das Problem, du bist im Zwang“ –
Verantwortung und Zuspitzung von Konflikten
In unserem Interview reflektiert Martin die Nachteile, die ein Verein mit sich
bringt. Er erinnert sich an eine Äußerung eines Vereinsmitglieds des alternativen
Jugendzentrums dem AJU in der benachbarten Kreisstadt. Dieses habe ihm er-
klärt, dass es heute „auf keinen Fall“ mehr bei einem Verein mitmachen würde,
weil dies „ein Haufen Arbeit, ein Haufen bürokratische Arbeit“ bedeute, was
gleichzeitig „das Vereinsleben kaputt, die inhaltliche Arbeit kaputt“ mache (M/b:
252 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
1209-1213). Vor diesem Hintergrund erläutert Martin, was er als das zwanghafte
Potenzial beim Verein erfahren habe. Zum Problem wird ein Punk-Konzert, wel-
ches im Haus veranstaltet wird.
Martin: „Beim Verein ist halt immer das Problem, du bist im Zwang. Du musst ir-
gendwelche bürokratischen Sachen machen, du musst irgendwelche finanziellen Sa-
chen machen, du musst das machen, musst das machen, musst das machen. Schon
allein musst du eine Satzung haben. Da muss alles drinstehen, das muss passen. Da
fängt es eigentlich schon an, dir eine Hierarchie zu schaffen, ohne, dass du es willst,
schaffst du eine Hierarchie. Und das ist eigentlich schon, eigentlich ist das ein No-Go
für eine basisdemokratische Initiative, wie wir es eigentlich sein wollten. Aber da hat
es, das funktionierte schon nicht mehr, weil du dann schon das Problem hast und das
ist ein Problem, eine Riesendiskussion, die wir bis zum Schluss hatten, eine Haupt-
diskussion eigentlich, wo beidseitig zugespitzt bis zum Unendlichen, das war z. B.
Thomas sein Konzert. Das war eben die Sache, die wollten das machen, die hatten da
Bock drauf und hat gesagt, er übernimmt die Verantwortung. Ich sage, das bringt ei-
nen Scheißdreck. Mieter von dem Haus ist der Verein und für den Verein haftet der
Vorstand. Da kannst du sagen, dass du dafür haftest wie du willst. Das ändert nichts
halt und das ist der Punkt, wo du die Basisdemokratie eigentlich kaputt machst, denn
du hast die Verantwortung rechtlich gesehen schon verlagert, auf ein paar Leute kon-
zentriert, d. h., wenn du an der Stelle bist, siehst du es aus einer anderen Perspektive
als der Rest, weil du dann schon wieder Bedenken hast, okay, da könnte was schief-
gehen und da hätte einiges schiefgehen können“ (M/b: 1227-1245).
Martin berichtet von der zwanghaften Seite des Vereins, die für ihn eine bedeu-
tende Erfahrung ist. Sein Handeln steht in einem Widerspruch. Der Widerspruch
besteht darin, dass offensichtlich seine Vorstellungen von einer basisdemokrati-
schen Initiative in der Auseinandersetzung mit den „bürokratischen Sachen“, „ir-
gendwelchen finanziellen Sachen“, der Entwicklung einer „Satzung“ (M/b: 1228
f.), kurz: der Einrichtung als Verein, gebrochen werden. Eine Hierarchie entsteht,
eine Hierarchie, die Martin selbst aktiv mit anderen einrichtet und die „ein No-Go
für eine basisdemokratische Initiative, wie wir es eigentlich sein wollten“, ist
(M/b: 1232-1233). Martin spricht davon, dass mit der Entwicklung einer Bürokra-
tie, der Frage der Finanzen und einer Rahmung des Ganzen durch eine Satzung
die Hierarchie begründet werde und sich damit einhergehend die Verantwortung
„auf ein paar Leute konzentriert“ (M/b: 1242 f.). Dies bereitet ihm Bauchschmer-
zen; ein Unbehagen ist deutlich spürbar. Nur was macht dies aus?
Im Haus ist ein Punk-Konzert geplant. An dieser Stelle reißt ein Graben auf.
Thomas will das Konzert veranstalten, die Verantwortung übernehmen. Martin:
die hatten Bock drauf|er übernimmt die Verantwortung|ich sage, das bringt einen
Scheißdreck. Auf den ersten Blick erscheint es so, als würde sich das Problem am
Stichwort der Verantwortung entzünden. Folge ich diesem Gedanken, so kann mit
den Stichworten von Martin zwischen zwei verschiedenen Formen der
5.2 Sich selbst organisieren 253
Verantwortung unterschieden werden. Auf der einen Seite steht eine Verantwor-
tung, die sich als eine „rechtliche“ Form äußert und sich „auf ein paar Leute kon-
zentriert“. Martin macht deutlich, dass sich mit dieser Idee der Verantwortung die
Perspektive verschiebt; seine Perspektive wird eine andere. Seine Sichtweise un-
terscheidet sich von der der anderen, vom „Rest“. In Erinnerung an die weiter vorn
skizzierte Problematisierung von Markus, „Chef und der Rest“ (Ma: 338), umreißt
hier Martin mit der Hierarchie ein Oben und Unten. Aus der Perspektive „von
oben“ ist es dann so, dass sich die rechtliche Verantwortung bei wenigen kon-
zentriert und der Rest von dieser Verantwortung entbunden ist. Verantwortung
erscheint in diesem Zusammenhang als eine rechtlich zugeteilte, als zwanghafte
Form, die Martin wohl oder übel übernehmen muss.
Thomas signalisiert im Interesse der Leute des Hauses, das Konzert organi-
sieren und dafür Verantwortung übernehmen zu wollen. Gemeint ist damit also
auf der anderen Seite eine Form der Verantwortung, die sich im Unterschied zu
Martin als eine freiwillige artikuliert. Diese Form der Verantwortung versteht sich
als eine quer verbindende Kraft. Sie erscheint als eine, die frei und unabhängig
von rechtlichen Vorgaben handeln kann. Es geht um ein Konzert, welches die
Leute im Haus zusammenbringen soll, das Spaß verspricht und damit auch die
Anliegen der Leute, im Haus kulturell etwas zu machen, zum Ausdruck bringen
soll. Thomas würde in diesem Fall einen Knotenpunkt bilden, über den die orga-
nisatorischen und inhaltlichen Fragen laufen. Man kann auch dies als eine heraus-
gehobene Position betrachten. Eine Position an der sich Informationen bündeln
und an der sich insofern auch Macht konzentriert. Allerdings ist hier die Bünde-
lung von Informationen und damit zusammenhängend die Konzentration von
Macht im Unterschied zu Martin auf das Ereignis, die Veranstaltung, bezogen. Die
Veranstaltung ist ein singuläres Ereignis. Ist sie gelaufen, verschwindet auch die
Bündelung der Informationen und organisatorischen Sachen. Es bleibt dann ent-
weder ein gelungenes Konzert oder ein Flopp. Den informatorisch-organisatori-
schen Knotenpunkt kann Thomas aber auch so gestalten, dass er die Informationen
und organisatorischen Fragen mit den anderen teilt und die Perspektive auf das
gemeinsame Erlebnis, das Organisieren eines Konzertes, richtet. In der Problema-
tisierung von Martin erscheint dies als die freiere Möglichkeit des Handelns. Für
sich selbst sieht er diese Möglichkeit nicht.
Wo liegt dann aber der Konflikt? Dieser liegt für Martin darin, dass mit dem
Zwang der rechtlichen Verantwortlichkeit eine Nötigung einhergeht, „Bedenken“
zu entwickeln: „[D]a könnte etwas schiefgehen und da hätte einiges schiefgehen
können“ (M/b: 1245). Im Kontrast sagt Stefan dazu: „Da wurde quasi immer schon
der Teufel an die Wand gemalt erst, und das könnte passieren und so und so läuft
und dadurch ist halt dieser Druck, der halt vorher einfach nicht so da war, wo man
halt so abtun konnte so im Sinne von, ja sind halt unterschiedlicher Meinung da,
254 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
ist ja egal, so dieser Druck war dann auf einmal da durch diesen Verein“ (S: 288-
292). Die Bedenken, von denen Martin spricht verweisen nicht nur auf seine Po-
sition in einer Hierarchie, sondern auch auf damit verbundene ungleiche Verant-
wortlichkeiten der Leute. Der Konflikt, der auftaucht, ist einer der Frage von Ord-
nung und Kontrolle. Aus dieser Perspektive ist die Idee der Verantwortung von
Thomas für Martin ein „Scheißdreck“ (M/b: 1239), da Thomas nicht den „Mieter
von dem Haus“ (ebd.) repräsentiere und im Zweifel nicht für mögliche Komplika-
tionen hafte. Dies täten der Verein und die dort verantwortlichen Personen. Vor
diesem Hintergrund geht es dann darum, mögliche Eventualitäten (von vornhe-
rein) auszuschließen und letztlich ein wachsames Auge auf die Planungen (auf die
Leute, die planen) und die konkreten Abläufe der Veranstaltung zu haben. Das
Haus als gewonnener Erfahrungsraum der Leute wird durch Momente der zweck-
mäßigen Kontrolle in Frage gestellt.
Hier spitzt sich der Widerspruch von Martin zu. Er sieht sich in der zwang-
haften Situation, diese Kontrolle von oben nach unten durchsetzen zu müssen. Das
Recht zielt darauf, ihn als Einzelnen in eine Verantwortung zu bringen, die dann
gegenüber den anderen deutlich gemacht werden muss. Er kann dabei nur indivi-
dualisiert sein Problem vortragen und erklären, dass er als Person durch die recht-
lichen Bedingungen haftbar gemacht werden kann. Dies führt dann auch zu den
Problemen, von denen Markus weiter vorn im Zusammenhang mit der „festgefah-
renen Struktur“ spricht: „[W]ie gesagt, das ist durch Martins Überaktivismus da
missverstanden worden, wo das dann doch irgendwie in diese Richtung wieder
ging, ah, hier, Martin will jetzt Boss sein und wir anderen müssen machen, was er
sagt. Was aber nicht der Fall war, kann ich nur immer wieder wiederholen“ (Ma:
341-344). Tendenziell wird Martin in den Augen der anderen zum Boss. Er gibt
den Ton an und sagt, was geht und was nicht. Stefan bemerkt mit einem leichten
Zynismus dazu: „War klar, [Martin Schubert] hat sich gleich für den Vorsitz ge-
meldet“ und „hat auf einmal diese Institution gegründet und um die geht es halt
um Teufel komm raus irgendwie. Es hätte mich nicht gewundert, wenn halt [Mar-
tin Schubert] noch einen PR mit eingestellt hätte, auch wenn […] weiß nicht. Ich
glaube wir waren kurz davor“ (S: 323-326). Die gesellschaftlich-strukturelle Be-
dingtheit, das Zwanghafte, das Martin erfährt, wird nicht durchschaut (oder ist
nicht durchschaubar) und verschwindet in der Person. Zum Gegenstand der Kritik
wird dann nicht die Zwanghaftigkeit der Funktion und damit verbundener Situati-
onen, sondern das Verhalten der Person.
Hiermit verbinden sich weitere Bruchlinien, die auch zu einer Spaltung gemein-
samer Perspektiven führten. Auf einen Aspekt möchte ich in diesem Zusammenhang
noch eingehen. Ähnlich wie Martin spricht Stefan darüber, was für ihn mit dem Verein
im Vergleich zur Gruppe in der Gartenlaube zum Problem geworden ist.
5.2 Sich selbst organisieren 255
Stefan: „Und erst dann mit den realen Problemen, so, jetzt ist der Verein da, als wir
ihn dann gegründet hatten so, kam dann raus, na ja, aber wenn wir das jetzt machen,
da legen wir uns mit denen an so, und dann ist es erst, also quasi mit dem Verein ist
dann auch nach und nach, es ging am Anfang noch alles relativ gut so und dann erst,
wo der Verein da war und dass man, es war quasi wie so eine Art Kind so, man hat
das gemeinsame Sorgerecht dafür so. Da sitzen alle im gleichen Boot, […] der Verein
und dadurch ist dann praktisch diese Spannung, die zwar vorher schon da war, was
heißt Spannungen, diese, dass man halt teilweise unterschiedliche Herangehenswei-
sen hatte oder dass man sich, andere Vorstellungen hatte, wie geht man damit um oder
wie, die einen sagen, sind halt eher auf Krawall gebürstet so oder sagen halt, nein, das
und das geht gar nicht und die müssen wir halt vehement, ganz viele Pressemitteilun-
gen rausschreiben und das richtig verteufeln so, während andere das und das, das gab
es ja vorher auch schon in diesem Maße auf einer gewissen Art und Weise, aber erst
im, da gab es keinen Konflikt so, weil das war da so, das hat man in der kleinen Runde,
in der Garten[laube] miteinander besprochen und da hat man auch keine im Namen
des Vereins Pressemitteilungen rausgeschmissen so. Und erst mit der Vereinsgrün-
dung hat sich dann quasi diese ersten Linien, diese Wege, diese zwei oder drei, die es
da gab so, also es gab ja immer, wie gesagt, die zwei Linien, einmal die versöhnliche
Art und Weise, mit der Stadt viel mehr kooperieren und da auch Eingeständnisse ma-
chen und die andere, die gesagt hat, nein, zur Not halt auch ohne die Stadt, weil, die
begreifen halt die Stadt als Teil des Problems mit und die Leute, die ein bisschen
vermittelnd dazwischen waren. Aber die Linien haben sich ja alle schon vorher abge-
zeichnet in diesem Sinne. Aber erst durch den Verein wurde das quasi dann zu einer
Belastung, weil dann war halt klar, so, jetzt können wir nicht einfach, wir reden nicht
am Lagerfeuer, sondern jetzt geht es drum, dass wir öffentlichkeitswirksam was ma-
chen. Und dann wurde es erst, so diese Konflikte quasi kamen dann zum Tragen, so
meiner Meinung nach zumindest“ (S: 244-270).
Stefan macht in seiner Äußerung noch auf ein weiteres Problem aufmerksam. Er
beschreibt eine qualitative Veränderung, die im Vergleich zur Gartenlauben-
Gruppe mit der Organisationsform als Verein an Bedeutung gewinnt. Eine Beson-
derheit der Gartenlauben-Gruppe war die Form des miteinander Sprechens. Dort
„gab es keinen Konflikt“ (S: 257 f.), sondern es „gab unterschiedliche Herange-
hensweisen“ (S: 251 f.), „andere Vorstellungen“ (S: 252) der Einzelnen über die
Dinge, die gemacht werden sollten, oder, wie die Welt durch die Einzelnen be-
trachtet wurde. Stefans Erfahrung, so möchte ich es interpretieren, ist die einer
Gleichheit, die es ermöglichte, die Unterschiedlichkeiten auf einer horizontalen
Ebene zu besprechen und so den Freiraum der Gartenlauben-Gruppe, die Offen-
heit, gemeinsam in der Balance zu halten. Der Verein erscheint hier als Bruch.
Prozesshaft setzt sich hier eine neue Ordnung durch. Stefan etwas weiter vorn im
Interview: „[V]orher war es noch viel ungezwungener“ (S: 243). Mit dem Verein
kommen aber auch die „realen Probleme“ (S: 244). Stefan: „Wir reden nicht am
256 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Lagerfeuer, sondern jetzt geht es drum, dass wir öffentlichkeitswirksam was ma-
chen“ (S: 268 f.).
In der Gestalt des Vereins verkörpern die Leute des Hauses auch eine Idee,
die sie durch ihren Namen, durch ihre Ideen, Konzepte und ihr Handeln nicht mehr
allein für und mit sich besprechen, sondern auch in der Belebung des Hauses am
Rande des Marktplatzes der Stadt für andere sichtbar werden lassen, mehr noch:
„öffentlichkeitswirksam was machen“ (S: 269). Sie treten aus ihrer Begrenzung
als Gruppe hinaus, nutzen die Stabilität der Basis, um öffentlich sagen und zeigen
zu können, was ihnen wichtig ist. Dies ist ein gewaltiger Schritt. Es wurde ernst.
Und dies wurde es in einem doppelten Sinne. Zum einen deutet Stefan auf eine
Ernsthaftigkeit hin, die daraus entsteht, sich um den Verein zu kümmern, um „wie
so eine Art Kind“, und das „gemeinsame Sorgerecht dafür“ zu haben (vgl. S: 68
f.). Verpflichtungen, freiwilliger Art, aber auch Zwanghaftes sind hier vorstellbar.
Gleichzeitig entsteht hier eine Ahnung von Pflicht, von einer Bindung an eine Si-
tuation, in der offen ist, wie diese sich im Konfliktfall entwickelt. Zum anderen
zeigt sich die Perspektive, ihre Anliegen „öffentlichkeitswirksam“ (S: 269) zu
platzieren, um „ernst genommen“ (Ma: 21) zu werden.
Aus diesem Prozess entwickelt sich eine Spaltung. War in der Gartenlauben-
Gruppe konflikthaftes Potenzial horizontal aufgelöst, gerät diese Balance im Ver-
ein aus dem Gleichgewicht und es treten sich die „unterschiedlichen Herangehens-
weisen“ und „Vorstellungen“ als fremde, konkurrierende Positionen gegenüber.
Im Kontext des Vereins müssen sie sich dann als differente Vorstellungen und
Perspektiven im Machtgefälle der Hierarchie neu organisieren. Genau diesen Pro-
zess skizziert Stefan als den aufkommenden Konflikt, bei dem sich „diese [zwei
oder drei] Wege“ (S: 261) herausbilden oder „zwei Linien, einmal die versöhnli-
che Art und Weise, mit der Stadt viel mehr kooperieren und da auch Eingeständ-
nisse machen und die andere, die gesagt hat, nein, zur Not halt ohne die Stadt, weil
die begreifen halt die Stadt als Teil des Problems“ (S: 261-264). Stehen sich in
dieser Art und Weise zwei Positionen gegenüber, bilden die eine Position die Rei-
bungsfläche für die jeweils andere Position. Dabei entsteht die Situation, dass die
jeweils möglichen guten Gründe und Argumente, die der jeweils anderen Position
zugehören in den Hintergrund treten und im Unterschied zum Zustand der Balance
der Gartenlauben-Gruppe an Bedeutung verlieren. Ein negativer Befund, der sich
hieraus ergibt, wäre beispielsweise ein Verlust von Offenheit und Phantasie. Oder
Stefan: „Das, was [der Verein]178 ursprünglich mal machen sollte, ist dann ganz
schnell in den Hintergrund geraten so, meiner Meinung nach zumindest“ (S: 318).
Und: „Irgendwann bin ich halt aus dem Verein auch wieder ausgetreten“ (S: 312).
178 Stefan spricht im Interview an der zitierten Stelle anstatt vom Verein, so wie ich es eingefügt
habe, mit einer Distanz schlicht von „er“.
5.2 Sich selbst organisieren 257
Die Stichworte des „Innen und Außen“179 sowie einer „Politik von oben“ habe ich
von den Interviewten übernommen. Sprechen die Interviewten vom „Innen“ mei-
nen sie vor allem die oben skizzierten Probleme und Konflikte innerhalb des Ver-
eins und des Hauses. Mit dem „Außen“ markieren sie auf der einen Seite vor allem
Konflikte mit der Stadtverwaltung und der Kommunalpolitik. Diese Form der
Konflikte hat Martin als „die typische von oben herab, [...] Mentalität von Kom-
munalpolitikern“ (M/b: 69) charakterisiert. Auf der anderen Seite thematisieren
sie mit dem „Außen“ Konflikte mit den Leuten im Ort. Hierfür haben sie verschie-
dene Begrifflichkeiten gefunden. Am einprägsamsten ist die schon weiter vorn
diskutierte Redewendung vom „ekligen Status qou“ (S: 37), welche Stefan im In-
terview verwendet. Darüber hinaus sprechen die Interviewten über „Vorwürfe“
und „Gerüchte“ (M/b: 215), die von den Leuten im Ort über den Verein verbreitet
worden seien. Beide Dimensionen überschneiden sich und sind miteinander ver-
knotet. Unter einem analytischen Blickwinkel möchte ich sie im Folgenden unter-
scheiden. Mit dem Stichwort „typisch von oben herab“ (M/b: 69) kommen spezi-
fische Erfahrungen der Interviewten mit den Ausprägungen der parlamentarischen
Demokratie zur Sprache. Hiervon unterschieden, verweisen die Stichworte der
„Gerüchte“ und „Vorwürfe“ auf Erfahrungen mit einer spezifischen Kommunika-
tionsweise von Öffentlichkeit. Alex Demirovic hat dies eine Kommunikations-
weise in „mythischen Mustern“ genannt (vgl. Demirovic 2016: 68). Hierbei geht
es „nicht um öffentlichen Vernunftsgebrauch, Wahrheit, sachliche Kenntnisse,
sondern um die Verbreitung von Gerüchten, Parolen und Stimmungen“ (ebd.).
Welche Erfahrungen die Interviewten hiermit gemacht haben, soll im Folgenden
beispielhaft skizziert werden.
Martin berichtet sehr plastisch und ausführlich über das Problem mit den Ge-
rüchten. Er unterscheidet an konkreten Beispielen unterschiedliche Ebenen oder
Zusammenhänge, auf die sich die Gerüchte beziehen. Zum einen sprechen die
Leute in der Stadt in bestimmter Weise über den Verein. Der Verein wird zum
Gegenstand von Spekulationen und Zuschreibungen. Zum anderen richten sich die
179 Sandra spricht zum Beispiel über die Notwendigkeit bestimmte Informationen, die nur den
Verein etwas angehen nicht nach außen zu geben: [W]ir müssen da jetzt gucken, was wir
machen, was wir nach außen geben“ (Sa: 215 f.). Oder Elena über die Kritik der Gruppe am
Alltagsrassismus in [X] und dem Konflikt, dass sie durch ihre Kritik als „Störenfriede“ gelten
und die „dörfliche Harmonie“ stören: [A]ls wir dann Veranstaltungen gemacht haben, [wurden]
wir so als die Unruhestifter, die Störenfriede irgendwie so hingestellt. [I]st halt so eine, wie so
eine, die dörfliche Harmonie so ein bischen gestört […], die es ja überhaupt nicht gibt, so richtig,
aber wahrscheinlich so wirken soll nach außen“ (E: 61-65). Oder Stefan über seinen Konflikt
mit der Stadt und dem Verein: „Warum bin ich hier auf einmal das Hauptproblem? Da draußen
sind halt, eine Stadt, die ihre scheiße nicht aufarbeiten kann […] und ihr guckt nur noch, wer ist
innerhalb [des Vereins] quasi Unruhestifter“ (S: 788-792). Die Zitate habe ich eingekürzt.
258 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Gerüchte und Vorwürfe gegen konkrete Personen. Im Beispiel wird Martin selbst
zum Mittelpunkt von Zuschreibungen.
Zum ersten Beispiel: Martin berichtet im Interview darüber, dass er eine Aus-
einandersetzung mit einem SPD-Mitglied des Stadtrates habe. Martins Eindruck
ist, dass dieser ihm mit Wohlwollen einen guten Rat geben wolle, er solle; „von
der linken Schiene runterkommen“ (M: 861). Dies kommt allerdings bei Martin
nicht so gut an: „Das sagt ein Linker, ist der Hammer, solche Sachen“ (M: 862).
Hieraus ergibt sich in unserem Interview folgende kurze Gesprächssequenz:
Ich: „Was meint so ein Linker, wenn der sagt, ihr sollt euch so das Linke abgewöhnen?“
Martin: „Na ja, der Ruf, den wir hatten, war halt wirklich, die Vermummten, die Be-
kloppten, die Randalen, die weiß ich nicht.“
Ich: „Ach, und das ist links?“
Martin: „Das ist links, das ist bei ihm links gewesen wahrscheinlich, weiß es nicht.
Ich kann, ich weiß nicht, wie er es gemeint hat. Aber ich nehme an, dass das gemeint
war, weil das das Bild war, was die Leute von uns hatten. Hat ja auch immer wieder
gesagt gehabt, war das nicht auch, das war auch, glaube ich, bei dieser SPD-Veran-
staltung, wo ich gesagt habe damals, und das war der Veranstalter, das hat von einem
Mitglied von uns der Vater hat das gesagt. Der ist damals auch bei der Veranstaltung
gewesen, wo eben gesagt wurde, eben einer gesagt hat, der damalige SPD-Vorsit-
zende, glaube ich, sogar war, war vor meiner Zeit, der muss gesagt haben, dieser
[…]180 wird scharf geschossen halt wirklich, also im Sinne von wirklichen Waffen
und der muss auch gesagt haben, na, der [Schubert] ist auch bloß Aushängeschild der
demokratischen Linken und nachts schickt er seine Schergen los halt, weißt du. Und
das war so bisschen das Bild, was die von uns hatten, sozusagen wir tun offiziell so,
als wären wir ganz nett, aber eigentlich sind wir die, die nachts vor die Rathaustür
kacken. Also es wurde […] mal gemacht hat, seinen Haufen davorgesetzt oder sowas.
Das war ein Rieseneklat, sage ich dir. […] so ein Mist“ (M/b: 875-894).
Den „Ruf, den wir hatten“ (M/b: 877), das „Bild war, was die Leute von uns hat-
ten“ (M/b: 882): „die Vermummten, die Bekloppten, die Randalen“ (M/b: 877 f.).
Dies sind starke Bilder. In einem ersten Gedankengang möchte ich kurz den Bil-
dern folgen.
Vermummt: hat den Anstrich einer Tarnung, der Verhüllung von Dingen, die
andere nicht auf den ersten Blick sehen oder nicht erkennen sollen. In diesem
Sinne könnte es eine Verkleidung sein, vergleichbar zum Fasching. Der
180 Zu dieser Stelle im Zitat ist eine kurze Anmerkung zu machen. Die Punkte in Klammern mar-
kieren an dieser Stelle eine unverständliche Passage in der Tonaufnahme. Allerdings wird mit
Blick auf die weiter vorangegangenen Äußerungen von Martin deutlich, dass er den Verein
meint. Ich habe die Punkte so stehen lassen, da sich hier möglicherweise auch Raum für andere
Interpretationen ergeben könnte, als wie ich sie im weiteren Text vorschlage. Die weiteren Aus-
lassungen im Zitat dienen der Anonymisierung.
5.2 Sich selbst organisieren 259
Unterschied ist aber, dass eine Vermummung den Spaß, die Ironie, den Spott ab-
schneidet und einen anderen, ernsthafteren Charakter annimmt. Vermummt rückt
so in die Nähe des Unheimlichen, des nicht Fassbaren. Das Vermummte hält sich
bedeckt und entzieht sich dem unmittelbaren Zugriff; es braucht eine Erklärung;
man muss sich damit beschäftigen, es enttarnen, um zu sehen, was dahinter steckt.
Vermummung als Schutz – als Schutz vor dem unmittelbaren Blick, der Bewer-
tung, dem Zugriff. Vermummung als freiwilliges Mittel, wie etwa bei Subcoman-
dante Marcos.181 Mit der Vermummung tritt der Einzelne in den Hintergrund, das
gemeinsame Anliegen in den Vordergrund. Vermummung als Vermittlung einer
Botschaft, aber Vermummung auch als Projektionsfläche der anderen.
Bekloppt: Es erscheint eine Verwandtschaft zu dümmlich oder verrückt.
Dümmlich verweist auf eine Form der Beschränkung, eine Begrenzung, Borniert-
heit oder auch eine Erstarrung innerhalb einer Begrenzung, einen verengten Blick-
winkel. Bekloppt ist eine Abwertung, eine Bewertung eines Verhaltens, das Signal
einer Grenzziehung: bekloppt|normal. Der Standpunkt, von dem aus gesprochen
wird, ist das Normale. Als bekloppt erscheint, was von diesem Standpunkt ab-
weicht. Diese Abweichung wiederum korrespondiert mit verrückt. Verrückt ver-
weist auf eine Bewegung, Verrücken als eine Aktivität der Verschiebung, auf die
Einrichtung eines anderen Standpunktes. Vom Standpunkt der Normalität aus al-
lerdings erscheint dieser wiederum als unüberlegt, vielleicht auch als eine Bewe-
gung ohne Verstand, als eine Bewegung, die vom Standpunkt der Normalität nicht
verstanden wird.
Krawall: ist eine laute Angelegenheit, die Unterbrechung von Stille, Beunru-
higung. Rebellion? Ein Hauch des Verbotenen oder Subversiven? Oder: Die Luft
muss raus. Krawall legt sich quer. Auflehnen. Eine Form gemeinsamen Handelns.
Widerständiges. Soweit meine Assoziationen.182
Ein „Bild“ im Sinne meiner skizzierten Assoziationen ist eine widersprüchliche
Angelegenheit. Es löst verschiedenste Bilder und weitere Assoziationen aus. Es ent-
steht eine scheinbare Differenz der verschiedenen Bilder. Die unterschiedlichen Bil-
der haben allerdings etwas gemeinsam. Sie bündeln Emotionen und erlauben gleich-
zeitig, die Vernunft, das Denken draußen zu halten. Martin spricht vom „Ruf“ (M/b:
877) und vom „Bild, [...] was die Leute von uns hatten“ (M/b: 882). Im „Ruf“ der
„Vermummten, [der] Bekloppten, [der] Randalen“ (M/b: 877 f.) zeigt sich Beunru-
higung bis hin zur Verachtung. Oder, etwas milder formuliert, der „Ruf“ zielt auf
181 Subcomandante Marcos wurde als politisches Synonym geschaffen und gilt als inoffizieller
Sprecher des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees der EZLN (Zapatitische Armee der
nationalen Befreiung) in Chiapas/Mexiko (vgl. Subcomandante Marcos 2008).
182 Meine Assoziationen habe ich auch mit Unterstützung des Synonymwörterbuchs des Duden
vorangetrieben (vgl. hierzu die jeweiligen Stichworte in Duden 2014).
260 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
eine Diskreditierung ab, auf ein Untergraben von Glaubwürdigkeit z. B. des Vereins,
des Hauses und von Personen (wie Martin).
Martin erzählt in seinem Beispiel vom „damaligen SPD-Vorsitzenden“ (M/b:
886 f.), der über den Verein gesagt habe: Dort „wird scharf geschossen halt wirklich
im Sinne von Waffen“ (M/B: 888 f.). Der Verein erscheint als bewaffnete, militante
Größe. Der Verein erscheint als gefährlich. Nur: Was macht die Gefährlichkeit aus?
Martin gibt hierzu verschiedene Stichworte: [Schubert] bloß Aushängeschild der de-
mokratischen Linken|nachts schickt er seine Schergen los|die nachts vor die Rat-
haustür kacken. Zunächst ein Kontrast: scharf geschossen|nachts vor die Rathaustür
kacken. Die Waffen sind schlicht. Der symbolische Gehalt ist groß. Zuspitzend for-
muliert: Wir kacken auf eure Politik. „Ein Rieseneklat“ (M/b: 894).
In den Worten von Martin liegt eine ironische Brechung des gewalthaften
Charakters vom „Bild“ und „Ruf“ des Vereins. Gleichzeitig unterstreicht Martin
damit den Gegenstand, die Zielrichtung des „Rufes“: [Schubert] bloß Aushänge-
schild|der demokratischen Linken. Die Versuche, einen negativen „Ruf“ zu erzeu-
gen, ein „Bild“ der Lächerlichkeit herzustellen, darauf hinzuarbeiten, dass der
Verein und seine Anliegen nicht ernst genommen werden, hat zwei weitere Mo-
mente. Zum einen beschreibt Martin den Versuch des SPD-Vorsitzenden, seine
Person lächerlich zu machen, ihn in die Nähe einer Militanz zu stellen, die Martin
völlig fremd ist. Mehr noch, die seinem Anliegen widerspricht. Sein Anliegen
wird öffentlich ins Gegenteil verkehrt und so wird es zum Werkzeug für Kräfte,
die sich gegen ihn wenden wollen. Ein Konflikt wird personalisiert. Die Person
Martin kann dann öffentlich ausgestellt, angegriffen und verurteilt werden. Martin
kann als negatives Beispiel inszeniert werden, an dem exemplarisch öffentlich
vorgeführt wird, wo die Grenze des politisch Belastbaren, die Grenze der Norma-
lität, im Ort verläuft. Fällt seine Glaubwürdigkeit in den Augen der Leute zusam-
men, werden Zweifel gestreut und wird Misstrauen genährt, so scheint gleichzeitig
die Wahrscheinlichkeit zu wachsen, dass die Kräfte (der Verein, das Haus), wel-
che Martin als symbolische Figur verkörpert, geschwächt werden können.
Es geht um die Herstellung von Disziplinierung und Ordnung. Das Beispiel
von Martin skizziert hier eine Dialektik. Die Disziplinierung richtet sich nicht nur
gegen den Verein und Martin und in diesem Sinne gegen ein Außen, sondern kon-
struiert gleichzeitig ein Innen, welches die geltenden Regeln einer aufrechtzuer-
haltenden Ordnung deutlich macht. In der Zurschaustellung von Martin wird so
gleichzeitig das Innen diszipliniert, indem vorgeführt wird, was passiert, wenn die
bestehende Ordnung infrage gestellt wird oder Einzelne aus diesem Rahmen aus-
zubrechen drohen. Die Drohung ist eine des Ausschlusses aus dem sozialen Zu-
sammenhang der Kleinstadt.
Des Weiteren beschreibt Martin den konkreten Gegenstand, das umkämpfte
Gut: die demokratischen Linken. Umkämpft ist, was als demokratisch gilt und –
5.2 Sich selbst organisieren 261
damit verbunden – wer etwas wo und wie zu sagen hat. Martin bringt diesen Kon-
flikt wie folgt zur Sprache.
Martin: „Ja, es gab so Jahre, es gab eigentlich die letzten Jahre in (X) nichts, ich
meine, es gab den Jugendklub oben, es gab schon Vereine und Jugendliche, die auch
was gemacht haben, waren zur Stadt gegangen und gesagt, hier, wir hätten gern das
und das und das und das passt uns hier nicht, aber es gab nie einen Verein oder eine
Jugendorganisation wie wir, die sich rausgenommen haben, wirklich zu sagen, okay,
wir sind da, wir haben was mitzubestimmen, wir wollen hier mitbestimmen, dieses
Recht einfach genommen hat und gesagt hat, so, und wir reden jetzt im öffentlichen
Leben von (X) mit, wir machen das einfach. Die haben sich einfach übern Kopf ge-
fahren gefühlt, weiß ich nicht, also scheint einfach [...] und das war dann wahrschein-
lich auch sauer darüber einfach, sie waren die Alten, die Altehrwürdigen, die Stadt-
räte, die haben das Sagen, das war schon immer so, das ist so festgesetzt und dann
kommen wir an und haben irgendwas zu melden. So ist es, ja, es ist wirklich so halb-
wegs, es ist krass [...]“ (M/b: 830-842)
Zum Problem wird, dass sich junge Leute das Recht herausnehmen, „im öffentli-
chen Leben“ mitzureden, dies einfach von sich aus tun, ohne zu fragen, ohne die
Hierarchien bestehender Autoritäten zu berücksichtigen. Unter dem Blickwinkel
der weiter vorn skizzierten Erfahrungen sich verengender Erfahrungsräume ist das
Handeln der jungen Leute eine Art, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen,
sich Gehör zu verschaffen, eine Not zu wenden und mit ihren Anliegen wahrge-
nommen und ernst genommen zu werden. Würden sie es nicht tun, blieben ihre
Vorstellungen vom Leben auf der Strecke, würden eingeebnet im „ekligen Status
qou“ (S: 37). Genau dieser Stillstand wurde, wie ich aufgezeigt habe, als Verhin-
derung und Unterdrückung erfahren. Vor diesem Hintergrund ist die Wortmel-
dung von Martin, „wir haben was mitzubestimmen“ (M/b: 835), der Hinweis da-
rauf, dass die jungen Leute Ideen haben, sie sich Gedanken machen, nicht nur dies,
sondern auch den Willen haben, etwas zu gestalten und einzubringen: „[W]ir wol-
len hier mitbestimmen“ (M/b: 835). Schon diese beiden Momente stellen die be-
stehende Ordnung infrage. Infrage steht eine Ordnung der Trennung zwischen den
„Alten, Altehrwürdigen, [den] Stadträte[n], die das Sagen haben“ (M/b: 839 f.),
und dem Rest, eine Ordnung, die eine Trennung demokratisch durch Wahl des
Führungspersonals erzeugt und dabei eine Hierarchie herstellt, die dazu führt, dass
einige über viele bestimmen.
Infrage gestellt ist: „das war schon immer so, das ist so festgesetzt“ (M/b:
840). Die Naturwüchsigkeit, das Mechanische und scheinbar auf Ewigkeiten fest-
gelegte Prinzip wird gebrochen. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die Leute
vom Verein keine nörgelnde Gruppe präsentieren, die selbst zur Pöbelei neigt und
wissentlich eine Vergesellschaftung auf Kosten anderer und auf Kosten von deren
Ausschließung propagiert. Im Gegenteil: Sie versucht, mit der Organisation ihrer
262 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
selbst eine Alternative zu entwickeln. Und diese strahlt Kraft aus. Auf der einen
Seite eine Kraft, zu sagen: „[W]ir machen das einfach“ (M/b: 837). Auf der ande-
ren Seite erleben die jungen Leute, dass das Haus und der Verein eine Anziehungs-
kraft für andere haben, die mit ihrem Zutun den Zusammenhang der Alternative
erweitern. Insofern kann Markus resümieren: „Ich fand schon, dass wir nötig wa-
ren“ (Ma: 433).
5.2.7 Stadtrat oder: „[E]s hat ja plötzlich so eine ganz seltsame Ebene auch
angenommen, die dort eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatte“
Was Martin im eben diskutierten Beispiel berichtet, ist eine Erfahrung mit Dingen,
„die uns damals vorgeworfen wurden, Gerüchte, Vorwürfe, Vorurteile, sinnlose
Sachen teilweise, die da unterwegs waren. [...] Ist vielleicht teilweise stille Post,
keine Ahnung, dass einfach manchmal Sachen verquer irgendwo rauskommen“
(M/b: 214-217). Anknüpfend an die hiermit diskutierten Zusammenhänge bündeln
sich vergleichbare Erfahrungen in einem Erlebnis, von dem Martin, Elena und
Markus in den Interviews berichten. Hierzu eine kleine Vorbemerkung.
Die Leute vom Verein und vom Haus haben seit Gründung des Vereins und
der Mietung des Hauses auf verschiedene Weise versucht, mit der Stadt und ihrer
Verwaltung in Kontakt zu kommen, um über eventuelle gemeinsame Aktivitäten
sprechen und vor allem den Verein und die konzeptionelle Idee des Hauses vor-
stellen zu können. Hier wurden sie immer wieder abgewiesen oder, wie Markus
sagt, „wirklich nur blockiert. Die wollten nichts von der Thematik wissen, haben
uns ja fast schon verteufelt, weil wir allen den roten Sack überstülpen wollten,
ihrer Meinung nach“ (Ma: 12-14). Auf viele Punkte, die die jungen Leute berich-
ten kann ich hier nicht im Detail eingehen. Die Spannbreite reicht hierbei von der
Verhinderung eines Informationsstandes des Vereins und des Hauses auf dem
Weihnachtsmarkt oder Stadtfest, was für die jungen Leute des Vereins eine nach-
haltige Erfahrung war, bis hin zu der peniblen und scheibchenweisen Prüfung von
Bauvorschriften für das Haus, die die jungen Leute als Schikanen wahrnahmen,
um systematisch Veranstaltungen im Haus durch die Verwaltung zu verhindern
oder, wie Stefan sagt: „[D]ie Stadt hat schon bewusst Steine in den Weg gelegt,
aber das waren jetzt nicht wirklich die Megabrocken. Man hätte schon drüber hüp-
fen können, aber man ist halt so blöd und fliegt über jeden einzelnen Kieselsein,
den die Stadt einem hinwirft“ (S: 1227-1230). Dies reichte dann bis hin zur Un-
tersagung einer Baugenehmigung, die auf Intervention der örtlichen Kirche wieder
zurückgenommen wurde. Hinter dem Haus des Vereins befand sich der Friedhof.
Wie die kirchliche Ordnung und die Bauordnung vorschreibt, benötigt ein (Wohn-
)Haus einen Mindestabstand zum Friedhof, um die Totenruhe zu gewähren. Mar-
tin: „Es gab das Problem §5 Sächsisches Bestattungsgesetz heißt das, das habe ich
5.2 Sich selbst organisieren 263
mir gemerkt. So ein Paragraph, den hasse ich“ (M/b: 1429). Dieser führte zu einem
komplizierten Zustimmungsverfahren: Die Stadt musste eine Genehmigung ertei-
len; auch die Kirche musste ihre Zustimmung geben. Die örtliche Kirche tat sich
schwer und verlagerte eine Entscheidung zur Landeskirche. Die Landeskirche „hat
sich einen Rat eingeholt beim Friedhofsgärtner“. Martin: „das ist ein richtiges
Arschloch und der hat gesagt, ist abzulehnen“ (M/b: 1483). Ein Schweigen des
Pfarrers und Kirchenvorstandes, die Landeskirche genehmigte nicht. Die Stadt hat
eine Zustimmung „verweigert“ (M/b: 1446). Alles scheiterte an einem Bündel von
Gründen und Aktivitäten, welches die unterschiedlichen Beteiligten zusammen-
trugen oder unterließen. Martin: „aus verwaltungsrechtlichen Gründen“, „Beden-
ken wegen der Sicherheit“, „Fristen verstreichen lassen [...]. Und dann sagt die
Kirche, die Sache, das könnte man theoretisch aussitzen“ (M/b: 1446-1457). Was
die Interviewten an solchen Beispielen immer wieder betonen, ist, dass mit ihnen
nicht direkt gesprochen wurde, dass sie sich systematisch aus Entscheidungswe-
gen herausgedrängt fühlten, um am Ende mit einem Ergebnis konfrontiert zu wer-
den, welches an anderer Stelle und damit über sie hinweg herbeigeführt wurde.
Dies war für die Leute des Vereins und des Hauses eine riesige Enttäuschung,
zumal ein Teil von ihnen auch Mitglieder der örtlichen Jungen Gemeinde waren.
Einige von ihnen erzählten mir später, dass dies der Grund gewesen sei, warum
sie aus der Kirche ausgetreten sind. Sie hatten von der Kirche anderes erwartet.
All diese Punkte muss ich hier vernachlässigen, obwohl sie in ihrer Fülle ein Bild
der Erfahrungen zeichnen, die ich hier in meinen Interpretationen nur punktuell
einfangen kann. Das pragmatische Vorgehen in so einer Arbeit, wie ich sie hier
schreibe, ist eine schwierige Angelegenheit und mitunter auch eine, die vielleicht
diejenigen (und wichtigen) Dinge abschneidet, die von den Interviewten in ande-
rer Weise behandelt und in den Mittelpunkt gestellt worden wären.
Das folgende Beispiel, das mir die Interviewten erzählten, hat seine Vorge-
schichte in dem eben skizzierten Erfahrungsbündel. Es geht darum, dass eine Ver-
tretung des Hauses und des Vereins in den Stadtrat eingeladen wurde. Auch dies
hat eine Vorgeschichte. Es handelt sich um einen Sommer kurz nach Gründung
des Vereins.183 In diesem Sommer trafen sich regelmäßig an den Wochenenden
über zwei Monate hinweg bis zu 50 Leute vor dem Haus. Sie warfen mit Flaschen
und Steinen die Scheiben ein, versuchten, das Haus zu besetzen, bepöbelten, ver-
folgten und verprügelten Leute des Vereins und aus dem Haus. Martin berichtet
aus dieser Zeit.
Martin: Da „war, antirassistische Aktionswoche war das, ich glaube, zum Ausklang,
am Freitagabend [...] haben sich da 50 Leute versammelt, mit Pfefferspray, Ketten,
183 Auch an dieser Stelle habe ich auf die Angabe konkreter Zeiträume aus Gründen der Anonymi-
sierung verzichtet.
264 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Elektroschockern und was alles drum und dran, wo dann wir das erste Mal gesagt
haben, ich habe [...] überlegt, das Ding184 aufzulösen, wo der Einsatzleiter damals
direkt gesagt hat, das kann nicht wahr sein, die kommen in eine Stadt, eine Kleinstadt,
wo wir noch nie waren und die haben bürgerkriegsähnliche Zustände. Die haben sich
ein paar Stunden dort mit der Polizei dann Schlachten geliefert, durch die Stadt gejagt.
Da war nächsten Tag, die ganze Hauptstraße war voller Glas, Lampen, mit ganz klei-
nen Splittern, war das ganze Haus von unten bis oben voller Glas, Scherben von Bier-
flaschen, die an die Fassade geschmissen wurden, Farbe, die auf der Straße verbreitet
wurde bei uns [...]. Das war damals schon krass, weil da hatten wir, die haben oben
am Fenster gesessen, haben sich hingesetzt und haben Namen aufgeschrieben, wirk-
lich aufgeschrieben, wer steht da draußen mit da und wenn sie bloß den Spitznamen
wussten oder wie auch immer, einfach bloß, um zu dokumentieren, wer war alles da-
bei. Und da waren Leute dabei, der war, das war eine Familie, Mutter, Vater, Tochter,
Sohn und Hund. Krass halt. Dann waren andere dabei, die absolut nicht ins rechte, die
ich nicht rechts eingestuft hätte und auch heute nicht einstufen würde in die Richtung,
waren die auch nicht. [...] Dann sind teilweise wahrscheinlich auch vielleicht als
Schaulustige sogar dabei, die aber daneben stehen halt“ (M/b: 900-930).185
Im Beispiel gibt Martin den Hinweis auf den Einsatzleiter der Polizei. Dies ist
insofern wichtig, als die Polizei damals eine der wenigen gesellschaftlichen Kräfte
war, die in drastischen Worten die Situation vor Ort so einschätzte, wie es Martin
deutlich macht. Die „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ waren nicht nur Ausdruck
einer militärischen Sprache und polizeilicher Rhetorik. Der Einsatzleiter vor Ort
und der damalige Polizeidirektor waren wirklich tief betroffen davon, wie die
Leute aus der Stadt mit dem Haus und dem Verein umgingen.186 Sie sahen hier
184 Martin, aber auch andere Leute aus dem Haus dachten damals daran, den Verein und das Haus
in dieser Situation aufzugeben. Zu ergänzen ist, dass Martin über einen Sommer kurz nach der
Gründung des Vereins berichtet. Damals trafen sich regelmäßig an den Wochenenden über zwei
Monate hinweg bis zu 50 Leute vor dem Haus. Sie warfen mit Flaschen und Steinen die Scheiben
ein, versuchten, in das Haus einzudringen, bepöbelten, verfolgten und verprügelten Leute des
Vereins und aus dem Haus. Martin berichtet aus dieser Zeit.
185 Das Zitat habe ich hier für bessere Lesbarkeit stark eingekürzt und habe die Zeilenzählung der
Interviewabschrift beibehalten.
186 Ich kann dies hier so schreiben, da ich damals als Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams mit
dem zuständigen Polizeidirektor im engen Austausch über die Übergriffe auf das Vereinshaus
stand. Das Besondere an der Situation war, dass selbst die Polizei Mühe hatte, auf Landesebene
von der Politik und der Verwaltung sowie im Lokalen vom Stadtrat und dem Bürgermeister mit
ihrer Lageeinschätzung ernst genommen zu werden. Punktuell wurde ihnen eine Parteilichkeit
in Bezug auf den Verein unterstellt. Der interessante Punkt hieran ist wiederum, dass die Polizei
im zuständigen Landkreis aufgrund des hohen Potenzials rechtsextremer Organisation und ent-
sprechender Übergriffe ihre Präventionsarbeit entsprechend ausgerichtet hatte. Hier arbeitete die
Polizei mit verschiedenen „zivilgesellschaftlichen“ Organisationen zusammen und entwickelte
Fortbildungsangebote für Kommunalpolitik und Schulen, die eine Beschäftigung und Auseinan-
dersetzung mit Demokratie und den rechtsextremen Entwicklungen vorsahen. Unabhängig von
einer notwendigen Kritik der Begriffe Prävention und den Widersprüchen „zivilgesellschaftli-
chen Engagements“ (etwa als einer spezifischen Regierungsweise, vgl. Affolderbach 2016)
5.2 Sich selbst organisieren 265
sowie der Frage, ob sich Polizei im Kontext politischer Bildung einzubringen habe, war die of-
fene Positionierung des Führungspersonals der Polizei für eine Demokratie als einen öffentlich-
diskursiven Zusammenhang der Menschen bemerkenswert.
187 Unter Mitwirkung des Mobilen Beratungsteams, also auch meiner Person.
266 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
[XY] ausgerückt hat, standen jedes Mal an derselben Stelle haben die die angehalten,
haben die abgefilzt, alles [...] eingesackt, mit aufs Revier genommen. Und die haben
dann Druck gemacht bei der Stadt, haben gesagt, hier, redet mit den Leuten, sonst
wird das nicht entschärft, die ganze Sache, wenn ihr nicht irgendwo mal das Gespräch
sucht. Und das hat die Stadt dann auch gemacht, wollte uns einladen und hat auch
einen Termin gemacht und wollte noch auch unsere Gegner noch mit einladen, ich
sage dazu, keinen, haben die keine Organisation in dem Sinne, also die haben es nicht
formiert, wollen sie auch gar nicht, die wollen nicht in der Öffentlichkeit stehen, ha-
ben letztendlich dann die paar Leute, die sie da hatten, die haben auch abgesagt, hatten
da keinen Bock drauf [...]. Auf jeden Fall, das war Wahnsinn, ist eigentlich, die haben
uns Sachen vorgeworfen, wie gesagt, die sagten, wie die Zeugen Jehovas. Angefangen
hat das Gespräch der Bürgermeister, der [Herr Müller], und hat gesagt, na ja, dass die
Tage im Bürgerteam kamen, der hat gesagt, dass er mit seinem Sohn, hat ein kleines
Kind gehabt, ich weiß nicht, wer das war, ist am Vereinshaus vorbeigelaufen und der
[Herr Schubert] hätte ihn als Nazi bezeichnet. [...] der hat mir an den Kopf gehauen
und hat sofort den [einen Stadtrat] sprechen lassen, dass ich bloß nicht darauf antwor-
ten kann. Der ist damals wirklich da vorbeigelaufen, hat an die Tür geklopft, oder an
die Tür mit der Hand geschlagen irgendwie und wir hatten ja keine Fenster mehr drin,
die waren ja schon alles kaputt bzw. da hatten wir schon Bretter drin und die haben
aber gerade vorher gearbeitet gehabt und haben bloß die Tür aufgemacht, haben raus-
geguckt und haben den gesehen, wie der mit seinem kleinen Sohn da vorbeigelaufen
ist und haben die Tür wieder zu gemacht, wo ich sage, will der denn hier. Ja, und das
war in dem Moment für die halt, die Vorurteile waren da, waren fest verankert, das
war das, was die hören wollten, was ihre Meinung bestätigt hat, haben die so hinge-
nommen, eine Gegenmeinung wollten die gar nicht hören. Und so ging das eigentlich
den ganzen Abend. Da ging es um Aufkleber, ich habe das gewusst, dass das Thema
kommt. Wir hatten das, war klar, wir hatten selber Aufkleber gemacht gehabt, einen
ganzen Stapel, haben die verteilt gehabt an Leute und die haben die überall in ganz
[X] verklebt. Und das wurde uns ewig lang vorgehalten, sodass ich irgendwann selber
losgezogen bin, allein war, im Auto geguckt habe, wo ich was gesehen habe, habe die
Aufkleber abgemacht, dass sie uns das nicht mehr vorhalten können, weil ich dachte,
okay, dass man wenigstens ein Stück weit entgegenkommt und vielleicht auch sagt,
okay, vielleicht kann man da eine Wand einreißen und dann doch mal vielleicht ein
Gespräch suchen kann, den Sinn, wir wollen das ja gar nicht, wir wollen nicht die
Stadt verärgern, sondern wollen eigentlich das Gespräch suchen halt, wollten ja ei-
gentlich gar nicht die Stadt verschaukeln [...] Hat aber nicht interessiert, da gab es so
massenhaft Antifaaufkleber, es gab wahrscheinlich noch mehr Dynamo, Fußball, [...]
Aufkleber und eben auch Naziaufkleber, wo ebendrauf stand, [Verein]188, leckt uns
am Arsch. Und da habe ich den Aufkleber, den habe ich freiwillig irgendwo abge-
macht [...] habe den direkt dort rumgegeben und gesagt, auf der einen Seite sieht man
unseren Aufkleber, die sehen Sie in [X] nirgendswo, die haben wir überall abgemacht
und auf der anderen Seite der Aufkleber, die dachten, der ist von uns, [...] ruhig ge-
wesen, ich meine [unser Verein], leckt uns am Arsch, warum soll ich denn das dahin
hängen. Und haben das angeguckt, haben gesagt, die Aufkleber sind nicht von uns.
Die gehörten auch, sind auch Aufkleber, die überall hängen würden, aber die sind
nicht von uns. Wir haben die nicht aufgeklebt, nicht verteilt, wir haben die nicht ge-
druckt, wären ja bescheuert, wir kleben keine Aufkleber gegen uns selber. Das habe
ich denen erläutert alles, habe die Aufkleber rumgehen lassen, gesagt, können Sie sich
angucken. Das Thema kam an dem Abend bestimmt noch drei, vier, fünf Mal auf.
Immer wieder zu dem anderen, wieder die Aufkleber und wieder die Aufkleber und
wieder die Aufkleber. Die haben sich daran festgehangen, die haben uns gar nicht
zugehört. Die haben einfach nur, aber es hat im Nachhinein was gebracht, denn da-
nach, wie gesagt, hatten wir den einen oder anderen Stadtrat dann doch schon mal
sprechen können und die mussten wahrscheinlich auch einfach mal Dampf ablassen
oder was, uns einfach mal irgendwelche Sachen an den Kopf knallen, das war wahr-
scheinlich doch irgendwie produktiv, haben wir gemerkt, dass es jedenfalls in der
Richtung, dass die auch vielleicht besser konnten, vielleicht doch zu einem Gespräch
eher bereit waren und dann wie gesagt, halt die, wie heißt sie, die [Frau Huhn], [Beate
Huhn], die Vorsitzende von den Linken von [X], die hat mit, was hat die gesagt ge-
habt, ach so, zu dem anderen eigentlich, zu Elena, war noch mit, und ich glaube, Mar-
kus war auch noch mit. Zu ihr hat sie gesagt gehabt, na ja, ich finde es ja ganz schön
und gut, was wir jetzt machen mit dem Verein und so, aber klingt ja ganz gut eigent-
lich, aber sie versteht es trotzdem nicht, dass wir jetzt das dann tolerieren, dass wir
einen Vorsitzenden haben, der ein Lügner ist, der andere Leute als Nazis bezeichnet,
irgendwelche Bürger als Nazis dann noch bezeichnet usw., das wieder aufgegriffen
eigentlich vom Anfang, dann haben wir [...] abgeholt eigentlich und gar nicht dazu
gekommen, was zu sagen, direkt wieder abgewürgt alles, also auf eine Art und Weise
gehässig kam das rüber, vergesse ich bis heute nicht. Also das weiß ich sowieso nicht,
wie das so richtig mies gewesen, war richtig wie an den Pranger stellen so, weil der
[Georg] hat mal gesagt gehabt, jetzt in der Kindheit gehabt mal, da hat der Bruder
diese Pension gehabt und die hat auch noch relativ lange in den 30er-Jahren Juden
beherbergt halt, zwar geheim gehalten irgendwo ein Stück weit, dass es keine mit-
kriegt ringsrum, weil na ja, war halt verpönt, aber dieses eine Mal, die hatten alle
selber nichts gewusst und die sind in die Schule gegangen und die Lehrerin hat ir-
gendwelche Phrasen da gedroschen über Juden und was alles Drum und Dran und hat
dann gesagt und da gibt es Leute, die bringen auch noch Juden unter, also die beher-
bergen auch noch Juden und die ganze Klasse dreht sich zu ihr rum, so ungefähr kam
mir das in dem Moment vor, weißt du. So dieses Anprangern, ich meine, jetzt eine
ganz andere Situation, klar, kann man nicht vergleichen, aber dieses Anprangern, öf-
fentlich diskriminieren, irgendwo richtig mies darstellen und keine Widerrede zulas-
sen irgendwo und das fand ich dann ziemlich, und das war, wie gesagt, eigentlich den
ganzen Abend auf der Schiene eigentlich mehr oder weniger krass“ (M/b: 743-824).
Elena: „Es war ja auch z. B. die eine Frau, die war, glaube ich, von den Linken, die
uns ja eigentlich so rein irgendwie innerlich oder thematisch hätte unterstützen müs-
sen, eigentlich. Aber das weiß ich noch, die hat ja auch den Martin ganz krass irgend-
wie persönlich angegriffen, dass er lügen würde oder irgendwie so. Also es hat ja
plötzlich so eine ganz seltsame Ebene auch angenommen, die dort eigentlich
268 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
überhaupt nichts zu suchen hatte, wo ich auch nicht, weiß nicht, wo das bei ihr so her
kam, aber, nein, so um Themen ging es überhaupt nicht. Es ging auch nicht darum, na
ja, ob irgendwie so ein Engagement gegen Diskriminierung z. B. so in der Stadt grund-
sätzlich irgendwie willkommen ist oder so. Darum ging es eigentlich gar nicht, son-
dern es ging, ja, so um Zerstören von so einem Bild irgendwie, von so einer Idylle
und um irgendwie Bier trinken und dann, na ja, um so Sachen, die, also klar, schon
auch irgendwie da waren, aber ja nicht hauptsächlich, aber das war ja auch nicht so
der Großteil oder auch kein Ziel. Also wir hatten ja auch z. B. bei dem Vereinshaus
irgendwie ein Konzept dahinter, was wir machen wollten und das sollte ja nicht ein-
fach nur so ein, ja, unpolitischer Feierabendbiertreffpunkt werden bloß“ (E: 404-417).
Auch in diesen beiden Beschreibungen, ähnlich wie im obigen Beispiel von Mar-
tin und dem Vorsitzenden der SPD, dominieren Vorwürfe, Gerüchte und Ge-
schichten, die wie im Prinzip der „stillen Post“ (M/b: 216) einer scheibchenweisen
Veränderung unterworfen werden, der selektiven Interpretation und Weiterbear-
beitung unterliegen. Am Ende steht eine Geschichte, nichts mit dem Anfang zu
tun hat und die vor allem ihre Kraft daraus schöpft, durch diesen stillen Weg nicht
hinterfragbar zu sein. Gleichzeitig gewinnt die „stille Post“ an Fahrt, ist am Ende
in Mustern verdichtet, deren Weg nicht oder nur schwer nachvollziehbar ist, als
Geheimnis erscheint und vor allem dadurch an Macht gewinnt, dass sich der Ur-
sprung und der Weg der Erzählung dem Ergebnis entzieht. Liegt der Spaß beim
Kinderspiel der „stillen Post“ (M/b: 216) genau darin, diesen Weg zu erkennen
oder zu erkennen, dass sich der Gehalt der Informationen beim Flüstern ins Ohr
der anderen vom Anfang zum Ende hin verändert. Vor allem wächst der Spaß,
wenn man erkennt, dass man die Informationen nicht nur versehentlich durch un-
deutliche Sprache verändert, sondern auch tatsächlich bewusst den Inhalt verän-
dern kann, sodass am Ende ein völlig anderes Stichwort ankommt, als am Anfang
der Kette geflüstert wurde.
Im Falle der Gerüchte und Vorwürfe verliert „stille Post“ (M/b: 216) den
Spaß und wird zum Ernst, zu einem Mittel, was sich gegen Leute richtet, um deren
Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Es geht darum, die entstehenden Geschich-
ten und „mythischen Muster“ (Demirovic 2016: 68) als politische Mittel zu nut-
zen, um, wie Elena sagt, zu „zerstören“. Im Sinne von Martin kann so „stille Post“
(M/b: 216) auch als Ausdrucksweise von Öffentlichkeit verstanden werden, ge-
nauer: als Form bzw. der Art und Weise, wie um den Zusammenhang von Öffent-
lichkeit gerungen wird.
Eine besondere Qualität der skizzierten Erfahrungen von Martin und Elena
besteht darin, dass sie in eine Situation geraten, in der der Stadtrat, die durch Wahl
bestimmte Vertretung der Stadt, eben solche Muster nutzt, um sie gegen Martin,
Markus und Elena als Vertretung des Vereins zu verwenden. Ein Stadtrat scheint
damit öffentlich durch demokratische Wahl legitimiert entsprechend zu handeln.
Martin und Elena finden für ihre Erfahrung drastische Worte.
5.2 Sich selbst organisieren 269
Elena spricht vom „Zerstören“ (E: 412). Was meint sie damit? Zunächst
könnte es sein, dass sie von sich selbst spricht. Sie hat von der Einladung etwas
anderes erwartet. Doch das Gespräch nimmt eine Wendung, mit der sie so nicht
gerechnet hat. Elena: „[P]lötzlich [hat es] so eine ganz seltsame Ebene angenom-
men, die dort eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatte“ (E: 407 f.). Im Stadtrat
geht es nicht um die Themen, die Elena und den anderen wichtig sind. Die Situa-
tion verschiebt sich; wird brüchig. Nicht „Diskriminierung“ ist das Thema, son-
dern andere Dinge und persönliche Angriffe auf Martin geraten in den Vorder-
grund. Es zerfällt ein „Bild“ von Elena, eine Vorstellung davon, dass die Ver-
wandtschaft des Vereins zu einer Frau von den Linken die Brücke für ihre Themen
im Stadtrat sein könnte: „die uns ja eigentlich so rein innerlich oder thematisch
hätte unterstützen müssen, eigentlich“ (E: 404 f.). Eigentlich. Hierin sieht Elena
einen starken Konflikt. Die Vertreterin der Linken entzieht, in so einem wichtigen
Gremium wie dem Stadtrat, dem Verein öffentlich das Vertrauen und bezichtigt
dann noch Martin der Lüge. Der Verein erscheint als verlogenes Arrangement,
welches durch die Vertreterin der Linken im Stadtrat bestätigt wird. Und weil sie
die Linke vertritt, muss sie ja wissen, wovon sie redet; sie weiß ja was links ist.
Links erscheint hier nicht als farbenfrohe Palette unterschiedlicher und vor allem
streitbarer Vorstellungen der Welt, sondern als eine mechanische Einrichtung, zu
wissen, was das Richtige ist. Oder, wie Martin weiter vorn gesagt hat: „von oben
herab eben, ja, Mentalität von Kommunalpolitikern“ (M/b: 69). Dies ist eine bit-
tere und drastische Erfahrung. Allerdings, und dies ist wichtig, tritt in diesem Mo-
ment auch die eigene Idee hervor. Es geht im Verein nicht „um irgendwie Bier
trinken“ (E: 413), zumindest nicht in erster Linie, sondern um das Vereinshaus,
das „Konzept dahinter, was wir machen wollten und das sollte ja nicht einfach nur
so ein, ja unpolitischer Feierabendtreffpunkt werden bloß“ (E: 416 f.). Elena legt
damit offen, worauf die Politik des Stadtrates zielt. Die Politik des Stadtrates zielt
auf eine Entpolitisierung, auf die „Zerstörung“ des politischen Gehaltes ihres An-
liegens. Es geht dabei nicht um die „Zerstörung“ eines Bildes – dies ist ein Effekt,
wie Elena deutlich macht – sondern es geht um den Anspruch darauf, wie Martin
sagt, „wir haben was mitzubestimmen, wir wollen hier mitbestimmen“ (M/b: 835),
sich „dieses Recht einfach“ (M/b: 836) zu nehmen, um „jetzt im öffentlichen Le-
ben“ (M/b: 837) mitzureden, zu zerlegen, abzuschneiden, zu unterdrücken und in
diesem Sinne in die gewohnten Bahnen von „das war schon immer so“ (M/b: 840)
zu kanalisieren.
Markus zu dieser Situation: „Das war ein großes Viereck und wir saßen an
der einen Ecke, genau [Herr Müller], glaube ich, direkt gegenüber fast schon ein
Tribunal. Naja, es war irgendwie frostig“ (Ma: 33-35). In Verknüpfung mit dem
Verlust einer (vielleicht) erhofften (oder auch unkritisch vorausgesetzten) Brücke
270 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
zu einer Vertreterin der Linken im Stadtrat189, zielt hier das Verhalten des Stadt-
rates auf Isolation. Etwas anders ausgedrückt: Isolation als Form der Abdichtung
gegen den Windhauch anderer Ideen, verführender Gerüche, von denen sich auch
andere angezogen fühlen könnten. Andere könnten auf den Geschmack kommen.
Oder, im Bild von Markus; Isolation gegen Kälte oder Wärme? Die Situation war
frostig, für Markus ein Entzug der Wärme, ein Entzug der Wärme durch Kontakt
mit Kälte. Eine Trennung, eine Trennung von Kälte und Wärme. Übersetze ich
hier Kälte mit dem Mechanischen, dem Gewohnten, damit, einen Ablauf des Ge-
wohnten in „das war schon immer so“ zu konservieren, einzufrieren, wird der
Stadtrat zum Instrument; sein Handeln wird ein instrumentelles, eines, das Tren-
nungen erzeugt. Isoliert wird die Kälte von der Wärme. Die Wärme der Lebendig-
keit des „Vereinshauses“, die Lebendigkeit der Idee, „was wir machen wollten“
(E: 416), soll isoliert werden.
Über die Mittel des Stadtrates spricht Markus: „Tribunal“ (Ma: 34). Die Er-
fahrung, über die Markus spricht, ist eine, bei der ohne juristische Mittel über ein
Verhalten geurteilt wird. Genauer: Der Stadtrat urteilt über das Handeln der Leute
des „Vereins“ und des „Hauses“, fällt ein politisches Urteil. Der Stadtrat fällt ein
politisches Urteil über eine Form politischen Handelns, über eine Idee, das Politi-
sche „von unten“ zu beleben. Der Stadtrat verurteilt ein politisches Handeln, wel-
ches darum bemüht ist, die Leute durch eine Erweiterung von Erfahrungsräumen
zusammenzubringen, um Dinge zu tun, die ihnen „lebenswert [erscheinen], ohne
in die Vertikale von Herrschaft eingebunden“ zu sein (Hirschfeld 2001: 24). Letz-
terer Gedanke ist natürlich wiederum selbst in den Widersprüchen zu sehen, die
ich weiter oben skizziert habe.
Auch Martin spricht über die Mittel des Stadtrates. Er versucht nicht nur mit
Worten, sondern am konkret sichtbaren Beispiel (Aufkleber) deutlich zu machen,
dass die Annahmen des Stadtrates über die Leute des Vereinshauses und über ihn
selbst so nicht stimmen können, „haben [die] sich daran festgehangen, die haben
uns nicht zugehört“ (M/b: 794 f.). Die stetige Wiederholung einer Unwahrheit
macht die Unwahrheit zwar nicht zur Wahrheit, aber ist ein Instrument der Igno-
ranz, des Abschneidens eines Kontaktes, der „Zerstörung“ einer Verbindung in
der Kommunikation. Das Ziel ist die Herstellung einer Hierarchie, die Erzeugung
eines Gefälles, der Zwang zum Kniefall, ein Zwang, von unten nach oben blicken
zu müssen, eine autoritäre Geste. Gleichzeitig ist es die gewalthafte, erzwungene
Form des Schweigens. Durch „einfach mal Dampf ablassen“ (M/b: 798), „einfach
mal irgendwelche Sachen an den Kopf knallen“ (M/b: 798), „gar nicht dazu [kom-
men lassen], was zu sagen“ (M/b: 809)190, „abgewürgt alles“ (M/b: 809 f.), so
189 Interessant ist hier auch, dass die Linke die Partei die Linke meint. Die im Stadtrat vertretene
SPD kommt gar nicht als Vertretung einer gesellschaftlichen Linken vor.
190 Im Original heißt es bei Martin: „[G]ar nicht dazu gekommen, was zu sagen“ (M/b: 810).
5.2 Sich selbst organisieren 271
Martin. Das Verhalten der Stadtrat-Leute, der gewählten Vertreter im Kontext einer
parlamentarischen Demokratie brennt sich ein; sie stellen „an den Pranger“ (M/b:
811), agieren „auf eine Art und Weise gehässig“ (M/b: 810). Martin: Dies „vergesse
ich bis heute nicht“ (M/b: 810). Martin sieht hier tiefere Zusammenhänge, einen
historischen Bezug: „irgendwelche Phrasen da gedroschen über Juden“|und
dann|„da gibt es Leute, die bringen auch noch Juden unter“ (M/b: 816 f.). Eine Ge-
schichte aus der Region. Eine Geschichte aus seinem Ort (?). Es geht hier nicht da-
rum, eine Kontinuität geschichtlicher Zusammenhänge zu unterstellen. Martin er-
kennt im „Anprangern“ (M/b: 820) einen Mechanismus von Öffentlichkeit, „öf-
fentlich diskriminieren“ (M/b: 821) als Mittel der Angst, als Mittel zur Denunzia-
tion, als Mittel, um eine Bereitschaft zu erzeugen, um Leute auszuliefern, an
Kräfte auszuliefern, deren Idee ist Menschen auszuschließen und von anderen ab-
zuschneiden, zu isolieren. Der historische Bezug bricht hier als Ahnung ein, wo
solche Prozesse enden können.
Trotzdem handelt es sich um einen ambivalenten Befund von Martin, den
Versuch einer Deutung, „[i]m Nachhinein“ (M/b: 796). Der Blick auf den Stadtrat,
der Stadtrat als Block. Als Block der Aktion des „Anprangerns“, bricht auf. Zu-
mindest im „Nachhinein“ entwickelt die dichte, abgedichtete Einheit Lecks:
„[H]atten wir den einen oder anderen Stadtrat dann doch mal sprechen können und
die mussten wahrscheinlich auch einfach mal Dampf ablassen“ (M/b; 796 f.); „das
war wahrscheinlich doch irgendwie produktiv“ (M/b: 799 f.). Der Druck ist vom
Kessel, die Spannung entkrampft? Die Einheit des Stadtrates keine Einheit der
Überzeugungen? Eine Einheit der Emotion? Das Denken von den Emotionen ab-
geschnitten. Diese Trennung ist insofern wichtig, da sie erlaubt, die Erfahrungen
von Martin, Markus und Elena zu ignorieren, ihre Ideen einem öffentlichen Dis-
kurs zu entziehen. Eine Position, die alles „abwürgt“ (M/b: 809), „keine Wider-
rede“ (M/b: 822) zulässt und gleichzeitig beansprucht, das Zentrum zu sein – ein
Zentrum, wo die Entscheidungen getroffen werden, die Entscheidungen von eini-
gen über viele. Der Stadtrat lebt vor, was er von den Leuten des Vereinshauses
erwartet. Sie sollen ihren Zusammenhang des Denkens-Fühlens-Wollens selbst
zerlegen in Denken|Fühlen|Wollen.191 Tun sie dies nicht, werden gleichzeitig mit
191 Meinen Gedanken habe ich in Orientierung an Alex Demirovic formuliert. Er verwendet „Den-
ken, Fühlen und Wollen“ im Zusammenhang seiner Analyse des autoritären Populismus als ei-
nem oben und dessen Verknüpfung mit einem unten. Er schreibt: „Denken, Fühlen und Wollen
werden getrennt. Das Denken und der Wille wird dem Führungspersonal überlassen. Emotionen
verdichten sich zu bestimmten Affekten, Ressentiments und einer kompakten Zustimmung. Da-
mit dichten sich die Individuen aber auch gegenüber Einsichten, Erfahrungen und widerstreiten-
den Gefühlen ab, die in ihnen selbst wirksam sind und die sie nur mit Wut bekämpfen können.
Sie binden sich an eine kollektive Identität, die ihnen erlaubt, geleichzeitig rebellisch und kon-
formistisch zu sein: In ein und derselben Geste können sie Macht kritisieren und sich ihr unter-
werfen“ (Demirovic 2016b: 71).
272 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
dem „an den Pranger stellen“ (M/b: 811), „öffentlich [D]iskriminieren“ (M/b:
821), „richtig mies [D]arstellen“ (M/b: 821 f.) die Mittel aufgezeigt, die vom „Au-
ßen“ zur Anwendung kommen, um die Leute des „Vereinshauses“ gefügig zu ma-
chen. Aber trotzdem: Auch der Stadtrat ist keine geschlossene Einheit. Er muss
enorme Kräfte entfalten, um die eigenen Reihen zu schließen. Gelingt die Ver-
dichtung in der skizzierten Situation, weist Martin darauf hin, dass sich an anderer
Stelle Räume öffnen, wo dann Einzelne „doch zu einem Gespräch eher bereit wa-
ren“ (M/b: 800 f.).
Einen weiteren Punkt möchte ich noch ansprechen. Und dieser hat mit dem Ar-
beitsbündnis zu tun. Das Beispiel der Interviewten zum Stadtrat weist eine Lücke
auf. In unseren Gesprächen hat keiner der Interviewten erwähnt, dass ich selbst als
Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams Teil der skizzierten Situation war. Auch
ich selbst habe dies in den Interviews nicht angesprochen. Mir ist es in der Situa-
tion der Gespräche weder aufgefallen noch in den Sinn gekommen, dies anzuspre-
chen oder nachzufragen, wie die Interviewten dies damals erlebt hatten. Insofern
möchte ich hier noch einen weiteren Blickwinkel einnehmen.
Was habe ich im Gespräch ausgelassen? An dieser Stelle spielen mir meine
Erinnerungen einen Streich. Was ich hier nicht tun kann, ist, eine konkrete zeitli-
che Rekonstruktion der damaligen Ereignisse zu liefern, um deutlich zu machen,
wie und warum das Mobile Beratungsteam Teil der Stadtratssitzung war. Meine
Erinnerungen sind in diesem Sinne lückenhaft, unvollständig. Allerdings muss es
hier auch nicht um die Rekonstruktion eines Zeitfensters gehen. Vielmehr kann
ich an kurzen Sequenzen verdeutlichen, worum es damals ging.
Ich erinnere mich an verschiedene Situationen im Vereinshaus. Die Leute
vom Verein hatten das Mobile Beratungsteam um Unterstützung gebeten. In mei-
ner Erinnerung ging es um ein Geflecht unterschiedlicher Dinge. Erstens gab es
im Vereinshaus interne Konflikte. Es hatten sich zwei Positionen herausgebildet,
wie sie von mir weiter oben im Text mit einem Zitat von Stefan umrissen worden
sind. Meine damalige Kollegin und ich wurden darum gebeten, als unabhängige
Leute einen Klärungsprozess zu begleiten, bei dem die unterschiedlichen Sicht-
weisen gleichberechtigt zur Sprache gebracht werden sollten. Das Ziel war da-
mals, überhaupt zu hören, was die anderen denken und zum anderen die Gründe
für die jeweiligen Positionen anzuhören, dann erst nachzufragen und zu diskutie-
ren, ohne sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Ich erinnere mich daran, wie
schwierig die ganze Situation war. Emotionen standen im Mittelpunkt und die an-
stehenden Probleme des Hauses und des Vereins wurden als persönliche Konflikte
5.2 Sich selbst organisieren 273
gedeutet, konkret als Konflikt zwischen Martin und Stefan. Ein Konflikt war, dass
Martin und Stefan zwei unterschiedliche Auffassungen vertraten, wie mit der Stadt
und dem Stadtrat umzugehen sei. Eine Skizze des Konfliktes, wie er sich aus der
Sicht der Interviewten darstellte, habe ich weiter oben am Beispiel von Stefan an-
gedeutet. Zweitens drehte sich ein Konflikt um die Frage, wie und wer in welcher
Weise im Haus kulturelle, politische Veranstaltungen organisieren kann. Hier ging
es auch um das Problem, wie äußere Notwendigkeiten und der Spaß zusammen-
finden könnten. Ein dritter Konflikt drehte sich um die Frage, wie die Leute aus
dem Haus und der Verein mit den Leuten umgehen könnten, die sich über Wochen
vor dem Haus versammelt hatten und das Haus angriffen.
Auch hier kristallisierten sich zwei Positionen heraus. Stefan machte sich für
eine öffentliche Skandalisierung stark. Er versprach sich davon, dass die Leute,
die sie als Akteure der Übergriffe auf das Haus erkannt hatten, juristisch oder po-
litisch belangt werden könnten. Soweit ich mich erinnere, nannte er seinen Kurs
„mit dem Kopf durch die Wand“ (S: 1366) und „unversöhnlich“ (S: 136). Sein
Modus war der einer Verteidigung, die auf eine Annäherung oder einen Diskurs
mit der Stadt und den Leuten vor dem Haus verzichten wollte. Schließlich hatten
ja die Leute vor dem Haus deutlich zu erkennen gegeben, was sie von den Leuten
im Haus hielten. Martin hingegen versuchte, die Leute vor dem Haus als eine he-
terogene Gruppe zu betrachten. Er unterschied zwischen den wirklichen Nazis,
den Leuten die da mitgemacht hatten, den Zuschauern und Leuten die sie persön-
lich kannten und von den sie wussten, dass sie früher mal Punks gewesen waren
oder irgendwie links, sich aber aus den verschiedensten Gründen verändert hatten.
Martin sah in dieser Unterschiedlichkeit ein Potenzial der Befriedung. Er wollte
mit Einzelnen von den Leuten vor dem Haus das Gespräch suchen, sie von den
Ideen des Hauses überzeugen und so den Konflikt entschärfen. Er ging auch so
weit, dass er der Meinung war, man müsse mit der Stadt ins Gespräch kommen
und darüber hinaus, die Leute vor dem Haus, die sich von der Idee des Hauses
würden anstecken lassen, in das Haus einladen und integrieren. In den Augen vie-
ler Leute im Haus ging dies überhaupt nicht und wurde als ein direkter Angriff auf
die Idee und den Zusammenhang des Hauses verstanden.
Ich erinnere mich daran, dass die Diskussionen sehr emotional und anstren-
gend waren. Dies lag nicht nur daran, dass sich zu den Treffen ca. 40 Leute zu-
sammenfanden, die jeweils auch die unterschiedlichen Gruppen im Haus (wie sie
Elena erklärt hat) repräsentierten; vielmehr hatte ich den Eindruck, dass sie die
Last der Ereignisse niederdrückte und empfindsam machte – empfindsam für die
kleinsten Berührungen und Impulse, die in ihren jeweiligen Positionen und damit
verknüpften Kritiken steckten. Die Last der Ereignisse war bildlich. Wir saßen im
großen Versammlungsraum im Erdgeschoß. Die Fenster waren zerschlagen und
mit Holzbrettern verschlossen. Es war dunkel. Licht kam nur von künstlicher
274 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
Beleuchtung. Sie mussten sich verbarrikadieren, um sich gegen die Angriffe der
Leute vor dem Haus zu schützen. Sie sprachen vom Druck von außen. Sie spra-
chen davon, dass ihnen überall Brocken und Hindernisse in den Weg gelegt wür-
den. Sie sprachen auch offen von ihren Ängsten. Sie erzählten uns ihre ver-
schiedensten Erfahrungen wie diese, dass nicht nur sie als Personen für ihr Enga-
gement für das Haus von Leuten aus dem Ort angegriffen würden, sondern z. B.
auch ihre Eltern den Druck zu spüren bekämen. Beispielsweise hatte ein Vater
einer der Leute aus dem Haus mit seinem Firmenwagen verschiedene Dinge zum
Ausbau des Hauses vorbeigebracht und vor dem Haus das Auto geparkt. Er wurde
von seinen Mitarbeitern angesprochen, dass dies keine gute Idee sei, da die aktu-
elle Gefahr bestehe, dass sie Aufträge in ihrer kleinen Firma verlieren würden,
wenn sie in irgendeiner Weise Sympathien zum Haus öffentlich zeigten. Als die
Leute des Hauses damals im „verbunkerten“ Haus von solchen Beispielen erzähl-
ten, spürte ich selbst, was sie mit dem Druck meinten, ohne dass ich dafür die
passenden Worte gehabt hätte. Es war nicht nur eine existenzielle Frage, in den
sozialen Zusammenhängen der Kleinstadt weiterleben zu können, sondern es war
mindestens genauso spürbar, was ein möglicher Verlust, ein Zerfall des Zusam-
menhangs, den sie sich im Haus geschaffen hatten, bedeuten würde. Tröstend und
trotzend192 zugleich waren da die Worte, die Martin im Interview gebrauchte und
mich zu meinen Erinnerungen anregte: „Ich denke, das vor dem Haus, die Leute,
die da standen, das hatte auf jeden Fall Auswirkungen, weil in dem Moment hält
man zusammen, das steht fest, das schweißt irgendwo zusammen, gemeinsamer
Fall schweißt zusammen, keine Ahnung. […] natürlich, man ist ja gemeinsam be-
troffen irgendwo, also sucht man gemeinsam einen Ausweg“ (M/a: 1390-1394).
In dieser Situation war ich selbst in meiner Rolle aufgespalten. Die Erfahrun-
gen der Leute des Vereinshauses berührten mich sehr, waren für mich auch ange-
sichts meiner damaligen Erfahrungen im Kontext meiner Arbeit des Mobilen Be-
ratungsteams auch insofern sehr wichtig, als Zeichen der Hoffnung, dass sich eine
Auseinandersetzung mit dem erstarkten „faschistischen Potential“ lohnt und vor
allem, dass trotz des Drucks dieser Entwicklung des „faschistischen Potentials“
Räume und Plätze entstehen, die sich Leute selbst organisieren und „von unten“
selbstbestimmt fremdbestimmten Zusammenhängen die Stirn bieten. Was mich
damals besonders fasziniert hat und tatsächlich tief beeindruckt hat, ist, dass es
192Ich verwende hier trotzend statt trotzig. In meiner Erinnerung ging es hier darum, gemeinsam dem
Druck von außen das Eigene entgegenzuhalten. Mit trotzig assoziiere ich eine Abwertung eines
Verhaltens, welches sich einem übergeordneten Interesse nicht fügen will, so wie es umgangs-
sprachlich für ein „trotziges Kind“ verwendet wird, bei dem die Erwachsenenperspektive den
Standpunkt bestimmt, von dem aus das Verhalten bewertet wird, und ein „trotziges Kind“ als
Belastung der Nerven von Erwachsenen gilt. Um diese Assoziation zu umgehen, wähle ich trot-
zend. Trotzend unterstreicht m. E. auch den Charakter, den Elena in ihren Gedanken zum „festen
Haus“ umreißt.
5.2 Sich selbst organisieren 275
sich hierbei um Situationen oder Momente handelte, die sich einer Planbarkeit,
einer Einrichtung „von oben“ entziehen. Dies war für mich auch insofern bedeu-
tend, da diese Form der Selbstorganisation den Anspruch Mobiler Beratung kri-
tisch infrage stellte – den Anspruch, davon auszugehen, dass (allein) durch die
Impulse Mobiler Beratung die Entwicklung demokratischer Zusammenhänge vo-
rangetrieben werden könne. In diesem Blickwinkel verlieren sich die Kräfte „von
unten“ als Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Für meine damalige Tätigkeit be-
deutete dies eine Aufforderung zum radikalen Umdenken. Der „Rohstoff des Politi-
schen“ (Negt/Kluge), die „Ressourcen“ (Steinert) und „Werkzeuge“ (Back/Sinha
bzw. Illich) der Handlungsfähigkeiten können hierbei nicht als Vermittlungsstra-
tegien von oben nach unten gedacht werden. In diesem Zusammenhang ist auch
gleichzeitig zu erkennen, dass die „Rohstoff[e] des Politischen“ (Negt/Kluge
1993) umkämpft sind und z. B. die im Rohstoff liegenden Möglichkeiten in ge-
sellschaftlichen Widersprüchen gebrochen sind, was auch bedeuteten kann, dass
sich das (progressiv) widerständige Potenzial verkürzen oder in auf Ausschluss
beruhende Vergesellschaftungsformen umschlagen kann.
Gleichzeitig war ich eben Teil des Mobilen Beratungsteams. In diesem Zu-
sammenhang wurden wir damals auch von Polizei und Stadtverwaltung darum
gebeten, einen Verständigungsprozess zwischen Stadt und Vereinshaus zu beglei-
ten. Ich erinnere mich an die Besprechungen mit dem Bürgermeister und der Po-
lizei. Der Bürgermeister hatte jegliche Zugänglichkeit verloren. Aus seiner Sicht
war das Vereinshaus und waren vor allem einzelne Personen wie Martin oder Ste-
fan das Problem. Ich erinnere mich hier daran, dass der Bürgermeister im Haus
und bei den dortigen Leuten linksextreme, kriminelle Zusammenhänge aus-
machte. Auch die klarstellenden Interventionen der Polizei am Tisch, konnten die-
ses Bild nicht aufbrechen. Die Polizei versuchte, deutlich zu machen, dass es sich
nicht um ein Problem des Linksextremismus handle, sondern dass das Problem
von den Bürgern vor dem Haus ausgehen würde. Deren Bereitschaft zur Gewalt
hätte ein bisher unbekanntes Maß an Eskalationsbereitschaft erreicht. Ich erinnere
mich an die Hilflosigkeit der Polizei am Tisch, den Gesprächsfaden zu halten, an
und einen wachsenden Druck bei mir selbst, eine Idee zu finden, die Gespräche
aufrechtzuerhalten. Es war eigenartig. Die Dominanz des Bürgermeisters, seine
autoritäre Weise, seine Wutausbrüche. Der Bürgermeister hatte keine Bedenken
andere Erfahrungen und Einsichten einfach wegzuwischen und zu ignorieren. Hie-
raus schöpfte er seine Handlungsfähigkeit, sich seinen „Laden“ nicht von anderen
aus der Hand nehmen zu lassen. Einzig das Argument der „Beruhigung der Situa-
tion“ in der Stadt war eine Formel, wo so etwas wie eine Verständigung anknüpfen
konnte. Die Polizei hatte hier das Interesse der Befriedung, weniger dadurch, dass
sie den Konflikt gewaltsam unterdrücken wollte, als vielmehr dadurch diesen
durch Gespräche zu entschärfen. Der Bürgermeister sah die Polizei in der Pflicht,
276 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
für Ruhe zu sorgen und das „Treiben“ im Vereinshaus aufzulösen. Damit würden
sich dann auch die Probleme vor dem Haus erledigen. Wir hatten den Auftrag vom
Verein zu signalisieren, dass auch die Leute des Vereinshauses grundsätzlich zum
Reden breit wären. Konflikthaft stand im Raum, dass der Bürgermeister geschickt
die Leute vor dem Haus und ihre Angriffe auf das Haus als Punkte der Kritik aus-
klammerte und gleichzeitig diese für sich selbst als Mittel gebrauchte, um seine
Sichtweise zu unterstreichen. Indem er sich mit einem öffentlichen politischen Ur-
teil bzw. einer Verurteilung des Verhaltens der Leute vor dem Haus zurückhielt,
mehr noch, deren Verhalten in unseren Gesprächen ignorierte, gewann ich den
Eindruck, dass er mit diesen nicht nur sympathisierte, sondern in deren Aktionen
eine Macht (oder Möglichkeit) erkannte, die seinen Interessen eine konkrete Ge-
stalt gab. Etwas spitz formuliert: Diese Leute arbeiteten in anderer Weise als der
Bürgermeister ganz praktisch daran, das unliebsame Vereinshaus loszuwerden.
Der Bürgermeister und die Leute teilten somit ein gemeinsames Interesse. Dies
stärkte die Machtbasis des Bürgermeisters und seine Position des Handelns. Man
kann auch sagen: Dem Bürgermeister war das Faustrecht der Straße ein wichtiges
Mittel seiner Politik. Er musste diese Situation nicht selbst einrichten. Er konnte
aber die sich auf der Straße entwickelnde Situation als Gelegenheit nutzen. Ent-
steht im geteilten Interesse des Bürgermeisters und der Leute auf der Straße ein
gemeinsames „Wir“, ist dieses „Wir“ einerseits ein Ausdruck der Einigkeit im
„Fühlen“ (Demirovic 2016b: 71) geteilt sind die Emotionen. „Das Denken und der
Wille“ (vgl. ebd.), letztlich die politische Führung, bleiben andererseits abgespal-
ten und konzentrieren sich als Handlungsmöglichkeit in den Händen des Bürger-
meisters. Sprechen Martin, Stefan, Elena, Sandra und Markus von einem „Druck“
oder von „Hindernissen“, die ihnen in den Weg gelegt wurden, verweisen sie so-
mit auf die vielfältigen und in den unterschiedlichsten Formen geführten Kämpfe
um Hegemonie. Als Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams war ich also selbst
Teil von und mitten drin in diesen Kämpfen.
In diesem Spannungsfeld verabredeten wir, die Leute vom Vereinshaus in
eine Stadtratssitzung einzuladen. Dort sollte die Situation mit dem Vereinshaus
zur Sprache gebracht werden. In meiner Erinnerung ist unklar, wie wir uns wirk-
lich konkret verabredet hatten. Ich glaube aber, dass der wirkliche Ablauf und In-
halt der Stadtratssitzung nicht verabredet wurden. Im Grunde bestand die Einigung
in diesem Treffen des Stadtrates. Und wir als Mobiles Beratungsteam sollten zur
unterstützenden Moderation des Treffens dabei sein. Ich erinnere mich noch da-
ran, dass die Polizei zu einer extra Stadtratssitzung eingeladen worden war. Dort
schilderte sie ihre Sicht der Dinge. Daraufhin hatte wohl der Stadtrat seine Zu-
stimmung zu einem Treffen mit den Vereinshaus-Leuten gegeben.
Die Stadtratssitzung. Das Bild von Markus zu dieser Situation: „Das war ein
großes Viereck und wir saßen an der einen Ecke, genau [Herr Müller], glaube ich,
5.2 Sich selbst organisieren 277
direkt gegenüber fast schon ein Tribunal. Naja, es war irgendwie frostig“ (Ma: 33-
35). Genau so. Im Raum bildeten die Tische der Stadträte ein großes U. Am freien
Ende standen, etwas abgesetzt, vier Stühle und ein Tisch. Dort wurden die jungen
Leute angewiesen sich hinzusetzen. Ihnen gegenüber, in der Mitte, saß Herr Mül-
ler, der Bürgermeister. Aus meiner Sicht: Rechts saß Martin, daneben Markus,
daneben Elena, daneben Thomas. Als ich über das Zitat von Markus nachgedacht
habe, fiel mir dieses Bild wieder ein. Warum? Links neben dem Bürgermeister,
saß ich und rechts vom Bürgermeister meine damalige Kollegin. Wir waren als
Team getrennt. Wir saßen gegenüber den Leuten des Vereins, links und rechts
vom Bürgermeister. Schutz für den Bürgermeister? Ich fühlte mich damals ziem-
lich mies. Verräter? Verrat der Beziehungen zu den Leuten vom Verein? Verrat
meiner eigenen Ideen und Hoffnungen? Eingemeindet in die Initiative des Stadt-
rates, abgeschnitten von der Kommunikation mit meiner Kollegin. Abgeschnitten
von unserem Anliegen der Moderation, oder vom sortierenden Eingreifen im Kon-
flikt. Kaltgestellt. Ich war damit Teil des Tribunals. Ich bin trotzdem sitzengeblie-
ben. Ich bin dabeigeblieben. Ich bin aktiv – durch mich selbst – passiv geworden.
Meine Möglichkeiten, die Möglichkeiten als Mobiles Beratungsteam haben wir
selbst ruhiggestellt. Wir haben die eigenen Werkzeuge in den Schrank gelegt,
stumpf gemacht und nicht als verfügbare Mittel gebraucht. Wir haben auch die
eigenen Mittel nicht erkannt und verkannt.193 Das Ergebnis war dies, wie ich es
oben mit den Überlegungen von Martin, Markus und Elena aus den Interviews
herausgearbeitet habe.
Im Vorfeld der Stadtratssitzung hatten wir als Mobiles Beratungsteam ge-
meinsam mit den Vertreter*innen des Vereins überlegt, wie sie sich auf die Stadt-
ratssitzung vorbereiten können. Wir überlegten zusammen, was eigentlich ihr An-
liegen als Initiative, als Verein, sei. Was wollen sie vom Stadtrat? Und wie könn-
ten sie ihre Idee dort vertreten? Das war eine intensive und gute Diskussion. Sie
bereiteten sich darauf vor, davon zu erzählen, was sie sich mit dem Vereinshaus
für die Stadt vorstellten: Kultur, Politik, Jugendarbeit, ein offenes Haus sein für
die Leute in der Stadt, zu zeigen, dass es auch andere Leute in (X) gibt, die eben
keinen Bock darauf haben, andere Leute auszuschließen. Heute denke ich, dass
diese Vorbereitungsrunde wichtig war.
Ich erlebte die Situation im Stadtrat als eine autoritäre Machtdemonstration,
als ein Abkanzeln der Leute des Vereins ohne Pause und Luftholen. Aber: Es sind
193 Beim Schreiben dieser Passage springe ich zwischen Singular und Plural. Einerseits kann ich die
Situation nur aus meiner Sicht und als meine Erfahrung beschreiben. Andererseits war ich Teil
eines Arbeitszusammenhangs, den ich zusammen mit meiner Kollegin ausgefüllt habe. Daher
erscheint auch punktuell ein Plural. Ich kann auch das „Wir“ in dieser Passage verwenden, da
meine ehemalige Kollegin und ich uns bis heute gemeinsam, intensiv mit den damaligen
Arbeitserlebnissen beschäftigen und auseinandersetzen. Insofern belasse ich diese Passage in
ihrer Sprunghaftigkeit.
278 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren
die Lücken, die wichtig sind. Wurden die Leute vom Verein dazu aufgefordert,
etwas zu sagen, waren sie diejenigen, die Beiträge zur Versachlichung bereithiel-
ten. Ich denke hier an das Beispiel des Aufklebers, das Martin erzählt hat. Oder an
das Verhalten von Elena und Markus. Beide versuchten, die Ideen des Vereins zu
betonen, wurden dabei immer wieder unterbrochen. Die Themen wurden gebremst
und schon angesprochene Probleme, die den Stadtratsleuten wichtig waren, wie-
der und immer wieder hervorgeholt. Im Grunde haben sich die Leute des Vereins
nicht klein machen lassen. Sie sind nicht zusammengebrochen. Blieben aufrecht.
Hielten dem Ansturm stand. Ich denke, dass ihre geteilte Idee, von der sie nicht
nur (einfach) überzeugt waren, eine konkrete Praxis war; sie hatten die Erfahrung;
sie wussten, was es bedeutet, wenn sie davon sprachen, etwas „gemeinsam“ zu tun
(vgl. etwa E: 148-175). Sie wussten, warum „sie nötig waren“ (Ma: 433). Dies
war ein wesentliches Moment ihrer Stabilität. Wichtig dabei: Dieses Moment liegt
in ihren Händen, sie können darüber verfügen, es ist Ausdruck ihrer Selbstbestim-
mung.
Mit Blick auf die Arbeit des Mobilen Beratungsteams, sind weitere ergänzende
Bemerkungen zum Arbeitsbündnis zu machen. Hier geht es mir insbesondere um
Widersprüche, die sich mit einer Vorstellung Mobiler Beratungsarbeit verbinden,
wenn sich die Beratungsarbeit als „Intervention, als Eingreifen von außen“ ver-
steht (vgl. Bringt 2013: 39).
Die erste Anfrage, als Mobiles Beratungsteam in (X) tätig zu werden, beka-
men wir im Zusammenhang mit den Übergriffen auf dem Stadtfest. Die damalige
Polizeidirektion des Landkreises war mit der Bitte an uns herangetreten, das Ge-
spräch mit dem Bürgermeister, dem Stadtrat und den Leuten in der Stadt zu su-
chen. Die Idee war damals, Stützpunkte einer moderierten Öffentlichkeit einzu-
richten, um die aufgeheizte Stimmung abzukühlen und die Ereignisse in einer ver-
sachlichten Form ansprechen und dann besprechen zu können. Die Zusammenar-
beit mit der Polizei hatte sich in einigen anderen vergleichbaren Situationen ent-
wickelt. Der damalige Polizeidirektor erkannte im Mobilen Beratungsteam eine
zwar von der Polizei unabhängige Instanz mit eigenen Vorstellungen von Gesell-
schaft und Demokratie, sah aber gleichzeitig die Möglichkeit, durch das Mobile
Beratungsteam die ordnungspolitischen Zugriffe der Polizei durch moderierendes
Handeln zu begleiten. Der Hintergrund dieser Orientierung der Polizeidirektion
war, dass der zuständige Polizeidirektor in den Zeiten der „Wende“ Leiter der
5.2 Sich selbst organisieren 279
sogenannten „Soko Rex“194 war, einer Abteilung der Kriminalpolizei, die auf
rechtsextreme Straftaten spezialisiert war. Einerseits war die Tätigkeit der „Soko
Rex“ eine sehr erfolgreiche und sorgte für Beunruhigung in der organisierten
Nazi-Szene; andererseits hinterließen die Zugriffe der Polizei ein örtliches Va-
kuum. Was meine ich damit? Zwar verunsicherte die polizeiliche Tätigkeit die
Nazi-Szene und ihre lokalen Strukturen; jedoch zeigte sich zugleich, dass die
Leute in den betroffenen Kommunen und Regionen nicht wussten, wie sie mit den
entsprechenden Erscheinungsformen und den damit zusammenhängenden Proble-
men umgehen sollten. Kurz: Die Polizei schlug zu, verunsicherte, kontrollierte,
versuchte, die Entwicklung von Strukturen der Nazi-Szene zu unterdrücken,
merkte aber, dass die Leute der Szene auf verschiedenste Weise in Vereinen, Feu-
erwehr, Jugendclubs oder als Unternehmer etc. in die lokalen sozialen Zusammen-
hänge eingebunden waren und sich damit das Potenzial faschistischer Ideologie
nicht erledigte, sondern im Gegenteil in versprengter Weise weiter aktiv war. Hier
brauchte es eine andere Herangehensweise und vor allem die Möglichkeit der Ein-
richtung längerfristiger Prozesse, die den Versuch unternehmen würden, einen öf-
fentlichen Diskurs zu Problemen und Strukturen der Nazi-Szene anzuregen sowie
durch Stärkung demokratischer Zusammenhänge Alternativen zu entwickeln.
Die Gedanken, die ich hier aufschreibe, speisen sich aus meinen Erinnerun-
gen an die vielen Gespräche, die ich mit dem damaligen Polizeidirektor geführt
habe. Die Nähe von Polizei und den Mitarbeitern eines Mobilen Beratungsteams
ist vielleicht ungewöhnlich, zumal die Polizei die Vertretung staatlicher Gewalt
ist und eine „zivilgesellschaftliche“ Initiative das scheinbare Gegenteil verkörpert.
Aus meiner heutigen Perspektive präsentieren die beiden scheinbar gegenteiligen
Positionen aufeinander bezogen eine neue Form von Governance (vgl. hierzu Af-
folderbach 2016). Auf diesen Punkt kann ich hier nicht näher eingehen, da er ein
eigenes Feld umfassender Erläuterungen und Überlegungen bedeutet, welche den
Rahmen meiner Arbeit an dieser Stelle überschreiten. Nur so viel: Ein großes
Problem für mich bei den Mobilen Beratungsteams war die Idee, eine „zivilgesell-
schaftliche“ Initiative könne als eine staatlich unabhängige Einrichtung betrachtet
werden. Grundlage dieser Idee ist die Gegenüberstellung von Staat und Zivilge-
sellschaft. Etwas spitz formuliert sind in diesem Bild Staat und Demokratie iden-
tisch; der Staat bildet die alleinige Instanz gesellschaftlicher Kontrolle. Demge-
genüber versteht sich Zivilgesellschaft als die eigentliche Trägerin gesellschaftli-
cher Prozesse, die einer demokratischen Stärkung bedürfen. In dieser Betrach-
tungsweise stehen sich so der (böse) Staat und die (gute) Zivilgesellschaft als klar
abgrenzbare Größen gegenüber. Die wechselseitige Durchdringung des „Staatli-
chen“ und „Zivilgesellschaftlichen“ und damit die Widersprüchlichkeiten
Das Erstaunliche war, dass die Absender ihre Klarnamen, Adressen und Te-
lefonnummern angaben. Die überregionale Politik, die Landesregierung und die
Vertretungen der Parteien erklärten ihre Nicht-Zuständigkeit für das lokale Prob-
lem. Der Bürgermeister sah sich allein gelassen. Er war wütend und fühlte sich
angegriffen. Der Stadtrat fühlte sich ebenfalls angegriffen. Zur selben Zeit orga-
nisierten sich die (überregionalen) Medien mit ihren Bussen auf dem Rathausplatz,
um über das Ereignis auf dem Stadtfest zu berichten. Sie forderten ständige State-
ments des Bürgermeisters und befragten die Leute auf der Straße in (X). Hieraus
entwickelte sich das weiter oben diskutierte „Wir“. In dieser Gemengelage entwi-
ckelte sich die Position des Bürgermeisters zur Reaktion und er präzisierte stück-
weise in den verschiedensten Interviews seine eigene Position, die dann ihren Hö-
hepunkt im Interview mit dem Presse-Organ der Neuen Rechten fand. Der Bür-
germeister entwickelte nicht nur seine Position, sondern dichtete gleichzeitig seine
eigene Position gegen Argumente von außen ab.195 Dies betraf auch die Argu-
mente und Einschätzungen der Polizei sowie die Versuche des Mobilen Bera-
tungsteams, in Gesprächen mit dem Bürgermeister das ursprüngliche Ereignis
nicht aus dem Blick zu verlieren. Vielleicht, vorsichtig gedacht, kann die Heraus-
bildung der Position des Bürgermeisters als ein „negativer“ Lernprozess interpre-
tiert werden, der sich im Zusammenhang mit einer Idee „interventionistischer“
Aufklärung entwickeln kann. Die Herausbildung eines „reaktionären Wir“ wäre
hier die Reaktion auf Versuche einer zwanghaften Form der Aufklärung, bei der
mithilfe unterschiedlicher Formen der Intervention (durch Medien, Polizei, Mo-
bile Beratung) die Aufzuklärenden „umstellt“ werden und dabei auf unterschied-
liche Weise (bewusst oder nicht) daran gearbeitet wird, eine gesellschaftliche Hie-
rarchie, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Polizei interveniert ord-
nungspolitisch. Als staatliche Gewalt richtet sie gewalthaft die Ordnung eines
Oben und Unten ein. Die Medien berichten, verknüpft mit ihrer Verwertungslogik,
über die Leute, entziehen diesen ihre Geschichten, um diese Geschichten an an-
derer Stelle über die Leute zu erzählen. Ein Mobiles Beratungsteam interveniert
im Interesse einer Demokratisierung der Verhältnisse; ihr Mittel ist der Versuch
einer Einrichtung öffentlicher Diskurse über die Ereignisse. Im Zweifel weiß hier
das Mobile Beratungsteam, was die „wahre“ Demokratie und „echte“ demokrati-
sche Öffentlichkeit ist. Es entstehen Situationen der Belehrung, der Zurechtwei-
sung. Ich betone die Negativität deshalb, weil hier ein Moment zutage tritt, eine
Art Verwandtschaft zwischen den unterschiedlichen Interventionsformen er-
scheint, am Oben und Unten festzuhalten. Das „reaktionäre Wir“ erscheint dabei
als eine Zuspitzung des Oben und Unten durch seine Konstruktion eines „guten
Wir“ und eines „bösen Außen“, dessen Wirkmächtigkeit darin besteht, sich den
195 Zum Gedanken der „Abdichtung“ der eigenen Position gegen Einflüsse von außen im Kontext
vom autoritären Populismus vgl. auch Demirovic (2016b).
282 1
Blicke ich jetzt an den Anfang meiner Arbeit zurück, gleicht der Text einer un-
gleichmäßigen Wellenform, vielleicht vergleichbar zu den Wellen am Meer, die
mal langsamer und flacher an den Strand plätschern und bei Wind Fahrt aufneh-
men, sich zu höheren Gebilden aufreihen und für heftige Ausschläge auf dem
Strand sorgen und sich dann wieder zurückziehen. Sie hinterlassen ein verändertes
Bild; die Landschaft hat danach eine andere Form angenommen. An einer Stelle
ist vielleicht etwas abgetragen, an der anderen etwas dazugekommen, zu einem
kleinen Hügel Sand aufgeschüttet. Stelle ich mich auf den Hügel, hat sich die Per-
spektive verändert. Bestimmte Dinge erscheinen anders, manche vertraut und mit-
unter gibt es den Moment, wenn der Himmel aufklart, dass auch in der Ferne Klei-
nigkeiten entdeckt werden können, die vorher so nicht sichtbar waren. Dieses
Ganze ist ein Prozess, eine sich ständig verändernde Angelegenheit.
Vor diesem Hintergrund sind Begriffe wie Zusammenfassung oder Schluss
oder Ende ungeeignete Begriffe, um den jetzigen Punkt oder den Stand meiner
Arbeit zu beschreiben. Sie schneiden ab. Sie behaupten, dass die vorliegenden Ge-
danken abgeschlossen sind. Dies kann ich so nicht behaupten. Ich bin angeregt,
nicht fertig und eher voller Fragen. Einzig die Zeit und die Lebensumstände drängen
darauf, dass ich einen Punkt mache, vorübergehend. Strenggläubigen wissenschaft-
licher Arbeit mag diese Position als Grauen erscheinen, da man ja von einer Dok-
torarbeit Antworten, Klarstellungen, Präzisierungen erwarten kann, die eng orien-
tiert an der Fragestellung mathematisch fein Abstraktionen, theoretische Konzepte
und Muster produziert. Meine Arbeit, so meine ich (und hoffe es auch), verweigert
sich dieser Mechanik. Blicke ich auf meinen Text, sind es eher Fundstücke, die
mir auffallen, die ich in die Hand nehme, die mein (bildlich gemeint) Begreifen
erfordern und mich so gleichzeitig zum Handeln auffordern – mich. Wie es ande-
ren damit geht, kann ich nicht sagen.
Dies liegt auch an meinem Schreibtisch, an meinem Sitzen am Schreibtisch,
den Texten und mir. Im besten Falle sprechen die Texte mit mir und ich mit ihnen.
Von außen betrachtet, mich selbst in dieser Situation von außen betrachtend, mutet
dies seltsam an, seltsam isoliert. Hiermit verknüpfen sich Verhaltensweisen und
Eigenarten, die sich im Arbeitsprozess entwickelt haben und für andere schwer zu
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_7
284 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess
übersetzen sind. An diesem Punkt ist zum Beispiel das Sprechen mit den Texten
wörtlich zu nehmen.
Zum Beispiel Schumpeter: ausgerechnet die Idee einer Methode, Demokratie
als methodischer Verfahrensweise, als, ja was eigentlich? Was hat er sich dabei
gedacht? Ich möchte hier nicht noch einmal auf die Überlegungen am Anfang mei-
ner Arbeit eingehen, inhaltlich. Was ich geschrieben habe, möchte ich nicht ein-
fach wiederholen. Deshalb geht es mir jetzt um meine Erfahrung mit seinem Text,
mit seinem Buch mit dem schillernden Titel „Kapitalismus, Sozialismus und De-
mokratie“.
Spontan assoziiere ich nicht Schumpeter, sondern Bilder aus den Interviews:
„der Chef und der Rest“ von Markus (vgl. Ma: 338), oder „von oben herab eben,
ja, Mentalität von Kommunalpolitikern“ von Martin (vgl. M/b: 69). Von oben, von
oben herab findet sich bei Schumpeter wieder, dort allerdings als Ausarbeitung
einer Theorie, als Grundlage einer Idee des Politischen oder, etwas enger, als ei-
nem Verständnis von Politik. Der Wirtschaftswissenschaftler Schumpeter über-
trägt eine Idee der Ökonomie auf die Politik, genauer: die Idee des Unternehmers
als Führer und Innovator, als Leitfigur für Politik und politisches Handeln. Seine
Legitimation gewinnt er aus dem Konkurrenzkampf um die Stimmen der Leute.
Beim Lesen des Buches hatte ich große Schwierigkeiten, ein Unbehagen. Ich
denke, dies merkt man auch meinem Text an. Was macht die Schwierigkeit aus?
Oder das Unbehagen?
Es ist der normative Kern von Schumpeters Argumentation. Wilhelm E.
Scheuermann schreibt dazu: „Schumpeter macht sich ganz klar eine normative
Agenda zu eigen, als er traditionelle anti-demokratische Argumente spiegelt und
eine immense Betonung auf die Wichtigkeit politischer Stabilität legt. Er formu-
liert eine normative Kritik an der Demokratie und gibt sie als objektive Wissen-
schaft aus“ (Scheuermann 2002: 424 f.). Einerseits kritisiert Schumpeter die „po-
litische Passivität“ seiner Zeit und die damit verbundenen Vorstellungen von De-
mokratie; andererseits aber schließt er selbst das Politische in „staatlichen Institu-
tionen“ ein und begrenzt so eine weite Vorstellung des Politischen, welches die
gesamte Gesellschaft durchzieht (ebd.). Dies liegt auch an seiner Verachtung der
Masse, die bei ihm lediglich als fremdbestimmte, manipulierbare Größe erscheint.
Die Leute der Masse erscheinen bei ihm als Bremsung einer innovativen Entwick-
lung des Gesellschaftlichen. Die Innovation der Führungskraft liegt dann in von
den Leuten ausgewählten Politikern, die, von den Leuten abgekoppelt, an anderer
Stelle die Geschicke der Welt vorantreiben, „der Chef und der Rest“ (Ma: 338).196
Schumpeter begründet mit seiner Theorie Trennungen und Abspaltungen, die
196 Ich bleibe hier im Bild des patriarchalen Politikers. Eva Kreisky weist auf den grundlegend pat-
riarchalen Charakter von Schumpeters Denken und seiner Figur des (männlichen) Politikers hin
(vgl. Kreisky 2001).
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 285
197 Helga Cremer-Schäfer skizziert in Orientierung an Heinz Steinert Ordnungstheorien als „Ver-
tragsmodell“, in dem bereits „Befreiung stattgefunden“ habe und die daraus folgende Ordnung
eine „vernünftige“ sei, die „für alle Gültigkeit beansprucht“ (Cremer-Schäfer 2005: 154). Ich
fasse hier Herstellung von Ordnung möglicherweise etwas weiter. Oder anders: Vielleicht kann
man das, was ich hier skizziere, als eine Praxis zur Herstellung einer Ordnung verstehen, die z.
B. einem Vertragsmodell vorgelagert ist oder sich mit diesem in einer Verzahnung als politische
Praxis zur Wahrung der Ordnung herausbildet.
286 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess
neinen und zu zerstören. Er zielt damit auf eine Abspaltung des Utopischen, auf
eine Trennung der Gegenwart vom historischen Bezug und ihrer Zukunft.
Die Gedanken von ihm, an denen ich hängen geblieben bin, waren in diesem
Sinne scharfe Ecken, die meine Gedanken aufgerissen haben, meine Gedanken
abgerissen haben, was mitunter dazu führte, die Verdopplung der Welt in seinem
Denken zu erkennen, aber gleichzeitig mit einer Lähmung befallen zu werden,
vielleicht vergleichbar zu dem, was Henri Lefebvre im Zusammenhang mit seinen
Überlegungen zur Entfremdung und Alltäglichkeit skizziert hat.
Aus diesem Grunde war ich dazu gezwungen, mich zu befreien. Befreiend
waren für mich zwei Dinge. Zum einen habe ich im Diskurs zur Frage des Politi-
schen in der Theorie Begriffe gefunden, die eine Offenheit oder besser die Per-
spektive einer Handlungsfähigkeit „von unten“ aufgenommen haben und in die
Theoriesprache übersetzen. Zum anderen – und dies ist mir wichtig: Nach einem
längeren Prozess mit vielen Aufs und Abs habe ich Begriffe bei den Leuten in den
Interviews gefunden, die wiederum die Erfahrungen einer Handlungsfähigkeit
„von unten“ erkennen lassen und lebendig machen. Der Weg dahin war lang.
Auf diese beiden Punkte möchte ich noch eingehen. Wichtig war für mich,
zunächst eine Idee davon zu entwickeln, was einen Anspruch des Subalternen, ein
Handeln „von unten“ begründen und welcher Begriff des Politischen damit ver-
bunden sein könnte. Ich habe mich deshalb mit dem Problem der Volkssouveräni-
tät beschäftigt. Ein für mich sehr wichtiger Punkt war in diesem Zusammenhang,
die Widersprüchlichkeit des Begriffs in der Theorie zu erkennen. Eine dieser Wi-
dersprüchlichkeiten habe ich als Passivierung skizziert. Mit dem Begriff der Pas-
sivierung beziehe ich mich auf die Überlegungen von Antonio Gramsci zur passi-
ven Revolution im Kontext seiner Hegemonietheorie. Gramsci verwendet diesen
Begriff, um deutlich zu machen, dass durch die Herrschaft „von oben“ Initiativen,
Interessen und Anliegen „von unten“ aufgenommen und in neue Zusammenhänge
transformiert werden.198 Hiermit verknüpft sich eine Einpassung der Beherrschten
in Herrschaft, ohne dass hierarchische Verhältnisse aufgehoben würden. Mir ist
dieser Punkt auch deshalb so wichtig, weil er mir erlaubt, die Eigenaktivitäten der
Leute zu erkennen, ihr widersprüchliches Handeln als Formen der Vergesellschaf-
tung zu begreifen, die Leute einerseits im Handeln versuchen, Grenzen zu ver-
schieben, aber andererseits bestehende Verhältnisse in ihrem Handeln aufnehmen
und reproduzieren. Letzterer Punkt ist gerade mit Blick auf die Frage von Hand-
lungsfähigkeiten sozialer Bewegungen von zentraler Bedeutung. Wenn sich etwa
soziale Bewegungen mit einem emanzipatorischen Anspruch in die Zusammen-
198 Vergleiche zu meiner Interpretation auch die Überlegungen von Peter D. Thomas und seine Ana-
lyse des Begriffs „passive revolution“ bei Gramsci, der auch „two phases or forms of passive
revolution“ unterscheidet und so die Prozesshaftigkeit qualitativ und quantitativ unterscheidbar
macht (vgl. Thomas 2010: 151 oder beginnend mit dem Kapitel: 145 f.).
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 287
hänge der Gesellschaft einmischen, bilden sie selbst Orte, oder widersprüchliche
Zusammenhänge einer Vergesellschaftung, bei der das Handeln sozialer Bewe-
gungen zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung zirkuliert, sich also
selbst in den bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen bewegt und diese
auch im eigenen Handeln reproduziert. Gerade diese Punkte sind in den Interviews
besonders deutlich geworden. Dort zeigt sich ein Spannungsfeld, auch ein Ringen
der Leute um ihre Selbstbestimmung als Einzelne und als Gruppe.
Oder, wie Elena im Zusammenhang mit dem „festen Haus“ (E: 152) deutlich
macht, sie teilen Erfahrungen oder Momente einer Erfahrung der Aufhebung von
Trennungen, bei denen das Körperliche und das Kognitive verschmelzen. Selbst-
bestimmung ist in diesem Moment keine abstrakte theoretische Größe, sondern ist
ganz praktisch als Skizze der Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns am Beispiel
von Elena nachvollziehbar. Gleichzeitig, und dies ist das Besondere an der Über-
legung von Elena, entwickelt sich dieser Moment als eine ungleichzeitige und ge-
genläufige Bewegung im Kontext ihrer Selbstorganisation, die in den Augen von
Markus kritisch als Situation einer Hierarchisierung der Verhältnisse zu interpre-
tieren ist: „[d]er Chef und der Rest“ (Ma: 338). Im negativsten Fall kann dies dazu
führen, dass die Momente der Selbstbestimmung verlorengehen und im Prozess
der Hierarchisierung gebrochen werden und dass so die Erfahrung von Zusam-
menhang als eine isolierte Erfahrung des Moments konserviert wird. Die Erfah-
rung des Moments ist dann eine von Einzelnen, die wiederum von den anderen
abgetrennt dem Gemeinsamen als Reflexionsmöglichkeit oder als gemeinsamer
Bezugspunkt entzogen wird. Dies ist kein Automatismus. Das Ringen, von dem
ich spreche, tritt am empirischen Beispiel als eine Ungleichzeitigkeit, als eine
Überschneidung von Momenten der Selbstbestimmung und Fremdbestimmung,
auf. Hieraus entstehen Reibung und Konflikte, deren Widersprüchlichkeiten im
Handeln selbst nicht einfach durchschaut werden können. Wie die Beispiele der
Interviewten deutlich machen, handelt es sich dann um Auseinandersetzungen, die
zu den unterschiedlichsten Fragen geführt und an denen sich die verschiedensten
Themenfelder und Probleme entzündet haben.
Mit Blick auf die eben skizzierte Dimension möchte ich an dieser Stelle ei-
nige Gedanken von Janek Niggeman aufgreifen. Er geht in seinem Text „Wozu
brauchen wir das? Bildung als gelebte Philosophie der Praxis“ auf Überlegungen
von Antonio Gramsci zur Gruppenbildung als hegemoniale Praxis ein (vgl. Nig-
gemann 2016). An seinen Überlegungen sind für mich drei Elemente interessant.
Ich möchte diese aufgreifen und gleichzeitig darauf hinweisen, dass ich die fol-
genden Gedanken in Anlehnung an Niggemann und damit auch in Anlehnung an
und mit Anregung von Gramsci formuliere. Diese Anmerkung ist insofern wich-
tig, als Gramsci seine Begriffe im Kontext eines Modells von Hegemonie und Po-
litik entfaltet, um politische Handlungsfähigkeit zu verstehen.
288 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess
Erstens: Niggemann verweist darauf, dass „subalterne Gruppen [...] nicht auf
die gleiche Weise [lernen] wie die ,Berufsintellektuellen‘“ (ebd.: 62). Gegenteilig
bestünden ihre Lernprozesse „im Aushandeln der Gemeinsamkeiten und Unter-
schiede von Interessen, Begehren, Perspektiven“ (ebd.). Gemeinsam geteilte Inte-
ressen, Ideen und Perspektiven entwickelten sich in diesem Zusammenhang aus
den Auseinandersetzungen um ihre Interessen und im gemeinsamen Handeln.
Zweitens „durchlaufen Gruppen drei Phasen, in denen sie sich stark verändern,
um sich mit anderen zu verbinden“ (ebd.: 63). Eine erste Phase kennzeichnet Nig-
gemann als die Herausbildung „eines Bewusstseins ihrer Funktion und ihrer Auf-
gaben“ (ebd.). Die Gruppenmitglieder entwickelten das Gemeinsame im „Aushan-
deln“ der eigenen und im Konflikt mit „gegnerischen“ Interessen (vgl. ebd.). In
einer zweiten Phase entwickelten sie „Bündnisse[...] der Interessensolidarität“, die
ihrem Zusammenhang als Gruppe einen Zusammenhalt über die unterschiedlichen
Erfahrungen, Sichtweisen oder Interessen der Einzelnen hinweg ermöglichten
(ebd.). Eine dritte, „politisch-ethische Phase“, so möchte ich dies in Anlehnung an
Niggemann übersetzen, ist davon gekennzeichnet, dass die Gruppe beginnt, ihre
Anliegen in den Alltag zu tragen. Die Mitglieder der Gruppe suchen die politische
Auseinandersetzung im Alltäglichen. Sie gehen Bündnisse mit anderen Initiativen
ein, beginnen, sich mit Leuten und Gruppen, die verwandte Idee vertreten oder
teilen, zu vernetzen, und versuchen auf diese Weise, ihre Handlungsmöglichkeiten
zu vergrößern oder zu erweitern. Hierbei geht es darum, dass die Gruppe versucht,
„ihre partikularen Standpunkte“ zu verallgemeinern und in konkrete politische
Projekte zu transformieren (vgl. ebd.).
Zweitens: Janek Niggemann weist darauf hin, dass eine Gruppe nicht als ho-
mogenes Gebilde verstanden werden könne. Vielmehr müsse davon ausgegangen
werden, dass es „keine Gruppe ,an sich‘“ gebe und sich stattdessen eine Gruppe
als „permanente Aushandlungen und Auseinandersetzungen um die Grenzen zwi-
schen innen und außen, zwischen Identität und Differenz“ bewege und sich so als
gelebter Zusammenhang durch ihre „Möglichkeiten und Begrenzungen im Ringen
um Hegemonie“ bestimme (ebd.: 64). Ich möchte dies noch etwas anders formu-
lieren: Eine Gruppe im skizzierten Sinne kann als spezifische Art und Weise einer
horizontalen Vergesellschaftung verstanden werden, deren Zusammenhänge sich
prozesshaft entwickeln und entsprechend auch ständig verändern. Möglicherweise
ist mein hier skizziertes Verständnis eine (normative) Verengung dessen, was
Gramsci sagen wollte. Wenn ich Gramsci richtig verstanden habe, ist seine Idee
von Gruppe gesellschaftlich allgemeiner und verweist auf die unterschiedlichsten
kollektiven Zusammenschlüsse, aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Mili-
eus und Strömungen, die in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen versu-
chen, ihre Sichtweisen zu verallgemeinern, und sich in diesen Prozessen zu einer
„Klasse verbinden“ (vgl. auch Niggemann 2016: 63). Ich lasse aber meine obige
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 289
Überlegung an dieser Stelle so stehen, weil ich glaube, dass in meiner Zuspitzung
und Übertragung die Mikroprozesse der Handlungsfähigkeiten und die Interakti-
onsprozesse der Leute der von mir untersuchten Initiative so analytisch verstehbar
werden.
Freilich ist hier die Perspektive der horizontalen Vergesellschaftung eine ana-
lytische, da, wie ich oben angedeutet habe, die Vergesellschaftung als Gruppe
selbst auch in Widersprüchen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen erfolgt.
Insofern ist das Horizontale mit der Vertikale als Herrschaft „von oben“ verknotet;
beide überschneiden sich und lassen sich, wiederum analytisch, anhand unter-
schiedlicher Grade von Selbst- oder Fremdbestimmung am konkreten Beispiel
verdeutlichen.
An dieser Stelle muss ich unweigerlich an die Überlegungen von Sandra und
Elena in den Interviews denken und davon wie sie auf unterschiedliche Weise den
heterogenen Zusammenhang im Vereinshaus verdeutlichen. Dieser Punkt ist für
mich sehr lehrreich. Grob: Sandra macht am Beispiel der „Sterni-Leute“ eine Idee
davon deutlich, wer im Haus aktiv ist und welche Leute eher passiv sind. Sie ver-
deutlicht verschiedene konflikthafte Ebenen, die miteinander verzahnt sind, sich
überlagern und in ihrer Deutung eine Trennung erfahren. Sandra wird nicht be-
wusst, dass die „Sterni-Leute“ alles andere als passiv sind, sondern in ihrem Han-
deln eine Form des Widerständigen finden, was sich in der Organisation des Hau-
ses querlegt. Elena wiederum macht unterschiedliche Gruppen im Haus aus, die
unterschiedliche Grade oder Qualitäten an Aktivitäten im Haus entfalten, aber
diese Aktivitäten in ihrer Unterschiedlichkeit das Gemeinsame des Hauses erge-
ben. Was als passiv bei Sandra erscheint, ist dann bei Elena eben auch eine Akti-
vität im Haus. Markiert Sandra dies als Konfliktlinie und Elena als unterschiedli-
che Bewegungsformen, bilden beide im Kontrast ein Spannungsfeld, welches sich
selbst als ein Ringen um die Möglichkeiten und Begrenzungen des Möglichen im
Haus zeigt. In dieser Dynamik bestimmt sich dann die Differenz und der Zusam-
menhalt als bewegliche Grenzen zwischen innen und außen, die sich in solchen
konflikthaften Prozessen ständig verändern und in den Auseinandersetzungen im-
mer wieder neu gezogen werden.
Drittens: Janek Niggemann stellt die Frage: „Wer genau bildet die Gruppen
und verschafft ihnen ein Bewusstsein ihres Platzes, ihrer Möglichkeiten und ihrer
Begrenzungen?“ (ebd.: 64). Mit Gramsci verweist er auf die Perspektive: „Alle
Menschen sind Intellektuelle, könnte man daher sagen; aber nicht alle Menschen
haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen“ (GH 7: 1500). Weiter
vorn im Text, z. B. in meinen Überlegungen zu Hegemonie – Verhältnisbestim-
mung bei Gramsci, bin ich kurz auf das Verständnis von Intellektuellen bei
Gramsci eingegangen. Ich möchte aber einen weiteren Gedanken von Gramsci
aufgreifen. Er schreibt: „Jede gesellschaftliche Gruppe schafft sich, während sie
290 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess
auf dem originären Boden einer wesentlichen Funktion in der Welt der ökonomi-
schen Produktion steht, zugleich organisch eine oder mehrere Schichten von In-
tellektuellen, die ihre Homogenität und Bewusstheit der eigenen Funktion nicht
nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich
geben“ (GH 7: 1497). Im Grunde bilden, „trotz Behinderungen“, auch die Subal-
ternen „ihre [eigenen] Intellektuellen aus“ (Hirschfeld 2015b: 102).199 Gramsci
spricht in diesem Zusammenhang vom „organischen Intellektuellen“, der sich aus
dem kulturellen Zusammenhang oder, mit Negt und Kluge gesprochen, auch aus
dem „Rohstoff des Politischen“ formt. Entscheidendes Kriterium der intellektuel-
len Tätigkeit ist nicht die Masse an Wissensproduktion, sondern die „sozial orga-
nisierende Funktion“ (ebd.: 103). In diesem Sinne wäre dann ein organischer In-
tellektueller eine Vertretung der Gruppe, aus der er sich bildet oder, besser, die ihn
im Laufe ihrer Auseinandersetzungen hervorbringt. Diese Form des Intellektuel-
len wäre dann das Ergebnis kollektiver Prozesse. Dieser Intellektuelle vertritt
diese Gruppe nach außen und organisiert gleichzeitig einen Zusammenhalt und
das Selbstverständnis der Gruppe nach innen.
Ich möchte den Gedanken von Gramsci als Anregung aufnehmen und den
Begriff des Intellektuellen in Orientierung entlang der organisierenden Funktion
nutzen, um meine Interpretation der Interviews weiter zu differenzieren. Unter
diesem Blickwinkel ergeben sich zwei unterschiedliche Dimensionen. Beim Blick
auf die Eingangsgedanken zu meiner Interpretation der Interviews ist mir vor al-
lem die Aktivität der Leute im Kontext der Gartenlaube und am Lagerfeuer auf-
gefallen. Das Besondere ist dort ihre Interaktion. Wie ich herausgearbeitet habe,
ist das Spezifische ein wechselseitig anregender Austausch, der in doppelter Weise
einen Zusammenhang erzeugt. Bei Oskar Negt habe ich den Begriff des Zusam-
menhangbildens gefunden. Ich möchte diesen Begriff an dieser Stelle eher als Bild
begreifen. Blicke ich beispielhaft auf die Interpretation des Gedankens von Negt
durch Klaus-Peter Hufer für die politische Bildung, fällt auf, dass Hufer den Ge-
danken von Negt, Zusammenhänge herzustellen, zwar als Arbeit des exemplari-
schen Lernens begreift, das Herstellen von Zusammenhängen dabei aber auf eine
kognitive Angelegenheit einer herauszubildenden Urteilskraft durch die Einzelnen
reduziert (vgl. Hufer 2014: 233 f.). Möglicherweise hat es Negt auch im Sinne
von Hufer so gemeint. Ich habe hier Oskar Negt aber anders gelesen. Ein sinnli-
ches Begreifen der Welt, wie es Negt fordert und wie ich es verstehe, baut auf die
Herstellung von Zusammenhang, auf die Verknüpfung der Einzelnen mit anderen
in einem Miteinander eines kollektiven Zusammenhangs. Im Plural der unter-
schiedlichen Weltauffassungen bilden sich dann das Gemeinsame einer sich stän-
dig verändernden und entwickelnden Urteilskraft, die geteilten Grundlagen ge-
199 Bei Uwe Hirschfeld heißt es differenzierter: „So bilden auch, trotz Behinderungen, die Arbeiter-
klasse und andere subalterne Klassen ihre Intellektuellen aus“ (Hirschfeld 2015b: 102).
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 291
meinsamen Handelns, das „gemeinsame Dritte“ als geteilter Sinn und im Prozess
der Wechselseitigkeit auch die individuelle Persönlichkeit. Mit Blick auf die
Gruppe vom Lagerfeuer und der Gartenlaube wird dies als eine Dimension kol-
lektiver Vergesellschaftung besonders deutlich. Der wechselseitig anregende Aus-
tausch, die Zugänglichkeit dieses Zusammenhangs, die dabei hervorgebrachten
Verbindungen zwischen den Einzelnen und die daraus folgende Formung von An-
sprüchen eines kulturellen und politischen Handelns „von unten“, sind als ein kol-
lektiver Akt zu interpretieren, dessen Besonderheit darin besteht, gemeinsam eine
Idee zu entwickeln, sich gemeinsam zu organisieren, kurz: gemeinsam die Form
eines kollektiven Intellektuellen zu bilden. Der kollektive Intellektuelle bezeich-
net hier auch eine Form der (Erfahrung von) Gleichheit, bei der die Einzelnen in
der Tendenz ihre individuellen Erfahrungen und Perspektiven auf gemeinsame
Fragen einbringen, ohne in einer hierarchischen Ordnung des Bescheidwissens
aufgetrennt zu werden. Mit dem kollektiven Intellektuellen bezeichne ich damit
eine (oder diese) spezifische Form von kooperativer Vergesellschaftung, wie sie
in den Interviews als Zusammenhang der Gartenlaube und des Lagerfeuers von
den Interviewten unterstrichen worden ist. In diesem Zusammenhang tritt die Füh-
rung durch Einzelne, die die Gruppe nach außen vertreten und einen Zusammen-
halt, das Selbstverständnis nach innen, organisieren, in den Hintergrund. In den
Vordergrund rückt die gemeinsame, solidarisch-kooperative Vertretung oder, wie
es Markus ausgedrückt hat: „Wenn irgendwas unterschrieben werden musste, kam
immer erst mal die Frage, wer hat denn hier den Hut auf? Und da haben wir erst
einmal gesagt, ja, eigentlich alle“ (Ma: 32-34). Die Brechung gesellschaftlicher
Hierarchien – für mich eine sehr wichtige und wertvolle Erfahrung mit dem Text
der Interviews. Solche Momente ereignen sich durch die skizzierten Widersprüch-
lichkeiten hindurch und sind möglich.
Hiervon zu unterscheiden wäre eine zweite Dimension. Diese wird deutlich,
wenn die Interviewten über ihre Konflikte und Probleme mit der Selbstorganisa-
tion oder, besser, mit der Formierung ihrer Gruppe zum Verein berichten. Zwei
Momente habe ich aus ihren Erzählungen mitgenommen. Die Interviewten spre-
chen von einer Hierarchisierung im Zusammenhang mit dem Aufbau des Vereins.
Mit dem Verein als Basis bilden sich dann auch unterschiedliche Funktionen her-
aus, die den kollektiven Zusammenhang in einer Hierarchie organisieren. Auch
hier noch einmal Markus: „Der Chef und der Rest“ (Ma: 338). Darüber hinaus
organisieren sich im Haus die verschiedensten Leute, wie ich es oben am Beispiel
von Sandra und Elena noch einmal deutlich gemacht habe. Verallgemeinernd or-
ganisieren sich die Leute im Haus arbeitsteilig. Einzelne übernehmen notwendige
Funktionen, um den Gesamtzusammenhang am Laufen zu halten. In diesem Zu-
sammenhang möchte ich von arbeitsteiligen Intellektuellen sprechen. Diese ent-
wickeln zwei verschiedene Formen. Zum einen bekommen Einzelne die Funktion
292 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess
einer Vertretung der Leute des Hauses nach außen. Auch hier gibt zwei unter-
schiedliche Qualitäten: die eher zwanghaft der Organisation als Verein geschul-
dete Vertretung als Vorsitzender oder als Vorstandsmitglied des Vereins, die etwa
laufende Geschäfte des Vereins und die Verwaltung des Hauses organisiert. Dann
die Vertretung der Leute des ganzen Hauses, die zum Beispiel als Delegierte die
Leute des Hauses im Stadtrat vertreten. Sodann die Form der Organisation des
Zusammenhaltes und des Selbstverständnisses nach innen. Auch hier gibt es die
zwanghafte Seite, die etwa Sandra mit dem Beispiel der „Sterni-Leute“ oder etwa
Martin mit dem Zwang zur Verantwortung für das Ganze („Beim Verein ist halt
immer das Problem, du bist im Zwang“, M/b: 1227) verdeutlichen. Und hiervon
wieder zu unterscheiden ist, die Form einer freiwilligen Verantwortung für das
Ganze, wie sie etwa am Beispiel von Thomas deutlich wird, wenn er einen infor-
matorisch-organisatorischen Knotenpunkt bei der Organisation des Punk-Konzer-
tes im Haus bildet. Im Grunde verkörpern die arbeitsteiligen Intellektuellen einen
vielschichtigen sozialen Zusammenhang, bei dem verschiedene Ebenen in eine
hierarchische Ordnung geraten. An diesem Punkt entsteht dann spaltendes, kon-
flikthaftes Potenzial, wenn die verschiedenen Ebenen keine wirksamen Mittel fin-
den, sich anders als von oben herab zu organisieren. Wie schwierig dies sein kann,
davon haben die Interviewten erzählt. In der konkreten Situation nämlich, sind
diese Überschneidungen nicht unmittelbar zu begreifen; vielmehr stehen sich dort
unterschiedliche Interessenlagen als scheinbar unterschiedliche Anliegen fremd
gegenüber. Ihr Bezug zum Gesamtzusammenhang ist aufgrund der arbeitsteiligen
Organisation nicht unmittelbar nachvollziehbar.
Die Interviewten sprechen davon, dass sie im Verein darum bemüht gewesen
seien, bei allen skizzierten Problemen ihre Selbstorganisation durch eine Art „Ba-
sisdemokratie“ zu stützen. Interessant ist dieser Punkt deshalb, weil „Basisdemo-
kratie“ das einzige Stichwort ist, bei dem meine Gesprächspartner*innen das Wort
Demokratie in den Mund genommen haben. Und es wird eine Unterscheidung
deutlich, auch zu den theoretischen Konzepten von Demokratie, die ich weiter
vorn diskutiert habe.
Sie verstehen Basisdemokratie als einen Prozess, der sich verändert, nie
gleich ist, aber dessen roter Faden die Demokratisierung dessen ist, was sie zu-
sammen entwickeln. Oder anders: Gemeint ist damit auch die Art und Weise, ge-
meinsame Entscheidungsfindungen zu erfinden und die sich daraus entwickelnden
Formen für ihre Selbstorganisation als Werkzeuge zu gebrauchen, ohne auf diese
endgültig festgelegt zu sein, sowie gleichzeitig darum zu wissen, dass diese immer
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 293
verändert werden müssen. Das Lebendige und die Offenheit eines solchen Prozes-
ses zu erhalten, drückt eine Interviewte wie folgt aus: „gemeinsam darauf geeinigt
…, dass jede Person gehört wird und sagen kann, was er oder sie für wichtig hält
in dem Moment und haben dann halt gemeinsam geguckt irgendwie, wie sich das
realisieren lässt. Und dann haben wir uns wie so ein Ideal auch erarbeitet, also
indem wir geguckt haben, was ist uns wichtig und was wollen wir nicht, nämlich
dass nur die Lautesten reden und dann über alle anderen bestimmen, sondern wir
wollen gemeinsam entscheiden, wo es hingehen soll, was wir machen wollen“ (E:
486-500).200
Eine empathische Interpretation dieser Orientierung kann so übersetzt wer-
den, dass die Bedingung der „Freiheit eines jeden immer die Freiheit der Anderen“
zum Maßstab hat, und, weiter empathisch gedacht, in dieser Überlegung liegt die
Möglichkeit einer Vorstellung davon, dass dies nur mit einer Emanzipation der
Einzelnen gelingen kann. Kern des Gedankens ist aber, dass im Wissen um diese
Bedingtheit die Notwendigkeit einer Praxis besteht, dass diese Idee der Freiheit
eine praktisch gelebte sein muss.
Diese Perspektive unterscheidet sich deutlich von einer Idee von Basisdemo-
kratie, bei der die Vielen als Einzelne verbleiben und im Glauben eines vermeint-
lich gemeinsamen (feststehenden) Willens einfach nur (aus)wählen und in diesem
Sinne zwar aktiv sind, aber passiv bleiben.
Der hier angedeutete Gedanke zur Basisdemokratie gewinnt auch gerade mit
der weiter vorn skizzierten Mahnung von Heydorn zum Stichwort der Bildungs-
institutionen eine tiefere Bedeutung. Heydorn weist darauf hin, dass „[d]ie Bil-
dungsinstitution … nicht nur eine wichtige Komponente der Gesellschaft“ und
„ihr bedeutungsvollster Zubringer“ sei, sondern sie ermögliche „auch einen eige-
nen verändernden Beitrag, der unauswechselbar sei. Dieser Beitrag darf nicht
aus der Institution zurückgezogen werden, er kann auf gleiche Weise an keiner
anderen Stelle geleistet werden“ (Heydorn 2004: 131). Hieraus ergibt sich die Not-
wendigkeit einer Demokratisierung vorhandener Institutionen und ihrer ausgebil-
deten Verfahrensweisen. Die Perspektive ist eine „gemeinsame Regelung der ge-
sellschaftlichen Angelegenheiten“, welche sich nicht auf „den Punkt der Entschei-
dung“ reduzieren lassen, sondern gleichzeitig „öffentliche Verständigungspro-
zesse“ voraussetzen (Hirschfeld 2007: 6). Jürgen Ritsert spricht in diesem Zusam-
menhang in vergleichbarer Weise von „reflexiven Institutionen“. In Orientierung
an Hegels anerkennungstheoretischen Überlegungen formuliert er: „Für kritische
Theoretiker bemisst sich die Qualität von Institutionen nicht allein an ihrer Effizi-
enz im Sinne der Funktionstüchtigkeit. Sie bewerten sie im Kontext von Anerken-
nungsverhältnissen. ,Anerkennung‘ liest sich auf dieser Stufe als institutionelle
200 Auch hier habe ich die schon weiter vorn zitierte Passage eingekürzt.
294 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess
Bestätigung des freien Willens“ (Ritsert 2007: 65). Und weiter: „Als ,reflexiv‘
kann eine Institution mithin erst dann gelten, wenn und insoweit sie den freien
Willen der Einzelnen, seine Empathie sowie anerkennende Interaktionen mit ih-
rerseits selbstständigen Anderen unterstützt und nicht untergräbt. Als ,repressiv‘
wäre eine Institution von daher dann zu kritisieren, wenn sie Autonomie, damit
die Würde des Subjekts in Frage stellt oder gar zerstört“ (ebd.: 64). Eine Spur
dieses Gedankens findet sich im Anspruch von Basisdemokratie, wie er von den
Interviewten formuliert worden ist.
Ein erster Punkt: Die in meiner Arbeit nur umrissenen Prozesse der Selbstorgani-
sation möchte ich skizzenhaft in Anlehnung an Timm Kunstreich und Michael
May als eine Bildung des Sozialen und eine Bildung am Sozialen verstehen (vgl.
Kunstreich/May 1999). Das Besondere hierbei ist, dass, wie ich aufgezeigt habe,
die Akteure der Initiative anders Lernen, „nicht auf die gleiche Weise wie die Be-
rufsintellektuellen“ (Niggemann 2016: 62) oder wie es Paulo Freire (1973) mit
dem Begriff der „Bankiers-Methode“ bzw. Horst Rumpf (2010) als eine Art des
„Bescheidgebens“ kritisieren. Im Unterschied zu hierarchisierenden, belehrenden
Lernformen bestehen die Lernprozesse der von mir untersuchten Gruppe „im Aus-
handeln der Gemeinsamkeiten und Unterschiede [ihrer eigenen] Interessen, Be-
gehren und Perspektiven“ (Niggemann 2016: 62). Gemeinsames Handeln im
Sinne einer erweiterten Handlungsfähigkeit entwickelt sich aus der Herstellung
von Zusammenhängen, aus den Auseinandersetzungen um die Dinge, denen sie
eine Bedeutung beimessen. Mit Heinz Sünker (1989) kann man dies als eine mäeu-
tische, in den Alltag eingelassene Praxis interpretieren.
Und ein zweiter Punkt: Die Erzählungen der Interviewten zusammengedacht
machen auf gelingende Momente und Widersprüche der Selbstorganisation auf-
merksam. Vor allem die Widersprüche erweisen sich als wichtige Konfliktfelder,
die sich verallgemeinernd als Lernfelder verstehen lassen. Die unterschiedlichen
Positionen der Akteure zeichnen aufeinander bezogen ein dynamisches Feld, in-
nerhalb dessen sie sich als Teile einer gemeinsamen Initiative bewegen. Sie sind
gezwungen, dieses Feld zu erschließen, kennenzulernen, um sich zum einen über-
haupt in diesem Feld bewegen sowie zum anderen das Feld als Werkzeug ihrer
Anliegen über sich selbst hinaus nutzen zu können. Wenn dies ein Lernfeld ist, so
kann man mit Bertold Brecht davon sprechen, dass es darum geht, ein „Operieren
mit Antinomien“ zu (er)lernen (vgl. Haug 2008: 27). Damit weisen die Leute in
den Interviews auf ein zentrales Moment einer Bildungsnotwendigkeit hin, die
sich aus der Perspektive „from below“ ergibt (und an dem sich [kritische] politi-
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 295
sche Bildung zu messen hat). Entscheidend finde ich, ist hierbei die Anmerkung
von Brecht, dass der Konflikt nur als praktisch dialektischer Zusammenhang kon-
struktiv zu handhaben sei, indem die Leute lernen, Widersprüche zu verstehen,
lernen, in Widersprüchen zu handeln oder eben „mit Antinomien operieren zu
können“ (vgl. ebd.). Dieser Gedanke ist m. E. als ein bestimmendes Moment po-
litischer Bildung aufzunehmen. Hier kann der Bildungsprozess kein isoliert kog-
nitiver sein, in Didaktik oder Lehrpläne eingeschlossen werden, sondern kann nur
als gemeinsames Projekt (von Bildungsarbeiter*innen und Subalternen) vom
Standpunkt der Subalternen formuliert und dann von dort aus vor allem gemein-
sam praktiziert werden.
Literatur
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