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Politische Bildung

Friedemann Affolderbach

Öffentlichkeit von
Unten
Demokratie, Öffentlichkeit
und Politische Bildung
Politische Bildung

Reihe herausgegeben von


Carl Deichmann, Institut für Politikwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität
Jena, Jena, Thüringen, Deutschland
Ingo Juchler, Lehrstuhl für Politische Bildung, Universität Potsdam, Potsdam
Brandenburg, Deutschland
Die Reihe Politische Bildung vermittelt zwischen den vielfältigen Gegenstän-
den des Politischen und der Auseinandersetzung mit diesen Gegenständen in
politischen Bildungsprozessen an Schulen, außerschulischen Einrichtungen und
Hochschulen. Deshalb werden theoretische Grundlagen, empirische Studien und
handlungsanleitende Konzeptionen zur politischen Bildung vorgestellt, um unter-
schiedliche Zugänge und Sichtweisen zu Theorie und Praxis politischer Bildung
aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. Die Reihe Politische Bildung wendet
sich an Studierende, Referendare und Lehrende der schulischen und außerschuli-
schen politischen Bildung.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13420


Friedemann Affolderbach

Öffentlichkeit von Unten


Demokratie, Öffentlichkeit und
Politische Bildung
Friedemann Affolderbach
Leipzig, Deutschland

D30 - Der vorliegende Text des Buches wurde als Dissertation unter dem Originalti-
tel „Öffentlichkeit von Unten? – Demokratie, Öffentlichkeit und Politische Bildung –
Möglichkeiten und Grenzen von Selbstorganisation sozialer Bewegungen am Beispiel
einer (kommunalen) antirassistischen Initiative“ am Fachbereich Erziehungswissen-
schaften an der Goethe Universität Frankfurt am Main eingereicht. Die Disputation der
Arbeit erfolgte am 12.06.2018.

Gutachter*innen:
Erstgutachterin: Prof. Dr. Helga Cremer-Schäfer
Zweitgutachter: Prof. Dr. habil. Michael May
Drittgutachter: Prof. Dr. habil. Heinz Sünker

ISSN 2570-2114 ISSN 2570-2122  (electronic)


Politische Bildung
ISBN 978-3-658-27524-2 ISBN 978-3-658-27525-9  (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9

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Inhalt

Vorbemerkung .................................................................................................... 1

1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien ............................................. 5


1.1 Demokratie als Methode (elitärer Führung) bei Joseph A.
Schumpeter ........................................................................................... 6
1.2 Zu einer ersten Kritik an Schumpeter ................................................. 10
1.3 Zu einer zweiten Kritik an Schumpeter .............................................. 11
1.4 Volkssouveränität ............................................................................... 17
1.4.1 Das Staatsvolk und die Menschenrechte ..................................... 17
1.4.2 Agambens „nacktes Leben“ als Passivierung ............................. 19
1.4.3 Widerständiges als Zirkulation im Raum des Politischen ........... 20
1.4.4 Souveränität in der Perspektive einer befreiten Gesellschaft ...... 22
1.5 Begriff eines Politischen von unten .................................................... 26

2 Normative Demokratietheorien ............................................................... 29


2.1 Benjamin Barber – das Politische starker Demokratie........................ 31
2.1.1 Kritik des Liberalismus ............................................................... 32
2.1.2 Politisches Handeln als Eigenaktivität und Selbstzweck ............ 34
2.1.3 Politisches Handeln und Öffentlichkeit ...................................... 35
2.1.4 Das Dialogische .......................................................................... 36
2.1.5 Aktives Handeln als Bürgerschaft............................................... 36
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform .......... 39
2.2.1 Krisenherde des gegenwärtigen Kapitalismus ............................ 40
2.2.2 Spaltung der Welt – erste und zweite Ökonomie ........................ 43
2.2.3 Urteilskraft als Notwendigkeit für „wirkliches“ Handeln zur
Realisierung eines demokratischen Gemeinwesens .................... 45
2.2.4 Das Zwischen als Verhältnis reflexiver Urteilskraft ................... 46
2.2.5 Herstellung von Zusammenhang ................................................ 47
2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede – Demokratie als Lebensweise
bei Benjamin Barber und Oskar Negt ................................................. 48
2.3.1 Weitung des Gedankens – Aspekte der Spannung zwischen
institutionalisierten Prozessen, Bildung und konstitutivem
politischen Handeln .................................................................... 54
2.4 Erfahrung als Impuls von Handeln ..................................................... 57
VI Inhalt

2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und


Oskar Negt – zum Verhältnis von Handeln, Macht und
Handlungsfähigkeit ............................................................................. 62
2.5.1 Zu Widersprüchen des Handlungsbegriffs im Anschluss an
Hannah Arendt ............................................................................ 62
2.5.2 Handeln und Macht ..................................................................... 64
2.5.3 Empathische Lesarten von Macht bei Arendt und deren
Bedeutung für Handeln ............................................................... 65
2.5.4 Trennung des Politischen von der Gesellschaft und dessen
Bedeutung für Handeln ............................................................... 68
2.5.5 Zweck und Sinn von Handeln ..................................................... 69
2.5.6 Erweiterte Handlungsfähigkeit als Potenz von
Selbstorganisation in der Perspektive von unten –
Verhältnis zwischen Macht und Handlungsfähigkeit.................. 70
2.5.7 Exkurs zum Stichwort Handeln – das gemeinsame Dritte .......... 73
2.5.8 Erweiterte Handlungsfähigkeit im Widerspruch von
Selbstbestimmung und Passivierung – Notwendigkeit von
Bildung ....................................................................................... 75
2.5.9 Aspekt zur Gewalt als gesellschaftliches Verhältnis................... 77
2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt ............. 78
2.6.1 Zivilgesellschaft im Anschluss an Barber ................................... 78
2.6.2 Zivilgesellschaft (und Hegemonie) im Verständnis Antonio
Gramscis ..................................................................................... 81
2.6.3 Spaltung der Welt bei Negt ......................................................... 82
2.7 Weitung des Blicks ............................................................................. 87
2.7.1 Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus als Problem
gesellschaftlicher Arbeitsteilung ................................................. 87
2.7.2 Zum Verhältnis von Demokratie und Ökonomie ........................ 88
2.7.3 Demokratie und Arbeitsteilung – ideologietheoretische
Vertiefung ................................................................................... 90
2.7.4 Neoliberalismus als Spannungsfeld gesellschaftlicher
Transformationsprozesse und deren Bedeutung für Demokratie
und Öffentlichkeit ....................................................................... 93
2.7.5 Exkurs: Struktureller Populismus – populistisches
Deutungsmuster Rechtsextremismus und Widersprüche
Rassismus ................................................................................... 97
2.7.6 Rechtsextremismus als populistisches Deutungsmuster ............. 98
2.7.7 Dimensionen von Rassismus .................................................... 100
Inhalt VII

3 Öffentlichkeit........................................................................................... 107
3.1 Begriffsgeschichte Öffentlichkeit ..................................................... 107
3.2 Öffentlichkeitskonstruktion in der Gegenwart .................................. 110
3.3 Kritiken am normativen Verständnis von Öffentlichkeit .................. 114
3.3.1 Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft ........ 114
3.3.2 Öffentlichkeit versus Öffentlichkeiten ...................................... 118
3.3.3 Gegenöffentlichkeit – Dialektik von Öffentlichkeit und
Gegenöffentlichkeit .................................................................. 120
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie ...................... 123
3.4.1 Hegemonie = Herrschaft? ......................................................... 123
3.4.2 Hegemonie – Verhältnisbestimmung bei Gramsci.................... 124
3.4.3 „Kulturelle Unterscheidung“ – Gegenöffentlichkeit als
Wirkungszusammenhang von Bildung ..................................... 126
3.4.4 Gegenöffentlichkeit als Praxis von Bildung –
Alltagsverstand und Urteilskraft als Potenz von
Handlungsfähigkeit ................................................................... 128

4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale „räumlich Praxis“ ........... 133

5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren ........ 139


5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise –
„Dokumentierende Interpretation“ und „Arbeitsbündnis“ ................ 139
5.1.1 Meine Arbeit mit den Interviews zur Gewinnung einer
Perspektive „von unten“ ........................................................... 139
5.1.2 Dokumentierende Interpretation ............................................... 145
5.1.3 Zur Bedeutung vom „Arbeitsbündnis“...................................... 149
5.1.4 Die Interviews ........................................................................... 152
5.2 Sich selbst organisieren..................................................................... 168
5.2.1 Entwicklung als Gruppe – was zusammenführt und
zusammenhält ........................................................................... 168
5.2.1.1 Gemeinsam an Politik interessiert ......................................... 169
5.2.1.2 Freundschaft – freundschaftliches Verhältnis ....................... 174
5.2.2 Geteilte Erfahrungen ................................................................. 180
5.2.2.1 Gartenlaube und Lagerfeuer – die Gruppe als solidarischer
Zusammenhang ..................................................................... 181
5.2.3 Zur Bedeutung von „anders zusammenleben“ und
„gegen Nazis sein“ .................................................................... 189
5.2.3.1 Vorbemerkung – Arbeitsbündnis .......................................... 189
5.2.3.2 Anders zusammenleben ........................................................ 194
5.2.3.3 „Gegen Nazis sein“ – „Nazis sind scheiße“ .......................... 202
VIII Inhalt

5.2.3.4 Die Einigen|Nazis sind scheiße|zu Problemen,


„etwas dagegen zu sagen“ ..................................................... 212
5.2.4 Eine „Basis“ sich zusammenzutun –
Bedeutungszusammenhang Verein ........................................... 218
5.2.5 Verein – Zu den Problemen von Arbeitsteilung und
Hierarchisierung im Haus – Spaltung und Konflikte ................ 247
5.2.5.1 „Wir als Verein“ und die „Sterni“-Leute – unterschiedliche
Gruppen und ihre Konflikte .................................................. 247
5.2.5.2 „Beim Verein ist halt immer das Problem, du bist im
Zwang“ – Verantwortung und Zuspitzung von Konflikten... 251
5.2.6 Innen und außen – Politik „von oben“ ...................................... 257
5.2.7 Stadtrat oder: „[E]s hat ja plötzlich so eine ganz seltsame
Ebene auch angenommen, die dort eigentlich überhaupt
nichts zu suchen hatte“.............................................................. 262
5.2.7.1 Nachsätze zum Arbeitsbündnis – Problematisierung –
Mobile Beratungsarbeit mit antirassistischer Initiative,
Polizei und Stadtrat ............................................................... 272
5.2.7.2 Weitere Nachsätze zum Arbeitsbündnis –
Problematisierung – Mobile Beratung als Intervention
und Governance .................................................................... 278

6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess .. 283

Literatur .......................................................................................................... 297


Sonstige Quellen ........................................................................................... 310
Internet-Quellen ............................................................................................ 310
Vorbemerkung

Diese Arbeit stellt die zentrale Frage, inwieweit Öffentlichkeit ein Ermöglichungs-
raum für Formen emanzipatorischer Selbstorganisation von Menschen darstellen
kann. Kritischer Reibungspunkt ist dabei die Feststellung von Alex Demirovic,
dass der Begriff Öffentlichkeit entgegen den Annahmen aktueller Demokratiethe-
orien über ein erheblich geringeres emanzipatorisches Potenzial verfüge, als diese
unterstreichen würden (vgl. Demirovic 1997: 170). Die in dieser Überlegung ent-
haltene Kritik verweist auf Öffentlichkeit als ein Instrument von Herrschaft zur
Erzeugung von Hegemonie. Anknüpfend hieran werden in dieser Arbeit das Span-
nungsfeld von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit, die Formen der Entfaltung
sowie Blockierung subjektiver und kollektiver Handlungsfähigkeit am empiri-
schen Beispiel untersucht. Die dabei erkennbaren Reibungsflächen und Konflikt-
felder zeichnen Formen von Selbst- bzw. Fremdbestimmung der Individuen und
sind Ausdruck des Ringens um Hegemonie.
Der Ursprung meiner Forschungsarbeit liegt einige Jahre zurück. Damals ar-
beitete ich bei einem Mobilen Beratungsteam und war als Berater für Demokra-
tieentwicklung in verschiedenen Landkreisen in Sachsen unterwegs. In diesem
Zusammenhang begegnete ich folgender, kurz zu skizzierender Situation und ei-
ner Gruppe Jugendlicher, die sich als antirassistische Initiative gründete. Die
Kleinstadt (X) wurde in jüngerer Vergangenheit Ort eines Übergriffs auf „Auslän-
der“.1 Im Rahmen eines Stadtfestes kam es zu einem gewalttätigen Übergriff und
einer Verfolgung sowie schweren körperlichen Misshandlungen dieser Leute. Das
Spezifische der Situation war, dass die Gruppe der Verfolger aus ca. 80 Menschen
unterschiedlichen Alters und Geschlechts bestand, die allesamt zu den „normalen“
Bürgern der Stadt zählten.
Aufgrund der gewalttätigen Stimmung wurde das Ereignis deutschlandweit
und international bekannt. Diese umrissene Situation bildete den Hintergrund für
die Intensivierung meiner Kontakte zu den jungen Leuten aus (X), die sich kritisch

1 Den Namen der Kleinstadt habe ich mit (X) verfremdet. Außerdem habe ich die tatsächliche
Herkunft der Betroffenen weggelassen, um deren Anonymität zu wahren. Weiterhin benutze ich
an dieser Stelle den Begriff der „Ausländer“, weil er auf ein spezifisches Moment von Rassismus
aufmerksam macht, welches beim Übergriff auf dem Stadtfest eine zentrale Rolle gespielt hat.
Hiermit meine ich ein Moment der Abgrenzung, einer Unterscheidung zwischen „Wir hier “ und
„den anderen“, anders gesprochen, es geht darum, „sich der eigenen Besonderheit […] durch
Abgrenzung von anderen zu vergewissern“ (Osterkamp 1996: 181).

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F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_1
2 Vorbemerkung

mit Rassismus und dem geschilderten Übergriff auseinandersetzen wollten. Um


dieser Entwicklung zu begegnen, entschloss sich die Gruppe dazu einen Verein zu
gründen, um sich in unterschiedlichen Themenfeldern wie Rassismus, Rechtsext-
remismus und Jugendarbeit in der Stadt zu engagieren.2 In ihrem Selbstverständnis
sahen sie sich als eine demokratiefördernde, antirassistische Initiative. Mit Grün-
dung der Gruppe und später mit Gründung des Vereins spitzte sich die Situation
in besonderer Weise zu. Es kam zu Übergriffen auf die jungen Leute des Vereins.
Sie wurden verfolgt und wurden Opfer körperlicher Gewalt. Gleichzeitig versam-
melte sich eine aufgebrachte Menschenmenge vor dem Vereinshaus und versuchte
in das Gebäude einzudringen, warf mit Steinen und Flaschen auf das Haus des
Vereins und brüllte Parolen gegen die Initiative. Diese Situation wiederholte sich
über ca. drei Monate an allen Wochenenden täglich. Auffällig in diesem Rahmen
war das breite Schweigen der Politik und der Bevölkerung, verbunden mit einem
öffentlichen Abwiegeln der Situation seitens des Bürgermeisters. Die Jugendli-
chen versuchten, ihre Sichtweisen und Deutungen auf die Ereignisse in der Öf-
fentlichkeit zu platzieren, um das Schweigen aufzubrechen. Ihr Ringen um öffent-
liche Wahrnehmung, durch Herstellung von Öffentlichkeit mit Gegenöffentlich-
keit, endete in der Blockade und Abwehr des artikulierten Anliegens durch die
Umwelt. Letztlich gaben die jungen Leute nach ca. 4 Jahren ihr Engagement vor
Ort und den Verein auf. Die hier kurz geschilderte, von mir subjektiv interpretierte
Episode, verweist auf enge Spielräume und harte Auseinandersetzungen um den
Raum des Öffentlichen und eine Einschränkung öffentlicher Erfahrungsorte zur
Thematisierung von Problemen allgemeinen Interesses. Die in diesem Kontext
von den Jugendlichen gemachten, in den Verlauf des Alltags eingeschriebenen
Erfahrungen mit Formen gesellschaftlicher Regulation verweisen auf die Ausei-
nandersetzung um Hegemonie. Gleichzeitig sind es in diesen Formen liegende
Grenzen, die die Handlungsfähigkeit der Jugendlichen und deren Selbstorganisa-
tion herausgefordert haben. Die in den Erfahrungen der jungen Leute eingelasse-
nen Wahrnehmungen und Deutungen der erlebten Prozesse und die daraus ge-
wachsene Form der Selbstorganisation in einer Initiative sind, so meine Hypo-
these, gleichzeitig ein Abbild von (Selbst-)Bildungsprozessen, deren Vorausset-
zung in der Bildung von Zusammenhängen liegen und aus dem „Rohstoff des Po-
litischen“3 wachsen.
Ich möchte noch eine kurze Bemerkung zur Gliederung meiner Arbeit ma-
chen. Im Grunde gliedert sich meine Arbeit in zwei Teile. Im ersten Teil liegt der
Fokus auf „Dem Reden über Demokratie“. Im Mittelpunkt dort stehen meine Aus-
einandersetzung mit Demokratietheorien und theoretische Überlegungen zum

2 Auf genaue zeitliche Angaben (Gründung der Gruppe, des Vereins, Zeitpunkt der Übergriffe
etc.) habe ich aus Gründen der Anonymisierung in dieser Arbeit verzichtet.
3 Negt/Kluge 1993, 32.
Vorbemerkung 3

Themenfeld der Öffentlichkeit. Zu den Demokratietheorien ist zu sagen, dass ich


zwei wesentliche Muster des Diskurses ausgemacht habe. So kommt es, dass ich
„empirisch-funktionale Demokratietheorien“ von „normativen Demokratietheo-
rien“ unterscheide. In diesem Zusammenhang habe ich auf zwei Dinge verzichtet.
Zum einen habe ich mich in dieser Arbeit nicht mit der Frage neuer Medien und
Demokratie beschäftigt. Dieses Themenfeld muss an einer anderen Stelle vertieft
und ausgearbeitet werden. Zum anderen habe ich auch den Diskurs um die Post-
demokratie ausgelassen. Dies möchte ich noch kurz begründen. Ich teile die Sicht-
weise von Alex Demirovic, der feststellt, dass die Demokratie „keineswegs durch-
gängig geschwächt“ ist, wie es „die These von der Postdemokratie nahelegt“
(2016: 287). In der Fokussierung auf die Schwächung der Demokratie geht m. E.
der Blick (der Theorie) auf diejenigen Initiativen verloren, wie ich sie hier z. B. in
meiner Arbeit vorstelle. Ich habe mich deshalb dafür entschieden, in meiner Arbeit
nicht über Colin Crouch (2008)4 und seine Analyse der gegenwärtigen Demokratie
zu schreiben. Stattdessen habe ich mich mit den Überlegungen von Oskar Negt
zur „Demokratie als Lebensform“ auseinandergesetzt. Auch Negt geht auf einen
krisenhaften Charakter der gegenwärtigen Demokratie ein. Im Unterschied zu
Crouch aber entwickelt Negt eine Idee davon, wie demokratische Zusammen-
hänge in der Krise neu gedacht werden müssten und wie diese gleichzeitig als eine
Praxis der Herstellung von Zusammenhängen vorstellbar werden könnte. Der
letzte Punkt ist mit Blick auf die von mir untersuchte Initiative von zentraler Be-
deutung, wenn es darum geht, in den alltäglichen Zusammenhängen und Wider-
sprüchen eine Handlungsfähigkeit „von unten“ zu entwickeln. Darüber hinaus hat
Negt in seinen Überlegungen den Begriff des Handelns von Hannah Arendt auf-
gegriffen und mit der Idee der Erweiterung von Erfahrungsräumen verknüpft. Die
von Negt aufgenommene normative Fassung des Begriffs hat allerdings Grenzen.
Mit Blick auf das Handeln der Leute von der Initiative erweist sich ein normativer
Begriff des Handelns als Beschränkung, in dem Sinne, zu wissen, was richtiges
Handeln sei. Hier ging es mir darum, einen kritischen Begriff zu entwickeln, der
es möglich macht, die Handlungsfähigkeit aus der Perspektive der Leute der Ini-
tiative bestimmen zu können. Erst dann wird es auch möglich, an den konkreten
Beispielen und mit den Begriffen der Interviewten zu beschreiben, was ihre Hand-
lungsfähigkeit einer Gegenöffentlichkeit ausmacht. Hier knüpft der zweite Teil
meiner Arbeit an. Es geht um die Erfahrungen mit Demokratie, genauer, um die
Erfahrungen damit, eine Gegenöffentlichkeit und sich selbst zu organisieren.

4 Nicht zu vergessen zum Themenfeld auch Jacques Rancière (2010, oder [2002] 2016) bzw.
auch Ingolfur Blühdorn (Simulative Demokratie, 2001). An anderer Stelle wäre es lohnend, z.
B. die drei Perspektiven auf „Postdemokratie“ von Crouch, Rancière und Blühdorn verglei-
chend zu untersuchen.
1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

Der „Typus der modernen liberalen Demokratie“ (Buchstein 2012: 199) bildet die
Reibungsfläche demokratietheoretischer Überlegungen empirisch-funktionaler
Demokratietheorien und ihrer unterschiedlichen theoretischen Ausformungen.
Diese werden unter Stichworten wie „Kanzlerdemokratie“, plebiszitär-autoritäre
Demokratietheorie im Anschluss an Max Weber, „Rational Choice“ – ökonomi-
sche Theorie der Demokratie von Downs oder auch Systemtheorie von Luhmann
diskutiert.5 Die theoretischen Entwürfe finden ihren Widerhall in unterschiedli-
chen Demokratievorstellungen, die sich „idealtypisch“ nach „Gesellschaftskon-
zeption“, „Art der Beteiligung der Bürger“ und „nach dem Ausmaß und der Reich-
weite der Beteiligung“ differenzieren lassen (vgl. Schultze 2010a: 138).6 Hierbei
werden verschiedene Kernelemente als inhaltlich bestimmend angenommen.
Dazu zählen nach Buchstein (2012) und Schmidt (2010) folgende Minimalbedin-
gungen: a) freie Wahlen, damit verbunden b) die durch Wahlen erzeugte Möglich-
keit des Wechsels politischer Führungen, c) freie Meinungsäußerung und d) der
Verfassungsstaat. Ausgehend von diesen Eckpunkten wird Demokratie als eine
politisch - methodische Verfahrensweise verstanden, verknüpft mit der Ausfor-
mung einer staatlich institutionalisierten Regulierung gesellschaftlichen Konflikt-
potenzials und politischer Mehrheitsentscheidungen. Ziel ist die Organisation des
„Zustandekommens verantwortlicher und zurechenbarer Entscheidungen“ (Gug-
genberger 2010: 147) der durch Wahl der Bürger bestimmten Repräsentanten. We-
sentlich ist hierbei die Form der Herrschaft durch Arbeitsteilung und Hierarchisie-
rung von Regierenden und Regierten. Für ein solches Verständnis sind der Ein-
fluss von Theorieentwürfen zur „Konkurrenzdemokratie“ von Schumpeter
(1947)7 oder auch die „ökonomische Theorie der Demokratie“ Down’s (1968) von

5 Vgl. Buchstein/Pohl (1999: 77-86); Neumann (1998: 1-78); allgemeiner Schmidt (2010); Saage
(2005).
6 Schultze (2010a) verweist auf Stichworte wie „totalitäre Einheitsdemokratie“, Repräsentative De-
mokratie“, „Mehrheitsdemokratie“ etc., auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann.
7 Ich ordne sie dem Feld der empirisch-funktionalistischen Demokratietheorien zu, da Schumpeter
den Bürgern eine politische Irrationalität unterstellt und sie seiner Auffassung nach einer elitären
Führung bedürfen. Damit zusammenhängend versteht er Demokratie als Methode zur politischen
Entscheidungsfindung (vgl. Schumpeter 2005 und kritisch Neumann 1998; Pohl/Buchstein
1999; Saage 2005). Das Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ von Joseph A.
Schumpeter erschien zunächst im Jahre 1942 in englischer Sprache und im Jahre 1946 in einer

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
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6 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

besonderer Bedeutung. Insbesondere die Position von Schumpeter gilt als impuls-
gebend für die Entwicklung sogenannter empirisch-realistischer Demokratietheo-
rien.8 Orientiert an „Ideen autoritärer Kritiker des modernen Liberalismus“
(Scheuermann 2002: 410) richtet Schumpeter seine Überlegungen gegen ein nor-
matives Verständnis von Demokratie und behauptet, dass mit einer Aufgabe nor-
mativer Orientierungen notwendigerweise eine realistische Perspektive auf De-
mokratie hervortreten würde. Mit der Sichtweise, Demokratie als methodische
Verfahrensweise zu verstehen, verbindet sich mit der Position Schumpeters noch
eine andere Problematik, die Idee einer elitären Führung. Dieser letzte Aspekt
führt meines Erachtens über die Konzentration auf Demokratie als eine methodi-
sche Verfahrensweise hinaus und deutet auf den Zusammenhang einer spezifi-
schen Vorstellung von Herrschaftssicherung aus einer Verknüpfung von „Demo-
kratieansprüchen und Elitismus“ hin (vgl. Kreisky 2001: 56). In diesem Sinne
spiegeln die Überlegungen Schumpeters die ideologisch-politische Praxis westli-
cher Demokratien wider (vgl. ebd.) und verdeutlichen gleichzeitig Reibungs-
punkte normativer Positionen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle kurz auf die
Positionen von Schumpeter eingehen.

1.1 Demokratie als Methode (elitärer Führung) bei Joseph A.


Schumpeter

Für Schumpeter ist die „klassische“ Demokratietheorie Gegenstand seiner Ausei-


nandersetzung. Konkret meint dies eine „Philosophie der Demokratie“ mit ihren
Wurzeln „im achtzehnten Jahrhundert“ (2005: 397), wie sie etwa in den Ideen von
Rousseau, Bentham und Mill zu finden ist.9 Anknüpfend hieran definiert er deren
Perspektive wie folgt: „Die demokratische Methode ist jene institutionelle Ord-
nung zur Erzielung politischer Entscheide, die das Gemeinwohl dadurch verwirk-
licht, dass sie das Volk selbst die Streitfragen entscheiden lässt und zwar durch
Wahl von Personen, die zusammenzutreten haben, um seinen Willen auszuführen“
(Schumpeter 2005: 397). Schumpeters zentraler Reibungspunkt ist die in seiner
Definition ausgemachte Auffassung des Gemeinwohls. Demnach stütze die „klas-
sische“ Demokratietheorie auf der irrigen Annahme, dass das Gemeinwohl „jedem
normalen Menschen mittels rationaler Argumente“ (ebd.) einsichtig und zugäng-
lich sei. Im Kern geht er davon aus, dass die Idee des Gemeinwohls darauf beruhe,
dass das „ganze Volk“ über die Bearbeitung bestehender Fragen und Problemati-

ersten deutschen Auflage. Ich beziehe mich in meiner vorliegenden Arbeit auf die 8. Auflage
des Buches in deutscher Sprache aus dem Jahre 2005.
8 Vgl. hierzu Scheuermann (2002).
9 Vgl. Schumpeter zu Mill, Rousseau und Bentham z. B. (2005: 394 f.).
1.1 Demokratie als Methode (elitärer Führung) bei Joseph A. Schumpeter 7

ken der „gleichen Meinung“ sein müsse und sich in diesem Grundsatz wiederum
der „allgemeine Wille“, das „Gemeininteresse“, das Gemeinwohl ausdrücken
würde (ebd.). Seine Lesart des Gemeinwohls, als gleichmachende Vereinheitli-
chung unterschiedlicher Interessen, führt ihn zu der Einsicht, dass es „kein solches
Ding wie ein eindeutig bestimmbares Gemeinwohl (gibt), über das sich das Volk
kraft rationaler Argumente einig wäre oder zur Einigkeit gebracht werden könnte“
(2005: 399). Er begründet seine Sichtweise damit, dass „verschiedenen Individuen
und Gruppen das Gemeinwohl mit Notwendigkeit etwas Verschiedenes bedeuten
muss“ (ebd.). Hiermit zusammenhängend würde die Idee des Gemeinwohls den
„idealen Bürger“ voraussetzen, der „aus sich selbst heraus und unabhängig vom
Druck einzelner Gruppen und von irgendwelcher Propaganda“ die Fähigkeit besit-
zen müsse, „eindeutig [zu] wissen, wofür er sich einsetzen will“ (2005: 403).10
Grundsätzlich stellt Schumpeter eine Souveränität und Unabhängigkeit der Wählen-
den infrage und sieht in diesen, vergleichbar zu Konsumenten im Bereich der Öko-
nomie, eine durch „Reklametechniken“ (ebd.: 418) beeinflussbare Masse, die „zu
keiner anderen Handlung als der Panik fähig“ sei (ebd.: 450). Diese könne zum
einen durch entsprechende Manipulationen als „psychologische Menge [...] in ei-
nen Zustand der Raserei versetzt werden“ (ebd.: 409) und sei so dem rationalen
Austausch von Argumenten nicht zugänglich. Zum anderen sieht er in solchen
Prozessen die von ihm skizzierte Idee des Gemeinwohls in der „klassischen“ De-
mokratietheorie und dem damit verknüpften „Volkswillen“ nicht als impulsge-
bende Größe politischer Prozesse, sondern vielmehr als deren Produkt und Ergeb-
nis. Um Zustimmung für eine bestimmte Form der Politik zu erhalten, muss dem-
nach das Gemeininteresse oder der Volkswille durch Politiker erzeugt und orga-
nisiert werden. Im Sinne einer „Menschlichen Natur in der Politik“ (ebd.: 418)
sind für Schumpeter politische Argumentationen und ihre Begründungszusam-

10 Der Kern von Konzeptionen des Gemeinwohls kann hier nicht tiefgehender erörtert werden.
Allgemein kann zwischen „aposteriorischen“ und „normativ-apriorischen“ Konzeptionen des
Gemeinwohls unterschieden werden. Letztere gehen von der Annahme aus, dass es ein objektiv
bestimmbares, „allgemeines Wohl“ gibt, welches „nicht an die Zustimmung der Gesellschafts-
bzw. Gemeinschaftsmitglieder gebunden ist, dem sie sich jedoch unterzuordnen haben“
(Schultze 2010b: 299). Die Bestimmungen und Begründungen „normativer Zwecke“ des Ge-
meinwohls fallen dabei sehr unterschiedlich aus und reichen von Ideen des „tugendhaften Le-
bens“ in einer „wohlgeordneten Gemeinschaft“ über „Ideen des Rechts und Gerechtigkeit, des
Friedens“ bis hin zu Perspektiven der „allgemeinen Wohlfahrt und Selbstverwirklichung in und
durch politische Partizipation“ (vgl. ebd.). Die Kritik an diesen Vorstellungen richtet sich gegen
deren „harmonistische[...] und interessenneutrale[...] bzw. interessenausgleichende[...]“ Tenden-
zen (ebd.). Die Kritik und Gemeinwohlvorstellung Schumpeters kann als aposteriorische Per-
spektive skizziert werden, die Gemeinwohl als Ergebnis eines „eher naturwüchsig“ marktförmig
hergestellten Gleichgewichts unterschiedlicher Kräfteverhältnisse ansieht (vgl. ebd.: 300). Da-
niel Loick verdeutlicht außerdem, dass der Gemeinwille in der Konzeption von Rousseau und
sein Ausdruck als „sittliche Gesamtkörperschaft“ (Rousseau 2013: 18) sich einerseits „nach au-
ßen hin exklusiv“ und andererseits „nach innen inklusiv“ definiert (Loick 2012: 101).
8 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

menhänge Elemente der Organisation von Interessenlagen in Händen von Politi-


kern. Entsprechend sind die Wählenden durch fremde Interessen geleitet, da ge-
sellschaftliche „Streitfragen“ nicht durch das Volk, sondern „normalerweise für
das Volk gestellt und entschieden werden“ (ebd.: 420). Demgegenüber setze die
„klassische“ Form der Demokratie irrigerweise ihren sinnstiftenden Zusammen-
hang auf die „Macht des politischen Entscheides“ durch die Wählerschaft und ver-
nachlässige den „Hauptzweck der demokratischen Ordnung“, „die Wahl der Re-
präsentanten“ (2005: 427).
Vor dem Hintergrund dieser Einschätzungen formuliert Schumpeter seine
Überlegung einer Theorie der Demokratie als einer Methode, die sich im Wesent-
lichen vom „klassischen“ Modell darin unterscheide, „dass die Rolle des Volkes
darin besteh[e], eine Regierung hervorzubringen [...], die ihrerseits eine nationale
Exekutive oder Regierung hervorbringt. Und wir definieren: die demokratische
Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Ent-
scheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels Konkur-
renzkampf um die Stimmen des Volkes erwerben“ (2005: 427-428). Zwei Ele-
mente sind für ihn von zentraler Bedeutung. Zum einen entscheide sich politische
Führung in einem Selektionsprozess des Konkurrenzkampfes um die politische
Führung. Grundlegend für diese Einschätzung ist seine Annahme, dass der Kapi-
talismus und das ihm eigene Prinzip der (innovativen) Konkurrenz „die treibende
Kraft in der Rationalisierung menschlichen Verhaltens“ (ebd.: 205) sei.11 In die-
sem Zusammenhang fasst er die Idee der Konkurrenz in der Politik analog zur
ökonomischen Kategorie einer Konkurrenz des freien Marktes, als eine „freie
Konkurrenz um freie Stimmen“ (ebd.: 430), die letztlich zur Möglichkeit eines
Wahlprozederes führe.12 Außerdem erlaube der Konkurrenzkampf um die

11 Schumpeter bestimmt das Prinzip der Konkurrenz und den Prozess einer „schöpferischen Zer-
störung“ als wesentliche Grundlagen des Kapitalismus (2005: 134 f.). Bop Jessop skizziert in
seinen staatstheoretischen Analysen (Stichwort Schumpeterian Workfare State) die Perspektive
Schumpeters im Unterschied zu Hayek, Friedman and Co. und betont die Idee der Innovation
bei Schumpeter als Triebkraft kapitalistischer Entwicklung. Der wesentliche Punkt ist der, dass
Schumpeter Innovation ins Zentrum seiner Analyse kapitalistischer Wachstumsdynamik stellt
und so die innovationsgetriebene strukturelle Wettbewerbsfähigkeit als eine zentrale Funktion
des modernen kapitalistischen Staates unterstreicht: „Schumpeter is being rediscovered as a the-
orist of the motive force of innovation in long waves. Thus the contrast between the two econo-
mists is far more specific than would be implied in any simple contrast between concern with
the demand- and supply-side. For Schumpeter’s interest in the latter differed markedly from that
of economists such as Hayek, Friedman, or Laffer. It is the supply of innovation that was central
to his analysis of capitalist growth dynamics rather than the supply-side implications of liberty,
money, or taxation. And it is innovation-driven structural competitiveness which is becoming
central to the successful performance of the economic functions of the contemporary capitalist
state“ (Jessop 1993: 17).
12 Die Übertragung von Schumpeters Idee der Konkurrenz aus dem Bereich der Ökonomie auf den
Bereich der politischen Organisation von Demokratie verdeutlicht Scheuermann wie folgt: „Die
1.1 Demokratie als Methode (elitärer Führung) bei Joseph A. Schumpeter 9

Stimmen der Wählenden eine Herstellung von Ordnung der verschiedensten Inte-
ressenlagen, weil der politische Führer in der Entwicklung seiner Positionen die
vorgefundenen „Willensäußerungen organisiert“ (ebd.: 430). Im Bilde Schumpe-
ters ist Führung eine naturwüchsige Größe, die durch „ein Mindestmaß an Wett-
bewerb der Eliten“ darauf gerichtet ist, „effektive politische Führer“ hervorzubrin-
gen, um „damit dauerhafte Stabilität zu erreichen“ (Scheuermann 2002: 420). In
diesem Sinne bestimmt er Demokratie zum anderen als eine Art Markthandel, bei
dem der Politiker „mit Stimmen handle, wie [andere] mit Öl handeln“ (Schumpe-
ter 2005: 453). Folgerichtig ist für Schumpeter Demokratie „die Herrschaft des
Politikers“, bei der „das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen
sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen“ (ebd.: 452). Das Funktionieren dieses „de-
mokratischen Spiels“ (ebd.: 478) benötige qualifiziertes Personal in Parteien und
Parlament sowie ein entsprechend „intellektuelles und moralisches Niveau der
Wählerschaft“ (Massing 2012: 226), verknüpft mit der Akzeptanz des Verfahrens
in „der großen Mehrheit der Bevölkerung“ (Schumpeter 2005: 478). Darüber hin-
aus bestehe die Notwendigkeit einer Institutionalisierung und ausgebauten Büro-
kratie als funktionssichernde Stützen dieser Prinzipien. An diesem Punkt verdeut-
licht sich der funktionale Zusammenhang seiner Idee von Demokratie. Demokra-
tie repräsentiert für Schumpeter ein Ordnungsprinzip zur Herstellung von Herr-
schaft und Unterordnung der Allgemeinheit unter eine Elite. Dabei ist für ihn we-
sentlich, dass „der wirksame Bereich politischer Entscheidung nicht allzu weit
ausgedehnt wird“ (ebd.: 463) und durch die institutionelle Organisation verschie-
denster Interessenlagen mithilfe politischer Führung entsprechend kanalisiert wer-
den kann. In diesem Sinne ist die von ihm für die „klassische“ Theorie diagnosti-
zierte Unmöglichkeit der Vernunft einer „Macht des politischen Entscheides“
(ebd.: 427) in der Gewalt des Volkes durch eine funktionale Einordnung der Wäh-
lenden in ein Prinzip der Stimmabgabe umzukehren und in der Folge durch Pro-
duktion einer Regierung elitärer Führung beherrschbar.13

kreativen Aktivitäten des Unternehmers, nicht die wechselnden Strömungen im Geschmack der
Konsumenten, sind für Schumpeter die Grundlage wirtschaftlicher Entwicklung. Verbraucher
reagieren lediglich auf unternehmerische Innovationen. Auf eine ähnliche Art reagiert der Wäh-
ler bestenfalls auf politische Initiativen derer, die das Glück haben, Führungsqualitäten zu besit-
zen“ (2002: 416).
13 Beispielsweise in diesem Gedanken sieht Schumpeter eine realistische Betrachtungsweise be-
gründet, weil Kollektive Führung benötigen würden und dies „der beherrschende Mechanismus
[...] jedes kollektiven Handelns“ (Schumpeter 2005: 429) sei. Die Wählenden sieht er als ein
zuzurichtendes, manipulierbares Kollektiv, was als „Wählermasse keiner andern Haltung als der
Panik fähig ist“ (ebd.: 450). Entsprechend erzeugen „Parteipolitiker und Parteimaschinen“ (ebd.)
ein die Wählenden ordnendes und führendes Prinzip.
10 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

1.2 Zu einer ersten Kritik an Schumpeter

Der Anspruch von Schumpeter, eine realistische Idee von Demokratie zu entwi-
ckeln und den Diskurs von den „klassischen“ Vorstellungen mit ihren normativen
Ansprüchen zu befreien, ist verallgemeinernd als eine Verdoppelung der Welt zu
sehen. In Ignoranz einer historischen Entwicklung demokratischer Ideen und ihrer
politischen Ausdrucksformen ist das, was er als demokratietheoretische Überle-
gungen freilegt, eine Definition der Demokratie „durch ihren tatsächlichen Appa-
rat“ (Habermas 1973: 9). In diesem Zusammenhang steht vor allem die funktional
beschränkte Perspektive von Partizipation in der Kritik. Partizipation erfährt einen
Zuschnitt als formalistisches Prinzip mit der Funktion der Organisation staatlicher
Herrschaft. Pateman vermerkt dazu: „The only means of participation open to the
citizen in Schumpeter’s theory are voting for leaders and discussion. [...] All that
is entailed is that enough citizen participate to keep the electoral machinery – the
institutional arrangements – working satisfactorily“ (1970: 5). Partizipation der
Menschen als Staatsbürger versteht sich so als quantitative Größe, die „nur im
Hinblick auf das Funktionieren eines vorhandenen Systems bestimmt wird“ und
so gleichzeitig Ausdruck einer beschränkten Qualität „politischer Beteiligung“ sei
(Habermas 1973: 11). In der Perspektive, den Staat als Instrument zur Einrichtung
von Herrschaft zu betrachten, erkennt Habermas einen „Fortschritt“, der allerdings
mit dem Preis der Beschränkung von Demokratie als politischer Methode zu be-
zahlen ist: „Demokratie gilt fortan als eine bestimmte Methode; ihre Einrichtun-
gen erscheinen formal als ein System möglichen Gleichgewichts; und am Ende
brauchen nur die Gleichgewichtsbedingungen zureichend erkannt zu werden, um
den Apparat sachgemäß zu steuern“ (ebd.: 10). Demokratie in dieser „sozialtech-
nische[n] Auffassung“ löse sich „vom realen Prozess ihres gesellschaftlichen Ur-
sprungs“ und wird zum einen als methodisches Verfahren auf „beliebige Situatio-
nen“ übertragbar (ebd.: 10).14 Zum anderen wird „Beteiligung isoliert, losgelöst
von dem, woran man teil hat und worin solche Beteiligung sich erst verwirklicht“
(ebd.: 11). Ausgangspunkt der Kritik von Habermas ist eine zwar widersprüchli-
che, aber für ihn wesentliche Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, „die
politische Mündigkeit des Volkes“ und ein Wandel „vom Untertan zum Staatsbür-
ger“ (ebd.: 48). Diesen Zugewinn an politischer Selbstbestimmung sieht Haber-
mas in der Perspektive Schumpeters schwinden. In Anerkennung dieser Überle-
gung ist allerdings gleichzeitig ihre Engführung zu kritisieren, denn der Zugewinn
an politischer Emanzipation „emanzipiert nur den abstrakten Staatsbürger und
nicht den ganzen Menschen, nur den rechtlich-politischen Menschen und nicht

14 Vgl. hierzu z. B. auch Kreisky: Für die Idee von Demokratie als Methode ist „ein Minimum an
Spielregeln zu respektieren“ sie ist deshalb flexibel für „jede politische Ordnung geeignet“
(2001: 58).
1.3 Zu einer zweiten Kritik an Schumpeter 11

den Menschen als soziales Wesen“ (Kofler 1992: 261). Mit der Figur des recht-
lich-politisch freien Menschen als Staatsbürger ist eine rechtliche Gleichstellung
von Herrschenden und Volk verknüpft, was wiederum auch bedeutet, dass in der
so bestehenden formalen Gleichheit bestehende Herrschaftsverhältnisse nicht the-
matisiert und schon gar nicht aufgehoben sind. Mit Blick auf die Frage der politi-
schen Selbstbestimmung verweist Habermas darauf, dass sich die Tendenz der
Schumpeter’schen Auffassung in der Form des heutigen liberalen Rechtsstaates
widerspiegele, wenn sich beispielsweise das Grundgesetz in Deutschland „vom
Misstrauen gegen plebiszitäre Entscheidungen“ (Habermas 1973: 49) leiten lässt.
Hieran anknüpfend kritisiert Habermas die beschränkte Form der demokratischen
Mitbestimmung, die auf die Möglichkeit, „das Parlament zu wählen“ (ebd.), redu-
ziert sei. Im Widerspruch hierzu ist gleichzeitig der rechtliche Status des Staats-
bürgers im modernen Rechtsstaat vor allem durch Grundrechte und Gesetzge-
bungsverfahren begründet, die „den Staatsbürgern die Ausübung ihrer politischen
Autonomie sichern“ (Habermas 1998: 110) würden. Die hiermit verknüpfte Mög-
lichkeit einer Verbindung des subjektiven Rechts „auf die chancengleiche Teil-
nahme an der demokratischen Willensbildung mit der objektiv-rechtlichen Er-
möglichung einer institutionalisierten Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestim-
mung“ (ebd.: 209) sieht Habermas als den Ausdruck des Prinzips der Volkssou-
veränität. Den Unterschied zur Kanalisierung von Beteiligung im funktional-for-
malistischen Verständnis von Demokratie bestimmt Habermas daher als eine
„Ausübung von Herrschaft“, die sich durch Gesetzgebung legitimiert, „die sich
die Staatsbürger in einer diskursiv strukturierten Meinungs- und Willensbildung
selber geben“ (ebd.: 209-210).

1.3 Zu einer zweiten Kritik an Schumpeter

Grundvoraussetzung für diesen letzten Gedanken ist (bei aller Widersprüchlich-


keit politischer Emanzipation, wie ich sie oben angedeutet habe) die normative
Annahme, dass sich Demokratie erst „in einer Gesellschaft mündiger Menschen“
verwirkliche (Habermas 1973: 13). Mit dieser Überlegung verknüpft sich eine
weitere Kritik am funktionalen Verständnis von Demokratie. Schumpeter skizziert
Demokratie als institutionalisierten Rahmen, in dem „das politische Leben aus-
schließlich in staatlichen Institutionen“ gebunden ist (Scheuermann 2002: 425).
Habermas verweist darauf, dass die bürgerliche Gesellschaft und ihre Institutionen
„parlamentarischer Demokratie“ in sich widersprüchlich seien. Einerseits seien sie
in ihrer autoritär verfassten Form „Einrichtungen, die bis heute relative Freiheiten
politisch sichern helfen“ und insofern die Idee der Demokratie widersprüchlich
„ins institutionelle Gehäuse hineingenommen“ hätten (1973: 13). Hieraus ergibt
sich der Widerspruch, dass deren Legitimationsgrundlage nur normativ begründ-
12 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

bar sei, was gleichzeitig voraussetze, dass die Bürger ein Bewusstsein als Staats-
bürger entwickelten und sich „Herrschaft [...] durch die vernünftige Selbstbestim-
mung mündiger Menschen vermittelt“ (ebd.).15 Entsprechend müssten die Institu-
tionen der parlamentarischen Demokratie „darauf bedacht sein, auch mit Mitteln
der Meinungslenkung, dies Bewusstsein herzustellen und zu erhalten“ (ebd.).
Diese Bedingtheit eines verdichteten, normativen Gehalts der Institutionen parla-
mentarischer Demokratie wird von Schumpeter ausgeblendet.16 In der Folge be-
schränkt sich das Politische auf einen institutionell abgesteckten Funktionsraum
und findet seinen Ausdruck ausschließlich in der Ausformung einer staatlich-in-
stitutionalisierten, instrumentellen Praxis.17 Gleichzeitig werden „Handlungssphä-
ren außerhalb“ institutionalisierter demokratischer Formen ausgeschlossen oder
als unangemessene Ausweitung des Demokratischen angesehen (vgl. Scheuer-
mann 202: 425). Diese Sichtweise erlaubt es Schumpeter, die Trennung von „Pri-
vatem und dem Öffentlichen innerhalb des zeitgenössischen Kapitalismus“ (ebd.)
und letztlich das „Politische“ getrennt vom „Ökonomischen“ aufrechtzuerhalten.
Die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse bleiben unberührt. An dieser Stelle
tritt auch offen zutage, was Schumpeters grundlegende Schwierigkeit mit norma-
tiven Entwürfen der Demokratie ist. Der von ihm kritisierte Anspruch dieser The-
orien, ein „Gemeininteresse“ formulieren zu können, sieht in diesem Anliegen
nicht nur eine Form der Vereinheitlichung von Interessen und harmonistischer
Tendenzen zur Bereinigung gesellschaftlicher Konflikte. Schumpeters Kritik rich-
tet sich insbesondere gegen die mit der Idee des Gemeinwohls formulierten An-
sprüche von „unten“, Formen privilegierter Herrschaft infrage zu stellen und in
diesem Sinne das Private hin zum Öffentlichen zu verflüssigen.18 Dieser Gedanke

15 Habermas schreibt: „Die parlamentarischen Demokratien des Westens“ und ihre Idee von De-
mokratie haben „zur einzigen Legitimationsgrundlage [...] das Bewusstsein, dass die Staatsge-
walt vom freien und ausdrücklichen Consensus aller Bürger getragen ist“ (1973: 13).
16 Wie Scheuermann hervorhebt, war es Schumpeter nur möglich, eine realistische Perspektive auf
Demokratie zu behaupten, „weil er die Ideengeschichte der Demokratietheorie erheblich ver-
zerrte“ (2002: 425).
17 Grundsätzlich teilen Anthony Downs (1968) und Arend Lijphart (1999) diese instrumentelle
Perspektive des Politischen. Entsprechend konzentriert sich Downs auf den Aspekt des Wählens
und den Versuch seiner Berechenbarkeit. Lijphart geht es um einen systematischen Vergleich
von Strukturen unterschiedlicher staatlicher Demokratien (Stichworte sind hier z. B. die Diffe-
renzen von „majoritarian and consensus democracy“, 1999: 171 f.) und ihrer Leistungsfähigkeit.
18 Würde sich Schumpeters Kritik direkt auf Rousseau beziehen, wäre den im Gemeinwohl formu-
lierten Ansprüchen noch ein weiterer konflikthafter Punkt hinzuzufügen. Gemeinwohl bei
Rousseau versteht sich als das „Gemeinsame“ im Gesellschaftsvertrag zur „sittlichen Gesamt-
körperschaft“ zusammengeschlossene „gemeinschaftliche Ich“ (2013: 18). Die staatliche Kör-
perschaft verkörpere den Souverän (ebd.: 19 f.). In diesem Zusammenhang formuliert er Über-
legungen zum Grundbesitz: „Es ist nicht etwa so, dass durch den Akt der Besitz, indem er in
andere Hände übergeht, seine Natur änderte und Eigentum würde in den Händen des Souveräns:
aber da die Kräfte der Polis unvergleichlich größer sind als die eines Einzelnen, ist der öffentliche
1.3 Zu einer zweiten Kritik an Schumpeter 13

ist weiter zuzuspitzen. Schumpeter formuliert eine methodische Verfahrensweise,


wie das Politische als institutionalisierter Kanon hervorgebracht werden soll. Wie
ich schon deutlich gemacht habe, geht Schumpeter davon aus, dass sich ein Wahl-
prozedere in einem Prozess marktorientierter Konkurrenz von Politikern „um freie
Stimmen“ ausdrücke und auf diesem Wege eine legitimierte Form der Arbeitstei-
lung von Regierenden und Regierten erzeugt werde. Die hiermit verknüpfte Hie-
rarchisierung und Kanalisierung dieses Prozesses in die institutionalisierte Form
des Politischen zielt somit auf eine Passivierung der Subjekte, deren „freiwillige
Unterordnung“ (Schumpeter 2005: 467) und – hiermit verknüpft – die Beherr-
schung ihrer differenten Interessenlagen. Erst hierin liegt der wirkmächtige Effekt
einer Aufrechterhaltung einer Trennung von Politischem und Ökonomischem zum
Nutzen der Erhaltung eines gesellschaftlichen Status qou, dem Schutz des Ökono-
mischen als der Allgemeinheit entzogenen privaten Produktionsmittel und Pro-
duktionsverhältnisse. Die Situation, warum in diesem Zusammenhang Individuen
freiwillig gegen ihre Interessen handeln können, sich freiwillig unterordnen und
zurichten, erklärt Schumpeter nicht. Geht Schumpeter davon aus, dass die „demo-
kratische Methode“ ein Mindestmaß an freiwilliger Unterordnung der Individuen
bedarf, tritt an diesem Punkt scheinbar ein zwanghaftes Moment zur Einordnung
der Subjekte in den Hintergrund. Deswegen ist es für Schumpeter wichtig, zu be-
tonen, dass die Politiker etwas von der Sache der „Menschenbehandlung“ verste-
hen (vgl. ebd.: 459). Im Kern geht es hierbei darum, dass Politiker, um Zustim-
mung zu erlangen, als „politische Führer“ die Menschen in ihren Vorstellungen
von der Welt ansprechen, sie zum „Leben erweck[n]“ und „diese Willensäußerun-
gen“ organisieren (vgl. ebd.: 429). Politiker müssen Schumpeter zufolge in ihrem

Besitz in der Tat auch stärker und unwiderruflicher, ohne rechtmäßiger zu sein. [...] Das Recht
eines [...] Besitznehmers wird [...] erst nach Einführung des Eigentumsrechts ein wirkliches
Recht. [...] In diesem Recht achtet man weniger, was einem anderen gehört, als das, was einem
selbst gehört“ (ebd.: 24). Hieran anknüpfend hat die „gemeinschaftliche Körperschaft“ aus der
sich der staatliche Souverän formuliert zwei Dimensionen. Zum einen gilt die Ansammlung und
Summierung des Grundbesitzes der Einzelnen als Grundlage des „Staatsgebiets“ verknüpft mit
der Situation einer „größere[n] Abhängigkeit“ der Besitzer vom staatlichen Souverän (vgl. ebd.:
25). Zum anderen kann es „vorkommen, dass die Menschen sich zu vereinigen beginnen, ohne
irgendetwas zu besitzen, und dass sie sich danach eines für alle ausreichenden Gebietes bemäch-
tigen und es gemeinsam nutzen oder unter sich aufteilen, sei es zu gleichen, sei es zu durch den
Souverän festgelegten Teilen“ (ebd.: 26). Der Reibungspunkt Schumpeters mit Rousseau wäre
dann: „Auf welche Weise dieser Erwerb auch vor sich geht, das Recht, das jeder Einzelne an
seinem eigenen Boden hat, ist immer dem Recht der Gemeinschaft auf alle untergeordnet“ (ebd.).
Letztlich geht es Schumpeter um die Frage der Freiheit einer privaten Verfügung über Eigentum
und – hiermit verknüpft – deren staatliche Absicherung. In der Frage der Auffassung von De-
mokratie als Ausformung eines institutionellen Arrangements sind sich Schumpeter und
Rousseau erstaunlich ähnlich (vgl. hierzu Rousseau zum Stichwort Demokratie 2013: 74 f.). Al-
lerdings ist an dieser Stelle nicht der Platz die Gemeinsamkeiten bzw. Differenzen sowie eine
notwendige Kritik an beiden herauszuarbeiten.
14 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

Eigeninteresse Kontakt zum Alltagsverstand der Menschen finden. Dort vorge-


fundene Impulse von „latenten Willensäußerungen“ sollen von Politikern zu poli-
tisch verwertbaren Positionen geformt und den Interessen der von ihnen vertrete-
nen Machtgruppen angepasst werden. Die geformten Positionen bestimmten sich
hierbei nicht als Interessenlagen von gesellschaftlichen Gruppen, Klassen oder
Schichten und seien nicht etwa Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte und Kämpfe.
Im Sinne Schumpeters sind „latente Willensäußerungen“ zuallererst Ausdruck
von Privatinteressen, die in ihrer egoistischen Unberechenbarkeit, autoritär von
oben geordnet werden müssten. In diesem Sinne ist die „latente Willensäußerung“
der Bevölkerung „erst von einem politischen Führer“ (Kreisky 2001: 57) hervor-
zubringen, um so gleichzeitig ein Einverständnis mit der vom Politiker vertretenen
Politik zu erzeugen. Schumpeter formuliert deshalb: „Die Art und Weise, in der
Probleme und der Volkswille [...] fabriziert werden, ist völlig analog zur Art und
Weise der kommerziellen Reklametechnik. Wir finden die gleichen Versuche, an
das Unterbewusstsein heranzukommen. Wir finden die gleiche Technik der Schaf-
fung günstiger und ungünstiger Assoziationen, die umso wirksamer sind, je weni-
ger rational sie sind“ (ebd.: 418).19 Im Kern skizziert Schumpeter hier eine Politik
der Beeinflussung. Anders formuliert betont er die „autoritär-erzieherische“ Not-
wendigkeit des Politikers als innovativ Wissenden und Belehrenden, der analog
zur „innovativen“ Kraft des Unternehmers so die Funktion erfüllt, die „Dinge in
Gang“ zu setzen, und gleichzeitig weiß was für die anderen richtig ist (vgl. Schum-
peter 2005: 215). Diese Idee von Politik zielt darauf ab, die Entwicklung „ratio-
nale[r] Argumente zu vermeiden“, um die „kritischen Fähigkeiten des Volkes“ zur
Erkenntnis zu verhindern (vgl. ebd.). Schumpeter richtet sich hier gegen die Mög-
lichkeit einer Mündigkeit von Menschen im Sinne Kants, dagegen selbstbe-
stimmte „Autonomie in Denken und Handeln herzustellen, Selbstdenken zum
Prinzip zu erheben“ (Negt/Kluge 1993: 60). Gleichzeitig wird die Ablehnung ei-
ner Idee von Gemeinsinn durch Schumpeter selbst wieder eingeholt und als spe-
zifisch autoritäres Moment politischer Vergesellschaftung von oben in der Orga-
nisation des Volkswillens konzipiert. Gemeinsinn formuliert sich hierbei als von
einer Elite für die Allgemeinheit fremdgesetzte Interessen. Die Idee Schumpeters,

19 Am Beispiel von Helmut Schmidt skizziert Wolfgang Fritz Haug Widersprüche zur Vorstellung
von Politik als Idee des Marktes: „Im Spiegel seines Bewusstseins erscheint das Feld der politi-
schen Kämpfe als Markt, der Politiker als Anbieter seiner selbst und des Programms seiner Par-
tei“ (2009: 53). Laut Schmidt stehe der Politiker in der Konkurrenz zu anderen in der Form der
„Eindruckskonkurrenz“ und kreiere sich und seine Partei als Marke. Im Kern setzt diese Idee
von Politik auf das „Ankommen“ analog zur Vorstellung vom „Ankommen von Waren“ (ebd.:
55). Politik versteht sich hierbei als Ware, die in den „Metaphern“ und der Sprache der Werber
zum „Konsumartikel“ geformt und nur verkauft werden müsse (vgl. ebd.: 55). Diese Perspektive
ist „fragwürdig, da Politik kein Konsumartikel“ sei und in diesem Denken die Interessen und
Bedürfnisse der Menschen zu „gleichgültigen Meinungsgegenständen“ würden (vgl. ebd.: 56).
1.3 Zu einer zweiten Kritik an Schumpeter 15

einen realistischen Kern der Demokratie hervortreten zu lassen, ist widersprüch-


lich. Schumpeter beschreibt eben nicht nur, wie sich Demokratie darstellt, sondern
formuliert, was sie sein soll und welchem Zweck sie zu folgen hat. Darüber hinaus
sprechen die Formen institutionalisierter Demokratie die funktionale Sprache des
Staates. Wie Oskar Negt und Alexander Kluge hervorheben, ist dies „die Sprache
der Gesetze und der Verwaltung“ (1993: 33). Und „eine solche Sprache ist nor-
mativ, sie appelliert an ,wen es angeht‘. In dieser Sprache sind Feinsteuerungen
schwierig, Verallgemeinerungen leicht“ (ebd.). Insofern sind Schumpeters Vor-
stellungen normativ gefärbt.20 Beschränkt sich der normative Gehalt von Demo-
kratie, den Habermas für die staatlich institutionalisierte Form des Demokrati-
schen geltend macht, nicht nur auf diese Form, deutet er auf einen weiter zu fas-
senden Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser besteht darin, politisch-
rechtlich formell Gleichheit einzurichten, ohne in die mit den ökonomischen Ver-
hältnissen verknüpfte Herrschaftsform einzugreifen. Hierbei steht nicht nur die
Frage nach einer formell rechtlichen Gleichheit von Herrschenden und Volk, son-
dern gleichzeitig die Frage nach dem hierin liegenden Herrschaftsverhältnis, was
die Menschen von der Gleichheit, der gleichen Beteiligung und dem Einbezug in
Entscheidungen über die gemeinsamen Belange und somit auch in die des indivi-
duellen Lebens ausschließt. In diesem Sinne ist Demokratie nur eine halbe, keine
vollständig entfaltete Form. Dieser Punkt einer noch nicht realisierten Vollstän-
digkeit von Demokratie verdeutlicht ein Spannungsfeld der bürgerlichen Gesell-
schaft, welches zwischen der Trennung von Privatem und Öffentlichem, zwischen
Politischem und Ökonomischen zirkuliert. Basierend auf der Idee einer Konkur-
renz (formal) freier und gleicher Individuen zielt der Formalismus von Schumpe-
ter auf diese Trennung.21 Mehr noch: In der Behauptung der Freilegung eines re-
alistischen Kerns und der Skizze einer formalisierten Funktionsweise von Demo-

20 Pohl und Buchstein (1999) sehen Schumpeters Theorie als normativen Ansatz, da seine Absicht
darin bestehe, „Demokratie von überzogenen normativen Ansprüchen zu befreien“ (73). Unab-
hängig davon ist aber der Verweis von Pohl und Buchstein ein Hinweis darauf, dass empirisch-
funktionale Demokratietheorien „nie bloß die vorgefundene Wirklichkeit“ beschreiben, sondern
sie „interpretieren und organisieren sie unter einem besonderen Frageaspekt“ (Guggenberger
2010: 145). Auch insofern bauen Schumpeters Überlegungen auf normativen Annahmen auf.
Dieses Moment, meine ich, tritt in seiner Kritik bzw. Vorstellung von „Gemeinsinn“ und „Volks-
willen“ offen zutage. Vergleichbares gilt meines Erachtens auch für die demokratietheoretischen
Vorstellungen und Entwürfe von Downs, Dahl und Lijphart.
21 In diesem Zusammenhang muss die Vorstellung zum Sozialismus von Schumpeter entsprechend
eingeordnet werden. Zuspitzend setzt Sozialismus die formalisierte Form des Politischen in ge-
steigerter Art und Weise fort. Die hierin deutlich werdende konservative Position Schumpeters
(und unter Verwendung des Begriffs Sozialismus irreführende Kritik) kann mit Berthold Brecht
einsichtiger hervorgehoben werden: „Man darf nie vergessen, dass der Hauptvorwurf aller kon-
servativen Elemente gegen den Sozialismus, er stelle eine Fortführung (und also wenn man will:
eine Steigerung) des Kapitalismus dar, eine einfache Wahrheit ist, die noch nicht alle Sozialisten
begriffen haben“ (1977: 48).
16 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

kratie sowie ihrer staatlich instrumentalisierten Form des Politischen wird die For-
malisierung zur Bedingung, die Trennung und den Widerspruch zwischen ökono-
mischer Macht und politischen Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft ausba-
lancieren zu können.22
Verallgemeinernd lässt sich der bis hier skizzierte Hintergrund als ein Span-
nungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen verstehen, welche
sich als Prinzipien konflikthaft und wechselseitig ausschließend gegenüberstehen.
Habermas deutet dieses Spannungsfeld an: „Rousseau [...] versteht Freiheit als
Autonomie des Volkes, als gleiche Teilnahme aller an der Praxis der Selbstgesetz-
gebung. [...] Die Kritiker machen geltend, dass sich die Fiktion des einheitlichen
Volkswillens nur um den Preis einer Verschleierung oder Unterdrückung der He-
terogenität der Einzelwillen verwirklichen lasse“ (1998: 610-611). Umstritten ist
somit nicht nur der von Schumpeter kritisierte „Volkswille“, sondern auch die hie-
ran geknüpfte Vorstellung einer Autonomie des Volkes. Mit Habermas gespro-
chen „ist es die Furcht des Bourgeois vor der Überwältigung durch den Citoyen“,
die als „Kritik an der ,Tyrannei der Mehrheit‘“ die „vorpolitischen Freiheiten des
Einzelnen in Gefahr“ sieht und Einschränkungen des Gleichheitsprinzips fordere
(ebd.: 612). Demgegenüber stehe die Idee der „praktischen Vernunft, die sich in
der Verfassung verkörpert“ und in diesem Moment in den Konflikt mit der Idee
des „souveränen Willen[s] der politischen Massen“ gerate (ebd.). An dieser Stelle
zeigt sich ein weiterer konflikthafter Bereich demokratietheoretischer Annahmen.
Dieser entzünde sich zentral an der Frage des Volkssouveräns sowie dessen grund-
legende Bestimmung. Die Idee der Volkssouveränität gilt als grundlegend „für
moderne, demokratisch verfasste Gesellschaften“ (vgl. Demirovic 1997: 100;
auch Maus 2011: 22 f.).

22 Vgl. zur letzten Überlegung Reimut Reiche und Bernhard Blanke mit ihren Überlegungen zu
Widersprüchen von „Kapitalismus, Faschismus und Demokratie“ (1972). Am Beispiel der his-
torischen Entwicklung vom Faschismus diskutieren sie demokratietheoretische Annahmen, die
versuchen, die Historie des Faschismus zu erklären. Hierbei verdeutlichen sie, dass formal-in-
strumentelle Modelle der Demokratie darauf zielten, „Individuen an die bestehende Herrschaft“
anzupassen sowie ein „gespaltetes Bürgertum [...] wieder zu vereinigen, wenn es gelingt, die
ökonomische Macht der einen mit den politischen Ansprüchen der anderen zu versöhnen. Das
leistet die formalisierte Pluralismustheorie. Je gründlicher sie die Trennung von Gesellschaft und
Staat, von Privatsphäre und Politik durchführt, desto besser lässt sich die alte Citoyenhoffnung
aufrechterhalten, die Konkurrenz freier und gleicher Individuen sei garantiert“ (ebd.: S. 29). Au-
ßerdem ist die Anmerkung von Eva Kreisky zu beachten: Die Form dieser Politik spiegelt sich
als „politische Praxis westlicher Demokratien“ wider, wie es etwa in der Kritik von Habermas
aufgegriffen worden ist (vgl. 2001: 56). Kreisky verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass
„Schumpeters Theoretisierung“ gleichzeitig die „passende Hintergrundideologie eben dieser De-
mokratieentwürfe des Westens abgibt“ (ebd.). Anknüpfend hieran spiegelt die Politikidee von
Schumpeter spezifische Politikformen von oben wider, die im Kontext neoliberaler Vergesell-
schaftung beispielsweise als Muster populistischer Politikkonzeptionen skizziert werden (vgl.
hierzu im Einzelnen: Jessop 1996a: 366 f.; Steinert 1998: 164 f.; Cremer-Schäfer 2015: 22 f.).
1.4 Volkssouveränität 17

1.4 Zu Widersprüchen in der Bestimmung eines Verständnisses von


Volkssouveränität23

Die Aktualität einer Auseinandersetzung mit Volkssouveränität zeigt sich jüngst


am Beispiel des von Pegida und AfD erhobenen rechtspopulistischen Anspruchs
einer Selbstermächtigung, politische Unzufriedenheiten „im Namen des Volkes“
verallgemeinernd vertreten zu können. Gefordert wird auf widersprüchliche Weise
eine Politik des Exklusiven und der Ausschließung. Widersprüchlich deshalb, weil
eine Politik von oben zur exklusiven Absicherung des „deutschen Volks“ gefor-
dert wird, die gleichzeitig als sozialer Protest von unten gegen eine Politik von
oben in Erscheinung tritt. Letzteres kann, wie Wolfgang Fritz Haug gezeigt hat,
den aktuell Herrschenden Sorge bereiten, „erst recht seine politische Verwertung
durch oppositionelle Machtanwärter“ (1999: 121). Da in diesem Zusammenhang
Souveränität trotz des Anspruchs der Selbstermächtigung eine Form der Entfrem-
dung ist, weil in hierarchischen Verhältnissen passiviert, stellt sich die Frage, wie
Widerständiges als selbsttätiger emanzipatorischer Impuls einer Souveränität von
unten denkbar werden kann. Der folgende skizzenhafte und auf die deutsche Dis-
kussion beschränkte Literaturbericht24 konzentriert sich auf die Frage, was unter
„Volkssouveränität“ zu verstehen ist. Welche Widersprüche und Konfliktlinien
durchziehen den Begriff und seine Deutungszusammenhänge?

1.4.1 Das Staatsvolk und die Menschenrechte

Alex Demirovic zufolge verdichten sich in der Vorstellung vom Volk zwei Be-
deutungen: Zum einen ist es „letzter Referenzpunkt“, zum anderen „das Volk, auf
das eingewirkt wird“ (Demirovic 1997: 101). Existiert es als einheitliche Körper-
schaft „nur in Form der imaginären Inanspruchnahme in den Staatsapparaten [...],
kann es sich nicht dagegen wehren, ein repräsentatives Volk zu sein“ (ebd.). In
diesem Zusammenhang ist Volk als Souverän und identitäres Subjekt zu kritisie-
ren. Indem die verschiedenen sozialen Gruppen sich nicht dagegen wehren kön-
nen, „dass irgendjemand im Namen des Volkes spricht, weil sie ja selbst niemals
das ganze Volk sind“, ergibt sich ein Konflikt mit „undemokratischen Konsequen-
zen“ (ebd.). Entsprechend setzen sich in diesem Prozess nur einzelne Interessen
durch. Sind diese in der Form des Volkswillens verallgemeinert, entstehen kon-
flikthafte Situationen, bei denen einzelne soziale Gruppen feststellen, dass sie dif-
ferente eigene Interessen haben, und sie beginnen, für deren Legitimität, Verallge-

23 Vgl. auch in Affolderbach 2016 b.


24 Außerhalb der deutschen Diskussion wird nur Agamben einbezogen. Eine Vermittlung mit den
Ansätzen von Rancière, Lefort, Derrida, Laclau und Mouffe wäre lohnend, kann aber hier nicht
geleistet werden.
18 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

meinerbarkeit und „Inklusion in die politischen Institutionen“ zu kämpfen (ebd.).


Ist hingegen die Idee des Volkssouveräns nicht in diesem „starken Sinne“ zu-
grunde gelegt, orientieren sich die Positionen an den gegebenen „demokratischen
Institutionen, in die der Volkswille immer schon eingemündet ist“ (ebd.: 103). In
beiden Positionen sieht Demirovic die Gefahr einer Metaphysik, die Volk auf un-
terschiedliche Weise identitär, als „Volk als einem ganzen“ versteht (ebd.). Solche
identitären Vorstellungen erzeugen auf Ausschluss bauende Vergesellschaftungs-
formen und definieren somit für die Individuen exklusive Zugänge zu gesell-
schaftlichen Ressourcen. Demnach wäre Souveränität als Ausdruck spezifischer
Formen staatlicher Gewalt zu markieren.
Freilich ist hiermit eine Vorstellung formuliert, bei der das Politische und das
Staatliche ineinander fallen. Es besteht die Gefahr, dass sich in dieser Perspektive
das Blickfeld verengt und das, „was noch nicht Politik geworden ist“ (Negt/Kluge
1993: 91), außer Betracht bleibt. Gerade dies ist essenziell, wenn es um die Frage
der Erweiterung von Handlungsfähigkeit von unten geht. Denn gerade in dem,
„was noch nicht Politik geworden ist“, kommt ein aktives Verhältnis der Men-
schen zum Gesellschaftlichen zum Ausdruck: Formen der Beziehungen, in denen
sich Aspekte von Fremd- und Selbstbestimmung überkreuzen.
Während Demirovic vor allem eine Kritik an Verfügungsgewalten von oben
formuliert, betont Sandkühler ein in der Vorstellung von Volkssouveränität einge-
schlossene normatives Moment. Dieses ziele darauf ab, die Einzelnen aus ihrer
Isolation zu holen und in der Idee einer Gleichheit aller eine kollektive Aktivität
und Herrschaft in Richtung „Freiheit und Schutz vor Unterdrückung“ zu begrün-
den (Sandkühler 2013: 533). Damit erfülle Volkssouveränität „vor jeder Faktizität
von Volksherrschaft“ die Funktion eines „Als-ob“, um den Herrschenden die „Le-
gitimationsbasis zu entziehen und eine neue Grundlage für die Geltung des Herr-
schaftsanspruchs aller zu schaffen“ (ebd.). Grundlegend sei das Spannungsver-
hältnis, welches sich aus der Perspektive der Menschenrechte, als Recht auf
Selbstverfügung der Individuen, im Verhältnis zur Verfügungsgewalt fremdge-
setzter Herrschaft ergebe (ebd.: 534). Der Volksbegriff sei auf doppelte Weise wi-
dersprüchlich: Als Begriff zur Diskussion legitimer Herrschaft sei er eine Fiktion
oder Hilfskonstruktion, um zur Kritikfähigkeit bestehender Herrschaft zu gelan-
gen. Gleichzeitig seien die Menschenrechte über „Inklusion und Exklusion“ wi-
dersprüchlich mit dem citoyen dem Staatsbürger verknüpft. Inklusion definiert
sich hierbei als rechtlicher Zuspruch staatlicher Zugehörigkeit, Exklusion als Aus-
schluss in Form von „Menschenrechtsverweigerung“ (ebd.: 535), die z. B. den
Zugang zur Staatsbürgerschaft verhindert. Außerdem bezeichne dēmos ein struk-
turelles Allgemeines, „die Beziehungen der Menschen untereinander“ (ebd.), und
könne im Unterschied zur „Volksgenossenschaft“ als „Rechtsgemeinschaft“ be-
griffen werden (ebd.: 538). Volkssouveränität bestimmt sich damit als Rechts-
1.4 Volkssouveränität 19

gemeinschaft nach „innen hin inklusiv“ und nach „außen hin exklusiv“ (Loick
2012: 101), wodurch in die Rechtsgemeinschaft ein Gewaltverhältnis eingeschrie-
ben ist (vgl. ebd.: 96 f. u.181 f.).

1.4.2 Agambens „nacktes Leben“ als Passivierung

Ähnlich sieht Giorgio Agamben im Begriff des Volkes „eine dialektische Oszilla-
tion zwischen zwei entgegengesetzten Polen: auf der einen Seite die Menge „Volk“
als integraler politischer Körper, auf der anderen Seite die Untermenge „volk“ als
fragmentarische Vielfalt von bedürftigen und ausgeschlossenen Körpern“ (Agam-
ben 2002: 187). Entsprechend bestimmt er die im Begriff „Volk“ ausgedrückte „ori-
ginäre politische Struktur“ als kategorialen Gegensatz: „nacktes Leben (volk) und
politische Existenz (Volk), Ausschließung und Einschließung“ (ebd.). Entsprechend
zeichne sich „die moderne Politik“ dadurch aus, dass „die Ausnahme überall zur
Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt“ (ebd.: 19). Der
Ausnahmezustand, in dem das nackte Leben „zugleich von der Ordnung ausge-
schlossen und von ihr erfasst“ werde, habe gerade in seiner Abgetrenntheit das „ver-
borgene Fundament“ geschaffen, „auf dem das ganze politische System ruhte“
(ebd.). Diejenigen, die vom „politisch relevanten Leben“ (148) ausgeschlossen
seien, das „Volk der Ausgeschlossenen“ (188), stünden im „Niemandsland“ (100).
Zur Sprache gebracht ist damit ein menschliches Leben, welches durch die Flieh-
kräfte der oszillierenden Prozesse von Einschließung und Ausschließung nach außen
getrieben oder draußen gehalten wird. Da sowohl für bürgerliche Demokratien als
auch für totalitäre Staaten das „nackte Leben“ gleichermaßen, wenn auch auf unter-
schiedliche Weise, „zur fundamentalen Referenz“ geworden sei, verlören sich hier-
bei die „politischen Unterscheidungen“ (ebd.: 130).
Wolfgang Fritz Haug kritisiert, dass Agamben „hierdurch aller liberalen De-
mokratietheorie und Philosophie der Zivilgesellschaft den Garaus macht“ und „die
Perspektive ihrer Auf- und Höherhebung durch Überwindung der Klassengesell-
schaft zum Erlöschen“ bringt (Haug 2010: 51). Im Term des „nackten Lebens“
finde sich „die Reduktion der von der souveränen Macht Überwältigten“ (Bogdal
zit. nach ebd.: 52). Herrschaftsmacht werde zugleich „entnannt und totalisiert“,
der „Praxisperspektive progressiver Kritik“ der Boden entzogen (ebd.). Bei den an
Agamben anschließenden Interpretationen (wie z. B. von Raul Zelik) sei der An-
satz eines „popularen Souveränitätsbegriffs ausgeschaltet und Volkssouveränität
als konstituierende Macht von unten undenkbar“ (ebd.: 58). Indem alles Recht aus
der Gewaltsphäre jenseits allen Rechts abgeleitet werde, verschwinde eine „in
Wirklichkeit unhintergehbare geschichtliche Rechtsquelle“, die durch die „anta-
gonistische Reklamation von Gerechtigkeit [...] in die Setzung von Recht mündet
und in der dessen unaufhebbarer Kompromisscharakter gründet“. Im Unterschied
20 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

zum politischen Kompromiss (den Walter Benjamin kritisiert) sei dies der Aus-
druck einer „ideologischen Verdichtung [...], die gleichsam die Sprache selbst,
nicht nur das Reden der Verhandelnden verändert und die widersprüchliche Leis-
tung der ideologischen Unterwerfung in der Form der Selbsttätigkeit ermöglicht“
(ebd.). Erscheinen bei Agamben die „Ausgeschlossenen“ als passiv, werden hier
die eigenaktiven Momente, wird somit Widerständiges überhaupt erst fassbar. Ins
Blickfeld rücken die alltäglichen Verhältnisse von Selbst- und Fremdbestimmung
und damit die Frage, wie „Oben“ und „Unten“ bzw. „das aktive Verhältnis der
Unterdrückten zum ideologisch Höchsten vermittelt sind“ (Haug 1987: 49).
Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie in diesem Verhältnis eine Perspektive poli-
tischer Souveränität als aktiv selbstbestimmtes Moment des Widerständigen arti-
kuliert werden kann.

1.4.3 Widerständiges als Zirkulation im Raum des Politischen

Hierzu lassen sich aus Walter Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ wider-
ständige Dimensionen aus einer Akteursperspektive der Subalternen entwickeln.
Im Anschluss an Sorel differenziert er zwischen politischem und proletarischem
Streik. Beides seien Formen, die sich in jeweils spezifischer Weise gegen die Be-
schneidungen von Selbstbestimmung richten und so gleichzeitig Reibungspunkte
widerständigen Handels bilden. In diesem Sinne ist die Idee Benjamins auch eine
Skizze von Handlungsfähigkeit des Widerständigen sowie seiner Begrenzungen
als Ort von Souveränität. Hierfür lassen sich zwei Dimensionen beschreiben.
Mit Blick auf den politischen Streik kann man mit Benjamin das Widerstän-
dige als Reibung an gesetzten Grenzen skizzieren. Dabei zirkuliert Widerstand
widersprüchlich zwischen dem Anspruch, eingreifend zu handeln, und dessen Be-
grenzung. Diese liegt in der Orientierung am vorgegebenen Streikrecht, welches
zwar einerseits die Form des organisierten Protests ermöglicht, aber gleichzeitig
den Staat als intervenierende und das Recht relativierende Größe ins Spiel bringt
(z. B. Sonderverfügungen vgl. Benjamin 1965 b: 37). Entsprechend sei der politi-
sche Streik als gewalthafte Größe zu erkennen, da er „nur eine äußerliche Modifi-
kation der Arbeitsbedingungen veranlasst“ (ebd.: 51). Die entfremdete Form von
Arbeit und Gesellschaft werde nicht angetastet, sondern in ihrer hierarchischen
Gliederung aufrechterhalten. Die hiermit verknüpfte Form des Widerstands orien-
tiert sich am Rahmen vorgegebener Möglichkeiten, mit dem Effekt, die entfalteten
Aktivitäten auf eine Veränderung des Bereichs der Politik zu konzentrieren.25 Die

25 Hierzu ist anzumerken, dass Walter Benjamin das „Politische“ als das Staatliche versteht. Diese
Sichtweise unterscheidet sich beispielsweise vom erweiterten Verständnis des Politischen im
1.4 Volkssouveränität 21

staatliche Verfügungsgewalt werde kritiklos als Reibungsfläche der Auseinander-


setzung anerkannt und in den widerständigen Handlungsvollzügen reproduziert.
Gesellschaftliche Veränderung sei somit auf die engen Grenzen und Spielregeln
des Politischen festgelegt und so Ausdruck von Selbstbeschränkung sowie einer
Begrenzung von Handlungsfähigkeit.
Eine hieraus erwachsende Problematik skizziert Ingeborg Maus am Beispiel
der Praxis von Protestbewegungen. Widerstand mobilisiere sich als eine „Verwei-
gerung von unten“ gegen „Innovationen von oben“ (Maus 2011: 24). Konkret be-
deute dies, dass Protestbewegungen im Versuch, „Innovationen und Rechtsverän-
derungen von unten zu bewirken [...], ihr Selbstverständnis und oft auch ihre Pra-
xis der herrschenden justizstaatlichen Doktrin unterordnen“. Die Form der ge-
wählten widerständigen Praxis richte sich dabei auf „symbolische Regelverstöße“,
um beispielsweise „eine gerichtliche Klärung der Rechtslage zu bewirken“ (ebd.).
Widerstand und „bürgerlicher Ungehorsam“ wären nicht zwangsläufig „auslö-
sende Momente eines demokratischen Willensbildungsprozesses“, der in der
Folge Gesetzesänderungen erwirkt, sondern könnten sich darin verlieren, „den
Rechtsweg einzuleiten“ (ebd.: 25). Erfolge dieser Prozess ohne „öffentliche Dis-
kussion“, bleibe der bestehende Konflikt im rechtlichen Diskurs der Institutionen
eingeschlossen und führe „weder zu einer Rechtsänderung noch zu einer Klärung
des Rechts“ (ebd.). Es komme zu einer „Juridifizierung der basisdemokratischen
Aktivitäten“ (ebd.), zu einer Vereinzelung des Protests und seiner Reduktion auf
lokale Zusammenhänge. Themen, die man mit anderen Initiativen gemeinsam hat,
oder solche von gesellschaftlich allgemeinem Interesse können so verblassen oder
nicht erkannt werden.
Maus Gegenüberstellung einer „Verweigerung von unten gegen Innovatio-
nen von oben“ wäre weiter zu differenzieren, um die Dynamik des skizzierten Zu-
sammenhangs als widersprüchliche Verzahnung aus aktivem Handeln und gleich-
zeitiger Passivierung fassen zu können. Ihr Beispiel verdeutlicht, dass Protestbe-
wegungen sich nicht nur mit der Klärung einer Rechtslage bescheiden, sondern
unter Berufung auf das Recht versuchen, den Raum des Politischen zu verändern.
Die Schwierigkeit besteht aber in einem von Recht und Politik herausgeforderten
Abstraktionsprozess des eigenen Anliegens, das in konzentrierter Form und dem
Rechtsrahmen bzw. politischen Kontext angemessen in eine entsprechende Spra-
che transformiert werden muss. Diese Herausforderung zwingt das Widerständige
dazu, die Ausdrucksformen des Protests entsprechend zu kanalisieren. Seine
Transformation in eine übergeordnete (Rechts- oder Polit-)Sprache gewinnt somit
die Bedeutung einer Verobjektivierung der in ihm artikulierten Problematik, mit

heutigen Sinne als das „Vorstaatliche“, wie es etwa Oskar Negt und Alexander Kluge in ihrem
Buch Maßverhältnisse des Politischen (1993) umreißen.
22 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

der Folge, dass Anliegen und Bewegungsform auseinanderfallen und einander


fremd gegenüberstehen.
In diesem Zusammenhang verblasst die notwendige Unterscheidung „zwi-
schen der Verständigung über die Gestaltung der je eigenen Verhältnisse und der
Sozialisation in die symbolische Ordnung von Herrschaft“ (Haug 1993: 152). Der
Herrschaftszusammenhang ist spürbar, aber nicht durchschaubar. Dies führt zur
paradoxen Situation, dass auf der einen Seite das Anliegen des Protests durch
rechtliche Würdigung an politischer Relevanz gewinnt, aber gleichzeitig die Aus-
drucksformen und Handlungsweisen des Widerstands zurückgewiesen oder mit
Regulierungen im Raum des Politischen belegt werden können. Darüber hinaus
gewinnt das Recht selbst im Status eines Dritten scheinbare Neutralität und eigen-
ständige Autorität. Während es durch Ausdifferenzierung und Normierung an
Macht gewinnt und möglicherweise hieraus tatsächlich eine Regulierung des Po-
litischen erfolgt, verliert das Widerständige an Selbstbestimmung und Handlungs-
fähigkeit. Wer Veränderungen im Raum des Politischen durch die Stützung auf
das Recht bewirken will, baut auf die Idee vom Recht als Möglichkeit der Produk-
tion von Gerechtigkeit, ausgeübt durch institutionalisierte Staatlichkeit. Wider-
ständige Aktivität verknüpft sich mit Passivierung. Die im Protest vertretenen In-
teressen unterliegen der Fremdbestimmung, wenn sie zur Entscheidung an einen
Dritten abgetreten werden.
Haug hat solche Situationen als Kompetenz-Inkompetenz-Dilemma skiz-
ziert. Er sieht hierin einen Vergesellschaftungsmodus, bei dem „ursprüngliche
Kompetenzen, Bestandteil normaler gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit aller
Individuen, aus der Gesellschaft herausgezogen“ werden (Haug 1993: 49). For-
men horizontaler Vergesellschaftung, ihre Ausdrucksweisen und Tätigkeitsfor-
men werden auf „Überbauinstanzen und deren Beamtenapparate“ übertragen und
sind so „der begrenzten und ‚von oben‘ regulierten Partizipation an der Vergesell-
schaftung oder Konfliktaustragung“ ausgesetzt (ebd.: 50). In diesem Sinne werden
Protestbewegungen und ein von unten artikuliertes Recht in ihrer Souveränität be-
schnitten und letztlich im Bereich des Politischen beherrschbar gemacht.

1.4.4 Souveränität in der Perspektive einer befreiten Gesellschaft

Im proletarischen Streik sieht Benjamin dagegen die Triebkraft, sich grundsätz-


lich gegen das Diktat staatlicher Gewalt zu erheben. Seine Form ist als „reines
Mittel gewaltlos“, weil sie sich nicht nach äußerlichen Konzessionen und Modifi-
kationen der Arbeitsbedingungen richtet, sondern eine „gänzlich veränderte Ar-
beit, eine nicht staatlich erzwungene“ im Blick hat (Benjamin 1965b: 51). Die
Subjekte einer „gänzlich veränderten Arbeit“ sind die Unterdrückten, „die kämp-
fende unterdrückte Klasse selbst“ (Benjamin 1965a: 88). Die Blickrichtung für
1.4 Volkssouveränität 23

Widerständiges wäre somit die menschliche Selbstvergesellschaftung, die über die


politische und ihre Schranken hinausweist. Es geht um die selbstbestimmte Ge-
staltung des Sozialen, des physischen, geistigen Lebens, der „menschlichen Ver-
hältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, An-
schauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Indivi-
dualität“ (Marx, MEW 40: 539). Während die Idee des Widerständigen sich aus
einer bestehenden Rahmung des Rechts und des Politischen ableitet, ist die Idee
der Souveränität eine Größe, die diesen Kontexten „vorausliegt und diese erst be-
gründet“ (Maus 2011: 25). Maus verbindet dies mit der Perspektive einer „demo-
kratischen Konzeption“ des Naturrechts (Maus 1994: 13). Anknüpfend am „vor-
staatlichen Charakter der Menschenrechte“ (10) betont sie, dass „Souveränität
ausschließlich denen zukomme, die von Entscheidungen selbst betroffen sind –
und nicht etwa den Amtsträgern und Funktionären“ (Maus 2011: 43). „Die demo-
kratische Anstrengung“ begründe sich aus „Prinzipien der Gerechtigkeit, die aus
der Perspektive der gesellschaftlichen Basis gegen mächtige Instanzen und ex-
pertokratische Bevormundung wahrgenommen werden“ und verhindern sollen,
dass eine Interpretation von Grundrechten durch die Staatsapparate „den vorstaat-
lichen Charakter, den diese Rechte für die Individuen haben, zerstören und Frei-
heitsrechte in von oben zugeteilte und staatlich definierte Güter“ verwandelt wer-
den (Maus 1994: 12). In diesem Sinne gehe es darum, die „Gerechtigkeitsperspek-
tive von der Spitze an die Basis der Gesellschaft“ zu verlegen (ebd.).
Die von Maus skizzierte Position kann mit Ernst Bloch differenziert und aus-
gebaut werden. Dieser rekonstruiert in Naturrecht und menschliche Würde, wie
historisch begründete „demokratische Ansprüche“ sich schichtweise herausbilden
und widersprüchlich im Naturrecht sowie einer hieraus entspringenden Idee von
Souveränität kristallisieren. Im Unterschied zum positiven Recht und seiner for-
mal rechtlichen Gleichheit stünden im Naturrecht Herrschende und Beherrschte
einander gegenüber. Sie beriefen sich auf für sie jeweils naturgültige Rechtsan-
sprüche, die sich nach historischer Epoche sowie Kontext unterschieden. Sie sind
aus der Perspektive von unten nicht abgegolten, sondern in jeweils aktuell er-
kämpfte Kompromissbildungen eingeschrieben und so als „Wärmestrom“ Rich-
tungsgeber für das „In-Möglichkeit-Sein“ einer umfassenden Realisierung von
Freiheit des Menschen in der Aufhebung seiner Entfremdung (Bloch 1985a: 224
f.). In diesem Sinne skizziert Bloch das Naturrecht als historische Entwicklung,
die sich als widersprüchliche Auseinandersetzung um Herrschaft, konkret als ein
Ringen um Fremd- und Selbstbestimmung, verstehen lässt. Herrschaft ist um-
kämpft und ein von gegensätzlichen Interessenlagen durchzogenes, sich verän-
derndes und veränderbares Verhältnis. Durch diese Widersprüchlichkeiten hin-
durch sieht Bloch im Naturrecht den legitimen Anspruch des Widerständigen im
Ringen um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hervortreten. Die befreienden
24 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

Ideen seien vor allem in ihrer Möglichkeit des Werdens hervorzuheben, um Herr-
schaftsverhältnisse und ihre Verfügungsgewalt erkennen, kritisieren und verän-
dern zu können.
Diese Überlegungen sind zur Gewinnung einer kritischen Vorstellung von
Souveränität weiter zu vertiefen. Ich möchte deshalb an dieser Stelle einige Ge-
danken von Ernst Bloch zu den Stichworten Freiheit, Gleichheit und Brüderlich-
keit aufnehmen und ihre aufeinander bezogene bedingte Dreiheit der Begriffe her-
ausarbeiten. Ihre Geschichte sei eine „voller Vieldeutigkeit“ und unterschiedlicher
Schichtungen (Bloch 1985c: 176; vgl. auch Bloch 1985b: 614 f.). Diesem Gedan-
ken soll am Beispiel des Verständnisses von Freiheit gefolgt werden. Sie bedeutet
zunächst, „dass einem Menschen nichts mehr von außen her aufgetragen wird“,
wobei die psychologische Freiheit des Willens nur in der Art vorausgesetzt sei, als
dem Menschen die Kraft zugestanden wird, „zwischen widerstreitenden Antrieben
wählen zu können“ (ebd.). Wahlfreiheit ist auf „verschiedenste Weise, organisch
wie sozial determiniert“ (ebd.) und es gilt, das hierin liegende „Reiz-Reaktions-
schema“ zu überwinden (vgl. Schiller 2012: 150 f.). In diesem Sinne hat der
Mensch eine „Wahlfreiheit“, derer „politisch-soziale Freiheit“ insofern bedarf, als
diese den Willen als die Entwicklung eines Bewusstseins von der Notwendigkeit
einer Befreiung von „Zwang“ und „Druck“ voraussetzt (Bloch 1985c: 177). So
wird der Blick auf „Handlungsfreiheit“, die im „politisch-sozialen Kampf“ tätig
angeeignet und verwirklicht werden muss (ebd.), ermöglicht. Freiheit ist gefasst
als eine Bewegung von einer „Freiheit von etwas“, „Freiheit von Druck“, der „den
aufrechten Gang verhinderte und verneinte“, hin zu Formen erweiterter Hand-
lungsfähigkeit (ebd.: 177 f.). Ist diese Perspektive positiv gerichtet, ist sie dennoch
in den historischen Prozessen gebrochen und in den hervorgebrachten Epochen
und Gesellschaftsordnungen widersprüchlich gebunden. Bloch verweist z. B. auf
den Wandel der feudalen Ordnung hin zur „bürgerlichen Lebensform“ (ebd.: 178).
Wesentliche Triebkraft für diesen Wandel sei den Produktivkräften zugekommen,
„denen die überkommene Lebens- und Gesellschaftsform zur Fessel geworden
war“ (ebd.). Die „Freiheit von der feudalen Ordnung“ sei der Gewinn „einer
neuen, zunächst bürgerlich geratenden Lebensordnung“ (ebd.) gewesen. Positiv
verknüpft sei hiermit einerseits die Assoziation von Freiheit gewesen; als „der Un-
verletzlichkeit der Würde der Person“, andererseits sei die mit der bürgerlichen
Gesellschaft gewonnene Freiheit eine gewesen, die im „Profitwillen“ die „Selbst-
bestimmung des mündigen Menschen“ (ebd.) in die eines „individuellen Wirt-
schaftssubjekts“ (ebd.: 178) kanalisiert und formalisiert habe. Insofern sei den
Produktivkräften eine Fessel genommen worden; Handlungsfreiheit aber „war bei
bleibender ökonomischer Abhängigkeit den meisten Menschen nach wie vor ver-
riegelt“ (ebd.).
1.4 Volkssouveränität 25

In der Perspektive von unten allerdings ist das Ideal von selbstbestimmter
Handlungsfreiheit nicht abgegolten. Im Gegenteil: Es erweiterte sich, um die mit
der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebrachte Entfremdung und somit perspekti-
visch „das Reich der undurchschaubaren Abhängigkeiten überhaupt verlassen“ zu
können (ebd.: 179). Impulsgebend hierfür bestimmt Bloch die Dimension der ethi-
schen Freiheit, die sich gegen eine „bloß inwendige“ Perspektive und damit gegen
die Privation einer Freiheitsidee richtete. Als Kernbestandteil von Handlungsfrei-
heit sei ethische Freiheit ein aktives Gestaltungsverhältnis in der Welt, das sich
„nicht in der Stille, sondern [...] im Strom der Welt“ bilde (ebd.: 181). Hieran an-
schließend sieht Bloch im „homo liber [...] das Gegenteil von Privatheit“ (ebd.:
180). Er zeichne sich durch „öffentliche Unbeugsamkeit aus“ (ebd.: 180 f.) und
könne somit als Praxis einer Verflüssigung der Privatheit hin zur Öffentlichkeit
verstanden werden. Die Zielrichtung sei hierbei eine „Fülle in Einheit. Das ist das
Gleiche wie Solidarität, als reich bewegter Zusammenklang der individuellen und
der gesellschaftlichen Kräfte“ (Bloch 1985b: 621). Das Moment der ethischen
Freiheit verweist auf die Notwendigkeit kollektiver Prozesse der Solidarisierung
zur Erlangung von Handlungsfreiheit. Gleichzeitig ist es die Absage an Vorstel-
lungen von Solidarität in gebrochenen Formen der Entfremdung eines „harmonis-
tischen Betrugs [...] der Volksgemeinschaft“ als „Umarmung von Bestien“ (Bloch
1985c: 193).
Der unterscheidende Impuls liege in der Perspektive der Unterdrückten,
„nicht mehr Objekte bleiben zu wollen“ (ebd.). Wie Bloch hervorhebt, ist dies die
Blickrichtung der Befreiung. Die Einsicht, „nicht mehr Objekte bleiben zu wol-
len“, der Fremdbestimmung selbstbestimmt entgegenzutreten, erzeugt die Mög-
lichkeit, den „Hass zwischen den Rassen, den Nationen, den Religionen“ aufzu-
heben (ebd.). Hierin liege zum einen die konkrete Erfahrung der Überschreitung
einer Grenze hin zur Erfahrung des „objektiv-real Möglichen“, menschlicher zu
sein, die Welt notwendig kollektiv eingreifend gestalten zu können (Bloch 1985a:
271 f.). Zum anderen erzeuge dieses Moment Gleichheit: „Der Freiheitskampf er-
zeugt Gleichheit; die Gleichheit als Ende der Ausbeutung und Abhängigkeit erhält
die Freiheit, die Brüderlichkeit lohnt eine Gleichheit, worin es keiner mehr nötig
hat, ja überhaupt in der Lage ist, dem anderen ein Wolf zu sein“ (Bloch 1985c:
194). Die Denk- und Handlungsweisen des Individuums sind Bloch zufolge mit
denen der anderen verknüpft. Die Handlungsmöglichkeit dieses kollektiven Zu-
sammenhangs hebe gleichzeitig die Notwendigkeit des individuellen Beitrages am
Gemeinsamen hervor. Gleichheit in diesem Sinne sei keine „mechanische“, keine
„statische“ Größe als Gradmesser eines „Durchschnitts“, sondern habe die Auf-
gabe, die „ungekommene menschliche Identität“ hervorzubringen (ebd.: 191). Sie
„markiert den Ernst“ und bildet den „soliden Corpus“ kollektiver Handlungsfä-
higkeit des Widerständigen (ebd.: 189).
26 1 Empirisch-funktionale Demokratietheorien

In ihrem Zusammenspiel bezeichnen Freiheit, Gleichheit und Solidarität eine


soziale Praxis. Als Praxis eines aktiven Gestaltungsverhältnisses in der Welt ver-
weist das Zusammenspiel von Freiheit, Gleichheit und Soldidarität auf Erfahrun-
gen mit Grenzsituationen, die Momente markieren, in denen „Menschlichkeit ver-
letzt wird. Auf diesem Weg wird das Noch-Nicht zum Maßstab für das Handeln“
(Siebers 2014: 405 f.). Im Zentrum steht hiermit die menschliche Würde als „An-
meldung der subjektiv öffentlichen Rechte“ (Bloch 1985b: 636), die in aller Wi-
dersprüchlichkeit die Geschichte immer wieder bis zur bürgerlichen Gesellschaft
durchbrochen hat. In diesem Zusammenhang, der Würde vorgelagert und ihr zum
Ausdruck verhelfend, „wirkt in Freiheit der Gegenzug eines subjektiven Faktors
gegen jene Notwendigkeit, woran die Menschen ohne Willen, wider Willen und
jedenfalls ohne Begriff ausgeschlossen sind. Der subjektive Faktor braucht keiner
des Individuums zu sein, er ist [...] einer der Gemeinschaft, welche [...] unterdrückt
ist und [...], ihre Individuen mitbefreiend, gegen Unterdrückung aufsteht“ (ebd.:
616). Der „Willensgehalt konkreter Freiheit“ steht hierbei „gegen jedes nur abs-
trakt und isoliert gefasste Kollektiv, gegen ein Kollektiv, das den Individuen ent-
gegengesetzt wird, statt dass es aus ihnen, aus klassenlosen, entspringt“ (ebd.:
637). Hierfür brauche es „die Potenz des realisierenden Subjekts“; die Subjektivi-
tät der Einzelnen dürfe „nicht in der Masse [...] verloren gehen. Ihre Fähigkeiten
und Fertigkeiten [...] müssen als produktiver Bestandteil der Bewegung gesetzt
werden“ (Jung 2012: 308).
Hierin artikuliert sich die Souveränität der Subalternen und Ausgeschlosse-
nen als aktives Gegenstück zur Souveränität als Staatsgewalt oder als Rechtsge-
meinschaft. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit treten in ihrem Zusammen-
spiel als Bedingungen einer kollektiven Handlungsmacht von unten durch die in-
stitutionalisierte Form einer halbierten Selbstbestimmung und ihrer wiederum or-
ganisierten Notwendigkeit in Fremdbestimmung hindurch. Der Impuls des „Wil-
lensgehalts“ ist Ausdruck eines Willens, „sich aus magischen Praktiken der Be-
schwörung, der Verführung und der Verführbarkeit durch Zaubersprüche, gleich
welcher Art, zu befreien“ (Negt 2010: 388). In diesem Sinne ist einem Verständnis
vom Politischen als von einer „zentralen Macht [...] ausströmenden Souveränität“
und ihrer „zentralistischen Konstruktion“ widersprochen (Negt/Kluge 1993: 48).

1.5 Begriff eines Politischen von unten

Für die weitere Bestimmung einer Perspektive des Politischen von unten können
drei Fragen als Orientierung dienen, die Oskar Negt und Alexander Kluge wie
folgt formuliert haben: 1. „Bleibt im Alltag etwas verborgen, vereinzelt und pas-
siv?“, 2. „Gelangt eine Konstellation alltäglicher Gefühle zu einem öffentlichen
politischen Ausdruck, bildet etwas eine gemeinsame Bewegung?“ und 3. „Hat
1.5 Begriff eines Politischen von unten 27

dieses Politische Dauer, d.h. beginnt es zu arbeiten, erzeugt es einen produktiven


Prozess, der seinen Eigenwillen behauptet?“ (Negt/Kluge 1993: 46). Diese Fragen
liefern Hinweise auf Dimensionen von Intensitätsgraden, Wandlungen und „ob-
jektive[n] Möglichkeiten“, die in ständiger Bewegung sind und alle möglichen
Gestalten annehmen können (ebd.). Auch wenn sie bewussten, konkreten Kanali-
sierungen und Überformungen noch entzogen sind, bilden sie den „Rohstoff“, aus
dem sich das Politische von unten formt.
Um den emanzipatorischen Gehalt analytisch sichtbar machen zu können, ist
weiterführend „die Frage nach den Bedingungen und Maßverhältnissen“ zu stel-
len, unter denen der „politische Rohstoff (Interessen, Gefühle, Proteste usf.) […]
produziert“ wird (ebd.: 47). Als mögliche Orientierungsmarken für einen solchen
Erkenntnisprozess skizzieren Negt und Kluge folgende Punkte: „notwendige
Dauer, Eigenwillen und subjektive Autonomie, die sich zu einem Gemeinwesen
verbinden, Ausdrucks- und Unterscheidungsvermögen, das die wesentlichen Le-
benserfahrungen öffentlich erkennbar hält (d.h. Ausgrenzung vermeidet), die Pro-
duktion von Freiheit“ (ebd.). Als konkrete Erfahrungsdimensionen sind diese
Punkte von zentraler Bedeutung, da dort, „wo […] individuelle Freiheit […] in
sich eine Befriedigung erfährt […], tatsächlich […] assoziative […] gesellschaft-
liche[…] Kräfte freigesetzt werden können“. In der Folge „entsteht Zwanglosig-
keit in den Beziehungen zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftli-
chem Ausdruck dieser Bedürfnisse“ (ebd.: 47-48). Die Erfahrung des Gesell-
schaftlichen „wäre nicht etwas von außen Aufgesetztes, sondern vom Individuum
selber herausgefordert und in Anspruch genommen. Die Bedürfnisse haben jetzt
gemeinsames Ausdrucksvermögen, sozusagen Namen bekommen. […] Das Ele-
ment des Allgemeinen im Politischen verneint nicht das Recht des Besonderen,
sondern verschafft ihm seinen spezifischen Umkreis“ (ebd.: 48). Entscheidend an
diesen Überlegungen ist, dass die hier angedeutete produktive Vielfalt und ihre
Erfahrungszusammenhänge sowie ihre Überschneidungen, Ausdrucksformen und
räumlichen Praxen26 (vgl. Lefebvre 2012) dem Alltäglichen entspringen. Sie sind
Ausdruck davon, die Fesseln der Fremdbestimmung abzustreifen und fordern da-
bei eine Form menschlicher Selbstorganisation heraus, die „sich […] in den For-
men staatlicher Tätigkeiten nicht vorstellen“ lässt (vgl. Negt/Kluge 1993: 50).
Gleichzeitig deuten sie auf die Möglichkeit (und Notwendigkeit) einer Verschie-

26 An dieser Stelle kann ich nicht vertiefend auf die Überlegungen zur „Produktion des Raumes“
von Henri Lefebvre eingehen. Interessant finde ich die Überschneidung und Wechselwirkung
dreier von ihm skizzierten Dimensionen, der „räumlichen Praxis“, den „Raumpräsentationen“
und den „Repräsentationsräumen“ (2012: 333). Letztere skizziert in dieser Dreiheit „Freiräume“,
die sich die Menschen z. B. durch Bilder und Symbole aneignen und in diesem Produktionspro-
zess Phantasien freilegen, Wünsche entdecken, die in ihrer Perspektive über die Idee der Gegen-
wart hinausschießen und so Möglichkeiten hervorbringen können, konkrete Praxen des eingrei-
fenden Handelns zu entwickeln.
28 1

bung und Aufhebung der Grenze zwischen dem Politischen und dem Ökonomi-
schen. Die hier angedeutete Dynamik eines Politischen von unten steht allerdings
im Widerspruch, sich durch die Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft zu formie-
ren. Dies bedeutet auch, dass der von mir skizzierte Begriff eines Politischen von
unten sich als Gegenstück zum Politischen des Formalen, des Funktionalen, des
Staatlichen versteht. Das Politische von unten und das Politische in seiner staatlich
institutionalisierten Form sind wechselseitig aufeinander bezogen. Im Begriff des
Politischen von unten artikuliert sich die emanzipatorische Hoffnung, die repres-
sive Form des Politischen zu verändern und zu überwinden. Einerseits wird so das
Politische als Entwicklungsprozess erkennbar, der sich aus dem „Rohstoff“ sozi-
aler Kooperation erzeugt, und andererseits ist das Politische von unten selbst nur
als kooperativer Zusammenhang denkbar. Habe ich mit Oskar Negt und Alexan-
der Kluge das Politische von unten als einen Entwicklungsprozess beschrieben,
der sich in Abhängigkeit vom „politischen Rohstoff“ entwickeln kann, ist die im
Rohstoff bezeichnete Vielfalt menschlicher Ausdrucksweisen durch den Begriff
des Politischen selbst schon wieder beschränkt. Die Momente, in denen die Men-
schen die Lebensformen hervorbringen und „das praktizieren, was ihnen lebens-
wert erscheint und worin sie sich selber als Sinn und Zweck ihrer Lebenstätigkeit
fassen“, sind in ihrer Vielfalt reichhaltiger und nicht allein im Politischen auszu-
drücken (vgl. Haug 1993: 53).27 Ihre Entsprechung findet diese Perspektive im
Ausdruck des Möglichen von Ernst Bloch. Das Mögliche „des Noch-Nicht“ ver-
steht Bloch in zwei „Formen, subjektiv und objektiv: subjektiv als Noch-nicht-
Bewusstes und objektiv als Noch-nicht-Gewordenes. Das eine ist innen, das an-
dere ist außen. Beides sind Formen und Repräsentationen von Zukünftigem, also
Neuem, und zwar echt Zukünftigem, was noch nie war“ (Bloch 1975: 17). In die-
sem Zusammenhang bezeichnet der Dreiklang aus Freiheit, Gleichheit und Brü-
derlichkeit ein angelegtes „Vor-Bewusstsein eines Zustandes, worin Klassenge-
sellschaft nicht mehr gilt“ (Bloch 1985c: 197). Insofern ist die menschliche Ent-
wicklung unabgeschlossen, ein Weg des Vortastens, des Experimentierens und of-
fen gehalten in Richtung der Entwicklung einer umfassenden Sinnlichkeit, wie ich
sie oben im Anschluss an Marx umrissen habe, die den „Rohstoff des Politischen“
einschließt.

27 Das von mir gewählte Zitat verweist auf die von Wolfgang Fritz Haug skizzierte Dimension des
„Kulturellen“, die wiederum in ihrer Verzahnung mit der Dimension des „Ideologischen“ zu
denken ist.
2 Normative Demokratietheorien

Auch der Gegenwartsdiskurs normativer Demokratietheorien setzt sich kritisch


mit den Rahmenbedingungen moderner liberaler Demokratie auseinander. Im Un-
terschied zu empirisch-funktionalen Theorieentwürfen stellen die normativen De-
mokratietheorien die Frage, ob die dort bestimmten Minimalbedingungen „ausrei-
chen, um ein politisches System demokratisch zu nennen“ (Buchstein 2012: 200).
Im Kern gehen normative Demokratietheorien davon aus, dass sich Vorstellungen
von Demokratie nicht in einer Technik zur Herrschaft erschöpfen können, sondern
stattdessen Demokratie z. B. einer „staatsbürgerlichen Kultur“ bedarf, die in ent-
sprechenden „Haltungen“, einem „Verhalten“ und in der Organisation von Gesell-
schaft in „nicht-politischen Institutionen“ zum Ausdruck kommen muss (Barber
1994: 19). Folgerichtig suchen normative Demokratietheorien nach Möglichkei-
ten zur Erweiterung der Partizipation und des Einbezugs der Bürger*innen ins ge-
sellschaftliche Leben, sehen Öffentlichkeit als ein zentrales Element zur Verhand-
lung gesellschaftlicher Fragen, verknüpft mit basisdemokratischem, dialogisch
orientiertem, sich auf „gemeinschaftliche Normen und Ziele“ (Schultze 2010:
138) verständigendem Handeln.
Exemplarisch hierfür stehen Theorieentwürfe von Jürgen Habermas zur „de-
liberativen Demokratie“ (Habermas 1996)28 oder die aus dem Amerikanischen

28 Auf die Theorie von Jürgen Habermas kann ich hier nicht eingehen. Die Überlegungen von Haber-
mas werden z. B. bei Demirovic (1997, 2007) einer kritischen Würdigung unterzogen. Eine Schwie-
rigkeit der demokratietheoretischen Überlegungen von Habermas, die Demirovic problematisiert,
ist die „Unterscheidung von Lebenswelt als der Sphäre der Alltagskommunikation und der gelebten
Intersubjektivität einerseits und den systemischen Bereichen von Ökonomie und Politik anderer-
seits“ (Demirovic 1997: 107). Die Bereiche der Ökonomie und Politik bleiben „von moralischen
Fragen“ entlastet und somit dem „Volkssouverän“ und dem gesellschaftlichen Einfluss entzogen
(ebd.). Dies bedeutet darüber hinaus auch, dass im Kontext deliberativer Demokratieentwürfe der
Bereich des Ökonomischen als eigene, unabhängige Handlungssphäre vom Bereich des Politischen
zu unterscheiden ist. Fragen der „Mitbestimmung“, die für den Bereich des Politischen von zentra-
ler Bedeutung sind (wie weiter oben erläutert), werden für den Kontext der Wirtschaft nicht thema-
tisiert (zur Problematisierung dieses Punktes vgl. Demirovic 2007: 101 f.). An anderer Stelle wäre
zu diesem Themenkomplex die Frage nach einer „demokratischen Planung“ im Bereich des Öko-
nomischen und dessen Verzahnung mit dem Politischen zu diskutieren. Carol Pateman hat dies
exemplarisch 1970 am Beispiel der Arbeiterselbstverwaltung in jugoslawischen Betrieben unter-
sucht (vgl. 1970: Kapitel V zum Stichwort „Workers’ self-management in Yugoslavia“, 85 f. und
Kapitel IV zum Stichwort „participation and democracy in industry“, 67 f.). Diese Thematik ist
weiterzudenken, dies in einer doppelten Weise. Einerseits sind die Erfahrungen mit der Arbeiter-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_3
30 2 Normative Demokratietheorien

und Deutschen kommenden radikal-demokratischen Positionen von Benjamin


Barber und Oskar Negt zu einer „Demokratie als Lebensform“ (Barber 1994 u.
2003 bzw. Negt 2010).29 Allen Autoren ist eine Kritik und „Krisenanalyse“ der
gegenwärtigen Gesellschaft gemeinsam. Mit Blick auf Negt ist hervorzuheben,
dass seine kritische Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen
Bedingungen eine Beschäftigung mit Fragen bürgerlicher Ordnung und Herrschaft
umfasst und insofern die Verbindung von Kapitalismus und Demokratie in spezi-
fischer Weise in die Reflexion aufnimmt.
Barber kritisiert eine Überbetonung des Liberalismus und dessen Zuspitzung
individualistischer Interessen sowie, dass sich in deren Folge Demokratie aus-
schließlich auf ein „Mittel zur Wahrung individueller Rechte (Eigentumsrechte
eingeschlossen)“ reduziert (Barber 1994: 88). Dieser Konzentration auf das „Pri-
vate“ stellt Barber die Ausweitung des „Öffentlichen“ im Sinne der Schaffung ei-
ner „sich selbst regierenden Gemeinschaft“ (Buchstein/Pohl 2012: 283) durch di-
alogisch-partizipative Mitwirkung gegenüber. Negt problematisiert, ausgehend

selbstverwaltung (z. B. der Ex-Jugoslawischen) kritisch aufzuarbeiten. Es sind deren Geschichte


und mit ihr verknüpften Widersprüchlichkeiten erinnernd neu anzueignen und zu fragen, was nicht
abgegolten ist und was aus dem Nichtabgegoltenen gewonnen werden kann (vgl. hierzu z. B. Zovak
2016). Warum? Weil der gegenwärtige Diskurs demokratietheoretischer Fragen über seine Begren-
zung im Politischen hinaus den Bereich des Ökonomischen einbeziehen muss. Es besteht die Not-
wendigkeit einer politischen Praxis „demokratischer Planung“ der Ökonomie (Recht/Werner 2010:
181 f.). Wie Alexander Recht und Alban Werner deutlich machen ist dies nicht nur notwendig,
sondern vor allem auch möglich (vgl. ebd.).
29 Im Folgenden beziehe ich mich beschränkend auf Benjamin Barber und Oskar Negt. Beide sind
bedeutende zeitgenössische Vertreter einer Demokratie als einer (das Alltägliche ausfüllenden)
Lebensform. Barbers Entwurf gilt in diesem Zusammenhang als „eine der wichtigsten Reformu-
lierungen“ (Sigwart 2012: 488) demokratietheoretischer Überlegungen John Deweys und gehört
„zum festen Textkorpus an amerikanischen Universitäten“ (Buchstein/Schmalz-Bruns 1994:
297). Hieraus ergibt sich ein spezifisches Verständnis des Politischen, was im Weiteren kritisch
herauszuarbeiten ist. Zum Stichwort einer „Demokratie als Lebensform“ ist an dieser Stelle auch
auf das gleichnamige Buch von Günter Dux (2013) hinzuweisen. Er rekonstruiert eine geistes-
geschichtliche und sozialgeschichtliche Entwicklungslinie von Demokratie (2013: 20 f.) bis hin
zu ihren Brechungen in einer kapitalistisch verfassten Marktgesellschaft (ebd.: 158 f). Barber
und Negt verknüpfen im Unterschied zu Dux ihr Verständnis von Demokratie mit handlungs-
theoretischen Überlegungen, die darauf zielen, den Begriff des Politischen (und damit den von
Demokratie) zu erweitern und das Potenzial politischer Handlungsfähigkeit „von unten“ norma-
tiv zu bestimmen. Sie entwickeln damit Begriffe, die für den Untersuchungsgegenstand dieser
Arbeit von besonderem Interesse sind. Eine Vermittlung der Überlegungen von Dux mit Barber
und Negt wäre lohnend, kann hier aber nicht geleistet werden. Außerdem wären in einem zu
erweiternden Radius unter dem Stichwort „radikal-demokratisch“ z. B. die Ideen von Chantal
Mouffe: „Das demokratische Paradox“ ([2000] 2015), Miguel Abensour: „Demokratie gegen
den Staat“ (2012), Alain Badiou: „Über Metapolitik“ ([1998] 2002) (vgl. hierzu Demirovic
2013), Giorgio Agamben (2002): „Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Le-
ben“ (2002) oder auch Jacques Rancière: „Das Unvernehmen“ ([2002]2016) einzubeziehen und
miteinander zu vermitteln. Auch dies kann ich in dieser Arbeit nur mit Einschränkung tun.
2.1 Benjamin Barber – das Politische starker Demokratie 31

von der Krisendiagnose eines globalisierten Kapitalismus, die Fragmentierung


und Flexibilisierung alltäglicher Lebensverhältnisse der Menschen. Hiermit zu-
sammenhängend seien die „alten Institutionen, die zu einem demokratischen Ge-
meinwesen gehören – Parlament, Dreiteilung der Gewalten, zivile Führung des
Militärs, Parteien und Gewerkschaften“ zwar vorhanden; die Menschen aber zwei-
felten daran, ob sie über diese Form der Institutionalisierung entsprechenden „Ein-
fluss auf das Gesamtgeschehen“ ausüben könnten (Negt 2010: 171 f.). Gleichzei-
tig breiteten „sich unterhalb der Institutionen [...] Gefühle der Mutlosigkeit,
Fluchtbedürfnisse, Frustrationen, Lebensangst [aus], die gar nicht mehr Aus-
druck“ in demokratischen Institutionen suchten, „sondern ganz andere Wege ge-
hen“ (ebd.: 172). Demgegenüber versteht Negt Demokratie als eine Lebensweise,
die aus der reflexiven „Herstellung von Zusammenhang“ (Negt 2010: 30) wächst
und so Handlungsfähigkeit erzeugt. Beide Positionen verdeutlichen eine spezifi-
sche Verhältnisbestimmung von Demokratischem und Politischem. Die Eck-
punkte dieser Sichtweisen sollen an dieser Stelle skizziert und ihre Begrenzungen
sowie Reichweite verdeutlicht werden.

2.1 Benjamin Barber – das Politische starker Demokratie

Die Überlegungen von Barber zu einer „starken Demokratie“ entstehen in der


„Hochzeit der Reagan-Ära“ (Buchstein/Schmalz-Bruns 1994: 297) im Jahre 1984,
einer Zeit, geprägt vom Neoliberalismus sowie autoritären Politikformen. Wie
Buchstein und Schmalz-Bruns hervorheben, werden seine Vorstellungen einer
starken Demokratie besonders mit dem Wegfall der „Systemkonkurrenz“ nach der
„Jahreswende 1989/90“ und der daraus folgenden Krise westlicher liberaler De-
mokratien über den amerikanischen Kontext hinaus bedeutsam (ebd.: 297 f.). In
diesem Zusammenhang betont Barber im Vorwort einer Wiederauflage der engli-
schen Ausgabe seines Buches „Strong Democracy“ aus dem Jahre 2003, dass die
Widersprüche zwischen Vorstellungen von „equality and liberty, community and
individualism, and participatory and representative democracy“ sich auch aktuell
nicht überholt hätten und in ihrer Spannung weiter bestünden (Barber 2003: ix).
Einerseits habe zwar die kommunitaristische Kritik30 am liberalen Individualis-
mus zur Entwicklung einer breiten Bürgerbewegung beigetragen und darüber hin-
aus auch Einfluss in beiden großen Parteien Amerikas gewonnen. Andererseits
habe sich allerdings auch die neoliberale Ideologie der Privatisierung und einer hier-
mit verknüpften Vorstellung von Politik als „electoral politics“ sowohl auf der

30 Vgl. z. B. auch die kommunitaristische Perspektive und Kritik bei Michael Walzer (1991, 1993,
1995).
32 2 Normative Demokratietheorien

Rechten und Linken Amerikas als auch im Ausland verfestigt (vgl. ebd.).31 Entspre-
chend lasse sich die Vorstellung einer „starken Demokratie“ nicht mehr begrenzt als
eine Reaktion auf ein amerikanisches Demokratiedefizit diskutieren, sondern müsse
im Kontext einer globalen Perspektive untersucht werden (ebd.: x).

2.1.1 Kritik des Liberalismus

Einen wesentlichen Grund, sich mit liberal geprägten Vorstellungen von Demo-
kratie auseinanderzusetzen, sieht Barber in der liberalen Auffassung vom mensch-
lichen Verhalten. Er schreibt: „Nach der liberalen Auffassung vom Menschen
wurde menschliches Verhalten als notwendigerweise selbstsüchtig, wenn auch auf
eine vormoralische Weise, dargestellt. Die Menschen gingen dabei soziale Bezie-
hungen ein, um sie für ihre individuellen Ziele zu nutzen“ (Barber 1994: 205 f.).
Mit Marx hält er die „Natur des Menschen als [...] gesellschaftlich bestimmt[...]“
und den „Menschen[...] als soziale[s] Wesen“ dagegen (ebd.: 206 f.). Kennzeichen
hierfür sei eine dialektische Interaktion, „in der sich Mensch und Welt einander
formen“ (ebd.: 207). Entsprechend gehe „die Theorie der starken Demokratie [...]
von der gesellschaftlichen Natur des in der Welt lebenden Menschen und der dia-
lektischen Interdependenz zwischen ihm und seiner Regierung aus. Folglich stellt
sie die Selbstverwirklichung des Menschen durch wechselseitige Transformation
in den Mittelpunkt des demokratischen Prozesses“ (ebd.: 207). Diese grundsätzli-
che Perspektive wird von Barber um drei Kritikpunkte am liberalen Verständnis
vom Politischen erweitert.32 Ein erster Kritikpunkt richtet sich gegen „reflexive

31 Heinz Steinert skizziert in seinen Erkundungen zur Demokratie in Amerika dieses Spannungs-
feld wie folgt: „In den letzten zwanzig Jahren haben wir in den USA das erstaunliche Schauspiel
einer Eroberung der Macht durch die Neo-Cons beobachten können, die in anderer Weise als die
ermüdend immer gleiche Herrschaftsproduktion Eigenschaften von Demokratie sichtbar macht,
die Tocqueville und der klassischen Demokratietheorie fern lagen: die Macht des Ressentiments
und seiner fundamentalistisch-religiösen Organisation; die Möglichkeit, dass eine solche Frak-
tion innerhalb einer großen Partei, den Republikanern, eine Position von bestimmendem Einfluss
gewinnen kann; vor allem aber den verblüffenden Effekt, dass dieses Ressentiment zugleich ge-
schürt und völlig von der Wirtschaft auf Moralfragen abgelenkt und insgesamt dazu benützt
werden kann, dieselben wirtschaftlichen Mechanismen, auf deren Effekt das Ressentiment be-
ruht, weiter freizusetzen, die Reichen reicher und den Armen das Leben noch schwerer zu ma-
chen. [...] Diese umfassende Machbarkeit hebt im Effekt alles auf, was mit ,Demokratie‘ einmal
in allgemeiner Beteiligung an der Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Zukunft gemeint war“
(2005: 545).
32 Mit einer Kritik am Liberalismus ist Barber im anglo-amerikanischen Kontext nicht allein.
Weitergehend formulieren Samuel Bowles und Herbert Gintis eine Kritik am Verhältnis von
Demokratie und Kapitalismus und stellen fest: „Capitalism, more than a system of resource
allocation and income distribution, is a system of governance“ ([1986] 1987: xi). In Orientierung
an Marx kritisieren sie den bürgerlich-liberalen Diskurs um Privatheit und Ökonomie. Die in
diesem Diskurs erfolgende Betonung von patriarchaler Familie (das Private) und Ökonomie als
2.1 Benjamin Barber – das Politische starker Demokratie 33

Vernunfteinsichten“ politischen Denkens sowie gegen deren Objektivierung als


Werteorientierung für die Gestaltung demokratischer Prozesse (vgl. Buch-
stein/Schmalz-Bruns 1994: 309 f.).33 Die Legitimität, einer in diesem Sinne vor-
gedachten Orientierung ergebe sich nicht „aus ihrer Genealogie, sondern aus ih-
rem Status als Resultat einer demokratischen Wahl“ (ebd.). Demokratie als Le-
bensform reproduziere sich demnach nicht „in einer begründungstheoretischen
Logik, sondern über eine ,logic of citizenship‘“ (ebd.). Entsprechend formuliere
Barber, dass demokratische Politik etwas sei, „was Bürger treiben, nichts, was
ihnen widerfährt“ (ebd.: 122). Hieran knüpft eine zweite Dimension seiner Kritik
an, die „der rein instrumentellen Konzeptualisierung von Politik“ (ebd.: 310). Kri-
tisch sei die Ausrichtung „politische[r] Prozesse[...] nach [...] Analogie des Markt-
geschehens“ (Buchstein/Schmalz-Bruns 1994: 310), bei dem der „liberal demo-
kratische[...] Pluralismus [...] Politik nur als Dienstmagd privater Interessen“ (Bar-
ber 1994: 101) verstehe. In dieser Perspektive verliere sich der Blick auf die Not-
wendigkeit des „dialogisch[...], intersubjektive[n] [Charakters] des Politischen“
sowie auf dessen Bedeutung für die Entwicklung einer „politische[n] Urteilskraft“
als Grundlage einer „politischen Willensbildung“ (Buchstein/Schmalz-Bruns
1994: 310). Aus dieser Überlegung resultiert ein dritter Kritikpunkt. Er wendet
sich „gegen den subjektiv-rechtlichen Charakter [...] negativer Freiheit“ liberaler
Demokratie (ebd.: 311). Barber kritisiere die Vorstellung liberaler Demokratie,
Politik als „ein Mittel zur Abschaffung (die anarchistische Disposition), zur Un-
terdrückung (die realistische Disposition), oder zur Tolerierung (die minimalisti-
sche Disposition) von Uneinigkeit“ zu verstehen (Barber 1994: 102). Gegenteilig
betont er die Notwendigkeit einer demokratischen Politik, die „Uneinigkeit“ als
Quelle einer kreativen Politik entdeckt, bei der „private Angelegenheiten in öf-
fentliche, Abhängigkeiten in Interdependenz, Uneinigkeit in Kooperation, Willkür

eigenständige und scheinbar voneinander unabhängige gesellschaftliche Bereiche, sei als


gesellschaftliche Herrschaft zu charakterisieren, zu kritisieren und letztlich zu überwinden (ebd.
17 f.). Grundsätzlich kritisieren sie die Ideen des bürgerlichen Liberalismus sowie dessen
Fokussierung auf eine Institutionalisierung bürgerlicher Demokratie und sehen in diesem
Zusammenhang eine Unvereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus (ebd.: 3). Die
demokratischen Institutionen wären Schmuckwerk, eine Blendung und durch ihre Funktion in
der Realisierung des Demokratischen eingeschränkt (ebd.: 4; vgl. auch 176 f.).
33 Barber sieht eine Differenz zweier bürgerlicher Kulturen und hieraus resultierend unterschiedli-
che Verständnisse von Demokratie. Er schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Bu-
ches „Starke Demokratie“: „Vergleicht man etwa Tom Paine, Thomas Jefferson, Abraham Lin-
coln und John Dewey mit Immanuel Kant, Max Weber oder Jürgen Habermas wird sogleich der
Unterschied zwischen einer bürgerlichen Kultur sichtbar, die aus einem pragmatischen und prak-
tischen Denken erwächst – in der Staatsmänner ebenso zu Hause sind wie Polemiker und Philo-
sophen –, und einer bürgerlichen Kultur, die fest in der Metaphysik wurzelt“ ([1984] 1994: 23
f.). Entsprechend betone z. B. Habermas Demokratie als Ausdruck übereinstimmender Rationa-
lität“ und vernachlässige „die Vorstellung [...], dass das tägliche Leben demokratisch sein solle“
(ebd.: 25).
34 2 Normative Demokratietheorien

in Selbst-Gesetzgebung, [...] Knechtschaft in Bürgerschaft“ (ebd.: 102 f.) trans-


formiert werden und in einen „kreativen Konsens“ (ebd.: 221) münden. Die unter-
schiedlichen Vorstellungen von „Autonomie und Gemeinschaft sollen keinen Ge-
gensatz bilden, sondern sind [...] aufeinander zu beziehen“ (vgl. Buch-
stein/Schmalz-Bruns 1994: 312). Die Idee einer Freiheit als Bürger stehe in die-
sem Kontext in einem produktiven, wechselseitigen Verhältnis zu Ideen der
Gleichheit und Gerechtigkeit. Ihr Zusammenspiel lasse sich nur in „einer sich
selbst regulierenden Bürgerschaft theoretisch widerspruchsfrei und praktisch
wirksam“ realisieren (Barber 1994: 140).

2.1.2 Politisches Handeln als Eigenaktivität und Selbstzweck

Ausgehend von den hier skizzierten Punkten geht es Barber mit seinem Modell der
starken Demokratie darum, die im politischen Liberalismus konservierte Privatheit
und funktionale Vorstellung von Demokratie zu öffnen. Eine funktionale Demokra-
tie als eine Regierungsform von oben lasse in ihrem Minimalismus und in einer Fo-
kussierung auf den „Schutz des Privatbereichs“ eine bürgerliche Kultur verkümmern
(Buchstein/Pohl 2012: 285). Ein hiermit verknüpfter autoritärer Habitus wirke letzt-
lich entpolitisierend – mit der Folge einer Passivierung der Menschen. Um diese
Verkümmerung zu verlebendigen und eine Aktivität der Bürger*innen von unten zu
entfalten, sieht Barber im Anschluss an John Dewey die Notwendigkeit einer De-
mokratie als Lebensform. Demokratie meint hierbei die Herausbildung einer „Poli-
tik menschlicher Beziehungen“ (Barber 1994: 10), die als Tätigkeit im menschlichen
Handeln gründet und aus diesem erwächst. Die Gestalt dieser Beziehungen sowie
die Richtung des Handelns gelten als konstitutiv für das Politische und insbesondere
für ein Verständnis dessen, was Demokratie sei.
Den Kern des Politischen bestimmt Barber allgemein als Handeln. Entspre-
chend sei die Zielrichtung politischen Handelns eine Beeinflussung menschlichen
Verhaltens sowie die Veränderung der Welt. Aufgrund verschiedener Perspekti-
ven und differenter Interessenlagen von Menschen sei politisches Handeln im We-
sentlichen durch das Treffen von Entscheidungen gekennzeichnet. Politisch sein
bedeute entsprechend, „entscheiden zu müssen“ sowie eine hieraus entspringende
Notwendigkeit „überlegt und verantwortlich“ zu handeln (Baber 1994: 105 f.). In
Orientierung an Hannah Arendt unterstreicht er sein Verständnis vom politischen
Handeln als Art und Weise „tätigen Lebens“. Politik sei etwas, was „wir tun, nicht
etwas, das wir (wie beispielsweise Macht) besitzen, verwenden, beobachten oder
worüber wir nachdenken“ (ebd.: 107). In diesem Zusammenhang lasse sich Politik
als zweckgerichtetes und instrumentelles Handeln vom politischen Handeln als
„Zweck an sich“ unterscheiden (ebd.: 102). Politisches Handeln sei nicht als „die
Lebensform schlechthin“ (ebd.: 100) bzw. als „erstarkte Daseinsweise“ (ebd.:
2.1 Benjamin Barber – das Politische starker Demokratie 35

101) zu verstehen, aber die Praxis starker Demokratie als „eine bestimmte Art [...],
sein Leben zu führen“, zu begreifen (ebd.). Politisches Handeln gilt als konstitutiv
für gesellschaftliches Leben. Diesen Anspruch unterstreicht Barber, wenn er in
seiner Bestimmung des Politischen von starker Demokratie davon ausgeht, dass
„Politik immer Vorrang vor der Wirtschaft“ habe, da im Bereich des Politischen
„die menschlichen Bedürfnisse ihre Rangordnung erhalten“ (1994.: 139). Entspre-
chend könnten die im Rahmen starker Demokratie entwickelten demokratischen
Handlungsformen auf den Bereich des Ökonomischen übertragen werden und so
eine „Demokratisierung der Arbeitswelt“ hervorbringen (vgl. ebd.: 287 f.). Mit
Bezug auf den Begriff des Handelns betont Barber die Idee starker Demokratie als
ein aktives Verhältnis zwischen den Menschen und versucht so, eine aktive Form
von passiven Formen des Demokratischen zu unterscheiden.

2.1.3 Politisches Handeln und Öffentlichkeit

Politisches Handeln einer starken Demokratie versteht sich als öffentliches Han-
deln, dies in einer doppelten Weise. Die Öffentlichkeit als politisches „Wir“ ist
Ausgangspunkt sowie gleichzeitig Adressat der Folgen des Handelns. Öffentlich-
keit bildet eine Sphäre „vernünftige[r], öffentliche[r] Beratungen“, um „Entschei-
dungen fällen“ zu können (Barber 1994: 122). Basis dieser Prozesse seien Partizi-
pation und eine hieraus erwachsende Gemeinschaft durch den Einbezug der Bür-
ger*innen in die Entscheidungen. In diesem Sinne ist Öffentlichkeit nicht etwas,
was die Menschen haben, sondern etwas, was sich als Erfahrungszusammenhang
im Zusammenwirken der Menschen entwickelt. Politisches Handeln ist deshalb
als eine prozessorientierte „Politik der Bürgerbeteiligung“, konkret als eine
„Selbstregierung der Bürger“ (ebd.: 146), zu begreifen.34 Entsprechend formuliert
Barber eine Definition starker Demokratie: „Starke Demokratie als Bürgerbeteili-
gung löst Uneinigkeit bei Fehlen eines unabhängigen Grundes durch den partizi-
patorischen Prozeß fortwährender, direkter Selbstgesetzgebung sowie die Schaf-
fung einer politischen Gemeinschaft, die abhängige, private Individuen in freie
Bürger und partikularistische wie private Interessen in öffentliche Güter zu trans-
formieren vermag“ (ebd.: 147).

34 Starke Demokratie als „Selbstregierung der Bürger“ formuliere die Alternative zu Modellen ei-
ner Demokratie als Stellvertreterpolitik. Als Modelle einer Stellvertreterpolitik bezeichnet Bar-
ber die Form autoritativer Demokratie welche „zentralistische Exekutive Macht“ ausüben (Bar-
ber 1994: 131), die pluralistische Demokratie auf der Grundlage der Idee des Gesellschaftsver-
trages und ihrer Praxis, „Uneinigkeit durch Aushandeln und Tausch auf ,freien‘ Märkten“ (ebd.:
135) lösen zu wollen, sowie die repräsentative Demokratie und ihre Ausrichtung, „Willen und
Urteilsbildung der Bürger abstrakten Normen“ (ebd.: 141) unterzuordnen.
36 2 Normative Demokratietheorien

2.1.4 Das Dialogische

Grundsätzlich geht diese Vorstellung davon aus, dass mit unterschiedlichen Inte-
ressenlagen entsprechende Uneinigkeiten und Konflikte verbunden sind. In einem
Prozess des permanenten Austauschs und Dialogs sieht Barber die Möglichkeit,
die Interessenlagen zu verändern, ohne „die Konflikte [...] verschwinden zu las-
sen“ (ebd.: 126). Ein so verstandener Prozess des Dialogischen führe im Ergebnis
zu einer Entwicklung gemeinsamer Urteilskraft und hieraus resultierenden Hand-
lungsmöglichkeiten. Die mit den unterschiedlichen Interessenlagen verknüpften
Uneinigkeiten würden aufgrund von zwei Momenten einen Perspektivwechsel
nach sich ziehen. Zum einen sei das Dialogische dadurch gekennzeichnet, dass im
Prozess des Austausches die Menschen autonom handelten und dabei ihre Wert-
vorstellungen und Überzeugungen auf gleicher Stufe stünden (vgl. ebd.: 126).
Zum anderen könnten sich im Laufe des Prozesses der öffentlichen Beratung und
des öffentlichen Urteils die bisherigen Überzeugungen und Vorstellungen verän-
dern. Maßstab hierfür sei eine Veränderung und Transformation der individuellen
Positionen zu einem öffentlich geteilten Anliegen, welches im Prozess des Dialogs
sichtbar und beurteilbar werde. Im Verständnis Barbers ist das Dialogische als ein
partizipativer und „dynamischer Akt“ (ebd.) zu sehen. Die „Vorstellungskraft“ der
Menschen sei herausgefordert (vgl. ebd.). In Anlehnung an Hannah Arendts Idee
des „Stiftens“ kann hier das Dialogische als eine (hermeneutisch) interpretative
Praxis verstanden werden (vgl. hierzu Sigwart 2012: 386 f.).35 Entsprechend ver-
knüpfe sich damit eine Prüfung bestehender Positionen und Interessenlagen. Im
Unterschied etwa zu einer Praxis der Verhandlung von bzw. des Wählens zwi-
schen verschiedenen Möglichkeiten, entwickle sich im Prozess des Dialogischen
„das Urteilen“ in „Rücksicht auf all die anderen, nicht zu ignorierenden Menschen
– und das heißt d[er] Öffentlichkeit“ (Barber 1994: 128) und verlange „eine Ver-
änderung [der] Weltsicht“ (ebd.: 127). Diese Form des Politischen ziele auf einen
„kreativen Konsens“, eine „Übereinkunft“, in der „Konflikte durch Herstellung
eines gemeinsamen Bewusstseins und durch politisches Urteilen transformiert
werden“ (ebd.: 221).

2.1.5 Aktives Handeln als Bürgerschaft

Letzterer Gedanke, die Herstellung eines gemeinsamen Bewusstseins, ist zentral


für seine Bestimmung von Gemeinschaft und das hiermit verknüpfte Verständnis

35 Entsprechend versteht Barber den hier skizzierten Prozess des Dialogischen als eine Praxis re-
flexiven Handelns, welche immer „Hören als auch Reden, Fühlen und Denken, Handeln und
Reflexion“ umfasst (1994: 175). Handeln in diesem Sinne bildet so den Kontrast zu Formen
instrumentellen Handelns.
2.1 Benjamin Barber – das Politische starker Demokratie 37

von Bürgerschaft. Im Unterschied zu Vorstellungen einer territorialen Bindung


von Bürgerschaft entstehe Gemeinschaftlichkeit starker Demokratie aus der „ge-
meinsamen Tätigkeit und Kooperation“ (ebd.: 219), bei der die Einzelnen ihre Au-
tonomie wahren könnten, „weil ihre Vorstellung von eigener Freiheit und eigenem
Interesse so erweitert wurde, dass sie auch andere einschließt“ (ebd.: 232). Im Pro-
zess des Dialogischen „werden die einzelnen Mitglieder durch Partizipation am
gemeinsamen Wahrnehmen und gemeinsamer Arbeit in Bürger verwandelt“ (ebd.:
231). Bürgerschaft bezieht ihre Legitimation nicht aus einer formalen Definition,
sondern entwickelt sich als Ergebnis eines Zusammenwirkens im gemeinsamen
Handeln. In diesem Sinne bestimmt sich Bürgerschaft durch ihre Funktion, Ver-
änderung von Einstellungen und historisch bestimmte Interessenlagen (vgl. ebd.:
225). Dabei sind die Menschen nicht einfach (privates) Individuum oder kollekti-
ves Subjekt, sondern werden im Verständnis von Barber durch das Zusammen-
wirken im gemeinsamen Handeln zum pluralen Subjekt einer Bürgerschaft. Die
Frage allerdings, „was mit denjenigen passiert, deren Anliegen nicht aufgegriffen
werden“36, oder mit denjenigen, die aus anderen Gründen nicht aktiv sind oder
aktiv sein wollen, wird von Barber ignoriert (vgl. May 2015: 3).
Grundsätzlich gilt, dass jeder „Mensch potentiell Bürger ist“ (ebd.: 225). Die
Frage, „wer zur Bürgerschaft zählt, wird selbst Gegenstand fortwährender demo-
kratischer Diskussion und Überprüfung, und die Partizipation an dieser Debatte
verbrieft die Zugehörigkeit“ (ebd.: 224). Schwächt sich in diesem Zusammenhang
das eigene (Zu-)Tun ab, hört die Beteiligung „am Gespräch, an den Beratungen
und am gemeinsamen Handeln“ auf, verringert sich der Grad an Zugehörigkeit
und die individuelle Position als Bürger (ebd.: 225 f.). Das „Recht“ auf Bürger-
schaft entwickle sich so aus dem öffentlich-politischen Handeln als Gemeinwesen
„und gehe diesem nicht voraus“ (ebd.). Bestehe die Forderung nach Ausschluss
oder Einschränkung dieser Position, liege die „Beweislast bei denjenigen [...], die
diese Bestimmung einschränken wolle (ebd.: 224).
Mit der Betonung des Handelns und der Gemeinschaft als konstitutive Ele-
mente des Politischen versucht Barber eine Erweiterung bisheriger Bürgerschafts-
begriffe in amerikanischer Tradition zu entwickeln. Bürgerschaft dürfe sich nicht
mehr allein an die Idee des Bürgers als Rechtsperson sowie an die Vorstellung des
Territorialen, die Bindung an eine Nation, knüpfen. Entsprechend versteht Barber
seine Idee einer starken Demokratie nicht als einen Gegenentwurf, sondern als einen

36 Auf dieses Problem verweist Michael May mit seiner Kritik an der Vorstellung von Hannah
Arendt, ein Gemeinwesen „durch gemeinsame Interessen und wechselseitiges, handelndes An-
einander-Anschließen an die ,Initiativität‘ anderer“ erzeugen zu wollen (2015: 3). Es bleibt „die
Frage offen, was mit denjenigen passiert, deren Initiativität von niemandem aufgegriffen wird“
(ebd.). Beschränkt sich hierbei das Dialogische im Wesentlichen auf kognitive Verständigung,
wie es die Überlegungen Barbers nahelegen, bleiben auch andere Artikulationsweisen von Men-
schen unberücksichtigt (vgl. hierzu z. B. Butler 2016).
38 2 Normative Demokratietheorien

Impuls zur Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten im Kontext des Politischen


der gegenwärtigen (amerikanischen) Gesellschaft. Er hebt hervor, dass „Bürgerpar-
tizipation [nicht] an die Stelle traditioneller rechtlicher und nationaler Definitionen
der Bürgerschaft treten muss, sondern dass wir dem öffentlichen Handeln mehr Be-
deutung verleihen“ (ebd.: 226). Seine Überlegungen münden in ein „systemati-
sche[s] Programm institutioneller Reformen“ (ebd.: 235) mit zwölf Vorschlägen
„zur Wiederbelebung der Bürgerschaft“ (Barber 2003: 307 f.).
Insofern stellt der Vorschlag Barbers den Versuch dar, einerseits vorhandene
Anknüpfungspunkte einer institutionell ausgebauten Demokratie zu nutzen und
sie um basisdemokratische, partizipatorische Rechte und Verantwortlichkeiten zu
erweitern, sowie andererseits durch Stärkung lokaler Kommunikationsbezüge der
Menschen neue Formen basisdemokratischer Institutionen zu erfinden. Im Kern
skizziert er die Entwicklung und den Ausbau einer Zivilgesellschaft in Form al-
ternativer „nicht-politische[r] Institutionen“ (Barber 1994: 19). Zivilgesellschaft
wird hier als ein eigener, von anderen abgespaltener, gesellschaftlicher Bereich
gedacht. Als kritisches Gegenüber hat sie die Funktion eines eingreifenden Kor-
rektivs in die Handlungslogiken bestehender politischer und ökonomischer Insti-
tutionen der Gesellschaft.
Barber beansprucht mit seinem Entwurf starker Demokratie, das Politische
als „Erkenntnistheorie“ zu begreifen (ebd.: 159 f.). Mit Blick auf die skizzierten
Punkte heißt dies, Politik als ein praktisches Handlungsfeld zu erschließen. Im
Zentrum steht dabei der öffentliche Dialog als Erfahrungszusammenhang des
Handelns. Dieser Erfahrungszusammenhang hat eine spezifische Bedeutungs-
struktur politischer Praxis. Im Prozess des Dialogischen wird politisches Wissen
hervorgebracht und gleichzeitig angewendet. Wie schon angedeutet, ist dies ver-
gleichbar mit der Idee von Hannah Arendt, die einen solchen Prozess des „Mitei-
nander-Sprechens“ als „Praxis des Verstehens und Interpretierens“ (Sigwart 2012:
391) entwirft, bei dem die Bürger über sich selbst, über die „,Identität‘ der Bür-
gerschaft“ an sich, sprechen (vgl. ebd.: 397). In diesem Sinne zielt dieser Erfah-
rungszusammenhang des Politischen darauf, politisches Urteilsvermögen zu er-
zeugen. Das Politische ist nunmehr gleichzeitig Ort und Praxis sowohl des Er-
kenntnisgewinns als auch des Handelns. Ist dies als „bestimmte Art [...], sein Le-
ben zu führen“ (Barber 1994: 101), zu verstehen, so fallen das Politische und das
Demokratische in einer Lebensweise starker Demokratie ineinander und sind iden-
tisch. Die Frage von Machtverhältnissen und Gewalt im Kontext des Politischen
wird in dieser Idee ausgeklammert und gewinnt nur Relevanz in Form von Kritik
an zweckrationalen Entwürfen des Politischen. Herrschafts- und Machtverhält-
nisse als die gesamte Gesellschaft durchziehende hegemoniale Zusammenhänge
bleiben dem reflexiven Anspruch des Handelns bei Barber verschlossen.
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform 39

2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform

Demokratie, so schreibt Oskar Negt, „ist die einzige politisch verfasste Gesell-
schaftsordnung, die gelernt werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins
hohe Alter hinein“ (2010: 13). Träger eines solchen Lernprozesses sei der Mensch
als „Zoon politikon“, dessen „Ziel“ sich in „der freien Selbstbestimmung [als] au-
tonomiefähiger Bürger“ verwirkliche und so Demokratie als Lebensweise be-
gründe (vgl. ebd.). Die zwingende Notwendigkeit dieser Perspektive ergebe sich
aus einer tief greifenden gesellschaftlichen Krise der Gegenwart, die den „unge-
lösten Widersprüche[n] der Arbeits- und Erwerbsgesellschaft“ (Negt [2001] 2002:
102) entspringe, und in deren Folge die Lebensperspektiven der Menschen gebro-
chen seien. In diesem Zusammenhang vermerkt Negt, dass zum einen „die Ar-
beits- und Erwerbsgesellschaft zu einem gesellschaftspolitischen Kampfplatz ge-
worden ist“, auf dem „Machtkämpfe toben, bei denen Herrschaftspositionen und
materielle Privilegien auf dem Spiel stehen“ (ebd.: 11), und dass zum anderen die
Folge der Arbeitslosigkeit „ein Gewaltakt“, „ein Anschlag auf die körperliche und
seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit“ (ebd.: 10) der Menschen sei.
Die hieraus resultierenden „Existenzängste, zerbrochenen Lebensperspektiven
[...], Verlust der gesellschaftlichen Achtung und der materiellen Mindestausstat-
tung“ bereiteten einen „gesellschaftlichen Boden“, der, wie im Falle von „Frem-
denhass“ und „rechtsextremen Schlägerbanden“, eine Vergesellschaftung durch
Ausschluss von anderen als Lösung der gesellschaftlichen Krise in den Mittel-
punkt stelle und das „politische Zentrum unserer Gesellschaft [...] deutlich nach
rechts“ rücke (vgl. ebd.: 102).37 Die hier angedeutete Spannung versteht Negt als

37 Die von mir zitierten Stichworte beziehen sich auf einen Text von Oskar Negt, den er als Laien-
predigt im Jahr 1993 gehalten und im Buch „Arbeit und menschliche Würde“ ([2001] 2002)
veröffentlicht hat. Der Titel der Predigt heißt „Exodus und Asyl“ und setzt sich mit der damali-
gen Situation des gesellschaftlichen Umbruchs und dem Erstarken des Rechtsextremismus in
Deutschland auseinander. Als ich diesen Text 2015 vor dem aktuellen Hintergrund der Ver-
sammlungen rechtspopulistischer Bewegungen (mit dem Begriff rechtspopulistisch beziehe ich
mich auf Karin Priester und ihre Skizze gegenwärtiger populistischer Bewegungen; vgl. Priester
2012) wie Pegida in Dresden, Legida in Leipzig und dem starken Zuspruch der Menschen für
die Ideen einer rechtspopulistischen Partei wie der AfD wieder gelesen habe, hat der Text von
Negt für mich nichts an Aktualität verloren. Negt schreibt beispielsweise: „Für Deutschland
möchte ich den Verdacht aussprechen, dass mit der Asyldebatte ein öffentliches Medium ge-
schaffen wurde, die für gesellschaftliche Integration bisher notwendig erschienene Feindorien-
tierung, die auf ein Außen ging, die sich jedoch sichtbar zersetzte, ins Binnenverhältnis der Ge-
sellschaft zu verlagern. [...] Nicht der Missbrauch des Asyls durch die Asylsuchenden, sondern
der Missbrauch des Artikels durch die, die Legitimationsprofite daraus schlagen wollen, dass sie
die in den Strukturproblemen dieser Gesellschaft steckende Schwierigkeit auf Fremde als Ver-
ursacher projizieren konnten, ist der eigentliche Skandal der sogenannten Asyldebatte“ (ebd.:
105 f.). Der Impuls von Negt ist als ein Versuch des Verstehens einer prozesshaften Entwicklung
der neuen Rechten in den vergangenen 25 Jahren einzuordnen. Im Jahr 2015 reflektiert Daniel
40 2 Normative Demokratietheorien

ineinandergreifende und sich überschneidende Bruchlinien von fünf Krisenherden


des gegenwärtigen Kapitalismus.

2.2.1 Krisenherde des gegenwärtigen Kapitalismus

Hierzu zählt er zum Ersten die Globalisierung. Mit dem Zusammenbruch der „au-
toritären Territorialstaaten des Ostens“ (Negt [2001] 2002: 131) habe sich „die
übersichtliche Aufteilung der Welt – Erste Welt, Zweite Welt, Dritte Welt – [...]
aufgelöst“ (Negt 2010: 163). Eine Folge dieses Umbruchsprozesses sei, dass zum
einen „die Logik des Marktes und des Kapitals“ und zum anderen „der westliche
Militärblock“ als „Ordnungsfaktoren übrig geblieben sind“ (ebd.: 164). An die
Stelle der kompromisshaften Lösungen des Sozialstaates trete eine Auflösung der
„Sozialsysteme“ (ebd.). Kennzeichen dieser Entwicklung sei außerdem eine ver-
änderte Konstellation „zwischen Staat und Kapital“ (ebd.). Deutlich werde, dass
„die wirtschaftlich Mächtigen von sich aus keine Verantwortung für die Ökonomie
des Ganzen Hauses, für das Gemeinwesen“, übernehmen (ebd.). Wirtschaftliche
Interessen und Handeln lösten sich aus dieser Bindung und verfolgten ihre Ziele
abgekoppelt vom „Zusammenhang kultureller Ziele und Zwecke“ des Gemeinwe-
sens (ebd.: 165). Deshalb sei unter dem Stichwort der Globalisierung nicht von
einer „Krise der Ökonomie“, sondern stattdessen von einer „Krise der Kulturbe-
deutung des Ökonomischen“ zu sprechen (ebd.). Diese komplexen gesellschaft-

Keil über diese Entwicklung und schreibt: „Pegida [...] ist Teil einer Konstellation völkischer
Erneuerung in der Krise [des Hightechkapitalismus], damit eine Reaktion auf (vermeintliche)
soziale Destabilisierungen und zugleich Teil einer Neuordnung des Konservatismus in Deutsch-
land [...]. Diese Entwicklung kam nicht aus dem Nichts und ist auch kein naturwüchsiges Kri-
senphänomen, sondern ist auf eine Krise des Konservatismus zurückzuführen, die selbst wiede-
rum von vielfältigen politischen Strategien angetrieben wurde und wird“ (373). Anzumerken ist
hierzu, dass eine Neuordnung des Konservatismus als ein Verhältnis durchaus gegenläufiger
Positionen zu verstehen ist, welches z. B. mit Blick auf Rassismus als Vergesellschaftung von
oben (z. B. durch Staatsbürgerschaft und Arbeitsmarkt) in Wechselwirkung mit dem Rassismus
von unten, der in Formen eines entfremdeten Protests „stecken bleibt“ (vgl. Haug 1999: 120)
zum Ausdruck kommt (vgl. hierzu Affolderbach 2016c). In diesem Sinne ist der Einwurf von
Negt tagesaktuell, weil er darauf hindeutet, dass der „Rohstoff des Politischen“ (Negt/Kluge
1993) in Krisenzeiten in besonderer Weise ideologisch umkämpft ist und die im „Rohstoff“ lie-
gende Dynamik (auch) in Vergesellschaftungsformen des Ausschlusses umschlagen kann. Des-
halb bemerkt Negt in seinem Text: „Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte
kann man mit Fug und Recht von einem faschistischen Potenzial reden. [...] Der räuberische,
jede Form der Solidarität und der Gefühlswelt des Mitleidens beschädigende Kampf um Erfolg,
diese Ausgeburt des Sozialdarwinismus, demzufolge nur die Bestausgestatteten Überlebens-
rechte haben, hat jetzt jene erfasst, die bei diesem Kampf auf der Strecke geblieben sind; es sind
die Kinder unserer Gesellschaft, Opfer und blutige Täter in einem“ (107; Hervorhebung F. A.).
Mit dem Blick von 1993 deutet das Stichwort des Potenzials auf die Tendenz, auf den umkämpf-
ten Prozess und die Reorganisation der Reaktion.
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform 41

lichen Umwälzungen erkennen zu können, setze die „Notwendigkeit [eines] akti-


ven Lernens voraus“ (ebd.).
Zum Zweiten skizziert Negt als Krisenherd das Spannungsfeld der Arbeit und
Arbeitslosigkeit. Mit der oben angedeuteten krisenhaften Veränderung der Gesell-
schaft in den vergangenen 25 Jahren stehe die ungleiche Entwicklung steigender
Gewinne und eines „chronischen Lohnverzichts“ sowie die Verdopplung der Ar-
beitslosigkeit im Zusammenhang (ebd.: 165). Alle gesellschaftlichen Bereiche
seien von einer „mikroelektronische[n] Rationalisierung erfasst“, die zu einem
„Umbruch der gesamten Arbeitsplatzstrukturen“ führe (vgl. ebd.). Folgenhaftes
Kennzeichen dieser Entwicklung sei der „flexible Mensch“38. Die Menschen stün-
den unter dem Zwang der „Flexibilität, Jobfragmentierung, [der] Notwendigkeit,
mehrere Arbeitsplätze zu kombinieren“, sowie deren Auswirkungen eines Zerbre-
chens „menschliche[r] Lebensverhältnisse, vor allem Familienzusammenhänge,
von deren Ressourcen der Kapitalismus bisher gelebt und gezehrt hat“ (ebd.: 166).
Gleichzeitig verschiebe ein Rationalisierungsinteresse der einzelnen Betriebe „die
eingesparten Kosten auf andere“, auf die Einzelnen und das Gemeinwesen. Vor
diesem Hintergrund sei eine gesellschaftlich – ökonomische Gesamtrechnung,
eine Summierung „der Bilanzen der Einzelbetriebe“, falsch und vergesse die für
eine „Ökonomie des ganzen Hauses“, bestimmenden Elemente, etwa „Bildung,
Lernen, Qualifikation“, die Notwendigkeit einer Allgemeinbildung und gleichzei-
tiger beruflicher Qualifikation, die vom Gemeinwesen getragen werde (ebd.). Vor
diesem Hintergrund konstatiert Negt: „Wir müssen wieder lernen, dass bei aller
Notwendigkeit ökonomischen Handelns [...] die menschlichen Zwecke nicht aus
dem Blick verloren werden“ (ebd.: 167).
Als einen dritten Krisenherd diagnostiziert Negt einen „Strukturwandel der
Erziehungs- und Lernorte“ (ebd.: 167). In den gegenwärtigen gesellschaftlichen
Verhältnissen seien die traditionellen „Sozialisations- und Lernorte“ fragmentiert;
auch sei z. B. die Ausbildung „verlässlicher Beziehungen unter alten Familienver-
hältnissen“ infrage gestellt (Negt [2001] 2002: 133). Entsprechend schrumpften
die notwendigen Räume für prägende Erfahrungen tragfähiger Beziehungen zwi-
schen Menschen und führe zur Notwendigkeit, diese Entwicklung gesellschaftlich
(auch durch entsprechende Institutionen) zu kompensieren. Bleibe dies aus, ver-
ringerten sich die notwendigen Erfahrungsräume von „Mitbestimmung und
Selbstregulierung“ einer Gesellschaft mit „demokratische[r] Ordnung“ (vgl. ebd.:
134). In diesem Sinne sei die demokratische Ordnung selbst abhängig von einer
Erweiterung der Erfahrungsräume. Die Frage des Lernens stehe deshalb auch et-
was allgemeiner, als Frage danach, „wo [...] die Menschen die Grundregeln

38 Oskar Negt bezieht sich hier auf das Buch von Richard Sennett „Der flexible Mensch“ (vgl.
Sennett 2000).
42 2 Normative Demokratietheorien

erwerben, die ihnen das Lernen des Lernens ermöglichen“, um letztlich ein „zivi-
les Gemeinwesen verteidigen“ zu können (ebd.: 169).
Ein vierter Krisenherd bezeichnet das Spannungsfeld aus „technologischem
Fortschritt und Ethik“ (ebd.). Die „spektakuläre Entwicklung der Technologie,
insbesondere der Medizintechnik“ (Negt [2001] 2002: 133), berühre „die Integri-
tät und Identität der Lebenszusammenhänge der Einzelnen“ (Negt 2010: 169) und
führe zu einer Verschiebung von „unseren Wertvorstellungen und dem gesamten
Normensystem“ (Negt [2001] 2002: 132). Entsprechend seien bisher gültige Vor-
stellungen von „einem guten und gerechten Leben, von einer würdigen Lebens-
weise und einem würdevollen Sterben“ infrage gestellt und tief greifenden Verän-
derung unterworfen (vgl. ebd.: 132). Die sich hieraus ergebenden „alltäglichen
Orientierungsschwierigkeiten“ würden grundlegend die Existenzbedingungen der
Menschen bedrohen (vgl. ebd.: 133; vgl. auch Negt 2010: 169 f.). Besonders prob-
lematisch sei, dass sich diese Entwicklung „unterhalb der Öffentlichkeit, in Berei-
chen unterschlagener Wirklichkeit“ vollziehe und so etwa „Möglichkeiten des
Machtmissbrauchs durch gentechnologische Eingriffe in die Natur des Menschen
bergen“ (Negt 2010: 170). Grundsätzlich zeichne sich hier die Notwendigkeit der
ethischen Regulation eines Feldes ab, welches die nationalen Grenzen überschrei-
tet, und europaweite bzw. globale Regulationsprozesse und Lösungen erfordere.
Als einen fünften Krisenherd problematisiert Negt „die schleichende Ten-
denz der Entpolitisierung“ (ebd.: 171). Zwei Tendenzen dieser Entwicklung hebt
Negt als besondere Problemlagen hervor. Zum einen gehe mit einer Flexibilisie-
rung der Lebensverhältnisse der Menschen eine „gestörte Balance zwischen Nähe
und Distanz [-Erfahrungen]“ des sozialen Lebens einher (Negt [2001] 2002: 134).
Die Spannung zeige sich beispielsweise als widersprüchliche Wechselwirkung
zwischen den Gebilden im Kleinen, „reduziert auf fragmentierte Beziehungen“,
sowie den „Globalisierungs- und Flexibilisierungsprozessen“, die die „Distanz
zum eigenen Lebenszusammenhang“ vergrößern, sodass „der einzelne nicht mehr
nachvollziehen kann, was sein Anteil an der Mitbestimmung“ am Gesellschaftli-
chen ist (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang sieht Negt die „modernen Gesell-
schaften“ ihre „Basis für gelungene Subjektausstattungen [...] ruinieren, weil zwar
das Kapital und die Waren ortlos sein können, nicht aber die Sozialisation, Iden-
titätsbildung, das Lernen der Menschen“ (ebd.: 135). Als gegenläufige Perspektive
sei deshalb eine Praxis der „Wiederaneignung sinnlich-qualitativer Realitätsbe-
züge“ zu entwickeln (vgl. ebd.). In diesem Sinne beginnt Demokratie dort „wo die
Menschen leben, arbeiten, primäre Erfahrungen im öffentlichen Austausch ma-
chen“ (Negt 2010: 173). Zum anderen verknüpfe sich mit dieser Entwicklung eine
Störanfälligkeit der „Balance zwischen Demokratie und Öffentlichkeit“ (ebd.:
171). Zwar hätten die historisch gewachsenen Institutionen der Demokratie („Par-
lament, Gewaltenteilung, zivile Führung des Militärs, Parteien und Gewerkschaf-
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform 43

ten“) in der gegenwärtigen Situation Bestand und funktionierte; gleichzeitig breite


sich aber „unterhalb der Institutionen etwas aus, Gefühle der Mutlosigkeit, Flucht-
bedürfnisse, Frustrationen, Lebensangst, die gar nicht mehr nach Ausdruck in die-
sen Einrichtungen suchen, sondern ganz andere Wege gehen“ (vgl. ebd. 171 f.).
Eine „Wiederaneignung sinnlich-qualitativer Realitätsbezüge“ (Negt [2001] 2002:
135) bedürfe einer konkreten, „sinnlich fassbaren Solidarität“, die sich in „Nach-
barschaften“ und institutionell getragenen „Kommunikationszentren“ entwickeln
und stabilisieren müsse (vgl. Negt 2010: 172).

2.2.2 Spaltung der Welt – erste und zweite Ökonomie

Die von Negt skizzierten Krisenherde sind gebrochen und vorangetrieben in einer
„sozialen Welt“ (vgl. Haug 2003: 123 f.), die selbst aufgespalten in „zwei Reali-
täten“ auseinanderfällt (vgl. Negt [2001] 2002: 244 f.) welche „in Konfrontation
zueinander stehen, [...] nicht nur die Sprache ist auseinandergefallen, sondern
Denkformen, Zeitperspektiven, Verhaltensorientierungen, spezifische Logiken
der Wahrnehmung, der Objektwelt ebenso wie der Selbstwahrnehmung. Diese
Spaltung der Realität hat eine viel größere Reichweite als die alte Klassenspaltung,
auf die sie sich allerdings in letzter Instanz gründet“ (ebd.: 244). Diese Spaltung
des Gesellschaftlichen durchzieht „Alltagserfahrungen“, „wissenschaftliche Kon-
zeptionen ebenso wie [...] politische Orientierungsformel[n]“ (ebd.: 245). Rei-
bungsfläche dieser Entwicklung bilden die Pole einer „ersten“ (ebd.: 308) und ei-
ner „zweiten Ökonomie“ (ebd.: 316). Als „erste Ökonomie“ bezeichnet Negt „je-
nen praktisch-theoretischen Zusammenhang, in dem die Realitätsmacht der über
die Produktion und die Arbeitsplätze Verfügenden den suggestiven Schein von
naturgesetzlichen Abläufen vermitteln, deren Mechanismus von keinem Men-
schen zu beeinflussen sei“ (ebd.: 308). Die „erste Ökonomie“ ist Ausdruck „toter
Arbeit“ technisch orientierter Abläufe „der Maschinensysteme, der Regelungs-
kreise der Kapital- und Marktlogik“, betriebswirtschaftlicher Kalkulation, ihrer
Ausschlussprinzipien und Unterdrückungsformen eines lebendigen Gemeinwe-
sens (vgl. ebd.: 309 f.). In diesem Sinne versteht Negt die „erste Ökonomie“ als
„Ausdruck einer Macht- und Herrschaftsposition“ und deren Praxis einer „Verfü-
gung über lebendige Arbeitskraft“ als „Herrschaftsinstrument“ (ebd.: 318). Unter
einer „Realität“ der „zweiten Ökonomie“ versteht Negt „alle ökonomischen Akti-
vitäten [...], die sich von der offiziellen Ökonomie abgekoppelt haben, sich staat-
licher Besteuerung entziehen und [...] den einzig stetig wachsenden Wirtschafts-
faktor darstellen“ (Haug 2003: 123; vgl. Negt [2001] 2002: 247 f.). Mit dem Be-
griff der „zweiten Ökonomie“ skizziert Negt die Entwicklung eines „eigene[n],
nicht an die Regeln der offiziellen Ökonomie gebundene[n] System[s] der Arbeit,
des Naturalientauschs [...] einer Ökonomie mit eigenen Gesetzen“ (Negt [2001]
44 2 Normative Demokratietheorien

2002: 246). In dieser Form der Ökonomie sieht Negt die Menschen und ihr Han-
deln als „eigensinnig, auf autonome Urteilsfähigkeit und eigentümliche Lebens-
stile bedacht“ und unterstreicht die hierin enthaltenen „rebellische[n] Elemente“
als Ausdruck des Widerstandes und als Reaktion auf „soziale Ungerechtigkeit“
und verworfene „politische Machtverhältnisse“ (vgl. ebd.: 322). An diesen Impuls
anknüpfend, rücke die „zweite Ökonomie“ die „konkrete Lebenswelt“ der Men-
schen „ins Zentrum der Betrachtungen“, um aus dieser Perspektive „Auswege aus
der Krise der Arbeitsgesellschaft“ zu formulieren (ebd.: 319). Entsprechend be-
zeichnet die „zweite Ökonomie“ eine auf „das Gemeinwesen gerichtete politische
Ökonomie lebendiger Arbeit, von der sich wirtschaftliches Handeln ohne totalen
Sinnverlust nie wird abtrennen können“ (ebd.: 316).
Beide Positionen befinden sich im Konflikt, sind „ineinander verwickelt und
[...] mit ganz unterschiedlichen Reichweiten ausgestattet“ (ebd.: 405). Da sich die
erste Ökonomie „um Macht- und Herrschaftsverhältnisse [...] organisiert“, sei die
Auseinandersetzung keine „bloße Frage des guten Willens und der überzeugenden
Argumente“ (ebd.: 322). Ihre Auseinandersetzung „ist ein politischer Kampf“
(ebd.: 322). In einer solchen „Kampfsituation“ sei es notwendig „Koalitions-
partner in allen gesellschaftlichen Schichten zu suchen und zu finden [...] – bei
aufgeklärten und verantwortungsbewussten Managern ebenso wie unter Lehrern
und Arbeitern“ (vgl. ebd.). Die Zielrichtung des Kampfes sei eine Gesellschafts-
reform, um die „zweite Ökonomie zur Ersten zu machen“ (ebd.: 322). Die zweite
Ökonomie sieht Negt in der Position, „die menschlichen Potentiale der lebendigen
Arbeit und des gesellschaftlichen Reichtums in eine vernünftige Organisation des
Gemeinwesens einzubringen“ (ebd.: 405). Dies deshalb, weil die zweite Ökono-
mie zum einen „aus den Potentialen der ersten Ökonomie schöpft“ und zum ande-
ren als Träger der lebendigen Arbeit eine „kulturelle Einbindung“ des Ökonomi-
schen in das Gemeinwesen ermöglichen sowie dessen „Grenzsetzungen und Zwe-
cke“ bestimmen könne (vgl. ebd.: 405). Die Klammer für eine Gesellschaftsreform
„einer politischen Ökonomie des Gemeinwesens“ bilden aufeinander bezogene
Projekte im „Entwurfsdreieck“ aus „lebendiger Arbeit, Kultur und Technik, auf
dem die Fundamente“ des Zusammenhaltes eines Gemeinwesens beruhten (vgl.
ebd.: 408). Vor allem die Frage nach der Kultur und –hiermit verbunden – insbe-
sondere die Herausbildung einer politischen Kultur in einem „lebendigen Arbeits-
prozess“ und dessen Ausrichtung auf eine „demokratische Lebensfähigkeit“ sind
deshalb für Negt von zentraler Bedeutung (ebd.: 526 f.).
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform 45

2.2.3 Urteilskraft als Notwendigkeit für „wirkliches“ Handeln zur


Realisierung eines demokratischen Gemeinwesens

Dem vorangestellten Szenario eines zerrissenen und mit laufenden Brüchen durch-
zogenen Gemeinwesens stellt Oskar Negt die Frage nach Bedingungen zur Her-
stellung eines demokratischen Gemeinwesens gegenüber. Hierfür braucht es han-
delnde Menschen, genauer: politisch handelnde Menschen. Trägermedium des po-
litischen Handelns ist deshalb der Mensch mit einer ausgebildeten Urteilskraft,
einer ausgebildeten politischen Urteilskraft als „Zoon politikon“.
Grundsätzlich sieht Oskar Negt die Entwicklung einer politischen Urteils-
kraft an die Verknüpfung „spezifische[r] Forme[n] der Weltaneignung“ gebunden
(vgl. Negt 2010: 30). Die von ihm genannten Stichworte „Orientierung, Wissen,
Lernen, Erfahren, Urteilen, Charakterbildung“ skizziert er als „Aspekte“, die „in
ihrem inneren Zusammenhang zu entfalten“ und „das Resultat der Bildungspro-
zesse [...] beschreiben – das was unter einem politischen Menschen“ verstanden
werden könne (ebd.). In diesem Zusammenhang greift Oskar Negt den Begriff des
Handelns von Hannah Arendt auf und formuliert politisches Handeln als den Kno-
tenpunkt eines Ausdrucks des Menschen als „Zoon politikon“, als „ein auf Ge-
meinsinn angelegtes Lebewesen, das aber aktiv werden muss, damit seine Gesel-
ligkeit und seine Sorge um die Angelegenheiten anderer, die allgemeine Angele-
genheit sein könnten, öffentliche Ausdrucksformen gewinnen“ (ebd.: 342).
Grundsätzlich versteht sich so politisches Handeln als „öffentliches Handeln“, als
ein „Handeln in der Gemeinschaft und in der Gesellschaft“ (ebd.: 339). Mit Arendt
sieht Negt damit einen alternativen Begriff des Politischen, der sich von „rechts-
extremen oder milderen konservativen Positionen“ unterscheidet, da sich deren
Verständnis von politischem Handeln „in wiederbelebten Gemeinschaftskatego-
rien“ oder in der Bestimmung des „Intensitätsgrad[es einer] Trennung von Fein-
den und Freunden“ erschöpft und somit letztlich „politisches Handeln als Zerstö-
rung von Gemeinwesen“ konzipiert (vgl. ebd.). Die grundlegende Ausrichtung ei-
nes alternativen Verständnisses vom Politischen bedürfe neben seiner Begründung
als politisch öffentliches Handeln und seiner Grundlegung im „Menschen als ei-
nem auf Gemeinsinn angelegte[n] Lebewesen“ (vgl. ebd.: 342) der Klärung der
Frage, „worin“ politisch öffentliches Handeln „Gestalt für das Gemeinwesen an-
nimmt“ (vgl. ebd.: 340). Entscheidend für Negt ist deshalb, dass politisches Han-
deln auf eine Erweiterung der „Bedingungen und Ausdrucksformen des geselligen
Verkehrs“ zielen müsse (vgl. ebd.: 343). Folgerichtig gehörten unbedingt „Phan-
tasie und Einbildungskraft“ zum Begriff des Politischen (vgl. ebd.). In diesem
Verständnis schöpfe sich politisches Handeln selbst aus der „Vermittlung von
Sinnlichkeit und Verstand“ und bilde so die Kernstruktur einer „reflektierenden
Urteilskraft“ (ebd.).
46 2 Normative Demokratietheorien

Ein an dieser Idee orientierter wechselseitiger Austausch von Menschen „ver-


knüpf[e] sich mit der Erwartung, [...] etwas Gemeinsames“ hervorzubringen, „das
mehr ist als die bloße Summe von Teilmeinungen“ (ebd.: 344). Für politisches
Handeln bedeute dies, dass gemeinsames Handeln nur dann möglich sei, wenn
„die Menschen in ihrer Urteilskraft einen gewissen Grad von Mündigkeit und Au-
tonomie erreicht haben“ (ebd.). Voraussetzung hierfür sei die „Bildung der Sinne“
und somit die „Art und Weise, wie Menschen ihre Geselligkeit entwickeln“ (ebd.).
Diese Überlegung sieht Oskar Negt durch einen Impuls von Hannah Arendt er-
weitert. Dieser bestehe darin, dass Arendt auf der sinnlichen Dimension des Poli-
tischen bestehe und nur so „wirkliches, auf Gemeinwesen bezogenes Handeln“
entstehen könne. Erst in diesem Zusammenhang werde die Phantasie der Men-
schen herausgefordert, menschliche Kooperation gefördert und die Möglichkeit
hervorgebracht, „getrennte Vermögen und Gegenstände zum Ausgleich zu brin-
gen“ (ebd.). Aus der Verbindung von Phantasie und Urteilsvermögen, ergebe sich
die Möglichkeit der „Überschreitungen [von] Grenzziehungen, welche der Ver-
stand als das Vermögen der Regeln vorgibt“ (ebd.).

2.2.4 Das Zwischen als Verhältnis reflexiver Urteilskraft

Das Politische verstehe sich somit mehr als eine bloße „Daseinsweise“; es sei
„eine Art Existential“ des Menschen, „von dem er sich selbst dann nicht lösen
kann, wenn er im herkömmlichen Sinne politisch nicht tätig ist“ (ebd.: 389). In
diesem Sinne gilt das Politische als konstitutiv fürs Gesellschaftliche. Hierbei
liege der eigentliche „politische Kern“ in dem, was Hannah Arendt als das „Zwi-
schen“ versteht (ebd.: 390). Das Politische entwickle sich in dem, „was zwischen
den Menschen entsteht“, und unterscheide sich von der Vorstellung des Politi-
schen, welches „Politik [...] im Menschen“ fixiert (Sontheimer zit. nach Negt;
ebd.). In diesem Zusammenhang sei für Arendt die Verknüpfung aus „Freiheit und
Spontanität“ die „notwendige Voraussetzung [...] eines zwischenmenschlichen
Raumes [...], in dem Politik, wahre Politik erst möglich wird“ (ebd.). Von Politik
kann für Negt deshalb erst dann gesprochen werden, wenn es „öffentliche Erfah-
rungsräume und kollektive Erlebniszeiten gibt, die Spontanität und Freiheitsent-
scheidungen zulassen“ (ebd.). In diesem normativen Sinne bestimmt, wären insti-
tutionalisierte Formen des Politischen weder Ausdruck oder Ergebnis politischen
Handelns noch Ausdruck des Politischen selbst oder von Politik. Sie sind abge-
spalten, erscheinen unvermittelt als instrumental-herrschaftsbezogene Seiten der
Gesellschaft und stehen außerhalb des (wahren) Politischen.
In der Verknüpfung mit der Bestimmung des Politischen als zwischen-
menschlicher Raum ist für Negt die reflektierende von der bestimmenden Urteils-
kraft zu unterscheiden. Hier bezieht sich Negt auf eine spezifische Interpretation
2.2 Oskar Negt – das Politische einer Demokratie als Lebensform 47

von Kants Kritik der Urteilskraft durch Hannah Arendt. Nach Arendt ist „die Ur-
teilskraft keine praktische Vernunft; praktische Vernunft ›räsoniert‹ und sagt mir,
was zu tun und zu unterlassen ist; sie schreibt das Gesetz vor und ist identisch mit
dem Willen, und der Wille gibt Befehle“ (Arendt zit. nach Negt; ebd.: 389). Hier-
von unterscheide sich die Entstehung des Urteils „aus einer ›bloß kontemplativen
Lust‹“ als „Urteilskraft [...] des menschlichen Geistes, sich mit dem Besonderen
zu befassen“ (ebd.). Ein Urteil über das Besondere – „dies ist schön; dies ist häß-
lich; dies ist richtig, dies ist falsch“ – entziehe sich der praktischen Vernunft (vgl.
ebd.). Die Form der bestimmenden Urteilskraft orientiere sich an einem „technisch
und herrschaftslogisch“ ausgerichteten „Erkenntnisinteresse“ (ebd.: 391). Ihr fehl-
ten das „Freiheitselement“ und – hiermit verbunden – die Impulse der „Einbil-
dungskraft“ und „Geselligkeit“ (ebd.). Vor dem skizzierten Hintergrund bestimmt
Negt das Politische reflektierender Urteilskraft als „das Vermögen“, „aus dem Be-
sonderen ein Allgemeines entwickeln zu können“ (ebd.) Dieses verwirkliche sich
als „das lustvolle Zusammenspiel von Kräften, die aus ihrer bornierten Vereinsei-
tigung gelöst und in einem Akt interessenlosen Wohlgefallens in Zusammenhänge
gebracht werden, die sie aus sich heraus nicht herzustellen vermögen“ (ebd.).
Mit Negt ist „Urteilskraft [...] ein gesellschaftlich gebildetes und praktiziertes
Vermögen“, welches „die Dimensionen des Gemeinwesens [...] in den Reflexi-
onsprozess“, also die Perspektiven und Konflikte der anderen, einbezieht (2010:
395). Dabei ist Urteilskraft vor allem eine „erweiterte[...] Denkungsart“ des ein-
zelnen Individuums, die auf Grundlage der Möglichkeit als „Selbstreflexion des
eigenen Urteilens“ herausgebildet werden kann (ebd.). Entsprechend bestehe eine
„Urteilsfähigkeit immer darin, dass ich meine eigenen Bedürfnisse, Interessen,
Phantasien verbinde mit der Vorstellung davon, wie es aussehen würde, wenn die-
ses höchst Individuelle zu einem allgemeinen Gesetz wird“ (ebd.: 32). Erst mit einer
ausgebildeten individuellen Urteilskraft, so scheint es, sind die Menschen in der
Lage, politisch zu handeln und Zusammenhänge herzustellen. Urteilskraft erscheint
in ihrer Zielstellung als ein substanzielles Vermögen, welches selbst scheinbar wi-
derspruchsfrei als Vorbedingung für Handlungsfähigkeit gilt.

2.2.5 Herstellung von Zusammenhang

Vor dem skizzierten Hintergrund gewinnt die Vorstellung von der „Herstellung
von Zusammenhang“ eine doppelte Bedeutung (vgl. ebd.: 29 f.). Die Herstellung
von Zusammenhang versteht sich zum einen als Entwicklung „kollektive[r] Ge-
bilde“, die „den Zugang der Menschen zu den größeren [gesellschaftlichen] Ein-
heiten konkret machen, [...] stärken, [...] fördern, alle Organisationsphantasie auf
solche gesellschaftlichen Gebilde [...] richten“ (ebd.: 173). Zum anderen ist die
Herstellung von Zusammenhang als Lernprojekt der Herausbildung einer
48 2 Normative Demokratietheorien

Urteilskraft zu sehen, da „Demokratie [...] jene gesellschaftliche Lebensform“ sei,


„die sich nicht von selbst herstellt, sondern gelernt werden muss“ (ebd.: 174). Die
hieraus wachsende Perspektive auf Demokratie sei die einer „Demokratisierung
der Verhältnisse“, deren wesentlicher Impuls darin liege, das Demokratische
„sinnlich erfahrbar“ (ebd.: 175) und „aus den einigen wenigen mehr zu machen“
(ebd.: 17). Ausgehend vom „Rohstoff des Politischen, das in jedem Lebenszusam-
menhang steckt“, bedarf es des Schritts das „Eigeninteresse und dessen Formulie-
rung bei anderen“ wiederzuerkennen und so zu einer Verallgemeinerung zu ge-
langen, aus der heraus sich ein „situationsüberschreitender Geltungsanspruch“
formulieren und zu überindividuellem Handeln führen kann (vgl. Negt/Kluge
1993: 32). Anknüpfend hieran versteht Negt Demokratie als eine Lebensweise,
die aus der „Herstellung von Zusammenhang“ (Negt 2010: 30) wächst, eine Hal-
tung formt und so Handlungsfähigkeit erzeugt.
Mit Blick auf die skizzierten Überlegungen bildet der Mensch als „Zoon poli-
tikon“ den Kontrast zu zweckrationalen und instrumentellen Vorstellungen des Po-
litischen. Mit Arendt sucht Negt den Kern des Politischen als die Herausbildung
einer Urteilskraft im Sinne einer Verknüpfung von „Sinnlichkeit und Verstand“ zu
umreißen (vgl. ebd.: 381). Hierbei erweitert er den für das Politische zentralen Be-
griff des Handelns. Zum einen versteht sich die Erzeugung einer Urteilskraft als öf-
fentlicher, mit anderen geteilter Herstellungsprozess. Urteilskraft ist keine „Na-
turgabe“, sondern „muss durch Übung und Entfaltung exemplarischen Materials, in
dem Allgemeines und Besonderes aufeinanderstoßen, die Urteilskraft schärfen“
(ebd.: 382). In diesem Zusammenhang kann geschlussfolgert werden, dass Handeln
die Bedeutung eines Erfahrungszusammenhangs des Lernens und der Bildung ge-
winnt. Dieser Handlungszusammenhang erzeugt die Urteilskraft und setzt den Im-
puls für die Vergemeinschaftung in einem demokratischen Gemeinwesen. Zum an-
deren ist so politisches Handeln nicht einfach gegeben, sondern wird erst durch die-
sen Prozess selbst hervorgebracht. In diesem Zusammenhang trennt Negt politisches
Handeln, welches sich auf das Gemeinwesen richtet, von einer verkürzten Vorstel-
lung des Politischen, in die „nichts anderes einzugehen vermag als Strategien des
Machterwerbs und der Machterhaltung“ (ebd.: 343). Das von ihm entworfene Poli-
tische erscheint dabei im Kontrast als das „Authentische“ und somit als tendenziell
frei von Macht- und Gewaltverhältnissen, die dem Reich des instrumentellen und
funktionalen Politischen zugeschlagen werden.

2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede – Demokratie als Lebensweise


bei Benjamin Barber und Oskar Negt
Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Barber und Negt

Die von Barber und Negt aufgemachte Perspektive knüpft an die Vorstellung vom
Menschen als einem politischen Wesen, dem „Zoon politikon“, an. Diese an der
2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Barber und Negt 49

griechischen Antike angelehnte Idee betont zwei Dimensionen. Zum einen wird
davon ausgegangen, dass der Mensch grundsätzlich ein sich gemeinschaftlich, im
Zusammenleben entfaltendes Wesen sei und – hiermit verknüpft – die Idee des
Politischen in einer bestimmten Lebensweise zum Ausdruck komme. Zum ande-
ren steht diese Überlegung in enger Verbindung zur Vorstellung vom Menschen
als einem „Zoon logon echon“, einem vernunft- und sprachbegabten Lebewesen,
welches sich gerade über diese Eigenschaft vergemeinschaftet und als „Zoon po-
litikon“ verwirklichen könne. In diesem Sinne sehen Barber und Negt das „Zoon
politikon“ als ein im Menschen angelegtes Vermögen. Bei Barber entfaltet und
verwirklicht es sich im dialogisch-reflexiven Handeln. Bei Negt hingegen muss es
entwickelt werden und findet durch Bildung zur Handlungsfähigkeit.
Verallgemeinernd sind an den Positionen von Barber und Negt zwei Punkte
hervorzuheben. Zunächst ist die Kritik von Barber und Negt an der vorherrschen-
den Vorstellung des Politischen zu betonen. Beide gehen davon aus, dass das Po-
litische als eine aktive Handlungsform menschlicher Tätigkeit zu verstehen sei,
welche auf die Erzeugung eines demokratischen Gemeinwesens gerichtet sei. Das
Politische erweist sich dabei als eine Form der Vergesellschaftung, deren Anknüp-
fungspunkte die alltäglichen Lebenszusammenhänge der Menschen bilden und im
Begriff des Handelns deren Eigentätigkeiten als Notwendigkeit einer demokrati-
schen Vergesellschaftung unterstreichen. In diesem Bild entsteht ein Kontrast zu
jenen politischen Formen, die einen zweckrationalen und instrumentellen Charak-
ter aufweisen und so einen Herrschaftszusammenhang von oben begründen. In
zweckrational ausgerichteten Vorstellungen vom Politischen erscheinen die Ei-
genaktivitäten der Menschen beschnitten, fremdbestimmten Zielsetzungen unter-
stellt und so passiviert. Barber und Negt unterscheiden sich hierbei im Zugang
ihrer Kritik. Kritisiert Barber das Politische als Ideologie eines beschränkten Li-
beralismus und dessen Verfügungsgewalt von oben, erweitert Negt diese Sicht um
eine gesellschaftstheoretische Kritik kapitalistischer Vergesellschaftung und de-
ren gewalttätiger Brechung demokratischer Errungenschaften in der gegenwärti-
gen Gesellschaft. Barber und Negt beanspruchen für sich, den „wahren“ Kern des
Politischen freizulegen, der für sie ganz zentral an den Begriff des Handelns, wie
ihn Hannah Arendt skizziert hat, gebunden ist. Erstaunlich ist deshalb auch, dass
sich Barber und Negt an keinem Punkt dafür interessieren, dass Hannah Arendt
ihren Begriff des Handelns mit einer spezifischen Vorstellung von Macht verbun-
den hat. Gehen bei Arendt die Einzelnen eine Verbindung mit den anderen ein,
bildet Handeln den Zusammenhang einer kollektiven „Ermächtigung“ (Weber
2001: 99). Handeln selbst verweist so auf die Möglichkeit einer Überwindung von
Ohnmacht. In diesem Bild erscheint Handeln auch als Gegenmacht und kann in
einer kritischen Perspektive weiterführend (und auch über Arendt hinaus) als Ver-
hältnisbestimmung von „Macht und Gegenmacht“ entwickelt werden (vgl. Gold-
50 2 Normative Demokratietheorien

schmidt 2015: 1486 f.). Diese notwendige Verhältnisbestimmung wird von Barber
und Negt nicht vorgenommen.

Positiv formuliert ist beiden die Idee einer Erweiterung des Politischen ge-
meinsam. Ist die hierin liegende normative Implikation einer Vorstellung
vom politischen Handeln als dialogischer Prozess bei Barber und der Her-
ausbildung einer Urteilskraft bei Negt unter dem Gesichtspunkt hand-
lungspraktischer Fragestellungen sozialer Bewegungen wichtig impulsge-
bend, ist sie unter dem Aspekt einer erkenntnistheoretischen Fragestellung
zu kritisieren. Denn: Negativ formuliert sind in dieser Perspektive Formen
des Zweckrationalen als Elemente oder Widersprüche des „wahren“ Poli-
tischen ausgeschlossen. Sie werden nicht als gesellschaftlich hervorge-
brachte Machtverhältnisse erkennbar und mit Blick auf das „Zoon poli-
tikon“ verleugnet.

Als das Spezifische einer Demokratie als Lebensweise sehen Barber und Negt das
Handeln. Handeln ist hierbei als eine öffentlich vergemeinschaftende Dimension
der Tätigkeit der Menschen zu verstehen, deren Kern ein Prozess der Herausbil-
dung einer Urteilskraft als Bürgerschaft (Barber) bzw. als Gemeinwesen (Negt)
ist. Für Barber ist dieser Prozess vor allem dadurch gekennzeichnet, „dass politi-
sches Wissen angewandt [und] praktisch“ ist (Barber 1994: 159). Entsprechend ist
„politisches Wissen vorläufig und wandelbar“ und in diesem Sinne abhängig von
der jeweiligen historischen Situation (ebd.). Außerdem versteht Barber den Pro-
zess des politischen Urteilens als „schöpferisch“ und als „etwas, das geschaffen
[...] wird“ (ebd.: 160). In der Verknüpfung von Handeln und Urteilen sieht Barber
eine „Form gesellschaftlicher Interaktion“, die „aus dem Bemühen von Indivi-
duen“ entsteht, ihre jeweiligen individuellen Erfahrungen „gemeinsam wahrzu-
nehmen“ (ebd.: 165). Politisches Handeln wird von Barber ausdrücklich in der
Tradition von Dewey und Arendt konzipiert.39 Im Unterschied zu Negt ist hier das

39 Wie Sigwart hervorhebt, ist politisches Handeln verallgemeinernd mit Dewey und Arendt als
„politische Praxis der hermeneutischen Autopoiesis der Gesellschaft“ zu interpretieren (Sigwart
2012: 312). Allerdings unterscheiden sich beide Positionen in ihrer Ausrichtung. Mit Blick auf
Dewey könne von einer „immanent[...] politische[n] Hermeneutik“ gesprochen werden (ebd.:
312). Deweys Perspektive kennzeichne eine „bewusste Selbstverortung inmitten der politischen
Praxis“ und unterscheide sich von einer „offenen politischen Hermeneutik“ bei Arendt. Diese
betone einen „politischen Modus des Verstehens“ (ebd.: 313) und skizziere Handeln vor allem
als Praxis kognitiver Verständigung. Zuspitzend ist zu formulieren: Mit Dewey werden die Er-
fahrungen des Alltäglichen Gegenstand einer gemeinsamen Urteilsbildung und eines gemeinsa-
men Handelns. Mit der Betonung des Kognitiven bei Arendt hingegen steht vor allem eine Ent-
wicklung (einer Urteilskraft) des Individuums im Austausch und in Beziehung mit anderen im
Mittelpunkt. Die Herausbildung der individuellen Urteilskraft ist gleichzeitig Zielrichtung und
2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Barber und Negt 51

Dialogische als Art und Weise der Vergemeinschaftung hervorgehoben. Koope-


ration und Interaktion gelten als Bedingungen des Handelns.40 Betont werden da-
mit der Prozess und die in ihm liegenden Möglichkeiten der Menschen, ihre eige-
nen Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren. Barber diskutiert in diesem Zu-
sammenhang die Frage der Zugehörigkeit als Bürgerschaft. Bürgerschaft definiert
sich vor allem als aktive Teilnahme am gemeinsamen Dialog und bildet damit
gleichzeitig einen Kontrast zu Vorstellungen, die Bürgerschaft einzig in der Be-
grenzung des Staatsvolkes denken. Hieran anknüpfend besteht die Möglichkeit der
Erfahrung von Gleichheit in dem Sinne, dass im Dialogischen tendenziell hierar-
chische Positionen zugunsten gleichberechtigter Formen der Kommunikation ver-
schoben und Entscheidungsfindungen im Kontext eines gemeinsamen Urteilens
aufgehoben sind.
Trotz dieser durchaus emanzipatorischen Erfahrungsdimension zeigt sich an
dieser Stelle ein zentrales Problem in der Vorstellung einer dialogischen Gemein-
schaft als Bürgerschaft bei Barber. Die Kritik von Barber richtet sich gegen Vor-
stellungen von Gemeinschaft, die zum einen davon ausgehen, dass Gemeinschaft
nur die „Teile repräsentiert, aus denen sie sich zusammensetzt“ (1994: 231). Ge-
meinschaft in diesem Sinne sei „allein Ergebnis eines Gesellschaftsvertrags“
(ebd.: 230). Zum anderen kritisiert Barber, Gesellschaft als „etwas Organisches“
zu begreifen, da in diesem Verständnis Gemeinschaft einzig „durch existentielle
Bindungen [der einzelnen Mitglieder] zusammengehalten“ sei und in diesem
Sinne die Bindungen nur „affektiv, historisch und nicht frei gewählt“ gedacht wer-
den könnten (ebd.: 231). Barber sieht hiervon unterscheidend eine „starkdemokra-
tische Gemeinschaft“ als Alternative, bei der sich „die einzelnen Mitglieder durch
Partizipation am gemeinsamen Wahrnehmen und gemeinsamer Arbeit in Bürger
verwandeln. Bürger sind autonome Personen, die durch die Partizipation die Fä-
higkeit erlangen, gemeinsame Vorstellungen zu entwickeln“ (ebd.). Eine „stark-
demokratische Gemeinschaft“ sei entsprechend das Produkt, das im gemeinsamen
Handeln der Menschen entsteht und dazu führe, dass die Menschen begönnen, ihre
Weltsichten und ihr Handeln zu verändern. In dieser Vorstellung bleibe die „Au-
tonomie“ der Menschen erhalten, „weil ihre Vorstellung von eigener Freiheit und
eigenem Interesse so erweitert wurde, dass sie auch andere einschließt“ (ebd.:
232). Wie schon weiter oben erläutert wurde, schließt die Idee Barbers eine Ver-

Ausdruck des Handelns. Beide Positionen sieht Barber in seinem Begriff des Handelns aufge-
hoben.
40 Wichtig ist hier, hervorzuheben, dass sich Kooperation und Interaktion bei Barber nicht auf eine
Idee rationaler Kommunikation wie etwa bei Jürgen Habermas reduzieren lässt. Entsprechend
wichtig ist auch der Begriff der Erfahrung von John Dewey, auf den sich Barber bezieht. Erfah-
rung bei Barber bildet den „lebendigen“ Kern des Handelns und damit den Kontrast zu instru-
mentellen Formen der Kommunikation und Kooperation. Der Begriff Erfahrung wird an späterer
Stelle weiter vertieft.
52 2 Normative Demokratietheorien

mittlung verschiedenster Interessen im dialogischen Prozess ein und geht gleich-


zeitig davon aus, dass diese im Prozess öffentlicher Beratung selbst verändert wer-
den und dabei neue Perspektiven hervorbringen. Gleichzeitig formuliert Barber
aber Gemeinschaft als „Position eines einzigen alle einschließendes ‚Wir‘“ (Fraser
2001a: 140).41
Gemeinschaft und Bürgerschaft werden dabei zum übergeordneten Normativ
und neigen in der Tendenz dazu, eine plurale Vorstellung von verschiedensten
„Gemeinschaften“ (die z. B. auch verschiedene Öffentlichkeiten repräsentieren)
zu einer zu vereinheitlichen. Barber nennt dies die Herausbildung einer „gemein-
samen Gewalt“ (1994: 232). Die hiermit verknüpfte „Unterordnung“ der Einzel-
nen unter die Gemeinschaft sei „dadurch gerechtfertigt, dass sie aufgrund ihrer
erweiterten Vorstellungskraft in der gemeinsamen Kraft das Wirken ihres eigenen
Willens erkennen können“ (ebd.). Allerdings kann hiermit die Schwierigkeit ver-
bunden sein, dass „Forderungen im Eigen- oder Gruppeninteresse als unzulässig“
ausgeschlossen werden, wie Nancy Fraser an „bürgerschaftlich-republikanischen“
Vorstellungen zur Demokratie kritisiert (vgl. Fraser 2001a: 140 f.). Der Effekt sei
eine Behinderung der „Beteiligten bei der Klärung ihrer Interessen“ (ebd.). Dar-
über hinaus werden auch diejenigen ignoriert oder bleiben ausgeschlossen, die aus
welchen Gründen auch immer nicht Teil des dialogischen Prozesses sind. Diese
Vorstellung wird auch dadurch gestützt, dass Barber die Einzelnen als Vertreter
ihrer jeweiligen eigenen Interessen sieht. Die Einzelnen gehören nicht schon zu
(gleichzeitig verschiedenen) subalternen Kollektiven oder gemeinschaftlichen Zu-
sammenhängen, die wiederum unterschiedliche Interessen und Ziele herausbilden
und vertreten, sondern entwickeln das Gemeinsame erst mit der Gemeinschaft als
Bürgerschaft im übergeordneten Normativ. In diesem Zusammenhang kann es
dann passieren, dass die Vorstellung einer Gleichheit im dialogischen Prozess be-
stehende Klassen- und Herrschaftsverhältnisse verschwinden lässt und diese Ver-
hältnisse in der Praxis der Theorie sowie der Praxis des Handelns entgegen dem
ursprünglichen Anliegen unberührt lässt und selbst reproduziert.
Negt stellt die Herausbildung einer reflexiven Urteilskraft als zentrales Mo-
ment eines auf die Entwicklung des Gemeinwesens orientierten Handelns heraus.
Im Unterschied zu Barber konzipiert er die Entwicklung einer reflexiven Urteilskraft
als Lernprozess. In diesem Sinne ist der Mensch als „Zoon politikon“ ein im Men-
schen angelegtes Vermögen und deshalb gleichzeitig ein Entwicklungsprojekt.
Die Herausbildung einer vom Individuum entwickelten reflexiven Urteils-
kraft ist hierbei Voraussetzung zur Erzeugung notwendiger Impulse, welche letzt-
lich ein überindividuelles, am Gemeinwesen orientiertes politisches Handeln her-
vorbringen sollen. Die vom Individuum entwickelte reflexive Urteilskraft erzeugt

41 Vgl. hierzu die Kritik von Nancy Fraser an den Konzeptionen „bürgerschaftlich-republikani-
scher“ Sichtweisen auf Öffentlichkeit (2001a: 140 f.).
2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Barber und Negt 53

das Vermögen sich auf andere einzulassen und so zu gemeinsamem Handeln zu


finden. Offen gelassen ist die Art und Weise, auf die sich die Verbindungen einer
gemeinsamen Handlungsfähigkeit letztlich herstellen. Das Stichwort des Lernens
unterstreicht hierbei vor allem die (individuelle) Tätigkeitsform zur Aneignung
und Herstellung von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Diese ist zum einen als
jeweils historisch bedingt zu bestimmende Dimension erst in entsprechenden Bil-
dungsprozessen zu erschließen. Zum anderen ist sie abhängig von der Entwick-
lung und Verfügbarkeit zwischenmenschlicher, kollektiver, öffentlicher Erfah-
rungsräume. Negt geht schlussfolgernd einen Schritt weiter. In Verknüpfung mit
seiner Kritik an der kapitalistischen Vergesellschaftung und ihrer Auswirkungen
aufs Gemeinwesen spricht Negt von sechs Dimensionen, die als „Kompetenzen
des gesellschaftlichen Lernens“ notwendig seien, „damit die Menschen den Prob-
lemen gewachsen sind, welche die industrialisierte Zivilisation in ihrem Umbruch-
gelände hervorbringt“ (Negt 2010: 207). Hierzu gehören „Identitätskompetenz“,
„technologische Kompetenz“, „Gerechtigkeitskompetenz“, „ökologische Kompe-
tenz“, „ökonomische Kompetenz“, sowie „historische Kompetenz“, deren jewei-
lige eigene Komplexität erschlossen werden müsse (vgl. ebd.: 218 f.). Gleichzeitig
müssten aber eben auch die Felder ihrer Überschneidungen verstanden werden.
Die Zielrichtung von Bildung ist dabei von Negt normativ bestimmt. Die von ihm
skizzierten Kompetenzen versteht er als „Fähigkeiten, Wissensbestände und
Denkmethoden“, die ein selbstbestimmtes und eigenverantwortetes Leben der
Menschen ermöglichen sowie als verbindende Impulse Handlungsfähigkeit erzeu-
gen sollen (vgl. ebd.: 222). Diese grundlegende Orientierung sei notwendig, da
eine Entfaltung kollektiven politischen Handelns in Abhängigkeit von subjektiven
und objektiven gesellschaftlichen Bedingungen gedacht werden müsse, da sich
Letztere der individuellen Wahrnehmung und dem individuellen Verstehen entzö-
gen. Entsprechend könne sich politisches Handeln nur reflexiv am Beispiel durch
„Entfaltung exemplarischen Materials“ entwickeln (vgl. ebd.: 382 und 242 f.). Bil-
dung ist hierbei das Hinzutun, um zur politischen Handlungsfähigkeit zu finden.
Auch Handeln selbst versteht sich als Lernprozess; es muss durch Bildung entwi-
ckelt werden. Oskar Negt deutet diese Richtung einer Entwicklung des Menschen
hin zum Zoon politikon an: „Die Definition des Menschen als [Z]oon politikon
enthält als Ziel eine Lebensform, die auf der freien Selbstbestimmung autonomie-
fähiger Bürger gegründet ist“ (2010: 13). Ist in diesem Zusammenhang die nor-
mative Zwecksetzung (vgl. ebd.: 219 f.) von Bildung und eine Begründung für
Bildungsnotwendigkeiten von unten offengelegt, so steht sie doch im Dilemma,
zu wissen, was für andere der sinnstiftende Gegenstand von Bildung zu sein hat.
Hierin liegt eine autoritäre Tendenz, die zum einen diejenigen Gegenstände über-
sehen kann, welchen die Menschen aus dem Alltäglichen heraus Wichtigkeit bei-
messen, und zum anderen das Ergebnis von Bildung und dessen Bedeutung für die
54 2 Normative Demokratietheorien

Einzelnen und Kollektive vorwegnimmt, dabei die Offenheit von Bildungsprozes-


sen beschneidet. Der wichtige Hinweis (für eine erkenntnistheoretische Fragestel-
lung) von Negt ist, auf die bestehende Notwendigkeit aufmerksam zu machen,
zersplitterte Erfahrungen des Alltäglichen ordnen zu müssen, Zusammenhänge
herstellen zu müssen, um erkennen zu können, worin die Möglichkeiten und Be-
grenzungen gemeinsamer Handlungsfähigkeit liegen. Hierfür ist die weiter oben
skizzierte „doppelte“ Perspektive der Herstellung von Zusammenhang hervorzu-
heben. Wie Oskar Negt und Alexander Kluge betonen, ist die Entwicklung eines
Bewusstseins über bestehende gesellschaftliche Widersprüche eine eigene Praxis
in Form der Theoriearbeit. Diese versteht sich als eine Entwicklung von „Kritik
der Herrschaft“ und ihrer Wurzeln, „also der Bedingungen der Entstehung und
Fortexistenz von Gewaltherrschaft und Unterdrückung“ (vgl. Negt/Kluge 1981:
481). Die „Enthüllung der Herrschaftsmechanismen“ allein „reicht nicht aus“, des-
halb müssen „die latenten, noch nicht zur Realität herausgearbeiteten Tendenzen
ins Licht begrifflicher Arbeit“ gebracht werden (ebd.). Aus diesem Prozess ergä-
ben sich die Erkennbarkeit „der objektiven Möglichkeit“ und die in ihr enthaltenen
Mittel, „sie zu realisieren“ (ebd.: 482). Eine Herstellung von Zusammenhängen
bedeute deshalb auch, „die vorhandene Realität mit der in ihr enthaltenen objekti-
ven Möglichkeit zu konfrontieren“ (ebd.).

2.3.1 Weitung des Gedankens – Aspekte der Spannung zwischen


institutionalisierten Prozessen, Bildung und konstitutivem politischen
Handeln

Barber formuliert den Anspruch, das Gesellschaftliche in allen Lebensbereichen


gestalten zu wollen. In den Blick kommt das mögliche Potenzial zur Gestaltung
des Sozialen, welches sich nicht auf die Aspekte einer funktional eingehegten Po-
litik beschränken lässt. In diesem Zusammenhang gibt Barber den Hinweis, dass
die Initiativen politischen Handelns auch einer institutionalisierten Stabilität be-
dürfen, um auf der überindividuellen Ebene gesellschaftlicher Strukturen Wirkun-
gen entfalten zu können. Letzteren Punkt unterstreicht auch Jürgen Habermas und
verweist darauf, dass „politische Entscheidungen über verteilungsrelevante Fra-
gen nur in einem festen institutionellen Rahmen implementiert werden“ können
(2016: 37). Eine demokratische Linke stehe damit vor dem „steinige[n] Weg einer
institutionellen Vertiefung und Verankerung einer demokratisch legitimierten Zu-
sammenarbeit“ (ebd.). Gerade für Bildung scheint dieser Einwurf von nicht uner-
heblicher Bedeutung zu sein. Bei aller Widersprüchlichkeit und Problematik von
Macht und Herrschaft, die sich mit Institutionalisierung verbindet, kritisiert Micha
Brumlik eine „aus der postfundamentalistischen Politologie sprechende Verach-
tung der Institutionen, die tatsächlich dazu führt, dass immer weniger Menschen
2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Barber und Negt 55

das politisch-mediale System postdemokratischer Herrschaft, unter dem sie ste-


hen, auch nur ansatzweise begreifen“ (Brumlik 2012: 31). Deshalb könne es im
Zusammenhang mit politischer Bildung nur „darum gehen, [...] jede und jeden
Einzelne[n] als ,Zoon Politikon‘ ernst zu nehmen und ihnen jene Voraussetzungen
zu vermitteln, am institutionalisierten Prozess der Politik – jawohl der Politik,
nicht des ,Politischen‘ – so weit wie nur möglich zu partizipieren“ (ebd.). In die-
sem Sinne geht es darum, die im institutionalisierten Prozess der Politik in der
bürgerlichen Gesellschaft eingeschlossene „halbe Freiheit“ nutzbar zu machen
und nicht als überflüssig liegen zu lassen. Der Hinweis von Brumlik deutet damit
auf die Notwendigkeit der Einsicht hin, auch die formalen Elemente institutiona-
lisierter Prozesse der Politik unter der Perspektive der Demokratisierung in Be-
schlag zu nehmen und zu formen, da sie in ihrer Formalität ungenutzt zum einen
Passivität erzeugen sowie zum anderen genauso durch Formen gewalttätiger Poli-
tik nutzbar gemacht werden können. Entsprechend kann ein institutionalisierter
Prozess der Politik in gewalt- und zwanghaften Formen der Vergesellschaftung
den Menschen entgegentreten. Grundsätzlich verweist die angedeutete Problema-
tik auf die Frage nach politischer Handlungsfähigkeit von unten. Zu bedenken sind
hier die weiter vorn skizzierten Widersprüche von widerständigem Handeln z. B.
im Kontext vorgegebener Bedingungen des Rechts und einer hiermit zusammen-
hängenden Passivierung. Erkenntnistheoretisch ist noch ein weiterer Kritikpunkt
hinzuzustellen. Wie Alex Demirovic deutlich macht, ist eine umfassende Demo-
kratisierung nicht allein durch die Erweiterung kommunikativer Kanäle der Politik
und entsprechender Partizipation ausreichend, denn im Kontext der komplexen
Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung erweise sich „die politische Form der
Demokratie als unterkomplex“ (Demirovic 1997: 20).42
Auf einen erweiternden Blickwinkel verweist Heinz-Joachim Heydorn mit
seinen Überlegungen zu Bildungsinstitutionen und Demokratisierung. Heydorn
hebt den eigenständigen Beitrag der Bildungsinstitutionen im Prozess des Verste-
hens gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse hervor. Demnach ist eine Institu-
tion der Bildung „realer Teil der gesamten Organisation der Gesellschaft; die Ge-
sellschaft wird über sie erfahrbar“ (Heydorn 2004: 131). Entsprechend sei eine
Bildungseinrichtung ein widersprüchliches Arrangement, bei dem „Herrschafts-
anspruch und Bewusstseinsbildung in ein virulentes, antagonistisches Verhältnis“
geraten könnten und die „Institution [...] die Antithese ihrer Deklamation“ produ-
zieren könne (ebd.). Und er schlussfolgert: „Die Bildungsinstitution ist aber nicht
nur eine wichtige Komponente der Gesellschaft, ihr bedeutungsvollster Zubringer,

42 Ähnlich argumentiert auch Ellen Meiksins-Wood und verweist darauf, dass gerade die Trennung
von Ökonomie und Politik in der bürgerlichen Gesellschaft sowie deren rechtliche Stabilisierung
dazu führe, dass die „Demokratie im Kapitalismus an ihre Grenze[n]“ stoße (vgl. Meiksins-
Wood 2010: 215).
56 2 Normative Demokratietheorien

sondern sie ermöglicht auch einen eigenen verändernden Beitrag, der unverwech-
selbar ist. Dieser Beitrag darf nicht aus der Institution zurückgezogen werden; er
kann auf gleiche Weise an keiner anderen Stelle geleistet werden“ (Heydorn 2004:
131; vgl. auch Sünker 2003: 66 f.). Und Heinz Sünker merkt an: „Bildung ist kein
selbständiges revolutionäres – und d.h. vor allem der kulturellen und sozialen Ent-
faltung des Menschen dienende[s] – Element“ (Sünker 2003: 67), sondern kann
dies nur „in Verbindung mit der gesamten geschichtlichen Bewegung“ (Heydorn
2004: 61) sein. Für politische Bildung und Selbstorganisation von Initiativen be-
deutet diese Überlegung auch, dass sie auf eine breite gesellschaftliche Einbin-
dung in Emanzipationsbewegungen angewiesen sind, um sich entwickeln und ihre
Stärken entfalten zu können. Die hier angedeuteten Differenzierungen ermögli-
chen z. B. das Zusammenwirken von verschiedenen funktionalen Elementen einer
Bildungseinrichtung analytisch zu unterscheiden. Eine Bildungsinstitution er-
scheint z. B. „zugleich als ökonomischer Betrieb, als Repressionsapparat [...], als
Hegemonialapparat“ oder eben auch als Ort der Entwicklung von Widerständigem
(vgl. Haug 2003: 853).
Der hier angedeutete Gedanke verweist darauf, dass eine Demokratisierung
vorhandener Institutionen und ihrer ausgebildeten Verfahrensweisen einer „ge-
meinsame[n] Regelung der gesellschaftlichen Angelegenheiten“ bedürfen, welche
sich nicht auf „den Punkt der Entscheidung“ reduzieren lässt, sondern gleichzeitig
„öffentliche Verständigungsprozesse“ voraussetzt (Hirschfeld 2007: 6). Für eine
solche Orientierung hat Jürgen Ritsert den Begriff der „reflexiven Institutionen“43
aufgegriffen. In Orientierung an Hegels anerkennungstheoretische Überlegungen
formuliert er: „Für kritische Theoretiker bemisst sich die Qualität von Institutio-
nen nicht allein an ihrer Effizienz im Sinne der Funktionstüchtigkeit. Sie bewerten
sie im Kontext von Anerkennungsverhältnissen. ,Anerkennung‘ liest sich auf die-
ser Stufe als institutionelle Bestätigung des freien Willens“ (Ritsert 2007: 65).
Entsprechend kann für auf Demokratisierung ausgerichtete institutionelle Zusam-
menhänge geschlussfolgert werden: „Als ,reflexiv‘ kann eine Institution mithin
erst dann gelten, wenn und insoweit sie den freien Willen der Einzelnen, seine
Empathie sowie anerkennende Interaktionen mit ihrerseits selbständigen Anderen
unterstützt und nicht untergräbt. Als ,repressiv‘ wäre eine Institution von daher
dann zu kritisieren, wenn sie Autonomie, damit die Würde des Subjekts in Frage
stellt oder gar zerstört“ (ebd.: 64). In diesem Sinne fordert der von Heydorn

43 Jürgen Ritsert greift hier den von Fritz Reusswig geprägten Begriff der „reflexiven Institutionen“
auf (vgl. Reusswig 1991). Helmut Brendel unterstreicht den Beitrag von Jürgen Ritsert und seine
Interpretation von Anerkennung bei Hegel als Beitrag zu einer „kritischen Theorie von Institu-
tionen“ (Brendel 1999: 265).
2.4 Erfahrung als Impuls von Handeln 57

angemahnte, verändernde Beitrag von Bildungs-Institutionen das Mögliche im


Sinne Blochs als konkrete Praxis.44

2.4 Erfahrung als Impuls von Handeln


Erfahrung als Impuls von Handeln

Barber betont, dass Erfahrung ein wesentliches Moment gemeinsamen Handelns


sei (1994: 162 f.). Barbers Begriff der Erfahrung bleibt dabei aber unbestimmt.
Jürgen Oelkers hat den Erfahrungsbegriff von John Dewey rekonstruiert. Sein Im-
puls ist an dieser Stelle skizzenhaft aufzunehmen – dies auch deshalb, weil sich
Barber in seinen Überlegungen zum Handeln auf den Begriff der Erfahrung bei
Dewey bezieht. Wie Oelkers deutlich macht, betone Dewey, dass Erfahrung „alle
Beziehungen“ umfasse, die „ein lebendiger Organismus zu seiner Umwelt unter-
hält“ (Oelkers 2009: 143). Erfahrung sei damit keine bloße „Angelegenheit des
Wissens“, sondern eine Interaktion aller Sinne der Menschen miteinander und mit
ihrer Umwelt (vgl. ebd.: 142). Entsprechend sei Erfahrung „immer geteilte Erfah-
rung und so intersubjektiv, ein öffentlicher Tatbestand und nicht lediglich ein pri-
vater geistiger Gehalt“ (ebd.: 143). Vor diesem Hintergrund ist Erfahrung keine
passive Angelegenheit, sondern vielmehr eine Praxis, „aktiv zu werden“ (ebd.).
Für das Handeln bedeute dies: „Handeln kann man immer nur in einem bestimm-
ten Moment und einer gegebenen Situation“ (ebd.). Und letztlich sei Erfahrung
„keine Domäne außerhalb des Denkens, vielmehr versorgt uns die Reflexion der
Erfahrung mit sinnhaften Bedeutungen, die uns Instand setzen, Prozesse zu lenken
und von anschließenden Erfahrungen zu lernen“ (ebd.). Ist Handeln in diesem
Sinne an Erfahrung geknüpft, ist vorausgesetzt, dass „man [auch] immer schon
Erfahrungen“ hat (vgl. ebd.: 147). Damit ist jeder Mensch in der Lage, politisch
zu handeln, oder jeder Mensch ist auf der Grundlage seiner Erfahrungen grund-
sätzlich politisch. Treten diese Erfahrungen in den Austausch mit den anderen,
werden sie politisch produktiv. Ist Handeln im skizzierten Sinne reflexiv, betont
Erfahrung bei Barber jenes Moment des Handelns, welches die Prozesshaftigkeit,
die eigenständige und eigentätige Entwicklung hin zum öffentlichen Urteilen,
markiert.
Auch Negt misst dem Begriff der Erfahrung im Kontext von Handeln eine
große Bedeutung bei. Vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zur Demokratie
als Lebensform plädiert er für einen „erweiterten Erfahrungsbegriff“ (2010:
284)45, der Urteilskraft an die Erfahrungsdimension von Öffentlichkeit rückbindet

44 Das Mögliche ist hier mit Ernst Bloch in seiner Dynamik, in seiner Prozesshaftigkeit und in den
von ihm ausformulierten Ausdifferenzierungen zu denken (vgl. hierzu Jung 2012).
45 Die „kennzeichnende Weite des Begriffs“ sieht Negt bei Adorno darin, dass dieser mit „Hegels
Dialektik und im materialistischen Horizont von Marx“ argumentiert sowie diese Perspektive
gleichzeitig „durch empirische Forschung“ öffnet und ausfüllt (vgl. Negt 1995: 170).
58 2 Normative Demokratietheorien

(vgl. ebd.: 278 f.). Grundsätzlich bezieht sich Negt auf den Begriff der Erfahrung,
wie ihn Adorno in seinen Schriften umrissen hat. An dieser Stelle kann eine Re-
konstruktion des Begriffes der Erfahrung bei Adorno nicht vorgenommen werden.
Dennoch sollen einige Aspekte angedeutet werden, die für die Perspektive A-
dornos und die Schlussfolgerungen Negts wichtig sind.
Den Kern der Erfahrung sieht Negt in der „Verknüpfung [...] reflektierten
Wissens“ sowie „des Bewusstseins der Vermitteltheit des jeweils Unmittelbaren“
(Negt 1995: 169). Mit Adorno könne so Erfahrung „als dialektische Bewegung,
als ein Prozess der Reflexion, in dem sich sowohl das Bewusstsein als auch sein
Gegenstand verändert“ (Kirchhoff 2004: 84) verstanden werden.
Im Unterschied zur Idee Hegels, wo dieser Prozess darin mündet, „dass der
Geist immer nur seinen eigenen Produkten begegnet“ und letztlich „das Ganze das
Wahre sei“ (ebd.: 85), kritisiere Adorno diese Perspektive. Richtig sei, dass der
„Geist die Welt als Totalität erfährt“; zu kritisieren sei aber, dass dies „Hegel [...]
als Versöhnung proklamiere“ (ebd.). Entsprechend verweise das „Nichtidenti-
sche“ auf die Erfahrung einer Widersprüchlichkeit der Welt, der „Undurchdring-
lichkeit des Sozialen“ und der Gesellschaft (vgl. ebd.: 86). Das Nichtidentische46,
so Negt, bezeichne „das Andere des Denkens, das schlechthin Widerständige des
Gedankens, dass [...] nichts letzthin Gegebenes ist, sondern sich als [...] durch Be-
griff Vermitteltes erweist“ (Negt 1995: 170).
In diesem Zusammenhang komme der „metaphysischen Erfahrung“ als ei-
nem Verhältnis aus Subjekt und Objekt, „in dem Vermitteltes und Unmittelbares
gleichzeitig Gültigkeit haben“ eine besondere Bedeutung zu (vgl. ebd.: 171). Me-
taphysische Erfahrung bei Adorno meine kein „religiöses Urerlebnis“, sondern z.
B. die Momente „des Glücks“ und „dem darin mitgesetzten prekären Verhältnis
von Nähe und Distanz der Glückserfahrungen“ (ebd. 170). Metaphysische Erfah-
rung „bezeichnet das dem Menschen eigentümliche Gefühl, dass das im Leben
Erfahrene nicht alles gewesen sein kann“ (ebd.: 171).
Christine Kirchhoff skizziert den Gedanken des Nichtidentischen von A-
dorno, der feststelle, „dass eine bestimmte Undurchdringlichkeit geradezu das
Wesen des Sozialen, des Gesellschaftlichen sei“ (Kirchhoff 2004: 86). Dieses Ge-
sellschaftliche oder „Gesellschaft bekomme man auf der Haut zu spüren, wenn
man auf irgendwelche kollektive Verhaltensweisen stößt, die das Moment der Un-
aussprechbarkeit haben und die vor allem unvergleichlich viel stärker sind, als die
einzelnen Individuen es sind, die diese Verhaltensweisen an den Tag legen, so
dass man sagen kann, dass Gesellschaft unmittelbar fühlbar wird, wo es wehtut“
(Adorno zit. nach Kirchhoff 2004: 86 f.). Kirchhoff schlussfolgert: „Solange es

46 Zur Herleitung des Stichwortes des „Nichtidentischen“ bei Adorno in seiner Auseinandersetzung
mit Hegel vgl. weiterführend Christine Kirchhoff (2004: 85 f.).
2.4 Erfahrung als Impuls von Handeln 59

wehtut, können die Einzelnen, so sehr sie auch Moment der Gesellschaft sind, in ihr
nicht aufgehen. Die Möglichkeit der Erfahrung der Gesellschaft wird zum Index der
Nichtidentität von Individuum und Gesellschaft“ (ebd.). In diesem Sinne ist es „die
Irrationalität des Ganzen [...], dass die Welt weit davon entfernt ist, vernünftig ein-
gerichtet zu sein, die hier zu spüren und zu erfahren ist“ (ebd.). Die Intention A-
dornos sei die Herausstellung eines „objektive[n] Moment[s]: [...]das nur individuell
erfahrbare und zugleich allgemeine Leiden an der Irrationalität der zur Undurchsich-
tigkeit verselbständigten Gesellschaft“ (ebd.). Adorno verweise in diesem Zusam-
menhang darauf, dass Gesellschaft mehr als die individuelle Erfahrung sei, die
„,man auf der Haut‘ zu spüren“ bekomme (vgl. ebd.: 88). Deshalb sei „die Erfahrung
der Gesellschaft auf die Theorie der Gesellschaft verwiesen“ (ebd.: 88). Deutlich
wird die Notwendigkeit eines reflexiven Elements von Erfahrung. Die reflexive Be-
wegung der Erfahrung mache Kritik erst möglich (vgl. ebd.: 89).
Oskar Negt sieht den „ideologiekritischen Impuls Adornos“ darin, „noch in den
subtilsten erkenntnistheoretischen und ästhetischen Gebilden gesellschaftliche Ver-
mitteltheit aufzuweisen“ (Negt 1995: 171). Entsprechend sei „nicht Subsumtion des
Besonderen unter das Allgemeine“ kennzeichnend für reflexive Erkenntnis, „son-
dern Grenzüberschreitung durch konsequentes Versenken ins Besondere, das unver-
meidlich über sich hinausgeführt wird und so auf ein Allgemeines, auf das Ganze
der Gesellschaft, auf Geschichte verweist“ (ebd.). Damit, so Negt, sei „Gesellschaft
[...] dem Individuum nichts Äußerliches. Vielmehr konstituiert sie dessen inneren
Kern“ (ebd.). Die Konstitution des Einzelnen und der Gesellschaft stehen Negt zu-
folge in einem wechselseitigen Verhältnis. In der Erfahrungsweise der Menschen
seien „Individuum und Gesellschaft einzigartig und konkret durcheinander vermit-
telt“ (ebd.: 172). Und weiter: „Nicht bloß ist der einzelne in sich gesellschaftlich
vermittelt, seine unwiederholbar-charakteristischen Züge sind immer zugleich auch
gesellschaftliche. Sondern umgekehrt bildet sich und lebt die Gesellschaft auch nur
vermöge der Individuen, deren Inbegriff sie ist“ (ebd.).
Erfahrung ist angewiesen auf das reflexive Element, um den Widerspruch des
Nichtidentischen zur Sprache bringen zu können bzw. um im subjektiven Moment
der Erfahrung das Allgemeine, die die individuelle Erfahrung durchziehenden ge-
sellschaftlichen Widersprüche, erkennen zu können. Wie Oskar Negt deutlich
macht, ist entsprechend ein weiter Erfahrungsbegriff notwendig. Dieser schließt
„die Phantasien, Träume, Interessen“ der Menschen sowie deren Bezug zur „Ge-
genstandswelt“ mit ein (2010: 31). Erfahren wird von Negt als Tätigkeit verstan-
den. Genauer: Erfahrung versteht sich, als „das Sammeln von Erfahrung[en]“
(2010: 31). Erfahrung steht damit nicht für sich allein, sondern erschließt sich nur
als prozesshafte Bewegung im Plural als Vielfalt unterschiedlichster Erfahrungs-
bestände. Erfahrung ist damit eine praktische und im Alltäglichen eingebettete
60 2 Normative Demokratietheorien

Angelegenheit.47 Im Sinne Adornos schreibt deshalb Kornelia Hauser, aus femi-


nistischer Perspektive gehe es um das Erkennen und kritisch Machen der Wider-
sprüche im Alltäglichen, als den „Aspekte[n] des Alltags [...], die im Alltag zer-
streut herumliegen, konzentriert, sich berühren lassen, so dass der Alltag klarer
wird und auch, dass daraus – wenn die Sinne und Begreifenskräfte gerichtet wer-
den (wir nennen es Bildung) –, Schlussfolgerungen entstehen“ (2013: 739). Erfah-
rungen sind damit auch immer historisch konkret am Beispiel zu bestimmen. Letz-
terer Punkt stellt auch die folgenden Fragen: „Wie [können] überhaupt Erfahrun-
gen gemacht werden?“ bzw. „Wie sieht die Dingwelt aus, aus der Erfahrungen
bezogen werden?“ (Negt 2010: 31). Dies ist insofern von zentraler Bedeutung,
weil in der gegenwärtigen Gesellschaft „die öffentlichen Erfahrungsräume
schrumpfen“ (ebd.). Deshalb besteht die Notwendigkeit „kollektiver Erfahrungs-
räume“ für „Erfahrungserweiterungen“ der Menschen, damit sie „einen Begriff
von dem bekommen können, was Erfahrung der gesellschaftlichen Realität ist“
(ebd.: 32).
Im Anschluss an die obigen Überlegungen zu Adornos Begriff der Erfahrung
bedeutet dies auch, dass eine aktive Aneignung und Entwicklung von Erfahrungs-
räumen Bedingung dafür ist, um das reflexive Moment in die Erfahrung einholen
und letztlich so Kritik sowie Möglichkeiten eingreifenden Handelns entdecken zu
können. Die Entdeckung der Möglichkeiten ist allerdings bei Adorno selbst schon
in der Idee des „Nichtidentischen“ enthalten. Martin Seel macht deutlich, dass das
„Nichtidentische“ bei Adorno weniger die Negation in den Mittelpunkt stelle, son-
dern vielmehr in der negativen Kontrastierung auf die „Freilegung jenes Positi-
ven“ ziele, „das den Negationen Kraft und Schärfe gibt (2004: 21). Erfahrung sei
in diesem Zusammenhang eine Einheit aus „der Erfahrung der Falschheit des Fal-
schen“ sowie der damit verknüpften Erfahrung und dem Wissen, „dass es im Den-
ken und Handeln auch anders geht“ (ebd.: 22). Das „Nichtidentische“ bei Adorno
stehe deshalb „für alles das, was einer auf technische Verfügung gerichteten Auf-
merksamkeit entgehen muss“ (ebd.: 23 f). Und: „,Nichtidentisch‘ sind Objekte wie
Subjekte darin, dass das, was sie sind, niemals vollständig erfasst werden kann“
(ebd.: 24).
Die Kritik von Adorno richte sich gegen eine „Fixierung auf das Verwert-
bare“ und damit gegen eine instrumentelle Verfügung über Dinge und Personen
(vgl. ebd.). Seel verweist auf Gedanken von Adorno in Minima Moralia. Bei A-
dorno heißt es entsprechend: „In den Bewegungen, welche die Maschinen von den
sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis
Unaufhörliche der faschistischen Misshandlung. Am Absterben der Erfahrung

47 Dies unterstreicht auch Christine Kirchhoff, wenn sie in Orientierung an Adorno schreibt: „Bei-
des, Körper und Geist, sind Abstraktionen von ihrer Erfahrung, ihre radikale Differenz ein Ge-
setztes. [...] Eine Erfahrung ist gemeint, die alltäglich sich machen lässt“ (vgl. 2004: 89 f.).
2.4 Erfahrung als Impuls von Handeln 61

trägt Schuld nicht zum letzten, dass die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweck-
mäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen in bloße Handhabung
beschränkt, ohne einen Überschuss, sei’s Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selb-
ständigkeit des Dingens zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht
verzehrt wird vom Augenblick der Aktion“ (Adorno [1951] 2012: 44). Und A-
dorno spitzt diesen Gedanken zu: „Die praktischen Ordnungen des Lebens, die
sich geben, als kämen sie den Menschen zugute, lassen in der Profitwirtschaft das
Menschliche verkümmern, und je mehr sie sich ausbreiten, umso mehr schneiden
sie alles Zarte ab. Denn Zartheit zwischen Menschen ist nichts anderes als das
Bewusstsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen, das noch die Zweck-
verhafteten tröstlich streift“ (ebd.: 45; Hervorhebung F. A.). An diese Überlegun-
gen von Adorno anschließend, vermerkt Seel, dass „Freiheit an die Selbständigkeit
eines personalen oder sachlichen Gegenübers“ gebunden sei (vgl. Seel 2004: 32).
Entsprechend bedürfe diese Freiheit „einer Freiheit von der Fixierung auf die ei-
genen Zwecke“ (ebd.: 32). In diesem Sinne sei die Perspektive „zweckfreie[r] Be-
ziehungen zu anderem und anderen [der] Erfahrungskern“, der die Kritik von A-
dorno begründe und darauf ziele, die „Möglichkeiten“ hervorzuheben, „deren Ent-
faltung durch die Einrichtung der menschlichen Welt systematisch verschenkt
werden“ (ebd.: 34). In diesem Blickwinkel ziele Adorno auf die Offenlegung der
Momente und „Zustände nichtinstrumentellen Verhaltens“ (ebd.: 35). Diese Zu-
stände wiederum seien für Adorno „alles andere als Utopie. Inmitten der verwalteten
Welt gibt es sie. Sie können real erfahren werden“ (ebd.). Im Unterschied zu Vor-
stellungen von instrumentell-rationalem Handeln48 könne mit Adorno ein freies Le-
ben (zweckfreier Beziehungen) nicht einfach in „Verhaltensweisen“ bestehen, „die
für etwas gut sind, sondern nur in solchen, die selbst das Gute sind“ (vgl. ebd.: 37).
Hieraus ergebe sich aber die Schwierigkeit einer „Gegenüberstellung [...] von ergeb-
nis- und vollzugsorientierter Tätigkeit“ (ebd.). Adorno dränge auf die Notwendig-
keit, eine „Normativität des Handelns aus Situationen jenseits von Tausch und Aus-
tausch“ zu entwickeln (ebd.). Adorno unterscheide deshalb die „Augenblicke der
Kontemplation“ als „Grundmodell richtiger Praxis“ von „Kooperation und Kommu-
nikation“ (ebd.).49 Martin Seel plädiert dafür, Kontemplation nicht „als ein

48 Martin Seel verweist hier auf die „Anerkennungslehre“ von Jürgen Habermas: „Bei ihm ist An-
erkennung das Resultat einer in rationalen Bahnen geleisteten sozialen Koordination und Ko-
operation“ (vgl. 2004: 36 f.). Die Idee eines „zwanglosen Austausch[s] von Argumenten“ und
„die wechselseitige Entwicklung von Respekt und Wertschätzung“ verbleibe im Blickwinkel der
Kritik mit Adorno „in der Sphäre des instrumentellen Handelns“ und sei „lediglich um intersub-
jektive Selbsterhaltung“ bemüht, bei der „sich Subjekte ihrer gegenseitigen Akzeptanz verge-
wissern können“ (ebd.).
49 Kontemplation meint „bei Adorno ein Verhalten, in dem es um ästhetische Wahrnehmungen,
theoretisches Erkennen und praktische Anerkennung gleichermaßen geht“ (Seel 2004: 13 f.). In
diesem Sinne geht es um ein spezifisches Verständnis einer Einheit „von Theorie und Praxis“,
62 2 Normative Demokratietheorien

exklusives Verhalten“ zu sehen, „dem es aufgegeben ist, eines fernen Tages an die
Stelle der bisherigen Praxis zu treten“, sondern sie als eine „Dimension des Verhal-
tens“ zu verstehen, „die sich grundsätzlich in allen seinen Bereichen auftun kann“
(ebd.: 39). Unter diesem Blickwinkel könne „das individuelle Verhalten ebenso wie
die Institutionen der Gesellschaft möglichst auf ganzer Breite [...] andere und ande-
res frei machen“ (ebd.). Handeln und „Haltungen“ könnten der Prüfung unterzogen
werden, inwieweit sie die Möglichkeiten „einer nicht-instrumentellen Aufgeschlos-
senheit zulassen“ (ebd.:38); „Kommunikationen können danach eingestuft werden,
welchen Spielraum sie den Beteiligten lassen“ (ebd.: 39). In dieser Perspektive sei
daher nicht „eine weltfremde Abkehr vom instrumentellen und strategischen Ver-
halten“ das zentrale Motiv, „sondern [...] die innere Qualität von Verhaltensweisen“
bilde „den Mittelpunkt der sozialen Kritik“ (ebd.). Ausgangspunkt für Erfahrung sei
hierbei „ein[...] um seiner selbst willen durchlebte[s] Freisein[...] für andere und an-
deres“ und: „Die Subjekte dieser Erfahrung werden mit Situationen bekannt, die ih-
rem Handeln eine normative Richtung geben können“ (ebd.). In diesen Situationen
stecke die Möglichkeit, „einander in unwillkürlicher Aufmerksamkeit zu begeg-
nen“, und verknüpfe sich mit der Erfahrung „erfüllter Zeit: als individuelle Realisie-
rung eines allgemein lohnenden Daseins“ (ebd.: 39 f.). Bedingung sei allerdings,
dass diese Erfahrungen „in ihrer korrektiven Bedeutung“ für das Handeln erkannt
werden und „nicht zu einem Vorgriff auf paradiesische Zustände umgedeutet wer-
den“ (ebd.: 41). In diesem Sinne beinhalten diese Erfahrungen gleichzeitig die
„Möglichkeiten, die, wenn es gut geht, in Reichweite der individuellen und sozialen
Wirklichkeit liegen“ (ebd.).

2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar
Negt – zum Verhältnis von Handeln, Macht und
Handlungsfähigkeit50
Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt

2.5.1 Zu Widersprüchen des Handlungsbegriffs im Anschluss an Hannah


Arendt

Zu problematisieren ist zunächst der Bezug Barbers und Negts auf den Handlungs-
begriff von Hannah Arendt. An dieser Stelle ist nicht der Raum für eine umfas-

die in der Heraushebung „der zwanglosen Interaktion mit anderen, im philosophischen Denken,
in der ästhetischen Erfahrung von Natur und Kunst – ein Gegenmodell zu der instrumentellen,
von ökonomischen Imperativen beherrschten Praxis des alltäglichen Lebens“ erkennt; „als ,kalt-
herzige Kontemplation‘ ist sie mit der verkommenen gesellschaftlichen Praxis im Bunde; als
warmherzige aber geht sie ein Bündnis mit einer ,vorerst‘ verstellten Praxis ein, die den Primat
der instrumentellen Vernunft abgeschüttelt hat“ (ebd.: 12).
50 Auszüge dieses Kapitels auch in Affolderbach (2016 a).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 63

sende Auseinandersetzung mit Arendt gegeben; dennoch sind einige kritische Hin-
weise aufzunehmen. Wie z. B. Frigga Haug aus einer kritisch-feministischen Per-
spektive hervorhebt, ziele der Begriff des Politischen bei Hannah Arendt darauf,
die Grenze zwischen Politischem und Privatem „undurchlässig zu machen“ (2003:
253). In diesem Zusammenhang erscheint der Begriff des Handelns bei Hannah
Arendt als besonders problematisch. Für Arendt gelten „Sprechen und Handeln
[als] die höchsten und menschlichsten Tätigkeiten“ (Arendt [1972] 2013: 212).
Die Menschen würden im Handeln und Sprechen offenbaren, „wer sie sind“ (ebd.:
219). Arendt wendet sich gegen (vulgär-)materialistische Vorstellungen des Poli-
tischen, da diese „allem Handeln und Sprechen inhärente, die Person enthüllende
Fakten einfach übersehen“ (ebd.: 225), verfehlt damit aber die nicht ökonomis-
tisch verkürzten marxistischen Überlegungen (wie z. B. von Benjamin, Bloch oder
Gramsci). Das wesentliche Moment sieht Arendt in der „Tatsache“ eines „subjek-
tiven Faktors“ im interaktiven Austausch, bei dem die Menschen „sich selbst in
ihrer personalen Einmaligkeit zum Vorschein [...] bringen“, ihre Person „enthül-
len“ und ihr Handeln „weder durch Motive noch durch Ziele vorbestimmt [ist]“
(vgl. ebd.: 225 f.). Haug kritisiert diese Vorstellung Arendts als sozial inhaltsleer.
Handeln sei weder „nützlich-befriedigend“ noch als „verändernd-eingreifend auf
die menschlichen Lebensbedingungen“ zu verstehen, sondern reduziere sich auf
das, „was zwischen den Menschen ist“ (Haug 2003: 254).51 Handeln bei Arendt
verstehe sich demnach nicht als Resultat von und als ein Verhalten in gesellschaft-
lichen Verhältnissen. Auch das Öffentliche in der Verbindung mit dem Politischen
bei Arendt unterliege dieser Reduktion, da „die in der Öffentlichkeit Sprechenden
und Handelnden [...] gar keine Zwecke verfolgen, so auch nicht, für andere Men-
schen einzutreten, gegen Hunger, schlechtes Leben, Krankheit, Herrschaft, Unter-
drückung, Not einzuschreiten“ (ebd.: 255). Für Barber hingegen zeigt Arendt in
ihrem Buch vita activa das Verschwinden des Handelns und Tätigseins des Men-
schen als zentrale Elemente des Politischen auf (vgl. Barber 1994: 121). Ist für

51 Das „Zwischen“ ist eine zentrale Figur, mit der Hannah Arendt „den Raum des Politischen kon-
stituiert“ (vgl. Sigwart 2012: 387). Im Kern geht es ihr darum, eine Idee des Politischen zu ent-
werfen, in dessen Kontext politisches Handeln prozesshaft eine „stabilisierende[...], versteti-
gende[...] Wirkung[...]“ (ebd.) entfaltet und sich gleichzeitig von Formen zweckrationalen Han-
delns unterscheidet. Das „Zwischen“ steht dabei als Metapher für einen „politisch-hermeneuti-
schen Prozess der Selbsterkenntnis der Öffentlichkeit“ (vgl. ebd.). Entsprechend sei „das Grün-
den politischer Gemeinwesen und das Handeln einer politischen Öffentlichkeit [...] vor allem als
eine interpretative Praxis zu interpretieren“ (ebd.). Arendts Bestimmung des „Zwischen“ ist wi-
dersprüchlich. Einerseits betont sie, dass Handeln dadurch charakterisiert sei, dass sich die Men-
schen „unmittelbar aufeinander beziehen“ (ebd.: 392). In diesem Zusammenhang bleibe undeut-
lich, was das Politische meine; es „bezieht sich offensichtlich auf das Gemeinsame. Aber es ist
nicht klar, wo Arendt dieses Gemeinsame verorten will“ (ebd.). Andererseits verdeutliche
Arendt, dass sich das „Zwischen“ „nur dadurch konstituiert, dass sich Menschen im Handeln auf
das beziehen, was ,inter-esse‘, also zwischen ihnen ist“ (ebd.).
64 2 Normative Demokratietheorien

Arendt die griechische Polis Orientierung und damit die Aufrechterhaltung der
Trennung des Privaten vom Öffentlichen (sowie des Privaten vom Politischen)
bestimmend, liest Barber dies als Ausdruck einer Kritik an Vorstellungen magerer
Demokratie sowie ihrer Folgen einer „Passivität und Sprachlosigkeit der Bürger-
schaft“ (Barber 1994: 121 f.). In ähnlicher Weise argumentiert Negt. Für ihn ent-
wickelt Arendt mit ihrem Entwurf ein „Bewusstsein von dem komplexen Zusam-
menhang wirklichen Handelns, seiner Motive, seiner Utopien, der Verdrehungen
der Wirklichkeit“, welcher von Marx ausgelassen und von folgenden Generatio-
nen seiner „meisten“ Interpreten nicht gefüllt worden sei (vgl. Negt 2010: 337).

2.5.2 Handeln und Macht

Mit der Betonung des interaktiven Moments im Handlungsbegriff verbindet Han-


nah Arendt eine spezifische Vorstellung von Macht. Hannah Arendt schreibt:
„Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften
immer schon inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Macht entsteht,
wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legiti-
mität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt;
sie stammt aus dem Machtursprung, der mit Gründung der Gruppe zusammen-
fällt“ ([1970] 2006: 53). Diesen Gedanken führt Arendt wie folgt weiter aus:
„Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu
tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit
ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer
Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir
von jemandem sagen, er ,habe die Macht‘, heißt das in Wirklichkeit, dass er von
einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu han-
deln. In dem Augenblick, in dem die Gruppe, die den Machthaber ermächtigte und
ihm ihre Macht verlieh [...], auseinandergeht, vergeht auch ,seine Macht‘“ (Arendt
[1970] 2006: 45). Mit diesen Überlegungen formuliert Arendt einen Kontrast zu
zweckrationalen Vorstellungen von Macht, deren Basis „asymmetrische Gewalt-
verhältnisse“ bilden (Rieger/Schultze 2010: 563).52
Frigga Haug kritisiert die von Arendt aufgemachte Perspektive und schreibt:
„Macht entfalte sich also als gelingendes Miteinander im zweckfreien Raum“, sei
ziellos und „keinesfalls an ein politisches [emanzipatorisches] Projekt gebunden“

52 Ihre Überlegung formuliert sie im Kontrast zur Logik zweckrationalen Handelns in der „Weber-
schen Machtdefinition“ und dem „Weberschen Anstaltsstaat“ (Rieger/Schultze 2010: 263).
Hauke Brunkhorst kritisiert die Einseitigkeit der Lesarten von Arendts Machbegriff. Die Lesar-
ten würden sich hauptsächlich auf den „handlungstheoretischen“ Aspekt konzentrieren und da-
bei die Erweiterung von Arendt, Macht als „strukturellen Begriff (positiv) gründender Macht“,
übersehen (Brunkhorst 2007: 1 und 4).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 65

(2003: 259). Arendt gehe es nicht um „,Gesellschaftsgestaltung‘ [...], weil für ihre
,Machtpraxen‘ alle sozialen Aufgaben bereits gelöst sein müssen“ (ebd.). Ist bei
Arendt Macht und Handeln der Menschen darauf gerichtet, im „Miteinander-Spre-
chen [...] vor allem über sich selbst als Bürgerschaft [zu] sprechen“ (Sigwart 2012:
397 f.), bleibt Macht und Handeln im „zweckfreien Raum“ abgespalten von den
strukturellen Bedingungen des Gesellschaftlichen; die Klassen- und Geschlechter-
verhältnisse verschwinden.53

2.5.3 Empathische Lesarten von Macht bei Arendt und deren Bedeutung für
Handeln

Dieser kritischen Anmerkung folgend, wären empathische Lesarten des Machtbe-


griffs von Arendt in einer Assoziation mit Handlungsfähigkeit, wie sie z. B. von
Timm Kunstreich oder Joachim Weber für den Kontext der Sozialen Arbeit vor-
geschlagen werden, zu diskutieren. Joachim Weber argumentiert im Anschluss an
Arendt, dass diese unter Macht die „Vergemeinschaftung von freiheitlichen Mög-
lichkeiten“ verstehe (vgl. 2001: 99). Entsprechend bestimme sich das Phänomen
Macht dadurch, „dass diese sich aus den Handlungsmöglichkeiten von vielen
ergibt, sofern sie gleichberechtigt, weil mit dem gleichen Vermögen zu handeln
ausgestattet sind“ (ebd.). In diesem Zusammenhang erweise sich Macht als flüch-
tig und „besteht nur solange, wie der Handlungsverband zusammenhält; sie ist
nicht permanent verfügbar, es sei denn, sie wird institutionalisiert“ (ebd.: 100).
Ähnlich schlussfolgert Kunstreich an Arendt anschließend, Macht entstehe als
Momente zwischen Menschen, wenn diese sich zusammentun würden und „im
Einverständnis miteinander handeln“ und „ein gemeinsames Drittes entdecken
und praktisch realisieren“ (Langhanky u. a. zit. nach Kunstreich 2006: 14). Macht
legitimiert sich „als auf Konsens basierend“ (ebd.).
Anknüpfend an diese Gedanken sieht Kunstreich bei Michel Foucault die Po-
sition von Hannah Arendt und Max Weber als ein Verhältnis aus „Relationalität
und Handlungsoptionen“ miteinander verbunden (vgl. ebd.: 15). Hannah Arendts
Idee gilt hierbei als Richtungsgeber für „Handlungsoptionen“, verknüpft mit dem
„Einwirken auf den Anderen“ als der Sichtweise von Max Weber (vgl. ebd.). Ent-
sprechend sei „jede soziale Handlung“ in einem „spezifischen historischen und
sozialitären Kontext“ zu verorten und sei damit in gesellschaftliche „Kräftever-
hältnisse“ eingebunden (vgl. ebd.). Im Anschluss an Pierre Bourdieu lasse sich
außerdem erkennen, dass diese Kräfteverhältnisse unabhängig vom Individuum

53 Die Problematik der Abspaltung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen als strukturelle
Bedingtheiten des Gesellschaftlichen von Macht findet sich auch im Machtbegriff von Michel
Foucault wieder (vgl. Rehmann 2015: 1522).
66 2 Normative Demokratietheorien

und seinen Interaktionen als Zwang gesellschaftlicher Strukturen auf dessen Han-
deln wirken. Die in diesem Kontext zusammenwirkenden Kräfte kennzeichne
Bourdieu „als unterschiedliche Kapitalsorten: als ökonomisches, kulturelles und
soziales Kapital“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund ergebe sich ein „mehrdimensio-
naler Raum“, in dem die „Verfügung über bzw. der tendenzielle Ausschluss von
bestimmten Kapitalsorten“ die jeweilige „gesellschaftliche Position“ und damit
eine entsprechende „Teilhabe und Partizipation“ der Einzelnen und somit den je-
weiligen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen reguliere (ebd.). Der so ver-
standene „soziale Raum“ sei Abbild „einer fast unendlichen Vielzahl von Relati-
onen in und zwischen Sozialitäten“ (ebd.). Entsprechend drückten sich in „diesen
Relationen [...] Machtverhältnisse aus“, deren Gradmesser „der Umfang und die
Zusammensetzung der verfügbaren Kapitalien“ sei (ebd.). Deshalb würden
Kämpfe zwischen verschiedenen „Sozialitäten [...] um ihre als ,gerecht‘ oder ,un-
gerecht‘ erlebte soziale Platzierung“ geführt (vgl. ebd.: 16). Auf der Suche nach
der Möglichkeit zur „Erlangung einer gerechteren Position“ oder einer „Verbes-
serung“ bzw. „Verteidigung einer im Wesentlichen als ,gerecht‘ erlebten Position“
gehe es „um Macht bzw. um Überwindung von Ohnmacht“ (ebd.). Der Unter-
schied dieser Handlungsweisen zur Herrschaft institutionalisierter Formen der
Macht bestehe in den „soziale[n] Räumen und soziale[n] Zeiten, die quer (trans-
versal) zu den Herrschaftsstrukturen liegen“ (ebd.).
Die Interpretationen der angedeuteten Sichtweisen auf Macht beinhalten
zwei Dimensionen. Die eine kann als kollektive Handlungsmacht verstanden wer-
den, „bei der die Menschen gemeinsam eine größere Handlungsfähigkeit gewin-
nen“ (Rehmann 2015: 1527) können. Gleichzeitig kann sich hieraus „Herrschafts-
macht“ (ebd.) entwickeln, die wiederum als „Macht zur Befreiung und zur Gestal-
tung der befreiten Gesellschaft“ (Goldschmidt 2015: 1486) zum Ausdruck kom-
men oder sich als Passivierung in der Delegation von Macht verlieren kann.54

54 Aus den hier skizzierten Positionen ergeben sich Kritikpunkte am Machtbegriff von Michel
Foucault. An dieser Stelle kann der Machtbegriff von Foucault nicht rekonstruiert werden. Zu-
sammenfassende Interpretationen, die für den hier diskutierten Kontext von Bedeutung sind,
kommen z. B. von Alex Demirovic (insbesondere 2007: 232 f.) und Jan Rehmann (2015: 1520
f.). Zwei Kritikpunkte möchte ich hervorheben: Zunächst repräsentiere Foucaults „Machtkon-
zept“ eine Variante reduktionistischer Klassentheorie, welche sich in der verkürzten „Glei-
chung“ von „Klasse-Gewalt-Macht“ ausdrücke (vgl. Rehmann 2015: 1521). Zum anderen spalte
Foucault Macht vom Zwang der ökonomischen Verhältnisse ab und bringe dabei die strukturelle
Bedingtheit und Verzahnung von „Machtbeziehungen der Klassen- und Geschlechterverhält-
nisse zum Verschwinden“ (vgl. Rehmann 2015: 1522; durch die Betonung des „zweckfreien
Raumes“ im Machtbegriff von Hannah Arendt verschwinden die strukturellen Bedingtheiten des
Gesellschaftlichen, vergleichbar zum hier skizzierten Problem bei Foucault.). Als weiterführen-
der Impuls von Foucault gilt z. B. seine Kritik an schematischen Vorstellungen von Macht, die
Macht polarisierend betrachten und Macht als Mechanik zwischen denjenigen, die Macht haben,
und denjenigen, die keine Macht haben beschreiben (vgl. Demirovic 2007: 234). Demgegenüber
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 67

Letztere Sichtweisen verstehen Macht als ein umkämpftes gesellschaftliches Ver-


hältnis, welches zwischen „Macht und Gegenmacht“ oszilliert und somit ein Span-
nungsverhältnis zwischen unterdrückerischen Formen und „befreienden“ Kräften
erkennen lässt (vgl. ebd.).
In diesem Sinne sind die (exemplarischen) Positionen von Kunstreich und
Weber einzuordnen. Den Anknüpfungspunkt für die Interpretationen von Kunst-
reich und Weber bildet der normative Gehalt einer Vorstellung von Macht als (ho-
rizontal) verbindendes Element.55 Exemplarisch verdeutlicht dies Joachim Weber
und unterstreicht Macht als einen Modus der „Vergemeinschaftung von freiheitli-
chen Möglichkeiten“ (2001: 99). Entsprechend seien „die je eigenen individuellen
Handlungsmöglichkeiten [...] verschwindend gering im Vergleich zu den Mög-
lichkeiten, die wir gemeinsam haben“ (ebd.).56 Im Mittelpunkt steht Macht als
konstitutives Element von „Ermächtigung“ (ebd.: 101). Timm Kunstreich geht
hier weiter und sieht unter Einbezug von Bourdieu Macht als „Relation von
Machtverhältnissen“, als reale Teilhabe an der „kooperative[n] Verfügung über
ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen“ (2006: 15). Macht gewinnt hier-
bei die Bedeutung eines Zuwachses an Kräften zur „Überwindung von Ohnmacht“
(ebd.: 16). Bei beiden gewinnt Macht die Bedeutung einer Gegenmacht. Hand-
lungsfähigkeit ergibt sich dabei aus der Möglichkeit, das Politische als Raum zu
entwerfen, „in dem jeder Einzelne etwas bedeuten und bewirken kann“ (Haug
2003: 261).57

mache sich Foucault für eine Sichtweise stark, die Macht als „Plural“, als Wechselwirkung ver-
schiedenster Machtformen (Technologien) und Widerständigkeiten begreift (ebd.: 232 f.). Ähn-
lich unterstreicht Jan Rehmann die Idee des „Dispositivs“ als Dimension zur Erfassung von
„raum-zeitlichen“ Unterwerfungspraxen unter Machttechnologien „die sich in ideologischen
und repressiven Apparaten durchsetzen [...], mit deren Hilfe den Subjekten Disziplinartechniken
inkorporiert werden“ und die als Wirkungszusammenhang „neue gesellschaftliche Gegenstands-
bereiche“ erzeugen (vgl. Rehmann 2015: 1524). Für meine Position ist die Verknüpfung des
foucaultschen Dispositivs „mit einer Analyse ideologischer Superstrukturen“ von Bedeutung
(vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang gilt das „Ideologische nicht primär als Ideengebäude, son-
dern als ,äußere Anordnung‘ im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (ebd.: 1524). In
diesem Kontext werden die theoretischen Überlegungen von Antonio Gramsci zur Hegemonie
zentral und entsprechend wären z. B. das Verhältnis von Hegemonie und Gewalt zu erörtern und
das Stichwort der Passivierung sowie der Begriff des Alltagsverstandes von Antonio Gramsci in
ihrer bzw. seiner sozialen Wirkungsweise zu analysieren.
55 Claas Christophersen bemerkt zu Hannah Arendt: „Arendts Konzeption politischer Freiheit be-
inhaltet aber auch ein normatives Ideal, an dessen Verwirklichung sich reales Handeln und das
Nachdenken über dessen Möglichkeitsbedingungen messen lassen müsste“ (2010: 93). Genau
dieses Moment unterstreichen Joachim Weber und Timm Kunstreich.
56 Ohne hierauf genauer eingehen zu können, ist die Idee eines kommunikativ vermittelten Han-
delns im Sinne einer interaktiven „Enthüllung“ der Person (oder des menschlichen Wesens) bei
Hannah Arendt verallgemeinernd in einer Perspektive der Kooperation aufzuheben.
57 Das von mir verwendete Zitat von Frigga Haug entstammt einer spitzen Formulierung ihrer Kri-
tik an linken Lesarten von Arendt. Die Faszination erklärt sie so: „Die linke Arendtrezeption
68 2 Normative Demokratietheorien

2.5.4 Trennung des Politischen von der Gesellschaft und dessen Bedeutung
für Handeln

Mit Blick auf Arendt allerdings ist dieser Raum des Politischen strikt von der Ge-
sellschaft getrennt. Entsprechend bilden auch das Politische und das Ökonomische
zwei entgegengesetzte Sphären. Dieses Problem unterstreicht Hauke Brunkhorst
und verweist auf „die Weigerung Arendts, beide Sphären als differenzierte Sphä-
ren derselben Gesellschaft zu betrachten“ (2007: 5). Handeln, insbesondere als
konstitutives Element des Politischen, wird dabei „von der Gesellschaft ge-
trennt[...] und ihr normativ übergeordnet[...]“ (ebd.). In diesem Zusammenhang
sei „jede Vergesellschaftung der Politik als Verfall zu verstehen“ (ebd.). In der
Konsequenz stehe bei Arendt eine „dualistische Scheidung von innen und außen,
von ,Zivilisation‘ und ,Barbarei‘, des (human-zivilisierten) Politischen und der
(unmenschlich-barbarischen) Sphäre des Sozialen“ (ebd.: 10). Betont wird bei
Arendt somit die „konstituierende Seite politischen Handelns“ (Demirovic 2013a:
466). Als politisches Handeln gilt deshalb der Moment, in dem die Menschen zu-
sammenkommen und „gemeinsam handlungsfähig werden“ (ebd.: 463). In diesem
Zusammenhang erscheint politisches Handeln gleichzeitig als „Sphäre der Auto-
nomie und der Freiheit“ (ebd.). Vergessen wird allerdings, dass der konstituie-
rende Akt politischen Handelns einen „konstituierten politischen Prozess hervor-
bringt“, der im „Schatten der Normalität, der Gewöhnlichkeit, der Verwaltung, der
Polizei“ verschwindet (ebd.). Alex Demirovic sieht das Problem einer Betonung
und Bevorzugung des Moments „gemeinsamen Handelns“ als Schwierigkeit der
zeitgenössischen Auseinandersetzung um das Politische allgemein. Demnach un-
terscheiden „Arendt, Lefort, Laclau und Mouffe, Rancière, Badiou oder Žižek“ in
ihren Überlegungen das Politische als Sphäre gemeinsamen, insbesondere demo-
kratischen Handelns von der „Ökonomie mit ihrer Macht und ihren Sachzwängen“
(ebd.: 463 f.). Hierbei spalten sie nicht nur das Ökonomische vom Politischen,
sondern auch das Politische selbst. Das gespaltene Politische erscheint als Norma-
tiv, als gemeinsame Handlungsfähigkeit und in diesem Sinne als das „authentisch“
Politische, welches sich von der belastenden „verwaltende[n] und beherr-
schende[n] Seite“ als das andere distanziert und „ihm den Namen der Politik“ ab-
erkennt (vgl. ebd.: 466). Somit sind auch Widersprüchlichkeiten sowohl des Han-
delns selbst als auch im Politischen ausradiert. Gemeinsame Handlungsfähigkeit

speist sich aus dem Verlangen, Kapitalismuskritik zu verbinden mit dem Kampf für einen poli-
tischen Raum, in dem jeder Einzelne etwas bedeutet und bewirken kann“ (Haug 2003: 261).
Zweifelnd fügt sie hinzu: „Lässt sich Arendt in dieser Weise lesen und verstehen?“ (ebd.). Die
hier angedeutete Skepsis von Haug trifft dann zu, wenn Macht in einem verkürzten Sinne, aus-
schließlich als horizontal-verbindendes Element, abgespaltet von einer „Macht über“, gedacht
wird und dabei das Spannungsverhältnis von „Macht über“ und Gegenmacht zum Verschwinden
bringt.
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 69

ist nicht als ein in gesellschaftlichen Widersprüchen vermitteltes Verhältnis zu er-


kennen.
Besteht Arendt darauf, wie weiter oben deutlich gemacht wurde, Macht als
ein zweckfreies Verhältnis gemeinsamen Handelns zu bestimmen, liegt „der
Zweck, also das Wozu, das [...] dem Handeln zugrunde liegt, [...] außerhalb der
unmittelbaren, [...] autonomen Verfügungsgewalt des politisch handelnden Indi-
viduums“ (Sigwart 2012: 357). Handeln steht hierbei in einem Widerspruch. Liegt
die Betonung bei Joachim Weber und Timm Kunstreich auf dem „inklusiven Sog
politischen Handelns“ (Brunkhorst 2007: 17)58, steht dies gleichzeitig im Wider-
spruch einer „dualistischen Scheidung von innen und außen“ (ebd.: 10). Dies führt
z. B. dazu, dass Arendt mit Blick auf den Staat „die Gewaltenteilung, also den
Organisationsteil der Verfassung der Politik und dem Staat zuordnet“ und dabei
gleichzeitig die Rechte abspaltet. Mit dieser Trennung, so argumentiert Brunk-
horst, werde verhindert, „dass die Politik überhaupt einen bebauten, von Men-
schen hergestellten Raum hat, [...] um das menschliche Gattungswesen, das
[Z]oon politikon zu verwirklichen“ (ebd.: 17). Diesen Gedanken führt Brunkhorst
weiter aus: „Rechte und Gesetze durchdringen den Raum des Politischen nicht und
gehören für Arendt deshalb auch nicht zum performativen Vollzug solcher Praxis“
(ebd.: 18). Sie bleiben dem Prozess des Handelns „äußerlich“ und schließen „jede
Möglichkeit einer Politik der Rechte aus“ (ebd.). Dieser Punkt aber ist für das
Handeln sozialer Bewegungen durchaus von großer Bedeutung, da für ihre Orga-
nisation „politischer Macht [...] die Rechte und das Recht nicht äußerlich, sondern
wesentliches Element ihrer Praxis, Medium ihrer kommunikativen Ermächtigung“
(ebd.) sind.

2.5.5 Zweck und Sinn von Handeln

Darüber hinaus stellt sich implizit die Frage nach dem Sinn und Zweck des Han-
delns, vor allem dann, wenn die Frage nach freiheitlichen Formen der Vergesell-
schaftung, die ja eine bestehende Form gesellschaftlicher Unfreiheit voraussetzen,
gestellt ist.59 Hannah Arendt verortet Zweck und Zweckhaftigkeit im „Bereich der

58 Der bei Arendt enthaltene „normative Bedeutungsüberschuss“ einer Idee selbstbestimmten Han-
delns nähert sich der Vorstellung von „einem expansiven und sozial inklusiven demokratischen
Experimentalismus“ (Brunkhorst 2007: 17). Weiter schreibt Brunkhorst: „Soweit geht Arendt
jedoch nicht. Sie möchte vielmehr die Dynamik und den inklusiven Sog politischen Handelns
durch einen unpolitischen Gesetzesstaat und unpolitische Landesgrenzen bremsen“ (ebd.; Her-
vorhebung F. A.).
59 Mit Blick auf die Sichtweisen von Timm Kunstreich und Joachim Weber ist zu schlussfolgern,
dass ihre Überlegungen zum Stichwort praktisch darauf zielen, die Legitimität eines Anspruches
von unten, solidarische, horizontale Formen der Vergesellschaftung zu begründen und sie gleich-
zeitig von gewalthaften, zwanghaften Formen der Vergesellschaftung (von oben) analytisch
70 2 Normative Demokratietheorien

Gewalt, der Notwendigkeit“ (Christophersen 2010: 91). Zweck und Zweckhaf-


tigkeit stehen damit „im Gegensatz zur öffentlichen Handlungsfreiheit“ (ebd.). Die
„Gründung politischer Freiheit“ als Form freiheitlicher Vergesellschaftung ver-
knüpfe sich bei Arendt mit der Vorstellung einer öffentlichen Gestaltungsmacht,
die selbst „keine Beschränkung in einem bestimmten Zweck kennen dürfe“ (ebd.).
Arendt formuliere hier einerseits die Gefahr, dass in „moderne[n] Arbeitsgesell-
schaften“ öffentliches Handeln passiviert werde und so „im schlimmsten Fall to-
talitär [...] und damit die Möglichkeitsbedingungen politischen Handelns zerstören
könne“ (ebd.). Entsprechend warne Arendt „vor der Gleichstellung des ,zwecklo-
sen‘ Öffentlichen mit dem zum ,Sachzwang‘ verkommenen Sozialen, wie wir es
in den modernen (Post-)Demokratien erleben“ (ebd.: 92). Andererseits stehe diese
nachvollziehbare Einsicht im Widerspruch dazu, dass „seit Entstehung des Kapi-
talismus [...] alle politischen Kämpfe um soziale Fragen geführt“ würden und sich
insofern an der Frage nach dem Zweck des Handelns entzündeten (vgl. ebd.: 91).
Für Arendt zeige das Beispiel der Französischen Revolution, dass die an das re-
volutionäre Handeln gebundene soziale Frage (im Unterschied zur Amerikani-
schen Revolution) dazu geführt habe, dass revolutionäres Handeln „in Terror um-
schlug“ (ebd.). Entsprechend verweise Arendt „die Befriedigung der materiellen
Grundbedürfnisse in die private Sphäre des Haushalts“ (ebd.) und verdrängte da-
mit „das ,Soziale‘ als Zwecksetzung des Politischen [...] aus dem öffentlichen Dis-
kurs“ (ebd.: 90).

2.5.6 Erweiterte Handlungsfähigkeit als Potenz von Selbstorganisation in der


Perspektive von unten – Verhältnis zwischen Macht und
Handlungsfähigkeit

Weiterführend wäre deshalb die Frage des Handelns als Frage nach dem Verhält-
nis von Handlungsfähigkeit zu Macht und Herrschaft zu stellen. An diesem Punkt
kann man sich auch von der Beschränkung in der Machtvorstellung von Arendt
lösen. Jan Rehmann beispielsweise nähert sich der Bedeutung von Macht etymo-
logisch. Zwei Dimensionen in der Sprachentwicklung und Bedeutung des Begrif-
fes Macht stellt Rehmann heraus. Zum einen verweise die sprachliche Wurzel auf
die Stichworte „Können/Vermögen“ und deren Bedeutungszusammenhang von

unterscheidbar zu machen. Mit dem Fokus auf Handlungsmöglichkeiten und hiermit verbunde-
nen Formen von Handlungsfähigkeit werden Fragen nach der Entstehung der Mächte, nach dem
Verhältnis von Macht und Gewalt, die Frage nach den Kämpfen der Machtverteilung oder auch
die Frage nach den Unterschieden von Macht zu Herrschaft sowie den Dimensionen von Hand-
lungsfähigkeiten, wie sie etwa Klaus Holzkamp im Kontext der kritischen Psychologie subjekt-
theoretisch als restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit beschreibt (vgl. hierzu
grundsätzlich Holzkamp 1985 und weiterführend Markard 2009), bedeutsam.
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 71

„gern wollen und gern haben“ (Rehmann 2014: 216). Die Bedeutung interpretiert
Rehmann als eine enge Verknüpfung von „Handlungskompetenz“ mit einem ent-
haltenen Impuls „eines zugewandten Wollens“ (ebd.). Zum anderen erfolge in der
Sprachentwicklung eine „Abzweigung“ zum Stichwort „Möglichkeit“ (ebd.). Aus
dieser kurzen Skizze lassen sich zwei Bedeutungsebenen in der Vorstellung von
Macht ableiten. Die eine bezeichnet Macht „als Vermögen [...] ,das Mögliche
wirklich zu machen‘“ (ebd., zit. Röttgers nach Rehmann). Die andere, in Assozi-
ation zu HandlungsKompetenz, bezeichnet jenes Vermögen von Macht, „dass sie
der Möglichkeit nach verallgemeinerbar und demokratisierbar ist“ (ebd.). In die-
sem Zusammenhang wird Macht von Herrschaft unterscheidbar. Herrschaft als
„Knotenpunkt[...] von Patriarchat und Klassenherrschaft“ bildet den „Standpunkt
des Herrn“ und ist „damit prinzipiell nicht demokratisierbar“ (ebd.). Ein empathi-
sches Verständnis von Macht als „das Mögliche wirklich zu machen“ ist unter
„antagonistischen Verhältnissen“ gebrochen und abhängig davon, welche „jewei-
lige Position“ die Individuen „im gesellschaftlichen System der Klassen-, Ge-
schlechter- und Rassenverhältnisse haben“ (ebd.). Dies bedeutet aber auch, dass
nicht einfach von Macht gesprochen werden kann, sondern vielmehr von wider-
streitenden Mächten, die auf ungleichzeitige Weise widersprüchlich, entgegenge-
setzt oder gekreuzt auftreten und am Beispiel „konkreter Situationen“ diskutiert
werden müssen (vgl. Haug 2010. 52). Insofern sind die Mächte nichts ein für alle
Mal Bestimmbares, sondern immer wieder neu in sich verändernden Verhältnissen
zu definieren.
Entsprechend sind sowohl der Begriff der Macht als auch die Erscheinungs-
formen der Macht in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen widersprüchlich
bzw. von Widersprüchen durchzogen. Einer dieser Widersprüche ist z. B., die in
der Macht liegende Handlungsfähigkeit als Vermögen und Möglichkeit, die in ih-
rer „Grundbedeutung des Könnens leicht hinübergleiten [kann] in die eines parti-
kularen Vermögens qua Herrschaftsmacht“ (ebd.). Grundsätzlich aber kann jetzt
zwischen Handlungsfähigkeit und Herrschaftsmacht unterschieden werden. Herr-
schaftsmacht versteht sich dabei als eine Macht, die über andere verfügt oder an-
dere gefügig macht. Jan Rehmann legt in Orientierung an Spinoza eine Bedeu-
tungsebene frei, die für den hier diskutierten Kontext wichtig ist. Er verweist da-
rauf, dass potentia agendi, übersetzt als Handlungsfähigkeit, bei Spinoza „an kei-
ner Stelle als Herrschaftsmacht über andere behandelt wird“ (2014: 221). Auch
schon die Idee „göttlicher Macht“ sei nicht absolut zu setzen, sondern durch „äu-
ßere Ursachen“ beeinflusst und beschränkt (vgl. ebd.). Entsprechend müsse „sich
der Mensch notwendig an die Natur anpassen und ist den Leiden (passionibus)
unterworfen“ (ebd.). Spinoza unterscheide „Leiden/Erleiden (passio/pati)“ von
„Handeln (agere)“ (ebd.). Leiden/Erleiden meine in diesem Zusammenhang „ein
Geschehen, das wir nicht selbst ,adäquat‘ verursachen, sondern dem wir ausgelie-
72 2 Normative Demokratietheorien

fert sind“ (ebd.). Handeln hingegen meint den Zusammenhang, „bei dem aus-
schließlich wir selbst die ,adäquate Ursache‘ bilden“ (ebd.). Das Besondere dieser
Sichtweise ist, dass beide Dimensionen als gleichzeitige Bestandteile der gesell-
schaftlichen Erfahrung des Menschen betrachtet werden. Handeln versteht sich
dabei als (eigen)aktives, selbstbestimmtes Moment menschlicher Aneignung der
Welt. Spinoza formuliert eine „Moralkritik“, indem er „den transzendental be-
gründeten Werten eine ,Geometrie‘ der Gefühle und Tugenden entgegensetzt“ und
nach deren „handlungsfördernden oder -hemmenden Eigenschaften“ untersucht
(ebd.). Den Ausgangspunkt für seine Kritik bilde eine Vorstellung von Macht, die
„als kooperatives Vermögen gefasst“ einen „Vergesellschaftungsmodus einer pro-
zessualen ,Transindividualität‘, die auf Synergie-Beziehungen mit anderen gerich-
tet ist“, beschreibe (ebd.). Diese Idee eines „kooperativen Zusammenschlusses“
bilde den Impuls für ein Handlungsvermögen, bei dem Macht das Vermögen be-
schreibe, „das die Menschen übereinstimmen lässt, während Unvermögen [...] und
passives Erleiden sie voneinander trennen und einander entgegensetzen“ (ebd.).
Handeln in diesem Sinne finde somit seinen Ausdruck in Formen „auf Verallge-
meinerung angelegte“ Handlungsfähigkeit, „indem man das Gut, das man für sich
begehrt, auch den übrigen Menschen wünscht“ (ebd.: 222). Eine in diesem Sinne
verallgemeinerte Handlungsfähigkeit verstehe sich als „kooperative Handlungs-
macht von unten“ (Rehmann zit. nach Haug 2010: 51). Entsprechend kann jetzt
„zwischen einer kooperativen Handlungsmacht von unten und einer Herrschafts-
macht von oben“ differenziert werden (ebd.).
Gleichzeitig entfaltet sich diese Vorstellung von Handeln als ein in die Welt
und ihre Verhältnisse aktiv eingreifendes Vermögen. Verallgemeinerte Hand-
lungsfähigkeit erschließt sich dabei als ein „Kräftezuwachs inmitten einer kom-
plexen Vielfalt von Kräfteverhältnissen“ (Reeling Brower 2001: 1169) und ver-
weist auf Momente einer alltäglichen Praxis, „das Rechte zu finden, um dessent-
willen es sich ziemt zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben“ (Bloch [1921]
1985: 13).60 Letztere Gedanken verweisen darauf, dass Handeln selbst ein Produkt
menschlicher Praxis ist, welches sich in Handlungsfähigkeiten differenziert. Han-
deln ist in gesellschaftlichen Prozessen vermittelt. Handeln ist demnach kein Nor-
mativ einer der Gesellschaft übergeordneten menschlichen Wesenheit, sondern als
menschliche Praxen im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“61 zu be-
greifen. Erst aus diesem Blickwinkel erschließt sich Handeln als Plural von

60 Diese Überlegung von Ernst Bloch wird von Wolfgang Fritz Haug aufgegriffen und er sieht den
Kern der benannten Momente als einen „Kristallisations[punkt] unterschiedlicher kultureller
Selbstzweckpraxen“, die sich in einem hegemonialen Feld platzieren, dessen „Anziehungskraft“
sich selbst die gegnerischen Klassen nicht ganz entziehen können (vgl. Haug 1985: 175).
61 Zum Stichwort „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ vgl. die 6. Feuerbachthese bei
Karl Marx (Marx/Engels 1969: 533 f.).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 73

Handlungsfähigkeiten sowie – hiermit verknüpft – „Handlungsimpulse“, „die sich


[...] ideologischen Anrufungen widersetzen oder entziehen können“ (Rehmann
2014: 224). Handeln ist also als eine menschliche Aktivität zu fassen, sich in ge-
sellschaftlichen Widersprüchen zu bewegen. Damit ist Handlungsfähigkeit, wie
auch die Macht, nichts ein für alle Mal Bestimmbares, sondern immer wieder neu
in sich verändernden Verhältnissen zu definieren.

2.5.7 Exkurs zum Stichwort Handeln – das gemeinsame Dritte

Der Begriff des Handelns wird in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen


Bedeutungen versehen und gebraucht. Dies kann an dieser Stelle nicht tieferge-
hend verfolgt werden. Dennoch sind für den hier diskutierten Kontext Anmerkun-
gen zu machen. Beispielsweise wird im Diskurs sowohl der kritischen Psycholo-
gie als auch in der politischen Theorie von Hannah Arendt zwischen Arbeit und
Handeln unterschieden. Für den Diskurs der kritischen Psychologie besteht im Zu-
sammenhang mit dem Stichwort der Handlungsfähigkeit und seinem Bezug zu
Marx eine Differenz mit Blick auf die Frage des „ersten Lebensbedürfnisses“. Be-
steht Klaus Holzkamp darauf, Handlungsfähigkeit als das „erste Lebensbedürfnis“
zu verstehen, weil diese das „hier und heute Machbare“ in die theoretische Per-
spektive zurückhole und gleichzeitig eine „Zentrierung auf das Individuum ver-
hindere“ (vgl. Frigga Haug 1996: 417), kritisiert demgegenüber Frigga Haug, dass
der Begriff Handlungsfähigkeit die sinnliche Dimension des menschlichen Le-
bens, z. B. die Genussfähigkeit vermissen lasse und vergesse, dass Arbeit und Ge-
nuss durch „Arbeitsteilung [...] auseinandergetreten“ und diese in einer Befrei-
ungsperspektive „zusammenzubringen“ seien (vgl. ebd.). In diesem Sinne sei Ar-
beit das erste Lebensbedürfnis und „von ihrem qualvollen ,verkehrten‘ Charakter
zu entbinden und zu gemeinschaftlicher Selbstbetätigung mit Genuss zu befreien“
(ebd.: 418). Arbeit betont hierbei den umfassenden Charakter sinnlich menschli-
cher Tätigkeit; von diesem Standpunkt aus sei Arbeit als Ausbeutungsverhältnis
zu kritisieren und zu überwinden. Mit Blick auf Handlungsfähigkeit ist die Posi-
tion von Frigga Haug umstritten (vgl. hierzu Christina Kaindl 2005 u. 2006). Auch
Hannah Arendt unterscheidet Handeln und Arbeit. Arbeit steht hierbei begrenzend
für das Zwanghafte, für das „durch die Notdurft des Körpers“ erzwungene, „um
die Lebensnotwendigkeiten herbeizuschaffen“ (Arendt [1972] 2013: 101). Sie kri-
tisiert, dass mit dem „Aufkommen der Philosophie, [...] die bisher höchste aller
Tätigkeiten, das Handeln [...] auf das Niveau der Notwendigkeit degradiert“ wor-
den sei (ebd.: 103). Arbeit verstehe sich so ausschließlich als Notwendigkeit zur
Erhaltung „des menschlichen Lebens im direkten Stoffwechsel des menschlichen
Körpers mit der Natur“ (May 2015: 3). Ein weiteres Problem, das sich hieran an-
schließt, ist, dass eine Betonung des interaktiven Charakters des Handelns bei
74 2 Normative Demokratietheorien

Arendt in den Vordergrund rückt und die Frage körperlich-leiblicher Bedürfnisse


abgespalten als das Profane in den Hintergrund tritt. In der Tätigkeitstheorie der
kulturhistorischen Schule (Leontjew, Wygotski u. a.) wird Marx’ Begriff der Tä-
tigkeit aufgegriffen. Verwenden Marx und Engels den Begriff des Handelns und
der Tätigkeit synonym, betont die kulturhistorische Schule den „sinnlich-prakti-
schen“ Zusammenhang der Tätigkeit, bei der die „Menschen [...] Kontakt mit den
Gegenständen der Umwelt aufnehmen“ (vgl. Held 2001: 1161 f.). Diese Perspek-
tive galt als theoretischer „Gegenentwurf zum ahistorischen Reiz-Reaktions-Kon-
zept des Behaviorismus mit dessen Kategorie des Verhaltens“ (ebd.). 62
Ohne hierauf genauer eingehen zu können, ist die Idee eines kommunikativ
vermittelten Handelns im Sinne einer interaktiven „Enthüllung“ der Person (oder
des menschlichen Wesens) bei Hannah Arendt verallgemeinernd in einer Perspek-
tive der Kooperation aufzuheben. Subjekttheoretisch sind in der Bestimmung ei-
nes Verhältnisses von Individuum und Kollektiv folgende Überlegungen von Be-
deutung: Individualismus als Ausdruck von Isolation bedeutet den Ausschluss des
individuellen Menschen aus Prozessen bewusster „kooperativer Planung des ge-
samtgesellschaftlichen Lebens“ bei gleichzeitiger Betonung der personalen Ein-
maligkeit des einzelnen Menschen (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1975: 313). Hier-
mit verknüpft ist die Spannung „eine Form, in der das Individuum dazu verhalten
wird, sich freiwillig und als Ergebnis eines autonomen Willens dem zu unterwer-
fen, was von ihm verlangt wird“ (Demirovic 2010: 166). Demgegenüber verweist
Individuation auf den Prozess der individuellen Vergesellschaftung, der Aneig-
nung der Welt durch das Subjekt, bei dem das „Wissen und [die] Erfahrungen, die
den Menschen einer gewissen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe gemeinsam
sind“ durch das Subjekt angeeignet werden und es gleichzeitig mit den anderen
verbindet (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1975: 312). Zentral hierfür ist der „koope-
rative Zusammenhang, in welchem der eigene Teilbeitrag mit anderen Teilbeiträ-
gen steht. [...] Mit der Herausbildung immer größerer individueller Unterschiede
wächst also auch die bewusste Aufeinanderbezogenheit der Menschen, [die] not-
wendig die Vertiefung der zwischenmenschlichen Beziehungen über die Koope-
ration einschließt“ (ebd.: 312 f.). Kooperation meint in diesem Sinne mehr als
eine Form kommunikativ vermittelten gemeinsamen Handelns und zielt auf die
Entwicklung einer umfassenden Sinnlichkeit. Gilt Kooperation als konstitutiv für
menschliches Leben (hierzu z. B. Tomasello 2010; Röttger 2010: 1728 f.),

62 Zum interdisziplinären Überblick und handlungstheoretischen Diskurs einer reflexiven Soziolo-


gie ist der Sammelband von Hans Lenk (Hrsg.) aus dem Jahr 1980 auch aktuell noch zu beachten.
Zum Stichwort der Gewinnung einer „reflexiven Soziologie“ und ihrer Analyse von Verhalten,
Handeln und Macht als gesellschaftlich vermittelte Relationen ist m.E. auch der Sammelband
zur symbolischen Interaktion von Heinz Steinert aus dem Jahr 1972 von nachdrücklicher Aktu-
alität (insbesondere ebd.: 20 f.).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 75

ermöglicht sie gleichzeitig das Gemeinsame, Verbindende, die menschlichen Be-


ziehungen und die Entwicklung des einzelnen Subjekts. Darüber hinaus entwickelt
sich in Kooperation ein Drittes. Dieses Dritte sind die Gegenstände, die einerseits
durch Kooperation hervorgebracht und gleichzeitig in Kooperation bearbeitet wer-
den. Entsprechend ist dieses Dritte auch im Plural zu denken.63

2.5.8 Erweiterte Handlungsfähigkeit im Widerspruch von Selbstbestimmung


und Passivierung – Notwendigkeit von Bildung

Eine Dimension des Handelns in gesellschaftlichen Widersprüchen ist die Über-


brückung der Kluft zwischen Leiden/Erleiden und Handeln. Leiden/Erleiden als
Erfahrung des Ausgeliefertseins an die Welt kann hier als eine scheinbar dem in-
dividuellen Einfluss entzogene Erfahrungsebene verstanden werden, als Entfrem-
dung. Entfremdung kann zum einen als Art eines verkümmerten Bewusstsein skiz-
ziert werden, „die darin besteht, für gesichert zu nehmen [...], was gesagt worden
ist, die Vermittlung als die Realität zu betrachten und die Sprache als definierte
und definierende Entität“ (Lefebvre [1975] 1987: 423). Oder sie wird in der Zuspit-
zung als „Stillstand“ sowie als „Blockierung“ im Alltäglichen erlebt (vgl. ebd.:
472).64 Wie Henri Lefebvre betont, ist Entfremdung „kein Zustand“, sondern ist als
„Bewegung“ im Verhältnis zu ihrer „möglichen Aufhebung zu denken“ (vgl. ebd.:
463). Hierbei skizziert die Richtung der Aufhebung eine Möglichkeit zur Befreiung,
die allerdings in der „dialektischen Bewegung von Entfremdung und Befreiung“ in
eine Situation münden kann, die „erneut entfremdet“ und zur erneuten Blockade
führt (vgl. ebd.: 464). Für das Stichwort der Handlungsfähigkeit bedeutet dies zwei-
erlei. Zum einen bestimmt sich damit Handlungsfähigkeit als Momente, die zwi-
schen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung oszillieren und dabei Möglichkei-
ten hervorbringen, Wege zu erkennen, die herrschaftsbezogenen und unterdrückeri-
schen Seiten der Gesellschaft einzuschränken oder zu überwinden. Zum anderen
entstehen hieraus unter antagonistischen Verhältnissen auch Situationen, die den
(emanzipatorischen) Gehalt einer Befreiungsbewegung bremsen und in das Ensem-
ble der gesellschaftlichen Verhältnisse eingliedern, passivieren (oder ausschließen).
In diesem Sinne beschreibt die Passivierung keinen Stillstand, vielmehr eine Bewe-
gung als Moment menschlicher Aktivität, die sich im Prozess des Handelns der
Selbstbestimmung entzieht. Die hiermit verbundene Schwierigkeit ist, dass die

63 Weiterführend zu den hier angedeuteten Gedanken, hat Wolfgang Fritz Haug zum Stichwort
„Assoziation“ einen zusammenfassenden Überblick der Überlegungen von Karl Marx zu einer
Gesellschaft assoziierter Produzenten sowie deren Diskussion im Kontext marxistischer
Theoriebildung geschrieben (vgl. Haug 1996: 639 f.).
64 Zum Stichwort der Entfremdung als Blockierung im Alltäglichen vgl. auch die Studie von Rahel
Jaeggi zur Entfremdung (Jaeggi 2005).
76 2 Normative Demokratietheorien

strukturelle Grundlage der Prozesse der Entfremdung ein Bewusstsein über die Ent-
fremdung selbst bricht, gar verhindert und in der „Privation oder [...] Frustration [...]
fixiert“ (ebd.: 464). Deshalb liege die „Option“, mit „einer entfremdenden und ent-
fremdeten Situation Schluss“ zu machen, darin, das Mögliche bewusst zu machen
und anzusteuern (vgl. ebd.). Dieser Prozess wiederum bedarf der Bildung und Wis-
senschaft65, um die Blockade erkennen und aufheben zu können.
Vor diesem Hintergrund betont verallgemeinerte Handlungsfähigkeit einer-
seits den Grad der Verdichtung von Möglichkeiten horizontaler und kooperativer
Formen der Vergesellschaftung, die „auf eine Erweiterung von Verfügungsmög-
lichkeiten zielen“ (Eichinger 2009: 14). Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit un-
terscheidet sich im Kontext der kritischen Psychologie von restriktiver Handlungs-
fähigkeit als der Form, bei der sich die Individuen mit den ihnen zur Verfügung
stehenden Handlungsmöglichkeiten im Kontext der gesellschaftlich gegebenen
herrschaftsbezogenen und unterdrückerischen Begrenzungen bewegen und in die-
sem Sinne aktiv-passiv bleiben.66 In den Begriffen verallgemeinerter und restrik-
tiver Handlungsfähigkeit spiegelt sich somit das Verhältnis von den Möglichkei-
ten und deren Beschränkungen wider.

65 Die Perspektive für Wissenschaft ist hierbei kritisch zu fassen. Sie erfordert ein „reflexives“
Verständnis von Wissenschaft selbst (vgl. hierzu Cremer-Schäfer/ Steinert 2014: 243 f.), um das
Eingebundensein von Wissenschaft in die bestehenden Herrschaftsverhältnisse „horizontaler Ar-
beitsteilung (das ,Nebeneinander‘ unterschiedlicher Spezialisierungen) mit denen der vertikalen
Arbeitsteilung (Befehlshierarchien)“ (vgl. Haug 1981: 530 f.) erkennen zu können. Erst mit die-
sem Zugang ergibt sich die Möglichkeit, die „Interessen an der Legitimation und Entlegitimie-
rung von gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen“ von Wissenschaft offen zu legen und
einer „Wissenschaftsauffassung“ als kritischer Tätigkeit Raum zu verschaffen (Cremer-Schä-
fer/Steinert 2014: 245). Für den in dieser Arbeit diskutierten Kontext müsste sich Letztere im
Dialog mit „sozialen Bewegungen“ bewähren oder, wie Wolfgang Fritz Haug deutlich macht:
„Mit den Methoden der Wissenschaft werden wir die für die Emanzipation nützlichen Methoden
und vor allem eine ,Sprache‘ aufnehmen aus den sozialen Bewegungen, an ihrer Kohärenz ar-
beiten, sie zurückgeben. Kritisch wird diese Tätigkeit, insofern sie wie Hefe im Teig der sozial-
kritischen Bewegungen wirkt. Gegen die herrschende Artikulation von Arbeit, Wissenschaft und
Kultur wird sie, mit den Mitteln und auf dem Niveau der wissenschaftlichen Entwicklung und
der kulturellen Prozesse, die Selbstartikulation dieser Kräfte fördern“ (Haug 1981: 530). In die-
sem Sinne gehe es nicht um eine „Befreiung [...] von der Wissenschaft“, sondern um ein Zusam-
menwirken sozialkritischer Bewegungen „im Bündnis mit befreiender Wissenschaft“ (ebd.:
531).
66 Vgl. hierzu grundsätzlich Klaus Holzkamp (1985: 371 f.) und Morus Markard (2009: 180 f.).
Ulrike Eichinger verweist außerdem darauf, dass in der Konzeption von Holzkamp erweitere
Handlungsfähigkeit zwar die Idee umfasse, eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten zu
bezeichnen, aber gleichzeitig vor der Schwierigkeit stehe, „auch das Risiko des Scheiterns und
damit die Zuspitzung von Problemlagen“ zu erhöhen (vgl. Eichinger 2009: 14). Morus Markard
macht außerdem deutlich, dass die Begriffe allgemeiner und restriktiver Handlungsfähigkeit in
„konkreten Analysen“ (Markard 2009: 199) konkretisiert werden müssten, um beschreiben zu
können, was die Widersprüche allgemeiner und restriktiver Handlungsfähigkeit sind (vgl. ebd.:
200; und zum Thema ausführlich vgl. ebd.: 180 f.).
2.5 Kritik des politischen Handelns bei Benjamin Barber und Oskar Negt 77

2.5.9 Aspekt zur Gewalt als gesellschaftliches Verhältnis

Hannah Arendt unterscheidet Macht von Gewalt.67 Im Kontrast zur Macht sei Ge-
walt durch ihren „instrumentalen Charakter“ (Arendt [1970] 2006: 47) gekenn-
zeichnet. Der Gewalt als einer „Fähigkeit [des Individuums] zu instrumentellem
Handeln“ stellt Arendt die Idee eines kommunikativ vermittelten Handelns gegen-
über (Rieger/Schultze 2010: 563).68 Grundsätzlich ist dem Gedanken, in Gewalt
ein instrumentelles und somit unterdrückerisches Moment zu erkennen, zu folgen.
Allerdings unterschlägt diese Sichtweise die Bedeutung von Gewalt als Not–Wen-
dung. An diesem Punkt zeigt sich Gewalt als widersprüchliches Verhältnis aus
Gewalt und Gegengewalt. Wichtig ist deren analytische Unterscheidung als Form
zur Legitimierung von Unterdrückung und spezifischer Form gewalttätiger Antwort
der Unterdrückten auf Unterdrückung. Letztere ist in dem „Wunsch begründet, das
Recht auf Menschsein zu verwirklichen“ (Freire 1973: 43). Hieran schließt sich die
Frage ab wann Gewalt notwendig ist, im Sinne einer Notwendung, also Notwehr.
Darko Suvin formuliert zwei Bedingungen, unter denen Gewalt erlaubt sein könnte:
„Erstens, in kurzfristiger Perspektive oder für die Gegenwart, dass sie in ihrem Kern
defensiv ist, die Abwehr noch schrecklicherer Gewalt; Zweitens, in langfristiger
Perspektive oder hinsichtlich der Zukunft, dass eine klare Aussicht darauf besteht,
den von Menschen in ihrem Machtstreben anderen Menschen absichtlich zuge-
fügten Schaden zu vermindern und die personale und psychophysische Integrität
in der Gesellschaft zu befördern“ (2005: S. 56). Mit Blick auf diesen Gedanken
bemerkt Philippe Bourgois in einer kritischen Selbstreflexion seiner Einschät-

67 Hauke Brunkhorst weist darauf hin, dass Arendt mit der „unglückliche[n] Unterscheidung von
Macht und Gewalt“ vor dem Problem stehe, „politische Macht nicht als gesellschaftliches Phä-
nomen [...] verstehen“ zu können (vgl. 2007: Fn. 1). Außerdem werde die Machttheorie von
Arendt „bislang immer nur handlungstheoretisch als Unterscheidung von Macht und Gewalt“,
als „konstitutive[...]“ und „repressive[...] Handlungsmacht“ gedeutet (vgl. ebd.: 4). Brunkhorst
verweist auf seine eigene erweiterte Interpretation, die erkennen lasse, dass Arendt auch die Un-
terscheidung zwischen „struktureller Repressionsmacht“ sowie „konstitutiven Machtstrukturen“
treffe (vgl. ebd.). Meines Erachtens besteht über den Dualismus von Macht und Gewalt hinaus
das Problem, im „mythischen Singular“ über Macht und Gewalt zu sprechen (vgl. Haug 2010:
52). Dabei wird übersehen, dass Macht und Gewalt unter antagonistischen Verhältnissen von
Widersprüchen durchzogen und „im Plural“ als „Mächte und Gewalten“ gleichzeitig/ungleich-
zeitig am wirken sind (vgl. ebd.).
68 Für den Kontext der Politikwissenschaften sei die Idee von Hannah Arendt in einen breiten Dis-
kurs um die Frage der Macht einzuordnen, für den auch die Impulse von Michel Foucault und
Pierre Bourdieu von zentraler Bedeutung sind. Anknüpfend hieran habe sich die Konzentration
der Politikwissenschaften auf „Herrschaftsverhältnisse“ verändert; Macht werde nicht mehr nur
als „,Macht‘ über“ verstanden, sondern differenzierter auch als „,Macht‘ zu“ begriffen (Gold-
schmidt 2015: 1485). Zu den Widersprüchen in der Bestimmung des Begriffes der Gewalt sowie
dem Verhältnis von Gewalt zu Macht und Herrschaft vgl. Balibar (2001: 693-695 und 1270-
1308).
78 2 Normative Demokratietheorien

zungen der revolutionären Bewegung in El Salvador, dass „eben jene Gewalt, ge-
gen die sie sich organisierte“, sie selbst traumatisiert und deformiert und sich spie-
gelbildlich auf die „Organisation und die inneren Beziehungen der Guerilla“ über-
tragen habe. Dies wiederum habe zu Gewalt innerhalb der Bewegung selbst und
so zur Blockade und Verwahrlosung der eigenen Ethik geführt (vgl. Bourgois
2005: 148-149).69
Diese Formen verdeutlichen Gewalt als Zusammenhang widersprüchlicher ge-
sellschaftlicher Verhältnisse, welche vor allem für eine Perspektive gesellschaftli-
cher Veränderung von unten von Bedeutung sind, da sich hieraus Begrenzungen o-
der Erweiterungen von Handlungsmöglichkeiten ergeben. Auch an diesem Punkt ist
anzumerken, dass wie schon am Verhältnis von Macht diskutiert, es „DIE GE-
WALT“ (vgl. Haug 2010: 52) nicht gibt. Im Kern, so Haug, „haben wir es mit An-
tagonismen im Plural zu tun, mit Differenzen, Gegensätzen oder Widersprüchen der
Mächte und Gewalten“, die sich wiederum nur an der „konkreten Situation“ spezi-
fizieren lassen (vgl. ebd.) Blickt man hierbei allein auf den „instrumentellen Cha-
rakter“ von Gewalt, entsteht eine Verkürzung; es stellt sich nicht mehr die Frage,
wie und warum Gewalt entsteht, und sie erscheint nur als Mittel zur Kompensation
von Schwäche. In diesem Zusammenhang werden die angedeuteten Formen von
Gegengewalt, deren Widersprüche, Begrenzungen, Legitimationen und Notwendig-
keiten als Bedingungen einer Befreiungsarbeit von unten nicht mehr denkbar und
stellen somit auch eine Begrenzung des theoretischen Werkzeugs der Kritik dar.
Eine Ausschließlichkeit instrumenteller Gewalt verliert z. B. auch den Blick auf die
Dialektik von Gewalt als Notwendung zur Befreiung und der Gleichzeitig- bzw. Un-
gleichzeitigkeit für den Moment, wo die Befreiungsbewegung in ihr Gegenteil kippt.
Aus der Perspektive „instrumenteller Gewalt“ ist dieser Moment unausweichbar und
außerhalb menschlicher Handlungsmöglichkeiten. In dieser Sicht verschwindet Be-
freiung in der Gestalt der Gewalt; Befreiung und Gewalt werden identisch. Grund-
sätzlich wäre zwischen herrschaftlicher Gewalt und Gewalt als Notwendigkeit im
Befreiungshandeln zu unterscheiden.

2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt
Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt

2.6.1 Zivilgesellschaft im Anschluss an Barber

An dieser Stelle ist nicht der Raum für eine umfassende historische und theoreti-
sche Rekonstruktion des Begriffes der Zivilgesellschaft gegeben. Deshalb sollen
nur stichwortartig problematische Punkte unterstrichen werden, die mit einem

69 Weiterführend hierzu wären auch Walter Benjamins und seine Ausführungen zur Gewalt als
Recht setzender Gewalt zu diskutieren (vgl. etwa Loick 2012).
2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt 79

substanziellen Verständnis von Zivilgesellschaft verknüpft sind. Wie schon weiter


oben angesprochen wurde, sieht Benjamin Barber den Ausbau „Nicht-politi-
sche[r] Institutionen“ (Barber 1994: 19) als Alternative in einem doppelten Sinne.
Zum einen sieht er in alternativen Institutionen die Möglichkeit, die „politische[n]
Entscheidungsbefugnisse an verkleinerte politische Einheiten“ zu binden und sie
so in das alltägliche Leben der Menschen zu integrieren (vgl. Buchstein/Schmalz-
Bruns 1994: 320). Das Ziel dieser Idee sei, die „Ausweitung demokratischer Ent-
scheidungsrechte auf bislang hierarchisch oder marktförmig organisierte gesell-
schaftliche Bereiche“ auszudehnen (ebd.: 320 f.). Gleichzeitig sei in diese Vor-
stellung von Barber die Perspektive einer „,zivilgesellschaftlichen Erziehung‘“ in-
tegriert (ebd.). Diese unterscheide sich von „formalen Konzepte[n] politischer Bil-
dungsarbeit“ dadurch, dass die Menschen in konkreten Situationen lernten, in de-
nen sie über „konkrete Kompetenzen“ verfügten und gleichzeitig „in der Verant-
wortung für die von ihnen getroffenen politischen Entscheidungen stehen“ (ebd.).
In diesem Sinne kann gesagt werden, dass politisches Handeln bei Barber an einen
gesellschaftlichen Raum gebunden ist, der sich auf der Grundlage einer inkludie-
renden Wirkung von Partizipation und hiermit verknüpften Reflexionsprozessen
herausbilden soll. Ansgar Klein deutet diesen Anspruch als einen „neorepublika-
nischen Diskurs [um] Zivilgesellschaft“, dessen Ziel die „Rückgewinnung bürger-
schaftlicher Bindungen“ an eine Gemeinschaft (2001: 164) und letztlich die „Stär-
kung zivilgesellschaftlicher Assoziationen“ (ebd.: 174) sei. Zivilgesellschaft ist
hierbei die Metapher für einen öffentlichen gesellschaftlichen Raum, in dem sich
die skizzierten Kräfte entfalten können.70 Alex Demirovic sieht in dieser Perspek-
tive verschiedene Widersprüchlichkeiten enthalten. Zunächst tritt im umrissenen
Verständnis von Zivilgesellschaft tatsächlich ein „herrschaftskritisch[es]“ Mo-
ment hervor, „insofern [dieses] sich einer herrschenden Partei und Staatsapparaten
durch Eigeninitiative von Staatsbürgern entgegensetzt“ (1997: 178). Allerdings
verknüpfe sich hiermit eine Inanspruchnahme von Macht, die durch konspirative
öffentliche Meinungsbildung versuche, „die politische Herrschaft zu untergraben“
und so tendenziell auch eine „öffentliche Diskussion“ selbst nicht zulasse (vgl.
ebd.). In einem solchen Verständnis von Zivilgesellschaft entfalte sich Macht
„nach außen“ (ebd.: 178 f.). So stehe „Zivilgesellschaft [...] gegen den Staat; nach
innen sollen die Regeln der Öffentlichkeit herrschen, die jeder Person das freie
Rederecht zuerkennt“ (ebd.: 179). In dieser Perspektive soll durch die „Entfaltung

70 Vergleichbare Perspektiven werden etwa auch von den Autor*innen im Oxford Handbook of
Civil Society vertreten. Im Wesentlichen wird Zivilgesellschaft als ein eigenständiger, von
anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen unabhängiger Raum gedacht. Nur in einem
Beitrag wird die Idee Gramscis zur Zivilgesellschaft als eine von fünf unterschiedlichen
Vorstellungen von Zivilgesellschaft angedeutet, aber deren Bedeutung z. B. für die Frage von
Öffentlichkeit nicht vertiefend erläutert (vgl. Calhoun 2011: 311 f.).
80 2 Normative Demokratietheorien

individueller Kommunikationsrechte [...] der Bereich staatlicher Macht zurückge-


drängt“ werden (ebd.). In diesem Zusammenhang impliziere „der Begriff der Zi-
vilgesellschaft [...] eine Selbstbeschränkung und Selbstbindung der Akteure“
(ebd.). Diese bestehe zum einen darin, dass „durch öffentlichen Druck“ die „Poli-
tik und der Staat“ begrenzt würden; gleichzeitig beschränkten sich die Akteure
selbst „durch eine interne Verpflichtung auf öffentliche Diskurse“ (vgl. ebd.). Zum
anderen ziele die Vorstellung von Zivilgesellschaft „nicht auf die staatliche
Macht“ selbst (ebd.). Hierin liege eine weitere Beschränkung der Akteure, da es
diesen „nicht um eine Auflösung des Staates in der Gesellschaft“ gehe, „sondern
um die Institutionalisierung der Differenz zwischen Staat und Gesellschaft“ (Du-
biel zit. nach Demirovic 1997: 179). Diese Perspektive habe die „Wiedereinfüh-
rung der liberalen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft“ zur Folge (ebd.).
Diese Sichtweise stehe in einem Widerspruch. Einerseits begründe sie sich
dadurch, dass „Kommunikationsrechte grundsätzlich nicht eingeschränkt werden
dürfen“, um eine (revolutionäre) rechtswidrige Machtergreifung zu unterbinden
(vgl. ebd.). Andererseits gehe hiermit die Zumutung, „für die zukünftige Freiheit
der Menschheit die Freiheit der gegenwärtigen Individuen einzuschränken und
diejenigen zu sanktionier[en], die diese Einschränkungen nicht bereit sind hinzu-
nehmen“ (ebd.), einher. Diese Form der Selbstbeschränkung führe zu einer Kana-
lisierung der Kommunikationsrechte und von Kritik, die sich letztlich „nur noch
verfassungsimmanent als Anprangern gesellschaftspolitischer Mängel äußern
soll“ und somit „in Subalternität [...] ohne die Perspektive gesellschaftlicher Ver-
änderung befangen bleibt“ (ebd.). In diesem Sinne binde sich die Idee der Zivil-
gesellschaft „an die Verfassung und den Staat, vor allem aber auch an das Kollek-
tiv dieser Verfassung und dieses Staates“ (ebd.: 180). Hiermit verknüpfe sich eine
„Einschränkung von Freiheit“, da mit der Trennung von „Staat und Gesellschaft“
eine „Freiheitsoption, nämlich die kritische Überprüfung von Verfassungs- und
Staatsform, ausgeschlossen wird“ (ebd.).
Ich möchte der Kritik von Alex Demirovic eine weitere Perspektive zur Seite
stellen. So notwendig die kritischen Einwände von Alex Demirovic sind, so sehr
beziehen sie sich auf eine substanzielle, an einen gesellschaftlich abgrenzbaren
Raum geknüpfte Vorstellung von Zivilgesellschaft. Sie kritisieren aber diese Vor-
stellung an sich nicht. Eine Schwierigkeit, die sich hieraus ergibt, ist die einer
scheinbar klaren Trennung gesellschaftlicher Institutionen in die, welche der Zi-
vilgesellschaft zugeschlagen werden und die, die hiervon unterschieden, als staat-
liche Apparate begriffen werden. Zivilgesellschaftliche Institutionen erscheinen
dabei als Räume des Konsenses und der Vermittlung, die sich von einer gewalt-
haften Form der Zwangsapparate des Staates unterscheiden. Im Grunde wird in
dieser Perspektive zwischen Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft unter-
schieden (was auch Demirovic als Wiedereinführung der liberalen Trennung von
2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt 81

Staat und Gesellschaft kritisiert). Wie Benjamin Opratko deutlich macht, kritisiert
Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften diese Sichtweise als „theoretischen
Irrtum“ (Opratko 2012: 41). Mit der „Unterscheidung von politischer Gesellschaft
und Zivilgesellschaft“ werde „aus einer methodischen Unterscheidung [...]
eine[...] organische[...]“ gemacht (vgl. ebd.). Der Versuch einer Unterscheidung
und einer eindeutigen Zuweisung von Konsens- und Gewaltapparaten verkürze
und verkenne die „komplexen gesellschaftlichen Realität[en]“ auf der Ebene der
Empirie (vgl. ebd.). Die von Gramsci entwickelten Begriffe, z. B. Zivilgesell-
schaft, „sind analytische Begriffe, die notwendigerweise mit Abstraktionen arbei-
ten“ (ebd.). Und Opratko weiter: „Wenn er also zwischen Zwang und Konsens,
zwischen politischer und Zivilgesellschaft unterscheidet, dann um verschiedene
Dimensionen der Praxis der Machtausübung im modernen Kapitalismus zu benen-
nen“ (ebd.), „die in der Analyse unterschieden werden können, auf der Ebene des
Empirischen aber nie allein auftreten“ (ebd.: 42). Der Hinweis, der hierin liegt, ist
der, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht einem gesellschaftlichen Be-
reich zugeschlagen werden können, sondern vielmehr in unterschiedlicher Weise,
Intensität und Überschneidungen quer durch alle gesellschaftlichen Felder und
quer durch die einzelnen Menschen hindurchgehen.

2.6.2 Zivilgesellschaft (und Hegemonie) im Verständnis Antonio Gramscis

Zum Verständnis genau dieses Eingebundenseins der Einzelnen in die gesell-


schaftlichen Verhältnisse erweist sich eine Vorstellung von Zivilgesellschaft als
abgrenzbarer Raum als unbrauchbar. Die substanzielle Gegenüberstellung, als An-
nahme einer empirischen Realität von Zivilgesellschaft und Staat, reproduziert die
für die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnenden Trennungen des Politischen
vom Öffentlichen und des Politischen vom Ökonomischen sowie eine hiermit ein-
hergehenden „Gleichsetzung von Staat und Regierung“ (GH 4: 783). Diese Sicht-
weise verkennt die Wechselwirkungen von Staat (im engen Sinne als politischer
Gesellschaft) und Zivilgesellschaft in der Realität sowie die sie durchziehenden
Widersprüche. Im Zusammenhang mit dem Begriff des Staates unterscheidet An-
tonio Gramsci deshalb „zwei Momente“, in denen sich das „staatliche Feld“ arti-
kuliert: „den Staat im engen Sinne (einseitig) und den Staat im weiten Sinne, den
integral genannten Staat“ (Buci-Glucksmann 1981: 87 f.). Der Staat im engen
Sinne sei „identisch mit der Regierung, dem Apparat der Klassendiktatur, insofern
er Zwangs- und ökonomische Funktionen ausübt“ (ebd.: 88). Der Staat im engen
Sinne repräsentiert damit die Dimension der Herrschaft. Sie finde ihren Ausdruck
in „der (tatsächlich[en] oder potentiellen) Ausübung von Gewalt“ (Opratko 2012:
36) und werde über entsprechende Staatsapparate verfügt (vgl. Buci-Gluckmann
1981: 88). Christine Buci-Gluckmann weist darauf hin, dass „jeder Staat dem
82 2 Normative Demokratietheorien

,Funktionieren durch Zwang‘ ein Funktionieren durch Ideologie und Ökonomie


hinzufügt“ (ebd.). Entsprechend formuliert Antonio Gramsci mit dem Stichwort
des integralen Staates einen weiten Staatsbegriff, bei dem „in den allgemeinen
Staatsbegriff Elemente eingehen, die dem „Begriff der Zivilgesellschaft zuzu-
schreiben sind“ (GH 4: 783). Er bringt dies auf die Formel: „Staat = politische
Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“
(vgl. ebd.). Zivilgesellschaft meint hierbei den gesellschaftlichen Zusammenhang,
in dem unterschiedlichste Interessengruppen quer durch alle sozialen Bereiche der
Gesellschaft „um die aktive und passive Zustimmung der Bevölkerung konkurrie-
ren“ (Rehmann 2008: 95). Die analytische „Unterscheidung ist grundlegend, weil
sie das Element des Konsenses und des Zwangs auseinanderhält“ (Barfuss/Jehle
2014: 109). Vor diesem Hintergrund kann differenziert werden, ob Staaten „mehr
auf der Grundlage freiwilliger Zustimmung oder mehr auf jener eines erzwunge-
nen Gehorsams funktionieren“ (vgl. ebd.). In diesem Sinne versteht sich die Idee
der Zivilgesellschaft bei Gramsci als eine Verhältnisbestimmung, die das „Durch-
einander“ der empirischen Realität analytisch aufgliedert und verstehbar macht.
Entsprechend verweist der Begriff Zivilgesellschaft auf die „,Funktion der Hege-
monie‘, welche die herrschende Gruppe in der Gesellschaft ausübt“ und von „der
Funktion der direkten Herrschaft [...], die sich im Staat und in der ,formellen‘ Re-
gierung ausdrückt“ unterschieden werden kann (GH 7: 1503).71

2.6.3 Spaltung der Welt bei Negt

Zu seinem Verständnis von Zivilgesellschaft äußert sich Oskar Negt wie folgt:
„Zivilgesellschaft ist für mich ein anderer Ausdruck für eine funktionierende de-
mokratische Gesellschaft. Ich bevorzuge den Begriff der Demokratie, weil in der
gesamten Geschichte eine Reihe von Fragen gestellt sind, die unverwechselbare
Assoziationen hervorrufen. ,Zivilgesellschaft‘ klingt neutraler, hat aber in Europa
ihren eigentlichen Gegenpol verloren“ (Negt 2010: 171). Letzterer Gedanke be-
zieht sich darauf, dass angesichts der Auflösung des sozialstaatlichen Kompromis-
ses der Nachkriegszeit die gegenwärtige Situation durch eine Auflösung des Ge-
meinwesens, einhergehend mit einer Spaltung der Welt, gekennzeichnet sei. Deut-
lich wird allerdings, dass bei Negt Zivilgesellschaft und Demokratie in eins fallen,
wobei Demokratie in der von Negt skizzierten Krise die grundlegende Orientie-
rung für den politischen Menschen und sein Handeln bietet. Mit Blick auf die vo-
rangestellten Überlegungen bedeutet dies auch, dass sich Demokratie als Lebens-
form in der Spaltung der Welt als die Orientierung der „zweiten Ökonomie“ oder

71 Mit Blick auf das Zitat von Gramsci wird der hier skizzierte Gedanke in ähnlicher Weise auch
von Thomas Barfuss und Peter Jehle formuliert (vgl. Barfuss/Jehle 2014: 109).
2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt 83

als funktionierende demokratische Zivilgesellschaft zu erkennen gibt. Das Han-


deln des „Zoon politikon“ und seine Erzeugung eines demokratischen Gemeinwe-
sens ist Ausdruck dieses Zusammenhangs. Zugespitzt erscheint hierbei das Politi-
sche auch als eine Sphäre, die sich die Menschen selbst wählen und in der sie frei
handeln. Auch dieser Punkt ist kritisch zu betrachten. Mit Marx ist die Idee von
Politik anders zu fassen; sie ist „als ein gesellschaftliches Verhältnis“ zu begreifen
(vgl. Demirovic 2014: 483). Kennzeichnend hierfür ist, dass die Menschen sich
dieses Verhältnis „nicht selbst gewählt haben, sondern das sie vorfinden und das
ihr freies Handeln bestimmt“ (ebd.).
Das Politische ist damit auch Ausdruck einer „spezifischen Form gesellschaft-
licher Macht und Rationalität“ und „Politik ist [...] eine Form, in der sich ein gesell-
schaftlicher Widerspruch bewegen kann“ (ebd.). Die bisher diskutierten demokra-
tietheoretischen Positionen und Annahmen wären somit auch Ausdruck der Kon-
flikte um die Form von Politik. Sie können als eine Art und Weise der Bewegung in
Widersprüchen gesehen werden. Außerdem sind sie selbst eine Art und Weise der
Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte, sowie Ausdruck der Verdichtungen von
gesellschaftlichen Konflikten in Form von Kompromissbildungen.
Die Position Negts (wie auch die von Barber) erklärt sich dann als eine Posi-
tion, die sich selbst aus diesen Konflikten heraus entwickelt hat und in der Selbst-
verständigung eine spezifische Antwort in und auf dies umkämpften gesellschaft-
lichen Verhältnissen darstellt. Diese Perspektive entspringt somit der Notwendig-
keit, unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen handeln zu müssen und
mit einer Erweiterung des Politischen gleichzeitig das Demokratische ausdehnen
zu wollen. Für Negt ist dies ein Kampf um das Demokratische in kapitalistischen
Verhältnissen. Ziel ist die Erweiterung von gesellschaftlichen (staatlichen) Regu-
lationsmechanismen, die „bis in die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hin-
einreichen und allmählich diese verändern“ sollen (vgl. Demirovic 1997: 14).
Vor diesem Hintergrund ist weitergehend die von Oskar Negt entworfene
Perspektive, die Realität als Spaltung zu begreifen, zu kritisieren. Wie Wolfgang
Fritz Haug anmerkt, besteht z. B. eine Problematik dieser Überlegung darin, die
Widersprüchlichkeiten einer kapitalistischen Vergesellschaftung durch eine Spal-
tung der Realität erklären und – hieran anschließend – „mit einer perspektivischen
Umkehrung der Dominanzordnung“ einen alternativen Weg aufzeigen zu wollen
(vgl. Haug 2003a: 123). Darüber hinaus steht Negts Verständnis einer hochtech-
nologischen Produktionsweise und das hiermit verknüpfte „Verhältnis von Arbeit,
Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“, insbesondere sein Verständnis
vom Verhältnis von lebendiger Arbeit und Technik, in der Kritik (vgl. ebd.: 124).
Die Betonung von lebendiger Arbeit als Lebensäußerung des Menschen sowie sei-
ner Enteignung (und Entfremdung in Arbeitslosigkeit) durch eine hochtechnolo-
gische Produktionsweise kritisiert Haug als die Gegenüberstellung von lebendiger
84 2 Normative Demokratietheorien

Arbeit und Technik, die „ungewollt das gesellschaftliche Drama“ in ein „Verhält-
nis zwischen einer abstrakten Personifikation und einer mythisierten unpersönli-
chen Macht“ zuspitzt (vgl. 124 f.). Entsprechend verweist Haug auf Negts Per-
spektive (vgl. ebd.: 127): Negt sehe in der Entwicklung einer hochtechnologischen
Produktionsweise die „Herausbildung menschenfeindlicher Technologie“, die für
den Menschen „zur Lebensfrage“ geworden sei (Negt 2001 [2002]: 333 f.). Für
Negt stellt sich das Problem, ob es den Menschen gelingt, „diese subjektverlas-
sene, zu gespenstischer Gegenständlichkeit massierte Objektwelt, in der denkende
und fühlende Maschinen und Maschinensysteme ihr Unwesen zu treiben begin-
nen, wieder menschlichen Zwecken zu unterwerfen, also unter demokratische
Kontrolle zu bringen, oder ob sie nur ohnmächtig oder achselzuckend zuschauen
können, wie ihre zerstörerischen Wirkungen fortwuchern“ (ebd.: 334). Das kriti-
sche Potenzial der Einlassung von Negt sieht Haug schwinden, weil Negt in der
Tendenz die Entwicklung der Technik als gesellschaftlich vorherrschende Kraft
kritisiert und hierbei die gesellschaftliche Produktionsweise, die durch das Kapital
beherrscht wird, in den Hintergrund tritt. Deshalb schreibt Haug: „Ein Roboter,
auch wenn er nach dem technischen Wort für Arbeiter benannt ist, arbeitet nicht,
sondern funktioniert. Er stellt aber auch nicht die menschliche Arbeitskraft in
Frage, sondern allenfalls die Funktionalität ihrer dem vergangenen Produktivkräf-
testand entsprechenden Qualifikation“ (Haug 2003: 131). Und weiter: „Das irreale
Moment hierbei ist dies, dass Kapitalismus nicht = Technokratie ist. Nicht die
Technik, das Kapital herrscht“ (ebd.: 132). Anerkennend verweist Haug darauf,
dass Negt mit seiner Überlegung beginne, eine mögliche Veränderung des Gesell-
schaftlichen von unten über die gesellschaftlichen Produktionsprozesse zu den-
ken, hierbei allerdings versuche, „bestimmte Produktivkräfte [z. B. Atomkraft und
Gentechnik] als solche von jeder erdenklichen Nutzung auszuschließen“ (ebd.).
Dieser Gedanke, verkürzt in der „Technokratiethese“, erweise sich als Stolperstein
(vgl. ebd.: 132). Grundsätzlich möchte ich hier der Kritik von Haug folgen, sehe
aber in der Position von Negt eine Mahnung oder einen ethischen Impuls, der m.
E. nicht in den Wind zu schlagen und hier vielleicht als unfertiger Gedanke zu
formulieren ist. Zur von Haug eingeforderten Perspektive, die Widersprüchlich-
keit der Technikentwicklung im Kontext einer kapitalistischen Vergesellschaftung
zu verorten, ist ein hieraus entstehendes Problem aufzugreifen, welches implizit
von Negt aufgeworfen wird: Die im Zuge der gegenwärtigen Vergesellschaftung
herausgeforderten Technikfortschritte fordern gleichzeitig gesellschaftlich ein-
greifende Veränderungen, die in der Konsequenz unumkehrbar erscheinen (und
real auch sind), sodass wir als Menschen nicht mehr zurück können (Stichwort:
Gentechnik). Sind diese Entwicklungstendenzen dem (individuellen und kol-
lektiven) Einfluss der Menschen im Politischen und Ökonomischen entzogen,
ergibt sich hieraus der Zugriff auf Machtressourcen für einige Wenige mit unum-
2.6 Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt 85

kehrbaren Konsequenzen für alle.72 Entsprechend zwingend erscheint die Notwen-


digkeit einer Demokratisierung aller gesellschaftlichen Sphären und – hiermit ver-
knüpft – einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung zur Wahrung des
Möglichen, die vom frühen Negt auf folgende Formel gebracht wurde: „Keine
Demokratie ohne Sozialismus“ (1976). Aus dieser Perspektive ergibt sich für Negt
die Konsequenz einer widersprüchlichen Beziehung von Kapitalismus und Demo-
kratie sowie einer Tendenz einer Funktionalisierung demokratischer Ansprüche
und deren Konservierung in Form „toter“ Demokratie. Für Negt geht es deshalb
darum, dieser Entwicklung eine „lebendige“ Form des Demokratischen, „einen
Kulturzusammenhang lebendiger Arbeit“ (Negt [2001] 2002: 411), eine Demo-
kratie als Lebensform entgegenzusetzen (die er in seinem Buch „Der politische
Mensch“ 2010 präzisiert). Negt lässt dabei einen Widerspruch aus, den Raul Zelik
in einer Reflexion über den Militärputsch gegen die Unitad Popular im Chile der
1970er – Jahre schlussfolgernd formuliert. Dieser bestehe darin, dass sich der Ka-
pitalismus „der Demokratie sehr schnell entledigen kann“ und wir gleichzeitig
vergessen würden, dass „die demokratischen Errungenschaften, die wir heute
schätzen, obwohl sie begrenzt sind, [...] Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe“ (Ze-
lik 2013: 670) sind. Mit Demirovic kann deshalb formuliert werden, „dass Demo-
kratie nicht einer Logik folgt, die im Widerspruch zu Kapitalverhältnis und Markt
steht, ohne dass sie deswegen auf diese funktional zu reduzieren wären“ (Demiro-
vic 1997: 20). Negt kann Letzteres nur als Auflösung des Gemeinwesens, des So-
zialstaates bzw. als Aushöhlung repräsentativer Demokratie hervorheben und
muss dabei von einer breiten Schwächung des Demokratischen ausgehen. Die

72 Dies betrifft auch die „Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse“ unter einer gegenwärtigen
neoliberalen Reorganisation von Gesellschaft. Sind die staatlichen Verwaltungen unter dem
Stichwort der neuen Steuerung „reorganisiert und teilweise stark eingeschränkt oder privatisiert
worden“, werden „Zuständigkeiten, Hierarchien, Aufgaben, Ziele, Ausführungen [...] in enger
Kooperation mit Unternehmensberatern, lobbyistischen Gruppen, Anwaltskanzleien und Nicht-
regierungsorganisationen ständig verändert“ (Demirovic 2016a: 286). Entsprechend findet „die
Willensbildung [...] vielfach im Schatten des Staates in komplexen Governance-Architekturen
mit einer Vielzahl von privaten, zivilgesellschaftlichen, öffentlichen und politischen Akteuren
statt, die häufig ohne formellen Status und mit geringer Legitimation weitreichende politische
Entscheidungen vorbereiten und in enger Kooperation mit Parlamenten und Regierungen zur
Verabschiedung und Umsetzung bringen“ (ebd.). Demirovic skizziert das Problem wie folgt
weiter: „Dies umfasst eine Vielzahl von sehr heterogenen AkteurInnen – von Museumsdirekto-
rInnen und UniversitätspräsidentInnen über Hilfsorganisationen und Nichtregierungsorganisati-
onen bis hin zu Bewegungsgruppen – und Beteiligungsformen: BürgerInnenversammlungen,
Konsultationen, Anhörungen, Mediationen, Schlichtungen, Runde Tische, BürgerInnenhaus-
halte“ (ebd.). Mit diesen Formen einer „Partizipationskultur“ gehe gleichzeitig „ein Moment der
Entdemokratisierung“ einher, da diese im skizzierten Sinne Willensbildungs- und Entschei-
dungsprozesse privatisiere und diese somit dem öffentlichen Einfluss entziehe (ebd.; hierzu auch
Wagner 2016 und Eis 2016). Was diese Entwicklung für eine kritisch-politische Jugendarbeit
bedeutet, zeigt Affolderbach (2016).
86 2 Normative Demokratietheorien

Frage, wie sich emanzipatorische Bewegungen in diesem Widerspruch bewegen


oder gar darüber hinaus gehen können, beantwortet Negt wie folgt: mit einer Spal-
tung des Politischen. Auf das Gemeinwesen gerichtetes politisches Handeln gilt
hierbei als die Form des „Authentischen“, welche sich vom instrumentellen Poli-
tischen unterscheide. Die gesellschaftlichen Widersprüche vom Ökonomischen
und Politischen werden so vor dem Hintergrund der Trennung von Politik und
Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Feld des Politischen verhan-
delt und eingeschlossen. Auch wenn Negt – anknüpfend an seine Lesart der Idee
der „lebendigen“ und „toten“ Arbeit bei Marx – die Sichtweise vertritt, dass die
Sphäre „der toten Arbeit, der Maschinensysteme, der Regelungskreise der Kapi-
tal- und Marktlogik“ (Negt [2001] 2002: 309 f.) durch ein mögliches Zutun „le-
bendiger“ am Gemeinwesen orientierter Arbeit (vgl. ebd.: 316) zu einer Verleben-
digung gesellschaftlicher Verhältnisse führen könne, vergisst diese Konstruktion,
dass die scheinbar „toten“ instrumentellen Anteile des Politischen (und Gesell-
schaftlichen) im Sinne Poulantzas als Verdichtungen von Kräfteverhältnissen ver-
standen werden müssen. Sie erscheinen als Knotenpunkte ungleichzeitiger Mo-
mente gesellschaftlicher Kämpfe, bei denen „sich die Widersprüche der verschie-
denen Ebenen einer Gesellschaftsformation in den durch Überdeterminiertheit be-
stimmten komplexen Verhältnissen verdichten“ (Poulantzas zit. nach Demirovic
2007: 223). Dies bedeutet zweierlei: Zum einen sind die gesellschaftlichen Pro-
zesse, die zu Verdichtungen führen, umkämpft. Zum anderen ist aber die Verdich-
tungen selbst kein erstarrtes gesellschaftliches (totes) Verhältnis, sondern inner-
halb der verdichteten Formen ein umkämpfter Kompromiss (und damit auch stän-
digen Veränderungen unterworfen).
Was Negt an der technisch gestützten Entwicklung des gegenwärtigen Kapi-
talismus implizit kritisiert, lässt sich mit Überlegungen von Recht und Werner
(2010) über Negt hinaus weiter gehend formulieren: Es ist die „dem Bewusstsein
und Willen der Menschen in weiten Teilen“ entzogene Einsicht in den gesell-
schaftlichen Zusammenhang kapitalistischer Produktionsweise und ihre wider-
sprüchliche „planlose[...]“ Gestalt, verknüpft mit dem Problem, dass sich erst auf
„dem Markt klärt [...], ob die in den Waren vergegenständlichte Arbeit gesell-
schaftlich notwendig war. Der gesellschaftliche Zusammenhang stellt sich also
nur nachträglich und unbewusst hinterm Rücken der Akteure in der widersprüch-
lichen Form eines ,planlosen Plans‘ her“ (Recht/Werner 2010: 181). Gerade diese
Planlosigkeit führt „zu krisenhaften Ungleichgewichten“ (ebd.). Deswegen sei
eine „demokratische Planung [...] gesellschaftlich notwendig, um die der kapita-
listischen Produktionsweise nach wie vor anhaftende Krisenhaftigkeit einzudäm-
men“ (ebd.). Grundsätzlich sei dies auch „möglich, weil durch gesellschaftliche,
ökonomische und technische Entwicklungen des Kapitalismus“ gleichzeitig „ihre
Voraussetzung geschaffen worden sind“ (ebd.). Eine gesellschaftlich tief greifen-
2.7 Weitung des Blicks 87

de Reform (wie sie Negt vorschwebt) ist als widersprüchliches und umkämpftes
Terrain zu sehen, bei dem sich auch die Frage stellt: ob die derzeitigen „instituti-
onalisierten Selbsteinwirkungen und Konfliktregulierungen, die Gesellschaften
heute kennen“, und – hiermit verknüpft – „ob der Staat in seiner Form überhaupt
dazu geeignet ist“ (eine Frage die Negt nicht stellt), den gesellschaftlichen Not-
wendigkeiten zu genügen, oder ob die vorgegebenen Grenzen perspektivisch auf-
gelöst bzw. in einem Prozess der radikalen Demokratisierung erweitert werden
müssen (vgl. ebd.: 191).

2.7 Weitung des Blicks


Weitung des Blicks

2.7.1 Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus als Problem


gesellschaftlicher Arbeitsteilung

Wie in den bisherigen Überlegungen deutlich wurde, bilden Demokratie, Demokra-


tietheorie sowie Prozesse der Demokratisierung ein „Kampffeld sozialer Gruppen
[...] um die richtige Form der Demokratie“ (Demirovic 1997: 19.).73 Es ist das Ter-
rain, auf dem „ihre Vorstellungen verallgemeiner[t] und hegemonial werden“ (De-
mirovic 1997: 19). Dieser Weg ist durch verschiedenste Widersprüche gebrochen.
Demirovic (1997) hat insbesondere auf die widersprüchliche Einheit von De-
mokratie und Kapitalismus hingewiesen.74 Die kennzeichnende Trennung von Po-
litik und Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft findet sich auch in den The-
orien zur Demokratie der Gegenwart wieder. So kommt es, dass sich die skizzier-
ten Demokratiediskurse als idealtypische Größen gegenüberstehen und jeweils für
sich den Anspruch erheben, Demokratie angemessen beschreiben, messen oder
erklären zu können. Werden in funktionalistischen Demokratietheorien „die sozi-
alen Kämpfe gering geachtet, die sich auf Durchsetzung von Würde, Gleichheit
und Freiheit und die politischen Beteiligungsrechte richten“ (ebd.: 14), werden bei
normativen Demokratietheorien die „inneren Widersprüche“ ausgeblendet, die
mit einer „Inanspruchnahme der universalistischen Normen von Freiheit und
Gleichheit“ verknüpft sind (vgl. ebd.: 15). Die damit einhergehende wechselsei-

73 Einen umfassenden Überblick über die historische Entwicklung der Demokratietheorien und ihre
verschiedenen, konflikthaft gegenüberstehenden Positionen gibt Richard Saage (2005).
74 Darüber hinaus ist hier insbesondere die Kritik feministischer Theoretikerinnen zu beachten. Sie
verweisen auf die patriarchale Struktur und Stabilität des Verständnisses von Demokratie, wel-
ches eine „Geschichte des Ausschlusses der Frauen aus dem und ihre Unterwerfung unter den
Demokratie konstituierenden Gesellschaftsvertrag zwischen Männern“ darstelle (Holland-Cruz
1996: 375). Demokratie als Idee von Gleichheit und Freiheit ist somit ein privilegiertes patriar-
chales Verhältnis, verbunden mit Ausschließungsmustern durch bestehende Geschlechterver-
hältnisse (vgl. hierzu auch Fraser 1994).
88 2 Normative Demokratietheorien

tige Ausblendung „der anderen Gesichtspunkte“ führt zu Blockierungen auf theo-


retischer Ebene und setzt sich je nach Präferenz in entsprechenden demokratie-
praktischen Optionen fort (Demirovic 1997: 14).75 Eine kritisch-dialektische
Sichtweise sollte diesen Gegensatz produktiv aufnehmen und „den Prozess der
Differenz selbst“ zum Gegenstand der Analyse machen (Demirovic 1997: 10.).

2.7.2 Zum Verhältnis von Demokratie und Ökonomie

Alex Demirovic gibt für eine solche Perspektive den Impuls, das Verhältnis von
Demokratie und Kapitalismus als ein Verhältnis der Arbeitsteilung zu problema-
tisieren. In diesem Zusammenhang ergeben sich die skizzierten Widersprüche
zwischen Demokratie und Ökonomie aus „den materiellen Grundlagen einer be-
stimmten historischen Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung“ (Demirovic
1997: 20). Diese beruhe auf der „Trennung des Ökonomischen vom Politischen,
die private Verfügung über die Produktionsmittel, die Privatisierung der gesell-
schaftlichen Tätigkeiten, die geografische Arbeitsteilung zwischen den Zentren
einerseits und ihren Peripherien andererseits“ (ebd.). Entsprechend erweise sich
„gegenüber diesen entwickelten Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung [...] die
politische Form der Demokratie als unterkomplex, weil sie an die sie tragenden
Kräfte und sozialen Auseinandersetzungen nicht heranreicht“ (ebd.).76 Ist in die-
sem Zusammenhang Demokratie ein gesellschaftliches „Kampffeld“, auf dem um
die „richtige Form der Demokratie“ gestritten wird, werde eine „autonome Ver-
gesellschaftung der Individuen [...] auf diesem Weg nicht erreicht“ (ebd.: 19). Dies
deshalb, weil Demokratie „nur ein durch Verfahren gehegter und auf Dauer ge-
stellter unfriedlicher Zustand zwischen gesellschaftlichen Gruppen“ sei, bei „dem
einige von ihnen immer den Anspruch auf Allgemeinwohl und Führung erheben
können“ (ebd.). Mit den „Auseinandersetzungen um die beste Form der demokra-
tischen Führung“ verknüpfe sich allerdings eine Verschiebung des demokrati-
schen Versprechens, dass „alle frei und gleich sein werden“, in die Zukunft und

75 Vgl. hierzu grundsätzlich Demirovic (1997: 7-20).


76 Eine vergleichbare Argumentation vertritt Günter Dux mit Blick auf die deliberative Demokra-
tietheorie von Jürgen Habermas. Dux hebt hervor, dass die „systemische Verfassung der Markt-
gesellschaft“ und deren „Strukturen des ökonomischen Systems“ auch „die Differenzen der
Machtverfassung der Gesellschaft“ durchdringen und z. B. „das ökonomische System auch die
Meinungs- und Willensbildung“ erfassen würden (vgl. 2013: 327 f.). Eine politische Öffentlich-
keit im Kontext „organisierte[r] Medien, Presse, Rundfunk, Fernsehen“ unterliege damit auch
den Interessen einer ökonomisch orientierten „Meinungsmache“ (ebd.). Ein normatives Ver-
ständnis von der Vermittlung differenter gesellschaftlicher Interessenlagen durch „kommunika-
tive Vernunft“ stoße hier an ihre Grenzen, da sie die „Realität der politischen Willensbildung in
der politisch verfassten Marktgesellschaft schlicht nicht erfasst [und] damit auch [ihre] Kritik
der Marktgesellschaft“ ins Leere laufe (vgl. ebd.: 328).
2.7 Weitung des Blicks 89

entferne sich damit von der Möglichkeit konkreter Realisierung unter den gegen-
wärtigen gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. ebd.).
Auch Ellen Meiksins Wood weist auf die Bedeutung der Arbeitsteilung und
die hiermit verknüpfte Trennung des Ökonomischen vom Politischen für das Ver-
hältnis von Kapitalismus und Demokratie hin. Sie unterstreicht, dass im Kapita-
lismus die politische Sphäre einen speziellen Charakter habe, da „die Zwangs-
macht, welche die kapitalistische Ausbeutung (unter)stützt, nicht direkt durch den
Aneigner ausgeübt wird“ (Meiksins Wood [1995] 2010: 39).77 Entsprechend sei
die „ökonomische Sphäre im Kapitalismus“ durch ihre „gesellschaftliche[...]
Funktion von Produktion und Distribution, Mehrwertabschöpfung und Aneignung
und [die] soziale Zuweisung von Arbeit“ (ebd.) sowie deren Privatisierung ge-
kennzeichnet.
Ist in diesem Zusammenhang auf dem Feld der gesellschaftlichen Kämpfe
die Perspektive der Demokratisierung handlungsleitend, reiche eine Orientierung
allein auf die „kommunikative Öffnung der bestehenden Institutionen und größere
Partizipation“ nicht aus (vgl. Demirovic 1997: 79). Die Erweiterung des Hand-
lungsspielraumes durch Demokratisierung hänge dabei „nicht allein und vielleicht
nicht einmal vorrangig von der Möglichkeit weiterer politischer Partizipation ab“,
wenn hiermit „nur eine Öffnung vorhandener politischer Entscheidungskanäle und
ein höheres Zeitaufkommen politischen Engagements [...], ohne dass grundle-
gende politische Entscheidungsmechanismen selbst zur Disposition gestellt wer-
den“, gemeint sind (vgl. ebd.: 79 f.). Demokratisierung müsse umfassender, als
eingreifendes Handeln der „tätigen und assoziierten Individuen“ verstanden wer-
den, die darauf drängen, „über die Art und die Verteilung der gesellschaftlichen
Tätigkeiten und Kooperationen“ und damit „über die Arbeitsteilung“ selbst zu ent-
scheiden (vgl. ebd.: 20).

77 Ihr weiterführender Gedanke allerdings erscheint problematisch: Kapitalistische Ausbeutung be-


ruhe „nicht auf der politischen oder rechtlichen Unterdrückung des Produzenten durch den an-
eignenden Grundherrn“ (Meiksins Wood [1995] 2010: 39). Mit Ernst Bloch und seinen Überle-
gungen in „Naturrecht und menschliche Würde“ ([1961] 1985) wäre dieser Gedanke kritisch zu
hinterfragen. Wie Bloch deutlich macht, wurde den Produktivkräften die Fessel genommen; Die
Handlungsfreiheit der Individuen aber blieb beschränkt und wurde rechtlich kanalisiert. Insofern
ist die Trennung und die Bindung von Freiheit als Bürger und Freiheit des Eigentums im und
durch das Recht Ausdruck der historischen Entwicklung des Rechts in der bürgerlichen Gesell-
schaft. Zum anderen ist, wie Daniel Loick (2012) deutlich gemacht hat, dem Recht ein Gewalt-
verhältnis eingeschrieben, welches inklusive und exklusive Zugänge zu gesellschaftlichen Res-
sourcen rahmt und insofern mögliche Ansprüche der Teilhabe unterdrückt.
90 2 Normative Demokratietheorien

2.7.3 Demokratie und Arbeitsteilung – ideologietheoretische Vertiefung

Dem Gedanken der Arbeitsteilung als gesellschaftlicher Verhältnisbestimmung


soll noch ein Augenblick weiter gefolgt werden. Stellt Demirovic die Bedeutung
der Trennung des Politischen vom Ökonomischen und hiermit verknüpfte Wider-
sprüche in den Mittelpunkt, vertieft Wolfgang Fritz Haug die Überlegungen zur
Arbeitsteilung um weitere Dimensionen, insbesondere durch eine ideologietheo-
retische Einordnung. In diesem Zusammenhang rekonstruiert er die Perspektive
von Arbeitsteilung bei Karl Marx und Friedrich Engels und unterzieht sie einer Kri-
tik. Hierbei skizziert er ein Bild und entwickelt eine analytische Struktur aus vier
verschiedenen Dimensionen; die sich als Achsen aus Horizontale, Vertikale und
Schrägen überschneiden. Arbeitsteilung verortet er in einem komplexen Geflecht
gesellschaftlicher Verhältnisse und hebt dabei deren Wechselwirkungen hervor.
Eine horizontale Achse markiert die gesellschaftliche Arbeitsteilung und meint ge-
nauer „das horizontale Nebeneinander unterschiedlich spezialisierter Funktionen der
Produktion des Lebensnotwendigen“ (1993: 101). Die Horizontale verweist dabei
auf den in der Teilung von Arbeit liegenden Effekt der „produktiven Kompetenzun-
terschiede“ (ebd.). Betont ist auf dieser Ebene der unmittelbare Produktionsbereich
als die Trennung „spezialisierter Berufe“ und Tätigkeiten, „ohne dass sie einander
übergeordnet sind“, aber im gesellschaftlichen Ganzen „zusammenwirken“ (ebd.:
97). Für die bürgerliche Gesellschaft allerdings sei eine Teilung in der Horizontalen
gleichzeitig durch eine Aufgliederung der Gesellschaft in „Herrschaftsmächte“ ge-
brochen (vgl. ebd.: 98). Von Bedeutung seien hier die Trennungen von „Herrschern
und Beherrschten“, von Ausbeutern und Ausgebeuteten, von Unterdrückern und
Unterdrückten (vgl. ebd.: 99). In den Blick kommen die Zusammenhänge zwang-
und gewaltförmiger Vergesellschaftung, die sich nicht allein in einer „Aufteilung
von Tätigkeiten“ denken lassen (vgl. ebd.).
Haug spitzt den Gedanken der Arbeitsteilung zu und fragt: „Ist es eine Ar-
beitsteilung zwischen dem Unternehmer und denen, die er für sich arbeiten lässt,
um sich ihr Mehrprodukt, den Mehrwert anzueignen? [...] Ist sich Ausbeuten-Las-
sen eine Arbeitsteilung mit dem Ausbeuter?“ (ebd.: 98 f.). Die Teilung der Arbeit
in Spezialisierungen einerseits und die hiermit einhergehende Trennung der An-
eignung des Mehrwertes der Arbeit durch die „Herren“ andererseits bedürfen der
Stabilisierung zur Aufrechterhaltung des Verhältnisses gesellschaftlicher Teilun-
gen. Haug verwendet hierfür auf den Begriff der „Ideologischen Mächte“ (ebd.:
100 f.). Gemeint sind damit „die Mächte der Gesellschaft“, die „von oben nach
unten regieren“ (ebd.). Die „ideologischen Mächte“ organisierten die Aufrechter-
haltung des Gesamtgefüges einer sich „immer mehr [...] aufteilenden Gesell-
schaft“ sowie von deren gleichzeitiger Aufspaltung in „Ausbeuter und Ausgebeu-
tete“ (ebd.). Im Bild der Achsen von Haug bleibend, verweisen die „ideologischen
2.7 Weitung des Blicks 91

Mächte“ auf den oberen Punkt einer Vertikalen. Ihnen gegenüber stehen die „Un-
tertanen“, die „Subjekte“ (ebd.: 105): „Das Subjekt ist das Daruntergeworfene“
(ebd.: 104).78 Dabei zielen „die ideologischen Mächte [...] darauf“ ab, „dass die
Individuen die Verhältnisse der Herrschaft von innen heraus, frei und verantwort-
lich leben“ (ebd.). Ideologische Mächte und Subjekte zeichnen ein Spannungsfeld
„ideologischer Subjektion“ als eines „Sich-Einordnen[s]“, einer Aktivität des
„Sich-zum-Subjekt-der-Verhältnisse-Machen[s]“ (vgl. ebd.: 104 f.). Im Schema
von Haug wird die horizontale Achse der „Arbeitsteilung - produktive Differenz“
ergänzt durch eine vertikale Achse mit den unterscheidenden Punkten „Ideologi-
sche Mächte – Subjekte“. Den Knotenpunkt beider Achsen durchläuft die Dimen-
sion der Klassenherrschaft mit ihren komplementären Gegensätzen von „Herr-
schenden (Kapital) – Beherrschten (Lohnarbeit)“.79 Die skizzierten Verhältnisbe-
stimmungen kreuzen sich, sind analytisch zu trennen, bleiben aber aufeinander
bezogen. Haug hebt hervor: „Die Arbeitsteilung kann sich nur entwickeln, indem
sich die Klassen entwickeln, und beides kann sich nur entwickeln, indem sich die
ideologischen Mächte entwickeln“ (ebd.: 103).80 Ist also von Arbeitsteilung die
Rede, ist ein dynamisches Bild verschiedenster gesellschaftlicher Verhältnisse in
ihren Wechselwirkungen und Überschneidungen in den Blick zu nehmen. Dies ist
auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil in diesem Zusammenhang das „Sich-
Einordnen“ der Subjekte in die Verhältnisse selbst ein widersprüchlicher Prozess
der Über- und Unterordnung in Herrschaft ist: „Wir sind eben nicht nur unterge-
ben, sondern auch überhoben, vorgesetzt“ (ebd.: 113). Fallen die umrissenen Ver-
hältnisse in der empirischen Realität untrennbar ineinander, müssen sie als „abs-
trakte Denkbestimmungen zur Rekonstruktion des Konkreten im Denken“ analy-
tisch auseinandergehalten werden (vgl. ebd.: 104). Haug erweitert die Skizze der
drei Achsen und fügt dem Bild die Geschlechterverhältnisse als vierte Dimension
hinzu. Er begründet dies damit, dass sich in den Geschlechterverhältnissen die Di-
mension der „,Arbeitsteilung‘ und ,Klassengegensatz‘ nicht empirisch auseinan-
der, nicht chronologisch nacheinander [...] zeigen, sondern als die beiden Seiten
einer Medaille“ erschienen (vgl. ebd.: 104). In ihrer historischen Entwicklung hat
sich in den Geschlechterverhältnissen die Arbeitsteilung zwischen Männern und
Frauen und damit gleichzeitig Herrschaft auf spezifische Weise verdichtet und ist
als gesellschaftliches Verhältnis immer wieder mitzudenken.
Die gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Horizontalen und ihre Spezialisie-
rungen von Tätigkeiten sind gleichzeitig in einer Vertikalen von Herrschaft gebro-

78 Der hier von Wolfgang Fritz Haug „absolut“ gesetzte Subjektbegriff wird ansonsten in dieser
Arbeit so nicht geteilt.
79 Vgl. Schaubild Wolfgang Fritz Haug (1993: 105).
80 Wolfgang Fritz Haug argumentiert hier historisch. An anderer Stelle wäre zu diskutieren, ob
seine Argumentation auch für die Gegenwart und Zukunft Gültigkeit haben kann.
92 2 Normative Demokratietheorien

chen, welche „die Gesellschaft [...] in ,oben‘ und ,unten‘“ spaltet (vgl. Hirschfeld
2015a: 21). In diesem Kontext verweisen die von Haug herausgestellten vier Di-
mensionen der „Arbeitsteilung“, „gesellschaftlicher Herrschaft“ und „politischer
oder ideologischer Herrschaftsmacht“ sowie die „Geschlechterverhältnisse“ auf
gesellschaftliche Spannungsfelder, die das Alltägliche durchdringen und in denen
sich „jedes Individuum [...] bewegen muss“ (Haug 1993: 105).81 Das Komplizierte
hierbei sind die Komplexität der Verhältnisse und deren Wechselwirkungen, die
sich „[gleichsam] in den Individuen [...] verknoten“, mit dem Effekt, dass die Sub-
jekte im Alltäglichen „die bestehenden Verhältnisse mehrfach stabilisiere[n]“
können (ebd.). Sind die Einzelnen in den skizzierten Verhältnissen auf eine ihnen
zugewiesene gesellschaftliche Stelle (Position) verstreut, stehen sie vor dem Wi-
derspruch, einerseits in den bestehenden Trennungen und Fremdbestimmungen
ihre Persönlichkeit entwickeln zu müssen, sowie andererseits „die Stelle, wo sie
hin verteilt sind in diesem System mit Sinn aus[zu]füllen“ (vgl. ebd.: 107). Im
Grunde verweist dies auf die verkehrte Situation, dass Fremdbestimmungen, da-
mit die Trennungen, zu bestimmenden Momenten eigenaktiven Handelns der
Menschen werden.82 Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die Frage eingreifen-
den Handelns als Demokratisierung der Verhältnisse Widersprüchliches:
Zum einen sehen sich die Menschen mit Mächten konfrontiert, die bestrebt
sind, gesellschaftliche Trennungen und Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhal-
ten sowie die Stellen zu besetzen, „die über das Zusammenbringen der Elemente
des Gesellschaftsprozesses entscheiden“ (ebd.). Hieraus entsteht die Notwen-

81 Wolfgang Fritz Haug skizziert mit seinem Modell vier besonders wichtige Dimensionen. Allerdings
sind dies nicht die einzigen gesellschaftlichen Verhältnisbestimmungen und wären um weitere zu
ergänzen, was aber die Anschaulichkeit des Bildes zerstören würde. Beispielsweise könnte dem
Bild auch das Mensch-Natur-Verhältnis hinzugefügt werden (vgl. hierzu etwa die Diskussion in:
Das Argument 313, 57. Jg. Heft 3/2015). Für den in dieser Arbeit diskutierten Zusammenhang ist
auch die Spaltung von Kopfarbeit und Handarbeit von Relevanz. Beispielsweise macht Uwe
Hirschfeld auf das widersprüchliche Verhältnis einer Trennung von „Theorie und Praxis“ und des-
sen Bedeutung für Bildung aufmerksam (vgl. 2015a: 22). Hiermit verknüpfe sich z. B. ein Herr-
schaftsverhältnis, welches „Kopfarbeit oben“ und „Handarbeit unten“ in ein hierarchisches Ver-
hältnis setze; so stünden sich Theorie und Praxis fremd gegenüber (vgl. ebd.: 21).
82 Die skizzierte Überlegung verweist auf das Stichwort der Entfremdung, auf welches an dieser
Stelle nur verwiesen werden kann. Henri Lefebvre hat die angedeutete Problematik der Entfrem-
dung als eine das Alltägliche bestimmende Formation von Verhältnissen umrissen (vgl. hierzu
Lefebvre 1987). In diesem Sinne kritisiert er auch die Vorstellung von Demokratie, die mit Po-
litik und Staat in eins falle und so als politische Form den Menschen fremd gegenübersteht (vgl.
1972: 103 f.). Für die Perspektive der Demokratisierung bestehe deshalb die Notwendigkeit einer
„Aufhebung der Politik (einschließlich der Demokratie), der Abschaffung des Staates (ausge-
hend vom demokratischen Staat selbst)“ (ebd.: 116). In diesem Sinne geht es um eine Umkeh-
rung, die Demokratie von der Spitze auf die Füße stellt, die die Einschränkung der politischen
Demokratie mit einer „Aufhebung des Politischen im Gesellschaftlichen durch das Gesellschaft-
liche“ zu den Menschen zurückführt (vgl. ebd.: 152).
2.7 Weitung des Blicks 93

digkeit, welche Oskar Negt als die „Herstellung von Zusammenhang“ umrissen
hat. Versteht sich Demokratisierung als eine Bewegung der Selbstvergesellschaf-
tung, besteht die Notwendigkeit, sich die Dimensionen der Trennungen als Zu-
sammenhang anzueignen und „Kompetenzen an den strategischen Stellen“ zu ent-
wickeln, um die „trennenden Kräfte“, die zwischen den Menschen stehen, „zu-
rückzudrängen“ (vgl. ebd.: 106 f.). Auch Haug verweist darauf, dass ein „Zusam-
menbringen [...] von unten [...] nur kollektiv angegangen, die entsprechenden
Kompetenzen nur kollektiv entwickelt werden“ könnten (ebd.).
Zum anderen schließt sich hieran die Schwierigkeit an, dass die Formen, in
denen wir uns den Herrschaftsmächten widersetzen, gleichzeitig die Formen sein
können, die eben diese Kräfte stabilisieren und die auf Selbstbestimmung gerich-
teten Aktivitäten passivieren. Haug verweist auf Beispiele intellektueller Tätigkeit
und Ausdrucksformen, die sich zwar der Herrschaft entgegenstellen, aber gleich-
zeitig in der von ihnen entwickelten Form „denen ,da unten‘“ verschlossen blei-
ben, Trennung aufrechterhalten und sich so Solidarisierungen entziehen würden
(vgl. ebd.: 111). Entsprechend ist „der demokratische Philosoph ,von unten‘ her
zu denken – und in der Perspektive sind die hierarchischen Bastionen zu schleifen,
an ihrer Stelle Einrichtungen zu konzipieren, die eine gesamtgesellschaftliche Re-
flexion ermöglichen. Die von Marx geforderte und von Gramsci geteilte ,revolu-
tionäre Praxis‘ lässt auch die Aufgaben und das Selbstverständnis der kritischen
Intellektuellen nicht unberührt“ (Hirschfeld 2015b: 110). In ähnlicher Weise kön-
nen Aktivitäten „von unten“, die „sich gegen ,die da oben‘ und gegen die ideolo-
gischen Mächte richten, dies in einer Form zu tun, in der sie sich selbst dazu ver-
urteilen, nichts ändern zu können“ (ebd.: 112). Paul Willis (19829 hat dies am
Beispiel seiner Untersuchung „Spaß am Widerstand“ deutlich gemacht und mit
den Begriffen der „Durchdringung“ und „Begrenzungen“ umrissen.

2.7.4 Neoliberalismus als Spannungsfeld gesellschaftlicher Transformations-


prozesse und deren Bedeutung für Demokratie und Öffentlichkeit

Verallgemeinernd werden gegenwärtig gesellschaftliche Veränderungen der Pro-


duktionsweise unter dem Stichwort Neoliberalismus oder High-Tech-Kapitalis-
mus diskutiert (vgl. hierzu z. B. Candeias 2003; Haug 2003). Der Begriff des
High-Tech-Kapitalismus verweist dabei auf den „qualitativen Niveausprung der
Produktivkräfte“, der durch die „Informationstechnologie“ ausgelöst wurde und
in entsprechenden Wechselwirkungen mit anderen gesellschaftlichen Bereichen
steht (Haug 2012: 11; vgl. auch Haug 2003: 34 f.).
In diesem Zusammenhang ist auf zwei Tendenzen aufmerksam zu machen:
Zum Ersten findet diese Entwicklung ihren Ausdruck im Umbau des Staates, der
als Umbau des Sozialstaates hin zum aktivierenden Staat diskutiert wird (vgl.
94 2 Normative Demokratietheorien

hierzu Clarke 2003 und Jessop 1993/1996b). Konkret bedeutet dies, dass sich For-
men solidarischer Verabredungen der Gesellschaft auflösen, die z. B. in wohl-
fahrtsstaatlichen Institutionen des Staates kompromisshaft verdichtet (Poulantzas
2002)83 und gebunden waren.84 An die Stelle staatlich regulierter „Klassenkom-
promisse“ (vgl. Hirschfeld 2000) und ihrer kompromisshaften Institutionalisie-
rung tritt die Organisation zur Optimierung nationaler Kapitalverwertung im
Spannungsfeld transnationaler Konkurrenzverhältnisse. Im Mittelpunkt steht die
Idee des Wettbewerbs bei gleichzeitiger Anrufung von Selbstverantwortung der
Individuen.85 Zum Zweiten wird die Idee der Selbstverantwortung durch eine Po-
litik des Kulturellen vorangetrieben: „Gefordert wird eine neue Kultur der kon-
sensuellen Zusammenarbeit, des Eigentums, von Eigenverantwortung, privater
Vorsorge, persönlicher Risikobereitschaft, kreativen und flexiblen Lebens- und
Arbeitsweisen, Aktienkultur, kosmopolitischen Konsumtionsweisen und diversi-
fizierten Lebensstilen“ (Candeias 2003: 408). Die hier angedeutete Subjektfunk-
tion ist eine, die zwischen „Selbstermächtigung und Selbstentmächtigung“
(Kaindl 2010: 86) sowie Selbst- und Fremdbestimmung zirkuliert. Die Einzelnen

83 Zur Metapher der Verdichtung bei Poulantzas auch Demirovic (2007).


84 Hierzu ist anzumerken, dass es offene Fragen gibt, z. B. die Problematik „[w]ie sich die herr-
schende Ideologie, die sich in den ideologischen Staatsapparaten materialisieren soll, herausbil-
det“ (Candeias 2003: 70). Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich die bürgerliche Gesellschaft
auf vielfältigste Weise reproduziert und der Staat selbst „als gesellschaftliches Verhältnis [...] in
das Netz des Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse verwoben“ (ebd.: 71) ist. Die Institutio-
nen des Sozialstaates haben sich historisch entwickelt. Sie sind in ihren Funktionen selbst um-
kämpft sowie gleichzeitig Instrument von Herrschaft. In diesem Zusammenhang geht es nicht
um eine Romantisierung fordistischer Wohlfahrt und ihrer paternalistischen Bürokratie, sondern
um die Betonung ihrer Veränderung hin zur Privatisierung gesellschaftlicher Risiken in die Ver-
antwortung der Einzelnen.
85 Mit Hobsbawm kann pointiert formuliert werden, dass die in die Idee des Sozialstaates einge-
bundene Verbindung von demokratischer Organisation der Gesellschaft und Marktwirtschaft im
Neoliberalismus auseinandertreten, da „das Ideal der Marktsouveränität“ sich nicht als „Ergän-
zung der liberalen Demokratie“ verstehe, sondern sich als „Alternative“ hierzu sehe und präsen-
tiere (vgl. Hobsbawn 2009: 105). Insofern sei das Marktideal „sogar eine Alternative zu jeglicher
Form von Politik, denn es leugnet die Notwendigkeit politischer Entscheidungen, die ja gerade
Entscheidungen über allgemeine oder Gruppeninteressen sind im Unterschied zur Summe der
[...] getroffenen Entscheidungen von Individuen, die ihre persönlichen Präferenzen im Auge ha-
ben“ (ebd.: 105 f.). In der Folge ersetze die „Partizipation am Markt [...] die Partizipation an der
Politik; an die Stelle des Bürgers tritt der Konsument“ (ebd.: 106). Hobsbawm zeichnet hier das
umkämpfte Feld und die Form der Ausrichtung neoliberaler Machtbestrebungen. Anfällig ist
hierbei insbesondere die formalisierte demokratische Form zur Bearbeitung gesellschaftlicher
Konflikte sowie ihr Einschluss in institutionellen Kontexten. Zielrichtung einer Gegenbewegung
wäre folgerichtig die einer Demokratisierung, um Demokratie aus ihrer Versteifung zu lösen.
Demokratie ist demzufolge als Entwicklung zu denken, die als eine „gemeinsame Regelung der
gesellschaftlichen Angelegenheiten“ zu sehen ist und sich nicht auf „den Punkt der Entscheidung
reduzieren lässt“ sowie gleichzeitig „öffentliche Verständigungsprozesse voraussetzt“ (Hirsch-
feld 2007: 6).
2.7 Weitung des Blicks 95

sind angehalten, „autonom ihre Subjektfunktion für ihr Überleben einzusetzen,


[...] durch ihre kollektive wettbewerbsorientierte Praxis Verhältnisse zu schaffen,
unter denen sie ihre Subjektivität permanent für ihre individuelle Selbsterhaltung
einsetzen und diesen Einsatz als Bestätigung ihrer Autonomie erfahren“ (Demiro-
vic 2010: 165). Im Kern geht es demnach darum, dass die Individuen Handlungs-
formen entwickeln, die sie dazu befähigen, „unter fremd gesetzten Zielen“ gleich-
zeitig „aktiv, kreativ, demütig“ agieren zu können (vgl. Kaindl 2010: 93). In die-
sem Sinne handelt es sich um die Ausformung von Eigenschaften, um die indivi-
duelle Arbeitskraft und ihre Verwertbarkeit passgenau auf die Anforderungen des
Marktes hin zu modellieren sowie gleichzeitig darüber hinaus weisende Flexibili-
täten, z. B. die als Konsumenten, zu entwickeln. In dieser Form angerufen, werden
sie als flexible „kleine Einheiten [...] von oben her vereinheitlicht“, als „Lebens-
stilgruppen, Risikogruppen, Käufergruppen, Konsumgruppen [...] im Detail er-
fasst und nach Clustern differenziert“ und so in die Interessen „weltweit operie-
render, marktbeherrschender Unternehmen“ eingespannt (vgl. Demirovic 2010:
165). Umkämpft ist somit die Handlungsfähigkeit der Individuen und damit ver-
knüpft sind es auch die Versuche, Handlungsfähigkeit instrumentell zu kanalisie-
ren und auf das Maß vorgegebener Interessen zu beschränken. Der Versuch, die
Individuen auf diese Weise „zu isolieren, von anderen abzuschneiden, sie an eine
Identität zu binden“, sei widersprüchlich, da die Menschen unter „von ihnen bis-
lang nicht frei gewählten Verhältnissen [...] immer frei“ handelten; „sie gestalten
sich immerzu selbst, indem sie permanent dieses Ensemble von Verhältnissen be-
arbeiten und transformieren“ (ebd.: 172). Umkämpft ist Handlungsfähigkeit als
Form gemeinsamer Kooperationen und geteilter Öffentlichkeiten. Diese Überle-
gung weist über die skizzierte Subjektfunktion hinaus. Neoliberale Strategien ei-
nes Wettbewerbs des Marktes erfassen auch die „herkömmliche Konzeption von
öffentlichem Interesse“ und setzen an die Stelle von Öffentlichkeit die Perspektive
der „Privatisierung“ (Clarke 2003: 42). John Clarke charakterisiert diese Verän-
derung als eine „Verschiebung von Aktivitäten, Ressourcen [...] Gütern und
Dienstleistungen“, die bisher in staatlichen Institutionen und anhängiger Bürokra-
tie gebunden waren, hin zum „privaten (profitorientierten, korporativen) Sektor“
mit entsprechenden „Konsequenzen für die politischen, ökonomischen und sozia-
len Beziehungen der Wohlfahrt“ (ebd.: 42). Im Kern geht es hierbei um eine „Neu-
bestimmung staatlichen Handelns“ (Dahme/Wohlfahrt 2003: 42) durch den Staat
selbst. Bisher staatliche Aufgaben werden ausgelagert, privatisiert. Gleichzeitig
wird staatliches Handeln, unterstützt durch betriebswirtschaftliche Steuerungsin-
strumente, markt- und wettbewerbsorientiert ausgerichtet. Verknüpft ist hiermit
eine Reduktion staatlicher Versorgungssysteme auf Kernaufgaben, bei gleichzei-
tiger Erweiterung staatlicher Handlungsmöglichkeiten durch aktivierenden Einbe-
zug der Bürger*innen unter Betonung von deren „individueller Verantwortung“
96 2 Normative Demokratietheorien

für gesellschaftliche Konflikte. In diesem Sinne ist Privatisierung außerdem als


eine „Verlagerung der gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten vom öffentlichen
Raum (wo sie in die Zuständigkeit der Regierung fielen) in den privaten Bereich
(wo sie zu Angelegenheiten von individueller, familialer oder kommunaler Sorge
wurden)“ (Clarke 2003: 43) zu verstehen.86 Einher geht hiermit eine Schwächung
„demokratischer Gehalte“ institutionalisierter Demokratie sowie eine Kanalisie-
rung des Politischen von Öffentlichkeit (Hirschfeld 2000: 45). Letzteres funktio-
niert z. B. in Form von Versuchen einer Aufspaltung der Bürger*innen in „ver-
schiedene Rollen“, z. B. in „die des ,Steuerzahlers‘, des ,Schnorrers‘ und des ,Ver-
brauchers‘“ (Clarke 2003: 50). Im Kern geht es hierbei um eine „Entsolidarisie-
rung von Sozialpolitik“ (ebd.: 43) sowie, weiter gefasst, um eine Entpolitisierung
des politischen Gehaltes des Alltäglichen und seiner konflikthaften „Aggregatzu-
stände“, die Oskar Negt und Alexander Kluge als „Rohstoff des Politischen“ be-
zeichnet haben (1993: 45 f.). In diesem Zusammenhang gewinnen Politiken des
Ausschlusses an Bedeutung, die mit einer Naturalisierung gesellschaftlicher Zu-
sammenhänge, Geschlecht oder ethnischen Zugehörigkeiten einhergehen und als
Verhältnisse selbst sowie in ihren Ausformungen umkämpft sind. Clarke sieht in
diesen Erscheinungsformen Versuche, „solidarisierende Erkenntnisse“ sozialer
Bewegungen87 anzugreifen, um den sozialen Charakter „sozialer Ungleichheiten

86 Die skizzierten Prozesse sind als hegemoniale Bewegungen zu interpretieren, bei denen, wie z.
B. im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015, „der Staat momentan“ zu-
rückweicht, seine Kontrollfunktion für einen Moment zurücknimmt, sich gleichzeitig aber aus-
weitet und seine Handlungsfähigkeit durch Nutzung der „Solidarisierungswelle“ der Menschen
„bewahrt“ (Haug 2016: 462). Ähnliche hegemoniale Effekte lassen sich z. B. im Zusammenhang
mit der Auseinandersetzung zu Rechtsextremismus beschreiben und der dort formulierten Idee,
durch Stärkung von Zivilgesellschaft die Erstarkung rechtsextremer Strukturen eindämmen zu
wollen (zu den hierbei auftretenden Widersprüchen vgl. z. B. Affolderbach 2015 und 2016).
87 Er bezieht sich hier auf zwei Perspektiven. Ein Ergebnis sozialer Kämpfe gegen Ungerechtigkeit
und ihrer Naturalisierung sieht er in den „Nachkriegs-Regelungen“, die in den sozialstaatlichen
Kompromissen zur Ausrichtung „der Balance zwischen Öffentlichem und Privatem“ (ebd.: 44)
eingeflossen sind. Die andere Perspektive skizziert er als die Kämpfe der 1960er-, 1970er- und
1980er-Jahre mit ihren Problematisierungen von Rassismus, Diskriminierung, Geschlechterver-
hältnissen, gegen eine Biologisierung von Medizin und Behinderung inkl. der Versuchen, die
sozialen Bedingungen hierfür im öffentlichen Raum zu verändern. In der gegenwärtigen Gesell-
schaft artikuliere sich demnach nicht nur eine veränderte Produktionsweise, sondern auch eine
veränderte Politikform, die zwischen Neoliberalismus und Neokonservatismus zirkuliere (vgl.
ebd.). Im Kontext einer Politik von oben hat dies z. B. Bop Jessop als populistische Politik be-
zeichnet und Heinz Steinert bzw. Helga Cremer-Schäfer haben dies als „strukturellen Populis-
mus“ herausgearbeitet (vgl. Jessop 1996a: 366 f.; Steinert 1998c: 164 f.; Cremer-Schäfer 2015:
22 f.). Mit der Ausarbeitung des „strukturellen Populismus“ ist eine wesentliche Politikform
benannt, die Massen in Herrschaft und ihre institutionellen Ausprägungen zu integrieren. Wie
Christine Buci-Glucksmann deutlich macht, ist dies ein dynamischer Prozess, der z. B. demo-
kratische Bewegungen bremst und gleichzeitig „die gewaltige Flexibilität des Staates“, der „ide-
ologischen Mächte“ sowie deren Integrationskraft widersprüchlichster Interessen erkennen lässt
2.7 Weitung des Blicks 97

und Ungerechtigkeiten sowie ihre gesellschaftliche Verursachung zu individuali-


sieren (personalisieren) und auf „naturgegebene“ Ursachen „zurück zu führen“
(ebd.: 44).

2.7.5 Exkurs: Struktureller Populismus – populistisches Deutungsmuster


Rechtsextremismus und Widersprüche Rassismus

Die Popularität des Begriffes Rechtsextremismus und die mit ihm verknüpften In-
terventionsmodelle stehen m. E. auch im Zusammenhang mit den im Begriff ge-
bündelten und verdichteten gesellschaftlichen Phänomenen. Die hieraus resultie-
renden Vereinfachungen gesellschaftlicher Entwicklungen und Konflikte sind
Ausdruck und Mittel des Ideologischen, einer Form der Vergesellschaftung von
oben. In Verbindung mit den bisherigen Überlegungen zum Neoliberalismus hat
Bob Jessop in seiner Untersuchung von Spezifika der Thatcher-Ära eine sich ver-
ändernde Politikform ausgemacht. Im Kern geht es darum, dass politische Interes-
sen weniger in intermediären und durch intermediäre Instanzen wie Parteien oder
Gewerkschaften artikuliert und vermittelt werden, sondern dass dies, wie er am
Beispiel von Thatcher zeigt, durch direkte Ansprache der Menschen in Koopera-
tion mit den Massenmedien erfolgt (Jessop 1996a: 353 f.). In dieser Tendenz sieht
er eine „quasi-präsidiale, plebiszitäre“ Politik aufziehen, die medial als ein Wett-
bewerb „einer Elite um politische Ämter“ inszeniert werde (ebd.: 366). Hieraus
entspringe eine Überzeugungspolitik, die in der Zuspitzung politisch umstrittener
Themenfelder versuche, bisherige „Konsensmuster“ aufzulösen. Gleichzeitig
würde der Anspruch formuliert, die Allgemeinheit exklusiv zu vertreten. Der hier-
mit verknüpfte Effekt, so Jessop, sei die Hinwendung „zum plebiszitären Populis-
mus und zum starken Staat“ (ebd.: 367). Die Allgemeinheit werde dazu angehal-
ten, sich „gegen ihre Interessen auf das Große und Ganze“ (Steinert 1998: 166) zu
verpflichten. In diesem Sinne ist Populismus als „politisches Manöver“ darauf ge-
richtet, „Interessenpolitik durch Identitätspolitik abzulösen“, Interessenunter-
schiede durch „'naturalisierende' Kategorien von behaupteter Gemeinsamkeit“
(Cremer-Schäfer/Steinert 2014: 24) zu neutralisieren, um so eine „passive Teil-
nahme“ (Steinert 1998: 167) der Allgemeinheit zu organisieren. Das so skizzierte
Politikmuster wird im Begriff des „strukturellen Populismus“ zusammengefasst
und verweist darauf, dass die angedeuteten Punkte „inzwischen die Grundstra-

(vgl. Buci-Glucksmann 1982: 54). Dabei ist „Populismus“ eine von „verschiedenen Formen der
Politik“, zu denen auch „Korporatismus“ und „parlamentarischer Transformismus“ zu zählen
sind, die vor allem in ihren Wechselwirkungen und Überschneidungen ihre Kräfte entfalten kön-
nen (vgl. ebd.).
98 2 Normative Demokratietheorien

tegien von Politik“ bildeten (Cremer-Schäfer 2015: 28).88 Wie angedeutet, ist die
Verwendung von Kategorisierungen ein wesentliches Merkmal „strukturell popu-
listischer“ Politik. Wie Helga Cremer-Schäfer am Beispiel der Dimensionen von
Verbrechen und Strafe deutlich macht, formuliert populistische Politik beispiels-
weise das „,allgemeine Interesse‘ [...] als das, ,ohne Kriminalität‘ leben“ zu kön-
nen, bei gleichzeitiger Betonung der Notwendigkeit „mit dem staatlichen Strafen
zu leben“ (ebd.: 29). Historisch ist in diesem Zusammenhang auch der Diskurs
zum Stichwort Gewalt von Bedeutung, der sich im deutschen Kontext vor allem
als Vorwurf „gegen den ,linken Terrorismus‘ und die ,Jugend-Gewalt‘“ formte
(ebd.). Die assoziative Kraft von Gewalt „als ein Indikator und ,Verdichtungssym-
bol‘ für gefährliche Zustände der gesellschaftlichen Ordnung“ (Cremer-Schä-
fer/Steinert 2014: 117) ermöglicht Bilder vom „inneren Feind und Zerstörer“ so-
wie, „Bedrohungsszenarien als klassenübergreifend zu behaupten, die ein ent-
schiedenes bis kriegerisches Eingreifen des Staates verlangen“ (Cremer-Schäfer
2015: 30). Auf diese Weise sollen Prozesse der „inneren Ausschließung“ (ebd.)
plausibilisiert und legitimiert werden. Anknüpfend hieran hebt Cremer-Schäfer
hervor, dass im Diskurs um Kriminalität und Gewalt nicht nur die Stärkung des
„Gewaltmonopol[s] des Staates durchgesetzt und bekräftigt“ würde, sondern
gleichzeitig die „Durchsetzung eines autoritären Politik-Modells“ (ebd.) erfolge.
Das populistische Moment dieser Politik zeichne sich dadurch aus, „jedes Problem
als Teil einer umfassenden Ordnungskrise rahmen zu können“, um so ein „auf
personalisierende Kontrolle zielende[s] Analyse- und Politikmuster als das hege-
moniale“ (ebd.: 32) durchzusetzen.

2.7.6 Rechtsextremismus als populistisches Deutungsmuster

Ein dem skizzierten Spannungsfeld entspringendes Deutungsmuster ist Rechtsext-


remismus. Das Dilemma des Begriffs besteht zum einen in seiner Bestimmung
von Normalität und zum anderen in der Verknüpfung mit dem sogenannten Ext-
remismuskonzept. Der Diskurs um den Begriff des Extremismus geht bis in die
1970er-Jahre zurück.89 Dort dominierte noch der Gebrauch des Begriffes Radika-

88 Verknüpft ist „struktureller Populismus“ mit den „repräsentativen Formen der Demokratie“ und
deren Besonderheit, die gesellschaftliche Teilnahme der Bürger „nur als Teil eines übergeord-
neten Ganzen realisieren“ zu können (Cremer-Schäfer 2015: 27). Die Bürger sind eingebunden
als „ein ,anerkannter‘ Teil von Nation, Wahlberechtigten, Wirtschaftsstandort, Sozialstaat, west-
licher Zivilisation, Schicksalsgemeinschaft, Solidargemeinschaft“ (ebd.). Die Einbindung ist so-
mit exklusiv und gleichzeitig, z. B. durch Wahlen, auf die Form der Repräsentation und Delega-
tion beschränkt.
89 Die historische Entwicklung des Begriffes Extremismus reicht weiter zurück, als ich hier dar-
stellen kann. Die hier verwendete Begriffsfassung ist vor allem eine, die nach 1947 im Zusam-
menhang mit der Totalitarismustheorie populär und im demokratischen Verfassungsstaat als
2.7 Weitung des Blicks 99

lismus. Als politischer Begriff diente er vor allem dazu, die neue Linke (mit ihren
Gruppierungen sowie Aktivist*innen), als politisch Radikale zu kennzeichnen.
Die hiermit verknüpfte Kategorisierung erlaubte eine Kontrastierung des Rechts-
staats auf der einen mit den Radikalen auf der anderen Seite. Einen historischen
Scheitelpunkt der mit dieser Gegenüberstellung verbundenen Begrifflichkeiten
sieht beispielsweise Oppenhäuser im Radikalenerlass, der auch Extremismusbe-
schluss genannt wurde. Wesentlich hierbei ist, dass durch diesen Erlass die Grund-
lage geschaffen wurde, „Bewerber*innen für den öffentlichen Dienst vom Bun-
desamt für Verfassungsschutz“ (Oppenhäuser 2011: 39) überprüfen zu lassen. Der
Begriff wurde justiziabel, was z.B. zu Berufsverboten für eine Reihe von Akti-
vist*innen der neuen (und alten) Linken führte.90 In diesem Zusammenhang etab-
lierte sich z. B. in den jährlichen Berichten des Verfassungsschutzes das Wort des
politischen Extremismus als Kategorie zur Fassung politischer Orientierungen, die
als verfassungsfeindlich zu gelten haben. Zwei Tendenzen sind hiermit verbun-
den: Oppenhäuser verweist zum einen darauf, dass der Begriff Extremismus als
„juristische[r] Term der Verfassungsfeindlichkeit“ auf diesem Wege Einzug in
den „allgemeinen Sprachgebrauch“ gefunden habe (ebd.) sowie gleichzeitig ge-
heimdienstliches, polizeiliches und ordnungspolitisches Handeln der Politik aus-
richte und legitimiere. Zum anderen wurde diese Entwicklung durch eine Ausar-
beitung des Begriffes im Kontext der Sozialwissenschaften begleitet und der Be-
griff Extremismus als spezifischer Diskurs um Normalität auch im wissenschaft-
lichen Kontext etabliert.91 Im Kern geht es darum, dass mit der Polarität von links
und rechts gleichzeitig eine neutrale Mitte definiert wird, die sich selbst als Posi-
tion der Normalität versteht. Im Prozess des Definierens, was als abweichend, ext-
rem oder als politisch verächtlich zu gelten hat, formuliert sich das Normale als
„ein Bild gesellschaftlicher Ordnung“ und „legitimiert“ diese zugleich (vgl. Feus-
tel 2011: 118). Weil der Begriff Extremismus mit „seinen Konturen nichts prä-
zise“ bestimmen kann, „lässt er sich in der argumentativen Praxis breit gefächert
anwenden und provoziert Vorstellungen einer Ordnung, die auf einfache Weise
[...] gefährlich von ungefährlich“ (ebd.) zu unterscheiden vermag. Insofern ist der
Begriff des Extremismus Ausdruck einer spezifischen Form der Regulation von

Konzept der „wehrhaften Demokratie“ diskutiert wurde. Rechts und Links werden als Extremis-
men gleichgestellt und in Abgrenzung vom positiv gefassten demokratischen Verfassungsstaat
als dessen Gefährdung konstruiert (vgl. Fülberth 1997: 1208-1216).
90 Hierzu eine Anmerkung von Wolfgang Fritz Haug: „Politiken wie die der Berufsverbote kon-
trollieren den Zugang zu den ideologischen Apparaten“ (Haug 1993: 55). Insofern ist der Begriff
des Extremismus Ausdruck einer spezifischen Form zur Regulation von Herrschaft. Meine Be-
merkung zur „alten“ Linken verweist außerdem darauf, dass von Berufsverboten auch Mitglieder
der „alten“ KPD betroffen waren.
91 Prominent sind in diesem Zusammenhang Uwe Backes und Eckhard Jesse, die seit ca. 1989 das
„Jahrbuch Extremismus und Demokratie“ herausgeben (vgl. Oppenhäuser 2011: 40).
100 2 Normative Demokratietheorien

Herrschaft. In diesem Zusammenhang ist danach zu fragen, was mit dem Begriff
beherrscht werden soll. Rechtsextremismus als Ausdruck populistischer Politik
erzwingt nicht umstandslos Unterwerfung, sondern eröffnet ein Feld imaginärer
Teilhabe am Kollektiv der Normalität. Im Begriff ist Widersprüchliches vereint.
Problematisch ist z. B. eine mit dem Begriff einhergehende Unterscheidung von
„nützlichem“ und „gefährlichem“ Rassismus. In diesem Sinne wird Rassismus
zum aktiven Herrschaftsinstrument; mit Rassismus lässt sich Herrschaft legitimie-
ren. Etwas genauer: Rechtsextremismus ist eine Begriffskategorie, die es erlaubt,
Rassismus politisch „von oben“ zu gebrauchen und gleichzeitig den „von unten“
zu beschneiden, justiziabel zu machen sowie in „nützlichen“ und „gefährlichen“
zu unterscheiden. Der „nützliche“ wäre dann z. B. die Form politischer Kampag-
nen die auf bestimmte politische Interessen abzielen („Kinder statt Inder“); jedoch
rufen diese dabei auch immer Effekte hervor, die „gefährlich“ werden können und
beherrscht werden müssen. Rechtsextremismus ist in diesem Zusammenhang ein
Begriff, um diese Effekte politisch legitimiert zu begradigen und gleichzeitig an
„regulierenden“ Politiken, etwa im Zusammenhang mit Flüchtlingen oder Bevöl-
kerung, festhalten zu können, ohne diese Formen der Politik auf ihre rassistische
Praxis hinterfragen zu müssen. Im Kern unterstellt der Begriff Rechtsextremismus
klar abgrenzbare, geschlossene und starre Weltbilder mit zugehörigen Eigenschaf-
ten und entsprechenden Erkennungsmerkmalen, die das Wesen eines Individuums
ausmachen.

2.7.7 Dimensionen von Rassismus

Im Wissen um diese Problematik entwickelte sich z. B. in der Praxis „Mobiler


Beratung“ eine „Hilfskonstruktion“, die den Rechtsextremismus anhand seiner
konstituierenden Diskurse thematisierte. Rechtsextremismus wurde als eine Ver-
zahnung aus drei verschiedenen Dimensionen beschrieben. Diese sind die ideolo-
gisch-politische: Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus; die strukturelle:
Organisationsformen wie Parteien und Kameradschaften; und die kulturell-ästhe-
tische: z. B. Bild- und Musiksprache (vgl. Affolderbach/Höppner 2013: 77 f.).
Dies war der Versuch, verschiedene Erscheinungsformen, die im Begriff Rechts-
extremismus aufgelöst sind, sowie ihre Überschneidungen sichtbar machen und
entsprechend thematisieren zu können.92 Allerdings ist in dieser Position das skiz-
zierte Dilemma der Polarisierung von „Normalität“ und „Extrem“ nicht aufgeho-
ben, sondern wird im Gegenteil durch die Bereitstellung eines differenzierteren
Musters der Kategorisierung – erweiternd – reproduziert. Beispielhaft steht hierfür
das Stichwort Rassismus, was schon in seiner (unkritischen) „Übernahme des

92 Weitere Dimensionen könnten hinzugefügt werden, z. B. Sexismus, Gewalt.


2.7 Weitung des Blicks 101

Ausdrucks [...] implizit der Überzeugung Raum [gibt], dass Rassen realiter exis-
tieren oder richtig erfasst werden könnten, oder besagt bestenfalls, dass die Ras-
senidee unbesehen akzeptiert wird“ (Miles 1991: 97).
An dieser Stelle ist deutlich zu machen, dass in den vergangenen Jahren der
Diskurs um Rassismus häufig von einer Biologisierung von Menschengruppen in
eine Naturalisierung von Kultur transformiert worden ist. Zum Beispiel wird
„Flüchtlingen und Asylsuchenden [...] attestiert, dass die einmal erlebte Kultura-
lisierung nicht mehr aufgehoben werden kann, woraus die Verdinglichung des
Menschen zu bloßen Kulturträgern folgt“ (Bauer 2015: 29). An die Stelle „biolo-
gistischer Modelle“ tritt ein reaktionärer Kulturalismus; er hat das „Ziel, stigma-
tisierte (fremde) Kulturen einzudämmen und die eigene [Kultur; F.A.] zu überhö-
hen“ (ebd.: 30). Die hierauf bauende „‚[i]dentitäre Bewegung‘ setzt auf den soge-
nannten Ethnopluralismus – die Übereinstimmung von Kultur und Raum – und
knüpft damit an völkische Vorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts an“
(ebd.: 30). Die Folge ist eine Hierarchisierung von Kulturen. Ausdruck dieser Po-
sition ist z. B. auch das Stichwort der Leitkultur, das in widersprüchlicher Weise
eine Hierarchisierung von Kulturen mit der Idee der Einpassung des Fremden ver-
knüpft. Kultur erscheint in diesem Zusammenhang veränderlich; als „Fremde“ hat
sie sich aber die Vorgaben einer leitenden Idee zu eigen zu machen und sich ent-
sprechend selbstformend in eine hierarchische Ordnung zu fügen. Vom reaktionä-
ren kann der konservative Kulturalismus unterschieden werden. Im Kern geht es
hierbei darum, „Kulturen in ihrer Eigenständigkeit“ anzuerkennen und als gleich-
wertig anzusehen; „das Gebot der Eindämmung wird vom Wunsch der Statik ver-
drängt“ (ebd.: 32). Die Äußerungsform des konservativen Kulturalismus sieht
Bauer beispielsweise im „Multikulturalismus“, bei dem „die kulturelle Eigenstän-
digkeit bewahrt“ wird und entsprechend vielfältige Ausdrucksformen als „Berei-
cherung des Stadtbezirks oder [der; F.A.] Region“ gelten (ebd.). Zugespitzt wird
diese Position im liberalen Kulturalismus, der dazu ermutigt, „die jeweilige Kultur
bei Beibehaltung zentraler Eigenschaften im Sinne eines diversity management
produktiv zu nutzen“ (ebd.). Für Rassismus und Kulturalismus ist eine spezifische
Form der Herstellung von Zusammenhängen kennzeichnend. Rassismus und Kul-
turalismus naturalisieren gesellschaftliche Zusammenhänge und organisieren so
die „soziale Welt“ durch „ethnische Teilungen des Sozialen“ (Scherschel 2006:
79). Die hierin liegende symbolische Macht und ihr „symbolischer Klassifikati-
onsmodus“ überschneiden sich mit einer „Ökonomisierungsfunktion des Rassis-
mus“ (ebd.). Diese besteht darin, dass in der Verfügung über Rassismus und Kul-
turalismus als symbolische Ressourcen die Möglichkeiten von Grenzziehungen
enthalten sind. So wird der Zugang zu und Ausschluss von „materieller und sym-
bolischer Teilhabe“ (ebd.) an gesellschaftlichen Ressourcen und somit der Ein- bzw.
Ausschluss gesellschaftlicher Gruppen geregelt (vgl. auch Miles 1991: 93f.). Hier-
102 2 Normative Demokratietheorien

mit verknüpfen sich zwei Dimensionen: Zum einen können Rassismus und Kultur-
alismus als Formen der Vergesellschaftung „von oben“ gesehen werden, bei der z.
B. Staatsbürgerschaft oder Arbeitsmarkt (mit den entsprechenden rechtlichen Ver-
dichtungen) als gesellschaftliche (territoriale, lokale) Strukturelemente entspre-
chend selektiv wirken.93 Gleichzeitig können Rassismus und Kulturalismus auch
Formen sein „in der sozialer Protest in Entfremdung steckenbleibt“ (vgl. Haug
1999: 120) und vor diesem Hintergrund eine an Ausschluss knüpfende Vergesell-
schaftung „von unten“ hervorbringen. Letztere „kann den Herrschenden Sorge be-
reiten, erst recht seine politische Verwertung durch oppositionelle Machtanwär-
ter“ (ebd.: 121). Sich widersprüchlich gegenüberstehend sind Rassismus und
Kulturalismus „von oben“ und Rassismus und Kulturalismus als entfremdeter
Protest „von unten“ ineinandergreifend Funktionsbedingung gesellschaftlicher
Herrschaft, sowie in ihrer Form und Färbung umkämpft. Einerseits bieten sie
das Material zur „politischen Machtgenerierung“ (ebd.). Andererseits vernichtet
„Kapitalismus [...] beständig herkömmliche Unterschiede und schafft neue“
(ebd.). Die hieraus resultierenden Konflikte mit ihren Krisen sieht Haug als
„Aufschrei der sozial getretenen Kreatur“, der „zum Hass-Schrei werden kann“
(ebd.). Dieser letzte Gedanke ist mit einer weiteren Überlegung anzureichern.
Im bis hier skizzierten Bild ist Rassismus als ideologisch-kultureller Zusammen-
hang bzw. als Form ideologischer Vergesellschaftung beschrieben worden. Ras-
sismus kann somit strategisches Mittel von Herrschaft oder Ausdruck einer ideo-
logischen Bearbeitung gesellschaftlicher Widersprüche sein.94 Unbestritten ist
dies auch so; allerdings kann dabei übersehen werden, dass Rassismus für ein-
zelne gesellschaftliche Gruppen mehr ist, sie „tatsächlich rassistisch“ sind (De-
mirovic 1992: 19).
Wie Alex Demirovic hervorhebt, ist es so, „dass es der Lebensweise des Bür-
gertums immanente Tendenzen gibt, die verbunden sind mit einer Orientierung an
guter Abstammung, der Reinhaltung des Blutes, der hohen Intelligenz und Kultur,
Tendenzen, die zu biopolitischen Maßnahmen führen, mit denen die organische
Zusammensetzung der Bevölkerung“ (ebd.: 18) reguliert werden soll. Vor diesem

93 Vgl. Terkessidis (2004). Er skizziert Rassismus als ein spezifisches Ungleichheitsverhältnis und
beschreibt dieses anhand „des unterdrückten Wissens“ (ebd.: 90) aus der Perspektive von Be-
troffenen.
94 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Rassismus und seine Konstruktionsweise
von Rassen dem Kapitalismus nicht als „funktionales Element“ entspringt. Historisch gewach-
sen stellt Rassismus ein eigenes gesellschaftliches Verhältnis dar. In diesem Zusammenhang
besteht die „Wirksamkeit von Rassenkonstruktionen und Rassismus“ in „ihrer Verknüpfung mit
der Gesamtheit der Verhältnisse innerhalb historisch spezifischer Gesellschaftsformationen“
(Miles 1991: 131). Dies heißt: „Rassismus hat nicht nur unterschiedliche Formen angenommen,
sondern ist auch mit ökonomischen und politischen Verhältnissen in kapitalistischen und nicht-
kapitalistischen Gesellschaftsformationen auf je unterschiedliche Art und Weise verknüpft wor-
den“ (ebd.).
2.7 Weitung des Blicks 103

Hintergrund ist den skizzierten ideologisch-kulturellen Mustern von Rassismus


die „biologistische Argumentationslinie“ (ebd.: 33) zur Seite zu stellen. Demiro-
vic verweist auf Positionen, die beispielsweise für sich in Anspruch nehmen, „mit
den Mitteln der Gentechnologie eine Biopolitik zu verfolgen, die nicht nur min-
derwertiges und fremdes genetisches Material aus dem Genpool eines Volkes aus-
schneidet, sondern auch“ daran interessiert ist, „durch gezielte genetische Selek-
tion“ den reinen „Europäer“ zu züchten (vgl. ebd.). Die Aufmerksamkeit ist somit
auf biopolitische Vorstellungen zur Regulation von Bevölkerung gerichtet. Diese
Perspektive ist deshalb von Bedeutung, da im Zusammenhang mit dem Neolibe-
ralismus eine neue Form gesellschaftlicher Regulationsweise aufgerufen ist, die
nach einer entsprechenden „Regulation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse“
(ebd.) verlangt und in der Verknüpfung mit Rassismus spezifische Momente die-
ser Naturverhältnisse hervorbringt. Zwei Dimensionen sind hierbei hervorzuhe-
ben: Eine erste ist als Diskurs um die „demografische Zusammensetzung einer
Bevölkerung“ (ebd.) zu fassen. Demirovic verweist darauf, dass sich im kapitalis-
tischen Akkumulationsprozess „innerhalb eines Nationalstaates eine organische
Produktionsstruktur“ herausbilde, mit der eine spezifische Form der Arbeitstei-
lung einhergehe (vgl. ebd.). Entsprechend werde Bevölkerung nach „sozialer Stel-
lung, Beruf oder Regionen“ gegliedert, was unter kapitalistischen Bedingungen
prozesshaft „traditions- und marktvermittelt“ erfolge und in der Folge zur „Frei-
setzung großer Bevölkerungsgruppen“ führe (ebd.). Eine zweite Dimension zeige
sich im „Fall von Frauen und Arbeitsimmigranten“; hier gäbe es „spezifische
Praktiken „der Ausgrenzung wie Privatisierung oder nationalchauvinistische
Grenzziehung“ (ebd.). Demirovic sieht „im letzteren Fall [...] die zugrundelie-
gende Erfahrung für eine rassistische Artikulation nicht [in] der eigenen Verelen-
dung, sondern [in] einer Relation zu und [dem] eines Vergleichs mit Individuen
und Gruppen, die mit ihrer bloßen Anwesenheit ein eingeschliffenes Arrangement
zwischen Herrschenden und Beherrschten herausfordern“ (ebd.) würden. Darüber
hinaus beteilige sich Wissenschaft steuernd an Prozessen einer marktkonformen
bevölkerungspolitischen Ausrichtung von Bevölkerungsgruppen und deren Aus-
balancierung. Mit „Formen der statistischen Beobachtung [...], Sozialhygiene, So-
zialmedizin, Gentechnologie, Sexuallehren“ werde versucht, das „private“ Indivi-
duum entsprechend zu vermessen und in den Prozess der Formung von Bevölke-
rung aktiv einzubeziehen (ebd.). Die Grenzen zu „Rassismus sind fließend“ und
versprechen, „den Prozess entschieden und mit rigiden Mitteln (Einschließung,
Ausgrenzung, Vernichtung) steuern zu können“ (ebd.). In diesem Sinne kann Ras-
sismus „als ein Programm verstanden werden, das die konservative Politik einer
etatistisch-liberalen Kontrolle des generativen Verhaltens [...] staatsinterventio-
nistisch radikalisieren möchte“ (ebd.: 34). Ein zweiter Aspekt einer biopolitischen
Ausrichtung sei der Versuch der Kontrolle von Sexualität. Wichtig sei in diesem
104 2 Normative Demokratietheorien

Zusammenhang das „familial-generative Verhalten“ und dessen Absicherung


durch „soziale Endogamie“, um „Erwartungen über die zukünftigen Orientierun-
gen nachfolgender Generationen zu stabilisieren“ sowie gleichzeitig „allen ande-
ren der gleichen Generation jeweils ein Bild über den Grad der sozialen Konfor-
mität“ zu vermitteln (vgl. ebd.). Sinn sei die Stabilisierung der sozialen Zusam-
menhänge und des „sozialen Konsens“ (ebd.). Dieses Muster durchziehe in unter-
schiedlichen Formen „alle sozialen Klassen“ und führe zu einer rassistischen Zu-
spitzung beispielsweise in den Stichworten der „Rassen- und Blutsschande“
(ebd.). Diesen Gedanken führt Demirovic weiter aus: Die „sozialen Kollektive be-
obachten [...] sorgfältig das generative Verhalten ihrer Mitglieder und entwickeln
Normen, an denen sie sich faktisch orientieren“ (ebd.). Im Alltäglichen formt sich
Rassismus als „Alltagseinstellung aus, indem er Orientierungsmaßstäbe für ein
richtiges Heiratsverhalten zur Verfügung stellt und dessen Kontrolle verspricht“
(ebd.). In diesem Sinne ist Rassismus nicht nur Ausdruck einer „imaginären Prob-
lemlösung“, sondern wird zum „Programm einer realen [...] bevölkerungspoliti-
schen Lösung“ (ebd.).
Verallgemeinernd lassen sich aus der hier skizzierten Vielschichtigkeit von
Rassismus drei Punkte zusammenfassen: Erstens gibt es nicht den Rassismus, son-
dern mit der hier deutlich gemachten Vielschichtigkeit ist von Rassismen zu spre-
chen.95 Kennzeichnend sind wiederum deren widersprüchliche und mitunter ge-
genläufige Interessenlagen. Darüber hinaus verändern sich rassistische Vorstel-
lungen „nicht historisch konstant“, sondern in Verknüpfung „mit unterschiedli-
chen Klasseninteressen und -strategien, unterschiedlichen Formen des Widerstan-
des und unterschiedlichen materiellen und kulturellen Kontexten“ (Miles 1991:
175). Ein Begriff wie Rechtsextremismus und ein rein ökonomisch-funktionaler
Begriff von Rassismus beschneiden die Vielschichtigkeit und kanalisieren sie ein-
dimensional. Zweitens ist im Anschluss an Robert Miles hervorzuheben, dass

95 Konsequenterweise, aber aus Platzgründen kann dies hier nicht weiter ausgeführt werden, ist auf
eine Differenzierung von Robert Miles hinzuweisen. Er unterscheidet zwischen Rassismus und
Rassenkonstruktion. Rassenkonstruktion bezeichnet dabei den Prozess, biologischen Merkma-
len von Menschen soziale Bedeutungen zuzuschreiben, sie so zu kategorisieren und in „diffe-
renzierte gesellschaftliche Gruppen“ (Miles 1991: 100) zu teilen. In der Definition der anderen
definiert sich gleichzeitig das davon zu unterscheidende Selbst. Als analytischer Begriff dient
Rassenkonstruktion dazu, Praktiken und Prozesse der Rassifizierung beschreiben zu können.
Rassismus bezeichnet bei Miles einen vielschichtigen ideologischen Diskurs einer spezifischen
Form der Eingrenzungs- und Ausgrenzungspraxis, deren Kern „gedanklich bestimmte beobach-
tete Regelmäßigkeiten widerspiegelt und eine kausale Interpretation konstruiert, die als mit die-
sen Regelmäßigkeiten übereinstimmend dargestellt werden kann und zur Lösung wahrgenom-
mener Probleme dient“ (ebd.: 107). Insofern ist Rassismus ein „spezifische[r] Fall eines umfas-
senderen (deskriptiven) Prozesses der Rassenkonstruktion“ (ebd.: 12). Deswegen ist Rassismus
als eigenständige Form der Ausgrenzung von anderen Formen der Ausgrenzung analytisch zu
unterscheiden.
2.7 Weitung des Blicks 105

Ideologien und die ideologische Ausformung von Rassismus nicht einfach von
den Menschen „aufgenommen“ werden, sondern als „Reaktion“ und „Konstruk-
tion“ in „Relation“ zu ihren „Lebensumständen“ entspringt, um „die Welt sinnhaft
zu begreifen“ (vgl. ebd.: 172 f.). Auch in diesem Zusammenhang ist Widersprüch-
liches zu vermerken. Rassismus kann demnach Ausdruck einer Bewältigung von
Widersprüchen, politisch – strategisch kalkulierte Größe sowie Ausdruck einer
elitären Weltsicht sein.96 Anknüpfend hieran ist in Orientierung an Antonio
Gramsci festzuhalten, dass „jede soziale Schicht“ ihre „eigenen Methoden“ hat,
ihre „Denkweisen“ zu formen und einen entsprechend widersprüchlichen Alltags-
verstand hervorzubringen (vgl. Hirschfeld 2015b: 99). Die skizzierten Rassismen
wären somit auch Ausdruck verschiedener Äußerungsformen und Praxen des All-
tagsverstandes. Hierbei kann davon ausgegangen werden, dass die unterschiedli-
chen Rassismen gleichzeitig in verschiedener Art und Weise miteinander verzahnt
oder überschnitten sind oder nebeneinander bestehen sowie sich gegenseitig wi-
dersprechende Klassenpositionen oder Zugehörigkeiten zu spezifischen sozialen
Schichten und Gruppen markieren. Drittens: „[D]ie Wirkungsweise des Rassis-
mus“ ist „immer mit den bestehenden politisch-ökonomischen Verhältnissen und
mit anderen Ideologien verknüpft“, was die „Subjekte und Objekte von Rassismus
in ein umfassendes Netz von gesellschaftlichen Verhältnissen“ einbindet (vgl. Mi-
les 1991: 173). Rassismus ist also immer in einem je spezifischen Kontext gesell-
schaftlicher Verhältnisse zu betrachten. Dies bedeutet auch, dass die mit Rassis-
mus „verbundenen Ausgrenzungspraktiken“ ihre eigenen „Besonderheiten“ haben
und zu „besonderen, gewissermaßen ,exklusiven‘ Erfahrungen“ (ebd.: 174) füh-
ren. Gemeinsam ist den Rassismen demnach die Form einer auf Ausschluss beru-
henden Vergesellschaftung, deren „materielle[s] Resultat, die Tatsache der Aus-
grenzung“ (ebd.), mit anderen (auch gerade über die skizzierten Widersprüche
hinweg) geteilt werden kann. Ein weiterer Effekt ist, dass in der Kennzeichnung
des anderen durch körperliche und kulturelle Differenzfaktoren sowie Eigenschaf-
ten sich hiervon absetzend das Selbst und die Zugehörigkeit zu einer spezifischen
Gruppe definieren. In der Verknüpfung und Überschneidung dieser beiden Mo-
mente liegt die hegemoniale und ausschließende Kraft von Rassismus.

96 Im Anschluss an Antonio Gramsci ist dieser Gedanke weiterzuführen und die Weltsicht als Welt-
auffassung zu begreifen, die nicht nur eine Gedankenwelt widerspiegelt, sondern als „praktische
Handlung“ vollzogen wird (vgl. Hirschfeld 2013 und 2015b).
3 Öffentlichkeit

Die Betrachtung von Öffentlichkeit und damit einhergehender theoretischer Dis-


kurse eröffnet ein weites Feld unterschiedlichster Begriffsfassungen und Syno-
nyme, die sich etwa in Gegensätzen wie „öffentlich und privat“, „öffentlicher
Raum und Privatsphäre“, „öffentliche Meinung“ bzw. „nichtöffentlich und ge-
heim“ sowie „bürgerlicher Öffentlichkeit sowie Gegenöffentlichkeit“ widerspie-
geln (vgl. Peters 2007: 55).
Die in den angedeuteten Gegensätzen gefassten Begrifflichkeiten gelten als
„Leitbegriffe“ und sind „in Konzeptionen sozialer und politischer Ordnung einge-
bettet“, die sich seit dem 18. Jahrhundert als „politische Kultur westlicher Gesell-
schaften herausgebildet“ haben (vgl. ebd.).

3.1 Begriffsgeschichte Öffentlichkeit

Öffentlichkeit als Begriff im deutschen Sprachgebrauch bildete sich zum Ende des
18. Jahrhunderts heraus und markiert sprachlich den Wandel des Adjektivs „öf-
fentlich“, welches im Mittelalter in einer doppelten Bedeutung, einerseits „visu-
ell“ zur Markierung des Offensichtlichen, deutlich Sichtbaren und andererseits
„moralisch“ im Sinne von „redlich, wahr, rechtschaffen, rechtmäßig“, gebräuch-
lich war (Hölscher zitiert nach Liesegang 2004: 12). In der sprachlichen Verände-
rung vom Adjektiv hin zum Substantiv verdeutlicht sich ein gesellschaftlicher
Wandel im Sinne der Herausbildung bürgerlicher Gesellschaft und eines Herr-
schaftsanspruchs des Bürgertums.97 Wie Lucian Hölscher hervorhebt, sei diese
Entwicklung Ausdruck eines Verständniswandels, welcher „seit dem späten 18.
Jahrhundert [...] politische Handlungseinheiten [...] als Gesellschaften mit einer
kollektiven politischen Willensbildung“ auffasste, „die einer internen politischen
Öffentlichkeit bedürfen“ (1979: 137). Als Substantiv ist der Begriff der Öffent-
lichkeit deshalb auch Ausdruck einer historischen Entwicklung und strukturellen
Veränderung von Staatlichkeit, die als Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft
in einer Gegenüberstellung von Staat und Staatsbürgern, einhergehend mit der
Herausbildung politischer sowie institutionalisierter Kommunikationsstrukturen,

97 Ausführlich zur Begriffsgeschichte und ihrer Bindung an eine historisch-gesellschaftliche Ent-


wicklung auch Hölscher (1979); Brandt (1995: 394-400); Kleinsteuber (2010: 674-675).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_4
108 3 Öffentlichkeit

erkennbar wird.98 Diesen Prozess unterstreicht auch Jürgen Habermas und macht
deutlich, dass sich mit der Entwicklung des frühkapitalistischen „Waren- und Han-
delsverkehr[s]“ ([1962] 1990: 69 f.) der „moderne[...] Staat herausbilde“ (ebd.:
73) und in diesem Zusammenhang auch das Politische und Soziale „auseinander-
treten“ (ebd.: 77) würde.99 Entsprechend verändere sich der bis dahin gültige „alte
Kommunikationsbereich der repräsentativen Öffentlichkeit“ (ebd.: 72) hin zur
„Öffentlichkeit im modernen Sinne“ und bilde gleichzeitig die „Sphäre der öffent-
lichen Gewalt“ heraus (vgl. ebd.: 74). Das Stichwort „öffentlich“ stehe dabei als
Synonym für „staatlich“ (vgl. ebd.: 75) und markiere als „öffentliche Gewalt ein
greifbares Gegenüber für diejenigen, die ihr bloß unterworfen sind und an ihr zu-
nächst nur negativ ihre Bestimmung finden“ (ebd.: 74). Für den historischen Pro-
zess sei deshalb von Bedeutung, dass „die dem Staat gegenübertretende Gesell-
schaft einerseits von öffentlicher Gewalt einen privaten Bereich deutlich abgrenzt,
andererseits aber die Reproduktion des Lebens über die Schranken privater Haus-
gewalt hinaus zu einer Angelegenheit öffentlichen Interesses erhebt“ (Habermas
1990: 83). Eine hiermit verknüpfte Entwicklung gesellschaftlicher Verwaltung
dieses Zusammenhangs in Form der „öffentlichen Gewalt“ fordere „die Kritik des
räsonierenden Publikums heraus“ und werde so zur „öffentlichen Angelegenheit“
(ebd.). Ist in diesem Sinne eine (institutionelle) Verwaltung von Gesellschaft zur
„öffentlichen Angelegenheit“ geworden und hat sie gleichzeitig die Kritik des
Publikums herausgefordert, findet Letzteres ein Medium seiner Kritik in der He-

98 Vgl. auch Habermas (1973: 61 f).


99 Jürgen Habermas verweist auf eine prozesshafte Entwicklung einer Zersetzung „repräsentativer
Öffentlichkeit“, an die „feudale Gewalten, Kirche, Fürstentum und Herrenstand“ gebunden ge-
wesen seien: „[S]ie zerfallen am Ende in private Elemente auf der einen, in öffentliche auf der
anderen Seite“ (1990: 66). Beispielsweise habe sich eine Auftrennung „fürstliche[r] Gewalt“ in
die „des öffentlichen Budgets“ und des „privaten Hausgut[s] des Landesherren“ (vgl. ebd.: 67)
entwickelt. Mit der Herausbildung von „Bürokratie und Militär (zum Teil auch mit der Gerichts-
barkeit) objektivierte sich die Institutionen der öffentlichen Gewalt gegenüber der nach und nach
privatisierten Sphäre des Hofes“ (ebd.). In diesem Prozess gingen zum einen „aus den Ständen
[...] die herrschaftlichen Elemente“ hervor; sie bildeten sich zu „Organen der öffentlichen Ge-
walt, zum Parlament (und zum anderen Teil der Gerichtsbarkeit)“ (ebd.). Gleichzeitig entwickel-
ten sich die „berufsständischen Elemente [...] zur Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, die dem
Staat als der genuine Bereich privater Autonomie gegenüberstehen wird“ (vgl. ebd.: 67). Vgl.
hierzu auch Habermas (1990: 86 f.) und grundsätzlich Hölscher (1979), Brandt (1995) und
Kleinsteuber (2010). Der angedeutete Prozess ist widersprüchlich und von Ausschlüssen ge-
kennzeichnet. Nicht alle Menschen haben den gleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen
und ihrer staatlichen Institutionalisierung, da nicht alle Menschen in diesem Entwicklungspro-
zess im „politischen Sinne“ als Bürger gelten (vgl. Markner 1995: 384, oder grundsätzlicher
Kofler 1992 mit seinem Abriss zur Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft). Eine grundle-
gende Rekonstruktion der Überlegungen von Habermas in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“
kann in dieser Arbeit nicht vorgenommen werden. Eine kritische Auseinandersetzung damit lie-
fern z. B. Torsten Liesegang (2004) oder Alex Demirovic (1997), auf die hier punktuell Bezug
genommen wird.
3.1 Begriffsgeschichte Öffentlichkeit 109

rausbildung der Presse (vgl. ebd.: 83). Entsprechend sieht Habermas die Entste-
hung eines neuen und für die bürgerliche Gesellschaft wesentlichen „Forums“,
„auf dem die zum Publikum versammelten Privatleute sich anschicken, die öffent-
liche Gewalt zur Legitimation vor der öffentlichen Meinung zu zwingen“ (ebd.:
84). Öffentliche Meinung steht hierbei als Synonym für die Kritik an öffentlicher
Gewalt. Grundsätzlich skizziert Habermas in seinem Buch „Strukturwandel der
Öffentlichkeit“ die Entwicklung eines „Idealtypus“ (1990: 12) sowie Dimensio-
nen des „Zerfalls“ (ebd.: 267 f.) von „bürgerlicher Öffentlichkeit“ (vgl. ebd.). Wie
schon angedeutet, sieht Habermas in der Trennung des Öffentlichen vom Privaten
ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft. In diesem Zusammen-
hang verweist Habermas darauf, dass „die Öffentlichkeit der zum Publikum ver-
sammelten Privatleute, die den Staat mit Bedürfnissen der Gesellschaft vermittelt,
selbst zum privaten Bereich zählt“ (ebd.: 268). In „der Verschränkung des öffent-
lichen mit dem privaten Bereich“ aber, werde dieses „Modell unanwendbar“ da
eine „repolitisierte Sozialsphäre“ entstehe, die nicht „unter Kategorien des Öffent-
lichen oder Privaten“ subsumiert werden könne (vgl. ebd.). Da sich hierbei „ver-
staatlichte Bereiche der Gesellschaft und die vergesellschafteten Bereiche des
Staates ohne Vermittlung politisch räsonierender Privatleute“ durchdringen wür-
den, werde das Publikum durch „andere Institutionen weitgehend entlastet“ (ebd.).
Es handelt sich hierbei um Institutionen wie „Verbände, in denen sich die kollektiv
organisierten Privatinteressen unmittelbar Gestalt zu geben suchen“, und „Par-
teien, die sich, mit Organen der öffentlichen Gewalt zusammengewachsen, gleich-
sam über Öffentlichkeit etablieren, deren Instrumente sie einst waren“ (ebd.). Hie-
raus entstehe in der gegenwärtigen Gesellschaft die Situation, dass sich einerseits
„der Prozess des politisch relevanten Machtvollzugs und Machtausgleichs [...] di-
rekt zwischen den privaten Verwaltungen, den Verbänden, den Parteien und der
öffentlichen Verwaltung“ vollziehe und dabei gleichzeitig „die Privatleute [...],
soweit sie Lohn- oder Gehaltsempfänger sind, ihre öffentlich relevanten Ansprü-
che kollektiv vertreten“ lassen müssen (vgl. ebd.: 268 f.). Ursprünglich sei histo-
risch im „Verhältnis der literarischen zur politischen Öffentlichkeit“ die „Identifi-
kation der Eigentümer mit ,Menschen‘ schlechthin konstitutiv“ gewesen, „ohne
dass darum beide ineinander aufgegangen wären“ (ebd.: 269). Im Unterschied
hierzu sei Öffentlichkeit in der Gegenwart „konsumkulturell entpolitisiert“ (ebd.).
In ähnlicher Weise argumentiert Adorno, wenn er schreibt, dass sich Öffent-
lichkeit in der Gegenwart „von den lebendigen Subjekten“ abspalte, „welche die
Substanz des Begriffes von Öffentlichkeit“ ausmachten (vgl. Adorno 2003: 534).
Mit der Institutionalisierung von Öffentlichkeit werde „ein gesellschaftlicher Teil-
sektor monopolisiert“ und durch eigene Interessenlagen geformt, was dazu führe,
dass sich „der Begriff der Öffentlichkeit [...] von den Bevölkerungen auf die In-
stitutionen“ verschiebt (vgl. ebd.: 533). In diesem Zusammenhang habe sich „das
110 3 Öffentlichkeit

Recht der Menschen auf Öffentlichkeit“ verkehrt „in ihre Belieferung mit Öffent-
lichkeit“ (ebd.: 534). Die Menschen würden entmündigt; sie würden von Subjek-
ten zu Objekten der Öffentlichkeit (vgl. ebd.). Adorno skizziert dies als ein zent-
rales Problem, welches Habermas als den Zerfall der Öffentlichkeit gekennzeich-
net habe. Allerdings stelle sich dabei die Frage, ob man historisch überhaupt von
einer funktionierenden Öffentlichkeit ausgehen könne. Und Adorno schreibt:
„Vielleicht war Öffentlichkeit in Wahrheit überhaupt nie verwirklicht“ (ebd.).
Auch Liesegang widerspricht aus begriffsgeschichtlicher Sicht der Überzeugung,
Öffentlichkeit könne, wie bei Habermas, historisch als „homogen, gewachsen[e]“
Struktur interpretiert werden (vgl. Liesegang 2004: 238).100 Vielmehr zeige sich
in der Herausbildung des Begriffes Öffentlichkeit ein widersprüchlicher Prozess
konkurrierender Theorien, verknüpft mit konkurrierenden Öffentlichkeiten und
entsprechenden Mustern ausschließender Kommunikation „dominierender Öf-
fentlichkeit“ vom Mittelalter bis zur Gegenwart (vgl. ebd.: 238). Öffentlichkeit
selbst ist in der Folge ein umkämpfter, widersprüchlicher Deutungs- und Hand-
lungsbereich bis in die Gegenwart.

3.2 Öffentlichkeitskonstruktion in der Gegenwart

Anknüpfend an die vorangestellten Überlegungen (insbesondere hier die Perspek-


tive von Jürgen Habermas in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“) ist für den Ge-
genwartsdiskurs vor allem eine normative Bestimmung von Öffentlichkeit prä-
gend. In diesem Verständnis fungiert Öffentlichkeit allgemein als Feld für „Ver-
mittlungsprozesse“ und soll gleichzeitig die Funktion einer Vermittlung von
„Sinngehalten“ zwischen Individuum und Gesellschaft erfüllen (vgl. Liesegang
2004: 15).101 Entsprechend wird die Sinnbestimmung von Öffentlichkeit als Zu-
sammenhang von drei Bedeutungsebenen verstanden.102 Bernhard Peters sieht hie-
rin die Grundlage einer „symbolischen Struktur moderner Sozialordnungen“
(2007: 55).103 Gemeint sind als erste Dimension institutionalisierte Handlungs-

100 Jürgen Habermas vertritt in seinem Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ den Anspruch, die
Entwicklung eines „Idealtypus von bürgerlicher Öffentlichkeit“ (1990: 12) nachzuzeichnen sowie
deren Zerfall nachzuweisen (vgl. ebd.: 267 f.). Ursprünglich sei im „Verhältnis der literarischen zur
politischen Öffentlichkeit“ die „Identifikation der Eigentümer mit ,Menschen‘ schlechthin konsti-
tutiv“ gewesen, „ohne dass darum beide ineinander aufgegangen wären“ (ebd.: 269). Im Unter-
schied hierzu sei Öffentlichkeit in der Gegenwart „konsumkulturell entpolitisiert“ (ebd.).
101 Vgl. auch Rucht (2010).
102 Vgl. grundsätzlich hierzu Peters (2007).
103 Ich beziehe mich hier im Folgenden auf einen Überblick normativer Vorstellungen von Öffent-
lichkeit die Bernhard Peters in seinem Aufsatz „Der Sinn von Öffentlichkeit“ zusammengetra-
gen hat (vgl. Peters 2007). Die Perspektive von Peters bezieht u. a. die Überlegungen von Jürgen
3.2 Öffentlichkeitskonstruktion in der Gegenwart 111

sphären und Räume, deren zentrales Kennzeichen die Trennung des Privaten vom
Öffentlichen sei. In diesem Zusammenhang versteht Peters „institutionalisierte
Handlungssphären“ als „Grenzziehungen“, bei denen die Stichworte privat und
öffentlich auf Handlungen verweisen, die sich auf „deren institutionelle Rahmen-
bedingungen (Rollen beziehungsweise Positionen, Kompetenzen) wie auch auf
sachliche Handlungsbedingungen (Verfügungen und Ressourcen) beziehen“
(ebd.: 56). Die Vorstellung vom Privaten sei hierbei vor allem eine Unterschei-
dung von „Privateigentum oder öffentlichem Eigentum“, welches jeweils entwe-
der „privater oder kollektiver Kontrolle unterlieg[t]“ (ebd.). Ist in diesem Zusam-
menhang von „Kollektiv [...] als Öffentlichkeit die Rede“, sei damit „die moderne
rechtlich-politische, staatliche Gemeinschaft“ gemeint (ebd.). Die Stichworte
„Kommunikation und Wissen“ bezeichnen eine zweite Dimension von Öffentlich-
keit (ebd.: 57). Wie Peters hervorhebt, verweise diese Dimension vor allem auf
jene Grenzziehung zwischen privat und öffentlich, bei der das Private in einer As-
soziation mit „[v]ertraulich“ oder „[g]eheim“ solche „Sachverhalte oder Aktivitä-
ten“ bezeichne, welche der allgemeinen Beobachtung entzogen und deren „Wis-
sensbestände oder Kommunikationen mit eingeschränkten Zugangsbedingungen“
belegt seien (vgl. ebd.: 57). Unterscheidend hiervon stehe das Öffentliche für jene
„Sachverhalte, Ereignisse oder Aktivitäten“, welche „jeder beobachten oder von
denen jeder wissen kann“ (ebd.) In diesem Sinne sei das Öffentliche durch den
freien Zugang zu „Wissensbeständen [...] und Kommunikationen, die jeder ver-
folgen oder an denen jeder beteiligt werden kann“ gekennzeichnet (ebd.). Die Be-
stimmung und Deutung der damit verbundenen Grenzen sei entsprechend um-
kämpft. Grundsätzlich sieht Peters in dieser Skizze zwei Sinnbestimmungen von
Öffentlichkeit enthalten, die sich wiederum von einer dritten Bedeutungsebene
unterscheiden. Öffentlichkeit könne erstens als ein Zusammenhang zur Vermitt-
lung gesellschaftlicher „Angelegenheiten und Aktivitäten“ verstanden werden,
„die Gegenstand organisierter kollektiver Verantwortlichkeiten und Entscheidun-
gen sind“ (ebd.: 58). Zweitens könne deshalb Öffentlichkeit als eine „soziale
Handlungssphäre“ interpretiert werden, „die mehr oder weniger frei zugänglich ist
und in der soziale Akteure sich an ein unabgeschlossenes Publikum wenden oder
jedenfalls der Beobachtung durch ein solches Publikum ausgesetzt sind“ (ebd.).
Diese beiden Sinnbestimmungen von Öffentlichkeit unterscheiden sich einerseits
von einer dritten Bedeutungsebene und sind gleichzeitig in dieser selbst aufgeho-
ben. Gemeint ist die Vorstellung eines normativen Modells, welches als „Öffent-
lichkeit im emphatischen Sinne“ umrissen werden könne (ebd.). In dieser Vorstel-
lung wird Öffentlichkeit als „eine Art Kollektiv“ verstanden, welches „auf einer
bestimmten Kommunikationsstruktur beruht [...] oder eine Sphäre kommunikati-

Habermas zur Öffentlichkeit verallgemeinernd mit ein, weshalb an diesem Punkt nur vereinzelt
auf Gedanken von Jürgen Habermas selbst eingegangen wird.
112 3 Öffentlichkeit

ven Handelns“ bildet (vgl. ebd.: 59). Für ein normatives Modell von „Öffentlich-
keit“ werden grundsätzlich vier tragende Elemente geltend gemacht. a) Im Ver-
ständnis eines emphatischen Modells konstituiere sich Öffentlichkeit über ihren
„Gegenstand: Es geht um Angelegenheiten von kollektivem Interesse und Prob-
leme, die ,alle‘ angehen oder interessieren sollten“ (ebd.: 60). Verhandelt werden
„Fragen des kollektiven Zusammenlebens“ und dessen „Handlungsbedingungen“,
also „kognitive und instrumentelle Probleme“, gleichermaßen „normative Fragen
des Ausgleichs von Ansprüchen und Interessen“ (ebd.). Wie Peters hervorhebt,
bestehe der Sinn dieser Diskurse darin, dass die Teilnehmenden „die Möglichkeit
gewinnen, auch eigene Interessen und Ansprüche zu reflektieren“ sowie darüber
hinaus „Motive“ zu entwickeln, die „zur kollektiven Willensbildung beitragen“
sollen (vgl. ebd.). b) Als Träger dieser diskursiven Verständigung gilt wiederum
eine „politische Öffentlichkeit von Staatsbürgern“, welche sich durch ihre norma-
tive Fassung „öffentlicher Verständigung stets [mit] universalistischen Ansprü-
chen verknüpfe“ und deshalb die „Möglichkeit einer internationalen Öffentlich-
keit oder Weltöffentlichkeit“ mitdenke (vgl. ebd.). c) Im normativen Verständnis
von Öffentlichkeit werden deshalb auch „besondere Qualitäten der Kommunika-
tionsformen“ geltend gemacht, die sich im „öffentlichen Raum aufspannen“ (ebd.:
61). Hierzu gehören: „Gleichheit und Reziprozität der kommunikativen Beziehun-
gen – eine prinzipielle Offenheit für Themen und Beiträge und eine adäquate Ka-
pazität zu ihrer Bearbeitung –, schließlich die diskursive Struktur von Kommuni-
kationen“ (ebd.). d) Letztere Stichworte gelten wiederum als Merkmale einer „öf-
fentlichen Kommunikation“, die „zu reflektierten Überzeugungen und Urteilen
des Publikums im Hinblick auf relevante kollektive Probleme führen“ soll (vgl.
ebd.: 62). In diesem Sinne hat Öffentlichkeit die Funktion der Herausbildung einer
„öffentlichen Meinung“. Hierbei gehe es darum, „das Publikum durch öffentliche
Diskurse und nur dadurch zu begründeten, kritisch geprüften, [...] vernünftigen
gemeinsamen Einsichten, Problemlösungen und Zielsetzungen kommen“ zu las-
sen (vgl. ebd.: 63). Öffentlichkeit versteht sich dabei „als Gesamtheit der Prozesse
diskursiver, auf kollektive Probleme bezogener Meinungs- und Willensbildung“
(ebd.). Öffentlichkeit komme damit die Funktion zu, eine „Kultivierung der Mei-
nungs- und Willensbildung der Staatsbürger durch öffentliche Diskurse [...] zu er-
bringen“ (ebd.). Habermas, so Peters, sehe in dieser Konzeption von Öffentlich-
keit die Lösung des praktischen Problems, dass sich „Demokratie als Selbstregie-
rung“ im diskursiven Handeln durch „Einigung auf Entscheidungen [...], die zu-
gleich freiwillig und vernünftig“ sind, verwirklichen könne (vgl. ebd.).
Erst mit dieser Sichtweise lasse sich ein Kontrast zu jenen Demokratietheo-
rien erzeugen, welche Öffentlichkeit im Wesentlichen auf einen „Mechanismus
zur Aggregation oder zum tausch- oder kompromissförmigen Ausgleich vorgege-
bener Interessen oder Präferenzen“ verkürzten (vgl. ebd.). Eine solch mechanisti-
3.2 Öffentlichkeitskonstruktion in der Gegenwart 113

sche Sichtweise auf Öffentlichkeit lasse sich dann als Reduktion kritisieren, die
den am politischen Prozess „beteiligten Akteuren“ lediglich „die Informationen
zur Verfügung“ stelle, „die sie benötigen, um ihre Strategien und Wahlentschei-
dungen zu optimieren, eingeschlossen Informationen über die Präferenzverteilung
unter der Wählerschaft“ (ebd.). Im Unterschied hierzu sei im „diskursiven Modell
[der] politische [...] Prozess“ auf „eine Reflexion vorgegebener Interessendefini-
tionen“ (ebd.: 63) gerichtet, um deren „egozentrischen individuellen Interessen-
horizont“ in „kollektive[...] oder allgemeine[...] Interessen“ zu transformieren
(vgl. ebd.: 64). Vor diesem Hintergrund beinhalte die Herausbildung einer „öf-
fentlichen Meinung“ auch ein „antiinstitutionelles Element“ und gewinne zum ei-
nen den „Sinn einer ideellen (oder intellektuellen) ,Gegenmacht‘“ sowie zum an-
deren eine „Irritationsfunktion der Öffentlichkeit“ selbst (vgl. ebd.). Letzteres
finde sich in „populären Konzeptionen der ,Zivilgesellschaft‘“ wieder (vgl. ebd.).
„Zivilgesellschaft“ gilt hierbei als „eine kritische, innovative und machtbegren-
zende Kraft von öffentlichen Kommunikationskreisläufen, die von sozialen Be-
wegungen, freiwilligen Assoziationen und informellen Milieus“ getragen wird
(vgl. ebd.). Im Unterschied zu Formen institutionalisierter Politik und einer „me-
chanistischen“ Vorstellung von Öffentlichkeit, würden „Zivilgesellschaft“ Eigen-
schaften „[wirklicher] Authentizität, Kreativität, die Sensibilität für Probleme und
die Offenheit für minoritäre, im formellen politischen Prozess nicht organisato-
risch repräsentierte Auffassungen oder Interessen zugesprochen“ (ebd.).
Im Verständnis von Habermas sind die von Peters skizzierten Merkmale spe-
zifische Eigenschaften eines normativen Verständnisses „politischer Öffentlich-
keit“. Habermas verweist „eigentliche“ Öffentlichkeit in den Bereich des Privaten,
es sei eine „Öffentlichkeit von Privatleuten“ ([1962] 1990: 90). In diesem Kontext
sei „Privatsphäre [als] die bürgerliche Gesellschaft im engeren Sinne“ zu verste-
hen, die den „Bereich des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit“ sowie
die „Familie mit ihrer Intimsphäre“ einschließe (vgl. ebd.). Hiervon unterscheide
sich die „politische Öffentlichkeit“. Habermas skizziert „politische Öffentlich-
keit“ als Sphäre zwischen Staat (als Sphäre der öffentlichen Gewalt) und Privat-
bereich (vgl. Habermas 1990: 86 f.). „Politische Öffentlichkeit“ bildet im Ver-
ständnis von Habermas einen eigenen, substanziellen gesellschaftlichen Bereich
und „vermittelt durch öffentliche Meinung den Staat mit Bedürfnissen der Gesell-
schaft“ (ebd.: 90). Die weiter oben skizzierte Kommunikations- und Handlungs-
struktur sowie Funktion von Öffentlichkeit bei Peters bildet für Habermas den
Kern „politischer Öffentlichkeit“ (vgl. Habermas 1998: 435 f.). Das Besondere
von Öffentlichkeit bestimmt sich für Habermas nicht über ihre Funktion oder In-
halte, sondern kennzeichnet sich durch den mittels Kommunikation und im ver-
ständigungsorientierten Handeln „erzeugten sozialen Raum“ (vgl. ebd.: 436). Die
Form der Vermittlung und den so erzeugten „sozialen Raum“ skizziert Habermas
114 3 Öffentlichkeit

als einen machtfreien kommunikativen Prozess des Austausches rationaler ein-


sichtiger Argumente. Wird der Prozess selbst als machtfrei verstanden, so entstehe
als Ergebnis „kommunikative Macht“, die „selber [nicht] herrschen“, aber „den
Gebrauch der administrativen Macht“ beeinflussen könne (vgl. Habermas 1999:
290 f.). Zivilgesellschaft gilt hierbei als Träger und institutioneller Rahmen von
„politischer Öffentlichkeit“. Sie wird als Assoziation der Verschiedenen im Kon-
sens von Gewalt- und Machtfreiheit gedacht. Ihre Einflussnahme auf Politik er-
folgt über die Erzeugung von Öffentlichkeit.104

3.3 Kritiken am normativen Verständnis von Öffentlichkeit

3.3.1 Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft

Das Verständnis von Zivilgesellschaft als ein von der Politik und der Ökonomie
getrennter gesellschaftlicher Bereich ist mit Blick auf die Begriffsentwicklung von
Gramsci, der Zivilgesellschaft als analytisches Instrument versteht, zu kritisieren.
Gramscis Perspektive auf Zivilgesellschaft als analytischer Begriff, wie weiter
oben erläutert, eröffnet die Dimension des Ringens um Hegemonie.105 Ohne an
dieser Stelle noch einmal ausführlicher auf die Kritik am Begriff Zivilgesellschaft
einzugehen, sind mit Blick auf die Vorstellung von Zivilgesellschaft im Kontext
normativer Konzepte von Öffentlichkeit weitere Kritikpunkte aufzunehmen.
Wie ich weiter oben deutlich gemacht habe, gehen normative Vorstellungen
von Öffentlichkeit davon aus, dass sich Öffentlichkeit zum einen durch „nicht ver-
machtete Kommunikationsstrukturen“ (Habermas in Demirovic 1997: 170) aus-
zeichne und hierauf aufbauend einen „sozialen Raum“ entfalten würden, welcher
Kritik erzeuge, und so wiederum eine korrektive Einflussnahme auf Politik mög-
lich sei. Hiermit verknüpft sich die Vorstellung, dass herrschaftliche Verhältnisse
dem Bereich des Privaten (z. B. gesellschaftliche Arbeit: Lohnarbeit und Arbeits-
teilung)106 zugeschlagen werden, die wiederum im Diskurs von Öffentlichkeit
„durch öffentliche Thematisierung“ öffentlich gemacht werden sollen, um „dar-
über kollektiv und demokratisch“ entscheiden zu können (vgl. Demirovic 1997:
178). Insofern verbindet sich mit der Einrichtung von Öffentlichkeit die Hoffnung,
dass „Entscheidungen revidiert, Lebensweisen verändert, Gesellschaften demo-
kratisiert und rationalisiert werden“ könnten (ebd.). Wie Alex Demirovic deutlich
macht, ist dies keineswegs zwingend der Fall, sondern Öffentlichkeit habe „auf-

104 Zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft: Habermas (1990: 45 f. und 1998: 435
f.; kritisch: Demirovic 1997: 152 f. sowie165 f.).
105 Vgl. Demirovic (1997: 148-152); Opratko (2012: 39-43); Haug (2004: 1-25).
106 Vgl. hierzu etwa das Schaubild von Jürgen Habermas in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ auf
Seite 89.
3.3 Kritiken am normativen Verständnis von Öffentlichkeit 115

grund [ihrer] diskontinuierlichen Struktur des öffentlichen Raums und interner


Machtverhältnisse sogar zu [deren] Bekräftigung geführt, so dass die Herrschafts-
unterworfenen nicht nur entmutigt, sondern einem asymmetrischen Konsens über
ihre Heteronomie unterworfen werden“ (ebd.).107
An dieser Stelle verknüpfe die normative Demokratietheorie eine spezifische
Vorstellung von Zivilgesellschaft mit Öffentlichkeit. Der grundlegende Gedanke
hierfür liegt darin, dass „Öffentlichkeit als die Form des prozessualisierten Selbst-
bewusstseins einer Gesellschaft in Gestalt immer neuer Diskussionsbeiträge [...]
die Funktion [eines] konstitutive[n] Bewusstsein[s]“ annehme und in diesem
Sinne „totalitäre Implikationen“ habe, weil sich dieser Praxis tendenziell „kein
Interesse, keine Praxis [...] des kollektiven Lebens entziehen dürfe“ (vgl. ebd.).
Zivilgesellschaft verstehe sich in diesem Zusammenhang deshalb als „Sphäre [einer]
freien Vergesellschaftung“ der Menschen, die sich als „Gegensatz zum Staat“ defi-
niere (ebd.: 178). Hiermit gehe eine Beschränkung des „kritischen Rationalitätspo-
tential[s]“ einher, welches „für Öffentlichkeit beansprucht“ werde (vgl. ebd.: 180).
In der Folge würden „in der öffentlichen Diskussion [...] die gesellschaftlichen In-
stitutionen am Maßstab der Öffentlichkeit gemessen [...], ohne dass jedoch aus der
inneren Logik der Öffentlichkeit sich gleichfalls ergebende Ziel einer in der

107 Alex Demirovic macht dies am Beispiel seiner Untersuchung zur medialen Öffentlichkeit deut-
lich und zeigt, dass „massenmediale Öffentlichkeit [...] in Teilöffentlichkeiten mit sehr unter-
schiedlichen Demokratie- und Öffentlichkeitskonzepten fragmentiert“ ist (vgl. Demirovic 1997:
173). Diese Teilöffentlichkeiten stünden sich „in einem agonalen und widersprüchlichen Ver-
hältnis gegenüber“ (ebd.). In diesem Zusammenhang würden beispielsweise soziale Protestbe-
wegungen „nicht als Kommunikationsteilnehmer anerkannt“; ihre Anliegen blieben damit nur
einer „inklusiven Teilöffentlichkeit“ zugänglich und von den Medien einer „exklusiven Teilöf-
fentlichkeit“ ausgeschlossen (vgl. ebd. 171 f.). Interessant sind in diesem Zusammenhang die
damit verknüpften demokratietheoretischen Implikationen, die das Inklusive und Exklusive be-
gründen. Wie Alex Demirovic hervorhebt, folgen „inklusive Teilöffentlichkeiten“ einem Selbst-
verständnis, welches davon ausgeht, dass eigenaktiv „aufgebrachte Themen“ sowie „Praxisfor-
men als legitime Inanspruchnahme der Kommunikationsrechte von BürgerInnen“ Ausdruck ei-
nes „Fortschritt[s] für den demokratischen Prozess selbst“ sind (vgl. ebd.: 173). Im Unterschied
hierzu entwickelten „die Medien der exklusiven Teilöffentlichkeiten eine demokratietheoreti-
sche Argumentation, die sie systematisch davor schützt, eine Selbstbindung an Argumente ein-
zugehen, die zu einer sich öffnenden und demokratisierenden Öffentlichkeit führen könnten“
(ebd.). Letztere Vorstellung orientiert sich an „konservativen elitetheoretischen“ Demokratie-
vorstellungen, welche „Eigenaktivität und Selbstorganisation in Form des Protestes von Aktiv-
bürgerInnen [als] Bruch mit dem Legalrahmen“ auffassen (ebd.). Beide Dimensionen stünden
sich in unterschiedlichsten Ausprägungen gegenüber und arbeiteten in alltäglichen „performati-
ven Praxen“ die jeweiligen „demokratietheoretischen Positionen“ heraus (vgl. ebd.). Gleichzei-
tig versuchten sie, ihre Positionen „gegeneinander in situativen öffentlichen Deutungskonflikten
[...] durchzusetzen“ (ebd.). Vergleichbare Probleme skizziert Karl-Heinz Stamm in seiner Un-
tersuchung zur „Alternativen Öffentlichkeit – Die Erfahrungsproduktion neuer sozialer Bewe-
gungen“ (Stamm 1988). Interessant ist hierbei seine Analyse der Funktion und des Zerfalls der
publizistischen Aktivität des „Informations-Dienst[s] zur Verbreitung unbeliebter Nachrichten“
(ebd.: 71 f.).
116 3 Öffentlichkeit

Kommunikation sich vollständig transparenten Gesellschaft verfolgt würde“


(ebd.). Gleichzeitig stehe diese Vorstellung vor dem Problem, dass „die Selbstein-
wirkung der Gesellschaft von einem das Ganze überblickenden, kontrollierenden
und integrierenden Punkt aus [...] denjenigen, die diese Stelle [...] einnehmen,
doch eine enorme Macht geben, die sich immer wieder von neuem gegen die ein-
zelnen Gesellschaftsmitglieder richten wird“ (ebd.). Demirovic schlussfolgert ent-
sprechend kritisch: „Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft [...] ermöglichen es nicht,
rationale Allgemeinheit herzustellen; würden sie es tun, dann nur um den Preis
einer totalen Übermächtigung der Gesellschaft“ (ebd.). Von daher werde Öffent-
lichkeit zum „heimlichen Souverän der Gesellschaft“ und stehe gleichzeitig im
Widerspruch, „zwischen der Forderung nach größter kommunikativer Freiheit und
[ihrer] ständigen Einschränkung“ zu zirkulieren (vgl. ebd.). Öffentlichkeit habe
hier ihre Grenze. Gerade die Aufspaltung von Öffentlichkeit „in diskontinuierliche
Teilöffentlichkeiten“, ihre „spezifische Logik gesellschaftlicher Arbeitsteilung“
stehe „einer Teilnahme aller im Wege“, mit dem Effekt, dass „Viele passiviert [...]
und abhängig von Führung“ gemacht werden (vgl. ebd.). Öffentlichkeit selbst sei
durchsetzt „von disziplinierenden und normalisierenden Mechanismen“ (ebd.:
182). Öffentlichkeit sei deshalb eine „kulturelle Form der Herrschaft“ (ebd.). Ent-
sprechend kann die Vorstellung der normativen Demokratietheorie von Öffent-
lichkeit als einer machtfreien Sphäre nicht aufrechterhalten werden. Der innere
Zusammenhang von Öffentlichkeit und ihre Grenzen sind umkämpft. Öffentlich-
keit selbst „praktiziert Hegemonie“ (ebd.).
Auch Nancy Fraser kritisiert die Verhältnisbestimmung von Öffentlichkeit
und Zivilgesellschaft im Diskurs normativer Theorie zur Öffentlichkeit. Auch sie
sieht eine Trennung von Zivilgesellschaft und Staat als Problem. Zum einen be-
stehe das Problem darin, dass in der bürgerlichen Gesellschaft versucht werde
„ökonomische Fragen zu ,privatisieren‘“, so dass sie für die „Staatstätigkeit als
verbotenes Terrain“ gelten (Fraser 2001a: 144). In diesem Zusammenhang bestehe
die liberale Theorie auf der Trennung von Privatsphäre und Staat und sehe genau
diese Trennung als eine wesentliche Vorbedingung funktionierender Öffentlich-
keit (vgl. ebd.). Diese Sichtweise müsse allerdings zurückgewiesen werden, da
zum einen klar sei, dass „sozioökonomische Gleichheit eine Vorbedingung für die
partizipatorische Gleichstellung“ darstelle (ebd.). Zum anderen zeige sich, dass
eine „scharfe Trennung von (ökonomischer) Zivilgesellschaft und dem Staat keine
notwendige Bedingung für eine gut funktionierende Öffentlichkeit“ sein müsse
(ebd.). Die Trennung ziehe ihre Begründung aus dem Verständnis, dass die Öko-
nomie dem Privaten zuzurechnen sei und diese Sphäre vor staatlichen Eingriffen
geschützt werden müsse. Die Trennung von Privatsphäre und Staat sei deswegen
keine Voraussetzung von Öffentlichkeit (wie von liberalen Demokratietheorien
angenommen), sondern ihre Behinderung, da mit der Trennung verbundene Frau-
3.3 Kritiken am normativen Verständnis von Öffentlichkeit 117

gen, Probleme und Konflikte einer „umfassenden und freien Diskussion“ und da-
mit der Öffentlichkeit entzogen blieben (vgl. ebd.). An diesen Gedanken anknüp-
fend repräsentiere die Vorstellung deliberaler Öffentlichkeit wie z. B. bei Haber-
mas „die zum Publikum versammelten Privatleute“ und meine damit diejenigen,
die „keine Amtsträger“, kein Staat, sondern Zivilgesellschaft sind (vgl. ebd.: 145).
Ist dieses Modell weiter oben schon kritisiert worden, verweist Fraser darauf, dass
in diesem Verständnis Zivilgesellschaft als Erzeugerin der „öffentlichen Mei-
nung“ gelte und ihre Grenze darin habe, dass sie sich „ausschließlich [auf die]
Meinungsbildung“ beschränke „und sich nicht auf die Beschlussfassung erstreckt“
(ebd.). Von dieser Form der „schwachen Öffentlichkeit“ sei „starke Öffentlich-
keit“ zu unterscheiden, „deren Diskurs sowohl die Meinungsbildung als auch die
Beschlussfassung“ einschließe (ebd.: 145 f.).108
Mit Blick auf die historische Entwicklung von Öffentlichkeit sei die Heraus-
bildung der „souveränen Parlamente“ ein Beispiel für „starke Öffentlichkeit“. Die
Besonderheit bestehe darin, als „öffentliche[...] Sphäre innerhalb des Staates“
Meinungsbildung und Beschlussfassung zusammenzuführen (vgl. ebd.: 146). Mit
dieser Historie sei auch ein gesellschaftlicher Ort entstanden, „rechtlich bindende
Beschlüsse“ zu erzeugen und so die „Ausübung staatlicher Macht“ zu autorisieren
(vgl. ebd.: 146). Eine deliberative Vorstellung von Zivilgesellschaft und Öffent-
lichkeit manifestiere hingegen mit ihrer Orientierung auf „bloße Meinungsbildung
[den] gehörigen Abstand zur autoritativen Beschlussfassung“ und verringere da-
mit die Reichweite öffentlicher Meinungsbildung auf die Möglichkeiten parla-
mentarischer Diskussion und Beschlussfassungen (vgl. ebd.: 148). Fraser geht es
aber um mehr. Sie sieht die Notwendigkeit einer „Vermehrung von starken Öf-
fentlichkeiten“ und deren Transformation in Formen selbstverwalteter Einrichtun-
gen (vgl. ebd.: 146). Diese sollten sich die Prinzipien einer starken Öffentlichkeit
zu eigen machen, indem sie Meinungsbildung und Beschlussfassung in der Praxis
von Selbstverwaltung miteinander verbinden und so dazu beitragen würden (über
die Parlamente hinaus) Orte zu gründen, „an denen [sich] direkte oder quasi di-
rekte Demokratie“ entwickeln könne (vgl. ebd.).109 Öffentlichkeit und Demokratie

108 Vgl. auch Nancy Fraser und einen früheren Artikel von Nancy Fraser, wo sie den Gedanken der
„starken“ und „schwachen“ Öffentlichkeiten entwickelt (1996: 151-182).
109 Fraser spricht hier beispielsweise von „selbstverwalteten Arbeitsplätzen, Kinderbetreuungsstät-
ten oder Wohnanlagen“ (Fraser 2001a: 146). Diese „könnten interne institutionelle Öffentlich-
keiten sowohl Arenen der Meinungsbildung als auch der Beschlussfassung sein“ (ebd.). Deswe-
gen: „Jedwede Konzeption der öffentlichen Sphäre, die eine scharfe Trennung zwischen Zivil-
gesellschaft (als Nexus der Assoziationen) und dem Staat verlangt, wird nicht in der Lage sein,
sich die Formen der Selbstverwaltung, der Koordination zwischen den Öffentlichkeiten und den
politischen Rechenschaftspflichten vorzustellen, die für eine demokratische und egalitäre Ge-
sellschaft wesentlich sind“ (ebd.: 148). Ihre Überlegung erinnert an den weiter oben angedeute-
ten Prozess einer Institutionalisierung des dialogischen Handelns bei Benjamin Barber.
118 3 Öffentlichkeit

werden hierbei als Formen horizontaler Vergesellschaftung betont. Die Einschrän-


kung dieser Überlegungen besteht allerdings im Einwand von Demirovic, dass in
der Tendenz mit der Herausbildung von Orten auch die Vorstellung verbunden
sein könne, diese Orte als Räume „wahrer“ Öffentlichkeit und Demokratie zu be-
greifen, die selbst frei von Widersprüchen und Machtverhältnissen erscheinen
würden. Wäre dies der Fall, könnte eine Praxis der Selbstverwaltung nicht auf ihre
widersprüchlichen Formen des Eingebundenseins in hegemoniale Prozesse be-
fragt werden. Unerkannt bleiben damit auch die Zusammenhänge von Selbstorga-
nisation, die selbst auf Macht und Herrschaft beruhen und entgegen dem eigenen
Selbstverständnis Hegemonie aktiv selbst herstellen. Anknüpfend hieran bleibt
dann eine wechselseitige Durchdringung von Staat und Zivilgesellschaft im All-
täglichen unerkannt. Damit bleiben die unterschiedlichen Dimensionen von
Macht- und Herrschaftspraxen einem analytischen Zugang entzogen.

3.3.2 Öffentlichkeit versus Öffentlichkeiten

Wie schon die bis hier skizzierten Überlegungen deutlich machen, verweisen die
Kritiken nicht nur auf ein problematisches Verständnis vom Verhältnis zwischen
Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, sondern sprechen im Plural von Öffentlich-
keiten. In diesem Bild wird eine weitere Kritik, vor allem am deliberalen Ver-
ständnis von Öffentlichkeit, deutlich. Wie ich weiter oben skizziert habe, versteht
Habermas bürgerliche Öffentlichkeit als „zum Publikum versammelte Privat-
leute“, die auf dem Wege verständigungsorientierten Handelns öffentliche Ange-
legenheiten diskutieren. Die von Habermas eingenommene Perspektive wurde als
Idealisierung bürgerlicher Öffentlichkeit kritisiert (Fraser 2001a: 113). Wie schon
weiter vorn angemerkt, hat auch Adorno infrage gestellt, ob bürgerliche Öffent-
lichkeit überhaupt verwirklicht gewesen sei. Damit stellt sich auch die Frage, ob
man von der idealisierten Skizze der einen Öffentlichkeit ausgehen kann. Fraser
geht mit ihrer Kritik aber weiter. Es könne nicht mehr davon ausgegangen werden,
„dass das liberale Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit lediglich ein unverwirk-
lichtes utopisches Ideal darstelle“ (Fraser 2001a: 119). Kern der Kritik bildet die
Feststellung, dass „trotz der rhetorisch bejahenden Publizität und Zugänglichkeit“
Öffentlichkeit in der Konzeption von Habermas „auf einer Reihe bedeutsamer
Ausschlüsse“ beruhe (vgl. ebd.: 113). Habermas hat diese Kritik grundsätzlich an-
erkannt und in seine Diskussion von Öffentlichkeit aufgenommen, indem er fest-
gestellt hat, dass es „falsch“ wäre, „vom Publikum im Singular zu sprechen“ und
man davon ausgehen müsse, dass es „konkurrierende Öffentlichkeiten“ gibt, und
dass auch die von der „Dynamik [einer] dominierenden Öffentlichkeit ausge-
schlossenen Kommunikationsprozesse“ berücksichtigt werden müssten (vgl. Ha-
bermas 1990: 15 f.). Dennoch sind meines Erachtens mit seinen Anmerkungen die
3.3 Kritiken am normativen Verständnis von Öffentlichkeit 119

von Fraser zusammengetragenen Einwände einer revidierenden Geschichtsschrei-


bung und feministischer Kritik nicht ausgeräumt. Deswegen möchte ich einige
Punkte der Kritik an dieser Stelle aufnehmen. Wie Nancy Fraser deutlich macht,
sind „zeitgleich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit [...] eine Menge konkurrieren-
der Gegenöffentlichkeiten“ entstanden (Fraser 2001a: 118). In diesem Zusammen-
hang merkt sie an, dass das Problem bei Habermas, trotz seiner Einsicht, Öffent-
lichkeit im Plural zu verstehen, darin bestehe, die Formen anderer Öffentlichkeiten
und ihr Verhältnis zur bürgerlichen Öffentlichkeit nicht zu untersuchen (vgl. ebd.:
116). Wie feministische Kritik nachweist, bleiben in der Perspektive der bürgerli-
chen Öffentlichkeit beispielsweise Frauen und ihre Zugangswege zu gesellschaft-
lichen Zusammenhängen ausgeblendet; sie bleiben damit von Öffentlichkeit aus-
geschlossen. In vergleichbarer Weise betrifft dies auch „Schwarze“ (ebd.: 118)
oder als „rassisch wahrgenommene Ethnien“ (ebd.: 122) und ihre rassistischen
Ausschlüsse durch eine „bürgerliche, maskulinisierte, von der Überlegenheit der
weißen Rasse überzeugten Konzeption der Öffentlichkeit“ (ebd.: 121). Oder, wei-
ter gefasst: Formen „konkurrierender Gegenöffentlichkeiten“, z. B. „nationalisti-
sche Öffentlichkeiten, volkstümlich bäuerliche Öffentlichkeiten, Öffentlichkeiten
von Frauen aus der Elite und Öffentlichkeiten der Arbeiterklasse“ (ebd.: 118). Der
Sichtweise von Habermas entgehe damit zum einen, dass die Perspektive bürger-
licher Öffentlichkeit auf Ausschlüssen beruhe und zum anderen, dass das Verhält-
nis von bürgerlicher Öffentlichkeit und anderen Öffentlichkeiten „immer konflikt-
trächtig gewesen“ sei (vgl. ebd.). Aus geschichtskritischer Sicht sei bürgerliche
Öffentlichkeit „das institutionelle Vehikel für eine größere historische Umwäl-
zung [...] politischer Machtausübung“ gewesen (vgl. ebd.: 119). Kennzeichen die-
ser Entwicklung sei demnach „der Wechsel [...] von einer repressiven Machtaus-
übung zu einer hegemonialen“ gewesen (vgl. ebd.). Kern dieses Wandels sei die
Verschiebung von einer Orientierung „auf die Ergebenheit gegenüber einer Ob-
rigkeit“ hin „zu einer Herrschaft, die sich in erster Linie auf Zustimmung gründet“
(ebd.). Die konflikthaften Beziehungen der verschiedenen Öffentlichkeiten sind
deshalb als Prozesse zur Herausbildung dieses hegemonialen Verhältnisses zu ver-
stehen; Öffentlichkeit ist damit gleichzeitig selbst ein Feld, auf dem um Hegemo-
nie gerungen wird. Die deliberale Theorie bürgerlicher Öffentlichkeit ignoriere
vorhandene „Statusungleichheiten“ der Menschen (vgl. ebd.: 122). Dies führe
dazu, dass im deliberalen Modell von Öffentlichkeit die Gesprächspartner unkri-
tisch als Gleiche gelten würden. Vorhandene soziale und wirtschaftliche Un-
gleichheiten würden ausgeblendet und „soziale Gleichheit [nicht als] notwendige
Bedingung für die partizipatorische Gleichstellung in öffentlichen Sphären“ er-
kannt (vgl. ebd.: 127).
120 3 Öffentlichkeit

3.3.3 Gegenöffentlichkeit – Dialektik von Öffentlichkeit und


Gegenöffentlichkeit

Unter dem Stichwort „proletarischer Öffentlichkeit“ entwerfen Oskar Negt und


Alexander Kluge eine Kritik am Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit als „ei-
nem Schein einer gesamtgesellschaftlichen Synthese“ und weisen die Fassung al-
ler öffentlichen Ausdrucksformen der Menschen unter dem Begriff bürgerlicher
Öffentlichkeit als Reduktion und bloßen Modus derselben zurück (vgl. Negt/
Kluge 1972: 104).110 Negt und Kluge reklamieren in ihrem Entwurf unterdrückte,
eigensinnige und rebellische Ausdrucksformen der Menschen als eigenständige
Darstellungsformen einer Gegenöffentlichkeit, da diese vor dem Hintergrund der
Trennung von Privatem und Öffentlichem in der bürgerlichen Öffentlichkeit un-
terdrückt und ausgeschlossen blieben.
Wie Christoph Spehr deutlich macht sehen Negt und Kluge im Gegensatz zu
Habermas (und, man kann ergänzen, auch Adorno) keine Zerstörung der bürgerli-
chen Öffentlichkeit durch deren mediale Kapitalisierung, sondern verstehen die da-
mit einhergehenden Spaltungen als „Ausdruck ihrer Hegemonie“ (Spehr 2001: 6).
Anknüpfend an diese Überlegungen kann Gegenöffentlichkeit als Versuch verstan-
den werden, die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichen zu verschieben bzw.
„deren reale Bedeutung und reale Struktur“ verändern zu wollen (vgl. ebd.: 9).111

110 Vgl. auch Negt (2010: 278-308).


111 In der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit sieht auch feministische Kritik eine gesell-
schaftliche Spaltung und weiterführend ein Strukturmerkmal patriarchaler Gesellschaft. Ge-
schlechterverhältnisse und weibliche Zusammenhänge bleiben unter Umständen im Privaten ein-
geschlossen und haben keinen Zugang zum Öffentlichen (vgl. Holland-Cruz 1996: 371-373).
Wie umkämpft diese Grenzziehung zwischen Privatem und Öffentlichem ist und welche Bedeu-
tung Gegenöffentlichkeit in der Auseinandersetzung mit der herrschenden Öffentlichkeit hat,
skizziert Nancy Fraser in ihrem Aufsatz „Sex, Lügen und die Öffentlichkeit“ (Fraser 2001b: 151-
179). Nancy Fraser kritisiert es, an der Überzeugung festzuhalten, „Privatheit und Öffentlich-
keit“ könnten als fein „getrennte Lebensbereiche“ identifiziert werden (vgl. 2001b: 175). Sie
schreibt mit Blick auf die historische Entwicklung von Öffentlichkeit bis in die Gegenwart: „Da-
mals wie heute wurden und werden Frauen nicht einfach aus dem öffentlichen Leben ausge-
schlossen, waren und sind Männer nicht öffentlich und Frauen privat, war und ist der private
Raum nicht die Sphäre der Frauen und der öffentliche die der Männer“ (ebd.). Vielmehr sind die
Begriffe des Privaten und Öffentlichen in ihren Bedeutungen und ihre gesellschaftlichen Gren-
zen selbst umkämpft (vgl. ebd.). Sie nähmen in Überschneidung mit anderen Kategorien, etwa
denen des Geschlechts, der Rasse oder Klasse, jeweils spezifische Formen an, seien selbst von
widersprüchlichen Interessenlagen durchzogen und brächten dabei spezifische Ausschlüsse und
gesellschaftliche Zugänge hervor (vgl. Fraser 2001b). In diesem Zusammenhang müsse zum ei-
nen auch erkannt werden, dass Öffentlichkeit selbst widersprüchlich sei. Öffentlichkeit könne
durchaus „eine Waffe gegen staatliche Tyrannei“ oder ein Instrument gegen die Privatisierung
von Herrschaftsverhältnissen sein (vgl. ebd.: 176). Allerdings müsse die „diskursive Privatisie-
rung“ verstanden werden, wie diese eine „private Macht der Arbeitgeber über Arbeitnehmer, der
Ehemänner über Ehefrauen und der Weißen über Schwarze“ stützte (vgl. ebd.). Zum anderen
3.3 Kritiken am normativen Verständnis von Öffentlichkeit 121

Vor diesem Hintergrund plädiert Nancy Fraser dafür, anstatt von Gegenöf-
fentlichkeit im Plural von „subalternen Gegenöffentlichkeiten“ zu sprechen. Wie
sich historisch gezeigt habe, seien vor allem subalternen Gruppen die Zugänge zu
selbstbestimmten „Versammlungsorten, an denen kommunikative Prozesse statt-
finden könnten“, durch herrschaftliche Interessen verbaut oder die subalternen
Gruppen seien diesen unterworfen (vgl. Fraser 2001a: 129). Für subalterne Grup-
pen wie z. B. „Frauen, Arbeiter, Schwarze, Schwule und Lesben“ sei deshalb „die
Gründung alternativer Öffentlichkeiten“ von besonderer Bedeutung (vgl. ebd.).112
In diesem Kontext verdeutliche der Begriff „subalterner Öffentlichkeiten“ die Zu-
sammenhänge „parallel existierende[r] diskursive[r] Arenen [...], in denen Mit-
glieder untergeordneter sozialer Gruppen Gegendiskurse erfinden und verbreiten.
Die Gegendiskurse erlauben ihnen dann, oppositionelle Interpretationen ihrer
Identitäten, Interessen und Bedürfnisse zu formulieren“ (ebd.). Wie Nancy Fraser
hervorhebt, haben „subalterne Öffentlichkeiten“ in Klassengesellschaften einen
Doppelcharakter. Dieser besteht darin, dass sie „einerseits [...] die Funktion von
Räumen des Rückzugs und der Neugruppierung haben. Andererseits dienen sie
auch als Stützpunkte und Übungsplätze für agitatorische Betätigungen, die sich
auf größere Öffentlichkeiten richten“ (ebd.: 131). Und Fraser schlussfolgert: „Ge-
nau in der Dialektik zwischen diesen beiden Funktionen liegt ihr emanzipatori-
sches Potential“ (ebd.). Aus diesem Zusammenhang entstehe mithin das Potenzial
„subalterner Öffentlichkeiten“, „die ungerechten partizipatorischen Privilegien,
deren sich Mitglieder herrschender sozialer Gruppen in geschichteten Gesellschaf-
ten erfreuen, zwar nicht ganz und gar abzuschaffen, aber doch teilweise auszuglei-
chen“ (ebd.). Der optimistische Gehalt des „emanzipatorischen Potenzials“ ist al-
lerdings mit Demirovic infrage zu stellen. Wie ich weiter oben gezeigt habe, zwei-
felt Demirovic am emanzipatorischen Potenzial von Öffentlichkeit, da Öffentlich-

müsse auch erkannt werden, dass Öffentlichkeit nicht als das „unzweideutig[e] Instrument der
Autorisierung und Emanzipation“ gelten könne, da „statusbenachteiligte Gruppen“ einen „mög-
lichen Nutzen politischer Öffentlichkeit immer gegen die Gefahren des Verlusts ihrer Privatheit
abwägen“ (ebd.) würden. Christoph Spehr sieht in den skizzierten Perspektiven einer feministi-
schen Gegenöffentlichkeit die Schwierigkeit, dass, wie Nancy Fraser gezeigt hat, Gegenöffent-
lichkeit im Sinne von „öffentlich-Machen auch als Waffe gegen die Frauen gerichtet werden
kann“ (Spehr 2001: 9). Hieraus ergebe sich das Problem, dass feministische Gegenöffentlichkeit
„patriarchale Deutungsmacht über den Verlauf“ der Grenze zwischen privat und öffentlich an-
greifen müsse „und auf deren Verschiebung statt auf deren Aufhebung“ abziele (vgl. ebd.).
112 Dies unterstreichen auch Oskar Negt und Alexander Kluge, wenn sie darauf hinweisen, dass z.
B. Kinder im Diskurs um Öffentlichkeit nicht vorkommen. Öffentlichkeit sei ein Erwachsenen-
diskurs. In diesem Zusammenhang werden die Bedürfnisse der Kinder nach Selbstorganisation
und Selbstregulierung durch erwachsene Herrschaftsinteressen „bestritten“ und der „Freiraum“
der Kinder „mit massivem Realitätsentzug und Entzug der Erwachsenenwelt, zu der vor allem
die Beziehung der Urobjekte zueinander und zu den Kindern gehört“, beschnitten (vgl.
Negt/Kluge 1972: 466).
122 3 Öffentlichkeit

keit selbst „von disziplinierenden und normalisierenden Mechanismen“ durchsetzt


sei und so aktiv Hegemonie herstelle (vgl. Demirovic 1997: 182). Auch Christoph
Spehr weist darauf hin, dass „das ,offensive‘ Potential“ von Gegenöffentlichkeit
überschätzt und gleichzeitig die „,defensive‘ Funktion von Gegenöffentlichkeit,
die Kontinuität von Erfahrung zu gewährleisten, [...] häufig zu gering“ geschätzt
werde (vgl. Spehr 2001: 8).
Die Kritik in der Auseinandersetzung mit den skizzierten Vorstellungen von
Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit weist auf zwei bedeutende Punkte hin.
Zum einen sind im Begriff Öffentlichkeit „emanzipatorische Hoffnung und re-
pressive Ordnung“ zusammen zu denken. Beide Teile verweisen so zum anderen
auf die Verbindung zu Gegenöffentlichkeit (vgl. Liesegang 2004: 250).113 Zu
überwinden ist somit die Vorstellung, Gegenöffentlichkeit als von Öffentlichkeit
unabhängige Instanz zu konstruieren. Vielmehr sollten beide als wechselseitig
aufeinander bezogene Punkte begriffen werden. So wird Öffentlichkeit einerseits
als ein Prozess sichtbar, der durch Kommunikation soziale Kooperation erzeugt,
bei dem gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Normgebungen „konstituiert,
verhandelt und verändert“ werden können (vgl. Spehr 2001: 11). Andererseits
wird deutlich, dass Öffentlichkeit sich selbst als kooperativer Zusammenhang
konstituiert (vgl. ebd.). Der demokratische Grad von Öffentlichkeit wäre in diesem
Kontext daran zu messen, wie viel „Infragestellung eine Kooperation akzeptiert
und aushält“, bzw. wie und in welcher Form die bestehenden Kritiken, Fragen und
Widersprüche ausgetragen und in erweiterte Handlungsmöglichkeiten transfor-
miert werden können (vgl. ebd.). Entsprechend wäre Gegenöffentlichkeit „auch
weniger an ihrem Anderssein gegenüber der herrschenden Öffentlichkeit zu mes-
sen als vielmehr an ihrer Verankerung in einer [...] Alltagspraxis“ (ebd.: 10). Eine
solche Alltagspraxis müsse als prozesshafte Entwicklung einer Verknüpfung von
„Gegenöffentlichkeit und Widerständigkeit“ verstanden werden (vgl. ebd.: 10).
Gegenöffentlichkeit sei dabei eine „kollektiv zu entwickelnde Praxis [...], die so-
wohl Regeln von Öffentlichkeit als auch soziale Regeln kontrollierbar überschrei-
tet“ (ebd.: 10). In einem emanzipatorischen Sinne ziele diese Vorstellung darauf,
die „Bedeutung und reale Struktur“ einer Trennung des Öffentlichen vom Privaten
anzugreifen und zu verändern (vgl. ebd.: 9). Mit diesem Anliegen komme auch
eine „emanzipatorische Bewegung nicht umhin, eine allgemeine Öffentlichkeit
auszubilden, in der die Gesamtheit ihrer Akteure über den Gesamtrahmen der Ko-
operation verhandelt“ (ebd.: 11). Im Unterschied zur herrschenden Öffentlichkeit
zeichne sich die Perspektive einer „emanzipatorischen Gegenöffentlichkeit“
dadurch aus, dass sie die Möglichkeit „einer anderen Kombination der verschie-
denen Wünsche und Selbstauffassungen“ ihrer Akteure hervorbringe und so „die

113 Vgl. auch grundsätzlich zum Stichwort einer Dialektik von Öffentlichkeit und Gegenöffentlich-
keit Spehr (2001).
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie 123

Vision eines veränderten Publikums beinhaltet“ (ebd.: 12). In diesem Sinne ist in
Gegenöffentlichkeit selbst die Möglichkeit zur Erweiterung von „Erfahrungs- und
Experimentierräumen“ enthalten und damit auch die Erfahrung möglichen Poten-
zials einer befreiten Gesellschaft angelegt.
Dieser optimistische „Erfahrungs-Gehalt“ ist allerdings in den skizzierten
Widersprüchen von Öffentlichkeit gebrochen und erst in reflexiven Lernprozessen
einer Kohärenzarbeit (Gramsci) sowie einer daraus folgenden Herstellung von Zu-
sammenhängen (Negt) möglich.114 Wichtig ist hierfür, dass in der Organisierung
von Gegenöffentlichkeit die Unterscheidung zwischen „dem Herrschaftselement“
als einer „fixierenden Wiederholung von Zwangssituationen“ einer bürgerlichen
Öffentlichkeit sowie „der Fähigkeit der unmittelbaren Erfahrung“ als „Element
der Autonomie“ gemacht wird (vgl. Negt/Kluge 1972: 470). Letzterer Gedanke ist
von zentraler Bedeutung, da, wie Ernst Bloch deutlich gemacht hat, „allein das
Begreifen der objektiv-realen Möglichkeiten“ und ihrer „realen Potentialität“ zu
deren Realisierung nicht ausreicht (vgl. Jung 2012: 308). Es bedarf des „realisie-
renden Subjekts“ in Verknüpfung mit den anderen, um „subjektives Vermögen in
Gang [zu] setzen“ (ebd.). Werner Jung weist darauf hin, dass die Betonung des
subjektiven Faktors für Bloch deswegen so wichtig sei, weil „Subjektivität [...]
nicht in der Masse, im Strom des objektiven Geschichtsverlaufs, in der Klasse,
Partei, Organisation etc. verloren gehen“ dürfe (ebd.). In diesem Sinne steht das
Subjektive als der erkennbare Beitrag der Einzelnen im Gemeinsamen dem Herr-
schaftselement als einer zwanghaften Vereinzelung in der Gesellschaft oder der
Auflösung des Subjekts im Kollektiven entgegen.

3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie

3.4.1 Hegemonie = Herrschaft?

Alex Demirovic und Nancy Fraser sprechen mit je unterschiedlicher Akzentuie-


rung von Öffentlichkeit als einem hegemonialen Zusammenhang. Demirovic be-
tont, dass Öffentlichkeit Ausdruck einer Form kultureller Herrschaft sei (vgl. De-
mirovic 1997: 282). Fraser spricht davon, dass Öffentlichkeit im Laufe der histo-
rischen Entwicklung Ausdruck einer neuen Form von Herrschaft geworden sei,
die ihre Macht vor allem durch Zustimmung erlange (vgl. Fraser 2001a: 119).
Beide gehen dabei davon aus, dass hierbei die Bedeutung und Reichweite von Öf-
fentlichkeit umkämpft sind. Diese Prozesse wiederum erzeugten die herrschaftli-
chen Zusammenhänge, denen entsprechend sich die Menschen verhielten, in die

114 Vgl. Affolderbach (2016) und dort den Abschnitt zu „Alltagsverstand und Urteilskraft als Ge-
genstände einer Pädagogik des Sozialen“ (114-117).
124 3 Öffentlichkeit

sie sich einordneten, „disziplinierenden und normalisierenden Mechanismen“


(Demirovic 1997: 182) fügen. Fraser spitzt diesen Gedanken noch zu. Sie macht
deutlich, dass die Menschen sich nicht nur zu den herrschaftlichen Zusammenhän-
gen verhalten, sich unterordnen oder fügen würden, sondern Herrschaft durch ihre
„Zustimmung“ (Fraser 2001a: 119) stützten. Im Fokus dieser Vorstellung von He-
gemonie steht eine Idee von Herrschaft, bei der zum einen tendenziell Hegemonie
und Herrschaft ineinander fallen, identisch sind, und zum anderen Hegemonie als
Herrschaftszusammenhang „von oben“ im Zentrum der Kritik steht. Im Blickwin-
kel von Demirovic, so möchte ich schlussfolgern, scheint es beispielsweise ausge-
schlossen, dass „subalterne Gegenöffentlichkeiten“ Formen von „Gegenhegemo-
nien“ hervorbringen könnten. Im Unterschied hierzu vertritt Wolfgang Fritz Haug
den Standpunkt, dass „subalterne Öffentlichkeiten“ kulturell-politische Möglich-
keiten hervorbringen könnten, die als „Gegenmacht-Stützpunkte“ Formen von
„Gegenhegemonien“ entwickeln (vgl. Haug 2004: 2) und jenes Moment unter-
streichen, welches Spehr die „defensive“ Funktion von Gegenöffentlichkeit ge-
nannt hat und damit eine Erweiterung von gesellschaftlichen Experimentier- und
Erfahrungsräumen durch Gegenöffentlichkeit meint (vgl. Spehr 2001: 8).
Im Unterschied zur Vorstellung von Hegemonie als Herrschaft hat Antonio
Gramsci einen „weiten“ Hegemoniebegriffe entwickelt, der vor allem vom
„durchgängigen Blick auf sozial-emanzipatorische Handlungsfähigkeit, also dem
Standpunkt der subaltern Gehaltenen“, geprägt ist (vgl. Haug 2004: 1). Wird aus
dieser Perspektive die Hegemoniefrage gestellt, ist sie „begriffsstrategisch immer
auch als Frage nach dem Sich-Befreien aus der Verstrickung in die herrschende
Ordnung angelegt“ (Barfuss/Jehle 2014: 28). Ohne hier den Hegemoniebegriff
Gramscis aus der Fülle seiner Überlegungen in den Gefängnisheften umfänglich
rekonstruieren zu können, möchte ich kurz die Vorstellung Gramscis von Hege-
monie umreißen.

3.4.2 Hegemonie – Verhältnisbestimmung bei Gramsci

Wie Wolfgang Fritz Haug deutlich macht, entwickelte sich die Vorstellung von
Hegemonie bei Gramsci selbst ein Prozess nach und nach in den Gefängnisheften.
Ausgangspunkt sei hierbei die Diskussion Gramscis in seinem Aufsatz „Einige
Gesichtspunkte der Frage des Südens“, wo er „Hegemonie als von der Arbeiter-
klasse anzustrebende“ Perspektive thematisiert (vgl. Haug 2004: 13). In diesem
Kontext sei „die Frage nach der Hegemonie des Proletariats“, genauer als „Frage
[nach] der sozialen Basis“ gestellt (vgl. ebd.). Hiermit verbinde sich eine Vorstel-
lung von „Hegemonie in Gestalt von Klassenbündnissen“, verknüpft mit der
Frage, wie eine „Mobilisierung der werktätigen Bevölkerung gegen den Kapita-
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie 125

lismus und den bürgerlichen Staat gelingen“ könne, um „zur führenden und herr-
schenden Klasse zu werden“ (ebd.).
Anknüpfend an diese Fragestellung ist „die Differenzierung von ,[F]ühren‘
und ,[H]errschen‘“ von zentraler Bedeutung für Gramsci (vgl. Barfuss/Jehle 2014:
25). Diese Unterscheidung wird zum „Hauptweg“ der weiteren Untersuchungen
Gramscis zur Hegemonie (vgl. Haug 2004: 13). Insbesondere interessiert sich
Gramsci für die Verhältnisbestimmung „von Führen und Herrschen“ (vgl. ebd.)
und formuliert, „dass eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich
›führend‹ und ›herrschend‹“ (Gramsci in Barfuss/Jehle 2014: 25). Und weiter:
„Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber
den gegnerischen Klassen. Deswegen kann eine Klasse bereits bevor sie an die
Macht kommt ›führend‹ sein (und muss es sein): wenn sie an der Macht ist, wird
sie herrschend, bleibt aber auch weiterhin ›führend‹“ (ebd.: 25 f.). Letzterer Ge-
danke Gramscis wird von ihm weitergedacht: „,Es kann und es muss eine politi-
sche Hegemonie auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur
auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die poli-
tische Führung oder Hegemonie auszuüben‘“ (ebd.). Wie Thomas Barfuss und Pe-
ter Jehle zeigen, deutet Gramsci mit „politischer Hegemonie“ den Zusammenhang
„der Französischen Revolution [...], wo die Jakobiner nicht nur ,aus dem Bürger-
tum die ›herrschende‹ Klasse machten, sondern (in gewissem Sinne) noch mehr
leisteten, aus dem Bürgertum die führende, hegemoniale Klasse machten, das
heißt, dem Staat eine dauernde Basis verliehen‘“ (vgl. ebd.).
Wolfgang Fritz Haug weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang
Gramsci den Intellektuellenbegriff erweiterte (vgl. Haug 2004: 14 f.). Mit Intel-
lektuellen meint Gramsci nicht „die gemeinhin unter dieser Bezeichnung begrif-
fenen [besonderen gesellschaftlichen] Schichten“, sondern „die ganze soziale
Masse, die organisierende Funktionen in weitem Sinne, sowohl auf dem Gebiet
der Produktion als auch auf dem Gebiet der Kultur und auf politisch-administrati-
vem Gebiet ausübt“ (Gramsci in Haug 2004: 14).
Im Prozess des Ringens um Hegemoniefähigkeit „einer ›geschichtlich pro-
duktiven‹ gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse“ bringen diese jeweils ihre eige-
nen Intellektuellen hervor. Die Intellektuellen würden so zu Akteuren und Vertre-
tern der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen und zu Organisatoren ihrer jewei-
ligen Interessenlagen (vgl. ebd.: 15). Bleiben in diesem Bild die jeweiligen Grup-
pen auf sich selbst beschränkt, setzte „Hegemoniefähigkeit [...] die Überwindung
des korporativen Stadiums einer ›geschichtlich produktiven‹ gesellschaftlichen
Gruppe oder Klasse voraus“ (ebd.). In diesem Zusammenhang würden die Intel-
lektuellen zu Akteuren einer „Universalisierung“ der Interessen ihrer jeweiligen
Gruppen und verlangen den von ihnen vertretenen Gruppen und Klassen „,Opfer‘
ab[...], um andere Klassen, Schichten und Gruppen ›mitnehmen‹ zu können,
126 3 Öffentlichkeit

indem sie ihnen Entfaltungsmöglichkeiten biete[n]“ (vgl. ebd.). Haug macht deut-
lich, dass sich damit Hegemonie nach Gramsci „nicht bloßer Überredung ver-
dankt, und auch ,kulturelle Hegemonie‘ ist nicht bloß kulturell, sondern muss ir-
gendeine faktisch-gegebene oder zumindest objektiv-mögliche Grundlage in der
Produktionssphäre haben“ (ebd.).
Wie Barfuss und Jehle hervorheben, kennzeichne „eine Kombination von
Zwang und Konsens“ die „normale Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch
gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes“ (Gramsci in Barfuss/Jehle
2014: 26). Hierbei würden „Zwang und Konsens“ ausbalanciert; „sie halten sich
die Waage, ohne dass der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt“ (ebd.). Entspre-
chend nehme hier „Hegemonie [...] die Bedeutung von ,Regierung mit dem Kon-
sens der Regierten‘“ an (vgl. ebd.). Gramsci benutzt den Hegemoniebegriff auf
verschiedene Weise als ein analytisches Instrument und dies immer in einer „Dop-
pelperspektive“, die „Zwang und Konsens [...] in verschiedenen Mischverhältnis-
sen analysiert; gelegentlich markiert Hegemonie auch direkt den Gegenpol zu
Zwang. Dieser Spielraum im Hegemoniebegriff erlaubt es Gramsci, ganz ver-
schiedenen Aspekten nachzuspüren“ (Barfuss/Jehle 2014: 27). In diesem Sinne
stellt sich Hegemonie als Frage auf allen Ebenen der Gesellschaft und forscht dort
nach den Verhältnisbestimmungen von Führen und Herrschen, von „Zwang und
Konsens, Abhängigkeit und Autonomie, passiver Subalternität und individueller
wie kollektiver Handlungsfähigkeit“ (ebd.: 29). Gleichzeitig steht die Frage nach
den Bedingungen und Widersprüchen einer Befreiungsperspektive der Subalter-
nen aus ihrer „Position relativer Schwäche“ (Haug 2004: 1).115 Beide Aspekte sind
in der Hegemoniefrage aufeinander bezogen. Diese Vorstellung von Hegemonie
unterstreicht eine prozesshafte Entwicklung, der „stets gesellschaftliche Antago-
nismen“ zugrunde liegen (vgl. ebd.: 20). Entsprechend ist Hegemonie „ein unab-
schließbares Umkämpftes“ (ebd.). Erscheinen in diesem Zusammenhang Hege-
monieverhältnisse als relative „Übermacht“, so „gibt es stets Formen der Gegen-
macht und Gegenöffentlichkeit, kurz der ,nichthegemonialen Hegemonie‘“ (ebd.).

3.4.3 „Kulturelle Unterscheidung“ – Gegenöffentlichkeit als


Wirkungszusammenhang von Bildung

Wolfgang Fritz Haug hat die skizzierten Verhältnisbestimmungen von Hegemonie


in ein Modell von Vergesellschaftungsprozessen aus „Ideologischem“ und

115 Formen dieser Verhältnisbestimmung und mit ihnen verbundene Widersprüche wurden bereits
weiter vorn im Kapitel Volkssouveränität mit dem Stichwort der Passivierung oder im Kapitel
Zivilgesellschaft bei Barber und Spaltung der Welt bei Negt mit der Kritik am Verständnis von
Zivilgesellschaft als einer positiv-empirischen Sphäre umrissen.
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie 127

„Kulturellem“ übersetzt. Anknüpfungspunkt hierfür ist das Stichwort der „kultu-


rellen Unterscheidung“ bei Gramsci, mit dem er „den ersten Schritt der Herauslö-
sung aus den ideologischen Verhältnissen“ bezeichnet, „in dem die sozialen Grup-
pen ein Bewusstsein ihrer eigenen Identität entwickeln“ (Hirschfeld 2015b: 152).
Der Begriff des „Kulturellen“ beschreibt „ein Moment selbstbestimmter Lebens-
führung, das sich im Verhältnis zu den anderen Momenten von Politik, Ökonomie
und Wissenschaft“ unterscheidet (ebd.).
Mit dem Stichwort des „Ideologischen“ kommt der „Wirkungszusammen-
hang ideeller Vergesellschaftung-von-oben“ in den Blick und verweist auf „die
Form, in der sich die Gesellschaftsmitglieder [...] in die Verhältnisse fügen müs-
sen“ (Haug 1993: 50 f.). Haug verdeutlicht ein Spannungsfeld zwischen Passivie-
rung und Eigenaktivität und hebt hervor, dass die im Verhältnis des Sich-Fügens
liegende „bewußte Tätigkeit“ der Menschen sich verkehrt und Aktivitäten „[v]on
unten nach oben“ in der „neuen Instanz von oben nach unten wirken“ (ebd.: 51)
würden. Passivierung und Eigenaktivität haben ein widersprüchliches Verhältnis
zueinander, welches die oszillierenden Prozesse eines (eigen)aktiven Sich-Hinei-
narbeitens in die Widersprüchlichkeiten, Widerständigkeiten, Begrenzungen und
Möglichkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse umreißt. Demgegenüber steht
das „Kulturelle“ als „Dimension der Ausbildung und des einverständigen Le-
bens“, worin sich die Menschen „selber als Sinn und Zweck ihrer Lebenstätigkei-
ten fassen“ (ebd.: 53). Benannt sind damit die Kräfte und Formen horizontaler
Vergesellschaftung, die sich als „gemeinsame Deutungsmuster, Rede- und Ver-
haltensweisen, Vorlieben und Abneigungen“ herausbilden (vgl. ebd.: 52). In den
Aspekten des „Kulturellen“ und „Ideologischen“ „zeigt sich die Verschränkung
von Herrschaft, Unterwerfung und Selbstbestimmung“ (Hirschfeld 2015b: 153).
Und: „Die ideologische Einbindung gelingt gerade deshalb, weil sie den Indivi-
duen Möglichkeiten der Eigenaktivität einräumt – aber eben in der verschobenen
Form entfremdeter Gemeinschaftlichkeit“ (ebd.). Wie Uwe Hirschfeld hervorhebt
wird „in der kulturellen Unterscheidung [...] die Sinnproblematik des Selbst-
zwecks im Kontext der politischen Hegemoniegewinnung verortet“ (ebd.). Außer-
dem sind mit dem „Kulturellen“ diejenigen Momente menschlicher Lebenstätig-
keit hervorgehoben, die sich einer „Unterordnung oder gar Instrumentalisierung
für politische Zwecke entziehen“ (ebd.).
In diesem Sinne sind die mit Gegenöffentlichkeit einhergehenden Möglich-
keiten einer Erweiterung der „Erfahrungs- und Experimentierräume“ gleichzeitig
Kontexte der Erfahrungen von Selbstverfügung. Für emanzipatorische Gegenöf-
fentlichkeit ist deshalb auch die doppelte Perspektive Oskar Negts zur Herstellung
von Zusammenhängen von Bedeutung. Zum einen (und dies hat Spehr deutlich
gemacht) lebt Gegenöffentlichkeit durch Herausbildung kollektiver Assoziatio-
nen. In emanzipatorischer Perspektive sind diese aber auf reflexive Erfahrung, auf
128 3 Öffentlichkeit

Bildung, auf das Verstehen der (eigenen) Verstrickungen in den gesellschaftlichen


Widersprüchen angewiesen. Gleichzeitig ist deshalb Gegenöffentlichkeit zum an-
deren selbst als Bildungszusammenhang reflexiver Erfahrung zu begreifen. Die
Bedeutung der kulturellen Unterscheidung für den Bildungs-Zusammenhang be-
steht dann darin, „die aus den selbst gesetzten und bewältigten Lernaufgaben her-
vorgehenden alternativen, erweiterten Handlungskompetenzen in praktische
Weltverfügung umzusetzen“ (Hirschfeld 2015b: 154). In der Konsequenz bilden
dann reale Handlungsmöglichkeiten die Erfahrungen „weitertreibende[r] Wider-
stände und Fragen [sowie neuer] Stärken“ (ebd.). Und es kann geschlussfolgert
werden: „An dieser Stelle setzt auch die gesellschaftliche Veränderung als eine
öffentliche ein“ (ebd.).

3.4.4 Gegenöffentlichkeit als Praxis von Bildung – Alltagsverstand und


Urteilskraft als Potenz von Handlungsfähigkeit

Im Anschluss an Haug ist herausgestellt worden, dass sich mit der kulturellen Un-
terscheidung ein, in das Alltägliche eingebettet, widersprüchlicher Prozess kultu-
reller und ideologischer Praxen der Menschen verbindet, bei dem sie sich in ge-
sellschaftliche Verhältnisse einordnen und darin Handlungsfähigkeit erlangen.
Hierbei ist das Ringen um Öffentlichkeit abhängig von den Deutungen und Wahr-
nehmungen der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Einzelnen. Diese formen
sich im Alltäglichen als Alltagsverstand, sind Ausdruck einer widersprüchlichen
Weltauffassung und Knotenpunkt der Verbindungen zu den anderen. Der Alltags-
verstand „ist der Boden, auf dem wir uns alle immer schon bewegen“ (Barfuss/
Jehle 2014: 36).
Mit dem Begriff des Alltagsverstandes, „senso comune“ beziehe ich mich auf
die Überlegungen von Antonio Gramsci und seine Analysen in den Gefängnishef-
ten. Der Alltagsverstand bei Antonio Gramsci ist ein aus verschiedenen, wider-
sprüchlichen Elementen zusammengesetzter, unstrukturierter Zusammenhang.
Entsprechend formuliert er, dass sich im Alltagsverstand „Elemente des Höhlen-
menschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft,
Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Institu-
tionen einer künftigen Philosophie“ fänden (GH 6: 1376). Bei Gramsci hat der
Alltagsverstand eine doppelte Bedeutung. Zum einen verweist er auf „die inhalt-
liche Zusammensetzung des Denkens“ (Hirschfeld 2013: 92). Die Bedeutung des
Alltagsverstandes als Vorstellung einer „Gedankenwelt“ erweitert Gramsci um
den Begriff der „Weltauffassung“ (ebd.). Die „Weltauffassung einer Gedanken-
welt“ wird zur „Weltauffassung der Tätigkeitswelt“ (ebd.). In den Blick kommt
die soziale Praxis. In diesem Zusammenhang ist „der Alltagsverstand [...] nicht
mehr nur Bewusstsein, sondern [eine] in Praxis ausgedrückte Auffassung der
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie 129

Welt“ (Hirschfeld 2015: 100). Entsprechend ist der Alltagsverstand „nichts Er-
starrtes [...], sondern verändert sich fortwährend“ im Alltäglichen (vgl. GH 1: 136
f.). Der übergreifende Begriff der Weltauffassung verweist so auf „die soziale
Funktion der Vergesellschaftung der Individuen“ (ebd.). Die Weltauffassung er-
möglicht ein integrierendes Moment. Mit der „eigenen Weltauffassung gehört
man immer zu einer bestimmten Gruppierung [...] die ein- und dieselbe Denk- und
Handlungsweise teilen“ (GH 6: 1376). Weltauffassung in diesem Sinne wird „als
verbindendes, die soziale Existenz der Menschen bedingendes Element gedacht“;
die „soziale Zugehörigkeit“ (Hirschfeld 2015c: 103) und die „soziale Leistung der
Weltauffassung“ (Hirschfeld 2013: 92) werden betont. Dieser Punkt ist von zent-
raler Bedeutung. Auch wenn der Alltagsverstand in sich widersprüchlich und un-
zusammenhängend ist, „dient [er] der alltäglichen Bewältigung, dem Umgang mit
den Aufgaben und Herausforderungen“ (ebd.: 93) des alltäglichen Lebens. Zwei
Punkte sind hierbei hervorzuheben: Erstens ist der fragmentarische, widersprüch-
liche Charakter des Alltagsverstandes „der kritischen Selbstreflexion“ entzogen
und so Ausdruck „einer passiven Vergesellschaftung [...], keine selbstbestimmte,
eigenaktive, sondern eine passive“ (ebd.). Ist die gesellschaftliche Realität für die
Individuen in ihren alltäglichen Vollzügen „widersprüchlich und unzusammen-
hängend [...], leistet der bizarre Alltagsverstand eine für das Individuum wichtige
Orientierung und einen sozialen Zusammenhalt“ (ebd.), „der über einen, wie ima-
ginär auch immer gemeinsamen Begründungszusammenhang verfügt“ (Affolder-
bach/Hirschfeld 2015: 204). Zweitens dienen „nicht nur die einzelnen Versatzstü-
cke des Alltagsverstandes [...] der Lebensbewältigung, sondern es ist gerade ihre
Trennung, die ein Denken in Abteilungen erlaubt“ (und damit auch widersprüch-
liche Handlungsweisen erlaubt; Hirschfeld 2013: 93). Das spezifische Moment
des Alltagsverstandes wäre hier die Organisation der relativen Unabhängigkeit der
einzelnen „Abteilungen“, sodass sie sich nicht gegenseitig behindern. Eine Bear-
beitung und Befragung der skizzierten Dimensionen sei heikel, da hierbei „die
Gewohnheiten des Alltags“ infrage gestellt werden und „vermeintliche Sicherhei-
ten entschwinden“ (Hirschfeld 2013: 94). Hirschfeld betont deshalb, dass „Hand-
lungsfähigkeit in den ideologischen Verhältnissen der Gegenwart [...] von den In-
dividuen nicht aufgegeben werden“ können, „solange es keine praktischen Alter-
nativen gibt“ (ebd.). Die Richtschnur für eine politische Bildung ist deshalb, sozi-
ale Verbindungen hervorzubringen, „deren Qualität mindestens jener der alten Be-
ziehungen entspricht“ und welche darüber hinaus gleichzeitig Möglichkeiten er-
zeugen, die „eine kritische ,Inventur‘ des Denkens (Gramsci) befördern“ (Affol-
derbach/Hirschfeld 2015: 205).
Genau an diesem Punkt ist der normative Optimismus von Negt zur Heraus-
bildung einer (reflexiven) Urteilskraft kritisch zu machen und mit der Idee des
Alltagsverstandes zu vermitteln. Mit Negt ist „Urteilskraft [...] ein gesellschaftlich
130 3 Öffentlichkeit

gebildetes und praktiziertes Vermögen“, welches „die Dimensionen des Gemein-


wesens [...] in den Reflexionsprozess“, also die Perspektiven und Konflikte der
anderen, einbeziehe (vgl. 2010: 395). Dabei ist Urteilskraft vor allem eine „erwei-
terte[...] Denkungsart“ des einzelnen Individuums, die als „Selbstreflexion des ei-
genen Urteilens“ herausgebildet werden könne (vgl. ebd.). Entsprechend bestehe
eine „Urteilsfähigkeit immer darin, dass ich meine eigenen Bedürfnisse, Interes-
sen, Phantasien verbinde mit der Vorstellung davon, wie es aussehen würde, wenn
dieses höchst Individuelle zu einem allgemeinen Gesetz wird“ (ebd.: 32). Erst mit
einer ausgebildeten individuellen Urteilskraft, so scheint es, sind die Menschen in
der Lage, politisch zu handeln und Zusammenhänge herzustellen. Urteilskraft er-
scheint in ihrer Zielstellung als ein substanzielles Vermögen, welches selbst
scheinbar widerspruchsfrei als Vorbedingung für Handlungsfähigkeit gilt.
Ist der Alltagsverstand eine „chaotische Ansammlung disparater Auffassun-
gen“ (GH 6: 1396), geht es darum, diese „zusammenhangslose und zufällige
Weise“ (ebd.: 1375) der „eigenen Weltauffassung“ zu kritisieren, „einheitlich und
kohärent zu machen“ (ebd.: 1376). Es geht darum, „das Mechanische, von außen
auferlegte Zwanghafte zu verstehen“ (ebd.). Gramsci stellt in diesem Zusammen-
hang den Alltagsverstand in eine Beziehung zur „Philosophie der Praxis“. Ge-
meint ist hiermit, die im Alltagsverstand und seiner „unkritischen Weltauffas-
sung“ (ebd.: 1395) liegenden Verhaltens- und Denkweisen bewusst zu machen
und so schon „bereits bestehende Aktivität[en] zu erneuern und ,kritisch‘“ auszu-
arbeiten (vgl. ebd.: 1382). Ist die „Philosophie der Praxis“ Ausgangspunkt, geht
es zum einen darum, „die Sicht bisher subalterner Gruppen explizit“ zu machen
(Barfuss/Jehle 2014: 55). Zum anderen bilden damit das Alltägliche (Lefebvre)
und die dort gelebten eigensinnigen und widersprüchlichen Handlungsformen der
Menschen die Knotenpunkte dafür „sich ihrer Handlungsfähigkeit und Verantwor-
tung überhaupt erst bewusst werden zu können“ (ebd.).
Ist das Individuum mit seiner individuellen Weltauffassung immer Teil „ei-
ner bestimmten Gruppierung“ und so „immer Masse-Mensch oder Kollektiv-
Mensch“ (GH 6: 1376), kann sich „eine entwickelte Persönlichkeit nur im Kontext
eines kollektiven Zusammenhangs bilden“ (Hirschfeld 2015c: 96). Ist diese Per-
spektive emanzipatorisch ausgerichtet und zielt auf eine Veränderung gesell-
schaftlicher Verhältnisse, meint eine „Philosophie der Praxis“ auch die Entwick-
lung einer „neuen Kultur“ und eines „Kollektivbewusstseins“ (ebd.: 100 f.). Für
den Prozess einer solchen Entwicklung ist hervorzuheben, dass die Denk- und
Handlungsweisen des Individuums mit denen der anderen verknüpft sind. Gleich-
zeitig hebt der kollektive Zusammenhang die Notwendigkeit des individuellen
Beitrages am Gemeinsamen hervor. Das Gemeinsame ist in diesem Sinne keine
„mechanische“, keine „statische“ Größe als Gradmesser eines „Durchschnitts“,
sondern hat die Aufgabe, die „ungekommene menschliche Identität“ hervorzu-
3.4 Öffentlichkeit – Gegenöffentlichkeit und Hegemonie 131

bringen (vgl. Bloch [1961] 1985: 191). Mit dieser Skizze von Gramscis „Kohä-
renzarbeit“ lässt sich mit Blick auf das Verhältnis von Alltagsverstand, reflexiver
Urteilskraft und erweiterter Handlungsfähigkeit folgende Schlussfolgerung for-
mulieren: Es wird deutlich, dass sich „Kohärenzarbeit“ im Sinne Gramscis als ein
Prozess entfaltet, dessen Bedingtheiten und Widersprüchlichkeiten immer je his-
torisch am konkreten Beispiel zu bestimmen sind.
Kohärenzarbeit ist damit eine Arbeit, im Plural der Weltauffassungen das Ge-
meinsame herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang entwickelt sich gesell-
schaftliche Urteilskraft im Prozess des Kollektiven der „Kohärenzarbeit“ selbst.
Insofern gibt es auch nicht die Urteilskraft, sondern sie erschließt sich nur als Plu-
ral eines Bewusstseins erweiterter Handlungsfähigkeit. Urteilskraft ist demnach
keine abschließbare Größe, sondern immer vorläufig und in diesem Sinne eine
sich immer wieder erneuernde Kraft als Bestandteil von erweiterter Handlungsfä-
higkeit. Entsprechend ist eine Bildung erweiterter Handlungsfähigkeit darauf ge-
richtet, alle „Vergesellschaftungsprozesse auf ihre jeweiligen Anteile an Herr-
schaft und Solidarität“ zu befragen (vgl. Hirschfeld 2001: 24 f.). Und: „Produktiv
wird sie, wenn sie Experimentierräume schafft, so dass die Menschen selbst her-
ausfinden können, was ihnen lebenswert ist, ohne in die Vertikale der Herrschaft
eingebunden zu werden“ (ebd.: 25).
4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale
„räumlich Praxis“116

Wie deutlich geworden ist, beginnen sich die Kräfteverhältnisse des Alltagsver-
standes dann im Alltäglichen zu verschieben, wenn die Bildungsprozesse der Ko-
härenzarbeit die Möglichkeiten erzeugen, soziale Verbindungen hervorzubringen,
„deren Qualität mindestens jener der alten Beziehungen entspricht“ und welche
gleichzeitig Momente erzeugen, die „eine kritische ,Inventur‘ des Denkens
(Gramsci) befördern“ (vgl. Affolderbach/Hirschfeld 2015: 205). Beide Dimensi-
onen sind im Kontext einer emanzipatorischen Gegenöffentlichkeit als Teile eines
Wirkungszusammenhanges gegenhegemonialer Praxen zu sehen, die in spezifi-
scher Weise selbst erst die Experimentier- und Erfahrungsräume für eine notwen-
dige Kohärenzarbeit hervorbringen.
Aus dem Blickwinkel der Selbstorganisation sozialer Bewegungen sind hier
die Konflikte im „Zusammenstoß der offiziellen Gesellschaft“ von besonderer Be-
deutung (vgl. Haug 2004: 1231). Den Reibungspunkt bilden Formen institutionali-
sierter Politik und ihre entsprechenden Hierarchisierungen. Sie stehen im Konflikt
mit den Entwürfen der „Gegengesellschaft“ und ihren Vorstellungen alternativer
Vergesellschaftung, die darauf gerichtet sind, die „über ihnen“ liegenden Kompe-
tenzen umzukehren und in Formen der Selbstvergesellschaftung zu transformieren
bzw. ein alternatives Modell von „unten“ dem „oben“ entgegenzustellen (ebd.).
Jan Rehmann hat eine solche Konstellation am Beispiel von „Occupy Wall
Street“ (OWS) untersucht. Er hebt die Bedeutung gegenhegemonialer Praktiken
als wichtigen Aspekt der Selbstorganisation sozialer Bewegungen hervor. In die-
sem Zusammenhang stellt er fest, dass (aktuell) im Diskurs um die Organisation
von Gegenöffentlichkeit der Bewegung „Occupy Wall Street“ und ihrer Nieder-
lage die Frage nach der Konstitution des öffentlichen Raumes durch OWS vor
allem an der Präsenz „alliierter Körper“ (Butler 2016) festgemacht werde (vgl.
Rehmann 2012: 899). Mit Blick auf die Selbstorganisation der Bewegung müsse
aber „zwischen dem sichtbaren Schauplatz, den unterschiedlichen Praxen im

116 Mit dem Stichwort der „räumlichen Praxen“ bezieht sich Jan Rehmann auf Henri Lefebvre und
seine Überlegungen in: „The Production of Space“ (Lefebvre [1974] 1991). Jan Rehmann hat
diese Metapher in seinem Text „Occupy Wall Street und die Hegemoniefrage – eine gramscia-
nische Analyse“ aufgegriffen, auf den ich mich an dieser Stelle beziehe (Rehmann 2012).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_5
134 4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale „räumlich Praxis“

Raum und dem darunterliegenden, meist unsichtbaren rhizomatischen Netzwerk“


(ebd.) differenziert werden.
Mit der Vorstellung von der Präsenz „alliierter Körper“ verweist Jan Reh-
mann auf die Überlegungen von Judith Butler, die sie in ihrem Buch „Anmerkun-
gen zu einer performativen Theorie der Versammlung“ umrissen hat. Ich greife
hier ihre Gedanken aus dem Original auf. Sie stellt fest, dass ein öffentlicher Raum
seinen Geltungsanspruch als öffentlich nicht dadurch erlange, dass es ihn als „öf-
fentlichen Raum schon gibt“, sondern zusammenkommende Körper durch „die
gemeinsame Aktion den Raum selbst einnehmen – sie schaffen den Platz, sie be-
leben und organisieren die Architektur“ (Butler 2016: 97). Die Körper in ihrer
Pluralität erzeugten das Öffentliche durch die Umgestaltung der „stofflichen Seite
ihrer materiellen Umgebung“ und gleichzeitig seien „diese materiellen Umgebun-
gen auch Teil der Handlung“ und „Stütze des Handelns“ selbst (vgl. ebd.: 98). In
diesem „Moment“ sieht Butler die Grenze von Öffentlichkeit und Privatsphäre
schwinden; es lasse sich „nicht mehr sagen, dass Politik ausschließlich in der Öf-
fentlichkeit und außerhalb der Privatsphäre stattfindet“ (ebd.: 97). Das Besondere
dieser Konstellation bestimmt Butler mit Hannah Arendt als den „Erscheinungs-
raum“ (ebd.: 100). Das, was „zwischen den Menschen“ (ebd.: 99) liege, sei der
„wirkliche Raum“, bestehend „aus dem Miteinanderhandeln und -sprechen“
(ebd.). Grundsätzlich würden „Raum und Ort [...] durch plurales Handeln erzeugt“
(ebd.: 100). Diese Sichtweise bedürfe allerdings der Ergänzung, dass „jedes Han-
deln unterstützt wird und unweigerlich körperlich ist“ (ebd.). Denn: „Eine gemein-
sam agierende Gruppe braucht Unterstützung, um agieren zu können, und dies
bekommt eine besondere Bedeutung, wenn die Aktion immer mehr zur Forderung
nach dauerhafter Unterstützung und den Bedingungen für ein lebbares Leben
wird“ (ebd.: 200). Am Beispiel der Occupy-Wall-Street-Bewegung sieht sie die
Aktiven eine „soziale Modalität des Körpers geltend machen“ (ebd.); sie nutzten
ihre „körperliche[n] Ressourcen“ (ebd.). Nicht nur Politik brauche einen „Erschei-
nungsraum“, sondern Politik brauche auch „Körper, die erscheinen“ (ebd.: 202).
Letztere nutzten ihre „Sprache“ oder „Schweigen, konzentrierte Bewegung, Reg-
losigkeit oder jene beharrliche Bündelung von Körpern im öffentlichen Raum bei
Tag und Nacht“, wie es für die Occupy-Wall-Street-Bewegung typisch gewesen
sei (vgl. ebd.: 201 f.). Verallgemeinernd schlussfolgert Butler: „Bevor eine Grup-
pe überhaupt über die Sprache debattieren kann, gibt es eine Zusammenkunft von
Körpern, die gleichsam auf eine andere Weise spricht. Versammlungen behaupten
und inszenieren sich durch Sprache oder Schweigen, durch Handeln oder beharr-
liches Nichthandeln, durch Gesten, durch Zusammenkommen als Gruppe von
Körpern im öffentlichen Raum mit seinen infrastrukturellen Bedingungen – sicht-
bar, hörbar, fühlbar, absichtlich oder ungewollt exponiert und in organisierter oder
spontaner Interdependenz“ (ebd.: 203 f.).
4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale „räumlich Praxis“ 135

Die von Butler aufgemachte Perspektive der „,alliierten‘ Körper der Besetzer
[...], die den öffentlichen Raum konstituieren“, wird von Jan Rehmann als einseitig
kritisiert (vgl. Rehmann 2012: 899). Die Analyse von Butler zu OWS sei ver-
gleichbar zu Sichtweisen von Slavoj Žižek, Antonio Negri oder auch David Har-
vey. Žižek beispielsweise sehe in der Bewegung von OWS „den ,heiligen Geist‘
der frühchristlichen Gemeinden, im Sinne einer ,egalitären Gemeinschaft von
Gläubigen, die durch gegenseitige Liebe miteinander verbunden sind‘“ auferste-
hen (vgl. ebd.). Negri wiederum erkenne in OWS eine „konstituierende Macht“,
die „einen Exodus aus dem demokratischen Konsens und einen Bruch mit der re-
präsentativen Demokratie im Allgemeinen darstell[e]“ (ebd.). Harvey unterstrei-
che, „dass die kollektive Macht der Körper im öffentlichen Raum [im Unterschied
zu den neuen sozialen Medien] immer noch das wirksamste Mittel der Opposition
darstell[e]“ (vgl. Rehmann 2012: 899).
Enthielten diese „Interpretationen [...] Richtiges“, sei „aber die einseitige
Konzentration auf das Sicht- und Erlebbare im Raum“ gerichtet, was „leicht zur
Illusion der Unmittelbarkeit führe“ (ebd.: 900).117 Dies bedeutet beispielsweise,
dass die eigentlichen Praxen der Leute in den Hintergrund treten, die überhaupt
erst die Möglichkeit und Stabilisierung einer „Allianz“ der Körper im öffentlichen
Raum hervorbringen. In diesem Zusammenhang schlägt Rehmann vor, den Be-
griff der „räumlichen Praxis“ von Henri Lefebvre nutzbar zu machen, um das Han-
deln sozialer Bewegungen „hegemonietheoretisch aufzuschlüsseln“ (ebd.: 900).
Raum fasst Lefebvre als eine „Dreiheit“ aus „räumlicher Praxis“, den „Raum-
präsentationen“ und den „Repräsentationsräumen“ (2006: 333).118 Unter räumli-
cher Praxis versteht er diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse und „sozialen For-
mationen“, die einen „relativen Zusammenhalt“ sichern, das Alltägliche produzie-

117 Im Kontrast hierzu leide der „Erscheinungsraum“ unter „Idealisierung“ und führe zu einer Ver-
kürzung im Anspruch der Ausweitung von Demokratie (vgl. Rehmann 2012: 906). Demokratie
bleibe in der „Beschwörung von direkter Demokratie und Konsensprinzip in Vollversammlun-
gen“ stecken und verkenne die Notwendigkeit der Überschreitung dieser Grenze und eine Aus-
weitung der Demokratie „in Konzepte einer Wirtschaftsdemokratie“ (ebd.). Die Perspektive für
konkrete Anknüpfungspunkte an wirtschaftsdemokratische Strukturen und Initiativen in der Ge-
genwart komme der Sichtweise des „Erscheinungsraumes“ gar nicht in den Sinn und ignoriere
damit ein wesentliches Element von OWS, die „99%-Parole“, die „den grundliegenden Gegen-
satz zwischen Demokratie und Kapitalismus“ hervorhebe und damit „implizit bereits eine Be-
wegung für Wirtschaftsdemokratie“ enthalte, „ohne jedoch den Begriff explizit und systematisch
auszuarbeiten“ (ebd.). Mit der „Idealisierung des Erscheinungsraums“ als „alliierte Körper“
werde die für OWS tragende Rolle von z. B. Ideen und Praktiken, in der „Gründung von Genos-
senschaften“ oder „in sozialdemokratischen Koop- und Mitbestimmungsmodellen [...] ihren um-
fassenden und deutlichen Ausdruck fanden; und in den Traditionen der kommunistischen Räte-
bewegung“ Vorbilder hatten, nicht nur nicht wahrgenommen, sondern schlicht als notwendig
tragende und weiter zu entwickelnde Kräfte einer Handlungsperspektive auf der „Höhe des ge-
genwärtigen Hightech-Kapitalismus“ ignoriert und verkannt (vgl. ebd.).
118 Vgl. auch Lefebvre ([1974] 1991: 33 und 38 f.).
136 4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale „räumlich Praxis“

ren und reproduzieren (vgl. ebd.: 333). Es sind diejenigen räumlichen Praktiken,
die „die Alltagswirklichkeit (den Zeitplan) und die städtische Wirklichkeit (die
Wegstrecken und die Verkehrsnetze, welche Arbeitsplätze, Orte des Privatlebens
und der Freizeit [...]) miteinander verbinden“ (ebd.: 335). Mit Raumpräsentatio-
nen skizziert er den „konzipierten Raum [...] der Raumplaner, [...] der Technokra-
ten, die ihn zerschneiden und wieder zusammensetzen. [...] Dies ist der in einer
Gemeinschaft dominierende Raum“ (ebd.: 336). Es handelt sich hierbei um den
organisierten, administrativ bestimmten Raum, verknüpft mit spezialisierten
„Kenntnissen, Zeichen, Codes und frontalen Beziehungen“, mit denen Ordnung
durchgesetzt wird (vgl. ebd.: 333). Mit dem dritten Punkt, den Repräsentations-
räumen skizziert Lefebvre ein Feld, „vermittelt durch Bilder und Symbole, [...]
ein[en] Raum der Bewohner, der Benutzer. [...] Es ist der beherrschte, also erlit-
tene Raum, den die Einbildungskraft zu verändern und sich anzueignen sucht“
(ebd.: 336). Lefebvre verweist somit auf Momente, die einen Spannungsbogen von
Phantasien, Wünschen, dem Utopischen hin zum Möglichen, zu konkreten Praxen
und Aneignungsformen schlagen.
Vor diesem Hintergrund und orientiert an den konkreten Praxen analysiert
Rehmann den besetzten Zucotti Park „als raum-zeitliches Dispositiv eines alter-
nativen Hegemonialapparates, in dem verschiedene gegenhegemoniale Praxen
und Funktionen zusammengeführt“ worden seien: „politische Debatten und demo-
kratische Entscheidungsprozesse; Medienarbeit, sowohl bezogen auf die eigenen
als auch auf die Mainstream-Medien; Bildungsarbeit sowohl mit bekannten Intel-
lektuellen als auch in kleineren Arbeitsgruppen; eine Bibliothek“, kurz: „der im-
mer wieder gefährdete Versuch, Solidarität und Kooperation als Lebensweise zu
praktizieren“ (ebd.).119 Soziale Bewegungen bräuchten deshalb „stabile Stütz-
punkte“ als „Erfahrungs- und Experimentierräume“, „die es ermöglichen, die Kri-
tik am Kapitalismus und Alternativen immer wieder vorzutragen“, um „die buon
senso-Elemente des Alltagsverstandes vom Gewicht der herrschenden Ideolo-
gien“ zu entlasten sowie „stabile Institutionen und Diskurspositionen“, kurz: Zu-
sammenhänge, herstellen zu können (vgl. ebd.: 906). Subalterne Öffentlichkeit
entsteht in gegenhegemonialen Praxen. In den Mittelpunkt rücken dabei diejeni-
gen Dinge, welche die unterschiedlichen Initiativen praktisch tun und als Organi-
sationsformen hervorbringen Diese Sichtweise schließt performative Praktiken

119 Eine vergleichbare Perspektive vertreten Jan Rehmann und Willie Baptist in ihrem Buch „Peda-
gogy of the poor: building the movement to end poverty“. Das Buch versteht sich als Werkzeug
zur Analyse von Gesellschaft, um sich in gesellschaftlichen Widersprüchen bewegen und Hand-
lungsfähigkeiten entwickeln zu können. Insbesondere mit Gramscis hegemonietheoretischer
Perspektive lasse sich erkennen, welche Strategien der Einbindung „von oben“ zur Passivität
führen. Außerdem sei festzuhalten, „whether specific reforms help transform the existing power
structures, contribute to an alternative network of social forces from below, and open up per-
spectives that go beyond the existing system“ (Rehmann in Baptist/Rehmann 2011: 114).
4 Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale „räumlich Praxis“ 137

(wie sie Butler beschreibt) ein und vermeidet gleichzeitig, die Handlungsformen
subalterner Gegenöffentlichkeit normativ bestimmen zu wollen. Was die Praxen
subalterner Gegenöffentlichkeit sind, lässt sich demnach dann nur an konkreten
Beispielen diskutieren.
5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-
Organisieren

Kritischer Reibungspunkt ist die Feststellung von Alex Demirovic (1997), dass
der Begriff Öffentlichkeit entgegen den Annahmen aktueller Demokratietheorien
über ein erheblich geringeres emanzipatorisches Potenzial verfüge, als diese be-
haupten würden. Die in dieser Überlegung enthaltene Kritik verweist auf Öffent-
lichkeit als ein Instrument von Herrschaft zur Erzeugung von Hegemonie. Wie
weiter oben diskutiert wurde, besteht die Grenze dieser Kritik darin, diejenigen
Momente im Ringen um Öffentlichkeit nicht herausarbeiten zu können, die Nancy
Fraser als „subalterne Öffentlichkeiten“ (2001a) beschrieben hat. Deren Bedeu-
tung besteht nach Oskar Negt (2010), Wolfgang Fritz Haug (2004) und Christoph
Spehr (2001) darin, durch die Organisation von Gegenöffentlichkeiten gleichzei-
tig Situationen einer Erweiterung von gesellschaftlichen Experimentier- und Er-
fahrungsräumen hervorzubringen. Hierbei steht die Frage, inwieweit das Span-
nungsfeld Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit ein Ermöglichungsraum für
Formen emanzipatorischer Selbstorganisation von Menschen darstellen kann, im
Zentrum geht es im Folgenden darum, Formen der Entfaltung sowie Blockierung
subjektiver und kollektiver Handlungsfähigkeit zu untersuchen.

5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise –


„Dokumentierende Interpretation“ und „Arbeitsbündnis“
Skizze meiner methodischen Herangehensweise

5.1.1 Meine Arbeit mit den Interviews zur Gewinnung einer Perspektive „von
unten“

Zunächst möchte ich mich kurz erinnern, was meine ursprüngliche Idee für meine
empirische Arbeitsweise in dieser Arbeit war. Dies möchte ich deshalb tun, weil
darin (m)eine Suchbewegung zum Ausdruck kommt, wie sich eine Erhebung einer
Perspektive „von unten“ entwickeln, aber auch gleichzeitig im Prozess der Ausei-
nandersetzung mit der Thematik verändern kann.
Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen im Hinblick auf eine geeignete
methodische Herangehensweise bildete eine praktische Erfahrung. Auf diese Er-
fahrung gehe ich zu einem späteren Zeitpunkt noch etwas genauer ein, wenn ich
über die einzelnen Interviews und hier insbesondere über das Gespräch mit Martin

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_6
140 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

berichte.120 Nur so viel: Meine Erfahrung mit Interviews war bis dahin gewesen,
dass ich selbst ein paarmal von Wissenschaftler*innen interviewt worden war. Sie
hatten sich entweder als Evaluator*innen für die Zusammenhänge meiner Arbeit
interessiert oder mich als Sozialwissenschaftler*innen zu spezifischen Problemen
und Themenstellungen befragt, die sie im Kontext meiner Arbeitstätigkeit interes-
sierten, wie etwa meine Erfahrungen im Umgang mit Rassismus in der Jugendar-
beit. Mein Eindruck war gewesen, dass diese Interviews immer dem gleichen
Muster folgten. Professionelle Leute, die als Wissenschaftler*innen arbeiteten,
hatten sich Gedanken gemacht. Entsprechend folgte ein Interview einem Leitfaden
und einem Gedankengang der Interviewenden, der mir als Interviewten verschlos-
sen blieb. Gleichzeitig wurden die Gespräche immer aufgezeichnet. Mir wurde
erklärt, was mit den Daten passieren würde, mit welchen Mitteln, Theorien oder
Methoden sie ausgewertet würden. Ich verstand davon nichts. Was ich erzählte
würde das Material von anderen, Mittel für deren Erkenntnisgewinn. Eine Rück-
kopplung zu mir oder ein weiterer Austausch zu den im Interview angesprochenen
Themen war nicht vorgesehen.
Vor diesem Hintergrund wollte ich es etwas anders versuchen. Meine Vor-
stellung war, die Interviewten in den Prozess des Interviews und in die Diskussion
des Interviewtextes einzubeziehen. Meinen ersten Versuch mit dieser Überlegung
machte ich mit Martin im Zusammenhang mit meiner Masterarbeit.121 Später habe
ich Martin im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit noch einmal interviewt.
Ich wollte die Erfahrung mit „Gewaltverhältnissen“ und Prozessen „gewaltsamer
Ausschließungen“ am konkreten Beispiel untersuchen. Hierfür führte ich mit Mar-
tin ein Gespräch, schrieb es ab und gab ihm die Abschrift mit der Bitte, den Text
zu lesen und aufkommende Fragen und Probleme zu notieren, damit wir diese in
einem zweiten Gespräch würden diskutieren können. Gleiches machte ich mit dem
Text des Interviews. Einige Zeit später trafen wir uns noch einmal, um die gefun-
denen Fragen und Probleme zu besprechen. Auf die inhaltlichen Punkte kann ich
hier nicht eingehen. Mit Blick auf die methodische Herangehensweise sind aber
einige Punkte anzumerken.
Das Interview mit Martin für meine Masterarbeit machte ich, entgegen der
Lehrmeinung meines damaligen Soziologieprofessors, ohne einen Interviewleit-
faden. Ich hatte hierfür zwei Gründe. Zum einen wollte ich auf diesem Wege ver-
suchen, ein Gespräch mit Martin zu entwickeln, welches in der Tendenz einem
dialogischen Austausch nahekäme. Zum anderen wollten wir eine Situation the-

120 Der Name Martin ist ein Pseudonym. Auch alle Namen meiner Interviewpartner*innen und die
von ihnen in unseren Gesprächen benutzten Namen sind von mir durch Pseudonyme zum Zwe-
cke der Anonymisierung ersetzt worden.
121 Auch an hier verzichte ich wieder auf konkrete zeitliche Angaben, um weitestgehende
Anonymität meiner Gesprächspartner*innen zu wahren.
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 141

matisieren, die wir beide in unterschiedlichen Rollen (er: Mitglied einer antiras-
sistischen Initiative, ich: Mitarbeiter Mobiles Beratungsteam) gemeinsam erlebt
hatten.
Ganz so einfach war es nicht. Ein Gespräch im angedeuteten Kontext als eine
Art des Dialogs zu entwickeln, ist nicht einfach und passiert keineswegs automa-
tisch. Aus meiner Erfahrung mit Martin kann ich sagen, dass dies nichts mit damit
zu tun hatte, einen Leitfaden zu haben oder nicht. Es war eher eine naive Vorstel-
lung einer Gleichheit, die ich im Zugang zum Gegenstand und zu damit verbun-
denen Fragen unterstellte. Auch ich war auf einmal zum Forscher geworden. Hie-
raus ergab sich eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Martin und mir. Ich
war derjenige, der ein Untersuchungsinteresse hatte, und zwar ein doppeltes. Zum
einen wollte ich natürlich eine Masterarbeit schreiben, brauchte dafür Material.
Zum anderen unterstellte ich ein gleiches Lerninteresse am von uns diskutierten
Gegenstand von Martin und mir. Nur die Fragen von Martin und mir gingen aus-
einander. Er interessierte sich für völlig andere Dinge, als ich unterstellte (und
unterstellen wollte).
In diesem Zusammenhang wurde mir deutlich, dass ich in einem wider-
sprüchlichen Verhältnis agierte. Ich selbst war in einer starken Position als For-
scher und Martin als Beforschter war Objekt meines Interesses. Zuspitzend ist dies
ein hierarchisches Verhältnis oder das Verhältnis einer Trennung von Subjekt und
Objekt und im schlechtesten Fall eine Trennung des Subjekts Martin von seiner
Interpretation der Thematik bzw. die Unterordnung seiner Überlegungen unter
meine. Weiter zuspitzend: In dieser Perspektive werden dann auch die Beforsch-
ten als passiv und die Forschenden als aktiv betrachtet. Ich erinnere mich daran,
dass ich dies so spürte und nicht in eine theoretische Sprache übersetzen konnte.
Das von mir hier angedeutete Dilemma habe ich erst später in Auseinandersetzung
mit der Aktionsforschung und hier insbesondere mit den Überlegungen von Heinz
Moser deuten können.
Auch in einem Prozess von Forschung, so wie ich ihn mir vorstellte – eine
„strenge Scheidung in Theoretiker und Praktiker [...] zugunsten“ einer kooperati-
ven Beziehung zu lockern – ist es so, dass „der Wissenschaftler im Erkenntnisakt
sich ein Gegenüber zum Objekt machen muss, wenn es überhaupt so etwas wie
Erkenntnis geben soll“ (vgl. Moser 1975: 137 f.). Verstehe ich dies als eine struk-
turelle Bedingtheit, die sich im von mir skizzierten Widerspruch ausdrückt, kann
aber im Forschungsprozess selbst durch „mein Handeln“ daran gearbeitet werden,
den anderen „nicht nur als Gegenstand“ zu betrachten, „sondern als mir entgegen-
gesetztes Subjekt, das selbst von Interpretationen der Situation, in der wir beide
sind, ausgeht und ebenso wie ich daraufhin sein Handeln abstimmt“ (ebd.). Und
Heinz Moser weiter: „Ich kann mich ihm gegenüber nicht als ihn vollständig kon-
trollierend verhalten, sondern muss auf seine Handlungsintentionen eingehen.
142 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Und Ziel des Handelns ist es, geradezu eine gemeinsame Interpretation dieser Si-
tuation zu finden, in der Verhandlung der subjektiven Handlungsintensionen zu
einem gemeinsamen Konsens zu gelangen“ (ebd.). Heinz Moser geht es zum einen
darum, die Beteiligten, z. B. in meinem Fall Martin und mich, als jeweils eigen-
ständig handelnde Subjekte wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Zum anderen
geht es darum, in der Orientierung auf das Subjekt oder, wie er sagt, in einem
„Subjektivierungspostulat“, das Instrumentelle forscherischen Handelns nicht zu
verleugnen und verschwinden zu lassen (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund for-
muliert Heinz Moser, dass nicht „jede einzelne Phase eines Forschungsprojektes
im Sinne kommunikativen Handelns zu gestalten“ sei, sondern vielmehr „der For-
schungsprozess insgesamt von diesem Charakteristikum“ geprägt sein solle (vgl.
ebd.). Entsprechend ginge es dann darum, in den Forschungsprozess Elemente
einzubauen, bei denen die gesammelten Daten, wie in meinem Falle z. B. das In-
terview mit Martin, „von allen Beteiligten [von Martin und mir] verhandelt wer-
den“ (ebd.).
Im Unterschied zu meinem Anliegen im Interview mit Martin und meiner
hier vorliegenden Arbeit beziehen sich die Überlegungen von Heinz Moser vor
allem auf eine Forschung, die selbst darauf zielt, gemeinsam mit Beforschten zu-
sammen zu handeln sowie das gemeinsame Handeln und gleichzeitig die (gesell-
schaftliche) Praxis forschend zu verändern. Den Anspruch, den Heinz Moser für
die Aktionsforschung formuliert, konnte ich nicht einfach auf mein Vorhaben
übertragen.122 Dies ging auch schon allein deswegen nicht, da mein Projekt, mit
einer antirassistischen Initiative ins Gespräch zu kommen, keine Untersuchung
war, die sich in einem laufenden, gemeinsam gestalteten Prozess verortete. Die
Initiative gab es zum Zeitpunkt meiner Untersuchung nicht mehr. Dennoch habe
ich aus den Überlegungen von Heinz Moser und aus meinen Erfahrungen im In-
terview mit Martin einige Punkte für mein Forschungsvorhaben mitgenommen,
welche, so meine ich, für die Herausarbeitung einer Perspektive „von unten“ von
Bedeutung sind.

122 Ich kann hier nicht näher auf die Aktionsforschung eingehen. Wie deutlich werden sollte, war
die Auseinandersetzung mit der Aktionsforschung für mich ein Zugang zur Reflexion meiner
Erfahrung und die Möglichkeit, die Erfahrung einer Widersprüchlichkeit zur Sprache bringen zu
können. Ich beziehe mich auch deshalb auf Heinz Moser, weil er, wie auch Chantal Munsch
deutlich macht, als Vertreter der Aktionsforschung eine Ausnahme bildet und aus „der Kritik an
der traditionellen, empirischen Forschung“ ein empirisch fundiertes Konzept entwickelt hat (vgl.
hierzu Munsch 2005: 924 und zum Konzept Moser: 1975, 1977a/b). Die Aktionsforschung
muss(te) sich Kritik gefallen lassen. Einmal wurde ihr vorgeworfen, das Verhältnis von Wissen-
schaftler*innen und Beforschten „zu wenig hinterfragt als gleichberechtigt postuliert“ zu haben
und ein andermal waren ihre Annahmen zu „gesellschaftspolitischen Veränderungsmöglichkei-
ten [...] zu idealistisch“ (ebd.). Chantal Munsch betont, dass sich bei Berücksichtigung der Kri-
tikpunkte dennoch ein sinnvoller Forschungsrahmen mit der Aktionsforschung, z. B. für „Pra-
xisforschungsprojekte“, gewinnen lasse (ebd.).
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 143

Mit den Überlegungen von Heinz Moser und meiner Erfahrung aus dem In-
terview mit Martin geht es im Kern darum, die Beforschten als Subjekte ihrer Er-
fahrungen ernst zu nehmen und sie in den Forschungsprozess einzubeziehen. Zu
berücksichtigen ist der oben skizzierte Widerspruch des Instrumentellen im Han-
deln des Forschers. Um die Akteure in den Forschungsprozess einzubinden, bedarf
es zum einen einer offenen Interviewmethode, die dialogische Elemente ein-
schließt. Aus meinem ersten Interview mit Martin habe ich die Erfahrung mitge-
nommen, dass es auch wichtig ist, eine offene Interviewmethode zu nutzen, wenn
es darum geht, von den Interviewten ihre Deutungen ihrer Handlungsweisen in
bestimmten Situationen zu erfahren. Für meine hier vorliegende Arbeit habe ich
mich deshalb für die Form narrativer Interviews entschieden. Letztere sind vor
allem von Fritz Schütze als Methode im Zusammenhang mit biografischer For-
schung in den Mittelpunkt gestellt worden (vgl. hierzu etwa Thomas Brüsemeister
2000). In meiner Untersuchung geht es mir nicht um eine Arbeit an Biografien.
Dennoch sehe ich im narrativen Interview eine Herangehensweise, um die Offen-
heit zu erzeugen, durch sie Momente entstehen, in denen die Interviewten am Bei-
spiel konkreter Situationen ihre Handlungsweisen und Bewältigungsformen erläu-
tern können. Es geht in diesem Zusammenhang um das Verstehen der konkreten
Vergesellschaftungsweisen und ihrer Widersprüche und darum, die damit ver-
knüpften Erfahrungen der Interviewten zur Sprache zu bringen. Die Wichtigkeit
dieses Punkts unterstreicht Helga Cremer-Schäfer: „Handlungsweisen lassen sich
nur verstehen, wenn die Bedeutungen, durch die Akteure die Gegebenheit einer
Situation definieren, in Erfahrung gebracht und ihre Strategien der Situationsbe-
wältigung darauf bezogen werden“ (Cremer-Schäfer 2010: 242). In das Blickfeld
rücken somit Situationen des Alltäglichen und die dortigen Bewältigungsformen
der befragten Akteure. In diesem Zusammenhang bestimmt sich dann, was als
Selbstorganisation einer antirassistischen Initiative verstanden werden kann, was
deren Vorstellungen einer Gegenöffentlichkeit ausmacht und wie sich diese Pro-
zesse im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstbestimmung entfalten oder bre-
chen, aus den Erfahrungen und in den Begriffen der Interviewten. Hierbei entsteht
die Möglichkeit, den von mir skizzierten Widerspruch des Instrumentellen und die
starke Position des Forschers im Verhältnis zu den Beforschten durch den Eintritt
von deren Perspektive in die Deutung und durch die Bestimmung, was Selbstor-
ganisation, Demokratie oder Gegenöffentlichkeit aus ihrer Sicht und ihren Worten
bedeutet, zu lockern.
Oben habe ich die Bedeutung einer offenen Interviewmethode für diese For-
schungsarbeit hervorgehoben. Gleichzeitig braucht es im Forschungsverlauf aber
auch Elemente einer Rückkopplung für die Beforschten. Mit Blick auf meine Er-
fahrung des Interviews mit Martin ist mir dieser Punkt wichtig geworden. Martin
und ich haben damals das abgeschriebene Interview gelesen. Wir trafen uns dann
144 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

noch einmal, um darüber zu diskutieren. Ich erinnere mich daran, dass wir mit
dem Interview einen gemeinsamen Gegenstand hatten. Am verschriftlichten Text
konnten wir unsere eigenen, aber auch die Gedankengänge des jeweils anderen
noch einmal nachvollziehen (Martin: seine Erzählpassagen, ich: meine Fragen und
Bemerkungen zu Martins Überlegungen) und die mit ihnen aufkommenden Fra-
gen, mit ihnen verbundenen unterschiedlichen Erfahrungen, Sichtweisen und
Möglichkeiten diskutieren sowie den Text des Interviews weiter interpretieren.
Auf diese Herangehensweise habe ich auch in der empirischen Arbeit für meine
hier vorliegende Forschungsarbeit zurückgegriffen. Jede und jeder Interviewte hat
von mir ihr oder sein verschriftlichtes Interview bekommen. Ich verband dies mit
der Bitte, zum einen zu überlegen, ob sie mit dem Gesagten so einverstanden sein
können, und mir zum anderen ein Zeichen zu geben, ob ich das Interview so für
meine Arbeit würde verwenden können. Des Weiteren bat ich sie, das Interview
zu lesen und Notizen, Fragen, Probleme oder Themen zu notieren, die ihnen beim
Lesen wichtig wurden. Diese Themen, Fragen und Probleme bildeten dann die
Grundlage oder besser die Ausgangspunkte für unser Gruppengespräch. Diese
Herangehensweise erwies sich als sehr produktiv, da sich die Interviewten tatsäch-
lich intensiv mit ihren Interviews beschäftigten und vor diesem Hintergrund je-
weils konkrete Problemstellungen und Themen für das Gruppengespräch mit-
brachten. Das Interessante war, dass wir uns recht schnell auf zwei Themen-
schwerpunkte einigen konnten, die alle auf ihren Notizzetteln als wichtige Erfah-
rungszusammenhänge ihrer Initiative hatten. Im Grunde markierten die von ihnen
aufgerufenen Themen, vergleichbar zu den „generativen Themen“ bei Paulo
Freire, Knotenpunkte ihrer Erfahrungen als Gruppe, die dann im Gruppengespräch
als spezifische Erfahrungen mit Grenzsituationen aus den jeweiligen Perspektiven
der Interviewten erkundet wurden. Ich als Forscher entwickelte mich in diesem
Prozess zum „Beobachter“ mit vereinzelten Nachfragen und Kommentaren, die
allerdings eher sperrige Einwürfe waren und die Dynamik der Diskussion der
Leute unnötig bremsten. Als ich das Gruppengespräch las, fiel mir dies besonders
auf, da die Interviewten unbeirrt von meinen Einwürfen ihre Themen weiterver-
folgten. Am Ende des Gesprächs machten die Interviewten den Vorschlag, das
Gruppengespräch zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu machen. Ein sol-
ches Gespräch haben wir dann letztlich nicht organisiert bekommen. Aber die In-
terviewten hatten weitere Themen gefunden, die sie interessierten und, vor allem,
zu denen sie meine Sichtweisen hören wollten. Auch dieses Gespräch habe ich
abgeschrieben und den Interviewten zum Lesen gegeben. Auch hier hatte ich die
Bitte, zu überlegen, ob sie mir die Mitschrift für meine Arbeit freigeben könnten.
Etwas vorsichtig möchte ich formulieren, dass mit den skizzierten Sequenzen
Elemente, oder kleine Bausteine zu erkennen sind, mithilfe derer die Beforschten
in den Forschungsprozess einzubeziehen sind. Ist hierbei der Maßstab das
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 145

Dialogische (in Orientierung an Paulo Freire und Martin Buber), geht es dabei
nicht einfach nur um eine Form der Beteiligung, die sich am Grad einer techni-
schen Realisierung der geschilderten Elemente messen ließe. Hierbei wäre der
Einbezug der Beforschten ein instrumenteller. Vielmehr geht es in dieser Perspek-
tive um die Einrichtung von Elementen zur Begrenzung fremdbestimmender Mo-
mente durch den Forscher zugunsten einer Erweiterung selbstbestimmter Sequen-
zen für die Interviewten.

5.1.2 Dokumentierende Interpretation

Ein Interview ist ein „Untersuchungsinstrument“. Ein Interview wird zum „ge-
wonnenen Datenmaterial“. Die Interpretation eines Interviews wird zu einer Ver-
fahrensweise, zu einem technischen „Auswertungsverfahren“ zur Bearbeitung des
„Materials“, welches mithilfe einer „Kodifizierung“ wie im Falle der Grounded
Theory strukturell umgearbeitet wird. Schon die Sprache ist zumindest irritierend.
Gilt diese Form der Sprache auf der einen Seite als Ausdruck einer (professionel-
len) methodischen Arbeitsweise im Umgang mit Interviews und deren Interpreta-
tion, legen sich die benutzten technischen Begriffe auf der anderen Seite schwer
und bleiern auf die Erzählungen der Interviewten. Die Arbeit des Forschers gleicht
dann dem Tun eines Mechanikers, der in Orientierung an einer „Bedienungs-
matrix“ (Stehr 2016: 50) das Material bearbeitet und formt.
Eine Schwierigkeit, die ich sehe, hat Johannes Stehr am Beispiel der Groun-
ded Theory deutlich gemacht. Im Zuge einer „Konjunktur“ qualitativer Forschung
und einer damit verbundenen „Industrialisierung der Datenproduktion“ habe sich
der Zwang erhöht, „Methoden auszuarbeiten und qualitative Forschung lehr- und
lernbar sowie berechenbarer zu machen“ (Stehr 2016: 48). In diesem Zusammen-
hang habe sich die Grounded Theory zu einer „Forschungstechnologie entwickelt“
(ebd.). Johannes Stehr kritisiert an dieser Entwicklung insbesondere, dass die an-
fänglichen Bezüge der Grounded Theory zum symbolischen Interaktionismus, z. B.
zu „Blumers Idee der ,sensibilisierenden Konzepte‘“ abgeschnitten worden seien
(vgl. ebd.: 49). Die „sensibilisierenden Konzepte“ zielten auf eine geleitete „Inter-
aktion mit den Daten“, die in Verbindung mit der „Methode des ständigen Verglei-
chens“ die Interaktion mit den Daten „weiterentwickeln“ und vertiefen sollte (ebd.).
Einhergehend mit diesem „zyklischen Forschungsprozess“ und dessen „aduktive[r]
Logik“ gehe es darum, „auf der Basis der Entwicklung möglicher analytischer
Ideen in der Interaktion mit den Daten zu einem dichteren Konzept“ zu finden
(vgl. ebd.).
Mit Einführung der „Kodifizierung“ und der „Anleitung [...] zum Kodieren
qualitativer Daten“ und der Verfahrensweise „des offenen, axialen und selektiven
Kodierens“, so Stehr, seien die „kreativen Momente für die Durchführung qualitati-
146 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

ver Forschung“, sei der „zyklische-iterative“ Charakter „des sozialwissenschaftli-


chen Denkens und der Interaktion zwischen Daten und Ideen“ verloren gegangen
(vgl. ebd.: 49 f.).123 In der Folge wurden „Theorie und empirische Forschung vonei-
nander getrennt“ und „Forschung nicht mehr als soziale Interaktion verstanden“
(ebd.). In dieser Weise „neutralisieren sich [die Forschenden] und machen darüber
ihre eigenen Interessen, Positionierungen und damit die eigenen Verstrickungen
in die Konfliktfelder der untersuchten Phänomene unsichtbar“ (ebd.). Ist in diesem
Sinne so das Handeln der Forschenden einer Reflexivität entzogen, ergeht es den
„Forschungssubjekten“ und den von ihnen „artikulierten Narrationen“ ähnlich
(ebd.). Sie werden nicht „als Form der sozialen Interaktion“ verstanden und unter-
sucht (vgl. ebd.). Johannes Stehr spricht deshalb auch von einer Tendenz der „Ver-
dinglichung des generierten Wissens“ im Forschen mit der Grounded Theory, mit
der Folge, dass die „Konflikthaftigkeit“ gesellschaftlicher Phänomene und „die
Vielfalt der möglichen Perspektiven auf einen Gegenstand“ verkürzt oder nicht
erkannt würden (ebd.).
Der Forscher bearbeitet dann das Material mechanisch und behandelt es so,
als hätte es nichts mit ihm selbst zu tun. Die in den Narrationen der Forschungs-
subjekte enthaltenen Erfahrungen können dann nicht als gesellschaftlich bedingte
relationale Zusammenhänge verstanden werden. Dies kann zugespitzt dazu füh-
ren, dass im Auswertungsprozess „homogene, geschlossene Kategorien“ entwi-
ckelt werden, „die den Bezug zu sozialen Interaktionsprozessen nicht mehr kennt-
lich machen, die nicht mehr zu relationalen Konzepten führen (können) und die
die Forschenden mit ihrer Sichtweise privilegieren“ (ebd.: 59).
Um die hier angesprochene Tendenz einer Verdinglichung zu vermeiden,
brauche ich eine Verfahrensweise, die eine Offenheit erzeugen kann, die einerseits
eine geleitete Interaktion mit den Daten ermöglicht und andererseits die kreativen
Momente einer Interaktion zwischen Daten und Ideen einbezieht und somit einen
lebendigen Austausch mit den Interviewtexten erlaubt. Einen Weg hierfür haben
Peter Ahlheit und Bettina Dausien mit der Perspektive der „Dokumentierenden
Interpretation“ entwickelt.
Die in den Interviews erzählten Geschichten verweisen auf „konkrete Situa-
tionen“, genauer: „[S]ie repräsentieren den alltagsweltlichen Erfahrungszusam-
menhang aus der –retrospektiven – Binnensicht des handelnden Subjekts“ (Ahl-
heit/Dausien 1985: 124). Es handelt sich um „diejenigen sprachlichen Texte, die
der faktischen Handlungssituation am nächsten stehen“; sie sind „damit die geeig-

123 Der von mir zitierte „zyklisch-iterative Charakter“ ist eine verdichtete Umformulierung des Ge-
dankens von Johannes Stehr durch mich. Bei ihm heißt es im Original: Die Kodifizierung führte
„nicht nur weg von den Ideen eines zyklischen, iterativen Charakters des sozialwissenschaftli-
chen Denkens und der Interaktion zwischen Daten und Ideen, sie haben auch die Entwicklung
der Grounded Theory zu einer Lehrbuch-Methodologie befördert“ (Stehr 2016: 50).
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 147

netste, weil authentischste Quelle für das (wissenschaftliche) Verstehen des inte-
ressierenden Erfahrungsbereichs“ (ebd.). Gleichzeitig unterliegen die Geschichten
„narrativen Gestaltungsprinzipien“, die bereits selbst Ausdruck „kondensierter Er-
fahrungen“ sind (vgl. ebd.). Die Geschichten der Interviewten „heben das Wesent-
liche [aus Sicht des Erzählers] hervor und sind damit Interpretationen und Abs-
traktionen – wenn auch in einer im wissenschaftlichen Kontext ‚unüblichen‘
Form“ (ebd.)
Mit Blick auf diesen Hintergrund unterscheiden Peter Ahlheit und Bettina
Dausien zwei Dimensionen im Umgang mit den Geschichten. Zum einen weisen
sie darauf hin, dass die Geschichten aus der Perspektive der Erzählenden „nicht in
eine wissenschaftliche Sprache übersetzt werden müssen [...], wenn es darum geht,
alltägliche Erfahrungszusammenhänge differenziert zu verstehen“ (ebd.). Das Be-
sondere dieser Geschichten liege in der Stärke ihrer „synthetischen Abstraktion
zentraler Erfahrungsdimensionen“, die „in narrativ dargestellten komplexen Situ-
ationen“ weit ausdruckskräftiger sind als „eine analytische Wissenschaftssprache“
(ebd.). Allerdings habe dies seine Gültigkeit „nur in den Grenzen der subjektiven
Binnenperspektive“ (ebd.). Im Unterschied hierzu bestehe die Notwendigkeit ei-
ner „analytische[n] Abstraktion[…] aus einer (wissenschaftlichen) Außenperspek-
tive“, insbesondere im „Vergleich unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen“ in-
nerhalb eines Interviews oder im Vergleich mit thematisch verwandten Episoden
aus anderen Interviews (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang geht es dann darum,
das Verhältnis „verschiedener Dimensionen untereinander und besonders [in] Be-
zugnahme auf Kategorien sozialwissenschaftlicher Theorien“ zu bestimmen
(ebd.). An dieser Stelle „‚sprechen‘ die Geschichten nicht mehr ‚für sich selber‘;
sie sind interpretationsbedürftig“ (ebd.).
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen unterstreichen Peter Ahlheit und
Bettina Dausin die Besonderheit der Funktion von „Dokumentation und Interpre-
tation“ im „hermeneutischen Prozess“ (ebd.: 123). Im Grunde geht es darum, eine
Verdopplung „des Rohmaterials“ zu vermeiden, indem ausgewählte Textab-
schnitte nacherzählt und anschließend im Hinblick auf „Sinnstrukturen und Mus-
ter“ untersucht werden (vgl. ebd.: 122). Problematisch hierbei ist, dass die ausge-
arbeiteten „Sinnstrukturen und Muster“ gleichzeitig als „Ergebnisse der Interpre-
tation“ verstanden werden (vgl. ebd.). Dies ignoriert, dass zwischen „Interview-
text“ und der wissenschaftlichen Sprache „interpretativer Rekonstruktion […]
keine vollständige Korrespondenz besteht“ (ebd.). In der Verfahrensweise der do-
kumentierenden Interpretation geht es dann darum die Texte nicht im Detail nach-
zuerzählen, sondern vielmehr darum, sie mit „Blick auf bestimmte Aufmerksam-
keitsrichtungen“ zu untersuchen (vgl. ebd.). Entsprechend dient eine „Dokumen-
tation der Interviewpassagen [...] nicht nur der konkreten Veranschaulichung und
Kontrolle der Interpretationen“, sondern „sorgt auch dafür, daß die Komplexität
148 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

und Differenziertheit der erzählten [Situationen und Erfahrungen] auf der Stufe
der thematischen Einzelfallanalysen noch weitgehend repräsentiert sind“ (ebd.).
In dieser Herangehensweise wird eine „Verdichtung“ und Theoretisierung des
Ausgangsmaterials „relativ weit nach hinten verschoben“, mithin an das Ende des
Prozesses verlagert (vgl. ebd.).
Der Forschungsprozess der dokumentierenden Interpretation gliedert sich in
zwei Phasen. In einer ersten Phase werden, orientiert am Prinzip des permanenten
Vergleichens (Strauss/Corbin 1996), die narrativen Sequenzen ausgewählt, wel-
che einen Bezug zum Erkenntnisinteresse haben. In Orientierung an den Begriffen
und an der Sprache der Interviewten werden die Sequenzen differenziert, thema-
tisch markiert und kodiert. Für meine Untersuchung bedeutete dies, dass ich in
einem ersten Lesezyklus diejenigen Situationen markierte, in denen die Interview-
ten ihre Perspektiven und Handlungsweisen der Selbstorganisation erläutern. In
einem zweiten Lesezyklus ging es darum, die Zusammenhänge der Selbstorgani-
sation an den konkreten Beispielen weiter zu differenzieren und in entsprechender
Weise in den Begriffen der Interviewten abzubilden. Konkret bedeutete dies bei-
spielsweise, zwischen den Erfahrungen der Selbstorganisation als Gruppe der
„Gartenlaube“ und denen als Verein zu unterscheiden. Gerade an diesem Punkt
zeigte sich, dass diese Unterscheidung in spezifischen Begriffen und an konkreten
Situationen durch die Interviewten deutlich gemacht wurden. Hieraus ergab sich
wiederum die Notwendigkeit eines dritten Lesezyklus. Hier ging es um die Per-
spektive der Bildung von Zusammenhängen. Von Bedeutung war in diesem Zu-
sammenhang die Frage nach den Verknüpfungen zwischen der Organisation als
Gruppe und der Herausbildung einer gemeinsamen Urteilskraft.
In einem vierten Lesezyklus untersuchte ich die Bedeutung der Dimension
Öffentlichkeit. Hier ging es zunächst darum, diejenigen Episoden zu markieren,
die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Frage der Selbstorganisation in den
Darstellungen der Interviewten von Bedeutung waren. Hieran anknüpfend erwei-
terte ich den Radius in einem fünften Lesezyklus. Dieser Schritt war auch notwen-
dig, um zwischen den Erfahrungen der Selbstorganisation als einer spezifischen
Ausdrucksweise von Gegenöffentlichkeit und den konkreten Erfahrungen der In-
terviewten mit Politik zu differenzieren.
In allen Lesezyklen wurden mehrere Reflexionsschleifen vollzogen. In all
diesen Durchgängen ging es um die Frage der Handlungsfähigkeiten und damit
verbundener Handlungsstrategien (zwischen Fremd- und Selbstbestimmung) aus
dem Blickwinkel der Akteure. Etwas allgemeiner gesprochen ging es in meinem
ersten Arbeitsschritt um die „Differenzierung und Kodierung“ der von den Inter-
viewten angesprochenen Aspekte des Spannungsfeldes zwischen Selbstorganisa-
tion, Öffentlichkeit und Demokratie.
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 149

In einer zweiten Phase der dokumentierenden Interpretation geht es um das


eigentliche Interpretieren der aus den Interviews ausgewählten Passagen. Peter
Ahlheit und Bettina Dausien bezeichnen diese Passagen als „Geschichten“ (Al-
heit/Dausien 1985: 123 f.). Diese Geschichten „repräsentieren den alltagsweltli-
chen Zusammenhang“ (ebd.) – dies in einer doppelten Weise – zum einen als
„Binnensicht des Subjekts“ und zum anderen als „bereits kondensierte Erfahrung“
(ebd.: 124). Wie ich schon weiter oben deutlich gemacht habe, handelt es sich
hierbei um „Interpretationen und Abstraktionen“ (ebd.) durch die Interviewten,
mit denen sie in ihrer Sprache versuchen, ihre Erfahrungen zu differenzieren und
zu erklären. Am konkreten Beispiel wird dann erkennbar, was wiederum als ver-
allgemeinerbare Erfahrung abgebildet werden kann. Vielleicht ist dies in Anleh-
nung an Karel Kosik als eine Dialektik des Konkreten zu begreifen, bei der am
konkreten Beispiel oder anhand einer konkreten Situation eine konkrete Totalität
gesellschaftlicher Wirklichkeit erkennbar wird, welche wiederum „als Moment
des Ganzen begriffen werden kann“ (Kosik 1967: 42). An dieser Stelle „sprechen
die Geschichten nicht mehr für sich selber“ (Alheit/Dausien 1985: 124). Im Ver-
fahren des Vergleichs der unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen innerhalb ei-
nes Interviews geht es um eine „Bestimmung des Verhältnisses [der] verschie-
dene[n] Dimensionen untereinander“; die Geschichten „sind interpretationsbe-
dürftig“ (ebd.). In diesem Sinne bilden dann meine Interviews die Grundlage für
Hypothesen, die dann wiederum in Reibung und Auseinandersetzung mit sozial-
wissenschaftlichen Konzepten reflektiert werden. Ziel ist es, durch diesen Prozess
neue, „empirisch fundierte Hypothesen von höherem Allgemeinheitsgrad“ formu-
lieren zu können (vgl. ebd.) oder die „subjektive Bedeutung“ von Selbstorganisa-
tion, Öffentlichkeit und Demokratie „begrifflich“ so zu fassen, „dass die empirisch
vorgefundene Differenziertheit angemessen repräsentiert ist und zugleich eine kri-
tische Bezugnahme auf andere wissenschaftliche Konzepte [z. B. von Öffentlich-
keit] möglich wird“ (ebd.).

5.1.3 Zur Bedeutung vom „Arbeitsbündnis“

Implizit habe ich die Frage des Arbeitsbündnisses mit meinen obigen Überlegun-
gen zur Aktionsforschung angedeutet. Dort ging es mir darum, das Verhältnis von
Forscher und Beforschten reflexiv aufzubrechen und zu erkennen, dass Forscher
und Beforschte im Forschungsprozess jeweils eigenständig handelnde Subjekte
sind, sowie gleichzeitig das Instrumentelle im forscherischen Handeln nicht zu
verleugnen. Diesen Gedanken unter dem Blickwinkel des Arbeitsbündnisses wei-
terentwickelnd, wäre das Verhältnis von Forscher und Beforschten als eines der
Interaktion zu verstehen. Und der Gedanke ist weiter zu fassen. Wie Christine
Resch deutlich macht, bezieht sich die Idee einer Reflexion des Arbeitsbündnisses
150 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

auf den gesamten Forschungsprozess, „von der Datenerhebung bis zur Veröffent-
lichung“ (Resch 1998: 22). In das Blickfeld rücken so die „hierarchischen Ver-
hältnisse: zu den Befragten, zum Material, das interpretiert wird und zum Publi-
kum, dem die Ergebnisse vorgelegt werden“ (ebd.). Mit dem Begriff der „Arbeits-
bündnisse“ geht es darum, diese Verhältnisse und ihre Widersprüchlichkeiten of-
fenzulegen und reflexiv zugänglich zu machen.
Der Begriff „Arbeitsbündnisse“ ist dem Kontext der Psychoanalyse entlie-
hen. Dort bezeichnet er das Verhältnis von Übertragung und Gegenübertragung
zwischen Therapeuten und Patienten, was auf diese Weise selbst Gegenstand des
Analyseprozesses wird (vgl. Resch 1998: 22 f.). Mit Blick auf die Sozialforschung
geht es dann darum, die Möglichkeit eines Verstehens vielfältiger Verhältnisbe-
stimmungen und ihrer Widersprüche die sich in der Forschungssituation und im
Forschungsprozess ergeben, zu eröffnen. Dies betrifft die „Handlungen, Haltun-
gen und Voraussetzungen aller Beteiligten, die notwendig sind, damit sich For-
schung realisiert“, sowie die „verschiedenen Verpflichtungen der Forscher*innen
(Auftraggeber, Wissenschaft, Beforschten)“ oder auch „kulturelle“ und „idio-
synkratische“ Aspekte (vgl. ebd.), die eine „Interaktion im einzelnen [beeinflus-
sen]“ (ebd.: 40).124
Entsprechend sind die gesamte Forschungssituation und der Forschungspro-
zess von einem „interaktionistischen Charakter“ geprägt (vgl. Herzog 2015: 75).
Eine Analyse der Arbeitsbündnisse in Forschungsprozessen der Sozialforschung
ist dabei nicht als eine „Standardisierung von Abläufen“, also, eine mechanisch-
methodische Arbeitsweise zu verstehen (vgl. ebd.). Es geht vielmehr um die Ent-
wicklung einer spezifischen Perspektive oder Aufmerksamkeitsrichtung, die Öff-
nung der forschenden Sichtweise, welche „Störungen und Irritationen“ sowie
gleichzeitig „Selbstverständlichkeiten und Tabuisierungen“ wahrnimmt und zur
Sprache bringt (vgl. ebd.). Kerstin Herzog verweist auf die Notwendigkeit, eine
hiermit verbundene „implizite Normativität“ der Forscher*innen zu erkennen; zu
erkennen ob sich „Forschung [...] an Auftraggeber*innen, der ,autonomen Wis-
senschaft‘ oder den Befragten orientiert“ (ebd.; oder zu diesem Aspekt Resch
1998: 25 f.). Erst aus dem Blickwinkel dieser Aspekte lässt sich dann die Wider-
sprüchlichkeit der Verhältnisse im Arbeitsbündnis herausarbeiten und verstehen.
Für meine Untersuchung ist z. B. der Aspekt von Bedeutung, den Christine Resch
als Punkt beschreibt, bei dem sich die „Forscher*innen den Befragten verpflichtet
fühlen“ (Resch 1998: 25).

124 In diesem Zusammenhang unterscheidet sich „der Interpret als Wissenschaftler [...] von dem des
Alltags dadurch, dass er diese Situation und damit sich selbst einbezieht und zum Ausgangspunkt
macht, dass er also reflexiv vorgeht. Der Alltagsinterpret hingegen ist in der genannten Haltung
des rechthaberischen Realismus darauf aus, von sich selbst abzusehen und etwas Objektives über
die Welt herauszufinden“ (Steinert 1998b: 54).
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 151

Im Unterschied etwa zu einer Forschung, welche „die Beforschten für einen


Zweck instrumentalisiert, der ihnen verborgen bleibt und dem sie nützen sollen“,
ging es mir mit meiner Untersuchung darum, nicht nur für mich selbst relevante
Einsichten zu produzieren, sondern auch den Befragten zu nutzen (vgl. ebd.). In
den Mittelpunkt einer solchen Herangehensweise rücken dann „befragten-
zentrierte Methoden“, deren „Interaktion vom Verstehen-Wollen motiviert und
gesteuert“ ist (vgl. ebd.: 30). Eine Interviewsituation beispielsweise eröffnet „eine
Bühne zur Selbstdarstellung“ der Befragten oder, etwas vorsichtiger formuliert,
zielt selbst auf die Entwicklung einer Situation von Offenheit, in der die Befragten
ihre subjektiven Handlungsweisen darstellen und erläutern können. Ein solches
Arbeitsbündnis stützt sich nicht vordergründig „auf die Autorität“ der Wissen-
schaft, nutzt aber deren „Prestige“, um den Rahmen der Forschung auszugestalten
(vgl. ebd.). Typischerweise orientiert sich ein solcher Forschungsansatz an narra-
tiven Gesprächsformen; es handelt sich dabei etwa um „Einzel- und Gruppenge-
spräche oder -diskussionen“ (ebd.). Für diesen Zusammenhang ist es wichtig,
deutlich zu machen, welche Bedingungen und Voraussetzungen den Interviewten
„ein Forum schaffen, um sich darstellen zu können“ (ebd.).
Wie ich schon deutlich gemacht habe, ist der gesamte Forschungsprozess von
einem interaktionistischen Charakter geprägt. Dies gilt auch für die Interpretation
der im Forschungsprozess verschriftlichten Narrationen der Interviewten. Im Zu-
sammenhang mit meinen Überlegungen zur dokumentierenden Interpretation ist
dies schon angedeutet worden. Die Interpretation ist als ein „Prozess zu begrei-
fen“, mit „den Texten ein kommunikatives Verhältnis“ zu entwickeln und herzu-
stellen (Cremer-Schäfer 1985: 137 f.). Orientiert am „Prinzip der Offenheit von
Interpretation“ geht es in diesem „kommunikativen Verhältnis“ (ebd.) nicht da-
rum, eine „objektive Wahrheit zu produzieren“ (Bareis 2012: 302). Stattdessen
steht wiederum die Situation im Mittelpunkt der Interpretation: die Situation, „die
im Interview beschrieben wird, jene in der das Interview entstand wie jene, in der
‚Text‘ (das Interview) interpretiert wird“ (Bareis 2012: 302). Und wie Kerstin
Herzog ergänzt, wird dieser Prozess von einer Aufmerksamkeitsrichtung getragen,
welche den Fragen danach, „wer mit wem worüber und in welcher Form spricht“,
folgt (Herzog 2015: 75).125
Im Forschungsprozess sind verschiedenste Ebenen miteinander verknotet o-
der überlagern sich. Um diese Verdichtungen als im Prozess entstehende Verhält-
nismäßigkeiten verstehen und reflektieren zu können, hat Christine Resch das Bild
von der „Arbeitsbündnis-Spirale“ geprägt (1998: 40 f.). Im Arbeitsbündnis ver-

125 Kerstin Herzog bezieht sich in ihren Überlegungen auf Christine Resch. Christine Resch geht in
ihrem Text detaillierter darauf ein, was im Einzelnen als „kulturelle, institutionelle, situative,
interpersonelle und idiosynkratische Aspekte“ verstanden werden könne (vgl. hierzu Resch
1998: 40 f.).
152 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

knoteten sich demnach „kulturelle, institutionelle, situative, interpersonelle und


idiosynkratische Aspekte“ und „konstitutieren die Bandbreite möglicher herstell-
barer Beziehungen und daraus resultierender Ergebnisse“ (ebd.). Ein Verstehen
der Verknotungen oder, besser, eine Öffnung der sich im Arbeitsbündnis über-
schneidenden Aspekte, wird im Prozess der Analyse „wie in einer Spirale auf- wie
abwärts durchlaufen“ (Herzog 2015: 75). Erst in dieser Prozesshaftigkeit entste-
hen die Möglichkeit des Reflexiven, eines Zugangs zum Verstehen oder einer Sen-
sibilisierung für „das in den Selbstverständlichkeiten Ausgeblendete“ (Steinert
1998a: 15) sowie die Möglichkeit, Rückschlüsse über im Arbeitsbündnis verdich-
tete „gesellschaftliche Strukturen und Konflikte“ zu ziehen (vgl. Resch 1998: 40).
Heinz Steinert formuliert in diesem Zusammenhang den Anspruch, dass „Reflexi-
vität [...] auch in Wissenschaftsfragen die gesellschaftlichen Konflikte zu benen-
nen“ habe, „um die es dabei geht, und ihre strukturellen Ausgangspunkte kenntlich
zu machen“ (Steinert 1998a: 15).

5.1.4 Die Interviews

Interview Martin

Im Grunde hat die vorliegende Arbeit ihren Ursprung im weiter vorn erwähnten
Interview, das ich mit Martin für meine Masterarbeit geführt habe. Ich kannte
Martin schon als Mitglied einer kleinen, antirassistischen Initiative der Kleinstadt
(X), die meine damalige Kollegin und ich im Kontext unserer Arbeit als Mobiles
Beratungsteam kennengelernt hatten.
Wie ich weiter vorn deutlich gemacht habe, gab es in der Kleinstadt (X) in
der jüngeren Vergangenheit auf dem örtlichen Stadtfest einen Übergriff auf Men-
schen aus Asien, die im Ort lebten und ein Geschäft betrieben. Die negative Be-
sonderheit des Übergriffs bestand darin, dass sich ca. 80 Menschen auf dem Stadt-
fest zusammentaten, die erkennbar keine Nazis, sondern die „normalen“ Leute aus
der Stadt waren; diese griffen die Menschen, weil sie aus Asien waren, gewalttätig
an und jagten sie durch die Stadt. Die besondere Härte des Übergriffs, die gewalt-
tätige Masse von Menschen, konnte mit Begriffen wie „Rechtsextremismus“ nicht
verstanden werden und sorgte sowohl regional als auch international für ein me-
diales Aufsehen. Ich war damals im Ort und versuchte in Zusammenarbeit mit der
Polizei, den Bürgermeister und den Stadtrat zu einer öffentlichen Auseinanderset-
zung mit den Ereignissen zu bewegen. Diese Situation war sperrig, widersprüch-
lich. Eine blockierende Positionierung des Bürgermeisters und seine Beschwö-
rung eines schließenden „Wirs“ verhinderte hier eine sachlich Debatte.
Im Kontext der skizzierten Situation intensivierten sich meine Kontakte zu
den Leuten der antirassistischen Initiative. Wir überlegten, ob es gemeinsame
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 153

Anknüpfungspunkte für gemeinsame Aktionen zur Unterstützung einer öffentli-


chen Diskussion der Übergriffe geben könnte. In diesem Zusammenhang vertiefte
sich mit Einzelnen der Kontakt. Zu ihnen gehörte auch Martin. Er hatte viele Fra-
gen dazu, warum sich Leute zusammentun und andere Leute auf die übelste Weise
zurichten würden. Gleichzeitig stellte er sich die Frage, wie dem eine andere Be-
wegung, ein anderer Zusammenhang, öffentlich entgegenwirken könnte.
Damals befand ich mich in der Endphase eines Masterstudiums Sozialer Ar-
beit und hatte die Idee, das Problem, das Martin aufgeworfen hatte, unter der Frage
von „Gewaltverhältnissen“ zu diskutieren und die Ereignisse aus der Perspektive
von Betroffenen „gewaltsamer Ausschlüsse“ zu analysieren. Ich fragte Martin, ob
er sich vorstellen könne, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen, welches
ich mit ihm führen würde.
Ich hatte mir damals folgende Herangehensweise vorgestellt: Ich führe mit
Martin ein Interview. Ich schreibe das Interview ab und gebe ihm die Abschrift,
mit der Bitte, es zu lesen und die ihm wichtigen Stellen zu markieren, aufkom-
mende Fragen aufzuschreiben, weitere Gedanken festzuhalten. Mein Vorschlag
war, dass ich dasselbe mit dem Text tun würde und wir uns dann noch einmal
treffen würden, um über die gefundenen Dinge zu sprechen. Meine Überlegung
dabei war, dass in einem Gespräch viele Dinge erzählt werden, aber im gemeinsa-
men Austausch über einen Text wichtige Dinge gefunden werden können, um ge-
meinsam weiterführende Erklärungen für die Ereignisse in X zu finden und zu
entwickeln. Außerdem hatte ich im Kontext vieler Gespräche meiner Beratungs-
arbeit festgestellt, dass die Leute von den unterschiedlichsten Initiativen über un-
glaublich viele Erfahrungen und mit ihnen verknüpfte Fragen verfügten, die, so
hatte ich den Eindruck, irgendwann mit der Zeit oder mit der Auflösung der Initi-
ativen verschwänden. Ihre Erfahrungen und Probleme erlebte ich als sehr tiefgrei-
fend und suchte nach einer Möglichkeit, diese aufzunehmen und für weitere Pro-
zesse des Fragens festzuhalten, damit der Erfahrungsschatz nicht verloren gehen
würde. Der Erfahrungsschatz, und an dieser Überlegung halte ich heute noch fest,
enthält Perspektiven des Handelns, die einerseits Möglichkeiten selbstbestimmten
Handelns aufzeigen sowie andererseits die Probleme und Widersprüche verdeut-
lichen können, in denen dieses Handeln zum Konflikt wird. Diese Erfahrungs-
schätze sehe ich als besonders wichtige Lernimpulse, um ein kritisches Nachden-
ken über Möglichkeiten und Grenzen emanzipatorischer Bewegungen mit neuen
Blickwinkeln zu bereichern.
Ich erklärte Martin meine Idee. Er war mit ihr einverstanden. Ich erinnere
mich daran, dass wir uns damals im Büro des Mobilen Beratungsteams trafen. Ich
hatte mich mit einem Fragebogen auf unser Gespräch vorbereitet. Ich dachte, ich
könnte diesen als Leitfaden, als Struktur des Gesprächs nutzen. Ich merkte schnell,
dass dies unnötig war. Martin fing von sich aus an, zu erzählen. Es war ein sehr
154 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

offenes und langes Gespräch. Ich schrieb damals das fast vierstündige Gespräch
ab und gab das Transkript Martin zu lesen. Wir trafen uns ca. vier Wochen später
zu einem weiteren Gespräch. Wir diskutierten gefundene Fragen und Probleme.
Von diesem Gespräch existieren allerdings keine Aufzeichnungen oder Notizen
mehr. Im Kontext meiner Masterarbeit stieß ich dann auf das Problem von Öffent-
lichkeit und mit ihr verbundener Machtstrukturen sowie auf das der unterschied-
lichen Kontextualisierung von Öffentlichkeit und Demokratie. Diese Punkte
konnte ich im Rahmen der Masterarbeit nicht weiter erläutern. Es waren Fundstü-
cke, die mich weiter beschäftigten und an die meine hier vorliegende Arbeit an-
knüpft.
Hierzu gehört eben auch das Interview mit Martin, das ich für meine Master-
arbeit mit ihm geführt habe. Ein zweites Interview führte ich mit Martin ca. vier
Jahre später. Dieses Mal in einer anderen Rolle und Funktion. Ich hatte ein Sti-
pendium bekommen und begonnen, an meiner Doktorarbeit zu schreiben. In die-
sem Zusammenhang hatten sich aus meinen Fundstücken komplexere Fragen ent-
wickelt. Im Mittelpunkt meines Interesses stand nun die Frage der Selbstorgani-
sation von Leuten und ich interessierte mich für ihre Erfahrungen mit den mit der
Selbstorganisation verknüpften Prozessen. Ich stellte mir die Frage, wie Selbstor-
ganisation in Theorien von Öffentlichkeit und Demokratie diskutiert würde und
welche Idee von Bildung benötigt würde, um eine Selbstorganisation von Leuten
„von unten“ in einem emanzipatorischen Sinne unterstützen zu können.
Ich kontaktierte Martin und erläuterte ihm meine Idee, mit ihm und anderen
Leuten der damaligen Initiative bzw. des Vereins Interviews machen zu wollen,
vergleichbar zu dem, wie ich es mit ihm schon einmal gemacht hatte. Alle sollten
die Abschriften ihrer Interviews bekommen und lesen, kommentieren, aufkom-
mende Fragen notieren. Allerdings wollte ich die gefundenen Fragen und Prob-
leme dann in einem Gruppengespräch gemeinsam diskutieren. Martin fand die
Idee prima. Er fand die Idee deshalb gut, weil die Geschichte der Initiative und
des Vereins die einer Auflösung, des Zusammenbruchs war. Die Leute der Initia-
tive hatten den Verein aufgelöst. Die Leute der Initiative waren (fast) alle aus (X)
weggezogen; sie waren im Konflikt auseinandergegangen. Martin erzählte mir,
dass seine Freundschaft mit Stefan im Laufe ihrer Zusammenarbeit im Verein in
die Brüche gegangen war. Martin wollte im Interview darüber sprechen, was sie
damals als Initiative gut gemacht hätten und was dazu geführt habe, dass sich die
Gruppe aufgelöst hatte. Insofern hatte ich den Eindruck, dass es ihm darum ging,
auf diesem Wege eine Form zu finden, auch mit den anderen noch einmal über
ihre Geschichte zu sprechen.
Wir trafen uns zum Gespräch bei Martin zu Hause. Er war mittlerweile aus
(X) weggezogen („der Hassliebe“, wie er sagte) und wohnte zum Zeitpunkt des
Interviews in Leipzig. Er hatte in der Zwischenzeit eine Berufsausbildung im
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 155

Kontext der öffentlichen Verwaltung gemacht und befand sich zum Zeitpunkt un-
seres zweiten Interviews mitten in einem berufsbegleitenden Studium. Bevor wir
mit der Aufzeichnung des Gesprächs begannen, erzählte er mir von den Problemen
und Möglichkeiten, die Verwaltungsvorschriften und Rechtsgrundlagen als Hand-
lungsrahmen öffentlicher Verwaltung mit sich bringen. Hierauf ging er dann auch
im aufgezeichneten Gespräch ein. Ein anderer Punkt, den er mir vor der Aufzeich-
nung des Gesprächs ans Herz legte, war der Konflikt mit Stefan. Er hatte Angst
vor einer offenen Begegnung mit Stefan im Gruppengespräch. Er wollte wissen,
ob Stefan überhaupt bereit sei, zum Gruppengespräch zu kommen, und was ich im
Konfliktfall machen würde. Zum Zeitpunkt des Gesprächs konnte ich ihm nicht
sagen, ob Stefan kommen würde. Dieser hatte sich dazu noch nicht geäußert. Was
ich im Konfliktfall machen würde: Ich hatte mit dieser Frage nicht gerechnet. Ich
sagte ihm, dass ich dies nicht wüsste und ich mir diese Frage noch nicht gestellt
hätte. Dieser Punkt war für mich selbst insofern wichtig, da ich mich zwar intensiv
damit beschäftigt hatte, wie ich die Leute für ein Interview gewinnen könnte und
was ich sie würde fragen wollen. Dabei war ich von meinem Erkenntnisinteresse
für meine zu schreibende Arbeit geleitet worden und vom damit verknüpften Ge-
genstand fasziniert gewesen. Damals dachte ich, dass ich durch mein Nachdenken
an Offenheit für die Leute gewonnen hätte. Wie die Nachfrage von Martin zeigte,
war dem jedoch nicht so. Vielmehr hatte ich nicht vor Augen, dass die von mir
angedachte Situation die mit der Auflösung des Vereins stillgelegten Konflikte
und Probleme durch mein Vorhaben wieder freigelegt werden würden.
Es zeigte sich aber, dass meine Offenheit gegenüber Martin gut war. Ich
fragte ihn, was er sich wünsche und von mir brauche. Er sagte, es wäre ihm wich-
tig, dass Elena beim Gruppengespräch dabei wäre, weil diese immer ausglei-
chende Dinge in Zeiten des Vereins gefunden hatte. Dies konnte ich ihm zusagen,
da Elena ihre Bereitschaft schon deutlich gemacht hatte.
Im Laufe meiner Lesezyklen der Interviews griff ich auch auf das erste Inter-
view mit Martin zurück. Mir war aufgefallen, dass er im zweiten Interview von
einigen Situationen sprach, die mir aus dem ersten Interview bekannt vorkamen.
Tatsächlich zeigte sich im Vergleich, dass einige Beispiel nahezu identisch waren.
Beim Vergleich beider Interviews fiel aber auch auf, dass vieles, worüber wir im
ersten Interview gesprochen hatten, im zweiten Interview nur angedeutet wurde.
Martin konnte vermutlich davon ausgehen, dass ich mich an die Inhalte unseres
ersten Gesprächs erinnerte und spezifischere Momente unseres Gesprächs von ihm
bei mir als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt werden konnten.
In meiner Interpretation für diese Arbeit habe ich mich dann dazu entschlos-
sen, einige Punkte des ersten Interviews aufzugreifen und in meine Überlegungen
einzubeziehen. Dies habe ich auch deshalb getan, weil die von mir aufgenomme-
nen Passagen einen tieferen Blick in die Widersprüche selbstbestimmten Handelns
156 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

ermöglicht haben, wie es etwa am Beispiel Martins deutlich wird, wenn er über
eine Situation spricht, wo das Mitsingen von „Landser-Liedern“ (gemeint ist die
Naziband Landser) für ihn zu einer Dilemmasituation wird, die spezifische Mo-
mente einer Passivierung deutlich machen und gleichzeitig die Bedeutung und
Notwendigkeit eines alternativen Bezugspunktes oder, allgemeiner, einer greifba-
ren gesellschaftlichen Idee unterstreichen, um in solchen Situationen bestehen o-
der sich solchen Situationen entziehen zu können. Solche erkenntnisreichen Mo-
mente waren für mich nur im Zusammenbringen der beiden Interviews möglich.
Im Interesse eines offenen Prozesses der Verwendung des Materials aus den In-
terviews für diese Arbeit, habe ich Martin, allerdings erst viel später, als mir die
Bedeutung des ersten Interviews für eine Interpretation deutlich geworden war,
gefragt, ob ich auch sein erstes Interview für meine Arbeit verwenden könne. Er
war damit einverstanden.

Interview Stefan

Eine Verabredung mit Stefan zum Interview war eine sehr herausfordernde Ange-
legenheit. Den Kontakt zu ihm bekam ich über Elena. Sie hatten sich auch nach
der Auflösung des Vereins nicht aus den Augen verloren. Ich hatte Elena gefragt,
ob sie mir mit einem Kontakt zu Stefan weiterhelfen könne. Sie sagte im Prinzip
ja, aber sie müsse erst fragen, ob Stefan sich einen Kontakt vorstellen könne und
wünsche. Aus diesem Grunde erklärte ich Elena mein Vorhaben und bat sie da-
rum, Stefan ein kleines Exposé, in dem meine Idee beschrieben war, zu geben.
Einige Zeit später gab mir Elena einen E-Mail-Kontakt von Stefan und meinte, ich
könne auf diesem Wege mit ihm in Kontakt treten. Stefan und ich kommunizierten
längere Zeit per E-Mail. Ich erklärte ihm auch auf diesem Wege mein Vorhaben
noch etwas detaillierter. Ich merkte aber, dass er sehr skeptisch war und sich nicht
festlegen wollte. Ich fragte ihn, was er von mir brauche, damit wir zusammen wür-
den ins Gespräch kommen können. Stefan war ziemlich trocken und meinte, dass
wir ja schon sprechen würden. Auch hier war für mich interessant, dass ich voll
auf die „eigentliche“ Umsetzung meiner Idee fixiert war und die Interaktionen im
Vorfeld zwar als Bestandteile meiner Tätigkeit für diese Arbeit betrachtete, aber
erst in dieser Situation begriff, dass mein Handeln auf ein Zustandekommen des
„Interviews“ fokussiert war. Als ich dies bemerkte, sprach ich es einfach an. Ste-
fan sagte mir daraufhin, dass er verstehe, worum es gehe, da er ja auch studiere
und mit diesem „Interviewzeug“ so seine Erfahrungen mache. Er meinte, sein
Problem sei weniger, ein Interview mitzumachen. Nach meiner Idee könne er das
Interview ja auch lesen und gegebenenfalls intervenieren. Vielmehr frage er sich,
ob er überhaupt über die damalige Zeit als Gruppe und seine Aktionen von damals
reden wolle. Einerseits sei die ganze Sache im Konflikt auseinandergegangen, was
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 157

konkret hieß, dass er mit Martin keine Freundschaft mehr habe und der Vertrau-
ensverlust von damals schwer wiege. Zum anderen stellte er die Frage, welchen
Nutzen meine Untersuchung für linke Bewegungsformen haben könne, da sie ja
als Initiative und Verein versagt und letztlich nichts erreicht hätten. Hier kamen
verschiedene Dinge zusammen und bildeten einen Knoten. Ich merkte, dass meine
Idee, ein Interview und anschließend ein Gruppengespräch machen zu wollen,
zwar für meine Planung gut gedacht war, aber für die Leute der Initiative eine
Grenzsituation darstellte, mit der sie sich als Einzelne erst intensiv beschäftigen
mussten, um hier zu einer Position für sich selbst finden zu können. Gleichzeitig
bemerkte ich eine tiefe Traurigkeit bei Stefan. Er sprach von Vertrauensverlust
und vom Verlust von Freundschaft. Dies sind tief greifende Erfahrungen. Darüber
zu sprechen, ist eine Überwindung, die Überwindung einer Grenze, und die Ent-
wicklung einer Aktivität, einer Aktivität, stillgelegte Konflikte wiederaufzuneh-
men, ohne wirklich zu wissen, was am Ende daraus wird, da sie im Zweifel zum
Arbeitsmaterial eines Doktoranden mutieren (und in ihrer Produktivität ihm selbst
entzogen werden oder nicht zur Verfügung stehen). Des Weiteren sprach Stefan
das Problem an, dass die Initiative versagt hätte. Hier fragte ich Stefan, was er
genau meine.
In unserem E-Mail-Kontakt wurde dann deutlich, dass er hier weniger die
Auflösung des Vereins und der Initiative meinte, sondern vielmehr sein Maßstab
seine negativen Erfahrungen mit den skizzierten Übergriffen und einem allgemein
negativen Klima in (X) waren. In diesem Zusammenhang sprach er von einem
bestehenden „Status quo“ (S: 37). Er meinte damit einerseits eine fehlende Öffent-
lichkeit zur Problematisierung der Übergriffe. Zum anderen wurde die fehlende
Öffentlichkeit von ihm als ein stillschweigendes Einverständnis mit den Übergrif-
fen durch eine Mehrheit der im Ort lebenden Menschen gedeutet. Eben dieser
„Status quo“ konnte nicht durch das Engagement der Initiative aufgelöst werden,
sondern hätte sich gegenteilig, so sein Eindruck, vielmehr verfestig.
Über den „Status quo“ sprach er dann auch im Interview (vgl. ebd.). Unsere
Korrespondenz im Vorfeld war wichtig. Sie sorgte für eine Offenheit und auch für
Klarheit. Klarheit in einem doppelten Sinne: Stefan wurde mit der Zeit klarer, was
ich mir so gedacht hatte und auf welchem theoretischen Hintergrund mein Vorha-
ben aufbaute. Gleichzeitig wurde mir selbst auch klarer, wo die Grenzen meiner
Arbeits- und Denkweise lagen, und ich war gezwungen, im Austausch mit Stefan
meine Ideen zu hinterfragen und zu öffnen. Wäre ich an diesem Punkt stur geblie-
ben und hätte steif mein Vorhaben verfolgt, hätte die damit verbundene Dominanz
des Instrumentellen letztlich ein Gespräch mit Stefan (aber auch mit den anderen)
verhindert.
Der Prozess mit Stefan dauerte ca. ein Dreivierteljahr. Er war bereit, sich mit
mir zu einem Interview zu treffen. Er wollte es nicht an einem (sog. neutralen) Ort
158 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

machen. Er stellte sich hier ein nichtssagendes Büro vor oder die Räumlichkeiten
eines Vereins. Er schlug vor, sich bei mir zu Hause zu treffen. Ich war damit ein-
verstanden. Bei mir zu Hause setzten wir uns in die Küche. Vor dem eigentlichen
Interview sprachen wir fast anderthalb Stunden miteinander. Ich erinnere mich
daran, dass es ein sehr schönes und offenes Gespräch war. Stefan erzählte mir,
dass er studiere. Er hatte auch Anschluss an neue Leute gefunden und war jetzt im
Kontext von verschiedenen Antifa-Gruppen organisiert. Auch Stefan war aus (X)
weggezogen und lebte zum Zeitpunkt des Interviews in Leipzig. Im Interview
selbst sprachen wir ca. zweieinhalb Stunden miteinander. Auch in diesem Ge-
spräch zeigte sich, dass ich meinen Interviewleitfaden nicht wirklich benötigte.
Stefan fing einfach von sich aus an, zu erzählen. Unser Interview entwickelte sich
eher als ein Gespräch, das auch dadurch geprägt war, dass er mir Fragen stellte,
auf die ich antwortete. Wir entwickelten das Thema des Gesprächs in diesem
Sinne (punktuell) gemeinsam. Diese Offenheit war auch insofern gut, da ich
merkte, dass Stefan so auch einen größeren Einfluss darauf hatte, den Gesprächs-
fluss und dessen Inhalte mitzusteuern und die Punkte, die heiße Eisen waren, vor-
sichtig zu entwickeln. Das Nachgespräch zum Interview entwickelte sich als eine
ausgedehnte Diskussion über Inhalte und Anliegen der aktuellen Antifa-Bewe-
gung. Für mich war dieses Gespräch sehr wertvoll. Wir saßen auf dem Balkon und
tranken zwei Bierchen. Stefan bat mich darum, dieses Gespräch für meine Arbeit
zu vergessen und die ausgetauschten Ideen in meiner Arbeit nicht zu verwenden.
Daran halte ich mich. Wir verabredeten, dass ich ihm die Abschrift des Interviews
schicken würde, er das Interview lesen und mir dann ein Zeichen geben würde, ob
er sich eine Teilnahme am Gruppengespräch vorstellen könne. Einige Zeit später
schickte mir Stefan eine E-Mail. Er fand das Interview ziemlich in Ordnung, aber
die Sprache komisch. Entsprechend könnte die Sprache im Interview vielleicht
manchmal missverständlich sein. Ich könne das Interview aber für meine Arbeit
so verwenden. Am Gruppengespräch würde er aber nicht mitmachen wollen. Et-
liche Zeit später traf ich Stefan auf einer Demonstration gegen Nazis wieder. Wir
sprachen wieder so offen miteinander wie auf dem Balkon. Interessant war, dass
er meinte, ich solle meine Arbeit mal endlich fertig machen, damit man sie mal
lesen könne. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass die Arbeit nicht ganz so einfach
sei, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Er meinte, ich hätte doch super Material, bei
so einem langen Interview; da könne es doch nicht so schwer sein, etwas draus zu
machen. Mit dem Material hatte er Recht. Und ich nahm seine Anmerkung auch
als einen Hinweis dafür, das Material nicht liegen zu lassen, also nicht zu verges-
sen, dass er (und die anderen) mir ihre Geschichten gegeben hatten, damit ich
(m)eine Arbeit würde schreiben können (und vielleicht Dinge finden würde, die
z. B. für Stefan interessant sein könnten).
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 159

Interview Elena

Elena hatte ich zusammen mit Martin als Mitglied der Gruppe der Gartenlaube
kennengelernt. Ähnlich wie bei Martin vertiefte sich unser Kontakt im Zusam-
menhang mit den Übergriffen auf dem Stadtfest. Hier überlegten wir gemeinsam
mit meiner damaligen Kollegin und anderen Leuten aus der Gruppe der Garten-
laube, wie dieses Ereignis zu deuten sein könnte. Ich erinnere mich noch daran,
dass wir viel über Rassismus diskutierten und das Mobile Beratungsteam gefragt
wurde, ob wir uns vorstellen könnten, zu diesem Thema einmal eine Fortbildung
zu machen. Ich weiß noch, dass meine Kollegin und ich zu diesem Themenfeld
Fortbildungsmodule entwickelten. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern,
ob wir gemeinsam mit den Leuten der Initiative wirklich solche Bildungsveran-
staltungen gemacht haben. Was allerdings in diesem Zusammenhang wichtig ist,
dass Elena mich fragte, ob ich bereit wäre, ihre Diplomarbeit als Zweitgutachter
zu begleiten. Elena beschäftigte sich damals insbesondere mit der antirassistischen
Perspektive von Critical-Whiteness-Theorien. Ich erinnere mich noch sehr gut da-
ran, wie intensiv sie sich mit dieser Thematik auseinandersetzte und wie sie ver-
suchte, in unseren Diskussionen ihre Fragen und Erkenntnisse auf ihre Erfahrun-
gen in (X) anzuwenden. Dies war auch für mich sehr anregend und wertvoll, da
Elena Fragen aufwarf, die ich aus der Perspektive meiner damaligen Praxis kannte
und die so zum Gegenstand meiner eigenen Auseinandersetzung wurden. Um mit
Elena diskutieren zu können, musste ich mich selbst mit dem Thema beschäftigen.
Aus dieser Auseinandersetzung ist dann auch ein Text entstanden, den ich zusam-
men mit meiner Kollegin geschrieben habe. Gegenstand unserer Auseinanderset-
zung war dort die Frage nach Möglichkeiten einer gemeinwesenorientierten Bera-
tungsarbeit durch Mobile Beratungsteams.
Auch in der Zeit, in der sich die Initiative daran machte, einen Verein zu
gründen, oder wir als Mobiles Beratungsteam im Nachgang der Ereignisse auf
dem Stadtfest in (X) aktiv wurden oder dann später, als wir in der konflikthaften
Situation vor dem Vereinshaus als Mobiles Beratungsteam aktiv waren, war Elena
eine wichtige Ansprechpartnerin und Brückenbauern von Kontakten in die Initia-
tive und den Verein. Vielleicht kann man ihre Position dort als Ausdruck einer
spezifischen Haltung oder Sichtweise umreißen. Stefan spricht im Interview von
seinem Selbstverständnis als einem „mit dem Kopf durch die Wand [...] rammeln“
(S: 1366) bzw. „unversöhnlich müssen wir rangehen“ (S: 125). Im Unterschied
hierzu beschreibt etwa Martin seine Position wie folgt: „die Spielräume, die man
hat, [...] wenigstens positiv ausnutzen“ (M/b: 588 f.). Markieren diese beiden Po-
sitionen in ihrer Zuspitzung zwei unterschiedliche oder auch gegensätzliche Pole
eines Spannungsfeldes, wäre Elenas Perspektive, das „Gemeinsame“ in den Mit-
telpunkt zu stellen. Elenas Position wäre dann darum bemüht, die Gegensätze
160 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

unterschiedlicher Blickwinkel in bestimmten Situationen vermittelnd aufeinander


zu beziehen, umso das „Gemeinsame“ erkennen zu können und danach fragen zu
können, wie gemeinsam mit bestimmten Situationen umgegangen werden könnte.
Elena kontaktierte ich als Erste von den Leuten der Initiative. Ich erzählte ihr
von meinem Vorhaben, eine Doktorarbeit schreiben und dafür auf die Erfahrungen
der Leute der Initiative als Beispiel für die Entwicklung einer Selbstorganisation
im Kontext antirassistischen Engagements zurückgreifen zu wollen. Ich fragte sie,
ob ich mit ihr über ihre Erfahrungen sprechen könnte, ob sie zu einem Interview
und dann auch zu einem Gruppengespräch bereit wäre. Sie war sofort bereit und
hatte vor allem großes Interesse an einem Gruppengespräch. Zwei Dinge waren
ihr wichtig: Zum einen hatte sie Lust, über ihre Erfahrungen mit der Selbstorgani-
sation zu sprechen, da sie in ihren Aktionen von damals viel Positives erkannt
hatte. Zwar hätten sich der Verein und die Initiative aufgelöst; aber die Dinge, die
sie gemacht hätten seien wichtig gewesen. Zum anderen verband sie mit dem
Gruppengespräch die Hoffnung, Martin und Stefan gemeinsam mit an den Tisch
holen zu können, um hier wieder eine Verbindung zwischen den beiden zu erzeu-
gen. In der Zuspitzung des Konfliktes der beiden und in der Personifizierung von
Konflikten sah sie ein allgemeines gesellschaftliches Muster, welches dazu führe,
das „Gemeinsame“ einer Initiative zu spalten. Hierüber wollte sie mit den anderen
sprechen, da sie dies als Gruppe bisher nicht getan hätten.
Elena war zum Zeitpunkt unseres Interviews arbeitslos. Sie engagierte sich
damals ehrenamtlich in verschiedenen antirassistischen Projekten. Auch Elena
kam zum Interview zu mir nach Hause. Sie kannte meine Wohnung und Küche
durch unsere Gespräche für ihre Diplomarbeit. Wir konnten dort vertraulich mit-
einander reden. Das Gespräch mit Elena war auch mein erstes Interview mit den
Leuten der Gruppe für meine Doktorarbeit. Ich erinnere mich noch daran, dass ich
mich recht sklavisch an meinen Interviewleitfaden hielt. Dies machte den Beginn
unseres Gesprächs etwas schwierig und zäh. Ich hatte immer das Gefühl, dass
meine Fragen in den Mittelpunkt rückten, den Gesprächsfluss von Elena unterbra-
chen und so als statische Elemente die freie Entwicklung ihrer, aber auch meiner
Gedanken und Fragen hemmte. Außerdem merkte ich, dass meine Fragen eine
unangenehme Dominanz hatten und Elena daran hinderten, ihre eigenen Fragen
als Fragen zu formulieren und daraus dann weitere Gedanken zu entwickeln. Ihre
vorsichtigen Gedankenbewegungen waren so in gewisser Weise in meinem me-
chanischen Handeln gebrochen. Vielleicht liegt dies aber auch nicht bloß an einem
Leitfaden. Im Gespräch mit Elena merkte ich, wie wichtig Geduld, Zeit und die
gemeinsame Entwicklung eines Gesprächsraumes sind. Hierzu gehört auch, dass
ich selbst als Interviewer im Interview eine Offenheit dafür entwickle, eigene
Sichtweisen und Positionen preiszugeben, weiter noch, dabei mein eigenes Ver-
stricktsein in die gesellschaftlichen Verhältnisse erkenne und auch erkenne, dass
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 161

der von den Interviewten entwickelte Gesprächsfaden Phänomene bereithält, de-


nen ich in keiner Weise neutral gegenüberstehe. Was ich dann mit einer Entwick-
lung eines gemeinsamen Gesprächsraumes meine, ist eine Situation, die den Rah-
men des Interviews selbst als einen Weg des Verstehens oder Interpretierens von
Erfahrungen anerkennt. Genauer: Wenn Elena vorsichtig über ihre Erfahrungen
berichtet, ist mir beim Lesen des Interviews aufgefallen, dass sie sich langsam
vortastet, langsam an ihre Themen herantastet, versucht, für ihre Themen eine
Sprache zu finden und gleichzeitig die mit ihren Themen verbundenen Bedeutun-
gen zu verstehen. Indem sie mir schrittweise erklärt, was sie erlebt hat, beginnt sie
auch selbst Interpretationen zu entwickeln, die sich um den lebendigen Kern ihrer
Erfahrungen gruppieren. Was mir bis dahin nicht bewusst war, ist, dass ich versu-
che, es ihr gleich zu tun. Im Laufe des Interviews wird dann auch der Leitfaden
unbedeutend. Vielmehr werden längere Erzählpassagen von mir als Interviewer
wichtig, die sich mit längeren Erzähl-Passagen von Elena abwechseln. Ich selbst
trete in einen Interpretations-, vielleicht auch Lernprozess ein. Meine Erzählpas-
sagen muten in Gegenüberstellung mit den Passagen von Elena dabei etwas fremd
und sperrig an. Dieser Punkt ist mir erst in einem recht späten Stadium meiner
Arbeit aufgefallen. Deswegen kann ich diesem Punkt in dieser Arbeit nicht im
Detail nachgehen und kann ihn nur als mögliches Arbeitsprogramm für eine wei-
tere Auseinandersetzung festhalten.

Interview Sandra

Stefan hatte mich in unserem Gespräch gefragt, ob ich auch mit Sandra sprechen
würde. Ihm war es wichtig, dass ich mit ihr sprechen würde, weil er den Eindruck
hatte, dass sie in gewisser Weise ähnliche Positionen wie er selbst im Kontext des
Vereins vertreten habe. Den Kontakt zu Sandra bekam ich über Elena. In diesem
Zusammenhang erzählte mir Elena, dass Sandra ihre Schwester sei. Dies hatte ich
bis dahin nicht gewusst. Auch war mir Sandra bei meinen Kontakten zum Verein
nicht aufgefallen oder, besser, ich konnte mich nicht an sie erinnern. Auch Sandra
schickte ich eine E-Mail mit einem kleinen Exposé zu meinem Vorhaben. Kurze
Zeit später telefonierten wir miteinander und verabredeten ein Treffen für das In-
terview. Sie bat mich, sie in ihrem Büro zu besuchen, um dort miteinander zu
sprechen. Sandra hatte Geografie studiert und arbeitete zum Zeitpunkt unseres In-
terviews bei einem Verein in einer Stadt im benachbarten Landkreis. Der Verein
war über seine Landkreisgrenzen hinaus für sein soziokulturelles Engagement be-
kannt. Neben der Soziokultur war der Verein auch im Bereich Sozialer Arbeit ak-
tiv. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit war hier die Arbeit mit Flüchtlingen. Seine
überregionale Bekanntheit hatte der Verein seinem Engagement gegen Rassismus
und einer entsprechenden Bildungsarbeit zu verdanken. Der Verein war auch
162 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

deshalb in der Region von Bedeutung, da sich dort viele Leute treffen konnten, die
ähnliche Erfahrungen in Orten gemacht hatten, wie sie Sandra, Elena, Martin, Ste-
fan und Markus in den Interviews beschreiben. Im Unterschied zum „AJU“ (Al-
ternatives Jugendzentrum), von dem z. B. auch Sandra im Interview erzählt, gab
es bei dem Verein, wo Sandra zum Zeitpunkt des Interviews arbeitete, auch punk-
tuelle Unterstützung für ihre Ideen zur Organisation der antirassistischen Initiative
als Verein, für die sie sich engagierte.
Sandra arbeitete in dem Verein nun in einem Projekt politischer Bildungsar-
beit, welches sich mit Rassismus beschäftigte. Den Verein, in dem Sandra arbei-
tete, kannte ich ganz gut. Von ihrem Tätigkeitsfeld im Verein hatte ich allerdings
keine Ahnung. Als wir uns in den Räumlichkeiten des Vereins trafen, waren für
mich zwei Dinge interessant: Zum einen fragte mich Sandra, ob es in Ordnung sei,
wenn ihr Freund beim Interview anwesend sei. Sandra und er teilten sich ein Büro
und er hätte im Augenblick keinen anderen Raum, in den er gehen könne. Er würde
auch ganz ruhig bleiben und nichts sagen. Ich war etwas unsicher, wie ich damit
umgehen sollte. Ich sagte, es sei in Ordnung, wenn er dabei sei. Er könne sich auch
am Interview beteiligen, sodass wir ein Gespräch zu dritt machen würden. Ihren
Freund Lukas kannte ich auch, einerseits vom Verein in (X); andererseits wusste
ich, dass er Sozialarbeit studiert hatte und versuchte, über die Hochschule eine
Arbeitsgruppe kritischer Sozialarbeit zu gründen. Lukas meinte, er wolle nicht am
Interview teilnehmen, sondern lieber im Hintergrund an seinem Schreibtisch sit-
zen und sich still um ein paar Dinge kümmern. Hieraus entstand dann eine etwas
eigenartige Interviewsituation. Sandra setzte sich in ihren Arbeitssessel an ihren
Schreibtisch und drehte sich zu mir. Ich saß in einem Sessel an einem kleinen
Tisch, der zwischen uns beiden stand und auf dem ich mein Aufnahmegerät plat-
zierte. Rechts hinter mir, leicht schräg in meinem Rücken, saß Lukas an seinem
Schreibtisch.
Zum anderen machte Sandra zusammen mit Lukas für mich eine Hausfüh-
rung. Mir war am Anfang nicht ganz klar, warum, da sie wussten, dass ich den
Verein, die dort aktiven Leute und das Haus kannte. Sie zeigten mir die Büros,
den Veranstaltungsraum, dann die Küche. Dort sei gerade gekocht worden; ge-
meinsames Team-Essen gab es dann im Nachbarraum. Sie erklärten mir, dass dies
jetzt eine neue Einrichtung im Haus sei, weil jetzt auch mal vegan gekocht würde.
Dieser Punkt war wichtig. Er war Sandras Einstieg in unser Thema und dann spä-
ter auch ein Punkt in unserem Interview. Sandra erklärte mir, dass es ziemlich
schwierig gewesen sei, die Leute des Vereins davon zu überzeugen, dass man sich
auch einmal mit der Frage von Tierrechten, deren Vernutzung von Menschen und
damit auch einmal mit dem eigenen Konsum und der eigenen Ernährung beschäf-
tigen müsse. Dies sei ihr Anspruch als Mensch, der sich im Kontext eines antika-
pitalistischen, antirassistischen Projektes engagiere. Die Diskussionen mit den
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 163

vorwiegend hauptamtlich tätigen Sozialarbeiter*innen im Verein seien sehr müh-


selig gewesen und veganes Essen sei zunächst auf breites Unverständnis gestoßen.
Was sie damit sagen wollte, verstand ich erst später. Ich interpretierte es dann so:
Leute, die sich antikapitalistisch und antirassistisch engagieren, sollten dieses An-
liegen nicht nur so vor sich hertragen, sondern auch versuchen diese als Lebens-
weise, als Veränderung der (eigenen) Lebensweise anzustreben. In diesem Zusam-
menhang wird dann ein antikapitalistisches Engagement scheinbar glaubwürdig.
Dieser Punkt war insofern bedeutsam, als Sandra hierin die Beschränkung
der Selbstorganisation als Verein markierte. Diese zeige sich darin, dass sich mit
der Herausbildung „professioneller“ Strukturen scheinbar die Lebendigkeit geteil-
ter Anliegen verlören. In ähnlicher Weise problematisierten diesen Konflikt auch
die anderen in den Interviews. Allerdings spitzte Sandra ihre Perspektive in unse-
rem Vorgespräch noch etwas zu. Sie gab zu erkennen, dass der Verein, in dem sie
arbeitete, als schlechtes Beispiel diene und sie frustriere, wie viel Energie man
aufwenden müsse, um die Leute von anderen Dingen zu überzeugen oder wenigs-
tens einmal mit anderen Impulsen anzuregen. Gleichzeitig thematisierte sie dort
allgemeiner eine Ausweglosigkeit oder eine Aussichtslosigkeit ihres eigenen Han-
delns, da sie im Kapitalismus aufgewachsen sei und ihr gesellschaftliche Ver-
gleichsgrößen fehlten, die zu Zeiten ihrer Eltern mit dem Sozialismus noch schein-
bar möglich gewesen wären. Durch die vergleichende Erfahrung könne man dann
feststellen, was besser oder schlechter sei. Auch an dieser Stelle muss ich einen
Punkt machen. Leider hat Sandra diese Gedanken im Interview nicht weiterver-
folgt und ich kann hier nur auf meine Notizen zum Gespräch zurückgreifen. Des-
wegen sind auch meine folgenden Gedanken vorsichtig, eher von einer Ahnung
geprägt. Einerseits, so dachte ich, verweist Sandra auf die Grenzen von Selbstor-
ganisation in einem Verein, wie ich sie auch in meiner folgenden Interpretation
der Interviews nachvollzogen habe. Zum anderen berührt sie aber einen sehr be-
deutenden Punkt für die Perspektiven emanzipatorischer Bewegungen „von un-
ten“, vielleicht ein Dilemma. Ich bin damals über ihre Formulierung „im Kapita-
lismus aufgewachsen“ gestolpert. Der Sozialismus erscheint als Fragment einer
Erfahrung aus einer anderen Zeit, der Zeit ihrer Eltern, ein Sozialismus als Ver-
sprechen der Befreiung des Menschen, aber als Praxis stalinistischer Unterdrü-
ckung. Wie sollte dieser auch als Orientierung für befreiendes Handeln (oder als
Orientierung für Sandra) taugen? Das Interessante ist, dass Sandra eine aktuelle
Schwierigkeit sozialer Bewegungen anspricht, die vielleicht als Verlust histori-
scher und utopischer Bezugspunkte für das eigene Handeln markiert. Und nicht
nur dies: Gleichzeitig dachte ich daran, dass auch eine Wiederaneignung und kri-
tische Bearbeitung, des im Stalinismus verkommen(d)en utopischen Stoffs über-
haupt erst notwendig sein müsse, um das Unabgegoltene erkennen zu können und
so für utopische Bezugspunkte wieder eine (neue) Sprache, einen Bezug, entwi-
164 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

ckeln zu können. Was Sandra mit dem Stichwort des Kapitalismus aufruft, ist dann
das folgende Dilemma: der Zwang, sich in den Grenzen des Kapitalismus bewe-
gen zu müssen und keinen Weg darüber hinaus entdecken zu können. Oder: Diese
Umstände fordern geradezu dazu auf, das Utopische als praktisch lebbare Mo-
mente (oder Elemente) in das Alltägliche wieder hineinzuholen, als Teile des ei-
genen Lebens, als Erfahrungen dort zugänglich zu machen. Nur wie? Und: Welche
Konflikte sind damit verbunden?
Leider habe ich diese Gedanken nicht in der konkreten Situation mit Sandra
entwickeln können. Sie bleiben mir als Nachsätze, die ich als Notizen zu meinem
Gespräch mit ihr angefertigt habe. In der konkreten Situation mit ihr war ich auf
die Konstellation mit Lukas konzentriert. Während des Interviews hörte ich, wie
er bei verschiedensten Punkten von Sandra oder mir tief Luft holte, als wolle er
etwas sagen. Ich konnte ihn leider nicht richtig sehen, nur hören. Ich fragte ihn, ob
er auch etwas sagen wolle. Er verneinte und meinte, dass Sandra dies schon tue.
In dieser Konstellation habe ich mich etwas unwohl gefühlt, war auch etwas un-
konzentriert. Beim Lesen des Interviews war dies allerdings nicht so zu merken.
Ich war überrascht, wie klar und präzise Sandra ihre Gedanken formuliert hatte.
Im Interview erklärte mir Sandra auch, welche Perspektive sie nach Auflösung der
Lagerfeuer-Gruppe und des Vereins für sich gefunden hatte. Auch sie war aus (X)
weggezogen und im Begriff, mit Lukas in die westlichen Bundesländer zu gehen.
Zum Zeitpunkt unseres Interviews engagierte sich Sandra in der linken autonomen
Tierrechtsbewegung. Sie meinte, dort hätte sie ihr zuhause gefunden. Ich interpre-
tierte dies damals so, dass sie dort eine konkrete Idee, eine sinnstiftende Perspek-
tive von Befreiung entdeckt hatte, die sich in konkreten Handlungsmöglichkeiten
materialisierte und so die Erfahrung eines eingreifenden Handelns, der Verände-
rung ermöglichte.126

Interview Markus

Den Kontakt zu Markus bekam ich über Martin. Beide wurden in der Zeit des
Vereins Freunde und sind es auch über dessen Auflösung hinaus geblieben. Als
ich Markus im Verein kennenlernte, machte er gerade eine Berufsausbildung. Zum
Zeitpunkt unseres Interviews arbeitete er auch in seinem Ausbildungsberuf. Auch
Markus war aus (X) weggezogen und lebte in Dresden. Markus lud mich für das
Interview nach Dresden ein und wir trafen uns bei ihm zu Hause. Einige Dinge
sind mir im Zusammenhang mit dem Interview mit Markus wichtig, zu erzählen.
Markus sprach vor der Aufzeichnung unseres Gesprächs über die Notwendigkeit

126 Von sich selbst oder der Gesellschaft oder wie diese zusammenhängen, spielte in unserem
Gespräch keine Rolle.
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 165

solch kleiner Initiativen wie dieser, die sie als Gruppe vom Lagerfeuer und als
Verein ins Leben gerufen hatten. Ich fragte ihn damals, warum dies so sehe. Er
sprach dann auch im Interview immer wieder darüber. Im Unterschied zu den Ak-
zenten im Interview betonte er im Vorgespräch die Besonderheit seiner persönli-
chen Erfahrung. Diese bestehe darin, dass durch die Gruppe in (X) und dann später
mit dem Verein für ihn eine alternative Möglichkeit entstanden sei, gemeinsam
mit anderen Leuten etwas Sinnvolles zu machen. Mit sinnvoll unterstrich Markus
den Punkt, dass der Verein die Situation im Ort so verändert habe, dass sich Leute
wie er nicht mehr ins Private, in ihr zuhause, zurückziehen mussten, wenn sie
nichts mit Nazis zu tun haben, oder sich deren Einflüssen entziehen wollten. An-
dere Treffpunkte waren nicht mehr zugänglich. Der Jugendclub wurde geschlos-
sen. Auf dem Markt hatte Markus (auch die anderen) immer wieder Probleme mit
Nazis. Die Zugänglichkeit eines alternativen Treffpunktes war für Markus auch
insofern wichtig, als er damals kein Auto oder Moped hatte, um sich woanders mit
Leuten treffen zu können. Zu seiner Ausbildung fuhr er zwar mit dem Bus in die
benachbarte Kreisstadt; er lebte aber nicht dort und wollte seine Kontakte in (X)
weiter pflegen. Außerdem erzählte mir Markus, dass für ihn der Verein sehr wich-
tig gewesen sei, um seine Weltsicht zu erweitern und zu verändern.
Interessant ist, dass ähnlich wie Markus z. B. auch Stefan (auch Martin und
Sandra gehen ganz kurz darauf ein) über die Effekte des Vereins sprach und fest-
stellte, dass verschiedene Leute, die dann zum Verein dazugekommen seien, sich
mit den Themen, die dort diskutiert wurden, beschäftigten und dann als „Neben-
effekt“ auch ihre Sichtweisen verändert hätten. Markus machte mir damit zwei
Dinge deutlich: zum einen, wie wichtig alternative Zusammenhänge inmitten ei-
nes „Status quo“ (S: 37) sind, um allein als Kontrast und gleichzeitig erweitert als
Zugang für Leute wie Markus Möglichkeiten aufzuzeigen, dass so wie es ist, es
nicht alles gewesen sein kann und es eben auch nicht so bleiben muss. Zum ande-
ren wurde mir klar, dass die alternativen Zusammenhänge auch erweiterte Erfah-
rungsräume herausbilden können, die wiederum selbst die Möglichkeit einer Bil-
dung entwickeln können, die sich als eine Praxis quer zu Formen einer hierarchi-
schen Vermittlung von Wissen herausbildet. Für meine Arbeit ist daher wichtig,
anzumerken, dass sich diese Formen oder die Art und Weise dieser Bildungsmo-
mente als selbstbestimmte Zusammenhänge entwickeln, aber von den Interview-
ten nicht als Momente von Bildung eingeordnet werden (und auch von mir selbst
erst im Nachhinein, im Nachdenken über z. B. mein Gespräch mit Markus als sol-
che erkannt werden). Meine Hypothese: Dominant ist die (gesellschaftliche) Er-
fahrung des Lernens in institutionellen Zusammenhängen (wie etwa Schule). Die
Art und Weise des dortigen Lernens wird als Bildung begriffen. Damit kann dann
der in den Interviews skizzierte „Nebeneffekt“ nicht unter diesem Begriff subsu-
miert werden, da die Erfahrung aus den Interviews etwas anderes, Gegenteiliges
166 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

verkörpert. Auf theoretischer Ebene wird diese Erfahrung erst mit einem weiten
Bildungsbegriff fassbar (hierzu vielleicht Heydorn 2004 und Sünker 1989). Auf
empirischer Ebene wird ein weiter Bildungsbegriff als Erfahrungen der Interview-
ten und ihre Bemühungen, in einem doppelten Sinne Zusammenhänge herauszu-
bilden, deutlich. Zusammenhänge bilden Verknüpfungen und Beziehungen quer
zwischen den Einzelnen heraus, bilden so Freundschaften, eine Gruppe und ein
Kollektiv. Diese Bewegung ist unmittelbar darauf angewiesen, über die alltägli-
chen Gegebenheiten nachzudenken, (kritisch) Fragen zu stellen, die individuellen
Perspektiven im Austausch mit den anderen zu prüfen und zu erweitern, was ich
als die Herausbildung einer Urteilskraft und Handlungsfähigkeit bezeichnen
möchte. Dieser Punkt könnte (oder muss an anderer Stelle) als ein eigenständiges
Arbeitsprogramm entwickelt und spezifischer untersucht werden. Auch wenn
Markus im Interview auf diesen Punkt nicht näher eingeht, unterstreicht er mit
seiner Einlassung im Interview – „wir waren schon notwendig“ – auch diesen von
mir skizzierten Aspekt.
Im Gespräch machte Markus auch deutlich, dass die umrissene Erfahrung für
ihn selbst weiterwirke oder, besser, für ihn weiter eine Bedeutung habe. Er erzählte
mir, dass er nach Auflösung des Vereins und seiner beruflichen Tätigkeit in Dres-
den nach neuen Zusammenhängen gesucht habe. Er habe weiter aktiv etwas tun
wollen, um die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht einfach so hinzunehmen.
Er machte mir dabei folgenden Zusammenhang deutlich: Zum einen habe seine
Erfahrung mit dem Verein Folgen für sein Verhalten im Kontext seiner Arbeit
(auch Martin berichtet Vergleichbares). Er fühle sich sicherer im Umgang mit po-
litischen Themen und habe hierzu eine festere Position. Hiermit verbundene Kon-
flikte könne er am Arbeitsplatz ansprechen und Vorschläge zu deren Befriedung
machen. Dieser Punkt war für Markus besonders wichtig, da in seinem beruflichen
Umfeld viel Sexismus und rechte politische Einstellungen die Arbeitsbeziehungen
kreuzten. Zum anderen habe er auch über die Zusammenhänge seiner Arbeit eine
Sensibilität für Ernährung entwickelt. Er erzählte mir, dass ihm dieses Thema des-
wegen wichtig sei, weil es hier einen Zusammenhang zwischen kapitalistischer
Wirtschaft, Ökologie und einer Vernutzung von Landschaft durch Landwirtschaft
gebe, was wiederum Auswirkungen auf die Herstellung z. B. unserer Lebensmittel
habe. Als er diesen Punkt für sich erkannt habe sei er Mitglied bei Greenpeace
geworden. Seitdem sei er in einer Lokalgruppe von Greenpeace aktiv. Das Thema
Ernährung habe für ihn aber auch noch aus einem anderen Grund an Bedeutung
gewonnen. Markus erzählte mir, dass er in Kürze mit seiner Freundin ein Kind
bekomme und auch deshalb bei ihm die Entschlossenheit, etwas zu tun gewachsen
sei.
5.1 Skizze meiner methodischen Herangehensweise 167

Das Gruppengespräch

Wie ich schon angedeutet habe, war meine Idee, einige Zeit nach den Einzelinter-
views noch ein Gruppengespräch zu machen. Meine Idee war, dass alle, mit denen
ich ein Interview gemacht hatte, auch am Gruppengespräch teilnehmen würden.
Dies war nicht ganz so einfach und ein längerer Prozess der Auseinandersetzung
für Martin, Stefan, Elena, Markus und Sandra und auch für mich selbst. Wie ich
schon deutlich gemacht habe, hat Stefan letztlich seine Teilnahme am Gespräch
abgesagt. Auch Martin hat lange überlegt. Letztlich, so sagte mir Martin, habe
Markus gute Argumente gefunden, ihn davon zu überzeugen, am Gespräch teilzu-
nehmen. Elena war schon von Beginn an einem Gruppengespräch bereit gewesen
und hatte, wie ich skizziert habe, mit diesem Gespräch verschiedene Hoffnungen
verbunden. Sandra wollte am Gespräch teilnehmen, sagte dann aber ihre Teil-
nahme kurzfristig ab. Der verabredete Termin erwies sich als sehr ungünstig, da
sie in dieser Zeit ihren Umzug nach Bamberg zu realisieren hatte. Einen alternati-
ven Termin konnten wir leider nicht finden.
Letztlich führte ich dann mit Martin, Elena und Markus ein Gruppenge-
spräch. Wir trafen uns bei mir zu Hause in der Küche. Sie waren schon lebhaft am
Diskutieren. Sie erzählten, dass sie schon die ganze Fahrt über ihre Erfahrungen
von damals mit dem Verein gesprochen hatten. Alle hatten ihre eigenen Interviews
gelesen und durchgearbeitet. Sie hatten sich sehr gewissenhaft Notizen und Fragen
aufgeschrieben, über die wir diskutieren könnten, die aber auf jeden Fall für die
Einzelnen sehr wichtig waren. Wir einigten uns in unserer Vordiskussion auf zwei
Punkte, die alle als Fragen oder Problembeschreibungen in ihren Interviews ge-
funden hatten.
Zum einen hatten sich alle gefragt, wie es beim Stadtfest in (X) zur Situation
der Übergriffe hatte kommen können und, vor allem, was Leute dazu motivierte,
sich zusammenzutun und andere Menschen durch die Stadt zu jagen, zu verprü-
geln und auszugrenzen. Damit verbunden waren die Fragen: Was hätten wir in
dieser Situation getan? Was haben wir damals gemacht? Interessant war, dass im
Gruppengespräch deutlich wurde, dass alle beim Stadtfest nicht dabei waren, aber
unmittelbar danach aktiv wurden. Sie hatten gute Gründe gehabt nicht auf das
Stadtfest zu gehen. Sie hatten immer wieder selbst die Erfahrung gemacht, dass
sie dort von Leuten angegriffen und angepöbelt wurden, ihnen niemand zu Hilfe
kam, sodass sie diese Veranstaltung mieden und nicht mehr hingingen.
Zum anderen stellten sie im Gruppengespräch den Verlust des Vereins in den
Mittelpunkt. Hierbei zeigte sich ein Spannungsfeld. Auf der einen Seite war eine
tiefe Traurigkeit über den Verlust des Zusammenhangs erkennbar. Hiermit ver-
bunden gab es Zweifel, ob es richtig gewesen sei, ihre politischen Anliegen in
einem Verein organisiert und vertreten zu haben. Im Raum stand das Stichwort
168 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

des Versagens. Sie glaubten sie hätten versagt. Versagt, den Verein, das Haus auf-
rechtzuerhalten und das politische Anliegen im Ort zu platzieren. Demgegenüber
die Erfahrung, sie hätten etwas geschafft, erreicht und hergestellt. Die Erfahrung,
wie Martin im Gruppengespräch sagt, von „Zusammenhalt“ (G: 1319) oder, wie
Elena sagt, ein „festes Haus“ (E: 152). Sie seien nicht nur für sich selbst als Er-
fahrung wichtig gewesen, sondern auch für den Ort; sie waren mal etwas anderes
gewesen, auch etwas anderes als Feuerwehr, Schützenverein oder Faschingsclub.
Sie hätten eine Idee, politisch etwas anders machen zu wollen, und hätten diese
mit ihrem Vereinshaus in besonderer Weise auch materiell verkörpert.
Im Unterschied zu den Einzelgesprächen entwickelte sich die Situation zu
einer sehr offenen Diskussion der verschiedensten Argumente und Sichtweisen.
Mein Zutun war dafür nicht notwendig. Interessant war für mich, dass hier auch
Positionen, vergleichbar zu der von Stefan, stellvertretend erläutert und diskutiert
wurden.

5.2 Sich selbst organisieren


Sich selbst organisieren

Unter dem Stichwort „sich selbst organisieren“ heben die Interviewten drei Be-
deutungsebenen hervor. Sie unterscheiden zwischen ihren Treffen als Gruppe in
einer Gartenlaube und dem „sich Organisieren“ als Verein. Von besonderer Be-
deutung ist hierbei vor allem der Kontrast und damit der Zugang zu einer qualita-
tiven Unterscheidung zwischen ihren Treffen als Gruppe in der Gartenlaube und
dem „sich Organisieren“ als Verein. Im Kontrast zu dieser qualitativen Unter-
scheidung diskutieren die Interviewten vor allem die Möglichkeiten und Grenzen
ihres Handelns im Kontext der Selbstorganisation als Verein. Vor dem Hinter-
grund dieser beiden Ebenen lassen sich wiederum individuelle Handlungsstrate-
gien herausarbeiten, die für die Einzelnen als Orientierungen im Kontext ihrer
Prozesse der Selbstorganisation von Bedeutung sind.

5.2.1 Entwicklung als Gruppe – was zusammenführt und zusammenhält

Einen wesentlichen Kristallisationspunkt für die Entwicklung ihres Handelns als


Gruppe und letztlich der Organisation eines Vereins sehen die Interviewten in ih-
ren Treffen in einer Gartenlaube. Hierbei unterstreichen sie verschiedene Punkte,
die für sie als Impulse zur Formung als Gruppe von Bedeutung waren. Besonders
Stefan berichtet ausführlich von der Anfangszeit als Gruppe in der Gartenlaube.
5.2 Sich selbst organisieren 169

Mit Blick auf meine Arbeitsnotizen127 ist hierzu eine Vorbemerkung zu machen.
Zwei der Interviewten, Stefan und Martin, kannten sich bereits vor den Anfängen
der Gruppe und ihren Treffen in der Gartenlaube. Sie waren damals Freunde. Die-
ser Punkt ist insofern von Bedeutung, da sich die Beziehung zwischen den beiden
mit der Gründung des Vereins konflikthaft zuspitzte und sich die Freundschaft
letztlich auflöste. Die Interviewten beziehen sich in ihren Äußerungen nicht im-
mer direkt auf diese Geschichte, verweisen aber in ihren Überlegungen auf zwei
unterschiedliche, gegenteilige Sichtweisen, die exemplarisch entweder als Posi-
tion von Martin oder Stefan markiert werden. Diese Positionen verweisen wiede-
rum auf ein Spannungsfeld in der Ausrichtung des gemeinsamen Handelns zu-
nächst als Gruppe und dann später als Verein. Auf diesen Punkt wird noch genauer
einzugehen sein. Stefan selbst wurde kein Vereinsmitglied. Vor diesem Hinter-
grund bilden seine recht ausführlichen Ausführungen im Interview zur Herausbil-
dung der Gruppe und den Treffen in der Gartenlaube einen Kontrast zu denen der
anderen Interviewten, deren Überlegungen sich vor allem auf die Handlungsmög-
lichkeiten und Konflikte rund um den Verein konzentrieren.

5.2.1.1 Gemeinsam an Politik interessiert

Stefan erinnert sich daran, dass sie sich bereits mit 16 oder 17 Jahren, zumindest
in der Zeit rund um das Abitur, als Gruppe getroffen hatten:
„Man entwickelt sich ja dann mit der Zeit, wir haben es ja auch, keine Ahnung, wann
waren die ersten Ideen, wann fing das an, da waren wir vielleicht so 17 oder so, 16,
17 in der Drehe rum. Und dann hat das ja über die, Ende, wo ich schon fertig war mit
dem Abitur, irgendwie davor fing das, da haben wir uns schon als feste Konstellation
getroffen so regelmäßig“ (S: 111-115).

127 Bei meinen Arbeitsnotizen handelt es sich um eine punktuelle und selbstreflexive Bestandsauf-
nahme meiner Erfahrungen aus meiner beruflichen Tätigkeit in einem Mobilen Beratungsteam
gegen Rechtsextremismus, welche ich parallel zur Aufnahme der Interviews und während der
Ausarbeitung meiner Dissertation angefertigt habe. Im Zusammenhang meiner Tätigkeit beim
Mobilen Beratungsteam lernte ich die von mir Interviewten als Mitglieder einer antirassistischen
Initiative kennen. Als ich sie kennenlernte waren sie eine Gruppe von ca. zehn Leuten und be-
fanden sich in der Abiturphase oder am Beginn einer Berufsausbildung. Sie waren damals etwa
17 Jahre alt. Auf die sogenannten Mobilen Beratungsteams kann ich nicht genauer eingehen.
Nur so viel: Es handelte sich um einen Paradigmenwechsel und neuen Ansatz in der lokalen
Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus im Osten Deutschlands. Im Unterschied etwa zum
Ansatz der „akzeptierenden Jugendarbeit“ (vgl. Krafeld 1996 u. 2002; eine kritische Würdigung
bei Reimer 2013) war es das Ziel, durch Stärkung bürgerschaftlichen Engagements rechtsext-
reme Erscheinungsformen zurückzudrängen (vgl. hierzu etwa Lynen v. Berg/Palloks/Steil 2007
oder, an einem Beispiel diskutiert Affolderbach/Höppner 2013; oder eine kritische Auseinander-
setzung mit den Grundannahmen dieses Ansatzes bei Affolderbach 2015).
170 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Auch Martin erinnert sich an die Anfänge:


„Dann sind wir dann wieder, haben wir damit angefangen in der 11. Klasse, als ich
dann auch Stefan kennengelernt habe, d. h., den kannte ich vorher schon flüchtig, aber
wo ich halt mit ihm in der Klasse war, haben wir im Physikunterricht angefangen, wie
gesagt, die Politik hat uns sowieso interessiert, haben angefangen, dann auch mehr
Debatten zu führen und dann sind wir zu dem Schluss gekommen, okay, wir müssen
irgendwas machen“ (M/b: 21-26).128
Beide verweisen auf eine längere, prozesshafte Entwicklung ihrer Ideen, sich
selbst zu organisieren. Stefan und Martin hatten sich in der gemeinsamen Klasse
näher kennengelernt. Es überschnitten sich ihre Interessen an Politik. Interessant
ist in diesem Zusammenhang die Einlassung von Martin. Martin und Stefan „ha-
ben […] im Physikunterricht angefangen [...] Debatten zu führen“ (M/b: 23 f.).
Auch in meinem ersten Interview mit Martin hebt dieser diesen Aspekt hervor und
macht deutlich, dass die Bildung einer Gruppe oder eines anderen organisatori-
schen Zusammenhangs schon lange ein Thema gewesen sei, was dann für ihn vor
allem im Physikunterricht konkretere Formen angenommen habe:
„Wir haben es ja schon Jahre vorher schon vorgehabt. Da waren wir glaub ich 12.
Klasse oder so. Da haben wir angefangen im Physikunterricht, dass wir eine Partei
gründen, irgendwelche Konzepte erstellen. Es war so ein spielerisches Lernen, sagen
wir es mal so“ (M/a: 363-366).
Zum einen ist erstaunlich, dass Martin vom Physikunterricht spricht. Im Kontext
eines naturwissenschaftlichen Faches an einer Schule ist die Auseinandersetzung
mit Fragen der politischen Organisation nicht unbedingt zu erwarten. Auf diesen
Punkt geht er nicht genauer ein. Dennoch ist er erklärungsbedürftig. Interessant
ist, dass Martin hier von einer Erfahrung berichtet, die mich an meine eigenen
Erfahrungen erinnert. Martin berichtet über die Schule, in der ich gemeinsam mit
meiner damaligen Kollegin beim Mobilen Beratungsteam verschiedene Work-
shops mit Lehrer*innen zum Themenfeld Rechtsextremismus und politischer Bil-
dung gemacht hatte. Mit Blick auf die Frage der Arbeitsbündnisse im Kontext
meiner Untersuchung ist dies deshalb hervorzuheben, da Martin schon zum Zeit-
punkt unseres ersten Interviews davon Kenntnis hatte und wusste, dass ich in sei-
ner damaligen Schule aktiv war.129 Meine Erfahrung aus den Workshops mit den

128 Das Interview, das ich mit Martin für meine Masterarbeit geführt habe, ist im Folgenden mit M/a
gekennzeichnet. Das zweite, spätere Interview mit Martin, habe ich mit M/b kenntlich gemacht.
129 Zu ergänzen ist hierzu, dass ich gemeinsam mit meiner Kollegin an der örtlichen Schule und im
Gymnasium der benachbarten Kreisstadt verschiedene Workshops und Bildungsveranstaltungen
mit Lehrer*innen zum Thema Rechtsextremismus machte. In meiner Erinnerung handelt es sich
insgesamt um fünf Veranstaltungen in diesem Zeitraum. Im Zusammenhang dieser Workshops
und Bildungsveranstaltungen waren auch die Übergriffe während des Stadtfestes in (X) ein viel
diskutiertes Thema.
5.2 Sich selbst organisieren 171

Lehrer*innen ist, dass vor allem die Frage „Wie politisch dürfen Lehrer*innen
sein?“ ein zentraler Punkt der Auseinandersetzungen war. Erstaunlich war, dass
trotz Kenntnis des „Beutelsbacher Konsenses“ aufseiten der Lehrer*innen eine
tiefe Verunsicherung zu spüren war, sich mit politischen Fragen in den Work-
shops130 und im Unterricht mit den Schüler*innen auseinanderzusetzen. Die Leh-
rer*innen begründeten dies mit ihren Erfahrungen als Lehrer*innen in der Schule
zu Zeiten der DDR. Damals sei von ihnen erwartet worden, die Schüler*innen an
einer vorgegebenen politischen Orientierung auszurichten. Der übergeordnete An-
spruch sei mit der „Wende“ weggefallen und jetzt sei Meinungsfreiheit das Gebot
der Stunde. Das Besondere hierbei sei, dass Meinungsfreiheit eben keine Vorga-
ben dulde und sich frei entfalten müsse. Schule habe sich deshalb in besonderer
Weise zurückzunehmen und Politik weitestgehend aus der Schule herauszuhalten.
Die Lehrer*innen wiederum verpflichte dies zu politischer Neutralität. Politische
Diskussionen und Meinungsäußerungen wurden von den Lehrer*innen tabuisiert.
In der Konsequenz wurden entsprechende Situationen und Inhalte im Unterricht
gemieden oder unterbunden. Auf hiermit verbundene Probleme dieser Grundan-
nahme, einer Unterlassung politischer Bildung in der Schule und deren Bedeutung
für den Umgang z. B. mit Rechtsextremismus kann hier nicht näher eingegangen
werden. Diese Themen müssen an einem anderen Ort weiter diskutiert werden.
Interessant war, dass nur einzelne Lehrer*innen es für notwendig hielten, Politik
als Unterrichtsgegenstand zu betrachten und über politische Erfahrungen mit den
Schüler*innen im Unterricht zu sprechen.
Für die Einlassung von Martin ist bedeutend, dass sich scheinbar ein großer
Teil der Lehrer*innen nicht um eine Thematisierung von Politik im Unterricht
kümmert. Möglicherweise ist es auch so, dass Politik im Unterricht nicht in der
Art und Weise, die Martin anspricht oder die für ihn von Bedeutung ist, eine Rolle
spielt. Oder aber der Physikunterricht ist so langweilig und der Lehrer oder die
Lehrerin mit ihrem Gegenstand so weit von den Schüler*innen „entfernt“, dass sie
sich selbst behelfen und die Zeit mit den Dingen ausfüllen, die ihnen selbst wichtig
erscheinen. Letzteres erscheint aber unwahrscheinlich, da Martin das „spieleri-
sche[...] Lernen“ (M/a: 365) in diesem Zusammenhang betont. Auf jeden Fall

130 Dies kann natürlich auch am Format der Workshops gelegen haben, die möglicherweise einer-
seits die Erwartungen der Lehrer*innen nicht bedient haben oder aber andererseits trotz des An-
spruchs einer Subjektorientierung der Gegenstand der Auseinandersetzung (Rechtsextremismus)
ein von außen angetragenes Thema war, was unter Umständen eine Offenheit verhinderte, die-
jenigen Denk- und Handlungsweisen der Lehrer*innen zur Sprache kommen zu lassen, die für
sie im pädagogischen Alltag der Schule Sinn ergeben haben. Über solche Widersprüche und
Probleme politischer Bildungsarbeit hat beispielsweise Christina Kaindl nachgedacht und auf
die „Unmöglichkeit, emanzipatorische Ziele für andere zu setzen“ hingewiesen (vgl. Kaindl
2009).
172 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

eröffnet sich im Physikunterricht ein Diskussionsfeld und Experimentierraum, das


bzw. der das Thema Politik zulässt und zum Gegenstand hat.
Martin hebt zwei Punkte hervor, die für ihn wichtig sind. Zum einen verweist
er auf eine spezifische Erfahrung des Lernens. Er spricht vom „spielerischen Ler-
nen“ (M/a: 365), dessen Ausgangspunkt die Gründung einer Partei bildet. Es wer-
den Konzepte erstellt, Debatten geführt. Es kommt zu verschiedenen Suchbewe-
gungen, welche die Ausgangsidee prüfen und auf ihre Sinnhaftigkeit hin befragen.
Zum anderen orientiert sich der Lerngegenstand an der „Gründung einer Partei“
und damit an einer spezifischen Vorstellung des Politischen. Im Mittelpunkt der
Auseinandersetzung steht die Politik in ihrer Form der Organisation als Partei.
Betont ist damit eine Auseinandersetzung mit den herrschaftsbezogenen Seiten
von Politik und denen einer parlamentarischen Demokratie. Mögliche Selbstorga-
nisation orientiert sich damit tendenziell am Rahmen institutioneller Ausprägung
von Politik und hierarchischen (Ein-)Bindung der eigenen Interessen. Gleichzeitig
bildet die Form der Beschäftigung mit der Thematik in der Schule einen Kontrast
zu den sonst üblichen Herangehensweisen des Lernens in diesem Kontext. Ohne
dass Martin diesen Punkt näher ausführt, verweist seine Erfahrung auf einen Wi-
derspruch.
Sein „Interessiert-Sein“ (und möglicherweise auch das von Stefan und den
anderen in der Klasse) an Politik wird aufgenommen. In der Schule eröffnet sich
unerwartet der Raum des „Spielerischen“, des zwanglosen und experimentellen
Durchspielens der Möglichkeiten, die in der Gründung einer Partei liegen. Dar-
über hinaus wird dies im Kontext des Physikunterrichtes gemacht, was auf ein
ähnliches Interesse der Lehrerin oder des Lehrers schließen lässt.
Zumindest vor dem Hintergrund des vom Lehrer oder der Lehrerin vertrete-
nen Faches und der damit assoziierten Fachkompetenz scheint sich die für die
Schule übliche asymmetrische Position zwischen Lehrenden und Lernenden (vgl.
Freire 1973, Holzkamp 1995) zu öffnen oder zu verändern. Gleichzeitig aber
bleibt der diskutierte Gegenstand selbst auf die Dimensionen des Institutionellen
von Politik beschränkt. Das Thema Politik entfaltet sich in der Schule als Institu-
tion und wird gleichzeitig dort gezähmt. Ein Erkennen oder eine mögliche Über-
schreitung hierin liegender Grenzen wird nicht thematisiert. Klaus Holzkamp hat
deutlich gemacht, dass Lernprozesse ausgehend von den Interessenlagen der
Schüler*innen im Kontext Schule nicht selbstverständlich sind, da sie sich der
Kontrolle und Planung durch Schule entziehen „und damit die gesamte machtöko-
nomische Anordnung des Lernens als abhängiger Größe der Schulorganisa-
tion/Lehrereinwirkung“ infrage stellen würden (Holzkamp 1995: 391). In diesem
Zusammenhang korrespondiert der Lerngegenstand „Politik“ mit diesem Inte-
resse, indem das „Interessiert-Sein“ von Martin auf einen spezifischen Gegenstand
gerichtet bleibt: die Einrichtung einer politischen Ordnung in einer parlamentari-
5.2 Sich selbst organisieren 173

schen Demokratie und deren Prozesse einer Institutionalisierung sowie einer da-
mit verknüpften Hierarchisierung von Arbeitsteilungen und Interessenlagen (wie
sie auch in der Schule üblich sind). Das vorhandene „Interessiert-Sein“ von Martin
und die in dieser Perspektive liegenden, vielfältig zu entfaltenden Möglichkeiten
von Handeln und Aktivität werden mit Konzentration auf den Gegenstand der or-
ganisierten Politik eingeschränkt.131 Pessimistisch formuliert: Das interessierte
Durchspielen als aktives Handeln, verbunden mit der Entdeckung potenzieller
Möglichkeiten zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit, steht dabei gleichzeitig
in der Spannung eingepasst, passiv zu werden.
Und dennoch: Das Ergebnis ist letztlich offen und, wie Martin zu erkennen
gibt, ist das Bewusstsein „irgendwas machen [zu müssen]“ (M/b: 26), gestärkt.
Die Formen, die Art und Weise, Ziele und Themen einer möglichen politischen
Selbstorganisation sind noch offen und müssen sich finden. Martin spricht davon,
an Politik interessiert zu sein. „Interessiert-Sein“ betont die Neugierde, das Fra-
gende, das Suchende. In den Blick kommt dabei eine aktive Form subjektiven
Handelns, die in der Feststellung „Politik hat uns sowieso interessiert“ (M/b: 24)
eine Überschneidung des Gemeinsamen heraushebt. Die aktive Form subjektiven
Handelns tritt in eine verbindende und wechselseitige Interaktion mit anderen. Am
Ende steht für Martin die Einsicht: „[W]ir müssen etwas machen“ (M/b: 25). Die-
sen Punkt des Gemeinsamen teilen Martin und Stefan. Es ist der Impuls dafür, sich
in einem erweiterten Kreis zusammenzutun. Es ist der Impuls dafür, sich außer-
halb von Schule mit anderen zusammenzutun.
Und eine Schlussfolgerung für Bildungsarbeiter*innen: Die Erfahrung, die
Martin beschreibt, verweist auf den skizzierten Widerspruch einer Passivierung,
aber, und dies ist der Punkt, letztlich bleibt seine Perspektive dennoch offen. Diese
Erfahrung ist eben trotz der institutionellen Rahmung und Ausrichtung des

131 Ich möchte an dieser Stelle nicht einfach von „Interesse“ sprechen und bevorzuge in Orientie-
rung an Martins Formulierung „Politik hat uns sowieso interessiert“ das Stichwort des „Interes-
siert-Seins“. Interesse ist als Begriff zu ungenau. Eine Nutzung dieses Begriffs unterstellt ein
scheinbar „objektives Interesse“, dem das Individuum, in diesem Falle Martin, fremdbestimmt
einfach folgen würde. Diese Sicht vernachlässigt „die subjekthaft-aktive[...] Komponente, also
[die] der Selbstbestimmung, in der individuellen Lebenstätigkeit“ und damit verbundene Hand-
lungsmöglichkeiten und die „Notwendigkeit der Individuen, über ihre Lebensumstände Verfü-
gung zu gewinnen bzw. diese zu erweitern“ (Rehmann 2004: 1355 f.). Jan Rehman verweist mit
dieser Überlegung auf die Kritik der kritischen Psychologie am Begriff des „Interesses“ in bür-
gerlicher Tradition sowie die Kritik am ökonomistisch – reduktionistischen Gebrauch des Be-
griffs im marxistischen Diskurs (vgl. zu letzterem Punkt auch Neuendorff 2014). Möglicher-
weise wäre der Begriff des Bedürfnisses in Anlehnung an die kritische Psychologie besser ge-
eignet, was hier aber nicht geklärt werden kann. Horst Kollan hat z. B. die Bedeutung des Be-
dürfnisbegriffes der kritischen Psychologie für eine kritische Jugendarbeit umrissen (vgl. Kollan
1980; zur Bedeutung des Bedürfnisbegriffes für die Bildungsarbeit siehe auch Affolderbach
2010).
174 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Bildungsgegenstandes möglich. Heinz-Joachim Heydorn hat dies als einen Wider-


spruch skizziert, den kritische Bildungsarbeiter*innen erkennen müssten. Dies
deshalb, weil ihr Handeln in gesellschaftliche Herrschaftszusammenhänge einge-
bunden sei und in diesem Sinne „die Bildungsinstitution“ ein „realer Teil der ge-
samten Organisation der Gesellschaft“ sei und „die Gesellschaft über sie erfahrbar
wird“ (Heydorn 2004: 131). Hierbei stehen die Hoffnungen kritischer Bildungsar-
beiter*innen, sich in den Widersprüchen „politischer Hoffnungslosigkeit“ zu ver-
lieren und dabei „die gesellschaftliche Bedeutung der Bildungsinstitution zu über-
sehen“ oder zu glauben Gesellschaft allein „durch Bildung“ verändern zu können
(vgl. ebd.). Deshalb sagt Heydorn: „Die Bildungsinstitution ist aber nicht nur eine
wichtige Komponente der Gesellschaft, ihr bedeutungsvollster Zubringer, sondern
sie ermöglicht auch einen eigenen verändernden Beitrag, der unauswechselbar ist.
Dieser Beitrag darf nicht aus der Institution zurückgezogen werden, er kann auf
gleiche Weise an keiner anderen Stelle geleistet werden“ (ebd.). Für Martin be-
deutet dies: Er erfährt Schule widersprüchlich; als Ort, an dem situativ (aber nicht
verlässlich) Experimentierräume entstehen, die sein „Interessiert-Sein“ zur Gel-
tung bringen und einbinden, gleichzeitig erfährt er Schule in ihrer institutionellen
Beschränkung, die daran orientiert ist, den gegebenen Rahmen nicht überschreiten
zu lassen. Umso wichtiger ist ein „Dennoch“, da trotz der Spannung einer Passi-
vierung eine Einsicht entsteht, „etwas machen zu müssen“. „Interessiert-Sein“ ent-
zieht sich einer Verwertung durch eine Politik „von oben“ (und im Kontext Schule
auch der dortigen Form von Bildung und Bildungshierarchie) und gibt sich mit der
gemachten Erfahrung nicht zufrieden: Dies kann eben nicht alles gewesen sein.

5.2.1.2 Freundschaft – freundschaftliches Verhältnis

Den Punkt des Gemeinsamen unterstreicht auch Stefan. Hat Martin das „Interes-
siert-Sein“ an Politik als Bezugspunkt des Gemeinsamen hervorgehoben, betont
Stefan einen anderen Aspekt. Eine wichtige Grundlage für das Zusammenfinden
als Gruppe sieht er in der Herausbildung von Freundschaften und in einem damit
verbundenen Freundeskreis:
„Das waren alles Freunde, so ein Freundeskreis, so eine Peergroup sozusagen, die sich
durch Schule, und, wobei man halt komischerweise in der gleichen Kacke lebt wie
alle, sich zusammengefunden hat“ (S: 92-94).
Im Unterschied zum analytischen Gebrauch des Stichwortes „Peergroup“ etwa im
Kontext der Jugendforschung132 verdeutlicht der Alltagsgebrauch des Begriffes

132 Im Kontext der Jugendforschung wird der Begriff Peer oder Peergroup zur Beschreibung und
Untersuchung von spezifischen Sozialisationsprozessen Jugendlicher in ihrer jeweiligen
5.2 Sich selbst organisieren 175

durch Stefan vor allem eine Beziehungsebene (oder eine Art und Weise von Inter-
aktion), deren Verknüpfungen sich im Kontext der Schule gebildet hatten. Hier
hatten sie sich getroffen, kennengelernt, als Freunde und als Freundeskreis zusam-
mengefunden. Es ist aber noch mehr. Stefan stellt fest, „wobei man halt komi-
scherweise in der gleichen Kacke lebt wie alle“ (S: 93). Stefan weist auf das All-
tägliche hin. Dies beinhaltet verschiedene Dimensionen. Einerseits bildet der
schulische Alltag einen Bezugspunkt für die „gleiche Kacke“. Mit Blick auf das
Stichwort „Kacke“ scheint z. B. der schulische Alltag alles andere als entspannt
zu sein; verweist vielmehr auf einen konflikthaften, problemhaften oder auch
zwanghaften Kontext. In diesem Zusammenhang sind Stefan und seine Freunde
Schülerinnen und Schüler und müssen sich im dort vorgegebenen Bezugsrahmen
bewegen und die gesetzten Anforderungen als Einzelne bewältigen. In Anlehnung
an Henri Lefebvre kann man hier auch vom „erlittenen Raum“ sprechen. Als „er-
littenen Raum“ bezeichnet Lefebvre eine widersprüchliche Konstellation sozialen
Zusammenhangs (aus Raumpräsentationen und Repräsentationsräumen)133, wel-
che einerseits in Bildern, Symbolen und „frontalen Beziehungen“ ihren Ausdruck
findet sowie gleichzeitig „die Einbildungskraft“ herausfordert, welche darauf
drängt, das Erlittene „zu verändern und sich anzueignen“ (Lefebvre 2012: 336).
Das Stichwort „Peergroup“ (S: 92) ist in diesem Zusammenhang etwas sper-
rig, verweist auf eine Distanz. Stefan spricht rückblickend über die Zeit in der
Schule, erinnert sich an die damaligen Zusammenhänge. Sie erscheinen weit weg.

sozialen Bezugsgruppe der Gleichaltrigen genutzt (vgl. hierzu etwa die Diskussion der Bedeu-
tung von „Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanz“ in Harring/Böhm-Kasper/Rohlfs/Pa-
lentin 2010). Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können, ist aber die Feststellung
von Timm Kunstreich und Friedhelm Peters aus dem Jahre 1988 aufzunehmen, dass „Jugend“
„nicht als biologisch-anthropologische Grundkonstante“ zu begreifen sei, sondern vielmehr eine
„gesellschaftliche Kategorie“ darstelle, die eine bestimmte Existenzform kennzeichnet“ (1988:
43). Hiermit verbunden sei „Jugend“ als „gesellschaftliche Wertung“ zu verstehen, die „im we-
sentlichen [...] eine spezifische Form gesellschaftlicher Reproduktion kennzeichnet“ und in ihren
Deutungen umstritten ist (vgl. ebd.). Spricht man über „Jugend“, meint dies Zweierlei: zum einen
„eine empirisch feststellbare, in sich reich gegliederte Gruppe“ und zum anderen einen „Diskurs
darüber, was ,Jugend‘ sein soll“ (ebd.). In diesem Spannungsfeld ist m. E. auch der Diskurs um
„Peers“ und das wissenschaftliche Interesse an „Peers“ als Bildungs- und Sozialisationsinstanz
einzuordnen. In dieser Diskussion wird „Jugend“ ein starker „subjektiver“ Faktor eingeräumt
und die Jugendlichen werden „als aktive und kreative Träger [eines] kulturellen und gesellschaft-
lichen Wandels“ gesehen (vgl. Thole/Schoneville 2010: 147). Hat hierbei „Peers“ oder „Peer-
group“ eine positive Konnotation, handelt es sich dennoch um ein „gesellschaftliches Konzept,
welches vergleichbar den Begriffen „,Kindheit‘ und ,Jugend‘ (aber auch – um einen Modernis-
mus aufzugreifen - ,Senioren‘) ganze Bevölkerungsgruppen [...] einer pädagogischen Bearbei-
tung zugänglich“ macht, „ihnen [...] besondere Freiheiten zubilligt“, diese aber wiederum in spe-
zifischen Grenzen gehalten oder, wie Michael Winkler schreibt, „als ,Lebensphasen‘ getarnt“
separiert werden (vgl. Winkler 1988: 244).
133 Vgl. zu dieser Begriffskonstellation das Kapitel Gegenöffentlichkeit als gegenhegemoniale
räumliche Praxen oder aber Lefebvre: „Production of Space“ ([1974] 1991).
176 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Die Freundschaften von damals haben sich zum Zeitpunkt unseres Gesprächs tief
greifend verändert; die Kontakte sind lose geworden oder haben sich zum Teil im
Konflikt aufgelöst. Von Bedeutung ist hierbei nicht nur dieser Rückblick und die
damit verbundene Entfernung von gemeinsamen Erfahrungen als Freunde und als
Freundeskreis, vielleicht auch einer möglichen Trauer, Traurigkeit um diese Zei-
ten. „Peergroup“ ist auch eine Metapher und deutet auf etwas Ähnliches, Ver-
gleichbares, auf so eine Art Freunde oder Freundeskreis hin. Die Verknüpfung des
Stichwortes „Peergroup“ mit Schule deutet auf eine mögliche Notwendigkeit hin,
sich unter gegebenen (vorgegebenen) Umständen (der Schule) zusammenzufin-
den, Verbindungen herzustellen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Diese Um-
stände sind nicht freiwillig, aber die Suchbewegung, die Entwicklung von Ver-
knüpfungen mit denjenigen, die zu Freunden werden, die Verbindungen, die zu
Freundschaften werden, benötigen das eigene Zutun, Freundschaften hervorzu-
bringen und deren Stabilität zu erzeugen. Diese Prozesse des „sich Zusammenfin-
dens“ organisieren sich quer zur Hierarchie der Schule. Sie lassen sich nicht be-
vormunden.
Folge ich an dieser Stelle dem „Grimm’schen Wörterbuch“134 und dem dor-
tigen Verweis auf den Begriff Freund, ohne diesen hier etymologisch rekonstruie-
ren zu können, ist Freund „ein geneigter, gleichgestimmter, gleichgesinnter, an-
hänglicher“ (ebd.: 161) Mensch, der an einem anderen „festhält“ (ebd.). Hiermit
ist keine zwanghafte Form der Vereinnahmung gemeint, sondern eine aktive, freu-
dige Zuwendung zu einem oder einer anderen; sie berühren sich „frei und froh“
(ebd.). Was hieraus entsteht, ist Freundschaft; deren Voraussetzung wiederum ist
die Anerkennung des oder der anderen als „frei“, als „sein selbes eigen, [...] keines
andern eigen“ (ebd., Stichwort frei: 94 f.). Die negative Konnotation wäre die Ver-
einnahmung, die Inbesitznahme, der Einschluss, die Gefangennahme, die Verhin-
derung, die Bevormundung, eine Hierarchisierung. Ähnlich argumentieren Gilles
Deleuze und Felix Guattari in ihrem Buch „Rhizom“, spitzen die Kritik aber weiter
zu. Sie schreiben: „Wenn in einer Gesellschaft zwei beliebige Individuen genau
einen Freund gemeinsam haben, dann gibt es ein Individuum, das der Freund aller
anderen ist“ (1977: 27). Dies sei insofern problematisch, da sich hiermit ein Mus-
ter der Hierarchisierung verknüpfe und der „gemeinsame Freund“ zum „Meister“
mutiere, was „Strukturen der Macht“ abbilde sowie gleichzeitig bedeute, dass hie-
rin Spuren des „Diktatorischen“ zu finden seien (vgl. ebd.: 27 f.). Freundschaft
oder ein freundschaftliches Verhältnis ist in diesem Blickwinkel eine widersprüch-
liche Metapher.

134 Genau muss es heißen: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32
Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Online-Version vom
26.05.2017. Ich kürze hier einfach mit GW ab.
5.2 Sich selbst organisieren 177

Was ist das Besondere der Metapher Freundschaft in der Perspektive von
Stefan? Noch einmal Stefan:
„Es gab quasi so ein, so als Gruppe, ja, also erstmal, weil wir halt auch gerade ein
freundschaftliches Verhältnis hatten zueinander, dadurch, dass man so, wir auf der
gleichen Art und Weise politisch interessiert waren eigentlich, ja gut, alle waren bissel
unterschiedlich drauf so, das ist aber ganz gut so“ (S: 67-70).
Im Kontrast zum obigen negativen Befund von Freundschaft unterstreicht Stefan
ein Wir als einen Zusammenhang in der Differenz, der Unterschiedlichkeit oder
Vielheit, wenn er sagt: „Alle waren bissel unterschiedlich drauf so, das ist aber
ganz gut so“ (S: 69 f.). Der Zusammenhang ist einer der Vielfalt, die Vielfalt ein
Verhältnis symmetrisch-wechselseitiger Beziehungen und damit verbundenen
Möglichkeiten von Erfahrungen sozialer Gemeinsamkeiten, sozialen Miteinan-
ders und Gleichheit. Wird diese Balance verletzt oder kann sie nicht aufrechterhal-
ten werden, kann die Symmetrie der Interaktion brechen und sich in asymmetri-
schen Mustern auflösen. Dies wäre dann auch das mögliche Ende dieses Zusam-
menhangs oder, in der Sprache von Stefan, das mögliche Ende von Freundschaft
oder einem freundschaftlichen Verhältnis.
Eine Herausbildung von Freundschaften und die Entdeckung gemeinsamen
„Interessiert-Seins“ (wie etwa an Politik) bildet Möglichkeiten, die Vereinzelung
im schulischen Rahmen (zumindest zeitweise und vor allem darüber hinaus) auf-
zuheben, dem Zwang der Institution etwas „Eigenes“ entgegenzuhalten und sich
diesem punktuell zu entziehen. Das „Eigene“ meint hierbei nicht die Form einer
individuellen, in sich geschlossenen Subjektivität der Einzelnen. Das „Eigene“
entwickelt sich aus einem Zusammenwirken der Einzelnen, als kooperativer Zu-
sammenhang, bei dem das „Eigene“ als Gemeinsames durch die Wechselwirkung
der individuellen „Teilbeiträge mit anderen Teilbeiträgen“ entsteht (vgl. Holz-
kamp-Osterkamp 1975: 312).
Freundschaft wäre entsprechend das Ergebnis und Medium dieses Verhält-
nisses. Entsprechend ist Freundschaft nur als Verhältnisbestimmung denkbar, als
freundschaftliches Verhältnis, als Herausbildung eines Zusammenhangs unter
Menschen, welcher die Vereinzelung aufhebt.135 Freundschaft oder ein freund-

135 Der Begriff Freundschaft muss nicht zwingend allein ein Beziehungsverhältnis zwischen zwei
Menschen bezeichnen. Etwas allgemeiner und weiter gefasst kann Freundschaft (ähnlich dem
Begriffsverständnis von Peergroup) auch als spezifische Art und Weise eines allgemeineren Ver-
hältnisses zwischen Menschen interpretiert werden. Zumindest legt dies das „Grimm’sche Wör-
terbuch“ nahe, welches die verschiedensten Bedeutungsebenen nebeneinanderstellt. Dort heißt
es ausschnittsweise unter dem Stichwort amicitia: „Wer sünde zudeckt, der macht freundschaft
[...] die leutlin aber erzeigeten uns nicht geringe freundschaft“ (1971, Bd. 4: 167). Ohne auf die
Begriffsgeschichte weiter eingehen zu können, scheinen hier zwei Bedeutungsebenen durch.
Zum einen ist Freundschaft im engeren Sinne die Art und Weise einer Beziehung zwischen zwei
Menschen und zum anderen etwas allgemeiner ein Verhältnis zwischen allgemein Menschen,
178 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

schaftliches Verhältnis bildet in diesem Sinne ein solidarisches Band und damit
einen Kontrast und ein Gegengewicht zu den „erlittenen“ zwanghaften Formen im
alltäglichen Schulbetrieb oder, etwas weiter gefasst, des Alltäglichen. Freund-
schaft oder ein freundschaftliches Verhältnis reicht über die Grenzen der Schule
hinaus.
Dem angedeuteten Widerspruch von Freundschaft kann ich nicht entfliehen;
ich kann ihn auch nicht aufheben. Für den hier diskutierten Zusammenhang einer
Selbstorganisation möchte ich aber einige Punkte in einem anderen Begriff aufhe-
ben oder besser hervorheben, die als wichtige Impulse in der Metapher von Stefan
enthalten sind. Sie verweisen auf Elemente einer Praxis, die Jan Rehmann in An-
lehnung an Gilles Deleuze und Felix Guattari als „rhizomatisches Netzwerk“ be-
zeichnet hat (vgl. Rehmann 2012: 899). Gemeint ist hiermit die Herstellung von
Zusammenhängen bei gleichzeitiger Wahrung und Ausbildung von Heterogenität
und Vielheit (vgl. Deleuze/Guattari 1977: 11 f.). Für den Kontext sozialer Bewe-
gungen bedeute dies, so Jan Rehmann, dass diejenigen Praxen der Leute ins Blick-
feld kommen können, die eine Entwicklung und Stabilisierung von Zusammen-
hängen ermöglichen (vgl. Rehmann 2012: 900 f.). Vergleichbar ist diese Idee zur
lebendigen Praxis politischer Bewegungen, die Heinz Steinert als „freischwe-
bende Solidarität“ charakterisiert hat (vgl. Steinert 1985).
Ein Element eines rhizomatischen Netzwerkes möchte ich als Bereitschaft
für „sinnliche Zugänglichkeit“ bezeichnen. Meines Erachtens nimmt dieser Be-
griff wesentliche Merkmale der schon skizzierten Dimensionen der Freundschaft
oder des freundschaftlichen Verhältnisses auf und erweitert diese. Ich habe deut-
lich gemacht, dass ein freundschaftliches Verhältnis im Sinne Stefans vor allem
durch eine (verletzbare) symmetrisch-wechselseitige Beziehung gekennzeichnet
ist, für die Erfahrungen sozialer Gemeinsamkeiten besonders wichtig sind. Zu-
gänglichkeit beschreibt eine Qualität von Aufgeschlossenheit und Zuneigung,
welche ein wechselseitiges, voraussetzungsloses (zweckfreies) Einlassen der
Menschen aufeinander meint. Die Bedeutung liegt hierin, dass Zugänglichkeit vor
allem den Raum an Vertrautheit erzeugen kann, in dem die Erfahrungen der

welches die charakteristischen Merkmale von Freundschaft (symmetrische Beziehung, wechsel-


seitiges kooperativ-solidarisches Miteinander) aufweist. Diese Annahme stützt auch die Bedeu-
tung von amicitia im Lateinischen; amicitia bedeutet so viel wie Freundschaft, Freunde, mit
jemandem befreundet sein, Freundschaft schließen oder ein Freundschaftsbündnis haben (vgl.
Pons Basiswörterbuch Latein 2013). Das „Grimm’sche Wörterbuch“ hält aber auch die nega-
tive, kontrastreiche Bestimmung von Freundschaft bereit: „[F]reundschaft (der zechbrüder), die
nur im nassen daret, als wie da grünen der maien“ (1971, Bd. 4: 167) und „nie kann man vor-
sichtig genug sein freundschaften aufzurichten und nie vorsichtig genug schon geschlossene zu
trennen“ (ebd.: 168). Freundschaft ist damit keineswegs eindeutig, wie es unser Alltagssprach-
gebrauch nahelegt.
5.2 Sich selbst organisieren 179

Einzelnen geteilt werden können, und so einen gemeinsamen Erfahrungsraum für


„Erfahrungserweiterungen“ (Negt 2010: 32) begründet.
Den Begriff der Zugänglichkeit habe ich mir von Heinz Steinert geliehen.
Zugänglichkeit meint bei Heinz Steinert einen Teilaspekt „freischwebender Soli-
darität“ (vgl. Steinert 1985: 78). Gemeinsam mit „der Bereitschaft zu Sympathie“
und „gegenseitiger Hilfe (in begrenztem Ausmaß und ohne Verpflichtung)“ bildet
„Zugänglichkeit“ den Bestandteil „einer eigenständigen, selbstbewussten Lebens-
form, wie sie immer notwendige Grundlage von lebendigen politischen Bewegun-
gen war“ (ebd.). Heinz Steinert sieht hierin „eine neue Form der politischen Orga-
nisierbarkeit“ als Nachwirkung der „K-Gruppen-Exzesse der frühen 70er Jahre“
entstehen, die sich von zentralistischen Formen politischer Organisation und deren
Entscheidungsverfügungen „von oben nach unten“ unterscheide (ebd.). „Zugäng-
lichkeit“, „Bereitschaft zu Sympathie“ und „gegenseitige Hilfe“ (ebd.) liegen quer
zu hierarchischen Organisationsformen und entwickeln eigenständige Formen der
Organisiertheit und Handlungsfähigkeit.
In diesem Zusammenhang spricht Heinz Steinert vorsichtig von einer „Be-
reitschaft“ (ebd.).136 Ich assoziiere hiermit (auch vorsichtig) in der Tendenz eine
voraussetzungslose Offenheit, die mit Hingabefähigkeit oder Bereitwilligkeit kor-
respondiert. Im Kern bezeichnet „Bereitschaft“ eine Praxis des Handelns, sich auf
etwas einzulassen, ein „Sich-Einlassen“ auf Zusammenhänge, deren Entwicklung
und Zusammensetzung offen ist. Genau hieran knüpft der Gedanke von Stefan mit
einer ähnlichen Vorsicht an, wenn er sagt: „[W]ir [waren] auf [die gleiche]137 Art
und Weise politisch interessiert [...] eigentlich, ja gut, alle waren bissel unter-
schiedlich drauf so, das ist aber ganz gut so“ (S: 69 f.). Wie schon weiter oben
hervorgehoben wurde, betont „Interessiert-Sein“ die Neugierde, das Fragende, das
Suchende. An diesem Punkt überschneiden sich eine Bereitschaft des „Sich-Ein-
lassens“ und „Interessiert-Seins“ mit einer „Bereitschaft zu Sympathie“ (Steinert
1985: 78), welche die Verschiedenheit braucht, um die individuelle Neugierde zu
einer von gemeinsamen Fragen werden zu lassen. Und in Anlehnung an Stefan –
wie oben formuliert: „[W]ir [waren] auf [die gleiche] Art und Weise politisch in-
teressiert [...] eigentlich, ja gut, alle waren bissel unterschiedlich drauf so, das ist
aber ganz gut so“ (S: 69 f.). Dem letzten Gedanken steht die vorsichtige und
gleichzeitig sperrige Einlassung von Stefan im Weg: eigentlich. Der umgangs-
sprachliche Gebrauch verweist auf solche Bedeutungen wie gewissermaßen oder

136 Das, was ich hier als vorsichtig bezeichnet habe, ist bei Heinz Steinert ein selbstkritisches, fra-
gendes (Heran)Tasten, um mit Worten Bewegungen und ihre Erscheinungsformen „von unten“
begrifflich greifbar machen zu können sowie gleichzeitig zu sehen, dass eben diese Begriffe
auch sperrig sein können. Dies führt zur fragenden Feststellung von Heinz Steinert: „Ich bin
unsicher, ob das alles sonderlich stark und tragfähig ist“ (Steinert 1985: 77).
137 In der Alltagssprache des Interviews spricht Stefan von „der gleichen Art und Weise“. Ich habe
diese Stelle des Interviews hier sprachlich angepasst.
180 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

sozusagen. Auch hier bleibt etwas offen. Mit Adorno (Jargon der Eigentlichkeit)
kann verallgemeinernd gesagt werden, der Eigentlichkeit steht die Uneigentlich-
keit gegenüber.138 Stefan: „wir [waren] auf der gleichen Art und Weise politisch
interessiert [...] eigentlich“ und „alle waren bissel unterschiedlich drauf“ (S: 69 f.)
verweist auf die Differenz, auf die Verschiedenheit, auf Positionen im Konflikt.
Eine Vielheit „freischwebender Solidarität“ (Steinert 1985: 78) ist in diesem Sinne
keine harmonistische Angelegenheit, sondern ein Handeln in Reibung, was auch
die unterschiedlichen Erfahrungen erst zum Vorschein bringt und die in ihnen lie-
genden Differenzen, die Uneinheitlichkeiten, die Brüche, das Leben als Fragment
erkennen lässt. Ein Zusammenhang „freischwebender Solidarität“ ist damit ver-
letzlich und kann nur als Praxis wechselseitiger Bereitschaft ausbalanciert werden.

5.2.2 Geteilte Erfahrungen

Stefans Anmerkung, „wobei man komischerweise in der gleichen Kacke lebt“ (S:
93 f.), deutet auf weitreichendere Erfahrungen hin. Das Alltägliche bezieht sich
nicht nur auf Schule. Die „gleiche Kacke“ verweist auf im Alltagsleben erfahrene
Grenzen oder, etwas allgemeiner, auf Erfahrungen mit Gesellschaft und ihren
Herrschafts- und Machtstrukturen. Mehr noch: Stefan stellt fest, dass seine Erfah-
rungen vergleichbar sind, vergleichbar mit denen der anderen. Dieser Punkt ist
auch insofern bedeutsam, als in der negativen Betonung der „gleichen Kacke“ das
Adjektiv „gleich“ Momente der Reibung hervorhebt. Die Feststellung, dass die
„gleiche Kacke“ eben auch von den anderen erfahren werde, dass die erfahrenen
Umstände vergleichbar seien, setzt eine aktive Beschäftigung miteinander voraus
und ist in diesem Sinne eine Bewegung, die den privaten Gehalt einer scheinbar
individuellen Erfahrung durch gemeinsame Reflexion in die Verbindung mit an-
deren bringt. Gleichzeitig ist eine Distanzierung spürbar. Stefan stellt fest, sie leb-
ten in der „gleichen Kacke“. Eine Distanzierung bedeutet in diesem Falle keinen
Rückzug, kein Verharren in Passivität. Vielmehr eröffnet sich ein Feld von Fra-
gen: Muss dies so sein? Muss es so bleiben? In diesen Fragen stecken die Mög-
lichkeiten, das „Erlittene“ im wahrsten Sinne des Wortes zu Begreifen und Hand-
lungsformen hervorzubringen, die alltäglichen Zusammenhänge „von unten“ in
Bewegung zu bringen.

138 Auf den Diskurs um Adornos Kritik des Jargons der Eigentlichkeit kann ich hier nicht näher
eingehen. Zu erwähnen ist die Auseinandersetzung mit den Thesen von Adorno in der Zeitschrift
für philosophische Forschung aus dem Jahre 1967 und dort der Beitrag von Hermann Schwep-
penhäuser: Thomas Härtings Adorno-Kritik, Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 21,
1967, 554-569.
5.2 Sich selbst organisieren 181

5.2.2.1 Gartenlaube und Lagerfeuer – die Gruppe als solidarischer


Zusammenhang

Dem optimistischen Gehalt des letzteren Gedankens stehen eher vorsichtige Ein-
schätzungen von Elena und Sandra zum „Zusammenfinden“ als Gruppe und den
dortigen Aktivitäten gegenüber:
Sandra: „Also ich weiß noch, wir hatten dann irgendwie so ein kleines Gartengrund-
stück in irgend so einer Gartenanlage, mit einer kleinen Laube und mit einem Lager-
feuerplatz und dort haben wir uns immer dann getroffen und haben so ein bissel was
besprochen“ (Sa: 163-166).
Elena: „Als ich dann dazu gekommen bin, da [...] haben wir uns meistens in so einer
Gartenlaube von einem von den Leuten halt getroffen, die so ein bisschen außerhalb
irgendwie von (X) war und ja, da saßen wir halt in so alten Gartenstühlen irgendwie
um so ein Feuer drum rum und dann haben wir uns darüber unterhalten, wie, ja, wie
es [...] Na ja, was so in (X) gerade passiert, wie wir, wie wir, was wir da so für eine
Perspektive drauf haben und was wir uns vielleicht auch anders wünschen würden
und wie wir uns auch so das Zusammenleben oder so die Themensetzung im Ort an-
ders wünschen würden und was wir da, ja, vielleicht irgendwie machen könnten oder
auf was wir auch einfach Lust hätten, z. B. ein Konzert zu organisieren oder so“ (E:
140-156).139
Mit Blick auf die gegebenen Örtlichkeiten der Kleinstadt liegt die Gartenanlage
etwas außerhalb. Sie liegt am Rande und bildet nicht den Mittelpunkt der Stadt.
Ein kontrollierender Blick, etwa durch Stadtverwaltung, lokale Politik, Polizei,
Pädagogen, Sozialpädagogen oder auch Eltern, ist durchaus eingeschränkt. In ei-
ner Gartenanlage gibt es allerdings Gartennachbarn. Diese haben wiederum mög-
licherweise ein mehr oder weniger intensives Interesse an ihren Nachbarn. Eine
Gartenanlage ist damit auch ein Ort kleinräumlicher sozialer Kontrolle. Wiederum
sind die Gartenlaube, der Garten und der Lagerfeuerplatz privat. Das Private im
Gegenwartsdiskurs gilt allgemein als ein Zusammenhang, „von dem wir glauben“
wir sollten „uns nicht einmischen“ (Geuss 2013: 126). Hierbei versteht sich einer-
seits das Private als „Schutz eines Tätigkeitsbereichs, in dem keine Einmischung
in das Handeln stattfindet“ (ebd.: 111). Andererseits verstehen wir das Private „als
Schutz eines Handlungsbereiches, zu dem (ohne Erlaubnis der beteiligten Ak-
teure) niemand epistemischen Zugang hat“ (ebd.).140 Insofern unterscheidet sich

139 Das Zitat habe ich hier stark gekürzt, aber die Zeilenzählung der Interviewabschrift beibehalten.
140 Raymond Geuss hat sich mit der Frage der Privatheit und deren Bedeutung in den unterschied-
lichen Epochen der Menschheitsgeschichte bis hin zum liberalen Verständnis von Privatheit in
der Gegenwart auseinandergesetzt. Für die Gegenwartsgesellschaft hält er fest, dass „das Private
im Allgemeinen die Idee des Privilegs“, als Individuum über Privateigentum verfügen zu kön-
nen, sei (vgl. Geuss 2013: 106). Das Private gilt hier als eine nach außen hin abzusichernde
Sphäre, „indem keine Einmischung in das Handeln stattfindet, oder als Schutz eines Handlungs-
182 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

ein Treffpunkt in einer Gartenanlage etwa von einem Jugendclub oder einem
Treffpunkt auf dem Markt. Sind letztere beiden Orte öffentlich zugänglich und
damit von den verschiedensten Akteuren nutzbar und einsehbar, ist der Treff in
der Gartenlaube dieser Allgemeinheit entzogen.
Ein Gartengrundstück gewinnt in diesem Zusammenhang nicht nur die skiz-
zierten Bedeutungen des Privaten, sondern kann auch als privater Ort an Bedeu-
tung gewinnen, wenn die Notwendigkeit eines Rückzuges aus dem Öffentlichen
besteht, z. B., wenn sich der Zugang zu öffentlichen Räumen verengt oder von
unterschiedlichsten Akteuren verhindert wird. Insofern wäre dann der Rückzug
eine aktive Weise des Handelns als Reaktion auf Erfahrungen mit Prozessen ge-
sellschaftlicher Ausschließung.
Für junge Menschen trifft sich die Gruppe an einem recht ungewöhnlichen
Ort. Etwas negativ formuliert: Eine Gartenanlage mutet zunächst vielleicht etwas
spießig an oder als eine Angelegenheit für die älteren Leute.141 Allerdings ist diese
Annahme so nicht gerechtfertigt. Deshalb etwas positiver formuliert: Dort haben
sie als Gruppe ihre Ruhe. Das Lagerfeuer als Symbol für ihren Treffpunkt entfaltet
eine „sinnliche Zugänglichkeit“. Ein Lagerfeuer knistert, es flackert, es riecht nach
verbranntem Holz. Im besten Falle sitzen alle um das Feuer herum. Alle können
sich ansehen, miteinander reden oder einfach nur zuhören. Ein Miteinanderreden,
Ideen wie ein Funkenflug glühen auf und verglühen. Die Gedanken nehmen viel-
leicht auch eine andere Form an, bleiben als Gedanken woanders, bei anderen,

bereiches“ (ebd.: 111). Geuss kritisiert die normative Zuspitzung des liberalen Verständnisses,
welches darin bestehe, genau zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen unterscheiden zu
können, weil im liberalen Denken davon ausgegangen würde, für andere festlegen zu können,
„wer von einer gegebenen Handlung affiziert wird“, also wer potenziell „materiell“ verletzt oder
wessen „Interessen“ geschadet werden könnte (vgl. ebd.: 103). Das Private (und Öffentliche)
hingegen sei kein „abstraktes Vermögen“ oder gar eine „moralische Anforderung des Univer-
sums“ (ebd.: 132). Dessen Unterscheidung gewinne erst seine Sinnhaftigkeit und Bedeutung aus
dem konkreten Beispiel, dem konkreten Handeln der Menschen (vgl. ebd.).
141 Zugegeben, dies war damals meine erste Assoziation, als ich die Interviews führte. Interessant
ist auch, dass ich zum Zeitpunkt der Interviews vergessen hatte, dass ich die Gruppe schon zur
Zeit ihrer Treffen in der Gartenlaube kannte. Für mich hatte die Gartenlaube offensichtlich keine
tiefere Bedeutung gehabt (was vielleicht auch ein Fehler war, da ich die Bedeutung für die
Gruppe nicht erkannt hatte). Ich selbst habe das Gartengrundstück nicht besucht. Allerdings er-
zählten mir die Interviewten „off the record“, dass sie es dort ganz gemütlich gefunden hatten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sie mir dies außerhalb der Interviews erzählten,
obwohl sie die Gartenlaube in den Interviews erwähnen. Der Unterschied ist, dass sie sich in den
Interviews auch an den von mir gestellten Fragen orientieren und dabei pragmatisch das Garten-
grundstück als Verweis zur Markierung ihres Treffpunktes als Gruppe im Unterschied zur
Gruppe als Verein und deren Treffpunkt in einem Haus benutzen. Die Nachgespräche, ohne
meine Fragen und ohne Aufzeichnungsgerät, waren dann lockerer und die Interviewten erzählten
noch verschiedenste Details. Ich habe zu den Nachgesprächen nur einzelne Notizen angefertigt,
eher Stichworte und kurze Anmerkungen, die ich wichtig fand. Die hier aufgeschriebene Notiz
ist eine davon.
5.2 Sich selbst organisieren 183

hängen, bringen dort einen neuen Impuls für weitere Gedanken hervor. Die Be-
rührung der Gedanken ist nicht allein eine kognitive Angelegenheit, sondern eine
des ganzen Körpers. Gesellschaft ist auf der Haut spürbar142 und im Zusammen-
spiel mit den Gedanken besteht die Möglichkeit ihrer Verstehbarkeit. Oder, etwas
anders ausgedrückt: Die Ideen, Überlegungen, die Erfahrungen und Geschichten
werden prozesshaft (vor)tastend erschlossen. Beispielsweise hat Polly W. Wiess-
ner die Bedeutung des Lagerfeuers am Beispiel der Ju/’hoansi – Buschmänner in
Namibia und Botswana untersucht und vor diesem Hintergrund dessen Bedeutung
für die Menschheitsgeschichte herausgestellt. Sie formulierte: „Through stories
and subsequent discussion, people collected experiences of others and accumu-
lated knowledge of options that others had tried“ (Wiessner 2014: 14030).143 Ein
Austausch am Lagerfeuer eröffnet ein Feld wechselseitiger Vergewisserung und
begründet damit auch einen Ort aufkommender Fragen und Möglichkeiten, wel-
che die Vorstellungskraft und Phantasie der Beteiligten herausfordern und anre-
gen. In diesem Sinne hat der Ort der Gartenlaube und des Lagerfeuers etwas Ver-
bindendes.
Für den Kontext der Sozialen Arbeit hat Uwe Uhlendorff die Bedeutung der
„Feuerstelle“ hervorgehoben. Als Beispiel interpretiert er ein Bild des kanadi-
schen Künstlers Jeff Wall mit dem Titel „The Storyteller“.144 Uhlendorff schreibt:
„Die Feuerstelle [...] ist ein Modell für einen pädagogischen Ort, der durch Soziale
Arbeit geschaffen werden kann. Es handelt sich um einen Kommunikationsraum,
der ein Geben und Nehmen von Anteilnahme ermöglicht, der die Rekonstruktion
von Lebensgeschichten, Erfahrungen des Glücks und des Leids macht und es er-
laubt, Lebenspläne zu entwickeln, die Vergangenheit, Gegenwart und eine mögli-
che Zukunft aufzugreifen“ (2010: 284). Mit Jeff Wall lässt sich die Bedeutung

142 Ich habe dies in Anlehnung an den Gedanken von Adorno formuliert, den ich weiter vorn im
Kapitel „Erfahrung als Impuls von Handeln“ zitiert habe.
143 Vgl. hierzu Polly M. Wiessner (2014).
144 Auf das Bild kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur so viel: Bei dem Bild von Jeff Wall
handelt es sich um ein Foto, genauer: um ein Großbild-Dia, das in einem Lichtkasten von hinten
beleuchtet wird. Das Bild ist 2,29 m mal 4,37 m groß und im Jahre 1986 entstanden (vgl. Wall/
Linsley/Ammann 1992: 8 und 76). Das Bild zeigt rechts den Unterbau einer Autobahntrasse.
Links unten im Bild sitzen drei Menschen um eine Feuerstelle. Bei den abgebildeten Menschen
handelt es sich um Angehörige der First Nations Kanadas. Neben der Interpretation des Bildes
von Uhlendorff und dessen Schlussfolgerungen für die Sozialpädagogik sind auch die Interpre-
tationen von Robert Linsley (1992) und Verena Auffermann (1992) zu beachten. Linsley und
Auffermann setzten sich in ihren Aufsätzen kritisch mit dem Bild auseinander. Linsley stellt
etwa die Frage, inwiefern das Bild von Wall „politische Implikationen“ habe und die Darstellung
„Entwurzelung und Entfremdung“ in der Moderne thematisiere (vgl. 1992: 10). Gleichzeitig
führe das Bild zu einer Kontroverse, da „viele arme Indianer [...] als Betrachter oder als Kritiker
zunehmend ihrem Ärger Ausdruck“ verliehen, „wenn sie in dieser Weise dargestellt werden“
(ebd.: 11). Auch Auffermann beschäftigt sich in ihrer Interpretation des Bildes mit dieser Kritik
(1992).
184 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

dieses Gedankens mit Blick auf die von mir untersuchte Gruppe noch weitertrei-
ben. Im „Geschichtenerzähler“ sieht Walls „eine archaische Figur, ein[en] gesell-
schaftliche[n] Typus, der infolge der technischen Veränderungen [in der Gegen-
wart], die neue Formen der Aneignung und Weitergabe von Wissen geschaffen
[hätten], seine Funktion verloren“ habe (1992: 6). Allerdings würden solch „zer-
störte Figuren“ wie der „Geschichtenerzähler“ in „Krisenzeiten“ wieder an Be-
deutung gewinnen, da durch das Erzählen von Geschichten „an den Rand ge-
drängte und unterdrückte Gruppen sich ihre eigene Geschichte wieder aneignen
und neu lernen“ (ebd.) würden. Dies führe „zu einer veränderten Bewertung der
Aneignung und Weitergabe von Wissen, schafft Öffnungen für ein neues Konzept
einer modernen Kultur“ (ebd.).
Ich verstehe das Geschichtenerzählen als eine Art und Weise des miteinander
Sprechens. Einen bedeutenden Punkt dieses miteinander Sprechens hat Wolfdiet-
rich Schmied-Kowarzik in Anlehnung an Franz Rosenzweig hervorgehoben. Ro-
senzweig sehe „die menschliche Existenz erst durch die Sinnhorizonte von Schöp-
fung, Offenbarung und Erlösung zu sich selbst“ finden (Schmied-Kowarzik 2006:
55). In diesem Kontext bilde die Offenbarung eine zentrale Sinnsphäre, „die sich
in der Gegenwärtigkeit sprachlichen Sinnverstehens und Sinnverständigens ereig-
net“ (ebd.). Entsprechend offenbare sich in der Sprache für „den Menschen Sinn“.
Dabei sei „aber die Sprache keine abgehobene Ideenwelt“; sie ereigne „sich immer
in der Gegenwertigkeit des miteinander Sprechens“ (ebd.). Und weiter: „In diesem
Sinngeschehen finden wir erst existentiell zu uns selbst, also niemals aus unserem
je eigenen Dasein allein, sondern immer nur aus dem Angesprochensein durch den
Anderen“ (ebd.).
Miteinander Sprechen reduziert sich nicht auf eine mechanische Begriffs-
sprache, einen, wie es vielleicht Martin Buber sagen würde, „in die Begriffsspra-
che übersetzte[n] Glaube[n]“ (Kaplan 1963: 231). Vielmehr handelt es sich um
ein soziales „Werkzeug“145, ein lebendiges Verbindungselement, das sich nicht
auf Vernunft oder Denken reduzieren lässt. Im miteinander Sprechen können sich
die Menschen der „Zustände und Umstände des Lebens selbst“ vergewissern (vgl.
ebd.). Hieraus können die Möglichkeiten entstehen, die Erfahrungsgehalte der
Einzelnen im „Angesprochensein durch [die] Anderen“ (Schmied-Kowarzik
2006: 55) überhaupt zur Sprache zu bringen, miteinander zu verbinden, ein „Kol-
lektivgedächtnis“ zu entwickeln (vgl. Kaplan 1963: 164). Dieses Kollektivge-
dächtnis scheint mir ein wichtiges „Werkzeug“ zu sein. Das Kollektivgedächtnis
sehe ich als Überwindung des einsamen, isolierten Denkens. Das Kollektivge-
dächtnis ist eine soziale Praxis. Eine solche Praxis kann sich dem Absoluten ver-
weigern. Sie wird im Sinne Martin Bubers durch das „gemeinsame Erinnern“,

145 Auf den Begriff des Werkzeugs gehe ich später noch ein.
5.2 Sich selbst organisieren 185

durch das gemeinsame Erzählen „zusammengehalten und erhalten“ und bildet eine
sich selbst tragende „Existenz“, eine „sich selber tragende, nährende, belebende“
und schöpferische Kraft (vgl. ebd.). Bei der Verknüpfung der Erzählungen der
Einzelnen mit den Erzählungen der anderen entstehen Verbindungen der Sinnhaf-
tigkeit des eigenen und des gemeinsamen Handelns.
Es entstehen Momente, in denen die für die bürgerliche Gesellschaft typische
Trennung von „sinnlicher“ und „denkender Erkenntnis“ des Individuums146 bei
den Einzelnen aufgehoben wird und gleichzeitig die Einzelnen mit den anderen in
einen kollektiven Zusammenhang gebracht werden. Ein etwas vorsichtiger Ge-
danke: Mit Ernst Bloch können diese Momente auch als „höchste Zeit [...] des
erfüllten Augenblicks [...] die Aufschlagung seines Zeichens“ umrissen werden
(Bloch [1959] 1985: 1154). Und Bloch weiter: „[A]ls Aussage eines vorher Un-
gesagten“ mussten „den inneren Bildern [...] äußere antworten, sonst kamen weder
die einen noch die anderen hervor“ (ebd.). Im Grunde verweist Bloch auf Prozesse
einer wechselseitigen Verlebendigung von Erfahrungen, auf die Möglichkeit, die
nicht nur eine Trennung von „sinnlicher“ und „denkender Erkenntnis“ des Indivi-
duums aufheben kann, sondern situativ, nicht garantiert, aber potenziell eine Ver-
bindung zwischen Menschen schafft. Michael May hat diese Herausbildung von
Zusammenhang in Anlehnung an Oskar Negt und Alexander Kluge als Selbstre-
gulierung beschrieben (vgl. May 2004). Das Besondere hierbei ist die Dialektik
von toter und lebendiger Arbeit. Oskar Negt und Alexander Kluge sehen in der
„toten Arbeit [...] kein Arsenal von bloßen Dingen. Vielmehr sind es menschliche
Beziehungen, Subjektivität in Objekt gewordener Gestalt, ein gesellschaftliches
Verhältnis“ (1981: 98 f.). Prozesse der Verlebendigung bedürfen deshalb des ei-
genaktiven Zutuns lebendiger Arbeit. Für Oskar Negt und Alexander Kluge ist
Selbstregulierung als Ausdruck lebendiger Arbeit „angelegt in der Kooperation“;
und: „Berühren sich zwei Eigentätigkeiten, so produziert sich daraus eine Ten-
denz, die daraus folgende Reibung und Trennung von der reinen Eigentätigkeit
durch Bildung von Zusammenhang aufheben. Die Aufhebung stellt sich als eigen-
ständige Selbstregulierung mit eigenen Gesetzen dar, die zunächst lediglich auf
das, was sie zusammenfassen, passen, durchaus aber von oben nach unten wiede-
rum Reibung und Trennung setzen, die erneut Eigentätigkeitsketten freisetzt“

146 Ich kann hier nicht genauer darauf eingehen und kann nur auf die Arbeit von Klaus Holzkamp
zur sinnlichen Erkenntnis verweisen (Holzkamp: 1986). Nur so viel, Holzkamp versteht sinnli-
che und denkende Erkenntnis als ein wechselseitiges Verhältnis menschlicher Wahrnehmungs-
tätigkeit, welches im Alltäglichen der bürgerlichen Gesellschaft gebrochen ist. Ein besonderes
Problem bürgerlicher Psychologie sei z.B. die Ausklammerung der biologischen und gesell-
schaftlichen Funktionsgeschichte der Erkenntnis“, welche in der Folge eine „Erfassung der
Wirklichkeit durch sinnliche Erkenntnis aus der Notwendigkeit organismischer und gesellschaft-
licher Lebenserhaltung verborgen bleiben muss“ (Holzkamp 1986: 58).
186 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

(ebd.: 64). Selbstregulierung in diesem Sinne verwirklicht sich „zwischen“ den


Beteiligten (vgl. May 2004: 292).
Für die Lagerfeuerrunde bilden damit die geteilten Erfahrungen ein gemein-
sames „Drittes“147 oder, mit Oskar Negt und Alexander Kluge: „Die konkreten
Augen von Menschen sehen etwas anderes als das, was die kollektiv vereinigten
Augen der Menschen sehen. [...] Es unterscheiden sich dann zwei Wahrnehmungs-
weisen: sog. horizontale und vertikale Wahrnehmung. Sie kommen nie rein, son-
dern nur in der Vermischung vor“ (1981: 65). Sind Erfahrungen in dieser Span-
nung Reibungspunkte für Vorstellungskraft und Phantasie, können sie dann zu
Formen erweiterter Handlungsfähigkeit führen, „wenn sie eine Veränderbarkeit
des Stoffes der [Erfahrungen] als ,sachhaft-objektgemäß möglich‘ erkennen und
damit auch eine prinzipielle Veränderbarkeit“148 der in den Erfahrungen enthalte-
nen Problemsituationen „antizipieren“ (vgl. May/Kunstreich 1999: 46). Genau
dieses Prozesshafte findet seinen Ausdruck in der Äußerung von Elena, wenn sie
sagt: „was so in [X] gerade passiert, wie wir, wie wir, was wir da so für eine Per-
spektive draufhaben und was wir uns vielleicht auch anders wünschen würden und
wie wir uns auch so das Zusammenleben oder so die Themensetzung im Ort anders
wünschen würden und was wir da, ja, vielleicht irgendwie machen könnten oder
auf was wir auch einfach Lust hätten“ (E: 144-156). Erfahrungen sind damit etwas
Lebendiges, das sich über den Horizont von Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft spannt. Die Gartenlaube und das Lagerfeuer sind Medien, ermöglichen eben
diese Prozesse, die miteinander verbinden. Es ist ein Ort den die Mitglieder der
Gruppe selbst ausfüllen.149 Es ist ein Ort, über den die Mitglieder der Gruppe
selbst verfügen.

147 In Anlehnung an Paulo Freires Überlegungen zum Dialogischen und dort zu den „generativen
Themen“ und den darin enthaltenen „Grenzsituationen“ (vgl. Freire 1973: 71 f.) formuliert
Timm Kunstreich: „[D]as gemeinsame Dritte [markiert] die Aktion der gemeinsam verantwor-
teten Grenzüberschreitung, der begrenzten Regelverletzung“ (2011: 11). Die in Erfahrungen ent-
haltenen Konflikte, Ideen, Vorstellungen von der Welt, Hoffnungen und Wünsche werden in den
Prozessen der Teilung wieder gegenwärtig, lebendig und bilden die Bezugspunkte für gemein-
sames Handeln. Das gemeinsame Dritte ist selbst Ausdruck des Handelns. Die generativen The-
men finden ihre „Konkretion“ in „einer generativen Grammatik des Handelns“: „Ist die Gram-
matik die Grundlage der Sprache, so sind die generativen Themen die Grundlage des Sprechens.
Der Unterschied zwischen Sprache (als Struktur) und Sprechen (als Tätigkeit) ist im Konzept
der ,generativen Themen‘ aufgehoben“ (Kunstreich 2005: 65).
148 Michael May und Timm Kunstreich formulieren ihre Überlegung in Orientierung an Ernst
Bloch. In meinem Zitat habe ich das Stichwort der Erfahrung in Klammern eingefügt, wo im
Original bei May und Kunstreich „Problemsituation“ steht. Das, was ich hier für die Lagerfeu-
errunde skizziere, kann weiterführend mit Michael May und Timm Kunstreich als Bildungspro-
zesse „des Sozialen und Bildung am Sozialen“ verstanden werden. Darauf kann ich an dieser
Stelle nicht näher eingehen (vgl. dazu May/Kunstreich 1999).
149 Das Motiv des Ortes hat auch Michael Winkler für die Theorie der Sozialpädagogik geprägt. Im
Unterschied zum „sozialpädagogischen Ortshandeln“ bei Winkler rückt hier die soziale Dimen-
5.2 Sich selbst organisieren 187

Hierin liegen verschiedene Erfahrungsebenen, die für die Frage der Selbstor-
ganisation wichtig sind. Mit der Gartenlaube und dem Lagerfeuer haben die Mit-
glieder der Gruppe einen Punkt, an dem sie sich regelmäßig treffen können. Sie
schaffen sich selbst einen Ort. Im Interview erzählt Sandra, sie hätten sich in der
Gartenanlage getroffen und „so ein bissel was besprochen“ (Sa: 166). Im lockeren,
assoziativen Austausch am Lagerfeuer kommt auch eine ernstere Dimension zum
Vorschein. Etwas „Besprechen“ verweist auf konkrete Themen, die gemeinsam
diskutiert und durchgesprochen werden. Es öffnet sich ein Raum gemeinsamer
Auseinandersetzungen mit wichtigen Fragen, mit unterschiedlichen Standpunkten
und Sichtweisen, wie Elena deutlich macht. Oder auch Stefan:
„Wir haben dann über gewisse Sachen, Themen, uns einmal so unterhalten so, wie
wir dazu stehen, also ganz banale Sachen, also, was ging da irgendwann auch mal in
die Globalisierungskritik, einen ganz komischen Scheiß so, was halt gar nichts mit
[X] hat, aber na ja, waren halt jung und hatten viel Redebedarf so. Und sich einfach
darüber auszutauschen, was könnte man machen so“ (S: 75-79).
Unterschiedliche Antworten und Erfahrungen der Beteiligten können zur Sprache
gebracht und deutlich gemacht werden. Diese Form des Austausches schafft einen
Ort. In der Auseinandersetzung entsteht der Ort. Man kann sich als Einzelner auf
diesen Ort beziehen. Die Einzelnen können sich damit auch auf die anderen bezie-
hen. Der reflexive Zugang zu Erfahrungen braucht diesen Ort. Der Ort als Treff-
punkt muss verlässlich sein und braucht Zugänglichkeit. Das Stichwort des Ortes
markiert dabei eine Praxis des Handelns. Die Bruchlinien sind damit nicht ein ad-
ministrativ bestimmbares Territorium, das zwanghaft einen Lebensort der Men-
schen naturalisiert (vgl. Lefebvre zum Stichwort Raum).
Dies ist auch insofern wichtig, als sich in der Vielheit von Erfahrungen eine
Spannung abzeichnet. Die Vielheit ist bestimmt von Differenz. Die Einzelnen er-
fahren und interpretieren die Welt jeweils unterschiedlich. Entsteht die Möglich-
keit eines gemeinsamen Erfahrungsortes, können die Einzelnen Erfahrungen mit
einem Zustand machen, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“, wie es
etwa Adorno in Minima Moralia ausdrückt (S: 114). Damit steht die Welt nicht
still; Geschichte ist nicht zu Ende; sie ist veränderbar. Bestimmend sind Formen
kooperativer Vergesellschaftung. Für die Lagerfeuerrunde war dies ein wichtiger,
sinnstiftender Zusammenhang „freischwebender Solidarität“.
Bei aller Widersprüchlichkeit in der Verbindung von Macht und Handeln
konstitutiver Prozesse „von unten“, verfügen die Zusammenhänge „freischweben-

sion ins Blickfeld, also die Perspektive der von mir interviewten Akteure und damit ihre eigenen
Erfahrungen, die sie mit der Aneignung von Gesellschaft machen (vgl. zum „sozialpädagogi-
schen Ortshandeln“ Winkler 1988 und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept von
Winkler durch Michael May 2016).
188 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

der Solidarität“ über eine „dezentrale Politikfähigkeit, die sich nichts von oben
vorschreiben lässt [...] und auch wenig verpflichtend ist, wenn man sich nicht da-
nach fühlt“ (Steinert 1985: 78). Heinz Steinert verwendet den Begriff der „dezent-
ralen Politikfähigkeit“ im Zusammenhang mit „freischwebender Solidarität“. Vor
diesem Hintergrund sind verschiedene Dimensionen zu unterscheiden. Übersetze
ich Politikfähigkeit mit der Fähigkeit zur Politik, ist mit Blick auf die Äußerungen
von Sandra und Elena weiter zu differenzieren.
Eine Fähigkeit zur Politik meint eine Handlungsfähigkeit im „arbeitsteiligen
entwickelten Sachbereich Politik“ (Hirschfeld 2015b: 140). Auch eine „dezentrale
Politikfähigkeit“ zielt darauf, Politik von ihrer Organisation her zu denken, bricht
aber mit einer Vorstellung hierarchischer Organisation von Politik. Die gewon-
nene Handlungsfähigkeit bleibt auf Politik (im engen) Sinne bezogen. Diese
Handlungsfähigkeit ist von einem „weiten“ Begriff des Politischen und von dem
dortigen Handeln zu unterscheiden. Oskar Negt und Alexander Kluge haben hier-
für die Metapher vom „Rohstoff des Politischen“ geprägt. Uwe Hirschfeld schreibt
hierzu: „Der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist, dass das Politische nicht als
Abteilung der Politik erscheint. Es wird i.d.R. nicht etwas ,politisch‘, weil es in
einem Verhältnis, sei es der Zuarbeit oder der Abgrenzung der Politik, zur institu-
tionellen Politik steht, sondern das Politische (in diesem Verständnis) entspringt
dem Ärger oder dem Erfolg“ im Alltäglichen, den Auseinandersetzungen mit Fa-
milie, Freunden, Kolleg*innen, „der Begeisterung für die Literatur und der Ableh-
nung von Horrorfilmen – oder umgekehrt“ (vgl. Hirschfeld 2015b: 140).
Hierin liegt z. B. auch die Offenheit von Sandras: Wir „haben so ein bissel
was besprochen“ (Sa: 166). Es handelt sich nicht um Unverbindlichkeit, sondern
im Gegenteil um eine Verbindlichkeit, die nur in der Verknüpfung mit den anderen
entstehen kann, wenn sich gemeinsame Themen mit gemeinsamen Erfahrungen
im wechselseitigen „Interessiert-Sein“ überschneiden. In solchen Prozessen tritt
der „Rohstoff des Politischen“ in unterschiedlichen „Intensitätsgraden“ hervor, als
„menschliche Haltungen, Energien, Gefühle, Hoffnungen, Träume, Ängste und
Befürchtungen“ (Hirschfeld 2015b: 141).150 „Interessiert-Sein“ richtet sich nicht
auf die Begrenzungen der Politik als ihrer Organisierung oder als Ausbildung ei-
ner Organisation, „sondern im Gegenteil, das Politische [ist] im scheinbar Privaten
zu entdecken (und damit zu entgrenzen)“ (ebd.). Von Bedeutung sind dann zu-
nächst der Austausch der unterschiedlichen Weltsichten, Hoffnungen, Träume,
Phantasien, Ängste sowie die Herstellung von Verknüpfungen zwischen diesen
„Rohstoffen“. Dies in einer doppelten Weise: Es geht dabei zum einen konkret um
die Herausbildung von tragfähigen und verlässlichen Beziehungen, um „den

150 Oder bei Oskar Negt und Alexander Kluge (1993): „Das Politische als Intensitätsgrad alltägli-
cher Gefühle, der durch besondere Aggregatzustände, die die Konflikte und Interessen anneh-
men, seine Form permanent verändert“ (S. 47 f.).
5.2 Sich selbst organisieren 189

sozialen Austausch“ von „Hilfreichem“ und „Gewünschtem“ hervorbringen zu


können (vgl. Cremer-Schäfer 2002: 217 f.). Zum anderen verbindet sich mit sol-
chen Prozessen ein Verstehen, ein fragendes Verstehen, das die Erfahrungen der
Einzelnen in Beziehung zu denen der anderen bringen kann. Auch diese Verbin-
dungen lassen sich „nichts von oben vorschreiben“ und liegen quer zu Ansprüchen
„von oben“. Sprechen wir über eine politische Handlungsfähigkeit „von unten“,
setzt eine „dezentrale Politikfähigkeit“ diese tiefer liegenden Prozesse voraus. In
dieser Perspektive gehören die „Rohstoffe“ als Basis zur Herausbildung kulturel-
ler Beziehungen und „dezentrale Politikfähigkeit“ zusammen.
Dann kann aus Phantasie, aus Wünschen auch mehr werden. Phantasien und
Wünsche entwickeln sich am Lagerfeuer zu konkreteren Projekt- und Handlungs-
ideen. Noch einmal Elena: „was wir da, ja, vielleicht irgendwie machen könnten
oder auf was wir auch einfach Lust hätten, z. B. ein Konzert zu organisieren oder
so“ (E: 155 f.). Und Sandra: „Ich denke, wir wollten dann irgendwie Konzerte orga-
nisieren, Veranstaltungen organisieren, irgendwie ein neues Gebäude akquirieren.
Ja, das war halt irgendwie so das und das wurde dann halt immer am Lagerfeuer im
Garten besprochen“ (Sa: 193-195). Hier deutet sich auch schon an, dass die konkrete
Projektideen nicht nur die Realisierung kultureller und politischer Veranstaltun-
gen zum Ziel hatten, sondern gleichzeitig mit der Frage der Organisation als
Gruppe verbunden waren, genauer: mit der Organisation der Gruppe als gemein-
samer verbindlicher Bezugspunkt, als Ort gemeinsamer Aktionen, als Ort „frei-
schwebender Solidarität“.

5.2.3 Zur Bedeutung von „anders zusammenleben“ und „gegen Nazis sein“

5.2.3.1 Vorbemerkung – Arbeitsbündnis

Mit Blick auf die folgenden Zitate und Überlegungen ist eine Vorbemerkung zu
machen. Interessant ist, dass in den von mir geführten Interviews vor allem zwei
Punkte von den Interviewten betont werden, die sie als Kristallisationspunkte ihres
Engagements als Gruppe beschreiben. Alle sprechen davon, dass Perspektiven ei-
nes „anderen Zusammenlebens“ und eine Positionierung „gegen Nazis“ für sie
besonders wichtig gewesen seien. Auffällig ist, dass sie diese Punkte einerseits
stark betonen, andererseits diese Punkte nicht näher ausführen. In den Interviewsi-
tuationen selbst fiel mir dies nicht auf. Die Stichworte animierten mich nicht ein-
mal dazu näher nachzufragen. Auch beim Lesen und Durcharbeiten der verschrift-
lichten Interviewtexte fiel mir dies zunächst nicht auf. Erst im Laufe meines Be-
arbeitungsprozesses der Interviews und unter Einbezug meines ersten Interviews
mit Martin bemerkte ich dies. Hierfür kann es verschiedene Gründe geben. Zum
einen liegt zum Zeitpunkt der Interviews die Geschichte des gemeinsamen Enga-
190 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

gements der Gruppe und ihrer Organisation als Verein schon sechs Jahre zurück.
Für die einzelnen Interviewten werden dann möglicherweise andere Dinge wich-
tiger, denen sie dann im Gespräch auch mehr Raum geben. Zum anderen scheint
es ein stilles Einverständnis zwischen uns zu geben, die Thematik „anders zusam-
menleben“ und eine Positionierung „gegen Nazis“ nicht näher ausführen zu müs-
sen. Man könnte auch sagen, es handele sich um eine Selbstverständlichkeit, die
wir uns nicht näher erklären müssen.
An dieser Stelle ist deshalb auch das Stichwort des Arbeitsbündnisses als er-
klärender Baustein aufzurufen. Heinz Steinert gliedert unterschiedliche Schichten
eines Arbeitsbündnisses auf und schreibt, dass zwischen einem „persönlichen Ar-
beitsbündnis, das aufgrund individueller Erfahrungen in eine Situation hineinge-
tragen wird; [dem] organisatorische[n] Arbeitsbündnis einer bestimmten Einrich-
tung; [dem] institutionelle[n] Arbeitsbündnis, von dem ein ganzer gesellschaftli-
cher Praxis-Bereich bestimmt ist; [und dem] gesellschaftliche[n] Arbeitsbündnis,
das die Grundannahmen einer bestimmten Produktionsweise angibt“, unterschie-
den werden müsse (Steinert 1998b: 57). Und: „Auf allen Ebenen fragt man nach
dem Arbeitsbündnis, indem man sich das nicht Ausgesprochene an Wissen und
Normen erschließt, das vorausgesetzt ist, damit ein Phänomen [...] verstanden wer-
den kann (ebd.: 58).
Ich möchte deshalb an dieser Stelle kurz über das Arbeitsbündnis, das „nicht
Gesagte“, nachdenken, da sich mit den nicht ausgesprochenen „Selbstverständ-
lichkeiten“ auch „Tabuisierungen“ oder eine „implizite Normativität“ verknüpfen,
auf die ich mich als Forscher beziehe (vgl. Herzog 2015: 74 f.).151 Wie Kerstin
Herzog deutlich macht, ist gerade die Offenlegung einer „impliziten Normativität“
wichtig, um den „Interpretationspunkt“ deutlich zu machen, „von dem aus analy-
siert und gedeutet wird“ (ebd.). Zu allen Interviewten hatte ich eine unterschied-
lich intensiv ausgeprägte, aber persönliche Beziehung. Dies hängt unter anderem
damit zusammen, dass ich sie, wie ich schon weiter vorn skizziert habe, im Kon-
text meiner damaligen beruflichen Tätigkeit kennengelernt hatte. Meine berufli-
che Tätigkeit beim Mobilen Beratungsteam war eine Arbeit bei einer sogenannten
zivilgesellschaftlichen Initiative, die selbst organisiert als Verein durch Unterstüt-
zung mit staatlichen Fördermitteln eine Beratungsarbeit zur Unterstützung bürger-
schaftlichen Engagements gegen Rechtsextremismus in kommunalen Zusammen-
hängen entwickelte. Auf die Konflikthaftigkeit, als Vertreter einer staatlich geför-

151 Interessant ist, dass Kerstin Herzog von „verschiedenen Normativitäten“ spricht (vgl. Herzog
2015: 75). Dies korrespondiert mit meiner weiter vorn skizzierten Einsicht zum Alltagsverstand
und seiner sozialen Funktion, dass eben durch die Einzelnen in verschiedenen Zusammenhängen
unterschiedliche und sich widersprechende Einsichten und Positionen vertreten werden können.
In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass die einzelnen Interviews jeweils für sich unter-
schiedliche interaktive Arrangements abbilden, bei denen auch jeweils unterschiedliche Ele-
mente (einer) meiner „impliziten Normativität(en)“ zum Vorschein kommen.
5.2 Sich selbst organisieren 191

derten Organisation solidarische Unterstützung oder Bündnispartner für Initiati-


ven und Gruppen im Lokalen zu sein, die sich mit Nazis auseinandersetzen wollte
oder mussten werde ich zu einem späteren Punkt eingehen.
Für mich sind verschiedene Punkte wichtig. Eine Auseinandersetzung mit
Nazis ist mir nicht fremd. In unterschiedlicher Intensität und Bedrohlichkeit be-
kam ich sie als Jugendlicher insbesondere in den Jahren 1986 bis 1992 am eigenen
Körper zu spüren. Ich kann hierauf nicht näher eingehen; dies wäre eine eigene,
wenn auch vielleicht nicht wissenschaftliche Arbeit wert. Ein Zeugnis solcher Er-
fahrungen hat Peter Richter in seinem Roman „89/90“ beschrieben. Er stammt aus
derselben Stadt, in der ich meine Jugend verbrachte, und beschreibt Orte und Per-
sonen, die ich aus eigenem Erleben kenne. Erstaunlich ist, wie er die Erfahrungen
mit Nazis in eine literarische Form gießt. Verschiedenste Erfahrungen werden
nacheinander aufgereiht, verbunden durch ein „Oder“. Die Verbindung des „O-
der“ vermittelt eine Dichte der im Alltäglichen eingebetteten Erfahrungen, die in
einer isolierten, jeweils für sich selbst stehenden Episode so nicht deutlich werden
würde. Die Brutalität der Auseinandersetzung war nicht die Ausnahme, sondern
tägliche Regel. Als ich das Buch gelesen hatte, waren mir meine Erinnerungen
vollkommen plastisch vor Augen. Damit verbundene Emotionen, die Suche nach
Auswegen und nach Gegenwehr bei gleichzeitigen Versuchen, ein anderes Modell
vom Leben zu entwickeln und aufrechtzuerhalten waren auf einmal wieder voll-
kommen gegenwärtig. Es waren Auseinandersetzungen um die Offenheit öffent-
licher Räume. Es waren Kämpfe gegen den Zwang zur Vereinzelung, das Ver-
schwinden in der Privatheit. Es waren Kämpfe gegen eine Pathologisierung mei-
ner/unserer Perspektiven auf die Welt und meiner/unserer Erfahrungen mit der
Welt. Existenziell ging es um die Wahrung meiner/unserer Würde, gegen die Ver-
letzungen meiner/unserer Menschlichkeit. Ein entscheidender Punkt war aber der,
dass sich erst in den konkreten Auseinandersetzungen mein Sinn für das Konflikt-
hafte, das Zwanghafte und Verletzbare schärfte. Nazis holten ihren Stoff aus der
gleichen Gesellschaft; ihre Erfahrungen waren meinen/unseren ähnliche, reprä-
sentierten das Gegenstück und gleichzeitig zugespitzt das Normale, eine Praxis
auf Ausschließung beruhender Vergesellschaftung. Mein Eindruck von damals:
Für die Gesellschaft waren die Nazis gerade deshalb nicht das große Problem.
Das hiermit verbundene Durcheinander von Emotionen und Erfahrungen aus
Angst, Sehnsucht, Wut und Glück verbindet meine persönlichen Erfahrungen mit
Nazis und verknüpft sich unweigerlich mit „gegen Nazis sein“, ohne, dass dies
mir immer bewusst wäre. In diesem Sinne markiert „gegen Nazis sein“ für mich
ein Spannungsfeld. Darüber hinaus verknüpft sich für mich mit „gegen Nazis sein“
eine Art Aufgeschlossenheit, welche eine Verbindung mit anderen findet, ohne
weiter über die konkreten Erfahrungen reden zu müssen.
192 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Es durchkreuzen sich im gegen Nazis sein“ zwei Linien. Die Fragen nach ei-
nem „anderen Zusammenleben“ der Menschen und die Auseinandersetzung mit
„Nazis“ sind für mich eng miteinander verbunden. Der Punkt eines „anderen Zu-
sammenlebens“ erweist sich für mich als ein Zusammenhang, den ich auch hier nicht
vollständig auflösen kann. Nur Stichworte müssen genügen. Prägend sind für mich
meine Erfahrungen in der DDR und die Versuche dort gesetzte Grenzen im Alltäg-
lichen zu verschieben, sowie die Erfahrungen nach der sogenannten „Wende“: mich
im folgenden Leben zurechtzufinden, der Zweifel, dass das „Neue“ die Freiheit sei
und das „Alte“ die Verdammnis repräsentiere, inklusive dem, wie ich gelebt hatte,
meine Versuche den aufziehenden Kapitalismus zu verstehen und die Demokratie
als Alternative zu suchen, und auch hier immer wieder die Auseinandersetzung mit
Nazis, die dann auch zur professionellen Tätigkeit wurde.152 Alles umkämpfte Dinge
und umkämpft war und ist für mich insbesondere die Selbstbestimmung und ihre
Gegenentwürfe zu fremdbestimmten Formen der Vergesellschaftung, zu Formen
gesellschaftlicher Ausschließung und den damit verknüpften Widersprüchen, die
zwischen „Ordnungsdenken und Befreiungsdenken“ zirkulieren (vgl. Cremer-Schä-
fer 2005: 153 f.). Ein vorsichtiger, aber wichtiger Punkt ist für mich in diesem Zu-
sammenhang, die Energie aufzubringen „Nein“ zu sagen und sich so wenigstens
fremdgesetzten Bedingungen zu verweigern.
Im Zusammenhang mit meinem „Nein“ habe ich den folgenden Gedanken
von Heinz Steinert in einem Text von Helga Cremer-Schäfer gefunden. Helga Cre-
mer-Schäfer schreibt über die Perspektive einer kritischen Theorie: „Aufgabe der
Theorie bleibt, die Prozesse für die Unmöglichkeit von Befreiung aufzuweisen“
(2005: 156). Und weiter über die Grenze und Möglichkeit intellektueller Arbeit
im institutionellen Kontext: „Kritik und Negativität kann als einziger Beitrag blei-
ben, ,den der Intellektuelle zum erbarmungslosen Getriebe der Gesellschaft allen-
falls zu machen hat. Wo das Einverständnis so überwältigend ist, hat man genug
mit der Aufgabe zu tun, ›nein‹ sagen zu müssen‘“ (Steinert in Cremer-Schäfer
2005: 156). Im letzten Punkt habe ich eine Verwandtschaft zu meinem „Nein“
entdeckt. Mein „Nein“ ist im skizzierten Zusammenhang sperrig, widersprüchlich.
Es enthält unterschiedliche Elemente. Sie signalisieren z. B. eine Grenze: bis hier-
her und nicht weiter. Gleichzeitig drängt das „Nein“ darauf, die Grenze zu über-
schreiten und eine Sprache für die Erfahrungen mit Fremdbestimmung und mit
Selbstbestimmung zu finden. Es drängt darauf, auch Vorstellungen davon zu ent-
wickeln, was hinter der Grenze liegen könnte. Hieraus können sich Situationen
oder Möglichkeiten ergeben, die dem eigenen Handeln eine „normative Richtung
geben können“ (Seel 2004: 39). In diesem Sinne ist mein „Nein“ auch normativ.
Mein „Nein“ hat aber auch eine resignative Färbung. Steht das „Nein“ nur für sich

152 Vorsichtige, kleine Ansätze einer Auseinandersetzung mit den damaligen Erfahrungen finden
sich in Affolderbach/Hirschfeld (2013) und Affolderbach (2015).
5.2 Sich selbst organisieren 193

allein, verliert die Verbindung zum Impuls, der das „Nein“ hervorgebracht hat,
kann es im Fatalismus münden, kann zur Nörgelei und Einpassung beitragen.
Mein „Nein“ ist damit auch im gesellschaftlichen Feld von Macht und Herrschaft
unterwegs und braucht wiederum die Kritik seiner selbst, ein Nachdenken über
das „Nein“ sowie eine Kritik dieses Nachdenkens.
Eine Interviewsituation erweist sich hier als Begrenzung. Auffällig ist an die-
ser Stelle ein Stillstand. Mit Blick auf die Interviews bleiben die inneren Differen-
zen oder unterschiedlichen Themen und Erfahrungsgehalte der beiden Stichworte
„anders zusammenleben“ und „gegen Nazis“ zwischen Interviewten und Intervie-
wer unausgesprochen.153 Vordergründig erscheint dies als eine Art Einverständ-
nis, vielleicht auch als Übereinstimmung in der Sache, die scheinbar keiner wech-
selseitigen Erklärung bedarf: auf der einen Seite der Forscher mit seinen Vorstel-
lungen gesellschaftlichen Zusammenlebens und persönlichen Erfahrungen mit
Nazis sowie gleichzeitig als Professioneller, der sich beruflich mit diesen Themen
beschäftigt; auf der anderen Seite die Interviewten und ihre Erfahrungen mit Na-
zis, ihre Erfahrungen einer Praxis, sich zu organisieren, und ihre Vorstellungen
eines Zusammenlebens. Genau bei diesem letzten Gedanken kommt mir der Zwei-
fel, ob er so stimmen kann. Berichten die Interviewten von ihren Erfahrungen mit
Nazis oder erzählen sie von ihren Erfahrungen damit, „gegen Nazis [zu] sein“?
Berichten sie über ihre Vorstellungen von einem Zusammenleben oder erzählen
sie über ihre Erfahrungen, „anders zusammenzuleben“? Die Interviewten sprechen
über ihre Erfahrungen mit und über ihr Handeln in spezifischen Situationen. Die
Interviewten erzählen davon, wie sie ihr „Leben in die eigenen Hände nehmen“
(Cremer-Schäfer 2010: 144).

153 An anderer Stelle ist weiter zu überlegen, ob die Stichworte „anders zusammenleben“ und „ge-
gen Nazis“ möglicherweise als Metaphern verstanden werden können. George Lakoff und Mark
Johnson haben in ihrer Untersuchung der Bedeutung von Metaphern für das Alltagsleben von
uns Menschen festgestellt, dass Metaphern nicht nur Elemente unserer Sprache seien, „sondern
auch unser Denken und Handeln“ durchdringen würden (vgl. Lakoff/Johnson [1980] 2014: 11).
Das Besondere hierbei ist, dass Metaphern „nicht zufällig sind, sondern kohärente Systeme bil-
den, nach denen wir unsere Erfahrungen konzeptualisieren“ (ebd.: 53). Ihre Bedeutung liegt da-
rin, dass sie „uns objektive Ähnlichkeiten vor Augen führen“ (vgl. ebd.: 240). Den Deutungs-
rahmen von Metaphern bilden nach George Lakoff sogenannte „Frames“ (Lakoff/Wehling 2014:
73). Letztere unterscheiden sich in „Surface Frames, durch die wir Bedeutungen einzelner Worte
und Sätze erfassen, also Frames auf der sprachlichen Ebene“ sowie „Deep Seated Frames“ als
im „Gehirn tiefverankerte Frames, die unser generelles Verständnis von Welt strukturieren“ und
„unseren eigenen Common Sense ausmachen“ (vgl. ebd.). Die Frames auf der sprachlichen
Ebene haben eine Ähnlichkeit zu den „generativen Themen“ bei Paulo Freire. Allerdings kann
ich diesen Zusammenhang hier nicht näher untersuchen und ausbauen. Vor dem Hintergrund
meiner kurzen Skizze lässt sich daher nur folgende Hypothese formulieren: „[A]nders zusam-
menleben“ und „gegen Nazis“ sind mit Lakoff und Johnson keine Metaphern, sondern verweisen
auf eine Verständigung in Frames oder bilden im Sinne Freires generative Themen.
194 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Was meine ich mit Situationen? Helga Cremer-Schäfer hat die herrschafts-
bezogene Dominanz der Nutzung des Begriffs „Situation“ im Zusammenhang mit
Sozialer Arbeit deutlich gemacht. Mit dem Begriff „Situation“ werde vor allem
ein „Interventionshandeln thematisiert“, welches darauf ziele, die „verhaltenssteu-
ernde Macht von Situationen“ durch „Fachkräfte des aktivierenden Sozialstaats“
als „Herrschaftstechniken“ (Cremer-Schäfer 2010: 239) nutzbar zu machen, damit
Individuen Handlungsformen entwickeln, um „unter fremd gesetzten Zielen“
gleichzeitig „aktiv, kreativ, demütig“ (Kaindl 2010: 93) zu agieren. Der Begriff
der Situation meint in diesem Zusammenhang vor allem Formen „situierte[n] Han-
deln[s]“, bei denen „Personen und ihre Veränderung“ zum Gegenstand „zugrei-
fender Interventionen werden“ (Cremer-Schäfer 2010: 241).154 Wie Helga Cre-
mer-Schäfer deutlich macht, gehen in dieser Sichtweise die inneren Widersprüche
von Situationen verloren. Beispielsweise sei eine „Handlungssituation von Sozi-
alarbeiter-Betroffener [...] tendenziell eine ,totale Situation‘“, da „beide Akteure“
zum einen „an Verdinglichungsprozessen zum Zweck der Disziplinierung und
Ausschließung“ mit Arbeiten sowie zum anderen „situativ dagegen arbeiten“
könnten (ebd.: 240).155 In diesem Zusammenhang könne zwischen einem Ver-
ständnis von Situation als „indirekter Verhaltenssteuerung“ einerseits sowie der
Akteursperspektive und ihrer Sicht auf Situationen als eine „Arbeit an Situatio-
nen“ unterschieden werden (vgl. ebd.). Mit letzterer Sichtweise können Situatio-
nen als „Möglichkeiten der Vergesellschaftung“ ins Blickfeld kommen (vgl. ebd.:
243). Situationen werden dann als Erfahrungszusammenhang unterschiedlicher
Anteile und Überschneidungen von Selbst- und Fremdbestimmung der Individuen
erkennbar. Bestimmend sind damit die „Handlungsstrategien“ der Leute, deren
Eigentätigkeiten, Situationen zu bearbeiten, „das Leben in die eigenen Hände zu
nehmen“ (ebd.: 244).

5.2.3.2 Anders zusammenleben

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal die Äußerung von Elena aufgreifen.
Elena: „[...] dann haben wir uns darüber unterhalten, wie, ja, wie es [...] Na ja, was so
in [...] gerade passiert, wie wir, wie wir, was wir da so für eine Perspektive drauf
haben und was wir uns vielleicht auch anders wünschen würden und wie wir uns auch
so das Zusammenleben oder so die Themensetzung im Ort anders wünschen würden
und was wir da, ja, vielleicht irgendwie machen könnten“ (E: 143-147).

154 Die bei Helga Cremer-Schäfer gesetzten Klammern um (und ihre Veränderung) habe ich in mei-
nem Zitat weggelassen, um die Zielrichtung der gemeinten Intervention hervorzuheben.
155 Helga Cremer-Schäfer bezieht sich bei ihrem Gedanken auf Timm Kunstreich. In meinem Zitat
habe ich diesen Bezug im Sinne einer besseren Lesbarkeit weggelassen.
5.2 Sich selbst organisieren 195

Ohne dass Elena auf die diskutierten Themen genauer eingeht, macht sie ihr ge-
meinsames Handeln als Gruppe deutlich. Die Gruppe spricht darüber, was gerade
passiert. Die Mitglieder sprechen über das, was sie erleben. Sie sprechen über Si-
tuationen ihres gegenwärtigen Alltags. Sie sprechen darüber, wie sie diese Situa-
tionen erlebt haben. Sie vergewissern sich gemeinsam. Sie vergewissern sich dar-
über, was die anderen in der Gruppe denken. Es öffnet sich ein Feld von Fragen:
Was würden sie tun? Welche Ideen haben sie? Welche unterschiedlichen Blick-
winkel ergeben sich? Welche verschiedenen Betrachtungsweisen haben sie? Wel-
che Zusammenhänge lassen sich herstellen? Sie sprechen über ihre Erfahrungen.
Sie sprechen über ihre Erfahrungen, die sie in ihrer Stadt machen. Und Elena wird
hier konkret: es handelt sich um Erfahrungen, die sie als Einzelne mit dem Zusam-
menleben in der Stadt machen.
Elena: gerade-passiert|vielleicht-anders-wünschen. Erkennbar ist hier ein Kon-
trast. Was gerade passiert, verweist auf konflikthafte oder problematische Zusam-
menhänge oder lässt zumindest Reibungspunkte erahnen, die eine gemeinsame Ver-
gewisserung herausfordern, eine gemeinsame Vergewisserung notwendig machen.
Durch gemeinsames Fragen, durch die unterschiedlichen Blickwinkel, die zum Vor-
schein kommen, können die Reibungspunkte, Probleme und Konflikte möglicher-
weise überhaupt erst als solche in Worte gefasst und zur Sprache gebracht werden.
Durch die gemeinsame Betrachtung entsteht eine Sicherheit, bestimmte Situationen
als tatsächlich konflikthafte Zusammenhänge erkannt zu haben. In der gemeinsamen
Betrachtung kann man seinen individuellen Erfahrungen trauen. Und mehr noch, die
verschiedenen Blickwinkel oder Blickrichtungen machen unterschiedliche Stand-
punkte deutlich, die selbst auch wieder Reibungspunkte bilden, konflikthaften Stoff
enthalten und gleichzeitig Phantasien der Möglichkeiten herausfordern, Perspekti-
ven von Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Elena: gerade-passiert | vielleicht-anders-wünschen | vielleicht-irgendwie-
machen-könnten |einfach-Lust-hätten. Was gerade passiert, braucht Alternativen,
Gegenentwürfe. „Vielleicht“ zeugt hierbei von einer Vorsicht, von einer suchen-
den Bewegung. Zunächst „wünschen“: Wünschen verweist auf ein Spannungs-
feld. In einer negativen Notation gleicht „wünschen“ einer Erwartung; sich etwas
erwarten, sich etwas ausrechnen, hat einen bestimmenden, festgelegten Charakter
(vgl. Stichwort wünschen Duden 2014). Die Vorsicht des „Vielleicht“ hingegen
in Verbindung mit „anders“ als Kontrast zu dem, was „gerade passiert“, ist nicht
festgelegt, benötigt ein Zutun; es braucht Phantasie. Ich möchte an dieser Stelle
„wünschen“ mit der Entwicklung von Vorstellungskraft übersetzen. Es ist eine
Aktivität, die Hoffen und Träumen braucht. Es ist eine Aktivität, die im Kontrast
zu den Erfahrungen des Alltäglichen tastend Vorstellungen davon (er)findet, was
anders sein könnte, wie es anders sein könnte, und im Feld der Vorstellungskraft
die Frage der Möglichkeiten entdeckt. Eine Vorstellungskraft, die den Zusammen-
196 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

hang herstellt, auch hier fragend „vielleicht irgendwie“ (E: 147), aber vom „Wün-
schen“ (E: 146) den Weg oder die Verbindung zum „Machen“ (E: 147) findet und
die Perspektive dafür öffnet, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Es ist ein
offener Entwicklungsprozess. Elena betont hierbei das „Wir“ (E: 147). Es ist ein
gemeinsamer Prozess. Die Vorstellungen von dem, was sie gemeinsam „machen
könnten“ und, konkreter noch, was sie „organisieren“ könnten, braucht die „Lust“
als sinnliche Erweiterung, als sinnlichen Zugang. „Lust“ in Verwandtschaft zur
Fröhlichkeit und zur Vergnügtheit, aber in Verbindung zum „hätten“ meint eine
Freude am Tun, eine Freude am Handeln. Es handelt sich nicht um eine billige
Lust eines Vergnügens auf Kosten anderer. Diese Lust wäre eine der Unterdrü-
ckung, eine der Spaltung, die in Unlust kippt. „Lust“ im Zusammenhang mit dem
„Wir“ von Elena betont eine „Bereitschaft zu Sympathie“ (Steinert 1985: 78), eine
auf Sympathie beruhende Wechselbeziehung, das „teilhaben an einer beschaffen-
heit“ (GW 20, Sp.: 1401), die „Teilhabe und Teilgabe“ (Evers/Hirschfeld 2011:
191) am gemeinsamen Handeln. Die Gegenwart wird nicht als feststehende Größe
verstanden. Sie ist begreifbar und veränderbar. An den konkreten Erfahrungen ent-
zünden sich „menschliche Haltungen, Energien, Gefühle, Hoffnungen, Träume,
Ängste und Befürchtungen“ (Hirschfeld 2015b: 141) und mit ihnen die Phantasie
der Gestaltbarkeit. In diesem Sinne entsteht Phantasie als eine Praxis, die über-
haupt erst die Möglichkeiten der Gestaltbarkeit hervorbringt.
Martin berichtet im ersten Interview über das Konflikthafte im Zusammenle-
ben der Menschen in seinem Lebensort156 und erläutert, welche Bedeutung dies
für sie als Gruppe und später in der Organisation als Verein hatte.
Martin: „Oder ganz einfach, dass man überhaupt anders miteinander umgeht, die
Menschen miteinander anders umgehen. Und gerade in [X] ist die Sache, da schießt
jeder gegen jeden. Das ist eigentlich, was mich freuen würde, dass wir vielleicht das
ein bisschen wieder aufholen, meine Generation zu Generation, was unsere Elternge-
neration ein bisschen verbockt hat. Mit unterschiedlichen Sachen, wie [Umweltskan-
dal] oder [Kieswerk] oder sonst was. Das geht ja schon seit Jahrzehnten so. Seit nach
der Wende geht das so, dass sie in [X] sich alle gegenseitig irgendwo anfeinden. Und
das stört mich eigentlich und das ist eigentlich bei uns häufig. Cool muss ich sagen,
bei uns im Haus sind mittlerweile drin, da sind Leute dabei, wo die Eltern gegen das
[Kieswerk] waren. Meine Eltern, mein Vater z. B., arbeitet dort. Der war natürlich
wieder dafür. Da haben wir Leute dabei von Schloss X, ein Sohn von den. Es sind
unterschiedliche Leute dabei, wo sich die Eltern zum Teil spinnefeind sind. Und das
find ich gut, das wär halt schön, wenn man das erreichen könnte nach und nach und
da wieder vielleicht mal ein Miteinander irgendwie hinzukriegen und nicht nur auf
allem rumhacken. Ich möchte auch mal Konzepte bringen, sagen, so könnte man es

156 In diesem Fall meine ich den Ort als räumliche Begrenzung, als die Grenzen der Kleinstadt.
Lebensort markiert in diesem Zusammenhang den Erfahrungskontext, von dem Martin in einem
engeren Sinne spricht. Er meint seine Erfahrungen in einer Kleinstadt.
5.2 Sich selbst organisieren 197

besser machen, gemeinsam überlegen, was man überhaupt machen sollte, gemeinsam
überlegen. Und nicht sagen, du machst das falsch, du machst das falsch, sondern sa-
gen, wollen wir das nicht ein bisschen verbessern, da machen das so und so [...] Was
man in der Politik immer wieder hört, aber nie gemacht wird. Das halt“ (M/a: 1000-
1019).
Auch Martin spricht ähnlich wie Elena darüber, die Dinge in die eigenen Hände
nehmen zu wollen. Er verknüpft dies mit konkreten Erfahrungen in der Kleinstadt:
„[D]a schießt jeder gegen jeden“ (M/a: 1001 f.). Die Konflikte liegen Martin zu
folge sehr tief. Martin verweist hierbei auf unterschiedliche Generationen und von
seinem Standpunkt aus, der Jugend, reichen die Konflikte lange Zeit zurück, bis
zur Wende, zu der Zeit, in der er geboren wurde. Von dort aus habe die Elternge-
neration das „ein bisschen verbockt“ (M/a: 1004). Er wird hierzu noch konkreter
und spricht vom Umweltskandal und vom Kieswerk.
Der Umweltskandal hat zum Zeitpunkt des Gespräches mit Martin für meine
Masterarbeit schon eine dreijährige Geschichte. Kurz zusammengefasst: Für die
örtliche Sportstätte waren Lärmschutzwände gebaut worden. Wie sich später her-
ausstellt waren beim Bau Gummiabfälle verwendet worden, die den notwendigen
Umweltstandards nicht genügten und von den Behörden als gefährlich eingestuft
wurden. Die Stadt hatte sich dann um deren Entsorgung zu kümmern. Um die
hierbei entstandenen Kosten im oberen sechsstelligen Bereich stritt sich die Stadt
mit ihrer vorgesetzten Behörde (Landratsamt) vor Gericht und musste am Ende
ca. ein Drittel der Kosten selbst tragen. Neben dem, dass dieses Geld für die Stadt
eine erhebliche Belastung des Haushaltes bedeutete, ist die Geschichte aber noch
mit einem Subtext versehen. Kritisiert werden, die Politik des Stadtrates und des-
sen Entscheidungen. Für die Kleinstadt selbst ging es vor allem darum, dass die
Kosten hätten vermieden werden können, wenn zum einen der Bürgermeister und
seine Verwaltung zuverlässig gearbeitet hätten. Sie hatten eigene rechtliche Prü-
fungen und gutachterliche Untersuchungen unterlassen. Zum anderen war zum da-
maligen Zeitpunkt das Thema Müll in der Region ein Dauerthema. Im Raum stan-
den Vermutungen zu undurchsichtigen Praktiken von politischen Vertretern des
Landkreises bei der Abfallentsorgung bis hin zu Bestechungsgeldern für den Bau
einer Müllverbrennungsanlage in der Region. In der Kritik standen vor allem so-
genannte „Club-Gespräche“ von verantwortlichen Politikern des Landkreises, bei
denen die Inhalte und Entscheidungen über die Auftragsvergabe der Öffentlichkeit
entzogen waren. Eine Folge der Praktiken waren sehr hohe Müllgebühren für den
gesamten Landkreis. Die „Club-Gespräche“ sind auch ein Synonym, das mir in
verschiedenen Gesprächen in der Kleinstadt (X) immer wieder begegnete. Codiert
wurde damit die Praxis der lokalen Politik. Insofern war der Umweltskandal von
(X) auch eine Kritik an der örtlichen politischen Praxis von „Hinterzimmergesprä-
198 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

chen“ und der Unklarheit darüber, welche Rolle dann die Entscheidungen des
Stadtrats spielen.157
Darüber hinaus war auch die Frage des Umweltschutzes ein Zankapfel im
Ort. Waren sich die Leute im Zusammenhang mit der Sportanlage darüber einig,
dass Standards des Umweltschutzes Geltung haben sollten, war aber gleichzeitig
der damit verbundene Kostenfaktor ein Problem. Es darf halt nichts kosten und
vor allem sollen entstehende Kosten nicht den Einzelnen aufgebürdet werden. In
einem vergleichbaren Spannungsfeld steht die Geschichte zum Kieswerk, von der
Martin berichtet. Hierbei handelt es sich nicht um einen öffentlichen Skandal mit
juristischen Konsequenzen. Es ist so, wie Martin erzählt, dass es verschiedene
Standpunkte zum Kiesabbau in der Region gab. Der Konflikt entzündete sich an
der Frage der Umwelt, einer Zerstörung der Landschaft und einer Belastung der
Umwelt in der Folge des Kiesabbaus. Demgegenüber stand die Position der Not-
wendigkeit (hier auch der Möglichkeit) realer Arbeitsplätze für Menschen aus dem
Ort. Letzteres hat natürlich für eine ländliche Region immer eine große Bedeu-
tung. Für die Menschen der Kleinstadt (X) war dies mit den Veränderungen nach
der „Wende“ allerdings auch zur existenziellen Frage geworden.
Ich möchte die Gedanken von Martin aufnehmen und in anderer Weise for-
mulieren, um so einen Kontrast herauszustellen, der die Tiefe des gesellschaftli-
chen Konfliktes, von dem er spricht, hervorhebt und gleichzeig deutlich macht,
welche Handlungsweise von Martin skizziert wird.
Da schießt jeder gegen jeden|schon seit Jahrzehnten|gegenseitig irgendwo anfein-
den|das ist eigentlich bei uns häufig|zum Teil spinnefeind sind
Umweltskandal|[Kieswerk]|[Die] gegen das [Kieswerk]|Vater arbeitet dort|war dafür
Anders miteinander umgeht|die Menschen miteinander anders umgehen|was mich
freuen würde|ein bisschen wieder aufholen|das wär halt schön|wenn man das errei-
chen könnte|nach und nach|mal ein Miteinander hinzukriegen|gemeinsam
Im Grunde verweist Martin auf ein Spannungsfeld kapitalistischer Vergesellschaf-
tung. In diesem Zusammenhang kommen unterschiedliche Interessenlagen zum
Vorschein, die, voneinander abgespalten, sich fremd (entfremdet) und im Konflikt
gegenüberstehen. Die einen sind gegen das Kieswerk aus Gründen des Umwelt-
schutzes. Die anderen sind für das Kieswerk, weil sie dort arbeiten und Geld ver-
dienen. Für beide gilt allerdings auch, dass sie über das Werk (die Arbeitsmittel)
nicht verfügen; die Produktionsmittel sind privat und ihnen entzogen. Beide Inte-
ressenlagen befinden sich in einer gesellschaftlich bedingten strukturellen Abhän-

157 Die Geschichte hat noch mehr Facetten, die ich hier nicht darstellen kann. Die skizzierte Ge-
schichte wurde medial diskutiert und ich habe sie zum Zwecke der Anonymisierung verfremdet.
Dies war eine Absprache und Bedingung, die Interviews für meine Arbeit verwenden zu können.
5.2 Sich selbst organisieren 199

gigkeit, die außerhalb ihres (vereinzelten) unmittelbaren Zugriffs liegt. Beide Inte-
ressenlagen – „für Umwelt sein“ und „für Arbeit sein“ – bilden Konflikte, zwei Sei-
ten ein und derselben Medaille. Kapitalismus bedeutet immer eine Ausbeutung von
Natur und menschlicher Arbeitskraft. Für die Aufhebung dieses Verhältnisses be-
deutet es notwendigerweise immer, eine Aufhebung des Ausbeutungsverhältnisses
des Menschen durch „eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse [und] die sie
tragenden Arbeitsstrukturen“ sowie eine Aufhebung der Ausbeutung der Natur
gleichermaßen in den Blick zu nehmen (vgl. hierzu Frigga Haug 1996: 575 f.). Diese
strukturelle Bedingtheit verfestigt sich im Kontext kapitalistischer Vergesellschaf-
tung in einer „Trennung des Ökonomischen vom Politischen“, „der privaten Verfü-
gung über die Produktionsmittel“ und „einer Privatisierung gesellschaftlicher Tätig-
keiten“ sowie – globaler – einer „geografischen Arbeitsteilung zwischen den [...]
Zentren und ihren Peripherien“ (vgl. Demirovic 1997: 20). Diese Auftrennung in
unterschiedliche Abteilungen, Interessenlagen und Territorien ist bis in das Lo-
kale158 spürbar, aber durch die Einzelnen nicht durchschaubar.159
Martin skizziert in seinen Überlegungen verschiedene Bearbeitungsweisen,
wie die Menschen im Ort mit strukturell bedingten Aufspaltungen und Trennun-
gen umgehen. Zuspitzend kann man sagen: Sie werden von den Menschen in un-
terschiedlicher Weise aktiv aufgenommen. Zum einen schildert Martin die ent-
standenen Konflikte als Probleme der Elterngeneration. Leute, die sich kennen,
feinden sich an, sind sich spinnefeind. Die strukturelle gesellschaftliche Bedingt-
heit der Konflikte tritt in den Hintergrund. Die von Martin skizzierten Konflikte
werden ins „Private“ verschoben.160 Hier erscheinen sie verhandelbar und gewin-
nen als persönliche Anfeindungen und Rivalitäten (z. B. der Eltern) an Bedeutung.
Nicht nur dies: In der Form personalisierter Konflikte gewinnen die Anfeindungen
und Rivalitäten auch die Bedeutung, „etwas tun zu können“. „Etwas tun zu kön-
nen“, das in der Macht der Einzelnen steht. Insofern ist eine Verschiebung auch
Handlungsweise, die in Relation zu den Lebensumständen der Menschen entsteht
und dort ihren Sinn entfaltet.
„Jeder gegen jeden“, sagt Martin (vgl. M/a: 1002). Das Besondere an Martins
Einsicht ist, dass in dieser Konstellation die Konflikte nicht bewältigt werden kön-
nen, sondern, im Gegenteil die Spaltung vertieft und spürbare Grenzen für alle
Leute im Alltäglichen setzt. Anfeindungen und Rivalität sind widersprüchlich. Der
eigenaktive Anteil dieser Auseinandersetzungen baut auf ausschließende Formen
von Vergesellschaftung. Das Eigenaktive als Versuche, die Kontrolle über die Le-
bensbedingungen zu gewinnen, reproduziert selbst die Spaltungen und

158 Zur Bestimmung des Lokalen als Vergesellschaftungszusammenhang im Unterschied zu einem


Verständnis des Lokalen als Begrenzung oder als Territorium vgl. Affolderbach (2015: 72 f.).
159 Und auch nicht allein im Lokalen auflösbar.
160 Vgl. zu den Begriffen Verschiebung vs. Verdichtung Demirovic (2007: 222 f.).
200 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Begrenzung auf das „Private“. Es wird passiv. Die Handlungsfähigkeit der Ein-
zelnen beschränkt sich auf eine Personalisierung des Konflikts. Verantwortlich für
gesellschaftliche Verwerfungen ist dann der Nachbar, die anderen Eltern, der po-
litische Gegner, der Umweltaktivist der die Notwendigkeit von Arbeit nicht aner-
kennt, der Vater, der die Notwendigkeit von Arbeit unterstreicht und ein Engage-
ment für die Umwelt als Verhinderung erfährt.
Der Konflikt ist damit nicht mehr als ein allgemein gesellschaftlicher, als ein
öffentlicher von Bedeutung, sondern kann auch vonseiten der Politik ignoriert und
als Privatangelegenheit behandelt oder bei Eskalation ordnungspolitisch bearbei-
tet werden. Mehr noch: Durch die scheinbar unversöhnliche Gegenüberstellung
von einem Interesse am Schutz der Umwelt und einem Interesse am Zugang zur
Erwerbsarbeit ergibt sich auch die Möglichkeit (oder auch die Notwendigkeit),
diese Themen durch unterschiedliche politische Interessengruppen (gegeneinan-
der) zu gebrauchen und in den Rahmen einer hierarchischen Arbeitsteilung von
Politik einzugliedern. Hier wird der gesellschaftliche Konfliktstoff stellvertretend
durch unterschiedliche Interessengruppen, Parteien, Gewerkschaften, Umwelt-
gruppen, Wirtschaft usw. verhandelt und bleibt dem unmittelbaren Zugang „von
unten“ entzogen. Im negativsten Fall wird so die Trennung wieder zum Instrument
einer Politik „von oben nach unten“ mit der Folge, dass auch die Konfliktfelder
Umwelt und Arbeit ihre innere Verbindung zu den Menschen verlieren.
Gleichzeitig erscheinen die Deutungen von Martin selbst als eine Bearbei-
tungsweise in diesem Feld. Auch bei ihm wird das Konflikthafte der strukturellen
Bedingtheit verschoben. Er deutet den Konflikt als einen Generationskonflikt, als
Sachverhalte „die unsere Elterngeneration ein bisschen verbockt hat“ (M/a: 1004).
Im Unterschied zu den konfrontativen Formen des „jeder – gegen – jeden“, unter-
streicht Martin die Notwendigkeit eines Miteinanders (vgl. M/a: 1002 f.). Dieses
Miteinander hat verschiedene Dimensionen.
Das Miteinander bildet den Gegenentwurf zum „jeder – gegen – jeden“. Mar-
tin spricht davon, ein Miteinander „irgendwie hinzukriegen“ (M/a: 1013 f.). Er ist
sich nicht sicher, wie es gehen könne; es gibt hier keine fertige Lösung. Im Grunde
skizziert Martin eine prozesshafte Bewegung, eine Entwicklung „nach und nach“
(M/a: 1013). In diesem Zusammenhang ist auch das Miteinander selbst ein zu ent-
wickelnder Zusammenhang, der sich im „gemeinsamen überlegen“ damit beschäf-
tigt, „was man überhaupt machen sollte“ und wie man es gemeinsam „besser ma-
chen“ könnte (vgl. M/a: 1015). Martin berührt in seinen Überlegungen intuitiv
zwei wichtige Punkte. Zum einen rückt er die Entwicklung eines kooperativen
Zusammenhangs in den Fokus; die Einzelnen finden im Gemeinsamen zusammen.
Zum anderen beschreibt er einen Weg des gemeinsamen Überlegens, des Erken-
nens und, dem vorgelagert, herausfordernd, „was [man] überhaupt machen sollte“
(ebd.), fragt nach Möglichkeiten, braucht die Phantasie, sucht die „Vermittlung
5.2 Sich selbst organisieren 201

von Sinnlichkeit und Verstand“, um eine Urteilskraft herausbilden zu können (vgl.


Negt 2010: 343). Gemeinsames Überlegen setzt dabei unterschiedliche Sichtwei-
sen und Impulse voraus, aus denen sich dann gemeinsam geteilte Sichtweisen,
Projekte, Konzepte und Handlungsweisen ergeben können, ohne dass sich die Ein-
zelnen im Kollektiven aufgeben müssen. Es geht um die Entwicklung einer ge-
meinsamen Urteilskraft. Durch die Freisetzung oder die Herausforderung von
„Phantasie und Einbildungskraft“ entstehen Möglichkeiten, „getrennte Vermögen
und Gegenstände zum Ausgleich zu bringen“ (Negt 2010: 343).
Wie Martin deutlich macht, unterscheidet sich hierbei seine Vorstellung eines
kooperativen Zusammenhangs von ausschließenden, zwanghaften Formen des
Gemeinsamen. Martin kritisiert das „von oben“ kommende „Du machst das
falsch“ (M/a: 1016 f.). Hier fällt das Gemeinsame auseinander, wird zur hierarchi-
schen Ordnung. Fällt diese Ordnung mit der Personalisierung von Konflikten zu-
sammen, so liegt das Gemeinsame der Ausschließung darin, dass gerade Ausgren-
zung über individuelle Unterschiede und Differenzen hinweg mit anderen geteilt
werden kann. Der damit verknüpfte Anspruch einer Selbstermächtigung des Ein-
zelnen im „jeder – gegen – jeden“ erweist sich als Form der Entfremdung, ist in
hierarchischen Verhältnissen passiviert. Hierin liegt dann auch das Beschwörende
der Politik das Martin kritisiert: „was man in der Politik immer wieder hört, aber
nie gemacht wird“ (M/a: 1018 f.). Was in der Politik nicht gemacht werde, sei an
der Aufhebung dieses Zustandes zu arbeiten und so selbst aktiver Teil des Passi-
ven zu sein.
Eine Alternative, die Entwicklung hin zu einem Gegenentwurf, deutet Martin
an: „Cool muss ich sagen, bei uns im Haus sind mittlerweile drin, da sind Leute
dabei, wo die Eltern gegen das [Kieswerk] waren. Meine Eltern, mein Vater z. B.;
arbeitet dort. Der war natürlich wieder dafür. Da haben wir Leute dabei von
Schloss [X], ein Sohn von den. Es sind unterschiedliche Leute dabei, wo sich die
Eltern zum Teil spinnefeind sind“ (M/a: 1007-1012). Ausgehend von der Selbst-
organisation als Gruppe, spricht Martin hier schon vom konkret gewordenen Pro-
jekt: im Haus. Als unterschiedliche Leute haben Martin und die anderen der
Gruppe zusammen angefangen, über die Konflikte der Eltern hinweg einen Zu-
sammenhang auszubilden, bei dem die skizzierten Konflikte der Anfeindungen,
das „jeder – gegen – jeden“ in den Hintergrund treten. Es ist ein anderer Ausdruck
davon: „Etwas tun zu können“ und „das Leben in die eigenen Hände zu nehmen“.
Widersprüchlich und sperrig steht hier allerdings der Konflikt der Eltern im
Raum. Weiter oben habe ich deutlich gemacht, dass Martin den skizzierten struk-
turellen gesellschaftlichen Konflikt einer kapitalistischen Vergesellschaftung ver-
schiebt und als Problem seiner Elterngeneration begreift. Hierbei entsteht der Kon-
trast zwischen den zwei skizzierten Formen von Vergesellschaftung, zwischen
„jeder – gegen – jeden“ und einem Miteinander als kooperativer Handlungsform.
202 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Beide wiederum werden als gegensätzliche Muster unter den Bedingungen kapi-
talistischer Vergesellschaftung hervorgebracht. Habe ich weiter oben geschrieben,
dass Kapitalismus immer gleichermaßen eine Ausbeutung von Natur und Arbeits-
kraft bedeutet, so ist das Stichwort der Verschiebung weiterzudenken. Denkbar ist
z. B., dass sich unter den Bedingungen einer kapitalistischen Vergesellschaftung
die Verhältnisse einer Ausbeutung der Arbeitskraft des Menschen und einer Aus-
beutung der Natur insofern verändern, dass beide zusammengedacht werden, also
sich z. B. ein Schutz der Umwelt an andere Formen der Arbeit bindet und umge-
kehrt. Hier könnte der Eindruck entstehen, dass Ausbeutung verschwunden sei,
weil sich in diesem Verhältnis der Umgang mit Natur und Arbeitskraft verändert.
Mit dem Blickwinkel der Verschiebung allerdings ist denkbar, dass sich Ausbeu-
tung dann auf andere Zusammenhänge, auf andere Dinge richtet, die ausgebeutet
werden (Tiere, Weltall). Ausbeutung würde nicht verschwinden, sondern sich ver-
schieben. Übertragen auf das Beispiel von Martin bedeutet dies, dass eine Ver-
schiebung innerhalb der gegebenen Verhältnisse Räume öffnen kann, sich zu be-
wegen, politisch etwas zu tun.

5.2.3.3 „Gegen Nazis sein“ – „Nazis sind scheiße“

Meine erste Assoziation: „gegen Nazis sein“, Nazis ablehnen oder dagegen zu sein
oder vielleicht auch einfach nur Nein zu sagen, nicht einverstanden zu sein mit
Nazis, nicht einverstanden zu sein mit dem, wofür Nazis stehen. Schon der letztere
Gedanke erweist sich als nicht ganz so einfach. Das Nein setzt mindestens Erfah-
rungen voraus und diese Erfahrungen sind der Ausschlag dafür eine Grenze zu
ziehen, eine Grenze die in Kritik ihren Ausdruck findet. In diesem Sinne ist „gegen
Nazis sein“ sperrig und liegt einer kurzfassenden, geradlinigen Interpretation quer
im Weg. Nicht weniger ist der Begriff des „Nazis“ schwierig und reiht ein Bündel
von Assoziationen auf, das historische Dimensionen und reaktionäre Entwicklun-
gen in der Gegenwart einschließt. Auf jeden Fall aber bildet „Nazi“ einen sehr
starken Kontrast zu einer Position, die an dieser Stelle – vorläufig und noch nicht
näher beschrieben – als eine Haltung „gegen Nazis [zu] sein“ gefasst werden kann.
Möglicherweise handelt es sich auch um eine Kategorie oder auch um ein Muster
der Personalisierung von Konflikten. Im „Gegen – Nazis Sein“ kreuzen sich ver-
schiedenste Dimensionen, Erfahrungsgehalte und Konfliktlinien. Was sagen die
Interviewten?
Sandra: „Ganz groß war also dieses, Hauptsache, irgendwie gegen Nazis sein und also
ich hatte vorher auch in, also ich bin in [Y] zur Schule gegangen und hatte auch dort
immer Probleme irgendwie mit einigen Leuten und da waren halt nur so ganz normale
Mitschüler und Mitschülerinnen, die halt vielleicht, wo ein paar auch mal gesagt ha-
ben, Nazis sind scheiße, aber eigentlich hat immer keiner so richtig was gemacht und
5.2 Sich selbst organisieren 203

ja gut, im [AJU – alternativen Jugendzentrum] waren wir dann mal, aber dort kamen
wir irgendwie auch nicht so richtig rein und deswegen war es dann für mich halt ein-
fach irgendwie auch schön, mal eine Gruppe zu haben, wo man weiß, man hat irgend-
wie die gleichen Ziele, man kann zusammen was machen, auch weil dann der Jugend-
klub zu war und wir irgendwie eh unabhängig auch von dem Verein gesucht haben,
wo wir uns jetzt überhaupt noch treffen können, weil dann irgendwie nur noch auf
dem Markt rumsitzen möglich war oder halt zu Hause bleiben. Also wollten wir uns
sozusagen eh mit den Leuten, die da in dem Jugendklub waren, was Neues suchen
und da war das sozusagen dann ideal, dass es irgendwie auch einen Verein geben
sollte, der auch ja dann eine Räumlichkeit bräuchte und ja. Ach, ich glaube, so zum
Großteil war das einfach nur dieses gemeinsam irgendwas gegen die Nazis machen
können, um irgendwie zu zeigen, dass es halt auch noch was anderes gibt in [X], außer
das, was in den Medien bekannt geworden ist“ (Sa: 173-190).
Sandra beschreibt in kurzen Sequenzen Situationen, wo „gegen Nazis sein“ eine
Rolle gespielt hat. Sie spricht von der Schule in der von (X) benachbarten Kreis-
stadt, die sie besucht hat. Sie spricht vom alternativen Jugendzentrum, einem
selbstverwalteten Jugendzentrum in der benachbarten Kreisstadt. Sie spricht vom
Jugendklub und vom Markt, beides Orte, die wiederum wichtige Anlaufpunkte in
ihrem Wohnort bilden. Eine erste Überlegung: Die Orte bilden exemplarische
Punkte an deren Beispiel Sandra deutlich macht, was sie ursprünglich dort erwar-
tet hat. Sie sucht nach Freiräumen, nach Zusammenhängen, die „Hilfreiches“
(Cremer-Schäfer 2002: 217) zur Entwicklung von Handlungsfähigkeit bereithal-
ten, um selbstbestimmtes Handeln zu ermöglichen. Sandra deutet allgemein an,
dass schon „vorher“ (Sa: 174) „gegen Nazis sein“ (Sa: 174) für sie eine Bedeutung
gehabt habe. Gehe ich hierbei davon aus, dass sie orientiert an unserem Interview-
gegenstand von ihrem Zusammenkommen mit der Gruppe in der Gartenlaube
spricht, zeichnet sie anhand unterschiedlicher Stationen einen Prozess der Suche
nach Anschluss zu Leuten, mit denen sie ihr Verständnis von „gegen Nazis sein“
teilen kann.
In der Schule: Ich hatte|dort immer Probleme irgendwie|mit einigen Leuten|nur so
ganz normale Mitschüler und Mitschülerinnen|ein paar|auch mal was gesagt|Nazis
sind scheiße|eigentlich hat immer keiner so richtig was gemacht
Sandra entwickelt zwei Kritikpunkte. Sie kritisiert, dass nur einige ihrer Mitschü-
ler und Mitschülerinnen mal etwas gesagt hätten (vgl. Sa: 173 f.), konkreter: mal
gesagt hätten, dass Nazis scheiße seien. Eine kritische Distanzierung von „Nazis“
durch „Nazis sind scheiße“ (Sa: 177) erscheint hier als vereinzelte Ausnahme, als
unzusammenhängende Größe. Dadurch verliert die in der Distanzierung enthal-
tene Kritik scheinbar an Kraft, an Gehör, an Ernsthaftigkeit. Darüber hinaus kriti-
siert Sandra das Formelhafte. Formelhaft bezeichnet hier eine Spannung, die auf
der einen Seite eine kritische Äußerung meint, welche aber gleichzeitig auf der
204 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

anderen Seite eine weitergehende Auseinandersetzung meidet. In diesem Sinne


kritisiert Sandra einen Stillstand im Verhalten von Menschen. Der Stillstand ist
letztlich ein Schweigen. „Nazis sind scheiße“ bleibt eine Worthülse, ist oberfläch-
lich und letztlich belanglos. Eine (wirkliche) Auseinandersetzung bleibt aus. Drin-
gende Fragen werden nicht gestellt.
Trotzdem hätten „einige“ ein paar Mal gesagt: „Nazis sind scheiße“. Was
kann dies bedeuten? Denkbar ist ein Spannungsfeld unterschiedlichster Einflüsse
und Erfahrungszusammenhänge.
Beispielsweise könnten die „einigen“ in der Schule etwas über die historische
Dimension des Faschismus gehört haben und sich aus diesem Grunde distanzie-
ren. Möglicherweise haben sie sich in diesem Zusammenhang auch mit tagesak-
tuellen Themen beschäftigt und hier hat das Thema Rechtsextremismus eine Rolle
gespielt.161 Oder sie haben Erfahrungen im über die Schule hinausgehenden Alltag
gemacht. Dies könnten z. B. vergleichbare Erfahrungen sein, wie sie Sandra im
Interview und Martin berichten. Sandra z. B. engagiert sich für den Tierschutz und
erzählt im Interview davon, dass dort auch „Nazis“ mitmischten und dies nicht
wegen des Tierschutzes täten: „nicht irgendwie wegen den armen Tieren so dann
indirekt, sondern eher, weil Schächten was typisch Jüdisches ist so“ (Sa: 583-585).
Oder Martin im Gruppengespräch, der beobachtet: „Ich habe eben teilweise in Fa-
milien nach und nach gesehen, [...] dann auch im Bekannten-, Freundeskreis, auf
einmal immer mehr Leute, [...] wo man dann gemerkt hat, okay, jetzt irgendwo
Nazis waren [...], wo die gesagt haben, ja, ich wähle NPD, und der andere hat
gesagt, ja, ich würde jetzt nicht NPD wählen, aber ich will, dass die Ausländer,
sollen schon alle rausfliegen“. Martin führt diesen Gedanken weiter: „solche Sa-
chen [...] zu einer Geburtstagsfeier von einer Freundin, wo auf einmal drei, vier
Leute das gesagt haben, von denen ich das überhaupt nicht erwartet habe [...]“ (G:
406-417).162
Sandras Engagement für den Tierschutz begegnet Leuten mit antisemitischen
Motiven, welche ihr Engagement für Tiere auch antisemitisch begründen. In die-
sem Zusammenhang wird Mitgefühl zum Problem. Mitgefühl erscheint

161 Ich spreche hier bewusst von den historischen Dimensionen des Faschismus und nicht wie so oft
üblich im alltäglichen Sprachgebrauch von „Nationalsozialismus“. Nationalsozialismus ist eine
Selbstbezeichnung „vom Standpunkt der Nazis“ und läuft dabei Gefahr, schon „ein Stück weit
deren Standpunkt einzunehmen“ (Haug 2017: 239).
162 Ich habe das Zitat hier im Sinne einer besseren Lesbarkeit stark eingekürzt. Ich könnte an dieser
Stelle noch weitere solcher Erfahrungen aus den Interviews anfügen. Jede einzelne Passage kann
auch anders interpretiert und anders gelesen werden, als ich es hier tue. Es geht mir an dieser
Stelle nur darum, ein Spannungsfeld des Alltäglichen anzudeuten und nicht auszumalen. Das
angedeutete Spannungsfeld ist auf jeden Fall tief im Alltag verwurzelt und das Besondere ist die
Unberechenbarkeit der alltäglichen Zusammenhänge, in denen sich die Interviewten bewegen
und in denen sie ihre Erfahrungen mit Leuten und ihren Denk- und Handlungsweisen machen,
die sie dort nicht unmittelbar vermuten.
5.2 Sich selbst organisieren 205

widersprüchlich: Wie können sich Leute für Tiere stark machen und gleichzeitig
den Menschen verachten? Dies fordert eine Distanzierung, eine alternative Posi-
tion, eine alternative Handlungsweise heraus.
In ähnlicher Weise schildert Martin eine konflikthafte Situation. Bekannte,
Leute aus dem Freundeskreis, entwickeln Sympathien für eine Partei, die nationa-
listische, rassistische und antidemokratische Ziele als politisches Programm ver-
folgt. Und nicht nur dies: Einige Leute aus dem Freundeskreis geben zu erkennen,
dass sie durch diese Partei ihre Interessen vertreten sehen; sie wählen die NPD und
teilen eine Idee, dass Ausländer rausfliegen müssen. Vor allem von Leuten, von
denen Martin es nicht erwartet hatte, wird eine rassistische Position vertreten. Dies
stellt die Glaubwürdigkeit, die Verlässlichkeit der freundschaftlichen Beziehun-
gen infrage: Kann man mit Menschen befreundet sein, die Menschen verachten?
Was hat dies mit mir zu tun? Auch hier ist eine Positionierung, mehr noch: eine
doppelte Auseinandersetzung, gefordert: Man muss sich mit den Freunden, aber
auch mit sich selbst und seinen eigenen rassistischen Blickwinkeln auseinander-
setzen.
Das hiermit angedeutete Spannungsfeld ist tief im Alltag verwurzelt. Es ist
insofern verallgemeinerbar, als in den verschiedensten Kontexten vom gesell-
schaftspolitischen Engagement bis hin zum Bekannten- und Freundeskreis Situa-
tionen entstehen, welche Widersprüche aufwerfen, vermeintliche Eindeutigkeiten
infrage stellen, Grenzen markieren. Eine Grenze der skizzierten Beispiele ist die
Verachtung von Menschen. Diese Verachtung ist nicht allein eine des Denkens
oder isolierter Privatheit, sondern ist eine Art praktischen Handelns, die sich auch
in der Herausbildung konkreter Beziehungen zu anderen ausdrückt. Es wird Zu-
gehörigkeit hergestellt. Man kann auch sagen, diese Art des Handelns ist eine
Form negativer Vergesellschaftung, die auf dem Ausschluss von anderen beruht.
Die „einigen“ Leute, von denen Sandra im einführenden Zitat spricht, könn-
ten solche oder vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Auf jeden Fall deutet
die Äußerung von Sandra darauf hin, dass es Berührungspunkte mit Erfahrungen
mit der Verachtung von Menschen gegeben haben könnte, die der Impuls dafür
sein könnten, zu sagen: „Nazis sind scheiße“. Die „Einigen“, von denen Sandra
spricht, wissen, dass mit „Nazis“ verknüpfte Positionen problematische Dinge
sind und es deshalb gut ist, „Nazis“ abzulehnen.
Allerdings bleibt das Verhalten defensiv und passiv. Sandra: „[E]igentlich
hat immer keiner so richtig was gemacht“ (Sa: 177). Eine Distanzierung mit „Na-
zis sind scheiße“ bleibt äußerlich, seltsam abgetrennt und unverbindlich. Viel-
leicht: Ich bin kein „Nazi“; „Nazis“ sind andere. Entsprechend vermisst Sandra
die Konsequenz, die konkrete Auseinandersetzung, die einen Zusammenhang her-
stellt: Was hat dies mit mir zu tun? Und sie vermisst, dass eine Aktivität entwickelt
wird, die Aktivität, sich mit anderen zusammenzutun und sich einzumischen.
206 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Für Sandra ist dies alles gleichzeitig ein Ausdruck des Normalen. Die Nor-
malität, die sie beschreibt, wirft verschiedene Probleme auf. Als Problem erscheint
die Freiwilligkeit, „nichts zu tun“. Das hiermit verknüpfte Verhalten erscheint als
Form der eigenaktiven Einpassung oder Anpassung. Im Kontrast hierzu tritt die
Position von Sandra als eine hervor, die sich den Verhältnissen entgegenstellt oder
zumindest einer Oberflächlichkeit eine Ernsthaftigkeit entgegenhält. In Sandras
Perspektive erscheint so die Normalität als Verhalten der anderen. Sandras Orien-
tierung auf eine aktive Einmischung oder zumindest auf eine offensive Auseinan-
dersetzung mit „Nazis“ bleibt dabei isoliert. Beide Positionen sind Ausdruck einer
„einzunehmende[n] Lage“, einer „körperliche[n] Ausrichtung“ und „zugleich [...]
Einreihung des Körpers in die großen gesellschaftlichen ,Flüsse der Dinge‘“ (Su-
vin 2001: 1138). Darko Suvin formuliert seine Überlegung in Orientierung an
Bertold Brecht. Brecht wiederum versteht die „körperliche Ausrichtung“ und „ein-
zunehmende Lage“ als Ausdruck einer „Haltung“ (ebd.). Ihren Stoff beziehen sie
Suvin zufolge aus der gleichen Gesellschaft. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass
ein Verhalten in den Verhältnissen eine „doppelte Notwendigkeit“ nach sich ziehe,
„das Verhalten den Verhältnissen sowohl anzupassen als auch standhaft entgegen-
zusetzen“ (Suvin 2001: 1137).163 Die Dialektik dieser Bedingtheit bricht in der
Situation, von der Sandra spricht, auseinander und die Anpassung und Standhaf-
tigkeit stehen sich als ausschließende Fremde gegenüber.
In diesem Zusammenhang werden sowohl die Anpassung als auch die Stand-
haftigkeit nicht als Handlungsweisen erkannt, die beide, zwar auf unterschiedliche
Weise, aber mit den gleichen fremdbestimmten gesellschaftlichen Bedingungen
umgehen. „Nazis sind scheiße“ bildet den Knotenpunkt fremdbestimmter Mo-
mente.164 In diesem Punkt kommen sich Anpassung und Standhaftigkeit als unter-
schiedliche Strategien, um mit den gesellschaftlichen Bedingungen umzugehen,

163 Darko Suvin skizziert die „doppelte Notwendigkeit“, einer „einzunehmende[n] Lage“ im Zu-
sammenhang mit seiner Analyse des Begriffs der „Haltung“ bei Bertolt Brecht (vgl. Suvin 2001:
1138). Im Unterschied zum „bourgeois-individualistischen“ Verständnis und seinem „verinner-
lichten und isolierten Charakter (,Charakterkopf‘, ,Seelenkäse‘)“, fasse Brecht „Haltung“ als
„die körperliche Ausrichtung auf gewisse raumzeitliche Ziele und dient zugleich der Einreihung
des Körpers in die großen gesellschaftlichen ,Flüsse der Dinge‘“ (ebd.). Entsprechend: „Nicht
das Verhalten kommt aus der Anschauung, sondern umgekehrt. Es soll also die Anschauung aus
dem Verhalten kommen“ (ebd.). Wie Suvin deutlich macht, entwirft Brecht den Begriff der
„Haltung“ so als einen Gegenentwurf zu den „Naziphilosophen“ und deren „starr fixierte[m],
hierarchische[m] Haltungs-Begriff“ sowie dessen „rassisch“ aufgeladener „Bild- und Affekt-
sprache“ (ebd.: 1137).
164 Ich beziehe mich hier auf die weiter vorn im Kapitel: „Erweiterte Handlungsfähigkeit im Wider-
spruch von Selbstbestimmung und Passivierung – Notwendigkeit von Bildung“ skizzierte Prob-
lematik zur Entfremdung. Oder, wie Marcel Schmidt in Orientierung an Henri Lefebvre schreibt:
„Entfremdung [...] meint [...] einen zum Alltag gewordenen Prozess des Ersetzens [...] des Ei-
gensinns und der Eigenart“ (Schmidt 2017: 121) der Menschen, was wiederum als Stillstand und
Blockierung im Alltäglichen erlebt werde (vgl. Lefebvre [1975] 1987: 423 f.).
5.2 Sich selbst organisieren 207

nahe, ohne gemeinsame Erkenntnismomente zu entwickeln. Die Einpassung und


Anpassung erscheint als Balanceakt einer Unverbindlichkeit, sich nicht festlegen
zu müssen. Vielleicht verknüpft sich damit auch eine Idee davon, persönliche Op-
tionen offenzulassen. In einer negativen Lesart riecht es hier nach Opportunismus,
danach, das Fähnchen nach dem Wind zu drehen. Möglicherweise handelt es sich
aber auch um Unsicherheit, um Unklarheit, um eine Desorientierung. Was macht
in diesem Fall eine Desorientierung oder Verunsicherung aus?
Das Leise, Zaghafte, Zurückgehaltene oder auch Unterdrückte, das Sandra
beschreibt, „wo ein paar auch mal gesagt haben, Nazis sind scheiße“ (Sa: 176 f.),
trägt einen Widerspruch in sich. Ein paar gesagt|Nazis sind scheiße|keiner so richtig
was gemacht. Den Reibungspunkt bildet: Nazis|sind scheiße. Das Stichwort „Nazis“
steht für eine Ordnung des Lebens die alles „Menschliche verkümmern“ lässt, alles
„Zarte“ abschneidet (vgl. Adorno [1951] 2012: 44). Zuspitzend mit dem weiterfüh-
renden Gedanken von Adorno aus Minima Moralia: „In den Bewegungen, welche
die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame,
Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der faschistischen Mißhandlung. Am Ab-
sterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, dass die Dinge unterm Gesetz
ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen in
bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei’s Freiheit des Verhaltens,
sei’s an Selbständigkeit des Dingens zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt,
weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion“ (ebd.: 44). Bewegt sich
„Nazis sind scheiße“ in diesem Spannungsfeld und ist das Stichwort „scheiße“ als
die Bewertung dessen, wofür „Nazis“ stehen, als eine Ablehnung, als Kontrast oder
weiterführend als eine Kritik zu verstehen, dann zieht hier etwas herauf, was den
Erfahrungen im Alltäglichen der Gegenwart vergleichbar ist, das Abschneiden und
Unterdrücken von „Zartheit“, die Begegnung mit gewalthaften Formen der Verge-
sellschaftung, der Ausschluss, der fremdgesetzte Zweck, der Zwang, sich dem zu
fügen,|ist|scheiße.
Sandra: „halt nur so ganz normale Mitschüler und Mitschülerinnen, die halt
vielleicht, wo ein paar auch mal gesagt haben, Nazis sind scheiße“ (Sa: 175 f.).
„Scheiße“ schlägt sich flüchtig auf eine andere Seite.
Was heißt dies? Einfach mal sagen, „Nazis sind scheiße“, klingt harmlos, un-
verfänglich oder, wie weiter oben angedeutet, oberflächlich und unverbindlich. Dies
ist eine mögliche Sicht. „Nazis sind scheiße“ hat aber auch etwas Beunruhigendes
und Herausforderndes.165 Nazis|sind scheiße markiert eine Grenze oder in

165 Horst Rumpf spricht im Zusammenhang mit seiner Lerntheorie von „beunruhigenden Situatio-
nen“ (Rumpf 2010: 28 f.). Er hat diesen Begriff von John Dewey übernommen. Eine „beunruhi-
gende Situation“ kennzeichnet den Eintritt in eine Lernsituation, die sich vom „reinen Informa-
tions- und Besichtigungslernen“ dadurch unterscheidet, dass eine „offene Auseinandersetzung
mit dem beunruhigend Unbekannten“ eingegangen wird (vgl. Rumpf 2010: 31). Seine Kritik
208 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Anlehnung an Paulo Freire, eine Grenzsituation. Was meint eine Grenzsituation und
was bedeutet dies für den Gedanken von Sandra? Grenzsituationen meinen bei Paulo
Freire eine „konkrete historische Dimension einer gegebenen Wirklichkeit“, die von
den Menschen als Begrenzung erfahren wird (vgl. Freire 1973: 82). Im Unterschied
zu einer Vorstellung von Grenzen als „nicht übersteigbare [Hindernisse], wo die
Möglichkeiten enden“, meint Freire mit einer Grenzsituation „die Weise, wie sie
von Menschen in einem bestimmten historischen Moment begriffen werden: ob sie
nur als Schranken erscheinen oder als unüberwindbare Barrieren“ (ebd.). Eine
Grenzsituation bezeichnet somit ein Spannungsfeld oder eine Herausforderung
menschlichen Handelns, welches zwischen „Verneinung und Überwindung“ und ei-
ner „passive[n] Annahme des Gegebenen“ zirkuliert (ebd.).
Das Besondere hierbei ist, dass Grenzsituationen Themen enthalten, die „ent-
gegengesetzt“, „antithetisch“ sein können und komplexe Geflechte aus „Ideen,
Werten, Konzepten und Hoffnungen“ einer Epoche bilden, die „zugleich auf an-
stehende Aufgaben“ hindeuten (vgl. ebd.: 84). Und: „Die Aufgaben, die sie ein-
schließen, erfordern Grenzakte“ (ebd.: 85). Allerdings, und dies macht Freire deut-
lich, bedeutet es keineswegs, dass eine Aufgabe im Zusammenhang einer Grenz-
situation klar erkennbar sein muss; sie kann „verschleiert“ und „nicht klar begrif-
fen“ bleiben (ebd.). In dieser Situation „sind dann die Menschen unfähig, die

richtet sich gegen „Vorstellungen vom richtigen Lernen“, die nicht nur als dominante Modelle
das Lernen in der Schule strukturieren, sondern auch in „den Alltag“ und „andere Lebensberei-
che“ eingreifen. In diesem Zusammenhang droht „Wissen [...] zum Bescheidwissen zu schrump-
fen“, „Lehren [wird] zum Bescheidgeben und Lernen zum Übernehmen des in einer Gesellschaft
von den zuständigen Experten für gültig erklärtes Wissen“ (vgl. ebd.: 33). Damit sind „dem
vermittelten Wissen [...] die belebenden Fremdheitsstoffe entzogen“ (ebd.: 31). Von zentraler
Bedeutung sind für ihn daher das „Auffinden und Durcharbeiten beunruhigender Situationen“
(ebd.: 31), weil in der „Beunruhigung durch das Unerwartete [...] der Anstoß für alles spätere
reflexive Verhalten des Untersuchens und Lernens“ liege (vgl. Combe/Gebhard in Rumpf 2010:
35). Eine „Bearbeitung der Beunruhigung“ führe „über Fragen und Hypothesen schließlich zu
Handlungsversuchen“ und so „zu einer neuen Sicht der Dinge“ (ebd.). Das „Auffinden und
Durcharbeiten beunruhigender Situationen“ ist ein interessanter und zu Paulo Freires Grenzsitu-
ationen vergleichbarer Gedanke. Ich habe mich allerdings dafür entschieden Freire zu folgen, da
er die Grenzsituation selbst als widersprüchlich begreift, was dann auch bedeuten kann, dass die
darin liegenden Möglichkeiten verschleiert und ungenutzt bleiben oder als Bedrohung erfahren
werden (vgl. Freire 1973: 82 f.). Letzteren Punkt finde ich mit Blick auf Sandras Überlegungen
wichtig und weiterführend. Vergleichbar zu den „beunruhigenden Situationen“ von Horst Rumpf
und den „Grenzsituationen“ von Paulo Freire ist das Stichwort der „Diskrepanzerfahrung“ im
Kontext der Lerntheorie der Kritischen Psychologie. Interessant ist dort die Frage, in welchen
Lernkonstellationen und „jeweils konkreten Handlungszusammenhängen“ die Einzelnen „,von
mir aus‘ zu lernen beginnen“ (Holzkamp 1995: 211). Erst in diesem Zusammenhang werden die
„,äußeren‘ Lernanforderungen überhaupt als solche identifizierbar und ist [...] der mögliche Wi-
derspruch zwischen meinen subjektiven Lerninteressen und den fremdgesetzten Anforderungen
erkennbar und auf den Begriff zu bringen“ (ebd.: 212). Eine vergleichende Untersuchung mit
diesen Ansätzen wäre lohnend, kann in dieser Arbeit aber nicht erfolgen.
5.2 Sich selbst organisieren 209

Grenzsituation zu transzendieren, um zu entdecken, dass jenseits dieser Situation


– und im Widerspruch zu ihr – eine unerprobte Möglichkeit liegt“ (ebd.). Die Ge-
sellschaft ist auf der Haut spürbar, aber nicht durchschaubar. Mit „Nazis sind
scheiße“ rückt das „Nichtidentische“ als „Undurchdringlichkeit des Sozialen“ den
Einzelnen auf den Leib (vgl. Kirchhoff 2004: 86). Was die Menschen unfähig
macht, ist „naives Denken, das die historische Zeit wie ein Gewicht sieht, als die
Verlängerung des Errungenen, als Wahrung der Vergangenheit, aus der das Ge-
genwärtige normalisiert und wohlbehalten hervorgehen soll. Für den naiven Den-
ker ist das Wichtigste die Anpassung an dieses normalisierte Heute“ (Freire 1973:
76). Es ist ein Denken, das sich vom Handeln löst. Letzteres wäre dann vergleich-
bar zu dem, was Sandra als Problem skizziert, das sie „irgendwie mit einigen Leu-
ten“ (Sa: 175) hatte, „wo ein paar auch mal gesagt haben, Nazis sind scheiße, aber
eigentlich hat immer keiner so richtig was gemacht“ (Sa: 177). Dies läuft letztlich
darauf hinaus, am „garantierten Raum festzuhalten und sich ihm anzupassen“
(Freire 1973: 76).
Ist dies zumindest in der Theorie so nachvollziehbar, ergibt sich mit Blick
auf Sandra noch ein weiterer Aspekt. Was deutlich zu spüren ist: Sandras Position
„Nazis sind scheiße“, dieses „Nein“, kostet Kraft. Zu bedenken ist, dass Sandra
am Anfang ihrer Ausführungen über den Kontext der Schule spricht. Hier erschei-
nen die Räume, die „Erfahrungsräume“, im Vergleich zur Skizze der Freundschaft
weiter vorn als sehr eng. Mit Blick auf das AJU, ein alternatives, selbstverwaltetes
Jugendzentrum, den Kontext, in dem eigentlich zu erwarten gewesen wäre einen
Anschluss zu finden, Anknüpfungspunkte zu finden, die gemeinsame Erkennt-
nismomente ermöglichen oder etwas gegen „Nazis“ machen zu können, stellt sich
eine Ernüchterung ein, eine Enttäuschung: „dort kamen wir irgendwie auch nicht
so richtig rein“ (Sa: 178). Hier spricht Sandra von einem Wir. Aber auch mit den
anderen gemeinsam funktioniert es nicht, eine weiterführende Verknüpfung mit
Leuten zu finden, die vermutlich über ähnliche Erfahrungen wie sie selbst, aber
schon über eine Infrastruktur oder, etwas schlichter, über die Räume für Treffen
verfügen, um etwas machen zu können.
Allerdings fehlt die Zugänglichkeit. Es fehlen Momente der aufschließenden
„Freundlichkeit“, „Hilfreiches“ zu finden. Helga Cremer-Schäfer schreibt, dass
„Hilfreiches“ und „Freundlichkeit“ als zwei „Praktiken des sozialen Austauschs
in egalitären Solidaritäten“ gelten können (vgl. Cremer-Schäfer 2002: 217). Diese
„Praktiken des sozialen Austauschs bestehen in hilfreichen, rücksichtsvollen
Handlungen und dem Transfer von ,Gewünschtem‘ (Güter, Dienstleistungen,
Wertschätzung)“ (ebd.). Sandra: „[A]ber dort kamen wir irgendwie auch nicht so
richtig rein“ (Sa: 178). Diese Form egalitärer Solidarität scheint Sandra im alter-
nativen Jugendzentrum nicht gefunden zu haben. Dies ist auch deshalb von Be-
deutung, da Sandra hier einen Weg auf sich nimmt, in der benachbarten Kreisstadt
210 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

nach Orten zu suchen, um mögliche Anschlüsse für „Hilfreiches“ und von „Ge-
wünschtem“ zu finden. Hier bleibt der Zugang verbaut und das alternative Jugend-
zentrum wird selbst Teil einer Beschränkung öffentlicher Erfahrungsräume.
Und der öffentliche Raum verengt sich weiter: In ihrem Wohnort wird der
Jugendklub geschlossen. Eine Politik „von oben“ entzieht die Möglichkeit, sich
zu treffen, schneidet Anknüpfungspunkte ab. Was bleibt, ist nur noch der Markt,
rumsitzen. Aber auch hier, Stefan: „wo ständig was passiert in dieser Stadt, weil
es andauernd mal Übergriffe gibt, Nazischmierereien und diese Leute sich halt
einfach offen treffen können“ (S: 38-39). Oder Martin in unserem ersten Inter-
view: „Und [T.] hatte hinten am Anger schon gesagt, da hat er schon Schiss gehabt
und hat gesagt, nein bleib dort. Der hatte am vorherigen Tag schon mal irgendwie
paar draufgekriegt, weil sie mit Kassettenrecorder über den Markt gelaufen sind“
(M/b: 657-660). Und weiter: „[D]ie anderen zweie sind weitergelaufen und haben
den abgeholt, den [A.], und sind dann noch von Leuten durch die Stadt gejagt
worden, halt, wurden direkt mit Knüppeln, Baseballschlägern, weiß der Fuchs. Auf
jeden Fall irgendwelche längeren Holzknüppel“ (M/b: 663-667). Vor diesem Hin-
tergrund wird auch das Rumsitzen auf dem Markt zum Risiko. Und dann? Sandra:
„halt zuhause bleiben“ (Sa: 184). Ein Rückzug ins Private, ein Zwang zur Vereinze-
lung. Dies gilt nicht nur für Sandra, sondern ist auch den anderen, den „Einigen“,
nicht unbekannt. Dies ist ein weiterer Subtext von „Nazis sind scheiße“. Und es ist
ein Bild, dass den Ernst der Lage verdeutlicht.
Es wird zu einem Kraftaufwand, eine Position zu vertreten, die sichtbar, hör-
bar, in diesem Sinne öffentlich wahrnehmbar ist. Es ist ein Kraftaufwand, diese
Position aufrechtzuerhalten und als Teil der eigenen Überzeugungen zu vertreten.
Angesichts des Zwanghaften, des Drucks „von oben“, des Drucks zur Vereinze-
lung hin zum Privaten und des Wunschs, diesem etwas Gemeinsames entgegen-
zuhalten, von dem noch unbekannt ist, wie und was und wohin, ist das „Nein“
durch „Nazis sind scheiße“ nicht zu verachten und gering zu schätzen. Es bewegt
sich in den skizzierten Grenzen und ist in den angedeuteten Widersprüchen veror-
tet, hin- und hergerissen. „Gegen Nazis sein“ und „Nazis sind scheiße“ gehören
zusammen. „Nazis sind scheiße“ ist auch Ausdruck davon sich das eigene Leben
nicht aus den Händen nehmen zu lassen. Aus diesen Erfahrungszusammenhängen
entspringt auch „gegen Nazis sein“. „Gegen Nazis sein“ ist Ausdruck einer Zu-
rückweisung gesellschaftlicher Zumutungen und gleichzeitig eine Perspektive,
aufrecht zu gehen. „Gegen Nazis sein“ steht für die Seite des Handelns, die Ver-
suche, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen.
An dieser Stelle sind die Gedanken von Sandra aus dem einführenden Zitat
wieder auf zu nehmen:
„Es [war] dann für mich halt einfach irgendwie auch schön, mal eine Gruppe zu ha-
ben, wo man weiß, man hat irgendwie die gleichen Ziele, man kann zusammen was
5.2 Sich selbst organisieren 211

machen, auch weil dann der Jugendklub zu war und wir irgendwie eh unabhängig
auch von dem Verein gesucht haben, wo wir uns jetzt überhaupt noch treffen können,
weil dann irgendwie nur noch auf dem Markt rumsitzen möglich war oder halt zu
Hause bleiben. Also wollten wir uns sozusagen eh mit den Leuten, die da in dem
Jugendklub waren, was Neues suchen und da war das sozusagen dann ideal, dass es
irgendwie auch einen Verein geben sollte, der auch ja dann eine Räumlichkeit
bräuchte und ja. Ach, ich glaube, so zum Großteil war das einfach nur dieses gemein-
sam irgendwas gegen die Nazis machen können, um irgendwie zu zeigen, dass es halt
auch noch was anderes gibt“ (Sa: 179-190).
Sandra macht auf verschiedene Notwendigkeiten aufmerksam, die sich als wichtig
für ihre Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen sich verengender öffentlicher
Erfahrungsräume erweisen. Von zentraler Bedeutung ist dabei: „mal eine Gruppe
zu haben, wo man weiß, man hat irgendwie die gleichen Ziele, man kann zusam-
men was machen“ (Sa: 179 f.). Sandra spricht hier von der Möglichkeit, mehr
noch: von der Notwendigkeit, „Experimentierräume“ zu schaffen, in denen sie
„selbst herausfinden können, was ihnen lebenswert ist, ohne in die Vertikale von
Herrschaft eingebunden zu werden“ (Hirschfeld 2001: 24f). „Nazis sind scheiße“
und „gegen Nazis sein“ bilden hierbei Knotenpunkte von Erfahrungen mit gesell-
schaftlichen Widersprüchen. Sandra und die anderen müssen durch diese hin-
durchtreten, um, wie Sandra sagt, „irgendwie zu zeigen, dass es halt auch noch
was anderes gibt“ (Sa: 189 f.). Dieses Andere sind Elemente einer anderen Kultur,
die es im gemeinsamen Handeln zu entwickeln gilt. Sandra unterstreicht die Not-
wendigkeit „egalitärer Solidaritäten“. Diese zu erzeugen, ist eine Frage der Praxis.
Grundelemente sind dabei Solidarisierungen mit anderen – „ohne Vorbedingun-
gen und ohne Erwartung einer unmittelbaren Gegenleistung“ (Cremer-Schäfer
2002: 217), gebunden an „Zugänglichkeit“, auf der Grundlage wechselseitiger Be-
ziehungen sowie des gemeinsamen „Interessiert Seins“. Ist dies die Perspektive
und greifbare Möglichkeit, kann Hilfreiches hervorgebracht werden, um mit den
eigenen Händen in Widersprüchen bestehen zu können. Es braucht dafür prakti-
sche Handlungsalternativen, welche für die Einzelnen sinnstiftende Elemente be-
reithalten, deren Besonderheit darin besteht, Perspektiven entwickeln zu können,
die als „Nichtanpassungen“ Lebendiges in die Widersprüche hineintragen und so
eine Dynamik entfachen, bei der sich „das individuell Mögliche und das individu-
ell Unmögliche einander gegenüberstehen“ (Lefebvre 1987: 313 f.). Es handelt
sich dabei um Momente, „wo die Geschichte des Individuums in der Geschichte
der Gesellschaft zutage tritt“ (ebd.). Hierbei entstehen Situationen „weitertrei-
bende[r] Widerstände und Fragen“, mit denen sich dann reale Handlungsmöglich-
keiten verknüpfen und „gesellschaftliche Veränderung als eine öffentliche“ be-
ginnt (vgl. Hirschfeld 2015b: 154).
212 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

5.2.3.4 Weiterer Gedanke: Die Einigen|Nazis sind scheiße|zu Problemen,


„etwas dagegen zu sagen“

An diesem Punkt ist noch einmal Sandras „aber eigentlich hat immer keiner so
richtig was gemacht“ (Sa: 177) anzuschauen. Die Form des Defensiven und Pas-
siven der anderen, der „Einigen“, die auch mal gesagt hätten, „Nazis sind scheiße“,
kann auch noch eine andere Motivation haben. Und, es ist nicht nur ein Problem
der anderen. Im Gegenteil, ein Teil der Interviewten kennt das Defensive und Pas-
sive aus eigener Erfahrung. Damit ist dieses Thema auch ein Reibungspunkt der
Gruppe.
Weiter oben habe ich geschrieben, dass Prozesse der Passivierung eine Form
der Eigenaktivität abbilden. Das Besondere hierbei ist, dass die Form der Eigen-
aktivität zu einer Einpassung in gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse führt,
ohne die damit verbundenen hierarchischen Verhältnisse aufzuheben. Trotz dieser
Widersprüchlichkeit, kann Eigenaktivität auch eine tastende, suchende, die Gren-
ze befühlende, die Grenze berührende Bewegung sein, die Grenzen kaum wahr-
nehmbar millimeterweise verschiebt, scheinbar unsichtbar bleibt, aber trotzdem in
einem Umfeld verschlossener Räume, verengter Erfahrungsräume, selbst eine Ab-
grenzung markiert und so den Moment eines anderen, die Möglichkeit einer Um-
formung des „erlittenen Raumes“, enthält, auf diese Weise den Blickwinkel einer
anderen Erfahrung sichtbar werden lässt. Dies ist natürlich für Sandra nicht zu-
frieden stellend. Vermutlich ist es auch für die „Einigen“ nicht zufriedenstellend.
Es deutet aber darauf, womit Sandra und die „Einigen“ konfrontiert sind. Die Kon-
zentration auf „Nazis sind scheiße“ ist kein freiwillige. Es sind im Alltäglichen
eingeschriebene Situationen, die Sandra und den anderen ein permanentes Han-
deln zwischen Fremd- und Selbstbestimmung abverlangen.
Im Sinnbild „Nazis sind scheiße“ drücken sich Dilemmata aus. Stefan macht
eine Dimension wie folgt deutlich.
Stefan: „Ich habe ja diese Stadt so wahrgenommen, dass die Leute genau wussten,
dass es da Nazis gibt, dass es, es haben ja auch viele Leute klammheimlich mit diesen
Menschen sympathisiert. Ja, klar, sie kommen ja meistens aus den gleichen, oder sind
dann Teile der Verwandtschaft so, wie ich schon gesagt habe mal, da gibt es keine
Nazis, sondern die Nazis sind halt höchstens mal ohne den Namen, wenn halt was
Schlimmes passiert, wenn es in der Zeitung steht, dann findet man auch die Nazis
scheiße, [...] ansonsten sind halt die Nazis die Nachbarsjungs, der eigene Sohn, der
Onkel, der Vater usw. usf. und dieser ganz eklige Status quo, wo ständig was passiert
in dieser Stadt, weil es andauernd mal Übergriffe gibt, Nazischmierereien und diese
Leute sich halt einfach offen treffen können und damit quasi auch eine Gefahr sind,
das öffentlich zu machen“ (S: 30-40).
5.2 Sich selbst organisieren 213

Die anderen, die „Nazis sind scheiße“ sagen, aber nichts machen, verweisen auf
ein (verallgemeinerbares) Dilemma. Sie stehen unter dem Zwang, sich nicht fest-
legen zu können. Oder vorsichtiger: Sie können sich nicht festlegen, da angesichts
der Verknappung öffentlicher Erfahrungsräume eine Festlegung auf eine sichtbare
(öffentliche) Position, gleichzeitig der Ausschluss aus den Zusammenhängen, in
denen sie sonst eingebunden sind, oder zumindest Konflikthaftes droht. Berück-
sichtige ich hierbei die Skizze von Stefan, heißt hier „Nazis sind scheiße“ mög-
licherweise auch, der Nachbar, der Onkel, Bruder usw. sind Teil des Problems.
Zumindest in der Phantasie ist auch der Ausschluss aus dem Privaten vorstellbar.
Damit kann „Nazis sind scheiße“ auch zu einer existenziellen Frage werden, zu-
spitzend eine der familiären und sozialen Absicherung, die Drohung einer sozialen
Ausschließung, welche die Frage ökonomischer Abhängigkeiten einschließt. Und
diese zu verlieren, ist im höchsten Grade beunruhigend und in unserer Gesellschaft
ein hohes Risiko.
Vor allem dann, wenn keine Anknüpfungspunkte, kein anderer Zusammen-
hang besteht, der das konflikthafte Potenzial abfedert, aufnimmt, ausgleicht, ver-
stehbar macht. Auf jeden Fall macht die Überlegung von Stefan eine Dynamik
kleinräumlicher sozialer Kontrolle deutlich, einem „ganz eklige[n] Status quo“ (S:
37). Die Kompliziertheit dieser Zusammenhänge spitzt sich dabei auch insofern
zu, dass mit dem Nachbarn, dem Onkel, dem Vater usw. die Erfahrung der Unter-
drückung von „Zartheit“, die Begegnung mit gewalthaften Formen der Vergesell-
schaftung, der Ausschluss, der fremdgesetzte Zweck, der Zwang dem sich zu fü-
gen ist, mit konkreten Personen in Verbindung gebracht werden kann. Es können
auch die Freunde sein. Und dann? Noch einmal Martin:
„Kleines Beispiel: […] Es ist ein Pub in [X]. Da waren wir eigentlich auch regelmäßig
zu sämtlichen Feiern und sonst was. Hier waren wir eigentlich immer. [...] Da war ein
Keller unten drin, wurden dann Landser Lieder gesungen und sonst was. Ich war zwar
immer gegen den Rechtsextremismus, aber zum einen war es im Freundeskreis, dann
waren die Leute teilweise trotzdem dabei. Das ist die eine Sache und die andere Sache
ist ganz einfach die, dass man das irgendwo dadurch als normal empfunden hat. Man
hat zwar drüber diskutiert, war zwar dagegen, aber hat gesagt, man hat zwar was ge-
gen die Meinung, aber nicht gegen die Person. Man hat es durchaus als Spaß angese-
hen, so ein Lied mal mitzusingen. Das hab ich selber mal gemacht. Einmal hab ich
das gemacht. Bis dann irgendein Freund gesagt hat: Bist du bescheuert. Was macht
machst du da eigentlich. Da hab ich gesagt: Oh, nein, da hab ich mich selber scheiße
gefühlt, muss ich sagen. [...] Wenn so was möglich ist und es sagt keiner was dagegen
und, wie gesagt, es saßen auch andere Leute dabei, die nicht rechts waren, die haben
mitgesungen, spaßeshalber. Es sind ja schöne Lieder, kann man ja schön mitsingen,
so ungefähr. Man muss es ja nicht ernst meinen, man weiß ja, wie man ist, so unge-
fähr. Aber man verinnerlicht das trotzdem. Und das ist der Punkt. Dann muss man
nicht gleich rechts sein oder sich als rechts bezeichnen. Aber das Ding ist halt, man
214 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

gewöhnt sich dran an die Sachen, an die Äußerung. Es verrückt irgendwo in die Nor-
malität rein und da in die Mitte rein und man sieht ja nicht mehr diesen negativen
Hintergrund. Das verliert sich irgendwo. Und dann ist der Punkt ganz […], wenn sol-
che Sachen entstehen, wenn Alkohol ins Spiel kommt, wo man sowieso ein bisschen
Hemmung fallen lässt und dann im Freundeskreis einige anfangen, da Parolen zu ru-
fen und Stimmung zu machen. Man muss ja nicht selber jemanden schlagen oder sonst
etwas. Aber mitreden und grölen und so was in der Richtung, so ein bisschen Grup-
penzwang dann auch. Macht ja auch Spaß, so ungefähr“ (M/b: 255-279).166
Die Situation, von der Martin spricht, ist widersprüchlich und konfliktreich. Mar-
tin verdeutlicht eine weitere Facette von dem, was Sandra und Stefan als Aspekte
der Normalität angedeutet haben. Die Stichworte „Nazis sind scheiße“ und „gegen
Nazis sein“ geraten vor dem Hintergrund der Gedanken von Martin ins Schwim-
men. Reibungspunkt bildet ein Song der Band Landser. Landser ist nicht irgend-
eine x-beliebige sogenannte Rechtsrock-Band. Die Texte von Landser sind nazis-
tisch, faschistisch, rassistisch, antisemitisch und voll tiefster Verachtung für Men-
schen.167 Dies weiß Martin. Dies wissen auch die anderen Leute aus dem Freun-
deskreis. Hier gilt es zunächst für Martin, es „als Spaß ansehen, so ein Lied mal
mitzusingen“ (M/b: 262 f.). Mitmachen. Und es gibt Leute im Freundeskreis, die
mit Landser mehr verbinden, die Martin im Spektrum Rechtsextremismus veror-
tet. Der Freundeskreis selbst erweist sich als Spannungsfeld. In diesem Zusam-
menhang sagt Martin: „Ich war zwar immer gegen den Rechtsextremismus“, aber
durch den Freundeskreis hat es Martin: „als normal empfunden“ (M/b: 260).
Wie ich weiter vorn deutlich gemacht habe, ist Rechtsextremismus eine po-
pulistische Kategorie der Politik, bei der die soziale Welt in eine „normale“ Mitte
und, hiervon abgespalten, in „extreme“ Ränder aufgetrennt wird. Die Mitte (als
das Gute) kann dabei scheinbar klar und deutlich von den Rändern (dem Bösen)
unterschieden werden. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Kategorie des
Rechtsextremismus als untauglich, um die Situation zu begreifen, von der Martin
spricht: „[M]an [muss] nicht gleich rechts sein oder sich als rechts bezeichnen“
(M/b: 271). Allerdings erfüllt das Stichwort des Rechtsextremismus, wie es Martin

166 Auch Markus berichtet von einer ähnlichen Erfahrung, die er gemeinsam mit Martin gemacht
hat: „Ich bin selber mit Martin, früher sind wir auch am Bahnhof rumgezogen und haben irgend-
welche, na ja, nicht faschistische Lieder, aber irgendwie solche, na, es waren schon bissel rechte
Lieder, aber das war uns damals halt nicht wirklich bewusst“ (Ma: 773-776).
167 Landser waren tief in das nazistische Nazi- und Musiknetzwerk Blood and Honour eingebunden.
Mitglieder der Band wurden wegen entsprechender Aktivitäten strafrechtlich verfolgt und ver-
urteilt. Die CDs heißen etwa „Republik der Strolche“, „Zigeunerfahrt“, „Final Solution – End-
lösung“, „Das Reich kommt wieder“, „Deutsche[r] Wut-Rock gegen oben“ oder „Tanzorchester
immervoll“. Bekannt wurde Landser unter anderem auch durch ihre Vernutzung bekannter Me-
lodien etwa von den Beatles, die sie mit ihren Texten überschrieben haben. Vergleiche hierzu
etwa: http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/41241/landser, abgerufen am
09.08.2017.
5.2 Sich selbst organisieren 215

gebraucht, für die skizzierte Situation den Zweck, sich zu distanzieren und gleich-
zeitig im Kontrast die Widersprüchlichkeit des eigenen Handelns deutlich zu ma-
chen: zwar gegen den Rechtsextremismus|aber. Das „Aber“: die eine Sache|es war
im Freundeskreis|die andere Sache|dadurch als normal empfunden. Das „Zwar“:
zwar drüber diskutiert|zwar dagegen|man hat zwar was gegen die Meinung.
Aber|zwar. Martin: „Das hab ich einmal selber gemacht“ (M/b: 263). Martin ringt
mit sich. Er hat sich auf Freunde eingelassen. Er hat mit ihnen Beziehungen aus-
gebildet. Er ist Teil von ihnen, teilt mit ihnen den Kreis von Freunden, teilt mit
ihnen das gemeinsame Tun als Freunde. Das gemeinsame Tun als Freunde schließt
hierbei die Distanzierung gegenüber nazistischen, antisemitischen und rassisti-
schen Positionen ein und erlaubt gleichzeitig, Songs mit eben diesen Inhalten zu
teilen, gemeinsam zu singen. Martin beschreibt eine Strategie, wie er damit um-
geht. Er unterscheidet zwischen der Meinung und der Person an sich. Im Gesamt-
eindruck erscheint dabei der Song von Landser als Ausrutscher, als zwar nicht zu
ignorierende Größe, aber als Moment, der die Balance der Beziehung unter Freun-
den nicht aus dem Gleichgewicht bringt. Das Gleichgewicht wird hierbei durch
Martin aktiv hergestellt, in dem er seine Kritik unterdrückt, sich selbst unterdrückt
und mitmacht. Er wird passiv. Vergleichbar ist dies mit dem, was Paulo Freire
naives Denken genannt hat. Martin steht hier im Widerspruch, sich nicht tiefer
gehend mit den Freunden auseinanderzusetzen, den Kontrast aufzumachen, der in
den Songtexten steckt, die Verachtung, die Vernichtung von Menschen zu prob-
lematisieren, seine eigene Unterdrückungsarbeit zu thematisieren. Er weicht dem
Konflikt aus. Er weicht dem Gewalthaften des Konfliktes aus. Er weicht der Un-
gewissheit aus. Es ist offen, wohin eine Auseinandersetzung führt. Und es ist of-
fen, wie die Auseinandersetzung im Zweifel geführt werden könnte. Gemessen an
den Songtexten von Landser zieht hier eine düstere Ahnung herauf, eine Ahnung
der Ausgrenzung, der Gewalt, dem Ende von Freundschaft, dem Ende von Zuge-
hörigkeit, dem Ende von Zugehörigkeit zu einem sozialen Zusammenhang. Un-
terstrichen wird dies dadurch, dass das Gewalthafte, das hierin liegt, Martin in
gewisser Weise selbst vorweggenommen hat und mit der Unterdrückung von sich
selbst auch gegen sich selbst richtet. Auch deshalb weiß er, worum es gehen kann.
Gleichzeitig ist seine Aktivität auch der Versuch, die Beziehungen zu retten.
Ihm stehen unter den gegebenen Umständen scheinbar keine anderen Mittel zur
Verfügung. Er ist auf sich selbst zurückgeworfen, vereinzelt. Die Anknüpfungs-
punkte zu den anderen findet er nur durch Unterordnung, durch das Zurückstellen
eigener Bedürfnisse. An diesem Punkt isoliert, wird er sich selbst zum Material,
das er formt. Er trennt sich selbst auf in Abteilungen, vergleichbar zu den weiter
vorn umrissenen Überlegungen zum Alltagsverstand, die ihn unter den skizzierten
Umständen funktionieren lassen. Seinem aktiven Einsatz für die freundschaftli-
chen Beziehungen und eine damit verbundene Solidarisierung „geht eine tiefere
216 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

strukturelle Einheit verloren“ (Willis 1982: 216). Sein aktiver Beitrag ist einer, der
den Zusammenhalt stärkt, aber gleichzeitig einen Zusammenhalt einrichtet, der
auf eine Hierarchisierung und Unterordnung baut. In diesem Moment schwindet
das Öffentliche als Perspektive eines egalitären, solidarischen Zusammenhangs.
Die Idee einer Privatheit, bei der das Private „keine Einmischung in das Handeln“
duldet, gewinnt an Dominanz (vgl. Geuss 2013: 111). Dies wäre dann auch zu
dem vergleichbar, was Martin als den Moment beschreibt, in dem der negative
Hintergrund verschwindet und zur Normalität wird: „Es verrückt irgendwo in die
Normalität rein und man sieht nicht mehr diesen negativen Hintergrund. Das ver-
liert sich irgendwo“ (M/b: 272 f.). Die Normalität ist dann die Trennung der Per-
sönlichkeit von der Meinung. Beides sind verschiedene, entgegengesetzte Dinge.
Die Meinung wird als privat behandelt, als eine Meinung, die dem Einzelnen zu
überlassen ist und in die man sich nicht einmischt.
Die skizzierte Trennung ist für Martin eine praktische, eine, die aus seinen
sozialen Zusammenhängen entsteht. Für den skizzierten Zusammenhang und
Martins Situation bedeutet es deshalb auch, dass er eine Chance verspielt hat, sich
nicht nur mit den rassistischen Anteilen der anderen auseinanderzusetzen, sondern
auch mit den eigenen rassistischen Anteilen, mit dem eigenen Verstricktsein in die
Gesellschaft.
Im Beispiel von Martin findet sich auch das Gegenstück, die Perspektive zur
Aufhebung des Getrennten. Interessant ist deshalb auch seine Einlassung: „Bis
dann irgendein Freund gesagt hat: Bist du bescheuert? Was machst du da eigent-
lich? Da hab ich gesagt: Oh, nein, da hab ich mich selber scheiße gefühlt, muss
ich sagen. [...] Wenn so was möglich ist und es sagt keiner was dagegen und, wie
gesagt, es saßen auch andere Leute dabei, die nicht rechts waren“ (M/b: 264 f.).
Martin blickt in die Tiefe eines Abgrundes; ihm wird klar, in welcher Situation er
sich eingerichtet hat. Und er stellt fest, dass ihm dies in der Situation selbst nicht
präsent, nicht gegenwärtig, nicht bewusst war. Auch hier eine leise Abwehr; auch
andere Leute handeln wie er selbst. Dies macht die Normalität aus, von der Martin
spricht. An diesem Punkt wird deutlich, dass die Trennung von Persönlichkeit und
Meinung nicht nur ihre Gültigkeit mit Blick auf die Freunde von Martin hat:
„[M]an hat zwar was gegen die Meinung, aber nicht gegen die Person“ (M/b: 262).
Dies trifft gleichsam auf ihn selbst zu. Er kann in der Situation nur bestehen, indem
er sich selbst zerlegt in Person und Meinung. Eine Meinung braucht er dann im
skizzierten Zusammenhang nicht zwingend zu vertreten. Oder er kann seine Mei-
nung vertreten und gleichzeitig gegenteilige Positionen einnehmen: „Man hat
zwar drüber diskutiert, war zwar dagegen, aber hat gesagt, man hat zwar was ge-
gen die Meinung, aber nicht gegen die Person. Man hat es durchaus als Spaß an-
gesehen, so ein Lied mal mitzusingen“ (M/b: 261 f.). Die Trennung von Person
und Meinung setzt den Widerspruch aus.
5.2 Sich selbst organisieren 217

Erst irgendein Freund bricht in die Logik dieses Musters ein: „Bist du be-
scheuert“ (M/b: 264). Es kommt zur Verunsicherung. Aus den Tiefen meldet sich:
„immer gegen Rechtsextremismus“, „war zwar dagegen“, „man hat zwar was ge-
gen die Meinung“. Die Trennung kommt in Bewegung, verliert ihr Gleichgewicht.
Die Zurückhaltung des Zwar|Aber schwindet. Und: gegen|dagegen|gegen die Mei-
nung treten unangenehm herausfordernd in den Vordergrund: „hab ich mich selber
scheiße gefühlt“.
Besonders wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang der Freund. Of-
fensichtlich ist auch die Beziehung von Martin zum ihm sehr wichtig. Martin er-
fährt durch sie nicht nur eine Intervention, die ihren Ausdruck in der Beschämung
findet: „hab ich mich selber scheiße gefühlt“ (M/b: 265 f.). Eine Beschämung
muss nicht zwingend eine Herstellung eines Zusammenhangs, eine Überbrückung
der skizzierten Trennungen nach sich ziehen. Sie kann auch eine Passivität ver-
stärken und zur weiteren Isolation führen. Der Freund: „Was machst du da eigent-
lich?“ (M/b: 265). Das Fragende hält „Hilfreiches“ bereit, um die Situation, in der
sich Martin bewegt, offenzulegen und anschaulich zu machen. Möglicherweise
verknüpfen sich mit dem Freund auch andere Erfahrungszusammenhänge, etwa
konkrete Erfahrungen mit anderen Formen freundschaftlicher Beziehungen, die
im Moment der Intervention einen Kontrast bilden, die Möglichkeit offenlegen,
dass freundschaftliche Beziehungen auch etwas anderes bedeuten können, andere
Beziehungsmöglichkeiten und damit verbundene Gemeinsamkeiten bereithalten,
bei denen die wechselseitig hilfreichen Dinge im Mittelpunkt stehen. Mit dem
Einwurf des Freundes werden andere Möglichkeiten kultureller Beziehungen
denkbar, praktisch greifbar. Aber Martin: „wenn sowas möglich ist und es sagt
keiner was dagegen“ (M/b: 266 f.). Martin unterstreicht die Bedeutung, „etwas
dagegen sagen“. In diesem Sinne macht Martin auch einen Lernprozess deutlich.
Er hat erkannt, wie wichtig es ist, (wenigstens) etwas dagegen zu sagen, die Dinge
nicht einfach unhinterfragt stehen zu lassen. Die Bedeutung liegt darin, die Stille
der Normalität zu unterbrechen und dabei gleichzeitig um das eigene Verstrickt-
sein in die Verhältnisse zu wissen.
Ich habe mich dazu entschlossen, meine Interpretation von Martin so stehen
zu lassen. Nachdem ich sie geschrieben hatte, nahm ich Henri Lefebvres Kritik
des Alltagslebens in die Hände, um noch einmal über das Alltägliche zu lesen. Er
skizziert in seiner Untersuchung verschiedene Schichten des Alltagslebens, wel-
che ineinandergreifend einen Prozess der Bewusstwerdung der Einzelnen und ih-
res Verstrickseins in die gesellschaftlichen Verhältnisse beschreibt. Im Grunde be-
schreibt Martin genau einen solchen Prozess, der erst am empirischen Beispiel
nachvollziehbar wird und den Lefebvre in abstrahierter Form so umreißt: „Erste
Schicht - [Das Individuum] widerstrebend [...] sperrt sich gegen störende Fragen.
Es umgeht Probleme, hält sich an Banalitäten, die anerkannten Normen der
218 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Kommunikation und der trivialen Verhaltensweisen. Es ist zugleich abgeschlos-


sen in sich selbst und platt gesellschaftlich. Es empfindet eine große Verlegenheit
gegenüber dem Außen“ (Lefebvre 1987: 313). Und die „Zweite Schicht – ein un-
klares Unbehagen führt zu heftigen Reaktionen [...]. Probleme und Fragen treten
hervor, mit den tastenden und unzusammenhängenden Versuchen zu einer Ant-
wort“ zu finden (ebd.). Dabei bewegt sich das Individuum in „Modelle[n], Nor-
men, Werten, Haltungs- und Verhaltenshierarchien“ derjenigen Gruppen, die „das
Individuum am ehesten für sich gelten lässt“ (ebd.). Mit der „Dritten Schicht [...]
gelangt man zu einer tieferen Sphäre, zu einem affektiven Kern [...]. Die ist die
Sphäre der Nichtanpassung, der unklaren Verweigerung und der unbemerkten
Ausfälle, der Widerstände und Verkennungen. Sobald man zu dieser Sphäre vor-
dringt, enthüllt sich die dramatische, aber im allgemeinen entdramatisierende Lage
des Individuums in der Gesellschaft [...]. In dieser Sphäre läuft der Prozess der
Entfremdung und des Kampfes gegen Entfremdung, der Realisierung von Unvoll-
ständigkeit, der (teilweisen) Befriedigung und (teilweisen) Frustration. Aus dieser
Sphäre kommen die Projekte, die Wachträume“ und es treten „das individuell
Mögliche und das individuelle Unmögliche einander gegenüber“ (ebd.: 313-314).

5.2.4 Eine „Basis“ sich zusammenzutun – Bedeutungszusammenhang Verein

Wie ich schon im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Gartenlaube und zum
Lagerfeuer angedeutet habe, entwickelte die Gruppe am Lagerfeuer konkretere
Projektideen und diskutierte Fragen, wie sie diese als Gruppe realisieren könnten.
Hierbei entwickelte sich die Idee, einen Verein zu gründen. Dabei gilt der Verein
als eine weiterentwickelte Basis, auf deren Grundlage kulturelle und politische
Veranstaltungen organisatorisch getragen werden können. Vor diesem Hinter-
grund verweisen die Interviewten auf verschiedene Elemente, die für sie als tra-
gende Bestandteile ihres Vereins wichtig waren.
Doch bevor ich auf diese zu sprechen komme, möchte ich mir kurz Gedanken
darüber machen, was mit dem Stichwort einer „Basis“ im Diskurs von Intellektu-
ellen gemeint ist. Ich denke hier an Begriffe wie „Rohstoff“, „Ressource“ oder
„Werkzeug“. Diese Begriffe charakterisieren vor allem Anknüpfungspunkte und
Handlungsmöglichkeiten „von unten“, also die Mittel und Materialien, die Men-
schen nutzen oder herstellen, um eine politische Handlungsfähigkeit zu erlangen.
„Rohstoffe“, „Ressourcen“ oder „Werkzeuge“ bilden eine Grundlage oder Basi-
selemente für die Selbstorganisation, wie ich sie hier in dieser Arbeit diskutiere.
Oskar Negt und Alexander Kluge haben den Begriff vom „Rohstoff des Po-
litischen“ geprägt. Ich möchte die weiter vorn erläuterten Gedanken hierzu an die-
ser Stelle nicht wiederholen. Wichtig finde ich aber, dass Oskar Negt und Alexan-
der Kluge mit dem Begriff „Rohstoff“ davon sprechen, dass das Politische nicht
5.2 Sich selbst organisieren 219

als fertiger Zusammenhang „von oben“ zu denken ist, sondern als Zusammen-
hang, der von den Leuten hergestellt wird. Den „Rohstoff“ bilden unbearbeitete
„menschliche Haltungen, Energien, Gefühle, Hoffnungen, Träume, Ängste und
Befürchtungen“ (Hirschfeld 2015b: 141). Die Verarbeitungsweisen hin zum Poli-
tischen sind dabei widersprüchlich und können befreiende oder unterdrückende
Formen annehmen.
Ähnlich spricht Heinz Steinert mit Blick auf die Jugendbewegung der 1960er
– Jahre von „politischen Ressourcen“ (Steinert 1984: 428 f.).
Die in dieser Zeit entstandene „Subkultur“ war ein „Rückhalt“ der Jugend,
verbunden mit der Möglichkeit, unabhängig „von den traditionellen Mitteln der
politischen Artikulation“ eigene Ausdrucksformen zu entwickeln (vgl. Steinert
1984: 429). Eine Besonderheit bestand darin, dass sich „die Jugendkultur [um öf-
fentliche Orte] organisierte“ (ebd.). „Öffentliche Plätze“, „Veranstaltungen“,
„Szene-Lokale der Subkultur“ wurden zu Treffpunkten und Orten des Austau-
sches (vgl. ebd.). Auch „Universitäten mit ihrer studentischen Infrastruktur“ wa-
ren von großer Bedeutung (ebd.). Diese Orte der Subkultur entwickelten sich als
Knotenpunkte einer „Infrastruktur“ und wurden zu wichtigen „Stützpunkten“ des
informellen Austausches (ebd.). In diesem Sinne waren diese „Stützpunkte“ selbst
Ressource sowie ein Ort, an dem verschiedene andere Ressourcen gefunden wer-
den konnten.
Heinz Steinert schreibt: „Diese Infrastruktur mit ihren ‚Stützpunkten‘ ist des-
halb so wichtig, weil dort unter ‚Gleichgesinnten‘ die sonst gegebene Unsicherheit
einer feindseligen Umwelt gegenüber wegfällt, weil hier Mut geschöpft werden
kann, den man braucht, weil hier Umgangsformen gepflegt und weiterentwickelt
werden können, auf die man Wert legt, weil hier Ideen entstehen und organisiert
werden können“ (ebd.). Die „Stützpunkte“ bilden Orte „des erleichterten Kontakt-
aufnehmens und des gegenseitigen Aushelfens“ (ebd.). Die „Stützpunkte“ bilden
Orte informellen Austausches; es werden „Informationen vermittelt“; in Gesprä-
chen wird „ihre Interpretation ausgehandelt“ und „die Richtigkeit der Interpreta-
tion“ geprüft (ebd.). Die „Stützpunkte“ sind lebendige Orte einer Überschneidung
von Kultur und Politik, deren Besonderheit darin besteht, eine „Unabhängigkeit
von den etablierten Parteien und sonstigen Organisationen durchzuhalten“ (ebd.:
430). Im Zusammenwirken dieser Möglichkeiten entwickelte sich eine politische
Handlungsfähigkeit „von unten“. Deshalb bezeichnet Heinz Steinert diese Mög-
lichkeiten auch als „politische Ressourcen“ (ebd.: 428).
Heinz Steinert schreibt dies 1984. Obwohl sich seit 1984 die Ausdrucksfor-
men politischer Selbstorganisation „von unten“ stark verändert haben, scheint mir
seine Begrifflichkeit auch heute noch hilfreich. Begriffe wie „politischen Res-
source“ oder „Stützpunkte“ sind auch deswegen aktuell, da die „Auseinanderset-
zungen um diese Ressourcen“ auch heute geführt werden, als Kämpfe z. B. „um
220 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

die Benützbarkeit von Plätzen“ oder „um politische Instrumente“ (vgl. ebd.). Sol-
che Begriffe sind auch insofern wichtig, als wie Jan Rehmann deutlich gemacht
hat, der Fokus der gegenwärtigen Versuche, Bewegungsformen „von unten“ (wie
etwa Occupy Wall Street) zu beschreiben, eher oberflächlich bleiben und die kon-
kreten Werkzeuge, welche Handlungsmöglichkeiten „von unten“ erzeugen und
gleichzeitig Handeln stabilisieren können, nicht erfassen (vgl. Rehmann 2012).
Dabei sind die „Stützpunkte“ und ihre Ressourcen einem Druck „von oben“ aus-
gesetzt. Sie erscheinen von dort aus als gefährlich. Heinz Steinert: „Was als ge-
fährlich und bedrohlich erscheint, ist offensichtlich die autonome Infrastruktur,
die ,die Subkultur‘ sich aufgebaut hat, ist die Tatsache, dass sich hier ein Segment
der Bevölkerung, dem es offenbar nicht zusteht, selbständig macht“ (Steinert
1984: 431).168 „Politische Ressourcen – von unten“ sind demnach umkämpft.
Einen anderen Begriff, um „Ressourcen“ oder „Rohstoffe“ einer Handlungs-
fähigkeit „von unten“ zu beschreiben, wählen Les Back und Shamser Sinha im
Kontext einer Auseinandersetzung mit postkolonialen Diskursen. Sie untersuchen
in einem Artikel Erfahrungen von jungen Migranten empirisch. Les Back und
Shamser Sinha schreiben: „Die jungen Migrantinnen und Migranten, die London
als eine zerrissene Stadt erfahren – vom popularen, gegen die Einwanderung ge-
richteten Ressentiment bis hin zur institutionalisierten Marginalisierung, die ihnen
eine legale Arbeit vorenthält und sie zum Warten auf die Bearbeitung ihres Asyl-
antrages zwingt –, entwickeln gleichwohl eine konviviale Multikultur“ (Back/Sin-
ha 2016: 527).169

168 Bringen einerseits die Bewegungen „von unten“ Möglichkeiten hervor, um „die Organisations-
und Konfliktfähigkeit der die Bewegungen tragenden Interessen“ zu erzeugen, entstehen gleich-
zeitig Situationen, die die „vorhandenen Ressourcen“ verbrauchen können (vgl. Steinert 1984:
533). „Erfolgreiche und weiterhin vorhandene Ressourcen [werden] weiterhin eingesetzt“;
gleichzeitig besteht ein „Innovationsdruck“, Ressourcen „effektiver zu machen“ oder gar neue
„politische Ressourcen“ zu erschließen und so das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten zu
erweitern (vgl. ebd.). Heinz Steinert schreibt diese Überlegungen als Teilkapitel des Buches
„Protest und Reaktion“ nieder, als eine Analyse der „[s]ozialstrukturelle[n] Bedingungen des
‚linken Terrorismus‘ der 70er Jahre. Aufgrund eines Vergleichs der Entwicklungen in der Bun-
desrepublik Deutschland, in Italien, Frankreich und den Niederlanden“ (Steinert 1984). Von be-
sonderer Bedeutung waren deshalb „Elemente der Studentenbewegung und ihrer Taktiken der
begrenzten Regelverletzung“ sowie „anti-autoritäre Taktiken“; darüber hinaus als „neue politi-
sche Ressourcen“: „der Straßenkampf, die Bildung von Parteien mit mehr oder weniger Kader-
charakter, die Betriebsarbeit, der lange Marsch durch die Institutionen, der Ausbau der Sub- und
Alternativkultur, die Resignation und der Rückzug ins Private“ sowie der „Terrorismus“ (vgl.
Steinert 1984: 534).
169 Sie zitieren sich selbst aus einem Artikel aus dem Jahr 2012 (vgl. Back/Sinha 2012). Ihr engli-
scher Text untersucht die Auswirkungen der Debatte um „die Krise des Multikulturalismus“ auf
die Regulierung, Kontrolle und Überwachung von Migranten sowie deren Strategien, damit um-
zugehen, an einem Einzelbeispiel.
5.2 Sich selbst organisieren 221

Mit dem Begriff der „Konvivialität“ beziehen sie sich auf Ivan Illich, der mit
„Konvivialität“ eine spezifische Form menschlicher Produktivität bezeichnet.
Ivan Illich schreibt: „Ich wähle den Begriff ‚Konvivialität‘, um das Gegenteil der
industriellen Produktivität bezeichnen zu können. Er soll für den autonomen und
schöpferischen zwischenmenschlichen Umgang und den Umgang von Menschen
mit ihrer Umwelt als Gegensatz zu den konditionierten Reaktionen von Menschen
auf Anforderungen durch andere und Anforderungen durch eine künstliche Um-
welt stehen“ (Illich [1975] 2014: 28).
Für Les Back und Shamser Sinha ist der Begriff deswegen interessant, weil
sich mit ihm ein „alternatives Verständnis von Kultur“ skizzieren lässt, welches
„sich vor allem dafür interessiert, was die Leute in ihrem Alltag tun, statt sie im-
mer nur auf ihre kulturelle Herkunft zu reduzieren“ (Back/Sihna 2016: 526). Das
Besondere an der Idee von Ivan Illich ist, dass er den Begriff der „Konvivialität“
mit dem Begriff des „Werkzeuges“ verbindet (vgl. Illich [1975] 2014: 27 f.). Les
Back und Shamser Sinha greifen diesen Zusammenhang auf. Bei Illich finden sie
die Überlegung: „Gleichgültig, ob der Mensch wandert oder sesshaft ist, er braucht
Werkzeuge“ (Back/Sinha 2016: 527). Und sie schreiben weiter: „Interessant für
uns ist, dass es ihm um die ‚Struktur des Werkzeuges, nicht um die Charakterstruk-
tur des Individuums oder der Gemeinschaft‘ geht“ (vgl. ebd.: 527). Im Begriff der
„konvivialen Werkzeuge“ finden sie entsprechend eine Möglichkeit, die „Fähig-
keiten und Ressourcen“ zu untersuchen, die es den Migranten „ermöglichen, in
einer von Rassismus zerrissenen Stadt zu leben“ (ebd.).
Als ich die Texte von Back und Sinha las, kam mir noch ein weiterer Ge-
danke, der auch in den Ideen des Rohstoffs bei Oskar Negt und Alexander Kluge
und in den Überlegungen zur Ressource bei Heinz Steinert enthalten ist. Das Stich-
wort der „konvivialen Werkzeuge“ bei Les Back und Shamser Sinha hebt zwei
Ebenen hervor. Zum einen sind die von ihnen skizzierten Fähigkeiten und Res-
sourcen der Migranten Mittel und Möglichkeiten, mit denen sie ihr Leben gestal-
ten können und einen Weg finden, „durchs Leben im postkolonialen London zu
kommen“ (ebd.). Zum anderen sind die Werkzeuge durch die Migranten selbst
erzeugt. Sie stellen die Mittel und Möglichkeiten selbst her. Sie entwickeln die
„Fähigkeiten“ und die „Ressourcen“, den „Weg durchs Leben im postkolonialen
London“ selbst (ebd.). Im Grunde erzeugen die Migranten einen „Werkzeugkasten
konvivialer Fähigkeiten“ (ebd.). Bevor die Werkzeuge „konvivialer Fähigkeiten“
genutzt werden können, müssen sie erfunden, gefunden, probiert, gebaut werden.
Die Werkzeuge entwickeln sich prozesshaft in der Reibung mit dem alltäglichen
Leben. Die Werkzeuge sind nicht einfach gegeben. Vielmehr sind sie Ergebnis
einer Auseinandersetzung mit den erlebten Zumutungen des alltäglichen Lebens.
Die entwickelten Werkzeuge sind damit Ergebnis eines reflexiven Prozesses. Aus
diesem Zusammenhang ergeben sich dann die Möglichkeiten einer
222 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

selbstbestimmten Handlungsfähigkeit „von unten“, um sich in fremdbestimmten


Umgebungen bewegen zu können, um Wege zu finden, auszubauen oder neu an-
zulegen, die durch die Widrigkeiten des Lebens führen.
Vergleichbare Elemente beschreiben die von mir Interviewten mit Blick auf
ihre zu entwickelnde Basis. Ich möchte im Folgenden ihren „Rohstoffen“, ihren
„Ressourcen“ und „Werkzeugen“ nachgehen, die sie als notwendige Mittel und
Möglichkeiten, als tragende Bestandteile ihres Vereins, beschreiben.
Markus skizziert einen Entwicklungsprozess und macht tragende Elemente
deutlich, welche beim Vereinsaufbau für ihn von Bedeutung waren, aber gleich-
zeitig auch Konfliktlinien abbilden, die mit der Einrichtung eines Vereins verbun-
den sind.
Markus: „Ja, das ist natürlich auch ein ziemlicher Entwicklungsprozess, erst mal alle
Meinungen in irgendeine Art von Konsens zu versammeln und je mehr Leute das sind,
umso schwerer ist es, weil frag zehn Leute, kriegst zehn verschiedene Antworten.
Wirst du wahrscheinlich hier bei deinem jedes Mal feststellen. Aber man braucht ja
irgendwo mal eine gewisse Basis, auf die man aufbaut, und das war eben damals vom
Freundeskreis aus, dass, ja, diese Gewissheit, dass es hier irgendwie immer brauner
wird, sage ich jetzt mal so. Ja, und von dort war quasi erst mal so das Fundament und
dann haben wir uns doch eher basisdemokratisch jedes Mal versucht, unseren Kon-
sens zu finden, indem man eben diskutiert hat. Wie würdest du es machen? Vor-
schläge bringen, Ideen, Brainstorming, wie es so schön heißt. Ja, und meistens hat es
funktioniert, aber manchmal eben auch nicht. Aber das ist ja nun mal Streitkultur,
lebendige, und das muss ja auch mal sein, dass man auch in einer Gruppe vereint auch
mal unterschiedlicher Meinung sein darf, gehört ja dazu, wenn es nicht ausartet und
dann zur Spaltung führt, wie bei uns irgendwie schon. Strukturiert, ja, wir haben uns
eben informiert, in Gesetzestexten, Verordnungen, keine Ahnung, was man machen
kann, wie sich in Deutschland ein Verein aufbaut. Wir haben uns mit dem Vereins-
recht beschäftigt, Material zuschicken lassen von der Bundesstelle, na ja, und dann
die behördlichen Wege gegangen. Und halt immer trotzdem versucht, immer basisde-
mokratisch zu bleiben, weil es muss ja laut deutschem Recht, Vereinsrecht, es muss
einen Vorstand geben, da gibt es einen Vorstandsvorsitzenden, der deutsche Bürokrat
möchte ja alle seine Schubladen haben und möchte bitte einen Ansprechpartner haben
und das war dann immer schon ein bisschen witzig, bei jeder Veranstaltung, die wir
hatten, wenn irgendwas unterschrieben werden musste, kam immer erst mal die Frage,
wer hat denn hier den Hut auf? Und da haben wir erstmal gesagt, ja, eigentlich alle.
Wussten die Leute erstmal überhaupt nicht damit anzufangen, weil das kennt man so
direkt nicht, gibt es den Chef und das ist der Chef und der Rest, der hat zu folgen und
das ist, ja, das war ein kleines soziales Experiment bei uns irgendwie, dass man eben
aus dieser festgefahrenen Struktur irgendwo immer ausbricht. Was eben aber dann,
wie gesagt, das ist durch Martins Überaktivismus da missverstanden worden, wo das
dann doch irgendwie in diese Richtung wieder ging, ah, hier, Martin will jetzt Boss
sein und wir anderen müssen machen, was er sagt. Was aber nicht der Fall war, kann
5.2 Sich selbst organisieren 223

ich nur immer wieder wiederholen. Aber es ist sehr subjektiv, also Stefan hat das z.
B. nicht so gesehen“ (Ma: 312-345).
Markus verweist zunächst noch einmal auf die Bedeutung ihrer Selbstorganisation
als Gruppe. Von diesem Punkt aus sieht er einen „ziemlichen Entwicklungspro-
zess“ (Ma: 312), einen Prozess der Verständigung verschiedener Meinungen und
Sichtweisen. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass unterschiedliche Sichtweisen
verschiedene Fragen und Problematisierungen aufwerfen würden, die miteinander
in Verbindung gebracht werden müssten. Verschiedene Antworten müssten ge-
meinsame Knotenpunkte finden und entwickeln. Damit dies möglich sei, brauchte
es eine „gewisse Basis“ (Ma: 316). Im Grunde beschreibt Markus hier zwei Seiten
einer Medaille, die wechselseitig aufeinander angewiesen sind, um eine Basis ge-
meinsamen Handelns entwickeln zu können. Die Entwicklung einer Basis braucht
den Diskurs der Vielen, die hiermit verknüpften (kreativen) Impulse. Die unter-
schiedlichen Antworten der Vielen brauchen wiederum die Bündelung in einigen-
den Motiven, die den Zusammenhang als Gruppe begründen und gleichzeitig wie-
derum Anknüpfungspunkte für weitere Diskussionen und andere Leute bilden
können, die den Zusammenhang erweitern. In der Überlegung von Markus ist die
skizzierte Dynamik Notwendigkeit und Möglichkeit in einem. Die Notwendigkeit
besteht unter anderem in der „Gewissheit, dass es hier irgendwie immer brauner
wird“ (Ma: 317 f.). Eine Basis, sich zusammenzutun ist dabei eine Antwort, ein
widerständiges oder widerstehendes Element, um sich dem Strom der braunen
Entwicklung entziehen zu können und gleichzeitig etwas Eigenes, Unabhängiges
zu entwickeln. In diesem Sinne bildet die Basis einen kulturellen Zusammenhang.
Markus und die anderen der Gruppe tun die Dinge, die ihnen wichtig sind. Markus
und die anderen der Gruppe organisieren sich selbst und entziehen sich damit ei-
nem unmittelbaren Zugriff (politischer Interessen) „von oben“, oder eben den
Kräften, die mit einer braunen Entwicklung einhergehen. Diese Basis des Kultu-
rellen ist wichtig. Sie bildet das Fundament, damit ein Raum für Alternativen über-
haupt möglich ist.170
Markus macht eine Spannung deutlich und unterstreicht eine widerständige
„List“ (Haug 2011: 85) oder, wie Heinz Steinert geschrieben hat, die „Ironie“, den
„ironischen Umgang mit dem Problem“, welcher eine Notwendigkeit ist, „wenn
man nicht auf repressive Ersatz-Formen hereinfallen will“ (Steinert 1985: 78). O-
der Markus: Wir haben „halt immer trotzdem versucht, immer basisdemokratisch
zu bleiben, weil es muss ja laut deutschem Recht, Vereinsrecht, es muss einen
Vorstand geben, da gibt es einen Vorstandsvorsitzenden, der deutsche Bürokrat

170 Mit dem Begriff des Kulturellen beziehe ich mich auf Wolfgang Fritz Haug. Beim Kulturellen
handelt es sich um „diejenigen Momente, in denen Individuen oder Gruppen sich als
Selbstzweck behandeln“ (Haug 2011: 85).
224 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

möchte ja alle seine Schubladen haben und möchte bitte einen Ansprechpartner
haben und das war dann immer schon ein bisschen witzig, bei jeder Veranstaltung,
die wir hatten, wenn irgendwas unterschrieben werden musste, kam immer erst
mal die Frage, wer hat denn hier den Hut auf? Und da haben wir erstmal gesagt,
ja, eigentlich alle“ (Ma: 330-336). Der bürokratische Anspruch einer Hierarchie
und einer Führung von oben nach unten wird gebrochen: Den Hut haben alle auf.
Der wichtige Punkt hierbei ist, dass so eine hierarchische Organisation von Ge-
sellschaft hinterfragbar wird und in Konfrontation mit einem alternativen Modell,
„eigentlich alle“, die Perspektiven kollektiver Vergesellschaftungsformen zum ge-
meinsam diskutierten Gegenstand werden können.
Mit dieser Einlassung von Markus verknüpfen sich gleichzeitig zwei Ele-
mente, die ihm als Erfahrung bei der Organisation und Einrichtung des Vereins
wichtig waren. Er spricht davon, dass es einer spezifischen Kommunikation oder
– mehr noch – einer spezifischen Interaktion bedürfe. Er spricht von „basisdemo-
kratisch“ (Ma: 319). Basisdemokratisch im Sinne von Markus meint hier einen
Prozess gemeinsamer Willensbildung und Entscheidungsfindung, den Prozess,
„unseren Konsens zu finden“ (Ma: 320). „Unseren Konsens zu finden“ meint aber
noch mehr: einen Prozess der Entwicklung. Markus spricht davon, dass sie „dis-
kutiert“ (Ma: 320) hätten. Hierzu gehört der Raum für Phantasie, in dem Verbin-
dungen entstehen, „Ideen“ (ebd.: 321) und „Vorschläge“ (ebd.) gebracht werden
können, dem „Brainstorming“ (ebd.) gefolgt werden kann, die Gedanken frei laufen
gelassen werden können. Die Besonderheit, die dabei zum Vorschein kommt, ist die
Entwicklung einer Zuständigkeit der Einzelnen für das Gemeinsame. Was meint
dies? Gemeint ist kein Durcheinander. Im Gegenteil: Es sind die unterschiedlichen
Teilbeiträge der Einzelnen gemeint, mit denen auch „die bewusste Aufeinanderbe-
zogenheit der Menschen“ und somit das Gemeinsame wachsen (vgl. Holzkamp-Os-
terkamp 1975: 312). Die Voraussetzung ist, dass die Einzelnen sich dem Gemeinsa-
men nicht blind unterordnen, sondern sich selbst in Verbindung mit den anderen
entwickeln können, also als Individuen erkennbar sind, oder, wie Markus sagt, „dass
man auch in der Gruppe vereint auch mal unterschiedlicher Meinung sein darf“
(Ma: 324). Hierfür braucht es eine „lebendige Streitkultur“ (Ma: 323). Das Leben-
dige ist die wechselseitige Anregung, eine Offenheit für Gedankenexperimente,
eine Offenheit, die keinen Gedanken verwirft und dadurch eine Gleichheit erzeugt,
die unterschiedliche Meinungen als weiter treibende Impulse aufnehmen kann und
nicht als störende Momente ausschließt oder unterbindet.
Markus spricht von „strukturiert“ (Ma: 326). In Verbindung mit seiner Idee,
basisdemokratisch zu handeln, beschreibt er zum einen die Art und Weise ihres
Handelns und zum anderen den Anspruch, an dem festzuhalten sei, einen Verein
als Organisation lebbar zu gestalten. Basisdemokratisch zu handeln, erweist sich
hier auch als Notwendigkeit und als Form einer systematischen, aber lebendigen
5.2 Sich selbst organisieren 225

Herangehensweise. Mit Blick auf den Verein sind es fremdgesetzte Normen, die
der Möglichkeit einer Organisation des Vereines einen Rahmen geben. Diese gilt
es systematisch zu erschließen, sich zu informieren, zu verstehen und zu durch-
schauen, welche gesellschaftlichen Motive sich in den rechtlichen Vorgaben fin-
den. Markus: „[E]s muss einen Vorstand geben, da gibt es einen Vorstandsvorsit-
zenden“ (Ma: 331 f.) und es „gibt [...] den Chef und das ist der Chef und der Rest,
der hat zu folgen“ (Ma: 338 f.). Und das durchschauende Moment, die aufde-
ckende Ironie: „Wenn irgendwas unterschrieben werden musste, kam immer erst
mal die Frage, wer hat denn hier den Hut auf? Und da haben wir erstmal gesagt,
ja, eigentlich alle. Wussten die Leute erstmal überhaupt nicht damit anzufangen,
weil das kennt man so direkt nicht“ (Ma: 335-338). Gleichzeitig entsteht eine Rei-
bungsfläche, ein Unbehagen, die Konfrontation mit Kräften, die als gesellschaft-
liche Strukturbedingungen beginnen, in das Selbstverständnis der Selbstorganisa-
tion einzugreifen. Eine Auseinandersetzung mit dem „deutschen Recht“ (Ma:
331), mit den „behördlichen Wege[n]“ (ebd.: 329), alles standardisierte, vorge-
zeichnete Pfade, die Begegnung mit dem „deutschen Bürokrat[en]“ (ebd.: 332),
einer „festgefahrenen Struktur“ (ebd.: 340), die Schubladen braucht und sich als
Modell verallgemeinert. Markus und die basisdemokratisch organisierte Gruppe
betreten die Pfade einer „festgefahrenen Struktur“, fremdgesetzter Vorgaben des
Rechts. Abverlangt wird eine Aktivität der Modellierbarkeit der Einzelnen und
ihre Formbarkeit als Gruppe, eine Selbstformung, die Erzeugung einer Passung,
sich auf vorgegebenen Pfaden bewegen zu können, um die Freigabe, die Anerken-
nung (der „Freiheit“) der Organisation als Verein zu erlangen.
Betrachte ich die Skizze von Markus zur „festgefahrenen Struktur“ im Sinne
von Oskar Negt und Alexander Kluge als „tote Arbeit“, so handelt es sich um ein
gesellschaftliches Verhältnis menschlicher Beziehungen, die im Recht eine ob-
jekthafte Gestalt angenommen haben.171 Dann ist das Zutun, „basisdemokratisch
unseren Konsens zu finden“ (Ma: 319-320), eine Verlebendigung dieses Verhält-
nisses, ein Zutun was gleichzeitig die gesellschaftlichen Widersprüche, die im
rechtlichen Objekt stillgelegt sind, wieder freisetzt. Konkret spricht Markus von
der Anforderung, bei der Einrichtung des Vereins einen Chef hervorbringen zu
müssen und so eine Trennung zu erzeugen: „der Chef und der Rest“ (Ma: 338).
Diese Trennung ist nicht pro forma. Es ist die Einrichtung einer hierarchischen
Arbeitsteilung und wird als Interaktionsweise (Organisationsweise) vom „deut-
schen Recht“, vom „deutschen Bürokrat[en]“ (Ma: 332) und im „behördlichen
Weg“ (Ma: 329) abgefordert. Dies ist tief greifend und, wie Markus deutlich

171 Meinen Gedanken habe ich in Anlehnung an Oskar Negt und Alexander Kluge formuliert. Bei
Oskar Negt und Alexander Kluge heißt es: „Tote Arbeit ist kein Arsenal von bloßen Dingen.
Vielmehr sind es menschliche Beziehungen, Subjektivität in Objekt gewordener Gestalt, ein ge-
sellschaftliches Verhältnis“ (1981: 98 f.; Fn.).
226 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

macht, es zieht weitere „Spaltungen“ nach sich. Das „Basisdemokratische“ ge-


winnt hierbei eine weitere Funktion. Es balanciert und überbrückt graduell Tren-
nungen. Gleichzeitig ist es widersprüchlich. Als Mittel einer Praxis der Überbrü-
ckung hält es die Trennung aufrecht, ohne sie aufheben zu können. Es ist dieses
Ringen, von dem Markus spricht und rückblickend formuliert: „[D]as war ein klei-
nes soziales Experiment bei uns irgendwie, dass man eben aus dieser festgefahre-
nen Struktur irgendwo immer ausbricht“ (Ma: 339 f.). Hiermit verbundener Kon-
fliktstoff verknüpft sich mit einer Ungleichheit. „Der Chef und der Rest“ (Ma:
338) ist Ausdruck des Zwanghaften, das mit der Einrichtung einer hierarchischen
Arbeitsteilung aufzieht und erfährt gleichzeitig eine Verschiebung: „Was eben
aber dann, wie gesagt, das ist durch Martins Überaktivismus da missverstanden
worden, wo das dann doch irgendwie in diese Richtung wieder ging, ah, hier, Mar-
tin will jetzt Boss sein und wir anderen müssen machen, was er sagt. Was aber
nicht der Fall war, kann ich nur immer wieder wiederholen. Aber es ist sehr sub-
jektiv, also Stefan hat das z. B. nicht so gesehen“ (Ma: 340-345). Markus be-
schreibt die Herausbildung eines konflikthaften Bündels, bei dem sich die struk-
turelle Bedingtheit zur Einrichtung des Vereins auf Handlungsweisen von Perso-
nen verschiebt und dabei selbst in den Hintergrund tritt und verschwindet. Auf
diesen Punkt wird später noch genauer einzugehen sein.
Auch Stefan macht mit Blick auf den Verein einen Entwicklungsprozess
deutlich. Seinen Ausgangspunkt findet dieser Prozess am Lagerfeuer, wo sich die
Gruppe zusammengefunden und diskutiert hat, was man machen könnte, konkre-
ter, was die Gruppenmitglieder mit einem Verein machen könnten, was dadurch
möglich wäre.
Stefan: „Wir haben dann über gewisse Sachen, Themen, uns einmal so unterhalten so,
wie wir dazu stehen, also ganz banale Sachen, also, was ging da irgendwann auch mal
in die Globalisierungskritik, einen ganz komischen Scheiß so, was halt gar nichts mit
[Stadt X] hat, aber na ja, waren halt jung und hatten viel Redebedarf so. Und sich
einfach darüber auszutauschen, was könnte man machen so und eben, ich glaube auch,
erst in dieser, da ist es dann nach und nach die Idee, einen Verein, so […] eingetrage-
nen Verein zu gründen, ist erst dann so richtig gereift, also die Gruppe hat sich dann
so zusammengefunden und wurde schon diskutiert, na, was könnten wir damit ma-
chen und was könnte man, mit dem Verein könnte man das und das anmelden. Da
könnten wir vielleicht mal Fördergelder beantragen, das und das und dadurch ist
quasi, das gab es aber alles vorher schon so. Der Verein war dann quasi dieser Schritt
nur weiter, ja, wir brauchen, wenn wir den halt anmelden, dann haben wir damit quasi
eine Basis, um halt besser arbeiten zu können. So, ja, und, ja genau, aber an sich, na
gut, durch den Verein sind dann halt auch noch Leute dazu gestoßen so, das ist ja, was
eigentlich so ein Nebeneffekt, ein relativ positiver war, dass z. B. einige Mitglieder
sind dann, die hatten ein Konzert veranstaltet, und da lag dann halt auch Infomaterial
aus, es gab dann ein paar interessierte junge Leute so, die meinten dann, ja, klingt
5.2 Sich selbst organisieren 227

ganz interessant so, könnten wir mal mitmachen, also das war auch ein ganz gutes
Ding, aber so an sich, die Basis des Vereins stand halt vorher schon so da. Das waren
alles Freunde, so ein Freundschaftskreis, so eine Peergroup sozusagen, die sich durch
Schule und, wobei man halt komischerweise in der gleichen Kacke lebt wie alle, sich
zusammengefunden hat. Ja, und dann, wie gesagt, der Verein, also wir haben uns
quasi nicht getroffen, so Einzelpersonen so, halt der Bock jetzt, einen Verein zu grün-
den, sondern wir haben uns getroffen, das war halt so eine Art, ja fast wie so eine Art
Antifagruppe so, die dann gesagt hat, ja, wir machen aber was jetzt gegen solche
Dinge auf zivilem Wege“ (S: 74-99).
Im Grunde beschreibt Stefan seine Erwartungen an einen Verein und umreißt seine
Vorstellung davon, welche Funktion der Verein in seinen Augen hat. Die Basis
bilden die Leute als diskutierende Gruppe, die Ideen entwickelt und vorantreibt.
Auf dieser Grundlage beginnen die Leute ihre Basis zu erweitern. Die Grundlage
bildet die Entwicklung eines Zusammenhangs, der eine Form und Stabilität er-
zeugt, die es erlaubt, in seiner Erweiterung auch auf gesellschaftliche Ressourcen
zugreifen zu können, etwa Fördermittel, die zur Realisierung von Projektarbeit
notwendig sind. Hierfür bedarf es eines Mindestmaßes an institutioneller Ausprä-
gung, die den Normen zum Beispiel von Fördermittelgebern gerecht werden kön-
nen. Dies wären möglicherweise konkrete Ansprechpartner wie ein Vereinsvorsit-
zender, ein Vorstand, ein Verantwortungszusammenhang, der etwa für die Auf-
nahme, Abrechnung und die Richtigkeit der Fördermittel bürgt und den damit zu-
sammenhängenden bürokratischen Aufwand bewältigt. Der Verein muss selbst
eine Form der Bürokratie entwickeln und damit verbundene Aufgaben teilen, auf-
teilen, sich arbeitsteilig organisieren. Hierin sieht Stefan einen qualitativen Sprung
von der Gruppe hin zum Verein: „Der Verein war dann quasi dieser Schritt nur
weiter, ja, wir brauchen, wenn wir den halt anmelden, dann haben wir damit quasi
eine Basis, um halt besser arbeiten zu können“ (S: 84-86). Die neue Qualität drückt
sich dann darin aus, die Ideen, die diskutierten Möglichkeiten von Aktivitäten, die
ausgedachten Pläne in konkrete Projekte und Aktionen münden lassen zu können.
Es geht aber noch um mehr.
Stefan macht deutlich, dass ihr Zusammenhang als Gruppe vor allem dadurch
geprägt gewesen sei, nicht als „Einzelpersonen“ ihre Fragen und Ideen mit sich
selbst ausmachen zu müssen, sondern die Einzelnen als Gruppe ein einigendes
Motiv verbunden habe, „so eine Art Antifagruppe“ (S: 98) zu sein. Für eine Anti-
fagruppe sind verschiedenste Probleme und Konflikte rund um Themenfelder wie
etwa Antifaschismus, Rassismus und Nazis von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig
verknüpfen sich hiermit auch Versuche, anders leben zu wollen, wie ich sie weiter
oben skizziert habe. Allerdings, so kann man Stefans Überlegung verstehen, blei-
ben diese Versuche auf die Gruppe bezogen. Die Auseinandersetzung mit Rassis-
mus und angrenzenden Fragen bleiben Probleme der Gruppe und sind in diesem
Sinne begrenzt. Stefan geht es darum, die Konflikte und Probleme über den
228 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Zusammenhang der Gruppe hinauszuheben und damit z. B. Rassismus als ein ge-
sellschaftlich allgemeineres Problem zur Diskussion zu stellen. Es geht nicht nur
sie als Gruppe etwas an, sondern es geht die Gesellschaft etwas an; Rassismus ist
Stefan zufolge ein gesellschaftliches Problem.
Dazu noch ein weiterer Gedanke: Die Gruppe bearbeitet im Sinne von Negt
und Kluge ihren „Rohstoff“ (1993)172 und formt hieraus konkretere Frage- und
Problemstellungen (und Ideen für Projekte usw.), die über die „Schranken“ (Freire
1973: 82) der Gruppe hinausdrängen und eine erweiterte Aktivität herausfordern
oder den Punkt politischer Handlungsfähigkeit markieren, den „Kräftezuwachs in-
mitten einer komplexen Vielfalt von Kräfteverhältnisse[n]“ (Reeling Brower
2001: 1169) erkennen lassen, um eine eigene Position und Sichtweise auf die
Dinge der Welt auch öffentlich vertreten zu können. Oder: Es handelt sich um eine
Situation der „Gruppe“, die durch ihre Art und Weise der Diskussionen „weiter-
treibende Widerstände und Fragen“ entwickelt hat, aus denen sich reale Hand-
lungsmöglichkeiten ergeben, und nun ihr Handeln darauf drängt, eine „gesell-
schaftliche Veränderung als eine öffentliche“ zu beginnen (vgl. Hirschfeld 2015:
154). Oder Stefan: „Ja, und dann, wie gesagt, der Verein, also wir haben uns quasi
nicht getroffen, so Einzelpersonen so, halt der Bock jetzt, einen Verein zu grün-
den, sondern wir haben uns getroffen, das war halt so eine Art, ja fast wie so eine
Art Antifagruppe so, die dann gesagt hat, ja, wir machen aber was jetzt gegen
solche Dinge auf zivilem Wege“ (S: 95-99). Stefan skizziert hier die Entwicklung
eines qualitativen Sprungs, dessen kulturelle Grundlage die „Gruppe“ hervor-
bringt und so die Organisierbarkeit einer „dezentralen Politikfähigkeit“ (Steinert
1985: 78) als ein Element ihrer Handlungsfähigkeit möglich macht. Oder, anders
ausgedrückt: Als Freunde bilden sie einen Kreis. Sefan: „[S]o einen Freund-
schaftskreis“ (S: 93). Sie sind ein Freundeskreis, sie sind die „Gruppe“ der Gar-
tenlaube und vom Lagerfeuer. Der qualitative Sprung: Der Kreis, die „Gruppe“
wird zum Kollektiv. Der Freundeskreis selbst bildet eine Ressource und entwickelt
gleichzeitig Neues, auf dessen Basis dann ein Kollektiv entstehen kann. Insofern
verweist der von Markus und Stefan genutzte Begriff der „Basis“ auf diese zwei
unterschiedlichen Qualitäten: die des Freundeskreises und – daraus wachsend –
die der Möglichkeit bzw. der Entwicklung eines Kollektivs.

172 Vielleicht müsste man auch hier den Begriff als einen dynamischen fassen. Spreche ich von
Rohstoff, kann man von der irrigen Annahme ausgehen, es handle ich um eine Fokussierung,
um eine Konzentration auf einen einzelnen Gegenstand. Konsequenterweise müsste ich von
Rohstoffen sprechen, da Oskar Negt und Alexander Kluge mit ihrem Begriff auf die Vielschich-
tigkeit, die Überschneidungen und Wechselwirkungen „menschlicher Haltungen, Energien, Ge-
fühle, Hoffnungen, Träume, Ängste und Befürchtungen“ (Hirschfeld 2015b: 141) zielen und
darauf hinweisen, dass sich diese prozesshaft in ihren Formen „permanent verändern“ (vgl.
Negt/Kluge 1993: 47 f.).
5.2 Sich selbst organisieren 229

Eine „Art Antifagruppe“ (S: 98) rüttelt mit ihren Problematisierungen am


Status quo oder, wie Stefan weiter vorn sagt, an diesem „ekligen Status quo“ (S:
37), und es werden Rassismus, Antisemitismus, Gewalttätigkeit etc. oder auch z.
B. die im autoritären Populismus gebrauchten Spaltungen und Ansprüche von
Führung in ihren aktualisierten gegenwärtigen Ausprägungen öffentlich sichtbar,
kritisierbar. Am Beispiel der Interviewten, ihrer Gruppe und ihrem Verein in einer
Kleinstadt, werden damit auch unmittelbar die Denk- und Verhaltensweisen von
etwa dem Onkel, dem Bruder, den Freunden oder von sich selbst (wie am Beispiel
Martin gezeigt) zum Thema und zur Herausforderung. Das Verhalten von Onkel,
Bruder, Freunden (oder das eigene Verhalten) werden aus ihrer Privatheit heraus-
geholt und zum Gegenstand öffentlichen Fragens. Dabei wird die Ruhe der Ge-
genwart, der Gleichlauf des Alltäglichen, gestört. Die Gegenwart kommt in Be-
wegung.
Kommt Gegenwart in Bewegung, braucht es eine Stabilität für den Stand-
punkt, von dem aus gefragt wird, von dem aus der Stillstand durchbrochen wird.
Stefan sieht im Verein die Möglichkeit einer institutionalisierten Basis. Der Ver-
ein als Dach einer Organisation ermöglicht die Bündelung verschiedener Aktivi-
täten zu einer Infrastruktur, zu einem „Stützpunkt“ „politischer Ressourcen“ von
„Gleichgesinnten“ (Steinert 1984: 429). Hier verflechten sich die kulturellen Sa-
chen, Bildungsarbeit und politische Anliegen zu gemeinsamen Aktionen, z. B.
dazu „öffentlichkeitswirksam die Probleme in den Mittelpunkt zu stellen“ (S: 20)
und „das Zeug [zu] skandalisieren, was hier halt scheiße läuft“ (S: 21-22). Und
mehr noch, wie Stefan deutlich macht, bildet der Stützpunkt („als positiver Ne-
beneffekt“) Anknüpfungsmöglichkeiten für andere Leute und erweitert den Zu-
sammenhang durch deren Zutun. Stefan fasst seine Gedanken wie folgt zusam-
men.
Stefan: „Und da gab es zwei Themenpunkte, einmal eine Basis zu schaffen, einfach
um was abseits der Nazischeiße machen zu können, also quasi ein bissel kulturelle
Sachen, wie ein Konzert oder so, auch Vorträge, um halt so ein bisschen, quasi so ein
bissel bilden, wir sind relativ naiv rangegangen, so ein bissel Bildungsarbeit zu ma-
chen und auf der anderen Seite natürlich, um nicht als Einzelperson zu agieren […]
zu schwer, sondern wenn wir also eine Institution wie so einen Verein haben, eben
auch öffentlichkeitswirksam die Probleme in den Mittelpunkt zu stellen so. Und da
war es mein Ansatz, z. B. immer zu sagen, wir müssen halt diese, das Zeug skandali-
sieren, was hier halt scheiße läuft sozusagen. Und da ist es einfach besser, wenn man
nicht irgendwie als Einzelperson XY mal einen Leserbrief an die [Zeitung XY]173
oder so einen Scheiß rein schreibt so, sondern halt besser einen Verein, der dann ir-
gendwann mal durch Vernetzung sich quasi einen Namen macht, sozusagen halt, hier,
das und das passiert gerade in dieser Stadt, so und so viel Übergriffe gab es, so und

173 Den Namen der Regionalzeitung habe ich anonymisiert.


230 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

dass es, es war immer diese klare, einfache Antinazisache so, um es mal grob zusam-
menzufassen“ (S: 14-28).
Weiterführend verweist Stefan darauf, dass ein Verein als Basis für die skizzierten
Aktivitäten auch deshalb von Bedeutung sei, da hier die verschiedenen Aktivitäten
und verschiedensten Leute in einen organisatorischen Zusammenhang gebracht
werden könnten, welcher gleichzeitig bei staatlicher Anerkennung und in der Ver-
netzung mit anderen Akteuren eine andere Autorität verspreche, als wenn sie ihre
Anliegen als Einzelne oder vielleicht als „eine Art Antifagruppe“ (S: 98) vortragen
würden. Ein Verein, so die Annahme, könnte eine andere Autorität gewinnen,
könnte als Plattform besser geeignet sein, um die Erfahrungen mit dem, was ge-
rade passiert in der Stadt, öffentlich zu thematisieren und vor allem, um „ernst
genommen zu werden“. Letzteres formuliert Markus als negative Erfahrung:
„[M]an wurde nicht ernst genommen“ (Ma: 20-21). Ein Verein böte dann die
Möglichkeit einer Infrastruktur, einer anerkannten, aber politisch unabhängigen
Instanz, um die gemeinsamen Erfahrungen mit dem „Ernst der Lage“ zu einer ge-
meinsamen Sprache bringen zu können, sich öffentlich zu artikulieren und gleich-
zeitig „ernst genommen zu werden“.
Im Rückblick verbindet Stefan mit dieser Vorstellung eine Ambivalenz,
möglicherweise auch eine Enttäuschung: „[W]ir sind relativ naiv rangegangen“
(S: 17). Nicht nur die Organisation des Vereins scheint eine schwierige Sache ge-
wesen zu sein, sondern auch, die gemeinsamen Anliegen öffentlich zu machen.
Hier steht die Einschätzung von Stefan, „also es war wirklich eigentlich meiner
Meinung nach wirklich am Anfang alles eine pragmatische Sache mit diesem Ver-
ein“ (S: 390), im Widerspruch zu den skizzierten Überlegungen von Markus. Wie
ich deutlich gemacht habe, spricht Markus über die Widersprüchlichkeiten der
Einrichtung einer Organisation, welche zwischen der Aufrechterhaltung von
selbstbestimmten Elementen (basisdemokratisch und gleichzeitig strukturiert) und
fremdbestimmten Elementen das gemeinsame Handeln ausbalancieren muss. Eine
pragmatische Herangehensweise, im Sinne einer neutralen oder nüchternen Posi-
tion, die z. B. den Verein eher als Mittel zum Zweck betrachtet, wie sie Stefan für
sich reklamiert, steht hier vor einem Problem, wenn Stefan über den Verein sagt:
„nicht unbedingt zum Selbstzweck so [...], sondern halt einfach zu sagen, klar, ist
ganz günstig, wenn man die e. V. hat, so ein bissel was beantragen kann [...]. Nie-
mand kriegt Fördergelder [...], das geht halt nicht so“ (S: 391-392). Dies übersieht
die mit der Einrichtung einer Arbeitsteilung verknüpften Probleme. Die Stabilität
der Gruppe und die Organisation des Vereins werden an diesem Punkt selbst zu
umkämpften Gegenständen: Der Verein ist Mittel zum Zweck oder der Verein ist
selbst ein Zweck – „Selbstzweck“. Gleichzeitig steckt hierin eine Kritik von Ste-
fan. Der Verein kann sich durch seine Organisation selbst stillstellen und in seiner
Wirksamkeit beschränken. Dies passiert dann, wenn die aktiven Bemühungen, den
5.2 Sich selbst organisieren 231

Verein zu organisieren, damit beginnen, um sich selbst zu drehen, sich auf die
Organisierbarkeit zu beschränken. Hieraus kann das Problem folgen, dass die Or-
ganisation den Kontakt zu den geteilten Anliegen der Leute verliert (oder umge-
kehrt), sich die Organisation als institutionelles Gebilde und das Ensemble der
Anliegen im gemeinsamen Kontext des Vereins als fremde Zusammenhänge ge-
genüberstehen. Markus und Stefan zusammengedacht machen damit auf ein we-
sentliches Problem der Selbstorganisation aufmerksam. Die Herausforderung die
sich mit der Selbstorganisation verbindet, ist verallgemeinernd als ein Lernfeld zu
skizzieren. Die Positionen von Markus und Stefan zeichnen aufeinander bezogen
ein dynamisches Feld, in dem sie sich als Akteure bewegen. Sie sind gezwungen,
dieses Feld zu erschließen, es kennenzulernen, um sich zum einen überhaupt in
diesem Feld bewegen sowie zum anderen das Feld als Werkzeug für ihre Anliegen
nutzen zu können. In eine andere Sprache übersetzt, kann man mit Bertold Brecht
davon sprechen, dass es darum geht, ein „Operieren mit Antinomien“ zu (er)lernen
(vgl. Haug 2008: 27).174 Damit weisen Markus und Stefan auf ein zentrales Mo-
ment einer Bildungsnotwendigkeit hin, die sich aus der Perspektive „von unten“
ergibt (und an dem sich [kritische] politische Bildung zu messen hat).
Stefan spricht vorsichtig von „einer Art Antifagruppe“ (S: 98). Wichtig finde
ich dabei „Antifa“. Die Vorsicht im Sprachgebrauch von Stefan kann daher rüh-
ren, dass die Gruppe noch nicht ganz dem entspricht, was sich Stefan unter einer
Antifagruppe vorstellt. Insofern könnte „Antifa“ auf eine normative Vorstellung
hindeuten, welche zwischen den ernsthaften (wirklichen) „Antifas“ und den we-
niger ernsthaften „Antifas“ unterscheidet. Ich sehe aber noch einen anderen Punkt,
der mir mit Blick auf Stefan und die Gruppe als wichtig erscheint. Verstehe ich
„Antifa“ als Antifaschismus, eine Antifagruppe als eine Gruppe von Leuten, die
sich gegen Faschismus engagiert, erscheint hier ein gesellschaftlicher Konflikt.
Die Vorsicht bezieht sich dann auf den Begriff des Faschismus. Der Begriff des
Faschismus sagt mehr als etwa die Sprache über den „Nationalsozialismus“. Der
Begriff Faschismus verschwindet im gesellschaftlichen Diskurs und wird dort
durch die Dominanz des Begriffs „Nationalsozialismus“ unterdrückt. Es zeichnet

174 Wolfgang Fritz Haug bezieht sich hier auf einen Text von Bertold Brecht unter der Überschrift
„Analyse der Haltung der Parteileitung zum Zweck des Eingreifens“ (Haug 2008: 27). Brecht
setzt sich dort „mit dem Interessenkonflikt“ auseinander, „dass Arbeitslose und Arbeitsbesitzer
[...] jeweilig eine andere Konstruktion der Partei als Kampforganisation verlangen“ (ebd.). Der
Konflikt gleicht der Situation, die Markus und Stefan skizzieren. Entscheidend, finde ich, ist
hierbei die Anmerkung von Brecht, dass der Konflikt nur als praktisch dialektischer Zusammen-
hang konstruktiv zu handhaben ist, indem die Leute lernen, Widersprüche zu verstehen, lernen,
in Widersprüchen zu handeln oder eben „mit Antinomien operieren zu können“ (ebd.). Dieser
Gedanke ist m. E. als ein bestimmendes Moment politischer Bildung aufzunehmen. Hier kann
der Bildungsprozess kein isoliert kognitiver sein, in Didaktik oder Lehrpläne eingeschlossen
werden, sondern kann nur als Gemeinsames vom Standpunkt der Subalternen formuliert und
dann von dort aus vor allem gemeinsam praktiziert werden.
232 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

sich ein Kampffeld ab. Ulla Plener macht mit Blick auf einen Artikel von Karl
Heinz Roth aus dem Jahr 2004 die Problematik deutlich: „Der Begriff National-
sozialismus, schreibt er, verschleiere den militanten Antisozialismus der deut-
schen Faschisten, schlage die Brücke zur Totalitarismusdoktrin, sei germanozent-
risch, nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten
per definitionem ausschließt“ (vgl. Plener 2017: 236 f.). Und: „Der Begriff [Nati-
onalsozialismus] sei in der Bundesrepublik heute als Normkategorie [...] veran-
kert“ (ebd.: 237). Spezifische Kennzeichen des deutschen Faschismus sind Roth
zufolge der „völkisch-chauvinistische[...] Nationalismus, de[r] Ersatz des Prinzips
der Gewaltenteilung durch das Führer-System, die kolonialistischen Herrschafts-
praktiken, das ethnozentrische, zum Völkermord führende Herrenmenschen-Den-
ken, extreme Gewalttätigkeit, zur Raubtierpraxis gesteigerte[r] Rassismus und
Antisemitismus“ sowie „das Selbstverständnis der Faschisten als Hüter und Be-
wahrer des kapitalistischen Eigentums“ (ebd.). Ein Antifaschismus gewinnt hier-
bei die Sinnhaftigkeit einer Kritik des Faschismus (auch insbesondere in seiner
historisch spezifischen deutschen Ausprägung) sowie die Notwendigkeit einer
konkreten Handlungsform, einem aktuellen, gegenwärtigen „faschistischen Poten-
tial“ (Negt 2002: 107) entgegenzutreten. Die Möglichkeiten, aus dem Historischen
zu lernen und einen Zusammenhang (im Sinne von: Was hat es mit mir zu tun?)
zum aktuellen, gegenwärtigen „faschistischen Potential“ zu begreifen, wird im Be-
griff Nationalsozialismus aufgrund „seines Singularitätsanspruchs“ (Plener 2017:
237) stillgestellt und unterbunden. Rückt mit dem Begriff des „Nationalsozialis-
mus“ z. B. die Aktualität von Nationalismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus
oder Rassismus in eine historische Ferne, bricht der Kontakt zum Heute ab, wird
ein Fragen nach der Zukunft unterbunden und damit selbst ein Beitrag zur Spal-
tung geleistet. Gespalten oder getrennt wird hierbei die Verbindung zwischen Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Letztlich bedeutet dies, „Geschichte als auf-
gegebene gar nicht mehr denken zu wollen“ (Schmied-Kowarzik 2006: 56). Und
mehr noch: Zukunft verschwindet als ein „offener und wachsender Prozess“
(ebd.). Damit ist auch die Gegenwart eingeschlossen, erstarrt in Unbeweglichkeit
und erscheint als unveränderbar.
Spricht Stefan von „Antifa“ als Ausdrucksweise der Selbstorganisation als
Gruppe und als Anliegen des Vereins, bezieht er sich auf verschiedene Erfahrun-
gen, die er in der Kleinstadt (X) gemacht hat. Ein Kernerlebnis ist das „Schick-
salsdatum“ (S: 382) zu einer Zeit, wo sich die Leute noch als Gruppe in der Gar-
tenlaube getroffen haben. Stefan bezieht sich dabei auf ein Ereignis in seiner Stadt,
dem pogromartigen Übergriff auf in der Stadt lebende Menschen aus Asien wäh-
rend eines Stadtfestes. Das Besondere daran war, dass der Übergriff nicht einer
Gruppe von Nazis zugeordnet werden konnte. Stefan: „[D]as Stadtfest war dann
natürlich ein prägendes Ding“ (S: 396).
5.2 Sich selbst organisieren 233

Und weiter Stefan: „Also für mich war das halt einfach noch mal so dieser, ich meine,
mir war ja vorneweg klar, dass in der Stadt nicht alles ganz koscher ist so und auf dem
Dorf halt einiges scheiße läuft so, aber das war dann, gut, ich war dann bissel so, ich
hatte ein sehr ambivalentes Verhältnis eigentlich so. Einerseits ein Teil von mir hat
gesagt, na ja, musste früher oder später passieren, ist klar so, aber dann trotzdem, wie
diese Auswirkungen waren so, war dann trotzdem so, ja, schon ganz schön krass und
das direkt halt vor der Haustür so, das war dann schon, also es war schon bisschen
erschreckend war es schon oder so im Sinne von, ja, jetzt ist es halt doch so passiert
wie, also es war halt nicht so, dass ich komplett aus allen Wolken gefallen wäre. Also
für mich war klar, Potenzial ist da, zumindest an Nazis und dass die auch ein bissel
Rückendeckung so bei den Leuten haben, aber wie kollektiv das dann und vor allem,
wie die Stadt, was mich erschreckt hat, war wirklich, also was ich halt [X] nicht zu-
getraut hätte in dem Sinne, wirklich die Dummheit, wie die Leute damit umgegangen
sind so, einfach dann der Bürgermeister, was danach kam so halt, dass man das über-
haupt nicht reflektiert hat so, was ist hier passiert, sondern auf einmal war ja, kann ja
gar keine Hetzjagd gewesen sein, weil, die sind ja nur 330 m gerannt, weil ja [das
Geschäft von den Leuten aus Asien] gleich um die Ecke ist und das wird jetzt nur
wegen Sommerloch, die Medien haben halt nichts zum Berichten deswegen so, und
dieses Jahr hat dieses, also da hat sich ja, da ist ja richtig diese, ja, ich glaube, Volks-
gemeinschaft [die in X] entstanden so, dieses wir und alle sind sie gegen uns und […]
Und das war dann für mich halt noch mal der Grund, mehr, na jetzt erst recht unbe-
quem bleiben und halt mehr darauf rum pochen sozusagen. Und aber so an sich, also
das ist wie, keine Ahnung, wenn man weiß, früher oder später, man fährt jeden Tag
mit einem Arbeitskollegen auf Arbeit und der fährt wie eine gesengte Sau und man
weiß dann, früher oder später baue ich mit dem mal einen Unfall so. Man ist trotzdem
erschrocken in dem Moment, wo es passiert. So ist es halt, so war es mit dem Stadtfest.
Es war ja klar, also das Potenzial, irgendwas kann passieren so, aber wenn es dann
halt erstmal und in diesen Ausmaßen, alles was danach kam und wie die Stadt damit
umgegangen ist, das war dann natürlich trotzdem, also man, ich so, ja, ich habe es
euch immer gesagt, so läuft das so, sondern hat einen schon quasi mitgenommen in
einer gewissen Art und Weise“ (S: 405-435).
Es ist deutlich spürbar, wie hier Stefan mit seinen Gedanken oder besser mit seiner
Erfahrung ringt. Er ist unmittelbar betroffen, berührt und versucht die Erfahrung
in eine Sprache zu bringen. Er spricht davon, dass ihm das „Potenzial“ der „Nazis“
bewusst gewesen sei (vgl. S: 414 f.). In den „Nazis“ habe er eine Gefahr, eine
Bedrohung – oder vielleicht etwas schlichter – eine Beunruhigung gesehen. Auf
jeden Fall sei dies ein Thema gewesen, mit dem man sich habe beschäftigen müs-
sen. Was nun aber beim Stadtfest als Potenzial in Erscheinung tritt, ist mit dem
Begriff „Nazi“ nicht zu fassen. Es ist eben nicht bloß dies: „ein bissel Rückende-
ckung so bei den Leuten haben“ (S: 415). Stefan muss seine bisherige Annahme
korrigieren. Nicht die „Nazis“, die irgendwo als Grüppchen oder Cliquen oder im
Sinne einer rechtsextremen Gruppierung als geschlossene, fassbare Gruppen mit
erkennbaren Orientierungen ein gewisses Unterstützungspotenzial in den Reihen
234 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

der Leute, die in der Stadt leben, haben, sind das alleinige Problem. Im Gegenteil:
Das Kollektive, der Zusammenschluss aus der vermeintlichen Normalität der
Leute entwickelt sich zum bedrohlichen Potenzial, welches sich selbst aktiv mo-
bilisiert, sich gegen andere verbündet. Auch an anderer Stelle charakterisiert Ste-
fan diese Entwicklung als „dieses Volksgemeinschaftsding“ (S: 479) oder spricht
von „das war wirklich das Erschreckende, dass wirklich eigentlich alle dann dieses
Wir-Gefühl“ (S: 478) hatten. Stefan verweist damit auf zwei Aspekte. Zum einen
war „die Hetzjagd“ auf dem Stadtfest keine Naziangelegenheit, sondern eine Ak-
tion der „normalen“ Leute aus dem Ort. Zum anderen auf den Effekt, dass eine
Kritik an diesem Verhalten der Leute von diesen in einer Art und Weise aufge-
nommen wird, mit der Stefan so nicht gerechnet hat: „wirklich die Dummheit, wie
die Leute damit umgegangen sind so, einfach dann der Bürgermeister, was danach
kam so halt, dass man das überhaupt nicht reflektiert hat so, was ist hier passiert,
sondern auf einmal war ja, kann ja gar keine Hetzjagd gewesen sein, weil, die sind
ja nur 330 m gerannt, weil ja [das Geschäft von den Leuten aus Asien] gleich um
die Ecke ist und das wird jetzt nur wegen Sommerloch, die Medien haben halt
nichts zum Berichten deswegen so, und dieses Jahr hat dieses, also da hat sich ja,
da ist ja richtig diese, ja, ich glaube, Volksgemeinschaft [die in X] entstanden so“
(S: 417-424).
Wie Stefan deutlich macht, gewinnt nicht etwa ein selbstkritischer Blick auf
das Ereignis und das damit verknüpfte Verhalten für die Leute an Bedeutung. Im
Gegenteil: Sie wehren das Ereignis ab, sie bilden eine Schließung, ein „Wir“, die
Bewegung einer Abwehr, ein „Wir“ in dem die Leute und der Bürgermeister (stell-
vertretend für ein bedeutendes Element der Politik) miteinander verschmelzen,
eine Verbindung eingehen, bei der die hierarchische Trennung von Politik hier
und die Leute da scheinbar verschwindet. Der Effekt beruht im gemeinsamen Ein-
verständnis, das Verhalten der Leute nicht zum Thema zu machen. Eine Beson-
derheit spricht Stefan an: „die Medien“. Er spricht davon, dass diese das Thema
aufgreifen und im Sommerloch das Ereignis als Thema entdecken würden. Dieses
Problem ist auch für die anderen Interviewten wichtig.
Im Gruppengespräch reflektieren sie diese Erfahrung und erzählen von den
Effekten der Berichterstattung:
Elena: „Aber ich glaube auch, was du meintest mit dieser Opferhaltung, dann durch
diese Medienberichterstattung, also das ist mir, glaube ich, auch ziemlich oft auch in
Gesprächen begegnet, dass dann die sagen, ja, weiß nicht, die rassistischen Beweg-
gründe gar nicht mehr im Zentrum von den Gesprächen standen, sondern dann sofort
irgendwie kam, ja, und jetzt werden wir irgendwie negativ dargestellt und genau, das
ist dann, ganz schnell darüber weggestrichen“ (G: 162-167).
Martin: „So die Richtung, Hetzkampagne gegen [X], so ungefähr, anstatt die eigent-
lichen Themen zu bewältigen oder zu besprechen, hat man lieber gesagt, na, die
5.2 Sich selbst organisieren 235

Medien sind jetzt die Bösen, die hier irgendwas machen, so ungefähr, also haben sich
Leute als Opfer gesehen, so ungefähr, auch die Täter, sage ich mal. [D]ie Schuld bissel
von sich weggeschoben in die Richtung, die machen ja hier irgendwelche bösen Sa-
chen, so etwa“ (G: 168-173).
Was Stefan als die Entwicklung eines „Volksgemeinschaftsdings“ (S: 479) um-
reißt, bekommt in der Konfrontation mit den Medien eine eigene Dynamik. Das
„Wir“ kehrt die Rollen um. Zuspitzend: Die „Täter“ machen sich zu „Opfern“
(vgl. G: 171). Wie Elena und Martin deutlich machen, bietet die Berichterstattung
die Möglichkeit eines Gegenübers: „die Bösen“ (G: 170), welche eine „Hetzkam-
pagne“ (G: 168) einrichten. Interessant sind hierbei zwei Momente. Zunächst kann
die Verdichtung der Leute zu einem „Volksgemeinschaftsding“ (S: 479) und einer
„Opferhaltung“ (G: 162) eine Reaktionsweise auf die Enteignung eines Konfliktes
durch die Medien sein. Das Thema wird dem lokalen Zusammenhang entzogen
und im Verwertungsprozess eines kulturindustriellen Zusammenhangs, den Me-
dien, mit entsprechenden Eigeninteressen aufbereitet und diskutiert. Eine Öffent-
lichkeit durch Medien ist hier widersprüchlich. Medien nutzen die Thematik und
behindern gleichzeitig durch ihr Tun (auch eigene) aufklärende Tendenzen.
Es wird an anderer (von den Medien bestimmter) Stelle über die Leute und
ihr Verhalten diskutiert, ohne diese Leute in die Diskussion angemessen einzube-
ziehen. Insofern ist die Reaktionsweise einer Verdichtung in einem „Volksge-
meinschaftsding“ (S: 479) auch ein Verhalten und Effekt im Kontext kapitalisti-
scher Vergesellschaftungsprozesse sowie gleichzeitig eine widersprüchlich-nega-
tive Form der Vergesellschaftung „von unten“.175 Entsprechend formt sich ein
„negatives“, abgrenzendes „Wir“. Dieses „Wir“ nimmt die Differenz, dass an an-
derer Stelle über das Verhalten der Leute ohne sie diskutiert wird, auf. Das „Wir“
unterstreicht die Differenz: wir ≠ Medien. Wir hier|Medien da. Und mehr noch:
wir hier – gemeinsamer Gegner|Medien. Ein einigendes Motiv erscheint. Medien
werden zum gemeinsamen Gegner. Die Medien verschmelzen hier auch undiffe-
renziert zur Einheit. Sie erscheinen als Block einer (vermeintlich) einheitlichen
Meinung. Dieser besteht in den Geschichten, die sie über (X) erzählen. Damit grei-
fen sie den Ort an; mit ihren selbst gestrickten Geschichten überziehen sie die Öf-
fentlichkeit, egal ob diese auf Erfahrungsberichten von den Leuten im Ort beruhen
oder nicht. In den Augen der Leute erzählen die Medien damit etwas „Falsches“,
Dinge, die scheinbar nichts mit ihnen zu tun haben. Hieraus rechtfertigt sich dieses
„Wir-Gefühl“, das Stefan kritisiert (vgl. S: 478).

175 Diese negative Form und ihre Widersprüchlichkeit skizziert Wolfgang Fritz Haug am Beispiel
des „plebeijschen Rassismus“ und macht deutlich, dass hier Rassismus als politische Mittel „von
oben“ und Rassismus als widerständige Ausdrucksweise „von unten“ widersprüchliche Wir-
kungszusammenhänge entwickelten, die sich punktuell überschneiden und zusammenwirken o-
der gegenläufig verschiedene Interessen artikulieren würden (vgl. Haug 1999: 121).
236 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Mit Blick auf den skizzierten Umgang der Leute mit Medien (und umgekehrt)
kann der von Richard Johnson umrissene Kreislauf der Kultur auch auf diesen
Zusammenhang angewendet werden (vgl. Johnson 1999: 147-153). Für diese
Form der kulturellen Produktion von Bedeutungen beschreibt Richard Johnson ei-
nen Kreislauf der Kultur, den wir hier mit Blick auf Medien auch als einen Diskurs
medialer Ausdrucksweisen verstehen können (vgl. ebd.: 151). Er verweist bei sei-
nen Überlegungen darauf, dass sich kulturelle Produktion als eine „Bewegung
zwischen der öffentlichen Sphäre und der privaten Sphäre“ (ebd.) zeige. Dies
heißt: „Private Formen sind konkreter“ und auf Teile des Privaten bezogen (vgl.
ebd.: 152). Demgegenüber seien „öffentliche Formen [...] abstrakter [...] auf ein
breiteres Spektrum bezogen“ (ebd.). Für diesen Prozess beschreibt Richard John-
son drei Punkte: Erstens tritt eine kulturelle Ausdrucksweise, die symbolische
Kreativität, aus der Sphäre des Privaten heraus. Wird sie veröffentlicht, gewinnt
sie so „universelle“, allgemeinere Bedeutung. Auch die Botschaften werden „ver-
allgemeinert und erreichen ein sehr breites gesellschaftliches Spektrum“ (ebd.).
Zweitens erfolgt mit der Veröffentlichung eine Abstraktion der Botschaften sym-
bolischer Kreativität. Dies heißt, die Botschaften können „relativ isoliert von [...]
den Entstehungsbedingungen betrachtet werden“ (ebd.). Drittens werden die Bot-
schaften „anhand vieler unterschiedlicher Kriterien einem Prozess der öffentlichen
Bewertung unterzogen“ (ebd.). Sie werden so zum „Schauplatz außerordentlicher
Bedeutungskämpfe“ und führen zur Verallgemeinerung von Bedeutungen, die in
wertender Art und Weise für alle Menschen zu sprechen vorgeben. Im Moment
der Konsumtion, beispielsweise eines Filmes, werden wir aber „wieder auf die
Sphäre des Privaten, Partikularen und Konkreten zurückgeworfen, auch wenn die
von den Individuen benutzten Interpretationsmaterialien öffentlich, und damit al-
len zugänglich sind“ (ebd.: 153). Stuart Hall verweist in diesem Zusammenhang
darauf, dass der beschriebene Prozess auf einer analytischen Ebene differenzierter,
als eine Struktur, aufzufassen sei, welche „durch die Artikulation miteinander ver-
bundener, aber eigenständiger Momente produziert und aufrechterhalten wird“
(Hall 1999: 93). Der Diskurs erfolge als ein Kreislauf aus „Produktion, Zirkula-
tion/Distribution, Konsum, Reproduktion“ (ebd.). Hall verweist weiter darauf,
dass Bedeutungen in symbolischer Form als „besondere Zeichenträger“ kodiert
und „im Rahmen einer syntagmatischen Kette“ diskursiv organisiert würden
(ebd.). Entscheidend an dieser Überlegung, finde ich, ist, dass der Prozess durch
die Kodierung von Bedeutungen in einen Diskurs mündet, der wiederum „über-
setzt“ und „in gesellschaftliche Praktiken umgewandelt werden“ muss (vgl. ebd.).
Zu berücksichtigen ist, dass die im Diskurs vermittelten Bedeutungen und das da-
mit repräsentierte Wissen nicht das Produkt „der unmittelbaren Erscheinung des
Realen“ sind, sondern die Artikulation, die symbolische Vermittlung zu „realen
Verhältnissen und Bedingungen“, darstellt (vgl. ebd.). Die produzierten, kodierten
5.2 Sich selbst organisieren 237

Bedeutungen müssen also in einem Prozess der Dekodierung wieder angeeignet


werden (vgl. ebd.: 99). Letzteres schafft dann auch den Raum für einen Umbau
von Bedeutungen, die für die Leute in ihren Zusammenhängen einen Sinn oder
Nutzen ergeben.
Wie die Geschichten der Leute von den Medien erzählt werden, ist letztlich
dem Einfluss der Leute entzogen. Gleichzeitig bietet dies eine Entlastungsstrate-
gie, die Möglichkeit zur Ablenkung von dem Problem, um welches es ursprüng-
lich ging. Das Verhalten der Leute, in einem gewaltsamen Zusammenhang ge-
meinsam gehandelt zu haben, den Rassismus nutzend, um in der Stadt lebende
Leute aus eben diesem städtischen Kontext auszuschließen oder auf ihren Platz zu
verweisen und sie in ihrer Bewegungsfreiheit zu beschränken, verschwindet.176
Oder Elena im Gruppengespräch: „die rassistischen Beweggründe gar nicht mehr
im Zentrum von den Gesprächen standen, sondern dann sofort irgendwie kam, ja,
und jetzt werden wir irgendwie negativ dargestellt und genau, das ist dann, ganz
schnell darüber weg gestrichen“ (G: 164-167). Was die Interviewten hier thema-
tisieren, sind Kräfte unterdrückerischen Handelns, die sich auf dem Weg der mo-
ralischen Empörung und Entrüstung einer wirklichen Auseinandersetzung entzie-
hen. Oder Stefan: „das überhaupt nicht reflektiert hat so, was ist hier passiert, son-
dern auf einmal war ja, kann ja gar keine Hetzjagd gewesen sein“ (S: 419-420).
Barrington Moore schlussfolgert zu solchen Prozessen pessimistisch: Die „Wogen
allgemeiner moralischer Empörung [können] entweder befreiende oder unterdrü-
ckende Formen annehmen und je nach Umständen schnell von einer in die andere
umschlagen. Wo eine derartige Transformation stattfindet, geht sie nach meiner
Kenntnis nur in eine Richtung: auf rachsüchtiges und unterdrückendes Verhalten“
(Moore 1982: 559 f.).
Diese Punkte sind besonders wichtig, da hier die Sprache versagt, die ver-
sucht, mit Begriffen wie „Nationalsozialismus“ oder „Rechtsextremismus“ solche
Situationen begreifbar zu machen. „Nationalsozialismus“ als schillernde Eigenbe-
zeichnung der Nazis entfremdet und rückt damit verknüpfte Dimensionen des
deutschen Faschismus in eine historische Ferne. Diese hat nichts mit dem Heute
zu tun, ist abgetrennt von gegenwärtigen Erfahrungen. Rechtsextremismus stellt
als Deutungsmuster die Extreme zur Verfügung: die (bösen) Ränder, die (gute)
Mitte. Oder: Extrem = Gefahr = kriminell. Ein Fall für Ordnungspolitik. Die Ge-
genwart wird mit ihren Erfahrungsgehalten aufgespalten. Das Verhalten der

176 Im skizzierten Sinne sind die Geschichten, die von den Medien erzählt werden, letztlich dem
Einfluss der Leute entzogen. Als ich die Erfahrungen der Interviewten gelesen habe, ist für mich
interessant gewesen, dass alle den umrissenen Umgang der Leute mit den Medien so hervorge-
hoben haben. Ich denke, was sie hiermit andeuten, ist, dass sich die Leute die medialen Ge-
schichten in der hier skizzierten Weise wieder aneignen und so umbauen, dass sie ihnen von
Nutzen sind. Im Kontext der Cultural Studies des CCCS haben sich etwa Paul Willis (1991) oder
Richard Johnson (1999) mit der Frage der Medienrezeption beschäftigt. .
238 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

„normalen“ Leute wird zum Ausrutscher, zur Bagatelle, zum Faustrecht auf einer
Massenveranstaltung, zur Normalität. In gewisser Weise liegt damit auch das Ver-
haltensmuster der Leute vom Stadtfest und ihre Rechtfertigung quer zu gesell-
schaftlichen Deutungsmustern, ihren Hierarchien und politischer Verfügung „von
oben“. Die Leute vom Stadtfest, deren Verhalten Stefan problematisiert, entkräf-
ten auf wirkungsvolle Weise Kritik, indem diese Leute den Wirkungszusammen-
hang eines ideologischen Zugriffs „von oben“ (durch die Medien) widerstehend
umarbeiten in eine moralische Abwehr. Die Medien sind das andere. Die Medien-
gewalt, eine, die über die Leute verfügt. Die Leute vom Stadtfest decken damit
einen Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit auf, freilich ohne sie anzutasten oder
aufzulösen. In diesem Kontrast hat das „Wir“ den Sinn, ein über soziale Unter-
schiede hinweg gleichmachendes Selbst herzustellen; es definiert die Zugehörig-
keit zu einer Art „Volksgemeinschaftsding“ (S: 479), ohne die Hierarchien z. B.
zwischen Politik (Bürgermeister) und dem Rest anzutasten.
Die Übergriffe auf dem Stadtfest, das „Volksgemeinschaftsding“ (S: 479)
und das „Wir-Gefühl“ (S: 478) als Momente einer auf Ausschluss beruhenden
Form der Vergesellschaftung erscheinen hier als negative Verfügungsmasse für
die Leute. Richtet sich das Handeln der Leute auf den Ausschluss von anderen,
haben sie unmittelbaren Zugriff auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge über
die sie verfügen. In diesem Zusammenhang ergibt das Handeln der Leute für sie
selbst einen (sozialen, gesellschaftlichen) Sinn. In negativer Weise wird hier prak-
tisch Ordnung hergestellt. Wir hier|die da. Entscheidend dabei ist, dass die hierar-
chischen Ordnungen der Welt nicht wirklich angegriffen werden. Im Gegenteil:
Sie werden als ausschließende Unterscheidung reproduziert. Rassismus als Kenn-
zeichnung der anderen ist dabei ein Mittel dieser Praxis. Die ganze Situation ist
sperrig und mit Widersprüchen durchzogen.
Und noch ein Gedanke: Das Stadtfest als Beispiel und Rohstoff der Medien.
Das Stadtfest als Beispiel der Interviewten. Das Stadtfest als Ereignis der Leute.
Ein Stadtfest ist ein singuläres Ereignis. Und genauso wird es von den Leuten
der Stadt behandelt.
Hierin liegt die Normalität. Es war eine einmalige Sache. Nicht der Rede
wert. Ausnahme. Oder wie Martin über den Bürgermeister berichtet, der über die
Ereignisse zum Stadtfest sagt: „Heil Hitler kann einem ja mal rausrutschen oder
so in der Richtung, oder Sieg Heil kann mal rausrutschen oder so. Als Bürgermeis-
ter sollte man sowas nicht sagen“ (M/a: 306-307). Über diese Normalität erzählen
die Interviewten. Die Unempfindlichkeit, das Spaltbare, das Trennbare, die Ver-
schiebungen, die Verdrängungen und die damit verbundene Rücksichtslosigkeit,
Unterdrückung. Und darüber, was die Leute gemacht haben. Martin: „war viel-
leicht einfach die Position, die sie immer eingenommen haben, lieber die rechts-
konservative Position als eine antifaschistische Position wahrscheinlich, obwohl
5.2 Sich selbst organisieren 239

eigentlich gleich wieder der Standpunkt vielleicht darauf beruht, eigentlich“ (M/a:
324-328). Interessant ist hier die Gegenüberstellung von „rechtskonservativ“ und
„antifaschistisch“. Erst im Begriff des „Antifaschistischen“ werden die Verhal-
tensweisen der Leute zumindest analytisch unterscheidbar, konkret in der Gegen-
überstellung von „antifaschistisch“ und „rechtskonservativ“. Der wichtige Hin-
weis von Martin ist: Im Kontrast formuliert sich keine moralisch saubere Mitte.
Im Gegenteil: Es stehen sich zwei unterschiedliche Vorstellungen von Vergesell-
schaftung gegenüber. Zuspitzend: antifaschistisch mit dem Anspruch der (kol-
lektiven) Selbstbestimmung ≠ rechtskonservativ als Hierarchisierung (eines Kol-
lektivs), verbunden mit Ausschluss und Fremdbestimmung.
Diesem Spannungsfeld kann man sich nicht einfach durch moralische Empö-
rung entziehen. Im Gegenteil: Das Verhalten steckt mitten drin, kann befreiend
oder unterdrückend sein. Es wird zur Frage der Gegenwart. Es wird zur Frage des
Handelns („einer Art Antifagruppe“, S: 98), einer Notwendigkeit, dem gegenwär-
tigen „faschistischen Potential“ (Negt 2002: 107) entgegenzutreten und ihm etwas
anderes entgegenzuhalten. Rückt mit dem Begriff des Nationalsozialismus z. B.
die Aktualität von Nationalismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus oder Ras-
sismus etc. in eine historische Ferne, bricht der Kontakt zum Heute ab. Gleichzei-
tig werden Fragen unterbunden: Wie war es? Muss es heute so sein? Warum ist es
so? Wie könnte es sein? Was wäre eine Alternative? Was wäre eine andere Vor-
stellung von Gesellschaft? Wie könnte sie aussehen? Wäre sie möglich? Und
wenn, Wie? Unterbunden wird ein Fragen. Unterbunden wird ein Fragen nach der
Zukunft. Unterbunden wird ein Fragen nach dem Möglichen und Alternativen.
Damit sind Begriffe wie Nationalsozialismus oder Rechtsextremismus selbst ein
Beitrag zur Spaltung. Gespalten, oder getrennt wird hierbei die Verbindung zwi-
schen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Trennung: Vergangenheit |
Gegenwart | Zukunft. Damit ist auch die Gegenwart eingeschlossen, erstarrt in
Unbeweglichkeit und erscheint als unveränderbar. Hier sehe ich die Bedeutung
von Stefans vorsichtiger Einlassung: „einer Art Antifagruppe“ (S: 98). Er deutet
auf den „zivile[n] Weg“ (S: 97) einer Auseinandersetzung hin, eine Zivilisierung
gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Keiner Befriedung im Sinne einer Unter-
drückung des Konflikts, sondern: dem Konflikt auf den Leib rücken, ihn an der
Wurzel packen, reflektieren, verstehen, vielleicht auch etwas ändern, die angedeu-
teten Fragen zu öffentlichen machen und gleichzeitig als Gruppe ein alternatives
Modell entwickeln, um das Leben in die eigenen Hände zu nehmen.
Ein energiegeladenes Unterfangen, selbst verstrickt in Widersprüchen,
Hilflosigkeit, Wut, Not. Die Suche nach Handlungsmöglichkeiten. Sich zu spüren.
Zu merken, dass eigenes Handeln etwas bewirkt. Verdammt. Stefan angesichts des
„Volksgemeinschaftsdings“ und seine Reaktion auf die Ereignisse beim
240 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Volksfest: „Deswegen sind wir dann an dem Abend noch los und haben […] Autos
von Nazis kaputt gemacht, musste sein“ (S: 490-491).
In Stefans „Volksgemeinschaftsding“ (S: 479) steckt aber noch eine weitere
Kritik. Sie geht über die Kritik an dem Verhalten der Leute auf dem Volksfest
hinaus. Es ist eine Kritik an einem „Wir“, bei dem die Einzelnen und ihr Verhalten
verschwinden. Sie können sich im „Wir“ verstecken, sich abschließen und gleich-
zeitig das Unliebsame, das Unerwünschte, das andere ausschließen. wir hier|die
da. Denke ich dies mit der Überlegung von Markus zusammen, „der Chef und der
Rest“ (Ma: 338), ist die Kritik von Stefan eine gesellschaftlich allgemeinere. In
den Bildern wir hier|die da oder „der Chef und der Rest“ (ebd.) drückt sich eine
Erfahrung mit einer alltäglichen Vergesellschaftung aus, die auch deshalb von Be-
deutung ist, da sie sich als Problem der Selbstorganisation wiederfindet, als Wi-
dersprüche im konkreten Handeln der Interviewten selbst. Oder wie Markus an-
deutet: „kleines soziales Experiment bei uns irgendwie, dass man eben aus dieser
festgefahrenen Struktur irgendwo immer ausbricht. Was eben aber dann, wie ge-
sagt, das ist durch Martins Überaktivismus da missverstanden worden, wo das
dann doch irgendwie in diese Richtung wieder ging, ah, hier, Martin will jetzt Boss
sein und wir anderen müssen machen, was er sagt. Was aber nicht der Fall war,
kann ich nur immer wieder wiederholen. Aber es ist sehr subjektiv, also Stefan hat
das z. B. nicht so gesehen“ (Ma: 339-345). In diesem Spannungsfeld ist die Kritik
von Stefan eine, die sich gegen die Blindheit einer Gemeinschaft (der Leute auf
dem Volksfest oder der Leute im Verein) richtet, welche sich freiwillig in einer
Hierarchie einrichtet, dieses Muster im „Wir“ leugnet und dabei die Gefahr ent-
steht, andere Leute auszuschließen und gleichzeitig Kritik an diesem „ekligen Sta-
tus qou“ (S: 37) zu unterbinden.
Der Verein entsteht kurze Zeit nach den Ereignissen auf dem Stadtfest. Vor
diesem Hintergrund: eine Art Antifagruppe|die dann gesagt hat|gegen solche
Dinge auf zivilem Wege|einen Verein zu gründen. Eine sinnstiftende Funktion des
Vereins wäre die „zivile“ Bearbeitung der skizzierten Konflikte, die „Zivilisie-
rung“ des Verhaltens, auch des eigenen. In diesem Sinne könnte der Verein zum
einen ein Faktor zur Stabilisierung des Lebens im Ort selbst sein und zum anderen
eine Stabilität im gemeinsamen Handeln erzeugen, die im Handeln der Einzelnen
oder auch als selbst organisierte Gruppe des Lagerfeuers so nicht möglich ist. Ab-
hängig ist dies in den Augen von Stefan im Wesentlichen davon, ob sie mit ihrer
Organisation als Verein „ernst genommen“ werden. Markus bringt dies negativ so
zum Ausdruck: „Also ich habe das Gefühl gehabt, man wurde nicht ernst genom-
men“ (Ma: 20-21).
Etwas andere Akzente setzt Elena, wenn sie über die neue Qualität spricht,
die sich mit der Gründung des Vereins verbindet. Das „Neue“ knüpft sich hier an
die Möglichkeiten, die sich mit einem Haus ergeben haben, welches sie als Verein
5.2 Sich selbst organisieren 241

pachten konnten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass dieses mitten im


Stadtzentrum, gleich in der Nähe des Marktplatzes, liegt.
Elena: „Und ja, dann kam es irgendwann dazu, dass, ich weiß gar nicht mehr, von
wem da so die Initiative ausging, könnte mir gut vorstellen von Martin, aber ich bin
mir nicht ganz sicher, kam es halt dazu, dass wir uns so ein leer stehendes Haus in [X]
angeguckt haben und das dann pachten konnten. Ja, und das war schon ein ganz schö-
ner Schritt nach vorne, weil einerseits hatten wir halt quasi ein festes Haus und ande-
rerseits hat das auch ganz, ganz viel so Energie da reingebracht, weil dann plötzlich
halt nicht nur irgendwie so die, ich weiß nicht, so fünf, sechs, sieben Leute da waren,
sondern plötzlich noch 20 andere, die einfach Lust hatten, da was mitzumachen und
die vielleicht auch irgendwie so handwerklich was drauf hatten und dann da mitge-
holfen haben, die Decken abzuhängen und irgendwie den Putz abzuhacken, das zu
tapezieren, zu streichen und halt so, ja, einfach Teil von einer Gruppe zu sein, die halt
schon so einen alternativen Treffpunkt in [X] aufbauen wollte, weil es das halt einfach
nicht so richtig gab. Und ja, das war also auch total schön zu sehen, dass dann wirklich
so ganz, ganz viele Leute plötzlich da waren und so mit Elan irgendwie, wir sind 18,
zwölf dann irgendwie was gemacht haben in dem Haus. Ja, und dann haben wir uns,
ich glaube, so einmal die Woche oder so war dann immer mit Vereinsplenum, also
was aber auch offen war für alle anderen und wir hatten dann ja auch einen E-Mail-
Verteiler eingerichtet und genau, da konnten alle Leute jetzt, die entweder Vereins-
mitglieder waren oder irgendwie Interesse an den Themen hatten oder an der Verein-
sarbeit, auch teilnehmen und genau, wobei wir über E-Mail vor allem irgendwie so,
ich glaube, da ging es vor allen Dingen darum, wann treffen wir uns wo und dann bei
dem Plenum wurde dann so das meiste Inhaltliche dann geklärt und, ja, das war ei-
gentlich auch sehr angenehm, weil ich hatte das Gefühl, es würde immer schon recht
gut, wo wir in der Anfangszeit recht gut darauf geachtet haben, irgendwie so, Ja, so
Kommunikationsregeln, so ausreden lassen und irgendwie so […] Liste und ja. Also
klar, irgendwie wo dann die Konflikte mehr wurden, sah das dann auch anders aus,
aber so am Anfang ist schon […] konstruktiv und“ (E: 148-175).
Weiter vorn sprechen Markus und Stefan auf unterschiedliche Weise vom Verein
als einer Basis. Einen Schwerpunkt bilden dort vor allem Fragen der Selbstorgani-
sation und der Funktion des Vereins. Auch Elena beschäftigt sich mit diesen Dingen,
macht aber deutlich, dass die Basis des Vereins tatsächlich noch weiter zu fassen ist:
Sie haben ein Haus. Habe ich weiter vorn hervorgehoben, dass Markus und Stefan
im Verein eine Organisationsform sehen, um z. B. das antifaschistische Engagement
der Vereinsleute auf eine stabilere Grundlage zu stellen und mit einer Ernsthaftigkeit
zu versehen, um sich in den skizzierten Widersprüchen bewegen zu können, be-
kommt die Stabilität mit dem Haus einen grundsätzlicheren Charakter. Elena spricht
davon, dass das Haus „ein ganz schöner Schritt nach vorne“ gewesen sei (vgl. E:
152). Noch ein qualitativer Sprung. Was macht diesen aus?
Elena: „ein festes Haus“ (E: 152). Im Vergleich zum Lagerfeuer und der Gar-
tenlaube, erscheint ein Haus als eine stabilere, dauerhaftere Angelegenheit. Die
242 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Gartenlaube außerhalb der Stadt. Am Rand. Fast ein anonymer Ort, um sich zu
treffen und zu diskutieren. Ein Hauch des Subversiven. Ein Treffpunkt der
Gruppe, der durch ihr Tun zum Ort wird. Ein Ort, über den die Gruppe verfügt. In
einer weiteren Assoziation hat die Gartenlaube etwas „Zartes“. Im Wesentlichen
lebt der Treffpunkt Gartenlaube von der Interaktion der Gruppe, ihrem wechsel-
seitigen Austausch, der Schaffung eines „Erfahrungsraumes“, dem Raum für
Phantasie, um ein Bewusstsein füreinander und die Dinge zu entwickeln, die im
Ort passieren. Ihre Stabilität als Gruppe ruht hauptsächlich in den Verbindungen
ihrer Beziehungen, der Solidarität durch ihre Erfahrungen und Fragen, in der Form
damit verbundener Gleichheit, einer Gleichheit die im fragenden Suchen zwischen
den Verschiedenen entsteht. Verbindend ist dabei die Perspektive der Selbstbe-
stimmung als Ausdrucksweise von Freiheit, spürbar in den durch die Erfahrungen
und Fragen angestoßenen Antworten, von Vergewisserung bis Phantasie. Das, was
passiert, kann ja nicht alles gewesen sein. Es ist eine bewegliche, veränderliche,
sich entwickelnde Stabilität eines Geflechts unterhalb der Organisation. Die dabei
erzeugten Zusammenhänge sind verletzlich. Und dennoch: Diese Verletzlichkeit
ist wichtiger Bestandteil einer Stärke, einer gemeinsamen Kraft zur Entwicklung
von Handlungsfähigkeit.
„Ein festes Haus“ (E: 152). Die Betonung von festes durch Elena löst eine
Assoziationskette aus. Ein festes Haus ist robust, massiv, beständig, schützend,
verbindlich, trotzig (vgl. auch Stichwort „festes“ Duden 2014). Ein Fundament,
fest verankert im Boden. Ein Dach über dem Kopf. Ein Anlaufpunkt. Ein Treff-
punkt. Ein Haus als Stützpunkt für die Zartheit des Geflechts. Und, mit dem Blick
zurück, etwas Traurigkeit, aber die Erfahrung eines Glücks gelingender Verknüp-
fungen. Oder Martin im Gruppengespräch: „Da ist ein Zusammenhalt da gewesen,
der vorher nicht denkbar war, glaube ich, teilweise“ (G: 1319).
Und Martin im Gruppengespräch zu den ersten Aktionen: „die ersten Veran-
staltungen zur Anitfawoche damals, wo die erste Buchlesung [war]. Da waren über
50 Leute waren in dem Haus so, teilweise unten auf dem Boden, im Garten teil-
weise, die hat das auch teilweise gar nicht so brennend interessiert, die Vorlesung.
Die waren einfach da, weil die haben sich da zugehörig gefühlt. Das war einfach
nur der Hammer alles, war immer klasse“ (G: 1321-1325).
Die Erfahrung einer Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns. Dieses beschränkt
sich nicht nur auf die Interviewten selbst. Da sind „plötzlich noch 20 andere“ (E:
155). Die Erfahrung von Zugehörigkeit. Die „20 anderen“ „[hatten] einfach Lust“
(ebd.), haben einen sinnlichen Zugang gefunden. Eine Freude am konkreten Be-
arbeiten, der handwerklichen Gestaltbarkeit des Hauses. Das Haus in eine Form
bringen: „handwerklich“, „Decken abhängen“, „irgendwie den Putz abhacken“,
„tapezieren“, „streichen“ – Elemente um das Haus nutzbar zu machen (vgl. ebd.:
156 f.). Gemeinsames Gestalten ist eine prozesshafte Entwicklung, braucht die
5.2 Sich selbst organisieren 243

Phantasie, die das Kognitive überschreitet, es mit dem Körperlichen verbindet.


Das Körperliche und das Kognitive verschmelzen zu einer Einheit. Eine Erfahrung
der Aufhebung von Trennungen. Dies ist möglich (Die Erfahrung ist möglich. Die
Aufhebung ist möglich). Als momenthaftes Element greifbar und erfahrbar. Mit-
ten in einer gegenläufigen Bewegung. Eine ungleichzeitige und gegenläufige Be-
wegung, zu den Prozessen der Organisation von Arbeitsteilung, denen Markus und
Stefan in ihren Überlegungen Raum geben.
Elena beschreibt den Prozess, wie sie das Haus zum „alternativen Treff-
punkt“ umbauen, umgestalten. Dies ist ein sinnlicher Prozess und darüber hinaus
die Erweiterung von Sinnlichkeit, ihre Verwandlung in Sinn, zur Sinnhaftigkeit:
„einfach Teil von einer Gruppe zu sein“ (E: 158). Das Gemeinsame. Zugehörig-
keit. Das Sinnliche. Das Sinnliche in einer doppelten Bedeutung. Die menschli-
chen körperlichen Sinne überschreiten ihre körperliche Begrenzung als Möglich-
keiten der Einzelnen; sie wirken mit anderen zusammen und gewinnen Gestalt am
Haus. Gleichzeitig bilden sie einen Zusammenhang, „einfach Teil von einer
Gruppe zu sein“; das Haus gewinnt den Sinn als Stützpunkt, als „Alternative“,
„[die] es halt einfach nicht so richtig gab“ (ebd.: 158 f). Und: Dies schaffen sie
selbst.
Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil sich auch hierin eine gegenläufige
Bewegung ausdrückt. Diese reicht über die Gruppe, den Verein, das Haus hinaus.
Wie ich weiter vorn mit den Überlegungen von Sandra deutlich gemacht habe, ist
ein gemeinsam geteilter Erfahrungszusammenhang der Leute (im und rund um
den Verein) eine Verengung öffentlicher Erfahrungsräume, die auch politisch vo-
rangetrieben wurde, etwa durch die Schließung des örtlichen Jugendclubs. Wie
die Interviewten berichten, war dieser Jugendclub auch ein punktueller Treff für
Leute des Vereins. Hierzu Markus: „Aber es war zumindest auch eine Anlaufstelle
für kreative, alternative Jugendliche, die mal was anderes machen wollten und
nicht so diesen Kleinstadtmuff über sich ergehen lassen“ (Ma: 417-418) wollten.
Die Leute von dort kamen nach Schließung des Jugendclubs in das „feste Haus“.
Über freundschaftliche Kontakte fanden sie den Zugang oder waren als „Sympa-
thisant*innen“ (E: 566) aktiv, waren Unterstützung im Haus oder bildeten einen
erweiterten Kreis außerhalb, als stille Kräfte in der Stadt. Sie mussten nicht mal
Mitglieder im Verein sein. Sie konnten einfach so mitmachen. Elena spricht in der
Folge davon, dass „so ein bisschen Bewegung in [X] da war“ (E: 568). Die Schlie-
ßung öffentlicher Erfahrungsräume ist auf der einen Seite eine Verdrängung.
Gleichzeitig sammeln sich auf der anderen Seite aber die Leute an anderer Stelle,
bilden neue Formen von Solidaritäten, nutzen und entdecken die Möglichkeit, den
Stützpunkt „festes Haus“. Sie organisieren selbst einen öffentlichen Erfahrungs-
raum „von unten“, der sich dem unmittelbaren Zugriff „von oben“ entzieht. In
diesem Sinne entwickeln die Leute als Gruppe und als Verein eine Kraft der
244 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Notwendung, die Fähigkeiten zum Handeln, ein Fundament zu bauen, das gleich-
zeitig flexibel und stabil dem Druck „von oben“, mit seinen Erschütterungen und
Verdrängungseffekten trotzen kann: „festes Haus“.
Elena: „Und ja, das war also auch total schön zu sehen, dass dann wirklich so
ganz, ganz viele Leute plötzlich da waren und so mit Elan irgendwie, wir sind 18,
zwölf dann irgendwie was gemacht haben in dem Haus“ (E: 160-163). In Verknüp-
fung mit den Gedanken von Martin aus dem Gruppengespräch, „die haben sich da
zugehörig gefühlt“ (G: 1324 f.), ergibt Zugehörigkeit einen erweiterten Sinn. Zuge-
hörigkeit ist keine passive Angelegenheit. Sie wird als Verknüpfung im gemeinsa-
men Handeln mit den anderen hergestellt. Das Besondere an der Überlegung von
Martin ist, dass er von einer Situation erzählt, einen Kontrast zeichnet: die haben
sich da zugehörig gefühlt|nicht so brennend interessiert|Buchlesung|Vorlesung. Ver-
stehe ich hier Zugehörigkeit als horizontales Zusammensein der Vielen, deckt hier
Zugehörigkeit eine Praxis des Frontalen auf. Es wird vorgelesen. Für die einen ist
dies vielleicht ein Genuss. Für die anderen ist es eine Situation des Aushaltens, ver-
bunden mit der Gefahr, den Kontakt zu verlieren. Zugehörigkeit ist in diesem Zu-
sammenhang auch eine Praxis, über unterschiedliche Interessenlagen hinweg das
Gemeinsame auszubalancieren. Dennoch bleibt hier eine Schwierigkeit bestehen.
Ein unverstandener Konflikt. Die Frage nach Bildung.
Im Unterschied zur Situation einer Buchlesung skizziert Stefan eine andere
Situation: im Haus kommen Leute zusammen, der Freundeskreis, andere Leute.
Und dann „kamen halt die Freunde von den einen noch mit dazu und dadurch war
das dann, dass man sich dann auch teilweise Leute dann, die sich noch nie wirklich
über diese Themen, z. B. Nahost hat sich eigentlich nie einer wirklich groß dazu,
also wussten ja nicht mal, wo auf der Landkarte überhaupt Israel ist so, oder wieso
Israel eben gegründet wurde, was die Geschichte dahinter ist usw. usf. Und ja [...]
da kam das dann so nach und nach, dass, ja, genau. [...] Das war eigentlich auch
ein positiver Nebeneffekt so, dass man da, weil sonst hätten glaube ich, gewisse
Leute gar nicht sich darüber einen Kopf gemacht so über gewisse Themen. Das
war aber, glaube ich, wirklich nur eine Begleiterscheinung“ (S: 187-195).
Im Unterschied zur obigen Situation zeichnen sich mit dem Beispiel von Stefan
zwei unterschiedliche Bildungszusammenhänge ab. Ist eine Vorlesung eine frontale
Angelegenheit und eine Situation des „Bescheidgebens“ (Rumpf 2010: 33), entwi-
ckeln sich die Anknüpfungspunkte im Beispiel von Stefan „so nach und nach“ (S:
192) im Austausch untereinander. Dort entsteht eine Zugehörigkeit zu den Themen
der anderen. Diese liegt quer zu Vermittlungen „von oben“. Eine Buchlesung wird
in diesem Moment zur sperrigen, widersprüchlichen Angelegenheit. Beides sind
Teile des Zusammenhangs der Leute im Haus. Ihre Widersprüchlichkeit wird aller-
dings nicht als ein Problem von Bildung erkannt. Oder Bildung gilt als „Nebenef-
fekt“ (S: 193), als „Begleiterscheinung“ (S: 195) und nicht als Teil der
5.2 Sich selbst organisieren 245

Prozesshaftigkeit des Austausches untereinander. Bildung aus diesem Blickwinkel


wäre dann etwas anderes, vielleicht bekannt aus Situationen der Schule, eine Form
des einseitigen Zuhörens. Oder Stefan hebt mit seinem Hinweis auf den „Nebenef-
fekt“ (S: 193) und die „Begleiterscheinung“ (S: 195) die Möglichkeit reflexiver Er-
fahrung hervor. Reflexive Erfahrung kann sich als momenthaftes, nicht planbares
Ereigniss aus den Zusammenhängen der selbstorganisierten Erfahrungsräume im
„festen Haus“ entwickeln, weil dort Möglichkeiten entstehen, sich „über gewisse
Themen“ (S: 194) einen „Kopf“ (ebd.) machen zu können.
Ein „festes Haus“ baut nicht nur auf statischen Gesetzen. Ein „festes Haus“
baut auf der oben angedeuteten sinnlichen Dimension, die dem Haus als lebendi-
ges Geflecht der Vielen eine Funktion gibt, das Haus mit Sinn erfüllt. Im Haus
vereinen sich verschiedene Kräfte und Leute. Elena unterscheidet hier zwischen
den tatsächlichen Mitgliedern des Vereins, den Leuten, die über freundschaftliche
Beziehungen eine Bindung an das Haus gefunden haben, und „Sympathisant*in-
nen“, die im Haus selbst aktiv wurden und denen, die von außen das Haus unter-
stützen. Hiermit verbinden sich nicht nur unterschiedliche Interessenlagen, son-
dern auch unterschiedliche Grade und Intensitäten von Bindungen an die Organi-
sation des Hauses. Hierfür braucht es Verabredungen zur Kommunikation und In-
teraktion der Leute. Elena wird hierzu genauer: „Vereinsplenum“, „E-Mail-Ver-
teiler“, „wann treffen wir uns wo“ (E: 164 f.). All diese Dinge haben unterschied-
liche Funktionen. Das Vereinsplenum ist eine verbindliche Plattform einer „inter-
nen“ Öffentlichkeit. Regelmäßigkeit ist hierbei wichtig: „so einmal die Woche“
(E: 163). Mehr noch: Elena unterstreicht den Charakter des Plenums, was in Ähn-
lichkeit zum Basisdemokratischen von Markus die Praxis und Zielrichtung einer
gemeinsamen Kommunikation umreißt. Hierbei geht es um Achtsamkeit, Rück-
sichtnahme, eine Form geteilter Ordnung wie Redelisten, rotierende Verantwort-
lichkeiten, Moderation und Kommunikationsregeln, die zum Ziel haben, die Vie-
len und ihre verschiedenen Interessenlagen und Bedürfnisse zu Wort kommen zu
lassen. Niemand soll in einem Durcheinander der Stimmen der Vielen verloren
gehen und unterdrückt werden. Es sind Werkzeuge, die sie formen, ausprobieren,
selbst herstellen, gemeinsam aus ihrem Zusammenhang heraus entwickeln, um sie
in ihrem Zusammenhang anwenden zu können. Die Wichtigkeit dieses Prozesses
unterstreicht Elena auch an anderer Stelle:
Elena: „ Ja, [...] so bei dem Punkt Kommunikation, ich glaube, da gab es schon auch
so einen Diskussionsprozess irgendwie, wie wollen wir miteinander kommunizieren,
wie wollen wir gerade so in Plenumssituationen miteinander kommunizieren und
dann haben wir uns eigentlich schon so gemeinsam darauf geeinigt, dass wir halt, dass
es uns wichtig ist, dass jede Person gehört wird und sagen kann, was er oder sie für
wichtig hält in dem Moment und haben dann halt gemeinsam geguckt irgendwie, wie
sich das realisieren lässt. Und genau, haben daraufhin dann eben angefangen so, ja,
246 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

dass es abwechselnd von verschiedenen Leuten moderiert wird, so ein Plenum und
dass halt Redelisten geführt wurden und ja, dann haben wir uns ja insofern irgendwie
auch so ein, na wie so einen gemeinsamen Wert oder wie so ein gemeinsames Ideal
auch erarbeitet, also indem wir halt geguckt haben, was ist uns wichtig und was wollen
wir nicht, nämlich dass nur die Lautesten reden und dann über alle anderen bestim-
men, sondern wir wollen alle gemeinsam entscheiden, wo es hingehen soll, was wir
machen wollen, ja, was er macht“ (E: 486-499).
Wie deutlich wird, handelt es sich um ein Lernfeld, im weiteren Sinne um ein Feld
der Bildung von Zusammenhang „von unten“. Wie geht dies? Fragend: „Wie wol-
len wir miteinander kommunizieren?“ (E: 487 f.). Die Leute im Haus beschäftigen
sich mit dieser Frage, entwickeln Ideen und Vorschläge. Diskussionen. Und dann:
„gemeinsam darauf geeinigt“ (E: 489). Den Knotenpunkt bildet, dass es „uns
wichtig ist“, dass: „jede Person gehört wird und sagen kann, was er oder sie für
wichtig hält“ (E: 490-491). Im Bild von Elena sind alle Leute des Hauses Teil des
Prozesses. Deshalb geht es um die Frage des „Wie“. Im „Wie“ verdichtet sich die
Idee selbstbestimmten Handelns, welches sich gegen die fremdbestimmten Mo-
mente ausbalancieren muss. Eine Dominanz des Formalen wird gebrochen in der
Zielrichtung eines „gemeinsamen Ideals“, einer normativen Richtung: „indem wir
halt geguckt haben, was ist uns wichtig und was wollen wir nicht“ (E: 496-497).
Deshalb: uns ist wichtig|dass|jede Person gehört wird.
Es ist der Versuch, die Lebendigkeit gemeinsamer Kommunikation bei
gleichzeitiger Notwendigkeit einer Ordnung der Stimmen der Vielen zu erhalten
und nicht einer Hierarchisierung zu opfern. Es soll keine Unterordnung erfolgen
unter die, die am „lautesten reden und dann über alle anderen bestimmen“ (E: 497
f.). Dies, so lässt sich die Erfahrung von Elena interpretieren ist ein offener Pro-
zess, des Probierens, des Experimentierens: „gemeinsam [gucken], wie sich das
realisieren lässt“ (E: 491-492). Dieser Prozess kann, so möchte ich schlussfolgern,
nicht abgeschlossen sein (oder werden).
Kommt der Prozess zum Abschluss, entsteht Stillstand. Die Funktion und das
Ideal brechen auseinander, werden sich fremd und maßregeln sich dann gegensei-
tig. Hier die Ordnung: So und so muss es richtig laufen; der technisch funktionale
Verstand orientiert sich dann am reibungslosen Ablauf, an Ideen der Effizienz, der
sortierten Transparenz. Das Formale tritt in den Vordergrund. Demgegenüber das
Ideal: So und so müsste es richtig laufen; so wie es funktioniert, ist es falsch. Eine
normative Annahme und Wertung tritt in den Vordergrund. Beide verlieren ihre
Beziehung zueinander, blenden wechselseitige Notwendigkeiten aus. Im negativs-
ten Fall lösen sie sich dann auch von den Leuten; sie erscheinen als fremde Dinge,
unnütze Werkzeuge oder als Werkzeuge im fremden Zweck, die nur einzelnen und
ihren Interessen nützen. Das Gemeinsame spaltet sich auf in die Positionen der
Einzelnen. Auch hier im negativsten Fall: Wer am lautesten redet, bestimmt. Die
5.2 Sich selbst organisieren 247

Stimmen der anderen erscheinen als Schweigen. Das Schweigen ist ein besonde-
res. Jeder schweigt für sich selbst; alle schweigen als Einzelne. Was sie verbindet
ist, die Vereinzelung ihrer Gedanken, ihrer Stimmen, die sich nicht berühren und
hören. Das Schweigen wird zum individuellen Problem. Es wird individualisiert.
Nicht zu reden, erscheint als Problem und Beschränkung der Einzelnen. Die struk-
turelle Verbindung wird ausgeblendet.
Der letzte Gedankengang ist ein assoziativer Lauf, angestoßen von der Trau-
rigkeit Elenas: „Also klar, irgendwie wo dann die Konflikte mehr wurden, sah das
dann auch anders aus, aber so am Anfang ist schon [...] konstruktiv“ (E: 171-173).
Die Traurigkeit: Die Balance der „Energie“ des „festen Hauses“ zu organi-
sieren und herzustellen, ist eine offene Angelegenheit. Im Prozess haben sie sich
verschiedene Werkzeuge geschaffen, die sie gebrauchen und nutzen. Dennoch ent-
wickeln sich Risse; Konflikte potenzieren sich. Der Optimismus: „am Anfang“.
Die skizzierte Erfahrung kann Elena nicht genommen werden. Die Erfahrung ist
Rohstoff, Ressource und Werkzeug in einem. Sie liegt quer zu Ansprüchen „von
oben“.

5.2.5 Verein – Zu den Problemen von Arbeitsteilung und Hierarchisierung im


Haus – Spaltung und Konflikte

5.2.5.1 „Wir als Verein“ und die „Sterni“-Leute – unterschiedliche Gruppen


und ihre Konflikte

Und Elenas Erfahrung steht im Konflikt. Sie steht im Konflikt mit anderen Erfah-
rungen von Leuten aus der Gruppe. Auch Sandra spricht über ihre Erfahrung im
Haus.
Sandra: „Ich glaube, irgendwann ging es mal um, ob man das Sterni177 auch für
70 Cent statt für 60 Cent verkaufen kann und das ging irgendwie gar nicht, weil es ja
[...] billiger wäre und da war auch kein Verständnis dafür da, dass wir als Verein ir-
gendwie die Eigenmittel erbringen müssen und dass wir auch, wenn wir das Haus
ausbauen, dass wir das nicht gefördert kriegen, dass wir dafür Geld brauchen, das
interessierte alles nicht. Also es war immer schon viel, wenn sie irgendwie beim
Bauen mal mit angepackt haben und mal ein paar Handgriffe mitgemacht haben. Aber
so politisches Verständnis war halt wirklich nur dieses, ja, wir sind gegen Nazis, aber
warum, wieso, weshalb und dass man da auch mal irgendwie aktiver was machen
könnte außer bloß das immer wieder zu sagen, [kam] da halt nicht“ (Sa: 360-369).
Dem Optimismus von Elena steht hier die Nüchternheit von Sandra gegenüber.
Sandra ärgert sich. Sandra äußert ein Unverständnis. Sandra ärgert sich über eine

177 „Sterni“ ist ein Kürzel für die Biermarke „Sternburger“.


248 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Gruppe von Leuten. Sie versteht ihr Verhalten nicht. Zwei unterschiedliche Inte-
ressenlagen, zwei verschiedene Themen: Bierpreise versus Eigenmittel. Die Bier-
preise scheinen den einen wichtiger zu sein als die finanziellen Zusammenhänge
des Vereins. Die finanziellen Zusammenhänge erscheinen den anderen wichtiger
als die Bierpreise. Im Grunde sind beide Interessenlagen zwei Seiten einer Me-
daille. Es artikuliert sich ein wirtschaftlicher Konflikt. Gleichzeitig artikuliert
Sandra eine Trennung. Verein|Haus. Wie schon weiter oben deutlich wurde, macht
auch Elena darauf aufmerksam, dass es im Haus verschiedene Gruppen gab. Sie
wird hierzu noch genauer.
Elena: „Ja, ich glaube, ich würde da einen Unterschied machen so zwischen den Leu-
ten, die tatsächlich im Verein so eingebunden im Sinne von Mitglied waren und aktiv
waren. Ich glaube, da ging es schon ganz viel so um so einen eigenen Anspruch oder
so eigene Ideale einfach, so auf gesellschaftliches Miteinander, geschäftliche Organi-
sationsformen, Zusammenleben usw. Dann gab es, glaube ich, noch Leute, die halt so
weniger, ich sage mal, weniger inhaltlich aktiv waren im Verein, die, glaube ich, so
Freundschaften eine große Rolle gespielt haben, quasi zu den aktiveren Vereinsmit-
gliedern, also hatte ich so das Gefühl. Und ja, quasi so von den, nennen wir das mal
so Sympathisant*innen des Vereins, was glaube ich, auch das beides ein bisschen und,
ich finde kein gutes Wort, also so im Sinne von irgendwie, dass auch mal so ein biss-
chen Bewegung da war in [X], also das, so was passiert war, was natürlich auch ir-
gendwie vielleicht auch etwas spannend war, weil es so neu war und wo man gerne
dabei sein wollte“ (E: 558-570).
Diese Differenzierung von Elena ist mit Blick auf die Äußerung von Sandra wich-
tig. Das Leben im Haus organisiert sich über unterschiedliche Gruppen. Hiermit
verbinden sich unterschiedliche Aktivitäten und Bindungen der Einzelnen an das
Haus. Die Gruppe der Mitglieder des Vereins diskutiert die grundlegende Orien-
tierung ihrer Vorstellungen, wie gesellschaftliches Miteinander aussehen könnte,
was dies für das Haus bedeutet und – hiermit verbunden – die Fragen der Organi-
sation, der Organisationsformen. Elena spricht hier von „inhaltlich“ (E: 563). Sie
unterscheidet diese Gruppe von den Leuten, die keine aktiven Mitglieder des Ver-
eins sind, aber engere Bindungen zu den Leuten haben, die sich aktiv im Verein
engagieren. Und es gibt die Gruppe der Sympathisant*innen des Vereins, eine Art
loses Umfeld, welches aber als Stütze für das Haus wichtig ist.
Auf den ersten Blick kann man die Überlegung von Elena so verstehen, dass
sie ein Zentrum formuliert, sie den Kern der Aktiven (Verein) und eine Peripherie
von Leuten, die weniger aktiv sind, beschreibt. Folge ich diesem Gedanken, ergibt
sich dabei auch ein Gefälle. Im Zentrum werden Dinge besprochen. Es sind wich-
tige Dinge, die einen wesentlichen Einfluss darauf haben, wie sich der Verein und
seine Peripherie, wie sich das Haus ausrichten soll. Im Zentrum konzentrieren sich
die Fragen des Miteinanders und der Organisation. Zuspitzend: Es ist das Privileg
5.2 Sich selbst organisieren 249

der aktiven Mitglieder, diese Fragen zu behandeln. Im Kontext eines Vereins ist
außerdem vorstellbar, dass dort auch Entscheidungen getroffen werden – Ent-
scheidungen, die letztlich alle etwas angehen; Entscheidungen, zu denen die we-
niger aktiven Leute, die Nichtmitglieder des Vereins und die Sympathisant*innen,
keinen unmittelbaren Zugang haben, obwohl letztere, wie Elena und Martin oben
deutlich machen, für das Haus von zentraler Bedeutung sind. Sie beleben durch
ihr Zutun das Haus. Sie sind Teil des Hauses, der Idee, die ohne sie keine Leben-
digkeit haben würde. Ein Kontrast: aktive Mitglieder|nicht aktive Mitglieder.
Diese Zuspitzung ist allerdings mit Blick auf die gewählte Sprache von Sandra
und Elena aufzulösen. Es ist zwischen Sandra und Elena zu unterscheiden.
Elena ist mit ihren Differenzierungen darum bemüht, graduelle Unterschiede
zu beschreiben, wie sich die Aktivitäten im Haus verteilen. Der entscheidende
Punkt dabei ist, dass hierbei das Haus als gemeinsames Projekt betrachtet wird.
Alle sind Teil des Hauses. Es kann aber graduell zwischen verschiedenen Formen
des Zutuns zum Haus unterschieden werden. Die Übergänge sind dabei fließend.
Elena: „tatsächlich im Verein so eingebunden im Sinne von Mitglied waren und
aktiv waren – Dann gab es, glaube ich, noch Leute, die halt so weniger, ich sage
mal, weniger inhaltlich aktiv waren im Verein – die, glaube ich, so Freundschaften
eine große Rolle gespielt haben, quasi zu den aktiveren Vereinsmitgliedern, also
hatte ich so das Gefühl – Und ja, quasi so von den, nennen wir das mal so Sympa-
thisant*innen des Vereins“ (E: 559-566). In diesem Sinne entfalten alle auf unter-
schiedliche Weise Aktivitäten, die zusammen das Leben des Hauses abbilden.
Entsprechend wären auch die bei Sandra als passiv erscheinenden Leute, die über
den Preis des „Sternis“ diskutieren, ebenfalls aktiver Teil des Ganzen.
Bei Sandra erscheint ein starker Kontrast. Zum einen werden diejenigen, die
sich für das „Sterni“ und „60 Cent“ stark machen, nicht beim Namen genannt.
Außer: „es war immer schon viel, wenn sie irgendwie beim Bauen mal mit ange-
packt haben“ (Sa: 365-366). Der Kontrast: wir als Verein|sie. Hier wir|sie da. In
diesem Bild erscheinen die Leute vom Verein als die Aktiven. Aktivität wird hier
von ihrer Organisation her gedacht. Die nicht aktiven Mitglieder erscheinen als
passiv. Sie haben „kein Verständnis“. „Kein Verständnis“ für den Zusammenhang
zwischen Bierpreis|Eigenmittel|Haus ausbauen. Und sie haben vermeintlich auch
kein (wirkliches) „politisches Verständnis“ (Sa: 367): wir sind gegen Nazis|aber
warum|wieso|weshalb|dass man da auch mal irgendwie aktiver was machen
könnte|außer bloß das immer wieder zu sagen| kann da halt nich. In der Überle-
gung von Sandra verlagert sich das Problem in die Einzelnen; es wird individua-
lisiert. Als Problem erscheint nicht mehr die Frage, wie die Leute des Hauses ge-
meinsam an bestehenden Problemen arbeiten könnten, sondern, wie diese sich ver-
halten. Ihr Verhalten der Uneinsichtigkeit wird zum Problem für Sandra.
250 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Hierin liegt aber noch mehr. Wie deutlich zu spüren ist, legt sich die Unein-
sichtigkeit der Leute, die über den Preis des „Sternis“ diskutieren, quer. Sie blo-
ckieren. Sie werden ungemütlich und sperrig. Es geht ihnen etwas gegen den
Strich. Was Sandra als Passivität erlebt, ist tatsächlich eine Bewegung, die sich
quer zu ihren Vorstellungen legt. Etwas Widerständiges liegt in der Luft. Und die-
ses Widerständige berührt die Fragen der Existenz des Vereins.
In der Überlegung von Sandra sind die „Sterni“-Leute abgekoppelt vom Ver-
ein. Sie erscheinen wie Gäste oder wie Leute, deren Bindungen an das Haus un-
glaubwürdig erscheinen, weil sich z. B. ihr „politisches Verständnis“ (Sa: 367) in
den Augen von Sandra nicht als ernst gemeintes Anliegen erweist. Oder weil sich
deren Interessen an Dinge knüpft, etwa preisgünstiges Bier trinken zu wollen. Ei-
nerseits braucht der Verein eine Beteiligung am Umsatz durch das Bier für die
Eigenmittel. Andererseits erscheint aber das Bier eher als Nebensache. Und dies
ist ein Irrtum. Im Konflikt artikuliert sich ein „unten“. Die „Sterni“-Leute machen
deutlich, dass sie Teil des Hauses sind. Das Sperrige. Was ist es? Die „Sterni“-
Leute nutzen das Mittel, das ihnen zur Verfügung steht. Und dies ist die Diskus-
sion über den Mehrbeitrag auf das Bier, den Mehrbeitrag, den andere als Eigenan-
teil für die Fördermittel gedacht haben. Scheinbar ohne die „Sterni“-Leute disku-
tiert und beschlossen. Oder, etwas weniger hart, es ist ein Thema, das die „Sterni“-
Leute bisher nicht erreicht hat, ein Thema dessen Bedeutung und Zusammenhang
unklar bleibt. Das Sperrige oder die quer liegende Haltung der „Sterni“-Leute legt
dies als Konflikt offen. Und die „Sterni“-Leute artikulieren mit ihren Mitteln: Wir
sind Teil des Hauses. Wir müssen uns einigen. Um uns zu einigen, müssen wir
verstehen. Es ist eine Aufforderung, zu teilen. Es ist eine Aufforderung, die Tren-
nung wir als Verein|sie|hier wir|sie da aufzuheben. Das Erstaunliche dabei ist, dass
gerade dies ein Beitrag zur Versachlichung der Debatte wäre, da sich hier die Dis-
kussion um die Frage der wirtschaftlichen Gestaltung des Hauses drehen könnte,
was wiederum ein Thema für alle ist. Oder, anders ausgedrückt, an diesem Punkt
hätten Sandra und die „Sterni“-Leute (und letztlich alle im Haus) ein gemeinsames
Thema, das ihre unterschiedlichen Perspektiven in einen gemeinsam geteilten Zu-
sammenhang bringen könnte.
An diesem Punkt wird auch deutlich, dass Sandra eine tendenzielle Überfor-
derung artikuliert. Die Einrichtung eines Vereins ist eine komplizierte Angelegen-
heit: die Trägerschaft eines Hauses, dessen Unterhaltung, die Ausgestaltung des
Vereins und des Hauses, ein Ausbau des Hauses nach den Bedürfnissen der Nut-
zer*innen, die verschiedenen kulturellen und politischen Anliegen, die aufzie-
hende Bürokratie, die Selbstverwaltung, die Wünsche der Vielen. Eine sehr kom-
plexe Angelegenheit, eine von den Leuten angenommene Herausforderung, die
höchsten Respekt verdient. Schon sind erste Hürden da. Fördermittel – diese Mög-
lichkeit nährt Phantasien. Dinge könnten möglich sein; ein Ausbau des Hauses,
5.2 Sich selbst organisieren 251

vielleicht auch etwas professioneller. Vorbilder gibt es; wie im Beispiel von
Sandra: das alternative Jugendzentrum AJU in der benachbarten Kreisstadt. Dort
fehlte allerdings die Zugänglichkeit. Im Haus könnte es anders werden. Hier liegt
es in den eigenen Händen.
Der mit den Fördermitteln verbundene Verwaltungsakt ist eine Begegnung
mit Kräften der Bürokratie. Es ist ein komplizierter Weg: den Antrag schreiben,
die Rahmenbedingungen verstehen, die z. B. von einer staatlichen Verwaltung
aufgestellt sind. Das Recht wirft juristische Fragen auf. Baufragen sind zu klären.
Darf überhaupt am Haus etwas gemacht werden? Wenn ja, wie und was? Viele
Wege sind zu gehen. Die Leute des Hauses müssen zum Rathaus zu laufen. Dort
ist die Baugenehmigung zu beantragen. Die Leute des Hauses begegnen im Rat-
haus den örtlichen Interessen. Die Verantwortlichen im Rathaus fragen, brauchen
wir so ein Haus? Die Leute des Hauses müssen sich rechtfertigen. Gleichzeitig
müssen die Leute im Haus ihre Phantasien in eine Konzeption bringen. Diskussi-
onen führen. Kompromisse bilden. Zuschnitte der Überzeugungen der Leute im
Haus. Es entsteht eine zwanghafte Situation mit Verkürzungen, die dazu führen,
dass die unterschiedlichen Interessen innerhalb des Hauses in der Spannung ste-
hen, auseinanderzufallen und sich im wechselseitigen Unverständnis, im Nicht-
verstehen der jeweils anderen Bedürfnisse zu Konfliktbündeln entwickeln. Das
Problem, das Sandra artikuliert, ist Ausdruck einer solchen Verkürzung. Die Kom-
plexität eines solchen Konfliktbündels ist in der Diskussion, „ob man das Sterni
auch für 70 Cent statt für 60 Cent verkaufen kann“ verdichtet. Die Komplexität
des zwanghaften Anteils, „Eigenmittel erbringen [zu] müssen“ (Sa: 363, Hervor-
hebung F.A.) erfährt eine Reduktion in der Konzentration auf das Verhalten der
„Sterni“-Leute. Das Zwanghafte wird weitergereicht als Idee einer Disziplinie-
rung, als ein Appell, das individuelle Verhalten zu modifizieren und in den Dienst
eines übergeordneten (fremden) Interesses zu stellen. Hierin liegt auch die tenden-
zielle Überforderung, ein Ausdruck von Hilflosigkeit, keine passende Idee dafür
zu haben, die Komplexität der Situation im gemeinsamen Zusammenhang verste-
hend erschließen zu können.

5.2.5.2 „Beim Verein ist halt immer das Problem, du bist im Zwang“ –
Verantwortung und Zuspitzung von Konflikten

In unserem Interview reflektiert Martin die Nachteile, die ein Verein mit sich
bringt. Er erinnert sich an eine Äußerung eines Vereinsmitglieds des alternativen
Jugendzentrums dem AJU in der benachbarten Kreisstadt. Dieses habe ihm er-
klärt, dass es heute „auf keinen Fall“ mehr bei einem Verein mitmachen würde,
weil dies „ein Haufen Arbeit, ein Haufen bürokratische Arbeit“ bedeute, was
gleichzeitig „das Vereinsleben kaputt, die inhaltliche Arbeit kaputt“ mache (M/b:
252 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

1209-1213). Vor diesem Hintergrund erläutert Martin, was er als das zwanghafte
Potenzial beim Verein erfahren habe. Zum Problem wird ein Punk-Konzert, wel-
ches im Haus veranstaltet wird.
Martin: „Beim Verein ist halt immer das Problem, du bist im Zwang. Du musst ir-
gendwelche bürokratischen Sachen machen, du musst irgendwelche finanziellen Sa-
chen machen, du musst das machen, musst das machen, musst das machen. Schon
allein musst du eine Satzung haben. Da muss alles drinstehen, das muss passen. Da
fängt es eigentlich schon an, dir eine Hierarchie zu schaffen, ohne, dass du es willst,
schaffst du eine Hierarchie. Und das ist eigentlich schon, eigentlich ist das ein No-Go
für eine basisdemokratische Initiative, wie wir es eigentlich sein wollten. Aber da hat
es, das funktionierte schon nicht mehr, weil du dann schon das Problem hast und das
ist ein Problem, eine Riesendiskussion, die wir bis zum Schluss hatten, eine Haupt-
diskussion eigentlich, wo beidseitig zugespitzt bis zum Unendlichen, das war z. B.
Thomas sein Konzert. Das war eben die Sache, die wollten das machen, die hatten da
Bock drauf und hat gesagt, er übernimmt die Verantwortung. Ich sage, das bringt ei-
nen Scheißdreck. Mieter von dem Haus ist der Verein und für den Verein haftet der
Vorstand. Da kannst du sagen, dass du dafür haftest wie du willst. Das ändert nichts
halt und das ist der Punkt, wo du die Basisdemokratie eigentlich kaputt machst, denn
du hast die Verantwortung rechtlich gesehen schon verlagert, auf ein paar Leute kon-
zentriert, d. h., wenn du an der Stelle bist, siehst du es aus einer anderen Perspektive
als der Rest, weil du dann schon wieder Bedenken hast, okay, da könnte was schief-
gehen und da hätte einiges schiefgehen können“ (M/b: 1227-1245).
Martin berichtet von der zwanghaften Seite des Vereins, die für ihn eine bedeu-
tende Erfahrung ist. Sein Handeln steht in einem Widerspruch. Der Widerspruch
besteht darin, dass offensichtlich seine Vorstellungen von einer basisdemokrati-
schen Initiative in der Auseinandersetzung mit den „bürokratischen Sachen“, „ir-
gendwelchen finanziellen Sachen“, der Entwicklung einer „Satzung“ (M/b: 1228
f.), kurz: der Einrichtung als Verein, gebrochen werden. Eine Hierarchie entsteht,
eine Hierarchie, die Martin selbst aktiv mit anderen einrichtet und die „ein No-Go
für eine basisdemokratische Initiative, wie wir es eigentlich sein wollten“, ist
(M/b: 1232-1233). Martin spricht davon, dass mit der Entwicklung einer Bürokra-
tie, der Frage der Finanzen und einer Rahmung des Ganzen durch eine Satzung
die Hierarchie begründet werde und sich damit einhergehend die Verantwortung
„auf ein paar Leute konzentriert“ (M/b: 1242 f.). Dies bereitet ihm Bauchschmer-
zen; ein Unbehagen ist deutlich spürbar. Nur was macht dies aus?
Im Haus ist ein Punk-Konzert geplant. An dieser Stelle reißt ein Graben auf.
Thomas will das Konzert veranstalten, die Verantwortung übernehmen. Martin:
die hatten Bock drauf|er übernimmt die Verantwortung|ich sage, das bringt einen
Scheißdreck. Auf den ersten Blick erscheint es so, als würde sich das Problem am
Stichwort der Verantwortung entzünden. Folge ich diesem Gedanken, so kann mit
den Stichworten von Martin zwischen zwei verschiedenen Formen der
5.2 Sich selbst organisieren 253

Verantwortung unterschieden werden. Auf der einen Seite steht eine Verantwor-
tung, die sich als eine „rechtliche“ Form äußert und sich „auf ein paar Leute kon-
zentriert“. Martin macht deutlich, dass sich mit dieser Idee der Verantwortung die
Perspektive verschiebt; seine Perspektive wird eine andere. Seine Sichtweise un-
terscheidet sich von der der anderen, vom „Rest“. In Erinnerung an die weiter vorn
skizzierte Problematisierung von Markus, „Chef und der Rest“ (Ma: 338), umreißt
hier Martin mit der Hierarchie ein Oben und Unten. Aus der Perspektive „von
oben“ ist es dann so, dass sich die rechtliche Verantwortung bei wenigen kon-
zentriert und der Rest von dieser Verantwortung entbunden ist. Verantwortung
erscheint in diesem Zusammenhang als eine rechtlich zugeteilte, als zwanghafte
Form, die Martin wohl oder übel übernehmen muss.
Thomas signalisiert im Interesse der Leute des Hauses, das Konzert organi-
sieren und dafür Verantwortung übernehmen zu wollen. Gemeint ist damit also
auf der anderen Seite eine Form der Verantwortung, die sich im Unterschied zu
Martin als eine freiwillige artikuliert. Diese Form der Verantwortung versteht sich
als eine quer verbindende Kraft. Sie erscheint als eine, die frei und unabhängig
von rechtlichen Vorgaben handeln kann. Es geht um ein Konzert, welches die
Leute im Haus zusammenbringen soll, das Spaß verspricht und damit auch die
Anliegen der Leute, im Haus kulturell etwas zu machen, zum Ausdruck bringen
soll. Thomas würde in diesem Fall einen Knotenpunkt bilden, über den die orga-
nisatorischen und inhaltlichen Fragen laufen. Man kann auch dies als eine heraus-
gehobene Position betrachten. Eine Position an der sich Informationen bündeln
und an der sich insofern auch Macht konzentriert. Allerdings ist hier die Bünde-
lung von Informationen und damit zusammenhängend die Konzentration von
Macht im Unterschied zu Martin auf das Ereignis, die Veranstaltung, bezogen. Die
Veranstaltung ist ein singuläres Ereignis. Ist sie gelaufen, verschwindet auch die
Bündelung der Informationen und organisatorischen Sachen. Es bleibt dann ent-
weder ein gelungenes Konzert oder ein Flopp. Den informatorisch-organisatori-
schen Knotenpunkt kann Thomas aber auch so gestalten, dass er die Informationen
und organisatorischen Fragen mit den anderen teilt und die Perspektive auf das
gemeinsame Erlebnis, das Organisieren eines Konzertes, richtet. In der Problema-
tisierung von Martin erscheint dies als die freiere Möglichkeit des Handelns. Für
sich selbst sieht er diese Möglichkeit nicht.
Wo liegt dann aber der Konflikt? Dieser liegt für Martin darin, dass mit dem
Zwang der rechtlichen Verantwortlichkeit eine Nötigung einhergeht, „Bedenken“
zu entwickeln: „[D]a könnte etwas schiefgehen und da hätte einiges schiefgehen
können“ (M/b: 1245). Im Kontrast sagt Stefan dazu: „Da wurde quasi immer schon
der Teufel an die Wand gemalt erst, und das könnte passieren und so und so läuft
und dadurch ist halt dieser Druck, der halt vorher einfach nicht so da war, wo man
halt so abtun konnte so im Sinne von, ja sind halt unterschiedlicher Meinung da,
254 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

ist ja egal, so dieser Druck war dann auf einmal da durch diesen Verein“ (S: 288-
292). Die Bedenken, von denen Martin spricht verweisen nicht nur auf seine Po-
sition in einer Hierarchie, sondern auch auf damit verbundene ungleiche Verant-
wortlichkeiten der Leute. Der Konflikt, der auftaucht, ist einer der Frage von Ord-
nung und Kontrolle. Aus dieser Perspektive ist die Idee der Verantwortung von
Thomas für Martin ein „Scheißdreck“ (M/b: 1239), da Thomas nicht den „Mieter
von dem Haus“ (ebd.) repräsentiere und im Zweifel nicht für mögliche Komplika-
tionen hafte. Dies täten der Verein und die dort verantwortlichen Personen. Vor
diesem Hintergrund geht es dann darum, mögliche Eventualitäten (von vornhe-
rein) auszuschließen und letztlich ein wachsames Auge auf die Planungen (auf die
Leute, die planen) und die konkreten Abläufe der Veranstaltung zu haben. Das
Haus als gewonnener Erfahrungsraum der Leute wird durch Momente der zweck-
mäßigen Kontrolle in Frage gestellt.
Hier spitzt sich der Widerspruch von Martin zu. Er sieht sich in der zwang-
haften Situation, diese Kontrolle von oben nach unten durchsetzen zu müssen. Das
Recht zielt darauf, ihn als Einzelnen in eine Verantwortung zu bringen, die dann
gegenüber den anderen deutlich gemacht werden muss. Er kann dabei nur indivi-
dualisiert sein Problem vortragen und erklären, dass er als Person durch die recht-
lichen Bedingungen haftbar gemacht werden kann. Dies führt dann auch zu den
Problemen, von denen Markus weiter vorn im Zusammenhang mit der „festgefah-
renen Struktur“ spricht: „[W]ie gesagt, das ist durch Martins Überaktivismus da
missverstanden worden, wo das dann doch irgendwie in diese Richtung wieder
ging, ah, hier, Martin will jetzt Boss sein und wir anderen müssen machen, was er
sagt. Was aber nicht der Fall war, kann ich nur immer wieder wiederholen“ (Ma:
341-344). Tendenziell wird Martin in den Augen der anderen zum Boss. Er gibt
den Ton an und sagt, was geht und was nicht. Stefan bemerkt mit einem leichten
Zynismus dazu: „War klar, [Martin Schubert] hat sich gleich für den Vorsitz ge-
meldet“ und „hat auf einmal diese Institution gegründet und um die geht es halt
um Teufel komm raus irgendwie. Es hätte mich nicht gewundert, wenn halt [Mar-
tin Schubert] noch einen PR mit eingestellt hätte, auch wenn […] weiß nicht. Ich
glaube wir waren kurz davor“ (S: 323-326). Die gesellschaftlich-strukturelle Be-
dingtheit, das Zwanghafte, das Martin erfährt, wird nicht durchschaut (oder ist
nicht durchschaubar) und verschwindet in der Person. Zum Gegenstand der Kritik
wird dann nicht die Zwanghaftigkeit der Funktion und damit verbundener Situati-
onen, sondern das Verhalten der Person.
Hiermit verbinden sich weitere Bruchlinien, die auch zu einer Spaltung gemein-
samer Perspektiven führten. Auf einen Aspekt möchte ich in diesem Zusammenhang
noch eingehen. Ähnlich wie Martin spricht Stefan darüber, was für ihn mit dem Verein
im Vergleich zur Gruppe in der Gartenlaube zum Problem geworden ist.
5.2 Sich selbst organisieren 255

Stefan: „Und erst dann mit den realen Problemen, so, jetzt ist der Verein da, als wir
ihn dann gegründet hatten so, kam dann raus, na ja, aber wenn wir das jetzt machen,
da legen wir uns mit denen an so, und dann ist es erst, also quasi mit dem Verein ist
dann auch nach und nach, es ging am Anfang noch alles relativ gut so und dann erst,
wo der Verein da war und dass man, es war quasi wie so eine Art Kind so, man hat
das gemeinsame Sorgerecht dafür so. Da sitzen alle im gleichen Boot, […] der Verein
und dadurch ist dann praktisch diese Spannung, die zwar vorher schon da war, was
heißt Spannungen, diese, dass man halt teilweise unterschiedliche Herangehenswei-
sen hatte oder dass man sich, andere Vorstellungen hatte, wie geht man damit um oder
wie, die einen sagen, sind halt eher auf Krawall gebürstet so oder sagen halt, nein, das
und das geht gar nicht und die müssen wir halt vehement, ganz viele Pressemitteilun-
gen rausschreiben und das richtig verteufeln so, während andere das und das, das gab
es ja vorher auch schon in diesem Maße auf einer gewissen Art und Weise, aber erst
im, da gab es keinen Konflikt so, weil das war da so, das hat man in der kleinen Runde,
in der Garten[laube] miteinander besprochen und da hat man auch keine im Namen
des Vereins Pressemitteilungen rausgeschmissen so. Und erst mit der Vereinsgrün-
dung hat sich dann quasi diese ersten Linien, diese Wege, diese zwei oder drei, die es
da gab so, also es gab ja immer, wie gesagt, die zwei Linien, einmal die versöhnliche
Art und Weise, mit der Stadt viel mehr kooperieren und da auch Eingeständnisse ma-
chen und die andere, die gesagt hat, nein, zur Not halt auch ohne die Stadt, weil, die
begreifen halt die Stadt als Teil des Problems mit und die Leute, die ein bisschen
vermittelnd dazwischen waren. Aber die Linien haben sich ja alle schon vorher abge-
zeichnet in diesem Sinne. Aber erst durch den Verein wurde das quasi dann zu einer
Belastung, weil dann war halt klar, so, jetzt können wir nicht einfach, wir reden nicht
am Lagerfeuer, sondern jetzt geht es drum, dass wir öffentlichkeitswirksam was ma-
chen. Und dann wurde es erst, so diese Konflikte quasi kamen dann zum Tragen, so
meiner Meinung nach zumindest“ (S: 244-270).
Stefan macht in seiner Äußerung noch auf ein weiteres Problem aufmerksam. Er
beschreibt eine qualitative Veränderung, die im Vergleich zur Gartenlauben-
Gruppe mit der Organisationsform als Verein an Bedeutung gewinnt. Eine Beson-
derheit der Gartenlauben-Gruppe war die Form des miteinander Sprechens. Dort
„gab es keinen Konflikt“ (S: 257 f.), sondern es „gab unterschiedliche Herange-
hensweisen“ (S: 251 f.), „andere Vorstellungen“ (S: 252) der Einzelnen über die
Dinge, die gemacht werden sollten, oder, wie die Welt durch die Einzelnen be-
trachtet wurde. Stefans Erfahrung, so möchte ich es interpretieren, ist die einer
Gleichheit, die es ermöglichte, die Unterschiedlichkeiten auf einer horizontalen
Ebene zu besprechen und so den Freiraum der Gartenlauben-Gruppe, die Offen-
heit, gemeinsam in der Balance zu halten. Der Verein erscheint hier als Bruch.
Prozesshaft setzt sich hier eine neue Ordnung durch. Stefan etwas weiter vorn im
Interview: „[V]orher war es noch viel ungezwungener“ (S: 243). Mit dem Verein
kommen aber auch die „realen Probleme“ (S: 244). Stefan: „Wir reden nicht am
256 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Lagerfeuer, sondern jetzt geht es drum, dass wir öffentlichkeitswirksam was ma-
chen“ (S: 268 f.).
In der Gestalt des Vereins verkörpern die Leute des Hauses auch eine Idee,
die sie durch ihren Namen, durch ihre Ideen, Konzepte und ihr Handeln nicht mehr
allein für und mit sich besprechen, sondern auch in der Belebung des Hauses am
Rande des Marktplatzes der Stadt für andere sichtbar werden lassen, mehr noch:
„öffentlichkeitswirksam was machen“ (S: 269). Sie treten aus ihrer Begrenzung
als Gruppe hinaus, nutzen die Stabilität der Basis, um öffentlich sagen und zeigen
zu können, was ihnen wichtig ist. Dies ist ein gewaltiger Schritt. Es wurde ernst.
Und dies wurde es in einem doppelten Sinne. Zum einen deutet Stefan auf eine
Ernsthaftigkeit hin, die daraus entsteht, sich um den Verein zu kümmern, um „wie
so eine Art Kind“, und das „gemeinsame Sorgerecht dafür“ zu haben (vgl. S: 68
f.). Verpflichtungen, freiwilliger Art, aber auch Zwanghaftes sind hier vorstellbar.
Gleichzeitig entsteht hier eine Ahnung von Pflicht, von einer Bindung an eine Si-
tuation, in der offen ist, wie diese sich im Konfliktfall entwickelt. Zum anderen
zeigt sich die Perspektive, ihre Anliegen „öffentlichkeitswirksam“ (S: 269) zu
platzieren, um „ernst genommen“ (Ma: 21) zu werden.
Aus diesem Prozess entwickelt sich eine Spaltung. War in der Gartenlauben-
Gruppe konflikthaftes Potenzial horizontal aufgelöst, gerät diese Balance im Ver-
ein aus dem Gleichgewicht und es treten sich die „unterschiedlichen Herangehens-
weisen“ und „Vorstellungen“ als fremde, konkurrierende Positionen gegenüber.
Im Kontext des Vereins müssen sie sich dann als differente Vorstellungen und
Perspektiven im Machtgefälle der Hierarchie neu organisieren. Genau diesen Pro-
zess skizziert Stefan als den aufkommenden Konflikt, bei dem sich „diese [zwei
oder drei] Wege“ (S: 261) herausbilden oder „zwei Linien, einmal die versöhnli-
che Art und Weise, mit der Stadt viel mehr kooperieren und da auch Eingeständ-
nisse machen und die andere, die gesagt hat, nein, zur Not halt ohne die Stadt, weil
die begreifen halt die Stadt als Teil des Problems“ (S: 261-264). Stehen sich in
dieser Art und Weise zwei Positionen gegenüber, bilden die eine Position die Rei-
bungsfläche für die jeweils andere Position. Dabei entsteht die Situation, dass die
jeweils möglichen guten Gründe und Argumente, die der jeweils anderen Position
zugehören in den Hintergrund treten und im Unterschied zum Zustand der Balance
der Gartenlauben-Gruppe an Bedeutung verlieren. Ein negativer Befund, der sich
hieraus ergibt, wäre beispielsweise ein Verlust von Offenheit und Phantasie. Oder
Stefan: „Das, was [der Verein]178 ursprünglich mal machen sollte, ist dann ganz
schnell in den Hintergrund geraten so, meiner Meinung nach zumindest“ (S: 318).
Und: „Irgendwann bin ich halt aus dem Verein auch wieder ausgetreten“ (S: 312).

178 Stefan spricht im Interview an der zitierten Stelle anstatt vom Verein, so wie ich es eingefügt
habe, mit einer Distanz schlicht von „er“.
5.2 Sich selbst organisieren 257

5.2.6 Innen und außen – Politik „von oben“

Die Stichworte des „Innen und Außen“179 sowie einer „Politik von oben“ habe ich
von den Interviewten übernommen. Sprechen die Interviewten vom „Innen“ mei-
nen sie vor allem die oben skizzierten Probleme und Konflikte innerhalb des Ver-
eins und des Hauses. Mit dem „Außen“ markieren sie auf der einen Seite vor allem
Konflikte mit der Stadtverwaltung und der Kommunalpolitik. Diese Form der
Konflikte hat Martin als „die typische von oben herab, [...] Mentalität von Kom-
munalpolitikern“ (M/b: 69) charakterisiert. Auf der anderen Seite thematisieren
sie mit dem „Außen“ Konflikte mit den Leuten im Ort. Hierfür haben sie verschie-
dene Begrifflichkeiten gefunden. Am einprägsamsten ist die schon weiter vorn
diskutierte Redewendung vom „ekligen Status qou“ (S: 37), welche Stefan im In-
terview verwendet. Darüber hinaus sprechen die Interviewten über „Vorwürfe“
und „Gerüchte“ (M/b: 215), die von den Leuten im Ort über den Verein verbreitet
worden seien. Beide Dimensionen überschneiden sich und sind miteinander ver-
knotet. Unter einem analytischen Blickwinkel möchte ich sie im Folgenden unter-
scheiden. Mit dem Stichwort „typisch von oben herab“ (M/b: 69) kommen spezi-
fische Erfahrungen der Interviewten mit den Ausprägungen der parlamentarischen
Demokratie zur Sprache. Hiervon unterschieden, verweisen die Stichworte der
„Gerüchte“ und „Vorwürfe“ auf Erfahrungen mit einer spezifischen Kommunika-
tionsweise von Öffentlichkeit. Alex Demirovic hat dies eine Kommunikations-
weise in „mythischen Mustern“ genannt (vgl. Demirovic 2016: 68). Hierbei geht
es „nicht um öffentlichen Vernunftsgebrauch, Wahrheit, sachliche Kenntnisse,
sondern um die Verbreitung von Gerüchten, Parolen und Stimmungen“ (ebd.).
Welche Erfahrungen die Interviewten hiermit gemacht haben, soll im Folgenden
beispielhaft skizziert werden.
Martin berichtet sehr plastisch und ausführlich über das Problem mit den Ge-
rüchten. Er unterscheidet an konkreten Beispielen unterschiedliche Ebenen oder
Zusammenhänge, auf die sich die Gerüchte beziehen. Zum einen sprechen die
Leute in der Stadt in bestimmter Weise über den Verein. Der Verein wird zum
Gegenstand von Spekulationen und Zuschreibungen. Zum anderen richten sich die

179 Sandra spricht zum Beispiel über die Notwendigkeit bestimmte Informationen, die nur den
Verein etwas angehen nicht nach außen zu geben: [W]ir müssen da jetzt gucken, was wir
machen, was wir nach außen geben“ (Sa: 215 f.). Oder Elena über die Kritik der Gruppe am
Alltagsrassismus in [X] und dem Konflikt, dass sie durch ihre Kritik als „Störenfriede“ gelten
und die „dörfliche Harmonie“ stören: [A]ls wir dann Veranstaltungen gemacht haben, [wurden]
wir so als die Unruhestifter, die Störenfriede irgendwie so hingestellt. [I]st halt so eine, wie so
eine, die dörfliche Harmonie so ein bischen gestört […], die es ja überhaupt nicht gibt, so richtig,
aber wahrscheinlich so wirken soll nach außen“ (E: 61-65). Oder Stefan über seinen Konflikt
mit der Stadt und dem Verein: „Warum bin ich hier auf einmal das Hauptproblem? Da draußen
sind halt, eine Stadt, die ihre scheiße nicht aufarbeiten kann […] und ihr guckt nur noch, wer ist
innerhalb [des Vereins] quasi Unruhestifter“ (S: 788-792). Die Zitate habe ich eingekürzt.
258 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Gerüchte und Vorwürfe gegen konkrete Personen. Im Beispiel wird Martin selbst
zum Mittelpunkt von Zuschreibungen.
Zum ersten Beispiel: Martin berichtet im Interview darüber, dass er eine Aus-
einandersetzung mit einem SPD-Mitglied des Stadtrates habe. Martins Eindruck
ist, dass dieser ihm mit Wohlwollen einen guten Rat geben wolle, er solle; „von
der linken Schiene runterkommen“ (M: 861). Dies kommt allerdings bei Martin
nicht so gut an: „Das sagt ein Linker, ist der Hammer, solche Sachen“ (M: 862).
Hieraus ergibt sich in unserem Interview folgende kurze Gesprächssequenz:
Ich: „Was meint so ein Linker, wenn der sagt, ihr sollt euch so das Linke abgewöhnen?“
Martin: „Na ja, der Ruf, den wir hatten, war halt wirklich, die Vermummten, die Be-
kloppten, die Randalen, die weiß ich nicht.“
Ich: „Ach, und das ist links?“
Martin: „Das ist links, das ist bei ihm links gewesen wahrscheinlich, weiß es nicht.
Ich kann, ich weiß nicht, wie er es gemeint hat. Aber ich nehme an, dass das gemeint
war, weil das das Bild war, was die Leute von uns hatten. Hat ja auch immer wieder
gesagt gehabt, war das nicht auch, das war auch, glaube ich, bei dieser SPD-Veran-
staltung, wo ich gesagt habe damals, und das war der Veranstalter, das hat von einem
Mitglied von uns der Vater hat das gesagt. Der ist damals auch bei der Veranstaltung
gewesen, wo eben gesagt wurde, eben einer gesagt hat, der damalige SPD-Vorsit-
zende, glaube ich, sogar war, war vor meiner Zeit, der muss gesagt haben, dieser
[…]180 wird scharf geschossen halt wirklich, also im Sinne von wirklichen Waffen
und der muss auch gesagt haben, na, der [Schubert] ist auch bloß Aushängeschild der
demokratischen Linken und nachts schickt er seine Schergen los halt, weißt du. Und
das war so bisschen das Bild, was die von uns hatten, sozusagen wir tun offiziell so,
als wären wir ganz nett, aber eigentlich sind wir die, die nachts vor die Rathaustür
kacken. Also es wurde […] mal gemacht hat, seinen Haufen davorgesetzt oder sowas.
Das war ein Rieseneklat, sage ich dir. […] so ein Mist“ (M/b: 875-894).
Den „Ruf, den wir hatten“ (M/b: 877), das „Bild war, was die Leute von uns hat-
ten“ (M/b: 882): „die Vermummten, die Bekloppten, die Randalen“ (M/b: 877 f.).
Dies sind starke Bilder. In einem ersten Gedankengang möchte ich kurz den Bil-
dern folgen.
Vermummt: hat den Anstrich einer Tarnung, der Verhüllung von Dingen, die
andere nicht auf den ersten Blick sehen oder nicht erkennen sollen. In diesem
Sinne könnte es eine Verkleidung sein, vergleichbar zum Fasching. Der

180 Zu dieser Stelle im Zitat ist eine kurze Anmerkung zu machen. Die Punkte in Klammern mar-
kieren an dieser Stelle eine unverständliche Passage in der Tonaufnahme. Allerdings wird mit
Blick auf die weiter vorangegangenen Äußerungen von Martin deutlich, dass er den Verein
meint. Ich habe die Punkte so stehen lassen, da sich hier möglicherweise auch Raum für andere
Interpretationen ergeben könnte, als wie ich sie im weiteren Text vorschlage. Die weiteren Aus-
lassungen im Zitat dienen der Anonymisierung.
5.2 Sich selbst organisieren 259

Unterschied ist aber, dass eine Vermummung den Spaß, die Ironie, den Spott ab-
schneidet und einen anderen, ernsthafteren Charakter annimmt. Vermummt rückt
so in die Nähe des Unheimlichen, des nicht Fassbaren. Das Vermummte hält sich
bedeckt und entzieht sich dem unmittelbaren Zugriff; es braucht eine Erklärung;
man muss sich damit beschäftigen, es enttarnen, um zu sehen, was dahinter steckt.
Vermummung als Schutz – als Schutz vor dem unmittelbaren Blick, der Bewer-
tung, dem Zugriff. Vermummung als freiwilliges Mittel, wie etwa bei Subcoman-
dante Marcos.181 Mit der Vermummung tritt der Einzelne in den Hintergrund, das
gemeinsame Anliegen in den Vordergrund. Vermummung als Vermittlung einer
Botschaft, aber Vermummung auch als Projektionsfläche der anderen.
Bekloppt: Es erscheint eine Verwandtschaft zu dümmlich oder verrückt.
Dümmlich verweist auf eine Form der Beschränkung, eine Begrenzung, Borniert-
heit oder auch eine Erstarrung innerhalb einer Begrenzung, einen verengten Blick-
winkel. Bekloppt ist eine Abwertung, eine Bewertung eines Verhaltens, das Signal
einer Grenzziehung: bekloppt|normal. Der Standpunkt, von dem aus gesprochen
wird, ist das Normale. Als bekloppt erscheint, was von diesem Standpunkt ab-
weicht. Diese Abweichung wiederum korrespondiert mit verrückt. Verrückt ver-
weist auf eine Bewegung, Verrücken als eine Aktivität der Verschiebung, auf die
Einrichtung eines anderen Standpunktes. Vom Standpunkt der Normalität aus al-
lerdings erscheint dieser wiederum als unüberlegt, vielleicht auch als eine Bewe-
gung ohne Verstand, als eine Bewegung, die vom Standpunkt der Normalität nicht
verstanden wird.
Krawall: ist eine laute Angelegenheit, die Unterbrechung von Stille, Beunru-
higung. Rebellion? Ein Hauch des Verbotenen oder Subversiven? Oder: Die Luft
muss raus. Krawall legt sich quer. Auflehnen. Eine Form gemeinsamen Handelns.
Widerständiges. Soweit meine Assoziationen.182
Ein „Bild“ im Sinne meiner skizzierten Assoziationen ist eine widersprüchliche
Angelegenheit. Es löst verschiedenste Bilder und weitere Assoziationen aus. Es ent-
steht eine scheinbare Differenz der verschiedenen Bilder. Die unterschiedlichen Bil-
der haben allerdings etwas gemeinsam. Sie bündeln Emotionen und erlauben gleich-
zeitig, die Vernunft, das Denken draußen zu halten. Martin spricht vom „Ruf“ (M/b:
877) und vom „Bild, [...] was die Leute von uns hatten“ (M/b: 882). Im „Ruf“ der
„Vermummten, [der] Bekloppten, [der] Randalen“ (M/b: 877 f.) zeigt sich Beunru-
higung bis hin zur Verachtung. Oder, etwas milder formuliert, der „Ruf“ zielt auf

181 Subcomandante Marcos wurde als politisches Synonym geschaffen und gilt als inoffizieller
Sprecher des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees der EZLN (Zapatitische Armee der
nationalen Befreiung) in Chiapas/Mexiko (vgl. Subcomandante Marcos 2008).
182 Meine Assoziationen habe ich auch mit Unterstützung des Synonymwörterbuchs des Duden
vorangetrieben (vgl. hierzu die jeweiligen Stichworte in Duden 2014).
260 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

eine Diskreditierung ab, auf ein Untergraben von Glaubwürdigkeit z. B. des Vereins,
des Hauses und von Personen (wie Martin).
Martin erzählt in seinem Beispiel vom „damaligen SPD-Vorsitzenden“ (M/b:
886 f.), der über den Verein gesagt habe: Dort „wird scharf geschossen halt wirklich
im Sinne von Waffen“ (M/B: 888 f.). Der Verein erscheint als bewaffnete, militante
Größe. Der Verein erscheint als gefährlich. Nur: Was macht die Gefährlichkeit aus?
Martin gibt hierzu verschiedene Stichworte: [Schubert] bloß Aushängeschild der de-
mokratischen Linken|nachts schickt er seine Schergen los|die nachts vor die Rat-
haustür kacken. Zunächst ein Kontrast: scharf geschossen|nachts vor die Rathaustür
kacken. Die Waffen sind schlicht. Der symbolische Gehalt ist groß. Zuspitzend for-
muliert: Wir kacken auf eure Politik. „Ein Rieseneklat“ (M/b: 894).
In den Worten von Martin liegt eine ironische Brechung des gewalthaften
Charakters vom „Bild“ und „Ruf“ des Vereins. Gleichzeitig unterstreicht Martin
damit den Gegenstand, die Zielrichtung des „Rufes“: [Schubert] bloß Aushänge-
schild|der demokratischen Linken. Die Versuche, einen negativen „Ruf“ zu erzeu-
gen, ein „Bild“ der Lächerlichkeit herzustellen, darauf hinzuarbeiten, dass der
Verein und seine Anliegen nicht ernst genommen werden, hat zwei weitere Mo-
mente. Zum einen beschreibt Martin den Versuch des SPD-Vorsitzenden, seine
Person lächerlich zu machen, ihn in die Nähe einer Militanz zu stellen, die Martin
völlig fremd ist. Mehr noch, die seinem Anliegen widerspricht. Sein Anliegen
wird öffentlich ins Gegenteil verkehrt und so wird es zum Werkzeug für Kräfte,
die sich gegen ihn wenden wollen. Ein Konflikt wird personalisiert. Die Person
Martin kann dann öffentlich ausgestellt, angegriffen und verurteilt werden. Martin
kann als negatives Beispiel inszeniert werden, an dem exemplarisch öffentlich
vorgeführt wird, wo die Grenze des politisch Belastbaren, die Grenze der Norma-
lität, im Ort verläuft. Fällt seine Glaubwürdigkeit in den Augen der Leute zusam-
men, werden Zweifel gestreut und wird Misstrauen genährt, so scheint gleichzeitig
die Wahrscheinlichkeit zu wachsen, dass die Kräfte (der Verein, das Haus), wel-
che Martin als symbolische Figur verkörpert, geschwächt werden können.
Es geht um die Herstellung von Disziplinierung und Ordnung. Das Beispiel
von Martin skizziert hier eine Dialektik. Die Disziplinierung richtet sich nicht nur
gegen den Verein und Martin und in diesem Sinne gegen ein Außen, sondern kon-
struiert gleichzeitig ein Innen, welches die geltenden Regeln einer aufrechtzuer-
haltenden Ordnung deutlich macht. In der Zurschaustellung von Martin wird so
gleichzeitig das Innen diszipliniert, indem vorgeführt wird, was passiert, wenn die
bestehende Ordnung infrage gestellt wird oder Einzelne aus diesem Rahmen aus-
zubrechen drohen. Die Drohung ist eine des Ausschlusses aus dem sozialen Zu-
sammenhang der Kleinstadt.
Des Weiteren beschreibt Martin den konkreten Gegenstand, das umkämpfte
Gut: die demokratischen Linken. Umkämpft ist, was als demokratisch gilt und –
5.2 Sich selbst organisieren 261

damit verbunden – wer etwas wo und wie zu sagen hat. Martin bringt diesen Kon-
flikt wie folgt zur Sprache.
Martin: „Ja, es gab so Jahre, es gab eigentlich die letzten Jahre in (X) nichts, ich
meine, es gab den Jugendklub oben, es gab schon Vereine und Jugendliche, die auch
was gemacht haben, waren zur Stadt gegangen und gesagt, hier, wir hätten gern das
und das und das und das passt uns hier nicht, aber es gab nie einen Verein oder eine
Jugendorganisation wie wir, die sich rausgenommen haben, wirklich zu sagen, okay,
wir sind da, wir haben was mitzubestimmen, wir wollen hier mitbestimmen, dieses
Recht einfach genommen hat und gesagt hat, so, und wir reden jetzt im öffentlichen
Leben von (X) mit, wir machen das einfach. Die haben sich einfach übern Kopf ge-
fahren gefühlt, weiß ich nicht, also scheint einfach [...] und das war dann wahrschein-
lich auch sauer darüber einfach, sie waren die Alten, die Altehrwürdigen, die Stadt-
räte, die haben das Sagen, das war schon immer so, das ist so festgesetzt und dann
kommen wir an und haben irgendwas zu melden. So ist es, ja, es ist wirklich so halb-
wegs, es ist krass [...]“ (M/b: 830-842)
Zum Problem wird, dass sich junge Leute das Recht herausnehmen, „im öffentli-
chen Leben“ mitzureden, dies einfach von sich aus tun, ohne zu fragen, ohne die
Hierarchien bestehender Autoritäten zu berücksichtigen. Unter dem Blickwinkel
der weiter vorn skizzierten Erfahrungen sich verengender Erfahrungsräume ist das
Handeln der jungen Leute eine Art, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen,
sich Gehör zu verschaffen, eine Not zu wenden und mit ihren Anliegen wahrge-
nommen und ernst genommen zu werden. Würden sie es nicht tun, blieben ihre
Vorstellungen vom Leben auf der Strecke, würden eingeebnet im „ekligen Status
qou“ (S: 37). Genau dieser Stillstand wurde, wie ich aufgezeigt habe, als Verhin-
derung und Unterdrückung erfahren. Vor diesem Hintergrund ist die Wortmel-
dung von Martin, „wir haben was mitzubestimmen“ (M/b: 835), der Hinweis da-
rauf, dass die jungen Leute Ideen haben, sie sich Gedanken machen, nicht nur dies,
sondern auch den Willen haben, etwas zu gestalten und einzubringen: „[W]ir wol-
len hier mitbestimmen“ (M/b: 835). Schon diese beiden Momente stellen die be-
stehende Ordnung infrage. Infrage steht eine Ordnung der Trennung zwischen den
„Alten, Altehrwürdigen, [den] Stadträte[n], die das Sagen haben“ (M/b: 839 f.),
und dem Rest, eine Ordnung, die eine Trennung demokratisch durch Wahl des
Führungspersonals erzeugt und dabei eine Hierarchie herstellt, die dazu führt, dass
einige über viele bestimmen.
Infrage gestellt ist: „das war schon immer so, das ist so festgesetzt“ (M/b:
840). Die Naturwüchsigkeit, das Mechanische und scheinbar auf Ewigkeiten fest-
gelegte Prinzip wird gebrochen. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die Leute
vom Verein keine nörgelnde Gruppe präsentieren, die selbst zur Pöbelei neigt und
wissentlich eine Vergesellschaftung auf Kosten anderer und auf Kosten von deren
Ausschließung propagiert. Im Gegenteil: Sie versucht, mit der Organisation ihrer
262 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

selbst eine Alternative zu entwickeln. Und diese strahlt Kraft aus. Auf der einen
Seite eine Kraft, zu sagen: „[W]ir machen das einfach“ (M/b: 837). Auf der ande-
ren Seite erleben die jungen Leute, dass das Haus und der Verein eine Anziehungs-
kraft für andere haben, die mit ihrem Zutun den Zusammenhang der Alternative
erweitern. Insofern kann Markus resümieren: „Ich fand schon, dass wir nötig wa-
ren“ (Ma: 433).

5.2.7 Stadtrat oder: „[E]s hat ja plötzlich so eine ganz seltsame Ebene auch
angenommen, die dort eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatte“

Was Martin im eben diskutierten Beispiel berichtet, ist eine Erfahrung mit Dingen,
„die uns damals vorgeworfen wurden, Gerüchte, Vorwürfe, Vorurteile, sinnlose
Sachen teilweise, die da unterwegs waren. [...] Ist vielleicht teilweise stille Post,
keine Ahnung, dass einfach manchmal Sachen verquer irgendwo rauskommen“
(M/b: 214-217). Anknüpfend an die hiermit diskutierten Zusammenhänge bündeln
sich vergleichbare Erfahrungen in einem Erlebnis, von dem Martin, Elena und
Markus in den Interviews berichten. Hierzu eine kleine Vorbemerkung.
Die Leute vom Verein und vom Haus haben seit Gründung des Vereins und
der Mietung des Hauses auf verschiedene Weise versucht, mit der Stadt und ihrer
Verwaltung in Kontakt zu kommen, um über eventuelle gemeinsame Aktivitäten
sprechen und vor allem den Verein und die konzeptionelle Idee des Hauses vor-
stellen zu können. Hier wurden sie immer wieder abgewiesen oder, wie Markus
sagt, „wirklich nur blockiert. Die wollten nichts von der Thematik wissen, haben
uns ja fast schon verteufelt, weil wir allen den roten Sack überstülpen wollten,
ihrer Meinung nach“ (Ma: 12-14). Auf viele Punkte, die die jungen Leute berich-
ten kann ich hier nicht im Detail eingehen. Die Spannbreite reicht hierbei von der
Verhinderung eines Informationsstandes des Vereins und des Hauses auf dem
Weihnachtsmarkt oder Stadtfest, was für die jungen Leute des Vereins eine nach-
haltige Erfahrung war, bis hin zu der peniblen und scheibchenweisen Prüfung von
Bauvorschriften für das Haus, die die jungen Leute als Schikanen wahrnahmen,
um systematisch Veranstaltungen im Haus durch die Verwaltung zu verhindern
oder, wie Stefan sagt: „[D]ie Stadt hat schon bewusst Steine in den Weg gelegt,
aber das waren jetzt nicht wirklich die Megabrocken. Man hätte schon drüber hüp-
fen können, aber man ist halt so blöd und fliegt über jeden einzelnen Kieselsein,
den die Stadt einem hinwirft“ (S: 1227-1230). Dies reichte dann bis hin zur Un-
tersagung einer Baugenehmigung, die auf Intervention der örtlichen Kirche wieder
zurückgenommen wurde. Hinter dem Haus des Vereins befand sich der Friedhof.
Wie die kirchliche Ordnung und die Bauordnung vorschreibt, benötigt ein (Wohn-
)Haus einen Mindestabstand zum Friedhof, um die Totenruhe zu gewähren. Mar-
tin: „Es gab das Problem §5 Sächsisches Bestattungsgesetz heißt das, das habe ich
5.2 Sich selbst organisieren 263

mir gemerkt. So ein Paragraph, den hasse ich“ (M/b: 1429). Dieser führte zu einem
komplizierten Zustimmungsverfahren: Die Stadt musste eine Genehmigung ertei-
len; auch die Kirche musste ihre Zustimmung geben. Die örtliche Kirche tat sich
schwer und verlagerte eine Entscheidung zur Landeskirche. Die Landeskirche „hat
sich einen Rat eingeholt beim Friedhofsgärtner“. Martin: „das ist ein richtiges
Arschloch und der hat gesagt, ist abzulehnen“ (M/b: 1483). Ein Schweigen des
Pfarrers und Kirchenvorstandes, die Landeskirche genehmigte nicht. Die Stadt hat
eine Zustimmung „verweigert“ (M/b: 1446). Alles scheiterte an einem Bündel von
Gründen und Aktivitäten, welches die unterschiedlichen Beteiligten zusammen-
trugen oder unterließen. Martin: „aus verwaltungsrechtlichen Gründen“, „Beden-
ken wegen der Sicherheit“, „Fristen verstreichen lassen [...]. Und dann sagt die
Kirche, die Sache, das könnte man theoretisch aussitzen“ (M/b: 1446-1457). Was
die Interviewten an solchen Beispielen immer wieder betonen, ist, dass mit ihnen
nicht direkt gesprochen wurde, dass sie sich systematisch aus Entscheidungswe-
gen herausgedrängt fühlten, um am Ende mit einem Ergebnis konfrontiert zu wer-
den, welches an anderer Stelle und damit über sie hinweg herbeigeführt wurde.
Dies war für die Leute des Vereins und des Hauses eine riesige Enttäuschung,
zumal ein Teil von ihnen auch Mitglieder der örtlichen Jungen Gemeinde waren.
Einige von ihnen erzählten mir später, dass dies der Grund gewesen sei, warum
sie aus der Kirche ausgetreten sind. Sie hatten von der Kirche anderes erwartet.
All diese Punkte muss ich hier vernachlässigen, obwohl sie in ihrer Fülle ein Bild
der Erfahrungen zeichnen, die ich hier in meinen Interpretationen nur punktuell
einfangen kann. Das pragmatische Vorgehen in so einer Arbeit, wie ich sie hier
schreibe, ist eine schwierige Angelegenheit und mitunter auch eine, die vielleicht
diejenigen (und wichtigen) Dinge abschneidet, die von den Interviewten in ande-
rer Weise behandelt und in den Mittelpunkt gestellt worden wären.
Das folgende Beispiel, das mir die Interviewten erzählten, hat seine Vorge-
schichte in dem eben skizzierten Erfahrungsbündel. Es geht darum, dass eine Ver-
tretung des Hauses und des Vereins in den Stadtrat eingeladen wurde. Auch dies
hat eine Vorgeschichte. Es handelt sich um einen Sommer kurz nach Gründung
des Vereins.183 In diesem Sommer trafen sich regelmäßig an den Wochenenden
über zwei Monate hinweg bis zu 50 Leute vor dem Haus. Sie warfen mit Flaschen
und Steinen die Scheiben ein, versuchten, das Haus zu besetzen, bepöbelten, ver-
folgten und verprügelten Leute des Vereins und aus dem Haus. Martin berichtet
aus dieser Zeit.
Martin: Da „war, antirassistische Aktionswoche war das, ich glaube, zum Ausklang,
am Freitagabend [...] haben sich da 50 Leute versammelt, mit Pfefferspray, Ketten,

183 Auch an dieser Stelle habe ich auf die Angabe konkreter Zeiträume aus Gründen der Anonymi-
sierung verzichtet.
264 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Elektroschockern und was alles drum und dran, wo dann wir das erste Mal gesagt
haben, ich habe [...] überlegt, das Ding184 aufzulösen, wo der Einsatzleiter damals
direkt gesagt hat, das kann nicht wahr sein, die kommen in eine Stadt, eine Kleinstadt,
wo wir noch nie waren und die haben bürgerkriegsähnliche Zustände. Die haben sich
ein paar Stunden dort mit der Polizei dann Schlachten geliefert, durch die Stadt gejagt.
Da war nächsten Tag, die ganze Hauptstraße war voller Glas, Lampen, mit ganz klei-
nen Splittern, war das ganze Haus von unten bis oben voller Glas, Scherben von Bier-
flaschen, die an die Fassade geschmissen wurden, Farbe, die auf der Straße verbreitet
wurde bei uns [...]. Das war damals schon krass, weil da hatten wir, die haben oben
am Fenster gesessen, haben sich hingesetzt und haben Namen aufgeschrieben, wirk-
lich aufgeschrieben, wer steht da draußen mit da und wenn sie bloß den Spitznamen
wussten oder wie auch immer, einfach bloß, um zu dokumentieren, wer war alles da-
bei. Und da waren Leute dabei, der war, das war eine Familie, Mutter, Vater, Tochter,
Sohn und Hund. Krass halt. Dann waren andere dabei, die absolut nicht ins rechte, die
ich nicht rechts eingestuft hätte und auch heute nicht einstufen würde in die Richtung,
waren die auch nicht. [...] Dann sind teilweise wahrscheinlich auch vielleicht als
Schaulustige sogar dabei, die aber daneben stehen halt“ (M/b: 900-930).185
Im Beispiel gibt Martin den Hinweis auf den Einsatzleiter der Polizei. Dies ist
insofern wichtig, als die Polizei damals eine der wenigen gesellschaftlichen Kräfte
war, die in drastischen Worten die Situation vor Ort so einschätzte, wie es Martin
deutlich macht. Die „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ waren nicht nur Ausdruck
einer militärischen Sprache und polizeilicher Rhetorik. Der Einsatzleiter vor Ort
und der damalige Polizeidirektor waren wirklich tief betroffen davon, wie die
Leute aus der Stadt mit dem Haus und dem Verein umgingen.186 Sie sahen hier

184 Martin, aber auch andere Leute aus dem Haus dachten damals daran, den Verein und das Haus
in dieser Situation aufzugeben. Zu ergänzen ist, dass Martin über einen Sommer kurz nach der
Gründung des Vereins berichtet. Damals trafen sich regelmäßig an den Wochenenden über zwei
Monate hinweg bis zu 50 Leute vor dem Haus. Sie warfen mit Flaschen und Steinen die Scheiben
ein, versuchten, in das Haus einzudringen, bepöbelten, verfolgten und verprügelten Leute des
Vereins und aus dem Haus. Martin berichtet aus dieser Zeit.
185 Das Zitat habe ich hier für bessere Lesbarkeit stark eingekürzt und habe die Zeilenzählung der
Interviewabschrift beibehalten.
186 Ich kann dies hier so schreiben, da ich damals als Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams mit
dem zuständigen Polizeidirektor im engen Austausch über die Übergriffe auf das Vereinshaus
stand. Das Besondere an der Situation war, dass selbst die Polizei Mühe hatte, auf Landesebene
von der Politik und der Verwaltung sowie im Lokalen vom Stadtrat und dem Bürgermeister mit
ihrer Lageeinschätzung ernst genommen zu werden. Punktuell wurde ihnen eine Parteilichkeit
in Bezug auf den Verein unterstellt. Der interessante Punkt hieran ist wiederum, dass die Polizei
im zuständigen Landkreis aufgrund des hohen Potenzials rechtsextremer Organisation und ent-
sprechender Übergriffe ihre Präventionsarbeit entsprechend ausgerichtet hatte. Hier arbeitete die
Polizei mit verschiedenen „zivilgesellschaftlichen“ Organisationen zusammen und entwickelte
Fortbildungsangebote für Kommunalpolitik und Schulen, die eine Beschäftigung und Auseinan-
dersetzung mit Demokratie und den rechtsextremen Entwicklungen vorsahen. Unabhängig von
einer notwendigen Kritik der Begriffe Prävention und den Widersprüchen „zivilgesellschaftli-
chen Engagements“ (etwa als einer spezifischen Regierungsweise, vgl. Affolderbach 2016)
5.2 Sich selbst organisieren 265

keine ordnungspolitische bzw. polizeiliche Lösung, sondern forderten die Politik


zum Handeln auf. Im Interesse einer Befriedung der Situation drängte die Polizei
darauf, dass sich die Verantwortlichen der Stadt auf eine Kommunikation mit dem
Verein einlassen sollten.187 Die Stadt stimmte letztlich zu. Sie entwickelte aber
eine eigene Idee. Die Stadträte und der Bürgermeister sahen ihre Rolle eher als
Mediatoren, die zwischen zwei verfeindeten Lagern vermitteln sollten. Konkret
sah der Stadtrat weniger die Leute vor dem Haus als das Problem. Den Anlass für
die Konflikte sah der Stadtrat im Verein. Die Leute vor dem Haus reagierten ent-
sprechend nur auf ein allgemeines Ärgernis. Martin spricht zum Beispiel davon:
„[D]ie Stadt [...] wollte noch auch unsere Gegner mit einladen, ich sage dazu, kei-
nen, haben die keine Organisation in dem Sinne, also die haben sich nicht formiert,
wollen sie auch gar nicht, die wollen nicht in der Öffentlichkeit stehen [...] hatten
da keinen Bock drauf“ (M/b: 752-755). Was Martin hier anspricht, war für die
damalige Situation wichtig. Der Bürgermeister und die Stadträte artikulierten den
Konflikt als einen zwischen linksextrem und rechtsextrem. Aus Sicht des Stadtra-
tes: Das Problem konnte also nichts mit dem Stadtrat zu tun haben. Ignoriert
wurde, dass die Leute vor dem Haus die „normalen“ Leute aus der Stadt waren,
Leute, die auch die Leute aus dem Haus kannten; Nachbarn und Bekannte waren
da dabei. Die Leute aus dem Haus kannten sie beim Namen und Spitznamen. Die
Leute vor dem Haus hatten sich in keiner (politischen oder parteilichen) Organi-
sation zusammengetan und hatten aus polizeilicher Sicht nur in Einzelfällen Kon-
takte zu einer rechtsextremen Organisation. In diesem Zusammenhang sind die
Ereignisse der zwei Monate von damals den Übergriffen auf dem Stadtfest ähn-
lich. Es tun sich die „normalen“ Leute zusammen, um zu demonstrieren, was sie
unter Normalität verstehen und welche Regeln der Ordnung im Ort zu herrschen
hätten. War dies der Anlass, um den Stadtrat zu einem Gespräch zu bewegen, sa-
hen die Leute des Vereins und des Hauses eine Einladung zum Gespräch beim
Stadtrat mit der Möglichkeit verbunden, das Anliegen ihrer Organisation zu prä-
sentieren und vorzustellen. Sie hatten die Hoffnung, mit ihren Ideen gehört zu
werden. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden zwei längeren Interviewse-
quenzen von Martin und Elena einzuordnen.
Martin: „Also die Einladung kam ja zustande, weil auf Druck der Polizei eigentlich
dann letzten Endes. Weil die Polizei, also die Soko [...] und ja, die Polizei, weil die
halt hier über zwei Monate jedes Wochenende mit Einsatzkommandos vor Ort waren,
also sprich mit einer Hundertschaft vorfahren irgendwo, weiß ich nicht, versteckt war
noch, aber waren jedes Wochenende Freitag und Samstag, wenn sich der Club vom

sowie der Frage, ob sich Polizei im Kontext politischer Bildung einzubringen habe, war die of-
fene Positionierung des Führungspersonals der Polizei für eine Demokratie als einen öffentlich-
diskursiven Zusammenhang der Menschen bemerkenswert.
187 Unter Mitwirkung des Mobilen Beratungsteams, also auch meiner Person.
266 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

[XY] ausgerückt hat, standen jedes Mal an derselben Stelle haben die die angehalten,
haben die abgefilzt, alles [...] eingesackt, mit aufs Revier genommen. Und die haben
dann Druck gemacht bei der Stadt, haben gesagt, hier, redet mit den Leuten, sonst
wird das nicht entschärft, die ganze Sache, wenn ihr nicht irgendwo mal das Gespräch
sucht. Und das hat die Stadt dann auch gemacht, wollte uns einladen und hat auch
einen Termin gemacht und wollte noch auch unsere Gegner noch mit einladen, ich
sage dazu, keinen, haben die keine Organisation in dem Sinne, also die haben es nicht
formiert, wollen sie auch gar nicht, die wollen nicht in der Öffentlichkeit stehen, ha-
ben letztendlich dann die paar Leute, die sie da hatten, die haben auch abgesagt, hatten
da keinen Bock drauf [...]. Auf jeden Fall, das war Wahnsinn, ist eigentlich, die haben
uns Sachen vorgeworfen, wie gesagt, die sagten, wie die Zeugen Jehovas. Angefangen
hat das Gespräch der Bürgermeister, der [Herr Müller], und hat gesagt, na ja, dass die
Tage im Bürgerteam kamen, der hat gesagt, dass er mit seinem Sohn, hat ein kleines
Kind gehabt, ich weiß nicht, wer das war, ist am Vereinshaus vorbeigelaufen und der
[Herr Schubert] hätte ihn als Nazi bezeichnet. [...] der hat mir an den Kopf gehauen
und hat sofort den [einen Stadtrat] sprechen lassen, dass ich bloß nicht darauf antwor-
ten kann. Der ist damals wirklich da vorbeigelaufen, hat an die Tür geklopft, oder an
die Tür mit der Hand geschlagen irgendwie und wir hatten ja keine Fenster mehr drin,
die waren ja schon alles kaputt bzw. da hatten wir schon Bretter drin und die haben
aber gerade vorher gearbeitet gehabt und haben bloß die Tür aufgemacht, haben raus-
geguckt und haben den gesehen, wie der mit seinem kleinen Sohn da vorbeigelaufen
ist und haben die Tür wieder zu gemacht, wo ich sage, will der denn hier. Ja, und das
war in dem Moment für die halt, die Vorurteile waren da, waren fest verankert, das
war das, was die hören wollten, was ihre Meinung bestätigt hat, haben die so hinge-
nommen, eine Gegenmeinung wollten die gar nicht hören. Und so ging das eigentlich
den ganzen Abend. Da ging es um Aufkleber, ich habe das gewusst, dass das Thema
kommt. Wir hatten das, war klar, wir hatten selber Aufkleber gemacht gehabt, einen
ganzen Stapel, haben die verteilt gehabt an Leute und die haben die überall in ganz
[X] verklebt. Und das wurde uns ewig lang vorgehalten, sodass ich irgendwann selber
losgezogen bin, allein war, im Auto geguckt habe, wo ich was gesehen habe, habe die
Aufkleber abgemacht, dass sie uns das nicht mehr vorhalten können, weil ich dachte,
okay, dass man wenigstens ein Stück weit entgegenkommt und vielleicht auch sagt,
okay, vielleicht kann man da eine Wand einreißen und dann doch mal vielleicht ein
Gespräch suchen kann, den Sinn, wir wollen das ja gar nicht, wir wollen nicht die
Stadt verärgern, sondern wollen eigentlich das Gespräch suchen halt, wollten ja ei-
gentlich gar nicht die Stadt verschaukeln [...] Hat aber nicht interessiert, da gab es so
massenhaft Antifaaufkleber, es gab wahrscheinlich noch mehr Dynamo, Fußball, [...]
Aufkleber und eben auch Naziaufkleber, wo ebendrauf stand, [Verein]188, leckt uns
am Arsch. Und da habe ich den Aufkleber, den habe ich freiwillig irgendwo abge-
macht [...] habe den direkt dort rumgegeben und gesagt, auf der einen Seite sieht man
unseren Aufkleber, die sehen Sie in [X] nirgendswo, die haben wir überall abgemacht
und auf der anderen Seite der Aufkleber, die dachten, der ist von uns, [...] ruhig ge-
wesen, ich meine [unser Verein], leckt uns am Arsch, warum soll ich denn das dahin

188 Gemeint ist der Verein der jungen Leute um Martin.


5.2 Sich selbst organisieren 267

hängen. Und haben das angeguckt, haben gesagt, die Aufkleber sind nicht von uns.
Die gehörten auch, sind auch Aufkleber, die überall hängen würden, aber die sind
nicht von uns. Wir haben die nicht aufgeklebt, nicht verteilt, wir haben die nicht ge-
druckt, wären ja bescheuert, wir kleben keine Aufkleber gegen uns selber. Das habe
ich denen erläutert alles, habe die Aufkleber rumgehen lassen, gesagt, können Sie sich
angucken. Das Thema kam an dem Abend bestimmt noch drei, vier, fünf Mal auf.
Immer wieder zu dem anderen, wieder die Aufkleber und wieder die Aufkleber und
wieder die Aufkleber. Die haben sich daran festgehangen, die haben uns gar nicht
zugehört. Die haben einfach nur, aber es hat im Nachhinein was gebracht, denn da-
nach, wie gesagt, hatten wir den einen oder anderen Stadtrat dann doch schon mal
sprechen können und die mussten wahrscheinlich auch einfach mal Dampf ablassen
oder was, uns einfach mal irgendwelche Sachen an den Kopf knallen, das war wahr-
scheinlich doch irgendwie produktiv, haben wir gemerkt, dass es jedenfalls in der
Richtung, dass die auch vielleicht besser konnten, vielleicht doch zu einem Gespräch
eher bereit waren und dann wie gesagt, halt die, wie heißt sie, die [Frau Huhn], [Beate
Huhn], die Vorsitzende von den Linken von [X], die hat mit, was hat die gesagt ge-
habt, ach so, zu dem anderen eigentlich, zu Elena, war noch mit, und ich glaube, Mar-
kus war auch noch mit. Zu ihr hat sie gesagt gehabt, na ja, ich finde es ja ganz schön
und gut, was wir jetzt machen mit dem Verein und so, aber klingt ja ganz gut eigent-
lich, aber sie versteht es trotzdem nicht, dass wir jetzt das dann tolerieren, dass wir
einen Vorsitzenden haben, der ein Lügner ist, der andere Leute als Nazis bezeichnet,
irgendwelche Bürger als Nazis dann noch bezeichnet usw., das wieder aufgegriffen
eigentlich vom Anfang, dann haben wir [...] abgeholt eigentlich und gar nicht dazu
gekommen, was zu sagen, direkt wieder abgewürgt alles, also auf eine Art und Weise
gehässig kam das rüber, vergesse ich bis heute nicht. Also das weiß ich sowieso nicht,
wie das so richtig mies gewesen, war richtig wie an den Pranger stellen so, weil der
[Georg] hat mal gesagt gehabt, jetzt in der Kindheit gehabt mal, da hat der Bruder
diese Pension gehabt und die hat auch noch relativ lange in den 30er-Jahren Juden
beherbergt halt, zwar geheim gehalten irgendwo ein Stück weit, dass es keine mit-
kriegt ringsrum, weil na ja, war halt verpönt, aber dieses eine Mal, die hatten alle
selber nichts gewusst und die sind in die Schule gegangen und die Lehrerin hat ir-
gendwelche Phrasen da gedroschen über Juden und was alles Drum und Dran und hat
dann gesagt und da gibt es Leute, die bringen auch noch Juden unter, also die beher-
bergen auch noch Juden und die ganze Klasse dreht sich zu ihr rum, so ungefähr kam
mir das in dem Moment vor, weißt du. So dieses Anprangern, ich meine, jetzt eine
ganz andere Situation, klar, kann man nicht vergleichen, aber dieses Anprangern, öf-
fentlich diskriminieren, irgendwo richtig mies darstellen und keine Widerrede zulas-
sen irgendwo und das fand ich dann ziemlich, und das war, wie gesagt, eigentlich den
ganzen Abend auf der Schiene eigentlich mehr oder weniger krass“ (M/b: 743-824).
Elena: „Es war ja auch z. B. die eine Frau, die war, glaube ich, von den Linken, die
uns ja eigentlich so rein irgendwie innerlich oder thematisch hätte unterstützen müs-
sen, eigentlich. Aber das weiß ich noch, die hat ja auch den Martin ganz krass irgend-
wie persönlich angegriffen, dass er lügen würde oder irgendwie so. Also es hat ja
plötzlich so eine ganz seltsame Ebene auch angenommen, die dort eigentlich
268 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

überhaupt nichts zu suchen hatte, wo ich auch nicht, weiß nicht, wo das bei ihr so her
kam, aber, nein, so um Themen ging es überhaupt nicht. Es ging auch nicht darum, na
ja, ob irgendwie so ein Engagement gegen Diskriminierung z. B. so in der Stadt grund-
sätzlich irgendwie willkommen ist oder so. Darum ging es eigentlich gar nicht, son-
dern es ging, ja, so um Zerstören von so einem Bild irgendwie, von so einer Idylle
und um irgendwie Bier trinken und dann, na ja, um so Sachen, die, also klar, schon
auch irgendwie da waren, aber ja nicht hauptsächlich, aber das war ja auch nicht so
der Großteil oder auch kein Ziel. Also wir hatten ja auch z. B. bei dem Vereinshaus
irgendwie ein Konzept dahinter, was wir machen wollten und das sollte ja nicht ein-
fach nur so ein, ja, unpolitischer Feierabendbiertreffpunkt werden bloß“ (E: 404-417).
Auch in diesen beiden Beschreibungen, ähnlich wie im obigen Beispiel von Mar-
tin und dem Vorsitzenden der SPD, dominieren Vorwürfe, Gerüchte und Ge-
schichten, die wie im Prinzip der „stillen Post“ (M/b: 216) einer scheibchenweisen
Veränderung unterworfen werden, der selektiven Interpretation und Weiterbear-
beitung unterliegen. Am Ende steht eine Geschichte, nichts mit dem Anfang zu
tun hat und die vor allem ihre Kraft daraus schöpft, durch diesen stillen Weg nicht
hinterfragbar zu sein. Gleichzeitig gewinnt die „stille Post“ an Fahrt, ist am Ende
in Mustern verdichtet, deren Weg nicht oder nur schwer nachvollziehbar ist, als
Geheimnis erscheint und vor allem dadurch an Macht gewinnt, dass sich der Ur-
sprung und der Weg der Erzählung dem Ergebnis entzieht. Liegt der Spaß beim
Kinderspiel der „stillen Post“ (M/b: 216) genau darin, diesen Weg zu erkennen
oder zu erkennen, dass sich der Gehalt der Informationen beim Flüstern ins Ohr
der anderen vom Anfang zum Ende hin verändert. Vor allem wächst der Spaß,
wenn man erkennt, dass man die Informationen nicht nur versehentlich durch un-
deutliche Sprache verändert, sondern auch tatsächlich bewusst den Inhalt verän-
dern kann, sodass am Ende ein völlig anderes Stichwort ankommt, als am Anfang
der Kette geflüstert wurde.
Im Falle der Gerüchte und Vorwürfe verliert „stille Post“ (M/b: 216) den
Spaß und wird zum Ernst, zu einem Mittel, was sich gegen Leute richtet, um deren
Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Es geht darum, die entstehenden Geschich-
ten und „mythischen Muster“ (Demirovic 2016: 68) als politische Mittel zu nut-
zen, um, wie Elena sagt, zu „zerstören“. Im Sinne von Martin kann so „stille Post“
(M/b: 216) auch als Ausdrucksweise von Öffentlichkeit verstanden werden, ge-
nauer: als Form bzw. der Art und Weise, wie um den Zusammenhang von Öffent-
lichkeit gerungen wird.
Eine besondere Qualität der skizzierten Erfahrungen von Martin und Elena
besteht darin, dass sie in eine Situation geraten, in der der Stadtrat, die durch Wahl
bestimmte Vertretung der Stadt, eben solche Muster nutzt, um sie gegen Martin,
Markus und Elena als Vertretung des Vereins zu verwenden. Ein Stadtrat scheint
damit öffentlich durch demokratische Wahl legitimiert entsprechend zu handeln.
Martin und Elena finden für ihre Erfahrung drastische Worte.
5.2 Sich selbst organisieren 269

Elena spricht vom „Zerstören“ (E: 412). Was meint sie damit? Zunächst
könnte es sein, dass sie von sich selbst spricht. Sie hat von der Einladung etwas
anderes erwartet. Doch das Gespräch nimmt eine Wendung, mit der sie so nicht
gerechnet hat. Elena: „[P]lötzlich [hat es] so eine ganz seltsame Ebene angenom-
men, die dort eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatte“ (E: 407 f.). Im Stadtrat
geht es nicht um die Themen, die Elena und den anderen wichtig sind. Die Situa-
tion verschiebt sich; wird brüchig. Nicht „Diskriminierung“ ist das Thema, son-
dern andere Dinge und persönliche Angriffe auf Martin geraten in den Vorder-
grund. Es zerfällt ein „Bild“ von Elena, eine Vorstellung davon, dass die Ver-
wandtschaft des Vereins zu einer Frau von den Linken die Brücke für ihre Themen
im Stadtrat sein könnte: „die uns ja eigentlich so rein innerlich oder thematisch
hätte unterstützen müssen, eigentlich“ (E: 404 f.). Eigentlich. Hierin sieht Elena
einen starken Konflikt. Die Vertreterin der Linken entzieht, in so einem wichtigen
Gremium wie dem Stadtrat, dem Verein öffentlich das Vertrauen und bezichtigt
dann noch Martin der Lüge. Der Verein erscheint als verlogenes Arrangement,
welches durch die Vertreterin der Linken im Stadtrat bestätigt wird. Und weil sie
die Linke vertritt, muss sie ja wissen, wovon sie redet; sie weiß ja was links ist.
Links erscheint hier nicht als farbenfrohe Palette unterschiedlicher und vor allem
streitbarer Vorstellungen der Welt, sondern als eine mechanische Einrichtung, zu
wissen, was das Richtige ist. Oder, wie Martin weiter vorn gesagt hat: „von oben
herab eben, ja, Mentalität von Kommunalpolitikern“ (M/b: 69). Dies ist eine bit-
tere und drastische Erfahrung. Allerdings, und dies ist wichtig, tritt in diesem Mo-
ment auch die eigene Idee hervor. Es geht im Verein nicht „um irgendwie Bier
trinken“ (E: 413), zumindest nicht in erster Linie, sondern um das Vereinshaus,
das „Konzept dahinter, was wir machen wollten und das sollte ja nicht einfach nur
so ein, ja unpolitischer Feierabendtreffpunkt werden bloß“ (E: 416 f.). Elena legt
damit offen, worauf die Politik des Stadtrates zielt. Die Politik des Stadtrates zielt
auf eine Entpolitisierung, auf die „Zerstörung“ des politischen Gehaltes ihres An-
liegens. Es geht dabei nicht um die „Zerstörung“ eines Bildes – dies ist ein Effekt,
wie Elena deutlich macht – sondern es geht um den Anspruch darauf, wie Martin
sagt, „wir haben was mitzubestimmen, wir wollen hier mitbestimmen“ (M/b: 835),
sich „dieses Recht einfach“ (M/b: 836) zu nehmen, um „jetzt im öffentlichen Le-
ben“ (M/b: 837) mitzureden, zu zerlegen, abzuschneiden, zu unterdrücken und in
diesem Sinne in die gewohnten Bahnen von „das war schon immer so“ (M/b: 840)
zu kanalisieren.
Markus zu dieser Situation: „Das war ein großes Viereck und wir saßen an
der einen Ecke, genau [Herr Müller], glaube ich, direkt gegenüber fast schon ein
Tribunal. Naja, es war irgendwie frostig“ (Ma: 33-35). In Verknüpfung mit dem
Verlust einer (vielleicht) erhofften (oder auch unkritisch vorausgesetzten) Brücke
270 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

zu einer Vertreterin der Linken im Stadtrat189, zielt hier das Verhalten des Stadt-
rates auf Isolation. Etwas anders ausgedrückt: Isolation als Form der Abdichtung
gegen den Windhauch anderer Ideen, verführender Gerüche, von denen sich auch
andere angezogen fühlen könnten. Andere könnten auf den Geschmack kommen.
Oder, im Bild von Markus; Isolation gegen Kälte oder Wärme? Die Situation war
frostig, für Markus ein Entzug der Wärme, ein Entzug der Wärme durch Kontakt
mit Kälte. Eine Trennung, eine Trennung von Kälte und Wärme. Übersetze ich
hier Kälte mit dem Mechanischen, dem Gewohnten, damit, einen Ablauf des Ge-
wohnten in „das war schon immer so“ zu konservieren, einzufrieren, wird der
Stadtrat zum Instrument; sein Handeln wird ein instrumentelles, eines, das Tren-
nungen erzeugt. Isoliert wird die Kälte von der Wärme. Die Wärme der Lebendig-
keit des „Vereinshauses“, die Lebendigkeit der Idee, „was wir machen wollten“
(E: 416), soll isoliert werden.
Über die Mittel des Stadtrates spricht Markus: „Tribunal“ (Ma: 34). Die Er-
fahrung, über die Markus spricht, ist eine, bei der ohne juristische Mittel über ein
Verhalten geurteilt wird. Genauer: Der Stadtrat urteilt über das Handeln der Leute
des „Vereins“ und des „Hauses“, fällt ein politisches Urteil. Der Stadtrat fällt ein
politisches Urteil über eine Form politischen Handelns, über eine Idee, das Politi-
sche „von unten“ zu beleben. Der Stadtrat verurteilt ein politisches Handeln, wel-
ches darum bemüht ist, die Leute durch eine Erweiterung von Erfahrungsräumen
zusammenzubringen, um Dinge zu tun, die ihnen „lebenswert [erscheinen], ohne
in die Vertikale von Herrschaft eingebunden“ zu sein (Hirschfeld 2001: 24). Letz-
terer Gedanke ist natürlich wiederum selbst in den Widersprüchen zu sehen, die
ich weiter oben skizziert habe.
Auch Martin spricht über die Mittel des Stadtrates. Er versucht nicht nur mit
Worten, sondern am konkret sichtbaren Beispiel (Aufkleber) deutlich zu machen,
dass die Annahmen des Stadtrates über die Leute des Vereinshauses und über ihn
selbst so nicht stimmen können, „haben [die] sich daran festgehangen, die haben
uns nicht zugehört“ (M/b: 794 f.). Die stetige Wiederholung einer Unwahrheit
macht die Unwahrheit zwar nicht zur Wahrheit, aber ist ein Instrument der Igno-
ranz, des Abschneidens eines Kontaktes, der „Zerstörung“ einer Verbindung in
der Kommunikation. Das Ziel ist die Herstellung einer Hierarchie, die Erzeugung
eines Gefälles, der Zwang zum Kniefall, ein Zwang, von unten nach oben blicken
zu müssen, eine autoritäre Geste. Gleichzeitig ist es die gewalthafte, erzwungene
Form des Schweigens. Durch „einfach mal Dampf ablassen“ (M/b: 798), „einfach
mal irgendwelche Sachen an den Kopf knallen“ (M/b: 798), „gar nicht dazu [kom-
men lassen], was zu sagen“ (M/b: 809)190, „abgewürgt alles“ (M/b: 809 f.), so

189 Interessant ist hier auch, dass die Linke die Partei die Linke meint. Die im Stadtrat vertretene
SPD kommt gar nicht als Vertretung einer gesellschaftlichen Linken vor.
190 Im Original heißt es bei Martin: „[G]ar nicht dazu gekommen, was zu sagen“ (M/b: 810).
5.2 Sich selbst organisieren 271

Martin. Das Verhalten der Stadtrat-Leute, der gewählten Vertreter im Kontext einer
parlamentarischen Demokratie brennt sich ein; sie stellen „an den Pranger“ (M/b:
811), agieren „auf eine Art und Weise gehässig“ (M/b: 810). Martin: Dies „vergesse
ich bis heute nicht“ (M/b: 810). Martin sieht hier tiefere Zusammenhänge, einen
historischen Bezug: „irgendwelche Phrasen da gedroschen über Juden“|und
dann|„da gibt es Leute, die bringen auch noch Juden unter“ (M/b: 816 f.). Eine Ge-
schichte aus der Region. Eine Geschichte aus seinem Ort (?). Es geht hier nicht da-
rum, eine Kontinuität geschichtlicher Zusammenhänge zu unterstellen. Martin er-
kennt im „Anprangern“ (M/b: 820) einen Mechanismus von Öffentlichkeit, „öf-
fentlich diskriminieren“ (M/b: 821) als Mittel der Angst, als Mittel zur Denunzia-
tion, als Mittel, um eine Bereitschaft zu erzeugen, um Leute auszuliefern, an
Kräfte auszuliefern, deren Idee ist Menschen auszuschließen und von anderen ab-
zuschneiden, zu isolieren. Der historische Bezug bricht hier als Ahnung ein, wo
solche Prozesse enden können.
Trotzdem handelt es sich um einen ambivalenten Befund von Martin, den
Versuch einer Deutung, „[i]m Nachhinein“ (M/b: 796). Der Blick auf den Stadtrat,
der Stadtrat als Block. Als Block der Aktion des „Anprangerns“, bricht auf. Zu-
mindest im „Nachhinein“ entwickelt die dichte, abgedichtete Einheit Lecks:
„[H]atten wir den einen oder anderen Stadtrat dann doch mal sprechen können und
die mussten wahrscheinlich auch einfach mal Dampf ablassen“ (M/b; 796 f.); „das
war wahrscheinlich doch irgendwie produktiv“ (M/b: 799 f.). Der Druck ist vom
Kessel, die Spannung entkrampft? Die Einheit des Stadtrates keine Einheit der
Überzeugungen? Eine Einheit der Emotion? Das Denken von den Emotionen ab-
geschnitten. Diese Trennung ist insofern wichtig, da sie erlaubt, die Erfahrungen
von Martin, Markus und Elena zu ignorieren, ihre Ideen einem öffentlichen Dis-
kurs zu entziehen. Eine Position, die alles „abwürgt“ (M/b: 809), „keine Wider-
rede“ (M/b: 822) zulässt und gleichzeitig beansprucht, das Zentrum zu sein – ein
Zentrum, wo die Entscheidungen getroffen werden, die Entscheidungen von eini-
gen über viele. Der Stadtrat lebt vor, was er von den Leuten des Vereinshauses
erwartet. Sie sollen ihren Zusammenhang des Denkens-Fühlens-Wollens selbst
zerlegen in Denken|Fühlen|Wollen.191 Tun sie dies nicht, werden gleichzeitig mit

191 Meinen Gedanken habe ich in Orientierung an Alex Demirovic formuliert. Er verwendet „Den-
ken, Fühlen und Wollen“ im Zusammenhang seiner Analyse des autoritären Populismus als ei-
nem oben und dessen Verknüpfung mit einem unten. Er schreibt: „Denken, Fühlen und Wollen
werden getrennt. Das Denken und der Wille wird dem Führungspersonal überlassen. Emotionen
verdichten sich zu bestimmten Affekten, Ressentiments und einer kompakten Zustimmung. Da-
mit dichten sich die Individuen aber auch gegenüber Einsichten, Erfahrungen und widerstreiten-
den Gefühlen ab, die in ihnen selbst wirksam sind und die sie nur mit Wut bekämpfen können.
Sie binden sich an eine kollektive Identität, die ihnen erlaubt, geleichzeitig rebellisch und kon-
formistisch zu sein: In ein und derselben Geste können sie Macht kritisieren und sich ihr unter-
werfen“ (Demirovic 2016b: 71).
272 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

dem „an den Pranger stellen“ (M/b: 811), „öffentlich [D]iskriminieren“ (M/b:
821), „richtig mies [D]arstellen“ (M/b: 821 f.) die Mittel aufgezeigt, die vom „Au-
ßen“ zur Anwendung kommen, um die Leute des „Vereinshauses“ gefügig zu ma-
chen. Aber trotzdem: Auch der Stadtrat ist keine geschlossene Einheit. Er muss
enorme Kräfte entfalten, um die eigenen Reihen zu schließen. Gelingt die Ver-
dichtung in der skizzierten Situation, weist Martin darauf hin, dass sich an anderer
Stelle Räume öffnen, wo dann Einzelne „doch zu einem Gespräch eher bereit wa-
ren“ (M/b: 800 f.).

5.2.7.1 Nachsätze zum Arbeitsbündnis – Problematisierung – Mobile


Beratungsarbeit mit antirassistischer Initiative, Polizei und Stadtrat

Einen weiteren Punkt möchte ich noch ansprechen. Und dieser hat mit dem Ar-
beitsbündnis zu tun. Das Beispiel der Interviewten zum Stadtrat weist eine Lücke
auf. In unseren Gesprächen hat keiner der Interviewten erwähnt, dass ich selbst als
Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams Teil der skizzierten Situation war. Auch
ich selbst habe dies in den Interviews nicht angesprochen. Mir ist es in der Situa-
tion der Gespräche weder aufgefallen noch in den Sinn gekommen, dies anzuspre-
chen oder nachzufragen, wie die Interviewten dies damals erlebt hatten. Insofern
möchte ich hier noch einen weiteren Blickwinkel einnehmen.
Was habe ich im Gespräch ausgelassen? An dieser Stelle spielen mir meine
Erinnerungen einen Streich. Was ich hier nicht tun kann, ist, eine konkrete zeitli-
che Rekonstruktion der damaligen Ereignisse zu liefern, um deutlich zu machen,
wie und warum das Mobile Beratungsteam Teil der Stadtratssitzung war. Meine
Erinnerungen sind in diesem Sinne lückenhaft, unvollständig. Allerdings muss es
hier auch nicht um die Rekonstruktion eines Zeitfensters gehen. Vielmehr kann
ich an kurzen Sequenzen verdeutlichen, worum es damals ging.
Ich erinnere mich an verschiedene Situationen im Vereinshaus. Die Leute
vom Verein hatten das Mobile Beratungsteam um Unterstützung gebeten. In mei-
ner Erinnerung ging es um ein Geflecht unterschiedlicher Dinge. Erstens gab es
im Vereinshaus interne Konflikte. Es hatten sich zwei Positionen herausgebildet,
wie sie von mir weiter oben im Text mit einem Zitat von Stefan umrissen worden
sind. Meine damalige Kollegin und ich wurden darum gebeten, als unabhängige
Leute einen Klärungsprozess zu begleiten, bei dem die unterschiedlichen Sicht-
weisen gleichberechtigt zur Sprache gebracht werden sollten. Das Ziel war da-
mals, überhaupt zu hören, was die anderen denken und zum anderen die Gründe
für die jeweiligen Positionen anzuhören, dann erst nachzufragen und zu diskutie-
ren, ohne sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Ich erinnere mich daran, wie
schwierig die ganze Situation war. Emotionen standen im Mittelpunkt und die an-
stehenden Probleme des Hauses und des Vereins wurden als persönliche Konflikte
5.2 Sich selbst organisieren 273

gedeutet, konkret als Konflikt zwischen Martin und Stefan. Ein Konflikt war, dass
Martin und Stefan zwei unterschiedliche Auffassungen vertraten, wie mit der Stadt
und dem Stadtrat umzugehen sei. Eine Skizze des Konfliktes, wie er sich aus der
Sicht der Interviewten darstellte, habe ich weiter oben am Beispiel von Stefan an-
gedeutet. Zweitens drehte sich ein Konflikt um die Frage, wie und wer in welcher
Weise im Haus kulturelle, politische Veranstaltungen organisieren kann. Hier ging
es auch um das Problem, wie äußere Notwendigkeiten und der Spaß zusammen-
finden könnten. Ein dritter Konflikt drehte sich um die Frage, wie die Leute aus
dem Haus und der Verein mit den Leuten umgehen könnten, die sich über Wochen
vor dem Haus versammelt hatten und das Haus angriffen.
Auch hier kristallisierten sich zwei Positionen heraus. Stefan machte sich für
eine öffentliche Skandalisierung stark. Er versprach sich davon, dass die Leute,
die sie als Akteure der Übergriffe auf das Haus erkannt hatten, juristisch oder po-
litisch belangt werden könnten. Soweit ich mich erinnere, nannte er seinen Kurs
„mit dem Kopf durch die Wand“ (S: 1366) und „unversöhnlich“ (S: 136). Sein
Modus war der einer Verteidigung, die auf eine Annäherung oder einen Diskurs
mit der Stadt und den Leuten vor dem Haus verzichten wollte. Schließlich hatten
ja die Leute vor dem Haus deutlich zu erkennen gegeben, was sie von den Leuten
im Haus hielten. Martin hingegen versuchte, die Leute vor dem Haus als eine he-
terogene Gruppe zu betrachten. Er unterschied zwischen den wirklichen Nazis,
den Leuten die da mitgemacht hatten, den Zuschauern und Leuten die sie persön-
lich kannten und von den sie wussten, dass sie früher mal Punks gewesen waren
oder irgendwie links, sich aber aus den verschiedensten Gründen verändert hatten.
Martin sah in dieser Unterschiedlichkeit ein Potenzial der Befriedung. Er wollte
mit Einzelnen von den Leuten vor dem Haus das Gespräch suchen, sie von den
Ideen des Hauses überzeugen und so den Konflikt entschärfen. Er ging auch so
weit, dass er der Meinung war, man müsse mit der Stadt ins Gespräch kommen
und darüber hinaus, die Leute vor dem Haus, die sich von der Idee des Hauses
würden anstecken lassen, in das Haus einladen und integrieren. In den Augen vie-
ler Leute im Haus ging dies überhaupt nicht und wurde als ein direkter Angriff auf
die Idee und den Zusammenhang des Hauses verstanden.
Ich erinnere mich daran, dass die Diskussionen sehr emotional und anstren-
gend waren. Dies lag nicht nur daran, dass sich zu den Treffen ca. 40 Leute zu-
sammenfanden, die jeweils auch die unterschiedlichen Gruppen im Haus (wie sie
Elena erklärt hat) repräsentierten; vielmehr hatte ich den Eindruck, dass sie die
Last der Ereignisse niederdrückte und empfindsam machte – empfindsam für die
kleinsten Berührungen und Impulse, die in ihren jeweiligen Positionen und damit
verknüpften Kritiken steckten. Die Last der Ereignisse war bildlich. Wir saßen im
großen Versammlungsraum im Erdgeschoß. Die Fenster waren zerschlagen und
mit Holzbrettern verschlossen. Es war dunkel. Licht kam nur von künstlicher
274 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

Beleuchtung. Sie mussten sich verbarrikadieren, um sich gegen die Angriffe der
Leute vor dem Haus zu schützen. Sie sprachen vom Druck von außen. Sie spra-
chen davon, dass ihnen überall Brocken und Hindernisse in den Weg gelegt wür-
den. Sie sprachen auch offen von ihren Ängsten. Sie erzählten uns ihre ver-
schiedensten Erfahrungen wie diese, dass nicht nur sie als Personen für ihr Enga-
gement für das Haus von Leuten aus dem Ort angegriffen würden, sondern z. B.
auch ihre Eltern den Druck zu spüren bekämen. Beispielsweise hatte ein Vater
einer der Leute aus dem Haus mit seinem Firmenwagen verschiedene Dinge zum
Ausbau des Hauses vorbeigebracht und vor dem Haus das Auto geparkt. Er wurde
von seinen Mitarbeitern angesprochen, dass dies keine gute Idee sei, da die aktu-
elle Gefahr bestehe, dass sie Aufträge in ihrer kleinen Firma verlieren würden,
wenn sie in irgendeiner Weise Sympathien zum Haus öffentlich zeigten. Als die
Leute des Hauses damals im „verbunkerten“ Haus von solchen Beispielen erzähl-
ten, spürte ich selbst, was sie mit dem Druck meinten, ohne dass ich dafür die
passenden Worte gehabt hätte. Es war nicht nur eine existenzielle Frage, in den
sozialen Zusammenhängen der Kleinstadt weiterleben zu können, sondern es war
mindestens genauso spürbar, was ein möglicher Verlust, ein Zerfall des Zusam-
menhangs, den sie sich im Haus geschaffen hatten, bedeuten würde. Tröstend und
trotzend192 zugleich waren da die Worte, die Martin im Interview gebrauchte und
mich zu meinen Erinnerungen anregte: „Ich denke, das vor dem Haus, die Leute,
die da standen, das hatte auf jeden Fall Auswirkungen, weil in dem Moment hält
man zusammen, das steht fest, das schweißt irgendwo zusammen, gemeinsamer
Fall schweißt zusammen, keine Ahnung. […] natürlich, man ist ja gemeinsam be-
troffen irgendwo, also sucht man gemeinsam einen Ausweg“ (M/a: 1390-1394).
In dieser Situation war ich selbst in meiner Rolle aufgespalten. Die Erfahrun-
gen der Leute des Vereinshauses berührten mich sehr, waren für mich auch ange-
sichts meiner damaligen Erfahrungen im Kontext meiner Arbeit des Mobilen Be-
ratungsteams auch insofern sehr wichtig, als Zeichen der Hoffnung, dass sich eine
Auseinandersetzung mit dem erstarkten „faschistischen Potential“ lohnt und vor
allem, dass trotz des Drucks dieser Entwicklung des „faschistischen Potentials“
Räume und Plätze entstehen, die sich Leute selbst organisieren und „von unten“
selbstbestimmt fremdbestimmten Zusammenhängen die Stirn bieten. Was mich
damals besonders fasziniert hat und tatsächlich tief beeindruckt hat, ist, dass es

192Ich verwende hier trotzend statt trotzig. In meiner Erinnerung ging es hier darum, gemeinsam dem
Druck von außen das Eigene entgegenzuhalten. Mit trotzig assoziiere ich eine Abwertung eines
Verhaltens, welches sich einem übergeordneten Interesse nicht fügen will, so wie es umgangs-
sprachlich für ein „trotziges Kind“ verwendet wird, bei dem die Erwachsenenperspektive den
Standpunkt bestimmt, von dem aus das Verhalten bewertet wird, und ein „trotziges Kind“ als
Belastung der Nerven von Erwachsenen gilt. Um diese Assoziation zu umgehen, wähle ich trot-
zend. Trotzend unterstreicht m. E. auch den Charakter, den Elena in ihren Gedanken zum „festen
Haus“ umreißt.
5.2 Sich selbst organisieren 275

sich hierbei um Situationen oder Momente handelte, die sich einer Planbarkeit,
einer Einrichtung „von oben“ entziehen. Dies war für mich auch insofern bedeu-
tend, da diese Form der Selbstorganisation den Anspruch Mobiler Beratung kri-
tisch infrage stellte – den Anspruch, davon auszugehen, dass (allein) durch die
Impulse Mobiler Beratung die Entwicklung demokratischer Zusammenhänge vo-
rangetrieben werden könne. In diesem Blickwinkel verlieren sich die Kräfte „von
unten“ als Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Für meine damalige Tätigkeit be-
deutete dies eine Aufforderung zum radikalen Umdenken. Der „Rohstoff des Politi-
schen“ (Negt/Kluge), die „Ressourcen“ (Steinert) und „Werkzeuge“ (Back/Sinha
bzw. Illich) der Handlungsfähigkeiten können hierbei nicht als Vermittlungsstra-
tegien von oben nach unten gedacht werden. In diesem Zusammenhang ist auch
gleichzeitig zu erkennen, dass die „Rohstoff[e] des Politischen“ (Negt/Kluge
1993) umkämpft sind und z. B. die im Rohstoff liegenden Möglichkeiten in ge-
sellschaftlichen Widersprüchen gebrochen sind, was auch bedeuteten kann, dass
sich das (progressiv) widerständige Potenzial verkürzen oder in auf Ausschluss
beruhende Vergesellschaftungsformen umschlagen kann.
Gleichzeitig war ich eben Teil des Mobilen Beratungsteams. In diesem Zu-
sammenhang wurden wir damals auch von Polizei und Stadtverwaltung darum
gebeten, einen Verständigungsprozess zwischen Stadt und Vereinshaus zu beglei-
ten. Ich erinnere mich an die Besprechungen mit dem Bürgermeister und der Po-
lizei. Der Bürgermeister hatte jegliche Zugänglichkeit verloren. Aus seiner Sicht
war das Vereinshaus und waren vor allem einzelne Personen wie Martin oder Ste-
fan das Problem. Ich erinnere mich hier daran, dass der Bürgermeister im Haus
und bei den dortigen Leuten linksextreme, kriminelle Zusammenhänge aus-
machte. Auch die klarstellenden Interventionen der Polizei am Tisch, konnten die-
ses Bild nicht aufbrechen. Die Polizei versuchte, deutlich zu machen, dass es sich
nicht um ein Problem des Linksextremismus handle, sondern dass das Problem
von den Bürgern vor dem Haus ausgehen würde. Deren Bereitschaft zur Gewalt
hätte ein bisher unbekanntes Maß an Eskalationsbereitschaft erreicht. Ich erinnere
mich an die Hilflosigkeit der Polizei am Tisch, den Gesprächsfaden zu halten, an
und einen wachsenden Druck bei mir selbst, eine Idee zu finden, die Gespräche
aufrechtzuerhalten. Es war eigenartig. Die Dominanz des Bürgermeisters, seine
autoritäre Weise, seine Wutausbrüche. Der Bürgermeister hatte keine Bedenken
andere Erfahrungen und Einsichten einfach wegzuwischen und zu ignorieren. Hie-
raus schöpfte er seine Handlungsfähigkeit, sich seinen „Laden“ nicht von anderen
aus der Hand nehmen zu lassen. Einzig das Argument der „Beruhigung der Situa-
tion“ in der Stadt war eine Formel, wo so etwas wie eine Verständigung anknüpfen
konnte. Die Polizei hatte hier das Interesse der Befriedung, weniger dadurch, dass
sie den Konflikt gewaltsam unterdrücken wollte, als vielmehr dadurch diesen
durch Gespräche zu entschärfen. Der Bürgermeister sah die Polizei in der Pflicht,
276 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

für Ruhe zu sorgen und das „Treiben“ im Vereinshaus aufzulösen. Damit würden
sich dann auch die Probleme vor dem Haus erledigen. Wir hatten den Auftrag vom
Verein zu signalisieren, dass auch die Leute des Vereinshauses grundsätzlich zum
Reden breit wären. Konflikthaft stand im Raum, dass der Bürgermeister geschickt
die Leute vor dem Haus und ihre Angriffe auf das Haus als Punkte der Kritik aus-
klammerte und gleichzeitig diese für sich selbst als Mittel gebrauchte, um seine
Sichtweise zu unterstreichen. Indem er sich mit einem öffentlichen politischen Ur-
teil bzw. einer Verurteilung des Verhaltens der Leute vor dem Haus zurückhielt,
mehr noch, deren Verhalten in unseren Gesprächen ignorierte, gewann ich den
Eindruck, dass er mit diesen nicht nur sympathisierte, sondern in deren Aktionen
eine Macht (oder Möglichkeit) erkannte, die seinen Interessen eine konkrete Ge-
stalt gab. Etwas spitz formuliert: Diese Leute arbeiteten in anderer Weise als der
Bürgermeister ganz praktisch daran, das unliebsame Vereinshaus loszuwerden.
Der Bürgermeister und die Leute teilten somit ein gemeinsames Interesse. Dies
stärkte die Machtbasis des Bürgermeisters und seine Position des Handelns. Man
kann auch sagen: Dem Bürgermeister war das Faustrecht der Straße ein wichtiges
Mittel seiner Politik. Er musste diese Situation nicht selbst einrichten. Er konnte
aber die sich auf der Straße entwickelnde Situation als Gelegenheit nutzen. Ent-
steht im geteilten Interesse des Bürgermeisters und der Leute auf der Straße ein
gemeinsames „Wir“, ist dieses „Wir“ einerseits ein Ausdruck der Einigkeit im
„Fühlen“ (Demirovic 2016b: 71) geteilt sind die Emotionen. „Das Denken und der
Wille“ (vgl. ebd.), letztlich die politische Führung, bleiben andererseits abgespal-
ten und konzentrieren sich als Handlungsmöglichkeit in den Händen des Bürger-
meisters. Sprechen Martin, Stefan, Elena, Sandra und Markus von einem „Druck“
oder von „Hindernissen“, die ihnen in den Weg gelegt wurden, verweisen sie so-
mit auf die vielfältigen und in den unterschiedlichsten Formen geführten Kämpfe
um Hegemonie. Als Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams war ich also selbst
Teil von und mitten drin in diesen Kämpfen.
In diesem Spannungsfeld verabredeten wir, die Leute vom Vereinshaus in
eine Stadtratssitzung einzuladen. Dort sollte die Situation mit dem Vereinshaus
zur Sprache gebracht werden. In meiner Erinnerung ist unklar, wie wir uns wirk-
lich konkret verabredet hatten. Ich glaube aber, dass der wirkliche Ablauf und In-
halt der Stadtratssitzung nicht verabredet wurden. Im Grunde bestand die Einigung
in diesem Treffen des Stadtrates. Und wir als Mobiles Beratungsteam sollten zur
unterstützenden Moderation des Treffens dabei sein. Ich erinnere mich noch da-
ran, dass die Polizei zu einer extra Stadtratssitzung eingeladen worden war. Dort
schilderte sie ihre Sicht der Dinge. Daraufhin hatte wohl der Stadtrat seine Zu-
stimmung zu einem Treffen mit den Vereinshaus-Leuten gegeben.
Die Stadtratssitzung. Das Bild von Markus zu dieser Situation: „Das war ein
großes Viereck und wir saßen an der einen Ecke, genau [Herr Müller], glaube ich,
5.2 Sich selbst organisieren 277

direkt gegenüber fast schon ein Tribunal. Naja, es war irgendwie frostig“ (Ma: 33-
35). Genau so. Im Raum bildeten die Tische der Stadträte ein großes U. Am freien
Ende standen, etwas abgesetzt, vier Stühle und ein Tisch. Dort wurden die jungen
Leute angewiesen sich hinzusetzen. Ihnen gegenüber, in der Mitte, saß Herr Mül-
ler, der Bürgermeister. Aus meiner Sicht: Rechts saß Martin, daneben Markus,
daneben Elena, daneben Thomas. Als ich über das Zitat von Markus nachgedacht
habe, fiel mir dieses Bild wieder ein. Warum? Links neben dem Bürgermeister,
saß ich und rechts vom Bürgermeister meine damalige Kollegin. Wir waren als
Team getrennt. Wir saßen gegenüber den Leuten des Vereins, links und rechts
vom Bürgermeister. Schutz für den Bürgermeister? Ich fühlte mich damals ziem-
lich mies. Verräter? Verrat der Beziehungen zu den Leuten vom Verein? Verrat
meiner eigenen Ideen und Hoffnungen? Eingemeindet in die Initiative des Stadt-
rates, abgeschnitten von der Kommunikation mit meiner Kollegin. Abgeschnitten
von unserem Anliegen der Moderation, oder vom sortierenden Eingreifen im Kon-
flikt. Kaltgestellt. Ich war damit Teil des Tribunals. Ich bin trotzdem sitzengeblie-
ben. Ich bin dabeigeblieben. Ich bin aktiv – durch mich selbst – passiv geworden.
Meine Möglichkeiten, die Möglichkeiten als Mobiles Beratungsteam haben wir
selbst ruhiggestellt. Wir haben die eigenen Werkzeuge in den Schrank gelegt,
stumpf gemacht und nicht als verfügbare Mittel gebraucht. Wir haben auch die
eigenen Mittel nicht erkannt und verkannt.193 Das Ergebnis war dies, wie ich es
oben mit den Überlegungen von Martin, Markus und Elena aus den Interviews
herausgearbeitet habe.
Im Vorfeld der Stadtratssitzung hatten wir als Mobiles Beratungsteam ge-
meinsam mit den Vertreter*innen des Vereins überlegt, wie sie sich auf die Stadt-
ratssitzung vorbereiten können. Wir überlegten zusammen, was eigentlich ihr An-
liegen als Initiative, als Verein, sei. Was wollen sie vom Stadtrat? Und wie könn-
ten sie ihre Idee dort vertreten? Das war eine intensive und gute Diskussion. Sie
bereiteten sich darauf vor, davon zu erzählen, was sie sich mit dem Vereinshaus
für die Stadt vorstellten: Kultur, Politik, Jugendarbeit, ein offenes Haus sein für
die Leute in der Stadt, zu zeigen, dass es auch andere Leute in (X) gibt, die eben
keinen Bock darauf haben, andere Leute auszuschließen. Heute denke ich, dass
diese Vorbereitungsrunde wichtig war.
Ich erlebte die Situation im Stadtrat als eine autoritäre Machtdemonstration,
als ein Abkanzeln der Leute des Vereins ohne Pause und Luftholen. Aber: Es sind

193 Beim Schreiben dieser Passage springe ich zwischen Singular und Plural. Einerseits kann ich die
Situation nur aus meiner Sicht und als meine Erfahrung beschreiben. Andererseits war ich Teil
eines Arbeitszusammenhangs, den ich zusammen mit meiner Kollegin ausgefüllt habe. Daher
erscheint auch punktuell ein Plural. Ich kann auch das „Wir“ in dieser Passage verwenden, da
meine ehemalige Kollegin und ich uns bis heute gemeinsam, intensiv mit den damaligen
Arbeitserlebnissen beschäftigen und auseinandersetzen. Insofern belasse ich diese Passage in
ihrer Sprunghaftigkeit.
278 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

die Lücken, die wichtig sind. Wurden die Leute vom Verein dazu aufgefordert,
etwas zu sagen, waren sie diejenigen, die Beiträge zur Versachlichung bereithiel-
ten. Ich denke hier an das Beispiel des Aufklebers, das Martin erzählt hat. Oder an
das Verhalten von Elena und Markus. Beide versuchten, die Ideen des Vereins zu
betonen, wurden dabei immer wieder unterbrochen. Die Themen wurden gebremst
und schon angesprochene Probleme, die den Stadtratsleuten wichtig waren, wie-
der und immer wieder hervorgeholt. Im Grunde haben sich die Leute des Vereins
nicht klein machen lassen. Sie sind nicht zusammengebrochen. Blieben aufrecht.
Hielten dem Ansturm stand. Ich denke, dass ihre geteilte Idee, von der sie nicht
nur (einfach) überzeugt waren, eine konkrete Praxis war; sie hatten die Erfahrung;
sie wussten, was es bedeutet, wenn sie davon sprachen, etwas „gemeinsam“ zu tun
(vgl. etwa E: 148-175). Sie wussten, warum „sie nötig waren“ (Ma: 433). Dies
war ein wesentliches Moment ihrer Stabilität. Wichtig dabei: Dieses Moment liegt
in ihren Händen, sie können darüber verfügen, es ist Ausdruck ihrer Selbstbestim-
mung.

5.2.7.2 Weitere Nachsätze zum Arbeitsbündnis – Problematisierung – Mobile


Beratung als Intervention und Governance

Mit Blick auf die Arbeit des Mobilen Beratungsteams, sind weitere ergänzende
Bemerkungen zum Arbeitsbündnis zu machen. Hier geht es mir insbesondere um
Widersprüche, die sich mit einer Vorstellung Mobiler Beratungsarbeit verbinden,
wenn sich die Beratungsarbeit als „Intervention, als Eingreifen von außen“ ver-
steht (vgl. Bringt 2013: 39).
Die erste Anfrage, als Mobiles Beratungsteam in (X) tätig zu werden, beka-
men wir im Zusammenhang mit den Übergriffen auf dem Stadtfest. Die damalige
Polizeidirektion des Landkreises war mit der Bitte an uns herangetreten, das Ge-
spräch mit dem Bürgermeister, dem Stadtrat und den Leuten in der Stadt zu su-
chen. Die Idee war damals, Stützpunkte einer moderierten Öffentlichkeit einzu-
richten, um die aufgeheizte Stimmung abzukühlen und die Ereignisse in einer ver-
sachlichten Form ansprechen und dann besprechen zu können. Die Zusammenar-
beit mit der Polizei hatte sich in einigen anderen vergleichbaren Situationen ent-
wickelt. Der damalige Polizeidirektor erkannte im Mobilen Beratungsteam eine
zwar von der Polizei unabhängige Instanz mit eigenen Vorstellungen von Gesell-
schaft und Demokratie, sah aber gleichzeitig die Möglichkeit, durch das Mobile
Beratungsteam die ordnungspolitischen Zugriffe der Polizei durch moderierendes
Handeln zu begleiten. Der Hintergrund dieser Orientierung der Polizeidirektion
war, dass der zuständige Polizeidirektor in den Zeiten der „Wende“ Leiter der
5.2 Sich selbst organisieren 279

sogenannten „Soko Rex“194 war, einer Abteilung der Kriminalpolizei, die auf
rechtsextreme Straftaten spezialisiert war. Einerseits war die Tätigkeit der „Soko
Rex“ eine sehr erfolgreiche und sorgte für Beunruhigung in der organisierten
Nazi-Szene; andererseits hinterließen die Zugriffe der Polizei ein örtliches Va-
kuum. Was meine ich damit? Zwar verunsicherte die polizeiliche Tätigkeit die
Nazi-Szene und ihre lokalen Strukturen; jedoch zeigte sich zugleich, dass die
Leute in den betroffenen Kommunen und Regionen nicht wussten, wie sie mit den
entsprechenden Erscheinungsformen und den damit zusammenhängenden Proble-
men umgehen sollten. Kurz: Die Polizei schlug zu, verunsicherte, kontrollierte,
versuchte, die Entwicklung von Strukturen der Nazi-Szene zu unterdrücken,
merkte aber, dass die Leute der Szene auf verschiedenste Weise in Vereinen, Feu-
erwehr, Jugendclubs oder als Unternehmer etc. in die lokalen sozialen Zusammen-
hänge eingebunden waren und sich damit das Potenzial faschistischer Ideologie
nicht erledigte, sondern im Gegenteil in versprengter Weise weiter aktiv war. Hier
brauchte es eine andere Herangehensweise und vor allem die Möglichkeit der Ein-
richtung längerfristiger Prozesse, die den Versuch unternehmen würden, einen öf-
fentlichen Diskurs zu Problemen und Strukturen der Nazi-Szene anzuregen sowie
durch Stärkung demokratischer Zusammenhänge Alternativen zu entwickeln.
Die Gedanken, die ich hier aufschreibe, speisen sich aus meinen Erinnerun-
gen an die vielen Gespräche, die ich mit dem damaligen Polizeidirektor geführt
habe. Die Nähe von Polizei und den Mitarbeitern eines Mobilen Beratungsteams
ist vielleicht ungewöhnlich, zumal die Polizei die Vertretung staatlicher Gewalt
ist und eine „zivilgesellschaftliche“ Initiative das scheinbare Gegenteil verkörpert.
Aus meiner heutigen Perspektive präsentieren die beiden scheinbar gegenteiligen
Positionen aufeinander bezogen eine neue Form von Governance (vgl. hierzu Af-
folderbach 2016). Auf diesen Punkt kann ich hier nicht näher eingehen, da er ein
eigenes Feld umfassender Erläuterungen und Überlegungen bedeutet, welche den
Rahmen meiner Arbeit an dieser Stelle überschreiten. Nur so viel: Ein großes
Problem für mich bei den Mobilen Beratungsteams war die Idee, eine „zivilgesell-
schaftliche“ Initiative könne als eine staatlich unabhängige Einrichtung betrachtet
werden. Grundlage dieser Idee ist die Gegenüberstellung von Staat und Zivilge-
sellschaft. Etwas spitz formuliert sind in diesem Bild Staat und Demokratie iden-
tisch; der Staat bildet die alleinige Instanz gesellschaftlicher Kontrolle. Demge-
genüber versteht sich Zivilgesellschaft als die eigentliche Trägerin gesellschaftli-
cher Prozesse, die einer demokratischen Stärkung bedürfen. In dieser Betrach-
tungsweise stehen sich so der (böse) Staat und die (gute) Zivilgesellschaft als klar
abgrenzbare Größen gegenüber. Die wechselseitige Durchdringung des „Staatli-
chen“ und „Zivilgesellschaftlichen“ und damit die Widersprüchlichkeiten

194 Sonderkommission Rechtsextremismus.


280 5 Gegenöffentlichkeit – Erfahrungen mit dem Sich-Organisieren

gesellschaftlicher Machtverhältnisse, wie sie etwa Antonio Gramsci in seinem


analytischen Modell der Zivilgesellschaft verstehbar macht, werden in der skiz-
zierten Gegenüberstellung ausgeblendet und verleugnet. Demnach wäre dann auch
ein Mobiles Beratungsteam nicht in solchen Widersprüchen aktiv und würde
selbst nicht als Möglichkeit zur Verlängerung, Erweiterung oder Einrichtung ge-
sellschaftlicher Machtverhältnisse betrachtet.
Vor diesem Hintergrund betraten wir als Mobiles Beratungsteam im Nach-
gang zu den Ereignissen auf dem Stadtfest die lokale Bühne der Kleinstadt (X).
Damals konzentrierten wir uns darauf, den Bürgermeister und den Stadtrat dazu
zu bewegen, sich in den Stadtratssitzungen mit den Ereignissen des Stadtfestes
und der medialen Öffentlichkeit zu beschäftigen. Der Bürgermeister entwickelte
sich zu einer problematischen Figur, da er sich im Laufe seiner Auseinanderset-
zung mit den Übergriffen auf dem Stadtfest nicht etwa von den Übergriffen dis-
tanzierte, sondern gegenteilig ein „Wir“ der guten Kleinstadt beschwor, welches
zum Opfer einer Hetzkampagne der Medien geworden sei. Er wurde stellvertre-
tend zum (führenden) Verteidiger seiner Stadt und demonstrierte dies auch öffent-
lich, beispielsweise durch ein viel diskutiertes Interview, welches er einem Presse-
Organ der Neuen Rechten gab. Die von ihm im Interview vertretenen Positionen
skizzierten einerseits ein „gutes Wir“, welches von den (bösen) Medien angegrif-
fen werde (unterschieden von den guten Medien der Neuen Rechten) sowie ande-
rerseits sein eigenes Engagement für die Stadt, welches als eine Art Freiheits-
kampf gelten könne, vergleichbar zu einem Widerstand in „Wende“-Zeiten. Der
Bürgermeister ignorierte durchweg die Brutalität der Übergriffe auf dem Stadtfest.
Prügeleien beim Stadtfest unter jungen Leuten oder Betrunkenen seien halt nor-
mal, gehörten quasi dazu. Die von mir weiter oben am Beispiel der Interviewten
diskutierten Dimensionen kamen nicht vor und wurden ausgeblendet. Einerseits
war diese öffentliche Positionierung des Bürgermeisters ein Hindernis für einen
offenen und kritischen Diskurs im Ort. Andererseits wurde mir an seinem Beispiel
auch eine Dimension deutlich, die ich im Folgenden kurz problematisieren
möchte.
Die Positionierung des Bürgermeisters war eine prozesshafte Entwicklung.
Als ich die ersten Male mit ihm sprach, war seine Position zu den Ereignissen
keine festgelegte, sondern eher von Verunsicherung geprägt. Er gab mir damals,
einige Tage nach den Übergriffen auf dem Stadtfest, einen Stapel von ver-
schiedensten Papierausdrucken und Kopien von E-Mails sowie Abschriften von
Nachrichten, die er vom Anrufbeantworter des Rathauses abschreiben lies. Dies
war für mich insofern interessant, da es sich hierbei durchweg um Beschimpfun-
gen handelte, die den Bürgermeister, die Stadt, die Politik, den Stadtrat, die Leute
die in der Stadt lebten pauschal als „rassistisch“, als „Nazi-Meute“, als „Ossi-Ver-
sager“ beschimpften.
5.2 Sich selbst organisieren 281

Das Erstaunliche war, dass die Absender ihre Klarnamen, Adressen und Te-
lefonnummern angaben. Die überregionale Politik, die Landesregierung und die
Vertretungen der Parteien erklärten ihre Nicht-Zuständigkeit für das lokale Prob-
lem. Der Bürgermeister sah sich allein gelassen. Er war wütend und fühlte sich
angegriffen. Der Stadtrat fühlte sich ebenfalls angegriffen. Zur selben Zeit orga-
nisierten sich die (überregionalen) Medien mit ihren Bussen auf dem Rathausplatz,
um über das Ereignis auf dem Stadtfest zu berichten. Sie forderten ständige State-
ments des Bürgermeisters und befragten die Leute auf der Straße in (X). Hieraus
entwickelte sich das weiter oben diskutierte „Wir“. In dieser Gemengelage entwi-
ckelte sich die Position des Bürgermeisters zur Reaktion und er präzisierte stück-
weise in den verschiedensten Interviews seine eigene Position, die dann ihren Hö-
hepunkt im Interview mit dem Presse-Organ der Neuen Rechten fand. Der Bür-
germeister entwickelte nicht nur seine Position, sondern dichtete gleichzeitig seine
eigene Position gegen Argumente von außen ab.195 Dies betraf auch die Argu-
mente und Einschätzungen der Polizei sowie die Versuche des Mobilen Bera-
tungsteams, in Gesprächen mit dem Bürgermeister das ursprüngliche Ereignis
nicht aus dem Blick zu verlieren. Vielleicht, vorsichtig gedacht, kann die Heraus-
bildung der Position des Bürgermeisters als ein „negativer“ Lernprozess interpre-
tiert werden, der sich im Zusammenhang mit einer Idee „interventionistischer“
Aufklärung entwickeln kann. Die Herausbildung eines „reaktionären Wir“ wäre
hier die Reaktion auf Versuche einer zwanghaften Form der Aufklärung, bei der
mithilfe unterschiedlicher Formen der Intervention (durch Medien, Polizei, Mo-
bile Beratung) die Aufzuklärenden „umstellt“ werden und dabei auf unterschied-
liche Weise (bewusst oder nicht) daran gearbeitet wird, eine gesellschaftliche Hie-
rarchie, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Polizei interveniert ord-
nungspolitisch. Als staatliche Gewalt richtet sie gewalthaft die Ordnung eines
Oben und Unten ein. Die Medien berichten, verknüpft mit ihrer Verwertungslogik,
über die Leute, entziehen diesen ihre Geschichten, um diese Geschichten an an-
derer Stelle über die Leute zu erzählen. Ein Mobiles Beratungsteam interveniert
im Interesse einer Demokratisierung der Verhältnisse; ihr Mittel ist der Versuch
einer Einrichtung öffentlicher Diskurse über die Ereignisse. Im Zweifel weiß hier
das Mobile Beratungsteam, was die „wahre“ Demokratie und „echte“ demokrati-
sche Öffentlichkeit ist. Es entstehen Situationen der Belehrung, der Zurechtwei-
sung. Ich betone die Negativität deshalb, weil hier ein Moment zutage tritt, eine
Art Verwandtschaft zwischen den unterschiedlichen Interventionsformen er-
scheint, am Oben und Unten festzuhalten. Das „reaktionäre Wir“ erscheint dabei
als eine Zuspitzung des Oben und Unten durch seine Konstruktion eines „guten
Wir“ und eines „bösen Außen“, dessen Wirkmächtigkeit darin besteht, sich den

195 Zum Gedanken der „Abdichtung“ der eigenen Position gegen Einflüsse von außen im Kontext
vom autoritären Populismus vgl. auch Demirovic (2016b).
282 1

Normativen der „interventionistischen“ Aufklärer entziehen zu können. Dem „re-


aktionären Wir“ ist es egal, ob es auf den Wurzeln einer „guten“ oder welcher
Demokratie auch immer ruht; es ist sich selbst genug und begreift die Interventio-
nen als das was sie sind, als zwanghafte Eingriffe. Das Recht auf ein „reaktionäres
Wir“ speist sich so aus einem Moment des Widerständigen, sich gegen den Zwang
„von oben“ zu richten ohne diesen tatsächlich aufheben zu wollen (da ja sonst die
eigene Idee in Frage steht). Das Problematische daran ist, dass hierbei alle Kräfte
ihren Anteil daran haben, dass die Opfer der Übergriffe verschwinden, dieses
Thema letztlich zu den Akten gelegt werden kann, ohne dass sich an den Verhält-
nissen etwas ändern wird. Eine Mobile Beratungsarbeit, die diese Widersprüch-
lichkeit verleugnet oder nicht erkennt, zerstört damit auch ihre eigenen progressi-
ven Elemente und Möglichkeiten, die sich mit einer Erweiterung von Erfahrungs-
räumen entwickeln könnten.
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem
Arbeitsprozess

Blicke ich jetzt an den Anfang meiner Arbeit zurück, gleicht der Text einer un-
gleichmäßigen Wellenform, vielleicht vergleichbar zu den Wellen am Meer, die
mal langsamer und flacher an den Strand plätschern und bei Wind Fahrt aufneh-
men, sich zu höheren Gebilden aufreihen und für heftige Ausschläge auf dem
Strand sorgen und sich dann wieder zurückziehen. Sie hinterlassen ein verändertes
Bild; die Landschaft hat danach eine andere Form angenommen. An einer Stelle
ist vielleicht etwas abgetragen, an der anderen etwas dazugekommen, zu einem
kleinen Hügel Sand aufgeschüttet. Stelle ich mich auf den Hügel, hat sich die Per-
spektive verändert. Bestimmte Dinge erscheinen anders, manche vertraut und mit-
unter gibt es den Moment, wenn der Himmel aufklart, dass auch in der Ferne Klei-
nigkeiten entdeckt werden können, die vorher so nicht sichtbar waren. Dieses
Ganze ist ein Prozess, eine sich ständig verändernde Angelegenheit.
Vor diesem Hintergrund sind Begriffe wie Zusammenfassung oder Schluss
oder Ende ungeeignete Begriffe, um den jetzigen Punkt oder den Stand meiner
Arbeit zu beschreiben. Sie schneiden ab. Sie behaupten, dass die vorliegenden Ge-
danken abgeschlossen sind. Dies kann ich so nicht behaupten. Ich bin angeregt,
nicht fertig und eher voller Fragen. Einzig die Zeit und die Lebensumstände drängen
darauf, dass ich einen Punkt mache, vorübergehend. Strenggläubigen wissenschaft-
licher Arbeit mag diese Position als Grauen erscheinen, da man ja von einer Dok-
torarbeit Antworten, Klarstellungen, Präzisierungen erwarten kann, die eng orien-
tiert an der Fragestellung mathematisch fein Abstraktionen, theoretische Konzepte
und Muster produziert. Meine Arbeit, so meine ich (und hoffe es auch), verweigert
sich dieser Mechanik. Blicke ich auf meinen Text, sind es eher Fundstücke, die
mir auffallen, die ich in die Hand nehme, die mein (bildlich gemeint) Begreifen
erfordern und mich so gleichzeitig zum Handeln auffordern – mich. Wie es ande-
ren damit geht, kann ich nicht sagen.
Dies liegt auch an meinem Schreibtisch, an meinem Sitzen am Schreibtisch,
den Texten und mir. Im besten Falle sprechen die Texte mit mir und ich mit ihnen.
Von außen betrachtet, mich selbst in dieser Situation von außen betrachtend, mutet
dies seltsam an, seltsam isoliert. Hiermit verknüpfen sich Verhaltensweisen und
Eigenarten, die sich im Arbeitsprozess entwickelt haben und für andere schwer zu

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
F. Affolderbach, Öffentlichkeit von Unten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-27525-9_7
284 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess

übersetzen sind. An diesem Punkt ist zum Beispiel das Sprechen mit den Texten
wörtlich zu nehmen.
Zum Beispiel Schumpeter: ausgerechnet die Idee einer Methode, Demokratie
als methodischer Verfahrensweise, als, ja was eigentlich? Was hat er sich dabei
gedacht? Ich möchte hier nicht noch einmal auf die Überlegungen am Anfang mei-
ner Arbeit eingehen, inhaltlich. Was ich geschrieben habe, möchte ich nicht ein-
fach wiederholen. Deshalb geht es mir jetzt um meine Erfahrung mit seinem Text,
mit seinem Buch mit dem schillernden Titel „Kapitalismus, Sozialismus und De-
mokratie“.
Spontan assoziiere ich nicht Schumpeter, sondern Bilder aus den Interviews:
„der Chef und der Rest“ von Markus (vgl. Ma: 338), oder „von oben herab eben,
ja, Mentalität von Kommunalpolitikern“ von Martin (vgl. M/b: 69). Von oben, von
oben herab findet sich bei Schumpeter wieder, dort allerdings als Ausarbeitung
einer Theorie, als Grundlage einer Idee des Politischen oder, etwas enger, als ei-
nem Verständnis von Politik. Der Wirtschaftswissenschaftler Schumpeter über-
trägt eine Idee der Ökonomie auf die Politik, genauer: die Idee des Unternehmers
als Führer und Innovator, als Leitfigur für Politik und politisches Handeln. Seine
Legitimation gewinnt er aus dem Konkurrenzkampf um die Stimmen der Leute.
Beim Lesen des Buches hatte ich große Schwierigkeiten, ein Unbehagen. Ich
denke, dies merkt man auch meinem Text an. Was macht die Schwierigkeit aus?
Oder das Unbehagen?
Es ist der normative Kern von Schumpeters Argumentation. Wilhelm E.
Scheuermann schreibt dazu: „Schumpeter macht sich ganz klar eine normative
Agenda zu eigen, als er traditionelle anti-demokratische Argumente spiegelt und
eine immense Betonung auf die Wichtigkeit politischer Stabilität legt. Er formu-
liert eine normative Kritik an der Demokratie und gibt sie als objektive Wissen-
schaft aus“ (Scheuermann 2002: 424 f.). Einerseits kritisiert Schumpeter die „po-
litische Passivität“ seiner Zeit und die damit verbundenen Vorstellungen von De-
mokratie; andererseits aber schließt er selbst das Politische in „staatlichen Institu-
tionen“ ein und begrenzt so eine weite Vorstellung des Politischen, welches die
gesamte Gesellschaft durchzieht (ebd.). Dies liegt auch an seiner Verachtung der
Masse, die bei ihm lediglich als fremdbestimmte, manipulierbare Größe erscheint.
Die Leute der Masse erscheinen bei ihm als Bremsung einer innovativen Entwick-
lung des Gesellschaftlichen. Die Innovation der Führungskraft liegt dann in von
den Leuten ausgewählten Politikern, die, von den Leuten abgekoppelt, an anderer
Stelle die Geschicke der Welt vorantreiben, „der Chef und der Rest“ (Ma: 338).196
Schumpeter begründet mit seiner Theorie Trennungen und Abspaltungen, die

196 Ich bleibe hier im Bild des patriarchalen Politikers. Eva Kreisky weist auf den grundlegend pat-
riarchalen Charakter von Schumpeters Denken und seiner Figur des (männlichen) Politikers hin
(vgl. Kreisky 2001).
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 285

Trennung der Menschen von gesellschaftlicher Entwicklung, eine Entwicklung,


die in den Händen von wenigen liegt und über viele entscheidet, die Einrichtung
einer Hierarchie. Die Menschen sind „nicht aus sich selbst heraus Mensch und
gesellschaftsfähig“, sondern müssen in einem funktionalen Zusammenhang, in ei-
ner herzustellenden hierarchischen Ordnung, „gezähmt“ werden (vgl. Cremer-
Schäfer 2005: 154). In diesem Sinne ist die Idee Schumpeters auch die Theorie
einer Ordnung.197
Was mich in diesem Zusammenhang besonders beschäftigt oder aufgewühlt
hat, ist, dass in diesem Denken alle Formen des Subalternen zum Verschwinden
gebracht werden. Schon die Theorie ist darum bemüht, das Subalterne zu unter-
drücken. Und schlimmer noch: Deren Ansprüche sind im skizzierten Denkmodell
illegitim, eine Störung der Ordnung, unvernünftig. Das Subalterne bedarf einer
entsprechenden Zurechtweisung oder einer „Zerstörung“. Letzteres ist wieder eine
Assoziation aus den Interviews: eine „Zerstörung“, wie Elena dort in Konfronta-
tion mit dem Stadtrat formuliert. Mit dem Begriff von Elena wird auch eine
Schwierigkeit von mir mit dem Text von Schumpeter deutlich.
Zum einen erinnern mich die Überlegungen von Schumpeter an meine eige-
nen Erfahrungen mit gegenwärtiger Politik. Sicher: Seine Überlegungen beziehen
sich auf seine Zeit. Das Muster aber, die Grundrichtung seiner Idee, eine Politik
auf Institutionen zu beschränken, diese mit der Einrichtung als ein Spektakel des
Konkurrenzkampfes (oder eben als Wettbewerb) zu inszenieren, hieraus eine hie-
rarchische Führung zu gewinnen und das Subalterne in diesem Bild auszuschalten,
ist meines Erachtens Teil dessen, was Heinz Steinert und Helga Cremer-Schäfer
als populistische Politik skizziert haben.
Zum anderen: Der Text selbst erweist sich als schneidendes Werkzeug. Die
Worte und Gedanken Schumpeters sind darauf gerichtet, Vorstellungen oder Ideen
kollektiver Zusammenhänge, so normativ und widersprüchlich sie in sich selbst
sind, wie etwa die Idee des Gemeinwohls oder die der Volkssouveränität zu zer-
schneiden und so zu zerlegen, dass am Ende die Ansprüche „von unten“ als Ideo-
logie erscheinen, als festgefahrene Idee, zu wissen, was richtig ist. Aus einer kri-
tischen Perspektive besteht ja auch die Notwendigkeit einer Kritik am Normativ,
zu wissen, was für andere richtig ist und wie es richtig zu gehen hat. Schumpeters
Text zielt aber auch weiter gehend darauf, die Perspektive, die Idee einer norma-
tiven Richtung für eine Handlungsfähigkeit „von unten“ abzuschneiden, zu ver-

197 Helga Cremer-Schäfer skizziert in Orientierung an Heinz Steinert Ordnungstheorien als „Ver-
tragsmodell“, in dem bereits „Befreiung stattgefunden“ habe und die daraus folgende Ordnung
eine „vernünftige“ sei, die „für alle Gültigkeit beansprucht“ (Cremer-Schäfer 2005: 154). Ich
fasse hier Herstellung von Ordnung möglicherweise etwas weiter. Oder anders: Vielleicht kann
man das, was ich hier skizziere, als eine Praxis zur Herstellung einer Ordnung verstehen, die z.
B. einem Vertragsmodell vorgelagert ist oder sich mit diesem in einer Verzahnung als politische
Praxis zur Wahrung der Ordnung herausbildet.
286 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess

neinen und zu zerstören. Er zielt damit auf eine Abspaltung des Utopischen, auf
eine Trennung der Gegenwart vom historischen Bezug und ihrer Zukunft.
Die Gedanken von ihm, an denen ich hängen geblieben bin, waren in diesem
Sinne scharfe Ecken, die meine Gedanken aufgerissen haben, meine Gedanken
abgerissen haben, was mitunter dazu führte, die Verdopplung der Welt in seinem
Denken zu erkennen, aber gleichzeitig mit einer Lähmung befallen zu werden,
vielleicht vergleichbar zu dem, was Henri Lefebvre im Zusammenhang mit seinen
Überlegungen zur Entfremdung und Alltäglichkeit skizziert hat.
Aus diesem Grunde war ich dazu gezwungen, mich zu befreien. Befreiend
waren für mich zwei Dinge. Zum einen habe ich im Diskurs zur Frage des Politi-
schen in der Theorie Begriffe gefunden, die eine Offenheit oder besser die Per-
spektive einer Handlungsfähigkeit „von unten“ aufgenommen haben und in die
Theoriesprache übersetzen. Zum anderen – und dies ist mir wichtig: Nach einem
längeren Prozess mit vielen Aufs und Abs habe ich Begriffe bei den Leuten in den
Interviews gefunden, die wiederum die Erfahrungen einer Handlungsfähigkeit
„von unten“ erkennen lassen und lebendig machen. Der Weg dahin war lang.
Auf diese beiden Punkte möchte ich noch eingehen. Wichtig war für mich,
zunächst eine Idee davon zu entwickeln, was einen Anspruch des Subalternen, ein
Handeln „von unten“ begründen und welcher Begriff des Politischen damit ver-
bunden sein könnte. Ich habe mich deshalb mit dem Problem der Volkssouveräni-
tät beschäftigt. Ein für mich sehr wichtiger Punkt war in diesem Zusammenhang,
die Widersprüchlichkeit des Begriffs in der Theorie zu erkennen. Eine dieser Wi-
dersprüchlichkeiten habe ich als Passivierung skizziert. Mit dem Begriff der Pas-
sivierung beziehe ich mich auf die Überlegungen von Antonio Gramsci zur passi-
ven Revolution im Kontext seiner Hegemonietheorie. Gramsci verwendet diesen
Begriff, um deutlich zu machen, dass durch die Herrschaft „von oben“ Initiativen,
Interessen und Anliegen „von unten“ aufgenommen und in neue Zusammenhänge
transformiert werden.198 Hiermit verknüpft sich eine Einpassung der Beherrschten
in Herrschaft, ohne dass hierarchische Verhältnisse aufgehoben würden. Mir ist
dieser Punkt auch deshalb so wichtig, weil er mir erlaubt, die Eigenaktivitäten der
Leute zu erkennen, ihr widersprüchliches Handeln als Formen der Vergesellschaf-
tung zu begreifen, die Leute einerseits im Handeln versuchen, Grenzen zu ver-
schieben, aber andererseits bestehende Verhältnisse in ihrem Handeln aufnehmen
und reproduzieren. Letzterer Punkt ist gerade mit Blick auf die Frage von Hand-
lungsfähigkeiten sozialer Bewegungen von zentraler Bedeutung. Wenn sich etwa
soziale Bewegungen mit einem emanzipatorischen Anspruch in die Zusammen-

198 Vergleiche zu meiner Interpretation auch die Überlegungen von Peter D. Thomas und seine Ana-
lyse des Begriffs „passive revolution“ bei Gramsci, der auch „two phases or forms of passive
revolution“ unterscheidet und so die Prozesshaftigkeit qualitativ und quantitativ unterscheidbar
macht (vgl. Thomas 2010: 151 oder beginnend mit dem Kapitel: 145 f.).
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 287

hänge der Gesellschaft einmischen, bilden sie selbst Orte, oder widersprüchliche
Zusammenhänge einer Vergesellschaftung, bei der das Handeln sozialer Bewe-
gungen zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung zirkuliert, sich also
selbst in den bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen bewegt und diese
auch im eigenen Handeln reproduziert. Gerade diese Punkte sind in den Interviews
besonders deutlich geworden. Dort zeigt sich ein Spannungsfeld, auch ein Ringen
der Leute um ihre Selbstbestimmung als Einzelne und als Gruppe.
Oder, wie Elena im Zusammenhang mit dem „festen Haus“ (E: 152) deutlich
macht, sie teilen Erfahrungen oder Momente einer Erfahrung der Aufhebung von
Trennungen, bei denen das Körperliche und das Kognitive verschmelzen. Selbst-
bestimmung ist in diesem Moment keine abstrakte theoretische Größe, sondern ist
ganz praktisch als Skizze der Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns am Beispiel
von Elena nachvollziehbar. Gleichzeitig, und dies ist das Besondere an der Über-
legung von Elena, entwickelt sich dieser Moment als eine ungleichzeitige und ge-
genläufige Bewegung im Kontext ihrer Selbstorganisation, die in den Augen von
Markus kritisch als Situation einer Hierarchisierung der Verhältnisse zu interpre-
tieren ist: „[d]er Chef und der Rest“ (Ma: 338). Im negativsten Fall kann dies dazu
führen, dass die Momente der Selbstbestimmung verlorengehen und im Prozess
der Hierarchisierung gebrochen werden und dass so die Erfahrung von Zusam-
menhang als eine isolierte Erfahrung des Moments konserviert wird. Die Erfah-
rung des Moments ist dann eine von Einzelnen, die wiederum von den anderen
abgetrennt dem Gemeinsamen als Reflexionsmöglichkeit oder als gemeinsamer
Bezugspunkt entzogen wird. Dies ist kein Automatismus. Das Ringen, von dem
ich spreche, tritt am empirischen Beispiel als eine Ungleichzeitigkeit, als eine
Überschneidung von Momenten der Selbstbestimmung und Fremdbestimmung,
auf. Hieraus entstehen Reibung und Konflikte, deren Widersprüchlichkeiten im
Handeln selbst nicht einfach durchschaut werden können. Wie die Beispiele der
Interviewten deutlich machen, handelt es sich dann um Auseinandersetzungen, die
zu den unterschiedlichsten Fragen geführt und an denen sich die verschiedensten
Themenfelder und Probleme entzündet haben.
Mit Blick auf die eben skizzierte Dimension möchte ich an dieser Stelle ei-
nige Gedanken von Janek Niggeman aufgreifen. Er geht in seinem Text „Wozu
brauchen wir das? Bildung als gelebte Philosophie der Praxis“ auf Überlegungen
von Antonio Gramsci zur Gruppenbildung als hegemoniale Praxis ein (vgl. Nig-
gemann 2016). An seinen Überlegungen sind für mich drei Elemente interessant.
Ich möchte diese aufgreifen und gleichzeitig darauf hinweisen, dass ich die fol-
genden Gedanken in Anlehnung an Niggemann und damit auch in Anlehnung an
und mit Anregung von Gramsci formuliere. Diese Anmerkung ist insofern wich-
tig, als Gramsci seine Begriffe im Kontext eines Modells von Hegemonie und Po-
litik entfaltet, um politische Handlungsfähigkeit zu verstehen.
288 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess

Erstens: Niggemann verweist darauf, dass „subalterne Gruppen [...] nicht auf
die gleiche Weise [lernen] wie die ,Berufsintellektuellen‘“ (ebd.: 62). Gegenteilig
bestünden ihre Lernprozesse „im Aushandeln der Gemeinsamkeiten und Unter-
schiede von Interessen, Begehren, Perspektiven“ (ebd.). Gemeinsam geteilte Inte-
ressen, Ideen und Perspektiven entwickelten sich in diesem Zusammenhang aus
den Auseinandersetzungen um ihre Interessen und im gemeinsamen Handeln.
Zweitens „durchlaufen Gruppen drei Phasen, in denen sie sich stark verändern,
um sich mit anderen zu verbinden“ (ebd.: 63). Eine erste Phase kennzeichnet Nig-
gemann als die Herausbildung „eines Bewusstseins ihrer Funktion und ihrer Auf-
gaben“ (ebd.). Die Gruppenmitglieder entwickelten das Gemeinsame im „Aushan-
deln“ der eigenen und im Konflikt mit „gegnerischen“ Interessen (vgl. ebd.). In
einer zweiten Phase entwickelten sie „Bündnisse[...] der Interessensolidarität“, die
ihrem Zusammenhang als Gruppe einen Zusammenhalt über die unterschiedlichen
Erfahrungen, Sichtweisen oder Interessen der Einzelnen hinweg ermöglichten
(ebd.). Eine dritte, „politisch-ethische Phase“, so möchte ich dies in Anlehnung an
Niggemann übersetzen, ist davon gekennzeichnet, dass die Gruppe beginnt, ihre
Anliegen in den Alltag zu tragen. Die Mitglieder der Gruppe suchen die politische
Auseinandersetzung im Alltäglichen. Sie gehen Bündnisse mit anderen Initiativen
ein, beginnen, sich mit Leuten und Gruppen, die verwandte Idee vertreten oder
teilen, zu vernetzen, und versuchen auf diese Weise, ihre Handlungsmöglichkeiten
zu vergrößern oder zu erweitern. Hierbei geht es darum, dass die Gruppe versucht,
„ihre partikularen Standpunkte“ zu verallgemeinern und in konkrete politische
Projekte zu transformieren (vgl. ebd.).
Zweitens: Janek Niggemann weist darauf hin, dass eine Gruppe nicht als ho-
mogenes Gebilde verstanden werden könne. Vielmehr müsse davon ausgegangen
werden, dass es „keine Gruppe ,an sich‘“ gebe und sich stattdessen eine Gruppe
als „permanente Aushandlungen und Auseinandersetzungen um die Grenzen zwi-
schen innen und außen, zwischen Identität und Differenz“ bewege und sich so als
gelebter Zusammenhang durch ihre „Möglichkeiten und Begrenzungen im Ringen
um Hegemonie“ bestimme (ebd.: 64). Ich möchte dies noch etwas anders formu-
lieren: Eine Gruppe im skizzierten Sinne kann als spezifische Art und Weise einer
horizontalen Vergesellschaftung verstanden werden, deren Zusammenhänge sich
prozesshaft entwickeln und entsprechend auch ständig verändern. Möglicherweise
ist mein hier skizziertes Verständnis eine (normative) Verengung dessen, was
Gramsci sagen wollte. Wenn ich Gramsci richtig verstanden habe, ist seine Idee
von Gruppe gesellschaftlich allgemeiner und verweist auf die unterschiedlichsten
kollektiven Zusammenschlüsse, aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Mili-
eus und Strömungen, die in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen versu-
chen, ihre Sichtweisen zu verallgemeinern, und sich in diesen Prozessen zu einer
„Klasse verbinden“ (vgl. auch Niggemann 2016: 63). Ich lasse aber meine obige
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 289

Überlegung an dieser Stelle so stehen, weil ich glaube, dass in meiner Zuspitzung
und Übertragung die Mikroprozesse der Handlungsfähigkeiten und die Interakti-
onsprozesse der Leute der von mir untersuchten Initiative so analytisch verstehbar
werden.
Freilich ist hier die Perspektive der horizontalen Vergesellschaftung eine ana-
lytische, da, wie ich oben angedeutet habe, die Vergesellschaftung als Gruppe
selbst auch in Widersprüchen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen erfolgt.
Insofern ist das Horizontale mit der Vertikale als Herrschaft „von oben“ verknotet;
beide überschneiden sich und lassen sich, wiederum analytisch, anhand unter-
schiedlicher Grade von Selbst- oder Fremdbestimmung am konkreten Beispiel
verdeutlichen.
An dieser Stelle muss ich unweigerlich an die Überlegungen von Sandra und
Elena in den Interviews denken und davon wie sie auf unterschiedliche Weise den
heterogenen Zusammenhang im Vereinshaus verdeutlichen. Dieser Punkt ist für
mich sehr lehrreich. Grob: Sandra macht am Beispiel der „Sterni-Leute“ eine Idee
davon deutlich, wer im Haus aktiv ist und welche Leute eher passiv sind. Sie ver-
deutlicht verschiedene konflikthafte Ebenen, die miteinander verzahnt sind, sich
überlagern und in ihrer Deutung eine Trennung erfahren. Sandra wird nicht be-
wusst, dass die „Sterni-Leute“ alles andere als passiv sind, sondern in ihrem Han-
deln eine Form des Widerständigen finden, was sich in der Organisation des Hau-
ses querlegt. Elena wiederum macht unterschiedliche Gruppen im Haus aus, die
unterschiedliche Grade oder Qualitäten an Aktivitäten im Haus entfalten, aber
diese Aktivitäten in ihrer Unterschiedlichkeit das Gemeinsame des Hauses erge-
ben. Was als passiv bei Sandra erscheint, ist dann bei Elena eben auch eine Akti-
vität im Haus. Markiert Sandra dies als Konfliktlinie und Elena als unterschiedli-
che Bewegungsformen, bilden beide im Kontrast ein Spannungsfeld, welches sich
selbst als ein Ringen um die Möglichkeiten und Begrenzungen des Möglichen im
Haus zeigt. In dieser Dynamik bestimmt sich dann die Differenz und der Zusam-
menhalt als bewegliche Grenzen zwischen innen und außen, die sich in solchen
konflikthaften Prozessen ständig verändern und in den Auseinandersetzungen im-
mer wieder neu gezogen werden.
Drittens: Janek Niggemann stellt die Frage: „Wer genau bildet die Gruppen
und verschafft ihnen ein Bewusstsein ihres Platzes, ihrer Möglichkeiten und ihrer
Begrenzungen?“ (ebd.: 64). Mit Gramsci verweist er auf die Perspektive: „Alle
Menschen sind Intellektuelle, könnte man daher sagen; aber nicht alle Menschen
haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen“ (GH 7: 1500). Weiter
vorn im Text, z. B. in meinen Überlegungen zu Hegemonie – Verhältnisbestim-
mung bei Gramsci, bin ich kurz auf das Verständnis von Intellektuellen bei
Gramsci eingegangen. Ich möchte aber einen weiteren Gedanken von Gramsci
aufgreifen. Er schreibt: „Jede gesellschaftliche Gruppe schafft sich, während sie
290 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess

auf dem originären Boden einer wesentlichen Funktion in der Welt der ökonomi-
schen Produktion steht, zugleich organisch eine oder mehrere Schichten von In-
tellektuellen, die ihre Homogenität und Bewusstheit der eigenen Funktion nicht
nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich
geben“ (GH 7: 1497). Im Grunde bilden, „trotz Behinderungen“, auch die Subal-
ternen „ihre [eigenen] Intellektuellen aus“ (Hirschfeld 2015b: 102).199 Gramsci
spricht in diesem Zusammenhang vom „organischen Intellektuellen“, der sich aus
dem kulturellen Zusammenhang oder, mit Negt und Kluge gesprochen, auch aus
dem „Rohstoff des Politischen“ formt. Entscheidendes Kriterium der intellektuel-
len Tätigkeit ist nicht die Masse an Wissensproduktion, sondern die „sozial orga-
nisierende Funktion“ (ebd.: 103). In diesem Sinne wäre dann ein organischer In-
tellektueller eine Vertretung der Gruppe, aus der er sich bildet oder, besser, die ihn
im Laufe ihrer Auseinandersetzungen hervorbringt. Diese Form des Intellektuel-
len wäre dann das Ergebnis kollektiver Prozesse. Dieser Intellektuelle vertritt
diese Gruppe nach außen und organisiert gleichzeitig einen Zusammenhalt und
das Selbstverständnis der Gruppe nach innen.
Ich möchte den Gedanken von Gramsci als Anregung aufnehmen und den
Begriff des Intellektuellen in Orientierung entlang der organisierenden Funktion
nutzen, um meine Interpretation der Interviews weiter zu differenzieren. Unter
diesem Blickwinkel ergeben sich zwei unterschiedliche Dimensionen. Beim Blick
auf die Eingangsgedanken zu meiner Interpretation der Interviews ist mir vor al-
lem die Aktivität der Leute im Kontext der Gartenlaube und am Lagerfeuer auf-
gefallen. Das Besondere ist dort ihre Interaktion. Wie ich herausgearbeitet habe,
ist das Spezifische ein wechselseitig anregender Austausch, der in doppelter Weise
einen Zusammenhang erzeugt. Bei Oskar Negt habe ich den Begriff des Zusam-
menhangbildens gefunden. Ich möchte diesen Begriff an dieser Stelle eher als Bild
begreifen. Blicke ich beispielhaft auf die Interpretation des Gedankens von Negt
durch Klaus-Peter Hufer für die politische Bildung, fällt auf, dass Hufer den Ge-
danken von Negt, Zusammenhänge herzustellen, zwar als Arbeit des exemplari-
schen Lernens begreift, das Herstellen von Zusammenhängen dabei aber auf eine
kognitive Angelegenheit einer herauszubildenden Urteilskraft durch die Einzelnen
reduziert (vgl. Hufer 2014: 233 f.). Möglicherweise hat es Negt auch im Sinne
von Hufer so gemeint. Ich habe hier Oskar Negt aber anders gelesen. Ein sinnli-
ches Begreifen der Welt, wie es Negt fordert und wie ich es verstehe, baut auf die
Herstellung von Zusammenhang, auf die Verknüpfung der Einzelnen mit anderen
in einem Miteinander eines kollektiven Zusammenhangs. Im Plural der unter-
schiedlichen Weltauffassungen bilden sich dann das Gemeinsame einer sich stän-
dig verändernden und entwickelnden Urteilskraft, die geteilten Grundlagen ge-

199 Bei Uwe Hirschfeld heißt es differenzierter: „So bilden auch, trotz Behinderungen, die Arbeiter-
klasse und andere subalterne Klassen ihre Intellektuellen aus“ (Hirschfeld 2015b: 102).
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 291

meinsamen Handelns, das „gemeinsame Dritte“ als geteilter Sinn und im Prozess
der Wechselseitigkeit auch die individuelle Persönlichkeit. Mit Blick auf die
Gruppe vom Lagerfeuer und der Gartenlaube wird dies als eine Dimension kol-
lektiver Vergesellschaftung besonders deutlich. Der wechselseitig anregende Aus-
tausch, die Zugänglichkeit dieses Zusammenhangs, die dabei hervorgebrachten
Verbindungen zwischen den Einzelnen und die daraus folgende Formung von An-
sprüchen eines kulturellen und politischen Handelns „von unten“, sind als ein kol-
lektiver Akt zu interpretieren, dessen Besonderheit darin besteht, gemeinsam eine
Idee zu entwickeln, sich gemeinsam zu organisieren, kurz: gemeinsam die Form
eines kollektiven Intellektuellen zu bilden. Der kollektive Intellektuelle bezeich-
net hier auch eine Form der (Erfahrung von) Gleichheit, bei der die Einzelnen in
der Tendenz ihre individuellen Erfahrungen und Perspektiven auf gemeinsame
Fragen einbringen, ohne in einer hierarchischen Ordnung des Bescheidwissens
aufgetrennt zu werden. Mit dem kollektiven Intellektuellen bezeichne ich damit
eine (oder diese) spezifische Form von kooperativer Vergesellschaftung, wie sie
in den Interviews als Zusammenhang der Gartenlaube und des Lagerfeuers von
den Interviewten unterstrichen worden ist. In diesem Zusammenhang tritt die Füh-
rung durch Einzelne, die die Gruppe nach außen vertreten und einen Zusammen-
halt, das Selbstverständnis nach innen, organisieren, in den Hintergrund. In den
Vordergrund rückt die gemeinsame, solidarisch-kooperative Vertretung oder, wie
es Markus ausgedrückt hat: „Wenn irgendwas unterschrieben werden musste, kam
immer erst mal die Frage, wer hat denn hier den Hut auf? Und da haben wir erst
einmal gesagt, ja, eigentlich alle“ (Ma: 32-34). Die Brechung gesellschaftlicher
Hierarchien – für mich eine sehr wichtige und wertvolle Erfahrung mit dem Text
der Interviews. Solche Momente ereignen sich durch die skizzierten Widersprüch-
lichkeiten hindurch und sind möglich.
Hiervon zu unterscheiden wäre eine zweite Dimension. Diese wird deutlich,
wenn die Interviewten über ihre Konflikte und Probleme mit der Selbstorganisa-
tion oder, besser, mit der Formierung ihrer Gruppe zum Verein berichten. Zwei
Momente habe ich aus ihren Erzählungen mitgenommen. Die Interviewten spre-
chen von einer Hierarchisierung im Zusammenhang mit dem Aufbau des Vereins.
Mit dem Verein als Basis bilden sich dann auch unterschiedliche Funktionen her-
aus, die den kollektiven Zusammenhang in einer Hierarchie organisieren. Auch
hier noch einmal Markus: „Der Chef und der Rest“ (Ma: 338). Darüber hinaus
organisieren sich im Haus die verschiedensten Leute, wie ich es oben am Beispiel
von Sandra und Elena noch einmal deutlich gemacht habe. Verallgemeinernd or-
ganisieren sich die Leute im Haus arbeitsteilig. Einzelne übernehmen notwendige
Funktionen, um den Gesamtzusammenhang am Laufen zu halten. In diesem Zu-
sammenhang möchte ich von arbeitsteiligen Intellektuellen sprechen. Diese ent-
wickeln zwei verschiedene Formen. Zum einen bekommen Einzelne die Funktion
292 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess

einer Vertretung der Leute des Hauses nach außen. Auch hier gibt zwei unter-
schiedliche Qualitäten: die eher zwanghaft der Organisation als Verein geschul-
dete Vertretung als Vorsitzender oder als Vorstandsmitglied des Vereins, die etwa
laufende Geschäfte des Vereins und die Verwaltung des Hauses organisiert. Dann
die Vertretung der Leute des ganzen Hauses, die zum Beispiel als Delegierte die
Leute des Hauses im Stadtrat vertreten. Sodann die Form der Organisation des
Zusammenhaltes und des Selbstverständnisses nach innen. Auch hier gibt es die
zwanghafte Seite, die etwa Sandra mit dem Beispiel der „Sterni-Leute“ oder etwa
Martin mit dem Zwang zur Verantwortung für das Ganze („Beim Verein ist halt
immer das Problem, du bist im Zwang“, M/b: 1227) verdeutlichen. Und hiervon
wieder zu unterscheiden ist, die Form einer freiwilligen Verantwortung für das
Ganze, wie sie etwa am Beispiel von Thomas deutlich wird, wenn er einen infor-
matorisch-organisatorischen Knotenpunkt bei der Organisation des Punk-Konzer-
tes im Haus bildet. Im Grunde verkörpern die arbeitsteiligen Intellektuellen einen
vielschichtigen sozialen Zusammenhang, bei dem verschiedene Ebenen in eine
hierarchische Ordnung geraten. An diesem Punkt entsteht dann spaltendes, kon-
flikthaftes Potenzial, wenn die verschiedenen Ebenen keine wirksamen Mittel fin-
den, sich anders als von oben herab zu organisieren. Wie schwierig dies sein kann,
davon haben die Interviewten erzählt. In der konkreten Situation nämlich, sind
diese Überschneidungen nicht unmittelbar zu begreifen; vielmehr stehen sich dort
unterschiedliche Interessenlagen als scheinbar unterschiedliche Anliegen fremd
gegenüber. Ihr Bezug zum Gesamtzusammenhang ist aufgrund der arbeitsteiligen
Organisation nicht unmittelbar nachvollziehbar.

Schlussgedanke zum Stichwort Basisdemokratie

Die Interviewten sprechen davon, dass sie im Verein darum bemüht gewesen
seien, bei allen skizzierten Problemen ihre Selbstorganisation durch eine Art „Ba-
sisdemokratie“ zu stützen. Interessant ist dieser Punkt deshalb, weil „Basisdemo-
kratie“ das einzige Stichwort ist, bei dem meine Gesprächspartner*innen das Wort
Demokratie in den Mund genommen haben. Und es wird eine Unterscheidung
deutlich, auch zu den theoretischen Konzepten von Demokratie, die ich weiter
vorn diskutiert habe.
Sie verstehen Basisdemokratie als einen Prozess, der sich verändert, nie
gleich ist, aber dessen roter Faden die Demokratisierung dessen ist, was sie zu-
sammen entwickeln. Oder anders: Gemeint ist damit auch die Art und Weise, ge-
meinsame Entscheidungsfindungen zu erfinden und die sich daraus entwickelnden
Formen für ihre Selbstorganisation als Werkzeuge zu gebrauchen, ohne auf diese
endgültig festgelegt zu sein, sowie gleichzeitig darum zu wissen, dass diese immer
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 293

verändert werden müssen. Das Lebendige und die Offenheit eines solchen Prozes-
ses zu erhalten, drückt eine Interviewte wie folgt aus: „gemeinsam darauf geeinigt
…, dass jede Person gehört wird und sagen kann, was er oder sie für wichtig hält
in dem Moment und haben dann halt gemeinsam geguckt irgendwie, wie sich das
realisieren lässt. Und dann haben wir uns wie so ein Ideal auch erarbeitet, also
indem wir geguckt haben, was ist uns wichtig und was wollen wir nicht, nämlich
dass nur die Lautesten reden und dann über alle anderen bestimmen, sondern wir
wollen gemeinsam entscheiden, wo es hingehen soll, was wir machen wollen“ (E:
486-500).200
Eine empathische Interpretation dieser Orientierung kann so übersetzt wer-
den, dass die Bedingung der „Freiheit eines jeden immer die Freiheit der Anderen“
zum Maßstab hat, und, weiter empathisch gedacht, in dieser Überlegung liegt die
Möglichkeit einer Vorstellung davon, dass dies nur mit einer Emanzipation der
Einzelnen gelingen kann. Kern des Gedankens ist aber, dass im Wissen um diese
Bedingtheit die Notwendigkeit einer Praxis besteht, dass diese Idee der Freiheit
eine praktisch gelebte sein muss.
Diese Perspektive unterscheidet sich deutlich von einer Idee von Basisdemo-
kratie, bei der die Vielen als Einzelne verbleiben und im Glauben eines vermeint-
lich gemeinsamen (feststehenden) Willens einfach nur (aus)wählen und in diesem
Sinne zwar aktiv sind, aber passiv bleiben.
Der hier angedeutete Gedanke zur Basisdemokratie gewinnt auch gerade mit
der weiter vorn skizzierten Mahnung von Heydorn zum Stichwort der Bildungs-
institutionen eine tiefere Bedeutung. Heydorn weist darauf hin, dass „[d]ie Bil-
dungsinstitution … nicht nur eine wichtige Komponente der Gesellschaft“ und
„ihr bedeutungsvollster Zubringer“ sei, sondern sie ermögliche „auch einen eige-
nen verändernden Beitrag, der unauswechselbar sei. Dieser Beitrag darf nicht
aus der Institution zurückgezogen werden, er kann auf gleiche Weise an keiner
anderen Stelle geleistet werden“ (Heydorn 2004: 131). Hieraus ergibt sich die Not-
wendigkeit einer Demokratisierung vorhandener Institutionen und ihrer ausgebil-
deten Verfahrensweisen. Die Perspektive ist eine „gemeinsame Regelung der ge-
sellschaftlichen Angelegenheiten“, welche sich nicht auf „den Punkt der Entschei-
dung“ reduzieren lassen, sondern gleichzeitig „öffentliche Verständigungspro-
zesse“ voraussetzen (Hirschfeld 2007: 6). Jürgen Ritsert spricht in diesem Zusam-
menhang in vergleichbarer Weise von „reflexiven Institutionen“. In Orientierung
an Hegels anerkennungstheoretischen Überlegungen formuliert er: „Für kritische
Theoretiker bemisst sich die Qualität von Institutionen nicht allein an ihrer Effizi-
enz im Sinne der Funktionstüchtigkeit. Sie bewerten sie im Kontext von Anerken-
nungsverhältnissen. ,Anerkennung‘ liest sich auf dieser Stufe als institutionelle

200 Auch hier habe ich die schon weiter vorn zitierte Passage eingekürzt.
294 6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess

Bestätigung des freien Willens“ (Ritsert 2007: 65). Und weiter: „Als ,reflexiv‘
kann eine Institution mithin erst dann gelten, wenn und insoweit sie den freien
Willen der Einzelnen, seine Empathie sowie anerkennende Interaktionen mit ih-
rerseits selbstständigen Anderen unterstützt und nicht untergräbt. Als ,repressiv‘
wäre eine Institution von daher dann zu kritisieren, wenn sie Autonomie, damit
die Würde des Subjekts in Frage stellt oder gar zerstört“ (ebd.: 64). Eine Spur
dieses Gedankens findet sich im Anspruch von Basisdemokratie, wie er von den
Interviewten formuliert worden ist.

Schlussgedanken zum Stichwort der Bildung

Ein erster Punkt: Die in meiner Arbeit nur umrissenen Prozesse der Selbstorgani-
sation möchte ich skizzenhaft in Anlehnung an Timm Kunstreich und Michael
May als eine Bildung des Sozialen und eine Bildung am Sozialen verstehen (vgl.
Kunstreich/May 1999). Das Besondere hierbei ist, dass, wie ich aufgezeigt habe,
die Akteure der Initiative anders Lernen, „nicht auf die gleiche Weise wie die Be-
rufsintellektuellen“ (Niggemann 2016: 62) oder wie es Paulo Freire (1973) mit
dem Begriff der „Bankiers-Methode“ bzw. Horst Rumpf (2010) als eine Art des
„Bescheidgebens“ kritisieren. Im Unterschied zu hierarchisierenden, belehrenden
Lernformen bestehen die Lernprozesse der von mir untersuchten Gruppe „im Aus-
handeln der Gemeinsamkeiten und Unterschiede [ihrer eigenen] Interessen, Be-
gehren und Perspektiven“ (Niggemann 2016: 62). Gemeinsames Handeln im
Sinne einer erweiterten Handlungsfähigkeit entwickelt sich aus der Herstellung
von Zusammenhängen, aus den Auseinandersetzungen um die Dinge, denen sie
eine Bedeutung beimessen. Mit Heinz Sünker (1989) kann man dies als eine mäeu-
tische, in den Alltag eingelassene Praxis interpretieren.
Und ein zweiter Punkt: Die Erzählungen der Interviewten zusammengedacht
machen auf gelingende Momente und Widersprüche der Selbstorganisation auf-
merksam. Vor allem die Widersprüche erweisen sich als wichtige Konfliktfelder,
die sich verallgemeinernd als Lernfelder verstehen lassen. Die unterschiedlichen
Positionen der Akteure zeichnen aufeinander bezogen ein dynamisches Feld, in-
nerhalb dessen sie sich als Teile einer gemeinsamen Initiative bewegen. Sie sind
gezwungen, dieses Feld zu erschließen, kennenzulernen, um sich zum einen über-
haupt in diesem Feld bewegen sowie zum anderen das Feld als Werkzeug ihrer
Anliegen über sich selbst hinaus nutzen zu können. Wenn dies ein Lernfeld ist, so
kann man mit Bertold Brecht davon sprechen, dass es darum geht, ein „Operieren
mit Antinomien“ zu (er)lernen (vgl. Haug 2008: 27). Damit weisen die Leute in
den Interviews auf ein zentrales Moment einer Bildungsnotwendigkeit hin, die
sich aus der Perspektive „from below“ ergibt (und an dem sich [kritische] politi-
6 Einige Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Arbeitsprozess 295

sche Bildung zu messen hat). Entscheidend finde ich, ist hierbei die Anmerkung
von Brecht, dass der Konflikt nur als praktisch dialektischer Zusammenhang kon-
struktiv zu handhaben sei, indem die Leute lernen, Widersprüche zu verstehen,
lernen, in Widersprüchen zu handeln oder eben „mit Antinomien operieren zu
können“ (vgl. ebd.). Dieser Gedanke ist m. E. als ein bestimmendes Moment po-
litischer Bildung aufzunehmen. Hier kann der Bildungsprozess kein isoliert kog-
nitiver sein, in Didaktik oder Lehrpläne eingeschlossen werden, sondern kann nur
als gemeinsames Projekt (von Bildungsarbeiter*innen und Subalternen) vom
Standpunkt der Subalternen formuliert und dann von dort aus vor allem gemein-
sam praktiziert werden.
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Abgekürzt als DW.
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Wiessner, Polly M. 2014: Embers of society: Firetalk among the Ju/’hoansi Bushmen. In:
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