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Wer spricht? Die Sprecher-Origo als Kontextfaktor beim Verstehen von


Zitaten (draft)

Chapter · November 2018

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Ute Tischer
Technische Universität Dresden
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Ute Tischer (Universität Leipzig)

Wer spricht? Die Sprecher-Origo als Kontextfaktor beim Verstehen von


Zitaten

Abstract
„Quotation“, „context“ and „author“ are concepts both clear from everyday practice and controversial in
literary theory. My paper aims to reflect on their intersections: It focusses on quotations and how „authorial
figures“ or „speakers“ can be used to activate contexts that help to explain or to interpret a quoted passage. In
its first part, I will give a theoretical outline, based on a model of literary communication. I will shortly introduce
the three concepts and differentiate between different types of context. A factor, which strongly influences the
perception of „voices“ and the contexts connected with them, is the narrative level, on which the „speaker“ is
situated. In the second part of the paper, therefore, I will use some quotations from Cicero’s works as test cases
for an analysis of how speaker concepts, depending on narrative levels, might influence a reader’s choice of
contexts.

Die Begriffe „Zitat“, „Kontext“ und „Autor“ teilen die Eigenschaft, im Alltagsgebrauch ebenso
intuitiv verständlich zu sein wie in der literaturwissenschaftlichen Praxis und Theoriebildung
umstritten. Wenn ich im Folgenden gleichsam ihre Schnittstelle beleuchten will, sind daher
jeweils kurze Klärungen ihrer hier präferierten Verwendungsweise nötig, ohne den Anspruch,
die damit verbundenen Problemfelder ganz abstecken zu wollen. Was mich interessiert, ist die
Frage, inwiefern beim Zitieren Sprecherinstanzen als Kontextfaktoren wirken können, die man
benötigt, um das Zitierte zu verstehen und zu interpretieren.
Dazu werde ich zunächst die drei Konzepte „Kontext“, „Zitat“ und „Sprecherinstanz“ mit Hilfe
eines Modells literarischer Kommunikation umreißen und die verschiedenen Arten von Kontext
herausarbeiten, die in literarischer Kommunikation zum Tragen kommen. Wessen „Stimme“
beim Zitieren wahrnehmbar wird, hängt unter anderem davon ab, ob die Sprecherinstanz mit
dem Autor des Textes verbunden ist oder zur dargestellten Welt gehört. Im zweiten Teil meines
Beitrags untersuche ich daher am Beispiel einiger Zitate aus Ciceros Werken, welche Folgen
die Entscheidung über die narrative Ebene, der die Sprecherinstanz zuzuordnen ist, für die Wahl
relevanter Kontextbereiche haben kann.

1.1 Kontext
Kontext ist ein relationaler Begriff, das heißt: Was auch immer Kontext konkret gerade
beinhaltet (einen Zusammenhang, Diskurs, eine Situation), es ist „Kontext“ stets im Verhältnis
zu etwas anderem, einem Objekt, Phänomen oder Gegenstand, und erst durch diesen Bezug
gewinnt es seine Berechtigung als Kontext. Die Relation zwischen Gegenstand und Kontext ist
dabei stets eine Bedeutungsbeziehung, sie ist sinnvoll, und das ist es, was das Konzept des
Kontextes in untrennbaren Zusammenhang mit Verstehen, Deuten und Interpretieren bringt.
Diese Beziehung ist aus zwei Perspektiven begründbar: Zum einen kann man argumentieren,
dass der Kontext den Gegenstand in irgendeiner Weise beeinflusst, bedingt oder erklärt, zum
anderen aber auch, dass der Gegenstand auf den Kontext ausgerichtet ist, auf diesen reagiert
oder auf ihn einwirkt. 1 Bezogen auf Texte und, wie hier, auf Zitate betrifft die Frage nach dem
Kontext daher sowohl die Voraussetzungen als auch die Intentionen der literarischen
Kommunikation. Ebenso hat Kontext eine produktions- und eine rezeptionsorientierte Seite:
Derjenige etwa, der zitiert, situiert das Zitat in einem bestimmten (noch näher zu

1
Dieses zweiseitige, „dynamische“ Verhältnis von Objekt und Kontext wird besonders in ethnographischen und
linguistischen Arbeiten in den Vordergrund gerückt; vgl. den Überblick bei Goodwin/Duranti (1992).
Kulturwissenschaftliche Ansätze betonen dies neuerdings auch in Bezug auf Literatur, vgl. z. B.
Neumann/Nünning (2006).
1
beschreibenden) Kontext, und derjenige, der ein Zitat rezipiert, versucht die entsprechenden
Bezüge nachzuvollziehen.
Die Menge der möglichen Kontexte für ein Objekt, etwa für einen Text oder ein Zitat, ist
potentiell unendlich. 2 „Kontextualisieren“, eine Kontextbeziehung (aktiv oder
nachvollziehend) herzustellen, bedeutet daher vor allem, Kontexte zu unterscheiden, zu
selektieren und zu evaluieren. Eine solche, typologische, Unterscheidung von Kontexten soll
im Folgenden in Bezug auf Zitate und ihre Deutung unternommen werden. Der Nutzen dieses
Unterfangens ist zunächst heuristisch: Die Unterscheidung, Beschreibung und Hierarchisierung
von Kontexttypen kann Hinweise geben, wo Kontexte zu „suchen“ und zu „finden“ sind, und
helfen, deren Relevanz für den Gegenstand und die Fragestellung zu begründen. 3 Darüber
hinaus geht es mir um Reflexion darüber, wie unsere eigene und die antike Rezeption von
Zitaten verläuft und was sie beeinflussen könnte.

1.2 Zitat
Wenn Zitieren, wie es in meinem Untersuchungsbereich der Fall ist, die Bezugnahme auf
literarische Werke in anderen literarischen Werken betrifft, kann man es als literarische
Kommunikation beschreiben, die über eine Intertextualitätsbeziehung realisiert ist.4 Das Zitat
selbst ist dann zunächst eine Textsequenz im zitierenden Text, die sich dadurch auszeichnet,
dass sie einen anderen Text partiell reproduziert und dass sie diesen Akt der Wiederholung, die
wortlautlich oder sinngemäß sein kann, als solchen erkennbar werden lässt. Die zitierte Sequenz
ist damit „doppelt codiert“: 5 Zum einen gehört sie, ebenso wie die Textteile, die sie umgeben,
in die Argumentation und den Sinnzusammenhang des zitierenden Textes, zum anderen kann
sie den zitierten Text und dessen Sinnzusammenhang aufrufen und so auch für die aktuelle
Kommunikation nutzbar werden lassen. Indem das Zitat auf seine Eigenschaft als wiederholte
Sequenz und damit auf seine Differenz zum umgebenden Text aufmerksam macht,
unterscheidet es sich zugleich von der einfachen Verwendung sprachlicher Zeichen, die ja
ebenfalls auf Wiederholung beruht; anders als jene gehört es zur parole, nicht zur langue. 6
Damit die derart etablierte „intertextuelle Beziehung“ aber tatsächlich realisiert und außerdem
als Zitatbeziehung rezipiert wird, sind verschiedene Zuschreibungen und Deutungsleistungen
von Seiten des Rezipienten nötig. Er ist es, der den zitierten Text in die aktuelle
Kommunikationssituation „hereinholt“, denn anders als der zitierende Text liegt dieser ja nicht
manifest vor, sondern wird von der zitierten Sequenz nur pars pro toto „vertreten“. 7 Weiterhin
muss er den so „hereingeholten“ Text nicht als irgendeinen Text, sondern als Prätext deuten.
Das beinhaltet einerseits chronologische Hierarchisierung (der Prätext muss vor dem
zitierenden Text existiert haben), andererseits Intentionszuschreibungen (die Annahme, dass
diese Beziehung nicht zufällig ist, dass sie hergestellt wurde und etwas aussagen soll) und damit
auch die Vorstellung, dass jemand, ein Sender oder Urheber, das Zitat verantwortet. 8

2
Zur potentiellen Unendlichkeit von Kontextbezügen und der Notwendigkeit der Staffelung und Hierarchisierung
von Kontexten vgl. Aschenberg (1999), 106 u. Klausnitzer (2014), 60–61.
3
Zur „Kontextverwendung“, d. h. den argumentativen Einsatzmöglichkeiten des Konzepts Kontext im Rahmen
von Interpretationstheorien vgl. Danneberg (1990), bes. 102.
4
Stocker (1998), 9. Dieser, hier präferierten, „hermeneutischen“ Konzeption von Literatur im Allgemeinen und
Zitaten im Besonderen entgegengesetzt sind u. a. strukturalistische Modelle wie das von Moritz Baßler, die den
Text als Element eines Feldes von anderen Texten konzipieren und in denen Instanzen wie Autor oder Leser keinen
Platz haben, vgl. Baßler (2005), bes. 73.
5
Zum Begriff vgl. Helmstetter (2003), 896: „Das Zitat ist eine doppelt codierte, reflexive Äußerung: ein
Zeichengebrauch (...), der auf anderen, vorgängigen Zeichengebrauch verweist.“
6
Compagnon (1979), 50–55.
7
Plett (1991), 8.
8
Zur Intention als „Zuschreibungsphänomen (...), das im weitesten Sinne die rezipientenseitige Rekonstruktion
der Situation des Textproduzenten voraussetzt“, vgl. Schaffrick/Willand (2014), 38. Die Eigenschaft, dass die
Annahme einer auf einen Urheber zurückgehenden Intention quasi unumgänglich ist, teilt das Zitat mit anderen
2
Wie „Kontext“ hat damit auch das „Zitieren“ eine Produzenten- und eine Rezipientenseite. Es
stellt sich als Kommunikationsakt dar, in dem das Zitat als „Botschaft“ oder Medium erscheint,
durch das ein Produzent einem Rezipienten eine Information zukommen lässt. Dafür müssen
beide, Zitierender und Rezipient, nicht nur auf das Zitat selbst, sondern auch auf den Prätext
zugreifen und diese miteinander in Beziehung setzen. Soll die Kommunikation glücken, müssen
beide kooperieren, d. h. der Autor gestaltet seine Zitate so, dass sie erkennbar bleiben, und der
Leser geht davon aus, dass die gefundenen Zitate beabsichtigt und bedeutungsvoll sind. 9

1.3 Sprecherinstanz
Das Zitieren kann man, wie bereits erwähnt, als Spezialfall literarischer Kommunikation
modellieren. In einem Kommunikationsmodell aber ist der „Sender“, ebenso wie der
„Empfänger“, eine notwendige Instanz, die besonders in sprachlicher Kommunikation
bevorzugt personal gedacht wird. 10 Aus der Perspektive des Rezipienten ist die „Senderinstanz“
die Adresse von Zuschreibungen, besonders wichtig darunter von Intentions- und
Motivationszuschreibungen. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass der „Sender“ die
kommunizierte Botschaft nicht nur produziert und veranlasst hat, sondern sie auch
verantwortet. 11 Bei der Redewiedergabe oder auch beim Zitieren, die beide eine zweite, von
der aktuellen verschiedene Kommunikationssituation aufrufen, verdoppelt sich diese Instanz:
Ein Zitat ist gleichzeitig die „Rede“ des Zitierenden und die Rede dessen, der zitiert wird. 12
Welche „Stimme“ dabei hervortritt oder bevorzugt wird, gehört zu den stilistischen
Entscheidungen des zitierenden Autors.
Was man sich unter der „Sprecherinstanz“ im konkreten Fall vorzustellen hat, kann in den
verschiedenen Domänen sprachlicher Äußerungen ganz verschiedene Ausprägungen haben. In
mündlicher (Alltags-)Rede liegt die Origo des Gesagten meist selbstverständlich bei
demjenigen, der gerade spricht. Treten die Produktion und die Rezeption sprachlicher
Äußerungen jedoch zeitlich auseinander, wie es bei schriftlicher Kommunikation der Fall ist,
manifestiert sich die Senderinstanz als Rollenzuschreibung, die je nach den pragmatischen
Rahmenbedingungen unterschiedlich sein kann. Bei vielen Formen schriftlicher
Alltagskommunikation ist sie eine reine Implikation – man vergleiche zum Beispiel
Speisekarten oder Gebrauchsanweisungen. In bestimmten Textsorten, etwa bei privaten Briefen
oder wissenschaftlichen Publikationen, wird die wahrnehmbare Äußerungsinstanz nach
Möglichkeit mit dem Wissen über den empirischen Urheber in Deckung gebracht. Besonders
in lyrischen und anderen fiktionalen Texten aber kann die Sprecherinstanz stark von der
„Autorinstanz“ dissoziieren. 13 Ist das der Fall, findet die literarische Kommunikation, die der
Text repräsentiert, auf mehreren narrativen Ebenen statt: als „äußere Kommunikation“
zwischen Autor und Rezipienten, auf der Ebene des „Erzählers“ und auf der Ebene der
handelnden Figuren. Zitate können auf jeder dieser Ebenen angesiedelt sein, und ebenso können

Formen des „uneigentlichen“ Sprechens wie Ironie oder Metapher, vgl. Jannidis (1999a), 30; Spoerhase (2007),
251–262.
9
Zur Gültigkeit dieses Grice’schen Kooperationsprinzips auch in literarischer Kommunikation vgl. Jannidis
(2004), 52–60.
10
Diese personale Zuschreibung von Urheberschaft in der menschlichen Kommunikation, und damit verbunden
auch die Zuschreibung von Intentionen, ist möglicherweise eine Universalie, die auf die biologische Disposition
des Menschen zurückgeht; vgl. dazu Eibl (1999), 51–54.
11
Das Zusammenfallen von Produktion, Urheberschaft und Verantwortung ist besonders bei schriftlicher
Kommunikation jedoch keinesfalls notwendig, vgl. dazu, mit Beispielen, Steiner (2009), 26–34, bes. 32–33.
12
Zu einem Kommunikationsmodell der Redewiedergabe vgl. Bucalić (2007), 47–48.
13
Zur Transformation des „Sprechers“ zum „Autor“ beim Übergang von mündlicher zur schriftlichen
Kommunikation und ihren Implikationen vgl. bes. Ehlich (1994), 33–35.
3
auf jeder auch „Sprecherinstanzen“ wahrnehmbar werden: als „Autor“, als „Autorpersona“
bzw. „Erzähler“ oder als „Figur“. 14

2. Kontexttypen in literarischer Kommunikation


Unter der Voraussetzung, dass Zitieren als Kommunikationsakt anzusehen ist, und zwar als
literarische und speziell intertextuelle Kommunikation, lassen sich mehrere Kontextbereiche
abgrenzen, die in Hinblick auf die Art dieser Kommunikation besonders relevant erscheinen.
In einem allgemeinen Kommunikationsmodell gehört „Kontext“ zu den Grundbedingungen der
Kommunikation, da kein Sprachzeichen für sich allein Bedeutung transportieren kann. Jede
Äußerung wird unter konkreten Rahmenbedingungen produziert und rezipiert, wobei der
Kontext der Produktion vom Kontext der Rezeption zumindest analytisch zu trennen ist – wie
gerade das Beispiel schriftlich-literarischer Kommunikation zeigt, können beide ja unter
Umständen sehr weit voneinander entfernt sein. Damit die Kommunikation erfolgreich verläuft
und die Kommunikationspartner sich verstehen, muss es jedoch eine Schnittmenge zwischen
Produktions- und Rezeptionskontext geben, und ebenso sind die Kommunikationspartner
normalerweise daran interessiert, sich der gemeinsamen Kontexte zu vergewissern.
Selbstverständliches Kontextwissen bleibt dabei aus sprechökonomischen Gründen implizit; je
mehr der geteilte Kontext jedoch in Frage steht, desto mehr muss er auch in der Rede bzw. im
Text expliziert und verbalisiert werden. 15
In Bezug auf mündliche Alltagskommunikation werden diese kommunikativen
Rahmenbedingungen meist in drei Typen differenziert, die zum Teil an den Instanzen des
Kommunikationsmodells festgemacht sind, nämlich (1) in den Sprach- oder Redekontext, der
durch den Zusammenhang der Sprachzeichen und damit die Äußerung selbst aufgebaut wird,
(2) in den situativen Kontext, womit hier die räumliche, zeitliche und soziale Situation gemeint
ist, in der die Kommunikation stattfindet, und (3) in das Vorwissen der
Kommunikationspartner, das wiederum sprachliche und kommunikative Kompetenz sowie
lebensweltliches und enzyklopädisches Wissen umfasst. 16 Diese Dreiteilung kann man auf
literarische Texte übertragen, doch sind dabei die besonderen Bedingungen der literarischen
Kommunikation zu berücksichtigen.
Auch hier bietet der Text selbst (1) einen Redekontext, der dazu beiträgt, einzelne Äußerungen
durch ihr Verhältnis zu den übrigen Textteilen oder zum Textganzen zu disambiguieren.
(2) Die „Redesituation“, die nach der Verschriftlichung der Äußerungen nun nicht mehr durch
die physische Präsenz der Kommunikationspartner geteilt wird, gewinnt an Komplexität: Zum
einen bleibt sie eine „extratextuelle Situation“, denn auch literarische Texte sind mindestens
implizit auf ihre sozialen und physischen Rezeptionsbedingungen ausgerichtet und werden
unter konkreten äußeren Umständen rezipiert. Zum anderen bauen literarische Texte selbst
„Redesituationen“ auf und ermöglichen damit eine Rezeption unabhängig von konkreten
äußeren Umständen. Das kann dadurch geschehen, dass Informationen aus dem situativen
Kontext im Text verbalisiert werden, aber auch durch Textsorten- und Gattungsmarkierungen,
welche gleichsam standardisierte situative Rahmungen vorgeben, die unterschiedliche
Rezeptionsweisen, -haltungen und -erwartungen bewirken. Hinzu kommt schließlich die bereits
im Zusammenhang mit der Konzeption der Sprecherinstanz erwähnte Möglichkeit, auf
verschiedenen narrativen Ebenen zu kommunizieren. Diese Kommunikationsebenen aber
implizieren nicht nur unterschiedlich konzipierte Sprecherinstanzen (Autor, Erzähler, Figur),

14
Zur Konzeption der Sprecher-Origo auf den einzelnen Ebenen der narrativen Kommunikation vgl. Schmid
(2008), 43-114, bes. 44; Genette (2010), 137-174, bes. 147-150; Aschenberg (1999), 187-197.
15
Vgl. dazu Clark (2006).
16
Zu dieser aus der Linguistik stammenden Typologie vgl. Aschenberg (1999), 75 und dies. im vorliegenden Band,
S. #, sowie Bußman (2008), 368; Coseriu (2007), 124. Zum Einfluss des situativen Kontextes beim Sprechen und
seinen kognitiven Voraussetzungen vgl. Scherer (1984), bes. 39–146.
4
sondern auch eigene Redesituationen (reale äußere Kommunikation, Erzählsituation, erzählte
Situation), die ebenfalls jeweils unterschiedliche Zuschreibungen von Seiten des Rezipienten
erforderlich machen. 17
(3) Der Komplex des Vorwissens der Kommunikationspartner schließlich ist bei literarischer
Kommunikation zu erweitern um Wissen über Literatur und um literarische Kompetenz, d. h.
um Regelwissen über den adäquaten Umgang mit Literatur. Im Vergleich zur
Alltagskommunikation wird dieses literarische Wissen speziell erworben und trainiert. Es
schließt Wissen über die besondere sprachliche Verfasstheit und Argumentationsstruktur
literarischer Texte ein, ebenso aber auch Wissen über die pragmatischen Implikationen solcher
spezifisch literarischer „Situationen“, wie sie etwa durch Fiktionalität oder die Zugehörigkeit
zu bestimmten Textsorten gegeben sein können. „Wissen“ erscheint in
literaturwissenschaftlichen Kontexttheorien daher oft als ein besonders herausgehobener
Kontextbereich. 18 Im Kommunikationsprozess manifestiert es sich als geteiltes Wissen, dessen
Vorhandensein sich die Kommunikationspartner gegenseitig unterstellen.
Die Verfügbarkeit all dieser Wissensbestände, unter deren Voraussetzung ein Text und speziell
ein Zitat produziert und rezipiert wird, ist jeweils unterschiedlich. Ein Teil ist immer
intersubjektives, von der sozialen Gemeinschaft geteiltes Wissen, ein Teil ist subjektives, auf
persönlicher Erfahrung, auch Lektüreerfahrung beruhendes Wissen, und ein Teil wird direkt
während des Kommunikationsaktes, im Gespräch oder bei der Lektüre aufgebaut. 19
Entsprechend unterschiedlich sind daher auch die Zugriffsmöglichkeiten beim Nachvollzug
antiker Zitate durch einen modernen (philologischen) Leser. 20
Wirft man von hier noch einmal einen Blick auf das Zitieren als Sonderfall der literarischen
Kommunikation, ist es vor allem der Bereich des geteilten Wissens, der näher zu spezifizieren
ist. Damit ein Zitat seine Wirkung entfalten kann, muss nämlich einerseits erkennbar sein, dass
zitiert wird, und andererseits, worauf sich die zitierte Sequenz bezieht. Was der Zitierende und
der Rezipient des Zitats teilen müssen, ist also zum einen Wissen um Zitiernormen, die
Konventionen also, nach denen Zitate „hergestellt“, verwendet und präsentiert werden, zum
anderen Wissen über den Referenzpunkt des Zitats, den zitierten Text oder Prätext.

3. Zitat und Sprecherinstanzen bei Cicero


Aufgrund der bis hierher angestellten Überlegungen stellt sich nun die Aufgabe, die
verschiedenen Kontextualisierungsmöglichkeiten, die sich beim Zitieren aus Sprecherinstanzen
ergeben können, zu systematisieren. Drei Aspekte sind dabei zu berücksichtigen.
Ein erster Punkt ist, dass mit der „Sprecherinstanz“ mindestens zwei Kontexttypen verbunden
sind. Zum einen ist sie zu den situativen Komponenten der „Redesituation“ zu zählen; zum

17
Zur Übertragung des Situationsbegriffs auf die literarische Kommunikation vgl. ausführlich Jannidis (2004),
34–44; zur rezeptionslenkenden Rolle von Gattungsbezeichnungen vgl. Rabinowitz (1998), bes. 176–178; Conte
(1986), 69–95, bes. 79–82; zur Nachbildung nicht-sprachlicher Kontexte durch sprachliche Mittel in literarischen
Texten vgl. Aschenberg (1999), 63–176; ebd. 184–187 auch zu Textsorten als Elemente literarischer
Situationskontexte.
18
Vgl. z. B. Klausnitzer (2014), 61, der vorschlägt, „die komplexen Beziehungen zwischen ‚Literatur‘ und
‚Wissen‘ als Variante von Text-Kontext-Relationen zu modellieren“, oder auch Neumann/Nünning (2006), die
eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete „kontextuelle Literaturwissenschaft“ unter dem Leitbegriff des
„kulturellen Wissens“ konzipieren, welches alle drei oben beschriebenen Kontexttypen umfasst; vgl. ebd. 6: „(...)
kulturelle[s] Wissen[], (...) die Gesamtheit kollektiv geteilter und symbolisch vermittelter Annahmen über die
Wirklichkeit, d. h. über gesellschaftliche prävalente Themen, Werte, Normen, Selbst- und Fremdbilder“. Zur
Kontextualisierung durch schematisch organisiertes Vorwissen des Lesers vgl. auch Rath (2008).
19
Zu den Wissenstypen, die die Basis intertextueller Kompetenz bilden, vgl. Holthuis (1993), 187–194 sowie Eco
(1990), 94–106.
20
Der Zugriff auf Wissensbestände beim „Rezipienten“ oder „Leser“ ist in alltäglicher wie in literarischer
Kommunikation gleichermaßen mit Problemen verbunden, vgl. z. B. Scherer (1984), 158; Goodwin/Duranti
(1992), 4–5; Klausnitzer (2014), 57–58.
5
anderen partiziert sie am „Wissenskontext“, insofern der Leser oder Rezipient Wissen über sie
besitzt oder im Verlauf der Lektüre erlangt. 21 Zweitens sind „Redesituation“ und Wissen
maßgeblich davon beeinflusst, welcher narrativen Ebene eine Äußerung oder, in unserem Falle,
ein Zitat, zuzuordnen ist. Die Ebenen der „äußeren“ Kommunikation, der Welt des „Erzählers“
und der erzählten Welt unterscheiden sich nicht nur darin, wie die Instanz der „Sprecher-Origo“
konzipiert ist, sondern weisen auch in Bezug auf Wissen und Redesituation ihr jeweils eigenes
Kontextgefüge auf. Hinzu kommt als ein dritter Aspekt die „doppelte Origo“ des Zitats: Da das
Zitat die Kommunikationssituation des zitierten Textes aufruft, kann auch der Urheber der
zitierten Rede als Sprecherinstanz in Anspruch genommen werden und Kontexte aktivieren, die
zum Verstehen und zur Deutung des Zitats beitragen.
Beim Zitieren begegnet als Sprecherinstanzen daher zum einen der Zitierende, und zwar als
empirischer Autor, als Autorpersona und als Figur, zum anderen der Urheber der zitierten Rede,
der ebenfalls als Autor oder als Figur erscheinen kann. Im Folgenden soll all dies auf das
Zitieren in römischen Prosatexten bezogen und anhand einiger Beispiele aus Ciceros Werken
illustriert werden.

3.1 Der Zitierende als Sprecherinstanz


3.1.1 Cicero zitiert: Der empirische Autor
Literarische Kommunikation teilt mit nicht-literarischer Kommunikation den Umstand, dass sie
einerseits in einer äußeren Situation zwischen realen Kommunikationspartnern stattfindet:
Zwischen einem zitierenden Autor, der unter bestimmten soziokulturellen Gegebenheiten
agiert, und einem realen Publikum, das Zitate unter konkreten Umständen rezipiert. Dieser
Blickwinkel kommt beim Zitieren vor allem dann zum Tragen, wenn man nicht einzelne Zitate,
sondern globale Zitierweisen untersucht. In diesem Fall ist es die Autorinstanz in ihrer Rolle
als Textproduzent, an der bestimmte Kontextbereiche festgemacht werden. Der Verfasser des
zitierenden Textes wird dann als derjenige wahrgenommen, der über die Verwendung und das
Aussehen der enthaltenen Zitate entscheidet.
Im Falle Ciceros etwa kann man die Frage nach den Ursachen und Funktionen eines bestimmten
Zitierverhaltens mit Argumenten beantworten, die den empirischen Autor Cicero, seine
Einstellungen, sein kulturelles Umfeld und besonders seine Intentionen betreffen. Dabei
werden regulär Textbeobachtungen mit Informationen über außertextliche Gegebenheiten
kombiniert. Ein Beispiel für diese Kontextverwendung sind etwa die materialreichen
Untersuchungen von Gerard Salamon (2004) und (2006) zu Ciceros Tusculanae disputationes.
Salamon interpretiert die überbordende Zahl an Dichter- und Prosazitaten in diesem Dialog als
Ausdruck der Bildungsidee, die Cicero mit seinen philosophischen Schriften verfolge. Cicero
demonstriere damit seinen Anspruch, eine philosophische Literatur in lateinischer Sprache nach
dem Vorbild der griechischen Philosophie zu schaffen. Über die Autorinstanz Cicero und die
Intentionen, die er ihr zuschreibt, erschließt Salamon das kulturelle und literarische Umfeld, in
dem sich Cicero bewegt, das seine Entscheidungen beeinflusst und auf das er wirken will, als
Kontextbereich, der für die Erklärung von Ciceros Zitierverhalten relevant ist. Der hier
beschriebene methodische Zugang zielt also in erster Linie auf die „äußere“ Kommunikation
zwischen dem „realen“ Autor und seiner Leserschaft in einer konkreten sozio-historischen
Situation. Kontext erscheint aus dieser Perspektive als Menge von Einflussfaktoren, die das
Zitieren derart bestimmen, dass man mit ihrer Hilfe erklären kann, warum Zitate auf eine
bestimmte Art verwendet werden.

21
Das korrespondiert mit der Tatsache, dass situative Kontexte in schriftlicher Kommunikation in viel höherem
Maße als bei mündlicher Alltagsrede nicht mehr einfach vorausgesetzt, sondern im Text ausgedrückt werden, vgl.
Scherer (1984), 174–179; Aschenberg (1999), 163–176.
6
3.1.2 „Cicero“ = Cicero zitiert: Identifizierung von empirischem Autor und Autorpersona
Umgekehrt kann man Zitate aber auch so betrachten, als seien sie auf bestimmte Kontexte hin
angelegt, deren Integration in die Lektüre sie quasi einfordern. Das ist möglich, weil literarische
Texte einer konkreten Äußerungssituation zugleich auch enthoben sind und ihr eigenes
Kontextgefüge schaffen. Auf dieser Wahrnehmungsebene begegnen sich derjenige, der zitiert,
und derjenige, der das Zitat zu verstehen sucht, als „impliziter“ Autor und Leser, und damit als
Textfunktionen. Beide figurieren sich durch Zuschreibungen: Der implizierte Autor ist
diejenige Instanz, welcher der Leser aufgrund seiner Textbeobachtungen unterstellt, dass sie
das Zitat mit bestimmten Absichten und in Hinblick auf einen potentiellen Leserkreis und
dessen Wissenshorizont gestaltet hat. Ebenso lässt sich aus dem Text aber auch ein Leser
ableiten, der die vom Text gestellten Anforderungen erfüllt und in der Lage wäre, das Zitat und
dessen Bedeutung im Text zu erfassen.
Einige antike Textsorten, darunter fachwissenschaftliche Traktate, Kommentare und auch
Briefe, geben eine Lektüreweise vor, bei der die im Text eingenommene Autorrolle mit dem
empirischen Autor identifiziert werden soll. Bei Zitaten fällt dann normalerweise die
Sprecherinstanz des Zitierenden mit der Verfasserinstanz des Textes zusammen:

Quod mihi mandas de quodam regendo, ‚᾿Αρκα δ ία ν...;‘. tamen nihil praetermittam. atque
utinam tu – sed molestior non ero.
(Cic. Att. 10,5,2, cit. Hdt. 1,66)

Was aber Deinen Wunsch nach Einflussnahme auf eine gewisse Person angeht: „Arkadien...?!“.
Jedoch, ich will nichts unversucht lassen. Könntest Du denn nicht... – schon gut, ich werde nicht
zu viel Stress machen.
(Übers. U.T.)

Zitate wie die hier angeführte Stelle aus einem Brief Ciceros an Atticus liest man daher ohne
weiteres als „Ciceros Zitate“, und um zu verstehen, worauf das vorliegende, äußerst allusive
(und nichtsdestotrotz durch Codewechsel und syntaktischen Bruch mühelos als Zitat
erkennbare) Zitat hinausläuft, darf und muss man auf Kontextinformationen zurückgreifen, die
die empirische Person Ciceros betreffen. 22 Dies gilt trotz der Tatsache, dass Cicero auch in
seinen privaten und von ihm selbst nicht publizierten Briefen sein auktoriales Ich sorgfältig
stilisiert und seine Selbstdarstellung subtil auf seinen Adressaten ausrichtet. 23
Eine ähnliche Rezeptionserwartung ist für die Reden anzunehmen, obwohl Cicero hier
ausdrücklich davor warnt, in einem Plädoyer geäußerte Ansichten mit seinen eigenen zu
verwechseln. 24 Auch sie schließt die Annahme ein, dass „Cicero“ derjenige ist, der Zitate
verwendet und eine Absicht damit verfolgt – selbst dann, wenn er sie seinem Prozessgegner
oder einer anderen Person in den Mund legt, wie hier dem P. Clodius:

Eum (i. e. Clodium) putato tecum loqui: ‚Quid tumultuaris, soror? quid insanis?
Qu id cla mo re m exo r sa v erb i s p a rva m re m ma g n a m fa ci s?

22
Ciceros Freund Atticus hatte ihn gebeten, auf den gemeinsamen Neffen Quintus einzuwirken, der sich auf
Caesars Seite geschlagen hatte. Cicero hält das offenbar nicht für aussichtsreich und spielt in seiner Antwort auf
eine Anfrage der Spartaner an das Delphische Orakel an, von der Herodot berichtet (᾿Αρκαδίην μ’ αἰτεῖς; Μέγα μ’
αἰτεῖς· οὔ τοι δώσω (...). – „Arkadien willst du haben? Eine große Forderung! Gewähren werde ich sie nicht (...)“).
23
Zum literarischen Charakter der ciceronischen Briefe und ihrer Rollenkonstruktion vgl. Hutchinson (1998), 1–
24, sowie Giorgio (2015). Dass Cicero sein briefliches Selbstbild auch durch Zitate gestaltet, weist z. B. Rühl
(2010) nach; zum strategischen Einsatz der Zitate in den Briefen vgl. Behrendt (2013).
24
Vgl. Clu. 139: Sed errat vehementer, si quis in orationibus nostris quas in iudiciis habuimus auctoritates nostras
consignatas se habere arbitratur. Omnes enim illae causarum ac temporum sunt, non hominum ipsorum aut
patronorum. („Doch es irrt gewaltig, wer glaubt, dass die in meinen Gerichtsreden vertretenen Ansichten damit
urkundlich als meine eigenen festgestellt wären. Sie alle sind den Prozess- und Zeitumständen, nicht den Menschen
selbst oder ihren Anwälten geschuldet.“; Übers. U.T.); vgl. dazu Eich (2000), 192–195.
7
Vicinum adulescentulum aspexisti; candor huius te et proceritas voltus oculique pepulerunt (...)‘
(Cic. Cael. 36, cit. Com. inc. inc. v. 72 Ribbeck2)

Nimm also an, er rede so mit dir: „Was machst du für einen Wirbel, Schwester – was regst du dich
so auf? ‚Was machst du mit deinem Gezeter aus einer Mücke einen Elefanten?‘ Du hast auf einen
netten jungen Mann aus der Nachbarschaft ein Auge geworfen, seine glänzende Erscheinung, seine
schlanke Gestalt, sein Gesicht und sein Blick haben es dir angetan (...)“
(Übers. Giebel 1994)

Komikerzitate wie dieses tragen in Pro Caelio dazu bei, die beteiligten Personen einschließlich
Cicero selbst als Komödienfiguren zu stilisieren. Dennoch bilden die Umstände des realen
Gerichtsprozesses, für den die Rede verfasst ist, ebenso wie die realen Motive Ciceros für seine
Verteidigungsstrategie einen Kontextbereich, der nicht vernachlässigt werden kann, wenn man
die Verwendung dieser Zitate erklären möchte: Ciceros Feindschaft zu Clodius, sein Verhältnis
zu Caelius, seine literarische Bildung und die Tatsache, dass er als Angehöriger der Elite zu
Standesgenossen spricht. 25 Der Redner, der sich hier als „Erzähler“ einer komödienhaften
Situation präsentiert, soll in der Wahrnehmung des Lesers keinesfalls von der empirischen
Person Cicero, dem Verteidiger des Caelius, unterschieden werden.

3.1.3 „Marcus“ zitiert: Die Autorpersona


Besonders typisch für literarische Kommunikation ist der Modus der Mimesis und der Fiktion.
Wenn es daher Hinweise gibt, dass die im Text wahrnehmbare Autorstimme sich von
derjenigen des realen Autors unterscheidet, differenziert sich die intratextuelle
Kommunikationssituation noch einmal in eine „Erzählerebene“, auf der eine ausgeführte
„Erzählerfigur“ oder „Autorpersona“ mit einer ebensolchen Leserfigur korrespondiert.
Entsprechend können auch Zitate auf der Erzählerebene angesiedelt sein und damit zur
dargestellten Welt gehören.
Ein Beispiel dafür, wie Cicero die Identität zwischen „Autor-Ich“ und Autorfigur ins Zwielicht
rückt, bilden die Tusculanae disputationes. In diesem als Dialog angelegten Werk zitiert der
Unterredner „Marcus“, der in der 1. Person spricht, den folgenden Enniusvers:

quid sit porro ipse animus aut ubi aut unde, magna dissensio est. aliis cor ipsum animus videtur,
ex quo excordes, vecordes concordesque dicuntur et Nasica ille prudens bis consul ‚Corculum‘ et
‚eg reg ie co rd a tu s h o mo , ca tu s Ae liu s S ex tu s‘.
(Cic. Tusc. 1,18, cit. Enn. Ann. 329 Sk.)

Was die Seele eigentlich ist, wo sie sitzt und woher sie kommt, darüber besteht große Uneinigkeit.
Einige meinen, das Herz selbst sei die Seele, und daher sagt man ‚excors‘, ‚vecors‘ und ‚concors‘,
der bekannte Weise und zweimalige Konsul Nasica wird der „der Beherzte“ genannt, und es heißt
„ein Mann mit vorzüglichem ‚Herz‘, der gewitzte Sextus Aelius“.
(Übers. U.T.)

Wer „Marcus“ ist, wird im Proöm festgelegt, das den Dialog einleitet. Dort erscheint „Marcus“
als Verkörperung Ciceros, zugleich aber auch als Teil der erzählten Welt. Einerseits will der
mit „Marcus“ identische Sprecher des Proöms die im folgenden Dialog geschilderten
Gespräche wirklich geführt haben, und dies in der Cicero gehörigen Villa Tusculum in den
Albanerbergen nahe Rom und mit Zeitgenossen, die Brutus, dem als reale Person
apostrophierten Adressaten des Textes, nach Aussage des Proöms persönlich bekannt seien.

25
Cicero setzt das Komödienzitat in Cael. 36 ein, um das im Prozess verhandelte Geschehen als
Komödiensituation zu zeichnen und die damit verbundenen Vorwürfe zu banalisieren; das dient nicht nur dem
Mandanten, Ciceros jüngerem Freund M. Caelius, sondern ist auch eine Invektive gegen Ciceros politischen
Gegner P. Clodius; zu Pro Caelio vgl. Geffcken (21995); Leigh (2004); Stroh (1975), 243–303, bes. 281–286.
8
Andererseits teilt das Proöm „Marcus“ explizit eine literarische Funktion zu: Er erhält die Rolle
des philosophischen advocatus diaboli und bezieht sich auf die literarische Figur des
platonischen Sokrates. 26
Wenn der so disponierte Sprecher „Marcus“ zitiert, ist der Rezipient damit aufgefordert, beide
Kontexte, nämlich das Wissen über den empirischen Autor und über die der Figur innerhalb
des Textes zugeteilte Rolle, einzubeziehen. Er sollte sich bewusst sein, dass sich hier einerseits
„Cicero“ als römischer Philosoph an römische Adressaten wendet, auf deren Vorwissen und
literarischen Hintergrund er durch lateinische Beispiele und einen bekannten lateinischen
Dichtertext eingeht. Andererseits erscheint das Zitat innerhalb einer Doxographie des
Seelenbegriffs, die sich durchweg auf griechische Meinungen bezieht, und es ist „Marcus“, der
„römische Sokrates“, der mit diesem Zitat nicht nur römische Vorstellungen mit griechischer
philosophischer Argumentation verbindet, sondern den lateinischen Klassiker Ennius auch mit
ähnlicher Autorität anführt wie der platonische Sokrates seinen Homer. 27 Das hierzu
erforderliche Wissen um die Sprecherinstanz ist in diesem Fall nicht einfach situativ
vorausgesetztes Kontextwissen wie im Falle der Briefe und Reden, sondern wird erst durch die
Tusculanae disputationes selbst und damit durch den Redekontext vermittelt.

3.1.4 „Cato“ zitiert: Die Figur


Auf der Ebene der erzählten Welt kann aber auch Kommunikation selbst dargestellt werden
und mit ihr die Situation oder der Kontext, in dem sie stattfindet. Die „Sprecherinstanzen“ von
Zitaten sind mitunter also auch handelnde Figuren, und ihr erster Bezugspunkt sind die
dargestellte Handlungssituation und die Adressaten des Zitats auf der Figurenebene.
In Ciceros Dialogen ist das dann der Fall, wenn Dialogfiguren zitieren, die keine literarische
Verkörperung Ciceros sein sollen. In De senectute etwa zitiert die Titelgestalt Cato aus Ennius’
Annales, vordergründig, um ein exemplum für hohe Leistung im Greisenalter zu illustrieren:

(...) et Hannibalem iuveniliter exultantem patientia sua molliebat (i. e. Q. Fabius Maximus); de
quo praeclare familiaris noster Ennius:
‚Oen u s h o mo n o b is cu n c ta n d o re st itu i t r em .
n o en u m ru mo r es p o n eb a t a n te sa lu te m .
erg o p o stq u e ma g i sq u e vi ri n u n c g lo r i a cla re t .‘
(Cic. Sen. 10, cit. Enn. Ann. 363–365 Sk.)

(...) und er (i. e. Q. Fabius Maximus) hat den jungen Draufgänger Hannibal durch seine beharrliche
Geduld mürbe gemacht; das hat unser Freund Ennius treffend hervorgehoben mit den Versen:
Ein Mann war es, der uns den Staat durch Zaudern gerettet;
Nicht war leeres Gerede ihm wichtiger als das Gemeinwohl.
Darum leuchtet je später, je schöner der Ruhm dieses Helden.
(Übers. Nickel 2011)

Wie der Verweis auf Ennius als familiaris noster zeigt, hat die zitierende Instanz Cato eine
besondere Beziehung zum Zitierten: Cato ist nicht nur irgendein Enniusleser, sondern, in der
Fiktion des Dialogs, jemand, der den zitierten Text, dessen Autor, und die darin erwähnten
Ereignisse persönlich kennt und ihnen durch seine Wertschätzung (praeclare) Vorbildcharakter
verleiht. Ebenso, wie damit die Sprecherinstanz Cato das Zitat erklären hilft, dient umgekehrt

26
Cic. Tusc. 1,7–8. Im Dialogteil der Tusculanen wird die Identifizierung des Sprechers mit dem Autor Cicero
auch zweimal indirekt durch Cicerozitate bestätigt, vgl. Tusc. 1,66: his ipsis verbis in Consolatione hoc
expressimus (...); Tusc. 5,32 (es spricht „Ciceros“ Dialogpartner): legi tuum nuper quartum De finibus. Zur
Stilisierung der Autorrolle u. a. in den Proömien der Philosophica als ein Mittel, die Kompetenz und soziale Rolle
des Autors zu demonstrieren vgl. Fuhrer (2012).
27
Zu diesem Zitat als Teil von Ciceros „sokratischer“ Argumentation vgl. Spahlinger (2005), 132–40, bes. 139–
140.
9
aber auch das Zitat dazu, die persona des Gesprächsteilnehmers Cato zu charakterisieren und,
durch seine Beziehung zu Ennius, historisch zu situieren. Damit das gelingt, muss der Leser des
Textes jedoch extratextuelles Kontextwissen aktivieren, in diesem Fall Kenntnisse über den
historischen Cato, seine Beziehung zu Ennius und sein Bild als Politiker und Mäzen. 28
Im Proöm von De senectute bekennt der auktoriale Ich-Sprecher „Cicero“, dass seine Gestalt
Cato sich „etwas gelehrter“ ausdrücke „als in seinen Büchern“. 29 Dies zeigt, dass sich auch das
Wissen um die historische Gestalt wenigstens zum Teil selbst wieder auf ein Autorbild gründet
und dass es zu Spannungen zwischen „historischem“ Kontextwissen und der im Redekontext
des Dialogs gezeichneten Figur kommen kann, mit denen der Leser umgehen muss. An
derselben Stelle im Proöm bringt der auktoriale Sprecher aber auch sich selbst, und damit
unvermeidlich den empirischen Autor Cicero ins Spiel: Die Figur Cato nämlich spricht in
diesem Dialog auch deshalb so „gelehrt“, weil sie eine Maske ist, deren sich der „Autor“
bedient, um die Autorität seiner eigenen Darlegungen zu heben. Catos Zitat ist also gleichzeitig
„Ciceros Zitat“ und erklärt sich auch aus dessen Wertschätzung für Ennius und die zitierte
Epospassage. 30 Wie schon beim zuvor angeführten Beispiel ist die Sprecherinstanz hier
mehrfach kontextualisiert, als „Ciceros Cato“, „historischer Cato“ und „catonischer Cicero“.
Je vielschichtiger die Sprechergestalt im Text angelegt ist, desto mehr Kontextwissen aus
unterschiedlichen Bereichen muss der Leser also heranziehen, um ein Zitat wie dieses und seine
Funktion in der Argumentation des Textes zu würdigen. Ebenso wird aber auch deutlich, dass
die Trennung der narrativen Ebenen und Instanzen als Analyseinstrument brauchbar ist, aber
nicht absolut genommen werden darf. In jedem Fall ist es der reale Leser, der die zur Deutung
des Zitats nötigen Wissensbestände aktiviert, und auch in die Konstitution von Erzähler und
Figuren können Informationen über den realen Autor oder andere Gestalten der realen Welt
eingehen. 31

3.2 Der Zitierte als Sprecherinstanz


3.2.1 Der Zitierte spricht nicht
Obwohl man für jedes Zitat auch eine eigene, von der aktuellen zu unterscheidende
Äußerungsinstanz annehmen muss, ist die explizite Hervorhebung und Benennung dieser
Instanz im zitierenden Text nicht notwendig, sondern eine stilistische Entscheidung. Das
belegen zahlreiche Beispiele in Ciceros Werken, bei denen das zitierte Segment so in den
zitierenden Text integriert ist, dass es zwar deutlich als „fremd“ erkennbar bleibt, dennoch aber
als eigene Rede des Zitierenden erscheint:

Dic quaeso: num te illa terrent, triceps apud inferos Cerberus, Cocyti fremitus, travectio
Acherontis, ‚men to su m ma m a q u a m a t tin g en s en e c tu s s it i‘ Tantalus? tum illud, quod

28
Zu den Enniuszitaten in De senectute, ihrer ethopoietischen Funktion und zum Wissen über die historischen
Personen als interpretationslenkendes Kriterium vgl. Spahlinger (2005), 38–44 u. 60–66.
29
Cic. Sen. 3: omnem autem sermonem tribuimus (...) M. Catoni seni, quo maiorem auctoritatem haberet oratio
(...). qui si eruditius videbitur disputare quam consuevit ipse in suis libris, attribuito litteris Graecis quarum
constat eum perstudiosum fuisse in senectute. sed quid opus est plura? iam enim ipsius Catonis sermo explicabit
nostram omnem de senectute sententiam. – „Dabei habe ich (...) das ganze Gespräch (...) dem greisen Marcus Cato
in den Mund gelegt, um den Worten mehr Gewicht zu verleihen (...). Wenn du glaubst, dass er sich in diesem
Gespräch gebildeter ausdrückt, als er es gewöhnlich in seinen eigenen Werken tut, so schreibe das der griechischen
Literatur zu, für die er bekanntlich im Alter größtes Interesse zeigte. Doch wozu noch mehr? Gleich wird Cato
selbst zu Wort kommen und alles darlegen, was ich zum Thema ‚Alter‘ zu sagen habe.“ (Übers. Nickel 2011); vgl.
Cic. Amic. 4.
30
Dasselbe Zitat ist in Off. 1,84 aus auktorialer Perspektive vorgetragen und wird dort ebenfalls mit Lob begleitet;
zu Ciceros Wertschätzung für Ennius und seiner Verwendung von Enniuszitaten im Dienste seiner eigenen
Identitätskonstruktion vgl. Gaeta (2008), sowie Shackleton Bailey (1983). Zur Verschmelzung von Cato- und
Cicerofigur vgl. Culpepper Stroup (2013), bes. 145–148.
31
Diese Wechselwirkungen zwischen den Ebenen thematisiert besonders Jannidis (2002) u. ders. (2004), 41–43.
10
S is yp h u s ve r sa t sa xu m su d a n s n i ten d o n eq u e p ro f ic it h ilu m? ’ fortasse etiam
inexorabiles iudices, Minos et Rhadamanthus?
(Cic. Tusc. 1,10, cit. Trag. inc. inc. 111 Ribbeck2 = TrRF adesp. 49; Lucil. dub. 1375–1376 Marx)

Sag mir doch bitte: Erschreckt dich das etwa, der dreihäuptige Kerberos in der Unterwelt, das
Tosen des Kokytos, die Fähre über den Acheron, und Tantalos, „der mit dem Kinn des Wassers
Oberfläche berührend fast dahinstirbt vor Durst“? Und das hier, dass „Sisyphos den Stein wälzt,
schwitzend sich stemmt, und doch kein My vom Fleck kommt“, vielleicht gar Minos und
Rhadamanthys, die unerbittlichen Richter?
(Übers. U.T.)

Bei diesem Beispiel sind die beiden Zitate durch Demonstrativa angekündigt (illa, illud) und
durch das Metrum, die „poetische“ Häufung von Klangfiguren und ihren Inhalt (das darin
genannte mythische Personal) sehr deutlich als Zitate erkennbar, auch wenn über ihre Herkunft
nur spekuliert werden kann. Eine „fremde“ Sprecherinstanz muss bei dieser Art des Zitierens
nicht in Anspruch genommen werden, die Dialogfigur „Marcus“, die hier zitiert, schlüpft
stattdessen gleichsam in die Rolle eines Schauspielers oder des epischen Erzählers und imitiert
dessen Rede. 32 Entsprechend wird der Urheber der zitierten Rede bei solchen Zitaten nicht als
Kontextfaktor wirksam.

3.2.2 Der zitierte Autor spricht


Wird eine „Äußerungsinstanz“ bezeichnet, muss sie nicht notwendig als Name oder Person in
Erscheinung treten. Schon als impliziertes Subjekt eines verbum dicendi wie dicitur oder fertur
bewirkt sie, dass sich der Inhalt des „Gesagten“ als fremde Weltsicht vom umgebenden Text
abhebt. Sobald das geschehen ist, kann sich der Sprecher der aktuellen Rede von der „fremden“
Rede distanzieren, ihr zustimmen und mit ihr argumentieren. Je nachdem, wie die zitierte
Äußerungsinstanz im Text stilisiert ist und welche Informationen über sie vergeben werden,
kann sie aber auch Prätextkontexte aufrufen und dabei bestimmte Kontextbereiche
fokussieren. 33
Sehr häufig wird das Zitierte in Prosatexten dabei einer personalen Äußerungsinstanz
zugeordnet, die als Quelle zu denken ist. Wie unterschiedlich sie zum Erscheinen gebracht
werden kann, zeigen die drei Zitate des folgenden Beispiels:

Est enim ius iurandum affirmatio religiosa; quod autem affirmate, quasi deo teste promiseris, id
tenendum est. Iam enim non ad iram deorum, quae nulla est, sed ad iustitiam et ad fidem pertinet.
(1) Nam praeclare En n iu s:
O Fid es a l ma a p ta p in n is et iu s iu ra n d u m I o v is .
Qui ius igitur iurandum violat, is fidem violat, (2) q u a m in Ca p i to l io vic in a m I o v i s o p ti mi
ma xi mi , u t in Ca to n i s o ra t io n e e s t, maiores nostri esse voluerunt. At enim ne iratus
quidem Juppiter plus Regulo nocuisset, quam sibi nocuit ipse Regulus. Certe, si nihil malum esset
nisi dolere. (3) Id autem non modo non summum malum, sed ne malum quidem esse ma xima
a u cto ri ta te p h i lo so p h i a ffi r ma n t.
(Cic. Off. 3,104–105, cit. Enn. trag. inc. 350 Jocelyn = trag. inc. 165 TrRF; Cato orat. 8, frg. 238
ORF)

Es ist ja ein Eid eine Zusicherung unter Berufung auf Gott. Was du aber als Zusicherung und
gleichsam vor Gott als Zeugen versprochen hast, daran ist festzuhalten. Es geht ja nicht mehr den
Zorn der Götter an, den es gar nicht gibt sondern die Gerechtigkeit und Treue. (1) Denn zutreffend
sagt Ennius:
„Segnende, flügeltragende Treue und Eid beim Rechtsschützer Zeus.“

32
Aus welchen Werken die beiden Zitate stammen, ist nicht mehr auszumachen; Tragödie (Ennius?) und Satire
(Lucilius) wurden vorgeschlagen; vgl. die Diskussion bei Skutsch (1986), 769–770.
33
Helmstetter (2003), 896–897.
11
Wer also einen Eid verletzt, der verletzt die Treue, (2) die „auf dem Kapitol nahe dem Jupiter
Optimus Maximus“, wie in einer Rede Catos steht, nach dem Willen unserer Vorfahren sein sollte.
Aber freilich hätte nicht einmal im Zorn Jupiter dem Regulus mehr schaden können, als Regulus
sich selbst schadete. Sicherlich, wenn es außer Schmerz zu leiden kein Übel gäbe. (3) Das aber, so
versichern die Philosophen von größtem Ansehen, ist überhaupt kein Übel, geschweige, dass es
das größte wäre.
(Übers. Gunermann 1976)

Bei allen drei Zitaten ist die „fremde“ Origo der zitierten Passage benannt (Ennius, Cato,
philosophi), mit dem Effekt, dass das zitierte Segment unmissverständlich einer anderen
Sprechsituation als der aktuellen und damit einem anderen Kontext zugewiesen wird. Diese
andere Sprechsituation kann als „Text“ oder „Werk“ gedacht sein, wie beim zweiten Zitat
(Cato), sie kann durch die Wiedergabe in Oratio obliqua zusätzlich syntaktisch gekennzeichnet
werden wie beim dritten Zitat (philosophi) oder auch, wie beim Enniuszitat, eine direkte Rede
einleiten, wobei das verbum dicendi selbst oft elliptisch bleibt. Weil eine solche Namens- bzw.
Quellenangabe die „fremde“ Sprechsituation impliziert, reicht sie schon für sich allein aus, um
Zitate als solche zu kennzeichnen. Als rhetorisches Mittel eingesetzt betont sie den Charakter
des Prätextes als „fremde“ Rede oder Meinung und ersetzt im hier gebrachten Beispiel damit
gewissermaßen die modernen Anführungszeichen.
Neben dieser „syntaktischen“ hat die Angabe der „fremden“ Origo aber auch semantische
Funktion, denn sie verweist auf den ursprünglichen „Redekontext“, der verschieden weit sein
kann: Mittels „Sprecherangaben“ rufen Zitate nicht nur die unmittelbar umgebende Rede oder
Argumentation auf, sondern beispielsweise auch eine bestimmte Szene im Prätext, eine
Figurenkonstellation oder das Thema des Prätextes insgesamt. Ebenso kann die Angabe dieser
Instanz auf formale Eigenschaften des Prätextes verweisen, etwa auf seine metrische Form,
seine Gattungsspezifik oder seinen Sprachstil. Dasselbe gilt für Elemente des extratextuellen
Kontextes, beispielsweise für bestimmte Rezeptionsweisen oder die kulturelle Bedeutung des
zitierten Textes.
Obwohl bloße Autorangaben wie „Ennius“, „Cato“ oder gar philosophi wenig geeignet sind,
die zitierte Passage innerhalb des zitierten Werkes auffindbar zu machen, dienen sie dazu, den
zitierten Prätext insgesamt zu identifizieren. Schon diese scheinbar nur bibliographische
Angabe appelliert damit an das Kontextwissen des Rezipienten. Im angeführten Beispiel helfen
die entsprechenden Quellenangaben, die zitierten Texte zeitlich, kulturell und literarisch zu
lokalisieren und den diskursiven Kontext des zitierten Elements zu bestimmen. Besonders
deutlich wird diese kontextualisierende Funktion der Äußerungsinstanz, wenn kein Eigenname,
sondern wie in dritten Zitat des Beispiels eine kollektive Angabe als Quelle benannt ist. Die
Bezeichnung philosophi rekurriert dort ja nicht auf eine Verfasserperson und einen konkreten
Äußerungskontext, sondern auf ebenjene diskursive Zugehörigkeit des zitierten Segments, in
diesem Fall auf die Argumentation der Stoa. Ähnliches könnte auch für „Ennius“ und „Cato“
gelten. Wie Ciceros Werke zeigen, sind beide Autoren geradezu der Inbegriff der
republikanischen lateinischen Dichtung und Prosa und mit ihren Namen verbinden sich ganz
bestimmte Gattungen und Autorenbilder. Bei den ersten beiden Zitaten im eben genannten
Beispieltext ist es daher vielleicht eher das „Image“ der Gestalten Ennius und Cato als
Verkörperung des mos maiorum, das die Zitate motiviert, als die argumentative Aussage des
Zitierten.

3.2.3 Eine zitierte Figur spricht


Auch in Bezug auf die Äußerungsinstanz des Prätextes muss es nicht unbedingt die Person des
Autors sein, an der solche Kontexte festgemacht werden. Gelegentlich baut Cicero auf das
literarische Kontextwissen seines Lesers auch, indem er Zitate nicht der Autorinstanz des
zitierten Textes, sondern einer darin auftretenden Figur in den Mund legt:
12
o praeclaram emendatricem vitae poëticam, quae amorem flagitii et levitatis auctorem in concilio
deorum conlocandum putet! de comoedia loquor, quae, si haec flagitia non probaremus, nulla
esset omnino; quid ait ex tragoedia princeps ille Argonautarum?
‘Tu me a mo ri s ma g i s q u a m h o n o ri s se r va <v i> s ti g ra t ia . ’
quid ergo? hic amor Medeae quanta miseriarum excitavit incendia!
(Cic. Tusc. 4,69, cit. Enn. Med. 224 Jocelyn = 92 TrRF)

Dichtkunst, du herrliche Korrektorin des Lebens, du, nach deren Meinung Amor, dieser Urheber
von Schändlichkeiten und Charakterlosigkeit, in der Runde der Götter sitzen soll! Von der
Komödie spreche ich, die, wenn wir solche Schändlichkeiten nicht gutheißen würden, gar nicht
existieren würde. Und was sagt jener Argonautenführer aus der Tragödie:
‘Du hast mich doch aus Liebe mehr gerettet als um des Ruhmes willen!’
Seht ihr? Und was für Unglücksfeuersbrünste hat Medeas Liebe angefacht!
(Übers. U.T.)

Die hier als princeps ille Argonautarum umschriebene Sprecherinstanz des Zitats ist Jason.
Cicero, oder besser sein alter ego, die Dialogfigur „Marcus“, identifiziert ihn als tragische
Gestalt und nennt im selben Zusammenhang den Namen Medea, der Titelgestalt der
populären 34 Tragödie des Ennius. Dabei kann er sich bei dem Zitat nicht nur auf den bekannten
Mythos verlassen, sondern setzt auch auf die Vertrautheit mit der Handlung dieses konkreten
Stückes. 35 Durch die „intertextuellen“ Namen der sprechenden und der angesprochenen Person
wird also sowohl auf die Sprechsituation im zitierten Text als auch auf den Titel des Textes
angespielt. So stilisierte Zitate verweisen damit besonders raffiniert auf die Tatsache, dass auch
die zitierten Prätexte selbst schon verschiedene Sprecherinstanzen voraussetzen. 36

4. Fazit
Die hier vorgestellten Überlegungen waren als Versuch gedacht, das unübersichtliche
begriffliche Terrain des „Kontextes“ in Bezug auf Zitate und Zitieren zu ordnen und zu
konkretisieren. Im Mittelpunkt stand dabei die Instanz des Urhebers/Autors/Sprechers des
Zitats und des Zitierten auf verschiedenen narrativen Ebenen. Diese stellte eine Denkfigur dar,
die nicht weniger vieldeutig ist als der Begriff „Kontext“, und je nachdem, in welchem Sinne
man sie verwendet, impliziert dies unterschiedliche Möglichkeiten der Kontextualisierung und
des Zugriffs auf „Kontexte“. Wie die Beispiele zeigen, geben die untersuchten Texte mit den
Sprecherinstanzen, die sie Zitaten zuweisen, Kontexte vor, die die Rezeption des Zitats
beeinflussen. Umgekehrt ist aber auch das Verstehen von Zitaten als Argument oder Stilmittel
im zitierenden Text sehr stark an der Instanz orientiert, die zitiert oder spricht. Der Versuch,
die verschiedenen Arten von „Sprecherinstanzen“ und „Kontexten“ zu typologisieren, illustriert
dabei einmal mehr, wie sich die Wirkung und Bedeutung des Zitats erst im Wechselspiel
zwischen dem Text und den Zuschreibungen, Erwartungen und Wissensbeständen des
Rezipienten entfaltet.

34
Zur Zitierhäufigkeit der ennianischen Medea bei Cicero und seinen Zeitgenossen vgl. Spahlinger (2005), 225–
226. Zur zeitgenössischen Enniusrezeption durch Aufführungen und Lektüre vgl. Manuwald (2011), 108–125,
bes. 112–114.
35
Darauf, dass der intendierte Leser anhand der Zitate die Stücke identifizieren konnte, deutet auch der unmittelbar
folgende Bezug auf eine weitere Medeatragödie eines zweiten, ebenfalls nicht namentlich genannten Tragikers,
wohl des Pacuvius (Trag. inc. inc. 174–175 Ribbeck2 = Frag. adesp. 62 TrRF = Pac. Medus frg. 185 Schierl): atque
ea tamen apud alium poëtam patri dicere audet (...).
36
Zu Ciceros Verwendung der Figuren als Sprecher von Zitaten in den Tusculanae disputationes vgl. Salamon
(2004), 143–144, der in dieser „distanciation théâtrale“ auch eine Reflexion über das Verhältnis von Dichtung und
Philosophie sieht.
13
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