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versprechender, der beiden Repräsentati- grammatische Phänomene, wie zum Bei-


onsformaten einen eigenen Geltungsbe- spiel die Deixis, die Phorik und das
reich zuordnet, also integrieren kann, ohne Tempussystem, deren Funktion und lite-
ein fauler Kompromiss zu sein.« (145) »Ich
verstehe diese Argumentation nicht. Wieso rarische Wirkung er im Zusammenhang
müssen […] Und wieso […]« (163) »Dabei einer Vielzahl von Beispielen aus der
handelt es sich eher um einen Kunstgriff als französischen Literatur untersucht.
um ein echtes Argument.« (175) »Die kriti- Welch zentrale ästhetische und sinnkon-
sierte Position existiert streng genommen stituierende Funktion einzelnen sprachli-
gar nicht.« (182/3)
chen Mitteln im Zusammenhang eines
literarischen Textes zukommen kann,
macht nicht zuletzt die hervorragende
Bearbeitung und Übersetzung des Bu-
Maingueneau, Dominique:
ches durch Jörn Albrecht deutlich. Die
Linguistische Grundbegriffe zur Ana-
deutsche Fassung, die z. T. im Rahmen
lyse literarischer Texte. Tübingen: Narr,
eines Seminars am Institut für Überset-
2000 (narr studienbücher). – ISBN 3-8233-
zen und Dolmetschen der Universität
4982-1. 208 Seiten, € 18,40
Heidelberg entstanden ist und vom Au-
(Ursula Renate Riedner, München) tor selbst durchgesehen und ergänzt
wurde, ist so bearbeitet, daß das Studien-
Daß bei der Lektüre literarischer Texte in buch trotz der überwiegend französisch-
der Fremdsprache zwangsläufig immer sprachigen Beispiele auch von Nicht-
auch die Sprache selbst Gegenstand er- Romanisten gewinnbringend rezipiert
höhter Aufmerksamkeit ist, liegt auf der werden kann. So sind den Originalbei-
Hand. Dieser Tatsache wird bei der Ver- spielen fast durchweg auf dem Buch-
mittlung fremdsprachiger literarischer markt erhältliche deutsche Übersetzun-
Texte gemeinhin dadurch Rechnung ge- gen beigefügt. Dies stellt zum einen eine
tragen, daß der Analyse und Interpreta- Verständnishilfe für Leser mit nur gerin-
tion der Texte eine Phase vorgeschaltet gen Französischkenntnissen dar. Gleich-
wird, die der Klärung wichtiger lexikali- zeitig zeigen die Übersetzungen, daß es
scher und grammatischer Zusammen- für eine ganze Reihe erzähltechnisch
hänge gilt – wobei diese Phase weitge- relevanter sprachlicher Mittel kein Äqui-
hend ohne Bezug zur literarischen Text- valent in der Zielsprache gibt, so daß mit
analyse bleibt. Daß Sprachanalyse und der Übersetzung auch ein Teil der spezi-
literarische Analyse jedoch sehr wohl fischen Wirkung des französischen Origi-
sinnvoll aufeinander bezogen werden nals verlorengeht.
können, macht das vorliegende Buch des Besonders eindrücklich zeigt sich dies
in Paris lehrenden französischen Sprach- z. B. in der ersten deutschen Übersetzung
und Literaturwissenschaftlers Domi- von Camus’ L’Etranger: So löste, wie
nique Maingueneau deutlich. Dieser An- Albrecht in einer Fußnote anmerkt, Ca-
spruch macht das ursprünglich für fran- mus’ Roman bei seinem Erscheinen in
zösische Philologiestudenten verfaßte Frankreich allein dadurch einen literari-
Studienbuch auch für die Literaturwis- schen Skandal aus, daß er die Ereignisse,
senschaft im Bereich Deutsch als Fremd- die in herkömmlichen Erzählungen im
sprache interessant. Französischen im passé simple wiederge-
Maingueneau konzentriert sich in seinen geben sind (also in dem Tempus, das
Linguistischen Grundbegriffen zur Analyse dazu dient, Ereignisse als eine kausale
literarischer Texte auf einige zentrale Handlungskette darzustellen), im Roman
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durchgängig im passé composé verbali- stehen. Dabei stützt sich Maingueneau


siert, das »die einzelnen Vorgänge als vorwiegend auf Ansätze, die die struktu-
voneinander unabhängig« (59) darstellt. relle Linguistik kritisch weiterentwickelt
Dadurch erzielt Camus, wie Maingue- haben. Bezugspunkt bilden u. a. die Pro-
neau hervorhebt, eine nachhaltige litera- blèmes de linguistique générale von Emile
rische Wirkung, die das Anliegen des Benveniste (1966), die Tempus-Theorie
Romans noch einmal in besonderer Weise Weinrichs (21971) und neuere französi-
unterstreicht: sche Veröffentlichungen zu deiktischen
»Indem das passé composé dem passé simple Sprachmitteln und zur Textlinguistik.
vorgezogen wird, stellt der Roman die Im Mittelpunkt von Maingueneaus Dar-
Ereignisse nicht als Handlungen einer Per- stellung steht zunächst die Frage nach
son dar, die in eine Kette von Ursache und der Äußerungssituation als der »Grund-
Wirkung, Mitteln und Zielen eingebettet
bedingung für alle konkreten Manifesta-
sind, sondern als isolierte Handlungen, die
keinen Einfluß auf die Folgehandlungen zu tionen von Sprache« (15):
haben scheinen. Dabei spiegelt sich in dem »Von besonderem Interesse ist hierbei, wie
Verzicht auf den Gebrauch von Formen, die der literarische Diskurs mit einer nicht zu
die Kontinuität der Erzählung ausdrücken, umgehenden Gegebenheit umgeht: der Ge-
die These wider, für die Meursault durch stalt des Autors. Dieser kann nicht auf die
sein Verhalten steht: Die Existenz hat keinen Rolle eines gewöhnlichen Sprechers redu-
umfassenden Sinn.« (61) ziert, aber auch nicht ganz von einem
Eben diese Wirkung geht aufgrund des solchen getrennt werden.«
unterschiedlichen Tempussystems beider Anders als man vielleicht erwarten
Sprachen in der ersten deutschen Über- könnte, bietet Maingueneau im folgen-
setzung des Romans, die durchgängig im den keine systematische Bestimmung der
Präteritum gehalten ist, vollständig ver- literarischen Texten zugrundeliegenden
loren. Indem Albrecht die Problematik Kommunikationssituation. Vielmehr
literarischer Übersetzungen, die sich aus werden in den folgenden Überlegungen,
dem notwendigen Einsatz unterschiedli- die den Einsatz deiktischer Sprachmittel
cher sprachlicher Mittel ergibt, in einem beim literarischen Erzählen betreffen, je-
umfangreichen Fußnotenapparat genau weils beispielhaft einzelne Aspekte lite-
dokumentiert und mit außerordentlich rarischer Kommunikation beleuchtet.
erhellenden Anmerkungen versieht, ge- Maingueneaus Verdienst ist es hier, die
lingt es ihm, die nachhaltige Wirkung zentrale Rolle der Deixis beim literari-
auch einzelner sprachlicher Mittel in schen Erzählen hervorzuheben und an
literarischen Texten noch einmal neu zu einer Vielzahl von literarischen Beispie-
demonstrieren. Maingueneaus Anliegen len aufzuzeigen. Die Frage nach der
zu zeigen, wie wichtig eine linguistisch Verbindung zwischen »Ort und Zeit-
fundierte Textanalyse auch für literatur- punkt der Äußerung mit dem Ort und
wissenschaftliche Fragen sein kann, wird Zeitpunkt der erzählten Ereignisse« (44)
dadurch auf besondere Weise unterstri- und dem Verhältnis von Autor und Er-
chen. zähler im Text, die Maingueneau mehr-
Um sprachliche Mittel in ihrer komple- fach thematisiert, bleibt jedoch analytisch
xen literarischen Wirkungsfunktion er- weitgehend ungelöst. Hier hätte die von
fassen zu können, bedarf es linguistischer Ehlich (1982) ausgearbeitete systemati-
Ansätze, die Sprache nicht als formal- sche Differenzierung der möglichen deik-
grammatisches System betrachten, son- tischen Verweisräume (Wahrnehmungs-
dern als Mittel der Kommunikation ver- raum, Rederaum, Textraum und Vorstel-
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lungsraum), die von Maingueneau offen- Mit dem Begriff der Polyphonie, der auf
sichtlich nicht rezipiert wurde, sicher Michail Bachtin verweist, setzt sich
weiterführende Ergebnisse bringen kön- Maingueneau im 4. Kapitel auseinander.
nen. Dabei greift er die von Ducrot (1984)
Im zweiten Kapitel führt Maingueneau herausgearbeitete Unterscheidung zwi-
die von Benveniste (1966) getroffene Un- schen dem Urheber eines Sprechakts
terscheidung von Diskurs und récit als (locuteur), dem Sprecher (sujet parlant)
zwei verschiedenen Äußerungsebenen ein, und dem Urheber einer Äußerung (énon-
wobei er nach der Verteilung beider ciateur) auf, der im Zusammenhang lite-
Äußerungssysteme in literarischen Tex- rarischer Texte eine besondere Relevanz
ten fragt. Benveniste bezeichnet (in Ab- zukommt.
grenzung zu anderen, üblicheren Be- Die Formen der »Redewiedergabe« in
griffsbestimmungen) mit dem Begriff literarischen Texten sind Thema des 5.
Diskurs »jede sprachliche Äußerung, ge- Kapitels. Untersucht werden hier die
schrieben oder gesprochen, die sich auf sprachlichen Mittel der Integration einer
den Moment der Äußerung selbst bezieht Äußerung in eine wiedergebende Rede
[…], oder die, anders gesagt, einen deik- für die Fälle der direkten Rede, der
tischen Ausdruck impliziert« (49). Unter indirekten Rede, der erlebten Rede und
dem Begriff récit ist dagegen eine »Art des inneren Monologs und deren jewei-
erzählender Äußerungsform, die von der lige Relevanz in literarischen Texten.
Äußerungssituation unabhängig ist« Welche Rolle Adjektive im Zusammen-
(ebd.), zu verstehen. Diese Differenzie- hang einer stilistischen Analyse literari-
rung ist eng mit dem französischen Tem- scher Texte spielen, ist unter dem Titel
pus-System verbunden, da z. B. das passé »Klassifizierung und Nicht-Klassifizie-
simple ausschließlich im récit Verwen- rung« im 6. Kapitel der Arbeit diskutiert,
dung findet. Für die Frage, inwieweit wobei Maingueneau sich hier vor allem
eine solche Unterscheidung auch für das für den Zusammenhang »zwischen
Deutsche von Relevanz ist, wäre ein nicht-klassifizierendem Gebrauch, Sub-
Hinweis des Bearbeiters der deutschen jektivität und literarischem Diskurs«
Ausgabe auf Weinrich (21971: 224) hilf- (149) interessiert.
reich gewesen, der seine Differenzierung Im 7. Kapitel »Elemente der Textgramma-
zwischen besprochener und erzählter tik«, das – wie auch Albrecht immer
Welt zu den Begriffen Benvenistes ins wieder anmerkt − zum Teil erheblich von
Verhältnis setzt. Die unterschiedliche der im deutschen Forschungszusammen-
sprachliche Handlungsfunktion ver- hang gewohnten textlinguistischen Ter-
schiedener Tempusformen im Deutschen minologie abweicht, diskutiert Maingue-
und ihr Einsatz in literarischen Texten neau Probleme der Textkohärenz. Bedau-
findet sich darüber hinaus bei Riedner erlich ist hier allerdings, daß – wie auch
(1996) diskutiert. Maingueneau selbst andeutet – aufgrund
Im Kapitel »Reliefgebung und Beschrei- der »Fülle der zu untersuchenden
bung« greift Maingueneau unmittelbar sprachlichen Erscheinungen« (151) die
die von Weinrich (21971) herausgearbei- detaillierte sprachlich-literarische Ana-
tete sprachliche Differenzierung zwi- lyse in diesem Kapitel deutlich zu kurz
schen Vordergrund und Hintergrund auf, kommt, die analysierten Textausschnitte
die er mit Roland Barthes erzählanalyti- also vorwiegend als Illustrationsmaterial
schen Kategorien der fonctions und indices für die besprochenen linguistischen
korreliert (Barthes 21981). Sachverhalte fungieren.
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Fazit: Trotz einiger Kritik bieten Main- den die ganze Breite linguistischer An-
gueneaus Linguistische Grundbegriffe zur wendungen gewinnbringend ergänzen
Analyse literarischer Texte dem Leser eine können« (7). Es geht hier um eine Ausein-
Fülle von Anregungen für die Analyse andersetzung mit grundlegenden Fragen
und stellen eine wichtige Diskussions- der Prototypentheorie (Abgrenzung
grundlage dar, auf deren Basis eine für ›Prototyp‹ vs. ›Steretoyp‹, Status des Pro-
die Literaturwissenschaft relevante lin- totypenansatzes als Theorie und/oder
guistische Analyse literarischer Texte Empirie, Art und Weise der linguisti-
weiter ausgearbeitet werden kann. schen Adaption der kognitionspsycholo-
gischen Prototypentheorie), aber auch
darum, die vorwiegend angelsächsisch
Literatur dominierte Diskussion um eine europäi-
Benveniste, Émile: Problèmes de linguistique sche Perspektive zu ergänzen. Die acht
générale I. Paris: Gallimard, 1966.
Barthes, Roland: »Introduction à l’analyse Beiträge des Sammelbandes reflektieren
structurale des récits.« L’analyse structu- die Vielfältigkeit der mit dem Prototy-
rale du récit: Recherches sémiologiques. Pa- penansatz in Zusammenhang stehenden
ris: Le Seuil, 2. Aufl. 1981, 7–33 (Commu- Fragestellungen: Er führt von eher gene-
nications 8). rellen Darstellungen der Prototypentheo-
Ducrot, Oswald: Le dire et le dit. Paris: Les rie und ihrer Methoden (Mangasser-
Editions de Minuit, 1984.
Ehlich, Konrad: »Deiktische und phorische Wahl, Schmid), über interdisziplinäre
Prozeduren beim literarischen Erzählen.« Anwendungen der Prototypenmethodik
In: Lämmert, Eberhard (Hrsg.): Erzählfor- (Müller/Weiss: Neurobiologie, Harras/
schung. Stuttgart: Metzler, 1982, 112–129. Grabowski: Psychologie) bis hin zu einer
Riedner, Ursula Renate: Sprachliche Felder Auswahl an linguistischen Anwen-
und literarische Wirkung. München: iudi- dungsmöglichkeiten (Sandig: Text;
cium, 1996.
Weinrich, Harald: Tempus. Besprochene und Knipf-Komlósi: Lexikographie; Dobro-
erzählte Welt. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlham- vol’ski: Idiome sowie Brdar/Brdar-
mer, 1971. Szabó: Wortbildungselemente).
In ihrem einführenden Beitrag »Roschs
Prototypentheorie – Eine Entwicklung in
drei Phasen« plädiert Mangasser-Wahl
Mangasser-Wahl, Martina (Hrsg.): für ein sorgfältiges Quellenstudium zur
Prototypentheorie in der Linguistik. besseren Anwendung der Rosch’schen
Anwendungsbeispiele – Methodenre- Prototypentheorie in der Linguistik:
flexion – Perspektiven. Tübingen: Stauf-
fenburg, 2000 (Stauffenburg Linguistik »Die Gesamtschau der Rosch’schen Arbei-
ten soll als solide Grundlage für eine
10). – ISBN 3-86057-36118-1. 164 Seiten, erneute Bewertung der Prototypentheorie
€ 35,– im Rahmen der Gegenwartslinguistik die-
nen, damit in Zukunft verkürzte und ver-
(Mathilde Hennig, Timişoara / Rumänien) mischte Rezeptionen vermieden werden
können.« (9)
Der vorliegende Sammelband zur Proto-
typentheorie in der Linguistik ist auf der In seinem anschließenden Beitrag »Me-
Grundlage der Überzeugung entstanden, thodik der Prototypentheorie« kritisiert
daß »die Prototypentheorie nicht nur für Schmid die Theorielastigkeit des Ansat-
semantische Problemstellungen herange- zes und fordert eine Ausdehnung empi-
zogen werden kann, sondern daß ihre rischer Anwendungen und Überprüfun-
theoretischen Postulate und ihre Metho- gen. Zu diesem Zwecke stellt er experi-

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