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ZGMTH Zeitschrift der

Gesellschaft für Musiktheorie

Felix Stephan
»Reinhard Amon, Lexikon der Harmonielehre,
Wien und München: Doblinger / Metzler 2005, und
Lexikon der musikalischen Form,
Wien und München: Doblinger / Metzler 2011«
ZGMTH 8/3 (2011)
Hildesheim u. a.: Olms
S. ­511–516

http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/656.aspx
Rezensionen

Reinhard Amon, Lexikon der Harmonielehre, Wien und München:


Doblinger / Metzler 2005, und Lexikon der musikalischen Form,
Wien und München: Doblinger / Metzler 2011

»Kein Harmoniesystem ist in der Lage, alle universelles System der Musiktheorie insze-
harmonischen Erscheinungen hinreichend zu niert wird.5
erfassen.«1 – Diese vor nunmehr 20 Jahren In diese Reihe gehört auch Reinhard
vorgetragene Position Thomas Daniels darf Amons Lexikon der Harmonielehre, das sich
mittlerweile als repräsentativ für den Main- freilich dreifach von der breiten Masse aktuell
stream gegenwärtiger musiktheoretischer Leh- verfügbarer Unterrichtsliteratur abhebt – hin-
re und Forschung gelten. sichtlich des Konzeptes, des Layouts und des
Die ablehnende Haltung gegenüber dem Umfangs.
universellen Geltungsanspruch musiktheo- Amons Idee, Lexikon und Lehrbuch mit-
retischer Systeme hat ihren Ursprung in Carl einander zu verknüpfen, verdient Respekt
Dahlhaus’ Kritik an der Funktionstheorie, die und könnte zur Nachahmung anregen. Die
er seit den späten 60er Jahren in unterschied- Vorteile liegen auf der Hand: Die lexikali-
lichen Kontexten immer wieder thematisiert sche Ordnung von Fachbegriffen und Sach-
hat.2 Dahlhaus forderte in erster Linie, die verhalten ermöglicht eine umfassende und
analytischen Werkzeuge den individuellen Ei- gebündelte Gesamtdarstellung des Stoffes,
genschaften des jeweiligen Werkes anzupas- während die lehrbuchartige Zusammenfas-
sen. Er propagierte zu diesem Zweck einen sung zu größeren Themeneinheiten einerseits
»besonnenen Eklektizismus der theoretischen der Vertiefung und der Darstellung systemati-
Ansätze«3 – mit weitreichenden Folgen. Statt scher Zusammenhänge dient und andererseits
eines »Kampfes der Systeme« dominieren Raum für Exkurse und die Thematisierung von
heute, so Bernd Redmann, »die Auflösung der Wissenswertem außerhalb des traditionellen
Systeme in einzelne Ideen oder Konstituenten ›Kanons‹ gibt.
und deren kritische Durchleuchtung sowie Auch das Layout ist ansprechend. Durch
eine Tendenz zu systematischer und analyti- farbige Bebilderungen und dreidimensionale
scher Methodenverknüpfung.«4 Grafiken werden musiktheoretische Inhalte
Vor diesem Hintergrund erstaunt, dass – in lebendiger Weise veranschaulicht. Zahl-
vom jahrzehntelangen öffentlichen Diskurs reiche tabellarische Übersichten sorgen für
nahezu unberührt – nach wie vor Lehrbücher zusätzliche Orientierung. Zwar ließe sich im
erscheinen, in denen die Funktionstheorie als Einzelfall darüber diskutieren, ob diese oder
jene dreidimensionale Grafik wirklich zum
1 Daniel 1992, 25. Weiter schreibt Daniel: Erkenntnisgewinn beiträgt (vgl. etwa die gera-
»Weder die ›logische‹ Funktionstheorie noch dezu ›schwindelerregende‹ Darstellung eines
die ›praktische‹ Stufentheorie bilden darin »dreidimensionalen Quintenzirkels« in Bei-
eine Ausnahme, von Rameaus basse fonda- spiel 1). Doch im Großen und Ganzen hebt
mentale (Fundamentalbass) ganz zu schwei-
gen.« (Ebd.)
2 Vgl. dazu exemplarisch Dahlhaus 1967. 5 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang
u. a. Thomas Krämers Lehrbuch der harmoni-
3 Dahlhaus 1978, 215. schen Analyse (1997) und Doris Gellers Mo-
4 Redmann 2009, 59. dulationslehre (2002).

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sich das Lexikon der Harmonielehre von der der Autor die im englischsprachigen Raum üb-
eher abweisenden Nüchternheit konkurrie- liche Groß- und Kleinschreibung der Stufen,
render Lehrwerke wohltuend ab. wie sie z. B. in Robert Gauldins Standardwerk
Harmonic Practice in Tonal Music zu finden
ist.
Im Vorwort des Harmonielehre-Lexikons
weist Amon darauf hin, dass der Leser »kein
Werk mit neuen wissenschaftlichen Erkennt-
nissen« (S. 10) zu erwarten habe. Vielmehr
gehe es ihm darum, bereits vorhandenes Wis-
sen zusammenzutragen, neu zu ordnen und
in zeitgemäßer Weise zu präsentieren.
Amons Hauptanliegen ist es, die Funkti-
onstheorie als Instrument der harmonischen
Analyse darzustellen. Eine überwältigende
Vielzahl konstruierter Akkordfolgen, allesamt
auf C-Dur bzw. c-Moll bezogen, wird durch
eine relativ schmale Zahl authentischer Mu-
sikbeispiele ergänzt. Eine möglichst effektive
und übersichtliche Darstellung scheint Amon
wichtiger zu sein als die Exemplifikation der
jeweils zur Rede stehenden Kategorien und
Phänomene im kompositorischen Kontext.
Besonders auffällig ist das weitgehende Feh-
len von Literaturbeispielen bei der Darstel-
Beispiel 1: Reinhard Amon, Lexikon der Har- lung von Modulationsvorgängen im Kapitel
monielehre, Artikel »Quintenzirkel«, Abschnitt »Modulation« (S. 170–187). Der Wert der abs-
»Dreidimensionaler Quintenzirkel«, S. 217 trakten Akkordfolgen, merkt Amon hierzu an,
liege »im prinzipiellen Verstehen. Sie wollen
Der Umfang des Bandes ist mit über 400 und können Literaturbeispiele nicht ersetzen«
kleingedruckten Seiten außergewöhnlich. (S. 173).
Dies liegt nicht nur an der Ausführlichkeit, mit Auf einige »Schwächen der Funktionsthe-
der Amon insbesondere die Funktionstheorie orie« kommt der Autor im Vorwort kurz zu
und ihre analytische Anwendung darstellt. sprechen (S. 9 f.). So erwähnt er Schwierig-
Der Autor behandelt auch Themenbereiche, keiten der Funktionsanalyse im Umgang mit
die über die Funktionstheorie zum Teil weit Sequenzen, mit modalen Satzstrukturen und
hinausgehen, und liefert beispielsweise Zu- mit Texturen, in denen von einer »Orientie-
sammenfassungen zur modalen Harmonik (S. rung am Melodischen« auszugehen sei, die
165–169), zu den verschiedenen Stimmungen ein »Gegenprinzip« zur harmonischen Funk-
(S. 253–262), zur Tonartencharakteristik (S. tionalität darstelle. Auch die »Ableitung der
288–293) und zu harmonischen Strukturen Sixte ajouteé« wird problematisiert. Zwar hält
im 20. Jahrhundert (S. 365–381). Hier spiegelt der Autor in den meisten ›Problemfällen‹ (wie
sich die breit gefächerte Interessenlage des etwa der II. Stufe in Moll) an den überkom-
Wiener Tonsatzprofessors, der sich nicht nur menen funktionsharmonischen Erklärungs-
als Musiktheoretiker, sondern auch als Kla- mustern fest, doch werden diese durch die
vierpädagoge einbringt. Eine Erweiterung des Einbeziehung alternativer Nomenklaturen und
funktionstheoretischen Rahmens bedeutet Perspektiven ergänzt und relativiert. »Dort, wo
auch die ergänzende Verwendung von Ana- die Funktionstheorie nicht greift, d. h. zur ana-
lysechiffren der Stufentheorie. Hier favorisiert lytischen Klarheit beiträgt«, so der Autor, wer-

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de »auf Stufenchiffren umgestiegen, oder es Es lässt sich viel Gelungenes in diesem


werden Akkorde absolut bezeichnet« (S. 10). Buch finden, gerade auch dort, wo Amon
Amon ist sich der Grenzen der Funktions- über die bloße Harmonielehre hinausgeht.
theorie also durchaus bewusst. Insbesondere Sein Betrag zur Tonartencharakteristik bei-
dass er vielerorts auch historische Ansätze bei spielsweise (S. 288–293) fasst übersichtlich
der Darstellung von musiktheoretischen Sach- und griffig zusammen, was man sich sonst
verhalten heranzieht, lässt sein Harmonieleh- mühsam aus verschiedenen Quellen zusam-
re-Lexikon mehrdimensionaler erscheinen als mensuchen müsste.
vergleichbare Publikationen. Allerdings bergen kleinere Unschärfen,
Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht etwa Verkürzungen oder Verallgemeinerungen, die
der Artikel zu den »Klauseln« (S. 142 ff.). Hier aufs Ganze gesehen kaum ins Gewicht fallen,
werden – auch wenn die Darstellung teleolo- die Gefahr, bei weniger kundigen Lesern zu
gisch auf die ›moderne Kadenzharmonik‹ hin- Missverständnissen zu führen.
zielt – wesentliche Zusammenhänge klar und So behauptet Amon beispielsweise im Ka-
detailliert dargestellt. So zeigt Amon unter an- pitel »Harmonischer Rhythmus«, in der Wie-
derem, dass sowohl der Quartvorhalt auf der ner Klassik habe sich die Geschwindigkeit der
Dominante als auch die ›Sixte ajoutée‹ aus alter- Tempi »verdoppelt« (S. 103). Er beruft sich
nativen Bassunterlegungen des Tenor-Diskant- hierbei auf Dieter de la Mottes Harmonieleh-
Gerüsts hervorgehen können (S. 144 oben). re (S. 136 ff.), in der es jedoch lediglich heißt,
Erfreulich ist auch der Umstand, dass Amon die relative Verlangsamung des harmonischen
in einem separaten Kapitel die verschiedenen Aktionstempos habe in der Klassik ein neues
»Theorien« von ihren systematischen Grund- Tempo ermöglicht, nämlich das Presto.
lagen und ihrem jeweiligen historischen Wo Amon Literaturbeispiele bringt, dienen
Kontext her zur Darstellung bringt – von der sie stets der Darstellung bestimmter musik-
Generalbasslehre über die Fundamentalbass- theoretischer Kategorien oder Sachverhalte.
und die Stufentheorie bis hin zu den ver- So führt er die ersten vier Takte von Beetho-
schiedenen Spielarten der Funktionstheorie vens »Waldsteinsonate« op. 57 als Beispiel für
einschließlich des harmonischen Dualismus eine »Rückung« an (Beispiel 2).
(S. 264–273). Auch ›Tonalitäten‹ jenseits der Dies ist in mehrfacher Hinsicht problema-
Dur-Moll-Tonalität und den Mitteln der »Tona- tisch: Dass es sich bei der von Amon disku-
litätsauflösung« und »Tonalitätserweiterung« tierten Akkordfolge C-G3 / B-F3 um eine quasi
wird Raum gegeben, wobei allerdings unklar ›sequenzielle‹ Versetzung handelt, bleibt un-
bleibt, welchem übergeordneten Begriff von erwähnt; auch fehlt das ›archaische‹ Modell
›Tonalität‹ der Autor folgt (S. 274–287). (Quintstieg, sekundweise fallend) in Amons

Beispiel 2: Reinhard Amon, Lexikon der Harmonielehre, Artikel »Modulation«, Abschnitt »Rückung
– Tonalitätssprung« S. 173

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Sequenzübersicht (S. 238). Dabei ist es gera- lehre«, setzt jedoch hinzu, dieser habe »dem
de die ›mechanische‹ Fortschreitungslogik der Wachsen der theoretischen Erkenntnis große
sekundweisen Versetzung, die den harmoni- und unschätzbare Dienste geleistet«.
schen Schnitt erst hervorbringt und zugleich
›legitimiert‹. Überdies sind die ersten vier ***
Takte Teil einer modellhaft-kontrapunktischen
Formulierung des absteigenden chromatisier- Sechs Jahre nach Erscheinen des Lexikons der
ten Tetrachords (T. 1–5), das vom tonikalen Harmonielehre hat Amon ein zweites Theo-
C in das dominantische G führt. Der Zwang, rie-Lehrwerk veröffentlicht – das Lexikon der
um der Reduktion auf das für die Kategorie musikalischen Form.
der ›Rückung‹ Wesentliche willen, den to- Noch deutlicher als in seinem Harmo-
nalen Zusammenhang auszublenden und nielehre-Lexikon formuliert Amon hier äs-
stattdessen eine Art ›Ameisenperspektive‹ thetische Standpunkte, die erkennbar im 19.
einzunehmen, spiegelt sich auch in Amons Jahrhundert wurzeln: »Der Wunsch und die
funktionsharmonischer Interpretation des B- Freude, sich mit Musik als Form zu befas-
Dur-Akkords als lokale ›Tonika‹. Unmittelbar sen, entspringt der Faszination, die von ihrer
verständlich hingegen wird der B-Dur-Akkord Schönheit ausgeht«, schreibt Amon zu Beginn
an dieser Stelle als subdominantische Ante- des Vorworts (S. 8). »Musikalische Schön-
penultima eines auf die globale Subdominante heit«, so die Definition des Autors, sei die »ge-
gerichteten Kadenzvorgangs. Dass Amon im schaffene Einheit von Klang und Form, Mate-
Rahmen eines knappen Lexikonartikels nicht rial und Gestalt.«
alle wesentlichen Aspekte eines Literaturbei- Das bewährte Konzept des Harmonieleh-
spiels beleuchtet, ist ihm nicht vorzuwerfen. re-Lexikons – die Kombination aus Lehrbuch
Zum Problem wird die Wahl eines Beispiels und Lexikon – hat Amon im Lexikon der musi-
jedoch dann, wenn das jeweilige Darstel- kalischen Form noch erweitert. Neben einem
lungsinteresse zu Deutungen zwingt, die den umfangreichen Lexikonteil gibt es nun zwan-
Gegenstand offenkundig verfehlen. zig zusammenfassende Beiträge, die durch
Schließlich mag man es bedauern, auch zahlreiche klug durchdachte Verweise mit
bei einem in vieler Hinsicht sehr differenziert dem Lexikonteil verknüpft sind. Amon vertieft
argumentierenden Autor gängige, durch den in diesen Kapiteln nicht nur Prinzipien der
Fachdiskurs überholte (Vor-)Urteile unhinter- musikalischen Formung, sondern stellt auch
fragt fortgeschrieben zu sehen. So konstan- interdisziplinäre Verbindungen zur Architek-
tiert Amon beispielsweise, die Bedeutung des tur, zur Wahrnehmungspsychologie, zur Phi-
Generalbasses als theoretisches System sei losophie und zur Mathematik her.
gering, da er »nichts über die Bedeutung von Ähnlich wie das Lexikon der Harmonieleh-
Akkordtönen und Akkorden selbst oder die re bietet also auch das Lexikon der musika-
Beziehungen der Akkorde zueinander« aus- lischen Form sehr viel mehr, als man es von
sage (S. 264). Forschungsergebnisse, die über einem herkömmlichen Musiktheorie-Lehr-
die begrenzte Sicht des Generalbasses als eine werk gewohnt ist. Dass Amon darüber hinaus
bloße ›Chiffriermethode‹ weit hinausweisen, auch den wichtigsten populären Strömungen
bleiben unberücksichtigt. Amon zitiert in des 20. Jahrhunderts – Jazz, Rock und Pop
diesem Zusammenhang Hugo Riemann, der – Raum gibt, ist ein Novum im deutschspra-
den Generalbass »schmählich als ›Vehikel der chigen Raum und dem Autor hoch anzurech-
Harmonielehre‹ bezeichnet« habe. Wo in den nen. Ungeachtet aller Knappheit werden diese
Schriften Riemanns dieses Zitat zu finden ist, wesentlichen Stilbereiche der U-Musik kom-
teilt er nicht mit. Tatsächlich verwendet Rie- petent und unter Berücksichtigung zentraler
mann in seiner Geschichte der Musiktheorie Aspekte und Begriffe zur Darstellung gebracht
eine ähnliche Formulierung.6 Dort spricht er
vom Generalbass als einem »Vehikel der Satz- 6 Riemann 1921, 435.

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Beispiel 3: Reinhard Amon, Lexikon der musikalischen Form, Kap. »Formstrukturen in Popular-
musik und Jazz«, Beispiel für einen ›Verse‹ (obere Notenzeile) sowie für den Formaufbau einer
Popballade (Analysegrafik) S. 476

(vgl. dazu exemplarisch die Formanalyse von Anders als im Harmonielehre-Lexikon zieht
Elton Johns Your Song in Beispiel 3). Amon im Lexikon der musikalischen Form
Im Bereich der traditionellen Formenlehre eine Fülle von insgesamt über 600 Werkaus-
setzt Amon klare Prioritäten. So gewährt er schnitten als Anschauungsmaterial heran. Das
im Bereich barocker Formen der ›Fuge‹ mit »Konzept der Analyse mittels Tabellen, Farben
16 Seiten den größten Raum, die ›Triosonate‹ und Symbolen« (S. 10) entwickelte Amon ge-
dagegen wird auf lediglich einer Seite behan- meinsam mit dem Musikwissenschaftler Ge-
delt. Im klassischen Bereich beansprucht die rold Gruber, der auch als Co-Autor genannt
›Sonatensatzform‹ 13 Seiten, während für das wird. Erfreulicherweise wählen Amon und
›Menuett‹ – in einem ›historisch informierten‹ Gruber überwiegend relativ ›unverbrauchte‹
Tonsatzunterricht die zentrale klassische Form und dennoch leicht greifbare Beispiele. Dies
– nur zwei Seiten bleiben. Diese Gewichtung macht das Lehrbuch besonders attraktiv für
ist dadurch zu erklären, dass Amon das Lexi- Lehrende, die sich die eigenständige Suche
kon der musikalischen Form, ähnlich wie be- nach geeignetem Anschauungsmaterial erspa-
reits das Lexikon der Harmonielehre, primär ren möchten.
mit Blick auf die musikalische Analyse konzi- Allerdings gibt es einige Fälle, in denen
piert hat. die Literaturbeispiele nicht optimal gewählt
Im Vorwort schreibt Amon, er habe sich sind oder ihre jeweilige Deutung diskussi-
bewusst dagegen entschieden, den Begriff onswürdig wäre. So führt Amon als Beispiel
»Formenlehre« im Buchtitel zu führen. Denn für »Anhang« bzw. »äußere Erweiterung« das
diese Bezeichnung berge die Gefahr, musika- Seitenthema aus dem 1. Satz der h-Moll-Sin-
lische Form als »oberflächlichen Schematis- fonie von Franz Schubert (T. 44–51) an. Seiner
mus« misszuverstehen und verstelle den Blick Ansicht nach bilden die Takte 50 f. hier eine
auf die lebendige, klingende Musik (S. 8). äußere Erweiterung (S. 25). Problematisch
Nähme man den Autor beim Wort, so wäre erscheint diese Deutung insofern, als Amon
es nur konsequent, ebenso den Begriff ›Har- ausschließlich auf die Taktgruppenstruktur
monielehre‹ zu hinterfragen. Denn auch die abhebt, den verklammernden harmonischen
›Harmonielehre‹ beschäftigt sich mit lebendi- Zusammenhang jedoch unbeachtet lässt.
ger Musik, und auch hier besteht die Gefahr Seine Ankündigung, auch »historischen
eines oberflächlichen Schematismus, insbe- Sichtweise[n]« gerecht werden zu wollen
sondere wenn vermeintlich ›universelle‹ The- (S. 9), löst Amon zumindest teilweise ein. So
oriesysteme verwendet werden. thematisiert er ausführlich die ›Klangrede‹

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Johann Matthesons (S. 182–184). Die für das lopädische Gesamtdarstellungen, die – unge-
Verständnis der Musik des 18. Jahrhunderts achtet innovativer Präsentationsformen – im
eher noch wichtigere Interpunktionslehre Kern nach wie vor den traditionellen Katego-
Heinrich Christoph Kochs dagegen wird nur rien und Systematiken der musiktheoretischen
am Rande erwähnt und bleibt in Amons Ana- Teildisziplinen ›Harmonielehre‹ und ›Formen-
lysen ohne Reflex. lehre‹ verpflichtet sind, noch als zeitgemäß
Leider resultieren aus Amons Tendenz zu gelten können: Trotz des Bemühens um die
einer extrem verknappten Darstellung gele- Integration sowohl ›historischer‹ Perspektiven
gentlich auch missverständliche Formulie- als auch von Gegenständen und Fragestellun-
rungen. So definiert Amon beispielsweise gen, die in herkömmlichen Harmonie- und
die Quintfallsequenz als »in fallenden Quint- Formenlehren keine Berücksichtigung finden,
schritten aufeinander-folgende Dreiklänge bleiben beide Bände in mancher Hinsicht hin-
[…], die […] kurzfristige Dominant-Tonika- ter dem Stand des gegenwärtigen Fachdiskur-
Verhältnisse eingehen.« (S. 293) Abgesehen ses im deutschsprachigen Raum zurück.
davon, dass an der Quintfallsequenz zu- Andererseits gibt es derzeit keine ande-
meist (auch) Vierklänge beteiligt sind, kann ren deutschsprachigen Publikationen, die ein
im Regelfall der diatonischen Quintfallse- so breites Überblickswissen in vergleichbar
quenz von »kurzfristige[n] Dominant-Tonika- gebündelter und vertiefter Form verfügbar
Verhältnisse[n]« allenfalls aus Sicht der ramis- machen: Die große Informationsdichte, die
tischen Fundamentschritttheorie (›Dominan- inspirierende Aufbereitung von musikalischen
tenkette‹), nicht jedoch im Sinne der Funk- Lehrinhalten und die interdisziplinären Exkur-
tionstheorie die Rede sein. Auch unterbleibt se setzen auf dem deutschsprachigen Lehr-
jeder Hinweis auf die Linearität des Oberstim- buchmarkt neue Maßstäbe. Vor diesem Hin-
mensatzes oder die historische Entwicklung tergrund wird man die Bände auch Schülern
der Quintfallsequenz aus dem Unterquintka- und Studierenden empfehlen können – trotz
non und der 7-6-Konsekutive – analytisch re- kleinerer Unschärfen, einzelner ungünstig
levante Aspekte, die im Lexikon der Harmo- gewählter Beispiele und gelegentlich einsei-
nielehre zumindest ansatzweise thematisiert tiger Akzentuierungen. Umso mehr wird der
wurden (S. 235 ff.). kundige, einer gegebenenfalls auch kritischen
Lektüre fähige Leser beide Bände immer wie-
Fazit der mit Gewinn konsultieren, da sie vielfach
die Suche nach geeigneten Beispielen zur
Der Umfang beider Lexika von insgesamt Darstellung bestimmter Sachverhalte ersparen
1055 Seiten ist ebenso beeindruckend wie und übersichtliche Zusammenfassungen so-
ihre thematische Breite und ihre klare, leser- wie knappe Definitionen an die Hand geben.
freundliche Gesamtanlage. Gleichwohl stellt
sich ganz grundsätzlich die Frage, ob enzyk- Felix Stephan

Literatur
Dahlhaus, Carl (1967), Untersuchungen über Redmann, Bernd (2009), »Funktionstheorie«,
die Entstehung der harmonischen Tonali- in: Systeme der Musiktheorie, hg. von
tät, Kassel: Bärenreiter. Clemens Kühn und John Leigh, Dresden:
Dahlhaus, Carl (1978), »›Tristan‹-Harmonik Sandstein, 56–69.
und Tonalität«, Melos 45, 215–219. Riemann, Hugo (1921), Geschichte der Musik-
Daniel, Thomas (1992), Der Choralsatz bei theorie im 9.–19. Jahrhundert, 2. Auflage,
Bach und seinen Zeitgenossen, Köln: Dohr. Berlin: Hesse.

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