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Joseph N.

Straus, Introduction to Post-Tonal


Theory, New York, 4. Auflage, London: W. W.
Norton & Company 2016
SCHLAGWORTE/KEYWORDS: Allen Forte; Analysemethoden; Lehrbuch; methods of analysis;
Pitch-class set theory; post-tonal music; posttonale Musik; textbook

Joseph N. Straus’ Buch Introduction to Post- schnitt zu »Boulez and multiplication« ist hier
Tonal Theory ist ein Klassiker: 1990 in erster, ersatzlos entfallen.
zehn Jahre später in zweiter und 2005 in einer Gleichwohl sollte man diese veränderte Eti-
dritten Auflage erschienen, ist im Jahr 2016 eine kettierung für nicht zu gering erachten, lassen
weitere, inzwischen vierte, Auflage her- sich doch bei ›Klassikern‹ kaum eingreifende
ausgekommen. Auf den ersten Blick fallen das Änderungen durchführen, ohne das grundlegen-
deutlich größere Format und das übersichtliche- de Konzept zu gefährden, und werden neue
re Layout auf, verbunden mit einem stark erwei- Richtungen oder Gesichtspunkte oft nur durch
terten Umfang (knapp 400 statt 273 Seiten wie kleine und subtile Änderungen mehr angedeutet
in der dritten Auflage). Zugleich ist die Anzahl als deutlich ausgesprochen. Dass ein Kapitel
der sechs Kapitel unverändert geblieben, und nun u. a. mit »Voice Leading« überschrieben ist,
auch deren Überschriften sind meist nur leicht zeigt zumindest eine partielle Abkehr von einem
variiert. Handelt es sich also nur um ein Re- Analysekonzept an, das stark auf die Harmonik
Design oder liegt doch eine Neukonzeption vor? bzw. den Zusammenklang oder die Vertikale
Von der gut zehn Jahre zuvor publizierten ausgerichtet ist. Dem entspricht, dass nun der
dritten Auflage unterscheidet sich die Kapitelein- Kategorie der interval cycles deutlich mehr
teilung der neuen Auflage nur marginal. Die Raum gewährt wird und die Idee des composing
ersten drei Kapitel tragen dieselben Überschrif- out, also die Vorstellung, dass einzelne Töne
ten (»Basic Concepts and Definitions«, »Pitch- oder Klänge quasi auskomponiert werden (durch
Class Sets«, »Some Additional Relationships«), häufiges Auftauchen oder Platzierung an mar-
lediglich die drei folgenden haben neue Über- kanten Punkten im Verlauf) und daher die
schriften und teilweise auch eine leicht verän- Klanglichkeit über längere Strecken bestimmen,
derte inhaltliche Richtung erhalten: Statt »Cent- an den Anfang dieses Kapitels gestellt wird. Dies
ricity, Referential Collections, and Triadic Post- deckt sich mit Analysekonzepten, wie sie in
Tonality« (Kap. 4), »Basic Twelve-Tone Opera- letzter Zeit verstärkt in Studien zur Musik des
tions« (Kap. 5) und »More Twelve-Tone Topics« 20. Jahrhunderts entwickelt wurden wie z. B.
(Kap. 6) heißt es nun »Motive, Voice Leading, dem 2016 erschienenen Buch Pieces of Traditi-
and Harmony«, »Centricity and Referential Pitch on von Daniel Harrison. Zudem haben Konzep-
Collections« bzw. »Basic Concepts of Twelve- te größere Berücksichtigung gefunden, die in der
Tone Music«. Im Wesentlichen bedeutet dies jüngeren Vergangenheit entwickelt wurden.
eine Umstellung und Umgruppierung von The- Dazu gehört vor allem die Neo-Riemannian
menbereichen und nur eingeschränkt eine Hin- Theory, deren Kategorien zwar auch schon in
wendung zu neuen Analysekategorien. Das der dritten Auflage recht ausführlich behandelt
ehemalige vierte Kapitel ist teilweise in das neue wurden, nun aber nochmals erweiterten Raum
fünfte Kapitel eingegangen. Voice leading war einnehmen.
zuvor bereits im dritten Kapitel behandelt wor- Damit wird zugleich noch einmal das Ge-
den, aber nicht Gegenstand eines eigenen Kapi- samtkonzept des Buches unterstrichen: Post-
tels gewesen, sodass man hier von einer bloßen tonality meint eben nicht nur Atonalität, sondern
Neuordnung sprechen könnte. Ähnlich verhält jede Form von Tonordnungen jenseits einer Dur-
es sich mit dem neuen letzten Kapitel, das sich Moll-Tonalität oder common-practice tonality,
aus Teilen des fünften und sechsten Kapitels der sodass auch dasjenige eingeschlossen wird, was
dritten Auflage zusammensetzt. Nur der Ab- zwar auf Dreiklängen oder Dur- sowie Mollak-

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ULLRICH SCHEIDELER

korden (und deren Erweiterungen) beruht, sich weise auf den Dominantseptakkord oder (als
zumindest mit Funktionssymbolen aber nicht dessen Umkehrung) halbverminderten Septak-
adäquat beschreiben lässt. Infolgedessen wird kord bezogen. Auch an solchen Details zeigt
auch mit Kategorien wie slide oder hexatonic sich, wie sehr versucht wird, abstrakte Zahlen
pole operiert. Gleichwohl bleibt die Popmusik oder Nummern, die doch von Forte ganz be-
der letzten Jahrzehnte, deren Verständnis von wusst als Kategorien eigenen Rechts zur Ab-
(Post-)Tonalität sich doch sowohl von atonalen grenzung von jenen der Dur-Moll-Tonalität
als auch älteren tonalen Prinzipien deutlich gewählt worden waren, 1 wieder an bekannte
unterscheidet, gänzlich ausgespart. Das Buch tonale Kontexte rückzubinden bzw. diese zu-
fußt weiterhin auf den Säulen dreier Komponis- rückzuholen. Dagegen werden rhythmische und
ten, nämlich Arnold Schönberg, Anton Webern metrische Aspekte der behandelten Musik fast
und Igor Stravinskij. Deren Werke werden sogar vollständig ausgespart. Was Straus interessiert,
noch häufiger als in der dritten Auflage den ist die Tonhöhenordnung – freilich eine Tonhö-
Analysen zugrunde gelegt. Abgesehen davon ist henordnung, die sich im Rahmen der gleich-
die Werkauswahl nur wenig verändert. Einige schwebenden Stimmung bewegt und sich durch
Komponistinnen scheinen zur Verbesserung der die zwölf pitch classes konstituiert. Spektralisten
Gender Balance hinzugekommen zu sein (Ursu- wie etwa Gérard Grisey oder Georg Friedrich
la Mamlok, Joan Tower, Kaija Saariaho), zudem Haas, die in Europa bzw. insbesondere in Frank-
sind Luigi Dallapiccola, Witold Lutosławski, reich in den letzten Jahren von sich reden mach-
Peter Maxwell Davis und Alfred Schnittke mit ten, werden daher nicht behandelt, auch Musik
Werkausschnitten neu vertreten, was eine ge- jenseits westlicher Provenienz kommt weiterhin
wisse Öffnung hinsichtlich der Tonsprache an- nicht vor.
zeigt. Beschränkt bleibt die Auswahl freilich Dass das Buch in erster Linie für nordameri-
weitgehend auf die ›Klassiker der Moderne‹, kanische Studierende geschrieben ist, zeigt sich
weshalb Komponistinnen und Komponisten der neben der Auswahl der Komponisten (so spielt
nach ca. 1960 geborenen Generation praktisch die Minimal Music, die durch Werke von John
nicht vertreten sind (der neu aufgenommene, Adams und Steve Reich repräsentiert wird, eine
1971 geborene Thomas Adès stellt mit einem größere Rolle als in unseren Konzertsälen) auch
Ausschnitt aus seiner 2004 uraufgeführten Oper in der Didaktik des Buches, die im Sinne eines
The Tempest die einzige Ausnahme dar). Das textbook auf die (veränderten) Gepflogenheiten
Gros der analysierten Werke entstammt der US-amerikanischer colleges zugeschnitten ist.
ersten Jahrhunderthälfte und nur vereinzelt wer- Hier sind – weniger inhaltlich als in Bezug auf
den Stücke behandelt, deren Komposition in die die Anlage – vielleicht die weitreichendsten
1970er- bis frühen 1990er-Jahre fällt. Interessan- Änderungen in der vierten Auflage vorgenom-
terweise fehlen weiterhin Paul Hindemith, Kurt men worden. Schlossen sich in der dritten Aufla-
Weill, Hans Werner Henze oder Arvo Pärt, von ge an die Vorstellung und Erläuterung der analy-
zeitgenössischen deutschen Komponisten wie tischen respektive kompositorischen Konzepte
Wolfgang Rihm oder Helmut Lachenmann ganz jeweils ein »Exercises« überschriebener Teil an,
zu schweigen. der sich aus Aufgaben zu »theory«, zu »analy-
Grundlage der allermeisten Analysen im sis«, schließlich zu »ear-training and musician-
Hinblick auf die Tonhöhenordnungen ist wei- ship« und »composition« zusammensetzte, ge-
terhin Allen Fortes 1973 erstmals publiziertes folgt von zwei Musteranalysen, so ist in der
Buch The Structure of Atonal Music. In seiner
Terminologie und seinen grundlegenden Opera-
1 Vgl. das Vorwort von Fortes Buch, in dem es
tionen bestimmt es auch das Buch von Straus.
mit Bezug auf Schönbergs George-Lieder
Allerdings ist die im Anhang beigegebene List of op. 15 trotz recht offenkundiger Tonalitätsreste
Set Classes insofern modifiziert und erweitert, als heißt: »In this work he deliberately relin-
die abstrakte Zahlenfolge bzw. Nummer eines quished the traditional system of tonality,
Sets nun mit traditionellen Akkordkategorien which had been the basis of musical syntax for
verbunden ist (vgl. 378–381). So wird etwa das the previous two hundred and fifty years« (For-
Set 4-27 (0258) als »Dominant/half-diminished te 1973, ix). Zum Umfeld und zu den Prämis-
seventh« bezeichnet, also seine Struktur wahl- sen der Pitch-Class Set Analysis vgl. auch
Schuijer 2008.

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REZENSION: JOSEPH N. STRAUS, INTRODUCTION TO POST-TONAL THEORY

neugefassten vierten Auflage die Reihenfolge anzutasten. Gegenüber der dritten Auflage ist
umgedreht. Zunächst folgen Fragen zur Theorie, die größere Übersichtlichkeit, die sich auch in
danach werden zwei Musteranalysen (»model der Neuformulierung mancher Zusammenfas-
analyses«) gegeben, in denen die zunächst iso- sungen, Beschreibungen und Aufgabenstellun-
liert betrachteten analytischen Konzepte in grö- gen niederschlägt, und die neue Anordnung der
ßere Zusammenhänge gestellt werden, an die Aufgaben sicher ein Gewinn. Das Buch führt
sich sogenannte »guided analyses« anschließen, nach wie vor in vielfältige und grundlegende
die wieder kleinere Werkausschnitte in den Konzepte der Analyse post-tonaler Musik ein,
Blick nehmen und mit konkreten Fragestellun- soweit es ihre Kompositionstechnik im Hinblick
gen für die Analyse durch die Studierenden auf die Tonhöhenordnung betrifft. Es widersetzt
verbinden (die analysierten Stücke sind im We- sich damit weiterhin allen kulturwissenschaftli-
sentlichen gleich geblieben). Die Tendenz, den chen Zugriffen, wie es auch die Möglichkeiten
Diskurs der kontinental-europäischen Musik- des Internets konsequent nicht im Blick hat (in
theorie und Musikwissenschaft zu ignorieren, den Bibliographien gibt es keinen einzigen
zeigt sich leider auch an der neuen Auflage. Die Hinweis auf eine Web-Adresse, obwohl etwa
Bibliographie etwa zur Zwölfton-Methode des mit explore the score eine überaus anschauliche
sechsten Kapitels enthält keinen einzigen und auch das musiktheoretische Denken einbe-
deutschsprachigen Titel (noch nicht einmal die ziehende Website vorliegt). Die Einführung
grundlegende Studie von Martina Sichardt zur bleibt ganz auf das Medium des Buches fokus-
Genese der Methode). Immerhin hat es die siert. Die Konzentration auf dieses eine Medium
bahnbrechende Studie von Reinhold Brinkmann gereicht diesem Klassiker aber durchaus zum
zu Schönbergs Opus 11 erneut in die Literatur- Vorteil und scheint durch den Verzicht auf Auf-
liste des fünften Kapitels geschafft. Möglicher- gaben zum Hören und Komponieren sogar noch
weise spiegelt dies aber nur die Tatsache wider, einmal verstärkt, fördert dies doch ein konzen-
dass nicht zuletzt die deutschsprachige Musik- triertes Erfassen des Gegenstandes, statt sich
theorie vor allem beispielzentriert arbeitet, die womöglich in einem eher kurzatmigen Medien-
Entwicklung großer übergeordneter theoretischer und Methodenwechsel zu verlieren. Im Zentrum
Entwürfe zur Musik des 20. Jahrhunderts aber steht nunmehr ausschließlich die Analyse; vor-
scheut. Doch selbst da, wo sie solches realisiert gestellt werden Möglichkeiten des Erfassens von
hat, bleibt sie außen vor, sodass etwa die Ton- Strukturen einer Komposition unter der Prämis-
feldtheorie von Albert Simon keinen Eingang in se, dass die Tonhöhenordnung auf vielfältige
Straus’ Buch gefunden hat. Weise ein musikalisches Werk bestimmen und
Obwohl man sich eine Öffnung der Perspek- eine sinnfällige Formdramaturgie herstellen
tive und Weitung des Blicks vorstellen und wün- kann. Wesentliche Zugänge dazu auf konzise
schen könnte, ist es Straus zweifelsohne gelun- Weise eröffnet zu haben, bleibt weiterhin das
gen, mit dieser vierten Auflage von Introduction große Verdienst auch dieser Neuauflage.
to Post-Tonal Theory den Spagat zwischen Be-
wahren und behutsamer Anpassung zu bewerk-
stelligen, ohne den Wesenskern des Buches Ullrich Scheideler

Literatur
Brinkmann, Reinhold (2001), Arnold Schönberg. Forte, Allen (1973), The Structure of Atonal Mu-
Drei Klavierstücke Opus 11 [1969], 2. Aufla- sic, New Haven: Yale University Press.
ge, Stuttgart: Steiner. 2 3 4 5

Haas, Bernhard (2004), Die neue Tonalität von


Schubert bis Webern. Hören und Analysieren
nach Albert Simon, Heinrichshofen: Noetzel.
2 Vgl. Sichardt 1990.
3 Vgl. Brinkmann 2001.
4 Vgl. Haas 2004. 5 Vgl. https://explorethescore.org (30.6.2022).

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ULLRICH SCHEIDELER

Harrison, Daniel (2016), Pieces of Tradition. An Sichardt, Martina (1990), Die Entstehung der
Analysis of Contemporary Tonal Music, Zwölftonmethode Arnold Schönbergs, Mainz:
New York: Oxford University Press. Schott.
Schuijer, Michiel (2008), Analyzing Atonal Mu-
sic. Pitch-Class Set Theory and Its Contexts,
Rochester: University of Rochester Press.

© 2022 Ullrich Scheideler (ullrich.scheideler@staff.hu-berlin.de)


Humboldt-Universität zu Berlin [Humboldt University of Berlin]
Scheideler, Ullrich (2022), »Joseph N. Straus, Introduction to Post-Tonal Theory, New York, 4. Auflage, Lon-
don: W. W. Norton & Company 2016«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 19/1, 117–120.
https://doi.org/10.31751/1165
Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer
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Creative Commons Attribution 4.0 International License.
eingereicht / submitted: 21/05/2022
angenommen / accepted: 21/05/2022
veröffentlicht / first published: 20/07/2022
zuletzt geändert / last updated: 20/07/2022

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