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STIMMUNG
UND STIMMGERÄTE
Der Autor ist Geiger im Symphonieorchester des Bayeri- perierten" Halbtöne innerhalb der Oktave. Während erstere
schen Rundfunks München und experimentiert auf dem wie Walter Odington (frühes 14. Jahrhundert), Marin Mer-
Gebiet der Elektroakustik. Für seine Erfindung zur Verstär- senne (1588-1648), Joseph Sauveur (1653-1715), Johann
kung von Streichinstrumenten erhielt er internationale Pa- Philip Kirnberger (1721-1783) immer genauere Berechnun-
tente (siehe 11 Das Orchester", Heft 5/90). gen anstellten, verließen sich Musiker wie Arnolt Schlick
(1455-1525), Andreas Werckmeister (1645-1706) und Jo-
Über die Tonhöhe geben allenfalls wenige erhaltene Orgeln 339,2282 500 498,0 498,0
und Blasinstrumente aus dem späten Mittelalter (eher unge- fis 369 ,9944 600 611,7 588,3
naue) Auskunft. Der englische Akustiker Alexander J. Ellis
(1814-1890) berichtet von weit auseinanderliegenden Ton- g 391,9954 700 702,0 696,1
höhen für den Kammerton a 1 (bis zu vier Halbtönen nach as 415,3047 800 792,2 792,2
oben und unten, ausgehend vom heutigen Stimmniveau):
1361 Halberstädter Orgel 506 Hz a 440,0 900 905,9 888,2
1636 Mersennes „ton de chambre" 563 Hz
b 466,1638 1000 996,1 996.1
1700 Orgel Hospice Comtesse, Lille 374 Hz
Die Tonhöhe wurde also lokal individuell festgelegt. Beim h 493,8833 1100 1109,8 1092,1
Orgelbau spielten auch Faktoren wie Platzbedarf und Mate-
c 523,2511 1200 1200 1200
rialmengen eine Rolle. Vielfach wurde die Stimmung auch
vom Chorton beeinflußt, der im 17. Jahrhundert innerhalb
Tab. 1: Gleichschwebend temperierte Stimmung
Europas sehr unterschiedlich lag.
Jedes Instrument hatte überdies seine bevorzugten Ton-
lagen, wie Michael Praetorius im Syntagma musicum 1 zu be- temperiert pythagoräisch Werckmeister
fis as a b
richten weiß: „ Vnd ist anfangs zuwißen, daß der Ton sowol
in Orgeln als anderen lnstrumentis musicis offt sehr varijre; c 1,0 1,0
1
1,0
1
1
J
1
dann weil bey den Alten das Concertiren vnd mit allerhand
2187 256
Instrumenten zugleich in einander zu musiciren nicht ge- cis 1,0595 1,0679
2048
1,0535
243
breuchlich gewesen; sind die blasende Instrumenta von den
d 1,1225 9
lnstrumentmachern sehr vnterschiedlich eins hoch das ander 1,125 1,1174
8
niedrig intonirt vnd gemacht worden. Dann je höher ein In- 32 32
dis 1,1892 1,1852 27 1,1852 --
strumentum in suo modo et genere als Zinken Schalmeien 27
vnd Discant Geigen intonirt seyn, je frischer sie lauten vnd e 1,2599 1,2656 81
1,2528 -
resoniren: hergegen je tieffer die Posaunen Fagotten Baßa-
64 -
4 4
neldi Bombardi vnd Baßgeigen gestimbt seyn, je graviteti- 1,3348 1,3333 3 1,3333 3
scher vnd prechtiger sie einherprangen. Dahero es dann ei-
fis 729 1024
nem M usico, wenn die Orgeln Positiffe, Clavicymbel vnd 1,4142 1,4238 1,4047
512 729
andere blasene I nstrumenta nicht zugleich in einem vnd 3
g 1,4983 1,5 1,4949
rechten Ton stehen, viel mühe machet." (Zunächst muß man 2
wissen, daß der Ton sowohl bei den Orgeln als auch bei an- as 1,5874 1,5802
128
1,5802
128
deren Instrumenten oft sehr variiert, weil früher das Kon- 81 81
27
zertieren mit verschiedenen Instrumenten, die alle zugleich a 1,6818 1,6875 16 1,6704
spielen, nicht gebräuchlich gewesen ist. Außerdem sind die
b 1.7818 1.7778 16 16
Blasinstrumente von den Instrumentenmachern sehr unter- 9 1,7778
9
schiedlich - das eine hoch, das andere niedrig - eingestimmt 243
h 1,8877 1,8984 1,8792
und hergestellt worden. Denn je höher die Instrumente, 128
-
Praerorius •„ rechle Chormq/J" JitJnde1
X Paris
420 X X X X bedient man sich gerne der Sinusschwingungen
Mozart Dresden
c==::> X
Bach
„AUe Musik" um 420 Hz
für die verschiedensten Experimente (Schwe-
410 spOJL Chorton
X
bungen, Doppler-Effekt). Selbst in der Medizin
400 Rom
franz. Chorton hat die Stimmgabel Anwendung gefunden als
c==::>
390 einfaches Instrument zur Prüfung der Gehörlei-
stung und sogar zur Feststellung einer sensori-
1650 1700 1750 1800 1850 1900 1950 2000 Jahr schen Neuropathie zur Früherkennung von
Diabetes (nach der Methode Rydel-Seiffer).
-natürlichen Klaviertöne mit ihren spezifischen Klangspek- ... stellt die Entwicklungen WoI.fGANh Rosc HEF.: MvsrK - L'NSERE CttANc~'!
Vo tKMAR K RA "MARZ : RocK MtJSIK t.iND FöRnrRl~G
tren und deren Abruf. Eine Zukunftstechnik, die auch eine und Strukturen des Musik- \1 1cHAI<l. JE"il\F t >en :R L nliZENKI R.cH!'-ER:
Wno;t:"'\GSANALYsr Jtorso ~!v.s1 z1FRT
quasi „genmanipulierte" Idealisierung des Tonspektrums lebens dar, vorrangig unter ~~:~~~~:~~~~K ~1~BINJ)~;r ÜBIB GRJ:~U~ 82
l I Af K t:tlUR I~f"E Z VK\l:\Fl '? JtfNJ t.995
Für Stimmgeräte sind solche Verfahren aber viel zu auf- schen Aspekten.
wendig. Hier werden aus Kostengründen einfachere Tonge- .. .dokumentiert kulturpolitische Texte (z.B. Aussagen von Po-
neratoren - sogenannte Quarz-Oszillatoren - verwendet, litikern, Bundestagsdebatten, Gesetzestexte, internationale
die statt Sinusschwingungen nur Rechteckschwingungen er- Vereinbarungen).
zeugen. Daher auch der unangenehme „technische" Ton, der ... berichtet über musikpolitische Symposien, Kongresse und
für viele auch einen Frequenzvergleich so schwierig macht bedeutende Musikveranstaltungen auf gesamtdeutscher
(siehe Abb. 1). Doch die Elektronik hat natürlich auch Vor- Ebene.
teile: Stimmgeräte können einen enormen Tonumfang (A 2 „ .erscheint 2x jährlich (Juni/Dezember) . Der Preis je Heft
27,5 Hz - gisS 6644,9 Hz bei Kammerton al = 440 Hz) mes- beträgt DM 11,50.
sen. In den Randbereichen wird die Messung allerdings
schwierig und ungenau. Der Wiedergabebereich guter Gerä- Fordern Sie Ihr kostenloses Probexem lar an!
te reicht von ca. 70 - 1000 Hz.
. .. ... . . • . • . .. „ „ • . „„ . ... :~.
Stimmgeräte können also Töne „wahrnehmen", ihre
Grundschwingung analysieren, sie mit gespeicherten Fre- Anforderungs-/Bestellcoupon
quenzen vergleichen und die Abweichung anzeigen. Diese 0 Senden Sie mir bitte 1 kostenloses Probeheft
Anzeige geschieht mittels Zeiger oder LED-Lämpchen auf
0 Ich/wir bestelle(n) zur Fortsetzung ab Heft ... Ue DM 11,50)*
einer Skala, die in Hertz (Hz, Schwingungen pro Sekunde)
*Der Preis enthält die gesetzliche MWST - jeweils zzgl. Versandspesen
und in Cent eingeteilt ist. Hierbei handelt es sich um eine lo-
garithmische Einteilung des Halbtonschritts in 100 Einhei- Vertraue.n sgarantie
ten - die Oktave erhält somit 12 x 100 = 1200 Cent. Diese Diesen Fortsetzungsauftrag können Sie binnen einer Frist von 1 Woche schriftlich
widerrufen. Zur Wahrnehmung dieser Frist genügt die rechtzeitige Absendung an den
Berechnungseinheit stammt von dem schon erwähnten Aku- Verlag Schott Musik International · Zeitschriftenvertrieb · Postfach 3640 · 55026
stiker Alexander J. Ellis. Mainz.
Nach Beginn der Fortsetzungslieferung beträgt die Kündigungsfrist 6 Wochen zum
Erscheinen des nächsten Heftes.
Abb . 1
1. Unterschrift Datum
0 Lieferung und Rechnung über Buch-/Musikalienhandlung:
Si nusschwi ngu ng
/~ Name, Vorname
Straße
Rechteckschwingung
PLZ, Ort
1
2. Unterschrift
D AS Ü RCHESTER 11/95
Beim Spitzenmodell (TLA CTS5) erfolgt die Anzeige stro- ger-Stimmungen - ein Komfort, den praktisch nur Orgel-
boskopisch und mit Ziffern auf einem numerischen Display. und Klavierbauer nutzen können oder geschickte Musiker,
Bessere Geräte haben auch verschiedene Stimmtemperatu- die sich daran wagen, ihr Klavier selbst zu stimmen.
ren und „Streckungen" oder „Spreizungen" gespeichert und Wer hohe Ansprüche stellt, sollte auch nicht zu knapp
sind für weitere Einstellungen programmierbar. rechnen, denn nur Meßgeräte der obersten Preiskategorie
In der Handhabung sind die Geräte unterschiedlich. Un- haben entsprechende Filter, um störende Frequenzen zu eli-
praktisch ist die bei manchen einfachen Geräten notwendige minieren. Einfachere Exemplare nehmen auch gerne Partial-
erneute Kalibrierung (Einstellung der Kammertonfrequenz ) töne mit auf, reagieren gar auf Sprache und die Anzeige ist
nach jedem Einschalten, wenn sie von 440 Hz abweicht. dementsprechend verschleiert bis unbrauchbar. Sie arbeiten
Weitere Kriterien, die die Leistungsfähigkeit von Stimm- auch nur einigermaßen genau im Bereich C-c3. In Randbe-
geräten (oder sollte man sie nicht besser „Tonmeßgeräte" reichen müssen die Töne sehr laut und klar sein, um ein
nennen?) und damit auch das Preisniveau kennzeichnen, Meßergebnis zu erreichen. Einfache Kontaktmikrofone
sind: können hierbei helfen, nur die Grundschwingung aufzuneh-
• die Genauigkeit und die Bandbreite, mit der der Kammer- men. Man sollte sich nicht zu sehr auf die optische Anzeige
ton a 1 eingestellt werden kann (mindestens 420-450 Hz in verlassen. Ein gutes und geschultes Gehör ist im Bereich von
Zehntelschritten), geringen Schwebungen einem Zeiger- oder LED-Stimm-
• die Genauigkeit und Ablesbarkeit der Hertz- und Cent- gerät an Genauigkeit tatsächlich überlegen.
Skalen, Manche Pädagogen verwenden im Unterricht Stimm-
• die Einstellung des Stimmtons von Hand oder automa- geräte zur Hörerziehung und argumentieren mit der angeb-
tisch, lich schnelleren und genaueren Schulung des Gehörs bei
• die Tonwiedergabe auch über eingebauten Lautsprecher, Anfängern. Ich halte diese optische Kontrolle bestenfalls für
• die Einstellungsmöglich keit von mehreren Stimmtempera- einen zusätzlichen Schritt, der doch bald wieder auf die aku-
turen, stische Methode (Schwebungen) zurückgeführt werden
• die Aufnahmeempfindli chkeit von Frequenzen außerhalb muß. Bei Orchestermusikern werden Stimmgeräte vorwie-
der gewünschten Grundschwingung, gend von Bläsern und Harfenisten verwendet, von Strei-
• der Batterieverbrauch. chern kaum. Sie sind es gewohnt, mittels Schwebungen zu
Mittlerweile existiert eine Fülle von Modellen vorwie- intonieren und kommen auch deshalb meist mit einer
gend japanischer und deutscher Hersteller in unterschied- Stimmgabel als Einstimmhilfe aus. Bläser kontrollieren von
lichsten Preisklassen. Einfache Geräte für die Gitarre mit Zeit zu Zeit die Stimmung ihres Instruments mit Stimmgerä-
den vorprogrammierten Frequenzen der sechs Gitarrensai- ten. Harfenisten schätzen die optische Anzeige, weil sie oft
ten, schon ab 49 Mark (C-tech) zu haben, bilden das Gegen- nicht die notwendige Ruhe zum Einstimmen ihres Instru-
stück zu aufwendigen Stimmcomputern mit PC-Anschluß- ments vorfinden.
möglichkeit zur Speicherung von Stimmdaten für ca. 1 900 Den größten Nutzen von guten Meßgeräten haben Her-
Mark (TLA Tuning Set CTS-5-PE). Geräte der mittleren steller und Stimmer von Tasteninstrumenten, für Streich-
Preisstufe um ca. 650 Mark (Korg MT-1200) besitzen neben und Blasinstrumentaliste n stellen sie eher einen Luxus dar.
der temperierten Stimmung noch mehrere weitere wie reine, Für letztere kann Stimmung nicht starr sein. Bei Solo-,
mitteltönige, pythagoräische, Werckmeister- und Kimber- Kammermusik- und Orchesterspiel ist intonatorische Flexi-
bilität notwendig, stellt sogar ein nicht zu unterschätzendes
Ausdrucksmittel dar. Trotz aller modernen Technik wird
also das Ringen um perfekte Intonation auch in Zukunft ei-
nen großen Teil der künstlerischen Arbeit ausmachen. So
wird für Musiker weiterhin gelten, was George Martin als
Buchtitel formulierte: All you need is ears („Das einzige, was
Df.f ·
du brauchst, sind Ohren").
Anmerkung
1 Vol. II/14, Wolfenbüttel 1618
Literatur
• J. Murray Barbour: Tuning and Temperament. A Historical Survey, New York
.......
~-- .
__ .
_...._;: l : . ~
1972; mit historischen Stimmtabellen
• Rene Brüderlin: Akustik für Musiker, Regensburg 1978; umfassende, leicht ver-
- - - - --- ständliche Übersicht
• Alexander J. Ellis: The History of Musical Pitch, 1880, Nachdruck bei Knuf,
~~. „..-~;_ '. -----.. „ Amsterdam 1963
• Owen H. Jorgensen: Tuning, East Lansing 1991; ausführliches Werk für Stimm-
·--- - - - - ~ temperaturen
_ _ _ µ.., • George Martin u. Jeremy Hornsby: All you need is ears, New York 1979
• Johan de Vries: „Anwendertest elektronischer Stimmgeräte", deutsche Überset-
Stimmgeräte: links übereinander zwei Geräte mit LED-Skalen, zung eines Artikels in der holländischen Zeitschrift De Bowbrief, Heft 7/93, er-
in der Mitte und rechts Geräte mit Zeigerskalen schienen in Die Hausorgel, Heft 5/94
Verantwortlich:
Prof. Dr. Rolf Dünnwald, Leitender Redakteur
Wilhelm Baethge: Mit Rindern, Schafen
Dr. Günther Engelmann, Kulturelles und Spatzenschwärmen
Postfach 13 02 63, D-20102 Hamburg
Tel. (040) 4 10 60 61 Die Londoner Uraufführung der Oper „Rinaldo" von Händel . 17
Verlagsredaktion:
Andrea Raab (M. A.), Weihergarten 5, Klaus Winkler: Stimmung und Stimmgeräte .... 24
D-55116 Mainz, Tel. (0 61 31) 24 68 53
Fax (0 61 31) 24 62 12
Klaus Schneider: Darstellende Instrumentalmusik
Redaktionsassistenz:
Rüdiger Behschnitt, Tel. (0 6131)24 68 55
Hilfen für die themenbezogene Programmgestaltung (8)
1995 - Gedenkjahr für Henry Purcell und Paul Hindemith . . . . . . . . . . . 29
Besprechungsstücke an:
Ortrud Woschnitza, Tel. (0 6131)24 68 51