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2. Einheit
Schönberg weist in seinen „Grundlagen der musikalischen Komposition“ 1 (für seinen Unterricht in
Amerika in den Jahren 1937-48 entstanden) darauf hin, dass der Terminus Variation verschiedene
Bedeutungen hat: zum einen kann darunter die Entwicklung von Motivformen für den Aufbau eines
Themas verstanden werden, zum anderen sorgen Variationen aber auch für Kontraste in Mittelteilen
oder für Abwechslung bei Wiederholungen. Variation kann aber auch als strukturelles Prinzip für
ein ganzes Stück verstanden werden, wenn man sie im Sinne von „Thema und Variationen“
betrachtet. (vgl. Schönberg 1979, S. 75)
Auch Kühn verweist in seiner Formenlehre2 darauf, dass Variation Prinzip und Form sei:
„Das Prinzip des Variierens – ob als spielerisches Abwandeln, gezieltes Weiterführen oder immer
anderes Formulieren – ist ein grundlegendes kompositorisches Verfahren. So wechselhaft seine
Begründung, so unterschiedlich das Resultat: Variation ermöglicht belebend-intensivierende
Abwechslung, zusammenhangvolle Entwicklung, prozeßhafte Verwandlung. Sie ist die
Voraussetzung für Varianten […], motivisch-thematische Arbeit […], entwickelnde Variation […].
Variation als Form meint eine Folge von Abschnitten oder eigenständigen Sätzen, die gestützt auf
ein Thema oder an einem Thema selbst Veränderungen vornehmen. Die Variationenfolge kann Teil
eines größeren Ganzen sein.“ (Kühn 1987/2015, S. 182)
Dazu kommt, dass das Prinzip der Variation ein sehr altes musikalisches Prinzip ist, das im Laufe
der Geschichte selbst immer wieder abgeändert und den neuen Bedürfnissen angepasst wurde. Es ist
deswegen notwendig, einen kurzen chronologischen Überblick über die gängigsten Prinzipien und
Formen zu geben.
Variante:
Eine Variante ist eine Veränderung, aber nicht des ganzen Materials. Die veränderte Fassung, wie
sie etwa typisch für Wiederholungen bei barocken und frühklassischer Musik ist, behält in jedem
Fall den harmonischen Gang und die melodischen Kerntöne bei. Wesentliches Merkmal der
Variante ist eine Belebung des Originals durch kleinere rhythmische und melodische
Abweichungen, sowie bestimmte Ornamente, die allerdings dem bestimmten Affekt eines Stückes
entsprechen sollten. Die Variante ist somit „erkennbar rückbezogen auf Vorangegangenes, ohne mit
ihm identisch zu sein; sie weicht von ihm ab, ohne sich sofort zu weit zu entfernen.“ (Kühn
1987/2015, S. 19) Amon verweist auf das Prinzip der Ähnlichkeit und die belebende Wirkung der
Abwechslung, die den besonderen Reiz der Variation ausmachen und sie somit als ein Grundprinzip
des musikalischen Gestaltens und der musikalischen Wahrnehmung etablieren. (vgl. Amon 2011, S.
405)
Variationssätze:
Seit dem 16. Jahrhundert gibt es Variationssätze, bei denen aus einem Thema verschiedene
Variationen abgeleitet werden. Es handelt sich dabei um einen Formungstypus, der entweder
selbständig sein kann oder Teil eines zyklischen Werkes (z.B. Teil einer Sonate, Symphonie etc.).
Bei der Analyse bezeichnet man das Thema als a und die folgenden Variationen als a1, a2, a3, a4...
„In den späteren Variationszyklen entstehen aus mehreren Variationen durch Überlagerungen und
konstruierte Kontraste größere Abschnitte. Einzelne Variationen werden dabei immer mehr durch
individuelle (affektive) Ausformung bestimmt und erhalten ihren eigenen Charakter.“ (Amon 2011,
S. 407)
Barocke Variationssätze
-Double: „(Thema mit max. zwei Variationen bei gleichem Tempo oder variierter Tanzsatz). Die
Melodie des Themas wird mit Trillern, Vorschlägen etc. verziert und umspielt (Diminution,
Figuration, Kolorierung); Textur und harmonischer Verlauf werden kaum verändert (Amon 2011, S.
407)
-Chaconne: „(Thema mit Variationen in verschiedenen Tempi): der Bass bleibt unverändert, auf
allen anderen Ebenen wird variiert – auch die Akkordfolge.“ (Amon 2011, S. 407) -9-
Variationssätze in der Wiener Klassik
Freie Variation: Ausgehend von Beethoven kann man von einem neuen Variationstypus sprechen,
bei dem das formale Gerüst der strengen Variation zusehends aufgebrochen wird und motivisch-
thematisches Arbeiten sowie kontrapunktische Techniken als Techniken für die Variation eingesetzt
werden: „Mit L. v. Beethoven wird der Typ der freie Variation sowie der Entwicklungsgedanke in
der Variation zunehmend bedeutender, wobei das Thema v.a. in seiner Grundstimmung und
Charakteristik entschlüsselt und in den Variationen expressiv und dramatisch entfaltet wird. D.h.
auch die Struktur des Themas, sein formaler Bau, die Funktionen im harmonischen Ablauf werden
dem Variationsprozess unterzogen, jede der Variationen erhält eine extrem individuelle Prägung
(tw. inklusive neuer Motive, neuer Tonart und eigenem Tempo). Aus diesem Ansatz des Variierens,
in den L. v. Beethoven auch die motivisch-thematische Arbeit und kontrapunktische Techniken
miteinbezieht, wird später das Kompositionsprinzip der Entwickelnden Variation.“ (Amon 2011, S.
408)
Romantik:
Charaktervariation: in der Zeit der musikalischen Romantik wird vor allem der Typus der
Charaktervariation bevorzugt, der allerdings mehr als eine Abfolge von Stimmungsbildern zu
verstehen ist, als ein „konkret am Thema nachvollziehbarer Variationsansatz […]. Der
Variationszyklus mit seinen verschiedenen Typen (Figuralvariationen, c.f.-Variation,
Charaktervariation, langsame [Adagio-]Variation, polyphon gearbeitete [Schluss-]Variation wird
demgemäß von A. B. Marx als eine Reihe von Seelenzuständen oder als eine einem äußeren
Programm folgende Gruppe von Stücken beschrieben.“ (Amon 2011, S. 408f.)
Entwickelnde Variation: dieser Terminus wurde nachträglich von Schönberg entwickelt, um die
besonderen Variationssätze Johannes Brahms beschreiben zu können; die Merkmale der
entwickelnden Variation wurden bereits weiter oben beschrieben;
Variiert werden spätestens ab der Romantik folgende Parameter: (nach Amon 2011, S. 409f.)
Melodie: Umspielen, bzw. Ersetzen wichtiger Melodietöne
Artikulation: geänderte Gruppierungen, andere Bogentechniken bzw. Zungentechniken, andere
Artikulation (legato-non legato-portato-staccato-pizzicato etc.)
Textur: Begleitung wird verändert (andere akkordische Füllung, andere Rhythmen,
kontrapunktische Techniken wie Imitation oder weitere Stimmen)
Rhythmus: durch Diminution oder Augmentation, Punktierungen oder Triolisierungen etc. kann
der Rhythmus jeder Stimme entsprechend variiert werden
Taktart: einer Änderung der Taktart entspricht in den meisten Fällen auch eine Änderung des
Rhythmus
Tongeschlecht: Wechsel von Dur nach Moll, oder umgekehrt
Harmonik: durch Modulationen, chromatische Erweiterungen und Zwischendominanten kann das
harmonische Grundgerüst variiert werden;
Klangfarbe/Instrumentation: durch das bewusste Ausnutzen konkreter Klangfarben kann eine
Melodie bereits variiert werden, ohne dass sonst viele weitere Schritte notwendig wären; -10-
Ausgewählte Variationstypen: (nach Amon 2011, S. 410ff.)
Charaktervariation:
Die innere Struktur des Satzes wird oftmals erheblich verändert, um einen anderen Charakter zu
erhalten. Ursprünglich wurde nur das Tongeschlecht verändert (Minore- und Maggiore-
Variationen), später aber auch die Textur und der Klang- und Ausdruckscharakter. Oft wird auf
andere Genres zurückgegriffen (Tanzsätze, Jagdstücke, Wiegenlieder etc.).
Fantasie-Variation:
Einzelne Teile des Themas bleiben meist unverändert (Motive und Fragmente der Melodie), diese
werden dann auch leitmotiv-artig verwendet. Alle anderen Parameter werden verändert: Material
und Substanz werden sehr frei verarbeitet. Die Fantasie-Variation kann einerseits Nähe zum Prinzip
der Durchführung in Sonatensätzen aufweisen, andererseits auch improvisatorischen Charakter
haben.
Figuralvariation:
Harmonik und die melodischen Gerüsttöne bleiben bei diesem Variationstypus meist konstant.
Ebenso meistens Form und Formproportionen. Änderungen treten vor allem in der obersten Schicht
des Satzes auf, wenn die Melodie durch Umspielungen verändert wird, aber immer erkennbar
bleibt. Vom Prinzip der Variation sind hier meist Rhythmik, Tempo, Dynamik und Instrumentation
betroffen.
Klangfarbenvariation:
Bei diesem Typus bleibt die Struktur des Satzes gleich, die Instrumentation wird allerdings
verändert.
Kontrapunkt-Variation:
Die Variation wird durch eine polyphone Stimmgestaltung erreicht. Kontrapunkt-Variationen
stehen meist am Ende eines Zyklus von Variationen und sind in Form einer (freien) Fuge.
Ostinato-Variation:
Typisch für die Ostinato-Variation ist ein gleichbleibender Bassgang, manchmal auch eine
gleichbleibende Akkordfolge. Wichtige barocke Ostinato-Variationen sind Passacaglien und
Chaconnen, aber auch im Jazz findet sich dieses Prinzip sehr häufig wieder. Variiert kann alles
werden, ausser dem Bass – es findet somit meistens eine Veränderung der Textur statt.
Perpetuelle Variation/Durchführungsvariation:
Die Erkennbarkeit des Themas tritt in den Hintergrund. Dieser Typus kommt in der späten Phase
der tonalen Musik vor (z.B. bei Debussys „Jeux“).
Serielle Variation/Reihenvariation:
Bezugspunkt ist die Grundgestalt einer zuvor aufgestellten Reihe, welche dann in mehrerlei
Hinsicht variiert werden kann (Ausgangston, Spiegelung, Krebs, Rhythmus, Dynamik etc.)
-11-
Thema:
„Die Grundlage jeglicher Variation ist das Thema. Es soll übersichtlich, kurz und leicht fasslich
sein (einfache und klare Kadenzharmonik), damit man es später innerhalb der Variationen sofort
wiedererkennt. Tempo und Charakter sind meist mit „Andante“, „Moderato“, ev. sogar „Adagio“
definiert, da die Möglichkeit der Temposteigerung als wichtiges Gestaltungsprinzip den Variationen
vorbehalten bleibt. Die Melodie des Themas ist periodisch klar, kantabel und rhythmisch
übersichtlich. Dem entsprechend ist es in der Regel als kleine zwei- oder dreiteilige Liedform, als
dreiteiliges Lied bzw. als acht-, zwölf- oder sechzehntaktige Periode geformt. Die Variationen über
das Thema entstehen durch Veränderungen der strukturellen Merkmale. Betreffen diese
Änderungen wesentliche Parameter wird in der jeweiligen Variation mehr das gegenüber dem
Thema Verschiedene betont; sind es Parameter wie Artikulation, Ornamentik oder Klanggestaltung,
steht eher der Aspekt der Wiederholung im Vordergrund. Die ersten Variationen sind meist nur
melodische Figurationen in anderem Metrum, um den Hörer weiterhin mit dem Thema vertraut zu
machen. Das Thema wird oft aus einer anderen Komposition, häufig auch von einem anderen
Komponisten entlehnt.“ (Amon 2011, S. 407)
Laut Schönberg besteht solch ein Thema aus „eng verwandten Motivformen“ (Schönberg 1979, S.
76) mit einer klaren Phrasierung und Unterteilung. Für den harmonischen Bereich stellt Schönberg
fest, dass die Harmoniefolgen einfach gehalten sein sollten und Wechsel der Harmonien regelmäßig
erfolgen sollten. Die Anzahl der Harmoniewechsel sollte beschränkt sein, klare Kadenzen sind
notwendig. Hinsichtlich der Begleitung meint Schönberg, dass es im Sinne der Möglichkeiten zur
Variation günstig wäre, wenn diese einheitlich wäre. (vgl. Schönberg 1979, S. 76)
Wie geht ein Komponist/eine Komponistin beim Komponieren eines Variationssatzes vor:
„Als Vorbereitung für die Komposition einer Variationenreihe muß das Thema gründlich untersucht
und die besten Gelegenheiten für Variation festgestellt werden. Nachdem das Thema auf das
minimum seiner wesentlichen Merkmale reduziert ist, soll eine große Anzahl von Skizzen
angefertigt werden, wobei verschiedene Variationsmotive ausprobiert werden. Wenn auch viele
davon sich als steif und unbeholfen erweisen werden, oder wenn ein sonst vielversprechendes
Motiv sich als in gewissen Hinsicht unbrauchbar herausstellen wird, so wird der Komponist
dennoch mit dem Thema, seinen Möglichkeiten und den Beschränkungen, die es auferlegt, innig
vertraut werden. Oft werden sich Elemente von verschiedenen Skizzen zu einem schlagenden und
wirkungsvollen Variationsmotiv vereinigen lassen. Aus vielen Teilskizzen können dann die
versprechenderen für die Fertigstellung und Ausfeilung gewählt werden.“ (vgl. Schönberg 1979, S.
81)
Schönberg empfiehlt also ein Gerüst, bzw. Skelett aus dem Thema abzuleiten, die wichtigsten
Variationsmotive herauszufiltern und dann anhand von figuralen Umspielungen, rhythmischen
Veränderungen, Stimmentausch (Begleitstimmen werden zur Melodie und umgekehrt), eine
Variation der Begleitung etc. zu den einzelnen Variationen zu kommen.
„Das wichtigste Organisationsprinzip ist Abwechslung; das schließt jedoch nicht aus, daß zwei oder
drei Variationen ohne beträchtliche Veränderung des Charakters aneinandergereiht werden können,
besonders, wenn ein Gedanke in mehreren Stufen ausgearbeitet wird. Seit Beethoven hat sich
allgemein die Tendenz herausgebildet, zu einem Höhepunkt zu streben (in sehr langen Reihen zu
mehreren Höhepunkten), der emotional, rhythmisch, dynamisch oder bewegungsmäßig sein kann,
bzw. durch Beschleunigung des „motus“ oder eine Kombination all dieser Elemente erreicht
werden kann.
Manchmal wird ein kurzer Vermittlungsabschnitt oder eine Überleitung zwischen Variationen
eingeschaltet (z.B. Sechs Variationen, op. 34, Variationen V-VI). Im allgemeinen wird auch eine
Koda oder ein Finale hinzugefügt, die manchmal aus der letzten Variation herauswachsen.“
(Schönberg 1979, S. 82) -12-
EXEMPLARISCHE WERKANALYSE:
Johannes Brahms (1833-1897): Variationen über ein Thema von J. Haydn op. 56A für Orchester
Besetzung:
1 Picc, 2 Fl – 2 Ob – 2 Klar – 2 Fg, 1 Kfg
4 Hrn – 2 Trpt
Pk – Triangel
Streicher
Entstehungszeit: Sommer 1873; die Uraufführung fand am 2. November 1873 in Wien statt. Es ist
überliefert, dass Brahms selbst dirigierte, laut anderen Quellen war der Dirigent aber
möglicherweise Felix Otto Dessoff. Es spielten die Wiener Philharmoniker.
Formaler Aufbau
Thema: |: 5 5 :||: 4 4 4 7 :|
A B
Var. I: |: 10 :||: 19 :|
A B
Var. II: |: 10 :||: 19 :|
A B
Var. III: | 10 10 || 19 19 |
A a B b
Var. IV: | 10 10 || 19 19 |
A a B b
Var. V: | 10 10 || 19 19 |
A a B b
Var. VI: |: 10 :||: 19 :|
A B
Var. VII: |: 10 :||: 19 :|
A B
Var. VIII: | 10 10 || 19 19 |
A a B b
Finale: 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 7 4 15
Thema V1 V2 V3 V4 V5 V6 V7 V8 V9 V10 V11 V12 V13 V14 V15 V16 V17 V18 Coda
3 Rzehulka, Bernhard: Die Variation als kompositorisches Credo. Variationen über ein Thema von Joseph Haydn B-
Dur, op. 56a. In: Johannes Brahms. Das symphonische Werk. Hrsg. von Renate Ulm. Bärenreiter Kassel, 1996 (2.
Auflage 2007). S. 75-83.
Analyse der Form:
„Trotz der konsequenten Beibehaltung von Taktanzahl und Bassverlauf stellt sich nirgends der
Eindruck des Schematischen ein. Im Gegenteil, es ist, als benötige Brahms geradezu diese slbst
auferlegten Grenzen, um die ganze Energie aufzudecken, die in dem scheinbar so simplen Thema
verborgen liegt: so z.B. die dunkle, fast spukhafte Gestik in der VIII. Variation. Ausserdem entgeht
Brahms der Gefahr einer gewissen Gleichförmigkeit, indem er das Steigerungsprinzip der
Variationen I-VI durch ein kontrastierendes Prinzip der Variationen VII und VIII ersetzt. Damit
wird in ungemein sinnfälliger Weise der Weg für die Final-Passacaglia freigemacht. Sie baut sich
über einem fünftaktigen Bassmotiv auf, welches aus Melodie- und Bassteilen des Chorale gebildet
wird.“ (Rzehulka 1996/2007a, S. 82)
Auszug aus einer Kritik (von Hugo Wolf über die Variationen in der IV. Symphonie):4
„Zunächst las sich die Rezension von Hugo Wolf wie üblich: „solche Nichtigkeit, Hohlheit und
Duckmäuserei, wie sie in der e-moll-Symphonie herrscht, ist noch in keinem Werke von Brahms in
so beängstigender Weise an das Tageslicht getreten“. Dann wendet sich die wütende wie hilflose
Attacke in einen vermeintlich listigen Sarkasmus: „Die Kunst, ohne Einfälle zu komponieren, hat
entschieden in Brahms ihren würdigsten Vertreter gefunden. Ganz wie der liebe Gott versteht auch
Herr Brahms sich auf das Kunststück, aus nichts etwas zu machen.“ (Rzehulka 1996/2007b, S. 250)
-15-
4 Rzehulka, Bernhard: „Aus nichts etwas machen“. Brahms und das variative Verfahren in der Instrumentalmusik. In:
Johannes Brahms. Das symphonische Werk. Hrsg. von Renate Ulm. Bärenreiter Kassel, 1996 (2. Auflage 2007). S.
250-258.
Brahms – der Traditionalist?
„Wie kein zweiter […] war Brahms sich bewußt, daß die traditionellen Formen der
Instrumentalmusik sich nur noch dann als tragfähig erweisen, wenn sie weiter- und umgedacht
werden könnten. Keinesfalls war es ausreichend, die Formen des Sonatensatzes oder des gesamten
viersätzigen instrumentalen Zyklus nachzumusizieren und lediglich neue thematische Einfälle an
die Stelle der alten zu setzen. Dann wäre Brahms zu Recht jener Klassizist gewesen, als welcher er
zu Lebzeiten durchaus bezeichnet wurde. Ein Stück näher kommt man ihm mit dem Begriff des
Traditionalisten, der Brahms in der Tat auch war, zumal dann, wenn man Tradition als bewußten
Rückgriff auf alte, weit vor der Klassik gepflegte kompositorische Techniken versteht.“ (Rzehulka
1996/2007b, S. 251)
Brahms – der Progressive?
„Denn es war gerade Schönberg, der erstmals an dem Denkmal Brahms rührte, welches den
Rückwärtsgewandten zeigte, den Traditionalisten, der sich auf Bach und die Wiener Klassiker
berief und Symphonien wie Kammermusik komponierte, als hätte er fast ein Jahrhundert zu spät
gelebt. Unter dem geradezu provokanten Titel Brahms the Progressive – der essayistischen
Überarbeitung eines Vortrags vom Februar 1933 – beschrieb Schönberg den wegweisend modernen
Kompositionsansatz von Brahms, ein Begriff, der sich nicht auf die eigentlichen Variationen-Werke
bezieht, sondern vielmehr ein Kompositionsverfahren zu fassen versucht, das generell seiner Musik
zugrunde liegt. Schönberg erkannte, daß die Brahmsschen Werke meist aus kleinen motivischen
Zellen sich „entwickeln“, aus einem thematischen Kern, der im Extremfall gar nur aus einem oder
mehreren Intervallen bestehen konnte. Durch stete Veränderungen konnten daraus große
instrumentale Formen geboren werden. Die Folge war eine gleichsam permanente Durchführung
des Sonatensatzes. Die thematisch-motivische Arbeit wurde zum „tragenden Prinzip ganzer Sätze“
und bedeutete „einen qualitativen Sprung, eine Veränderung des Formbegriffs“ (Carl Dalhaus).
Formal behält Brahms zwar den Themendualismus bei und hält sich ebenso an die traditionelle
Dreiteilung des Sonatensatzes (zu der die Coda noch hinzuzuzählen wäre), das dialektische Prinzip
freilich weicht dem einer kontinuierlich-logischen Fortspinnung. […] Auch wenn Brahms eisern an
der Tonalität festhielt, so weist dieses variative Prinzip, […] direkt auf Schönbergs musikalische
„Philosophie“, die dessen Schüler Anton Webern einmal so beschrieb: „Der Stil also, den
Schönberg und seine Schule sucht, ist eine neue Durchdringung des musikalischen Materials in der
Horizontalen und in der Vertikalen... Immer wieder das Bestreben, aus einem Hauptgedanken
möglichst viel abzuleiten.“ Das ließe sich ebenso auf Brahms beziehen. Das variative Verfahren
zielt auf Prägnanz und „Fasslichkeit“, wie Schönberg es formulierte, und zwar gerade deshalb, da
das Grundmaterial im Geflecht seiner motivischen Beziehungen stets – wenn auch oft unterirdisch –
präsent ist.“ (Rzehulka 1996/2007b, S. 254ff.)
Brahms – erst aus dem Alten kann etwas Neues entstehen
„Die Kunst von Johannes Brahms ist eine janusköpfige: rückwärtsgewandt und fortschrittlich
zugleich. Die Rückbesinnung und Neubewertung alter kompositorischer Techniken, in deren
Mittelpunkt die verschiedenen Ausprägungen des Variativen stehen, waren in der Lage, das Tor zur
Musik unseres Jahrhunderts ungleich weiter aufzustoßen, als es die Kunst Wagners vermochte.
Denn Wagner wie Liszt saghen sich als Vollstrecker eines historisches Prozzeses und verfochten
ein Geschichtsbild des kontinuierlichen Fortschritts, an dessen Spitze selbstverständlich sie zu
finden wären. Brahms hingegen leugnete zwar keineswegs den Gang der Geschichte, verstand sich
aber als Verfechter von ästhetischen Kategorien, die unabhängig von der Zeit Qualität und
Wahrhaftigkeit ins Zentrum rückten. Für ihn hatte sich die Musik früherer Jahrhunderte eben nicht
in der Gegenwart aufgelöst, so daß sie uns nichts mehr anzugehen hätte, sondern sie steht wie ein
monolithischer Fels, der immer wieder erklommen sein will. […] Es ging ihm eben nicht darum,
Altes durch Neues zu ersetzen, und dies als Fortschritt zu propagieren. […] Seine Musik ist wie ein
Gedanken-Diskurs, dem es um die Lösung und Erfüllung struktureller Probleme ging, um die
Frage, welche melodischen und harmonischen Möglichkeiten aus den Kräften bloßer Intervalle
gewonnen werden können, um aus ihnen große Formen zu entwickeln.“ (Rzehulka 1996/2007b, S.
256f.) -16-