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Vormärz und Biedermeier

Novellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Vorlesungsnotizen
Textsammlung

Bachelor Taal- en Letterkunde, Duits

Nr. 006

Prof. Dr. Inge Arteel


2018
INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort 1

1. Zur politischen Situation: Restauration und Revolution 2

2. Literaturgeschichtliche Epochenbezeichnungen 5

3. Deutschsprachige Novellen des 19. Jahrhunderts 7

4. Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili 12

5. Georg Büchner, Lenz 17

6. Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche 24

7. Heinrich Heine, Florentinische Nächte 34

8. Adalbert Stifter, Granit 37

9. Franz Grillparzer, Der arme Spielmann 43

10. Schriftsteller aus der Schweiz 51

11. Schriftsteller aus Norddeutschland 53

12. Marie von Ebner-Eschenbach, Krambambuli 55

13. Thomas Mann, Der Tod in Venedig 60

Textsammlung 63

Georg Büchner…………………………………………………………………………………………. 64
Adalbert Stifter………………………………………………………………………………………… 66
Friedrich Hebbel………………………………………………………………………………………. 67
Johann Peter Hebbel………………………………………………………………………………… 69
Marie von Ebner-Eschenbach…………………………………………………………………… 71
Gottfried Keller………………………………………………………………………………………… 78
Eduard Mörike…………………………………………………………………………………………. 81
Annette von Droste-Hülshoff…………………………………………………………………… 83
Fanny Lewald…………………………………………………………………………………………… 87
Heinrich Heine…………………………………………………………………………………………. 94
Heinrich von Kleist…………………………………………………………………………………… 97
1

VORWORT

Das vorliegende Kompendium gilt als Pflichtmaterial für die Vorlesung „Die Novelle im
19. und frühen 20. Jahrhundert“. Dieser Kurs wird den Deutsch-Studierenden der
Ausbildung Taal- en Letterkunde als Pflichtfach sowie anderen Studierenden als
Wahlfach angeboten. Das Kompendium enthält außer einem Teil der Informationen,
die im Laufe der Vorlesungen vermittelt werden, auch Auszüge aus Prosa- und
essayistischen Texten sowie Gedichte, die während des Semesters gemeinsam gelesen
werden.
Das Kompendium soll die Studierenden von der Hektik des ständigen Mitschreibens
befreien, ohne die Niederschrift eigener Notizen völlig überflüssig zu machen. Es ist
das Ziel, in den Vorlesungen Zeit zu gewinnen für die gemeinsame Besprechung litera-
rischer Werke.
Die hier gesammelten Notizen beanspruchen keine Vollständigkeit. Sie präsentieren
nur einen Teil der für den Kurs vorgesehenen Literatur und verstehen sich als Brouillon
und Gedächtnisstütze, nicht als ein bis in alle Details ausgearbeitetes
literaturgeschichtliches Fachbuch. Da die Vorlesungen und das Unterrichtsgespräch in
deutscher Sprache stattfinden, garantiert die aktive Teilnahme daran sowohl eine
merkliche Verbesserung der Sprachbeherrschung als auch eine gründliche Vertiefung
der literaturgeschichtlichen Kenntnisse.
Von den Studierenden wird erwartet, dass sie sich selber weitere Informationen über
die behandelten Epochen und Autor(inn)en verschaffen. Das Buch enthält auch
zahlreiche Tipps zur weiteren Lektüre von literarischen Werken. Die zwei
Wochenstunden Literaturunterricht pro Semester sollten von Selbststudium und extra
Lektüre ergänzt werden um den Erfolg der Ausbildung zu gewährleisten.
Dieses Kompendium übernimmt zu einem Teil Vorlesungsnotizen meiner Vorgängerin,
Prof. Dr. Heidy Margrit Müller. Ihr sei an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich für die
viele Arbeit und die Großzügigkeit gedankt. Einige Abschnitte wurden um neue
Aspekte ergänzt oder abgewandelt.

Inge Arteel, Sommer 2018


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1. ZUR POLITISCHEN SITUATION: RESTAURATION UND REVOLUTION

Der Anfang des 19. Jahrhunderts wurde in Preußen von Widerstand gegen Napoleons
Imperialismus geprägt. 1806 hatte Napoleon die preußischen Truppen unter König
Friedrich Wilhelm III geschlagen (nl. verslaan). 1812 hatte er einen Feldzug nach
Russland durchgeführt und war bis Moskau vorgedrungen. 1813 erlitt er allerdings
eine Niederlage in der „Völkerschlacht“ bei Leipzig und zog sich über den Rhein
zurück. Bis 1815 folgte eine Zeit der ständigen Kämpfe zwischen Napoleon einerseits
und Preußen (zusammen mit anderen Verbündeten [= Alliierten], wie Russland,
Schweden und Österreich) andererseits. Diese so genannten “Befreiungskriege”
(1813-1815) wurden von preußischem Patriotismus und deutschem Nationalismus
geprägt. Die jahrhundertealte Hoffnung auf die Bildung einer deutschen Nation wurde
wieder sehr lebendig, realisierte sich aber nicht. Der österreichische Staatsmann
Klemens Wenzel Fürst von Metternich (1773-1859) schloss sich nach einigem Zögern
der Koalition gegen Napoleon an. Er wurde schon bald die einflussreichste Figur der
Koalition. Er strebte in Europa ein Machtgleichgewicht an und wusste seine
restaurativen Bestrebungen auf dem Wiener Kongress (1814-1815) durchzusetzen.
Das Ziel war die zukünftige Verhinderung von allen revolutionären Bestrebungen. In
Frankreich wurde das Königtum restauriert; damit wurden viele Errungenschaften (nl.
verworvenheden) der Französischen Revolution (1789) rückgängig (nl. ongedaan)
gemacht. Deutschland – bis 1806 das Heilige Römische Reich deutscher Nation – blieb
weiterhin ein Konglomerat von Kleinstaaten, ein loser Staatenbund ohne Oberhaupt,
der sogenannte Deutsche Bund. Da Zensur ausgeübt wurde, konnte man nicht
unbehindert publizieren, was einem gut schien; liberale, demokratische und nationale
Bewegungen wurden unterdrückt.

Die Jahre von 1815 bis 1830 gelten als Zeit der RESTAURATION; vorherrschend waren
Tendenzen zur Rückkehr zu den vorrevolutionären Verhältnissen. In dieser Zeit
intensivierte sich in Griechenland der Befreiungskampf gegen die Jahrhunderte lang
andauernde türkische Oberherrschaft. Mit den Griechen sympathisierten viele
Künstler und Intellektuelle aus anderen europäischen Ländern (vgl. Lord Byrons
Entschluss zur Beteiligung am Freiheitskampf in Griechenland, wo er einer Krankheit
erlag; vgl. auch Goethes Sammlung neugriechischer Volkslieder).

1830 fand in Paris die so genannte Julirevolution statt. Es kam zu (na-


tionalrevolutionären) Unruhen in ganz Europa. In Deutschland reagierten nicht zuletzt
die Universitätsstudenten mit Begeisterung. Manche Studenten waren in
Burschenschaften (nl. studentenverenigingen) organisiert. Schon 1817 hatten sie beim
Fest auf der Wartburg (eine Burg in Thüringen) die Forderung nach der Einheit des
Vaterlandes erhoben.

In jener Zeit hatte die industrielle Revolution bereits begonnen, die das ganze
Jahrhundert prägen (nl. vormen, kenmerken) sollte. 1835 fuhr die erste Dampf-
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Eisenbahn in Deutschland, von Nürnberg nach Fürth. Die Einführung und


Intensivierung der maschinellen Produktion führte dazu, dass ein Hand-
werkerproletariat entstand. 1844 fand in Schlesien ein Aufstand statt: vgl. Gerhart
Hauptmanns Drama Die Weber (1892). Verarmte Teile der Bevölkerung wanderten
aus; viele gingen nach Amerika.

Deutschland bestand nach wie vor aus Kleinstaaten. Das Wahlrecht war (z.B. in
Preußen und in Hessen) so gestaltet, dass nur eine kleine Gruppe der Bevölkerung –
vorwiegend die finanzkräftigen höheren Beamten und die Adligen – Wahlchancen
hatten. In Preußen blieb das „Dreiklassenwahlrecht“ bis zur Novemberrevolution von
1918 in Kraft. Durch das Dreiklassenwahlrecht hatten die vier Prozent der am meisten
Steuern zahlenden männlichen Bevölkerung Recht auf die Wahl ebenso vieler
Wahlmänner wie die über achtzig Prozent der Männer, die – ihrem Einkommen
entsprechend – am wenigsten Steuern bezahlten. Wer gegen die herrschenden
Missstände (nl. wantoestanden) protestierte oder konspirierte, hatte mit Verfolgung,
Gefängnishaft und andauernder beruflicher Behinderung zu rechnen (die Biographien
Georg Büchners und Heinrich Heines zeugen davon!).

1848 gab es eine gesamteuropäische Wirtschaftskrise. Es kam zu sozialen und


politischen Spannungen in allen europäischen Ländern. Die Februarrevolution in Paris
führte zur Abdankung des französischen Monarchen, des Königs Louis Philippe;
Frankreich wurde eine Republik. In Wien fand die Märzrevolution statt (daher kommt
der Sammelname für die damaligen politisch engagierten Schriftsteller: „VORMÄRZ“).
Metternich musste fliehen. Auch in Berlin gab es Straßenkämpfe. Der wichtigste
Schauplatz der Revolution war jedoch Frankfurt am Main. Aus der Erhebung (nl.
opstand, oproer) entstand dort eine Frühform des späteren Parlaments. Im Mai 1848
tagte in der Frankfurter Paulskirche die Nationalversammlung (nl. nationale
parlementaire vergadering). Doch die revolutionäre Bewegung scheiterte; der Konflikt
verschärfte sich zu einer Machtfrage zwischen Preußen und Österreich.

1862 wurde Otto von Bismarck (1815-1898), ein konservativer „Junker“ (adliger
Großgrundbesitzer), zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Er führte einen
Kampf gegen den Liberalismus und verstärkte das Militär. Preußen siegte 1864 über
Dänemark, wobei Dänemark fast ein Drittel seines Staatsgebiets verlor, und 1866 – im
deutsch-deutschen Krieg – über Österreich. Schwere innenpolitische Krisen folgten:
Das „Sozialistengesetz“ verhängte (von 1878 bis 1890) ein Druck-, Organisations- und
Versammlungsverbot über die Anhänger der Sozialdemokratie. Ein „Kulturkampf“
wurde geführt: der Kampf des protestantischen Preußen gegen Vorstöße der
katholischen Kirche, die darauf zielten, die Autorität des Papstes in Glaubensfragen zu
vergrößern und die Bindung der nationalen Kirche an Rom zu verstärken. Ein heftiger
„Kulturkampf“ spielte sich auch in der Schweiz ab. 1874 brach der schweizerische
Bundesrat – nach der Vertreibung der Jesuiten – die Beziehungen mit dem Vatikan ab
(bis 1920).
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1870 kam es zu starken Spannungen zwischen Preußen und Frankreich, die in den
Deutsch-Französischen Krieg mündeten. Erneut siegte Preußen. Elsass-Lothringen
wurde von den Deutschen annektiert. Es folgte die von vielen Deutschen seit
Jahrzehnten ersehnte Gründung des Deutschen Reiches (1871). Nicht Kaiser Wilhelm
I., sondern Reichskanzler Otto von Bismarck beanspruchte die Vorherrschaft in dem
neuen Staat („Kanzlerdiktatur“). Nach Konflikten zwischen Kaiser Wilhelm II. und dem
Reichskanzler wurde Bismarck 1890 entlassen. Mit der Gründung des (zweiten)
Deutschen Reiches (nach dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation [962-1806])
war in Mitteleuropa ein wirtschaftliches und militärisches Machtzentrum entstanden,
das von den anderen Großmächten als Bedrohung eingeschätzt wurde.

In den „Gründerjahren“, die auf die Gründung des Deutschen Reichs folgten und die
von Firmenneugründungen gekennzeichnet waren, gab es trotz zeitweiliger
Wirtschaftskrisen Prosperität. „Neureichen“ Fabrikantenfamilien gelang der Aufstieg
in das „höhere Bürgertum“ (spöttisch ist manchmal vom ‚Geldadel‘ die Rede). Die
Technisierung des Alltags erlebte einen rasanten Aufschwung (es gab erste
Automobile, ab 1909 auch Luftschiffe). Im „Wilhelminischen Deutschland“ wurden die
Wissenschaften sehr gefördert; deutsche Wissenschaftler erhielten damals zahlreiche
Nobelpreise. Die Machtansprüche des Kaisers wie auch des Militärs nahmen zu. Kaiser
Wilhelm II. betrieb eine massive Aufrüstung (nl. toenemende bewapening)
Deutschlands. Es kam zum Bruch mit Russland und zu einer Verschlechterung des
Verhältnisses zu England; die Außenpolitik führte zu einer (selbst verschuldeten)
Isolierung des Deutschen Reichs. In Polen wurde eine gezielte Enteignungspolitik (nl.
onteigening als politieke maatregel) betrieben (1908 Enteignungsgesetz), wobei
Deutsche angesiedelt wurden. Die ehrgeizigen Versuche Wilhelms II., das deutsche
Kolonialreich zu erweitern, waren nicht sehr erfolgreich. Die brutale Niederschlagung
von Aufständen in den Kolonien schadete dem internationalen Ansehen des
Deutschen Reiches.
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2. LITERATURGESCHICHTLICHE EPOCHENBEZEICHNUNGEN

„Vormärz“, „Junges Deutschland“, „Biedermeier“ und „Poetischer Realismus“

Die Autoren des „Vormärz“ waren politisch engagiert und lehnten die Restauration ab.
Sie waren Zeitgenossen von David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach und Karl Marx.
(Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels wurde 1848 in Brüssel
geschrieben!) Die politisch engagierten Schriftsteller des „Vormärz“ nannte man auch
„Junges Deutschland“. Von ihnen sind heute außer Georg Büchner und Heinrich Heine
noch Karl Gutzkow, Ludwig Börne und Georg Herwegh bekannt. Sie waren gegen das
Ancien Régime wie auch gegen jede autoritäre Unterdrückung. (Vgl. Georg Büchners
Aufruf aus dem Hessischen Landboten!)

Für die damaligen Schriftsteller deutscher Sprache ist ein starkes Krisenbewusstsein
kennzeichnend. Sie verstanden die eigene Epoche als eine Phase des Übergangs resp.
des Umbruchs und der (je nach Einstellung und politischem Standort: erzwungenen
oder ersehnten und willkommenen) geistigen und politischen Neuorientierung. Die
Stellungnahmen der Autor(inn)en zu den zeitgenössischen Ereignissen waren teils dem
Kampf gegen die Restauration gewidmet, teils resignativ-verzichtend oder ablehnend
und von der Angst vor gesellschaftlichen Umwälzungen beherrscht. Die
deutschsprachige Literatur aus der Zeit nach der „Weimarer Klassik“ (1785-1805)
wurde (bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein!) als epigonal und minderwertig
eingeschätzt; manche Literaturgeschichtsbücher aus dem 19. Jahrhundert – in dessen
zweiter Hälfte sich die Germanistik als universitäre Disziplin etablierte – begnügen sich
mit kurzen, summarischen Hinweisen auf die Literatur aus der Zeit „nach Goethes
Tod“. Karl Immermann thematisierte das zeitgenössische Lebensgefühl in seinem
Romanwerk Die Epigonen (1836), in dem er Motive aus Johann Wolfgang von Goethes
Entwicklungsroman Wilhelm Meister parodistisch verwendete.

Die Autoren des „Biedermeier“ wie auch einige Schriftsteller des „Poetischen
Realismus“ neigten zum Rückzug ins Privatleben und zur literarischen Beschäftigung
mit der Natur oder der Vergangenheit als dem Bereich der verlorenen Ordnung. Die
darstellerische Aufmerksamkeit galt vorwiegend dem (heiter-beschaulichen) Alltag
und der detaillierten Beschreibung von Sichtbarem, wobei auch Unscheinbares und in
der literarischen Überlieferung bis anhin wenig Berücksichtigtes zur Geltung gebracht
wurde (vgl. G. Kellers Gedicht „Die kleine Passion“ über den Tod einer Mücke). Die
Vertreter des “Jungen Deutschland” hingegen plädierten für eine politisch engagierte
Kunst, insbesondere für den Kampf gegen das Ancien Régime; ihre Denkweise ist von
der Religionskritik und dem Emanzipationsstreben der Aufklärung geprägt.

„Biedermeier“ ist ein teilweise negativ konnotierter Begriff. Die betreffenden Autoren
tendierten zum Rückzug aus der Tagespolitik. Ihnen graute vor gesellschaftlichen
Umwälzungen. Biedermeierliche Literatur (vgl. auch Biedermeier-Mobiliar) zeigt eine
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Vorliebe für idyllische, häusliche, niedliche Szenerie. Viele der damaligen Autor(inn)en
sind längst in Vergessenheit geraten. Da die Anwendung des Begriffs „Biedermeier“
auf die Schreibweise von Schriftstellern deklassierend wirkt, bevorzugen manche
Literaturwissenschaftler den (vagen) Ausdruck „Poetischer Realismus“ oder auch
“Bürgerlicher Realismus” als Sammelbegriff für (nicht modernistische, nicht
naturalistische) Prosawerke aus der Zeit von ca. 1848 bis ca. 1890. Den Begriff
„Biedermeier“ ohne Einschränkung auf Autor(inn)en wie Stifter, Grillparzer, Ebner-
Eschenbach, Mörike anzuwenden, ist sehr problematisch.

Bibliographische Hilfsmittel zur deutschen Literaturgeschichte der Epoche


Hugo Aust, Literatur des Realismus. Stuttgart 1977. – Joachim Bark, Biedermeier-Vormärz.
Bürgerlicher Realismus. Stuttgart, 1984. – Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur
und Kultur im bürgerlichen Zeitalter. Tübingen, Basel 2003. – Friedrich Sengle,
Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution
1815-1848. Bd. III: Die Dichter. Stuttgart 1980. –– Marianne Wünsch (Hg.): Realismus (1850-
1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. Kiel 2007.
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3. DEUTSCHSPRACHIGE NOVELLEN DES 19. JAHRHUNDERTS

3.1. Gattungsmerkmale und –geschichte der Novelle

Kennzeichnend für die Novelle als literarische Gattung sind folgende Merkmale:
– ein krisenhaftes Ereignis (nl. krisissituatie),
– die Verknüpfung von „Schicksal“ und Charakter sowie die Frage nach der Art der
Verknüpfung,
– das Vorhandensein eines Wendepunktes und die Konzentration auf einen
kennzeichnenden Vorfall – oft auf ein Dingsymbol (vgl. die „Falken“-Theorie Paul
Heyses [s.u.]),
– Konzentration, Verdichtung sowie Verkürzung, wobei oft nicht die „natürliche“
Reihenfolge der Geschehnisse wiedergegeben wird. Spannung und Steigerung auf
einen Höhepunkt hin.
– Szenischer Ausschnitt aus einem großen Gemälde. Oft ist kaum Milieuschilderung
vorhanden. Die Schauplätze erinnern manchmal an Bühnenbilder.
Die Länge des Textes ist nicht entscheidend.

Ursprünglich handelte es sich nicht um einen literarischen Begriff. In dem berühmten


Gesetzeswerk Corpus iuris civilis Justinians (röm. Kaiser, 525-565 n. Chr.) hießen
nachträglich hinzugefügte Gesetze „leges novellae“. Erst in der Renaissance wurde der
Begriff auf die Literatur übertragen: Giovanni Boccaccios Decamerone enthält hundert
„Novellen“, die an zehn Tagen von zehn Leuten erzählt werden, die während eines
Pestausbruchs (1348) auf einem Landgut bei Florenz zusammenkommen. Das
verbindende Thema dieser Novellen sind Fragen der Liebesmoral. Novellen sind
kürzere, pointierte, z.T. schwankartige (nl. kluchtige) Erzählungen, in denen auch
Fabel- und Märchenmotive vorkommen können. Ihr Inhalt ist überraschend und
insofern ‚neu‘. Im Unterschied zum Märchen ist die Handlung in Novellen
wahrscheinlich; die Geschichten könnten sich so zugetragen haben.
Bereits Ende des 14. Jahrhunderts schrieb Chaucer die Canterbury Tales. Auch von
Cervantes gibt es Novellen: die Novelas ejemplares (1613). Diese wurden von den
deutschen Romantikern wiederentdeckt und sehr bewundert. Novellen beschreiben
eine Neuigkeit, eine interessante Episode. Goethe sagte zu seinem Bewunderer und
Helfer Johann Peter Eckermann, wie in dem Band Gespräche mit Eckermann
(grammatikalisch nicht ganz einwandfrei) überliefert wurde, dass die Novelle eine
„sich ereignete [sic!] unerhörte Begebenheit“ behandle.

Erst im 19. Jahrhundert wurden Theorien der Novelle entwickelt, und zwar meist im
Vergleich zum Roman. Die Novelle ist zwar nicht die einzige, aber die bevorzugte
literarische Gattung des „Poetischen Realismus“.
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3.2. Theoretische Äußerungen über Novelle und Roman:

Novelle Roman

F. GRILLPARZER: (1839, Tagebuch)

Wirkungen vorherrschend, Ursachen vorherrschend,


psychopathisch fortschreitend psychologisch retardierend (laut
Goethe)

FRIEDRICH THEODOR VISCHER: (Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 1857)

Strahl Lichtmasse

krisenhaftes Stück aus einem (vollständige) Entwicklung einer


Menschenleben Persönlichkeit

Neigung zum Didaktischen und


Historischen

FRIEDRICH SPIELHAGEN: (Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, 1883)

straffe Architektur; Breite und Weite; Gemälde


Ökonomie der Übersicht; (nl. schilderij)
Konzentrierung;
szenischer Ausschnitt;
wenige Personen viele Personen

Novellenstoff: fast immer zugleich Kein Roman könnte – ohne großen


dramatisch; fast jede Novelle könnte Verlust – in ein Drama umgewandelt
in ein Drama umgedichtet werden. werden.

PAUL HEYSE
Einleitung zu: Deutscher Novellenschatz (1871)

“Denn nicht viele Jahrzehnte sind zu zählen, seit die Novelle das […] Versprechen, daß
sie auch im Wunderbaren stets natürlich sein werde, in gutem Ernste zu erfüllen
begann. Damit dies geschehen konnte, mußte erst der soziale und künstlerische Geist
im Allgemeinen die große Wandlung erfahren, die mit den letzten Regungen der
Romantik entschieden brach, und die wir mit dem landläufigen Schulwort die
Wendung zum Realismus nennen wollen. Eine Zeit, die in Politik und Philosophie sich
zunächst wieder auf den Boden des Tatsächlichen stellte, in der Geschichtschreibung
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die Quellenforschung, in Physik und Chemie das Experiment ihrer Methode zugrunde
legte, mußte auch einer Dichtungsart günstig sein, in der die Begebenheit, das
Ereignis, der einzelne Fall so vielfach ohne alle höheren Ansprüche auf absoluten
sittlichen und dichterischen Wert zu ihrem Rechte kommen.

Bei dem unverkennbaren Einfluß, den diese allgemeinen Zustände insbesondere auch
auf die Entwicklung der Novelle ausübten, hat noch ein ganz äußerlicher Umstand aufs
entscheidendste mitgewirkt: das Aufblühen des Journalismus; […]

Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses oder einer sinnreich
erfundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die Novelle nach und nach zu der
Form entwickelt, in welcher gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Fragen zur
Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der
Ausnahmsfall, das höchst individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der
Pflichten, seine Geltung findet. Fälle, die sich durch den Eigensinn der Umstände und
Charaktere und eine durchaus nicht allgemein gültige Lösung der dramatischen
Behandlung entziehen, sittliche Zartheit oder Größe, die zu ihrem Verständnis der
sorgfältigsten Einzelzüge bedarf, alles Einzige und Eigenartige, selbst Grillige und bis
an die Grenze des Häßlichen sich Verirrende ist von der Novelle dichterisch zu
verwerten. […] da der Mensch auch in seinen Unzulänglichkeiten dem Menschen
doch immer das Interessanteste bleibt.

Denn wie sehr auch die kleinste Form großer Wirkungen fähig sei, beweist unseres
Erachtens gerade die Novelle, die im Gegensatz zum Roman den Eindruck ebenso
verdichtet, auf einen Punkt sammelt und dadurch zur höchsten Gewalt zu steigern
vermag, wie es der Ballade, dem Epos gegenüber, vergönnt ist, mit einem raschen
Schlage uns das innerste Herz zu treffen. […] Soviel aber muß doch zu vorläufiger
Verständigung gesagt werden, daß wir allerdings den Unterschied beider Gattungen
nicht in das Längenmaß setzen, wonach ein Roman eine mehrbändige Novelle, eine
Novelle ein kleiner Roman wäre. Da lang und kurz relative Begriffe sind und man
bekanntlich die simpelste Liebesgeschichte für den Liebhaber nicht lang genug
ausspinnen, dagegen den Inhalt der Odyssee "zum Gebrauch des Dauphin" auf eine
Quartseite bringen kann, so muß, wenn es sich um mehr als Namen handeln soll, schon
im Thema, im Problem, im unentwickelten Keim etwas liegen, das mit Notwendigkeit
zu der einen oder andern Form hindrängt.

Und dies scheint, wenn man auf das Wesentliche sieht, in folgendem zu beruhen.
Wenn der Roman ein Kultur- und Gesellschaftsbild im großen, ein Weltbild im kleinen
entfaltet, bei dem es auf ein gruppenweises Ineinandergreifen oder ein konzentrisches
Sichumschlingen verschiedener Lebenskreise recht eigentlich abgesehen ist, so hat die
Novelle in einem einzigen Kreise einen einzelnen Konflikt, eine sittliche oder
Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen und die
Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem großen Ganzen des Weltlebens
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nur in andeutender Abbreviatur durchschimmern zu lassen. Die Geschichte, nicht die


Zustände, das Ereignis, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier die
Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen
seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit - der Isolierung des Experiments, wie die
Naturforscher sagen - nur einen relativen Wert behalten, während es in der Breite des
Romans möglich wird, eine Lebens- oder Gewissensfrage der Menschheit erschöpfend
von allen Seiten zu beleuchten.”

Laut Heyse gibt es in jeder Novelle einen „Falken“, ein bedeutungsvolles Symbol – oft
ein Dingsymbol. Vgl. die 9. Novelle des 5. Tages bei Boccaccio: Ein im Minnedienst
verarmter Ritter besitzt nur noch einen Falken, der ihm sehr teuer ist. Die verehrte
Dame ist verwitwet; sie besitzt nur noch ihren Sohn. Dieser ist todkrank und verlangt
nach dem Falken als Spielgefährten. Wohl oder übel besucht die Dame ihren früheren
Liebhaber, um ihn um den Falken zu bitten. Sie äußert ihre Bitte nach dem Gastmahl,
das der Mann für sie hat richten lassen. Es stellt sich heraus, dass der Ritter seinen
Falken geopfert hat, weil er der Dame sonst nichts zu essen hätte anbieten können.
Der Sohn der Dame stirbt. Die Dame ist jedoch so gerührt vom Opfer des Mannes, dass
sie ihn heiratet.

THEODOR STORM war anderer Meinung als Heyse: „Den Boccaccioschen Falken lass
ich unbekümmert fliegen.“ Storm bezeichnete die Novelle als eine hybride Gattung:
“Die heutige Novelle in ihrer besten Vollendung ist die epische Schwester des Dramas
und die strengste Form der Prosadichtung.“

THEODOR MUNDT
Für Theodor Mundt nistet sich in der Vormärzzeit vor der Revolution von 1848 die
Novelle geradezu als „Haustier“ in der biedermeierlich-bürgerlichen Idylle ein, „sitzt
mit zu Tische und belauscht das Abendgespräch, und man kann da dem Herrn Papa
zur guten Stunde etwas unter die Nachtmütze schieben oder dem Herrn Sohn bei
gemächlicher Pfeife eine Richtung einflüstern, die vielleicht einmal für die ganze
Nation Folgen haben mag. Die Novelle ist ein herrliches Ährenfeld für die politische
Allegorie […]. Draußen vor dem Schauspielhause sind auch Gendarmerie und Polizei
aufgestellt und behüten das Drama. Die Novelle steht sich mit der Polizei besser, und
sie flüchtet sich auf die gute Stube, wo es keine Gendarmerie gibt. In seiner Stube ist
der Deutsche auch ein ganz anderer Mensch, […] er glaubt an die Freiheit.“ (Mundt,
in: Polheim, Theorie und Kritik der deutschen Novelle, 1970, 70)

Mundt weist auf den ambivalenten Status der Novelle auf dem bürgerlichen
Kulturmarkt hin. Die Novelle, die in Zeitungen und Familienblättern veröffentlicht
wurde, war zu einer Massenware geworden, zu leicht verständlicher
Feierabendlektüre. Gerade diese Eigenschaft machte sie auch zu einer politisch
wichtigen Gattung: Die Dichter des Jungen Deutschlands versuchten mittels der
Novelle ihre fortschrittlichen Ansichten unter den Bürgern zu verbreiten; moralisch
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engagierte Autoren und Autorinnen versuchten mit exemplarischen Fallbeispielen die


Werturteile und Sitten des Publikums zu beeinflüssen.

Es gibt auch bedeutende Novellisten französischer, russischer und dänischer Sprache:


– Stendhal, Maupassant (extreme Reduktion des Erzählers);
– Puschkin, Tolstoj, Turgenjew, Tschechow, Gogol;
– H. Bang, J. P. Jacobsen.

Als ein früher Vertreter der modernen Novelle gilt Heinrich von Kleist (1777-1811),
der Novellen schrieb in einer Zeit, als das Drama noch als die höchste literarische
Gattung galt und die Novelle noch nicht von einer normativen Poetik bestimmt
wurde. Lektürebeispiel: Das Erdbeben in Chili (1807): Schicksalsnovelle,
Katastrophennovelle.

Bibliografie:
D.E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel
von Kleists “Erdbeben in Chili”, München 1985.
Rolf Füllmann, Einführung in die Novelle, Darmstadt 2010.
Thomas Bergmann, Heinrich von Kleist: “Das Erdbeben in Chili”, Augsburg 2010-11.
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4. HEINRICH VON KLEIST: DAS ERDBEBEN IN CHILI

Heinrich von Kleist

Biographisches
• Geboren 1777 in einer preußisch-militärischen Familie, mit 15 Jahren in die Armee
eingetreten.
• Vaterlandsliebend; gemischte Gefühle für die Französische RevoluHon (Verrat der
Ideale); Haß auf Napoleon.
• 1799: Abschied von der Armee: 7 verlorene Jahre.
• à Kleist bricht mit der TradiHon und den Erwartungen der Familie.
• Studium in Frankfurt an der Oder.
• 1801: “Kantkrise”
• Reise nach Paris (die Stadt gefiel ihm nicht) und in die Schweiz. Wollte dort Bauer
werden. Erste Dichtungen. Heimatlosigkeit, v.a. psychisch und emoHonal.
• PsychosomaHsche Krankheiten.
• 1807 in Berlin in französischer Kriegsgefangenscha`.
• 1807-09 in Dresden, Herausgeber des Phöbius. Journal für die Kunst (erfolglos).
• Ambivalente Haltung gegenüber Goethe: Verehrung – Neid – Haß: “Ich werde ihm den
Kranz von der SHrne reißen.”
• 1810-11 in Berlin, Herausgeber der Berliner Abendblä9er (nach kurzem Erfolg
gescheitert). Schreibt viel.
• 21. November 1811: Erschießung der krebskranken Henriece Vogel und Suizid Kleists
am Berliner Wannsee.
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Das Werk
• Exzentrische Biografie; extremistische Poetik

• Die Protagonisten seiner Werke:


à missachten die Konventionen
à verursachen Skandale
à suchen das Glück, das Paradies
à leben in extremen Situationen, sowohl physisch als auch psychisch
(Krieg, Gefangenschaft, tragische Liebe, Eifersucht, usw.)
à erleiden und/oder begehen grausame, destruktive Taten

• Der Stil: Drastik, “apokalyptischer Realismus”, schnelle Wendungen in


der narrativen und psychologischen Entwicklung

Das Erdbeben in Chili

Kupferstich des Erdbebens in Lissabon 1755


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Lissabon als Katastrophe


• Das Erdbeben von Lissabon 1755 markiert den
Anfang eines naturwissenscha?lichen Denkens über
Naturkatastrophen. à Seismologie
Aber: auch die Theologie liefert noch Erklärungen à
Natur und Religion bestehen nebeneinander als
Erklärungsmodelle.
• Die Medien berichten über sensaFonelle Ereignisse.
• Poli/sche Interessen: Frankreich und England
konkurrieren um Einfluss in Portugal als
HandelsnaFon.

Theodizee-Deba,e nach 1755


• Voltaire, Lehrgedicht 1755, “Poème sur le désastre de Lisbonne”:
gegen absoluten AuClärungsopFmismus: der Fortschri, kann
solche Katastrophen nicht verhindern.

• Rousseau in einem Brief: Menschliche ZivilisaFon der Städte


verursacht die Übel in der Welt; der Naturzustand des Menschen ist
aber gut.

• Goethe in Dichtung und Wahrheit: “die geborstene Erde scheint


Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in
den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor
noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zu Grunde [...]. Die
Flammen wüten fort und mit ihnen wütet eine Schar sonst
verborgner, oder durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter
Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube,
dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet
von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür”
à Nicht mehr Go, ist die strafende Instanz, sondern die menschliche
Natur ist eine böse Kra`.
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Immanuel Kant, 1756:


Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß
man zusammen nehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen
vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde
unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn
ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch
Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die
Verzweifelung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der
Anblick anderer Elenden den standhaftesten Muth niederschlagen.
Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine
Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung
desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte
geschickteren Händen.
Immanuel Kant, "Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens,
welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat " in
Vorkritische Schriften I: 1747-1756 (Berlin: Reimer, 1910), S. 434.

Kleists Antwort auf die aufgeklärte Poe5k


• Poe5k der Au6lärung und Klassik (Lessing, Schiller, Goethe):
in Kunst und Literatur zeigt sich der “prägnante oder
fruchtbare Augenblick” als ”anschauende Erkenntnis” à
der Künstler/Dichter hat einen direkten Zugang zur Kenntnis
der Welt und der Wahrheit, er sieht in einer “Epiphanie”
(Erscheinung) die Wahrheit der Welt.
• Dies wird in der Literatur metaphorisch ausgedrückt als
göMlicher Blick von einem Berggipfel aus: der Künstler
überblickt goMesähnlich die schöne Welt zu seinen Füßen.
• Kleist zi5ert diesen Topos, aber ändert ihn auf vielsagende
Weise: Jeronimo sieht die schöne Welt nicht von einem
Gipfel aus, sondern vom Rand eines Felsen. Absturz und
Untergang sind mitgedacht.
• Kleist schreibt neben Dramen (DIE GaMung von Au6lärung
und Klassik) Erzählungen, um das Scheitern der Kunst und
den Zusammenbruch der Welt auszudrücken.
16

Bibliographie
• Dieter Heimböckel (Hrsg.), Kleist. Vom Schreiben
in der Moderne. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2013.
• Gerhard Lauer, “Das Erdbeben von Lissabon.
Ereignis, Wahrnehmung und Deutung im Zeitalter
der AuKlärung”, 2008, online abruOar unter:
goethezeitportal.de
• Peter Michalzik, Kleist. Dichter, Krieger,
Seelensucher. Biographie. Berlin: Ullstein
Buchverlage 2011.
• Uwe SchüWe, Die Poe<k des Extremen. GöXngen:
Vandenhoeck & Ruprecht 2006.
17

5. GEORG BÜCHNER: LENZ

Zu Biographie und Œuvre


Georg Büchner (1813-1837) wuchs in Hessen auf, vom dritten Lebensjahr an in
Darmstadt. Er war das älteste von sechs Kindern. Die jüngsten drei Geschwister
wurden später ebenfalls bekannt. Der Vater war Arzt, ein Verehrer Napoleons und
Monarchist; so war er denn keineswegs erfreut über die politischen Bestrebungen
seines Sohnes Georg. Georgs Bruder Wilhelm wurde Abgeordneter (nl. afgevaardigde)
im hessischen Landtag (nl. parlement) und im deutschen Reichstag (nl. rijksdag;
parlement), veröffentlichte politische Schriften; die Schwester Louise war Schrift-
stellerin und Frauenrechtlerin (nl. feministe); der Bruder Ludwig, von Beruf Arzt, wurde
mit seinem Buch Kraft und Stoff (1855) zum damals populärsten Vertreter des
Materialismus; der Bruder Alexander gehörte 1848 zu den deutschen Revolutionären
und wurde später französischer Staatsbürger und Professor für Literatur in Caën.
Georg Büchner las früh Werke von Shakespeare, Goethe, Friedrich Schiller, Jean Paul,
Heinrich Heine, verschiedenen Romantikern und französischen Schriftstellern. Er
beschäftigte sich auch mit Philosophie, v.a. mit Fichte. Ab 1831 wohnte er in Straßburg,
um Medizin zu studieren. Er fand Unterkunft bei Pfarrer Johann Jakob Jaeglé, mit
dessen Tochter Luise Wilhelmine (Minna) er sich später verlobte. Die Landesgesetze
schrieben vor, dass Büchner sein Medizinstudium in Gießen fortsetzen und
abschließen musste, wenn er dort eine Anstellung anstrebte. Die Universität war ihm
verhasst. Die Trennung von der Braut Minna fiel ihm schwer, und die politischen
Verhältnisse bedrängten ihn. Er geriet in eine seelische Krise und bekam eine
Hirnhautentzündung. 1834 gründete er mit Freunden eine „Gesellschaft der
Menschenrechte“ (nach französischem Vorbild). Er verfasste die Flugschrift Der
Hessische Landbote, ein revolutionäres Blatt, das die hessische Bevölkerung offen zur
politischen Aktion aufrief. Büchner wurde verhört. 1835 flüchtete er vor der
drohenden Verhaftung nach Frankreich (Straßburg).
Büchner las Pascal, Spinoza, Rousseau, Kant, Feuerbach. Er arbeitete am Re-
volutionsstück Dantons Tod (1835). Zu Büchners Lebzeiten wurde einzig dieses
literarische Werk veröffentlicht. Er trieb Vorstudien zu der Lenz-Novelle, indem er
Pfarrer Oberlins Aufzeichnungen las, die später als Fragment in Büchners Nachlass
gefunden wurden. Er arbeitete an einer naturwissenschaftlichen Untersuchung Über
das Nervensytem der Barben; aufgrund dieser Abhandlung wurde er an der
Universität Zürich promoviert Dort war er 1836/37 als Privatdozent tätig. (An der 1833
gegründeten Universität der damals sehr liberalen Stadt Zürich lehrten damals
mehrere aus „Deutschland“ geflohene Dozenten.) Zugleich arbeitete Büchner am
Lustspiel Leonce und Lena: einer geistvollen Karikatur der zeitgenössischen Politik (in
den Königreichen Pipi und Popo…). Die Helden leiden an der Langeweile. Akzentuiert
wird die Marionettenhaftigkeit des menschlichen Daseins (3. Akt).
In Zürich hielt Büchner naturwissenschaftliche Vorlesungen und arbeitete an dem
Drama Woyzeck. In diesem Drama gibt es schnelle Szenenwechsel. Dadurch wie auch
durch die Fragmenthaftigkeit wirkt das Stück sehr modern; es wird heute noch häufig
18

aufgeführt. Der Vater versöhnte sich mit dem (erfolgreichen) Sohn. Im Februar 1837
starb Büchner nach kurzer, rätselhafter, schwerer Krankheit.

Die Lenz-Novelle (1835)


Büchners Lenz behandelt eine Episode aus dem Leben des Schriftstellers Jakob
Michael Reinhold Lenz (1751 geboren in Livland; 1792 in ärmlichen Verhältnissen und
psychischer Zerrüttung [nl. ontreddering] gestorben in Moskau), für die Büchner sich
auf Aufzeichnungen des elsässischen Pfarrers Johann Friedrich Oberlin stützen konnte
(aus Oberlins Tagebuch wurde manches nahezu wörtlich übernommen). Johann
Friedrich Oberlin war Pfarrer im Dorf Waldersbach (in der Lenz-Novelle heißt die
Ortschaft Waldbach) im Steintal, im Elsass, unweit von Straßburg.

J.M.R. Lenz war ein bedeutender Dichter des Sturm und Drang. In Straßburg traf er
1771 mit dem jungen Goethe zusammen. Die beiden verkehrten freundschaftlich
miteinander, legten einander Manuskripte zur Beurteilung vor. Beide lasen damals u.a.
Werke Homers, Shakespeares und „Ossians“. 1776, als Goethe in Weimar lebte, kühlte
sich die Freundschaft rasch ab; es kam zu Differenzen (nl. onenigheid) mit Goethe und
der Weimarer Hofgesellschaft, die Lenz zur Abreise zwangen. (Dies hatte Nachteile für
Lenz’ schriftstellerische Tätigkeit!) Im 12. und 14. Buch von Dichtung und Wahrheit
äußert sich Goethe ungünstig über Lenz (vgl. Auszüge in der Reclam-Studienausgabe
der Lenz-Novelle und die Kommentare von Hubert Gersch im Anhang dieser Ausgabe!).
Goethes Äußerungen haben die Lenz-Rezeption lange Zeit stark beeinflusst. Dass
Büchner gerade Lenz auswählte für seine Psychographie eines Leidenden, zeugt von
seinem Widerspruchsgeist (nl. de mentaliteit van iemand die steeds moet te-
genspreken), von seinem Mitgefühl und Engagement für ungerecht oder herablassend
Behandelte wie auch von seiner anti-klassizistischen Kunstauffassung. Seine
Beschreibung der Lenz-Gestalt steht an mehreren Stellen offenkundig in Opposition zu
Formulierungen Goethes. Hubert Gersch weist (im Nachwort zur Reclam-
Studienausgabe) detailliert nach, dass und wie Büchners Text nicht nur das Tagebuch
Pfarrer Oberlins, sondern auch Goethes Kommentare zu seinen Begegnungen mit Lenz
reflektiert und abwandelt.

Jakob Michael Reinhold Lenz’ Hauptwerke sind die beiden Dramen Der Hofmeister
(1774) und Die Soldaten (1776). Der Schriftsteller hat zwei (von eigenen Erfahrungen
mitgeprägte) sozialkritische Dramen hinterlassen, in denen die misslichen
Lebensbedingungen der Privatlehrer (resp. „Hofmeister“) wie auch der Soldaten
angeprangert werden. Formal sind die beiden Dramen innovativ (sie haben eine offene
Form und sind durch eine lockere [nl. luchtig] Szenenfolge gekennzeichnet).
Es gibt Ähnlichkeiten zwischen der Situation des jungen Goethe, Büchners und des
Protagonisten der Lenz-Novelle: vgl.
– die Auflehnung gegen Autoritäten und den Protest gegen die herrschenden
politischen Verhältnisse;
19

– die Ablehnung der überlieferten Zielsetzungen der Kunst und innovative


eigene Kunstauffassung;
– die Liebe zu einer Frau, die (freilich aus verschiedenartigen Gründen) un-
erreichbar blieb.

Büchners Hinzufügungen beziehen sich hauptsächlich auf drei Schwerpunkte der


Erzählung: auf die Kunst, die Religion und die Krankheit.

Der Darstellung der Krankheitssymptome macht Büchner eindrucksvolle Na-


turschilderungen dienstbar. Man beachte die dynamische Metaphorik, die gewalt-
samen Bilder (wilde, wiehernde, heransprengende Rosse, blitzendes Schwert), die
Häufung von Alliterationen und Assonanzen und den Farbenreichtum der
Naturbeschreibungen. Die Zerrissenheit des Helden spiegelt sich in Widersprüchen
wie auch in der Bewegungsintensität („herauf“, „hinunter“, „dahin“ usw.). Es gibt
Augenblicke eines All-Gefühls, das nicht Harmonie, sondern Zwiespältigkeit hervorruft
(„eine Lust, die ihm wehe tat“), andererseits erlebt Lenz auch Momente der
Besinnung, ja der Nüchternheit.
Die psychischen Störungen sind manchmal mit Wahnvorstellungen verbunden;
Büchners Lenz hat Schwierigkeiten, Traum und reale Umwelt auseinander zu halten.
Er ist von Einsamkeit und Angst erfüllt. Die syntaktische Gestaltung widerspiegelt und
evoziert in variabler Weise Lenz’ labilen Geisteszustand: Kurze, zerhackte Sätze, die
meistens mit Semikolon (= Strichpunkt) verbunden resp. getrennt werden, folgen
aufeinander. So wird die sprunghafte Reihung einzelner Eindrücke auch durch die
syntaktische Anordnung vollzogen.

In der Predigtszene spricht Lenz in einer Art Solidarität mit der ganzen Menschheit
über das Leiden. Zugleich erhebt er den missionarischen Anspruch, dieses Leiden zu
beheben. Das Kirchenlied enttäuscht ihn; die Gemeinde nimmt das Leiden einfach hin,
indem sie es zum religiösen Prinzip macht. Lenz’ Erlösungsmission kommt nicht an; er
erlebt – als einziger – tiefen Schmerz („Das All war für ihn in Wunden“), und als Erlöser
findet er keine Anerkennung. Seine Reaktion verrät seine psychische Instabilität: in
masochistischer Weise kann er nur noch sich selbst bemitleiden.

Eine wichtige Stelle ist auch die Kaufmann-Episode: Einer, der Lenz aus früheren Zeiten
kennt, kommt in das Steintal und zu Pfarrer Oberlin. Lenz ist die Konfrontation
unangenehm. Es entfaltet sich ein Gespräch über Literatur (das sog. Kunstgespräch),
in dem Lenz seine Kunstauffassung darlegt. Ein Gegensatz wird klar zwischen
Idealismus und „Realismus“, wobei Lenz (abwechselnd in direkter und indirekter
Rede!) seine philosophischen und ästhetischen Auffassungen im Bereich des
„Realismus“ ansiedelt. Absoluten Vorrang hat bei ihm das Prinzip des Lebens („Ich
verlang in Allem – Leben, Möglichkeit des Daseins; das Gefühl, dass was geschaffen
sei, Leben habe, [...] sei das einzige Kriterium in Kunstsachen“). Der Idealismus dage-
20

gen geht (mit verklärender Tendenz) von der (erstarrten) Idee aus, wie Kunst zu sein
habe, und ist daher für Lenz „die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur“.
An die Stelle der zeitlosen Schönheit (der klassischen Schönheitsideale) setzt Lenz das
Prinzip der Veränderung: unendliche Schönheit entsteht erst aus dem Bild-Wechsel,
aus dem Übergang einer Form in die andere. Shakespeare und Goethe dienen ihm als
Beispiele. Lenz – auch Büchner? – geht über sie hinaus mit seiner Forderung, die
Menschheit (wie auch die Dinge) zu lieben, sich vollkommen in ihr Wesen einzufühlen
und auch deren „hässliche“ Seiten wiederzugeben (nl. te vertolken).

Oberlin und Kaufmann unternehmen eine Reise in die Schweiz. Nach Oberlins Abreise
verliert Lenz vollends den Halt (nl. houvast). Die Angst vor sich selber treibt ihn im
Laufe der Novelle mehrmals in die Natur. Sowie er allein ist, entzieht sich ihm die
Realität und wird er stetigem Wechsel ausgesetzt.
Lenz unternimmt eine Wanderung und übernachtet bei einer fremden Familie. Er
findet einen alten Mann vor, der wie ein Heiliger verehrt wird. Wenig später
manövriert sich Lenz selbst in die Rolle eines tiefreligiösen Wundertäters: doch sein
Versuch der Auferweckung eines toten Mädchens misslingt. Seine messianischen
Ansprüche lassen sich nicht verwirklichen; die Diskrepanz zwischen seiner
Selbsteinschätzung und seinen tatsächlichen Fähigkeiten wächst. Mehr und mehr
dominiert der Wahnsinn. Mitleid, Ohnmacht, Aktivitätswille, Erschöpfung, Wahnsinn
und Klarheit: „Alles strömte wieder zusammen.“ Lenz beherrscht sein Denken und
Fühlen („das wüste Chaos seines Geistes“) nicht mehr. Die Zeitraffung veranschaulicht
den sich beschleunigenden Prozess der „Umnachtung“ (vgl. auch die Gestaltung der
Lichtverhältnisse, das Vorherrschen von Dämmerung und Dunkelheit in der Novelle!).
Nach Oberlins Rückkehr erfolgt keine Besserung von Lenz’ Zustand. Er verspürt das
masochistische Verlangen, geschlagen zu werden. Er unternimmt
Selbstmordversuche. Oberlin muss den Kranken ständig bewachen lassen.
Lenz’ Abschied von Friederike war anscheinend ein Auslöser der Krise. Der Schluss ist
kurz und fragmentarisch: Lenz wird aus dem Pfarrhaus im Steintal nach Straßburg
zurückgeführt. Dort lebt er still vor sich hin; er tut „alles wie es die andern taten“;
offenbar hat er sich an die verabscheute Lebensweise der Mehrheit vollkommen
angepasst. Die zahlreichen halbherzigen Selbstmordversuche wurden wohl nicht
zuletzt deshalb nicht vollendet, weil auch der Tod Lenz keineswegs als Erlösung
erscheint.
21

Georg Büchner, Lenz


Ergänzungen zum Kompendium
Quelle: M. Hofmann & J. Kanning, Georg Büchner. Epoche – Werk – Wirkung. Beck Verlag 2013.

Büchner

• Büchners einziger überlieferter epischer Text


• Posthum veröffentlicht (1839, in acht Fortsetzungen)
• Ist der Text von Büchner fertiggestellt oder ein Entwurf geblieben?
• Erzählperspektive zwischen Empathie (vgl. erlebte Rede) und
kritischer Distanz
• Studie eines individuellen pathologischen Falls UND Zeitdiagnose:
Unbehagen in der Moderne; der Einzelne wird in erstickende
Strukturen eingeordnet
22

Stilistisches
• Naturdarstellungen als Spiegel der Psyche des Protagonisten – bald
Harmonie und Übereinstimmung, bald Isolation und Einsamkeit
• Sprachliche Bilder von hoher Sinnlichkeit, die auf moderne Ästhetiken
wie Surrealismus und Expressionismus vorausdeuten und realistische
Normen überwinden
• Dynamischer Stil und Syntax, die die Schwankungen im Gemüt des
Protagonisten andeuten, u.a. durch Reihen von elliptischen Satzteilen,
Anaphern, Asyndeta, Wechsel indirekte Rede – erlebte Rede – direkte
Rede, usw.

Büchners Antwort auf den klassischen Goethe


• Der klassisch-idealistische Goethe strebte danach, mit symbolischer
Sprache eine klare, einheitliche Erfahrung wiederzugeben à
Harmonie
• Büchner interessiert sich für extreme und widersprüchliche
Erfahrungen und will das auch in der Sprache selbst zeigen à
Dissonanz. Die Kunst kann die Widersprüche nicht überwinden, aber
artikulieren. (vgl. auch die Gespräche, die Lenz führt)
• Der Protagonist wird als leidender Mensch dargestellt, der keine
Erlösung findet. Der ‘normale’ Leser kann das psychische Leiden
nachempfinden (vgl. die Verbindung zwischen Lenz und den
Dorfbewohnern in der Messe à momentane Linderung des
Schmerzes).
23

Zeitdiagnose
• Lenz leidet an der bürgerlichen utilitaristischen Moral (Tüchtigkeit,
Zweckmäßigkeit, ‘Normalität’) der Modernität. Diese entfremdet den
Menschen von sich selbst.
• Die autoritäre Religion hilft nicht um das Leiden im Diesseits wirklich
zu lindern.
Ø die alten ‘großen Erzählungen’ gelten nicht mehr, aber die neuen
bieten keine Alternative.
Ø Krisenzeit

Literatur:
Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe. Stuttgart: Reclam 1984. (= Universal-Bibliothek
Reclam, Nr. 8210.) – Georg Büchner, Werke und Briefe. München: Hanser 1980. (Nachwort
von Werner R. Lehmann.) – Walter Hinderer, Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk.
München: Winkler 1977 – Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1972) – Erwin Kobel, Georg Büchner. Das dichterische Werk. Berlin: de Gruyter
1974. – Nachwort von Ernst Johann in: Georg Büchner: Sämtliche Werke. Frankfurt am Main:
Büchergilde Gutenberg 1970, S. 465-503. – James Crighton: Büchner and Madness:
Schizophrenia in Georg Buchner’s Lenz and Woyzeck. Lampeter: Edwin Mellen Press 1998.
24

6. ANNETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF: DIE JUDENBUCHE

Zur Autorin
Die Schriftstellerin (1797-1848) war adeliger Herkunft (von Hülshoff / von
Haxthausen) und lebte im Münsterland, in Westfalen. Sie blieb unverheiratet. Sie
hatte einen großen Verwandtenkreis, auf den Rücksicht genommen werden musste;
so war sie zeitlebens zu Zurückhaltung verpflichtet – auch als Schriftstellerin. Mehrere
ihrer Werke beschäftigen sich mit dem Münsterland, so u.a. die Bilder aus Westfalen,
Bei uns zu Lande und Die Judenbuche.
Die Dichterin war außergewöhnlich sensibel und hatte eine lebhafte Phantasie
(Nachtwandeln, intensive Tagträume); sie verspürte eine ambivalente Affinität zum
Grausigen und Dämonisch-Rätselhaften. Sie war oft von Angst und Schuldgefühlen
erfüllt. Eine „Jugendkatastrophe“ überschattete ihr ganzes Leben: Annette von
Droste-Hülshoff zögerte als junges Mädchen mit der Wahl zwischen zwei Männern,
die miteinander befreundet waren. Durch ungeschicktes Verhalten aller Beteiligten
verlor Annette beide Freunde – den adeligen Heiratsanwärter (nl. huwelijkskandidaat)
wie auch den bürgerlichen Freund. Jahrelang führte sie ein sehr zurückgezogenes
Leben. Ihre ersten Veröffentlichungen erschienen erst relativ spät – zuerst unter
einem Pseudonym. (Bis in das frühe 20. Jahrhundert galt es als unschicklich, dass
Frauen schriftstellerisch in Erscheinung traten!) Literarischer Erfolg stellte sich erst
1842 ein: mit der Publikation der Judenbuche, eines Werks, an dessen Qualität sie
zunächst zweifelte. Um 1840 begann ihre Beziehung zu Levin Schücking, dem Sohn
einer verstorbenen Jugendfreundin. Eine Zeitlang wohnten sie beide in der Meersburg
am Bodensee, wo Annettes Schwester verheiratet war. Doch kam es zu einer
Entfremdung der Liebenden; jäh reiste Schücking ab. 1846 publizierte Schücking den
Roman Die Ritterbürtigen, der verletzende Kritik am westfälischen Adel enthielt.
Droste-Hülshoff geriet in Verruf (nl. slechte naam), weil man annahm, dass sie
Schücking diskriminierende Fakten über den westfälischen Adel mitgeteilt habe. In
den letzten Lebensjahren war Annette von Droste-Hülshoff besonders oft krank und
deprimiert.

Entstehungsumstände der Novelle


Die Novelle Die Judenbuche ist 1837-41 entstanden – in einer glücklichen Lebensphase
(mit Levin Schücking). Ursprünglich war der Text als Teil eines größeren, mehrteiligen
Werkes über Westfalen gedacht, das Schücking edieren wollte. Dasselbe gilt für Bei
uns zu Lande und Bilder aus Westfalen; auch diese Texte entstanden als Beiträge zu
Schückings Monumentalwerk über Westfalen. Der Titel Die Judenbuche stammt vom
Herausgeber. Die Verfasserin hat sich nicht von ihm distanziert. Es gibt fünf
verschiedene Fassungen der Novelle. Die letzte ist am kürzesten und rätselhaftesten –
zum Teil so knapp, dass auch sehr aufmerksame Leser kaum alle Rätsel lösen können,
die der Text aufgibt. Droste-Hülshoff betrachtete Die Judenbuche erst nach dem
großen, unverhofften Erfolg als separate Einheit. Ursprünglich war die Novelle als
ethnographisches Exempel gedacht – als Illustration zum Paderborner Volkscharakter;
25

vgl. Bilder aus Westfalen: dort wird die Auffassung vertreten, dass sich in Paderborn
(Die Judenbuche spielt in der Umgebung von Paderborn) Vorchristlich-Heidnisches
erhalten habe. Viele Rechtsverletzungen geschahen dort unter Berufung auf ein altes
Naturrecht. Der ‚Volkscharakter‘ der Leute aus Paderborn galt als leidenschaftlich, zu
Affekthandlungen neigend.

Quellen
In der Novelle meldet sich zweimal ein Ich zu Wort: „Es würde in einer erdichteten
Geschichte unrecht sein, die Neugier der Leser so zu täuschen. Aber dies alles hat sich
wirklich zugetragen; ich kann nichts davon- oder dazutun.“ Tatsächlich hat die Autorin
historische Materialien verwendet. Ein Vorfahre mütterlicherseits (der Urgroßvater
bzw. Großvater von Haxthausen) erlebte als Gutsherr etwas Ähnliches. 1783 (in der
Novelle: 1760) gab es einen Mord an einem Juden durch einen Einheimischen, der floh
und schließlich in algerische Gefangenschaft geriet. Ein anderer Vorfahre Annette von
Droste-Hülshoffs, August von Haxthausen, schrieb einen leicht stilisierten
Tatsachenbericht über die Begebenheit unter dem Titel Geschichte eines Algierer-
Sklaven. Die Dichterin kannte die Geschichte auch aus Erzählungen und Briefen von
Verwandten. Sie hat viele Änderungen vorgenommen; ihre Erzählung ist nicht mehr
bloß anekdotisch, sondern voll von (dunklen?) Bezügen und dynamisiert von der
grundsätzlichen Frage nach Schuld und Gerichtsbarkeit.

Sachliche Erläuterungen
Gutsherren besaßen damals die „niedere Gerichtsbarkeit“; über kleinere Vergehen
konnten sie selbst richten – nach eigenem Gutdünken und nach dem Gewohn-
heitsrecht. Noch zu Annette von Droste-Hülshoffs Lebzeiten (nicht nur im 18. Jahrhun-
dert wie in der Novelle) kam es oft zum Streit zwischen den Bauern und dem Gutsherrn
um das Vorrecht, Holz zu fällen. Der Wald gehörte dem Gutsherrn; die Bauern jedoch
beriefen sich auf ein altes Naturrecht. Auch Wilddiebstahl war üblich.
Friedrich Mergel ist der Sohn eines ‚Hallmeyers‘, d.h. eines Bauern, der nicht ganz frei,
sondern dem Gutsherrn zu bestimmten Dienstleistungen verpflichtet war (im
Fürstbistum Paderborn war ein ‚Hallmeyer‘ zu zehneinhalb Tagen Pflugdienst jährlich
verpflichtet).
Die Dörfer, die in der Novelle erwähnt werden, existieren tatsächlich. „Dorf B.“, der
Wohnort der Mergels, heißt in Wirklichkeit Bellersen. (Bellersen ist ein Nachbardorf
von Bökendorf, dem Wohnort der Familie von Haxthausen. Annette hat sich sehr oft
dort aufgehalten; die ‚Jugendkatastrophe‘ ihres Lebens spielte sich dort ab.) „Brede“,
der Wohnort Simon Semmlers, liegt ganz in der Nähe, heißt in Wirklichkeit
Bredenborn. P. (der Ort des Gerichts) ist Paderborn. Die Gegend ist waldreich; die
Handlung spielt im Teutoburger Wald.
26

Die Gliederung der Novelle


Die Erzählung umfasst die 51 Jahre von Friedrich Mergels Leben (1738-1789); zu
Beginn erfolgt außerdem ein knapper Rückblick auf Mergels Umgebung und
Vorgeschichte. Friedrich Mergel ist deutlich die Hauptperson. Die Erzählung ist in
Absätze gegliedert, die mit einer Zeitangabe beginnen: 1738 wurde der Protagonist
(nl. hoofdrolspeler) geboren; es folgen Informationen über die Gerichtsbarkeit, die
Zustände im Dorf, die Umgebung und über Vater und Mutter. (Der Vater ist ein Säufer,
der seine Frau prügelt, seinen Sohn jedoch liebt.)
2. Absatz: „Friedrich stand in seinem neunten Jahre.“ Es ist das Jahr 1747. Berichtet
wird von einem nächtlichen Gespräch Friedrichs mit der Mutter und vom Tod des
Vaters.
3. Absatz: Friedrich ist zwölfjährig; es ist das Jahr 1750. Der „Ohm“ (Bruder der Mutter;
Onkel) Simon Semmler kommt zu Besuch. Er nimmt Friedrich mit sich; dieser arbeitet
bei ihm. Friedrich hat einen Doppelgänger, der ihm sehr ähnlich sieht: Johannes.
4. Absatz: Juli 1756. Friedrich ist achtzehnjährig. Im Wald hat Friedrich ein Gespräch
mit Förster Brandis. Kurz danach kommt Brandis um. Die Suche nach Brandis’ Mörder
hat keinen Erfolg. Friedrich verzichtet nach einem Gespräch mit seinem Onkel, dem
offenbar die Mordwaffe gehört, auf den beim Anblick der Mordwaffe zunächst
geplanten Gang zur Beichte.
5. Absatz: Oktober 1760. Friedrich ist 22-jährig. Er nimmt mit der ganzen
Dorfgemeinschaft an einem Hochzeitsfest teil. Es folgt eine Szene von großer
Bedeutung: Friedrich wird durch den Nebenbuhler Wilm Hülsmeyer öffentlich
beschämt; es wird klar, dass die kostbare Uhr, die Friedrich trägt, gar nicht diesem
gehört, sondern dem Juden Aaron. – Kurz danach wird Aaron ermordet. Juden
schnitzen eine hebräische Inschrift in die Buche, wo der Mord verübt wurde. Friedrich
verschwindet aus der Gegend. Der Gutsherr reinigt den geflüchteten Mergel vom
Verdacht des Mordes.
6. Absatz: 28 Jahre später; beschrieben werden Begebenheiten aus der Zeit vom 24.
Dezember 1788 bis zum September 1789. Am Ende erfolgt Friedrichs Selbstmord.

Der Titel der Novelle könnte im 20. Jahrhundert falsche Erwartungen wecken; es geht
nicht (in erster Linie) um Vorurteile gegen Juden oder um die Verfolgung von Juden.
Allerdings werden im Laufe der Erzählung u.a. auch Vorurteile gegen die Juden
thematisiert: vgl. das Gespräch der Mutter Margreth mit dem neunjährigen Sohn: „die
Juden sind alle Schelme“. Am Hochzeitsfest rufen einige Bauern: „Packt den Juden!
Wiegt ihn gegen ein Schwein!“ – Die Juden gelten unter den Bauern als eine separate,
minderwertige Gruppe. Das ungünstige Urteil über die Juden wird aber deutlich als
Vorurteil beschränkter Menschen gekennzeichnet. (Margreths Urteil ist überdies
offenkundig falsch.) Die Judenbuche ist zwar ein bedeutungsvolles Motiv (vgl. die
mehrfache Erwähnung und die magische Anziehungskraft der Buche auf den
Schuldigen), aber nur eines unter anderen.
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Ansätze zum Vergleich mit anderen Kriminalgeschichten


Es ist stets Abend, Dämmerung oder Nacht. Es gibt eine Ausnahme: am Ende, wo die
Wahrheit an den Tag kommt, ist es hell; die Sonne scheint, und es herrscht glühende
Hitze. (Vgl. die Naturmagie bei Eichendorff. Eine analoge Art der Lichtregie gibt es auch
in E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi. Eine weitere Gemeinsamkeit mit Hoffmann
ist die Vorliebe für extreme Außenseiter – für Verbrecher und ihre Handlungsmotive,
für den Charakter Krimineller.)
Beim Vergleich mit ‘gewöhnlichen’ Kriminalgeschichten fällt auf, dass der Mord hier
nicht am Anfang oder in der Vorgeschichte stattfindet. Seine Aufklärung ist weder das
einzige noch das wichtigste Ziel. Es ist kein erfolgreicher Detektiv vorhanden; es gibt
nur ungeschickte, hilflose Beamte, die überdies selbst z.T. kompromittiert scheinen
(der Gerichtsschreiber ist selbst am Holzfrevel beteiligt). Bei Droste-Hülshoff versagt
der detektivische Spürsinn der Beteiligten. Die Lesenden bekommen die Rolle von
Detektiven. In gewöhnlichen Detektivgeschichten hat der Intellekt Erfolg. Hier versagt
er (beim Mord an Brandis ganz, beim Mord an Aaron bis zum Ende der Novelle). Der
Gerichtsbarkeit gelingt es nicht, die Mörder bei Lebzeiten zu finden und zu bestrafen.
Geht es Droste-Hülshoff also um eine Kritik an der (zeitgenössischen) Rechtsfindung?
(Vgl. auch die zahlreichen Hinweise auf die Existenz verschiedener Rechtsbegriffe.)
Gewiss ist dies eine Absicht der Autorin, aber nicht die einzige. Denn sie sorgt dafür,
dass auch das Lesepublikum wiederholt auf eine falsche Fährte gerät: vgl. Friedrichs
Kopfschmerzen nach Brandis’ Ermordung, vgl. das (wohl falsche) Geständnis des so
genannten „Lumpenmoises“, vgl. die Verwechslung Friedrichs mit Johannes Niemand
(am Anfang wie auch gegen Schluss der Novelle); vgl. das Gespräch Friedrichs mit dem
Förster, das Friedrich beim Leser in den Verdacht geraten lässt, er sei der Mörder
gewesen. Beim Lesen werden wir wiederholt verunsichert; Droste inszeniert die
Erzählung so, dass es den Lesenden ähnlich ergeht wie den vergeblich die Wahrheit
suchenden Gerichtsvertretern. Die Beschränktheit der menschlichen Möglichkeiten,
Recht zu finden, wird (auch) am Lesepublikum exemplifiziert. Es geht Droste auch
darum, zu zeigen, wie lückenhaft und unsicher Fakten sind; die Realität ist nur
bruchstückweise erkennbar. Fakten sind unsicher, unzuverlässig. Es gibt mehr
Gerüchte und Vermutungen als Gewissheit.
Es ist also nicht nur Kritik an der damaligen gerichtlichen Untersuchungspraxis beab-
sichtigt, sondern generelle Skepsis in Bezug auf die Erkennbarkeit der Wirklichkeit
und der Wahrheit.
Das einleitende Gedicht kann als Rezeptionsanweisung der Autorin gelesen werden:
Es ist dreiteilig und beginnt mit zwei rhetorischen Fragen: Niemand ist imstande, ohne
Irrtümer „beschränkten Hirnes Wirren“ aufzulösen. Keine Hand ist fest und zart genug,
dass sie „ein arm verkümmert Sein“ steinigen dürfte. Das Motiv der Steinigung
verweist auf Joh. 8, 1-11, wo eine Ehebrecherin vor Jesus gebracht wird. Dessen
Kommentar lautet: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf
sie.“
28

Bei Droste-Hülshoff liegt der Akzent nicht auf der Verschuldung, sondern auf dem
Mangel, der Deformierung (hinzu kommt ein Appell an das Mitgefühl). Die Erzählung
warnt vor Vorurteilen. Die Formulierung „beschränkten Hirnes Wirren“ im Gedicht,
das der Erzählung als Motto vorangestellt wurde, ist nicht zuletzt ein poetologischer
Kommentar: Auch die Autorin selbst ist der Aufgabe nicht ganz gewachsen; keine Hand
ist zart genug, um ohne Irrtum die verworrenen Motive zu entflechten. Der Schluss des
Gedichts warnt Privilegierte davor, leichtfertig zu urteilen; ein gerechtes Urteil ist
ihnen grundsätzlich kaum möglich. Damit verbunden wird die Warnung vor
Selbstgerechtigkeit. Geworben wird um Verständnis für das Elend des Benachteiligten,
des durch Herkunft, Umgebung und Schwäche des eigenen Charakters Deklassierten.

Bedeutungsschwere Stichwörter in der Novelle: „Worte“ und „Blut“


Es gibt in der Novelle viele Beispiele für den Einfluss der Worte: vgl. den Spott der
Dörfler über Friedrichs Vater, der Friedrich ins Abseits drängt, ihn in die Isolation treibt;
vgl. auch das nächtliche Zwiegespräch zwischen Mutter und Sohn: Es ist für die Mutter
undenkbar, dass Hülsmeyer, der ortsansässige Bauer, stehlen würde; sie hegt
Vorurteile gegen die Juden: „die Juden sind alle Schelme“. Es ist gut möglich, dass ihr
abschätziges (und falsches!) Urteil über Aaron den Sohn beeinflusst, der Aaron viele
Jahre später (wahrscheinlich) ermordet; das schlimme Wort über die Juden wirkt im
Denken des Sohnes vielleicht lebenslänglich nach. Die kurze Szene verdeutlicht
überdies, dass Margreth – während sie den Sohn, auf wohl wenig effektvolle Weise –
zur Frömmigkeit anzuhalten versucht – selbst von Denkweisen geprägt ist, die in
krassem Widerspruch stehen zu ihren Forderungen; sie ist gewiss kein gutes Vorbild.
Blut (bzw. Erbgut): vgl. die Schilderung der zweimaligen Verehelichung des Vaters.
Dieser ist ein Trinker, der seine Frau verprügelt und auch sonst ein Taugenichts ist. Er
liebt zwar seinen Sohn, was ihm dieser mit leidenschaftlicher Dankbarkeit bzw.
Verteidigungsbereitschaft vergilt. Die Vaterliebe gibt aber keinen dauerhaften Halt ab
für das Kind; denn der Vater ist ein Mann, der von allen anderen verachtet wird – nicht
nur von den Dörflern, sondern sogar von der eigenen Ehefrau. Die Erinnerung an den
Vater ist für Friedrich keine moralische Stütze. Die Mutter, die ursprünglich als tüchtige
Frau gegolten hatte, kam durch die Ehe mit ihrem Mann völlig herunter. Nach der
Vererbungstheorie ist die Prognose für den Sohn eines trunksüchtigen, aggressiven,
haltlosen Vaters und einer Mutter mit unzulänglichen Erziehungsmethoden und
voreingenommener, bigotter Moral schlecht. (Von einer Schulbildung ist nicht die
Rede, in ländlichem Milieu war Analphabetismus damals weitherum üblich.)
Friedrichs Verhalten ist aber nicht gänzlich determiniert durch das Erbgut sowie das
Verhalten seiner Bezugspersonen. Sein Niedergang ist nicht nur eine Folge, ein
Ergebnis äußerer Einwirkungen; wiederholt wird gezeigt, dass Friedrich Gelegenheit
hat, eine Entscheidung zu treffen (vgl. seinen Plan, zur Beichte zu gehen, und seine
Überlegungen, nachdem er Brandis auf einen falschen Weg geschickt hat). Es wird
auch deutlich, dass er kein skrupelloser Bösewicht ist: er hat Kopfschmerzen nach
Brandis’ Tod und ein Bedürfnis nach Beichte, weil er Simon (wohl zu Recht) für den
Mörder hält. Nach Brandis’ Tod hat Friedrich Gewissensbisse, doch unternimmt er
29

schließlich nichts zur Aufdeckung der Schuld. – Friedrich besitzt seinen freien Willen
und überdies besondere Qualitäten, die ihn vor seinen Kollegen auszeichnen: dies zeigt
die Anfertigung einer – freilich primitiven – Holzschuhvioline. Er verfügt über
Ausdauer, Kraft und Tüchtigkeit.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das soziale Umfeld (Dorf und Familie) wie
auch die mögliche hereditäre Belastung zwar mit ungewöhnlicher Deutlichkeit und
Ausführlichkeit geschildert werden, dass sie aber nicht die einzigen Triebkräfte sind;
auch der freie Wille und die Entscheidungskraft könnten über den eigenen Lebensweg
mitbestimmen. Allerdings müsste beides bei Friedrich sehr stark sein, um erfolgreich
zu sein.

Zur Darstellungsweise
Droste weicht stark von der Vorlage, dem Bericht ihres Vorfahren, ab: Sie hat Figuren
wie Johannes Niemand und den Ohm Semmler dazu erfunden sowie Charaktere
verändert (beispielsweise die Wesensart des Gutsherrn).
Durch die Erzählweise wird große Wirklichkeitsnähe suggeriert (vgl. z.B. das Gespräch
zwischen der Mutter und dem neunjährigen Sohn, ferner auch Aarons Syntax, die der
jiddischen Grammatik folgt. Oft wird personal erzählt. Die Perspektive verlagert sich
auf mehrere verschiedene Personen. Der Blickwinkel in den betreffenden Partien ist
deutlich beschränkt; wiedergegeben werden fragmentarische Wahrnehmungen
Einzelner, eventuell auch deren Irrtümer. In den Szenen gibt es keine
Erzählerkommentare. Manchmal gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen der
vordergründigen Gesprächsebene und der (metaphorischen) Tiefenschicht des
Textes. Während Friedrich beispielsweise (in Bezug auf den Hund) den Förster zu
belügen versucht, wird für das (aufmerksame) Lesepublikum deutlich, dass Friedrich
mit den Holzfällern im Bunde steht. Vgl. auch das Gespräch zwischen Ohm Semmler
und Friedrich: Oberflächlich betrachtet, ist es ein Gespräch über den Beichtgang;
zugleich wird jedoch deutlich, dass der „Ohm“ Brandis ermordet hat und dass
Friedrich von Schuldgefühlen geplagt wird. Deutlich wird hier – wie auch andernorts
–, wie Friedrich von seinem Onkel auf üble Wege geführt wird und dass sein –
ursprünglich sensibles – Rechtsempfinden nicht stark genug ist, sich gegen
verworrene Rechtsvorstellungen anderer durchzusetzen.
Im Handlungsverlauf wird immer wieder deutlich, wie leicht die Beteiligten – und
auch die Lesenden – Täuschungen anheim fallen. Vgl. die Suche nach Aarons Mörder:
Nach Friedrichs Flucht hält jedermann ihn für den Mörder. Nach dem Geständnis des
„Lumpenmoises“ ändert jedermann schlagartig die Meinung und verdächtigt Mergel
nicht mehr. Am Schluss – nach der Entdeckung der Narbe – glauben alle wieder an
Friedrichs Schuld. Winfried Freund weist – im Gegensatz zu den meisten anderen
Interpreten – darauf hin, dass die Schuld auch am Schluss nicht mit Sicherheit
erwiesen sei; vielleicht sei auch der Gutsherr angesichts der (früher nicht erwähnten)
Narbe einer Täuschung zum Opfer gefallen. Freund ist entgegenzuhalten, dass es
Indizien für Friedrichs Schuld gibt: nach der Mordtat schnitzt er den Löffel entzwei. In
früheren Textfassungen und in der historischen Vorlage besteht kein Zweifel daran,
30

dass Friedrich der Mörder ist. Vgl. auch die Narbe: ihre Erwähnung am Schluss ge-
schieht völlig überraschend; niemand schien zuvor etwas von einer Narbe Friedrich
Mergels zu wissen. Vgl. aber die Erwähnung Ulysses’ ganz zu Beginn der Novelle: Auch
Odysseus wurde (nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg) (von der Amme)
an einer Narbe wieder erkannt; die Erwähnung Odysseus’ ist kein blindes Motiv, wie
Gerhard Oppermann herausgefunden hat.
Von Droste-Hülshoff werden die Vertreter der untersten und der obersten sozialen
Schicht erzähltechnisch gleich behandelt. Zwar hat Droste den Gutsherrn mit einem
besseren Charakter ausgestattet als sein historisches Vorbild, das dem Heimkehrer
nicht half; auch macht sie ihn zu demjenigen, der am Schluss die Identität des Mörders
herausfindet. Aber im Übrigen macht sie keine Ausnahme; auch der Gutsherr ist
Beschränkungen unterworfen und verfällt wiederholt Irrtümern; er ist weder
allwissend noch allmächtig. Ähnlich wie den Gutsherrn charakterisiert die Erzählerin
sich selbst: Sie bezeugt Anteilnahme, Interesse, Wohlwollen, ist aber vielen
Beschränkungen unterworfen. Hier zeigt sich eine Abweichung vom Künstlerbild der
Romantiker: Künstler haben nicht mehr unbeschränkte Möglichkeiten; das Dichten gilt
nicht mehr als ein souveränes Spiel.

Die Darstellungsweise der ganzen Novelle veranschaulicht die Problematik der


Urteilsfindung und Bruchstückhaftigkeit des Erkennens. Diese Problematik wird auch
durch sprachlich-syntaktische Mittel evoziert (nl. opgeroepen):
– Es gibt viele unpersönliche und passivische Wendungen (der auctor fehlt; die
Handlung geschieht wie von unberechenbaren Mächten ausgelöst).
– Das unpersönliche Pronomen ‚man‘ wird häufig verwendet; sehr oft wird be-
richtet, was „man“ sah und hörte oder sagte.
– „scheinen“ ist das wohl häufigste Verb.
Einiges bleibt dunkel: Johannes Niemands Fluchtmotive – und vor allem, was von der
Flucht an in Friedrich vorgeht: warum er an den Tatort zurückkehrt, warum er sich das
Leben nimmt. Handelt es sich um eine Folge der magischen Wirkung der Worte (der
hebräischen Inschrift)? Die Wirkungskraft der Worte wird an mehreren Stellen der
Erzählung stark akzentuiert. Doch ist sie nicht die einzige Triebkraft des Geschehens.
Interpretatorische These a): Die alttestamentarische Rechts- und Racheauffassung
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ trägt den Sieg davon; Friedrichs Tod = Erfüllung der
hebräischen Inschrift. In diesem Fall wäre der Schluss der Novelle analog zum Schluss
des Gedichtes. Die Titelgebung der Novelle schiene dann besonders sinnvoll und
gerechtfertigt. Aber im Gedicht wird gerade vor dieser Rechtsauffassung gewarnt: „Leg
hin die Waagschal … Lass ruhn den Stein …!“ Innerhalb der Erzählung wird die
alttestamentarische Rechtsauffassung von Aarons Frau propagiert: „sie schien jetzt
halb verwirrt oder vielmehr stumpfsinnig“; von einer deutlich beschränkten Person in
verwirrtem Geisteszustand. Zwar wäre möglich, dass Droste-Hülshoff für die Figuren
der Erzählung andere Gesetze geltend machte als für die Leser (im Gedicht), aber auch
unter dieser Bedingung könnte man nicht mit Recht von der Allgemeingültigkeit der
alttestamentarischen Rechtsauffassung sprechen. Übrigens wird nur der eine Mörder
31

seines Lebens beraubt; der andere – Ohm Semmler – kommt ungeschoren davon.
(Dieses absurde Moment wird nicht akzentuiert und von den Vertretern der These a)
meist übersehen oder totgeschwiegen.)
These b): In der Novelle setzt sich die neutestamentarische Botschaft (Nachsicht,
Milde; Verständnis für die Situation des Übeltäters) durch (Vertreter dieser Deutung:
u.a. Ricarda Huch und Winfried Freund). Ohne Zweifel wird im prologartigen Gedicht
ein entsprechender Appell an den Leser gerichtet.
Gängige Interpretationsweise: die Novelle sei als religiöses Exempel zu verstehen – als
Beispiel dafür, dass transzendente Kräfte (nach alt- oder neutestamentarischen
Grundsätzen) dafür sorgen, dass Unrecht bestraft wird, auch wenn die menschliche
Gerichtsbarkeit versagt.
Droste-Hülshoff wahrt aber skeptische Distanz allen üblichen Beurteilungsschemata
gegenüber und akzentuiert in der Novelle die Relativität und Bedingtheit der
menschlichen Vorstellungen. Weder die Rechtsbegriffe der Dörfler noch die des
Gutsherrn oder der anderen Gerichtsvertreter werden in der Erzählung verabsolutiert,
propagiert oder idealisiert.
In Bezug auf Friedrich Mergel geht der alttestamentarische Wunsch der Juden in
Erfüllung – aus welchen Gründen, bleibt rätselhaft (Wortmagie? Naturmagie?
Gewissensbisse Friedrichs?). Es gibt auch Momente, wo eine neutestamentarisch
anmutende Milde wirksam ist: der Gutsherr sorgt für Margreth Semmler und nimmt
sich des Heimkehrers an; überhaupt regiert er über seine Untertanen wie ein gütiger
Vater. Aber auch diese Haltung wird nicht verallgemeinert oder zum siegreichen
Prinzip erhoben. Selbst der Gutsherr ist nicht immer gütig. Beispielsweise verweigert
er Friedrich – nachdem er dessen wahre Identität festgestellt hat – das Begräbnis auf
einem Friedhof, das sich Friedrich doch gewünscht hatte, und lässt ihn auf dem
Schindanger (nl. vilderij) verscharren; von Vergebung der Schuld ist hier keine Spur –
und dies, obwohl der Betroffene mit einem harten Leben in der türkischen Sklaverei
gebüßt hat.
Über Friedrichs Selbstmordmotive lässt sich nicht vollends Klarheit gewinnen;
manches bleibt dunkel. (Er wird nach der Flucht nicht mehr zur Perspektivfigur
gemacht, deren Innenwelt ausgeleuchtet wird.) Aus den verschiedenen
Rechtsauffassungen in der Novelle ein einheitliches Prinzip abzuleiten, wird nicht vom
Text unterstützt. Die deutlich vorhandene didaktische Intention richtet sich nicht auf
die Etablierung bestimmter, für alle verbindlicher Normen. Vielmehr liegt der Autorin
gerade an der Warnung vor der Unzulänglichkeit der Erkenntnis, der menschlichen
Normen.
32

Epochenspezifische Charakteristika
Aus dem Text spricht großes Interesse an wirklichkeitsnaher Abbildung wie auch an
der Darstellung des Lebens und der Mentalität von Menschen aller sozialen Schichten.
Sozialkritik ist zwar vorhanden; der didaktische Impetus ist aber nicht auf den Umsturz
der bestehenden Verhältnisse gerichtet, sondern auf Verständnis für alle. Die Be-
ziehung zwischen Vertretern der Ober- und der Unterschicht gestaltet sich relativ
freundlich. Auch die dargestellten Personen sind nicht auf Revolution aus.
Der Eindruck der Fiktion wird – fast ängstlich – vermieden, der Anteil des (fingierten)
Erzählers minimalisiert. Dichtung wird als Mimesis des Realen, nicht als etwas
Absolutes aufgefasst (= Gegensatz zu den Dichtungsauffassungen der Romantik). Die
Dichtung gilt als Abbildung historisch verbürgter Tatsachen – obwohl Droste
nachweisbar von der Vorlage abgewichen ist (was sie allerdings später bedauert hat).
Der Tendenz zur Zurücknahme des Erzählers korrespondiert die Bevorzugung
szenischer und personaler Darstellungsweisen. Dies lässt sich bereits bei Eichendorff
beobachten. Hier kommt jedoch ein neues Moment hinzu, das besonders wichtig
erscheint, wenn man an die Sprachthematik in der Literatur seit 1900 denkt: Das
Erzählen wird in Droste-Hülshoffs Novelle ausdrücklich zu einem Problem.
Hier geht es nicht um eine Entwicklung im Sinne einer optimalen Entfaltung möglichst
aller ersprießlichen (nl. gunstig, positief) menschlichen Eigenschaften, sondern um die
Deformation zu einem Übeltäter und geistig verwirrten Schatten seiner selbst. In der
Judenbuche wird gezeigt, dass und wie Beschränktheit Beschränktheit bewirkt; die
ansteckende Macht des Bösen wird exemplifiziert.
Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist hier ganz anders als in der (Früh-)-
Romantik. Es gibt keine universelle Harmonie; das Ich ist nicht eins mit der Natur.
Vielmehr dominiert das Besitzverhältnis oder das Gewinnstreben.
Existenzielle Situation: Auffällig ist die tiefe Einsamkeit der Hauptperson (vgl. auch
Grillparzer und Stifter). Die Einsamkeit wird weder als Unglück (wie oft im 20.
Jahrhundert) noch als Auszeichnung (vgl. Schillers Tell: „Der Starke ist am mächtigsten
allein“) erfahren und kommentiert. Ihre Entstehungsbedingungen werden angedeutet
(ihre Wurzeln liegen in der Kindheit, in der Behandlung durch die Umgebung wie auch
im eigenen Charakter). Die Intention der Erzählung richtet sich weniger auf
Veränderung als auf Erklärung des Gewordenen und Geschehenen; insofern ist die
Darstellungsweise statisch.
Modern scheint im Rückblick das Interesse an der Entwicklung eines Vertreters der
Unterschicht zum Mörder. Modernistische Züge trägt auch die Form: dargeboten
werden scharf visierte Bruchstücke mit unscharfen Rändern. Überdies gibt es Ansätze
zur Minimalisierung der Erzählinstanz und eine große Vorliebe für szenische
Darstellung. Wie erwähnt, wird das Erzählen als Problem thematisiert.
Das Fragment hat bei Droste-Hülshoff eine andere Funktion als bei Friedrich Schlegel
und bei Novalis: bei Droste-Hülshoff wird nicht ein (nicht darstellbares, nur
fragmentarisch evozierbares) umfassendes Ganzes vorausgesetzt; die Fragmente sind
33

bei ihr Scherben eines Universums, das aus Bruchstücken ohne verlässliche Kohärenz
besteht.
In Droste-Hülshoffs Novelle ist kein Enthusiasmus wirksam. Eine alles umfassende
Transzendenz fehlt; das Ich fühlt sich spirituell nicht aufgehoben.

Interpretatorische Kommentare nach:


Rudolf Buck: „Der Fall Friedrich Mergel. Zur Behandlung der Judenbuche auf der Mittelstufe.“
In: Der Deutschunterricht 8 (1956), H. 3, S. 45-53. – Winfried Freund: Annette von Droste-
Hülshoff: Die Judenbuche. In: W.F.: Die deutsche Kriminalnovelle von Schiller bis Hauptmann.
Einzelanalysen unter sozialgeschichtlichen und didaktischen Aspekten. Paderborn 1975. S. 63-
73. – Winfried Freund: Annette von Droste-Hülshoff. München 1998 (= dtv, Nr. 31002). – Karl
Philipp Moritz: Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche. Sittengemälde und
Kriminalnovelle. 2., durchgesehene und erw. Aufl. Paderborn 1989. – Gerhard Oppermann:
„Die Narbe des Friedrich Mergel. Zur Aufklärung eines literarischen Motivs in Annette von
Droste-Hülshoffs Die Judenbuche.“ In: Deutsche Vierteljahrsschrift 50 (1976). S. 449-464. –
Heinz Rölleke: „Erzähltes Mysterium. Studie zur Judenbuche der Annette von Droste-
Hülshoff.“ In: Deutsche Vierteljahrsschrift 42 (1968). S. 399-426. – Heinz Rölleke: Annette von
Droste-Hülshoff, Die Judenbuche. Interpretation. 2., überarb. Auflage. München: Oldenbourg
2000. – Ronald Schneider: „Möglichkeiten und Grenzen des Frührealismus im ‚Biedermeier‘.
Die Judenbuche der Annette von Droste-Hülshoff.“ In: Deutsche Vierteljahrsschrift 42 (1968).
S. 399-426. – Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff. Stuttgart 1977. (= Sammlung
Metzler, Bd. 153.) – Paul Spruth: Annette von Droste-Hülshoff, „Die Judenbuche“. Eine
Betrachtung für den Deutschunterricht. Lübeck und Hamburg 1966. – Emil Staiger: Annette
von Droste-Hülshoff. Frauenfeld, 3. Aufl. 1967. – Konrad Schaum: Ironie und Ethik in Annette
von Droste-Hülshoffs Judenbuche. Heidelberg: Winter 2004.
34

7. HEINRICH HEINE: FLORENTINISCHE NÄCHTE

Biographische Notizen
Heinrich Heine (1797, Düsseldorf – 1856, Paris) war jüdischer Herkunft. 1825
konvertierte er zum Protestantismus. (Im 19. Jahrhundert ließen sich viele Juden
taufen – nicht selten deshalb, weil sich dadurch ihre beruflichen Möglichkeiten
erweiterten). Er studierte Jurisprudenz. Bis 1823 lebte er in Berlin; er verkehrte im
Salon Rahel Varnhagens, in dem sich der Berliner Romantiker-Kreis traf. Heine
unternahm viele Reisen und war journalistisch tätig.
Ab 1831 hielt er sich als Korrespondent der Allgemeinen Zeitung fast immer in Paris
auf, wie in einem freiwilligen Exil. 1830 hatte in Paris die Julirevolution stattgefunden.
Bekanntschaft und Briefwechsel mit Karl Marx. 1835 wurden seine Schriften in
Deutschland verboten.
Heine opponierte gegen Fürstenherrschaft und Despotie der Kirche. Er plädierte für
„Sensualismus“ resp. Sinnenfreude statt „Spiritualismus“ bzw. „Nazarenertum“.
Manche seiner Gedichte sind von (teilweise bissiger) Ironie geprägt. Die preußische
Herrschaft und die nationalliberale Ideologie, der Untertanengehorsam wie auch die
deutschnationale Schwärmerei sind in Heines Werken beliebte Angriffsziele.
1834 verliebte er sich in „Mathilde“ (eigtl. Crescence Eugénie Mirat). Seine letzte
Freundin hieß „Mouche“ (eigtl. Elise Krintz). Ab 1848 litt Heine infolge einer
Geschlechtskrankheit unter einer schweren Rückenmarkerkrankung; es folgte ein
jahrelanges Krankenlager in der ‚Matratzengruft‘.
Werktitel
1822 Gedichte (voller Dissonanzen; Ironie in bezaubernd schöner Umgebung; Distanz
zur romantischen Dichtung).
1824 Harzreise
1826-31 Reisebilder. Heine hat den Reisebericht als literarische Gattung in
Deutschland populär gemacht. Durch die Reisebilder wurde er einem breiten
Publikum bekannt. Er übte darin Kritik am Feudalismus und bekannte sich zu
Napoleon.
Atta Troll (eine politische Satire)
1844 Deutschland, ein Wintermärchen (politisch orientierte Poesie, anhand der
Stationen auf Heines Reise 1843 von Paris nach Hamburg).
1844 Neue Gedichte (politische Stellungnahmen; Leiden an den politischen und
sozialen Zuständen in „Deutschland“).
1851 Gedichtband Romanzero

Die Novellen „Florentinische Nächte“


Längere Entstehungszeit: 1825-30 Pläne für die erste Novelle; 1830 Pläne zu einem
Porträt Paganinis (dieses nimmt einen großen Teil der ersten Novelle ein).
1834 verliebte sich Heine in „Mathilde“. 1835 hegte er die Absicht, ein „kostbares,
welterfreuliches“ Buch zu schreiben. Jedoch erfolgte ein Bundestagsbeschluss gegen
das „Junge Deutschland“, mit Zensurmaßnahmen. Dadurch wurde die weitere
35

Bearbeitung der geplanten Novelle(n) beeinträchtigt; es kam keine dritte


„Florentinische Nacht“ zustande. Die Florentinischen Nächte können als
(halbherzigen?) Versuch Heines gedeutet werden, unpolitisch zu schreiben.
Heine forderte das Novellenmanuskript vom Verleger zurück – jedoch zu spät: die
beiden Florentinischen Nächte wurden verstümmelt und gekürzt veröffentlicht.
Die beiden Novellen greifen Motive aus fast allen Reisebildern (1826-31) wieder auf.
Kuss der Marmorstatue (1. Novelle): ein Lieblingsmotiv Heines; vgl. auch Joseph von
Eichendorffs Novelle Das Marmorbild. Bei Heine spielt möglicherweise eine An-
spielung mit auf die Unfruchtbarkeit klassisch-schöner Vorbilder (Kritik am „klassi-
schen“ Oeuvre Goethes): die fetischistische Fixierung Maximilians auf marmorne Tote
(beseligende Kälte). Das eindrucksvolle Paganini-Porträt (1. Novelle) geht wohl auf
einen Konzertbesuch Heines in Hamburg (1830) zurück.

Erste Nacht
Florenz: vgl. Boccaccios Rahmenhandlung im Decamerone. Der Titel weckt Er-
wartungen, die durch die Rahmenhandlung durchkreuzt werden. Florenz: Re-
naissance-Stadt. Szenerie befreiter Sinnlichkeit (und literarische Anknüpfung an
literarische Werke über das Thema). Im Zentrum steht jedoch nicht ein glücklich
vereintes Liebespaar, sondern ein (scheiternder?) Versuch der Erzähltherapie an einer
todkranken Frau. Das Verhältnis zwischen dem Erzähler (Maximilian) und der Kranken
(Maria) ist gespannt: Maria reagiert leidenschaftlich abwehrend, sowie Maximilian
erzählt, dass er sie im Schlaf hätte küssen wollen. Zugleich bedeckt sie seine Hand mit
Küssen. Zu Beginn der zweiten Erzählung wiederholt sich die widerspruchsvolle Szene:
Max berührt Marias Schal mit den Lippen.
Hier wird eine extreme existenzielle Situation privater Art geschildert, während in
Novellen sonst oft außerordentliche historische Ereignisse den Rahmen abgeben (z.B.
die Pest in Boccaccios Decamerone).
Dialogische Struktur von Heines Novelle: die Kranke nimmt zeitweise lebhaft Anteil an
den Erzählungen Maximilians. Der Arzt ist aber ständig gehetzt (nl. opgejaagd,
gestresseerd). Die Situation hat makabre und kafkaeske Züge. Zwanghaft kreisen
Maximilians Erzählungen um Liebe, Sterben und Tod; er erzählt etwas, das die Kranke
aufregen muss. (Diese schläft aber ein!) Maximilians Erzählungen können auch als
Therapieversuch an der eigenen Psyche gelesen werden: Maximilian gibt verborgene
Neigungen und Eindrücke seiner eigenen Persönlichkeit preis. Anziehung durch das
Totenhafte. Fetischistische Fixierung auf das Totenhafte. Durch sein erzählerisches
Bekenntnis sucht er sich davon zu befreien; gleichzeitig verfällt er an Marias
Krankenlager und Totenbett erneut dem gespenstischen Charme des Todes.
Sofa und Sessel: die Situation ist ähnlich wie – Jahrzehnte später – in Sigmund Freuds
psychoanalytischer Praxis. Besondere Begabung des Erzählers, bei jedem Ton, der
erklingt, eine Klangfigur zu sehen (vgl. Paganini-Porträt); visuelle und sprachliche
Umsetzung des Musikalischen. Allerdings kann er in der zweiten Novelle vieles nicht
gut verstehen; er nimmt oft eine unbestimmte Haltung ein. Bei Laurences Tanz
beispielsweise versagt seine besondere Begabung; Laurences Tanz erscheint ihm als
36

unauflösbares Rätsel. Der Erzähler gibt nicht viele erhellende Erläuterungen ab;
vielmehr dominieren verhüllende und ausweichende Bewegungen. Vieles weiß er
nicht oder versteht er nicht. (Vgl. die vielen Auslassungspunkte in seiner Erzählung.)
Der Schluss der 2. Novelle zeigt, dass Laurence durch den Tanz das Trauma ihrer
Geburt aus dem Grab ihrer Mutter zu bewältigen sucht. (Ihre schwangere Mutter war
bereits begraben worden, als Laurence geboren wurde.) Ist dies eventuell erneut eine
Anspielung auf die von Heine als ungünstig erfahrene literatur- und
kulturgeschichtliche eigene Ausgangslage? Laurences Tanztherapie hat (ähnlich wie
Maximilians Erzähltherapie) keine (eindeutig günstige) Wirkung. Nur in der ersten
Novelle gelingt es jemandem, im Medium der Kunst seine Probleme kreativ zu lösen:
Paganini. In der zweiten Novelle dominiert eine sehr skeptische Einschätzung der
Möglichkeiten der Kunst und der künstlerischen Betätigung (bei gleichzeitiger
Faszination durch die Kunst).
Gerhard Höhn (1987, S. 307) deutet an, dass die Florentinischen Nächte weniger
unpolitisch sind, als sie bisher verstanden wurden. Er betrachtet die Novellenform als
Strategie der Tarnung: Heine berühre eine Reihe von Tabus und Verboten:

So wird durch groteske und satirische Mittel Kritik an den herrschenden Klassen des
Ancien und des Nouveau régime geübt: Die extrem kontrastreich gezeichnete Figur des
Zwerges Türlütü ist beispielsweise ein absolut lächerlicher Vertreter des alten,
emigrierten, französischen Adels […]. In der Hamburger Episode werden Bourgeois durch
kontrastive Metaphern und durch Wortkreuzung verspottet […]. Im Gegensatz zu dem
wie in den Englischen Fragmenten merkantil und mechanistisch dargestellten London
wird Paris deutlich als Schauplatz der Revolution in Erinnerung gerufen, während der
Erzähler in einem Pariser Salon jedoch auf die groteske Gesellschaft des nach 1830
herrschenden Juste-Milieu trifft.
Als besonders zeitkritisch muss weiter das sensualistische Gegenbild zur sinnen-
feindlichen, christlich-moralischen Biedermeierzeit gewirkt haben […]. So erinnern die
leitmotivisch wiederkehrenden Marmorstatuen und Marmorbilder an die unsterblichen
Griechengötter, die Protest gegen die herrschende Entsagungsmoral ankündigen und ein
sinnlich befreites, sündeloses Leben in Schönheit verheißen. (Höhn 1987, S. 307f.)

In formaler Hinsicht sind die Florentinischen Nächte Heinrich Heines betont


fragmentarisch. Dies ist nicht ein Zeichen des Unvermögens, sondern ein dezidierter
Verstoß gegen die Gattungsnorm. Wie bei den Reisebildern verzichtet Heine auch hier
auf formale Geschlossenheit.

Quelle der interpretatorischen Kommentare:


Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Stuttgart: Metzler 1987, S. 303-309. –
Eberhard Galley: Heinrich Heine. Stuttgart: Metzler, 4. Aufl. 1976. – Elvira Grözinger: „Die
‚doppelte Buchhaltung‘. Einige Bemerkungen zu Heines Verstellungsstrategie in den
‚Florentinischen Nächten‘“. In: Heine-Jahrbuch 1979, S. 65-83. – Helmut Koopmann: „Die
Novellistik des Jungen Deutschland“. In: Handbuch der deutschen Erzählung. Hrsg. von Konrad
Polheim. Düsseldorf 1981. S. 229-239.
37

8. ADALBERT STIFTER: GRANIT

Biobibliographische Notizen über den Autor


1805 wurde Adalbert Stifter im heute tschechischen Dorf Oberplan im Böhmerwald
geboren. Sein Vater war ursprünglich Leinenweber. Als die Manufakturen im Zuge der
Industrialisierung unrentabel wurden, betrieb er Flachshandel und etwas
Landwirtschaft. Der Sohn empfand seine Herkunft aus der Unterschicht als einen
Makel; er träumte von sozialem Aufstieg.
1818-26 war er Gymnasiast in Kremsmünster (dort gibt es eine Benediktinerabtei mit
vorzüglicher Mittelschulbildung), in schöner landschaftlicher Umgebung. Von dem
Dichter wurde diese Lebensphase nachträglich als die glücklichste Zeit seines Lebens
bezeichnet. – Danach folgte eine lange Phase der Ruhelosigkeit, die vom Schwanken
zwischen bürgerlichem Beruf und freiem Künstlerdasein geprägt war. Stifter war als
Maler und als Dichter tätig (wie Gottfried Keller).
Um 1830 las Stifter intensiv in Jean Pauls Werken. Jahrelang schrieb er unter Jean Pauls
Einfluss und stilisierte er sich selbst nach dem Vorbild bestimmter Romanfiguren.
Ab 1827 (bis ca. 1835) warb Stifter leidenschaftlich, aber unentschlossen um Fanny
Greipl; schließlich wurde er abgewiesen. 1837 heiratete er Amalia Mohaupt, eine Frau
mit engem geistigem Horizont; die Ehe war sehr unglücklich. Das Paar nahm zwei junge
Verwandte an Kindesstatt ins Haus. Beide Pflegetöchter starben jedoch sehr früh – die
eine durch Selbstmord. Ab 1826 absolvierte Stifter juristische Studien in Wien. Er
besaß ein großes Interesse für Mathematik und Naturwissenschaften. Er übernahm
lange Zeit kein Amt, sondern fristete sein Leben jahrelang als Privatlehrer. (Von 1844-
46 unterrichtete er Metternichs Sohn in Mathematik und Physik.)
1848 fand auch in Wien eine Revolution statt. Von Stifter wurde diese zuerst begeistert
begrüßt; dem Beifall folgte jedoch rasch eine tiefe Enttäuschung.
1850 zog die Familie nach Linz um; Stifter amtierte dort als Volksschulinspektor
Oberösterreichs (bis 1865). Ab 1863 war er kränklich; er absolvierte mehrere
Kuraufenthalte und litt unter schweren Depressionen. 1865 wurde er zum Hofrat
ernannt und in den Ruhestand versetzt. – Über Stifters Todesumstände wird bis heute
spekuliert; manche nehmen an, dass der Dichter Hand an sich gelegt habe.

Hauptwerke Adalbert Stifters

1844/47/50 Studien (insgesamt sechs Novellenbände, darin u.a. die Erzählungen


Abdias, Das alte Siegel und Brigitta)
1853 Bunte Steine (zwei Erzählungen dieses Sammelbandes – Kalkstein und
Turmalin – wurden von Grillparzers Novelle Der arme Spielmann
angeregt). Lektürebeispiel aus diesem Band: Granit.
1857 Der Nachsommer (Roman)
1865-67 Witiko (historischer Roman)
1867 Die Mappe meines Urgroßvaters
38

Adalbert S*+er (1805-1868)

Stifter als Maler


39

“Könnte man nicht auch durch Gleichzei3gkeit und Aufeinanderfolge


von Lichtern und Farben ebenso gut eine Musik für das Auge wie durch
Töne für das Ohr ersinnen? Bisher waren Licht und Farbe nicht
selbständig verwendet, sondern nur an Zeichnung haHend; denn
Feuerwerke, Transparente, Beleuchtungen sind doch nur noch zu rohe
Anfänge jener Lichtmusik, als dass man sie erwähnen könnte. Sollte
nicht durch ein Ganzes von Lichtakkorden und Melodien ebenso ein
Gewal3ges, ErschüOerndes angeregt werden können, wie durch Töne?
Wenigstens könnte ich keine Symphonie, Oratorium oder dergleichen
nennen, das eine so hehre Musik war, als jene, die während der zwei
Minuten mit Licht und Farbe an dem Himmel war, und hat sie auch
nicht den Eindruck ganz allein gemacht, so war sie wenigstens ein Teil
davon.”

Adalbert S3Her, “Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842”, in: Die Mappe


meines Urgroßvaters.

Bunte Steine, ein Festgeschenk


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Bunte Steine, “Vorrede”


• „Spielereien für junge Herzen“
• Das Kleine und Unbedeutende
• Das ‚san?e Gesetz‘ oder ‚SiBengesetz‘: die
treibende Kra?, die das menschliche
Geschlecht im Leben führt.
• Erziehung: wichKg um die Möglichkeit dieser
Kra? aus zu bilden.
• à AuPlärung, aber keine RevoluKon. Antwort
auf die Unruhen 1848.

Novelle oder Anti-Novelle?


• Rahmenerzählung?
• Krisenhafter Moment?
• Wendepunkt?
• Schicksal und Charakter?
• Ausschnitt oder Panorama?
41

Struktur, Themen und Mo0ve


• Figurenkonstella0on
• Erziehungsideal
• Schule des Sehens, Schule des Gehens, Schule des
Benennens
• Kinder als Re?er und Gere?ete
• Verhältnis Bildung – Natur
• Verhältnis Vergangenheit – Gegenwart
• Biblische Anspielungen
• AuHlärung – Roman0k – Realismus
• Langeweile? Unbedeutendes?
• Herrlichkeitstheologie
42

Bibliographische Angaben:
Herbert Eisenreich: Das kleine Stifterbuch. Salzburg 1967. – Hans Dietrich Irmscher: Adalbert
Stifter. Wirklichkeitserfahrung und gegenständliche Darstellung. München 1971. – Gustav
Konrad: „Adalbert Stifter“. In: Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk.
Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Benno von Wiese. Berlin 1989. – Ursula
Naumann: Adalbert Stifter. Stuttgart 1979. (= Sammlung Metzler, Bd. 186.) – Martin Selge:
Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaft. Stuttgart 1976. – Rudolf
Wildbolz: Adalbert Stifter. Langeweile und Faszination. Stuttgart 1976.
43

9. FRANZ GRILLPARZER: DER ARME SPIELMANN

In der Rahmenerzählung tritt ein etwas pedantischer (nl. schoolmeesterachtig)


Erzähler auf, der sich als Menschenfreund bezeichnet, die Menschenmenge beim
Volksfest jedoch als etwas Bedrohliches (nl. onheilspellend) wahrnimmt (Politzer 1967,
S. 8). Er ist als Beobachter fasziniert durch das, was aus der gewohnten Ordnung
herausfällt. Deshalb wendet er sich dem Spielmann zu, einem Musikanten am
Straßenrand, der überraschenderweise Latein kann und Notenblätter vor sich hat,
aber völlig unzusammenhängend spielt. Der leere Hut scheint ihn nicht zu stören; er
geht nach Hause, wenn die Gelegenheit, Geld zu verdienen, am günstigsten wäre.
Worin besteht die Funktion der Rahmenerzählung? Sie liefert einen fiktiven
Quellennachweis, eine Art Wahrheitsbeteuerung. Die Potenzierung der Reflexion
dient hier (anders als in Tiecks Gestiefeltem Kater) der Steigerung der Illusion, der
Wirklichkeitssuggestion. In der Rahmen- und der Binnenerzählung werden mehrere
Perspektiven kombiniert; alle drei Hauptpersonen erhalten Gelegenheit, sich zu
äußern. Die Fakten sind mehrdeutig und können verschieden bewertet werden (vgl.
die gegensätzlichen Urteile über Jakobs Violinspiel und über die Schönheit Barbaras).
Durch die Kombination mehrerer Blickwinkel (nl. oogpunt)ergibt sich eine Brechung
der Perspektive. Das Erzählen selbst ist (noch) nicht explizit ein Problem, aber ein
vielschichtiges Verhältnis zwischen Erzähler und Erzählung wird schon hier – in
Grillparzers Novelle – angedeutet.

Charakterisierung der drei Hauptpersonen


Barbara ist die Figur, die am seltensten Gelegenheit bekommt, sich selbst zu äußern.
Der erste Kontakt ist auditiver Art: Jakob hört ein Lied, zunächst ohne die Sängerin zu
sehen. Er sieht sie zuerst von hinten, später wiederholt in der Kanzlei. Nach dem Urteil
der Kameraden ist sie nicht schön, sondern grob (etwas vierschrötig), aber gut
proportioniert. Sie hat Pockennarben. Jakob wünscht nicht Kuchen von ihr, sondern
Liednoten. Sie lacht ihn zunächst aus, behandelt ihn mit robuster Wehrhaftigkeit; sie
hält ihn für zudringlich wie die anderen Männer in ihrer Umgebung. Nach und nach
wird sie sensibler für seine besonderen Qualitäten. Später ergreift sie Partei für Jakob,
indem sie ihn vor ihrem Vater warnt. (Ihr Vater ist egozentrisch, gewinnsüchtig und
hart.) Barbara ist launenhaft (nl. wispelturig): sie mag Jakobs Höflichkeit nicht, hört
ihm aber manchmal freundlich zu. Traditionelles Rollenverständnis: „Ich hasse die
weibischen Männer.“ Barbara bleibt in ihren kleinbürgerlich-engen Erwartungen
befangen, kann sich nicht davon befreien. Dank Jakobs Erbschaft sieht sie gemeinsame
Möglichkeiten: Jakob könnte einen „Putzladen“ für sie kaufen und auch selbst dort
arbeiten – aber das nötige Geld ist durch Jakobs Leichtgläubigkeit und Gutmütigkeit
bereits verloren.
Unter Jakobs Einfluss entwickelt Barbara auch feinere Komponenten ihres Wesens.
Doch es gelingt ihr nicht, sich von ihrem standestypischen Männer- und Frauenbild zu
emanzipieren: Der Mann muss nach ihrer Überzeugung lebenstüchtig sein und das
nötige Geld beschaffen; die Frau hilft ihm eventuell dabei. Am deutlichsten werden
44

Barbaras Gefühle in der Abschiedsszene: dort kritisiert sie, während sie Jakobs
Wäsche, die sie besorgt hat, zurückbringt, Jakobs Leichtgläubigkeit, bricht aber
schließlich in Tränen aus und verabschiedet sich mit einem Segenswunsch. Die Schuld
sucht sie einzig bei Jakob. Beim Abschied duzt sie ihn zum ersten Mal.
Barbara ist ein Mädchen aus sehr engen, kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie ist grob
geworden, erscheint aber als veränderbar. Jakob gelingt es, einiges von dem
hervorzulieben, was er allein in ihr sieht. Hier wirkt das aufklärerisch-klassische
Menschenbild nach: Der Mensch gilt als bildbar und in günstiger Weise beeinflussbar.
Der Prozess der Humanisierung scheitert jedoch; es gibt kein Happyend. Insofern zeigt
sich bei Grillparzer eine deutliche Distanzierung vom klassischen Menschenbild. Zwar
lässt sich Barbara ein wenig sensibilisieren für Jakobs Qualitäten, insbesondere für
seine Güte, aber sie kann sich nicht von ihren stereotypen Vorstellungen über die
Geschlechterrollen lösen: Dass sie als Frau Jakob schützen müsste, ärgert sie. Spott
und Härte wechseln mit Anfällen von freundlicher Duldung und Mitleid. Ihre
verborgene Wärme wird immer wieder zugeschüttet von schimpfendem Gepolter.
Barbara ist nicht nur Jakob gegenüber so – vgl. die Szene am Sarg: Barbara wischt um
der Ordnung willen den Arm ihres Sohnes von Jakobs Sarg, und sie schimpft sogar auf
dem Friedhof, weil sie sich finanziell übervorteilt fühlt. Kennzeichnend für sie ist ihr
Schwanken zwischen Schlag und Kuss, zwischen Spott, Zorn und Mitgefühl.

Ihre Zukunft will Barbara als junge Frau nicht auf ihre Gefühle gründen; sie gibt der
Verstandesehe den Vorzug vor der Liebesehe. Die Ehe zwischen Angehörigen
verschiedener Schichten scheint hier nicht (mehr) grundsätzlich ausgeschlossen. Vgl.
dagegen Eichendorffs Werke, in denen die Überwindung der Standesschranken nicht
gelingt (in der Novelle Das Schloss Dürande müssen Gabriele und der Graf, die die Kluft
überwinden möchten, sterben; im Roman Aus dem Leben eines Taugenichts: die
vermeintlich Adelige entpuppt sich am Ende plötzlich als Bürgerliche, wodurch die
Heirat möglich wird. Bei Grillparzer geht es zwar um zwei Bürgerliche, aber diese
gehören innerhalb des Bürgertums zwei verschiedenen Schichten an, zwischen denen
die Kluft groß ist: Jakob – als Hofratssohn – gehört dem gehobenen Bürgertum an,
Barbara – als Tochter eines Kleinwarenhändlers – dem Kleinbürgertum. Wo liegen die
Hindernisse in Grillparzers Novelle? Einerseits im Geldmangel (= Materialisierung),
andrerseits im Charakter der Personen (= Internalisierung); beides ist kennzeichnend
für die Literatur der Epoche. Die Psychologie bzw. der Charakter der Figuren erscheint
dabei freilich als mindestens so interessant wie die äußeren (materiellen)
Lebensumstände.

Jakob, der Spielmann


Jakob ist gleichsam ein großes, unbeholfenes Kind. Er ist wehrlos, keiner Berechnung
fähig, weltfremd und versponnen. Dabei ist er äußerst gewissenhaft (vgl. sein
Verhalten beim schulischen Examen und die Skrupel des Kanzlisten angesichts
unleserlicher Wörter). Er besitzt die Konzentrationskraft, den Eifer und die
Hingabefähigkeit eines großen Künstlers; aber gestalterisches (nl. creatief) Maßhalten
45

ist ihm fremd. Niemand erkennt den Walzer, den er zu spielen meint. Jakob ist von
Enthusiasmus beseelt, aber unfähig, sich als Künstler realistisch einzuschätzen. Er ist
und bleibt ein Dilettant und Sonderling, der Gespött erntet. Von absoluten Idealen
besessen wie ein frühromantischer Künstler, aber ohne Blick für die Kluft zwischen
Willen und Realisierungsfähigkeit, kann er den Abgrund zwischen Phantasie und
Realität nicht überbrücken. Der Spielmann versagt als Künstler; auch unter Künstlern
wäre er ausgestoßen, denn er geigt falsch. Aber er ist von Musik erfüllt wie von einer
Mission; er lebt im Dienst eines hohen Ideals.
Überraschenderweise ist Jakob völlig zufrieden. Er leidet nicht unter Spott und
Missachtung. Naivität, Einfalt und Güte bilden ein schützendes Polster. Dies zeigt sich
auch bei Jakobs Verhältnis zu seinem Vater. Bei dessen Tod verspürt er heftige
Schuldgefühle , obwohl der Vater ihm gegenüber hart und verständnislos war. Jakob
war deswegen niemals gekränkt; er vermutet auch hinter böswilligen Handlungen
anderer Leute lauter gute Absichten. Er ist außerstande, einem Aggressor
Aggressionen entgegenzusetzen. Er ist derart vereinsamt, dass er dankbar ist für jedes
Anzeichen der Mitmenschlichkeit – sogar für Schläge. Vgl. Jakobs Reaktion auf
Barbaras Ohrfeige: er ist nicht gekränkt. Während er vor Schmerzen Funken vor den
Augen sieht, glaubt er an eine Himmelserscheinung; er meint die Sterne des Himmels
zu erblicken; er glorifiziert sofort, was ihm widerfährt. Seine Hingabe erfolgt ohne
kritischen Blick und ohne Widerstand. Vgl. auch Jakobs argloses Verhältnis zu den
vermeintlich freundlichen Kameraden, die ihn um seine Erbschaft betrügen.
Analog ist sein Verhältnis zur Musik: er schmilzt beim Klang eines Liedes hin – eines
Liedes, das vom Ich-Erzähler als gar nichts Besonderes qualifiziert wird. Jakob fehlt
jede Neigung zur Kritik (und zur Selbstkritik). Dabei ist er von tiefer Demut erfüllt,
keineswegs selbstüberheblich. Intensive Empfindung des Wohlklangs und
übersteigerte Gewissenhaftigkeit führen bei ihm zu einer verzerrten Wiedergabe der
Musikstücke.
Jakob lebt in tiefer Isolation; einzig die Musik (das Lied) lässt ihn seine Scheu
gelegentlich überwinden; vgl. sein Gespräch mit Barbara in der Kanzlei sowie die
spätere Berührung und Ohrfeige. Jedes Mal, wenn er ausnahmsweise die Initiative
ergreift, wird er missverstanden. Vgl. Barbaras Reaktion auf seinen Handkuss und die
Umarmung: Jakob wird zurückgestoßen, ja geschlagen. Aber dadurch ist er nicht
verstörbar. Zwar bleibt er getrennt von der Geliebten und von der Umwelt. Bei dem
einzigen Kuss trennt ihn eine Glasscheibe von Barbara. Doch ist er nicht unglücklich;
seine Liebe – als selbst- und kritiklose Hingabe – ist unabhängig von der Wirklichkeit.
Insofern ist er nicht ernstlich verwundbar.
Jakob ist ein Narr und ein Heiliger zugleich – eine Kombination, die auch Dostojewski
(vgl. Der Idiot) und Kierkegaard beschäftigte. Jakob versagt im Leben, in der Liebe,
bewährt sich aber in einer Notlage – wie es darum geht, anderen zu helfen: Wie er in
seiner Mansarde (während der Überschwemmung) Kindergeschrei vernimmt, eilt er
hinunter und rettet Kinder aus dem Wasser – außerdem sogar das Geld des Gärtners,
seines Hausmeisters. (Ihn erfüllt kein Gefühl der Rachsucht, obwohl man ihn früher
nicht besonders freundlich behandelt hat; vgl. Besuch des Ich-Erzählers bei Jakob;
46

Jakob ging hinaus, um Früchte bei der Gärtnerin zu erbitten, kam aber mit leerer Schale
zurück.) Jakob stirbt für ein Ideal, das keineswegs das seine ist: er holt die Wertpapiere,
das Geld des Gärtners, aus den Fluten. Seine Hingabe ist selbstvergessen und
schrankenlos.
Groteske Fehleinschätzung der Realität und grenzenlose Hingabefähigkeit sind für
Jakob charakteristisch. Auffällig und kennzeichnend ist außerdem seine Passivität.
Jakob ist „ganz Ohr“; kein Zufall, dass die erste Begegnung mit Barbara über das Gehör
erfolgt; der Bevorzugung des Gehörsinns entspricht hohe Sensibilität für körperlose
Reize. (Jakob sieht Barbara erst, nachdem er sich durch das Lied hat ergreifen lassen,
und ist auf keine Weise mehr zu desillusionieren.) Jakobs Sensibilität für körperlose
Reize ist mit Berührungsscheu gepaart: Der Spielmann nimmt das Geld des Erzählers
nicht an, sondern bittet ihn darum, es in den Hut zu legen; er will sich nicht berühren
lassen. Die heftigste Erschütterung empfindet er beim Anhören des Liedes. Jakob
handelt kaum jemals bewusst, zielgerichtet, aktiv, sondern wie getrieben: So gerät er
in die Nähe des Ladens, ohne es zu wollen; ferner greift er nach Barbara, weil ihn das
Lied aufgewühlt hat.
Ihn beherrscht ein großes Ordnungsbedürfnis: vgl. seine Tageseinteilung, den
Kreidestrich im Zimmer, der ihn von der Unordnung im Zimmerteil des Mitbewohners
trennen soll, u.a.m.
Es gibt viele Parallelen zu Grillparzers Leben: Jakob strebt ein Ideal an, das auch
dasjenige Grillparzers wäre: Harmonie und Vollkommenheit, höchste Schönheit. Er
bringt indessen nicht einmal etwas Mittelmäßiges zustande. Hierin kommt bittere
Selbstironie des Verfassers zum Ausdruck. Für Grillparzers Tendenz zur
Selbstverachtung ist es bezeichnend, dass er die meisten autobiographischen
Momente in der Novelle verschlimmert hat:
– so beispielsweise das Verhältnis zwischen Vater und Sohn: Grillparzer klagte über
die Härte seines Vaters, der die literarischen Versuche des Sohnes heftig
verurteilte; in der Novelle ist der Vater aber geradezu ein Feind seines Sohnes;
– Das Schulexamen hat in der Novelle schlimme Folgen (der Sohn wird durch den
Vater von der Schule genommen und zum Dasein als Kanzlist gezwungen); in
Wirklichkeit verlief das Examen ähnlich, hatte aber keine einschneidenden
äußeren Folgen für Grillparzer;
– Auch Grillparzer wurde um Geld angegangen – v.a. von einem Bruder und dessen
Familie; in der Novelle sind jedoch böswillige, betrügerische Bekannte und Fremde
auf Bereicherung aus;
– Ähnlich ist die Beziehung zu den Frauen: Auch Grillparzer blieb Junggeselle; doch
gelang es ihm durchaus, Gegenliebe zu erwecken;
– Grillparzer war als Schriftsteller erfolgreich, auch wenn er dies kaum wahrhaben
wollte; überdies war er ein großer, begabter Autor, keineswegs ein Dilettant.
In Jakob hat Grillparzer masochistisch eine Selbstkarikatur entworfen. Züge
Grillparzers trägt jedoch nicht nur der Spielmann, sondern auch der Beobachter in der
Rahmenerzählung.
47

Der Beobachter und Erzähler


Exponiert sich zu Beginn der Erzählung, indem es sich verbirgt. Er setzt ein mit einer
umständlichen Schilderung des Festes im umständlich-gravitätischen Tonfall eines
Touristenführers. Heinz Politzer (1967, S. 7ff.) hat in seiner hervorragenden
Interpretation der Novelle auf den merkwürdigen Sprachgestus aufmerksam gemacht:
Es gibt wiederholte Ansätze zu Steigerungen, zu superlativischen Ausdrücken und
emotionalen Akzentsetzungen, die sogleich von gewissenhaft-ängstlicher
Zurücknahme gefolgt werden: vgl. Wendungen wie „ein eigentliches Volksfest, wenn
je ein Fest diesen Namen verdient hat“; „Da ist keine Möglichkeit der Absonderung;
wenigstens vor einigen Jahren noch war keine.“ Die Beschreibung des Volksstromes ist
sehr ausführlich und reich an widersprüchlichen Momenten. Ist der Beobachter
tatsächlich der „leidenschaftliche[…] Liebhaber der Menschen, vorzüglich des Volkes“,
für den er sich hält? Nein; er bekundet leise Angst vor der Berührung mit der Masse.
Er umschreibt die Menschenmenge als Volksstrom, der aus den Ufern tritt: „der Strom
des Volkes […], ein weiter, tosender See, sich ergießend in alles deckender
Überschwemmung. Ein neu Hinzugekommener fände die Zeichen bedenklich. […]“
Offenkundig artikuliert sich der fiktive Erzähler umständlich-manieriert; es handelt sich
keineswegs um den Sprachgestus eines enthusiastisch erregten Menschen. Der
Beobachter teilt sehr wenig über sich selbst mit. Schon dass er wohl ein Junggeselle
ist, muss man aus dem Text erschließen; es wird nicht direkt mitgeteilt. Seinen
Charakter muss man aus seinem Sprachgestus ableiten. Der Beobachter bleibt stets
ein Beobachter; er registriert, versucht niemals, Einfluss zu nehmen auf das Verhältnis
zwischen Barbara und Jakob. Auch er hat und behält (wie Jakob) ein isoliertes und
isolierendes Verhältnis zu den Menschen.
Auch beim Beobachter-Ich (wie bei Jakob) gibt es eine unzutreffende Selbst-
einschätzung. Auch hier kann man selbstquälerische Ironie Grillparzers vermuten; er
lässt einen Schriftsteller auftreten, der sich leidenschaftlich engagiert gibt, aber bloß
beobachtet, sich nicht mitreißen lässt. Das Erzähler-Ich begnügt sich mit spärlichen
Zwischenbemerkungen und teilnahmslos-kühlen Beobachtungen. Er entlockt dem
Spielmann seine Geheimnisse und geht nach dessen Erzählung weg. (Auch der
Spielmann nimmt wenig Anteil an seinem Zuhörer.)
In der Schlussepisode zeigt der Beobachter freilich Anteilnahme: Er besucht Barbara
und wünscht sich Jakobs Violine. Sein Interesse gilt aber einem Ding, einem
materiellen Gegenstand, nicht dem lebendigen Menschen. Die Materialisierung der
Gefühle ist charakteristisch für die Epoche.
Die Violine verkörpert und symbolisiert das Berührungstabu. Vgl. die motivartige
Wiederkehr von Jakobs Zittern: Beim Spielen des Liedes auf der Violine zittern Jakobs
Finger. Jakob zittert auch bei der Annäherung an Barbara – einmal sogar so stark, dass
er umkehren muss, weil er nicht weitergehen kann. Abgesehen vom Lied verbindet
auch Jakobs Zittern das Umfeld Barbaras und die Violine. – Es ist kein Zufall, dass
Grillparzer gerade die Violine gewählt hat: ein Streich(el)instrument. So wird die Musik
schon durch die Wahl des Instrumentes als Berührungsersatz gekennzeichnet. Dies ist
48

eine psychologisierende Deutung. Eine solche wird von der Erzählung jedoch nicht
behindert – im Gegenteil.
Damit sind wir bei der Motivbetrachtung angelangt.

Es gibt in der Novelle verschiedene Leitmotive:


a) Strom / Wogen / Überschwemmung / Tränen
Die Naturgewalt wird zuerst als Metapher erwähnt, später verinnerlicht. – Die Tränen
sind ein Indiz psychischer Reizüberflutung. Einzelne Tränen Jakobs erscheinen bei der
Erinnerung an das Lied und bei der Erinnerung an den Kuss. Barbara weint laut beim
Abschied von Jakob. Am Schluss der Novelle gibt es Überschwemmung in den
Vorstädten Wiens; es ist vom Weinen und Schreien der Leute die Rede. In den letzten
Zeilen der Novelle erfolgt eine Kumulation der Motive der Tränen und der
Überschwemmung: „Mein letzter Blick traf die Frau. Sie hatte sich umgewendet, und
die Tränen liefen ihr stromweise über die Backen.“ Diese Schlusspointe wird von
Anfang an durch die Motivkette und das Motivgeflecht vorbereitet. Es handelt sich um
einen Höhepunkt, auf den die Novelle von Anfang an zusteuert.

b) Das Ordnungsbedürfnis
Beim Ordnungsbedürfnis handelt es sich in Grillparzers Novelle um ein Indiz der
Selbstisolation und der Ängstlichkeit. Vgl. den Kreidestrich im Zimmer: Das Chaos
beschränkt sich auf die Seite jenseits des Striches – wobei der Spielmann nicht
bemerkt, dass das musikalische Chaos, das er produziert, das ganze Zimmer erfüllt
und außerdem die Verwirrung seines Geistes indiziert. In der Psychopathologie sind
Ordnungszwänge wohlbekannt: als Erscheinungsformen der Abwehr von gefürchteten
Impulsen; sie dienen der zwanghaften Bändigung von Gefühlen.
Auch Barbara ist von Ordnungsbedürfnis besessen; vgl. ihr Verhalten im Leichenzug
und in der Abschiedsszene.

c) Musik
Für Jakob hat die Musik ebensoviel Bedeutung wie für die Frühromantiker, aber seine
Auffassung ist nicht mehr allgemein verbindlich; die Hochschätzung der Musik, der
Kunst und des Künstlers ist nicht mehr allgemein üblich. Musik und Kunst erscheinen
hier als Fluchtorte vor der Brutalität des Lebens. Der Spielmann mit seiner
(antiquierten) Kunstauffassung (die religiöse Züge hat: vgl. die Vokabeln „Andacht“
und „Gebet“) gerät in eine desperate Isolierung und wirkt für alle anderen grotesk.
Dem Spielmann sind Tränen nur in der Erinnerung möglich: intensive Gefühle können
nicht in der Gegenwart, sondern nur in der Erinnerung ausgelebt werden.

Schlussbetrachtungen
Es gibt keine Entwicklung der beteiligten Figuren. Zwar beeinflussen sich Barbara und
Jakob gegenseitig minimal; aber es kommt nicht zu einer Befreiung aus den Schranken
der Einsamkeit und der Konvention. Im Leben des Spielmanns gibt es keine fördernden
Personen und Kräfte außer der Musik – und diese bewirkt Geistesverwirrung.
49

Verabsolutierung der Kunst gibt es auch hier – wie in der Romantik, aber zugleich
erfolgt hier eine sarkastische Desillusionierung: der hoch zielende Anspruch existiert
nur im Bewusstsein eines Einzelnen, Gestörten. Pointiert formuliert, ist
Kunstausübung hier Lebensersatz für einen Lebensuntüchtigen, nicht mehr höchste
Erfüllung für die Begabtesten.

Weder Erziehung (Elternhaus; Vater) noch Schulbildung noch Kunstausübung haben


hier eine humanitätsfördernde Wirkung. Jakobs guter Wille hat wenig gute Folgen; vgl.
dagegen Goethes Iphigenie auf Tauris: Dort bewirkt Iphigeniens Güte, dass Thoas
Gutes tun kann und dass sich Orest zur Wahrheit bekennt; Iphigeniens Mut zum
Vertrauen macht sie selbst und andere vertrauenswürdig. Jakobs guter Wille hingegen
wird missbraucht, sein Vertrauen ausgenützt.

Die Figuren sind nicht vollständig durch Herkunft determiniert; aber es wird eine Fülle
von Materialien über die schichtenspezifische Herkunft und über Kindheitseindrücke
Jakobs geboten. Die Theorie von der Prägung durch das Milieu ist noch nicht zum
Dogma verfestigt.

Auffällig ist die (bleibende) Isolierung der beteiligten Personen. Drei Zweier-
begegnungen werden arrangiert, aber weder die Liebe noch andere Gefühle (noch die
Schriftstellerei) können zwischen den Herzen eine dauerhafte Brücke schlagen. Die
Figuren sind und bleiben monadenhafte Atome – wobei eine Kernverschmelzung nur
im Wahn und in der Erinnerung möglich scheint. Bei alledem muss man sich vor Augen
halten, dass auch die Alternative – eine Ehe Jakobs mit Barbara – wahrscheinlich eine
Katastrophe wäre. Insofern ist die Lebenssituation der Figuren tragisch: Sie haben nur
die Wahl zwischen schlechten Alternativen.

Der Spielmann rebelliert niemals und beklagt sich nicht. Seine Sanftheit verdeutlicht
die Härte des Lebens: Das Leben geht weiter; es ist kein Zufall, dass gegen Schluss
wiederholt von Kindern die Rede ist: von Barbaras Kindern wie auch vom Geschrei der
Kinder während der Überschwemmung. Der Schwache geht unter, das Leben siegt.
Geschildert wird in der Novelle aber in erster Linie derjenige, der das Leben von sich
fernhält und untergeht; der Abweichung, dem Sonderling gilt das Hauptinteresse.
Zur Motivation des Interesses für Sonderlinge und die kompensatorische Funktion der
Kunst vgl. Grillparzers Tagebuch aus dem Jahr 1837 (abgedruckt in Bd. III der
Sämtlichen Werke, unter „Zur Literatur im Allgemeinen“):

Die Poesie ist dazu da, „in erhabener Einseitigkeit jene Eigenschaften hervorzuheben und
lebendig zu erhalten, die das menschliche Beisammensein (in Wirklichkeit) […] notwendig
und nützlich beschränkt und zurückdrängt; die aber eben darum – köstliche Besitztümer
der menschlichen Natur und Erhaltungsmittel der Energie – ganz verlöschen würden,
wenn ihnen nicht von Zeit zu Zeit ein, wenn auch nur imaginärer Spielraum gegeben
würde.“
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Die Literatur erscheint hier als Hort unpraktischer, aber wertvoller Schätze, die sonst
verloren gingen.

Erzählperspektive und Form


Die Rahmenerzählung; bewirkt eine Brechung der Perspektive. Sie ermöglicht die
Darstellung von Darstellungsvoraussetzungen. Eine ihrer Hauptfunktionen ist der
fiktive Quellennachweis. Vgl. Tiecks Märchenkomödie Der gestiefelte Kater, wo
ebenfalls Illusionsbrüche vorkommen. Bei Tieck dient die Erzählstrategie jedoch der
Desillusionierung, der „Potenzierung der Reflexion“, der spielerischen Verwirrung,
während sie bei Grillparzer die Steigerung der Illusion erzielt. Sie dient bei ihm der
Wirklichkeitssuggestion, der Wahrheitsbeteuerung.
Das Erzählen ist hier zwar (noch) kein ausdrückliches Problem, aber es ist ein
vielschichtiges Verhältnis zwischen Erzähler und Erzählung vorhanden. Der Rahmen ist
– psychologisch betrachtet – eventuell das Ergebnis des erzählerischen
Ordnungsbedürfnisses.

Literatur: Heinz Politzer: Franz Grillparzers Der arme Spielmann. Stuttgart 1967. – Barbara
Beutner: Musik und Einsamkeit bei Grillparzer, Kafka und Castillo. Ein Vergleich zwischen
„Armen [sic] Spielmann“, „Verwandlung“ und „Gitarre“. Eine literaturwissenschaftliche
Untersuchung. Köln 1975. – Anna Gutmann: „Grillparzers Der arme Spielmann. Erlebtes und
Erdichtetes“. In: Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association, Bd. 6, Nr.
1 , 1967, S. 14-44. – Lilian Hoverland: „Speise, Wort und Musik in Grillparzers Novelle Der
arme Spielmann mit einer Betrachtung zu Kafkas Hungerkünstler“. In: Jahrbuch der
Grillparzer-Gesellschaft 13, 1978, S. 63-83. – Joachim Müller: Franz Grillparzer. 2., verbesserte
Aufl. Stuttgart 1966. (= Sammlung Metzler, Bd. 31.) – Walter Naumann: Franz Grillparzer. Das
dichterische Werk. 5., veränderte Aufl. Stuttgart 1967. – Heinz Politzer: Franz Grillparzer oder
das abgründige Biedermeier. Stuttgart 1967. – M.W. Swales: „The Narrative Perspective in
Grillparzer’s Der arme Spielmann“. In: German Life & Letters, Bd. XX, 1966-67, S. 107-118. –
Wolfgang Wittkowski: „Grenze als Stufe. Josephinischer Gradualismus und barockes
Welttheater in Grillparzers Novelle Der arme Spielmann“. In: Aurora 41 (1981), S. 135-160.
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10. SCHRIFTSTELLER AUS DER SCHWEIZ

Jeremias Gotthelf (= Pseudonym für: Albert Bitzius) (1797-1854)


Jeremias Gotthelf heißt der Held in Bauernspiegel (1836), einem dem ersten
europäischen Bauernromane. Pfarrerssohn, geboren in der Kleinstadt Murten (frz.
Morat). Der Vater war Bürger der Stadt Bern. Jugend in Utzensdorf (Kanton Aargau),
wohin der Vater 1805 versetzt wurde. Der Sohn studierte in Bern Theologie, war aber
zunächst unter der Aufsicht seines Vaters als Vikar an der Volksschule tätig. Seine
Erfahrungen verarbeitete er später in Leiden und Freuden eines Schulmeisters.
1821/22 studierte er in Göttingen. 1822 wieder Vikar beim Vater. 1824 Tod des Vaters.
Pfarrvikar in Herzogenbuchsee und in der Stadt Bern. „Hier machte ich einen
praktischen Kurs in der Armenpflege durch und genaue Bekanntschaft mit dem
Stadtgesindel.“ (Gotthelf in seiner Selbstbiographie.)
Gotthelf war Mitglied der kantonalen schulischen Aufsichtsbehörde (1825 Einführung
der allgemeinen Schulpflicht). Gotthelf engagierte sich auf der Seite der (damals
progressiven) Liberalen, die nach der Revolution von 1830 in der Mehrzahl der
schweizerischen Kantone die Oberhand besaßen (1833 erfolgte Gründung der
Universität Zürich, an der – früher als anderswo im deutschsprachigen Gebiet – auch
Frauen zum Studium zugelassen wurden. Georg Büchner und andere politische
Flüchtlinge aus Deutschland lehrten damals an der Zürcher Universität). Gotthelf
verfasste Artikel für die liberale Zeitung Berner Volksfreund. Wegen seiner
kämpferischen Haltung war er in Bern als Pfarrer nicht genehm. So war er ab 1832 –
gegen seinen Willen – 22 Jahre lang als Pfarrer in dem kleinen Emmentaler Bauerndorf
Lützelflüh tätig. 1835 Ernennung zum kantonalen Schulkommissar.
1833 heiratete er Henriette Zeender, die Enkelin seines Amtsvorgängers. Das Paar
hatte drei Kinder: Henriette, Albert und Cécile. (Die Tochter Henriette sollte
Jahrzehnte später – nach dem Tod ihres Mannes, eines Pfarrers – ebenfalls
schriftstellerisch tätig werden. Sie schrieb – wie damals die meisten Frauen – unter
einem Pseudonym; sie nannte sich Marie Walden.)
Seinen ersten Roman veröffentlichte Gotthelf erst mit 39 Jahren. Die schriftstellerische
Tätigkeit verschaffte ihm ein Ventil für sein temperamentvolles Engagement und
nötigte ihm weniger Rücksichtnahme ab als die Tätigkeit als Dorfpfarrer. 1836-54
entfaltete Gotthelf eine intensive literarische Tätigkeit; jedes Jahr erschienen mehrere
Werke.
1836 Bauernspiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf
1841 Uli, der Knecht (Fortsetzung: 1849 Uli, der Pächter)
1842 Die schwarze Spinne (Novelle mit surrealistischen Zügen)
1843 Elsi, die seltsame Magd (Erzählung)
1843 Geld und Geist oder die Versöhnung
1850 Die Käserei in der Vehfreude
1851/52 Zeitgeist und Berner Geist
1854 Erlebnisse eines Schuldenbauers
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Gotthelfs Werke spielen im Emmental, einem noch heute stark von der Landwirtschaft
und behäbigen Bauernhöfen geprägten, landschaftlich reizvollen Tal im Kanton Bern.
Gotthelf geißelt den sittlichen Verfall und die skrupellose Durchsetzung materieller
Interessen. Er entwirft einen bunten Reigen plastischer Gestalten aus dem dörflich-
bäuerlichen Leben, zeigt ihre Nöte und Freuden, ihre Egozentrik wie auch die
potenzielle Fähigkeit vieler zur Entfaltung innerer Größe. Seine Romane enthalten eine
Fülle präzise beobachteter Details des dörflichen Lebens und der menschlichen
Psyche. Virtuos zeigt er die Genese und die Wirkung der Bosheit in der bäuerlichen
Gemeinschaft, wobei jede(r) daran partizipiert, aber so, dass sich keine(r) deswegen
schuldig zu fühlen braucht (Kommentar des Literaturprofessors und Essayisten Peter
von Matt). Von manchen werden seine Werke als fortschrittsfeindlich
(miss)verstanden. Gotthelf verwendet viele berndeutsche dialektale Ausdrücke, was
seine Rezeption außerhalb der Schweiz erschwert. In den längeren Romanen wird die
Handlungsschilderung öfters durch predigtartige Passagen mit philosophischen und
moralischen Betrachtungen unterbrochen.
In der Deutschschweiz wird Gotthelf – vor allem von den älteren Generationen – nach
wie vor sehr geschätzt, wenn auch nicht mehr oft gelesen. Zu seiner Popularität trugen
in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Hörspielbearbeitungen Ernst Balzlis und
die Verfilmungen mehrerer Romane von Franz Schnyder (mit Liselotte Pulver in der
weiblichen Hauptrolle) bei.

Gottfried Keller (1819-1890)


Gottfried Kellers Vater starb, als der Sohn noch ein Kind war. Gottfried wurde nach
einer Anklage wegen Widerspenstigkeit aus der Schule hinausgeworfen. Die Jugend
und Adoleszenz verliefen sehr schwierig. Gottfried Keller war von untersetzter Statur
(= kleinwüchsig), worunter er zeitlebens litt. Von der Mutter und der Schwester wurde
er jahrzehntelang finanziell unterstützt. Er versuchte jahrzehntelang, Maler zu werden.
Mehrmals war er unglücklich verliebt. In seinem literarischen Werken gibt es viele
starke, liebenswerte, relativ emanzipierte Persönlichkeiten unter den Frauen. Keller
lebte längere Zeit in München, Heidelberg (dort kam es zur Begegnung mit Ludwig
Feuerbach, von dessen Atheismus Keller stark beeinflusst wurde) und Berlin, wo er
den autobiographischen Roman Der Grüne Heinrich (1854-55; 1879/80 überarbeitet)
schrieb. In Zürich hatte er Kontakte mit politischen Flüchtlingen aus Deutschland. Ab
1855 war Gottfried Keller wieder in Zürich ansässig. 1861 wurde er zum
Staatsschreiber ernannt (bis 1876); endlich hatte er eine Stelle, die ihm ein Aus-
kommen ermöglichte. Bei der Brautwerbung blieb er jedoch weiterhin erfolglos; er
blieb unverheiratet.
Keller hat mehrere Novellenzyklen und eine größere Anzahl von Gedichten geschaffen.
Roman: Martin Salander (1886). Die Titel der Novellenzyklen lauten:
– Die Leute von Seldwyla (1873-74) (darin u.a.: „Romeo und Julia auf dem Dorfe“)
– Züricher Novellen (1878)
– Das Sinngedicht (1881)
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11. SCHRIFTSTELLER AUS NORDDEUTSCHLAND

Friedrich Hebbel (1813-1863)


Hebbel stammte aus Dithmarschen (nordwestlich von Hamburg, bis 1864 unter
dänischer Herrschaft). Er stammte aus einer armen Familie, fand aber Gönner; so
konnte er mit einem Reisestipendium des dänischen Königs eine Zeitlang in Paris
leben. Er heiratete die Wiener Burgschauspielerin Christine Enghaus. Als Dramatiker
in Wien hatte er großen Erfolg.
Hebbels Dramenhelden befinden sich meist in einer historisch-politischen Situation, in
der sich die Werte und Normen verändern. Vgl. Judith (1840), Maria Magdalene
(1844), Herodes und Mariamne (1849), Agnes Bernauer (1852): Die Titelheldinnen sind
große, leidende Frauengestalten, die dem starren Ordnungszwang der Männer zum
Opfer fallen. Weitere berühmte Dramen Hebbels sind Gyges und sein Ring (1856) und
Die Nibelungen (1861). Auch Hebbels Tagebücher sind sehr lesenswert.

Theodor Storm (1817-1888)


Theodor Storm wurde 1843 Rechtsanwalt in Husum. Wegen seines Widerstandes
gegen die dänische Herrschaft verlor er 1952 Amt und Heimat. Unter deutscher
Herrschaft kehrte er nach dem deutsch-dänischen Krieg 1864 zurück. Er verfasst
zahlreiche Novellen. Storm gilt als ein Vorläufer des Impressionismus. Gedichte. Einige
Novellentitel:
– Immensee (1850)
– Pole Poppenspäler (1874)
– Aquis submersus (1876)
– Carsten Curator (1877)
– Der Schimmelreiter (1888)

Wilhelm Raabe (1831-1910)


Raabe hat zahlreiche Novellen und Romane verfasst. Wie viele seiner Zeitgenossen
war auch er von Arthur Schopenhauers Pessimismus beeinflusst. Ihm gelangen
psychologisch differenzierte Charakterschilderungen, neben denen die Handlung oft
weniger wichtig scheint. Der Autor zeigt großes Interesse an Sonderlingen. Einige
Werktitel:
– Die Chronik der Sperlingsgasse (1857)
– Die schwarze Galeere (1861)
– Der Hungerpastor (1864)
– Abu Telfan (1867)
– Der Schüdderump (1870)
– Das Odfeld (1872)
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Theodor Fontane (1819-1898)


Die Eltern Theodor Fontanes waren Hugenotten. Der Sohn ergriff zunächst den Beruf
des Vaters und wurde Apotheker. 1852 ging er als Zeitungskorrespondent nach
London. Er war Kriegsberichterstatter in den (drei für Preußen siegreichen) Feldzügen
von 1864, 1866 und 1870. 1870 geriet er in französische Gefangenschaft. 1860-70 war
er Mitarbeiter der Kreuzzeitung, dann der Vossischen Zeitung, für die er bis 1889
Theaterkritiken schrieb. Fontane verfasste eine der ersten positiven Rezensionen über
ein naturalistisches Drama, über Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann.
Bekannt ist Fontanes große Liebe zu seiner Tochter Mete, die Lehrerin werden wollte,
als in Berlin – nach längeren Kontroversen – erst gerade die ersten
Lehrerinnenseminare gegründet wurden.
Fontane schrieb zunächst historische Romane. Erst nach dem sechzigsten Geburtstag
hat er die Romane verfasst, für die er heute berühmt ist:

– Grete Minde (1880)


– L’Adultera (1882)
– Irrungen Wirrungen (1888)
– Mathilde Möhring (1891; veröff. 1908)
– Unwiederbringlich (1892)
– Frau Jenny Treibel (1893)
– Effi Briest (1895)
– Der Stechlin (1899)
– Meine Kinderjahre

Fontane schildert Charaktere und Verhaltensweise zeitgenössischer Berliner und


Brandenburger Adeliger wie auch Bürger(innen), wobei er mit leiser Ironie und großer
Zurückhaltung im Hinblick auf bewertende Kommentare Dialoge der Figuren zur
Geltung bringt. In mehreren Werken stehen Ehekonflikte und soziale Isolierung im
Mittelpunkt. Sehr oft sind die Hauptgestalten Frauen, die aus verschiedenen Gründen
mit den gesellschaftlichen Normen in Konflikt geraten.
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12. MARIE VON EBNER-ESCHENBACH: KRAMBAMBULI

Marie von Ebner-Eschenbach


(1830-1916)

Biografie
• Adliger Herkun1 (Gräfin), Mähren (im heu;gen
Tschechien)
• Sehr gute (katholische) Erziehung:
Mehrsprachigkeit, Mathema;k, Musik, Literatur
usw.
• Mit 18 Jahren: Heirat mit Moritz von Ebner-
Eschenbach; 50 Jahre verheiratet; kinderlos
• Große Verantwortung für kranke
Familienmitglieder à Pflegerin von Nichten und
Neffen
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Engagement
• Gesellscha-liches Engagement: Bildung für Mädchen
Gegen die Auffassung, eine Frau müsse in erster Linie dem Mann
gefallen: "man fordere nicht Wahrha-igkeit von den Frauen,
solange man sie in dem Glauben erzieht, ihr vornehmster
Lebenszweck sei – zu gefallen."
• Keine akIve Beteiligung an der damaligen Frauenbewegung
(Erste Welle), aber Mitglied des Vereins für Schri-stellerinnen
und Künstlerinnen in Wien, der sich für Frauenrechte
einsetzte.
• Dennoch: starke Frauenfiguren in ihren Werken à die Autorin
wurde eine LeiNigur für die damalige Frauenbewegung.
• Außerdem: starke Frauen aus allen damaligen Schichten, z.B.
auch bei den tschechischen Hausangestellten.
• Ihr Ziel vor allem: Reform in der häuslichen Atmosphäre, in
der Ehe, und im Verhältnis Adel – Untergeordneten. Den Adel
modernisieren, nicht abschaffen.

• Erst ab 1897 wurden Frauen an der


philosophischen Fakultät der Wiener
Universität zum Studium zugelassen. Ziel der
Ausbildung von Frauen bis 1900: gute
Hausfrauen.
• 1900 verlieh die Universität Wien Ebner-
Eschenbach – als erster Frau – die
Ehrendoktorwürde.
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Ebner-Eschenbach als Autorin


• Wunsch zu Schreiben, gegen Widerstand der Umgebung (Familie,
adliges Umfeld): professionelles Schreiben war für adlige Damen
nicht erlaubt (für Frauen des Bürgertums war Prosa erlaubt).
• Auch keine Unterstützung in der österreichischen GesellschaI
überhaupt:
„Keinem Franzosen wird es einfallen, die Sévigné, die Stael, die Du
Deffand, die Sand nicht zu seinen Klassikern zu zählen. Die Franzosen
sind stolz darauf, daß die Reihe ihrer großen auf die NaSon wirkenden
SchriIstellerinnen von Marie de France bis auf Louise Ackermann nicht
eine Lücke aufzuweisen hat. Ein Engländer würde sich gewiß wundern,
wenn er uns leugnen hörte, daß der größte jetzt lebende
RomanschriIsteller George Eliot ist… Bei uns steht es anders. Bei uns
hat eine neu erfundene Naturgeschichte die Entdeckung gemacht, daß
die Frau an und für sich nichts ist, daß sie nur etwas werden kann
durch den Mann […]“ (1879, E-E aus einem Brief an den Freiherrn
Emmerich du Mont, zit. n. Fischer 1919: 345)

• Anfänge ihrer Karriere: historische Dramen – große


Schwierigkeiten für Veröffentlichung und Aufführung.
Kontakte zu Theaterdirektoren unter männlichem
Pseudonym.
• 60er Jahre: Wechsel zur Erzählprosa. Vorliebe für die
NovellisNk von z.B. Grillparzer aber auch George Eliot.
(Bild von Eliot damals: geniale Dichterin, aber mit
sozialer und moralischer Dimension ßà der
autonome männliche Dichter)
• Erzählungen in wichNgen ZeitschriUen wie Die
Gartenlaube und die Deutsche Rundschau. Erst nach
1880 breitere Popularität ihrer Werke.
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Aphorismen
• "Eine gescheite Frau hat Millionen geborener
Feinde – alle dummen Männer.“
• "Die einzigen von der Welt unbestrittenen Ehren,
die einer Frau zuteil werden können, sind
diejenigen, die sie im Reflex der Ehren ihres
Mannes genießt".
• "Wenn mein Herz nicht spricht, dann schweigt
auch mein Verstand, sagt die Frau. Schweige,
Herz, damit der Verstand zu Worte kommt, sagt
der Mann."

Aus den Tagebüchern:


• „Mit Moriz über die leidige Schri9stellerei gesprochen.
Ist ihm noch immer an>pathisch, aber er gibt zu, daß
ich nichts dafür kann. Meine lieben Lieben, glaubt nur
nicht, daß Ihr verkürzt werdet um meiner papierenen
Kinder willen.“ (1889)

Aus ihren Briefen:


• “Gestern bin ich unterbrochen worden, mein ganzes
Leben in Wien ist nur eine Reihe von
Unterbrechungen“ (1893)
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Literarische Einordnung
• Biedermeier – Bürgerlicher Realismus – Ethischer
Realismus
• Jüngere Forschung betont Ironie, Humor, Skepsis in
ihrem Werk
• Entwicklung von der Novelle zur modernen Erzählung:
eigene Gegenwart
alltägliche Ereignisse
weniger symbolisch
Wiedererkennbarkeit
direkte Darstellung durch u.a.: Tempus (Präsens), direkte
Rede, Mündlichkeit, innere Fokalisierung (weniger auktoriale
InterpretaPon), Soziolekte

Bibliographie
• Marianne Henn, Marie von Ebner-Eschenbach.
Hannover: Wehrhahn Verlag 2010.
• Daniela Strigl, Berühmt sein ist nichts. Marie
von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie.
Salzburg/Wien: Residenz Verlag 2016.
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13. THOMAS MANN: DER TOD IN VENEDIG

Thomas Mann (1875-1955)

Der Autor und seine Zeit


Wich1ge zeitgeschichtliche Entwicklungen:
• Ende der “Gründerzeit”
• Industrialisierung um 1900; Bildungsbürgertum
• Erster Weltkrieg; Na1onalismus
• Zweiter Weltkrieg; Emigra1on
• McCarthy in den Vereinigten Staaten
• BRD unter Adenauer; WiederauMau und Vergangenheitsbewäl1gung

à Wie verhält sich der Künstler/der Autor zu seiner Zeit


• Künstlerproblema1k des bürgerlichen Zeitalters (Effizienz versus Dekadenz)
• Komplex von Eros, Thanatos, Krankheit und Genialität
• Religiöse, mythologische und mys1sche Verweise

Literarische Beispiele
• Realismus des 19. Jahrhunderts
• Russische Literatur (Tolstoi)

Bevorzugte literarische Ga]ungen:


• Novellen à Erzählungen (vgl. auch Hauptmann, Schnitzler, Döblin)
• Große Romane
• Essays
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Andere Novellen (Auswahl)


• Der kleine Herr Friedemann (1897): kleiner Geschä<smann
aus gutbürgerlichem Haus, aber körperlich behindert.
KompensaHon: geisHge und ästheHsche Bildung (v.a.
Wagner). Aber: femme fatale, Eros + Musik.
à Scheitern der ästheHschen Lebensordnung
à Rückbildung

• Tonio Kröger (1903): Künstlernovelle


Die HaupTigur ist südländischer und hanseaHscher
Abstammung;(müVerliche) KreaHvität einerseits und
(väterliche) Strenge andererseits.
à Der innere Widerspruch des bürgerlichen Künstlers.

Der Tod in Venedig (1912) (I)


• Ziel: Klassizität im S5l von Goethe

Bezugsfiguren:
• Mahler: Musik des Leidens, des Todes; personlich mit Thomas Mann bekannt
• Wagner: Musik der Schönheit im Rausch, überschwenglich
• Nietzsche: das Apollinische und das Dionysische
à auch: drei Künstler mit Bezug zu Venedig

• Mo5v des “Mannes von fünfzig Jahren”: vergangene Jugend, versäumtes Leben,
Sexualität als Impotenz. Ero5k als letzter Versuch des Ausbruchs; Reise: letzter
Aufschwung.
• Realismus (z.B. in den Ortsbeschreibungen) und Mythisierung
• Krisenbewusstsein vor dem Ersten Weltkrieg
• Denunzia5onen von Personen wegen angeblicher Homosexualität. Aber: viele
Künstler kul5vierten Homosexualität als die ‘reinere’, übergeschlechtliche Liebe, da
sie mehr ‘Geist’ habe. Sie befähige den Künstler zur absoluten Schönheit // An5ke
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Der Tod in Venedig (II)


• “Unerhörtes” aus dem ero4schen Bereich
• Symbolisch überdeterminiert; zum Beispiel die vielen ‘Todesboten’; die Farbe Rot
• HaupGigur: berühmter SchriJsteller à Metaliteratur
• Erzählperspek4ve: heterodiege4scher Erzähler, der zunehmend auf Distanz geht
gegenüber dem Protagonisten
• Theatralität; Groteskes; Parodie
• Dekadenz, Kult des Schönen, Ästhe4sierung des KrankhaJen, Todesthema4k und –
Symbolik
• Das Apollinische (Klarheit, Geradlinigkeit, Überblick, Durchhalten als preussische
Tugend) gegenüber dem Dionysischen (Rausch, Auflösung, Todessehnsucht,
Orient-Indien)
• Ähnlicher Au\au wie die Tragödie:
Exposi4on; Steigerung; Peripe4e; retardierende Handlung; Katastrophe
• Verfilmung: Viscon4, 1971; Oper: Benjamin Brieen, Death in Venice, 1973

Der Dornauszieher
(an.ke Statue, Beispiel vollkommener Schönheit)

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