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Vorlesungsnotizen
Textsammlung
Nr. 006
Vorwort 1
2. Literaturgeschichtliche Epochenbezeichnungen 5
Textsammlung 63
Georg Büchner…………………………………………………………………………………………. 64
Adalbert Stifter………………………………………………………………………………………… 66
Friedrich Hebbel………………………………………………………………………………………. 67
Johann Peter Hebbel………………………………………………………………………………… 69
Marie von Ebner-Eschenbach…………………………………………………………………… 71
Gottfried Keller………………………………………………………………………………………… 78
Eduard Mörike…………………………………………………………………………………………. 81
Annette von Droste-Hülshoff…………………………………………………………………… 83
Fanny Lewald…………………………………………………………………………………………… 87
Heinrich Heine…………………………………………………………………………………………. 94
Heinrich von Kleist…………………………………………………………………………………… 97
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VORWORT
Das vorliegende Kompendium gilt als Pflichtmaterial für die Vorlesung „Die Novelle im
19. und frühen 20. Jahrhundert“. Dieser Kurs wird den Deutsch-Studierenden der
Ausbildung Taal- en Letterkunde als Pflichtfach sowie anderen Studierenden als
Wahlfach angeboten. Das Kompendium enthält außer einem Teil der Informationen,
die im Laufe der Vorlesungen vermittelt werden, auch Auszüge aus Prosa- und
essayistischen Texten sowie Gedichte, die während des Semesters gemeinsam gelesen
werden.
Das Kompendium soll die Studierenden von der Hektik des ständigen Mitschreibens
befreien, ohne die Niederschrift eigener Notizen völlig überflüssig zu machen. Es ist
das Ziel, in den Vorlesungen Zeit zu gewinnen für die gemeinsame Besprechung litera-
rischer Werke.
Die hier gesammelten Notizen beanspruchen keine Vollständigkeit. Sie präsentieren
nur einen Teil der für den Kurs vorgesehenen Literatur und verstehen sich als Brouillon
und Gedächtnisstütze, nicht als ein bis in alle Details ausgearbeitetes
literaturgeschichtliches Fachbuch. Da die Vorlesungen und das Unterrichtsgespräch in
deutscher Sprache stattfinden, garantiert die aktive Teilnahme daran sowohl eine
merkliche Verbesserung der Sprachbeherrschung als auch eine gründliche Vertiefung
der literaturgeschichtlichen Kenntnisse.
Von den Studierenden wird erwartet, dass sie sich selber weitere Informationen über
die behandelten Epochen und Autor(inn)en verschaffen. Das Buch enthält auch
zahlreiche Tipps zur weiteren Lektüre von literarischen Werken. Die zwei
Wochenstunden Literaturunterricht pro Semester sollten von Selbststudium und extra
Lektüre ergänzt werden um den Erfolg der Ausbildung zu gewährleisten.
Dieses Kompendium übernimmt zu einem Teil Vorlesungsnotizen meiner Vorgängerin,
Prof. Dr. Heidy Margrit Müller. Ihr sei an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich für die
viele Arbeit und die Großzügigkeit gedankt. Einige Abschnitte wurden um neue
Aspekte ergänzt oder abgewandelt.
Der Anfang des 19. Jahrhunderts wurde in Preußen von Widerstand gegen Napoleons
Imperialismus geprägt. 1806 hatte Napoleon die preußischen Truppen unter König
Friedrich Wilhelm III geschlagen (nl. verslaan). 1812 hatte er einen Feldzug nach
Russland durchgeführt und war bis Moskau vorgedrungen. 1813 erlitt er allerdings
eine Niederlage in der „Völkerschlacht“ bei Leipzig und zog sich über den Rhein
zurück. Bis 1815 folgte eine Zeit der ständigen Kämpfe zwischen Napoleon einerseits
und Preußen (zusammen mit anderen Verbündeten [= Alliierten], wie Russland,
Schweden und Österreich) andererseits. Diese so genannten “Befreiungskriege”
(1813-1815) wurden von preußischem Patriotismus und deutschem Nationalismus
geprägt. Die jahrhundertealte Hoffnung auf die Bildung einer deutschen Nation wurde
wieder sehr lebendig, realisierte sich aber nicht. Der österreichische Staatsmann
Klemens Wenzel Fürst von Metternich (1773-1859) schloss sich nach einigem Zögern
der Koalition gegen Napoleon an. Er wurde schon bald die einflussreichste Figur der
Koalition. Er strebte in Europa ein Machtgleichgewicht an und wusste seine
restaurativen Bestrebungen auf dem Wiener Kongress (1814-1815) durchzusetzen.
Das Ziel war die zukünftige Verhinderung von allen revolutionären Bestrebungen. In
Frankreich wurde das Königtum restauriert; damit wurden viele Errungenschaften (nl.
verworvenheden) der Französischen Revolution (1789) rückgängig (nl. ongedaan)
gemacht. Deutschland – bis 1806 das Heilige Römische Reich deutscher Nation – blieb
weiterhin ein Konglomerat von Kleinstaaten, ein loser Staatenbund ohne Oberhaupt,
der sogenannte Deutsche Bund. Da Zensur ausgeübt wurde, konnte man nicht
unbehindert publizieren, was einem gut schien; liberale, demokratische und nationale
Bewegungen wurden unterdrückt.
Die Jahre von 1815 bis 1830 gelten als Zeit der RESTAURATION; vorherrschend waren
Tendenzen zur Rückkehr zu den vorrevolutionären Verhältnissen. In dieser Zeit
intensivierte sich in Griechenland der Befreiungskampf gegen die Jahrhunderte lang
andauernde türkische Oberherrschaft. Mit den Griechen sympathisierten viele
Künstler und Intellektuelle aus anderen europäischen Ländern (vgl. Lord Byrons
Entschluss zur Beteiligung am Freiheitskampf in Griechenland, wo er einer Krankheit
erlag; vgl. auch Goethes Sammlung neugriechischer Volkslieder).
In jener Zeit hatte die industrielle Revolution bereits begonnen, die das ganze
Jahrhundert prägen (nl. vormen, kenmerken) sollte. 1835 fuhr die erste Dampf-
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Deutschland bestand nach wie vor aus Kleinstaaten. Das Wahlrecht war (z.B. in
Preußen und in Hessen) so gestaltet, dass nur eine kleine Gruppe der Bevölkerung –
vorwiegend die finanzkräftigen höheren Beamten und die Adligen – Wahlchancen
hatten. In Preußen blieb das „Dreiklassenwahlrecht“ bis zur Novemberrevolution von
1918 in Kraft. Durch das Dreiklassenwahlrecht hatten die vier Prozent der am meisten
Steuern zahlenden männlichen Bevölkerung Recht auf die Wahl ebenso vieler
Wahlmänner wie die über achtzig Prozent der Männer, die – ihrem Einkommen
entsprechend – am wenigsten Steuern bezahlten. Wer gegen die herrschenden
Missstände (nl. wantoestanden) protestierte oder konspirierte, hatte mit Verfolgung,
Gefängnishaft und andauernder beruflicher Behinderung zu rechnen (die Biographien
Georg Büchners und Heinrich Heines zeugen davon!).
1862 wurde Otto von Bismarck (1815-1898), ein konservativer „Junker“ (adliger
Großgrundbesitzer), zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Er führte einen
Kampf gegen den Liberalismus und verstärkte das Militär. Preußen siegte 1864 über
Dänemark, wobei Dänemark fast ein Drittel seines Staatsgebiets verlor, und 1866 – im
deutsch-deutschen Krieg – über Österreich. Schwere innenpolitische Krisen folgten:
Das „Sozialistengesetz“ verhängte (von 1878 bis 1890) ein Druck-, Organisations- und
Versammlungsverbot über die Anhänger der Sozialdemokratie. Ein „Kulturkampf“
wurde geführt: der Kampf des protestantischen Preußen gegen Vorstöße der
katholischen Kirche, die darauf zielten, die Autorität des Papstes in Glaubensfragen zu
vergrößern und die Bindung der nationalen Kirche an Rom zu verstärken. Ein heftiger
„Kulturkampf“ spielte sich auch in der Schweiz ab. 1874 brach der schweizerische
Bundesrat – nach der Vertreibung der Jesuiten – die Beziehungen mit dem Vatikan ab
(bis 1920).
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1870 kam es zu starken Spannungen zwischen Preußen und Frankreich, die in den
Deutsch-Französischen Krieg mündeten. Erneut siegte Preußen. Elsass-Lothringen
wurde von den Deutschen annektiert. Es folgte die von vielen Deutschen seit
Jahrzehnten ersehnte Gründung des Deutschen Reiches (1871). Nicht Kaiser Wilhelm
I., sondern Reichskanzler Otto von Bismarck beanspruchte die Vorherrschaft in dem
neuen Staat („Kanzlerdiktatur“). Nach Konflikten zwischen Kaiser Wilhelm II. und dem
Reichskanzler wurde Bismarck 1890 entlassen. Mit der Gründung des (zweiten)
Deutschen Reiches (nach dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation [962-1806])
war in Mitteleuropa ein wirtschaftliches und militärisches Machtzentrum entstanden,
das von den anderen Großmächten als Bedrohung eingeschätzt wurde.
In den „Gründerjahren“, die auf die Gründung des Deutschen Reichs folgten und die
von Firmenneugründungen gekennzeichnet waren, gab es trotz zeitweiliger
Wirtschaftskrisen Prosperität. „Neureichen“ Fabrikantenfamilien gelang der Aufstieg
in das „höhere Bürgertum“ (spöttisch ist manchmal vom ‚Geldadel‘ die Rede). Die
Technisierung des Alltags erlebte einen rasanten Aufschwung (es gab erste
Automobile, ab 1909 auch Luftschiffe). Im „Wilhelminischen Deutschland“ wurden die
Wissenschaften sehr gefördert; deutsche Wissenschaftler erhielten damals zahlreiche
Nobelpreise. Die Machtansprüche des Kaisers wie auch des Militärs nahmen zu. Kaiser
Wilhelm II. betrieb eine massive Aufrüstung (nl. toenemende bewapening)
Deutschlands. Es kam zum Bruch mit Russland und zu einer Verschlechterung des
Verhältnisses zu England; die Außenpolitik führte zu einer (selbst verschuldeten)
Isolierung des Deutschen Reichs. In Polen wurde eine gezielte Enteignungspolitik (nl.
onteigening als politieke maatregel) betrieben (1908 Enteignungsgesetz), wobei
Deutsche angesiedelt wurden. Die ehrgeizigen Versuche Wilhelms II., das deutsche
Kolonialreich zu erweitern, waren nicht sehr erfolgreich. Die brutale Niederschlagung
von Aufständen in den Kolonien schadete dem internationalen Ansehen des
Deutschen Reiches.
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2. LITERATURGESCHICHTLICHE EPOCHENBEZEICHNUNGEN
Die Autoren des „Vormärz“ waren politisch engagiert und lehnten die Restauration ab.
Sie waren Zeitgenossen von David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach und Karl Marx.
(Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels wurde 1848 in Brüssel
geschrieben!) Die politisch engagierten Schriftsteller des „Vormärz“ nannte man auch
„Junges Deutschland“. Von ihnen sind heute außer Georg Büchner und Heinrich Heine
noch Karl Gutzkow, Ludwig Börne und Georg Herwegh bekannt. Sie waren gegen das
Ancien Régime wie auch gegen jede autoritäre Unterdrückung. (Vgl. Georg Büchners
Aufruf aus dem Hessischen Landboten!)
Für die damaligen Schriftsteller deutscher Sprache ist ein starkes Krisenbewusstsein
kennzeichnend. Sie verstanden die eigene Epoche als eine Phase des Übergangs resp.
des Umbruchs und der (je nach Einstellung und politischem Standort: erzwungenen
oder ersehnten und willkommenen) geistigen und politischen Neuorientierung. Die
Stellungnahmen der Autor(inn)en zu den zeitgenössischen Ereignissen waren teils dem
Kampf gegen die Restauration gewidmet, teils resignativ-verzichtend oder ablehnend
und von der Angst vor gesellschaftlichen Umwälzungen beherrscht. Die
deutschsprachige Literatur aus der Zeit nach der „Weimarer Klassik“ (1785-1805)
wurde (bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein!) als epigonal und minderwertig
eingeschätzt; manche Literaturgeschichtsbücher aus dem 19. Jahrhundert – in dessen
zweiter Hälfte sich die Germanistik als universitäre Disziplin etablierte – begnügen sich
mit kurzen, summarischen Hinweisen auf die Literatur aus der Zeit „nach Goethes
Tod“. Karl Immermann thematisierte das zeitgenössische Lebensgefühl in seinem
Romanwerk Die Epigonen (1836), in dem er Motive aus Johann Wolfgang von Goethes
Entwicklungsroman Wilhelm Meister parodistisch verwendete.
Die Autoren des „Biedermeier“ wie auch einige Schriftsteller des „Poetischen
Realismus“ neigten zum Rückzug ins Privatleben und zur literarischen Beschäftigung
mit der Natur oder der Vergangenheit als dem Bereich der verlorenen Ordnung. Die
darstellerische Aufmerksamkeit galt vorwiegend dem (heiter-beschaulichen) Alltag
und der detaillierten Beschreibung von Sichtbarem, wobei auch Unscheinbares und in
der literarischen Überlieferung bis anhin wenig Berücksichtigtes zur Geltung gebracht
wurde (vgl. G. Kellers Gedicht „Die kleine Passion“ über den Tod einer Mücke). Die
Vertreter des “Jungen Deutschland” hingegen plädierten für eine politisch engagierte
Kunst, insbesondere für den Kampf gegen das Ancien Régime; ihre Denkweise ist von
der Religionskritik und dem Emanzipationsstreben der Aufklärung geprägt.
„Biedermeier“ ist ein teilweise negativ konnotierter Begriff. Die betreffenden Autoren
tendierten zum Rückzug aus der Tagespolitik. Ihnen graute vor gesellschaftlichen
Umwälzungen. Biedermeierliche Literatur (vgl. auch Biedermeier-Mobiliar) zeigt eine
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Vorliebe für idyllische, häusliche, niedliche Szenerie. Viele der damaligen Autor(inn)en
sind längst in Vergessenheit geraten. Da die Anwendung des Begriffs „Biedermeier“
auf die Schreibweise von Schriftstellern deklassierend wirkt, bevorzugen manche
Literaturwissenschaftler den (vagen) Ausdruck „Poetischer Realismus“ oder auch
“Bürgerlicher Realismus” als Sammelbegriff für (nicht modernistische, nicht
naturalistische) Prosawerke aus der Zeit von ca. 1848 bis ca. 1890. Den Begriff
„Biedermeier“ ohne Einschränkung auf Autor(inn)en wie Stifter, Grillparzer, Ebner-
Eschenbach, Mörike anzuwenden, ist sehr problematisch.
Kennzeichnend für die Novelle als literarische Gattung sind folgende Merkmale:
– ein krisenhaftes Ereignis (nl. krisissituatie),
– die Verknüpfung von „Schicksal“ und Charakter sowie die Frage nach der Art der
Verknüpfung,
– das Vorhandensein eines Wendepunktes und die Konzentration auf einen
kennzeichnenden Vorfall – oft auf ein Dingsymbol (vgl. die „Falken“-Theorie Paul
Heyses [s.u.]),
– Konzentration, Verdichtung sowie Verkürzung, wobei oft nicht die „natürliche“
Reihenfolge der Geschehnisse wiedergegeben wird. Spannung und Steigerung auf
einen Höhepunkt hin.
– Szenischer Ausschnitt aus einem großen Gemälde. Oft ist kaum Milieuschilderung
vorhanden. Die Schauplätze erinnern manchmal an Bühnenbilder.
Die Länge des Textes ist nicht entscheidend.
Erst im 19. Jahrhundert wurden Theorien der Novelle entwickelt, und zwar meist im
Vergleich zum Roman. Die Novelle ist zwar nicht die einzige, aber die bevorzugte
literarische Gattung des „Poetischen Realismus“.
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Novelle Roman
Strahl Lichtmasse
FRIEDRICH SPIELHAGEN: (Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, 1883)
PAUL HEYSE
Einleitung zu: Deutscher Novellenschatz (1871)
“Denn nicht viele Jahrzehnte sind zu zählen, seit die Novelle das […] Versprechen, daß
sie auch im Wunderbaren stets natürlich sein werde, in gutem Ernste zu erfüllen
begann. Damit dies geschehen konnte, mußte erst der soziale und künstlerische Geist
im Allgemeinen die große Wandlung erfahren, die mit den letzten Regungen der
Romantik entschieden brach, und die wir mit dem landläufigen Schulwort die
Wendung zum Realismus nennen wollen. Eine Zeit, die in Politik und Philosophie sich
zunächst wieder auf den Boden des Tatsächlichen stellte, in der Geschichtschreibung
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die Quellenforschung, in Physik und Chemie das Experiment ihrer Methode zugrunde
legte, mußte auch einer Dichtungsart günstig sein, in der die Begebenheit, das
Ereignis, der einzelne Fall so vielfach ohne alle höheren Ansprüche auf absoluten
sittlichen und dichterischen Wert zu ihrem Rechte kommen.
Bei dem unverkennbaren Einfluß, den diese allgemeinen Zustände insbesondere auch
auf die Entwicklung der Novelle ausübten, hat noch ein ganz äußerlicher Umstand aufs
entscheidendste mitgewirkt: das Aufblühen des Journalismus; […]
Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses oder einer sinnreich
erfundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die Novelle nach und nach zu der
Form entwickelt, in welcher gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Fragen zur
Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der
Ausnahmsfall, das höchst individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der
Pflichten, seine Geltung findet. Fälle, die sich durch den Eigensinn der Umstände und
Charaktere und eine durchaus nicht allgemein gültige Lösung der dramatischen
Behandlung entziehen, sittliche Zartheit oder Größe, die zu ihrem Verständnis der
sorgfältigsten Einzelzüge bedarf, alles Einzige und Eigenartige, selbst Grillige und bis
an die Grenze des Häßlichen sich Verirrende ist von der Novelle dichterisch zu
verwerten. […] da der Mensch auch in seinen Unzulänglichkeiten dem Menschen
doch immer das Interessanteste bleibt.
Denn wie sehr auch die kleinste Form großer Wirkungen fähig sei, beweist unseres
Erachtens gerade die Novelle, die im Gegensatz zum Roman den Eindruck ebenso
verdichtet, auf einen Punkt sammelt und dadurch zur höchsten Gewalt zu steigern
vermag, wie es der Ballade, dem Epos gegenüber, vergönnt ist, mit einem raschen
Schlage uns das innerste Herz zu treffen. […] Soviel aber muß doch zu vorläufiger
Verständigung gesagt werden, daß wir allerdings den Unterschied beider Gattungen
nicht in das Längenmaß setzen, wonach ein Roman eine mehrbändige Novelle, eine
Novelle ein kleiner Roman wäre. Da lang und kurz relative Begriffe sind und man
bekanntlich die simpelste Liebesgeschichte für den Liebhaber nicht lang genug
ausspinnen, dagegen den Inhalt der Odyssee "zum Gebrauch des Dauphin" auf eine
Quartseite bringen kann, so muß, wenn es sich um mehr als Namen handeln soll, schon
im Thema, im Problem, im unentwickelten Keim etwas liegen, das mit Notwendigkeit
zu der einen oder andern Form hindrängt.
Und dies scheint, wenn man auf das Wesentliche sieht, in folgendem zu beruhen.
Wenn der Roman ein Kultur- und Gesellschaftsbild im großen, ein Weltbild im kleinen
entfaltet, bei dem es auf ein gruppenweises Ineinandergreifen oder ein konzentrisches
Sichumschlingen verschiedener Lebenskreise recht eigentlich abgesehen ist, so hat die
Novelle in einem einzigen Kreise einen einzelnen Konflikt, eine sittliche oder
Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen und die
Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem großen Ganzen des Weltlebens
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Laut Heyse gibt es in jeder Novelle einen „Falken“, ein bedeutungsvolles Symbol – oft
ein Dingsymbol. Vgl. die 9. Novelle des 5. Tages bei Boccaccio: Ein im Minnedienst
verarmter Ritter besitzt nur noch einen Falken, der ihm sehr teuer ist. Die verehrte
Dame ist verwitwet; sie besitzt nur noch ihren Sohn. Dieser ist todkrank und verlangt
nach dem Falken als Spielgefährten. Wohl oder übel besucht die Dame ihren früheren
Liebhaber, um ihn um den Falken zu bitten. Sie äußert ihre Bitte nach dem Gastmahl,
das der Mann für sie hat richten lassen. Es stellt sich heraus, dass der Ritter seinen
Falken geopfert hat, weil er der Dame sonst nichts zu essen hätte anbieten können.
Der Sohn der Dame stirbt. Die Dame ist jedoch so gerührt vom Opfer des Mannes, dass
sie ihn heiratet.
THEODOR STORM war anderer Meinung als Heyse: „Den Boccaccioschen Falken lass
ich unbekümmert fliegen.“ Storm bezeichnete die Novelle als eine hybride Gattung:
“Die heutige Novelle in ihrer besten Vollendung ist die epische Schwester des Dramas
und die strengste Form der Prosadichtung.“
THEODOR MUNDT
Für Theodor Mundt nistet sich in der Vormärzzeit vor der Revolution von 1848 die
Novelle geradezu als „Haustier“ in der biedermeierlich-bürgerlichen Idylle ein, „sitzt
mit zu Tische und belauscht das Abendgespräch, und man kann da dem Herrn Papa
zur guten Stunde etwas unter die Nachtmütze schieben oder dem Herrn Sohn bei
gemächlicher Pfeife eine Richtung einflüstern, die vielleicht einmal für die ganze
Nation Folgen haben mag. Die Novelle ist ein herrliches Ährenfeld für die politische
Allegorie […]. Draußen vor dem Schauspielhause sind auch Gendarmerie und Polizei
aufgestellt und behüten das Drama. Die Novelle steht sich mit der Polizei besser, und
sie flüchtet sich auf die gute Stube, wo es keine Gendarmerie gibt. In seiner Stube ist
der Deutsche auch ein ganz anderer Mensch, […] er glaubt an die Freiheit.“ (Mundt,
in: Polheim, Theorie und Kritik der deutschen Novelle, 1970, 70)
Mundt weist auf den ambivalenten Status der Novelle auf dem bürgerlichen
Kulturmarkt hin. Die Novelle, die in Zeitungen und Familienblättern veröffentlicht
wurde, war zu einer Massenware geworden, zu leicht verständlicher
Feierabendlektüre. Gerade diese Eigenschaft machte sie auch zu einer politisch
wichtigen Gattung: Die Dichter des Jungen Deutschlands versuchten mittels der
Novelle ihre fortschrittlichen Ansichten unter den Bürgern zu verbreiten; moralisch
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Als ein früher Vertreter der modernen Novelle gilt Heinrich von Kleist (1777-1811),
der Novellen schrieb in einer Zeit, als das Drama noch als die höchste literarische
Gattung galt und die Novelle noch nicht von einer normativen Poetik bestimmt
wurde. Lektürebeispiel: Das Erdbeben in Chili (1807): Schicksalsnovelle,
Katastrophennovelle.
Bibliografie:
D.E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel
von Kleists “Erdbeben in Chili”, München 1985.
Rolf Füllmann, Einführung in die Novelle, Darmstadt 2010.
Thomas Bergmann, Heinrich von Kleist: “Das Erdbeben in Chili”, Augsburg 2010-11.
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Biographisches
• Geboren 1777 in einer preußisch-militärischen Familie, mit 15 Jahren in die Armee
eingetreten.
• Vaterlandsliebend; gemischte Gefühle für die Französische RevoluHon (Verrat der
Ideale); Haß auf Napoleon.
• 1799: Abschied von der Armee: 7 verlorene Jahre.
• à Kleist bricht mit der TradiHon und den Erwartungen der Familie.
• Studium in Frankfurt an der Oder.
• 1801: “Kantkrise”
• Reise nach Paris (die Stadt gefiel ihm nicht) und in die Schweiz. Wollte dort Bauer
werden. Erste Dichtungen. Heimatlosigkeit, v.a. psychisch und emoHonal.
• PsychosomaHsche Krankheiten.
• 1807 in Berlin in französischer Kriegsgefangenscha`.
• 1807-09 in Dresden, Herausgeber des Phöbius. Journal für die Kunst (erfolglos).
• Ambivalente Haltung gegenüber Goethe: Verehrung – Neid – Haß: “Ich werde ihm den
Kranz von der SHrne reißen.”
• 1810-11 in Berlin, Herausgeber der Berliner Abendblä9er (nach kurzem Erfolg
gescheitert). Schreibt viel.
• 21. November 1811: Erschießung der krebskranken Henriece Vogel und Suizid Kleists
am Berliner Wannsee.
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Das Werk
• Exzentrische Biografie; extremistische Poetik
Bibliographie
• Dieter Heimböckel (Hrsg.), Kleist. Vom Schreiben
in der Moderne. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2013.
• Gerhard Lauer, “Das Erdbeben von Lissabon.
Ereignis, Wahrnehmung und Deutung im Zeitalter
der AuKlärung”, 2008, online abruOar unter:
goethezeitportal.de
• Peter Michalzik, Kleist. Dichter, Krieger,
Seelensucher. Biographie. Berlin: Ullstein
Buchverlage 2011.
• Uwe SchüWe, Die Poe<k des Extremen. GöXngen:
Vandenhoeck & Ruprecht 2006.
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aufgeführt. Der Vater versöhnte sich mit dem (erfolgreichen) Sohn. Im Februar 1837
starb Büchner nach kurzer, rätselhafter, schwerer Krankheit.
J.M.R. Lenz war ein bedeutender Dichter des Sturm und Drang. In Straßburg traf er
1771 mit dem jungen Goethe zusammen. Die beiden verkehrten freundschaftlich
miteinander, legten einander Manuskripte zur Beurteilung vor. Beide lasen damals u.a.
Werke Homers, Shakespeares und „Ossians“. 1776, als Goethe in Weimar lebte, kühlte
sich die Freundschaft rasch ab; es kam zu Differenzen (nl. onenigheid) mit Goethe und
der Weimarer Hofgesellschaft, die Lenz zur Abreise zwangen. (Dies hatte Nachteile für
Lenz’ schriftstellerische Tätigkeit!) Im 12. und 14. Buch von Dichtung und Wahrheit
äußert sich Goethe ungünstig über Lenz (vgl. Auszüge in der Reclam-Studienausgabe
der Lenz-Novelle und die Kommentare von Hubert Gersch im Anhang dieser Ausgabe!).
Goethes Äußerungen haben die Lenz-Rezeption lange Zeit stark beeinflusst. Dass
Büchner gerade Lenz auswählte für seine Psychographie eines Leidenden, zeugt von
seinem Widerspruchsgeist (nl. de mentaliteit van iemand die steeds moet te-
genspreken), von seinem Mitgefühl und Engagement für ungerecht oder herablassend
Behandelte wie auch von seiner anti-klassizistischen Kunstauffassung. Seine
Beschreibung der Lenz-Gestalt steht an mehreren Stellen offenkundig in Opposition zu
Formulierungen Goethes. Hubert Gersch weist (im Nachwort zur Reclam-
Studienausgabe) detailliert nach, dass und wie Büchners Text nicht nur das Tagebuch
Pfarrer Oberlins, sondern auch Goethes Kommentare zu seinen Begegnungen mit Lenz
reflektiert und abwandelt.
Jakob Michael Reinhold Lenz’ Hauptwerke sind die beiden Dramen Der Hofmeister
(1774) und Die Soldaten (1776). Der Schriftsteller hat zwei (von eigenen Erfahrungen
mitgeprägte) sozialkritische Dramen hinterlassen, in denen die misslichen
Lebensbedingungen der Privatlehrer (resp. „Hofmeister“) wie auch der Soldaten
angeprangert werden. Formal sind die beiden Dramen innovativ (sie haben eine offene
Form und sind durch eine lockere [nl. luchtig] Szenenfolge gekennzeichnet).
Es gibt Ähnlichkeiten zwischen der Situation des jungen Goethe, Büchners und des
Protagonisten der Lenz-Novelle: vgl.
– die Auflehnung gegen Autoritäten und den Protest gegen die herrschenden
politischen Verhältnisse;
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In der Predigtszene spricht Lenz in einer Art Solidarität mit der ganzen Menschheit
über das Leiden. Zugleich erhebt er den missionarischen Anspruch, dieses Leiden zu
beheben. Das Kirchenlied enttäuscht ihn; die Gemeinde nimmt das Leiden einfach hin,
indem sie es zum religiösen Prinzip macht. Lenz’ Erlösungsmission kommt nicht an; er
erlebt – als einziger – tiefen Schmerz („Das All war für ihn in Wunden“), und als Erlöser
findet er keine Anerkennung. Seine Reaktion verrät seine psychische Instabilität: in
masochistischer Weise kann er nur noch sich selbst bemitleiden.
Eine wichtige Stelle ist auch die Kaufmann-Episode: Einer, der Lenz aus früheren Zeiten
kennt, kommt in das Steintal und zu Pfarrer Oberlin. Lenz ist die Konfrontation
unangenehm. Es entfaltet sich ein Gespräch über Literatur (das sog. Kunstgespräch),
in dem Lenz seine Kunstauffassung darlegt. Ein Gegensatz wird klar zwischen
Idealismus und „Realismus“, wobei Lenz (abwechselnd in direkter und indirekter
Rede!) seine philosophischen und ästhetischen Auffassungen im Bereich des
„Realismus“ ansiedelt. Absoluten Vorrang hat bei ihm das Prinzip des Lebens („Ich
verlang in Allem – Leben, Möglichkeit des Daseins; das Gefühl, dass was geschaffen
sei, Leben habe, [...] sei das einzige Kriterium in Kunstsachen“). Der Idealismus dage-
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gen geht (mit verklärender Tendenz) von der (erstarrten) Idee aus, wie Kunst zu sein
habe, und ist daher für Lenz „die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur“.
An die Stelle der zeitlosen Schönheit (der klassischen Schönheitsideale) setzt Lenz das
Prinzip der Veränderung: unendliche Schönheit entsteht erst aus dem Bild-Wechsel,
aus dem Übergang einer Form in die andere. Shakespeare und Goethe dienen ihm als
Beispiele. Lenz – auch Büchner? – geht über sie hinaus mit seiner Forderung, die
Menschheit (wie auch die Dinge) zu lieben, sich vollkommen in ihr Wesen einzufühlen
und auch deren „hässliche“ Seiten wiederzugeben (nl. te vertolken).
Oberlin und Kaufmann unternehmen eine Reise in die Schweiz. Nach Oberlins Abreise
verliert Lenz vollends den Halt (nl. houvast). Die Angst vor sich selber treibt ihn im
Laufe der Novelle mehrmals in die Natur. Sowie er allein ist, entzieht sich ihm die
Realität und wird er stetigem Wechsel ausgesetzt.
Lenz unternimmt eine Wanderung und übernachtet bei einer fremden Familie. Er
findet einen alten Mann vor, der wie ein Heiliger verehrt wird. Wenig später
manövriert sich Lenz selbst in die Rolle eines tiefreligiösen Wundertäters: doch sein
Versuch der Auferweckung eines toten Mädchens misslingt. Seine messianischen
Ansprüche lassen sich nicht verwirklichen; die Diskrepanz zwischen seiner
Selbsteinschätzung und seinen tatsächlichen Fähigkeiten wächst. Mehr und mehr
dominiert der Wahnsinn. Mitleid, Ohnmacht, Aktivitätswille, Erschöpfung, Wahnsinn
und Klarheit: „Alles strömte wieder zusammen.“ Lenz beherrscht sein Denken und
Fühlen („das wüste Chaos seines Geistes“) nicht mehr. Die Zeitraffung veranschaulicht
den sich beschleunigenden Prozess der „Umnachtung“ (vgl. auch die Gestaltung der
Lichtverhältnisse, das Vorherrschen von Dämmerung und Dunkelheit in der Novelle!).
Nach Oberlins Rückkehr erfolgt keine Besserung von Lenz’ Zustand. Er verspürt das
masochistische Verlangen, geschlagen zu werden. Er unternimmt
Selbstmordversuche. Oberlin muss den Kranken ständig bewachen lassen.
Lenz’ Abschied von Friederike war anscheinend ein Auslöser der Krise. Der Schluss ist
kurz und fragmentarisch: Lenz wird aus dem Pfarrhaus im Steintal nach Straßburg
zurückgeführt. Dort lebt er still vor sich hin; er tut „alles wie es die andern taten“;
offenbar hat er sich an die verabscheute Lebensweise der Mehrheit vollkommen
angepasst. Die zahlreichen halbherzigen Selbstmordversuche wurden wohl nicht
zuletzt deshalb nicht vollendet, weil auch der Tod Lenz keineswegs als Erlösung
erscheint.
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Büchner
Stilistisches
• Naturdarstellungen als Spiegel der Psyche des Protagonisten – bald
Harmonie und Übereinstimmung, bald Isolation und Einsamkeit
• Sprachliche Bilder von hoher Sinnlichkeit, die auf moderne Ästhetiken
wie Surrealismus und Expressionismus vorausdeuten und realistische
Normen überwinden
• Dynamischer Stil und Syntax, die die Schwankungen im Gemüt des
Protagonisten andeuten, u.a. durch Reihen von elliptischen Satzteilen,
Anaphern, Asyndeta, Wechsel indirekte Rede – erlebte Rede – direkte
Rede, usw.
Zeitdiagnose
• Lenz leidet an der bürgerlichen utilitaristischen Moral (Tüchtigkeit,
Zweckmäßigkeit, ‘Normalität’) der Modernität. Diese entfremdet den
Menschen von sich selbst.
• Die autoritäre Religion hilft nicht um das Leiden im Diesseits wirklich
zu lindern.
Ø die alten ‘großen Erzählungen’ gelten nicht mehr, aber die neuen
bieten keine Alternative.
Ø Krisenzeit
Literatur:
Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe. Stuttgart: Reclam 1984. (= Universal-Bibliothek
Reclam, Nr. 8210.) – Georg Büchner, Werke und Briefe. München: Hanser 1980. (Nachwort
von Werner R. Lehmann.) – Walter Hinderer, Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk.
München: Winkler 1977 – Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1972) – Erwin Kobel, Georg Büchner. Das dichterische Werk. Berlin: de Gruyter
1974. – Nachwort von Ernst Johann in: Georg Büchner: Sämtliche Werke. Frankfurt am Main:
Büchergilde Gutenberg 1970, S. 465-503. – James Crighton: Büchner and Madness:
Schizophrenia in Georg Buchner’s Lenz and Woyzeck. Lampeter: Edwin Mellen Press 1998.
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Zur Autorin
Die Schriftstellerin (1797-1848) war adeliger Herkunft (von Hülshoff / von
Haxthausen) und lebte im Münsterland, in Westfalen. Sie blieb unverheiratet. Sie
hatte einen großen Verwandtenkreis, auf den Rücksicht genommen werden musste;
so war sie zeitlebens zu Zurückhaltung verpflichtet – auch als Schriftstellerin. Mehrere
ihrer Werke beschäftigen sich mit dem Münsterland, so u.a. die Bilder aus Westfalen,
Bei uns zu Lande und Die Judenbuche.
Die Dichterin war außergewöhnlich sensibel und hatte eine lebhafte Phantasie
(Nachtwandeln, intensive Tagträume); sie verspürte eine ambivalente Affinität zum
Grausigen und Dämonisch-Rätselhaften. Sie war oft von Angst und Schuldgefühlen
erfüllt. Eine „Jugendkatastrophe“ überschattete ihr ganzes Leben: Annette von
Droste-Hülshoff zögerte als junges Mädchen mit der Wahl zwischen zwei Männern,
die miteinander befreundet waren. Durch ungeschicktes Verhalten aller Beteiligten
verlor Annette beide Freunde – den adeligen Heiratsanwärter (nl. huwelijkskandidaat)
wie auch den bürgerlichen Freund. Jahrelang führte sie ein sehr zurückgezogenes
Leben. Ihre ersten Veröffentlichungen erschienen erst relativ spät – zuerst unter
einem Pseudonym. (Bis in das frühe 20. Jahrhundert galt es als unschicklich, dass
Frauen schriftstellerisch in Erscheinung traten!) Literarischer Erfolg stellte sich erst
1842 ein: mit der Publikation der Judenbuche, eines Werks, an dessen Qualität sie
zunächst zweifelte. Um 1840 begann ihre Beziehung zu Levin Schücking, dem Sohn
einer verstorbenen Jugendfreundin. Eine Zeitlang wohnten sie beide in der Meersburg
am Bodensee, wo Annettes Schwester verheiratet war. Doch kam es zu einer
Entfremdung der Liebenden; jäh reiste Schücking ab. 1846 publizierte Schücking den
Roman Die Ritterbürtigen, der verletzende Kritik am westfälischen Adel enthielt.
Droste-Hülshoff geriet in Verruf (nl. slechte naam), weil man annahm, dass sie
Schücking diskriminierende Fakten über den westfälischen Adel mitgeteilt habe. In
den letzten Lebensjahren war Annette von Droste-Hülshoff besonders oft krank und
deprimiert.
vgl. Bilder aus Westfalen: dort wird die Auffassung vertreten, dass sich in Paderborn
(Die Judenbuche spielt in der Umgebung von Paderborn) Vorchristlich-Heidnisches
erhalten habe. Viele Rechtsverletzungen geschahen dort unter Berufung auf ein altes
Naturrecht. Der ‚Volkscharakter‘ der Leute aus Paderborn galt als leidenschaftlich, zu
Affekthandlungen neigend.
Quellen
In der Novelle meldet sich zweimal ein Ich zu Wort: „Es würde in einer erdichteten
Geschichte unrecht sein, die Neugier der Leser so zu täuschen. Aber dies alles hat sich
wirklich zugetragen; ich kann nichts davon- oder dazutun.“ Tatsächlich hat die Autorin
historische Materialien verwendet. Ein Vorfahre mütterlicherseits (der Urgroßvater
bzw. Großvater von Haxthausen) erlebte als Gutsherr etwas Ähnliches. 1783 (in der
Novelle: 1760) gab es einen Mord an einem Juden durch einen Einheimischen, der floh
und schließlich in algerische Gefangenschaft geriet. Ein anderer Vorfahre Annette von
Droste-Hülshoffs, August von Haxthausen, schrieb einen leicht stilisierten
Tatsachenbericht über die Begebenheit unter dem Titel Geschichte eines Algierer-
Sklaven. Die Dichterin kannte die Geschichte auch aus Erzählungen und Briefen von
Verwandten. Sie hat viele Änderungen vorgenommen; ihre Erzählung ist nicht mehr
bloß anekdotisch, sondern voll von (dunklen?) Bezügen und dynamisiert von der
grundsätzlichen Frage nach Schuld und Gerichtsbarkeit.
Sachliche Erläuterungen
Gutsherren besaßen damals die „niedere Gerichtsbarkeit“; über kleinere Vergehen
konnten sie selbst richten – nach eigenem Gutdünken und nach dem Gewohn-
heitsrecht. Noch zu Annette von Droste-Hülshoffs Lebzeiten (nicht nur im 18. Jahrhun-
dert wie in der Novelle) kam es oft zum Streit zwischen den Bauern und dem Gutsherrn
um das Vorrecht, Holz zu fällen. Der Wald gehörte dem Gutsherrn; die Bauern jedoch
beriefen sich auf ein altes Naturrecht. Auch Wilddiebstahl war üblich.
Friedrich Mergel ist der Sohn eines ‚Hallmeyers‘, d.h. eines Bauern, der nicht ganz frei,
sondern dem Gutsherrn zu bestimmten Dienstleistungen verpflichtet war (im
Fürstbistum Paderborn war ein ‚Hallmeyer‘ zu zehneinhalb Tagen Pflugdienst jährlich
verpflichtet).
Die Dörfer, die in der Novelle erwähnt werden, existieren tatsächlich. „Dorf B.“, der
Wohnort der Mergels, heißt in Wirklichkeit Bellersen. (Bellersen ist ein Nachbardorf
von Bökendorf, dem Wohnort der Familie von Haxthausen. Annette hat sich sehr oft
dort aufgehalten; die ‚Jugendkatastrophe‘ ihres Lebens spielte sich dort ab.) „Brede“,
der Wohnort Simon Semmlers, liegt ganz in der Nähe, heißt in Wirklichkeit
Bredenborn. P. (der Ort des Gerichts) ist Paderborn. Die Gegend ist waldreich; die
Handlung spielt im Teutoburger Wald.
26
Der Titel der Novelle könnte im 20. Jahrhundert falsche Erwartungen wecken; es geht
nicht (in erster Linie) um Vorurteile gegen Juden oder um die Verfolgung von Juden.
Allerdings werden im Laufe der Erzählung u.a. auch Vorurteile gegen die Juden
thematisiert: vgl. das Gespräch der Mutter Margreth mit dem neunjährigen Sohn: „die
Juden sind alle Schelme“. Am Hochzeitsfest rufen einige Bauern: „Packt den Juden!
Wiegt ihn gegen ein Schwein!“ – Die Juden gelten unter den Bauern als eine separate,
minderwertige Gruppe. Das ungünstige Urteil über die Juden wird aber deutlich als
Vorurteil beschränkter Menschen gekennzeichnet. (Margreths Urteil ist überdies
offenkundig falsch.) Die Judenbuche ist zwar ein bedeutungsvolles Motiv (vgl. die
mehrfache Erwähnung und die magische Anziehungskraft der Buche auf den
Schuldigen), aber nur eines unter anderen.
27
Bei Droste-Hülshoff liegt der Akzent nicht auf der Verschuldung, sondern auf dem
Mangel, der Deformierung (hinzu kommt ein Appell an das Mitgefühl). Die Erzählung
warnt vor Vorurteilen. Die Formulierung „beschränkten Hirnes Wirren“ im Gedicht,
das der Erzählung als Motto vorangestellt wurde, ist nicht zuletzt ein poetologischer
Kommentar: Auch die Autorin selbst ist der Aufgabe nicht ganz gewachsen; keine Hand
ist zart genug, um ohne Irrtum die verworrenen Motive zu entflechten. Der Schluss des
Gedichts warnt Privilegierte davor, leichtfertig zu urteilen; ein gerechtes Urteil ist
ihnen grundsätzlich kaum möglich. Damit verbunden wird die Warnung vor
Selbstgerechtigkeit. Geworben wird um Verständnis für das Elend des Benachteiligten,
des durch Herkunft, Umgebung und Schwäche des eigenen Charakters Deklassierten.
schließlich nichts zur Aufdeckung der Schuld. – Friedrich besitzt seinen freien Willen
und überdies besondere Qualitäten, die ihn vor seinen Kollegen auszeichnen: dies zeigt
die Anfertigung einer – freilich primitiven – Holzschuhvioline. Er verfügt über
Ausdauer, Kraft und Tüchtigkeit.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das soziale Umfeld (Dorf und Familie) wie
auch die mögliche hereditäre Belastung zwar mit ungewöhnlicher Deutlichkeit und
Ausführlichkeit geschildert werden, dass sie aber nicht die einzigen Triebkräfte sind;
auch der freie Wille und die Entscheidungskraft könnten über den eigenen Lebensweg
mitbestimmen. Allerdings müsste beides bei Friedrich sehr stark sein, um erfolgreich
zu sein.
Zur Darstellungsweise
Droste weicht stark von der Vorlage, dem Bericht ihres Vorfahren, ab: Sie hat Figuren
wie Johannes Niemand und den Ohm Semmler dazu erfunden sowie Charaktere
verändert (beispielsweise die Wesensart des Gutsherrn).
Durch die Erzählweise wird große Wirklichkeitsnähe suggeriert (vgl. z.B. das Gespräch
zwischen der Mutter und dem neunjährigen Sohn, ferner auch Aarons Syntax, die der
jiddischen Grammatik folgt. Oft wird personal erzählt. Die Perspektive verlagert sich
auf mehrere verschiedene Personen. Der Blickwinkel in den betreffenden Partien ist
deutlich beschränkt; wiedergegeben werden fragmentarische Wahrnehmungen
Einzelner, eventuell auch deren Irrtümer. In den Szenen gibt es keine
Erzählerkommentare. Manchmal gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen der
vordergründigen Gesprächsebene und der (metaphorischen) Tiefenschicht des
Textes. Während Friedrich beispielsweise (in Bezug auf den Hund) den Förster zu
belügen versucht, wird für das (aufmerksame) Lesepublikum deutlich, dass Friedrich
mit den Holzfällern im Bunde steht. Vgl. auch das Gespräch zwischen Ohm Semmler
und Friedrich: Oberflächlich betrachtet, ist es ein Gespräch über den Beichtgang;
zugleich wird jedoch deutlich, dass der „Ohm“ Brandis ermordet hat und dass
Friedrich von Schuldgefühlen geplagt wird. Deutlich wird hier – wie auch andernorts
–, wie Friedrich von seinem Onkel auf üble Wege geführt wird und dass sein –
ursprünglich sensibles – Rechtsempfinden nicht stark genug ist, sich gegen
verworrene Rechtsvorstellungen anderer durchzusetzen.
Im Handlungsverlauf wird immer wieder deutlich, wie leicht die Beteiligten – und
auch die Lesenden – Täuschungen anheim fallen. Vgl. die Suche nach Aarons Mörder:
Nach Friedrichs Flucht hält jedermann ihn für den Mörder. Nach dem Geständnis des
„Lumpenmoises“ ändert jedermann schlagartig die Meinung und verdächtigt Mergel
nicht mehr. Am Schluss – nach der Entdeckung der Narbe – glauben alle wieder an
Friedrichs Schuld. Winfried Freund weist – im Gegensatz zu den meisten anderen
Interpreten – darauf hin, dass die Schuld auch am Schluss nicht mit Sicherheit
erwiesen sei; vielleicht sei auch der Gutsherr angesichts der (früher nicht erwähnten)
Narbe einer Täuschung zum Opfer gefallen. Freund ist entgegenzuhalten, dass es
Indizien für Friedrichs Schuld gibt: nach der Mordtat schnitzt er den Löffel entzwei. In
früheren Textfassungen und in der historischen Vorlage besteht kein Zweifel daran,
30
dass Friedrich der Mörder ist. Vgl. auch die Narbe: ihre Erwähnung am Schluss ge-
schieht völlig überraschend; niemand schien zuvor etwas von einer Narbe Friedrich
Mergels zu wissen. Vgl. aber die Erwähnung Ulysses’ ganz zu Beginn der Novelle: Auch
Odysseus wurde (nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg) (von der Amme)
an einer Narbe wieder erkannt; die Erwähnung Odysseus’ ist kein blindes Motiv, wie
Gerhard Oppermann herausgefunden hat.
Von Droste-Hülshoff werden die Vertreter der untersten und der obersten sozialen
Schicht erzähltechnisch gleich behandelt. Zwar hat Droste den Gutsherrn mit einem
besseren Charakter ausgestattet als sein historisches Vorbild, das dem Heimkehrer
nicht half; auch macht sie ihn zu demjenigen, der am Schluss die Identität des Mörders
herausfindet. Aber im Übrigen macht sie keine Ausnahme; auch der Gutsherr ist
Beschränkungen unterworfen und verfällt wiederholt Irrtümern; er ist weder
allwissend noch allmächtig. Ähnlich wie den Gutsherrn charakterisiert die Erzählerin
sich selbst: Sie bezeugt Anteilnahme, Interesse, Wohlwollen, ist aber vielen
Beschränkungen unterworfen. Hier zeigt sich eine Abweichung vom Künstlerbild der
Romantiker: Künstler haben nicht mehr unbeschränkte Möglichkeiten; das Dichten gilt
nicht mehr als ein souveränes Spiel.
seines Lebens beraubt; der andere – Ohm Semmler – kommt ungeschoren davon.
(Dieses absurde Moment wird nicht akzentuiert und von den Vertretern der These a)
meist übersehen oder totgeschwiegen.)
These b): In der Novelle setzt sich die neutestamentarische Botschaft (Nachsicht,
Milde; Verständnis für die Situation des Übeltäters) durch (Vertreter dieser Deutung:
u.a. Ricarda Huch und Winfried Freund). Ohne Zweifel wird im prologartigen Gedicht
ein entsprechender Appell an den Leser gerichtet.
Gängige Interpretationsweise: die Novelle sei als religiöses Exempel zu verstehen – als
Beispiel dafür, dass transzendente Kräfte (nach alt- oder neutestamentarischen
Grundsätzen) dafür sorgen, dass Unrecht bestraft wird, auch wenn die menschliche
Gerichtsbarkeit versagt.
Droste-Hülshoff wahrt aber skeptische Distanz allen üblichen Beurteilungsschemata
gegenüber und akzentuiert in der Novelle die Relativität und Bedingtheit der
menschlichen Vorstellungen. Weder die Rechtsbegriffe der Dörfler noch die des
Gutsherrn oder der anderen Gerichtsvertreter werden in der Erzählung verabsolutiert,
propagiert oder idealisiert.
In Bezug auf Friedrich Mergel geht der alttestamentarische Wunsch der Juden in
Erfüllung – aus welchen Gründen, bleibt rätselhaft (Wortmagie? Naturmagie?
Gewissensbisse Friedrichs?). Es gibt auch Momente, wo eine neutestamentarisch
anmutende Milde wirksam ist: der Gutsherr sorgt für Margreth Semmler und nimmt
sich des Heimkehrers an; überhaupt regiert er über seine Untertanen wie ein gütiger
Vater. Aber auch diese Haltung wird nicht verallgemeinert oder zum siegreichen
Prinzip erhoben. Selbst der Gutsherr ist nicht immer gütig. Beispielsweise verweigert
er Friedrich – nachdem er dessen wahre Identität festgestellt hat – das Begräbnis auf
einem Friedhof, das sich Friedrich doch gewünscht hatte, und lässt ihn auf dem
Schindanger (nl. vilderij) verscharren; von Vergebung der Schuld ist hier keine Spur –
und dies, obwohl der Betroffene mit einem harten Leben in der türkischen Sklaverei
gebüßt hat.
Über Friedrichs Selbstmordmotive lässt sich nicht vollends Klarheit gewinnen;
manches bleibt dunkel. (Er wird nach der Flucht nicht mehr zur Perspektivfigur
gemacht, deren Innenwelt ausgeleuchtet wird.) Aus den verschiedenen
Rechtsauffassungen in der Novelle ein einheitliches Prinzip abzuleiten, wird nicht vom
Text unterstützt. Die deutlich vorhandene didaktische Intention richtet sich nicht auf
die Etablierung bestimmter, für alle verbindlicher Normen. Vielmehr liegt der Autorin
gerade an der Warnung vor der Unzulänglichkeit der Erkenntnis, der menschlichen
Normen.
32
Epochenspezifische Charakteristika
Aus dem Text spricht großes Interesse an wirklichkeitsnaher Abbildung wie auch an
der Darstellung des Lebens und der Mentalität von Menschen aller sozialen Schichten.
Sozialkritik ist zwar vorhanden; der didaktische Impetus ist aber nicht auf den Umsturz
der bestehenden Verhältnisse gerichtet, sondern auf Verständnis für alle. Die Be-
ziehung zwischen Vertretern der Ober- und der Unterschicht gestaltet sich relativ
freundlich. Auch die dargestellten Personen sind nicht auf Revolution aus.
Der Eindruck der Fiktion wird – fast ängstlich – vermieden, der Anteil des (fingierten)
Erzählers minimalisiert. Dichtung wird als Mimesis des Realen, nicht als etwas
Absolutes aufgefasst (= Gegensatz zu den Dichtungsauffassungen der Romantik). Die
Dichtung gilt als Abbildung historisch verbürgter Tatsachen – obwohl Droste
nachweisbar von der Vorlage abgewichen ist (was sie allerdings später bedauert hat).
Der Tendenz zur Zurücknahme des Erzählers korrespondiert die Bevorzugung
szenischer und personaler Darstellungsweisen. Dies lässt sich bereits bei Eichendorff
beobachten. Hier kommt jedoch ein neues Moment hinzu, das besonders wichtig
erscheint, wenn man an die Sprachthematik in der Literatur seit 1900 denkt: Das
Erzählen wird in Droste-Hülshoffs Novelle ausdrücklich zu einem Problem.
Hier geht es nicht um eine Entwicklung im Sinne einer optimalen Entfaltung möglichst
aller ersprießlichen (nl. gunstig, positief) menschlichen Eigenschaften, sondern um die
Deformation zu einem Übeltäter und geistig verwirrten Schatten seiner selbst. In der
Judenbuche wird gezeigt, dass und wie Beschränktheit Beschränktheit bewirkt; die
ansteckende Macht des Bösen wird exemplifiziert.
Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist hier ganz anders als in der (Früh-)-
Romantik. Es gibt keine universelle Harmonie; das Ich ist nicht eins mit der Natur.
Vielmehr dominiert das Besitzverhältnis oder das Gewinnstreben.
Existenzielle Situation: Auffällig ist die tiefe Einsamkeit der Hauptperson (vgl. auch
Grillparzer und Stifter). Die Einsamkeit wird weder als Unglück (wie oft im 20.
Jahrhundert) noch als Auszeichnung (vgl. Schillers Tell: „Der Starke ist am mächtigsten
allein“) erfahren und kommentiert. Ihre Entstehungsbedingungen werden angedeutet
(ihre Wurzeln liegen in der Kindheit, in der Behandlung durch die Umgebung wie auch
im eigenen Charakter). Die Intention der Erzählung richtet sich weniger auf
Veränderung als auf Erklärung des Gewordenen und Geschehenen; insofern ist die
Darstellungsweise statisch.
Modern scheint im Rückblick das Interesse an der Entwicklung eines Vertreters der
Unterschicht zum Mörder. Modernistische Züge trägt auch die Form: dargeboten
werden scharf visierte Bruchstücke mit unscharfen Rändern. Überdies gibt es Ansätze
zur Minimalisierung der Erzählinstanz und eine große Vorliebe für szenische
Darstellung. Wie erwähnt, wird das Erzählen als Problem thematisiert.
Das Fragment hat bei Droste-Hülshoff eine andere Funktion als bei Friedrich Schlegel
und bei Novalis: bei Droste-Hülshoff wird nicht ein (nicht darstellbares, nur
fragmentarisch evozierbares) umfassendes Ganzes vorausgesetzt; die Fragmente sind
33
bei ihr Scherben eines Universums, das aus Bruchstücken ohne verlässliche Kohärenz
besteht.
In Droste-Hülshoffs Novelle ist kein Enthusiasmus wirksam. Eine alles umfassende
Transzendenz fehlt; das Ich fühlt sich spirituell nicht aufgehoben.
Biographische Notizen
Heinrich Heine (1797, Düsseldorf – 1856, Paris) war jüdischer Herkunft. 1825
konvertierte er zum Protestantismus. (Im 19. Jahrhundert ließen sich viele Juden
taufen – nicht selten deshalb, weil sich dadurch ihre beruflichen Möglichkeiten
erweiterten). Er studierte Jurisprudenz. Bis 1823 lebte er in Berlin; er verkehrte im
Salon Rahel Varnhagens, in dem sich der Berliner Romantiker-Kreis traf. Heine
unternahm viele Reisen und war journalistisch tätig.
Ab 1831 hielt er sich als Korrespondent der Allgemeinen Zeitung fast immer in Paris
auf, wie in einem freiwilligen Exil. 1830 hatte in Paris die Julirevolution stattgefunden.
Bekanntschaft und Briefwechsel mit Karl Marx. 1835 wurden seine Schriften in
Deutschland verboten.
Heine opponierte gegen Fürstenherrschaft und Despotie der Kirche. Er plädierte für
„Sensualismus“ resp. Sinnenfreude statt „Spiritualismus“ bzw. „Nazarenertum“.
Manche seiner Gedichte sind von (teilweise bissiger) Ironie geprägt. Die preußische
Herrschaft und die nationalliberale Ideologie, der Untertanengehorsam wie auch die
deutschnationale Schwärmerei sind in Heines Werken beliebte Angriffsziele.
1834 verliebte er sich in „Mathilde“ (eigtl. Crescence Eugénie Mirat). Seine letzte
Freundin hieß „Mouche“ (eigtl. Elise Krintz). Ab 1848 litt Heine infolge einer
Geschlechtskrankheit unter einer schweren Rückenmarkerkrankung; es folgte ein
jahrelanges Krankenlager in der ‚Matratzengruft‘.
Werktitel
1822 Gedichte (voller Dissonanzen; Ironie in bezaubernd schöner Umgebung; Distanz
zur romantischen Dichtung).
1824 Harzreise
1826-31 Reisebilder. Heine hat den Reisebericht als literarische Gattung in
Deutschland populär gemacht. Durch die Reisebilder wurde er einem breiten
Publikum bekannt. Er übte darin Kritik am Feudalismus und bekannte sich zu
Napoleon.
Atta Troll (eine politische Satire)
1844 Deutschland, ein Wintermärchen (politisch orientierte Poesie, anhand der
Stationen auf Heines Reise 1843 von Paris nach Hamburg).
1844 Neue Gedichte (politische Stellungnahmen; Leiden an den politischen und
sozialen Zuständen in „Deutschland“).
1851 Gedichtband Romanzero
Erste Nacht
Florenz: vgl. Boccaccios Rahmenhandlung im Decamerone. Der Titel weckt Er-
wartungen, die durch die Rahmenhandlung durchkreuzt werden. Florenz: Re-
naissance-Stadt. Szenerie befreiter Sinnlichkeit (und literarische Anknüpfung an
literarische Werke über das Thema). Im Zentrum steht jedoch nicht ein glücklich
vereintes Liebespaar, sondern ein (scheiternder?) Versuch der Erzähltherapie an einer
todkranken Frau. Das Verhältnis zwischen dem Erzähler (Maximilian) und der Kranken
(Maria) ist gespannt: Maria reagiert leidenschaftlich abwehrend, sowie Maximilian
erzählt, dass er sie im Schlaf hätte küssen wollen. Zugleich bedeckt sie seine Hand mit
Küssen. Zu Beginn der zweiten Erzählung wiederholt sich die widerspruchsvolle Szene:
Max berührt Marias Schal mit den Lippen.
Hier wird eine extreme existenzielle Situation privater Art geschildert, während in
Novellen sonst oft außerordentliche historische Ereignisse den Rahmen abgeben (z.B.
die Pest in Boccaccios Decamerone).
Dialogische Struktur von Heines Novelle: die Kranke nimmt zeitweise lebhaft Anteil an
den Erzählungen Maximilians. Der Arzt ist aber ständig gehetzt (nl. opgejaagd,
gestresseerd). Die Situation hat makabre und kafkaeske Züge. Zwanghaft kreisen
Maximilians Erzählungen um Liebe, Sterben und Tod; er erzählt etwas, das die Kranke
aufregen muss. (Diese schläft aber ein!) Maximilians Erzählungen können auch als
Therapieversuch an der eigenen Psyche gelesen werden: Maximilian gibt verborgene
Neigungen und Eindrücke seiner eigenen Persönlichkeit preis. Anziehung durch das
Totenhafte. Fetischistische Fixierung auf das Totenhafte. Durch sein erzählerisches
Bekenntnis sucht er sich davon zu befreien; gleichzeitig verfällt er an Marias
Krankenlager und Totenbett erneut dem gespenstischen Charme des Todes.
Sofa und Sessel: die Situation ist ähnlich wie – Jahrzehnte später – in Sigmund Freuds
psychoanalytischer Praxis. Besondere Begabung des Erzählers, bei jedem Ton, der
erklingt, eine Klangfigur zu sehen (vgl. Paganini-Porträt); visuelle und sprachliche
Umsetzung des Musikalischen. Allerdings kann er in der zweiten Novelle vieles nicht
gut verstehen; er nimmt oft eine unbestimmte Haltung ein. Bei Laurences Tanz
beispielsweise versagt seine besondere Begabung; Laurences Tanz erscheint ihm als
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unauflösbares Rätsel. Der Erzähler gibt nicht viele erhellende Erläuterungen ab;
vielmehr dominieren verhüllende und ausweichende Bewegungen. Vieles weiß er
nicht oder versteht er nicht. (Vgl. die vielen Auslassungspunkte in seiner Erzählung.)
Der Schluss der 2. Novelle zeigt, dass Laurence durch den Tanz das Trauma ihrer
Geburt aus dem Grab ihrer Mutter zu bewältigen sucht. (Ihre schwangere Mutter war
bereits begraben worden, als Laurence geboren wurde.) Ist dies eventuell erneut eine
Anspielung auf die von Heine als ungünstig erfahrene literatur- und
kulturgeschichtliche eigene Ausgangslage? Laurences Tanztherapie hat (ähnlich wie
Maximilians Erzähltherapie) keine (eindeutig günstige) Wirkung. Nur in der ersten
Novelle gelingt es jemandem, im Medium der Kunst seine Probleme kreativ zu lösen:
Paganini. In der zweiten Novelle dominiert eine sehr skeptische Einschätzung der
Möglichkeiten der Kunst und der künstlerischen Betätigung (bei gleichzeitiger
Faszination durch die Kunst).
Gerhard Höhn (1987, S. 307) deutet an, dass die Florentinischen Nächte weniger
unpolitisch sind, als sie bisher verstanden wurden. Er betrachtet die Novellenform als
Strategie der Tarnung: Heine berühre eine Reihe von Tabus und Verboten:
So wird durch groteske und satirische Mittel Kritik an den herrschenden Klassen des
Ancien und des Nouveau régime geübt: Die extrem kontrastreich gezeichnete Figur des
Zwerges Türlütü ist beispielsweise ein absolut lächerlicher Vertreter des alten,
emigrierten, französischen Adels […]. In der Hamburger Episode werden Bourgeois durch
kontrastive Metaphern und durch Wortkreuzung verspottet […]. Im Gegensatz zu dem
wie in den Englischen Fragmenten merkantil und mechanistisch dargestellten London
wird Paris deutlich als Schauplatz der Revolution in Erinnerung gerufen, während der
Erzähler in einem Pariser Salon jedoch auf die groteske Gesellschaft des nach 1830
herrschenden Juste-Milieu trifft.
Als besonders zeitkritisch muss weiter das sensualistische Gegenbild zur sinnen-
feindlichen, christlich-moralischen Biedermeierzeit gewirkt haben […]. So erinnern die
leitmotivisch wiederkehrenden Marmorstatuen und Marmorbilder an die unsterblichen
Griechengötter, die Protest gegen die herrschende Entsagungsmoral ankündigen und ein
sinnlich befreites, sündeloses Leben in Schönheit verheißen. (Höhn 1987, S. 307f.)
Bibliographische Angaben:
Herbert Eisenreich: Das kleine Stifterbuch. Salzburg 1967. – Hans Dietrich Irmscher: Adalbert
Stifter. Wirklichkeitserfahrung und gegenständliche Darstellung. München 1971. – Gustav
Konrad: „Adalbert Stifter“. In: Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk.
Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Benno von Wiese. Berlin 1989. – Ursula
Naumann: Adalbert Stifter. Stuttgart 1979. (= Sammlung Metzler, Bd. 186.) – Martin Selge:
Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaft. Stuttgart 1976. – Rudolf
Wildbolz: Adalbert Stifter. Langeweile und Faszination. Stuttgart 1976.
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Barbaras Gefühle in der Abschiedsszene: dort kritisiert sie, während sie Jakobs
Wäsche, die sie besorgt hat, zurückbringt, Jakobs Leichtgläubigkeit, bricht aber
schließlich in Tränen aus und verabschiedet sich mit einem Segenswunsch. Die Schuld
sucht sie einzig bei Jakob. Beim Abschied duzt sie ihn zum ersten Mal.
Barbara ist ein Mädchen aus sehr engen, kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie ist grob
geworden, erscheint aber als veränderbar. Jakob gelingt es, einiges von dem
hervorzulieben, was er allein in ihr sieht. Hier wirkt das aufklärerisch-klassische
Menschenbild nach: Der Mensch gilt als bildbar und in günstiger Weise beeinflussbar.
Der Prozess der Humanisierung scheitert jedoch; es gibt kein Happyend. Insofern zeigt
sich bei Grillparzer eine deutliche Distanzierung vom klassischen Menschenbild. Zwar
lässt sich Barbara ein wenig sensibilisieren für Jakobs Qualitäten, insbesondere für
seine Güte, aber sie kann sich nicht von ihren stereotypen Vorstellungen über die
Geschlechterrollen lösen: Dass sie als Frau Jakob schützen müsste, ärgert sie. Spott
und Härte wechseln mit Anfällen von freundlicher Duldung und Mitleid. Ihre
verborgene Wärme wird immer wieder zugeschüttet von schimpfendem Gepolter.
Barbara ist nicht nur Jakob gegenüber so – vgl. die Szene am Sarg: Barbara wischt um
der Ordnung willen den Arm ihres Sohnes von Jakobs Sarg, und sie schimpft sogar auf
dem Friedhof, weil sie sich finanziell übervorteilt fühlt. Kennzeichnend für sie ist ihr
Schwanken zwischen Schlag und Kuss, zwischen Spott, Zorn und Mitgefühl.
Ihre Zukunft will Barbara als junge Frau nicht auf ihre Gefühle gründen; sie gibt der
Verstandesehe den Vorzug vor der Liebesehe. Die Ehe zwischen Angehörigen
verschiedener Schichten scheint hier nicht (mehr) grundsätzlich ausgeschlossen. Vgl.
dagegen Eichendorffs Werke, in denen die Überwindung der Standesschranken nicht
gelingt (in der Novelle Das Schloss Dürande müssen Gabriele und der Graf, die die Kluft
überwinden möchten, sterben; im Roman Aus dem Leben eines Taugenichts: die
vermeintlich Adelige entpuppt sich am Ende plötzlich als Bürgerliche, wodurch die
Heirat möglich wird. Bei Grillparzer geht es zwar um zwei Bürgerliche, aber diese
gehören innerhalb des Bürgertums zwei verschiedenen Schichten an, zwischen denen
die Kluft groß ist: Jakob – als Hofratssohn – gehört dem gehobenen Bürgertum an,
Barbara – als Tochter eines Kleinwarenhändlers – dem Kleinbürgertum. Wo liegen die
Hindernisse in Grillparzers Novelle? Einerseits im Geldmangel (= Materialisierung),
andrerseits im Charakter der Personen (= Internalisierung); beides ist kennzeichnend
für die Literatur der Epoche. Die Psychologie bzw. der Charakter der Figuren erscheint
dabei freilich als mindestens so interessant wie die äußeren (materiellen)
Lebensumstände.
ist ihm fremd. Niemand erkennt den Walzer, den er zu spielen meint. Jakob ist von
Enthusiasmus beseelt, aber unfähig, sich als Künstler realistisch einzuschätzen. Er ist
und bleibt ein Dilettant und Sonderling, der Gespött erntet. Von absoluten Idealen
besessen wie ein frühromantischer Künstler, aber ohne Blick für die Kluft zwischen
Willen und Realisierungsfähigkeit, kann er den Abgrund zwischen Phantasie und
Realität nicht überbrücken. Der Spielmann versagt als Künstler; auch unter Künstlern
wäre er ausgestoßen, denn er geigt falsch. Aber er ist von Musik erfüllt wie von einer
Mission; er lebt im Dienst eines hohen Ideals.
Überraschenderweise ist Jakob völlig zufrieden. Er leidet nicht unter Spott und
Missachtung. Naivität, Einfalt und Güte bilden ein schützendes Polster. Dies zeigt sich
auch bei Jakobs Verhältnis zu seinem Vater. Bei dessen Tod verspürt er heftige
Schuldgefühle , obwohl der Vater ihm gegenüber hart und verständnislos war. Jakob
war deswegen niemals gekränkt; er vermutet auch hinter böswilligen Handlungen
anderer Leute lauter gute Absichten. Er ist außerstande, einem Aggressor
Aggressionen entgegenzusetzen. Er ist derart vereinsamt, dass er dankbar ist für jedes
Anzeichen der Mitmenschlichkeit – sogar für Schläge. Vgl. Jakobs Reaktion auf
Barbaras Ohrfeige: er ist nicht gekränkt. Während er vor Schmerzen Funken vor den
Augen sieht, glaubt er an eine Himmelserscheinung; er meint die Sterne des Himmels
zu erblicken; er glorifiziert sofort, was ihm widerfährt. Seine Hingabe erfolgt ohne
kritischen Blick und ohne Widerstand. Vgl. auch Jakobs argloses Verhältnis zu den
vermeintlich freundlichen Kameraden, die ihn um seine Erbschaft betrügen.
Analog ist sein Verhältnis zur Musik: er schmilzt beim Klang eines Liedes hin – eines
Liedes, das vom Ich-Erzähler als gar nichts Besonderes qualifiziert wird. Jakob fehlt
jede Neigung zur Kritik (und zur Selbstkritik). Dabei ist er von tiefer Demut erfüllt,
keineswegs selbstüberheblich. Intensive Empfindung des Wohlklangs und
übersteigerte Gewissenhaftigkeit führen bei ihm zu einer verzerrten Wiedergabe der
Musikstücke.
Jakob lebt in tiefer Isolation; einzig die Musik (das Lied) lässt ihn seine Scheu
gelegentlich überwinden; vgl. sein Gespräch mit Barbara in der Kanzlei sowie die
spätere Berührung und Ohrfeige. Jedes Mal, wenn er ausnahmsweise die Initiative
ergreift, wird er missverstanden. Vgl. Barbaras Reaktion auf seinen Handkuss und die
Umarmung: Jakob wird zurückgestoßen, ja geschlagen. Aber dadurch ist er nicht
verstörbar. Zwar bleibt er getrennt von der Geliebten und von der Umwelt. Bei dem
einzigen Kuss trennt ihn eine Glasscheibe von Barbara. Doch ist er nicht unglücklich;
seine Liebe – als selbst- und kritiklose Hingabe – ist unabhängig von der Wirklichkeit.
Insofern ist er nicht ernstlich verwundbar.
Jakob ist ein Narr und ein Heiliger zugleich – eine Kombination, die auch Dostojewski
(vgl. Der Idiot) und Kierkegaard beschäftigte. Jakob versagt im Leben, in der Liebe,
bewährt sich aber in einer Notlage – wie es darum geht, anderen zu helfen: Wie er in
seiner Mansarde (während der Überschwemmung) Kindergeschrei vernimmt, eilt er
hinunter und rettet Kinder aus dem Wasser – außerdem sogar das Geld des Gärtners,
seines Hausmeisters. (Ihn erfüllt kein Gefühl der Rachsucht, obwohl man ihn früher
nicht besonders freundlich behandelt hat; vgl. Besuch des Ich-Erzählers bei Jakob;
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Jakob ging hinaus, um Früchte bei der Gärtnerin zu erbitten, kam aber mit leerer Schale
zurück.) Jakob stirbt für ein Ideal, das keineswegs das seine ist: er holt die Wertpapiere,
das Geld des Gärtners, aus den Fluten. Seine Hingabe ist selbstvergessen und
schrankenlos.
Groteske Fehleinschätzung der Realität und grenzenlose Hingabefähigkeit sind für
Jakob charakteristisch. Auffällig und kennzeichnend ist außerdem seine Passivität.
Jakob ist „ganz Ohr“; kein Zufall, dass die erste Begegnung mit Barbara über das Gehör
erfolgt; der Bevorzugung des Gehörsinns entspricht hohe Sensibilität für körperlose
Reize. (Jakob sieht Barbara erst, nachdem er sich durch das Lied hat ergreifen lassen,
und ist auf keine Weise mehr zu desillusionieren.) Jakobs Sensibilität für körperlose
Reize ist mit Berührungsscheu gepaart: Der Spielmann nimmt das Geld des Erzählers
nicht an, sondern bittet ihn darum, es in den Hut zu legen; er will sich nicht berühren
lassen. Die heftigste Erschütterung empfindet er beim Anhören des Liedes. Jakob
handelt kaum jemals bewusst, zielgerichtet, aktiv, sondern wie getrieben: So gerät er
in die Nähe des Ladens, ohne es zu wollen; ferner greift er nach Barbara, weil ihn das
Lied aufgewühlt hat.
Ihn beherrscht ein großes Ordnungsbedürfnis: vgl. seine Tageseinteilung, den
Kreidestrich im Zimmer, der ihn von der Unordnung im Zimmerteil des Mitbewohners
trennen soll, u.a.m.
Es gibt viele Parallelen zu Grillparzers Leben: Jakob strebt ein Ideal an, das auch
dasjenige Grillparzers wäre: Harmonie und Vollkommenheit, höchste Schönheit. Er
bringt indessen nicht einmal etwas Mittelmäßiges zustande. Hierin kommt bittere
Selbstironie des Verfassers zum Ausdruck. Für Grillparzers Tendenz zur
Selbstverachtung ist es bezeichnend, dass er die meisten autobiographischen
Momente in der Novelle verschlimmert hat:
– so beispielsweise das Verhältnis zwischen Vater und Sohn: Grillparzer klagte über
die Härte seines Vaters, der die literarischen Versuche des Sohnes heftig
verurteilte; in der Novelle ist der Vater aber geradezu ein Feind seines Sohnes;
– Das Schulexamen hat in der Novelle schlimme Folgen (der Sohn wird durch den
Vater von der Schule genommen und zum Dasein als Kanzlist gezwungen); in
Wirklichkeit verlief das Examen ähnlich, hatte aber keine einschneidenden
äußeren Folgen für Grillparzer;
– Auch Grillparzer wurde um Geld angegangen – v.a. von einem Bruder und dessen
Familie; in der Novelle sind jedoch böswillige, betrügerische Bekannte und Fremde
auf Bereicherung aus;
– Ähnlich ist die Beziehung zu den Frauen: Auch Grillparzer blieb Junggeselle; doch
gelang es ihm durchaus, Gegenliebe zu erwecken;
– Grillparzer war als Schriftsteller erfolgreich, auch wenn er dies kaum wahrhaben
wollte; überdies war er ein großer, begabter Autor, keineswegs ein Dilettant.
In Jakob hat Grillparzer masochistisch eine Selbstkarikatur entworfen. Züge
Grillparzers trägt jedoch nicht nur der Spielmann, sondern auch der Beobachter in der
Rahmenerzählung.
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eine psychologisierende Deutung. Eine solche wird von der Erzählung jedoch nicht
behindert – im Gegenteil.
Damit sind wir bei der Motivbetrachtung angelangt.
b) Das Ordnungsbedürfnis
Beim Ordnungsbedürfnis handelt es sich in Grillparzers Novelle um ein Indiz der
Selbstisolation und der Ängstlichkeit. Vgl. den Kreidestrich im Zimmer: Das Chaos
beschränkt sich auf die Seite jenseits des Striches – wobei der Spielmann nicht
bemerkt, dass das musikalische Chaos, das er produziert, das ganze Zimmer erfüllt
und außerdem die Verwirrung seines Geistes indiziert. In der Psychopathologie sind
Ordnungszwänge wohlbekannt: als Erscheinungsformen der Abwehr von gefürchteten
Impulsen; sie dienen der zwanghaften Bändigung von Gefühlen.
Auch Barbara ist von Ordnungsbedürfnis besessen; vgl. ihr Verhalten im Leichenzug
und in der Abschiedsszene.
c) Musik
Für Jakob hat die Musik ebensoviel Bedeutung wie für die Frühromantiker, aber seine
Auffassung ist nicht mehr allgemein verbindlich; die Hochschätzung der Musik, der
Kunst und des Künstlers ist nicht mehr allgemein üblich. Musik und Kunst erscheinen
hier als Fluchtorte vor der Brutalität des Lebens. Der Spielmann mit seiner
(antiquierten) Kunstauffassung (die religiöse Züge hat: vgl. die Vokabeln „Andacht“
und „Gebet“) gerät in eine desperate Isolierung und wirkt für alle anderen grotesk.
Dem Spielmann sind Tränen nur in der Erinnerung möglich: intensive Gefühle können
nicht in der Gegenwart, sondern nur in der Erinnerung ausgelebt werden.
Schlussbetrachtungen
Es gibt keine Entwicklung der beteiligten Figuren. Zwar beeinflussen sich Barbara und
Jakob gegenseitig minimal; aber es kommt nicht zu einer Befreiung aus den Schranken
der Einsamkeit und der Konvention. Im Leben des Spielmanns gibt es keine fördernden
Personen und Kräfte außer der Musik – und diese bewirkt Geistesverwirrung.
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Verabsolutierung der Kunst gibt es auch hier – wie in der Romantik, aber zugleich
erfolgt hier eine sarkastische Desillusionierung: der hoch zielende Anspruch existiert
nur im Bewusstsein eines Einzelnen, Gestörten. Pointiert formuliert, ist
Kunstausübung hier Lebensersatz für einen Lebensuntüchtigen, nicht mehr höchste
Erfüllung für die Begabtesten.
Die Figuren sind nicht vollständig durch Herkunft determiniert; aber es wird eine Fülle
von Materialien über die schichtenspezifische Herkunft und über Kindheitseindrücke
Jakobs geboten. Die Theorie von der Prägung durch das Milieu ist noch nicht zum
Dogma verfestigt.
Auffällig ist die (bleibende) Isolierung der beteiligten Personen. Drei Zweier-
begegnungen werden arrangiert, aber weder die Liebe noch andere Gefühle (noch die
Schriftstellerei) können zwischen den Herzen eine dauerhafte Brücke schlagen. Die
Figuren sind und bleiben monadenhafte Atome – wobei eine Kernverschmelzung nur
im Wahn und in der Erinnerung möglich scheint. Bei alledem muss man sich vor Augen
halten, dass auch die Alternative – eine Ehe Jakobs mit Barbara – wahrscheinlich eine
Katastrophe wäre. Insofern ist die Lebenssituation der Figuren tragisch: Sie haben nur
die Wahl zwischen schlechten Alternativen.
Der Spielmann rebelliert niemals und beklagt sich nicht. Seine Sanftheit verdeutlicht
die Härte des Lebens: Das Leben geht weiter; es ist kein Zufall, dass gegen Schluss
wiederholt von Kindern die Rede ist: von Barbaras Kindern wie auch vom Geschrei der
Kinder während der Überschwemmung. Der Schwache geht unter, das Leben siegt.
Geschildert wird in der Novelle aber in erster Linie derjenige, der das Leben von sich
fernhält und untergeht; der Abweichung, dem Sonderling gilt das Hauptinteresse.
Zur Motivation des Interesses für Sonderlinge und die kompensatorische Funktion der
Kunst vgl. Grillparzers Tagebuch aus dem Jahr 1837 (abgedruckt in Bd. III der
Sämtlichen Werke, unter „Zur Literatur im Allgemeinen“):
Die Poesie ist dazu da, „in erhabener Einseitigkeit jene Eigenschaften hervorzuheben und
lebendig zu erhalten, die das menschliche Beisammensein (in Wirklichkeit) […] notwendig
und nützlich beschränkt und zurückdrängt; die aber eben darum – köstliche Besitztümer
der menschlichen Natur und Erhaltungsmittel der Energie – ganz verlöschen würden,
wenn ihnen nicht von Zeit zu Zeit ein, wenn auch nur imaginärer Spielraum gegeben
würde.“
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Die Literatur erscheint hier als Hort unpraktischer, aber wertvoller Schätze, die sonst
verloren gingen.
Literatur: Heinz Politzer: Franz Grillparzers Der arme Spielmann. Stuttgart 1967. – Barbara
Beutner: Musik und Einsamkeit bei Grillparzer, Kafka und Castillo. Ein Vergleich zwischen
„Armen [sic] Spielmann“, „Verwandlung“ und „Gitarre“. Eine literaturwissenschaftliche
Untersuchung. Köln 1975. – Anna Gutmann: „Grillparzers Der arme Spielmann. Erlebtes und
Erdichtetes“. In: Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association, Bd. 6, Nr.
1 , 1967, S. 14-44. – Lilian Hoverland: „Speise, Wort und Musik in Grillparzers Novelle Der
arme Spielmann mit einer Betrachtung zu Kafkas Hungerkünstler“. In: Jahrbuch der
Grillparzer-Gesellschaft 13, 1978, S. 63-83. – Joachim Müller: Franz Grillparzer. 2., verbesserte
Aufl. Stuttgart 1966. (= Sammlung Metzler, Bd. 31.) – Walter Naumann: Franz Grillparzer. Das
dichterische Werk. 5., veränderte Aufl. Stuttgart 1967. – Heinz Politzer: Franz Grillparzer oder
das abgründige Biedermeier. Stuttgart 1967. – M.W. Swales: „The Narrative Perspective in
Grillparzer’s Der arme Spielmann“. In: German Life & Letters, Bd. XX, 1966-67, S. 107-118. –
Wolfgang Wittkowski: „Grenze als Stufe. Josephinischer Gradualismus und barockes
Welttheater in Grillparzers Novelle Der arme Spielmann“. In: Aurora 41 (1981), S. 135-160.
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Gotthelfs Werke spielen im Emmental, einem noch heute stark von der Landwirtschaft
und behäbigen Bauernhöfen geprägten, landschaftlich reizvollen Tal im Kanton Bern.
Gotthelf geißelt den sittlichen Verfall und die skrupellose Durchsetzung materieller
Interessen. Er entwirft einen bunten Reigen plastischer Gestalten aus dem dörflich-
bäuerlichen Leben, zeigt ihre Nöte und Freuden, ihre Egozentrik wie auch die
potenzielle Fähigkeit vieler zur Entfaltung innerer Größe. Seine Romane enthalten eine
Fülle präzise beobachteter Details des dörflichen Lebens und der menschlichen
Psyche. Virtuos zeigt er die Genese und die Wirkung der Bosheit in der bäuerlichen
Gemeinschaft, wobei jede(r) daran partizipiert, aber so, dass sich keine(r) deswegen
schuldig zu fühlen braucht (Kommentar des Literaturprofessors und Essayisten Peter
von Matt). Von manchen werden seine Werke als fortschrittsfeindlich
(miss)verstanden. Gotthelf verwendet viele berndeutsche dialektale Ausdrücke, was
seine Rezeption außerhalb der Schweiz erschwert. In den längeren Romanen wird die
Handlungsschilderung öfters durch predigtartige Passagen mit philosophischen und
moralischen Betrachtungen unterbrochen.
In der Deutschschweiz wird Gotthelf – vor allem von den älteren Generationen – nach
wie vor sehr geschätzt, wenn auch nicht mehr oft gelesen. Zu seiner Popularität trugen
in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Hörspielbearbeitungen Ernst Balzlis und
die Verfilmungen mehrerer Romane von Franz Schnyder (mit Liselotte Pulver in der
weiblichen Hauptrolle) bei.
Biografie
• Adliger Herkun1 (Gräfin), Mähren (im heu;gen
Tschechien)
• Sehr gute (katholische) Erziehung:
Mehrsprachigkeit, Mathema;k, Musik, Literatur
usw.
• Mit 18 Jahren: Heirat mit Moritz von Ebner-
Eschenbach; 50 Jahre verheiratet; kinderlos
• Große Verantwortung für kranke
Familienmitglieder à Pflegerin von Nichten und
Neffen
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Engagement
• Gesellscha-liches Engagement: Bildung für Mädchen
Gegen die Auffassung, eine Frau müsse in erster Linie dem Mann
gefallen: "man fordere nicht Wahrha-igkeit von den Frauen,
solange man sie in dem Glauben erzieht, ihr vornehmster
Lebenszweck sei – zu gefallen."
• Keine akIve Beteiligung an der damaligen Frauenbewegung
(Erste Welle), aber Mitglied des Vereins für Schri-stellerinnen
und Künstlerinnen in Wien, der sich für Frauenrechte
einsetzte.
• Dennoch: starke Frauenfiguren in ihren Werken à die Autorin
wurde eine LeiNigur für die damalige Frauenbewegung.
• Außerdem: starke Frauen aus allen damaligen Schichten, z.B.
auch bei den tschechischen Hausangestellten.
• Ihr Ziel vor allem: Reform in der häuslichen Atmosphäre, in
der Ehe, und im Verhältnis Adel – Untergeordneten. Den Adel
modernisieren, nicht abschaffen.
Aphorismen
• "Eine gescheite Frau hat Millionen geborener
Feinde – alle dummen Männer.“
• "Die einzigen von der Welt unbestrittenen Ehren,
die einer Frau zuteil werden können, sind
diejenigen, die sie im Reflex der Ehren ihres
Mannes genießt".
• "Wenn mein Herz nicht spricht, dann schweigt
auch mein Verstand, sagt die Frau. Schweige,
Herz, damit der Verstand zu Worte kommt, sagt
der Mann."
Literarische Einordnung
• Biedermeier – Bürgerlicher Realismus – Ethischer
Realismus
• Jüngere Forschung betont Ironie, Humor, Skepsis in
ihrem Werk
• Entwicklung von der Novelle zur modernen Erzählung:
eigene Gegenwart
alltägliche Ereignisse
weniger symbolisch
Wiedererkennbarkeit
direkte Darstellung durch u.a.: Tempus (Präsens), direkte
Rede, Mündlichkeit, innere Fokalisierung (weniger auktoriale
InterpretaPon), Soziolekte
Bibliographie
• Marianne Henn, Marie von Ebner-Eschenbach.
Hannover: Wehrhahn Verlag 2010.
• Daniela Strigl, Berühmt sein ist nichts. Marie
von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie.
Salzburg/Wien: Residenz Verlag 2016.
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13. THOMAS MANN: DER TOD IN VENEDIG
Literarische Beispiele
• Realismus des 19. Jahrhunderts
• Russische Literatur (Tolstoi)
Bezugsfiguren:
• Mahler: Musik des Leidens, des Todes; personlich mit Thomas Mann bekannt
• Wagner: Musik der Schönheit im Rausch, überschwenglich
• Nietzsche: das Apollinische und das Dionysische
à auch: drei Künstler mit Bezug zu Venedig
• Mo5v des “Mannes von fünfzig Jahren”: vergangene Jugend, versäumtes Leben,
Sexualität als Impotenz. Ero5k als letzter Versuch des Ausbruchs; Reise: letzter
Aufschwung.
• Realismus (z.B. in den Ortsbeschreibungen) und Mythisierung
• Krisenbewusstsein vor dem Ersten Weltkrieg
• Denunzia5onen von Personen wegen angeblicher Homosexualität. Aber: viele
Künstler kul5vierten Homosexualität als die ‘reinere’, übergeschlechtliche Liebe, da
sie mehr ‘Geist’ habe. Sie befähige den Künstler zur absoluten Schönheit // An5ke
62
Der Dornauszieher
(an.ke Statue, Beispiel vollkommener Schönheit)