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HANDBUCH DER PREUSSISCHEN GESCHICHTE

Band II

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DE

G
HISTORISCHE KOMMISSION
ZU BERLIN

HANDBUCH DER
PREUSSISCHEN GESCHICHTE

Band II

Walter de Gruyter · Berlin · New York


1992
HANDBUCH
DER
PREUSSISCHEN
GESCHICHTE
Herausgegeben von

Otto Büsch

Band II
Das 19. Jahrhundert
und
Große Themen der Geschichte Preußens

Mit Beiträgen von


Ii ja Mieck · Wolfgang Neugebauer · Hagen Schulze
Wilhelm Treue · Klaus Zernack

Walter de Gruyter · Berlin · New York


1992
Der vorliegende Band entstand mit finanzieller Unterstützung der
„Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin"

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die


US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Handbuch der preussischen Geschichte / Historische Kom-


mission zu Berlin. Hrsg. von Otto Büsch. — Berlin ; New
York : de Gruyter.
NE: Büsch, Otto [Hrsg.]; Historische Kommission
< Berlin >

Bd. 2. Das 19. Jahrhundert und grosse Themen der Ge-


schichte Preussens / mit Beitr. von Ilja Mieck ... — 1992
ISBN 3-11-008322-1
NE: Mieck, Ilja

ISBN 3 11 0 0 8 3 2 2 1

© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30


Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zu-
stimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviel-
fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver-
arbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany
Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin
Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Band I
Das 17. und 18. Jahrhundert
und
Große Themen der Geschichte Preußens

Mit Beiträgen von

Peter Baumgart · Günter Birtsch · Otto Büsch


Stefi Jersch-Wenzel · Manfred Messersohmidt
Rudolf von Thadden

Band III
Vom 19. zum 20. Jahrhundert
und
Große Themen der Geschichte Preußens

Mit Beiträgen von

Gerd Heinrich · Ilja Mieck · Horst Möller


Wolfgang Wippermann

und mit einer

Zeittafel zur preußischen Geschichte


von
Otto Büsch
Vorwort

Der vorliegende zweite Band des auf drei Bände angelegten Handbuchs der
Preußischen Geschichte bestätigt Erfahrungen, die beim Entstehen anderer
mehrbändiger Handbuchwerke bereits zahlreich gemacht worden sind: Per-
sonelle Bedingungen und sachliche Voraussetzungen, unter denen die Auto-
ren des Handbuchs angetreten sind, haben es mit sich gebracht, daß der
II. Band vor dem I. und dem III. zum Abschluß gelangt ist. Herausgeber
und Autoren sind sich einig, daß es unangebracht wäre, die vorliegenden
Beiträge zurückzuhalten, bis die Teile der beiden anderen Bände fertig
geworden sind. Der Band wird daher dem Benutzer in dem Bewußtsein
angeboten, daß seine Einordnung im Zusammenhang der Darstellung von
dreihundert Jahren brandenburgisch-preußischer und preußisch-deutscher
Geschichte und ihrer universalgeschichtlichen Interpretation sich erst be-
friedigend wird erweisen können, wenn auch die beiden noch vorzulegenden
Bände ausgeliefert werden können.
Zwei chronologisch und drei sachthematisch angeordnete Teile umschlie-
ßen in diesem Band einerseits den Bereich der preußischen Geschichte des
19. Jahrhunderts von der Reformzeit bis zur preußisch-deutschen Reichs-
gründung; sie erfassen, bezogen auf die Bereiche der Wirtschafts-, Bildungs-
und — als Sonderthema — der preußisch-polnischen Beziehungsgeschichte,
den gesamten Zeitraum der brandenburgisch-preußischen und preußisch
bestimmten deutschen Geschichte von der Mitte des 17. bis zur Mitte des
20. Jahrhunderts. Herausgeber und Autoren kommt es dabei nicht zuletzt
darauf an, die Klammer- und Leitbildfunktion Preußens im Rahmen der
deutschen und europäischen Geschichte in den verschiedenen Bereichen von
Gesellschaft und Wirtschaft, Recht und Kultur, Politik und Krieg sowie den
zwischenstaatlich-internationalen Außenbeziehungen deutlich zu machen.
Hat der vorliegende Band insofern seinen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert,
so sollen der I. Band, der auch eine einleitende Darstellung der Entwick-
lung des Preußenbildes in der Geschichte erhalten wird, das 17. und
18. Jahrhundert, der III. Band das ausgehende 19. und die erste Hälfte des
20. Jahrhunderts bis zur Auflösung Preußens 1947 als chronologische
Schwerpunkte behandeln, in systematisch-thematischer Hinsicht daneben
die Militär- und die Konfessionsgeschichte, die preußisch-französische Be-
ziehungsgeschichte sowie das Sonderthema der Hauptstadtrolle Berlins
umfassen.
Als Konzession an die zeitlich vorgezogene Herausgabe dieses II. Bandes
des Handbuchs sind hier bibliographische Teile sowie ein besonderes Re-
gister beigegeben, obwohl auf diese Weise gegenüber den Bänden I und III
Vili Vorwort

einige Wiederholungen in beiden Bereichen nicht vermeidbar sein werden.


Eine synoptische Darstellung der Entwicklung der im Handbuch behandel-
ten sachthematischen Bereiche soll den III. Band abschließen. Die Beiträge
des Handbuchs sind einerseits aufeinander abgestimmt; andererseits ver-
antwortet selbstverständlich jeder Autor seinen Beitrag in bezug auf Ge-
schichtskonzeption und inhaltliche Aussage allein. So können etwa Aus-
sagen zur preußisch-polnischen Beziehungsgeschichte kaum ohne eine feste,
Diskussionen auslösende Position präsentiert werden, und eine solche Fest-
stellung mag mutatis mutandis für alle Beiträge eines Handbuchs gelten.
Die Autoren haben ihre Beiträge teils schon 1987, teils 1988 oder 1989
abgeschlossen. Spätere Literatur konnte im Text insoweit jeweils nur partiell
berücksichtigt werden.
Um die formale Betreuung der Manuskripte und besonders der bibliogra-
phischen Verzeichnisse des vorliegenden Bandes haben sich einige Helfer ver-
dient gemacht, von denen der Name von Dr. Hans Theissen besonders her-
vorgehoben werden muß, der nicht nur bei der redaktionellen Durchsicht der
Beiträge geholfen hat, sondern auch einen bedeutenden Anteil an der Zusam-
menstellung der Bibliographien der Einzelbeiträge hat. Ihm zur Seite standen
zeitweilig besonders Arthur Schlegelmilch, Μ. Α., sowie ferner Gerhard Stahr,
Μ. Α., und stud. phil. Matthias Remmele. Im Stadium der Satzherstellung
und Drucklegung lag das Lektorat der Beiträge dieses Bandes in der Histo-
rischen Kommission zu Berlin in den Händen von Alexander Wilde, Μ. Α.,
sowie von Christian Schädlich, seitens des Verlages Walter de Gruyter & Co.
von Wolfgang Konwitschny. Ihnen allen schulden Autoren und Herausgeber
verbindlichen Dank. Er gebührt auch dem Verlag, der trotz langer Verzöge-
rungen bei der Fertigstellung der Manuskripte für dieses Handbuch das Un-
ternehmen niemals aufgegeben, und der Stiftung DKLB/Berlin, die es im Sta-
dium der Manuskriptherstellung finanziell unterstützt hat.
Der Anstoß zur Schaffung dieses Werkes ist von dem sogenannten „Ber-
liner Preußenjahr" von 1981 mit seinen vielfältigen Aktivitäten ausgegangen.
Die Historische Kommission zu Berlin, in der der unterzeichnete Heraus-
geber bereits durch die Herausgabe eines Sammelbandes zum „Preußenbild
in der Geschichte" (1981) und - zusammen mit Dr. Wolfgang Neugebauer
— einer dreibändigen Anthologie zum Thema „Moderne Preußische Ge-
schichte" (1981) sowie einer Vortragssammlung zum Themenbereich „Preu-
ßen und das Ausland" (1982) das Gesamtbild von preußischer Geschichte
zwischen dem Ausgang des Dreißigjährigen Krieges und dem „offiziellen"
Ende des Staates Preußen im Jahr 1947 vorzuzeichnen versucht hat, möchte
mit diesem Handbuch eine Lücke schließen, die in der handbuchartigen
Erfassung der deutsch-mitteleuropäischen Territorien und ihrer Geschichte
bis jetzt bestanden hat. Mit dem vorliegenden Band wird der Anfang
gemacht.

Berlin-Nikolassee Dr. phil. Otto Büsch


(im „Mittelhof"), Ord. Professor für Neuere Geschichte
im Mai 1992 Freie Universität Berlin
Leiter des Beirats für Preußenforschung
Historische Kommission zu Berlin
Inhalt

Vorwort von Otto Büsch VII


Abkürzungen XVII

A. Epochen der preußischen Geschichte


1807-1871

I. Preußen von 1807 bis 1850


Reformen, Restauration und Revolution

Von Ilja Mieck

Bibliographie 3
Verzeichnis der Abbildungen im Text 14
Verzeichnis der Tabellen im Text 14

§ 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 ) 16


I. Das besiegte Preußen 16
II. Die Reformzeit 19
1. Die Reformpartei an der Macht 19
2. Die Reformer und ihre Ziele 21
3. Die Etappen der Reformen 24
4. Ergebnisse der Reformpolitik 27
III. Preußen und das napoleonische System 31
1. Vom Diktatfrieden zum Unterwerfungsvertrag 32
2. Tauroggen und die Erhebung 38
3. Der Beginn der Freiheitskriege 51
4. Vom Waffenstillstand zur Völkerschlacht 60
5. Die Errichtung der Generalgouvernements 65
6. Der weitere Kriegsverlauf bis zum Doppelsieg von 1814/1815 67

§ 2 Preußen und die Neuordnung Europas und Deutschlands


(1814/1815) 72
I. Der Erste Frieden von Paris 72
II. Der Wiener Kongreß 74
X Inhalt

1. Die territoriale Neugestaltung Preußens 75


2. Die deutsche Verfassungsfrage 79
3. Anschlußkonferenzen und Folgeverträge Γ 80

§ 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution 83


I. Die administrative Neugliederung 84
II. Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsstruktur 88
III. Integrationsprobleme 96
1. Die westlichen Gebiete 97
2. Die östlichen Gebiete 101
3. Die nördlichen Gebiete 104
IV. Verwaltung und Verfassung 106
1. Die Stufen der Verwaltung 106
2. Der Kampf um die Verfassung (1815-1821) 110
3. Einrichtung, Struktur und Funktion der Provinzialstände . . . 112
V. Steuern und Finanzen 117
1. Steuer- und Zollreform 117
2. Staatshaushalt und Staatsschuldenwesen 123
3. Finanzbehörden, Bankinstitute und Kreditsituation 131
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 137
1. Bereiche des wirtschaftlichen Strukturwandels 138
2. Das Verkehrswesen vor der Eisenbahnzeit 147
3. Gesellschaftliche Schichtung und Soziale Frage 152
VII. Die auswärtige Politik (1815-1840) 157
1. Interventionspolitik und Griechenlandfrage 158
2. Belgien und Polen 161
3. Zollpolitik und Zollverein 162
4. Orientalische Frage und Rheinkrise (1839/41) 165
VIII. Staat und Kirche 167
1. Der administrative Zugriff 168
2. Altpreußische Union und Agendenstreit 169
3. Die Erweckungsbewegung 172
4. Die katholische Kirche 174
IX. Restauration und Reaktion 179
1. Turnbewegung und Burschenschaften 180
2. Die Karlsbader Beschlüsse 183
3. Die Auswirkungen der Julirevolution 192

§ 4 Der preußische Vormärz (1840-1847) 198


I. Der Regierungswechsel 199
II. Der König und seine Ratgeber 202
III. Mißgriffe und Verfassungspläne 204
IV. Verschärfung der politischen und sozialen Spannungen 211
V. Eisenbahnfieber und Industrialisierungsschub 218
VI. 1847 - Am Vorabend der Revolution 222

§ 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849) 229


I. Das Übergreifen der Revolution auf Deutschland 230
II. Der Sieg der Revolution 234
III. Die Sicherung des Erfolges 240
Inhalt XI

IV. Versuche der Konsolidierung 245


1. Die Vorgänge in Frankfurt 246
2. Preußen: Märzministerium und Nationalversammlung 248
3. Soziale Protestbewegungen 256
V. Die Gegenrevolution 262
1. Erste Erfolge 262
2. Der preußische Staatsstreich 265
3. Die oktroyierte Verfassung 272
4. Nachspiele 277

§ 6 Anhang 286
I. Das preußische Staatsministerium 286
1. 1 8 0 7 - 1 8 4 1 286
2. 1 8 4 1 - 1 8 4 8 289
3. 1 8 4 8 - 1 8 5 0 290
II. Preußische Maße und Gewichte (im Verhältnis zum Dezimal-
system) 291
III. Preußische Münzen 292

II. Preußen von 1850 bis 1871


Verfassungsstaat und Reichsgründung

Von H a g e n Schulze

Bibliographie 293

§ 1 P r e u ß e n als k o n s t i t u t i o n e l l e M o n a r c h i e 1 8 5 0 - 1 8 6 7 303
I. Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 303
II. Die Ära Manteuffel 1 8 5 0 - 1 8 5 8 309
III. Preußen in der deutschen und europäischen Politik 1 8 5 0 - 1 8 5 9 315
IV. Neue Ära und Verfassungskonflikt 1858 - 1866 324
V. Die schleswig-holsteinische Frage und die Kriege 1864 und 1866 333
VI. Entscheidungsjahr 1866 347

§ 2 P r e u ß e n s W e g ins R e i c h 1 8 6 7 - 1 8 7 1 352
I. Der Norddeutsche Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 1 352
II. Der deutsch-französische Krieg und die Reichseinigung 1870/1871 360
III. Preußens Stellung im Reichsgefüge 367

§ 3 Anhang 371
Das preußische Staatsministerium 1 8 5 0 - 1 8 7 2 371

A n h a n g : K a r t e n zum A b s c h n i t t A . Von Karsten Bremer 373


XII Inhalt

Β. Große Themen der preußischen Geschichte

I. Polen in der Geschichte Preußens


Von Klaus Zernack

Bibliographie 377

§ 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen 385

§ 2 Prolog: Voraussetzungen und Anfänge brandenburgisch-polni-


scher und preußisch-polnischer Beziehungen im Zeitalter der
Piastenmonarchie (10. bis 14. Jahrhundert) 392
I. Piastenstaat — Polaben — Prußen 392
II. Polnische Teilfürsten — Mark Brandenburg — Ordensstaat . . . 394
III. Piastische Wiedervereinigung und Grenzregelungen mit Branden-
burg und dem Ordensstaat 398

§ 3 Polen — Litauen und der Niedergang des Ordensstaates in Preu-


ßen. Von der polnisch-litauischen Union zur Krakauer Huldigung
(1386-1525) 400

§ 4 Polen - Lehnspreußen - Haus Hohenzollern (1525 -1701) . . . 405


I. Polen, Lehnspreußen und die fränkische Linie (1525 —1618) . . . 405
II. Polen und Brandenburg-Preußen (1618 - 1 7 0 1 ) 413

§ 5 Die Adelsrepublik Polen im „Niedergang" — Die Hohenzollern-


Monarchie im Aufstieg 1701 - 1 7 6 3 417
I. Der große Nordische Krieg (1700-1721) 417
II. Zwischen den Flügelmächten des Staatensystems 419

§ 6 Das Zeitalter der Teilungen Polens 423


I. Der Weg in die erste Teilung (1763 - 1772) 423
II. Polnische Reformpolitik und die Konstanz des Teilungsgedankens
(1772-1795) 424
III. Von der dritten zur vierten Teilung 427

§ 7 Preußen und Polen im Vormärz 431

§ 8 Das Heranwachsen, der Vollzug und die Praxis der preußischen


Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens (1849 — 1918) . . 434

§ 9 Preußen ohne Monarchie und das wiedervereinigte Polen


(1919-1947) S 441

§ 10 Anhang: Stammtafel 448


Inhalt XIII

II. Preußens Wirtschaft vom Dreißigjährigen Krieg


bis zum Nationalsozialismus

Von Wilhelm Treue

Bibliographie 449
Verzeichnis der Tabellen im Text 468

§ 1 Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gründung des Königreiches


Preußen 469
§ 2 Staatswirtschaft und Privatwirtschaft in Preußen 1710 —1740 . . 475
§ 3 Preußens Wirtschaft 1740-1756 479
§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablisse-
ment" 483
§ 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1 7 8 6 - 1 8 0 6 494
S 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5 500
§ 7 Wirtschaft und Finanzen 1815-1848 509
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 526
§ 9 Preußens Wirtschaft und der Krieg von 1870/71 544
S 10 Preußens Wirtschaft 1871 - 1 8 7 9 545
§ 11 Der Wechsel von der Freihandelspolitik zu Protektionismus und
Dirigismus 550
§ 12 Von den preußischen zu den deutschen wirtschaftlichen Interes-
senverbänden nach 1866/71 552
§ 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71 553
I.Die Eisenbahnen 554
II.D a s Kanalwesen 555
III.Die D o m ä n e n 558
IV. Die bergbaulichen und industriellen Interessen des preußischen
Staates 563
V. Die Staatsbeamtenschaft als Wirtschaftsfaktor 565
§ 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871 566
I. Berlin/Brandenburg 567
II. Schlesien 571
III. Die fünf östlichen Provinzen 575
§ 15 Preußens Reichtum und Armut am Vorabend des I. Weltkrieges 579
§ 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens 583
I. Die preußische Staatswirtschaft 585
II. Agrarkrise und „Osthilfe" in Preußen 587
III. Preußens bedeutendste Bergbau- und Industrieregion: das Rhein-
land 595
IV. Die Kommunalwirtschaft in der Landeshauptstadt Groß-Berlin
1919-1934 598
XIV Inhalt

III. Das Bildungswesen in Preußen


seit der Mitte des 17. Jahrhunderts

Von Wolfgang Neugebauer

Bibliographie 605
Verzeichnis der Tabellen im Text 611

§ 1 Bildungszustände in Brandenburg-Preußen in der zweiten Hälfte


des 17. Jahrhunderts 611
I. Das Landschulwesen 611
II. Das Stadt- und Gelehrtenschulwesen 613
III. Universitäten und Universitätsgründungen im 17. Jahrhundert . . 617
IV. Halle und der Pietismus 623
V. Schule, Universität und Landesherrschaft bis 1700 626

§ 2 Schule und Universität im absolutistischen Preußen und in der


Reform 627
I. Die Grundstrukturen des schulischen Bildungswesens im 18. Jahr-
hundert 627
1. Landschulbau und Schuldichte 627
2. Die Schulverfassung in den Städten des 18. Jahrhunderts . . . 632
3. Bildung ohne Staat 638
II. Hochschulen und Akademien im Staat des alten Preußens 642
1. Die Berliner Akademie der Wissenschaften 642
2. Die Rolle der Universitäten im 18. Jahrhundert 644
3. Fachschulen und Fachhochschulen im 18. Jahrhundert 650
III. Reformabsolutismus und Schulwesen 652
1. Staat und Lokalherrschaft im Schulbereich 652
2. Staat und Schule in Problemgebieten 658
IV. Schulreformen vor der Staatsreform 660
1. Schulinnovationen im Zeitalter der Aufklärung 660
2. Lehrerseminar und Lehrerstand im 18. Jahrhundert 663
3. Wirkungen des Neuhumanismus im 18. Jahrhundert 665
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert . . . 666
1. Die Periodisierungsfrage 666
2. Das preußische Schulwesen von Humboldt bis Süvern 667
3. Universitätsreformen und Universitätsgründungen in den er-
sten beiden Jahrzehnten 674

§ 3 Der Umbruch in der Bildungswirklichkeit des 19. und frühen


20. Jahrhunderts 680
I. Verwaltungsstaat und Bildungswesen 680
1. Ordnungsverwaltung — Leistungsverwaltung - Kulturstaat 680
2. Verwaltungsreform und Kultusministerium 681
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 689
1. Die preußischen Universitäten nach Humboldt 689
2. Die Neuordnung des preußischen Gymnasialschulwesens . . . 696
3. Bildung im Zeichen der Industrialisierung 700
Inhalt XV

III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 707


1. Volksschulwesen und Lehrerbildung 707
2. Bildung als Verlangen der Gesellschaft 717
3. Die Alphabetisierungsentwicklung des 19. Jahrhunderts . . . . 721
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 726
1. Von Karlsbad bis Stiehl 726
2. Schulpolitik in den Kämpfen des Kaiserreichs 739
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich . . 747
1. Finanzstaat und Bildung um 1900 747
2. Volksschullehrer und Philologen vor 1914 753
3. Das Sozialprofil des preußischen Bildungswesens im Kaiser-
reich 757
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 766
1. Das „System Althoff" 766
2. Wissenschaft und Politik bis zum Ende der Monarchie 775

§ 4 Bildung und Wissenschaft in Preußen von der Novemberrevolu-


tion bis zur Gleichschaltung 781
I. Der Umbruch 1918/19 781
II. Universität und Hochschulreformversuche im republikanischen
Preußen 785
III. Schulreform und Lehrerbildung 788
IV. Krise — Machtergreifung — Gleichschaltung: Das Ende der preu-
ßischen Kulturstaatlichkeit 792

Personen- und Sachregister 799


Abkürzungen

AbhBioSt Abhandlungen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und


internationale Studien
AbhBMath Abhandlungen der Preußischen [später: Deutschen] Akademie
der Wissenschaften zu Berlin. Mathematisch-
naturwissenschaftliche Klasse
AbhHdlSG Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte
AbhmnG Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte
AbhSächsGesW Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der Königl.
Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
AbhVGOstfr Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands
AbhWL Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen
der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse
AcBo Académica Bonnensia
ActStOWpr Acten der Ständetage Ost- und Westpreussens
AFGdArb Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung
AFrankfGKu Archiv für Frankfurter Geschichte und Kunst
Afs Archiv für Sozialgeschichte
AGEd Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen
AHallFmnG Ausgewählte Hallische Forschungen zur mittleren und neueren
Geschichte
AHR American Historical Review
AHVNrh Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein,
insbesondere das alte Erzbistum Köln
AIIGTr Annali dell'Istituto Italo-Germanico, Trento
AKG Archiv für Kulturgeschichte
AlMa Alma Mater. Beiträge zur Geschichte der Universität Bonn
AltprHe Das altpreußische Heer. Erscheinungsbild und Wesen
1713-1807
ANatGwe Aus N a t u r und Geisteswelt
AnReg Ancien Régime, Aufklärung und Revolution
AÖR Archiv für öffentliches Recht
APF Altpreußische Forschungen
ΑΡΗ Acta Poloniae Histórica
APM Altpreußische Monatsschrift
APrSchKw Annalen des Preußischen Schul- und Kirchenwesens
APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte
AQdGMa Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters
AQdGNz Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit
ArbBmG Arbeitsbücher zur modernen Geschichte
ArbGPiet Arbeiten zur Geschichte des Pietismus
AStG Allgemeine Staatengeschichte
XVIII Abkürzungen

ASf Archiv für Sippenforschung (und alle verwandten Gebiete)


ASW Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik
ATNLw Archiwum Towarzystwa Naukowego we Lwowie
AVR Aufklärung - Vormärz - Revolution. Mitteilungen der
internationalen Forschungsgruppe „Demokratische Bewegungen
in Mitteleuropa 1770 — 1850" an der Universität Innsbruck

BAkRL Beiträge der Akademie für Raumforschung und Landesplanung


BBBp Berufliche Bildung und Bildungspolitik
BDIDr BDI-Drucksachen
BDLG Blätter für deutsche Landesgeschichte
BE Bildung und Erziehung
BeihJbUK Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg/Pr.
BerLw Berichte über Landwirtschaft
BernUAG Berner Untersuchungen zur Allgemeinen Geschichte
BerWG Berichte zur Wissenschaftsgeschichte
BG Berliner Geschichte. Dokumente, Beiträge, Informationen
BGG Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des
Landesarchivs Berlin
BGParl Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der
politischen Parteien
BhNTM Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker
und Mediziner
BHSt Berliner Historische Studien
BiblGParl Bibliographien zur Geschichte des Parlamentarismus und der
politischen Parteien
BiblOme Bibliographien zur Geschichte und Landeskunde
Ostmitteleuropas
BiblPl Bibliothèque de la Pléiade
BiblSlu Biblioteka Slupska
BiblTH Biblioteka Tekstów Historycznych
BiblWarsz Biblioteka Warszawska
BielBAS Bielefelder Beiträge zur Ausbildungsforschung und
Studienreform
BoHF Bonner Historische Forschungen
BoSchrPZG Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte
BpfKG Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse
Volkskunde
BprobG Das Bildungsproblem in der Geschichte des europäischen
Erziehungsdenkens
Bra Brandenburgia
BSt Baltische Studien
BStnG Berliner Studien zur neueren Geschichte
BtrAvHF Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung
BtrBPrRG Beiträge zur Brandenburg-Preußischen Rechtsgeschichte
BtrGBArb Beiträge zur Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung
BtrGBev Beiträge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit
dem Anfange dieses Jahrhunderts
BtrGEP Beiträge zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in
Pommern
BtrGLKOschl Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Oberschlesiens
Abkürzungen XIX

BtrGrwD Beiträge zur Geschichte des religiösen und wissenschaftlichen


Denkens
BtrGPPP Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der
politischen Parteien
BtrGU Beiträge zum Geschichtsunterricht
BtrrhVk Beiträge zur rheinischen Volkskunde
BtrZG Beiträge zur Zeitgeschichte
BüSchL Der Bücherschatz des Lehrers
BvB Der Bär von Berlin
BWG Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte

CahLux Les Cahiers Luxembourgeois


CEH Central European History
ColStEOr Università degli studi di Padova. Collano di Studi sull'Europa
Orientale

Daed Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and


Sciences
DAG Deutsche Agrargeschichte
DBFSch Die Deutsche Berufs- und Fachschule
DFühNz Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit
DG Deutsche Geschichte
DGbü Deutsche Geschichtsbücherei
DGq Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts
DGzwBdn Deutsche Geschichte in zwölf Bänden
DhbdBG Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte
DHbP Deutsches Handbuch der Politik
Dia Diakonie. Impulse, Erfahrungen, Theorien
DiNa Die Deutschen und ihre Nation
DissnG Dissertationen zur neueren Geschichte
DIA Deutschland-Archiv
DldO Deutschland und der Osten
DoArbSGhD Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte und zur historischen
Didaktik
DoBtrZtgf Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung
DokDlp Dokumente zur Deutschlandpolitik
DokOme Dokumentation Ostmitteleuropa
DokStKomm Dokumente zum Studium des Kommunismus
DoSchrSozf Dortmunder Schriften zur Sozialforschung
DoCl Dossiers Clio
DPrf Deutsche Presseforschung
DQsG Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte
DRd Deutsche Rundschau
DRev Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der
Gegenwart
DSch Die Deutsche Schule
DStaGed Der deutsche Staatsgedanke
DStaGG Deutsche Staatsgrundgesetze in diplomatisch genauem Abdruck
DuisbF Duisburger Forschungen
DVjs Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte
DwüG Darstellungen aus der württembergischen Geschichte
XX Abkürzungen

DzPoGrZ Dzieje Polskiej Granicy Zachodniej


DZStrFr Deutsche Zeit- und Streitfragen. Flugschriften zur Kenntniß der
Gegenwart

EdF Erträge der Forschung


EconHR The Economic History Review
EHR English Historical Review
EHschr Europäische Hochschulschriften
ErlPr Erleutertes Preußen oder Auserlesene Anmerkungen über
verschiedene zur preußischen Kirchen-, Civil- und Gelehrten-
Historie gehörige besondere Dinge...
EschrHKBB Einzelschriften der Historischen Kommission für die Provinz
Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin
EschrSG Einzelschriften zur schlesischen Geschichte
EvHKzB Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu
Berlin
EntwGdHeerw Entwicklungsgeschichte des deutschen Heerwesens

FBPG Forschungen zur brandenburgischen und preußischen


Geschichte
FdSG Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte
FinwFa Finanzwissenschaftliche Forschungsarbeiten
FiWeG Fischer-Weltgeschichte
FKGG Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte
FKGP Forschungen zur Kirchengeschichte Pommerns
FmnG Forschungen zur mittelalterlichen und neueren Geschichte
FnnG Forschungen zur neueren und neuesten Geschichte
FnPRG Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte
FOEG Forschungen zur osteuropäischen Geschichte
FonTo Towarzystwo Naukowe w Toruniu. Fontes
FQKKGOd Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte
Ostdeutschlands
Fr Francia
FrankfHAbh Frankfurter Historische Abhandlungen
FrankfhV Frankfurter Historische Vorträge
FreibBtrWUG Freiburger Beiträge zur Wissenschafts- und
Universitätsgeschichte
FSWG Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
FühVol Führer des Volkes. Eine Sammlung von Zeit- und
Lebensbildern
FUrkHeG Forschungen und Urkunden zur Heeresgeschichte
FWG Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte

GESt Geschichte der Europäischen Staaten


GeswAbh Gesellschaftswissenschaftliche Abhandlungen
GrNSl Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens
GG Geschichte und Gesellschaft
GHPer German Historical Perspectives
GiQ Geschichte in Quellen
Gl Glückauf. Zeitschrift für Technik und Wirtschaft des Bergbaus
GLk Geschichtliche Landeskunde
Abkürzungen XXI

GöAbhSoz Göttinger Abhandlungen zur Soziologie


GöBaustGw Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft
GöBtrWSG Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte
GöStPäd Göttinger Studien zur Pädagogik
GötebHÄrskr Göteborgs Högskolas Ârskrift
GrG Grundriß der Geschichte
GS Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten
(1810-1906); Preußische Gesetzsammlung (1907-1945)
GStPGes Geschichtliche Studien zu Politik und Gesellschaft
GswDiss Geistes- und sozialwissenschaftliche Dissertationen
GWDNz Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit
GWest Geschichte im Westen
GWew Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert
GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
GWZ Geist und Werk der Zeiten

H Historia
HallFnG Hallische Forschungen zur neueren Geschichte
HallPädSt Hallesche pädagogische Studien
Hambjb Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik
HambStNG Hamburger Studien zur Neueren Geschichte
HarvHSt Harvard Historical Studies
HbdG Handbuch der deutschen Geschichte
HbdMG Handbuch der deutschen Militärgeschichte 1648 - 1 9 3 9
HbDU Handbuch des Deutschen Unterrichts an höheren Schulen
HbeG Handbuch der europäischen Geschichte
HbEUl Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere
Schulen
HbkVVRPr Handbuch des kommunalen Verfassungs- und
Verwaltungsrechts in Preußen
HbmnG Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte
HeidAbhMNG Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren
Geschichte
HeimBg Heimatchroniken der Städte und Kreise des Bundesgebietes
HerT Herrenaiber Texte
HessJbLG Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte
HF Historische Forschungen
HHaBB Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin
HiAll Histoire de l'Allemagne
HJb Historisches Jahrbuch
HLbStw Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften in selbständigen
Bänden
Hojb Hohenzollern-Jahrbuch
HPädSt Historische und Pädagogische Studien
HPersp Historische Perspektiven
HPHRaGes Historisch-Politische Hefte der Ranke-Gesellschaft
HSR Historical Social Research — Historische Sozialforschung
HStPhS Historical Studies in the Physical Sciences
HSwF Historisch-Sozialwissenschaftliche Forschungen
HSt Historische Studien
HT/Nz Historische Texte / Neuzeit
XXII Abkürzungen

HVS Historische Vierteljahrsschrift


HwbdSt Handwörterbuch der Staatswissenschaft
HZ Historische Zeitschrift

IASL Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen


Literatur
IdF Impulse der Forschung
IHKzB Informationen der Historischen Kommission zu Berlin
IndW Industrielle Welt
IRSH International Review of Social History
IWK Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte
der deutschen Arbeiterbewegung

JaBü Janus-Bücher
JbbLG Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte
JbBBKG Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte
JbbNSt Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik
JbbpG Jahrbücher für die preußische Gesetzgebung
JbbPV Jahrbücher des Preußischen Volksschulwesens
JbBWG Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft
JbESG Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte
JbG Jahrbuch für Geschichte
JbbPhilPäd Jahrbücher für Philologie und Pädagogik
JbPrKb Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz
JbUB Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Breslau
JbUK Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr.
JbVKG Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte
JbVWKG Jahrbuch des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte
JbWG Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte
JCEA Journal of Central European Affairs
JEH Journal of Economic History
JGMOD Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands
JGO Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
JMH Journal of Modern History
JNSt Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik
JSH Journal of Social History

KathPäd Katholische Pädagogen. Beiträge zur Geschichte der Pädagogik


KatSchrdO Katalog des Schrifttums über den deutschen Osten
KB Kleine Bibliothek. Politik, Wissenschaft, Zukunft
KB1GAV Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen
Geschichts- und Altertumsvereine
KH Kwartalnik Historyczny
KHF Königsberger Historische Forschungen
KielHSt Kieler Historische Studien
KIBtrGPr Kleine Beiträge zur Geschichte Preußens
KISchrStb Kleine Schriften für den Staatsbürger
KMW Komunikaty Mazursko-Warminskie
KöVAbhSWG Kölner Vorträge und Abhandlungen zur Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte
KöHAbh Kölner Historische Abhandlungen
Abkürzungen XXIII

KobSlSt Kebenhavns Universitets Slaviske Institut. Studier


KZSozSp Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
KrAbh Kirchenrechtliche Abhandlungen
KrStGw Kritische Studien zur Geschichtwissenschaft
KwPrG Kartenwerk zur Preußischen Geschichte

LbdG Lehrbuch der deutschen Geschichte (Beiträge)


LeipzHAbh Leipziger Historische Abhandlungen
LitwSw Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften
LükE Leibesübungen und körperliche Erziehung
LüVGOd Lüneburger Vorträge zur Geschichte Ostdeutschlands und der
Deutschen in Osteuropa

MärkF Märkische Forschungen


MäZ Männer der Zeit. Lebensbilder hervorragender Persönlichkeiten
der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit
MarbAbhPW Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft
MendSt Mendelssohn-Studien
MF Mitteldeutsche Forschungen
MGdESG Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und
Schulgeschichte
MGM Militärgeschichtliche Mitteilungen
MGP Moderne Geschichte und Politik
MGPaed Monumenta Germaniae Paedagogica
MGSt Militärgeschichtliche Studien
MdHSch Mitteldeutsche Hochschulen
MhSt Militärhistorische Studien
MHStVFrankf Mitteilungen des Historisch-Statistischen Vereins zu
Frankfurt a. O.
MiscBavMon Miscellanea Bavarica Monacensia
MKPrAv Mitteilungen der Kgl. Preußischen Archivverwaltung
MOhessGv Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins
MOstf Marburger Ostforschungen
MRaGes Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft
MSaSbB Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek
Breslau
MschrhSch Monatsschrift für höhere Schulen
MünchHAbh Münchener Historische Abhandlungen
MVGB Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins

NANds Neues Archiv für Niedersachsen


NAsächsG Neues Archiv für sächsische Geschichte
NassA Nassauische Annalen
NassGFVSG Nassauer Gespräche der Freiherr-Vom-Stein-Gesellschaft
Nat Nationes
NDB Neue Deutsche Biographie
NFBPG Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte
NMünstBGf Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung
NPL Neue Politische Literatur
NWB Neue Wissenschaftliche Bibliothek
NWG Neue Wirtschaftsgeschichte
XXIV Abkürzungen

OdUSt Odense University Studies in History an Social Sciences


OEF Osteuropäische Forschungen
OestHess Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen
OmeVG Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart
OprF Ostpreußische Forschungen
Oschljb Oberschlesisches Jahrbuch

Päd Pädagogik
PädGTP Pädagogik in Geschichte, Theorie und Praxis
PädKl Die pädagogischen Klassiker. Zur Einführung in ihr Leben und
ihre Schriften
PädMag Friedrich Mann's Pädagogisches Magazin
PädRd Pädagogische Rundschau
ParHSt Pariser Historische Studien
ParlEstRep Parliaments, Estates and Representation
PAUWydKH Polska Akademia Umiejçtnosci. Wydawnictwa Komisji
Historycznej
PersG Persönlichkeit und Geschichte
PF Politische Forschungen
PfStrasb Le petit format. Publications de la Faculté des lettres de
l'Université de Strasbourg
PGG Politik und Gesellschaftsgeschichte
PH Przegl^d Historyczny
PhG Philosophie und Geschichte
PNL Przewodnik naukowy i literacki
PPrStA Publikationen [bzw.: Publicationen] aus den [Königlichen]
preußischen Staatsarchiven
PriASt Prinz-Albert-Studien
PriG Preußen in der Geschichte
PrIZ Praca Instytutu Zachodniego
PrKNH Polska Akademia Nauk. Oddzial w Krakowie. Prace Komisji
Nauk Historycznych
PrKWh Prace Komisji Wojskowo-historycznej Ministerstwa Obrony
Narodowej
PrVB Preußen. Versuch einer Bilanz
PrWrTN Prace Wroclawskiego Towarzystwa Naukowego
Prjbb Preußische Jahrbücher
ProbE Probleme der Erziehung
PrStat Preußische Statistik (Amtliches Quellenwerk)
PSQ Political Science Quarterly
PublGesRhGk Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde
PublHLux Publications de la Section historique de l'Institut Grand-Ducal
de Luxembourg
PublRIMetz Publications du Centre des recherches Relations internationales
de l'Université de Metz
PublREE Publications on Russia and Eastern Europe
PublUDij Publications de l'Université de Dijon
PVS Politische Vierteljahresschrift
PZ Przegl^d Zachodni

QAbhGSt Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der


Staatsbeschreibung und Statistik
Abkürzungen XXV

QAhGP Quellen- und Arbeitshefte zur Geschichte und Politik


QDGB Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft
und der deutschen Einheitsbewegung
QFAG Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte
QFGG Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte
QFGM Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster
QFGSchlHo Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins
QFhStatD Quellen und Forschungen zur historischen Statistik von
Deutschland
QGParl Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der
politischen Parteien
QhGwOe Quellenhefte zur Geschichtswissenschaft in Osteuropa nach
dem Zweiten Weltkrieg
QhoKG Quellenhefte zur ostdeutschen und osteuropäischen
Kirchengeschichte
QkdGNz Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500
bis zur Gegenwart
QpDD Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20.
Jahrhundert
Qs Que sais-je?
QsKG Quellensammlung zur Kulturgeschichte
QStGDO Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens
QStGOe Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas
QStGöE Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa
QUGdöArb Untersuchungen zur Geschichte der deutschen und
österreichischen Arbeiterbewegung

RefPol Reformacja w Polsce


RhA Rheinisches Archiv
RHMC Revue d'histoire moderne et contemporaine
RhV Rheinische Vierteljahrsblätter
RJB Recht der Jugend und des Bildungswesens
RoH Roczniki Historyczne
ROI Rocznik Olsztynski
RoMatOl Rozprawy i Materialy Osrodka Badan Naukowych im.
Wojciecha Kçtrzynskiego w Olsztynie
Rp Res publica
RStGG Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart
RTor Roczniki Towarzystwa Naukowego w Toruniu

SAbhHal Sammlung nationalökonomischer und statistischer


Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu
Halle a. d. S.
SAbhPäd Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der
wissenschaftlichen Pädagogik
Saec Saeculum
SAGESt SAGE Studies in 20th Century History
SbH Saarbrücker Hefte
SBPKAK Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Ausstellungskataloge
SBPKM Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Mitteilungen
SbPr Sitzungsberichte der Prussia
SchlBibl Schlesische Bibliographie
XXVI Abkürzungen

SchlF Schlesische Forschungen


SchlVKWV Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und
Volkstum
Schmjb Schmoller's Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und
Rechtspflege des Deutschen Reiches [für Gesetzgebung,
Verwaltung und Volkswirtschaft; ab 1968: Schmoller's
Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften]
SchrBA Schriften des Bundesarchivs
SchrDAI Schriften des Deutschen Auslands-Instituts Stuttgart
SchrDFühNz Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in
der Neuzeit
SchrDIUrb Schriften des Deutschen Instituts für Urbanistik
SchrdP Schriften zur deutschen Politik
SchrHKol Schriften des Historischen Kollegs
SchrHKW Schriften der Historischen Kommission Westfalens
SchrlpW Schriften des Instituts für politische Wissenschaft
SchrlSchbl Schriften des internationalen Schulbuchinstituts
SchrLvLb Schriften über Landvolk und Landbau
SchrMPhF Schriften der Mainzer Philosophischen Fakultätsgesellschaft
SchrOschl Schriften der Stiftung Haus Oberschlesien
SchröVW Schriften zur öffentlichen Verwaltung und öffentlichen
Wirtschaft
SchrPhilAugs Schriften der Philosophischen Fakultät der Universität
Augsburg
SchrpWGl Schriften zur politischen Wirtschafts- und Gesellschaftslehre
SchrrAv Schriftenreihe der staatlichen Archivverwaltung
SchrrbayLG Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte
SchrrDZA Schriftenreihe des Deutschen Zentralarchivs
SchrrFiFESt Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-
Stiftung
SchrRG Schriften zur Rechtsgeschichte
SchrrGEI Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts für Internationale
Schulbuchforschung
SchrrHKBay Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der
Bayerischen Akademie der Wissenschaften
SchrrHUB Schriftenreihe des Instituts für Allgemeine Geschichte an der
Humboldt-Universität Berlin
SchrrPG Schriftenreihe zur Politik und Geschichte
SchrRhWWG Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte
SchrrldOK Schriftenreihe des Instituts für deutsche Ostarbeit Krakau,
Sektion Geschichte
SchrrIPW Schriftenreihe des Instituts für politische Wissenschaft
SchrrlSchbi Schriftenreihe des Internationalen Schulbuchinstituts
SchrrStAd Schriftenreihe der Stadt der Auslandsdeutschen
SchrrUK Schriftenreihe der Albertus-Universität, Geisteswissenschaftliche
Reihe
SchrrVfZ Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
SchrrVPkomA Schriftenreihe des Vereins zur Pflege
kommunalwissenschaftlicher Aufgaben e.V., Berlin
SchrschlLk Schriften zur schlesischen Landeskunde
SchrVG Schriften zur Verfassungsgeschichte
Abkürzungen XXVII

SchrVGB Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins


SchrVGNeum Schriften des Vereins für Geschichte der Neumark
SchrVSP Schriften des Vereins für Socialpolitik [bzw. Sozialpolitik,
Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften]
SchrWSG Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte
SchrZiG Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin [bzw.
Akademie der Wissenschaften der DDR], Schriften des
Zentralinstituts [bzw. Instituts] für Geschichte
SchulBlBr Schulblatt für die Provinz Brandenburg
ScrM Scripta Mercaturae
SGArbb Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch
SGnZ Staatengeschichte der neuesten Zeit
SGVSch Sammlungen der Gesetze, Verordnungen, Erlasse,
Bekanntmachungen zum Elementar- bzw. Volksschulwesen im
19./20. Jahrhundert
SkrVLund Skrifter utg. av Vetenskap-societen i Lund
SlZeszN Sl^ski Instytut Naukowy. Zeszyty Naukowe
SOEA Südosteuropäische Arbeiten
Sowi Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und
Studium
SozAbh Sozialwissenschaftliche Abhandlungen
SozFPr Soziale Forschung und Praxis
SozSchr Soziologische Schriften
SP Staat und Politik
SpM Sprawy Miedzynarodowe
SpW Spektrum der Wissenschaft
SRomb Sammlung Rombach
SSwF Staats- und Sozialwissenschaftliche Forschungen
St Der Staat
StBiDDRGw Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft
StContH Studies in Contemporary History
StDokdBG Studien und Dokumentationen zur deutschen
Bildungsgeschichte
StDtO Studien zum Deutschtum im Osten
StFrankfG Studien zur Frankfurter Geschichte
StG19Jh Studien zur Geschichte des 19. Jahrhunderts
StGdpB Studien zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen
StGAW Studien zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften der
DDR
StGb Studien zum Geschichtsbild
StGOe Studien zur Geschichte Osteuropas
StGPr Studien zur Geschichte Preußens
StHPP Studia nad Historie Panstwa i Prawa
StHSG Studia Histórica Slavo-Germanica
StHUps Studia Histórica Upsaliensia
StJbPrSt Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat
StMar Studia Maritima
StMedG Studien zur Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts
StmG Studien zur modernen Geschichte
StMGMwKf Studien zur Militärgeschichte, Militärwissenschaft und
Konfliktforschung
XXVIII Abkürzungen

StNatwTW Studien zur Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im 19.


Jahrhundert
StNIZ Studium Niemcoznawcze Instytutu Zachodniego
StockhStH Stockholm Studies in History
StPädAG Studien zur Pädagogik, Andragogik und Gerontagogik
StPub Studien zur Publizistik
StQGdVerfR Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen
Verfassungsrechts
StRw Studien zur Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts
StSw Studien zur Sozialwissenschaft
StSwF Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen
StTSGLit Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur
StUst Stern und Unstern. Eine Sammlung merkwürdiger Schicksale
und Abenteuer
StWGesB Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im 19.
Jahrhundert
StWSG Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte
StWSGSchlHo Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-
Holsteins
StZG Studien zur Zeitgeschichte
SW Soziale Welt

TAPhS Transactions of the American Philosophical Society


TbHKprLf Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und
westpreußische Landesforschung
TG Technikgeschichte
ThArb Theologische Arbeiten
Tr Tradition
TThKG Texte zur Theologie und Kirchengeschichte
TUBDok TUB-Dokumentation. Kongresse und Tagungen
TübStGP Tübinger Studien zur Geschichte und Politik
TübUr Tübinger Universitätsreden
TübWwAbh Tübinger Wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen

UAMH Uniwersytet im. Adama Mickiewicza [w Poznaniu], Seria


Historia
UDelMS University of Delaware Monograph Series
UdStRG Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte
UKG Untersuchungen zur Kirchengeschichte
ULdHschl Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer
UnConf Unio und Confessio
UNebrSt University of Nebraska Studies
UrkAFrWilh Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der inneren Politik
des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg
UThS Untersuchungen zur Theologie der Seelsorge
UWSTG Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und
Technikgeschichte

VAGFGew Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des


Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften
VAkRL Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und
Landesplanung. Forschungs- und Sitzungsberichte
Abkürzungen XXIX

VAPrKb Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz


VARhWWG Veröffentlichungen des Archivs für Rheinisch-Westfälische
Wirtschaftsgeschichte
VBhmPots Veröffentlichungen des Bezirksheimatmuseums Potsdam
VCC Veröffentlichungen des Collegium Carolinum
VDHILon Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts
London
VF Vorträge und Forschungen
VFstOme Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa
VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
VHIGr Veröffentlichungen des Historischen Institut» der Ernst-Moritz-
Arndt-Universität Greifswald
VHKDGE Veröffentlichungen der Historischen Kommission der
Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften
VHKH Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen
VHKNB Veröffentlichungen der Historischen Kommission für
Niedersachsen und Bremen
VHKP Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern
VHKSchl Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Schlesien
VHKW Veröffentlichungen der Historischen Kommission Westfalens
VHKzB Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin
[bzw. der Berliner Historischen Kommission] [beim Friedrich-
Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin]
VIEG Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte
Mainz
VIWGBKa Veröffentlichungen des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an
der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst
VjhKonf Vierteljahreshefte für Konjunkturforschung
VjhStDR Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reiches
VJJGdW Veröffentlichungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der
Wissenschaften Hamburg
VKGLkBaWü Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche
Landeskunde in Baden-Württemberg
VKSaLGVf Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische
Landesgeschichte und Volksforschung
VKZG Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte bei der
Katholischen Akademie in Bayern
VListGes Veröffentlichungen der Friedrich-List-Gesellschaft
VMPIG Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte
VNdsAv Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung
VOelM Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München
VoZfr Volkswirtschaftliche Zeitfragen
VPiWLVk Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfäische
Landes- und Volkskunde
VRDI Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen
Industrie
VrGesWWG Vortragsreihe der Gesellschaft für Westfälische
Wirtschaftsgeschichte
VStAPo Veröffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam
VSWG Viertel) ahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
XXX Abkürzungen

VVGMBr Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der M a r k


Brandenburg
VVkKG Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte
VVPrSt Die Verfassung und Verwaltung des Preußischen Staates
VWP Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik
VwSchr Volkswirtschaftliche Schriften

WAbhAGF Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für


Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen
WaG Die Welt als Geschichte
WBtrOme Wissenschaftliche Beiträge zu Geschichte und Landeskunde
Ost-Mitteleuropas [bzw. Ostmitteleuropas]
WdF Wege der Forschung
WT Westfälische Forschungen
WiBGNz Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit
WipolaBibl Wipola-Bibliothek
WPbSWG Wissenschaftliche Paperbacks Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Wprjb Westpreußen-Jahrbuch
WRG Wirtschafts- und Rechtsgeschichte
WWW Wissenschaftstheorie — Wissenschaftspolitik —
Wissenschaftsplanung
WydIBGd Wydawnictwa Instytutu Baltyckiego w Gdansku
Wydjub Wydawnictwa Jubileuszowe
WydZKH Poznanskie Towarzystwo Przyjaciól Nauk. Wydawnie
Zródlowe Kom. Hist.
WZ Westfälische Zeitschrift
WZHumbU Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu
Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe
WZJena Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität
Jena. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe

ZAA Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie


ZbaySpG Zeitschrift für bayerische Sparkassengeschichte
ZBHS Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen im
Preußischen Staate [bzw.: im Deutschen Reiche]
ZBLG Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
ZB1UV Zentralblatt [bis 1875: Centralblatt] für die gesam[m]te
Unterrichts-Verwaltung in Preussen
ZAufkl Zentren der Aufklärung
ZfBinn Zeitschrift für Binnenschiffahrt [und Wasserstraßen]
ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
ZfM Zeitschrift für Militärgeschichte
ZfO Zeitschrift für Ostforschung
ZfPäd Zeitschrift für Pädagogik
ZfP Zeitschrift für Politik
ZfSHG Zeitschrift der Gesellschaft für schleswig-holsteinische
Geschichte
ZGAE Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands
ZGE Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts
ZGO Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins
ZGSaar Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend
ZgSt Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
Abkürzungen XXXI

ZGym Zeitschrift für das Gymnasialwesen


ZH Zapiski Historyczne
ZHF Zeitschrift für historische Forschung
ZHGP Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen
ZhoG Zeitschrift für hohenzollerische Geschichte
ZKulta Zeitschrift für Kulturaustausch
ZNUPH Zeszyty N a u k o w e Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w
Poznaniu, Historia
ZprGLk Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde
Z R G GA Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte,
Germanistische Abteilung
ZRGG Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte
ZStatB Zeitschrift des Königlichen Preußischen Statistischen Bureaus
ZUntG Zeitschrift für Unternehmensgeschichte
ZVGA Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde
ZVGSchl Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens
ZVhessGLk Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und
Landeskunde
ZVthürGA Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und
Altertumskunde
Α. Epochen der preußischen Geschichte
1807-1870
I. Preußen von 1807 bis 1850
Reformen, Restauration und Revolution
Von Ii ja Mieck

Bibliographie

1. Zeitlich übergreifende Quellen werke, Handbücher


und Gesamtdarstellungen

Quellenkunde: [1] Klaus MÜLLER, Absolutismus und Zeitalter der Französischen


Revolution (1715-1815) ( = QkdGNz, Bd. 3), Darmstadt 1982; [2] Wolfram SIE-
MANN, Restauration, Liberalismus und nationale Bewegung (1815 — 1870). Akten,
Urkunden und persönliche Quellen ( = QkdGNz, Bd. 4), Darmstadt 1982.
Quellensammlungen: [3] Hartwig BRANDT (Hg.), Restauration und Frühliberalismus
1814-1840 ( = QpDD, Bd. 3), Darmstadt 1979; [4] Friedrich DoNATH/Walter MAR-
KOV (Hg.), Kampf um Freiheit. Dokumente zur Zeit der nationalen Erhebung 1789 —
1815, Berlin 1954; [5] Hans FENSKE (Hg.), Vormärz und Revolution 1840-1849
( = QpDD, Bd. 4), Darmstadt 1976; [6] Karl OBERMANN (Hg.), Einheit und Freiheit.
Die deutsche Geschichte von 1815 bis 1849 in zeitgenössischen Dokumenten, Berlin
1950; [7] Günter SCHÖNBRUNN, Das bürgerliche Zeitalter 1815 - 1 9 1 4 ( = GiQ,
Bd. 4/2), München 1980.
Handbücher und Gesamtdarstellungen: [8] Louis BERGERON/François FuRET/Rein-
hart KOSELLECK, Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780-1848 ( = FiWG,
Bd. 26), Frankfurt 1969; [9] Manfred BOTZENHART, Reform, Restauration, Krise.
Deutschland 1789-1847, Frankfurt/M. 1985; [10] Max BRAUBACH, Von der Fran-
zösischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, in: Herbert Grundmann (Hg.),
Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Stuttgart '1970, Bd. 3, S. 1 - 96;
[11] Jacques DROZ, La Formation de l'Unité allemande 1789 - 1871 ( = HiAll, Bd. 1),
Paris 1970; [12] Karl-Georg FABER, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Re-
stauration und Revolution (1815-1851) ( = H b d G , Bd.3/lb), Wiesbaden 1979;
[13] Elisabeth FEHRENBACH, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß [1981]
( = GrG, Bd. 12), München 2 1986; E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
(1957/60) [49]; [14] Dieter LANGEWIESCHE, Europa zwischen Restauration und
Revolution 1815 - 1 8 4 9 [1985] ( = GrG, Bd. 13), München 21989; [15] Heinrich LUTZ,
Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 —1866 ( = DiNa, Bd. 2), Berlin
1985; [16] Ilja MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution (1806 -1847), in: Wolfgang
Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, München 2 1988, Bd. 1, S. 405 - 602; [17] Thomas
NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, Mün-
chen 1983; [18] Karl OBERMANN, Deutschland von 1815 bis 1849 (Von der Gründung
4 Preußen von 1807 bis 1850

des Deutschen Bundes bis zur bürgerlich-demokratischen Revolution) ( = LbdG,


Bd. 6), Berlin 4 1976; [19] Wilhelm ONCKEN, Das Zeitalter der Revolution, des
Kaiserreiches und der Befreiungskriege, 2 Bde. ( = AGEd, Bd. 4), Berlin 1884/86;
[20] Kurt von RAUMER/Manfred BOTZENHART, Deutsche Geschichte im 19. Jahr-
hundert. Deutschland um 1800: Krise und Neugestaltung. Von 1789 bis 1815
( = HbdG, Bd. 3/la), Wiesbaden 1980; [21] Reinhard RÜRUP, Deutschland im 19.
Jahrhundert. 1 8 1 5 - 1 8 7 1 ( = DG, Bd. 3), Göttingen 1984; [22] Theodor SCHIEDER,
Vom Deutschen Bund zum Deutschen Reich, in: Herbert Grundmann (Hg.), Geb-
hardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Stuttgart '1970, Bd. 3, S. 97 - 220;
[23] Manfred SCHLENKE (Hg.), Preußische Geschichte. Eine Bilanz in Daten und
Deutungen, Freiburg - Würzburg 2 1991 (1. Aufl. [1983] u. d. T. Preußen-Ploetz); [24]
Walter SCHMIDT U. a., Die bürgerliche Umwälzung von 1789 bis 1871
( = DGzwBdn, Bd. 4), Berlin 1984; [25] Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im
Neunzehnten Jahrhundert [ 1 9 2 9 - 1 9 3 7 ] , 4 Bde., Freiburg i. Br. 5 1959; [26] Joachim
STREISAND, Deutschland von 1789 bis 1815 (Von der Französischen Revolution bis
zu den Befreiungskriegen und dem Wiener Kongreß) ( = LbdG, Bd. 5), Berlin 1959;
[27] Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert,
5 Bde. ( = SGnZ, Bd. 2 4 - 2 8 ) , Berlin 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ; [28] Adalbert WAHL, Geschichte
des europäischen Staatensystems im Zeitalter der Französischen Revolution und der
Freiheitskriege (1789 - 1815) ( = HbmnG, Abt. 2, Bd. 7), München - Berlin 1912 (ND
München 1967); [29] Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1:
1 7 0 0 - 1 8 1 5 . B d . 2 : 1 8 1 5 - 1 8 4 5 / 4 9 , M ü n c h e n 1 9 8 7 ; [30] J o h a n n e s WILLMS, N a t i o -
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Staat und Gesellschaft: [30 a] Peter BAUMGART (Hg.), Expansion und Integration.
Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat ( = NFBPG,
B. 5), K ö l n - W i e n 1984. [31] Dirk BLASIUS, Bürgerliche Gesellschaft und Krimina-
lität. Zur Sozialgeschichte Preußens im Vormärz ( = KrStGw, Bd. 22), Göttingen
1976; [32] Helmut BLEIBER, Staat und bürgerliche Umwälzung in Deutschland. Zum
Charakter besonders des preußischen Staates in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts [1976], in: Gustav Seeber/Karl-Heinz Noack (Hg.), Preußen in der deutschen
Geschichte nach 1789 ( = StBiDDRGw, Bd. 3), Berlin 1983, S. 8 2 - 1 1 5 ; [33] Theo-
dore S. HAMEROW, Restoration, Revolution, Reaction. Economics and Politics in
Germany 1 8 1 5 - 1 8 7 1 , Princeton 1958; [34] Jürgen KOCKA, Preußischer Staat und
Modernisierung im Vormärz. Marxistisch-leninistische Interpretationen und ihre
Probleme, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans
Rosenberg zum 70. Geburtstag ( = KrStGw, Bd. 11), Göttingen 1974, S. 2 1 1 - 2 2 7 ;
[35] Reinhart KOSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines
Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 [1967] ( = IndW,
Bd. 7), Stuttgart 2 1975; [36] Reinhart KOSELLECK, Staat und Gesellschaft in Preußen
1 8 1 5 - 1 8 4 8 , in: Werner Conze (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz
1815-1848 ( = I n d W , B d . 1), S t u t t g a r t 2 1 9 7 0 , S. 7 9 - 1 1 2 ; [37] A l f LÜDTKE, „Ge-
meinwohl", Polizei und „Festungspraxis". Staatliche Gewaltsamkeit und innere
Verwaltung in Preußen 1 8 1 5 - 1 8 5 0 ( = VMPIG, Bd. 73), Göttingen 1982; [38] Tho-
mas NIPPERDEY, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen
19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: Ders., Gesellschaft, Kultur,
Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte ( = KrStGw, Bd. 18), Göttin-
gen 1972, S. 174 - 205; [39] Hanna SCHISSLER, Preußische Agrargesellschaft im
Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse
von 1763 bis 1847 ( = KrStGw, Bd. 33), Göttingen 1978.

Wirtschaft: [40] C[arl] Friedrich] W[ilhelm] DIETERICI, Der Volkswohlstand im


Preussischen Staate. In Vergleichungen aus den Jahren vor 1806 und von 1828 bis
1832, so wie aus der neuesten Zeit, nach statistischen Ermittelungen und dem Gange
Bibliographie 5

der Gesetzgebung aus amtlichen Quellen dargestellt, Berlin — Posen — Bromberg 1846
(ND Münster 1986); [41] Ilja MIECK, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1 8 0 6 -
1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus
( = VHKzB, Bd. 20), Berlin 1965; [42] Ilja MIECK, Umweltschutz in Preußen zur Zeit
der Frühindustrialisierung, in: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne
Preußische Geschichte 1648 - 1 9 4 7 . Eine Anthologie ( = VHKzB, Bd. 52), Berlin 1981,
Bd. 2, S. 1 1 4 1 - 1 1 6 7 ; [43] Ulrich Peter RITTER, Die Rolle des Staates in den Früh-
stadien der Industrialisierung. Die preußische Industrieförderung in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts ( = VwSchr, H. 60), Berlin 1961; [44] Wieland SACHSE, Biblio-
graphie zur preußischen Gewerbestatistik 1 7 5 0 - 1 8 5 0 ( = GöBtrWSG, Bd. 6), Göt-
tingen 1981; [44a] Reinhard SPREE, Wachstumstrends und Konjunkturzyklen in der
deutschen Wirtschaft von 1820 bis 1913. Quantitativer Rahmen für eine Konjunk-
turgeschichte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1978; [44b] Reinhard SPREE, Die
Wachstumszyklen in der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880. Mit einem kon-
junkturstatistischen Anhang ( = SchrWSG, Bd. 29), Berlin 1977; [45] Walter STEITZ
(Hg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert
bis zur Reichsgründung ( = AQdGNz, Bd. 36), Darmstadt 1980; [ 4 6 ] Wilhelm TREUE,
Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Herbert
Grundmann (Hg.), Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Stuttgart '1970,
Bd. 3, S. 3 7 6 - 5 4 1 ; [47] Wilhelm TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preu-
ßens ( = VHKzB, Bd. 56), B e r l i n - N e w York 1984, S. 225 - 465.

Verfassung und Verwaltung: [48] Dieter GRIMM, Deutsche Verfassungsgeschichte


1776 — 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des
Deutschen Bundes, Frankfurt/M. 1988; [49] Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfas-
sungsgeschichte seit 1789. Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart
1957. Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart 1960;
[50] Ernst Rudolf HUBER (Hg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte.
Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803 - 1 8 5 0 , Stuttgart 3 1978; [51] Kurt G. A.
JESERICH/Hans PoHL/Georg-Christoph von UNRUH (Hg.), Deutsche Verwaltungs-
geschichte. Bd. 2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deut-
schen Bundes, Stuttgart 1983.

Soziale Klassen und Schichten: [52] Jürgen KOCKA (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit
im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987; [53] Jürgen KOCKA, Lohnarbeit und Klassen-
bildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1 8 0 0 - 1 8 7 5 , B e r l i n - B o n n
1983; [54] Armgard von REDEN-DoHNA/Ralph MELVILLE (Hg.), Der Adel an der
Schwelle des bürgerlichen Zeitalters. 1 7 8 0 - 1 8 6 0 ( = VIEG, Beih. 10), Wiesbaden-
Stuttgart 1988; [55] Hans ROSENBERG, Die Pseudodemokratisierung der Ritterguts-
besitzerklasse [1958], in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialge-
schichte ( = NWB, Bd. 10), Köln 4 1974, S. 2 8 7 - 3 0 8 ; [56] Hans-Ulrich WEHLER,
Bürger, Arbeiter und das Problem der Klassenbildung 1800 — 1870. Deutschland
im internationalen Vergleich, in: Jürgen Kocka (Hg.), Arbeiter und Bürger im
19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich
( = SchrHKol, Kolloquien, Bd. 7), München 1986, S. 1 - 2 7 .

2. Reformzeit

Quellensammlungen: [57] Heinrich ScHEEL/Doris SCHMIDT (Hg.), Das Reformmi-


nisterium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren
1807/08, 3 Bde. ( = Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriften des
6 Preußen von 1807 bis 1850

Instituts für Geschichte, Bd. 31), Berlin 1 9 6 6 - 1 9 6 8 ; [58] Heinrich ScHEEL/Doris


SCHMIDT (Hg.), Von Stein zu Hardenberg. Dokumente aus dem Interimsministerium
Altenstein/Dohna ( = SchrZiG, Bd. 54), Berlin 1986; [59] Hanna ScmssLER/Hans-
Ulrich W E H L E R (Hg.), Preußische Finanzpolitik 1806 - 1 8 1 0 . Quellen zur Verwaltung
der Ministerien Stein und Altenstein, bearb. von Eckart Kehr, Göttingen 1984;
[60] Alfred STERN, Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen
Reformzeit 1 8 0 7 - 1 8 1 5 , Leipzig 1885; [61] Rudolf VAUPEL (Hg.), Die Reorganisation
des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg. T. 2: Das Preußische Heer
vom Tilsiter Frieden bis zur Befreiung 1 8 0 7 - 1 8 1 4 ( = PPrStA, Bd. 94), Berlin 1938;
[62] Georg W I N T E R (Hg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein
und Hardenberg. T. 1: Allgemeine Verwaltungs- und Behördenreform. Bd. 1: Vom
Beginn des Kampfes gegen die Kabinettsregierung bis zum Wiedereintritt des Mi-
nisters vom Stein ( = PPrStA, Bd. 93), Leipzig 1931 [m. n. e.].

Gesamtdarstellungen: [62a] Marion W. GRAY, Prussia in Transition. Society and


Politics under the Stein Reform Ministry of 1808 ( = TAPhS, Bd. 76/1), Philadelphia
1986; [63] Walther HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen ( = EdF,
Bd. 65), Darmstadt 1977; [64] Ilja MIECK, Zielsetzungen und Ertrag der preußischen
Reformen, in: Manfred Schlenke (Hg.), Preußen. Beiträge zu einer politischen Kultur
( = Preußen. Versuch einer Bilanz, Bd. 2), Reinbek bei Hamburg 1981, S. 181 - 1 9 6 ;
[65] Klaus VETTER, Kurmärkischer Adel und Preußische Reformen ( = VStAPo,
Bd. 15), Weimar 1979; [66] Barbara VOGEL, Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Re-
formpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810—1820) ( = KrStGw,
Bd. 57), Göttingen 1983; [67] Barbara VOGEL (Hg.), Preußische Reformen 1 8 0 7 -
1820 ( = NWB, Bd. 96), Königstein/Ts. 1980; [68] Barbara VOGEL, Reformpolitik in
Preußen 1 8 0 7 - 1 8 2 0 , in: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im
Rückblick ( = GG, Sonderh. 6), Göttingen 1980, S. 202 - 223.

Freiherr vom Stein: [69] Max LEHMANN, Freiherr vom Stein, 3 Bde., Leipzig 1902 —
1905; [70] Georg Heinrich PERTZ, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein,
6 Bde. (in 7 Bdn.), Berlin 1 8 4 9 - 1 8 5 5 ; [71] Gerhard RITTER, Stein. Eine politische
Biographie [1931], 2 Bde., Stuttgart 4 1981; [72] Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom
STEIN, Briefe und amtliche Schriften, bearb. von Erich Botzenhart, neu hg. von
Walther Hubatsch, 10 Bde., Stuttgart 1 9 5 7 - 1 9 7 4 ; [73] Freiherr vom STEIN, Brief-
wechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen, bearb. von Erich Botzenhardt, 7 Bde.,
Berlin 1931 - 1 9 3 7 .

Hardenberg: [74] Hans HAUSSHERR, Hardenberg. Eine politische Biographie, T. 1, hrsg.


von Karl-Erich Born ( = KöHAbh, Bd. 8), Köln - Graz 1963, Bd. 3, Köln - Graz 2 1965;
[ 7 5 ] Leopold von RANKE (Hg.), Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Har-
denberg^ Bde., Leipzig 1877; [76] Leopold von RANKE, Hardenberg und die Geschichte
des preußischen Staates von 1793 — 1813, 3 Bde. ( = Leopold von Ranke's Sämmtliche
Werke, Bd. 46 - 48), Leipzig 2 1879 - 1 8 8 1 ; [77] Peter Gerrit THIELEN, Karl August von
Hardenberg 1750 - 1 8 2 2 . Eine Biographie, Köln - Berlin 1967.

Einzelne Reformbereiche: [78] Helmut BÖHME, „Bauernbefreiung" oder „Bauern-


freisetzung"? Anmerkungen zu einem größeren Thema: Preußen und Preußenbild
zwischen Reform und Revolution, in: Otto Büsch (Hg.), Das Preußenbild in der
Geschichte ( = V H K z B , Bd. 5 0 ) , B e r l i n - N e w York 1 9 8 1 , S. 1 1 5 - 1 6 6 ; [ 7 9 ] Paul
CLAUSWITZ, Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin. Festschrift zur
hundertjährigen Gedenkfeier der Einführung der Städteordnung, Berlin 1908 (ND
Bibliographie 7

Berlin 1986); [80] Christof DIPPER, Die Bauernbefreiung in Deutschland 1790 - 1850,
Stuttgart 1980; [81] Georg ECKERT, Von Valmy bis Leipzig. Quellen und Dokumente
zur Geschichte der preußischen Heeresreform, Hannover — Frankfurt/M. 1955; [82]
Ernst KLEIN, Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetz-
gebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg ( = VHKzB,
Bd. 16), Berlin 1965; [83] Heinz G. NITSCHKE, Die Preußischen Militärreformen
1807 — 1813. Die Tätigkeit der Militärreorganisationskommission und ihre Auswir-
kungen auf die preußische Armee ( = KlBtrGPr, Bd. 2), Berlin 1983;
[84] Berthold SCHULZE, Die Reform der Verwaltungsbezirke in Brandenburg und
Pommern 1 8 0 9 - 1 8 1 8 ( = EschrHKBB, Bd. 3), Berlin 1931.

3. Napoleonisches Staatensystem, Freiheitskriege


und Wiener Kongreß

Quellensammlungen: [ 8 5 ] Manfred BOTZENHARDT (Hg.), Die deutsche Verfassungs-


frage 1 8 1 2 - 1 8 1 5 ( = HT/Nz, H. 3 ) , Göttingen 1 9 6 8 ; [ 8 6 ] Herman GRANIER (Hg.),
Berichte aus der Berliner Franzosenzeit 1807 - 1809 ( = PPrStA, Bd. 88), Leipzig 1913
(ND Osnabrück 1969); [87] Paul HASSEL, Geschichte der Preußischen Politik 1 8 0 7 -
1815. T. 1: 1807, 1808 ( = PPrStA, Bd. 6), Leipzig 1881 [m.n.e.] (ND Osnabrück
1 9 6 5 ) ; [ 8 8 ] Tim KLEIN (Hg.), Die Befreiung 1 8 1 3 - 1 8 1 4 - 1 8 1 5 . Urkunden, Berichte,
Briefe mit geschichtlichen Verbindungen, Ebenhausen 1 9 1 3 ; [ 8 9 ] Eckart KLESSMANN
(Hg.), Die Befreiungskriege in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1973; [90] Fried-
rich M E U S E L (Hg.), Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Ein märkischer
Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, 2 Bde. (in 3 Bdn.), Berlin 1908 — 1913;
[91] Julius von PFLUGK-HARTTUNG, Das Befreiungsjahr 1813. Aus den Akten des
Geh. Staatsarchivs, Berlin 1 9 1 3 ; [ 9 2 ] Hans-Joachim SCHOEPS (Hg.), Aus den Jahren
preussischer Not und Erneuerung. Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach
und ihres Kreises 1 8 0 5 - 1 8 2 0 , Berlin 1 9 6 3 ; [ 9 3 ] Hans-Bernd SPIES (Hg.), Die Erhe-
bung gegen Napoleon 1806-1814/15 ( = QpDD, Bd. 2), Darmstadt 1981.

Bibliographie: [94] Friedrich M. KIRCHEISEN, Bibliographie des Napoleonischen Zeit-


alters einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika, 2 Bde., Berlin 1908/12.

Gesamtdarstellungen: [95] Willy ANDREAS, Das Zeitalter Napoleons und die Erhe-
bung der Völker, Heidelberg 1955; [96] Rudolf IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . Staat
und Volk als Idee und in Wirklichkeit (Darstellung und Dokumentation) ( = VAPrKb,
Bd. 5), Köln-Berlin 1970; [97] Friedrich MEINECKE, Das Zeitalter der deutschen
Erhebung 1 7 9 5 - 1 8 1 5 [ 1 9 0 6 ] , Göttingen 6 1 9 5 7 ; [ 9 8 ] Bernd von MÜNCHOW-POHL,
Zwischen Reform und Krieg, Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen
1 8 0 9 - 1 8 1 2 ( = VMPIG, Bd. 87), Göttingen 1987.

Freiheitskriege: [99] Helmut BERDING, Das geschichtliche Problem der Freiheits-


kriege 1 9 1 3 - 1 8 1 4 , in: Karl Otmar Freiherr von Aretin/Gerhard A. Ritter (Hg.),
Historismus und moderne Geschichtswissenschaft. Europa zwischen Revolution und
Restauration 1797 - 1 8 1 5 . Drittes Deutsch-Sowjetisches Historikertreffen in der Bun-
desrepublik Deutschland, München, 13. - 18. März 1978 ( = VIEG, Abt. Universal-
geschichte, Beih. 2 1 ) , Stuttgart 1 9 8 7 , S. 2 0 1 - 2 1 5 ; [ 1 0 0 ] Adalbert BEZZENBERGER
(Hg.), Urkunden des Provinzial-Archivs in Königsberg und des Gräflich Dohnaschen
Majorats-Archivs in Schlobitten betreffend die Erhebung Ostpreußens im Jahre 1813
und die Errichtung der Landwehr, Königsberg 1894; [101] Helmut BOCK, Konser-
vatives Rebellentum im antinapoleonischen Unabhängigkeitskampf. Zur Beurteilung
8 Preußen von 1807 bis 1850

des Freischarzuges unter Ferdinand von Schill, in: JbG, Bd. 6 (1972), S. 107—145;
[102] Joh[ann] Gust[av] DROYSEN, Vorlesungen über die Freiheitskriege [1846],
2 Bde., Gotha 2 1886; [103] Rudolf FRIEDERICH, Die Befreiungskriege 1813 - 1 8 1 5 ,
4 Bde., Berlin 1 9 1 1 - 1 9 1 3 ; [104] Heinz HELMERT/Hans-Jürgen USCZECK, Der Be-
freiungskrieg 1813/14. Militärischer Verlauf, Berlin 1963; [104a] Max LEHMANN,
Knesebeck und Schön. Beiträge zur Geschichte der Freiheitskriege, Leipzig 1875;
[104b] Wilhelm ONCKEN, Österreich und Preußen im Befreiungskriege. Urkundliche
Aufschlüsse über die politische Geschichte des Jahres 1813, 2 Bde., Berlin 1876/79;
[105] Percy STULZ, Fremdherrschaft und Befreiungskampf. Die preußische Kabi-
nettspolitik und die Rolle der Volksmassen in den Jahren 1811 bis 1813, Berlin 1960.

Generalität: [106] Raymond ARON, Clausewitz. Den Krieg denken [frz. 1976],
Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1980; [107] Joh[ann] Gust[av] DROYSEN, Das Leben
des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg, 3 Bde., Berlin 2 1851 —1852 u.ö.;
[108] Walter GÖRLITZ, Kleine Geschichte des deutschen Generalstabes, Berlin 2 1977;
[109] Werner HAHLWEG, Carl von Clausewitz. Soldat - Politiker - Denker
( = PersG, Bd. 3), Göttingen 1957; [110] Werner HAHLWEG (Hg.), Dokumente aus
dem Clausewitz-, Scharnhorst- und Gneisenau-Nachlaß sowie aus öffentlichen und
privaten Sammlungen. Bd. 1: Carl von Clausewitz, Schriften — Aufsätze — Studien
- Briefe ( = DGq, Bd. 45), Göttingen 1966; [111] Carl von CLAUSEWITZ, Vom Kriege.
Hinterlassenes Werk. Vollständige Ausgabe im Urtext, hg. von Werner Hahlweg,
Bonn "1973; [112] Max LEHMANN, Scharnhorst, 2 Bde., Leipzig 1886/87;
[113] Günther MARTIN, Die bürgerlichen Exzellenzen. Zur Sozialgeschichte der
preußischen Generalität 1 8 1 2 - 1 9 1 8 , Düsseldorf 1979; [114] Ulrich MARWEDEL, Carl
von Clausewitz. Persönlichkeit und Wirkungsgeschichte seines Werkes bis 1918
( = WWFMGSt, Bd. 25), Boppard a. Rh. 1978; [115] Hans OTTO, Gneisenau. Preu-
ßens unbequemer Patriot, Bonn 1979; [116] Peter PARET, Clausewitz and the State,
Oxford 1976; [117] Peter PARET, York and the Era of Prussian Reform 1 8 0 7 - 1 8 1 5 ,
Princeton 1966; [118] G[eorg] H[einrich] PERTZ, Das Leben des Feldmarschalls
Grafen Neithardt von Gneisenau, 5 Bde. [Bd. 4 und 5 bearb. von Hans Delbrück],
Berlin 1864 — 1880; [119] Gerhard RITTER, Gneisenau und die deutsche Freiheitsidee
( = PhG, H. 37), Tübingen 1932; [120] Heinz STÜBIG, Scharnhorst. Die Reform des
preußischen Heeres ( = PersG, Bd. 131), Göttingen 1988.

Wiener Kongreß: [120 a] Peter BURG, Der Wiener Kongreß. Der Deutsche Bund im
europäischen Staatensystem [1984] ( = D G d t v , Bd. 1), München 2 1989; [121] The
Congress of Vienna and Europe / Le Congrès de Vienne et l'Europe, Oxford 1964;
[122] Karl GRIEWANK, Preußen und die Neuordnung Deutschlands 1813 - 1 8 1 5 , in:
FBPG, Bd. 52 (1940), S. 234 - 279; [123] Karl GRIEWANK, Der Wiener Kongreß und
die europäische Restauration 1814/15 [1942], Leipzig 2 1954; [124] Johann Ludwig
KLÜBER (Hg.), Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, 9 Bde.,
Erlangen 1 8 1 6 - 1 8 3 5 (ND Osnabrück 1966); [125] Wolfgang MAGER, Das Problem
der landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongreß 1814/15, in: HZ, Bd. 217
(1974), S. 296 - 346; [126] Klaus MÜLLER (Hg.), Quellen zur Geschichte des Wiener
Kongresses 1814/15 ( = AQdGNz, Bd. 23), Darmstadt 1986.

4. Restaurationszeit und Vormärz

Quellensammlungen: [127] Joseph HANSEN (Hg.), Rheinische Briefe und Akten zur
Geschichte der politischen Bewegung 1 8 3 0 - 1 8 5 0 , 2 Bde., Essen 1919/42 (ND Os-
nabrück 1967); [128] Heinrich von POSCHINGER (Hg.), Unter Friedrich Wilhelm IV.
Bibliographie 9

Denkwürdigkeiten des Ministerpräsidenten Otto Freiherrn v. Manteuffel, 3 Bde.,


Berlin 1 9 0 1 ; [ 1 2 9 ] Franz R Ü H L (Hg.), Briefe und Aktenstücke zur Geschichte Preußens
unter Friedrich Wilhelm III. vorzugsweise aus dem Nachlaß von Friedrich August
v. Stägemann, 3 Bde., Leipzig 1 8 9 9 - 1 9 0 2 ; [ 1 3 0 ] Karl August VARNHAGEN VON E N S E ,
Tagebücher. Aus dem Nachlaß Varnhagen's von Ense, 1 5 Bde., Leipzig 1 8 6 1 — 1 9 0 5
(ND Bern 1 9 7 2 ) .

Gesamtdarstellungen: P. BURG, Der Wiener Kongreß [120a]; K.-G. FABER, Deutsche


Geschichte... [12]; [131] Rainer KOCH, Deutsche Geschichte 1 8 1 5 - 1 8 4 8 . Restaura-
tion oder Vormärz?, Stuttgart 1985; D. LANGEWIESCHE, Europa... [14]; H. L U T Z ,
Zwischen Habsburg und Preußen... [15]; K. OBERMANN, Deutschland... [18].

Deutscher Bund: [132] Ludwig BENTFELDT, Der Deutsche Bund als nationales Band
1 8 1 5 - 1 8 6 6 , Göttingen-Frankfurt/M. - Zürich 1 9 8 5 ; [ 1 3 3 ] Johann Ludwig K L Ü B E R
(Hg.), Quellen-Sammlung zu dem Oeffentlichen Recht des Teutschen Bundes. Ent-
haltend die Schluß-Acte des Wiener Congresses, den Frankfurter Territorial-Receß,
die Generalverträge des Teutschen Bundes und Beschlüsse der Bundesversammlung
von allgemeinem Interesse, Erlangen ' 1 8 3 0 (ND Leipzig 1 9 7 0 ) .

Heilige Allianz: [134] Werner NÄF, Zur Geschichte der Heiligen Allianz
( = BernUAG, H. 1), Bern 1928; [135] Hildegard SCHAEDER, Autokratie und Heilige
Allianz [ 1 9 3 4 ] , Darmstadt 2 1 9 6 3 .

Einzelne Minister: [136] Lawrence J. BAACK, Christian Bernstorff und Prussia.


Diplomacy and Reform Conservatism 1818 — 1832, New Jersey 1980; [137] Hans
BRANIG, Fürst Wittgenstein. Ein preußischer Staatsmann der Restaurationszeit
( = VAPrKb, Bd. 17), K ö l n - W i e n 1981; [138] Gernot DALLINGER, Karl von Canitz
und Dallwitz. Ein preußischer Minister des Vormärz. Darstellungen und Quellen
( = VAPrKb, Bd. 3), Berlin-Köln 1969; [139] Ludwig DEHIO, Wittgenstein und das
letzte Jahrzehnt Friedrich Wilhelms III., in: FBPG, Bd. 35 (1923), S. 213 - 240.

Preußen und die Julirevolution 1830: [140] Helmut BOCK, Deutsche Klassenkämpfe
zur Zeit der französischen Julirevolution 1830 — 1834. Antifeudale Klassenbewegun-
gen, Organisationsformen, Bewußtseinsveränderungen und Literaturprogramme bei
beginnender Wirksamkeit des Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit, in:
JbVKG, Bd. 17 (1975), S. 4 0 - 1 0 6 ; [141] Helmut BOCK, Die Illusion der Freiheit.
Deutsche Klassenkämpfe zur Zeit der französischen Julirevolution 1830 bis 1831,
Berlin 1980; [142] Kurt HOLZAPFEL, Preußen 1 8 3 0 - 1 8 3 4 : Zwischen adliger Klas-
sensolidarität und politischem Realismus, in: ZfG, 37. Jg. (1989), S. 304 —313;
[143] Franz RICHTER, Das europäische Problem der preußischen Staatspolitik und
der revolutionären Krisis 1830 bis 1832 ( = FnnG, H. 2), Leipzig 1933 (Phil. Diss.
Berlin 1933).

Verfassung und Wahlrecht: P. BAUMGART, Expansion... [30a]; [144] Heinz B O B E -


RACH, Wahlrechtsfragen im Vormärz. Die Wahlrechtsanschauung im Rheinland
1 8 1 5 - 1 8 4 9 und die Entstehung des Dreiklassenwahlrechts ( = BGParl, Bd. 15),
Düsseldorf 1959; [145] Paul HAAKE, König Friedrich Wilhelm III., Hardenberg und
die preußische Verfassungsfrage, in: FBPG, Bd. 26 (1913), S. 523 - 573, Bd. 28 (1915),
S. 1 7 5 - 2 2 0 , Bd. 29 (1916), S. 3 0 5 - 3 6 9 , Bd. 30 (1918), S. 3 1 7 - 3 6 5 , Bd. 32 (1920),
S. 109 — 180; [145a] Ilja MIECK, Die Integration preußischer Landesteile französischen
Rechts nach 1814/15, in: Otto Büsch/Monika Neugebauer-Wölk (Hg.), Preußen und
die revolutionäre Herausforderung seit 1789. Ergebnisse einer Konferenz ( = VHKzB,
10 Preußen von 1807 bis 1850

Bd. 7 8 ) , Berlin 1 9 9 1 , S. 3 4 5 - 3 6 2 ; [ 1 4 6 ] Herbert OBENAUS, Anfänge des Parlamen-


tarismus in Preußen bis 1848, Düsseldorf 1984; [147] Stefi WENZEL, Jüdische Bürger
und kommunale Selbstverwaltung in preußischen Städten 1 8 0 8 — 1 8 4 8 ( = VHKzB,
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Nationalbewegung: [148] Alexander SCHARFF, Der Gedanke der preußischen
Vorherrschaft in den Anfängen der deutschen Einheitsbewegung, Bonn 1929
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Otto Büsch/James J. Sheehan (Hg.), Die Rolle der Nation in der deutschen Ge-
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vom 16. bis 18. Juni 1983 ( = EvHKzB, Bd. 50), Berlin 1985, S. 8 4 - 1 1 7 .

Politische Strömungen und Anfänge der Parteien: [150] Reinhold KOSER, Die Anfänge
der politischen Parteibildung in Preußen bis 1849 [1908], in: Ders., Zur preußischen
und deutschen Geschichte. Aufsätze und Vorträge, Stuttgart — Berlin 1921, S. 376 —
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( = KrStGW, Bd. 3), Göttingen 1972.

Konservativismus: [152] Sigmund NEUMANN, Die Stufen des preußischen Konser-


vativismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im
19. Jahrhundert ( = HSt, H. 190), Berlin 1930; [153] Hans-Joachim SCHOEPS, Das
andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wil-
helms IV., Berlin 3 1964.
Liberalismus: [154] Lothar GALL, Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft". Zu
Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: HZ, Bd. 220
(1975), S. 3 2 4 - 3 5 6 ; [155] Herbert OBENAUS, Gutsbesitzerliberalismus. Zur regio-
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Vormärz, in: GG, 14. Jg. (1988), S . 3 0 4 - 3 2 8 ; [ 1 5 6 ] Wolfgang SCHIEDER (Hg.),
Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz ( = GG, Sonderh. 9),
Göttingen 1983; [157] Peter SCHUPPAN, Ostpreußischer Junkerliberalismus und bür-
gerliche Opposition um 1840, in: Helmut Bleiber (Hg.), Bourgeoisie und bürgerliche
Umwälzung in Deutschland 1 7 8 9 - 1 8 7 1 ( = S c h r Z i G , Bd. 50), Berlin 1977,
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Burschenschaft und radikale Demokratie: [158] Wolfgang HARDTWIG, Studentische


Mentalität — politische Jugendbewegung — Nationalismus. Die Anfänge der deut-
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(Hg.), Vom kleinbürgerlichen Demokratismus zum Kommunismus. Die Hauptbe-
richte der Bundeszentralbehörde in Frankfurt am Main von 1838 bis 1842 über die
deutsche revolutionäre Bewegung ( = AFGdArb, Bd. 5/2), Vaduz 1978; [160] Gustav
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Johann Jacoby 1843 - 1 8 4 6 . Beitrag zur Geschichte des Vormärz, in: IRSH, Bd. 14
(1969), S. 3 5 3 - 4 1 1 ; [162] Paul WENTZCKE, Geschichte der Deutschen Burschen-
schaft. Vor- und Frühzeit bis zu den Karlsbader Beschlüssen [1919] ( = QDGB,
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Soziale Frage: [163] Günther K. ANTON, Geschichte der preußischen Fabrikgesetz-


gebung bis zu ihrer Aufnahme durch die Reichsgewerbeordnung. Auf Grund amt-
licher Quellen bearbeitet [1891], hg. von Horst Bülter, Berlin 2 1953; [164] Bettina
von ARNIM, Dies Buch gehört dem König, Berlin 1843 (ND Frankfurt/M. 1982);
Bibliographie 11

[165] Helmut BLEIBER, Zwischen Reform und Revolution. Lage und Kämpfe der
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3 Bde., Berlin 1 9 7 0 - 1 9 8 4 ; [167] Dieter DOWE, Aktion und Organisation. Arbeiter-
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Politische Polizei: [169] Eberhard BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Die
endgültige Stabilisierung der restaurativen Politik im Deutschen Bund nach dem
Wiener Kongreß von 1814/15, Hildesheim 1974; [170] Leopold Friedrich ILSE,
Geschichte der politischen Untersuchungen, welche durch die neben der Bundesver-
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und 1833 bis 1842 geführt sind, Frankfurt/M. 1860 (ND Hildesheim 1975);
[171] Konrad KETTIG, Demagogenverfolgungen in Berlin im Jahre 1819, in: BvB,
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Kirchen: [175] Robert M. BIGLER, The Politics of German Protestantism. The Rise
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zur Staats-, Rechts-, und Sozialgeschichte Preußens, hg. von Gerhard Oestreich
( = Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3), Göttingen 2 1967, S. 56 —96;
[177] Friedrich KEINEMANN, Das Kölner Ereignis, sein Widerhall in der Rheinprovinz
und in Westfalen. T. 1: Darstellung ( = VHKW, Bd. 22), Münster 1974; T. 2: Quellen
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Nationaldenkmal. Der Kölner Dom in den 40er Jahren, in: Werner Pols (Hg.), Staat
und Gesellschaft im politischen Wandel. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt
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SCHIEDER, Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt
von 1844, in: AfS, Bd. 14 (1974), S. 419 - 454.

Deutscher Zollverein: [180] Carl BRINKMANN, Die preußische Handelspolitik vor


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[181] Rolf H. DUMKE, Der Deutsche Zollverein als Modell ökonomischer Integration,
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[182] Hans-Werner HAHN, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984;
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ONCKEN/Friedrich Ernst Moritz SAEMISCH (Hg.), Vorgeschichte und Begründung
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und der europäischen Mächte, bearb. von W. von Eisenhart-Rothe und A. Ritthaler,
3 Bde. ( = VListGes, Bd. 8 - 10), Berlin 1934.

Preußen und Europa: [185] Hermann von der DUNK, Der deutsche Vormärz und
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12 Preußen von 1807 bis 1850

Freiheitskampf 1830/31 und die liberale deutsche Polenfreundschaft, München 1982;


[187] Karl HAMMER, Die französische Diplomatie der Restauration und Deutschland
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Polenfreundschaft der deutschen Frühliberalen. Zu Motivation und Funktion außen-
politischer Parteinahme im Vormärz, in: Saec, Bd. 26 (1975), S. 111 — 127; [189] Anna
OWSINSKA, La politique de la France envers l'Allemagne à l'époque de la monarchie
de juillet 1 8 3 0 - 1 8 4 8 ( = PrKNH, Bd. 33), Breslau 1974; [190] Raymond POIDEVIN/
Heinz-Otto SIEBURG (Hg.), Aspects des relations franco-allemandes 1830 — 1848.
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3 - 5 Octobre 1977 ( = PublRIMetz, Bd. 9), Metz 1978; [191] Regine QUACK-EUSTA-
THIADES, Der deutsche Philhellenismus während des griechischen Freiheitskampfes
1821 - 1 8 2 7 ( = SOEA, Bd. 79), München 1984; [192] Maria WAWRYKOWA, Revolu-
tionäre Demokraten in Deutschland und Polen 1815 —1848. Ein Beitrag zur Ge-
schichte des Vormärz ( = SchrrlSchbi, Bd. 19), Braunschweig 1974.
Eisenbahnbau: [192a] Josef ENKLING, Die Stellung des Staats zu den Privateisenbah-
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1935 (Diss. Köln 1935); [192b] Karl KUMPMANN, Die Entstehung der Rheinischen
Eisenbahn-Gesellschaft 1830 — 1844. Ein erster Beitrag zur Geschichte der rheinischen
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Eisenbahnpolitik von 1835 - 1 8 3 8 . Ein Beitrag zur Geschichte der Restauration und
Reaktion in Preußen, in: FBPG, Bd. 50 (1938), S. 250 - 303; [192d] Walter STEITZ,
Die Entstehung der Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft. Ein Beitrag zur Früh-
geschichte der deutschen Eisenbahnen und des preußischen Aktienwesens
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Vorabend der Revolution: [193] Eduard BLEICH (Hg.), Der Erste Vereinigte Landtag
in Berlin 1847, 4 Teile, Berlin 1847 (ND Vaduz 1977); [194] Friedrich KEINEMANN,
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[195] Reinhold KOSER, Friedrich Wilhelm am Vorabend der Märzrevolution [1899],
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5. Revolution 1848/49

Quellensammlungen: [196] Denkwürdige Jahre: 1 8 4 8 - 1 8 5 1 ( = VAPrKb, Bd. 13),


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Einheit und Freiheit. Erinnerungen, Urkunden, Berichte, Briefe, Ebenhausen - Mün-
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Flugblattsammlung zur Geschichte der Revolution von 1848/49 in Deutschland,
Berlin 1970; [200] Karl Ludwig von PRITTWITZ, Berlin 1848. Das Erinnerungswerk
des Generalleutnants Karl Ludwig von Prittwitz und andere Quellen zur Berliner
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hg. von Gerd Heinrich ( = VHKzB, Bd. 60), Berlin-New York 1985; [201] Steno-
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Erste Kammer, 5 Bde., Berlin 1 8 4 9 - 1 8 5 0 . Zweite Kammer, Berlin 1849;
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Bibliographie 13

Verfassung, 3 Bde., Berlin 1848 (ND Vaduz 1986); [203] Franz WIGARD (Hg.), Reden
für die deutsche Nation 1848/1849. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen
der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 9 Bde.
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1988.

Gesamtdarstellungen: [204] David BLACKBOURN/Geoff ELEY, Mythen deutscher Ge-


schichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frank-
furt/M.—Berlin-Wien 1980; [205] Die bürgerlich-demokratische Revolution von
1848/49. Studien zu ihrer Geschichte und Wirkung ( = JbG, Bd. 7/8), Berlin 1973;
[206] Ernst KAEBER, Berlin 1848. Zur Hundertjahrfeier der Märzrevolution im
Auftrage des Magistrats von Groß-Berlin dargestellt, Berlin 1948; [207] Dieter
LANGEWIESCHE, Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre
Gesellschaft: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: AfS, Bd. 21 (1981),
S. 4 5 8 - 4 9 8 ; [ 2 0 8 ] Dieter LANGEWIESCHE (Hg.), Die deutsche Revolution von 1 8 4 8 /
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und Reichsgründung ( 1 8 4 8 - 1 8 7 0 ) , in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins,
Bd. 2, Berlin 2 1988, S. 6 0 3 - 6 8 7 ; [210] Hermann-Josef RUPIEPER, Probleme einer
Sozialgeschichte der Revolution 1848/49 in Deutschland, in: Michael Salewski (Hg.),
Die Deutschen und die Revolution, Göttingen 1985, S. 1 5 7 - 1 7 8 ; [211] Rudolf
STADELMANN, Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, München
1948; [212] Friedrich STEINMANN, Geschichte der Revolution in Preußen. Zwölf
Bücher preußischer Geschichte für das deutsche Volk, Berlin 1849; [213] Veit VA-
LENTIN, Geschichte der deutschen Revolution von 1 8 4 8 - 4 9 , 2 Bde., Berlin 1930/31
(ND Köln-Berlin 1970); [214] Günter WOLLSTEIN, Deutsche Geschichte 1848/49.
Gescheiterte Revolution in Mitteleuropa, Stuttgart 1986.

Soziale Gruppen in der Revolution: [215] Jürgen BERGMANN, Wirtschaftskrise und


Revolution. Handwerker und Arbeiter 1848/49 ( = IndW, Bd. 42), Stuttgart 1986;
[216] Helmut BLEIBER, Bauern und Landarbeiter in der bürgerlich-demokratischen
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[ 2 1 7 ] Dieter DOWE/Toni OFFERMANN (Hg.), Deutsche Handwerker- und Arbeiter-
kongresse 1 8 4 8 - 1 8 5 2 . Protokolle und Materialien, Berlin-Bonn 1983; [218] Ruth
HOPPE/Jürgen KUCZYNSKI, Eine Berufs- bzw. auch Klassen- und Schichtenanalyse
der Märzgefallenen 1848 in Berlin, in: JbWG, 1964/4, S. 2 0 0 - 2 7 6 ; [219] Wilhelm
MOMMSEN, Größe und Versagen des deutschen Bürgertums. Ein Beitrag zur politi-
schen Bewegung des 19. Jahrhunderts, insbesondere zur Revolution 1848/49 [1949],
München 2 1964; [220] Karl REIS, Agrarfrage und Agrarbewegung in Schlesien im
Jahre 1848 ( = DQsG, Bd. 12), Breslau 1910; [221] Walter SCHMIDT, Zur Rolle des
Proletariats in der deutschen Revolution von 1848/49, in: ZfG, 17. Jg. (1969),
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liche Forderungen und sozialpolitische Vorstellungen der Handwerksmeister im
Revolutionsjahr 1848/49 ( = Ν WG, Bd. 16), K ö l n - W i e n 1983.

Parlamente und Parteien: [223] Werner BOLDT, Die Anfänge des deutschen Partei-
wesens. Fraktionen, politische Vereine und Parteien in der Revolution 1848. Dar-
stellung und Dokumentation, Paderborn 1971; [224] Manfred BOTZENHART, Deut-
scher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 - 1 8 5 0 , Düsseldorf 1977;
[225] Frank EYCK, Deutschlands große Hoffnung. Die Frankfurter Nationalver-
sammlung 1848/49 [engl. 1968], München 1973; [226] Erich JORDAN, Die Entstehung
der Konservativen Partei und die preußischen Agrarverhältnisse von 1848, Mün-
chen - Leipzig 1914; [227] Dieter LANGEWIESCHE, Die Anfänge der deutschen Par-
teien. Partei, Fraktion und Verein in der Revolution von 1848/49, in: GG, 4. Jg.
14 Preußen von 1807 bis 1850

(1978), S. 3 2 4 - 3 6 1 ; [228] Karl OBERMANN, Die Wahlen zur Frankfurter National-


versammlung im Frühjahr 1848. Die Wahlvorgänge in den Staaten des Deutschen
Bundes im Spiegel zeitgenössischer Quellen, Berlin 1 9 8 7 ; [ 2 2 9 ] Joachim PASCHEN,
Demokratische Vereine und preußischer Staat. Entwicklung und Unterdrückung der
demokratischen Bewegung während der Revolution von 1848/49 ( = StmG, Bd. 22),
München —Wien 1977.

Publizistik: [230] Martin HENKEL/ROIÍ TAUBERT, Die deutsche Presse 1848 - 1 8 5 0 .


Eine Bibliographie ( = DPrf, Bd. 2 5 ) , München 1 9 8 6 ; [ 2 3 1 ] Walther G . OSCHILEWSKI,
Zeitungen in Berlin 1848/49. Geburt einer demokratischen Presse, in: BvB, Bd. 24
(1975), S. 5 8 - 7 1 ; [232] Sigrid WEIGEL, Flugschriftenliteratur 1848 in Berlin. Ge-
schichte und Öffentlichkeit einer volkstümlichen Gattung, Stuttgart 1979.

König und Regierung: [233] Jürgen HOFMANN, Das Ministerium Camphausen-


Hansemann. Zur Politik der preußischen Bourgeoisie in der Revolution 1848/49
( = SchrZiG, Bd. 66), Berlin 1981; [234] William J. ORR, Jr., König Friedrich Wil-
helm IV. und der Sturz des Ministeriums Auerswald-Hansemann, in: J G M O D ,
Bd. 25 (1976), S. 1 2 4 - 1 4 4 ; [235] Felix RACHFAHL, Die deutsche Politik König Fried-
rich Wilhelms I V . im Winter 1 8 4 8 / 4 9 ; München - Leipzig 1 9 1 9 ; [ 2 3 6 ] Günter RICH-
TER, Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution von 1848, in: Otto Büsch (Hg.),
Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines Colloquiums ( = EvHKzB,
Bd. 62), Berlin 1987, S. 1 0 7 - 1 3 1 .

Verfassung und Wahlrecht: [237] Friedrich FRAHM, Entstehungs- und Entwicklungs-


geschichte der preußischen Verfassung (vom März 1848 bis zum Januar 1850), in:
FBPG, Bd. 41 (1928), S. 2 4 8 - 3 0 1 ; [238] Günther GRÜNTHAL, Das preußische Drei-
klassenwahlrecht. Ein Beitrag zur Genesis und Funktion des Wahlrechtsoktrois vom
M a i 1849, in: H Z , Bd. 2 2 6 (1978), S. 1 7 - 6 6 ; [239] Günther GRÜNTHAL, Parlamen-
tarismus in Preußen 1848/49 — 1857/58. Preußischer Konstitutionalismus — Parla-
ment und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1 9 8 2 ; [ 2 4 0 ] Günther GRÜNTHAL,
Zwischen König, Kabinett und Kamarilla. Der Verfassungsoktroi in Preußen vom
5 . 1 2 . 1 8 4 8 , i n : J G M O D , B d . 3 2 ( 1 9 8 3 ) , S. 1 1 9 - 1 7 4 .

Reichsverfassungskampagne: [241] Christoph KLESSMANN, Zur Sozialgeschichte der


Reichsverfassungskampagne von 1849, in: HZ, Bd. 218 (1974), S. 2 8 3 - 3 3 7 ;
[242] Günter RICHTER, Revolution und Gegenrevolution in Baden 1849, in: ZGO,
Bd. 1 1 9 (1971), S. 3 8 7 - 4 2 5 .

Verzeichnis der Abbildungen im Text

ABBILDUNG 1: Regierung und Verwaltung in Preußen seit 1807/1815 85


ABBILDUNG 2 : Gewerbepolitik und Wirtschaftspraxis 143
ABBILDUNG 3 : Die Verfassung Preußens von 1 8 4 8 / 5 0 274

Verzeichnis der Tabellen im Text

TABELLE 1: Einwohnerzahlen der Regierungsbezirke in Preußen 1 8 0 8 17


TABELLE 2: Gesamtzählung der 2 7 . 7 6 3 Freiwilligen nach militärischen
Einheiten 53
TABELLE 3: Gesamtzählung von 2 5 . 3 6 3 beruflich erfaßbaren Freiwilligen . . . 54
Verzeichnis der Tabellen in Text 15

TABELLE 4: Territoriale Entwicklung der preußischen Monarchie (1740 —1861) 78


TABELLE 5: Verwaltungsgliederung Preußens (Stand 1830) 87
TABELLE 6: Regierungsbezirke mit geringster und höchster Kindersterblichkeit
in Preußen (Durchschnitt der Jahre 1 8 1 6 - 1 8 5 5 ) 90
TABELLE 7: Zahl der am Kindbett-Fieber gestorbenen Frauen in Preußen
1816-1850 90
TABELLE 8: Bevölkerungsentwicklung in Preußen im Zeitraum 1819 —1852 . 92
TABELLE 9: Bevölkerungswachstum in den preußischen Provinzen im Zeit-
raum 1 8 1 6 - 1 8 5 5 93
TABELLE 10: Einwohnerzahlen der preußischen Provinzen 1816 —1848 93
TABELLE 11: Preußischer Landesausbau 1 8 0 2 - 1 8 6 1 93
TABELLE 12: Einwohnerzahlen der preußischen Großstädte 1816 - 1 8 5 5 95
TABELLE 13: Konfessionszugehörigkeit im Großherzogtum Posen
1815/16-1855 102
TABELLE 14: Stimmenzahl und Proporz der Stände auf den preußischen Provin-
ziallandtagen 114
TABELLE 15: Das Verhältnis der Abgeordneten von Städten und Landgemeinden
zu denen der Ritterschaft und des Herrenstandes nach absoluten
Zahlen und in Prozent nach dem jeweilig ersten Provinziallandtag 115
TABELLE 16: Tagungsorte und -jähre der preußischen Provinziallandtage
1824-1846 116
TABELLE 17: Grundsteuererträge in den preußischen Provinzen im Durchschnitt
der Jahre 1821 - 1 8 3 8 121
TABELLE 18: Zusammensetzung der Steuereinnahmen in Preußen in den Jahren
1816 und 1821 122
TABELLE 19: Preußische Staatseinnahmen 1821 - 1 8 5 0 123
TABELLE 20: Preußischer Staatshaushalt 1821 125
TABELLE 21: Anteil von Domänenverkäufen und Ablösegeldern an der Abtra-
gung der preußischen Staatsschulden 1 8 2 0 - 1 8 4 8 127
TABELLE 22: Preußische Staatsausgaben 1821 - 1 8 5 0 128
TABELLE 23: Anteil einiger Ressorts an den preußischen Staatsausgaben in den
Jahren 1821 und 1841 129
TABELLE 23 A: Funktionelle Verwendungsbereiche der preußischen Staatsaus-
gaben 1850 129
TABELLE 24: Die preußische Heeresstärke 1815 - 1 8 4 8 130
TABELLE 25: Verhältnis von wehrpflichtigen und eingezogenen Rekruten in
Preußen 1 8 3 1 - 1 8 4 6 130
TABELLE 26: Private Banken und Geldinstitute in Preußen 1 8 2 0 - 1 8 4 9 134
TABELLE 27: Sparbücher und Spareinlagen der Berliner Sparkasse 1818 —1824 136
TABELLE 28: Die Ablösungslasten in den preußischen Provinzen bis 1860 . . . . 139
TABELLE 29: Zahl und Umfang der landwirtschaftlichen Besitzungen in Preußen
1849 140
TABELLE 30: Landwirtschaftliche Bodennutzung in Preußen in den Jahren
1802 und 1861 141
TABELLE 31: Handwerker und Fabrikarbeiter in Berlin in den Jahren
1801 und 1846 144
TABELLE 32: Meister, Gesellen und Lehrlinge in Preußen 1 8 1 6 - 1 8 4 9 144
TABELLE 33: Entwicklung des Industrieproletariats in Preußen im Verhältnis
zur Gesamtbevölkerung 1 8 4 9 - 1 8 5 2 145
TABELLE 34: Durchschnittliche jährliche Nettoinvestitionen in Preußen
1816-1840 147
TABELLE 35: Dauer und Kosten einer Reise Berlin-Breslau (1829) 149
TABELLE 36: Frachtkostensituation vor der Eisenbahnzeit 150
16 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

TABELLE 37: Kommunal unterstützte Arme in den preußischen Provinzen (1849) 155
TABELLE 38: Die Karlsbader Konferenzen (6. 8. bis 31. 8. 1819) 186
TABELLE 3 9 : Preußische A g r a r d u r c h s c h n i t t s p r e i s e 1 8 4 4 - 1 8 5 0 214
TABELLE 40: Preußische Handelsbilanz bei Weizen und Roggen 1 8 4 6 - 1 8 4 8 . . 214
TABELLE 41: Lebensmittelpreise in 63 preußischen Städten 1845 - 1 8 4 8 215
TABELLE 42: Nettoinvestitionen und Kapitalstock im deutschen Eisenbahnbau
(1846/47) 219
TABELLE 43: Erfolgszahlen des frühen preußischen Eisenbahnbaus 220
TABELLE44: D i e S t e i n k o h l e n p r o d u k t i o n in P r e u ß e n 1 8 4 0 — 1 8 5 0 221
TABELLE 45: Zusammensetzung des preußischen Vereinigten Landtags von 1847 223
TABELLE 46: Übersicht der 303 im März 1848 in Berlin Gefallenen und an
Verwundungen Verstorbenen 243
TABELLE 47: Volljährigkeitsalter in preußischen Landesteilen 250
TABELLE 48: Soziale Zusammensetzung der Urwähler in Preußen (1848) . . . . 251
TABELLE 49: Soziale Herkunft der preußischen Abgeordneten in der Frankfurter
Nationalversammlung 253
TABELLE 50: Ergebnisse der Maiwahlen 1848 in zwei schlesischen Kreisen . . . 257
TABELLE 51: Soziale Zusammensetzung der am 17.7. 1849 gewählten preußi-
schen Zweiten Kammer im Vergleich 276

§ 1 Die Überwindung der Staatskrise


(1807-1815)
I. Das besiegte Preußen
Der Friede von Tilsit verminderte den Umfang des preußischen Staates von
5 . 7 1 1 auf 2 . 8 7 0 Quadratmeilen oder, modern ausgedrückt, von 3 1 4 . 4 4 8 auf
158.008 Quadratkilometer. Rund die Hälfte des alten Staatsgebietes mußte
an die neuen staatlichen Gebilde von Napoleons Gnaden abgetreten wer-
den. 1 Die Provinzen westlich der Elbe einschließlich der Altmark und
Magdeburgs wurden teils dem Großherzogtum Berg, teils dem Königreich
Westfalen, das Napoleon seinem Bruder J e r o m e gab, zugeschlagen. Die
meisten Erwerbungen aus den letzten polnischen Teilungen sowie der Net-
zedistrikt wurden dem ebenfalls neugegründeten und mit Sachsen in Per-
sonalunion verbundenen Herzogtum Warschau einverleibt; der Kreis

1 Die zeitgenössischen Flächenangaben werden auf der Basis des abgerundeten


Verhältnisses 1 Quadratmeile = 55,06 km 2 umgerechnet. Die aufgeführten Zah-
len sind entnommen dem grundlegenden Quellenwerk von A[rtur] Frhr. von
FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im preussischen Staate
während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874 ( = PrStat, H. 48a),
Berlin 1879, S. 2 f. — Etwas differierende Angaben zur Flächengröße gibt Hans-
Joachim SCHOEPS, Preußen. Geschichte eines Staates, Berlin 6 1967, S. 3 9 4 - 3 9 9 ,
dessen Übersicht - leicht gekürzt — übernommen wurde aus: Meyers Großes
Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 16,
Leipzig-Wien 6 1909, nach S. 316.
I. Das besiegte Preußen 17

Bialystok fiel an Rußland. Danzig wurde zur Freien Stadt unter dem Schutz
von Preußen und Sachsen erklärt, erhielt aber eine französische Garnison
und mußte auf den wichtigen Handel mit England verzichten. Sachsen
bekam den Kreis Cottbus sowie eine durch preußisches Gebiet führende
Militärstraße nach Polen. Erfurt wurde dem französischen Kaiserreich un-
mittelbar einverleibt.
Die Bevölkerungszahl ging auch aufgrund dieser territorialen Einbußen
erheblich zurück. Während für das Jahr 1 8 0 4 eine Einwohnerzahl von
9 . 9 7 7 . 4 7 0 ( = 9 . 7 0 6 . 3 0 0 Zivil- und 2 7 1 . 1 7 0 Militärpersonen) genannt wird,
waren es 1808 nur noch 4 . 5 5 9 . 3 0 6 . 2 Infolge der kriegerischen Wirren und
des allgemeinen Nachkriegselends sank die Bevölkerung bis zum Jahre 1814
auf 4 . 3 7 6 . 0 3 6 Personen.
Von den 23 Bezirken der Kriegs- und D o m ä n e n k a m m e r n , die seit Ende
1808 die Bezeichnung „Regierungen" führten, blieben nur acht bestehen.
Sie wurden den drei neugeschaffenen Oberbehörden folgendermaßen zu-
geordnet:

TABELLE 1
Einwohnerzahlen der Regierungsbezirke in Preußen 1808

Verwaltungseinheit Einwohnerzahlen 1808

Oberpräsidium Königsberg (1.198.135)


Ostpreußen (Königsberg) 454.734
Litauen (Gumbinnen) 376.578
Westpreußen (Marienwerder) 366.823

Oberpräsidium Berlin (1.464.812)


Kurmark (Berlin/Potsdam) 708.992
Neumark (Küstrin/Königsberg/Nm.) 265.714
Pommern (Stettin) 490.106

Oberpräsidium Breslau (1.896.359)


Oberschlesien (Breslau) 1.291.016
Niederschlesien (Glogau/Liegnitz) 605.343

Quelle: A[rtur] Frhr. von F I R C K S , Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im
preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, S. 2.

2 Die durchgängige Genauigkeit der publizierten Zahlenangaben bis in die Zehner-


und Einerstellen ist irreführend. Infolge der unzulänglichen Erhebungsmethoden
und der unentbehrlichen Interpolationen sind sämtliche Angaben zur Bevölke-
rungsgröße nur als Annäherungswerte zu verstehen. Sie verdeutlichen die unge-
fähre Größenordnung und können Entwicklungstrends andeuten; mehr darf man
von ihnen jedoch nicht erwarten. Alle Versuche, die zeitgenössischen Zählergeb-
nisse, die vom preußischen Statistischen Büro ermittelt und oft auch publiziert
wurden, nachträglich zu verbessern, können an dieser Grundtatsache nichts
ändern. Zur Kritik dieser frühen statistischen Erhebungen vgl. die Studie von
18 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Die Friedenszeit stand unter dem Trauma zweier großer Ungewißheiten:


Alle Regelungen über die Dauer der französischen Besatzung, die Rückgabe
der Festungen und die Höhe der dem Reststaat auferlegten Kontribution
verwies der Vertrag von Tilsit auf ergänzende, noch auszuhandelnde Ver-
einbarungen. Nur West- und Ostpreußen galten aufgrund der bisher er-
brachten Leistungen als losgekauft. Dorthin hatten sich auch die königliche
Familie und die Regierung zurückgezogen; Königsberg wurde vorüberge-
hend Residenzstadt. Erst am 22. Dezember 1809 kehrte das Königshaus in
das von den Franzosen ein Jahr zuvor geräumte Berlin zurück.
Auch die preußische Wirtschaft ging schweren Zeiten entgegen. Die in
Berlin am 21. November 1806 verkündete Kontinentalsperre bewirkte zwar
eine Abschirmung des preußischen Marktes vor englischen Waren, führte
aber nur bedingt zu einer Stärkung der einheimischen Produktion, weil die
französische Besatzungsmacht ihrer eigenen Industrie in dem besetzten
Preußen einen neuen Absatzmarkt verschaffte, indem sie die Einfuhr fran-
zösischer Manufakturwaren gegen einen mäßigen Eingangszoll von
8,7 Prozent des Warenwertes gestattete. Diese Maßnahme stürzte beispiels-
weise die Seidenindustrie Berlins in eine schwere Krise. 3 Lähmend auf das
gesamte Wirtschaftsleben wirkten sich schließlich die ungeheuren Natural-
und Geldlieferungen aus, die Napoleon aus dem besiegten und unterwor-
fenen Lande vor und nach dem Vertrag von Tilsit herauspreßte. Auf diese
Maßlosigkeit im Umgang mit dem unterlegenen Gegner geht die tiefe
Franzosenfeindschaft zurück, die große Teile der preußischen Bevölkerung
bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bewahrten.
Mit der militärisch-politischen Niederlage und der finanziell-wirtschaft-
lichen Zerrüttung verband sich der fast völlige Verlust an außenpolitischer
Handlungsfreiheit. Preußen war zu einem Satellitenstaat Napoleons gewor-
den.
Gewaltige Anstrengungen, aber auch eine vorsichtige Politik, waren von-
nöten, um die schwerste Staatskrise, von der Preußen jemals betroffen
wurde, zu überwinden.

Wolfgang KÖLLMANN, Bevölkerung und Arbeitskräftepotential in Deutschland


1815 —1865. Ein Beitrag zur Analyse der Problematik des Pauperismus [1968],
in: Ders., Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungs-
geschichte Deutschlands ( = KrStGw, Bd. 12), Göttingen 1974, S. 6 1 - 9 8 , hier:
S. 268, Anm. 7. Einige Neuberechnungen für den Zeitraum von 1748 bis 1816
liefert Gerd HOHORST, Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsentwicklung in
Preußen 1816 bis 1914. Z u r Frage demo-ökonomischer Entwicklungszusammen-
hänge, New York 1977, S. 1 2 4 - 1 2 9 .
3 Vgl. I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], S. 212. Dort auch die
weitere einschlägige Lit. Z u r Situation in Berlin vgl. jetzt I. MIECK, Von der
Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 4 2 2 - 4 4 1 : Die Zeit der französischen
Besetzung ( 1 8 0 6 - 1 8 0 8 ) .
II. Die Reformzeit 19

II. Die R e f o r m z e i t

Die Bemühungen um die innere und äußere Erneuerung des preußischen


Staates nach der militärischen und politischen Katastrophe der Jahre
1806/07 konnten in mancher Hinsicht an Reformversuche anknüpfen, die
bereits seit 1797 in die Wege geleitet worden waren und, etwas übertreibend,
als „Reformen vor der R e f o r m " in die Literatur eingegangen sind. 1 Ande-
rerseits bedeutet das Jahr 1812 zwar nicht das Ende der Reformen, wohl
aber die beginnende Konzentration aller Kräfte auf die bevorstehende mi-
litärische Aufgabe. Es zeigte sich auch, daß nach 1815, unter den veränderten
politischen Prämissen, die Reformbewegung nicht mehr recht in Gang zu
setzen war und allmählich versandete.

1. Die Reformpartei an der Macht

Im ausgehenden 18. Jahrhundert gewann in Kreisen der höheren preußischen


Beamtenschaft die Überzeugung an Boden, daß eine Reform des Staates
früher oder später unausweichlich sei. Seit dem Ende der friderizianischen
Ära traten die strukturellen Schwächen der Monarchie immer stärker zu-
tage. Die überall in Europa einsetzenden Wandlungen in Wirtschaft und
Gesellschaft stellten auch den preußischen Staat vor die Aufgabe einer
Modernisierung seiner Strukturen und Institutionen. Im Grunde ging es
darum, eine spezifisch preußische Antwort auf die revolutionären Ereignisse
in Frankreich zu finden und eine ähnliche Entwicklung im eigenen Lande
zu vermeiden. „Die heilsame Revolution, die ihr von unten nach oben
gemacht habt", erläuterte der Minister Karl Gustav von Struensee 1799
einem französischen Diplomaten, „wird sich in Preußen langsam von oben
nach unten vollziehen." 2 Trotz ihrer im ganzen begrenzten Ergebnisse waren
die Reformbestrebungen vor 1806 nicht ohne Bedeutung, weil sie die spätere
Neuordnung des Staates mit vorbereitet haben. Der Sinn für Reformpro-
gramme wurde ganz allgemein geschärft; das Bewußtsein, um eine Neufor-
mierung politischer und sozialer Strukturen auf die Dauer nicht herumzu-
kommen, führte zu einer Art Reformstimmung: Viele, wenn nicht fast alle

1 Vgl. Otto HINTZE, Preußische Reformbestrebungen vor 1806 [1896], in: Ders.,
Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und
Sozialgeschichte Preußens, hg. von Gerhard Oestreich ( = Ders., Gesammelte
Abhandlungen, Bd. 3), Göttingen 21967, S. 504 - 529, Ernst MÜSEBECK, Zur Ge-
schichte der Reformbestrebungen vor dem Zusammenbruche des alten Preußens
1806, in: FBPG, Bd. 30 (1918), S. 1 1 5 - 1 4 6 , und Hartmut HARNISCH, Die agrar-
politischen Reformmaßnahmen der preußischen Staatsführung in dem Jahrzehnt
vor 1806/07, in: J b W G , 1977/3, S. 1 2 9 - 1 5 3 , jeweils passim.
2 Zit. von Otto HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre
vaterländischer Geschichte, Berlin 1915 (ND Moers 1979), S. 427.
20 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Bereiche schienen reformbedürftig. 3 Und schließlich wuchs in dieser Zeit


eine neue Beamtengeneration in die maßgebenden Stellungen der Staatsver-
waltung hinein.
Da es im spätabsolutistischen Preußen einen wirtschaftlich starken und
selbstbewußten Bürgerstand nur in begrenztem Maße gab, wurde hier die
gebildete Beamtenschaft zum Träger des politischen Fortschritts. In diesem
Stand lebten die humanen und bürgerlichen Ideale der Revolution, waren
die Ideen der europäischen Aufklärung, aber auch die Gedanken von Adam
Smith lebendig. Frühere Bedenken und Vorbehalte gegen eine durchgreifende
Staats- und Gesellschaftsreform verloren durch die traumatische Wucht der
Niederlage jede Legitimierung: „Die Reformpartei, die sich innerhalb der
preußischen Verwaltung seit langem schon in lockerer Weise zusammen-
gefunden hatte, wurde von der Flut des Zusammenbruchs nach oben getra-
gen." 4 Bei aller Verschiedenheit der Pläne und Vorstellungen waren die
meisten Reformer mit Hardenberg der Auffassung, daß „nur eine Radikal-
kur unserer Verfassung dem Staat wieder neues Leben geben und ihm
solches erhalten" könne, und daß „wenige einsichtsvolle Männer" die
Ausführung leiten müßten. 5 Diese relativ kleine Beamtengruppe glaubte
sich im Besitz einer umfassenden Planungskompetenz und beanspruchte,
bei den Staatsgeschäften die maßgebende Rolle zu spielen: „Die beamtete
Elite war bereit, die politische Herrschaft zu übernehmen." 6
Zur Erringung der Macht bedurfte es zunächst der Beseitigung der von
Friedrich Wilhelm III. praktizierten Form der Kabinettsregierung: Die bür-
gerlichen Kabinettsräte nahmen Einfluß auf alle Staatsangelegenheiten, ohne
die politische Verantwortung dafür zu tragen. Die Minister, oft übergangen,
hatten wiederholt gegen das besonders von Karl Friedrich von Beyme
entwickelte „System der gefilterten Information und einseitigen Beratung
des Monarchen" 7 protestiert, beispielsweise Stein in seiner „Darstellung der
fehlerhaften Organisation des Kabinetts. . ." vom April 1806. 8
Die Abschaffung der Kabinettsregierung erfolgte im Frühjahr 1807, als
Hardenberg, der von April bis Juli die Funktion eines Leitenden Ministers

3 Barbara VOGEL, Die Preußischen Reformen als Gegenstand und Problem der
Forschung, in: Dies. (Hg.), Preußische Reformen... (1980) [67], S. 1 —27, hier
S. 6.
4 R. KOSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution... ( 2 1975) [35], S. 153.
Einen Teilaspekt erörtert Ilja MIECK, Idee und Wirklichkeit: Die Auswirkungen
der Stein-Hardenbergschen Reformen auf die Berliner Wirtschaft, in: Berlin und
seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft — Lehren und
Erkenntnisse - , Berlin - New York 1987, S. 4 1 - 5 8 , hier S. 41 f.
5 Hardenberg, Rigaer Denkschrift vom 12. IX. 1807, in: G. WINTER (Hg.), Die
Reorganisation des Preussischen Staates... (1931) [62], S. 3 0 2 - 3 6 3 , Zitat S. 320.
6 Hans ROSENBERG, Die Überwindung der monarchischen Autokratie (Preußen)
[engl. 1958], in: Karl Otmar Freiherr von Aretin (Hg.), Der Aufgeklärte Abso-
lutismus ( = NWB, Bd. 67), Köln 1974, S. 182 - 204, hier S. 201.
7 W. HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen... (1977) [63], S. 136.
8 G. WINTER (Hg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates... (1931) [62],
S. 4 - 1 3 .
II. Die Reformzeit 21

ausübte, einen kleinen Stab qualifizierter Mitarbeiter im Stil von Staatsse-


kretären und Ministerialdirektoren tätig werden ließ. Zum erstenmal funk-
tionierte die „Diktatur der Bürokratie statt des Monarchen und seines
Surrogats", 9 lange bevor der letzte Kabinettsrat, der durchaus fähige und
bedingt reformbereite Beyme, als ein Opfer seiner Stellung im Juni 1808 als
Präsident des Kammergerichts nach Berlin gehen sollte, aber nicht wollte.
Der im Frühjahr 1807 eingeleitete politische Machtwechsel stellt, wie B.
Vogel betont hat, zwar keine „Revolution von oben", wohl aber eine
„bürokratische Revolution" dar. 1 0 Erster Gewinner der Reformen war die
Bürokratie. Sie legalisierte die seit 1786 erfolgten Machtverschiebungen und
begann, durch die Umformung des Staates nach ihren Vorstellungen die
Modernisierung Preußens in die Wege zu leiten.
Eine Akzentverschiebung ergab sich freilich dadurch, daß Hardenberg
auf Geheiß Napoleons seinen Posten verlassen mußte. Die Wiederberufung
des erst sechs Monate zuvor in Ungnade entlassenen Freiherrn vom Stein
im Juli 1807 wurde mit Recht als Sieg der Reformpartei empfunden.

2. Die Reformer und ihre Ziele

Reduziert man die Ansichten der Reformer über Ziele und Richtungen des
einzuschlagenden Weges auf einige Grundüberzeugungen, so bestand die
wichtigste Aufgabe in der Wiederherstellung des Staates und der Überwin-
dung der Kriegsfolgen im weitesten Sinne. Angesichts der schweren Bela-
stungen des Staatshaushalts durch Schuldendienst, Besatzungskosten und
Kontribution spielten bei allen Maßnahmen finanzielle Überlegungen eine
hervorragende, oft sogar die dominierende Rolle. 1 1 Ein zweites Grundmotiv
war, Preußen möglichst schnell in den Kreis der Großmächte zurückzufüh-
ren. Dieses Ziel galt in besonderem Maße auch für den wirtschaftlichen
Bereich, in dem die westeuropäische Industrie einen beachtlichen Vorsprung
zu erringen im Begriffe war. Ein geeignetes Mittel dazu sahen viele Reformer
in der Liberalisierung des Wirtschaftslebens. Einigkeit bestand auch darin,
daß ein Befreiungskampf gegen die napoleonische Herrschaft zwar nur als
Fernziel ins Auge zu fassen sei, daß aber mit der finanziellen und ideolo-
gischen Vorbereitung unverzüglich begonnen werden müsse. Neben die
materielle Besserstellung der Bevölkerung hatte ihre politisch-moralische
Wiederaufrichtung zu treten: Opferbereitschaft setzte Patriotismus voraus,
dieser eine Identifizierung der Bevölkerung mit ihrem Staat. Große Anstren-
gungen auf den Gebieten Bildung und Erziehung waren demnach vonnöten.
Zu diesen gemeinsamen Grundüberzeugungen trat eine Fülle von spe-
ziellen Zielvorstellungen, die personengebunden und zumeist an bestimmte

9 Eckart KEHR, Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaats. Ein
Beitrag zum Diktaturproblem [1932], in: Ders., Der Primat der Innenpolitik, hg.
von Hans-Ulrich Wehler ( = VHKzB, Bd. 19), Berlin 2 1976, S. 3 1 - 5 2 , hier S. 37.
10 B . VOGEL, D i e P r e u ß i s c h e n R e f o r m e n . . . ( 1 9 8 0 ) [ s . o . A n m . 3 ] , S. 1 7 .
11 E. KLEIN, Von der Reform zur Restauration... (1965) [82], passim.
22 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Reformvorhaben geknüpft waren. Sie erwuchsen aus höchst unterschied-


lichen geistigen Wurzeln und Motiven, wie die Forschung besonders am
Beispiel der beiden zentralen Reformminister Stein und Hardenberg her-
ausgearbeitet hat. 1 2 War der in Nassau 1757 geborene und seit 1780 in
preußischen Diensten stehende Reichsfreiherr in stärkerem Maße der deut-
schen Selbstverwaltungstradition und auch englischen Vorbildern verpflich-
tet, gelangte Hardenberg, 1750 in Hannover geboren und seit 1791 in
preußischen Diensten, eher von den Ideen der Aufklärung und den Prinzi-
pien der Französischen Revolution zu seinem Reformprogramm. Hans
Haussherr hat „ein breites Feld der Übereinstimmung" zwischen beiden
festgestellt: „Die Unterschiede zwischen ihnen lagen also weniger in den
Zielen als in den historischen Schichten, in denen diese Ziele wurzelten." 13
Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Reformtätigkeit Hardenbergs, die
von Anfang an im Schatten der Stein-Forschung gestanden hatte, intensiver
untersucht worden. Gleichzeitig ist auch die teilweise pathetische Wertung
Steins, den man als „politisches Urgestein" und „Führergestalt deutscher
Geschichte" bezeichnete, 14 einer nüchterneren Betrachtung gewichen. Man
weiß heute, daß nationalistische und personalistische Tendenzen die wis-
senschaftliche Auseinandersetzung mit Stein von Anfang an belastet haben.
Von nahezu allen politischen Richtungen wurde Stein als Vorkämpfer und
Wegbereiter eigener Forderungen in Anspruch genommen: „Jeder verehrte
einen anderen, seinen jeweils eigenen Stein." 1 5 Man sollte deshalb bei der
Frage nach den Zielen, die Stein mit seinen Reformbestrebungen verband,
von allzu euphorischen Antworten absehen und statt dessen die Quellen
befragen, beispielsweise die berühmte Nassauer Denkschrift (Juni 1807).
Hier entwarf Stein einen neuen Geschäftsverteilungsplan für die preußischen
Behörden, plädierte für eine Teilnahme aller Grundeigentümer an der Pro-
vinzial- und Kommunalverwaltung und unterbreitete erste Vorschläge zu
Kompetenzen und Organisation dieser ständischen Mitwirkung. Er ver-
sprach sich davon - neben der Einsparung von Verwaltungskosten — „die
Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns". 16 Es komme darauf an, so
schrieb er an Hardenberg, die Nation daran zu gewöhnen, selbst ihre
Geschäfte zu betreiben. 17

12 Vergleichende Forschungsdiskussion bei W. HUBATSCH, Die Stein-Hardenberg-


schen Reformen... (1977) [63], S. 1 - 1 1 , 5 5 - 6 5 und 73 - 97.
13 Hans HAUSSHERR, Stein und Hardenberg, in: HZ, Bd. 190 (1960), S. 2 6 7 - 2 8 9 ,
hier S. 279.
14 Diese und andere Wertungen sind zusammengestellt bei Werner GEMBRUCH,
Nationalistische und personalistische Tendenzen in der Stein-Historiographie, in:
NassA, Bd. 90 (1979), S. 8 1 - 9 7 , hier S. 89 ff.
15 A . a . O . , S. 84.
16 Nassauer Denkschrift vom Juni 1807. Gedruckt bei G. WINTER (Hg.), Die
Reorganisation des Preussischen Staates... (1931) [62], S. 189 — 206, Zitat S. 202.
17 Stein an Hardenberg, 8. XII. 1807: „II faut habituer la nation à gérer ses propres
affaires", in: Freiherr vom STEIN, Briefe und amtliche Schriften... (1957 — 1974)
[72], Bd. 2/2, neu bearb. von Peter Gerrit Thielen, Stuttgart 1960, Nr. 479, S. 562.
II. Die Reformzeit 23

Auch über Hardenberg werden sehr unterschiedliche Auffassungen ver-


treten. Das hat sachliche, aus den jeweiligen politischen Umständen resul-
tierende Gründe: 18 Die ständige Rücksichtnahme auf aktuelle Schwierig-
keiten und Erfordernisse des Augenblicks führte nicht selten zum Abrücken
von gefaßten Beschlüssen, zu Kompromissen und Modifizierungen und zur
Verwässerung mancher Reformvorhaben. Die politische Praxis relativierte
und korrigierte die programmatischen Äußerungen wie sie sich etwa in der
Rigaer Denkschrift (12. September 1807) oder in dem umfangreichen Vor-
gutachten Altensteins finden. 19
Beide Dokumente boten umfassende Bestandsaufnahmen der Innen- und
Außenpolitik, beleuchteten alle Bereiche der Staatsverwaltung, deckten Miß-
stände auf und machten Verbesserungsvorschläge, die auf den Ideen der
Französischen Revolution beruhten: „Die Gewalt dieser Grundsätze ist so
groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, daß der Staat, der sie
nicht annimmt, entweder seinem Untergange oder der erzwungenen An-
nahme derselben entgegensehen muß." Der beste, humanste und für Preußen
angemessene Weg in die moderne Gesellschaft war natürlich nicht ein
revolutionärer Umsturz, sondern, wie es Hardenberg formulierte, „eine
Revolution im guten Sinn, gerade hinführend zu dem großen Zwecke der
Veredelung der Menschheit, durch Weisheit der Regierung und nicht durch
gewaltsame Impulsion von innen oder außen, — das ist unser Ziel, unser
leitendes Prinzip", und er fügte hinzu: „Demokratische Grundsätze in einer
monarchischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den
gegenwärtigen Zeitgeist." 2 0
Stein und Hardenberg stützten sich auf eine ganze Reihe hervorragender
Mitarbeiter, die an der Ausarbeitung und Durchführung der verschiedenen
Reformprojekte oft maßgeblich beteiligt waren. Ohne die Anregungen und
die Impulse aus dem Kreis dieser Spitzenbeamten hätte die politische Füh-
rung schwerlich ein so breites Reformprogramm entwickeln können. Mit
der preußischen Reformbürokratie ist, so hat man gesagt, neben den beiden
Protagonisten ein dritter, sozusagen „kollektiver" Mitspieler am Werk ge-
wesen. 21 Gemeinsamkeiten in Bildungsgang, Beruf, korporativer Selbstein-
schätzung und Wertmaßstäben ließen unter den Mitgliedern der höheren

18 Barbara VOGEL, Die „allgemeine Gewerbefreiheit" als bürokratische Moderni-


sierungsstrategie in Preußen. Eine Problemskizze zur Reformpolitik Hardenbergs,
in: Dirk Stegmann/Bernd-Jürgen Wendt/Peter-Christian Witt (Hg.), Industrielle
Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte.
Festschrift für Fritz Fischer zum siebzigsten Geburtstag ( = SchrrFiFESt, Bd. 137),
Bonn 1978, S. 5 9 - 7 8 ; Dies., Allgemeine Gewerbefreiheit... (1983) [66], passim.
19 Abgedruckt bei G. WINTER (Hg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates...
(1931) [62], S. 3 0 2 - 3 6 3 (Hardenberg) und S. 3 6 4 - 5 6 6 (Altenstein). Dazu: Hans
HAUSSHERR, Hardenbergs Reformdenkschrift Riga 1807, in: H Z , Bd. 157 (1938),
S. 2 6 7 - 3 0 8 .
20 G. WINTER (Hg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates... (1931) [62],
S. 3 0 6 .
21 K. von RAUMER/M. BOTZENHART, Deutschland um 1 8 0 0 . . . (1980) [20], S. 364.
24 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Beamtenhierarchie eine weitgehende Übereinstimmung in Mentalität und


Haltung entstehen, in der man, je nach der Perspektive, einen „Gleichklang
der Gesinnung", „enge Gesinnungsbande" oder die „Klasseninteressen der
Bürokratie" erkennen zu können vermeint. 22 Bemerkenswert ist, daß diese
Reformbürokratie etwa zur Hälfte dem Bürgertum entstammte und zu
einem großen Teil aus Nichtpreußen bestand: Persönlichkeiten wie Scharn-
horst, Gneisenau, Altenstein, Grolmann, Gruner, Niebuhr, Motz, Scharn-
weber und andere bezeugen die Anziehungs- und Integrationskraft, mit der
das nachfriderizianische Preußen fähige Köpfe zu gewinnen vermochte.
Mehr als 40 dieser Mitarbeiter, die sich im Hinblick auf ihren Bekannt-
heitsgrad teilweise in einer „unverdienten Abseitslage" befinden, hat W.
Hubatsch im Rahmen seines Forschungsberichtes in knappen biographi-
schen Skizzen vorgestellt. 23

3. Die Etappen der Reformen

Die Erneuerung des Staates nahm ihren Ausgang von der nordöstlichsten
Ecke der Monarchie, wohin Hof und Regierung 1806 geflohen waren, und
beschränkte sich zunächst auf die nach dem Tilsiter Frieden verbliebenen
Kernprovinzen Brandenburg, Pommern, Preußen und Schlesien. Unter Ein-
beziehung der Jahre nach 1814/15 lassen sich drei Phasen der Reformbe-
wegung unterscheiden:
1) „Ich hoffe und wünsche", schrieb Friedrich Wilhelm III. am 2. Oktober
1807 über den soeben in Memel eingetroffenen Stein an Hardenberg, „daß
seine kraftvolle Geschäftsführung das Chaotische unseres jetzigen Zustandes
baldigst zu ordnen imstande sein möge. . . " 2 4 Als Stein den preußischen
Dienst Ende November 1808 wiederum verlassen mußte, waren das Okto-
ber-Edikt (9. Oktober 1807) und die Städteordnung (19. November 1808)
vollzogen. Das Organisationsedikt (24. November 1808) sah eine Neuor-
ganisation der oberen und unteren Staatsbehörden vor, wurde allerdings,
nach dem Ausscheiden Steins, nur erheblich modifiziert in Kraft gesetzt
(16./26. Dezember 1808).
Für die seit dem Sommer 1807 unter dem Vorsitz von Scharnhorst
arbeitende Militär-Reorganisationskommission (MRK), in der auch Stein
beratend mitwirkte, gilt das Jahr 1808 als „die Zeit der kühnsten Gedanken,
Diskussionen und Entwürfe und zugleich des entscheidenden Durchbruchs

22 W. HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen... (1977) [63], S. 129;


H. ROSENBERG, Die Überwindung der monarchischen Autokratie... (1974) [s.o.
Anm. 6], S. 200; B. VOGEL, Die Preußischen Reformen... (1980) [s.o. Anm. 3],
S. 17.
23 W. HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen... (1977) [63], S. 9 7 - 1 3 0 .
24 G. WINTER (Hg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates... (1931) [62],
S. 5 6 6 .
II. Die Reformzeit 25

im Ablauf der gesamten Heeresreform". 2 5 Ihre ersten Niederschläge fanden


die Reformgedanken in der „Verordnung wegen der Militärstrafen" vom
3. August 1808 und in der am gleichen Tage verkündeten Neufassung der
Kriegsartikel.
Auch im Bereich des Bildungswesens war sowohl durch die Errichtung
der staatlichen Kultus- und Unterrichtsverwaltung als Sektion des Innen-
ministeriums als auch durch die Berufung von Nicolovius und Süvern bereits
1808 eine wichtige Weichenstellung erfolgt, noch bevor Wilhelm von Hum-
boldt am 18. Februar 1809 zum Direktor dieser Sektion ernannt wurde.
2) Die anderthalb Jahre, in denen das Ministerium Dohna-Altenstein
amtierte (1809/10), waren für die Staatsreform eine Zeit des Rückschlags
und der Flaute. Das lag zum Teil an den sich formierenden konservativen
Gegenkräften, was beispielsweise Humboldt im April 1810 um seine Ent-
lassung bitten ließ, vor allem aber daran, daß die Verwaltung vorrangig
mit der Aufbringung der Kriegskontribution und mit der Einhaltung der
Zahlungstermine beschäftigt war.
Dagegen erwies sich diese Phase im Hinblick auf die Bildungsreform als
außerordentlich bedeutsam: Die Gründung der Universität Berlin
(16. August 1809), an sich längst überfällig, war ein weithin sichtbares
Zeichen, daß Preußen, wie es der König einmal gefordert hatte, durch
geistige Kräfte ersetzen müsse, was es an physischen verloren habe. 2 6
3) Hardenberg übernahm am 4. Juni 1810 wiederum das Amt des Lei-
tenden Ministers, diesmal mit dem Titel eines Staatskanzlers. Die jüngsten
Forschungsergebnisse konstatieren einen Bruch in der Reformgesetzgebung
und bestätigen die tiefgreifenden Unterschiede in den Auffassungen Steins
und Hardenbergs, 27 auf die schon Ernst Klein hingewiesen hatte. Von ihm
stammt der treffende Vergleich, daß Stein die Wiederherstellung des Staates
durch „Regeneration", Hardenberg durch „Reorganisation" anstrebte:
„Steins Wollen war von Anfang an auf eine echte Reform der Staatsverfas-
sung gerichtet, während es Hardenberg lediglich um eine effektivere Ver-
waltung ging." 2 8
Hardenberg brachte am 27. Oktober 1810 eine Verordnung über die
Änderung der obersten Staatsbehörden heraus, durch die er sich selbst eine
quasi diktatorische Stellung verschaffte. Dem gleichzeitig erlassenen Finanz-
edikt, das in vielen Teilen mehr Regierungsprogramm als Gesetz war, folgte
anläßlich der Einführung einer Gewerbesteuer am 2. November 1810 die

25 Rainer WOHLFEIL, Vom Stehenden Heer des Absolutismus zur Allgemeinen


Wehrpflicht ( 1 7 8 9 - 1 8 1 4 ) , in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte, Bd. 2,
Frankfurt/M. 1964, S. 3 —212, hier S. 109. Neue Zusammenfassung: H. G.
NITSCHKE, D i e P r e u ß i s c h e n M i l i t ä r r e f o r m e n . . . (1983) [83],
26 Zit. von O. HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk... (1915) [ s . o . Anm. 2],
S. 460. — Wertvolles Quellenmaterial bietet neuerdings die Edition von H.
SCHEEL/D. SCHMIDT (Hg.), Von Stein zu Hardenberg... (1986) [58].
27 B. VOGEL, Reformpolitik in Preußen... (1980) [68], S. 2 0 2 - 223. Dies., Allgemeine
Gewerbefreiheit... (1983) [66], passim.
28 E. KLEIN, Von der Reform zur Restauration... (1965) [82], S. 313.
26 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Verkündung der Gewerbefreiheit. Gesetzlich geregelt wurden die bürgerliche


Gleichstellung der Juden (11. März 1812) sowie die gutsherrlich-bäuerlichen
Verhältnisse, deren „Regulierung" dringend notwendig war (14. September
1811). Weitergeführt wurden auch die Bildungsreform und die Reorgani-
sation des Heerwesens.
Krönung und Abschluß des Reformwerkes sollte, wie 1808, 1810 und
nochmals 1815 versprochen, die Berufung einer Landesrepräsentation auf
der Grundlage einer Verfassung darstellen. Als eine Art Vorstufe berief
Hardenberg zum 23. Februar 1811 eine aus 64 ernannten Mitgliedern
bestehende Notabeinversammlung nach Berlin ein, die über zehn von der
Regierung vorgeschriebene Fragenkomplexe beraten und Vorschläge unter-
breiten konnte. Der gegenwärtige Forschungsstand erlaubt keine eindeutige
Festlegung, inwieweit die „Verwässerung der Finanz- und Agrargesetze
Hardenbergs und seine großen Zugeständnisse an den Grundadel" auf
Einwände der Notabein zurückzuführen sind. 29
Die Einberufung der Notabeinversammlung wurde von den altpreußi-
schen Provinzialständen als eklatanter Verfassungsbruch empfunden. Als
sich die konservative Opposition überall im Lande zu organisieren begann,
statuierte Hardenberg ein politisch höchst ungeschicktes Exempel: Friedrich
August Ludwig von der Marwitz, „dieser Erzvater der preußischen konser-
vativen Partei" (Heinrich), 30 sowie der alte Graf Finckenstein wurden als
Wortführer der ständischen Fronde vorübergehend in Spandau inhaftiert.
Einen wichtigen Schritt über die Notabelnversammlung hinaus bedeutete
die aus 41 gewählten Mitgliedern bestehende „interimistische Nationalre-
präsentation", die vom 10. April 1812 bis zum 14. Februar 1813 und, in
leicht veränderter Zusammensetzung, wiederum vom Februar 1814 bis Juli
1815 tagte und insgesamt 201 Sitzungen abgehalten hat. Wahrscheinlich
geht das - dritte - Verfassungsversprechen (22. Mai 1815) auf eine
Initiative dieser Körperschaft zurück. Andererseits mußte Hardenberg mehr
und mehr erkennen, daß seine konstitutionellen Vorstellungen, die wohl
mehr an dem napoleonisch-rheinbündischen Scheinkonstitutionalismus ori-
entiert waren, in keinem Falle mit den Verfassungsideen gewählter oder
auch nur ernannter Deputierter in Einklang zu bringen waren. Sie wollten
in jedem Falle mehr als er, Hardenberg, zuzugestehen bereit war. Je deut-
licher er diesen Konflikt erkannte, desto mehr gewann in dem pragmatischen
Politiker der Bürokrat das Übergewicht über den Konstitutionalisten.
So kam seit 1811 ein retardierendes Moment in die Reformbewegung.
Die frühere, mitunter etwas planlos wirkende Reformaktivität wurde von
einer mehr auf das Durchsetzbare konzentrierten Gesetzgebung, die von
vornherein auf Gegenpositionen Rücksicht nahm, abgelöst. Auch Reform-
politik, so hatte man gelernt, war die Kunst des Möglichen.

29 K . v o n R A U M E R / M . BOTZENHART, D e u t s c h l a n d u m 1 8 0 0 . . . ( 1 9 8 0 ) [ 2 0 ] , S. 5 4 9 .
30 Zu einer differenzierten Beurteilung kommt Madelaine von BUTTLAR, Die poli-
tischen Vorstellungen des F. A. L. von der Marwitz. Ein Beitrag zur Genesis und
Gestalt konservativen Denkens in Preußen ( = SchrrPG, Bd. 13), Frankfurt/M.
1980, passim.
II. Die Reformzeit 27

Das Auslaufen der Reformbewegung kann man für 1820/21 annehmen,


als der siebzigjährige Hardenberg zunehmend an Einfluß verlor und eine
neue Führungsgruppe in die Ministerialverwaltung drängte: „Die Beamten,
die Hardenberg mit der Ausarbeitung einer Verfassung beauftragt hatte,
waren nicht mit denen identisch, die diese schließlich verhinderten." 31
Insofern war die Reformbewegung auch ein Generationsproblem.

4. Ergebnisse der Reformpolitik

Der Feststellung Kosellecks, daß die „Gesamtreform" spätestens mit dem


Tode Hardenbergs 1822 gescheitert sei, ist entgegengehalten worden, daß
es eine „Gesamtreform" überhaupt nicht gegeben habe. 3 2 Auch müssen die
in manchen Edikten enthaltenen Zusicherungen und Absichtserklärungen
einschließlich der Verfassungsversprechen vor dem Hintergrund der kata-
strophalen Notlage des Staates gesehen werden. Gewiß haben die Adressaten
diese Verheißungen oft ernster genommen als etwa Hardenberg, für den
„die Stunde. . . immer mächtiger als seine Grundsätze" war. 33 In diesem
Sinne wird man Koselleck zustimmen können, daß am Ende der Reformzeit
über dem ganzen Land eine Wolke unerfüllter Erwartungen hing. Es war
das Dilemma der Reformpolitik, daß ihre Endphase mit der Zeit der
beginnenden Restauration zusammenfiel: „Der bürokratische Liberalismus
verlor nach den Befreiungskriegen zusehends an Handlungsspielraum." 34
Nach Inhalt, Adressaten und Durchsetzbarkeit lassen sich drei Gruppen
von Reformgesetzen unterscheiden. Zur ersten gehören alle Verordnungen
zur Organisation von Regierung und Verwaltung. Ihre Durchsetzungschan-
cen waren groß, da sie direkt den Staatsapparat betrafen. Hier stellte die
Reform in erster Linie eine Selbsterneuerung dar. Von bleibender Bedeutung
war die Schaffung von fünf modernen Ressortministerien (Äußeres, Inneres,
Krieg, Finanzen, Justiz). Der von Stein geplante Staatsrat, der die „oberste
Leitung sämtlicher Regierungsgeschäfte" besorgen sollte, wurde dagegen
nicht eingerichtet, so daß die Verwaltungsreform der Zentralbehörden nicht
zu einer eigentlich politischen Regierungsreform wurde. Das 1817 als „ober-
ste beratende Behörde" ins Leben gerufene Gremium gleichen Namens blieb
erheblich hinter den Vorstellungen Steins, dem „offenbar ein Mittelding
zwischen oberster Staatsbehörde und einer Art Parlament" (v. Raumer)

31 Herbert OBENAUS, Finanzkrise und Verfassungsgebung. Zu den sozialen Bedin-


gungen des frühen deutschen Konstitutionalismus [1974], in: B. VOGEL (Hg.),
Preußische Reformen... (1980) [67], S. 2 4 4 - 265, hier S. 247.
32 B. VOGEL, Die Preußischen Reformen... (1980) [s.o. Anm. 3], S. 3 f . , gegen R .
KOSELLECK, Staat und Gesellschaft in Preußen... ( 2 1970) [36], S. 85, und Ders.,
Preußen zwischen Reform und Revolution... ( 2 1975) [35], S. 153.
33 Zit. von W. HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen... (1977) [63],
S. 216.
34 R. KOSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution... ( 2 1975) [35], S. 161;
Dieter LANGEWIESCHE, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 18 f.
28 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

vorgeschwebt hatte, zurück. 35 Ganz auf die Person Hardenbergs zuge-


schnitten war die 1810 eingeführte Position des Staatskanzlers, dessen
Mitarbeiterstab Ende 1811 zur eigenen Behörde erhoben wurde (Staats-
kanzleramt). Richtungweisend für mehr als ein Jahrhundert wurde die
Umbildung der Kriegs- und Domänenkammern in moderne „Regierungen",
die von einem Regierungspräsidenten geleitet wurden. Ihnen oblag im
Bereich des jeweiligen Regierungsbezirkes die gesamte Administration, von
der die Justiz jetzt endlich getrennt wurde. Über den Regierungen standen
als eine Art Provinzialminister die Oberpräsidenten (1808 —1810, wieder
eingerichtet 1815), die zwar auch gewisse Koordinierungs- und Kontroll-
aufgaben hatten, im wesentlichen aber Repräsentanten ihrer Provinz waren.
Die von Stein mit großen Erwartungen angestrebte „Teilnahme der Eigen-
tümer" an der Verwaltung verwirklichte auf Dauer nur die Städteordnung.
Die Besitzbürger erhielten das Recht, Stadtverordnete zu wählen, die ihrer-
seits den Magistrat bestellten. Lediglich der Bürgermeister bedurfte der
königlichen Bestätigung. Diese ungewohnte, für die Bürger teilweise auch
kostspielige Freiheit hat das infolge der absolutistischen Gängelung politisch
wenig engagierte Bürgertum der kleinen Agrarstädte oft überfordert. Nur
allmählich hat diese „Honoratiorenselbstverwaltung" (Herzfeld) tiefere
Wurzeln schlagen können. 3 6
Die zweite Gruppe der Reformgesetze betraf das Verhältnis des Staates
zu seinen Bürgern. Drei Bereiche verdienen Hervorhebung.
Übereinstimmend vertreten ältere und neuere Historiographie die Auf-
fassung, daß die Heeresreform im wesentlichen gelungen sei. Die von
Scharnhorst, Clausewitz, Gneisenau und Boyen seit 1807 durchgeführte
Neuformierung machte aus der friderizianischen Söldnerarmee ein Heer der
allgemeinen Wehrpflicht (1813/14), in dem die „Freiheit der Rücken"
(Gneisenau, 1808) galt. Den Anspruch auf Offiziersstellen eröffneten
„Kenntnisse und Bildung. . ., Tapferkeit und Überblick", nicht mehr Stan-
deszugehörigkeit, Herkunft oder Vermögen. 37
Dagegen ist die Finanzreform in der Hauptsache gescheitert. Erst die
Einführung des Grenzzollsystems (1818) und der Verbrauchssteuern auf
Bier, Wein, Branntwein und Tabak an Stelle der Akzise (1819), die durch
eine Klassensteuer ergänzt wurde (1820), brachte eine dauerhafte Neuord-
nung, wenn auch die Grundsteuern in ihrer Ungleichheit bis 1861 weiter
bestanden.

35 Hans SCHNEIDER, Der Preußische Staatsrat 1 8 1 7 - 1 9 1 8 . Ein Beitrag zur Verfas-


sungs- und Rechtsgeschichte Preußens, München — Berlin 1952, passim. Ergän-
zend: Hans BRANIG, Die oberste Staatsverwaltung in Preußen zur Zeit des Todes
v o n H a r d e n b e r g , in: J G M O D , B d . 1 3 / 1 4 ( 1 9 6 5 ) , S. 1 8 2 - 1 9 9 .
36 Zur Städtereform vgl. W. HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen...
( 1 9 7 7 ) [ 6 3 ] , S. 1 4 8 - 1 5 7 . K r i t i s c h e r : R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970)
[ 9 6 ] , S. 2 7 9 - 2 9 0 .
37 Teilabdruck des Reglements vom 6. VIII. 1808 bei R. WOHLFEIL, Vom Stehenden
Heer... (1964) [s.o. Anrn. 25], S. 142.
II. Die Reformzeit 29

Bleibende Bedeutung hat die Bildungsreform erlangt. Die Reformen er-


streckten sich auf alle Bereiche des Unterrichts, doch gab es noch für
Jahrzehnte erhebliche Diskrepanzen zwischen Anspruch und Realität, vor
allem bei der Volksschule. Leichter durchzusetzen war die Neuregelung des
höheren Schulwesens (1812), die dem humanistischen Gymnasium quasi
eine Monopolstellung sicherte. Als Hochschule neuer Art für freie wissen-
schaftliche Arbeit mit der Einheit von Forschung und Lehre konzipiert,
konnte die Berliner Universität durch die Berufung hervorragender Gelehrter
bald den ersten Rang in Deutschland erringen. „Im Werk der preußischen
Reform", so E. R. Huber, „war die Erneuerung des Bildungswesens von
nicht geringerem Verfassungsrang als die Erneuerung der Verwaltung oder
der Armee". 3 8
Die Reformgesetze der dritten Gruppe regelten wirtschaftliche und soziale
Beziehungen der Bürger untereinander. Die Liberalisierung des Gewerbele-
bens war eine Dominante der Reformpolitik. Auf keinem anderen Gebiet
hat die Verwaltung so hartnäckig ihre Position gegen eine nur allmählich
nachlassende Flut von Protesten und Beschwerden verteidigt. Die privaten
Initiativen sollten freigesetzt und geschützt werden, damit sie, im freien
Wettbewerb der ökonomischen Kräfte miteinander konkurrierend, die preu-
ßische Volkswirtschaft an das Niveau der westeuropäischen Staaten her-
anführen könnten. Der Staat beschränkte sich auf gezielte Entwicklungs-
hilfen technischer oder pädagogischer, seltener finanzieller Art. Der be-
achtliche Stand, den die preußische Wirtschaft um die Jahrhundertmitte
erreicht hat, deutet an, daß der eingeschlagene Weg im großen und ganzen
richtig gewesen ist. 3 9
Ein Kernstück der Wirtschafts- und Gesellschaftsreform bildete die Agrar-
gesetzgebung. Das erste aller Reformgesetze, das Oktoberedikt (1807), hob
die Erbuntertänigkeit auf, erklärte die persönliche Freiheit der Bauern und
verkündete die Freiheit der Berufswahl und des Grundstücksverkehrs. Ur-
sprünglich nur für Ostpreußen gedacht, war der Gesetzentwurf von Stein
bei seinem Amtsantritt gebilligt, auf den Gesamtstaat erweitert und wenige
Tage später vollzogen worden. In einem kühnen Sprung nach vorn hatte
die Bürokratie, die keineswegs über ein abgestimmtes agrarpolitisches Kon-
zept verfügte, die Reformen mit einem Donnerschlag eröffnet. Bedenklich
war dabei, daß sich das Edikt an mehreren Stellen durch „grobe Ungenau-
igkeit und sybillinische Formulierungen" 40 auszeichnete. Man hatte das
Deklamatorische vor das Praktische gestellt: Über die Ablösung der Dienste
und Pflichten und die Entschädigungsfrage, das heißt über die zur Herstel-
lung eines freien bäuerlichen Eigentums unentbehrliche „Regulierung" der
gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse, sagte das Oktoberedikt nichts.
Die Opposition des Adels gegen das Gesetz war nicht sonderlich massiv,
da es dessen gutsherrliche Gewalt nicht tangierte. Man erkannte bald die

38 E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/69) [49], Bd. 1, S . 2 6 1 .


39 I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], S. 2 2 5 - 2 3 9 ; B. VOGEL,
Allgemeine Gewerbefreiheit... (1983) [66], S. 2 2 7 f f .
40 H. SCHISSLER, Preußische Agrargesellschaft... (1978) [39], S. 117.
30 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Vorteile, die sich aus den Bestimmungen ziehen ließen, und bemühte sich,
den weiteren Verlauf der Agrarreform zum größtmöglichen Nutzen des
Adels zu beeinflussen. 41 Diese Absicht traf sich mit den Intentionen der
Bürokratie, deren Spitzen nach wie vor dem Adel angehörten. Sie hatte,
parallel zur liberalen Gesetzgebung, von Anfang an eine Konservierungs-
politik betrieben: erstens wurden die hochverschuldeten Gutsbesitzer durch
ein mehrfach verlängertes Moratorium vor dem Bankrott geschützt. Zwei-
tens trat kurz vor dem Martinitag 1810, an dem die Gesindedienstbefreiung
wirksam wurde, eine neue Gesindeordnung in Kraft (8. November 1810),
die den Großgrundbesitzern billige Arbeitskräfte erhalten und ein Abströ-
men der Landbevölkerung in die Städte verhindern sollte. 42 Drittens wurde
die Regulierungsfrage in zunehmendem Maße im Sinne der Gutsbesitzer
entschieden: Schon beim Regulierungsedikt (14. September 1811) konnte
der Adel seine Interessen in beträchtlichem Umfang durchsetzen. Es kam
allerdings wegen des bald ausbrechenden Krieges kaum zur Anwendung,
und erst die für den Bauernstand noch ungünstigere Deklaration vom 29.
Mai 1816 hatte Bestand: Sie beschränkte die Möglichkeit der Eigentums-
übertragung (meist durch Landabtretung in Höhe eines Drittels) auf „spann-
fähige" Höfe alten Besitzstandes, die zudem noch einige andere Bedingungen
erfüllen mußten. So kam es, daß nicht mehr als 83.860 Bauernhöfe mit
zusammen 1,4 Millionen Hektar Landbesitz von der Regulierungsgesetz-
gebung profitieren konnten.
So sehr diese Agrarreformen in erster Linie die bestehende Gutsherrschaft
stärkten und den etwa 12.000 ostelbischen Rittergütern über 400.000 Hektar
Entschädigungsland zufielen, brachten sie es andererseits doch zuwege, daß
im Vormärz eine beträchtliche Zunahme bäuerlicher, namentlich kleinbäu-
erlicher Stellen erfolgte. 43 Gleichzeitig aber haben die Regulierungen auf
verhängnisvolle Weise die Praxis des Bauernlegens und damit die zuneh-
mende Polarisierung der ländlichen Gesellschaft begünstigt. 1846 standen
den 157.347 Vollbauern (mit 50 bis 240 Morgen Land) 668.400 Halbbauern
(Häusler, Kätner und andere mit geringem Ackeranteil) und 873.286 Land-
lose (Tagelöhner, Holzhauer und andere) gegenüber. Preußen war, im gan-
zen gesehen, nach Abschluß der Agrarreformen in noch stärkerem Maße
als vorher ein vom Großgrundbesitz bestimmtes Land. „Patronat, Ortspo-
lizei (bis 1872) und Patrimonialgerichtsbarkeit (bis 1848) zementierten die
herrschaftliche Stellung und schirmten. . . ungefähr die Hälfte aller Bewoh-

41 K. VETTER, Kurmärkischer Adel... (1979) [65], passim.


42 Klaus TENFELDE, Ländliches Gesinde in Preußen. Gesinderecht und Gesindesta-
tistik 1810 bis 1861, in: AfS, Bd. 19 (1979), S. 1 8 9 - 2 2 9 ; T h o m a s VORMBAUM,
Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert (vornehmlich in Preußen 1810 —
1918) ( = SchrRG, H. 21), Berlin 1980, passim.
43 Hartmut HARNISCH, Die Bedeutung der kapitalistischen Agrarreformen für die
Herausbildung des inneren Marktes und die Industrielle Revolution in den
östlichen Provinzen Preußens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: J b W G ,
1977/4, S. 63 - 82, hier S. 81. Wiederabdruck dieses Aufsatzes bei B. VOGEL, Die
Preußischen Reformen... [wie Anm. 3], S. 111 - 1 3 1 , das Zitat: S. 128.
III. Preußen und das napoleonische System 31

ner des rechtsrheinischen platten Landes von der direkten Staatsgewalt


ab." 4 4 Vor diesem Hintergrund offenbart sich der Begriff der „Bauernbe-
freiung" mit seinem positiven Sinngehalt als ein höchst irreführendes Schlag-
wort, das längst nicht ausreicht, die durch die Agrarreformen eingeleiteten
vielfältigen Strukturwandlungen auf dem Lande zu erfassen. 45
Auch die „Revolution von oben" erweist sich, wenn die Gesamtheit des
preußischen Reformwerkes zu beurteilen ist, als eine wenig glückliche
Bezeichnung, denn die Reformen endeten in Preußen dort, wo sie an die
politische und soziale Substanz des Staates gerührt hätten: die gesellschaft-
liche Dominanz des Adels blieb ungebrochen, die Verfassungsversprechen
wurden nicht eingelöst. Die „Revolution von oben" war eben doch nicht
mehr als ein Bündel Reformen von unterschiedlicher Tragweite.

III. Preußen und das napoleonische System

Nur der Fürsprache des Zaren beim allgewaltigen Franzosenkaiser war es


zu danken, daß der Vertrag von Tilsit wenigstens einem Rumpfpreußen die
weitere staatliche Existenz zubilligte und auch das Haus Hohenzollern auf
dem Thron beließ. Außenpolitischen Handlungsspielraum gab es für diesen
Staat von Frankreichs Gnaden vorläufig aber kaum: Bis zu einer Änderung
der politischen Großwetterlage mußte man, um den Bestand Restpreußens
nicht aufs Spiel zu setzen, mit dem Todfeind des Landes zu akzeptablen
Arrangements zu kommen versuchen, sei es bisweilen auch nur in der
bedrückenden Rolle eines Gutwilligkeit und Erfüllungsbereitschaft zeigen-
den Befehlsempfängers. Unbedachte und voreilige Aktionen, die diese
außenpolitische Grundkonzeption gefährden konnten, waren unter allen
Umständen zu vermeiden. Niemand hat dies klarer erkannt als Friedrich
Wilhelm III., bei dem die letzte Verantwortung lag. Die insbesondere von
Gneisenau vorgetragenen Pläne einer insurrektionellen Volksbewaffnung
zur Abschüttelung der Franzosenherrschaft hat er deshalb 1808 und noch
einmal 1811 kategorisch zurückgewiesen. Wie gering die Bereitschaft zu
einer allgemeinen Volkserhebung tatsächlich war, zeigt das am 28. April
1809 begonnene, vom König schärfstens verurteilte Unternehmen des po-
pulären Berliner Husarenmajors Ferdinand von Schill, der auf eigene Faust
gegen das Königreich Westfalen zog; aber „was als Beginn einer gesamt-
deutschen Erhebung gegen die Fremdherrschaft gedacht war, blieb das
isolierte Unternehmen einer kleinen Truppe". 1 Sie mußte sich — nach

44 C . DIPPER, Die B a u e r n b e f r e i u n g . . . ( 1 9 8 0 ) [ 8 0 ] , S. 6 8 . Ä h n l i c h : R e i n h a r t KOSEL-


LECK, Staat und Gesellschaft im preußischen Vormärz [1962], in: O t t o Büsch/
Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1648 — 1947. Eine
Anthologie ( = VHKzB, Bd. 52), Berlin 1981, Bd. 1, S. 3 7 8 - 4 1 5 , hier S. 4 0 0 f .
45 Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen bei H . BÖHME, „Bauernbefreiung" oder
„Bauernfreisetzung"... ( 1 9 8 1 ) [ 7 8 ] , S. 115-166.

1 J . STREISAND, D e u t s c h l a n d . . . ( 1 9 5 9 ) [ 2 6 ] , S. 1 7 7 .
32 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

unbedeutenden Erfolgen - schließlich nach Stralsund durchschlagen, wo


Schill im Straßenkampf fiel. Seine elf Offiziere wurden erschossen, die
übrigen 543 Gefangenen auf die Galeeren geschickt. 2
Selbst durch den Hinweis auf die erfolgreiche antifranzösische Aufstands-
bewegung in Spanien ließen sich derartige Bravourstücke nicht rechtfertigen.
Dem schon damals genannten Argument, daß die Deutschen keine Spanier
seien, ist das viel gewichtigere hinzuzufügen, daß die landschaftlichen und
verkehrsgeographischen Gegebenheiten für einen Aufstand in Deutschland
sehr viel ungünstiger als in Spanien - oder auch in Tirol — waren. Die
Regierung hatte freilich alle Mühe, die patriotische Bewegung, die von
Persönlichkeiten wie Fichte, Kleist, Arndt und dem Turnvater Jahn geprägt
wurde, im Zaume zu halten. Mit der Gewißheit des erfahrenen Diplomaten,
daß eine bessere Grundkonstellation nur langfristig zu erwarten sei, steuerte
auch Hardenberg einen sehr vorsichtigen Kurs und hielt an seiner außen-
politischen Grundmaxime: „Überleben durch Anpassen und Abwarten"
fest. 3

1. Vom Diktatfrieden zum Unterwerfungsvertrag

Was beim Friedensschluß von Tilsit noch offengeblieben war, regelten einige
Folgeverträge. 4 Die Konvention von Königsberg (12. Juli 1807) knüpfte den
in Aussicht gestellten etappenweisen Abzug der französischen Besatzungs-
armee an die pauschale Voraussetzung, daß Preußen bis dahin sämtliche
ihm auferlegten Requisitions- und Kontributionsleistungen erbracht habe.
Daß beide Seiten zu höchst unterschiedlichen Einschätzungen des Kontri-
butionsvolumens gelangten, war ganz im Sinne Napoleons, der Preußen
durch die Auferlegung unerfüllbarer Lasten beliebig lange besetzt und
gefügig halten wollte. Bei den Verhandlungen mit Daru, dem in Berlin
residierenden Generalintendanten der französischen Armee, stellte sich bald
heraus, wie aussichtslos die von Stein zunächst verfolgte Erfüllungspolitik
war. Einem mühsam ausgehandelten Kompromiß (Berliner Konvention,
Entwurf vom 9. März 1808) 5 versagte Napoleon die Zustimmung. Erst im

2 Hermann KLAJE, Ferdinand v. Schill, 1 7 7 6 - 1 8 0 9 , in: Walter Menn (Hg.), Pom-


mersche Lebensbilder, Bd. 4 ( = VHKP, R. 5, H. 15), S. 2 4 1 - 2 6 6 (mit der älteren
L i t . ) ; H . BOCK, K o n s e r v a t i v e s R e b e l l e n t u m . . . ( 1 9 7 2 ) [ 1 0 1 ] , S. 1 0 7 - 1 4 5 .
3 K . v o n R A U M E R / M . BOTZENHART, D e u t s c h l a n d u m 1 8 0 0 . . . ( 1 9 8 0 ) [ 2 0 ] , S. 5 5 3 .
4 Beste Darstellung bei P. HASSEL, Geschichte der Preußischen Politik... (1881)
[87], passim. Die Konvention von Königsberg in: [Georges Frédéric] de MARTENS
(Hg.), Recueil des principaux traités d'Alliance, de Paix, de Trêve, de Neutralité,
de commerce, de limites, d'échange etc. conclus par les Puissances de l'Europe...,
Bd. 8, G ö t t i n g e n 2 1 8 3 5 , S. 6 6 8 - 6 7 0 .
5 Abgedruckt bei Magnus Friedrich von BASSEWITZ, Die Kurmark Brandenburg
im Zusammenhang mit den Schicksalen des Gesamtstaats Preußen während der
Zeit vom 22. Oktober 1806 bis zum Ende des Jahres 1808, Bd. 1, Leipzig 1851,
S. 5 2 1 - 5 2 5 .
III. Preußen und das napoleonische System 33

Vertrag von Paris vom 8. September 1808, zu dem im übernächsten Absatz


noch einiges zu sagen sein wird, wurde die Kontribution auf die enorme
Summe von 140 Millionen Francs festgelegt. Bis zur Zahlung des Gesamt-
betrages sollten Stettin, Küstrin und Glogau in französischer Hand bleiben.
In diesem Vertrag wurde auch die Stärke des preußischen Heeres auf 42.000
Mann beschränkt. Drei Wochen später, beim Fürstenkongreß in Erfurt,
ermäßigte Napoleon auf Fürsprache des Zaren die Kontribution auf 120
Millionen, für die er Wechsel und Pfandbriefe erhielt, die in Monatsraten
von vier Millionen binnen zweieinhalb Jahren einzulösen waren (Konven-
tion von Berlin, 6. November 1808). Die gleichzeitig zugesagte Räumung
des übrigen Preußen erfolgte bis Anfang Dezember. 6
Das Teffen in der Stadt Erfurt, die Napoleon 1806 zur domaine réservé
à l'empereur erklärt hatte, bildete den glanzvollen Höhepunkt napoleoni-
scher Macht- und Prachtdemonstration. 7 Nicht weniger als 34 Fürsten,
insbesondere aus den Rheinbundstaaten, nahmen teil; aus Preußen war der
Minister Goltz gekommen. Während das politische Hauptziel Napoleons,
beim französisch-russischen Gipfeltreffen die Allianz von Tilsit zu erneuern
und die beiderseitigen Interessensphären abzustecken, trotz eines Vertrags-
abschlusses (12. Oktober) nur scheinbar erreicht wurde, da sich die russische
Hoffnung auf freie Hand gegen Konstantinopel nicht erfüllte, brachte das
eigens aus Paris angereiste Théâtre Français vor einem „Parterre von Kö-
nigen" klassische Stücke zur Aufführung, empfing Napoleon Wieland und
Goethe und verlieh diesem das Kreuz der Ehrenlegion. Mit dem Beitritt des
Herzogtums Oldenburg zum Rheinbund am letzten Tage des Fürstenkon-
gresses gehörten ihm 39 deutsche Staaten an; nur Preußen und Österreich
standen noch abseits.
Der unmittelbare Anlaß des Erfurter Treffens lag in einem Ereignis,
dessen säkulare Bedeutung sich dem späteren Betrachter leichter als den
Zeitgenossen erschließt: Der Aufstand des spanischen Volkes gegen die
Absetzung der angestammten Dynastie („Handstreich von Bayonne", 30.
April 1808) und die Proklamierung von Napoleons Bruder Joseph zum
neuen König stehen am Anfang des Niedergangs der napoleonischen Herr-
schaft. Die Bedeutung der europäischen Wende vom Sommer 1808 liegt vor
allem darin begründet, daß sich Napoleon fortan einer neuartigen Gegner-
schaft gegenübersah. Eine Woge patriotisch-nationaler Begeisterung sprang,
von Spanien ausgehend, auf die anderen Länder über, erfaßte ganze Völ-
kerschaften und Völker und bereitete materiell und geistig den Boden für
die deutsche und europäische Erhebung des Jahres 1813 vor. Auch belebte
die in Spanien praktizierte neue Form des Guerilla-Krieges die militärtheo-
retische Diskussion über den sogenannten „Kleinen Krieg", mit dessen

6 Georges Frédéric de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil des principaux traités


d'Alliance, de Paix, de Trêve, de Neutralité, de commerce, de limites, d'échange
etc. conclus par les Puissances de l'Europe..., Bd. 1, Göttingen 1817, S. 106.
7 Gustav BRÜNNERT, Napoleons Aufenthalt in Erfurt im Jahre 1808, Erfurt 1899,
passim; Gonthier-Louis FINK, Goethe et Napoléon. Littérature et politique, in:
Fr, Bd. 10 (1982), S. 3 5 9 - 3 7 9 .
34 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Problematik sich Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz intensiv ausein-


andersetzten. 8
Daß die konkreten Aufstandspläne, die im Sommer 1808 von führenden
Militärs und auch von Stein ernsthaft verfolgt wurden, dennoch unausge-
führt bleiben mußten, ist nicht zuletzt auf eine grobe Fahrlässigkeit des
Freiherrn vom Stein zurückzuführen, die für Preußen fatale Folgen hatte:
In einem nicht chiffrierten Brief, den er am 15. August 1808 an den
preußischen Vertreter an den nordwestdeutschen Höfen, den Fürsten Witt-
genstein, gerichtet hatte, sprach er relativ deutlich über insurrektionelle
Pläne, riet, die täglich zunehmende Erbitterung in Deutschland „zu nähren
und auf die Menschen zu wirken", und äußerte den Wunsch, „daß man
sich auf gewisse Fälle vorbereite". Der Brief wurde von den Franzosen
abgefangen, sein Überbringer, der Assessor Koppe, inhaftiert. Prinz
Wilhelm, der Bruder des Königs, und Baron v. Brockhausen, preußischer
Gesandter in Paris, die sich seit Monaten in der französischen Hauptstadt
um eine annehmbare Regelung der Kontributionsfrage bemühten, bekamen
als erste dieses willkommene politische Druckmittel vorgeführt, als ihnen
ihr Verhandlungspartner, der Außenminister Champagny, am 3. September
den kompromittierenden Brief präsentierte. Die damit verknüpften Dro-
hungen Napoleons waren so beunruhigend, daß sich Prinz Wilhelm ent-
schloß, trotz fehlender Instruktionen die ihm vorgelegte Konvention am 8.
September zu unterzeichnen. Die Zusage, daß damit die Briefaffäre verges-
sen sein würde, erwies sich als falsch: Am 8. September wurde der Brief
Steins vom „Moniteur" in französischer Übersetzung publiziert, am 9.
druckte ihn das „Journal de l'Empire" mit einigen Kommentaren ab, und
am 18. veröffentlichte der in Berlin erscheinende „Telegraph" diesen kom-
mentierten Text in deutscher Fassung. 9
Die am 21. September in Königsberg eintreffende Nachricht von dem
abgefangenen Brief schlug wie eine Bombe ein: „Die Königin ist trostlos,
der arme König wütend über dies neue Mißgeschick", notierte die Gräfin
Voß. Stein bat sogleich um seine Entlassung. Der König zögerte; er hoffte,
Napoleon vielleicht durch die vorbehaltlose Ratifizierung der September-
Konvention besänftigen und seinen Ersten Minister halten zu können, doch
der Druck wurde — besonders nach Erfurt — stärker. Stein selbst wollte
die Österreicher zum Losschlagen gegen Napoleon bewegen, indem er ihnen
falsche Informationen über den Stand der Vorbereitung einer preußisch-
norddeutschen Insurrektion gab, stieß aber nur auf kühle Ablehnung. 10
Auch am Hofe mehrten sich die Stimmen, die - wenn auch aus unter-
schiedlichen und teilweise eigennützigen Motiven — Steins Abberufung als
unumgänglich ansahen. Neben Voß, Altenstein, Jagow und York sprach
sich auch Hardenberg dafür aus. Bei seiner Entlassung (24. November)

8 Dazu grundlegend Rainer WOHLFEIL, Spanien und die deutsche Erhebung 1808 -
1814, Wiesbaden 1965, passim.
9 Vgl. P. HASSEL, Geschichte der Preußischen Politik... (1881) [87], S. 2 4 4 - 247.
Die Quellen a . a . O . , S. 4 8 4 - 4 8 9 , 5 0 8 f . und 5 8 1 - 5 8 4 .
10 R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 131-138.
III. Preußen und das napoleonische System 35

bescheinigte Friedrich Wilhelm dem erneut, aber nun in Gnaden aus dem
preußischen Dienst Scheidenden, „den ersten Grund, die ersten Impulse zu
einer erneuerten, besseren und kräftigeren Organisation des in Trümmern
liegenden Staatsgebäudes gelegt zu haben". Wahrscheinlich war es auf eine
gezielte Denunziation des Marschalls Davoust zurückzuführen, daß Na-
poleon drei Wochen später, am 16. Dezember in einem bei Madrid heraus-
gegebenen Armeebefehl ein fast vergessenes Rechtsinstrument aufgriff und
eine förmliche Ächtung des entlassenen preußischen Ministers aussprach.
Seine Güter sollten beschlagnahmt werden, ihm selbst, „ennemi de la France
et de la confédération du Rhin", drohten Verhaftung und Erschießung.
Dieser „Kriegserklärung gegen ein einzelnes Individuum ohne amtliche
Stellung" (G. Ritter) entzog sich Stein durch die Flucht nach Österreich
und später nach Rußland. „Napoleon hätte", so schrieb Gneisenau dem
Geächteten, „für Ihre erweiterte Zelebrität nichts Zweckmäßigeres tun
können. Sie gehörten ehedem nur unserm Staate an, nun der ganzen zivi-
lisierten Welt." 1 1
Anders als im Bereich der inneren Verwaltung brachte die Entlassung
Steins keine Änderung der außenpolitischen Zielsetzungen. An der Maxime
einer möglichst risikofreien Neutralitätspolitik hielt Friedrich Wilhelm auch
dann weiter fest, als sich im Frühjahr 1809 die Bergbauern Tirols unter
Andreas Hofer erhoben und Österreich Frankreich den Krieg erklärte
(9. April 1809). Seine Skepsis im Hinblick auf die militärischen Fähigkeiten
der Österreicher („Sie werden doch geschlagen, und dann ist alles aus")
bestätigte bereits die „von einer beispiellosen Verworrenheit" geprägte
Vorgeschichte dieses Krieges. 12 Selbst erste österreichische Teilerfolge, die
in der zweiten Aprilhälfte in Preußen eine geradezu euphorische Kriegsbe-
geisterung breitester Kreise auslösten, konnten den König nicht zu einer
Änderung des Kurses bewegen. Nach dem Prestigeerfolg bei Aspern (21./
22. Mai) vertröstete er den österreichischen Unterhändler mit den Worten:
„Versetzen Sie dem Feinde noch einen Schlag, und wir sind vereint", aber
die nächste Schlacht, bei Wagram am 5-/6. Juli, brachte den entscheidenden
Sieg Napoleons und führte — über den Waffenstillstand von Znaim (12.
Juli) - zum Frieden von Schönbrunn (14. Oktober 1809), der Österreich,
das 2150 Quadratmeilen mit 3,5 Millionen Einwohnern verlor, zum Bin-
nenstaat machte.
Während dieses Krieges war Preußen mit seinen monatlichen Kontribu-
tionszahlungen erheblich in Rückstand geraten. Bei den Verhandlungen
über eine Neuregelung der Zahlungsmodalitäten deutete Napoleon an, daß
auch an eine Abtretung Schlesiens gedacht werden könne. In der illusionären
Erwartung, Preußen dadurch von dem permanenten politisch-finanziellen
Druck Napoleons befreien zu können, empfahl das Ministerium Dohna/
Altenstein, in Verhandlungen über die Zession Schlesiens einzutreten. Als

11
Gneisenau an Stein am 15. II. 1809, in: Karl G R I E W A N K (Hg.), Gneisenau. Ein
Leben in Briefen [1939], Leipzig 3 1943, S. 109.
12
Manfred RAUCHENSTEINER, Kaiser Franz und Erzherzog Carl. Dynastie und
Heerwesen in Österreich 1 7 9 6 - 1 8 0 9 , München 1972, S. 94.
36 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Hardenberg, uro-Rat gebeten, praktikabel erscheinende Gegenvorschläge


unterbreitete, entließ der König das Ministerium und übertrug ihm am
4. Juni 1810 die Regierungsgeschäfte. Vorrangig mit der Lösung der Finanz-
probleme beschäftigt, betrieb Hardenberg außenpolitisch zunächst eine
Annäherung an Frankreich, wobei er - im Gegensatz zu Scharnhorst -
die Bereitschaft Napoleons, in Preußen einen eigenständigen Vertragspartner
zu sehen, völlig falsch einschätzte. Erst die politische Praxis zeigte ihm, daß
Preußen im diplomatischen Spiel des Kaisers keinen festen Platz innehatte,
sondern den wechselnden Zielen Napoleons jeweils dienstbar gemacht
werden sollte. 13
Die Spannungen in Europa verschärften sich im Laufe des Jahres 1810
aus mehreren Gründen. Rußland, wegen der Vergrößerung des Herzogtums
Warschau um Westgalizien und Krakau beim Frieden von Schönbrunn
bereits verstimmt, mußte erleben, daß ein Vertrag mit Frankreich über den
Verzicht auf eine Wiederherstellung des Königreichs Polen von Napoleon
nicht ratifiziert wurde. Zusätzlich gereizt durch Gewaltakte wie die Anne-
xionen Hollands (Juli 1810) und der nordwestdeutschen Küstenländer,
insbesondere Oldenburgs (Dezember 1810), setzte der Zar bei seiner begin-
nenden außenpolitischen Neuorientierung den Hebel an einer Stelle an, wo
Napoleon besonders empfindlich zu reagieren pflegte, bei der Kontinental-
sperre. Dieses Instrument, mit dem Napoleon seinen Hauptgegner England
niederzwingen wollte, ging auf das Berliner Dekret vom 21. November 1806
zurück, das die Britischen Inseln in den Blockadezustand erklärt und jeden
Handel mit ihnen untersagt hatte. Durch die Dekrete von Mailand (23.
November und 17. Dezember 1807), Rambouillet (9. Juli 1810), Trianon
(5. August 1810) und Fontainebleau (19./25. Oktober 1810) wurden die
einschränkenden Bestimmungen beträchtlich ausgeweitet, so daß Frankreich
praktisch den gesamten Zwischenhandel auf neutralen Schiffen unterbinden
und sämtliche Waren englischer Herkunft beschlagnahmen konnte. Aus-
nahmegenehmigungen, die für wichtige Güter durchaus erteilt wurden,
brachten durch hohe Lizenzgebühren und Sonderzölle der französischen
Staatskasse reichen Gewinn. Andererseits gelang es nicht, das umfangreiche
Schmuggel- und Schleichhandelssystem, dessen wichtigste Stützpunkte Hel-
goland, Göteborg, Malta, Sizilien und einige griechische Inseln waren,
wirksam zu unterlaufen. 14
Aus diesem Kontinentalsystem scherte Rußland, das in Tilsit 1807 hin-
eingezwungen worden war, Ende 1810 wieder aus. Es weigerte sich, neutrale
Schiffe mit englischer Ladung zu konfiszieren, und unterwarf die französi-
schen Einfuhren nach Rußland, die bislang von einem besonders günstigen
Zollsatz profitiert hatten, hohen Sonderzöllen. Frankreich antwortete mit

13 Vgl. R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 2 3 1 f.; E . KLEIN, V o n der


Reform zur Restauration... ( 1 9 6 5 ) [ 8 2 ] , S. 15-21.
14 Robert HOENIGER, Die Kontinentalsperre und ihre Einwirkungen auf Deutsch-
land ( = VoZfr, H . 211), Berlin 1905, passim; Fernand L'HUILLIER, Etude sur le
blocus continental. La mise en vigueur des décrets de Trianon et de Fontainebleau
dans le Grand-Duché de Bade, Paris 1951, passim.
III. Preußen und das napoleonische System 37

einer sichtbaren Verstärkung seiner militärischen Präsenz in Mitteleuropa.


Wollte Preußen bei der sich abzeichnenden Konfrontation der beiden Groß-
mächte nicht als Aufmarsch- und Kriegsschauplatz zerrieben werden, mußte
es von seiner Politik der unbedingten Neutralität abrücken. Als London
und Wien hinhaltend antworteten und Paris ein am 14. Mai 1811 unter-
breitetes, aber an einige Bedingungen geknüpftes Bündnisangebot nicht
akzeptierte, schickte man Scharnhorst zu Geheimgesprächen nach Rußland
und verstärkte die seit langem betriebene heimliche Aufrüstung. Im August
1811 hatte Preußen etwa 80.000 Mann unter Waffen, weitere 35.000 bis
40.000 waren rasch zu mobilisieren; bei Pillau, Kolberg, Spandau und in
Schlesien wurden befestigte Lager errichtet. In dieser Situation kam Gnei-
senau auf den Gedanken des Volkskrieges zurück und legte dem König
einen großen Insurrektionsplan, datiert vom 8. August 1811, vor. Aber
Friedrich Wilhelm blieb im Hinblick auf einen legalisierten Volksaufstand
nach spanischem Vorbild bei seiner ablehnenden Haltung. Der kühlen
Randbemerkung „als Poesie gut" setzte Gneisenau die leidenschaftliche
Antwort entgegen, daß auf Poesie die Sicherheit der Throne gegründet sei.
Die von Scharnhorst mit dem Zaren ausgehandelte Militärkonvention
(17. Oktober 1811), die als erste Frontlinie die Weichsel vorsah, bot nach
Meinung des Königs keine ausreichenden Garantien für den Bestand des
preußischen Staates. Dieses Ziel, das er einmal mit den Worten: „Eine
politische Existenz, sei sie noch so klein, ist immer besser als keine",
umschrieben haben soll, schien ihm an der Seite Frankreichs eher erreichbar.
Bereits am 4. November entschied er sich prinzipiell — gegen Hardenbergs
Empfehlung und gegen die Patriotenpartei — für das von Napoleon gefor-
derte Bündnis. Dem wochenlangen Schacher der Diplomaten um einzelne
Vertragspunkte machte ein von Napoleon gestelltes Ultimatum ein Ende:
am 24. Februar 1812 unterzeichnete der preußische Gesandte v. Krusemarck
in Paris ein Militärbündnis, das man — unter Einbeziehung der drei gleich-
zeitig abgeschlossenen geheimen Zusatzvereinbarungen - mit Fug und
Recht als reinen Unterwerfungsvertrag bezeichnen kann. 1 5 Von der auf
40.000 Mann zurückzustufenden preußischen Armee waren 20.000 Mann
als Hilfskorps für den bevorstehenden Rußlandfeldzug abzustellen. Zur
Versorgung der sich versammelnden Grande Armée, der das freie Durch-
zugsrecht einzuräumen war, hatte das ausgesogene Land 600.000 Zentner
Brotgetreide, je 2 Millionen Flaschen Bier und Branntwein, 1 Million Zent-
ner Heu und Stroh, 6 Millionen Scheffel Hafer, 15.000 Pferde, 44.000
Ochsen, 3.600 bespannte Wagen, dazu Fuhrknechte, Futtermittel, Lazarett-
einrichtungen, Munition u. a. m. zu liefern. Die Kosten dafür sollten später
mit den Kontributionen verrechnet werden. Da die Militärbehörden auch
alle für Versorgung, Ruhe und Ordnung erforderlichen Maßnahmen treffen
durften, kam das Bündnis einer totalen Kapitulation Preußens gleich. In

15 Der Hauptvertrag, die vier geheimen Zusatzartikel sowie die beiden ebenfalls
geheimgehaltenen Spezialkonventionen (sämtlich nicht im Vertrags-Ploetz!) sind
abgedruckt bei G. F. de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil... [s. o. Anm. 6], Bd. 1,
S. 4 1 4 - 4 2 4 .
38 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

den folgenden Monaten wiederholte sich der ganze Schrecken der Besat-
zungszeit der Jahre 1806/08 mit ihren Requisitionen, Einquartierungen,
Plünderungen, Drangsalierungen und Schikanen. Friedrich Wilhelm, der die
Verträge am 4. März 1812 ratifizierte, hatte Staat und Volk unvorstellbar
hohe Opfer auferlegt, „um in Potsdam mit ein paar Paradebataillonen von
1.200 Mann praktisch als Gefangener Napoleons zu leben". 1 6 Die Gesamt-
summe aller Leistungen und Lieferungen während der Okkupationsmonate
des Jahres 1812 betrug über 85 Millionen Taler, während die Kontributions-
schuld nur noch rund 12 Millionen Taler ausgemacht hatte. Als die Große
Armee nach Rußland zog, stand Preußen wirtschaftlich und finanziell am
Rand des Bankrotts. 1 7

2. Tauroggen und die Erhebung

Die Aktionspartei der Patrioten brach im Frühjahr 1812 auseinander. „Mit


Feigheit haben wir einen Unterwerfungsvertrag unterzeichnet, der uns mit
Schande besudelt, Blut und Vermögen des Volkes fremder Willkür preis-
gibt... Freiwilliger und unbedingter hat sich wohl noch kein Herrscher
unterworfen", schrieb Gneisenau, 18 der sich unter Fortzahlung seiner Bezüge
und mit geheimen Aufträgen versehen, beurlauben ließ und über Österreich,
Rußland und Schweden nach England ging. Resigniert und verzweifelt
begaben sich Boyen, Chasot, Clausewitz, Dohna, Goltz, Lützow, E . M .
Arndt u. a. nach Rußland, wo unter Mitwirkung des Freiherrn vom Stein
Mitte Juni ein „Komitee für die deutschen Angelegenheiten" gegründet
wurde. 19 Justus v. Gruner, ehemaliger Polizeipräsident von Berlin, trat
ebenfalls in russische Dienste und baute von Prag aus eine weitverzweigte
antifranzösische Geheimorganisation auf. Die Beflissenheit preußischer Re-
gierungskreise gegenüber dem französischen Verbündeten sorgte dafür, daß
Gruner im August 1812 verhaftet und seine Organisation zerschlagen
wurde. 20 Nicht nur prominente Wortführer der Aktionspartei schieden nach
den Februar-Verträgen enttäuscht aus dem preußischen Dienst; der würt-
tembergische Gesandte sah „aus allen Teilen der Armee, vorzüglich aus
Schlesien, ganze Pakete mit Abschiedsgesuchen eintreffen"; daß an die 300

16 R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 2 4 9 .
17 Über die Auswirkungen des Februarvertrages informiert gründlich das in seiner
Gesamttendenz kritisch zu beurteilende Buch von P. STULZ, Fremdherrschaft und
Befreiungskampf... (1960) [105], S. 7 1 - 9 0 .
18 Gneisenau an Münster am 10. II. 1812, in: K. GRIEWANK, Gneisenau... ( 3 1943)
[s.o. Anm. 1 1 ] , S. 1 8 2 f.
19 Gabriele VENZKY, Die russisch-deutsche Legion in den Jahren 1 8 1 1 - 1 8 1 5
( = V O e l M , Bd. 30), Wiesbaden 1966, S. 4 2 - 5 5 .
20 Zusammenfassende Darstellung bei P. STULZ, Fremdherrschaft und Befreiungs-
kampf... (1960) [105], S. 118 - 1 3 3 (mit der älteren Lit.). Ergänzend: W. SIEMANN,
„Deutschlands R u h e . . . " (1985) [173], S. 6 5 - 7 1 .
III. Preußen und das napoleonische System 39

Offiziere damals die Armee verlassen haben, ist allerdings eine Legende. 21
Durch das „Edikt wegen der Auswanderung preußischer Untertanen und
ihrer Naturalisation in fremden Staaten" vom 2. Juli 1812 suchte die
Regierung dieser Absetzbewegung entgegenzuwirken. Offiziere wie Clau-
sewitz und Chasot wurden — bei Androhung der Vermögenskonfiskation
— öffentlich zur Rückkehr aufgefordert. 22 Scharnhorst, der sich vom Staats-
dienst zurückgezogen hatte, aber fest entschlossen war, „mein Vaterland
nicht zu verlassen und mit demselben das ungewisse Schicksal zu teilen",
schrieb aus Schlesien, man habe das Edikt dort „weder billig, noch politisch
richtig befunden".
Nachdem Napoleon auf dem Fürstentag zu Dresden ( 1 6 . - 2 8 . Mai 1812),
zu dem auch Friedrich Wilhelm III. und Franz I. erscheinen mußten, glän-
zende Heerschau gehalten hatte, eröffnete er mit der Grande Armée von
457.000 Mann am 24. Juni den Krieg gegen Rußland. 23 Die zahlenmäßig
unterlegenen russischen Truppen wichen jedoch einer möglicherweise ent-
scheidenden Schlacht aus, zogen sich in die Weite des Raumes zurück und
bereiteten den Franzosen durch militärische Störversuche, durch Wegschaf-
fen der Vorräte und eine Kriegspolitik der „Verbrannten Erde" beträchtliche
Schwierigkeiten. Dennoch konnte Napoleon Smolensk erobern (18. August),
sich in der blutigen Schlacht von Borodino (7. September) behaupten und
am 14. November mit der bereits stark dezimierten Armee in das fast
menschenleere Moskau einziehen, das am gleichen Tage in Flammen auf-
ging. Da der Zar alle Friedensangebote unbeantwortet ließ, blieb schließlich
nichts übrig, als Moskau wieder zu räumen (19. —23. Oktober) und den
Rückmarsch anzutreten. Gepeinigt durch den einsetzenden Winter, ohne
ausreichende Verpflegung und Bekleidung und erheblich geschwächt durch
fortwährende Gefechte mit russischen Partisanen und den regulären Trup-
pen, die durch ihre Taktik der parallelen Verfolgung die französische Armee
zu einem pausenlosen Rückzug zwangen, erreichten nur noch etwa 70.000
Mann die Beresina. Bei ihrer Überquerung mittels zweier Behelfsbrücken
(26. — 29. November) verlor die Grande Armée mehr als 30.000 Mann.
Während die kaum noch kampffähigen Trümmer in trostlosem Zustand
weiter nach Westen zogen, eilte Napoleon nach Paris, um die Aushebung
neuer Truppen vorzubereiten.

21 Gegen diese in den M e m o i r e n Knesebecks aufgestellte Behauptung wandte sich


M a x LEHMANN, Knesebeck, der russische Operationsplan und die dreihundert
preußischen Offiziere von 1812, in: Ders., Knesebeck und S c h ö n . . . (1875) [104a],
S. 1 — 7 6 , passim. N o c h m a l s korrigierend G. VENZKY, Die russisch-deutsche Le-
g i o n . . . (1966) [s. o. A n m . 19], S. 4 3 : Der Legion traten sogleich bei ihrer Gründung
31 ehemals preußische Offiziere bei.
22 GS 1812, S. 1 1 4 - 1 1 8 . Vgl. P. STULZ, Fremdherrschaft und Befreiungskampf...
( I 9 6 0 ) [105], S. 136 f.
23 Über die militärischen Abläufe informiert faktenreich, aber ohne Quellen- und
Literaturnachweise das Bändchen von Heinz HELMERT/Hans-Jürgen USCZECK,
Europäische Befreiungskriege 1808 — 1 8 1 4 / 1 5 . Militärischer Verlauf, Berlin 1976,
hier S. 152 ff.
40 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Die Meldungen über die Niederlage Napoleons lösten in Preußen einen


Sturm der Begeisterung aus. Eine patriotische Aufschwungstimmung erfaßte
das ganze Land. Sie äußerte sich in zahllosen Flugschriften, Spottversen,
Gedichten und Karikaturen. Ernst Ferdinand August, Primaner am Grauen
Kloster in Berlin, verfaßte Ende Dezember 1812 die einprägsamen Strophen
mit dem Anfang: „Mit Mann und Roß und Wagen, so hat sie Gott geschla-
gen." Der seit Jahren angestaute und im ersten Halbjahr 1812 mit neuer
Nahrung versehene Haß gegen die französische Militäradministration führte
jetzt, da das Imperium ins Wanken geraten schien, auch zu spontanen
Feindseligkeiten gegen französische Soldaten, zu Sabotageakten gegen mi-
litärische Einrichtungen und — immer häufiger — zu dem Ruf nach einer
allgemeinen, von der Regierung sanktionierten Aufstandsbewegung gegen
die Franzosen.
Unterstützung fanden diese Pläne bei dem mit den russischen Truppen
vorrückenden „Komitee für die deutschen Angelegenheiten". Schon im Juli
1812 hatte der russische General Barclay de Tolly in einem „Aufruf an die
Deutschen...", der auf einen Entwurf Steins zurückging, die in die Grande
Armée eingegliederten deutschen Truppen aufgefordert, diese zu verlassen
und sich der in Rußland im Aufbau befindlichen Deutschen Legion anzu-
schließen. 24 Ernst Moritz Arndt, der im September mit der „Glocke der
Stunde in drei Zügen" seine erste Haß-Flugschrift erscheinen ließ, schlug
in seinem „Kurzen Katechismus für teutsche Soldaten", den er in Petersburg
veröffentlichte, geradezu revolutionäre Töne an, als er dazu aufforderte,
vor solchen Fürsten, die mit den Franzosen paktieren, den Degen zu zer-
brechen. Wie Stein stellte auch Arndt das Schicksal Deutschlands über das
Los der Dynastien; doch die von Stein im Hinblick auf eine erhoffte
Volkserhebung gestellte Frage „durch wen und in wessen Namen?" 2 5 ließ
erkennen, daß dem Gedanken der Volkssouveränität selbst von den enga-
giertesten Verfechtern einer Staats- und Gesellschaftsreform noch keine
ausreichende politische Tragfähigkeit beigemessen wurde.
Seitdem sich das Scheitern des Rußlandfeldzuges abzuzeichnen begann,
bemühte sich der Zar, Preußen — und übrigens auch Österreich, dem
Napoleon am 14. März 1812 einen allerdings erheblich milderen Bündnis-
vertrag aufgenötigt hatte - zu einem außenpolitischen Kurswechsel zu
veranlassen. Dies geschah zunächst auf höchster Ebene, doch die preußische
Regierung hielt — bis über die Jahreswende hinaus — hartnäckig an der
französischen Allianz fest und erklärte sich sogar bereit, der Forderung
Napoleons nach Verstärkung des Hilfskorps auf 30.000 Mann nachzukom-
men. Man fürchtete, daß sich das Kriegsglück binnen kurzem wieder
wenden könne oder daß sogar eine russisch-französische Verständigung
über den Kopf Preußens hinweg erfolgen könne. Auch war die Regierung

24 Vgl. Freiherr vom STEIN, Briefe und amtliche Schriften... [72], Bd. 3, Stuttgart
1 9 6 1 , S. 674-677.
15 Georg Heinrich PERTZ, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein... (1849 —
1855) [70], Bd. 3, S. 225. Beste Problematisierungdieses Dilemmas bei R . IBBEKEN,
Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 368-371.
III. Preußen und das napoleonische System 41

keineswegs sicher, ob bei einer Realisierung der von der Patriotenpartei


geforderten Volkskriegspläne die Entwicklung auf Dauer unter Kontrolle
zu halten wäre. Angesichts der vorsichtigen, sich nur ganz allmählich nach
Österreich orientierenden Hinhaltepolitik, die Frankreich keinen Anlaß zu
irgendwelchem Mißtrauen geben sollte, erklärte Hardenberg Anfang De-
zember, es sei augenblicklich nichts dringender, als den Ausbruch der
Volksbewegung zu verhindern. 26
Der kategorischen Feststellung von Max Lehmann: „Kein Zweifel, hätte
Preußen Mitte Dezember 1812 Napoleon den Krieg erklärt, von der Armee,
die im Sommer den Njemen überschritten, hätte kein Mann den Rhein
erreicht", 27 wird von der neueren Forschung, die ihre Richtigkeit im Prinzip
nicht bestreitet, zweierlei entgegengehalten: Erstens hätte die Zerschlagung
der napoleonischen Restarmee „niemals die Umwälzung herbeiführen kön-
nen, durch die hindurch Preußen-Deutschland den Weg zur Nation hätte
antreten können... Trotz aller noch notwendigen inneren Auseinanderset-
zungen lag doch in dem gemeinsamen Weg der Nation über die Schlacht-
felder von Leipzig und Waterloo das Grunderlebnis künftiger Einheit." 2 8
Zweitens wird darauf hingewiesen, daß eine endgültige Niederwerfung
Napoleons nicht durch isolierte Aktionen, sondern einzig und allein durch
eine große europäische Koalition der vier Flügel- und Mittelmächte zu
erhoffen und — wie die Praxis zeigen sollte — auch zu erreichen war. 19 Da
um die Jahreswende 1812/13 eine solche Koalition in weiter Ferne lag und
der König in einem nicht zu überbietenden Mißtrauen gegen alles und jeden
verharrte (Ibbeken: „gegen sein Volk, gegen seine Armee, gegen den Zaren,
gegen England, gegen Österreich und vor allem gegen die eigenen Sterne"),
gelangte die preußische Außenpolitik über ein neutralistisches Lavieren nicht
hinaus.
Wenig erfolgreich waren zuerst auch die Bemühungen Rußlands um das
preußische Hilfskorps, das als 27. Division dem X . Armeekorps unter
Marschall Macdonald zur Deckung des linken Flügels der Grande Armée
zugeteilt worden war. Diese Truppe von etwa 14.000 Mann stand seit der
Ablösung des franzosenfreundlichen Generals v. Grawert am 13. August
1812 unter dem Kommando des streng konservativen, zutiefst königstreuen
und erzpreußischen Generals Hans David Ludwig v. York. Sie hatte in den
russischen Ostseeprovinzen operiert und sich ohne größere Verluste bis zur
ostpreußischen Grenze zurückziehen können. Auf dieses Korps konzentrier-
ten sich nun die vom Deutschen Komitee unterstützten Abwerbungsversu-
che; allein vom 1. November bis 22. Dezember ergingen an York nicht

26 Hardenberg an Beguelin am 5. XII. 1812: „...rien de plus urgent sans contredit


que de reprimer dans le principe ces effervescences..." (M. LEHMANN, Scharn-
horst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 477, Anm. 2).
27 M a x LEHMANN, D i e E r h e b u n g v o n 1 8 1 3 , in: P r j b b , B d . 1 5 1 ( 1 9 1 3 ) , S. 3 9 7 - 4 1 4 ,
hier S. 399.
28 R. IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 375f.
29 Gerd HEINRICH, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt/M. - Ber-
l i n - W i e n 1981, S. 300.
42 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

weniger als sieben Aufforderungen russischer Generale, sich den vorrük-


kenden Truppen anzuschließen oder wenigstens Neutralität zu erklären.
Doch erst Ende Dezember hielt er die politisch-militärische Konstellation
für günstig genug, auf die Angebote einzugehen. Den Vorwand lieferte die
Tatsache, daß russische Truppen unter General Diebitsch seinem Korps den
weiteren Rückzugsweg vorübergehend verlegt hatten; ausschlaggebend war
zweifellos, daß York die Abschrift eines Briefes des Zaren in Händen hielt,
in dem dieser am 18. Dezember erklärt hatte, die Waffen nicht niederzule-
gen, bevor Preußen auf einen territorialen Status zurückgeführt worden sei,
der etwa demjenigen von 1806 entspreche. 30 Yorks Entscheidung für den
Bruch mit Frankreich war faktisch am 26. Dezember gefallen, und zwischen
den Soldaten kam es zu ersten Verbrüderungsszenen, als ein am 27. Dezem-
ber eintreffender Brief des Königs, in dem dieser „Mein und des Kaisers
von Frankreich engverbundenes Interesse" betonte, das prinzipielle Fest-
halten am französischen Bündnis signalisierte, York aber ohne klare Instruk-
tionen ließ. Nach drei Tagen schwerer innerer Kämpfe, zahlreichen Kon-
ferenzen mit seinen Offizieren und nicht abreißenden Kontakten zu Die-
bitsch fiel die Entscheidung: In der Mühle von Poscherun bei Tauroggen
verhandelten und unterzeichneten am Vormittag des 30. Dezember 1812
Diebitsch, begleitet von Clausewitz und Dohna, und York, begleitet von
Röder und Seydlitz, die denkwürdige Vereinbarung, die als Konvention von
Tauroggen bekannt und berühmt geworden ist.
Alle Versuche, auch dem König einen Anteil an diesem folgenreichen
Entschluß zuzuschieben, gehören in den Bereich der Hohenzollernlegende. 31
Seit dem 27. Dezember war die Entscheidung über den einzuschlagenden
Weg nur noch eine Gewissensfrage Yorks. Er beantwortete sie „mit dem
Bewußtsein, über das Schicksal seines Vaterlandes, ja Europas zu entschei-
den" und handelte „ohne Autorisation, eigenmächtig und wenn nicht gegen
die ausdrückliche, so doch gegen die wahrscheinliche Willensmeinung des
Königs" (Droysen, 1851). York „nahm das Recht zum selbständigen Han-
deln, ja zum Ungehorsam in Anspruch; er stellte die patriotisch-nationale
Legitimität höher als die dynastisch-militärische Autorität und bestimmte
damit ein Stück Weltgeschichte" (Nipperdey, 1983). Die eindringlichsten
Zeugnisse für diese Haltung stellen noch immer die beiden Briefe dar, die
York am 30. Dezember 1812 und am 3. Januar 1813 an Friedrich Wilhelm III.
richtete - in der Überzeugung, die Pflicht gehabt zu haben, „diese nie
wieder zurückkehrenden Verhältnisse zu benutzen", ungeachtet des persön-
lichen Risikos im Falle einer königlichen Mißbilligung seines Vorgehens,
denn „jetzt oder nie ist der Moment, Freiheit, Unabhängigkeit und Größe

30 Mitgeteilt von J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von
Wartenburg... (21851-1852) [ 1 0 7 ] , B d . 1 , S. 3 4 1 .
31 Vgl. Walter von ELZE, Der Streit um Tauroggen, Breslau 1926, passim. Knappe
Zusammenfassung, nicht ohne Polemik, bei P. STULZ, Fremdherrschaft und
Befreiungskampf... ( 1 9 6 0 ) [ 1 0 5 ] , S. 188-191.
III. Preußen und das napoleonische System 43

wieder zu erlangen, ohne zu große und zu blutige Opfer bringen zu müs-


sen". 3 2
Die sieben Artikel der Konvention sahen in der Hauptsache vor, dem
preußischen Korps, das vorübergehend neutralisiert wurde, einen zwischen
Memel, Tilsit und Kurischem Haff liegenden, ebenfalls neutralisierten Land-
strich zuzuweisen, den allerdings russische Truppen durchqueren durften.
Alle Abmachungen standen unter dem Vorbehalt der königlichen Geneh-
migung. Sollte sie verweigert werden, durfte das preußische Korps frei
abziehen, aber nicht vor dem 1. März gegen Rußland eingesetzt werden. 33
Die Konvention von Tauroggen zerriß das Land in zwei Teile. In Ost-
preußen wurde sie von den Truppen, von der Administration und der
Bevölkerung mit Jubel begrüßt und vielerorts als Signal verstanden, auf
dem bereits eingeschlagenen Weg zur allgemeinen Erhebung fortzufahren
und den Franzosen, wo immer es möglich war, durch bewaffneten oder
passiven Widerstand entgegenzutreten. Dagegen konnte Wittgenstein, der
russische Oberbefehlshaber, seine York gegebenen Zusagen nicht in vollem
Umfang einhalten: Die Angaben über die Truppenstärke erwiesen sich als
übertrieben, und der Vormarsch nach Ostpreußen erfolgte so langsam, daß
Marschall Murat und seine Generäle Macdonald und Ney Zeit fanden, die
noch verbliebenen etwa 20.000 Mann zu sammeln und sie in einem geord-
neten, kaum gestörten Rückzug zur Weichsel zurückzunehmen. So war,
trotz der Wiedergewinnung Königsbergs am 5. Januar, das erste Ziel, das
York durch die Konvention erreichen wollte, gründlich verfehlt worden.
Da jetzt sogar eine militärische Schlappe der Russen denkbar war, begann
sich York als Gefangener seiner eigenen Konvention zu fühlen und zu
überlegen, „ob eine solche Lage der Dinge nicht erfordern möchte, auch
noch einen zweiten Schritt zu tun". 3 4 Seit dem 8. Januar ließ er Königsberg
und Umgebung von Truppen seines Korps besetzen, sicher auch in demon-
strativer Absicht, weil die Russen den preußischen Truppen den Einzug in
die ihnen zugesagte Stadt Memel verwehrten.
Am 10. Januar kamen Nachrichten aus Berlin: Friedrich Wilhelm habe
die Konvention verworfen und das Kommando dem General Kleist über-
tragen, der York verhaften und das Korps den Franzosen zuführen solle.
Zur Beschwichtigung Napoleons seien der Fürst Hatzfeld sowie die beiden
Unterzeichner des Februarvertrages, Krusemarck und Beguelin, nach Paris
geschickt worden. 35 Um York, dessen Reaktion sich schwer voraussagen
ließ, auf jeden Fall von seinen Truppen zu trennen, wurde ihm durch einen
Sonderkurier, den Rittmeister v. Schack, nahegelegt, sich der drohenden

32 Beide Briefe bei J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von
Wartenburg... ( 2 1851 - 1 8 5 2 ) [107], Bd. 1, S. 3 5 9 und 3 6 7 - 3 6 9 .
33 G.F. de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil... [ s . o . Anm. 6), Bd. 1, S. 5 5 6 f .
34 York an Bülow am 5. I. 1813; Auszug bei J. G. DROYSEN, Das Leben des
Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg... ( 2 1851 - 1852) [107], Bd. 1, S. 392.
35 Hermann ONCKEN, Die Sendung des Fürsten Hatzfeld nach Paris, Januar bis
M ä r z 1813. Urkundliche Mitteilungen, in: DRd, Bd. 2 4 (1899), passim.
44 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Verhaftung durch die Flucht ins russische Hauptquartier zu entziehen. 36


Während Schack am 11. Januar in Königsberg eintraf, erreichte der Major
v. Natzmer, der die Absetzungsbefehle zu überbringen hatte, nicht sein Ziel:
Wittgenstein verweigerte ihm die Erlaubnis, von Heilsberg aus zum preu-
ßischen Korps weiterzureisen. Da York auf diese Weise ohne amtliche
Mitteilung blieb und sich Kleist seinem Chef gegenüber loyal verhielt,
entschloß er sich, den königlichen Befehl nicht zu beachten. Hatte man die
Konvention als einen Akt praeter legem ansehen können, so handelte es
sich bei dem jetzigen „zweiten Schritt" zweifellos um eine Aktion contra
legem: „Mit blutigem Herzen zerreiße ich die Bande des Gehorsams und
führe den Krieg auf meine eigene Hand. Die Armee will den Krieg gegen
Frankreich, das Volk will ihn, der König will ihn, aber der König hat keinen
freien Willen. Die Armee muß ihm diesen Willen frei machen. Ich werde
binnen kurzem mit 50.000 Mann bei Berlin und an der Elbe sein. An der
Elbe werde ich zum König sagen: hier, Sire, ist Ihre Armee und hier ist
mein alter Kopf..." 3 7
Die Frage, ob in der Verwerfung der Konvention von Tauroggen und der
Absetzung Yorks nur Täuschungsmanöver des in seiner Hauptstadt von
12.000 französischen Soldaten umringten Königs zu sehen sind, ist umstrit-
ten und aufgrund der Quellenlage nicht eindeutig zu beantworten. 38 Eine
„planmäßige Doppelpolitik des Hofes" zu behaupten oder von dem Ent-
schluß des Königs zu sprechen, den Schritt Yorks „insgeheim zu genehmi-
gen", 3 9 entspricht kaum der zaudernden und ängstlichen preußischen Politik
jener Wochen. Österreich, nicht Rußland war der favorisierte Bündnispart-
ner. Gegen einen innerlich längst vollzogenen Frontwechsel spricht auch,
daß der König nach seiner am 22. Januar erfolgten Übersiedlung in das von
den Franzosen nicht kontrollierte Breslau einem Entschluß noch wochenlang
auswich. Am 15. Februar notierte die Gräfin Voß in Berlin: „Man sagt, die
Russen gehen vorwärts; ach, wenn man nur bei uns den Entschluß wagte,
jetzt auf die rechte Seite überzugehen", und zwei Tage später: „Aber ach,
wenn man denkt, daß man noch immer nicht weiß, auf welcher Seite wir
fechten werden!" 4 0 Schließlich darf nicht übersehen werden, daß York zwar

36 Diese wenig beachtete Mitteilung machte Theodor SCHIEMANN, Zur Würdigung


der Konvention von Tauroggen, in: H Z , Bd. 84 (1900), S. 210 - 243, hier S. 236.
37 York an Bülow am 13. I. 1813, publiziert von J. G. DROYSEN, Das Leben des
Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg... ( 2 1851 - 1852) [107], Bd. 1, S. 401.
38 Umstritten ist z. B. die Glaubwürdigkeit einer von G. H. PERTZ, Das Leben des
Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau... ( 1 8 6 4 - 1 8 8 0 ) [118], Bd. 3,
S. 735 —737, 1869 publizierten Erinnerungsnotiz des damals 15jährigen Prinzen
Wilhelm; vgl. W. ONCKEN, Das Zeitalter der Revolution... (1884/86) [19], Bd. 2,
S. 552 (positiv), oder P. STULZ, Fremdherrschaft und Befreiungskampf... (1960)
[105], S. 192 (negativ).
39 Die Zitate stammen von W. ONCKEN, Das Zeitalter der Revolution... (1884/86)
[ 1 9 ] , B d . 2 , S. 5 5 3 , u n d H . v o n TREITSCHKE, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . (1879-1894)
[27],Bd. 1, S. 4 0 9 .
40 Sophie Marie Gräfin von Voss, Neunundsechzig Jahre am Preußischen Hofe.
Aus den Erinnerungen der Oberhofmeisterin, Leipzig 1876, S. 173.
III. Preußen und das napoleonische System 45

später, nachdem sein militärisches Verhalten von einer Kommission über-


prüft worden war, rehabilitiert und in den Freiheitskriegen mit der Führung
eines Armeekorps betraut wurde, daß ihm der König aber seine „Eigen-
mächtigkeit" (Hintze), seinen „Disziplinbruch" (Schoeps) im Grunde nie
verziehen hat; auch die Konvention von Tauroggen ist später niemals
amtlich anerkannt worden, sie galt als eine Privathandlung Yorks, nicht als
Staatsakt. 4 1
Das Zogern des preußischen Königs, sich für die russische Option zu
entscheiden, 42 bewog den Zaren, militärisch zurückhaltender zu operieren
und nicht über die Weichsel vorzudringen. Das eröffnete, wie York mit
Recht befürchtete, den Franzosen die Möglichkeit, neue starke Truppen-
verbände zwischen Weichsel und Oder bereitstellen zu können. Deshalb
entschloß er sich, den Rahmen der Vereinbarung von Tauroggen sprengend,
sein Korps zur Deckung und Unterstützung der russischen Streitkräfte nach
Westen auf Elbing und Marienburg vorrücken zu lassen. Dieser Befehl vom
21. Januar bedeutete nicht nur so viel wie „eine tatsächliche Kriegserklä-
rung", 4 3 er stellte auch so etwas wie eine Flucht nach vorn dar. Seitdem er
die ihm noch am 20. Dezember übertragenen Befugnisse des Generalgou-
verneurs der Provinz von Königsberg aus wahrnahm, hatte er Widerstand
und Mißtrauen gespürt — gegen den landfremden erzkonservativen Re-
formgegner, gegen den, wie man hörte, abgesetzten General, gegen den vor
jeder allgemeinen Insurrektion der Provinz zurückschaudernden märkischen
Adligen, aber auch gegen den Unterzeichner der Konvention von Tauroggen,
der die so vielversprechend eingeleitete neue Politik durch sein zögerndes
Warten auf ein Wort des Königs um die Früchte des Erfolges zu bringen
drohte.
Aber der König schwieg weiter. Unbeantwortet ließ er auch eine Adresse,
die eine Versammlung von 29 ostpreußischen Notabein am 11. Januar an
ihn gerichtet hatte: Obwohl es an sich „für Völker nicht geziemend ist,
anders als mit stillem Vertrauen das Lenken der politischen Angelegenheiten
von ihrem Regenten zu erwarten", forderte man den König — zwischen
den Zeilen zwar, aber deutlich genug — zur Entscheidung für das russische
Bündnis auf. 4 4 Vielleicht ist eine indirekte Antwort darin zu sehen, daß die

41 Otto HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer
Geschichte, Berlin 1915 (ND Moers 1979/80), S. 469.
42 Die Behauptung Natzmers, er habe bereits am 1 3 . 1 . dem Zaren eine Offensiv-
und Defensivallianz mit Preußen angeboten (Gneomar Ernst von NATZMER [Hg.],
Unter den Hohenzollern. Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generals Oldwig
v. Natzmer, Bd. 1, Gotha 1887, S. 92 f.), läßt sich durch andere Quellen nicht
stützen. Auch J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von
Wartenburg... ( 2 1 8 5 1 - 1 8 5 2 ) [107], Bd. 1, S. 454, erwähnt diesen nur mündlich
erteilten Geheimauftrag, allerdings ohne jeden Beleg. Ein förmliches Bündnisan-
gebot widerspräche der Regierungspolitik. Vgl. P. STULZ, Fremdherrschaft und
Befreiungskampf... (1960) [105], S. 194, Anm. 722.
43 J . G . DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg...
( 2 1851 - 1 8 5 2 ) [107], Bd. 1, S. 407.
44 A . a . O . , S. 4 0 9 f. Vgl. auch R . IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 379.
46 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Regierung in Berlin jetzt erst, nämlich am 19. Januar, in den „Berlinischen


Nachrichten" die gegen York gerichteten Befehle bekanntmachen ließ, mit
denen M a j o r v. Natzmer bereits am 5. Januar nach Ostpreußen abgefertigt
worden war. 4 5 Als diese Zeitungen in Königsberg am 24. Januar anlangten,
hatte sich die dortige Lage erheblich verändert: Am 22. Januar war der
Freiherr vom Stein in der Stadt eingetroffen, versehen mit einer umfassenden
Vollmacht des Zaren, die ihn ermächtigte, in Ostpreußen die Militär- und
Ziviladministration an sich zu ziehen, als ob es keinerlei preußische Behör-
den mehr dort gäbe. Die Hoffnungen Yorks und der Spitzenbeamten Au-
erswald, Schön und Dohna, Stein würde sich dieser Vollmacht zurückhal-
tend bedienen, schwanden rasch. Herrisch und eigenmächtig suchte er die
militärischen und finanziellen Mittel der Provinz zu mobilisieren, die Armee
zu stärken, York zum Losschlagen zu bewegen und eine allgemeine Volks-
bewaffnung durchzuführen — dies alles legalisiert durch einen einzuberu-
fenden ostpreußischen Landtag, zu dem freilich niemand anderes als der
König selbst einladen durfte. 4 6
Unbekümmert und unbeeindruckt von allen Einwänden, begann Stein in
Ostpreußen im Namen des Zaren zu regieren. An den preußischen Behörden
vorbei befahl er die Aufhebung der Kontinentalsperre und aller Folge-Edikte
(26. Januar), verfügte die Einführung des russischen Papiergeldes und trieb
von der Königsberger Kaufmannschaft 300.000 Taler für das Yorksche
Korps ein. Die Landesbehörden reagierten verärgert auf diese „Administra-
tion für russische Z w e c k e " ; um nicht eine auch nur vorübergehende russi-
sche Verwaltungshoheit anerkennen zu müssen, entschlossen sich York, der
Oberpräsident Auerswald und die Regierungspräsidenten Wissmann und
Schön zu einer Politik des vermittelnden Widerstandes.
Die Position Yorks wurde in diesen Tagen durch zwei Ereignisse gestärkt:
Erstens traf am 26. Januar M a j o r Thile aus Berlin ein, um York (und nicht
etwa Kleist!) die Meldung zu überbringen, daß der König entschlossen sei,
unverzüglich nach Breslau abzureisen. Das ermutigte York, am 28. Januar
in der Königsberger Zeitung bekanntzugeben, daß ihn ein Absetzungsbefehl
nicht erreicht habe und er also weiter amtieren werde, weil „im preußischen
Staate eine Zeitung bekanntlich kein offizielles Staatsblatt ist, und bis jetzt
noch kein General seine Verhaltungsbefehle durch die Zeitungen erhalten
h a t " . 4 7 Zweitens hatte man sichere Nachrichten, daß sich Friedrich Wilhelm
und die königliche Familie in Breslau aufhielten.

45 Berlinische N a c h r i c h t e n , 19. I. 1813. Die Gründe für diese späte Publikation sind
nicht klar. W. ONCKEN, Das Zeitalter der R e v o l u t i o n . . . ( 1 8 8 4 / 8 6 ) [19], Bd. 2 ,
S. 5 5 6 , meint, d a ß für die Franzosen in Berlin d a d u r c h der „wolkenlose H i m m e l
unbedingter Vertrauensseligkeit hergestellt" werden sollte, damit der König drei
Tage später unbehelligt nach Breslau reisen könnte.
46 Die Vollmacht Steins v o m 6 . / 8 . I. 1 8 1 3 ist publiziert bei Freiherr v o m STEIN,
Briefe und amtliche Schriften... [72], Bd. 4 , N r . 6, S. 13 f. Z u den Vorgängen vgl.
R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 3 8 0 f f .
47 Abdruck der B e k a n n t m a c h u n g bei J . G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls
Grafen York von Wartenburg... (21851 - 1 8 5 2 ) [ 1 0 7 ] , B d . 1, S. 4 2 2 .
III. Preußen und das napoleonische System 47

Stein fühlte sich dadurch noch mehr beflügelt, den nun handlungsunfä-
higen König durch eine von Ostpreußen ausgehende Volkserhebung auf-
zurütteln und mitzureißen. Jetzt ging es ihm vor allem um die auf dem
Landtag zu beschließende Volksbewaffnung. Nach wenigen Tagen war er
mit York und den preußischen Spitzenbeamten völlig zerstritten; Schön fand
ihn am 3. Februar „in hoher Spannung, scheltend und tobend auf alle
Autoritäten in Königsberg". 4 8 Vor allem seinem alten Mitarbeiter Schön
war es zu danken, daß Stein schließlich einlenkte und die vermittelnden
Vorschläge, die auf die Wahrung der Verfassungsgemäßheit zielten, akzep-
tierte. So wurde der auf Wunsch Steins zum 5. Februar einberufene Landtag
zu einer weniger formellen „Landesversammlung" umdefiniert. Die Eröff-
nungssitzung leitete weder Schön (1. Vorschlag Steins) noch York (2. Vor-
schlag Steins) noch Stein (Vorschlag Yorks), sondern der Stellvertreter des
erkrankten Oberpräsidenten, der Geheime Justizrat v. Brandt. Stein erklärte
sich bereit, auf der Landesversammlung nicht zu erscheinen, den Deputier-
ten aber in einer Eröffnungsadresse mitzuteilen, daß er diese Versammlung
veranlaßt habe, damit sie „über die Auswahl der Mittel zur allgemeinen
Verteidigung des Landes" berate. Er bäte, die „Anerbieten und Vorschläge
verfassungsmäßig zu leiten und solche denen geordneten Behörden vorzu-
legen". 4 9 Schön konnte Stein sogar dazu bewegen, Königsberg zu verlassen:
Am selben Tag, als die Deputierten die entscheidenden Beschlüsse faßten,
reiste Stein, der wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung genommen hatte,
ins russische Hauptquartier ab. Schön notierte, „daß er mir niemals größer
als in dem Momente der Resignation erschienen ist". 5 0
Auf ausdrücklichen Wunsch der Landesversammlung erschien während
der ersten Sitzung am 5. Februar York, von den 64 Teilnehmern stürmisch
begrüßt. 51 „Nicht Stein als Statthalter des Zaren, sondern York als Statt-
halter des Königs war der Name der herrschenden Autorität". 5 2 Die von
ihm erbetenen Vorschläge zur Bewaffnung des Landes und zur Verstärkung
der Armee unterbreitete er noch am selben Abend einer siebenköpfigen
Delegation der Versammlung. Sie basierten auf einem von Clausewitz und
Graf Alexander Dohna ausgearbeiteten Entwurf, fanden allgemeine Zustim-
mung und wurden — nach einigen Vorberatungen — bereits in der zweiten

48 Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von
Schön, 6 Bde., H a l l e - B e r l i n 1 8 7 5 - 1 8 8 3 , hier Bd. 1, S. 91.
49 Mitgeteilt von J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von
Wartenburg... ( 2 1851 - 1852) [107], Bd. 1, S. 429.
50 Aus den Papieren... ( 1 8 7 5 - 1 8 8 3 ) [s.o. Anm. 48], Bd. 1, S. 96.
51 A. BEZZENBERGER (Hg.), Urkunden... (1894) [100], passim; Robert MÜLLER,
Urkunden zur Geschichte der ständischen Versammlung in Königsberg im Januar
und Februar 1813 betr. die Errichtung der Landwehr, in: A P M , Bd. 13 (1876),
S. 3 2 4 - 3 4 2 , 4 3 6 - 4 6 5 , 6 0 0 - 6 4 2 , Bd. 14 (1877), S. 1 0 1 - 1 6 1 , 3 1 8 - 3 3 9 . - Von
den gewählten Deputierten vertraten 2 4 die Rittergutsbesitzer, 18 die Städte und
13 die Köllmer. Dazu kamen die acht Mitglieder des ständischen Komitees und
dessen Syndicus als Protokollführer.
52 R. IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 383.
48 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Sitzung am Sonntag, dem 7. Februar, einmütig verabschiedet. Von York


tags darauf bestätigt, wurde der Beschluß am 9. Februar zur Übermittlung
und Genehmigung an den König ausgefertigt. „Nur was unser allgeliebter
Landesvater will, wollen wir; nur unter seiner erhabenen Leitung Preußens
und Deutschlands Schmach rächen", hieß es im Begleitschreiben. 53 Da aber
noch einige Bedenken des Oberpräsidenten auszuräumen waren, konnte
Graf Ludwig Dohna erst am 13. Februar nach Breslau abreisen, um dem
König die Beschlüsse mitzuteilen: (1) Aushebung einer Landwehr von 20.000
Mann, (2) Einrichtung einer Reservetruppe von erst 10.000, dann 13.000
Mann, (3) Landwehrpflicht für alle 18- bis 45jährigen mit Ausnahme der
Lehrer und Geistlichen, aber mit der Möglichkeit der Stellvertretung,
(4) Bildung eines Landsturms aus den 18- bis 60jährigen, sobald der Feind
die Weichsel überschreite, (5) Aufstellung eines 1.000 Mann starken Regi-
ments „National-Kavallerie" aus Freiwilligen, (6) Errichtung eines „Frei-
bataillons" von 700 Mann als Bildungsschule für angehende Offiziere.
Zur eigenmächtigen Selbstbewaffnung der Provinz gesellte sich die ver-
änderte militärische Situation: Das Yorksche Korps, inzwischen wieder auf
20.000 Mann verstärkt, rückte seit dem 24. Januar auf die Weichsellinie
vor; eine preußische Batterie nahm demonstrativ an der Belagerung der
Festung Pillau teil, die am 8. Februar kapitulierte. Der erste gemeinsame
Sieg war errungen — gegen einen Gegner, mit dem Preußen noch immer
verbündet war. Genaugenommen, waren all diese Maßnahmen Akte der
Rebellion. Dem entsprach, daß die Landesversammlung ungeachtet ihres
eigenen Genehmigungsvorbehalts bestimmte, „die abgefaßten Beschlüsse
schon jetzt in Vollziehung zu bringen". 5 4
Während es über Zielsetzung und Stoßrichtung der politischen und mi-
litärischen Aktivitäten im ostpreußischen Gebiet keinen Zweifel gab, sah
es mit den vom König in Breslau ausgehenden Initiativen anders aus. Die
Berufung Scharnhorsts in die am gleichen Tage gebildete (Auf-)Rüstungs-
kommission (28. Januar), die Einleitung einer allgemeinen Truppenverstär-
kung (1. Februar), der berühmte Aufruf an die 17- bis 24jährigen zur
Bildung freiwilliger Jäger-Abteilungen (3. Februar, publiziert am 8. Februar)
und die fast durchgängige Aufhebung aller Befreiungen vom Wehrdienst (9.
Februar) sagten über die Bündnislage überhaupt nichts aus. Man fuhr noch
immer zweigleisig. Einerseits war am 9. Februar Oberst v. d. Knesebeck mit
einem Vertragsentwurf ins russische Hauptquartier abgereist, andererseits
wies der König noch am 13. Februar die preußischen Unterhändler in Paris
an, bei Napoleon wegen der Herbeiführung eines allgemeinen Friedens
erneut vorstellig zu werden.
Währenddessen wuchs die Erregung überall im Lande in kaum vorstell-
barer Weise. Das ostpreußische Beispiel wirkte ansteckend: Bürgermilizen
wurden gebildet, Sabotage- und Widerstandsaktionen gegen die abziehenden
Franzosen häuften sich, zu Tausenden strömten die Freiwilligen nach Bres-

53 R . MÜLLER, Urkunden zur Geschichte... (1876/77) [s. o. Anm. 51], T. 2, S. 112.


54 A . a . O . , T. 1, S. 628.
III. Preußen und das napoleonische System 49

lau, Berlin glich einem Pulverfaß, und fast wäre es dort am 22. Februar zu
einem regelrechten Aufstand gekommen. 55 „Der König", so schrieb der
Baron v. Ompteda am 20. Februar, „ist nicht mehr in der Lage, die
Begeisterung zu unterdrücken, die sich beinahe aller Gemüter bemächtigt
hat. . . Wenn der König sich weigerte, die Mittel zu gebrauchen, die seine
Untertanen entsprechend dem allgemeinen Willen der Nation zu seiner
Verfügung gestellt haben, oder wenn er nur zögert, die Bemühungen zu
unterstützen, die Rußland unternimmt, um die preußische Monarchie wie-
derherzustellen, halte ich die Revolution für unvermeidlich, und wahr-
scheinlich würde die Armee selbst das erste Beispiel und das erste Signal
geben..." 5 6 So war es in der Tat.
Ohne die Antwort Napoleons auf die letzten preußischen Vorschläge
abzuwarten, entschloß sich Friedrich Wilhelm am 23. Februar zum Bruch
mit Frankreich. 57 Hardenberg bereitete die in Berlin zurückgebliebene Ober-
regierungskommission am gleichen Tage auf „un très prochain changement
du système" vor und beklagte die Politik Napoleons: „...il nous jette de
force dans le parti opposé..." Gleichzeitig befahl eine Kabinettsorder, den
auf Betreiben der Franzosen am 19. Februar gestoppten Abmarsch der
Freiwilligen aus Berlin nicht länger zu behindern. 58
Am dringendsten war nun der Abschluß des Bündnisses mit Rußland,
über das Knesebeck, an dessen Stelle die Russen viel lieber Boyen oder
Scharnhorst gesehen hätten, seit dem 16. Februar im Hauptquartier zu
Klodawa verhandelte. 59 Gewiß hat er durch manche Eigenmächtigkeiten
und mangelnde Flexibilität die Gespräche in die Länge gezogen. Vorzuwer-
fen ist ihm insbesondere, daß er es versäumt hat, mit Breslau in ständiger
Fühlungnahme zu bleiben, doch darf man bei aller Kritik dreierlei nicht
übersehen: erstens versuchte Knesebeck von dem Vertragsentwurf, der in
seiner Erstfassung für die Russen nicht akzeptabel war, soviel wie möglich
zu retten, zweitens entsprach seine zögernde Verhandlungsführung genau

55 Zusammenfassend (mit der älteren Lit.) P. STULZ, Fremdherrschaft und Befrei-


ungskampf... (I960) [105], S. 2 3 5 - 2 5 9 .
56 Friedrich von OMPTEDA, Politischer Nachlaß des hannoverschen Staats- und
Kabinetts-Ministers Ludwig von Ompteda aus den Jahren 1804 bis 1813, 3 Bde.
( = Ders., Z u r deutschen Geschichte in den Jahrzehnten vor den Befreiungskrie-
gen, Bde. 2 - 4 ) , Jena 1869, hier Bd. 3, S. 25 (Übers, vom Verf.).
57 So übereinstimmend die ältere und neuere Forschung, z. B. M . LEHMANN, Scharn-
horst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 5 1 4 ; P. S T U L Z , F r e m d h e r r s c h a f t und Befrei-
u n g s k a m p f . . . ( 1 9 6 0 ) [ 1 0 5 ] , S . 2 5 9 ; R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] ,
S. 3 9 0 .
58 Die Zitate aus dem unveröffentlichten Schreiben Hardenbergs an die Oberregie-
rungskommission vom 23. II. nach P. STULZ, Fremdherrschaft und Befreiungs-
kampf... (1960) [105], S. 259, Anm. 1103 und 1105. Z u r K O a. a. O., Anm. 1106,
und M . LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 5 1 3 f .
59 Ludwig Karl AEGIDI, Die Sendung Knesebecks in das russische Hauptquartier
im Februar 1813; in: H Z , Bd. 16 (1866), S. 2 6 9 - 293. Ausführliche Analyse bei
W. ONCKEN, Österreich und Preußen... (1879) [104b], Bd. 1, S. 2 4 6 f f . Knapper:
Ders., Das Zeitalter der Revolution... (1884/86) [19], Bd. 2, S. 5 8 3 - 5 9 2 .
50 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

der bisher von der Regierung verfolgten Linie, und drittens stellte Harden-
berg noch am 21. Februar seinem Unterhändler frei, vom König unterzeich-
nete Marschbefehle an drei Generale weiterzuleiten oder nicht — „...vous
jugerez à propos d'après les circonstances..." 6 0
Daß seine Verhandlungsführung seit dem 23. Februar obsolet geworden
war, konnte Knesebeck erst Tage später erfahren; daß die Russen die Geduld
verloren hatten, erfuhr man in Breslau am 25. Februar, als der Freiherr
vom Stein und der bevollmächtigte Staatsrat v. Anstett mit einem russischen
Gegenentwurf eintrafen. Während Stein, durch ein Nervenfieber für mehrere
Tage ans Bett gefesselt, ein zweites Mal ein von ihm herbeigesehntes Ereignis
von historischer Tragweite verpaßte, billigten der König und sein Kanzler
am 26. Februar den russischen Vertragsentwurf ohne den leisesten Versuch
einer Abänderung — es war nunmehr von höchster Dringlichkeit, „...de ne
plus prolonger l'incertitude et de terminer la négociation". 6 1 Am 27. Februar
brachte Hardenberg in Breslau mit Anstett, am 28. Scharnhorst in Kaiisch
mit Marschall Kutusow das preußisch-russische Bündnis unter Dach und
Fach.
Der Vertrag von Kaiisch, 62 eine Offensiv- und Defensivallianz, sah die
Wiederherstellung Preußens in seinen „statistischen, geographischen und
finanziellen Verhältnissen" von Anfang 1806 vor, also ohne Hannover. Der
Zar garantierte „la vieille Prusse" ( = Ost- und Westpreußen) sowie ein
Gebiet, das diese Provinz künftig mit Schlesien verbinden sollte ( = Teil des
derzeitigen Herzogtums Warschau). Preußen verpflichtete sich, eine „milice
nationale" ( = Landwehr) aufzustellen und alle verfügbaren Kräfte für den
Krieg einzusetzen. Erstes Ziel der militärischen Operationen, für die Ruß-
land 150.000 und Preußen 80.000 Mann aufzubringen hatten, war die
Vertreibung der Franzosen aus Norddeutschland. Wegen der Erschöpfung
der russischen Truppen und zur möglichst ungestörten Durchführung der
vorbereitenden Maßnahmen wurde der Vertrag vorerst geheimgehalten.
Der König blieb skeptisch. Angesichts der recht dürftigen Zusagen fühlte
er sich übervorteilt und meinte, dem Drängen der Patrioten zu schnell
nachgegeben zu haben. Dementsprechend unfreundlich fiel der Empfang
des ostpreußischen Emissärs Graf Ludwig Dohna aus. Die ironische Frage,
ob „Herr von York schon eine Bürgerkrone trage", entsprach in ihrem
Mißtrauen gegen die Ereignisse in Ostpreußen der kurz zuvor ergangenen
Aufforderung an York, „behufs eines kriegsrechtlichen Erkenntnisses" die
militärisch ausschlaggebenden Gründe für den (doch zuvorderst politisch
motivierten!) Abschluß der Konvention von Tauroggen darzulegen. 63 Da

60 D a z u M . LEHMANN, S c h a r n h o r s t . . . ( 1 8 8 6 / 8 7 ) [ 1 1 2 ] , B d . 2 , S. 5 0 8 , A n m . 1.
61 Hardenberg an Knesebeck am 27. II. (L.K. AEGIDI, Die Sendung Knesebecks...
[s.o. Anm. 59], S. 288).
62 Vertragstext: G.F. de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 3,
Göttingen 1818, S. 2 3 4 - 2 3 8 . Häufig wird in der Lit. fälschlich der 26./27. II. als
Vertragsdatum genannt.
63 Vgl. J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Warten-
burg... ( 2 1851 —1852) [107], Bd. 2, S. 1 2 - 1 4 .
III. Preußen und das napoleonische System 51

Friedrich Wilhelm Yorks Tat weder politisch noch verfassungsrechtlich


billigte, war der militärische Bereich der einzige, auf dem der König dem
eigenmächtigen General einen Schritt entgegenzukommen bereit war, wenn
er diesen, woran angesichts der allgemeinen Stimmung kein Zweifel sein
konnte, ohne Gesichtsverlust rehabilitieren wollte. Während die von York
„mit einiger Sophistik" verfaßte Rechtfertigungsschrift noch von einer drei-
köpfigen Kommission geprüft wurde, erreichten den General am 6. März
die Meldungen über den Vertragsabschluß und mehrere königliche Befehle.
York, dem auch die Truppen der Generale Bülow und Borstell unterstellt
wurden, erhielt das „Oberkommando"; er sollte sich mit Wittgenstein
verständigen, bis zur Oder vorrücken und am 10. März den Fluß über-
schreiten. Am 11. März unterzeichnete der König die Kabinettsorder und
den beigefügten „Armeebefehl", in dem York bestätigt wurde, daß er wegen
der Konvention „in jeder Hinsicht ganz vorwurfsfrei" und zu ihrer Annahme
nur durch die besonderen militärischen Umstände sowie „durch die in jener
Lage sehr vorteilhaften Bedingungen der ihm angetragenen Konvention
bewogen worden" sei. 6 4 York gab die Entscheidung seinen Truppen am
16. März bekannt. Gleichzeitig informierte er sie über das preußisch-russi-
sche Bündnis. Und während am 17. März das Yorksche Korps seinen
umjubelten Einzug in Berlin hielt, übergab Hardenberg in Breslau dem
französischen Gesandten St. Marsan die Note, die der Kriegserklärung
gleichkam. Das gleiche Datum trugen die berühmten Aufrufe, in denen sich
der König „An Mein Volk" und „An Mein Kriegsheer" wandte. Die eben
jetzt aus Paris signalisierte Kompromißbereitschaft Napoleons, 65 auf die
Friedrich Wilhelm monatelang gewartet hatte, kam zu spät. Die Zeit des
Lavierens war vorbei, die Freiheitskriege begannen.

3. Der Beginn der Freiheitskriege

Sowohl in der westlichen als auch in der marxistisch orientierten Geschichts-


schreibung werden die im Frühjahr 1813 beginnenden militärischen Ausein-
andersetzungen überwiegend als „Befreiungskrieg(e)" bezeichnet. Der Be-
griff „Freiheitskrieg(e)", der den Zeitgenossen und auch der frühen Histo-
riographie durchaus geläufig war, hat sich demgegenüber, auch wenn er
gelegentlich gebraucht wird, nicht durchsetzen können, obwohl er die
Wünsche und Erwartungen zahlreicher Patrioten besser umschreibt: Sie
erhofften sich von der Befreiung des Vaterlandes zugleich eine Erweiterung
der individuellen Freiheitssphäre. Erst nach 1815 wurde die Bezeichnung

64 A . a . O . , S. 21. Die von W. ONCKEN, Das Zeitalter der Revolution... (1884/86)


[19], Bd. 2, S. 571, bereits für den 12. II. behauptete Rehabilitierung Yorks ist
unrichtig. Angesichts eines befürchteten französischen Angriffs auf Schlesien war
ein derartiger Armeebefehl für York zwar entworfen, aber nicht abgeschickt
worden. Einzelheiten bei M . LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2,
S. 5 0 4 und Anm.
65 A . a . O . , S. 517.
52 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

„Befreiungskrieg" üblich - „weil Friedrich Wilhelm das Wort Freiheit nicht


liebte und weil er entgegen dem klaren Wortlaut der Proklamation von
Kaiisch den Wunsch hegte, daß seine Untertanen mit der Beseitigung des
napoleonischen Joches das Ziel des Krieges erfüllt sehen möchten". 6 6 Da
die Enttäuschung über die ausbleibende Liberalisierung während der Kriegs-
zeit noch kaum eine Rolle spielte und erst Jahre später zur Gewißheit
wurde, ist es gerechtfertigt, an dem umfassenderen Terminus „Freiheits-
kriege" als dem treffenderen festzuhalten.
Unmittelbar nach Abschluß der preußisch-russischen Geheimallianz be-
gannen Scharnhorst und Kutusow in Kaiisch mit den Beratungen über die
Kriegsplanung. Ihr im sowjetischen Militärhistorischen Archiv vorhandener
Briefwechsel zeigt, daß die häufig behaupteten Gegensätzlichkeiten ins Reich
der Legende zu verweisen sind: Nicht nur, daß der Vormarsch an die Elbe
einmütig beschlossen wurde; 67 zwischen Scharnhorst und Kutusow, die „in
grundlegenden politischen Urteilen weitgehend übereinstimmten", entstand
auch „ein enges persönliches Vertrauensverhältnis". 68 Offensichtlich wurde
verabredet, mit den Hauptoperationen nicht vor dem 10. März zu beginnen,
da die preußische Kriegserklärung wegen des unbefriedigenden Rüstungs-
standes erst für Mitte März zu erwarten war. 6 9 Daß der überängstliche
König seinen Generalen noch am 8. März einschärfte, ja nicht vor dem
11. März die Oder zu überschreiten und den Ausbruch der Feindseligkeiten
wenn möglich noch länger zu vermeiden, entsprach ganz seinem Tempe-
rament; daß dadurch eine in Kaiisch angeblich vereinbarte weitergehende
Offensive vereitelt worden sein soll, läßt sich nicht belegen. 70 Richtig ist,
daß durch das Zögern der preußischen Regierung wertvolle Wochen ver-
strichen und Napoleon die Möglichkeit erhielt, eine neue Streitmacht zu
versammeln.

66 F. SCHNABEL, Deutsche Geschichte... ( 4 1959) [25], Bd. 1, S. 4 9 7 f . Der Begriff


„Freiheitskriege" findet sich beispielsweise bei J . G. Droysen (1846), H . Beitzke
(1864), J . Laumann (1939), E. Weniger (1959), K . H . Schäfer (1970) und R.
Ibbeken (1970).
67 So schon — im Gegensatz zu späteren Behauptungen bei Oncken u. a. — M .
LEHMANN, S c h a r n h o r s t . . . ( 1 8 8 6 / 8 7 ) [ 1 1 2 ] , B d . 2 , S. 5 6 9 .
68 Fritz STRAUBE, Über die Beziehungen zwischen Kutusow und Scharnhorst im
Befreiungskrieg von 1813, in: Das Jahr 1813. Studien zur Geschichte und Wirkung
der Befreiungskriege, Berlin 1963, S. 113 — 130, hier S. 120.
69 M . LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 5 7 3 ; Heinrich ULMANN,
Geschichte der Befreiungskriege 1813 und 1814, 2 Bde., München — Berlin 1914/
15, hier Bd. 1, S. 246.
70 F. STRAUBE, Über die Beziehungen... (1963) [s. o. Anm. 68], S. 121 f., zitiert diese
Order als Archivalie, obwohl sie längst bekannt ist. Da seine Ausführungen dem
Q u e l l e n a u s z u g bei M . LEHMANN, S c h a r n h o r s t . . . (1886/87) [ 1 1 2 ] , B d . 2 , S. 5 7 4 ,
Anm. 1, in drei Punkten widersprechen, sind hinsichtlich der Interpretation einige
Zweifel anzumelden. Unklar ist auch, welche in Kaiisch beschlossenen Offensiv-
pläne durch diesen Befehl ganz oder teilweise verhindert worden sein sollen
(S. 122). Wie erwähnt, hatte beispielsweise York die Oder am 10. III. über-
schritten.
III. Preußen und das napoleonische System 53

Die Verbündeten setzten zunächst zahlreiche Streifkorps ein. Das waren


kleinere Kavallerieabteilungen, die aus Kosaken und Freischärlern gebildet
wurden und sich weit vor den Hauptarmeen bewegten. Sie sollten der
zivilen Aufstandsbewegung Rückhalt geben und Vorräte und Kriegsmaterial
zu erbeuten suchen. Obwohl Hamburg befreit werden konnte (17./18. März)
und einige Streifkorps bereits westlich der Elbe operierten (Wallmoden:
Hannover; Dörnberg: Celle; Hellwig: Werra; Lützow: Altmark), zeigte sich,
daß diese Verbände, so kühn und heldenhaft sie sich auch schlugen, ohne
die Unterstützung regulärer Truppenteile keine dauerhaften Erfolge erringen
konnten.
Die preußische Heeresverstärkung kam indessen nur langsam in Gang.
Erst Ende Mai war ein großer Teil der neu aufgestellten Verbände einsatz-
fähig. Drei Bereiche sind zu unterscheiden:
1) Der königliche Aufruf vom 3. Februar zur Bildung von Freiwilligen-
Abteilungen (Friedrich Wilhelm: „... ganz gute Idee, aber keiner kom-
men" 7 1 ) hatte eine unerwartete Resonanz. Insgesamt meldeten sich (bis
August 1814) etwa 30.000 junge Leute. Der Freiwilligkeit wurde durch zwei
Bestimmungen nachgeholfen: Wer nicht mindestens ein Jahr gedient haben
würde, konnte späterhin weder befördert noch ausgezeichnet werden; da-
gegen sollten die Freiwilligen „in ihrer dereinstigen Zivildienst-Laufbahn
vorzugsweise berücksichtigt werden". Die Freiwilligen-Bewegung, die Ru-
dolf Ibbeken anhand der in den Stammrollen erfaßten 27.763 Meldungen
erstmals eingehend analysiert hat, 7 2 speiste sich aus allen Schichten der
Bevölkerung:

TABELLE 2
Gesamtzählung der 27.763 Freiwilligen nach militärischen Einheiten

gezählt beruflich erfaßt landschaftlich erfaßt

1. Armeekorps 3.372 2.903 3.372


2. Armeekorps 2.677 2.374 2.624
3. Armeekorps
ohne Lützow 4.788 4.330 4.713
4. Armeekorps 6.764 6.294 6.616
Garde-Regiment 2.839 2.369 2.290
Elbe-westf. Rgt. 3.432 3.244 ca. 3.400
Freikorps Lützow 3.891 3.849 3.821

zusammen 27.763 25.363 = 91,4% 26.836 = 97,0%

Quelle: R. IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 447.

71 F. MEUSEL (Hg.), Friedrich August Ludwig von der Marwitz... ( 1 9 0 8 - 1 9 1 3 )


[90], Bd. 1, S. 548.
72 R. IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 403 - 425 und 4 4 1 - 4 5 0 (Sta-
tistischer Anhang).
54 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

TABELLE 3
Gesamtzählung von 25.363 beruflich erfaßbaren Freiwilligen

gezählt
Berufe
absolut in %

Handwerker 10.299 40,6


Bauern, Ökonomen, Jäger und Förster 3.882 15,3
Tagelöhner und Knechte 3.665 14,5
Studenten und Schüler, gebildete Stände, höhere
Beamte usw. (davon Studenten und Schüler 7% ) 2.994 11,8
Handel (Handlungsgehilfen und Kaufleute) 2.478 9,8
Mittlere und untere Beamte, Sekretäre und
ehemalige Soldaten 2.043 8,0

Quelle: R. IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 447.

Die zählebige Vorstellung von einem Primat der akademischen Jugend


unter den Freiwilligen ist nicht zutreffend. Ihre Begründung lag auch darin,
daß man häufig die Jäger des Freikorps Liitzow zum Maßstab nahm, in
dem die studentische Jugend und auch der brandenburgische Anteil tat-
sächlich stärker vertreten waren. Entgegen früheren Annahmen dürften
nicht viel mehr als 3.000 Freiwillige in der Lage gewesen sein, „sich selbst
kleiden und beritten machen" zu können. 7 3 Die schwarze Montur der
Lützower Jäger wurde gewählt, „weil nur bei dieser Farbe die Kleidungs-
stücke, welche sie schon haben, durch Färben gebraucht werden können".
Ungünstig wirkte sich aus, daß die Wahl der jungen Männer, die durch
Bildung und Verstand „ohne vorherige Dressur gute Dienste leisten und
demnächst geschickte Offiziere und Unteroffiziere abgeben" sollten, auf
wenige Einheiten fiel, etwa auf das Korps Lützow. Entsprechend hoch
waren die Verluste an Offiziersnachwuchs, als das Korps am 17. Juni 1813
fast völlig vernichtet wurde. 7 4
2) Die Aufstellung der Landwehr, in der alle noch nicht anderweitig
dienenden tauglichen Männer bis 40 erfaßt wurden, stieß auf große Schwie-
rigkeiten. Zwar gab es infolge des Krümper-Systems Zehntausende kurz-
gedienter Soldaten, doch es fehlte an der notwendigsten Ausrüstung bis hin
zur Kleidung. Die Kosten — außer für Bewaffnung und Munition — wurden
den Kreisständen, das heißt dem grundbesitzenden Adel auferlegt. Die von
ihm erbrachten materiellen Leistungen gingen wertmäßig weit über die
freiwilligen Spenden der Bevölkerung an Geld und Gut („Gold gab ich für

73 A. a. O., S. 411 f. Die älteren Darstellungen sprechen von etwa 8.000 Mann, ζ. B.
M. LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 526.
74 Die Zitate aus dem Aufruf vom 3. II. (GS 1813, S. 15 —17. Leichter zugäng-
lich: Eugen von FRAUENHOLZ, Das Heerwesen des XIX. Jahrhunderts
( = EntwGdHeerw, Bd. 5), München 1941, S. 141 - 143). Zur Lützowschen Mon-
tur vgl. M. LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 534, Anm. 3.
III. Preußen und das napoleonische System 55

Eisen") hinaus, die 3 0 0 . 0 0 0 - 5 0 0 . 0 0 0 Taler ausgemacht haben sollen. 75 Bis


zum August waren 109.000 Mann zu Fuß und 11.000 Mann berittene
Landwehr aufgestellt. 76 Die Ausstattung mit Kleidung, Schuhwerk und
Waffen blieb bis zum Herbst unvorstellbar schlecht. Das erklärt wohl auch
die hohe Zahl von Desertionen. Beim Angriff entwickelten die Landwehrein-
heiten überraschende Kampfkraft, während sie im Lager und bei langen
Märschen unsicher und weniger zuverlässig, beim Rückzug unzuverlässig
bis zur Disziplinlosigkeit waren. Die Verluste dieser überwiegend unerfah-
renen Verbände lagen in der Regel sehr hoch.
3) Der durch Verordnung vom 21. April 1813 ins Leben gerufene Land-
sturm 77 ging auf die Pläne Gneisenaus einer totalen insurrektioneilen Volks-
bewaffnung zurück. Alle waffenfähigen Männer von 15 bis 60 Jahren
wurden für den Zeitpunkt, „wenn der Feind dem Land sich naht", aufge-
rufen zu einem „Kampf der Notwehr, der alle Mittel heiligt" (§ 7). Erstrebt
wurde ein zermürbender Partisanenkrieg nach den in der Vendée, in Spanien
und Tirol praktizierten Vorbildern. Die Verordnung liest sich wie eine
Handlungsanweisung zum Guerillakrieg — kein Wunder, daß bei der Er-
richtung des Volkssturmes 1944, die am Jahrestag der Schlacht von Leipzig
bekanntgegeben wurde, der Landsturm von 1813 als leuchtendes Beispiel
zitiert wurde. 78 Nichts war falscher: Die Landsturmpläne überschritten nicht
nur „das Begriffsvermögen und die Grenzen des guten Willens der preußi-
schen Beamten. Vor allem überschritten sie das kriegerische Können und
Wollen der Bevölkerung", einen derart fanatischen, erbarmungslosen und
totalen Volkskrieg zu führen. 79 Es fehlte „die unentbehrliche psychologische
Grundlage in den Gesinnungen der unteren Stände". 8 0 Bis auf ganz wenige
Ausnahmen hat der Landsturm keine praktische Bedeutung erhalten. Die
aus einer verbreiteten Revolutionsfurcht der konservativen Kreise, auch des
Königs, genährte Kritik am Landsturm führte schließlich zu einer neuen

75 Ernst MÜSEBECK (Hg.), Freiwillige Gaben und Opfer des preußischen Volkes in
den Jahren 1 8 1 3 - 1 8 1 5 ( = MKPrAv, H. 23), Leipzig 1913, passim.
76 Dorothea SCHMIDT, Die preußische Landwehr. Ein Beitrag zur Geschichte der
allgemeinen Wehrpflicht in Preußen zwischen 1813 und 1830 ( = MhSt, N . F.,
Bd. 21), Berlin (Ost) 1981, passim. Knappe Zusammenfassung: H. G. NITSCHKE,
Die Preußischen Militärreformen... (1983) [83], S. 1 7 8 - 1 8 6 . Verteilung auf die
Provinzen: M . LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 536, Anm. 2.
77 Die Verordnungen über Landwehr und Landsturm bei E. von FRAUENHOLZ, Das
Heerwesen... (1941) [s.o. Anm. 74], S. 1 4 8 f . , 1 4 9 - 1 5 7 , 1 6 1 - 1 7 1 . Vgl. M a x i -
milian BLUMENTHAL, Der Preußische Landsturm von 1813. Auf archivalischen
Grundlagen dargestellt, Berlin 1900, passim.
78 Klaus MAMMACH, Der Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1 9 4 4 / 4 5 ( = KB, Bd. 233),
Köln 1981, S. 3 9 - 4 1 , 59. Vgl. auch Franz W. SEIDLER, „Deutscher Volkssturm".
Das letzte Aufgebot 1944/45, München-Berlin 1989, S. 261 ff.
79 R . IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 4 0 1 ; H . G . NITSCHKE, Die
Preußischen Militärreformen... (1983) [83], S. 1 8 9 - 1 9 1 .
80 Friedrich MEINECKE, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen,
2 Bde., Stuttgart 1896/99, hier Bd. 1, S. 289.
56 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Verordnung, die von der ursprünglichen Konzeption Gneisenaus kaum


etwas übrigließ.
Der Sprung von der 42.000-Mann-Armee zu den 279.000 Mann, die
Preußen in den Jahren 1813/15 mobilisierte, gelang nicht zuletzt deshalb,
weil von den 1808 verabschiedeten Offizieren 1813 noch 2.800 reaktivierbar
waren. Für die Festigung und die Konsolidierung der neuen Armee war es
von großer Bedeutung, daß von den 6.907 Offizieren (Stand vom 15. August
1813) rund 3.900 aus dem Führungskorps der alten Armee kamen. Eine
nicht weniger wichtige Aufgabe übernahmen die Unteroffiziere: Von den
etwa 4.000, die nach Tilsit den Dienst verlassen hatten, kehrten viele zurück
und wirkten nachhaltig bei Aufbau und Ausbildung der neuen Regimenter
mit. 8 1
Während Scharnhorst mit unermüdlichen Anstrengungen die preußische
Aufrüstung organisierte und Gneisenau, der sich seit Anfang März in
Breslau aufhielt, seine guten Verbindungen zu England nutzte, um das so
dringend benötigte Kriegsmaterial heranzuschaffen, vollzog sich Schritt für
Schritt der offizielle preußische Kurswechsel. Dabei ist bemerkenswert, daß
der König den Schritt an die Öffentlichkeit so lange wie möglich hinaus-
zögerte. Am 15. März, als Alexander in Breslau eintraf, erfolgte die Eintei-
lung Preußens in vier Militärgouvernements. An ihre Spitze traten je ein
Zivil- und ein Militärgouverneur, dem bei Gefahr im Verzuge die entschei-
dende Stimme zufiel. 82 Obwohl die preußische Kriegserklärung am 16. März
festgestellt und am Mittwoch, dem 17. März, überreicht worden war, ließ
man diesen Tag, an dem die Schlesische Privilegierte Zeitung erschien,
verstreichen und veröffentlichte erst in der nächsten, am Sonnabend, dem
20. März, herauskommenden Ausgabe die bereits Tage zuvor unterzeich-
neten Dokumente. 8 3 Die Zeitung enthielt (1) die undatierte Mitteilung über
das mit dem Zaren abgeschlossene „Off- und Defensiv-Bündnis", (2) den
nach Anweisungen Gneisenaus vom Staatsrat Hippel formulierten Aufruf
„An Mein Volk" (17. März), in dem der König an die seit sieben Jahren
erduldeten Leiden erinnerte und die historischen Beispiele der Portugiesen,
Schweizer und Niederländer beschwor, um alle Stände zu den großen Opfern
aufzurufen, die erforderlich sein würden, damit „der letzte entscheidende
Kampf . . . für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unsern Wohlstand"
endlich „einen sicheren glorreichen Frieden und die Wiederkehr einer glück-
lichen Zeit" herbeiführen könnte. 8 4 Es folgte (3) der Aufruf „An Mein

81 R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 4 2 7 .
82 Die Gouvernements umfaßten die Gebiete zwischen (1) russischer Grenze und
Weichsel, (2) Weichsel und Oder, (3) Oder und Elbe und (4) Schlesien. Später
kamen die Gouvernements zwischen (5) Elbe und Weser und (6) Weser und
Rhein hinzu. Vgl. M . LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 5 5 6
sowie Anm. 2 und 3.
83 Ein Faksimile-Abdruck der achtseitigen Zeitungsausgabe bei Ernst BERNER, Ge-
schichte des Preußischen Staats, 2 Bde., Bonn 2 1896, hier Bd. 2, nach S. 538.
84 Nur dieser Aufruf wird abgedruckt bei H.-B. SPIES (Hg.), Die Erhebung gegen
Napoleon... (1981) [93], S . 2 5 4 Í .
III. Preußen und das napoleonische System 57

Kriegesheer" (17. März), der sich an das stehende Heer richtete und ihm
— unter Hinweis auf die große Zahl der Freiwilligen - auftrug, nunmehr
ebenfalls „die Freiheit und Selbständigkeit des Vaterlandes zu erkämpfen",
nicht ohne für die Pflichtvergessenen „tiefe Schande und strenge Strafe" in
Aussicht zu stellen. 85 Der nächste Abdruck betraf (4) die „Urkunde über
die Stiftung des eisernen Kreuzes", die bereits am 10. März, dem Geburtstag
der 1810 verstorbenen Königin Luise, unterzeichnet worden war. Dieser
Orden in zwei Klassen und einem Großkreuz war nur im Hinblick auf den
bevorstehenden Krieg gestiftet worden und sollte nach seinem Absehluß
nicht weiter verliehen werden. 86 Ebenfalls vom 17. März datierte (5) eine
Bekanntmachung, wonach jeder, der mit dem „Feind" in Verbindung bleibt,
ihm Lieferungen zukommen läßt oder ihn sonstwie unterstützt, vor ein
Kriegsgericht gestellt und, sofern seine Schuld erwiesen sei, hingerichtet
werden sollte. Schließlich erschien noch (6) ein Publikandum der Breslauer
Stadtbehörden (9. März), das alle Mitbürger „zu Sammlung und Beiträgen
für die freiwilligen aber unbemittelten Verteidiger des Vaterlandes" aufrief,
sei es „in Gelde, oder Kleidungs- und Armatur-Stücken".
Einen Tag vor der Bekanntgabe dieser geballten Ladung hochbrisanter
politischer Informationen war eine preußisch-russische Konvention unter-
zeichnet worden, in der sich Hardenberg und Scharnhorst auf der einen,
Stein und Graf Nesselrode als Vertreter des russischen Kanzlers Romanzow
auf der anderen Seite über die Errichtung eines Zentralverwaltungsrates
verständigt hatten. Diesem Gremium sollte die vorläufige Verwaltung der
im Krieg eroberten nicht-preußischen Gebiete — wobei man vor allem an
das schwankende Sachsen dachte — übertragen werden. 87 Gleichzeitig
verabredete man, sich in einem Aufruf an alle deutschen Fürsten zu wenden.
Kutusow verkündete diese „Proklamation von Kaiisch", deren Endfassung
aus der Feder Hardenbergs stammte und in der die Verbündeten folgende
Kriegsziele formulierten, am 25. März: Wiederherstellung der Freiheit und
Unabhängigkeit der Fürsten und der Völker Deutschlands „aus dem urei-
gensten Geiste des deutschen Volkes" heraus, Auflösung des Rheinbundes,
Wiederherstellung der Unabhängigkeit aller europäischen Staaten, aber
Erhalt Frankreichs als Großmacht in seinen „rechtmäßigen" Grenzen. Die
deutschen Fürsten wurden zum Anschluß aufgerufen, anderenfalls mit dem
Verlust ihrer Throne bedroht. 88

85 Ein neuerer Abdruck war nicht zu ermitteln.


86 Neuerer Abdruck bei Hans-Joachim SCHOEPS, Preußen. Geschichte eines Staates,
Berlin "1967, S. 3 4 5 f.
87 M . LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 5 7 8 f . ; vgl. Paul Wetzel,
Die Genesis des am 4. April 1813 eingesetzten Zentralverwaltungsrates und seine
Wirksamkeit bis zum Herbst dieses Jahres (Phil. Diss. Greifswald 1907), Greifs-
wald 1907, und Peter Graf von KIELMANNSEGG, Stein und die Zentralverwaltung
1813/14, Stuttgart 1964, beide passim.
88 Proklamation von Kaiisch ist abgedruckt bei E. R. HUBER (Hg.), Dokumente...
( 3 1978) [50], S. 81 f.
58 S 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Die Proklamation von Kaiisch stand am Ende eines langen, quälenden


Weges, den der König seit den Herbsttagen des Jahres 1812 unter ständigen
Zweifeln und mit kaum schwindender Skepsis gegangen war. Die Verant-
wortung für den Bestand seines Reststaates schien ihn zeitweise zu erdrük-
ken, ja handlungsunfähig zu machen. Nichts ist irreführender als das von
Karl G. S. Heun stammende patriotische Lied „Der König rief, und alle,
alle kamen", das sich in der preußischen Geschichtslegende hoher Wert-
schätzung erfreute. Die Zeitgenossen sahen es eher umgekehrt: „Alle, alle
riefen, und der König kam noch immer nicht". 8 9 Friedrich Wilhelm fehlte
jedes Talent zum Heroen, und es gehört sicher zu seinen besonderen
Verdiensten, Feuerköpfen wie Blücher 9 0 oder — etwas abgeschwächt —
auch Gneisenau, Lützow und anderen Haudegen immer mit der gebühren-
den Reserve entgegengetreten zu sein. Was in der traditionellen preußischen
Historiographie selten ausgesprochen wird, sollte an dieser Stelle ausdrück-
lich gesagt werden: Die militärische Entwicklung bis zum Sommer 1813
rechtfertigte den Respekt des Königs vor Napoleons Feldherrnkünsten und
sein geringes Vertrauen auf die Kräfte der Verbündeten.
Ein erster Grund lag darin, daß sich das Kräfteverhältnis der Armeen
seit Mitte März durch den Zuwachs aus den im Dezember eingeleiteten
Neurekrutierungen erheblich zugunsten Napoleons veränderte. 91 Zweitens
häuften sich Meinungsverschiedenheiten mit dem Hauptquartier, besonders
seitdem nach dem Tode Kutusows (28. April) Wittgenstein das Oberkom-
mando übernommen hatte. „Das größte Übel, worunter wir leiden, ist die
Befehlführung der Armee. Graf Wittgenstein ist selbiger nicht gewachsen. . .
General Diebitsch. . . hat den Kopf verloren. Der General d'Auvray, Chef
des Generalstabes, ist bequem und indolent", resümierte Gneisenau, der
Vertreter des Generalquartiermeisters Scharnhorst im Armeekorps Blücher.
Dreimal wollte er die drei Offiziere am 1. Mai - einen Tag vor der Schlacht
von Großgörschen — aufsuchen, „und dreimal habe ich sie in ihren Betten
gefunden; nachmittags, abends, morgens". 9 2

89 H . - J . SCHOEPS, P r e u ß e n . . . ( 6 1 9 6 7 ) [ s . o . A n m . 86], S. 141.


90 Blücher schrieb schon a m 5. I. 1 8 1 4 an Scharnhorst: „ M i c h juckts in alle Finger,
den Säbel zu ergreifen", um „ . . . alles Schelmfranzosenzeug m i t s a m m t d e m
B o n a p a r t e und all seinem ganzen A n h a n g v o m deutschen Boden weg zu tilgen."
E s sei an der Zeit, „die ganze N a t i o n zu den Waffen anzurufen, und w a n n die
Fürsten nicht wollen und sich dem entgegensetzen, sie samt dem B o n a p a r t e
wegzujagen" (H.-B. SPIES [Hg.], Die Erhebung gegen N a p o l e o n . . . [1981] [93],
S. 2 0 9 ) . Solche jakobinischen Äußerungen waren natürlich wenig geeignet, den
König für die Idee der Volksbewaffnung empfänglicher zu m a c h e n .
91 Neben den älteren Werken über die Freiheitskriege von Rudolf FRIEDERICH, Die
Befreiungskriege 1 8 1 3 - 1 8 1 5 , 4 Bde., Berlin 1 9 1 1 - 1 9 1 3 , Heinrich ULMANN, Ge-
schichte der Befreiungskriege 1 8 1 3 und 1 8 1 4 , 2 Bde., M ü n c h e n — Berlin 1 9 1 4 / 1 5 ,
ist besonders zu nennen H . HELMERT/H.-J. USCZECK, Europäische Befreiungs-
kriege... (1976) [ s . o . A n m . 2 3 ] , S. 2 2 2 f f .
92 Gneisenau an H a r d e n b e r g , LL.V. (K. GRIEWANK [Hg.], G n e i s e n a u . . . [ 3 1943]'[s. o.
A n m . 11], S. 2 2 5 ) .
III. Preußen und das napoleonische System 59

Trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit der Infanterie (57.000:129.000


Mann) entschlossen sich Scharnhorst und Wittgenstein, die von Napoleon
in der Ebene von Lützen am 2. Mai angebotene Schlacht im Vertrauen auf
die Überlegenheit bei der Kavallerie (24.100:7.600) und den Geschützen
(525:372) anzunehmen. Doch obwohl die Franzosen die weitaus größeren
Verluste zu beklagen hatten (22.000:11.500 Mann), behaupteten sie das
Feld. Die Verbündeten konnten sich allerdings geordnet zurückziehen, und
Gneisenau nannte die Schlacht eine „unentschiedene" oder „eine nicht
gelungene", aber es war faktisch eine Niederlage, wenn auch keine ver-
nichtende. Der schwerste Verlust traf Preußen erst Wochen später, als
Scharnhorst an den Folgen seiner in der Schlacht erlittenen Verwundung
starb (28. Juni).
Die Armee zog sich weit hinter die Elbe zurück und bezog neue Stellungen
in der Oberlausitz. Sie erwartete den nur langsam nachdrängenden Gegner
bei Bautzen. Als inzwischen eingeleitete Vermittlungsversuche Österreichs
scheiterten, weil Napoleon durch einen zweiten militärischen Erfolg alles
zu entscheiden hoffte, blieb nichts übrig, als sich erneut zur Schlacht zu
stellen. In mancher Hinsicht war es bei Bautzen (20./21. Mai) wie bei
Großgörschen: infanteristische Unterlegenheit (64.000:165.000 Mann), ka-
valleristische Überlegenheit (23.200:19.000) der Verbündeten, einige Ge-
schütze mehr (622:560), höhere Verluste der Franzosen (25.000:15.000) —
aber letztlich eine weitere Niederlage, weil es wiederum am rechtzeitigen
Einsatz der Reserven und an straffer Kommandoführung gefehlt hatte. „Der
Graf Wittgenstein ist für den Befehl ganz unfähig. Aus dieser Armeeführung
kann nur Unsegen entstehen." Immerhin gelang ein Rückzug „mit schöner
Ordnung, ohne einen Gefangenen und ohne ein Geschütz zu verlieren". 93
An der im Hauptquartier immer deutlicher werdenden Rückwärtsorien-
tierung der Gesamtstrategie, die nach Meinung der preußischen Offiziere
keineswegs militärischen Erfordernissen entsprach, änderte sich nichts, als
der Oberbefehl am 26. Mai dem General Barclay de Tolly übertragen wurde.
Zum Entsetzen der Preußen schlug er vor, die Armee nicht in Schlesien,
wohin sie sich zurückgezogen hatte, stehen zu lassen, sondern bis nach
Polen zurückzunehmen. Blücher und York erwogen für diesen Fall allen
Ernstes, die preußischen Truppen aus der Armee herauszulösen und gegen
die napoleonischen Truppen von der strategisch günstigen Basis Schlesien
aus zu operieren. 94 Die von Napoleon herbeigesehnte Koalitionskrise schien
endlich auszubrechen.
Der französische Kaiser war — trotz Großgörschen und Bautzen — mit
dem Feldzug unzufrieden. Unter den jungen und unerfahrenen Rekruten,
die den Strapazen der Gefechte und der langen Märsche nicht gewachsen
waren, hatte es außerordentlich hohe Verluste und viele Ausfälle gegeben;

93 Gneisenau an Hardenberg, 22. und 23. V. (a. a. O., S. 228 f.). Ähnliche Einschät-
zungen des Oberkommandos zitiert auch J . G. DROYSEN, Das Leben des Feld-
marschalls Grafen York von Wartenburg... ( 2 1 8 5 1 - 1 8 5 2 ) [107], Bd. 2, S. 62, 64,
67 f.
94 York an Knesebeck, 4. VI. ( a . a . O., S. 9 4 - 9 6 ) .
60 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

ein entscheidender Sieg war nicht errungen; die Disziplin lockerte sich;
Nachschub und Krankenversorgung waren verbesserungsbedürftig. Es hatte
sich gezeigt, daß die russisch-preußische Koalition nicht in einem militäri-
schen Spaziergang zu bezwingen war. Eine Art Patt-Situation hatte sich
ergeben, in der alle Beteiligten eine Ruhepause für ihre Truppen zu gewinnen
suchten, um gleichzeitig verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, die
verfahrene Situation auf diplomatischem Wege einer Lösung näherzubrin-
gen. Napoleon hoffte dabei nicht nur auf das Zerbrechen der russisch-
preußischen Allianz; er glaubte auch, das zwar neutrale, aber zu den
Verbündeten tendierende Österreich doch noch auf seine Seite ziehen zu
können. So erklärten sich schließlich die Kriegsparteien bereit, eine erneute
Vermittlung Österreichs, das seit März 1813 eine Politik der „bewaffneten
Mediation" trieb, anzunehmen: Der in Pläswitz bei Striegau beschlossene
Waffenstillstand sollte am 4. Juni beginnen und am 20. Juli zum 27. Juli
kündbar sein.

4. Vom Waffenstillstand zur Völkerschlacht

Zur Enttäuschung der preußischen Staatsführung war das Echo auf die
Proklamation von Kaiisch überaus dürftig gewesen. Der vorsichtige Sach-
senkönig Friedrich August I. lehnte sich zunächst an Österreich an (Kon-
vention vom 20. April), kehrte aber nach Großgörschen ins Lager Napoleons
zurück. Die Rheinbundfürsten stellten ihrem Protektor weiterhin die gefor-
derten Truppenkontingente zur Verfügung. Nur der Herzog von Mecklen-
burg hatte sich dem russisch-preußischen Bündnis angeschlossen. Verhei-
ßungsvoller sah es am europäischen Horizont aus: Der 1810 zum Kron-
prinzen von Schweden gewählte ehemalige Marschall Napoleons Bernadotte
hatte im Frühjahr 1812 eine außenpolitische Neuorientierung eingeleitet
und sich mit Rußland (30. August) und England (3. März 1813) verbündet.
Der schwedischen Kriegserklärung an Frankreich (23. März) folgte schließ-
lich auch das Bündnis mit Preußen (22. April 1813), dem ein Expeditions-
korps von 30.000 Mann zugesagt wurde. Weil sich aber die Ratifizierung
verzögerte, blieb Bernadotte zunächst mit 23.000 Mann in Schwedisch-
Vorpommern stehen, um klare Zusagen über die von ihm erstrebte Kriegs-
beute — Norwegen — zu erzwingen. 95 Als sich nur Rußland und England
Mitte Mai dazu bereitfanden und Dänemark auf diese Weise in die Arme
Napoleons trieben, begnügte sich Bernadotte mit einem halbherzig geführten

95 Vgl. Heinrich ULMANN, Z u r Beurteilung des Kronprinzen von Schweden im


Befreiungskrieg von 1 8 1 3 / 1 4 , in: H Z , Bd. 102 (1909), S. 3 0 4 - 3 2 4 ; zusammen-
fassend: H . ULMANN, Geschichte der Befreiungskriege... (1914/15) [s. o. Anm. 69],
Bd. 1, S. 3 0 9 — 320, 4 3 2 — 436. — Eine gute Gesamtanalyse der Politik Bernadottes
gibt Maria BÜDENBENDER, Der Kronprinz von Schweden und die Verbündeten
1 8 1 3 / 1 4 — Aspekte der diplomatischen und militärischen Zusammenarbeit,
Staatsexamensarbeit am F B Geschichtswissenschaften der FU Berlin 1990 [MS].
III. Preußen und das napoleonische System 61

Entlastungsstoß nach Hamburg, das am 30. Juni von französisch-dänischen


Truppen zurückerobert und einem blutigen Strafgericht unterworfen wurde.
Angesichts dieser inneren Schwächen der Allianz erschien es in der Tat
geboten, die diplomatischen Bemühungen während einer militärischen
Atempause zu intensivieren und dem Bündnis - mit oder ohne Österreich
- zu einer größeren Festigkeit und politischen Stabilität zu verhelfen —
mochten die patriotischen Kreise auch murren und behaupten, daß die
dritte große Schlacht bestimmt gewonnen worden wäre. Ihr Zorn wurde
noch dadurch erhöht, daß französisch-württembergische Truppen das Frei-
korps Lützow, als es verspätet aus dem laut Waffenstillstandsabkommen
zu räumenden westelbischen Gebiet abmarschierte, am 17. Juni bei Kitzen
in der Nähe von Leipzig überfielen und völlig zersprengten. Theodor Körner
entkam verwundet nach Österreich. 96
Erstes Ergebnis der fieberhaften diplomatischen Anstrengungen waren
die in Reichenbach geschlossenen Allianzverträge Rußlands und Preußens
mit England vom 14. und 15. Juni 1813. 9 7 Gegen die Garantie des (etwas
vergrößerten) Kurfürstentums Hannover sicherte England noch im Jahre
1813 zwei Millionen Pfund Subsidien zu. Ein Drittel ging an Preußen, das
dafür 80.000 Soldaten stellen sollte, zwei Drittel - für 160.000 Mann -
erhielt Rußland. Auch Schweden konnte zum Eintritt in die Koalition
bewogen werden, weil sich nun auch Preußen für die Angliederung Nor-
wegens aussprach (22. Juli). Bei den Verhandlungen mit dem heiß umwor-
benen Österreich lieferte der Staatskanzler Metternich ein diplomatisches
Meisterstück. Aus Gitschin, wo alle Fäden zusammenliefen, schrieb er, daß
er „ganz Europa auf seinen Schultern habe"; es befänden sich „zwei Kaiser
und ein König nur 25 Meilen entfernt, 300.000 Soldaten in derselben
Entfernung und 100.000 in unmittelbarer N ä h e . . . 80 Millionen Menschen
erwarten ihr Heil von Gitschin". 9 8 Der Streit ging zunächst darum, mit
welchen Forderungen an Napoleon das österreichische Vermittlungsangebot
einhergehen sollte. Schenkt man den Aufzeichnungen Glauben, die Metter-
nich selbst nach seiner mehr als achtstündigen Unterredung mit dem Kaiser

96 Vgl. Fritz von JAGWITZ, Geschichte des Lützowschen Freikorps. Nach archiva-
lischen Quellen bearbeitet, Berlin 1892; Adolf BRECHER, Napoleon I. und der
Überfall des Lützowschen Freikorps bei Kitzen am 17. Juni 1813. Ein Beitrag
zur Geschichte der Befreiungskriege, Berlin 1897; Albert PFISTER, Der Untergang
d e r L ü t z o w e r bei K i t z e n , in: D R e v , 2 1 . J g . ( 1 8 9 6 ) , B d . 3 , S . 1 5 9 - 1 7 6 , 343-360;
Karl KOBERSTEIN, „Lützows wilde verwegene Jagd", in: Prjbb, Bd. 51 (1883),
S. 4 1 7 - 4 3 7 .
97 Abdruck: G.F. de MARTENS, Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 1, S. 571 —
573, 568 — 571. Der Geheimartikel zum englisch-preußischen Vertrag a . a . O . ,
Bd. 7, Göttingen 1818, S. 267.
98 Brief Metternichs vom 8. VI. 1813, mitgeteilt von Karl OBERMANN, Diplomatie
und Außenpolitik im Jahre 1813, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle
Metternichs. Zu den diplomatischen Gesprächen zwischen Rußland, Preußen
und Österreich gegen Ende des Jahres 1812, in: Das Jahr 1813... (1963) [s.o.
Anm. 68], S. 131 - 1 6 0 , hier S. 147.
62 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

am 26. Juni in Dresden angefertigt h a t , " so erscheinen diese Auseinander-


setzungen im nachhinein ziemlich müßig, da Napoleon überhaupt keine
Kompromißbereitschaft zeigte. Gegen die Zusage einer Verlängerung des
Waffenstillstandes (am 10. August kündbar zum 17. August), die Metternich
eigenmächtig abgab („einzig aus militärischen Gründen und nicht in der
Hoffnung auf Frieden", Metternich an Alexander, 4. Juli), erklärte sich
Napoleon bereit, einen nach Prag anberaumten Friedenskongreß zu be-
schicken. So kamen die Verbündeten auf der Basis eines Minimalkataloges,
der im Grunde den zögernden Kaiser Franz nur von der Unbeugsamkeit
seines Schwiegersohnes überzeugen sollte, rasch zu einer Verständigung: In
der Konvention von Reichenbach vom 27. Juni 1813 verpflichtete sich
Österreich zum Eintritt in die russisch-preußische Koalition und zur Kriegs-
erklärung, falls Napoleon die vier folgenden Forderungen nicht bis zum
20. Juli (spätere Fassung: 10. August) akzeptiere: (1) Auflösung des (sog.
Groß-) Herzogtums Warschau, (2) Abtretung Danzigs an Preußen, (3)
Abtretung der illyrischen Provinzen an Österreich und (4) Wiederherstellung
der Hansestädte. 100 Der Katalog war weniger als ein Ultimatum denn als
eine Verhandlungsbasis für den vorgesehenen Friedenskongreß gedacht,
doch stellte er eine klare Absichtserklärung der Verbündeten dar, die in
ihrer Festigkeit noch dadurch gestärkt wurden, daß Wellington den fran-
zösischen Truppen in Spanien am 21. Juni bei Vitoria eine vernichtende
Niederlage zugefügt hatte.
Die häufig zitierte Äußerung Napoleons, der Abschluß des Waffenstill-
standes sei die größte Dummheit seines Lebens gewesen, 101 erweist sich bei
einer realistischen Einschätzung der militärischen Stärkeverhältnisse als eine
nachträgliche Beschönigung seiner tatsächlichen Situation. Auch die neueste
französische Forschung ist der Meinung, daß Napoleons Macht damals
nicht ausreichte, über die russischen und preußischen Truppen („Diese Tiere
haben dazugelernt!") einen endgültigen Sieg zu erringen. 102 Mindestens drei
bestätigende Argumente lassen sich dafür nennen: Erstens war es Napoleon
selbst, der Metternich, als dieser auf seine verbalen Machtdemonstrationen
nur kühl reagierte, um eine Verlängerung des Waffenstillstandes um fast
drei Wochen ersuchte. Daß es ihm dabei nur um Zeitgewinn zu Rüstungs-
zwecken, nicht aber um wirkliche Friedensgespräche ging, ergibt sich zwei-
tens aus der Tatsache, daß er zu dem in Prag am 12. Juli eröffneten
Friedenskongreß erst am 28. Juli einen bevollmächtigten Vertreter, den
Grafen Caulaincourt, schickte. Drittens ließ Napoleon erst am 6. August,
also kurz vor Ablauf der für die Aufrüstung noch nutzbaren Zeit, bei
Metternich anfragen, zu welchen Bedingungen der Frieden zu erhalten sei.
Weil der französische Kaiser die goldenen Brücken, die ihm Metternich

99 Zur Quellenlage a . a . O . , S. 147f.


100 Abdruck: W. ONCKEN, Das Zeitalter der Revolution... (1884/86) [19], Bd. 2,
S. 647 f. Ein Großherzogtum Warschau gab es staatsrechtlich nicht.
101 Erwähnt beispielsweise von K. von RAUMER/M. BOTZENHART, Deutschland um
1800... (1980) [20], S. 573.
102 Jean TULARD, Napoleon oder der Mythos des Retters, Tübingen 1978, S. 446.
III. Preußen und das napoleonische System 63

immer wieder gebaut hatte, sechs Wochen lang nicht betreten wollte, sah
dieser keinen Grund mehr für eine neue taktische Variante: Das am
7. August übermittelte Ultimatum ging erheblich über die vier Punkte von
Reichenbach hinaus, verlangte faktisch die Auflösung des Rheinbundes und
sprach von Souveränitäts- und Besitzstandsgarantien der kleinen und großen
Mächte nach einem künftigen Friedensschluß. Man erwarte „ein Ja oder
ein Nein im Laufe des 10." (August), anderenfalls erfolge umgehend die
österreichische Kriegserklärung. 103
Anders als die früheren Verhandlungsangebote war dieses Ultimatum,
das eine ganze Reihe von höchst interpretationsfähigen Formulierungen
enthielt, für Napoleon unannehmbar. Als seine Gegenvorschläge am
11. August eintrafen, war die Kriegserklärung dem französischen Gesandten
— eine Stunde nach Mitternacht — bereits übergeben worden.
In sicherer Erwartung der französischen Ablehnung stellten die Verbün-
deten unter Hinzuziehung des schwedischen Kronprinzen bereits im Juli
1813 konkrete militärische Überlegungen an, die zu dem „Kriegsplan von
Trachenberg" (12. Juli 1813) führten. 104 Mit einigen Modifikationen, die
Radetzky, der Generalstabschef des Fürsten Schwarzenberg, vorschlug, bil-
dete dieser Plan die Grundlage für den Mitte August beginnenden Herbst-
feldzug.
Die Haupt- oder Südarmee unter Schwarzenberg (255.000 Mann) schob
sich von Böhmen aus nach Sachsen vor, die Schlesische Armee (Blücher,
105.000 Mann) operierte gegen die weit vorgeschobene und zahlenmäßig
überlegene Boberarmee, während die Nordarmee (Bernadotte, 125.000
Mann) Berlin decken und zur Elbe vorrücken sollte. Die drei Armeekorps
umgaben die zwischen Oder und Elbe stehenden Truppen Napoleons
(389.000 Mann) in einem großen Halbkreis. Jede Armee sollte sich nur
dann einer Schlacht stellen, wenn gesichert sei, daß sie von den beiden
anderen unterstützt werden könne. Strategisches Ziel war die Zusammen-
führung der drei Armeen und die Herbeiführung einer Entscheidungs-
schlacht. Die Absicht Napoleons, dem durch vernichtende Einzelsiege ent-
gegenzuwirken, scheiterte binnen weniger Tage in drei für beide Seiten
verlustreichen Schlachten: Die Nordarmee behauptete sich gegen die Ber-
linarmee (Oudinot, 70.000 Mann) bei Großbeeren (23. August), die Haupt-
armee konnte die bei Dresden erlittene empfindliche Schlappe (26./27.
August) durch den Sieg bei Kulm und Nollendorf (30. August), der dem
preußischen Korps des Generals Kleist zu danken war, wettmachen, und
die Schlesische Armee brachte den Franzosen an der Katzbach eine schwere
Niederlage bei (26. August), machte 18.000 Gefangene und erbeutete über
100 Geschütze. Ein zweiter Stoß der Berlinarmee, die jetzt unter dem
Kommando des Marschalls Ney stand, auf die preußische Hauptstadt,
endete bei Dennewitz (6. September): Sie wurde völlig zerschlagen, verlor
22.000 Mann und 53 Geschütze.

103 W. ONCKEN, Das Zeitalter der Revolution... (1884/86) [19], Bd. 2, S. 673.
104 H. ULMANN, Geschichte der Befreiungskriege... (1914/15) [s.o. Anm. 69], Bd. 1,
S. 4 3 5 f.
64 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

Die militärischen Erfolge führten zur Festigung des Bündnisses. Im Alli-


anz-Vertrag von Teplitz (9. September) verpflichteten sich Rußland, Preußen
und Österreich zur Kriegführung mit jeweils 150.000 Mann bis zur Wie-
derherstellung des europäischen Gleichgewichts auf dem Stande von 1805.
England trat dem Bündnis am 3. Oktober bei und sicherte Österreich eine
Subsidienzahlung von 1 Million Pfund zu. 105 Napoleon, der Ende September
das rechte Elbufer geräumt und damit das Scheitern seiner Offensivpläne
eingestanden hatte, konnte nicht verhindern, daß Blücher und York am
3. Oktober bei Wartenburg den Elbübergang erkämpften und sich mit der
Nordarmee, die weiter nördlich über die Elbe gegangen war, vereinigten.
Da die Hauptarmee nur langsam vorankam, wollte Napoleon einen schnel-
len Schlag gegen die vereinigte Schlesische/Nordarmee führen, doch ging
sein Stoß nach Wittenberg und Dessau ins Leere, während sich die Truppen
Blüchers und Bernadottes bei Halle konzentrierten. Auch die Hauptarmee
zog seit dem 8. Oktober in Richtung Leipzig. Angesichts der bevorstehenden
Vereinigung der zahlenmäßig überlegenen alliierten Truppen war der Feld-
zug für Napoleon bereits so gut wie verloren. Selbst ein taktisch begrenzter
Erfolg konnte daran nichts ändern, da der Franzosenkaiser im Unterschied
zu den Verbündeten über keinerlei Reserven mehr verfügte, als man in der
Leipziger Ebene zur Entscheidungsschlacht antrat. Seine einzige Chance lag
in einem umfassenden Vernichtungssieg mit anschließender Auflösung des
Gegners. Am Abend des ersten Tages der Völkerschlacht (16. Oktober)
stand fest, daß dieses Ziel nicht mehr erreichbar war — nicht zuletzt
deshalb, weil das Yorksche Korps beim Kampfe um das Dorf Möckern das
Napoleon zu Hilfe eilende VI. französische Korps fast völlig aufgerieben
hatte. Die Preußen kostete dieser Sieg 172 Offiziere und 5.500 Mann,
die Franzosen verloren 6.000 Tote und 2.000 Gefangene. Um den am
17. Oktober beschlossenen Rückzug über Lindenau und Weißenfels nach
Westen zu decken und zu sichern, entfesselte Napoleon am 18. Oktober
den „Riesenkampf" (Oncken) um Leipzig. Trotz der numerischen Unterle-
genheit (160.000:295.000 Mann, 6 3 0 : 1 . 4 6 6 Geschütze) zwang er die Ver-
bündeten noch einmal zum Einsatz aller Reserven und konnte bei begin-
nender Dunkelheit mit 80.000 Mann gefechtsfähiger Truppen den Rückzug
nach Westen antreten. Anstatt die Verfolgung aufzunehmen, erstürmten die
Verbündeten am 19. Oktober das von 30.000 Mann verteidigte Leipzig.
Unter den Opfern der Völkerschlacht waren 16.000 Preußen; insgesamt
hatten die Alliierten 1.900 Offiziere und über 51.000 Mann zu beklagen;
die Franzosen verloren 38.000 Tote, 15.000 Gefangene und ließen 23.000
Verwundete zurück. Nachdem sich Napoleon am 30. Oktober bei Hanau
gegen eine österreichisch-bayerische Armee den weiteren Rückzugsweg frei-
gekämpft hatte, überschritt er Anfang November den Rhein. Zurück blieben
160.000 Mann, die in 12 belagerten Festungen, darunter Danzig, Glogau,
Küstrin, Stettin und Magdeburg, dem Ende ihrer Munitions- und Lebens-
mittelvorräte entgegensahen.

105 Abdruck: G.F. de MARTENS, Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 1, S. 5 9 6 -
607 (9. IX.) und S. 6 0 7 - 6 0 9 (3. X.).
III. Preußen und das napoleonische System 65

5. Die Errichtung der Generalgouvernements

Binnen weniger Wochen brach das napoleonische Satellitensystem in


Deutschland auseinander. Den Fürsten des sich auflösenden Rheinbundes
hatte Stein die Sequestration ihrer Länder zugunsten des Zentralverwal-
tungsrates angedroht, doch Metternich, der allen populären, ständischen
und nationalen Tönen im Freiheitskampf höchst mißtrauisch gegenüber-
stand, verfolgte eine fürstenfreundlichere Politik als Stein. Geschickt schürte
er die Furcht der Kabinette vor Umsturz und Freiheitsdrang und blockierte
alle gesamtdeutschen Impulse; Stein galt ihm als ganzer, der Zar als halber
Jakobiner. Dementsprechend suchte Metternich, seitdem Österreich der
Koalition beigetreten war, die suspekte Behörde, deren Effizienz im übrigen
weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben war, zu neutralisieren. Un-
mittelbarer Anlaß war die Behandlung Sachsens, dessen König in Leipzig
in Gefangenschaft geraten und in Preußen interniert worden war, seit Juli
1814 im Schloß Friedrichsfelde. Das Land selbst, zum Kriegsschauplatz
geworden, drohte unter den riesigen Armeen der Kontrahenten in einem
Chaos zu versinken. Die — nicht unberechtigte — Sorge, die Tätigkeit des
Zentralverwaltungsrates im okkupierten Sachsen sei nur ein erster Schritt
auf dem Wege einer preußischen Annexion dieses Territoriums, veranlaßte
Metternich, mit Hardenberg, Nesselrode und Stein die Leipziger Konvention
(21. Oktober) auszuhandeln. Sie löste den alten Rat auf und schuf als neue
Behörde das wiederum von Stein geleitete Zentralverwaltungsdepartement.
Der Wortlaut der Vereinbarung erschien Stein akzeptabel, aber Metternich
fand einen anderen Weg, seine Politik der Konsolidierung der bestehenden
deutschen Staatenwelt zu verfolgen: Wie mit Bayern, das schon vor der
Völkerschlacht den Rheinbund verlassen hatte und der Koalition beigetreten
war (Vertrag von Ried, 8. Oktober), Schloß Österreich noch im November
Verträge mit Württemberg (Fulda, 2. November), Hessen-Darmstadt (Mi-
litärkonvention, Dörnigheim, 2. November) und in Frankfurt/M. mit Baden,
Nassau und Hessen-Darmstadt (23. November) sowie den sächsisch-thürin-
gischen Fürstentümern (24. November). 1 0 6 Es garantierte ihnen den terri-
torialen Status quo und die volle Souveränität. Stein mußte erleben, „wie
seine hochgespannten Pläne einer umfassenden deutschen Zentralverwal-
tung in einem eifrigen. . . diplomatischen Zusammenspiel der großen
Mächte und der kleinen Fürsten zerbrachen und versanken". 1 0 7
Im Hinterland der keineswegs zügig nach Westen vorrückenden alliierten
Truppen vollzog sich die politische Wiedereingliederung der ehemaligen
Rheinbund-Territorien auf zweifache Weise: Die früher preußischen, öster-
reichischen, hannoverschen und schwedischen Besitzungen fielen an die
betreffenden Staaten zurück, die entweder weiterbestanden hatten oder

106
Der Vertrag von Ried und die Frankfurter Akzessionsverträge a . a . O . , S. 610 —
614 und 643 - 650 und Bd. 4, S. 96 - 1 1 0 .
107
P. Graf von KIELMANNSEGG, Stein und die Zentralverwaltung... (1964) [s.o.
Anm. 87], S. 28.
66 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

- wie Hannover - restituiert wurden. Die übrigen Gebiete wurden dem


Zentralverwaltungsdepartement zur vorläufigen Administration übertragen,
das schrittweise insgesamt sieben Generalgouvernements errichtete, zu-
nächst vier auf dem rechten Rheinufer: 108

1) Das Generalgouvernement Sachsen, in dem als Generalgouverneur Fürst


Repnin, ein russischer Generalmajor, amtierte. Im November 1814 ging
die Leitung an den preußischen Minister v. d. Recke über.
2) Das Generalgouvernement Berg, das bis Februar 1814 und erneut seit
Juni 1814 von dem früheren Berliner Polizeipräsidenten Justus Gruner
geführt wurde, der jetzt im Range eines russischen Staatsrats stand.
3) Das Generalgouvernement zwischen Weser und Rhein, in dem dank der
Tatkraft des reaktivierten Freiherrn Ludwig v. Vincke binnen weniger
Wochen preußische und nichtpreußische Altbesitzungen unter seiner
Leitung zusammengefaßt wurden. Der ihm zur Seite gestellte Militär-
gouverneur, Generalmajor v. Heister, bedeutete für Vincke „mehr Last
und Aufenthalt als Hilfe" und spielte faktisch kaum eine Rolle. 1 0 9
4) Das Generalgouvernement Frankfurt, das unter österreichischer Leitung
stand, ist für die preußische Geschichte nur insofern wichtig, als Wetzlar
aus diesem Territorium später Preußen zufiel und deshalb einen eigenen
Rechtsstatus behielt. 110

Im Laufe des Jahres 1814 wurden auf dem linken Rheinufer drei weitere
Generalgouvernements errichtet:

5) Das Generalgouvernement Niederrhein (Sitz Aachen), das der Staatsrat


Sack leitete. Es umschloß die Departements Roer, Ourthe und Meuse-
Inférieure und damit auch die ehemals preußischen Besitzungen jenseits
des Rheins, die Preußen aber damals noch als mögliches territoriales
Kompensationsobjekt, etwa im Falle der Gewinnung Sachsens, ansah.
6) Das Generalgouvernement Mittelrhein (Sitz Trier, dann Koblenz, seit
Mai 1814 Mainz) bestand aus den Departements Rhin-et-Moselle, Sarre
und Mont Tonnerre. Im Februar 1814 gegründet, wurde es Gruner
zugewiesen, der in Berg bereits Erfahrungen gesammelt hatte.
7) Das Generalgouvernement Elsaß, das unter österreichischer Leitung
stand, ist für die preußische Entwicklung ohne Bedeutung geblieben.

108 A . a . O . , passim; außerdem: E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...


(1957/60) [49], Bd. 1, S. 5 0 6 - 5 1 0 ; Rüdiger SCHÜTZ, Preußen und die Rheinlande.
Studien zur preußischen Integrationspolitik im Vormärz, Wiesbaden 1979, S. 18 f.;
I. MIECK, Die Integration... (1990) [145a], S. 3 4 8 - 3 5 0 ; P. Graf von KIELMANNS-
EGG, Stein und die Zentralverwaltung... (1964) [s.o. Anm. 87], passim.
109 Monika LAHRKAMP, Münster in napoleonischer Zeit 1800 - 1 8 1 5 . Administration,
Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen von Säkularisation und französischer
Herrschaft ( = QFGM, N.F., Bd. 7/8), Münster 1976, S. 111, Anm. 585.
110 E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], B d . 1, S. 5 7 7 .
Zum linken Rheinufer vgl. neuerdings Sabine GRAUMANN, Französische Verwal-
tung am Niederrhein. Das Roer-Departement 1798 - 1814, Essen 1990.
III. Preußen und das napoleonische System 67

Obwohl die Generalgouvernements dem Steinschen Zentralverwaltungs-


departement unterstanden, lassen bereits die Personalentscheidungen in den
rheinisch-westfälischen Bezirken kaum einen Zweifel daran, wie die künftige
staatliche Zugehörigkeit dieser Gebiete aussehen würde. Vincke, Sack und
Gruner wären keine im preußischen Staatsdienst geschulten Beamten ge-
wesen, wenn sie die ihnen zugewiesene provisorische Administration nicht
zu wichtigen Weichenstellungen genutzt hätten. Die endgültige Entscheidung
fiel allerdings erst beim Wiener Kongreß, wie das Beispiel Sachsen zeigt,
das nur zum Teil Preußen zugeschlagen wurde.
Das blieb aber eine aus der Interessenlage der Großmächte resultierende
Ausnahme. Im westlichen Bereich fiel schon eine gewisse Vorentscheidung,
als die Steinsche Verwaltung am 15. Juni 1814 aufgelöst wurde und die
Zuständigkeit für die Generalgouvernements an Rhein und Weser an Preu-
ßen überging. Gleichzeitig erfolgte die Zusammenlegung der beiden links-
rheinischen zum Generalgouvernement Nieder- und Mittelrhein. Während
Sack an die Spitze der neuen Verwaltungseinheit trat, kehrte Gruner nach
Düsseldorf zurück, um erneut das Generalgouvernement Berg zu überneh-
men, das zwischenzeitlich der Prinz Solms-Lich verwaltet hatte.
Während die ersten rechtsrheinischen Generalgouvernements errichtet
wurden und die patriotischen Kräfte auf einen schnellen Siegfrieden hin-
arbeiteten, wurde deutlich, daß die maßgebenden Politiker der Großmächte
einen eher zögernden Kurs bevorzugten, um im Falle eines grandiosen Sieges
nicht die Kontrolle über die Entwicklung zu verlieren und unberechenbaren
Ausbrüchen national und liberal gestimmter Emotionen entgegenzusehen.
Unmittelbar nach der Völkerschlacht wurden diese Tendenzen spürbar; sie
verstärkten sich im Laufe des Spätherbstes 1813 und stürzten viele Preußen
in eine Konfliktsituation zwischen Wollen und Dürfen.

6. Der weitere Kriegsverlauf bis zum Doppelsieg


von 1814/1815

Auch Gneisenau und Blücher, die für eine sofortige Weiterführung des
Krieges auf französischem Boden plädierten und die Schlesische Armee
schon am 15. November über den Rhein führen wollten, mußten erfahren,
daß im Hauptquartier der Verbündeten zu Frankfurt statt dessen die Kriegs-
zieldebatten in eine neue heiße Phase führten. Was sich längst angedeutet
hatte, trat immer offener zutage: Der Schwung des nationalen Befreiungs-
kampfes wurde gebremst und überlagert durch eine dynastisch orientierte
Interessenpolitik und ein restauratives Gleichgewichtsstreben, das ein relativ
starkes Frankreich als Gegengewicht zu dem aufstrebenden Rußland und
dem restituierten Preußen erhalten wollte. Auch Friedrich Wilhelm fragte,
„was uns dann die am andern Rheinufer angingen? Wir würden doch wohl
nicht die lächerliche Idee haben wollen, nach Paris zu gehen?", registrierte
Gneisenau, und: „In Frankfurt ist das Intrigenwesen in vollem Gange. Da
wimmelt es von Diplomatikern und geschäftigen Müßiggängern, die hör-
68 S 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )

chen und schnüffeln und Mißtrauen ausstreuen. . . " n l So ließ Metternich


am 9. November durch den Gesandten Saint-Aignan Napoleon ein geheimes
Friedensangebot auf der Basis der „natürlichen Grenzen Frankreichs"
(Rhein, Alpen, Pyrenäen) zugehen. Als der Kaiser ausweichend antwortete,
richteten die Verbündeten Anfang Dezember einen Aufruf an das franzö-
sische Volk, in dem sie ihre Kriegsziele — Unabhängigkeit Frankreichs
innerhalb der natürlichen Grenzen, aber keine Hegemonie — offen darleg-
ten. Selbst der Legislative erschien dieses Angebot akzeptabel; sie wurde
daraufhin von Napoleon auf unbestimmte Zeit vertagt. 1 1 2 Die von ihm
unterbreiteten Gegenvorschläge waren noch immer so wenig maßvoll, daß
die Verbündeten unmöglich zustimmen konnten. So wurde der Krieg, dessen
Vorbereitungen durch die diplomatischen Fühlungnahmen nicht ernsthaft
unterbrochen worden waren, schließlich doch weitergeführt. Die widerstre-
benden Interessen der Koalitionspartner verhinderten aber eine zielstrebige
Operationsplanung, so daß er unnötig lange dauerte, obwohl die Verbün-
deten ein zahlenmäßig weit überlegenes Militärpotential ins Feld führen
konnten.
Während die Nordarmee seit November die Befreiung Hollands vorantrieb
und die Hauptarmee unter Schwarzenberg am 20. Dezember bei Schaffhausen
über den Rhein ging, um Mitte Januar die als strategisch wichtig angesehene
Position auf dem Plateau von Langres zu beziehen, überschritt die Schlesische
Armee in der Neujahrsnacht den Rhein bei Kaub, Koblenz und Mannheim.
Schon am 17. Januar wurde Nancy genommen. Dem von Blücher und Gnei-
senau etwas eigenmächtig eingeleiteten Vormarsch auf Paris stellte sich N a -
poleon erfolgreich bei Brienne-le-Chateau (29. Januar) entgegen. Wegen feh-
lender Unterstützung durch Schwarzenberg konnte Blücher bei La Rothière
den Kaiser zwar zurückwerfen, aber nicht entscheidend schlagen (1. Februar).
Die Verbündeten verstärkten nun ihren diplomatischen Druck auf den
Kaiser. Sein Gesandter Caulaincourt erklärte dem am 5. Februar in Châtil-
lon-sur-Seine eröffneten Friedenskongreß jedoch, daß Napoleon weder einen
Waffenstillstand noch einen Friedensvertrag auf der für ihn politisch un-
zumutbaren Basis der „Grenzen Frankreichs von 1792" akzeptiere. Tatsäch-
lich hoffte der Kaiser beharrlich, sein Schicksal durch militärische Erfolge
noch einmal wenden zu können. Die mangelnde Führungskonzentration der
Alliierten bestärkte ihn darin, und wirklich gelang es ihm, der Schlesischen
Armee bei Champaubert (10. Februar), Montmirail (11. Februar), Château-
Thierry (12. Februar) und Etoges (14. Februar) mehrere schwere Schlappen
beizubringen. Während sich die Schlesische Armee, die ungefähr 15.000
M a n n verloren hatte, auf Châlons-sur-Marne zurückzog, um Verstärkungen
zu erwarten, griff Napoleon Teile der Hauptarmee an und errang Erfolge
bei M o r m a n t (17. Februar) und Montereau (18. Februar) — „er gewann
innerhalb von acht Tagen sieben Schlachten und warf die Alliierten, die

111 Gneisenau an Clausewitz, 16. XI. 1813; ders. an Dörnberg, 4. XII. 1813, in: G. H.
PERTZ, D a s Leben des Feldmarschalls... ( 1 8 7 9 - 1 8 8 0 ) [118], Bd. 3, S. 558 und
567.
112 J. TULARD, N a p o l e o n . . . (1978) [s.o. Anm. 102], S. 4 6 4 f .
III. Preußen und das napoleonische System 69

völlig entmutigt, ja sogar entzweit waren, auf ihre Ausgangspositionen


zurück." 1 1 3 Obwohl die seit dem 21. Februar vereinigten Armeen über
197.000 Mann gegenüber nur 83.000 Napoleons verfügten, scheute Schwar-
zenberg eine bei Troyes angebotene Entscheidungsschlacht und befahl am
23. Februar den Rückzug der Hauptarmee nach Langres. Gleichzeitig aber
ging man im Hauptquartier auf den von Oberst Grolman ausgearbeiteten
und überbrachten Plan ein, wonach die Schlesische Armee Blüchers, durch
zwei andere Korps verstärkt, sich nach Paris orientieren und Napoleon von
der Hauptarmee ablenken solle. „Der Ausgang dieses Feldzugs liegt von
nun an zunächst in Ihrer Hand", schrieb der König seinem — seit Leipzig —
Feldmarschall am 25. Februar. Ermutigt durch den Vormarsch Blüchers,
der am 26. Februar die Marne überschritt, durch den Sieg Schwarzenbergs
bei Bar-sur-Aube (27. Februar) und die Erfolge der Südarmee, die im Saône-
Tal vorstieß und die französischen Truppen dreimal schlagen konnte (11.,
18. und 20. März), konnte der Zar die brüchig gewordene Allianz wieder
kitten. In Chaumont-en-Bassigny vereinbarten die vier Großmächte einen
neuen Bündnisvertrag folgenden Inhalts: 114 (1) Fortsetzung des Krieges, falls
Napoleon den „Grenzen von 1792" nicht zustimme, (2) keine separaten
Friedensverhandlungen, (3) Zahlung englischer Subsidien und Bereitstellung
von drei mal hundertfünfzigtausend Mann, (4) während der Bündnisdauer
von 20 Jahren eine gegenseitige Truppenzusage von 60.000 Mann im Falle
eines Angriffs, (5) Wiederherstellung des europäischen Staatensystems etwa
im Sinne des Zustandes vor der Revolution.
Am 3. März vereinigte sich die Schlesische Armee mit den von Norden
heranmarschierenden Korps Bülow und Wintzingerode, die zuvor Soissons
erobert hatten. Durch einen erneuten Erfolg Napoleons bei Craonne
(7. März) gewarnt, zu risikoreich zu operieren, erzwangen Blücher und
Gneisenau zwar den Sieg bei Laon (9./10. März), stoppten aber die durch
York und Kleist eingeleitete Verfolgung der flüchtenden Truppen. So konnte
Napoleon bei Reims (13. März) nochmals einen Sieg erringen, bevor er sich
wieder der Hauptarmee zuwandte.
Unterdessen ging in Châtillon ein neues Verhandlungsangebot Napoleons
ein, das so anspruchsvoll und politisch ungeschickt war, daß die Verbün-
deten den Friedenskongreß am 18. März aufhoben und ihre Bedenken gegen
einen Sturz des Kaisers zurückstellten. Schwarzenberg fügte ihm bei Arcis-
sur-Aube eine empfindliche Niederlage zu (20./21. März), erlaubte aber
wiederum einen fast ungestörten Rückzug, den Napoleon in einen Vor-
marsch nach Lothringen umwandelte, um dort die rückwärtigen Verbin-
dungen der Alliierten zu unterbrechen. Seine Rechnung, ihre Truppen auf
diese Weise an sich zu ziehen, ging jedoch nicht auf; er mußte erleben, daß
man ihn nur noch als einen sekundären politisch-militärischen Faktor ansah
und beschloß, den Marsch auf das von Truppen ziemlich entblößte Paris
anzutreten (24. März). Trotz des Kräfteverhältnisses von 32.000:107.000

113 A . a . O . , S. 469.
114 Abdruck: G.F. de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 1,
S. 6 8 3 - 6 8 8 .
70 § 1 Die Überwindung der Staatskrise (1807-1815)

M a n n beschränkten sich die Verteidiger, als die Schlacht um Paris am 30.


März früh begann, keineswegs darauf, einige „Ehrenkämpfe" zu liefern. Da
der geplante dreifache Zugriff über Vincennes (Prinz von Württemberg),
Pantin (Barclay) und den Montmartre (Blücher) nur verspätet zustandekam,
entwickelte sich insbesondere um das Dorf Pantin ein erbitterter Kampf,
„dem an Hartnäckigkeit vielleicht nur der von Möckern an die Seite zu
stellen ist". 1 1 5 Erst am späten Nachmittag, als ein Gegenangriff der Vertei-
diger abgeschlagen werden konnte und die Truppen der Verbündeten an
mehreren Stellen zugleich zum Sturmangriff antraten, war der Widerstand
gebrochen. Die dem gegen 18 Uhr in Kraft getretenen Waffenstillstand
folgenden Verhandlungen dauerten acht Stunden. Am Ende wurde die
Ubergabe der Stadt beschlossen und der freie Abzug der französischen
Truppen zugesichert. Am 31. März rückten die Alliierten, an der Spitze die
Monarchen Rußlands und Preußens sowie Schwarzenberg als Vertreter des
noch in Dijon weilenden Kaisers Franz, in Paris ein.
Napoleon, der mit 60.000 Mann kampfbereit bei Fontainebleau stand,
erklärte sich auf Drängen seiner Marschälle zur Abdankung bereit (6. April).
Am 11. April unterzeichnete er die Verzichtsurkunde und den die Modali-
täten der Abdankung regelnden Vertrag von Fontainebleau. Nach dem
berühmt gewordenen Abschied von seiner Garde (20. April) begab sich
Napoleon zur Insel Elba, die ihm als souveränes Fürstentum auf Lebenszeit
zugewiesen worden war.
Das politisch-militärische Nachspiel zu den Freiheitskriegen begann am
1. März 1815, als Napoleon mit 700 Gardesoldaten bei Cannes landete und
binnen 20 Tagen „auf den Wogen der Anhängerschaft der Bauern, der
Arbeiter und der Armee" in den Tuilerienpalast, aus dem Ludwig XVIII.
einen Tag zuvor geflohen war, zurückkehrte. 1 1 6
Als die Nachricht, daß Napoleon Elba verlassen hatte, am 6. März die
Kongreßstadt Wien erreichte, erklärten sich die anwesenden Herrscher von
Österreich, Rußland und Preußen innerhalb einer Stunde bereit, ihre Trup-
pen, die sich teilweise noch auf dem Rückmarsch befanden, sofort nach
Frankreich umkehren zu lassen. Entsprechende Befehle ergingen noch am
gleichen Tag. Um Napoleon als „ennemi et perturbateur du repos du
monde" und Vertragsbrüchigen Kriegsanstifter öffentlich zu diskreditieren,
bedienten sich die Kongreßmächte einer Waffe, die er selbst sieben Jahre
zuvor neu geschmiedet hatte: Sie erklärten, daß Napoleon „s'est placé hors
des relations civiles et sociales" und sich der öffentlichen Ächtung ausgesetzt
habe. Zwei Wochen später erneuerten die vier Großmächte das Bündnis
von Chaumont (25. März), dem sich mit Ausnahme Schwedens, Neapels
und der Pforte alle Staaten Europas anschlossen. 1 1 7

115 J.G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg...
( 2 1 8 5 1 - 1 8 5 2 ) [ 1 0 7 ] , B d . 2 , S. 3 8 5 .
116 J . TULARD, N a p o l e o n . . . ( 1 9 7 8 ) [ s . o . A n m . 1 0 2 ] , S. 4 8 6 .
117 Abdruck der „Vier-Mächte-Konvention": G. F. de MARTENS (Hg.), Nouveau
Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 2, Göttingen 1818, S. 112.
III. Preußen und das napoleonische System 71

Während Wellington das Kommando über die englisch-niederländische


Armee erhielt und Schwarzenberg die Oberrhein-Armee befehligte, führte
Blücher die vorwiegend aus preußischen Verbänden bestehende Niederrhein-
Armee. 1 1 8 Ihm zur Seite standen Gneisenau (Generalstabschef) und Grolman
(Generalquartiermeister). Als der König dem verdienten York, der inzwi-
schen unter Beilegung des Namens York von Wartenburg in den Grafenstand
erhoben worden war, lediglich das 5. Armeekorps zuwies, das für Schanz-
arbeiten bei Wittenberg und Torgau vorgesehen war, erbat dieser seinen —
nicht gewährten - Abschied. 119
Gegen die zahlenmäßig überlegenen, sich aber nur langsam formierenden
alliierten Truppen wollte Napoleon durch mehrere durchschlagende Ein-
zelsiege zum Gesamterfolg kommen. In der Erwartung, von Wellington und
dem weiter entfernt stehenden Korps Bülow Unterstützung zu erhalten,
nahm Blücher am 16. Juni eine Schlacht an, mußte aber, da die Unterstüt-
zung ausblieb, bei Ligny eine verlustreiche Niederlage hinnehmen. Mehrere
Fehleinschätzungen erwiesen sich für den weiteren Feldzug als folgenreich:
Erstens bemerkte der den abziehenden Preußen zur Verfolgung nachgesandte
Marschall Grouchy zu spät, daß diese nicht nach Osten abmarschiert waren,
sondern Verbindung zur Armee Wellingtons gesucht hatten. Im Vertrauen
auf die Mission Grouchys und gestützt auf die klassische strategische
Annahme, daß eine geschlagene Armee fürs erste nicht mehr kampffähig
sei, unterschätzte Napoleon zweitens die von den Preußen drohende Gefahr
und vernachlässigte die östliche Flankensicherung. Wellington, dem Blücher
trotz der eben erlittenen Niederlage volle Unterstützung zugesagt hatte,
nahm deshalb die von Napoleon am 18. Juni südlich von Waterloo bei
Belle-Alliance eröffnete Schlacht an, obwohl er den 73.000 Mann nur 69.000
gegenüberstellen konnte, von denen noch 17.000 zur Flankendeckung ab-
kommandiert waren. Trotz hoher Verluste gelang es der englisch-niederlän-
dischen Armee, entscheidende Fronteinbrüche zu verhindern. Während
Grouchy mit seinen 35.000 Mann — in Hörweite der Schlacht — endlich
die Preußen entdeckt zu haben glaubte (in Wirklichkeit war es nur das
III. Korps, das ihn aufhalten sollte) und Wellington die letzten Reserven ins
Gefecht warf, griffen die drei von Blücher herangeführten preußischen
Armeekorps am späten Nachmittag trotz unzureichender Munitionsvorräte
in die Schlacht ein: „Das Schicksal von Europa stand auf dem Spiel, wir
wagten daher die Schlacht" (Gneisenau an Hardenberg, 22. Juni). Der
Einsatz der Blücherarmee entschied den Feldzug, den Krieg und das Schick-
sal Napoleons, denn dem jetzt erfolgenden Gegenangriff hielten die fran-
zösischen Truppen nicht lange stand. „Ein paar Minuten nur, und die
Grande Armée ist nichts mehr als ein zügellos jagender Angststrom, der
alles, auch Napoleon selbst, mitreißt" (Stefan Zweig). Die von Gneisenau
persönlich geleitete, sich bis zum Morgengrauen hinziehende Verfolgung

118 Vgl. H . H E L M E R T / H . - J . USCZECK, E u r o p ä i s c h e B e f r e i u n g s k r i e g e . . . (1976) [s.o.


Anm. 2 3 ] , S. 3 6 7 ff.
119 Vgl. J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Warten-
b u r g . . . ( 2 1 8 5 1 - 1 8 5 2 ) [ 1 0 7 ] , B d . 2 , S. 4 1 4 ff.
72 § 2 Preußen und die Neuordnung Europas und Deutschlands (1814/1815)

führte zur völligen Auflösung der Armee. Napoleon wurde von den Pariser
Behörden erneut zur Abdankung gezwungen (22. Juni). Einen Tag später
erreichten die preußischen Truppen Paris, das von der provisorischen Re-
gierung für die Verteidigung vorbereitet worden war, und schlossen die
Stadt ein. Angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses von 75.000:161.000
Mann kapitulierte die Regierung am 3. Juli; die preußischen Truppen
rückten am 7. Juli in die französische Hauptstadt ein, Wellington und
Ludwig XVIII. folgten am Tage danach. Nun, da der Krieg zu Ende war,
galt es, den Frieden zu organisieren.

§ 2 Preußen und die Neuordnung Europas


und Deutschlands (1814/1815)
Nach über zweieinhalb Kriegsjahrzehnten, die auch die innere Struktur der
meisten europäischen Staaten tiefgreifend verändert hatten, stieß eine mög-
lichst dauerhafte Organisation des gemeinsam erkämpften Friedens auf
große Probleme. Es ging ja nicht nur um die außenpolitische Friedenssiche-
rung, um Beute und Bestrafung, um Bevölkerungen und Territorien; es ging
auch um revolutionäre Errungenschaften und Reformgesetze, um Liberali-
sierungen und Verfassungsversprechen, die samt und sonders, wie man
glaubte, nicht so ohne weiteres aus der Welt zu schaffen seien. Daß es
dennoch gelang, die europäischen Länder in eine langjährige Phase der
Restauration hineinzuzwingen, hatte mehrere Gründe. Erstens schafften es
die Siegermächte, das revolutionäre, jetzt erneut mit den Bourbonen be-
glückte Frankreich nicht nur als Störpotential auszuschalten, sondern als-
bald in den Kreis der Großmächte zurückzuführen und das im 18. Jahr-
hundert so erfolgreiche diplomatische Prinzip der Konvenienz wiederum
zur Richtschnur bei der Regelung der internationalen Beziehungen zu er-
heben. Zweitens erreichte die Allianz der alten Monarchien durch sich
verstärkende innenpolitische Pressionen, daß die während der Freiheits-
kriege geschürten und aufgeflammten populären Bewegungen kanalisiert
und die sie tragenden Ideen mehr und mehr diskreditiert wurden. Die
Anfänge dieser restaurativen und reaktionären Tendenzen lagen bereits in
den internationalen Abmachungen, mit denen die deutsche und europäische
Neuordnung stufenweise vorbereitet wurde.

I. Der Erste Frieden von Paris


Nachdem die vier verbündeten Mächte Ende März der Restauration der
Bourbonen zugestimmt und am 23. April einen Waffenstillstand mit dem
Grafen von Artois, einem Bruder des noch in London weilenden Königs
Ludwig XVIII., geschlossen hatten, beendete der am 30. Mai 1814 unter-
I. Der Erste Frieden von Paris 73

zeichnete (Erste) Frieden von Paris den Kriegszustand endgültig. Da auch


Schweden, Portugal und Spanien dem Frieden beitraten, befanden sich unter
diesem Vertragswerk erstmals die Signaturen jener acht Mächte, die später
auch die Wiener Kongreßdokumente unterschrieben. 1 Frankreich wurde in
seinen Grenzen vom 1. Januar 1792 bestätigt und erhielt sogar noch einige
Gebietsabrundungen an der Ostgrenze (West-Savoyen, Gex, Saarbrücken,
Landau) sowie die ehemaligen Enklaven Avignon, Venaissin, Mömpelgard
und Mülhausen mit zusammen mehr als einer halben Million Einwohnern
zugesprochen. Während sich England an den Kolonialgebieten (Malta,
Mauritius, Tobago, Seychellen u. a.) schadlos hielt, ging Preußen leer aus.
Nicht einmal seine Forderungen auf Erstattung von Leistungen und Aus-
lagen für Lieferungen und Requisitionen, die sich von 1808 bis Oktober
1813 auf 169,8 Millionen Franken beliefen, wurden erfüllt. 2 Ludwig XVIII.
lehnte es ab, politische Schulden Napoleons zu übernehmen, und Österreich
und Rußland, die keine vergleichbaren Forderungen hatten, überredeten
den preußischen König zum Verzicht. Ähnlich großzügig verhielten sich die
Sieger hinsichtlich der nach Paris verschleppten Kunstschätze: Was inzwi-
schen zur Aufstellung gelangt war, sollte an seinem neuen Standort ver-
bleiben; daß die 1806 vom Brandenburger Tor entfernte Quadriga noch
nicht ausgepackt gewesen sein soll und nur deshalb zurückgegeben wurde,
ist nicht richtig. 3 Vielmehr hat der preußische König vollendete Tatsachen
geschaffen und die Pferdegruppe, die nach sorgfältiger Restaurierung in
einem Erdgeschoßsaal des Louvre aufgestellt worden war, bereits im April
in 15 Kisten verpacken und nach Berlin schicken lassen. Zehn Tage nach
der Unterzeichnung des Friedensvertrages erreichten die sechs mehrspän-
nigen Fuhrwerke das Jagdschloß Grunewald (9. Juni). 4
Während der Verhandlungen mit Frankreich griff der englische Außen-
minister Castlereagh einen von Caulaincourt im März gemachten Vorschlag
auf, wonach sämtliche Fragen, die nicht unmittelbar den Frieden mit Frank-
reich betrafen, zu einem späteren Zeitpunkt auf einer großen Friedenskon-
ferenz — natürlich mit Einschluß Frankreichs — behandelt werden sollten.

1 Es gibt allerdings kein gemeinsames Friedensinstrument. Der Vertrag wurde


zwischen Frankreich und jedem seiner Partner einzeln geschlossen und mit den
jeweils einschlägigen Zusatzartikeln versehen. Der französisch-österreichische
Vertrag bei Georges Frédéric de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil des principaux
traités d'Alliance, de Paix, de Trêve, de Neutralité, de commerce, de limites,
d'échange etc. conclus par les Puissances de l'Europe..., Bd. 2, Göttingen 1818,
S. 1; zwischen Frankreich und Preußen scheint nur eine kürzere Fassung der
Geheimartikel vereinbart und nicht besonders unterzeichnet worden zu sein
( a . a . O . , S. 2 2 ) ; v g l . K . GRIEWANK, D e r W i e n e r K o n g r e ß . . . ( 2 1 9 5 4 ) [ 1 2 3 ] , S. 9 1 ,
Anm. 9 0 .
2 Eine Aufschlüsselung der Forderungen gibt W. ONCKEN, Das Zeitalter der Re-
volution... (1884/86) [19], Bd. 2, S. 824, Anm. 1.
3 Diese sich durch die gesamte Lit. ziehende Behauptung geht wohl auf einen Brief
des Grafen Münster vom 30. V. zurück; vgl. a. a. O., S. 826, Anm. 3.
4 Vgl. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin. Vom Entwurf bis zur
Wiederherstellung 1958, Berlin 1982, S. 16 f.
74 § 2 Preußen und die Neuordnung Europas und Deutschlands (1814/1815)

Der Gedanke, daß eine Neuordnung Europas ohne Teilnahme des als
Großmacht bestätigten Frankreich fragwürdig bleiben müsse, setzte sich
gegen manche Widerstände allmählich durch. Dementsprechend forderte
Artikel 32 des Friedensvertrages alle am Krieg beteiligten europäischen
Mächte auf, binnen zwei Monaten Bevollmächtigte nach Wien zu entsenden,
„um auf einem allgemeinen Kongreß die Verfügungen zu treffen, welche
die Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages ergänzen sollen", wobei
sich freilich die Siegermächte für die Regelung der territorialen Fragen und
für das Gesamtproblem der Wiederherstellung des europäischen Gleichge-
wichts den maßgebenden Einfluß vorbehielten („...sur les bases, arrêtées
par les puissances alliées entre elles..."). Um späteren Widersprüchen Frank-
reichs vorzubeugen, nahmen die Verbündeten einige „Grundlagen" der
Friedensregelung als geheime Separatartikel bereits in das Pariser Friedens-
dokument auf. Dazu gehörte die Bestimmung, daß das linke Rheinufer —
aber ohne Elsaß und Lothringen - als Entschädigung für Holland, Preußen
und andere deutsche Staaten vorgesehen sei und daß die deutschen Terri-
torien insgesamt unabhängig und durch ein föderatives Band vereinigt sein
sollten („indépendants et unis par un lien fédératif", Artikel 6).

II. Der Wiener Kongreß


Noch während sich Herrscher und Diplomaten allmählich in Wien versam-
melten und im Laufe des September ihre Beratungen aufnahmen, ohne daß
eine offizielle Eröffnung des Kongresses stattfand, verständigten sich Preu-
ßen und Österreich über die Grundzüge der künftigen staatlichen Organi-
sation des deutschen Gebietes. Die am 14. Oktober 1814 unterzeichneten
„Zwölf Artikel" projektierten einen verhältnismäßig locker strukturierten
Bundesstaat unter einer preußisch-österreichischen Zweierhegemonie und
sahen eine handlungsfähige Exekutive, eine recht starke Legislative und ein
oberstes Bundesgericht vor. Die Abmachungen respektierten die politischen
Vorgaben, die aus dem Vertrag von Ried und den Frankfurter Akzessions-
verträgen über die Souveränität der ehemaligen Rheinbundstaaten resul-
tierten und basierten auf den großen Verfassungsdenkschriften, die Wilhelm
von Humboldt, der österreichische Diplomat Graf Stadion und auch Har-
denberg 5 vorgelegt hatten. Weitergehende Entwürfe, die auf eine national-
staatliche Lösung der deutschen Frage zielten und vor allem vom Freiherrn
vom Stein entwickelt wurden, waren zur Enttäuschung der Patrioten poli-
tisch nicht durchsetzbar. 6 Das lag weniger an den als Leitgedanken des
Kongresses immer wieder zitierten Begriffen „Restauration" und „Legiti-
mität", die in Wirklichkeit sehr flexibel gehandhabt und oft nur als ein

5 Den Verfassungsplan Hardenbergs vom Juli 1814 publizierte - im Rahmen einer


mustergültigen Analyse des politischen Kontexts - K. GRIEWANK, Preußen und
die Neuordnung Deutschlands... (1940) [122], S. 2 3 4 - 279.
6 Eine gute Zusammenfassung bei K. von RAUMER/M. BOTZENHART, Deutschland
um 1 8 0 0 . . . (1980) [20], S. 5 7 7 - 5 8 3 .
II. Der Wiener Kongreß 75

politisches Instrument eingesetzt wurden, sondern war vielmehr in der


allgemeinen Zielvorstellung begründet, daß die angestrebte Friedensrege-
lung nur dann dauerhaft und praktikabel sein könne, wenn die innere und
äußere Stabilität der europäischen Staaten durch ein auf Autorität, Kon-
venienz und internationale Rechtsordnung gegründetes Gleichgewicht ge-
sichert sei. Mit am schwierigsten gestalteten sich dabei die Verhandlungen
über die territorialen Fragen.

1. Die territoriale Neugestaltung Preußens

Spätestens seit dem Vertrag von Kaiisch wußte die preußische Regierung,
daß sie große Teile der bei der Demontage Polens erworbenen Gebiete
abschreiben konnte. So konzentrierte sie ihre Bemühungen um Entschädi-
gung und Kriegsbeute auf das gut bevölkerte und gewerbereiche Königreich
Sachsen, das unter der geschickten und straffen Administration, die der
russische Gouverneur Repnin in Namen der Steinschen Zentralverwaltung
ausübte, die Kriegsfolgen rasch überwand, während Friedrich August in
Preußen interniert blieb. Metternich hatte den Plänen einer Gesamtannexion
Sachsens ursprünglich, zuletzt nochmals am 22. Oktober 1814, zugestimmt,
obwohl er den großpolnischen Plänen des Zaren wegen der polnischen
Untertanen des Habsburgerreiches mißtrauisch gegenüberstand. 7 Als sich
aber Friedrich Wilhelm seiner antirussischen Eindämmungsdiplomatie nicht
anzuschließen geneigt zeigte, bereitete Metternich einen gründlichen poli-
tischen Kurswechsel vor: An die Stelle der bisherigen österreichisch-preu-
ßischen Verbindung setzte er (1) ein enges Zusammengehen mit Frankreich,
um dessen politische Aufwertung sich Talleyrand unablässig und erfolgreich
bemühte, (2) das Ziel der möglichst weitgehenden Erhaltung Sachsens und
(3) Widerstand gegen die strafferen Bundespläne Preußens in Deutschland.
Als der österreichische Politiker in seiner Note vom 10. Dezember nur noch
einen kleinen Teil des Königreichs Sachsen als Diskussionsbasis anbot, war
Hardenberg „auf der ganzen Linie von Metternich überlistet und geschla-
gen" (Griewank), da auch England auf seine Linie eingeschwenkt war. Die
sich abzeichnende neue Mächtekonstellation des Kongresses bekam schär-
fere Konturen, als aus der russisch-preußischen Ecke leichtes Säbelrasseln
hörbar wurde und Österreich, England und Frankreich daraufhin ein de-
fensives Militärbündnis schlossen (3. Januar 1815). Diese Koalition war es
auch, die — aus durchaus unterschiedlichen Motiven — die territoriale

7 K . GRIEWANK, D e r W i e n e r K o n g r e ß . . . ( 2 1 9 5 4 ) [ 1 2 3 ] , S. 2 1 1 - 2 3 7 . Neueste Ein-


führung in Problematik und Forschungsstand: Heinz DUCHHARDT, Gleichgewicht
der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedens-
schlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß ( = EdF, Bd. 56),
Darmstadt 1976, S. 127 — 196. - Eine partielle Neubewertung der Rolle Har-
denbergs bei Enno E. KRAEHE, Metternich's German Policy, 2 Bde., Princeton
1963/83, hier Bd. 2: T h e Congress of Vienna, passim.
76 § 2 Preußen und die Neuordnung Europas und Deutschlands (1814/1815)

Entschädigung Preußens aus der rheinisch-westfälischen Erbmasse anstrebte


und schließlich weitgehend durchsetzte.
Im ostmitteleuropäischen Raum erhielt Preußen (1) das 1772 erworbene
Westpreußen und Ermland sowie das 1793 gewonnene Danzig zurück. Dazu
kamen Thorn und das Kulmer Ländchen. Dieser Territorialkomplex wurde
zur Provinz Westpreußen zusammengefaßt. Außerdem bekam Preußen (2)
das „Großherzogtum Posen" zugesprochen, ein Gebiet von knapp 30.000
Quadratkilometern mit etwa 800.000 Einwohnern, das bis auf die westlichen
und südlichen Kreise mehrheitlich polnisch besiedelt war. In seinem „Zuruf"
vom 15. Mai 1815 hatte Friedrich Wilhelm III. zugesichert, daß die polnische
Sprache neben der deutschen Amtssprache sein und daß den Polen der
Zugang zu allen Staatsämtern offenstehen sollte. Östlicher Nachbar der
preußischen Monarchie wurde das neu errichtete „Kongreßpolen", das mit
dem Zarenreich in Personalunion verbunden wurde. Rußland selbst behielt
alle 1793 und 1795 erworbenen polnischen Gebiete, so daß dem wiederer-
standenen Königreich Polen nicht einmal die Gebiete des napoleonischen
Herzogtums Warschau verblieben. Das Gebiet von Krakau wurde zur
autonomen Republik erklärt. 8
Im mittel- und westdeutschen Raum 9 erhielt Preußen fast alle Gebiete
zurück, die es im Frieden zu Tilsit hatte abtreten müssen (Kreis Cottbus,
die Altmark, Halberstadt, Quedlinburg, das Eichsfeld, Nordhausen, Mühl-
hausen, Erfurt, die Fürstentümer Münster und Paderborn, die Grafschaften
Mark, Werden und Essen, Ravensberg, Tecklenburg und viele kleinere
Gebiete, ebenso das schon 1806 abgetretene Fürstentum Neuenburg (Neu-
châtel), das am 21. September 1814 als 21. Kanton der Eidgenossenschaft
beitrat, in seinen inneren Angelegenheiten aber ein Fürstentum des preu-
ßischen Königs blieb, obwohl es „ein von der preußischen Monarchie völlig
abgesonderter Staat" war. Im ganzen machten die Restitutionen in Ost und
West den Löwenanteil der preußischen Territorialgewinne von 1814/15 aus,
nämlich 61.055 Quadratkilometer. 10 Vom Königreich Sachsen erhielt Preu-

8 Vgl. dazu Gotthold RHODE, Polen und die polnische Frage von den Teilungen
bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Walter Bußmann (Hg.), Europa
von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des
19. Jahrhunderts ( = HbeG, Bd. 5), Stuttgart 1981, S. 6 7 7 - 7 4 5 , hier S. 6 9 5
und 7 1 5 f.
9 Uber die zahlreichen Territorialveränderungen informiert mit genauen Quellen-
angaben E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1,
S. 571 f. und 576 - 582. Vgl. auch Friedrich Wilhelm von ROHRSCHEIDT, Preußens
Staatsverträge, Berlin 1852, S. 25 — 27.
10 Alle Angaben zur Flächengröße (in stark gerundeten Zahlen) nach Afrtur] Frhr.
von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im preussischen Staate
während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874 ( = PrStat, H . 48a),
Berlin 1879, S. 1 - 6 . Etwas abweichende Zahlen enthält die von Hans-Joachim
SCHOEPS, Preußen. Geschichte eines Staates, Berlin 6 1 9 6 7 , S. 3 9 4 - 399, mitgeteilte
Ubersicht, die — leicht gekürzt — übernommen wurde aus: Meyers Großes
Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 16,
L e i p z i g - W i e n 6 1909, nach S. 316.
II. Der Wiener Kongreß 77

ßen die nördlichen Gebiete mit den Städten Torgau, Wittenberg, Merseburg,
Weißenfels und Naumburg, aber ohne das begehrte Leipzig, sowie zahlreiche
Splittergebiete zwischen Magdeburg, Harz und Thüringer Wald, alles in
allem 20.842 Quadratkilometer mit 855.000 Einwohnern.
Neben seinen alten linksrheinischen Besitzungen Kleve, Geldern und
Moers erhielt Preußen die Rheinlande bis zur Flußlinie Nahe — G l a n -
Saar — Mosel — Sauer. Einen weiteren territorialen Gewinn konnte Preußen
im Zweiten Pariser Frieden verbuchen: Frankreich mußte die vom Sonnen-
könig gegründete Festung Saarlouis und die vier Saarkantone (Saarbrücken,
Saarlouis, St. Johann, Rehlingen) abtreten. Von dem nördlich davon gele-
genen Gebiet, das seit Juni 1814 einer österreichisch-bayerischen Admini-
strations-Kommission unterstand, ging der westliche Teil 1815/16 ebenfalls
an Preußen. 11 Insgesamt umfaßten diese territorialen Gewinne 20.403 Qua-
dratkilometer.
Demgegenüber fielen die sonstigen Erwerbungen deutlich ab. Wichtig
war, daß Schwedisch-Vorpommern mit Rügen durch einen Ringtausch über
Dänemark an Preußen gelangte, das dafür das von Hannover erhaltene
Lauenburg abgab, und daß der rechtsrheinisch-westfälische Landkomplex
durch viele kleinere Gebiete arrondiert und vergrößert werden konnte.
Andererseits verlor Preußen endgültig Ansbach und Bayreuth (an Bayern)
sowie Ostfriesland, Hildesheim, Goslar und Lingen (an Hannover). Im
ganzen blieb das preußische Territorium nach 1815 deutlich hinter dem
Vorkriegsstand zurück.
Bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes vergrößerte sich die preu-
ßische Monarchie nur noch um das Fürstentum Lichtenberg (1834 von
Sachsen-Coburg-Gotha gekauft), um die Fürstentümer Hohenzollern-Sig-
maringen und Hohenzollern-Hechingen (1850 „durch einen Akt antizipierter
Erbfolge" im Rahmen eines Staatsvertrages) 12 und um zwei Gebietssplitter
in Norddeutschland (1850/51 Lippstadt, 13 1853 Jadebusen). Aufgegeben
wurde 1857 das Fürstentum Neuenburg/Neuchätel.
Die folgende Übersicht zeigt die territoriale Entwicklung der preußischen
Monarchie seit dem Regierungsantritt Friedrichs II. 1 4 Dabei war Friedrich
Wilhelm III. „der erste der hohenzollernschen Könige, der sein Landge-
biet kleiner hinterließ als er es von den Vorfahren übernommen hatte"
(Treitschke) (siehe Tabelle 4 auf S. 78).
Mit den Gebietszuweisungen von 1815 erfuhr das preußische Staatsgebiet
eine deutliche Westverschiebung. Metternich hatte nicht nur die drohende

11 Vgl. Ilja MIECK, Deutschlands Westgrenze, in: Alexander Demandt (Hg.),


Deutschlands Grenzen in der Geschichte, München 2 1991, S. 1 9 1 - 2 3 3 , hier
S. 2 1 5 - 2 1 7 .
12 Vgl. F . W . v o n ROHRSCHEIDT, P r e u ß e n s S t a a t s v e r t r ä g e . . . (1852) [s.o. Anm. 9],
S. 4 1 1 - 4 1 4 . Der Vertrag vom 7. XII. 1849 wurde am 20. II. 1850 ratifiziert.
13 Seit 1445 bestand ein Kondominium von Lippe und Brandenburg über die Stadt
Lippstadt. 1850 verzichtete der Fürst von Lippe gegen Entschädigung auf seine
„mitlandesherrlichen Rechte"; Vertragstext: A . a . O . , S. 417f.
14 Zur Flächenberechnung s.o. S. 16, Anm. 1.
78 § 2 Preußen und die Neuordnung Europas und Deutschlands (1814/1815)

TABELLE 4
Territoriale Entwicklung der preußischen Monarchie (1740-1861)

Jahr Quadratmeilen Quadratkilometer

1740 2.146 118.159


1786 3.526 194.128
1795 5.538 304.895
1804 5.711 314.448
1808 2.870 158.008
1816 5.072 279.264
1840 5.083 279.842
1861 5.104 281.026

Quelle: A[rtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im
preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, S. 1 - 6 .

Umfassung Böhmens durch preußische Territorien vereitelt und eine weitere


gemeinsame Grenze vermieden, er hatte Preußen auch in eine militärische
Position am Rhein geschoben, die diesem Staat im Falle eines Krieges mit
Frankreich die Verteidigungslasten aufbürdete. Richtig ist freilich auch, daß
Preußen nun in stärkerem Maße ein westdeutscher Staat wurde. Wenn es
nolens volens, denn es hatte sich lange gegen die rheinischen Pläne Metter-
nichs und Castlereaghs gesträubt, die „Wacht am Rhein" übernahm, lagen
dem spezifisch preußische, keineswegs aber deutsch-nationale Motive zu-
grunde. Friedrich Wilhelm und Hardenberg trieben preußische, nicht deut-
sche Politik. Der geopolitische Schönheitsfehler bei der territorialen Neu-
gestaltung Preußens war, daß zwischen dem rheinisch-westfälischen Lan-
desteil und der „Osthälfte" Preußens das Königreich Hannover, das Her-
zogtum Braunschweig und das Kurfürstentum Hessen lagen. Nur durch
zwei Militärstraßen auf den Linien Halberstadt — Minden und Gifhorn —
Minden waren die beiden preußischen Landesteile verbunden. „Die Verset-
zung Preußens an den Rhein ist eine der fundamentalen Tatsachen der
deutschen Geschichte, eine der Grundlagen der Reichsgründung von 1866/
71. Mit der Rheinprovinz war die künstliche Existenz Preußens, die Spaltung
in eine Ost- und eine Westhälfte neu befestigt und schärfer als je zuvor
ausgeprägt. Das wurde zur stärksten Antriebskraft preußischer Machtpo-
litik; letzten Endes ging es darum, diese Spaltung zu überwinden" 15 —
wobei freilich die relativierende Feststellung zu treffen ist, daß diese geo-
politische Anomalie immerhin ein halbes Jahrhundert lang nicht ernsthaft
in Frage gestellt wurde. Die in Wien geschaffene Ordnung erwies sich als
überaus stabil.

15 T. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte... (1983) [17], S. 91.


II. Der Wiener Kongreß 79

2. Die deutsche Verfassungsfrage

Zu den vom Achterkomitee der Pariser Signatarmächte eingesetzten 13


Sonderkommissionen gehörte auch das Deutsche Komitee. 16 Auf der Basis
der in Châtillon und Chaumont getroffenen Vereinbarungen und der „Zwölf
Artikel" sollte dieses Gremium den Auftrag des Pariser Friedensvertrages
ausführen und die Grundzüge einer deutschen Verfassung erarbeiten. Ver-
treten waren in diesem Ausschuß Österreich (durch Metternich und Wes-
senberg), Preußen (Hardenberg, W. v. Humboldt), Bayern (Wrede), Han-
nover (Münster, E. C. Hardenberg) und Württemberg (Linden, später Wint-
zingerode). Wegen des erbitterten Widerstands der beiden süddeutschen
Staaten gegen alle mit Souveränitätseinbußen einhergehenden bundesstaat-
lichen Verfassungskonstruktionen war man in der Sache nicht weitergekom-
men, als Württemberg die 13. Sitzung unter Protest verließ (16. November).
Einige Tage schien es, als ob der preußisch-österreichische Bundesvorschlag
nun ohne Rücksicht auf die opponierende Minderheit durchgesetzt werden
sollte, doch dann erfolgte der erwähnte Kurswechsel Metternichs, der es
jetzt vorzog, die deutsche Verfassungsfrage dilatorisch zu behandeln und in
jedem Fall mit antipreußischen Akzenten zu versehen.
Reichlichen Diskussionsstoff boten die verschiedenen Verfassungspläne,
die von seiten Österreichs (Wessenberg, Dezember 1814), Preußens (W. v.
Humboldt, drei Entwürfe, Dezember 1814 bis April 1815) und Rußlands
(Stein, sogenannter Kaiserplan, mehrere Vorstöße, November 1814 bis
März 1815) vorgelegt wurden. Intensivere Beratungen ergaben sich aber
erst seit dem Frühjahr 1815, als die Rückkehr Napoleons und der nahende
Abschluß des Kongresses zu zügiger und effektiver Verhandlungsführung
zwangen: Auf der Grundlage eines neuen preußischen Entwurfs aus der
Feder Humboldts (14 Artikel, April) und des leicht revidierten Wessenberg-
Textes (19 Artikel, 7. Mai) entstand ein gemeinsamer Entwurf (17 Artikel),
den Metternich am 23. Mai der Konferenz sämtlicher deutscher Einzelstaa-
ten zur Beratung vorlegte. In den folgenden elf „Deutschen Kpnferenzen"
(23. Mai — 10. Juni) stieß auch dieser Verfassungsentwurf auf hefti^eJCritik.
Württemberg nahm an den Beratungen überhaupt nicht, Baden, ohnehin
nur beobachtend, lediglich bis zur 5. Sitzung teil. Bayern und das seit dem
Friedensvertrag vom 18. Mai dazugestoßene Sachsen blockierten alle bun-
desstaatlichen Tendenzen. Durchgesetzt wurden (1) die Anerkennung der
„Souveränität" der Landesherren, (2) das Recht auf eigene Außenpolitik
und Bündnisse aller Art, sofern sie nicht gegen den Bund oder seine Glieder
gerichtet waren, (3) das Vetorecht in allen Fragen der Bundesverfassung,
der Bundesorgane, der individuellen Rechte und der Religion, (4) die Ver-
hinderung eines Bundesgerichts und (5) die Beschränkung der Grundrechte
auf ein Minimum. Als Ergebnis der langen Verfassungsdebatte wurde

16 Vgl. dazu E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [49], Bd. 1,


§ 3 1 , S. 5 4 3 - 5 6 3 .
80 § 2 Preußen und die Neuordnung Europas und Deutschlands (1814/1815)

schließlich der orakelhafte Satz aufgenommen: „In allen Bundesstaaten wird


eine landständische Verfassung stattfinden" (Artikel 13).
Von allen nationalstaatlich verdächtigen Formulierungen sorgfältig be-
freit, wurde die revidierte Fassung des Entwurfs (20 Artikel, 2. J u n i ) , die
nun die Bezeichnung „Deutsche B u n d e s a k t e " erhielt, 1 7 am 5. J u n i von den
meisten Ländern a n g e n o m m e n ; Sachsen folgte am 6., Bayern a m 8. Juni.
Preußen erklärte, es h a b e gewünscht, dem D o k u m e n t „eine größere Aus-
dehnung, Festigkeit und B e s t i m m t h e i t " geben zu k ö n n e n , wolle aber lieber
eine unvollständige als gar keine Bundeslösung. A m 10. J u n i , bei der
11. Konferenz, wurde die mit dem D a t u m des 8. J u n i ausgefertigte Bundes-
akte endgültig bestätigt. Baden Schloß sich dem B u n d erst am 2 6 . Juli,
Württemberg am 1. September 1815 an. U m das Verfassungswerk unter den
Schutz der G r o ß m ä c h t e zu stellen, wurden die ersten elf Artikel in die am
9. Juni verabschiedete Schlußakte des W i e n e r Kongresses ( „ K o n g r e ß a k t e " ,
121 Artikel) 1 8 als Artikel 5 3 — 63 eingefügt und das G e s a m t d o k u m e n t ,
zusammen mit den zahlreichen Einzelverträgen über die territoriale Neu-
ordnung, in den A n h a n g a u f g e n o m m e n .
D i e patriotischen Kreise, allen voran der Freiherr vom Stein, die sich aus
den Freiheitskriegen heraus den Aufbruch zu Freiheit und Einheit erhofft
hatten, waren über das nach ihrer M e i n u n g verfassungsrechtlich und poli-
tisch unzulängliche Ergebnis tief enttäuscht. Es darf aber nicht übersehen
werden, d a ß nicht nur die süddeutschen Königreiche eine stärkere bundes-
mäßige Konzentration ablehnten; auch die deutschen Kleinstaaten, auf die
H a r d e n b e r g und H u m b o l d t zuerst rechnen zu können glaubten, verhielten
sich a b w a r t e n d , weil sie — nicht zu Unrecht, wie sich in späteren J a h r -
zehnten zeigen sollte — preußische Annexions- oder Mediatisierungsab-
sichten befürchteten. 1 9 Auch m u ß man sich davor hüten, die Bundesakte
aus der Perspektive des 1871 geschaffenen Reiches zu beurteilen. Politik
w a r auch in W i e n nur die Kunst des M ö g l i c h e n ; H u m b o l d t faßte dies wohl
a m treffendsten zusammen: In der besonderen Situation von 1815 „war es
unmöglich nichts, und unmöglich das R e c h t e zu tun. W a s nun zwischen
diesen beiden E x t r e m e n zustande k o m m e n k o n n t e , das ist die w a h r e Defi-
nition des Deutschen B u n d e s . " 2 0

3. Anschlußkonferenzen und Folgeverträge

D e r etwas überstürzte Abschluß des W i e n e r Kongresses, vorher beschlossene


Aufgabenzuweisungen und die durch die R ü c k k e h r N a p o l e o n s entstandene
neue Situation führten dazu, d a ß im Laufe der nächsten J a h r e das W i e n e r

17 Leicht zugänglich bei E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], S. 8 4 - 9 0 .


18 Text: F.W. von ROHRSCHEIDT, Preußens Staatsverträge... (1852) [s.o. Anm. 9],
S. 445 - 474.
19 Vgl. K . GRIEWANK, D e r W i e n e r K o n g r e ß . . . ( 2 1 9 5 4 ) [ 1 2 3 ] , S. 2 7 5 .
20 Zit. von E. R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 1, S. 5 6 3 .
II. Der Wiener Kongreß 81

Vertragswerk durch ein ganzes Bündel internationaler Abmachungen ab-


gerundet, ausgefüllt und ergänzt wurde. Preußen war daran maßgeblich
beteiligt.
1) Kaum mehr als deklamatorische Bedeutung hatte die auf Initiative des
Zaren am 26. September 1815 von den Monarchen Österreichs, Preußens
und Rußlands unterzeichnete „Heilige Allianz". Metternich hatte aus der
ursprünglichen Fassung die prophetischen Passagen herausgestrichen und
einige Akzente anders gesetzt, so daß nun die Brüderlichkeit der Monarchen
(statt die der Völker) und die Großmächte (statt einer universalen Völker-
gemeinschaft) im Mittelpunkt standen. Die wortreiche Erklärung, von Met-
ternich ein „lauttönendes Nichts" genannt, bekannte sich zum Christentum
als dem Fundament der politischen Ordnung, zum Gottesgnadentum, zum
patriarchalischen Regiment, zu Gerechtigkeit und Frieden. Die nicht näher
definierte Klausel, daß sich die Unterzeichner „bei jeder Gelegenheit und
an jedem Orte Beistand, Hilfe und Unterstützung gewähren" werden, ent-
hielt freilich implizit eine Interventionsdrohung gegen innere Umwälzungen
oder auswärtige Angriffe. 2 1 Bis auf den Sultan, den Papst (aus religions-
politischen Gründen) und England (aus verfassungsrechtlichen Gründen)
schlossen sich alle europäischen Länder, auch die Schweiz, dem Vertrag an.
Als Symbol der konservativen und antirevolutionären Restaurations- und
Stabilisierungspolitik war die Heilige Allianz vor allem ein propagandisti-
sches Instrument, das die harten und unpopulären politischen Entscheidun-
gen der nächsten Jahre mit dem Glanz christlicher Rechtfertigung versehen
sollte. Insofern hat sie doch etwas von ihrer ursprünglichen Kreuzzugsideo-
logie behalten.
2) Die Bemühungen der preußischen Unterhändler nach der endgültigen
Niederlage Napoleons, eine Revision der französischen Ostgrenze zu errei-
chen, zielten zuerst auf das Elsaß. D e m widersetzte sich Metternich im
Interesse eines längerfristigen Ausgleichs mit Frankreich. Auch wollte er
die Stabilisierung der Bourbonenherrschaft nicht durch eine über das Zu-
mutbare hinausgehende Annexionspolitik gefährden. D a sich Rußland und
England dieser Meinung anschlossen, mußte Preußen nachgeben. Statt
dessen erhielt es im Zweiten Frieden von Paris (20. November 1815) das
Gebiet von Saarbrücken mit der Festung Saarlouis. 2 1 a
3) Ebenfalls am 20. November 1815 unterzeichneten die vier Siegermächte
die Quadrupelallianz (Vierbund). In der Befürchtung, daß sich in Frankreich
erneut revolutionäre Grundsätze durchsetzen und Europa gefährden könn-
ten, erneuerte man die Kriegsbündnisse von Chaumont (1. M ä r z 1814) und
Wien (25. M ä r z 1815) in einer Friedensallianz und gelobte, durch wieder-
holte Zusammenkünfte über die Sicherheit Europas zu wachen; „der Erdteil,

21 Leicht zugänglich: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], S. 83 f. - F. W.


von ROHRSCHEIDT, Preußens Staatsverträge... (1852) [s.o. Anm. 9], S. 13, be-
zeichnet das Dokument „als ein Glaubensbekenntnis der höchsten politischen
M a x i m e n oder aber als ein Gelübde der hohen Stifter..., das zwar historische
Bedeutung, nicht aber praktische völkerrechtliche Wirksamkeit hat".
2U Siehe oben S. 77.
82 § 2 Preußen und die Neuordnung Europas und Deutschlands (1814/1815)

voran Frankreich, trat unter die Polizeiaufsicht der Koalition" (Klein-


schmidt).
4) Das erste derartige Gipfeltreffen war der Kongreß von Aachen
(29. September —21. November 1818). Er beschloß die Räumung Frank-
reichs von den alliierten Besatzungstruppen bis Ende November, setzte —
gegen den preußischen Widerstand — die Kriegsentschädigung von 700 auf
265 Millionen Franken herab, 2 2 entschied über einige strittige deutsche
Territorial- und Entschädigungsfragen und beschäftigte sich intensiv mit
den von den deutschen Universitäten ausgehenden „demagogischen" Um-
trieben, die Metternich damit in eine gesamteuropäische Perspektive rücken
und als Zentrum einer allgemeinen europäischen Verschwörung diskrimi-
nieren wollte. Die späteren Kongresse von Troppau (1820), Laibach (1821)
und Verona (1822) haben sich vorwiegend mit außerdeutschen Ereignissen,
nämlich den Revolutionen in Spanien, Italien, Griechenland und Latein-
amerika, beschäftigt und den allgemeinen Grundsatz des Interventionsrechts
entwickelt.
5) Sowohl die Wiener Kongreßakte als auch der Zweite Pariser Frieden
hatten eine Reihe schwieriger Gebietsfragen offengelassen. Eine seit 1816
arbeitende Territorialkommission der Alliierten, in der Preußen durch
W. v. Humboldt vertreten war, führte nach jahrelangen Verhandlungen end-
lich zu dem Frankfurter Territorialrezeß (20. Juli 1819), der die abgeschlos-
senen Einzelverträge in einer Art Zusatzakte zur Wiener Kongreßakte
zusammenfaßte. 23 Preußen erhielt - neben der Bestätigung von Saarbrük-
ken und Saarlouis — eine Reihe von Gebietsteilen an Saar und Mosel zur
Arrondierung 24 und das Recht auf je eine Militärstraße durch Hessen-
Darmstadt und das Fürstentum Birkenfeld (nach Saarbrücken).
6) Schließlich erfuhr auch die deutsche Bundesverfassung eine weitrei-
chende Ausgestaltung, war doch die Bundesakte nicht viel mehr als ein
knapper Rahmenvertrag. Vom 25. November 1819 bis zum 24. Mai 1820

22 Da die wichtigsten Streitfragen mit Frankreich damit ausgeräumt waren, wurde


der Bourbonenstaat durch das Aachener Protokoll (G. F. de MARTENS [Hg.],
Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 1], Bd. 4, Göttingen 1820, S. 5 5 4 : 15. X I . 1818)
in die Quadrupel-Allianz aufgenommen - nachdem sich die vier Siegermächte
zuvor in einem Geheimabkommen am 19. X . darüber verständigt hatten, im
Falle einer von Frankreich ausgehenden Kriegsgefahr das noch immer bestehende
Viererbündnis von Chaumont zu reaktivieren (Text: Guillaume de BERTIER DE
SAUVIGNY, Metternich et la France après le Congrès de Vienne, 3 Bde., Paris
1968 — 1971, hier Bd. 1, S. 2 0 5 f.). Die fälschliche Datierung dieses Geheimabkom-
mens auf den 1. X I . (Hintze, Huber) geht wohl auf den „Aperçu sommaire"
Metternichs vom gleichen Tage zurück (Richard METTERNICH-WINNEBURG [Hg.],
Aus Metternich's nachgelassenen Papieren, bearb. von Alfons v. Klinkowström,
8 Bde., Wien 1 8 8 0 - 1 8 8 4 , hier Bd. 2 / 1 , S. 161 - 164).
23 E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1,
S. 5 8 0 - 5 8 2 .
24 Die Texte bei G . F . de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 1], Bd. 2,
S. 668 (Protokoll vom 20. X I . 1815), und a. a. O., Bd. 4, S. 241 (Übergabeverein-
barung vom 1. VII. 1816).
II. Der Wiener Kongreß 83

fanden die Wiener Ministerial-Konferenzen statt, zu denen die Vertreter der


17 stimmführenden Mächte des Engeren Rats geladen waren. Unter der
Lenkung Metternichs und des preußischen Gesandten Graf Bernstorff kam
nach sechsmonatigen Beratungen die aus 65 Artikeln bestehende Wiener
Schlußakte („Bundes-Supplementar-Akte", 15. Mai 1820) zustande. Die
Bundesversammlung in Frankfurt nahm den Text am 8. Juli 1820 ohne
Aussprache einstimmig an. 2 5 Bundesakte und Wiener Schlußakte stellten
gemeinsam die Grundgesetze des Deutschen Bundes dar, wobei das zweite
Dokument das erste verbindlich interpretierte. Von ausschlaggebender Be-
deutung für die künftige politische Generallinie der Bundespolitik war, daß
es Metternich gelang, die restriktive Auslegung des Artikels 13 der Bundes-
akte („Landständische Verfassung"), die er in Teplitz, Karlsbad und Frank-
furt nicht hatte durchsetzen können, doch noch zu erreichen. 26 Die Artikel
57 und 58 der Wiener Schlußakte legten nämlich fest, daß die souveränen
Landesherren durch eine Verfassung „nur in der Ausübung bestimmter
Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden" und daß sie „durch keine
landständische Verfassung in der Erfüllung ihrer bundesmäßigen Verpflich-
tungen gehindert oder beschränkt werden" dürften. Das damit als Verfas-
sungsgrundsatz proklamierte „monarchische Prinzip" erwies sich langfristig
als äußerst wirksames Mittel, wenn es darum ging, konkurrierende Herr-
schaftsansprüche zurückzuweisen. Politische Mitbestimmung und monar-
chisches Prinzip schlossen sich faktisch gegenseitig aus. 27

§ 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform


und Revolution

Die zweieinhalb Jahrzehnte, in denen Preußen nach dem Ende der Frei-
heitskriege noch von dem gutwilligen, aber konservativen und im Grunde
unpolitischen König Friedrich Wilhelm III. regiert wurde, entziehen sich,
betrachtet man den Gesamtstrom des historischen Geschehens, jeder gene-
ralisierenden Etikettierung. Auf die Turbulenzen der napoleonischen Epoche
folgte eine Zeit der Erholung und des Neubeginns, die — was viel zu selten
betont wird — von großen äußeren Erschütterungen verschont blieb; Preu-
ßen stand am Anfang einer langen Friedensperiode. Nach einem Jahrzehnt
des nahezu ununterbrochenen Ausnahmezustandes kam die Normalität
wieder zu ihrem Recht. Gemäß der in Preußen allemal gültigen Formel

25 Vgl. E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1,


S. 594ff. und 753f. Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50],
S. 91 - 1 0 0 .
26 Siehe unten S. 110 f. und 185.
27 Vgl. dazu H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,
S. 342 f.
84 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

„Regieren heißt Verwalten" begann damit eine neue Blütezeit der Bürokra-
tie. Eine administrative Führungsschicht, die sich in hohem Maße aus
bürgerlichen Kreisen rekrutierte, formte und strukturierte das neue Preußen.
Sie paßte den Staat seinem noch ungewohnten neuen Gehäuse an, das ihm
der Wiener Kongreß gegeben hatte, und leitete, förderte, kontrollierte und
überwachte die Untertanen. N u r eine Grenze hatte der bürokratische Ab-
solutismus zu respektieren: Der König blieb immer der König. Bei ihm lag
die letzte Entscheidung. Mit seinen Kabinettsordern wahrte er den monar-
chischen Charakter Preußens. Er war, wie Hegel es einmal ausdrückte, „die
Spitze und der Anfang des Ganzen", 1 er bestimmte die Richtlinien der
Politik.

I. Die administrative Neugliederung


Noch bevor die territoriale Neugestaltung des preußischen Staates durch
die Unterzeichnung der Wiener Schlußakte formell besiegelt wurde, erschien
die „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-Behörden"
vom 30. April 1815. Sie war ein erster Schritt auf dem beschwerlichen Weg,
die Kernlande, die wiedergewonnenen und die neu erworbenen Gebiete mit
einem leistungsfähigen Verwaltungsnetz zu überziehen. Die unentwegten
Bemühungen der Bürokratie, der Staatsverwaltung durch Ausbau, Verbes-
serung und Verfeinerung der Gebietsgliederung sinnvollere Strukturen und
größere Effizienz zu geben, spiegeln sich in Hunderten von Erlassen, Ver-
ordnungen und Verfügungen, für die es mehrere Publikationsorgane gab:
(1) die „Departements-" beziehungsweise (seit 1811) „Amtsblätter" der
Regierungen für alle Verordnungen, die lediglich einen einzigen Regierungs-
bezirk betrafen, (2) die „Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen
Staaten" (Jahrgangsbände ab 1810, Nachtragsband 1 8 0 6 - 1 8 1 0 von 1822)
für diejenigen Erlasse, die mehrere Regierungsbezirke oder auch die gesamte
Monarchie angingen. Mehr für den verwaltungsinternen Gebrauch war (3)
das seit 1840 jährlich erscheinende „Ministerialblatt für die gesamte innere
Verwaltung" bestimmt.
Die Verordnung vom 30. April 1815 2 legte eine dreistufige Verwaltungs-
gliederung in Provinzen/Regierungsbezirke/Kreise fest. Zunächst wurden,
jeweils mit einem Oberpräsidenten an der Spitze, 3 zehn Provinzen einge-
richtet: 4

1
Zit. in der glänzenden Überblicksdarstellung von K.-G. FABER, Deutsche Ge-
schichte... (1979) [12], S. 28.
2
GS 1815, S. 85. Eine Ausführungsinstruktion vom 3. VII. 1815.
3
Neues Material zur Institution der Oberpräsidenten bringt Rüdiger SCHÜTZ,
Preußen und die Rheinlande. Studien zur preußischen Integrationspolitik im
Vormärz, Wiesbaden 1979, S. 2 9 - 8 3 .
4
Für die Geschichte der preußischen Verwaltung gibt es seit kurzem zwei Stan-
dardwerke: Waither HUBATSCH (Hg.), Grundriß zur deutschen Verwaltungsge-
schichte 1 8 1 5 - 1 9 4 5 . Reihe A: Preußen, 12 Bde. (in 13 Bdn.), Marburg/Lahn
I. Die administrative Neugliederung 85

ABBILDUNG 1
Regierung und Verwaltung in Preußen seit 1807/1815

Quelle: M. SCHLENKE (Hg.), Preußische Geschichte ... (21991) [23], S. 175.


86 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Preußen Großherzogtum Posen


Westpreußen Sachsen
Brandenburg Westfalen
Pommern (Jülich-) Kleve-Berg (Zusatz im Herbst 1815)
Schlesien Großherzogtum Niederrhein
Die Abgrenzung und Zusammenfügung der Gebietsteile brachte große
Probleme und rief „ein allgemeines Sturmlaufen gegen die Regierung"
(Treitschke) hervor. Selbst die alten Provinzen mußten Änderungen ihrer
Areale hinnehmen. Am ärgsten erging es den ehemals sächsischen Landes-
teilen: Sie wurden auf drei Provinzen und sechs Regierungsbezirke verteilt,
während die traditionsreiche Altmark von der Kurmark abgetrennt und
trotz erbitterter Proteste der neuen Provinz Sachsen einverleibt wurde. In
die 1815 festgelegte Provinzialstruktur wurde allerdings nur zweimal ein-
gegriffen: 1822 verlor Jülich-Kleve-Berg seine Selbständigkeit und wurde
dem niederrheinischen Oberpräsidium unterstellt. Für das Gesamtgebiet
bürgerte sich allmählich die Bezeichnung „Rheinprovinz" ein (1830 amtlich
anerkannt). Die Provinz Preußen wurde, als ihr erster Oberpräsident
v. Auerswald 1824 starb, mit Westpreußen verbunden. Theodor v. Schön,
seit 1816 westpreußischer Oberpräsident, übernahm nun das Oberpräsidium
der neuen (Gesamt-)Provinz Preußen (bis 1842). Infolge dieser beiden Zu-
sammenlegungen gab es seit 1824 acht Provinzen.
Unterhalb dieser Ebene bestanden zuerst 28 Regierungsbezirke, die von
je einem Regierungspräsidenten geleitet wurden. Auf jede Provinz entfielen
zwei bis drei Regierungsbezirke. Die nach einigen Binnenverschiebungen
(Auflösung von Berlin 5 und Kleve 1821, Einrichtung von Stralsund 1818
u. a.) erreichte Zahl von 25 Regierungsbezirken wurde bis 1866 nur durch
die „Hohenzollernschen Lande" (1849) geringfügig erhöht (siehe
Abbildung 1 auf S. 85).
Die durch die Verordnung vom 30. April 1815 vorgeschriebene Einteilung
der Regierungsbezirke in Kreise sollte sich an drei Voraussetzungen orien-
tieren: (1) möglichste Respektierung überkommener Kreisgrenzen, (2) Ein-
wohnerzahl eines Kreises zwischen 20.000 und 36.000 Köpfen, (3) maximale
Entfernung der Kreisstadt von den Siedlungen zwei bis drei Meilen. Städte
konnten in Ausnahmefällen ihre Entlassung aus dem ländlichen Kreisver-
band beantragen und einen eigenen Stadtkreis bilden (zum Beispiel Aachen-
Stadt 1818, Magdeburg-Stadt 1828). Es dauerte etwa ein Jahrzehnt, bis die
neue Kreiseinteilung eine Form gefunden hatte, die in vielen Fällen, von

1975 -1981, und Kurt G. A. JESERICH/Hans P o H L / G e o r g - C h r i s t o p h von UNRUH


(Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, 6 Bde., Stuttgart 1983-1988. Für die
westlichen Gebiete ist auch heranzuziehen: Verwaltungsgrenzen der Bundesre-
publik Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts ( = VAkRL, Bd. 110), Han-
nover 1977.
5 Über den Regierungsbezirk Berlin vgl. Richard DIETRICH, Verfassung und Ver-
waltung, in: Hans Herzfeld (Hg.), Berlin und die Provinz Brandenburg im 19.
und 20. Jahrhundert ( = V H K z B , Bd. 25), Berlin 1968, S. 181-308, hier S. 199-
202.
I. Die administrative Neugliederung 87

TABELLE 5
Verwaltungsgliederung Preußens (Stand: 1830)

Provinzen Zahl der


und Regierungsbezirke
Landkreise Stadtkreise

Preußen
1. Königsberg 19 1 (Königsberg)
2. Gumbinnen 16 -

3. Danzig 7 1 (Danzig)
4. Marienwerder 13
Brandenburg
5. Potsdam 13 1 (Potsdam)
6. Frankfurt 17 -

Pommern
7. Stettin 12 -

8. Köslin 9 —

9. Stralsund 4 -

Posen
10. Posen 17 -

11. Bromberg 9 -

Schlesien
12. Breslau 23 -

13. Liegnitz 18 -

14. Oppeln 16 -

Sachsen
15. Magdeburg 14 1 (Magdeburg)
16. Merseburg 15 1 (Naumburg)
17. Erfurt 9 -

Westfalen
18. Münster 11 -

19. Minden 12 -

20. Arnsberg 14 -

Rheinprovinz
21. Koblenz 12
22. Düsseldorf 13
23. Köln 10 1 (Köln)
24. Trier 11 1 (Trier)
25. Aachen 10 1 (Aachen)

8 Provinzen/25 Reg.-bezirke 324 8

Quelle: Eigene Zusammenstellung.


88 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

kleineren Korrekturen abgesehen, für ein halbes oder auch ganzes Jahrhun-
dert Bestand hatte. 6 Das 1830, am Ende dieser Einführungsphase, erreichte
Gesamtbild der Verwaltungsgliederung zeigt Tabelle 5 auf S. 87.
Eine Sonderstellung nahm bis 1828 die Hauptstadt der preußischen Mon-
archie ein. Nachdem die Staatsregierung im Zuge ihrer Sparmaßnahmen
den Regierungsbezirk Berlin durch eine Kabinettsorder vom 21. Dezember
1821 aufgelöst hatte, wurde die Stadt unmittelbar dem Innenministerium
unterstellt, dessen höchster Repräsentant in Berlin der Polizeipräsident war.
Eine Kabinettsorder vom 2. August 1828 beendete diesen Rest einer Son-
derstellung und übertrug die Kommunalaufsicht über Berlin — genau wie
die aller anderen Städte des Regierungsbezirks — der Regierung in Potsdam.
„Bei dieser Regelung sollte es dann für die nächsten 50 Jahre verbleiben"
(Dietrich).

II. Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsstruktur


Dem Kgl. Preußischen Statistischen Bureau in Berlin waren von den Regie-
rungsbezirken seit 1816 jährlich, seit 1822 alle drei Jahre, „Populationsli-
sten" einzureichen. Die Anzahl der Geburten, Todesfälle und Heiraten
mußte, basierend auf den Kirchenbüchern, „alljährlich" gemeldet werden.
1834 und 1837 wurden die Zählungen nach den von der Zollvereinskonfe-
renz empfohlenen Grundsätzen durchgeführt, doch verzichtete man wegen
„der großen Verschiedenheit der Landes- und Ortsverfassung und der Bil-
dungsstufe der Unterbehörden" auf den Erlaß von einheitlichen Instruktio-
nen. Eine erste derartige Verfügung kam für die Zählung von 1840 heraus,
bei der nach sachkundiger Einschätzung „höchst wahrscheinlich nicht mehr
als ein Zehntel der Bevölkerung" unberücksichtigt blieb. 1 Angesichts dieser
Fehlerquote wird man der 1845 geäußerten Auffassung Dietericis, der seit
1844 Direktor des Statistischen Bureaus war, beipflichten müssen, daß
frühere Volkszählungen „nicht mit der gehörigen Sorgfalt angestellt wor-
den" seien. Zuverlässiger werden die Zählergebnisse erst seit 1843. Demnach
gilt für fast die ganze erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, daß so gut wie alle
Zahlen zur Bevölkerungsstatistik lediglich als Orientierungsdaten zu ver-
stehen sind, die zwar Größenordnungen und Entwicklungstrends angeben

6 Leopold KRUG/Alexander August MÜTZELL, Neues topographisch-statistisch-


geographisches Wörterbuch des Preußischen Staates, 6 Bde., Halle 1821 — 1 8 2 5 ;
G. KÖNIG, Alphabetisches Verzeichnis sämtlicher Ortschaften und einzeln liegen-
der benannter Grundstücke des Preußischen Staates, 10 Bde. in 25 Heften, M a g -
deburg 1 8 3 3 - 1 8 3 5 .
1 Vgl. Richard BOECKH, Die geschichtliche Entwicklung der amtlichen Statistik des
Preussischen Staates. Eine Festgabe für den internationalen statistischen Congress
in Berlin, Berlin 1863, S. 4 7 —50. Knappe Zusammenfassung: Antje KRAUS,
Quellen zur Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftsstatistik Deutschlands 1815 —
1875. Bd. 1: Quellen zur Bevölkerungsstatistik Deutschlands 1815 — 1875, hg. von
Wolfgang Köllmann ( = FdSG, Bd. 2 / 1 ) , Boppard a m Rhein 1980, S. 16 (Deutscher
Zollverein) und 25 f. (Preußen).
II. Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsstruktur 89

können, keineswegs aber — trotz ihrer durch Zehner- und Einerstellen


vorgetäuschten Exaktheit — absolut genommen werden dürfen.
Die zunehmende Genauigkeit der Erhebungen führte dazu, daß mitunter
Zuwachsraten der Bevölkerung festgestellt wurden, die es real in dieser
Höhe gar nicht gegeben hat. Entsprechend kritisch sind daher auch sämt-
liche in dem Quellenwerk von Antje Kraus neuerdings leicht greifbaren
Daten zur preußischen Bevölkerungsstatistik aufzunehmen. Daß sie auf die
überlieferten amtlichen Tabellen zurückgehen, bedeutet nicht, daß die Ori-
ginalzahlen als solche richtig sein müssen, „es ist teilweise davon auszuge-
hen, daß sie mit Fehlern behaftet sind". 2
Das Wachstum jeder Population ist abhängig von der natürlichen Bevöl-
kerungszunahme und dem Wanderungsgewinn oder -verlust. Für Preußen
waren beide Werte zwischen 1815 und 1850 positiv. Die natürliche Bewe-
gung der Gesamtbevölkerung vollzog sich in einer relativ ruhig verlaufenden
Aufwärtsentwicklung.3 Die Zahl der Geborenen erreichte bald nach den
Freiheitskriegen den hohen Wert von 45,2 Promille (1819), verharrte bis
1826 regelmäßig bei mehr als 42 und pendelte dann um 40 Promille. Nur
in den Krisenjahren 1831/32 und 1847/48 lag sie wesentlich darunter (37,2
beziehungsweise 35 Promille).
Die Sterblichkeitsziffer zeigte ebenfalls einen verhältnismäßig ausgegli-
chenen Verlauf, ohne allerdings bis zur Jahrhundertmitte eine sinkende oder
steigende Tendenz erkennen zu lassen. In elf Jahren betrug sie mehr als 30
Promille (Extrem 1831: 35,6 Promille), in 24 Jahren weniger (Extrem 1821:
25,4 Promille). Dieser statistische Mittelwert verdeckt allerdings die Tat-
sache, daß eine Konstante in der Bevölkerungsbewegung des Ancien Régime,
nämlich die hohe Kindersterblichkeit, noch längst nicht überwunden war.
Während von den über fünf Jahre alten Personen im Durchschnitt der Jahre
1816/1855 zwischen 17 und 20 Promille starben, waren es — unter Einbe-
ziehung der Totgeburten — von den Knaben und Mädchen unter fünf
Jahren etwa 95 beziehungsweise 82 Promille. An der Spitze dieser traurigen
Bilanz rangierten die Regierungsbezirke Berlin beziehungsweise Potsdam
und Liegnitz4 (siehe Tabelle 6 auf S. 90).
Eine starke Erhöhung der allgemeinen Sterblichkeitsziffer brachten die
drei Cholera-Epidemien, die Preußen 1831/32, 1837 und 1848/51 heimsuch-
ten. Sie forderten 41.738 ( = 3,21 Promille der Bevölkerung), 13.325 ( = 0,96
Promille) bzw. 86.498 ( = 5,34 Promille) Opfer. 5 Wie sehr aber die unzu-

2 A. KRAUS, Quellen... (1980) [s. o. Anm. 1], S. 2. Die Tabellen für Preußen in den
Grenzen von 1815: S. 1 5 3 - 2 3 0 (Tab. 2 1 - 3 3 a ) .
3 Die folgenden Angaben nach Gerd HOHORST, Wirtschaftswachstum und Bevöl-
kerungsentwicklung in Preußen 1816 bis 1914. Z u r Frage demo-ökonomischer
Entwicklungszusammenhänge, New York 1977, Tab. 11, S. 131.
4 Vgl. auch Hartmut HARNISCH, Bevölkerungsgeschichtliche Probleme der Indu-
striellen Revolution in Deutschland, in: Karl Lärmer (Hg.), Studien zur Geschichte
der Produktivkräfte. Deutschland zur Zeit der Industriellen Revolution ( = F W G ,
Bd. 15), Berlin (Ost) 1979, S. 2 6 7 - 3 3 9 , hier S. 2 7 7 - 2 8 0 .
5 A. Frhr. von FIRCKS, Rückblick... (1879) [s.o. Tab. 12], Tab. 166, S. 129.
90 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

längliche medizinische Versorgung und die mangelhaften hygienischen Ver-


hältnisse für die hohe Sterblichkeitsrate verantwortlich waren, zeigt beson-
ders die große Zahl der a m Kindbett-Fieber gestorbenen Frauen (siehe
Tabelle 7).
TABELLE 6
Regierungsbezirke mit geringster und höchster Kindersterblichkeit in Preußen
(Durchschnitt der Jahre 1816-1855)
(in Promille der Knaben/Mädchen, gerundet)

Regierungsbezirke 1816/28 1829/40 1841/55

Berlin/Potsdam 132/120 131/117 108/97


Liegnitz 131/107 126/102 122/103
Oppeln 127/108 115/97 112/99
Breslau 115/95 114/95 119/103
Gumbinnen 110/98 97/87 116/106
Die günstigsten Werte wurden
erreicht in:
Arnsberg 69/61 76/67 68/61
Düsseldorf 68/59 82/72 75/68
Stralsund 62/52 68/59 75/64
Münster 60/51 66/58 62/55

Quelle: Zusammengestellt nach A[rtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewe-
gung der Bevölkerung im preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre
1816 bis zum Jahre 1874 ( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, Tab. 81, S. 58.

TABELLE 7
Zahl der am Kindbett-Fieber gestorbenen Frauen in Preußen 1816 — 1850

Zahl der Gestorbenen

(weibliche Personen) (insgesamt)


am Kindbettfieber an den Pocken an der Cholera

1 8 1 6 - 1820 22.037 7.077 _


1821 - 1830 44.826 11.177 -

1831 - 1840 48.291 16.718 55.063


1841 - 1850 47.506 13.070 86.365

Quelle: A[rtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im
preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, Tab. 160, S. 126.

Eine steigende Tendenz zeigte die Z a h l der Selbsttötungen. Ihr Anteil


wuchs im Mittel der Jahre 1 8 1 6 / 2 0 und 1 8 4 1 / 5 0 bei den Männern von 0 , 1 2
auf 0 , 1 7 , bei den Frauen lediglich von 0 , 0 3 auf 0 , 0 4 Promille der Gestor-
benen. 6

6 A . a . O . , Anlagen: Tab. 47, S. 101.


II. Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsstruktur 91

Der Geburtenüberschuß, der sich aus der Differenz von Geborenen- und
Sterbeziffer errechnet, betrug im ersten Friedensjahrzehnt jeweils mehr als
13 Promille (Maximum 1821: 19,1)· In der anschließenden Phase, in der die
Werte um 10 Promille schwankten, wurden derartig hohe Überschüsse nur
1844/45 und 1850/51 noch einmal erreicht.
Da die in den Quellen überlieferten Zahlen über Aus- und Einwanderung
durchweg ungenau und lückenhaft sind und über die Binnenwanderung
zwischen den preußischen Provinzen überhaupt keine zuverlässigen Anga-
ben vorliegen, arbeitet die moderne Forschung mit „berechneten Wande-
rungsbilanzen", die lediglich die Differenz zwischen Bevölkerungszuwachs
und Geborenenüberschuß ausweisen. 7 Ein hoher positiver Saldo kann dem-
nach sehr wohl auf einen beträchtlichen Wanderungsgewinn hinweisen, er
kann aber auch — wie Peter Marschalck für die preußischen Provinzen
Preußen und Posen nachgewiesen hat 8 — ein Indikator für die Unzuverläs-
sigkeit und Lückenhaftigkeit vorangegangener Zählungen sein. Unter die-
sem Vorbehalt steht die ältere Angabe, daß zwar für die Jahre 1821 bis
1823 ein Wanderungsverlust von insgesamt 13.400 Personen errechnet wor-
den ist, Preußen aber im übrigen bis 1846 ein typisches Einwanderungsland
geblieben sei. Erst 1847 setzte eine gegenläufige und bis 1858 nicht wieder
unterbrochene Entwicklung ein: In den ersten drei Jahren soll jeweils ein
Wanderungsverlust von etwa 29.000 Personen zu verzeichnen gewesen sein. 9
Immerhin sind auch schon von 1836 bis 1843 jährlich zwischen 20.000 und
30.000 Personen aus Preußen in die USA ausgewandert; danach nahmen
die Zahlen stark zu. 1 0
Geborenenüberschuß und positive Wanderungsbilanz ergaben eine stetige
Zunahme der preußischen Gesamtbevölkerung. Nach den von Marschalck
vorgenommenen Berichtigungen betrug die Einwohnerzahl (1816 gezählt:
10.349.031) 1818 erstmals mehr als 11 Millionen. 1824 wurde die 12-, 1830
die 13-, 1837 die 14-, 1841 die 15- und 1846 die 16-Millionen-Grenze

7 A. KRAUS, Quellen... (1980) [s. o. Anm. 1], S. 4. - Ein besonderes Problem, auf
das nur hingewiesen werden kann, waren die Wanderungen der Handwerksge-
sellen; vgl. dazu Hermann-Josef RUPIEPER, Die Polizei und die Fahndungen
anläßlich der deutschen Revolution von 1848/49, in: VSWG, Bd. 64 (1977),
S. 328 - 355, hier S. 333 - 335.
8 Wolfgang KÖLLMANN, Bevölkerung und Arbeitskräftepotential in Deutschland
1 8 1 5 - 1 8 6 5 . Ein Beitrag zur Analyse der Problematik des Pauperismus [1968],
in: Ders., Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungs-
geschichte Deutschlands ( = KrStGw, Bd. 12), Göttingen 1974, S. 6 1 - 9 8 , Ani. 2:
Neuberechnung der Volkszahlen für Nordostdeutschland, bearb. von Peter Mar-
schalck, S. 9 2 - 9 8 , hier S. 92 - 95.
9 A. Frhr. von FIRCKS, Rückblick... (1879) [s.o. Tab. 12], Anlagen: Tab. 1, S. 3.
- Zur Binnenwanderung vgl. auch H. HARNISCH, Bevölkerungsgeschichtliche
Probleme... (1979) [s.o. Anm. 4], S. 322f.
10 Karl OBERMANN, Die deutsche Auswanderung nach den Vereinigten Staaten von
Amerika im 19. Jahrhundert, ihre Ursachen und Auswirkungen (1830 bis 1870),
in: JbWG, 1975/2, S. 3 3 - 5 5 , hier S. 35.
92 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

überschritten. 1850 lag die Bevölkerung bei 16,5 Millionen. Insgesamt ergibt
sich für die „Zähljahre" folgendes statistisches Bild:

TABELLE 8
Bevölkerungsentwicklung in Preußen im Zeitraum 1819 — 1852

Jahr Geborenen- Wanderungs- Bevölkerungs- Gesamtbevölkerung


überschuß bilanz zunahme insges. (nach Marschalck)

1819 455.461 177.442 632.903 11.183.953


1822 592.514 89.685 682.199 11.804.669
1825 562.904 29.688 592.592 12.377.799
1828 422.208 47.177 469.385 12.842.567
1831 241.664 71.186 312.850 13.151.883
1834 317.054 153.913 470.967 13.562.834
1837 446.596 141.602 588.198 14.151.029
1840 486.937 343.439 830.376 14.916.532
1843 524.669 17.914 542.583 15.471.084
1846 586.928 54.926 641.854 16.112.938
1849 299.007 - 80.758 218.249 16.331.187
1852 570.616 33.617 604.233 16.935.420

Quellen: Wolfgang K Ö L L M A N N , Bevölkerung und Arbeitskräftepotential in Deutschland


1815 —1865. Ein Beitrag zur Analyse der Problematik des Pauperismus [1968], in: Ders.,
Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte
Deutschlands (= KrStGw, Bd. 12), Göttingen 1974, S. 6 1 - 9 8 , Ani. 2: Neuberechnung
der Volkszahlen für Nordostdeutschland, bearb. von Peter Marschalck, S. 9 2 - 9 8 , hier
S. 94 (bis 1843); Antje K R A U S , Quellen zur Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftssta-
tistik Deutschlands 1 8 1 5 - 1 8 7 5 . Bd. 1: Quellen zur Bevölkerungsstatistik Deutschlands
1815 - 1875, hrsg. von Wolfgang Köllmann ( = FdSG, Bd. 2/1), Boppard am Rhein 1980,
Tab. 33, S. 226 f.

Je nach den besonderen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen


schwankte die Bevölkerungszunahme von Provinz zu Provinz. Über das
durchschnittliche Wachstum der Jahre 1816/1855 in den preußischen Pro-
vinzen informiert Tabelle 9 (S. 93).
Alle übrigen deutschen Territorien hatten - bis auf das Königreich
Sachsen (13,8), Reuß ältere Linie (13,9), Mecklenburg-Schwerin (14,5) und
die Stadtstaaten Bremen (14,8) und Hamburg (11,9) — eine Zuwachsrate
von unter 10 Promille. Es waren also die industriearmen preußischen
Ostprovinzen, die den stärksten Einwohnerschub erlebten. Den Anstoß gab
der menschenleere Entschädigungsboden, dessen Bewirtschaftung in einer
Zeit steigender Nachfrage sichere Gewinne versprach. Die unterschiedlichen
Zuwachsraten der Provinzen zeigt Tabelle 10 (S. 93).
Hand in Hand mit dem Bevölkerungszuwachs vollzog sich ein intensiver
Landesausbau der noch dünn besiedelten Ostgebiete, beispielsweise im
Weichselland (wo in der polnischen Kaschubei ein Spitzenwachstum von
19,6 Promille im Schnitt der Jahre 1 8 1 6 / 1 8 - 1 8 7 1 erreicht wurde), im
Netzedistrikt und in Oberschlesien rechts der Oder. Bezogen auf die Jahre
II. Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsstruktur 93

TABELLE 9
Bevölkerungswachstwn in den preußischen Provinzen
im Zeitraum 1816 — 1855 (in Promille)

Provinz Wachstum in %o Provinz Wachstum in %o

Westpreußen 16,8 Schlesien 12,7


Pommern 16,4 Rheinprovinz 11,7
Ostpreußen 14,3 Sachsen 11,4
Posen 13,7 Westfalen 9,3
Brandenburg 12,9 (Stadt Berlin) (22,0)

Quelle: A . ZAHN, Die Bevölkerung des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert auf
Grund der deutschen und der internationalen Bevölkerungsstatistik, in: VjhStDR,
11. Jg. (1902), H. 1, S. 1 6 1 - 2 2 6 , hier S. 163.

TABELLE 1 0
Einwohnerzahlen in den preußischen Provinzen 1816 — 1848
(in Millionen Einwohnern)

Provinz 1816 1820 1830 1840 1848

1. Ostpreußen 0,886 1,03 1,24 1,39 1,45


2. Westpreußen 0,571 0,650 0,787 0,916 1,02
3. Posen 0,820 1,01 1,07 1,23 1,36
4. Schlesien 1,94 2,12 2,44 2,86 3,06
5. Sachsen 1,12 1,28 1,44 1,64 1,77
6. Pommern 0,683 0,744 0,907 1,06 1,18
7. Brandenburg 1,09 1,13 1,33 1,53 1,70
(ohne Berlin)
8. Westfalen 1,07 1,11 1,75 1,38 1,47
9. Rheinland 1,87 2,00 2,24 2,59 2,80

Quelle: H . - U . WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2 , S. 1 1 .

TABELLE 1 1
Preußischer Landesausbau 1802 —1861
(in Prozent der preußischen Gesamtfläche)

Äcker Wiesen Wald Ödland/Weiden Wasser

1802 35,3 8 22 32,9 1,8


1861 51,4 9,6 24,6 12,8 1,6

Quelle: H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 1, S. 422.


94 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

von 1816 bis 1834 standen die Regierungsbezirke Gumbinnen, Bromberg


und Köslin mit einer jährlichen Bevölkerungszunahme von 22,2, 20,9 und
20,0 Promille an der Spitze in Deutschland. Von 1815 bis 1849 vergrößerte
sich das preußische Ackerland von 7,3 auf 12,46 Millionen Hektar 1 1 (siehe
Tabelle 11 auf S. 93).
Der Charakter der bislang vorwiegend agrarisch geprägten und von West
nach Ost gerichteten Wanderungsbewegungen änderte sich seit der Mitte
der 30er Jahre in quantitativer und qualitativer Hinsicht: Die Schicht der
nur saisonal beschäftigten Landarbeiter und Tagelöhner wurde ständig
größer. Sie stellte ein beachtliches Arbeitskräftepotential dar und entwik-
kelte, der Not gehorchend, eine große Mobilitätsbereitschaft. Noch bevor
die allmählich in Gang kommende Industrialisierung dieses Reservoir in die
expandierenden Städte zog, sorgte der Ausbau des Straßen- und des Eisen-
bahnnetzes für eine erhebliche Binnenwanderung der dafür benötigten Ar-
beiter. Immerhin vergrößerte sich das Netz der preußischen Chausseen von
6.794 Kilometern (1831) auf 11.852 Kilometer (1848), so daß in diesem
Zeitraum insgesamt 5.058 Kilometer Chausseen gebaut wurden. Noch mehr
Beschäftigte zog der 1836/37 einsetzende Eisenbahnbau an. Nah- und Fern-
wanderungsströme verbanden sich und führten Tausende von Arbeitern zu
den großen Baustellen. Die überlieferten Zahlen lassen erkennen, daß die
Eisenbahnbaustellen die „Brennpunkte der Binnenwanderung in Deutsch-
land" waren (Obermann). In den 40er Jahren ging die Zahl der dort
Beschäftigten in ganz Deutschland zweifellos in die Hunderttausende. Allein
in Preußen wurden bis 1852 über 3.170 Eisenbahn-Kilometer gebaut. 1 2
Etwa 4,8 Prozent der Bevölkerung lebten 1816 in Städten mit mehr als
10.000 Einwohnern, 1855 waren es 5,5 Prozent (siehe Tabelle 12 auf S. 95).
Noch 1831 lebten 88 Prozent in Siedlungen unter 5.000 Bewohnern. Von
den 980 preußischen Städten (1848) hatten lediglich 15 mehr als 30.000
Einwohner. Hunderte von Klein- und Kleinstsiedlungen (15 mit weniger als
600 Menschen!) besaßen „mehr den Charakter des platten Landes" (Die-
terici). Daher ist die Angabe, daß 1849 insgesamt 4,565 Millionen Menschen
( = 28 Prozent) in Städten lebten, etwas irreführend. Die Landbevölkerung
von 11,714 Millionen ( = 72 Prozent) verteilte sich auf 31.795 Dörfer, 26.127
Einzelgehöfte, 11.466 Vorwerke, 9.227 Kolonien und 347 Flecken. 1 3

11 Vgl. Gunter IPSEN, Die preußische Bauernbefreiung als Landesausbau, in: ZAA,
Bd. 2 (1954), S. 2 9 - 5 3 , hier S. 36, 4 0 ff. und Ani. 1, Tab. II.
12 Karl OBERMANN, Die Arbeitermigrationen in Deutschland im Prozeß der Indu-
strialisierung und der Entstehung der Arbeiterklasse in der Zeit von der Gründung
bis zur Auflösung des Deutschen Bundes (1815 bis 1867), in: J b W G , 1972/1,
S. 1 3 5 - 1 8 1 , hier S. 1 4 4 - 1 6 3 .
13 Z u r regionalen Differenzierung von Bevölkerungswachstum und -dichte vgl.
Wilfried STRENZ, Z u m Prozeß der Bevölkerungsagglomeration unter den Bedin-
gungen der Industriellen Revolution des Kapitalismus am Beispiel der Entwick-
lung im Königreich Preußen in seiner territorialen Ausdehnung vor 1866. Eine
Materialstudie unter historisch-geographischem Aspekt, in: K. Lärmer (Hg.),
Studien zur Geschichte... (1979) [s.o. Anm. 4], S. 341 - 3 6 2 , passim.
II. Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsstruktur 95

TABELLE 1 2
Einwohnerzahlen der preußischen Großstädte 1816 — 1855

Städte 1816 1828 1840 1855

Berlin 197.717 236.830 328.692 440.122


Breslau 73.365 90.090 97.664 127.090
Köln 48.135 61.059 75.858 106.852
Königsberg 60.994 67.941 70.839 83.539
Danzig 51.031 61.902 64.225 71.995
Posen 23.854 28.484 36.256 47.404
Münster 17.316 21.046 23.365 26.380

Quelle: Afrtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im
preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, Tab. 33, S. 24.

Die Bevölkerungsdichte außerhalb der städtischen Ballungszentren war


nach dem Stand von 1840 am niedrigsten in der Tucheier Heide mit
21 Einwohnern je Quadratkilometer. Eifel und Venn erreichten 39 Einwohner
je Quadratkilometer. Zu den dichtbesiedelten Gebieten gehörten — 1840 —
die Kohlenbezirke an der Saar (101), in Westfalen (117) und Oberschlesien
(133), das Schlesische Gebirge (145), der Niederrheinische Industriebezirk
(186) und endlich der Aachener Grenzbezirk (224). Die Dichte in den übrigen
Gebieten lag zwischen 40 und 100 Einwohnern je Quadratkilometer.
Ende 1811 lebten im preußischen Staat 32.617 Juden. Da in den 1815
neu- oder wiedergewonnenen Ostgebieten viele Juden ansässig waren, ver-
mehrte sich ihre Zahl rasch auf 123.938 (1816). 1840 wurden im Gesamtstaat
194.558, 1850: 221.621 Juden gezählt. Neben der im Vergleich zu den
Christen meist etwas niedrigeren Sterblichkeitsziffer spielte für die Zunahme
der jüdischen Bevölkerung besonders die Einwanderung aus Rußland und
aus der Donaumonarchie eine Rolle. Bemerkenswert ist auch eine beträcht-
liche Binnenwanderung: Die Juden verließen die östlichen Provinzen, be-
sonders Posen, um in die mittleren Provinzen, vorzugsweise nach Berlin, zu
ziehen. 14 Trotz des Emanzipationsediktes von 1812, das ohnehin nur in den
alten Landesteilen galt, blieben sie, in vielen Bereichen benachteiligt und
diskriminiert, Untertanen zweiter Klasse.
Während die Gesamtbevölkerung des preußischen Staates, in der die
Frauen übrigens fast durchweg knapp in der Mehrheit waren, von 1816 bis
1846 um 56,43 Prozent stieg, war die Zunahme bei den einzelnen Berufs-
zweigen sehr unterschiedlich. Ausgehend von der Basis 100 ( = 1816) bot
sich 1846 folgendes Bild:
Gesinde 117,37 Gesellen, Lehrlinge 212,38
Handarbeiter 167,00 Fabrikarbeiter 243,04

14 A. Frhr. von FIRCKS, Rückblick... (1879) [s.o. Tab. 12], S. 2 6 - 2 9 . Vgl. dazu
neuerdings auch Stefi JERSCH-WENZEL/Barbara JOHN (Hg.), Von Zuwanderern
zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990,
S. 2 9 2 - 3 5 7 , und Albert A. BRUER, Geschichte der Juden in Preußen ( 1 7 5 0 -
1820), Frankfurt/M./New York 1991.
96 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

In absoluten Zahlen ausgedrückt, gab es 1846 bereits 633.000 Fabrikarbeiter,


denen 450.000 selbständige Handwerker sowie 379.000 Gesellen und Lehr-
linge gegenüberstanden. 15 Alle zusammen machten noch nicht einmal zehn
Prozent der Bevölkerung aus.

III. Integrationsprobleme

Die Einführung des „Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten"


(ALR) zum 1. Juni 1794 hatte den bis dahin rechtlich zersplitterten altpreu-
ßischen Territorien ein einheitliches Gesetzbuch gebracht. Es ordnete und
kodifizierte das Verfassungsrecht, das Kirchenrecht, das Lehnsrecht sowie
das Straf- und das Zivilrecht. Flankiert wurde das ALR durch die Allgemeine
Gerichtsordnung (AGO) von 1793 (für Zivilprozesse) und die Kriminalord-
nung von 1805 (für Strafprozesse).
In den 1793/95 aus der Aufteilung Polens gewonnenen Provinzen Süd-
preußen und Neuostpreußen wurde das ALR erst subsidiär, dann mit
kleineren Einschränkungen zum 1. September 1797 eingeführt. Auch in den
Preußen 1803 gemäß dem Reichsdeputationshauptschluß zufallenden „Ent-
schädigungsprovinzen" im westfälisch-rheinischen Raum traten die AGO
zum 1. September 1803 und das ALR zum 1. Juni 1804 in Kraft. 1
Der Vertrag von Tilsit 1807 reduzierte Preußen auf die vier Provinzen
Brandenburg, Pommern, Ost- und Westpreußen sowie Schlesien. Nur in
diesen vier Provinzen galten die preußischen Reformgesetze, die 1807 mit
dem Oktoberedikt einsetzten. Auch 1814/15 wurde der Geltungsbereich der
bis dahin erlassenen Reformedikte nicht auf die neu gewonnenen Gebiete
ausgedehnt. Durch diese Neuzuweisungen wurde zugleich die bislang vor-
handene Rechtseinheit Preußens aufgehoben, denn es erhielt jetzt Gebiete
fremden Rechts. In ihnen hatte preußisches Recht teilweise noch nie Geltung
besessen, teilweise war es nach 1797/1801 (linksrheinisch) und nach 1807
(linkselbisch und an der Ostgrenze) durch westfälisches, bergisches, fran-
zösisches oder großherzoglich-polnisches Recht ersetzt worden. Dadurch
sah sich die preußische Administration sowohl im Westen als auch im Osten
der Monarchie vor Integrationsprobleme gestellt, wie man sie in dieser
Größenordnung bislang nicht gekannt hatte.

15 K . OBERMANN, Die A r b e i t e r m i g r a t i o n e n . . . ( 1 9 7 2 ) [ s . o . A n m . 1 2 ] , S. 1 4 7 ; J ü r g e n
BERGMANN, Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung
( = EvHKzB, Bd. 11), Berlin 1973, Tab. 6, S. 137.
1 Vgl. M[anfred] LAUBERT, Die preußische Polenpolitik von 1772-1914
( = SchrrldOK, Bd. 1), Krakau 3 1 9 4 4 , S. 21, 2 7 ; Werner SCHUBERT, Französisches
Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zivilrecht, Gerichtsver-
fassungsrecht und Zivilprozeßrecht ( = F n P R G , Bd. 24), K ö l n - W i e n 1977,
S. 1 5 0 , Anm. 1 1 0 .
III. Integrationsprobleme 97

1. Die westlichen Gebiete

Die Eingliederung der dem Königreich Preußen im Westen zufallenden


Territorien, die zum Teil zwei Jahrzehnte unter französischer Herrschaft
gelebt hatten, stieß auf erhebliche Probleme. Einerseits war die französische
Administration durchaus geschätzt worden, andererseits sah man der un-
gewohnten Herrschaft eines protestantischen Landesherrn mit gemischten
Gefühlen entgegen.
Die preußische Verwaltungspraxis, Beamtenstellen möglichst nicht mit Ein-
heimischen zu besetzen, führte vor allem in der Anfangszeit zu einer Perso-
nalpolitik, die weite Kreise im Rheinland verstimmte, wohl auch deshalb, weil
die „Eindringlinge" den Rheinländern den Eintritt in die heimischen Verwal-
tungs- und Justizkarrieren verwehrten. 2 Demgegenüber dürfte die Aussicht
einer Verwaltungslaufbahn im Osten der Monarchie, sieht man von Berlin
ab, nicht viele Rheinländer begeistert haben. Zu rigoros muß man sich die
Personalpolitik dennoch nicht vorstellen; immerhin stammten von den 389
Beamten, die 1816 bei den rheinischen Regierungen arbeiteten, 207 aus dem
Rheinland. 3 Seit den 30er Jahren soll sich die Situation weiter gebessert haben,
wenn auch die Klagen keineswegs aufhörten.
Ein zweites Problem lag in den Mentalitätsunterschieden, die Carl Schurz
folgendermaßen zusammenfaßte: „Das kurz angebundene, autoritätssüch-
tige preußische Wesen, die stramme preußische Ordnung sagten dem etwas
leichtsinnigen rheinischen Volke nicht zu." Auch der Freiherr vom Stein
bemerkte 1828, „daß hier eine Beweglichkeit in den Meinungen, ein Hang
zur Intrige vorherrschend ist, daß die jetzige Generation nur mit sehr losen
Banden an das neue Vaterland geknüpft ist". Vor allem in den größeren
Städten, so hieß es noch 1840, lebten die früheren Traditionen ungebrochen
fort — „was vermögen dagegen 100 Beamte, Polizeiverordnungen, neue
Straßennamen und Uniformen?" 4
Auch in wirtschaftlicher Hinsicht gab es beträchtliche Unterschiede, die
sich im Laufe der Jahre noch verstärkten, weil die von den Rheinländern
zu tragenden Steuerlasten infolge der hier rascher voranschreitenden Indu-
strialisierung zunahmen. Die preußischen Steuergesetze von 1819/20 hatten
nicht die erwartete Gleichstellung aller Provinzen gebracht, sondern die
westlichen Provinzen offensichtlich benachteiligt. Die Einführung der Wein-
most-, Schlacht- und Mahlsteuer für die Städte und der Klassensteuer für
das platte Land war zweifellos ein Rückschritt im Vergleich mit der fran-
zösischen, am Prinzip der Gleichheit ausgerichteten Steuergesetzgebung.
Zudem wurde der Westen nach Anlage eines einheitlichen Katasters mit
einer Grundsteuer belastet, während im Osten die zahlreichen Exemtionen,

2 Vgl. F. KEINEMANN, D a s Kölner Ereignis... (1974) [ 1 7 7 ] , T . 1, S. 3 4 ; Rüdiger


SCHÜTZ, Z u r E i n g l i e d e r u n g d e r R h e i n l a n d e , in: P. BAUMGART, E x p a n s i o n . . . ( 1 9 8 4 )
[ 3 0 a ] , S. 1 9 5 - 2 2 6 , h i e r S. 2 1 0 . .
3 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 270.
4 F. KEINEMANN, Das Kölner Ereignis... (1974) [177], T. 1, S. 14, Anm. 15, u. 34f.
98 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

besonders des Adels, fortbestanden. In die öffentliche Debatte über die


steuerliche Überbürdung der Westprovinzen schalteten sich 1834 David
Hansemann und 1839 der Westfale Friedrich Harkort ein. 5
In ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen waren auch die Unterschiede
in der Sozialstruktur zwischen Altpreußen und den westlichen Provinzen.
So spielte in den rheinischen Städten traditionsgemäß das Handelsbürger-
tum eine ganz andere Rolle als in den noch vorwiegend agrarisch geprägten
Mittel- und Ostprovinzen. Es war symptomatisch, daß der Kölner Bankier
Abraham Schaafhausen die Nachricht von der beschlossenen Einverleibung
in Preußen mit dem Ausruf kommentierte: „Mein Gott, da heiraten wir
aber in eine arme Familie!" Die rheinischen „Muß-Preußen", zu denen sich
auch Heinrich Heine zählte, mokierten sich über die landfremden Beamten
und spotteten: „Rote Kragen, nix im Magen, goldne Tressen, nix zu fressen.
Stinkpreuß!" Langfristig profitierte zwar das Rheinland von der liberalen
preußischen Handels- und Wirtschaftspolitik sowie vom Ausbau und von
der Modernisierung des Land- und Wasserverkehrs, aber es war ein langer
und beschwerlicher Weg, bis Provinz und Staat zusammenwuchsen. Schließ-
lich war, um noch einmal den bei Köln geborenen Carl Schurz zu zitieren,
„das Volk dieses Landesteils fast ausnahmslos katholisch, während der
Begriff Preußen den Begriff Protestantismus in sich Schloß" - ein Punkt,
der noch einer gesonderten Behandlung bedarf, 6 hier aber ebenfalls genannt
werden muß. Auch der Freiherr vom Stein gab unumwunden zu: „Die
Verschiedenheit der Religion des Rheinlands und Westfalens von der Mehr-
heit der Bewohner der Preußischen Monarchie mindert auch die Anhäng-
lichkeit der ersteren." Stellt man diese verschiedenen Konfliktbereiche in
Rechnung, ist es nicht erstaunlich, daß „die preußische Herrschaft am Rhein
wie eine Art von Fremdherrschaft erscheinen" konnte, die „von Anfang an
dem Gefühl der Eingeborenen widerstrebte" (Schurz). 7
Ein besonderes Problem stellte die Rechtsangleichung dar. Für seine
ehemaligen Besitzungen zwischen Elbe und Rhein führte Preußen durch ein
Patent vom 9. September 1814 das Allgemeine Landrecht zum 1. Januar
1815 wieder ein, respektierte aber weitgehend den durch die vorübergehende
fremde Gesetzgebung geschaffenen Rechtszustand. Aufgehoben blieben
überall die Leibeigenschaft, das Gesindezwangsrecht, der Heiratskonsens
sowie alle ungemessenen Dienste. Auch bei der Neuregelung des Boden-
rechts beschritt man einen anderen Weg als im ostelbischen Bereich. Die
durch französische Rechtstraditionen beeinflußte Variante der preußischen
Agrarreformen führte in diesem Gebiet zu einem schnelleren und besseren
Ergebnis als die in den altpreußischen Kernlanden. 8

5 K . - G . FABER, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 2 ] , S. 1 2 5 F .
6 S. u. S 3, VIII, 4.
7 F. KEINEMANN, Das Kölner Ereignis... (1974) [177], I . T . , S. 14, Anni. 15 (Stein),
und 35 (Schurz).
8 W. SCHUBERT, Französisches Recht... [1977) [s.o. Anm. 1], S. 1 5 0 - 1 5 4 . Vgl.
Zum Rechtsproblem auch I. MIECK, Die Integration... (1990) [145a], passim.
III. Integrationsprobleme 99

Eine Kabinettsorder vom 20. November 1814 befahl die Einführung des
ALR auch für die rechtsrheinischen Neuerwerbungen Preußens sowie für
die altpreußischen Territorien links des Rheines. Dieser eindeutigen Ab-
sichtserklärung widersetzte sich der Generalgouverneur Sack, der die links-
rheinische Rechtseinheit nicht zerrissen sehen wollte. Dieses Argument
erhielt jedoch eine andere Perspektive, als in Wien am 8. Februar 1815
beschlossen wurde, die linksrheinischen Gebiete bis etwa zur Mosellinie
Preußen zuzuweisen. Jetzt konnte man im Interesse einer preußischen
Rechtseinheit daran denken, das gesamte Rheinpreußen dem Regime des
ALR zu unterwerfen. In der Tat gab es namhafte Stimmen, die energisch
für die Abschaffung des französischen Rechts plädierten, beispielsweise
Savigny, für den der napoleonische Code Civil „ein Schritt vorwärts in den
Zustand der Revolution hinein" war. 9 Dem Rheinländer Sack, der seit dem
1. Juli 1815 als Oberpräsident der gesamten Zivilverwaltung „der preußi-
schen Provinzen am Rhein" vorstand, war klar, daß eine Aufhebung des
französischen Rechts auf erheblichen Widerstand bei der Bevölkerung sto-
ßen würde. Seine Auffassung, daß man einen anderen Weg beschreiten
müsse, teilte auch Hardenberg, der, um Zeit zu gewinnen, 1816 die rhei-
nische Immédiat-Justiz-Kommission einsetzen ließ. Ihren Empfehlungen wi-
dersprach der als Berater tätige Daniels, ein rheinischer Jurist von inter-
nationalem Ansehen. Seine in einem ausführlichen Gutachten vom 14. Juli
1817 niedergelegte Argumentation überzeugte auch den Gesetzgebungsmi-
nister v. Beyme, so daß schließlich am 19. November 1818 eine Kabinetts-
order erging, die bestimmte, daß die im Rheinland bestehende Gesetzgebung
im wesentlichen fortbestehen solle, bis die seit 1817 in Aussicht genommene
„Revision der ganzen preußischen Rechts- und Gerichtsverfassung und eine
darauf zu gründende allgemein gültige Gesetzgebung vollendet sein wird". 1 0
Damit verzichtete die Regierung auf eine auch nur teilweise Einführung
des ALR in den Rheinprovinzen - ohne freilich zu ahnen, daß der Code
Civil als letztes der fünf großen französischen Gesetzbücher erst zum
1. Januar 1900 durch das Bürgerliche Gesetzbuch abgelöst werden würde.
Was das französische Recht für die Rheinländer so attraktiv machte,
waren nicht diese oder jene Einzelbestimmungen, sondern die Grundsätze,
auf denen es beruhte. Sie gingen auf einige Fundamentalsätze des franzö-
sischen Rechts- und Verfassungssystems zurück. Worum es dabei konkret
ging, haben die Stadträte von Trier und Köln 1817 katalogartig zusammen-
gefaßt: „Freiheit in Ausübung des Handels und der Gewerbe, Entfernung
des Feudalsystems, gleiche Verteilung der Staats- und öffentlichen Lasten,
Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und dem Richter, Trennung

9 Hermann CONRAD, Preußen und das französische Recht in den Rheinlanden, in:
Adolf Klein/Josef Wolffram (Hg.), Recht und Rechtspflege in den Rheinlanden.
Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Oberlandesgerichts Köln, Köln 1969,
S. 78 —112, hier S. 79. Allgemein: Werner SCHUBERT, Savigny und die rheinisch-
französische Gerichtsverfassung, in: Z R G GA, Bd. 95 (1978), S. 1 5 8 - 1 6 9 .
10 W. SCHUBERT, Französisches Recht... (1977) [s.o. Anm. 1], S. 1 5 6 - 1 6 7 ;
H. CONRAD, Preußen und das französische Recht... (1969) [s. o. Anm. 9], S. 87f.
100 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

der Gewalten, Unabhängigkeit des Richteramtes, Öffentlichkeit des gericht-


lichen Verfahrens, Urteil der Geschworenengerichte im Kriminalprozeß." 11
Da all diese Errungenschaften nunmehr erhalten bleiben sollten, stellte die
Kabinettsorder vom 19. November in der Tat „gewissermaßen ein könig-
liches Gastgeschenk an die Rheinländer" dar. 12
Seit der Jahrhundertmitte schlug das Pendel nach der anderen Richtung
aus: Auch in Preußen erkannte man die Modernität des französischen Rechts
und orientierte sich daran, erstmals beim Strafgesetzbuch von 1851, das
„die weitestgehende Eroberung darstellte, welche dem französischen Recht
in Gesamtpreußen gelungen ist".
Auch in Westfalen gab es erhebliche Integrationsprobleme. Während es
verhältnismäßig leicht fiel, das Vertrauen der überwiegend protestantischen
Siegerländer zu gewinnen, war die Eingliederung der ehemals geistlichen
Territorien, insbesondere des früheren Hochstifts Münster, „eine dornen-
reichere Aufgabe". Noch 1838 erinnerte man sich an die am „großen
Trauertag" des 3. August 1803 erfolgte Besetzung der Stadt Münster durch
6.000 preußische Soldaten unter Blücher; damals waren „alle Straßen ...
leer, nicht einmal ein Kind oder ein altes Mütterchen schaute neugierig zu,
alle Läden waren verschlossen, alle Bewohner in stummer Trauer daheim".
Deshalb sei auch der Geburtstag des Königs, der ebenfalls auf den 3. August
fiel, in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Besitzergreifung ganz unbe-
achtet geblieben — weder gab es schulfrei noch unterbrachen die Hand-
werker ihren gewohnten Arbeitsrhythmus. 13
Ähnlich wie in der Rheinprovinz wurden die meist protestantischen und
aus dem Osten der Monarchie stammenden Beamten, die nach Westfalen
versetzt wurden, vielfach als Fremdkörper empfunden. Beim Aufbau des
provinziellen Verwaltungsapparates wurden Einheimische und Katholiken
in unzureichendem Maße berücksichtigt. 1845 bat der Westfälische Landtag
den König, möglichst nur einheimische Beamte einzustellen. Man beklagte
auch die übergroße Sparsamkeit der Beamten sowie den angeblich barschen
Ton vor allem in den unteren Organen der Verwaltung. Auch an den
preußischen Militärstatus konnte man sich nur langsam gewöhnen. 14

11 Zit. von Elisabeth FEHRENBACH, Rheinischer Liberalismus und gesellschaftliche


Verfassung, in: Kurt Diiwell/Wolfgang Köllmann (Hg.), Rheinland-Westfalen im
Industriezeitalter, Bd. 1, Wuppertal 1983, S. 233 - 242, hier S. 233 f.
12 Ernst LANDSBERG, Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung,
in: Joseph Hansen (Hg.), Die Rheinprovinz 1815 —1915. Hundert Jahre preußi-
scher Herrschaft am Rhein, Bd. 1, Bonn 1917, S. 1 4 9 - 1 9 5 , hier S. 155; das
folgende Zitat a. a. O., S. 181.
13 F. KEINEMANN, Das Kölner Ereignis... (1974) [177], T. 1, S. 333 f. - Schon H. von
TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... (1879 - 1894) [27], Bd. 1, S. 190, hatte darauf
hingewiesen, daß „die feste Burg des unzufriedenen katholischen Adels, das
Münsterland", eine für Preußen recht unglückliche Erwerbung darstellte, wo den
neuen Herren „ein tiefer nachhaltiger Haß" entgegenschlug. S. auch u. S. 178.
14 F. KEINEMANN, Das Kölner Ereignis... (1974) [177], T. 1, S. 3 3 6 - 3 3 8 .
III. Integrationsprobleme 101

Eine besonders starke Reserviertheit gegenüber den neuen Machthabern


zeigte der westfälische katholische Adel, der zu ziemlich geringer politischer
Bedeutung abgesunken war. In seiner Abgeschlossenheit, mit „seiner un-
bedingten Hinneigung zu Rom, seiner Opposition gegen die preußische
Regierung und seiner Geringschätzung aller Evangelischen" war dieser
äußerst stolze, eigensinnige Stand extrem integrationsunwillig. „Negative
Preußen" nannte ein Offizier diese Adligen. 1 5
Erst in den 30er Jahren, nicht zuletzt durch die Besuche des Kronprinzen
in den beiden westlichen Provinzen 1833 und 1836, ist die Integration ein
gutes Stück vorangekommen, haben „rheinischer Sinn für Ordnung und
Recht und preußische Disziplin zu einer gewissen Einheit zusammengefun-
den". Aber fast zwei Jahrzehnte lang galt, was der Freiherr vom Stein mit
dem Blick auf das Rheinland und auf Westfalen 1828 geschrieben hatte:
„So bestehen manche Anlässe zu Reibungen und zu Unmut, die in den
östlichen Provinzen weniger, zum Teil gar nicht, vorhanden sind." 1 6

2. Die östlichen Gebiete

Während Preußen um 1800 zur Hälfte aus polnischen Gebieten bestanden


hatte und 38 Prozent seiner Untertanen Polen waren, reduzierten sich diese
Zahlen durch die Ergebnisse des Wiener Kongresses 1815 auf 20 Prozent
des Territoriums und 15 Prozent der Bevölkerung. 1 7
Von den Preußen aus der Konkursmasse des napoleonischen Herzogtums
Warschau zugesprochenen Territorien wurden Thorn und das Kulmer Land
der (bis 1824 selbständigen) Provinz Westpreußen angegliedert, in der das
Polentum politisch nur eine geringe Rolle spielte. Sowohl in den Städten als
auch auf dem Lande war die Einwohnerschaft ganz oder in ihrer großen
Mehrheit deutsch. Unter der energischen Führung des Oberpräsidenten Schön
erlebte die Provinz einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung, von dem
auch das benachbarte Danzig deutlich profitierte. Nennenswerte Integrations-
probleme gab es in diesem Gebiet nicht.
Anders war es im „Großherzogtum Posen", das knapp 30.000 Quadrat-
kilometer umfaßte. Von seinen etwa 790.000 Bewohnern (1815/16) waren

15 A.a.O., S. 341. Vgl. auch Heinz REIF, Westfälischer Adel 1770-1816. Vom
Herrschaftsstand zur regionalen Elite ( = KrStGw, Bd. 35), Göttingen 1979,
S. 202 - 206. Vgl. zur Gesamtproblematik Alfred Hartlieb von WALLTHOR, Die
Eingliederung Westfalens in den preußischen Staat, in: P. BAUMGART, Expansion...
( 1 9 8 4 ) [ 3 0 a ] , S. 2 2 7 - 2 5 4 ; Karl T E P P E / M i c h a e l EPKENHANS ( H g . ) , W e s t f a l e n u n d
Preußen. Integration und Regionalismus, Paderborn 1991.
16 F. KEINEMANN, D a s K ö l n e r E r e i g n i s . . . ( 1 9 7 4 ) [ 1 7 7 ] , T . 1, S. 1 4 , A n m . 1 5 .
17 Lech TRZECIAKOWSKI, Preußische Polenpolitik im Zeitalter der Aufstände (1830 -
1864), in: Klaus Zernack (Hg.), Polen und die polnische Frage in der Geschichte
der Hohenzollernmonarchie 1701 - 1 8 7 1 . Referate einer deutsch-polnischen
Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee
( = EvHKzB, Bd. 33), Berlin 1982, S. 9 6 - 1 1 0 , hier S. 99.
102 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

etwa 60 Prozent Polen, 34 Prozent Deutsche und 6 Prozent Juden, „die um


diese Zeit noch zwischen den beiden Nationen standen". 1 8 In konfessioneller
Hinsicht dominierten die Katholiken mit knapp 66 Prozent (1825). Bis zur
Jahrhundertmitte entwickelten sich die konfessionellen Bevölkerungsanteile
wie folgt:

TABELLE 13
Konfessionszugehörigkeit im Großherzogtum Posen 1815/16 — 1855

Zählungsjahr Gesamt- Konfessionszugehörigkeit


bevölkerung Evangelische Katholische* Jüdische
u. andere

1815/16 789.999 218.393 521.217 50.389


1825 1.031.925 289.708 677.054 65.163
1834/37 1.139.555 336.626 729.110 73.819
1846 1.350.918 407.227 862.382 81.309
1855" 1.378.515 437.494 867.051 72.455

* Etwa 10 Prozent der Katholiken sind dem Deutschtum zuzurechnen.


" Die letzte Zeile muß eine Ungenauigkeit enthalten.
Quelle: Martin BROSZAT, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik [1963], Frank-
furt/M. 21978, S. 144.

Während der „stillen Jahre der Versöhnungsära 1815 bis 1 8 3 0 " 1 9 bemühte
sich die preußische Verwaltung, die teilweise etwas unbedachten Formulie-
rungen des königlichen „Zurufs" vom 15. Mai 1815 so gut es ging auszu-
füllen. Demonstrativen Charakter hatte die Ernennung eines im Lande
ansässigen Katholiken, Josef v. Zerboni di Sposetti, zum Oberpräsidenten
(bis 1824; ihm folgte v. Baumann, „ein geistloser Bürokrat von reinstem
Wasser", der 1830 starb) sowie die ganz und gar singuläre Ernennung eines
„Statthalters", des Fürsten Anton Radziwill, der als Pole - mit dem
vierfachen Gehalt eines Oberpräsidenten! — und Mitglied der königlichen
Familie für eine Vermittlerrolle prädestiniert schien. Dem wohlwollenden
und kunstsinnigen Magnaten fehlte aber jedes politische und geschäftliche
Format; er wurde „eine Puppe seiner Unterorgane" und „blieb Statist ohne
fruchtbare Wirksamkeit" (Laubert).
Entsprechend der im „Zuruf" enthaltenen Verheißungen galt das Polni-
sche neben dem Deutschen als Amtssprache, standen den (adligen) Polen
auch die Landratsämter offen. So waren beispielsweise im Regierungsbezirk
Posen von 17 Landratsstellen 12 von Polen besetzt, in Bromberg acht von

18 Gute Übersicht: Gotthold RHODE, Polen und die polnische Frage bis zur Grün-
dung des Deutschen Reiches, in: Walter Bußmann (Hg.), Europa von der Fran-
zösischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhun-
derts ( = HbeG, Bd. 5), Stuttgart 1981, S. 677 - 745, hier S. 695 f. und 7 1 5 - 7 1 7 .
19 So lautet das entsprechende Kapitel bei M. LAUBERT, Die preußische Polenpoli-
tik... (31944) [s.o. Anm. 1], S. 4 6 - 6 6 . Die folgenden Zitate: S. 49 und 51 f.
III. Integrationsprobleme 103

neun (1820). Andere Bemühungen der preußischen Regierung zielten auf


das Verbot des Bauernlegens (1819) und die endgültige Befreiung der Bauern
von allen Lasten (Regulierungsgesetz vom 8. April 1823). Auch hier war
die gefundene Lösung besser als in den altpreußischen Provinzen, da sie
neben einer Vergrößerung des Gutsbesitzes die Bildung eines starken, wirt-
schaftlich entwicklungsfähigen polnischen Mittelbauerntums ermöglichte. 20
Durch zwei Verordnungen vom 9. November 1816 und 9. Februar 1817
wurden das ALR, die AGO sowie die preußische Hypothekenordnung im
Großherzogtum Posen in Kraft gesetzt. Damit verschwanden, ähnlich wie
im westfälischen Bereich, die auch im Herzogtum Warschau eingeführten
französischen Rechtsgrundsätze, doch hielt man am Prinzip des mündlichen
Verfahrens weiterhin fest. Auch der eximierte Gerichtsstand und die Patri-
monialgerichtsbarkeit blieben abgeschafft. Unveränderten Bestand hatte
auch eine Warschauer Verordnung vom 23. Februar 1809 über die Verfas-
sung der Städte und Dörfer, die faktisch die Wahrnehmung der gesamten
Kommunal- und Polizeiverwaltung in die Hände des polnischen grundherr-
lichen Adels legte; durch eine Kabinettsorder vom 16. April 1823 wurde sie
im wesentlichen bestätigt. Nur in Bromberg wurde die Städteordnung
eingeführt, als Dank für die 1813 bewiesene patriotische Gesinnung. 21
Obwohl größere Konflikte ausblieben, ist es der preußischen Admini-
stration in diesen „ereignisarmen eineinhalb Jahrzehnten" von 1815 bis 1830
nicht gelungen, größere Teile der polnischen Bevölkerung für sich zu ge-
winnen.
Als sich beim — gegen Rußland gerichteten - Novemberaufstand
1830/31 in „Kongreßpolen" auch in Posen deutliche Sympathien regten, sah
sich Preußen veranlaßt, von der bisherigen Praxis der „gleichgültigen Nach-
giebigkeit" (Rhode) zu einer aktiveren Politik überzugehen, die von dem
neuen Oberpräsidenten Eduard v. Flottwell in ziemlich eigenständiger Weise
durchgeführt wurde. 22 Die Beseitigung der Statthalterschaft, die Einschrän-
kung des Gebrauchs der polnischen Sprache in der Verwaltung und die
Bevorzugung der deutschen Bevölkerung waren sichtbarer Ausdruck dieser
Politik. Obwohl ihr kein spezifisches Germanisierungsprogramm zugrunde
lag, drängte sie den Einfluß des polnischen Adels und der Geistlichkeit auf
vielen Gebieten zurück und stärkte das deutsche Element (Sprache, Schul-
wesen, Verwaltung, Grundbesitz und anderes), um langfristig die breite
Masse der polnischen Stadt- und Landbevölkerung für den preußischen
Staat zu gewinnen. Höchst negativ wirkte sich während der Flottwell-Ära
der „Mischehenstreit" aus, der — wie im Rheinland — die Integrations-
bemühungen erheblich belastete. 23

20 A. a. O., S. 4 9 und 58 f.
21 A. a. O., S. 56.
22 Vgl. G. RHODE, Polen und die polnische Frage... (1981) [s. o. Anm. 18], S. 7 1 7 f . ;
M . LAUBERT, Die preußische Polenpolitik... ( 3 1944) [s.o. Anm. 1], S. 6 6 - 8 2 ;
Martin BROSZAT, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik [1963], Frankfurt/M.
2 1978, S. 101 f. S. auch u. § 3, VII, 2, S. 161 f.

23 S. u. § 3, Vili, 4, S. 178.
104 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

3. Die nördlichen Gebiete

Eine Gesandtschaft aus Schwedisch-Pommern, die sich beim Erfurter Für-


stentag im Oktober 1808 2 4 über die französischen Okkupationspraktiken
beschweren wollte, ließ anklingen, daß die Bewohner dieser Ostseeprovinz
keine Lust verspürten, preußisch zu werden, sondern im Falle eines terri-
torialen Revirements lieber zu Mecklenburg zu kommen wünschten. 25 Die
Großmächte wollten es jedoch anders: zunächst sollte das Gebiet als Aus-
gleich für das Schweden zugesprochene Norwegen an Dänemark fallen
(Friede von Kiel, 14. Januar 1814). Während Schweden aber wegen des
norwegischen Aufstands die Herausgabe verweigerte, gelang es Hardenberg,
folgenden „verzwickten Handel" abzumachen:

1. Hannover erhielt von Preußen das Fürstentum Ostfriesland mit dem


Nordseehafen Emden;
2. Preußen erhielt von Hannover das Herzogtum Lauenburg;
3. Dänemark erhielt von Preußen Lauenburg und 3,5 Millionen Taler;
4. Preußen erhielt von Dänemark das ehemalige Schwedisch-Pommern;
5. Schweden erhielt von Preußen eine Ausgleichszahlung von 2 Millionen
Talern; außerdem übernahm Preußen eine dänische Schuld gegenüber
Schweden von 600.000 Kronen. 2 6

Damit endete die schwedische Herrschaft an der südlichen Ostseeküste, die


faktisch mit der Landung Gustavs II. Adolf 1630 begonnen hatte, nach
185 Jahren.
Nachdem Karl XIII. die Bewohner dieses rund 4.400 Quadratkilometer
großen Landes (einschließlich der Insel Rügen mit 920 Quadratkilometern)
zum 1. Oktober 1815 aus dem schwedischen Staatsverband entlassen hatte,
erfolgte am 23. Oktober in Stralsund die offizielle Übergabe des Gebietes
an v. Ingersleben, den Oberpräsidenten von Pommern. 2 7 In administrativer
Hinsicht blieb es „ganz bei der sehr zweckmäßigen und verständigen Kreis-
einteilung", die 1806 im Zuge einer Gebietsreform erfolgt war. Die vier
dabei geschaffenen „Ämter", die seit 1810 „Kreise" hießen, wurden sprach-
lich als „Neupommern" (oder auch „Neuvorpommern") zusammengefaßt
und bildeten fortan den Regierungsbezirk Stralsund. 28
Für die Universitätsstadt Greifswald sowie für die Festungs- und Hafen-
stadt Stralsund sollten eigene Stadtkreise errichtet werden. Dabei kam es
zu ernsten Konflikten mit den um ihre Rechte (Polizeihoheit!) bangenden
Städten, denen „die Strenge der monarchischen Gerechtigkeit" bisher ganz

24 S.o. S. 3 3 .
25 Vgl. Martin WEHRMANN, Geschichte von Pommern, Bd. 2 ( = AStG, Abt. 3,
Bd. 5), Gotha 2 1921, S. 274.
26 Vgl. dazu K. GRIEWANK, Der Wiener Kongreß... ( 2 1954) [123], S. 260f.
27 M . WEHRMANN, G e s c h i c h t e v o n P o m m e r n . . . ( 1 9 2 1 ) [ s . o . A n m . 2 5 ] , S. 2 8 4 .
28 Detaillierte Informationen: B. SCHULZE, Die Reform der Verwaltungsbezirke...
(1931) [84], S. 95 - 97. Vgl. auch Tab. 5, S. 87.
III. Integrationsprobleme 105

unbekannt war. 2 9 Der seit Juni 1816 amtierende Oberpräsident Sack, der
sich bereits im Rheinland für eine behutsame Integrationspolitik eingesetzt
hatte, 3 0 stellte sich hinter die städtischen Forderungen. Tatsächlich gelang
es ihm, die Regierung zum stillschweigenden Verzicht auf ihre Pläne zu
bewegen. 31 Auch die spätere Absicht, die Städteordnung von 1831 (oder
wahlweise die von 1808) einzuführen, ließ sich nicht realisieren. Die alten
Stadtverfassungen blieben im wesentlichen erhalten. 32
Im agrarischen Bereich Neupommerns, das Schweden jahrzehntelang als
Kornkammer gedient hatte, vollzogen sich wirtschaftliche und soziale Um-
strukturierungen, die teilweise noch aus schwedischen Reformgesetzen re-
sultierten, aber ähnlich wie in den preußischen Kernprovinzen zum Aus-
verkauf oder zur Parzellierung von Bauernstellen führten. Abgeschafft blie-
ben aber die Leibeigenschaft und die Patrimonialgerichte. Ernst Moritz
Arndt, der 1806 und 1810 bis 1812 Professor in Greifswald war, hat diesem
landwirtschaftlichen Strukturwandel eine eigene Untersuchung gewidmet. 33
Durch eine Kabinettsorder vom 19. November 1821 wurde das preußische
Zoll- und Steuersystem in Neupommern eingeführt, doch galten für einige
Artikel, die man aus Schweden zu beziehen gewöhnt war, Sondertarife. 34
Eine neue Rechtsordnung gab es dagegen nicht, denn der zum 1. Januar
1828 vorgesehenen Einführung des ALR widersetzten sich die neupommer-
schen Landtage 35 mit vollem Erfolg: Sie erreichten die Beibehaltung des
Gemeinen Rechts und der eigenen Gerichtsbarkeit. Um die Rechtsprechung
auf eine festere Basis zu stellen, wurden wenigstens die Provinzialrechte
Neupommerns und Rügens 1837 aufgezeichnet. 36 Auch in anderen Bereichen

29 So umschreibt H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27],


Bd. 2, S. 252, den neuen Verwaltungsstil.
30 S.o. S. 99.
31 Vgl. B. SCHULZE, Die Reform der Verwaltungsbezirke.... (1931) [84], S. 97 - 99.
Die auf profunder Sach- und Ortskenntnis beruhende Autorität Sacks war so
stark, daß er in einem anderen Fall den König zum Widerruf einer KO veranlassen
konnte (a. a. O., S. 85 f.).
32 Vgl. M. WEHRMANN, Geschichte von Pommern... (1921) [s.o. Anm. 25], S. 286.
33 Ernst Moritz ARNDT, Geschichte der Veränderung der bäuerlichen und herr-
schaftlichen Verhältnisse in dem vormaligen Schwedischen Pommern und Rügen.
Vom Jahre 1806 bis zum Jahr 1816. Als ein Anhang zu dessen im Jahre 1803
erschienenen Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und
Rügen, Berlin 1817.
34 Vgl. M . WEHRMANN, G e s c h i c h t e v o n P o m m e r n . . . ( 1 9 2 1 ) [ s . o . A n m . 2 5 ] , S. 2 8 6 .
35 Entsprechend dem Gesetz vom 1. Juli 1823 erhielten Hinter- und Vorpommern
je einen Landtag, die in Stettin (erstmals im Herbst 1824) bzw. in Stralsund
(erstmals am 31. III. 1826) zusammentraten (a. a. O., S. 287). Offensichtlich gab
es neben dem Provinziallandtag bis 1880 noch den neu(vor)pommerschen Landtag
( a . a . O . , S. 303). Merkwürdigerweise findet sich in dem grundlegenden Werk
über die Provinzialstände von H. OBENAUS, Anfänge des Parlamentarismus...
(1984) [146], kein einziger Hinweis auf diese landständische Parallelität.
36 Vgl. M. WEHRMANN, Geschichte von Pommern... (1921) [s.o. Anm. 25], S. 287.
106 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

konnte Neupommern seine Sonderstellung bewahren; beispielsweise galt


hier bis 1847 eine restriktivere Judengesetzgebung als im übrigen Preußen. 37
Die durchaus nicht schwedenfeindlich eingestellte Bevölkerung Neupom-
merns („Ja, unter den drei Kronen ließ es sich ruhig wohnen . . . " , dichtete
Ludwig Kosegarten) wurde „immerhin schonend" behandelt und gewöhnte
sich „mit der Zeit doch an die streng geordneten Verhältnisse Preußens". 38

IV. Verwaltung und Verfassung


1. Die Stufen der Verwaltung

Die Staatsregierung bildeten — unterhalb der monarchischen Spitze — seit


1808 die fünf Ressortminister für Inneres, Finanzen, Äußeres, Krieg und
Justiz. 1 1817 kam das vom Innenministerium abgezweigte Ministerium der
Geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (Kultusministe-
rium) dazu. Von 1814 bis 1819 bestand ein Polizeiministerium unter Fürst
Wittgenstein, der 1819 das neugeschaffene Ministerium des Königlichen
Hauses übernahm. Nach zwei kurzlebigen Vorgängerinstitutionen (1817 bis
1825, 1830 bis 1837) wurde 1848 das (3.) Ministerium für Handel, Gewerbe
und Öffentliche Arbeit errichtet. 2 Im gleichen Jahr folgte das Ministerium
für Landwirtschaft, Domänen und Forsten.
Die Position eines Leitenden Ministers war im Organisationsplan Steins
vom 24. Oktober 1808 nicht vorgesehen, doch hat Hardenberg durch das
von ihm geschaffene Amt des Staatskanzlers von 1810 bis 1822 eine solche
dominierende Stellung besessen. Nach seinem Tode blieb das Amt unbesetzt.
Das 1848 entstandene Amt des Ministerpräsidenten reichte nicht an die
Machtfülle des Staatskanzlers heran.
Das erst 1814 zustandegekommene Staatsministerium (Kabinett), das aus
sämtlichen Ministern bestand, sollte die Einheitlichkeit der Verwaltung und
die Koordinierung der Gesetzgebung sichern und Anordnungen von allge-
meiner Bedeutung treffen. Auch nach 1848, als der Ministerpräsident den
Vorsitz übernahm, arbeitete diese Behörde kollegial. Den Geschäftsverkehr
zwischen den Ministern und dem König besorgten nach 1822 ein bis zwei
„Kabinettsminister" (zuerst Graf Lottum, später Fürst Wittgenstein). Die

37 A . a . O., S. 2 8 8 ; H. OBENAUS, Anfänge des Parlamentarismus... (1984) [146], S. 218.


38 Vgl. H . von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 2 5 2 ;
M . WEHRMANN, Geschichte von P o m m e r n . . . (1921) [s.o. Anm. 25], S. 286. -
Z u r Integration der „südlichen Gebiete" vgl. Richard DIETRICH, Die Eingliede-
rung der ehemals sächsischen Gebiete in den preußischen Staat nach 1815, in: P.
BAUMGART, Expansion... (1984) [ 3 0 a ] , S. 2 5 5 - 297.
1 Gute Übersicht (mit Lit.): Κ. G. A. JESERICH/H. POHL/G.-C. von UNRUH (Hg.),
Deutsche Verwaltungsgeschichte... (1983) [51], S. 4 5 2 - 4 6 8 . Vgl. oben S. 85.
2 Vgl. I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], S. 3 0 - 3 2 ; Olaf WIRTH,
Das preußische Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Ein
Beitrag zu seiner Entstehungsgeschichte, Jur. Diss. München 1962, passim.
IV. Verwaltung und Verfassung 107

„rechtsstaatlich organisierte Bürokratie-Monarchie mit systemimmanenten


Kontrollmechanismen" (Heinrich) konnte freilich unkontrollierbare Ein-
flüsse dieser Verbindungsträger nicht ausschließen, so daß „Fürst Wittgen-
stein zuweilen der mächtigste Mann im Staate sein konnte, ohne überhaupt
ein Staatsamt zu bekleiden". 3
Der von Stein geplante und von Hardenberg 1810 in Aussicht gestellte
Staatsrat 4 wurde zwar 1817 eingerichtet, erhielt aber, da er vorwiegend
Verwaltungsgrundsätze entwickeln und Kompetenzstreitigkeiten schlichten
sollte und auf eine beratende Tätigkeit beschränkt blieb, nicht die Kom-
petenzen, die sich die Reformer ursprünglich von diesem Kollegium erhofft
hatten. Der Kreis der Mitglieder (die königlichen Prinzen, die Minister, die
Chefs der anderen selbständigen Zentralbehörden, die Feldmarschälle, die
kommandierenden Generale, die Oberpräsidenten sowie 34 vom König
berufene Männer aus allen Zweigen des öffentlichen Dienstes, zu denen
beispielsweise zwei Bischöfe und der Rechtsgelehrte Savigny gehörten) er-
innerte eher an eine Notabelnversammlung des Ancien Régime als an eine
funktionstüchtige und ents'cheidungsfreudige Behörde. In der Tat: „Es war
die letzte glänzende Vertretung der alten absoluten Monarchie... Aber sie
tagte geheim, in Preußen selbst wußte das Volk kaum etwas von ihrem
Dasein" (Treitschke).
Zu den staatlichen Mittelbehörden gehörten zunächst die jeweils von Ober-
präsidenten geleiteten Provinzialverwaltungen. Das französisch-westfälische
Präfektursystem wurde in den neu erworbenen Landesteilen sofort abge-
schafft. Infolge ihrer umfassenden Kompetenzen erlangten die Oberpräsiden-
ten, die wie Sack, Schön und Vincke teilweise noch der Reformergeneration
angehörten und im ganzen eine hochklassige Funktionselite darstellten, in
kurzer Zeit eine starke politische Position. 5 Mit solchen Spitzenbeamten
konnte sich der preußische Staat eine Dezentralisation auf der mittleren Ver-
waltungsebene leisten: Unter der festen Leitung der Oberpräsidenten wuchsen
die Provinzen zu eigenständigen Verwaltungskörpern heran.
Dagegen waren die darunter bestehenden Regierungsbezirke reine Ver-
waltungseinheiten. In den Provinzhauptstädten übte der Oberpräsident
meist auch das Amt des Regierungspräsidenten aus. Die leitenden Behörden,
die an die Stelle der früheren Kriegs- und Domänenkammern traten, hießen,
obwohl sie überwiegend administrative Aufgaben hatten, „Regierungen".
Seit 1825 hatte jede Regierung eine Präsidialabteilung (I), die für alle

3 Vgl. Ernst KLEIN, Funktion und Bedeutung des Preußischen Staatsministeriums,


in: J G M O D , Bd. 9 / 1 0 (1961), S. 1 9 5 - 2 6 1 , hier S. 1 9 5 - 2 1 3 , Zitat S. 212.
4 Vgl. Paul HAAKE, Die Errichtung des preußischen Staatsrats im M ä r z 1817, in:
FBPG, Bd. 27 (1914), S. 247 - 265, passim, und Hans SCHNEIDER, Der Preußische
Staatsrat 1 8 1 7 - 1 9 1 8 . Ein Beitrag zur Verfassungs- und Rechtsgeschichte Preu-
ßens, München — Berlin 1952, passim.
s Der in der Provinz Posen, die als „Großherzogtum" eine Sonderstellung besaß,
eingesetzte einheimische Statthalter Fürst Anton Radziwill übte keine speziellen
Verwaltungsaufgaben aus und war auch nicht Vorgesetzter des Oberpräsidenten.
108 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

polizeilichen Angelegenheiten zuständig war, sowie je eine Abteilung für


Kirchen- und Schulwesen (II) und für direkte Steuern, Domänen und
Forsten (III). Daneben bestanden das Präsidialbüro, das Katasterbüro und
die Hauptkasse. Die generelle Zuständigkeit wurde im Laufe der Zeit
zugunsten einiger Spezialbehörden beschnitten: Generalkommissionen seit
1811 (Abwicklung der Agrarreformen), Konsistorien 1815 (kirchliche An-
gelegenheiten), Provinzialschulkollegien 1817/1825 (höheres Unterrichts-
wesen), Provinzialsteuerdirektionen 1823 (indirekte Steuern und Zollwesen).
Den Geschäftsgang regelte bis zum Ende des Staates eine Instruktion vom
23. Oktober 1817.
Weder für die Land- noch für die Stadtgemeinden, welche die untere
Verwaltungsebene bildeten, gab es gesamtstaatlich einheitliche Organisa-
tionsformen. Zwar hatte man die altpreußische Kreisverfassung auch in
den neuen Landesteilen eingeführt, aber eine allgemeine Kreisordnung schei-
terte ebenso wie eine allgemeine Landgemeindeordnung am Widerstand der
ständisch-partikularen Kräfte. Um überhaupt etwas zu erreichen, handelte
die Zentralregierung von 1825 bis 1828 acht Provinzial-Kreisordnungen aus,
in denen die Steinschen Selbstverwaltungsideen einen schwachen Widerhall
fanden: In den zu bildenden „Kreisständen" waren Gutsbesitzer, Städte und
Bauernstand vertreten — je nach regionaler Tradition und wirtschaftlicher
Struktur in unterschiedlicher Zusammensetzung, aber immer so, daß die
Vorrangstellung der Rittergutsbesitzer grundsätzlich nicht gefährdet war.
Die den Kreisständen eingeräumten Selbstverwaltungsrechte blieben be-
scheiden (Steuerrepartierung, Landeskultur, Wohlfahrtspflege). Immerhin
hatten sie — außer in Brandenburg, Pommern und der Lausitz — das Recht,
drei Kandidaten („notable Grundbesitzer") für das Landratsamt zu nomi-
nieren, von denen der König einen ernannte. Daß Repräsentanten der
Bevölkerung an der Auswahl eines Beamten beteiligt waren, nennt v. Unruh
„ein bemerkenswertes Ereignis, das in den europäischen Staaten zu dieser
Zeit wenig Vergleichbares besitzt". 6 Der Landrat war der Behördenchef
eines Kreises. Bei den Stadtkreisen wurde diese Funktion mitunter von dem
städtischen Polizeipräsidenten ausgeübt. In den ostelbischen Gebieten blieb
es dabei, daß Landgemeinden und selbständige Gutsbezirke nebeneinander
bestanden. Hier war der Landrat nicht nur Staatsbeamter der unteren
Instanz, sondern auch das Haupt der ständischen Selbstverwaltung des
Kreises. Außerdem besaß er für seinen Gutsbezirk die Patrimonialgerichts-
barkeit, die niedere Polizeigewalt sowie das Kirchenpatronat.
Auch im städtischen Bereich war der preußische Staat weit davon entfernt,
einheitliche, nivellierende und damit zwangsläufig auf Widerstand stoßende
Regelungen durchzusetzen. Nur in den Städten, die auch 1808 zum preu-
ßischen Reststaat gehört hatten, galt die Steinsche Städteordnung vom
19. November 1808. Sie unterschied zwischen Bürgern (wer „sich in der
Stadt häuslich niedergelassen hat") und Schutzverwandten. Nur die grund-

6 K . G . A. JESERICH/H. P O H L / G . - C . v o n UNRUH ( H g . ) , D e u t s c h e Verwaltungsge-


schichte... (1983) [51], S. 465.
IV. Verwaltung und Verfassung 109

besitzenden oder vermögenden Bürger durften — auf drei Jahre — die


ehrenamtlich tätigen Stadtverordneten wählen. Deren Versammlung nomi-
nierte die besoldeten (Amtszeit 12 Jahre) und unbesoldeten (Amtszeit sechs
Jahre) Stadträte, die den Magistrat bildeten, und schlug den (Ober-) Bür-
germeister vor, der vom König beziehungsweise von der Regierung ernannt
wurde. Für besondere Aufgaben, etwa das Armenwesen, gab es gemischte
Deputationen, in denen auch Bürger mitarbeiteten. 7
In den 1815 hinzugewonnenen Landesteilen wurde die Städteordnung
nicht eingeführt; die in den westlichen Provinzen geltende französische
Gemeindeordnung blieb bestehen. Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten führ-
ten dann zur „Revidierten Städteordnung" vom 17. März 1831. Sie ging
den Schritt von der Bürger- zur Einwohnergemeinde und beseitigte das
Übergewicht der Stadtverordnetenversammlung über den Magistrat. Die
Staatsaufsicht wurde verstärkt und der Zensus für das aktive und passive
Wahlrecht beträchtlich erhöht. Während die Städte in den vier Stammpro-
vinzen zwischen der alten und der neuen Ordnung wählen konnten, sollte
die revidierte Fassung in den vier neuen Provinzen zwingend eingeführt
werden. Relativ reibungslos geschah dies aber nur in Sachsen; in Posen und
Westfalen zog sich die Einführung bis 1841 hin, und aus der Rheinprovinz
kam der erbittertste Widerstand. Dort lehnte man die Übernahme der neuen
Städteordnung kategorisch ab und plädierte prinzipiell gegen eine unter-
schiedliche Rechtsstellung von Stadt und Land. Der Kampf um die rheini-
sche Kommunalverfassung endete nach anderthalb Jahrzehnten mit dem
Kompromiß der Gemeindeordnung (23. Juli 1845), die ein gestuftes Zen-
suswahlrecht und etwas größere Selbstverwaltungsrechte mit der bisherigen
Bürgermeisterei (Mairie)-Verfassung in Einklang brachte. Vor die Wahl ge-
stellt, entschieden sich lediglich Wetzlar, Mülheim/Ruhr und Essen für die
Revidierte Städteordnung.

7 Monographische Arbeiten gibt es bisher nur für Berlin (P. CLAUSWITZ, Die
Städteordnung von 1 8 0 8 . . . (1908) [79], für die Provinzen Pommern (Oskar
EGGERT, Die Einführung der preußischen Städteordnung in Pommern, Hamburg
1954) und Schlesien (Johannes ZIEKURSCH, Das Ergebnis der friderizianischen
Städteverwaltung und der Städteordnung Steins. Am Beispiel der schlesischen
Städte dargestellt, Jena 1908) sowie für einige Städte wie Braunsberg (Adolf
POSCHMANN, Die Einführung der Steinschen Städteordnung in Braunsberg 1809 —
1817, in: Z G A E , Bd. 26 [1938], S. 1 - 7 1 ) , Breslau (Heinrich WENDT, Die Steinsche
Städteordnung in Breslau. Denkschrift der Stadt Breslau zur Jahrhundertfeier der
Selbstverwaltung [ = MSaSbB, H. 9 / 1 0 ] , Breslau 1909), Danzig (Erich HOFFMANN,
Danzig und die Städteordnung des Freiherrn vom Stein [ = KHF, Bd. 6], Leipzig
1934) und Königsberg (Gertrud NICOLAUS, Die Einführung der Städteordnung
vom 19. November 1808 in Königsberg i. Pr., (Phil. Diss. Königsberg 1931),
Minden i. Westf. 1931. Für Berlin vgl. demnächst die Untersuchung von Manfred
A. PAHLMANN, Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung unter der
Steinschen Städteordnung ( 1 8 0 8 - 1 8 5 0 ) , Phil. Diss. FU Berlin 1992, die auf neu
aufgefundenen, von Clauswitz nicht benutzten Archivalien basiert.
110 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

2. Der Kampf um die Verfassung (1815 — 1821)

Der Gedanke einer sich stufenweise aufbauenden Beteiligung der Bürger an


den politischen Entscheidungsprozessen auf kommunaler, provinzialer und
gesamtstaatlicher Ebene gehörte zum Kern des insbesondere vom Freiherrn
vom Stein verfochtenen Reformprogramms. Am Ende der Reformzeit war
es jedoch allein die Städteordnung, in der man einen ersten Schritt in dieser
Richtung sehen konnte. Um so stärkere Erwartungen knüpfte man an die
verschiedenen „Verfassungsversprechen", die der preußischen Nation in den
Jahren der Not „eine zweckmäßig eingerichtete Repräsentation sowohl in
den Provinzen als für das Ganze" in Aussicht gestellt (Finanzedikt vom 27.
Oktober 1810) und später präzisiert hatten, daß „vermittelst einer schrift-
lichen Urkunde der Verfassung des Preußischen Reichs... eine Repräsenta-
tion des Volkes gebildet werden" solle (22. Mai 1815). Mit diesem Ringen
um „Repräsentation" und „Konstitution", das zu einem beherrschenden
Thema der preußischen Innenpolitik zwischen Reformzeit und Revolution
wurde, steht die Einrichtung der Provinzialselbstverwaltung in engem Zu-
sammenhang, da es sich, einmal auf der oberen, dann auf der mittleren
Entscheidungsebene, um die Verwirklichung ein und derselben Idee han-
delte.
Die gesamte Verfassungsfrage, die der König ohnehin nur mit größtem
Mißtrauen betrachtete, kam aus vielerlei Gründen nur äußerst schleppend
voran. 8 Die 1815 versprochene Verfassungskommission aus Beamten und
Provinznotabein trat gar nicht zusammen, weil die erbetenen Arbeitsgrund-
lagen verspätet eintrafen und der Staatsverwaltung andere Aufgaben in-
zwischen dringlicher erschienen: zuerst die administrative Neugliederung
des Staatsgebietes, sodann die Steuer- und Finanzreform. Schließlich beauf-
tragte man den neu gebildeten Staatsrat mit der Ausarbeitung einer Verfas-
sung, aber die 20köpfige Kommission unter dem Vorsitz Hardenbergs, der
in dieser Sache vom König höchst restriktiv instruiert wurde, brachte
ebenfalls keine konkreten Ergebnisse zuwege; einen von Hardenberg im
Mai 1819 in Form einer projektierten Kabinettsorder vorgelegten Verfas-
sungsentwurf wies der König zurück und veranlaßte die Bildung einer
sechsköpfigen „kleinen Verfassungskommission", in der Hardenberg nur
mit Mühe den Vorsitz erhielt. Wenig später verständigten sich Metternich
und Hardenberg hinsichtlich des Artikels 13 der Deutschen Bundesakte, in
Preußen „keine allgemeine ... Volksvertretung einzuführen, sondern seinen
Provinzen landständische Verfassungen zu erteilen und aus diesen einen
Zentralausschuß von Landes-Repräsentanten zu bilden" (Teplitzer Punk-

8 Zur Verfassungsproblematik in den Jahren 1815 bis 1821 vgl. neuerdings die
grundlegende Untersuchung von H. OBENAUS, Anfänge des Parlamentarismus...
( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 5 5 - 1 4 9 , d e r e i n i g e n S c h l u ß f o l g e r u n g e n v o n H u b e r ( E . R . H U B E R ,
Deutsche Verfassungsgeschichte... [1957/60] [49], Bd. 1, S. 137, Anm. 5) und
Koselleck (R. KOSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution... [ 2 1975]
[35], S. 149) überzeugend widerspricht. Zur „außenpolitischen Ebene" der Har-
denbergschen Verfassungspolitik vgl. H. OBENAUS, a. a. O., S. 137 f.
IV. Verwaltung und Verfassung 111

tation, 1. August 1819). 9 Damit Schloß sich Preußen der Auffassung Met-
ternichs an, daß der Artikel 13 der Bundesakte als Repräsentationsorgane
nur Stände, aber keine Volksvertreter in Aussicht stellte. Folgerichtig ver-
warf die Wiener Schlußakte entsprechend dem monarchischen Prinzip jede
Teilung der Gewalten: die gesamte Staatsgewalt müsse im Staatsoberhaupt
vereinigt bleiben, weshalb der Monarch nur bei der Ausübung bestimmter
Rechte an die (beratende) „Mitwirkung" von Ständen gebunden sein könne
(Artikel 57).
Ein besonderes Dilemma der Verfassungspolitik Hardenbergs lag in ihrer
Doppelbödigkeit: Während der Staatskanzler gegenüber Metternich, zuletzt
noch bei seinem Troppauer Verfassungsplan vom Oktober 1820, eine durch-
aus restriktive Haltung einnahm und österreichisch-preußische Gemeinsam-
keit demonstrierte, verfolgte er in Wirklichkeit eine ganz andere, sehr viel
liberalere Verfassungspolitik. Dieser politische Balanceakt konnte nur gelin-
gen, solange die Autorität des Staatskanzlers unangefochten war und er das
volle Vertrauen seines Königs besaß.
Im Laufe des Jahres 1819 kam es jedoch zu einer schweren innenpoliti-
schen Krise, die sich mittelbar auf die Verfassungsdebatte auswirkte. 10
Wilhelm von Humboldt, der 1819 zum Minister für Ständische Angelegen-
heiten ernannt worden war und massiv, aber erfolglos gegen die übermäch-
tige Position des Staatskanzlers intrigiert hatte, wurde wegen seiner Kritik
an der Übernahme der Karlsbader Beschlüsse für Preußen entlassen; gleich-
zeitig verlor der Großkanzler Beyme (Teilbereiche der Justiz) sein Amt;
ebenfalls erbaten Kriegsminister Boyen sowie Generalstabschef v. Grolman
ihren Abschied, veranlaßt durch „die jetzt eingetretenen Zeitumstände und
die traurigen Jahre, die ich seit 1815 erlebt" (Grolman). Nach außen wirkte
diese Ministerkrise wie ein Zeichen des Sieges der Reaktion über die
fortschrittlichen Kräfte der Reform. In der Tat war die Front der Konsti-
tutionsanhänger, die Hardenberg für seine Verfassungspläne gegen die wach-
sende Opposition brauchte, erheblich geschwächt worden. Es drohte seine
Isolierung. In dieser Situation, als Hardenberg das reaktionäre Wetter über
sich ergehen ließ, um auf bessere Zeiten zu warten („die freilich diesmal
nicht gekommen sind", O. Hintze), trat er in der Verfassungsfrage noch
einmal die Flucht nach vorn an: Im Staatsschuldengesetz vom 17. Januar
1820 fügte die preußische Monarchie ihren bisherigen Verfassungsverspre-
chen ein weiteres, ein letztes, hinzu, indem sie erklärte, daß neue Staats-
schulden „nur mit Zuziehung und unter Mitgarantie der künftigen reichs-
ständischen Versammlung" aufgenommen werden dürften. 11
Die verfassungsfeindlichen Kräfte formierten sich daraufhin zum Angriff.
Den besten Ansatzpunkt erblickten sie in den Entwürfen zu einer Kom-
munal- und Kreisordnung, die eine siebenköpfige Kommission unter dem
Staatssekretär und Staatsbankpräsidenten Friese von Februar bis August

9 Vgl. H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... (1879-1894) [27], Bd. 2,


S. 5 5 2 - 5 5 4 , und Beilage 3, S. 6 3 4 - 6 3 7 .
10 A . a . O . , S. 5 9 6 - 6 0 9 .
11 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], S. 66f.
112 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

1820 ausgearbeitet hatte. Die Verwirklichung dieser Vorschläge „hätte


staatsrechtlich und gesellschaftspolitisch eine bedeutende Vorentscheidung
für die Verfassung Preußens getroffen; sie hätte die Machtverhältnisse auf
der unteren Ebene von Staat und Gesellschaft, vor allem auf dem Lande,
grundlegend verändert" (Obenaus). Die Verfassungsgegner um Ancillon,
Wittgenstein und Voß-Buch konnten den König bewegen, zur Prüfung der
Entwürfe der Friese-Kommission eine andere Kommission unter dem Vorsitz
des Kronprinzen einzusetzen. Wie aufgrund ihrer Zusammensetzung nicht
anders zu erwarten, fällte diese ein vernichtendes Urteil, wobei die politische
Stoßrichtung auf die Hardenbergsche Reformbürokratie zielte, in der die
reaktionären Kräfte den eigentlichen Gegner sahen. Hardenbergs Bemü-
hungen, letzte Gegenpositionen aufzubauen, stießen ins Leere; der König
sah bestätigt, was er im Grunde immer geglaubt hatte, und teilte Hardenberg
am 11. Juni 1821 mit, daß demnächst zwar Provinzialstände eingerichtet
werden sollten, aber: „Das Weitere wegen Zusammenberufung der allge-
meinen Reichsstände bleibt der Zeit, der Erfahrung, der Entwicklung der
Sache und meiner landesväterlichen Fürsorge anheimgestellt." 12 Damit war
Hardenbergs Ziel einer gesamtpreußischen Verfassung, etwa nach dem
Muster der süddeutschen Staaten, auf unabsehbare Zeit vertagt; seine
Ausschaltung von der Arbeit an einer neuen preußischen Repräsentation
beendete, wie Herbert Obenaus unterstreicht, eine Epoche: „Sieger im
Kampf mit Hardenberg und der Reformbürokratie blieb — zusammen mit
den restaurativen Kräften am Hof und in der Verwaltung — die soziale
Gruppe, die Hardenberg am stärksten bekämpft hatte, der feudalständisch
orientierte Adel, besonders der brandenburgische." Sieger blieb aber auch
Metternich und mit ihm das reaktionäre System der Heiligen Allianz.

3. Einrichtung, Struktur und Funktion der Provinzialstände

Die verheißene Bildung von Provinzialständen wurde von einer betont


konservativen Kommission, die wiederum vom Kronprinzen geleitet wurde,
vorbereitet. 13 Das entsprechende Gesetz kam am 5. Juni 1823 heraus. 14 Das
Recht auf Repräsentation erhielten lediglich die Grundbesitzer aller Art, die

12 Die von Wittgenstein stammende Formulierung findet sich in der Kabinettsorder


an Hardenberg, zit. von H . OBENAUS, Anfänge des Parlamentarismus... (1984)
[146], S. 147, Anm. 42. Das folgende Zitat a. a. O., S. 149.
13 A . a . O . , S. 151 ff.
14 Dem „Allgemeinen Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände" vom 5. VI.
1823 (GS 1823, S. 129 f.) folgten die speziellen Gesetze für — man beachte die
traditionellen Bezeichnungen! — das Königreich Preußen, für die M a r k Bran-
denburg und das Markgraftum Niederlausitz, für das Herzogtum Pommern und
das Fürstentum Rügen am 1. VII. 1823 (GS 1823, S. 130 - 138), für das Herzogtum
Schlesien, die Grafschaft Glatz und das Preußische Markgraftum Oberlausitz,
für das Großherzogtum Posen, die Provinzen Sachsen und Westfalen sowie die
R h e i n p r o v i n z e n a m 2 7 . III. 1 8 2 4 ( G S 1 8 2 4 , S. 6 2 - 7 0 , 108-115, 141-148).
IV. Verwaltung und Verfassung 113

je nach ihren ökonomischen Aktivitäten in die drei scharf zu trennenden


Stände Ritterschaft, Städte und Bauern (später: Landgemeinden) eingeteilt
wurden. Durch Klauseln über Kirchenzugehörigkeit (Ausschluß jüdischer
Rittergutsbesitzer!) und Unbescholtenheit konnte der Kreis der (männli-
chen!) aktiv und passiv Wahlberechtigten (Alter 24 beziehungweise 30 Jahre)
weiter eingeschränkt werden. Andererseits richtete man, obwohl aus dem
adligen Status allein keine ständischen Vorrechte mehr abzuleiten waren,
zusätzliche Viril- und Kollektivstimmen ein, die an Domkapitel oder fürst-
liche und adlige Familien der Provinz vergeben wurden. In Schlesien, Sach-
sen, Westfalen und der Rheinprovinz bildeten die Fürsten, Domkapitel,
Grafen und Herren den ersten Stand, die Ritterschaft den zweiten und die
Städte und Landgemeinden den dritten und vierten, während in Preußen,
Brandenburg, Pommern und Posen diese Stimmen der Ritterschaft zuge-
schlagen wurden (siehe Tabelle 14 auf S. 114).
Direkt gewählt wurden nur die Vertreter der Ritterschaft. In den größeren
Städten nominierte die Stadtverordnetenversammlung die ein bis drei De-
legierten, während die Masse der Kleinstädte, die nur an Kollektivstimmen
beteiligt war, sowie sämtliche Landgemeinden lediglich Wahlmänner be-
stimmten. Die Abgeordneten der drei Stände sollten grundsätzlich im Ver-
hältnis 3 : 2 : 1 vertreten sein, doch gab es regionalhistorisch bedingte Ab-
weichungen, die in den beiden westlichen Provinzen fast auf eine Parität
von 1 : 1 : 1 hinausliefen, so daß sich im ganzen ein recht differenziertes Bild
ergab (siehe Tabelle 15 auf S. 115).
Die prinzipielle Ungerechtigkeit und Ungleichheit dieses ständischen Re-
präsentationsmodells kann am Beispiel der Mark Brandenburg verdeutlicht
werden: Dort wählten etwa 2.000 Rittergutsbesitzer die Hälfte der Land-
tagsabgeordneten, während die andere Hälfte rund 1,335 Millionen Ein-
wohner vertrat.
An Kompetenzen erhielten die Provinzialstände zugesprochen (1) ein fa-
kultatives Beratungsrecht bei Gesetzentwürfen, die Provinzial-, Personen-,
Eigentums- und Steuerangelegenheiten betrafen, (2) ein Entscheidungsrecht
(vorbehaltlich der königlichen Genehmigung) in Kommunalangelegenheiten
(Landarmeninstitute, Feuer- und Hagelversicherung, Straßenbaufonds usw.)
und (3) das Recht, Bitten und Beschwerden dem König zur Prüfung einzu-
reichen (Petitionsrecht). Einberufung und Dauer der Landtage, die in der
jeweiligen Provinzhauptstadt stattfanden (Ausnahmen: Brandenburg: Berlin;
Preußen: Königsberg und Danzig abwechselnd), bestimmte allein der König;
Eröffnung und Schließung lag in den Händen des königlichen Kommissars,
der die Propositionen einbrachte, Petitionen entgegennahm, sich aber an
den Beratungen nicht beteiligte. Geleitet wurde die Versammlung von dem
aus dem Fürsten- oder Rittergutsbesitzerstand ernannten Landtagsmar-
schall, dem man in der Geschäftsführung weitgehend freie Hand ließ. Bei
wichtigen Abstimmungen war eine Zweidrittelmehrheit vorgeschrieben. 15

15 Zu diesem ganzen Komplex kann nur nachdrücklich auf die bereits mehrfach
genannte Untersuchung von H. OBENAUS, Anfänge des Parlamentarismus...
(1984) [146] verwiesen werden.
114 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

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116 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Durch die obligatorischen Plenardebatten und das freie Mandat der Abge-
ordneten, das durchaus ein ständeüberschreitendes Abstimmungsverhalten
zuließ, waren trotz aller politischen Beschränkungen erste Ansätze einer
parlamentarischen Praxis gegeben. Ganz auf der Linie der begrenzten und
kontrollierten Wirksamkeit der Provinzialstände lag das Verbot von Aus-
schüssen, die nach Beendigung der Session, etwa als eine Art Exekutiv-
komitee, hätten wirksam werden können. Ebenso wenig wurde von vorn-
herein das Recht auf Periodizität zugestanden.
„Die Einführung der Provinzialstände markierte nach außen das Ende
des Zeitalters der Reform in Preußen" (Obenaus). Das Bündnis zwischen
Krone und Rittergutsbesitzern, das während der Staatskrise nach 1806
vorübergehend zerbrochen war, wurde unter etwas veränderten Bedingun-
gen, da es inzwischen auch viele bürgerliche Rittergutsbesitzer gab, erneuert.
Die reformerischen Kräfte in der Ministerialinstanz verloren mit der Aus-
schaltung Hardenbergs ihren Einfluß; eine neue bürokratische Führungs-
gruppe, die eng mit König und Kronprinz zusammenarbeitete, trat an ihre
Stelle. Auf dem Weg zu ihrem politischen Ziel, der uneingeschränkten
Restauration des monarchischen Prinzips, stellten die Provinzialständege-
setze einen ersten großen Erfolg dar. Sie verbanden eine Politik der sozialen
Protektion zugunsten der Rittergutsbesitzer mit einer Politik der sozialen
Restriktion gegenüber den Städten und Landgemeinden.
Nur allmählich wurde den neuen Selbstverwaltungskörperschaften eine
koordinierte Einberufung und eine gewisse Regelmäßigkeit der Session
zugestanden:

TABELLE 1 6
Tagungsorte und -jähre der preußischen Provinziallandtage* 1824 — 1846

1824 25 26 27 28 29 30 31 32 33 3 4 35 36 37 38 39 40 41 42 43 4 4 45 46

Brandenburg (Berlin)
Pommern (Stettin)
Posen (Posen)
Preußen (Königsberg) D D D D
Rheinprovinz (Düsseldorf) k
Sachsen (Merseburg)
Schlesien (Breslau)
Westfalen (Münster)

D = Danzig
Κ = Koblenz
* Die Versammlungen dauerten meist zwei bis drei Monate.

Quelle: Zusammengestellt nach H. OBENAUS, Anfänge des Parlamentarismus...


(1984) [146], S. 729 f.

Die letzten drei Sitzungsperioden fielen dabei bereits in eine Phase politi-
scher Gärung, in der nach der Gewährung politischer Zugeständnisse der
V. Steuern und Finanzen 117

Zeitpunkt gekommen schien, die Monarchie nachdrücklich an den schon


1810/15 versprochenen Schritt von den Provinzial- zu den Reichsständen
zu erinnern. Der 1823 entschärfte Verfassungskonflikt holte die konserva-
tiven Kräfte 1847 wieder ein.

V. Steuern und Finanzen

Das altpreußische Steuersystem mit seiner unterschiedlichen Besteuerung


von Stadt (Verbrauchssteuern = Akzise) und Land (Grundsteuern = Kon-
tribution, Schoß und andere), der Steuerfreiheit des grundbesitzenden Adels
und den fast unübersehbaren steuerrechtlichen Differenzierungen war schon
vor dem Zusammenbruch des Staates an die Grenzen seiner Leistungsfä-
higkeit gelangt. 1 Unter dem Druck von Kriegs- und Kriegsfolgelasten brach
es vollends zusammen. Die Neuordnung der gesamten Finanzverfassung
war die wichtigste Voraussetzung für die innere Stabilisierung des Staates.
Schon die Reformer hatten in dieser Hinsicht Pläne verfolgt, die auf den
Abbau steuerlicher Privilegien und die Einführung des Prinzips der Steuer-
gleichheit zielten, doch gelangten sie über Notmaßnahmen provisorischen
Charakters kaum hinaus, wie es etwa die 1808 für Königsberg, dann für
Ost- und Westpreußen eingeführte Einkommensteuer zeigte. Erst nach 1815
konnte eine durchgreifende Reform der Finanzverfassung in Angriff genom-
men werden.

1. Steuer- und Zollreform

Auf der Grundlage des Finanzedikts vom 27. Oktober 1810 wurden bis
1812 mehrere Steuern neu eingeführt: 2 (1) eine allgemeine Konsumtions-
steuer, welche die Akzise auf das platte Land ausdehnte, gleichzeitig aber
auf etwa 20 Produkte beschränkte (Fleisch, Mahlprodukte, Bier, Brannt-
wein, Schlachtvieh; Kaffee, Zucker, Gewürze, Austern und andere), (2) eine

1 Vgl. Gustav SCHMOLLER, Die Epochen der preußischen Finanzpolitik bis zur
Gründung des deutschen Reiches, in: Ders., Umrisse und Untersuchungen zur
Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen
Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898 (ND Hildesheim — New York
1974), S. 1 0 4 - 2 4 6 , hier S. 1 8 5 - 1 8 9 .
2 Darüber orientieren die Untersuchungen von Conrad BORNHAK, Die preußische
Finanzreform von 1810, in: FBPG, Bd. 3 (1890), S. 555 - 608, ferner Karl MAM-
ROTH, Geschichte der preußischen Staatsbesteuerung im 19. Jahrhundert. Mit
Rücksicht auf Volks- und Staatswirtschaft, Finanzverfassung und Finanzverwal-
tung dargestellt, T. 1: Geschichte der preußischen Staats-Besteuerung 1806—1816
[m. n. e.], Leipzig 1890, und besonders Rolf GRABOWER, Preußens Steuern vor
und nach den Befreiungskriegen, Berlin 1932 (jeweils passim).
118 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Luxussteuer auf Dienstpersonal, Hunde, Reit- und Kutschpferde, Wagen,


(3) eine in sechs Klassen erhobene Gewerbesteuer, (4) eine Stempelsteuer
als eine Art Umsatzsteuer für bestimmte Fabrikate, (5) eine Vermögenssteuer
in Höhe von 3 Prozent und (6) eine allgemeine, vierfach gestufte, progressive
Einkommensteuer, die auf Selbsteinschätzung beruhen sollte.
Die beiden letztgenannten Steuern, die auf starken Protest stießen, wurden
schon 1814 wieder abgeschafft. Auf Druck der Landesrepräsentation war
auch die 1810 erfolgte Ausdehnung der Akzise auf das flache Land bereits
1811 rückgängig gemacht worden. Statt dessen sollte jede Person über 12
Jahre eine Kopfsteuer von 12 Groschen jährlich entrichten — ein in der
preußischen Finanzgeschichte völlig neuer Gedanke. 3 All diesen Steuern war
gemeinsam, daß ihre Erträge weit hinter den Erwartungen zurückblieben.
Auch die seit 1810 betriebenen Domänenverkäufe konnten das Defizit im
Staatshaushalt nicht ausgleichen. Vor dem Staatsbankrott bewahrten Har-
denberg vermutlich allein die Kontinentalgefälle, ein von Napoleon verord-
neter Einfuhrzoll auf Baumwolle und Kolonialwaren, der von November
1810 bis März 1813 rund 15,3 Millionen Reichstaler in die Staatskasse
fließen ließ. 4
Die territoriale Vergrößerung Preußens durch Gebiete, in denen gänzlich
andere Steuersysteme existierten, machte es nach 1815 noch dringender, zu
einer allgemeinen Reform des Steuerwesens mit dem Ziel der Vereinheitli-
chung zu gelangen. Außerdem mußte eine Erhöhung des Steueraufkommens
erreicht werden, da die Kriegskosten der Jahre 1813/15 die Finanzen weiter
zerrüttet hatten. Die vom Finanzminister Bülow im Januar 1817 vorgelegten
Gesetzentwürfe stießen jedoch auf heftigen Widerstand im Staatsrat. s Die
von diesem eingesetzte Steuerkommission (Vorsitz: W. v. Humboldt) hielt
lediglich die vorgeschlagene Einführung eines Grenzzollsystems für sofort
realisierbar. Deshalb nahm Bülow dieses Projekt aus dem Reformpaket
heraus, ließ es getrennt weiter beraten und bereitete die Ausführung vor.
Das Zollgesetz vom 26. Mai 1818 bildete den ersten Schritt auf dem
Wege zu einer neuen Steuerverfassung. 6 Wegen des noch unklaren Aus-
gleichs der wegfallenden Einkünfte trat es erst am 5. September in den
westlichen Provinzen und am 1. Januar 1819 in den östlichen in Kraft. Das
Gesetz, hinter dem als treibende Kraft die Staatsräte Kunth und Maaßen
gestanden hatten, führte zu Ende, was Stein 1805 mit der dekretierten
Aufhebung der Landbinnenzölle in den alten Provinzen eingeleitet hatte: Es
hob in dem veränderten Staatsgebiet sämtliche Binnenzölle auf, stellte die

3 Vgl. dazu die KO vom 6. IX. 1811, abgedr. von Carl [Friedrich Wilhelm]
DIETERICI, Zur Geschichte der Steuer-Reform in Preußen von 1810 bis 1820.
Archiv-Studien, Berlin 1875 (ND Glashütten/Ts. 1972), S. 3 2 - 4 6 .
4 Ernst KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen in Deutschland (1500—1870),
Wiesbaden 1974, S. 107 f., 111.
5 Takeo OHNISHI, Die preußische Steuerreform nach dem Wiener Kongreß, in:
B.Vogel (Hg.), Preußische Reformen... (1980) [67], S. 266 - 284, hier S. 268ff.
6 H. ONCKEN/F.Ε.M. SAEMISCH ( H g . ) , V o r g e s c h i c h t e u n d B e g r ü n d u n g . . . (1934)
[184], Bd. 1, S. 3 - 7 . Die einschlägigen Quellen ebd., S. 23 - 82.
V. Steuern und Finanzen 119

Zoll- und Wirtschaftseinheit und damit die innere Verkehrsfreiheit des


preußischen Staates her. An den äußeren Staatsgrenzen wurde ein einheit-
liches Grenzzollsystem errichtet, das die Importwaren mit einem mäßigen
Zoll von einem halben Reichstaler pro Zentner belegte. Der Gewichtszoll
erleichterte das Erhebungsverfahren und erforderte kein geschultes Personal.
Um die benachbarten Länder zum Anschluß an das preußische Zollgebiet
zu bewegen, waren die Transitzölle erheblich höher. Ausfuhrzölle wurden
nicht erhoben. Als Verbrauchssteuer sollten von den ausländischen Manu-
fakturwaren 10 Prozent ihres Wertes entrichtet werden, in Einzelfällen auch
weniger.
Die Hoffnungen der auf Adam Smith und seine Freihandelslehre einge-
schworenen liberalen Spitzenbeamten, daß die anderen europäischen Staaten
und die USA, die ihre Wirtschaft samt und sonders durch hohe Zölle
schützten, ebenfalls zu einer freihändlerischen Politik übergehen würden,
erfüllte sich nicht. Die Folgen waren fatal: Fremde, insbesondere englische
Waren überschwemmten den offenen preußischen Markt und stürzten die
unter dem Schutz der Kontinentalsperre herangewachsenen Manufaktur-
betriebe, die sich dem Wettbewerb mit den überlegenen Auslandsprodukten
schutzlos ausgeliefert sahen, in eine schwere Krise. 7 Die Regierung zeigte
sich einsichtig: Die 1821 erfolgte Revision des Zollgesetzes brachte erheb-
liche Modifikationen der Tarife; der radikale ökonomische Liberalismus
machte einer gemäßigteren, an der inländischen Wirtschaftslage orientierten
Auffassung Platz. 8
Während man mit dem Zollgesetz erste Erfahrungen sammelte, wurde
das Steuerwesen schrittweise neu geordnet:
1) An die Stelle der alten Akzise trat eine allgemeine Verbrauchssteuer
auf Branntwein, Braumalz, Weinmost und Tabakblätter (8. Februar 1819).
Das Gesetz war so wenig durchdacht, daß schon 1820 der Erhebungsmodus
bei Branntwein (Besteuerung der Produktion statt der Kapazität) und Wein
(Besteuerung nach Weinbergen in sechs Güteklassen) geändert werden
mußte. Beim Tabak ging man 1828 zur Anbauflächenbesteuerung über.
Erhalten blieb das staatliche Salzmonopol, doch wurde der Preis einheitlich
auf 15 Reichstaler pro Tonne ( = 405 Pfund) festgesetzt (17. Januar 1820).
2) Die Klassensteuer löste die 1808/12 eingeführte Einkommensteuer ab
und wurde Preußens neue Hauptsteuer (30. Mai 1820). 9 Die Bevölkerung
über 14 Jahre wurde nach Einschätzung der Vermögenslage in fünf Klassen
eingeteilt. In jeder Klasse war eine bestimmte Jahressteuer zu entrichten,
zum Beispiel in der ersten Klasse 48 Reichstaler je Haushalt oder 24 Reichs-
taler je Einzelperson. Bei der Revision von 1821 wurden vier Hauptklassen

7 Wilhelm TREUE, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik in Preußen 1815 —


1825 ( = VSWG, Beih. 3), Stuttgart 1937, passim, bes. S. 244; neuerdings: Ders.,
Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens... (1984) [47], S. 2 8 5 - 2 9 2 .
8 Zur Opposition gegen die Handelsfreiheit vgl. I. MIECK, Preußische Gewerbe-
politik... (1965) [41], S. 2 1 1 - 2 2 4 .
9 Vgl. Erwin von BECKERATH, Die preußische Klassensteuer und die Geschichte
ihrer Reformen bis 1851 ( = SSwF, H . 163), München - Leipzig 1912, passim.
120 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

festgelegt: besonders reiche und wohlhabende Einwohner; wohlhabende


Grundbesitzer und Kaufleute; geringe Bürger und Bauern; Tagelöhner und
Gesinde. In den ersten drei gab es jeweils drei, in der letzten vier Untergrup-
pen, so daß insgesamt 13 Steuerklassen existierten. Befreit waren Personen,
die bis 1806 reichsunmittelbar gewesen waren, Pfarrer, Lehrer, Ausländer
(nur im ersten Jahr), Almosenempfänger sowie die Einwohner der mahl- und
schlachtsteuerpflichtigen Orte. Die Klassensteuer, 1851 durch die klassifi-
zierte Einkommensteuer für Personen mit einem Einkommen über 1.000
Reichstaler ergänzt, bestand bis 1873.
3) In 132 großen und mittleren Städten wurde an Stelle der Klassensteuer
eine Mahl- und Schlachtsteuer erhoben (30. Mai 1820). Da die Kommunen
Zuschläge bis zu 50 Prozent auf diese Steuer erheben durften, um damit
ihre eigenen Finanzbedürfnisse zu befriedigen, hielten sie zäh an dieser
Steuer fest und ließen die Optionsmöglichkeit für die Klassensteuer vielfach
ungenutzt. 1833 waren noch 118 Städte der Mahl- und Schlachtsteuer
unterworfen, seit 1851 blieb die Zahl mit 88 unverändert. 1 0 Auch diese
Steuer, die mit einem bestimmten Satz pro Zentner Getreide und Fleisch
erhoben wurde und die alte steuerliche Unterscheidung von Stadt und Land
wiederbelebte, bestand bis 1873.
4) Die 1810 eingeführte Gewerbesteuer wurde stark reduziert und nur
noch von den einträglicheren Gewerben und solchen, die man etwas ein-
dämmen wollte, erhoben (Handel, Gaststätten, Wandergewerbe und ande-
res) (30. Mai 1820). Ein recht kompliziertes Erhebungssystem sorgte dafür,
daß jeder nach seiner finanziellen Leistungsfähigkeit eingestuft wurde. 1 1
5) Die neue Stempelsteuer faßte die bisher vorhandenen sieben verschie-
denen Stempelsteuern zusammen (7. März 1822). Sie wirkte sich vorwiegend
als Umsatzsteuer beim Abschluß bestimmter Rechtsgeschäfte aus.
Mit dem Abgabengesetz vom 30. Mai 1820, das die seit 1818 erlassenen
Steueredikte bestätigte, andere Steuern einführte oder auch nur neu ordnete
und deshalb als neues „Grundgesetz der preußischen Finanzverfassung"
(Huber) bezeichnet wird, waren die steuerlichen Grundlagen für viele Jahr-
zehnte gelegt. Dennoch ist der Einwand erhoben worden, daß die steuer-
lichen Maßnahmen der Jahre 1818/22 — trotz ihrer Verdienste um die
Vereinfachung und Vereinheitlichung des Systems im Vergleich zu früher —
eigentlich nicht als eine wirkliche Steuerreform bezeichnet werden können,
weil es insbesondere nicht gelungen sei, die schon 1810 und 1811 in Aussicht
gestellte Grundsteuerreform durchzuführen. 1 2 Durch die Angliederung des
Rheinlandes war das Problem noch dringender geworden, da dort, auf die
Flächeneinheit gerechnet, etwa achtmal so viel Grundsteuer wie in den
östlichen Landesteilen bezahlt wurde. 1 3 So blieben die 33 vorhandenen

10 E . R . HUBER, D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . (1957/60) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 2 1 4 ,
Anm. 2.
11 Genauere Angaben bei E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974)
[s.o. Anm. 4 ] , S. 118.
12 A.a.O., S. 113.
13 Eine Bestandsaufnahme gibt C. DIETERICI, Zur Geschichte der Steuer-Reform...
( 1 8 7 5 ) [ s . o . A n m . 3 ] , S. 2 1 7 - 2 2 4 .
V. Steuern und Finanzen 121
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122 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Grundsteuerordnungen bestehen und damit auch die Steuerfreiheit des


adligen Großgrundbesitzes, an die nach 1815 kein Finanzminister mehr zu
rühren wagte. D i e im Abgabengesetz erneut versprochene N e u o r d n u n g der
Grundsteuer ließ bis zum J a h r e 1861 auf sich w a r t e n . Über die Grundsteuer-
erträge informiert Tabelle 17 (S. 121).
D e r von der Steuerreform erhoffte fiskalische G e w i n n trat in erster Linie
durch die Einführung der Klassensteuer ein, die zugleich den Anteil der
direkten Steuern deutlich erhöhte, wie ein Vergleich der Steuereinnahmen
von 1816 und 1821 zeigt:

TABELLE 1 8
Zusammensetzung der Steuereinnahmen in Preußen in den Jahren 1816 und 1821
(in 1000 Reichstalern)

Direkte Steuern 1816 1821

Grundsteuer 9.802 9.326


Gewerbesteuer 1.362 1.600
Klassensteuer - 6.321
Pers. Steuern in den östl. Provinzen und Westfalen 1.387 -

Mobiliar-, Tür-, Fenstersteuern in den westl. Provinzen 868 -

13.419 17.247

Indirekte Steuern

Zoll 3.865 3.600


Verbrauchssteuer auf ausländische Waren - 4.300
Verbrauchssteuer auf Genußmittel - 5.000
Mahl- und Schlachtsteuer - 2.000
Städtische Akzise in den alten Provinzen 8.681 -

Land-Konsumtionsteuer in den alten Provinzen 816 -

Verzehrungsabgaben 2.406 -

17.858 17.810

Quelle: Takeo OHNISHI, Die preußische Steuerreform nach dem Wiener Kongreß,
in: B. Vogel (Hg.), Preußische Reformen... (1980) [67], S. 2 6 6 - 2 8 4 , hier S. 281.

I m ganzen entwickelten sich die preußischen Staatseinnahmen von 1821 bis


1850 wie folgt:
V. Steuern und Finanzen 123

TABELLE 1 9
Preußische Staatseinnahmen 1821 —1850
(in Millionen Talern, in Prozent)

1821 1829 1841 1850


Λ · 1 R' 1
abs. % abs. % abs. % abs. %

Domänen, Forsten 9,2 17,5 8,1 15,2 7,6 12,3 8,1 11,9
Regalien, Staatsbetriebe 5,7 10,8 7,6 14,2 9,2 14,9 8,6 12,6
Direkte Steuern 17,2 32,8 19,3 36,2 18,8 30,3 19,5 28,6
Indirekte Abgaben 18,6 35,4 17,8 33,3 22,5 36,4 25,2 37,0
(davon Zölle ρ ρ ? ? 11,0 17,8 11,8 17,3)
Sonstige Einnahmen 1,9 3,5 0,6 1,1 3,8 6,1 6,8 9,9

Gesamteinnahmen 52,6 100,0 53,4 100,0 62,0 100,0 68,2 100,0

Quelle: Karl BORCHARD, Staatsverbrauch und öffentliche Finanzen in Deutschland


1780-1850, Wirtschaftswiss. Diss. Göttingen 1968, S. 33.

2. Staatshaushalt und Staatsschuldenwesen

Bei einer Staatseinnahme von rund 25 Millionen Reichstalern belief sich


die preußische Staatsschuld am 1. Januar 1807 auf 48 Millionen Reichsta-
ler. 14 Dazu kamen die mit einem Garantiekurs ausgestatteten Tresorscheine,
eine Art Papiergeld, in Höhe von 5 Millionen Reichstalern. Die nach Tilsit
auf 10 bis 12 Millionen Reichstaler zurückgehenden Staatseinnahmen, die
von Oktober 1806 bis Oktober 1808 durch Napoleon aus dem Land gezo-
genen etwa 200 Millionen Reichstaler sowie die Kriegskontribution von
über 30 Millionen Reichstalern stellten die Regierung vor fast unlösbare
finanzielle Probleme. Weder eine Prämienanleihe (1808), noch die Abliefe-
rung aller Gold- und Silbergeräte (1809), noch zwei Anleihen (1810) ver-
mochten die Finanzlage spürbar zu entlasten. Der freigegebene Kurs der
Tresorscheine fiel rapide und erreichte im Juli 1808 mit 22 Prozent den
Tiefpunkt. 15 Die Staatsschuld stieg auf 112 Millionen Reichstaler (1. Juli

14 E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974) [s.o. Anm. 4], S. 103.
Danach die folgenden Angaben. Vgl. auch Ders., Von der Reform zur Restau-
ration... (1965) [82], S. 8 2 - 9 9 ; Fritz KARL, 150 Jahre Staatsschuldenverwaltung.
17.1. 1820 — 17.1. 1970. Ein Gang durch anderthalb Jahrhunderte deutscher
Finanzgeschichte, Berlin 1970, S. 15 ff.
15 Grundlegend: Leopold KRUG, Geschichte der Preussischen Staatsschulden, hrsg.
von Carl Julius Bergius ( = Leopold Krug's nachgelassene Schriften geschichtli-
chen, statistischen und volkswirtschaftlichen Inhalts, Bd. 1), Breslau 1861 (ND
Vaduz 1977), S. 4 6 - 1 0 1 . Vgl. von SCHIMMELPFENNIG, Preußens Finanzpolitik im
Lichte der Tresorscheine, in: APM, Bd. 50 (1913), S. 398 - 450, hier S. 407 ff.,
und S. SPANGENTHAL, Geschichte der Berliner Börse, Berlin 1903, S. 20 ff.
124 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

1811). Trotz der Kontinentalgefälle, die Preußen vor dem Staatsbankrott


retteten, endete das Rechnungsjahr 1811/12 mit einem Defizit von 5,225
Millionen Reichstalern. Durch Zwangsanleihen suchte man die ärgsten
Deckungslücken zu schließen.
Die Kriegskosten der Jahre 1813/15 vergrößerten — trotz englischer
Subsidien und Kredite von zusammen 12,5 Millionen Reichstalern - die
Finanznot. Obwohl der ratenweise Eingang der französischen Kriegsent-
schädigung von insgesamt 40 Millionen Reichstalern die Erfüllung der
dringendsten Verpflichtungen ermöglichte, blieb der Haushalt 1817 mit 7,6
Millionen Reichstalern defizitär. 16 Anfang 1818 stand Preußen erneut vor
dem Staatsbankrott.
Hatte Amschel Meyer Rothschild in Frankfurt/M. bereits im Februar
1817 mit einer Anleihe von 2,857 Millionen Reichstalern ausgeholfen, so
war es nun sein Bruder Nathan M . Rothschild, der mit dem nach London
entsandten Finanzexperten Christian Rother einen Anleihevertrag über 30
Millionen Reichstaler aushandelte (31. März 1818). Da die Haushaltslage
dennoch prekär blieb und die Deckungslücken 1818 und 1819 bei 8,5 und
12,7 Millionen Reichstalern lagen, wurde die Steuerreform beschleunigt
vorangetrieben. Als die Ergebnisse, vor allem aber die Erträge auf sich
warten ließen, vereinbarte Rother, inzwischen Präsident der 1820 eingerich-
teten Staatsschuldenverwaltung, mit Nathan Rothschild eine zweite Anleihe,
diesmal über 21,5 Millionen Reichstaler (1. Mai 1822). 1 7
Durch die „Verordnung wegen der künftigen Behandlung des gesamten
Staatsschuldenwesens" vom 17. Januar 1820 wurde die Staatsschuld mit
180.091.720 Reichstalern festgestellt und „auf immer für geschlossen" er-
klärt. Dazu kamen noch 25.914.694 Reichstaler Provinzial- und 11.242.347
Reichstaler unverzinsliche Schulden, so daß die Gesamtschuld 217.248.761
Reichstaler betrug. Die Aufnahme neuer Schulden sollte nur mit Zustim-
mung der „künftigen reichsständischen Versammlung" erfolgen dürfen.
Dieses (dritte) Verfassungsversprechen konnte Rother im Falle der Anleihe
von 1822 geschickt umgehen, weil er die bis 1822 zu erwartenden Fehlbe-
träge in Höhe von 35 Millionen Reichstalern anticipando bereits 1820 in
den Staatsschuldenetat eingesetzt hatte.
In späteren Jahren wurden neue Schulden nicht auf dem Etat der Staats-
schuldenverwaltung verbucht, sondern erschienen an anderer Stelle als
„Passiva der Generalstaatskasse". 1 8

16 Nach neueren Quellenfunden sind die von E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen
Finanzen... (1974) [s.o. Anm. 4], S. 112, genannten 9 Mill. Rtlr. wohl zu korri-
gieren, vgl. Takeo OHNISHI, Die Entstehung des ersten preußischen Staatshaus-
haltsetats im Jahre 1821, in: Jürgen Schneider (Hg.), Wirtschaftskräfte und
Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz ( = BWG, Bd. 6), Stuttgart
1 9 7 8 , B d . 3 , S. 2 8 1 - 2 9 5 , hier S. 2 8 5 f.
17 Vgl. Hildegard THIERFELDER, Rother als Finanzpolitiker unter Hardenberg
1 7 7 8 - 1 8 2 2 , in: F B P G , B d . 4 6 ( 1 9 3 4 ) , S. 7 0 - 1 1 1 , hier S. 8 4 - 9 9 ; E . KLEIN, Von
der Reform zur Restauration... (1965) [82], S. 79.
18 Ders., Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974) [s.o. Anm. 4], S. 121 f.
V. Steuern und Finanzen 125

Die Hauptverwaltung für die Staatsschulden benötigte für die vierpro-


zentige Verzinsung und Tilgung 11,5 Millionen Reichstaler jährlich. Die
Bemühungen, diesen Betrag disponibel zu machen, trafen sich mit Bestre-
bungen, von der im Grunde noch immer praktizierten fürstlichen Kammer-
wirtschaft endlich zu einer fundierten, alle Einnahmen und Ausgaben be-
rücksichtigenden Finanzplanung zu gelangen. Eine vom Finanzminister Bü-
low für 1817 angefertigte Gesamtjahresrechnung stand am Anfang, drei
Paukenschläge markierten den Abschluß dieser finanzpolitischen Revolu-
tion: 1 9 Zunächst legte ein Gesetz vom 17. Januar 1820 das Haushaltsvolu-
men für die kommenden drei Jahre auf 50 Millionen Reichstaler fest; sodann

TABELLE 2 0
Preußischer Staatshaushalt 1821

Einnahmen Reinertrag
(in Talern)

1 Aus der Verwaltung der Domänen und Forsten, nach


Abzug des Ertrages der zum Kronfideikommiss gehören-
den Domänen 5.604.650
2 Aus dem Domänen-Verkäufe, behufs der schnellern Til-
gung der Staatsschulden 1.000.000
3 Aus der Verwaltung der Bergwerke und Hütten, der Sali-
nen und der Porzellan-Manufaktur in Berlin 572.000
4 Aus der Postverwaltung 800.000
5 Aus der Verwaltung der Lotterie 507.800
6 Aus dem Salzmonopol 3.800.000
7 Aus der Steuer- und Abgaben-Verwaltung:
a) an Grundsteuer, Servis und son-
stigen dahin gehörigen Steuern 9.326.000 Taler
b) an Klassensteuer 6.321.850 Taler
c) an Gewerbesteuer 1.600.000 Taler
d) an Verzehrungs-Steuer von in-
ländischen und fremden Gegen-
ständen,
an Zöllen, auch Schiffahrts- und
andern Abgaben von Kommu-
nikations-Anstalten 15.280.000 Taler
e) an Wegegeldern von den
Kunststrassen 420.000 Taler
f) an Stempel-Gebühren 2.910.000 Taler
35.857.850
8 Aus andern besondern Titeln und an
ausserordentlichen Einnahmen 1.857.700

Summe der Einnahmen 50.000.000

" T . OHNISHI, D i e E n t s t e h u n g . . . ( 1 9 7 8 ) [ s . o . A n m . 1 6 ] , S. 2 8 4 - 2 8 9 .
126 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

TABELLE 2 0
Preußischer Staatshaushalt 1821

Ausgaben (in Talern)

1 Für das Geheime Kabinett, für das Bureau des Staats-


kanzlers, des Staatsministeriums, für die General-Ordens-
kommission, für das statistische Bureau, für das Staats-
archiv, für das Staats-Sekretariat, für die General-Kon-
trolle und für die Ober-Rechnungskammer 300.550
2 Für das Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten
und die Gesandtschaften 600.000
3 Für das Ministerium der Geistlichen,
Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten 2.000.000
4 Für das Ministerium der Justiz,
ausser den Gerichts-Sporteln 1.720.000
5 Für das Ministerium des Innern und der Polizei, sowie für
die Land-Gendarmerie 2.300.300
6 Für das Ministerium für
Gewerbe und Handel 1.154.000 Taler
demselben: zur Unterhaltung
der Kunststrassen 420.000 Taler
1.574.000
ausser den besondern Erhebungen, die in einigen Landes-
theilen zur Unterhaltung der Wege statt finden.
7 Für das Ministerium des Krieges, für das grosse Militär-
Waisenhaus in Potsdam und für die Offizier-Witwenkasse 22.804.300
8 Für das Ministerium für Finanzen, zur Central-Verwaltung 272.100
9 Für das Ministerium des Schatzes, mit Einschluss der
nunmehr an die Hauptverwaltung der Staatsschulden
übergehenden Verzinsung der provinziellen Staatsschulden
und teilweisen Amortisation derselben 1.159.730
10 Für die Hauptverwaltung der Staatsschulden in Gemäss-
heit des mit dem Staatsschulden-Gesetz vom 17. Jan. 1820
bereits bekannt gemachten Etats, behufs der Tilgung und
Verzinsung 10.143.020
11 Zu Competenzen, Pensionen, Wartegeldern
und Gehaltszuschüssen 2.700.000
12 Für die Ober-Präsidenten, Regierungen, Consistorien
und Medizinal-Collegien 2.500.000
13 Für die Haupt- und Landgestüte 160.000
14 Zur Deckung der Ausfälle bei den Einnahmen, zu ausser-
ordentlichen Zahlungen und zu Landes-Verbesserungen 1.766.000

Summe der Ausgaben 50.000.000

Quelle: Wolfgang ZORN, Staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik und öffentliche


Finanzen 1800 — 1970, in: Ders. (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und
Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 1 4 8 - 1 9 7 , hier S. 175 f.
V. Steuern und Finanzen 127

wurde — ein Jahr später — der durch die KO vom 7. Juni 1821 festgesetzte
Staatshaushalt für 1821 veröffentlicht! Das war - ebenso wie die öffentliche
Bekanntgabe der Staatsschulden ein Jahr zuvor - ein absolutes Novum in
der preußischen Finanzgeschichte (siehe Tabelle 20 auf S. 125 f.). Schließlich
wurden die Ausgaben des Königlichen Hofes aus dem Haushalt herausge-
nommen und auf 2,5 Millionen Reichstaler jährlich festgesetzt, die aus
bestimmten Domäneneinkünften stammten. Die Einführung dieser „Zivil-
liste", die der vollen Verfügungsgewalt des Herrschers über die gesamten
Staatsmittel ein Ende setzte, „war ein bedeutender Schritt auf dem Weg
Preußens vom absoluten zum konstitutionellen Staat". 2 0
In den Haushaltsplänen wurde der Schuldendienst mit mehr als 10
Millionen Reichstalern zwar berücksichtigt, doch war es in der Praxis so,
daß aus den laufenden Einkünften dafür nur wenig abgezweigt werden
konnte. Der bis 1833 erfolgten Schuldabtragung stand eine beträchtliche
Neuverschuldung gegenüber, so daß die Gesamtschuld 1833 noch immer
bei 216 Millionen Reichstalern lag. Günstiger war die Entwicklung in den
Jahren bis 1848, in denen eine Reduzierung der Staatsschulden auf 158,5
Millionen Reichstaler erreicht wurde. Nicht unbeträchtlich war zwar der
Anteil, der aus Domänenverkäufen und bäuerlichen Ablösegeldern kam,
doch erreichte er nicht mehr als 55,7 beziehungsweise 36 Prozent; rechnet
man noch die Domänenverkäufe ab, erscheint die Behauptung: „Die armen
Bauern retteten den preußischen Staat" etwas übertrieben. 21

TABELLE 2 1
Anteil von Domänenverkäufen und Ablösegeldern an der
Abtragung der preußischen Staatsschulden 1820 — 1848
(in Millionen Reichstalern)

Zeitraum Schuldabtragung davon aus Domänenverkäufen


insgesamt und Ablösegeldern

1820-1833 42,7 23,81


1833 - 1 8 4 8 57,5 20,74

Quellen: Ernst KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen in Deutschland ( 1 5 0 0 -


1870), Wiesbaden 1974, S. 119 und 121; Gustav SCHMOLLER, Die Epochen der
preußischen Finanzpolitik bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Ders.,
Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsge-
schichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898
(ND Hildesheim-New York 1974), S. 104 - 246, hier S. 225.

Organisatorische und politische Neuregelungen hatte die Revolution von


1848 im Gefolge: Die Staatsschuldenverwaltung blieb zwar als Behörde
bestehen, wurde aber der parlamentarischen Kontrolle durch den Landtag

20 E . R . H U B E R , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 2 1 6 .
21 W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens... (1984) [47], S. 301 f.
128 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

und dessen Staatsschuldenkommission unterworfen, die ihre Arbeit am 24.


Februar 1850 aufnahm. Alle Anleihen waren künftig vom Landtag zu
genehmigen. 22
Da das Haushaltsvolumen seit 1817 mehr als zwei Jahrzehnte lang bei
rund 50 Millionen Reichstalern lag und danach nur langsam anstieg (1849:
63 Millionen Reichstaler), ist es möglich, die Ausgabenverteilung zu ver-
gleichen:

TABELLE 2 2
Preußische Staatsausgaben 1821 —1850
(in Millionen Reichstalern, in Prozent)

1821 1829 1841 1850


Zweck der Ausgabe
abs. % abs. % abs. % abs. %

Kronrente 2,6 4,9 2,6 4.5 2,6 4,3 2,6 3,8


Regierung, 1
3.4 6,4 2,7 4,7 2,7 4.5 3,0 4,5
allg. Verwaltung j
Verteidigung 22,8 43.4 22,2 39,0 23,7 39,9 25,8 37,8
Justiz 1,7 3.3 5,3 9.3 5,7 9.6 9,0 13,3
Inneres 2.5 4.7 2,5 4.4 2,7 4,6 5,0 7,3
Finanzen 0,3 0,5 0,3 0,5 0,2 0,4 0,3 0,4
Kultus, Gesundheit und
Unterricht 2,0 3.8 2.3 4,1 3,0 5,1 3,4 5,0
Handel, Gewerbe,
öffentliche Arbeiten 1.6 3.0 2,7 4,7 4,4 7,5 6,6 9,7
Schuldendienst 11,3 21.5 10,9 19,2 8,7 14,6 7,6 11,1
Renten, Pensionen u. a. 2.7 5.1 3.4 6,0 3,3 5,5 4,3 6,3
Allgemeine Fonds 1.8 3.4 2,1 3.6 2,2 4,0 0,6 0,8

Gesamtausgaben 52,6 100,0 56,9 100,0 59,4 100,0 68,1 100,0

Quelle: Karl BORCHARD, Staatsverbrauch und öffentliche Finanzen in Deutschland


1 7 8 0 - 1 8 5 0 , Wirtschaftswiss. Diss. Göttingen 1968, S. 169 f.

Den Anteil einiger Ressorts im Vergleich der Jahre 1821 und 1841 zeigt
Tabelle 23 auf S. 129.
Da auf die wenigen Ministerien aber sehr unterschiedliche Ausgaben
entfielen, folgt — exemplarisch für das Jahr 1850 - eine detaillierte
Aufstellung, in der die funktionellen Verwendungsbereiche genannt werden
(siehe Tabelle 23 A auf S. 129).
Da Preußen laut Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 „seit
jeher der Träger des Militarismus ... in Deutschland" gewesen sein soll,
erscheint es nützlich, auf die Entwicklung des Militärhaushalts zwischen
1815 und 1850 hinzuweisen. „Der ständig hart bekräftigte Primat der
Finanzpolitik" hielt die militärische Präsenz in diesen Friedensjahrzehnten
etwa konstant, obwohl die Bevölkerung erheblich zunahm. Infolgedessen

22 E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974) [s.o. Anm. 4], S. 123.
V. Steuern und Finanzen 129

TABELLE 2 3
Anteil einiger Ressorts an den preußischen Staatsausgaben in den Jahren
1821 und 1841
(in Millionen Reichstalern)

Ressort 1821 1841

Kriegsministerium 22,8 23,72


Innenministerium 2,3 2,57
Justizministerium 1,72 2,22
Kultusministerium 2,0 3,02
Schuldendienst 10,14 1 8,57

Haushaltsvolumen 50,0 50,87


1 Weniger als in Tabelle 22, da ohne Position 9 der Ausgaben (siehe Tabelle 20)

Quelle: K. G. A. JESERICH/H. POHL/G.-C. von UNRUH (Hg.), Deutsche Verwaltungs-


geschichte... (1983) [51], S. 501.

TABELLE 2 3 A
Funktionelle Verwendungsbereiche der preußischen Staatsausgaben 1850
(in Millionen Talern, in Prozent)

Verwendungsbereich abs. %

Kronrente 2,6 3,8


Politische Führung, zentrale Verwaltung 4,1 6,0
Verteidigung 25,8 37,8
Öffentliche Sicherheit, Rechtspflege 11,5 17,0
Kultus 1,3 1,9
Bildungswesen 1,7 2,4
Sozialwesen 0,2 0,2
Gesundheitswesen 0,3 0,4
Landwirtschaft 1,4 2,1
Handel, Gewerbe, Industrie 0,5 0,7
Verkehr 6,2 9,1
Schuldendienst 7,6 11,1
Pensionen, Renten 3,0 4,4
Sonstige Bereiche 2,1 3,1

Gesamtausgaben 68,1 100,0

Quelle: Karl BORCHARD, Staatsverbrauch und öffentliche Finanzen in Deutschland


1 7 8 0 - 1 8 5 0 , Wirtschaftswiss. Diss. Göttingen 1968, S. 180.
130 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

sank die Heeresstärke im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von 1,26 (1815)


auf 0,83 Prozent (1848): 23
TABELLE 2 4
Die preußische Heeresstärke 1815 — 1848

Bevölkerung Heeresstärke Anteil


(in Millionen) (in Prozent)

1815 10,3 130.000 1,26


1819 10,9 126.850 1,16
1830 12,9 130.000 1,01
1835 13,6 134.000 0,99
1840 14,8 135.000 0,91
1848 16,2 135.000 0,83

Quelle: H . - U . WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 3 8 4


(ergänzt).

Wurden mehr Soldaten benötigt, etwa nach der Julirevolution, mußten


dafür außerordentliche Mittel bereitgestellt werden. Das finanzbedingte Fest-
halten an dem relativ niedrigen Truppenbestand hatte zur Folge, daß die von
den Reformern so gepriesene Allgemeine Wehrpflicht in der Praxis nur auf
dem Papier stand. Dem trug die Ersatzinstruktion vom 30. Juni 1817 Rech-
nung, die eine Vielzahl von Wehrdienstfreistellungen vorsah. Weil trotzdem
noch zu viele Wehrpflichtige übrigblieben, wurden weitere Freistellungen
durch Losentscheid ermittelt, so daß beispielsweise 1840 von rund 140.000
Dienstpflichtigen nur 26,4 Prozent tatsächlich einrücken mußten:
TABELLE 2 5
Verhältnis von wehrpflichtigen und eingezogenen Rekruten in Preußen 1831 —1846

20jährige Davon eximiert Nicht Gezogene


Dienst- gemäß der gezogene Taugliche
pflichtige Instruktion von 1817 Taugliche

1831 134.627 55.482 29.878 49.267


1840 141.594 56.151 48.035 37.408
1846 169.172 92.419 36.370 40.383

Quelle: H . - U . WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 384.

Daß sich der „Imperativ der Finanzpolitik" (Wehler) gegenüber dem


Gesetzesauftrag der Allgemeinen Wehrpflicht durchsetzte, begrenzte auch
den außenpolitischen Handlungsspielraum Preußens, das bis zur Jahrhun-
dertmitte keine wahre Großmachtpolitik betrieben hat, weil es ein wichtiges
Instrument, das der militärischen Drohung, im internationalen Konzert der
Mächte nicht glaubwürdig genug einzusetzen in der Lage war. Der euro-

23 Vgl. dazu die zusammenfassenden Ausführungen von H . - U . WEHLER, Deutsche


Gesellschaftsgeschichte... ( 1 9 8 7 ) [ 2 9 ] , B d . 2 , S. 3 8 0 - 3 8 7 .
V. Steuern und Finanzen 131

päische Frieden hat von dieser haushaltsmäßig erzwungenen Selbstbeschei-


dung zweifellos profitiert. 24
Abschließend ist noch einmal zu betonen, daß alle Zahlenangaben über
Staatshaushalt und Schuldenwesen für die erste Jahrhunderthälfte aus meh-
reren Gründen nur Anhaltswerte sind und keineswegs absolut genommen
werden dürfen. Insbesondere die Einnahmen sind, wie es scheint, häufig zu
niedrig angesetzt worden; außerdem gab es diverse Nebenetats, beispiels-
weise den „Geheimen Etat", der wohl eine Reaktion der Verwaltung auf
die KO vom 17. Januar 1820 darstellte, die den Staatshaushalt alle drei
Jahre zu veröffentlichen befahl, was allerdings erst seit 1829 regelmäßig
erfolgte. Schließlich ist auf die noch wenig entwickelten und regularisierten
Erhebungsmethoden hinzuweisen, die durch ihre starke individuelle Aus-
prägung oft nur schwer vergleichbare Ergebnisse liefern.

3. Finanzbehörden, Bankinstitute und Kreditsituation

Das 1808 geschaffene Finanzministerium gliederte sich zunächst in drei


Sektionen, die (1) für Generalkassen-, Bank-, Seehandlungs- und Lotterie-
wesen, (2) für Domänen und Forsten und (3) für direkte und indirekte
Abgaben zuständig waren. Später gab es einige organisatorische Verände-
rungen. 1834/37 wurde das von Beuth geleitete Departement für Handel
und Gewerbe ebenfalls dem Finanzministerium zugewiesen, 25 bei dem es
bis 1848 blieb.
Erster Behördenchef war Altenstein. Im Juni 1810 übernahm Hardenberg
selbst die Leitung des Finanzressorts, ließ es aber, nachdem schon seit April
1812 von einer Neubesetzung die Rede gewesen war, im November 1813
seinem Vetter Ludwig v. Bülow übertragen. 26 Als dieser das (1.) preußische
Handelsministerium übernahm, folgten ihm Klewitz (1817—1825), Motz
( 1 8 2 5 - 1 8 3 0 ) , Maaßen ( 1 8 3 0 - 1 8 3 4 ) und Alvensleben ( 1 8 3 4 - 1 8 4 2 ) . Im
nächsten Jahrzehnt verkürzten sich die Amtszeiten erheblich — Ausdruck
der sich krisenhaft zuspitzenden politischen Situation: E. v. Bodelschwingh
( 1 8 4 2 - 1 8 4 4 ) , Flottwell ( 1 8 4 4 - 1 8 4 6 ) , Düesberg ( 1 8 4 6 - 1 8 4 8 ) , Hansemann
(März - September 1848), Bonin (September — November 1848), Kühne (No-
vember 1 8 4 8 - F e b r u a r 1849) und Rabe ( 1 8 4 9 - 1 8 5 1 ) waren die Ressort-
chefs. Erst mit K.v. Bodelschwingh ( 1 8 5 1 - 1 8 5 8 ) kam es wieder zu einer
Stabilisierung der Behördenspitze.

24 Beispielsweise beim Einmarsch französischer Truppen in Belgien im November


1832 (siehe unten S. 161) oder bei der Novemberkrise von 1850, die zur Kapi-
tulation von Olmütz führte (siehe unten S. 285).
25 Vgl. I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], S. 30f.
26 Zu den Hintergründen vgl. E. KLEIN, Von der Reform zur Restauration... (1965)
[82], S. 276 - 279. Über die Behördenorganisation informiert gedrängt, aber über-
sichtlich Josef WYSOCKI, Die räumliche Organisation der staatlichen Finanzbe-
hörden ( = BAkRL, Bd. 61), Hannover 1982, S. 6 3 - 7 8 .
132 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Auf der Provinzialebene waren die Regierungen für alle Angelegenheiten


der Finanzverwaltung zuständig. Bei jeder Regierung bestand je eine Spe-
zialdeputation für das Finanz- und Kassenwesen sowie für Akzise-, Zoll-
und Salzangelegenheiten.
1817 wurde — einige Monate nach dem Staatsrat — die Generalkontrolle
ins Leben gerufen. Diese Sonderbehörde erhielt die Aufgabe, das gesamte
Etats-, Kassen- und Rechnungswesen neu zu ordnen. Außerdem war der Ge-
neralkontrolleur oberster Etat-Kurator und Sparkommissar. Die Tätigkeit
dieser neuen Behörde, die von Hardenberg selbst geleitet wurde, griff emp-
findlich in die finanzielle Autonomie der Fachministerien ein. Nach dem Aus-
scheiden Hardenbergs 1819 verstärkten sich die Reibereien derart, daß die
Generalkontrolle schließlich aufgelöst wurde (KO vom 29. Mai 1826). 27
Einen Teil ihrer bisherigen Tätigkeit, nämlich die nachträgliche sachliche
Etatkontrolle, übernahm die Oberrechnungskammer. Diese Behörde war
die Nachfolge-Institution der altpreußischen, 1714 gegründeten Ober-
rechenkammer. Ihre Neuorganisation war durch eine KO vom 29. Mai 1810
geregelt worden; Inhalt, Ausdehnung und Form der Arbeit der seit 1817 in
Potsdam residierenden Behörde bestimmte eine von ihrem Präsidenten La-
denberg entworfene und am 18. Dezember 1824 vollzogene Instruktion, in
der die wichtigsten Etats-, Verwaltungs- und Rechnungsgrundsätze nieder-
gelegt waren. Die Oberrechnungskammer unterstand zuerst dem Staats-
kanzler, seit 1824 direkt dem König. Als oberste Revisionsinstanz hatte sie
die Aufgabe, die Richtigkeit der Rechnungen aller preußischen Staatskassen
zu prüfen. Dies geschah (1) durch die Rechnungsprüfung (Prüfung nach
den Belegen, Vergleich mit dem Abschluß der Staatsbuchhalterei), (2) die
formelle Etatkontrolle (Prüfung der Übereinstimmung zwischen Rechnung
und Etat), (3) die Verwaltungskontrolle (Prüfung der Ordnungsmäßigkeit
der Einnahmen und Ausgaben) und (4) die sachliche Etatkontrolle (Prüfung
der Frage, ob die Ausgaben wirklich notwendig und zweckmäßig waren).
Die letzte Kontrollfunktion blieb jedoch stark eingeschränkt; weitergehende
Anträge der Oberrechnungskammer fanden weder bei der Verwaltung noch
beim König Gehör. 2 8
Auf der Nahtstelle zwischen staatlichen und privaten Institutionen, die
mit Geld- und Finanzangelegenheiten befaßt waren, befanden sich zwei
Unternehmen, die näherer Erläuterung bedürfen: Die Kgl. Seehandlung und
die Kgl. Bank.

27 Vgl. Franz SCHNEIDER, Geschichte der formellen Staatswirtschaft von Branden-


burg-Preußen, Berlin 1952, S. 151 f., 158 und 170 f.
28 Das meist genannte Gründungsjahr 1717 geht auf ein von HERTEL, Die preußische
Ober-Rechnungskammer (Rechnungshof des Deutschen Reichs). Ihre Geschichte,
Einrichtung und Befugnisse, Berlin 1884, S. 19, abgedrucktes Dokument vom
16. VI. 1717 zurück, bei dem es sich aber nicht um die Stiftungsurkunde handeln
soll; vgl. F. SCHNEIDER, Geschichte der formellen Staatswirtschaft... (1952) [s.o.
Anm. 27], S. 73, der aber seinerseits für 1714 keinen Beleg anführt. Knappe
Übersicht für die Zeit nach 1806: A. a. O., S. 147 f., 1 7 0 - 1 7 3 .
V. Steuern und Finanzen 133

Die bedeutendste preußische Institution zur Abwicklung des nationalen


und internationalen Zahlungsverkehrs in den drei Jahrzehnten vor der
Revolution war die Königliche Seehandlung, die allerdings erst seit 1904
den Firmenzusatz Preußische Staatsbank führen durfte. Die 1772 gegründete
Handelsgesellschaft auf Aktien hatte sich im Laufe der Zeit zu einem Bank-
und Finanzinstitut entwickelt, bei dem der Staat 1806 mit 17,8 Millionen
Reichstalern verschuldet war. Durch das Finanzedikt vom 27. Oktober 1810
wurde die Seehandlung als staatliches Bankgeschäft direkt der Finanzver-
waltung unterstellt, um künftig Geld- und Wechseloperationen des Staates
gegen Provision durch das Institut durchführen zu lassen. Mit der seit
Dezember 1814 wieder aufgenommenen Depositenannahme begann bereits
die Abwendung von der Stellung der reinen Staatsbank und die Hinwendung
zur Wirtschaftsbank, die durch die Reorganisation der Seehandlung 1820
ihre gesetzliche Sanktionierung erfuhr. 29 Ihr neuer Präsident Christian (1831:
von) Rother beauftragte das vom Finanzminister jetzt unabhängige Institut
mit der Erledigung aller im Ausland anfallenden Geldgeschäfte des Staates
sowie mit der Beteiligung an inländischen Finanzaktionen, bei denen kauf-
männische Interessen der Sozietät berührt wurden. So kam es, daß sich die
Seehandlung mit der Binnenschiffs-Reederei abgab, daß sie sich an indu-
striellen Unternehmungen beteiligte und daß sie sogar Betriebe in eigene
Regie übernahm. 3 0 Mit einem von 1820 bis 1843 erzielten durchschnittlichen
Jahresumsatz von 86,5 Millionen Reichstalern wurde das Kgl. Seehandlungs-
Institut zum größten Gewerbetreibenden des preußischen Staates. Gegen
die deshalb von vielen Seiten erhobenen Vorwürfe verfaßte Rother seine
berühmte Denkschrift vom Herbst 1844, doch wurde die Liquidität des
Instituts infolge der festgelegten Kapitalien tatsächlich immer geringer. Nach
dem Ausscheiden Rothers und der erneuten Unterstellung der Seehandlung
unter den Finanzminister (1848) wurden diese Beteiligungen unter großen
Verlusten abgestoßen. 1854 hatte sich das in Immobilien festliegende Kapital
von 10,5 (1848) auf 3,8 Millionen Reichstaler reduziert. Die Seehandlung
besaß wieder genügend flüssiges Kapital, um Verkehr und Gewerbe durch
Darlehen und Vermittlung von Anleihen zu unterstützen. 31

29 Paul SCHRÄDER, Geschichte der Königlichen Seehandlung (Preußische Staatsbank)


mit besonderer Berücksichtigung der neueren Zeit. Aufgrund amtlicher Quellen
bearbeitet, Berlin 1911, passim; Rolf KELLER, Christian von Rother als Präsident
der Seehandlung, Diss. Rostock 1932, S. 13; ältere materialreiche Zusammenfas-
sung (mit Kurstabelle der Seehandlungs-Obligationen von November 1806 bis
D e z e m b e r 1 8 1 0 ) : L . KRUG, G e s c h i c h t e d e r P r e u s s i s c h e n S t a a t s s c h u l d e n . . . (1861)
[ s . o . A n m . 1 5 ] , S. 1 0 2 — 1 1 6 . G r u n d l e g e n d n e u e r d i n g s : W o l f g a n g RADTKE, Die
Preußische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der
Industrialisierung ( = EvHKzB, Bd. 30), Berlin 1981, passim. Gute Zusammen-
fassung: Ders., Die Preußische Seehandlung, in: Wolfgang KIRCHNER/Wolfgang
RADTKE, Bankier für Preußen. Christian Rother und die Kgl.-Preußische See-
handlung, Berlin 1987, 2. Halbband, S. 1 - 9 8 .
30 Vgl. I. M I E C K , P r e u ß i s c h e G e w e r b e p o l i t i k . . . ( 1 9 6 5 ) [ 4 1 ] , S. 1 6 4 - 2 0 0 (für B e r l i n ) ;
für Preußen insgesamt: W. RADTKE, Die Preußische Seehandlung... (1981) [s.o.
Anm. 2 9 ] , S. 1 2 9 ff.
31 A . a . O . , S. 353ff. Vgl. auch I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41],
S. 2 0 1 - 2 0 6 .
134 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Schwere Rückschläge während der napoleonischen Zeit mußte auch die


1765 gegründete Königliche Bank hinnehmen. 32 Sie hatte über 10 Millionen
Reichstaler auf Hypotheken in Süd- und Neuostpreußen ausgeliehen, ver-
fügte über zu wenig Betriebskapital und geriet nach 1806 an den Rand der
Zahlungsunfähigkeit. Von 12 Provinzialkontoren lagen sieben in den 1807
abgetretenen Gebieten. Erst unter Christian Friese, der die Bank von 1818
bis 1836 leitete, gelang die Sanierung: Durch den Abbau alter Schulden, die
Ausdehnung des Zahlungsverkehrs und die Errichtung neuer Filialen in
Danzig und Köln konnte sogar ein bescheidener Gewinn erwirtschaftet
werden. 1834 wurde der seit 1767 ruhende Giro-Verkehr wieder aufgenom-
men. Unter Christian v. Rother, der die Leitung der Bank im Februar 1837
übernahm, erlebte das Institut einen beachtlichen Aufschwung, ohne freilich
den wachsenden Geld- und Kreditbedarf der expandierenden Wirtschaft
befriedigen zu können. Wie bei der Seehandlung fehlte es besonders in
diesen Jahren an einer ausreichenden Menge disponiblen Kapitals. Im Streit
um die günstigste Form der Kapitalerhöhung setzte sich schließlich Flottwell
gegen Rother durch: Die Bank wurde auf Aktienbasis teilprivatisiert, erhielt
das Recht, für 10 Millionen Reichstaler Noten zu emittieren, blieb aber -
bei Beteiligung der neuen Privataktionäre an der Verwaltung — unter
staatlicher Oberaufsicht. Besondere Aufmerksamkeit sollte das Institut, das
ab 1847 den Namen „Preußische Bank" trug, „der Beförderung des Bank-
verkehrs in den Provinzen" widmen, nicht zuletzt durch die Vermehrung
von „Provinzialbankcomptoirs". Auch für die Provinzen wurde die Zulas-
sung von Privatbanken auf Aktienbasis in Aussicht gestellt. 33 Der private
Kapitalanteil stieg im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte von 10 auf 20
Millionen Reichstaler, während die Staatseinlagen nur 1,2 bis 1,9 Millionen
Reichstaler betrugen.
Die Zahl der privaten Bankgeschäfte nahm ebenfalls kontinuierlich zu,
stärker allerdings seit den 40er Jahren und in den Industrialisierungsgebie-
ten:

TABELLE 2 6
Preußische private Banken und Geldinstitute 1820-1849

1820 1843 1849

Rheinpreußen 50 93 102
Berlin 60 80 107
Preußischer Staat 330 424 439

Quelle: H . - U . WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 110.

32 Vgl. M a r c u s Carsten Nicolaus von NIEBUHR, Geschichte der Königlichen Bank


in Berlin. Von der Gründung derselben (1765) bis zum Ende des Jahres 1845,
Berlin 1854 (ND Glashütten/Ts. 1971), S. 82 ££.; Heinrich von POSCHINGER,
Bankwesen und Bankpolitik in Preußen, 3 Bde., Berlin 1878 - 1 8 7 9 (ND Glas-
hütten/Ts. 1971), hier Bd. 1, S. 2 1 5 - 2 3 3 .
33 Die beiden K O vom 11. IV. 1846 an Rother sind abgedruckt a . a . O . , S. 2 3 1 -
233. Ausführliche Darstellung der Reorganisation a . a . O . , Bd. 2, S. 15 — 23.
V. Steuern und Finanzen 135

Mit der Neuorganisation der Preußischen Bank war endlich ein Weg
beschritten, der von der restriktiven Geld- und Kreditpolitik der ersten
Jahrhunderthälfte wegführte. Jahrelang hatte insbesondere Rother alle Ver-
suche, das private Bankwesen dem gestiegenen Bevölkerungs- und Wirt-
schaftspotential anzupassen, blockiert oder gestört, weil er überall „das
luftige Geschäft der Spekulation" witterte. Aktiengesellschaften wurden nur
selten als „gemeinnützig" anerkannt und konnten demzufolge weder Im-
mobilien noch Kapitalien erwerben; in Berlin sind von 1815 bis 1840 nur
vier Gründungen von industriellen Aktiengesellschaften nachzuweisen. 34
Rother vermochte es sogar, die gegen seine Überzeugung erfolgte Zulassung
von Privatbanken noch zwei Jahre zu hintertreiben. Erst nach seinem
Ausscheiden aus dem Staatsdienst (April 1848) wurde als erstes derartiges
Unternehmen die Städtische Bank in Breslau genehmigt (10. Juni 1848).
Bedeutender wurde dann die von David Hansemann 1851 in Berlin gegrün-
dete Disconto-Gesellschaft. 35
Bis zu der 1846 eingeleiteten Liberalisierung der preußischen Bankpolitik
hatte es in der ganzen Monarchie nur zwei erfolgreiche Versuche gegeben,
die Modernisierung des Geschäfts- und Geldverkehrs auf privater Ebene
voranzutreiben. Eine recht unglückliche Gründung, die auf eine Initiative
des Gutsbesitzers Ernst Gottfried v. Bülow-Cummerow zurückging, war die
Ritterschaftliche Privatbank in Stettin, der sogar ein beschränktes Noten-
emissionsrecht zugestanden wurde. Sie begann ihre Tätigkeit 1824, über-
nahm sich aber bald und konnte nur durch wiederholte Stützungsmaßnah-
men des Staates vor dem Zusammenbruch gerettet werden. 36
Sehr viel bedeutsamer wurde der seit 1823 arbeitende, aber erst zum
1. Januar 1824 von neun Berliner Bankiers vertraglich gegründete „Berliner
Kassen-Verein", der nach dem Muster des Clearing House in London
hauptsächlich als Giro- und Diskontbank fungierte. Die vom Verein aus-
gegebenen Depositen- und Kassenscheine wurden bald wie bares Geld
gehandelt — sehr zum Ärger von Friese und Rother, die hier mit Recht
einen ihren beiden Staatsbanken gefährlich werdenden Konkurrenten her-
anwachsen sahen. Der von ihnen inszenierte Kleinkrieg gegen den Kassen-
verein fand aber nicht durchweg die Billigung des Ministeriums. Der Verein
ging seinerseits zur Offensive über und offerierte seine Dienstleistungen seit
März 1834 dem gesamten Publikum. Die von ihm ausgestellten Wechsel
erfreuten sich zunehmender Beliebtheit. Ihr Wertvolumen betrug (in Reichs-
talern):

1840: 151.000 1844: 7 0 3 . 0 0 0


1841: 3 2 0 . 0 0 0 1847: 7 1 8 . 0 0 0

34 Vgl. I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], S. 4 8 - 52.


35 Vgl. H u g o RACHEL/Johannes PAPRiTz/Paul WALLICH, Berliner Großkaufleute
und Kapitalisten [1934 — 1939], neu hrsg., erg. und bibliogr. erw. von Johannes
Schultze, Henry C. Wallich und Gerd Heinrich, 3 Bde. ( = V V G M B r ,
Bde. 3 2 - 3 4 ) , Berlin 1967, hier Bd. 3, S. 2 7 3 - 2 8 5 .
36 Darüber H . von POSCHINGER, Bankwesen und Bankpolitik... ( 1 8 7 8 - 1 8 7 9 ) [ s . o .
A n m . 32], Bd. 1, S. 2 4 1 - 2 5 4 .
136 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

1850 wurde der Verein in die „Bank des Berliner Kassenvereins" mit einem
Stammkapital von 1 Million Reichstaler umgewandelt. 37
Ganz andere Aufgaben hatten die Sparkassen. Das erste Unternehmen
dieser Art war auf Empfehlung der Stadtverordnetenversammlung als „Spar-
kasse für die ärmere Klasse der hiesigen Einwohner" am 15. Juni 1818 in
Berlin errichtet worden. 38 Zulässig waren Guthaben von 15 Silbergroschen
bis 50 Reichstalern, die mit 4% — 5 Prozent verzinst wurden. Das Interesse
der Bevölkerung war außerordentlich groß, wie folgende Zahlen unterstrei-
chen:

TABELLE 2 7
Sparbücher und Spareinlagen der Berliner Sparkasse 1818 — 1824

Bestand an Sparbüchern Gesamteinlage (in Reichstalern)

1818 505 14.032


1821 4.324 187.445
1824 14.135 695.420

Quellen: Nach einem Bericht der Stadtverordneten von 1822 und einem Bericht
Kunths von 1825 (GStA PK, Abt. Merseburg, Rep. 120, A V 2, 5, Vol. 2, fol. 103).

Andere Städte folgten. 1825 gab es in Preußen 29 Sparkassen, 1839 schon


85. Das etwas spontane Wachstum wurde durch das „Reglement, die
Einrichtung des Sparkassenwesens betreffend" vom 12. Dezember 1838 in
geordnetere Bahnen geleitet. Auch das Berliner Institut, das seit 1847 durch
15 Filialen erweitert wurde, erhielt neue Statuten (1. April 1842), welche
die monatliche Sparsumme auf 25 Reichstaler und die Höchstgrenze der
Einlage auf 300 Reichstaler beschränkten. Unter den Kontoinhabern der
Berliner Sparkasse befanden sich in den 40er Jahren: 3 9

6.000 unverheiratete Frauen 900 Beamte


5.600 Handwerker 900 „verschiedene" Personen
4.300 Minderjährige und Lehrlinge 700 Soldaten
3.200 Dienstboten 600 Kaufleute
1.700 Witwen 400 Lebensmittelhändler
1.000 Tagelöhner und Arbeitsleute

Trotz der sicher unpräzisen Bezeichnungen (ein „Beamter" konnte auch ein
Angestellter bei Borsig sein) und recht groben Zuordnungen läßt diese

37 Beste Zusammenfassung: H. RACHEL/J. PAPRITZ/P. WALLICH, Berliner Großkauf-


leute und Kapitalisten... (1967) [s. o. Anm. 35], Bd. 3, S. 238 - 250, 275 und 298 f.;
Die Bank des Berliner Kassen-Vereins. Denkschrift zum 1. Oct. 1900, Berlin —
Leipzig 1900, S. 16 f.; H. von POSCHINGER, Bankwesen und Bankpolitik... (1878 -
1879) [s. o. Anm. 32], Bd. 2, S. 122f. (mit der älteren Lit.).
38 Vgl. W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens... (1984) [47],
S.304.
39 Ebda.
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 137

Aufstellung die soziale Zusammensetzung des Kundenkreises der Sparkasse


gut erkennen.
In den 40er Jahren nahm das Sparkassenwesen einen starken Aufschwung.
Die Gesamteinlagen in Preußen stiegen von 6.077.329 Reichstalern (1839)
auf 15.720.635 Reichstaler (1847), die Sparkassen von 131 (1843) auf 233
(1850). Für 1835 wird die Zahl der Sparkassenbücher auf 99.645 geschätzt,
Ende 1849 betrug sie 261.714.
Die drei größten Unternehmen waren die Sparkasse in Berlin, die des
Aachener „Vereins zur Beförderung der Arbeitsamkeit und Sparsamkeit"
sowie die Sparkasse der Niederlausitz, die Ende 1847 Einlagen von über
drei Millionen Reichstalern hatte. 40

VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage


In der preußischen Geschichte hat es kaum je eine Epoche gegeben, in der
Wirtschaft und Verkehr so nachhaltigen Veränderungen unterworfen waren
wie in den drei oder vier Jahrzehnten vor der Revolution. Oberflächlich
betrachtet, gestaltete sich die zweite Jahrhunderthälfte sicher spektakulärer,
doch die strukturell entscheidenden technischen und betriebswirtschaftli-
chen Neuerungen waren längst eingeführt und hinreichend erprobt: Die
arbeitsteilige Produktion, der gezielte Einsatz von Arbeitsmaschinen, die
Modernisierung der Fabrikationsmethoden aufgrund neuer naturwissen-
schaftlicher Erkenntnisse und die günstigere Preisgestaltung durch Großse-
rien waren ebenso bekannt wie Dampfmaschine und Eisenbahn, die man
ohne Umschweife als die beiden Zugpferde der Industrialisierung bezeichnen
kann. In engem Zusammenhang mit dieser ökonomischen Entwicklung
standen die gesellschaftlichen Umwälzungen: Allenthalben zerbröckelte die
überkommene, lange für unantastbar gehaltene soziale Rangordnung. Die
traditionellen Führungsschichten hatten es schwer, ihre Positionen zu be-
haupten, neue Eliten drängten nach oben. Aber es gab auch die Kehrseite
der Medaille: Der Weg konnte auch nach unten führen, und vor allem dabei
entstand jenes Bündel von Problemen, das man als „Soziale Frage" zu
bezeichnen sich angewöhnt hat.

40 Vgl. H. von POSCHINGER, Bankwesen und Bankpolitik... ( 1 8 7 8 - 1 8 7 9 ) [s.o.


Anm. 32], Bd. 1, S. 260, Anm. 1, und Bd. 2, S. 278 f. Einige widersprüchliche
Angaben a. a. O., S. 149 f. (wo anstatt 235 Sparkassen 325 zu lesen ist). Zu Berlin:
J. P. K u x , Berlin. Eine aus zuverlässigen Quellen geschöpfte genaue und neueste
Charakteristik und Statistik dieser Residenz und ihrer Umgebungen. Nebst einer
ausführlichen Abhandlung über das Berliner Armenwesen und dessen Mängel,
von einem vieljährigen Armenpfleger, Berlin 1842, S. 109 ff.; Herbert KRAFFT,
Immer ging es ums Geld. Einhundertfünfzig Jahre Sparkasse in Berlin, Berlin
1968, S. 17 ff.; H a n s POHL, D a s deutsche Bankwesen ( 1 8 0 6 - 1 8 4 8 ) , in: Günther
Ashauer u . a . (Hg.), Deutsche Bankengeschichte, Bd. 2, F r a n k f u r t / M . 1982,
S. 1 1 - 1 4 0 , hier S. 105.
138 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Der Bedeutung dieser wirtschaftlich-sozialen Gesamtthematik ist es an-


gemessen, wenn sie im Rahmen eines Handbuchs der preußischen Ge-
schichte eine selbständige Behandlung erfährt. Es muß deshalb an dieser
Stelle nachdrücklich auf den Abschnitt B.II dieses Bandes verwiesen wer-
den. 1 Andererseits ist zu betonen, daß nicht wenige wirtschafts- und so-
zialgeschichtlich relevante Fragestellungen bereits im Rahmen des vorlie-
genden Beitrages Berücksichtigung finden. Das betrifft die ökonomischen
und gesellschaftlichen Konsequenzen der Reformgesetzgebung, 2 die im übri-
gen keineswegs nach 1814/15 pauschal auf die gesamte Monarchie ausge-
dehnt wurde. 3 Erörtert werden auch die demographischen Fragen nach der
Bevölkerungsbewegung und der Bevölkerungsstruktur. 4 Andere Kapitel sind
den Steuern und Finanzen 5 und der Entwicklung des Zollvereins gewidmet. 6
Schließlich werden wirtschaftliche und soziale Aspekte auch für die Krisen-
jahre des Vormärz 7 und der Revolution 8 wiederholt erörtert. Die folgenden
Ausführungen können sich deshalb darauf beschränken, einige wirtschafts-
und sozialgeschichtlich wichtige Entwicklungstendenzen darzustellen, die
für Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichnend und
prägend zugleich waren.

1. Bereiche des wirtschaftlichen Strukturwandels

Vergleicht man die ökonomische Situation Preußens zu Beginn und in der


Mitte des 19. Jahrhunderts, fallen mehrere Bereiche ins Auge, in denen sich
tiefgreifende strukturelle Wandlungsprozesse abspielten:
1) Um die Jahrhundertmitte befand sich die preußische Landwirtschaft
auf dem durch die Agrarreformen ausgelösten Wege einer durchgreifenden
Modernisierung. Die Regulierungen (der gutsherrlichen Bauern) und die
Ablösungen (der grundherrlichen Bauern) ersetzten spätfeudale Abhängig-
keitsverhältnisse durch privatrechtliche Eigentums- und Schuldverträge für
Herren und Bauern. Diese Umwandlungen brachten zwar für die Bauern
erhebliche soziale Kosten mit sich und kamen in erster Linie den Groß-
grundbesitzern zugute, sie bewirkten aber auch den Aufstieg und die Kon-
solidierung eines leistungsfähigen Bauerntums. Bis 1848 waren rund 70.600
gutsherrliche Bauern reguliert, und etwa 290.000 grundherrliche Bauern
hatten ihre Ablösung erreicht — insgesamt 84 Prozent der regulierungs-
oder ablöseberechtigten Bauern mit 92 Prozent der Fläche. Der Preis für
die Aufhebung von 17 Millionen Hand- und 6,5 Millionen Spanndiensttagen

1 Vgl. den Beitrag von Wilhelm TREUE im vorliegenden Bd., S. 449-604.


2 S.o. § 1, II, 4.
3 S.o. § 3, III.
4 S.o. § 3, II.
5 S. o. S 3, V.
6 S.u. § 3, VII, 3.
7 S.u. S 4, IV-VI.
8 S. u. S 5, IV, 3.
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 139

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VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 141

betrug - außer den Landabtretungen - 31 Millionen Reichstaler Kapital-


und 4,2 Millionen Reichstaler Rentenzahlungen. 9 (Siehe auch die Tabelle 28
auf S. 139.)
Für die Jahre um 1850 wird man für Preußen etwa 380.000 lebens- und
leistungsfähige Bauernwirtschaften zwischen 30 und 600 Morgen annehmen
können. Zusammen mit den über 14.600 Großbesitzungen, unter denen sich
11.771 Rittergüter befanden, bildeten sie die treibende Kraft bei der Mo-
dernisierung der preußischen Landwirtschaft.
Da das Edikt von 1816 die Regulierbarkeit auf spannfähige Bauern mit
gutem Besitzrecht beschränkt hatte, blieben den Großgrundbesitzern aller-
dings bis zur Ablösungsordnung vom 2. März 1850 rund 6 Millionen
kostenlose Hand- und 243.000 Spanndiensttage, da die nicht spannfähigen
Kleinbauern zwar persönlich frei wurden, aber keine Eigentumsrechte er-
hielten und weiterhin dienstpflichtig blieben. Sie gehörten zu den 520.000
Klein- und 871.000 Kleinstbauern, von denen allein 48 beziehungsweise
sogar 62 Prozent in den beiden Westprovinzen lebten, wie Tabelle 29 (S. 140)
zeigt. 10
Die Etablierung eines leistungsfähigen Vollbauernstandes öffnete den Weg
zu einem marktorientierten Agrarkapitalismus, dem es gelang, schon in der
ersten Jahrhunderthälfte die Produktivität der preußischen Landwirtschaft
zu verdreifachen und der rasch wachsenden Bevölkerung im allgemeinen
eine ausreichende Ernährung zu sichern. Diese Steigerung beruhte erstens
auf dem aus mehreren Gründen vorangetriebenen Landesausbau, durch den
sich die Flächennutzung nach neueren Berechnungen wie folgt veränderte: 11

TABELLE 3 0
Landwirtschaftliche Bodennutzung in Preußen in den Jahren 1802 und 1861
(in Prozent der preußischen Gesamtfläche)

Äcker Wiesen Wald Ödland/Weiden Wasser

1802 35,3 8,0 22,0 32,9 1,8


1861 51,4 9,6 24,6 12,8 1,6

Quelle: H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 1, S. 422.

Dieser Landesausbau war zum Teil eine indirekte Folge der Agrarreformen,
weil einerseits die Bauern ihre Landabtretungen zu kompensieren suchten,
und weil andererseits auch die Grundherren ihre erheblichen Zugewinne

5 Diese Zahlen gibt — im Anschluß an Lütge, Harnisch, Saalfeld u. a. — H.-U.


WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 1, S. 418f.
10 Eine Zusammenfassung der ausführlichen und nach Provinzen gegliederten Über-
sicht auf die Gebiete ,Ostelbien' und 'Westprovinzen' findet sich bei H.-U.
WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 37.
11 Die folgende Tabelle beruht auf den von von Ciriacy-Wantrup - gegen Finck
und Ipsen - ermittelten Zahlen, die von H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschafts-
geschichte ... (1987) [29], Bd. 1, S. 422, mitgeteilt werden.
142 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

aus den Gemeinheitsteilungen und Separationen möglichst nutzbringend


kultivieren wollten. Zweitens wurden die Ackerflächen jetzt sehr viel inten-
siver genutzt: Die Zurückdrängung der Brache durch Fruchtwechselwirt-
schaft, der Anbau von Hackfrüchten, eine verbesserte Düngung und die
Anwendung modernerer Anbaumethoden ließen die Hektarerträge deutlich
steigen. Auch profitierte die Landwirtschaft von einem verstärkten Arbeits-
kräftepotential (1800: 9,5; 1849: 11,48 Millionen Arbeitskräfte) und von
dem allmählichen Übergang zu einer kapitalintensiveren Wirtschaft. Am
Ende dieser Umstrukturierungsphase, etwa um die Jahrhundertmitte, hatten
sich in der preußischen Landbevölkerung fünf unterschiedliche Schichten
herausgebildet: 1. die adligen und bürgerlichen agrarkapitalistischen Guts-
unternehmer, 2. die Großbauern, 3. die Mittelbauern, 4. die Kleinstellenin-
haber und 5. die Landlosen. Nur den ersten drei Gruppen sicherte der
Landbesitz den Lebensunterhalt; schon die vierte war auf regelmäßigen
Nebenverdienst angewiesen, während die fünfte das eigentliche Landpro-
letariat ausmachte, das lediglich seine Arbeitskraft anzubieten hatte und
„die graue Masse der Pauperisierten" bildete, die oft genug den Weg in die
Stadt suchten, wo die Arbeitsplätze in der aufstrebenden Industrie eine
bessere Alternative zu bieten schienen. 12
2) Auch für die Entwicklung des preußischen Gewerbewesens war die
Reformgesetzgebung von fundamentaler Bedeutung. Trotz aller Wider-
stände hielt die Regierung an den Prinzipien von Gewerbefreiheit und
Handelsfreiheit fest, wenn auch, vor allem im Bereich des Freihandels,
korrigierende Eingriffe erforderlich waren. Dem entsprach im gewerblichen
Bereich die Praktizierung einer in erster Linie von Beuth konzipierten Politik
der Gewerbeförderung. Um die Gewerbetreibenden an den frischen Wind
des freien Wettbewerbs zu gewöhnen und sie zur Konkurrenzfähigkeit zu
erziehen, entwickelte die Gewerbeverwaltung ein gut durchdachtes, viel-
gliedriges und effektives Belehrungs-, Förderungs- und Unterstützungs-
system, dessen Fernziel darin bestand, sich selbst im Laufe der Jahre
überflüssig zu machen (siehe Abb. 2 auf S. 143). 1 3
Während vor allem Industriebetriebe, aber auch innovationsbereite und
anpassungsfähige Handwerker von den staatlichen und halbstaatlichen Un-
terstützungsmaßnahmen profitierten, erfuhren große Teile des Handwerks,
die an ihrem traditionellen Arbeits- und Produktionsstil festhielten, einen
fühlbaren sozialen Abstieg: In Berlin gehörten in den 40er Jahren etwa
75 Prozent der selbständigen Handwerker zu den proletaroiden Klein- oder
Alleinmeistern, die dem sich verschärfenden Konkurrenzkampf nicht ge-
wachsen waren und am Rande des Existenzminimums lebten. 14

12 A . a . O . , S. 426 - 428.
13 Vgl. dazu I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], passim. Ähnlich
auch Ulrich Peter RITTER, Preußische Gewerbeförderung in frühindustrieller Zeit
[1961], in: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Ge-
schichte 1 6 4 8 - 1 9 4 7 . Eine Anthologie, 3 Bde. ( = VHKzB, Bd. 52), B e r l i n - N e w
York 1981, Bd. 2, S. 1031 - 1 0 8 7 , hier S. 1085.
14 I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 5 4 2 - 5 4 8 .
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 1 4 3

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144 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Obwohl der neue Stand der Fabrikarbeiter allmählich eine Rolle zu


spielen begann, dominierte noch über die Jahrhundertmitte hinaus das
Handwerk, wie gerade die Zahlen aus Berlin, dem bedeutendsten Industrie-
zentrum im Osten der Monarchie, unterstreichen:

TABELLE 3 1
Handwerker und Fabrikarbeiter in Berlin in den Jahren 1801 und 1846

Handwerker Fabrikarbeiter
Selbständige Abhängige Insgesamt

1801 8.500 11.000 19.500 6.000


1846 14.700 30.100 44.800 22.500

Quelle: I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 5 4 3 .

Für Gesamtpreußen war charakteristisch, daß die Zahl der Gesellen und
Lehrlinge vor allem nach 1830 erheblich stärker zunahm als die der Meister:

TABELLE 3 2
Meister, Gesellen und Lehrlinge in Preußen 1816 — 1849 (Index)
(1816=100)

Meister Gesellen und Lehrlinge

1816 100 100


1831 126 127
1849 165 224

Quelle: Karl Heinrich KAUFHOLD, Handwerk und Industrie 1800 - 1 8 5 0 , in: Hermann
Aubin/Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialge-
schichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 3 2 1 - 3 6 8 , hier S. 323.

Dennoch ist vor generalisierenden Einschätzungen zu warnen. Einmal


gab es beträchtliche Unterschiede innerhalb der einzelnen Gewerbezweige,
zweitens bestanden teilweise hohe Barrieren zwischen den im gesellschaft-
lichen Ansehen höher oder tiefer angesiedelten Berufsgruppen.
Viele Handwerksgesellen zogen aus der schlechten Beschäftigungslage die
Konsequenz und verdingten sich als Arbeiter in den Fabriken. Von 1816 bis
1852 stieg die Gesamtzahl der Fabrikarbeiter in Preußen von 187.000 auf
über 450.000 (siehe Tabelle 33 auf S. 145).
Obwohl die Gewerbefreiheit grundsätzlich in ganz Preußen galt, gab es
doch erhebliche Unterschiede im einzelnen, bis die Allgemeine Gewerbe-
ordnung von 1845 das Gewerbéwesen in rechtlicher Hinsicht vereinheit-
lichte. 15

15 Vgl. I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], S. 211. Bei dieser Gele-
genheit wurden auch die verstreuten Bestimmungen über Betriebsbeschränkungen
aus Gründen des Umweltschutzes vereinheitlicht; vgl. I. MIECK, Umweltschutz
in P r e u ß e n . . . ( 1 9 8 1 ) [ 4 2 ] , S. 1 1 6 3 .
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 145

TABELLE 3 3
Entwicklung des Industrieproletariats in Preußen im Verhältnis zur
Gesamtbevölkerung 1849 — 1852

Jahr Bevölkerung Fabrikarbeiter Bergarbeiter


insgesamt über 14 Jahre insgesamt insgesamt

1849 16.397.448 367.400 54.380 421.780


1852 16.935.420 387.491 68.284 455.775

Quelle: Walter BECKER, Die Bedeutung der nichtagrarischen Wanderungen für die
Herausbildung des industriellen Proletariats in Deutschland, unter besonderer Be-
rücksichtigung Preußens von 1850 bis 1870, in: Hans Mottek u. a., Studien zur
Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland ( = VIWGBKa, Bd. 1), Berlin
1960, S. 2 0 9 - 240, hier S. 2 1 2 (ergänzt).

3) Die Schwerpunkte der preußischen Gewerbewirtschaft lagen in vor-


industrieller Zeit in Berlin und der Kurmark, in Schlesien und, innerhalb
der westfälisch-rheinischen Streubesitzungen, im Großherzogtum Berg und
in der Grafschaft Mark, die einen in Deutschland einmaligen „gewerblichen
Ballungsraum" darstellte. 16 Infolge der Territorialgewinne von 1803 und
1814/15, zu denen auch das Saarland gehörte, vergrößerte sich die gewerbe-
wirtschaftliche Basis der preußischen Monarchie deutlich. In diesen ge-
werblichen Führungsregionen war ein relativ breites Potential vorhanden,
auf dem die frühe Industrialisierung aufbauen konnte: Es gab „einen recht
breiten Sockel von gewerblichen Betrieben und technischen Hilfsmitteln,
von Unternehmern und Facharbeitern, von Kapital und Know-how, von
Geschäftserfahrung und Marktorientierung". 1 7 Da dieses Potential bereit-
stand, entwickelten sich die künftigen Schwerpunkte der Industrie keines-
wegs in isolierter Lage, sondern in enger Verzahnung und Verflechtung mit
den traditionellen Gewerbelandschaften und ihren wirtschaftlichen Struk-
turen.
Noch jahrzehntelang waren viele Fabriken jedoch kaum mehr als größere
Werkstätten, in denen zwar Arbeitsmaschinen liefen, wo der entscheidende
Schritt zur Energie liefernden Kraftmaschine aber noch nicht erfolgt war;
vielfach wurden eher „großgewerbliche" als „industrielle" Produktionsme-
thoden angewandt. Symptomatisch sind die Anlaufschwierigkeiten bei der
Einführung der Dampfkraft zum Antrieb von Arbeitsmaschinen. Während
die erste in Preußen arbeitende Dampfmaschine, die der Berliner Textilfa-
brikant Sieburg aus England bezogen hatte, nach dreijährigem Betrieb im

16 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 79. -


Vgl. zu dieser Thematik den grundlegenden Aufsatz von Karl Heinrich KAUF-
HOLD, Gewerbelandschaften in der frühen Neuzeit (1650 — 1800), in: Hans Pohl
(Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahr-
h u n d e r t ^ VSWG, Beih. 78), Stuttgart 1986, S. 1 1 2 - 2 0 2 , hierS. 1 1 9 - 1 2 4 , 1 3 6 -
138 und 149 ff.
17 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 66.
146 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Frühjahr 1800 aus Kostengründen stillgelegt wurde, 18 nahm im gleichen


Jahr die ebenfalls aus England importierte „Dampfkunst" in der Königlichen
Porzellanmanufaktur ihren Dienst auf, den sie 25 Jahre zur vollen Zufrie-
denheit versah. 19 Außerdem gab es in Preußen vor 1815 nur noch die
Dampfmaschine der Gebrüder Alberti in Waldenburg/Schlesien.
Als die Versuche, in der Königlichen Eisengießerei zu Berlin selbst zwei
Dampfmaschinen zu bauen, kläglich scheiterten, ergab sich eine überra-
schende Doppellösung des Problems: erstens durch die Verpflichtung der
Gebr. Cockerill, die sich, aus Verviers angeworben, in Berlin niederließen,
und zweitens durch die Tüchtigkeit des jungen Mechanikers G. C. Freund,
der 1816 in Berlin völlig unerwartet eine tadellos funktionierende Dampf-
maschine konstruierte. 20 Seitdem nahm die Zahl der in Berlin arbeitenden
Dampfmaschinen stetig zu: 21

1810: 1 1837: 3 0
1820: 8 1840: 5 4
1830: 2 6 1843: 6 2

Dabei stieg der Jahresdurchschnitt der Neuanlagen von 1,8 Prozent (1820 —
1830) auf 5,6 Prozent ( 1 8 3 7 - 1 8 4 0 ) - ein deutlicher Hinweis darauf, daß
die Phase des abwartenden Beobachtens zu Ende ging und auch breitere
Kreise die neue Energiequelle zu akzeptieren bereit waren.
Entsprechend verlief die Entwicklung des Dampfmaschinenbestandes im
Gesamtstaat:

1830: 2 1 5 1837: 4 2 3

Allein in den beiden westlichen Provinzen liefen 1843 bereits 470 Dampf-
maschinen mit 13.763 Pferdestärken. Um die führende Position Preußens
auf diesem Sektor zu unterstreichen, sei darauf hingewiesen, daß im ge-
werbereichen Königreich Sachsen 1830 lediglich 25 Dampfmaschinen in
Betrieb waren und daß im Königreich Hannover die erste Dampfmaschine
1832, in einem Krankenhaus, installiert wurde. 22

18 Vgl. Karl LÄRMER, J o h a n n Georg Sieburg — ein Berliner Pionier der Industriellen
Revolution in Deutschland, in: BG, Bd. 7 (1986), S. 6 4 - 7 4 , hier S. 6 8 - 7 2 .
19 Knappe Zusammenfassung: Ilja MIECK, Von der Kopie zur Innovation: Einfüh-
rung der Dampfkraft in Preußen, in: SpW, Jg. 1982, H . 5, S. 116 - 127, hier S. 119;
ausführlicher: Karl LÄRMER, Berlins Dampfmaschinen im quantitativen Vergleich
zu den Dampfmaschinen Preußens und Sachsens in der ersten Phase der Indu-
striellen Revolution, in: Ders. (Hg.), Studien zur Geschichte der Produktivkräfte.
Deutschland zur Zeit der Industriellen Revolution ( = F W G , Bd. 15), Berlin 1979,
S. 1 5 5 - 1 8 1 , hier S. 166.
20 I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], S. 63 - 6 7 und 1 0 2 - 1 0 7 .
21 A. a. O . , S. 2 2 6 - 2 2 8 sowie 2 4 5 : Ani. E ; ergänzend: Κ. LÄRMER, Berlins Dampf-
maschinen... (1979) [ s . o . A n m . 19], S. 1 7 6 - 1 8 1 .
22 H . - U . WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 81 f.;
K. LÄRMER, Berlins D a m p f m a s c h i n e n . . . (1979) [ s . o . A n m . 19], S. 173 und 177.
- Von den 2 1 5 Dampfmaschinen des Jahres 1830 arbeiteten 7 7 in Bergwerken.
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 147

Daß die bessere technische Ausstattung der Unternehmen, von denen


viele zu Großbetrieben mit Hunderten von Arbeitskräften expandierten,
beträchtliches Kapital erforderte, liegt auf der Hand. Dennoch darf der
gewerblich-industrielle Kapitalbedarf nicht überschätzt werden. Er machte
nur einen geringen Teil der gesamten Investitionen aus, bei denen die
Landwirtschaft unangefochten die Spitzenposition behauptete, gefolgt vom
Hausbau. Sogar der beginnende Eisenbahnboom vermochte an dieser Rei-
henfolge nichts zu ändern:

TABELLE 3 4
Durchschnittliche jährliche Nettoinvestitionen in Preußen 1816 — 1840
(Millionen Mark in Preisen von 1913)

Land- Nicht-
Jahre wirt- landwirtschaft- Verkehr Industrie Insgesamt
schaft liche Gebäude

1816-1822 86,5 28,7 7,0 2,8 125,0


1822-1831 70,4 18,7 8,8 5,1 103,0
1830/31-1840 109,6 52,0 22,5 5,6 189,7

Quelle: H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 97.

Die Investitionsbeträge besorgten sich die frühindustriellen Unternehmer


vorzugsweise aus Eigenkapital und Privatdarlehen. Seit den 30er Jahren
fungierten Staatsbanken, Sparkassen und Privatbanken in zunehmendem
Maße auch als Kreditinstitute für industrielle Gründungen. Das neue Gesetz
über Aktiengesellschaften vom 9. November 1843 ebnete schließlich den
Weg für eine moderne Form der gesellschaftlichen Industriefinanzierung.
Da die Forderung nach „Gemeinnützigkeit" fortan wegfiel, war eine Kon-
zession sehr viel leichter zu erhalten, und die Aktiengesellschaften breiteten
sich in den folgenden Jahren weiter aus. 2 3

2. Das Verkehrswesen vor der Eisenbahnzeit

Den steigenden Bedürfnissen von Handel und Gewerbe des seit 1818 von
allen Binnenzöllen befreiten Gesamtstaats wurde das preußische Verkehrs-
netz nur recht langsam angepaßt. Noch 1785 verfügte Preußen zwar über
856 Kilometer schiffbare Wasserstraßen, aber über keinen einzigen Kilo-
meter ausgebauter Chaussee. Bis 1800 wurden nur einige wenige feste
Straßen gebaut, meist von Berlin ausgehend. Im ganzen galt auch für
Preußen: „Das Kommunikationsnetz der Straßen und Schiffahrtswege, Po-

23 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 97 - 99;


Paul C. MARTIN, Die Entstehung des preußischen Aktiengesetzes von 1843, in:
VSWG, Bd. 56 (1969), S. 4 9 9 - 5 4 2 , passim.
148 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

sten und Nachrichtenübermittlung bildete ein ganz irreguläres, unzuverläs-


siges, schlecht funktionierendes, vor allem zu weitmaschiges Gespinst." 2 4
Ein halbwegs systematischer Straßenbau begann erst mit den Freiheits-
kriegen, „als für die Armeen eine feste Straße nach der anderen" entstand
(Wehler). Zudem profitierte Preußen in statistischer Hinsicht davon, daß
die neupreußischen Gebiete im Westen ein sehr viel besseres Straßennetz
besaßen: Von den 3.836 Straßenkilometern, die es 1816 in Preußen gab,
lagen drei Viertel in den neuen Provinzen Rheinland, Westfalen und Sachsen.
In Ost- und Westpreußen gab es dagegen 1816 nur eine 8 Kilometer lange
Straße bei Danzig.
Nicht zuletzt in Verbindung mit ihrer Zollvereinspolitik hat die preußi-
sche Verwaltung den Chausseebau bis zur Jahrhundertmitte energisch vor-
angetrieben, so daß sich der Bestand in 35 Jahren vervierfachte (in Kilo-
metern):

1816: 3.836 1840: 11.009


1830: 7.301 1850: 16.689

Von den verbesserten Straßen profitierte nicht zuletzt die Königliche Post,
die seit 1823 dem Generalpostmeister im Ministerrang v. Nagler unterstand.
1848 wurde sie dem Handelsministerium zugewiesen. Bis 1844 war das
Briefporto überaus hoch: Für eine Entfernung bis zu 2 Meilen (etwas über
15 Kilometer) war ein Silbergroschen zu entrichten. Der höchste Portosatz
betrug 19 Silbergroschen, was dem Tageslohn eines ziemlich gut verdienen-
den Handwerkers entsprach. Da sie die Löhne und andere Kosten niedrig
halten konnte, erzielte die Post, anders als heute, in diesem Bereich regel-
mäßig Gewinne — von 1821 bis 1850 insgesamt rund 36 Millionen Reichs-
taler. 1846 gab es 103 Zivil- und 132 Militärpostämter, die nicht selten der
Versorgung invalider Offiziere dienten. 25
Die Fahrpost erfuhr durch die Einrichtung der Schnellpost (1821: Ko-
b l e n z - K ö l n - D ü s s e l d o r f ; bis 1837: 182) eine wesentliche Verbesserung.
Am Beispiel der Strecke Berlin — Breslau, die 43,5 Meilen ( = 328 Kilometer)
lang war, lassen sich die drei möglichen Reisearten für das Jahr 1829
verdeutlichen (siehe Tabelle 35 auf S. 149).
Daß zur Aufrechterhaltung des verbesserten Postkutschenverkehrs auch
eine breitere Infrastruktur erforderlich war, versteht sich von selbst: 1845
gab es bei etwa 1.500 Posthaltereien 5.106 Postillone und 17.892 Pferde.
Dennoch war, im ganzen gesehen, die durchschnittliche Reisegeschwindig-
keit von quälender Langsamkeit: Wer Berlin montags um 10.00 Uhr mit
der Fahrpost verließ, traf am Sonnabend um 10.00 Uhr in Königsberg ein,

24 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 1, S. 121.


25 A. a. O., Bd. 2, S. 120 f.; ergänzend: Hermann KELLENBENZ, Verkehrs- und Nach-
richtenwesen, Handel, Geld-, Kredit- und Versicherungswesen 1800 — 1850, in:
H. Aubin/W. Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialge-
s c h i c h t e , B d . 2 , ( 1 9 7 6 ) , S. 3 6 9 - 4 2 5 , h i e r S. 3 7 9 - 3 8 1 .
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 149

TABELLE 3 5
Dauer und Kosten einer Reise Berlin — Breslau (1829)

Fahrzeug Dauer Durchschnitts- Preis


in Stunden geschwindigkeit
(km/h)

Schnellpost für 3 Personen 39,5 8,3 435 Sgr.


Schnellpost für 7 Personen 41,5 7,9 326 Sgr.
Fahrpost 65 5,0 261 Sgr.

Quelle: I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 518.

was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 5,35 Kilometer je Stunde ent-


sprach. Die Reise nach Köln dauerte noch einen Tag länger, weil die Fahrt
durch die Mittelgebirge das Tempo auf 4,34 Kilometer je Stunde absinken
ließ. Die Schnellpost brachte es wenigstens — von Sonntag 18.00 Uhr bis
Donnerstag 3.00 Uhr - auf einen Schnitt von 6,8 Kilometer je Stunde. 26
Da das Postwesen in die Kompetenz der einzelnen Bundesstaaten fiel,
mußte eine Vereinheitlichung durch Einzelverträge vorbereitet werden, um
Zustände wie in Hamburg, wo sechs autonome Oberpostämter (Thum und
Taxis, Preußen, Hannover, Dänemark, Schweden, Mecklenburg, Hamburg)
miteinander konkurrierten, zu beseitigen. Aber erst ein Vertrag vom 6. April
1850 brachte eine Angleichung des deutschen und österreichischen Post-
wesens mit gleichen Bestimmungen für die Taxierung und die postalische
Behandlung der Postsendungen. 27 Wenig befriedigend war auch die Fracht-
kostensituation, die Tabelle 36 auf S. 150 zeigt.
Angesichts der Langsamkeit dieser Verbindungen haben die preußischen
Behörden die Entwicklung des optischen Telegraphen mit großem Interesse
verfolgt und beschlossen, eine Telegraphenverbindung zwischen Berlin und
dem Rheinland einzurichten. Die von dem Engländer Watson entwickelten
sechsarmigen Apparate wurden von dem Berliner Postrat Pistor wesentlich
verbessert und in der Maschinenfabrik von Freund gebaut. Weil die optische
Werkstatt Pistors nicht genügend „Fernröhren", die zum Beobachten der
etwa 11 Kilometer voneinander entfernt liegenden Signalmasten unentbehr-
lich waren, herstellen konnte, mußte man auf Lieferungen von Fraunhofer
aus München und „von englischen Meistern" zurückgreifen.
Die Kette der insgesamt 61 Stationen von Berlin bis zum Ehrenbreitstein
begann mit dem im Dezember 1832 errichteten Semaphor auf der Sternwarte
in der Dorotheenstraße. Im Januar 1833 gingen die ersten Depeschen von
Berlin nach Magdeburg, im Herbst bis nach Koblenz. Die Telegraphierge-
schwindigkeit war unterschiedlich; bei günstigen Sichtverhältnissen konnte
eine 30 Zeichen lange Depesche aus Berlin 1 Vi Stunden später in Köln sein

26 Vgl. I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 5 1 8 f .
27 H. KELLENBENZ, Verkehrs- und Nachrichtenwesen... (1976) [s.o. Anm. 25],
S. 3 8 1 .
150 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

TABELLE 3 6
Frachtkostensituation vor der Eisenbahnzeit

Von nach Taler Tage Meilen

Berlin Kassel 2% 16 48 V2
Frankfurt a. M. 2V2 18 67%
Minden 2 12 50
Münster 22/3 20 66
Düsseldorf 2% 21 80
Köln 22/3 24 84
Aachen 3 26 90
Magdeburg /
3 4 5 20
Stettin % 5 20
Breslau iv6 10 44
Neu-Berun* 2V4 22 77
Königsberg i. Pr. 2% 20 87
Dresden IV« 8 21
Hamburg 1V4 10 38
* Dorf in Oberschlesien an der Grenze zu Österreich, 4 km westlich von Auschwitz,
später Eisenbahnstation (polnisch: Berun-Zabrezeg).

Quelle: W. STEITZ, Die Entstehung der Köln-Mindener Eisenbahn... (1974) [192d],


S. 37 (ergänzt).

- die westlichen Provinzen Preußens rückten damit merklich näher an die


Hauptstadt heran. Der Bedeutung dieses neuen Kommunikationsmittels
entsprach es, daß man den Telegraphen zunächst für den Behördenverkehr
reservierte.
Es lag an der Schnelligkeit der technischen Entwicklung, daß der optische
Telegraph, der die seit Jahrhunderten faktisch unveränderte Nachrichten-
technik in der Tat revolutioniert hatte, sehr bald durch den von Siemens
entwickelten elektromagnetischen Telegraphen abgelöst wurde: 1849 wurde
die erste preußische Strecke, von Berlin nach Aachen, in Betrieb genommen.
Sie stand auch der Öffentlichkeit zur Verfügung. 28
Eine wichtige Verbesserung für den Waren- und Personentransport, die
schon in die Eisenbahnzeit hinüberwies, brachte das Dampfschiff. Den
Engländern Humphreys und Biram war es gelungen, 1816 auf einer Werft
bei Spandau das erste Dampfschiff in Preußen zu bauen. Im Herbst machte
die „Prinzessin Charlotte" ihre Jungfernfahrt zum Platz an den Zelten im
Tiergarten; ein halbes Jahr später lief der „Courier" vom Stapel. Das erste
Schiff besorgte den Verkehr zwischen Berlin, Charlottenburg und Potsdam;
das zweite wagte sich bis nach Magdeburg und Hamburg. Im Winter 1817
wurde der „Bauhof" nach Potsdam verlegt, wo die Dampfboote „Magde-

28 A . a . O . , S. 382; I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16],


S. 519. Grundlegend: Dieter HERBARTH, Die Entwicklung der optischen Telegrafie
in Preußen ( = Landeskonservator Rheinland. Arbeitsh. 15), Köln 1978, passim.
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 151

bürg" und „Friedrich Wilhelm III." entstanden, von denen das letztere 2.000
Zentner laden konnte. Es ergaben sich aber viele unvorhergesehene Schwie-
rigkeiten, so daß die erste preußische Dampfschiffahrt bald ein ruhmloses
Ende fand. 2 9 Auch auf dem Rhein gab es seit 1816 Probefahrten mit
Dampfschiffen, aber erst 1824 eröffnete eine niederländische Gesellschaft
eine regelmäßige Verbindung zwischen Köln und Rotterdam. 1826 wurde
die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrtsgesellschaft auf Aktien in Köln
gegründet, der 1836 eine in Düsseldorf ansässige Gesellschaft folgte. 30
Im Berlin-Hamburger Bereich nahm sich 1830/32 die Preußische See-
handlung der Dampfschiffahrt an, einmal, um investiertes Kapital nicht zu
verlieren, zum anderen aber auch durch das persönliche Engagement des
Seehandlungs-Präsidenten Rother dazu bewogen - galten doch als „Rothers
Lieblingskinder die dampfbetriebene Binnenschiffahrt... und der Aufbau
einer preußischen Staatsreederei". 1843 betrieb die Seehandlung sieben
Dampfboote und zehn Schleppschiffe zum Personen- und Gütertransport
von und nach Hamburg. Dreimal wöchentlich gab es einen regelmäßigen
Liniendienst dorthin. Diese Verbindung war für das gesamte östliche Preu-
ßen volkswirtschaftlich von großer Bedeutung, da in Ermangelung eines
eigenen Nordseehafens der Hauptanteil des preußischen Exports nach West-
europa und Ubersee über Hamburg lief. Dagegen ließen sich Pläne, auch
auf der Oder einen Dampfschiffahrtsbetrieb einzurichten, nicht realisieren. 31
Seit 1822 gab es seitens der Seehandlung auch ernsthafte Versuche zur
Wiederbelebung des Überseehandels, um vor allem dem preußischen Tuch-
und Leinenexport neue Märkte zu erschließen, beispielsweise in Mexiko,
Südamerika, Westindien und China. Trotz hoffnungsvoller Anfänge, die zur
Errichtung zahlreicher preußischer Handelsagenturen/Konsulate führten,
beispielsweise in Lima, Mexiko City, Valparaiso, Buenos Aires, Havanna,
Rio de Janeiro und Haiti, haben sich die hochgespannten Erwartungen
Rothers nicht erfüllt. Das Geschäftsergebnis des Überseehandels war, als
man in den 40er Jahren eine Gesamtbilanz versuchte, „betriebswirtschaftlich
niederschmetternd". Was dennoch blieb, waren einige indirekte Vorteile:
Die preußische Präsenz auf den Weltmeeren und in Übersee, die Verbesse-
rung des Schiffbaus, die Ausbildung zahlreicher tüchtiger Seeleute und nicht
zuletzt ein gewisses Prestige, wie Rother in seiner berühmten Rechtferti-
gungsdenkschrift unterstrich: „Schiffe der Seehandlung umsegelten wieder-
holt die Erde, was vor ihnen weder von preußischen noch von andern
deutschen Staaten angehörigen Schiffen gewagt worden war." 3 2

29 I. M I E C K , P r e u ß i s c h e G e w e r b e p o l i t i k . . . ( 1 9 6 5 ) [ 4 1 ] , S. 1 6 4 - 1 6 6 .
30 Über andere Verkehrsaktiengesellschaften s. u. S. 219.
31 I. M I E C K , P r e u ß i s c h e G e w e r b e p o l i t i k . . . ( 1 9 6 5 ) [ 4 1 ] , S. 1 6 7 f . ; W o l f g a n g RADTKE,
Die Preußische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der
Industrialisierung ( = EvHKzB, Bd. 30), Berlin 1981, S. 245 (Zitat) und 249 f.
32 A . a . O . , S. 252 - 261; die Zitate: S. 259 und 252. Ein von Rother eigenhändig
korrigiertes Manuskript der 1845 publizierten Denkschrift „Die Verhältnisse des
Königlichen Seehandlungs-Institutes und dessen industrielle Unternehmungen"
befindet sich im GStAPK Berlin-Dahlem, Rep. 109, D 1, 1 (5153).
152 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Die erste Weltumsegelung unter preußischer Flagge gelang 1822—1824


dem von der Seehandlung gecharterten Bremer Segler „Mentor" unter dem
Kapitän Harmssen. Er befehligte auch die „Prinzeß Louise" zwischen 1825
und 1838 bei weiteren vier Reisen „um die Erde". Schließlich sei erwähnt,
daß 1843 das erste neuere preußische Kriegsschiff, die Korvette „Amazone"
in Grabow bei Stettin vom Stapel lief. Dieses Schiff, gelegentlich als „Groß-
mutter der deutschen Flotte" bezeichnet, zeigte die preußische Kriegsflagge
1844 im Mittelmeer und in Konstantinopel und besuchte im Jahre 1847
sogar New York. 3 3

3. Gesellschaftliche Schichtung und Soziale Frage

Die vielfältigen Transformationsprozesse, die sich in den Bereichen der


Landwirtschaft, des Handwerks und des großgewerblich-industriellen Sek-
tors in ökonomischer Hinsicht während der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts vollzogen, hatten, wie teilweise bereits erwähnt, weitreichende soziale
Umschichtungsvorgänge zur Folge. Um die Jahrhundertmitte, als mit dem
Ende der Frühindustrialisierungsphase eine wichtige Etappe auf dem Wege
der Modernisierung Preußens durchschritten war, bot die preußische Ge-
sellschaft in ihrer horizontalen Struktur ein Bild, das von dem früherer
Epochen grundverschieden war, weil sich die sozialen Kosten von Agrar-
reform, Handwerkskrise und früher Industrialisierung nunmehr voll aus-
wirkten. Mit all den Vorbehalten, die bei jedem Versuch einer quantitativen
Analyse angesichts der problematischen Quellenlage selbstverständlich sind,
gelangt eine neuere Untersuchung zu einigen höchst bemerkenswerten Er-
gebnissen. Ganz allgemein bestätigt sich die im Grunde längst bekannte
These, daß im „bürgerlichen" Jahrhundert die Bürger in Wirklichkeit nur
eine Minderheit ausmachten: „Einschließlich des ,kleinbürgerlichen' Mit-
telstandes wie der kleinen Beamten und Angestellten gehörten zu den
Familien der Bürger kaum 20 Prozent der Bevölkerung." 3 4

33 Vgl. Willi A. BOELCKE, SO kam das Meer zu uns. Die preußisch-deutsche Kriegs-
marine in Übersee 1822 bis 1914, Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1981, S. 16 f., 323
und 3 8 6 ; neuerdings auch: Heinz BURMESTER, Weltumsegelung unter Preußens
Flagge. Die Königlich Preußische Seehandlung und ihre Schiffe, Hamburg 1988,
passim. — Den später als Maschinengehilfe auf der Pfaueninsel arbeitenden
„Sandwich-Insulaner" Harry Maitey hatte die „ M e n t o r " übrigens aus Hawaii
mitgebracht. Mit den Königen dieser Inseln tauschten die preußischen Herrscher
mehrfach Geschenke aus, letztmals 1848 (Johann Friedrich MEUSS, Die Bezie-
hungen König Friedrich Wilhelms III. und König Friedrich Wilhelms IV. zu
Kamehameha III. von Hawaii, in: H o J b , 16. Jg. [1912], S. 65 — 72, passim).
34 Jürgen KOCKA, Zur Schichtung der preußischen Bevölkerung während der in-
dustriellen Revolution, in: Wilhelm Treue (Hg.), Geschichte als Aufgabe. Fest-
schrift für O t t o Büsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 3 5 7 — 390, hier
S. 385.
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 153

Im Hinblick auf die soziale Stratifikation kommt die Studie, bezogen auf
den Zeitraum 1846/49, zu folgenden Resultaten: 35
1) Zur preußischen Oberschicht gehörten etwa 600.000 Personen ( = 3,7
Prozent der Gesamtbevölkerung). Sie setzte sich zusammen aus Großgrund-
besitzern, hohen Staatsbeamten, Bildungs- und Wirtschaftsbürgern, Offizie-
ren, Pensionären und Rentiers, jeweils mit ihren Angehörigen.
2) Die Mittelschicht umfaßte etwa 4,7 Millionen Menschen ( = 29 Prozent
der Gesamtbevölkerung). Zu ihr zählten 384.000 Mittelbauern mit 30 bis
600 Morgen Landbesitz (mit Angehörigen: 1,7 Millionen) sowie der besser
situierte Mittelstand (Gewerbe, Beamte, Angestellte), alles in allem etwa 3
Millionen.
3) Knapp 600.000 Kleinbauern, Alleinmeister und Kleinstangestellte
waren, um ihren Lebensunterhalt sichern zu können, auf Nebenbeschäfti-
gung angewiesen. Die zu dieser Gruppe gehörenden 1,5 Millionen sollten
deshalb nicht zur Mittelschicht gerechnet werden. Einschließlich der eben
erwähnten Gruppe gehörten zur Unterschicht 10,9 Millionen Menschen
( = 67,3 Prozent der Gesamtbevölkerung). Diese Gruppe setzte sich wie folgt
zusammen:
Untere Mittelschicht 1,5 Mio. Arbeiter 0,9 Mio.
Gesinde 1,2 Mio. Weber 1,5 Mio.
Tagelöhner 3,7 Mio. Krämer, Höker 0,2 Mio.
Handwerksgesellen 0,5 Mio. Soldaten; Bettler, Landstreicher 1,4 Mio.

Demnach gehörten um die Mitte des 19. Jahrhunderts rund zwei Drittel
der preußischen Bevölkerung zu den am Rande des Existenzminimums
lebenden sozialen Gruppen, die sich teilweise nur mit Hilfe landwirtschaft-
lich nutzbarer Kleinstbesitzungen über Wasser halten konnten. Andererseits
war es besonders in den Unterschichtfamilien die Regel, daß das Haushalts-
budget durch die Einnahmen aus Frauen- und Kinderarbeit aufgestockt
wurde.
Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß unter diesen Umständen von
den fast elf Millionen, die am Rande des Existenzminimums lebten und
über keinerlei Rücklagen für Krankheiten oder besondere Notfälle verfüg-
ten, ein beträchtlicher Teil den weiteren sozialen Abstieg innerhalb der
Großgruppe der „Unterschicht" vorübergehend oder auf Dauer nicht ver-
meiden konnte. Damit stellte sich das Armenproblem vor allem in den
Ballungszentren in bisher nicht gekannter Weise.
Die Hauptursache der zunehmenden Verelendung breiter Bevölkerungs-
kreise lag in dem Überangebot an Arbeitskräften, das jeder Willkür Tür
und Tor öffnete. Dazu kam das Fehlen jeglicher sozialer Absicherung im
Falle von Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit, von einer Altersver-
sorgung ganz zu schweigen. Wer einen Arbeitsplatz hatte, klammerte sich
trotz der unsäglichen Arbeitsbedingungen an diese Beschäftigung, weil es
im Falle einer Entlassung nur noch schlimmer werden konnte.

35 Die folgenden Angaben auf Grund einer Auswertung der Übersichtstabelle


a . a . O . , S. 368f.
154 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Das sich ausbreitende materielle Elend resultierte vor allem aus den
niedrigen Löhnen bei überlanger Arbeitszeit. Der normale Arbeitstag konnte
bis zu 17 Stunden dauern. N o c h a m günstigsten standen sich die Maschi-
nenbauer mit 12 Stunden, es folgten Kattundrucker (13), Schneider und
Färber (14), Schuhmacher und Tischler (15), Brennerei-Arbeiter, Bäcker und
- allüberall am äußersten Ende - die Weber. Aus einer tabellarischen
Übersicht, die Saß 1846 für Berlin für rund 6 0 „männliche Arbeiten"
ermittelte, ergibt sich, daß mit ganz wenigen Ausnahmen der Tageslohn
unter einem Taler lag und nicht selten weniger als zehn Silbergroschen
betrug. Bei den 31 „weiblichen Arbeiten" lagen die Löhne fast ausnahmslos
unter zehn Silbergroschen. Ganz unten rangierten die Strickerinnen, die
„selten mehr als zwei Silbergroschen pro T a g " verdienten. Die Konsequen-
zen dieser Hungerlöhne schlugen unmittelbar auf den Arbeitsmarkt und
mittelbar auf die gesamte Gesellschaft zurück. 3 6
Für den Bereich der preußischen Hauptstadt, in der weder das Angebot
an Arbeitsplätzen noch an W o h n r a u m mit der sich in drei Jahrzehnten
verdoppelnden Bevölkerungszahl Schritt halten konnte, soll diese Entwick-
lung an einigen Beispielen illustriert werden: Bereits im Jahre 1828, als der
eigentliche Industrialisierungsschub noch bevorstand, befanden sich
16,5 Prozent aller Berliner Familien in einem durch die städtische Armen-
kommission amtlich anerkannten Zustand der A r m u t und waren deshalb
von der Zahlung der Mietsteuer befreit. Trotz zahlreicher privater Hilfs-
organisationen wurden die Ausgaben, die auf die städtische Armendirektion
zukamen, immer größer. Seit der Mitte der 30er Jahre traten die Kosten
für die Armenpflege an die erste Stelle der kommunalen Ausgaben. Auch
im Elementarschulwesen fand diese Pauperisierung breiter Bevölkerungs-
schichten ihren Niederschlag: N a c h neueren Berechnungen kann man ver-
muten, daß im Jahre 1840 über 5 0 Prozent der fünf- bis 14jährigen in Berlin
auf einen unentgeltlichen Schulbesuch angewiesen waren, weil sie aus mit-
tellosen Familien s t a m m t e n . 3 7
Jeder Versuch, die Z a h l der Armen für den Gesamtstaat zu ermitteln, ist
mit zahllosen Schwierigkeiten verbunden, auf die schon Dieterici, langjäh-
riger Direktor des statistischen Büros in Berlin, hingewiesen hat. Ein Haupt-
problem besteht darin, daß es neben den von den kommunalen Armen-
direktionen unterstützten Bedürftigen eine große Anzahl Armer gab, denen
durch private Wohltätigkeitsvereine geholfen wurde. Sie werden durch keine
amtliche Registratur erfaßt. Dieterici nahm an, daß im speziellen Falle
Berlins die private Armenfürsorge insgesamt einen erheblich höheren Betrag
aufbrachte als die städtische („viel mehr als noch einmal so viel"). 3 8
Ausgehend von der statistisch erfaßbaren Zahl der aus Kommunalkassen
unterstützten Armen hat Dieterici — mit allen nur denkbaren Vorbehalten -

36 I. MIECK, Von der Reformzeit zur R e v o l u t i o n . . . ( 2 1988) [16], S. 593 f.


37 A. a. O., S. 495, 505 und 534.
38 Teilabdruck: Christoph SACHSSE/Florian TENNSTEDT, Geschichte der Armenfür-
sorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart
1980, S. 2 6 7 - 2 7 0 .
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 155

für die preußischen Provinzen Durchschnittswerte ermittelt. Eine auf die


jeweilige Bevölkerungszahl bezogene Hochrechnung für 1849 ergibt folgen-
des Bild:

TABELLE 3 7
Kommunal unterstützte Arme in den preußischen Provinzen (1849)

Provinz Bevölkerungszahl Kommunal unterstützte Arme


Verhältnis Hochrechnung

Rheinprovinz 2.811.172 1 11,84 237.430


Brandenburg 2.129.022 1 17,31 122.994
Schlesien 3.061.593 1 18,96 161.476
Sachsen 1.781.297 1 22,44 79.380
Westfalen 1.464.921 1 27,08 54.096
Pommern 1.197.701 1 23,50 62.337
Preußen 2.487.293 1 35,91 69.265
Posen 1.352.014 1 64,48 20.968

Gesamtstaat 16.285.013 1 20,16 807.946

Quellen: Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das
Jahr 1849, 6 Bde. (in 7Bdn.), Berlin 1 8 5 1 - 1 8 5 5 , hier Bd. 4, S. 448 (Verhältnis);
A[rtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im preus-
sischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, Anlagen: Tab. VI, S. 8 f. (Bevölkerungszahlen);
ergänzende eigene Berechnungen (Gesamtzahlen).

In Verbindung mit der zuvor dargestellten gesellschaftlichen Schichtung


ergibt sich aus dieser Hochrechnung, daß von den Angehörigen der Unter-
schicht um die Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als 7 Prozent zu der
registrierten Armenbevölkerung zu rechnen sind. Auf die preußische Ge-
samtbevölkerung bezogen, machten die kommunal betreuten Armen einen
durchschnittlichen Anteil von 5 Prozent aus, der allerdings in städte- und
gewerbereichen Regionen leicht höher ausfallen konnte; er betrug beispiels-
weise in der Rheinprovinz 8 Prozent und erreichte im Regierungsbezirk
Köln den gesamtpreußischen Spitzenwert von 11,5 Prozent. 3 9
Da dem wachsenden Armenproblem mit den wenigen einschlägigen Be-
stimmungen des Allgemeinen Landrechts und der Städteordnung nicht
beizukommen war, 4 0 entwickelte die preußische Ministerialbürokratie, der
Sachße/Tennstedt „ein recht gutes Problembewußtsein" bescheinigen, eine

39 Das ergibt die Umrechnung der Angaben in: Tabellen und amtliche Nachrichten
über den Preussischen Staat für das Jahr 1849, hrsg. von dem statistischen Bureau
zu Berlin, 6 Bde. (in 7 Bdn.), Berlin 1851 - 1 8 5 5 , hier Bd. 4, S. 434 ff. Vgl. auch
C. SACHSSE/F. TENNSTEDT, Geschichte der Armenfürsorge... (1980) [s.o.
Anm. 38], S. 269. Die hohen Zahlen der Rheinprovinz weisen übrigens auch auf
eine gut ausgebaute Armenfürsorge hin.
40 Vgl. dazu a . a . O . , S. 196 (mit Anm. 87 und 88).
156 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

umfassende Armengesetzgebung, die — in zwei Gesetzen vom 31. Dezember


1842 — den Grundsatz der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit mit
der Verpflichtung der örtlichen Armenverbände zur Armenpflege ver-
knüpfte. Damit wurde das traditionelle Prinzip des Heimatrechts durch den
neuen Grundsatz des „Unterstützungswohnsitzes" abgelöst, den später alle
anderen deutschen Staaten übernahmen. Ein Unterstüzungsanspruch ent-
stand dort, wo der Verarmte tatsächlich seinen Wohnsitz hatte; unterstüt-
zungspflichtig waren die lokalen Armenverbände (Gemeinden, Gutsherr-
schaften) oder, falls nicht vorhanden, die auf Provinzialebene tätigen Land-
armen-Verbände.
Als flankierende Maßnahme, um die Gemeinden vor überbordenden
Ansprüchen zu schützen, erging wenig später, am 6. Januar 1843, das Gesetz
über die Bestrafung der Landstreicher, Bettler und Arbeitsscheuen. Weil
man sich auf juristischem Neuland bewegte und die Materie alles in allem
äußerst kompliziert war, sind in den folgenden Jahren zahlreiche Ergän-
zungen und Erläuterungen erforderlich geworden, bis ein Gesetz vom
21. Mai 1855 „zur Ergänzung der Gesetze vom 31. XII. 1842..." einen
vorläufigen Abschluß der preußischen Armengesetzgebung brachte. 4 1
Ein anderer sozialer Mißstand, den der preußische Staat auf legislativem
Wege abzustellen suchte, war die Kinderarbeit, die jedoch, wie erwähnt,
für viele Unterschichtfamilien eine existenzerhaltende Notwendigkeit dar-
stellte. Das zeigt beispielsweise ein Blick in die Sozialreportage des Studenten
Grunholzer, der wiederholt die berüchtigten Familienhäuser vor dem Ham-
burger Tor in Berlin besuchte und dessen Protokolle Bettina v. Arnim in
ihrem berühmten „Königsbuch" veröffentlichte und - nicht nur dadurch -
„zum Gewissen Preußens und seiner Hauptstadt" wurde. 42
Ein Rundschreiben Hardenbergs vom 5. September 1817 an sechs Ober-
präsidenten „betreffend allgemeine Vorschläge zur Verbesserung der Ver-
hältnisse der Fabrikarbeiter (Kinderarbeit)" läßt erstmals „einen Hauch von
Sorge über das Schicksal der Arbeiterkinder verspüren". 43 Die eingehenden
Antworten und Informationen waren von unterschiedlicher Qualität; sie
reichten von der brüsken Ablehnung jeglicher Veränderung (v. Bülow/Pro-
vinz Sachsen) bis zu äußerst kritischen Analysen und empirisch gestützten
Empfehlungen, durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen die Kinderarbeit
einzudämmen (Gutachten der Regierung in Berlin vom 1. Juni 1819 als

41 A . a . O . , S. 1 9 9 - 2 0 4 Textauszüge (ALR, Gesetze von 1842 und 1855): A . a . O . ,


S. 275 - 281.
42 Vgl. I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 4 9 6 f . und
598 f.; das Zitat: Heinz OHFF, Auch sie waren Preußen. 15 Lebensbilder, Berlin
1 9 7 9 , S. 9 9 .
43 Vgl. Ruth ΗοΡΡΕ/Jürgen KuczYNSKi/Heinrich WALDMANN (Hg.), Hardenbergs
Umfrage über die Lage der Kinder in den Fabriken und andere Dokumente aus
der Frühgeschichte der Lage der Arbeiter ( = Jürgen Kuczynski, Geschichte der
Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, T. 1, Bd. 8), Berlin 1960, S. 4. Text
der Umfrage: S. 23 - 26; die Antworten: S. 27 - 108, darunter betr. Berlin: S. 54 -
105.
VII. Die auswärtige Politik (1815 - 1840) 157

Anlage zu der bagatellisierenden Antwort des Oberpräsidenten v. Heyde-


breck/Provinz Brandenburg vom 17. Oktober 1819).
Da Hardenberg, der die letzte Antwort auf seine Umfrage erst im Januar
1820 erhielt (Merckel/Schlesien), seit 1819/20 an Einfluß verlor und sich
vorrangig anderen Problemen zuwandte, blieb die von ihm 1817 angespro-
chene Angelegenheit offensichtlich auf sich beruhen. Erst acht Jahre später,
als der König durch Zufall von nachts arbeitenden Fabrikkindern erfuhr,
befahl er den Ministern Altenstein und Schuckmann zu erwägen, „durch
welche Maßregeln jenem Verfahren kräftig entgegengewirkt werden
kann". 4 4 Es kennzeichnet das Gewicht und den Einfluß der Bürokratie und
wohl auch der hinter ihr stehenden Industrielobby, daß es trotz des könig-
lichen Auftrags elf Jahre dauerte, bis das „Regulativ über die Beschäftigung
jugendlicher Arbeiter in Fabriken" am 6. April 1839 endlich herauskam. Es
verbot die Arbeit für Kinder unter neun Jahren und beschränkte sie bis
zum Alter von 16 Jahren auf zehn Stunden, wobei Nacht-, Sonntags- und
Festtagsarbeit verboten waren. 4 5 Damit war ein erster Schritt auf dem Wege
zu einer Arbeiterschutzgesetzgebung getan, der zweite folgte 1853. Da die
Fabrikkinder aber nur einen nicht sehr großen Teil der arbeitenden Ju-
gendlichen darstellten, blieb das Gesamtproblem der Kinderarbeit fast un-
verändert bestehen. 46

VII. Die auswärtige Politik ( 1 8 1 5 - 1 8 4 0 )


Auch auf dem Felde der Außenpolitik, die damals immer sowohl deutsche
als auch europäische Politik war, habe Preußen seit 1815, so urteilte die
Öffentlichkeit 1840 etwas vorschnell, keine rühmliche Rolle gespielt. In der
Tat schienen die Grundkomponenten der auswärtigen Politik weitgehend
fremdbestimmt, denn sie entsprachen häufig den vom österreichischen
Staatskanzler Metternich verfolgten Prinzipien: Das geradezu staatserhal-
tende Interesse des Vielvölkerstaates Österreich gebot es, die seit der Fran-
zösischen Revolution allenthalben spürbaren Bestrebungen nach konstitu-
tionellen Regierungsformen und nationaler Staatenbildung überall zu be-
kämpfen. So mußte Metternich sowohl Preußens Weg zu einem Verfas-
sungsstaat verhindern als auch alle gesamtstaatlichen Initiativen, die Öster-
reich womöglich auch noch aus dem Deutschen Bund herausdrängen konn-
ten, blockieren. Dazu war es freilich nötig, „den Geist der Freiheitskriege,

44 Vgl. dazu G. K. ANTON, Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung... (1953)


[163], S. 5 0 ff. — Ergänzend zu Hardenbergs Umfrage, zur Bedeutung der Ka-
binettsorder vom 12. V. 1828 und zur Entstehungsgeschichte des Regulativs von
1839 vgl. die ganz aus den Quellen gearbeitete Diss, von Adolf Heinrich Georg
MEYER, Schule und Kinderarbeit. Das Verhältnis von Schul- und Sozialpolitik in
der Entwicklung der preußischen Volksschule zu Beginn des 19. Jahrhunderts,
Phil. Diss. Hamburg 1971, passim.
45 GS 1839, S. 156 - 1 5 8 .
44 I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 5 9 4 f .
158 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

wie er namentlich in Preußen aufgeflammt war, zu dämpfen oder auszu-


löschen" (Hintze). Genau dies war auch die Absicht der konservativen
Kräfte in Preußen, die schon während der Reformzeit die „jakobinischen"
Neuerungen nur mit großem Mißtrauen beobachtet hatten. Der König, dem
hier eine Schlüsselrolle zwischen den Parteien zufiel, neigte aufgrund seiner
Persönlichkeit, die das Alte und Bewährte bevorzugte, jedweden Änderun-
gen skeptisch gegenüberstand und überhaupt wenig entschlußfreudig war,
eher den konservativen Kreisen zu. Nach drei oder vier Jahren des vorsich-
tigen Taktierens stellte er sich ganz hinter sie und begab sich damit exakt
in die ihm von Metternich nahegelegte Position.
Andererseits ist zu betonen, daß Friedrich Wilhelm III., der die auswärtige
Politik stärker noch als die inneren Angelegenheiten unter Kontrolle behielt,
eine ganz persönliche außenpolitische Konzeption hatte: Beispielsweise
wollte er 1829 in erster Linie die Herstellung des Friedens im Orient
erreichen und damit den Ausbruch eines europäischen Krieges verhindern.
Auch seine langjährigen Außenminister Bernstorff (1818 — 1832) und Ancil-
lon (1832 —1837) waren keine Befehlsempfänger Metternichs, sondern prak-
tizierten eine den Vorstellungen des Königs entsprechende Friedenspolitik.
Als Frankreich 1829 den territorialen Status quo zum diplomatischen Spiel-
objekt zu machen drohte, erteilte Friedrich Wilhelm diesen Projekten eine
deutliche Absage: „Vom Frieden in Adrianopel datiert eine neue Epoche für
Europa, das endlich auf das Vernarben der letzten Wunden hoffen darf, die
ihm lange Jahre der Kriege und Wirren geschlagen haben, um in Ruhe die
Früchte der Zivilisation zu genießen." 1
Doch auch darauf wußte Metternich in seinem Sinne zu antworten. Das
Instrument, auf dem er vor den europäischen Monarchen meisterhaft zu
spielen verstand, war die Revolutionsfurcht; überall entdeckte er Anzeichen
für eine sich insgeheim ausbreitende und alle Monarchien bedrohende
allgemeine Revolution. Selbst den Zaren, der nationalen und konstitutio-
nellen Strömungen an sich nicht unfreundlich gegenüberstand (jedenfalls
ausländischen), konnte er dadurch für eine Politik der Restauration und
der Reaktion gewinnen. Die Revolutionsfurcht war für Metternich ein
Druckmittel, um primär habsburgische Interessen in Deutschland und in
Europa zu verfolgen.

1. Interventionspolitik und Griechenlandfrage

Im Herbst 1818 trafen sich die Monarchen Preußens, Österreichs und


Rußlands mit Vertretern der englischen und der französischen Regierung in
Aachen. 2 Nach Abschluß der Beratungen verabredeten die vier Siegermächte
von 1815 in einem Geheimabkommen gemeinsame Maßnahmen für den
Fall einer in Frankreich erneut ausbrechenden Revolution (1. November).

1 Zit. von Gerd HEINRICH, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frank-
furt/M. - Berlin - Wien 1981, S. 328.
2 S . o . S 2, II, 3.
VII. Die auswärtige Politik (1815 - 1840) 159

Anschließend wurde Frankreich in das „System des allgemeinen Friedens"


aufgenommen (Aachener Protokoll, 15. November 1818) und kehrte damit
in den Kreis der traditionellen fünf europäischen Führungsmächte zurück
(Pentarchie). 3 Leitlinie der gemeinsamen Politik wurde, den Status quo
durch konzertierte Aktionen zu erhalten und Europa vor der Geißel neuer
Revolutionen zu schützen. Während sich die Konferenz von Aachen noch
damit begnügt hatte, auf der Grundlage eines „Mémoire sur l'état actuel
de l'Allemagne" den revolutionären Geist vornehmlich an den deutschen
Universitäten zum Verhandlungsgegenstand zu machen, verständigten sich
Österreich, Preußen und Rußland beim Kongreß von Troppau (Oktober —
Dezember 1820) auf das Prinzip der bewaffneten Intervention: Zur Verhü-
tung oder Bekämpfung revolutionärer Bewegungen nahmen die drei Groß-
mächte „unstreitig" das Recht in Anspruch, sich in die inneren Angelegen-
heiten kleinerer Staaten „teils durch Vermittlung, teils durch Gewalt" ein-
zumischen. 4 Den unmittelbaren Anlaß dazu boten die Erfolge der konsti-
tutionellen Bewegungen in Spanien, Portugal, Piémont und Neapel. Dem-
entsprechend erhielt Österreich auf der Konferenz von Laibach wenige
Monate später (Januar —Mai 1821) die russisch-preußische Billigung seiner
militärischen Intervention gegen Neapel. Frankreich, das sich etwas distan-
ziert hatte, kehrte in den Kreis der Interventionsmächte zurück, als ihm auf
dem Kongreß von Verona (Oktober-Dezember 1822) die bewaffnete In-
tervention in Spanien übertragen wurde. England, dessen Außenpolitik seit
August 1822 von dem liberaleren Canning geleitet wurde, zog sich zu diesem
Zeitpunkt endgültig zurück, proklamierte wenig später das „Prinzip der
Nicht-Intervention" (28. Januar 1823) und sprach die Anerkennung der
jungen lateinamerikanischen Republiken aus. Eine andere Antwort auf die
europäische Interventionspolitik war die Monroe-Doktrin (2. Dezember
1823).
Preußen hat diese Politik an der Seite oder auch im Schlepptau Österreichs
unbeirrt unterstützt. Friedrich Wilhelm III. war nur in Laibach nicht per-
sönlich anwesend, während Hardenberg und Bernstorff an allen vier Kon-
gressen teilnahmen. In Aachen war außerdem W. v. Humboldt, in Troppau
der Kronprinz dabei, der sich der Politik Metternichs ebenfalls anschloß.
Ein erstes Zeichen einer Abkehr von dieser unselbständigen europäischen
Politik Preußens brachte noch der Kongreß von Verona. Als sich Österreich
und Rußland wegen orientalischer Fragen entzweiten und die Solidarge-
meinschaft der Pentarchie nun auch am östlichen Ende Risse zu zeigen
begann, zog sich Preußen vom Kongreß zurück. Der Tod Hardenbergs am

3 Georges Frédéric de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil des principaux traités


d'alliance, de paix, de trêves, de neutralité, de commerce, de limites, d'échange
... des puissances et États de l'Europe ... depuis 1808..., 16 Bde., Göttingen
1817 — 1842, hier Bd. 4, S. 554. Zur rechtlichen Wertung dieses Vorgangs vgl.
E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 693.
4 In Form einer Zirkularnote, d. d. Troppau 8. XII. 1920, in: Oskar JÄGER/Franz
MOLDENHAUER, Auswahl wichtiger Aktenstücke zur Geschichte des neunzehnten
Jahrhunderts, Berlin 1893, S. 66.
160 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

26. November 1823 in Genua deutet auch in diesem Bereich auf neue
Entwicklungen hin.
Die Gelegenheit für eine eigenständigere preußische Außenpolitik bot der
Freiheitskampf der Griechen, die sich eine liberale Verfassung gegeben und
am 27. Januar 1822 ihre Unabhängigkeit erklärt hatten. Ihr Aufstand gegen
die Türken bewegte ganz Europa; viele Prominente aus unterschiedlichen
politischen Lagern, darunter der König von Württemberg, der bayerische
und der preußische Kronprinz, zeigten offen ihre Sympathie. Der Philhel-
lenismus schwoll zu einer mächtigen europäischen Strömung an; überall
wurden Griechenvereine gegründet und Spenden- und Hilfsaktionen orga-
nisiert. 5 Während Wilhelm Müller, der im Lützowschen Freikorps gekämpft
hatte, die „Lieder der Griechen" herausgab und als „Griechen-Müller" große
Popularität erlangte, stellte der württembergische General Normann-Ehren-
fels, der das Lützowsche Korps 1813 bei Kitzen aufgerieben hatte, ein
Philhellenen-Bataillon im fernen Griechenland auf.
Getreu seinen antirevolutionären Grundsätzen hatte Metternich den Kon-
greß von Verona noch dazu bestimmen können, den Aufstand der Griechen
grundsätzlich zu mißbilligen. Als die Türken aber die Oberhand zu gewinnen
schienen, schlossen England und Rußland, in dem seit dem 1. Dezember
1825 Zar Nikolaus I. regierte, zwecks Unterstützung der Griechen eine
Vereinbarung (4. April 1826), der sich Frankreich anschloß (6. Juli 1827).
Nach dem Seesieg der Verbündeten bei Navarino (20. Oktober 1827), der
Kriegserklärung Rußlands an die Türkei (April 1828) und der Landung
französischer Truppen auf dem Peloponnes war die militärische Niederlage
der Türkei abzusehen. In den Vordergrund traten nun die politischen
Auseinandersetzungen um die Kriegsziele. Metternich, bisher völlig isoliert,
konnte die englische Regierung nach dem Tode Cannings (8. August 1827)
von der Gefährdung des europäischen Gleichgewichts durch russischen
Machtzuwachs überzeugen. Ein internationaler Konflikt von beachtlichen
Ausmaßen zeichnete sich ab.
Preußen, das auf dem Balkan keine direkten Interessen verfolgte, aber
sowohl mit dem Zaren, der 1817 die älteste Tochter Friedrich Wilhelms III.
geheiratet hatte, gute Beziehungen pflegte, als auch in gutem Verhältnis zur
Türkei stand, griff die russische Anregung einer Vermittlung auf. Der Zar
erschien Anfang Juni 1829 mit großem Gefolge in Berlin. Ein farbenpräch-
tiges Reiterfest im mittelalterlichen Geschmack, „Der Zauber der weißen
Rose", zur Geburtstagsfeier der Zarin unterstrich die russisch-preußische
Freundschaft (13. Juli). 6 Unterdessen war der General v. Müffling nach
Konstantinopel unterwegs, wo es ihm tatsächlich gelang, den Friedensver-
trag von Adrianopel auszuhandeln (14. September 1829), der die russische
Position gegenüber der Türkei stärkte, aber nicht übermächtig werden ließ.
Metternich mußte mit ansehen, daß Preußen in einer Frage, die Österreich
überaus wichtig war, an ihm vorbei zum Vorteil Rußlands agiert hatte.

5 Vgl. R . QUACK-EUSTATHIADES, Der deutsche Philhellenismus... (1984) [191],


passim (mit der älteren Lit.).
6 Darüber orientiert Ernst BERNER, Geschichte des Preußischen Staates, 2 Bde.,
Bonn 2 1896, hier Bd. 2, S. 601 f.
VII. Die auswärtige Politik ( 1 8 1 5 - 1 8 4 0 ) 161

2. Belgien und Polen

Obwohl sich der preußische Staat vor den Ausstrahlungen der französischen
Julirevolution des Jahres 1830 weitgehend zu schützen wußte, blieb er
außenpolitisch nicht untätig. In der belgischen Frage operierte Friedrich
Wilhelm beschwichtigend. Er erkannte den französischen „Bürgerkönig"
Ludwig Philipp an, verstärkte aber seine Truppen am Rhein und verweigerte
die vom König der Niederlande geforderte militärische Hilfe. Zusammen
mit England brachte Preußen die Londoner Konferenz zustande und be-
sänftigte den kriegswilligen, aufs Legitimitätsprinzip pochenden Zaren. Von
Preußen ging auch der Vorschlag aus, Belgien nach dem Vorbild der Schweiz
den von den Großmächten garantierten Status der Neutralität zuzubilligen. 7
Auch im Osten wurde Preußen von der Revolutionswelle der Jahre
1830/31 mittelbar betroffen. Der nationalpolnische Aufstand gegen die
russische Herrschaft brach Ende November 1830 aus, führte zur Vertreibung
der russischen Besatzung, zur Absetzung der Romanows und zur Errichtung
einer nationalpolnischen Regierung. Da nicht auszuschließen war, daß die
Erhebung auf die preußische Provinz Posen übergreifen könne, ließ Preußen
an der östlichen Staatsgrenze eine Observationsarmee aufmarschieren, die
unter dem Befehl des Feldmarschalls Gneisenau und seines Stabschefs Clau-
sewitz stand.
Die preußische Polenpolitik war zwar defensiv, aber nicht neutral, son-
dern offen unfreundlich. 8 Die Regierung unterstützte die russische Armee
durch Lieferung von Lebensmitteln und Munition, sie verschärfte die Grenz-
kontrollen, blockierte das in Berlin liegende Geld der polnischen Bank und
beschlagnahmte im Ausland gekaufte Waffen. Eine in Thorn errichtete Basis
mit Versorgungsgütern, Booten, Baumaterialien und Munition ermöglichte
den Russen den strategisch wichtigen Weichselübergang. Nach dem Fall
Warschaus (September 1831) brach der Aufstand zusammen. Die Reste der
polnischen Armee, rund 20.000 Mann, gingen über die Grenze und ließen
sich von den Preußen entwaffnen. Polen wurde zur russischen Provinz; es
begann die große Emigration.
In Danzig, das zahlreiche russische Schiffe anliefen, trat die aus Rußland
eingeschleppte Cholera zuerst auf. Sie verbreitete sich rasch über die Provinz
Posen und ganz Preußen. Im Abstand weniger Monate fielen ihr auch
Gneisenau und Clausewitz zum Opfer (23. August und 16. November 1831).

7 Vgl. die Untersuchungen von Kurt M . HOFFMANN, Preußen und die Julimonarchie
1 8 3 0 - 1 8 3 4 ( = HSt, H. 288), Berlin 1936, und Hermann von der DUNK, Der
deutsche Vormärz und Belgien ( = VIEG, Bd. 41), Wiesbaden 1966, jeweils pas-
sim.
8 Treffende Zusammenfassung von Lech TRZECIAKOWSKI, Preußische Polenpolitik
im Zeitalter der Aufstände (1830 — 1864), in: Klaus Zernack (Hg.), Polen und
die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1 7 0 1 - 1 8 7 1 .
Referate einer deutsch-polnischen Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November
1979 in Berlin-Nikolassee ( = EvHKzB, Bd. 33), Berlin 1982, S. 9 6 - 1 1 0 , hier
S. 103 - 1 0 5 .
162 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Trotz der vier preußischen Armeekorps, für die nach und nach 80.000
Mann mobilisiert worden waren, hat der Funke der Rebellion die 130
Meilen lange Grenze an einigen Stellen übersprungen. Die Resonanz blieb
aber relativ gering, wohl auch deshalb, weil sich die preußischen Untertanen
polnischer Nationalität im großen und ganzen mit dem preußischen Regi-
ment abgefunden hatten. Immerhin war die polnische Sprache amtlich neben
der deutschen geduldet worden, polnische Adlige hatten zu Landräten
ernannt werden können, und an der Spitze der Provinz stand neben dem
konfliktscheuen Oberpräsidenten Theodor v. Baumann als Statthalter der
Fürst Radziwill, der aus einer der vornehmsten polnischen Adelsfamilien
stammte und mit einer Nichte Friedrichs II. verheiratet war.
Während die Bestrafung der am Aufstand beteiligten preußischen Polen
recht glimpflich ausfiel, hatte die Rebellion schwerwiegende Folgen für die
Provinz Posen. Unter dem 1830 eingesetzten Oberpräsidenten Flottwell und
dem General v. Grolman, der das in Posen stehende 5. Armeekorps kom-
mandierte und ein ausgezeichneter Kenner der Provinz wurde, begann die
Politik der „allmählichen Germanisierung". Deutsch wurde alleinige Amts-
sprache; die Kreise verloren das Vorschlagsrecht für die Landräte, die jetzt
von den Regierungen ausgewählt wurden; verschuldete Güter kaufte der
Staat und veräußerte sie weiter, aber nur an Deutsche, wie überhaupt der
Siedlungspolitik — auch in den Städten — großes Gewicht beigemessen
wurde. Aus säkularisierten Klöstern flössen die Mittel für den Ausbau des
Schulwesens, bei dem man auf die Germanisierung natürlich besonderen
Wert legte.

3. Zollpolitik und Zollverein

Daß sich die auswärtige Politik Preußens durchaus von der Bevormundung
durch Metternich freimachen konnte, sofern es — nach Auffassung der
maßgebenden politischen Kräfte — das besondere Staatsinteresse verlangte,
erweist die Handels- und Zollpolitik. Vorgeschichte und Begründung des
Deutschen Zollvereins, der am 1. Januar 1834 ins Leben trat, werden im
Abschnitt B.II dieses Handbuchs behandelt. An dieser Stelle ist nur auf
einige Grundtatsachen hinzuweisen, um die außenpolitische Bedeutung die-
ses Vertragswerkes zu unterstreichen, denn deutsche Politik war im Vormärz
— trotz des Deutschen Bundes — auswärtige Politik.
Der Zollverein ist gegen den erbitterten Widerstand Metternichs und
unter Ausschluß Österreichs zustande gekommen. Der österreichische
Staatskanzler ließ keine sich bietende Möglichkeit ungenutzt, die preußische
Zollpolitik direkt oder indirekt zu bekämpfen. Er scheiterte an der zähen
Beharrlichkeit, mit der drei preußische Beamte, vom König gedeckt, an der
Verwirklichung der Zollvereinspläne arbeiteten. Neben Motz und Maassen,
die auch schon vor ihrer jeweiligen Ministertätigkeit ( 1 8 2 5 - 1 8 3 0 / 1 8 3 0 -
1834) die Zollpolitik wesentlich bestimmten, war es vor allem Joh. Albrecht
Friedrich Eichhorn, der seit 1817 im Auswärtigen Amt als Referent für die
deutschen Angelegenheiten tätig war und sich um das Zustandekommen
VII. Die auswärtige Politik (1815 - 1 8 4 0 ) 163

des Zollvereins größte Verdienste erworben hat. Metternich hielt diesen


befähigten Juristen und Patrioten, „den besten Kopf im Auswärtigen Amt"
(Heinrich), für so gefährlich, daß er ihn 1832/33 auszubooten versuchte,
was aber der König verhinderte. 9
Dementsprechend wurde der Zollverein von Metternich als „Staat im
Staate" verurteilt, der die „Präponderanz Preußens" in Deutschland be-
gründe und die „höchst gefährliche Lehre der deutschen Einheit" fördere.
Die Beurteilung stimmte: Die außenwirtschaftliche Zusammenfassung Teil-
Deutschlands (denn 1834 blieben noch beträchtliche Gebiete außerhalb des
gemeinsamen Zollverbandes) gefährdete in der Tat das politische System,
das Metternich seit 1815 dem deutschen Gebiet aufzuzwingen bemüht war.
Auch Frankreich, das jedweder deutschen Einigungsbestrebung ablehnend
gegenüberstand, konnte die Bildung des Zollvereins nicht verhindern. Die
französische Regierung versuchte zwar, die Position der mittel- und süd-
deutschen Staaten zu stärken, war aber zu wirklichen zollpolitischen Kon-
zessionen nicht bereit, weil man den von Preußen ausgehenden Initiativen
keine Chance auf Realisierung einräumte. So ergab sich die paradoxe
Situation, daß die wenig geschickte französische Handelspolitik der 1820er
Jahre die Entstehung des Zollvereins sogar begünstigte. 10
Das besondere Interesse, das der Zollverein von Anfang an naturgemäß
gefunden hat, darf aber nicht übersehen lassen, daß sich die preußische
Handelspolitik in jenen Jahren auch auf dem internationalen Felde recht
erfolgreich bewegte. Während die Bemühungen um einen Handelsvertrag
mit England zunächst scheiterten, gelang es, mit den Niederlanden zu einer
handelspolitischen Vereinbarung zu kommen (10. Oktober 1814), die aller-
dings nur ein Jahr Bestand hatte. 1 1 Langfristig wichtiger wurden die Han-
delsverträge mit Dänemark (17. Juni 1818) und mit Rußland (19. Dezember
1818). Nach vorübergehendem Zollkrieg zwischen Preußen und Rußland
(seit 1823) gelang der Abschluß eines neuen Handelsvertrages (11. März
1825), der sich als dauerhafter erwies. Auch in der Sundzollfrage gab es
immer wieder Schwierigkeiten, weil der Vertrag auf einem Zolltarif von
1645, der sogenannten Kristianopeler Rolle, basierte. Die Schiffahrtsabkom-
men mit den Vereinigten Staaten (3. März 1819; 1. Mai 1828) verdienten
eine größere Beachtung, als ihnen in der Literatur im allgemeinen geschenkt
wird. 1 2 Obwohl sich in den frühen 1820er Jahren keine ganz klare Linie

9 Vgl. H a n s BRANIG, Fürst Wittgenstein... (1981) [137], S. 1 6 8 - 1 7 2 .


10 R a y m o n d PoiDEViN/Jacques BARIETY, Frankreich und Deutschland. Die Ge-
schichte ihrer Beziehungen 1 8 1 5 - 1 9 7 5 , M ü n c h e n 1982, S. 5 4 - 5 9 .
11 Vgl. die Analyse von C. BRINKMANN, Die preußische Handelspolitik... (1922)
[180], S. 4 4 - 50.
12 Vgl. a. a. O., S. 85 — 9 8 und 2 0 3 — 2 0 5 . Beispielsweise blieb dieser Komplex völlig
unerwähnt bei G o r d o n A. CRAIG, Preußen und die Vereinigten Staaten von
Amerika, in: O t t o Büsch (Hg.), Preußen und das Ausland. Beiträge zum euro-
päischen Preußenbild a m Beispiel von England, den Vereinigten Staaten von
Amerika, Frankreich, Österreich, Polen und Rußland ( = E v H K z B , Bd. 35),
S. 4 7 - 6 1 , hier S. 5 2 ff.
164 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

der preußischen Handelspolitik erkennen läßt, da in der führenden Be-


amtengruppe Protektionisten und Freihändler im Widerstreit lagen, kam es
1822 zu einer massiven Protektion der einheimischen Küstenschiffahrt: Von
allen fremden Schiffen, die preußische Häfen anliefen, wurden — soweit
nicht ein anders lautender Handelsvertrag auf Gegenseitigkeit bestand —
„Flaggengelder" in beträchtlicher Höhe erhoben. 1 3 Diese preußische Navi-
gationsakte stellte einen gewissen Ausgleich dafür dar, daß die kleine
preußische Handelsflotte - 1820 waren es 700 Schiffe mit 70.000 Last
Tragfähigkeit — auf hoher See und insbesondere im Mittelmeer, wo die
Piratenaktionen der Barbareskenstaaten oft zu Totalverlusten führten, prak-
tisch schutzlos war.
Diese Flaggengelder, die hauptsächlich englische Schiffe trafen, trugen
mit dazu bei, daß England unter dem Handelsminister Huskisson mit dem
Abbau des Schutz- und Kriegszollsystems begann und auf eine freihändle-
rische Politik einschwenkte: Sie haben „die entscheidende und für ganz
Europa vorbildliche Bresche in das Recht der englischen Navigationsakten
geschlagen". 14 Es bedurfte aber langwieriger und komplizierter Verhand-
lungen, bis das englisch-preußische Schiffahrtsabkommen am 2. April 1824
geschlossen und alsbald in Kraft gesetzt wurde. 15 Zwei Jahre später dehnte
man die Abmachungen auf den Kolonialhandel aus. 16 Die preußische Hoff-
nung auf eine völlige Freigabe der englischen Getreide- und Holzeinfuhren
erfüllte sich jedoch nicht.
Dem Vermittlungsgeschick des preußischen Gesandten v. Werther, der
1824 von London nach Paris versetzt wurde, war es zu danken, daß auch
Frankreich von seiner rigiden Schutzzollpolitik gegenüber Preußen abrückte
und auf protektionistische Zollerhöhungen für Eisen- und Stahlwaren,
Stahlbleche sowie Samt- und Seidenbänder verzichtete (13. Juli 1825). Auch
mit dem französischen Zollgesetz vom 17. Mai 1826 konnte Preußen leben;
Motz selbst stellte fest, daß „der preußische Zolltarif um nichts liberaler
als der französische" sei: „Schutz der inländischen Fabrikation und Pro-
duktion gegen ausländische Konkurrenz liegt einem wie dem andern als ein
Hauptzweck zum Grunde"; die Einfuhr französischer Weine sei sogar einem
Tarif unterworfen, dessen „Fiskalität" im gegenseitigen Handelsverkehr
einmalig sei. 17

13 KO vom 20. VI. 1822 (GS 1822, S. 177 f.). Vgl. auch C. BRINKMANN, Die preu-
ß i s c h e H a n d e l s p o l i t i k . . . ( 1 9 2 2 ) [ 1 8 0 ] , S. 1 4 4 - 1 5 2 .
14 A. a. O., S. 152.
15 Der Text ist abgedruckt bei Georges Frédéric de MARTENS (Hg.), Nouveaux
suppléments au Recueil de traités d'alliance, de paix, de trêves, de neutralité, de
commerce, de limites, d'échange ... des puissances et États de l'Europe ... depuis
1808..., hg. von Frédéric Murhard, 3 Bde., Göttingen 1 8 3 9 - 1 8 4 2 , hier Bd. 1,
S. 644 ff. — Eine ausgewogene Beurteilung gibt C. BRINKMANN, Die preußische
Handelspolitik... (1922) [180], S. 167.
16 A . a . O . , S. 182f.
17 Schreiben Motz' ans Innenministerium, 30. VII. 1827 (zit. a . a . O . , S. 192). -
Zum preußischen Handel allgemein: Takeo OHNISHI, Der Strukturwandel und
VII. Die auswärtige Politik (1815 - 1 8 4 0 ) 165

Noch in den 1820er Jahren wurde das System der preußischen Schiff-
fahrtsverträge durch die Einbeziehung der wichtigsten Ost- und Nordsee-
staaten abgerundet; nur mit den Niederlanden gelang keine Übereinkunft.
Den Vereinbarungen mit Mecklenburg-Schwerin (2. Dezember und 18.
Dezember 1826) folgten Schiffahrtsabkommen mit Schweden (14. März
1827) und den Hansestädten (4. Oktober 1828). Der Sicherung des Über-
seehandels dienten schließlich der Handelsvertrag mit Brasilien (9. Juli 1827)
sowie die Abmachungen mit Mexiko (20. Januar 1827), die erst später
Vertragscharakter erhielten (1831/34).

4. Orientalische Frage und Rheinkrise (1839/41)

Ohne direkt betroffen zu sein, wurde Preußen in einen diplomatisch-mili-


tärischen Konflikt, der die europäischen Mächte seit 1839 stark erregte,
hineingezogen. 18 Frankreich, das sich seit den Verträgen von 1815 als
Großmacht minderen Ranges behandelt fühlte, nach internationalem
Prestigegewinn Ausschau hielt und sich kürzlich in Algerien festgesetzt
hatte, verfolgte weiterhin eine aktive Mittelmeerpolitik und begünstigte
Mehmed Ali, den Vizekönig von Ägypten, der von seinem osmanischen
Oberherrn, dem Sultan, die Errichtung eines größeren arabischen Erbreichs
erkämpfen wollte. Als die Erfolge nicht ausblieben, rückte die alte Qua-
drupelallianz — wenn auch aus unterschiedlichen Motiven — wieder enger
zusammen und schloß unter der diplomatischen Führung von Lord Pal-
merston mit der Pforte den Londoner Vertrag (15. Juli 1840). Preußen
stimmte mit dem Vorbehalt zu, sich im Falle eines Krieges völlige Hand-
lungsfreiheit zu bewahren. Der Vertrag garantierte dem Osmanischen Reich
seinen Bestand. 1 9 Daß Mehmed Ali, der das eroberte Syrien wieder heraus-
geben mußte, die erbliche Herrschaft über Ägypten zugestanden wurde,
war nur ein schwacher Trost für den Zusammenbruch der weiterreichenden
Mittelmeerpläne Frankreichs. Der seit März 1840 amtierende Ministerprä-
sident Thiers, der die Orientfrage zu einer nationalen Prestigeangelegenheit
hochgespielt hatte, und große Teile der öffentlichen Meinung empfanden
die ohne Wissen Frankreichs ausgehandelte Lösung als schwere diploma-

die Regionalverteilung des preußischen Außenhandels in den 20er Jahren des 19.
Jahrhunderts, in: K K N , Bd. 13 (1973), S. 1 - 2 0 , passim (mit neun tabellarischen
Übersichten).
18 Eine gute neuere Analyse aus deutscher Sicht gibt K.-G. FABER, Deutsche Ge-
schichte... (1979) [12], S. 1 5 7 - 1 6 1 .
19 Text bei Georges Frédéric de MARTENS, Nouveau recueil général de traités, de
conventions et autres transactions remarquables..., 20 Bde., Göttingen 1843 —
1876 (ND Nendeln/Liecht. 1975), hier Bd. 1, S. 156. - Z u r Bedeutung der
orientalischen Frage für die Außenpolitik des neuen preußischen Königs vgl.
Winfried BAUMGART, Z u r Außenpolitik Friedrich Wilhelms IV. 1 8 4 0 - 1 8 5 8 , in:
Otto Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines Colloqui-
ums ( = EvHKzB, Bd. 62), Berlin 1987, S. 1 3 2 - 1 5 6 , hier S. 1 3 2 - 1 3 8 .
166 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

tische Demütigung. In der allgemeinen Empörung waren bald auch krie-


gerische Stimmen zu vernehmen, die nach einer Revision der Verträge von
1815 und der Wiederherstellung der „natürlichen Grenzen" riefen. Aus der
Debatte über die Schlappe im Orient erwuchs unversehens eine lebhafte
antideutsche und antipreußische Stimmungskampagne, die in Rüstungs-
maßnahmen und drohenden Erklärungen Thiers' an die Adresse Österreichs
und Preußens gipfelte.
Schließlich wurde das Säbelrasseln dem friedfertigen Bürgerkönig zu
gefährlich; er ersetzte den Heißsporn Thiers im Oktober durch den
71jährigen Marschall Soult und ernannte den gemäßigteren Guizot zum
Außenminister. Unter seiner Führung kam es zur Aussöhnung Frankreichs
mit Europa: Schon im nächsten Jahr unterschrieben wieder die fünf Groß-
mächte den mit der Pforte ausgehandelten Dardanellenvertrag, der allen
Kriegsschiffen die Meerengendurchfahrt verbot (13. Juli 1841). 20
Weniger schnell waren die angeheizten nationalen Emotionen auf ein
erträgliches Maß zurückzuschrauben. Die 1840 von Edgar Quinet publi-
zierte Schrift 1815 et 1840 und die von Lamartine und Mauguin in der
Deputiertenkammer gehaltenen Januarreden hatten eine überschäumende
publizistische Kampagne eingeleitet, die aus der im gleichen Jahr erfolgen-
den Überführung der Asche Napoleons von St. Helena nach Paris zusätzliche
Energien zog. Während die Auseinandersetzung in der ersten Jahreshälfte
noch einen eher akademischen Charakter hatte, bekam sie — nach dem
Londoner Vertrag — einen starken Popularitätsschub, als der bis dahin
unbekannte Nikolaus Becker im September 1840 sein Rheinlied dichtete
(„Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein"), das sich in
kürzester Zeit über ganz Deutschland verbreitete. Der gefeierte und mit
Geschenken und Ehrungen überhäufte Becker blieb nicht allein: Auch Max
Schneckenburgers „Wacht am Rhein" und Hoffmann von Fallerslebens
„Lied der Deutschen" entstanden damals, und der schon 71jährige Ernst
Moritz Arndt verfaßte einige markige Kriegsgedichte. Auf der Gegenseite
blieb es nicht still: Die literarischen Repliken von Alfred de Musset {Le
Rhin allemand, 1840), Alphonse de Lamartine {La Marseillaise de la Paix,
Réponse à M. Becker, 28. Mai 1841) und Victor Hugo {Le Rhin, 1842)
erlangten nicht weniger große Popularität. 21
Obwohl sich gegenüber dem „Rheinliedenthusiasmus" auch kritische
Stimmen zu Wort meldeten, ebbten die Wogen der nationalen Erregung auf
beiden Seiten des Rheins nur allmählich ab. Unabhängig von der Politik
der Regierungen, die längst auf einen ausgleichenden Kurs eingeschwenkt

20 G. F. de MARTENS, Nouveau recueil général... (1843 - 1 8 7 6 ) [s. o. Anm. 19], Bd. 2,


S. 1 2 8 .
21 Vgl. die Untersuchungen von Werner DEETJEN, Sie sollen ihn nicht haben!
Tatsachen und Stimmen aus dem Jahre 1840, Weimar 1920, und Irmline VEIT-
BRAUSE, Die deutsch-französische Krise von 1840. Studien zur deutschen Ein-
heitsbewegung, Phil. Diss. Köln 1967, jeweils passim. - Die „Marseillaise de
la Paix" in: Alphonse de LAMARTINE, Œuvres poétiques complètes, hg. von
M.-F. Guyard, Paris 1963, S. 1 1 7 3 - 1 1 7 7 .
VIII. Staat und Kirche 167

waren, entfaltete das nationale Engagement eine Breiten- und Langzeitwir-


kung, wie man sie seit den Tagen der Freiheitskriege in Deutschland nicht
wieder erlebt hatte. Es entsprach dem konservativen Grundton der Politik
der beiden Mittelmächte, daß man dieses Feuer nicht ohne Not weiter
schüren wollte. So ließ man die anfangs von Preußen verfolgten Pläne für
eine Reform der Bundeskriegsverfassung und für Gegenrüstungen Ende
1840 fallen und begnügte sich damit, für den Kriegsfall einen gemeinsamen
Operationsplan zu verabschieden. Die vom Bundestag 1841/42 beschlossene
Errichtung der Bundesfestungen Ulm und Rastatt besaß kaum mehr als
deklamatorische Bedeutung. 22

VIII. Staat und Kirche


Die zeitgenössische Statistik, so anfechtbar ihre Zahlen im einzelnen auch
sein mögen, zeigt, daß sich im preußischen Staat nach 1815 das quantitative
Verhältnis der Religionsgruppen nur unwesentlich änderte. Als recht ge-
nauer Anhaltswert kann gelten, daß zwischen 1820 und 1850 etwa
60 Prozent der preußischen Untertanen evangelisch waren. 1 Davon fühlte
sich die überwiegende Mehrheit der lutherischen Religion verbunden. Der
Anteil der Reformierten ist schwer festzustellen. Sicher war er in den
westlichen Provinzen höher als in Altpreußen; während in der Grafschaft
Mark „die beiden Konfessionen bunt durcheinander wohnten", 2 standen in
der Kurmark - um 1810 - den 1.662 lutherischen Kirchen mit 858
Predigern nur 33 deutsch-reformierte (mit 39 Predigern) und 24 französisch-
reformierte Kirchen (mit 33 Predigern) gegenüber, was auf ein lutherisches
Übergewicht von mehr als 95 Prozent schließen läßt. In der Kurmark
machten die Reformierten etwa 2 Prozent, in Berlin 2,5 Prozent der Bevöl-
kerung aus. 3
Mit durchschnittlich 39 Prozent stellten die Katholiken eine beachtliche
Minderheit dar, die keineswegs als quantité négligeable angesehen werden
darf. Der Durchschnittswert ist aber nur eine rechnerische Größe: während
die Katholiken in den Rheinlanden dominierten, lag ihr Anteil beispielsweise
in Berlin um 1840 nur bei knapp 5 Prozent der Bevölkerung. 4 Neben den
Anhängern anderer christlicher Bekenntnisse, die vereinzelt auftraten und

22 E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S . 6 1 4 f .


1 A[rtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im
preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, S. 148 und 173 sowie Tab. X X I .
2 H . v o n TREITSCHKE, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], B d . 2, S. 2 4 1 .
3 Magnus Friedrich von BASSEWITZ, Die Kurmark Brandenburg, ihr Zustand und
ihre Verwaltung unmittelbar vor dem Ausbruch des französischen Krieges im
Oktober 1806, Leipzig 1847, S. 338 f.
4 Vgl. I. MIECK, Von der R e f o r m z e i t zur R e v o l u t i o n . . . ( 2 1988) [16], S. 4 9 3 f .
168 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

insgesamt nicht mehr als 0,1 Prozent ausmachten, waren die Juden mit
einem Prozent die einzige religiöse Gruppe, die zahlenmäßig noch ins
Gewicht fiel.

1. Der administrative Zugriff

Die Gesetze vom 16. und 26. Dezember 1808 zur Reorganisation der
obersten Staatsbehörden regelten auch die Zuständigkeiten für kirchliche
Angelegenheiten neu. Aufgehoben wurden das lutherische Oberkonsisto-
rium und die Konsistorien in den Provinzen, das reformierte Kirchendirek-
torium sowie das Consistoire supérieur. An ihre Stelle trat als neue staatliche
Zentralbehörde für alle kirchlichen Angelegenheiten die „Abteilung für
Kultus", die Teil der vom Innenministerium ressortierenden „Sektion für
Kultus und öffentlichen Unterricht" war. 5 Leiter dieser Abteilung wurde
der Geheime Rat Georg Heinrich Nicolovius, der zuerst auch die Sektion
interimistisch verwaltete, bis Wilhelm v. Humboldt am 18. Februar 1809
zu ihrem Direktor ernannt wurde. Er amtierte nur 14 Monate. Sein Nach-
folger wurde der konservative Schuckmann, der 1814 zum Innenminister
aufstieg, die Leitung der Kultus-Sektion aber beibehielt.
Diese Spezialbehörde wurde 1817 aus dem Innenministerium ausgeglie-
dert und zum „Ministerium der geistlichen Angelegenheiten und des öf-
fentlichen Unterrichts" erhoben, das von diesem Zeitpunkt an bis 1838 vom
Freiherrn von Altenstein geleitet wurde. Seine Nachfolger waren — nach
einer zweijährigen Vakanz — Ladenberg (Mai — Oktober 1840, erneut Juli
1848-Dezember 1850), Eichhorn (Oktober 1 8 4 0 - M ä r z 1848), Schwerin
(März-Juni 1848) und Rodbertus (Juni-Juli 1848).
Auf der Provinzialebene wurden nach 1808 an Stelle der bisherigen
Provinzialkonsistorien bei jeder Regierung Deputationen für geistliche und
Schulangelegenheiten eingerichtet, doch kehrte man 1815 zur Institution der
Provinzialkonsistorien zurück, die aber jetzt reine Staatsbehörden waren
und gleichzeitig die Staatsgewalt und die Kirchengewalt innehatten: Im
Hinblick auf die katholische Kirche nahmen sie die landesherrlichen „iura
circa sacra" ( = Rechte der obersten Aufsicht und Fürsorge des Staates
bezüglich der Religionsübung), hinsichtlich der evangelischen Kirche zu-
sätzlich die „iura in sacra" oder „iura sacrorum" ( = Befugnisse des Königs
bezüglich des Kirchenregiments) ohne jede Einschränkung wahr. 1825 er-

5 N a c h O . HINTZE, Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments... ( 2 1967)


[176), S. 84, fand bei dem N e u b a u der Verwaltung 1808 „vollends eine Verstaat-
lichung der Kirche statt, wie sie radikaler kaum zu denken w a r " . — Gute
Zusammenstellung der einschlägigen Quellen bei Ernst Rudolf HuBER/Wolfgang
HUBER, Staat und Kirche im 19. und 2 0 . Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte
des deutschen Staatskirchenrechts. Bd. 1: Staat und Kirche v o m Ausgang des
alten Reiches bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution, Berlin 1973,
S. 5 4 - 5 7 und 1 1 8 - 1 2 6 . Vgl. auch Ernst MÜSEBECK, Das Preußische Kultusmi-
nisterium vor hundert Jahren, Berlin — Stuttgart 1918, passim.
VIII. Staat und Kirche 169

fuhren die Konsistorien eine Trennung in zwei Abteilungen: Die kirchlichen


Angelegenheiten blieben beim Konsistorium, während die gesamte Schul-
verwaltung dem jeweiligen Provinzialschulkollegium zugewiesen wurde. In
beiden Behörden führte der Oberpräsident den Vorsitz. 6
Unterhalb dieser Ebene fungierten seit 1816 Kreis- und Provinzialsynoden,
deren Wirkungskreis aber begrenzt blieb. Die angekündigte Schaffung einer
gesamtpreußischen Generalsynode, die durch eine Zusammenfassung der
teils lutherischen, teils reformierten Provinzialkirchen die Einheit der preu-
ßischen Landeskirche manifestiert hätte, unterblieb, nachdem einige Pro-
vinzialsynoden 1818/1819 eine Reihe radikaler Beschlüsse gefaßt hatten -
„in dem düsteren Jahr der Karlsbader Beschlüsse erschien jedes freie Wort,
auch wenn es aus dem Raum der Kirche kam, als ein Beitrag zur Revolution"
(Huber).
Es entsprach der nach 1815 erfolgenden Straffung des landesherrlichen
Kirchenregimentes, daß sich auch in den Provinzialkirchen das hierarchisch-
episkopale Prinzip durchsetzte, auch wenn man den Bischofstitel nicht
wieder einführte. 1828 wurde in jeder Provinz ein Generalsuperintendent
eingesetzt, dem bischofsgleiche Macht und Autorität zufielen. Er wurde
vom König ernannt, war Präses der Provinzialsynode, aber nicht Mitglied
des Konsistoriums, wodurch er staatlichen und kirchlichen Stellen, aber
auch der nach wie vor aktiven synodalen Bewegung, in unabhängiger
Position gegenüberstand. So entwickelte sich als „verhängnisvolle Eigentüm-
lichkeit des königlich-preußischen Christentums" ein nahezu perfektes
staatskirchliches System: „Die Verantwortung für die Kirche lag oben, beim
Herrscher persönlich und bei den staatskirchlichen Autoritäten. Die Ge-
meinden blieben ohnmächtig, sie warteten auf Weisung. Politisch konser-
vative und kirchlich positive Einstellungen gingen Hand in Hand. Die Kirche
erschien, von außen und oberflächlich betrachtet, als eine Kirche des Königs,
der Generäle und Generalsuperintendenten." 7 Bis etwa 1830 besaß also die
Evangelische Kirche Preußens „eine Episkopalverfassung mit starken kon-
sistorialen und schwachen synodalen Institutionen". 8

2. Altpreußische Union und Agendenstreit

Während man im preußischen Protestantismus von einer Reform der Kir-


chenverfassung insbesondere eine Überwindung der alten hierarchischen
Konsistorialverfassung durch die Einführung synodaler Elemente erhoffte,
dachte König Friedrich Wilhelm III., der in dieser Frage starkes persönliches
Engagement zeigte, vor allem an die Herstellung einer interkonfessionellen
Union zwischen Lutheranern und Reformierten. Preußen, wo die seit 1613

6 E . R . H U B E R , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 4 6 3 .
7 Martin SCHMIDT, Christentum und Kirche im frühen 19. Jahrhundert, in: Hans
Herzfeld (Hg.), Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert
( = VHKzB, Bd. 25), Berlin 1968, S. 423 - 478, hier S. 443.
8 E . R . H U B E R , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 4 7 2 .
170 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

reformierte Dynastie über eine vorwiegend lutherische Bevölkerung


herrschte, sollte der Fortsetzung des innerprotestantischen Bekenntnis-
kampfes keinen Raum mehr bieten; der König erblickte beispielsweise im
Abendmahlsstreit „eine unfruchtbare theologische Spitzfindigkeit". 9 Da er
aus kirchenrechtlichen, aber auch aus Gewissensgründen eine Zwangsunion
vermeiden wollte, gestand Friedrich Wilhelm, der sich der Grenzen seiner
Macht als summus episcopus und Inhaber des ius episcopale wohl bewußt
war, den Gemeinden das Entscheidungsrecht zu.
Durch die Kabinettsorder vom 27. September 1817 proklamierte er die
Vereinigung, „in welcher die reformierte Kirche nicht zur lutherischen und
diese nicht zu jener übergeht, sondern beide Eine neu belebte, evangelisch-
christliche Kirche im Geiste ihres heiligen Stifters werden". Zugleich rief er
die Gemeinden auf, diesen Neubeginn durch gemeinsame Abendmahlsfeiern
am Reformationstag zu unterstreichen. 10 Viele Motive standen hinter der
Vereinigungsaufforderung des Königs: persönliche, kirchliche, staatspoliti-
sche und theologische. Auch Prestigegründe spielten wohl eine Rolle, weil
Hessen-Nassau in der Unionsfrage vorangegangen war (Unionsurkunde
vom 11. August 1817); es hatten sich auch in Kleve und Mark „die Geist-
lichen bereits vereinigt - zu einerlei Ritus". 1 1 Das theologische Gedanken-
gut, auf dem die vom Hofprediger Eylert entworfene Kabinettsorder be-
ruhte, war vor allem in den Reden und Schriften von Schleiermacher, Planck,
Sack, Spalding und Teller entwickelt worden.
Die Berliner Geistlichkeit, die unter dem starken Einfluß Schleiermachers
stand, folgte dem Aufruf: Gemeinsame Abendmahlsfeiern fanden im Ber-
liner Dom, in der Garnisonkirche und in der Nikolaikirche statt; König
und Hof nahmen das Abendmahl in der Potsdamer Garnisonkirche. Fast
alle evangelischen Gemeinden Preußens (die Bezeichnung „Protestanten"
wurde auf Vorschlag des Königs als „unpassend" verworfen) schlossen sich
diesem Beispiel an.
Da die Kabinettsorder eher deklamatorischen und appellierenden Cha-
rakter hatte und über die strittigen theologischen Fragen zwischen Luthe-
ranern und Reformierten hinwegsah, blieb es nicht aus, daß sich gegen die
Union auch Widerstand regte. In beiden Lagern kristallisierten sich bald
„rechtgläubige" Gemeinden heraus, und Kritiker wie Rudelbach und Stahl
erblickten in der Union „den Inbegriff bekenntnismäßiger Charakterlosig-
keit". 1 2 Ohne Zweifel hat Friedrich Wilhelm die Bedeutung dieser theolo-
gischen Differenzen unterschätzt. Das zeigte sich in aller Deutlichkeit, als
er daranging, der proklamierten Bekenntniseinheit auch die Einheit der
Liturgie folgen zu lassen.

9 H . v o n TREITSCHKE, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [ 2 7 ] , B d . 2 , S. 2 4 0 .
10 Eine gute historisch-theologische Analyse bietet Klaus WAPPLER, Der theologische
Ort der preußischen Unionsurkunde vom 27. 9. 1817 ( = ThArb, Bd. 35), Berlin
1978, Text: S. 9 f.
11 Propst Hanstein an den König, 29. VIII. 1817, zit. von K. WAPPLER, a . a . O . ,
S . 13.
12 M . SCHMIDT, Christentum und Kirche... (1968) [s.o. Anm. 7], S. 446.
VIII. Staat und Kirche 171

Bei der Ausarbeitung einer neuen einheitlichen Agende ( = Gottesdienst-


ordnung) für alle evangelischen Gemeinden Preußens wirkte der König
persönlich mit. 1 3 1816 führte er eine von ihm selbst zusammengestellte
Liturgie für die Hof- und Garnisongemeinde zu Potsdam sowie für die
Garnisonkirche in Berlin ein. Eine auf weiteren Vorarbeiten fußende neue
Agende verkündete Friedrich Wilhelm 1821 zunächst als Militäragende
(„Kirchenagende für die Kgl. Preußische Armee"), im folgenden Jahr als
Allgemeine Agende („Kirchenagende für die Hof- und Domkirche zu Ber-
lin"). Gegen die neue Gottesdienstordnung, die der feierlichen Liturgie
größeren Raum gab als der Predigt und sich den Vorwurf gefallen lassen
mußte, „katholisierendes Zeremonien werk" in den evangelischen Gottes-
dienst einzuführen, erhob sich vielfacher Protest, der seinen prominentesten
Wortführer in Schleiermacher fand. Von den Pfarrern waren nicht einmal
10 Prozent bereit, die Agende anzunehmen. Sie stieß auf entschiedene
Ablehnung im Rheinland, in Westfalen, in Brandenburg, Schlesien und
Westpreußen, auf etwas geringeren Widerstand in Ostpreußen und in der
Provinz Sachsen. Mit dem Berliner Magistrat entbrannte ein vierjähriger
Streit, in dem der König schließlich nachgeben mußte (1828). 1 4
Eine der zahllosen Publikationen, die den preußischen Agendenstreit
begleiteten, stammte vom König selbst, 15 dem der spätere Minister
v. Kamptz in einem umfangreichen Rechtsgutachten das umstrittene ius
liturgicum positivum ( = Recht, die Liturgie zu ändern) zubilligte. 16 Das
Kultusministerium hatte dem Monarchen dagegen nur das ius liturgicum
negativum ( = Recht, die Liturgie vor Veränderungen zu schützen) einge-
räumt.
Wie bei der Kirchenunion übte der König auch in der Agendenfrage im
Prinzip keinen Zwang aus, sondern beschränkte sich auf Empfehlungen an
die Gemeinden, die selbst entscheiden sollten. In der Praxis hat er allerdings
durch mancherlei Maßnahmen und Druckmittel die Annahme der Agende
zu fördern gesucht, so daß die viel gerühmte „Freiwilligkeit" mit nicht
wenig indirektem Zwang verbunden war. Wegen des nicht abebbenden
Widerstands sah sich Friedrich Wilhelm schließlich zum Nachgeben ge-
zwungen: Der „Nachtrag" zur Agende vom 4. Januar 1829 machte beträcht-
liche Zugeständnisse, gestattete liturgische „Parallelformen" und respek-
tierte provinzialkirchliche Traditionen. 17

13 Vgl. E . R . H U B E R / W . HUBER, S t a a t u n d K i r c h e . . . ( 1 9 7 3 ) [ s . o . A n m . 5 ] , S. 5 7 8 f . ,
und E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], B d . 1,
S. 4 6 7 - 4 7 0 .
14 M . SCHMIDT, C h r i s t e n t u m u n d K i r c h e . . . ( 1 9 6 8 ) [ s . o . A n m . 7 ] , S. 4 4 7 - 4 4 9 .
15 Luther in Beziehung auf die Preußische Kirchenagende vom Jahre 1822, mit den
im Jahre 1823 bekannt gemachten Verbesserungen und Vermehrungen [Verf.:
Friedrich Wilhelm III.], Berlin 1827.
16 Teilpublikation: v. Kamptz über das bischöfliche Recht in der evangelischen
Kirche in Deutschland, in: JbbpG, Bd. 31 (1828), S. 2 5 - 1 5 0 .
17 Die KO vom 4. I. 1829 ist abgedruckt bei Erich FOERSTER, Die Entstehung der
preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des
Dritten. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenbildung im deutschen Protestan-
tismus, 2 Bde., Tübingen 1905/07, hier Bd. 2, S. 191.
172 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Damit schien der Bann endgültig gebrochen. Um 1830 gab es im Osten


der Monarchie nur noch wenige Geistliche, die auf dem Widerspruch
beharrten. Die von der Provinzialsynode 1830 beschlossene Provinzial-
agende für Rheinland und Westfalen erlangte 1834 die königliche Bestäti-
gung, so daß es letztlich doch auf der Basis der Verständigung zu einer
gemeinsamen, nur in Nebenpunkten differierenden Agende für ganz Preußen
gekommen war. Auch Schleiermacher, der zuvor nach einem Disziplinar-
verfahren mit einem Verweis bestraft worden war, machte 1829 seinen
Frieden mit dem König.
Nur Schlesien kam nicht zur Ruhe. Der von drei Professoren der Uni-
versität Breslau (Scheibel, Steffens, Huschke) ausgehende Widerstand gegen
Union und Agende breitete sich vor allem in den 30er Jahren aus. Der
verfolgte Scheibel mußte ins Königreich Sachsen flüchten, und der Gemeinde
Hönigern bei Namslau wurde zu Weihnachten 1834 durch eine militärische
Exekution der von ihr hartnäckig abgelehnte „Agendenpfarrer" aufgezwun-
gen. Dieses brutale Vorgehen gegen die „Altlutheraner" hat den König viele
Sympathien gekostet und seine Staatskirchenpolitik insgesamt diskredi-
tiert. 18

3. Die Erweckungsbewegung

Manche Kritiker der Kirchenunion wie der Breslauer Pfarrer Scheibel und
der Berliner Prediger Jänicke hingen einer neuen religiösen Strömung an,
die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Gegner der Aufklärung, roman-
tisch geprägte Traditionalisten und Anhänger eines vertieften und verinner-
lichten Christentums vereinte. Sammelpunkt und Sammelbecken der Auf-
klärungsgegner aus christlicher Wurzel oder mit christlichem Einschlag
wurde in Berlin die am 18. Januar 1810 durch Achim v. Arnim und Adam
Müller ins Leben gerufene „Christlich-deutsche Tischgesellschaft". Vor al-
lem nach den Freiheitskriegen erfaßte diese neupietistische, biblisch-roman-
tisch orientierte Erweckungsbewegung viele Schichten der hauptstädtischen
Gesellschaft. 19 Zum Mittelpunkt der Berliner Erweckungsbewegung wurde
der schlesische Grundbesitzer Hans Ernst Freiherr von Kottwitz
(1757—1843), der seit 1807 in Berlin eine Armen-Beschäftigungs-Anstalt
unterhielt, die nach dem Prinzip „Arbeit statt Almosen" organisiert war
und Hunderten von arbeitslosen (Weber-)Familien materiellen und geistigen
Rückhalt gab. Um Kottwitz, der selbst in seiner Anstalt, einer ehemaligen
Kaserne, in großer Bescheidenheit wohnte, und in seiner einfachen schlichten
Frömmigkeit alle Besucher tief beeindruckte, 20 bildete sich ein lockerer
Kranz von Anhängern aus Pfarrer- und Laienkreisen, die ihre geistige
Heimat an drei verschiedenen Orten hatten: die einen, eher konservativ und

18 M . SCHMIDT, Christentum und Kirche... (1968) [s.o. Anm. 7], S. 4 4 9 f .


19 Gute Zusammenfassung a. a. O., S. 451 —462.
20 Ilja MIECK, Hans Ernst Freiherr von Kottwitz, in: Gerd Heinrich (Hg.), Berlini-
sche Lebensbilder, Bd. 5 ( = VHKzB, Bd. 60), Berlin 1990, S. 161 - 1 8 1 .
VIII. Staat und Kirche 173

meist adlig, kamen von der Tischgesellschaft her; die zweiten, eher bürger-
lich-intellektuell, stammten aus dem Kreise um Moritz August von Beth-
mann-Hollweg, während die dritten als Pfarrer und Prediger die Erneuerung
innerhalb der Kirche anstrebten. Zu ihnen gehörten Karl Löffler, Johannes
Jänicke, Gerhard F. A. Strauß, Johannes E. Goßner (seit 1829), F.W. Krum-
macher (seit 1847) und der streitbare Ernst Wilhelm Hengstenberg, der es
in seinem „rationalen Antirationalismus" (Martin Schmidt) erreichte, daß
die emotionale Seite, die die Berliner Erweckungsbewegung zunächst be-
herrscht hatte, stärker zurücktrat.
Von christlich-sozialem Verantwortungsbewußtsein war auch der Pfarrer
der Berliner Elisabethkirche, Otto v. Gerlach, durchdrungen. Er schuf in
seiner vorwiegend von Armen bewohnten Gemeinde ein Unterstützungs-
werk, das vorbildhaft wirkte. Über die beiden anderen Brüder v. Gerlach,
Leopold und Ludwig, die später so einflußreichen Berater Friedrich Wil-
helms IV., auch über J . v. Bunsen und selbst über den unabhängigen Ka-
tholiken J . v. Radowitz ergaben sich enge Beziehungen der Erweckungsbe-
wegung zum Hof, wo ihr besonders der Kronprinz aufgeschlossen begeg-
nete, weil sie seinen Vorstellungen des antikonstitutionellen, auf Gott ge-
gründeten und in christlicher Selbstverantwortung geleiteten Staates am
besten entgegenkam.
Darin lag das Besondere der Berliner Erweckungsbewegung, daß nahezu
alle Stände an dem religiösen Aufschwung teilnahmen: „Das evangelische
Erweckungschristentum gab es in der hausbackenen und kleinbürgerlichen
Form wie in der höfischen und politischen, wobei Staatspolitik und Kir-
chenpolitik ineinanderflossen oder sich wenigstens die Hand reichten." 2 1
Nur im Handwerk und im kaufmännischen Unternehmertum fand es, wie
teilweise auch beim Bildungsbürgertum, weniger Rückhalt, bot aber durch
seine sozial-karitativen Implikationen selbst den Ärmsten der Armen Lin-
derung, Trost und Hoffnung.
Die Erweckungsbewegung blieb nicht auf Berlin beschränkt. Adolf v.
Thadden, der zeitweise im Kreise der Tischgesellschaft verkehrt hatte,
wurde zum Haupt der Erweckungsbewegung in Pommern. Die auf seinem
Gut veranstalteten „Trieglaffer Konferenzen" führten pietistische Pastoren
verschiedener Provinzen zusammen. 1844 trafen sich hier 108 Personen,
darunter sechs Superintendenten, 64 Prediger, mehrere Rektoren, 26 Kan-
didaten und einige Laien. 2 2 Ein Jahr zuvor war Bismarck mit den pom-
merschen Pietisten in Beziehung getreten. Moritz v. Blanckenburg, ein
ehemaliger Mitschüler und künftiger Schwiegersohn Adolfs v. Thadden,
führte ihn in diesen Kreis ein, in dem er auch Johanna v. Puttkamer, seine
spätere Frau, kennenlernte. Den Versuchen, ihn für die Erweckungsbewe-
gung zu gewinnen, widerstand Bismarck jedoch; „der Sturm auf seine Seele
war gescheitert". 23

21 M . SCHMIDT, Christentum und Kirche... (1968) [s.o. Anm. 7], S. 460.


22 Vgl. Hermann PETRICH, Adolf und Henriette von Thadden und ihr Trieglaffer
Kreis. Bilder aus der Erweckungsbewegung in Pommern ( = FKGP, Bd. 2), Stettin
1931, S. 63.
23 Ernst ENGELBERG, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985, S. 194.
174 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Die Erweckungsbewegung wirkte weit über Berlin hinaus. 24 Die von


Kottwitz ausgehenden Anregungen und Impulse waren vielfältig. Er selbst
reiste gern, vor allem nach Schlesien, und unterhielt eine umfangreiche
Korrespondenz. Über den Kreis von Theologen und Studenten, der sich
zweimal in der Woche zu Gebet und Gespräch in seiner Kaserne versam-
melte, wurde Kottwitz in ganz Deutschland bekannt. Eine ganze Generation
von Erweckungstheologen war ihm verpflichtet, darunter der hochbegabte
Friedrich A. G. Tholuck, dessen Erstlingswerk „Die Lehre von der Sünde..."
die eigentliche Grundschrift für die Erweckungsbewegung werden sollte.
Seit 1821 Privatdozent an der Universität Berlin, lehrte er außerdem am
Missionsseminar, war Sekretär der Judenmission und — von 1821 bis 1825
- Direktor der Hauptbibelgesellschaft. 1826 wurde er als Ordinarius nach
Halle berufen, wo er den dort herrschenden Rationalismus überwinden
sollte. 25
Besonders wichtig wurde der Einfluß von Kottwitz auf Johann Hinrich
Wichern, der 1830 nach Berlin kam. Das Lebenswerk und die Persönlichkeit
des fast 80jährigen beeindruckten ihn tief; die Stunden mit Kottwitz waren
für Wichern unvergeßlich. Als späterer Gründer des Rauhen Hauses in
Hamburg und als Schöpfer der Inneren Mission gab Wichern die Anregun-
gen, die er von Kottwitz in Berlin empfangen hatte, an die gesamte sich
erneuernde evangelische Kirche weiter. 26

4. Die katholische Kirche

Das Verhältnis des preußischen Staates zur katholischen Kirche wurde durch
das „Edikt über die Einziehung sämtlicher geistlicher Güter in der Monar-
chie" 2 7 vom 30. Oktober 1810 nicht sonderlich belastet, weil Preußen drei
Jahre zuvor große Teile seiner katholischen Gebiete verloren hatte. Mit
dem Säkularisationsedikt machte Preußen, wie andere Staaten vor ihm,
Gebrauch von der im § 35 des Reichsdeputationshauptschlusses vom
25. Februar 1803 reichsrechtlich zugestandenen Ermächtigung, das gesamte
katholische und protestantische Kirchengut der landsässigen Stifter, Abteien
und Klöster auf landesrechtlichem Wege zu enteignen. 28

24 Friedrich Wilhelm KANTZENBACH (Hg.), Baron H . E. v. Kottwitz und die Erwek-


kungsbewegung in Schlesien, Berlin und Pommern. Briefwechsel ( = Q h o K G ,
H. 11/12), Ulm 1963.
25 Vgl. Leopold WITTE, Das Leben Friedrich August Gottreu Tholuck's, 2 Bde.,
Bielefeld 1 8 8 4 / 8 6 .
26 Vgl. Peter MASER, H . E. v. Kottwitz und J. H . Wichern. Spuren einer Beziehung,
in: Dia, Bd. 4 (1978), S. 177 — 180. Zahlreiche Einzelprobleme thematisiert —
nicht nur im Hinblick auf Berlin — der neue Sammelband von Kaspar ELM und
Hans-Dietrich LOOCK (Hg.), Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum
Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
( = VHKzB, Bd. 74), B e r l i n - N e w York 1990.
27 E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 11, S. 48.
28 E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 5 3 - 6 1 .
VIII. Staat und Kirche 175

Die katastrophale Finanzlage des Staates, insbesondere die hohen fran-


zösischen Kontributionsforderungen, bewogen Hardenberg, diesen Schritt
im Herbst 1810 zu unternehmen und die relativ geringe Belastung des
Verhältnisses zur katholischen Kirche hinzunehmen. Dies um so mehr, als
von der hauptsächlich betroffenen evangelischen Kirche keine nennenswer-
ten Schwierigkeiten zu erwarten waren.
Sämtliche Einnahmen aus diesen „Dispositionsgütern" flössen künftig in
die preußische Staatskasse, die ihrerseits zu einer Reihe von finanziellen
Leistungen an die Kirchen verpflichtet war (Gehaltszahlungen, Schulden-
dienst, Unterhaltspflichten, Ausstattung der Bischofskirchen, Sicherung von
Kultus-, Unterrichts- und anderen gemeinnützigen Aufgaben und anderes).
Betroffen von der Säkularisation war vor allem Schlesien, wo das Bistum
Breslau, das Kloster Grüssau und andere Stifter sich noch aus österreichi-
scher Zeit „einen fürstlichen Reichtum" (Treitschke) bewahrt hatten. Die
Landverkäufe brachten aber nur geringen Ertrag, da das vermehrte Angebot
die Güterpreise drückte und in dem erschöpften Land wenig potente Käufer
zu finden waren. Immerhin soll durch die im Gefolge der Säkularisation
erfolgten Ackerteilungen „Tausenden von Arbeitsfamilien eine neue Quelle
des Erwerbs entstanden" sein, beispielsweise im Kreis Neiße. 2 9
Das Verhältnis Preußens zum Katholizismus änderte sich grundlegend,
als ihm 1815 die späteren Provinzen Westfalen, Rheinland und Posen mit
ihren starken katholischen Bevölkerungsanteilen zugesprochen wurde: Zwei
Fünftel seiner Einwohner waren jetzt katholisch. Dieses Faktum vergrößerte
noch die vor allem im Westen weit verbreitete Skepsis gegenüber der neuen
Ordnungsmacht; doch auch in den östlichen Gebieten sah man der (Wieder-)
Errichtung der preußischen Herrschaft teilweise sehr reserviert entgegen. In
jedem Fall komplizierte die Konfessionsfrage die ohnehin schwierige Inte-
grationsaufgabe. 3 0
Da auch der Katholizismus in Überwindung des theologischen Rationa-
lismus im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Phase der inneren Er-
neuerung und der religiösen Neubesinnung erlebte, die ihre Zentren in
Wien, München, Tübingen und Mainz hatte, wurden auch die Gegensätze
zum Protestantismus wieder stärker akzentuiert. 31 Die in der Rheinprovinz
latent vorhandenen konfessionellen Vorbehalte, die sich durch verschiedene
staatliche Maßnahmen bestätigt fanden, spielten auch in die Frage des
Standorts der vom König versprochenen rheinischen Universität hinein.
Ernst Moritz Arndt sah in Köln die Gefahr des „Papismus und Romanis-
mus" gegeben und setzte sich durch: 1818 fiel die Entscheidung zugunsten
von Bonn, nachdem das Reformationsjubiläum 1817 die Auseinanderset-

29 Johannes ZIEKURSCH, Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Huber-


tusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung ( = DQsG, Bd. 20),
Breslau 1915 (ND Aalen 1978), S. 302 und 346, Anm. 2. - Die Feststellung des
Verfassers, daß „bis heute die dringend erwünschte Untersuchung über die
Verwendung des säkularisierten Kirchengutes" fehlt, besteht unverändert fort.
30 S.o. § 3, III.
31 Vgl. K . - G . FABER, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 2 ] , S. 7 0 - 7 5 .
176 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

zung noch verschärft und auf die Ebene eines politischen Konfessionalismus
gehoben hatte: Der preußische Staat versuchte zunächst, das Problem auf
höherer Ebene zu lösen und mit dem Heiligen Stuhl zu einer akzeptablen
Vereinbarung zu gelangen.
Die Verhandlungen zwischen Berlin und dem Heiligen Stuhl liefen über
Barthold Georg Niebuhr, der wegen der leichtfertigen Finanzpolitik Har-
denbergs 1810 das Ministerium verlassen hatte und 1816 preußischer Ge-
sandter in Rom geworden war. Sein Verhandlungsgeschick und die maß-
vollen preußischen Forderungen erleichterten die Einigung auf der Basis der
in Schlesien bereits bewährten konfessionellen Parität und Toleranz.
Die rechtliche Grundlage des Verhältnisses von Staat und Kirche blieben
die entsprechenden Artikel des Allgemeinen Landrechts sowie — in der
Rheinprovinz — die „Organischen Artikel" von 1802. Die Bulle „De salute
animarum" vom 23. August 1821 hob das napoleonische Bistum Aachen
auf und errichtete das Erzbistum Köln mit den drei Suffraganen Trier,
Münster und Paderborn. Im Osten entstanden das Erzbistum Gnesen-Posen
und das Bistum Kulm; hinzu kamen die exemten Bistümer Ermland und
Breslau für die Provinzen Ostpreußen und Schlesien. Erster Erzbischof von
Köln wurde, von seinem Freund, dem Freiherrn vom Stein, vorgeschlagen,
1824 Ferdinand August von Spiegel, ein im Geiste der katholischen Aufklä-
rung großgewordener Prälat.
Dem neuen Erzbischof stand die „strengkirchliche Bewegung" mit äußer-
stem Mißtrauen gegenüber. Diese besonders in Aachen und Koblenz ver-
breitete, ziemlich militant eingestellte und ultramontan orientierte Gruppie-
rung betrieb eine orthodox-katholische Abgrenzungs- und Profilierungs-
politik. 3 2 Ihre Verbindungen reichten über die Mainzer Theologenschule,
über die katholische Fakultät der Universität Tübingen bis hin zu den
belgischen Katholiken und zu jesuitischen Kreisen in Frankreich.
Kritikpunkte waren — neben dem angeblich amtlich geförderten Prote-
stantismus überhaupt — konfessionelle Diskriminierungen, die es in der
Tat gab. So durften Geistliche nicht unmittelbar mit dem Heiligen Stuhl
korrespondieren, und katholische Soldaten hatten, falls kein katholischer
Militärgeistlicher zur Verfügung stand, entsprechend der Militärkirchen-
ordnung vom 12. Februar 1832, die aber nur eine seit 1809/10 geltende
Regelung bestätigte, einmal monatlich am evangelischen Militärgottesdienst
teilzunehmen. Nichts hat der ultramontanen Propaganda im Rheinland
soviel Gehör verschafft, wie die zwangsweise Teilnahme katholischer Sol-
daten am evangelischen Garnisongottesdienst; „dies vermochte freilich ins-
besondere der König als stark engagierter Protestant nur schwer einzuse-
hen". 3 3
Ein anderes Problem betraf die konfessionelle Erziehung der Mischehen-
kinder. Hier agierte der preußische König, der 1825 für Söhne die Erziehung
im väterlichen Glauben angeordnet hatte, ähnlich selbstherrlich wie bei der

32 Vgl. dazu die grundlegende Untersuchung von F. KEINEMANN, Das Kölner Ereig-
nis... (1974) [177], T. 1, S. 3 7 - 5 8 .
33 A . a . O . , S. 46.
VIII. Staat und Kirche 177

evangelischen Kirchenunion. Mit dem in dem päpstlichen Breve „Litteris


altero abhinc" (25. März 1838) geforderten Versprechen einer katholischen
Kindererziehung nicht einverstanden, erreichte er in zähen Verhandlungen
mit Spiegel, die Bunsen führte, in der geheimen „Berliner Konvention" vom
19. Juni 1834 die Zusage einer bloßen Gesinnungsüberprüfung. Als der
Erzbischof Spiegel ein Jahr später starb, schlug die preußische Regierung
zum Entsetzen aller Sachkenner den westfälischen Prälaten Clemens August
von Droste und Vischering vor, der am 1. Dezember 1835 vom Domkapitel
auch gewählt wurde. 34 Der neue Erzbischof war ein frommer Mann, „un-
ermüdlich im Wohltun, im Fasten und Kasteien, in allen Pflichten römischer
Werkheiligkeit"; andererseits aber „ein mönchischer Eiferer, ohne Geist,
ohne Gelehrsamkeit, ohne Menschenkenntnis, altväterisch erzogen und der
modernen Welt völlig fremd" — so beurteilte ihn, sicher nicht ganz objektiv,
Heinrich v. Treitschke. Richtig ist allerdings, daß Droste von Anfang an
einen Konfrontationskurs steuerte. Trotz einer gegenteiligen Zusage wei-
gerte er sich nach seinem Amtsantritt, die Geheimabrede von 1834 zu
respektieren und befahl den Geistlichen, keine gemischte Ehe ohne das
Versprechen katholischer Kindererziehung einzusegnen. Ein zweiter Schlag,
diesmal direkt von Rom ausgehend, richtete sich gegen die Anhänger des
1831 verstorbenen katholischen Theologieprofessors Georg Hermes, die
Hermesianer. 1820 war Hermes, der ähnlich wie Spiegel einen weltoffenen
rationalen Katholizismus vertrat, von Münster nach Bonn berufen worden,
wo Altenstein an der Universität ein theologisches Konvikt errichten wollte,
um die wissenschaftliche Ausbildung der Geistlichen allein der Universität
zu überweisen. Droste hatte damals als Generalvikar von Münster den
Münsterschen Studenten verboten, dem beliebten Lehrer Hermes nach Bonn
zu folgen. Nach einigen Monaten erbitterten Streites mit den Behörden
blieb Altenstein nichts anderes übrig, als die theologische Fakultät in Mün-
ster bis auf weiteres schließen zu lassen. Damit war die Sache entschieden,
Droste legte sein Amt nieder, führte jahrelang ein frommes Büßerleben und
wartete auf bessere Zeiten, die mit seiner Wahl zum Kölner Erzbischof
gekommen zu sein schienen. 35
Bereits im September 1835 wurden die Hauptsätze der Hermesianer durch
ein scharfes, von Gregor X V I . selbst verfaßtes päpstliches Breve als der
Ketzerei verdächtig verdammt. In der Erzdiözese Köln soll es mehr als 5.000
Hermesianer gegeben haben, dennoch erwies sich der ultramontane Radi-
kalismus als so einschüchternd, daß sie sich nach einigen Wochen - bis
auf zwei — allesamt dem päpstlichen Spruch unterwarfen. 36
Der nächste Schritt des Erzbischofs bestand darin, nach der Verdammung
der Lehren nun auch die Personen der Hermesianer auszuschalten, die vor
allem im Bonner Konvikt eine starke Stellung hatten. Während diese theo-
logische Ausbildungsstätte durch seine Politik praktisch zerschlagen wurde,

34 A . a . O . , S. 1. Ausführliche Darstellung bei H. von TREITSCHKE, Deutsche Ge-


s c h i c h t e . . . ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 4 , S. 6 8 0 f f .
35 A . a . O . , Bd. 3, S. 2 1 6 - 2 1 9 .
36 A. a. O., Bd. 4, S. 693.
178 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

stellte er obendrein jedes Aufsichtsrecht des Staates in Abrede. Dieser


Dauerkonflikt und der dazu wieder aufbrechende Streit um die Mischehen
führten schließlich, nachdem vielerlei Warnungen ergangen waren, zu dem
berühmten „Kölner Ereignis", der Verhaftung des widerspenstigen Kirchen-
fürsten am 20. November 1837, der auf die Festung Minden gebracht
wurde. 37
Die Empörung über diesen Gewaltakt sprang von der Rheinprovinz rasch
auf andere Gebiete über. In der westfälischen Heimat des Erzbischofs kam
es zu nicht immer gewaltfreien Protestaktionen, 38 die katholischen Kreise
in Frankreich und Belgien waren alarmiert, und Gregor XVI. verurteilte die
Verhaftung in scharfer Form (10. Dezember 1837). Die von Joseph Görres
in München Anfang 1838 publizierte Flugschrift „Athanasius" attackierte
die preußische Kirchenpolitik vehement und entfachte einen wahren Flug-
schriftenstreit. Die ebenfalls von Görres 1838 gegründeten „Historisch-
politischen Blätter für das katholische Deutschland" wurden zum wichtig-
sten Sprachrohr des „integralen Katholizismus", der zwar die Freiheit der
Kirche vom Staat betonte, gleichwohl aber an ihrer hierarchischen Verfas-
sung und am päpstlichen Primat festhielt.
Die Haltung der preußischen Regierung blieb trotz dieses katholischen
Propagandafeldzuges unnachgiebig, so daß die „Kölner Wirren" weitergin-
gen und erst nach dem Thronwechsel (1840) beigelegt werden konnten.
Der Konflikt griff sogar auf die östlichen Gebiete der Monarchie über:
als Marcin Dunin-Sulgustowski, seit 1830 Erzbischof von Posen-Gnesen,
den bisher üblichen Brauch der Kindererziehung bei Mischehen (Väter und
Söhne, Mütter und Töchter bekenntnisgleich) umstieß und in einem Hir-
tenbrief vom 27. Februar 1837 auf der katholischen Erziehung aller Kinder
bestand, strengte die Regierung einen Prozeß gegen ihn an. Im Februar 1839
wurde ihm die Erzbischofswürde aberkannt; außerdem durfte er nicht nach
Posen zurückkehren. Da er sich nicht daran hielt, erfolgte am 6. Oktober
1839 seine Verhaftung und die anschließende Unterbringung auf der Festung
Kolberg. Zum Zeichen des Protestes unterließen die Geistlichen seiner
Erzdiözese fortan Glockengeläut und Orgelspiel. 39
Der Konflikt zwischen Staat und Katholizismus hatte damit einen neuen
Höhepunkt erreicht. Zum Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms III.
befanden sich die zwei höchsten Repräsentanten der katholischen Kirche
Preußens, die nur diese beiden Erzdiözesen umfaßte, in Festungshaft. Aber

37 Vgl. F. KEINEMANN, D a s K ö l n e r E r e i g n i s . . . ( 1 9 7 4 ) [ 1 7 7 ] , T . 1, S. 7 1 - 8 7 .
38 Zur Situation in Westfalen und den dortigen Reaktionen um 1837 vgl. neuerdings
die ergänzende Studie von Friedrich KEINEMANN, Das Kölner Ereignis und die
Kölner Wirren (1837 - 1 8 4 1 ) . Weichenstellungen, Entscheidungen und Reaktionen
mit besonderer Berücksichtigung Westfalens. Ein Nachtrag zu: Das Kölner Er-
eignis... (1974) [177], Hamm 1986, passim.
39 Vgl. Gotthold RHODE, Polen und die polnische Frage von den Teilungen bis zur
Gründung des Deutschen Reiches, in: Walter Bußmann (Hg.), Europa von der
Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahr-
hunderts ( = HbeG, Bd. 5), Stuttgart 1981, S. 677 - 745, hier S. 717f.
IX. Restauration und Reaktion 179

während die publizistische Auseinandersetzung um diesen Bischofsstreit


hohe Wellen schlug - an die 200 Schriften sollen dazu erschienen sein - ,
kam es zu keinen weiteren spektakulären Maßnahmen, und die provisori-
sche Verwaltung der beiden verwaisten Erzbistümer arbeitete ruhig weiter.
Man wollte Zeit gewinnen, denn „jedermann fühlte, die alte Regierung
habe sich überlebt". 40 Wie auch in anderen Bereichen erhofften viele, daß
sich nach dem Thronwechsel eine Lösung dieser verfahrenen Situation
ergeben würde.

IX. Restauration und Reaktion

Seit dem Jahre 1815 befanden sich die fortschrittlichen Kräfte in Preußen,
die nach der äußeren Befreiung auch die innere erhofft hatten und nationale
und konstitutionelle Wünsche erfüllt sehen wollten, auf dem Rückzug. Die
während der Freiheitskriege aufgeflammte und von allerhöchster Stelle
ermunterte patriotisch-nationale Grundstimmung, die sich mit liberalen
Erwartungen verknüpfte, war nicht mehr gefragt. Wie erwähnt, wurden die
Verfechter der Reformpolitik nach und nach beiseitegeschoben. Anhänger
einer neuen konservativen Politik unter der geistig-diplomatischen Führung
des österreichischen Außenministers und (seit 1821) Staatskanzlers Metter-
nich versuchten, die 1815 erreichten Zustände zu stabilisieren, die Dynamik
der Reformen zu brechen, die Verfassungsbewegung und die gesellschaftli-
chen Veränderungen anzuhalten. Dazu gehörte im Bereich des Deutschen
Bundes eine strikt antinationale und antiliberale Politik. Der Buchtitel eines
Juristen, der die „Restauration der Staatswissenschaft" darstellte, 1 wurde
zum Kennwort für diese konservativ-reaktionäre Haltung, die in Preußen
während der politischen „Stillstands- und Polizeiperiode der 20er und 30er
Jahre" (Fontane) vorherrschte.
Die häufige Folge war eine resignierte Abwendung von der Politik, ein
bewußter Rückzug in die eigene Behausung, die man, sofern die Mittel
dazu ausreichten, so wohnlich wie möglich zu machen suchte. Ein apoliti-
scher, auf Behaglichkeit und Beschaulichkeit ausgerichteter bürgerlicher
Wohn- und Lebensstil mit einem ausgeprägten geselligen Leben, künstleri-
schen und literarischen Interessen und starken Anleihen bei der Romantik
setzte sich in den besser gestellten Kreisen durch. Das Pseudonym, unter
dem Adolf Kußmaul diese städtisch-bürgerliche Lebensart 1855/57 in den

40 H . von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 4, S. 724.


1 Carl Ludwig von HALLER, Die Restauration der Staatswissenschaft, oder Theorie
des natürlich-geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen ent-
gegengesetzt, 6 Bde., Winterthur 2 1 8 2 0 - 1 8 3 4 ( N D Aalen 1964). Z u r Problematik
des Begriffs „ R e s t a u r a t i o n " vgl. R. RÜRUP, Deutschland im 19. Jahrhundert...
(1984) [21], S. 120f.
180 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

„Fliegenden Blättern" ironisierte, 2 wurde schließlich zur Epochenbezeich-


nung: zur Veranschaulichung des durch die reaktionäre Politik erzwungenen
Rückzugs in die eigenen vier Wände eignet sich der Begriff des Biedermeier
vorzüglich.
So wurden die Jahre nach den Freiheitskriegen nicht nur durch die
beginnende Industrialisierung und die sich verschärfenden sozialen Pro-
bleme geprägt, sie standen auch unter der Polarität von Politik und Kultur,
von Restauration und Biedermeier. Die Wissenschaft und die Künste erleb-
ten ebenfalls eine Zeitspanne, in der Aufbruchstimmung und Repression
nicht selten aufeinander folgten.

1. Turnbewegung und Burschenschaften

Die aus den Freiheitskriegen zurückkehrenden jungen Soldaten, vielfach


Freiwillige, fühlten sich alsbald grenzenlos enttäuscht, da mit dem Ende
der glorreichen Waffengänge gegen Napoleon auch das Ende konstitutio-
neller und nationaler Hoffnungen gekommen zu sein schien. Bald schälten
sich zwei Kristallisationspunkte jugendlicher politischer Unzufriedenheit
heraus: die vor allem für Preußen wichtige Turnbewegung und die bur-
schenschaftlichen Vereinigungen, die sich seit 1814, von Jena ausgehend,
besonders an den mittel- und süddeutschen Universitäten etablierten.
Gründer und unbestrittener Führer der preußischen Turnbewegung war
der Lehrer Friedrich Ludwig Jahn, der im Frühjahr 1811 in Berlin den
ersten Turnplatz eröffnet hatte, um in einer etwas seltsamen Mischung von
Körperschulung, penetranter Deutschtümelei, krankhaftem Franzosenhaß,
verbalem Vulgarismus und spartanisch-puritanischer Lebensführung seinen
Zöglingen eine Art „Wehrertüchtigung" zukommen zu lassen und sie so auf
den Krieg gegen Frankreich vorzubereiten. 3 In diesem Stil nahm er 1814
seine Arbeit wieder auf — sicher überschätzt in seiner geistigen Substanz,
aber außerordentlich wirkungsvoll. Die Berliner Studenten hielten sich
allerdings zurück; ihnen mißfiel nicht nur die saloppe Art, sich zu frisieren
und zu kleiden („sanscravattes"), sondern auch die bei den Turnern übliche
Umgangsform, sich untereinander zu duzen.

2 Kußmaul benutzte dabei die Gedichte des Dorfschullehrers Samuel Friedrich


Sauter und setzte sein Pseudonym aus „Biedermann" und „Bummelmaier" zu-
sammen. Der von Ludwig Eichrodt unter dem Titel „Biedermaiers Liederlust"
besorgte Nachdruck (1869) machte die Figur populär; zum Stil- und Epochen-
begriff wurde der N a m e aber erst um die Jahrhundertwende. Zur ersten Infor-
mation gut geeignet: Marianne BERNHARD, D a s Biedermeier. Kultur zwischen
Wiener Kongreß und Märzrevolution, Düsseldorf 1983, passim.
3 Vgl. Ernst FRANK, Friedrich Ludwig Jahn, ein moderner Rebell, Heusenstamm
b. Offenbach 1972, passim; zu seinen Aktivitäten in Berlin: I. MIECK, Von der
Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 456 und 523 f. — Allgemeiner: Dieter
DÜDING, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808 —
1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche
Nationalbewegung ( = StG19Jh, Bd. 13), München 1984, S. 15 ff.
IX. Restauration und Reaktion 181

Während sich der König gegenüber den Turnern eher reserviert verhielt,
erfuhr die Turnbewegung eine beachtliche Aufwertung durch die Besuche,
die Blücher und der Kronprinz im Spätsommer 1814 dem Turnplatz ab-
statteten. Für die Berliner Jugend blieb Jahn ein Idol. Selbst der „Breslauer
Turnerstreit", den der ernsthafte Patriot Henrich Steffens durch seine war-
nende Stimme gegen die Ausartungen der Turnerei auslöste, konnte die
Popularität Jahns wenig schmälern, obwohl die Turnbewegung „unter dem
Terrorismus deutschtümelnder Kraftworte und Kraftsitten" (Treitschke)
neben einem etwas verschwommenen Nationalismus kaum konkrete poli-
tische Ziele artikulierte und in Sprache und Brauch manche Züge einer
Sekte trug, die von den Behörden mit wachsendem Mißtrauen beobachtet
wurde. 4
Auch die Anfänge der Burschenschaften reichen in die Zeit der Freiheits-
kriege zurück. 5 Nachdem sich bereits im Sommer 1814 in Jena eine „Wehr-
schaft" gebildet hatte, erfolgte dort am 12. Juni 1815 die Gründung der
ersten „Burschenschaft". Anders als die bisherigen landsmannschaftlichen
Verbindungen oder die aus dem Geist der Aufklärung erwachsenen Studen-
tenorden verstand sich die Burschenschaft als eine vaterländisch-christliche
Organisation, ohne jedoch anfangs sehr konkrete politische Ziele zu ver-
folgen. Dennoch breitete sich die Bewegung rasch auf andere Universitäten
aus, erreichte allerdings — außer in Jena — zu keiner Zeit die Gesamtheit
der Studenten. Ganz im Sinne ihrer patriotisch-nationalen Leitgedanken,
die sich insbesondere an den Schriften und Gedichten von Ernst Moritz
Arndt orientierten, erkannten die Burschen nur ein Vaterland an, das
deutsche. Sie stellten ihre Verbindung unter das Motto „Ehre, Freiheit,
Vaterland" und nahmen auf Vorschlag Jahns die Uniformfarben des Frei-
korps Lützow an, das im schwarzen Rock mit roten Aufschlägen und gelben
Knöpfen gekämpft hatte. Diese Farbkombination, die man auch in den
Farben des alten Deutschen Reiches wiederzufinden glaubte (schwarzer
Adler mit roten Fängen auf goldenem Grund), wurde zum Symbol der
liberal-demokratischen deutschen Einheitsbewegung. 6
Zum Jahrestag der Völkerschlacht und zum dreihundertsten Reforma-
tionsjubiläum lud die Jenenser Burschenschaft mit Genehmigung des Lan-
desherrn, des Großherzogs Karl August von Sachsen-Weimar, ihre Gesin-
nungsfreunde auf die Wartburg ein. Es erschienen etwa 500 Studenten, auch
einige Professoren, darunter 250 aus Jena selbst, 30 aus Berlin, die übrigen
aus Gießen, Marburg, Erlangen, Heidelberg und einigen anderen Univer-
sitäten. Größeres Aufsehen als die bei dem eigentlichen Festakt am
18. Oktober gehaltenen Reden erregte das auf Anstiftung Jahns von einigen
radikalen Studenten am Abend veranstaltete Autodafé: man verbrannte

4 Vgl. H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2,


S. 3 8 4 - 3 9 5 .
5 Knapper Literaturbericht: E. BUSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169],
S. 47 - 50. Grundlegend: P. WENTZCKE, Geschichte der deutschen Burschen-
s c h a f t . . . ( 2 1 9 6 2 ) [ 1 6 2 ] , B d . 1, p a s s i m .
6 Κ.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 84f. (mit Lit.).
182 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

„eine wunderlich gemischte Gesellschaft von etwa zwei Dutzend guten und
schlechten Büchern" - vom Code Napoléon über Hallers „Restauration"
und Kotzebues „Deutscher Geschichte" bis hin zu Aschers „Germanoma-
nie", was dem in der Burschenschaft sehr verbreiteten Antisemitismus zur
besonderen Genugtuung gereichte. Anschließend warf man noch einige
Symbole der Unfreiheit (Ulanen-Schnürleib, Zopf und Korporalstock) ins
Feuer.7
Die Ereignisse vom Oktober 1817, die ein großes publizistisches Echo
fanden, veranlaßten Friedrich Wilhelm III. zu einer Umfrage, wer an der
Veranstaltung teilgenommen habe. Er lobte die Königsberger Burschen, weil
sie sich ferngehalten hatten,8 ordnete aber an, alle Verbindungen sofort zu
verbieten und auch das Turnwesen scharf zu beaufsichtigen: „Ich werde
nicht den mindesten Anstand nehmen, diejenige Universität, auf welcher
der Geist der Zügellosigkeit nicht zu vertilgen ist, aufzuheben."9 Kurz vorher
hatte bereits Metternich dem preußischen Gesandten erklärt, daß nun die
Zeit gekommen sei, gemeinsam „auch gegen diesen Geist des Jakobinismus"
energisch vorzugehen. Ähnlich radikale Positionen vertraten Hardenberg
(der durch die studentischen Umtriebe seine Verfassungspläne gefährdet
sah) und der spätere Minister v. Kamptz (dessen „Gendarmerie-Kodex",
eine Sammlung deutscher Polizeigesetze, ebenfalls im Feuer gelandet war
und der öffentlich Genugtuung verlangte). Dagegen sah der Kultusminister
v. Altenstein die Lage als weniger bedrohlich an und behandelte die Uni-
versitäten zunächst noch „mit wohlwollender Schonung".
Die im September 1818 in Aachen stattfindende Gipfelkonferenz der
europäischen Großmächte beschäftigte sich ebenfalls mit den von den
deutschen Universitäten ausgehenden „demagogischen Umtrieben" und for-
derte zu erhöhter Wachsamkeit auf. Grundlage der Debatte war eine vom
russischen Staatsrat Stourdza vorgelegte Denkschrift, nach der an den
deutschen Universitäten eine auf den national-demokratischen Einheitsstaat
zielende Revolution vorbereitet werde. Maßgebende Kreise glaubten allen
Ernstes an die Verschwörung der von Stein, Niebuhr, Jahn und Görres
geleiteten 40.000 Rebellen, die Deutschland in eine liberale Republik ver-
wandeln wollten.10

7 Vgl. E. BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169], S. 6 4 - 6 9 ; H . v .


TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 4 2 4 - 430.
8 Am Jenaer Burschentag 1818 nahmen allerdings auch Studenten aus Königsberg
teil; vgl. W. NEUGEBAUER, Die Demagogenverfolgungen... (1988) [172], S. 222.
- E. BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169], S. 7 2 - 8 9 , betont die
intensive Zusammenarbeit von Kamptz und Wittgenstein mit Metternich in dieser
Frage, der teilweise unter Umgehung Hardenbergs auf den König einzuwirken
vermochte.
9 Die KO an v. Altenstein vom 7. XII. 1817: Ernst MÜSEBECK, Das Preußische
Kultusministerium vor hundert Jahren, Berlin — Stuttgart 1918, S. 187 f. Ein Aus-
zug bei H . von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2,
S. 431. Dort auch die beiden folgenden Zitate.
10 Hans HERZFELD, Allgemeine Entwicklung und politische Geschichte, in: Ders.
IX. Restauration und Reaktion 183

Die Befürchtungen wurden noch geschürt, als sich im Oktober 1818 in


Jena Vertreter von 14 Universitäten trafen und die „Allgemeine Deutsche
Burschenschaft" ins Leben riefen, „gegründet auf das Verhältnis der deut-
schen Jugend zur werdenden Einheit des deutschen Volkes". Der stolze
Anspruch, den Beitritt der gesamten Studentenschaft zu erzwingen und alle
anderen Verbindungen „ohne weiteres in Verruf" zu erklären, ließ sich
jedoch nicht durchsetzen. 11
Während sich die meisten Burschen als loyale Patrioten verstanden, was
auch aus ihrer Herkunft aus dem Bildungsbürgertum, aus Pfarrer- und
Beamtenfamilien zu erklären ist, vertrat die Gruppe der aus Gießen kom-
menden „Schwarzen" radikalere Ansichten, in denen sich konspirative,
revolutionäre und jakobinische Vorstellungen verbanden. Sie besaß in dem
Privatdozenten Karl Folien (1796 - 1 8 4 0 ) einen entschlossenen, zum Fana-
tismus neigenden Anführer, der erst in Gießen, seit dem Herbst 1818 in
Jena wirkte. Mindestens seit 1820 stand er auch in vertraulichem Verkehr
mit radikalen Geheimbünden in Frankreich. 1 2 In seiner Gruppe, die sich
später die „Unbedingten" nannte, wurde offen über den politischen Mord
als Mittel der Politik gesprochen. Knapp 25 Jahre nach der Schreckens-
herrschaft des Robespierre entwickelte Folien eine aus dem ethischen Ri-
gorismus der subjektiv gewonnenen Überzeugung erwachsende Philosophie,
die Gewalt und Terror rechtfertigte. 13 Auf diese Weise wurde er „der
Totengräber der Burschenschaft" und, wie man ergänzen könnte, auch der
Turnbewegung.

2. Die Karlsbader Beschlüsse

In den Augen der Burschenschaftler galt der politisierende Schriftsteller


August v. Kotzebue (1761 - 1819) als Symbolfigur für Reaktion und Unter-
drückung. Er hatte in seinem „Literarischen Wochenblatt" die Ideale der
Burschenschaft verspottet, vertrat die Ideen eines aufgeklärten Absolutis-
mus, lebte seit 1817 als russischer Staatsrat in Weimar und berichtete der
zaristischen Regierung über literarische Bestrebungen und die Verhältnisse
an den Universitäten in Deutschland. Am 23. März 1819 wurde Kotzebue
- „als Verführer der deutschen Jugend, als Schänder der deutschen Ge-

(Hg.), Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert
( = VHKzB, Bd. 25), Berlin 1968, S. 1 - 1 8 0 , hier S. 30 f. Vgl. auch E. BÜSSEM,
D i e K a r l s b a d e r B e s c h l ü s s e . . . ( 1 9 7 4 ) [ 1 6 9 ] , S. 1 0 1 - 1 2 8 , u n d E . R . H U B E R , D e u t -
s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 7 2 5 - 7 2 7 .
11 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 436.
12 Vgl. J. WÜST, Karl Folien... (1936) [162a], passim; zur Einschätzung seiner
radikalen Gruppierung: E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/
60) [49], Bd. 1, S. 724 f. und 731 f.
13 So T. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte... (1983) [17], S. 281. Vgl. dazu auch
E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 723 f.;
H . v o n TREITSCHKE, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [ 2 7 ] , B d . 2 , S. 4 4 2 .
184 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

schichte, als russischer Spion im deutschen Vaterlande" — von dem Bur-


schenschaftler Karl Ludwig Sand (1795 —1820) in Mannheim erstochen.
Der Attentäter, ein etwas schwerfälliger Fanatiker aus dem Kreis um Folien,
hatte den Mord kaltblütig geplant, zeigte auch später, nachdem ein Selbst-
mordversuch gescheitert war, keine Reue und bestieg erhobenen Hauptes,
ganz Märtyrer und Held, das Schafott (20. Mai 1820). 1 4 Ein zweiter Mord-
anschlag, von einem Studenten aus Gießen, der den „Schwarzen" nahestand,
am 1. Juli 1819 auf den nassauischen Regierungspräsidenten v. Ibell verübt,
schlug zwar fehl, konnte aber den preußischen König in den von ihm
inzwischen eingeleiteten Maßnahmen nur bestärken: er hatte bereits im Mai
den Polizeibehörden außerordentliche Vollmachten erteilt, eine Ministerial-
kommission zur Untersuchung der Vorfälle eingesetzt und die in Jena
studierenden Preußen zurückgerufen. 15 Der Direktor der Polizeiabteilung,
der Staatsrat v. Kamptz, nahm seine Aufgabe ernst und ließ im Juli erste
Haussuchungen und Verhaftungen durchführen. Jahn wurde in der Nacht
zum 14. Juli verhaftet und nach Spandau, später nach Küstrin gebracht, wo
man ihm Ketten anlegte. Der Buchhändler und Verleger Reimer hatte sich
eine Hausdurchsuchung gefallen zu lassen, der Theologe Schleiermacher
eine Überwachung seiner Predigten. In Bonn wurden Ernst Moritz Arndt
und die Brüder Welcker verhaftet. Nach einem Verfahren vor dem Ober-
landesgericht Breslau wurde Arndt im folgenden Jahr - bei Fortzahlung
seines Gehaltes — von der Wahrnehmung seiner Professur suspendiert; 16
ärger erging es seinem theologischen Kollegen de Wette in Berlin, der einen
„Trostbrief" an die Mutter des Attentäters Sand gerichtet hatte. Er verlor
als einziger der Berliner Ordinarien 1819 sein Amt als Hochschullehrer.
Gegen die Voten der Theologischen Fakultät und des Senats hatte Friedrich
Wilhelm III. die Entlassung befohlen. 17 Daß die Verfolgungen auch in
breitere Kreise hineinreichten, zeigt die Tatsache, daß bis Dezember 1819
von der Berliner Kommission 345 Personen als verdächtig ermittelt worden
sind. 18

14 Vgl. K.A. von MÜLLER, Karl Ludwig Sand... (1925) [160a], passim; H. von
TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 527. Zu Kot-
zebue: A . a . O . , S. 4 3 3 - 4 3 5 ; T. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte... (1983) [17],
S. 281.
15 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 530f.
16 Vgl. W. NEUGEBAUER, Die Demagogenverfolgungen... (1988) [172], S. 212; Jo-
hannes PAUL, Ernst Moritz Arndt. „Das ganze Teutschland muß es sein!"
( = PersG, Bd. 63/64, Göttingen - Zürich - Frankfurt/M. 1971, S. 94 - 97.
H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 544,
bemerkt in diesem Zusammenhang: „Für Preußen und sein Verhältnis zur Nation
ward der Unsinn dieser Demagogenverfolgung wahrhaft verhängnisvoll."
17 Vgl. K. KETTIG, Demagogen Verfolgungen... (1982) [171], S. 36 f.
18 P. WENTZKE, G e s c h i c h t e d e r D e u t s c h e n B u r s c h e n s c h a f t . . . ( 2 1 9 6 2 ) [ 1 6 2 ] , B d . 1,
S. 358 f. Zur Organisation und zur personellen Ausstattung der politischen Polizei
vgl. neuerdings die gründliche Studie von W. SIEMANN, „Deutschlands Ruhe..."
( 1 9 8 5 ) [ 1 7 3 ] , S. 1 7 4 - 1 9 0 .
IX. Restauration und Reaktion 185

Noch im Sommer hatte sich der preußische König diplomatische Rük-


kendeckung für sein rigoroses Vorgehen verschafft. In der Teplitzer Punk-
tation vom 1. August 1819 einigten sich Österreich und Preußen zunächst
auf eine gemeinsame Interpretation der Artikel 13 (Verfassungsfrage) und
18d (Pressewesen) der Bundesakte und beschlossen außerdem schärfere
Maßnahmen „in Hinsicht auf Universitäten, Gymnasien und Schulen",
wobei ausdrücklich auch die Entlassung mißliebiger Professoren vorgesehen
wurde. 19 Über die inhaltliche Ausformung dieser „Grundsätze" berieten
Minister der zehn größten deutschen Bundesstaaten (von 41!) vom 6. bis
31. August 1819 in Karlsbad 20 (siehe Tabelle 38 auf den S. 186 und 187).
Die dort gefaßten „Karlsbader Beschlüsse" wurden der Bundesversamm-
lung in Frankfurt a. M . am 16. September vorgelegt, die sie — nach einem
rechtlich höchst anfechtbaren Verfahren, das sogar als „Bundes-Staats-
streich" (Huber) bezeichnet worden ist — am 20. September zum Bundes-
gesetz erhob. Es handelte sich dabei um insgesamt vier Gesetze, die durch
ihre Eingriffe in die Souveränität der Einzelstaaten eine neue „Bundeskom-
petenz zur Unterdrückung der systemkritischen Opposition" (Wehler) schu-
fen und dem Deutschen Bund nun auch bundesstaatliche Züge verliehen.
Als Institution der Reaktion gewann er ein größeres Eigengewicht; man
kann es als eine Ironie der Geschichte betrachten, daß die von den Liberalen
immer erhoffte nationale Verfassungskomponente jetzt ihrer eigenen Ver-
folgung diente.
1) Das „Bundes-Universitätsgesetz" schuf die Grundlage zur Entlassung
mißliebiger Professoren und zur Relegation kritischer Studenten, die an
keiner anderen Universität wieder angestellt oder zugelassen werden durf-
ten. Wer sich künftig in burschenschaftlichen Vereinigungen, die samt und
sonders verboten wurden, betätigte, wurde von allen öffentlichen Ämtern
ausgeschlossen. Für die Überwachung des Lehrbetriebs sorgte an jeder
Universität ein landesherrlicher Kommissar. „Ohne ein befriedigendes Zeug-
nis seines Wohlverhaltens" konnte kein Student seine Universität wechseln. 21
2) Das „Bundes-Preßgesetz" führte für alle Druckerzeugnisse mit weniger
als 320 Seiten die Vorzensur, für alle übrigen Veröffentlichungen die Nach-
zensur ein. Widerspenstigen Redakteuren wurde ein fünfjähriges Berufsver-
bot angedroht. In besonderen Fällen konnte sogar die Bundesversammlung
aus eigener Autorität ein Verbot aussprechen, gegen das es keine Rechts-

19 Genaue Analyse: E. BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169], S. 2 6 3 -


289. Abdruck: H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27],
Bd. 2, S. 6 3 2 - 6 3 5 . Siehe auch oben S. 110 f.
20 Dazu grundlegend: E. BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169],
S. 290 ff.; weniger anspruchsvoll, aber mit vielen Zitaten aus den Protokollen der
Bundesversammlung: L. BENTFELDT, Der Deutsche Bund... (1985) [132],
S. 8 7 - 9 2 .
21 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 32, S. 101 f. Zum
Inhalt: E. BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169], S. 3 7 1 - 3 7 9 ; E . R .
HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 739 - 742.
186 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
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188 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

mittel gab. Dieses auf fünf Jahre befristete Gesetz wurde am 16. August
1824 auf unbestimmte Zeit verlängert. 22
3) Das „Bundes-Untersuchungsgesetz" rief eine siebenköpfige „Central-
Untersuchungs-Commission" ins Leben, die in Mainz amtieren sollte. Sie
erhielt Weisungsbefugnisse gegenüber den einzelstaatlichen Verwaltungen
und konnte Haft- und Durchsuchungsbefehle durch deren Polizei ausführen
lassen. Ziel der Kommission war eine „möglichst gründliche und umfas-
sende Untersuchung und Feststellung des Tatbestandes, des Ursprungs und
der mannigfachen Verzweigungen der gegen die bestehende Verfassung und
innere Ruhe... gerichteten revolutionären Umtriebe und demagogischen
Verbindungen". Zu Mitgliedern der Kommission wurden Österreich, Preu-
ßen, Bayern, Hannover, Baden, Hessen-Darmstadt und Nassau gewählt.
Ihren Hauptbericht erstattete sie am 14. Dezember 1827. Nachdem sie neun
Jahre als eine Art Verfassungsschutz des Bundes tätig gewesen war, stellte
sie ihre Tätigkeit im Herbst 1828 ein. 2 3
4) Die ebenfalls beschlossene „Provisorische Exekutions-Ordnung" wurde
bereits am 3. August 1820 durch ein definitives Bundesgesetz abgelöst. Mit
ihm erlangte der Bund die Möglichkeit des Einschreitens gegen widerspen-
stige Gliedstaaten und die Kompetenz der Intervention gegen umstürzleri-
sche Bewegungen in den Einzelstaaten.
Da die Karlsbader Beschlüsse, wie alle Bundesgesetze, der landesrechtli-
chen Verkündung und Vollziehung bedurften, nahm Friedrich Wilhelm III.
durch eine Bekanntmachung vom 18. Oktober 1819 die Publikation vor.
Die zwei ergänzenden Verordnungen über die Zensur vom 18. Oktober 1819
und über die Universitäten vom 18. November 1819 regelten die Kontroll-
und Überwachungsmaßnahmen bis in die letzten Einzelheiten. 24

22 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 33, S. 1 0 2 - 1 0 4 .


Zum Inhalt: E. BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169], S. 3 1 1 - 3 3 4 ;
E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 7 4 2 -
745. Zur Frage der Verlängerung der Geltungsdauer vgl. a. a. O., S. 743, Anm. 4.
23 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 34, S. 104f. Zum
Inhalt: E. BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169], S. 3 5 3 - 3 7 0 . Außer-
dem sind zu konsultieren: L. F. ILSE, Geschichte der politischen Untersuchungen...
(1860) [170], passim; E. WEBER, Die Mainzer Zentraluntersuchungskommis-
sion... (1970) [174], passim; W. SIEMANN, „Deutschlands Ruhe..." (1985) [173],
S. 76 — 86, der in der „Achse Metternich — Wittgenstein" ein tragendes Fundament
der Repressionspolitik bis zum Ende der 30er Jahre sieht (a. a. O., S. 78, Anm. 24).
Das erste preußische Mitglied der Kommission war der Geheimrat Grano, der
aber schon 1820 von einem hochrangigen Juristen, dem Präsidenten von Kaisen-
berg, abgelöst wurde.
24 Der Publikation der drei Bundesgesetze in Preußen am 18. X . 1819 (GS 1819,
S. 218 — 224) folgten eine eigene Zensurverordnung vom gleichen Tage ( a . a . O . ,
S. 227 — 232) und eine Universitätsverordnung vom 18. XI. 1819 (a. a. O., S. 233 —
238). Diese Verordnungen gingen über die bundesrechtlichen Rahmengesetze
noch hinaus, da sie beispielsweise sämtliche Druckerzeugnisse der Vorzensur
unterwarfen, die von einer eigenen Behörde, dem Ober-Zensur-Collegium in
Berlin, ausgeübt wurde. Die zweite Verordnung betraf auch die Universität
IX. Restauration und Reaktion 189

Betrachtet man diese beiden Verordnungen, die Preußen als willfährigen,


übereifrigen Vollstrecker der Metternichschen Reaktionspolitik erscheinen
lassen, ist es nicht erstaunlich, daß in der Literatur die Schärfe der Dema-
gogenverfolgungen in Preußen immer wieder betont wird, etwa im Gegen-
satz zu Bayern, Württemberg und Sachsen-Weimar, wo man sie nur „lässig
und widerstrebend" durchführte, weil man das einzelstaatliche Verfassungs-
recht (das es in Preußen allerdings nicht gab) für „übergeordnet" hielt. 25
Demgegenüber hat schon Treitschke darauf hingewiesen, daß man sich vor
einer einseitigen Betrachtung hüten müsse: „Die große Mehrzahl der Be-
amten zog sich, nachdem der erste Schrecken verraucht war, von dem
Unwesen der " Demagogenverfolger angeekelt zurück und betrachtete den
kleinen um Kamptz gescharten Häscherhaufen wie eine Pestbeule am Leibe
ihres ehrenhaften Standes." 2 6 Neuere Untersuchungen bestätigen die eben-
falls bereits von Treitschke geäußerte Ansicht, daß der langjährige preußi-
sche Kultusminister v. Altenstein als prominentestes Beispiel für jenen
Beamtentyp angesprochen werden kann, der eine zu rigorose Anwendung
der Karlsbader Beschlüsse zu verhindern suchte. 27 Mehr noch: Sowohl die
Kultusverwaltung als auch der Justizapparat — zumindest unterhalb des
Ministeriums — trieben eine notwendigerweise verdeckte Politik der Ab-
milderung. Sowohl die lokalen Aufsichtsinstanzen unterhalb der untersu-
chungsführenden Kommission in Berlin als auch die landesherrlichen Uni-
versitätskommissare waren in der Praxis alles andere als Speerspitzen der
Reaktion. Das galt für Bonn, Berlin, Breslau und Königsberg, etwas abge-
schwächt auch für Halle. 2 8
Die differenzierte Beurteilung der Demagogenverfolgungen in Preußen
darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Karlsbader Beschlüsse
die konstitutionellen und liberalen Impulse für etwa zwei Jahrzehnte blok-
kierten und dem Land — wie auch Österreich — eine politische Friedhofs-
ruhe bescherten. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß etwa
zeitgleich zwei andere politische Entscheidungen fielen, die den restaurativen
Zügen der preußisch-deutschen Politik ganz im Sinne Metternichs noch
stärkere Akzente verliehen. Die erste war die aus der Ministerkrise des
Jahres 1819 resultierende Entlassung der Minister Beyme, Boyen und Hum-
boldt sowie des Generals Grolman, wodurch die Reformpartei faktisch

Königsberg, obwohl sie außerhalb des Bundesgebietes lag. Vgl. zu diesen Ver-
ordnungen Claudia SCHLEICH, Der Vollzug der Ausnahmegesetze von 1819 in
Preußen, Magisterarbeit am FB Geschichtswissenschaften der FU Berlin 1987,
passim.
25 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 341.
26 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 3, S. 436. Zur
personellen Stärke des „Häscherhaufens" vgl. W. SIEMANN, „Deutschlands
Ruhe..." (1985) [173], S. 1 8 2 - 1 8 7 .
27 Vgl. E. BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169], S. 454.
28 Vgl. dazu W. NEUGEBAUER, Die Demagogenverfolgungen... (1988) [172], S. 216 -
223.
190 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

ausgeschaltet wurde; 2 9 die zweite betraf die seit dem November 1819 in
Wien stattfindenden Verhandlungen mit dem von Metternich angestrebten
Ziel, dem Statut des deutschen Bundes „endlich seine den Konservativen
genehme verbindliche Schlußfassung" zu geben. 30
Karlsbader Beschlüsse, preußische Vollzugsverordnungen, die Minister-
krise sowie die Wiener Schlußakte zeigen in ihrer Gesamtheit, daß der Streit
zwischen liberaler Verfassungsbewegung und Fürstenherrschaft auch in
Preußen erst in der „Grenzsituation von 1819/20" entschieden wurde.
Dementsprechend läßt sich in dieser Zeit in Preußen sogar noch eine
Verschärfung des Unterdrückungsinstrumentariums beobachten. Gleichzei-
tig mit der erwähnten „Instruktion für die außerordentlichen Regierungs-
bevollmächtigten bei den Universitäten" vom 18. November 1819 31 erschien
ein „Reglement für die künftige Verwaltung der akademischen Disziplin-
und Polizeigewalt bei den Universitäten", 32 das lediglich leichte Fälle, die
mit einem Verweis zu ahnden waren, dem Rektor überließ. Der Hauptzu-
ständige war der Universitätsrichter, ein den ordentlichen Professoren
gleichgestellter Regierungsbeamter mit Sitz und Stimme im Senat. Er konnte
die Verhaftung von Studenten anordnen und in Zivilrechts-, Straf- und
Disziplinarsachen bis zu vier Wochen Freiheitsstrafe verhängen. Bei Rele-
gation war der Senat zustimmungspflichtig; kam eine Einigung nicht zu-
stande, entschied der Staatskommissar. Seit einer Kabinettsorder vom 7. Juli
1821 konnte der Regierungsbevollmächtigte Studenten, die verdächtig
waren, unerlaubte Verbindungen zu unterhalten, ohne Mitwirkung des
Universitätsrichters oder des Senats sofort von der Universität entfernen. 3 3
Seit 1824 wurden alle burschenschaftlichen Verbindungen nicht mehr als
bloße Studentenorganisationen, sondern als geheime politische Verbindun-
gen angesehen und den entsprechenden Regelungen von 1798/1816 unter-
worfen. Dementsprechend waren für sie fortan die ordentlichen Gerichte
zuständig, die auf langjährige Festungsstrafen, auf lebenslangen Freiheits-
entzug oder sogar auf die Todesstrafe erkennen konnten. 3 4

29
S.o. S. 111.
30
H . - U . WEHLER, D e u t s c h e G e s e l l s c h a f t s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 8 7 ) [ 2 9 ] , B d . 2 , S. 3 4 2 .
31
A b d r u c k : E . R . HUBER ( H g . ) , D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 7 8 ) [ 5 0 ] , N r . 3 6 , S. 1 0 9 - 1 1 3 ; G S
1819, S. 2 3 3 - 2 3 8 ; zum Inhalt: E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 7 5 1 f.; C . SCHLEICH, D e r V o l l z u g d e r A u s n a h m e g e s e t z e . . .
(1987) [s.o. A n m . 24], S. 3 2 - 3 5 ; knapper: E. BÜSSEM, D i e Karlsbader Be-
s c h l ü s s e . . . ( 1 9 7 4 ) [ 1 6 9 ] , S. 4 5 2 - 4 5 4 .
32
Abdruck: GS 1819, S. 238; zum Inhalt: E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsge-
schichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 751 f.; C. SCHLEICH, Der Vollzug der Ausnah-
m e g e s e t z e . . . ( 1 9 8 7 ) [ s . o . A n m . 2 4 ] , S. 3 2 f f .
33
KO vom 7. VII. 1821 „betreffend die Bestrafung der Studierenden, welche uner-
laubte Verbindungen unterhalten"; zum Inhalt: E.R. HUBER, Deutsche Verfas-
sungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 752; C. SCHLEICH, Der Vollzug der
Ausnahmegesetze... (1987) [s.o. Anm. 24], S. 49f.
34
A . a . O . , S. 50f.; E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 1, S. 752 f. Abdruck der KO vom 21. V. 1824: GS 1824, S. 122.
IX. Restauration und Reaktion 191

Inwieweit die erwähnten Milderungstendenzen bei Justiz- und Kultus-


verwaltung im einzelnen zum Tragen kamen, bedarf noch der genaueren
Untersuchung. Bekannter sind jedenfalls die gegenteiligen Fälle, etwa der
des Turnvaters Jahn. Obwohl die Untersuchung keinerlei Beweise erbrachte
und der Kammergerichtsrat Ε. T. A. Hoffmann in einem Gutachten die
völlige Schuldlosigkeit Jahns nachwies, blieb er bis 1824 in Untersuchungs-
haft; die dann verhängte zweijährige Festungsstrafe wurde 1825 durch einen
Freispruch in zweiter Instanz aufgehoben. Doch durfte sich Jahn weder in
Berlin noch in einer anderen Gymnasial- oder Universitätsstadt niederlassen
und stand bis 1841 unter Polizeiaufsicht.
Gegen Ε. M . Arndt, der seit November 1820 von seiner Bonner Professur
suspendiert war, wurde drei Monate später eine Kriminaluntersuchung
eröffnet, die aber nichts Belastendes ergab. Dennoch blieb seine Sache in
der Schwebe; es gab weder einen Schuld- noch einen Freispruch, und
zeitweise drohte ihm die Strafversetzung. Auch weiterhin durfte er — bei
gekürzten Bezügen — sein Lehramt nicht ausüben, obwohl sich 1834 sogar
der Kronprinz für ihn einsetzte. Erst der Regierungswechsel 1840 brachte
ein Ende dieser eklatanten Ungerechtigkeit, „die von allen Sünden dieser
Demagogenjagd die häßlichste bleibt" (Treitschke). 35
Seinem Schwager Schleiermacher, dessen Schwester Nanna Arndt 1817
geheiratet hatte, blieb ein ähnliches Schicksal erspart. Die Ministerialkom-
mission empfahl im März 1820 allerdings eine Strafversetzung nach Kö-
nigsberg, da die Beweise für einen „Dienstabschied" wohl nicht ausreichten.
Dazu kam es zwar nicht, aber die kleinlichen Schikanen hörten nicht auf,
so daß Schleiermacher 1823 am liebsten den Dienst quittiert hätte, weil das
Leben in Berlin „so unaussprechlich trocken" geworden war. Er hielt aber
durch, um seiner Frau die Pensionsansprüche zu erhalten. 36
Das in Preußen zu beobachtende Mißverhältnis zwischen Aufwand und
Ertrag dieser Demagogenschnüffelei wurde auch auf Bundesebene deutlich,
als die Mainzer Kommission nach neunjähriger Tätigkeit am 14. Dezember
1827 ihren Bericht verabschiedete. 37 Er hielt an der grenzüberschreitenden
Verschwörungstheorie fest, mit der schon die preußische Staatszeitung am
13. Juli 1819 die ergriffenen Maßnahmen zur Ermittlung „demagogischer

35 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 3, S. 437£.;


W. NEUGEBAUER, Die Demagogenverfolgungen... (1988) [172], S. 212f.; J. PAUL,
Arndt... [s.o. Anm. 16], S. 96f.
36 Bericht der Ministerialkommission an den König vom 16. III. 1820, in: Wilhelm
WEISCHEDEL (Hg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur
Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, S. 279 —
283; Schleiermacher an De Wette, Sommer 1823, in: A . a . O . , S. 297f.
37 Vgl. dazu L.F. ILSE, Geschichte der politischen Untersuchungen... (1860) [170],
S. 50 f. Das vielbändige Konvolut wurde nebst Beilagen und Protokollen der
Bundesversammlung am 17.1.1828 übersandt. Die Lektüre war wohl so mühselig,
daß der Freiherr von Blittersdorf dem Bundestag erst drei Jahre später, am
14. März 1831, über die Arbeit der Kommission berichtete. Resümee des Berichts:
A.a. O., S. 5 7 - 8 6 ( 1 8 0 6 - 1 8 1 5 ) , 8 6 - 1 2 0 ( 1 8 1 6 - 1 8 1 9 ) , 1 2 0 - 2 0 6 ( 1 8 2 0 - 1 8 2 5 ) ;
der Bericht von Blittersdorf: A. a. O., S. 206 - 218.
192 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

Verbindungen und Umtriebe" gerechtfertigt hatte. 3 8 Als die intellektuellen


Urheber dieser revolutionären Bewegung bezeichnete der Bericht Schleier-
macher, Fichte und Arndt; der Tugendbund, den Friedrich Wilhelm III.
Ende 1809 aufgelöst hatte, galt ihm als die erste revolutionäre Zelle; zu den
frühen Beschützern und Förderern der „Bewegung", die es ja in Wirklichkeit
als geschlossene Formation gar nicht gab, rechnete der Bericht Stein, Gnei-
senau und Hardenberg. Indem die Kommission aber die Breite der bundes-
feindlichen politischen Richtungen, auch die potentielle Gefährlichkeit der
national-revolutionären Gruppe um Karl Folien deutlich machte und eine
Fülle von Material zusammentrug, war sie „eine wirksame Einrichtung des
Verfassungsschutzes im Metternich'schen Staatenbund". 3 9

3. Die Auswirkungen der Julirevolution

Der Sturz des reaktionären Bourbonenkönigs Charles X . während der


Pariser „Glorreichen Tage" ( 2 7 . - 2 9 . Juli 1830) und die Errichtung des
„Bürgerkönigtums" durch Louis Philippe d'Orléans löste in weiten Teilen
Europas revolutionäre Erschütterungen aus. Sie führten zur Zerstörung des
außenpolitischen Systems der Restauration. An die Stelle des einheitlichen
Mächtekonzerts der Pentarchie trat jetzt der Dualismus zwischen den li-
beralen Westmächten und den konservativen Ostmächten. Zudem bewiesen
die Ereignisse von 1830, daß es die Restaurationspolitik nicht vermocht
hat, die dynamischen Kräfte der Bewegung und des politischen Fortschritts
auf Dauer zu unterdrücken. Das von 1820 bis 1830 im Deutschen Bund
unangefochten herrschende „System Metternich" wurde jetzt radikal in
Frage gestellt; durch ganz Europa wehte wieder der „Geist der Revolution
und des Republikanismus" (Gneisenau). „Karlsbad schien zu verblassen"
(Wehler), und Gegner und Anhänger verstanden die Julirevolution „als eine
Wiedergeburt und als Vollendung der Ereignisse von 1789". 4 0
Infolge seiner Mittellage wurde Preußen von der Revolutionswelle des
Jahres 1830/31 sehr schnell sowohl im Westen als auch im Osten indirekt
betroffen, noch bevor die langfristig wirkenden Impulse auch im Innern der
preußischen Monarchie spürbar wurden. Zunächst sah sich der preußische
Staat durch den belgischen Unabhängigkeitskampf und durch den Aufstand
in Kongreßpolen außenpolitisch herausgefordert, mußte aber gleichzeitig
das Übergreifen der insurrektionellen Bewegungen auf die benachbarten
preußischen Provinzen, das Großherzogtum Posen und die Rheinprovinz,
zu verhindern suchen.
Die Sicherung der preußisch-russischen Grenze und die militärische Kon-
trolle der östlichen Grenzprovinz erfolgte vor dem Hintergrund einer ständig
zunehmenden öffentlichen Polenbegeisterung. Die liberale Opposition, in
den 20er Jahren zerschlagen und entmutigt, jetzt neu belebt durch die

38 Nach H. LUTZ, Zwischen Habsburg und Preußen... (1985) [15], S. 44.


39 E . R . H U B E R , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 7 4 9 .
40 T. SCHIEDER, Vom Deutschen Bund... (1970) [22], S. 118.
IX. Restauration und Reaktion 193

revolutionären Ereignisse, sah in den polnischen Ereignissen den Kampf um


einen nationalen Verfassungsstaat. Nachdem es bei einer ersten Solidaritäts-
aktion 1831 um Geldsammlungen, medizinische Hilfe und Lazarettmaterial
gegangen war, entstanden 1832 — nach der Niederschlagung der Erhebung
— zahlreiche Unterstützungsvereine zugunsten der Flüchtlingsströme. Preu-
ßen hat diese Hilfskomitees schon früh verboten, konnte aber ihre generelle
Aufhebung im Deutschen Bund nicht durchsetzen. Die „edlen" Polen —
„so lautete das unerläßliche schmückende Beiwort in den liberalen Zeitun-
gen, unedle Polen gab es nicht" — wurden in Gedichten von Platen,
Grillparzer und Lenau als Helden der Freiheit und Märtyrer gefeiert und
erschienen bei Banketten und auf Versammlungen als Festredner überall
dort, wo sich die politische Opposition regte. 4 1 „Als lebende Symbole des
gemeinsamen Kampfes gegen die innere und äußere Reaktion waren sie ein
die nationalen Gruppierungen des jungen Radikalismus verbindendes Fer-
ment." 4 2 In Berlin bildeten die Polenfreunde eine neue Keimzelle einer
liberalen Oppositionspartei, zu der neben dem Rechtsphilosophen Eduard
Gans auch Varnhagen v. Ense, seine Frau Rahel und der Historiker Friedrich
v. Raumer gehörten.
Im Westen der Monarchie kam es 1830 zu Tumulten in Köln, Elberfeld,
Jülich und Aachen. Auslösende Faktoren waren Lohnkürzungen, Arbeits-
losigkeit, schlechte Arbeitsbedingungen und Preissteigerungen für Brot in-
folge der Mißernte des Jahres 1830; akzelerierend wirkte zweifellos der
Demonstrationseffekt der Ereignisse in Frankreich und Belgien. Die eigent-
lichen Ursachen lagen indessen viel tiefer, denn sinkender Lebensstandard
und Arbeitsmangel waren die spürbaren Folgen einer schwer durchschau-
baren Strukturkrise der herkömmlichen Lebens- und Arbeitswelt. Bei dem
Aufruhr in Aachen am 28./30. August 1830 wurden in einem Akt des
symbolischen Vandalismus in der erstürmten Villa des Fabrikanten Cockerill
Wertsachen und Möbel zerstört und anschließend die Inhaftierten aus dem
Stadtgefängnis befreit. Da Ordnungskräfte und Stadtverwaltung hilflos
waren, ging eine rasch gebildete Bürgerwehr gegen die etwa 100 Unruhe-
stifter vor: Es gab sieben Tote und viele Verletzte. Von 150 Verhafteten
wurden später 74 angeklagt und 54 verurteilt. 43
Auch bei der Berliner „Schneiderrevolution" (16. — 20. September 1830)
handelte es sich um einen „gewalttätig zugespitzten Ausdruck typischer
Übergangsphänomene in einer gewerbereichen Stadt". Wegen der geringen
Polizeidichte im altpreußischen Berlin — 1848 kamen auf gut 400.000
Einwohner nur 204 Polizisten — wurde berittenes Militär zur Räumung
und Kontrolle der Straßen eingesetzt. Von den 208 Verhafteten erhielten

41 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 4, S. 210;


Martin BROSZAT, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik [1963], Frankfurt/M.
2 1978, S. 9 7 - 9 9 .
42 K.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 140.
43 Vgl. dazu H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,
S. 3 5 1 - 3 5 7 .
194 S 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

175 Polizeistrafen (10 — 20 Peitschenhiebe, 2 — 8 Tage Arrest, 14 Tage Ar-


beitshaus), 25 wurden den ordentlichen Gerichten überstellt.
Anders als in Aachen ist bei dem Berliner Aufruhr, bei dem auch fiska-
lische (Abschaffung der Miet- und der Hundesteuer) und allgemeinere
Forderungen (Rauchen im Tiergarten) erhoben wurden, eine eminent po-
litische Motivation festzustellen. Ein mit „Brutus" unterzeichnetes Flugblatt
schloß mit dem Aufruf: „Es lebe die Nation, es lebe eine repräsentative
Verfassung! Es lebe der konstitutionelle König!" — ein deutlicher Hinweis
darauf, daß man noch immer auf die Einlösung der königlichen Verfas-
sungsversprechen wartete. 4 4
Um die Jahreswende 1830/31 wurde Friedrich Wilhelm III. auch von
anderer Seite und in anderer Form an die verheißene Verfassung erinnert,
denn der Aachener Kaufmann David Hansemann übersandte ihm seine
„Denkschrift über Preußens Lage und Politik". Hansemann war der bedeu-
tendste Vertreter des rheinischen Bürgertums, das mit unverhohlener Sym-
pathie die Ereignisse in Belgien verfolgte. Er knüpfte Kontakte zu belgischen
Kaufleuten und Politikern und suchte die preußische Regierung zur Inten-
sivierung der Wirtschaftsbeziehungen zu veranlassen. Durch die Einbezie-
hung Belgiens in den Zollverein und in das entstehende Eisenbahnnetz sollte
das Rheinschiffahrtsmonopol der Holländer umgangen werden. Da die
Niederlande 1837 verkehrspolitische Konzessionen machten, verzögerten
sich die Verhandlungen, bis schließlich 1844 ein Handelsvertrag geschlossen
werden konnte, der dem Zollverein faktisch einen Freihafen in Antwerpen
einbrachte. 45
Es liegt auf der Hand, daß der rheinische Katholizismus auch die kon-
fessionelle Entwicklung in Belgien mit großem Interesse verfolgte. Insbe-
sondere während der „Kölner Wirren" gab es vielfältige Verbindungen.
Weitergehende Überlegungen wie die des Journalisten A. Bartels, die Rhein-
provinz aus Preußen herauszulösen und mit Belgien zu verbinden, stießen
aber am Rhein auf keine Gegenliebe. 46
Stärker als die beiden verfassungslosen Großmächte Preußen und Öster-
reich, die „auf eine bemerkenswerte Weise von ernsthaften Unruhen fast
unberührt" blieben, wurden die deutschen Mittel- und Kleinstaaten von der
von Frankreich ausgehenden revolutionären Welle erschüttert. 47 Sozialer
Protest und Verfassungsbewegung gingen häufig Hand in Hand und er-
zwangen in Braunschweig, Kurhessen, Hessen-Darmstadt und Sachsen den

44 Vgl. I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 5 2 5 - 5 2 8 ;
Karl HAENCHEN, Zur revolutionären Unterwühlung Berlins vor den Märztagen
des Jahres 1848, in: FBPG, Bd. 55 [1944], S. 8 3 - 1 1 4 , hier S. 8 3 - 8 6 . Zur Poli-
zeistärke vgl. Hermann-Josef RUPIEPER, Die Polizei und die Fahndungen anläßlich
d e r d e u t s c h e n R e v o l u t i o n v o n 1 8 4 8 / 4 9 , in: V S W G , B d . 6 4 ( 1 9 7 7 ) , S. 3 2 8 - 3 5 5 ,
hier S. 332 f.
45 K.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 138f.
46 Zu den „Kölner Wirren" s. o. § 3, VIII, 4.
47 Vgl. dazu H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,
S. 3 4 7 ff.
IX. Restauration und Reaktion 195

Übergang zu moderneren konstitutionellen Formen. Auch in Baden, Würt-


temberg und Bayern kam es zu einer Verhärtung der Fronten und zu daraus
resultierenden Konflikten und Protestbewegungen.
Sichtbarstes Fanal dieser Aufbruchstimmung der liberalen und nationalen
Kräfte war das Hambacher Fest (27. Mai 1832), das mit seinen 20.000 bis
30.000 Teilnehmern als „die erste politische Volksversammlung der neueren
deutschen Geschichte" (Th. Heuss) bezeichnet worden ist. Die enorme
Resonanz dieser Veranstaltung in der liberalen Öffentlichkeit bestätigte die
in konservativen Kreisen vertretene Meinung, dieses Fest sei „seinem Prinzip
nach für Deutschland das, was die Juli-Revolution für Frankreich war". 4 8
Die Antwort der reaktionären Kräfte im Deutschen Bund war eine neue
Welle von Repressionsmaßnahmen, die bereits mit den „Maßregeln zur
Herstellung und Erhaltung der Ruhe in Deutschland" vom 21. Oktober
1830 eingeleitet worden war, um den „aufrührischen Vorfällen" (sie!) ent-
gegenzutreten und die „an verschiedenen Punkten Deutschlands sichtbar
gewordene Aufregung" zu dämpfen. 49
In geheimen Gesprächen bereiteten Preußen und Österreich die nächsten
Schritte vor. Den Sechs Artikeln, die die Bundesversammlung am 28. Juni
1832 „zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutsch-
land" beschloß, folgten nur eine Woche später mit deutlichem Bezug auf
das Hambacher Fest die Zehn Artikel „zur Aufrechthaltung der gesetzlichen
Ruhe und Ordnung im Deutschen Bunde" (5. Juli 1832). Der mißglückte
Frankfurter Wachensturm vom 3. April 1833, „eine schlecht vorbereitete,
nur Stunden währende Attacke einiger idealistisch-radikaler Brauseköpfe"
(Wehler), die immerhin mehrere Tote kostete, führte zur Errichtung der
Bundes-Zentralbehörde am 30. Juni 1833. 5 0 Dieses neue Inquisitionsorgan,
das seinen Sitz in Frankfurt hatte, war mit umfassenden gerichtlichen
Vollmachten ausgestattet und ermittelte bis zu seiner Auflösung im Jahre
1842 gegen mehr als 2.000 Verdächtige, die in dem berüchtigten „Schwarzen
Buch" registriert wurden.
Einen weiteren Versuch Metternichs, der „allgemeinen Umwälzungspartei
Europas" auf Bundesebene entgegenzutreten, stellten die „60 Artikel" dar
— ein Paket von reaktionär-repressiven Bestimmungen, die eine Minister-
konferenz in Wien von Januar bis Juli 1834 ausarbeitete. Wohl um die
allgemeine politische Unzufriedenheit nicht weiter anzuheizen, erhob der
Bundestag lediglich achtundzwanzig Artikel (Artikel 3 — 14 und 42 — 57) zu
formellen Bundesgesetzen; an die übrigen wollten sich die Regierungen

48 A. a. O., S. 365.
49 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 43, S. 1 3 0 - 1 3 2 .
50 Vgl. H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,
S. 366f.; Abdruck der drei Bundesbeschlüsse: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente...
( 3 1978) [50], Nr. 44 - 46, S. 1 3 2 - 1 3 6 . Zur Bundes-Zentralbehörde vgl. W. SIE-
MANN, „Deutschlands Ruhe..." (1985) [173], S. 9 3 - 1 0 8 . Wegen der Quellennähe
unentbehrlich: L.F. ILSE, Geschichte der politischen Untersuchungen... (1860)
[170], S. 265 ff. Preußen entsandte den Kammergerichtsrat von Eichmann in die
Untersuchungsbehörde.
196 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution

gleichwohl „ebenso gebunden" fühlen, als ob es sich um „förmliche Bun-


desbeschlüsse" handle. Erst 1843 sind diese geheimgehaltenen Artikel be-
kannt geworden. 51
Für die strafrechtliche Verfolgung der zentral- oder landespolizeilich
ermittelten Verdächtigen waren die Gerichte der Einzelstaaten zuständig,
die bei ihren Urteilen sehr unterschiedliche Maßstäbe anlegten. Preußen hat
sich bei der 1832/33 einsetzenden zweiten Welle der Demagogenverfolgun-
gen besonders exponiert und ließ sogar Agenten außerhalb seines Staats-
gebietes operieren. 52 Die oberste Zuständigkeit lag bei einer am 23. Juli
1833 eingerichteten Ministerialkommission mit staatspolizeilichen Kompe-
tenzen, die dem Kammergericht übergeordnet war. Da es in Preußen kaum
revolutionäre Umtriebe gegeben hatte, ging es bei den Verfahren in den
meisten Fällen um die Zugehörigkeit zur Burschenschaft, in der das Kam-
mergericht eine „Verbindung mit hochverräterischen Zwecken" sah, was
empfindliche Strafverschärfungen ermöglichte. Allein bis zum Jahre 1836
sollen mehr als tausend Untersuchungen vor dieser Kommission, die bis
1840 bestand, stattgefunden haben. 1835 wurde die ausschließliche Zustän-
digkeit für alle „Verbrechen und Vergehungen wider die Verfassung und
wider die öffentliche Ordnung und Ruhe" im Bereich der gesamten Mo-
narchie dem Berliner Kammergericht übertragen.
Die ständig steigenden Verhaftungszahlen hatten es schon in den 20er
Jahren erforderlich gemacht, die Gefängniskapazitäten zu erhöhen. 1827
wurden die Berliner Stadtgefängnisse, die ständig voller Untersuchungs-
häftlinge waren, erweitert und die abgeurteilten Gefangenen in das Haus-
vogteigefängnis verlegt. 1830 wurden auf dem Molkenmarkt und 1832 am
Alexanderplatz neue Gefängnisse gebaut, wodurch sich die Aufnahmemög-
lichkeiten verdreifachten. In den Jahren 1829 bis 1840 sollen 122.337 Ver-
haftete durch diese Gefängnisse gegangen sein. Auch das Gefängnis im
Köpenicker Schloß erfreute sich trauriger Berühmtheit. In den 30er Jahren
waren die Gefängnisse erneut überfüllt, die Postüberwachung wurde zur
Regel, der Berliner Zensor John überbot sich selbst in immer neuen Quä-
lereien, Schikanen und Bedenklichkeiten und erhielt dafür den Roten Ad-
lerorden. 53

51 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 47, S. 1 3 7 - 1 4 9 .


Zur Inkraftsetzung vgl. a. a. O., Anm. 2, 9 und 13. Knappe Zusammenfassung
des Inhalts: E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,
S. 1 8 0 - 1 8 4 .
52 W. NEUGEBAUER, Die Demagogen Verfolgungen... (1988) [172], S. 224. - Zur
preußischen Ministerialkommission vgl. W. SIEMANN, „Deutschlands Ruhe..."
(1985) [173], S. 1 9 0 - 1 9 6 ; E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/
60) [49], Bd. 2, S. 176f.; W. NEUGEBAUER, a . a . O . , S. 225 - 227.
53 Nach Adolf STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur
Weltstadt. Geschichte und Sage, Berlin 3 1880, S. 785, wurde eine Novelle, in der
ein Liebespaar durch eine umstürzende Postkutsche einander nähergekommen
sei, gestrichen: da ein preußischer Postwagen nicht umstürze, sei in der Behaup-
tung eine Verhöhnung der königlichen Post zu erblicken; dazu auch: K. A.
VARNHAGEN VON ENSE, T a g e b ü c h e r . . . ( 1 9 0 5 ) [ 1 3 0 ] , B d . 1, S. 3 4 f .
IX. Restauration und Reaktion 197

Eskalierend wirkten zweifellos die Unruhen vom 3. bis 5. August 1835.


Als die Berliner den Geburtstag des Königs trotz Verbotes mit Raketen und
Schwärmern zu feiern begannen, kam es zu Handgreiflichkeiten, aus denen
sich regelrechte Straßenschlachten entwickelten. Erneut konnten erst die
herbeigerufenen Truppen die Ordnung in der Stadt wiederherstellen.
Diese „Feuerwerks-Revolution" war weniger politisch motiviert als
die Septemberunruhen von 1830; dennoch kann das Ereignis nicht ohne den
Hintergrund der jahrelangen Verfolgungen gesehen werden. Es war eine
Selbsttäuschung, wenn eine Kabinettsorder behauptete, die Unruhen seien
„nur einem zügellosen Haufen der niedrigsten Volksklasse zur Last zu
legen". Unter den 152 Verhafteten waren zumeist Arbeiter, Gesellen und
Lehrburschen, aber auch Vertreter anderer Stände, beispielsweise ein Offi-
zier a. D., ein Student und ein Referendar. Nach den Straßenschlachten, bei
denen Knüppel und Steine auf der einen, Säbel auf der anderen Seite
eingesetzt wurden, zählte man über 100 Schwerverwundete: 40 Soldaten,
32 Gendarmen und 25 Aufrührer, von denen zwei später starben. 54
Ein Jahr danach, am 4. August 1836, fällte das Kammergericht seinen
berüchtigten Spruch gegen 204 angeklagte Burschenschaftler: 39 wurden
zum Tode, 165 zu lebenslanger oder langjähriger Haft verurteilt. Die To-
desstrafen wurden allerdings schon am 11. Dezember 1836 durch eine
Kabinettsorder teils in lebenslange, teils in 30jährige Festungshaft umge-
wandelt. Davon profitierte auch Fritz Reuter, der als Mecklenburger in
Sachsen-Weimar der Burschenschaft angehört hatte und trotzdem in Preu-
ßen verurteilt wurde. 55 Insgesamt wird man für Preußen eine „stufenweise
Amnestierung als zeittypische Praxis" annehmen können, vor allem bei den
Todesstrafen: „An die Möglichkeit solcher Hinrichtungen glaubte aber
niemand mehr; der König verwandelte die Strafe erst in 30jährige, dann in
8jährige Festungshaft, gänzlich begnadigt wurden nur wenige." 5 6
Diesen Abmilderungstendenzen entsprach es, daß auch bei einer späteren
Anstellung ehemaliger Burschenschaftler im Staatsdienst „ein Begnadigungs-
system praktiziert wurde, das gewissermaßen spiegelbildlich mit der zeit-
weise strengen Verfolgungspraxis korrespondierte". Selbst auf dem Höhe-
punkt der zweiten Verfolgungswelle wurde „behördenintern an den Wegen
und Kanälen für Begnadigungen gearbeitet" und in den Jahren 1835/36
sogar eine Art Verfahrensmuster festgelegt: Nur wer in einem akademischen
Disziplinarverfahren mit der Höchststrafe, der Relegation, bedacht worden
war, benötigte zur Anstellung einen persönlichen königlichen Gnadenerweis.
Auch Kandidaten, die strafrechtlich verurteilt worden waren, blieben -
nach jeweiliger Prüfung des einzelnen Falles — von der Möglichkeit des
Straferlasses nicht ausgeschlossen. 57

54 Vgl. I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 530f.
55 E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 176,
Anm. 18.
56 W. NEUGEBAUER, Die Demagogen Verfolgungen... (1988) [172], S. 226; H. von
TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 4, S. 612.
57 Zu diesen Schlußfolgerungen kommt aufgrund der ihm vorliegenden Akten
198 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

Betroffen durch die harten Verfolgungsmaßnahmen, zogen sich in den


letzten Regierungsjähren Friedrich Wilhelms III. viele ins politische Abseits
zurück und bevorzugten eine Haltung der vorsichtigen Anpassung und des
Abwartens. Auf den ersten Blick schien in diesen Jahren jedes politische
Leben in Preußen und seiner Hauptstadt erstorben. „Der ganze Staat", so
räsonierte Varnhagen v. Ense, „ist von hier aus angesteckt mit Schalheit
und Mattigkeit, Verdruß und Langeweile." 5 8 Daß dies nur teilweise zutraf,
zeigte die Erregung, mit der man in Preußen 1837 den Fall der sieben
Göttinger Professoren diskutierte, die der König von Hannover abgesetzt
hatte. Trotz amtlicher Proteste sammelten an der Universität Berlin Profes-
soren und Studenten für die entlassenen Göttinger Gelehrten. Zwei von
ihnen, der Jurist Albrecht und der Physiker Weber, bekamen von der
Universität Königsberg demonstrativ die Ehrendoktorwürde verliehen. 59
Der spätere Kultusminister Eichhorn, Savigny und Bettina v. Arnim hofften,
der König würde den einen oder anderen an eine preußische Hochschule
berufen. Der Innenminister v. Rochow war anderer Meinung. In seinem
berühmten Brief an den Elbinger Kaufmann van Riesen dozierte er, daß es
dem Untertanen nicht zieme, „die Handlungen des Staatsoberhauptes an
den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkel-
haftem Übermut ein öffentliches Urteil über die Rechtmäßigkeit derselben
anzumaßen". 6 0 Der Volksmund machte aus diesen Sätzen, „deren maßloser
bürokratischer Hochmut den preußischen Staat vor aller Welt bloßstellte"
(Treitschke), das geflügelte Wort vom „beschränkten Untertanenverstand".
Der Brief kursierte in Hunderten von Abschriften und gab die ungeliebte
Regierung obendrein der Lächerlichkeit preis.
Die Berufungshoffnungen wurden indessen enttäuscht. Solange der alte
König, der 67 Jahre alt war, noch die Regierungsgeschäfte führte, würde
sich, das war die allgemeine Auffassung, an den Grundlinien der preußischen
Politik nichts ändern.

§ 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

Während es unter europäischer und auch gesamtdeutscher Perspektive


durchaus sinnvoll ist, die Ereignisse von 1830 als epochemachend zu werten
und den folgenden Zeitabschnitt mit seinen auf die Märzrevolution von

W. NEUGEBAUER, Die Demagogenverfolgungen... (1988) [172], S. 236 und 240f.;


die beiden Erlasse des Justizministers vom 9. IV. und 30. IV. 1836, a. a. O., S. 240
(mit Anm. 124).
58 E i n t r a g u n g v o m 7 . X I I . 1 8 3 9 ( Κ . A . VARNHAGEN VON E N S E , T a g e b ü c h e r . . . [1905]
[ 1 3 0 ] , B d . 1, S. 1 5 5 ) .
59 W. NEUGEBAUER, Die D e m a g o g e n Verfolgungen... (1988) [172], S. 2 2 2 ; allgemein:
E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1857/60) [49], Bd. 2, S. 91 - 1 0 6 .
60 Zit. von H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 4,
S. 664.
I. Der Regierungswechsel 199

1848 zulaufenden Entwicklungen sozusagen von seinem Ende her zu defi-


nieren und als „Vormärz" zu bezeichnen, erscheint es für Preußen ange-
messener, den Beginn dieser Phase erst 1840 anzusetzen. 1 Die konservativen
Kräfte erwiesen sich im letzten Jahrzehnt der Regierung des wenig experi-
mentierfreudigen Königs Friedrich Wilhelm III. als stark genug, um uner-
wünschte Änderungen der politischen Landschaft energisch zurückzuweisen.
Nirgendwo in Preußen konnten sich in den 30er Jahren die hier und da
aufflammenden liberalen Impulse zu einer wirksamen politischen Kraft
verdichten. Kollektive Protestaktionen und Ausbrüche des Unmuts gegen
obrigkeitliche Gängelung waren kurzlebige Erscheinungen und verpufften
nach ihrer gewaltsamen Niederschlagung ohne nennenswerte politische
Folgen. Während sich in den meisten deutschen Ländern die Dinge in den
40er Jahren kontinuierlich weiterentwickelten, entstand in Preußen nach
1840 eine neue politische Lage.

I. Der Regierungswechsel

Friedrich Wilhelm III. war ein beliebter König. Alles, was Gutes in Preußen
geschah, schrieb man dem König zu, seiner Gerechtigkeit und seiner Gut-
mütigkeit, während man die Summe der unbeliebten Maßnahmen seinen
Ministern und Ratgebern anlastete. Mit der Zeit fand sich die Öffentlichkeit
auch damit ab, daß Friedrich Wilhelm am 9. November 1824 mit der dreißig
Jahre jüngeren Gräfin Auguste v. Harrach eine morganatische Ehe einge-
gangen war. Die neue Gemahlin, vom König zur Fürstin von Liegnitz
erhoben, lebte mit ihm und pflegte ihn in Krankheitsfällen „wie eine rechte
Bürgerfrau". 2
Da seine Vorfahren Friedrich I. 1440, Georg Wilhelm 1640 und Friedrich
Wilhelm I. 1740 gestorben waren, glaubte Friedrich Wilhelm fest daran,
das Jahr 1840 nicht zu überleben. Tatsächlich schwanden im Laufe des
Frühjahrs seine Kräfte. Der Grundsteinlegung des Friedrich-Denkmals am
1. Juni konnte er nicht mehr beiwohnen. Er starb am 7. Juni 1840.
Als Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestieg, war das für die Öffentlich-
keit eine Stunde der Hoffnung. Er wurde „von den Liberalen mit hoff-
nungsvollen Wünschen, von den Konservativen mit dem Bewußtsein gehei-
men Einverständnisses, von der Beamtenschaft mit Skepsis und von der

1 Die Verwendung der Begriffe „Vormärz" und „Restauration" als Epochenbezeich-


nung erfolgt häufig unreflektiert. Beispielsweise geht R. KOCH, Deutsche Ge-
schichte... (1985) [131], auf die von ihm selbst als Untertitel formulierte Frage
„Restauration oder Vormärz?" in seiner Darstellung überhaupt nicht ein. Zur
Problematik des „Vormärz"-Begriffes vgl. K.-G. FABER, Deutsche Geschichte...
(1979) [12], S. 136f.; R. RÜRUP, Deutschland im 19. Jahrhundert... (1984) [21],
S. 144.
2 Adolf STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt.
Geschichte und Sage, Berlin 3 1880, S. 805.
200 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

sonstigen Bevölkerung mit Neugier, Staunen oder Stumpfsinn begrüßt". 3


Zuerst hatten die Liberalen Grund zum Jubeln: Der frühere Minister
v. Boyen wurde aus seinem selbstgewählten Ruhestand unter Beförderung
zum General in den aktiven Dienst zurückberufen und erhielt im März
1841 erneut das Kriegsministerium übertragen. Arndt durfte seine Lehrtä-
tigkeit an der Universität Bonn wieder aufnehmen, die ihn für das Amtsjahr
1840/41 zu ihrem Rektor wählte. Aufgrund einer am 10. August verkündeten
Amnestie wurden die politischen Gefangenen entlassen und alle schweben-
den Verfahren niedergeschlagen. Die berüchtigte Ministerialkommission
verschwand. Jakob und Wilhelm Grimm wurden zu ordentlichen Mitglie-
dern der Berliner Akademie der Wissenschaften ernannt mit dem Recht,
Vorlesungen an der Universität zu halten. 1842 wurde der ebenfalls zu den
Göttinger Sieben gehörende Historiker Dahlmann an die Universität Bonn
berufen.
Gemäß seiner christlich-konservativen Staatsauffassung war der neue
König geneigt, das Verhältnis von Staat und Kirche auf der Grundlage freier
Übereinstimmung zu ordnen und ein Bündnis von Thron und Altar zu
schaffen, um auf diesem Wege auch den preußischen Kirchenkonflikt bei-
zulegen. 4 Noch im Juli 1840 erlaubte er dem aufs Land verbannten Droste
die Übersiedelung nach Münster, freilich nicht nach Köln. Der in Kolberg
einsitzende Dunin wurde sogar begnadigt und durfte in sein Amt zurück-
kehren — was sich unter dem Geläut der seit 1837 verstummten Glocken
zu einer wahren Triumphfahrt gestaltete. Die Polen erblickten in der Frei-
lassung des Erzbischofs außerdem ein Zeichen eines grundsätzlichen Kurs-
wechsels und drängten auf eine Abberufung des verhaßten Oberpräsidenten
v. Flottwell.
Nachdem Friedrich Wilhelm IV. diese Zeichen gesetzt hatte, begannen
langwierige Verhandlungen mit dem Vatikan. Die Regierung machte schließ-
lich Zugeständnisse in der Mischehenfrage, in der Duldung des freien
Verkehrs der Bischöfe mit Rom und in dem umstrittenen Verfahren der
Bischofswahl und -ernennung. Der bisherige Bischof von Speyer, Johannes
Geissei, wurde 1841 zum Koadjutor, nach dem Tode Drostes 1845 zum
Erzbischof von Köln ernannt. Mit Recht konnte dieses Ergebnis, gemessen
an der Ausgangslage 1837, als ein weitgehender Sieg der katholischen Kirche
verstanden werden. Sichtbarer Ausdruck dieser neuen Konstellation wurde
die Einrichtung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministe-
rium am 14. Februar 1841.
Die Aussöhnung des protestantischen Landesherrn mit seinen katholi-
schen Provinzen und die in der Rheinkrise von 1840 zum Ausdruck gekom-
mene nationale Begeisterung verband sich im Kölner Dombaufest vom

3 Gerd HEINRICH, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt/M.-Ber-


l i n - W i e n 1981, S. 345.
4 S. o. § 3, VIII, 4. Knappe Zusammenfassung der Ergebnisse: K.-G. FABER,
Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 155. Ausführlicher, nicht ohne Polemik:
H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 2 9 6 -
301.
I. Der Regierungswechsel 201

September 1842 zu einer feierlichen und symbolhaften Demonstration. Die


Initiativen von August Reichensperger, der den unfertigen Dom 1840 als
„Nationaldenkmal" gepriesen hatte und zur Gründung eines Fördervereins
aufrief, stießen bei Friedrich Wilhelm IV. auf starkes Entgegenkommen. Er
hatte schon als Kronprinz, angeregt durch Joseph Görres und den Kölner
Kunstsammler Sulpiz Boisserée, dem wir auch eine „Geschichte und Be-
schreibung des Doms von Köln" verdanken, Schinkel mit einer Begutach-
tung der vom Verfall bedrohten Bauruine betrauen lassen. Die seit dem
15. Jahrhundert fertiggestellten Teile, das Langschiff und die Seitenhallen,
waren später provisorisch abgedeckt worden und hatten den Franzosen als
Magazin gedient. Zeitweise dachte man sogar daran, „die alte gotische
Steinmasse" (Treitschke) ganz abtragen zu lassen. Auf dem Stummel des
Südturms stand wie „ein riesig Fragezeichen" noch ein alter Kran, in dem
patriotischer Überschwang bald ein Symbol für Deutschlands Zerrissenheit
erblickte.
Der Wunsch des preußischen Königs, daß „das Vorhandene erhalten
werden solle", führte 1823 zur Aufnahme der Renovierungs- und Konser-
vierungsarbeiten, ohne daß zunächst an einen Weiterbau, geschweige denn
an die Fertigstellung des Doms gedacht wurde. Erste derartige Überlegungen
kamen von dem die Arbeiten seit 1833 leitenden Baumeister Zwirner, dessen
Bauhütte einen hervorragenden Ruf hatte. Die künstlerisch-architektonische
Herausforderung verknüpfte sich 1840/41 mit der nationalen Aufbruchs-
stimmung, mit dem romantisch verklärten, oft dichterisch überhöhten Blick
auf das Mittelalter, mit dem Kölner Stadt- und Reichspatriotismus und mit
den persönlichen Wünschen und Interessen des neuen Königs, der ohne
Zögern das Protektorat über den im Dezember 1841 gegründeten Zentral-
Dombauverein übernahm und eine jährliche Summe von 50.000 Talern
zusagte.
Die feierliche zweite Grundsteinlegung — nach der ersten vom 14. August
1248 — fand am 4. September 1842 statt. Friedrich Wilhelm rühmte in
seiner Rede das Projekt als das „Werk des Brudersinnes aller Deutschen,
aller Bekenntnisse" und sprach „von einem durch die Einigkeit seiner
Fürsten und Völker großen, mächtigen.. .Deutschland", während der alte
Kran den ersten Baustein auf den unvollendeten Südturm hinaufzog. 5
Auch in anderer Hinsicht hatte der Katholizismus aus der Defensive
dieser Jahre heraus zahlreiche Aktivitäten entfaltet, die in den 40er Jahren
zu voller Blüte kamen. Bruderschaften und andere kirchliche Vereinigungen
erhielten ebenso wie das Prozessions- und Wallfahrtswesen neuen Auftrieb.
Höhepunkt dieses wiedererstarkten Katholizismus wurde die Wallfahrt zum
Heiligen Rock von Trier im Jahre 1844, als in nur 50 Tagen rund eine halbe
Million Menschen an dieser „Pilgerfahrt der rheinischen Völker" (Görres)
teilnahmen. Neuere Forschungen haben gezeigt, daß diese Mobilisierung
von Hunderttausenden auch die Funktion eines Ablenkungsmanövers hatte,
da die Verelendung größere Teile des Rheinlandes, vor allem des Moseltales

5 Vgl. F. KEINEMANN, Das Kölner Ereignis... (1974) [177], T. 1, S. 3 0 8 - 3 1 0 .


202 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

und der Eifel, ergriffen hatte. Dieses Faktum erklärt auch die wohlwollende
Duldung der Aktion durch die preußischen Behörden. 6
Zu den mit dem Regierungswechsel zusammenhängenden Neuerungen
gehörte auch die allerdings erst im Dezember 1841 verfügte Lockerung der
Zensur. Der Charakter der gedruckten öffentlichen Meinung veränderte
sich schlagartig, vor allem seit auch der Druck von Lithographien und
Kupferstichen freigegeben wurde (28. Mai 1842). Angesichts der überschäu-
menden politischen Publizistik, der man endlich ein Ventil geöffnet hatte,
wurde das Experiment schrittweise wieder zurückgenommen und am
23. Februar 1843 eine neue Organisation der Zensurbehören geschaffen. 7
Zu dieser Zeit war die Euphorie, mit der man die ersten Maßnahmen des
neuen Königs begrüßt hatte, längst verflogen.

II. Der König und seine Ratgeber


Daß „die frohen Tage der Erwartung" (Treitschke) bald durch Jahre der
Enttäuschung abgelöst werden würden, ließ sich bereits beim Huldigungs-
Landtag in Königsberg absehen, als Friedrich Wilhelm IV. von der Stän-
deversammlung am 7. September 1840 gebeten wurde, die von seinem Vater
„verheißene Bildung einer Versammlung von Landesrepräsentanten ... al-
lergnädigst zuzusichern". Da die Ablehnung in wie gewohnt wohltönenden,
freilich vieldeutigen Worten und in sehr huldvoller Form erfolgte, glaubten
die optimistischen Landstände, „mindestens eine halbe Gewährung" erhal-
ten zu haben. Das war ein verhängnisvolles Mißverständnis, dem noch eine
lange Reihe anderer folgen sollte. Den aufbrechenden Streit um die Inter-
pretation der königlichen Sätze beendete eine Kabinettsorder vom 4. Ok-
tober 1840, mit der sich Friedrich Wilhelm von dem Verfassungsversprechen
von 1815 ausdrücklich distanzierte. 1
Es war sicher ein Fehler, daß sich der König beileibe nicht immer so
deutlich ausgesprochen hat. Deshalb wurde, nach dem bekannten Wort
Treitschkes, „die erste Zeit seiner Regierung eine lange Kette von Mißver-
ständnissen", wobei die Differenzen freilich rasch über die Stufe der ,Miß-
verständnisse' hinausführten und zu ernsthaften Auseinandersetzungen,
Zerwürfnissen und Konfrontationen führten. Das lag zu einem guten Teil
in dem vielschichtigen Charakter des Königs begründet, der „eine der

6 W. SCHIEDER, Kirche und Revolution... (1974) [179], S. 419 - 454. Sehr sarkastisch
äußert sich dazu H. v. TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27],
Bd. 5, S. 335 f.
7 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 543f.
1 Noch immer lesenswert ist das eingehende, mit „Die frohen Tage der Erwartung"
überschriebene Einleitungskapitel von Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Ge-
schichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 3ff., insbes. S. 4 0 - 4 8 . Ob der Oberprä-
sident v. Schön den Ständebeschluß vom September veranlaßt hat, ist umstritten.
Jedenfalls entsprach er seinen Intentionen (E. R. HUBER, Deutsche Verfassungs-
geschichte... [1957/60] [49], Bd. 2, S. 486, Anm. 44).
II. Der König und seine Ratgeber 203

kompliziertesten und rätselhaftesten Persönlichkeiten, die je den preußi-


schen Thron bestiegen", war. Der meist liebenswürdige, hochbegabte und
kunstsinnige „Romantiker auf dem Throne" (David Friedrich Strauß) zeigte
eine deutliche Neigung zu Pathos und Theatralik (die Ausrufungszeichen
in seinen Briefen sind kaum zu zählen!); mangelnde Selbstdisziplin und der
„Wunsch, alles irgendwie gleichzeitig" zu tun, ließen eine gewisse „Unbän-
digkeit" zu einem Hauptmerkmal seiner Persönlichkeit werden. Er war von
sich und seinen nicht selten irrational begründeten Anschauungen und
Auffassungen tief durchdrungen, blieb aber dabei willensschwach und ohne
praktischen Verstand. Dank seiner Beharrlichkeit gab er nichts auf, doch
setzte er auch wenig durch. „Seine manchmal recht nebulosen Ideen und
ein exaltierter Sinn der eigenen Würde und des eigenen Berufs als König"
bereiteten ihm oft Schwierigkeiten. 2 Wenn er von „Freiheit" sprach, von
„Deutscher Einheit", von der „Selbständigkeit der Kirche" oder von der
„Freiheit der Künste und der Wissenschaften", so konnte man sicher sein,
daß er darunter ausnahmslos etwas anderes verstand als seine Zuhörer.
Das war das eigentliche Dilemma seiner ersten acht Regierungsjahre: „Er
redete eine andere Sprache als sein Volk." 3
Dagegen spielte das berühmte „Effacieren" vor 1848 keine wesentliche
Rolle — die Tendenz nämlich, sich aus der Verantwortung zu stehlen und
anderen die Schuld an negativen Entwicklungen in die Schuhe zu schieben. 4
Andererseits konnte er durchaus bereit sein, sich gegebenen Verhältnissen
anzupassen, auch wenn sie ihm prinzipiell gegen den Strich gingen, wie
beispielsweise der von ihm im Februar 1850 geleistete Eid auf die Verfassung.
Nach einer Bemerkung des früheren Finanzministers (bis 1842)
v. Alvensleben war es das Regierungsideal des Königs, „in aller Ruhe einige
geistreiche Gedanken fallenzulassen, welche dann begeisterte Diener aus-
zuführen sich drängten". 5 So ist es nicht erstaunlich, daß sich Friedrich
Wilhelm IV. mit einer ihm loyal ergebenen Beratergruppe umgab, die neben
dem Ministerium stand. In späteren Jahren hat sich diese „Kamarilla" zu
einer stark kritisierten, weil unverantwortlichen Nebenregierung entwickelt:
„Sie war im vormärzlichen Preußen ein Zentrum politischer Macht" und
verstand sich seit dem 30. März 1848 sogar als Gegenregierung. 6 Zu diesem
hochkonservativen Kreis, dessen Mitglieder sich selbst als „Kamarilla"
bezeichneten, gehörten etwa zehn bis fünfzehn Personen, die Friedrich

2 Die vorstehenden Charakterisierungen gibt David E. BARCLAY, König, Königtum,


H o f und preußische Gesellschaft in der Zeit Friedrich Wilhelms IV. (1840 —
1861), in: O t t o Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines
Colloquiums ( = EvHKzB, Bd. 62), Berlin 1987, S. 1 - 2 1 , hier S. 6 f.
3 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 15.
4 G. GRÜNTHAL, Zwischen König, Kabinett und Kamarilla... (1983) [240], S. 132.
5 Ders., Bemerkungen zur Kamarilla Friedrich Wilhelms IV. im nachmärzlichen
Preußen, in: Otto Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit... (1987)
[s.o. Anm. 2], S. 3 9 - 4 7 , hier S. 40.
6 A . a . O . , S. 4 1 ; E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 2, S. 4 8 2 f.
204 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

Wilhelm zum Teil schon von seiner Kronprinzenzeit her kannte und
schätzte. Viele von ihnen hatten am „Politischen Wochenblatt" mitgearbei-
tet, der 1831 als Sprachrohr der romantischen Reaktionäre und Anhänger
einer altständischen Verfassung gegründeten konservativen Zeitschrift. Als
führender Kopf dieser Nebenregierung galt der 1849 zum Generaladjutanten
aufsteigende Leopold v. Gerlach (1790—1861). Neben ihm spielten auch
seine Brüder Ernst Ludwig, seit 1844 Oberlandesgerichtspräsident in Mag-
deburg, und Otto, seit 1847 Dom- und Hofprediger, eine wichtige Rolle,
ebenso der Generaladjutant Friedrich Wilhelm v. Rauch, der Kabinettsrat
Marcus Niebuhr, der Flügeladjutant Edwin v. Manteuffel, der Freiherr
v. Senfft-Pilsach, in dem der König einen besonders geschätzten Ratgeber
sah, und der spätere Hausminister Ludwig v. Massow. Auch den Staats-
rechtler Stahl, den Diplomaten Bunsen und den vielseitigen Radowitz rech-
nete man zu diesem inneren Zirkel, dessen Grenzen zu den durchweg
ebenfalls konservativen Ministern fließend waren: Die beiden Minister des
königlichen Hauses, Fürst Wittgenstein (bis 1851) und Graf Stolberg-Wer-
nigerode (1842—1848, seit 1851), die Kabinettsminister v.Lottum (bis
1841) und Ludwig Gustav v. Thile (1841 —1848) sowie die Innenminister
v. Rochow (bis 1842), v.Arnim-Boitzenburg ( 1 8 4 2 - 1 8 4 5 ) und v. Bodel-
schwingh (1845 — 1848) zählten teils mehr, teils weniger zu diesem Berater-
kreis. Auch der Bruder und Thronfolger des kinderlosen Königs, Prinz
Wilhelm, gehörte zu den stärksten Stützen der monarchischen Autorität,
wie sich vor allem im März 1848 zeigen sollte.

III. Mißgriffe und Verfassungspläne

Der durch die Ablehnung der ständischen Verfassungswünsche in Königs-


berg aufgebrochene Konflikt wurde durch die in Berlin am 15. Oktober
1840 beginnenden glanzvollen Huldigungsfeierlichkeiten nur oberflächlich
verdeckt. Schon im Vorfeld gab es einigen Ärger, weil die Fürsten und
Standesherren sowie die Ritterschaft im Schloß huldigen durften, während
die Deputierten der Städte und der Landkreise die Huldigung im Lustgarten
vorzunehmen hatten — nach zweistündiger Wartezeit im kalten Herbstre-
gen, wie sich herausstellen sollte. Es paßte zu diesem Stil, daß der Ober-
bürgermeister der Haupt- und Residenzstadt Berlin, H. W. Krausnick, vor
den Augen von 40.000 bis 50.000 Menschen nur einige Stufen der großen
Freitreppe hinaufsteigen durfte und dann, entblößten Hauptes im strömen-
den Regen, von unten herauf zum König sprechen mußte. 1 Auch die kon-
servativen Kreise fanden etwas zu kritisieren: Im Überschwang seiner Be-
geisterung hatte der König, noch bevor die beiden unteren Stände den
Huldigungseid geleistet hatten, an die versammelte Menge eine lange Frage
gerichtet („Wollen Sie mir helfen und beistehen, die Eigenschaften immer
herrlicher zu entfalten...; wollen Sie in diesem Streben mich nicht verlassen

1 Vgl. I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S . 5 8 7 f .
III. Mißgriffe und Verfassungspläne 205

noch versäumen...?") und als Antwort ein „ehrenfestes J a " erbeten und
erhalten. Wer aber, so gaben die Kritiker zu bedenken, von seinen Unter-
tanen ein freies „Ja" erbitte, der gebe ihnen auch das Recht, „Nein" zu
sagen. Entsprechend seiner romantisch-idealistischen Grundstimmung nahm
der König diese euphorische Massenakklamation ernst und erinnerte seine
Untertanen gelegentlich daran. 2
Im Laufe der folgenden Monate verschlechterte sich die Stimmung weiter,
als der König dem Innenminister v. Rochow den Roten Adlerorden I. Klasse
mit Brillanten verlieh und — was langfristig bedeutsamer war — einige
überaus unpopuläre Personalentscheidungen fällte. Konservative bis reak-
tionäre Kräfte wurden in die Regierung (Eichhorn, v. Thile), an die Uni-
versität (Stahl, Schelling) und an das höchste Gericht, das Obertribunal
(Hassenpflug), berufen. Insbesondere Hassenpflug, der frühere hessische
Reaktionsminister, der in ganz Deutschland den Spottnamen „von Haß und
Fluch" trug, wurde zur Zielscheibe der Kritik. Das damals gerade populär
werdende Rheinlied („Sie sollen ihn nicht haben...") wurde in eine fünf-
strophige Parodie auf den verhaßten Reaktionär umgedichtet („Wir wollen
ihn nicht haben, den Herrn von Hassenpflug, den eine Schar von Raben zu
Preußens Adlern trug..."). 3
Ein gutes halbes Jahr nach seinem Regierungsantritt hatte Friedrich
Wilhelm IV. bei den Liberalen fast allen Kredit verspielt. Sie hatten in ihrem
anfänglichen Überschwang allerdings auch übersehen, daß der neue König
niemals daran gedacht hatte, ihre hochgespannten Erwartungen zu erfüllen.
Das betraf vor allem die Verfassungsfrage, die zum zentralen Konfliktstoff
im preußischen Vormärz werden sollte.
Die ersten spitzen Pfeile, die in dieser Frage auf den König abgeschossen
wurden, kamen wiederum aus Ostpreußen. Der dortige Oberpräsident
Theodor v. Schön ( 1 7 7 3 - 1 8 5 6 ) , einst einer der führenden Köpfe der Re-
formpolitiker, enger Mitarbeiter Steins und geistiger Vater der dem König
im September 1840 übergebenen Landtagsresolution, verfaßte eine sechs-
seitige Schrift „Woher und wohin?", in der er sich für die „Repräsentativ-
idee" aussprach und die Einberufung von „Generalständen" forderte. Er
sandte die an sich anonyme und nur in wenigen Exemplaren verbreitete
Schrift an den König, der sie trotz seiner grundsätzlichen Ablehnung („ge-
fällt mir nicht") ausführlich beantwortete. Dabei vertrat er wiederum seine
ziemlich patriarchalischen Anschauungen und sprach verächtlich von den
„constitutionellen Fürsten", die „durch ein Stück Papier", also eine ge-
schriebene Verfassung, für ihre Völker zu Fiktionen und abstrakten Figuren
geworden seien. Obwohl v. Schön durch diese Schrift als Beamter politisch
untragbar geworden war und auch zweimal seinen Rücktritt angeboten hat,

2 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 5 0 - 5 3 .


3 Vollständiger Abdruck: Adolf STRECKFUSS, 5 0 0 Jahre Berliner Geschichte. Vom
Fischerdorf zur Weltstadt. Geschichte und Sage, Berlin 3 1880, S. 880.
206 § 4 Der preußische Vormärz (1840-1847)

beließ ihn der König im Amt - zur großen Empörung der konservativen
Kreise um den Minister v. Rochow. 4
Der zweite Pfeil kam von dem Königsberger Arzt Johann Jacoby. In
seiner Schrift „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen", die
im Februar 1841 in Leipzig erschien, wies er nach, daß das preußische Volk
ein wohlbegründetes Recht auf eine Verfassung, eine „Konstitution", habe
und daß die Stände verpflichtet seien, dieses Recht einzufordern. Der König
sah in dem Buch Jacobys sofort eine revolutionäre Schrift. Eine Untersu-
chung gegen den Verfasser wurde eingeleitet und der Vertrieb des Buches,
auf Antrag Preußens, vom Bundestag verboten. 5
Die beiden Initiativen machten dem König deutlich, daß er seine verfas-
sungspolitischen Vorstellungen endlich konkretisieren müsse. Als geeignetes
Forum dafür sah er die Provinzial-Landtage an, die er — nach vierjähriger
Unterbrechung — sämtlich zum Frühjahr 1841 einberief. In seinem Pro-
positionsdekret erlaubte Friedrich Wilhelm die künftige Veröffentlichung
der Protokolle der Landtagsverhandlungen und versprach die regelmäßige
Einberufung der Landtage alle zwei Jahre. Außerdem sollten für die da-
zwischenliegende Zeit Landtagsausschüsse gewählt werden, die er, einzeln
oder gemeinsam, um Rat fragen und „ihre Mitwirkung in wichtigen Lan-
desangelegenheiten stattfinden lassen" könne. Dabei blieb zwar völlig un-
klar, welche Funktionen diese Ausschüsse haben und wie ihre „Mitwirkung"
praktisch aussehen sollte, aber selbst einige kritische Köpfe glaubten, aus
diesen wohlwollend präsentierten Vorschlägen die Einlösung des Verfas-
sungsversprechens von 1815 herauslesen zu können. So verliefen die Land-
tagsversammlungen in ruhiger Erwartung der königlichen Verfassungspläne;
radikalere Petitionen wurden überstimmt. Nur in Posen gab es Probleme,
die aber mit der Verfassungsfrage nur am Rande zu tun hatten. 6
Im Jahre 1842 verschärfte sich die Verfassungsdebatte aus drei Gründen,
begünstigt durch die im Dezember 1841 eingetretene Lockerung der Zensur.
Erstens war die kaum verbreitete Schrift Schöns von 1840 in Straßburg
nachgedruckt worden und auf dem Büchermarkt erschienen. Die von Georg
Fein mit einem langen, antipreußischen und königsfeindlichen Nachwort
versehene Abhandlung wirkte in der erweiterten Fassung wie eine „Brand-
schrift", und diesmal setzten sich die konservativen Kräfte um v. Rochow
durch: Dem ungeliebten Schön, an dessen Stuhl man schon lange gesägt
hatte, wurde sein drittes Abschiedsgesuch am 31. März 1842 bewilligt. Aber
auch v. Rochow verlor sein Ministeramt (14. April 1842). Da beide Entlas-

4 Vgl. H. OBENAUS, Anfänge des Parlamentarismus... (1984) [146], S. 533 f.;


H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... (1879-1894) [27], Bd. 5, S. 5 6 - 5 8 .
Vgl. auch Hans ROTHFELS, Theodor v. Schön, Friedrich Wilhelm IV. und die
Revolution von 1848, Halle/S. 1937, passim.
5 A . a. O . , S. 1 3 8 - 1 4 0 ; H . OBENAUS, A n f ä n g e des P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] ,
S. 5 3 4 f . ; E . R . HUBER, D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [49], Bd. 2,
S. 4 8 7 f.
6 Über Vorbereitung und Durchführung informiert ausführlich H. OBENAUS, An-
fänge des Parlamentarismus... (1984) [146], S. 536 — 545.
III. Mißgriffe und Verfassungspläne 207

sungen geheim blieben, geschah das Kuriosum, daß beim Erscheinen der
Schönschen Schrift ein entlassener Minister über das Werk eines entlassenen
Oberpräsidenten zu gutachten hatte. Erst am 3. beziehungsweise am 13. Juni
wurden die Entlassungen bekanntgegeben. 7
Das zweite Ereignis, das, über die Verfassungsfrage hinausgehend, von
einem äußerst lebhaften publizistischen Echo begleitet wurde und zu einer
wachsenden Politisierung der Öffentlichkeit führte, war der Prozeß gegen
Johann Jacoby, der vor dem Berliner Kriminalgericht wegen Hochverrats,
Majestätsbeleidigung und „frechen, unehrerbietigen Tadels der Landesge-
setze" angeklagt und zu zweieinhalb Jahren Festungshaft verurteilt wurde.
Erst in zweiter Instanz erkannte das Berliner Kammergericht am 2. Februar
1843 auf Freispruch. Die Broschüre Jacobys, der in einer Neuauflage den
Text des Kammergerichtsurteils mit abdrucken ließ, fand große Verbreitung
und drang selbst in Kreise vor, die sich bisher wenig mit Politik beschäftigt
hatten. Durch die „Vier Fragen" des streitbaren Ostpreußen „wurde eine
neue politische Ära geschaffen, sie zogen die große Masse des Volks in den
Verfassungskampf hinein". 8 Jacoby wurde zum Sprecher eines volkstümli-
chen Radikalismus, der viel breitere Schichten erfaßte als der intellektuelle
Radikalismus, den es schon vorher gegeben hatte. 9
Mit großen Erwartungen verfolgte die Öffentlichkeit — drittens — den
Zusammentritt und die Arbeit der „Vereinigten Ausschüsse" (18. Oktober
bis 10. November 1842). Auf königliche Weisung waren von allen preußi-
schen Provinziallandtagen Vertreter aus ihrer Mitte (nach Ständen getrennt)
gewählt und nach Berlin entsandt worden, insgesamt 44 Vertreter der
Ritterschaft, 32 der Städte und 20 der Landgemeinden. Der unterschied-
lichen Sozialstruktur der preußischen Landesteile trug der Verteilungsschlüs-
sel dadurch Rechnung, daß die zwölf Ausschußmitglieder jeder Provinz in
den sechs östlichen Provinzen im Verhältnis 6 : 4 : 2 , in den beiden westlichen
im Verhältnis 4 : 4 : 4 nominiert wurden. 10
Da eine klare Kompetenzzuweisung wiederum ausblieb, war das nächste
Mißverständnis programmiert: Dem König galten die Vereinigten Aus-
schüsse nicht etwa als der Anfang einer Überleitung Preußens in das kon-
stitutionelle System, sondern als „die Krönung der ständischen Entwick-
lung". Die von der Regierung vorgelegten Beratungsthemen enthielten kei-
nen politischen Zündstoff; es ging um die bereits beschlossene Ermäßigung
der Salzsteuer und die Benutzung der Privatflüsse. Das dritte Beratungs-
thema, der Eisenbahnbau, erhielt aber unversehens politische Brisanz: Zu-

7 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 161 f.


8 A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte... ( 3 1880) [s.o. Anm. 3], S. 883
(Zitat) und 889.
9 Vgl. dazu R. RÜRUP, Deutschland im 19. Jahrhundert... (1984) [21], S. 143.
10 Vgl. E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 488,
Anm. 61. Zu den 96 ständischen Delegierten traten für Westfalen und für die
Rheinprovinz noch je zwei Vertreter der mediatisierten Fürsten sowie je ein
Vertreter des Herrenstandes der Provinzen Preußen, Posen, Pommern und Bran-
denburg, so daß die Gesamtzahl 104 betrug (a. a. O., S. 492, Anm. 78).
208 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

nächst sprachen sich die 96 Delegierten für ein gesamtstaatlich konzipiertes


Eisenbahnnetz aus; zugleich plädierten sie für eine staatliche Finanzierung
dieses Projektes - wohl wissend, daß der entstehende Finanzbedarf nur
durch erhebliche Kreditaufnahmen des Staates zu decken sei, wozu es,
gemäß dem Staatsschuldengesetz von 1820, der Zustimmung der „Reichs-
stände" bedurfte! Auf diese Weise bekamen die Verhandlungen eine Wende,
die den königlichen Interessen völlig zuwiderlief. Mit der Mahnung, sie
seien „keine Repräsentanten des Windes der Meinung und der Tageslehren",
schickte er die Abgeordneten nach nur drei Wochen in ihre Provinzen
zurück. Die Logik ihrer Argumentation zwang den König, über die Verfas-
sungsfrage erneut nachzudenken. 11
Während er bereits am 8. November 1842 im Ministerrat die Grundzüge
eines neuen Verfassungsplans entwickelte, an dem er im Prinzip trotz aller
Warnungen dann auch festhielt, 12 verlagerte sich die öffentliche Verfas-
sungsdebatte 1843 in die Provinzen, wo sich die Landtage, keineswegs
immer einhellig, zu wahren Diskussionsforen entwickelten, auf denen „die
Forderungen der Zeit" (Faber), oft im Anschluß an entsprechende Petitio-
nen, erörtert wurden. Es ging um Pressefreiheit, Wahlrecht, Repräsentation
und Rechtseinheit.
All diese Aktivitäten fanden eine ungeheure publizistische Resonanz, vor
der der Regierung allmählich angst und bange wurde. Friedrich Wilhelm
fühlte sich wieder einmal gründlich mißverstanden. Am 20. Oktober 1842
— in Berlin tagten die Vereinigten Ausschüsse — wurden die Oberpräsi-
denten angewiesen, auf die Provinzblätter mäßigend einzuwirken; am
3. Februar 1843 wurde die Zensurfreiheit für Bilder zurückgenommen und
am 23. Februar das gesamte Zensurwesen neu organisiert, das künftig auf
der Tätigkeit von Lokal- und Bezirkszensoren sowie einem Oberzensurge-
richt beruhte. Allein 1844 sind 55 Presseverbote ausgesprochen worden —
bis 1840 waren es im Jahresdurchschnitt nur 30. 1 3 Präsident des neuen
Gerichtes wurde der liberale Staatssekretär Bornemann, der nach eigener
Aussage seinen guten Ruf nun den Staatsinteressen zu opfern hatte. Doch
alle Härte und Willkür waren vergebens: Die oppositionellen Blätter, viel-
fach über die Grenzen hereinströmend, ließen sich auf Dauer nicht unter-
drücken. Während sich sogar der Minister Wittgenstein erregte: „Mein
Lebtag habe ich nicht soviel von Bücherverboten, Untersuchungen, Schrift-
stellerverhaftungen und dergleichen gehört wie jetzt", konstatierte sein
Kollege Bodelschwingh im September 1847: „Die Zensur ist altersschwach,
sie hat ausgedient." 14

11 Vgl. dazu H . OBENAUS, Anfänge des P a r l a m e n t a r i s m u s . . . (1984) [146], S. 5 5 1 -


5 6 2 ; H . von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5,
S. 1 8 1 - 1 8 7 .
12 A . a . O . , S. 187.
13 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 544.
14 H . von TREITSCHKE, Deutsche G e s c h i c h t e . . . ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 2 0 9 -
213; A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte... ( 3 1880) [s. o. Anm. 3], S. 937.
III. Mißgriffe und Verfassungspläne 209

Zur zunehmenden Politisierung der Öffentlichkeit 15 trugen neben den


verschiedenen Presse-Erzeugnissen die vielen entstehenden politischen Ver-
einigungen bei, die sich in mehr oder weniger organisierter Form zusam-
menfanden. Berlin war das Zentrum der Links- oder Junghegelianer, die
aus den Lehren des 1831 an der Cholera verstorbenen Philosophen revo-
lutionäre Schlußfolgerungen zogen. Bruno und Edgar Bauer, M a x Stirner
und K. F. Koeppen trafen sich zu Diskussionsrunden in losen Zirkeln wie
den „Freien" oder dem „Doktorenclub". Auch Karl Marx, der im Herbst
1836 als Student nach Berlin kam, gehörte zu diesem Kreis, bis er bald
nach der Promotion im April 1841 die preußische Hauptstadt wieder verließ.
Ein halbes Jahr später begann der Berlinaufenthalt von Friedrich Engels,
der als Einjährig-Freiwilliger hier seinen Militärdienst ableistete und neben-
bei Vorlesungen an der Universität hörte. Er trat zu den „Freien" in nähere
Beziehung.
Die politische Radikalisierung und die Politisierung der Öffentlichkeit
sind nicht zu denken ohne das besondere Diskussionsforum, das Berlin
seinen debattierfreudigen Bürgern in den zahlreichen Lesecafes und Kon-
ditoreien bot. Die große Zeit dieser kultur- und gesellschaftspolitisch un-
gemein wichtigen Begegnungsstätten begann in den 20er Jahren, als sich
mehrere Konditoren aus der Schweiz niederließen, die nicht nur gute Back-
waren und Eis anboten, sondern auch in- und ausländische Zeitungen
hielten. Die früher reichlich vorhandenen belletristischen Journale ver-
schwanden in den 40er Jahren fast völlig, weil die literarischen Interessen
der Besucher mehr und mehr hinter den politischen und sozialen zurück-
traten.
Während die konservativen Kreise eher bei Kranzler, Josty und Sparg-
napani zu finden waren, galt die Konditorei von Stehely am Gendarmen-
markt, in deren Mittelpunkt die Rote Stube stand, als „der Zusammen-
kunftsplatz der Berliner Liberalen und Radikalen".
Am 8. Januar 1844 fand in Berlin eine erste Handwerkerversammlung
statt, der drei Monate später die Gründung des Berliner Handwerkervereins
folgte. Sein Ziel war die wissenschaftliche und praktische Fortbildung der
Gesellen und Meister sowie die Pflege der Geselligkeit. Politische Betätigung
war nicht erlaubt, ließ sich aber aus den vereinsinternen Diskussionen nicht
heraushalten. Der Vereinigung gehörten 1846 fast 2.000 Gesellen und 94
Meister an. Stephan Born, ein 1840 aus Posen nach Berlin gekommener
Schriftsetzer, bezeichnete den Verein als eine „Bildungsstätte für heran-
wachsende Revolutionäre, nicht bloß des Arbeiterstandes, sondern aller
Berliner Gesellschaftskreise". Mit der Arbeiterbewegung, die es in organi-
sierter Form noch gar nicht gab, hatte dieser Verein wenig zu tun. Vieles
geschah in diesem Kreis sehr spontan und alles mit dem besten Willen,
aber „alle diese freisinnigen Vereinsredner... waren eben doch nur Gefühls-

15 Vgl. dazu I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 5 8 8 -
592 (mit Lit.). Einen Teilbereich behandelt aus marxistischer Sicht Kurt WER-
NICKE, Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung 1830— 1849 ( =
BtrGBArb), Berlin 1978.
210 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

Politiker; zur Lösung praktischer Aufgaben fehlte ihnen die Vorschule und
der politische Blick".
Diese Charakterisierung paßte ziemlich genau auf Heinrich Ludwig
Tschech, den ehemaligen Bürgermeister von Storkow, der am 26. Juli 1844
ein Pistolenattentat auf Friedrich Wilhelm IV. und seine Gemahlin Elisabeth
verübte, dessen Motive bis heute nicht endgültig geklärt sind. Lediglich der
König erlitt eine unbedeutende Verletzung; der Täter wurde ergriffen und
nach erfolgtem Prozeß am 14. Dezember 1844 in Spandau hingerichtet. Auf
ein Gnadengesuch, dem vom König mit großer Sicherheit stattgegeben
worden wäre, hatte Tschech verzichtet. 16
Kaum hatte sich die Erregung der liberalen Kräfte über diese Hinrichtung
gelegt, als es neuen Grund zur Aufregung gab. Am 21. Mai 1845 kamen
zwei oppositionelle badische Landtagsabgeordnete, Johann Adam v. Itzstein
und Friedrich Hecker, auf einer „Vergnügungsreise" nach Berlin. Am 23.,
morgens um 5.00 Uhr, erschien die Polizei bei ihnen mit dem Befehl, Berlin
und Preußen mit dem nächsten Eisenbahnzug zu verlassen. Alle Widersprü-
che halfen nicht, sie mußten abreisen. Hatte die kurz vorher erfolgte
Ausweisung des freisinnigen Schriftstellers Ernst Dronke schon Wellen
geschlagen, so hallte jetzt durch ganz Deutschland ein Schrei der Empörung.
Fünf Tage später veröffentlichte eine Berliner Kunsthandlung eine Zeitungs-
anzeige, daß sie wegen der vielfachen Nachfrage Porträts von Itzstein und
Hecker bestellt habe, die demnächst eintreffen würden. Die Angelegenheit
trug dazu bei, daß der Innenminister v.Arnim seinen Hut nahm. 1 7
Tief erschüttert durch den Anschlag auf seine Person, wandte sich Fried-
rich Wilhelm IV. in der zweiten Jahreshälfte 1844 verstärkt seinen Verfas-
sungsplänen zu. Zur Erläuterung des von ihm entwickelten Projektes un-
terstrich er in einem Schreiben an Metternich zunächst das, was er nicht
wollte: „Ich will bestimmt und entschieden 1. keine Nationalrepräsentation,
2. keine Charte, 3. keine periodischen Fieber, d. h. periodischen Reichstage,
4. keine Reichstagswahlen..., weil ich König von Preußen bleiben... will."
Im übrigen hoffe er, „jedes fernere Begehren des Fortschritts nach den
Theorien des Tages nachdrücklich und wohlgemut zurückzuweisen". 18 Vor-
gesehen war ein dreistufiger Aufbau ständischer Vertretungskörperschaften
— von den Provinziallandtagen über die Vereinigten Ausschüsse bis hin
zum Vereinigten Landtag. Im Sommer 1845 beauftragte der König den
Ministerrat, das Verfassungswerk in diesem Sinne vorzubereiten.

16 Darüber berichtet ausführlich A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte...


( 3 1880) [s.o. Anm.3], S. 9 0 8 - 9 2 1 . In der Nacht vor der Hinrichtung standen
zwei Lokomotiven unter Dampf, um das eventuelle Gnadengesuch rasch nach
Potsdam bringen zu können.
17 A . a . O . , S. 934f. - H . v o n TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 )
[27], Bd. 5, S.274, bemerkt zu den angeblichen Motiven dieser Reise: „In jener
Zeit war es aber noch niemals vorgekommen, daß ein Süddeutscher in Berlin
und Königsberg Erholung gesucht hätte." Offensichtlich hat es auch politische
Kontaktaufnahmen gegeben.
18 Friedrich Wilhelm an Metternich, 8. X I . / 8 . XII. 1844 (mitgeteilt von H . v o n
TREITSCHKE, a . a . O . , S. 2 7 1 f . ) .
IV. Verschärfung der politischen und sozialen Spannungen 211

IV. Verschärfung der politischen und sozialen


Spannungen
Höhepunkt des politischen Lebens in den preußischen Provinzen des Vor-
märz waren die Verfassungsdebatten, die vom Februar bis April 1845 in
den meisten Provinziallandtagen stattfanden. In Westfalen sprach sich der
junge Georg v. Vincke, der Sohn des verdienten Oberpräsidenten, für die
Gewährung von Reichsständen aus, im Rheinland erinnerte Camphausen
den König an das Verfassungsversprechen von 1815, und in (Ost-)Preußen
forderte der Elbinger Stadtrat eine alle Klassen umfassende Landesreprä-
sentation. „Insgesamt votierte 1845 die große Mehrheit aller provinzial-
ständischen Abgeordneten Preußens für konstitutionelle Reichsstände"
(Faber).
Neben diesen gemäßigt liberalen Stimmen gab es auch andere. Die
„Rheinische Zeitung" hatte sich unter dem Redakteur Karl Marx (seit
15. Oktober 1842) zum Sprachrohr der radikalen bürgerlichen Opposition 1
entwickelt, wurde aber zum 1. April 1843 verboten. Marx siedelte im
Oktober nach Paris über, wo er im Sommer 1844 erneut mit Engels zusam-
mentraf. Im Januar 1845 wurde er auf Verlangen der preußischen Regierung
ausgewiesen und ging nach Brüssel, wohin ihm Engels, der sich solange
noch im Rheinland aufgehalten hatte, im April folgte. Kurz zuvor war ihre
erste gemeinsame Arbeit, „Die Heilige Familie", entstanden (veröffentlicht
erst 1931), in der sich Marx und Engels von der idealistischen Philosophie
der Junghegelianer lossagten. Von 1845 bis 1848 arbeiteten beide in Brüssel,
gründeten 1846 ein kommunistisches Korrespondenzbüro und traten dem
„Bund der Gerechten" bei, der sich 1847 in „Bund der Kommunisten"
umbenannte.
Zu den Vertretern einer radikalen Opposition, die teilweise ebenfalls aus
dem Mitarbeiterstab der „Rheinischen Zeitung" stammten, gehörte auch
Moses Hess, der Bonner „Kommunistenrabbi", der in seinen seit 1837
erschienenen Schriften für eine soziale Revolution eintrat. Zusammen mit
Friedrich Engels veranstaltete er im Februar 1845 in Elberfeld Vortragsver-
anstaltungen über den Kommunismus; gemeinsam gaben sie den „Gesell-
schaftsspiegel" heraus. Ähnliche Gedanken verbreitete auch Karl Grün in
der in Wesel erscheinenden Zeitung „Der Sprecher oder: Rheinisch-west-
fälischer Anzeiger" seit April 1843 und später in seinen Leitartikeln für die
„Trierische Zeitung". Bürgerliche und sozialistische Radikale arbeiteten
auch an den „Jahrbüchern zur gesellschaftlichen Reform" mit, die Hermann
Püttmann in Köln redigierte. Neben dem Arzt Karl d'Ester, der eine führende
Rolle im Kölner Kreis der aktiven Kommunisten spielte, ist auch der Arzt
Otto Lüning zu nennen, um den sich ein Kreis radikaler Intellektueller im
westfälischen Rheda und in Wiedenbrück scharte, der auch Verbindungen
nach Brüssel hatte. Publizistisches Organ dieser Gruppe war 1844 das

1 Vgl. dazu H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,


S . 4 3 5 - 4 4 0 ; K . - G . FABER, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 2 ] , S . 1 7 9 F .
212 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

„Weser-Dampfboot" und nach dessen Verbot das „Westphälische Dampf-


boot".
Große Bedeutung für die Entwicklung der sozialistisch-kommunistischen
Ideen in Preußen, die weitgehend von Intellektuellen getragen wurde, hatte
die politische Emigration, die bereits in den frühen 30er Jahren eingesetzt
hatte und sich vor allem in Frankreich, aber auch in der Schweiz nicht
ohne Erfolg zu organisieren versucht hatte. Der frühere Gießener Burschen-
schaftler Karl Schapper und der Magdeburger Schneidergeselle Wilhelm
Weitling waren die unbestrittenen Führer dieser ersten Exilorganisationen.
Der Pariser „Bund der Gerechten" wurde seit 1837 zur wichtigsten Orga-
nisation innerhalb der radikalen Arbeiterbewegung mit Sektionen in London
und der Schweiz.
Eine besondere Variante der oppositionellen Strömungen stellte der reli-
giöse Radikalismus dar, aus dem in den 40er Jahren zwei Protestbewegungen
entstanden. Die evangelischen „Protestantischen Freunde" verstanden sich
als Verfechter des in die Defensive geratenen theologischen Rationalismus,
seitdem die preußische Kirchenpolitik unter dem Kultusminister Eichhorn
einen konservativeren Kurs einschlug und von dem Berliner Theologen
Hengstenberg in eine orthodoxe Richtung gedrängt wurde. Unter den
Pfarrern Uhlich und Wislicenus entstanden vor allem in der preußischen
Provinz Sachsen freie Gemeinden der „Protestantischen Freunde". Nachdem
ihre Versammlungen schon 1845 verboten worden waren, wurden sie infolge
des am 30. März 1847 unterzeichneten Religions-Patentes aus der Landes-
kirche verdrängt. Später „Lichtfreunde" genannt, verbreiteten sie sich vor
allem nach Ausbruch der Revolution von 1848 weiter. 2
Eine erstaunliche Verbreitung fand auch die deutsch-katholische Bewe-
gung, die von dem Breslauer Pfarrer Johannes Ronge ins Leben gerufen
worden war und sich bald als nationale Gegenkirche zu Rom verstand. Vor
allem in Mittel-, Nord- und Westdeutschland, auch in Schlesien, Sachsen,
im deutschen Südwesten und vereinzelt am Rhein gab es Sympathisanten.
Ein erstes deutsch-katholisches „Konzil" fand zu Ostern 1845 unter der
Leitung von Robert Blum in Leipzig statt; die „krankhafte, unsern Tagen
fast unbegreifliche Reizbarkeit der Zeit" (Treitschke) zeigte sich, als eine
Demonstration gegen die sächsische Regierung durch einen Militäreinsatz,
der acht Todesopfer kostete, beendet wurde: Nur mit großer Mühe konnten
die Ordnungskräfte verhindern, daß die anschließenden Protestaktionen
von Bürgern, Handwerkern und Studenten in offene Empörung umschlugen.
Auf dem Höhepunkt der Bewegung 1847 haben sich etwa 60.000 Menschen
in über 250 Gemeinden zum „Deutschkatholizismus" bekannt. 3
Gemeinsam war den beiden Sekten im protestantischen und katholischen
Lager, daß wichtige Vertreter der demokratischen und liberalen Opposition
und ein Teil der fortschrittlichen Presse aus verschiedenartigen Motiven
offen mit ihnen sympathisierten — ein Zeichen für die zunehmende Ver-

2 A.A.O., S. 178; sehr materialreich: H . v o n TREITSCHKE, Deutsche Geschichte...


( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 3 5 0 - 3 6 1 .
3 A . a . O . , S. 3 3 6 - 3 4 9 ; K . - G . FABER, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 2 ] , S. 1 7 8 .
IV. Verschärfung der politischen und sozialen Spannungen 213

bindung geistiger, politischer, sozialer und konfessioneller Unzufriedenheit


im Vormärz.
Zu den verfassungspolitisch und konfessionell geprägten Kontroversen,
die von der preußischen Gesellschaft im Vormärz auszufechten waren,
gesellte sich in der Mitte der 40er Jahre ein Bündel von Konfliktstoffen, die
samt und sonders auf tiefgreifenden Umwälzungen im wirtschaftlich-sozia-
len Bereich beruhten: Eine folgenschwere Agrarkrise, die auf eine Reihe von
schlechten Ernten zurückzuführen war und eine starke Teuerungswelle im
Gefolge hatte, ging einher mit einer strukturell bedingten Gewerbekrise, die
in den Städten vor allem das Handwerk und auf dem Lande das protoin-
dustrielle Heimgewerbe traf. Zwei Jahre lang, von 1845 bis 1847, erfuhren
große Teile der preußischen Bevölkerung die Folgen dieser drei sich über-
lagernden Krisen mit solcher Wucht, daß es nicht nur zu zahlreichen
Symptomen sozialer Unruhe, sondern auch zu einer Radikalisierung des
kollektiven Protests kam. Allein im Rheinland zählte man zwischen 1837
und 1847 mindestens 33 Volksunruhen, davon 23 in Städten. 4
1) Die letzte Agrarkrise „alten Typs" in den deutschen Staaten hatte ihre
Ursache nicht nur in den schlechten Getreideernten von 1845/46, sondern
auch in der Kartoffelknappheit, die infolge einer eingeschleppten Krankheit
in diesen beiden Jahren besonders vorherrschte. Die tabellarische Übersicht
zeigt, daß die Preise für die sechs wichtigsten Agrarprodukte von 1844 bis
1847 um 90 bis 130 Prozent anstiegen. Erst infolge der guten Ernte des
Jahres 1848 stabilisierte sich die Preissituation wieder auf einem niedrigeren
Niveau (siehe Tabelle 39 auf S. 214).
Zur Verbesserung der Versorgungslage hob die preußische Regierung von
1846 bis 1848 die Einfuhrzölle auf Getreide auf und setzte zeitweilig die
städtischen Mahlsteuern außer Kraft, um den Brotpreis zu senken. Während
beim Weizen ein andauernder Exportüberschuß zu verzeichnen war, ergab
sich beim Massennahrungsmittel Roggen in den Jahren 1846 und 1847 ein
Einfuhrüberschuß (siehe Tabelle 40 auf S. 214).
Preissteigernd wirkte sich zudem aus, daß auch in den Krisenjahren
1846/47 riesige Mengen Getreide und Kartoffeln in die preußischen Brannt-
weinbrennereien wanderten. Obwohl die Inflation im gesamten Bereich des
Deutschen Bundes zu beobachten ist, gab es natürlich unterschiedliche
Steigerungsraten in den einzelnen Regionen. Am stärksten betroffen war
zweifellos die städtische Bevölkerung, die über keine eigenen agrarischen
Ressourcen verfügte. Aus den Durchschnittspreisen, die man für 63 preu-
ßische Städte für die Jahre 1845 bis 1848 ermittelt hat, ergibt sich eindeutig,
daß in allen Städten und bei allen Lebensmittelarten 1847 das eigentlich
verhängnisvolle Krisenjahr darstellte, in dem das Massenelend bisher nicht
gekannte Ausmaße erreichte. In dieser Zeit mußte die Mehrheit der Bevöl-

4 Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei H.-U. WEHLER, Deutsche Ge-
sellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, Kap. 4/2, S. 6 4 1 - 6 5 9 : Agrar- und
Gewerbekrisen von 1845 —1848; W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte
Preußens... (1984) [47], S. 454.
214 § 4 Der preußische Vormärz (1840 - 1 8 4 7 )

TABELLE 3 9
Preußische Agrardurchschnittspreise 1844-1850
(in Scheffel/Silbergroschen bzw. in Mark/Tonne)

Roggen Weizen Gerste Hafer Kartoffeln Weizen

1844 40 57 32 21 13 137
1845 51 65 38 26 14 155
1846 70 86 50 33 21 206
1847 87 110 67 40 30 263
1848 38 62 32 22 17 156
1849 31 61 25 18 13 147
1850 36 58 28 20 14 139

Quelle: H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,


S. 643.

TABELLE 4 0
Preußische Handelsbilanz bei Weizen und Roggen 1846 — 1848
(in Millionen Scheffel)

1846 1847 1848

Weizen + 2,549 + 3,160 + 5,165


Roggen -2,519 -4,347 + 1,138

Quelle: H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,


S. 644.

kerung eine außergewöhnlich lange Zeit ihr Leben unterhalb der Hunger-
grenze zu fristen versuchen (siehe Tabelle 41 auf S. 215).
2) Daß der Absatz fast aller handwerklichen Produkte 1846 ins Stocken
geriet, weil die Konsumenten das Geld für Lebensmittel ausgeben mußten,
verstärkte noch die strukturelle Krise, in der sich das preußische Handwerk
seit längerem befand. Die starke Zunahme der Meister und Gesellen hatte
zur „Übersetzung" vieler Handwerkszweige geführt: Das Angebot an hand-
werklicher Arbeit ging weit über die Nachfrage hinaus. Betroffen davon
waren insbesondere zahlreiche „Alleinmeister", die keine Gesellen beschäf-
tigten und oft am Rande des Existenzminimums vegetierten. Arbeitslosigkeit
und Verarmung waren die Folgen; „der Pauperismus fraß sich immer tiefer
in das Handwerk hinein" (Wehler). Um die Jahrhundertmitte gehörten
75 Prozent aller Handwerker Berlins 5 zur Gruppe der bedürftigen, vielfach
„proletaroiden" Kleinmeister, von denen viele wegen Armut von der Zah-
lung der Gewerbesteuer befreit waren. Von über 70 Gewerbezweigen gab
es nur drei in Berlin, in denen alle Selbständigen auch Gewerbesteuer

5 I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 542 - 545 und
550 f.
IV. Verschärfung der politischen und sozialen Spannungen 215

TABELLE 4 1
Lebensmittelpreise in 63 preußischen Städten 1845 — 1848
(Jahrespreis auf der Basis der monatlichen Durchschnittspreise;
in Scheffel/Silbergroschen)

Roggen Kartoffeln Weizen

12 in Ost- und Westpreußen 1845 50,9 19,4 66,3


1846 58,2 18,1 79,1
1847 73,6 28,7 98,1
1848 34,8 18,3 63,9

5 in Posen 1845 43,3 12,1 59,0


1846 65,1 18,1 83,3
1847 83,1 26,2 105,0
1848 37,1 14,9 57,5

9 in Brandenburg 1845 44,5 11,1 59,3


1846 62,2 17,9 82,8
1847 80,4 27,4 107,4
1848 35,6 15,7 64,2

11 in Schlesien 1845 48,8 14,1 62,1


1846 69,4 20,1 83,3
1847 86,4 29,1 107,7
1848 38,1 19,1 59,9

8 in Sachsen 1845 47,3 12,7 58,8


1846 65,1 17,7 76,9
1847 91,2 29,8 109,3
1848 37,5 14,4 60,3

4 in Westfalen 1845 60,1 19,0 74,1


1846 83,3 29,1 95,1
1847 94,8 35,6 119,9
1848 38,3 17,1 63,1

14 im Rheinland 1845 62,1 19,0 75,3


1846 92,0 31,4 106,1
1847 99,7 35,3 127,4
1848 48,2 20,4 71,1

Quelle: H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,


S. 646.

zahlten: Bäcker, Schlächter, Schornsteinfeger. Von den Glasern und Stuhl-


machern waren mehr als 90 Prozent aller selbständig Arbeitenden von der
Steuer befreit. Mit über 85 Prozent folgten die Weber, Schneider, Schuh-
macher und Tapezierer, mit mehr als 80 Prozent die Vergolder, Muster-
Colorierer und Friseure. Im Schnitt der Jahre 1829/1850 konnten rund drei
Viertel der selbständigen Berliner Handwerker nicht zur Gewerbesteuer
herangezogen werden.
216 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

Das preußische Gesamtbild war eher noch erschreckender. Das Verhältnis


der steuerpflichtigen Handwerksmeister zu ihren von der Steuer befreiten
Kollegen verschlechterte sich seit 1845 von Jahr zu Jahr, bis es 1848 bei
etwa 1 : 9 lag. 6
3) Lange vor der akuten Agrarkrise und der sich durch die Industriali-
sierung verschärfenden Gewerbekrise hatte der Niedergang des protoindu-
striellen Heimgewerbes eingesetzt. Diese weitverbreitete Form der dezen-
tralisierten Textilerzeugung geriet nach 1815 unter den Druck der englischen
Importe und der sich ausbildenden einheimischen Textilindustrie. Trotz des
verzweifelten Widerstandes, den die Verleger auf Kosten ihrer Arbeitskräfte
gegen die überlegene Konkurrenz führten, war die Agonie des Heimgewer-
bes nicht aufzuhalten. Meist war es ein qualvolles Sterben, das sich über
lange Jahre hinzog. 7 Auch die schlesischen Weberdörfer, in denen Leinen-
und Baumwolltuche hergestellt wurden, gehörten seit Jahrzehnten zu den
preußischen Notstandsgebieten. Neben der Überlegenheit der Fabrikpro-
duktion, die den Lebensstandard der schlesischen Weber bereits auf ein
kaum noch erträgliches Niveau gedrückt hatte, wirkte besonders eskalie-
rend, daß Tausende von Heimarbeitern von nur wenigen Fabrikanten ab-
hängig waren. Der seit Jahren angesammelte Konfliktstoff entzündete sich,
als am 4. Juni 1844 im Anschluß an einen Protestmarsch eine Fabrikanten-
villa gestürmt und zerstört wurde. Die am folgenden Tag eintreffenden
Truppen waren, nachdem Vermittlungsversuche gescheitert waren, nicht
zimperlich: Es gab elf Tote und 30 Schwerverletzte. Dennoch konnte der
Widerstand erst gebrochen werden, als am 6. Juni militärische Verstärkung
eintraf. 1.500 Weber wurden verhaftet.
Der Präsident des zuständigen Breslauer Kriminalgerichts, Graf Rittberg,
erklärte, daß die Härte eines Fabrikanten die bedauerlichen Exzesse der
Weber provoziert habe. 87 Weber wurden zu mehrjährigen Haftstrafen
verurteilt, der Rest erhielt 14 Tage Gefängnis und 10 bis 20 Peitschenhiebe.
Die Unabhängigkeit des Gerichtes zeigte sich darin, daß die Kosten des
Verfahrens auf die Fabrikanten umgelegt wurden. Außerdem bat das Gericht
in toto den König im März 1845 um Begnadigung der Verurteilten, da sich
die Weber nur aus Armut und Ausweglosigkeit empört hätten. In der Tat
sind bis zum Juni 1846 alle Inhaftierten begnadigt worden. 8
Die Antworten, die von der Gesellschaft des Vormärz auf die drängende
Soziale Frage gegeben wurden, waren sicher unzureichend. Den Zeitgenos-
sen, die das Problem in seiner ganzen Tiefe noch gar nicht erfaßt hatten,
erschienen sie als durchaus adäquat. Ein letztes Aufflackern des mittelal-
terlichen Almosengedankens verband sich dabei mit einer aufklärerischen

6 H . - U . WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 649.


7 A. a. O . , S. 6 5 0 f. Z u Schlesien: Elisabeth HARDER-GERSDORFF, Leinen-Regionen
im Vorfeld und im Verlauf der Industrialisierung ( 1 7 8 0 - 1 9 1 4 ) , in: H a n s Pohl
(Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahr-
hundert ( = V S W G , Beih. 7 8 ) , Stuttgart 1986, S. 2 0 3 - 2 5 3 , hier S. 2 1 4 - 2 1 8 ; H .
BLEIBER, Zwischen R e f o r m und Revolution... (1966) [165], passim.
8 H . - U . WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte . . . (1987) [29], Bd. 2, S. 6 5 4 f .
IV. Verschärfung der politischen und sozialen Spannungen 217

Erziehungs- und Besserungsideologie und manifestierte sich, abgesehen von


dem kommunal organisierten Armenwesen, in zahlreichen karitativen Ver-
einigungen und Stiftungen, mit denen man den Problemen der beginnenden
Industriegesellschaft zu Leibe rücken wollte. 9 An erster Stelle ist der unter
dem Eindruck des schlesischen Weberaufstandes 1844 gegründete „Cen-
traiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen" zu nennen, der sich aber
wegen des staatlichen Mißtrauens in seinen Aktivitäten anfangs sehr ge-
hemmt sah. In Berlin, wo sich infolge der Bevölkerungsverdoppelung in
drei Jahrzehnten die Verelendung breiter Kreise besonders stark bemerkbar
machte, entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beispielsweise
der „Verein zur Beförderung der Kleinkinder-Bewahranstalten" (1833), der
Verein zu gegenseitiger Hilfe „Magine Réim" (1804), der „Berliner Verein
zur Besserung der Strafgefangenen" (1827), der bereits erwähnte „Hand-
werkerverein" (1844) sowie viele private Gründungen und Stiftungen wie
das „Kornmessersche" und das „Schindlersche Waisenhaus", das „Luisen-
stift" und die „Luisenstiftung", die „Armen-Speisungsanstalt", die „Kott-
witzsche Beschäftigungsanstalt", 10 eine „Belohnungs- und Unterstützungs-
anstalt für das Gesinde" u. v. a.
Die zunehmende Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen
breiter Schichten erfuhr in den Familienhäusern in der Oranienburger
Vorstadt, in deren Nähe das erste Maschinenbauzentrum Berlins entstanden
war, ihren spektakulärsten Ausdruck. Was sich hier auf engstem Raum an
Not und Elend konzentrierte, ist kaum vorstellbar. Um so bemerkenswerter
war, daß niemand anders als Bettina v. Arnim den Mut aufbrachte, nicht
nur die Öffentlichkeit, sondern auch Friedrich Wilhelm IV. persönlich auf
diese Mißstände hinzuweisen. Sie tat dies in ihrem berühmt gewordenen,
im Juni 1843 erschienenen Werk mit dem Titel „Dies Buch gehört dem
König", das im Anhang die „Erfahrungen eines jungen Schweizers im
Vogtlande" enthielt. Dabei handelte es sich um Besuchsprotokolle des
Studenten Grunholzer, die dieser im Auftrage Bettinas angefertigt hatte.
Vom März bis in den Juni hinein besuchte Grunholzer 33 der etwa 400
Wohnungen und fertigte im Stil einer Sozialreportage sehr sachliche und
nüchterne Notizen an, welche in der Tat „nach wie vor unter die Haut"
gehen. Mit diesem Buch wurde Bettina „zum Gewissen Preußens und seiner
Hauptstadt" (Ohff). Grunholzer hat später betont, daß seine Berichte „nur
einen ganz geringen Teil aller blutarmen Familien in Berlin" beträfen. Einen
prophetischen Blick in die Zukunft Schloß er mit der Bemerkung: „Keine
Revolution liegt offener auf der Hand als die der Armen." 1 1
Einen Hinweis auf die oft ausweglose Situation selbst qualifizierter Fach-
arbeiter gibt der Streik der Berliner Kattundrucker im Jahre 1844. Sie hatten

9 I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 598.


10 Vgl. dazu Ilja MIECK, Hans Ernst Freiherr von Kottwitz, in: Gerd Heinrich (Hg.),
Berlinische Lebensbilder, Bd. 5 ( = VHKzB, Bd. 60), Berlin 1990, S. 1 6 1 - 1 8 1 ,
passim.
11 Zusammenfassend: Ders., Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16],
S. 598 f. (mit Lit.). Danach auch der folgende Abschnitt.
218 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

unter der Mechanisierung der Produktion besonders zu leiden und erhielten


als einstige Spitzenverdiener jetzt nur noch ein Viertel ihres früheren Ein-
kommens. Sie stellten in einigen Betrieben die Arbeit ein und erklärten, „zu
dem bisherigen Preis nicht mehr arbeiten zu wollen. Darauf zogen sie ruhig
aus den Fabriken, ohne irgendeinen Exzess, ohne irgendeine Tätlichkeit zu
verüben". Die Polizei schritt ein, mehrere der älteren Arbeiter wurden
verhaftet. Schließlich kam „ein sogenannter ordentlicher Ausweg" zustande,
ohne daß bisher bekannt ist, welche konkreten Ergebnisse dieser Streik der
Kattundrucker gebracht hat, der übrigens im Vorfeld der Revolution der
einzige aktenkundig gewordene Streik Berliner Fabrik- und Manufakturar-
beiter gewesen zu sein scheint. 12

V. Eisenbahnfieber und Industrialisierungsschub

Der erste volle Durchbruch der deutschen Industriellen Revolution erfolgte,


wie die Forschungen von Reinhard Spree wohl endgültig beweisen dürften,
ziemlich genau in der Mitte der 40er Jahre, als die vorangegangenen
massiven Verkehrs- und industriewirtschaftlichen Investitionen Wachstums-
kräfte von bisher nicht gekannter Virulenz freisetzten. 1 Diese erste indu-
strielle Hochkonjunkturphase erwuchs wesentlich aus der Dynamik des
Eisenbahnbaus mit seinen vielschichtigen Folge- und Nebeneffekten, der
zwischen 1840 und 1880 den anderen drei „Leitsektoren" (Eisen- und
Stahlindustrie, Kohlebergbau, Maschinenbau) überlegen blieb und geradezu
als „Tempomacher" der beschleunigten Industrialisierung angesehen wird.
Zwischen 1840 und 1847 übertraf die relative Wachstumsgeschwindigkeit
des deutschen Eisenbahnbaus diejenige aller anderen Industrienationen. 2
Die rasche Entwicklung des Streckennetzes und der enorme Anstieg der
bei der Eisenbahn Beschäftigten erforderten ständig höhere Investitionen,
die aber wegen der Aussicht auf gute Gewinne leicht aufzubringen waren.
Die Durchschnittsdividenden der preußischen privaten Eisenbahngesell-
schaften lagen durchweg über den Erträgen aus Staatspapieren. Seit den
40er Jahren erbrachte der preußische Eisenbahnbau meist etwas mehr als
die Hälfte der gesamten Bau- und Finanzierungsleistungen innerhalb des
Deutschen Bundes, wie die folgenden Vergleichszahlen für zwei Jahre zeigen:

12 Lothar BAAR, Die Berliner Industrie in der industriellen Revolution


( = VIWGBKa, Bd. 4), Berlin 1966.
1 Die Ergebnisse von R. Spree (R. SPREE, Wachstumstrends und Konjunkturzy-
klen... (1978) [44a], S. 29; Ders., Die Wachstumszyklen... (1977) [44b], S. 3 2 0 -
330) diskutiert zustimmend H . - U . WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte...
(1987) [29], Bd. 2, S. 613 ff. Er übernimmt auch die These vom „Big Push"
(Hirschmann) für das Jahr 1845.
2 A . a . O . , S. 6 1 4 f f . (mit reichhaltigen, allerdings etwas unübersichtlichen Litera-
turangaben).
V. Eisenbahnfieber und Industrialisierungsschub 219

TABELLE 4 2
Nettoinvestitionen und Kapitalstock im deutschen Eisenbahnbau (1846/47)
(in Millionen Goldmark)

1846 1847

Netto- Kapitalstock Netto- Kapitalstock


investitionen investitionen

Preußen 118,8 271,3 84,9 356,2


Deutscher Bund 177,6 459,1 156,2 615,3

Quelle: H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2 ,


S. 6 1 7 .

Im Gegensatz zu den anderen deutschen Staaten, in denen sich die


Regierungen beim Eisenbahnbau stark engagierten, erfolgte die Finanzie-
rung in Preußen zunächst weitgehend durch private Aktiengesellschaften.
Die staatliche Zurückhaltung war, wie erwähnt, durch das Staatsschulden-
gesetz von 1820 bedingt, das staatliche Anleihen von der Zustimmung der
noch immer verweigerten „Reichsstände" abhängig machte. 3 Immerhin
hatte man während der Verhandlungen mit den Vereinigten Ausschüssen
1842 einen Kompromiß gefunden: Um das gute Investitionsklima zu stabi-
lisieren, garantierte der Staat den privaten Eisenbahngesellschaften eine
Mindestverzinsung von 3,5 Prozent ihres Kapitals und gewährte ihnen eine
Befreiung von der Grund- und der Gewerbesteuer. Da die landschaftlichen
Pfandbriefe und die Staatsschuldscheine ebenfalls mit 3,5 Prozent verzinst
wurden, die Dividenden aber in den folgenden Jahren deutlich höhere
Gewinne abwarfen, legten viele Investoren ihr Kapital lieber in Eisenbahn-
aktien an. Hatte der Kurszettel der Berliner Börse 1842 nur sechs Eisen-
bahnpapiere notiert, waren es 1844 schon 29 und zwei Jahre später 50.
Wegen der sicheren Lukrativität wurden sie sehr hoch bewertet, und es
entwickelte sich ein lebhaftes Spekulationsgeschäft: „Das Eisenbahnfieber
ist stärker als jemals, es grenzt an Wahnsinn", notierte Camphausen im
Jahre 1844 4 (siehe Tabelle 43 auf S. 220).
Um den unentwegten Kursverfall der Staatspapiere aufzuhalten, erließ
die Regierung am 25. April 1844 die Börsen-Verordnung. Sie wirkte „wie
eine antikapitalistische Strafexpedition", indem sie Genehmigungsverfahren
vorschrieb, Zeitgeschäfte und den Handel mit ausländischen Aktien verbot.
Berlin erlebte seinen ersten modernen Börsenkrach, aber der gewünschte
Effekt trat ein. Die Spekulation brach zusammen, und die Eisenbahnfinan-

3 S.o. S. 111.
4 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 6 1 9 -
622; das Zitat: S. 620. Während sich Friedrich Wilhelm III. gegenüber den
Eisenbahnen eher reserviert verhalten hatte, sprach sein Nachfolger schon 1838
davon, daß „diesen Karren, der durch die Welt läuft, ... kein menschlicher Arm
mehr" aufhalten könne.
220 § 4 Der preußische Vormärz (1840 - 1 8 4 7 )

TABELLE 4 3
Erfolgszahlen des frühen preußischen Eisenbahnbaus

1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850

1 Deutscher Bund 461 677 922 1310 1758 2151 3291 4317 5002 5458 5875
Preußen 185 395 588 815 924 1106 1972 2424 2718 2880 2967

2 Verzinsung
der preußischen 3,9 3,8 3,9 3,9 3,5 3,6 3,7 3,8 4,4 4,0 4,3
Staatsanleihen

3 Verzinsung
der Privat- 5,1 5,6 5,0 6,2 5,0 5,5 5,4 5,1 3,2 3,7 4,4
eisenbahnen

1 = Streckenlänge der Eisenbahnen im Deutschen Bund und in Preußen (in Kilometern)


2 = Verzinsung der preußischen Staatsanleihen (in Prozent)
3 = Verzinsung der preußischen Privateisenbahnen (in Prozent der Durchschnittsdividende)

Quelle: H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 615.

zierung geriet in ein ruhigeres Fahrwasser, ohne dabei ihre Effektivität


einzubüßen.
Der Staat hielt sich nach wie vor zurück. Bis 1850 übernahm er lediglich
Aktien im Werte von 6,7 Millionen Talern, legte 5,6 Millionen Taler in
Staatsbahnen an und brachte rund 9 Prozent des Baukapitals auf. Immerhin
hatte er für 31,7 Millionen Taler die Zinsgarantie ausgesprochen, die zwar
infolge der höheren Gewinnausschüttungen nur symbolischen Wert besaß,
wegen ihrer stimulierenden Wirkung in den Anfangsjahren aber dennoch
von Bedeutung war.
Der Eisenbahnboom brachte auch den drei anderen Leitsektoren eine
lange Phase anhaltender Expansion. Die ungeheure Nachfrage nach Eisen
und Stahl für Schienen und Ausrüstungsgegenstände, die zunächst nur durch
Importe gedeckt werden konnte, mobilisierte die einheimischen Unterneh-
mer. In sechs Jahren verdoppelte sich die preußische Stabeisenerzeugung
von 1,5 (1841) auf 3,1 Millionen Zentner (1847); das Verhältnis der in
Preußen verlegten Schienen deutscher Herkunft stieg von 10 Prozent (1843)
auf 48 Prozent (1853). Innerhalb des Zollvereins spielte Preußen bis 1850
im Bereich der eisenverarbeitenden Industrie die dominierende Rolle. Es
produzierte 100 Prozent des Gußstahls, 98 Prozent des Rohstahls, 74 bis 77
Prozent des Stabeisens, 81 Prozent der Roheisengußwaren, 91 Prozent des
Drahts und 76 Prozent des Blechs. In Preußen standen 90 Prozent aller
Puddelöfen und 29 der 37 Kokshochöfen.
Der große Bedarf an Steinkohle für den Eisenbahnbetrieb und die Eisen-
industrie wirkte stimulierend auf die Förderung. 1827 hatte sie in Preußen
1,5, 1836 erstmals 2 Millionen Tonnen erreicht, von denen etwa zwei
Fünftel aus dem Bereich des Oberbergamtes Dortmund, dem Kern des
späteren Ruhrgebietes, stammten. 1841 betrug die Förderleistung mehr als
drei, 1845 mehr als vier Millionen Tonnen. Trotz gewisser Jahresschwan-
kungen zeigten die Produktionszahlen eine insgesamt steigende Tendenz.
V. Eisenbahnfieber und Industrialisierungsschub 221

Von den 1850 geförderten 4,56 Millionen Tonnen kamen etwa 21 Prozent
aus Oberschlesien und rund 14 Prozent aus dem Saarrevier. 5

TABELLE 4 4
Die Steinkohlenproduktion in Preußen 1840 — 1850
(in Millionen Tonnen)

Gesamt- OBAB Dortmund Saar- übriges


Jahr
produktion Produktion Belegschaft revier Preußen

1840 2,82 1,12 8.945 0,408 1,29


1841 3,07 1,31 9.215 0,470 1,29
1842 3,29 1,36 9.434 0,552 1,38
1843 3,13 1,30 9.442 0,457 1,37
1844 3,43 1,44 10.058 0,526 1,46
1845 4,03 1,52 10.472 0,672 1,84
1846 3,82 1,61 10.852 0,627 1,58
1847 4,22 1,73 11.888 0,618 1,87
1848 3,87 1,16 11.473 0,483 2,23
1849 4,01 1,66 12.084 0,537 1,81
1850 4,56 1,99 12.741 0,636 1,93

Quelle: H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 627


(ergänzt).

Daß der preußische Maschinenbau aus recht kümmerlichen Anfängen


binnen einer Generation zur Weltspitze aufrückte, lag an der Konzentration
mehrerer ungewöhnlich tüchtiger junger Unternehmer in Berlin, die in der
Oranienburger Vorstadt, wo auch die Königliche Eisengießerei lag, das
„Birmingham der M a r k " errichteten: Egells, Wöhlert, Hoppe, Schwartz-
kopff und vor allem August Borsig machten dieses „Feuerland", wie die
Berliner sagten, zum ersten Maschinenbauzentrum Preußens. Bis 1850 pro-
duzierte Borsig 334 Lokomotiven. 6 Seit 1854, als bei Borsig die 500. Lo-
komotive das Werk verließ, wurden keine Lokomotiven mehr aus dem
Ausland importiert. Mit dem Ausbau der Eisenbahnverbindungen ging die
langfristige Verbilligung der Transportkosten Hand in Hand. Die Güterta-
rife sanken in Preußen von 18 (1840) auf 4,4 Pfennig pro Tonne (1870).
Die Wirkungen des Eisenbahnbaus reichten weit über die verkehrstech-
nischen und ökonomischen Dimensionen hinaus. „Es beginnt", so kom-
mentierte Heinrich Heine 1843 diese Entwicklung, „ein neuer Abschnitt in
der Weltgeschichte." 7 Die schrumpfenden Entfernungen veränderten die

5 Berechnet nach den Zahlen bei H.-U. WEHLER, a. a. O., S. 626 f. Vgl. auch
Tabelle 44.
6 Vgl. dazu I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 5 7 3 -
580.
7 Heinrich HEINE, Artikel vom 5. Mai 1843, in: Ders., Säkularausgabe. Werke,
Briefwechsel, Lebenszeugnisse, hg. von den Nationalen Forschungs- und Ge-
denkstätten... in Weimar und dem C.N.R.S. in Paris. Bd. 10: Pariser Berichte
222 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

Zeitkategorien und ließen die Grenzen fragwürdiger erscheinen. Die Be-


triebsstrukturen der Werkstätten und Bankhäuser, die zu Mammutunter-
nehmen und Großbanken aufstiegen, änderten sich tiefgreifend und ver-
langten nach neuen rechtlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Nicht zuletzt die sprunghaft ansteigende Industriearbeiterschaft stellte ein
ganz neues Potential dar, mit dem Staat und Unternehmer je länger desto
mehr zu rechnen hatten.

VI. 1847 — Am Vorabend der Revolution


Seitdem der rheinische Eisenbahnunternehmer Hansemann 1841 den Bau
der Linie K ö l n - M i n d e n und damit den Beginn einer preußischen West-
Ost-Verbindung durchgesetzt hatte (Fertigstellung 1847), der von der an-
deren Seite die 1846 eröffnete Strecke Berlin - Magdeburg entgegen wuchs,
war die 1848 tatsächlich erfolgende Eisenbahnanbindung des Rheinlandes
an die preußische Zentrale abzusehen. 1 Aber das Gegenstück, eine von
Berlin nach West- und Ostpreußen und zur russischen Grenze führende
Bahn, schien unausführbar. Die veranschlagten Kosten von 36 Millionen
Talern waren nicht aufzubringen, da sich die Geldgeber nicht für diese
„Ostbahn" interessierten, die weite Strecken städtearmen und fast men-
schenleeren Landes zu durchqueren hatte und keine sichere Aussicht auf
eine gute Rendite zu versprechen schien. Da die Regierung an der Ostbahn
aber aus strategischen Gründen sehr interessiert war, kam der Gedanke auf,
die Frage ihrer Finanzierung mit den königlichen Verfassungsplänen zu
verknüpfen. 2
Das Patent vom 3. Februar 1847, mit dem Friedrich Wilhelm IV. den
„Vereinigten Landtag" zum April nach Berlin einberief, ließ das von der
Opposition immer wieder angemahnte Verfassungsversprechen von 1815
unerwähnt. Das „erste Parlament der preußischen Staatsentwicklung" (Hu-
ber) bestand aus sämtlichen Mitgliedern der acht Provinziallandtage. Der
Anteil des Adels, der insgesamt über eine Stimme mehr als die nichtadligen
Vertreter verfügte (307:306), war für die einzelnen Provinzen unterschied-
lich (Adel : Nichtadel):
Brandenburg 43 : 35 Schlesien 60:46
Ost- und Westpreußen 50:50 Sachsen 37:37
Pommern 25:24 Westfalen 33:40
Posen 27:24 Rheinprovinz 32:50

1 8 4 0 - 1 8 4 8 , bearb. von Lucienne Netter, Berlin-Paris 1979, S. 1 9 5 - 2 0 0 , das


Zitat: S. 196. Heine nennt die Eisenbahnen ein „providentielles Ereignis, das der
Menschheit einen neuen Umschwung gibt", und vergleicht dieses Faktum mit
der Entdeckung Amerikas, der Erfindung des Schießpulvers und des Buchdrucks.
1 Zum Gesamtkomplex vgl. die gründliche Untersuchung von W. STEITZ, Die
Entstehung... (1974) [192d], S. 202ff.
2 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 677.
VI. 1847 - Am Vorabend der Revolution 223

Insgesamt gehörten dem Vereinigten Landtag 613 Delegierte an: 3

TABELLE 4 5
Zusammensetzung des preußischen Vereinigten Landtags von 1847

Provinz Herren- Ritter- Städte Landge- Insgesamt


stand stand meinden

Brandenburg 11 32 23 12 78
Ost- und Westpreußen 5 45 28 22 100
Pommern 1 24 16 8 49
Posen 5 22 16 8 51
Schlesien 24 36 30 16 106
Sachsen 7 30 24 13 74
Westfalen 12 21 20 20 73
Rheinprovinz 5 27 25 25 82

70 237 182 124 613

Quelle: E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... [49], Bd. 2, S. 492, Anm. 80.

Als enttäuschend empfanden die Liberalen bei dieser Einladung, daß der
Vereinigte Landtag künftig nicht regelmäßig, sondern nur auf königlichen
Wunsch zusammentreten solle; auch die ihm zugedachten Kompetenzen
entsprachen nicht den Erwartungen der konstitutionellen Kreise. Die Ent-
täuschung steigerte sich noch, als der König in seiner Thronrede zur
Eröffnung des Landtages am 11. April 1847 erklärte, daß er es „nie und
nimmermehr zugeben werde, daß sich zwischen unseren Herrgott im Him-
mel und dieses Land ein beschriebenes Blatt gleichsam als eine zweite
Vorsehung eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren und durch
sie die alte, heilige Treue zu ersetzen". Ausdrücklich lehnte er es ab, das
natürliche und gerade in Preußen „durch seine innere Wahrheit so mächtig
machende Verhältnis zwischen Fürst und Volk in ein konventionelles, kon-
stitutionelles zu wandeln" 4 - offensichtlich hatte der König seit seinem
Widerwillen gegen alle „auf Pergament geschriebenen Staatsgrundgesetze
(1840) und der Bemerkung vom „papiernen Wisch" (1842) nichts dazuge-
lernt. 5 Zwar hatte er dem Landtag die Beschlußkompetenz über Steuern
und Staatsschulden zugebilligt; in den übrigen Fragen einschließlich even-
tueller Kriegsanleihen war er aber „auf Rat und Bitte" beschränkt. Auch
die Periodizität wurde ihm verweigert. 6

3 H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 6 6 1 f., g i b t f ü r
einige Provinzen geringfügig von Huber abweichende Zahlen. Die Mitglieder des
Herrenstandes bildeten eine, alle übrigen eine zweite Kurie.
4 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 619.
5 Die beiden Äußerungen finden sich in einer KO vom 4. X . 1840 und in einem
Brief des Königs an v. Schön vom 21./28. XII. 1842 (beide zit. von E. R. HUBER,
Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 486f.).
6 H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 6 4 9 , s p r i c h t in
diesem Zusammenhang von einer dem König vorschwebenden „Minimalisierung
repräsentativer Rechte".
224 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

Auf die starre königliche Haltung reagierten die oppositionellen Vertreter


im Landtag auf dreifache Weise: 7
Erstens erarbeiteten mehrere liberale Abgeordnete eine „Deklaration der
Rechte" vom 26. April 1847, in der sie gegenüber dem Einberufungspatent
vom 3. Februar ernsthafte Rechtsbedenken erhoben, weil der Vereinigte
Landtag ohne Periodizität und umfassende Gesetzgebungskompetenz nicht
die Rechtsqualität der 1820 versprochenen „Reichsstände" habe. Diese
Erklärung wurde von 138 Abgeordneten unterschrieben; da es nicht gelang,
sie auf die Tagesordnung setzen zu lassen, konnte sie allerdings nicht zum
Beschluß erhoben werden.
Zweitens ließen die Liberalen nichts unversucht, auf dem Wege einer
Petition eine Erweiterung der parlamentarischen Rechte zu erreichen. Die
nach langen Diskussionen am 11. Juni 1847 von der Dreiständekurie gebil-
ligte Verfassungs-Petition, die acht Einzelanträge umfaßte, erfuhr in der
Herrenkurie einige Modifikationen, die von der anderen Kurie übernommen
wurden (23. Juni 1847). Die königliche Antwort vom folgenden Tag sprach
sehr allgemein von einer möglichen künftigen Weiterentwicklung des Ver-
fassungsrahmens, lehnte aber alle konkreten Vorschläge der Petition rund-
weg ab.
Drittens praktizierten die Stände eine zunehmend härtere Obstruktions-
politik, als die Regierung der Versammlung eine Reihe von Gesetzentwürfen
oder -Vorschlägen unterbreitete. Sie beriefen sich dabei auf den Rechtsstand-
punkt, keine Anträge zu beraten, für die nur die mit allen Kompetenzen
ausgestatteten „Reichsstände" zuständig sein konnten. Der Ablehnung
durch den Landtag verfielen deshalb das geplante Gesetz über die Landren-
tenbanken (448:101 Stimmen) sowie die königliche Proposition über eine
Anleihe von 22 bis 25 Millionen Talern zur Finanzierung der Ostbahn
( 3 6 0 : 1 7 9 Stimmen).
Im Verlauf dieser Debatte, als David Hansemann den ketzerischen Vor-
schlag machte, zur Finanzierung doch 10 Millionen Taler aus dem Kriegs-
schatz zu entnehmen, prägte er die später berühmte Formulierung, daß „bei
Geldfragen die Gemütlichkeit" aufhöre 8 — während sich der pommersche
Abgeordnete Otto v. Bismarck, der am 17. Mai 1847 vor dem Landtag
seine erste politische Rede gehalten hatte und sich über die „Phrasen der
rheinischen Weinreisenden-Politik" lustig machte, 9 den Liberalen in der

7 A . a . O . , S. 6 8 9 - 6 9 3 ; zur Obstruktionsdebatte: A . a . O . , Kap. VII/2, S. 668ff.


8 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 626. Weil
sogar 65 Abgeordnete aus Preußen gegen die Vorlage gestimmt hatten, die ihrem
Land „zu jeder Jahreszeit eine gesicherte Verbindung mit der Hauptmasse des
Staates" sichern sollte, ließ der erzürnte König, um die Untertanen seiner Lieb-
lingsprovinz zu strafen, die längst begonnenen Vorarbeiten einstellen. Der Bau
der Brücken über Weichsel und N o g a t wurde erst drei Jahre später wieder
aufgenommen.
9 Bismarck an Johanna von Puttkamer, 26. V. 1847, in: Otto von BISMARCK, Die
gesammelten Werke, 15 Bde. (in 1 9 B d n . ) , Berlin 1 9 2 4 - 1 9 3 5 (ND Nendeln/
Liecht.), hier Bd. 14, hg. von Wolfgang Windelband und Werner Frauendienst,
Berlin 1933, S. 91.
VI. 1847 — Am Vorabend der Revolution 225

gleichen Sitzung „Erpressung" vorwarf, weil sie das Junktim von Periodi-
zität und Ostbahn-Anleihe hergestellt hatten.
Ohne Ergebnis blieb auch das Regierungsprojekt, die städtische Mahl-
und Schlachtsteuer durch die Klassensteuer zu ersetzen und den mehr als
400 Taler Verdienenden eine zwei- bis dreiprozentige Einkommensteuer
aufzuerlegen. 10
Erregte Debatten gab es über die Regierungsinitiative, das Emanzipations-
edikt aus dem Jahre 1812, das bisher nur in den vier alten Provinzen galt,
im gesamten Staatsgebiet einzuführen. Das neue Judengesetz, das erst nach
Abschluß des Landtages am 23. Juli 1847 veröffentlicht wurde, ließ die
Sonderstellung der Juden im Großherzogtum Posen bestehen. Wegen der
großen Zahl der dort lebenden Juden (1820 etwa 57.000) war die Regierung
von jeher davor zurückgeschreckt, das Emanzipationsedikt auf diese Provinz
auszudehnen. Die Juden hatten dort nur die Rechtsstellung von „geschützten
Untertanen". Ihre staatsbürgerliche Gleichheit erreichten sie erst durch die
Verfassung von 1848/50. 1 1
Die letzte Aufgabe des Vereinigten Landtages bestand in der Wahl der
Abgeordneten für den Vereinigten Ausschuß, der zwischen zwei Landtags-
sessionen von der Regierung zur Beratung von Gesetzentwürfen herange-
zogen werden konnte. Da der König inzwischen die erneute Berufung eines
Landtages binnen vier Jahren in Aussicht gestellt hatte, war für den zu
wählenden Ausschuß eine längere Funktionszeit abzusehen. Eine radikale
Oppositionsgruppe um den westfälischen Landrat Georg v. Vincke trat —
wiederum aus Rechtsgründen — für einen Wahlboykott ein, fand aber keine
Mehrheit. So wählten am 25. Juni 1847 284 Delegierte ohne jede Einschrän-
kung sowie weitere 157 unter gewissen, faktisch bedeutungslosen Vorbe-
halten. 58 Abgeordnete, darunter 28 Rheinländer mit Hansemann und
Mevissen, nahmen an der Wahl nicht teil. Nur mit Mühe konnte der König
davon abgehalten werden, diese hartnäckigen Opponenten, unter denen
sich vier Landräte befanden, zu maßregeln.
Einen Tag nach dieser Wahl schloß der Regierungskommissar, Innenmi-
nister v. Bodelschwingh, die erste große preußische Ständeversammlung mit
der vielsagenden Bemerkung, „daß die Ergebnisse des Vereinigten Landtages
weniger fruchtbringend für das Land gewesen sind, als sie es hätten sein
können". Die Doppeldeutigkeit dieser Worte war symptomatisch für die
ambivalente Stimmung nach Abschluß dieser Versammlung mit ihren „so
geistreichen und doch so wunderlich verworrenen Verhandlungen"
(Treitschke). Niemand wußte genau, wie es nun weitergehen solle; allein
Friedrich Wilhelm IV. glaubte trotz seines vorübergehenden Unmuts noch
immer, die Zukunft seines Verfassungswerkes fest in der Hand zu haben.
Sonst herrschte allenthalben eine merkwürdige Mischung von Unsicherheit,
Mißmut, Resignation und Aufbegehren. Niemand aber, so kennzeichnete
Treitschke sehr treffend diese Situation, trug größere Schuld an dieser

10 H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 7 0 9 f .
11 A. a. O., S. 709; ausführliche Darstellung: H. von TREITSCHKE, Deutsche Ge-
schichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 6 2 9 - 6 3 6 .
226 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

Verstimmung als der König, „der die Nation so ganz väterlich nach seinen
unerforschlichen Ratschlüssen gängeln wollte". 1 2
Während im Weißen Saal des Schlosses die Debatten des Landtages ihren
Lauf nahmen, verkaufte man in Berlin „Konstitutions-Pfannkuchen", denen
der Inhalt fehlte. 13 Die Aufmerksamkeit, mit der die politisch interessierten
Kreise nicht nur der Hauptstadt die Debatten des Vereinigten Landtags
verfolgten, erklärt sich auch daraus, daß die Verhandlungen umgehend
bekanntgemacht wurden. Erstmals in der Geschichte des preußischen Par-
lamentarismus hatte man acht „Geschwindschreiber" eingestellt, deren „ste-
nographische Berichte" vollständig in der „Allgemeinen Preußischen Zei-
tung" abgedruckt wurden, offensichtlich aufgrund eines Erstdruck-Privilegs,
das sich als äußerst lukrativ erwies. Von den acht nach dem System von
Stolze arbeitenden Stenographen wurden bald vier entlassen und durch
Gabelsberger-Schüler, die bereits als sächsische Landtagsstenographen tätig
gewesen waren, ersetzt. Unter ihnen befand sich Franz Wigard, der später
als Herausgeber der stenographischen Berichte der Frankfurter National-
versammlung bekannt wurde. Nach Abschluß des Landtages wurden die
„stenographischen Berichte" in mehreren Buchausgaben publiziert. 14
Die zunehmende Politisierung einer breiteren Öffentlichkeit im Frühjahr
1847 beruhte auf einer rapiden Verschlechterung der Versorgungslage. Nach
einem harten Winter machte sich eine allgemeine Verknappung der Le-
bensmittel bemerkbar, nicht zuletzt eine Folge der Mißernte des Vorjahres.
Als die Lebensmittelpreise stiegen und stiegen, entlud sich die wachsende
Erregung am 21. April, als für die Metze Kartoffeln fast das Vierfache des
sonst üblichen Preises verlangt wurde. Die Plünderung der Kartoffelstände,
meist durch einkaufende Frauen ausgelöst, breitete sich über alle Märkte
Berlins aus und ging in eine tumultuarische Erregung über, die große Teile
der Stadt ergriff. Die Menschen wogten durch die Straßen, plünderten
Bäcker- und Fleischerläden, randalierten und demolierten. Die Zwischen-
fälle wiederholten sich am 22. und 23. April. Aus den Vorstädten zogen
Scharen „zerlumpten Gesindels" zum Alexanderplatz und führten radikale
Parolen auf den Lippen. Die Revolution der Armen, von der Grunholzer
gesprochen hatte, schien auszubrechen. Nur mit Hilfe des herbeigerufenen
Militärs konnte die Ruhe nach drei Tagen wiederhergestellt werden.
Über 300 Teilnehmer an der „Kartoffelrevolution" wurden verhaftet.
Sechs Untersuchungsrichter arbeiteten von früh bis spät und verurteilten
viele zu schweren Gefängnis- oder Zuchthausstrafen. Zweifellos war die
„Kartoffelrevolution" in erster Linie eine aus der unerträglich gewordenen
Not entstandene Hungerrevolte und kein bewußter, politisch motivierter
Aufstand, wenn sich auch politische Forderungen mit den wirtschaftlichen
verbanden. 15

12 A . a . O . , S. 6 4 1 - 6 4 3 .
13 Adolf STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt.
Geschichte und Sage, Berlin 3 1880, S. 940 f.
14 H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 6 9 8 f .
15 Vgl. dazu I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 600f.
VI. 1847 - Am Vorabend der Revolution III

Ähnliche, durch Wirtschaftskrise und Mißernten hervorgerufene Unruhen


lassen sich 1846/47 in über 20 preußischen Städten nachweisen. Im August
1846 hatte ein Militäreinsatz der populären Kölner Martinskirmes mit
Bajonett und Kolbenhieben ein Ende bereitet. Im Laufe des folgenden Jahres
kam es zu Konflikten in Münster, Posen, Halle, Merseburg, Stettin, Köln,
Osterode und Frankfurt an der Oder. Überall wurden Läden gestürmt,
Magazine geplündert und Märkte überfallen, bis das herbeigerufene Militär
die Ordnung gewaltsam wiederhergestellt hatte. Fast immer gab es dabei
Verletzte auf beiden Seiten. 16
Am schlimmsten wütete die Hungersnot in Oberschlesien, wo drei Jahre
lang die Kartoffelernte mißraten war. Durch eine Typhusepidemie ver-
schlechterte sich die Situation derart, daß im Laufe des Herbstes und
Winters 1847 Tausende von Menschen starben. Besonders betroffen waren
die Kreise Pleß, Rybnik und Ratibor, in denen während der nächsten Jahre
4.000 Waisenkinder zu versorgen waren. 1 7
Unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit ging Mitte Juni 1847 in
Berlin ein Prozeß zu Ende, in dem vier Handwerksgesellen „der Stiftung
und Teilnahme einer geheimen Verbindung" angeklagt waren. Da „eine
hochverräterische Tendenz" nicht zu erkennen sei, hatte das Kammergericht
die Angelegenheit an das Kriminalgericht verwiesen, das zwei der vier
Angeklagten freisprach. Die beiden anderen wurden der Stiftung und Teil-
nahme einer verbotenen Gesellenverbindung für schuldig befunden und
erhielten zwei beziehungsweise vier Wochen Gefängnis, die durch die Un-
tersuchungshaft als verbüßt galten. Außerdem mußten sie wegen Verbrei-
tung verbotener Schriften je 50 Taler Geldbuße zahlen. Die beiden Verur-
teilten, der Schneidergeselle Mentel und der Tischlergeselle Bühring, waren
Mitglieder einer Vereinigung, die nach dem Vorbild des in Paris bestehenden
„Bundes der Gerechten" in Berlin seit 1845 von Mentel aufgebaut wurde,
wie er es bei seiner Aufnahme in den Pariser Bund im November 1840
versprochen hatte. Das ihm vorschwebende Ideal war dabei „ein allgemeiner
Kommunismus, das heißt Gleichheit aller Menschen bei einem entsprechen-
den Staatszustande". Mentel war klug genug, die Frage nach einem eventuell
geplanten revolutionären Umsturz der Verfassung in Preußen energisch zu
verneinen, doch wird man in seinem Kreis den ersten Ansatz zu einer
organisierten Berliner Arbeiterbewegung sehen dürfen. 18

Der neuerdings vertretenen These, daß die Hungerrevolten des Frühjahrs 1847
den Auftakt eines sich bis zum Sommer 1849 hinziehenden Protestzyklus bildeten
(Manfred GAILUS, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten
unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1 8 4 7 - 1 8 4 9 [ = VMPIG, Bd. 96],
Göttingen 1990, passim), wird man zustimmen können; den weitergehenden
Folgerungen aus der detailfreudigen Untersuchung der „Straßenpolitik" ist, behält
man die Gesamtzusammenhänge im Blick, eher mit Skepsis zu begegnen.
16 H . - U . W E H L E R , D e u t s c h e G e s e l l s c h a f t s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 8 7 ) [ 2 9 ] , B d . 2 , S. 6 5 7 f .
17 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 522f.
18 I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 6 0 1 .
228 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )

Unter den zahlreichen Gerichtsverfahren, die damals die Berliner Justiz-


behörden beschäftigten, nimmt dieser „Kommunistenprozeß", wie ihn schon
die Zeitgenossen nannten, eine besondere Stellung ein, weil er einen Einblick
in die sich allmählich vollziehende politische Bewußtseinsbildung auch der
unteren Schichten erlaubt. Nicht nur das liberale Bürgertum stand mehr
und mehr in Opposition zum König und seinen Gottesgnadentum-Ideen,
auch die Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter begannen, das politische
System als solches in Frage zu stellen. Was seinem Vater in vier Jahrzehnten
nicht dauerhaft widerfahren war, schaffte Friedrich Wilhelm IV. trotz seiner
wohltönenden Reden in sechs oder sieben Jahren: Eine tiefgehende und
letztlich irreparable Entfremdung zwischen dem König und seinem Volk.
Das zeigte sich auch bei dem sogenannten Polenprozeß in Berlin, der
vom 2. August bis zum 2. Dezember 1847 stattfand. Teilweise geschürt
durch polnische Emigranten, war in der 1815 begründeten „Republik Kra-
kau" und in Westgalizien im März 1846 ein Aufstand gegen die Österreicher
ausgebrochen, der sich bald mit einer bäuerlichen Revolte gegen die Aus-
beutungspraktiken des Adels überlappte. Die Verbindungen reichten bis ins
preußische Großherzogtum Posen hinein, aber hier wurde die Verschwörung
verraten und der vorgesehene militärische Führer Mieroslawski verhaftet.
Während der Aufstand in Krakau und Galizien einen kurzen, aber sehr
blutigen Verlauf nahm, blieb Posen dank umfangreicher Verhaftungen weit-
gehend ausgespart. Nach dem Zusammenbruch der Revolte wurde trotz
preußischen Widerstandes, das um seine handelspolitischen Vorteile bang-
te, 1 9 die Einverleibung der „Republik Krakau" in das österreichische Kai-
serreich beschlossen (6. November 1846).
Aufgrund eines Gesetzes vom 17. Juli 1846, das auf die persönliche
Initiative des Königs zurückging, wurde der Polenprozeß die erste öffentliche
Gerichtsverhandlung in Preußens alten Provinzen. Da die Polenbegeisterung
der 30er Jahre noch nachwirkte, erfreuten sich die 254 Angeklagten, die
von der Untersuchungskommission aus der Masse der Verhafteten ausge-
wählt worden waren, reger Anteilnahme der Bevölkerung, die zur Prozeß-
eröffnung „in Massen schon zur frühen Morgenstunde" erschien. Während
der bis zum 17. November dauernden Verhandlungen kam ans Tageslicht,
daß die Verschwörer geplant hatten, Posen und Westpreußen von der
preußischen Monarchie loszureißen. In großzügiger Interpretation der Be-
stimmungen des Allgemeinen Landrechts erkannte das Kammergericht in
seinem Urteil vom 2. Dezember nicht auf Hochverrat, sondern nur auf
schweren Landesverrat und verurteilte acht der Angeklagten zum Tode, 112
zu Zuchthaus- und Festungsstrafen. Von 134 Freisprüchen erfolgten 116
wegen mangelnder Beweise. In drei Fällen wurde das Urteil wegen Krankheit

19 Über die handelspolitischen Aspekte und die diplomatische Niederlage, die Preu-
ßen einstecken mußte, informiert ausführlich: H. von TREITSCHKE, Deutsche
Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 5 4 7 - 5 5 3 .
VI. 1847 - Am Vorabend der Revolution 229

ausgesetzt. Wie schon in früheren Fällen wurde auch diesmal keins der
Todesurteile vollstreckt. 20
Nur vier Monate nach dem Ende des Vereinigten Landtages, im Oktober
1847, erschien aus der Feder des Leipziger Historikers Karl Biedermann die
„Geschichte des ersten preußischen Reichstags", in der er das Kardinalpro-
blem des preußischen Vormärz noch einmal auf den Punkt brachte und
unumwunden den Übergang dieses Staates zum Konstitutionalismus for-
derte. Das nicht erfüllte Verfassungsversprechen der Reformzeit belastete
die politische Zukunft Preußens in unerhörter Weise: „Sieben Jahre sind
verflossen, die nicht wiederkehren. Im tiefsten Schmerze sorge ich, daß,
weil das Mögliche nicht versucht worden, jetzt das Unmögliche unternom-
men werde", orakelte im Juni 1847 der königliche Intimus Radowitz; 21 ein
halbes Jahr später zog Camphausen die politische Bilanz des preußischen
Vormärz: „Ein Wort hätte hingereicht, den Verfassungsstreit in Preußen auf
immer zu beendigen; es ist nicht gesprochen worden, die Folgen müssen
getragen werden; die Geschichte aber wird richten zwischen der Regierung
und uns." 2 2

§ 5 Revolution und Gegenrevolution


(1848/1849)

Als die ersten Nachrichten von der Pariser Februarrevolution, die am


22. Februar 1848 zum Sturz des Julikönigtums geführt hatte, vier Tage
später in der preußischen Hauptstadt eintrafen, befand sich der von Fried-
rich Wilhelm IV. 1844 konzipierte und 1847 vorgestellte Verfassungsplan in
der letzten Phase seiner Verwirklichung. Der König hatte wie vorgesehen
den Vereinigten Ständischen Ausschuß zum 17. Januar 1848 nach Berlin
einberufen und ihm den Entwurf eines für die gesamte Monarchie gedachten
Preußischen Strafrechts zur Beratung vorgelegt. In 33 Sitzungen diskutierte
der Ausschuß den vom Gesetzgebungsminister v. Savigny präsentierten und
verteidigten Regierungsentwurf, gegen den sich vor allem die Rheinländer
wandten, die am Code pénal festhalten wollten.
Dennoch war der König mit dem Verlauf der Debatten recht zufrieden.
Da die Stände nun alles, was er im Februar-Patent 1847 befohlen, wenn

20 A. a. O., S. 5 6 1 - 5 6 3 ; ergänzend: Gotthold RHODE, Polen und die polnische Frage


von den Teilungen bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Walter Bußmann
(Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 1981, S. 677 —
745, hier S. 718.
21 Radowitz an Friedrich Wilhelm IV., 13. VI. 1847 (mitgeteilt von H. von
TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 644).
22 Zit. von A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte... ( 3 1880) [s.o. Anm. 13],
S. 952.
230 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

auch gelegentlich murrend, getreulich erfüllt hatten, wollte er, als eine Art
Belohnung, „den gehorsamen Kindern das letzte Geschenk seiner väterlichen
Huld, die periodische Berufung des Landtags" (Treitschke), ankündigen.
Dies geschah in der Abschlußsitzung des Ausschusses am 6. März 1848. 1
Diese lang ersehnte Bewilligung der Periodizität erfolgte zu einer Zeit,
als das revolutionäre Donnergrollen längst aus Frankreich, Italien, Baden,
Württemberg, Bayern, Sachsen und Hessen-Darmstadt auch nach Preußen
hinübertönte; sie kam mindestens ein Jahr zu spät und ihre Wirkung
verpuffte in den vorrevolutionären Erregungen der frühen Märztage.

I. Das Übergreifen der Revolution auf Deutschland

Da die revolutionäre Welle Preußen verhältnismäßig spät erreichte und sich


unter dem Eindruck der bereits erzielten Erfolge in den anderen deutschen
Territorien entwickelte, ist eine knappe Bilanz dieser Geschehnisse unerläß-
lich. Es lassen sich drei Bereiche unterscheiden:
1) Seit Ende Februar formierte sich, ausgehend von Baden, Hessen-
Darmstadt und Württemberg, in den süd- und mitteldeutschen Staaten die
liberale Opposition, die den Regierungen in unterschiedlich scharfer Form
die in Mannheim am 27. Februar beschlossenen „Märzforderungen" (Volks-
bewaffnung, Pressefreiheit, Schwurgerichte, deutsches Parlament) präsen-
tierte. Erschreckt durch die französischen Ereignisse und beunruhigt durch
zahllose spontane Volkserhebungen in Stadt und Land, gingen die meisten
Fürsten ohne großen Widerstand darauf ein, beriefen die liberalen „März-
ministerien", bewilligten Verfassungsrevisionen in liberal-demokratischem
Sinne oder stellten sie in Aussicht. Diese bürgerliche Revolutionsbewegung,
mit der die früheren liberalen Oppositionspolitiker an die Schaltstellen der
legalen Macht gelangten, war nicht antimonarchisch und im Grunde refor-
mistisch. Nur in Bayern mußte der durch die Lola-Montez-Affäre kompro-
mittierte König Ludwig I. zugunsten seines Sohnes Maximilian II. abdanken.
Die vielfach durch Aufstandsbewegungen unterstützten Sozialrevolutionären
Forderungen führten nur in Baden zu langfristig wirksamen Ergebnissen.
Mit Ausnahme von Mecklenburg und Anhalt-Dessau war der Systemwech-
sel im Dritten Deutschland generell Mitte März 1848 abgeschlossen. 2
2) Im österreichischen Kaiserreich sammelten sich die verschiedenen
oppositionellen Gruppen und legten der Regierung — nach dem anfeuernden
Beispiel der Rede des radikalen Abgeordneten Ludwig Kossuth im ungari-
schen Reichstag in Preßburg am 3. März — einen umfassenden Forderungs-
katalog vor. Als die Petition am 13. März von den Ständen beraten werden
sollte, kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Militär,

1 Vgl. d a z u H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 7 1 1 .
2 K.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 2 0 8 - 2 1 2 ; V. VALENTIN,
Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31) [213], Bd. 1, S. 338 ff.; H.-U.
WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 703 - 717.
I. Das Ubergreifen der Revolution auf Deutschland 231

die zu einer allgemeinen Aufstandsbewegung führten. Mit dem Rücktritt


Metternichs am 13. März und der Bewilligung von drei zentralen Forde-
rungen der bürgerlich-studentischen Kräfte am 15. März (vorbehaltloses
Verfassungsversprechen, Bewilligung der Nationalgarde, Aufhebung der
Zensur) hatte die bürgerliche Revolution ihre Ziele erreicht. Da in dem
habsburgischen Vielvölkerstaat die revolutionäre Welle auch auf die Außen-
länder übergriff und sich dort mit nationalen und sozialen Forderungen
verband, kam es zu revolutionär-separatistischen Erhebungen in Ungarn,
Böhmen und Oberitalien. Die Habsburger Monarchie geriet dadurch in
eine schwere, ihre Existenz bedrohende Krise. 3
3) In der preußischen Rheinprovinz beschloß am 5. März eine Versamm-
lung von etwa 5.000 Menschen, die vor dem Kölner Rathaus stattfand,
folgende „Forderungen des Volkes": Gesetzgebung und Verwaltung durch
das Volk, allgemeines Wahlrecht, Pressefreiheit, Volksbewaffnung, freies
Vereinigungsrecht, Schutz der Arbeit, Sicherung der Lebensbedürfnisse,
Erziehung aller Kinder auf Kosten des Staates. Damit hatten die Kölner
Kommunisten, unter ihnen der Armenarzt Andreas Gottschalk als „Bevoll-
mächtigter der arbeitenden Klasse", die Initiative im revolutionären Kampf
ergriffen. Der Stadtrat war nicht geneigt, diese Petition zu übernehmen,
und verabschiedete eine eigene Adresse (Einberufung des Vereinigten Land-
tags auf der Basis eines erweiterten Wahlrechts, Pressefreiheit, Bundesre-
form), die nach Berlin geschickt wurde. Eine dritte Petition linksliberaler
Kreise forderte eine Repräsentativverfassung mit Verantwortlichkeit der
Minister und allgemeinem Wahlrecht, unbedingte Freiheiten und ein deut-
sches Parlament. Die meisten der rund 60 Petitionen, die zwischen dem 2.
und 19. März aus den rheinischen Städten nach Berlin geschickt wurden,
schlossen sich inhaltlich den beiden liberalen Kölner Adressen an. Die
Petitionsbewegung griff in der ersten Märzhälfte auf andere preußische
Provinzen - Schlesien, Westfalen, (Ost- und West-)Preußen - über 4 und
erreichte Berlin am 6. März, als erstmals „In den Zelten", einer Ausflugs-
straße im Tiergarten, eine Volksversammlung stattfand, auf der eine an den
König zu richtende „Adresse der Jugend" vorgeschlagen wurde. 5
Mit diesem 6. März begann für Berlin die vorrevolutionäre Phase, die
am Nachmittag des 18. März zu Ende ging. 6 In diesen zwölf Tagen spitzte
sich die Situation in der Stadt unaufhörlich zu, wobei sich die verantwort-
lichen Kreise schon sehr früh über das sich gefährlich ansammelnde revo-
lutionäre Potential im klaren waren. Bereits am 8. März notierte General

3 A. a. O . , S. 7 1 7 - 7 2 0 ; V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... ( 1 9 3 0 /


31) [213], Bd. 1, S. 3 9 8 ff.; K . - G . FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12],
S. 2 1 2 - 2 1 4 .
4 A . a . O . , S. 2 1 5 f . ; V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... ( 1 9 3 0 /
31) [213], Bd. 1, S. 4 1 6 f.
5 K . L . v o n PRITTWITZ, B e r l i n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 5 ) [ 2 0 0 ] , S. 18-20.
6 Z u den Ereignissen in Berlin vgl. neuerdings die beiden Arbeiten von G. RICHTER,
Zwischen Revolution und Reichsgründung... ( 2 1 9 8 8 ) [209], S. 6 0 6 f f . , und Ders.,
Friedrich Wilhelm I V . . . (1987) [236], S. 1 0 7 f f .
232 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

v. Prittwitz: „Die Stimmung wurde jetzt auch unheimlich, man fühlte sich
unbehaglich in der eigenen Haut; die untersten Volksklassen nahmen eine
in die Augen springende düstere Physiognomie an. An der Börse sanken die
Kurse in fast unerhörtem Maße, ... auch mit den Kommunalbehörden war
man unzufrieden." Prittwitz sah voraus, „daß bei dem nicht unwahrschein-
lichen Eintritt von Volksbewegungen diese von ganz anderer Stärke sein
würden als die des vorhergegangenen Jahres". Vier Tage später bemerkte
er „die veränderte, herausfordernde, beinahe freche Haltung ..., welche die
unteren Schichten der Einwohnerschaft, namentlich aber die Gehilfen des
Handwerkerstandes, nach und nach in immer steigendem Verhältnis an-
nahmen". 7
Hinsichtlich des Verfassungsstreites, der trotz aller darüber hinausgehen-
den Forderungen der Ausgangspunkt des Konfliktes war und sein Kernstück
blieb, fehlte es nicht an wohlgemeinten Ratschlägen. Weitergehende Er-
wägungen der Regierung trafen sich mit mehreren Vorschlägen (Graf Dön-
hoff, Hansemann, Brünneck u.a., Graf Zech-Burkersroda), die das Heil in
der Flucht nach vorn sahen und zur Verhinderung der drohenden Revolution
die umgehende Berufung des mit erweiterten Kompetenzen ausgestatteten
Vereinigten Landtages empfahlen. „Nur der schnelle Übergang zum vollen
konstitutionellen Repräsentativsystem konnte Preußen im Frühjahr 1848
vor dem Umsturz retten" (Huber).
Der König zögerte; noch ahnte er nicht, daß — nach Treitschkes treffen-
der Einschätzung — „eine neue Zeit gekommen war". Wenn ihm am
11. März die sofortige Einberufung des Landtages als ein rettender Ausweg
erschienen sein soll, beeilte er sich jedenfalls nicht, diesen Gedanken in die
Tat umzusetzen, denn das Einberufungspatent erschien erst am 14. März 8
— viel zu spät, um die inzwischen hochgehenden Wogen zu glätten: Die
seit einer Woche andauernden Demonstrationen und Versammlungen hatten
am 13. März bereits zu ersten bewaffneten Konflikten mit dem Militär
geführt.
Eigentliches Ziel der Opposition war es, einen Katalog von neun For-
derungen, die eine „In den Zelten" stattfindende Volksversammlung am
7. März beschlossen hatte, in Form einer „Adresse" dem König zu über-
geben. Als das nicht gelang - der Polizeipräsident v. Minutoli schlug vor,
die Adresse durch die königliche Stadtpost ins Schloß befördern zu lassen
- setzte sich der Gedanke einer „Sturmpetition" nach süddeutschem Muster
durch: Man wollte die Adresse im Rahmen einer Massendemonstration vor
dem Schloß überreichen. 9
Mit den dezidiert politischen „Märzforderungen" verknüpfte sich in
Berlin der zusätzliche Wunsch nach Aufstellung einer wirksam bewaffneten

7 K . L . v o n PRITTWITZ, B e r l i n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 5 ) [ 2 0 0 ] , S. 1 8 , 2 5 u n d 4 5 . D i e s e 1985
edierten Aufzeichnungen stellen eine außerordentlich wichtige Quelle für die
Märzereignisse in Berlin dar.
8 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 148, S . 4 4 4 f .
9 Dies und die folgenden Angaben nach G. RICHTER, Zwischen Revolution und
Reichsgründung... ( 2 1988) [209], S. 6 0 7 - 6 1 3 .
I. Das Übergreifen der Revolution auf Deutschland 233

Bürgerwehr. Die Entscheidung fiel am Abend des 17. März, als eine Bür-
gerversammlung drei Entscheidungen fällte:

1) Sie beschloß eine von dem Publizisten Dr. Woeniger auf vier zentrale
Punkte (Militärrückzug, Bürgerbewaffnung, Pressefreiheit, Einberufung des
Landtages) reduzierte Adresse, die neue Prioritäten setzte.
2) Diese Resolution sollte am folgenden Nachmittag im Rahmen einer
Großdemonstration übergeben werden, an deren Spitze die aus dem Bür-
gertum rekrutierten, mit Armbinden und Holzstäben ausgerüsteten Ord-
nungstrupps stehen sollten. Diese Entscheidung war möglich geworden,
weil sich auch der Reformflügel der Berliner Bürgerschaft zu einer solchen
Massenpetition entschlossen hatte.
3) Schließlich wurde die gesamte Bevölkerung eingeladen, zu der De-
monstration am 18. März um 14.00 Uhr auf dem Schloßplatz zu erscheinen.
Daß diese Massenmobilisierung das geplante Unternehmen aller Wahr-
scheinlichkeit nach unkalkulierbar machen würde, haben die Verantwort-
lichen wohl bewußt in Kauf genommen. Die Nachricht vom Sturz Metter-
nichs, die am 16. März zur Gewißheit geworden war, hat die Eskalations-
bereitschaft der Berliner Oppositionellen zweifellos gefördert. „Nicht nur
die Berliner Demokraten und die kleine Gruppe um Woeniger vertraten
dieses Konzept, sondern auch die aus Handwerk und Bildungsschichten
stammenden Schutzbürger, ja sogar Stadtverordnete und ein Teil des Ma-
gistrats stellten sich hinter die Bewaffnungsadresse." Die allgemeine Ein-
schätzung der Lage war so, daß man für den 18. März mit einer Konfron-
tation rechnete. 10

Der König, davon informiert, daß man „in der Nachmittagsstunde auf
dem Schloßplatz in politischem Sinne agitieren" wolle, trat die Flucht nach
vorn an: Er gewährte die Pressefreiheit 11 und erließ ein Patent „wegen
beschleunigter Einberufung des Vereinigten Landtages", der nicht erst am
27., sondern bereits am 2. April zusammentreten sollte. 12
Ein Vergleich der beiden Einberufungspatente vom 14. und vom 18. März
zeigt, was für ein politischer Erdrutsch inzwischen erfolgt war. Hatte sich
das erste Dokument auf ziemlich allgemeine Aussagen beschränkt, enthielt

10 Z u dieser „Morgen geht's los"-Stimmung vgl. Adolf STRECKFUSS, 5 0 0 Jahre


Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Geschichte und Sage, Berlin
3 1 8 8 0 , S. 9 7 0 f . ; K . L . v o n PRITTWITZ, Berlin 1 8 4 8 . . . (1985) [200], S. 100; E. KAE-

BER, Berlin 1 8 4 8 . . . (1948) [206], S. 49.


11 A b d r u c k : W . G R A B ( H g . ) , D i e R e v o l u t i o n v o n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 0 ) [ 1 9 7 ] , N r . 1 6 , S. 5 3 f.
(Auszug). Die Bekanntmachung dieses am 17. III. vollzogenen Gesetzes erfolgte
erst am Morgen des folgenden Tages.
12 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), D o k u m e n t e . . . ( 3 1978) [50], Nr. 150, S . 4 4 5 f . Z u r
Reaktion auf diese Konzessionen in der zweitgrößten preußischen Stadt, in
Breslau, vgl. Karl Friedrich HEMPEL, Die Breslauer Revolution, hg. von Norbert
Conrads, in: Denkwürdige J a h r e . . . (1978) [196], S. 1 - 9 4 , hier S. 2 4 f . ; die Edition
der Hempel-Tagebücher durch Conrads ist für die Breslauer Revolution von
hohem Wert.
234 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

das zweite ein umfassendes verfassungspolitisches und staatsrechtliches


Reformprogramm. Nicht weniger als achtmal erscheint in diesem Katalog
die kategorische königliche Formulierung: „Wir verlangen..." Das betraf
im einzelnen die Umwandlung Deutschlands in einen Bundesstaat, „eine
konstitutionelle Verfassung aller deutschen Länder" (also auch Preußens!),
die Schaffung einer Bundesrepräsentation, eines Bundesheeres unter einem
Bundesfeldherrn und eines Bundesgerichts; sogar von einer Bundesflagge
und einer künftigen deutschen Flotte war die Rede; dazu kamen die For-
derungen nach voller Freizügigkeit „in dem gesamten deutschen Vater-
lande", nach Handelsfreiheit, nach gleichen M a ß e n und Gewichten, nach
einem einheitlichen Münzfuß und einem deutschen Handelsrecht.
Niemals zuvor hatte sich Friedrich Wilhelm IV. in einem verfassungs-
politisch relevanten Dokument so unmißverständlich und so präzise aus-
gedrückt; niemals zuvor war er auch den liberalen und nationalen Erwar-
tungen so weit entgegengekommen — aber die Versäumnisse von acht
Regierungsjahren ließen sich dadurch nicht aus der Welt schaffen.

II. Der Sieg der Revolution

Als der sich am Sonnabend, dem 18. M ä r z , seit den Mittagsstunden auf
dem Schloßplatz versammelnden Menge die beiden königlichen Patente
bekanntgemacht wurden, herrschte zunächst Zufriedenheit. Der Anblick
der im Schloßhof postierten Soldaten erinnerte die Menge jedoch daran,
daß man eigentlich gekommen war, um Bürgerbewaffnung und Militärab-
zug zu fordern. Die Rufe „Militär zurück!" wurden lauter und zahlreicher;
die Jubelversammlung wurde zur Protestdemonstration. „König, Minister
und Stadthonoratioren sahen hilflos, wie ihnen die Massen entglitten"
(Richter) und immer heftiger gegen die Schloßportale drängten.
Es ist wahrscheinlich, daß die konservative Partei um den Prinzen Wil-
helm eine solche Entwicklung vorausgesehen hatte und deshalb den König
bestimmte, den als konziliant bekannten Gouverneur v. Pfuel, der kurzzeitig
nicht auffindbar war (er hatte zu Hause „einige eilige Briefe zu schreiben"!),
durch den Generalleutnant v. Prittwitz, den Kopf der „Militärpartei", zu
ersetzen. Er erhielt seine Ernennung zum Oberbefehlshaber der in und um
Berlin befindlichen Truppen gegen 14 Uhr, wurde unverzüglich zum König
bestellt, der ihm eröffnete, „daß er die Kavallerie nehmen, mit derselben
den Schloßplatz säubern und dem dort herrschenden Skandal endlich ein
Ende machen solle". 1
Nachdem ein Beschwichtigungsversuch des Generals die Menge nur noch
mehr gereizt hatte, ließ er den Platz durch eine Schwadron Dragoner
räumen. Diese Aktion wurde durch zwei Infanterie-Kompanien unterstützt.
Während dieser Konfrontation fielen zwei zufällig ausgelöste Schüsse, die
zwar niemanden trafen, aber zu einer hysterischen Massenreaktion führten.

1 K.L.von PRITTWITZ, Berlin 1 8 4 8 . . . (1985) [200], S. 129.


II. Der Sieg der Revolution 235

Mit dem Ruf „Der König hat uns verraten!" stürmten die Demonstranten
vom Schloßplatz in die angrenzenden Straßen und begannen mit dem Bau
von Barrikaden. Die Revolution in Berlin hatte begonnen.
Die Barrikadenkämpfe dauerten etwa 16 Stunden und wurden besonders
von den stadtfremden Truppenteilen äußerst brutal geführt. 14.000 Soldaten
mit 36 Geschützen waren im Einsatz; bei den Aufständischen hatten nur
die Mitglieder der Schützengilde Gewehre, sonst kämpften sie mit Beilen,
Äxten, Eisenstangen, Messern und Steinen. Aus dem Schützenhaus stamm-
ten drei Böller, die mit Flintenkugeln und Murmeln geladen wurden. Die
Zahl der aktiven Barrikadenkämpfer wird auf 3.000 bis 4.000 geschätzt:
Angehörige aller bürgerlichen Berufe, Arbeiter und Studenten, vor allem
aber Handwerker. Viel größer war der Kreis der Helfer und Sympathisanten:
„Ohne diese Teilnahme fast der ganzen Bürgerschaft wäre der ungleiche
Kampf in den ersten Stunden entschieden gewesen" (Kaeber). Studenten,
die sich auf dem Fechtboden mit Schlägern bewaffnet hatten, eilten in die
Oranienburger Vorstadt, um die Arbeiter der zahlreichen Maschinenbau-
anstalten zum Kampf aufzurufen, an dem sich, wie Egells berichtet, vor-
zugsweise jüngere Männer beteiligten. Wie die Königliche Eisengießerei
gingen auch die Wagenhäuser der in der Nähe liegenden Artilleriekaserne
in Flammen auf, nachdem ihre Besatzung mit einer Haubitze in die Menge
geschossen hatte und fünf Tote zurückgeblieben waren. 2
Den militärischen Mittelpunkt der heftig umkämpften Friedrichstadt
bildete der Gendarmenmarkt, auf dem Kavallerie stand, um die Gefangenen
zum Schloß zu bringen. Ihren Höhepunkt fanden die nächtlichen Straßen-
und Barrikadenkämpfe in der Erstürmung des Köllnischen Rathauses, wobei
fünf Soldaten getötet, 68 verwundet sowie „nach einer mäßigen Schätzung
70 Leute vom Volk teils getötet, teils gefangen" wurden. Trotz der erbitterten
Gefechte, bei denen sich die im Straßenkampf gänzlich ungeübten Soldaten
von allen Seiten attackiert sahen und gelegentlich ein heftiger „Hagel von
Steinen, Balkenstücken, Brettern und Schutt" auf sie niederging, waren die
Erfolge aus militärischer Sicht enttäuschend. Um Mitternacht erklärte Pritt-
witz dem König, daß für die Niederschlagung des Aufstandes über das
bisher gewonnene Terrain hinaus, sofern er „länger als einige Tage" dauere,
die Zahl der vorhandenen Streitkräfte nicht ausreiche, da es neben dem
Kampf „Straße um Straße, Haus um Haus" auch darauf ankäme, „den
Wiederaufbau der Barrikaden und die Wiederaufnahme der Feindseligkeit
im Rücken der vordringenden Truppen zu verhindern". Allenfalls könnte
man die Truppen zurückziehen, die Stadt eng einschließen und an einigen
Punkten von außen bombardieren lassen. 3
Der König ging darauf nicht ein, sondern entschied sich für einen anderen
Lösungsversuch, der seinen paternalistischen Vorstellungen vom treusor-
genden, zwar mißverstandenen, aber doch vergebungsbereiten Landesvater

2 Vgl. dazu G. RICHTER, Zwischen Revolution und Reichsgründung... ( 2 1988) [209],


S. 6 1 5 - 6 1 8 ; E. KAEBER, Berlin 1 8 4 8 . . . (1948) [206], S. 5 2 - 8 1 ; K . L . v o n PRITT-
WITZ, Berlin 1 8 4 8 . . . (1985) [200], S. 1 2 9 f f .
3 A. a. O . , S. 2 3 1 . Die Erstürmung des Köllnischen Rathauses: S. 2 0 5 — 210.
236 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

besser entsprach. Der von ihm selbst in den ersten Stunden des 19. März
verfaßte Aufruf „An Meine lieben Berliner" 4 stellte zunächst fest, daß „eine
Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend", durch Lügen und
Verdrehungen die erhitzten Gemüter mit Rachegedanken erfüllt hätte und
„so die gräulichen Urheber von Blutvergießen geworden" seien. Diese Ver-
schwörungstheorie, der schon von den Zeitgenossen widersprochen wurde,
wertet auch die neuere Forschung als Legende. 5 Sie erlaubte aber dem König
den für ihn psychologisch bedeutsamen Schritt, seine „lieben Berliner" nicht
als rebellische Untertanen ansehen zu müssen und ihnen eine goldene Brücke
bauen zu können. Sie bestand in dem Angebot, daß nach Wegräumung der
Barrikaden „alle Straßen und Plätze sogleich von den Truppen geräumt
werden sollen". Lediglich das Schloß, das Zeughaus und wenige andere
Gebäude sollten noch für kurze Zeit eine militärische Besatzung behalten.
Mit diesem Aufruf, der noch in der Nacht gedruckt wurde und gegen 8 Uhr
allgemein in der Stadt bekannt war, hatte der König die Weichen für die
Entscheidungen des 19. März gestellt.
Die Straßenkämpfe hatten in den frühen Morgenstunden fast ganz auf-
gehört, da die Truppen nicht weiter vorrückten. Die Kontrahenten standen
sich abwartend gegenüber. „In den Straßen, welche noch durch Barrikaden
abgeschlossen waren", so notierte der Stadtrat Nobiling, „bemerkte man
deutlich die Verlegenheit, mit welcher die Bewohner die Werke der Finsternis
und der äußersten Erregung ansahen. Man schien aus einem bösen Traum
erwacht zu sein. Nur in den entfernteren Stadtteilen sollte noch eine größere
Aufregung herrschen... Eine Erneuerung der Feindseligkeiten schien mir, in
der inneren Stadt wenigstens, unmöglich." 6
Während der recht konfusen Verhandlungen, die am frühen Vormittag
im Schloß stattfanden, gelang es den „Tauben" um den (inzwischen zu-
rückgetretenen!) Minister V.Bodelschwingh, das vom König hergestellte
Junktim - Wegräumung der Barrikaden/Rückzug der Truppen - allmäh-
lich aufzubrechen. Der unbestätigte Bericht einer städtischen Deputation,
daß man mit der Abtragung einiger Barrikaden in der Königsstadt begonnen
habe, wurde zum Anlaß genommen, den Rückzug der Truppen zu befehlen.
Die inhaltliche Tragweite dieses Befehls gehört zu den umstrittensten
Fragen der Revolutionsforschung. Die Kontroverse entzündete sich bereits
im Vorzimmer des Königs an der Frage, ob der Rückzug „aus allen Straßen

4 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 151, S.447F.;


W . GRAB (Hg.), Die R e v o l u t i o n v o n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 0 ) [ 1 9 7 ] , N r . 1 8 , S. 5 7 F .
5 Allerdings hält Gerd Heinrich daran fest, daß der Aufstand „von einer Gruppe
polnischer und deutscher Agitatoren geplant" worden sei (K. L. von PRITTWITZ,
Berlin 1 8 4 8 . . . [1985] [200], Einleitung, S. XLVI). Z u r Kritik an dieser Verschwö-
rungstheorie vgl. G. RICHTER, Friedrich Wilhelm IV... (1987) [236], S. 114,
Anm. 23, und neuerdings Katharina ROSENPLENTER, Eine Rotte von Bösewich-
tern. Ausländische Agitatoren als Anführer der Berliner Märzunruhen?, in: Wolf-
gang Ribbe (Hg.), Berlin-Forschungen, Bd. 3 ( = EvHKzB, Bd. 66), Berlin 1988,
S. 4 3 - 5 1 .
6 K . L . v o n PRITTWITZ, Berlin 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 5 ) [ 2 0 0 ] , S. 2 6 9 .
II. Der Sieg der Revolution 237

und von allen Plätzen" auch das Schloß und das Zeughaus sowie den
Schloßplatz und den Lustgarten betreffen sollte. Der durch die königliche
Proklamation ohnehin gekränkte Prittwitz entschied sich für „eine ganz
verengte Auslegung", befahl gegen 12.30 Uhr den Abmarsch der Truppen
„mit klingendem Spiel". Als Besatzung von Schloß und Zeughaus hielt er
drei Bataillone für ausreichend, aber infolge einiger Mißverständnisse und
mangels klarer Befehle hinsichtlich des Schloßplatzes blieb das Zeughaus
schließlich unbesetzt, während der Riesenkomplex des Schlosses mit seinen
fünf offenen Portalen lediglich von sieben Kompanien bewacht wurde. 7 Als
der König die Konsequenzen dieser unkoordinierten Rückzugsbefehle be-
merkte, war es zu spät. Die Strukturschwäche der vormärzlichen Regie-
rungspraxis, der autokratische Herrschaftsanspruch des Monarchen, den
Friedrich Wilhelm in diesen Tagen nicht auszufüllen vermochte, machte ihn
zu einem schwankenden Rohr im Winde. Ein militärischer Erfolg hätte nur
erreicht werden können, so schrieb der Rittmeister v. Manteuffel, „wenn
gleichzeitig eine Anzahl Personen aus den königlichen Vorzimmern entfernt,
einige zwanzig aber entweder gehangen oder zu den Gefangenen nach
Spandau geschickt worden wären". 8
Indem Prittwitz die Truppen aus der Gefahrenzone herauszog und nur
die Schloßwache zurückließ („Die anderen haben sich verkrümelt", erklärte
er dem neuen Ministerpräsidenten v. Arnim), „opferte er den König, lieferte
ihn der Revolution aus" (Richter). Binnen weniger Stunden mußte sich
Friedrich Wilhelm dreimal den Forderungen beugen, die „das siegestrunkene
Volk" vorbrachte: 9

1) Noch bevor der endgültige Abmarsch der Truppen erfolgte, bewilligte


er auf Drängen einer Bürgerdeputation die Freilassung sowohl der im Keller
des Schlosses befindlichen Gefangenen als auch der bereits nach Spandau
abgeführten.
2) Nachdem schon vormittags einzelne Leichen am Schloß vorbeigetragen
worden waren, setzten sich seit etwa 13 Uhr mehrere Leichenzüge in Be-
wegung, die zunächst auf dem Schloßplatz hielten. Der König wurde ge-
zwungen, den Barrikadentoten durch das Absetzen seiner Feldmütze die
letzte Ehre zu erweisen. Dann passierte der Leichenzug das Portal I, über-
querte den Schloßhof und verließ den Gebäudekomplex durch das Portal V,
vorbei an den Ministern, Höflingen und Wachsoldaten, die sämtlich ihre
Kopfbedeckungen abgenommen hatten, General Prittwitz eingeschlossen.
Neuerdings wird die Auffassung vertreten, daß diese Totenehrung noch
nicht die tiefste Demütigung war, die dem preußischen König in diesen

7 Vgl. dazu a . a . O . , S. 2 9 3 f f . ; G. RICHTER, Friedrich Wilhelm IV... (1987) [236],


S. 123 f.
8 K . L . v o n PRITTWITZ, B e r l i n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 5 ) [ 2 0 0 ] , S. 3 0 9 , A n m . 9 9 .
9 S o ü b e r s c h r e i b t K . L . v o n P R I T T W I T Z , a . a . O . , S. 3 2 6 - 3 4 3 , d e n A b s c h n i t t seiner
Aufzeichnungen, der den Ereignissen vom 19. M ä r z , von 13 bis 17 Uhr, gewidmet
ist.
238 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

Tagen widerfuhr; 10 sie war aber, daran gibt es keinen Zweifel, „das Symbol
der politischen Kapitulation" (Huber).
3) Auch die letzte Forderung der am 17. März beschlossenen Petition
gestand der König noch zu: Gegen 15 Uhr genehmigte er die Aufstellung
und Bewaffnung von Bürgern und Schutzverwandten auf Staatskosten. An
die Spitze der Bürgerwehr trat der Polizeipräsident v. Minutoli, sein Vertreter
wurde der Stadtrat Nobiling. Der Minister v. Arnim begab sich persönlich
zum Zeughaus, um die ersten Gewehre zu verteilen, bevor der Syndikus
Hedemann ihn ablöste. Da für jedes der elf Berliner Stadtviertel 400 Ge-
wehre als Dienstwaffen vorgesehen waren, wurden über 4.000 Stück aus-
gegeben. Gegen 17 Uhr kamen die ersten bewaffneten Bürger und besetzten
die Posten um das Schloß, etwas später erschien die Schützengilde in voller
Uniform, um die eigentliche Schloßwache zu übernehmen. Das bisher zu-
ständige Füsilier-Bataillon wurde ins Schloßinnere zurückgezogen; „der
König hatte sich in den Schutz seiner Bürger begeben". 1 1

Ebenfalls am Nachmittag des 19. März gab Friedrich Wilhelm die Bildung
der neuen Regierung bekannt, die vom Grafen v. Arnim(-Boitzenburg) ge-
führt wurde, der zunächst auch für die Außenpolitik und „Verfassungssa-
chen" zuständig war. Graf Schwerin wurde Nachfolger Eichhorns im Kul-
tusministerium; v. Auerswald, der als liberaler Sprecher beim Vereinigten
Landtag hervorgetreten war, erhielt das Innenministerium. Das Finanzmini-
sterium verwaltete interimistisch der Generalsteuerdirektor Kühne. Die
anderen Minister behielten ihre Ressorts. 1 2
Der letzte Triumph der siegreichen Revolutionäre an diesem so ereignis-
reichen 19. März war die Abschiebung des Prinzen Wilhelm. Der jüngere
Bruder des Königs gehörte zu den „Falken", hatte sich mehrfach, auch im
Beisein städtischer Deputationen, deutlich für ein hartes Durchgreifen aus-
gesprochen und wurde für den brutalen Militäreinsatz verantwortlich ge-
macht („Kartätschenprinz"). Auf Wunsch des Königs verließ der Prinz von
Preußen „vorläufig und bis auf weiteres" noch am Abend die Hauptstadt,
gelangte verkleidet bis nach Spandau, wo er erst in einem Wirtshaus abstieg,
dann aber in der Zitadelle übernachten konnte. Da Wilhelm von der
weiteren Entwicklung in Berlin wenig erfuhr und einen Thronwechsel nicht
für unmöglich hielt, befahl er von der Pfaueninsel aus, wo er sich anschlie-
ßend zwei Tage aufhielt, Truppen um Berlin zu konzentrieren, da er „sobald
als möglich in deren Mitte erscheinen werde, um die Zügel der Regierung
ergreifen zu können". Sein königlicher Bruder blieb jedoch im Amt und
schickte Wilhelm „in geheimer Mission" nach London, wo er am 27. März
eintraf. Inwischen hatten die Revolutionäre in Berlin sein Palais zum Eigen-

10 G. RICHTER, Friedrich Wilhelm IV... (1987) [236], S. 126.


11 E. KAEBER, Berlin 1 8 4 8 . . . (1948) [206], S. 81. Vgl. dazu auch K. L. von PRITTWITZ,
Berlin 1 8 4 8 . . . (1985) [200], S. 3 3 8 - 3 4 0 . Die dort genannte Zahl von 4 0 Gewehren
muß richtig 4 0 0 lauten, da im ganzen zuerst 1200, dann „ungefähr 4 0 0 0 Stück"
zur Verteilung kamen.
12 Abdruck der Bekanntmachung a. a. O., S. 3 4 0 f. Übersicht: Siehe unten S. 290.
II. Der Sieg der Revolution 239

tum der Nation erklärt und mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne ge-
schmückt. 13
Am Abend des 19. März feierten die Aufständischen ihren Sieg mit
Illuminationen, Feuerwerk und den seit 1835 verpönten Freudenschüssen.
Mißliebige Politiker wie v. Thile und Eichhorn mußten sich vor ihren
Häusern „Pereat!"-Rufe und Katzenmusiken („Charivaris") anhören; zur
Zeit Beliebteren wie v. Minutoli brachte man ein „Vivat!" dar; der Berliner
Oberbürgermeister Krausnick erhielt beides. 14
Gegen 23.00 Uhr, als Prittwitz „zu Fuß und in Zivilkleidern" nach Hause
ging, war in der Stadt Ruhe eingekehrt. Von den vielfältigen Ergebnissen
dieses Tages verdienen zwei hervorgehoben zu werden. Erstens war es
gelungen, in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und gemäßigten
Kräften die heiße Phase des Revolutionskampfes zu beenden, obwohl es
offensichtlich starke Gegenkräfte gegeben hat: Als zwei Offiziere und drei
Bürgerdeputierte mittags in der Stadt den Rückzug der Truppen bekannt-
geben wollten, schlug ihnen wiederholt eine feindselige Stimmung entgegen:
„In den unteren Volksklassen aber war das Gefühl der Rache noch nicht
gewichen, und... (die Offiziere)... waren zu verschiedenen Malen, wo
Schußwaffen auf sie gerichtet wurden, in Lebensgefahr... Vielseitig ließ sich
der Ruf hören, daß die Fortsetzung des Kampfes von der Einwohnerschaft
auf das hartnäckigste fortgeführt werden sollte, und es ist nicht zu leugnen,
die Erbitterung war eine allgemeine und in den unteren Klassen wohl bis
zur Wut gesteigerte."
Zu dieser Radikalisierung hatte sicher beigetragen, daß die Soldaten
„zuviel und mitunter ohne genügende Veranlassung geschossen" hatten,
zweifellos eine Reaktion auf die militärisch unbefriedigenden Straßen-
kämpfe, durch welche „die Aufregung und die Erbitterung der Soldaten...
einen hohen, kaum mehr zu zügelnden Grad erreicht" hatten. Diese auf
beiden Seiten vorhandene Konfliktbereitschaft erklärt, warum es bis in die
späten Abendstunden immer wieder zu Zwischenfällen in der Stadt kam. 1 5
Von Bedeutung war zweitens, daß sich der König, obwohl es ihm sicher
schwergefallen ist, auf Anraten v. Arnims („Ein preußischer König flieht
nicht vor seinem Volke") entschlossen hatte, die mehrfach erörterten Pläne
seiner eventuellen Abreise nach Potsdam zu verwerfen. Es ist nicht auszu-
schließen, daß die Flucht des Königs, wie v. Arnim befürchtete, „die Erklä-
rung der Republik und die Plünderung des Schlosses" zur Folge gehabt

13 Vgl. Günter RICHTER, Wilhelm I., in: Wilhelm Treue (Hg.), Drei deutsche Kaiser:
Wilhelm I . - F r i e d r i c h I I I . - W i l h e l m II. Ihr Leben und ihre Zeit 1 8 5 8 - 1 9 1 8 ,
Freiburg — Würzburg 1987, S. 14 — 7 5 , hier S. 2 6 f. Eine ausführliche Darstellung
bei K . L . v o n PRITTWITZ, B e r l i n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 5 ) [ 2 0 0 ] , S. 3 4 5 - 3 4 9 u n d 3 7 2 ; ergän-
z e n d : E . K A E B E R , B e r l i n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 4 8 ) [ 2 0 6 ] , S . 8 2 ; A d o l f STRECKFUSS, 5 0 0 J a h r e
Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Geschichte und Sage, Berlin
31 8 8 0 , S. 1008 f. und 1087 f. (Erklärung Camphausens in der Nationalversamm-
lung a m 6. Juni).
14 K . L . v o n PRITTWITZ, Berlin 1 8 4 8 . . . (1985) [200], S. 3 4 4 .
15 A. a. O . , S. 2 4 4 f. Die Zitate: S. 3 0 1 , 2 3 4 und 209.
240 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

hätte. General v. Rauch widersprach dem zwar, aber sein Diktum: „Berlin
ist nicht die Monarchie" unterschätzte wohl doch die Fernwirkung, die eine
derart spektakuläre Proklamation auch von Berlin aus gehabt hätte. Der
Landrat v. Vincke hatte schon in der Nacht zum 19. März dem König zu
bedenken gegeben, es sei „in der Geschichte noch nicht dagewesen, daß,
wenn 400.000 Menschen wie hier aufständen wie ein Mann, daß solch eine
Macht durch Bajonette niederzuhalten wäre...; angenommen, S. M. blieben
heut und morgen Sieger, so würden sie übermorgen unterliegen, und was
dann?" 16
Vor dem Hintergrund dieser Äußerung wird deutlich, daß es für die
preußische Monarchie an diesem 19. März noch viel schlimmer hätte
kommen können. Anders als in Frankreich 1830 und 1848 war der König
nicht gestürzt und auch nicht wie 1792 und 1848 die Republik ausgerufen
worden; auch stand die Dynastie zu keiner Zeit in Frage, und zudem befand
sich der Thronfolger in Sicherheit. Auch die Truppen hatten sich, bis auf
wenige Ausnahmen, bisher loyal verhalten — so schlecht waren die Karten
nicht, mit denen die Regierung in das politische Kräftespiel der folgenden
Wochen und Monate eintrat.

III. Die Sicherung des Erfolges


Am Montag, dem 20. März, war Berlin voller schwarz-rot-goldener Fahnen
und Kokarden, „ohne Militär, ohne Polizei, ohne Behörden, ohne Arbeit".
Überall in der Stadt fanden politische Diskussionen statt, an den Mauern
klebten Proklamationen und Aufrufe, es gab eine zensurfreie Presse, eine
Bürgerwache vor allen öffentlichen Gebäuden, und vor vielen Häusern
standen Stühle mit einer Schüssel oder einem Teller, um für die Hinterblie-
benen der „Märzgefallenen" Geld zu sammeln. Nicht ganz freiwillig legte
Oberbürgermeister Krausnick sein Amt nieder und wurde durch den bis-
herigen Bürgermeister Naunyn ersetzt. An die Stelle der Justizminister
v. Savigny und Uhden trat der bisherige Vorsitzende des Oberzensurgerich-
tes, Ludwig Bornemann. Entlassen wurde auch der Minister Stolberg,
während mit Camphausen ein prominenter Liberaler zum Minister berufen
wurde. Neben einem Amnestiedekret, das all denen, „die wegen politischer
oder durch die Presse verübter Vergehen und Verbrechen angeklagt oder
verurteilt worden sind", Vergebung gewährte, wurde angeordnet, daß sämt-
liche Pfänder in den Berliner Leihhäusern im Wert bis zu fünf Talern
unentgeltlich zurückzugeben seien. Von der Amnestie profitierten auch die
1847 verurteilten Polen. Ihr Zug durch die Stadt wurde zu einem wahren
Triumphzug, den Ludwig Mieroslawski, der spätere Führer der badischen
Revolutionstruppen gegen die preußische Armee, anführte — „ein Zeugnis
für den wahrhaft demokratischen, keine nationalen Beschränktheiten ken-

16
A . a . O . , S. 229 (Vincke) und 352 mit Anm. 152 (Arnim, Rauch).
III. Die Sicherung des Erfolges 241

nenden Geist der Bürgerschaft". 1 Im ganzen wird man Prittwitz zustimmen


können, der für den 20. März feststellte: „Die Behörden waren vorzugsweise
nur darin tätig, die durch die Umwälzung in der Stadt herbeigeführten
Zustände zu sanktionieren." Sichtbarstes Zeichen der neu gewonnenen
Freiheit waren neben den zahllosen schwarz-rot-goldenen Fahnen, Kokar-
den und Emblemen die allenthalben qualmenden Tabakspfeifen und Zigar-
ren. 2
Tags darauf ernannte der König den bisherigen Gesandten in Paris,
Freiherrn Heinrich v.Arnim, zum Außenminister. Da er sich in Berlin
aufhielt, konnte er seine Amtsgeschäfte sofort aufnehmen und proklamierte
bereits um 9.00 Uhr in einem unterschriftslosen Plakat, daß sich der König
„an die Spitze des Gesamt-Vaterlandes gestellt" habe und „mit den alten,
ehrwürdigen Farben deutscher Nation noch heute zu Pferde" in der Mitte
seines Volkes erscheinen würde. Die Bekanntmachung schloß mit dem
anspruchsvollen Satz: „Heil und Segen dem konstitutionellen Fürsten, dem
Führer des gesamten deutschen Volkes, dem neuen Könige der freien wie-
dergeborenen deutschen Nation!" 3
Der König und die in Berlin anwesenden Prinzen, alle mit schwarz-rot-
goldenen Armbinden, ritten im Gefolge von Ministern und Generälen hinter
einer großen Trikolore durch die gesamte Innenstadt. Die Straßen und
Plätze waren so gedrängt voll, daß der Zug kaum vorankam; das Jubeln,
Schreien und die Vivat-Rufe wollten kein Ende nehmen. Der König erklärte,
daß er mit den angenommenen Farben keinen Herrschaftsanspruch aus-
drücken, „sondern nur Deutschlands Einigkeit und Freiheit damit bezwek-
ken" wolle.
Dem ihn begleitenden Generalleutnant v. Rauch kam es so vor, „als wenn
alles verrückt geworden wäre... Die Männer, welche dem König dazu
geraten..., glaubten etwas Großes getan zu haben, während sie dem Könige
von Preußen unberechenbaren Schaden zufügten. Wahrlich, man bedurfte
einer Stunde Zeit, um sich wieder zu sammeln und zu erholen. Mir war
zumut, als ob ich aus dem Tollhaus käme." 4 Diese Bemerkung korrespon-
diert mit der späteren Äußerung der Königin, daß dieser theatralische

1 E. KAEBER, Berlin 1848... (1948) [206], S. 86; G. RICHTER, Zwischen Revolution


und Reichsgründung... ( 2 1988) [209], S. 620. Zum Polen-Prozeß s.o. S. 228. Zur
Presse: Ursula E. KOCH, Prolegomena zu einer Geschichte des Berliner politischen
Witzblattes, in: Wilhelm Treue (Hg.), Geschichte als Aufgabe. Festschrift für
Otto Büsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 5 1 9 - 5 6 6 , hier S. 5 2 8 -
535.
2 K. L. von PRITTWITZ, Berlin 1848... (1985) [200], S. 373. Weitere Angaben a. a. O.,
S. 358 (Stadtbild), 361 —368 (Krausnick) und 370f. (mehrere Bekanntmachungen).
3 Abdruck: A. a. O., S. 391. Adolf STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom
Fischerdorf zur Weltstadt. Geschichte und Sage, Berlin 3 1880, S. 1018, nennt
dieses Dokument „eine rätselhafte Proklamation".
4 Mitgeteilt von K . L . v o n PRITTWITZ, Berlin 1848... (1985) [200], S. 392. Offen-
sichtlich war von Rauch so durcheinander, daß er sogar den Prinzen Wilhelm
mitreiten sah, der Berlin längst verlassen hatte.
242 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

A u f z u g für Friedrich Wilhelm „der schrecklichste T a g in seinem Leben


g e w e s e n " sei. 5
Die dem K ö n i g doch wohl abgenötigte Flucht nach vorn in eine Deutsch-
landpolitik und ins konstitutionelle System fand ihre H ö h e p u n k t e im Hissen
der schwarz-rot-goldenen Fahne auf der Schloßkuppel, in der Weisung, daß
die Armee künftig neben der preußischen auch die schwarz-rot-goldene
K o k a r d e anzustecken habe, und in der wenige Stunden danach erfolgenden
Proklamation „ A n mein Volk und an die deutsche N a t i o n " , in der sich der
berühmte Satz findet: „Preußen geht fortan in Deutschland a u f . " Im übrigen
erklärte Friedrich Wilhelm, daß die Rettung Deutschlands aus den gegen-
wärtigen Gefahren „nur a u s der innigsten Vereinigung der deutschen Fürsten
und Völker unter Einer Leitung hervorgehen" könne, und verkündete: „Ich
übernehme heute diese Leitung für die T a g e der G e f a h r . " 6
Es versteht sich von selbst, daß diese Ankündigung in den anderen
deutschen Territorien keineswegs auf ungeteilte Z u s t i m m u n g stieß. Auch
d a s Bündel konstitutioneller und bürgerrechtlicher Verheißungen v o m
18. M ä r z , d a s die Proklamation einer zu errichtenden deutschen N a t i o n a l -
versammlung flankierte, unterschied sich so diametral von dem, was der
König bisher jahrelang mit Überzeugung vertreten hatte, daß der erfahrene
T h e o d o r v. Schön im fernen Ostpreußen d a r a n zweifelte, o b Friedrich
Wilhelm seine „bisherige Richtung verlassen und anfangen würde, in der
jetzigen Zeit zu leben". D a alle Tatsachen gegen diese Annahme sprächen,
k a m er zu dem Schluß: „ D e r K ö n i g . . . gibt nur scheinbar n a c h . " 7
N a c h langen Diskussionen war beschlossen worden, die zivilen und die
militärischen O p f e r der B a r r i k a d e n k ä m p f e getrennt beizusetzen. Der
Trauerzug für die 183 Zivilgefallenen formierte sich a m 22. M ä r z a m
G e n d a r m e n m a r k t , zog a m Schloß vorbei, w o K ö n i g und Minister den
O p f e r n die letzte Ehre erwiesen und bewegte sich, etwa 20.000 Menschen
stark, zum Friedrichshain, w o die Toten in vier M a s s e n g r ä b e r n bestattet
wurden, unter ihnen 33 unbekannte Opfer. Unter Einschluß der später
Gestorbenen wird m a n davon ausgehen können, daß bei den K ä m p f e n
zwischen 270 und 320 Zivilisten getötet wurden (siehe Tabelle 46 auf S. 243).
Z w e i T a g e später erfolgte auf dem Invalidenfriedhof die feierliche Beiset-
zung von 15 gefallenen Soldaten. Auch diese Trauerfeierlichkeiten gingen
unter großer Anteilnahme der Berliner Bevölkerung vonstatten. 8 Insgesamt
hatte die Armee 20 Tote und 254 Verwundete zu beklagen. 9

5 G.RICHTER, Friedrich Wilhelm IV... (1987) [236], S. 126 f. Zum Umritt allgemein:
A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte... (31880) [s.o. Anm. 3], S. 1018-
1020.
6 Abdruck: E. R. HUBER (Hg.), D o k u m e n t e . . . ( 3 1978) [50], Nr. 152, S. 448 f.;
W. G R A B ( H g . ) , D i e R e v o l u t i o n v o n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 0 ) [ 1 9 7 ] , N r . 2 0 , S. 5 9 f.
7 Zit. von G. RICHTER, Friedrich Wilhelm IV... (1987) [236], S. 127.
8 Vgl. G . RICHTER, Z w i s c h e n Revolution und R e i c h s g r ü n d u n g . . . ( 2 1988) [209],
S. 620 —623. Z u r sozialen H e r k u n f t der O p f e r vgl. E. KAEBER, Berlin 1848...
III. Die Sicherung des Erfolges 243

TABELLE 4 6
Übersicht von 303 im März 1848 in Berlin gefallenen und an Verwundungen
gestorbenen Zivilisten

„Arbeitsleute und Proletarier": 52


(Arbeitsmänner, Buchdrucker, Eisenbahnarbeiter, Färber, Kattun-
drucker, Maschinenarbeiter, Seidenwirker, Weber, Wollsortierer)
Lehrlinge: 13
Gesellen: 115
(davon 27 Tischler, 15 Schneider, 11 Schuhmacher, 10 Schlosser,
8 Schmiede, 8 Seidenwirker, 7 Buchbinder, 5 Zimmerleute,
4 Maurer, 20 Übrige)
Meister: 29
Diener, Kleinhändler: 34
(Hausknecht, Briefträger, Reitknecht, Handlungsdiener, Kellner,
Viktualienhändler)
„Gebildete Stände": 15
(1 Regierungsreferendar, 1 Künstler, 1 Kaufmann, 1 Fabrikant,
1 Privatsekretär, 2 Subalternbeamte, 2 Studenten, 1 Rentier,
5 Übrige)
Berufslose Frauen: 7
(Es wurden insgesamt 11 Frauen getötet: 2 Arbeitsfrauen, 2 Dienst-
mägde, 1 Handarbeiterin, 1 Korbmacher-Ehefrau, 1 Schneiderin,
1 Seidenwirkers-Ehefrau, 1 Tischlergesellenwitwe, 1 Webermeister-
Ehefrau, 1 Obersteuerinspektorstochter als Unbeteiligte)
Berufslose Knaben: 4
Nicht Identifizierte: 33
Identifizierte ohne Berufsangabe: 1

303

Quelle: Wolfram SIEMANN, Die deutsche Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 , Frankfurt/M.


1 9 8 5 , S. 6 9 (nach: R. H O P P E / J . KUCZYNSKI, Eine Berufs- bzw. auch Klassen- und
Schichtenanalyse der Märzgefallenen... ( 1 9 6 4 ) [ 2 1 8 ] , passim). Die Angaben zu den
getöteten Frauen zeigen die Problematik dieser Übersicht, die gleichwohl die soziale
Herkunft der Opfer verdeutlicht.

Ein Extrablatt der „Allgemeinen Preußischen Zeitung" veröffentlichte


eine vom 22. März 1848 datierte königliche Proklamation, mit der sich
Friedrich Wilhelm vollends vor den konstitutionellen Revolutionskarren
spannte. Er nahm die Wünsche einer aus Breslau und Liegnitz gekommenen

( 1 9 4 8 ) [ 2 0 6 ] , S. 9 0 - 9 4 ; A. STRECKFUSS, 5 0 0 Jahre Berliner Geschichte... (31880)


[ s . o . A n m . 3], S. 1023-1026.
9
Nach der Aufstellung bei K . L . v o n P R I T T W I T Z , Berlin 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 5 ) [ 2 0 0 ] ,
S. 417 - 420. Klaus SCHWARZ, Die Verluste der preußischen Armee in der Berliner
Märzrevolution 1 8 4 8 . Eine Bestandsaufnahme, in: BvB, Bd. 1 3 ( 1 9 6 4 ) , S . 5 0 - 6 7 ,
ermittelte 24 Tote beim Militär.
244 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

Deputation zum Anlaß, der Öffentlichkeit einen ganzen Katalog von Ge-
setzesvorschlägen zu präsentieren, die er dem Vereinigten Landtag vorzu-
legen beabsichtigte. Stichwortartig aufgeführt, betrafen diese Projekte ein
volksnahes Wahlrecht, die persönliche Freiheit, freies Versammlungs- und
Vereinigungsrecht, eine Bürgerwehrverfassung, Ministerverantwortlichkeit,
Schwurgerichte, Unabhängigkeit der Richter, Aufhebung der Patrimonial-
gerichtsbarkeit. Außerdem gewährte der König etwas, was bisher noch
niemand gefordert hatte: die Vereidigung der Armee auf die neue Verfas-
sung. Die Verfechter des konstitutionellen Systems und der Menschen- und
Bürgerrechte, die vielleicht noch vor einer Woche auf der Festung gesessen
hatten, mußten bei der Lektüre dieser Sätze glauben, sie befänden sich auf
einem anderen Stern. 1 0 Ähnlich erging es den Offizieren der Gardetruppen
in Potsdam, die Friedrich Wilhelm am 25. März mit einer Ansprache
beglückte, 11 in der er drei Dinge klarmachte: Erstens habe er sämtliche
bisherigen Entscheidungen „aus vollster und freier Überzeugung getan",
und keine Macht könne ihn nun bewegen, „das Gegebene zurückzuneh-
men", da es für Deutschlands Heil notwendig sei, daß er, der preußische
König, sich „an die Spitze der Bewegung zu stellen" habe. Zweitens wünsche
er, „daß auch das Offizierkorps den Geist der Zeit ebenso erfassen möge,
wie ich ihn erfaßt habe", und er hoffe, daß sich die treuen Soldaten von
nun an „ebenso als treue Staatsbürger" bewähren mögen. Da nach Ein-
schätzung von Prittwitz, der bei der Rede anwesend war, der König „die
Erhaltung von Krone und Leben der Bürgerschaft von Berlin zu verdanken"
glaubte, erklären sich — drittens — die geradezu euphorischen Bemerkun-
gen über die Berliner Einwohner: „Ich habe den gesunden und edlen Sinn
meiner Bürger kennengelernt... Ich bin niemals freier und sicherer gewesen
als unter dem Schutze meiner Bürger... In Berlin herrscht ein so ausgezeich-
neter Geist in der Bürgerschaft, wie er in der Geschichte ohne Beispiel ist."
Diese Rede, die teilweise „ein Murren und Aufstoßen von Säbelscheiden"
hervorrief (Bismarck) war „tief betrübend" (Hohenlohe-Ingelfingen) und
machte einen „tiefen, aber einen niederbeugenden Eindruck" auf die Offi-
ziere, die den Saal mit dem Gefühl verließen, „das ein begossener Pudel
haben mag" (Prittwitz).
Die skeptischen Worte des erfahrenen Theodor v. Schön — gelten sie
auch hier? Nach der Rede soll der Monarch im Nebenzimmer zusammen-

10 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 153, S . 4 4 9 f . ;


W. GRAB (Hg.), Die Revolution von 1848... (1980) [197], Nr. 21, S . 6 0 f . Der
Generalleutnant von Rauch bemerkte zu diesem Projekt einer Verfassung, daß
keine Konstitution der Welt mit dieser an Liberalismus zu vergleichen ist, auch
meiner inneren Überzeugung nach kein Gouvernement damit zu regieren im-
stande ist" (K.L.von PRITTWITZ, Berlin 1848... (1985) [200], S.407).
11 Diese Rede ist in mehreren Versionen überliefert (vgl. G. RICHTER, Friedrich
Wilhelm IV... (1987) [236], S. 127 f.). Die folgenden Zitate nach der von K . L . v o n
PRITTWITZ, Berlin 1848... (1985) [200], S. 440f., aus der Vossischen Zeitung
übernommenen Fassung, auf der auch der Abdruck bei E . R . HUBER (Hg.),
Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 154, S. 450, basiert.
IV. Versuche der Konsolidierung 245

gebrochen sein und schluchzend ausgerufen haben: „Oh, mein Gott, mein
Gott, das mußte ich meinen braven Offizieren sagen, die für mich so brav
gekämpft haben." 12
Jedenfalls kehrte der preußische König am nächsten Tag seinen so gelob-
ten Berlinern dennoch den Rücken und verlegte seine Residenz nach Pots-
dam (26. März). Von dort gedachte er, unbedrängt von seinen „lieben
Berlinern", die Geschicke Preußens besser lenken zu können.
Den vorläufigen Schlußstrich unter die von den Konservativen nur noch
mit respektvoller Entrüstung betrachtete Anbiederungspolitik zog Friedrich
Wilhelm mit der Regierungsumbildung vom 29. März. Ob dabei tatsächlich
„an die Stelle des bürokratischen Übergangsministeriums ... ein liberales
Märzministerium" trat, 13 mag bezweifelt werden, da von sieben Regierungs-
mitgliedern lediglich zwei ausgewechselt wurden. Während die Ressorts für
Äußeres (v.Arnim), Inneres (v. Auerswald), Krieg (v.Rohr), Kultus (Graf
Schwerin-Putzar) und Justiz (Bornemann) unverändert blieben, trat mit
Ludolf Camphausen der erste liberale Ministerpräsident an die Spitze der
Regierung. Das Finanzministerium wurde ebenfalls einem Vorkämpfer des
rheinischen Liberalismus übertragen, nämlich David Hansemann. Am
2. April trat an die Stelle des Kriegsministers v. Rohr General v. Reyher,
dem schon am 30. April Graf Kanitz folgte. Diese Regierung, in die Mitte
April noch der Chef des neu geschaffenen Handelsministeriums, v. Patow,
eintrat, blieb bis zum 20. Juni 1848 im Amt. Sie war eine Koalition zwischen
dem linken Flügel der Konservativen und dem rechten Flügel der Liberalen
mit dem Ziel, einen Kompromiß zwischen Königtum und bürgerlicher
Bewegung zu finden und Preußen auf den Weg zur konstitutionellen Mon-
archie mit bürgerrechtlichen Garantien zu führen.

IV. Versuche der Konsolidierung


Die Versuche, die Ende März gesichert erscheinenden Erfolge der revolutio-
nären Bewegung im Zuge einer verfassungsrechtlichen und administrativen
Ausgestaltung, aber auch durch gezielte Aktionen postrevolutionären Zu-
schnitts zu konsolidieren und ihnen damit zu dauerhafter Wirksamkeit zu
verhelfen, spielten sich auf mehreren Ebenen ab. Diese Handlungsfelder
hatten zahlreiche Berührungspunkte und waren häufig miteinander ver-
knüpft und verwoben. Im Interesse einer größeren Klarheit empfiehlt es
sich jedoch, sie getrennt zu betrachten.
Generell gilt freilich, daß sämtliche Versuche der Konsolidierung der
revolutionären Erfolge mit zwei wichtigen Faktoren zu rechnen hatten, die
sich dem kontrollierenden Blick der Märzminister zu entziehen wußten und
auch kaum zu beeinflussen waren: Das eine ist die stille, aber unaufhaltsame

12
Prinz Kraft zu HOHENLOHE-INGELFINGEN, Aufzeichnungen aus meinem Leben.
Bd. 1: 1 8 4 8 - 1 8 5 6 , Berlin 1897, S. 69.
13
E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 579.
246 § 5 Revolution und Gegenrevolution ( 1 8 4 8 / 1 8 4 9 )

Formierung einer konservativen Fronde, die schließlich zu einer Art Gegen-


regierung der „Kamarilla" führte; das andere betrifft die Einbindung Preu-
ßens in die gesamteuropäischen Abläufe und seine daraus resultierende
Abhängigkeit von den Erfolgen oder Mißerfolgen der Revolution in den
anderen Ländern.

1. Die Vorgänge in Frankfurt

Erschreckt durch die revolutionären Ereignisse, verabschiedete der Deutsche


Bundestag noch im März 1848 einige Appelle und Verlautbarungen (zur
Pressefreiheit, zur Bundesreform u. a.) und erkannte am 9. März sogar die
Farben schwarz-rot-gold als Bundesfarben an. Am 10. März forderte er die
Mitgliedstaaten auf, zur Vorbereitung der Bundesreform „Männer, die das
allgemeine Vertrauen genießen", nach Frankfurt zu entsenden. Der so ent-
stehende „Siebzehnerausschuß" bestand aus je einem Mitglied der im En-
geren Rat stimmführenden Einzelstaaten. Er konstituierte sich am 3. April
und wählte M a x v. Gagern, den Vertreter der 13. Kurie (Braunschweig,
Nassau) zu seinem Präsidenten. Der preußische Delegierte war Dahlmann. 1
Unabhängig von dieser Initiative des Deutschen Bundes trafen sich am
5. März 1848 aus eigenem Antrieb und ohne irgendeine Vollmacht
51 Vertreter des südwestdeutschen Liberalismus bei der „Heidelberger Ver-
sammlung". Unter Hintanstellung der politischen Gegensätze beschloß man
zweierlei: 1. sollten alle einzelstaatlichen Regierungen aufgefordert werden,
sofort Wahlen zu einer deutschen Nationalvertretung auszuschreiben,
2. sollte ein „Siebenerausschuß" eine zweite Versammlung aus Vertretern
aller deutschen Stämme nach Frankfurt einberufen, damit dieses „Vorpar-
lament" die Wahl der Nationalrepräsentation erkämpfen könne. 2 Man
verfuhr also doppelgleisig. Neben dem Weg der Legalität gab es auch den
der direkten Aktion.
Die 574 Mitglieder des Vorparlaments waren nicht gewählt, sondern sind
vom Siebenerausschuß in das Gremium berufen worden. Wie die Heidel-
berger Versammlung war auch das Vorparlament im Grunde eine private
Veranstaltung, aber „es war die erste Gesamtvertretung der deutschen
Revolution und damit eine Veranstaltung von öffentlichem Rang" (Huber). 3

1 Knappe Skizzierung dieser Abläufe bei E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsge-


schichte... ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [49], Bd. 2, S. 5 9 5 . Abdruck der drei wichtigen Bundesbe-
schlüsse v o m 3., 9. und 10. III. (Pressefreiheit, Wappen und Farben, Siebzehner-
ausschuß): E . R . HUBER (Hg.), D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 7 8 ) [50], Nr. 7 5 - 77,
S. 3 2 8 - 3 3 0 .
2 K.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 2 1 9 ; E . R . HUBER, Deutsche
Verfassungsgeschichte... ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [49], Bd. 2, S. 5 9 3 f . Das Einladungsschreiben
zum „Vorparlament" v o m 12. III. ist abgedruckt bei E . R . HUBER (Hg.), Doku-
m e n t e . . . ( 3 1 9 7 8 ) [50], Nr. 7 4 , S. 3 2 8 ; W. GRAB (Hg.), Die Revolution von 1 8 4 8 . . .
(1980) [197], Nr. 12, S . 4 7 f .
3 . Die folgenden Angaben nach E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 2 , S. 5 9 2 - 6 0 4 ( m i t L i t . ) ; K . - G . FABER, D e u t s c h e Geschichte...
(1979) [ 1 2 ] , S. 2 2 0 - 2 2 3 ; R. RÜRUP, Deutschland im 19. J a h r h u n d e r t . . . (1984)
[ 2 1 ] , S . 1 5 5 f.
IV. Versuche der Konsolidierung 247

Während sich seine Mitglieder allmählich in Frankfurt versammelten,


versuchte der Bundestag, noch einmal die Inititative an sich zu reißen: Er
beschloß am 30. März, die Regierungen zur Anberaumung von Volkswahlen
für eine deutsche verfassunggebende Versammlung aufzufordern; auf je
70.000 Einwohner sollte ein Abgeordneter kommen. Einen Tag später trat
das Vorparlament zusammen. In ihm waren alle deutschen Länder vertreten,
doch überwog das südwestdeutsche Element. Das kleine Hessen-Darmstadt
hatte mit 84 Teilnehmern mehr Abgeordnete als die Mittelstaaten Baden,
Bayern, Sachsen und Württemberg, während Preußen zwar 141 Teilnehmer
stellte, von denen zwei Drittel aus dem Rheinland kamen, im Verhältnis zu
seiner Bevölkerungszahl aber deutlich unterrepräsentiert war. Dahlmann
wurde zu einem der fünf Vizepräsidenten gewählt.
Stärker noch als in Heidelberg prallten bei den Beratungen des Vorpar-
laments die gegensätzlichen Meinungen der liberalen Mitte und der radi-
kaldemokratischen Linken aufeinander. Nach zwei deutlichen Abstim-
mungsniederlagen versuchte Friedrich Hecker die Sprengung des Vorpar-
laments, indem er mit etwa 40 Anhängern die Versammlung verließ. Das
nicht erwartete Ergebnis war das Auseinanderbrechen der linken Gruppie-
rungen, von denen nur eine kleine Minderheit Heckers Weg des revolutio-
nären Umsturzes mitzugehen bereit war. Während die gemäßigte Linke, zu
der auch Johann Jacoby gehörte, weiter an den Sitzungen des Vorparlaments
teilnahm, versuchte Hecker durch den von ihm ausgelösten Aprilaufstand
der badischen Radikalen die Umwandlung Deutschlands in eine Republik
auf revolutionärem Wege durchzusetzen. Der Aufstand wurde niederge-
schlagen, Hecker und Struve retteten sich ins Ausland, viele ihrer Anhänger
wurden verhaftet und in mehr als 3.000 Prozessen abgeurteilt.
Noch vor der versuchten Sprengung des Vorparlaments hatten sich die
beiden zerstrittenen Parteien über die Grundsätze für die Wahl der Natio-
nalversammlung geeinigt. Die außerhalb des alten Bundesgebiets liegenden
preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen wurden jetzt in das Wahl-
gebiet einbezogen. Die Teilnahme der Provinz Posen blieb offen, weil eine
Mehrheit der Versammlung geneigt war, Polen zu restituieren. Auch in den
Fragen des Wahlverfahrens und des allgemeinen und gleichen Wahlrechts
konnte man sich rasch einigen.
In dem merkwürdigen Nebeneinander von Bundestag, Siebzehneraus-
schuß und Vorparlament, das Anfang April in Frankfurt bestand, gewann
der Bundestag einen kleinen Vorsprung, als er am 2. April einen Teil der
Forderungen des Vorparlaments übernahm und die Aufhebung sämtlicher
seit 1819 erlassener Ausnahmegesetze befahl. 4 Damit traten die Karlsbader
Beschlüsse (1819), die Sechs Artikel (1832) und die Geheimen Beschlüsse
(1834) außer Kraft. Die gleichzeitig geforderte Entfernung aller Bundes-
tagsabgeordneten, die am Zustandekommen dieser Gesetze beteiligt gewe-
sen waren, die sogenannte „Epuration des Bundestages", wurde ebenfalls
zugesagt.

4 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 7 8 , S. 330.


248 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

Auch nachdem das Vorparlament seine letzte Sitzung am 3. April abge-


halten hatte, wirkte es dadurch weiter, daß seine Kritik am Bundesbeschluß
vom 30. März zu einer ergänzenden Korrektur führte: Der Bundestag erfüllte
in seinem Beschluß vom 7. April die Forderungen der bürgerlichen Bewe-
gung. Beide Beschlüsse zusammen bildeten das „Bundeswahlgesetz" für die
geplante Nationalvertretung. Da die Beschlüsse vor allem allgemeine Grund-
sätze und Rahmenvorschriften enthielten, blieb den Einzelstaaten bei der
Durchführung der Wahlen ein gewisser Spielraum (Wahltermin, „Selbstän-
digkeit" der Wahlberechtigten, Wahlverfahren). Das Wahlalter hatten die
Delegierten an die „Volljährigkeit" geknüpft.
Nach diesen gedrängten Aktivitäten der ersten Apriltage begann in Frank-
furt eine politisch ruhigere Zeit. Der vom Vorparlament eingesetzte „Fünf-
zigerausschuß" blieb als eine Art Kontrollinstanz der Bundesversammlung
bestehen und sollte „bei eintretender Gefahr des Vaterlandes" das Vorpar-
lament sofort wieder einberufen. Der Schwerpunkt der politischen Ent-
wicklung verlagerte sich in den folgenden Wochen in die Länder, die
gehalten waren, die Bundesbeschlüsse auszuführen. Erneut in den Mittel-
punkt der politischen Aufmerksamkeit rückte die alte Reichsstadt, als am
18. Mai 1848 die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zur
feierlichen Eröffnung zusammentrat.

2. Preußen: Märzministerium und Nationalversammlung

Das am 29. März ernannte Kabinett Camphausen/Hansemann beschritt


mehrere Wege, um eine Konsolidierung der revolutionären Erfolge in Preu-
ßen zu erreichen. Dabei knüpfte man einerseits an die vorrevolutionäre
preußische Tradition an; andererseits bemühte man sich, den aus Frankfurt
eintreffenden Direktiven zu entsprechen, und schließlich entwickelte man
ganz eigene Vorstellungen.
Drei Verordnungen, die innerhalb von vier Wochen erschienen, regelten
die Erweiterung der staatsbürgerlichen Freiheiten. Garantiert wurden die
Vereins- und Versammlungsfreiheit, die vom Glaubensbekenntnis unabhän-
gige Ausübung staatsbürgerlicher Rechte, das Steuerbewilligungsrecht der
künftigen Volksvertretung, die auch den Gesetzen und dem Haushaltsplan
zuzustimmen hatte (6. April). Den vielerorts gebildeten Bürgerwehren wur-
den die „Befugnisse der bewaffneten Macht" zugestanden; man gestattete
ihnen unter bestimmten Voraussetzungen, „bei einem Auflauf von den
Waffen Gebrauch zu machen" (19. April). Dieser Vollmacht, die sich na-
türlich auch gegen radikaldemokratische Demonstrationen anwenden ließ,
folgte der Erlaß, daß künftig von Zivil- und Militärgerichten die Strafe der
körperlichen Züchtigung nicht mehr verhängt werden dürfe (6. Mai). 5

5
Abdruck der ersten preußischen Verfassungsgesetze vom April und Mai 1848:
A . a . O . , Nr. 1 5 5 - 1 5 7 , S. 451—453. Zum Ablauf: Ders., Deutsche Verfassungs-
geschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 580.
IV. Versuche der Konsolidierung 249

Da der König trotz der ihm in der Revolutionsphase abgezwungenen


Konzessionen an den vorrevolutionären Ergebnissen seiner Verfassungs-
pläne festhalten wollte, um auf diese Weise die staatsrechtliche Kontinuität
zu unterstreichen, blieb es bei der am 18. März ausgesprochenen Einberu-
fung des Zweiten Vereinigten Landtages auf den 2. April. Damit distanzierte
er sich „auf eine vorsichtige und doch deutliche Weise" von der Revolution,
der er indirekt „die unmittelbare rechtsschöpferische Kraft" bestritt (Huber).
Die Aufwertung des Landtages zeigte sich auch darin, daß Friedrich Wilhelm
ihm die königliche Verordnung vom 6. April, mit der er seine Märzver-
sprechen einlöste, zur Billigung vorlegte. In die gleiche Richtung zielte
bereits die Dankadresse, die der Landtag am 2. April an den König zur
Würdigung seiner bisherigen konstitutionellen Bemühungen gerichtet hatte.
Die hier gezeigte Einmütigkeit — es gab nur zwei Gegenstimmen —
verschwand, als sich der Landtag seiner Hauptaufgabe, der Beratung des
Wahlgesetzes, zuwandte. Grundlage war zwar die königliche Verordnung
vom 22. März, 6 aber eine deutliche Mehrheit wollte über das Wahlgesetz
einer weiteren Radikalisierung vorbeugen und zog daher ein indirektes
Wahlsystem einem direkten vor. Außerdem hielt es der Landtag für erfor-
derlich, einer denkbaren Oktroyierung der Verfassung durch Beschluß der
Nationalversammlung entgegenzuwirken. Was bisher die „Linken" gefor-
dert hatten, verlangte nun die „Mitte-Rechts-Koalition": Die Verfassung
solle nur durch eine „Vereinbarung zwischen König und Nationalversamm-
lung in Kraft treten können". Dementsprechend verabschiedete die Ver-
sammlung am 8. April das „Wahlgesetz für die zur Vereinbarung der
Preußischen Staatsverfassung zu berufende Versammlung".
Das Mindestalter für das aktive Wahlrecht betrug 24, für das passive
30 Jahre. Wahlberechtigt waren nur die Männer. Jeder Urwähler besaß eine
Stimme. Für jeden der 402 Wahlkreise gab es ein Mandat, das der Kandidat
mit der höchsten Zahl an Wahlmännerstimmen gewann (relative Mehr-
heitswahl). Als Wahltermin wurde der 1. Mai festgelegt.
Auf der Basis der Bundesbeschlüsse vom 30. März und 7. April 7 wurde
in Preußen am 11. April 1848 die „Verordnung, die Wahlen zur deutschen
Nationalversammlung betreffend", erlassen. 8 Da nunmehr auf 50.000 Ein-
wohner ein Abgeordneter entfallen sollte, standen Preußen aufgrund der
berichtigten Bundesmatrikel 203 Abgeordnete zu, davon für die neu in den

6 Der König hatte am 2. III. versprochen, „ein volkstümliches Wahlgesetz zu


erlassen, welches eine auf Urwahlen gegründete, alle Interessen des Volkes, ohne
Unterschied der religiösen Glaubensbekenntnisse umfassende Vertretung herbei-
zuführen geeignet ist" (E.R. Huber [Hg.], Dokumente... [ 3 1978] [50], Nr. 153,
S. 449). Zum Aspekt der „Vereinbarung" vgl. ders., Deutsche Verfassungsge-
schichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 583 f.
7 Abdruck: Ders. (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 82 und 83, S. 337f.
8 Die preußischen Wahlgesetze vom 8. IV. für die preußische und vom 11. IV. 1848
für die deutsche Nationalversammlung: GS 1848, S. 8 9 - 9 1 und S. 94 - 96. Die
Reduzierung des Quorums von 70.000 auf 50.000 Einwohner hatte der Bundestag
am 7. IV. beschlossen.
250 § 5 Revolution und Gegenrevolution ( 1 8 4 8 / 1 8 4 9 )

Deutschen Bund aufgenommenen Gebiete Ost- und Westpreußen 32


(11. April) und für Posen 12 (22. April/2. M a i ) . Die erforderliche „Selbstän-
digkeit" der Wahlberechtigten sah man in Preußen als erwiesen an, wenn
sie keine Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln erhielten, was den
Kreis der Wahlberechtigten erheblich weiter zog als in vielen anderen
deutschen Ländern. 9
Probleme bereitete die Vorgabe, daß alle „Volljährigen" aktiv und passiv
wahlberechtigt seien, galten doch in den preußischen Landesteilen unter-
schiedliche Regelungen:

TABELLE 4 7
Volljährigkeitsalter in preußischen Landesteilen

Landesteile Gesetzliche Grundlage Volljährigkeit


mit Vollendung
des ... Lebensjahres

Altpreußische Allgemeines Landrecht 24


Provinzen (vor 1806)
Linksrheinische C o d e Napoléon 21
Gebiete
Übriges Preußen Gemeines Deutsches Recht 25
(teilweise) ( A L R subsidiär)

Quelle: K. OBERMANN, Die Wahlen zur Frankfurter N a t i o n a l v e r s a m m l u n g . . . (1987)


[228], S. 3 4 .

Die Verordnung vom 11. April respektierte diese Rechtslage, so daß es


für die „Frankfurter" Wahl bei den unterschiedlichen Altersgrenzen blieb,
was einer Reihe jüngerer Männer in der Rheinprovinz zur Stimmberechti-
gung bei dieser (nicht der „Berliner"!) Wahl verhalf. Sie sollte als ein zweiter
Wahlgang ebenfalls am 1. M a i stattfinden. 1 0
Von den rund 4 Millionen volljährigen Männern, die es damals in Preußen
gab, waren 3.661.992 wahlberechtigt. Diese Zahl beruht auf den Berech-
nungen, die C. F. W. Dieterici, Direktor des statistischen Büros in Berlin,
aufgrund der statistischen Tabellen und „mit Benutzung auch anderweiter
Notizen" vornahm. Von ihm stammt auch die „Klassifikation der Urwäh-
ler", die ein aufschlußreiches Spiegelbild der sozialen Schichtung der (männ-
lichen!) preußischen Gesellschaft bietet (siehe Tabelle 48 auf S. 251).
Auch für diese Wahl galt ein indirektes Wahlverfahren mit der Zwischen-
schaltung von Wahlmännern. Wie dies in der Praxis funktionierte, zeigt das

9 Vgl. H . LUTZ, Zwischen Habsburg und Preußen... (1985) [15], S. 2 6 4 - 2 6 6 ;


E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [49], Bd. 2, S. 6 0 6 -
608.
10 In den linksrheinischen Gebieten w a r demnach die Z a h l der für die Frankfurter
Versammlung Wahlberechtigten größer als die der für die Berliner Versammlung
Stimmberechtigten.
IV. Versuche der Konsolidierung 251

TABELLE 4 8
Soziale Zusammensetzung der Urwähler in Preußen (1848)

I. Personen, die den wohlhabenden und den ge- absolut in % der


bildeten Ständen angehören Wahlberechtigten

1. Rittergutsbesitzer und Großgrundbesitzer 12.352 0,34


2. Geistliche 11.615 0,32
3. Lehrer mit Ausschluß der Elementarlehrer 3.822 0,10
4. Sanitäts-Personal (Ärzte) 7.882 0,22
5. Zivil-Beamte in Staatsdiensten 27.477 0,75
6. Offiziere im Dienst 3.204 0,09
7. Rentiers, Pensionäre 29.622 0,81
8. Fabrikherren, Kaufleute en gros usw. 97.824 2,67

Summe 193.798 5,30

II. Mittlerer Stand

1. Elementarlehrer 25.914 0,71


2. Handwerksmeister und mechanische Künst- 660.776 18,04
ler, Webermeister, Mühlenbesitzer, Krämer,
Schiffer, Fuhrherren, Gast- und Schankwirt-
schaften
3. Landbesitzer von 50 bis 250 Morgen 257.347 7,03

Summe 944.037 25,78

III. Arbeiterklasse und ganz kleiner Besitz

1. Kleine Weber, kleine Krämer und kleine 135.685 3,71


Schankwirte
2. Handwerksgesellen 207.699 5,67
3. Arbeiter in Fabriken 283.347 7,74
4. Bergleute 75.604 2,06
5. Männliches Gesinde 400.000 10,92
6. Tagelöhner, Holzhauer, Handarbeiter u. a. 873.286 23,84
7. Landbesitzer unter 50 Morgen, d. h. Halb- 314.533 8,59
bauern, Halbspänner
8. Häusler, Kätner, Büdner, Instleute u. a. 200.000 5,46
9. Militär unterer Grade 34.003 0,93

Summe 2.524.157 68,92

Überhaupt 3.661.992 100,0

Quelle: K. OBERMANN, Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung... (1987)


[228], S. 35 f. (nach einem zeitgenössischen Entwurf von F.W.C. Dieterici).
252 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

Beispiel Berlins: Am 1. Mai — „Berlin hatte einen Feiertag, Behörden und


Betriebe waren geschlossen, die Jugend versah den Wachdienst" (Kaeber)
- hatten die 60.000 Urwähler in den 140 Bezirken die Wahlmänner fest-
gestellt. In den folgenden Tagen traten diese in der Garnisonkirche, später
im Konzertsaal des Schauspielhauses in Verbindung. Die Kandidaten, mehr
als 100, hatten ihre politischen Vorstellungen zu präsentieren und mußten
unzählige Fragen der Wahlmänner, zu denen auch Fontane und Virchow
gehörten, beantworten. Am 8. Mai wurden in fünf Kirchen, die als Wahl-
lokale dienten, je zwei Abgeordnete und zwei Stellvertreter für die preußi-
sche Nationalversammlung, am 10. Mai in sechs Bezirken je ein Abgeord-
neter und ein Stellvertreter für die deutsche Nationalversammlung ge-
wählt. 11
Die nach Frankfurt entsandten preußischen Abgeordneten spiegelten in
ihren Auffassungen die sozialen und wirtschaftlichen Strukturmerkmale
ihrer Wahlkreise. Überwiegend konservativ wählte die Landbevölkerung in
Preußen, Pommern und Brandenburg, dagegen zum großen Teil demokra-
tisch in Schlesien, Sachsen und der Rheinprovinz — ebenso wie in den
Städten Königsberg, Stettin und Breslau. In Berlin gab es neben der bür-
gerlichen Mitte, die auch in den rheinischen Städten tonangebend war, eine
starke radikale Linke. Da aber das gesamte politische Spektrum bis hin zu
den radikalen demokratischen Forderungen fast ausschließlich von Ange-
hörigen des Bildungsbürgertums vertreten wurde, dominierte in der preu-
ßischen Delegation in Frankfurt die beamtete und freie Intelligenz: Sie stellte
rund drei Viertel der Abgeordneten (siehe Tabelle 49 auf S. 253).
Die Beratungen 12 standen von Anfang an unter dem ungünstigen Vor-
zeichen, daß es keine Diskussionsvorlage gab. Der Siebzehnerausschuß hat
zwar unter weitgehender Führung durch Dahlmann einen Verfassungsent-
wurf ausgearbeitet, der einen Bundesstaat mit konstitutioneller Verfassung
und Erbkaisertum, ein Zweikammersystem und liberale Grundrechte vor-
sah. Von Dahlmann stammte auch das umfangreiche „Vorwort", in dem er
noch einmal die mit 9 : 6 Stimmen erfolgte Entscheidung für ein Erbkaiser-
tum begründete - gegen den Widerstand der von Ludwig Uhland ange-
führten demokratischen Minderheit. Am 27. April wurde dieser Verfas-
sungsentwurf, der „eine hervorragende staatsrechtlich-politische Leistung"
darstellte (Huber), der Bundesversammlung übergeben.
Sein Schicksal war faktisch besiegelt, als nicht nur Österreich und einige
Mittelstaaten gegen den Entwurf opponierten, sondern vor allem der preu-
ßische König den Plänen eine deutliche Absage erteilte. Mangels anderer
Alternativen war damit an eine schnelle Lösung der deutschen Frage nicht
mehr zu denken. Der Entwurf verschwand in der Versenkung. Weder hat
ihn der Bundestag an die Nationalversammlung weitergeleitet, noch hat
diese ihn als Diskussionsbasis angefordert. Als sie im Frühjahr 1849 darauf
zurückkam, war es zu spät.

11 Vgl. E. KAEBER, Berlin 1848... (1948) [206], S. 126.


12 Vgl. dazu E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,
S. 767 - 773.
TABELLE 4 9 253
Soziale Herkunft der preußischen Abgeordneten in der
Frankfurter Nationalversammlung

Soziale Schichtung Provinzen

Rheinprovinz
Brandenburg

Westfalen
Pommern

Schlesien
Preußen

Preußen

Sachsen
Posen
A. Großgrundbesitz
1. Adlige 13 4 2 3 2 2 -

2. Bürgerliche 7 1 1 1 1 3

B. Großbürgertum
1. Kaufleute 3 1 - - - 1 - 1
2. Fabrikanten 2 1 1

C. Intelligenz
I. beamtete
1. höh. Staatsbeamte 30 8 3 2 2 2 2 5 6
2. Landräte 8 3 1 2 1 1
3. Kommunalbeamte 3 1 2
4. Richter 42 4 6 3 10 1 8 5 5
5. Hochschullehrer 15 2 2 1 4 1 5
6. Lehrer an höh. Sch. 11 1 4 3 1 1 1
7. sonstige Lehrer 5 1 2 1 1
8. Geistlichkeit, kath. 4 1 1 1 1
9. Geistlichkeit, ev. 5 1 1 1 1 1

II. freie
1. Dr. jur.
2. Advokaten 7 1 6
3. Dr. phil. 8 1 1 1 2 3
4. Redakteure
5. Schriftsteller 1 1
6. Buchhändler 3 1 - 1 1
7. Dr. 1 1
8. Mediziner 4 1 1 2

D. Kleinbürgertum
I. beamtetes
1. Staatsbeamte 2 - 2 - -

2. Kommunalbeamte 2 1 1
3. n. Gerichtsbeamte 9 3 2 2 1 1

II. freies
1. Landwirte 1 - 1
2. Kaufleute 3 - 1 1 - - - 1
3. Handwerker

E. Militär 7 1 2 - 1 - 1 2 -

F. ohne Beruf 4 - - - 1 - - - 3

Gesamt 200 31 27 15 38 12 23 19 35

Quelle: H. LUTZ, Zwischen Habsburg und Preußen... (1985) [15], S. 268.


254 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

Auf Zeitgewinn spekulierte wohl auch der preußische König, als er den
Dahlmannschen Entwurf zum Anlaß nahm, „seine phantastischen Pläne
von einem Fürstenrat neben dem Kaiser, von einem regierenden Wahlkönig
oder einem erblichen Reichserzfeldherrn, von Reichswehrherzogtümern
nach Art der alten Reichskreise und ähnlichen unpraktischen Institutionen
mit einer Art von künstlerischer Freude zu entwickeln". 1 3
Vier Tage nach der Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in
der Frankfurter Paulskirche wurde am 22. Mai 1848 in Berlin die preußische
Nationalversammlung durch eine Thronrede im Weißen Saal des Schlosses
eröffnet. Das war ein erster Dämpfer für diejenigen Abgeordneten, die
verlangt hatten, der König möge zur Eröffnung in das Tagungsgebäude, die
Singakademie, kommen. Anders als in Frankfurt sollten die Abgeordneten
eine schriftliche Diskussionsgrundlage erhalten: Der König kündigte die
Vorlage eines von der Regierung ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs an. 1 4
In ihrer sozialen Zusammensetzung unterschied sich die Nationalver-
sammlung erheblich von dem Vereinigten Landtag. Unter den 402 Abge-
ordneten befanden sich zwar nicht wenige Adlige, aber auch 46 Angehörige
des Bauernstandes, darunter einige Tagelöhner, 39 Industrielle und Kauf-
leute, 18 Handwerker, 21 Lehrer und viele Angehörige freier Berufe. Als
Gruppe dominierten die Beamten aus der Justiz und den Staats- und Ge-
meindeverwaltungen. Kaum vertreten war der Gelehrtenstand, gar nicht die
Gesellen- und Industriearbeiterschaft. 15 Als Abgeordneter von Wirsitz saß
seit dem 8. Juni der aus England zurückgekehrte Prinz Wilhelm in der
Nationalversammlung. 16
In ihrer politischen Ausrichtung war die Berliner Versammlung wesentlich
radikaler als die Frankfurter. 17 Die altliberalen Anhänger eines konstitutio-
nellen Königtums, die vor zwei Monaten noch als fortschrittlich gegolten
hatten, bildeten jetzt den konservativen Flügel. Ihr Sprecher war Professor
Baumstark aus Greifswald. Die liberale Mitte war gespalten. Das „rechte
Zentrum" um den Regierungsrat v.Unruh, etwa 40 Köpfe stark, tendierte
zur Zusammenarbeit mit den gemäßigten Konservativen, während das
„linke Zentrum" unter dem Nationalökonomen Rodbertus antifeudalistisch

13 Otto HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer
Geschichte, Berlin 1915 (ND Moers 1979), S. 535.
14 Adolf STRECKFUSS, 5 0 0 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt.
Geschichte und Sage, Berlin 3 1880, S. 1074 f., druckt auch die Thronrede ab. Den
Verfassungsentwurf veröffentlichte der Preußische Staatsanzeiger noch am Abend
des 22. V.
15 Vgl. M . BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 5 1 6 f . ;
etwas abweichende Zahlen gibt E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
(1957/60) [49], Bd. 2, S. 5 8 4 f. Z u m Vergleich siehe oben S. 223.
16 Vgl. zu diesem Gesamtkomplex A. STRECKFUSS, 5 0 0 Jahre Berliner Geschichte...
( 3 1880) [s.o. Anm. 14], S. 1 0 8 7 - 1 0 8 9 , der auch die Einführungsrede des Prinzen
vor der Nationalversammlung abdruckt.
17 Vgl. dazu E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,
S. 5 8 5 f. Grundlegend zur Tätigkeit der preußischen Nationalversammlung:
M . BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 5 1 5 - 5 5 5 .
IV. Versuche der Konsolidierung 255

und antiklerikal eingestellt war, für soziale Reformen eintrat, aber keine
soziale Revolution anstrebte. Später entwickelte sich noch ein „drittes
Zentrum" unter dem Abgeordneten Harkort. Der linke Flügel mit etwa
110 Anhängern war republikanisch gesinnt und verfolgte radikaldemokra-
tische Ziele. Seine Führer waren der Arzt Jacoby, der Staatsanwalt Temme
und der Obertribunalrat Waldeck, „ein scharfsinniger und mit größter
Beredsamkeit begabter Doktrinär" (Huber). Diese Gruppierung fand außer-
halb der Nationalversammlung starken Rückhalt in den entstehenden Ar-
beitervereinen sowie vor allem im „Politischen Klub", der sich später
„Demokratischer Klub" nannte. Geführt von Georg Jung und Friedrich
Wilhelm Alexander Held verstand sich der Klub als „ein Kind der Revo-
lution" und erklärte „die demokratisch-soziale Republik" für die einzig
akzeptable Staatsform.
Der erste massive Streit in der Nationalversammlung entstand über eine
an den König zu richtende Adresse. Als der Text endlich vorlag, formulierte
der Abgeordnete Berends am 8. Juni in einem Gegenantrag, daß sich die
Kämpfer des 18./19. März „wohl ums Vaterland verdient gemacht haben".
Das zielte auf die staatsrechtliche Legalisierung der Märzrevolution und
war für die Regierung und die Mehrheit der Versammlung unannehmbar.
Nach zweitägiger hitziger Debatte fand man auf dem Umweg über eine
„motivierte Tagesordnung" eine mühsam ausgetüftelte Kompromißformel,
die schließlich mit 1 9 6 : 1 7 7 Stimmen angenommen wurde. Die Frage nach
der Rechtmäßigkeit der Revolution blieb dabei ausgeklammert. 18
Die Nationalversammlung konnte sich nun wieder ihrer eigentlichen
Aufgabe, der Beratung des ihr von der Regierung am 22. Mai übergebenen
Verfassungsentwurfs, zuwenden. Dieses vom 20. Mai datierte Dokument
erstrebte in starker Anlehnung an die belgische Verfassung von 1831, die
damals als die liberale Musterkonstitution galt, einen gemäßigten Konsti-
tutionalismus mit Grundrechtsgarantien. Dennoch fand dieser Entwurf nicht
den ungeteilten Beifall der Versammlung. 19 Er wurde am 15. Juni einer
Kommission unter dem Vorsitz von Waldeck überwiesen, die ihn einer so
gründlichen Umarbeitung unterzog, daß nach Abschluß der Kommissions-
arbeiten am 26. Juli ein eigener Verfassungsentwurf, die „Charte Waldeck",

18 Darüber informiert ausführlich A. STRECKFUSS, 5 0 0 J a h r e Berliner Geschichte...


( 3 1 8 8 0 ) [ s . o . A n m . 14], S. 1 0 8 9 - 1 0 9 2 , der auch a u f die öffentlichen Reaktionen
(Handgreiflichkeiten gegen den Minister von A r n i m u. a.) eingeht. Abdruck der
K o m p r o m i ß f o r m e l : E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 1 9 5 7 / 6 0 )
[49], Bd. 2 , S. 7 2 6 .
19 Abdruck des Regierungsentwurfs: G e r h a r d ANSCHÜTZ, Die Verfassungs-Urkunde
für den Preußischen Staat v o m 31. J a n u a r 1850. Ein K o m m e n t a r für Wissenschaft
und Praxis, 2 Bde., Berlin 1 9 1 2 ( N D Aalen 1974), hier Bd. 1, S. 6 0 8 ff. Beste
Analyse: F. FRAHM, Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte... (1928) [237],
S. 2 5 3 f f . Knappe Inhaltsangabe: E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
( 1 9 5 7 / 6 0 ) [49], Bd. 2, S. 7 3 0 . Z u r öffentlichen Reaktion auf den E n t w u r f vgl.
A. STRECKFUSS, 5 0 0 J a h r e Berliner G e s c h i c h t e . . . ( 3 1 8 8 0 ) [s. o. A n m . 14], S. 1 0 7 5 -
1078.
256 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

vorlag, obwohl der ultramontan-demokratische Abgeordnete Peter


Reichensperger den größten Einfluß bei den Beratungen ausgeübt hatte. 2 0
Kernpunkt des neuen Verfassungsentwurfes war die Abschaffung des ab-
soluten Vetorechts des Königs — für die Konservativen mit dem Blick auf
die Anfangsphase der Französischen Revolution der schlagende Beweis
dafür, daß die liberale und demokratische Linke mit der Monarchie in
Deutschland nach dem Vorbild der französischen Jakobiner umzugehen
plante. Als das Plenum der Nationalversammlung nach zu langer Pause im
Oktober 1848 die Verfassungsberatungen wieder aufnahm, waren die Wei-
chen für die gegenrevolutionäre Wende längst gestellt.

3. Soziale Protestbewegungen

Es wird häufig übersehen, daß die zahlreichen revolutionären Erhebungen


auf dem Lande besonders in der ersten Phase der deutschen Revolution von
1848 von fundamentaler Bedeutung waren. Auch in Preußen hatte sich ein
beträchtliches Potential an revolutionärem Sprengstoff angesammelt, be-
dingt durch die sich verschlechternden Lebensbedingungen. Der strukturelle
Umbau der alten Agrarverfassung, der Rückgang der protoindustriellen
Nebengewerbe und nicht zuletzt mehrere Mißernten führten zu empfindli-
chen Einkommensverlusten und zu einem wachsenden sozialen Druck, von
dem insbesondere die ländlichen Unterschichten betroffen waren.
Im Vorfeld der Revolution kam es im östlichen Westfalen zu einer heftigen
Welle lokaler Rebellionen. Tagelöhner und Kleinbauern zogen übers Land,
vernichteten Archive mit Schuldurkunden, zerstörten Einhegungen und rich-
teten eine Fülle von Petitionen an die Verwaltung und an die Nationalver-
sammlung in Berlin. 2 1
Auch in den Provinzen Pommern, Brandenburg, Ostpreußen und Sachsen
gärte es unter Bauern und Landarbeitern. Die bevorstehende Einberufung
des Zweiten Vereinigten Landtages löste im März eine mächtige Petitions-
bewegung aus. Man forderte Zehnt- und Zinsablösung, Korrektur der
Separationen und Ablösung der Dienste. In Schlesien rebellierten zuerst die
wohlhabenderen Bauern und Schulzen und verlangten eine Revision der
Ablösungsrezesse, die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, das Ver-
bot des adligen Jagdrechts und eine freie Gemeindeverfassung. 22 Sie de-
molierten Herrensitze und verlangten „Freiheits-Urkunden". Diese revolu-

20 M. BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 5 3 8 - 5 4 1 ;


E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 7 3 0 -
732.
21 Wilhelm SCHULTE, Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution
von 1848/49, Münster 1954, S. 168 - 173. — Grundsätzlich zu dieser Perspektive:
H.-J. RUPIEPER, Probleme einer Sozialgeschichte... (1985) [210], passim.
22 Vgl. dazu Rainer KOCH, Die Agrarrevolution in Deutschland 1848. Ursachen-
Verlauf—Ergebnisse, in: D. Langewiesche (Hg.), Die deutsche Revolution...
( 1 9 8 3 ) [ 2 0 8 ] , S. 3 6 2 - 3 9 4 , h i e r S. 3 8 6 - 3 9 2 .
IV. Versuche der Konsolidierung 257

donare Aufbruchsstimmung führte im Frühjahr 1848 zur Bildung der „Ru-


stikalvereine", die man als „die zweite Säule der schlesischen Agrarrevo-
lution" bezeichnet hat. Bis zum August schlossen sich rund 200.000 Mit-
glieder in 200 Ortsvereinen zusammen, die durch den „Hauptrustikalverein"
locker koordiniert wurden. Es war dies „die größte Massenorganisation der
48er Revolution" (Koch). Die Ergebnisse der Maiwahlen spiegelten das
mobilisierte politische Bewußtsein wider. Gewählt wurde beispielsweise in
den Kreisen Breslau und Wohlau wie folgt:

TABELLE 5 0
Ergebnisse der Maiwahlen 1848 in zwei schlesischen Kreisen

Bauern Gärtner Häusler Müller Wirte Hand- Lehrer Ritterguts-


(Schulzen) werker besitzer

Landkreis 28 (9) 34 6 10 15 14 1
Breslau
Kreis 2 2 (9) 9 4 12 9 1 4 1
Wohlau

Quelle: Rainer KOCH, Die Agrarrevolution in Deutschland 1848. Ursachen — Verlauf —


Ergebnisse, in: D. Langewiesche (Hg.), Die deutsche Revolution... (1983) [208], S. 3 6 2 —
394, hier S. 389, Anm. 70.

Seither verfochten die Rustikalvereine eine Politik der Abgaben- und


Steuerverweigerung. Nicht zuletzt wegen der schlesischen Probleme wurde
am 17. April 1848 das „Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche
Arbeit" gegründet. Da die Nationalversammlung die Vorlage des neuen
Ministers v. Patow (Auflösung der letzten Feudalbindungen, Ermäßigung
der Ablösungsrenten um 20 bis 50 Prozent) als unbefriedigend zurückwies,
flammten die Unruhen im Spätsommer erneut auf. Der Erfolg blieb nicht
aus: Am 5. Oktober wurden alle noch schwebenden Ablösungsverfahren
niedergeschlagen, am 31. Oktober hob ein Gesetz das Jagdrecht auf Bau-
ernland entschädigungslos auf. Das „Interimistikum" vom 29. Dezember,
das erheblich günstigere Ablösungssätze vorsah, und die Ersetzung von
2.000 Patrimonialgerichten durch staatliche Kreisgerichte am 2. Januar 1849
entzogen der schlesischen Agrarbewegung vollends den Boden. 2 3
Eine besondere Sprengkraft erhielten die ländlichen Protestaktionen in
der Provinz Posen, wo sich am 20. März ein polnisches Nationalkomitee
gebildet hatte. Eine unter Führung des Gnesener Erzbischofs nach Berlin

23 A. a. O., S. 391 f. Der freie mittelständische Bauer wandelte sich nach Erreichen
seiner Ziele vom triumphierenden Revolutionär zum Parteigänger des Konser-
vativismus: „Das Bündnis von Bauer und Adel wurde zur entscheidenden so-
zialgeschichtlichen Weichenstellung der 48er Revolution" (a. a. O., S. 393). — Bei
H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 7 1 3 f . ,
der sich hier auf den Aufsatz von Koch bezieht, finden sich in drei Absätzen
leider mehrere Übertragungsfehler (Daten, Zahlen, Zitate, Sachverhalte).
258 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

entsandte Delegation bat, „eine nationale Reorganisation des Großherzog-


tums Posen... zu gestatten". Der König war überraschend konzessionsbereit,
und schon am 25. März wurden sechs Punkte vereinbart, die als Richtschnur
für die Neuorganisation der Provinz dienen sollten. 24 Gegen diese Verein-
barung, die unter anderem einen Polen als Oberpräsidenten vorsah, erhob
sich vor allem in den deutschen Kreisen der Provinz erheblicher Widerstand;
dazu trat eine massive nationalrevolutionäre Opposition, die vorwiegend
vom Adel getragen wurde, als bekannt wurde, daß nur der polnisch besie-
delte Teil des Großherzogtums reorganisiert werden sollte, während das
andere Gebiet^iem Deutschen Bund einzugliedern sei. Die latenten Span-
nungen, die schon zu häufigen Übergriffen und Zwischenfällen geführt
hatten, mündeten Ende April in eine Auseinandersetzung zwischen preu-
ßischem Militär und den Einheiten der polnischen Nationalbewegung. An-
gesichts der Überlegenheit der Preußen mußten die Polen am 9. Mai kapi-
tulieren. Die politische Auseinandersetzung um die zukünftige Gestaltung
der Provinz aber ging weiter. 25
Die ländlichen Aufruhrbewegungen in fast allen preußischen Provinzen
wird man schon deshalb nicht unterbewerten dürfen, weil im Jahre 1849
noch immer rund 92,5 Prozent der preußischen Bevölkerung auf dem Lande
und in Kleinstädten lebten. 26 Andererseits ist nicht zu übersehen, daß wie
im Falle Pommerns „die des Lesens meistens unkundige" Landbevölkerung
kaum ein revolutionäres Bewußtsein entwickelte, sondern im Gegenteil ihre
trostlose materielle Lage in dumpfer Ergebenheit hinnahm. „Die große
deutsche Bewegung", schrieb ein Journalist aus Stettin am 26. März, „die
bei Ihnen im Rhein- und Neckarlande alle Schichten der Bevölkerung fast
gleichmäßig erfüllt und faßt, verliert sich hierzulande nur in die obere
(Schicht)"; lediglich in Stettin „hat der liberale Geist die Oberhand; in
Greifswald fristet er ein mattes Leben unter der Studentenschaft, nicht reger
ist er in Stralsund und in Kolberg, in Köslin usw. ist er tot... Die Landbe-
völkerung in Pommern ist geistig noch völlig regungslos. Sie glauben nicht,
wie weit die Unwissenheit, die Verkehrtheit, die Roheit hier geht... Mehr
oder minder findet dieses auf den ganzen deutschen Osten Anwendung." 27

24 D e r a m 2 3 . III. g e w ä h r t e n A u d i e n z ( K . L . v o n PRITTWITZ, B e r l i n 1 8 4 8 . . . [1985]


[200], S. 421 f.) folgte am 24. III. eine Kabinettsorder (Abdruck: A . A . O . , S. 429)
und am 25. III. die Vereinbarung (Abdruck: K. OBERMANN, Die Wahlen zur
F r a n k f u r t e r N a t i o n a l v e r s a m m l u n g . . . [ 1 9 8 7 ] [ 2 2 8 ] , S. 8 2 f . ) .
25 Vgl. dazu M[anfred] LAUBERT, Die preußische Polenpolitik von 1 7 7 2 - 1 9 1 4
( = SchrrldOK, Bd. 1), Krakau 2 1944, S. 1 0 3 - 1 0 8 ; Gotthold RHODE, Polen und
die polnische Frage von den Teilungen bis zur Gründung des Deutschen Reiches,
in: Walter Bußmann (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 5, Stutt-
gart 1981, S. 677 - 745, hier S. 719 f.; Martin BROSZAT, Zweihundert Jahre deut-
sche Polenpolitik [1963], F r a n k f u r t / M . 2 1 9 7 8 , S. 1 1 0 - 1 1 2 ; K . OBERMANN, D i e
Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung... (1987) [228], S. 83 — 85.
26 Diese Zahl ist berechnet aus den Angaben zur Gesamtbevölkerung (1849:
1 6 . 3 3 1 . 1 8 7 , s . o . S. 9 2 - 9 4 ) abzüglich der 1.184.151 E i n w o h n e r , d i e in d e n 15
Städten mit mehr als 30.000 Einwohnern lebten (nach K. OBERMANN, a. a. O.,
S. 3 3 ) .
27 Zit. a. a. O., S. 53 f.
IV. Versuche der Konsolidierung 259

In den anderen preußischen Provinzen war es ähnlich. Oftmals effektiver


und von stärkerem revolutionären Impetus getragen waren die Unruhen,
die in den auf die Märztage folgenden Monaten in den preußischen Städten
infolge enttäuschter Erwartungen ausbrachen und die Behörden oft gehörig
unter Druck setzten. Die Hauptstadt mit ihrer durch Presse, politische
Vereine, Versammlungen und Diskussionen mobilisierten Öffentlichkeit
spielte dabei eine zentrale Rolle. 2 8 Die Zahl der 1848 in Berlin gegründeten
Vereine wird auf über 100 geschätzt. Gleichzeitig kam es zu einer Polarisie-
rung der politischen Interessenrichtungen und zu einer sich allmählich
verstärkenden „Zersplitterung der Märzbewegung" (Richter). Neben dem
„Politischen (später: Demokratischen) Klub" (22. März) der radikalen De-
mokraten, dem „Konstitutionellen Klub" (27. März) der Liberalen und dem
„Preußenverein" (Mitte Mai) der Konservativen, der konterrevolutionär
eingestellt war, gab es seit dem 29. März als eine eigene Organisation der
Arbeiterschaft den provisorischen Arbeiterklub, aus dem das „Zentralko-
mitee für Arbeiter" hervorging, an dessen Spitze der Schriftsetzer Stephan
Born stand. Er wurde der Organisator der Berliner Arbeiterbewegung, leitete
die Streiks der Drucker und Setzer (April und August 1848) und war die
dominierende Persönlichkeit des „Deutschen Arbeiter-Kongresses", der vom
23. August bis 3. September in Berlin tagte.
Einen besonderen Akzent erhielt die Berliner Revolutionsbewegung durch
die materielle Notlage weiter Bevölkerungsschichten, die auch während des
Sommers 1848 anhielt. Um dem sich ausbreitenden Beschäftigungsmangel
zu begegnen, organisierten Magistrat und Regierung ein Notstandspro-
gramm: 5.500 Arbeiter wurden vorübergehend beim Ausbau des Land-
wehrgrabens, des Spandauer Kanals, bei Planierungsarbeiten in den Reh-
bergen sowie bei drei Kirchenneubauten eingesetzt. Die Arbeitszeit wurde
von zwölf auf zehn Stunden verkürzt und die Tageslöhne von zehn auf
fünfzehn Silbergroschen erhöht. 2 9 Ebenfalls im Rahmen eines Arbeitsbe-
schaffungsplanes war 1847 die Straßenreinigung in der Königsstadt und in
der Dorotheenstadt versuchsweise von der Gemeinde übernommen worden;
das Ergebnis war so gut, daß man das Programm im April 1848 auf die
gesamte Stadt ausdehnte. 30 Trotz dieser Maßnahmen ließ sich die Arbeits-
losigkeit nicht aus der Welt schaffen. Es kam zu nächtlichen Unruhen,
Protestumzügen der Arbeitslosen und Demonstrationen vor den Häusern
der Verantwortlichen, wie beispielsweise am 30. Mai, als 700 bis 800
Arbeiter unter Gewaltandrohung von dem Minister v. Patow die Schaffung
neuer Arbeitsplätze verlangten. 31 Als ungewollte Folge des Notstandspro-
grammes ergab sich eine starke Konzentration selbstbewußter Arbeiter-

28 G. RICHTER, Zwischen Revolution und Reichsgründung... ( 2 1988) [209], S. 6 2 3 -


626. Sehr treffend nennt E. KAEBER, Berlin 1848... (1948) [206], S. 101 - 122, das
einschlägige Kapitel „Die Waffen der Demokratie".
29 G. RICHTER, Zwischen Revolution und Reichsgründung... ( 2 1988) [209],
S. 6 2 7 - 6 2 9 .
30 I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 508.
31 A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte... ( 3 1880) [s.o. Anm. 14], S. 1083f.
260 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

massen mit einem entsprechend mobilisierten Bewußtsein. Vor allem die


700 in den Rehbergen beschäftigten Arbeiter blieben den ganzen Sommer
über ein Unruhepotential; mehrfach geschah es, daß nach dem Ruf „Reh-
berger raus! Die Freiheit ist in Gefahr!" die Arbeitskolonnen mit roten
Fahnen und in abenteuerlichem Aufzug in die Stadt einrückten. Es kam zu
einer zunehmenden Entfremdung zwischen dem verarmten, aber immer
noch standesstolzen Handwerk und den proletarischen Unterschichten, die
vor allem von den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen profitierten. Da die
Bürgerwehr vor allem von Mitgliedern des Handwerks gestellt wurde,
entwickelte sie sich zu einem einseitig ausgerichteten Ordnungsfaktor, der
einerseits hart gegen Demonstranten vorging, andererseits die Rückkehr
von zwei Linienregimentern nach Berlin erbat und erreichte, damit sie die
Bürgerwehr im Wachdienst unterstützen könnten.
Anläßlich einer für den 20. April geplanten Massendemonstration für die
Durchsetzung des direkten Wahlrechts, in dem der Demokratische Klub die
Vollendung der Revolution erblickte, schieden sich die Geister. Die sich
dagegen formierende Koalition der Gemäßigten reichte von der Regierung
Camphausen über den Konstitutionellen Klub und große Teile der Berliner
Gewerbe bis zur Mehrheit der Bürgerwehr. Der Verzicht der Linken auf
den Demonstrationszug wurde von den Rechten als Zeichen der Schwäche
gewertet: Die Polizei nahm ihre vormärzliche Verhaftungs- und Auswei-
sungspraxis wieder auf, und die Berliner Bürgerwehr erhielt mit General
v. Aschoff einen Kommandanten, dem sich der König eng verbunden fühlte.
Die Bürgermiliz spielte mehr und mehr eine neue Rolle als „Polizeisolda-
ten". 3 2
Nachdem es am 9. Juni während der Beratung des Antrags Berends
bereits zu Tätlichkeiten gegen konservative Abgeordnete der Nationalver-
sammlung gekommen war, spitzten sich die Spannungen zwischen Bürger-
wehr und Volksmassen weiter zu. Als bei einem Auflauf vor der Singaka-
demie am 14. Juni die Bürgerwehr zwei Arbeiter erschoß, stürmten die
erregten Massen das Zeughaus, um die Volksbewaffnung zu erzwingen. Die
kleine Wachtruppe zog sich zurück, und die Waffenbestände wurden ge-
plündert. Noch in der Nacht wurde das Gebäude allerdings von der selt-
samen Koalition von Armee und Bürgerwehr zurückerobert. 33
Dem Zeughaussturm folgten zahlreiche Verhaftungen und Verurteilun-
gen, die neben einigen an der Aktion beteiligten Zivilisten auch die Offiziere
trafen, die es vorgezogen hatten, nicht blindwütig auf die hineindrängende
Menge schießen oder den Bajonettangriff eröffnen zu lassen. Weitaus ver-
hängnisvoller waren allerdings die politischen Folgen, denn nach dem
Zeughaussturm ging „ein konservativer Zug durch die Stadt Berlin und das
Land" (Streckfuß). Major Blesson, Chef der Bürgerwehr, der nur zwölf

32 A. a. O., S. 1048 - 1 0 5 6 ; G. RICHTER, Zwischen Revolution und Reichsgrün-


d u n g . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 2 0 9 ] , S. 6 2 8 - 6 3 0 .
33 A. a. O., S. 631 f. Ausführlicher: A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte...
( 3 1 8 8 0 ) [ s . o . A n m . 1 4 ] , S. 1 0 9 9 - 1 1 0 2 ; E . KAEBER, B e r l i n 1 8 4 8 . . . (1948) [206],
S. 1 6 9 - 1 7 3 .
IV. Versuche der Konsolidierung 261

Tage amtiert hatte, mußte seine Stelle wegen Unfähigkeit an den Major
Rimpler abtreten; den Polizeipräsidenten v. Minutoli, der als zu nachgiebig
galt, ersetzte der Landrat v. Bardeleben, und das Märzministerium erklärte
am 20. Juni seinen Rücktritt, weil es dem Regierungschef Camphausen
nicht gelungen war, für die Umwandlung seines „Ministeriums der Ver-
mittlung" in ein „Ministerium der Ausführung" eine sichere Mehrheit in
der Nationalversammlung zu erreichen. 34
Das vom König am 25. Juni berufene Koalitionskabinett stand unter der
Leitung des bisherigen Oberpräsidenten von Preußen, Rudolf v. Auerswald,
der auch das Außenministerium übernahm. Er war ein Bruder des bisherigen
Innenministers Alfred v. Auerswald. Neben einigen Fachministern (Innen:
v. Kühlwetter; Justiz: Maercker; Krieg: Roth v. Schreckenstein) gehörten
ihm auch Abgeordnete der Nationalversammlung an: Hansemann (Finan-
zen) und Milde (Handel) vom rechten Zentrum, Gierke (Landwirtschaft)
und Rodbertus (Kultus) vom linken Zentrum. Die breite parlamentarische
Absicherung schien eine gute Grundlage für die künftige Regierungspolitik
zu sein, aber durch den bereits am 4. Juli erfolgenden Rücktritt des Führers
des linken Zentrums, Rodbertus, vom Amt des Kultusministers wurde diese
Basis erheblich geschwächt. 35
Mit dem Sturz des Märzministeriums war der Versuch, die Ergebnisse
der Märzrevolution auf gouvernementaler Ebene zu konsolidieren, im
Grunde gescheitert, obwohl es noch einige Wochen dauern sollte, bis dieses
Ergebnis offenkundig war. In seiner Abschiedsrede vor der Nationalver-
sammlung am 26. Juni deutete Camphausen die Schwierigkeiten an, die
ihm die stärker werdende Reaktionspartei in Potsdam bei seiner Regie-
rungsarbeit in den Weg gelegt hatte. 3 6 Er war klug genug, nicht den Brief
zu zitieren, den ihm Friedrich Wilhelm IV. am 18. Juni, wohl noch unter
dem Eindruck des Zeughaussturmes, geschrieben hatte: „Ich wiederhole
zum Schluß, daß die Eiterbeule von Berlin operiert werden muß. Je eher,
je besser. Jeder Tag ist unwiederbringlich verloren, weil es das Ansehen der
Regierung antastet und meine Stellung zu Grunde richtet." 3 7

34 Teilabdruck der Abschiedsrede von Camphausen in der 20. Sitzung der Natio-
nalversammlung vom 26. VI.: A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte...
( 3 1880) [s.o. Anm. 14], S. 1113.
35 Vgl. E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,
S. 727 - 729. Siehe auch unten S. 290 (Übersicht).
36 Gute Einschätzung der von der Kamarilla verfolgten Politik: G. RICHTER, Fried-
rich Wilhelm IV.... (1987) [236], S. 129.
37 Friedrich Wilhelm an Camphausen, 18. VI. 1848, in: Erich BRANDENBURG (Hg.),
König Friedrich Wilhelm IV. Briefwechsel Ludolf Camphausen, Berlin 1906,
S. 178.
262 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

V. Die Gegenrevolution
Nachdem am 18. Mai 1848 die bis dahin eingetroffenen 330 der nominell
649 Abgeordneten zur Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in
der Frankfurter Paulskirche zusammengetreten waren und am folgenden
Tag Heinrich v. Gagern zum Präsidenten gewählt hatten, bemühte man sich
zunächst um die Bildung von politischen Fraktionen mit Programmen und
formellen Mitgliedschaften, um die noch ungewohnte parlamentarische
Arbeit zu kanalisieren und in geordnete Bahnen zu lenken. Am 28. Juni
übertrug die Nationalversammlung die oberste vollziehende Gewalt in allen
Angelegenheiten der „allgemeinen Sicherheit und Wohlfahrt des deutschen
Bundesstaates", die Oberleitung der bewaffneten Macht und die völker-
rechtliche Vertretung Deutschlands einem Reichsverweser. Am folgenden
Tag wurde Erzherzog Johann mit 4 3 6 : 1 1 2 Stimmen in dieses Amt berufen.
Er ernannte den dem rechten Zentrum nahestehenden Fürsten Karl v.
Leiningen am 15. Juli zum Ministerpräsidenten des ersten Reichskabinetts;
in der von ihm gebildeten Regierung stammten zwei von sechs Ministern
aus Preußen: Beckerath (Finanzen) und v. Peucker (Krieg). Beide sollten mit
als erste das doppelte Dilemma der deutschen Nationalversammlung zu
spüren bekommen: Die fehlende finanzielle Grundlage und das mangelnde
Durchsetzungsvermögen. Die zunehmende Distanzierung der Regierungen
im Inland zeigte sich beispielsweise bei der fast wirkungslosen Verfügung
des Reichskriegsministers vom 16. Juli, daß sämtliche Truppen dem Reichs-
verweser als „Oberkriegsherrn" huldigen sollten. 1
Die außenpolitisch schwache Position der Nationalversammlung wurde
deutlich, als Preußen, das die Aufnahme Schleswigs in den Deutschen Bund
militärisch sichern sollte, mit Dänemark den Waffenstillstand von Malmö
Schloß (26. August 1848), ohne dabei die von der Nationalversammlung als
Voraussetzung genannten Bedingungen zu berücksichtigen. 2 Diese bewußte
Mißachtung der Frankfurter Zentralgewalt entsprach nicht nur der politi-
schen Generallinie der in diesen Monaten immer stärker an Einfluß gewin-
nenden preußischen Gegenregierung der Kamarilla, sie war auch eine Re-
aktion auf die ersten Erfolge der Gegenrevolution jenseits der preußischen
Grenzen.

1. Erste Erfolge
Die im Sommer 1848 noch dominierende revolutionäre Grundstimmung
erhielt einen ersten massiven Dämpfer durch die aus Böhmen eintreffenden
Nachrichten. Dort war eine im Anschluß an den Prager Slawenkongreß am

1 Vgl. dazu E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,


S. 619 f., 625 — 630 und 650 — 654. „Der Widerstand gegen Peuckers Erlaß war,
richtig gesehen, der Anfang der von den größeren Einzelstaaten ausgehenden
Gegenrevolution" (a. a. O., S. 653).
2 V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31) [213], Bd. 2,
S. 1 4 0 - 1 4 9 .
V. Die Gegenrevolution 263

13. Juni ausbrechende Aufstandsbewegung durch die Truppen des Militär-


befehlshabers Windischgrätz blutig niedergeschlagen worden (13. bis
16. Juni). 3 Diesem ersten Erfolg der Gegenrevolution, dessen zeitliche Pa-
rallelität zum Berliner Zeughaussturm ins Auge fällt, folgte ein zweiter, als
die wegen der angekündigten Schließung der Nationalwerkstätten ausge-
brochene Pariser Junirevolution in erbitterten und verlustreichen Straßen-
schlachten von Armee und Nationalgarde zerschlagen wurde (23. bis 26.
Juni). Die „Junischlacht" wurde von dem mit diktatorischen Vollmachten
ausgestatteten Kriegsminister Cavaignac geleitet; sie kostete mindestens
3.000 Tote und 5.000 Verwundete. Von den mehr als 10.000 Verhafteten
wurden einige Tausend sofort nach Algerien deportiert. 4
Auch in Norditalien gewann die Konterrevolution verlorenes Terrain
zurück: Nach einem ersten Erfolg bei Vicenza (11. Juni) gelang dem öster-
reichischen Feldherrn Radetzky am 25. Juli bei Custozza ein entscheidender
Schlag gegen die piemontesische Armee. Am 6. August besetzten seine
Truppen Mailand, das durch seine Erhebung vom 18. März gegen die
österreichische Herrschaft das Signal zum Aufflammen der italienischen
Unabhängigkeitsbewegung gegeben hatte, an deren Spitze Karl Albert von
Piémont getreten war. Nur Venedig konnte sich gegen die Österreicher noch
ein Jahr behaupten. 5 Die Erfolge in Oberitalien gaben dem Kaiser, der am
12. August nach Wien zurückgekehrt war, die Möglichkeit, sich energischer
der ungarischen Frage zuzuwenden. Die tiefgehenden Spannungen zwischen
den Magyaren und den zahlreichen ethnischen Minderheiten ermunterten
ihn, die den Ungarn im April 1848 zugestandenen Konzessionen zu wider-
rufen und den Führer der kroatischen Nationalbewegung, Joseph v. Jellacic,
mit seinen Truppen als „Banus" (Statthalter) nach Ungarn zu schicken. 6
Inmitten dieser gegenrevolutionären Erfolge in Ost und West, Nord und
Süd schien sich die Frankfurter Nationalversammlung als eine gesicherte
revolutionäre Institution zu empfinden. Sie sah ihre vorrangige Aufgabe

3 Vgl. dazu die beiden neuen Darstellungen von Jörg K. HOENSCH, Geschichte
Böhmens. Von der slawischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München
1987, S. 3 4 2 - 344, und Friedrich PRINZ, Geschichte Böhmens 1848 - 1 9 4 8 , Heim-
stetten 1988, S. 69 ff.
4 Gilbert ZIEBURA, Frankreich von der Großen Revolution bis zum Sturz Napo-
leons III. 1 7 8 9 - 1 8 7 0 , in: Walter Bußmann (Hg.), Handbuch der europäischen
Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 1981, S. 1 8 7 - 3 1 8 , hier S. 288 f. „Mit diesem Sieg
bereitete die französische Bourgeoisie zugleich den Weg für den Triumph der
reaktionären Gewalt in ganz Europa über die nationalen und demokratischen
Bewegungen" (a.a. O., S. 289).
5 Rudolf LILL, Italien im Zeitalter des Risorgimento, in: W. Bußmann (Hg.),
Handbuch... [s.o. Anm. 4], S. 8 2 7 - 8 8 5 , hier S. 8 5 3 f . ; H. LUTZ, Zwischen Habs-
burg und Preußen... (1985) [15], S. 294 - 296. Venedig, „der letzte Herd der
Revolution von 1848" (Adolfo OMODEO, Die Erneuerung Italiens und die Ge-
schichte Europas 1 7 0 0 - 1 9 2 0 , Zürich 1951, S. 523 f.), fiel am 26. August 1849.
Vgl. auch Reinhold SCHUMANN, Geschichte Italiens, Stuttgart 1983, S. 203 ff.
6 V. VALENTIN, G e s c h i c h t e d e r d e u t s c h e n Revolution... (1930/31) [213], Bd. 2,
S. 1 9 4 f f . ; H . LUTZ, Z w i s c h e n H a b s b u r g u n d P r e u ß e n . . . ( 1 9 8 5 ) [ 1 5 ] , S. 2 9 5 f .
264 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

darin, in der am 3. Juli begonnenen Grundrechtsdebatte fortzufahren. Für


die Entfaltung und Sicherung einer naturrechtlich-rechtsstaatlich veranker-
ten politischen Kultur in Deutschland waren die Ergebnisse dieser Debatte
von fundamentaler, bis in die Gegenwart nachwirkender Bedeutung. Aber
bis die „Grundrechte des deutschen Volkes" am 27. Dezember endlich
verkündet werden konnten, war viel wertvolle Zeit verstrichen: Die fakti-
sche Isolierung der Nationalversammlung hatte weiter zugenommen, die
allgemeine politische Lage war grundlegend verändert. 7
Wegen der Malmö-Frage war das Reichskabinett v. Leiningen in eine
Krise geraten. Vor allem der preußische Abgeordnete Dahlmann sparte
nicht mit Kritik an Preußen und der Reichsregierung und setzte einen
Sistierungsbeschluß durch. Als das Kabinett daraufhin zurücktrat, gelang
es Dahlmann jedoch nicht, die „negative Mehrheit" in eine positive zu
verwandeln und eine neue Regierung zu bilden. Da es aber der Versammlung
an jeglichen Mitteln zur Fortführung des Krieges fehlte, setzte sich schließ-
lich die realpolitische Erkenntnis durch, den Waffenstillstand doch aner-
kennen zu müssen (16. September). Dadurch konnte die bisherige Regierung,
jetzt unter der Leitung Schmerlings, der auch das Außen- und das Innen-
ministerium übernahm, erneut ins Amt berufen werden. 8
Die äußerst knappe Mehrheit von 2 5 7 : 2 3 6 Stimmen 9 trieb die unterlegene
radikale Partei und ihre Anhänger zu dem Versuch, von der politischen
Schlüsselstelle Westdeutschlands aus die Zweite Revolution einzuleiten. Die
Kundgebungen und Protestdemonstrationen, die am 16. und 17. September
in Frankfurt stattfanden, weiteten sich am 18. September zum September-
aufstand aus. Die erregte Volksmasse denunzierte die 257 Abgeordneten als
„Verräter am deutschen Volk" und wollte ihnen die Mandate aberkennen.
Zwei von ihnen, Fürst Felix Lichnowsky und Generalmajor Hans v. Au-
erswald, beide aus Preußen, wurden am 18. September ergriffen und er-
mordet, als sich die aus der Bundesfestung Mainz zum Schutz der Natio-
nalversammlung herbeigerufenen preußischen und österreichischen Truppen
bereits in der Stadt befanden. Mehr als tausend Barrikadenkämpfer, die
sich in der Altstadt verschanzt hatten, leisteten den von hessischer Artillerie
unterstützten Truppen erbitterten, letztlich aber erfolglosen Widerstand.
Am Abend des 18. September war die Niederlage der Aufständischen perfekt

7 Vgl. E . R . H U B E R , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 2 , §57,
S. 774 — 783: „Der Kampf um die Freiheit".
8 V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31) [213], Bd. 2,
S. 1 4 9 - 1 5 7 ; E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 2, S. 6 7 4 - 6 8 1 . Daß der 16. September „der schwarze Tag des Frankfurter
Parlaments" gewesen sein soll (Valentin), bestreitet Huber, der dieses Epitheton
eher dem 5. September beilegen möchte (a. a. O., S. 681).
9 Der Antrag auf "Weiterführung des Krieges wurde mit 2 5 8 : 2 3 7 Stimmen abge-
lehnt, der Antrag auf Billigung des Waffenstillstandes mit 2 5 7 : 2 3 6 Stimmen
angenommen.
V. Die Gegenrevolution 265

und die Nationalversammlung gerettet — um den Preis von 80 Toten und


der moralischen Belastung, mit den alten Mächten paktiert zu haben. 1 0
Mit den Frankfurter Ereignissen stand die deutsche Revolution an einem
Wendepunkt. Die Polarisierung der im März verbündeten Gruppierungen
hatte zu unübersehbaren Spannungen geführt; die Hinwendung der radi-
kalen Partei zu Gewalt, Terror und Mord trieb die bürgerliche Mitte an
die Seite der konservativen Kräfte. Vor allem durch den Abgeordnetenmord
war die radikale Linke in einer Weise moralisch diskreditiert, daß sie als
politische Alternative praktisch ausgespielt hatte. Daran änderte auch der
zweite badische Aufstand nichts mehr (21. bis 25. September). 11 Gleichzeitig
wurde immer deutlicher, daß die Nationalversammlung den Wettlauf mit
den unter konservativen Vorzeichen wieder erstarkenden deutschen Groß-
mächten zu verlieren begann.

2. Der preußische Staatsstreich

Seit dem Sommer 1848 gewannen die Ultrakonservativen, die sich nach
ihrem Publikationsorgan die „Kreuzzeitungspartei" nannten, zunehmend an
Einfluß. 12 In enger Verbindung zu den Brüdern Gerlach, dem jungen Bis-
marck und anderen Konservativen wie Kleist-Retzow, Stahl, Wagener und
Leo stand auch das Haupt der preußischen Militärpartei, der Chef des
Allgemeinen Kriegsdepartements, Gustav v. Griesheim. Er agierte im Kriegs-
ministerium als Graue Eminenz und war Verfasser mehrerer anonymer
Schriften, darunter „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" (Ende No-
vember 1848). Von den radikalen Demokraten wurde er als „preußischer
Cavaignac" bezeichnet. 13

10 Vgl. dazu V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31) [213],


Bd. 2, S. 158 —166. Während das Militär 6 2 Tote und Verwundete zu beklagen
hatte, gab es unter der Zivilbevölkerung 33 Tote und 132 Verwundete.
11 A. a. O . , S. 175 - 1 7 8 . Vgl. zum „Struveputsch" auch Willy REAL, Die Revolution
in Baden 1848/49, Stuttgart 1983, S. 8 8 - 9 5 .
12 Die führenden Köpfe dieser Gruppierung gehörten zu dem einflußreichen Zirkel
der „Kamarilla" (s.o. S. 2 0 3 f . ) . N a c h Hans-Christof KRAUS, Das preußische
Königtum und Friedrich Wilhelm IV. aus der Sicht Ernst Ludwig von Gerlachs,
in: O t t o Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines Col-
loquiums ( = EvHKzB, Bd. 62), Berlin 1987, S. 4 8 - 9 3 , hier S. 71 f., hat man ihre
politische Bedeutung lange „weit überschätzt": als eine „Nebenregierung" fun-
gierte die Kamarilla allenfalls in der ersten Oktoberhälfte 1848, als sie die
Berufung des Grafen Brandenburg durchsetzte. Vgl. dagegen Günther GRÜNTHAL,
Bemerkungen zur Kamarilla Friedrich Wilhelms IV. im nachmärzlichen Preußen,
in: O t t o Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines Col-
loquiums ( = EvHKzB, Bd. 62), Berlin 1987, S. 3 9 - 4 7 , hier S. 4 1 , der den 30. III.
als den Tag ansieht, an dem „aus der Nebenregierung des Vormärz ... eine
Gegenregierung" wurde.
13 Vgl. E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,
S. 7 3 2 f. Auch die Bezeichnung „Berliner Cavaignac" findet sich (a. a. O., S. 654).
266 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

Ein anderes Sammelbecken konservativer Kreise war der im Juli 1848


von Ernst v. Biilow-Cummerow gegründete „Verein zum Schutze des Eigen-
tums (seit August: zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes) und zur
Förderung des Wohlstandes aller Klassen des Volkes". Zu den Mitgliedern
gehörten v. Bodelschwingh, v. Arnim-Boitzenburg und auch Bismarck; erster
Präsident wurde Kleist-Retzow. Hinter dem wohlklingenden Namen verbarg
sich eine handfeste Interessenvertretung der Großgrundbesitzer, die vor
allem den Finanzminister Hansemann attackierte, der mit der Steuerfreiheit
der Rittergutsbesitzer aufräumen wollte. 1 4 Vom 18. bis 20. August hielten
die Konservativen „über ihre neue Kampfgruppe ... in Berlin eine Heerschau
ab" (Kaeber) — das sogenannte Junkerparlament. Als „elegante, mit Stul-
penstiefeln und Reitpeitschen auftretende Aristokraten" tagten sie im vor-
nehmen Hotel Mielentz, beschimpften das „Krämer-Ministerium" in übel-
ster Weise und sahen sich nach Bundesgenossen um. Sie fanden sie im
politischen Katholizismus, nicht aber, wie man in seltsamer Verkennung
der Interessenlage zunächst gehofft hatte, bei den Arbeitern. 15
Die Unterminierung des verfassungsrechtlichen Bodens, auf dem sich
Ministerium und Nationalversammlung bewegten, vollzog sich schrittweise.
Dabei profitierten die reaktionären Kräfte von der Tatsache, daß auch in
Berlin der Graben zwischen Radikalen und Gemäßigten immer breiter
wurde. Es bedurfte im Grunde nur einiger Geduld und ein wenig Nachhilfe,
um in absehbarer Zeit die konservative Ernte einbringen zu können.
Das erwies sich bereits beim Schicksal der Regierung Auerswald-Hanse-
mann. Sie stürzte, weil sie sich weigerte, den am 9. August beschlossenen
„Antrag Stein" auszuführen, demzufolge das Offizierskorps nicht nur „allen
reaktionären Bestrebungen fernbleiben", sondern auch „an der Verwirkli-
chung eines konstitutionellen Rechtszustandes mitarbeiten" sollte.
Der König, der seine Rechte als oberster Kriegsherr angegriffen sah, der
Hof, die Militärführung und alle Konservativen waren empört; als das
Ministerium diese Position übernahm und einen solchen Erlaß als mit dem
Geist und Wesen der Armee unvereinbar charakterisierte, vollzog es den
Bruch mit der Parlamentsmehrheit (2. September). 16

14 Vgl. dazu Francis L. CARSTEN, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt/M.


1988, S. 107 - 1 0 9 ; E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 2, S. 683 f.
15 E . KAEBER, B e r l i n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 4 8 ) [ 2 0 6 ] , S. 1 8 2 f . ; F . L . CARSTEN, Geschichte...
(1988) [s. o. Anm. 14], S. 109 f.; Adolf STRECKFUSS, 5 0 0 Jahre Berliner Geschichte.
Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Geschichte und Sage, Berlin 3 1880, S. 1123.
16 Abdruck des Antrages Stein ( = Anti-Reaktions-Beschluß), der ministeriellen Er-
widerung (2. IX.) und des Vollzugsbeschlusses der Nationalversammlung (7. IX.):
E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 1 6 0 - 1 6 2 , S. 457 - 459. Der
Rücktritt des Kabinetts erfolgte am 8. IX. Zu der starken Anteilnahme der
Öffentlichkeit an diesen Debatten vgl. A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Ge-
schichte... ( 3 1880) [s.o. Anm. 15], S. 1 1 2 8 - 1 1 3 1 , und E. KAEBER, Berlin 1848...
(1948) [206], S. 187 f.
V. Die Gegenrevolution 267

Obwohl Friedrich Wilhelm IV. den von ihm selbst ausgearbeiteten Staats-
streichplan am 11. September schriftlich niedergelegt hatte, 17 hielt er die
Zeit für seine Realisierung noch nicht gekommen. „Nach dem Rat seines
klugen Freundes... Radowitz wartete er ab und spielte den konstitutionellen
Herrscher" weiter: Das von ihm am 21. September berufene Ministerium
Pfuel war ein Übergangskabinett, das unter einem General nur noch Beamte
und keine Abgeordneten mehr umfaßte. Langfristig bedeutsamer war, daß
der König schon am 13. September den General Wrangel zum Oberkom-
mandierenden in den Marken ernannt hatte. 1 8
Pfuel, „der letzte große Repräsentant der preußischen Reformzeit", kam
der Nationalversammlung durch seinen „Anti-Reaktions-Erlaß" vom
23. September 1848 weit entgegen. Die höheren Kommandostellen der Ar-
mee wurden angewiesen, reaktionären Bestrebungen in der Truppe „ent-
schieden entgegenzutreten"; antikonstitutionelle Bestrebungen seien mit
dem zu erwartenden Verfassungseid, aber auch mit der Stellung eines
Offiziers nicht zu vereinbaren. Es müsse sich die Überzeugung ausbreiten,
„daß die... freie Entwicklung des konstitutionellen Staates von der vater-
ländischen Kriegsmacht nicht bedroht, sondern beschützt wird". 1 9
Pfuels Erlaß, der von der konservativen Fronde, insbesondere der Mili-
tärpartei, heftig kritisiert wurde, war das äußerste Zugeständnis, das die
zur Verständigung bereiten Kräfte im Herbst 1848 dem König noch abringen
konnten. 2 0 Dies nicht erkannt zu haben, wurde der entscheidende Fehler
der Radikalen in der Nationalversammlung. Sie sahen in dem Entgegen-
kommen Pfuels ein Zeichen der Schwäche und schraubten ihre Forderungen
höher und höher. Da sie dabei rasch über die Grenzen des politisch Zu-
mutbaren hinausgingen und somit eine scharfe Gegenattacke der Vertreter
der konservativen Ordnung geradezu provozierten, wurden die radikalen
Demokraten wie in Frankfurt so auch in Berlin zu den eigentlichen Toten-
gräbern der Revolution. Das Opfer, das sie bestatteten, war freilich längst,
aus vielen Wunden blutend, verschieden.
Betrachtet man die seit dem Sommer 1848 gefaßten Beschlüsse der preu-
ßischen Nationalversammlung, wird die ihnen innewohnende Brisanz deut-
lich: 21

17 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 163, S. 459f. Zur
Problematisierung dieses „Kampfprogramms" vgl. G. GRÜNTHAL, Bemerkungen
zur K a m a r i l l a . . . ( 1 9 8 7 ) [ s . o . A n m . 1 2 ) , S. 4 2 ; M . BOTZENHART, D e u t s c h e r P a r -
l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 7 7 ) [ 2 2 4 ] , S. 5 3 2 f.
18 A.a. O., S. 534f.; E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 2, S. 739 - 742. Die Kabinettsliste: Siehe unten S. 290.
19 Abdruck: Ders. (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 166, S. 463f.
20 Das Ministerium Pfuel saß bald zwischen allen Stühlen; es „hat praktisch seit
dem Tag seiner Einsetzung mit dem Abschiedsgesuch in der Tasche regiert"
( M . BOTZENHART, D e u t s c h e r P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 7 7 ) [ 2 2 4 ] , S. 5 4 3 ) .
21 Vgl. z u r V e r f a s s u n g s d e b a t t e M . BOTZENHART, a . a . O . , S. 5 3 4 - 5 3 7 und 541-
544; knappe Zusammenfassung: E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 2 , S. 7 4 2 - 7 4 6 .
268 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

4. 8. Abschaffung der Todesstrafe (Ausnahmen: Krieg, Belage-


rungszustand);
24. 9. Habeas-Corpus-Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit
gegenüber Polizei und Justiz;
12. 10. Streichung des Zusatzes „von Gottes Gnaden" im Titel des
Königs (217:134 Stimmen);
17. 10. Bürgerwehrgesetz: Erhebung der milizartigen Volksverbände
zur staatlichen Institution; Abschaffung der „fliegenden",
unkontrollierbaren Wehrverbände (233 :116 Stimmen);
31. 10. a) Aufhebung des Jagdrechts der Gutsherren auf fremdem
Grund und Boden ohne Entschädigung;
b) Abschaffung des Adels (200:153 Stimmen);
c) Verbot des Gebrauchs adliger Titel und Prädikate in öf-
fentlichen Urkunden (208 :115 Stimmen);
d) Aufhebung aller Titel, die kein Amt bezeichnen, z.B.
„Geheimrat" (fast einstimmig);
e) Verbot sämtlicher Orden und Auszeichnungen (196:140
Stimmen).

Noch bevor diese Beschlüsse gefaßt wurden, hatte der König dem Mi-
nisterpräsidenten erklärt, daß er die Verfassung, so wie sie als „Charte
Waldeck" vorlag, „niemals und unter keiner Bedingung annehmen" würde.
Da Pfuel ganz anderer Meinung war, reichte er sein erstes Rücktrittsgesuch
ein, dem der König aber nicht stattgab (7. Oktober). In den folgenden
Tagen wurden die hitzigen Debatten in der Nationalversammlung, die im
September von der Singakademie ins Schauspielhaus am Gendarmenmarkt
übergesiedelt war, von wachsenden Straßenunruhen begleitet. Den schwer-
sten Zwischenfall gab es am 16. Oktober, als sich eine Gruppe von Kanal-
arbeitern, die einen Sabotageakt begangen hatten, gegen die folgenden
Repressionsmaßnahmen zur Wehr setzten und Barrikaden errichteten. Der
Sturm der Bürgerwehr auf die Barrikaden kostete elf Arbeitern und einem
Bürgerwehrmann das Leben. 2 2
Als der König diese Auseinandersetzung zum Anlaß nahm, von Pfuel die
Verhängung des Belagerungszustandes zu verlangen, reichte der Minister-
präsident sein zweites Rücktrittsgesuch ein, weil er darin das Ende seiner
Ausgleichsbemühungen sehen mußte (16. Oktober). Der König nahm die
Demission im Prinzip an, griff aber auf die schon im Frühjahr 1842 geübte
Praxis zurück und bat Pfuel, im Amt zu bleiben und seinen Rücktritt
geheimzuhalten, damit die Öffentlichkeit nicht noch weiter erregt werde.
Im Grunde befand sich die preußische Hauptstadt seit den Sommermo-
naten in einem Zustand permanenter Unruhe. Fast täglich kam es zu
Zusammenstößen von demonstrierenden Gruppen mit den Ordnungskräf-

22 G. RICHTER, Zwischen Revolution und Reichsgründung... ( 2 1988) [209], S. 634.


Zur dadurch verschärften Kabinettskrise vgl. E . R . HUBER (Hg.), Dokumente...
( 3 1978) [50], Nr. 1 6 9 - 1 7 8 , S. 467 - 475.
V. Die Gegenrevolution 269

ten. Oft gab es Verletzte, wie beispielsweise bei den Ausschreitungen am


21. August, als die Häuser dreier Minister Objekte des Volkszorns wurden.
Eskalierend wirkte bei diesen fortgesetzten Konfrontationen die durch
Kabinettsorder vom 23. Juni genehmigte und nach dem Vorbild der Lon-
doner „Constables" eingerichtete Berliner Polizeitruppe. Sie wurde aus der
Staatskasse finanziert und unterstand dem Polizeipräsidenten, nicht dem
Magistrat. Die 2.000 „Schutzmänner", darunter 40 zu Pferde, trugen blaue
Uniformjacken, Säbel und schwarze Hüte mit Dienstnummern. Sie ver-
scherzten sich aber rasch alle Sympathien, weil sie einen Polizeieifer ent-
wickelten, der den der alten Gendarmen noch übertraf. Die Berliner nannten
sie „privilegierte Bummler", die die Stadt, nach dem Urteil Varnhagens, in
ein Zuchthaus verwandelten. 23
Eskalierend wirkte außerdem der vom 26. bis 30. Oktober tagende Zweite
Demokratische Kongreß, bei dem 230 Delegierte aus 140 Städten zusam-
mentrafen, die in einer „Proklamation an das deutsche Volk" die Regierung
aufforderten, die bedrohte Wiener Revolution zu unterstützen. Weit weniger
Aufsehen erregte dagegen das am 27./28. Oktober in Berlin tagende, gegen
die durch den Septemberaufstand kompromittierte Paulskirchenversamm-
lung gerichtete „Gegenparlament", zu dem aber nur acht auswärtige De-
legierte erschienen. 24
Am 30. und 31. Oktober nahmen die Straßenunruhen tumultuarische
Ausmaße an; das Tagungsgebäude der Nationalversammlung war förmlich
belagert. Beim Zusammenstoß von Maschinenbauarbeitern, die eigentlich
vermitteln wollten, mit der Bürgerwehr gab es einen Toten und mehrere
Verletzte — Grund genug für den König, mit den bisherigen Heimlichkeiten
Schluß zu machen: General Graf Brandenburg, der den Auftrag zur Kabi-
nettsbildung bereits seit dem 27. Oktober in der Tasche hatte, teilte der
Nationalversammlung am 1. November die neue Sachlage mit. Da der
Personenwechsel gleichzeitig einen generellen Kurswechsel der Regierung
ankündigte, verabschiedete die Nationalversammlung am 2. November eine
Mißtrauensadresse, die eine Deputation von 25 Abgeordneten unter Leitung
des Präsidenten v. Unruh dem König mündlich vortragen sollte. Als Friedrich
Wilhelm sich weigerte, von der Deputation „über die wahre Lage des
Landes" unterrichtet zu werden, fiel das berühmte, in seiner Kühnheit selbst
seine Kollegen erschreckende Wort Jacobys: „Das ist eben das Unglück der
Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen." 2 5
Der König wies die Adresse am 3. November indirekt zurück, erklärte
aber dabei, daß er fest entschlossen sei, „den von Uns in Übereinstimmung
mit den Wünschen Unseres getreuen Volkes betretenen konstitutionellen
Weg unverrückt zu verfolgen". 26 Nach dieser blumigen Zusage votierte die

23 E. KAEBER, Berlin 1 8 4 8 . . . (1948) [206], S. 176.


24 A . a . O . , S. 1 9 5 f . ; A. STRECKFUSS, 5 0 0 Jahre Berliner Geschichte... ( 3 1880) [s.o.
Anm. 15], S. 1151 f.
25 A . a . O . , S. 1 1 5 3 - 1 1 6 0 .
26 Abdruck der königlichen Antwort: A . a . O . , S. 1 1 6 0 f . Friedrich Wilhelm teilte
bei dieser Gelegenheit mit, daß er den Grafen Brandenburg mit der Bildung einer
neuen Regierung beauftragt habe.
270 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

Mehrheit der Versammlung gegen eine von den Demokraten vorgeschlagene


Sonderkommisssion zur Erarbeitung geeigneter Vorschläge (247:110 Stim-
men) und widmete sich in den folgenden Tagen mit Eifer ihrer gewohnten
gesetzgeberischen Tätigkeit — ganz so, als ob es keinen Konflikt mit der
Krone gäbe.
Obwohl hinter den Kulissen intensiv an der Regierungsbildung und am
Operationsplan der konservativen Fronde gearbeitet wurde, verliefen die
folgenden Tage in Berlin äußerlich ruhig. Adolph Streckfuß, engagierter
linksliberaler Abgeordneter der Nationalversammlung und Vorsitzender des
demokratischen Kreisausschusses der Mark Brandenburg, berichtet aus
diesen Tagen lediglich von dem glanzvollen Fackelzug, den die Berliner dem
mutigen Jacoby am 5. November darbrachten. Allerdings fügte er hinzu:
„Die Hauptbeschäftigung vieler Berliner in jener verhängnisvollen Woche
war, Kugeln zu gießen und Patronen zu machen." 2 7
Am Abend des 8. November waren die Vorbereitungen zum Staatsstreich
abgeschlossen. Der Kampfplan sah eine schrittweise Realisierung vor. Der
Veröffentlichung der neuen Ministerliste folgte am 9. November die Mit-
teilung des Grafen Brandenburg im Schauspielhaus, daß die Nationalver-
sammlung wegen der „nicht selten wiederkehrenden anarchischen Bewegun-
gen in ... Berlin" zu ihrer eigenen Sicherheit nach Brandenburg an der
Havel verlegt und auf den 27. November vertagt sei. Zusammen mit dem
Ministerpräsidenten verließen 77 konservative Abgeordnete die Versamm-
lung, die anschließend die königliche Anordnung für ungesetzlich erklärte
( 2 5 2 : 3 0 Stimmen) und ihre Arbeit am Nachmittag und am Vormittag des
10. November fortsetzte. 28 Sie stand dabei unter dem Schutz der Bürger-
wehr, die der Aufforderung des Polizeipräsidenten, das Schauspielhaus
räumen zu lassen, nicht nachgekommen war.
Als die längst um Berlin zusammengezogenen Truppen des Generals
Wrangel am Nachmittag des 10. November in die Stadt einrückten, be-
schränkte sich die Bürgerwehr allerdings auf passiven Widerstand. Den
Hinweis, daß sie nur der Gewalt weiche, beantwortete v. Wrangel mit der
Bemerkung, daß die Gewalt nun da sei. Ebenfalls unter ausdrücklichem
Hinweis darauf, daß man nur der militärischen Gewalt weiche, verließen
die Abgeordneten der Nationalversammlung das umstellte Schauspielhaus.
Als sie am nächsten Morgen, eskortiert von einer riesigen Menschenmenge,
zurückkehrten, fanden sie das Gebäude verschlossen. Der Präsident verlegte
die Versammlung daraufhin in das Hôtel de Russie, wo sich 242 Mitglieder
einfanden. Am Nachmittag traf man sich erneut, diesmal im Schützenhaus. 29
Inzwischen holte die Staatsgewalt zum nächsten Schlag aus und löste die
Berliner Bürgerwehr auf (11. November). Energische Proteste der Natio-
nalversammlung waren die Folge, die sich jedoch vollends ins politische

27 A . a . O . , S. 1162.
28 Abdruck beider Texte: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 179
und 180, S. 4 7 6 f. Die neue Ministerliste siehe unten S. 291.
29 Beste Darstellung aus der Sicht eines beteiligten Zeitgenossen: A. STRECKFUSS,
5 0 0 Jahre Berliner Geschichte... ( 3 1880) [s.o. Anm. 15], S. 1 1 6 2 - 1 1 7 5 .
V. Die Gegenrevolution 271

Abseits manövrierte, als sie noch am 11. November einen Steuerverweige-


rungsantrag diskutierte und zur weiteren Beratung an eine Kommission
überwies. In der Nacht zum 12. November stand Berlin kurz vor einer
zweiten Revolution; jedermann erwartete eine Explosion der seit Wochen
angestauten Spannungen, aber — anders als am 18. März — gab es diesmal
keinen zündenden Funken.
Einer wiederum für seine Politik werbenden Proklamation des Königs
vom 11. November folgte am nächsten Tag die Erklärung des Belagerungs-
zustandes für Berlin. Gleichzeitig erließ Wrangel eine Proklamation, die in
zwölf Punkten detaillierte Verhaltensrichtlinien enthielt (Schließung aller
politischen Klubs und Vereine, Verbot von Versammlungen mit mehr als
20, nachts mehr als 10 Personen, Polizeistunde ab 22.00 Uhr, Druck und
Vertrieb sämtlicher Schriften nur mit Polizeigenehmigung u. a.). 3 0
Am Abend traten 202 Abgeordnete der Nationalversammlung im Schüt-
zenhaus zusammen. Sie verurteilten die Erklärung des Belagerungszustandes
als „eine ungesetzliche Maßnahme", aber man spürte, daß die Zeit an der
Versammlung vorbeizulaufen begann: Nur noch knapp erreichte man die
Beschlußfähigkeit. Obwohl die Nationalversammlung bis nach Mitternacht
tagte, griff das Militär nicht ein. Auch am folgenden Tag blieb sie zunächst
unbehelligt, erklärte die bisherigen Maßnahmen des Ministeriums gemäß
dem Allgemeinen Landrecht, Teil 2, Titel 20, § 92, für Hochverrat, da sie
„auf eine gewaltsame Umwälzung der Verfassung" abzielten, hielt aber
prinzipiell an ihrer Politik des gewaltlosen Widerstands fest. Am Nachmit-
tag, als die Sitzung bereits geschlossen war, erschien Militär und drängte
die noch anwesenden Mitglieder der „gewesenen" Nationalversammlung
aus dem Schützenhaus.
Am 14. November wurde über die Stadt, obwohl es im Vergleich zu den
Vorwochen außerordentlich ruhig zuging, das Kriegsrecht verhängt. Die am
gleichen Tag beginnenden „Wanderungen der Nationalversammlung"
(Streckfuß) von einem behelfsmäßigen Versammlungslokal zum andern
endeten am 15. November abends im Hotel Mielentz. Bereits von Militär
umstellt, das den Saal räumen lassen wollte, rang sich die Nationalver-
sammlung, die in den letzten Tagen nur papierne Proteste produziert hatte,
zu einem wahrhaft revolutionären Beschluß durch. Offenbar durch die
Zusage bewogen, daß der Saal anschließend verlassen werde, hatten sich
die Soldaten noch einmal zurückgezogen, so daß die Abstimmung nicht „in
Gegenwart der Bajonette" stattfand. Der Antrag lautete, „daß das Ministe-
rium Brandenburg nicht berechtigt sei, über die Staatsgelder zu verfügen
und die Steuern zu erheben, solange die Nationalversammlung nicht un-
gestört in Berlin ihre Beratungen fortzusetzen vermag und tritt dieser
Beschluß mit Ablauf des 17. November 1848 in Kraft und Wirksamkeit." 3 1

30 Abdruck: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 181, S. 477f.;


W. GRAB (Hg.), Die Revolution von 1848... (1980) [197], Nr. 90, S. 201 f.
31 Abdruck: A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte... ( 3 1880) [s. o. Anm. 15],
S. 1188. Bei der Abstimmung erhoben sich, zum Zeichen der Zustimmung,
„sämtliche Mitglieder" von ihren Plätzen. Zu Beginn der Sitzung hatte man die
Anwesenheit von 226 Abgeordneten festgestellt.
272 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

Dieser „Steuerverweigerungsbeschluß" war der vielumjubelte Schwanen-


gesang der Nationalversammlung. 32 Er klang sehr eindrucksvoll, war aber
praktisch wirkungslos und hatte politische Folgen, mit denen die Abgeord-
neten wohl kaum gerechnet hatten. Daß der Beschluß eigentlich ins Leere
ging, lag am damaligen preußischen Steuersystem, in dem die breite Masse,
in der man vielleicht noch ein revolutionäres Potential zu entzünden hoffen
konnte, gar keine direkten Staatssteuern zahlte und, speziell in Berlin, zu
einem erheblichen Teil wegen Armut auch von der Zahlung der kommu-
nalen Haus- und Mietsteuer befreit war. Die wirklich Steuerpflichtigen
gehörten vielmehr meist zu den wohlhabenderen Schichten, die gegenüber
radikalen Bewegungen eher mißtrauisch waren. Deshalb ist auch die Frank-
furter Nationalversammlung diesem Berliner Beschluß entgegengetreten. Sie
hielt zwar an ihrer Forderung vom 14. November fest, das Kabinett Bran-
denburg durch ein anderes zu ersetzen und die Verlegung der Nationalver-
sammlung nach Brandenburg zurückzunehmen, erklärte aber mehrheitlich
( 2 7 5 : 1 5 0 Stimmen) „den auf Suspension der Steuererhebung gerichteten,
offenbar rechtswidrigen, die Staatsgesellschaft gefährdenden Beschluß ...
ausdrücklich für null und nichtig" (20. November). 3 3
Der preußischen Regierung gab der Steuerverweigerungsbeschluß, mit
der sich die Nationalversammlung in die Zone der Illegalität begab, einen
willkommenen Vorwand, ihre Repressionspolitik zu verschärfen. In der
Verfassungswirklichkeit war der Staatsstreich am Abend des 15. November
bereits gelungen: „Die preußische Nationalversammlung war geschlagen,
noch bevor sie der Auflösung verfiel" (Huber).

3. Die oktroyierte Verfassung

In der richtigen Erkenntnis, daß nach dem Triumph der Gegenrevolution


in Wien Preußen die Schlüsselposition über Wohl und Wehe der deutschen
Revolution zugefallen war, unternahm die Frankfurter Nationalversamm-
lung mehrere Versuche, auf die preußische Entwicklung Einfluß zu nehmen.
Da Friedrich Wilhelms Entschluß zur Konfrontation längst feststand, kamen
sie sämtlich zu spät. Die Mission Friedrich Bassermanns, der erneut mit
der deutschen Kaiserkrone winkte, die erwähnten Frankfurter Beschlüsse
vom 14. und 20. November, der Aufruf des Reichsverwesers vom
21. November, die Entsendung der Reichskommissare Simson und Hergen-
hahn sowie schließlich der letzte Schlichtungsversuch durch den Parla-

32 Mit M . BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 545, sollte


man besser von einem „Aufruf zum Steuerboykott" sprechen, dem zu folgen
jedem steuerzahlenden Bürger überlassen blieb. Mit diesem Beschluß beendet
Streckfuß seine überaus materialreiche und lebendige Darstellung der Revolution
in Berlin, weil die folgenden Ereignisse bereits der „Geschichte der Reaktion"
zuzurechnen sind.
33 Abdruck beider Beschlüsse: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50],
Nr. 183 und 184, S. 4 7 9 .
V. Die Gegenrevolution 273

mentspräsidenten Heinrich ν. Gagern zeigen, wie hoch man in Frankfurt


die Dringlichkeit einer konstitutionellen Lösung des preußischen Verfas-
sungskonflikts einschätzte. 34 Ungeachtet dieser Versuche, die auf wenige
Wochen konzentriert waren, schritt die preußische Staatsstreichpartei auf
ihrem geplanten Weg unbeeindruckt weiter.
Die am 27. November in Brandenburg wiedereröffnete Nationalversamm-
lung bot ein trauriges Schauspiel. Nur 154 Abgeordnete waren erschienen,
da die fortschrittlichen Kräfte eine Obstruktionspolitik befürworteten. Erst
am 1. Dezember war die Beschlußfähigkeit erreicht. Da sich aber die linken
von den rechten Abgeordneten überstimmt sahen, verließen sie zum Teil
die Sitzung. Das dadurch erneut beschlußunfähig werdende Rumpfparla-
ment von 172 Abgeordneten vertagte sich dennoch auf den 7. Dezember,
wobei es mehr Enthaltungen als Ja-Stimmen gab. Friedrich Wilhelm machte
dem Hin und Her ein Ende und verfügte am 5. Dezember 1848 die Auflösung
der Nationalversammlung. Damit war der Staatsstreich auch rechtlich per-
fekt, denn ein Recht, die Nationalversammlung aufzulösen, besaß der König
nicht. 35
Da der Partner für die an sich vorgesehene „Vereinbarung" einer Verfas-
sung nun weggefallen war, erließ der König sie aus eigener Machtvollkom-
menheit, er „oktroyierte" sie (siehe Abbildung 3 auf S. 274).
Bei diesem Schritt setzte sich der König über diejenigen konservativen
Kreise hinweg, die gar keine Verfassung wollten. Man legte der „Verfas-
sungs-Urkunde für den preußischen Staat" sogar die erbittert bekämpfte
„Charte Waldeck" zugrunde, allerdings mit rund 40 gravierenden Änderun-
gen, die der Festigung der monarchischen Position dienten (absolutes Ve-
torecht und Notverordnungsrecht des Königs, Beseitigung der Volkswehr,
Beseitigung der Offizierswahl bei der Landwehr u. a.). Die noch vorhandene
Unsicherheit im Umgang mit der neuen, 112 Artikel enthaltenden Verfassung
wird dadurch unterstrichen, daß sie durch die beiden gemäß dem Verfas-
sungs-Titel V zu errichtenden Kammern „sofort nach dem ersten Zusam-
mentritt ... einer Revision ... unterworfen werden" sollte (Artikel 112). Die
beiden im Januar/Februar zu wählenden Kammern wurden sogleich zum
26. Februar 1849 nach Berlin einberufen; das Wahlverfahren regelten zwei
ebenfalls oktroyierte Gesetze vom 6. Dezember. Während das aktive Wahl-
recht für die Erste Kammer (180 Mitglieder) ein gewisses Vermögen vor-
aussetzte, galt für die Zweite Kammer (350 Mitglieder) das allgemeine und
gleiche Wahlrecht aller „Selbständigen". Dieser demokratische Zug erklärt,
warum in der Zweiten Kammer viele Abgeordnete der Nationalversamm-
lung erneut auftauchten. Entsprechend hitzig waren die Debatten, entspre-
chend auflehnend die Beschlüsse. Man stellte die Anerkennung der oktroy-
ierten Verfassung in Frage, kritisierte das vom König ausgiebig gehandhabte

34
Vgl. dazu M. BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 547
u n d 5 5 5 - 5 6 5 ; E. R . HUBER, D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . (1957/60) [49],
Bd. 2, S. 756 - 761.
35
A . A . O . , S. 7 6 2 f . ; M . BOTZENHART, D e u t s c h e r P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 7 7 ) [ 2 2 4 ] ,
S. 5 4 8 - 5 5 1 .
274 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)
V. Die Gegenrevolution 275

Notverordnungsrecht und erkannte am 21. April 1849 die in Frankfurt


beschlossene Reichsverfassung als rechtsgültig an. 3 6
Der König reagierte auf dreifache Weise: Er vertagte die Erste Kammer
(27. April), löste die renitente Zweite Kammer auf (27. April) und erließ
speziell für dieses Gremium besondere Wahlbestimmungen, nämlich das
berühmt-berüchtigte Drei-Klassen-Wahlrecht, das bis zum Herbst 1918 das
innenpolitische Klima Preußens erheblich belasten sollte (30. Mai). 3 7
Dieses Wahlrecht teilte die Bevölkerung nach der direkten Steuerleistung
in drei Klassen ein, die jeweils ein Drittel der Wahlmänner stellten. Die
wenigen Höchstbesteuerten der 1. Klasse wählten ebenso viele Delegierte
wie die Masse der schwächsten Steuerzahler in der 3. Klasse. Tatsächlich
erwies sich das Drei-Klassen-Wahlrecht als geeignetes Mittel, der Regierung
eine gefügige Kammermehrheit zu verschaffen — dies um so mehr, als die
Demokraten aus Protest gegen das oktroyierte Wahlrecht am 11. Juni 1849
einen Wahlboykott beschlossen hatten. So bildeten in der für die Reaktions-
zeit charakteristischen „Landratskammer" die gemäßigten Liberalen nur
eine schwache Minderheit gegenüber einer vornehmlich aus Landräten
bestehenden konservativen Mehrheit.
1850 ist das Drei-Klassen-Wahlrecht in die preußische Gemeindeordnung
und von dort in die neue Städteordnung von 1853 übernommen worden,
die auch in Berlin Anwendung fanden. Von den nur 21.000 Wahlberechtigten
des Jahres 1850 entfielen auf die drei Klassen 1.600 (I), 5.400 (II) und 14.000
(III) Urwähler. 38
Die ersten Wahlen für die Zweite Kammer nach dem neuen Wahlrecht
fanden am 17. Juli 1849 statt. Zur ersten Klasse gehörten 4,7 Prozent der
Wahlberechtigten, zur zweiten 12,6 Prozent und zur dritten 82,7 Prozent.
Die Wahlbeteiligung lag bei 55,5/44,7/28,6 Prozent. Die Eröffnungssitzung
für beide Kammern fand am 7. August statt. 3 9

16 Grundlegend: G. GRÜNTHAL, Parlamentarismus in Preußen... (1982) [239], T. 1/1,


S. 27 — 65. Zur Kritik an der Interpretation von Artikel 105 (Notverordnungs-
recht) durch Huber vgl. a. a. O., S. 53 — 65; zur Einschätzung der Verfassung und
der Wahlgesetze a. a. O., S. 4 8 - 5 1 ; auch M. BOTZENHART, Deutscher Parlamen-
tarismus... (1977) [224], S. 551—554. Ergänzend: G. GRÜNTHAL, Zwischen König,
Kabinett und Kamarilla... (1983) [240], S. 1 1 9 - 1 7 4 . Zur parlamentarischen
Arbeit im Frühjahr 1849 vgl. die ebenfalls grundlegenden Ausführungen von
M. BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 606 - 630.
Knapper: E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,
S. 763 — 766. Abdruck der Verfassung und der Wahlgesetze: Ders. (Hg.), Doku-
mente... ( 3 1978) [50], Nr. 1 8 8 - 1 9 1 , S. 484 - 496.
37 Abdruck der Verordnungen vom 27. IV. und 30. V.: A. a. O., Nr. 192 und 193,
S. 497 - 500. Zum Wahlrecht: G. GRÜNTHAL, Parlamentarismus in Preußen...
(1982) [239], T. 1/2, S. 6 6 - 9 5 ; M . BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus...
(1977) [224], S. 7 4 5 - 7 4 8 .
38 G. RICHTER, Zwischen Revolution und Reichsgründung... ( 2 1988) [209], S. 646
mit Anm. 29.
39 M . BOTZENHART, D e u t s c h e r P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 7 7 ) [ 2 2 4 ] , S. 7 4 8 f . D a die
Erste Kammer nur vertagt worden war, blieb ihre Zusammensetzung unverän-
dert.
276 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

In ihrer sozialen Zusammensetzung unterschied sich die Zweite Kammer


deutlich von der Nationalversammlung und von der am 22. Januar/
5. Februar gewählten. Es gab eine deutliche Verschiebung zu den „staats-
tragenden" Gruppen oder, anders ausgedrückt, einen klaren Rechtsruck,
wie einige ausgewählte Beispiele zeigen:

TABELLE 5 1
Soziale Zusammensetzung der am 17. 7. 1849 gewählten preußischen
Zweiten Kammer im Vergleich
(in Prozent der Abgeordneten)

National- Zweite Kammer


versammlung
22. 1./5.2. 1849 17. 7. 1849

Höhere Beamte 8,10 10,86 13,76


Landräte 1,77 5,43 13,20
Verwaltungsbeamte insgesamt 18,48 26,00 33,14
Justizbeamte insgesamt 22,04 24,00 12,36
Lehrer 5,31 4,85 1,12
Geistliche 12,91 7,71 4,21
Rechtsanwälte, Advokaten 1,27 2,29 6,74
Ärzte 3,04 2,85 0,28
Großkaufleute 0,50 1,14 2,53
Kaufleute 5,32 3,71 1,12
Adlige Großgrundbesitzer 3,04 4,57 9,83
Bürgerliche Großgrundbesitzer 3,79 6,57 12,08
Handwerker 4,56 1,43 1,12

Quelle: M. BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 516,


Anm. 6.

Die vordringlichste Aufgabe der beiden Kammern bestand in der Beratung


der Verfassungsrevision. Dabei ging es im wesentlichen um drei Fragen:
(1) Das Notverordnungsrecht der Regierung (Artikel 105), (2) Weiterführung
aller bestehenden Steuern bis zu einer gesetzlichen Neuregelung (Artikel
108) oder periodische Neubewilligung aller Steuern, (3) Zusammensetzung
der Ersten Kammer (Artikel 63). Am Ende der langwierigen Debatten, die
zu zahlreichen Änderungen führten, 40 stand schließlich ein Verfassungsent-
wurf, den die Erste Kammer am 17., die Zweite am 18. Dezember 1849
annahm. Nach weiteren, vom König am 7. Januar gewünschten Änderungen
fertigte Friedrich Wilhelm schließlich am 31. Januar 1850 die revidierte
Verfassung aus, von der sich wohl kaum jemand vorstellen konnte, daß sie
68 Jahre lang Bestand haben würde. Den reichlich verklausulierten Verfas-

40 A . a . O . , S. 7 5 0 - 7 6 6 ; G . GRÜNTHAL, P a r l a m e n t a r i s m u s in P r e u ß e n . . . ( 1 9 8 2 ) [ 2 3 9 ] ,
S. 126 —159. Zu den Königlichen Propositionen vom 7.1. vgl. a.a.O.,
S. 1 6 2 - 1 7 3 .
V. Die Gegenrevolution 277

sungseid leistete der König am 6. Februar. 41 Sicher teilte er keineswegs die


von Camphausen am 1. Februar geäußerte Meinung: „Der Vogel sitzt im
Käfig, und das ist die Hauptsache." Daß dies eine kapitale Fehleinschätzung
war, wurde bereits in den nächsten Jahren deutlich — lange bevor Bismarck
auch die letzten Zweifler davon überzeugte, daß sich Preußen dem revo-
lutionären Erbe nicht im geringsten verpflichtet fühlte.

4. Nachspiele

Die machtpolitischen Strukturen, wie sie sich im Laufe des Winterhalbjahrs


1848/49 regenerierten, ließen keinen Zweifel daran, daß die revolutionäre
Sache verloren war. Die entscheidende Weichenstellung läßt sich ziemlich
genau datieren: „Die deutsche Revolution war durch die dreifache Wende
vom Herbst 1848 gescheitert." 42 Es kam im Grunde nur noch darauf an,
den Sieg der alten Mächte festzuschreiben, gegen revolutionäre Überbleibsel
und Nachwehen energisch vorzugehen und Überlegungen zu einer politi-
schen Neuordnung Mitteleuropas anzustellen.
Das erste Nachspiel fand in Frankfurt statt, wo die Nationalversammlung
in großartiger politischer Vereinsamung ihre Verfassungsberatungen bis zum
Frühjahr 1849 fortsetzte. 43 Auch die Erfolglosigkeit der nach Preußen ent-
sandten Emissäre, denen der König den Erlaß einer „freisinnigen Verfas-
sung" angedeutet hatte, hielt die Versammlung nicht davon ab, in sparta-
nischer Entschlossenheit den eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen. Nach-
dem die Nationalversammlung infolge der oktroyierten österreichischen
Verfassung vom 4. März, welche die staatsrechtliche Einheit der deutschen
und der nichtdeutschen Gebiete der Habsburgermonarchie festlegte, auf
den Weg der „kleindeutschen" Lösung gedrängt worden war, kam durch
den „Simon-Gagern-Pakt" eine knappe Mehrheit für das (preußische) Erb-
kaisertum zustande (267:263 Stimmen; 27. März). Am 28. März 1849 wurde
die Reichsverfassung in Kraft gesetzt und Friedrich Wilhelm IV. mit 290
Stimmen bei 248 Enthaltungen zum „Kaiser der Deutschen" (Artikel 70)
gewählt. 44

41 Abdruck der Verfassung: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 194,
S. 5 0 1 - 5 1 4 ; der Verfassungseid des Königs: A . a . O . , Nr. 195, S. 515f. Das fol-
gende Zitat: M. BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224],
S. 766.
42 G . WOLLSTEIN, D e u t s c h e G e s c h i c h t e 1848/49... (1986) [ 2 1 4 ] , S. 1 4 4 . Gemeint
sind die Ereignisse in Frankfurt, Wien und Berlin.
43 Eingehende Würdigung und Analyse bei M. BOTZENHART, Deutscher Parlamen-
tarismus... (1977) [224], Kap. VIII/1 und 2: S. 6 4 1 - 6 9 5 ; vgl. auch die umfassende
Darstellung bei E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 2, Kap. XII: S. 7 6 7 - 8 4 1 .
44 A . a . O . , S. 8 1 4 - 8 1 7 ; M. BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977)
[224], S. 691 f. Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 108,
S. 3 7 5 - 3 9 6 .
278 § 5 Revolution und Gegenrevolution ( 1 8 4 8 / 1 8 4 9 )

Die von dem Parlamentspräsidenten Eduard Simson geleitete 32köpfige


Kaiserdeputation traf am 2. April in Berlin ein, wo in Regierungskreisen
über die Frage der Annahme oder Ablehnung drei Meinungen verfochten
wurden. Weitgehend unabhängig von ihnen verschob der König seine Ent-
scheidung scheinbar unter Hinweis auf das fehlende Einverständnis der
Fürsten und Freien Städte, versicherte aber der Delegation, daß er „auch
ohne Ruf" jederzeit bereitstünde, wenn es „des preußischen Schildes und
Schwertes gegen äußere oder innere Feinde" bedürfe (3. April). 45
Nach dieser kaum verklausulierten Drohung mit gegenrevolutionären
Maßnahmen war sich die Mehrheit der Deputation darüber einig, die
königliche Rede als Ablehnung aufzufassen. Auch nach der Abreise hielt
die preußische Regierung die Fiktion des Schwebezustandes noch bis zum
28. April aufrecht. Dann übermittelte ein Schreiben des Grafen Brandenburg
den königlichen Entschluß, „die auf Grund der in Frankfurt beschlossenen
Verfassung ihm dargebotene Kaiserwürde abzulehnen". Diese Formulierung
implizierte die Verwerfung der Reichsverfassung, die inzwischen von 28
anderen deutschen Staaten anerkannt worden war (14. April). 46
Es war eine Ironie der Geschichte, daß der Anstoß dazu von einer
Zirkularnote der preußischen Regierung vom 3. April ausgegangen war, die
einen Ausweg aus der peinlichen Verlegenheit suchte, in die der König alle
Beteiligten durch seine brüske Form der Ablehnung gebracht hatte. Diese
Note schlug eine „provisorische Leitung der deutschen Angelegenheiten"
durch den preußischen König vor und entwickelte erste Gedanken in Rich-
tung auf eine neu zu findende bundesstaatliche Organisation. 47
Die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm war zutiefst in
der Persönlichkeit dieses eigenwilligen Herrschers begründet. Rationale
Argumente mögen zwar eine gewisse Rolle gespielt haben, ausschlaggebend
waren aber zweifellos seine altständisch-romantischen Vorstellungen, seine
betonte Ehrfurcht vor der historischen Kaiserwürde des Hauses Habsburg
und vor der Eigenständigkeit der deutschen Länder. Zu diesem „altfränki-
schen Großdeutschtum" (Huber) trat als primäres Motiv der Widerwille
des Königs gegen die Revolution, die ihn in den Märztagen so tief gede-
mütigt hatte. In seinem berühmten Brief an Bunsen vom Dezember 1848
nannte er diese Kaiserkrone einen „imaginären Reif, aus Dreck und Letten
gebacken"; in eindeutiger Weise verwarf er eine solche Krone „mit ihrem
Ludergeruch der Revolution von 1848, der albernsten, dümmsten, schlech-

45 Vgl. Ders., Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [49], Bd. 2 , S. 8 4 4 - 8 5 1 .


Die entsprechenden T e x t e : Ders. (Hg.), D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 7 8 ) [50], Bd. 1,
Nr. 1 1 1 - 1 1 5 , S. 4 0 3 - 4 0 7 .
46 Teilabdruck der Depesche v o m 2 8 . IV.: A . a . O . , N r . 120, S. 4 1 2 - 4 1 5 . Die 28
Regierungen erklärten in einer gemeinsamen N o t e v o m 14. IV. die A n n a h m e der
Reichsverfassung und forderten gleichzeitig Preußen auf, ihrem Beispiel zu folgen
( a . a . O . , N r . 118, S. 4 1 0 f . ) . Die N a t i o n a l v e r s a m m l u n g in Frankfurt Schloß sich
dieser Aufforderung a m 2 6 . IV. an (a. a. O . , Nr. 119, S. 4 1 1 f.).
47 Abdruck: A . a . O . , N r . 116, S. 4 0 7 - 4 0 9 .
V. Die Gegenrevolution 279

testen, wenn auch gottlob nicht der bösesten dieses Jahrhunderts". 4 8 In der
von den Frankfurter Delegierten an ihn herangetragenen Kaiserwürde sah
Friedrich Wilhelm, wie er an Ernst Moritz Arndt schrieb, das „eiserne
Halsband der Knechtschaft", durch das er der Revolution leibeigen gemacht
werden sollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit war sich der preußische König
der Tragweite seiner Ablehnung bewußt: Er versetzte der deutschen Revo-
lution den endgültigen Todesstoß.
Ein weiteres Nachspiel begann ebenfalls in Frankfurt, wo es zur schritt-
weisen Auflösung der Nationalversammlung kam. Preußen erklärte am
14. Mai die Mandate seiner Abgeordneten für erloschen, andere deutsche
Staaten folgten. Viele Abgeordnete verließen von sich aus das Parlament.
Um einer Auflösung durch die in Mainz stationierten österreichisch-preu-
ßischen Truppen zu entgehen, beschloß die Nationalversammlung am 30.
Mai ihre Verlegung nach Stuttgart ( 7 1 : 6 4 Stimmen), während Reichsver-
weser und Reichsministerium weiterhin in Frankfurt amtierten. Die würt-
tembergische Regierung, unter preußischen Druck gesetzt, unterband die
Aktivitäten dieses „Rumpfparlaments" durch den Einsatz einer militärischen
Einheit am 18. Juni 1849. Damit hatte das erste deutsche Nationalparlament
zu bestehen aufgehört. 49
Über den in Frankfurt verbliebenen Reichsverweser vereinbarten Preußen
und Österreich die Übertragung seiner Befugnisse interimistisch auf eine
paritätisch besetzte Bundeskommission (30. September). Am 6. Oktober
trat der Reichsverweser diesem Abkommen bei. Nach dem Austausch der
Ratifikationsurkunden legte er sein Amt nieder, entließ das Ministerium
und übergab seine Rechte der Bundeskommission (20. Dezember 1849). 5 0
Weitaus stärker wurde Preußen von einem anderen Nachspiel der Re-
volution betroffen, das seinerseits so revolutionäre Züge trug, daß man
geradezu von der „Mairevolution 1849" spricht. Ausgangspunkt war die
vom „Zentralmärzverein" äußerst erfolgreich durchgeführte Reichsverfas-
sungskampagne. Dieser im November 1848 gegründete Verein stellte mit
seinen über 800 Ortsvereinen und 500.000 Mitgliedern eine schlagkräftige
Massenorganisation dar, die ihre Schwerpunkte in West- und Süddeutsch-
land sowie im preußischen Schlesien hatte. Seit Ende März 1849 organisierte
der Verein einen ausgedehnten Propagandafeldzug mit dem Ziel, die deut-
schen Regierungen durch eine Volksbewegung zur Annahme der Reichsver-
fassung zu zwingen. In Preußen verknüpfte sich diese Forderung mit Pro-
testen gegen die restaurative Politik, gegen die Auflösung der Zweiten
Kammer sowie gegen die Anfang Mai (wegen des Krieges mit Dänemark)
einberufene Landwehr. 51

48 Friedrich Wilhelm an Bunsen, Dezember 1848, in: A . a . O . , Nr. 110, S. 402f.


49 V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31) [213], Bd. 2,
S. 464 - 469 und 502 — 509; E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
(1957/60) [49], Bd. 2, S. 8 5 8 - 8 6 1 und 8 7 7 - 8 8 2 .
50 A . a . O . , S. 883f.
51 K.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 268f.; H.-U. WEHLER, Deut-
sche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 754f. Eine erste Bestands-
280 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

Bereits im Vorjahr war es in einigen Landwehreinheiten zu kleineren


Widersetzlichkeiten gekommen. Im Frühsommer 1849 entwickelten sich
daraus regelrechte Meutereien. Betroffen waren vor allem Berlin, Schlesien,
Sachsen, Westfalen und das Rheinland. Da in der Landwehr vorwiegend
ältere, auch gebildetere und politisch informiertere Jahrgänge dienten als
bei den Linientruppen, kam es hier leichter zu Diskrepanzen zwischen
soldatischem Gehorsam und politischer Überzeugung. Angesichts des re-
staurativen Kurses, wie er im Frühjahr 1849 offenkundig wurde, machten
sich vielerorts oppositionelle Strömungen für eine Anerkennung der Reichs-
verfassung bemerkbar, an deren Spitze sich häufig die alle Volksklassen
umfassende Landwehr stellte. Während die Lage in Schlesien (Breslau!) und
Sachsen durch die Verhängung des Belagerungszustandes unter Kontrolle
gehalten werden konnte, kam es in mehreren rheinisch-westfälischen Städ-
ten zu gefährlichen Aufstandsbewegungen, bei denen sich Arbeiter, Unter-
schichtler und intellektuelle Führungsfiguren (Friedrich Engels in Elberfeld,
Gottfried Kinkel und Fritz Anneke in Siegburg) mit den Landwehrmännern
solidarisierten.52
Fast überall stellte sich freilich bald heraus, daß das Bürgertum nicht
mehr zu bewaffnetem, revolutionärem Kampf bereit war. Während in den
meisten Städten die Bürgerwehr genügte, um die Revolten niederzuschlagen,
bedurfte es in Iserlohn des Einsatzes von Linientruppen — über 100 Tote
waren ein hoher Preis (17. Mai). Während viele an den rheinischen Auf-
ständen Beteiligte nach Baden oder in die Pfalz auswichen, oft auch nach
Übersee auswanderten, wurde Karl Marx erneut aus Preußen ausgewiesen
(11. Mai). Kurz darauf mußte auch die „Neue Rheinische Zeitung" ihr
Erscheinen einstellen (19. Mai). 53
Besondere Dynamik entfaltete die Mairevolution im benachbarten Kö-
nigreich Sachsen, wo ein am 3. Mai in Dresden ausgebrochener Aufstand
den König zur Flucht nötigte. Auch kleinere Städte im Vogtland und im
Erzgebirge schlossen sich der Erhebung an. Nach einem zweitägigen Waf-
fenstillstand (4.15. Mai) wurde die von einer Mitte-Links-Verbindung ge-
tragene Aufstandsbewegung, hinter der so unterschiedliche Persönlichkeiten
wie Michael Bakunin, Stephan Born, Gottfried Semper und Richard Wagner
standen, von sächsischen und preußischen Truppen in viertägigen Straßen-
und Barrikadenkämpfen niedergeschlagen, die 250 Tote kosteten. Allein in
Dresden wurden anschließend 869 Untersuchungsverfahren eröffnet. Der
verhängte Kriegszustand blieb ein Jahr lang bestehen.54

aufnähme lieferte 1850 Friedrich ENGELS, Die deutsche Reichsverfassungskam-


pagne [1850], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, Berlin (Ost) 1960
u.ö., S. 1 0 9 - 1 9 7 .
52 E . R . HUBER, D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 2 , S. 8 6 2 -
865.
53 K.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 269.
54 Vgl. dazu V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31) [213],
Bd. 2, S. 479 - 489; E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60)
[49], Bd. 2, S. 8 6 5 - 8 6 8 .
V. Die Gegenrevolution 281

Sächsische Historiker betonen, daß beim Eintreffen der „ungern gerufe-


nen" preußischen Bataillone der für den Bestand des Staates kritische Punkt
bereits als überwunden gelten konnte; die Intervention war also nicht
entscheidend, erleichterte und beschleunigte aber den Sieg über die Auf-
ständischen. 55
Die Rolle Preußens als Gendarm der Gegenrevolution setzte sich Anfang
Juni in der Rheinpfalz fort, die sich von Bayern losgesagt, die Reichsver-
fassung anerkannt und die republikanische Staatsform angenommen hatte
(17. Mai). Wie er es am 3. April der Kaiserdeputation angekündigt hatte,
ließ der preußische König „ohne Ruf" seine Truppen von Kreuznach aus in
die Pfalz einrücken. Das bayerische Hilfsersuchen wurde am 4. Juni nach-
geliefert. Mit der Flucht der provisorischen Regierung am 14. Juni und der
Verhängung des Kriegszustandes über die Pfalz durch den Prinzen Wilhelm
brach der Aufstand zusammen. Anders als in Sachsen trugen hier die
preußischen Truppen den Hauptanteil am Erfolg, da Bayern keine ausrei-
chenden Kräfte mobilisieren konnte. 56
Große Probleme bereitete schließlich die „dritte badische Revolution",
die, ausgehend von einer Militärrevolte, zur Flucht des Großherzogs und
zur Errichtung einer revolutionären Landesregierung geführt hatte (16. Mai)
und sich ohne nennenswerten Widerstand im ganzen Lande ausbreitete.
Großherzog Leopold richtete Hilfsersuchen sowohl an den Reichsverweser
als auch an die preußische Regierung. In der Tat kam es zu einer doppelten
Intervention: Neben der vom preußischen General Peucker geführten
Reichsarmee mit hessischen, nassauischen und württembergischen Kontin-
genten stand die preußische Interventionsarmee unter dem Prinzen Wilhelm,
dem auch die pfälzisch-badischen Verbände unterstellt waren. Die badische
Revolutionsarmee, von Mieroslawski geführt, mußte Mannheim aufgeben
(15. Juni) und verlor die Schlacht bei Waghäusel (21. Juni). Es dauerte aber
noch einen Monat, bis das letzte Widerstandsnest, die Festung Rastatt, wo
am 11. Mai alles begonnen hatte, mit ihren 6.000 Verteidigern kapitulierte
(23. Juli). 5 7
Es folgte ein besonders häßliches Kapitel der preußischen Geschichte,
nämlich die „Pazifizierung" Badens, die weitgehend unter preußischer Regie
durchgeführt wurde: „Preußen wird ... Badens Vormund" (Valentin). Auf
der Grundlage des Kriegsrechtes, das noch bis zum 1. September 1852
bestehen blieb, durchlebte das bis November 1850 von preußischen Truppen
besetzte Großherzogtum eine Phase scharfer Reaktionspolitik, deren bevor-

55 Rudolf KöTZSCHKE/Hellmut KRETSCHMAR, Sächsische Geschichte. Werden und


Wandlungen eines deutschen Stammes und seiner Heimat im Rahmen der Deut-
schen Geschichte, Dresden 1935 (ND Frankfurt/M. 1965), S. 339.
56 K . - G . FABER, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 2 ] , S . 2 7 0 F . ; E . R . H U B E R , D e u t s c h e
V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . (1957/60) [49], B d . 2, S. 8 6 9 - 8 7 2 .
57 Ausführliche Schilderung: V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution...
(1930/31) [213], Bd. 2, S. 5 0 9 - 5 3 4 . Sehr viel straffer: E. R. HUBER, Deutsche
Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 8 7 2 - 8 7 7 . Beste neuere Dar-
stellung: W. REAL, Die Revolution... (1983) [s.o. Anm. 11], S. 1 1 0 - 1 6 9 .
282 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

zugte Objekte die Presse, die Administration und das Militär waren, gegen
die sich eine energische Strafverfolgungskampagne richtete. Zur Schlüssel-
figur wurde dabei der dem Gerlach-Kreis nahestehende Legationsrat
v. Savigny, der erst als preußischer Sonderbevollmächtigter, dann als Ge-
schäftsträger in Karlsruhe tätig war. 5 8
Sichtbarster Ausdruck dieser Repressionspolitik war die Errichtung dreier
Standgerichte in Mannheim, Rastatt und Freiburg am 27. Juli. Sie waren
etwa paritätisch besetzt, den Vorsitz führte jeweils ein preußischer Major;
Bestätigungs- und Revisionsinstanz war das badische Kriegsministerium.
Die ersten Todesurteile wurden bereits am ersten Verhandlungstag, dem
6. August, ausgesprochen und schnellstens vollstreckt, auch durch preußi-
sche Exekutionskommandos. Damit beschritt man in Baden einen Weg der
blutigen Vergeltung, den es vorher weder in Sachsen noch in der Rheinpfalz
gegeben hatte, wo keine Hinrichtungen stattfanden. In den drei Monaten
ihrer Tätigkeit verurteilten die Standgerichte 27 Personen zum Tode und 62
zu zehnjähriger Zuchthausstrafe. Anschließend fanden vor den Kriegsge-
richten rund 2.000 weitere Verfahren statt, die zu 37 Todesurteilen und
über 900 Freiheitsstrafen führten. Von den zuerst ausgesprochenen 27 To-
desurteilen wurden vier, von den späteren 37 alle nicht vollstreckt. Die
badischen Hofgerichte, vor denen die Zivilisten angeklagt wurden, sprachen
kein Todesurteil aus. 5 9
Die Annahme der maßgebenden Kreise, „mit einem gewissermaßen gut
preußisch sparsamen Terror" (Valentin) die Gegenrevolution in Baden
schnell und gründlich durchsetzen zu können, erwies sich als irrig. In der
Pfalz und in Sachsen, auch in Württemberg, beruhigte sich die Situtation
sehr viel schneller als in Baden, wo es rund 80.000 Einwohner vorzogen,
ihre Heimat zu verlassen. Sie gingen in die Schweiz, nach England und vor
allem in die Vereinigten Staaten, weil sie das unsichere Schicksal der
Emigration der Gewißheit vorzogen, in einem Lande leben zu müssen, das
in einem Satellitenverhältnis zu der preußischen Militärmacht stand, deren
erklärtes Ziel es war, „in Baden die deutsche Revolution mit Stumpf und
Stiel auszurotten". 60
Mit seiner dreimaligen militärischen Intervention binnen weniger Wochen
zog Preußen den endgültigen Schlußstrich unter eine Entwicklung, die in
den Märztagen 1848 so hoffnungsvoll begonnen hatte. Trotz aller Rück-

58 Vgl. G. RICHTER, Zwischen Revolution und Reichsgründung... ( 2 1988) [209],


S. 396 f. und 4 0 2 f. Allgemein: Willy REAL, Das Großherzogtum Baden zwischen
Revolution und Restauration ( 1 8 4 9 - 1 8 5 1 ) . Die Deutsche Frage und die Ereig-
nisse in Baden im Spiegel der Briefe und Aktenstücke aus dem Nachlaß des
preußischen Diplomaten Karl Friedrich von Savigny, Stuttgart 1983, passim.
59 G. RICHTER, Zwischen Revolution und Reichsgründung... ( 2 1988) [209], S. 4 1 2 -
4 1 5 ; vgl. auch V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31)
[213], Bd. 2, S. 5 3 6 ; W. REAL, Die Revolution... (1983) [s.o. Anm. 11], S. 1 7 2 -
174.
60 V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31) [213], Bd. 2,
S. 540; G. RICHTER, Revolution und Gegenrevolution... (1971) [242], S. 422.
V. Die Gegenrevolution 283

schlage und Niederlagen, die die revolutionäre Bewegung seitdem hatte


hinnehmen müssen und die im Grunde seit dem Herbst 1848 am endgültigen
Ausgang kaum noch Zweifel lassen konnten, war es schließlich doch erst
der Einsatz preußischer Truppen, der die letzten Hoffnungen in Preußen
selbst, aber auch in Sachsen, in der Rheinpfalz und in Baden erstickte.
Der Gedanke der deutschen Einheit aber, der die Gemüter so heftig erregt
und in der Paulskirchenverfassung eine in die Zukunft weisende konstitu-
tionelle Realisierung erfahren hatte, erwies sich als so virulent, daß er für
ein scheinbares Paradoxon sorgte: Die Revolution hatte auch ein konser-
vatives Nachspiel. Ausgangspunkt war der von Radowitz gegen die Ultras
der Kamarilla favorisierte Plan einer kleindeutschen Union, dem zunächst
auch Sachsen und Hannover zustimmten (Dreikönigsbündnis vom 26. Mai
1849). 6 1 Die ohnehin nicht sehr große Begeisterung der anderen deutschen
Länder kühlte weiter ab, als die militärischen Nachspiele die preußische
Dominanz immer stärker hervortreten ließen. Bayern setzte auf die groß-
deutsche Karte und trat an die Seite des österreichischen Ministerpräsidenten
Schwarzenberg, der seit dem 21. November 1848 eine entschlossene und
zielgerichtete Politik mit der Absicht führte, Großösterreich als Führungs-
macht eines österreichisch-deutsch bestimmten Mitteleuropa zu schaffen.
Es gelang ihm, die vier Königreiche Bayern, Hannover, Sachsen und Würt-
temberg auf diesen Kurs zu verpflichten (27. Februar 1850), während die
meisten übrigen deutschen Staaten auf Einladung Preußens Delegierte zum
„Erfurter Unionsparlament" entsandten, das eine Verfassung ausarbeiten
sollte. Diese am 20. März 1850 zusammengetretene Versammlung stand von
Anfang an „im luftleeren Raum" (Schieder): Die Linken hatten zum Wahl-
boykott aufgerufen, die Rechten (ζ. B. Bismarck, L. v. Gerlach, Kleist-Retzow
und Stahl) plädierten für eine deutlich entliberalisierte Verfassung, und nur
die „Erbkaiserlichen", nach einem früheren Versammlungsort auch die „Go-
thaer" genannt, traten für eine en-bloc-Annahme des auf der Frankfurter
Reichsverfassung beruhenden Entwurfs ein (ζ. B. Bassermann, Beckerath, die
Brüder Camphausen, Dahlmann, die Brüder Gagern, H. v. Sybel). Da diese
Gruppe zusammen mit einigen liberalen Rechten als sogenannte „Bahnhof-
spartei" in beiden Häusern des Parlaments die Mehrheit besaß, wurde der
Verfassungsentwurf im ganzen und ohne Vorbehalt am 13. April im Volkshaus
(125 :98 Stimmen) und am 17. April im Staatenhaus ( 6 2 : 2 9 Stimmen) ange-
nommen. Das blieb aber ohne jede praktische Wirkung, weil bei einer Kon-

61 K.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 2 7 3 ; E . R . HUBER, Deutsche


Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 8 8 5 - 8 8 8 . Was den preußischen
Unionspolitikern vorschwebte, glich der Quadratur des Zirkels: ein von Berlin
dominierter, mit Österreich in einer lockeren Union verbundener, konstitutio-
neller Föderativstaat, der ohne einen Hegemonialkrieg mit Österreich Zustan-
dekommen sollte (so die zutreffende Auffassung von H.-U. WEHLER, Deutsche
Gesellschaftsgeschichte... [1987] [29], Bd. 2, S. 756). Abdruck: E. R . HUBER (Hg.),
Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 203, S. 540.
284 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)

ferenz in Berlin Anfang Mai nur zwölf der 26 vertretenen Staaten bereit waren,
die Erfurter Verfassung anzuerkennen. 62
Der von Schwarzenberg geführte Gegenschlag zielte auf eine Reaktivie-
rung der Bundesversammlung, die am 12. Juli 1848 in erstaunlicher Hell-
sichtigkeit nicht das Ende ihres Bestehens erklärt, sondern nur „ihre bis-
herige Tätigkeit als beendet" angesehen hatte. 6 3 Bei den langwierigen und
komplizierten Verhandlungen, die das preußisch-österreichische Tauziehen
um kleindeutsche Unionspläne und großdeutsche Bundesprojekte in den
folgenden Monaten begleiteten und den eigentlichen Auftakt zum Dualismus
der 50er und 60er Jahre bildeten, ging es im Kern um die Frage, welche
Großmacht das Dritte Deutschland auf ihre Seite ziehen konnte: Die zur
Restauration des alten Staatenbundes entschlossenen Länder unter Öster-
reichs Führung und die einen eigenen Bundesstaat anstrebenden Mächte
der Erfurter Union unter preußischer Führung standen sich drohend gegen-
über. Seit der Frankfurter Konferenz vom Mai 1850 konnte Österreich auf
neun Verbündete zählen, während im „Provisorischen Fürstenkollegium",
das sich im Juni konstituierte, 22 unionstreue Staaten mitarbeiteten. 64
Die innerdeutschen Streitigkeiten wurden durch außenpolitische Probleme
zusätzlich belastet. Nikolaus I. stand den preußischen Unionsplänen grund-
sätzlich mißtrauisch gegenüber. Außerdem beschuldigte er seinen preußischen
Schwager, in Schleswig-Holstein die gegen Dänemark rebellierenden Kreise
zu unterstützen und dadurch die europäische Revolution zu schüren. Um die
guten Beziehungen zu erhalten und Rußland nicht in die Arme Österreichs zu
treiben, gab Friedrich Wilhelm nach: Preußen zog sich nicht nur aus den
Herzogtümern zurück (Berliner Frieden, 2. Juli 1850), sondern ließ auch seine
Unionspläne fallen (Warschauer Übereinkunft zwischen Graf Brandenburg
und Schwarzenberg, 28. Oktober 1850), nachdem Österreich, Bayern und
Württemberg im Bregenzer Schutz- und Trutzbündnis vom 12. Oktober ge-
genüber Preußen eine kaum verhüllte Kriegsdrohung ausgesprochen hatten. 65
Es ging dabei um die vergleichsweise sekundäre Frage, daß die am
2. September endgültig reaktivierte Bundesversammlung in Frankfurt, an
der allerdings nur 13 Staaten teilnahmen („Rumpfbundestag"), am 21.
September die Bundesintervention gegen Kurhessen beschlossen hatte, wo
Armee und Gerichte, Landstände und Verwaltung dem Kurfürsten und
seinem ungeliebten Minister Hassenpflug den Gehorsam versagten.
Preußen sah sich durch diesen Beschluß essentiell betroffen, da seine zwei
Etappenstraßen, die das Kernland mit den westlichen Provinzen verbanden,

62 Vgl. dazu M . BOTZENHART, Deutscher P a r l a m e n t a r i s m u s . . . (1977) [224], S. 7 6 7 -


776.
63 Sie reagierte mit diesem „diplomatischen Kunstgriff" (Huber) auf das Gesetz
vom 28. 6. (siehe oben S. 262).
64 Vgl. E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,
S. 9 0 0 - 9 0 3 .
65 A . a . O . , S. 904f. und 9 1 5 - 9 1 7 . Die Vertragstexte: Ders. (Hg.), Dokumente...
( 3 1978) [50], Nr. 239, S. 602 (Berlin), Nr. 216, S. 571 f. (Bregenz), Nr. 221, S. 576 f.
(Warschau).
V. Die Gegenrevolution 285

durch kurhessisches Gebiet führten. Der Gedanke, sie könnten österreichi-


scher Kontrolle unterliegen, war angesichts der drohenden Kriegsgefahr
unerträglich. Preußen protestierte daher energisch gegen den Frankfurter
Beschluß und unterstützte damit implizit die renitenten hessischen Landes-
kinder. 66
Zu der Bundesexekution gegen Hessen kam die am 25. Oktober in
Frankfurt beschlossene Bundesexekution gegen Holstein. Da Preußen beide
Aktionen mehrfach als nicht hinnehmbar bezeichnet hatte, rückte die
Kriegsgefahr in unmittelbare Nähe. Am 1. November marschierten öster-
reichisch-bayerische Truppen in Kurhessen ein, während preußische Ver-
bände die beiden Etappenstraßen und das dazwischenliegende Gebiet be-
setzten. Am 5. November befahl Friedrich Wilhelm die allgemeine Mobil-
machung, drei Tage später stießen preußische Truppen in Kurhessen erst-
mals auf „feindliche" Verbände (Bronnzell, 8. November).
Trotz allen Säbelgerassels war Preußen nicht kriegsbereit und wohl auch
nicht kriegsfähig. Die Chancen, sich militärisch gegen Österreich, die vier
Königreiche, acht andere deutsche Staaten und — mit großer Wahrschein-
lichkeit — auch Rußland siegreich zu behaupten, waren gering. Das erklärt
die an ein Ultimatum erinnernde Härte, mit der Schwarzenberg seine
Forderungen präsentierte: Endgültiger Verzicht auf die Union, Räumung
Kurhessens, Duldung der beiden Bundesexekutionen.
Ein personelles Revirement erleichterte den preußischen Kurswechsel:
Radowitz, seit dem 26. September Außenminister, trat am 2. November
zurück und wurde nach dem Tode des Grafen Brandenburg am 6. November
durch Otto v. Manteuffel ersetzt, der am 19. Dezember auch zum Regie-
rungschef avancierte. Damit rückte ein Politiker in die entscheidende Funk-
tion, der sich immer für einen Ausgleich mit Österreich eingesetzt hatte.
Um zu retten, was in dieser Situation noch zu retten war, entsandte der
preußische König Manteuffel zu persönlichen Gesprächen mit Schwarzen-
berg nach Olmütz. 67
Die „Olmützer Punktation", die Schwarzenberg und Manteuffel am
29. November 1850 unterzeichneten, rettete zwar den Frieden, kam aber
„äußerlich einer Kapitulation Preußens gleich" (Faber), das seinen Wider-
stand gegen die beiden Bundesexekutionen aufgeben mußte. Die preußische
Militärpräsenz in Kurhessen wurde auf die Etappenstraßen und eine Betei-
ligung an der Besetzung Kassels beschränkt. In einem geheimen Zusatzab-
kommen verpflichtete sich Preußen zu einer sofortigen, faktisch einseitigen
Abrüstung, so daß es künftige Verhandlungen nicht mehr von einer Position
der militärischen Stärke aus führen konnte. Über die Bundesreform sollten
demnächst „freie" Ministerkonferenzen beraten. Preußen kehrte somit auf
den Boden des Bundesrechts zurück, ohne aber die Frankfurter Versamm-
lung anzuerkennen. Es begrub stillschweigend seine Unionspläne, Schwar-
zenberg sein Projekt des 70-Millionen-Bundes, was als „ein taktischer Sieg

66
Vgl. dazu ders., Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 9 0 8 -
915.
67
A . a . O . , S. 9 1 7 - 9 1 9 .
286 § 6 Anhang

der preußischen Politik gegenüber Schwarzenbergs Plänen" (Schieder) ge-


wertet wird.
Die Ratifikation des Olmiitzer Vertrages stieß in der Zweiten Kammer
auf große Widerstände, die auch Bismarck in seiner berühmten Rede, in
der er sich zur „Realpolitik" bekannte, nicht aus der Welt schaffen konnte.
Erst nachdem am 19. Dezember Manteuffel eine neue Regierung gebildet
hatte, wurde der Kurswechsel vollzogen, der es endgültig ermöglichen sollte,
den „Märzschutt" abzuräumen. Nach der Freiheit fiel nun die Einheit der
Auffassung zum Opfer, daß „entschieden mit der Revolution gebrochen
werden" müsse (Manteuffel). Die Annahme der Olmützer Punktation durch
die Zweite Kammer am 8. Januar 1851 mit einer nur hauchdünnen Mehrheit
(146:142 Stimmen) zeigte, daß die Meinungen über diesen neuen Kurs weit
auseinandergingen. 68
Viele ungelöste Fragen begleiteten Preußen und Deutschland auf ihrem
Weg in die zweite Jahrhunderthälfte.

§ 6 Anhang
I. Das preußische Staatsministerium *

1. 1807-1841

I. Ministerium Stein (1807/08)


1. General-, Finanz- und Polizei-
Departement: Frh. v. Stein
2. Auswärtiges Departement: Grafv. d. Goltz
3. Provinzial-Departement
(Inneres): F. L. Frh. v. Schroetter
4. Justiz-Departement: K. W. Frh. v. Schroetter
5. Militär-Kommission: v. Scharnhorst

IL Ministerium Dohna-Altenstein (1808/10)


1. Innenminister: Graf v. Dohna
2. Außenminister: Graf ν. d. Goltz
3. Finanzminister: Frh. v. Altenstein

68 A . a . O . , S. 9 1 9 - 9 2 2 ; k n a p p e r : K . - G . FABER, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 2 ] ,
S. 2 7 6 . D i e T e x t e : E . R . H U B E R ( H g . ) , D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 7 8 ) [ 5 0 ] , N r . 2 2 3 , S. 5 8 0 -
582 (Vertrag) und Nr. 224, S. 5 8 2 - 5 8 4 (Bismarck-Rede).
* Zusammengestellt nach den Angaben bei E. R. HUBER, Deutsche Verfassungs-
geschichte... (1957/1960) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 1 6 0 f., B d . 2 , S. 4 8 3 f. u n d S. 7 5 0 f . ; I.
MIECK, P r e u ß i s c h e G e w e r b e p o l i t i k . . . ( 1 9 6 5 ) [ 4 1 ] , S. 3 0 - 3 2 ; O l a f WIRTH, Das
preußische Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Ein
Beitrag zu seiner Entstehungsgeschichte, Jur. Diss. München 1962, passim.
I. Das preußische Staatsministerium 287

4. Justizminister: v. Beyme
5. Kriegsminister: v. Scharnhorst

III. Erstes Ministerium Hardenberg (1810/14)


1. Staatskanzler: Fürst v. Hardenberg
2. Innenminister: Fürst v. Hardenberg
3. Finanzminister: Fürst v. Hardenberg
4. Außenminister: Graf ν. d. Goltz
5. Justizminister: v. Kircheisen
6. Kriegsminister: v. Scharnhorst

IV. Zweites Ministerium Hardenberg (1814/17)


1. Staatskanzler: Fürst v. Hardenberg
2. Außenminister: Fürst v. Hardenberg
3. Innenminister: Frh. v. Schuckmann
4. Polizeiminister: Fürst Wittgenstein
5. Finanzminister: Graf v. Bülow
6. Justizminister: v. Kircheisen
7. Kriegsminister: v. Boyen

V. Drittes Ministerium Hardenberg (1817/18)


1. Staatskanzler: Fürst v. Hardenberg
2. Außenminister: Fürst v. Hardenberg
3. Schatzminister: Fürst v. Hardenberg
4. Innenminister: Frh. v. Schuckmann
5. Polizeiminister: Fürst Wittgenstein
6. Kultusminister: Frh. v. Altenstein
7. Finanzminister: υ. Klewitz
8. Handelsminister: Graf v. Bülow
9. Justizminister: v. Kircheisen
10. Gesetzgebungsminister: v. Beyme
11. Kriegsminister: v. Boyen

VI. Viertes Ministerium Hardenberg (1819)


1. Staatskanzler: Fürst v. Hardenberg
2. Außenminister: Graf v. Bernstorff
3. Innenenminister (einschl.
Polizei): Frh. v. Schuckmann
4. Kultusminister: Frh. v. Altenstein
5. Finanzminister: v. Klewitz
6. Schatzminister: Graf Lottum
7. Minister f. Handel, Gewerbe,
Bauwesen: Graf v. Bülow
8. Justizminister: v. Kircheisen
9. Gesetzgebungsminister: v. Beyme
10. Kriegsminister: v. Boyen
11. Minister f. Ständische
Angelegenheiten: W. Frh. v. Humboldt
12. Minister des Königl. Hauses: Fürst Wittgenstein
288 § 6 Anhang

VII: Fünftes Ministerium Hardenberg (1820/22)


1. Staatskanzler: Fürst v. Hardenberg
2. Vizepräsident (1822): v. Voss-Buch
3. Außenminister: Graf v. Bernstorff
4. Innenminister: Frh. v. Schuckmann
5. Kultusminister: Frh. v. Altenstein
6. Finanzminister: v. Klewitz
7. Schatzminister: Graf Lottum
8. Minister f. Handel, Gewerbe,
Bauwesen: Graf v. Bülow
9. Justizminister: v. Kircheisen
10. Kriegsminister: v. Hake
11. Minister des Königl. Hauses: Fürst "Wittgenstein

VIII. Ministerium Graf Lottum (1823/41)


1. Kabinettsminister: Graf Lottum (1823 -41)
Kanzleichef: v. Stägemann (1823 -40)
2. Außenminister: Graf v. Bernstorff (1818 -32)
Ancillon (1832 -37)
Frh. v. Werther (1837 -41)
3. Innenminister: Frh. v. Schuckmann (1814 -34)
v. Rochow (1838 -42)
a) Inneres und Handel Frh. v. Schuckmann (1830 -34)
v. Rochow (1834 -38)
b) Inneres und Polizei Frh. υ. Brenn (1830 -35)
c) Inneres und Gewerbe Frh. v. Brenn (1835 -38)
4. Minister f. Handel, Gewerbe,
Bauwesen: Graf v. Bülow (1817 -24)
(Frh. v. Schuckmann) (1830 -34)
(Frh. v. Brenn) (1835 -38)
v. Rother (1835 -37)
5. Finanzminister: v. Klewitz (1817 -24)
v. Motz (1825 -30)
Maaßen (1830 -34)
Graf v. Alvensleben (1835 -42)
6. Kultusminister: Frh. v. Altenstein (1817 -38)
v. Eichhorn (1840 -48)
7. Justizminister: v. Kircheisen (1810 -25)
Frh. v. Danckelmann (1825 -30)
υ. Kamptz interim. (1831 -32)
v. Mühler (1832 -42)
8. Gesetzgebungsminister: v. Kamptz (1832 -42)
(bis 1838 auch zuständig für die
Justizverwaltung der Rheinlande)

1 Das „Ministerium des Innern für Handel und Gewerbeangelegenheiten" unter


Schuckmann bestand als eine Hauptabteilung des Innenministeriums.
2 Brenn war von 1835 bis 1838 „Minister des Innern für das Gewerbewesen".
3 Das Handelsministerium verlor 1825 seine Selbständigkeit und ging als Sektion
an das Ministerium des Innern und der Polizei.
I. Das preußische Staatsministerium 289

9. Kriegsminister: v. Hake (1819-33)


v. Witzleben (1833-37)
v. Rauch (1837 - 41)
10. Generalpostmeister: v. Nagler (1823-46)
(1836: Ministerrang)
11. Präsident der Staatsbank: Friese (1817-37)
v. Rother (1837-48)
12. Präsident der Seehandlung und
der Staatsschuldenverwaltung: v. Rother (1820-48)
(1836: Ministerrang)
13. Chef der Domänen- und
Forstverwaltung: v. Ladenberg (1834-42)
(1837: Ministerrang)
14. Minister des Königl. Hauses Fürst Wittgenstein (1819-51)

2. 1841-1848

1. Kabinettsminister
(und Schatzminister): v. Thile 1841-48)
v. Bodelschwingh 1844 - 45)
2. Außenminister: Graf Maltzan 1841-42)
Frh. v. Bülow 1842-45)
Frh. v. Canitz 1845-48)
3. Innenminister: Graf Arnim-
Boitzenburg 1842-45)
v. Bodelschwingh 1845-48)
4. Finanzminister: v. Bodelschwingh 1842-44)
v. Flottwell 1844-46)
v. Duesberg 1846-48)
5. Chef des Handelsamtes: v. Rönne 1844-48)
6. Kultusminister: v. Eichhorn 1840-48)
7. Justizminister: v. Mühler 1832-44)
v. Uhden 1844-48)
8. Gesetzgebungsminister: v. Savigny 1842-48)
9. Kriegsminister: v. Boyen 1841-47)
v. Rohr 1847-48)
10. Generalpostmeister: v. Nagler 1823-46)
(1836: Ministerrang)
11. Präsident der Staatsbank: v. Rother 1837-48)
12. Präsident der Seehandlung: v. Rother 1820-48)
(1836: Ministerrang)
13. Chef der Domänen- und
Forstverwaltung: Graf Stolberg 1842-48)
14. Minister des Königl. Hauses: Fürst Wittgenstein 1819-51)
Graf Stolberg 1842-48)
290 § 6 Anhang

3. 1848-1850

I. Ministerium Arnim-Boitzenburg (19. 3.-29. 3. 1848)


1. Ministerpräsident: Graf Arnim-Boitzenburg
2. Außenminister: Frb. v. Arnim-Suckow
3. Innenminister: Α. v. Auerswald
4. Finanzminister: Kühne
5. Justizminister: Bornemann
6. Kultusminister: Graf Schwerin-Putzar
7. Kriegsminister: v. Rohr

II. Ministerium Camphausen· Hansemann (29. 3.-20. 6. 1848)4


1. Ministerpräsident: Camphausen
2. Außenminister: Frh. v. Arnim-Suckow (bis 17. 6.)
Frh. v. Schleinitz
3. Innenminister: A. v. Auerswald
4. Finanzminister: Hansemann
5. Handelsminister: Frh. v. Patow (seit 17. 4.)
6. Justizminister: Bornemann
7. Kultusminister: Graf Schwerin-Putzar (bis 17.6.)
8. Kriegsminister: v. Rohr (bis 2. 4.)
v. Reyher (bis 30. 4.)
Graf Kanitz (bis 17. 6.)
Frh. Roth v. Schreckenstein

III. Ministerium Auerswald — Hansemann (25. 6.—20. 9. 1848)


1. Ministerpräsident: R. v. Auerswald
2. Außenminister: R. v. Auerswald
3. Innenminister: v. Kühlwetter
4. Finanzminister: Hansemann
5. Handelsminister: Milde
6. Landwirtschaftsminister: Gierke
7. Justizminister: Maercker
8. Kultusminister: Rodbertus (bis 8. 7.)
v. Ladenberg (kommissarisch)
9. Kriegsminister: Frh. Roth v. Schreckenstein

IV. Ministerium Pfuel (21. 9.-30. 10. 1848)


1. Ministerpräsident: v. Pfuel
2. Außenminister: Graf Dönhoff
3. Innenminister: v. Eichmann
4. Finanzminister: v. Bonin
5. Handelsminister: unbesetzt
6. Landwirtschaftsminister: unbesetzt
7. Justizminister: Kisker
8. Kultusminister: v. Ladenberg (kommissarisch)
9. Kriegsminister: v. Pfuel

4
Als Camphausen nur für zwei der am 17. 6. zurückgetretenen drei Minister
(Äußeres, Kultus, Krieg) Nachfolger fand, erbat er am 20. 6. seine Entlassung
mit dem Gesamtkabinett.
II. Preußische Münzen 291

V. Ministerium Graf Brandenburg (2.11. 1848-6. 11. 1850)


1. Ministerpräsident: Graf Brandenburg (2. 11. 4 8 - 6 . 11. 50)
2. Außenminister: Graf Brandenburg (2. 11. 4 8 - 2 4 . 2. 49)
Graf Arnim-Heinrichsdorff (24. 2. 49 - 3. 5. 49)
Graf Brandenburg (3. 5. 4 9 - E n d e Juli 49)
Frh. v. Schleinitz (Ende Juli 4 9 - 2 6 . 9. 50)
v. Radowitz (26. 9. 5 0 - 2 . 11. 50)
3. Innenminister: Frh. v. Manteuffel (8. 11. 4 8 - 1 9 . 12. 50)
Kühne (kommiss.: 8. 11. 4 8 - 2 3 . 2. 49)
4. Finanzminister: v. Rabe (24. 2. 4 9 - 2 3 . 7. 51)
v. Pommer-Esche (kommiss.: 8. 11. —6. 12. 48)
5. Handelsminister: v. d. Heydt (6. 12. 48 - 1 8 . 3. 62)
Frh. v. Manteuffel (8. 11. 4 8 - 1 9 . 12. 50)
6. Landwirtschaftsminister: Kisker (kommiss.: 2. 11. 4 8 - 1 1 . 11. 48)
7. Justizminister:
v. Rintelen (11. 11. 4 8 - 1 0 . 4. 49)
Simons (10. 4. 4 9 - 1 7 . 12. 60)
8. Kultusminister: v. Ladenberg (8. 11. 4 8 - 1 9 . 12. 50)
9. Kriegsminister: υ. Strotha (8. 11. 4 8 - 2 7 . 2. 50)
v. Stockhausen (27. 2. 50 - 31. 12. 51)

II. Preußische Maße und Gewichte


(im Verhältnis zum Dezimalsystem)
(nach der Maß- und Gewichtsordnung vom 16. Mai 1816)

Längenmaße

Linie Zoll Fuß Elle Klafter Ruthe Meile m

Linie 1 l/ 1/
0,00220
12 '144

Zoll 12 1 V12 0,02615


Fuß 144 12 1 v12 0,31385
Elle 25V 2 1 0,66690
Klafter 72 6 1 V2 1,88300
Ruthe 144 12 2 1 3,76600
Meile 24.000 4.000 2.000 1 7.532,48

Flächenmaße
1 Quadratfuß = 0,0985 m 2
1 Quadratruthe = 144 Quadratfuß = 14,1840 m 2
1 Viertel = 45 Quadratruthen = 638,2800 m 2
1 Morgen = 180 Quadratruthen = 2.553,1200 m 2
1 Quadratmeile = 56,7383 km 2
292 § 6 Anhang

Raummaße (Fliissigkeits- und Getreidemaße)

1 Klafter 108 Kubikfuß 3,34 ην


1 Quart 64 Kubikzoll 1,151
1 Oxhoft 3 Eimer
6 Anker
180 Quart 206,111
1 Scheffel 16 Metzen
48 Quart 54,96 1
1 Tiene 5 Metzen 17,18 1
1 Metze 3,441
1 Wispel 24 Scheffel 1.319,001
Gewichte
1 Pfund Vno Zentner
32 Lot
128 Quentchen = 0,468 kg
1 Schiffslast 40 Zentner zu 100 Pfd
2.000 kg

III. Preußische Münzen


1 Reichstaler (Rtlr., Tir.)
= 24 Gutegroschen (Ggr.) bis 1811
= 28 Gutegroschen (Ggr.) bis 1821
= 30 Silbergroschen (Sgr.) seit 1821
1 Groschen (Ggr., Sgr.) = 12 Pfennige (Pf.)

Laut Münzgesetz vom 30. September 1821 sollten 14 Taler zu 30 Silbergroschen


aus der Mark feinen Silbers und 35 Friedrichsdor aus 260 Gran Gold geprägt
werden. Der Friedrichsdor, die von 1750 bis 1857 ausgegebene preußische Gold-
münze, wog 6,68 g und entsprach 5 Taler Gold oder (seit 1830/31) 5 Taler 20
Silbergroschen Kurant.

* Zu den Münz- und Währungsfragen vgl. Friedrich Freiherr von Schroetter, Das
preußische Münzwesen 1806 — 1873 (= Acta Borussica, Münzgeschichte,
Bd. 4/1), Berlin 1926 (ND Frankfurt/M. 1986/87).
II. Preußen von 1850 bis 1871
Verfassungsstaat und Reichsgründung
Von Hagen Schulze

Bibliographie
1. Zeitlich übergreifende Quellen werke, Handbücher und
Gesamtdarstellungen

Quellenkunde und Bibliographie: [1] John C. FOUT, German History and Civilisa-
tion, 1806 - 1 9 1 4 . A Bibliography of Scholarly Periodical Literature, Metuchen/N. J.
1974; [2] Wolfram SIEMANN, Restauration, Liberalismus und nationale Bewegung.
Akten, Urkunden und persönliche Quellen (1815 - 1 8 7 0 ) ( = QkdGNz, Bd. 4), Darm-
stadt 1982.

Quellensammlungen: [3] Ernst ENGELBERG (Hg.), Im Widerstreit um die Reichs-


gründung. Eine Quellensammlung zur Klassenauseinandersetzung in der deutschen
Geschichte von 1849 bis 1871, bearb. von Rolf Weber, Berlin 1970; [4] Hans FENSKE
(Hg.), Der Weg zur Reichsgründung 1 8 5 0 - 1 8 7 0 ( = QpDD, Bd. 5), Darmstadt 1977;
[5] Günter SCHÖNBRUNN, Das bürgerliche Zeitalter ( = GiQ, Bd. 4/2), München
1980.

Handbücher und Gesamtdarstellungen: [6] Walter BUSSMANN, Das Zeitalter Bis-


marcks [1956] ( = HbdG, Bd. 3/2), Frankfurt/M. "1968; [7] Jacques DROZ, La
formation de l'Unité allemande 1 7 8 9 - 1 8 7 1 ( = HiAll, Bd. 1), Paris 1970; [8] Ernst
ENGELBERG, Deutschland von 1849 bis 1871 (Von der Niederlage der bürgerlich-
demokratischen Revolution bis zur Reichsgründung) ( = LbdG, Bd. 7), Berlin 1959
U.Ö.; [9] Lothar GALL, Europa auf dem Weg in die Moderne 1 8 5 0 - 1 8 9 0 [1984]
( = GrG, Bd. 14), München 2 1989; E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
[39]; [10] Heinrich LUTZ, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 —
1866 ( = DiNa, Bd. 2), Berlin 1985; [11] Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte
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Deutschland im 19. Jahrhundert. 1 8 1 5 - 1 8 7 1 ( = DG, Bd. 3), Göttingen 1984; [13]
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rich Ritter von SRBIK, Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich
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von SYBEL, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich
294 Preußen von 1850 bis 1871

nach den preußischen Staatsacten, 7 Bde., München — Leipzig 1 8 8 9 - 1 8 9 4 ; [18] Jo-


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Staat, Wirtschaft und Gesellschaft: [19] Helmut BÖHME, Deutschlands Weg zur
Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichs-
gründungszeit 1 8 4 8 - 1 8 8 1 [1966], Köln-Berlin 2 1972; [20] Helmut BÖHME (Hg.),
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Weltkrieg ( = Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5),
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tum und Bevölkerungsentwicklung in Preußen 1816 bis 1914. Zur Frage demo-
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kertum und Bourgeoisie. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher und politischer
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Bd. 1: 1 8 1 5 - 1 8 7 0 , München 1973; [29] Nikolaus von PRERADOVICH, Die Führungs-
schichten in Österreich und Preußen (1804—1918). Mit einem Ausblick bis zum
Jahre 1945 [1955] ( = VIEG, Bd. 11), Wiesbaden 2 1966; [30] Wilhelm TREUE, Ge-
sellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Herbert
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Bd. 3, S. 3 7 6 - 5 4 1 ; [31] Margrit TWELLMANN, Die Deutsche Frauenbewegung. Ihre
Anfänge und erste Entwicklung 1843 - 1 8 8 9 , 2 Bde. ( = MarbAbhPW, Bd. 17), Mei-
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deutschlands in den 1860er Jahren und die Reichsgründung, in: HZ, Bd. 216 (1973),
S. 304 - 334; [33] Wolfgang ZORN, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zusam-
menhänge der deutschen Reichsgründungszeit (1850 — 1879) [1963], in: Hans-Ulrich
Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte ( = NWB, Bd. 10), Köln 4 1974,
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im 19. Jahrhundert [1967], in: Ders. (Hg.), Moderne Deutsche Verfassungsgeschichte
(1815 - 1 9 1 8 ) ( = NWB, Bd. 51), Köln 1972, S. 146 - 1 7 0 ; [36] Albrecht FUNK, Polizei
und Rechtsstaat. Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preußen
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fassungsgeschichte 1776 —1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur
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[45] Erich EYCK, Bismarck. Leben und Werk, 3 Bde., Erlenbach - Zürich 1941 -
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Revision des Bismarckbildes. Die Diskussion der deutschen Fachhistoriker 1945 —
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Lebens 1 8 1 5 - 1 8 9 8 , Leipzig 1986; [58] Egmont ZECHLIN, Bismarck und die Grund-
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Parteien: [59] Wilhelm MoMMSEN/Günther FRANZ (Hg.), Die deutschen Parteipro-


gramme. H. 1: Vom Erwachen des politischen Lebens in Deutschland bis zur Reichs-
gründung, Leipzig — Berlin 1932.

Nationalbewegung: [60] Hagen SCHULZE, Die deutsche Nationalbewegung bis zur


Reichseinigung, in: Otto Büsch/James J . Sheehan (Hg.), Die Rolle der Nation in
der deutschen Geschichte und Gegenwart. Beiträge zu einer internationalen Konfe-
renz in Berlin (West) vom 16. bis 18. Juni 1983 ( = EvHKzB, Bd. 50), Berlin 1985,
S. 8 4 - 1 1 7 ; [61] Hagen SCHULZE, Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Natio-
nalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 1985.

Konservativismus: [62] Helmut DIWALD (Hg.), Von der Revolution zum Norddeut-
schen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848 — 1866.
Aus dem Nachlaß von Ernst Ludwig von Gerlach, 2 Bde. ( = DGq, Bd. 46), Stuttgart
1970; [63] Sigmund NEUMANN, Die Stufen des preußischen Konservativismus. Ein
Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert ( = HSt,
H. 190), Berlin 1930; [64] Gerhard RITTER, Die preußischen Konservativen und
Bismarcks deutsche Politik 1858 - 1 8 7 6 ( = HeidAbhMNG, Bd. 43), Heidelberg 1913
(ND Nendeln 1976); [65] Hans ROSENBERG, Die Pseudodemokratisierung der Rit-
tergutsbesitzerklasse [1958], in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche So-
zialgeschichte ( = NWB, Bd. 10), Köln 4 1974, S. 2 8 7 - 3 0 8 ; [66] Hanns-Jürgen WIE-
GAND, Das Vermächtnis Friedrich Julius Stahls. Ein Beitrag zur Geschichte konser-
vativen Rechts- und Ordnungsdenkens, Königstein/Ts. 1980.
296 Preußen von 1850 bis 1871

Liberalismus: [67] Walter GAGEL, Die Wahlrechtsfrage in der Geschichte der deut-
schen liberalen Parteien, 1848 - 1 9 1 8 ( = BGParl, Bd. 12), Düsseldorf 1958;
[68] Lothar GALL, Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft". Zu Charakter und
Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: HZ, Bd. 220 (1975),
S. 324 - 356; [69] Wolfgang HARDTWIG, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu
Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild
zwischen Revolution und Imperialismus, in: HZ, Bd. 231 (1980), S. 265 — 324; [70]
Shlomo NA'AMAN, Der deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des
deutschen Bürgertums 1859 - 1867 ( = BGParl, Bd. 81), Düsseldorf 1987; [71] Lenore
O'BOYLE, The German Nationalverein, in: JCEA, Bd. 16 (1957), S. 3 3 3 - 3 5 2 ; [72]
Hermann ONCKEN, Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker. Nach
seinen Briefen und hinterlassenen Papieren, 2 Bde., Stuttgart — Leipzig 1910.

Arbeiterbewegung: [73] Frolinde BALSER, Sozial-Demokratie 1848/49 — 1863. Die


erste deutsche Arbeiterorganisation ( = IndW, Bd. 2), Stuttgart 1962; [74] Werner
CoNZE/Dieter GROH, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Die deut-
sche Sozialdemokratie vor, während und nach der Reichsgründung ( = IndW, Bd. 6),
Stuttgart 1966; [75] Jürgen KOCKA, Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und
Arbeiterbewegung in Deutschland 1800 - 1875, Berlin - Bonn 1983; [76] Bärbel MEU-
RER, Bürgerliche Kultur und Sozialdemokratie. Eine politische Ideengeschichte der
deutschen Sozialdemokratie von den Anfängen bis 1875 ( = SozSchr, Bd. 50), Berlin
1988; [77] Toni OFFERMANN, Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutsch-
land 1 8 5 0 - 1 8 6 3 ( = PGG, Bd. 5), Bonn 1969; [78] Toni OFFERMANN, Die regionale
Ausbreitung der frühen deutschen Arbeiterbewegung 1848/49 — 1860/64, in: GG,
13. Jg. (1987), S. 4 1 9 - 4 4 7 ; [79] Hermann ONCKEN, Lassalle. Eine politische Biogra-
phie, Stuttgart - Berlin 3 1920; [80] Richard W. REICHARD, Crippled from Birth.
German Social Democracy 1844—1870, Ames/Iowa 1969; [81] Heinrich VOLKMANN,
Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus 1848 - 1 8 6 9 ( = SchrWSG,
Bd. 13), Berlin 1968; [82] Hedwig WACHENHEIM, Die deutsche Arbeiterbewegung
1844 bis 1914, Köln-Opladen 1967.

Kirchen und Staat: [83] Karl BACHEM, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der
deutschen Zentrumspartei. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Katholischen
Bewegung, sowie zur allgemeinen Geschichte des neueren und neuesten Deutschland
1 8 1 5 - 1 9 1 4 . Bd. 2: Die Zeit von 1848 bis 1870, Köln 1927 (ND Aalen 1967);
[84] Gerhard BESIER, Preußische Kirchenpolitik in der Bismarckära. Die Diskussion
in Staat und evangelischer Kirche um eine Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse
Preußens zwischen 1866 und 1872 ( = VHKzB, Bd. 49), B e r l i n - N e w York 1980;
[85] Gerhard BESIER (Hg.), Preußischer Staat und Evangelische Kirche in der Bis-
marckära ( = T T h K G , H. 25), Gütersloh 1980; [86] Adolf M. BIRKE, Bischof Ketteier
und der deutsche Liberalismus. Eine Untersuchung über das Verhältnis des liberalen
Katholizismus zum bürgerlichen Liberalismus in der Reichsgründungszeit ( = VKZG,
R. B, Bd. 9), Mainz 1971; [87] Karl BUCHHEIM, Ultramontanismus und Demokratie.
Der Weg der deutschen Katholiken im 19. Jahrhundert, München 1963; [88] Herbert
HÖMIG, Rheinische Katholiken und Liberale in den Auseinandersetzungen um die
preußische Verfassung, unter besonderer Berücksichtigung der Kölner Presse. Ein
Beitrag zur Geschichte der politischen Parteien im 19. Jahrhundert, Köln 1971;
[89] Joachim ROHLFES, Staat, Nation und evangelische Kirche im Zeitalter der
d e u t s c h e n E i n i g u n g ( 1 8 4 8 - 1 8 7 1 ) , in: G W U , 9 . J g . ( 1 9 5 8 ) , S. 5 9 3 - 6 1 6 .

Außenpolitik: [90] Die auswärtige Politik Preußens 1858 — 1871. Diplomatische


Aktenstücke, Abt. 1 - 3 , Bde. 1 - 6 , 8 - 1 0 (in lOBdn.), Oldenburg i. 0 . [ - B e r l i n ]
1932 — 1945; [91] Christian FRIESE, Rußland und Preußen vom Krimkrieg bis zum
Bibliographie 297

Polnischen Aufstand ( = OEF, N. F., Bd. 11), Königsberg - Berlin 1931; [92] Eberhard
K O L B (Hg.), Europa und die Reichsgründung. Preußen-Deutschland in der Sicht der
großen europäischen Mächte 1 8 6 0 - 1 8 8 0 ( = HZ, Beih. 6), München 1980;
[93] Heinrich LUTZ, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches.
Europäische Entscheidungen 1 8 6 7 - 1 8 7 1 , Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1979; [94]
Werner Eugen MOSSE, The European Powers and the German Question, 1848 —
1871. With Special Reference to England and Russia, London 1958; [95] Viktor V.
SERGEEV, Anglija i ob-edinenie Germanii Ν 1 8 4 8 - 1 8 7 1 gg., Leningrad 1986; [96]
Holmer STAHNCKE, Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und
Japan 1 8 5 4 - 1 8 6 8 ( = StmG, Bd. 33), Wiesbaden 1987.

Militär: [97] Heinz HELMERT, Kriegspolitik und Strategie. Politische und militärische
Ziele der Kriegführung des preußischen Generalstabes vor der Reichsgründung
( 1 8 5 9 - 1 8 6 9 ) ( = MhSt, N.F., Bd. 1 4 ) , Berlin 1 9 7 0 ; [ 9 8 ] Heinz HELMERT/Hansjürgen
USCZECK, Preußisch-deutsche Kriege von 1 8 6 4 - 1 8 7 1 . Militärischer Verlauf, Berlin
4 1 9 7 8 ; [ 9 9 ] Georg HOFFMANN, Preußen und die norddeutsche Heeresgleichschaltung

nach der achtundvierziger Revolution. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen
Einigung ( = MünchHAbh, R. 2, H. 8 ) , München 1 9 3 5 ; [100] Eberhard K E S S E L ,
Moltke, Stuttgart 1957; [101] Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des
General-Feldmarschalls Grafen Helmuth von Moltke, 8 Bde., Berlin 1 8 9 1 - 1 8 9 3 ;
[102] Rudolf STADELMANN, Moltke und der Staat, Krefeld 1 9 5 0 ; [103] Elmar W I E N -
HÖFER, Das Militärwesen des Deutschen Bundes und das Ringen zwischen Österreich
und Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland 1815 - 1 8 6 6 ( = StMGMwKf,
Bd. 1), Osnabrück 1973.

Publizistik: [104] Michael BEHNEN, Das Preußische Wochenblatt ( 1 8 5 1 - 1 8 6 1 ) . Na-


tionalkonservative Publizistik gegen Ständestaat und Polizeistaat ( = GöBaustGw,
Bd. 43), Göttingen - Frankfurt/M. - Zürich 1971; [105] Karl BUCHHEIM, Die Ge-
schichte der Kölnischen Zeitung, Bd. 3 - 4 , Köln 1976/79; [106] Karl-Georg FABER,
Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands von 1866 bis 1871. Eine kritische
Bibliographie, 2 Bde. ( = BiblGParl, Bd. 4), Düsseldorf 1963; [107] Sybille OBENAUS,
Literarische und politische Zeitschriften 1848 - 1 8 8 0 , Stuttgart 1987; [108] Manfred
OVERESCH, Presse zwischen Lenkung und Freiheit. Preußen und seine offiziöse
Zeitung von der Revolution bis zur Reichsgründung (1848 -1871/72) ( = DoBtrZtgf,
Bd. 19), München 1979.

2. Ära Manteuffel ( 1 8 5 0 - 1 8 5 8 )

O. von Manteuffel: [109] Karl ENAX, Otto v. Manteuffel und die Reaktion in
Preußen, Dresden 1907 (Phil. Diss. Leipzig 1907); [110] Heinrich von POSCHINGER
(Hg.), Unter Friedrich Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten des Ministerpräsidenten Otto
Freiherren v. Manteuffel, 3 Bde., Berlin 1901; [111] Hans WALTER, Die innere Politik
des Ministers v. Manteuffel und der Ursprung der Reaktion in Preußen, Berlin 1910.

Verfassung: [112] Gerhard ANSCHÜTZ, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen


Staat vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Berlin
1912 (ND Aalen 1974); [113] Karl BINDING (Hg.), Verfassungs-Urkunde für den
Preußischen Staat. Vom 31. Januar 1850. Nebst ihren Abänderungen. Samt drei
Anlagen ( = DStaGG, H. 4), Leipzig 2 1902; [114] Hans BOLDT, Die preußische
Verfassung vom 31. Januar 1850. Probleme ihrer Interpretation, in: Hans-Jürgen
Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick ( = GG, Sonderh.6), Göt-
tingen 1980, S. 224 - 246.
298 Preußen von 1850 bis 1871

Innenpolitik: [115] Ludwig DEHIO, Edwin v. Manteuffels politische Ideen, in: HZ,
Bd. 131 (1925), S. 4 1 - 7 1 ; [116] Günther GRÜNTHAL, Parlamentarismus in Preußen
1848/49 — 1857/58. Preußischer Konstitutionalismus — Parlament und Regierung in
der Reaktionsära, Düsseldorf 1982; [117] Herbert KALTHEUNER, Der Freiherr Georg
von Vincke und die Liberalen in der preußischen zweiten Kammer 1849 — 1855. Ein
Beitrag zur Geschichte der Reaktionszeit, in: ZVGA, Bd. 85 (1928), S. 1 - 9 6 ;
[118] Peter RASSOW, Der Konflikt König Friedrich Wilhelms IV. mit dem Prinzen
von Preußen 1854. Eine preußische Staatskrise ( = AbhWL), Wiesbaden 1961; [119]
Bernhard-Maria ROSENBERG, Die ostpreußische Vertretung im Preußischen Landtag
1842 — 1862. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Parlamentarismus in
Deutschland ( = S t G P r , Bd. 29), Köln-Berlin 1979; [120] Walther SCHMIDT, Die
Partei Bethmann-Hollweg und die Reaktion in Preußen 1 8 5 0 - 1 8 5 8 , Berlin 1910;
[121] Heinrich von SYBEL, Carl Ludwig v. Hinkeldey 1 8 5 2 - 1 8 5 6 , in: HZ, Bd. 199
(1959), S. 1 0 8 - 1 2 3 .

Deutscher Bund: [122] Arnold Oskar MEYER, Bismarcks Kampf mit Österreich am
Bundestag zu Frankfurt (1851-1859), Berlin - Leipzig 1927; [123] Heinrich Ritter
von POSCHINGER (Hg.), Preußen im Bundestag 1 8 5 1 - 1 8 5 9 . Dokumente der Kgl.
Preußischen Bundestags-Gesandtschaft,4 Bde. ( = PPrStA, Bd. 12,14,15, 23), Leipzig
1 8 8 2 - 1 8 8 4 ; [124] Hans Julius SCHOEPS, Von Olmütz nach Dresden 1850/51. Ein
Beitrag zur Geschichte der Reformen am Deutschen Bund. Darstellung und Doku-
mente ( = VAPrKb, Bd. 7), Köln-Berlin 1972.

Katholizismus: [125] Hermann DONNER: Die Katholische Fraktion in Preußen 1852 -


1858, Borna-Leipzig 1909 (Phil. Diss. Leipzig 1909); [126] Jonathan SPERBER,
Competing Counterrevolutions. Prussian State and Catholic Church in Westphalia
During the 1850s, in: CEH, Bd. 19 (1986), S. 45 - 62.

Außenpolitik: [127] Edgar BONJOUR, Der Neuenburger Konflikt 1856/57. Untersu-


chungen und Dokumente, Basel — Stuttgart 1957; [128] Kurt BORRIES, Preußen im
Krimkrieg (1853 - 1 8 5 6 ) , Stuttgart 1930; [129] Auguste CHATELAIN, Du rôle de la
Prusse dans le mouvement des royalistes neuchâtelois du 3 septembre 1856, Paris —
Neuchâtel 1924; [130] Reinhold MÜLLER, Die Partei Bethmann Hollweg und die
orientalische Krise 1 8 5 3 - 1 8 5 6 ( = HallFnG, H. 5), Halle 1926; [131] Kurt RHEIN-
DORF, Die Schwarze-Meer-(Pontus-)Frage vom Pariser Frieden von 1856 bis zum
Abschluss der Londoner Konferenz von 1871, Berlin 1925.

3. „Neue Ära" und Verfassungskonflikt

„Neue Ära": [132] Leo HAUPTS, Die liberale Regierung in Preußen in der Zeit der
„Neuen Ära". Zur Geschichte des preußischen Konstitutionalismus, in: HZ, Bd. 227
(1978), S. 4 5 - 8 5 .
Verfassungskonflikt: [133] Eugene N. ANDERSON, The Social and Political Conflict
in Prussia 1 8 5 8 - 1 8 6 4 ( = UNebrSt, Ν. F., Bd. 12), Lincoln/Nebr. 1954; [134] Karl-
Heinz BÖRNER, Die Krise der preußischen Monarchie von 1858 bis 1862 ( = SchrZiG,
Bd. 49), Berlin 1976; [135] Walter BUSSMANN, Königliche Armee - Volksheer. Zur
Geschichte des preußischen Heereskonflikts in den sechziger Jahren [1958], in: Ders.,
Wandel und Kontinuität in Politik und Geschichte. Ausgewählte Aufsätze zum 60.
Geburtstag, hg. von Werner Pols, Boppard am Rhein 1973, S. 83 - 102; [136] Adalbert
HESS, Das Parlament, das Bismarck widerstrebte. Zur Politik und sozialen Zusam-
mensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses der Konfliktzeit (1862-1866)
Bibliographie 299

( = PF, Bd. 6), Köln-Opladen 1964; [137] Kurt KAMINSKI, Verfassung und Verfas-
sungskonflikt in Preußen 1 8 6 2 - 1 8 6 6 . Ein Beitrag zu den politischen Kernfragen
von Bismarcks Reichsgründung ( = SchrrUK, Bd. 13), Königsberg (Pr.) — Berlin 1938;
[138] Heinrich Otto MEISNER, Der preußische Kronprinz im Verfassungskampf
1863, Berlin 1931; [139] Otto NIRRNHEIM, Das erste Jahr des Ministeriums Bismarck
und die öffentliche Meinung ( = HeidAbhMNG, H. 20), Heidelberg 1908;
[140] Jürgen SCHLUMBOHM (Hg.), Der Verfassungskonflikt in Preußen 1 8 6 2 - 1 8 6 6
( = HT/Nz, Bd. 10), Göttingen 1970; [141] Hermann WITTE, Die Reorganisation des
preußischen Heeres durch Wilhelm I., Halle a. S. 1910.

Liberalismus: [142] Michael GUGEL, Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herr-


schaft. Sozialökonomische Interessen und politische Ziele des liberalen Bürgertums
in Preußen zur Zeit des Verfassungskonfliktes 1 8 5 7 - 1 8 6 7 , Köln 1975; [143] Rolf
HELFERT, Der preußische Liberalismus und die Heeresreform von 1860, Bonn 1989;
[144] Bernd PESCHKEN/Claus-Dieter KROHN (Hg.), Der liberale Roman und der
preußische Verfassungskonflikt. Analyseskizzen und Materialien ( = LitwSw, Bd. 7),
Stuttgart 1976; [145] Ernst SCHRAEPLER, Linksliberalismus und Arbeiterschaft in der
preußischen Konfliktszeit, in: Richard Dietrich/Gerhard Oestreich (Hg.), Forschun-
gen zu Staat und Verfassung. Festschrift für Fritz Härtung, Berlin 1958, S. 385 —
401; [146] Hansgeorg SCHROTH, Welt- und Staatsideen des deutschen Liberalismus
in der Zeit der Einheits- und Freiheitskämpfe 1859— 1866. Ein Beitrag zur Soziologie
des deutschen politischen Denkens ( = H S t , H. 201), Berlin 1931; [147] Heinrich
August WINKLER, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien
zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861 — 1866 ( = TübStGP, Bd. 17),
Tübingen 1964; [148] Roland ZEISE, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der
politischen Konzeption der deutschen Handels-, Industrie- und Bankbourgeoisie in
der politischen Krise von 1859 bis 1866, in: JbG, Bd. 10 (1974), S. 1 7 5 - 2 2 1 .

"Wirtschaft: [149] Gerhard BONDI, Zur Vorgeschichte der „kleindeutschen Lösung"


1 8 6 6 - 1 8 7 1 . Eine wirtschaftshistorische Betrachtung, in: JbWG, 1966/2, S. 1 1 - 3 3 .

Außenpolitik: [150] Friedrich BEICHE, Bismarck und Italien. Ein Beitrag zur Vorge-
schichte des Krieges 1866 ( = HSt, H. 208), Berlin 1931; [151] Helmut BURCKHARDT,
Deutschland - England — Frankreich. Die politischen Beziehungen Deutschlands zu
den beiden westeuropäischen Großmächten 1864—1866, München 1970; [152] Chri-
stian FRIESE, Rußland und Preußen vom Krimkrieg bis zum Polnischen Aufstand
( = OEF, N.F., Bd. 11), Königsberg - Berlin 1931; [153] Annie MITTELSTAEDT, Der
Krieg von 1859. Bismarck und die öffentliche Meinung in Deutschland, Stuttgart
1904.
Preußen und Österreich: [154] Heinrich FRIEDJUNG, Der Kampf um die Vorherrschaft
in D e u t s c h l a n d 1859-1866 [1897/98], 2 Bde., Stuttgart 10 1916/17; [155] Rudolf
STADELMANN, Das Jahr 1865 und das Problem von Bismarcks deutscher Politik
( = HZ, Beih. 29), München 1933.

Schleswig-Holsteinische Frage: [156] Der Deutsch-Dänische Krieg 1864, hg. vom


Großen Generalstabe, Abtheilung für Kriegsgeschichte, 2 Bde., Berlin 1886/87;
[157] Klaus MALETTKE, Die Beurteilung der Außen- und Innenpolitik Bismarcks von
1 8 6 2 - 1 8 6 6 in den großen Pariser Zeitungen ( = HSt, H. 399), Lübeck - Hamburg
1966; [158] Klaus MALETTKE (Hg.), Die Schleswig-Holsteinische Frage ( 1 8 6 2 - 1 8 6 6 )
( = HT/Nz, Bd. 5), Göttingen 1969; [159] Charlotte SEMPELL, England und Preußen
in der Schleswig-Holsteinischen Frage ( = HSt, H. 219), Berlin 1931; [160] Lawrence
D. STEEFEL, The Schleswig-Holstein Question ( = HarvHistSt, Bd. 32), Cambridge/
Mass. 1932.
300 Preußen von 1850 bis 1871

Publizistik: [161] Hans ROSENBERG, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands.


Vom Eintritt der neuen Ära in Preußen bis zum Ausbruch des deutschen Krieges.
Eine kritische Bibliographie, 2 Bde., München — Berlin 1935.

4. Preußen und der Norddeutsche Bund


Das Jahr 1866: [162] Gerhard BRÜNS, England und der deutsche Krieg 1866 ( = HSt,
Bd. 221), Berlin 1933 (ND Vaduz 1965); [163] Walter BUSSMANN, Preußen und das
Jahr 1866, in: Bd. 16 (APuZ, 1966), H. 24, 15. 6. 1966, S. 1 9 - 2 7 ; [164] Gordon A.
CRAIG, Königgrätz, Wien - Hamburg 1966; [165] Richard DIETRICH, Der preußisch-
sächsische Friedensschluß vom 21. Oktober 1866 (Ein Kapitel aus der Vorgeschichte
der Norddeutschen Bundesverfassung), in: J G M O D , Bd. 4 (1955), S. 1 0 9 - 1 5 6 ;
[166] Ernst ENGELBERG, Zur politischen Vorbereitung des Krieges von 1866. Volks-
bewegung und Staatspolitik in der Entscheidungsphase [1979], in: Gustav Seeber/
Karl-Heinz Noack (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte nach 1789
( = StudBiDDRGw, Bd. 3), Berlin 1983, S. 1 8 6 - 2 0 3 ; [167] Karl-Georg FABER, Re-
alpolitik als Ideologie. Die Bedeutung des Jahrs 1866 für das politische Denken in
Deutschland, in: HZ, Bd. 203 (1966), S. 1 - 4 5 ; [168] Der Feldzug von 1866 in
Deutschland. Redigirt von der kriegsgeschichtlichen Abtheilung des Großen Gene-
ralstabes, 2 Bde., Berlin 1867; [169] Werner FRAUENDIENST, Das Jahr 1866. Preußens
Sieg, die Vorstufe des deutschen Reiches ( = HPHRaGes, H. 20), Göttingen 1967;
[170] Wolfgang von GROOTE/Ursula von GERSDORFF (Hg.), Entscheidung 1866. Der
Krieg zwischen Österreich und Preußen, Stuttgart 1966; [171] Karl Heinrich HÖFELE,
Königgrätz und die Deutschen von 1866, in: GWU, 17. Jg. (1966), S. 3 9 3 - 4 1 6 ; [172]
Walther HUBATSCH, Motive der preußischen Annexionspolitik 1866, in: BDLG,
Bd. 121 (1985), S. 2 6 1 - 2 7 7 ; [173] Hugo LACHER, Das Jahr 1866; in: NPL, Bd. 14
(1969), S. 83 - 99, 214 - 231; [174] Gerhard RITTER, Bismarck und die Rhein-Politik
Napoleons III., in: RhV, Bd. 15/16 (1950/51), S. 3 3 9 - 3 7 0 ; [175] Wilhelm SCHÜSSLER,
Königgrätz 1866. Bismarcks tragische Trennung von Österreich, München 1958;
[176] Adam WANDRUSZKA, Schicksalsjahr 1866, Graz - Wien - Köln 1966; [177]
Herta WARNHOLTZ, Bismarcks Kampf um den Vorfrieden von Nikolsburg 1866,
Hamburg 1939.

Norddeutscher Bund: [178] Otto BECKER, Bismarcks Ringen um Deutschlands


Gestaltung, hg. von Alexander Scharff, Heidelberg 1958; [179] Karl BINDING, Die
Gründung des Norddeutschen Bundes. Ein Beitrag zur Lehre von der Staatenschöp-
fung, Leipzig 1889; [180] Karl BINDING (Hg.), Die Verfassungen des Norddeutschen
Bundes vom 17. IV. 1867 und des Deutschen Reiches vom 16. IV. 1871. Größere
Ausgabe ( = DStaGG, H. 1), Leipzig 2 1901 u. ö.; [181] Cécile LOWENTHAL-HENSEL,
Der unbekannte deutsche Staat. Der Norddeutsche Bund 1867 — 1871. Katalog, Berlin
1970; [182] Heinrich Otto MEISNER, Bundesrat, Bundeskanzler und Bundeskanzler-
amt ( 1 8 6 7 - 1 8 7 1 ) [1943], in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche
Verfassungsgeschichte ( 1 8 1 5 - 1 9 1 8 ) ( = NWB, Bd. 51), Köln 1972, S. 76 - 94; [183]
Klaus Erich POLLMANN, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867—1870,
Düsseldorf 1985; [184] Klaus Erich POLLMANN, Vom Verfassungskonflikt zum Ver-
fassungskompromiß. Funktion und Selbstverständnis des verfassungsberatenden
Reichstags des Norddeutschen Bundes, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Gesellschaft,
Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland,
Düsseldorf 1974, S. 1 8 9 - 2 0 3 ; [185] Heinrich TRIEPEL, Zur Vorgeschichte der Nord-
deutschen Bundesverfassung, in: Festschrift für Otto Gierke zum siebzigsten Ge-
burtstag, Weimar 1911, S. 5 8 9 - 6 4 4 .
Bibliographie 301

Liberalismus: [186] Gordon R. MORK, Bismarck and the „Capitulation" of German


Liberalism, in: JMH, Bd. 43 (1971), S. 5 9 - 7 5 .
Katholizismus: [ 1 8 7 ] Hartmut M Ü L L E R , Der deutsche politische Katholizismus in
der Entscheidung des Jahres 1866, in: BpfKG, Bd. 33 (1966), S. 46 - 75; [188] George
G. WINDELL, The Catholics and German Unity. 1866-1871, Minneapolis 1954.

Außenpolitik: [ 1 8 9 ] Richard DIETRICH (Hg.), Europa und der Norddeutsche Bund,


Berlin 1968; [190] Klaus HILDEBRAND, Preußen als Faktor der britischen Weltpolitik.
1866 — 1870. Studien zur Außenpolitik Großbritanniens im 19. Jahrhundert, Habil.-
Schrift Mannheim 1972 [MS]; [191] Horst MICHAEL, Bismarck, England und Europa
(vorwiegend von 1 8 6 6 — 1 8 7 0 ) . Eine Studie zur Geschichte Bismarcks und der Reichs-
gründung ( = FmnG, Bd. 5), München 1930.

Annektierte Gebiete: [192] Heide B A R M E Y E R , Hannovers Eingliederung in den preu-


ßischen Staat. Annexion und administrative Integration. 1866 — 1868 ( = VHKNB,
Bd. 25), Hildesheim 1983; [193] Peter BAUMGART (Hg.), Expansion und Integration.
Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat ( = NFBPG,
Bd. 5), Köln-Wien 1984; [194] Richard DIETRICH, Preußen als Besatzungsmacht
im Königreich Sachsen 1866-1868, in: JGMOD, Bd. 5 (1956), S. 273 - 293;
[195] Oswald HAUSER, Preußen und Schleswig-Holstein. Staatsgedanke und Lan-
desbewußtsein (1866), in: BDLG, Bd. 121 (1985), S. 3 5 5 - 3 7 0 ; [196] Oswald HAUSER,
Staatliche Einheit und regionale Vielfalt in Preußen. Der Aufbau der Verwaltung in
Schleswig-Holstein nach 1867, Neumünster 1967; [197] Thomas KLEIN, Hessen —
Nassau: Vom Oberpräsidialbezirk zur Provinz, in: HessJbLG, Bd. 35 (1985), S. 203 —
228; [198] Thomas KLEIN, Hessen-Nassau. Von der Annexion zur Integration, in:
BDLG, Bd. 121 (1985), S. 2 7 9 - 3 1 6 ; [199] Wolf-Arno KROPAT, Frankfurt zwischen
Provinzialismus und Nationalismus. Die Eingliederung der „Freien Stadt" in den
preußischen Staat (1866-1871) ( = StFrankfG, Bd. 4), Frankfurt/M. 1971.

5. Deutsch-französischer Krieg und Reichsgründung

Preußisch-französische Beziehungen und Kriegsausbruch: [200] Jochen D I T T R I C H ,


Bismarck, Frankreich und die spanische Thronkandidatur der Hohenzollern. Die
„Kriegsschuldfrage" von 1870, München 1962; [201] Eberhard KOLB, Der Kriegs-
ausbruch 1870. Politische Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten in der
Julikrise 1870, Göttingen 1970; [202] Hermann ONCKEN, Die Rheinpolitik Kaiser
Napoleons III. von 1863 bis 1870 und der Ursprung des Krieges von 1870/71. Nach
den Staatsakten von Österreich, Preußen und den süddeutschen Mittelstaaten, 3 Bde.
( = DGq, Bd. 1 9 - 2 1 ) , Stuttgart - Berlin - Leipzig 1926 (ND Osnabrück 1967);
[203] Dennis E. SHOWALTER, Diplomacy and the Military in France and Prussia,
1870, in: CEH, Bd. 4 (1971), S. 3 4 6 - 3 5 3 ; [204] Lawrence D. STEEFEL, Bismarck, the
Hohenzollern Candidacy, and the Origins of the Franco-German War of 1870,
Cambridge/Mass. 1962; [205] Helmuth WILLENBORG, Bismarcks Politik in der
Luxemburg-Krise, Freiburg 1971.

Deutsch-französischer Krieg: [206] Josef B E C K E R , Der Krieg mit Frankreich als


Problem der kleindeutschen Einigungspolitik Bismarcks 1866 — 1870, in: Michael
Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870—1918,
Düsseldorf 1970, S. 7 5 - 8 8 ; [207] Der deutsch-französische Krieg 1 8 7 0 - 7 1 . Redigirt
von der kriegsgeschichtlichen Abtheilung des Großen Generalstabes, 2 Teile (in
5 Bdn. und 3 Kartenbdn.), Berlin 1874-1881; [208] Wolfgang von GROOTE/Ursula
302 Preußen von 1850 bis 1871

von G E R S D O R F F (Hg.), Entscheidung 1870. Der deutsch-französische Krieg, Stuttgart


1970; [209] Michael HOWARD, The Franco-Prussian War. The German Invasion of
France 1 8 7 0 - 1 8 7 1 [1961], London 3 1962; [210] Eberhard KOLB, Ökonomische
Interessen und politischer Entscheidungsprozeß. Zur Aktivität deutscher Wirt-
schaftskreise und zur Rolle wirtschaftlicher Erwägungen in der Frage von Annexion
und Grenzziehung 1870/71, in: VSWG, Bd. 60 (1973), S. 3 4 3 - 3 8 5 ; [211] Walter
LIPGENS, Bismarck, die öffentliche Meinung und die Annexion von Elsaß und
Lothringen 1870, in: HZ, Bd. 199 (1964), S. 3 1 - 1 1 2 .
Reichsgründung: [212] Horst B A R T E L / E r n s t ENGELBERG (Hg.), Die großpreußisch-
militaristische Reichsgründung 1871. Voraussetzungen und Folgen, 2 Bde.
( = SchrZiG, R. 1, Bd. 36), Berlin 1971; [213] Erich BRANDENBURG (Hg.), Briefe und
Aktenstücke zur Geschichte der Gründung des Deutschen Reiches (1870 — 1871),
2 Hefte, Leipzig - Berlin 1911; [214] Ernst DEUERLEIN (Hg.), Die Gründung des
Deutschen Reiches 1870/71 in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1970; [215] Eli-
sabeth FEHRENBACH, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871 - 1 9 1 8
( = StG19Jh, Bd. 1), München 1969; [216] Walter LIPGENS, Zum geschichtlichen
Standort der Reichsgründung 1870/71, in: GWU, 22. Jg. (1971), S. 5 1 3 - 5 2 8 ;
[217] Wolfgang RIBBE, Adler und Krone. Zur Symbolik der deutschen Reichsgrün-
dung 1870/71, in: Anita Mächler u. a. (Hg.), Historische Studien zu Politik, Verfas-
sung und Gesellschaft. Festschrift für Richard Dietrich zum 65. Geburtstag, Bern —
Frankfurt/M. - München 1976, S. 206 - 226; [218] Theodor ScHiEDER/Ernst DEU-
ERLEIN (Hg.), Reichsgründung 1870/71. Tatsachen — Kontroversen — Interpretatio-
nen, Stuttgart 1970; [219] Johannes ZIEKURSCH, Politische Geschichte des neuen
deutschen Kaiserreiches. Bd. 1: Die Reichsgründung, Frankfurt/M. 1925.

Preußen im Kaiserreich: [220] Hans-Otto BINDER, Reich und Einzelstaaten während


der Kanzlerschaft Bismarcks 1871 —1890. Eine Untersuchung zum Problem der
bundesstaatlichen Organisation (=TübStGP, Bd. 29), Tübingen 1971; [221] Karl
Erich BORN, Preußen und Deutschland im Kaiserreich. Festvortrag ( = TübUr,
Bd. 28), Tübingen 1967; [222] Hans GOLDSCHMIDT, Das Reich und Preußen im
Kampf um die Führung. Von Bismarck bis 1918, Berlin 1931; [223] Oswald H A U S E R
(Hg.), Zur Problematik „Preußen und das Reich" ( = NFBPG, Bd. 4), K ö l n - W i e n
1984; [224] Jürgen MIROW, Das alte Preußen im deutschen Geschichtsbild seit der
Reichsgründung ( = HF, Bd. 18), Berlin 1981; [225] Manfred RAUH, Die Parlamen-
tarisierung des Deutschen Reiches ( = BGParl, Bd. 60), Düsseldorf 1977; [226] Ker-
sten ROSENAU, Hegemonie und Dualismus. Preußens staatsrechtliche Stellung im
Deutschen Reich, Regensburg 1986; [227] Theodor SCHIEDER, Das deutsche Kaiser-
reich von 1871 als Nationalstaat ( = WAbhAGF, Bd. 20), Köln-Opladen 1961;
[228] Gerhard STOLTENBERG, Der deutsche Reichstag 1871 - 1 8 7 3 ( = BGParl, Bd. 7),
Düsseldorf 1955; [229] Eberhard von VIETSCH, Die politische Bedeutung des Reichs-
kanzleramts für den inneren Ausbau des Reiches 1867 bis 1880, Borna — Leipzig
1936 (Phil. Diss. Leipzig 1936).
I. Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 303

§ 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie


1 8 5 0 - 1 8 6 7

I. Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850


Am 6. Februar 1850 leistete Friedrich Wilhelm IV. nach langem Widerstre-
ben im Weißen Saal des Berliner Stadtschlosses den Eid auf die revidierte
preußische Verfassung: Damit trat Preußen in die Reihe der konstitutionell-
monarchischen Staaten Deutschlands und Europas ein. 1
Das Verfassungswerk, das nach beendeter Tätigkeit der Revisionskam-
mern beider Häuser des Landtags am 31. Januar 1850 in Kraft getreten
war, war ungeachtet des konservativen Übergewichts in diesen Kammern
- die demokratische Partei hatte sich durch ihren Wahlboykott bei den
Juli-Wahlen von 1849 selbst aus dem Spiel gebracht — in einigen Zügen
im Verständnis der Zeit überraschend modern. 2 Gewiß hatte sie wesentliche
liberale Züge ihrer Vorgängerin, der oktroyierten Verfassung vom 5. De-
zember 1848, verloren, vor allem durch den Verlust des gleichen Wahlrechts
und durch die Umwandlung der Ersten Kammer aus einer gewählten in
eine ernannte Institution. 3 Doch mit dem Grundrechtskatalog (Artikel
3 - 42) fanden Begriffe und Ziele der liberalen Bewegung und der Achtund-
vierziger Revolution Eingang in den Text. Mit der deklarierten Gleichheit
aller Staatsbürger vor dem Gesetz (§ 4) waren die Rechtsinstitutionen der
geburtsständischen Gesellschaftsordnung aufgehoben: das „Grundprinzip
der modernen bürgerlichen Gesellschaft" 4 war damit proklamiert. Persön-
liche Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Wissenschaft und der Presse,
Unverletzlichkeit von Wohnung und Eigentum, Vereins- und Versammlungs-
freiheit waren festgelegt. Allgemeine Schulpflicht und allgemeine Wehr-
pflicht erschienen als die Säulen des preußischen Staats.
Insoweit stand die preußische Verfassung in der Tradition der großen
freiheitlichen Verfassungen, von der französischen Menschenrechtserklä-
rung von 1789 über die belgische Verfassung von 1831 bis zur Paulskirchen-
Verfassung von 1848. Anders als diese Staatsgrundgesetze beruhte sie jedoch

1 Ernst Rudolf HUBER (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte.


Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1 8 0 3 - 1 8 5 0 , Stuttgart 3 1978, Nr. 194 und
195, S. 5 0 1 - 5 1 6 ; H. BOLDT, Die preußische Verfassung... (1980) [114],
2 G. GRÜNTHAL, Parlamentarismus in Preußen... (1982) [116], S. 9 7 - 1 1 1 ;
W. Gagel, Die Wahlrechtsfrage... (1958) [67]; Friedrich MEINECKE, Der Abschluß
des preußischen Verfassungswerkes im Jahre 1850, in: HZ, Bd. 109 (1912),
S. 1 4 9 - 1 6 0 .
3 Zum Verfassungsoktroi von 1848 vgl. Günther GRÜNTHAL, Zwischen König,
Kabinett und Kamarilla. Der Verfassungsoktroi in Preußen, in: JGMOD, Bd. 32
(1983), S. 1 1 9 - 1 7 4 ; Hans WEGGE, Die Stellung der Öffentlichkeit zur oktroyier-
ten Verfassung und die preußische Parteibildung 1848/49 ( = HSt, H. 215), Berlin
1932 (ND Vaduz 1965).
4 E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 3 1988) [39], S. 103.
304 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

nicht auf dem Grundsatz der Volkssouveränität, sondern auf dem monar-
chischen Prinzip, wie es durch Artikel 57 der Wiener Schlußakte von 1820
für alle Mitglieder des Deutschen Bundes verbindlich festgelegt worden
war; danach hatte „die gesamte Staats-Gewalt in dem Oberhaupte des
Staats vereinigt (zu) bleiben". 5 So blieb die preußische Verfassungsurkunde
ein klassisches Dokument des monarchischen Konstitutionalismus. 6 Das
hieß: Der Monarch blieb Herrscher aus eigenem Recht, während Volk und
Volksvertretung ihre Rechte aus der Verfassungsurkunde ableiteten. Infol-
gedessen war der Monarch unverletzlich und trug für die Regierung keine
Verantwortung; dagegen war das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit
festgelegt. Aber das preußische Staatsministerium war persönlich wie insti-
tutionell vom Landtag unabhängig, königliche, nicht parlamentarische Re-
gierung. Allerdings bedeutete die Verantwortlichkeit der Minister auch, daß
sie auf Verlangen vor der Volksvertretung zu erscheinen und Rechenschaft
abzulegen hatten; eine formale Absicherung dieser Pflicht lag in dem Recht
des Parlaments zur Ministeranklage, das freilich mangels eines von der
Verfassung geforderten Ausführungsgesetzes nie verwirklicht wurde (Ar-
tikel 61). Dem König allein stand die vollziehende Gewalt zu, er führte den
Oberbefehl über das Heer, erklärte Krieg und Frieden und schloß völker-
rechtliche Verträge. Auch war er der Träger des obersten Kirchenregiments;
ihm unterstand der evangelische Oberkirchenrat, die oberste protestantisch-
kirchliche Behörde des Staats. Der König ernannte und entließ die Minister,
aber alle Regierungsakte mußten von einem Minister gegengezeichnet sein
— mit Ausnahme der Armeebefehle und der kirchlichen Erlasse.
In diesen beiden letzteren Bereichen blieb der Monarch extrakonstitutio-
nell. Das Heer insbesondere blieb Königsheer, wurde nicht, ein Traum der
Achtundvierziger-Liberalen, zum Parlamentsheer. Indem die Verfassung
dem König den Oberbefehl über das Heer überließ, blieb der Monarch
Inhaber der effektiven Kommandogewalt; in Fragen der Armeeorganisation
und der Landesverteidigung, also praktisch bei allen Materien des Militär-
wesens, war der König frei von verfassungsmäßigen Beschränkungen. Dem
entsprach, daß das Heer nicht auf die Verfassung, sondern wie eh und je
auf den König vereidigt wurde; die persönliche Treuebindung zwischen
König und Offizierskorps, eine der traditionellen Säulen des preußischen
Regierungssystems, wurde also nicht durch rivalisierende Loyalitätsver-
pflichtungen beeinträchtigt. Allein auf dem Umweg über das Etat-Bewilli-
gungsrecht blieb dem Parlament die Möglichkeit, Einfluß auf den militäri-
schen Bereich zu nehmen. 7

5 Günter DÜRIG/Walter RUDOLF (Hg.), Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte.


Vornehmlich für den Studiengebrauch, München 2 1979, S. 75; Heinrich Otto
MEISNER, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration
und des Deutschen Bundes ( = UdStRG, H. 122), Breslau 1913.
6 S. dazu E.-W. BÖCKENFÖRDE, Der Verfassungstyp... (1972) [35],
7 Die herrschende Auffassung, nach der die Armee einen extrakonstitutionellen
Status besaß, wird insbesondere vertreten von Manfred MESSERSCHMIDT, Mili-
tärgeschichte im 19. Jahrhundert, 2 Teile ( = HbdMG, Bd. 4), München 1975/76;
I. Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 305

Der preußische Landtag bestand aus einem Herren- und einem Abgeord-
netenhaus. Die Erste Kammer war noch 1849 eine gewählte Institution
gewesen, bei der das aktive wie passive Wahlrecht von einem hohen Zensus
abgehangen hatte; sie war also als Vertretung der besitzenden Klassen
konzipiert. Es bezeichnet den Geist der Verfassungsrevision, daß nach langen
Debatten und königlichen Interventionen die künftige Erste Kammer neben
gewählten Mitgliedern auch solche kraft königlicher Ernennung sowie sol-
che kraft Geburt umfassen sollte. Und selbst dieser Kompromiß zwischen
liberalen und konservativen Ideen wurde durch verfassungsänderndes Ge-
setz vom 7. Mai 1853 verschoben; die endgültig 1854 ins Leben gerufene
Erste Kammer, die nunmehr den bezeichnenden Namen „Herrenhaus"
führte, umfaßte neben erblichen hochadligen und gutsherrschaftlichen Mit-
gliedern vom König auf Lebenszeit berufene Beamte, Offiziere oder Geist-
liche sowie Vertreter der Landesuniversitäten und der größeren Städte. 8 Das
konservative Übergewicht war damit in dieser Institution bis 1918 sicher-
gestellt. Nicht das Industrie- und Bildungsbürgertum sollte nach dem Willen
des Königs wie der preußischen Hochkonservativen das Rückgrat des preu-
ßischen Staats bilden; vielmehr ging es mit den Worten Ludwig von Gerlachs
darum, mit Hilfe des „in Königsdienst und Waffenehre" erprobten Adels
Preußens den „prachtvollen Dom der constitutionellen Monarchie" zu er-
richten. 9
Herrenhaus und Zweite Kammer, das Abgeordnetenhaus, waren gleich-
berechtigt; beide mußten wie der König die Zustimmung zu den Gesetzen
geben. Die eigentliche Volksvertretung, das Haus der Abgeordneten, war
nicht wie die Zweite Kammer nach der oktroyierten Verfassung aufgrund
allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu wählen; vielmehr beruhte sie bereits
seit der staatsstreichartigen Notverordnung vom 30. Mai 1849 1 0 auf einem

vgl. besonderes T. 1 (Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee),


S. 160ff.; demgegenüber vertritt E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
( 3 1988) [39], S. 73 ff., die Meinung, der König sei auch in Ausübung seiner
militärischen Kommandogewalt an seinen Verfassungseid gebunden, die Armee
infolgedessen mittelbar intrakonstitutionell gestellt gewesen. Tatsächlich dürfte
dies eine Frage der materiellen Verfassung sein, die nicht zu beantworten ist, da
die seit 1848 in der preußischen Geschichte bis 1918 latente militärische Staats-
streichdrohung nie verwirklicht wurde.
8 Heinrich von TREITSCHKE, Das Zweikammersystem und das Herrenhaus, in:
Prjbb, Bd. 31 (1873), S. 2 2 1 - 2 5 7 ; Erich JORDAN, Friedrich Wilhelm IV. und der
preußische Adel bei Umwandlung der Ersten Kammer in das Herrenhaus 1850 —
1854 ( = HSt, H. 71), Berlin 1909; G. GRÜNTHAL, Parlamentarismus in Preußen...
(1982) [116], S. 2 9 5 - 3 1 6 , bes. S. 3 1 2 ff. und Anm. 81, 82.
9 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch das Allerhöchste
Patent vom 5. Dezember 1848 einberufenen Kammern. Beilage zum Preußischen
Staatsanzeiger. Erste Kammer, Bd. 3, Berlin 1849, 71. Sitzung vom 22. X I . 1849,
S. 1 5 1 5 - 1 5 3 3 , hier S. 1524.
10 E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [s.o. Anm. 1], Nr. 193, S. 497 - 5 0 0 ;
Egid BEITZ, Die Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 und die Wahlverord-
nung vom 30. Mai 1849 in Preußen, Köln 1907.
306 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850—1867

absurd komplizierten und monströs ungerechten Zensuswahlrecht, dem


„Drei-Klassen-Wahlrecht", das es dem Finanzamt überließ, das Gewicht der
Stimme des einzelnen Urwählers festzulegen: Das Staatsgebiet war in ge-
setzlich bestimmte Wahlbezirke geteilt, und zwar so, daß jeder Wahlbezirk
einen, zwei oder drei Abgeordnete wählte. Die mindestens 24 Jahre alten
männlichen „Urwähler" wählten die Abgeordneten nicht unmittelbar, son-
dern die „Wahlmänner", die ihrerseits erst die Abgeordnetenwahl vorzu-
nehmen hatten. 1 1
In jedem Wahlbezirk wurden die Urwähler, wie Artikel 71 der Verfassung
bestimmte, „nach Maßgabe der von ihnen direkt zu entrichtenden Staats-
steuern in drei Abteilungen geteilt, und zwar in der Art, daß auf jede
Abteilung ein Drittel der Gesamtsumme der Steuerbeträge aller Urwähler
fällt ... Die erste Abteilung besteht aus denjenigen Urwählern, auf welche
die höchsten Steuerbeträge bis zur Grenze des zweiten Dritteiis fallen. Die
dritte Abteilung besteht aus den am niedrigsten besteuerten Urwählern, auf
welche das dritte Dritteil fällt. Jede Abteilung wählt besonders, und zwar
ein Dritteil der zu wählenden Wahlmänner." 1 2
Die Wahlen waren also indirekt und ungleich: In der ersten Abteilung
wählten 1850 durchschnittlich 4,7 Prozent, in der zweiten 12,6 und in der
dritten 82,7 Prozent der Gesamtwählerschaft die jeweils gleiche Zahl von
Wahlmännern; ein Wähler der 1. Klasse verfügte also über das 17'Λ-fache
Stimmengewicht eines Wählers der 3. Klasse, und die Gewichte verschoben
sich noch im Laufe der Zeit: 1903 besaß die Stimme eines Wählers der
ersten Klasse sogar das 25fache Gewicht einer drittklassigen Wähler-
stimme. 13 Allerdings fiel dieses Wahlrecht keineswegs aus dem Rahmen
europäischer Verfassungsgeschichte; es beruhte vielmehr auf dem altlibe-
ralen Grundsatz, das aktive Bürgerrecht an die Höhe der Steuerleistung zu
knüpfen, ein Prinzip, das auch die Verfassungen der Französischen Revo-
lution beherrscht hatte.

11 Grundlegend zum preußischen Dreiklassen Wahlrecht Hans DIETZEL, Die preu-


ßischen Wahlrechtsreformbestrebungen von der Oktroyierung des Dreiklassen-
wahlrechts bis zum Beginn des Weltkrieges, Emsdetten 1934 (Phil. Diss. Köln
1934); Heinz BOBERACH, Wahlrechtsfragen im Vormärz. Die Wahlrechtsanschau-
ung im Rheinland 1815 —1849 und die Entstehung des Dreiklassenwahlrechts,
Düsseldorf 1959 ( = BGParl, Bd. 15); Jacques DROZ, Liberale Anschauungen zur
Wahlrechtsfrage und das preußische Dreiklassenwahlrecht [frz. 1963], in: Ernst-
Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 —
1918) ( = N W B , Bd. 51), Köln 1972, S. 1 9 5 - 2 1 4 ; Günther GRÜNTHAL, Das preu-
ßische Dreiklassenwahlrecht. Ein Beitrag zur Genesis und Funktion des Wahl-
rechtsoktrois vom Mai 1849, in: H Z , Bd. 226 (1978), S. 1 7 - 6 6 . Eine zusammen-
fassende Darstellung der Anwendung sowie der politischen und sozialen Aus-
wirkungen des Dreiklassen-Wahlrechts fehlt bis jetzt; ersatzweise: Niels-Uwe
TÖDTER, Die deutschen parlamentarischen Klassenwahlrechte im 19. und
20. Jahrhundert, Hamburg 1967 (Jur. Diss. Hamburg 1967).
12 E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [s.o. Anm. 1], Nr. 194, S. 5 0 8 f .
13 Nach: Gerhard A. RITTER, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur
Statistik des Kaiserreichs 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , München 1980, S. 142 f.
I. Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 307

Aber mit der Revolution von 1848, die das allgemeine und gleiche
Wahlrecht zu einer ihrer Kernforderungen gemacht hatte, war das Zensus-
wahlrecht doch bereits obsolet geworden, und zudem war es auch als
solches ungerecht: denn die sehr unterschiedlichen Steueraufkommen in den
einzelnen Wahlbezirken führten dazu, daß bei ein und derselben Steuerlei-
stung ein Urwähler in einem durchschnittlich armen Bezirk in der ersten,
nach seinem Umzug in einen durchschnittlich wohlhabenden Bezirk dagegen
oft genug in der dritten Klasse zu wählen hatte. Es kam hinzu, daß die
Wahlen öffentlich stattfanden, der Wähler seine Entscheidung also zu Pro-
tokoll geben mußte. Das hatte zur Folge, daß Lohn- und Dienstabhängige
dazu neigten, wie ihre Herrschaft zu stimmen, wenn sie es nicht vorzogen,
auf ihr Wahlrecht zu verzichten - 1903 beispielsweise gaben nur 21 Prozent
der Wähler der dritten Klasse ihre Stimmen ab.
Trotz der Verzerrung, die sich in der Repräsentation ergab, und die
namentlich seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einer maßlosen Benachteili-
gung sozialdemokratischer Stimmen führte, und trotz der massiv geübten
Wahlbeeinflussung durch die Regierung konnten selbst aufgrund dieses
Wahlverfahrens oppositionelle Kammermehrheiten entstehen, wie die Re-
gierung in den sechziger Jahren erfahren sollte; eben das war der Grund
dafür, daß Bismarck meinte, ein „widersinnigeres, elenderes Wahlgesetz"
als das preußische gebe es nirgendwo, 14 weshalb er für den Reichstag das
gleiche und direkte Wahlrecht vorzog, in der Hoffnung, hiermit zu regie-
rungstreueren Mehrheiten zu gelangen.
Das so zustandegekommene Abgeordnetenhaus besaß, wie auch das
Herrenhaus, eigentlich nur eine Aufgabe: Die gemeinschaftlich mit dem
König auszuübende Gesetzgebung, wobei die Gesetzesinitiative jedem der
drei Teilhaber der gesetzgebenden Gewalt zustand. Allerdings, auch dies
ein bestimmendes Merkmal des monarchischen Konstitutionalismus, blieb
diese Gesetzgebungskompetenz im wesentlichen auf die persönlichen und
gesellschaftlichen Interessen der Bürger beschränkt, da insbesondere Heer
und Verwaltung Reservat der Monarchie waren. Doch da war, als wichtig-
ster Ausfluß und zugleich eigentliche raison d'être der parlamentarischen
Gesetzgebungszuständigkeit, das Budgetrecht. Zwar konnten Finanzgesetz-
entwürfe und Haushaltspläne nur von der Regierung aufgestellt werden,
doch bedurfte die Verabschiedung der jährlichen Haushaltsgesetze der Zu-
stimmung beider Häuser des Landtags, wobei das Herrenhaus den Staats-
haushalt nur im Ganzen beschließen oder ablehnen, das Abgeordnetenhaus
dagegen auch einzelne Positionen im Budget verändern konnte. Die Über-
einstimmung von Krone, Herren- und Abgeordnetenhaus über das Budget-
gesetz mußte allerdings gegeben sein; war dies nicht der Fall, war der
Haushaltsplan gescheitert. 15

14 Bismarck vor dem Norddeutschen Reichstag, 28. III. 1849, in: O. von BISMARCK,
Die gesammelten Werke... ( 1 9 2 4 - 1 9 3 5 ) [42], Bd. 10, bearb. von Wilhelm Schüß-
ler, Berlin 1928, S. 3 5 6 - 3 6 1 .
15 Eva HAHNDORF, Das Budgetrecht in den Verhandlungen des Preußischen Land-
tags. Ein Beitrag zur preußischen Verfassungsgeschichte 1848 — 1866, Stettin 1931
308 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1867

Betrachtet man die Verfassung als Ganzes, so kann es scheinen, als hätten
Krone und Regierung ein kaum anfechtbares Übergewicht behalten; das
monarchische Prinzip war gesichert, Regierung, Verwaltung und Armee
nahmen alle effektiven Herrschaftspositionen ein, und nirgendwo besaß die
Volksvertretung ein alleiniges Herrschaftsrecht. Der liberale Vorwurf eines
„Scheinkonstitutionalismus", der lediglich ein spätabsolutistisches Regime
verschleiere, ein Begriff, der als Kennzeichnung des preußisch-deutschen
Verfassungssystems der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in die
Geschichtsschreibung eingegangen ist, 1 6 ist jedoch eher als zeitgenössischer
Kampfbegriff denn als analytische Kategorie der Wissenschaft akzeptabel.
Es gab sehr wohl Verfassungselemente, die im Konfliktfall einer entschlos-
senen Oppositionsmehrheit im Abgeordnetenhaus wirksame Kampfmittel
in die Hand gaben. Zum einen war der Monarch an die Verfassung gebun-
den; in Fragen der Verfassungsänderung standen sich also Parlament und
König auf dem Boden der Verfassung unvermittelt gegenüber. Und da war
vor allem das Budgetrecht des Landtags, das dem Abgeordnetenhaus eine
probate Waffe gegen das monarchische Prinzip verschaffte und zu einer
tatsächlichen Abhängigkeit der Regierung von der Volksvertretung führen
konnte. In zentralen Bereichen der Verfassung bestand somit eine „Schwe-
belage", 1 7 die Entscheidungen zwischen dem monarchischen Prinzip und
der Volkssouveränität offenließ. Auf den Ernstfall gestellt, war diese Ver-
fassung offener, als ihre Urheber ahnten, wie sich in den sechziger Jahren
erweisen sollte.

(Phil. Diss. Berlin 1931); Paul KICHLER, Entwicklung und Wandlung des parla-
mentarischen Budgetbewilligungsrechts in Deutschland, Berlin 1956 (Jur. Diss.
FU Berlin 1957); Karl Heinrich FRIAUF, Der Staatshaushaltsplan im Spannungsfeld
zwischen Parlament und Regierung. Bd. 1: Verfassungsgeschichtliche Untersu-
chungen über den Haushaltsplan im deutschen Frühkonstitutionalismus. Mit
einer kritischen Übersicht über die Entwicklung der budgetrechtlichen Dogmatik
in Deutschland, Bad Homburg — Berlin — Zürich 1968; Carsten BRODERSEN,
Rechnungsprüfung für das Parlament in der konstitutionellen Monarchie. Ein
Beitrag zu den Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des parlamentari-
schen Budgetrechts in Preußen-Deutschland 1 8 4 8 - 1 8 7 7 ( = SchrVG, Bd. 25),
Berlin 1977 (Rez. von Leo HAUPTS in: H Z , Bd. 228 [1979], S. 221).
16 Manfred BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit
1848-1850, Düsseldorf 1977 ( R e z . v o n R a i n e r KOCH in: H Z , Bd. 228 [1979],
S. 2 1 3 - 2 1 6 ) ; Hans-Ulrich WEHLER, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918
( = DG, Bd. 9), Göttingen 1973 u. ö.; zur Kritik s. Thomas NIPPERDEY, Wehlers
„Kaiserreich". Eine kritische Auseinandersetzung [1975], in: Ders., Gesellschaft,
Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte ( = KrStGw,
Bd. 18), Göttingen 1976, S. 3 6 0 - 3 8 9 ; Ernst NOLTE, Deutscher Scheinkonstitutio-
n a l i s m u s ? , in: H Z , B d . 2 2 8 ( 1 9 7 9 ) , S. 5 2 9 - 5 5 0 .
17 E.-W. BÖCKENFÖRDE, Der Verfassungstyp... (1972) [35], S. 150.
II. Die Ära Manteuffel 1 8 5 0 - 1 8 5 8 309

II. Die Ära Manteuffel 1 8 5 0 - 1 8 5 8


„Es soll entschieden mit der Revolution gebrochen werden!" Diese Erklä-
rung des preußischen Ministerpräsidenten O t t o von Manteuffel vom
8. Januar 1851 stand leitmotivisch über der kommenden Dekade, dem
Jahrzehnt der Reaktion. 1
Wie weit der Bruch mit der Revolution allerdings zu gehen habe, darin
bestanden unterschiedliche Meinungen. A m weitesten ging die Partei der
H o c h - oder Ultrakonservativen, die ganz und gar einem vorrevolutionären
Preußen in einem vorrevolutionären Europa entgegenstrebte: für eine stän-
dische Totalrevision der Verfassung, für ständische Kammern und föderalen
Staatsaufbau, für die Wiederherstellung der gutsherrlichen Rechte und die
Beschränkung des absolutistischen Beamtenstaats. 2 Diese „kleine, aber
mächtige Partei", wie sie sich selbst stolz nannte, stand unter der Führung
des Magdeburger Apellationsgerichtspräsidenten Ernst Ludwig von Ger-
lach 3 und des konservativ-legitimistischen Philosophen Friedrich Julius

1 H . v o n POSCHINGER ( H g . ) , U n t e r F r i e d r i c h W i l h e l m I V . . . . ( 1 9 0 1 ) [110], B d . 1,
S. 384.
2 S. NEUMANN, Die Stufen des preußischen Konservativismus... (1930) [63]; Otto
Ernst SCHÜDDEKOPF, Die deutsche Innenpolitik im letzten Jahrhundert und der
konservative Gedanke. Die Zusammenhänge zwischen Außenpolitik, innerer
Staatsführung und Parteiengeschichte, dargestellt an der Geschichte der Konser-
vativen Partei von 1 8 0 7 - 1 9 1 8 ( = BtrGU, Bd. 22), Braunschweig 1951; Hans-
Joachim SCHOEPS, Die preußischen Konservativen, in: Gerd Klaus Kaltenbrunner
(Hg.), Rekonstruktion des Konservativismus ( = SRomb, N. F., Bd. 18), Freiburg
2 1973, S. 181 —188; Martin GREIFFENHAGEN, Das Dilemma des Konservatismus

in Deutschland, München 1971; Günther GRÜNTHAL, Konstitutionalismus und


konservative Politik. Ein verfassungspolitischer Beitrag zur Ära Manteuffel, in:
Gerhard A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte
des Parlamentarismus in Deutschland, Düsseldorf 1974, S. 145 —164; Wolfgang
SCHWENTKER, Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49. Die
Konstituierung des Konservatismus als Partei ( = B G P a r l , Bd. 85), Düsseldorf
1988.
3 Zum Selbstverständnis dieses Kreises vgl. auch die von einem Mitglied, dem
hochkonservativen Publizisten, Politiker und Juristen Hermann WAGENER
(1815 — 1899) stammende Schrift: Die kleine aber mächtige Partei. Nachtrag zu
„Erlebtes". Meine Memoiren aus der Zeit von 1848 —1866 und von 1873 bis
jetzt, Berlin 1885. - Hellmut DIWALD (Hg.), Von der Revolution zum Nord-
deutschen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848 —
1866. Aus dem Nachlass von Ernst Ludwig von Gerlach, 2 Bde. ( = DGq, Bd. 46);
Hans-Joachim SCHOEPS (Hg.), Aus den Jahren preußischer Not und Erneuerung.
Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach und ihres Kreises 1805 - 1 8 2 0 ,
Berlin 1963; Georg LüTTKE, Die politischen Anschauungen des Generals und des
Präsidenten von Gerlach, Borsdorf — Leipzig 1907 (Phil. Diss. Leipzig 1907); Anna
CLAUSEN, Die Stellung Leopold von Gerlachs zum Abschluß des preußischen
Verfassungswerkes unter Friedrich Wilhelm IV., Weida i. Th. 1914 (Phil. Diss.
Leipzig 1914); Alfred von MARTIN, Autorität und Freiheit in den Gedanken
Ludwig von Gerlachs. Ein Beitrag zur Geschichte der religiös-kirchlichen und
310 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

Stahl, 4 die gemeinsam 1848 die „Neue Preußische Zeitung" gegründet


hatten, weithin wegen ihres Emblems als „Kreuz-Zeitung" 5 bekannt. Neben
diesem wichtigen publizistischen Organ w a r es vor allem ihre Beziehung
zur unmittelbaren Umgebung des Königs, der „Kamarilla", die dieser Grup-
pierung Einfluß und Wirkungsmöglichkeit verlieh. 6 Der ihr zugehörige
Generaladjutant Leopold von Gerlach und der Kabinettsrat M a r c u s Niebuhr
besaßen das Ohr des M o n a r c h e n , dem sie klarzumachen suchten, daß nur
ein kompromißloses Zurück zur Verfassung von 1847 den Geist der Revo-
lution gänzlich aus Preußen verbannen könne; das Beispiel Österreichs, w o
am 31. Dezember 1851 die Verfassung zurückgenommen worden war, diente
als anspornendes Beispiel. Friedrich Wilhelm IV. war dem Gedanken eines
Staatsstreichs durchaus nicht abgeneigt, er schwankte längere Zeit zwischen
den Ratschlägen seines „ministère occulte" und denen liberalerer Freunde
wie des preußischen Gesandten in London, Karl von Bunsen, der den König
auf seinen Verfassungseid verwies; endlich, aufgrund komplizierter theolo-
gischer Bedenken, verwarf der König den Staatsstreichplan, den er gleich-
wohl in seinem Testament seinen Nachfolgern nahelegte.
Nicht nur theologische und moralische Gründe bewogen den König, die
Verfassung beizubehalten, sondern auch die Argumente seines Ministerprä-
sidenten O t t o von Manteuffel. Der aus sächsischem Grundadel stammende
frühere Innenminister, seit dem 19. Dezember 1850 Ministerpräsident, hatte
bisher den Hochkonservativen nahegestanden, doch teilte er nicht deren
theologisch-doktrinär fundierte Staatsphilosophie. Manteuffel war der

politischen Ansichten des Altkonservativismus, in: AKG, Bd. 20 (1930), S. I S S -


I S I ; Konrad CANIS, Leopold von Gerlach, in: Karl Obermann u. a. (Hg.), Männer
der Revolution von 1848 ( = SchrZiG, R. 1, Bd. 33), Berlin 1970, S. 4 6 3 - 4 8 1 ;
Manfred P. FLEISCHER, Deus Praesens in Jure. The Politics of Ludwig von
Gerlach, in: Z R G G , Bd. 39 (1987), S. 1 - 2 3 .
4 Karl BUCHHEIM, Die Partei Gerlach - Stahl, in: Aus Politik und Geschichte.
Festschrift zum 70. Geburtstag von Ludwig Bergstraesser, hg. von Alfred Herr-
mann, Düsseldorf 1954, S. 4 1 - 5 6 ; Adelheid Roos, Konservativismus und Re-
aktion bei Fr. J . Stahl, Phil. Diss. Bonn 1957 [MS]; H.-J. WIEGAND, Das Ver-
mächtnis Friedrich Julius Stahls... (1980) [66]; Arie NABRINGS, Friedrich Julius
Stahl. Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik ( = UnConf, Bd. 9), Bielefeld 1983;
Frank-Lothar KROLL, Friedrich Julius Stahl. Die Philosophie des Rechts nach
geschichtlicher Ansicht, in: Franco Volpi/Julian Nida Rümelin (Hg.), Lexikon
der philosophischen Werke, Stuttgart 1988, S. 551 f.; Wilhelm FÜSSL, Professor
in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802 — 1861). Das monarchische Prinzip
und seine Umsetzung in der parlamentarischen Praxis ( = SchrrHKBay, Bd. 33),
Göttingen 1988.
5 A. MEHRFACH, Die Kreuzzeitung 1848 —1923 ( = Sondernummer zum 75jährigen
Bestehen der Neuen Preußischen [Kreuz]Zeitung, 1923, Nr. 274).
6 Fritz HÄRTUNG, Verantwortliche Regierungen, Kabinette und Nebenregierungen
im konstitutionellen Preußen 1 8 4 8 - 1 9 1 8 [1932], in: Ders., Volk und Staat in der
deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940, S. 230 — 338;
Günther GRÜNTHAL, Bemerkungen zur Kamarilla Friedrich Wilhelms IV. im
nachmärzlichen Preußen, in: Otto Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner
Zeit. Beiträge eines Colloquiums ( = EvHKzB, Bd. 62), Berlin 1987, S. 3 9 - 4 7 .
II. Die Ä r a Manteuffel 1850-1858 311

Mann der preußischen Verwaltung; ihm ging es nicht um die Wiedererrich-


tung ständischer Privilegien, sondern um die Wahrung und Entfaltung einer
starken, in Königtum, Bürokratie und Armee verankerten Staatsautorität. 7
Mutatis mutandis taten sich hier dieselben Gräben auf, die in der Restau-
rationsperiode seit 1815 zwischen dem Staatskanzler und den altständischen
Kräften geklafft hatten. Der liberale Impetus, der damals die Spitzen der
preußischen Verwaltung bewegt hatte, war freilich längst verweht; Übrig-
geblieben war ein funktionaler Etatismus, die „Herrschaft der formalisti-
schen Unpersönlichkeit", wie M a x Weber seinen am Vorbild des preußi-
schen Beamtenstaats gebildeten Idealtyp der bürokratischen Herrschaft
beschreibt: „Ohne Haß und Leidenschaft, unter dem Druck schlichter
Pflichtbegriffe; ohne Ansehen der Person, formal gleich für jedermann". 8
Auch Manteuffel ging es um die Domestizierung einer durch Industria-
lisierung und revolutionäre Ideen in Bewegung geratenen Gesellschaft, doch
er war sich darüber im klaren, daß die Revolution von 1848 nicht unge-
schehen zu machen war. Die Verfassung von 1850 war, wie er wußte, auch
ein Schutzschild der Monarchie, ein Machtkompromiß zwischen Krone,
Adel und bürgerlicher Verfassungsbewegung, und sie zu beseitigen hätte
bedeutet, ein endlich befestigtes innenpolitisches Gleichgewichtssystem auf-
zugeben, mit unabsehbaren, möglicherweise erneuten revolutionären Fol-
gen. Der „Bruch mit der Revolution" ließ sich vielmehr mit einfachen
bürokratischen Mitteln, unterhalb der Verfassungsebene, durchführen; daß
das Abgeordnetenhaus großenteils aus konservativen oder rechtsliberalen
Beamten bestand — man sprach von einer „Landratskammer" — erleich-
terte die gouvernementale Reaktion. 9
Manche Einschränkungen verfassungsmäßiger Rechte wurde durch bloße
Unterlassung erreicht, indem die von der Verfassung geforderten Ausfüh-
rungsgesetze nicht ergingen, so daß die bis dahin geltenden Gesetze in Kraft
bleiben konnten. So war den Grundrechtsbestimmungen der Gleichheit vor
dem Gesetz, der Aufhebung der Standesvorrechte, der Freiheit des religiösen
Bekenntnisses, der Aufhebung der gutsherrlichen Polizei und anderen die
gesetzliche Bedeutung entzogen. Durch Einschränkung der gerichtlichen
Überprüfung von Verwaltungsakten wurde erreicht, daß gegen gesetzwidrige
Verfügungen nur noch der Beschwerdeweg beim vorgesetzten Minister

7 H . v o n POSCHINGER ( H g . ) , U n t e r F r i e d r i c h W i l h e l m I V . . . . ( 1 9 0 1 ) [ 1 1 0 ] ; K . E N A X ,
O t t o V. M a n t e u f f e l . . . ( 1 9 0 7 ) [ 1 0 9 ] ; H . W A L T E R , D i e i n n e r e P o l i t i k . . . ( 1 9 1 0 ) [ 1 1 1 ] .
8 Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie,
hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 5 1976, Kap. III/5, S. 128 —130.
9 Leo EISNER, Beamte als Parlamentarier, Greifswald 1914 (Jur. Diss. Greifswald
1914); L[ouis] ROSENBAUM, Beruf und Herkunft der Abgeordneten zu den deut-
schen und preußischen Parlamenten 1847—1919, Frankfurt/M. 1923; Theodor
ESCHENBURG, Der Beamte in Partei und Parlament ( = KISchrStb, Bd. 15), Frank-
furt/M. 1954; Heinrich BEST, Recruitment, Careers and Legislative Behaviour of
German Parlamentarians 1848 - 1 9 5 3 , in: HSR, Nr. 23 (1982), S. 20 - 54; Gerhard
A. RITTER (Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutsch-
land von 1848 bis zur Gegenwart ( = BGParl, Bd. 73), Düsseldorf 1983.
312 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 — 1 8 6 7

offenstand; die „Kunst der Abschaffung eines Gesetzes durch seine Inter-
pretationen auf den einzelnen Gebieten der Verwaltung" 10 wurde zur Per-
fektion entwickelt. Über das gesamte öffentliche Leben legte sich ein dichtes
Netz der bürokratischen Kontrolle; die Presse wurde durch Zensur, Kon-
zessionszwang und steuerliche Maßnahmen eingeschränkt, die kommunale
Selbstverwaltung wurde von den Bezirksregierungen, oft ohne gesetzliche
Grundlage, nach freiem Ermessen reguliert, 11 die Schul-, vor allem die
Volksschulpolitik wurde konservativ korrigiert. Die Bürokratie überwachte
aber auch sich selbst, indem das Disziplinarrecht verschärft, die aktive
Unterstützung der Regierungspolitik zur Pflicht gemacht, ein liberaler Be-
amter oder Richter versetzt und nicht befördert wurde. 12
In kirchlichen Angelegenheiten wucherte derweil die Orthodoxie; die
Kompetenzen des Evangelischen Oberkirchenrats der Altpreußischen Union
wurden ausgeweitet. Auch gegenüber der katholischen Kirche verzichtete
die Regierung weitgehend auf alte kirchenhoheitliche Rechte, so daß nun-
mehr die Stellung und die amtlichen Rechte des Pfarrklerus zur alleinigen
Disposition der Bischöfe stand; insbesondere wurde die örtliche Volksschul-
aufsicht den lokalen Pfarrern beider Konfessionen überlassen. Dissidenten-
gemeinden mußten jeder Form staatlicher Kontrolle und Schikane gewärtig
sein, und jeder Beamte war sich darüber im klaren, daß sein Avancement
von einem erkennbar frommen Lebenswandel abhängig war.
Für die Öffentlichkeit personifizierte sich die Politik der Reaktionsära in
dem Berliner Polizeipräsidenten Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey,
einem Günstling des Königs, der 1854 zum Generalpolizeidirektor im In-
nenministerium ernannt wurde und somit praktisch die Funktionen eines
Polizeiministers ausübte. 13 Unter Hinckeldeys Ägide wurde die politische
Polizei zu einem gefürchteten Machtinstrument ausgebaut; nicht nur sozia-
listische und demokratische Strömungen und Einzelpersonen unterlagen
schärfster Überwachung, sondern auch alle übrigen politischen Gruppie-
rungen. Hinckeldey schreckte nicht einmal davor zurück, sich des Brief-
wechsels zwischen dem König und seinem Generaladjutanten von Gerlach
zu bemächtigen, um im Interesse des Kabinetts Manteuffel die hochkonser-

10 H . von SYBEL, Die Begründung des Deutschen Reiches... ( 1 8 8 9 - 1 8 9 4 ) [17], Bd. 2,


München - Leipzig 1889, S. 107; H . BOLDT, Die preußische Verfassung... (1980)
[114]·
u Heinrich HEFFTER, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte
der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950.
12 Bernhard STEINBACH, Die politische Freiheit der Beamten unter der konstitutio-
nellen Monarchie in Preußen und im Deutschen Reich, Rechts- und staatswiss.
Diss. Bonn 1962; Harro-Jürgen REJEWSKI, Die Pflicht zur politischen Treue im
preußischen Beamtenrecht ( 1 8 5 0 - 1 9 1 8 ) . Eine rechtshistorische Untersuchung
anhand von Ministerialakten aus dem Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preu-
ßischer Kulturbesitz ( = SchrRG, H . 4), Berlin 1973; Hans FENSKE, Preußische
B e a m t e n p o l i t i k v o r 1 9 1 8 , in: St, B d . 1 2 ( 1 9 7 3 ) , S. 339-356.
13 H . v o n SYBEL, Carl Ludwig v. Hinckeldey... (1959) [121]; Wolfram SIEMANN,
„Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung". Die Anfänge der politischen
Polizei 1806 - 1 8 6 6 ( = StTSGLit, Bd. 14), Tübingen 1985, vor allem S. 3 4 0 - 3 9 8 .
II. Die Ära Manteuffel 1850-1858 313

vative Kamarilla bloßzustellen; es kam deswegen 1855 zu einem Skandal,


ohne daß sich etwas änderte. Allerdings geschah es öfter, daß Übergriffe
der politischen Polizei von den Gerichten zurückgewiesen wurden; in meh-
reren Fällen, so in dem Hochverratsprozeß gegen den ehemaligen Führer
der demokratischen Fraktion in der preußischen Nationalversammlung
Benedikt Waldeck, 1 4 im Verfahren gegen den rheinischen Demokraten Gott-
fried Kinkel sowie im Kölner Kommunistenprozeß von 1852 kam es zu für
die Anklagebehörde blamablen Freisprüchen. Erst nachdem 1853 sämtliche
Fälle von „Staatsverbrechen" der ausschließlichen Zuständigkeit des Berli-
ner Kammergerichts übertragen worden waren, nahmen die Verurteilungen
wegen politischer Delikte zu.
Das Bild der preußischen Reaktionsdekade wäre unvollständig, verwiese
man nicht auf die sozialpolitischen Maßnahmen des Kabinetts Manteuffel,
die die Kehrseite der politischen Unterdrückung im Geiste des herkömmli-
chen preußischen Paternalismus darstellten. 15 Mit Hilfe der Rentenbanken
wurde die Bauernbefreiung weiter vorangetrieben; durch eine Gewerbeno-
velle wurde der Handwerkerschutz verstärkt, und das System der gegen
liberalen Widerstand 1853 eingeführten Fabrikinspektoren war dazu ge-
dacht, das Verbot der Kinder- und Jugendarbeit zu überwachen und Ge-
sundheits- und Unfallgefahren zu bekämpfen. Lange vor Bismarck hatte
Manteuffel erkannt, daß zur Bewältigung der schweren Verwerfungen in
der politischen und gesellschaftlichen Landschaft der fünfziger Jahre unter
den Bedingungen preußischer Innenpolitik eine Mischung autoritärer und
plebiszitärer Elemente die Stabilität der Regierung erhöhte; daß er darin
nicht irrte, erwies sich bei der Beerdigung des 1856 bei einem Duell ums
Leben gekommenen Hinckeldey: seinem Sarg folgten Zehntausende aus
allen Berliner Bevölkerungsschichten.
Eine Milderung des innenpolitischen Klimas der fünfziger Jahre brachte
auch die Existenz eines trotz mannigfacher verfassungsmäßiger wie politi-
scher Hemmnisse bestehenden Parlamentarismus. 16 Neben die hochkonser-

14 Heinrich Bernhard OPPENHEIM, Benedikt Franz Leo Waldeck, der Führer der
preußischen Demokratie (1848 - 1 8 7 0 ) , Berlin 1873; Wilhelm BIERMANN, Franz
Leo Benedikt Waldeck. Ein Streiter für Freiheit und Recht, Paderborn 1928;
Ludwig DEHIO, Benedikt Waldeck, in: H Z , Bd. 144 (1930), S. 25 - 57.
15 Carl Valerius HERBERGER, Die Stellung der preußischen Konservativen zur so-
zialen Frage 1848 - 1 9 6 2 , Meißen 1914; Jakob BAXA, Die wirtschaftlichen An-
sichten von Joseph Maria von Radowitz. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen
Volkswirtschaftslehre, in: JbbNSt, Bd. 139 (1933), S. 1 8 8 - 2 1 0 ; Karl Erich BORN,
Sozialpolitische Probleme und Bestrebungen in Deutschland von 1848 bis zur
Bismarckschen Sozialgesetzgebung, in: VSWG, Bd. 4 6 (1959), S. 2 9 - 4 4 ; Wolf-
gang KÖLLMANN, Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik in Preußen bis 1869
[1966], in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungs-
geschichte ( 1 8 1 5 - 1 9 1 8 ) (= N W B , B d . 5 1 ) , K ö l n 1 9 7 2 , S. 410-429.
16 Allgemein zur Geschichte der politischen Parteien in Deutschland: Ludwig BERG-
STRASSER, Geschichte der politischen Parteien in Deutschland ( = DHbP, Bd. 2),
hg. von Wilhelm Mommsen, München - Wien " 1 9 6 5 ; Walter TORMIN, Geschichte
der deutschen Parteien seit 1848, Stuttgart 1966; Heino KAACK, Geschichte und
314 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867

vative Gruppierung, die ihrerseits in der Frage der Unterstützung oder der
Gegnerschaft zur Regierung Manteuffel gespalten war, trat unter Führung
des Bonner Rechtslehrers August von Bethmann Hollweg eine liberalkon-
servative Partei, die sich nach ihrem 1851 gegründeten publizistischen Or-
gan, dem „Preußischen Wochenblatt", die Wochenblatt-Partei nannte und
namentlich in der preußischen Bürokratie und Diplomatie, aber auch am
Hof des Thronfolgers eine einflußreiche Anhängerschaft mobilisieren konn-
te 1 7 ; sie verteidigte die bestehenden Verfassungsverhältnisse, trat für eine
aktive Hegemonialpolitik Preußens in Deutschland ein und forderte eine
entschiedene Anlehnung der preußischen Außenpolitik an England. Die
Liberalen des preußischen Abgeordnetenhauses dagegen standen zur Regie-
rung Manteuffel in prinzipieller Opposition; sie waren jedoch im Abgeord-
netenhaus schwach vertreten und besaßen auch kaum Rückhalt in der
Beamtenschaft. Das gleiche galt für die 1852 im Abgeordnetenhaus gebildete
Katholische Fraktion, 1 8 die für die kirchlichen und kulturellen Forderungen
des Katholizismus und deren verfassungsmäßige Absicherung, aber auch
für die habsburgisch-großdeutsche Lösung der deutschen Frage eintrat;
abgesehen von ihrer westlichen außenpolitischen Orientierung, die sie wäh-
rend des Krimkriegs an die Seite der Wochenblatt-Partei und der Liberalen
gegen die Neutralitätspolitik der Regierung auftreten ließ, galt sie während
der fünfziger Jahre als zuverlässige Stütze der Reaktions-Politik.

Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971; Gerhard A. RITTER (Hg.),


Deutsche Parteien vor 1918 ( = N W B , Bd. 61), Köln 1973; Hans-Peter ULLMANN,
Bibliographie zur Geschichte der deutschen Parteien und Interessenverbände
( = ArbBmG, Bd. 6), Göttingen 1978. — Die marxistische Interpretation vgl. in:
Dieter FRICKE U. a. (Hg.), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch
der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderen bürgerlichen Interessen-
organisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945, Leipzig 1968/70. — Z u r
Frühgeschichte vgl. auch: Friedrich MEINECKE, Z u r Geschichte des älteren deut-
schen Parteiwesens [1917], in: Ders., Preußen und Deutschland im 19. und
20. Jahrhundert. Historische und politische Aufsätze, München — Berlin 1918,
S. 150 —166; Erich BRANDENBURG, Z u m älteren deutschen Parteiwesen. Eine
E r w i d e r u n g , in: H Z , B d . 1 1 9 ( 1 9 1 9 ) , S. 63-84.
17 W. SCHMIDT, D i e P a r t e i Bethmann-Hollweg... (1910) [120]; M . BEHNEN, Das
preußische Wochenblatt... (1971) [104]; M . OVERESCH, Presse zwischen Lenkung
und Freiheit... (1979) [108],
18 O t t o PFÜLF, Hermann von Mallinckrodt. Die Geschichte seines Lebens [1892],
Freiburg i. Br. 2 1 9 0 1 ; Franz SCHMIDT, Hermann v. Mallinckrodt [1916] ( = FühVol,
H. 19), Mönchen-Gladbach 2 1 9 2 1 ; H . DONNER, Die Katholische Fraktion...
(1909) [125]; Franz SCHNABEL, Der Zusammenschluß des politischen Katholizis-
mus in Deutschland im Jahre 1848 ( = H e i d A b h M N G , H . 29), Heidelberg 1910;
K. BACHEM, Vorgeschichte, Geschichte und Politik... (1927) [83],
III. Preußen in der deutschen und europäischen Politik 1 8 5 0 - 1 8 5 9 315

III. Preußen in der deutschen und europäischen


Politik 1 8 5 0 - 1 8 5 9

Die innenpolitische Machtverteilung in Preußen spiegelte sich in Preußens


Politik im Deutschen Bund wider. 1 N a c h dem Scheitern der Erfurter Union
mit der Olmützer Punktation v o m 28. N o v e m b e r 1850 war der status quo
ante, der Deutsche Bund auf der Grundlage der Bundesgrundgesetze von
1815 und 1820 und des Bundestags alter Struktur wiedererstanden. 2 Doch
ein System Metternich redivivus, das die preußischen Hochkonservativen
anstrebten, eine Kooperation der beiden Führungsmächte Preußen und
Österreich auf der Grundlage von Legitimität und antirevolutionärer Gleich-
gewichtspolitik k a m nicht wieder zustande. Z w a r gelang es noch am
23. August 1851, auf gemeinsamen Antrag der beiden deutschen Vormächte
einen „politischen Ausschuß" des Bundestags, den sogenannten Reaktions-
ausschuß, einzusetzen, der den Bund bei der Vorbereitung von M a ß n a h m e n
zur Aufhebung der in den Einzelstaaten gesetzlich anerkannten Grundrechte
beraten sollte; 3 doch die einzelstaatliche Souveränität erwies sich als stärker,
der Reaktionsausschuß k a m nicht zur Wirkung. Österreichische Versuche,
Beschlüsse über ein Bundespressegesetz nach dem Vorbild der Karlsbader
Beschlüsse und über eine Bundespolizeizentrale in Leipzig herbeizuführen,
scheiterten am Widerstand einiger Mittelstaaten, vor allem aber Preußens.
Die Regierung Manteuffel und ihr Bundestagsgesandter, der konservative
Abgeordnete und Deichhauptmann O t t o von Bismarck-Schönhausen, dach-
ten nicht daran, die staatsethischen Prinzipien der Metternich'schen Bun-

1 Vgl. die Protokolle und Beschlüsse der Deutschen Bundesversammlung 1816 —


1866 nach: Protokolle der deutschen Bundesversammlung nebst den loco dicta-
turae gedruckten Beilagen [ab 1822: nebst den loco dictaturae gedruckten Separat-
Protokollen und Beilagen; ab 1828: mit den Beilagen; 1830 ohne Zusatz; ab 1831:
Loco dictaturae; 1 8 4 8 - 1 8 6 6 ohne Zusatz], Frankfurt/M. 1 8 1 6 - 1 8 4 8 , 1 8 5 0 -
1866; Johann Daniel LEUTHEUSSER, Alphabetisches Register über die Verhand-
lungen der deutschen Bundesversammlung, 3 Bde., Frankfurt/M. o. J.; Philipp
Anton Guido von MEYER (Hg.), Corpus Juris Confoederationis Germanicae oder
Staatsacten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes. Nach
officiellen Quellen [1822], ergänzt und bis auf die neueste Zeit [Bd. 3: ... bis zur
Auflösung des Deutschen Bundes] fortgeführet von Heinrich Zoepfl, 3 Bde.,
Frankfurt/M. 3 1 8 5 8 - 1 8 6 9 (ND Aalen 1978).
2 Zur Erfurter Union s. Ernst Rudolf HUBER (Hg.), Dokumente zur deutschen
Verfassungsgeschichte. Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803 —1850, Stutt-
gart 3 1978, Nr. 209 (177) u. 210 (178), S. 5 5 1 - 5 6 1 ; zu den Verhandlungen des
Erfurter Parlaments s. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des
Deutschen Parlaments zu Erfurt, o. O. u. J.; zur Olmützer Punktation s. E. R.
HUBER (Hg.), a.A.O., Nr. 223 (182), S. 580ff.
3 Vgl. dazu a. a. O., Nr. 1 (1), S. 1 f.: Bundesbeschluß über Maßregeln zur Wahrung
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Deutschen Bund („Bundesreaktions-
beschluß", 23. August 1851), und a. a. O., Nr. 2 (2), S. 2: Bundesbeschluß über
die Aufhebung der Grundrechte des deutschen Volkes (23. August 1851).
316 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867

despolitik zu akzeptieren; sie betrieben vielmehr eine Politik der reinen


preußischen Staatsraison. Ihnen blieb auch kaum anderes übrig; die öster-
reichische Politik lief darauf hinaus, den formellen Vorrang, den Österreich
als Präsidialmacht des Bundes besaß, zu einem wirklichen Primat auszu-
bauen und im Zusammenspiel mit den Klein- und Mittelstaaten das expan-
sive und aufgrund seines wirtschaftlichen Übergewichts für die übrigen
deutschen Staaten bedrohlich attraktive Preußen zu domestizieren. Der Haß,
den der Gesandte Bismarck seit Olmütz gegen Österreich hegte, machte ihn
hellsichtig; „unsere Politik", schrieb er an Leopold von Gerlach, „hat keinen
anderen Exerzierplatz als Deutschland schon unserer geographischen Ver-
wachsenheit wegen, und gerade diesen glaubt Österreich dringend für sich
zu gebrauchen, für beide ist kein Platz nach den Ansprüchen, die Österreich
macht, also können wir uns auf die Dauer nicht vertragen. Wir atmen einer
dem anderen die Luft vor dem Munde fort, einer muß weichen, oder der
andere ,gewichen werden', bis dahin müssen wir Gegner sein, ich halte das
für eine unignorierbare Tatsache, wie unwillkommen sie auch sein mag." 4
Die deutsche Machtfrage stellte sich gleich zu Beginn der fünfziger Jahre
in Gestalt einer Zollvereinskrise. s Schon seit 1848 hatte Österreich versucht,
in den Zollverein hineinzudrängen; der österreichische Handelsminister Karl
Ludwig Freiherr von Bruck vertrat die Idee einer großdeutsch-mitteleuro-
päischen Zollunion, vordergründig mit dem Ziel, die Wirtschaft der Do-
naumonarchie durch Anschluß an den prosperierenden Zollverein anzu-
kurbeln, jedoch mit dem weiterführenden Anspruch, ein den gesamten
Deutschen Bund umfassendes Zollgebiet durch Schutzzölle gegenüber drit-
ten Ländern abzuschließen, es ganz den österreichischen Bedürfnissen an-
zupassen und die dominierende Rolle Preußens auch wirtschaftspolitisch
zurückzudrängen. Dabei fand Wien Verbündete bei einigen deutschen Mit-
telstaaten; eine pro-österreichische Gruppierung unter Führung von Bayern
und Sachsen machte sich die Notwendigkeit, die Zollverträge 1853 zu
erneuern, zunutze, indem sie ihre Zustimmung von einer Zolleinigung mit
Österreich abhängig machte. Ein „wirtschaftspolitisches Olmütz" wollte
sich die preußische Diplomatie nicht auch noch bieten lassen; sie behandelte
die sächsisch-bayerischen Vorstöße dilatorisch und verhandelte derweil un-
ter der Hand mit Hannover, der führenden Macht des norddeutschen
Steuervereins, dessen Mitglieder bislang den Anschluß an den Zollverein
aus Sorge um ihre Souveränität abgelehnt hatten. Die preußischen Bedin-
gungen erwiesen sich als dermaßen günstig, daß 1851 Hannover und in
dessen Folge auch Oldenburg und Schaumburg-Lippe mit Preußen einen

4 Bismarck an Leopold von Gerlach, 19./20. XII. 1853, in: O. von BISMARCK, Die
gesammelten Werke... ( 1 9 2 4 - 1 9 3 5 ) [42], Bd. 14/1, hg. von Wolfgang Windel-
band und Werner Frauendienst, Berlin 1933, S. 334; A. O. MEYER, Bismarcks
Kampf mit Österreich... (1927) [122],
5 Eugen FRANZ, Der Entscheidungskampf um die wirtschaftspolitische Führung
Deutschlands 1 8 5 6 - 1 8 6 7 , München 1933; W. ZORN, Wirtschafts- und sozial-
geschichtliche Zusammenhänge... ( 4 1974) [33]; Wfilliam] O. HENDERSON, The
Zollverein [1939], London 3 1968; H. BÖHME, Deutschlands Weg... ( 2 1972) [19],
III. Preußen in der deutschen und europäischen Politik 1850 — 1859 317

Zollvertrag abschlossen. Damit war Norddeutschland zollpolitisch unter


preußischer Vormacht geeint; die politisch zu Österreich neigenden mittel-
und süddeutschen Staaten versuchten, den Vertrag mit Hannover im Rah-
men des Zollvereins zu verhindern, worauf Preußen seinerseits den Zoll-
vereins-Vertrag für 1854 kündigte. 6
Das genügte, um den österreichischen Ambitionen endgültig den Boden
zu entziehen; die antipreußische Koalition brach auseinander, vor allem,
weil Sachsen mit Rücksicht auf seine verhältnismäßig hochentwickelte
Industrie auf seine Verbindung mit dem norddeutschen Wirtschaftsraum
nicht verzichten konnte. Da Preußen zugleich mit seinem Angebot, die
Zollvereinsverträge unter Einschluß des Abkommens mit Hannover zu
erneuern, einen Handelsvertrag zwischen dem Zollverein und Österreich
angeboten hatte, einigten sich alle Beteiligten auf diese scheinbar mittlere
Linie. Am 19. Februar 1853 kam es in Berlin zum Abschluß des österrei-
chisch-preußischen Handelsvertrags auf der Grundlage der gegenseitigen
Meistbegünstigung; die Wiederaufnahme von Verhandlungen über die
„große Zolleinigung" wurde auf 1859 vertagt. Die Verlängerung der Zoll-
vereins-Verträge folgte sogleich, und mit Wirkung vom 1. Januar 1854 war
das spätere Reichsgebiet mit Ausnahme der beiden Mecklenburgs, Hol-
steins, Elsaß-Lothringens und der Hansestädte wirtschaftspolitisch geeint,
während Österreich dank des geschickten und riskanten Taktierens der
preußischen Diplomatie alleingeblieben war.
Äußerlich war damit das preußisch-österreichische Gleichgewicht ge-
wahrt; während Preußen im Rahmen des vergrößerten Zollvereins die
unbestrittene Hegemonie besaß, war Österreich im Frankfurter Bundesrat
die Präsidialstimme und auch die überwiegende politische Zuneigung der
deutschen Mittelstaaten geblieben. Doch die Gewichte hatten sich beträcht-
lich verschoben: Während der Zollverein im Boom des steilen Konjunktur-
aufschwungs der fünfziger Jahre in nie dagewesener Weise prosperierte —
allein von 1853 bis 1856 stieg der Export von 356,9 auf 456,1 Millionen
Taler — stagnierte die österreichische Wirtschaft in wesentlichen Bereichen,
fiel im Export sogar von einem Volumen von 184,3 Millionen Taler 1853
auf 150,3 Millionen drei Jahre später zurück. 7 Und gleichermaßen stagnierte
der Deutsche Bund. Der zunehmende, von beiden Seiten auf das Schroffste
betonte Antagonismus der beiden Führungsmächte, der sich auf allen Ge-
bieten bis in die Etikettenfragen auswirkte, erschwerte die Arbeit des
Bundestags um so mehr, als unter den Klein- und Mittelstaaten die Tendenz
zunahm, die gemeinsame Front eines „dritten Deutschland" gegen die

6 Ders. (Hg.), Vor 1866. Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik der deutschen Mittel-
staaten ( = H a m b S t N G , Bd. 7), Frankfurt/M. 1966; Detlef STAGE, Frankfurt am
Main im Zollverein. Handelspolitik und die öffentliche Meinung der Freien Stadt
Frankfurt in den Jahren 1836 bis 1866 ( = StFrankfG, H . 5), Frankfurt/M. 1971;
W. ZORN, Die wirtschaftliche Integration Kleindeutschlands... (1973) [32]; Hans-
Werner HAHN, Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert. Die hessischen
Staaten und der Deutsche Zollverein ( = KrStGw, Bd. 52), Göttingen 1982.
7 Nach H . BÖHME, Deutschlands W e g . . . ( 2 1972) [19], S. 76.
318 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

Hegemonialansprüche der Großen zu errichten, was die Tatkraft des auf


einheitliche Stimmabgabe angewiesenen Bundestags zusätzlich lähmte. 8
Auch in der europäischen Politik trat die Handlungsunfähigkeit des
Deutschen Bundes klar zutage. Schon im Fall des Krim-Kriegs (1853 — 1856)
wurde deutlich, daß das europäische Konzert von 1815 und damit auch die
grundsätzliche Interessengemeinschaft der beiden deutschen Führungs-
mächte im Auseinanderfallen begriffen w a r . 9 In der orientalischen Frage
prallten die Interessen Englands und Rußlands bereits seit längerem aufein-
ander; es ging um das Erbe der langsam schwindenden türkischen M a c h t -
stellung im östlichen Mittelmeerraum und um die weltstrategische Frage,
ob Rußland die Herrschaft über die türkischen Meerengen gewinnen und
damit die Levante kontrollieren, oder ob die Verbindungslinien zwischen
England und Indien frei und ohne russischen Einfluß blieben. Anfang Januar
1854 brach der offene Krieg aus, als britische und französische Kriegsschiffe
in das Schwarze Meer einliefen, um das russische Vorrücken in den Do-
naufürstentümern zu stoppen.
Der Deutsche Bund war schnell in den sich ausweitenden Konflikt ver-
wickelt; Österreich sah durch das russische Vorrücken seine Balkan-Inter-
essen berührt und machte mobil, Schloß sogar im Dezember 1854 mit
England und Frankreich einen Bündnisvertrag ab.
Preußen befand sich in einer schwierigen Lage; einerseits war bei krie-
gerischen Verwicklungen Österreichs seine Bundestreue gefordert, anderer-
seits handelte es sich um einen Krieg, in den Österreich außerhalb der

8 Enno E. KRAEHE, A History of the German Confederation, 1850 — 1866, Diss.


Minnesota 1948; Wilhelm SCHÜSSLER, Preußen und Österreich in der deutschen
Geschichte ( = StGb, H. 12/13), Göttingen 1963; Heinrich LuTZ/Helmut RUMP-
LER (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert.
Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deut-
schen Mitteleuropa ( = WiBGNz, Bd. 9), München 1982; Michael DERNDARSKY,
Österreich und die Deutsche Frage zwischen 1848 und 1866/67. Konzeptionelles
Dilemma und situative Probleme der Donaumonarchie gegenüber Deutschland,
in: Josef Becker/Andreas Hillgruber (Hg.), Die Deutsche Frage im 19. und
20. Jahrhundert. Referate und Diskussionsbeiträge eines Augsburger Symposiums
2 3 . - 2 5 . September 1981 ( = SchrPhilAugs, Bd. 24), München 1983, S. 6 3 - 9 0 .
9 Franz ECKHART, Die deutsche Frage und der Krimkrieg ( = OprF, N. F., Bd. 9),
Königsberg 1931; C. FRIESE, Rußland und Preußen... (1931) [91]; zu den Hin-
tergründen der englischen Intervention: H. TEMPERLEY, Stratford de Redcliffe
and the Origins of the Crimean War, in: EHR, Bd. 48 (1933), S. 6 0 1 - 6 0 4 ; Vte.
Eugène de GUICHEN, La guerre de Crimée (1853 —1856) et l'attitude des puissances
européennes. Étude d'histoire diplomatique, Paris 1936; Gavin Β. HENDERONS,
The Diplomatie Revolution of 1854, in: AHR, Bd. 43 (1937/38), S. 2 2 - 5 0 ;
Siegfried A. KAEHLER, Realpolitik zur Zeit des Krimkrieges - eine Säkularbe-
trachtung, in: HZ, Bd. 174 (1952), S. 417 - 478; H . R . von SRBIK, Deutsche Ein-
heit... ( 1 9 3 5 - 1 9 4 2 ) , Bd. 2, München 1935, S. 204ff.; Emil DANIELS, Der erste
Stellungskrieg der Weltgeschichte (Der Krimkrieg 1854—1856), in: Hans Del-
brück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Bd. 5,
Berlin 1928, S. 1 - 1 7 8 .
III. Preußen in der deutschen und europäischen Politik 1850-1859 319

Grenzen des Deutschen Bundes und als europäische, nicht als deutsche
Macht verwickelt war. Kompliziert wurde die preußische Haltung durch
innenpolitische Konflikte; während die hochkonservative Partei, aber auch
der Bundestagsgesandte Bismarck für ein Bündnis mit Rußland eintraten,
befürwortete ein liberal-konservativer Flügel, verkörpert durch den Lon-
doner Gesandten Bunsen, den Kriegsminister von Bonin sowie den Thron-
folger Prinz Wilhelm, das Bündnis mit den Westmächten und mit Österreich.
Der Konflikt spitzte sich zum Staatskonflikt zu; am 4. Mai 1854 wurde
Bonin entlassen und durch den der Kreuzzeitungs-Partei nahestehenden
Grafen Waldersee ersetzt, was zum offenen Bruch zwischen dem König und
dem Thronfolger führte. Damit war die Entscheidung gegen die preußische
Unterstützung der österreichischen Orientpolitik gefallen; zwar gab es den
beiderseitigen Bündnisvertrag vom 20. April 1854, der für die Dauer des
Krimkriegs die gegenseitige Unterstützung bei kriegerischer Verwicklung
eines Partners vorsah, 1 0 aber während Österreich diesen Vertrag als Hebel
ansah, um Preußen und die übrigen Bundesmitglieder zur Unterstützung
seiner Balkanpläne zu bringen, nutzte Preußen den Vertrag, um den Partner
am Kriegseintritt zu hindern. 1 1
Diese von Bismarck als schwächlich empfundene Politik der Negation,
die Preußen vor der Hand keinen gestaltenden Einfluß auf die Ereignisse
gestattete, zahlte sich jedoch in dem Moment des offenen Bündnisses
zwischen Österreich und den Westmächten vom 2. Dezember 1854 aus.
Österreich forderte jetzt die Mobilisierung des Bundes unter seinem Ober-
befehl an der Seite Englands und Frankreichs gegen Rußland; daß Preußen
seine Teilnahme verweigern würde, war dem österreichischen Außenmini-
ster Graf Buoi durchaus klar, aber das gehörte sogar zu seinem Plan: Sollte
Preußen sich mit Rußland verbünden, sah der österreichische Außenminister
die Chance gekommen, die deutsche Landkarte auf den Stand von 1740 zu
revidieren: Krieg Österreichs gegen Preußen im Bündnis mit Frankreich,
Zurückeroberung Schlesiens, Wiederherstellung Sachsens, um den Preis der
französischen Rheingrenze.
Preußen ging jedoch nicht in die diplomatische Falle; es verweigerte die
Mobilmachung seiner Truppen und derer des Bundes, ohne jedoch seine

10 Der Text des österreichisch-preußischen Schutz- und Trutzbündnisses (20. IV.


1854) gedruckt in: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... (31986) [40], Nr. 8, S. 11 f.
11 Christian Carl Josias Freiherr von Bunsen. Aus den Briefen und nach eigener
Erinnerung geschildert von seiner Witwe. Deutsche Ausgabe, durch neue Mit-
theilungen vermehrt von Friedrich Nippold, Bd. 3, Leipzig 1871; Karl RINGHOF-
FER (Hg.), Im Kampfe für Preußens Ehre. Aus dem Nachlaß des Grafen Albrecht
von Bernstorff, Staatsministers, und seiner Gemahlin Anna geb. Freiin von
Koenneritz, Berlin 1906. — Die österreichischen, preußischen, englischen und
französischen Akten zur Geschichte des Krimkriegs (AGKK) wurden in vier
Serien seit 1979 herausgegeben von W. Baumgart; vgl. dazu Winfried BAUMGART,
Die Aktenedition zur Geschichte des Krimkriegs. Eine Zwischenbilanz auf Grund
der österreichischen Akten, in: Ulrich Haustein/Georg W. Strobel/Gerhard Wag-
ner (Hg.), Ostmitteleuropa. Berichte und Forschungen, Stuttgart 1981, S. 217 —
236.
320 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 — 1 8 6 7

Neutralität gegenüber Rußland aufzugeben. 12 Damit war Preußen zum


Sprecher der übrigen Bundesmitglieder geworden, die nicht daran dachten,
sich für einen außerhalb der Bundesgrenzen stattfindenden Krieg zu enga-
gieren, und die überdies über das österreichisch-französische Einvernehmen
empört waren; der Bundestag erklärte eine formale Kriegsbereitschaft, doch
nur zur Wahrung der Neutralität. Als im März 1856 der Krim-Krieg in
Paris durch französische Vermittlung beendet wurde, gehörten Österreich
und Preußen zu den Signatarmächten; im Deutschen Bund jedoch hatte
Österreich an Prestige verloren, Preußen als Interessenwahrer der deutschen
Klein- und Mittelstaaten dagegen gewonnen. 13 Ohne preußische Unterstüt-
zung hätten sich die übrigen deutschen Staaten dem österreichischen Drän-
gen auf Kriegseintritt nicht widersetzen können; keine europäische Politik
des Deutschen Bundes, das hatte der Fall der Krimkrise gezeigt, war ohne
Preußen möglich, und zudem hatte Preußen sich als fast ausschließlich
deutsche Macht erwiesen, während Österreichs europäische Interessen gro-
ßenteils außerdeutsch waren.
Die zunehmende Konzentration der preußischen Politik auf den Bereich
des Deutschen Bundes zeigte sich auch in der Behandlung der Neuenburger
Frage. 1 4 Das Fürstentum Neuenburg, seit 1707 durch Personalunion mit der
preußischen Krone verbunden, seit 1815 zugleich auch Kanton der Schweizer
Eidgenossenschaft, hatte sich 1848 durch einen Aufstand von Preußen
getrennt und sich eine republikanische Verfassung gegeben. Friedrich Wil-
helm IV. hatte das im Revolutions jähr nicht verhindern können; immerhin
hatten die europäischen Großmächte im Londoner Protokoll vom 24. Mai

12 Zur „bewaffneten Neutralität" Preußens und des Bundes vgl. auch A. O. MEYER,
Bismarcks Kampf mit Österreich... (1927) [122], S. 2 3 7 ; K. BORRIES, Preußen im
Krimkrieg... (1930) [128]; Ders., Z u r Politik der deutschen M ä c h t e in der Zeit
des Krimkrieges und der italienischen Einigung, in: H Z , Bd. 151 (1935), S. 2 9 4 —
3 1 0 ; Winfried BAUMGART, Z u r Außenpolitik Friedrich Wilhelms IV. 1 8 4 0 - 1 8 5 8 ,
in: Otto Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines Col-
loquiums ( = EvHKzB, Bd. 62), Berlin 1987, S. 1 3 2 - 1 5 6 .
13 Z u m Verhältnis Preußens zu den Mittelstaaten vgl. Wolf D. GRUNER, Die deut-
schen Einzelstaaten und der Deutsche Bund. Z u m Problem der „nationalen"
Integration in der Frühgeschichte des Deutschen Bundes und der süddeutschen
Staaten, in: Andreas Kraus (Hg.), Land und Reich, Stamm und Nation. Probleme
und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für M a x Spindler zum
90. Geburtstag, Bd. 3 ( = SchrrbayLG, Bd. 80), München 1984, S. 1 9 - 3 6 ; Theo-
dor SCHIEDER, Die mittleren Staaten im System der großen Mächte, in: H Z ,
Bd. 2 3 2 (1981), S. 5 8 3 - 6 0 4 ; Ina Ulrike PAUL, Die bayerische Trias-Politik in der
Regierungszeit König Maximilians II. Z u Vorgeschichte, Idee und Wirklichkeit,
in: König Maximilian II. von Bayern 1 8 4 8 - 1 8 6 4 , Rosenheim 1988, S. 1 1 5 - 1 2 9 .
— Neuerdings zur mittelstaatlichen Triaspolitik: Peter BURG, Die deutsche Trias
in Idee und Wirklichkeit. Vom Alten Reich zum Deutschen Zollverein ( = VIEG,
Bd. 136), Stuttgart 1989.
14 Edgar BONJOUR, Vorgeschichte des Neuenburger Konflikts 1848-56
( = BernUAG, Bd. 5), Bern - Leipzig 1932; Ders., Der Neuenburger Konflikt 1856/
5 7 . . . (1957) [127],
III. Preußen in der deutsehen und europäischen Politik 1850 — 1859 321

1852 1 5 die preußischen Rechte in Neuenburg anerkannt. Ein gegenrevolu-


tionärer Aufstand mit dem Ziel, Neuenbürgs vorrevolutionäre Verfassung
wiederherzustellen, scheiterte am 3. September 1856, und eine Anzahl roya-
listischer Verschwörer wurde vor Gericht gestellt. Friedrich Wilhelm IV.
verlangte die Freilassung seiner Anhänger, der Schweizer Bundesrat lehnte
ab, Preußen brach seine diplomatischen Beziehungen zur Eidgenossenschaft
ab und machte, mit Rückendeckung durch den Deutschen Bund, mobil.
Doch nicht die preußische Kriegsdrohung, sondern starker Druck durch
das in dieser Angelegenheit auf preußischer Seite stehende Frankreich er-
möglichte schließlich einen Kompromiß: die Gefangenen wurden amnestiert,
und die preußische Krone verzichtete am 26. Mai 1857 auf ihre neuenbur-
gischen Rechte. Hier, wie auch sonst des öfteren in der preußischen Politik
der fünfziger Jahre, wurde deutlich, daß legitimistische Prinzipien zuneh-
mend hinter realpolitischen Erwägungen zurücktraten.
Das galt auch für das europäische Mächtesystem insgesamt. Das Bündnis
der legitimistischen Kronen Europas war spätestens seit dem Krimkrieg
zerfallen, und wesentlich dazu beigetragen hatte die Rückkehr Frankreichs
unter Napoleon III. zur dominierenden Stellung in Europa. Napoleons Ziel
bestand darin, aus den Beschränkungen von 1815 auszubrechen und die
klassische französische Politik der „natürlichen Grenzen" und der Einfluß-
sphären zu erneuern. Den Hebel zur Neuordnung Europas sah Napoleon
in der italienischen Nationalbewegung, als deren Protektor er die franzö-
sische Machtstellung im Mittelmeerraum zu stabilisieren und die Öster-
reichs zu unterminieren gedachte. Durch die Schwächung Österreichs be-
absichtigte er zugleich seinen Einfluß auf die deutsche Politik zu verstärken,
indem er Preußen unterstützte, um bei geeigneter Gelegenheit die Rhein-
grenze als Kompensation zu erhalten. 16
Am 10. Dezember 1858 Schloß Frankreich mit der italienischen Vormacht
im Kampf um die nationale Einigung, dem Königreich Piemont-Sardinien,
einen Bündnisvertrag mit offensiver Spitze gegen das österreichische Lom-
bardo-Venetien. Österreich ließ sich zum militärischen Vorgehen provozie-
ren; nach mehreren Niederlagen gegen die piemontesisch-französische Ar-
mee Schloß es jedoch am 11. Juli 1859 den Präliminarfrieden von Villa-

15 Druck des Londoner Protokolls über die Beilegung des Neuenburger Konflikts
(24.V. 1852) bei: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 16 (16),
S. 19 f.
16 Ernst SCHÜLE, Rußland und Frankreich vom Ausgang des Krimkrieges bis zum
italienischen Krieg 1 8 5 6 - 1 8 5 9 ( = OEF, N.F., Bd. 19), Königsberg 1935; Eric
CAHM, Politique et société. La France de 1814 à nos jours, Paris 1977; André
CASTELOT, Napoléon III et le Second Empire, 6 Bde., Paris 1975; Adrien DAN-
SETTE, Le Second Empire, 3 Bde., Paris 1972 - 1 9 7 6 ; Georges DUBY (Hg.), Histoire
de la France. Bd. 3: Le temps nouveau. De 1852 à nos jours, Paris 1972; Alice
GÉRARD (Hg.), Le Second Empire. Innovation et réaction ( = D o C l , Bd. 68),
Paris 1973; Georges PRADALIÉ, Le Second Empire ( = Qs, Bd. 739), Paris 1957
u. ö.; Theodore ZELDIN, France, 1848 - 1945, 2 Bde., Oxford 1973/77.
322 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867

f r a n c a , 1 7 in dem die Lombardei an Piémont abgetreten wurde, während


Venetien unter österreichischer Herrschaft verblieb. 1 8 In Deutschland, vor
allem südlich der Mainlinie, löste der italienische Krieg eine Welle der
nationalen Begeisterung a u s . 1 9 Während die österreichische Diplomatie an
allen deutschen Höfen um Unterstützung nachsuchte, schien in der liberalen
Presse und in der Stimmung der süddeutschen zweiten K a m m e r n die mili-
tante Begeisterung der Freiheitskriege wiedergekehrt. Der französische Erb-
feind müsse a m Po geschlagen werden, um den Rhein zu schützen, die
Unterstützung Österreichs sei patriotische Pflicht aller Deutschen, und es
dürfe sich nicht wiederholen, daß Preußen wie 1805 und 1806 Österreich
im Stich lasse, um anschließend selbst in der Vereinzelung zusammenzu-
brechen.
In Preußen dagegen war die Lagebeurteilung geteilt. Für die unbedingte
Bündnistreue gegenüber der Präsidialmacht trat hauptsächlich die hoch-
konservative Gruppe ein, die allerdings seit der Erkrankung Friedrich Wil-

17 Präliminarfrieden von Villafranca: Nouveau Recueil Général de traités et autres


actes relatifs aux rapports de droit international, R. 2, Bd. 16, Göttingen 1891
(ND Nendeln/Liecht. — New York 1967), S. 516; Frieden von Zürich: A . a . O . ,
S. 531. — Vgl. auch das Laxenburger Manifest Kaiser Franz Josephs an seine
Völker vom 15.VII. 1859, abgedruckt bei E . R . HUBER (Hg.), Dokumente...
( 3 1986) [40], Nr. 30 (30), S. 30ff., sowie die Mitteilung des Präsidialgesandten
v. Kübeck über den Abschluß des Präliminarfriedens von Villafranca vom 16. VII.
1859, a . a . O . , S. 32f.
18 Zur Geschichte Italiens vgl. Rosario ROMEO, Cavour et il suo tempo, 2 Bde.,
Bari 1969/77; Denis MACK SMITH, Victor Emanuel, Cavour and the Risorgimento,
London —New York —Toronto 1971; Franco VALSECCHI, L'Italia del Risorgi-
mento e l'Europa delle nationalità. L'unificazione italiana nella politica europea,
Milano 1978; Kent Robert GREENFIELD, Economics and Liberalism in the Risor-
gimento. A Study of Nationalism in Lombardy, 1814—1848 [1934], Baltimore
2 1965 (ND Westport 1978); Rudolf LILL, Geschichte Italiens vom 16. Jahrhundert

bis zu den Anfängen des Faschismus, Darmstadt 1980; Derek BEALES, The
Risorgimento and the Unification of Italy [1971], L o n d o n - N e w York 2 1981.
19 Annie MITTELSTAEDT, Der Krieg von 1859... (1904) [153]; Heinrich Ritter von
SRBIK, Die politischen Willensrichtungen im deutschen Volk. Der italienische
Krieg 1859, in: Ders., Deutsche Einheit... ( 1 9 3 5 - 1 9 4 2 ) [16], Bd. 2, München
1935, Buch VI, S. 295 - 411, hier S. 377 - 390; Kurt BACHTELER, Die öffentliche
Meinung in der italienischen Krise und die Anfänge des Nationalvereins in
Württemberg 1859, [Tübingen] 1934 (Phil. Diss. Tübingen 1934); Traute AMANN,
Die Stellung der deutschen politischen Gruppen zum Habsburgerstaat in den
Jahren 1859 bis 1866, Phil. Diss. Hamburg 1948 [MS]; Ernst PORTNER, Die
Einigung Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen ( = BoHF, Bd. 13),
Bonn 1959; Nicholas Martin HOPE, The Alternative to German Unification. The
Anti-Prussian Party Frankfurt, Nassau and the Two Hessen 1859—1867
( = VIEG, Bd. 75), Wiesbaden 1973; Wolf D. GRUNER, Die deutsche Frage. Ein
Problem der europäischen Geschichte seit 1800, München 1985, S. 94 — 98 (mit
weiterführender Literatur). - Vgl. auch die Darstellung und den ausführlichen
Literaturbericht in: H.SCHULZE, Der Weg zum Nationalstaat... (1985) [61],
S. 1 0 1 - 1 0 9 und 179 f.
III. Preußen in der deutschen und europäischen Politik 1 8 5 0 - 1 8 5 9 323

helms IV. an Einfluß verloren hatte; dagegen sprach eine breite Front, von
einzelnen Hochkonservativen wie Bismarck über die kleindeutschen Libe-
ralen bis hin zu radikalen Demokraten und Sozialisten. Wie bei den vor-
angegangenen außen- und bündnispolitischen Entscheidungen setzte sich
jedoch eine mittlere Linie des Vorrangs der preußischen Interessenwahrung
durch, getragen vor allem von dem Prinzregenten sowie von Außenminister
von Schleinitz. Im Bundestag setzte Preußen gegen heftigen Widerspruch
die Ablehnung der von Österreich geforderten Bundeshilfe durch, da durch
den Krieg in Italien das Bundesgebiet nicht unmittelbar bedroht sei. Hinter
der preußischen Neutralitätspolitik stand die Erwartung einer österreichi-
schen Niederlage und einer Schwächung der französischen Militärmacht,
die es Preußen ermöglichen werde, gestützt auf seine intakte Armee den
Frieden zu diktieren und die österreichischen Interessen in Italien zu wahren.
Damit wäre die „Schmach von Olmütz" getilgt, Preußens Stellung in
Deutschland wäre unangreifbar geworden. 20
Das preußische Kalkül scheiterte an dem schnellen Kompromißfrieden
von Villafranca. Preußens „bewaffnete Vermittlung" war nicht gefragt, und
zudem hatte seine Neutralität in einer Sache, die von dem weit überwie-
genden Teil der öffentlichen Meinung unter dem Imperativ der nationalen
Aufgabe gesehen wurde, zu einer peinlichen Einbuße an politischem Prestige
geführt. Das Mißverhältnis zwischen dem preußischen Führungsanspruch
und dem Versagen in einer Krisenlage machte die kleindeutsch-preußische
Lösung des deutschen Problems fragwürdig; die Anhänger einer großdeut-
schen Lösung unter habsburgischen Auspizien durch Reform der Bundes-
verfassung beherrschten am Ende der fünfziger Jahre die öffentliche Mei-
nung in Deutschland. 21

20 Rudolfine KÖLBL, Das Verhältnis Österreichs und Preußens zur Einigung Italiens
1 8 5 9 - 1 8 7 1 . Vom Züricher Frieden 1859 bis Ende Sommer 1862, Phil. Diss. Wien
1941; Oswald HAUSER, Preußische Staatsräson und nationaler Gedanke. Auf
Grund unveröffentlichter Akten aus dem schleswig-holsteinischen Landesarchiv.
Mit einem Dokumentenanhang ( = Q F G S c h l H o , Bd. 42), Neumünster 1960;
Frank-Lothar KROLL, Bismarck und Friedrich Wilhelm IV., in: Jost Dülffer/
Bernd Martin/Günter Wollstein (Hg.), Deutschland in Europa. Kontinuität und
Diskontinuität in der deutschen Politik im 19. und 20. Jahrhundert. Gedenkschrift
für Andreas Hillgruber, Berlin 1990, S. 205 - 228.
21 Vgl. dazu Anm. 19, den Literaturbericht in: W. BUSSMANN, Das Zeitalter Bis-
marcks... ( 4 1968) [6], S. 258 f., sowie Fritz GREVE, Die Politik der deutschen
Mittelstaaten und die österreichischen Bundesreformbestrebungen bis zum Frank-
furter Fürstentag 1 8 6 1 - 1 8 6 3 , Rostock 1938 (Phil. Diss. Rostock 1938); Erika
EBERSBACH, Studien zur deutschen Politik Österreichs, Preußens und der deut-
schen Mittelstaaten von Villafranca bis zum Scheitern der österreichisch-preu-
ßischen Militärverhandlungen im April 1861 und Beusts Bundesreformprojekt
vom 18. Oktober 1861, Phil. Diss. Leipzig 1942 [MS],
324 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

IV. Neue Ära und Verfassungskonflikt 1858 - 1 8 6 6


Die seit Mitte des Jahrzehnts zunehmende geistige Verwirrung Friedrich
Wilhelms IV. führte zur Übernahme der Stellvertretung und, seit dem
9. Oktober 1858, der Regentschaft durch seinen Bruder Wilhelm. 1 Seine
Mutter, die Königin Luise, hatte ihn 1810 „einfach, bieder und verständig"
genannt; zeitlebens hatte er im Schatten seines regierenden Bruders gestan-
den, den er bewunderte, dessen romantisch-legitimistische Haltung er jedoch
für sektiererische Verstiegenheit hielt. Wilhelm war mit allen Fasern seines
Lebens Soldat, er dachte als Soldat, und die Armee war seine eigentliche
Heimat. Als „Kartätschenprinz" war er in den Märztagen von 1848 den
Liberalen zum Synonym für Militarismus und Reaktion geworden; seit
Olmütz allerdings führte seine Abneigung gegen Österreich und sein Ein-
treten für unideologisch begründete preußische Interessenpolitik zum Bruch
mit den Hochkonservativen und zur Annäherung an die liberal-konservative
Wochenblatt-Partei. 2
Kaum einen Monat nach der Übernahme der vollen Regierungsgewalt
durch den Prinzregenten erblickte daher ein neues Ministerium unter Füh-
rung des als liberal geltenden Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sig-
maringen das Licht. 3 Fünf Minister gehörten der Wochenblatt-Partei an
oder standen ihr nahe, zwei weitere waren Mitglieder der alt-liberalen
Partei, zwei galten als bürgerlich konservativ; der erneut ernannte Kriegs-
minister von Bonin besaß bei der liberalen Presse einen guten Ruf, da er
während der Krim-Krise gegen das russische und für das englische Bündnis
eingetreten war. 4 Zugleich fand in den leitenden Stellen von Verwaltung

1 Vgl. dazu Walter BUSSMANN, Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich


Wilhelm IV. Eine Biographie, Berlin 1990, S. 412 - 425.
2 Zum Wandel der politischen Haltung des Prinzregenten und späteren preußischen
Königs/deutschen Kaisers vgl. Franz HERRE, Kaiser Wilhelm I. Der letzte Preuße,
Köln 1980; (1980) Erich MARCKS, Kaiser Wilhelm I. [1897], hg. von Karl Pagel,
Berlin 9 1943; Karl-Heinz BÖRNER, Kaiser Wilhelm I. Deutscher Kaiser und König.
Eine Biographie, Berlin 1984; Johannes SCHULTZE (Bearb.), Kaiser Wilhelms I.
Weimarer Briefe, 2 Bde., Berlin — Leipzig 1924; Ders. (Bearb.), Kaiser Wilhelms
I. Briefe an Politiker und Staatsmänner, 2 Bde., Berlin — Leipzig 1930/31.
3 An der Spitze des Ministeriums der „Neuen Ära" stand mit Karl Anton Fürst
von Hohenzollern-Sigmaringen, dem Chef der katholischen Linie des Hauses
Hohenzollern, ein Repräsentant der Gruppe der „Whigs" in der hohen deutschen
Aristokratie. — K[arl] Th[eodor] ZINGELER, Karl Anton Fürst von Hohenzollern.
Ein Lebensbild nach seinen hinterlassenen Papieren, Stuttgart 1911; Hermann
ONCKEN, AUS dem Lager der deutschen Whigs (Freiherr von Roggenbach, Gustav
Freytag und Herzog Ernst von Coburg, Gustav Freytag und General von Stosch,
Ludolf Camphausen, Mevissen), in: Ders., Historisch-politische Aufsätze und
Reden, Bd. 2, München - Berlin 1914, S. 265 - 302.
4 Neben den aus dem alten Ministerium übernommenen Ministern des Innern
bzw. des Handels, Flottwell und von der Heydt, und dem wieder eingesetzten
Kriegsminister von Bonin gehörten die liberalen Minister von Auerswald (ohne
Portefeuille) und Freiherr von Patow (Finanzen) — zusammen mit dem seit 1853
IV. Neue Ära und Verfassungskonflikt 1 8 5 8 - 1 8 6 6 325

und Diplomatie ein bedeutendes Revirement statt, in dessen Zuge vor allem
Anhänger der Wochenblatt-Partei die wichtigsten Ämter besetzten: Bis-
marck, der trotz seiner Differenzen mit den Brüdern Gerlach als Anhänger
der Hochkonservativen galt, wurde nach Petersburg geschickt und damit
kaltgestellt; die Kamarilla wurde vollkommen ausgeschaltet. 5
Das Regierungsprogramm des Prinzregenten, das dieser am 8. November
1858 dem Staatsministerium bekanntgab, wurde von der liberalen Öffent-
lichkeit mit hoffnungsvollem Beifall aufgenommen. Viel zitiert wurde vor
allem der Satz: „In Deutschland muß Preußen moralische Eroberungen
machen durch eine weise Gesetzgebung bei sich, durch Hebung aller sitt-
lichen Elemente und durch Ergreifung von Einigungselementen, wie der
Zollverband es ist ... Die Welt muß wissen, daß Preußen überall das Recht
zu schützen bereit ist." Weniger deutlich wahrgenommen wurde die War-
nung vor der „Phrase, daß die Regierung sich fort und fort treiben lassen
müsse, liberale Ideen zu entwickeln", und der Hinweis auf die Notwendig-
keit, das Heer auch bei Inkaufnahme erheblicher Kosten zu reorganisieren,
wurde in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der erhöhten preußischen
Machtstellung in Deutschland betrachtet, weniger unter dem der innenpo-
litischen Voraussetzungen und Folgen. 6
Besonders auffallend schlug sich die Veränderung des politischen Klimas
im Ergebnis der Abgeordnetenhaus-Wahl von 1858 nieder. Diesmal hatte
die Regierung auf Wahlbeeinflussung verzichtet, und als Folge schmolzen
die konservativen Fraktionen von 224 auf 47 Sitze zusammen. Sieger der
Wahl wurde die alt-liberale Fraktion Vincke, die 151 Mandate erzielte,
während die konservativ-liberale Wochenblatt-Partei in Gestalt der Fraktion
Mathis immerhin auf 44 Mandate kam. Da die Demokraten die Wahl nach
wie vor boykottierten, verfügten die gemäßigten und konstitutionellen Li-
beralen nunmehr über eine sichere Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Sie
waren mit Rücksicht auf die schwierige Lage des Prinzregenten und dessen

amtierenden Grafen Schwerin die Führer der liberalen Opposition im Abgeord-


netenhaus - , der Gründer der Wochenblattpartei, von Bethmann Hollweg, als
Kultusminister sowie Freiherr von Schleinitz, ein Vertrauter der Prinzessin Au-
gusta, dem Ministerium der „Neuen Ära" an. — Alexander BERGENGRÜN,
Staatsminister August Freiherr von der Heydt, Leipzig 1908; Fritz FISCHER,
Moritz August von Bethmann-Hollweg und der Protestantismus (Religion,
Rechts- und Staatsgedanke) ( = HSt., H. 338), Berlin 1938 (ND Vaduz 1965). -
Zur Wochenblattpartei s. auch Michael BEHNEN, Das preußische Wochenblatt...
(1971) [104]. - L. HAUPTS, Die liberale Regierung... (1978) [132].
s Günther GRÜNTHAL, Bemerkungen zur Kamarilla Friedrich Wilhelms IV. im
nachmärzlichen Preußen, in: Otto Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner
Zeit. Beiträge eines Colloquiums ( = EVHKzB, Bd. 62), Berlin 1987, S. 3 9 - 4 7 .
- Zu Bismarcks Kaltstellung: L. GALL, Bismarck... (1980) [46], bes. S. 1 8 4 -
189 und passim; Boris Baron NOLDE, Die Petersburger Mission Bismarcks 1859 —
1862. Rußland und Europa zu Beginn der Regierung Alexanders II., Leipzig 1936.
6 Die Regierungsansprache des Prinzregenten an das Staatsministerium vom 8. XI.
1858 findet sich gedruckt in: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40],
Nr. 35 (35), S. 35 ff.
326 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867

hoffnungsvolle programmatische Ankündigungen gewillt, der Regierung


Zeit zu geben, um keinen Rückfall in konservative Methoden zu provozie-
ren. „Nur nicht drängen" lautete die liberale Parole. 7
Diese Konstellation eröffnete die Aussicht eines friedlichen Verfassungs-
wandels, eines Ausgleichs zwischen adligen und bürgerlichen Eliten, einer
Ausweitung der Herrschaftsbasis, einer Integration des liberalen Bürgertums
in das konstitutionell-monarchische Staatswesen; das englische Vorbild
stand Pate. Die „Neue Ära" war auch nicht auf Preußen beschränkt; in den
meisten deutschen Staaten gewann der Liberalismus Auftrieb und verstärk-
ten Einfluß auf die Politik, in Baden wurde er sogar zur regierenden Partei,
und selbst das bisher neoabsolutistische Österreich änderte nach der italie-
nischen Niederlage seine Verfassungsverhältnisse: mit dem Februarpatent
von 1861 wurde der Reichsrat zum Herrenhaus umgewandelt, dem ein von
den Landtagen gewähltes Abgeordnetenhaus an die Seite gestellt wurde.
Doch diese liberal-konstitutionelle Phase Österreichs währte nur vier Jahre;
das Experiment scheiterte am Nationalitätenproblem und an der Finanz-
frage. Auch in Preußen verdunkelte sich der Himmel der „Neuen Ära"
wieder, wenn auch aus anderen Gründen. 8
Daß der Prinzregent, der nach dem Tod Friedrich Wilhelms IV. am
2. Januar 1861 als Wilhelm I. den preußischen Thron bestieg, seine über-
konstitutionelle Stellung als König ernst nahm, zeigte sich anläßlich seiner
Krönung am 18. Oktober 1861 in Königsberg; nur schwer war er dazu zu

7 Z u den „Erfindern" der Parole „Nur nicht drängen" s. L. HAUPTS, Die liberale
Regierung... (1978) [132], S. 63, Anm. 84; Haupts charakterisiert in Anm. 5 (S. 46)
kurz die wichtigeren Quellenveröffentlichungen, Gesamtdarstellungen sowie die
ältere Literatur. - Κ . H . BÖRNER, Die Krise... (1976) [134]; Siegfried BAHNE,
Vor dem Konflikt. Die Altliberalen in der Regentschaftsperiode der „Neuen Ära",
in: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hg.), Soziale Bewegung und
politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt ( = IndW,
Sonderbd.), Stuttgart 1976, S. 1 5 4 - 1 9 6 ; H. DIWALD (Hg.), Von der Revolution...
(1970) [62],
8 Lothar GALL, Der deutsche Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgrün-
d u n g , in: H Z , B d . 2 2 8 ( 1 9 7 9 ) , S. 9 8 - 1 6 8 ; H . SCHROTH, W e l t - u n d S t a a t s i d e e n . . .
(1931) [146]. — Mittelstaaten: Lothar GALL, Der Liberalismus als regierende
Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung
( = VIEG, Bd. 47), Wiesbaden 1968; Dieter LANGEWIESCHE, Liberalismus und
Demokratie in Württemberg zwischen Revolution und Reichsgründung
( = B G P a r l , Bd. 52), Düsseldorf 1974; Hans RALL, Die politische Entwicklung
von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in: M a x Spindler (Hg.), Handbuch der
bayerischen Geschichte, Bd. 4 / 1 , München 2 1981, S. 2 2 4 — 282, hier bes. S. 243 —
245; Hans RUIDER, Bismarck und die öffentliche Meinung in Bayern 1862 — 1866
( = DGbü, Bd. 1), München 1924; Andreas KRAUS, Geschichte Bayerns. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, München 1983. — Z u Österreich vgl. Ernst-Joseph
GöRUCH/Felix ROMENIK, Geschichte Österreichs [1970], Innsbruck - W i e n -
München 2 1977, S. 405 ff.; Hugo HANTSCH, Die Geschichte Österreichs, Bd. 2,
Graz-Wien 3 1 9 6 2 , S. 3 6 1 - 3 7 0 ; H a n n s L e o MIKOLETZKY, Ö s t e r r e i c h . D a s e n t -
scheidende 19. Jahrhundert. Geschichte, Kultur und Wirtschaft, Wien 1972,
S. 3 8 2 ff.
IV. Neue Ära und Verfassungskonflikt 1858 - 1866 327

überreden gewesen, auf das vorkonstitutionelle Zeremoniell der Erbhuldi-


gung durch die Stände zu verzichten, und in einer Ansprache an die
Abgeordneten bekannte er sich so dezidiert zum Gottesgnadentum, daß die
Liberalen sich vor den Kopf gestoßen und provoziert fühlten. 9 Ohnehin
waren die Beziehungen zwischen Krone und Abgeordnetenhaus gespannt,
denn der König hatte begonnen, mit der von ihm 1858 angekündigten
Heeresreform ernst zu machen. Für eine Heeresreform waren eigentlich
auch die Liberalen, deren kleindeutsche Träume ein militärisch starkes
Preußen voraussetzten. Tatsächlich war die Stärke der Armee seit 1815
nicht mehr erhöht worden, während die Bevölkerung von 11 auf 18 Millio-
nen angestiegen war; mit einer Präsenzstärke von 151.000 Mann war die
preußische Armee halb so groß wie die französische, und das russische Heer
war sogar etwa siebenmal so stark. Nicht nur aus Gründen der außenpo-
litischen Vernunft war eine Erhöhung der Heeresstärke angezeigt, sondern
auch aus Gründen der Wehrgerechtigkeit, denn nicht einmal ein Drittel der
Wehrpflichtigen konnte eingezogen werden.
Die Notwendigkeit einer Heeresvergrößerung war im Abgeordnetenhaus
unumstritten; die Steine des Anstoßes lagen auf den Feldern der Heeresor-
ganisation und der Finanzierung. 10 Den Plan der Heeresorganisation hatte
der Düsseldorfer Divisionskommandeur General Albrecht von Roon ent-
worfen, der nach Bonins Rücktritt am 5. Dezember 1859 zum Kriegsminister
ernannt wurde. 11 In der Hauptsache sah der Reorganisationsplan eine
vermehrte Rekrutenaushebung vor, weiterhin eine Erhöhung der aktiven

9 Theodor von BERNHARDI, Die ersten Regierungsjahre König Wilhelms I. Tage-


buchblätter aus den Jahren 1860—1863, Leipzig 1895; F. HERRE, Kaiser Wilhelm
I. . . . ( 1 9 8 0 ) [ s . o . A n m . 2 ] , S. 2 8 6 - 2 9 0 . - P a u l WENTZKE/JUIÌUS H E Y D E R H O F F
(Hg.), Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Brief-
sammlung, 2 Bde. ( = DGq, Bd. 18 und 24), Bonn 1925/26 (ND Osnabrück 1967).
10 Gerhard RITTER, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militaris-
mus" in Deutschland, 4 Bde., München 1954 — 1968; zur Heeresreform s. Bd. 1,
M ü n c h e n 1 9 5 4 , S. 1 5 9 f f . ; W . BUSSMANN, K ö n i g l i c h e A r m e e . . . ( 1 9 7 3 ) [ 1 3 5 ] ; G o r -
don A. CRAIG, Die preußisch-deutsche Armee 1640 —1945. Staat im Staate [engl.
1 9 5 5 , dt. 1 9 6 0 ] , K r o n b e r g (Ts.) 2 1 9 8 0 ; A . HESS, D a s P a r l a m e n t . . . (1964) [136]
(grundlegend; mit Tabellen zur Partei- und Wahlbewegung); J. SCHLUMBOHM
(Hg.), Der Verfassungskonflikt... (1970) [140]; Rainer WAHL, Der preußische
Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: Ernst-
Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 —
1918) (= ÑWB, Bd. 51), Köln 1972, S. 1 7 1 - 1 9 4 ; Manfred MESSERSCHMIDT,
Militär und Politik in der Bismarckzeit und im wilhelminischen Deutschland
( = EdF, Bd. 43), Darmstadt 1975.
11 Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Kriegsministers
Grafen von Roon. Sammlung von Briefen, Schriftstücken und Erinnerungen
[1892], 3 Bde., Berlin 5 1905; Reinhard HÜBNER, Albrecht von Roon. Preußens
Heer im Kampf um das Reich, Hamburg 1933; K. KAMINSKI, Verfassung und
Verfassungskonflikt... (1938) [137]; Friedrich ZIPFEL, Probleme der Roonschen
Heeresreform, in: Anita Mächler (Hg.), Historische Studien zu Politik, Verfassung
und Gesellschaft. Festschrift für Richard Dietrich zum 65. Geburtstag, Bern —
F r a n k f u r t / M . - M ü n c h e n 1 9 7 6 , S. 3 6 0 - 3 7 6 .
328 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

Dienstzeit der Wehrpflichtigen von zwei auf drei Jahre, sowie die Beseitigung
der Selbständigkeit der Landwehr, die in den Rahmen des stehenden Heeres
eingegliedert werden sollte. Die Landwehr war 1813 zur Volksbewaffnung
ins Leben gerufen und von den Liberalen immer als bürgerliches Institut
angesehen worden, das gegenüber der adlig geführten Linienarmee das freie
Volk in Waffen verkörpert hatte. Wer die Selbständigkeit der Landwehr
antastete, setzte sich dem Verdacht aus, die Kluft zwischen Bürgertum und
Armee vertiefen zu wollen. Auch gegen die dreijährige Dienstzeit erhoben
sich liberale Bedenken, denn damit wurden die Söhne des Bürgertums zu
lange von Studium und Kontor, die der Arbeiterschaft von ihren Arbeits-
plätzen ferngehalten und im Geist der Armee, in liberalen Augen also
reaktionär, erzogen. 12
Zunächst kam es zum Kompromiß. Da die Regierung erkannte, daß die
für die Heeres-Reorganisation notwendigen Gesetzänderungen von der li-
beralen Mehrheit im Abgeordnetenhaus nicht zu erlangen waren, ließ sie
die Wehrvorlage im Mai 1859 zunächst fallen und ersuchte den Landtag
um Bewilligung einer außerordentlichen Pauschalsumme zur Deckung der
Kosten, die die anläßlich der Mobilmachung dieses Jahres bereits neu
aufgestellten Regimenter verursachten. Der Landtag, froh, auf diese Weise
dem Konflikt ausweichen zu können, bewilligte die Pauschale in der An-
nahme, es handle sich um einen Ausnahmefall, der die weitere Behandlung
der Heeresreform nicht präjudizierte. Der Prinzregent ging jedoch davon
aus, daß, da so die Kosten der endgültig aufgestellten neuen Regimenter
bewilligt worden waren, der weitere Fortgang der Heeresreform damit vom
Parlament sanktioniert worden sei. Er wurde darin von dem neuen Kriegs-
minister von Roon unterstützt, der vollendete Tatsachen schuf, während er
im liberalen Kabinett mit ausweichenden Erklärungen taktierte.
Das Mißverständnis klärte sich anläßlich der Thronrede des Königs am
14. Januar 1861; der König erklärte den Abgeordneten unumwunden, er
sehe die Heeres-Reorganisation als irreversibel und endgültig an. Getreu
ihrem Motto „Nur nicht drängen" stimmte die altliberale Mehrheit des
Abgeordnetenhauses noch einmal einem erneuten Provisorium für 1861/62
zu, aber nur mit Abstrichen und der Maßgabe, daß die Regierung in der
nächsten Session dem Landtag ein Gesetz über die Dienstpflicht vorlege. 13

12 Reinhard HÖHN, Verfassungskampf und Heereseid. Der Kampf des Bürgertums


um das Heer ( 1 8 1 5 - 5 0 ) , Leipzig 1938; M. GUGEL, Industrieller Aufstieg... (1975)
[142]. - Vgl. a u c h B . P E S C H K E N / C . - D . CROHN ( H g . ) , D e r l i b e r a l e Roman...
(1976) [144] (Rez. von Heinrich August Winkler in: H Z , Bd. 225 [1977], S. 7 4 4 -
746).
13 Ludwig DEHIO, Die Taktik der Opposition während der Konfliktzeit, in: HZ,
Bd. 140 (1929), S. 2 7 9 - 3 4 7 ; Reinhard ADAM, Der Liberalismus in der Provinz
Preußen zur Zeit der neuen Ära und sein Anteil an der Entstehung der Deutschen
Fortschrittspartei, in: Altpreußische Beiträge. Festschrift zur Hauptversammlung
des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertums-Vereine zu Königs-
berg vom 4 . - 7 . September 1933, Königsberg 1933, S. 145 - 181; Ε. N. ANDERSON,
The Social and Political Conflict... (1954) [133].
IV. Neue Ära und Verfassungskonflikt 1858 - 1866 329

Eben dies hatte der König nicht vor; seine militärischen Berater, vor allem
der Chef des Militärkabinetts Edwin von Manteuffel und der Generalad-
jutant Gustav von Alvensleben, machten ihm klar, daß dies die Armee vom
Parlament abhängig machen werde. Die Armee sei aber die einzige sichere
Stütze des Throns, und gerade dieses enge, außerverfassungsmäßige Ver-
hältnis von Krone und Armee drohe das Parlament zu untergraben. 14
Am 6. Dezember 1861 fanden Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus statt;
das Ergebnis zeigte, wie tief im Laufe des vergangenen Jahres die Kluft
zwischen Regierung und bürgerlicher Wählerschaft geworden war. Der linke
Flügel der Altliberalen hatte sich aus Protest gegen die Abwartetaktik dieser
Partei abgespalten und sich unter der Bezeichnung „Deutsche Fortschritts-
partei" zur Wahl gestellt; ihr Programm umfaßte die Forderung nach der
Einigung Kleindeutschlands unter preußischer Führung, aber auch liberale
Wünsche wie die Sicherung der verfassungsmäßigen Bürgerrechte sowie die
parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister. 15 Neben dem Bekenntnis
zur Monarchie fand sich die Forderung nach Beibehaltung der Landwehr,
vormilitärischer Ausbildung aller männlichen Jugendlichen sowie zweijäh-
riger Dienstzeit aller Wehrpflichtigen. Von den 352 Sitzen des Abgeordne-
tenhauses errang die Fortschrittspartei 104, während die Altliberalen nur
noch 91 Abgeordnete stellten. Hinzu kam eine liberale Mittelpartei, vor-
wiegend aus rheinischen Honoratioren bestehend, während die Konserva-
tiven nur noch 14 Sitze erringen konnten.
Die Gewichte im neuen Landtag hatten sich also ins liberale Spektrum
verschoben; dennoch verfügte der ministerielle Block der Altliberalen, Ka-
tholiken und Konservativen noch über die knappe Mehrheit, und auch die
Fortschrittspartei suchte keineswegs den offenen Konflikt mit der Regierung.

14 G. RITTER, Die preußischen Konservativen... (1913) [64]; L. DEHIO, Edwin v.


Manteuffels politische Ideen... (1925) [115]; Ders., Die Pläne der Militärpartei
und der Konflikt, in: DRd, Bd. 213 (1927), S. 9 1 - 1 0 0 ; Rudolf SCHMIDT-BÜCKE-
BURG, Das Militärkabinett der preußischen Könige und deutschen Kaiser. Seine
geschichtliche Entwicklung und staatsrechtliche Stellung 1787 —1918, Berlin 1933;
Gordon A. CRAIG, Portrait of a Political General. Edwin von Manteuffel and
the Constitutional Conflict in Prussia, in: PSQ, Bd. 66 (1951), S. 1 — 3 6 ; Richard
DIETRICH, Staats- und Heeresreform in Preußen, in: N P L , 2. Jg. (1957), S. 403 -
420.
15 Parteiprogramm der Deutschen Fortschrittspartei für die Kammerwahlen vom
Dezember 1861, in: Wilhelm MOMMSEN (Hg.), Deutsche Parteiprogramme
( = DHbP, Bd. 1), München 1960, S. 1 3 2 - 1 3 5 ; H . A . WINKLER, Preußischer Li-
beralismus... (1964) [147]; Gerhard EISFELD, Die Entstehung der liberalen Par-
teien in Deutschland 1858 —1878. Studie zu den Organisationen und Programmen
der Liberalen und Demokraten, Hannover 1969; Hellmut SEIER, Liberalismus
und Staat in Deutschland zwischen Revolution und Reichsgründung, in: Wolfgang
Klötzer/Rüdiger Moldenhauer/Dieter Rebentisch, Ideen und Strukturen der deut-
schen Revolution 1848 ( = AFrankfGKu, Bd. 54), Frankfurt/M. 1974, S. 6 9 - 8 5 .
— Ludolf PARISIUS, Leopold Freiherr v. Hoverbeck. Ein Beitrag zur vaterländi-
schen Geschichte, 2 Teile (in 3 Bdn.), Berlin 1 8 9 7 - 1 9 0 0 ; Martin PHILIPPSON,
M a x von Forckenbeck. Ein Lebensbild ( = M ä Z , Bd. 6), Dresden 1898.
330 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

Die Militärpartei in der Umgebung des Königs dagegen sah bereits die
Revolution vor der Tür; während der neue Landtag zusammentrat, unter-
zeichnete der König die geheimen Marschbefehle für Truppenteile, die im
Ernstfall gegen Berliner Aufständische eingesetzt werden sollten. Der Land-
tag überlebte nur ein Vierteljahr; den Anlaß für die erneute Auflösung am
11. März 1862 bot die Annahme eines Antrags im Abgeordnetenhaus, in
dem die Regierung aufgefordert wurde, den Etat stärker zu spezifizieren,
um die Verwaltung daran zu hindern, größere Etatposten im Rahmen der
groben Kapitel- und Titeleinteilung zu verschieben und so der Armee
unkontrolliert zusätzliche Mittel zuzuschanzen. 16 Wenige Tage nach der
Landtagsauflösung entließ der König die liberalen Mitglieder des Staats-
ministeriums; an ihre Stellen traten aus der Verwaltung stammende kon-
servative Minister, an ihrer Spitze der neue Ministerpräsident Adolph Fürst
zu Hohenlohe-Ingelfing. Die Neue Ära war damit demonstrativ beendet. 17
Die Neuwahl vom 6. Mai 1862 fand in erregter Atmosphäre statt, und
nie zuvor und hinterher war die Beteiligung an preußischen Abgeordneten-
hauswahlen so hoch wie 1862, als sie 34,3 Prozent betrug. Als das neuge-
wählte Abgeordnetenhaus am 19. Mai 1862 zusammentrat, hatte die Fort-
schrittspartei ihre Mandatszahl auf 133 erhöhen können; auch das ihr
nahestehende „Linke Zentrum" vereinigte jetzt 96 Mandate, also doppelt
so viele wie im vorigen Landtag, während die altliberale Fraktion nur noch
19 Sitze besaß, unterboten lediglich durch die konservative Fraktion, die
mit 11 Abgeordneten nie weniger Mandate hatte als in diesem Landtag.
Diesmal besaß die Linke eine deutliche Mehrheit.
Zunächst schien es, als ließe sich der anbahnende offene Konflikt ver-
meiden; die Regierung legte sogar für 1862 und 1863 spezifizierte Etats vor,
dementierte damit also den Anlaß der letzten Landtagsauflösung. Doch
anläßlich der Beratung des Militäretats vom 11. bis zum 18. September
1862 zeigte sich, daß der Spielraum der Regierung zu eng war, um zum

16 Der Gegenantrag zu dem Antrag der Budgetkommission, den der Abgeordnete


der Fortschrittspartei Adolf Hermann Wilhelm Hagen am 6. III. 1862 stellte, ist
abgedruckt in: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 39, S. 40. -
Hans-Joachim COLLANI, Die Finanzgebarung des preußischen Staates zur Zeit
des Verfassungskonfliktes 1862 — 1866. Eine Untersuchung auf Grund unveröf-
fentlichten Aktenmaterials aus dem Preußischen Geheimen Staatsarchiv, Düssel-
dorf 1939 (R.- und staatswiss. Diss. Marburg 1939); Karl Heinrich FRIAUF, Der
Staatshaushaltsplan im Spannungsfeld zwischen Parlament und Regierung. Bd. 1:
Verfassungsgeschichtliche Untersuchungen über den Haushaltsplan im deutschen
Frühkonstitutionalismus. Mit einer kritischen Übersicht über die Entwicklung
der budgetrechtlichen Dogmatik in Deutschland, Bad Homburg v. d. H . - Ber-
lin - Z ü r i c h 1968, S. 106ff.; Günther GRÜNTHAL, Grundlagen konstitutionellen
Regiments in Preußen 1848 —1867. Z u m Verhältnis von Regierung, Bürokratie
und Parlament zwischen Revolution und Reichsgründung, in: Gerhard A. Ritter
(Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von
1848 bis zur Gegenwart ( = BGParl, Bd. 73), Düsseldorf 1983, S . 4 1 - 5 5 , hier
bes. S. 4 4 - 5 0 .
17 Vgl. dazu E. R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 3 1988) [39],
IV. Neue Ära und Verfassungskonflikt 1858 - 1 8 6 6 331

Kompromiß zu gelangen. Gemäßigte Mitglieder der Linksparteien, die


Abgeordneten Stavenhagen, Sybel und Twesten, beantragten, die Kosten
für die neuen Regimenter zu bewilligen, falls der König dafür die zweijährige
Dienstpflicht zugestehe. 18 Kriegsminister Roon war dazu auch bereit; der
König jedoch hielt an der dreijährigen Dienstpflicht fest und drohte für den
Fall einer Änderung mit seiner Abdankung. Roon mußte deshalb vor dem
Abgeordnetenhaus seine Kompromißbereitschaft dementieren; die erzürnte
Mehrheit verwarf daraufhin den Antrag Stavenhagen — Sybel — Twesten und
drohte, den Gesamtetat scheitern zu lassen. Damit war der Konflikt auf die
Spitze getrieben; es ging nicht mehr um konservativ oder liberal, sondern
um die Durchsetzung der parlamentarischen Kontrolle über die Grundsätze
der Armeeorganisation, mithin über ein Recht, das König und Armee als
extrakonstitutionelles Reservat der Krone und als Stütze der Staatsverfas-
sung betrachteten. Wilhelm I. gedachte lieber abzudanken als diese ans
Revolutionäre streifende Veränderung der innenpolitischen Machtbalance
zuzulassen; im Entwurf seiner Abdankungsurkunde, den er am 22. Septem-
ber 1862 aufsetzte, hieß es: „Weder mit den Grundsätzen Unseres eigenen
Lebens noch mit der glorreichen Geschichte und Vergangenheit Unseres
theuren Vaterlandes können wir brechen. Dieser Bruch aber wäre nöthig,
um den bestehenden Konflikt zu beseitigen." 19
Die preußische Verfassungskrise war die Stunde Bismarcks, inzwischen
Gesandter in Paris, von Roon nach Berlin gerufen mit dem berühmt ge-
wordenen Telegramm: „Periculum in mora. Dépêchez-vous." Die Szene im
Schloßpark von Babelsberg ist oft genug beschrieben worden: Der König
zweifelnd, halb schon zur Resignation bereit, Bismarck beschwörend: in
Frage stehe jetzt nicht die Person des Königs, sondern das Prinzip der
Königsherrschaft gegen das der Parlamentsherrschaft. Er sei bereit, „die
letztere unbedingt und auch durch eine Periode der Diktatur abzuwenden".
Am 24. September 1862 ernannte der König Bismarck zum Ministerpräsi-
denten. 20
Weder dem Hof noch der Öffentlichkeit war Bismarck ein Unbekannter.
Wilhelm I. fürchtete wie sein Vorgänger die Unberechenbarkeit und Un-
bedingtheit des pommerschen Ultra-Royalisten: „Riecht nach Blut! Nur zu
gebrauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet!" hatte Friedrich Wil-
helm IV. 1848 über Bismarck geäußert. Die liberale Öffentlichkeit erblickte
in ihm den Mann der Kreuz-Zeitung und der Armee, die Gegenrevolution
in Person. Worin beide Seiten Bismarck falsch beurteilten, das waren die
Annahmen über seine Motive bei Übernahme der Ministerpräsidentschaft.
Für Bismarck war sie nicht Ziel, sondern Mittel zur Erreichung eines

18 Der Antrag Stavenhagen — Sybel — Twesten vom 8. IX. 1862 abgedruckt in: E. R.
HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 40, S. 41. - Wilhelm TREUE, Wollte
König Wilhelm I. 1862 zurücktreten?, in: FBPG, Bd. 51 (1939), S. 275 - 310; E. R.
HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 3 1988) [39], S. 9 4 - 9 9 .
19 Vgl. den Entwurf der Abdankungsurkunde König Wilhelms I. in: E. R. HUBER
(Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 43, S. 45ff., hier S. 46.
20 L. GALL, Bismarck... (1980) [46], S. 248 ff.
332 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867

höheren Ziels: der Machterweiterung und Konsolidierung Preußens in einem


revolutionären Europa, ein Weg, der nach seiner Überzeugung nur durch
eine hegemoniale Lösung der deutschen Frage gegen Österreich, aber mög-
lichst im Einklang mit Europa zu gehen war. Die Mittel revolutionär, das
Ziel konservativ: mit den politischen Begriffen des Jahrhunderts war dieser
„weiße Revolutionär" (H. Kissinger), war dessen Prinzip der „schöpferi-
schen Antirevolution" (M. Stürmer) nicht zu fassen. 21
Dem standen allerdings die Bedingungen seines Amtsantritts entgegen.
Er sollte die Heeresreform ohne Abstriche durchsetzen, den Konflikt mit
dem Abgeordnetenhaus ohne Zugeständnisse an das parlamentarische Prin-
zip zu einem Ende bringen, und das in einer auf die Spitze getriebenen
innenpolitischen Lage, in der die Balance zwischen Volksvertretung und
Krone auf der Grundlage der Verfassung zerstört war: Bismarck sah klarer
als die oppositionellen Liberalen, daß der Verfassungskonflikt ein Macht-
konflikt war. 2 2 So schloß er die Session des Landtages am 13. Oktober
1862, ohne daß die Etats für das laufende und das kommende Jahr zustan-
degekommen waren, und proklamierte das „budgetlose Regiment" als einen
Fall des durch das Abgeordnetenhaus verursachten Staatsnotstands. Als
Begründung zog Bismarck die „Lücken-Theorie" heran: da die von Artikel
62 der Verfassung vorgeschriebene Gemeinsamkeit von Krone, Herren- und
Abgeordnetenhaus bei der Etatverabschiedung nicht zustandegekommen
war und die Verfassung diesen Fall nicht kenne, herrsche in diesem Bereich
ein außergesetzlicher Zustand, in dem entscheide, wer die Entscheidungs-
macht im Ausnahmefall besäße, und das sei keinesfalls das Parlament,
sondern die Krone. 2 3
Es zeigte sich nun, daß die Volksvertretung im offenen Konflikt mit der
Regierung am kürzeren Hebel saß. Sie mochte am 27. April 1863 ein Gesetz
über die Ministerverantwortlichkeit verabschieden, ein von der Regierung
vorgelegtes Kriegsdienstgesetz von der Tagesordnung absetzen, den König
durch Adresse vom 22. Mai 1863 2 4 sogar zum Regierungswechsel und zum

21 Henry A. Kissinger führte mit seinem Aufsatz: The White Revolutionary. Re-
flections on Bismarck, in: Daed, Bd. 97 (1968), S. 8 8 8 - 9 2 4 , eine Formulierung
Ludwig Bambergers von 1868 in die Forschung ein.
22 Bismarck vor der Budgetkommission am 30. IX. 1862, in: O. von BISMARCK, Die
gesammelten Werke... ( 1 9 2 4 - 1 9 3 5 ) [42], Bd. 10, hg. von Wilhelm Schüßler,
B e r l i n 1 9 2 8 , S. 1 4 0 ; O . NIRRNHEIM, D a s e r s t e J a h r . . . ( 1 9 0 8 ) [ 1 3 9 ] ; L u d w i g DEHIO,
Bismarck und die Heeresvorlage der Konfliktzeit, in: HZ, Bd. 144 (1931),
S. 3 1 - 4 7 ; H a n s ROTHFELS, B i s m a r c k s S t a a t s a n s c h a u u n g , in: G W U , 4 . J g . ( 1 9 5 3 ) ,
S. 676 - 703; E. ZECHLIN, Bismarck... ( 2 1960) [58] (reicht bis Ende 1863; grund-
legend).
23 Die Proklamation des budgetlosen Regiments durch die preußische Regierung in
einer Rede Bismarcks bei Schließung des Landtags am 13. X . 1862 ist gedruckt
in: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 49, S. 53. - Winfried
BECKER, Die angebliche Lücke der Gesetzgebung im preußischen Verfassungs-
konflikt, in: HJb, Bd. 100 (1980), S. 2 5 7 - 2 8 5 .
24 Die Adresse des Abgeordnetenhauses an den König vom 22. V. 1863 schließt mit
den Worten: „Das Haus der Abgeordneten hat kein Mittel der Verständigung
V. Die schleswig-holsteinische Frage 333

„Wechsel des Systems" auffordern, widrigenfalls das Abgeordnetenhaus jede


weitere Zusammenarbeit mit der Regierung verweigern werde: die Wirkung
auf die erregte öffentliche Meinung war jedesmal groß, auf Krone und
Regierung jedoch hatte es nicht den geringsten Einfluß, da der M o n a r c h
den Gesetzesinitiativen der Volksvertretung nur seine Zustimmung zu ver-
weigern brauchte und den Landtag, wie nach dem Mißtrauensvotum vom
22. Mai 1863, jederzeit schließen konnte. So lief sich der Konflikt in einer
Art von Stellungskrieg fest. Die Machtfrage war im Sinne der Krone
entschieden, doch die oppositionelle Kammermehrheit hatte mit der öf-
fentlichen Meinung in Preußen und Deutschland eine M a c h t hinter sich,
die in der zweiten Jahrhunderthälfte von keinem Kabinett mehr übersehen
werden konnte, und eben diese M a c h t benötigte Bismarck, um zu seinen
eigentlichen nationalpolitischen Zielen gelangen zu können. 2 5 N u r außen-
politische Erfolge waren jetzt imstande, die starren innenpolitischen Fronten
aufzulockern.

V. Die schleswig-holsteinische Frage


und die Kriege von 1864 und 1866

W i e in der preußischen Innenpolitik traf Bismarck bei seinem Amtsantritt


auch in der Außenpolitik auf Konstellationen, die ihn zu weiten Umwegen
bei der Annäherung an sein Vorhaben einer kleindeutschen Einigung unter
preußischen Auspizien nötigten. 1 Es gab zwei Grundgegebenheiten, denen
zu diesem Z w e c k Rechnung zu tragen war: da war auf der einen Seite das

mehr mit diesem Ministerium; es lehnt seine Mitwirkung zu der gegenwärtigen


Politik der Regierung ab. Jede weitere Verhandlung befestigt uns nur in der
Überzeugung, daß zwischen den Rathgebern der Krone und dem Lande eine
Kluft besteht, welche nicht anders, als durch einen Wechsel der Personen, und
mehr noch, durch einen Wechsel des Systems ausgefüllt werden wird." (E. R.
HUBER [Hg.], Dokumente... [ 3 1986] [40], Nr. 58, S. 69ff.); der König antwortete
vier Tage später mit einem höchst „ungnädigen" Erlaß (A. a. O., Nr. 59, S. 71 ff.)
25 Vgl. dazu bes. die liberale Presse: K. BUCHHEIM, Die Geschichte der Kölnischen
Zeitung... (1976/79) [105], Bd. 4, S. 3 0 5 - 3 1 6 .
1 Die preußische Außenpolitik von der Regentschaft bis zur Reichsgründung do-
kumentiert: Die auswärtige Politik Preußens... ( 1 9 3 2 - 1 9 4 5 ) [90], - Vgl. auch
Leonhard von MURALT, Bismarcks Politik der europäischen Mitte, Wiesbaden
1954; Ludwig DEHIO, ¡Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein
Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Krefeld 1948; Andreas HILLGRU-
BER, Bismarcks Außenpolitik, Freiburg i. Br. 1972; Ders., Deutsche Großmacht-
und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1977; Reinhard MEYERS,
Die Lehre von den internationalen Beziehungen. Ein entwicklungsgeschichtlicher
Überblick, Königstein/Ts. 2 1981; L. GALL, Bismarck... (1980) [46], S. 268 - 272;
Otto PFLANZE, Bismarcks Herrschaftstechnik als Problem der gegenwärtigen
Historiographie, in: H Z , Bd. 234 (1982), S. 5 6 1 - 5 9 9 ; Ders. (Hg.), Innenpolitische
Probleme des Bismarck-Reiches ( = SchrHKol, Bd. 2), München 1983.
334 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

1815 neu begründete europäische Mächtesystem, eines vielfach vom Zerfall


bedrohten, aber immer wieder auf internationalen Konferenzen befestigten
Gleichgewichts der europäischen Mächte, das auf der Integrität der betei-
ligten Staaten und der Unverletzbarkeit ihrer Souveränität und ihrer Grenzen
bei Strafe der Intervention durch die garantierenden Mächte beruhte. Auf
der anderen Seite stand das revolutionäre Prinzip der nationalstaatlichen
Einigung, beruhend auf der identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Kraft
gemeinsamer Sprache und Kultur, auf Kosten der bestehenden europäischen
Grenzziehungen. Vor allem die drei östlichen Mächte der europäischen
Pentarchie, Rußland und Österreich, in geringerem Maße auch Preußen,
hatten den Nationalismus zu fürchten, der ihr Staatsgebiet zu zerreißen
drohte; Frankreich unter Napoleon III. wiederum suchte dies zu nutzen,
um die europäische Ordnung von 1815 zugunsten einer erneuerten franzö-
sischen Hegemonialstellung zu stürzen. Bismarck dagegen plante, sich beider
Elemente zu bedienen, indem er die Forderung der deutschen Nationalbe-
wegung auf Einigung Deutschlands zur eigenen machte, ohne jedoch das
europäische Gleichgewicht zu gefährden, damit das Einigungswerk nicht
durch auswärtige Interventionen zunichte gemacht wurde. Da jedoch jeder
Politiker, der die Staatenordnung von 1815 respektierte, mit der Gegner-
schaft der deutschen Nationalbewegung zu rechnen hatte, und Bismarck
ohnehin in liberalen Augen den „schärfsten und letzten Bolzen der Reaktion
von Gottes Gnaden" darstellte, mußten seine ersten Schritte auf außenpo-
litischem Parkett das öffentliche Mißtrauen in den „Konfliktsminister"
zusätzlich schüren. 2
Den im Januar 1863 in Russisch-Polen ausgebrochenen polnischen Auf-
stand sah Bismarck sowohl unter dem Gesichtspunkt der preußischen
Staatsinteressen als auch unter dem seiner Handlungsfähigkeit im europä-
ischen Rahmen als Gefahr; ließ Rußland die Bildung eines polnischen
Staatswesens zu, so war nicht nur dessen Ausgreifen nach den preußischen
Ostprovinzen zu befürchten, sondern auch die Verbesserung des russisch-
französischen Verhältnisses, denn Frankreich galt traditionsgemäß als pol-
nische Schutzmacht. 3 So Schloß der Generaladjutant von Alvensleben am

2 A. L. von ROCHAU in: Wochenschrift des Nationalvereins, 3. X . 1862, S. 1065;


vgl. dazu auch L. GALL, Bismarck... (1980) [46], S. 254f.
3 Jerzy W. BOREJSZA, Über Bismarck und die polnische Frage in der polnischen
Historiographie, in: HZ, Bd. 241 (1985), S. 599 — 630 (hier auch die wichtigsten
deutschen und französischen Veröffentlichungen); Hans-Werner RAUTENBERG,
Der polnische Aufstand von 1863 und die europäische Politik im Spiegel der
deutschen Diplomatie und der öffentlichen Meinung ( = QStGöE, Bd. 10), Wies-
baden 1979; Eckart FLEISCHHAUER, Bismarcks Rußlandpolitik im Jahrzehnt vor
der Reichsgründung und ihre Darstellung in der sowjetischen Historiographie
( = DissnG, Bd. 1), Köln —Wien 1976; Siegfried BASKE, Praxis und Prinzipien der
preußischen Polenpolitik vom Beginn der Reaktionszeit bis zur Gründung des
Deutschen Reiches, in: FOEG, Bd. 9 (1963), S. 7 - 2 6 8 ; Irmgard GOLDSCHMIDT,
Der polnische Aufstand von 1863 in den Verhandlungen des preußischen Abge-
ordnetenhauses, Köln 1937 (Phil. Diss. Köln 1937). — Allgemein: R. F. LESLIE
(Hg.), The History of Poland since 1863, Cambridge - New York 1980; Peter F.
SUGAR/IVO J. LEDERER (Hg)., Nationalism in Eastern Europe ( = PublREE, Nr. 1),
Seattle 1969.
V. Die schleswig-holsteinische Frage 335

8. Februar 1863 mit dem Zaren eine Konvention ab, derzufolge russische
und preußische Truppen bei der Verfolgung polnischer Insurgenten die
beiderseitige Grenze überschreiten durften. 4 Damit sollte nicht nur das
Übergreifen des Aufstands auf Preußen verhindert, sondern vor allem Ruß-
land auf die Bekämpfung des Aufstands verpflichtet werden. Damit war
die Gefahr eines pro-polnischen französisch-russischen Arrangements auf
preußische Kosten gebannt; einer drohenden französisch-österreichischen
diplomatischen Offensive entzog sich Bismarck, indem er Ende Februar
1863 die Konvention wieder kündigte, nachdem ihr Zweck erfüllt war: so
hatte Preußen ohne Bruch mit den übrigen Mächten die Sympathie des
Zaren gewonnen und zugleich eine französisch-polnisch-russische Einkrei-
sung vermieden. Der liberalen und traditionell pro-polnischen Öffentlichkeit
allerdings schien dies Politik im Geiste der Heiligen Allianz; das Bild vom
reaktionären Junker an der Spitze des preußischen Staatsministeriums fe-
stigte sich.
Dazu paßte auch das preußische Vorgehen in der schleswig-holsteinischen
Frage. 5 Das Problem der unter dänischer Herrschaft stehenden deutsch-
sprachigen Elbherzogtümer hatte seit der Kieler Erhebung vom 23. März
1848 und dem darauf folgenden deutsch-dänischen Krieg (1848 - 1 8 5 0 ) die
national gesinnte deutsche Öffentlichkeit aufs heftigste bewegt. Den deut-
schen nationalen Interessen stand im Herzogtum Schleswig die nicht minder
nationalistische eiderdänische Partei entgegen, die die volle Eingliederung
der Herzogtümer in den dänischen Staatsverband betrieb. 6 Die rechtliche
Situation war nicht weniger kompliziert als die nationale. Schleswig, Hol-
stein und Lauenburg waren der dänischen Krone durch Personalunion
verbunden; kraft alten Landesrechts befanden sich die Herzogtümer „in
unlösbarer ständischer Einheit", doch gehörten nur Holstein und Lauenburg
gleichzeitig dem Deutschen Bund an. Die irredentistischen deutschen Hoff-
nungen richteten sich auf das bevorstehende Aussterben des dänischen
Königshauses Oldenburg, denn nur in Dänemark galt die weibliche Thron-
folge, in den Herzogtümern dagegen das salische Erbfolgerecht. Demnach

4 Hellmuth SCHEIDT, Konvention Alvensleben und Interventionspolitik der M ä c h t e


in der polnischen Frage 1863, Würzburg 1936 (Phil. Diss. München 1937).
5 Allgemein: E. R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 3 1988) [39], S. 4 4 9 -
509 (mit ausführlichen Literaturangaben); Alexander SCHARFF, Schleswig-Hol-
stein und die Auflösung des dänischen Gesamtstaates 1830 — 1 8 6 4 / 6 7 ( = Ge-
schichte Schleswig-Holsteins, Bd. 7, Lfg. 1), Neumünster 1980, S. 81 — 156 (zur
Publizistik zur Verfassungsfrage ab 1831); O t t o BRANDT, Geschichte Schleswig-
Holsteins, hg. von Wilhelm Klüver, Kiel 8 1 9 8 1 ; Klaus MALETTKE (Hg.), Die
Schleswig-Holsteinische Frage ( 1 8 6 2 - 1 8 6 6 ) ( = H T / N z , Bd. 5), Göttingen 1969
(mit weiteren Quellenangaben); N[ils] NEERGARD, Under Junigrundloven. En
Fremstilling af det danske Folks politiske Historie fra 1848 til 1866, 2 Bde. (in
3 Bdn.), Kebenhavn 1 8 9 2 - 1 9 1 6 (ND Kebenhavn 1973); Joachim DAEBEL, Die
Schleswig-Holstein-Bewegung in Deutschland 1 8 6 3 / 6 4 , Phil. Diss. Köln 1969;
L . D . STEEFEL, T h e Schleswig-Holstein Question... (1932) [160],
6 Hermann HAGENAH, Die nationale Bewegung in Schleswig-Holstein 1863, in:
ZfSHG, Bd. 5 6 (1927), S. 2 7 8 - 3 9 6 .
336 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867

wäre der Schwager des dänischen Königs, Herzog Christian von Sonder-
burg-Glücksburg, dessen Nachfolger in Dänemark geworden, während die
Herzogtümer unter das Regiment des Herzogs Christian August von Son-
derburg-Augustenburg gelangt wären, um als souveränes Mitglied des Deut-
schen Bundes aus dem dänischen Gesamtstaat auszuscheren. Erschwert
wurde dies jedoch durch das Londoner Protokoll v o m 8. Mai 1 8 5 2 , 7 in dem
die beteiligten europäischen M ä c h t e , darunter Österreich und Preußen, die
Unteilbarkeit des dänischen Gesamtstaats unter dem Hause Glücksburg
garantiert hatten. Der dänische König hatte dafür allerdings Zusagen für
die selbständigen und besonderen Rechte der Herzogtümer gemacht. Kom-
pliziert wurde die rechtliche Lage dadurch, daß die schleswig-holsteinischen
Stände die weibliche Erbfolge für die Herzogtümer nicht akzeptierten, und
daß der deutsche Bund, und mit ihm die deutschen Mittel- und Kleinstaaten,
an dem Londoner Protokoll nicht beteiligt gewesen w a r e n . 8
Unter dem Druck der dänischen nationalliberalen Partei nutzte der dä-
nische Reichsrat die polnischen Wirren, auf die sich die gesamte europäische
Aufmerksamkeit richtete, um am 30. M ä r z 1863 mit dem „ M ä r z p a t e n t " 9
die Einverleibung Schleswigs in den dänischen Staat vorzubereiten, die mit
der neuen dänischen Verfassung v o m 13. N o v e m b e r 1863 zur vollendeten
Tatsache wurde. Zwei Tage darauf starb der König, und sein Nachfolger,

7 Während sich im Ersten Londoner Protokoll (4. VII./2. VIII. 1850) die beteiligten
Mächte Rußland, England, Frankreich und Dänemark — Österreich trat ihm
später, am 23. VIII., bei — weitere Verhandlungen über die schleswig-holsteini-
sche Frage vorbehalten hatten, sprach das Zweite Protokoll der Londoner Kon-
ferenzen (8. V. 1852; gedruckt in: Ernst Rudolf HUBER (Hg.), Dokumente zur
deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803 —
1850, Stuttgart 3 1978, Nr. 247 (202), S. 610 f.) die Erbfolge in der dänischen
Gesamtmonarchie dem Prinzen Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-
Glücksburg zu. — Vgl. auch: Alexander SCHARFF, Das erste Londoner Protokoll.
Ein Beitrag zur europäischen Problematik der schleswig-holsteinischen Frage, in:
Harald Thurau (Hg.), Beiträge zur deutschen und nordischen Geschichte. Fest-
schrift für Otto Scheel, Schleswig 1952, S. 3 1 4 - 3 3 4 .
8 Zur Haltung der einzelnen deutschen Staaten zur schleswig-holsteinischen Frage
vgl. Josef FISCHER, Die öffentliche Meinung in Hessen-Darmstadt zur schleswig-
holsteinischen Frage 1 8 5 0 - 1 8 6 4 , Mainz a. Rh. 1933 (Phil. Diss. Gießen 1933);
Helmut LUBRICH, Hannover und die schleswig-holsteinische Frage 1863/64,
Weende - Göttingen 1934 (Phil. Diss. Göttingen 1934); Lothar KÜHN, Oldenburg
und die Schleswig-Holsteinische Frage 1 8 4 6 - 1 8 6 6 , Köln 1934 (Phil. Diss. Köln
1934); Theodor LOSKARN, Bayern und die schleswig-holsteinische Frage 1863/
64, Ingolstadt [1928] (Phil. Diss. München 1926); Julie RATH, Württemberg und
die schleswig-holsteinische Frage in den Jahren 1863 — 1865, B ü h l - B a d e n 1935
(Phil. Diss. Tübingen 1935); Liselotte KONRAD, Baden und die schleswig-holstei-
nische Frage 1863 - 1 8 6 6 ( = HSt, H. 265) Berlin 1935 (ND Vaduz 1965); Günther
DEITENBECK, Kurhessen und die schleswig-holsteinische Frage 1863/64, in:
ZVhessGLk, Bd. 62 (1940), S. 1 8 3 - 2 8 9 .
' E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 129 (126), S. 178ff.: Bekannt-
machung König Friedrichs VII. von Dänemark betreffend die holstein-lauenbur-
gische Verfassungsfrage.
V. Die schleswig-holsteinische Frage 337

der Glücksburger, bestätigte die neue Verfassung. Die E m p ö r u n g in der


deutschen Öffentlichkeit war ungeheuer; die liberale Presse erhob die Selb-
ständigkeit Schleswig-Holsteins unter dem Herzog von Augustenburg zum
Imperativ nationaler Politik, bis in die Kleinstädte hinab bildeten sich
Schleswig-Holstein-Vereine, und in Frankfurt forderten fast 5 0 0 Abgeord-
nete aller deutschen Landtage die Loslösung der Herzogtümer von der
dänischen Herrschaft. 1 0 Die M a c h t der deutschen Nationalbewegung war
bereits so groß, daß fast alle Klein- und Mittelstaaten sich ihren Forderungen
anschlossen; überdies gehörte der Deutsche Bund nicht zu den Signataren
des Londoner Protokolls von 1852, war also frei, sich in der Erbfolgefrage
auf die Seite des Augustenburgers zu schlagen. Im Bundestag mehrten sich
die Stimmen, die zur „Bundesintervention" oder auch zur „Okkupation" in
Holstein drängten, um dem Augustenburger zu seinem Recht zu verhelfen.
Das Vorhaben scheiterte an der preußischen Haltung. Entgegen allen
nationalen Aufwallungen und bundesrechtlichen Argumenten stellte Bis-
marck sich auf den Standpunkt des Primats der auswärtigen Politik und
des europäischen Vertragsrechts. 1 1 Da Preußen das Londoner Protokoll
unterschrieben hatte, erkannte es die Herrschaft des Glücksburgers auch
über die Herzogtümer an; lediglich die Verletzung der schleswig-holsteini-
schen Sonderrechte durch die neue gesamtdänische Verfassung, als Verlet-
zung dänischer Zusagen auf Grund des Londoner Protokolls, rechtfertigte
demnach ein bewaffnetes Eingreifen. Darauf einigte sich Bismarck Ende

10 H . ROSENBERG, D i e n a t i o n a l p o l i t i s c h e P u b l i z i s t i k . . . ( 1 9 3 5 ) [ 1 6 1 ] ; K . - G . FABER,
Die nationalpolitische Publizistik... (1963) [106]. — 491 Abgeordnete des „Deut-
schen Abgeordnetentages" in Frankfurt/M. nahmen bei ihrer Sitzung vom 21. XII.
1863 einstimmig durch Akklamation den „Beschluß des Frankfurter Abgeord-
netentags über die schleswig-holsteinische Erbfolgefrage" an; Text bei E. R.
HUBER (Hg.), D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 8 6 ) [40], N r . 138 (135), S. 190.
11 Vgl. dazu vor allem L. GALL, Bismarck... (1980) [46], S. 2 9 3 - 3 3 9 ; s. auch Arnold
Oskar MEYER, Die Zielsetzung in Bismarcks schleswig-holsteinischer Politik von
1 8 5 5 - 1 8 6 5 , in: ZfSHG, Bd. 53 (1923), S. 1 1 9 - 1 3 4 ; Friedrich FRAHM, Die Bis-
marcksche Lösung der schleswig-holsteinischen Frage, in: A. a. O., Bd. 59 (1930),
S. 3 3 5 - 4 3 1 ; Walter HAUSCHILDT, Bismarcks politische Strategie in der Schleswig-
Holsteinischen Frage, Phil. Diss. Kiel 1942 [MS]; Leonhard von MURALT, Bis-
marcks Politik der europäischen Mitte, Wiesbaden 1954. — Bismarck und die
europäischen Mächte: Robert Howard LORD, Bismarck and Russia in 1863, in:
AHR, Bd. 29 (1923/24), S. 24 - 48; Aage FRIIS/POVI BAGGE (Hg.), Europa, Dan-
mark og Nordslesvig. Aktstykker og Breve fra udenlandske Arkiver til Belysning
af Danmarks udenrigspolitiske Stilling efter Freden i Wien. 1864 — 1879, 3 Bde.,
Kebenhavn 1 9 3 9 - 1 9 4 8 ; Herbert GEUSS, Bismarck und Napoleon III. Ein Beitrag
zur Geschichte der preußisch-französischen Beziehungen 1 8 5 1 - 1 8 7 1 ( = K ö -
HAbh, Bd. 1), K ö l n - G r a z 1959; Rudolf ISLER, Diplomatie als Gespräch. Bis-
marcks Auseinandersetzung mit Österreich im Winter 1862/63, Winterthur 1966;
H. BURCKHARDT, Deutschland-England-Frankreich... (1970) [151]; Keith A. P.
SANDIFORD, Great Britain and the Schleswig-Holstein Question 1848 —1864. A
Study in Diplomacy, Politics and Public Opinion, Toronto - Buffalo 1975; E.
KOLB (Hg.), Europa und die Reichsgründung... (1980) [92]; vgl. auch O. PFLANZE,
Bismarcks Herrschaftstechnik... (1982) [s.o. Anm. 1],
338 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867

November 1863 mit dem zweiten deutschen Signatar des Londoner Proto-
kolls, mit dem österreichischen Außenminister Rechberg, und so erblickten
die liberale Öffentlichkeit und der Bundestag das ungewohnte Bild eines
einträchtigen preußisch-österreichischen Auftretens, als am 7. Dezember
1863 die Frage der Bundesintervention auf der Tagesordnung des Bundestags
stand. 12 Mit nur einer Stimme Mehrheit setzten sich die beiden Führungs-
mächte mit ihrem Verlangen durch, statt dessen die Bundesexekution gegen
Holstein und Lauenburg zu proklamieren; die Verschiebung der juristischen
Terminologie bedeutete, daß nunmehr gegen die unrechtmäßigen Maßnah-
men des damit als rechtmäßiger Herrscher anerkannten Glücksburgers in
den Herzogtümern vorgegangen werden sollte: ein Schlag ins Gesicht der
deutschen Nationalbewegung und der Mittelstaaten, aber eine Beruhigung
für die europäischen Mächte, denn Preußen und Österreich traten damit
als Garanten des Londoner Protokolls und der europäischen Rechtsordnung
auf. Eine Intervention Englands, auf die Dänemark hoffte, fand daher nicht
statt; bei russischer Rückendeckung und französischer Zurückhaltung hat-
ten die Exekutionstruppen in den Elbherzogtümern praktisch freie Hand.
Am 21. Januar 1864 rückten österreichische und preußische Truppen in
Holstein ein und besetzten, da die dänischen Truppen sich zunächst kampf-
los zurückzogen, anschließend Schleswig als „Pfand". 1 3 Österreich, das sich
an den Operationen vor allem beteiligt hatte, um Preußen das Feld nicht
allein zu überlassen, und um den Bundesgenossen zu überwachen und zu
bremsen, sah den Zweck des Kriegs mit der Eroberung Schleswigs erreicht;
erst nach langen Verhandlungen erreichte Bismarck, daß die gemeinsamen
Operationen weiter nach Jütland vorgetragen werden konnten, um die
Entscheidung herbeizuführen. Am 18. April 1864 stürmten preußische Trup-
pen unter schweren Verlusten die Düppeler Schanzen; bis zur Jahresmitte
waren Jütland und Alsen in der Hand der verbündeten Armeen, während
eine Konferenz in London, auf der eine diplomatische Lösung beraten
wurde, ergebnislos auseinanderging. Nach einem Präliminarfrieden am

12 E . R . H U B E R ( H g . ) , D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 8 6 ) [ 4 0 ] , N r . 1 3 6 ( 1 3 3 ) , S. 1 8 8 : B u n d e s b e -
schluß über den Vollzug der für Holstein und Lauenburg angeordneten Bundes-
exekution.
13 Kriegsverlauf: Hans DELBRÜCK/EITIÍI DANIELS, Geschichte der Kriegskunst im
Rahmen der politischen Geschichte, Bd. 5, Berlin 1928; Der Deutsch-Dänische
K r i e g . . . ( 1 8 8 6 / 8 7 ) [ 1 5 6 ] ; [ H . v o n MOLTKE,] G e s a m m e l t e S c h r i f t e n . . . (1891-1893)
[101]; Moltkes Militärische Werke, Abt. 1: Militärische Korrespondenz, Bd. 1:
Krieg 1864, Berlin 1892; Wolfgang FÖRSTER (Hg.), Prinz Friedrich Karl von
Preußen. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben. Vornehmlich auf Grund des
schriftlichen Nachlasses des Prinzen, 2 Bde., Stuttgart 1910; Heinrich FRIEDJUNG
(Hg.), Benedeks nachgelassene Papiere [1901], Dresden 3 1904; Anneliese KLEIN-
WUTTIG, Politik und Kriegführung in den deutschen Einigungskriegen 1864, 1866
und 1870/71 ( = AbhmnG, Bd. 75), Berlin 1934. - Vgl. dazu auch H. HELMERT/
H. USCZECK, Preußisch-deutsche Kriege ... ( 4 1978) [98]; H. HELMERT, Kriegspo-
litik und Strategie... (1970) [97],
V. Die schleswig-holsteinische Frage 339

1. August und dem endgültigen Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864 1 4
verzichtete der König von Dänemark auf seine Rechte in den Herzogtümern
Schleswig, Holstein und Lauenburg zugunsten des Kaisers von Österreich
und des Königs von Preußen, die das Land vorerst als Kondominium
verwalteten.
Im nachhinein erscheint der deutsch-dänische Krieg von 1864 als untrenn-
barer Teil der Einigungskriege, die zur Reichsgründung führten; die Zeit-
genossen sahen das anders, und auch Bismarck hat den Krieg unter anderen
Prämissen geführt. Der Krieg war als reiner Kabinettskrieg 15 geführt wor-
den, die Ansprüche des Augustenburgers wurden von Preußen und Öster-
reich negiert, das Kondominium kam einer Vergewaltigung der schleswig-
holsteinischen Selbstbestimmung gleich, als legitimierende Rechtsgrundlage
hatte nicht die Einheitsforderung der deutschen Nation, sondern das gegen
nationale Selbstbestimmung gerichtete internationale europäische Recht
gedient. Abgesehen von einer Minderheit preußischer liberaler Intellektu-
eller wie den Historikern Mommsen, Treitschke und Sybel, aber auch dem
Demokraten Waldeck, die jetzt zu Bismarcks Politik keine nationale Alter-
native mehr sahen, war die Stimmung der liberalen deutschen National-
bewegung, ob klein- oder großdeutsch gesinnt, ebenso wie die der Klein-
und Mittelstaaten antipreußisch, vor allem antibismarckisch. 16
Und Bismarck war entschlossen, entgegen den Forderungen der öffent-
lichen Meinung die Herzogtümer in eine preußische Provinz umzuwandeln,
womit allerdings eine entschiedene anti-österreichische Politik nicht von
vornherein verbunden sein mußte: zu den vielfältigen politischen Optionen
des preußischen Ministerpräsidenten gehörte auch die Alternative eines
preußisch-österreichischen Interessenausgleichs. Im August 1864 schlug Bis-
marck dem österreichischen Außenminister Rechberg vor, Österreich möge
der preußischen Hegemonie in Norddeutschland zustimmen und auf die
Elbherzogtümer verzichten, wogegen Preußen bereit sei, Österreich bei der
Wiedergewinnung der Lombardei, auch gegen Frankreich, militärisch zu
unterstützen. Der Vertragsentwurf wurde von beiden Seiten nicht weiter-
verfolgt, nicht zuletzt, weil Rechberg, der Befürworter des Ausgleichs,
im Oktober 1864 entlassen wurde, aber er zeigt, wie offen die Situation

14 Ein Auszug (Art. I —III) des Friedensvertrags von Wien zwischen Österreich,
Preußen und Dänemark vom 30. X . 1864 bei E . R . HUBER (Hg.), Dokumente...
( 3 1986) [40], Nr. 153 (149), S. 206.
15 Vgl. dazu u. a. Alan PALMER, Glanz und Niedergang der Diplomatie. Die Ge-
heimpolitik der europäischen Kanzleien vom Wiener Kongreß bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkriegs, Düsseldorf 1986, S. 2 2 6 - 2 3 1 .
16 Vgl. dazu die in Anm. 10 genannte Lit.; Adolf RAPP (Hg.), Großdeutsch —
kleindeutsch. Stimmen aus der Zeit von 1815 bis 1914 ( = D S t a G e d , Bd. 1),
München 1922; Georg REINHARDT, Preußen im Spiegel der öffentlichen Meinung
Schleswig-Holsteins 1866 — 1870. Eine Untersuchung der Volksmeinung im über-
wiegend deutschen Gebiet der Herzogtümer in der Zeit von der Eingliederung
des Landes in Preußen bis zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, Phil.
Diss. Kiel 1952 [MS],
340 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

noch war. Die Beziehungen zwischen Wien und Berlin verschlechterten sich;
in einer N o t e v o m 22. Februar 1865 teilte Bismarck Bedingungen mit, unter
denen Preußen der Errichtung eines schleswig-holsteinischen Staats zustim-
men wolle, die den Augustenburger praktisch zum preußischen Vasallen
gemacht hätten. Preußen verschärfte den Konflikt, indem es eine Marine-
station von Danzig nach Kiel verlegte, doch blieb der Weg eines friedlichen
Ausgleichs lange offen; die „Gasteiner K o n v e n t i o n " v o m 14. August 1865, 1 7
die auf eine definitive Teilung der Elbherzogtümer in einen nördlichen
österreichischen und einen südlichen preußischen Teil hinauslief, wenngleich
die gemeinsame Verantwortung der beiden M ä c h t e für Schleswig-Holstein
bestehen bleiben sollte, während Österreich seine Rechte a m H e r z o g t u m
L a u e n b u r g für 2 Vi Millionen dänische Taler an Preußen veräußerte, machte
die Möglichkeit einer einvernehmlichen Teilung Deutschlands in eine öster-
reichische und eine preußische M a c h t s p h ä r e ungeachtet aller deutsch-natio-
nalen Strömungen noch einmal sichtbar.
D o c h die Gasteiner Konvention konnte nicht mehr verschleiern, daß die
Situation sich zur definitiven und militärischen Entscheidung über die Frage
der deutschen Vormachtstellung zuspitzte. Bereits anläßlich des preußischen
Kronrats a m 29. M a i 1865, 1 8 auf d e m die Frage der vollen Annexion
Schleswig-Holsteins zur D e b a t t e stand, hatten sowohl der K ö n i g als auch
Generalstabschef M o l t k e den Krieg gegen Österreich für unvermeidlich
erklärt; Bismarck allerdings hatte jeder Entscheidung widersprochen, die
den militärischen Konflikt zwangsläufig herbeiführte. D o c h als auch nach
Gastein die österreichische P r o p a g a n d a für den Augustenburger in den
Herzogtümern nicht nachließ und damit offensichtlich wurde, daß Wien
die Arrondierung Preußens durch Annexion Schleswig-Holsteins nicht hin-
zunehmen bereit war, wuchs auch im preußischen Ministerpräsidenten die
Überzeugung, daß der entscheidende Konflikt nicht mehr aufzuhalten sei.
A m 28. Februar 1866 k a m ein K r o n r a t übereinstimmend zu dem Ergebnis,
daß der Krieg unvermeidlich sei; man beschloß, dem Waffengang nicht

17 S. den Text der Konvention von Gastein vom 14. VIII. 1863 bei E. R. HUBER
(Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 158 (153), S . 2 1 2 Í . ; Eberhard KESSEL,
Gastein, in: H Z , Bd. 176 (1953), S. 5 2 1 - 5 4 4 . - Vgl. auch: Otto BECKER, Der
Sinn der dualistischen Verständigungsversuche Bismarcks vor dem Kriege 1866,
in: H Z , Bd. 169 (1949), S. 2 6 4 - 2 9 8 ; Walter LIPGENS, Bismarcks Österreich-
Politik vor 1866. Die Urheberschaft des Schönbrunner Vertragsentwurfs
vom August 1864, in: WaG, Bd. 10 (1950), S. 240 - 262.
18 Arnold Oskar MEYER, Der preußische Kronrat vom 29. Mai 1865, in: Gesamt-
deutsche Vergangenheit. Festschrift für H. v. Srbik, München 1938, S. 3 0 8 - 3 1 8 ;
Protokoll des Kronrats: Die auswärtige Politik Preußens... ( 1 9 3 2 - 1 9 4 5 ) [90],
Bd. 6, Oldenburg i. O. - Berlin 1939, Nr. 100, S. 174 ff.; Karl Friedrich Graf
VITZTHUM VON ECKSTÄDT, London, Gastein und Sadowa 1 8 6 4 - 1 8 6 6 . Denkwür-
digkeiten, Stuttgart 1889; Heinrich Ritter von SRBIK, Die Schönbrunner Konfe-
renzen vom August 1864, in: H Z , Bd. 153 (1936), S. 4 3 - 8 8 ; R. STADELMANN,
Das Jahr 1865... (1933) [155],
V. Die schleswig-holsteinische Frage 341

auszuweichen, ohne aber den Ausbruch zu provozieren. 1 9 Schon eine W o c h e


zuvor hatte ein W i e n e r M i n i s t e r r a t unter Vorsitz des Kaisers die Lage
ebenso beurteilt und für den Einsatz diplomatischer Mittel plädiert, den
Krieg jedoch als letztes M i t t e l in Aussicht g e n o m m e n . 2 0 So w a r die Ent-
schlossenheit zur endgültigen Auseinandersetzung auf beiden Seiten glei-
chermaßen vorhanden; es ging nur noch darum, Verbündete zu gewinnen
und die Verantwortung für den Kriegsausbruch der jeweiligen anderen Seite
zuzuschieben.
Dabei befand sich Preußen in der besseren Lage. D a s Bündnis mit
Österreichs Gegner an der Südfront, mit Italien, lag nahe und wurde auch
am 8. April 1866 abgeschlossen. England wünschte vor allem keine fran-
zösische M a c h t a u s w e i t u n g und w a r an den deutschen Fragen relativ des-
interessiert; R u ß l a n d war seit dem Krim-Krieg für Österreich kein denkbarer
Bündnispartner mehr, neigte eher zu Preußen und verhielt sich vorerst
neutral. Entscheidend w a r die Stellung Frankreichs; das w a r N a p o l e o n III.
auch bewußt, der die Lage zu einem undurchsichtigen diplomatischen
Verwirrspiel zwischen Berlin und W i e n ausnutzte, mit dem Ziel der Ein-
verleibung Venetiens in den neuen italienischen N a t i o n a l s t a a t sowie K o m -
pensationen a m R h e i n . N a c h monatelangen Sondierungen, bei denen Preu-
ßen die Frage der K o m p e n s a t i o n e n im Falle einer französischen Unterstüt-
zung sehr vage und eher ablehnend behandelt hatte, entschloß sich N a p o -
leon schließlich für die österreichische Karte; in einem Geheimvertrag v o m
12. J u n i 1866 sicherte W i e n gegen wohlwollende französische Neutralität
für den Fall eines Sieges die Abtretung Venetiens sowie die Duldung der
Bildung eines unter französischem Einfluß stehenden neuen Staatswesens
am R h e i n zu. Österreich blieb k a u m etwas anderes übrig, als in die fran-
zösischen Vertragsbedingungen einzuwilligen, denn die Alternative, ein fran-
zösisch-preußisches Offensivbündnis, hätte die österreichische Lage hoff-
nungslos g e m a c h t . 2 1

19 Protokoll des preußischen Kronrats vom 28. II. 1866 in: Die auswärtige Politik
Preußens... ( 1 9 3 2 - 1 9 4 5 ) [90], Bd. 6, Oldenburg i. O.-"Berlin 1939, Nr. 499,
S. 611 ff.
20 Protokoll des österreichischen Ministerrats vom 21. II. 1866: Heinrich Ritter von
SRBIK (Hg.), Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1 8 5 9 - 1 8 6 6 , Bd. 5/1
( = DGq, Bd. 33/1), Oldenburg i . O . - B e r l i n 1938 (ND Osnabrück 1967),
N r . 2 3 2 5 , S. 2 0 2 ff.
21 F. BEICHE, Bismarck und Italien... (1931) [150]; den preußisch-italienischen Bünd-
nisvertrag vom 8. IV. 1866 vgl. in: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40],
Nr. 162 (157), S. 222 f. - Lothar GALL, Bismarck und England, in: Paul Kluke/
Peter Alter (Hg.), Aspekte der deutsch-britischen Beziehungen im Laufe der
Jahrhunderte. Ansprachen und Vorträge zur Eröffnung des Deutschen Histori-
schen Instituts in London. Aspects of Anglo-German Relations through the
Centuries ( = V D H I L o n , Bd. 4), Stuttgart 1978, S. 4 6 - 5 9 . - Zu Bismarcks
Rußlandpolitik s. E. FLEISCHHAUER, Bismarcks Rußlandpolitik... (1976) [s.o.
Anm. 3]; Horst MÜLLER-LINK, Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-
Deutschland und das Zarenreich von 1860 bis 1890 (KrStGw, Bd. 24), Göttingen
1977. - Zur Frankreichpolitik: Lauri Adolf PUNTILA, Bismarcks Frankreichpo-
342 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

Auch innerhalb des Deutschen Bundes suchten die beiden Gegner nach
Verbündeten. A m 9. April 1866 ließ Bismarck a m Bundestag den Antrag
auf Berufung eines Bundesparlaments stellen, das aus allgemeinen Wahlen
hervorgehen und eine Bundesreform beraten sollte. 2 2 Diese Übernahme
nationaler und liberaler Forderungen zeigte, wie wenig es Bismarck auf die
Mittel der Politik ankam, solange sie den Zielen dienten: das erste M a l
zeigte der reaktionäre Konfliktsminister die andere Seite seines politischen
Wesens, die Bereitschaft, die nationale Revolution zu adoptieren, mit dem
Appell an die Massen die monarchischen, bürokratischen und staatlichen
Institutionen unter Druck zu setzen und in cäsaristischer Manier die Re-
volution von oben zu wagen. Der Einsatz des plebiszitären Arguments k a m
diesmal allerdings unvorbereitet und verfrüht; die liberale Publizistik zeigte
sich entrüstet über dieses scheinbar heuchlerische Manöver, und im Bun-
destag sahen vor allem die kleinen und mittleren Staaten die Gefahren, die
aus einem nationaldemokratisch geprägten gesamtdeutschen Parlament für
ihre Existenz erwuchsen, und wandten sich empört gegen den preußischen
Reformvorschlag. Das dritte Deutschland blieb einstweilen zwischen den
Fronten und suchte einer kriegerischen Entscheidung auszuweichen. 2 3

litik [finn. 1952], Göttingen — Frankfurt/M. - Zürich 1971. - Text der österrei-
chisch-französischen Geheimkonvention vom 12. VI. 1866 bei H. ONCKEN, Die
Rheinpolitik Kaiser Napoleons III... (1926) [202], Bd. 1, Nr. 147, S. 265; Heinrich
Ritter von SRBIK, Der Geheimvertrag Österreichs und Frankreichs vom 12. Juni
1 8 6 6 , i n : H J b , B d . 5 7 ( 1 9 3 7 ) , S . 4 5 4 - 5 0 7 ; E v e l y n A n n POTTINGER, N a p o l e o n III
and the German Crisis, 1865 — 1866 ( = HarvHSt, Bd. 75), Cambridge/Mass.
1966; Elisabeth FEHRENBACH, Preußen-Deutschland als Faktor der französischen
Außenpolitik der Reichsgründungszeit, in: E. Kolb (Hg.), Europa und die Reichs-
gründung... (1980) [92], S. 1 0 9 - 1 3 7 ; R a y m o n d PoiDEViN/Heinz-Otto SIEBURG
(Hg.), Aspects des relations franco-allemandes à l'èpoche du second Empire,
1851 — 1866. Deutsch-französische Beziehungen im Zeitalter des Second Empire,
1 8 5 1 - 1 8 6 6 . Actes du colloque d'Otzenhausen, 5 - 8 octobre 1981 ( = P u b l -
RIMetz, Bd. 15), Metz 1982; Michael STÜRMER, France and German Unification,
in: Hagen Schulze (Hg.), Nation-Building in Central Europe ( = GHPer, Bd. 3),
Leamington S p a - H a m b u r g - N e w York 1987, S. 1 3 5 - 1 4 8 .
22 Preußischer Antrag auf die Reform der Bundesverfassung, gestellt am Bundestag
durch den Gesandten von Savigny am 9. IV. 1866, in: E. R. HUBER (Hg.),
Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 163 (158), S. 223ff.
23 Η. SCHULZE, Der Weg zum Nationalstaat... (1985) [61], S. 101 - 1 1 9 ; Ders. (Hg.),
Nation-Building in Central Europe... (1987) [s.o. Anm. 21]; O. BECKER, Bis-
marcks Ringen... (1958) [178], S. 126ff. (zur Bundesreform); Rolf BAUER, Öster-
reich, Preußen und Deutschland. Der Weg nach Königgrätz und seine Folgen,
in: R. Dietrich (Hg.), Europa und der Norddeutsche Bund... (1968) [189],
S. 57 - 84. - Mittelstaaten: Theodor GRIEWANK/Fritz HELLWAG, Württemberg
und die deutsche Politik in den Jahren 1 8 5 9 - 1 8 6 6 ( = DwüG, Bd. 25), Stuttgart
1934; H. KRETZSCHMAR, Schicksal und Anteil Sachsens auf dem Wege zum Kriege
1866, in: NAsächsG, Bd. 60 (1939), S. 6 6 - 1 2 5 ; Ernst TRUSS, Die Politik des
Großherzogtums Sachsen-Weimar 1 8 6 2 - 1 8 6 7 ( = Z V t h ü r G A , Beih. 22), Jena
1940; Johannes RIEKEN, Ludwig von der Pfordten und die preußischen Bundes-
reformbewegungen vor Ausbruch des Deutschen Krieges 1866, Phil. Diss. Kiel
V. Die schleswig-holsteinische Frage 343

A m 21. April 1866 beschloß der Wiener Ministerrat, wegen der italieni-
schen Kriegsdrohung die Grenztruppen gegen Italien zu mobilisieren; am
1. Mai folgte die volle österreichische Mobilisierung, und als Antwort
darauf die preußische. Ein letzter Vermittlungsversuch des sächsischen Kam-
merherrn Anton von der Gablenz, der in der Hauptsache die Errichtung
eines selbständigen schleswig-holsteinischen Staats unter einem preußischen
Prinzen und die Teilung des militärischen Oberbefehls im Deutschen Bund
zwischen Preußen und Österreich entlang der Mainlinie vorsah, scheiterte
an der österreichischen Ablehnung. 2 4 Österreich war, mit den Worten des
Z a r e n Alexanders II., „zum Kriege resigniert"; am 1. Juni übertrug der
Wiener Gesandte beim Bundestag die österreichischen Ansprüche in Schles-
wig-Holstein auf den Deutschen B u n d , 2 5 womit jede Brücke der Verstän-
digung abgebrochen wurde. Preußen marschierte daraufhin am 9. Juni in
Holstein ein und gab am folgenden Tag seinen Vorschlag für eine neue
Bundesverfassung bekannt, nach der das Bundesgebiet ohne die österrei-
chischen und niederländischen Gebietsteile neu konstituiert werden solle. 2 6
Dem a m 11. Juni von Österreich gestellten Antrag auf Mobilisierung der
nichtpreußischen Armeekorps des Bundesheeres stimmte der Bundestag am
14. Juni zu; gegen den Antrag stimmten neben Preußen nur die nord- und
mitteldeutschen Kleinstaaten sowie Luxemburg, während Baden sich der
Stimme enthielt. Der preußische Bundestagsgesandte erklärte daraufhin den
Bundesvertrag für erloschen; zwei Tage später beschloß die Mehrheit des

1942 [MS]; Erich MICHELS, Hannover und die deutsche Politik Österreichs 1859 -
1866, Phil. Diss. Bonn 1942 [MS]; Nicholas Martin HOPE, The Alternative to
German Unification. The Anti-Prussian Party Frankfurt, Nassau, and the Two
Hessen 1 8 5 5 - 1 8 6 7 ( = VIEG, Bd. 65), Wiesbaden 1973. - Aus marxistischer
Sicht: Herbert SCHWAB, Von Düppel bis Königgrätz. Die politische Haltung der
deutschen Bourgeoisie zur nationalen Frage 1864 — 1866, in: ZfG, 14. Jg. (1966),
S. 5 8 8 - 6 1 0 .
24 Zu dem Vermittlungsversuch von Anton Freiherrn v. Gablenz (1810 —1878), dem
Bruder des österreichischen Statthalters in Holstein, vgl. L. GALL, Bismarck...
(1980) [47], S. 356; s. a. Chester Wells CLARK, Franz Joseph and Bismarck. The
Diplomacy of Austria before 1866 ( = H a r v H S t , Bd. 36), Cambridge/Mass.—
London 1934, S. 4 1 4 - 4 2 8 .
25 Erklärung Österreichs am Bundestag über die Wahrung des Bundesfriedens,
abgegeben vom Bundestagsgesandten Freiherrn von Kübeck am l . V I . 1866, in:
E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 167 (162a), S . 2 2 7 f .
26 Erklärung des preußischen Bundestagsgesandten von Savigny vor dem Bundestag
vom 9. VI. 1866, in: A. a. O., Nr. 170 (164), S. 231 ff.; s. a. die am gleichen Tage
abgegebene Antwort-Erklärung des österreichischen Gesandten, in: A. a. O.,
Nr. 171 (165), S. 233. — Zum preußischen Bundesreform-Entwurf s. den Rund-
erlaß Bismarcks über den preußischen Bundesreform-Entwurf an die preußischen
Gesandten bei den deutschen Regierungen vom 10. VI. 1866 und die „Grundzüge
einer neuen Bundesverfassung", der Bundesversammlung von der preußischen
Regierung vorgelegt am 10. VI. 1866, in: A . a . O . , Nr. 172 (166a) und 173 (166b),
S. 233 - 236.
344 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850—1867

Bundestags die Einleitung der Bundesexekution gegen Preußen. 27 Am


21. Juni 1866 überschritten preußische Truppen die böhmische Grenze.
Es wurde einer der kürzesten Kriege der Geschichte. Trotz ihres Sieges
über die preußischen Truppen bei Langensalza am 27. Juni mußte die
eingeschlossene hannoversche Armee bereits zwei Tage später kapitulieren;
am 3. Juli erwies sich bei Königgrätz die strategische und operative preu-
ßische Führung wie auch die Bewaffnung der preußischen Armee als über-
legen, und obwohl ein Teil der österreichischen Armee entkam, war der
preußische Sieg eindeutig: Österreich hatte 25.000 Mann, die Preußen da-
gegen nur 9.000 Mann verloren. 28 Kurz darauf siegten drei preußische
Divisionen im „Mainfeldzug" über die bayerischen und Bundestruppen.
Obwohl Österreich an seiner Südfront zu Land wie zu See bedeutende Siege
errang, war der Krieg doch verloren, denn nichts hinderte die preußische
Armee daran, in Wien einzumarschieren. Mit französischer Vermittlung
suchte Österreich am 5. Juli um Frieden nach. 29
Mit dem militärischen Sieg war die Gefahrenzone der preußischen Politik
jedoch noch nicht durchschritten. Der französischen Politik waren durch
den schnellen preußischen Sieg die deutschlandpolitischen Felle davonge-
schwommen, und die Gefahr einer französischen Intervention schien groß.
Die Gefahr bestand darin, daß die Nachrichtenverbindungen zwischen dem
preußischen Hauptquartier und Paris schlecht waren, so daß gegenseitige
Mißverständnisse und einseitige Ansprüche nicht ausblieben. Doch am
14. Juli kam es zum Kompromiß: Frankreich erklärte sich mit der Auflösung

27 Die Dokumente zur Bundesexekution gegen Preußen sowie den Rücktritt Preu-
ßens vom Bundesvertrag vgl. a . a . O . , S. 236 — 242.
28 Der Feldzug v o n 1 8 6 6 . . . (1867) [168]; A. KLEIN-WUTTIG, Politik und Kriegfüh-
rung... (1934) [s.o. Anm. 13]; Gerhard RITTER, Staatskunst und Kriegshandwerk.
Das Problem des „Militarismus" in Deutschland, Bd. 1, München 1954, S. 238 ff.
(Moltke, Kriegsverlauf); G . A . CRAIG, Königgrätz... (1966) [164]; W . v o n
GROOTE/U. v o n GERSDORFF ( H g . ) , E n t s c h e i d u n g 1 8 6 6 . . . ( 1 9 6 6 ) [ 1 7 0 ] ; A . W A N -
DRUSZKA, Schicksalsjahr 1866... (1966) [176] (behandelt vorwiegend die politi-
schen Probleme). — Zu Moltkes Persönlichkeit: Wolfgang FOERSTER, Moltke.
Persönlichkeit und Werk. Vortrag, gehalten am 13. März 1941 im Auditorium
Maximum der Universität Wien, Berlin 1941; R. STADELMANN, Moltke und der
Staat... (1950) [ 1 0 2 ] ; E. KESSEL, M o l t k e . . . (1957) [100], - [H.v. MOLTKE,]
Gesammelte Schriften... (1891 - 1893) [101]; [Helmuth von] MOLTKE, Gespräche,
hg. von Eberhard Kessel [1940], Hamburg 2 1941; Franz HERRE, Moltke. Der
Mann und sein Jahrhundert, Stuttgart 1984. — Von österreichischer Seite: Hein-
rich Ritter von SRBIK, Erzherzog Albrecht, Benedek [ = der Oberbefehlshaber
der österreichischen Armee] und der altösterreichische Soldatengeist [1943], in:
Aus Österreichs Vergangenheit. Von Prinz Eugen zu Franz Joseph, Salzburg
[1949], S. 107 - 140; John PRESLAND, Vae Victis. The Life of Ludwig von Benedek,
1 8 0 4 - 1 8 8 1 , London 1934; Edmund von GLAISE-HORSTENAU, Franz Josephs
Weggefährte. Das Leben des Generalstabschefs Grafen Beck. Nach seinen Auf-
zeichnungen und hinterlassenen Dokumenten, Wien 1930; Fritz HÖNIG, Öster-
reichs Finanzpolitik im Kriege von 1866, Wien 1937.
29 Zum Mainfeldzug vgl. Oscar von LETTOW-VORBECK, Geschichte des Krieges von
1866 in Deutschland, 3 Bde., Berlin 1 8 9 6 - 1 9 0 2 .
V. Die schleswig-holsteinische Frage 345

des Deutschen Bundes unter Ausschluß Österreichs und der Errichtung eines
Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung einverstanden; die Elb-
herzogtümer konnten mit Preußen vereinigt werden, wenn auch, eine un-
verbindliche Verneigung vor dem Nationalitätenprinzip, in Nordschleswig
eine Volksabstimmung vorgesehen war. Die von Bismarck geforderte Ar-
rondierung Preußens um Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt
wurde nicht ausdrücklich erwähnt, aber von Napoleon schweigend gebilligt.
Die süddeutschen Staaten sollten das Recht erhalten, einen unabhängigen
Staatenbund zu bilden: durch die Dreiteilung Deutschlands gedachte Na-
poleon das Schwergewicht Preußens zu neutralisieren. 3 0
Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zum Friedensschluß ergab sich im
preußischen Lager selbst: während Bismarck weder von Wien noch von
den übrigen besiegten Staaten territoriale Opfer fordern wollte, um den
künftigen Bundesstaat nicht durch irredentistische Forderungen zu belasten,
und um künftige Bündnisse zu erleichtern, bestand Wilhelm I. auf Anne-
xionen und einen triumphalen Einzug der preußischen Truppen in Wien.
„Meine beiden größten Schwierigkeiten", sagte Bismarck später einmal,
„waren, zuerst den König Wilhelm nach Böhmen hinein- und ihn dann
wieder herauszubekommen." 3 1 Nachdem diese Hürden bewältigt waren,
kam es endlich am 26. Juli 1866 auf der Grundlage der preußisch-franzö-
sischen Vereinbarungen zum Präliminarfrieden von Nikolsburg, 3 2 der aller-
dings noch am selben Tag durch plötzliche französische Kompensations-
forderungen an Preußen gefährdet wurde. Bismarck lehnte jede Abtretung
deutschen Gebiets energisch ab, war sogar bereit, den Krieg wieder aufzu-
nehmen, lenkte aber dann die ohnehin wenig nachdrücklich vorgetragenen
französischen Gebietshoffnungen auf belgisches und luxemburgisches Ter-
ritorium um. Damit hatte Napoleon eigentlich der preußischen Politik in

30 Vgl. hierzu die in Anm. 11 angegebene Literatur sowie L. GALL, Bismarck...


(1980) [47], S. 3 6 9 - 3 7 2 (zur Haltung Napoleons III. und Frankreich); Wolf D.
GRUNER, Frankreich und der deutsche Bund 1851 — 1866. Aspekte französischer
Deutschlandpolitik zur Zeit des Seconde Empire, in: R. Poidevin/H.-O. Sieburg
(Hg.), Aspects des relations... (1981) [s.o. Anm. 21], S. 43 - 45; William E.
ECHARD, Napoleon III and the Concert of Europe, Baton Rouge —London 1983.
— Z u r Politik Österreichs nach Königgrätz: H. LUTZ, Österreich-Ungarn... (1979)
[93]; Ders., Außenpolitische Tendenzen der Habsburger Monarchie von 1866 —
1870: „Wiedereintritt in Deutschland" und Konsolidierung als europäische M a c h t
im Bündnis mit Frankreich, in: Eberhard Kolb (Hg.), Europa vor dem Krieg von
1870. Mächtekonstellation - Konfliktfelder - Kriegsausbruch ( = SchrHKol,
Bd. 10), München 1987, S. 1 - 1 7 . - O t t o Graf zu STOLBERG-WERNIGERODE,
Robert Heinrich Graf von der Goltz, Botschafter in Paris 1 8 6 3 - 1 8 6 9 (DGq,
Bd. 34), Oldenburg i. O . - B e r l i n 1941.
31 Gespräch mit S. Whitman, Oktober 1891, in: O. von BISMARCK, Die gesammelten
Werke... ( 1 9 2 4 - 1 9 3 5 ) [43], Bd. 9, hg. von Willy Andreas, Berlin 1926, S. 157; s.
dazu auch L. GALL, Bismarck... (1980) [47], S. 368.
32 Der Präliminarfrieden von Nikolsburg vom 26. VII. 1866 abgedruckt in: E. R.
HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 184 (177), S. 2 4 7 f f . ; H . WARN-
HOLTZ, Bismarcks Kampf... (1939) [177].
346 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

die Hände gespielt, denn Bismarck verfehlte nicht, die französischen Ge-
bietsforderungen publizistisch verbreiten zu lassen, was auf die süddeut-
schen Staaten einigen Eindruck machte. Das erleichterte es dem Minister-
präsidenten, neben den Friedensverträgen mit diesen Staaten, die am
9. August 1866 zustande kamen, auch geheime Schutz- und Trutzabkommen
zu schließen. 33
Bereits am 23. August 1866, wenig mehr als zwei Monate nach Kriegs-
beginn, kam es zum endgültigen Friedensschluß in Prag. 34 Er unterschied
sich nicht wesentlich von den Nikolsburger Abmachungen: Österreich blieb,
abgesehen von der Abtretung Venetiens an Italien, territorial unversehrt
und hatte 40 Millionen Taler Kriegsentschädigung zu zahlen, die sich
allerdings durch Anrechnungen auf 20 Millionen ermäßigten. Der Bildung
eines Norddeutschen Bundes sowie einer süddeutschen Staatenunion unter
Ausschluß der Donaumonarchie stimmte es zu; allerdings wurde die inter-
nationale unabhängige Existenz des Südbundes ausdrücklich vertraglich
fixiert, um die französischen Interessen zu befriedigen. Die österreichischen
Rechte in Schleswig-Holstein gingen auf Preußen über, das auch freie Hand
für alle in Norddeutschland geplanten Gebietserweiterungen erhielt.
Jetzt endlich war Preußen imstande, den Schönheitsfehler der Friedens-
ordnung von 1815, seine Trennung in einen östlichen und einen westlichen
Landesteil, zu bereinigen. Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt
wurden preußisch; hinzu kamen Schleswig und Holstein. 35 Sachsen entging
der Annexion nur als Preis für die österreichische Zustimmung zu den
norddeutschen Gebietsveränderungen; 36 das besiegte Hessen-Darmstadt be-
hielt seine territoriale Unversehrtheit hauptsächlich aufgrund russischen
Einspruchs, und die auf österreichischer Seite stehenden norddeutschen
Kleinstaaten Reuß ältere Linie und Sachsen-Meiningen entgingen der Se-
questration lediglich, weil sich der preußische Staat damit neue Exklaven
eingehandelt hätte. So war das Staatsgebiet von 279.045 auf 348.435 Qua-
dratkilometer oder um annähernd 20 Prozent gewachsen.

33 Die im Sommer und Frühherbst abgeschlossenen Friedensverträge mit den sieben


ehemaligen Parteigängern Österreichs Bayern (22. VIII.), Württemberg (13. VIII.),
Baden (17. VIII.), Hessen (3. IX.), Sachsen (21. IX.), Reuß ältere Linie (26. IX.)
und Sachsen-Meiningen (8. X.) s. bei E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986)
[ 4 0 ] , N r . 1 8 9 - 1 9 3 , S. 2 5 6 - 2 6 3 .
34 Der Friedensvertrag von Prag vom 23. VIII. 1866 abgedruckt in: A. a. O., Nr. 185
( 1 8 2 ) , S. 2 4 9 - 252.
35 Zu Hannover: Ernst BÜTTNER, 1866 und die Katastrophe Hannovers in neuerer
S i c h t w e i s e , in: N A N d s , B d . 4 ( 1 9 5 0 ) , S. 6 2 1 - 6 5 4 . - Frankfurt: W . A . KROPAT,
Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus... (1971) [199]. - Sach-
sen-Meiningen: Erich SCHMIDT, Das Verhältnis Sachsen-Meiningens zur Reichs-
gründung 1 8 5 1 - 1 8 7 1 ( = AHallFmnG, H. 2), Halle 1930. - Karl LANGE, Bis-
marck und die norddeutschen Kleinstaaten im Jahre 1866, Berlin 1930; Rolf
WILHELM, Das Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund
(1867-1870) ( = HSt, H . 431), Husum 1978.
36 R. DIETRICH, Der preußisch-sächsische Friedensschluß... (1955) [165]; Ders.,
P r e u ß e n als B e s a t z u n g s m a c h t . . . ( 1 9 5 6 ) [194].
VI. Entscheidungsjahr 1866 347

VI. Entscheidungsjahr 1866


Mit dem Prager Frieden hatte sich die mitteleuropäische Landkarte revo-
lutionär verändert: „Casca il mondo", wie der päpstliche Kardinalstaats-
sekretär befand, „das größte Unglück, das Frankreich seit vierhundert
Jahren getroffen hat", so der französische Oppositionsführer und Historiker
Adolphe Thiers. Die umwälzendste und unmittelbarste Neuerung bestand
in dem Auswandern Österreichs und damit von elf Millionen Deutschen
aus der deutschen Geschichte, und damit verbunden das Ende des über ein
Jahrhundert alten deutschen Dualismus. Die unbestrittene deutsche Vor-
macht hieß Preußen, ein Preußen zudem, das durch die Einverleibung
Schleswig-Holsteins und die Annexion des Königreichs Hannover, des Kur-
fürstentums Hessen, des Herzogtums Nassau und der freien Stadt Frankfurt
zu einem geographisch abgeschlossenen Staatswesen geworden war und 85
Prozent des Gebiets sowie 83 Prozent der Bevölkerung im künftigen Nord-
deutschen Bund umfaßte. 1
Dabei hatte sich Preußen beim Friedensschluß maßvoll gezeigt, nicht aus
Tugend, sondern aus Einsicht in die Belastbarkeit des europäischen Gleich-
gewichts. 2 Die preußische Neutralität im Krimkrieg wie in der Italien-Krise,
die Rücksichtnahme auf die Mächteinteressen beim Krieg gegen Dänemark:
das zahlte sich jetzt aus. England und Rußland, ohnehin seit dem Krimkrieg
in Europa weit auseinandergerückt, jeweils mit eigenen inneren Schwierig-
keiten kämpfend, zeigten sich an den mitteleuropäischen Veränderungen
nicht vital interessiert; 3 Frankreichs Interventionsdrohung, von Napoleon
nie ausgesprochen, doch von Bismarck gefürchtet, war durch die preußische
Beschränkung auf Norddeutschland und undeutliche Versprechungen bel-
gisch-luxemburgischer Kompensationen beschwichtigt. Aber der französi-
sche Druck, genährt eher durch den französischen Massennationalismus als

1 Georg-Christoph von UNRUH, Die verfassungsrechtliche Stellung Preußens im


Norddeutschen Bund und im Deutschen Reich nach den Verfassungen von 1867/
1871 und 1919, in: Oswald Hauser (Hg.), Preußen, Europa und das Reich
( = NFBPG, Bd. 7), Köln 1987, S. 2 6 1 - 2 7 3 .
2 W . E . MOSSE, T h e European Powers... (1958) [94]; Ders., The Rise and Fall of
the Crimean System, 1 8 5 5 — 7 1 . T h e Story of a Peace Settlement, London —New
Y o r k 1 9 6 3 ; H . BURCKHARDT, D e u t s c h l a n d - E n g l a n d - F r a n k r e i c h . . . (1970) [151];
Die deutsch-italienischen Beziehungen im Zeitalter des Risorgimento. Referate
und Diskussion der 8. deutsch-italienischen Historikertagung Braunschweig
2 4 . - 2 8 . Mai 1968 ( = SchrlSchbl, Bd. 15), Braunschweig 1970; E. KOLB (Hg.),
Europa und die Reichsgründung... (1980) [92],
3 Peter ALTER, Weltmacht auf Distanz. Britische Außenpolitik 1 8 6 0 - 1 8 7 0 , in:
Eberhard Kolb (Hg.), Europa vor dem Krieg von 1870. Mächtekonstellation —
Konfliktfelder - Kriegsausbruch ( = SchrHKol, Bd. 10), München 1987, S. 77 - 93;
Dietrich BEYRAU, Russische Interessenzonen und europäisches Gleichgewicht
1 8 6 0 - 1 8 7 0 , in: A . a . O . , S. 6 5 - 7 7 ; Ders., Der deutsche Komplex: Rußland zur
Zeit der Reichgründung, in: E. KOLB (Hg.), Europa und die Reichsgründung...
( 1 9 8 0 ) [ 9 2 ] , S. 63-107.
348 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7

durch expansionistische Absichten des Kaisers, blieb bestehen und wirkte


als Bindemittel zwischen Nord- und dem im Ernstfall auf preußische Waffen
angewiesenen Süddeutschland. 4
D a ß der noch ganz mit den Mitteln klassischer Kabinettsdiplomatie
vorbereitete und beendete, als Kabinettskrieg mit begrenzten Zielen geführte
Krieg von 1866 in seinen Auswirkungen, wie J a c o b Burckhardt sagte, „die
große deutsche Revolution" war, 5 machte auch der Stimmungswandel in-
nerhalb der deutschen Nationalbewegung sichtbar. Dieses schwer zu fas-
sende Konglomerat von bürgerlichem Vereinswesen, liberaler Publizistik,
wirtschaftsbürgerlicher Initiative und parlamentarischer Opposition hatte
am Vorabend des Kriegs ganz überwiegend im österreichisch-großdeutschen
Lager gestanden; selbst der „Deutsche Nationalverein", 1859 im Zeichen
der kleindeutschen Lösung der deutschen Frage angetreten, die größte und
bestorganisierte Kraft der Nationalbewegung, hatte sich infolge der antili-
beralen und scheinbar ganz durch das Wiener System von 1815 begrenzten
Politik Bismarcks von der Unterstützung Preußens abgewandt. 6
Nach Königgrätz war jedoch sichtbar, daß der Weg zum deutschen
Nationalstaat, dem Wunschtraum der deutschen Liberalen, nur noch der
Weg Bismarcks sein konnte; selbst der freisinnige T h e o d o r M o m m s e n
schwärmte jetzt: „Es ist ein wunderbares Gefühl, dabei zu sein, wenn die
Weltgeschichte um die Ecke biegt. D a ß Deutschland eine Zukunft hat und
daß diese Zukunft von Preußen bestimmt wird, das ist nicht mehr eine
Hoffnung, sondern eine T a t s a c h e . . . " 7 Hinzu k a m , daß am Tag von König-
grätz Wahlen waren; die Kriegsstimmung begünstigte die Konservativen,

4 Wilfried RADEWAHN, Europäische Fragen und Konfliktzonen im Kalkül der


französischen Außenpolitik vor dem Krieg von 1870, in: E. Kolb (Hg.), Europa
vor dem Krieg... (1987) [s.o. Anm. 3], S. 33 — 63; Ders., Die Pariser Presse und
die deutsche Frage unter Berücksichtigung der französischen Pressepolitik im
Zeitalter der Bismarckschen Reichsgründung ( 1 8 6 6 - 1 8 7 0 / 7 1 ) ( = EHschr, R . 3,
Bd. 87), F r a n k f u r t / M . - B e r n - L a s Vegas 1977; R . BAUER, Österreich, Preußen
und Deutschland. Der Weg nach Königgrätz und seine Folgen, in: R. Dietrich
(Hg.), Europa und der Norddeutsche Bund... (1968) [189], S. 5 7 - 8 4 ; Evelyn
Ann POTTINGER, Napoleon III and the German Crisis, 1 8 6 5 - 1 8 6 6 ( = HarvHSt,
Bd. 75), Cambridge/Mass. 1966; Κ. MALETTKE, Die Beurteilung der Außen- und
Innenpolitik... (1966) [157]; André ARMANGAUT, L'opinion publique en France
et la crise nationale allemande en 1866 ( = PublUDij, Bd. 24), Paris 1962.
5 Jacob BURCKHARDT, Über das Studium der Geschichte. Der Text der „Weltge-
schichtlichen Betrachtungen", auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach
den Handschriften hg. von Peter Ganz, München 1982, S. 373.
6 Hagen SCHULZE, Perspektiven für Deutschland: Nationalverein und Reform-
verein, in: Adolf M . Birke/Günther Heydemann (Hg.), Die Herausforderung des
europäischen Staatensystems. Nationale Ideologie und staatliches Interesse zwi-
schen Restauration und Imperialismus ( = VDHILon, Bd. 23), Göttingen 1989,
S. 141 — 157; Ders., Die deutsche Nationalbewegung bis zur Reichseinigung...
(1985) [60],
7 Zitiert nach Albert WUCHER, T h e o d o r Mommsen. Geschichtsschreibung und
Politik ( = GöBaustGw, Bd. 26), Göttingen - Berlin - Frankfurt/M. 1956, S. 151.
VI. Entscheidungsjahr 1866 349

deren Mandate im Abgeordnetenhaus von 35 auf 136 stiegen, während die


der Liberalen, die die Kriegsausgaben nicht hatten bewilligen wollen, von
247 auf 148 absanken. Es gab also viele Gründe für das liberale Lager, den
Ausgleich mit Bismarck zu suchen, patriotische wie pragmatische. So wan-
delte sich der Sieg Bismarcks auf dem Schlachtfeld zu einem weiteren Sieg
in der Innenpolitik, und wie gegenüber Österreich zeigte sich der Minister-
präsident maßvoll und kompromißbereit.
Am 14. August 1866 brachte die Regierung im Abgeordnetenhaus eine
Vorlage ein, in der sie um Indemnität für die während der vier vergangenen
Jahre ohne Staatshaushaltsgesetz geführte Verwaltung einkam. 8 Formal
handelte es sich um eine Praxis aus dem englischen Verfassungsrecht: hat
die Regierung etwas verfügt, wozu ihr nach der formellen Verfassungslage
das Recht nicht zustand, was sie aber im Interesse des Gemeinwohls glaubte
verfügen zu müssen, so kommen die Minister im nächsten Parlament um
Indemnität ein, um nicht aufgrund ihrer Verantwortlichkeit zur Rechen-
schaft gezogen zu werden. Die Verantwortlichkeit der Minister gegenüber
dem Parlament bestand nach der preußischen Verfassung nicht, aber Bis-
marck war daran gelegen, den Verfassungskonflikt, der das staatliche Leben
Preußens seit 1862 beschwert hatte, endlich zu begraben und fortan im
Einverständnis mit allen Verfassungsorganen zu regieren. Die Indemnitäts-
vorlage war keineswegs unumstritten; im preußischen Staatsministerium
erhoben sich Bedenken wegen des mit der Bitte um Verzeihung verbundenen
Einverständnisses begangenen Unrechts, und auch der König schloß sich
diesem Einwand an. Im Abgeordnetenhaus wandten sich Sprecher des linken
Zentrums und der Fortschrittspartei ebenfalls gegen die Vorlage, da auf
diese Weise die eigenmächtige Interpretation der Verfassung durch die
Regierung im nachhinein den Segen der Volksvertretung erhielte und zudem
das Parlament den Grundsätzen entsage, für die es seit vier Jahren gekämpft
habe. Bismarck hingegen wollte die Vorlage als gleiches Entgegenkommen
von beiden Seiten verstanden wissen; in seiner Abgeordnetenhaus-Rede vom
1. September 1866 verglich er sein Vorgehen ausdrücklich mit dem Frie-
densvertrag mit Österreich - Friede sei nie zu bekommen, wenn beide
Seiten auf Maximalforderungen beharrten. Am 3. September stimmt das
Parlament der Regierungsvorlage mit der überwältigenden Mehrheit von
230 gegen 75 Stimmen zu; nichts machte deutlicher, daß auch die große

8 Entwurf des Indemnitätsgesetzes, dem Abgeordnetenhaus vorgelegt am 14. VIII.


1866, als Auszug gedr. in: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 81
(80), S. 98 - 101. - Vgl. Reinhard Josef LAMER, Der englische Parlamentarismus
in der deutschen politischen Theorie im Zeitalter Bismarcks ( 1 8 5 7 - 1 8 9 0 ) . Ein
Beitrag zur Vorgeschichte des deutschen Parlamentarismus ( = HSt, H. 387),
Lübeck - Hamburg 1963; Gerhard RITTER, Die Entstehung der Indemnitätsvor-
lage von 1866. (Zur Ergänzung und Kritik der „Gedanken und Erinnerungen"
Bismarcks), in: H Z , Bd. 114 (1915), S. 1 7 - 6 4 ; E. R. HUBER, Deutsche Verfas-
sungsgeschichte... ( 3 1988) [39], S. 3 4 8 - 3 6 5 .
350 § 1 Preußen als konstitutionelle M o n a r c h i e 1850 — 1867

Mehrheit des preußischen Liberalismus mit Bismarck ihren Frieden gemacht


hatte. 9
Damit war der preußische Verfassungskonflikt beendet. Wer war der
Sieger? Allem Anschein nach die Regierung, die, indem sie die Heeresor-
ganisation ausdrücklich nicht in das Indemnitätsgesuch einbezog, den ur-
sprünglichen Standpunkt der Krone nicht nur weiterhin einnahm, sondern
auch die implizite Zustimmung des Parlaments zu dieser für die preußische
Monarchie so wichtigen Prärogative erreichte. Aber die regierungsfreund-
liche Mehrheit der liberalen Parlamentarier sah sich keineswegs in der Rolle
der Verlierer; immerhin hatte Bismarck ausdrücklich auf dem Boden der
Verfassung operiert, hatte gerade in der Stunde des außen- wie innenpoli-
tischen Triumphs auf die Versuchung des Staatsstreichs verzichtet, wie
Militärs und konservative Politiker ihm angeraten hatten, und damit auf
die Klärung der Machtfrage. Der Weg zur Parlamentarisierung des Staats
blieb im Prinzip weiter offen, die Regierung hatte bekannt, daß sie auf die
Zusammenarbeit mit der Parlamentsmehrheit nicht verzichten wollte: ein
Kompromiß also. Als Verlierer blieben einerseits Militärpartei und Hoch-
konservative auf der Strecke, die sehen mußten, daß die Rückkehr zu einer
vorkonstitutionellen Ordnung mittels Staatsstreich ausgeschlossen war, und
auf der anderen Seite die abgebröckelte Front der Fortschrittspartei, deren
Traum von einem parlamentarischen Staatswesen nach dem Muster von
1848 zerrann. 10
Die Abstimmung über das Indemnitätsgesetz hatte die Spaltung des
preußischen Liberalismus vor aller Augen deutlich gemacht. Die 24 liberalen
Abgeordneten, die für das Gesetz gestimmt hatten, wandten sich unter der
Führung des Abgeordneten Lasker nach Schluß der Landtagssession an die
Öffentlichkeit und erklärten ihren Wählern, weshalb sie ihren Frieden mit
Bismarck gemacht hatten: „Wachsamkeit über die verfassungsmäßigen
Rechte des Volkes" bleibe zwar nach wie vor Aufgabe der liberalen Partei,
und hier liege in Preußen noch manches im argen. Doch dürfe liberale
Opposition nicht hinübergreifen „auf das Gebiet der gebilligten deutschen
Politik. In dem großen Moment des erstarkten und sich verwirklichenden
Einheitsdranges halten wir keine Partei und keine Maßregel berechtigt,
welche der deutschen Entwicklung Hindernisse bereitet oder die möglichen
Forderungsmittel versagt." Am 17. November konstituierte sich die Gruppe
als „neue Fraktion der nationalen Partei": das war die Geburt der Natio-

9 A . A . O . , S. 3 6 5 - 3 6 9 ; L. GALL, B i s m a r c k . . . (1980) [47], S. 3 7 6 f f . ; G . R . MORK,


Bismarck and the „ C a p i t u l a t i o n " . . . (1971) [186]. — Rede Bismarcks im Abge-
ordnetenhaus über die Indemnitätsvorlage v o m 1. I X . 1866, in: E. R . HUBER
(Hg.), D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 8 6 ) [40], Nr. 83 (82), S. 101 f.
10 Heinrich August WINKLER, 1866 und 1878. Der Machtverzicht des Bürgertums,
in: C a r o l a Stern/Heinrich August Winkler (Hg.), Wendepunkte deutscher Ge-
schichte 1 8 4 8 - 1 9 4 5 , F r a n k f u r t / M . 1979, S. 3 7 - 6 0 ; K . G . FABER, Realpolitik als
Ideologie... (1966) [167], S. 1 - 4 5 ; Friedrich C. SELL, Die Tragödie des deutschen
Liberalismus [1953], Baden-Baden 2 1 9 8 1 .
VI. Entscheidungsjahr 1866 351

nalliberalen Partei, 1 1 die sich am 28. Februar 1867 als politisches Dach aller
deutschen Liberalen bildete, die die nationale Einheit als gleichwichtig wie
bürgerliche Freiheit betrachteten und die Herstellung des deutschen Natio-
nalstaats unter preußischer Führung bejahten: in den folgenden zwölf Jahren
die bedeutendste staatstragende Kraft in Deutschland. Auf der anderen Seite
spaltete sich auch die Konservative Partei; 1 2 sie hatte dem Indemnitätsgesetz
nur widerwillig zugestimmt und neigte dazu, zu Bismarck auf Distanz zu
gehen, dem sie die Versöhnungspolitik gegenüber den Liberalen, aber auch
die anti-österreichische Zerreißung des Deutschen Bunds anlastete. Eine
Reihe von Abgeordneten unter der Führung des Grafen Bethusy-Huc er-
klärte sich jedoch für Bismarcks Politik, für Konstitution und nationale

11 Zur Nationalliberalen Partei: H. ONCKEN, Rudolf von Bennigsen... (1910) [72];


Hans HERZFELD, Johannes von Miquel. Sein Anteil am Ausbau des Deutschen
Reiches bis zur Jahrhundertwende, 2 Bde., Detmold 1939; Klaus Erich POLLMANN,
Eduard Lasker, in: NDB, Bd. 13, Berlin 1982, S. 656 f. (mit ausführlicher Biblio-
graphie). — Eduard Wilhelm MAYER, AUS der Geschichte der nationalliberalen
Partei in den Jahren 1 8 6 8 - 1 8 7 1 , in: Paul Wentzcke (Hg.), Deutscher Staat und
deutsche Parteien. Beiträge zur deutschen Partei- und Ideengeschichte. Festschrift
für Friedrich Meinecke, Berlin 1922, S. 135 —154; Herbert SCHWAB, Aufstieg und
Niedergang der Nationalliberalen Partei. Zur Geschichte des Nationalliberalis-
mus in Deutschland 1 8 6 4 - 1 8 8 0 , Habil.-Schrift Jena 1969 [MS]; Dan S. WHITE,
The Splintered Party. National Liberalism in Hessen and the Reich 1867 — 1918,
Cambridge/Mass. — London 1976; Lothar GALL, Liberalismus und Nationalstaat.
Der deutsche Liberalismus und die Reichsgründung, in: Helmut Berding (Hg.),
Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für
Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag, München 1978, S. 278 — 300; H.A.
WINKLER, P r e u ß i s c h e r L i b e r a l i s m u s . . . (1964) [ 1 4 7 ] ; G e r h a r d A . RITTER, Die
deutschen Parteien 1830 — 1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen
Regierungssystem, Göttingen 1985, S. 65 — 76 (mit ausführlichen Literaturhin-
weisen S. 112ff.); K. E. POLLMANN, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund...
(1985) [183], S. 47 — 54 (mit umfassenden bibliographischen Hinweisen).
12 Zu den Freikonservativen, später Reichs- und Freikonservative Partei: Friedrich
THIMME, Graf Eduard v. Bethusy-Huc, der Gründer der Freikonservativen Partei.
Ein Nachruf aus der Feder Wilhelm von Kardorffs, in: DRev, 43. Jg. (1918),
S. 219 —231; Siegfried von KARDORFF, Wilhelm von Kardorff. Ein nationaler
Parlamentarier im Zeitalter Bismarcks und Wilhelms II. 1828 — 1907, Berlin 1936;
Christoph Frhr. von MALTZAHN, Heinrich Leo ( 1 7 9 9 - 1 8 7 8 ) . Ein politisches
Gelehrtenleben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik
( = SchrrHKBay, Bd. 17), Göttingen 1979. - Frederick AANDAHL jr., The Rise
of German Free Conservativism, Princeton 1955; Kurt VIEBIG, Die Entstehung
und die Entwickelung der Freikonservativen und der Reichspartei, insonderheit
die Stellung zur Kultur, Kreisordnung und Schutzzollfrage, Weimar 1920 (R.-
und staatwiss. Diss. Greifswald 1920); G. RITTER, Die preußischen Konservati-
ven... (1913) [64]; G. A. RITTER, Die deutschen Parteien... (1985) [s.o. Anm. 11],
S. 76 - 84 (zur sozialen Basis des Konservativismus); K. E. POLLMANN, Parlamen-
t a r i s m u s i m N o r d d e u t s c h e n B u n d . . . ( 1 9 8 5 ) [ 1 8 3 ] , S. 5 8 - 6 1 ; P a n a j o t i s KONDYLIS,
Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986.
352 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

Einigung und bildete eine freikonservative Vereinigung, die „Partei Bismarck


sans phrase". 1 3
Der Erfolg dieser neuen Parteien zeigte sich bei den preußischen Wahlen
vom 7. November 1867, an denen das erste Mal auch die annektierten,
neupreußischen Landesteile teilnahmen. Gerade hier erhielt der National-
liberalismus viele Stimmen; im neuen Abgeordnetenhaus nahmen sie
22,9 Prozent der Sitze gegenüber 9,6 Prozent im Jahr zuvor ein, und auch
die Freikonservativen hatten mit 11,1 Prozent gegenüber zuvor 4,8 Prozent
einen deutlichen Zuwachs zu verzeichnen. Die Konservative Partei war
dagegen leicht abgesunken, von 33,8 auf 28,9 Prozent, und die beiden
linksliberalen Parteien, Fortschritt und Linkes Zentrum, waren von ehemals
32,4 auf 19,2 Prozent der Mandate geschrumpft. 1 4 Das Lager der Regie-
rungspolitik war also gestärkt, ohne daß allerdings klare Mehrheiten zu-
stande kamen, so daß Bismarck von Fall zu Fall mit wechselnden Majori-
täten regieren mußte und in manchen Fragen, vor allen solchen des Budgets
und der Weifen-Abfindung, selbst die Nationalliberalen in der Opposition
fand. Dennoch nahm der nationalliberale Einfluß zu; der hochkonservative
Justizminister Graf zur Lippe wurde 1867 auf die Forderung der national-
liberalen Fraktion hin durch den liberal-konservativen Hannoveraner Leon-
hardt ersetzt, zwei Jahre darauf trat der liberale Präsident der Seehandlung
Otto Camphausen als Finanzminister in das Staatsministerium ein, und
1872 trat an die Stelle des hochkonservativen Kultusministers von Mühler
der Liberale Adalbert Falk. Das Zusammenspiel von Abgeordnetenhaus
und konservativ-liberalem Kabinett funktionierte auf der Grundlage des
Kompromisses von 1866; die Zeiten des Verfassungskonflikts lagen weit
zurück.

s 2 Preußens Weg ins Reich 1867-1871


I. Der Norddeutsche Bund 1867-1871
Im nachhinein betrachtet ist die Debatte müßig, ob, wie Linksliberale,
Süddeutsche, Katholiken und, ins Positive gewendet, preußische Beamte
und Militärs, in der Folge von 1866 eine Ausbreitung des preußischen
Einflusses auf ganz Deutschland vorhersagten, oder ob Altkonservative
klagend, Nationalliberale voller Zuversicht Preußen in Deutschland auf-
gehen sahen: beides traf mehr oder weniger zu, dergestalt, daß zu Beginn
des Einigungsprozesses der preußische Einfluß im Norddeutschen Bund,
dann im Kaiserreich auf den wichtigsten Feldern dominierte, im Laufe der

13
Vgl. dazu auch L. GALL, Bismarck... (1980) [47], S. 380.
14
Detailliert dazu: Κ. E. POLLMANN, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund...
(1985) [183], S. 93 —151. — Zur Liberalisierung des Ministeriums Bismarck
1867-70 vgl. E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (31988) [39],
S. 3 7 3 - 3 7 7 .
I. Der Norddeutsche Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 1 353

Zeit jedoch zunehmend schwächer wurde, während die deutschen Zentra-


linstanzen an Gewicht zunahmen. Preußen und Deutschland bildeten seit
1866 ein neuartiges Amalgam, und die Ironie der Geschichte wollte es, daß
mit seinem endgültigen Sieg über Österreich auch das alte Preußen sein
Ende fand. Mit Königgrätz begann jedenfalls etwas ganz Neues in der
deutschen Geschichte, und es ist insofern richtig, die ferneren preußischen
Begebenheiten als Nachgeschichte aufzufassen.
Das neue Staatswesen, der Norddeutsche Bund, verdankte seine Existenz
dem preußischen Sieg auf dem Schlachtfeld und dem anschließenden Bünd-
nisvertrag, 1 der am 18. August 1866 zwischen Preußen und zunächst fünf-
zehn, in schneller Folge dann weiteren sieben Staaten abgeschlossen wurde
und somit ganz Norddeutschland umfaßte: 2 Ein Offensiv- und Defensiv-
bündnis zwischen souveränen Fürsten, von denen allerdings einer souve-
räner als die anderen war: „Alle Truppen der Verbündeten stehen unter
dem Oberbefehl seiner Majestät des Königs von Preußen" (Artikel 4,1).
Nach dem Kabinettskrieg also ein Bündnis der Kabinette; das wäre kaum
mehr gewesen als das friderizianische Fürstenbunds-Projekt von 1785, wenn
der Vertrag nicht als legitimierenden Kern eine Bundesverfassung vorgesehen
hätte, die „unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden Parla-
ments" (Artikel 2) zu beschließen sei. Dieses Parlament sollte auf Grund
des Reichswahlgesetzes von 1849 gewählt werden, das freie, gleiche und
geheime Wahlen durch alle männlichen Bürger vom fünfundzwanzigsten
Lebensjahr an vorgesehen hatte. 3
Zum Bündnis der Fürsten gesellte sich also die Volksvertretung, die
gemeinsam mit den verbündeten Regierungen die Verfassung des künftigen
Bundesstaats beschloß: 4 Der Norddeutsche Bund besaß von vornherein ein
Doppelgesicht, denn er bezog seine Macht aus der vorkonstitutionellen
Übereinkunft der Fürsten, seine Legitimation jedoch durch das National-

1 E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 196, S. 268.


2 Neben Preußen unterzeichneten das Augustbündnis zunächst Sachsen-Weimar,
Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Anhalt,
Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Waldeck, Reuß jüngere
Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Hamburg und Bremen; es folgten die
beiden Mecklenburg, die sich aus Sorge um den Fortbestand des altständischen
Systems zunächst zurückgehalten hatten, und nach der Unterzeichnung des Prager
Friedens schließlich auch diejenigen norddeutschen Staaten, die auf österreichi-
scher Seite gestanden hatten und ihre Selbständigkeit bewahren konnten: Sachsen,
Sachsen-Meiningen und Reuß ältere Linie sowie Hessen-Darmstadt für seine
nördliche Provinz Oberhessen. Auch das Herzogtum Lauenburg zählte zu den
Mitgliedern, da es mit Preußen lediglich in Personalunion verbunden war.
3 Wahlgesetz vom 12. IV. 1849, in: Ernst Rudolf HUBER (Hg.), Dokumente zur
deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803 —
1850, Stuttgart 3 1978, Nr. 108a, S. 398; Wahlgesetz für den konstituierenden
Reichstag vom 15. X . 1866, in: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40],
Nr. 197, S. 270.
4 Die Norddeutsche Bundesverfassung vom 16. IV. 1867, in: A. a. O., Nr. 198,
S. 2 7 2 - 2 8 6 .
354 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

Parlament. Das war nicht nur „Revolution von o b e n " , sondern K o m p r o m i ß


zwischen monarchischem Prinzip und den Kräften der Nationalbewegung.
N u r so konnte der Norddeutsche Bund zwar unvollkommener, aber unbe-
streitbarer Vorgänger eines deutschen Nationalstaats werden. 5
Daß allerdings das monarchische Bundes- vor dem demokratischen Ein-
heitsprinzip stand, wurde bereits darin deutlich, daß bereits vor der Wahl
des norddeutschen Reichstages am 15. Dezember 1866 die Bevollmächtigten
der norddeutschen Regierungen zur Beratung der Bundesverfassung zusam-
mentraten. 6 Der von Bismarck vorgelegte, weitgehend von ihm selbst kon-
zipierte Verfassungsentwurf 7 wurde nach einigen Änderungen von den
verbündeten Regierungen am 7. Februar 1867 bestätigt, und erst jetzt war
es Sache der Volksvertretung, den Verfassungsentwurf zu beraten. Die
Reichstagswahlen v o m 12. Februar 1867 hatten zu einer eindeutigen Mehr-
heit der Nationalliberalen, Altliberalen 8 und Freikonservativen 9 geführt;

5 Friedrich C. SELL, Die Tragödie des deutschen Liberalismus [1953], Baden-Baden


2 1 9 8 1 ; K . - G . FABER, R e a l p o l i t i k als I d e o l o g i e . . . (1966) [167]; Barbara VOGEL,
„Revolution von oben" — Der „deutsche Weg" in die bürgerliche Gesellschaft?,
in: Sowi, Bd. 8 (1979), S. 67 - 74; Ernst ENGELBERG, Über die Revolution von
oben. Wirklichkeit und Begriff, in: Ders., Theorie, Empirie und Methode in der
Geschichtswissenschaft. Gesammelte Aufsätze, hg. von Wolfgang Küttler und
Gustav Seeber, Berlin 1980, S. 3 3 9 - 3 8 4 ; H. SCHULZE, Der Weg zum National-
staat... (1985) [61], S. 119 - 1 2 6 ; Klaus Erich POLLMANN, Der Norddeutsche Bund
— ein Modell für die parlamentarische Entwicklungsfähigkeit des deutschen
Kaiserreichs?, in: Otto Pflanze (Hg.), Innenpolitische Probleme des Bismarck-
Reiches ( = SchrHKol, Bd. 2), M ü n c h e n - W i e n 1983, S. 2 1 7 - 2 3 7 ; Ders., Parla-
mentarismus im Norddeutschen Bund... (1985) [183].
6 K . BINDING, D i e G r ü n d u n g d e s N o r d d e u t s c h e n B u n d e s . . . ( 1 8 8 9 ) [ 1 7 9 ] ; H . T R I E -
PEL, Zur Vorgeschichte der Norddeutschen Bundesverfassung... (1911) [185];
O.BECKER, Bismarcks Ringen... ( 1 9 5 8 ) [ 1 7 8 ] , S . 2 3 6 f f . ; Κ . E . POLLMANN, Vom
Verfassungskonflikt zum Verfassungskompromiß... (1974) [184].
7 O.von BISMARCK, Die gesammelten Werke... ( 1 9 2 4 - 1 9 3 5 ) [43], Bd. 6, bearb.
von Friedrich Thimme, Berlin 1929, S. 187 ff.
8 Martin SPAHN, Zur Entstehung der nationalliberalen Partei, in: ZfP, Bd. 1 (1908),
S. 346 — 470; Eduard Wilhelm MAYER, Aus der Geschichte der nationalliberalen
Partei in den Jahren 1868 — 1871, in: Paul Wentzcke (Hg.), Deutscher Staat und
deutsche Parteien. Beiträge zur deutschen Partei- und Ideengeschichte. Festschrift
für Friedrich Meinecke, Berlin 1922, S. 135 - 1 5 4 ; H. A. WINKLER, Preußischer
Liberalismus... (1964) [147]; Wolf-Arno KROPAT, Die nassauischen Liberalen und
Bismarcks Politik in den Jahren 1866 —1867. Die Reaktion der Fortschrittspartei
und der Bevölkerung in Nassau auf die Annexion, besonders im Spiegel der
Reichstagswahlen vom 12. Februar und 31. August 1867, in: HessJbLG, Bd. 16
(1966), S. 215 — 296; Theodor SCHIEDER, Die Krise des bürgerlichen Liberalismus.
Ein Beitrag zum Verhältnis von politischer und gesellschaftlicher Verfassung, in:
Ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit. Studien zur Geschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1958, S. 58 - 88.
9 August WOLFSTIEG, Die Anfänge der freikonservativen Partei, in: Delbrück-
Festschrift. Gesammelte Aufsätze, Professor Hans Delbrück zu seinem sechzigsten
Geburtstage (11. November 1908) dargebracht von Freunden und Schülern, Berlin
I. Der Norddeutsche Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 1 355

die grundsätzliche parlamentarische Unterstützung der Bismarckschen Ver-


fassungspläne 10 war damit gesichert. Es zeigte sich allerdings bei den Be-
ratungen, daß die Unterstützung im Grundsätzlichen Konflikte im einzelnen
nicht ausschloß; 11 die Forderung der Nationalliberalen nach kollegialischen
und verantwortlichen Bundesministern stieß auf ein hartes Nein Bismarcks,
der hier eben jenen Weg zur Parlamentarisierung sah, der 1862 durch seine
Berufung versperrt worden war. In Fragen des jährlichen Budgets und der
parlamentarischen Privilegien der Abgeordneten dagegen gab er weitgehend
nach, wenn auch die Militärausgaben bis Ende 1871 durch ein Pausch-
quantum festgesetzt wurden; danach sollte das parlamentarische Haushalts-
recht auch auf das Militärwesen ausgedehnt werden. Auch hier also wieder
ein Kompromiß zwischen Regierung und Parlament, den Bismarck um so
leichter einging, als er sich von einem liberal dominierten Reichstag einen
dauernden Druck auf die verbündeten Regierungen versprach.
Der Verfassungsentwurf wurde in seiner veränderten Form vom Reichstag
am 16. April 1867 mit einer Mehrheit von 230 gegen 53 Stimmen angenom-
men; gegen ihn stimmten lediglich die polnischen, weifischen, katholischen,
linksliberalen Abgeordneten sowie August Bebel, 1 2 der einzige sozialde-
mokratische Volksvertreter. Nachdem sämtliche Bundesstaaten die Bundes-
verfassung ratifiziert hatten, trat der Norddeutsche Bund mit Wirkung vom
1. Juli 1867 ins Leben.
Die Verfassung war ein Meisterwerk der Lakonie, „kurz und dunkel",
wie Talleyrand von einer guten Verfassung gefordert hatte. 32 Artikel
genügten, die Machtausübung der Bundesbehörden, von Bundespräsidium,
Bundesrat und Reichstag, zu umschreiben; 13 das übrige befaßte sich mit der

1908, S. 3 1 3 - 3 3 6 ; G. RITTER, Die preußischen Konservativen... (1913) [64],


S. 265 ff.; Kurt VIEBIG, Die Entstehung und Entwicklung der Freikonservativen
und der Reichspartei, insonderheit die Stellung zur Kultur, Kreisordnung und
Schutzzollfrage, Weimar 1920 (R.- und staatswiss. Diss. Greifswald 1920).
10 Wilhelm BUSCH, Bismarck und die Entstehung des Norddeutschen Bundes, in:
HZ, Bd. 103 (1909), S. 5 2 - 7 8 ; Karl LANGE, Bismarck und die norddeutschen
Kleinstaaten im Jahre 1866, Leipzig 1930; O. BECKER, Bismarcks Ringen... (1958)
[178], S. 271 ff., 359 ff.
11 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Nord-
deutschen Bundes, 15 Bde. und 5 Sonderbde., Berlin 1867 - 1 8 7 0 ; Karl ZUCHARDT,
Die Finanzpolitik Bismarcks und die Parteien im Norddeutschen Bunde
( = LeipzHAbh, H. 16), Leipzig 1910; Klaus Erich POLLMANN, Parlamentseinfluß
während der Nationalstaatsbildung 1867 — 1871, in: Gerhard A. Ritter (Hg.),
Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis
zur Gegenwart ( = BGParl, Bd. 73), Düsseldorf 1983, S. 5 6 - 7 5 , hier S. 6 5 - 6 8 .
12 Werner JUNG, August Bebel. Deutscher Patriot und internationaler Sozialist.
Seine Stellung zu Patriotismus und Internationalismus, Pfaffenweiler 1986; Bri-
gitte SEEBACHER-BRANDT, Bebel. Künder und Kärrner im Kaiserreich, Berlin —
Bonn 1988.
13 K . BINDING ( H g . ) , Die Verfassungen... (21901) [180]; Ludwig BERGSTRÄSSER,
Geschichte der Reichsverfassung ( = AÖR, Beilagenh. 3), Tübingen 1914; Eber-
hard von VIETSCH, Die politische Bedeutung des Reichskanzleramts für den
356 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

Erhebung von Zöllen und Verbrauchssteuern, Eisenbahntarifen, Post- und


Telegraphenwesen, Kriegs- und Handelsmarine, dem Konsulatswesen, den
Bundesfinanzen und nicht zuletzt mit dem Bundeskriegswesen. Von einem
Grundrechtskatalog glaubte man im Hinblick auf die Landesverfassungen,
die dergleichen enthielten, absehen zu können. 1 4 In weitem Maße war die
Verfassung dem monarchischen Konstitutionalismus verpflichtet, ungeach-
tet des gleichen, geheimen und allgemeinen (Männer-)Wahlrechts für den
Reichstag. Es blieb bei der ursprünglichen pouvoir constituant der verbün-
deten Souveräne, es blieb bei der Gesetzgebungsteilhabe der monarchischen
Spitze insoweit, als das Bundespräsidium nicht nur die Bundesgesetze aus-
fertigte, veröffentlichte und ihre Ausführung überwachte, sondern ihrerseits
ein Anordnungs- und Verfügungsrecht besaß, das von den gesetzgebenden
Körperschaften nicht kontrollierbar war. Die Regierung blieb weiterhin
Sache des Bundespräsidiums in Gestalt des preußischen Königs, das den die
gesamte Bundesregierung verkörpernden Bundeskanzler ernannte und ent-
ließ, und auch die Heeresangelegenheiten blieben insoweit der Kontrolle
der Volksvertretung entzogen, als die uneingeschränkte Kommandogewalt
beim Bundespräsidium lag. 1 5
Neben dem vielfach eingeschränkten, doch hinsichtlich seiner Legitima-
tion gestärkten parlamentarischen sowie dem nach wie vor starken, wenn
auch gegenüber der preußischen Verfassung erkennbar zurückgenommenen
monarchischen besaß das neue Bundes-Grundgesetz noch ein drittes, ganz
neues Element: das föderale. 16 Der Souverän des neuen Staatsgebildes war
nicht, wie von den Liberalen gefordert, der preußische König als Kaiser;
dieser begnügte sich mit seiner zurückgenommenen Stellung als Bundesvor-
stand. Die verfassungsrechtliche Souveränität lag vielmehr bei den 21 ver-
bündeten Fürsten und Stadtregierungen, die im Bundesrat vertreten waren,

inneren Ausbau des Reiches von 1867 bis 1880, Borna — Leipzig 1936; H . O.
Meisner, Bundesrat, Bundeskanzler und Bundeskanzleramt... (1972) [182]; Theo-
dor MAUNZ, Der Bundesrat in Vergangenheit und Gegenwart, in: H J b , Bd. 7 4
(1955), S. 5 4 6 - 5 5 6 ; Rudolf MORSEY, Die oberste Reichsverwaltung unter Bis-
marck 1 8 6 7 - 1 8 9 0 ( = NMünstBGf, Bd. 3), Münster 1957; Hans FENSKE, Deut-
sche Verfassungsgeschichte. Vom Norddeutschen Bund bis heute ( = B t r Z G ,
Bd. 6), Berlin 1981.
14 K. BRAUN, Gewerbe-, Zug- und Verehelichungsfreiheit im Norddeutschen Bunde,
in: Prjbb, Bd. 21 (1868), S. 4 3 5 - 4 6 6 .
15 Eckart BUSCH, Der Oberbefehl. Seine rechtliche Struktur in Preußen und Deutsch-
land seit 1848 ( = MGSt, Bd. 5), Boppard a . R h . 1967.
16 Heinrich TRIEPEL, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine
staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 1907; Ders., Die Hegemonie.
Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1938; O. BECKER, Bismarcks Ringen...
(1958) [178], S. 386 ff.; Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Re-
volution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791
bis 1848 ( = IndW, Bd. 7), Stuttgart 1967, S. 337 ff.; Gerhard A. RITTER, Ent-
wicklungsprobleme des deutschen Parlamentarismus, in: Ders. (Hg.), Gesell-
schaft, Parlament und Regierung. Z u r Geschichte des Parlamentarismus in
Deutschland, Düsseldorf 1974, S. 1 1 - 5 4 .
I. Der Norddeutsche Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 1 357

einem Verfassungsorgan, das nicht nur gleiche legislative Rechte wie der
Reichstag besaß, sondern darüber hinaus auch oberster Träger der Bundes-
exekutive war: er beschloß unter anderem die Bundesexekutive und über
die Reichstagsauflösung, ohne seine Zustimmung gab es keine Kriegserklä-
rung, keinen völkerrechtlichen Vertrag, er schlichtete Verfassungsstreitig-
keiten, und er war für die Durchführung der Bundesgesetze und die Ein-
richtung von Bundesbehörden zuständig: streng genommen war der Nord-
deutsche Bund keine Monarchie, sondern eine Aristokratie. 17
Aber das war Verfassungstheorie; tatsächlich konnte an der umfassenden
Dominanz der preußischen Krone im Norddeutschen Bund kein Zweifel
sein. Zwar besaß Preußen im Bundesrat lediglich 17 von 43 Stimmen, also
erheblich weniger, als es seinem Bevölkerungs- und Territorialanteil am
Norddeutschen Bund entsprochen hätte; doch benötigte es lediglich fünf
weitere Stimmen, um den Bundesrat zu majorisieren, und zudem konnten
gegen die preußischen Stimmen allein weder die Verfassung noch Gesetze
über das Militärwesen und die bundesunmittelbaren Zoll- und Steuerein-
nahmen geändert werden. 18 Zudem waren die zwei wichtigsten Säulen des
preußischen Staats, Armee und Verwaltung, ohne weiteres zu den Haupt-
stützen des Bundes verlängert worden; indem der preußische Ministerprä-
sident das Amt des Bundeskanzlers übernahm, war er zwar nicht der
formellen Verfassung, wohl aber der materiellen Substanz nach Inhaber der
Exekutive, gestützt einerseits auf die preußische Bürokratie, 1 9 die fünf
Sechstel des Bundesgebietes verwaltete, andererseits auf die Beamtenschaft
der neuen Bundesinstitutionen, die praktisch ausschließlich aus dem preu-
ßischen Dienst übernommen wurde. Und die Stellung des preußischen
Königs als Bundesfeldherr, als Inhaber der obersten Kommandogewalt
sämtlicher Bundestruppen und der Bundesmarine in Krieg und Frieden,
sicherte die vollständige militärische Prädominanz Preußens. 20
Wenn also der Norddeutsche Bund, mit den Worten Wilhelms I., als
„verlängerter Arm Preußens" gelten konnte, so reichte der andere Arm weit
nach Süddeutschland. Da waren die im Zusammenhang mit dem Prager

17 Georg-Christoph von UNRUH, Die verfassungsrechtliche Stellung Preußens im


Norddeutschen Bund und im Deutschen Reich nach den Verfassungen von 1867/
1871 und 1919, in: Oswald Hauser (Hg.), Preußen, Europa und das Reich
( = NFBPG, Bd. 7), K ö l n - W i e n 1987, S. 2 6 1 - 2 7 1 .
18 K. ZUCHARDT, Die Finanzpolitik Bismarcks... (1910) [s.o. Anm. 11], S. 35ff.;
K . E . POLLMANN, Parlamentseinfluß... (1983) [s.o. Anm. 11], S. 74ff.
19 O. HAUSER, Staatliche Einheit... (1967) [196]; Hans FENSKE, Preußische Beamten-
p o l i t i k v o r 1 9 1 8 , in: St, B d . 1 2 ( 1 9 7 3 ) , S. 3 3 9 - 3 5 6 ; H . BARMEYER, Hannovers
Eingliederung... (1983) [192]; P. BAUMGART (Hg.), Expansion und Integration...
(1984) [193],
20 Klaus-Dieter KAISER, Die Eingliederung der ehemals selbständigen norddeutschen
Truppenkörper in die preußische Armee in den Jahren nach 1866. Eine Unter-
suchung zum Verhältnis von Verfassungsnorm und militärischer Wirklichkeit,
Phil. Diss. FU Berlin 1973; Manfred MESSERSCHMIDT, Militär und Politik in der
Bismarckzeit und im wilhelminischen Deutschland ( = EdF, Bd. 43), Darmstadt
1975.
358 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

Frieden mit Württemberg, Baden und Bayern abgeschlossenen geheimen


Schutz- und Trutzbündnisse, denen sich Hessen-Darmstadt am 11. April
1867 anschloß, eine Defensiv-Allianz zur gegenseitigen militärischen Unter-
stützung im Kriegsfall; im casus foederis sollte der preußische König den
gemeinsamen Oberbefehl innehaben. Daß die Südstaaten ihre Armeen nach
preußischem Muster organisierten, ausbildeten und bewaffneten, machte
das militärische Übergewicht Preußens auch in Friedenszeiten sichtbar. 21
Vor allem aber war Süddeutschland mit dem Norddeutschen Bund durch
enge wirtschaftspolitische Bindungen verknüpft; der Zollverein feierte Auf-
erstehung, anstelle der früheren lockeren Organisation durch zentrale Or-
gane gefestigt, einem Zollbundesrat, dem in Erweiterung des Norddeutschen
Bundesrats Vertreter der Regierungen aller nord- und süddeutschen Staaten
angehörten, und einem Zollparlament mit Gesetzgebungskompetenzen auf
den Gebieten der gemeinsamen Zoll-, Handels- und Gewerbepolitik, das
aus den Mitgliedern des Norddeutschen Reichstags sowie nach demselben
Wahlrecht gewählten süddeutschen Abgeordneten bestehen sollte. 22 Im Ver-
gleich zum alten Zollverein war das preußische Übergewicht in diesem
neuen Zoll-Bundesstaat eher eingeschränkt, denn jetzt entschied nicht nur
die überlegene Wirtschaftskraft, sondern auch das Stimmenverhältnis in
den Spitzengremien, und da die bayerischen Stimmen verstärkt worden
waren, um die anfängliche Münchener Skepsis gegen den neuen Zollverein

21
Schutz- und Trutzbündnis zwischen Preußen und Bayern vom 22. VIII. 1866, in:
E.R. HUBER (Hg.), Dokumente... (31986) [40], Nr. 200, S. 288; zwischen Preußen
und Hessen vom 11. IV. 1867, in: A . a . O . , Nr. 201, S. 289; Heinrich von
TREITSCHKE, Die Verträge mit den Südstaaten, in: Prjbb, Bd. 26 (1870), S. 6 8 4 -
695; Wilhelm SCHÜSSLER, Bismarcks Kampf um Süddeutschland 1867, Berlin
1929; Gustav ROLOF, Bismarcks Friedensschlüsse mit den Süddeutschen im Jahre
1866, in: H Z , Bd. 146 (1932), S. 1 - 7 0 ; Manfred MESSERSCHMIDT, Militärge-
schichte im 19. Jahrhundert, 2 Teile ( = HbdMG, Bd. 4), München 1975/76. -
Über Unitarismus und Föderalismus in der deutschen Heeresverfassung nach
1867: E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (31988) [39], S. 998ff.;
Lothar GALL, Bismarcks Süddeutschlandpolitik 1866 - 1 8 7 0 , in: Eberhard Kolb
(Hg.), Europa vor dem Krieg von 1870. Mächtekonstellation — Konfliktfelder —
Kriegsausbruch (= SchrHKol, Bd. 10), München 1987, S . 2 3 - 3 2 .
22
Das Zollparlament und seine Kompetenzerweiterung. Eine Warnung vor falschen
Wegen, in: Prjbb, Bd. 21 (1868), S. 5 9 1 - 6 0 0 ; W. ZORN, Die wirtschaftliche
Integration... (1973) [32]; Ders., Zwischenstaatliche wirtschaftliche Integration
im Deutschen Zollverein 1867 — 1870. Ein quantitativer Versuch, in: VSWG,
Bd. 65 (1978), S. 3 8 - 7 6 ; Michael KERWAT, Die wechselseitige wirtschaftliche
Abhängigkeit der Staaten des nachmaligen Deutschen Reiches im Jahrzehnt vor
der Reichsgründung, Staatswiss. Diss. München 1976; Hans-Werner HAHN, Ge-
schichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984; Klaus MEGERLE, Ökono-
mische Integration und politische Orientierung deutscher Mittel- und Kleinstaa-
ten im Vorfeld der Reichsgründung, in: Helmut Berding (Hg.), Wirtschaftliche
und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert ( = GG, Sonderh.
10), Göttingen 1984, S. 1 0 2 - 1 2 7 .
I. Der Norddeutsche Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 1 359

zu beschwichtigen, war Preußen leicht zu überstimmen. 2 3 Bismarck setzte


daher starke Erwartungen auf das Zollparlament, von dem er sich zusätz-
liche einigende Anstöße für eine zusätzliche politische Verklammerung von
N o r d - und Süddeutschland im Sinne der preußischen Politik versprach. 2 4
Die süddeutschen Zollparlaments-Wahlen v o m Februar und M ä r z 1868
zeigten jedoch, daß die Sympathien für die Lösung der nationalen Frage
unter preußischer Suprematie südlich der Main-Linie erheblich schwächer
waren als im N o r d e n ; von den 85 süddeutschen Abgeordneten vertraten
nur 26 das liberale oder freikonservative P r o g r a m m der politischen Eini-
gung, neun waren nicht klar festgelegt, doch 5 0 Abgeordnete gehörten zu
den verschiedenen, meist katholischen, partikularistischen oder großdeut-
schen, jedenfalls antipreußischen Gruppierungen. 2 5 Am Ende der 1860er
Jahre standen die Zeichen für den Fortgang der deutschen Einigungspolitik
nicht gut; die Zollparlamentswahlen hatten Bismarck die Grenzen seines
plebiszitären Zusammenspiels mit den nationalliberalen bürgerlichen Kräf-
ten gezeigt, die Zollvereins-Verhandlungen mit Bayern hatten in München
ein klares „Bis hierher und nicht weiter" ausgelöst, und das österreichische
und französische Mißtrauen gegen jeden Anschein eines politischen Aus-

23 Walter SCHÜBELIN, Das Zollparlament und die Politik von Baden, Bayern und
Württemberg. 1866 - 1 8 7 0 ( = HSt, H. 262), Berlin 1935 (ND Vaduz 1965); Jochen
SCHMIDT, Bayern und das Zollparlament. Politik und Wirtschaft in den letzten
Jahren vor der Reichsgründung (1866/67—1870). Zur Strukturanalyse Bayerns
im Industriezeitalter ( = MiscBavMon, Bd. 46), München 1973; Rolf WILHELM,
Das Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund (1867 — 1870)
( = HSt, H. 431), Husum 1978; Hans-Werner HAHN, Wirtschaftliche Integration
im 19. Jahrhundert. Die hessischen Staaten und der Zollverein ( = KrStGw,
Bd. 52), Göttingen 1982; Ders., Hegemonie und Integration. Voraussetzungen
und Folgen der preußischen Führungsrolle im Deutschen Zollverein, in: H.
Berding (Hg.), Wirtschaftliche und politische Integration... (1984) [s. o. Anm. 22],
S. 45 - 70; Friedrich Wilhelm HENNING, Die wirtschaftliche Integration Deutsch-
lands im 19. Jahrhundert. Die Bedeutung Preußens für die Entstehung der
deutschen Volkswirtschaft, in: O. Hauser (Hg.), Preußen, Europa und das Reich...
(1987) [s.o. Anm. 17], S. 295 - 312.
24 Georg FREYE, Motive und Taktik der Zollpolitik Bismarcks. Auf Grund der
amtlichen Quellen, R.- und staatswiss. Diss. Hamburg 1926 [MS]; W. SCHÜSSLER,
Bismarcks Kampf... (1929) [s.o. Anm. 21]; Alfred MEYER, Der Zollverein und
die deutsche Politik Bismarcks. Eine Studie über das Verhältnis von Wirtschaft
und Politik im Zeitalter der Reichsgründung ( = EHschr, R. 3, Bd. 288), Frank-
f u r t / M . - B e r n - N e w York 1986, S. 1 9 1 - 2 3 0 .
25 Ernst GÖTZ, Die Stellung Hessen-Darmstadts zur deutschen Einigungsfrage in
den Jahren 1 8 6 6 - 1 8 7 1 , Darmstadt 1914, S. 43 ff.; Theodor SCHIEDER, Die klein-
deutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863 —1871
( = MünchHAbh, R. 1, Bd. 12), München 1936; G . G . WINDELL, The Catholics...
(1954) [188]; Lothar GALL, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Groß-
herzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung ( = VIEG, Bd. 47),
Wiesbaden 1968, S. 376ff.; A . M . BIRKE, Bischof Ketteier... (1971) [86];
J.SCHMIDT, Bayern und das Zollparlament... (1973) [s.o. Anm. 23], S. 140 ff.;
A. MEYER, Der Zollverein... (1986) [s.o. Anm. 24], S. 222ff.
360 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

greifens nach Süddeutschland war deutlich. Auch jetzt blieb Bismarck


seinem Grundsatz treu, keine deutsche Politik gegen die Interessen der
europäischen Großmächte zu betreiben, und die waren weiterhin auf die
Teilung und Neutralisierung der europäischen Mitte gerichtet. 26 Unter den
gegebenen Verhältnissen war der Schritt von der wirtschaftlichen zur poli-
tischen Einigung Klein-Deutschlands nicht zu tun, und Bismarck spielte
sehr wohl mit dem Gedanken, nicht weiterzugehen und den status quo
zugunsten eines besseren Verhältnisses zu Paris und Wien zu befestigen.
Eine dauerhafte politische Dreiteilung Deutschlands in Österreich, einen
großpreußischen Norden und dazwischen einen deutschen Südbund — das
war um 1869 eine realistische Perspektive. 27

II. Der deutsch-französische Krieg und die


Reichseinigung 1870/1871

Wie stets, wenn die deutsche Frage sich weiterentwickelte, geschah dies
durch Druck von außen, und auch jetzt war es wieder Frankreich, das die
deutsche Einigung förderte, gerade indem es sie fürchtete und zu verhindern
suchte. Das war bereits in der luxemburgischen Krise sichtbar geworden;
auf der Suche nach Kompensationen für die preußische Machterweiterung
hatte Napoleon III. sein Auge auf Luxemburg geworfen, bis 1866 deutsche
Bundesfestung in holländischem Besitz, und Bismarck war anfangs durchaus
damit einverstanden gewesen, um das französische Prestigebedürfnis zu
stillen und die Beziehungen zu Frankreich zu verbessern. Aber Kabinettspo-
litik dieses Stils war bereits nicht mehr möglich; die Sache kam an die
Öffentlichkeit, das deutsche Nationalgefühl in Nord- wie in Süddeutschland
wallte mächtig auf, und Bismarck, wie stets zwischen Nationalbewegung
und europäischer Friedensordnung wie zwischen Scylla und Charybdis
manövrierend, entschied sich für die patriotische Ablehnung der französi-
schen Forderung. Bereits 1867 stand man am Rande des Kriegs, und der
Gedanke griff in der deutschen Öffentlichkeit um sich, daß wie zuvor die

26 H . MICHAEL, B i s m a r c k , E n g l a n d u n d E u r o p a . . . ( 1 9 3 0 ) [ 1 9 1 ] ; G e r h a r d RITTER,
Die Politik Napoleons III. und das System der Mainlinie, in: KB1GAV, Bd. 80
(1932), S. 1 7 8 - 1 8 2 ; Herbert GEUSS, Bismarck und Napoleon III. Ein Beitrag zur
Geschichte der preußisch-französischen Beziehungen 1851 —1871 ( = KielHSt,
Bd. 1), Köln - Graz 1959; Lauri Adolf PUNTILA, Bismarcks Frankreichpolitik [finn.
1952], Göttingen - Frankfurt/M. — Zürich 1971; Elisabeth FEHRENBACH, Preußen-
Deutschland als Faktor der französischen Außenpolitik der Reichsgründungszeit,
in: E. Kolb (Hg.), Europa und die Reichsgründung... (1980) [92], S. 1 0 9 - 1 3 7 ;
Wilfried RADEWAHN, Europäische Fragen und Konfliktzonen im Kalkül der
französischen Außenpolitik vor dem Krieg von 1870, in: E. Kolb (Hg.), Europa
v o r d e m K r i e g . . . ( 1 9 8 7 ) [ s . o . A n m . 2 1 ] , S. 3 3 - 6 3 .
27 Walter PLATZHOFF, England und der Kaiserplan vom Frühjahr 1870, in: HZ,
Bd. 127 (1923), S. 454 - 475.
II. Der deutsch-französische Krieg und die Reichseinigung 1870/1871 361

Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich nunmehr der deutsch-


französische Entscheidungskrieg unvermeidlich sei. 1
Bismarck hat diesen Krieg nicht herbeiführen wollen - den Gedanken
eines Präventivkriegs hat er zeitlebens zurückgewiesen —, aber er ist ihm
auch nicht ausgewichen, wenn sich der K a m p f im europäischen Kräftefeld
isolieren und wenn sich auf diese Weise die deutsche Frage aus der drohen-
den Erstarrung lösen ließ. Beides bot sich an, als die Frage der spanischen
Thronfolge akut w u r d e . 2 Im Frühjahr 1870 bot das spanische Parlament
den vakanten T h r o n in Madrid einem Mitglied des Hauses Hohenzollern-
Sigmaringen, der katholischen Hohenzollern-Nebenlinie, an. Das beschwor
in Frankreich uralte Einkreisungsängste herauf, und Napoleon III. signali-
sierte französische Gegnerschaft gegen das Vorhaben. Rußland und England
zeigten sich desinteressiert, übergeordnete Fragen des europäischen Gleich-
gewichts schienen nicht berührt, und so schürte Bismarck die Krise, indem
er die spanische Hohenzollernkandidatur forcierte und somit den Krieg mit
Frankreich bewußt riskierte. 3 Wilhelm I. dagegen war sehr wohl bereit, den
französischen Wünschen entgegenzukommen und die spanische T h r o n -

1 H. ONCKEN, Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III.... (1926) [202]; Karl August
SCHIERENBERG, Die deutsch-französische Auseinandersetzung und die Luxem-
burger Frage, dargestellt vor allem an der Luxemburger Angelegenheit des Jahres
1867, Marburg 1933 (Phil. Diss. Marburg 1933); Jules GARSOU, Le Grand-Duché
de Luxembourg entre la Belgique, la France et la Prusse (1867 — 1871), in: CahLux,
12. J g . (1935), S. 8 0 5 - 8 1 6 , 13. Jg. (1936), S. 5 9 3 - 6 0 1 , 14. J g . ( 1 9 3 7 ) , S. 5 1 5 -
537, 661—669; Marcel JUNOD, Die Neutralität des Großherzogtums Luxemburg
von 1867 bis 1 9 4 8 , in: P u b l H L u x , Bd. 72 (1951), S. 7 - 1 0 3 ; Herbert GEUSS,
Bismarck und Napoleon III. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-französi-
schen Beziehungen 1 8 5 1 - 1 8 7 1 ( = KöHAbh, Bd. 1), K ö l n - G r a z 1959; Wilfried
RADEWAHN, Europäische Fragen und Konfliktzonen im Kalkül der französischen
Außenpolitik vor dem Krieg von 1870, in: Eberhard Kolb (Hg.), Europa vor dem
Krieg von 1870. Mächtekonstellation — Konfliktfelder — Kriegsausbruch ( =
SchrHKol, Bd. 10), München 1987, S. 3 3 - 6 3 .
2 Rudolf MORSEY, Geschichtsschreibung und amtliche Zensur. Zum Problem der
Aktenveröffentlichung über die spanische Thronkandidatur der Sigmaringer Ho-
henzollern, in: HZ, Bd. 184 (1957), S. 5 5 5 - 5 7 2 ; Ders., Die Hohenzollernsche
Thronkandidatur in Spanien, in: HZ, Bd. 186 (1958), S. 5 7 3 - 5 8 8 ; Richard Ko-
NETZKE, Spanien, die Vorgeschichte des Krieges und die deutsche Reichsgründung,
in: HZ, Bd. 214 (1972), S. 5 8 0 - 6 1 3 .
3 Georges BONNIN (Hg.), Bismarck and the Hohenzollern Candidature for the
Spanish Throne. The Documents in the German Diplomatic Archives, London
1957; L . D . STEEFEL, Bismarck... (1962) [204]; J. DITTRICH, Bismarck... (1962)
[200]; Josef BECKER, Zum Problem der Bismarckschen Politik in der spanischen
Thronfolge 1870, in: HZ, Bd. 212 (1971), S. 529 - 607; S. William HALPERIN,
The Origins of the Franco-Prussian War Revisited. Bismarck and the Hohenzol-
lern Candidature for the Spanish Throne, in: J M H , Bd. 45 (1973), S. 8 3 - 9 1 ;
Josef BECKER, Bismarck, Prim, die Sigmaringer Hohenzollern und die spanische
Thronfrage. Zum Fund von „Bismarcks Instruktionsbrief für Bucher" vom 25.
Juni 1870 in der „Real Academia de la Historia" Madrid, in: Fr, Bd. 9 (1981),
S . 435 - 472.
362 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

Kandidatur einem nicht-deutschen Bewerber zu überlassen, um den Krieg


zu vermeiden. Das genügte aber dem Prestigebedürfnis der unter massivem
Druck einer aufgeregten Öffentlichkeit stehenden französischen Regierung
nicht; der französische Botschafter Benedetti reiste nach Bad Ems und
übergab dort dem preußischen König die Forderung nach der Garantie,
dergleichen Kandidaturen hohenzollernscher Prinzen für alle Zukunft aus-
zuschließen. 4 Wilhelm I. begriff dies so, wie es gemeint war, als diploma-
tische Ohrfeige, und lehnte ab; Bismarck erhielt in Berlin eine Depesche
aus Bad E m s , die den Vorgang in sachlicher F o r m schilderte, redigierte sie,
indem er ihren Inhalt scharf zuspitzte und aus der ruhigen Ablehnung des
Königs eine beleidigende Zurückweisung machte, und gab den veränderten
T e x t der „Emser Depesche" noch a m selben Tag, dem 13. Juli 1870, an die
Presse weiter. Er wußte, die schwache französische Regierung konnte eine
diplomatische Niederlage aus innenpolitischen Gründen nicht ertragen, und
er hatte Napoleon III. richtig beurteilt: Dieser trat die Flucht nach vorne
an und erklärte am 19. Juli 1870 überstürzt und ohne außenpolitische
Rückendeckung den Krieg. 5
Anders als der Kabinettskrieg von 1866 war der preußisch-französische
Krieg von 1 8 7 0 / 7 1 , der durch die wirksam werdenden Bündnisverträge
Preußens mit den süddeutschen Staaten zum deutsch-französischen Krieg
wurde, ein Krieg der modernen Technik und der Massenheere, ein Volks-
krieg, wie er ansatzweise bereits 1 8 1 3 / 1 4 sichtbar geworden war, der die

4 Friedrich FRAHM, Frankreich und die Hohenzollernkandidatur bis zum Frühjahr


1869, in: HVS, 29. Jg. (1934), S. 3 4 2 - 3 7 0 ; Willard Allen FLETCHER, The Mission
of Vincent Benedetti to Berlin 1 8 6 4 - 1 8 7 0 , The Hague 1965; Marcel EMERIT,
L'opinion de Napoléon III sur la question du trône d'Espagne en 1869, in:
R H M C , Bd. 16 (1969), S. 4 3 1 - 4 3 8 ; Hans Otto KLEINMANN, Die spanische
Thronfrage in der internationalen Politik vor Ausbruch des deutsch-französischen
Krieges, in: E. Kolb (Hg.), Europa vor dem Krieg... (1987) [s. o. Anm. 1], S. 125 -
149.
5 Die französische Kriegserklärung: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40],
Nr. 218, S. 3 2 5 - 3 2 6 ; die Emser Depesche vom 13. VII. 1870: A . a . O . , Nr. 217,
S. 324; John Emmerich Edward Lord DALBERG-ACTON, The Causes of the
Franco-Prussian War, in: Ders., Historical Essays and Studies, hg. von John
Neville Figgis and Reginald Vere Laurence, New York 1967, S. 204 — 225; E.
KOLB, Der Kriegsausbruch 1870... (1970) [201]; D . E . SHOWALTER, Diplomacy
and the Military... (1971) [203]; Wilfried RADEWAHN, Die Pariser Presse und die
deutsche Frage unter Berücksichtigung der französischen Pressepolitik im Zeit-
alter der Bismarckschen Reichsgründung ( 1 8 6 6 - 1 8 7 0 / 7 1 ) ( = EHschr, R. 3,
Bd. 87), F r a n k f u r t / M . - B e r n - L a s Vegas 1977; Klaus Rudolf WENGER, Preußen
in der öffentlichen Meinung Frankreichs 1815 — 1870. Politische Aspekte des
französischen Preußenbildes. Ein Beitrag zur historischen Analyse nationaler
Urteilsklischees ( = G ö B a u s t G w , Bd. 50), Göttingen — Frankfurt/M. — Zürich
1979; Elisabeth FEHRENBACH, Preußen-Deutschland als Faktor der französischen
Außenpolitik der Reichsgründungszeit, in: E. Kolb (Hg.), Europa und die Reichs-
gründung... (1980) [92], S. 1 0 9 - 1 3 7 ; Jean STENGERS, Le rôle de l'opinion pu-
blique dans la genèse d'une guerre: 1870 et 1914, in: E. Kolb (Hg.), Europa vor
dem Krieg... (1987) [s.o. Anm. 1], S. 1 5 1 - 1 7 4 .
II. Der deutsch-französische Krieg und die Reichseinigung 1 8 7 0 / 1 8 7 1 363

Schrecken des ungebändigten totalen Kriegs des kommenden Jahrhunderts


bereits vorausahnen ließ. In seiner ersten Phase spielte die technische und
strategische Überlegenheit des preußischen Generalstabs die entscheidende
Rolle; Mobilmachung, Aufmarsch und die weiträumige Bewegung großer
Truppenmassen wurden auf deutscher Seite besser beherrscht, und nicht
die legendenschweren Grenzschlachten von Weißenburg, Wörth und Spi-
chern, nicht die Reiterschlachten von Mars La Tour und Gravelotte ent-
schieden den Kriegsverlauf, sondern die großen, mit fast wissenschaftlicher
Präzision geplanten Umfassungsschlachten von Metz und Sedan, Meister-
werke abstrakter Generalstabskunst, die der Initiative des einzelnen Heer-
führers kaum noch Spielraum boten, nur aus großer Entfernung überschau-
bar waren, dabei aber viel weniger Blut kosteten als die vorangegangenen
Treffen und dennoch die französischen Armeen in die Kapitulation trieben.
Der zweite Teil des Kriegs, in dem die Volksheere der neuerstandenen
französischen Republik in einer levée en masse nach dem Muster von 1793
versuchten, den deutschen Feind zu erdrücken, führte zu Rückschlägen für
die deutschen Heere, ohne den Sieg jedoch ernsthaft zu gefährden. Am
28. Januar 1871 wurde der Waffenstillstand abgeschlossen, der Präliminar-
friede folgte am 26. Februar, und am 1. März marschierten deutsche
Truppen als Symbol der gegnerischen Unterwerfung in das seit Monaten
belagerte Paris ein, um die französische Hauptstadt bereits einen Tag später
wieder zu verlassen.6 Der Frankfurter Friedensvertrag vom 10. Mai 1871,7
der im wesentlichen das besiegte Frankreich die Provinzen Elsaß und Loth-
ringen sowie eine Kriegsentschädigung in Höhe von 5 Milliarden Francs
kostete, machte ein weiteres Mal deutlich, daß die in der Regel mit begrenz-
ten und rationalen Zielen geführten Kabinettskriege der Vergangenheit
angehörten. Der öffentlichen Meinung in Deutschland, die mit verschwin-
dend wenigen Gegenstimmen die „Wiedergewinnung alten deutschen Volks-

6 Der deutsch-französische Krieg 1 8 7 0 - 7 1 . . . (1874-1881) [207]; Jacques DES-


MAREST, L a Défense nationale 1 8 7 0 - 1 8 7 1 , Paris 1 9 4 9 ; M . HOWARD, T h e F r a n c o -
Prussian W a r . . . ( 3 1 9 6 2 ) [209]; J [ o h n ] P[atrick] T [ u e r ] BURY, G a m b e t t a and the
N a t i o n a l Defense. A Republican Dictatorship in F r a n c e [1930], L o n d o n — N e w
Y o r k 2 1 9 3 6 ( N D N e w Y o r k 1 9 7 0 ) ; Gerhard RITTER, Staatskunst und Kriegs-
handwerk. D a s Problem des „Militarismus" in Deutschland, Bd. 1: Die altpreu-
ßische Tradition ( 1 7 4 0 - 1 8 9 0 ) [1954], M ü n c h e n 4 1 9 7 0 ; Melvin KRANZBERG, T h e
Siege of Paris 1 8 7 0 - 1 8 7 1 . A Political and Social History, W e s t p o r t 1 9 7 1 ; Eber-
hard KOLB, Der Pariser C o m m u n e - A u f s t a n d und die Beendigung des Deutsch-
französischen Krieges, in: H Z , Bd. 2 1 5 (1972), S. 2 6 5 - 2 9 8 ; H . HELMERT/
H . USCZECK, Preußisch-deutsche K r i e g e . . . ( 4 1 9 7 8 ) [98],
7 Friedens-Präliminarvertrag v o m 2 6 . II. 1 8 7 1 : E. R . HUBER (Hg.), D o k u m e n t e . . .
( 3 1 9 8 6 ) [40], N r . 2 5 9 , S. 3 8 0 ; Friedens-Vertrag von Frankfurt v o m 10. V. 1871:
A. a. O . , Nr. 2 6 0 , S. 3 8 2 ; G a s t o n MAY, Le traité de F r a n c f o r t . É t u d e d'histoire
diplomatique et de droit international, Paris 1909; H a n s GOLDSCHMIDT, Bismarck
und die Friedensunterhändler 1 8 7 1 . Die deutsch-französischen Friedensverhand-
lungen zu Brüssel und Frankfurt M ä r z — Dezember 1871, Berlin 1 9 2 9 ; R o b e r t I.
GIESBERG, T h e Treaty of F r a n k f o r t . A Study in Diplomatie History September
1 8 7 0 - S e p t e m b e r 1 8 7 3 , Philadelphia 1966.
364 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

bodens", also des Elsaß und Lothringens, forderte, 8 und dem preußischen
Generalstab, der mit rein militärtechnischen Begründungen die Gewinnung
des Vogesenkamms und der Festung Metz zum Kriegsziel erhob, 9 war
Bismarck nicht gewachsen, obwohl er sehr wohl erkannte, daß damit sein
Kriegsziel, die endgültige und dauerhafte Beseitigung der Kriegsgefahr an
der deutschen Westgrenze, bereits mit dem Friedensschluß in Frage gestellt
war.
Parallel zu den kriegerischen Ereignissen vollzog sich die politische Ei-
nigung der kriegführenden deutschen Staaten. Die nationale Hochstimmung
der Bevölkerung und der öffentlichen Meinung übte einen derartigen Druck
auf die Kabinette der süddeutschen Staaten aus, 1 0 daß ihnen nur noch der
wie auch immer geartete Weg des Zusammenschlusses mit dem Norddeut-

8 Gert KROEGER, Julius Eckhardts Artikelreihe „Für und wider das Elsaß-Projekt",
August 1 8 7 0 , in: Z f O , Bd. 10 (1961), S. 2 0 1 - 2 2 5 ; W . LIPGENS, B i s m a r c k , die
öffentliche Meinung... (1964) [211]; Ders., Bismarck und die Frage der Annexion
1870. Eine Erwiderung, in: HZ, Bd. 206 (1968), S. 586 - 617; Josef BECKER, Baden,
Bismarck und die Annexion von Elsaß und Lothringen. Mit einem dokumenta-
rischen Anhang, in: Z G O , Bd. 115 (1967), S. 1 6 7 - 2 0 4 ; Lothar GALL, Zur Frage
der Annexion von Elsaß und Lothringen 1870, in: HZ, Bd. 206 (1968), S. 265 —
326; Rudolf BUCHNER, Die deutsche patriotische Dichtung vom Kriegsbeginn
1870 über Frankreich und die elsässische Frage, in: HZ, Bd. 206 (1968), S. 3 2 6 -
336; Eberhard KOLB, Bismarck und das Aufkommen der Annexionsforderungen
1870, in: HZ, Bd. 209 (1969), S. 3 1 8 - 3 5 6 ; Ders., Ökonomische Interessen...
(1973) [210]; Alfred WAHL, La question des courants annexionistes en Allemagne
et „l'Alsace-Lorraine", in: Fernand L'Huillier (Hg.), L'Alsace en 1 8 7 0 - 1 8 7 1
( = PfStrasb, Bd. 6), Paris 1971, S. 1 8 5 - 2 1 0 ; Ursula E. KOCH, Berliner Presse und
europäisches Geschehen 1871. Eine Untersuchung über die Rezeption der großen
Ereignisse im ersten Halbjahr 1871 in den politischen Tageszeitungen der deut-
schen Reichshauptstadt ( = EvHKzB, Bd. 22), Berlin 1978; Eberhard KOLB, Der
Weg aus dem Krieg. Bismarcks Politik im Krieg und die Friedensanbahnung
1870/71, München 1989.
9 Arnold Oskar MEYER, Bismarck und Moltke vor dem Fall von Paris und beim
Friedensschluß, in: Kurt von Raumer/Theodor Schieder (Hg.), Stufen und Wand-
lungen der deutschen Einheit. Festschrift für Karl Alexander von Müller, Stutt-
g a r t - B e r l i n 1943, S. 3 2 9 - 3 4 1 ; R. STADELMANN, Moltke und der Staat... (1950)
[102]; E. KESSEL, Moltke... (1957) [100], S. 581 ff.; Ernst ENGELBERG, Der preu-
ßische Militarismus und die Reichsgründung 1870/71, in: ZfM, 10. Jg. (1971),
S. 5 - 1 9 .
10 Wilhelm BUSCH, Württemberg und Bayern in den Einheitsverhandlungen 1870,
in: HZ, Bd. 109 (1911), S. 1 6 1 - 1 9 0 ; M[ichael] DOEBERL, Bayern und Deutsch-
land. Bd. 2: Bayern und die Bismarcksche Reichsgründung, München 1925; Karl
BOSL, Die Verhandlungen über den Eintritt der süddeutschen Staaten in den
Norddeutschen Bund und die Entstehung der Reichsverfassung, in: T. Schieder/
E. Deuerlein (Hg.), Reichsgründung 1870/71... (1970) [218], S. 1 4 8 - 1 6 3 ; Hans
RALL, Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in:
Max Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4/1, München
2 1981, hier S. 275 - 282 (Bayern und die Reichsgründung); Waither Peter FUCHS

(Hg.), Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1 8 7 1 - 1 9 0 7 ,


4 Bde. ( = VKGLkBaWü, R. Α., Bd. 15, 24, 31, 32), Stuttgart 1 9 6 8 - 1 9 8 0 .
II. Der deutsch-französische Krieg und die Reichseinigung 1 8 7 0 / 1 8 7 1 365

sehen Bund gangbar schien; gerade hier wird deutlich, daß der deutsche
Einigungsprozeß keineswegs allein als „Revolution von oben" beschrieben
werden kann, sondern daß hier ein Zusammenspiel zwischen Bismarcks
Politik der preußischen Machtkonsolidierung und den nationalpolitischen
Tendenzen der Epoche stattfand, die im Ergebnis nicht zu einem Großpreu-
ßen, sondern zu einem Deutschen Reich führte. 11 Der Weg von Kriegseintritt
bis zur Versailler Kaiserproklamation war kurz, aber er war mit Hinder-
nissen besät. Vor allem Bayerns König Ludwig II. sperrte sich entschieden
gegen einen Beitritt zum Norddeutschen Bund und war allenfalls bereit,
einem Staatenbündnis zwischen einem Nord- und einem Südbund zuzustim-
men. Erst die fortschreitenden Verhandlungen zwischen Bismarck und den
übrigen süddeutschen Staaten, durch die Bayern isoliert zu werden drohte,
sowie die Zusage verfassungsmäßiger Sonderrechte machte die bayerische
Regierung langsam geneigt, sich dem neuen deutschen Bund anzuschließen;
daß die bayerische Zustimmung zum Kaisertitel für den preußischen König
durch eine jährliche Zahlung an die Privatschatulle Ludwigs II. erkauft
werden mußte, macht deutlich, wie gegenwärtig das 18. Jahrhundert jenseits
von Parlamenten und Öffentlichkeit noch war. 1 2
Das Deutsche Reich, das durch die Ratifikation der vertraglich fixierten
neuen Reichsverfassung seitens der süddeutschen Landtage und des nord-
deutschen Reichstags am 1. Januar 1871 ins Leben trat, unterschied sich
vom Norddeutschen Bund lediglich durch den Hinzutritt Bayerns, Württem-
bergs, Badens und Hessen-Darmstadts, durch einige in der Substanz uner-
hebliche Veränderungen, durch die die Verfassung des Norddeutschen Bun-
des in die neue Reichsverfassung umgewandelt worden war, 1 3 sowie durch

11 Theodor SCHIEDER, Die Bismarcksche Reichsgründung von 1 8 7 0 / 7 1 als gesamt-


deutsches Ereignis, in: K. v. Raumer/T. Schieder, Stufen und Wandlungen... (1943)
[s.o. Anm. 9], S. 3 4 2 - 4 0 1 ; Ders., Das deutsche Kaiserreich... (1961) [227]; Hans-
Ulrich WEHLER, Das deutsche Kaiserreich 1871 - 1 9 1 8 ( = DG, Bd. 9), Göttingen
1973 u. ö.; Michael STÜRMER, Das ruhelose Reich. Deutschland 1 8 6 6 - 1 9 1 8
( = DiNa, Bd. 3), Berlin 1983; Ders., Die Reichsgründung. Deutscher National-
staat und europäisches Gleichgewicht im Zeitalter Bismarcks, München 1984;
H. SCHULZE, Der Weg zum Nationalstaat... (1985) [61].
12 Kläre KRAUS, Der Kampf in der bayerischen Abgeordnetenkammer um die
Versailler-Verträge, 1 1 . - 2 1 . Januar 1871, Köln 1935 (Phil. Diss. Köln 1935);
Wilhelm SCHÜSSLER, Das Geheimnis des Kaiserbriefes Ludwigs II., in: Martin
Göhring/Alexander Scharff (Hg.), Geschichtliche Kräfte und Entscheidungen.
Festschrift für Otto Becker, Wiesbaden 1954, S. 206 - 2 0 9 ; Hans RALL, Bismarcks
Reichsgründung und die Geldwünsche aus Bayern, in: Z B L G , Bd. 22 (1959),
S. 3 9 6 - 4 9 7 ; Ders., Bayern und Bismarcks Lösung der deutschen Frage, in:
A . a . O . , S. 3 3 1 - 3 4 7 .
13 Die Verfassung des Deutschen Reiches, in: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente...
( 3 1986) [40], Nr. 261, S. 384; Ders., Die Bismarcksche Reichsverfassung im Zu-
sammenhang mit der deutschen Verfassungsgeschichte, in: T. SCHIEDER/E. DEU-
ERLEIN (Hg.), Reichsgründung 1 8 7 0 / 7 1 . . . (1970) [218], S. 1 6 4 - 1 9 6 ; Rainer WAHL,
Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiser-
reichs, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungs-
366 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

die Einführung der Begriffe Kaiser und Reich, die staatsrechtlich nichts
Neues brachten, durch ihre Symbolkraft jedoch dem neuen Staatsgebilde
eine völlig neue Legitimität verliehen. 14
Nicht anders als zuvor der Norddeutsche Bund definierte sich das neue
Reich in seiner Verfassung als „ewiger Bund zum Schutze des Bundesgebietes
und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt
des Deutschen Volkes", wie die Präambel sich ausdrückte; Oberhaupt dieses
Bundes war weiterhin der König von Preußen, der das Bundespräsidium
innehatte und in dieser Eigenschaft „den Namen Deutscher Kaiser führt"
(Artikel 11). Tatsächlich verbanden nicht die geringsten staatsrechtlichen
Bezüge Wilhelm I. mit dem letzten Römischen Kaiser, mit Franz II., wie
auch der großpreußisch-kleindeutsche Nationalstaat mit dem transnatio-
nalen Wesen des einstigen Heiligen Römischen Reichs nichts zu tun hatte.
Aber das Bewußtsein der Trägerschicht des deutschen Nationalstaatsgedan-
kens, in der Hauptsache des liberalen Bürgertums, hatte sich generationen-
lang an den Bildern und Mythen einer romantischen, rückwärtsgewandten
Utopie von der Wiedererrichtung einer angeblichen mittelalterlichen deut-
schen Kaiserherrlichkeit gebildet, und dieser sinnstiftende Mythos war so
stark, daß kein deutscher Nationalstaat ohne den Bezug darauf legitimiert
erschien. 15 Der Kaisertitel hatte zudem, wie Bismarck deutlich erkannte,
sehr unterschiedliche Bedeutungsinhalte; er kam den partikularistischen
Vorstellungen der süddeutschen Fürsten entgegen, indem der föderalistische
Aspekt des einstigen Kaisertums hervorgehoben wurde, durch den einst die
territorialen Libertäten und die Unabhängigkeit der Fürstentümer garantiert
gewesen waren. 1 6 Alt-Konservative, die sich mit den neuen Verfassungsver-
geschichte ( 1 8 1 5 - 1 9 1 8 ) ( = N W B , Bd. 51), Köln 1972, S. 1 7 1 - 1 9 4 ; Michael
STÜRMER, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871 —1880. Cäsarismus
oder Parlamentarismus ( = BGParl, Bd. 54), Düsseldorf 1974; Hans BOLDT, Deut-
scher Konstitutionalismus und Bismarckreich, in: Michael Stürmer (Hg.), Das
kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918 [1970], Düsseldorf
4 1984, S. 1 1 9 - 1 4 3 .
14 Hans GoLDSCHMiDT/Hans KAISER/Hans THIMME (Hg.), Ein Jahrhundert deut-
scher Geschichte. Reichsgedanke und Reich 1815 — 1919. 150 faksimilierte Ur-
kunden und Aktenstücke aus den Beständen vornehmlich der Reichskanzlei, des
Auswärtigen Amtes, des Reichsministeriums des Innern, des Preußischen Mini-
steriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung und anderer Reichs- und
Preußischer Ministerien, des Reichsarchivs, des Preußischen Geheimen Archivs
und des Hausarchivs, sowie der Archive des Deutschen Bundes und der Deutschen
Nationalversammlung zu Frankfurt/M., Berlin 1928; Karl HAMPE, Wilhelm I.
Kaiserfrage und Kölner Dom. Ein biographischer Beitrag zur Geschichte der
deutschen Reichsgründung, Stuttgart 1936; Gustav Adolf REIN, Die Reichsgrün-
dung in Versailles. 18. Januar 1871 ( = JaBü, Bd. 7), München 1958; E. FEHREN-
BACH, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens... (1969) [215]; W. RIBBE,
Adler und Krone... (1976) [217].
15 H. SCHULZE, Der Weg zum Nationalstaat... (1985) [61]; Ders., Gibt es überhaupt
eine deutsche Geschichte?, Berlin 1989.
16 Georg MEYER, Die Reichsgründung und das Großherzogtum Baden, Heidelberg
III. Preußens Stellung im Reichsgefiige 367

hältnissen schwer abfinden konnten, trösteten sich mit der Idee eines christ-
lich-romantischen, gottesunmittelbaren Kaisertums als Schutz gegen säku-
lare Liberalisierungstendenzen, und Liberale und Demokraten sahen den
Kaisertitel im Lichte des Volkskaisertums der Paulskirche, während der
Zusammenhang von Krieg und Kaiserproklamation in Versailles auch cä-
saristisch-bonapartistische Heerkaiser-Perspektiven zuließ. Es war nicht zu-
letzt die Ambivalenz des Kaisertitels, die Wilhelm I. davor zurückschrecken
ließ; er klagte über das „Scheinkaisertum", das lediglich ein „Charakter-
major" sei, und glaubte, mit der Kaiserproklamation werde Preußen zu
Grabe getragen.

III. Preußens Stellung im Reichsgefiige

„Der Kanzler ist der Ansicht", so ein Mitarbeiter Bismarcks 1874 an den
Präsidenten des Reichskanzleramts, „die Haupthindernisse zur Konsolidie-
rung des Reichs lägen gerade in dem Jahrhunderte hindurch genährten
Partikularismus der einzelnen Bundesstaaten, und zwar wäre gerade der
preußische der Reichsidee am gefährlichsten, nicht nur weil Preußen der
mächtigste Staat und sein Monarch zugleich der Kaiser sei, sondern weil
gerade das Mißtrauen gegen partikulare preußische Bestrebungen ... die
Empfindlichkeit der übrigen Staaten schärfe und den Gegnern der Reichsidee
Hauptwaffen in die Hand liefere. Es gäbe keine wirksamere Idee im Sinne
der Feinde des Reichs als diejenige, das Reich als vergrößertes Preußen
darzustellen ... l < 1 Die Spannweite zwischen diesem Urteil Bismarcks und
dem Wilhelms I., „einem der entschlossensten Partikularisten unter den
deutschen Fürsten", 2 macht deutlich, wie schwierig die Einbettung des
preußischen Staats in das Deutsche Reich war. Bedeutete die Reichsgrün-
dung, wie die namentlich im preußischen Herrenhaus und um die Brüder
Gerlach versammelten preußischen Hochkonservativen fest glaubten und
Wilhelm I. fürchtete, die Auflösung Preußens in einen nationalliberalen
Einheitsbrei, „finis borussiae"? Oder hatten Sprecher des borussisch-klein-

1896; Karl F. M . Schabinger Frhr. von SCHOWINGEN, Der Reichsgedanke in


Süddeutschland, in: H J b , Bd. 6 2 - 6 9 (1949), S. 5 7 5 - 5 9 2 ; Dieter LANGEWIESCHE,
Liberalismus und Demokratie in Württemberg. Zwischen Revolution und Reichs-
gründung ( = B G P a r l , Bd. 52), Düsseldorf 1974; Christa STÄCHE, Bürgerlicher
Liberalismus und katholischer Konservatismus in Bayern 1 8 6 7 - 1 8 7 1 . Kultur-
kämpferische Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund von nationaler Eini-
gung und wirtschaftlich-sozialem Wandel ( = EHschr, R. 3, Bd. 148), Frankfurt/
M . — Bern 1981.
1 Wendt zu Eulenburg an Delbrück, 24. VI. 1874, in: O. von BISMARCK, Die
gesammelten Werke... ( 1 9 2 4 - 1 9 3 5 ) [42], Bd. 6c, bearb. von Werner Frauen-
dienst, Berlin 1935, S. 61.
2 O. von BISMARCK, Erinnerung und Gedanke [1898/1921], hg. von Rudolf Buchner
( = Ders., Werke in Auswahl... ( 1 9 6 2 - 1 9 8 2 ) [43], Bd. 8a), Darmstadt 1975,
S. 431.
368 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

deutschen Nationalismus wie der Rechtshistoriker Otto von Gierke recht,


demzufolge Preußen „Seele und Kern, das zentrale Lebensprinzip des neuen
Reiches" war? 3
Vieles sprach für das Letztere. Der formalen Verfassungsordnung zufolge
hatte Preußen weiterhin seine bereits im Norddeutschen Bund innegehabte
Vormachtstellung inne; das Kaiseramt und dessen Präsidialbefugnisse waren
untrennbar mit der preußischen Krone verbunden. Zwar besaß Preußen
nur 17 von insgesamt 58 (später 61) Stimmen im Bundesrat, doch konnte
gegen das preußische Veto keine Verfassungsänderung, keine Änderung der
Gesetze über das Militärwesen, das Zollwesen und die Verbrauchssteuern
erfolgen, so daß auf diese Weise jede unliebsame Reichstagsinitiative, aber
auch jeder Vorstoß eines anderen Bundesstaats ins Leere gelenkt werden
konnte. Indem der Kaiser die Reichsbeamten einschließlich des obersten
Reichsbeamten, des Reichskanzlers, ernannte, befand sich die Reichsver-
waltung ebenso zu seiner Verfügung wie Reichsheer und Reichsmarine,
deren Oberbefehl der Kaiser innehatte. War somit die preußische Hege-
monialstellung im Reich bereits hinreichend verfassungsmäßig umschrie-
ben, 4 so gab das Recht des Kaisers zur Vollstreckung der Reichsexekution
sowie der Verhängung des Belagerungszustandes der preußischen Führungs-
macht im innenpolitischen Entscheidungsfall das ausschlaggebende Herr-
schaftsinstrument in die Hand. „Wer den Ausnahmezustand beherrscht,
beherrscht ... den Staat." 5
In der Verfassungswirklichkeit ging der preußische Einfluß noch weiter.
Der Reichskanzler war, bis auf zwei kurze Unterbrechungen, immer auch
preußischer Ministerpräsident und durchweg preußischer Außenminister.
Eine Reihe oberster preußischer Ämter nahm unmittelbare Reichsaufgaben
wahr; ohne Reichsämter zu sein, waren der preußische Kriegsminister, der
preußische Generalstab und das preußische Militärkabinett für Reichsmi-
litärangelegenheiten zuständig. Der preußische Minister für öffentliche Ar-
beiten verwaltete seit 1879 die Reichseisenbahnen, der preußische Handels-
minister leitete faktisch, wenn auch nicht dem Namen nach, die Wirt-
schaftspolitik des Reichs, die preußische Oberrechnungskammer nahm die
Rechnungsprüfung des Reichs wahr. Und auch in den neuen Reichsämtern
blieb das preußische Element insofern dominant, als die Reichsbürokratie,
vor allem in ihren oberen Rängen, weit überwiegend aus dem preußischen
Verwaltungsdienst stammte; von den 23 Reichsstaatssekretären bis 1890
kamen 21 aus dem preußischen Staatsdienst. Und da es keinen Reichsadel
und keine Reichsorden gab, wurde durch die Verleihung von preußischen
Orden und Adelstiteln die Loyalität auch der wenigen Nichtpreußen in der
Reichsverwaltung gegenüber der preußischen Krone gestärkt. Grundsätzlich

3 Otto GIERKE, Das alte und das neue deutsche Reich. Vortrag gehalten zu Breslau
am 7. December 1873 ( = DZStrFr, H. 35), Berlin 1874, S. 19.
4 Heinrich TRIEPEL, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart
1938; E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 3 1988) [39], S. 7 9 8 f f .
5 Carl SCHMITT, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsge-
dankens bis zum proletarischen Klassenkampf [1922], Berlin 4 1 9 7 8 , S. 18.
III. Preußens Stellung im Reichsgefüge 369

galt aber, daß die Administration der Reichsbehörden nur „funktionieren


konnte, wenn dem Reichskanzler die Exekutivgewalt Preußens zur Verfü-
gung stand". 6
Noch stärker als in der Verwaltung blieb die preußische Dominanz in
der deutschen Wehrorganisation erhalten. Das deutsche Heer unter dem
Kaiser als Oberbefehlshaber und Oberstem Kriegsherrn bildete eine Verbin-
dung von Kontingenten der deutschen Einzelstaaten, wobei die preußische
Übermacht bereits darin zum Ausdruck kam, daß die Verbände aller nord-
deutschen Staaten außer Sachsens und aller süddeutschen außer Bayerns
und Württembergs unmittelbar dem preußischen Heer zugeordnet waren.
Von den 18 Armeekorps des Reichsheeres waren nichtpreußisch lediglich
das 12. sächsische Armeekorps, das 13. württembergisch AK sowie die drei
bayerischen AKs, die gemäß den bayerischen Reservatrechten für sich
gezählt wurden. Auch das 15. AK in den Reichslanden Elsaß-Lothringen,
die direkter Reichsverwaltung unterstanden, war als preußischer Truppen-
teil mit preußischen und badischen Mannschaften und Offizieren gebildet.
Da zudem die sächsische und die württembergische Armee vertragsgemäß
die Normen der preußischen Armee zu übernehmen hatten und die baye-
rische Armee immerhin der kaiserlichen Inspektionshoheit unterlag, war
das preußische Übergewicht im neuen Reichsheer vollständig gegeben. 7
Daß es dennoch nicht zu der von Liberalen und Süddeutschen gefürch-
teten Verpreußung des Reichs kam, hatte verschiedene Gründe. Da war vor
allem die Kaiserwürde, die die der preußischen Krone überstrahlte. In den
seit Generationen verfestigten nationalen Geschichtsbildern hatte Preußen
seine historische Sendung mit der Gründung des deutschen Nationalstaats
erfüllt; die Zukunft gehörte dem Deutschen Reich. Aber auch das institu-
tionelle Gewicht Preußens in der neuen Reichsverfassung genügte nicht,
ihm eine dauernde Vormachtrolle zu sichern. Die 17 preußischen von
insgesamt 58 Bundesratsstimmen konnten nur dann wirksam werden, wenn
die unselbständige Klientel der meisten deutschen Zwergstaaten mit der
Präsidialmacht stimmte; aber im selben Maße, indem die kleinen Bundes-
staaten von den Vergünstigungen des Bismarckschen Systems ausgeschlossen
wurden, wurde auch ihr Stimmverhalten unberechenbar; Preußen mußte
sich mit den anderen Mittelstaaten, insbesondere mit Bayern, arrangieren.

6 Ernst KLEIN, Funktion und Bedeutung des Preußischen Staatsministeriums, in:


J G M O D , Bd. 9 / 1 0 (1961), S. 195 - 261, hier S. 260.
7 Die Diskussion über die Rolle des Militärs in der Bismarckschen Reichsverfassung
bewegt sich zwischen den Polen, die von den Namen Carl Schmitt und Ernst
Rudolf Huber abgesteckt sind; während Schmitt einen unüberbrückbaren Ge-
gensatz zwischen Wehr- und Zivilverfassung konstatiert und daher die Reichs-
verfassung als bloßen „dilatorischen Formelkompromiß" ansieht, schließt Huber,
das Reich habe sich als „Militärstaat" konstituiert und so das politische wie das
parlamentarische Element gehemmt. Eine ausführliche Darstellung der Diskus-
sion bei Manfred MESSERSCHMIDT, Militär und Politik in der Bismarckzeit und
im wilhelminischen Deutschland ( = EdF, Bd. 43), Darmstadt 1975, v. a. S. 32 - 54.
370 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1

Vor allem zeigte sich im Laufe der Jahre eine allmähliche Machtverla-
gerung vom Bundesrat hinüber zum Reichstag, wo die großen Gesetzes-
werke in der Hauptsache entstanden; bereits die Ausdehnung der Reichs-
gesetzgebung auf das gesamte bürgerliche Recht, die in der Neufassung des
Bürgerlichen Gesetzbuchs vom 1. Januar 1900 gipfelte, zeigte diese Tendenz
an, und sie verstärkte sich in dem Maße, indem dem Reich neue Aufgaben
zuwuchsen; das war hauptsächlich in den ohnehin stark expandierenden
Bereichen der Wirtschafts-, Sozial- und Kolonialpolitik der Fall. Das Vo-
lumen des Reichshaushalts erweiterte sich zwischen 1871 und 1914 um mehr
als das siebenfache, das Personal der obersten Reichsämter nahm im gleichen
Zeitraum um das Achtfache zu: An solchen Zahlen, so wenig sie im
einzelnen besagen mögen, zeigt sich die Ausweitung der Reichspräsenz in
Verwaltung und Gesetzgebung, wie denn auch die Zahl und Bedeutung der
von den obersten Reichsämtern vorbereiteten Gesetzesvorlagen bereits in
den 1890er Jahren die entsprechende Tätigkeit der preußischen Ministerien
überstieg. Und gerade die Personalunion zwischen den Staatssekretären der
Reichsämter und preußischen Ministern, von Bismarck gefördert, um den
preußischen Einfluß auf die Reichspolitik zu sichern, wirkte sich im Laufe
der Zeit in der entgegengesetzten Richtung aus. Immer mehr Nichtpreußen
rückten in diese Ämter auf, so daß bereits von einer „Staatssekretarisie-
rung", einer Verreichlichung der Zusammensetzung des preußischen Staats-
ministeriums, gesprochen wurde; immerhin waren von den acht Kanzlern
des Kaiserreichs drei Süddeutsche, zwei von ihnen — Fürst von Hohenlohe
und Graf Herding — ehemalige bayerische Ministerpräsidenten.
So kam es zu einem langsamen, kaum merklichen Verfassungswandel, 8
zu einer Umschichtung der Machtgewichte zugunsten des Reichs, der
Reichsämter und des Reichstags, die mit einem allmählichen Verblassen der
borussischen Färbung der politischen Kultur Deutschlands einherging. 9 Bei
allen unbestreitbaren Wandlungstendenzen, die eher für eine Verreichli-
chung Preußens als für eine gegenläufige Entwicklung sprechen, ist aber
festzuhalten, daß die klassischen Machtreservate der alten preußischen
Führungsschichten in Armee, Bürokratie und Gesellschaft kaum angetastet
wurden; die schwerste verfassungspolitische Bürde des Reichs, das preußi-
sche Dreiklassen-Wahlrecht, sollte erst im Oktober 1918 fallen, unmittelbar
vor dem Sturz der Monarchie.

8
In der Betonung der Wandlungstendenzen geht am weitesten Manfred RAUH,
Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich ( = BGParl,
Bd. 47), Düsseldorf 1973; ähnlich: Ders., Die Parlamentarisierung... (1977) [225].
Die Kritik an diesen vorzüglich dokumentierten, aber gelegentlich allzu thesenhaft
zugespitzten Werken faßt in ausgewogener Weise zusammen Dieter LANGEWIE-
SCHE, Das Deutsche Kaiserreich. Bemerkungen zur Diskussion über Parlamen-
tarisierung und Demokratisierung Deutschlands, in: AfS, Bd. 19 (1979), S. 628 —
642; siehe auch Gerhard A. RITTER, Die deutschen Parteien 1830-1914. Parteien
und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985, S. 85 ff.;
Hagen SCHULZE, Preußen und das Reich ... (1982) [41], S. 1 6 6 - 172.
9
Vgl. Michael STÜRMER, Eine politische Kultur - oder zwei? Betrachtungen zur
Regierungsweise des Kaiserreichs, in: O. Hauser (Hg.), Zur Problematik „Preußen
und das Reich"... (1984) [223], S. 3 5 - 4 7 .
Das preußische Staatsministerium 1850-1872 371

§ 3 Anhang
Das preußische Staatsministerium 1850-1872 *

1. Ministerium Manteuffel (19. 12. 1850-6. 11. 1858)


1. Ministerpräsident: O. Frh. v. Manteuffel (19. 12. 1 8 5 0 - 6 . 11.
1858)
2. Außenminister: O. Frh. v. Manteuffel
a) v. Westphalen (19. 12. 1 8 5 0 - 1 1 . 10. 1858)
3. Innenminister: b) v. Flottwell (11. 10. 1 8 5 8 - 3 . 7. 1859)
a) v. Rabe (24. 2. 1 8 4 9 - 2 3 . 7. 1851)
4. Finanzminister: b) v. Bodelschwingh (23. 7. 1 8 5 1 - 6 . 11. 1858)
v. d. Heydt (6. 12. 1848 - 1 9 . 3. 1862)
5. Handelsminister:
6. Landwirtschaftsminister: K. Frh. v. Manteuffel (Oktober 1 8 5 4 - 6 . 11.
1858)
7. Justizminister: Simons (10. 4. 1 8 4 9 - 1 4 . 12. 1860)
8. Kultusminister: v. Räumer (19. 12. 1 8 5 0 - 6 . 11. 1858)
9. Kriegsminister: a) v. Stockhausen (2. 11. 1 8 5 0 - 3 1 . 12. 1851)
b) v. Bonin (14. 1. 1 8 5 2 - 3 . 8. 1854)
c) Graf Waldersee (3. 8. 1 8 5 4 - 6 . 11. 1858)
10. Minister des Königl.
Hauses: v. Massow (20. 3. 1854 - 2. 9. 1859)

II. Ministerium Hohenzollern (6. 11. 1858-11. 3. 1862)


1. Ministerpräsident: Karl Anton Fürst Hohenzollern-Sigmaringen
(6. 11. 1 8 5 8 - 1 1 . 3. 1862)
2. Minister ohne Portefeuille: R. v. Auerswald (6. 11. 1 8 5 8 - 1 9 . 3. 1862)
3. Außenminister: a) Frh. v. Schleinitz (6. 11. 1 8 5 8 - 1 2 . 10. 1861)
b) Graf Bernstorff (12. 10. 1 8 6 1 - 8 . 10. 1862)
4. Innenminister: a) v. Flottwell (11. 10. 1 8 5 8 - 3 . 7. 1859)
b) Graf Schwerin-Putzar (3. 7. 1 8 5 9 - 1 7 . 3.
1862)
5. Finanzminister: v. Patow (6. 11. 1 8 5 8 - 1 7 . 3. 1862)
6. Handelsminister: v. d. Heydt (6. 12. 1848 - 1 7 . 3. 1862)
7. Landwirtschaftsminister: GrafPückler (6. 11. 1 8 5 8 - 1 7 . 3. 1862)
8. Justizminister: a) Simons (10. 4. 1 8 4 9 - 1 4 . 12. 1860)
b) Bernuth (17. 12. 1 8 6 0 - 1 7 . 3. 1862)
9. Kultusminister: v. Bethmann-Hollweg (6. - 1 7 . 3. 1862)
10. Kriegsminister: a) v. Bonin (6. 11. 1 8 5 8 - 1 . 12. 1859)
b) v. Roon (5. 12. 1 8 5 9 - 9 . 11. 1873)
11. Minister des Königl.
Hauses: a) v. Massow (20. 3. 1 8 5 4 - 2 . 9. 1859)
b) v. Schleinitz (12. 10. 1861 - 1 9 . 2. 1885)

* Unter Verwendung von Aufstellungen aus: Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Ver-
fassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 31988,
S. 376 f.; vgl. Ders., A. a. O., Bd. 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Stuttgart
etc. 3 1988, S. 164.
372 § 6 Anhang

III. Ministerium Hohenlohe-Ingelfingen (11.3. 1862-23. 9. 1862)


1. Ministerpräsident: Adolf Fürst zu Hohenlohe-Ingelfingen
(11. 3. 1862-23. 9. 1862)
2. Außenminister: Graf Bernstorff (12. 10. 1861-8. 10. 1862)
3. Innenminister: v. Jagow (17. 3. 1862-9. 12. 1862)
4. Finanzminister: v. d. Heydt (17. 3. 1862-9. 12. 1862)
5. Handelsminister: v. Holzbrinck (17. 3. 1862-9. 12. 1862)
6. Landwirtschaftsminister: Graf Itzenplitz (17. 3. 1862-9. 12. 1862)
7. Justizminister: Graf zur Lippe (17. 3. 1862-5. 12. 1867)
8. Kultusminister: v. Mühler (17. 3. 1862-17. 1. 1872)
9. Kriegsminister: v. Roon (5. 12. 1859-9. 11. 1873)
10. Minister des Königl.
Hauses: v. Schleinitz (12. 10. 1861 - 1 9 . 2. 1885)

IV. Erstes Ministerium Bismarck (23. 9.18. 10. 1862 - 21. 12. 1872)
1. Ministerpräsident: v.Bismarck (23. 9. 1862 - 21. 12. 1872)
(9. 11. 1873-20. 3. 1890)
2. Außenminister: v. Bismarck (8. 10. 1862-20. 3. 1890)
3. Innenminister: Graf Eulenburg (9. 12. 1862-30. 3. 1878)
4. Finanzminister: a) v. Bodelschwingh (3. 10. 1862-1. 6. 1866)
b) v. d. Heydt (1. 6. 1866-26. 10. 1869)
c) Camphausen (26. 10. 1869-23. 3. 1878)
5. Handelsminister: Graf Itzenplitz (9. 12. 1862-13. 5. 1873)
6. Landwirtschaftsminister: v. Selchow (9. 12. 1862-14. 1. 1873)
7. Justizminister: a) Graf zur Lippe (17. 3. 1 8 6 2 - 5 . 12. 1867)
b) Leonhardt (5. 12. 1867-30. 10. 1879)
8. Kultusminister: a) v. Mühler (17. 3. 1862-17. 1. 1872)
b) Falk (23. 1. 1872 - 5. 7. 1879)
9. Kriegsminister: v. Roon (1. 12. 1858-9. 11. 1873)
10. Minister des Königl.
Hauses: v. Schleinitz (12. 10. 1861 - 1 9 . 2. 1885)
Anhang: Karten zum Abschnitt A 373

Anhang: Karten zum Abschnitt A


Von Karsten Bremer

0 100km
ι ι

ÖSTERREICH

Preußen nach dem


Reichsdeputationshauptschluß 1803
374 Anhang: Karten zum Abschnitt A

0 100 k m
1 I

LANDE

KGR.

UNGARISCHE

MONARCHIE

Preußen nach dem


Wiener Kongreß 1815
N e u e n b u r g 1815-1857

SCHWEIZ

100 km

KSRR.

BAYERN
UNGARISCHE

BJ9

MONARCHIE
Preußen 1866
Β. Große Themen
der preußischen Geschichte
I. Polen in der Geschichte Preußens
Von Klaus Z e r n a c k

Bibliographie
1. Bibliographien

Polen: [1] Haiina BACHULSKA, Bibliografia historii Polski. 1815 - 1 9 1 4 . Tom wstçpny,
Warszawa 1954; [2] Bibliografia historii polskiej za rok [bzw.: za lata] 1948 [1949
usw.], Krakow [bzw. Wroclaw usw.] 1952 ff. (verzeichnet jahrweise die seit 1948
neu erschienene historische Literatur); [3] Ludwik FINKEL, Bibliografya historii
polskiej, 3 Bde., Lwów [Bd. 2 - 3 : Krakow] 1 8 9 1 - 1 9 0 6 , Nachtr. 2, T. 1 [m.n.e.]
Krakow 1914 (ND Warszawa 1955), Bd. 1, bearb. von Karol Maleczynski, Lwów
2 1937 (erfaßt den Zeitraum bis 1815); [4] Günther FRANZ, Bücherkunde zur Welt-

geschichte vom Untergang des Römischen Weltreiches bis zur Gegenwart, München
1956 (darin der Abschnitt: Polen, bearb. von Herbert Ludat, S. 287 — 312);
[5] Stanislaw PtosKi [ab Bd. 2/2: Wladyslaw CHOJNACKI] (Hg.), Bibliografía historii
Polski X I X wieku, Bd. 1 - 2 (in 9 Bdn.), Wroclaw [usw.] 1 9 5 8 - 1 9 8 3 .

Ostdeutschland: [6] Heinrich JILEK/Herbert RisTER/Hellmuth WEISS, Bücherkunde


Ostdeutschlands und des Deutschtums in Ostmitteleuropa ( = OmeVG, Bd. 8),
Köln — Graz 1963; [7] Herbert RISTER, Bibliographie der ehemaligen preußischen
Ostprovinzen. Übergreifende Themen. 1 9 5 8 - 1 9 7 0 ( = WBtrOMe, Nr. 113), Mar-
burg/Lahn 1981; [8] Herbert RISTER, Bibliographie der ehemaligen preußischen
Ostprovinzen. Übergreifende Themen. 1 9 7 1 - 1 9 8 5 , 2 Bde. ( = BiblOMe, Nr. 8),
Marburg/Lahn 1988.

Ost- und Westpreußen: [9] Ernst WERMKE, Bibliographie der Geschichte von Ost-
und Westpreußen bis 1929, Königsberg 1933 (ND Aalen 1962); [10] Ernst W E R M K E ,
Bibliographie der Geschichte von Ost- und Westpreußen für die Jahre 1930 — 38,
Aalen 1964; [11] Ernst WERMKE, Bibliographie der Geschichte von Ost- und West-
preußen für die Jahre 1939 - 1 9 7 0 , Bonn - Bad Godesberg 1974; [12] Ernst W E R M K E ,
Bibliographie der Geschichte von Ost- und Westpreußen für die Jahre 1971 —1974
(WBtrOme, Nr. 109), Marburg/Lahn 1978.

Deutscher Orden: [13] Karl H. LAMPE, Bibliographie des Deutschen Ordens bis
1 9 5 9 ( = QStGDO, Bd. 3 ) , B o n n - B a d Godesberg 1 9 7 5 ; [ 1 4 ] Rudolf T E N H A A F ,
Kurze Bibliographie zur Geschichte des Deutschen Ordens 1198 — 1561, Kitzingen/
Main 1949.

Pommern: [15] Hans-Ulrich RASPE/Herbert RISTER, Geschichtliche und landes-


kundliche Literatur Pommerns 1 9 4 0 - 1 9 5 5 ( = WBtrOme, Nr. 39), Marburg/Lahn
1958; [16] Hans-Ulrich RASPE/Herbert RISTER, Geschichtliche und landeskundliche
378 Polen in der Geschichte Preußens

Literatur Pommerns 1956 —1960 mit Nachträgen aus früheren Jahren ( = WBtrOme,
Nr. 67), Marburg/Lahn 1966; [17] Herbert RISTER, Geschichtliche und landeskund-
liche Literatur Pommerns 1961 —1970 mit Nachträgen aus früheren Jahren, 2 Bde.
( = WBtrOme, Nr. 98), Marburg/Lahn 1975/77; [18] Herbert RISTER, Geschichtliche
und landeskundliche Literatur Pommerns 1971 — 1976 mit Nachträgen aus früheren
Jahren ( = WBtrOme, Nr. 111), Marburg/Lahn 1979; [19] Herbert RISTER, Ge-
schichtliche und landeskundliche Literatur Pommerns 1977 —1980 mit Nachträgen
aus früheren Jahren ( = BiblOme, Nr. 2), Marburg/Lahn 1985; [20] Herbert RISTER,
Geschichtliche und landeskundliche Literatur Pommerns 1981 — 1984 mit Nachträgen
aus früheren Jahren ( = BiblOme, Nr. 4), Marburg/Lahn 1986; [21] Herbert RISTER,
Geschichtliche und landeskundliche Literatur Pommerns 1977 — 1980 und 1981 —
1984. Register ( = BiblOme, Nr. 6), Marburg/Lahn 1986; [22] Verzeichnis der
Schriften über Pommern ( = KatSchrdO, Bd. 3), Hannover 1964.
Schlesien: [23] Romuald GELLES/Jerzy PABISZ, Bibliografia historii Sl^ska za lata
1 9 4 5 - 1 9 7 5 , Wroclaw 1981; [24] Viktor LOEWE, Bibliographie der Schlesischen
Geschichte ( = SchlBibl, Bd. 1), Breslau 1927.

Posener Land: [25] Herbert RISTER, Schrifttum über Polen 1943 - 1 9 5 1 mit beson-
derer Berücksichtigung des Posener Landes (Auswahl) ( = WBtrOme, Nr. 10),
Marburg/Lahn 1953; [26] Herbert RISTER/Hans Moritz MEYER, Schrifttum über
Polen mit besonderer Berücksichtigung des Posener Landes 1952 —1953 und Nach-
träge (Auswahl) ( = WBtrOme, Bd. 20), Marburg/Lahn 1955; [27] Herbert RISTER/
Hans Moritz MEYER, Schrifttum über Polen mit besonderer Berücksichtigung des
Posener Landes 1 9 5 4 - 1 9 5 5 und Nachträge (Auswahl) ( = WBtrOme, Nr. 33),
Marburg/Lahn 1958; [28] Herbert RISTER, Schrifttum über Polen mit besonderer
Berücksichtigung des Posener Landes 1956 — 1958 und Nachträge (Auswahl), 2 Bde.
( = WBtrOme, Nr. 47/49), Marburg/Lahn 1958/60; [29] Herbert RISTER, Schrifttum
über Polen mit besonderer Berücksichtigung des Posener Landes 1959 — 1960 und
Nachträge (Auswahl) ( = WBtrOme, Nr. 75), Marburg/Lahn 1966; [30] Andrzej
Wojtkowski, Bibliografia historii Wielkopolski, 2 Bde., Poznan 1934/38.

Ostbrandenburg: [31] Herbert RISTER, Schrifttum über Ostbrandenburg 1 9 4 5 -


1980, 2 Bde. ( = WBtrOme, Nr. 123), Marburg/Lahn 1985.

2. Auswahl von wichtigen Quellensammlungen zur


Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen

Allgemein (bis zu den Teilungen): [32] Acta histórica res gestas Poloniae illustrantia
ab anno 1507 usque ad annum 1795, 13 Bde. (in 16 Bdn.), Krakow 1 8 7 8 - 1 9 0 8 ;
[33] Comte d'ANGEBERG, Recueil des traités, conventions et actes diplomatiques
concernant la Pologne 1 7 6 2 - 1 8 6 2 , Paris 1862; [34] Codex diplomaticus Maioris
Poloniae. Documenta et jam typis descripta et adhuc inedita complectens annum
1400 attingentia [Bd. 6 — 7: Kodex dyplomatyczny Wielkopolski], Bd. 1—5, Posna-
niae 1 8 7 7 - 1 9 0 8 , Bd. 6 - 7 ( = WydZKH, Bd. 18/19), Warszawa - Poznan 1982/85;
[35] Monumenta Poloniae Historica/Pomniki Dziejowe Polski, [Bd. 1—2: hg. von
Adam Bielowski], 6 Bde., Lwów [Bd. 4 - 6 : Krakow] 1 8 6 4 - 1 8 9 3 (ND Warszawa
1960 — 1961); [36] Volumina legum. Leges, statuta, constitutiones et privilegia Regnis
Poloniae, Magni Ducatus Lithuaniae omniumque provinciarum annexarum, a Com-
mitiis Visliciae anno 1347 celebratis usque ad ultima regnis comitia [ab Bd. 2:/
Prawa, konstytucye y przywileie Królestwa Polskiego, Wielkiego Xiçstwa Litew-
Bibliographie 379

skiego y wszystkich prowincyi nalez^cych, na walnych seymiach koronnych od


Seymu Wislickiego roku panskiego 1347 az do ostatniego seymu uchwalone], Bd.
1 - 8 [ 1 7 3 3 - 1 7 8 2 ] , Petersburg M 8 5 9 - 1 8 6 0 , Bd. 9, Krakow 1889, Bd. 10, hg. von
Zdzislaw Kaczmarczyk ( = WydZKH, Bd. 11), Poznan 1952 (Bd. 1 - 4 , ND War-
szawa 1980).

Allgemein (seit den Teilungen): [37] Helmut BLEIBER/Jan KOSIM (Hg.), Dokumente
zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830—1832, Berlin 1982;
[38] Documenta occupationis Teutonicae [Bd. 5 — 7: Documenta occupationis], 7
Bde., Poznañ 1 9 4 5 - 1 9 5 9 ; [39] Enno MEYER (Hg.), Deutschland und Polen 1 7 7 2 -
1914 ( = QAhGP, H. 4263), Stuttgart 1972; [40] Enno MEYER (Hg.), Deutschland
und Polen 1 9 1 5 - 1 9 7 0 ( = QAhGP, H. 4264), Stuttgart 1971.

Ostsiedlung: [41] Herbert HELBIG/Lorenz WEINRICH (Hg.), Urkunden und erzäh-


lende Quellen zur deutschen Ostsiedlung im Mittelalter ( = AQdGMa, Bd. 26), Bd.
1 [1968], Darmstadt 3 1984, Bd. 2, Darmstadt 1970.

Deutscher Orden: [42] Karol GÓRSKI, Zwi^zek Pruski i poddanie siç Prus Polsce
( = BiblTH; Bd. 1), Poznan 1949; [43] Erich JoACHiM/Walther HUBATSCH (Hg.),
Regesta historico-diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum 1198 —1525,2 Teile
(in 4 Bdn.), Göttingen 1948 — 1950; [44] Lites ac res gestae inter Polonos Ordinemque
Cruciferorum, 3 Bde., hg. von Titus comes Dzialynski, Posnaniae 1855 —1856,
Supplementum quo continetur causa inter Vladislaum regem et Cruciferos anno
1320, Posnaniae 1880, Bd. 1 - 2 , hg. von Z[ygmunt] Celichowski, Posen 2 1890/92,
Bd. 3, hg. von Jadwiga Karwasinska, Warszawa 2 1935, Bd. 1, hg. von Helena
Chlopocka, Wroclaw 3 1970; [45] Preußisches Urkundenbuch [Bd. 1: Politische (all-
gemeine) Abtheilung], Bd. 1 / 1 - 3 / 1 , Königsberg 1 8 8 2 - 1 9 4 4 (ND Aalen 1961/62),
Bd. 3/2 — 6/1, Marburg 1958 — 1986; [46] Scriptores rerum Prussicarum. Die Ge-
schichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft,
Bd. 1 - 5 , Leipzig 1861 - 1 8 7 4 , Bd. 6, Frankfurt/M. 1968; [47] M[ax] TOEPPEN (Hg.),
Acten der Ständetage Preussens unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, 5 Bde.
( = ActStOWp, Bd. 1 - 5 ) , Leipzig 1 8 7 4 - 1 8 8 6 ; [48] Erich WEISE (Hg.), Die Staats-
verträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, 3 Bde. und
2 Registerbde., Bd. 1 [1939], Marburg/Lahn 2 1970, Bd. 2 - 3 und Registerbde.,
Marburg/Lahn 1955 - 1 9 6 9 .

Ost- und Westpreußen: [49] Akta Stanów Prus Królewskich / Acta Statuum terrarum
Prussiae Regalis), hg. von Marian Biskup und Karol Górski [Bd. 4 — 5: Marian
Biskup, Bd. 6 — 7: Marian Biskup und Irena Janosz-Biskupowa], Bd. 1—7 (in 11 Bdn.)
( = FonTo, Bd. 41, 43, 50, 54, 57, 59, 6 4 - 6 6 , 58, 71), Torun [bzw. (War-
szawa - )Poznan] 1955 - 1 9 8 6 ; [50] Stephan DoLEZEL/Heidrun DOLEZEL, Die Staats-
verträge des Herzogtums Preußen. T. 1: Polen und die Litauen. Verträge und
Belehnungsurkunden 1 5 2 5 - 1 6 5 7 / 5 8 ( = VAPrKb, Bd. 4), K ö l n - B e r l i n 1971;
[51] M[ax] PERLBACH (Hg.), Pommerellisches Urkundenbuch, Danzig 1882; [52] Die
preußischen Geschichtsschreiber des 16. und 17. Jahrhunderts, 5 Bde., Leipzig 1875 —
1896; [53] Franz THUNERT (Hg.), Acten der Ständetage Preussens Königlichen
Antheils (Westpreussen). Bd. 1: 1 4 6 6 - 1 4 7 9 , Danzig 1896 [m. η. e.].

Pommern: [54] Pommersches Urkundenbuch, Bd. 1 - 1 0 ( 7 8 6 - 1 3 4 0 ) ( = Veröffent-


lichungen der Historischen Kommission für Pommern, R. 2), Bd. 1, 2 Teile [1868/
77], 2., neu bearb. Aufl., Köln - Wien 1970, Bd. 2 - 6 , Stettin 1881 - 1 9 0 7 (ND Aalen
1970), Bd. 7, Stettin 1 9 3 4 - 1 9 4 0 (ND K ö l n - G r a z 1958), Bd. 8 - 1 0 , K ö l n - G r a z
1961 - 1 9 8 4 .
380 Polen in der Geschichte Preußens

Schlesien: [55] Codex diplomaticus Silesiae, 35 Bde., Breslau 1857 — 1930; [56] Karol
MALECZYNSKI [Bd. 2: /Anna Skowronska] (Hg.), Codex diplomaticus nec non
epistolaris Silesiae [Bd. 1: /Kodeks dyplomatyczny Slaska. Zbiór dokumentów i
listów dotycz?cych Sl^ska], 3 Bde., Wroclaw [Bd. 2 - 3 : Wratislaviae] 1956-1964;
[57] Schlesisches Urkundenbuch, Bd. 1-4, Köln-Graz 1971-1988;
[58] Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einfüh-
rung und Verbreitung deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Ober-
lausitz, Hamburg 1932.

3. Ausgewählte Sekundärliteratur

a) Synthesen und epochenübergreifende Problemgrundrisse

Preußen — Deutschland — Polen: [59] Marian BISKUP, Preußen und Polen. Grundlinien
und Reflexionen, in: JGO, N. F., Bd. 31 (1983), S. 1 - 2 7 ; [60] Martin B R O S Z A T ,
Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik [1963], Frankfurt/M. 21978; [61] Lothar
D R A L L E (Hg.), Preußen · Deutschland · Polen im Urteil polnischer Historiker. Bd. 1:
Millenium germano-polonicum ( = EvHKzB, Bd. 37), Berlin 1983; [62] Jerzy KRA-
S U S K I / G e r a r d L A B U D A / A n t o n i W . WALCZAK ( H g . ) , S t o s u n k i p o l s k o - n i e m i e c k i e w
historiografii. Studia ζ dziejów historiografii polskiej i niemieckiej, 2 Bde. ( = StNIZ,
Nr. 25/41), Poznan 1974/84; [63] Gerard LABUDA, Polska granica zachodnia. Tysi^c
lat dziejów politycznych [1971], Poznan 21974; [64] Andreas LAWATY, Das Ende
Preußens in polnischer Sicht. Zur Kontinuität negativer Wirkungen der preußischen
Geschichte auf die deutsch-polnischen Beziehungen ( = VHKzB, Bd. 63), Berlin 1986;
[65] Tadeusz LEPKOWSKI, Polska - narodziny nowoczesnego narodu 1764 — 1870,
Warszawa 1967; [66] Herbert LUDAT, Deutsch-slawische Frühzeit und modernes
polnisches Geschichtsbewußtsein. Ausgewählte Aufsätze, Köln —Wien 1969;
[67] Herbert LUDAT, Polen und Deutschland. Wissenschaftliche Konferenz polnischer
Historiker über die polnisch-deutschen Beziehungen in der Vergangenheit ( =
OhGwOe, R. 1, H. 1), Köln-Graz 1963; [68] Herbert LUDAT, Slaven und Deutsche
im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zu Fragen ihrer politischen, sozialen und
kulturellen Beziehungen ( = MF, Bd. 86), Köln-Wien 1982; [69] Werner M A R K E R T
(Hg.), Osteuropa-Handbuch Polen, Köln-Graz 1959; [70] Nationalgeschichte als
Problem der deutschen und der polnischen Geschichtsschreibung. XV. Deutsch-
Polnische Schulbuchkonferenz der Historiker 16. — 20. November 1982 in Braun-
schweig ( = SchrrGEI, Bd. 62/6), Braunschweig 1983; [71] Rex REXHEUSER, Die
Deutschen im Osten. Von der Ostbewegung im Mittelalter bis zu den Westverschie-
bungen im 20. Jahrhundert ( = LüVGOd, Bd. 2), Lüneburg 1986; [72] Stanislaw
SALMONOWICZ, Prusy. Dzieje pañstwa i spoleczenstwa, Poznan 1987; [73] Wolfgang
WIPPERMANN, Der „Deutsche Drang nach Osten". Ideologie und Wirklichkeit eines
politischen Schlagwortes ( = IdF, Bd. 35), Darmstadt 1981; [74] Zygmunt W O J C I E -
CHOWSKI, Polska — Niemcy. Dziesiçc wieków zmagania ( = PrIZ, Nr. 3), Poznan
1945; [75] Zygmunt WOJCIECHOWSKI, Rozwój terytorialny Prus w stosunku do ziem
macierzystych Polski, Torun 1939; [76] Klaus ZERNACK, Das Jahrtausend der
deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problem-
feld und Forschungsaufgabe, in: Wolfgang H. Fritze/Klaus Zernack (Hg.), Grund-
fragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen
( = EvHKzB, Bd. 18), Berlin 1976, S. 3 - 4 6 ; [77] Klaus ZERNACK, Die Geschichte
Preußens und das Problem der deutsch-polnischen Beziehungen, JGO, N. F., Bd. 31
(1983), S. 2 8 - 4 9 ; [78] Klaus ZERNACK, Osteuropa. Eine Einführung in seine Ge-
Bibliographie 381

schichte, München 1977; [79] Klaus ZERNACK, Preußen als Problem der osteuro-
päischen Geschichte, in: StHSG, Bd. 6 (1977), S. 31 - 4 8 .
Landesgeschichtliche Synthesen: [80] Historia Sl^ska, Bd. 1—3 (in 8 Bdn.), Wroclaw
1960-1985; [81] Gerard LABUDA (Hg.), Historia Pomorza, Bd. 1 - 2 (in 4 Bdn.),
Poznan 1969-1984; [82] Czestaw LUCZAK U. a. (Hg.), Dzieje Wielkopolski, Bd. 1 - 2 ,
Poznan 1969/73.

b) Vom 10. Jahrhundert bis zum Ende des Deutschordensstaates

Die Frühzeit deutsch-polnischer Beziehungen: [83] Frantisek GRAUS, Die Nationen-


bildung der Westslaven im Mittelalter ( = Nat, Bd. 3), Sigmaringen 1980; [84] Hans-
Dietrich KAHL, Slawen und Deutsche in der brandenburgischen Geschichte des
zwölften Jahrhunderts. Die letzten Jahrzehnte des Landes Stodor, 2 Halbbde. ( = MF,
Bd. 30), Köln —Graz 1964; [85] Hans Jürgen KARP, Grenzen in Ostmitteleuropa
während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Grenzlinie aus
dem Grenzsaum ( = FQKKGOd, Bd. 9), Köln-Wien 1972; [86] Gerard LABUDA,
Studia nad pocz^tkami panstwa polskiego [1946], 2 Bde. ( = UAMH, Nr. 139/140),
Poznan 2 1987/88; [87] Henryk LOWMIANSKI, Poczjtki Polski [Bd. 1 - 5 : Ζ dziejów
Slowian w I tysi^cleciu n. e., Bd. 6: Polityczne i spoleczne procesy kszaltowania siç
narodu do pocz^tku wieku XIV], 6 Bde. (in 7 Bdn.), Warszawa 1962 — 1985;
[88] Herbert LUDAT, An Elbe und Oder um das Jahr 1000. Skizzen zur Politik des
Ottonenreiches und der slavischen Mächte in Mitteleuropa, Köln —Wien 1971;
[89] Christian LÜBKE, Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder, 5 Teile
( = OestHess, R. 1, Bd. 131, 133, 134, 152, 157), Berlin 1984-1988; [90] Bernhard
STASIEWSKI, Kirchengeschichtliche Beiträge zur Entwicklung des deutsch-polnischen
G r e n z s a u m e s i m H o c h m i t t e l a l t e r , in: F O E G , B d . 2 ( 1 9 5 5 ) , S. 7 - 1 3 8 ; [91] B e n e d y k t
ZIENTARA, Swit narodów europejskich. Powstawanie swiadomosci narodowej na
obszarze Europy pokarolinskiej, Warszawa 1985.

Der Deutsche Orden in den deutsch-polnischen Beziehungen: [92] Udo ARNOLD


(Hg.), Beiträge zur Geschichte des Deutschen Ordens ( = QStGDO, Bd. 36), Marburg
1986; [93] Udo ARNOLD/Marian BISKUP (Hg.), Der Deutschordensstaat Preußen in
der polnischen Geschichtsschreibung der Gegenwart ( = QStGDO, Bd. 30), Marburg
1982; [94] Marian BISKUP/Gerard LABUDA, Dzieje Zakonu Krzyzackiego w Prusach.
Gospodarka, spoleczenstwo, panstwo, ideologia, Gdansk 1986; [95] Hartmut
BOOCKMANN, Der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte, München
1981; [96] Walther HUBATSCH, Kreuzritterstaat und Hohenzollernmonarchie. Zur
Frage der Fortdauer des Deutschen Ordens in Preußen, in: Werner Conze (Hg.),
Deutschland und Europa. Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des
Abendlandes. Festschrift für Hans Rothfels, Düsseldorf 1951, S. 1 7 9 - 1 9 9 ;
[97] Henryk LOWMIANSKI, Stosunki polsko-pruskie za pierwszych Piastów, in: PH,
B d . 4 1 ( 1 9 5 0 ) , S. 1 5 2 - 1 7 9 ; [98] K l a u s NEITMANN, D i e S t a a t s v e r t r ä g e des D e u t s c h e n
Ordens in Preußen 1230 —1449. Studien zur Diplomatie eines spätmittelalterlichen
deutschen Territorialstaats ( = NFBPG, Bd. 6), Köln-Wien 1986; [99] Jan Po-
WIERSKI, Stosunki polsko-pruskie do 1230 r. ze szczególnym uwzglçdnieniem roli
Pomorza Gdanskiego ( = RTor, 74. Jg., T. 1), Torun 1968; [100] Wolfgang WIPPER-
MANN, Der Ordensstaat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der
deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik ( = EvHKzB, Bd. 24), Berlin 1979.

Die Entstehung Ostdeutschlands: [101] Walter KUHN, Vergleichende Untersuchungen


zur mittelalterlichen Ostsiedlung ( = OmeVG, Bd. 16), Köln-Wien 1973;
382 Polen in der Geschichte Preußens

[102] Herbert LUDAT, Bistum Lebus. Studien zur Gründungsfrage und zur Entstehung
und Wirtschaftsgeschichte seiner schlesisch-polnischen Besitzungen, Weimar 1942;
[103] Ewa MALECZYÑSKA, Spoleczenstwo polskie pierwszej polowy XV wieku wobec
zagadnien zachodnich (Studia nad dynastyczn^ polityk^ Jagiellonów) ( = PrWrTN,
R. A, Nr. 5), Wroclaw 1947; [104] Die Rolle Schlesiens und Pommerns in den
deutsch-polnischen Beziehungen des Mittelalters (12. deutsch-polnische Schulbuch-
konferenz der Historiker vom 5. bis 10. Juni 1979 in Allenstein/Olsztyn)
( = SchrrGEI, Bd. 22/3), Braunschweig 1980; [105] Walter SCHLESINGER (Hg.), Die
deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte.
Reichenau-Vorträge 1970-1972 ( = VF, Bd. 18), Sigmaringen 1975; [106] Stanislaw
SMOLKA, Polska in Brandenburgia za czasów Jagielly, in: BiblWarsz, 1896, Bd. 2,
S. 1 - 1 7 ; [107] Benedykt ZIENTARA, Henryk Brodaty i jego czasy, Warszawa 1975.

c) Aufstieg des Hauses Hohenzollern (1525 — 1763)

16. und 17. Jahrhundert: [ 1 0 8 ] Wladyslaw CZAPLIÑSKI, Polska a Prusy i Branden-


burgia za Wiadyslawa IV ( = PrWrTN, R. A, Nr. 6), Wroclaw 1947; [109] Stephan
DOLEZEL, Das preußisch-polnische Lehnsverhältnis unter Herzog Albrecht von
Preußen (1525-1568) ( = StGPr, Bd. 14), Köln-Berlin 1967; [ 1 1 0 ] Anna KAMIÑSKA,
Brandenburg — Prussia and Poland. A Study in Diplomatie History (1669—1672)
( = MOstf, Bd. 41), Marburg 1982; [111] Anna KAMINSKA-LINDERSKA, Miçdzy Polsk?
a Brandenburg^. Sprawa lenna lçborsko-bytowskiego w drugiej polowie XVII w.
( = PrKNH, Nr. 15), Wroclaw - Warszawa - Krakow 1966; [ 1 1 2 ] Horst K E M P A S ,
Seeverkehr und Pfundzoll im Herzogtum Preußen. Ein Beitrag zur Geschichte des
Seehandels im 16. und 17. Jahrhundert, Bonn 1962 (Diss. Bonn 1962); [113] Janusz
MALLEK, Dwie czçsci Prus. Studia ζ diejów Prus ksi^zçcych i Prus królewskich w
XVI i XVII wieku, Olsztyn 1987; [114] Janusz MALLEK, Prusy Ksi^zçce a Prusy
Królewskie w latach 1525 - 1 5 4 8 . Studium ζ dziejów polskiej polityki ksiçcia Al-
brechta Hohenzollerna ( = RoMatOl, Bd. 53), Warszawa 1976; [ 1 1 5 ] Jürgen P E T E R -
SOHN, Fürstenmacht und Ständetum in Preußen während der Regierung Herzog
Georg Friedrichs 1578-1603 ( = MOstf, Bd. 20), Würzburg 1963; [116] Jürgen
PETERSOHN, Markgraf Friedrich Georg von Brandenburg. Seine Polenpolitik und
die Sicherung der brandenburgischen Zukunft des Herzogtums Preußen 1586 — 1603,
Bonn 1961; [117] Kazimierz PIWARSKI, Holdy pruskie, in: RoH, 21. Jg. (1953/54),
S. 151 - 1 7 4 ; [118] Hugo RACHEL, Der Große Kurfürst und die ostpreußischen Stände
1640-1688 ( = SSwF, Bd. 24/1), Leipzig 1905; [ 1 1 9 ] Roland S E E B E R G - E L V E R F E L D T ,
Die preußischen Stände und Polen unter Kurfürst Georg Wilhelm bis zum Tode
König Sigismund III., in: APF, Bd. 13 (1936), S. 4 6 - 1 0 1 ; [120] Klaus-Dietrich
STAEMMLER, Preußen und Livland in ihrem Verhältnis zur Krone Polen 1561 bis
1583 ( = WBtrOme, Nr. 9), Marburg 1953; [121] Adam VETULANI, Polskie wplywy
polityczne w Prusiech Ksi^zçcych, Gdynia 1939; [122] Klaus ZERNACK, Das Zeitalter
der nordischen Kriege 1558 bis 1809 als frühneuzeitliche Geschichtsepoche, in: ZHF,
Bd. 1 (1974), S. 5 5 - 7 9 .

1701 -1763: [123] Erich H A S S I N G E R , Brandenburg-Preußen, Rußland und Schweden


1700-1713 ( = VOelM, Bd. 2), München 1953; [124] Wladyslaw KONOPCZYNSKI,
Polska w dobie wojny siedmioletniej, 2 Bde., Krakow — Warszawa 1909/11;
[125] Michael G. MÜLLER, Polen zwischen Preußen und Rußland. Souveränitätskrise
und Reformpolitik 1736-1752 ( = EvHKzB, Bd. 40), Berlin 1983; [126] Gotthold
RHODE, Brandenburg-Preußen und die Protestanten in Polen 1640 —1740. Ein Jahr-
hundert preußischer Schutzpolitik für eine unterdrückte Minderheit ( = DldO, Bd.
Bibliographie 383

17), Leipzig 1941; [127] Emanuel ROSTWOROWSKI, O polsk^ koronç. Polityka Francji
w latach 1 7 2 5 - 1 7 3 3 ( = PrKNH, Nr. 2), Wroclaw 1958; [ 1 2 8 ] Jacek STAS-
ZEWSKI, August III Sas, Wroclaw 1989; [129] Klaus ZERNACK, Das preußische
Königtum und die polnische Republik im europäischen Mächtesystem des 18.
Jahrhunderts ( 1 7 0 1 - 1 7 6 3 ) , in: Ders. (Hg.), Polen und die polnische Frage in der
Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701 — 1871. Referate einer deutsch-polni-
schen Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee
( = EvHKzB, Bd. 33), Berlin 1982, S. 4 - 2 7 .

d) Zeitalter der Teilungen Polens (1763 —1815)

[130] William W. HAGEN, The Partitions of Poland and the Crisis of the Old Regime
in Prussia 1772 - 1 8 0 6 , in: CEH, Bd. 9 (1976), S. 115 - 1 2 8 ; [131] Herbert H. KAPLAN,
The First Partition of Poland, New Y o r k - L o n d o n 1962; [132] Henryk Kocój,
Wielka Rewolucja Francuska a Polska. Zarys stosunków dyplomatycznych
polsko — francuskich w okresie Sejmu Wielkiego i powstania Kosciuszkowskiego,
Warszawa 1987; [133] Wladystaw KONOPCZYÑSKI, Fryderyk Wielki a Polska [1947]
( = PrIZ, Nr. 9), Poznan 2 1981; [134] Jan KOSIM, Pod pruskim zaborem: Warszawa
w latach 1 7 9 6 - 1 8 0 6 , Warszawa 1980; [135] Robert Howard LORD, The Second
Partition of Poland. A Study in Diplomatic History ( = HarvHSt, Bd. 23), Cam-
bridge/Mass. 1915; [136] Erhard MORITZ, Preußen und der Kosciuszko-Aufstand
1794. Zur preußischen Polenpolitik in der Zeit der Französischen Revolution
( = SchrrHUB, Bd. 11), Berlin 1968; [137] Michael G. MÜLLER, Die Teilung Polens
1 7 7 2 - 1 7 9 3 - 1 7 9 5 , München 1984; [138] Polen und Deutschland im Zeitalter der
Aufklärung. Reformen im Bereich des politischen Lebens, der Verfassung und der
Bildung. XIII. Deutsch-Polnische Schulbuchkonferenz der Historiker vom
27. Mai — 1. Juni 1980 in Münster/W. ( = SchrrGEI, Bd. 22/4), Braunschweig 1981;
[139] Jürgen-Peter RAVENS, Staat und katholische Kirche in Preußens polnischen
Teilungsgebieten ( 1 7 7 2 - 1 8 0 7 ) ( = VOelM, Bd. 21), Wiesbaden 1963; [140] Emanuel
ROSTWOROWSKI, Podbój Sl^ska przez Prusy a pierwszy rozbiór Polski, in: PH, Bd. 63
(1972), S. 3 8 9 - 4 1 2 ; [141] Marian Henryk SEREJSKI, Europa a rozbiory Polski,
Studium historiograficzne, Warszawa 1970; [142] Adelheid SIMSCH, Die Wirtschafts-
politik des preußischen Staates in der Provinz Südpreußen 1793 —1806/07
( = SchrWSG, Bd. 33), Berlin 1983; [143] Albert SOREL, La Question d'Orient au
XVIIIe siècle. Le Partage de la Pologne et le traité de Kaïnardji, Paris 1889; [144] Jan
W^SICKI, Ziemie polskie pod zaborem pruskim: Prusy Nowoschodnie 1795 — 1806
( = WydZKH, Bd. 20/1), Poznan 1963; [145] Klaus ZERNACK, Negative Polenpolitik
als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jahrhun-
derts, in: Uwe Liszkowski (Hg.), Rußland und Deutschland. Festschrift für Georg
von Rauch ( = KielHSt, Bd. 22), Stuttgart 1974, S. 1 4 4 - 1 5 9 .

e) 19. Jahrhundert ( 1 8 1 5 - 1 9 1 8 )

Die Epoche im ganzen betreffend: [146] Werner CoNZE/Gottfried ScHRAMM/Klaus


ZERNACK (Hg.), Modernisierung und nationale Gesellschaft im ausgehenden 18. und
im 19. Jahrhundert. Referate einer deutsch-polnischen Historikerkonferenz
( = OestHess, R. 1, Bd. 99), Berlin 1979; [147] Boleslaw GRZEs/Jerzy KOZLOWSKI/
Aleksander KRAMSKI, Niemcy w Poznanskiem wobec polityki germanizacynej
1 8 1 5 - 1 9 2 0 , hg. von Lech Trzeciakowski ( = StNIZ, Bd. 29), Poznan 1976;
[148] William W. HAGEN, Germans, Poles and Jews. The Nationality Conflict in
384 Polen in der Geschichte Preußens

the Prussian East 1 7 7 2 - 1 9 1 4 , Chicago - London 1980; [149] Richard PERDELWITZ,


Die Posener Polen von 1815 —1914. Ein Jahrhundert großpolnischer Ideengeschichte,
Schneidemühl 1936; [150] Walther RECKE, Die polnische Frage als Problem der
europäischen Politik, Berlin 1927; [151] Hans Roos, Die polnische Nationsgesell-
schaft und die Staatsgewalt der Teilungsmächte in der europäischen Geschichte
( 1 7 9 5 - 1 8 6 3 ) , in: J G O , N . F., B d . 1 4 ( 1 9 6 6 ) , S. 3 8 8 - 3 9 9 ; [ 1 5 2 ] F r i e d r i c h SCHINKEL,
Polen, Preußen und Deutschland. Die polnische Frage als Problem der preußisch-
deutschen Nationalstaatsentwicklung, Breslau 1931.

1815 — 1871: [153] Siegfried BASKE, Praxis und Prinzipien der preußischen Polen-
politik vom Beginn der Reaktionszeit bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in:
FOEG, Bd. 9 (1963), S. 7 - 2 6 8 ; [154] Peter BÖHNING, Die nationalpolnische Bewe-
gung in Westpreußen 1815— 1871. Ein Beitrag zum Integrationsprozeß der polni-
schen Nation ( = MOstf, Bd. 33), Marburg 1973; [155] Die deutsch-polnischen
Beziehungen 1831 — 1848: Vormärz uqd Völkerfrühling (11. deutsch-polnische Schul-
buchkonferenz der Historiker vom 16. bis 21. Mai 1978 in Deidesheim) ( = SchrrGEI,
Bd. 22/2), Braunschweig 1979; [156] Manfred LAUBERT, Die Verwaltung der Provinz
Posen 1 8 1 5 - 4 7 , Breslau 1923; [157] Witold MOLIK, Kszaltowanie siç inteligencji
polskiej w Wielkim Ksiçstwie Poznanskim (1841 — 1870), Warszawa — Poznan 1979;
[159] Karl Heink STREITER, Die nationalen Beziehungen im Großherzogtum Posen
(1815-1948) ( = GWZ, Bd. 71), Bern -Frankfurt/M. - N e w York 1986; [159] Maria
WAWRYKOWA, „Für eure und unsere Freiheit". Studentenschaft und junge Intelligenz
in Ost- und Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ( = SchrMPhF,
Nr. 10), Stuttgart 1985.

1871 -1918: [160] Werner CONZE, Polnische Nation und deutsche Politik im Ersten
Weltkrieg ( = OmeVG, Bd. 4), K ö l n - G r a z 1958; [161] Józef FELDMAN, Bismarck a
Polska [1937], Warszawa 1980; [162] Walther HUBATSCH, Masuren und Preußisch-
Litthauen in der Nationalitätenpolitik Preußens 1 8 7 0 - 1 9 2 0 , Marburg 1966;
[163] Rudolf JAWORSKI, Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Studien zur
Wirtschaftsgesinnung der Polen in der Provinz Posen (1871 — 1914) ( = KrStGw, Bd.
70), Göttingen 1986; [164] Joachim MAI, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885/
87. Eine Studie zur Herausbildung des Imperialismus in Deutschland ( = VHIGr,
Bd. 1), Berlin 1962; [165] Hans ROTHFELS, Bismarck, der Osten und das Reich
[Neuausg. 1960], Darmstadt 2 1962; [166] Lech TRZECIAKOWSKI, Kulturkampf w
zaborze pruskim, Poznan 1970; [167] Lech TRZECIAKOWSKI, Polityka polskich klas
posiad^jacych w Wielkopolsce w erze Capriviego (1890 — 1894), Poznan 1960;
[168] Hans-Ulrich WEHLER, Die Polen im Ruhrgebiet bis 1918 [1961], in: Ders.
(Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte ( = NWB, Bd. 10), Köln-Berlin Ί 9 7 0 ,
S. 437 - 455; [169] Hans-Ulrich WEHLER, Polenpolitik im Deutschen Kaiserreich, in:
Ders., Krisenherde des Kaiserreichs 1871 —1918. Studien zur deutschen Sozial- und
Verfassungsgeschichte, Göttingen M979, S. 184 - 202; [170] Hans-Ulrich WEHLER,
Sozialdemokratie und Nationalstaat. Nationalitätenfragen in Deutschland 1840 —
1914 [1962], Göttingen 2 1971; [171] Wojciech WRZESINSKI, Warmie i Mazury w
polskiej mysli politycznej 1 8 6 4 - 1 9 4 5 ( = RoMatOl, Nr. 90), Warszawa 1984.

Geschichtsbild und Geschichtsschreibung: [172] Sven EKDAHL, Denkmal und Ge-


schichtsideologie im polnisch-preußischen Spannungsfeld, in: J G M O D , Bd. 35
(1986), S. 1 2 7 - 2 1 8 ; [173] Gerard LABUDA, Polen und polnisch-preußische Bezie-
hungen im historiographischen Werk Leopold von Rankes, in: Udo Arnold (Hg.),
Preußen und Berlin. Beziehungen zwischen Provinz und Hauptstadt, Lüneburg 1981,
S. 4 9 - 8 1 ; [174] Luise SCHORN-SCHÜTTE, Polnische Frage und deutsche Geschichts-
s c h r e i b u n g , in: J G M O D , B d . 3 5 ( 1 9 8 6 ) , S. 7 2 - 1 0 7 .
§ 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen 385

f) Preußen und die Republik Polen ( 1 9 1 9 - 1 9 4 7 )

Deutsche Minderheit: [175] Miroslaw CYGANSKI, Mniejszosc niemiecka w Polsce


centralnej w latach 1918 - 1 9 3 9 , Lodz 1962; [176] Der deutsche Imperialismus und
Polen 1918 bis 1939. Referate und Diskussionsbeiträge eines Kolloquiums vom
13. und 14. Mai 1977 in Rostock ( = StGdpBez, Bd. 2), Rostock 1978; [177] Zbigniew
DWORECKI, Problem niemiecki w swiadomosci narodowo-politycznej spoleczenstwa
polskiego województw zachodnich Rzeczypospolitej 1922 - 1 9 3 9 ( = UAMH,
Nr. 92), Poznan 1981; [178] Stanislaw POTOCKI, Polozenie mniejszosci niemieckiej
w Polsce 1 9 1 8 - 1 9 3 9 ( = WydIBGd, Nr. 4), Gdansk 1969.
Zwischenstaatliche Beziehungen: [179] Die deutsch-polnischen Beziehungen 1918 —
1932. XVII. deutsch-polnische Schulbuchkonferenz der Historiker. 11. bis 17. Juni
1984 in Augsburg ( = SchrrGEI, Bd. 22/8), Braunschweig 1985; [180] Die deutschen
Ostgebiete in der Zeit der Weimarer Republik ( = StDtO, Bd. 3), K ö l n - G r a z 1966;
[181] Karol FIEDOR, Antypolskie organizacje w Niemczech (1918-1933); Wroclaw
1973; [182] Jerzy KRASUSKI, Stosunki polsko-niemieckie 1 9 1 9 - 1 9 3 2 ( = StNIZ, Bd.
28), Poznan 2 1975; [183] Norbert KREKELER, Revisionsanspruch und geheime Ost-
politik der Weimarer Republik. Die Subventionierung der deutschen Minderheit in
Polen ( = SchrrVfZ, Nr. 27), Stuttgart 1973; [184] Harald von RIEKHOFF, German-
Polish Relations, 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , Baltimore - London 1971; [185]Janusz SOBCZAK, Pro-
paganda zagraniczna Niemiec Weimarskich wobec Polski ( = StNIZ, Bd. 4), Poznan
1973; [186] Wladyslaw ZIELINSKI, Stosunek spoleczenstwa polskiego do powstan i
plebiscytu na Górnym Sl?sku (1919-1921) ( = SIZeszN, Nr. 7), Katowice 1968.

Zweiter Weltkrieg: [187] Wtodzimierz BORODZIEJ, Terror i Polityka. Policja nie-


miecka a polski ruch oporu w GG 1 9 3 9 - 1 9 4 4 , Warszawa 1985; [188] Richard
BREYER, Das Deutsche Reich und Polen 1932 —1937. Außenpolitik und Volksgrup-
penfragen ( = MOstf, Bd. 3), Würzburg 1955; [189] Viktoria VIERHELLER, Polen
und die Deutschland-Frage 1 9 3 9 - 1 9 4 9 ( = AbhBioSt, Bd. 23), Köln 1970;
[190] Marian WOJCIECHOWSKI, Die polnisch-deutschen Beziehungen 1 9 3 3 - 1 9 3 8
[poln. 1965, 2 1980] ( = StGOe, Bd. 12), Leiden 1971.

§ 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken


über Preußen

Das deutsche Geschichtsbewußtsein in Wissenschaft und Öffentlichkeit


reklamiert die Geschichte Preußens vor allem als Geschichte der Hohen-
zollernmonarchie und diese als ein unbestrittenes Stück deutscher Ge-
schichte. Auch da, wo man der „preußischen Leistung" eher ablehnend
gegenüberstand und -steht, wird der deutsch-vaterländische Rahmen der
preußischen Geschichte kaum durchbrochen, und nur selten wird der Blick
frei für die fundamentale Tatsache, daß Preußen auf seiner geschichtlichen
Bahn außer dem Schicksal der Deutschen auch das der Polen nachhaltig
bestimmt hat. Bei allen unverkennbaren Traditionsbrüchen auf dem Weg
vom Staat des Deutschen Ordens in Preußen bis zur Auflösung der Hohen-
zollernmonarchie weist die preußische Geschichte doch ein Kontinuitäts-
386 § 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen

moment eigener Art auf: Preußen hat als Staat zwischen den beiden Völkern
tief auf den geschichtlichen Charakter der deutsch-polnischen Beziehungen
eingewirkt.
Diese besondere Wirkung Preußens bekam nach dem Scheitern der Re-
volution von 1848 durch den preußischen Weg zur deutschen Einigung eine
neue Qualität. Denn die preußisch-kleindeutsche Lösung der deutschen
Frage bewahrte Preußens Grenzen im Osten und war somit auf die Nicht-
lösung der polnischen Frage, das heißt auf die Perpetuierung der Teilung
Polens, gegründet. Dabei gewann nach 1866 jenes Moment, durch das sich
die Hohenzollernmonarchie von dem aus Deutschland verdrängten Rivalen
Österreich grundlegend unterschied, zunehmend an Gewicht: Preußens Ver-
zicht auf das föderative Prinzip bei der Regelung der Nationalitätenpro-
bleme. Mit der Bewahrung der territorialen Grundlagen des preußischen
Teilungsstaates von 1815 wurden diese dem jungen Deutschen Reich als
Erblast aufgebürdet; zugleich war man bestrebt, die nationalen Gegensätze
unter der preußisch-deutschen Krone zu überspielen. Seit 1871 stand somit
der Staat Preußen nicht mehr wie vorher als eine halbwegs „objektive"
Obrigkeit über seinen Landeskindern, sondern er war nun das Instrument
eines imperialen und integrativen Nationalismus der Deutschen. Die Polen
konnten dem nur ihren immer entschiedeneren, nunmehr schnell breitere
Volksschichten erfassenden, funktionalen Nationalismus entgegenstellen.
Dieser bedeutete - trotz allen sozialen Spannungen - Bekenntnis und
Kampf für die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit in der
Orientierung an der 1772 bis 1795 aufgeteilten Republik.
In Übereinstimmung damit entwickelte sich auch im historischen Denken
der Polen und ihrer Geschichtswissenschaft ein Verständnis der eigenen
Geschichte, das die Einwirkungen preußischer Politik in wachsendem Maße
zur Erklärung des Ganzen in Betracht zog. Bald standen die kleindeutsche
Sicht vom „deutschen Beruf" Preußens und die polnische Auffassung von
der jahrhundertelangen tödlichen Bedrohung Polens durch Preußen unver-
bunden und um so unversöhnlicher einander gegenüber, je mehr sich der
aktuelle nationale Antagonismus der Deutschen und der Polen im Zeitalter
der Weltkriege zur Katastrophe zuspitzte. Vieles davon wirkt bis heute nach
und wird in Polen bewußter und radikaler auch für die Deutung der Lage
in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg in Anspruch genommen. In
der deutschen Öffentlichkeit und auch weithin in der deutschen Geschichts-
wissenschaft — das heißt für die Zeit von 1949 bis 1990: in beiden deutschen
Staaten - herrschte dagegen eher Irritation über die Radikalität der histo-
rischen Denkweise der Nachbarnation. 1 Immerhin ist der fachwissenschaft-
liche Kontakt zwischen den deutschen und polnischen Historikern inzwi-
schen intensiver als je zuvor, und es beginnen sich Übereinstimmungen im

1 Ausführlicher behandelt sind diese Fragen in zwei Aufsätzen, die hier zusam-
menfassend wiedergegeben werden: K. ZERNACK, Die Geschichte Preußens...
(1983) [77] sowie ders., Das Preußenproblem in der Geschichte Polens, in:
Manfred Schlenke (Hg.), Preußen. Beiträge zu einer politischen Kultur ( = PrVB,
Bd. 2), Reinbek bei Hamburg 1981, S. 3 2 2 - 3 3 4 .
§ 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen 387

wissenschaftlichen Urteil einzustellen. Aber eine Auswirkung des wissen-


schaftlichen Erkenntnisfortschritts auf die in beiden Nationsgesellschaften
tief verwurzelten Einstellungen stellt sich nur sehr langsam ein. 2
Für die moderne Geschichtswissenschaft in E u r o p a liegt der Wert der
polnischen Preußenauffassung nicht zuletzt in der Beschreibung eines großen
synthetischen Rahmens. Dieser umfaßt das ganze letzte Jahrtausend, in dem
die deutsch-polnischen Beziehungen als ein Fall besonderer Intensität von
Beziehungen zwischen europäischen Nationen verstanden werden müssen,
und für diesen Beziehungsprozeß waren nach polnischer Auffassung Preu-
ßens Eingriffe besonders folgenreich. 3
Mit einer solchen Grundauffassung, die ihre Gültigkeit für das polnische
Verständnis noch immer bewahrt, w a r nun in der Tat lange Zeit - und ist
es vielfach noch heute — ein negatives Urteil über die preußische Einwirkung
auf die polnische Geschichte verbunden. In den zwanziger und dreißiger
Jahren unseres Jahrhunderts — also nach dem Ende der Teilungsära — hat
man sich in der polnischen Geschichtswissenschaft und Publizistik beson-
ders intensiv mit diesen Problemen beschäftigt. Damals erreichte die nega-
tive Preußenansicht ihren Höhepunkt: Von den beiden Keimzellen der
preußischen Geschichte, der askanischen M a r k Brandenburg auf der einen
und dem Staat des Deutschen Ordens im Preußenland auf der anderen
Seite, gingen danach zwei große Aggressionsströme auf Polen aus. Das
heißt: In diesen beiden Machtbildungen, auf deren Boden später der mo-
derne preußische Staat entstehen sollte, sei der deutsche „Drang nach Osten"

2 Diese Feststellung wird auch nicht widerlegt durch die Beobachtungen sozial-
wissenschaftlicher Forschungen an den „Einstellungsmustern" jüngerer Bevöl-
kerungsgruppen, da bei diesen die historische „Erblast" eher beiseite gelegt als
reflektiert wird. Häufig gilt das auch schon für die Standortgebundenheit der
Fragesteller selbst, vgl. etwa Dieter BINGEN, Die Bonner Deutschlandpolitik
1969 - 1 9 7 9 in der polnischen Publizistik ( = DokDlp, Beih. 5), Frankfurt/M.
1982.
3 Zentrale Texte der polnischen Historiographie, an denen die Entwicklung dieser
Einsichten deutlich wird, liegen in deutscher Übersetzung vor: L. DRALLE (Hg.),
Preußen · Deutschland • Polen... (1983) [61]. S. dazu die Rezension von Gotthold
RHODE in: Z f O , B d . 3 2 ( 1 9 8 3 ) , S. 2 8 3 - 2 8 7 , die, bei a l l e r B e r e c h t i g u n g d e r K r i t i k
in den Einzelpunkten, den fälschlichen Eindruck erweckt, als gäbe es keine
konzeptionelle Grundlage einer solchen Textsammlung. Nun kann man die in
der Einleitung dieses Bandes vorgetragene Auffassung vom Gang der Problem-
geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, die der tragende Grund gerade
dieser Textauswahl ist, natürlich ablehnen. Doch müßte dies dann auch gesagt
und begründet werden. Eine grundsätzliche Debatte darüber wäre gewiß lohnend
und auch in Deutschland an der Zeit. — Die instruktivste Zusammenfassung
der polnischen Sicht findet sich bislang bei G. LABUDA, Polska granica zachod-
nia... ( 2 1974) [63] (Die polnische Westgrenze. Tausend Jahre politische Ge-
schichte); Ders., Die Revision der Geschichte Preußens - Errungenschaften und
Forschungspläne [poln. 1971], in: L. DRALLE (Hg.), Preußen · Deutschland ·
P o l e n . . . ( 1 9 8 3 ) [ 6 1 ] , S. 1 5 1 - 1 7 0 ; f e r n e r M . BISKUP, P r e u ß e n u n d P o l e n . . . ( 1 9 8 3 )
[59], Von deutscher Seite s. K. ZERNACK, Das Jahrtausend der deutsch-polnischen
Beziehungsgeschichte... (1976) [76].
388 § 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen

am stärksten verkörpert gewesen. 4 Bis 1945 war diese Sicht in der polnischen
Historiographie vorherrschend. Sie hat auch Nachwirkungen über diese
Zeitgrenze hinaus. 5
Eine derart grundsätzliche Negativität in der Sicht auf Preußen hat
Gründe, die tief in der Geschichte liegen. Sie bedürfen der Aufdeckung,
auch über die schon eingangs angedeuteten Zusammenhänge mit der preu-
ßisch-deutschen Nationalstaatsgeschichte hinaus. Bei genauerem Rückblick
— das heißt einer beziehungsgeschichtlichen Reflexion auf den Jahrtau-
sendprozeß — wird man für die Geschichte des historisch-politischen Den-
kens in Polen in Betracht zu ziehen haben, daß die negativen Elemente in
der Preußeneinstellung sich zu entwickeln begannen als Reaktion auf das,
was man als eine grundsätzlich „negative Polenpolitik" auf preußischer
Seite bezeichnen muß. Diese bereitete sich mit dem Durchbruch des Abso-
lutismus in Brandenburg — Preußen vor, formierte sich zu einem System
preußischer Politik aber erst in der Annäherung Preußens an den neuen
großen aufsteigenden Machtfaktor im Osten des Kontinents, an Rußland.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entfaltete sich eine intensive preußisch-
russische, bald auch österreichisch-russische Kooperation, durch die das
alte Staatensystem der frühen Neuzeit mit seinen bestimmenden Mächte-
faktoren im Osten, der Republik Polen und dem schwedischen Ostseeim-
perium, in die Krise geriet. 1772 ist aus diesem Konstellationswandel die
erste Teilung Polens hervorgegangen. 6
Als Antwort auf diese setzte in Polen eine intensive Reflexion über die
politische Lage der Republik ein, und in dieser politischen Krisendebatte,
die die theoretische Auseinandersetzung mit dem Absolutismus Preußens,
Österreichs und Rußlands aufnahm, bildete sich im politischen Vorstel-
lungshorizont der Führungsschichten der Republik Polen ein moderner
Nationsbegriff aus. Er fand frühzeitig seine konkrete Formulierung in der
ältesten Verfassungsurkunde der europäischen Geschichte, der Konstitution
vom 3. Mai 1791. Doch dieser Erfolg einer nichtabsolutistischen Moder-
nisierung aus altrepublikanischer Tradition koinzidierte mit der gewaltsa-
men Auflösung des soeben konstitutionell erneuerten alten Staates durch
die Intervention der drei Nachbarmächte. Aber weil dieser Staat seine
republikanische Regenerations- und Modernisierungsfähigkeit gerade unter
Beweis gestellt hatte, knüpfte die nationale Bewegung im geteilten Polen

4 Prononciert kam diese Sicht im Lebenswerk des Posener Historikers Zygmunt


WOJCIECHOWSKI zum Tragen, s. z. B. dessen Schriften: Rozwój terytorialny Prus...
(1939) [75] (Die territoriale Entwicklung Preußens und die polnischen Mutter-
länder), sowie Polska-Niemcy... (1945) [74] (Polen - Deutschland. Tausend Jahre
Konflikt); dazu W. WIPPERMANN, Der „Deutsche Drang nach O s t e n " . . . (1981)
[73], S. 7 0 ff.; als Materialübersicht brauchbar Frank GOLCZEWSKI, Das Deutsch-
landbild der Polen 1918 —1939. Eine Untersuchung der Historiographie und
Publizistik ( = GstPGes, Bd. 7), Düsseldorf 1974.
5 A. LAWATY, Das Ende Preußens... (1986) [64],
6 Instruktive Forschungs- und Problemübersicht jetzt bei M . G. MÜLLER, Die
Teilungen Polens... (1984) [137], hier S. 33 ff.
§ 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen 389

nach 1795 in ihrer staatlichen Orientierung an die Wiederherstellung des


eben durch die äußere Intervention zerstörten Staates an. So ergab sich die
merkwürdige Situation, daß ein moderner Nationsbegriff sich mit einem
alten Staatsbegriff verband, der eben durch Mächteentscheidung sein Ende
gefunden hatte, dessen innere Freiheitsgeschichte nun zwar glorifiziert, aber
zugleich auch positiv tradiert wurde. Die staatliche Wiederherstellungsidee
der polnischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert verknüpfte also einen
staatsbürgerlichen und emanzipatorischen Nationsbegriff mit einer über-
nationalen Reichstradition des alteuropäischen Ständetums. 7 Ohne Frage
war nun die Entstehung dieses progressiven Nationsbegriffs in erster Linie
mit einer strikten Ablehnung der beiden Teilungsmächte Preußen und Ruß-
land und deren politischen Systemen verbunden. Wenn sich zunächst ver-
einzelt und später stärkere Zustimmung gegenüber den Mächten in der
Hocharistokratie Polens zu regen begann, so bildete dies kein Gegengewicht
zu der politischen Breitenwirkung der Unabhängigkeitsidee. Der Kontrast
zwischen dem modernen Nationsdenken in Polen und einer konservativ
und zerstörerisch zugleich wirkenden Politik der großen Mächte Preußen,
Österreich und Rußland war zu scharf, als daß in der Masse der nationalen
Führungsschichten Polens Verständnis gegenüber den Teilungsmächten er-
wachsen konnte. Hier liegen die tieferen Voraussetzungen für die prinzipielle
Negativität späterer Zeiten. Auf diese Weise wurde einem grundsätzlichen
Antagonismus zwischen dem politischen Bewußtsein der geteilten Nation
und dem der Teilungsnationen im 19. Jahrhundert der Weg gebahnt.
Nun gab es im Vormärz gewiß das Phänomen der internationalen Soli-
darität der nationalen Bewegungen. Die unterdrückten Nationen Ostmit-
teleuropas fanden in der Bevölkerung der deutschen Länder, stellenweise
auch in Preußen, einen beträchtlichen Widerhall. Vor allem die polnische
Nationalbewegung wurde nach dem Scheitern des Novemberaufstands von
1830 geradezu zum Ferment einer liberalen und demokratischen Politisie-
rung der deutschen Gesellschaft. M a n kann der deutschen Polenbegeisterung
des Vormärz — bei allem quantitativen Übergewicht der bloß instrumen-
teilen, das heißt auf die deutsche Lage bezogenen und bisweilen auch nur
trivialen Resonanz, eine qualitative völkerdiplomatische Komponente nicht
absprechen. 8 Von zentraler Bedeutung für die deutsch-polnischen Beziehun-
gen ist deshalb die Frage, wie es nach dem Aufbruch von 1830 — 32 zu der
Wende von 1848, zu dem Umschlag von der Solidarität der Nationalbe-

7 Zur Genese des modernen Nationbegriffs in Polen grundlegend T. LEPKOWSKI,


Polska... (1967) [56] (Polen — die Geburt einer modernen Nation); auf deutscher
Seite ist die wichtigste Arbeit die — leider unpublizierte - Habilitationsschrift
von Hans Roos, Der Fall der polnischen Nation und die Idee der Demokratie,
Tübingen 1961 [MS]; s. auch dessen Aufsatz: Die polnische Nationsgesellschaft...
(1966) [151].
8 Über den modernen Forschungsstand in Polen und Deutschland informieren am
besten der Sammelband Die deutsch-polnischen Beziehungen 1831 — 1848...
(1979) [155] sowie die Edition H. BLEIBER/J. KOSIM (Hg.), Dokumente zur
Geschichte... (1982) [37].
390 § 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen

wegungen zum Auseinandertreten in zwei gegensätzliche Lager des natio-


nalen Gedankens in der europäischen Geschichte, gekommen ist. Den
Hintergrund dazu bildet offenkundig jener große Funktionswandel des
Nationalismus im Lauf des 19. Jahrhunderts: Auf seinem Wege „von links
nach rechts" gab der deutsche Nationalismus in seiner Einstellung zur
polnischen Frage den solidarischen Gleichberechtigungsgedanken („für eure
und unsere Freiheit") mehr und mehr preis. 9 Zweifellos hätte 1848 eine
gleichberechtigte Lösung der polnischen und der deutschen Frage nur über
die Teilung Preußens — des nichtnationalen Staates zwischen den Nationen
— zustande kommen können, das heißt über eine Revision der Teilung
Polens.
Im Gegensatz zu Deutschland und Italien, deren Nationalstaatsbildungen
in den fünfziger und sechziger Jahren gelangen bzw. vorbereitet werden
konnten, beharrten die großen Mächte in bezug auf Polen nach dem
Scheitern von 1848 auf dem status quo. Das hat wesentlich zur Vertiefung
der negativen Einstellung gegenüber der preußischen Geschichte im polni-
schen Bewußtsein beigetragen. Umgekehrt wurde die Nichtlösung der pol-
nischen Frage in Preußen mehr und mehr als eine Bedingung für die Lösung
der deutschen Frage verstanden. Den tödlichen Konfliktgehalt dieser Kon-
stellation hat die borussisch-deutsche Geschichtsschreibung allzu leicht apo-
logetisch vertuscht. Polen hatte in diesem Verständnis keinen Anspruch
mehr auf eine nationale Geschichte. 10
Damit sind die historischen Voraussetzungen gekennzeichnet, unter denen
das polnische Geschichtsdenken und die polnische Geschichtswissenschaft
ihr Preußenverständnis entwickelten. Im Verlauf der generationenlangen
Auseinandersetzungen festigte sich der negative Grundzug der polnischen
Preußenauffassung zeitweise zum Dogma.
Nachdrücklich muß man aber unterstreichen, daß von einer simplen
Verzerrung der Sicht auf die preußische Geschichte nicht die Rede sein
kann. 1 1 Mit aller Offenheit sollte heute die kritische Komponente des

' Grundsätzliches zum Funktionswandel des Nationalismus bei Werner CONZE,


Nation und Gesellschaft. Zwei Grundbegriffe der revolutionären Epoche, in:
H Z , Bd. 198 (1964), S. 1 - 1 6 ; Michael G. MÜLLER, Deutsche und polnische
Nation im Vormärz, in: Klaus Zernack (Hg.), Polen und die polnische Frage in
der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701 — 1871. Referate einer deutsch-
polnischen Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee
( = EvHKzB, Bd. 33), Berlin 1982, S. 6 9 - 9 5 .
1 0 In polnischen Augen hat auch das Geschichtsdenken Rankes viel zur Ausprägung

dieser Komponente in der deutschen Poleneinstellung beigetragen, s. vor allem


G. LABUDA, Polen und polnisch-preußische Beziehungen... (1981) [173]. Die Frage
bedarf dringend weiterer Untersuchung auf der Grundlage des Ranke-Nachlasses.
11 Gleichwohl hat es an einer Zusammenfassung der polnischen Auffassung bisher

gefehlt. Erst seit 1987 gibt es den Versuch einer modernen Synthese der preußi-
schen Geschichte aus polnischer Sicht von S. SALMONOWICZ, Prusy... (1987) [72]
(Preußen. Geschichte des Staates und der Gesellschaft). Daß ein solcher Versuch
beim heutigen Stand der geschichtswissenschaftlichen Debatte auch in Polen
nicht nur auf Zustimmung stößt, zeigt die ausführliche Kritik von Bogdan
§ 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen 391

polnischen Preußenbildes zur Kenntnis genommen werden, freilich in der


klaren Einsicht, daß diese in ihrer permanent nationalgeschichtlichen Ein-
bindung ihrerseits zu Überzeichnungen geführt hat. Gleichwohl wiegt für
die Bilanz der kritische Tenor, den die polnische Stimme im europäischen
Chor anschlägt, stärker. Der komplementäre Aspekt zu allen anderen An-
sätzen, auch den westeuropäisch-amerikanischen einerseits und den rus-
sisch-sowjetischen andererseits, ist wissenschaftlich ausschlaggebend. Für
die deutsche Situation ist das deshalb so nachdrücklich zu betonen, weil es
gerade ein Kennzeichen der Fortwirkung älterer Positionen in der deutschen
Auffassung von der preußischen Geschichte ist, daß die deutsche Wissen-
schaft sehr lange wenig Wahrnehmungsinteresse gegenüber dem polnischen
Ansatz gezeigt hat. Das war selbstverständlich wissenschaftlich höchst
problematisch, nicht allein deshalb, weil die polnische Seite, die den Gang
der deutschen Forschung stets sehr aufmerksam verfolgt hat, dadurch einen
gewaltigen Vorrang an Literaturkenntnis gewonnen hat, sondern auch im
Hinblick auf den originären polnischen Forschungsbeitrag für die Landes-
geschichte der preußischen Provinzen. 12
Der folgende Grundriß der Probleme, die aus Preußens enger Verzahnung
mit der Geschichte Polens resultieren, ist von dem Bemühen um eine
reflektierende Verarbeitung auch der polnischen Forschungsergebnisse ge-
tragen. Diese machen es unumgänglich, über die eigentlich preußische
Geschichte (vom Beginn des Ordensstaates bis zur Auflösung des Staates
Preußen im Jahre 1947) hinaus auch deren Vor- und Nachgeschichte sorg-
fältig zu berücksichtigen, das heißt das ganze Jahrtausend der deutsch-
polnischen Beziehungen in den Blick zu nehmen, in denen Preußen seine
Geschichtsmächtigkeit entfaltet hat.

WACHOWIAK in: J G M O D , Bd. 37 (1988), S. 1 4 4 - 1 5 1 . In Posen wird in der


Forschungsstelle für die Geschichte Brandenburgs und Preußens an einem vier-
bändigen Handbuch der brandenburgischen und preußischen Geschichte gear-
beitet. Einblicke in das Konzept dieses Handbuchs, das schon im Entstehungs-
stadium einer breiten Diskussion, auch mit deutschen Forschern, ausgesetzt ist,
eröffnen die Berichte in der Posener Zeitschrift Polnische Weststudien, zuletzt
Bd. 6 (1987), S. 1 5 1 - 2 1 0 .
12 Hier wäre nicht nur für die deutsche landesgeschichtliche Forschung ein noch
im wesentlichen unaufgearbeiteter Kenntnisstand einzuholen. Es ergäbe sich auch
ein neues Erkenntnisfeld der Beziehungsgeschichte zwischen beiden Nationen,
wenn es gelänge, die landesgeschichtlichen Forschungsansätze und -traditionen
auf beide Seiten als Erscheinungsweisen der nationalen Mentalitäten zu ent-
schlüsseln. Erster Versuch zu einem Teilaspekt bei Klaus ZERNACK, Brandenbur-
gische Landesgeschichte in der polnischen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte
und Verfassungsgefüge. Frankfurter Festgabe für Walter Schlesinger ( =
FrankfhAbh, Bd. 5), Wiesbaden 1973, S. 1 — 3 1 ; grundsätzlicher jetzt Ders.,
Preußens Ende und die ostdeutsche Geschichte, Braunschweig 1989.
392 § 2 Prolog: Zeitalter der Piastenmonarchie (10. bis 14. Jh.)

§ 2 Prolog: Voraussetzungen und Anfänge


brandenburgisch-polnischer und preußisch-
polnischer Beziehungen im Zeitalter der
Piastenmonarchie (10. bis 14. Jahrhundert)
I. Piastenstaat — Polaben — Prußen
In dem beziehungsgeschichtlichen Kraftfeld zwischen Preußen und Polen ist
dieses die ältere und traditionsreichere Größe. Doch haben bei der Heraus-
bildung des ältesten polnischen Staates als christliche Monarchie zwischen
Oder und Bug, Ostsee und Karpaten im 10. Jahrhundert auch die Bezie-
hungen zu den im Westen und Norden benachbarten Landschaften, in
denen sich später die Keimzellen Preußens, nämlich die Mark Brandenburg
im Westen und das Ordensland Preußen im Norden, bildeten, eine beträcht-
liche Rolle gespielt. 1 Gleich die ältesten gesicherten Nachrichten der pol-
nischen Geschichte, die für 963 überliefert sind, betreffen Auseinanderset-
zungen um Grenzregionen westlich der mittleren Oder, und nur wenige
Jahrzehnte später, um die Jahrtausendwende, ist das Land der baltischen
Prußen an der unteren Weichsel im Horizont polnischer Politik bezeugt.
Im ersten Fall handelt es sich um den Aufbau und die Sicherung eines
Brückenkopfs polnischer Herrschaft in den Slavenländern westlich der Oder.
Das stand, nachdem Polen 966 selbst christlich geworden war, keineswegs
im Widerspruch zur Politik des Deutschen Reiches, daß sich hier seinerseits
nicht allein sein östliches Vorfeld zu sichern trachtete, sondern sogar um
die Sicherung von „Königsland" bemüht war. 2 Im Jahre 948 war zu diesem
Zweck in der slavischen Havelfeste Brandenburg ein Bistum eingerichtet
worden; an dessen östlicher Peripherie, im Lebuser Land, hatte — wohl zu
dieser Zeit — Polen Fuß gefaßt. 3 Nachdem die Slaven in den Havel- und
Spreelandschaften, zusammen mit ihren nördlichen Nachbarn, die christli-
che Herrschaft in dem großen Aufstand des Jahres 983 abgeschüttelt hatten,
waren die Herrscher Polens am beständigsten um deren Wiederbekehrung

1 Grundlegend, deutsche und polnische Forschungsergebnisse zur Synthese brin-


gend: H. LUDAT, An Elbe und Oder... (1971) [88]. Seit vielen Jahren war H.
Ludat außerdem darum bemüht, für die weitere Erforschung dieser Fragen ein
Regestenwerk zu schaffen, was bedeutete, die Regesta Historiae Brandenburgen-
sis F. W. von Raumers neu zu bearbeiten. Das Werk hat in den letzten Jahren
gute Fortschritte gemacht: C. LÜBKE, Regesten zur Geschichte der Slaven...
( 1 9 8 4 - 1 9 8 8 ) [89],
2 Zu diesem neuen Aspekt gelangt Wolfgang H. FRITZE, Der slawische Aufstand
von 983. Eine Schicksalswende in der Geschichte Mitteleuropas, in: Eckart
Henning/Werner Vogel (Hg.), Festschrift der Landesgeschichtlichen Vereinigung
für die Mark Brandenburg zu ihrem hundertjährigen Bestehen 1884 - 1984, Berlin
1984, S. 9 - 5 5 , hier S. 1 3 - 1 6 .
3 H. LUDAT, An Elbe und Oder... (1971) [88], S. 33 ff.
I. Piastenstaat — Polaben — Prußen 393

bemüht. D o c h gelang diese - angesichts eigener Integrationsschwächen im


Piastenstaat - im 11. Jahrhundert nicht. Immerhin konnte Herzog Boleslaw
III. von Polen, noch während die brandenburgischen Bischöfe im Exil —
in Leitzkau — residieren mußten, 4 1123 das Missionsbistum Lebus im
polnischen Vorfeld zwischen Oder und Elbe begründen. 5 Brandenburg 6 war
also von Anfang an ein wichtiger Orientierungspunkt polnischer Politik.
Bei allem historischen Wandel, den die mit diesem N a m e n verbundenen
geschichtlichen Kräfte sinnfällig werden lassen, ist dieses Kontinuitätsmo-
ment, das heißt die durchgehende Bedeutung, die sich an diesen N a m e n für
die polnische Geschichte knüpft, zu beachten.
Entsprechendes gilt für den Preußen-Namen, der bekanntlich auf die
frühmittelalterliche Benennung der baltischen Bevölkerung zwischen unterer
Weichsel und Memel, die Prußen, 7 zurückzuführen ist. Diese bedeuteten in
ihrer Kampfeslust und außenpolitischen Dynamik, die gut historisch bezeugt
sind, für den jungen polnischen Staat an dessen Nordgrenze ein lange Zeit
unzähmbares Unruhepotential. D o c h auch auf diesem Wege entstand seit
dem zwar gescheiterten, aber universalpolitisch folgenreichen Missionsver-
such Adalberts von P r a g , 8 der 9 9 7 im Samland den M ä r t y r e r t o d fand, ein

4 H.-D. KAHL, Slawen und Deutsche... (1964) [84], S. 106ff.


5 Wiederum ist auf eine grundlegende und die polnische Forschung verarbeitende,
bis heute unentbehrliche Untersuchung von H. LUDAT, Bistum Lebus... (1942)
[102], hier S. 239 ff., zu verweisen. Dies unterstreicht einmal mehr Ludats le-
benslanges Bemühen zu einer, wie er selbst sagt, „Rationalisierung und Auflösung
der Gegensätze zwischen deutschen und polnischen Geschichtsvorstellungen mit
den Mitteln objektiver Wissenschaft beizutragen" (H. LUDAT, Slaven und Deut-
sche... (1982) [68], Vorwort).
6 Älteste Formen: Brendanburg, Brennaburg, Brandeburg. Um die Etymologie
(deutsch oder polabisch) des Namens gibt es eine deutsch-polnische Kontroverse;
polnischerseits s. Jerzy NALEPA, Brenna, pierwotna nazwa Brandenburga, in: PZ,
Bd. 8 (1952), S. 707 — 747, der einen elbslavischen Namen *Brenna ( < *brno,
Flußschlamm) zugrundelegt, was H.-D. KAHL, Slawen und Deutsche... (1964)
[84], S. 589 ff., mit linguistischen Argumenten zu widerlegen sucht. Zuletzt dazu
H. LUDAT, An Elbe und Oder... (1971) [88], S. 95, Anm. 4.
7 Zu den ältesten Belegen und dem Namenproblem s. Gerard LABUDA/Zdzislaw
STIEBER (Hg.) Slownik Starozytnosci Slowiañskich. Encyklopedyczny zarys kul-
tury slowian od czasów najdawniejszych do schylku wieku XII — Lexicon
Antiquitatum Slavicarum. Summarium historiae cultus humanitatis slavorum
inde a temporis antiquissimis usque ad exitum XII saeculi, Bd. 4, Wroclaw 1970,
S. 368 - 371. Beste Darbietung des Standes der Forschung jetzt in dem ersten Teil
des Buches von M. BISKUP und G. LABUDA, Dzieje Zakonu Krzyzackiego... (1986)
[94] (Geschichte des Kreuzritterordens in Preußen), S. 31—95.
8 Die Folge war die Pilgerfahrt Kaiser Ottos III. zum Grab des Märtyrers in Gnesen
im Jahre 1000, wo es zur Begründung des Erzbistums Gnesen als Metropolie für
Polen kam; s. die Übersicht über die deutschen und polnischen Auffassungen
zum Akt von Gnesen bei H. LUDAT, An Elbe und Oder... (1971) [88], S. 69ff.,
sowie G. LABUDA, Studia nad pocz^tkami... ( 2 1987/88) [86], Bd. 1, S. 237 ff.,
5 0 5 ff., Bd. 2 , S. 4 2 6 ff.
394 § 2 Prolog: Zeitalter der Piastenmonarchie (10. bis 14. Jh.)

„altpreußisch"-polnisches Beziehungsfeld, 9 lange bevor die Einschaltung des


Ritterordens vom deutschen Marienhospital zu Jerusalem die alten Sicher-
heitsprobleme an Polens Nordgrenze löste und zugleich neue aufwarf.

II. Polnische Teilfürsten — Mark Brandenburg —


Ordensstaat
Wie die Beziehungen zu den Havel- und Spreelandschaften sowie zu den
Prußen bezeugen, hatte der polnische Staat mit der Übernahme des latei-
nischen Christentums schnell eine bedeutende Stellung als ein Strahlungs-
zentrum der neuen Kultur in der östlichen Hälfte Europas gewonnen. Das
christliche Regnum Poloniae war also mit seiner Entstehung schon zu einem
wichtigen Träger der „Verwestlichung" (Europäisierung) des außerkarolin-
gischen Europa geworden. 10 Hingegen waren die strukturbildenden Kräfte
für die Entwicklung eines so großräumigen Herrschaftsverbandes, wie ihn
die Piastenmonarchie der ersten Herrschergeneration darstellte, noch nicht
sehr effektiv. Gegenkräfte — auf die alten stammeslandschaftlichen Struk-
turen und anfangs auch auf die heidnische Religion gestützt — meldeten
sich (seit etwa 1030) immer wieder zu Wort.
Sie wuchsen zur Qualiät einer regionalistischen Alternative zu dem
gesamtstaatlichen Regnum Poloniae-Gedanken heran, als der hochmitte-
lalterliche Landesausbau, von West nach Ost fortschreitend, im 12. und
13. Jahrhundert ganz Europa erfaßte und seine „Modernisierung" als
regionale Kommunikationsverdichtung durchsetzte. Die Bevölkerung Eu-
ropas war im Zuge dieses zivilisatorischen Aufwärtstrends von circa 42
Millionen um die Jahrtausendwende auf 73 Millionen um das Jahr 1300
angewachsen. Nach der Christianisierungswelle des 9. und 10. Jahrhun-
derts war dies der zweite große Verwestlichungsimpuls der mittelalterli-
chen Geschichte. Die Länder östlich der Elbe in ihrer großen Entwick-
lungsbedürftigkeit wurden von ihm besonders rasch und mit einer einzig-
artigen Intensität erfaßt und dadurch einem relativ gleichmäßigen Wandel
ihrer wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Strukturen ausgesetzt. 11

9 Dieser Probleme hat sich vor allem die moderne polnische Mediävistik angenom-
men, s. H . towMiAÑSKi, Stosunki polsko-pruskie... (1950) [97] (Die polnisch-
prußischen Beziehungen unter den ersten Piasten); J . POWIERSKI, Stosunki polsko-
pruskie... (1968) [99] (Die polnisch-prußischen Beziehungen bis 1230).
10 Für die Ausbildung des frühesten Nationalbewußtsein der polnischen Führungs-
schicht war dies gewiß von größter Bedeutung; vgl. F. GRAUS, Die Nationenbil-
dung der Westslaven... (1980) [83], S. 64 ff.; Klaus ZERNACK, Die deutsche Nation
zwischen West und Ost. Probleme und Grundzüge, in: Nationalgeschichte als
Problem... (1983) [70], S. 6 7 - 8 0 , hier S. 6 9 f f .
11 Allgemein B. ZIENTARA, Henry Brodaty ... (1975) [107] (Heinrich der Bärtige
und seine Zeit), S. 13 ff.; zur West-Ost-Bewegung s. den internationalen Sam-
melband: W. SCHLESINGER (Hg.), Die deutsche Ostsiedlung... (1975) [105]; von
Walter KUHNS zahlreichen Studien nenne ich nur den wertvollen Sammelband
II. Polnische Teilfürsten — M a r k Brandenburg - Ordensstaat 395

Es war ein durch demographische Prozesse und kolonisatorische Verfas-


sungsformen - das sogenannte ius theutonicum - bewirkter Struktur-
wandel, und eben wegen seiner weitgehend homogenen Ausbreitung in
den Ländern zwischen Elbe - Saale - Böhmerwald, Ostsee und Adria kann
man diesem Prozeß ein so großes Gewicht bei der Ausbildung der histo-
rischen Großregion Ostmitteleuropa zuschreiben.12 Die Länder zwischen
Elbe und Oder, das Land der Prußen und Polen gehörten gleichermaßen
dazu. Doch gilt es Unterschiede zu beachten: Polen ist von dieser zweiten
Phase der Verwestlichung des östlichen Europa im Verlauf des 12. und
13. Jahrhunderts erreicht worden und erwies sich auf besondere Weise
— ähnlich wie schon bei der Ausbreitung des Christentums — als Strah-
lungszentrum des Neuen. Denn noch bevor die große West-Ost-Bewegung
an die Grenzen der Piasten-Monarchie gestoßen war, hatte nach 1138
deren dynastierechtliche Aufgliederung in Teilfürstentümer begonnen.13
Nicht nur im sozialen und ökonomischen Bereich, in dem sich Neues
anzubahnen begann, 14 war also das Gegenmodell zu dem großflächigen
Gesamtstaat der plastischen Frühzeit im Vormarsch. Die Teilfürstentümer
begannen schon im Laufe des 12. Jahrhunderts die alten Stammesland-
schaften — die provinciae des Gallus Anonymus15 — zu landesfürstlichen
Herrschaftsverbänden durchzubilden. Damit aber folgten die polnischen
Länder einem Trend, den auch die Nachbarlandschaften der alten Pia-
stenmonarchie im Westen (hier früher) und im Norden (hier später)
unterlagen. In den polabischen Spree- und Havellandschaften, in denen
bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts ein deutsches und ein polnisches

Vergleichende Untersuchungen... (1973) [101]. Eine gute Quellenauswahl findet


sich bei H . HELBIG/L. WEINRICH (Hg.), Urkunden und erzählende Quellen...
( 3 1 9 8 4 / 1 9 7 0 ) [41].
12 Prononciert W. SCHLESINGER in der Einleitung zu dem in Anm. 11 zitierten
Reichenauband, S. 11 ff. Z u r Genese und Abgrenzung dieser „Geschichtsland-
schaft" s. K. ZERNACK, Osteuropa... (1977) [78], S. 3 3 f f . Kaum Neues bietet die
Überblicksdarstellung von Charles HIGOUNET, Die deutsche Ostsiedlung im Mit-
telalter, Berlin 1986.
13 Forschungsübersicht bei Tadeusz GRUDZIÑSKI, T h e Beginnings of Feudal Des-
integration in Poland, in: ΑΡΗ, Bd. 30 (1974), S. 5 - 3 1 .
14 Strukturgeschichtlicher Syntheseversuch bei Karol MODZELEWSKI, Organizacja
gospodarcza panstwa piastowskiego X — XIII wiek (Die wirtschaftliche Organi-
sation des Piastenstaats vom 10. bis 13. Jahrhundert), Wroclaw 1975; s. auch
Stanislaw TRAWKOWSKI, Przemiany spoleczne i gospodarcze w XII i XIII wieku
(Die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen im 12. und 13. Jahrhundert),
in: Polska dzielnicowa i zjednoczona. Panstwo, spoleczenstwo, kultura (Das
geteilte und vereinigte Polen. Staat, Gesellschaft, Kultur), Warszawa 1972,
S. 62 — 118; Ders., Z u r Erforschung der deutschen Kolonisation auf polnischem
Boden im 13. Jahrhundert, in: Α Ρ Η , Bd. 7 (1962), S. 7 9 - 9 5 .
15 Karol MALECZYÑSKI (Hg.), Galli Anonymi Cronica et Gesta ducum sive princi-
pum Polonorum/Anonima tzw. Galla Kronika czyli Dzieje ksi^zat i wladców
polskich ( = PAUWydKH, Nr. 89), Krakow 1952, lib. II, 7.
396 § 2 Prolog: Zeitalter der Piastenmonarchie (10. bis 14. Jh.)

Vorfeld aneinander gestoßen w a r e n , 1 6 bildete sich die Markgrafschaft


Brandenburg heraus. Der Sieg des sächsischen Fürsten Albrecht von Bal-
lenstedt über den lutizischen Herrscher im polnischen Vorfeld, J a x a von
Köpenick, im Kampf um die alte Havelfeste Brandenburg (1157) war ihre
Geburtsstunde. 1 7
Diese Entscheidung zugunsten der territorialstaatlichen Entwicklung in
den Havel-Spree-Ländern war ein Ergebnis des Kolonisationszeitalters:
Der Landesausbau in kolonialrechtlichen F o r m e n und unter Beteiligung
zahlreicher Einwanderer aus den nordwestlichen Kulturzonen des alten
Fränkischen Reiches hatte dazu geführt. Auch die ethnodemographische
Struktur des neuen Territoriums nahm, je weiter sich der Bestand der
M a r k Brandenburg festigte, die typischen Merkmale der Germania Sla-
vica-Zone an, das heißt aus der polabischen Stammbevölkerung und
deutschen Siedlungseinwanderern wuchs allmählich der deutsche Neu-
stamm der Brandenburger zusammen. 1 8
Die strukturellen Analogien zwischen diesen kolonisationszeitlichen Wand-
lungen in Brandenburg und denen, die im 13. Jahrhundert mit der Berufung
des Deutschen Ordens zur Heidenbekämpfung durch einen der polnischen
Teilfürsten, den Herzog von Masowien, in Alt-Preußen in Gang kamen, sind
— trotz den andersartigen politischen Bedingungen der Territorienbildung,

16 Die Geschichte dieser Landschaften vor dem Einsetzen der hochmittelalterlichen


Kolonisation ist mithin wesentlich als ein deutsch-polnisches Beziehungsproblem
zu sehen, s. dazu Gerard LABUDA,Osi^gniçcia i postulaty historiografii polskiej
w zakresie dziejów Slowianszczyzny Zachodniej (Stand und Erfordernisse der
polnischen Historiographie über die Geschichte der Westslaven) [1948], in: Ders.,
Fragmenty dziejów Slowianszczyzny Zachodniej (Fragmente der Geschichte der
Westslaven), Bd. 1, Poznan I960, S. 9 —33, hier S. 32; deutscherseits vgl. die
grundsätzlichen Betrachtungen von Herbert LUDAT, Elbslaven und Elbmarken
als Problem der europäischen Geschichte [1968], in: Ders., Slaven und Deutsche...
(1982) [68], S. 1 - 1 3 , 399 f. (Nachträge); zuletzt Lothar DRALLE, Slaven an Havel
und Spree. Studien zur Geschichte des hevellisch-wilzischen Fürstentums (6. — 10.
Jh.) ( = OestHess, R. 1, Bd. 108), Berlin 1981.
17 Zu der Auseinandersetzung Jaxas — in Polonia tunc principantis (Heinrici de
Antwerpe, can. Brandenb.: Tractatus de urbe Brandenburg, neu hrsg. von G.
Sello, in: 22. Jahresbericht des Altmärkischen Vereins für vaterländische Ge-
schichte und Industrie zu Salzwedel, Abt. für Geschichte, H. 1, Magdeburg 1888,
S. 1 — 33, hier S. 10) — mit Albrecht dem Bären verzeichnet den neuesten Stand
der Diskussion H. LUDAT, Slaven und Deutsche... (1982) [68], S. 2 7 - 8 4 , 401 f.
(Nachträge); neuerdings Eberhard BÖHM, Albrecht der Bär, Wibald von Stablo
und die Anfänge der Mark Brandenburg, in: J G M O D , Bd. 33 (1984), S. 6 2 - 9 1 .
18 Zum Germania Slavica-Begriff und -Problem s. Wolfgang H. FRITZE, Germania
Slavica. Zielsetzung und Arbeitsprogramm einer interdisziplinären Arbeits-
gruppe, in: Ders. (Hg.), Germania Slavica, Bd. 1 ( = BHSt, Bd. 1), Berlin 1980,
S. 11 —40; zur Frage der Neustämme Karl BOSL, Die Entstehung der ostdeutschen
Neustämme, in: Böhmen und seine Nachbarn. Gesellschaft, Politik und Kultur
in Mitteleuropa ( = VCC, Bd. 32), M ü n c h e n - W i e n 1976, S. 1 6 6 - 1 7 5 .
II. Polnische Teilfürsten — Mark Brandenburg — Ordensstaat 397

der anderen Zeitstellung und der viel längeren Dauer der Neustammbildung 1 9
- sehr weitgehend. Die beiden historischen Keimzellen der preußischen Ge-
schichte, die M a r k Brandenburg und das Ordensland Preußen, sind also als
typische Produkte des hochmittelalterlichen Kolonisations- und Kulturvor-
gangs und seiner starken Wandlungsdynamik anzusehen.
Als solche sind sie auch im Polen der Teilfürstenepoche, also nach 1138,
verstanden worden. Die Beziehungen der polnischen Fürsten zu ihren N a c h -
barlandschaften standen im 13. Jahrhundert ganz im Zeichen der großen
west-östlichen Akkulturationsvorgänge, denen sich selbstverständlich auch
die polnischen Teilfürstentümer öffneten. Weder die Überlassung des Kul-
merlandes als Territorialglacis für die Pazifikationstätigkeit des Deutschen
Ordens durch Herzog Konrad von M a s o w i e n 2 0 noch die Abtretung des
Landes Lebus durch die schlesischen Teilfürsten an die Markgrafen von
Brandenburg um 1 2 5 0 2 1 konnten in den Teilfürstentümern Polens als Ver-
sagen gegenüber den Aufgaben polnischer Gesamtstaatspolitik eingeschätzt
werden, so wie spätere, nationalgeschichtlich urteilende Historiker dies
angesehen h a b e n . 2 2 Die ostdeutsche Territorienbildung dieses Zeitalters hat
zweifellos zu Grenzverschiebungen geführt, die sich nur in der Perspektive
einer nationalgeschichtlichen Teleologie als resignierende Z u r ü c k n a h m e der
polnischen Positionen an Oder und Weichsel oder gar als Indiz für den der
deutschen Geschichte in die Wiege gelegten „Drang nach Osten" in An-
spruch nehmen lassen. 2 3

19 Reinhard WENSKUS, Der deutsche Orden und die nichtdeutsche Bevölkerung des
Preußenlandes mit besonderer Berücksichtigung der Siedlung, in: W. SCHLESINGER
(Hg.), Die deutsche Ostsiedlung... (1975) [105], S. 417 - 438.
20 In der Frage der Echtheit des sog. Kruschwitzer Privilegs von 1230 wird die
Fälschung der Urkunde durch den Deutschen Orden inzwischen nicht mehr in
den Kategorien von Anklage (polnischerseits) und Apologie (deutscherseits) be-
urteilt, s. zuletzt H. BOOCKMANN, Der Deutsche Orden... (1981) [95], S. 80ff.,
sowie Gerard LABUDA, Die Urkunden über die Anfänge des Deutschen Ordens
im Kulmerland und in Preußen in den Jahren 1226 — 1235, in: Josef Fleckenstein/
Manfred Hellmann (Hg.), Die geistlichen Ritterorden Europas ( = VF, Bd. 26),
Sigmaringen 1980, S. 2 9 9 - 3 1 6 , hier S. 312 ff.; M . BISKUP/G. LABUDA, Dzieje
Zakonu Krzyzackiego... (1986) [94], S. 126ff.
21 B. STASIEWSKI, Kirchengeschichtliche Beiträge... (1955) [90], S. 46; Gerard LA-
BUDA, Przynaleznosc terytorialna Ziemi Lubuskiej w XII i XIII wieku (Die
territoriale Zugehörigkeit des Lebuser Landes im 12. und 13. Jahrhundert), in:
RoH, Bd. 35 (1969), S. 1 9 - 3 2 .
22 Vgl. Klaus ZERNACK, Brandenburgische Landesgeschichte in der polnischen Ge-
schichtswissenschaft, in: Geschichte und Verfassungsgefüge. Frankfurter Festgabe
für Walter Schlesinger ( = FrankfhAbh, Bd. 5), Wiesbaden 1973, S. 1 - 3 1 , hier
S. 22f.; W.WIPPERMANN, Der Ordensstaat als Ideologie... (1979) [101], S. 357f.;
s. dazu generell die Kontroverse zwischen Marian BISKUP und Wolfgang WIP-
PERMANN in: J G O , N. F., Bd. 31 (1983), S. 1 1 9 - 1 3 5 .
23 Das Gewicht der nationalgeschichtlich reklamierbaren Aspekte ist in der Fach-
diskussion namentlich über den Deutschen Orden inzwischen erheblich relativiert
worden, s. deutscherseits H. BOOCKMANN, Der Deutsche Orden... (1981) [95];
für die aktuelle polnische Forschung vgl. den Sammelband U. ARNOLD/M. BISKUP
(Hg.), Der Deutschordensstaat Preußen... (1982) [93],
398 § 2 Prolog: Zeitalter der Piastenmonarchie (10. bis 14. Jh.)

Dabei kann gewiß das Faktum nicht bestritten werden, daß die beiden
Keimzellen der späteren preußischen Geschichte ihre geschichtliche Lebens-
bahn als expandierende Territorialstaaten auf der Hochwelle des Koloni-
sationszeitalters an den westlichen Grenzen der polnischen Teilfürstentümer
begonnen haben. Stärker aber als diese, die in der Tradition des Piasten-
staates standen, waren die Mark Brandenburg und das Ordensland Neu-
bildungen der Kolonisation im Heidenland und hatten alle Kräfte des Neuen
auf ihrer Seite. So gibt es objektive Gründe für die größere Expansionsdy-
namik der neuen Territorialstaaten. Es müssen also die Wirkungsgrade der
hochmittelalterlichen Kolonisation in Ostmitteleuropa unterschieden wer-
den, je nachdem, ob der materielle Modernisierungsprozeß auf die heidni-
schen Randzonen und Nachbargebiete der christlichen Fürstentümer oder
auf diese selbst stieß. 24 In den polnischen Teilfürstentümern formierte sich
bald eine deutliche Abneigung des Adels in seiner allodialen Besitzstruktur
gegen das emphyteutische ius teutonicum.

III. Piastische Wiedervereinigung und


Grenzregelungen mit Brandenburg und dem
Ordensstaat

Als politische Wirkung des west-östlichen Akkulturationsprozesses ist zu


konstatieren: Die höhere Expansionsdynamik der Mark Brandenburg und
des Deutschen Ordens engten die territorialpolitischen Möglichkeiten der
polnischen Teilfürsten im 13. Jahrhundert nicht nur beträchtlich ein, son-
dern führten auch zu Einbußen im Territorialbestand des alten Monarchie-
Verbandes. Als bedrohliche Niederlage wurde in Polen damals aber erst der
Ausgang der langen territorialpolitischen Konkurrenz zwischen Großpolen,
Brandenburg und dem Ordensstaat um Pommerellen zugunsten des Deut-
schen Ordens (1308/09) angesehen. Daher ist auch der Wunsch nach Über-
windung dieses Zustandes — neben der inneren Traditionswahrung in der
plastischen Überlieferung, den Rechtsunterschieden und dem Fortbestand
der kirchlichen Einheit — ein Antrieb für die Wiederherstellung des pol-
nischen Gesamtstaates am Anfang des 14. Jahrhunderts gewesen.25 Deutlich

24 Dazu grundsätzlich, mit Einbeziehung der polnischen Forschungsergebnisse,


Klaus ZERNACK, Der hochmittelalterliche Landesausbau als Problem der Ent-
wicklung Ostmitteleuropas, in: XVe Congrès International des Sciences Histo-
riques, Bucarest 1980, Rapport II, S. 144 - 158.
25 Jan BASZKIEWICZ, Powstanie zjednoczonego panstwa polskiego na przelomie XIII
i XIV w. (Die Entstehung des polnischen Einheitsstaats um die Wende vom
13. zum 14. Jahrhundert) ( = S t H P P , R. 2, Bd. 1), Warszawa 1954; Michael
LUDWIG, Tendenzen und Erträge der modernen polnischen Spätmittelalterfor-
schung unter besonderer Berücksichtigung der Stadtgeschichte ( = OestHess, R.
1, Bd. 128), Berlin 1983, S. 17 ff.; zuletzt Slawomir GAWLAS, „Venus heres". Ζ
badan nad swiadomosci^ polityczn^ obozu Wladystawa Lokietka w pocz^tku
III. Piastische Wiedervereinigung 399

standen denn auch die Zeichen der Außenpolitik des restituierten Königtums
nach 1320 auf Eindämmung der ordenspreußischen 2 6 wie der brandenbur-
gischen Expansionskraft. Die Diplomatie Kasimirs des Großen (1333 —1370)
hatte dabei in bezug auf Brandenburg beachtliche Erfolge zu verzeichnen,
sie war ein Angelpunkt plastischer Westpolitik. An der östlichen Peripherie
der Marchia transoderana - wie die N e u m a r k in den Quellen der Zeit
heißt — konnte die Grenze Großpolens für kurze Frist wieder nach Westen
verschoben werden, und nördlich der Netze traten die ehemals pomorani-
schen Gebiete zwischen Drage und Kiiddow (um Deutsch-Krone) auf lange
Zeit wieder unter polnische Herrschaft. 2 7 Die polnische Wissenschaft inter-
pretiert diese Vorgänge wie schon traditionellerweise auch weiterhin als
großen westpolitischen Abwehrerfolg der wiedererstarkten plastischen M o -
narchie, der es damit gelungen sei, den Riegel deutscher Herrschaft in der
territorialen Verbindung zwischen der brandenburgischen N e u m a r k und
dem Staat des Deutschen Ordens zu durchbrechen und die unmittelbare
Grenznachbarschaft Polens zu den pommerschen Herzögen zum politischen
Nutzen beider wiederherzustellen. 2 8 M a n wird den nationalgeschichtlichen
Akzent nicht überhören können und dennoch konstatieren, daß diese Blick-
richtung eine eingehende und kritische territorialgeschichtliche Erörterung
auch in der deutschen Ostmitteleuropaforschung, die bisher kaum stattge-
funden hat, erfordert, 2 9 denn hier sind grenzpolitische Entscheidungen ge-
fallen, die für mehrere Jahrhunderte von Dauer waren.

XIV w. („Venus heres". Forschungen zum politischen Bewußtsein im Lager


Wladyslaws Lokietek am Beginn des 14. Jahrhunderts), in: KH, Bd. 95 (1988),
S. 7 7 - 1 0 4 .
26 Stanislaw Z^JACZKOWSKI, Polska a Zakon Krzyzacki w ostatnich latach
Wladyslawa Lokietka (Polen und der Deutsche Orden in den letzten Jahren
Wladyslaws Lokietek) ( = ATNLw, T. 2, Bd. 6/2), Lwów 1929.
27 Joanna GLADYSZÓWNA, Ludwik Wittelsbach margrabia Brandenburski wobec
Polski (Markgraf Ludwig von Brandenburg und Polen), in: RoH, Bd. 9 (1933),
S. 1 - 4 5 ; B. STASIEWSKI, Kirchengeschichtliche Beiträge... (1955) [90],
S. 115 — 124; weitere Angaben in der sorgfältigen Studie von Zbigniew WIELGOSZ,
Nowa Marchia w historiografii niemieckiej i polskiej (Die Neumark in der
deutschen und polnischen Historiographie) ( = UAMH, Nr. 84), Poznan 1980,
S . 151 ff.
28 Das politische Dreiecksverhältnis Polen — Ordensstaat — Brandenburg wird gut
beleuchtet in den politikgeschichtlichen Partien von Benedykt ZIENTARAS Beitrag
in dem Sammelwerk Historia Pomorza (Geschichte „Pommerns"): Rozdrobnienie
feudalne ( 1 2 9 5 - 1 4 6 4 ) , in: G. Labuda (Hg.), Historia Pomorza, Bd. 1/2, Poznan
1969, S. 1 6 8 - 3 3 6 . (Diesem Werk liegt ein Verständnis des polnischen Begriffs
„Pomorze" zugrunde, das den gesamten Küstenbereich der Ostsee umfaßt, soweit
er zum Staatsgebiet der preußischen Monarchie zur Zeit ihrer größten Ausdeh-
nung gehört hat, d. h. also Pommern, Westpreußen und Ostpreußen.)
29 Einen Anfang gibt es neuerdings in deutsch-polnischer Kooperation, nämlich in
der Gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission; s. den Band Die
Rolle Schlesiens und Pommerns... (1980) [104], hier vor allem die Beiträge von
Jürgen PETERSOHN (Pommerns staatsrechtliches Verhältnis zu den Nachbar-
mächten im Mittelalter, a . a . O . , S. 98 — 115) und Marian BISKUP (Pommern und
400 § 3 Polen — Litauen und der Niedergang des Ordensstaates in Preußen

§ 3 Polen — Litauen und der Niedergang des


Ordensstaates in Preußen. Von der polnisch-
litauischen Union zur Krakauer Huldigung
(1386-1525)

Obwohl die wiederhergestellte Piastenmonarchie im 14. Jahrhundert die


Zurückdrängung ihrer westlichen Grenzen durch die Expansion der kolo-
nisatorischen ostdeutschen Territorialstaaten hatte zum Stillstand bringen
und teilweise sogar revidieren können, war ihr Territorialbestand im Westen
und Norden beim Ausgang der Dynastie 1370 im Vergleich mit der Lage
unter den Begründern des Staates — um das Jahr 1000 — kleiner geworden.
Das hatte nicht allein die politische Expansionskraft Brandenburgs und
Ordenspreußens bewirkt. Auch das ethnodemographische „Modell" der
Germania-Slavica war über die alte Westgrenze vorgedrungen und hatte zur
Herauslösung Pommerns (1180), Pommerellens (1309/1343) und Schlesiens
(bis 1335) aus dem Verband der Monarchie geführt. 1 Das Kolonisations-
zeitalter in Ostmitteleuropa war also eine Epoche tiefgreifender Transfor-
mationen auch im Hinblick auf die Ausgestaltung der deutsch-polnischen
Beziehungen, und Brandenburg und Ordenspreußen spielten in diesem Pro-
zeß eine hervorragende Rolle. 2
Doch diese Epoche wurde abgelöst durch ein Zeitalter, in dem die
Geschichte Ostmitteleuropas vor allem von dynastischen Großreichsbildun-
gen und deren ständegesellschaftlicher Durchformung bestimmt war. Das
wurde ermöglicht durch die zahlreichen Interregna nach dem Aussterben
der ostmitteleuropäischen Gründungsdynastien — das heißt der Arpaden
in Ungarn, der Premysliden in Böhmen und der Piasten in Polen — im 14.
Jahrhundert. 3 Andere große Häuser versuchten an ihrer Stelle Fuß zu fassen:
die Anjous in Ungarn und Polen, die Luxemburger in Böhmen. Auch die
Habsburger begannen, ihr Interesse zu zeigen. In diesem Ablauf traten
Brandenburg und erst recht der dynastielose geistliche Ordensstaat in Preu-

Pommerellen als Problem der deutsch-polnischen Beziehungen im 14. und


15. Jahrhundert, a. a. O., S. 143 - 155).
1 G. LABUDA, Polska granica zachodnia... ( 2 1974) [63].
2 Das gilt in einem erweiterten Sinn für die Beziehungen Deutschlands mit Ost-
mitteleuropa überhaupt: Österreichs Beziehungsspektrum im Südosten (Böhmen
und Ungarn) steht in Parallele zu denen Brandenburgs und des Ordensstaates im
Nordosten. Eine vergleichende Analyse, die ich bisher lediglich in Universitäts-
vorlesungen versucht habe, eröffnet lohnende Einsichten.
3 Manfred HELLMANN (Hg.), Corona Regni. Studien über die Krone als Symbol
des Staates im späteren Mittelalter ( = WdF, Bd. 3), Darmstadt 1961; Stanislaw
RUSSOCKI Structures politiques dans l'Europe des Jagellons, in: ΑΡΗ, Bd. 39
(1979), S: 101 - 1 4 2 ; Jerzy KtoczowSKi, Europa slowianska w X I V - X V wieku
(Das slavische Europa im 1 4 . - 1 5 . Jahrhundert), Warszawa 1984.
§ 3 Polen — Litauen und der Niedergang des Ordensstaates in Preußen 401

ßen nicht in Erscheinung; beide Länder fanden dynastiegeschichtlich erst


später, nämlich im 16. und 17. Jahrhundert, als den Hohenzollern schritt-
weise die dynastische Vereinigung gelang, auf ein vergleichbares Niveau.
Polen aber hat den neuen Trend sogleich zur Regeneration seiner außen-
politischen Aktionsfähigkeit an der Nordflanke benutzt. Durch geschickte
diplomatische Ausnutzung seiner verbesserten Position im altrussischen
Südwesten — in Halic und Wolhynien 4 — gelang es, die dynastische
Vereinigung mit dem gewaltig nach Westrußland expandierenden Großfür-
stentum Litauen zustande zu bringen 5 und durch die Taufe des Litauerfür-
sten Jagielio dem Deutschen Orden die Initiative bei der Bekehrung des
letzten Heidenrests aus der Hand zu nehmen. 6 Mit einem Schlag hatte
Polen ein gewaltiges Machtpotential rund um den Rivalen an der Ostsee-
küste aufgebaut, wenngleich es noch keineswegs zu genauen Abstimmungen
der polnischen und litauischen Politik kam. Der Ordensstaat in Preußen
aber wurde durch die neue Lage in Ostmitteleuropa in eine tiefe Krise
gestürzt. 7 Er hatte nun keine genuine Aufgabe mehr in der Region seiner
Berufung durch Polen zu erfüllen, und in der Tat untersagten der Papst und
König Wenzel dem Orden die Fortsetzung seiner Litauen-Feldzüge. Gegen
Ende des 15. Jahrhunderts hat es sogar polnisch-litauische Erwägungen
gegeben, den Deutschen Orden zum Tatarenkampf in den Südosten des
Doppelreichs zu verpflanzen. 8
Aber außer dem außenpolitischen Machtzuwachs, von dem trotz allem
Mangel an Planung und Koordination gesprochen werden muß, konnte

4 Gotthold RHODE, Die Ostgrenze Polens. Politische Entwicklung, kulturelle Be-


deutung und geistige Auswirkung ( = OmeVG, Bd. 2), Köln - Graz 1955, S. 172 ff.
5 Stanislaw KUTRZEBA/Wladyslaw SEMKOWICZ (Hg.), Akta Unji Polski Ζ Litw^
1385 —1781 (Urkunden der Union Polens mit Litauen), Krakow 1932; neueste
Darstellung von Manfred HELLMANN, Das Großfürstentum Litauen bis 1569, in:
Ders. (Hg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 1/2, Stuttgart 1989,
S. 7 1 7 - 8 5 1 .
6 Harro GERSDORF, Der Deutsche Orden im Zeitalter der polnisch-litauischen
Union. Die Amtszeit des Hochmeisters Konrad Zöllner von Rothenstein (1382 —
1390) ( = WBtrOme, Nr. 29), Marburg 1957; Karl HEINL, Fürst Witold von
Litauen in seinem Verhältnis zum Deutschen Orden in Preußen während der Zeit
seines Kampfes um das litauische Erbe ( = HSt, H. 165), Berlin 1925 (ND Vaduz
1965). Von polnischer Seite vgl. die grundlegenden Studien von Henryk Low-
MIANSKI, Studia nad dziejami Wielkiego Ksiçstwa Litewskiego (Studien über die
Geschichte des litauischen Großfürstentums) ( = UAMH, Nr. 108), Poznan 1983.
7 Der Zusammenhang mit der Krise des Ordensstaates ist gut gesehen bei J.
KLOCZOWSKI, Europa slowianska... (1984) [s.o. Anm. 31], S. 36ff.
8 S. o. Anm. 6. Später hegten König Jagielio und sein Vetter, Großfürst Witold von
Litauen, Pläne, den Orden auf Zypern und Rhodos zu stationieren; s. Zenon
NOWAK, Przymierze Polski i Litwy Ζ panstwami Unii Kalmarskiej w 1419 r. (Das
Bündnis Polens und Litauens mit dem Staaten der Kalmarer Union 1419), in:
Z H , Bd. 34 (1969), H. 3, S. 45 - 78, hier S. 5 6 - 6 7 ; Ders., Die politische Zusam-
menarbeit zweier Unionen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: StMar,
B d . 3 ( 1 9 8 1 ) , S. 3 9 - 4 8 , h i e r S. 3 9 .
402 § 3 Polen — Litauen und der Niedergang des Ordensstaates in Preußen

Polen auf einen weiteren Faktor setzen: auf die Attraktivität seines Privi-
legiensystems für die Aristokratien in den Nachbarländern. Nicht allein die
litauisch-westrussischen Bojaren haben dies sofort erkannt, 9 auch im Adel
Ordenspreußens, nämlich bei den Kulmerländern, entstand schon bald ein
oppositioneller „Bund der Eidechsen", der sich nach Polen orientierte. 1 0
Die Erschütterung des Ordensstaates als Folge der neuen Machtverhältnisse
in Ostmitteleuropa war evident, und der große Krieg von 1409 bis 1411, in
den ihn Litauen geschickt hineinsteuerte, führte 1410 bei Tannenberg zu
der bis dahin größten Niederlage der Ordensstreitmacht. 1 1 Trotz dem über-
raschend günstigen Friedensschluß in T h o r n 1411 und trotz der erfolgrei-
chen Abwehr der polnischen Forderungen nach einem Verbot des Heiden-
kampfes auf dem Konstanzer Konzil 1 2 standen die Zeichen der Zeit gegen
das Ancien Régime im Preußenland. Die Hochmeister konnten die Kriegs-
folgen nicht mehr ohne die wirtschaftliche Hilfe ihrer weltlichen Untertanen,
das heißt des Dienstadels und der Städte, beheben, weigerten sich aber,
dafür ständische Rechte in Gestalt von Herrschaftsbeteiligung einzuräumen.
Und wie die Stände in den Königstaaten Ostmitteleuropas die Dynastiekri-
sen in ihren Ländern zu nutzen verstanden, so wußten auch die Prälaten,
Ritter und Städte im Ordensland aus der Zwangslage ihrer Regierung
Vorteile zu ziehen. 1 3 Der politische Druck von unten auf den Orden als
Landesherrschaft hörte nicht mehr auf.

9 Oswald P. BACKUS, Die Rechtsstellung der litauischen Bojaren 1 3 8 7 - 1 5 0 6 , in:


J G O , N. F., Bd. 6 (1958), S. 1 - 3 2 ; Julius BARDACH, Krewo i Lublin. Ζ pro-
blemów unii polski-litewskiej, in: KH, Bd. 76 (1969), S. 5 8 3 - 6 1 9 .
10 Trotz allen berechtigten Einwänden der deutschen und der polnischen Kritik ist
noch immer lesenswert das Buch von Erich WEISE, Das Widerstandsrecht im
Ordenslande Preußen und das mittelalterliche Europa ( = VNdsAv, H. 6), Göt-
tingen 1955; von polnischer Seite s. Marian BARTKOWIAK, Towarzystwo Jasz-
czurcze w latach 1 3 9 7 - 1 4 3 7 (Die Eidechsengesellschaft, 1 3 9 7 - 1 4 3 7 ) ( = RTor,
Bd. 51/2), Torun 1948.
11 Stefan M. KUCZYNSKI, Wielka wojna Ζ Zakonem Krzyzackim w latach 1409 —
1411 (Der Große Krieg mit dem Deutschen Orden in den Jahren 1 4 0 9 - 1 4 1 1 )
( = PrKWh, R. A, Nr. 3), Warszawa 1966; Sven EKDAHL, Die Schlacht bei
Tannenberg 1410. Quellenkritische Untersuchungen. Bd. 1: Einführung und Quel-
lenlage ( = BHSt, Bd. 8), Berlin 1982.
12 Ludwik EHRLICH, Rektor Pawel Wtodkowicz, rzecznik obrony przeciw Krzyza-
kom (Der Rektor Paulus Vladimiri, ein Anwalt der Verteidigung gegen die
Kreuzritter) ( = Wydjub, Bd. 6), Krakow 1963; Stanislaus F. BELCH, Paulus Vla-
dimiri and His Doctrine Concerning Law and Politics, 2 Bde., London —The
Hague —Paris 1965; Hartmut BOOCKMANN, Johannes Falkenberg, der Deutsche
Orden und die polnische Politik. Untersuchungen zur politischen Theorie des
späten Mittelalters ( = VMPIG, Bd. 45), Göttingen 1975.
13 Ders., Zu den politischen Zielen des Deutschen Ordens in seiner Auseinander-
setzung mit den preußischen Ständen, in: J G M O D , Bd. 15 (1966), S. 57— 104;
ständepolitischen Erfolg bei den Friedensverhandlungen von Meldensee beleuch-
tet mit neuem Material die Dissertation von K. NEITMANN, Die Staatsverträge
des Deutschen Ordens... (1986) [98], hier S. 171 ff.; s. auch NEITMANNS Aufsatz:
Zur Revindikationspolitik des Deutschen Ordens nach Tannenberg. Die Ausein-
§ 3 Polen — Litauen und der Niedergang des Ordensstaates in Preußen 403

Immer deutlicher spürbar setzte sich also seit dem ersten Thorner Frieden
die Erfolgslinie polnischer Politik — mit ihrem Ziel der territorialen Revi-
sion an der Ostsee und mit der gleichsam selbstläufigen Ausstrahlung des
polnischen Verfassungsmodells in ganz Ostmitteleuropa - in der Ausein-
andersetzung mit Ordenspreußen durch. In dem preußischen Aufstand von
1454, dem Abfall der Stände Preußens von ihrem Landesherrn und der
Wahl König Kasimirs IV. von Polen zum neuen Oberhaupt, war das Ma-
ximum polnischer Vorstellungen erreicht. Sie konnten in diesem Umfang
nicht gehalten werden. Aber der adelsdemokratische Verfassungsgedanke,
bürgerliches Geld und polnische Kriegführung zwangen dem Ordensstaat
im zweiten Thorner Frieden 1466 eine umfassende territoriale Reduktion
und eine schon damals tiefwirkende Verfassungsänderung auf. 1 4 Die An-
passung des prä-absolutistischen Ausnahmestaates an die politische Kultur
Ostmitteleuropas war gelungen.
Zugleich war eine Epochenwende in den polnisch-ordenspreußischen
Beziehungen eingetreten. Sie fand ihren nach außen erkennbaren Ausdruck
in dem Übergang der Marienburg an Polen. Von 1309 bis zu den Friedens-
regelungen von 1466 war sie der Sitz der Hochmeister des Deutschen Ordens
gewesen, von nun an sollte sie bis zur ersten Teilung Polens, also fast
doppelt so lange, polnisches Königsschloß sein. 15 Das polnisch-litauisch-
preußische Jagiellonenreich aber näherte sich nach dem Sieg über den
Deutschen Orden seinem Goldenen Zeitalter; der von Wiederaufbaube-
dürfnissen absorbierte Reststaat des geistlichen Ritterordens geriet mehr
noch als vor 1466 in den Sog des mächtigen Nachbarn und vollendete unter
den fürstlichen Hochmeistern Friedrich von Sachsen (1498 — 1510) und

andersetzung zwischen dem Deutschen Orden und Polen — Litauen um die Ra-
tifizierung des Friedensvertrages vom Melno-See 1422/1423, in: JGO, N. F.,
Bd. 31 (1983), S. 5 0 - 8 0 ; Karol GÓRSKI, Die Anfänge der ständischen Vertretung
der Ritterschaft im Ordensland Preußen im 15. Jahrhundert, in: U. A R N O L D /
M. BISKUP (Hg.), Der Deutschordensstaat Preußen... (1982) [93], S. 2 1 8 - 2 3 6 .
14 Die umfangreiche polnische und deutsche Forschung wird übersichtlich referiert
bei Marian BISKUP, Die Erforschung des Deutschordensstaates Preußen. For-
schungsstand-Aufgabe-Ziele, in: a . a . O . , S. 1 - 3 5 , hier S. 18 — 20.
15 Der Symbolwert ist daher für die preußische wie für die polnische Geschichte
hoch zu veranschlagen, was die borussische Legende, die die Rekonstruktion im
19. Jahrhundert getragen hat, geflissentlich übersehen hat; vgl. Hartmut B O O C K -
MANN, Das ehemalige Deutschordensschloß Marienburg 1772 — 1945. Die Ge-
schichte eines politischen Denkmals, in: Ders. u. a. (Hg.), Geschichtswissenschaft
und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer For-
schung in Deutschland ( = V M P I G , Bd. 1), Göttingen 1972, S. 9 9 - 1 6 2 ;
S. EKDAHL, Denkmal und Geschichtsideologie... (1986) [172], S. 128 —155. -
Eine vergleichsweise kritische Analyse der zeitpolitischen Prämissen beim pol-
nischen Wiederaufbau der Marienburg nach dem Zweiten Weltkrieg wäre loh-
nend, vgl. dazu z. B. die methodisch analoge Fragestellung in der Untersuchung
von Jürgen VIETIG, Die polnischen Grunwaldfeiern der Jahre 1902 und 1910, in:
Wolfgang H. Fritze (Hg.), Germania Slavica, Bd. 2 ( = BHSt, Bd. 4), Berlin 1981,
S. 237 - 262.
404 § 3 Polen — Litauen und der Niedergang des Ordensstaates in Preußen

Albrecht von Brandenburg ( 1 5 1 1 - 1 5 2 5 ) seine „Verständischung" bis zur


Säkularisation mit Hilfe der Reformation. 1 6
Anders als Ordenspreußen hatte die Mark Brandenburg auf die Wand-
lungen reagiert, die sich schon mit der Wiedervereinigung der Piastenländer,
insbesondere aber seit 1386 jenseits ihrer östlichen Grenzen abspielten: Die
Tage der Territorialexpansion durch Kolonisation waren vorüber; ja, in
Mitteleuropa waren seit der Mitte des 14. Jahrhunderts die Gegenwirkungen
auf den Boom des 13. Jahrhunderts zu verspüren. Brandenburg aber war
von dieser „Krise des Spätmittelalters" weitaus stärker betroffen als Polen
und Litauen. 1 7 Daraus ergaben sich während der langen Regierungszeit
Wladyslaw Jagiellos (1385 - 1434) für Polen wichtige Wandlungen der bran-
denburgischen Politik. 1 8 Einerseits nämlich versetzte die Erbteilungs- und
Verpfändungspolitik des Hauses Luxemburg, die dem Deutschen Orden in
den Jahren 1402 bis 1455 den Pfandbesitz der Neumark ermöglichte, an-
dererseits der Herrschaftsantritt der Hohenzollern in der Mark die polnische
Diplomatie in Unruhe, und auch die Kalmarer Union der skandinavischen
Königreiche unter dem Pommernfürsten Erich erweckte Mißtrauen. 1 9 Es ist

16 Lothar DRALLE, Der Staat des Deutschen Ordens in Preußen nach dem II. Thorner
Frieden. Untersuchungen zur ökonomischen und ständischen Geschichte Alt-
preußens zwischen 1466 und 1497 ( = FrankfHAbh, Bd. 9), Wiesbaden 1975;
Marian BISKUP, Das Ende des Deutschen Ordensstaates Preußen im Jahre 1525,
in: Josef Fleckenstein/Manfred Hellmann (Hg.), Die geistlichen Ritterorden Eu-
ropas ( = V F , Bd. 26), Sigmaringen 1980, S. 403 —416; Ders., Polska a Zakon
Krzyzacki w Prusach w pocz^tkach XVI wieku. U zródeí sekularyzacji Prus
Krzyzackich (Polen und der Deutsche Orden in Preußen in den Anfängen des
16. Jahrhunderts), Olsztyn 1983.
17 Am ergiebigsten sind dafür die Arbeiten Benedykt ZIENTARAS, vor allem seine
Untersuchung Die Agrarkrise in der Uckermark im 14. Jahrhundert [poln. 1961],
in: Evamaria Engel/Benedykt Zientara (Hg.), Feudalstruktur, Lehnbürgertum
und Fernhandel im spätmittelalterlichen Brandenburg ( = AbhHdlSG, Bd. 7),
Weimar 1967, S. 223 —396). Zu Zientaras weiteren einschlägigen Arbeiten s.
Klaus ZERNACK, Deutschlands Osten — Polens Westen. Zum Lebenswerk des
polnischen Mediävisten Benedykt Zientara (1928-1983), in: J G M O D , Bd. 33
(1984), S. 9 2 - 1 1 1 .
18 Einen Grundriß gab schon 1896 S. SMOLKA, Polska i Brandenburgia... (1896)
[106],
19 Zenon NOWAK, Polityka pólnocna Zygmunta Luksemburskiego do roku 1411
(Die Nordpolitik Sigismunds von Luxemburg bis 1411) ( = RTor, Bd. 69/1), Torun
1964; s. auch NOWAKS o., Anm. 8, genannte Studien. — Die Neumark-Verpfän-
dung an den Deutschen Orden und ihre Auswirkungen auf die polnische Politik
behandeln: Wiktor FENRYCH, Pròba nabycia Nowej Marchii przez Polskç w roku
1402 (w swietle dokumentu Sçdziwoja ζ Szubina i towarzyszy ζ dn. 14 lutego t.
r.) (Der Versuch zur Erwerbung der Neumark durch Polen 1402), in: ZNUPH,
Bd. 3 (1958), S. 69—117; Ders., Zabiegi Polski o nabycie Nowej Marchii w latach
1402 — 1411 (Polens Bemühungen um die Erwerbung der Neumark 1402—1411),
in: Antoni Horst u. a. (Hg.), Opuscula Casimiro Tymieniecki Septuagenario
dedicata, Poznan 1959, S. 3 7 - 5 8 . Zur Pommern-Politik Benedykt ZIENTARA,
Bydgoszcz, Naklo i hold w Pyzdrach. Ksiçstwo Slupskie a Polska w latach 1386 —
I. Polen, Lehnspreußen und die fränkische Linie (1525 — 1618) 405

noch immer schwer zu entscheiden, welche Seite das größere Interesse in


die dynastischen Beziehungen investierte, die die beiden neuen Herrscher-
geschlechter Polens und Brandenburgs erstmals 1421 aufnahmen. 20 Die
polnische Forschung hat sie meist sehr skeptisch kommentiert, ebenso wie
die Bündnispolitik, die König Kasimir IV. mit Brandenburg angeknüpft hat.
Gegen diese wird die Polenpolitik des schlesischen Piasten Johanns II. von
Sagan als die Leistung eines letzten westpolitischen Traditionshüters im
Kampf gegen Brandenburg 1476/77 ausgespielt. Nur dem diplomatischen
Geschick Johanns war es danach zu danken, daß schließlich nach dreijäh-
rigen Verhandlungen die Brandenburger sich mit Krossen und Züllichau
begnügen mußten. Diplomatische Hilfe kam dem Schlesier indes nicht von
der Krone Polen, die, im Bündnis mit Brandenburg stehend, für eine
Rückgewinnung schlesischer Gebietsteile kein Interesse mehr zeigte. 21 Die
deutsch-polnische Grenze war stabil geworden.

§ 4 Polen — Lehnspreußen — Haus


Hohenzollern (1525-1701)
I. Polen, Lehnspreußen und die fränkische Linie
(1525-1618)

Die Säkularisierung der geistlichen Anstalt des Deutschen Ordens in Preußen


und die Huldigung des letzten Hochmeisters als weltlicher Lehnsherzog der
Krone Polen im Jahre 1525 begründeten eine spezifische Ebene der Ko-
operation der fränkischen Linie der Hohenzollern mit dem mächtigen

1412 (Bromberg, Nakel und die Huldigung in Peisern. Das Fürstentum Stolp und
Polen in den Jahren 1388 - 1 4 1 2 ) , in: ZH, Bd. 34 (1969), S. 7 - 4 8 , mit Korrekturen
an Wiktor FENRYCH, Zwi^zki Pomorza Zachodniego ζ Polsk^ w latach 1370 —
1412 (Verbindungen Pommerns mit Polen 1370-1412) ( = BiblSlu, Bd. 10), Poz-
nan 1963; ferner Henryk LESIÑSKI, Udzial wojsk polskich w wojnach Pomorza
Zachodniego ζ Brandenburgia w latach 1419 —1427 (Die Teilnahme polnischer
Truppen an den Kriegen Pommerns mit Brandenburg 1413 —1427), in: ZH, Bd. 27
(1962), S. 5 2 3 - 5 3 9 .
20 Stanislaw GAWÇDA, Pròba osadzenia Fryderyka Hohenzollerna na ironie polskim
a sprawa pomorska (Der Versuch, Friedrich von Hohenzollern auf den polnischen
Thron zu bringen, und die pommersche Frage), in: Mediaevalia. W 50 rocznicç
pracy naukowej Jana D^browskiego, Warszawa 1960, S. 177 — 205; doch eröffnen
die Anregungen S. SMOLKAS (Polska i Brandenburgia... (1896) [106] und Jacob
CAROS (Geschichte Polens, Bd. 3 [1386 - 1 4 3 0 ] [ = G E S t , L f g . 35/1], G o t h a 1869),
noch ein weites Arbeitsfeld; allgemein s. E. MALECZYÑSKA, Spoleczenstwo pols-
kie... (1947) [103] (Die polnische Gesellschaft in der ersten Hälfte des 15. Jh.
und die Westprobleme. Studien zur dynastischen Politik der Jagiellonen).
21 Hieronim SzczEGÓtA, Koniec panowania piastowskiego nad srodkow^ Odr$
(Das Ende der plastischen Herrschaft an der mittleren Oder), Poznan 1968.
406 § 4 Polen - Lehnspreußen - Haus Hohenzollern (1525 - 1 7 0 1 )

Königs-Großfürstenhaus in Krakau. Diese Lösung der „preußischen Frage"


läßt deutlich werden, worauf die wachsende Dominanz des Jagiellonen-
Reichs in der östlichen Hälfte Europas beruhte: auf der geradezu univer-
sellen Assimilationskraft des adelsstaatlichen Verfassungsmodells. Nicht
also die dynastischen Anknüpfungen, die beide Hohenzollernlinien mit dem
Jagiellonenhaus eingegangen waren, 1 zeitigten politische Konsequenzen für
das polnisch-preußische Verhältnis, sondern die Anziehungskraft der reichs-
staatlichen Föderation der Adelsrepublik. 2 Gewiß war die polnische Politik
mit Recht besorgt, daß die Lösung von 1525 dereinst einen hohenzollern-
schen Gesamtstaatsgedanken würde wecken können. Die Lehnsgabe war
deshalb ausschließlich für die fränkische Linie bestimmt, und nach deren
Aussterben sollte das Herzogtum Preußen an die Krone Polen „heimfallen".
Es ging dabei durchaus nicht in erster Linie um eine dynastische Absicherung
für das Jagiellonenhaus, sondern um die kunstvolle Ermöglichung einer im
Verband der jagiellonischen Föderation gesicherten Selbständigkeit Preußens
zwischen Polen und Brandenburg. Die Vielstaatlichkeit im Ostseeküsten-
bereich sollte als Sicherung dienen. Zunächst war diese polnische Konzep-
tion, die die vollständige Umwandlung des alten Ordenslandes in einen
strukturell assimilierten Bestandteil des Commonwealth, dem viele Völker
und Konfessionen angehörten, vorsah, wirklich ein tragfähiger Grund der
preußischen Geschichte nach dem Ende des Ordensstaates. 3 Politik und
Gesellschaft in Preußen hatten sich ja schon in der Zeit nach dem zweiten
Thorner Frieden stark „verständischt" und damit auch einen beträchtlichen
Anteil an der Metamorphose des Regimes zum weltlichen Herzogtum
gehabt. Sie formten nun im Verband des ostmitteleuropäischen Ständereichs
der Jagiellonen den geschlossenen Landesstaat Preußen aus, der angesichts
des geringen Gewichts des städtischen Faktors bald den Charakter einer
Adelsrepublik annahm. 4 Für diese war es denn auch keineswegs anstößig,
die äußeren Organisationsformen der Ordensverwaltung im großen und
ganzen zu übernehmen.
Das herzogliche Preußen hat die erheblichen politischen Anstrengungen
seines polnischen Nachbarn beim Zustandekommen der preußischen Lö-
sung von 1525 vergolten durch zwei kulturelle Leistungen, die für die weitere
Gestaltung der preußisch-polnischen Beziehungen von großer Bedeutung

1 Siehe die genealogische Tafel am Ende des Beitrages.


2 S. D O L E Z E L , D a s p o l n i s c h - p r e u ß i s c h e L e h n s v e r h ä l t n i s . . . ( 1 9 6 7 ) [ 1 0 9 ] ; J . MALLEK,
Prusy Ksi^zçce a Prusy Królewskie... (1976) [114].
3 Vor allem jetzt Janusz MALLEK, Das Herzogtum Preußen, Polen und das Reich
zur Zeit Herzog Albrechts von Brandenburg - Ansbach ( 1 5 2 5 - 1 5 6 8 ) , in: Udo
Arnold (Hg.), Horneck, Königsberg und Mergentheim. Zu Quellen und Ereig-
nissen in Preußen und im Reich vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Lüneburg
1980, S. 3 3 - 5 1 .
4 Abgesehen von den drei Städten Königsberg (Königsberg, Löbenicht und Kneip-
hof) lagen die größeren Handelsstädte in Preußen königlichen Anteils; zu Kö-
nigsberg s. Fritz GAUSE, Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, 3
Bde. ( = OmeVG, Bd. 10), K ö l n - G r a z [Bd. 2 - 3 : K ö l n - W i e n ] 1 9 6 5 - 1 9 7 1 .
I. Polen, Lehnspreußen und die fränkische Linie (1525 - 1618) 407

waren, nämlich die Einrichtung der Universität Königsberg und die kon-
sequente Weiterführung des Landesausbaus in der preußischen Wildnis, der
schon in der Ordenszeit begonnen hatte.
Die Universitätsgründung von 1544 gab dem Protestantismus in ganz
Ostmittel- und Nordosteuropa ein Z e n t r u m von hohem Rang; denn nicht
nur die preußische Reformation selbst, auch die pommerellischen, polnisch-
litauischen und livländischen reformatorischen Gruppen fanden hier ihren
geistigen H a l t . 5 Vor allem bezeugt der Druck der Reformationsliteratur in
praktisch allen Sprachen des Jagiellonenreichs die große Bedeutung der
preußischen Universitätsstadt. Für das Litauische und das Prußische waren
die Übersetzungen von Luthers Katechismus die ersten gedruckten Bücher.
Der Landesausbau in der Wildnis mit Hilfe von Siedlern aus Masowien
hat vor allem die ethnodemographischen Wandlungen in Preußen um eine
wichtige Komponente bereichert. 6 Neben dem deutschen N e u s t a m m der
Preußen festigte sich hier in den südlichen Teilen des Herzogtums das
polnischsprachige masurische Bevölkerungselement, dessen politisch-kul-
turelles Preußen-Bewußtsein seit der Reformation die sprachliche Sonder-
stellung überdeckte. (Das galt naturgemäß nicht für das Gebiet des Fürst-
bistums Ermland, das seit 1466 zum Preußen königlichen Anteils gehörte.)
Somit hat das 16. Jahrhundert in Preußen den ethnodemographischen
N e u s t a m m der Preußen in einen — größeren — politisch-territorialen
erweitert.

5 Dan[iel] Heinr[ich] ARNOLDT, Ausführliche, und mit Urkunden versehene Histo-


rie der Königsbergischen Universität, 4 Bde., Königsberg 1746 — 1769; Max TOP-
PEN, Die Gründung der Universität zu Königsberg und das Leben ihres ersten
Rectors Georg Sabinus, Königsberg 1844; Paul TSCHACKERT (Hg.), Urkundenbuch
zur Reformationsgeschichte des Herzogthums Preußen, Bd. 3 ( = PPrStA, Bd. 45),
Leipzig 1890. Von polnischer Seite Wladyslaw CHOJNACKI, Bibliografia polskich
druków ewangelickich Ziem Zachodnich i Pólnocnych 1530 — 1939 (Bibliographie
der polnischen evangelischen Drucke in den West- und Nordgebieten 1530 —
1939), Warszawa 1966; Wiktor WEINTRAUB, Udzial Prus Ksi^zçcych w reformacji
polskiej (Der Anteil des herzoglichen Preußen an der polnischen Reformation),
in: RefPol, Bd. 6 (1934), S. 38 - 63; Stanislaw SALMONOWICZ, Preußen Königlichen
Anteils und das Herzogtum Preußen als Gebiet der Begegnung zweier Kulturen
vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Schlesien und Pommern in den deutsch-polni-
schen Beziehungen vom 16. bis 18. Jahrhundert. 14. deutsch-polnische Schul-
buchkonferenz der Historiker 1981 ( = SchrrGEI, Bd. 22/5), Braunschweig 1982,
S. 66 — 86; Janusz MALLER, Einwirkung der polnischen Kultur auf das Herzogtum
Preußen im 16. Jahrhundert. Das polnische protestantische Schrifttum im Herz-
ogtum Preußen zur Zeit Herzog Albrechts, in: J G M O D , Bd. 37 (1988), S. 4 6 - 5 8 ,
hier S. 51—53; siehe auch den Sammelband von Arbeiten J. MALIERS, Dwie
czesci Prus... (1987) [113] (Die zwei Teile Preußens. Studien zur Geschichte des
herzoglichen und des königlichen Preußen im 16. und 17. Jahrhundert).
6 Gute Einblicke bietet: Hans MORTENSEN u.a. (Hg.), Historisch-geographischer
Atlas des Preußenlandes. Darin: Die Bevölkerung im Herzogtum Preußen 1540,
in: Lfg. 5, Wiesbaden 1978. Lfg. 8: Die Besiedlung der Großen Wildnis (bis 1618),
Wiesbaden 1982.
408 § 4 Polen - Lehnspreußen - Haus Hohenzollern ( 1525 - 1 7 0 1 )

Die Zuwanderer haben wie eh und je in der Beteiligung am Landesausbau


die bessere Rechtsstellung gesucht. Dennoch begann auch in Preußen mit
der definitiven Festigung der politischen Position der Stände jener im
16. —18. Jahrhundert für ganz Ostmitteleuropa charakteristische soziale
Deklassierungsprozeß des Bauerntums. In Preußen war er doppelt wirksam,
weil er durch die rasche Einbeziehung weiter Teile der freien deutschen
Zinsbauern und der preußischen Freien nun auch die letzte Phase der großen
ethnischen Verschmelzung zum deutschen Preußenstamm begleitete. Ent-
scheidend für die soziale Homogenisierung des Bauernstandes war dessen
unständische Qualität in politischer Hinsicht, das heißt sein Ausschluß von
der Beteiligung an dem politischen Leben des Landes. Vorausgegangen war
eine starke Zunahme des Großgrundbesitzes in der Schlußphase des
15. Jahrhunderts als Folge der Krise des Spätmittelalters. Damit verstärkte
sich auch die grund- und gerichtsherrliche Bindung der bäuerlichen Hinter-
sassen des Adels, der von seiner gefestigten politischen Stellung aus nun
den systematischen Ausbau seiner wirtschaftlichen Positionen durch die
Konzentration der Herrschaftsrechte in Gutsherrschaft und Gutswirtschaft
in Angriff nehmen konnte. Schon 1577 war in Preußen die Schollenbindung
der bäuerlichen Hintersassen so gut wie abgeschlossen. Dem Vorgehen der
privaten Grundherren entsprach die Bauernpolitik des Landesherrn durch-
aus, auch wenn die ungemessenen Scharwerksdienste auf dem herzoglichen
Land für die Amtsbauern rechtlich als öffentliche Dienste firmierten. In
Wirklichkeit führten sie auch die Staatsbauern in die soziale und wirt-
schaftliche Mediatisierung. Nirgendwo zeigt sich die geschichtliche Einheit
Ostmitteleuropas deutlicher als in diesem, hier und da phasenverschobenen,
sozialen Gleichschaltungsvorgang auf dem Lande. 7
Im Windschatten seines mächtigen Lehnsherrn stand das kleine Landes-
fürstentum Preußen aber auch in den großen mächtepolitischen Entschei-
dungen um die Baltische Frage in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.
Darin vor allem lagen die Voraussetzungen für die dynastische Kombina-
torik des kurbrandenburgischen Hauses, die am Anfang des 17. Jahrhun-
derts zu folgenreichen Machtverschiebungen in der preußischen Frage füh-
ren sollte. Denn im Blick auf das europäische Staatensystem eröffnete die
Baltische Krise des 16. Jahrhunderts ein „Zeitalter der nordischen Kriege", 8

7 Auf der Grundlage der modernen Forschung argumentiert Peter KRIEDTE, Spät-
feudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsge-
schichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1980, S. 39 ff.,
201 f. - S. auch Hans ROSENBERG, Die Ausprägung der Junkerherrschaft in
Brandenburg — Preußen 1410 — 1618, in: Ders., Machteliten und Wirtschaftskon-
junkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
( = KrStGw, Bd. 31), Göttingen 1978, S. 24 - 82; ältere Gesichtspunkte bei Gustav
AUBIN, Zur Geschichte der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse in Ostpreußen
von der Gründung des Ordensstaates bis zur Steinschen Reform, Leipzig 1910.
8 K. ZERNACK, Das Zeitalter der nordischen Kriege... (1974) [122]; noch immer
grundlegend Walther KIRCHNER, The Rise of the Baltic Question ( = UDelMS,
Bd. 3), Delaware 1954.
I. Polen, Lehnspreußen und die fränkische Linie (1525 — 1618) 409

in welchem das Adelsreich Polen, nach dem Ausgang der Jagiellonendynastie


(1572), seine Vormachtposition im östlichen Europa schrittweise einbüßte.
Der Anstoß zu dieser staatengeschichtlichen Epochenwende ging von der
östlichen Flügelmacht des europäischen Systems, dem Zartum Moskau, aus:
Als Zar Ivan IV. 1558 mit lange und sorgsam vorbereiteten Ansprüchen auf
sein livländisches „Vatererbe", die nichts anderes waren als Vorwände für
konkrete strategische und handelspolitische Ziele an der Ostseeküste, in
das politisch zerrüttete Livland einfiel, entfesselte er einen 25jährigen Kon-
flikt der Ostseemächte.9 Der imperialpolitische Expansionsstoß Moskaus,
der in gewissem Umfang schon petrinische Züge trug, 10 rief in Schweden,
Dänemark und Polen Gegenstrategien auf den Plan, die je für sich das
Dominium maris Baltici im Auge hatten. 11 In dem ersten nordischen Krieg
konnten Schweden und Polen — zunächst noch gemeinsam und auch mit
Unterstützung des Herzogtums Preußen - bis 1582 noch einmal die Mos-
kauer Macht zurückdrängen und für anderthalb Jahrhundert von der Ostsee
fernhalten.
Es war genau die Zeitspanne, die das Haus Hohenzollern brauchte, um
unter den solchermaßen veränderten Konjunkturen des Staatensystems in
der dynastischen Vereinigung der Mark Brandenburg mit dem Herzogtum
Preußen den Grund für ein neues Preußen und dessen eigene, bedeutsame
Rolle an der Seite des neuen Rußland zu legen. Somit liegen in der Baltischen
Krise des 16. Jahrhunderts wichtige Voraussetzungen für den Wandel der
preußisch-polnischen Beziehungen beschlossen. Dabei war zunächst noch
eine andere Möglichkeit im Spiel, nämlich dann, wenn die dynastische
Vereinigung der brandenburgischen Hohenzollern mit dem Jagiellonen-
Haus Bestand gehabt hätte. Aber der Prinz Sigismund, der aus der Ehe des
Kurfürsten Joachim II. mit der Tochter König Sigismunds des Alten von
Polen hervorgegangen war und programmatisch den Namen seines polni-
schen Großvaters erhalten hatte, starb bereits 1566. Im Hinblick auf seine
jagiellonische Thronanwartschaft war ihm und dem kurbrandenburgischen
Haus 1563 von König Sigismund August die Zulassung zur Lehnsnachfolge
im Herzogtum Preußen konzediert worden, womit die Beschränkung der

9 Norbert ANGERMANN, Studien zur Livlandpolitik Ivan Groznyjs ( = MOstf,


Bd. 32), Marburg 1972; Erik TIBERG, Kritische Bemerkungen zu einigen Quellen
über den Anfang des livländischen Krieges 1558, in: Z f O , 25. Jg. (1976),
S. 4 6 2 - 4 7 5 ; Ders., Die Politik Moskaus gegenüber Alt-Livland 1 5 5 0 - 1 5 5 8 , in:
A . a . O . , S. 577 —617; Ders., Z u r Vorgeschichte des Livländischen Krieges. Die
Beziehungen zwischen Moskau und Litauen 1549 - 1 5 6 2 ( = StHUps, Bd. 134),
Stockholm 1984.
10 Sven SVENSSON, Den merkantila bakgrunden tili Rysslands anfall pá den liv-
ländska ordensstaten 1558. En Studie tili den ryska imperialismens uppkomsthi-
storia ( = SkrVLund, Bd. 35), Lund 1951.
11 Umfassend: Erich DONNERT, Der livländische Ordensritterstaat und Rußland.
Der Livländische Krieg und die baltische Frage in der europäischen Politik 1558 —
1583, Berlin 1963. Der polnische Aspekt bei K.-D. STAEMMLER, Preußen und
Livland... (1953) [120],
410 § 4 Polen - Lehnspreußen - Haus Hohenzollern (1525 - 1 7 0 1 )

preußischen Lehnsnahme auf die Ansbachische Linie der Hohenzollern, die


der Vertrag von 1525 vorgesehen hatte, durchbrochen war. 1 2
Was sich im Falle der Thronfolge Prinz Sigismunds in Polen — Litauen
innerhalb der vereinigten Dynastien abgespielt hätte, verkehrte sich nach
dem frühen Tode Sigismunds in das Gegenteil der Prämissen von 1525.
Anstatt der Beschränkung des Lehens Preußen auf die fränkische Linie des
Hauses Hohenzollern gewann die kurbrandenburgische Erbfolge im Her-
zogtum Preußen eine feste juristische Grundlage. Freilich, als 1569 der
Lubliner Reichstag beim Herrscherwechsel im Herzogtum Preußen dem
Kurfürsten Joachim II. und seinen Erben die Mitbelehnung erteilte, sah dies
eher nach einer geschickten Ausnutzung der Einflußmöglichkeiten des pol-
nischen Lehnsherrn in Preußen aus. Das kam besonders in der polnischen
Steuerung adelsrepublikanischer Tendenzen bei den preußischen Ständen
zum Ausdruck. Schon Herzog Albrecht war in den letzten zwei Jahren
seines Lebens faktisch ausgeschaltet gewesen, und die Stände hatten adels-
demokratisch regiert. 13
Der Dualismus und das Spannungsverhältnis zwischen Landesherrschaft
und Ständen schien aber fast gänzlich beseitigt, als nach dem Tode Albrechts
für dessen regierungsunfähigen Sohn Albrecht Friedrich (1568 —1618) die
hochadligen Oberräte, also die eigentlichen Zentralbeamten, die aber gleich-
zeitig Angehörige der obersten Ständekurie waren, die Regierung führten. 14
Wieder zeigte sich - wie schon in der Situation nach dem zweiten Thorner
Frieden — wie stark das Vorbild des polnischen Adels wirkte; daneben
kamen aber nun auch die pommerellischen Verhältnisse anregend ins Blick-
feld. Der Bekenntnisgegensatz zwischen den beiden Preußen, den die Ge-
genreformation von ihren Zentren im Ermland und dem 1565 in Braunsberg
gegründeten Jesuitenkolleg nachdrücklich förderte, hat die adelsdemokra-
tische Interessensolidarität nicht beeinträchtigt, was charakteristisch ist für

12 S. DOLEZEL/H. DOLEZEL (Hg.), Die Staats vertrage... (1971) [50], S. 73 ff.; Paul
KARGE, Kurbrandenburg und Polen. Die polnische Nachfolge und preußische
Mitbelehnung 1 5 4 8 - 1 5 6 3 , in: FBPG, Bd. 11 (1898), S. 1 0 3 - 1 7 3 ; Karl KLETKE,
Die Unterhandlungen des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg wegen der
Erbhuldigung der preußischen Stände, in: Z p r G L k , Bd. 16 (1879), S. 33 —113;
von polnischer Seite die ältere Untersuchung von Ferdynand BOSTEL, Przeniesienie
lenna pruskiego na elektorów brandenburskich (Die Übertragung des preußischen
Lehens auf die brandenburgischen Kurfürsten), in: P N L , 9. Jg. (1883),
S. 5 5 7 - 5 7 2 , 7 5 6 - 7 6 2 , 8 2 6 - 8 6 0 , hier S. 5 6 5 ff., sowie A. VETULANI, Polskie
wplywy polityczne... (1939) [121].
13 Lubliner Belehnungsurkunde, in: S. DOLEZEL/H. DOLEZEL (Hg.), Die Staatsver-
träge... (1971) [50], S. 77 ff.; S. DOLEZEL, Das polnisch-preußische Lehnsverhält-
nis... (1967) [109], S. 165 ff.
14 M a x TOEPPEN, Beitrag zur Geschichte Preußens unter der Regierung der Herzöge.
Die preußischen Landtage zunächst vor und nach dem Tode des Herzogs Al-
brecht, Hohenstein 1855 (Programm Hohenstein Progymn. 1855); Wieslaw Li-
TEWSKI, Zwierzchnictwo s^dowe króla polskiego w Prusach Ksi^zçcych w latach
1569 —1657 (Die Gerichtshoheit des polnischen Königs im Herzogtum Preußen
in den Jahren 1569 bis 1657), in: ROI, Bd. 3 (1960), S. 2 1 - 4 4 .
I. Polen, Lehnspreußen und die fränkische Linie (1525 - 1 6 1 8 ) 411

die toleranzstiftende Wirkung des reformatorischen Jahrhunderts im ja-


giellonischen Reichsverband. 15 Doch das ständedemokratische Räteregime
wurde 1577 durch den Ansbacher Markgrafen Georg Friedrich, der vom
polnischen König als Regent mit der Vormundschaft für den debilen Herzog
betraut wurde, wieder eingedämmt. Georg Friedrich vermochte indes das
außerordentlich gute Verhältnis zu dem polnischen Lehnsherrn zu wahren.
Gleichzeitig aber förderte dieser letzte männliche Sproß des fränkischen
Hohenzollernhauses die dynastischen Interessen seiner mitbelehnten Ver-
wandten in der Kurmark. Der Geraer Hausvertrag von 1598 krönte diese
Politik; er war freilich eine rein innerdynastische Absprache, die ohne
Befragen des Lehnsherrn zustandegekommen ist. 1 6
Nicht nur in Polen, sondern auch im Reich regten sich indessen seit den
achtziger Jahren Befürchtungen, daß eine brandenburgische Erbfolge in
Preußen zu gefährlichen Machtverschiebungen in Ostmitteleuropa führen
würde. Die Habsburger versuchten deshalb, die polnische Königswahl von
1586/87 zur Gegensteuerung auszunutzen. Die Kandidatur des bereits de-
signierten Deutschmeisters, Erzherzog Maximilian, zielte auf die Möglich-
keit, über die polnische Krone den eventuellen Machtanstieg des Hauses
Hohenzollern aufzuwiegen. Das war vergeblich, denn die Wahl fiel 1587
auf Sigismund Vasa, den Sohn Johanns III. von Schweden und der Katharina
Jagiellonica. 17 Anstatt ein Gegengewicht gegen Brandenburg zu schaffen,
beschwor dieses Wahlergebnis den großen Konflikt des katholischen Wahl-
königs von Polen mit seinem protestantischen Mutterland herauf. 18 Diese
Situation war für das Herzogtum Preußen nicht ungünstig, es wurde dank
seiner Lage zum Zünglein an der Waage in dem polnisch-schwedischen
Spannungsfeld. Für Polen war das besorgniserregend eben für den Fall, daß
sich die strategische Lage Preußens mit der militärischen Schlagkraft und
außenpolitischen Handlungsfreiheit Kurbrandenburgs paarten. Aber noch
konnten sich Sigismund III. und der Reichstag der Republik darauf verlas-
sen, daß auch den preußischen Ständen eine zu enge Verbindung mit dem
dynastisch erbberechtigten Haus Brandenburg nicht erwünscht war; und
Polen hat seinerseits nach dem Tod des Regentenherzogs von seiner Position
als Lehnsoberherr aus die Erbfolge für die Brandenburger so unattraktiv

15 Gottfried SCHRAMM, Der polnische Adel und die Reformation 1 5 4 8 - 1 6 0 7


( = VIEG, Bd. 36), Wiesbaden 1965; Janusz TAZBIR, Geschichte der polnischen
Toleranz, Warschau 1977.
16 Grundlegend sind dafür die Arbeiten von J . PETERSOHN, Markgraf Georg Fried-
rich von Brandenburg... (1961) [116]; Ders., Fürstenmacht und Ständetum...
(1963) [115].
17 Helge ALMQUIST, Den politiska krisen och konungavalet i Polen àr 1587
( = GötebHÄrskr, Bd. 2 0 / 2 ) , Göteborg 1916.
18 J. Α. PÄRNÄNEN, Sigismond Vasa et la succession au trône de Suède 1 5 9 2 - 1 5 9 4 .
D'après la correspondance diplomatique de nonce apostolique Germanico M a -
laspina, Genève 1912; Kazimierz LEPSZY, T h e Union of Crowns between Poland
and Sweden in 1587, in: Poland at the X l t h International Congress of Historical
Sciences in Stockholm, Warszawa 1960, S. 155 —178.
412 § 4 Polen —Lehnspreußen —Haus Hohenzollern (1525 —1701)

wie möglich zu machen versucht. So erklärt sich die hohe Forderung von
3 0 0 . 0 0 0 Gulden in bar, die Brandenburg an den polnischen König für die
Belehnung mit der Regentschaft und Vormundschaft (da ja der geisteskranke
Herzog noch lebte) zahlen sollte. Sie wurden in langwierigen Verhandlungen
schließlich zur Grundlage der brandenburgischen Regentschaftsnachfolge,
die Kurfürst J o a c h i m Friedrich 1605 nach dem Tode Georg Friedrichs von
Ansbach (1603) antreten k o n n t e . 1 9 Die Stände Preußens haben sich zu
behaupten gewußt und eine Stärkung der Stellung des Landesherrn, wie sie
unter Georg Friedrich versucht worden war, nicht zugelassen. A m Verfas-
sungszustand des Herzogtums änderte sich durch den dynastischen Wechsel
also vorerst nichts.
Auch Kurfürst Johann Sigismund hatte - nach dem Tod J o a c h i m Fried-
richs (1608) — sowohl beim Lehnsherrn als auch bei den Ständen Preußens
große Widerstände zu überwinden, ehe seinem dynastischen Rechtsanspruch
Genüge geschah. Erst 1611 hat er, nachdem ihm 1609 die Regentschaft und
Vormundschaft in Preußen übertragen worden war, die Belehnung mit dem
Herzogtum für den Todesfall seines Schwiegervaters, Herzog Albrecht
Friedrich, erhalten. In dieser Situation haben die lutherischen Stände Preu-
ßens dem landfremden kalvinistischen Kurfürsten gegenüber das konfessio-
nelle M o m e n t sehr wohl politisch ausgespielt. 2 0 Ähnliche Schwierigkeiten
gab es aber auch in den brandenburgischen Stammlanden, w o sich die
Stände gegen die Defensionssteuern bloß „fremder Lande halber, davon die
Untertanen der M a r k wenig F r o m m e n hoffen" zur Wehr setzten. N u r der

19 S. DOLEZEL/H. DOLEZEL (Hg.), Die Staatsverträge... (1971) [50], S. 99££.; dazu


ausführlich Adam STRZELECKI, Sejm ζ r. 1605 (Der Reichstag von 1605), Krakow
1921, S. 155 ff.; Ders., Opinia polska wobec sprawy przeniesienia kurateli Prus
Ksi^zçcych na elektorów brandenburskich (Die polnische Meinung gegenüber
der Vormundschaftsübertragung an Preußen), in: Pamiçtnik V Powszechnego
Zjazdu Historyków Polskich w Warszawie, Bd. 2, Lwów 1931, S. 201—206;
ferner Franciszek MINCER, Kilka uwag o nadaniu kurateli pruskiej w roku 1605
(Einige Bemerkungen zur Übertragung der Vormundschaft in Preußen 1605), in:
KMW, 1963, S. 3 — 27; Ders., Objçcie rzadów w ksiçstwie Pruskim przez elektora
Joachima Fryderyka (marzec-wrzesien 1605) (Die Regierungsübernahme durch
den Kurfürsten Joachim Friedrich im Herzogtum Preußen (März — September
1605), in: KMW, 1964, S. 1 2 9 - 1 4 9 ; Ders., Opinia polska wobec kewstii pruskiej
w latach 1603 —1609 (Die polnische Meinung gegenüber der preußischen Frage
in den Jahren 1 6 0 3 - 1 6 0 9 ) , in: H, Bd. 3 (1960), S. 4 9 - 7 7 .
20 S. DOLEZEL/H. DOLEZEL (Hg.), Die Staatsverträge... (1971) [50], S. 113 ff.; dazu
F. BOSTEL, Przeniesienie lenna pruskiego... (1883) [s. o. Anm. 12]; [August]
KOLBERG, Die Lehensverträge zwischen Polen und Brandenburg von 1605 und
1611 und die darin den Katholiken des Herzogthums Preußen gewährten Reli-
gionsrechte, in: ZGAE, Bd. 9 (1891), S. 1 1 1 - 1 7 3 , hier S. 136 ff. Paul STETTINER,
Verhandlungen über Kuratel und Succession des Kurfürsten Johann Sigismund
in Warschau im Jahre 1609, in: SbPr, 1891, S. 157 — 169; Adam VETULANI, Program
szlachty Prus Ksi^zçcych na sejmie warszawskim r. 1609 (Das Programm des
Adels im Herzogtum Preußen auf dem Warschauer Reichstag 1609), Wroclaw
1953.
II. Polen und Brandenburg - Preußen 1 6 1 8 - 1 7 0 1 413

Tatkraft und Beliebtheit der lutherischen Gemahlin, Anna von Preußen,


verdankte Johann Sigismund schließlich noch das Ansehen und den Bestand
seiner Regierung. Bevor er 1619 starb, ermöglichte der Tod des schwach-
sinnigen Preußenherzogs Albrecht Friedrich 1618 die Umwandlung der
brandenburgischen Regentschaft in die Personalunion Brandenburgs mit
Preußen unter dem Brandenburgischen Hohenzollernhaus. 21

II. Polen und Brandenburg — Preußen 1618 — 1701


Obwohl Preußen auch unter der neuen Hohenzollern-Linie ein Lehen der
Krone Polen blieb, begann aus polnischer Blickrichtung mit der Lehnsnahme
des brandenburgischen Hauses im Herzogtum die Geschichte „Branden-
burg—Preußens". Das gilt nicht nur im innerdynastischen, sondern auch
und vor allem im machtgeschichtlichen Sinne. Für das Mächtesystem im
Nordosten war die Erbfolge des Kurhauses im Herzogtum von mindestèns
ebenso großem Gewicht, wie der Konfessionswechsel des Kurfürsten Johann
Sigismund von 1613 für die innere Geschichte des Territorialstaates. Denn
das Scheitern der ursprünglichen Konzeption, das Lehen Preußen nach dem
Ausgang der fränkischen Hohenzollern an die Krone Polens zurückzuholen,
war nicht allein auf den Ehrgeiz der kurbrandenburgischen Dynastie zu-
rückzuführen. Vielmehr hatte diese die Durchsetzung ihrer Hausinteressen
einer ungewöhnlich günstigen internationalen Lage zu verdanken. Die Steu-
erungskraft, mit der das jagiellonische Polen 1525 den alten Ordensstaat in
das nordosteuropäische Mächtesystem einzufügen vermocht hatte, war da-
hin, und Polen war als Ostseemacht immer tiefer in die Schwierigkeiten
seiner säkularen Rivalität mit Schweden hineingeraten. So war Entlastung
in der preußischen Frage dringend nötig. Dieser Trend setzte sich nach 1618
fort.
Die kontinentalen Auseinandersetzungen und der schwedisch-polnische
Konflikt um Livland zogen seit 1621 gleichermaßen die hohenzollernschen
Territorien in Mitleidenschaft. Infolge der polnischen Lehnsoberhoheit war
Preußen besonders bedroht, und im Kampf um die Weichselmündung war
das unmittelbar benachbarte pommerellisch-preußische Gebiet seit 1626
schwedisches Expansionsziel. 22 Als solches tauchte es bis in die zweite
Jahrhunderthälfte immer wieder in den Arrondierungsplänen der nordischen
Großmacht auf. Auch für das benachbarte Herzogtum war das nicht un-
gefährlich. So hatte der Gedanke der Herauslösung des bedrohten Preußen-
landes aus dem polnischen Lehnsverband durchaus seine außenpolitische
Rationalität. Gleichzeitig aber griff im Hohenzollernhaus das Bemühen um

21 Gute Interpretationen der Bedeutung des Jahres 1618 im deutsch-polnischen


Beziehungsaspekt bei Gerd HEINRICH, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie,
Frankfurt/M. -Berlin - W i e n 1981, S. 7 4 - 7 6 .
22 Klaus-Richard BÖHME, Die schwedische Besetzung des Weichseldeltas 1626 —
1636 ( = BeihJbUK, Bd. 22), Würzburg 1963; Axel NORBERG, Polen i svensk
Politik 1 6 1 7 - 1 6 2 6 ( = StockhStH, Bd. 19), Stockholm 1974.
414 § 4 Polen - Lehnspreußen - Haus Hohenzollern (1525 - 1701)

die Machtsicherung im Innern immer stärker durch, die innere fürstliche


Souveränität gleichsam als eine Voraussetzung außenpolitischer Handlungs-
freiheit begreifend.
Darin lag die kontinentale Zeittendenz, und kontinental-mitteleuropä-
isch, zugleich reichsfürstlich war die hohenzollernsche Politik seit den
Erwerbungen im Westen am Jahrhundertanfang noch tiefer verwurzelt; die
alte ostmitteleuropäische Blickrichtung war nicht mehr die allein bestim-
mende. Auch in den Schwierigkeiten, die bei der Lösung der Pommernfrage
auftraten, zeigte sich die beträchtliche Komplizierung der brandenburgi-
schen Lage in mächtepolitischer Hinsicht: Durch den Dreißigjährigen Krieg
war Schweden zur Kontinentalmacht aufgestiegen und behinderte nun die
Realisierung des brandenburgischen Erbfalls in Pommern beim Aussterben
des Greifenhauses 1637. Erst nach dem Friedensschluß 1648 konnte Bran-
denburg mit Hinterpommern den unbedeutenderen Teil gewinnen, während
Schweden in der wichtigen Odermündung mit Stettin und Vorpommern
einen Brückenkopf auf dem Kontinent gewann. 23
Nicht zuletzt also die Gefährdungen des Preußenlandes in den großen
Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts zwischen Schweden, Polen und
Rußland haben — neben den Positionskämpfen im Reich — die macht-
staatliche Selbstbehauptung in das Zentrum hohenzollernscher Politik ge-
rückt. Für den Kurfürsten Friedrich Wilhelm, den politischen Schüler der
großen oranischen Militärreformer, ging es in erster Linie um den Aufbau
des Gesamtstaates. Wenn dieser überhaupt zu verwirklichen war, so vor-
derhand nur durch die Überwindung des regionalistischen Faktors der
Stände im Innern, das heißt durch die Verfassungsrevolution von oben. Das
aber bedeutete den radikalen Ausbruch aus dem ostmitteleuropäischen
Traditionshorizont politischer Kultur, in dem zumindest der preußische
Landesstaat, aber auch die Ständepolitik Brandenburgs beheimatet waren. 2 4

23 Den polnischen Beziehungsaspekt der brandenburgischen Politik zwischen 1618


und 1648 behandeln eingehend R . SEEBERG-ELVERFELDT, Die preußischen
Stände... (1936) [119] sowie W. CZAPLINSKI, Polska a Prusy i Brandenburgia...
(1947) [108]. S. auch M a x HEIN, Johann von Hoverbeck. Ein Diplomatenleben
aus der Zeit des Großen Kurfürsten, Königsberg i. Pr. 1925, sowie H. KEMPAS,
Seeverkehr und Pfundzoll... (1964) [112]. - Z u r P o m m e m f r a g e siehe zuletzt
Peter BAUMGART, Schlesien und Pommern in der Politik des brandenburgisch-
preußischen Staates, in: Schlesien und P o m m e r n . . . (1982) [s. o. Anm. 5],
S. 1 1 - 3 0 , hier S. 12 — 17; Zygmunt SZULTKA, Stosunek spoleczenstwa Pomorza
Zachodniego do pomorskich praw sukcesyjnych Brandenburgii w latach 1627 -
1 6 4 8 / 1 6 5 3 (Das Verhältnis der Gesellschaft Pommerns zu den pommerschen
Sukzessionsrechten Brandenburgs in den Jahren 1627 - 1648/1653), in: Z H , Bd. 53
(1988), S. 2 1 9 - 2 4 2 , Bd. 5 4 (1989), S. 2 7 - 5 3 .
24 Dieser Aspekt, vor allem von Francis L. CARSTEN, Die Entstehung Preußens
[engl. 1954], Köln —Berlin 1968, betont, verdiente in der deutschen Forschung
heute stärkere Beachtung; s. zuletzt Udo ARNOLD, Das Ständewesen im Her-
zoglichen Preußen und im Königlichen Preußen - Ein Vergleich: Ständeherrschaft
und Ständekonflikte im Herzogtum Preußen, in: Peter Baumgart (Hg.), Ständetum
und Staatsbildung in Brandenburg — Preußen. Ergebnisse einer internationalen
Fachtagung ( = VHKzB, Bd. 55), Berlin 1983, S. 8 0 - 1 0 7 . Ältere Untersuchung:
H. RACHEL, Der Große Kurfürst... (1905) [118],
II. Polen und Brandenburg - Preußen 1 6 1 8 - 1 7 0 1 415

Indessen stand Kurfürst Friedrich Wilhelm für das Herzogtum Preußen


noch in der Lehnsbindung an den Hort ständischer Libertät, die Republik
Polen.
Die äußerste Konsequenz, mit der Friedrich Wilhelm von Brandenburg
sein Fürstentum dem absoluten Machtanspruch unterwarf, brachte große
Friktionen sowohl im Innern, im Ständekampf, als auch im außenpolitischen
Ansehen hervor. Noch lange über die Begründung des preußischen König-
tums hinaus hat sich im östlichen Preußen wie in den westlichen Landen
die Abneigung nicht nur der Aristokratie in Stadt und Land, sondern der
ständischen Gesellschaft überhaupt gegen den gesetzten Einheitsstaat ge-
halten, 25 und nach außen blieb dem Kurfürsten weder im zweiten nordischen
Krieg noch in den europäischen Hegemonialkämpfen der 70er und 80er
Jahre der Vorwurf der duplicité erspart. Es war in der Tat der außenpoli-
tische Opportunismus großen Stils, den die Kombinationen der Großmächte
den kleineren Potentaten aufzwangen. Ein Ergebnis hochgradigen „Wech-
selfiebers" war gewiß auch der Gewinn der Souveränität in Preußen. Fried-
rich Wilhelm sicherte sie sich 1656 in Labiau von Schweden, 1657 in Wehlau
von Polen, das heißt durch den entschlossenen Wechsel vom Partner Schwe-
dens, das anfangs mit Teilungsplänen in Polen lockte, zum Bundesgenossen
der fast vernichteten Republik, als die Schweden 1657 das Kriegsglück
verließ. 26 Wiederum versuchte sich Polen — wie 1611 — vor Weiterungen
zu sichern, indem es die Souveränität lediglich dem Haus Hohenzollern
konzedierte und den Heimfall für den Fall des Aussterbens vorsah. Die
Stände Preußens mußten daher weiterhin ein homagium eventuale gegen-
über polnischen Kommissaren leisten. Sie haben sich — da sie das Lehns-
band zur Krone Polen verloren hatten — dieser Verpflichtung lieber gebeugt
als dem brandenburgischen Absolutismus, dem sie sich lange erbittert
widersetzten. 27
Aber auch in dieser Einschränkung wies die preußische Souveränität über
die Zeit hinaus. Sie reihte erstens das Haus Hohenzollern ein in die Inter-

25 Ludwig TÜMPEL, Die Entstehung des brandenburgisch-preußischen Einheitsstaa-


tes im Zeitalter des Absolutismus ( 1 6 0 9 - 1 8 0 6 ) ( = UdStRG, H . 124), Breslau
1915 (ND Aalen 1965); J ö r g JACOBY, Boguslaus Radziwill, Der Statthalter des
Großen Kurfürsten in Ostpreußen ( = W B t r O m e , Nr. 40), M a r b u r g / L a h n M960.
26 Aufschlußreich Albert Graf von SCHLIPPENBACH (Hg.), Zur Geschichte der H o -
henzollerischen Souveränität in Preußen. Diplomatischer Briefwechsel des Königs
Karl Gustav von Schweden und des Gesandten Grafen Ch. Κ. von Schlippenbach
aus den Kriegsjahren 1 6 5 4 - 1 6 5 7 , Berlin 1906; S. DOLEZEL/H. DOLEZEL (Hg.),
Die Staatsverträge... (1971) [50], S. 182ff. (mit deutscher und polnischer Lit.).
Z u m osteuropäischen Kontext s. Klaus ZERNACK, Die Expansion des Moskauer
Reichs nach Westen, Süden und Osten von 1648 bis 1689, in: Ders. (Hg.),
Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 2 / 1 , Stuttgart 1986, S. 1 2 3 - 1 5 2 , hier
S. 136 ff.
27 S. DOLEZEL/H. DOLEZEL (Hg.), Die Staatsverträge... (1971) [50], S. 2 1 2 f f . ;
J . JACOBY, Boguslaus Radziwill... ( 2 1960) [s. o. Anm. 25], S. 5 8 f f . ; K. PIWARSKI,
Hotdy pruskie... (1953/54) [117] (Die preußischen Huldigungen 1 5 2 5 - 1 7 4 0 ) ,
hier S. 162 ff.
416 § 4 Polen - Lehnspreußen - Haus Hohenzollern (1525 - 1701)

essenten an der Entmachtung und Entgliederung des alten Adels-Common-


wealth und sie eröffnete zweitens dem Kurfürstenhaus die Chance, von der
Basis einer reichsfreien Souveränität aus die eigene Rangerhöhung zu be-
treiben und damit die Geltung im Reich aufzubessern. Damit aber war der
Weg zur Königskrone und Großmachtstellung im Verband der Reichsstände
auf eine in die Zukunft weisende Möglichkeit festgelegt.
Doch unterschied sich diese in ihrem binnendynastisch-vaterländischen
Charakter grundlegend von den heiratspolitischen Kombinationen Habs-
burgs, aber auch von jenen der Kurfürsten Friedrich II. und Joachim II., ja
auch noch von denen des jungen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, der 1646
um die Hand der Königin Christine von Schweden angehalten hatte. (Dieses
Projekt stand noch in der Tradition der Glaubenskämpfe der ersten Jahr-
hunderthälfte und knüpfte an Gustav Adolf und seinen Gedanken eines
skandinavisch-deutschen, eines protestantischen Großreiches als Alternative
zum katholischen Süden an.) Nur noch einmal schien sich 1661 — als der
Kurfürst mit dem Gedanken spielte, sich auf den Wahlthron der Republik
Polen erheben zu lassen — jene alte Blickrichtung der brandenburgischen
Politik nach Ostmitteleuropa zu beleben. Friedrich Wilhelm hätte zu diesem
Zeitpunkt dafür sogar der Souveränität in Preußen wieder entsagt. 28 Aber
es kam nicht zu der Absetzung des regierenden polnischen Königs Johann
Kasimir, und der Kurfürst wandte sich nun der Niederkämpfung der „preu-
ßischen Freiheiten" zu. Als der harte Kampf um den dynastischen Gesamt-
staat zu Ende war, wollte er Preußen nicht mehr preisgeben: 1674 ließ er
den Gedanken an die Kandidatur des Kurprinzen Karl Emil für den polni-
schen Thron wieder fallen, als an die Wahl die Bedingung geknüpft wurde,
auf die Souveränität im Herzogtum zu verzichten. In der Polenpolitik galt
aber die Mahnung des Kurfürsten an seinen Nachfolger, stets um gute
Beziehungen zur polnischen Republik bemüht zu sein, „welche nimmer
aussterben thut", zugleich aber auf die Bewahrung ihrer außenpolitischen
Machtlosigkeit durch die Aufrechterhaltung der adelsdemokratischen Ver-
fassung zu achten. 2 9
Freilich, wenn sich der Kurstaat in Erfüllung der Voraussetzungen, die
Friedrich Wilhelm geschaffen hatte, gerade unter dem am wenigsten pro-
filierten der jüngeren Hohenzollern im Jahre 1701 aus der nichtabgeleiteten

28 Näheres bei Ernst OPGENOORTH, Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfürst von
Brandenburg. Eine politische Biographie, Bd. 2, Göttingen 1978, S. 11 f.; im
Interregnum von 1668 unterstützte der Kurfürst die Pfalz-Neuburger Kandidatur
( a . a . O . , S. 97ff.). Zur Polenpolitik des Großen Kurfürsten im einzelnen die
Studien von A. KAMINSKA, Brandenburg-Prussia and Poland... (1982) [110]; Dies.,
Miçdzy Polsk^ a Brandenburg^... (1966) [III],
29 A. KAMINSKA, Brandenburg-Prussia and Poland... (1982) [110], S. 153f.; Bogdan
WACHOWIAK, Also doch Republik Polen „welche nimmer aussterben thut". Zur
Interpretation einer Textstelle im Testament des Großen Kurfürsten von 1667,
in: JGMOD, Bd. 33 (1984), S. 1 1 2 - 1 2 0 .
I. Der große Nordische Krieg ( 1 7 0 0 - 1 7 2 1 ) 417

Souveränität im reichsfreien Preußen selbst zum Königtum erhob, 3 0 so


konnte die brandenburgisch-preußische Politik an der Jahrhundertwende
kaum vorausahnen, daß diesem Anspruch bald ohne Zutun des neuen
Königreiches die außenpolitische Erfüllung folgen sollte, indem das König-
tum Preußen - gleichsam automatisch — zur zweiten Macht im nordöst-
lichen Kontinent aufrückte. Den Ausschlag gab der Eintritt der östlichen
Flügelmacht Rußland in das Staatensystem, die nun mit zwingender Gewalt
das neue Preußen mit sich riß und das Haus Hohenzollern. erneut und tiefer
als zuvor in die ostmitteleuropäischen Probleme hineinzog.

§ 5 Die Adelsrepublik Polen im


„Niedergang" — DieHohenzollern-Monarchie
im Aufstieg 1701 - 1 7 6 3
I. Der große Nordische Krieg ( 1 7 0 0 - 1 7 2 1 )

Als Erbschaft der polnisch-preußischen Beziehungen der lehnspreußischen


Epoche (1525 - 1 6 5 7 ) muß - über das Scheitern der libertären Selbstbe-
hauptung der preußischen Stände gegen den brandenburgischen Absolutis-
mus hinaus - eine spezifische Nachwirkung dieses Konflikts in der Ge-
schichte des preußischen Königtums konstatiert werden. Denn im großen
Nordischen Krieg (1700 — 1721) ist der ursprünglich innere Gegensatz gänz-
lich nach außen gekehrt worden und als Konfrontation zweier politischer
Kulturen, der absolutistischen Hohenzollernmonarchie und der polnischen
Republik des freien Adels, zum bestimmenden Moment der preußisch-
polnischen Beziehungen im 18. Jahrhundert geworden. Die große Ausein-
andersetzung zwischen Schweden und Rußland um Livland (und damit um
die Vorherrschaft an der Ostsee) war nämlich zugleich der Konkurrenz-
kampf um die politische Infiltration und militärische Manövrierung der
Adelsrepublik, deren libertäres Machtverteilungssystem darüber gänzlich
der Instrumentalisierung von außen anheimfiel. 1

30 Die historiographische Resonanz auf das Ereignis der Königserhebung und die
Person des neuen Königs in der deutschen wie in der polnischen Forschung ist
erstaunlich schwach — vergleicht man sie mit der Beachtung, die August dem
Starken, Karl XII. und Peter dem Großen zuteil werden; wichtig aber noch immer
Theodor SCHIEDER, Die preußische Königskrönung von 1701 in der politischen
Ideengeschichte [1935], in: Ders., Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen
1962, S. 1 8 3 - 2 0 9 .
1 Das Buch E. HASSINGERS, Brandenburg-Preußen... (1953) [123], bietet - was
der Titel nicht vermuten läßt — die genaueste Analyse eben dieser Situation
Polens. Im übrigen folge ich in diesem Abschnitt meinen Darlegungen in dem
Beitrag Das preußische Königtum... (1982) [129].
418 § 5 Polen im „Niedergang" — Hohenzollern-Monarchie im Aufstieg

Das neue Königtum der Hohenzollern hat dabei abwartend und sorgfältig
beobachtend im Hintergrund gestanden, um zum geeigneten Zeitpunkt an
der Seite des siegreichen Rußland seine Interessen in der polnischen Frage
wahrnehmen zu können. Im ersten Jahrzehnt des Krieges, als Peters Rußland
in innerer und äußerer Bedrängnis am Rande des Zusammenbruchs stand,
war Polen in erster Linie von Schweden bedroht. Ein staatlicher Zusam-
menbruch Rußlands hätte die schwedische Ostseeherrschaft weit über Ost-
europa ausgedehnt und die Adelsrepublik zum Satelliten Karls XII. gemacht.
Auch Preußens Stellung wäre davon nicht unberührt geblieben. Nach der
Niederlage des Schwedenkönigs geriet die Republik unter den wachsenden
Druck Rußlands, das sich den inneren Konflikt inter majestatem ac liber-
tatem, das heißt zwischen den absolutistischen Reformbestrebungen des
Wahlkönigs August von Sachsen und dem Konservatismus des Adels, zu-
nutze machte, um die Rolle des Mittlers zu spielen, der in Wirklichkeit
„den beteiligten Parteien seinen Willen aufzwang". 2 In der „staatlichen
Souveränitätskrise" Polens (E. Rostworowski) verwischten sich die Grenzen
zwischen innerer und äußerer Politik. Die erste große und eigentümliche
Manifestation dieses Problems bot der Stumme Reichstag von Grodno
1716/17, auf welchem Peter der Große die militärische Kontrolle des aus-
gedehnten Staatsgebietes der Republik durch diese selbst zugesichert bekam.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Preußen seine abwartende Haltung der ersten
Kriegsphase bereits aufgegeben; seit dem Thronwechsel von 1713 war es
zu einer Annäherung an Rußland gekommen, bei der auch persönliche
Sympathien Friedrich Wilhelms für den Reformer-Zaren im Spiel gewesen
sein mögen. 1720 aber ging es, trotz beträchtlicher diplomatischer Risiken,
die in der Schlußphase des großen Krieges sich häuften, um den Anschluß
an Peters Polenpolitik, die Friedrich Wilhelm mit der Potsdamer Interessen-
Konvention vom 17. Februar 1720 zu unterstützen versprach. Diese erste
vertragliche Manifestation „negativer Polenpolitik" durch Preußen und
Rußland gehört zu den Ergebnissen des Nordischen Krieges.3 Von nun an
gewann die Ausnutzung der geopolitischen Zwischenlage Polens einen im-
mer festeren Platz in der Systematik der Großmächtepolitik.
Im Friedensvertrag von Nystad 1721 vermochte Peter der Große seinen
Interventionserfolg in Polen durch völkerrechtliche Regelungen abzusichern.
Sie ließen sich als Interventionsrecht Rußlands für den Fall verfassungsän-
dernder Reformen in Polen und in Schweden auslegen. Eben dafür hatte
Preußen 1720 seine Partnerschaft zugesichert. So war mit dem Ereignisablauf
des Nordischen Krieges, insbesondere den Entscheidungen seiner Schluß-

2 Andrzej KAMINSKI, Konfederacja sondomierska wobec Rosji w okresie poal-


transztadskim 1706 —1709 (Die Konföderation von Sandomir und Rußland nach
Altranstädt 1 7 0 6 - 1 7 0 9 ) ( = P r K N H , Nr. 23), Wroclaw 1969, S. 144.
3 Victor LOEWE, Preußens Staatsverträge aus der Regierungszeit König Friedrich
Wilhelms I. ( = PPrStA, Bd. 87), Leipzig 1913, S. 243 - 2 4 7 ; zur Einordnung der
Rußlandpolitik Friedrich Wilhelms I. s. Klaus ZERNACK, Der große Nordische
Krieg, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 2 / 1 , Stuttgart
1986, S. 2 4 6 - 2 9 6 , hier S. 2 8 0 ff.
II. Zwischen den Flügelmächten des Staatensystems 419

phase seit 1716, ein epochaler Umschlag in eine neue staatengeschichtliche


Wirklichkeit verknüpft. Der Aufbau der Dominanz Rußlands in der Ge-
schichte Ostmitteleuropas nahm von hier aus seinen Lauf.

II. Zwischen den Flügelmächten des Staatensystems

Peter des Großen Nachfolger wußten genau abzuschätzen, daß sich in der
Nachbarschaft des „veränderten Rußland" nicht allein Preußen, sondern
mehr noch Österreich dem mächtepolitischen Sog des neuen „Systems von
Nystad", in dem die polnische Frage und das Schleswig-Holstein-Problem
verbunden waren, nicht würden entziehen können. 4 In dem Kalkül, ob eine
von Frankreich gelenkte Barrière de l'Est oder ein russisch geführtes Bündnis
der drei „Schwarzen Adler" Ostmitteleuropa beherrschen würde, lag für
die von Rußland gesuchten Partner eine zwingende Herausforderung, nicht
zuletzt, wenn man auch die Ambitionen des Hauses Wettin in der Konkur-
renz um die Vormachtansprüche im Deutschen Reich in Rechnung stellt.
So wurden Preußen und Österreich in die polnische Frage durch Rußland
und durch Sachsen doppelt engagiert. Jedenfalls diente die Übereinkunft
der Adler-Mächte im Jahre 1732 der Aufrechterhaltung der im Nordischen
Krieg erwiesenen Handlungsunfähigkeit Polens: Man wollte die Wahl eines
von Frankreich unterstützten Kandidaten für den polnischen Thron verhin-
dern, aber auch dem Haus Wettin den Weg zu einem erneuten polnischen
Königtum verlegen. Wie fest dieser Interessenverbund gefügt war, geht aus
dem Ablauf des polnischen Interregnums nach dem Tode Augusts des Star-
ken hervor: Als sich Petersburg und Wien überraschend auf dessen Sohn
Friedrich August einigten, sah sich Preußen um sein polenpolitisches Ziel,
nämlich die Auflösung der sächsisch-polnischen Union geprellt und trat von
dem Bündnis zurück. 5 Dennoch verhielt es sich zunächst wohlwollend
neutral, und später - als aus der Thronfolgekrise der Thronfolgekrieg
geworden war — drängte es sogar auf Kriegsbeteiligung im Reich.
Das russische Konzept der Umschichtung und Reduzierung des östlichen
Mächtesystems auf die Herrschaft der Adler-Trias — zur Ausschaltung
jeder französischen Barrière-Politik — war also erfolgreich auf der Grund-

4 Grundlegend Hans BAGGER, Ruslands alliancepolitik efter freden i Nystad. En


stüdie i det slesvigske restitutionssporsmál indtil 1732 ( = KobSlSt, Bd. 4),
Kobenhavn 1974.
5 Mit der Kündigung des sog. Löwenwoldeschen Traktats (vom 13.XII.1732) gab
das Haus Hohenzollern auch seinen darin ausgehandelten Anspruch auf die
Nachfolge in Kurland preis, die dann zugunsten von Ernst Johann Biron, dem
Günstling der Kaiserin Anna Ivanovna, entschieden wurde, s. Michael G. MÜL-
LER, Das „Petrinische E r b e " . Russische Großmachtpolitik bis 1762, in: Klaus
Zernack (Hg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 2 / 1 , Stuttgart 1986,
S. 423 - 4 4 4 , hier S . 4 2 3 f .
420 § 5 Polen im „Niedergang" - Hohenzollern-Monarchie im Aufstieg

läge der Steuerung der polnischen Frage. 6 Freilich komplizierten sich die
Probleme der Dreierkoalition, weil das Konzept russischer Westpolitik, das
auf Teilungsvermeidung zugunsten eines intakten und weitreichenden rus-
sischen Vorfelds beruhte, bei den Partnern des Allianzsystems auf die Dauer
nicht vollkommen durchzusetzen war. Dem hegemonial gemeinten Vorfeld-
konzept trat im Verlauf des 18. Jahrhunderts ein - diesem gegenüber —
obstruktiver Gedanke von „Interessenkompensation" (auch als Mittel der
Eindämmung Rußlands, die Preußen und Österreich offenbar für möglich
gehalten haben) gegenüber. Dabei bildete der an sich alte Teilungsgedanke
einen Anknüpfungspunkt für eine denkbare Alternative zum russischen
Vorfeld: ein systeme copartageant, bereitgehalten für den Krisenfall im
eigenen Allianzsystem. Aber nicht nur bei den Ostmächten, auch im poli-
tischen Ideenhorizont des übrigen Europa war der fundamentale Wandel
nach 1717—1721 reflektiert worden. Es wurde — anders als nach der
großen Regelung von 1648 - jetzt ein Politikverständnis sichtbar, das auf
der Unterscheidung von Großmächten und ihren „Interessensphären" auf-
baute. 7
Nachdem sich die Erwartungen Rußlands, daß Preußen zwangsläufig der
Gravitation des russisch-österreichischen Bündnisses folgen werde, in vollem
Umfang erfüllt und die Dreierkoalition 1733 die erste Krise überstanden
hatte, war das System „negativer Polenpolitik" der Ostmächte vorerst
etabliert. Wenn es trotzdem noch einmal in die Krise geriet, so beweist das,
daß die „polnische Frage" noch nicht — wie fünfzig Jahre später — gänzlich
der Steuerung durch die drei Nachbarmächte anheimgefallen war. Eben von
der polnischen Thronfolgekrise der Jahre nach 1732, die ja Frankreichs
Pläne in Ostmitteleuropa — gruppiert um die Durchsetzung Stanislaw
Leszczynskis als polnischen Wahlkönig — zu Fall gebracht hatte, ist ein
starker Impuls zur forcierten Reaktivierung der französischen Barrière de
l'Est-Diplomatie ausgegangen. Der Kampf um die polnische Krone fand
seine Fortsetzung in der Konkurrenz der beiden kontinentalen Flügelmächte
und ihrer Systementwürfe für das östliche Mitteleuropa: Französische Bar-
rière (die Schweden, Polen und das Osmanische Reich umfaßte) oder
russisches Vorfeld (beruhend auf der „Nystader" Verfassungskontrolle in

6 Maßgebend sind heute dazu die Arbeiten des polnischen Historikers E. RoST-
WOROWSKI, O polsk? k o r o n ç . . . (1958) [127]; Ders., Polska w ukladzie sil poli-
tycznych Europy XVIII wieku (Polen im System der politischen Kräfte Europas
im 18. Jahrhundert), in: Polska w epoce oswiecenia, Warszawa 1971, S. 1 1 — 5 9 .
7 Dies ist die andere — zerstörerische — Seite in der Wirkung des neuen Systems
der Großmächte, das sich in den Kriegen des Jahrhundertanfangs konstituiert
hat. Eine genaue Untersuchung der Geschichte dieser Spaltung Europas im
18. Jahrhundert steht noch aus, während die vorgeblich „aufbauende" und „ra-
tionale" Komponente der Kabinetts- und Interessenpolitik immer wieder Beach-
tung und Zuspruch findet, s. zuletzt Johannes KUNISCH, Staatsverfassung und
Mächtepolitik. Z u r Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus
( = HF, Bd. 15), Berlin 1979. Grundsätzlich in der anderen Argumentationsrich-
tung Günter BARUDIO, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung
1 6 4 8 - 1 7 7 9 ( = FiWeG, Bd. 25), Frankfurt/M. 1981.
II. Zwischen den Flügelmächten des Staatensystems 421

Schweden und Polen), das war seit 1733 die Frage. Das polnische Vorfeld
sah man in Rußland mit der Durchsetzung des wettinischen
Wahlkönigs Augusts III., der für die russische Unterstützung eine Verfas-
sungsgarantie abgegeben hatte, zusätzlich gesichert, und die Stellung gegen-
über dem Osmanischen Reich glaubte man in dem Bündnis mit Österreich
hinreichend gefestigt zu haben. Hier aber — gegenüber der Pforte — mußten
die Kaisermächte - jede auf ihre Art - 1739 empfindlich zurückstecken. 8
Im Zeichen der Belebung französischer Barriere-Aktivitäten, vor allem in
Schweden, trat der junge Preußen-König Friedrich II. in dem turbulenten
Jahr 1740 seine Regierung an. Durch das Bedürfnis, den Spielraum für das
eigene Staatsinteresse — in dem eben in Bewegung gekommenen europä-
ischen System nach 1740 — auszunützen, ist das übergeordnete und von
größeren Machtpotentialen getragene russische Interesse tangiert worden.
Man kann sagen: Preußen ist in der Verfolgung seiner Aufstiegschancen im
Reich an die Seite Frankreichs geraten und damit — sichtbar in dem Griff
nach Schlesien — in den Augen Rußlands ungewollt zum verlängerten Arm
der französischen Barrière geworden. So wuchs ein Konflikt mit eigentlich
verkehrten Fronten heran.
In Rußland sah man nicht allein die aktuelle Bedrohung des Vorfelds
durch Frankreichs diplomatischen Einfluß in Schweden, der ja auch über
temporäre Einbußen hinweg, die aus der Niederlage Schwedens gegen
Rußland von 1743 folgten, erhalten blieb. 9 Auch in bezug auf Polen witterte
man Gefahren: man sah dort das Anwachsen einer profranzösischen Partei
und befürchtete verfassungsändernde Auswirkungen der polnischen Re-
formbestrebungen. Abgesehen von Rußlands Besorgnis war aber eine Bar-
rière-Politik, die Spielräume eigenständiger Politik in Polen eröffnet hätte,
auch für Preußen keineswegs wünschbar, vor allem deshalb nicht, weil in
einem innerlich gestärkten Sachsen-Polen wiederum eine Basis für die säch-
sischen Großmachtambitionen im Reich entstanden wäre, die Preußen bis
in den Anfang der vierziger Jahre zu fürchten gehabt hatte. 1 0 So führte die
russisch-österreichische Bündnispolitik mit ihrem Ziel, das abtrünnige Preu-
ßen sich wieder so gefügig zu machen, wie es 1732 gewesen war, beim
Ausbruch des Siebenjährigen Krieges mit der überraschenden Einbeziehung

8 Dabei ist vor allem die vermittelnde Wirkung der französischen Diplomatie zu
beachten, s. Moritz Edler von ANGELI, Der Krieg mit der Pforte 1737 - 1 7 3 9 ,
Wien 1881, sowie Georgij Aleksandrovic NEKRASOV, Rol' Rossii Ν evropejskoj
mezdunarodnoj politike 1735 —1739 gg. (Rußlands Rolle in der europäischen
internationalen Politik 1735 - 1 7 3 9 ) , Moskva 1976.
* Joh[ann] Rich[ard] DANIELSON, Die nordische Frage 1 7 4 5 - 1 7 5 1 . Mit einer
Darstellung der russisch-schwedisch-finnischen Beziehungen 1740 - 1 7 4 3 , Hel-
singfors 1888. Eine Untersuchung der preußischen Politik gegenüber Nordeuropa
in den vierziger Jahren wird in Kürze Matti Männikkö in Helsinki vorlegen.
10 Beziehungsgeschichtliche Aufarbeitung der deutschen, polnischen und russischen

Forschungsergebnisse jetzt bei M. G. MÜLLER, Polen zwischen Preußen und


Rußland... (1983) [125]. Von polnischer Seite ist soeben die erste umfassende
Biographie August III. von Sachsen-Polen vorgelegt worden: J. STA-
SZEWSKI, A u g u s t III S a s ( 1 9 8 9 ) [128],
422 § 5 Polen im „Niedergang" — Hohenzollern-Monarchie im Aufstieg

Frankreichs im renversement des alliances von 1756 zu einer gewissermaßen


unnatürlichen Koalition.
Das bedeutet, daß der Krieg gegen Preußen, den Rußland aus Barrière-
Furcht gesucht hatte, nun unter völlig geänderten Prämissen stattfand. Denn
erneut verkehrten sich — wie 1740 — die Fronten, als Frankreichs Beitritt
zum Bündnis von Versailles die Bedrohung des russischen Vorfeldes ent-
schärfte und damit die unmittelbare Notwendigkeit der russischen Anti-
barrière hinfällig machte. Jedenfalls brauchte der Krieg gegen Preußen, von
Rußlands Seite nicht mehr im Sinne der eigentlichen Kriegsgründe geführt
zu werden,11 da die befürchtete preußisch-französische Barrierepotenz vor-
erst diplomatisch aufgelöst war. Der Konflikt auf dem Kontinent reduzierte
sich sowohl mächtepolitisch als auch strategisch nun in der Tat zum dritten
schlesischen Krieg. Sein Ergebnis lag in einem doppelten Status-quo-Effekt,
nicht in einer Umwälzung des Staatensystems: nämlich in dem Verbleib
Schlesiens bei Preußen und in der rußlandpolitischen Lehre, die Friedrich
aus dem Krieg zog. Sie lautete, daß Preußen als Großmacht zweiten Ranges
auf das Bündnis mit Rußland unter allen Umständen angewiesen sei.12 Die
osteuropäische Lage von 1732 war so, ohne daß eine Gebietsreduktion
Preußens auf den „état primitif" — Rußlands ursprüngliches Ziel — hatte
stattfinden müssen, wiederhergestellt.
Damit waren aber auch Polens Hoffnungen, daß der Krieg eine Auf-
sprengung der preußisch-russischen Umklammerung hätte bewirken kön-
nen, begraben. Der junge Graf Stanislaw August Poniatowski hatte sich
während des Krieges um die Auslotung der antipreußischen Anknü-
pfungsmöglichkeiten in Petersburg bekümmern sollen. Diese Mission
mußte angesichts der mächtepolitischen Vorgegebenheiten scheitern.13 So
ist denn das vielberufene „Mirakel des Hauses Brandenburg" aus der
historischen Wechselwirkung mit dem „Debakel der Republik Polen"
nicht herauszulösen. Der mächtepolitische Grundsatz der „negativen Po-
lenpolitik" im Sinne von Nystad ist durch die Episode, die der Sieben-
jährige Krieg und seine lange Vorgeschichte in dieser Perspektive darstel-
len, nicht beeinträchtigt worden.

11 Michael G. MÜLLER, Rußland und der Siebenjährige Krieg. Beitrag zu einer


Kontroverse, in: J G O , N . F., Bd. 28 (1980), S. 1 9 8 - 2 1 9 .
12 Wolfgang STRIBRNY, Die Rußlandpolitik Friedrichs des Großen 1 7 6 4 - 1 7 6 8
( = BeihJbUK, Bd. 26), Würzburg 1966, S. 12ff., der allerdings die Jahre 1 7 6 2 / 6 3
unberücksichtigt läßt, die für die Begründung dieser Politik von größter Bedeu-
tung waren. Im folgenden lehne ich meinen Gedankengang an meine Studien an,
die ich in den Aufsätzen über Stanislaus August Poniatowski (wie § 6, Anm. 5)
sowie über Negative Polenpolitik... (1974) [145] vorgelegt habe.
13 Näheres bei Jörg K. HOENSCH, Znaczenie stronnictw politycznych dia reformy
Rzeczypospolitej Szlacheckiej przed pierwszym rozbiorem Polski (Die Bedeutung
der politischen Parteien für die Reform der Adelsrepublik vor der ersten Teilung
Polens), in: StHSG, Bd. 7 (1978), S. 4 3 - 5 9 , Bd. 8 (1979), S. 5 1 - 6 3 , Bd. 9 (1980),
S. 5 5 - 7 4 , Bd. 10 (1981), S. 3 1 - 5 0 , hier Bd. 8, S. 5 7 f f .
I. Der Weg in die erste Teilung (1763 —1772) 423

§ 6 Das Zeitalter der Teilungen Polens


I. Der Weg in die erste Teilung (1763 —1772)

Beim Eintritt des Interregnums in Polen nach dem Tode Augusts III. im
Jahre 1763 herrschte wieder Einvernehmen zwischen Berlin und Petersburg,
und unter russisch-preußischen Pressionen ist Stanislaw August Poniatowski
auf dem Wahl-Reichstag von 1764 zum letzten König der Adelsrepublik
gewählt worden. 1
Die Lehre, die Friedrich aus dem Kriege gezogen hatte, war das Ruß-
landbündnis um jeden Preis. Das erklärt den Eifer, mit dem Friedrich der
anfangs zögernden Katharina das preußisch-russische Bündnis vom Frühjahr
1764 förmlich abrang. Im Hinblick auf Polen bestimmte ein geheimer
Zusatzartikel die „Aufrechterhaltung der Anarchie". 2 Für Rußland ging es
um die Wiederaufnahme petrinischer Traditionen als Grundlage für ein
erweitertes Vorfeldsystem, dem sich Friedrich als ein allianzbedürftiger,
aber mißtrauischer, nicht leicht berechenbarer Partner anbot.
Den Preußenkönig kümmerte es wenig, was Polen als die Basis des
preußischen Einvernehmens mit Rußland aufs Spiel zu setzen hatte. Insge-
heim hat Friedrich viel über Katharinas despotisches Vorgehen in der
Adelsrepublik geklagt, und er hat auch gesehen, daß er Rußland durch sein
Wohlverhalten zu nur noch rigoroserem Vorgehen verlockte. Er glaubte
dies aber dem Sicherheitsbedürfnis seines verwüsteten Landes schuldig zu
sein und gefiel sich im Kokettieren mit dem Gedanken der eigenen Macht-
losigkeit. 3 Es ist dabei wirklich schwer auszumachen, ob bei Friedrich -
trotz aller Tradition des Gedankens einer Landbrücke nach Preußen — ein
aktuelles Teilungskalkül im Spiel war. Das ist auch eine ziemlich neben-
sächliche Frage, wenn man im Einklang mit dem außenpolitischen Vorstel-
lungshorizont der Zeit voraussetzt, daß kein Machtstaat im System der
Großen Mächte die Möglichkeit einer territorialen Arrondierung, das heißt
einer im Staatsinteresse sinnvollen Gebietserwerbung, ungenutzt gelassen

1 Ausführliche Untersuchungen von Richard ROEPPEL, Das Interregnum. Wahl und


Krönung von Stanislaw August Poniatowski, Posen 1892; Simon ASKENAZY, Die
letzte polnische Königswahl, Göttingen 1894 (Phil. Diss. Göttingen 1894).
2 Text bei F. MARTENS, Sobranie traktatov i konvencij zakljucennymi Rossiej Ζ
inostrannymi gosudarstvami (Recueil des Traités et Conventions conclus par la
Russie avec les puissances étrangères), Bd. 1, St. Petersburg 1874 (ND Nendeln/
Liechtenstein 1969), S. 64ff.; Vorgeschichte bei Karl ELIAS, Die preußisch-russi-
schen Beziehungen von der Thronbesteigung Peters III. bis zum Abschluß des
preußisch-russischen Bündnisses vom 11. April 1764, Göttingen 1900 (Phil. Diss.
Göttingen 1900).
3 Die Hintergründe von Friedrichs Polenpolitik analysiert J. K. HOENSCH, Der
Streit um den polnischen Generalzoll 1764 —1766. Zur Rolle Preußens und
Rußlands beim Scheitern der Finanzreform Stanislaw Augusts, in: JGO, N. F.,
Bd. 18 ( 1 9 7 0 ) , S. 3 5 5 - 3 8 8 .
424 § 6 Das Zeitalter der Teilungen Polens

hätte. Es kam Friedrich nach 1763 in der Tat einzig auf die Risikolosigkeit
der Expansion an. 4
Alle Anstrengungen König Stanislaw Augusts und seiner Ratgeber, den
außenpolitischen Teufelskreis, der aus der Situation des preußisch-russischen
Bündnisses von 1764 auf verschlungene Weise und unerwartet zum ersten
Gebietsabtretungsvertrag von 1772/1773 führte, zu durchbrechen, waren ver-
gebens. Über dem Scheitern des letzten Königs von Polen wird jedoch seine
staatsmännische Leistung für die Modernisierung einer altständischen Re-
publik ohne absolutistische Gewaltmittel in der außerpolnischen Geschichts-
schreibung kaum registriert. Im wesentlichen unausgeschöpft ist als ein Pa-
radigma der preußisch-polnischen Beziehungen auch der historisch reizvolle
Kontrast zwischen dem traditionalistischen Reformer Stanislaw August und
dem aufgeklärten Despoten Friedrich. 5 In ihrer Gegenüberstellung wird der
schon von Rousseau auf den philosophischen Begriff gebrachte Gegensatz der
politischen Kultur Polens zu der universalen Despotie in Europa sinnfällig. 6
Diese war als preußisch-russischer Druck auf die Adelsrepublik in der Tat
allgegenwärtig und hat so auf ihre Weise die Energien der politischen Reform
als einzige Überlebenschance Polens angefacht. Nach dem furchtbaren Bür-
gerkrieg der Barer Konföderation, der 1768 aus dem unauflöslichen Junktim
von Intervention und polnischer Verfassung entstand 7 und in die erste Teilung
führte, brachen sie machtvoll hervor.

II. Polnische Reformpolitik und die Konstanz des


Teilungsgedankens (1772 — 1795)
Die Schockwirkung der ersten Teilung ging in Polen rasch in eine Aufbruch-
stimmung eigener Art über: Forcierte Reformarbeit trat in den Vordergrund.
Es entsprach genau den erzieherisch-aufklärerischen Intentionen des Königs,

4 Zur Tradition des Teilungsgedankens im Hinblick auf die Landbrücke von


Brandenburg nach Preußen s. M. G. MÜLLER, Die Teilungen Polens... (1984)
[137], S. 25 f.
5 Die Gestalt des letzten polnischen Königs bleibt daher bei der Rezeption der
bedeutenden Herrscherfiguren des 18. Jahrhunderts im europäischen Geschichts-
bild noch immer weiterhin unberücksichtigt. Zu der komplizierten Forschungs-
geschichte vgl. Klaus ZERNACK, Stanislaus August Poniatowski. Probleme einer
politischen Biographie, in: JGO, N. F., Bd. 15 (1967), S. 3 7 1 - 3 9 2 ; A. ZAHORSKI,
Spór o Stahislawa Augusta (Der Streit um Stanislaw August), Warszawa 1990.
6 Jean-Jacques ROUSSEAU, Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur
sa réformation projettée, in: Ders., Oeuvres complètes, Bd. 3, Paris 1964,
S. 951 - 1 0 4 1 .
7 Noch immer grundlegend: Wladyslaw KONOPCZYNSKI, Konfederacja Barska (Die
Konföderation von Bar), 2 Bde., Warszawa .1936/38; Jerzy MICHALSKI, Schylek
konfederacji Barskiej (Das Ende der Konföderation von Bar), Wroclaw — Wars-
zawa—Krakow 1970; Ders., Dyplomacja polska w latach 1764 — 1795 (Die pol-
nische Diplomatie in den Jahren 1764 — 1795), in: Historia dyplomacji polskiej,
Bd. 2, Warszawa 1982, S. 4 8 3 - 7 0 5 , hier S. 518 ff.
II. Polnische Reformpolitik und die Konstanz des Teilungsgedankens 425

wenn nun die selbst überwiegend dem Adel angehörenden Reformdenker


einen neuen Gesellschaftsbegriff jenseits von historisch-ständischem Recht
aus naturrechtlichem Denken gewannen, denn damit war der geistige Hebel
gewonnen, die Republik aus ihrer „feudalen Barbarei" (Rousseau) zu er-
lösen, ohne ihre ideale Bedeutung als wahrer und guter Staat aufzugeben. 8
In den politisch konzentrierten achtziger Jahren erschienen nun vielfältige
Stimmen im Reformdenken. Der Vierjährige Reichstag eröffnete 1788 die
permanente Verfassungsdebatte und verknüpfte damit Überlegungen neuer
außenpolitischer Orientierung in veränderter Umwelt. 9 Bei allem tiefgrei-
fenden Wandel zeigt sich hier die Beständigkeit der außen- und mächtepo-
litischen Verknotung, in die die Adelsrepublik seit dem Beginn des Macht-
aufstiegs Rußlands und Preußens am Jahrhundertanfang hineingeraten war.
Mit ganzer Energie war Stanislaw August an der Ausarbeitung der Konsti-
tutionsakte beteiligt, die die alte Adelsrepublik in einen lebensfähigen, durch
aufklärerischen Geist und geschichtliche Bindung zugleich reformierten und
zur politischen Selbständigkeit erweckten „Verfassungsstaat" verwandeln
sollte. Aber mit großem Zögern nur hat der König sich dem Plan eines
Bündnisses mit Preußen genähert, den die polnischen „Patrioten" und
Hertzberg hegten. Der König blieb skeptisch, nicht allein, weil er seinen
anerzogenen Preußenhaß kaum je zu läutern vermocht hat, sondern vor
allem, weil er eine so einseitige „Realpolitik", die den anderen und seiner
Meinung nach entscheidenden Faktor, nämlich Rußland, zur quantité né-
gligeable erklärte, für gefährlich hielt. 10 Schließlich hat er sich doch um-
stimmen lassen. Doch „das politische Gewebe", das die Polen „umschlun-
gen" hielt, war dasselbe geblieben, sagt ein zeitgenössischer Beobachter mit
Recht mit dem Blick auf die Außenpolitik. 11 Und die Skepsis des Königs
gegenüber Preußen als Bündnispartner war nur allzu berechtigt.

8 S. dazu den instruktiven Abschnitt „Die These vom selbstverschuldeten Unter-


gang' der Republik" bei M . G. MÜLLER, Die Teilungen Polens... (1984) [137],
S. 69 ff. (Lit. S. 1 3 1 - 1 3 3 ) .
9 Unentbehrliche Grundlage noch immer das monumentale Werk von Valerian
KALINKA, Der vierjährige Polnische Reichstag 1788 - 1 7 9 1 [poln. "1895 - 1 8 9 6 ] ,
2. Bde., Berlin 1 8 9 6 / 9 8 ; weitere Literatur: M . G. MÜLLER, Die Teilungen Polens...
(1984) [137], S. 107. Z u r außenpolitischen Einordnung zuletzt H . K o c ó j , Wielka
Rewolucja Francuska... (1987) [132],
10 Unter diesem Gesichtswinkel sind die Zweifel, die Jerzy LOJEK in zahlreichen
Arbeiten, z. B. Geneza i obalenie Konstytucji 3 Maja. Polityka zagraniczna
Rzeczpospolitej 1787 — 1792 (Genese und Fall der Verfassung vom 3. Mai), Lublin
1986, an dem außenpolitischen Denkvermögen des Königs hegt, unbegründet.
Daß Stanislaw August auch die innenpolitischen Voraussetzungen für die Selb-
ständigkeit Polens im außenpolitischen Einklang mit Rußland schaffen wollte,
widerlegt ihn nicht als Außenpolitiker; s. dazu auch die überzeugende Porträt-
skizze des Königs von Jerzy MICHALSKI, Stanislaw August Poniatowski, in: Poczet
krolów i ksiazat polskich, Warszawa 1980, S. 4 4 4 - 4 5 4 .
11 Joachim Christoph Friedrich SCHULZ, Reise nach Warschau. Eine Schilderung
aus den Jahren 1791 - 1793, hg. von Klaus Z e m a c k , Frankfurt/M. 1982, S. 309 f.
426 § 6 Das Zeitalter der Teilungen Polens

In der Tat erscheint Preußens so konstruktiv wirkendes Interesse an dem


Vierjährigen Reichstag in einem anderen Licht, wenn man die Instrumen-
talisierung der polnischen Frage für das Verhältnis Preußens zu Rußland
und Österreich durchschaut. Gewiß war Friedrichs des Großen Rußland-
politik seit 1780 in die Krise geraten, denn Österreichs diplomatische
Offensive in der Orientalischen Frage hatte Friedrichs Bündnis mit Katha-
rina so gut wie wertlos gemacht. 1 2 Deshalb wollte Preußen den erneuten
Türkenkrieg, den die Kaisermächte seit 1788 zu führen hatten, wiederum
- wie schon 1772 - zu Gebietskompensationen nutzen. Dabei sollte Polen
durch die Rückgabe Galiziens bewogen werden, an Preußen Danzig und
Thorn abzutreten. 13 Doch der Tod Josephs II. im Februar 1790 brachte eine
rasche Wende. Der preußische König sah — ohne Rücksicht auf den
Hertzbergschen Plan — seinen außenpolitischen Ehrgeiz befriedigt, als sich
Kaiser Josephs Nachfolger Leopold II. zu einem Friedensschluß mit dem
Osmanischen Reich ohne Gebietserwerbungen für Österreich bereit er-
klärte. 1 4 Das war freilich völlig einseitig. Rußland hat in Wahrheit nicht
daran gedacht, einen Türkenfrieden ohne Annexionen einzugehen. Trotz
preußisch-englischer Kriegsdrohungen führte Katharina den Kampf bis zum
Annexionsfrieden von Jassy 1792 weiter. 15
Hertzbergs — und in gewisser Weise Friedrichs - Politik war damit an
ihr Ende gekommen: Der deutsche Dualismus wurde in Reichenbach für
ein halbes Jahrhundert begraben. Die Brücke, über die die Rivalen zuein-
ander fanden, war erstens der Gedanke des Kriegsbündnisses gegen das
revolutionäre Frankreich und zweitens — wie zwangsläufig — die polnische
Frage. Deren Revitalisierung als Medium der Krisenkompensation fiel Ruß-
land nach dem Frieden mit den Osmanen 1792 — ganz ähnlich wie in der
Orientalischen Krise von 1769 1 6 — als Konsequenz der verworrenen preu-
ßischen Außenpolitik der Jahre 1788 —1792 in den Schoß: Noch am 17. 2.
1792 hatten Österreich und Preußen einen Vertrag geschlossen, der auch
die Aufrechterhaltung der Integrität Polens zum Inhalt hatte; am 6. August
1792 verbündeten sich Katharina und Friedrich Wilhelm II. zur Beseitigung

12 Aufschlußreiche zeitgenössische Beobachtungen bietet Johann Eustach Graf von


GOERTZ, Mémoire sur la Russie [1786], hg. von Wolfgang Stribrny ( = VOelM,
Bd. 34), Wiesbaden 1969; Manfred HELLMANN, Die Friedensschlüsse von Nystad
(1721) und Teschen (1779) als Etappen des Vordringens Rußlands nach Europa,
in: HJb, 97/98. Jg. (1978), S. 2 7 0 - 2 8 8 .
13 Genaue Einordnung der Hertzbergschen Politik in den Ablauf der Teilungsge-
schichte jetzt bei M. G. MÜLLER, Die Teilungen Polens... (1984) [137], S. 44ff.;
polnischerseits jetzt die große Gesamtdarstellung von J. MICHALSKI, Dyplomacja
polska... (1982) [s. o. Anm. 7], S. 611 ff.
14 Zu der preußisch-österreichischen Konvention von Reichenbach vom 27. VII.
1790 a . a . O . , S . 6 4 2 f .
15 Isabel de MADARIAGA, Russia in the Age of Catherine the Great, New HA-
ven—London 1981, S. 4; zum Zusammenhang mit Polen s. R. H. LORD, The
Second Partition... (1915) [135], S. 177ff.
16 Dazu noch immer gültig A. SOREL, La Question d'Orient... (1889) [143].
III. Von der dritten zur vierten Teilung 427

der Maiverfassung und zur Wiederherstellung der Kardinalrechte. 17 Kurz


vorher war eine Einigung zwischen Österreich und Rußland in der Türken-
frage (gemeinsame Kriegsplanungen) erzielt worden. Damit hatten die drei
absolutistischen Großmächte den Weg frei für die endgültige Aufteilung der
östlichen Hälfte Europas unter sich. Die Republik Polen verschwand in den
zwei Teilungsakten von 1793 und 1795 von der Landkarte Europas. 1 8 Mit
beschwörenden Worten hat sich im Juli 1794 Graf Hertzberg, der 1791 den
auswärtigen Dienst quittiert hatte, an Friedrich Wilhelm II. gewandt und
vor der endgültigen Aufteilung Polens gewarnt. Er fürchtete jetzt nicht mehr
allein für Preußen, das dadurch an den Rand der Unterwerfung unter die
Übermacht seiner „Mitteiler" geraten würde, sondern kam zu generellen
Einsichten: „Überhaupt aber ist das Recht, durch welches die drei Mächte
sich Pohlen theilen so verhaßt und Abscheu erregend, daß es ein ewiger
Schandfleck in dem Ruhm der drei Regenten seyn wird; es verdunkelt ihre
Namen in der Geschichte, und ich begreife nicht, wie sich diese Handlung
mit ihrem Gewissen und mit ihrer Religiosität verträgt." 1 9

III. Von der dritten zur vierten Teilung


So war für Preußen der gewaltige Gebietszuwachs der zweiten und dritten
Teilung die Erfüllung seiner „negativen Polenpolitik" und doch zugleich ein
zweifelhafter machtpolitischer Triumph. Dies galt nicht nur vom Stand-
punkt der außenpolitischen Fragwürdigkeit der Vorgänge, sondern auch im
Hinblick auf die Wirkung Preußens in Deutschland. Vielerorts hatte man
nach dem Tode Friedrichs des Großen Erleichterung darüber empfunden,
daß der „neue preußische Monarch mehr das Ideal eines Vaters seines
Volkes als das eines Erben vor Augen habe". 2 0 Aber die machtgeschichtli-
chen Vorgänge um Polens Untergang und das Sterben des Heiligen Römi-
schen Reiches vermochten den Zeitgenossen klarzumachen, daß die „furcht-
bare Größe" Friedrichs über dessen Tod hinaus ihre Wirkungen zeitigte.

17 M . G. MÜLLER, Die Teilungen Polens... (1984) [137], S. 5 0 f . ; J. MICHALSKI,


Dyplomacja polska... (1982) [s. o. Anm. 7], S. 6 4 6 ff.; R . H. LORD, T h e Second
Partition... (1915) [135], S. 3 8 0 f f .
18 Zur zweiten und dritten Teilung s. d. in Anm. 17 genannte Literatur; zum
preußischen Anteil am Zustandekommen der dritten Teilung s. vor allem
E. MORITZ, Preußen und der Kosciuszko-Aufstand... (1968) [136].
19 StA Darmstadt E 1 M : 9 1 / 1 — 3 : „Zwey Original Briefe des Ministers Grafen v.
Hertzberg an Friedrich Wilhelm II. und die Antwort des Königs im Jahre 1794
aus dem Französischen übersetzt N o . 1". (Hertzberg bot dem König in dieser
Lage seine Dienste wieder an, wurde aber in scharfem Ton abgewiesen.) Für die
Kenntnis dieser Fassung der Hertzbergschen Briefe habe ich Hagen Schulze zu
danken.
20 So A. L. v. Schlözers Göttinger „Stats-Anzeigen", Bd. 9 (1786), S. 438 ff.; hier zit.
nach Dietmar WILLOWEIT, Über den preußischen Beitrag zur deutschen Staats-
entwicklung. Zugleich ein Rückblick auf das „Preußen-Jahr" 1981, in: Saec,
Bd. 33 (1982), S. 3 4 7 - 3 5 8 , hier S. 356.
428 § 6 Das Zeitalter der Teilungen Polens

Jetzt wurde spürbar, was es bedeutete, daß Preußen 1740 „mit dem Krieg
gegen das Kaiserhaus ... den Boden von Münster und Osnabrück verlassen
und zugleich eine neue Seite der deutschen Verfassungspolitik aufgeschla-
gen" hatte. 21
Und dennoch - und eigentlich folgerichtig - machten sich unter der
schütter gewordenen Decke des Machtstaates Anzeichen dafür bemerkbar,
daß in der Erbschaft des aufgeklärten Absolutismus auch jene Potenzen zu
Buche standen, die den Fall des Ancien Regime so tatkräftig gefördert
hatten. Das bedeutet, daß die machtpolitische Krise der Teilungen Polens
nur die eine Seite der politischen Energien verbrauchte, die das friderizia-
nische Preußen geweckt hatte.
An der Innenseite zeigte sich in Anknüpfung an die eigenen reformeri-
schen Antriebe, wie sie im Preußischen Allgemeinen Landrecht und den
Anfängen der Bauernbefreiung sichtbar wurden, jener staatliche und soziale
Erneuerungswille, der vor allem seine Früchte in der höheren Beamtenschaft,
der bürokratischen Elite des Staates, trug. Dieser hochbürokratische Re-
formansatz wies indes wenig über Preußen auf Deutschland hinaus, wirkte
also kaum in dem Maße nationsbildend wie jener „geistige Umbruch", der
in Polen in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts die
ganze politische Öffentlichkeit erfaßt hatte. Hier werden fundamentale
Unterschiede zwischen der altständischen Republiktradition Polens und dem
Absolutismus Preußens deutlich, die für die moderne Demokratiegeschichte
von großem Gewicht waren. 2 2 Zu beachten ist freilich, daß die Begegnung
der preußischen Reformer mit den ostmitteleuropäisch strukturierten Ge-
bieten des alten Polens eine gewisse Rolle für die Antriebe und bei der
Ausformung des staatlichen und gesellschaftlichen Reformdenkens in Preu-
ßen gespielt hat. Denn auch dieses Moment hat zu der Symbiose der
Aufklärungsphilosophie mit der ständisch-libertären Bewußtseinstradition
im alten Herzogtum Preußen beigetragen.
Jedenfalls haben prominente Vertreter der Reformerschule der ostpreu-
ßischen Bürokratie — wie die Gebrüder Schrötter, Auerswald und später
Theodor Schön, Alexander von Dohna, Johann Gottfried Frey und
Friedrich August Stägemann — bei geradezu programmatischem Desinter-
esse an den außenpolitischen Fragen der neunziger Jahre und der Jahrhun-
dertwende — ihre verwaltungs- und sozialpolitischen Aufgaben vom Stand-
punkt eines liberalen Verfassungs- und Rechtsstaatsdenken aus energisch in
Angriff genommen und dabei eingestandenermaßen aus der Begegnung mit

21 Ebda.
22 Auf den Kontrast der politischen Kulturen hat schon — in polemischer Absicht
- hingewiesen W. KONOPCZYNSKI, Fryderyk Wielki... ( 2 1981) [133]; in ruhiger
Tonlage jetzt der deutsch-polnische Sammelband: Polen und Deutschland...
(1981) [138]; S. auch Klaus ZERNACK, Die deutsche Nation zwischen West und
Ost. Probleme und Grundzüge, in: Nationalgeschichte als Problem... (1983) [70],
S. 67 — 80, hier S. 79 f.; Ders., Germans and Poles: Two Cases of Nation-Building,
in: Hagen Schulze (Hg.), Nation-Building in Central Europe ( = GHPer, Bd. 3),
Oxford 1986, S. 1 4 9 - 1 6 6 .
III. Von der dritten zur vierten Teilung 429

den altpolnischen Gebieten, in denen sie zum Teil ihre Lehrjahre absolviert
und ihre ersten Reformversuche durchexerziert hatten, gelernt. Friedrich
Leopold von Schrötter stand als Oberpräsident der ost- und westpreußischen
sowie der litauischen Kammer dirigierend hinter diesen Bemühungen; er
schickte den jungen Theodor von Schön nach Biaiystok. Hier, im soge-
nannten Neuostpreußen, ist der erste Schritt zur Trennung der exekutiven
von der jurisdiktionellen Gewalt getan worden, und die Überwindung der
alten Kammergerichtsbarkeit bahnte sich an. Von hier aus ist dieses Rechts-
staatsprinzip 1804 auf die Kammerbezirke Ostpreußen und Litauen über-
tragen worden. Gewiß war das nur ein indirekter Impuls, der von dem
eingegliederten und gleichgeschalteten Land als einem bloßen Objekt neuen
Planens ausging. Am Beispiel von Danzig wird indes deutlich, daß das alte
polnische Reich auch unmittelbare Antriebskräfte für den preußischen Re-
formgedanken ausstrahlte. Hans Rothfels hat auf diesen Zusammenhang
eindringlich hingewiesen: In Danzig hatten sich in der polnischen Zeit doch
mehr „gesunde Triebe" von Bürgerfreiheit und Bürgerverantwortung be-
wahren können als in den meisten Reichs- und Hansestädten. Neben Rat
und Schöffen gab es hier 1793 noch jenes „Hundertmännerkolleg", das als
teilweise gewählte Repräsentanz der Bürgerschaft legislative und kontrol-
lierende Befugnisse aufwies. Die Ehrenämter in den Deputationen zeigten
beträchtliche Ansätze bürgerlicher Selbstverwaltung. Es waren Elemente,
die auf Schön und auf Stein nachweislich stark gewirkt haben und vor
allem durch das zähe Festhalten der Danziger an diesen „Privilegien" gegen
die anfängliche Tendenz, sie dem Landrecht aufzuopfern, zur Keimzelle der
Diskussionen um die Städteordnung geworden sind. 23
Wenn man vor diesem Hintergrund in Betracht zieht, welche Rolle das
polnische Problem, das heißt die Frage der polnischen Verfassung und der
Wiederherstellung polnischer Eigenstaatlichkeit, im Denken des jungen
Alexander I. und in der russischen Reformdiskussion seit der Jahrhundert-
wende spielte, 24 dann wird eine enorme Bedeutung sichtbar, die die polni-
sche Frage nach 1795 für die osteuropäische Innenpolitik hatte, nachdem

23 Noch immer wertvolle Interpretationen in der Studiensammlung von Hans ROTH-


FELS, Bismarck, der Osten und das Reich [Neuausg. 1960], Darmstadt 2 1962.
Das Urteil über die Verwaltungsgeschichte bleibt zwischen deutscher und pol-
nischer Forschung vorerst kontrovers, s. Ingeburg Charlotte BUSSENIUS, Die
preußische Verwaltung in Süd- und Neuostpreußen 1793 — 1806 ( = StGPr, Bd. 6),
Heidelberg 1960; Jan W^SICKI, Ziemie polskie pod zaborem pruskim: Prusy
Potudniowe 1793 — 1806 (Die polnischen Länder unter Preußen: Südpreußen
1 7 9 3 - 1 8 0 6 ) ( = StHPP, R . 2, Bd. 4), Wroclaw 1957; Ders., Ziemie polskie...
(1963) [144] (Die polnischen Länder unter Preußen: Neuostpreußen 1 7 9 5 - 1 8 0 6 ) .
Erst die Studie von A. SIMSCH, Die Wirtschaftspolitik... (1983) [142], führt über
die reine Institutionsgeschichte hinaus und bietet eine Grundlage für beziehungs-
geschichtliche Fragestellungen; fruchtbar ist in dieser Hinsicht auch die Synthese
von W . W . Hagen, Germans, Poles and J e w s . . . (1980) [148],
24 Hildegard SCHAEDER, Autokratie und Heilige Allianz [1934], Darmstadt 2 1 9 6 3 ;
Giampiero BOZZOLAIO, Polonia e Russia alle fine del XVIII secolo. (Un avven-
turio onorato: Scipione Piattoli) ( = ColStEOr, Bd. 4), Padova 1964.
430 § 6 Das Zeitalter der Teilungen Polens

außenpolitisch für Polen alles verloren war und als der machtpolitische
Aufbruch des napoleonischen Frankreich auch die Teilungsmächte an den
Rand der Katastrophe führte.
Sieht man genauer hin, dann war also mancher Gedankengang der
preußischen Reformelite — zumindest im Denktypus — der polnischen
Spätaufklärung verwandt. 25 Freilich hat die strukturelle Analogie, die tief
in der ostmitteleuropäischen Ständetradition wurzelte, kaum einen positiven
beziehungsgeschichtlichen Effekt gehabt. Im ganzen — auf das Heer der
Beamten bezogen — ist doch das Verdikt der polnischen Historiographie
richtig, die der preußischen Bürokratie jedes Einfühlungsvermögen und die
Fähigkeit abspricht, die polnischen Länder Preußens für den bürokratischen
Staatsgedanken Preußens mit seinem rigiden Zentralismus zu gewinnen. 26
Umgekehrt aber wäre auch eine zu dieser Zeit nicht undenkbare preußische
Nationsbildung — hätte sie sich auch auf die Polen Preußens gerichtet —
gerade an der Stärke des polnischen Nationsbegriffs, der Traditionen
der Maiverfassung und der alten Republik gescheitert. Auch ein Kompromiß
österreichischen Musters war nicht zu erreichen: So gewiß Preußen in
mancher Hinsicht aus der neuen Lage Nutzen zog, so fehlten doch im
Ausgang des 18. Jahrhunderts auf beiden Seiten die Voraussetzungen, wegen
des quantitativen Ubergewichts der polnischen Ländermasse die Hohenzol-
lernmonarchie den Weg in eine neojagiellonische Föderationslösung gehen
zu lassen. 27 Sie allein hätte Aussicht auf Bestand gehabt. So aber mußte der
Staat zwischen den Nationen aus der Extremposition, die er zwischen 1795
und 1807 eingenommen hat, zwangsläufig wieder verdrängt werden. Die
Katastrophe von Jena und Auerstedt sollte also auch unter dem Gesichts-
punkt der imperialen Uberspannung nach 1795 gesehen werden.
Gleichwohl blieb die osteuropäische Teilungsallianz der drei Adlermächte
der tragende Grund preußischer Geschichte. Denn gegen Napoleons radi-

25 Dazu Maria WAWRYKOWA, Die Aufklärung in Polen nach dem Zusammenbruch


des Staates ( 1 7 9 5 - 1 8 2 2 ) , in: Polen und D e u t s c h l a n d . . . ( 1 9 8 1 ) [ 1 3 8 ] , S. 3 8 - 4 8 .
26 M. BISKUP, Preußen und Polen... (1983) [59], S. 11, unter Berufung auf J. WASICKI,
Ziemie polskie (1957) [s. o. Anm. 23], Ders., Ziemie polskie... (1963) [144], und
J. KOSIM, Pod pruskim zaborem... (1980) [134] (Unter Preußen: Warschau in den
Jahren 1 7 9 6 - 1 8 0 6 ) .
27 Der Gedankengang Rudolf von THADDENS, Fragen an Preußen. Zur Geschichte
eines aufgehobenen Staates, München 1981, S. 29 — nach der dritten Teilung
Polens „schien es so, als würde der Hohenzollernstaat seinen Schwerpunkt in
Deutschland verlieren und einen Weg einschlagen, der mehr dem der späteren
österreichisch-ungarischen Monarchie entsprach. Jedenfalls wirkten die deut-
schen Territorien Preußens westlich der Elbe zu jener Zeit wie kümmerliche
Anhängsel an eine Ländermasse, die mehr im Sog der polnischen Geschichte
stand" — bedürfte erst noch der näheren Überprüfung. Gute Grundlagen dazu
bietet jetzt das „Kartenwerk zur Preußischen Geschichte" der Historischen Kom-
mission zu Berlin; s. Karsten BREMER/Hans THEISSEN, Territoriale Gliederung
und Verwaltungsstruktur Preußens im Dezember 1803. Bevölkerung in Preußen
um 1800 ( = KwPrG, Lfg. 2), Berlin 1988, mit dem dazugehörigen Kommentar-
band, Berlin 1991.
§ 7 Preußen und Polen im Vormärz 431

kales Konzept der Reduktion Preußens auf die brandenburgische Ausgangs-


lange konnte Rußland in Tilsit einen preußischen Territorialbestand durch-
setzen, der das Überleben der Hohenzollernmonarchie als Königreich Preu-
ßen sicherte. 28 Dieses umfaßte an altpolnischen Gebieten nur noch West-
preußen und Schlesien. In bezug auf diese Situation hat Friedrich Meinecke
bedenkenswert gefragt, ob die Tilsiter Lösung, wäre sie von Dauer gewesen,
Preußen nicht eine Lockerung seiner ostmitteleuropäischen Verwurzelung
zugunsten seiner „deutschen Aufgaben" ermöglicht hätte. 2 9 Damit hätte
sich zu einem früheren Zeitpunkt auch die Chance eröffnet, in die Konzep-
tion preußischer Deutschlandpolitik auch die gleichberechtigte Lösung der
polnischen Frage in einem Sinne aufzunehmen, der die Nation über den
dynastischen Staat stellte, zumindest aber deren Verhältnis als Problem
verstand. Ein Ansatz für ein solches Verständnis der Lage nach 1807 ist
vielleicht in der Nassauer Denkschrift des Freiherrn von Stein zu erkennen. 30
Im allgemeinen aber blieb die polnische Nation in den Augen der preußi-
schen Reformbürokratie — zumal als napoleonischer Satellit — eine quan-
tité négligeable. Man war fest an der Wiederherstellung, Konservierung und
Integrität Preußens auf der territorialen Basis der zweiten Teilung Polens,
das heißt mit Posen als breiter Landbrücke zwischen Schlesien und Ost-
preußen, orientiert und setzte auf die Hilfe der russischen Diplomatie und
auf die russische Waffenbrüderschaft. Die Unausweichlichkeit und Schlüs-
sigkeit dieser ostpolitischen Perspektive wurde von der Generation der
Teilnehmer an den Befreiungskriegen nicht in Zweifel gezogen. 31

§ 7 Preußen und Polen im Vormärz

Lediglich in der kurzen Zeitspanne vom Wiener Kongreß 1815 bis zum
polnischen Novemberaufstand von 1830 gab es Ansätze für den Wandel der
axiomatischen Negativität preußischer Polenpolitik. Das hängt auch damit

28 Aufschlußreiche Quellenauswahl bei Hedwig FLEISCHHACKER, Russische Ant-


worten auf die polnische Frage 1795 — 1797, München — Berlin 1941.
29 Friedrich MEINECKE, Das Zeitalter der deutschen Erhebung ( 1 7 9 5 - 1 8 1 5 ) [1906],
Göttingen Ί 9 5 7 , S. 78 f., 131 f.; Hinweis bei Fritz T. EPSTEIN, Friedrich Meinecke
in seinem Verhältnis zum europäischen Osten, in: JGMOD, Bd. 3 (1954),
S. 1 1 9 - 1 4 4 , hier S. 124.
30 Freiherr vom STEIN, Briefe und amtliche Schriften, bearb. von Erich Botzenhart,
neu hrsg. von Walther Hubatsch, Bd. 2/1, bearb. von Peter Gerrit Thielen,
Stuttgart 1959, S. 380 ff.
31 Die Preußen-Renaissance der achtziger Jahre berief sich nicht zuletzt darauf gern,
wie die Scharnhorst-Sendungen des DDR-Fernsehens, aber auch das Museum
für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin lehrten. Es ist kein Wunder, daß man in
Polen darauf sensibel reagierte; vgl. dazu Alexander OSADCZUK-KORAB, Preu-
ßendebatte in Polen, in: JbBWG, 1981, S. 1 8 6 - 1 9 5 .
432 § 7 Preußen und Polen im Vormärz

zusammen, daß sich die in der europäischen Pentarchie etablierte Groß-


macht Preußen ihres „halbdeutschen" Charakters, das heißt ihrer Stellung
zwischen den Nationen, bewußt zu werden begann. Dazu hat die Wiener
Schlußakte mit dem Petitum der „nationalen Institutionen" für die Polen 1
gewiß nicht unwesentlich beigetragen. Der Staatskanzler Hardenberg hatte
noch in den Verhandlungen des Kongresses davon gesprochen, daß Preußens
Interesse nur auf solche polnischen Gebiete gerichtet sei, die für eine
„Eindeutschung" geeignet wären. Von den 1,3 Millionen Einwohnern Groß-
polens waren indessen nur 40 Prozent als Deutsche anzusehen. Doch bot
jetzt der Rahmen preußischer Reformgesetze und der Wiener Schlußakte
zusammen den Spielraum für ein tragfähiges deutsch-polnisches Koexistenz-
modell im preußischen Staatsverband: Das Großherzogtum Posen erhielt
mit seinem Provinziallandtag, mit der sprachlichen Gleichberechtigung in
Schule und Kirche sowie mit dem Zugang der Polen zu den Ämtern in der
Tat nationale Institutionen für den polnischen Bevölkerungsteil konzediert.
Für Westpreußen, den preußischen Gewinn der ersten Teilung, wurde dies
nicht in Betracht gezogen.
Diese Entwicklung in Großpolen hat indessen nicht nur den Loyalitäts-
spielraum der Aristokratie für das Hohenzollernhaus erweitert. Vielmehr
verbreiterte die gesellschaftliche Reform im preußischen Polen auch die
Basis der Nationalbewegung als Träger des Gedankens der staatlichen
Wiederherstellung Polens. Dabei konnte nicht alles, was im reform-büro-
kratischen Verständnis ein Fortschritt war, auch im Hinblick auf die natio-
nale Frage positiv erscheinen. Als man 1823 im Posenschen die Bauernbe-
freiung dekretierte, wurde zugleich den polnischen Grundherren verboten,
abgelöstes Bauernland zu erwerben. Dieser Versuch, die Wortführer der
nationalen Bewegung ökonomisch zu schwächen und damit neue Loyali-
täten für den preußischen Staat bei den Bauern zu erwecken, hat aber
zugleich die Entwicklung agrarkapitalistischer Verhältnisse in Posen auf-
gehalten. So war auch diese Zeitspanne nicht ohne Friktionen. 2
Nach dem Ausbruch des Novemberaufstands in Warschau ging die offi-
zielle preußische Politik im polnischen Teilungsgebiet Preußens auf Gegen-
kurs, 3 ohne daß dadurch aber die vielfältigen Ansätze des gesellschaftlichen
und kulturellen Zusammenlebens, die zwischen der deutschen und der
polnischen Bevölkerung Preußens entstanden waren, beeinträchtigt wurden.
Im Gegenteil: Das Jahr 1830/31 hat eine beträchtliche „völkerdiplomati-
sche" Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen zur Folge gehabt,
obwohl die Deutschen in Preußen unter starkem Druck standen. 4 Im ganzen

1 Texte in: Clive PARRY (Hg.), The Consolidated Treaty Series, Bd. 64 (1815), New
York 1969, S. 1 3 6 - 1 4 4 ; 1 4 6 - 1 5 5 ; s. auch Hans-Dieter DYROFF, Der Wiener
Kongreß 1814/15. Die Neuordnung Europas, München 1966, S. 91 ff.
2 W.W. HAGEN, Germans, Poles and Jews... (1980) [148], S. 76 ff.
3 Zuletzt Henryk Kocój, Prusy wobec Powstania Listopadowego (Preußen und
der Novemberaufstand), Warszawa 1980.
4 Belege finden sich in dem Quellenband H. BLEIBER/J. KOSIM (Hg.), Dokumente...
(1982) [37],
§ 7 Preußen und Polen im Vormärz 433

hat der Vormärz also eine komplizierte Mehrschichtigkeit der politischen


Entwicklung in diesem Staat zwischen den Nationen hervorgebracht. 5
Doch darf dies nicht über den tiefen Gegensatz hinwegtäuschen, der sich
in den Grundpositionen der Nationalbewegungen der Deutschen und der
Polen herausbildete, obwohl diese nach 1830 noch durchaus solidarisch
handelten. Es ist dies ein Problem von allgemeiner Bedeutung, doch es kann
an der für diese Frage modellhaften Geschichte Preußens besonders gut
beobachtet werden: Der preußischen Staat war in seiner steuernden Ein-
flußnahme auf die deutsche und die polnische Frage ein Wirkungsfaktor
ersten Ranges in bezug auf die Entwicklung der nationalen Frage. Preußen
war für beide Nationalbewegungen zuvörderst Teilungsmacht, um deren
Beseitigung es beiden gehen mußte. 6 Die positive Solidarität der geteilten
Nationen rückte umgekehrt (oder auf negative Weise) im Verständnis der
Wortführer der nationalen Bewegungen des Vormärz die Teilungsstaaten
Preußen, Rußland und Österreich in eine Reihe, obwohl natürlich in ihnen
sehr verschiedene Bedingungen gesellschaftlicher Entwicklung gegeben
waren und Preußen in dieser Beziehung ein gewissermaßen günstiger Tei-
lungsstaat war. Dennoch standen die vormärzlichen Nationalbewegungen
zu Preußens Staatsgedanken in schärfster Opposition. 7 Aber im revolutio-
nären Kampf um die liberale Nationsbildung — und das hieß ja: um den
Nationalstaat als Alternative zum dynastischen Machtstaat — gerieten die
im Befreiungsgedanken solidarischen Bewegungen in Konflikt. In der Pauls-
kirche identifizierte sich die große Mehrheit (bis zur liberalen Linken) mit
dem preußischen Staatsgedanken, als sie unter Mißachtung der Grenzen des
Deutschen Bundes als das Kriterium für den territorialen Bestand der Nation

5 Ihre Erforschung steckt noch in den Anfängen, die in Polen weiter gediehen sind
als bei uns; s. die Untersuchungen von Franciszek PAPROCKI, Wielkie ksiçstwo
Poznanskie w okresie rz^dów Flottwella (1830 — 1841) (Das Großherzogtum
Polen in der Regierungszeit Flottwells) ( = UAMH, Bd. 33), Poznan 1970, sowie
in W . M O L I K , K s z t a l t o w a n i e s i ç . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 5 7 ] . A l l g e m e i n e r W . JAKOBCZYK ( H g . ) ,
Dzieje Wielkopolski... (1969/73) [82], Bd. 2, Poznaá 1973; Κ. Η. STREITER, Die
nationalen Beziehungen... (1986) [158],
6 Reich belegt in dem in Anm. 4 zitierten Quellenbd.; s. auch die Einleitung (mit
Lit.) sowie die Regionalstudie von P. BOHNING, Die nationalpolnische Bewe-
gung... (1973) [154]; M. WAWRYKOWA, „Für eure und unsere Freiheit"... (1985)
[159].
7 Michael G. MÜLLER, Deutsche und polnische Nation im Vormärz, in: Klaus
Zernack (Hg.), Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzol-
lernmonarchie 1701 — 1871. Referate einer deutsch-polnischen Historiker-Tagung
vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee ( = EvHKzB, Bd. 33), Berlin
1982, S. 69 — 95, hier S. 84 f.; ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet Theo-
dor FONTANES Aufsatz „Preußens Zukunft" von August 1848, in: Ders., Sämtliche
Werke (Nymphenburger Ausgabe), Bd. 19, München 1969, S. 45 f.; s. auch den
Brief an Bernhard v. Lepel vom 12.X.1848, in: Ders., Von dreißig bis achtzig.
Sein Leben in seinen Briefen, hg. von Hans-Heinrich Reuter, München 1970,
S. 39 ff.
434 § 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens

die dynastischen Grenzen Preußens auch für den deutschen Nationalstaat


in Anspruch nahm. 8
Der sacro egoismo der Paulskirche bekannte sich zu zweierlei Maß: Er
war gegen den dänischen Gesamtstaat für die deutsche Nation, und er war
für den preußischen Gesamtstaat gegen die polnische Nation. Damit wurde
ein imperialer Zug im deutschen Nationsbegriff sichtbar, dessen Wirkung
Herder aus älteren Wurzeln ideengeschichtlich sozusagen prognostiziert
hatte und dessen Elemente - versteckt noch, aber doch eruierbar - sich
im Lauf der vormärzlichen Auseinandersetzungen gerade in den Stellung-
nahmen zur polnischen Frage auszubilden begannen. 9 Im Gegensatz dazu
erlaubte es das Scheitern der Aufstände für die nationale Unabhängigkeit
den Polen, noch über 1848 und 1863 hinaus an der emanzipatorischen
Nationsidee des Vormärz festzuhalten und sich gegen den zeitgemäßen
Funktionswandel des Nationalismus von der Befreiungs- zur Integrations-
ideologie in der zweiten Jahrhunderthälfte abzuschirmen.

§ 8 Das Heranwachsen, der Vollzug und die


Praxis der preußischen Lösung der Deutschen
Frage auf Kosten Polens ( 1 8 4 9 - 1 9 1 8 )

Die Voraussetzungen für die gegenseitige Entfremdung der deutschen und


der polnischen Nation in Preußen waren also nicht zuletzt in dem Scheitern
der politischen Ideen des Vormärz zu suchen. Aber auch im Wachstum der
Feindschaft zwischen ihnen — worin die polnische Forschung mit Recht

8 Lediglich Arnold Ruge formulierte am Abend der Polen-Debatte in der Pauls-


kirche noch einmal das Credo der vormärzlichen Solidarität der unterdrückten
Nationen in dem Flugblatt: Öffentliche Verwahrung der radikal-demokratischen
Partei in der const, deutschen Nationalversammlung gegen den Beschluß in der
Polenfrage. Frankfurt am Main, den 27. Juli 1848. Die auffallende Nähe des
Gedankengangs zu dem Absagebrief Frantisek Palackys an den Fünfziger-Aus-
schuß vom 11.IV.1948 (Franz PALACKY [Hg.], Gedenkblätter. Auswahl von Denk-
schriften, Aufsätzen und Briefen aus den letzten fünfzig Jahren als Beitrag zur
Zeitgeschichte, Prag 1874, S. 149 ff.) läßt ein letztes Mal die ideenpolitische Kraft
des solidarischen Befreiungsnationalismus des Vormärz deutlich werden. Vgl.
zuletzt deutscherseits Günter WOLLSTEIN, Das „Großdeutschland" der Paulskir-
che. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977,
allerdings ohne Einarbeitung der heute nicht mehr entbehrlichen polnischen und
tschechischen Forschung.
9 Eine subtile ideengeschichtliche Analyse dieser Probleme bietet Michael G. MÜL-
LER, Polen-Mythos und deutsch-polnische Beziehungen. Zur Periodisierung der
Geschichte der deutschen Polenliteratur im Vormärz, in: Die deutsch-polnischen
Beziehungen 1 8 3 1 - 1 8 4 8 . . . (1979) [155], S. 1 0 1 - 1 1 5 .
§ 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens 435

das Wesensmerkmal der Periode von 1849 bis 1918 sieht 1 - spielt die
ideenpolitische Komponente eine große Rolle. Denn auf dieser Ebene spiel-
ten sich die ideologischen Auseinandersetzungen der politischen Eliten ab,
und daran bildeten sich die politischen Mentalitäten der Nationen aus. In
dem ständig sich verschärfenden Antagonismus hatte die Epoche ihre be-
ziehungsgeschichtliche Grundsignatur, während sich die administrativen
Maßnahmen des Staates Preußen gegenüber seiner polnischen Bevölkerung
— keineswegs geradlinig — auf ein System der Unterdrückung zuspitzten.
Denn letztlich muß in einem solchen, trotz allem formal rechtsstaatlichen
Charakter der preußischen Administration, die politische Absicht der preu-
ßisch-deutschen Polenpolitik gesehen werden. Gerade weil das rechtliche
System auch polnische Gegenwirkungen ermöglichte, war die politische
Intentionalität der Unterdrückung so ausgeprägt. In der wissenschaftlichen
Bearbeitung ist bisher vornehmlich die institutionelle Seite der deutsch-
polnischen Konfliktverschärfung in der Ära der Vorbereitung und Realisie-
rung der deutschen Einheit untersucht worden. 2 Die für den beziehungs-
geschichtlichen Ablauf entscheidende Ebene war das jedoch nicht. Diese ist
doch im Prinzipiellen zu suchen, vor allem darin, daß die kleindeutsche
Lösung der Deutschen Frage mit der unverrückbaren Beibehaltung des
preußischen Staates von 1815 auch ebenso unaufhebbar die Prämisse ver-
knüpfte, daß es — sollte dieses Deutsche Reich Bestand haben — zu keiner
Lösung der Polnischen Frage kommen durfte. Preußen hat somit als Motor
der kleindeutschen Nationalreichsbildung seit 1849 ein funktionales Junktim
zwischen der Deutschen und der Polnischen Frage gestiftet, das im Verlauf
eines knappen Jahrhunderts eine tödliche Dialektik — bis zur Umkehrung
des von Bismarck 1863 im Zusammenhang mit dem Januar-Aufstand be-
mühten Amboß-Hammer-Gleichnisses 3 — entfalten sollte.
Erst mit solcher konsequenten historiographischen Einbettung der Deut-
schen Frage in ihr ungelöstes preußisches Ostproblem kann die tragende
Aporie der deutschen Geschichte seit 1871 an den Tag gebracht werden
und mit ihr die Grundvoraussetzung der beiden schwierigen Nachkriegs-
zeiten unseres Jahrhunderts, die die Fachforschung so noch kaum erschlos-
sen hat. 4 Die Bedeutung von Karl Marx als Geschichtsschreiber der natio-

1 M . BISKUP, P r e u ß e n u n d P o l e n . . . ( 1 9 8 3 ) [ 5 9 ] , S . 1 5 .
2 Gute Darlegung des Forschungsstandes beider Seiten bei W. W. HAGEN, Germans,
Poles and J e w s . . . (1980) [148], S. 118ff.
3 L[ouis] RASCHDAU (Hg.), Die politischen Berichte des Fürsten Bismarck aus
Petersburg und Paris ( 1 8 5 9 - 1 8 6 2 ) , 2 Bde., Berlin 1920.
4 Einen ersten Versuch in dieser Richtung unternimmt die Gießener Dissertation
von A. LAWATY, Das Ende Preußens... (1986) [64]. Lawatys Untersuchung zeigt,
daß in einer bewußt beziehungsgeschichtlichen Interpretation sowohl die Entste-
hung politischer Mentalitäten als auch ihre Geltungskraft für die jeweilige N a -
tionsgesellschaft deutlicher erkennbar werden, zumindest in dem deutsch-polni-
schen Fall. Darin unterscheidet sich dieser Versuch von den in mancher Hinsicht
ähnlichen Ansätzen der „imagologischen" Methode (siehe dazu vor allem M a r i a
LAMMICH, Das deutsche Osteuropabild in der Zeit der Reichsgründung, Boppard
1978) sowie von dem ideologiekritischen Verfahren (siehe zuletzt vor allem W.
WIPPERMANN, Der „Deutsche Drang nach O s t e n " . . . (1981) [73]).
436 § 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens

nalen Frage des 19. Jahrhunderts ist hieran abzulesen. 5 Preußen war nach
dem Scheitern der liberalen Nationsbildung (die ja in der Alternative zur
dynastischen Staatlichkeit bestanden hätte) gerade im Zeichen der „orga-
nischen Arbeit" seiner polnischen Bevölkerung mehr denn je ein „Staat
zweier Nationen". Es war dies stärker als zuvor der Fall, weil die Hohen-
zollernmonarchie nach 1848 zum Schrittmacher des Einheitsgedankens
wurde und schließlich ungeschmälert mit allen ihren ostmitteleuropäischen
Erbschaften in den Verband eines Deutschen Reiches eingehen sollte. Dieses
verstand sich als nationalstaatliche Lösung für die Deutschen, konnte sie
aber Preußens wegen nur durch eine integralistische Handhabung eines —
eben imperialen — Nationsbegriffs realisieren. Das bedeutete, in kompli-
zierter Parallele zu Rußland, den radikalen Einsatz aller staatlichen Mittel
zur Unterdrückung des polnischen Nationsgedankens. Allerdings bewirkte
diese Politik eher ihr Gegenteil: Durch den Druck von oben einerseits und
mit Hilfe der „organischen Arbeit" sowie durch die Teilhabe an dem sozialen
Wandel im preußisch-deutschen Reich andererseits erfuhr der polnische
Nationsbegriff seine qualitative politische Durchformung und breite gesell-
schaftliche Verankerung. Preußen ging in seinen Ostprovinzen also keines-
wegs in Deutschland auf, konnte es seiner Natur nach als Staat zwischen
den Nationen auch gar nicht. 6
In der Umkehrung der Lage von 1848 durch Bismarcks Reichskonzeption
war das auch nicht mehr das Problem. Damit ist auch die leidige Frage, ob
in der Folge von 1871 die Verdeutschung Preußens oder die Verpreußung
Deutschlands stattgefunden habe, eindeutig zu beantworten. Die ostpoliti-
schen Hypotheken der Hohenzollernmonarchie haben der kurzen deutschen
Nationalreichsgeschichte eine borussische Belastung beschert, die Deutsch-
land als Nationalstaat nicht hat ertragen können und an der es als dieser
gescheitert ist. Die so griffige Formel vom „langen Sterben Preußens" nach
1871 führt eigentlich von den wesentlichen Problemen der preußisch-deut-
schen Geschichte ab. 7
Kein Protagonist preußischer Politik hat den Bestand der preußischen
Monarchie so konstruktiv mit der Nichtexistenz des polnischen Staates
verbunden wie Bismarck. Es ist dies eines der wenigen Prinzipien, das —

5 S. die tiefschürfenden Manuskripte über die polnische Frage 1863 — 1864, hg. von
Werner Conze und Dieter Hertz-Eichenrode ( = QUGdöArb, Bd. 4), 's-Graven-
hage 1961.
6 S. d e n d e u t s c h - p o l n i s c h e n Sammelband W. CONZE/G. SCHRAMM/K. ZERNACK
(Hg.), Modernisierung und nationale Gesellschaft... (1979) [146]; R. JAWORSKI,
Handel und Gewerbe... (1986) [163]; W.W. HAGEN, Germans, Poles and Jews...
(1980) [148], zeigt in seiner gründlichen Durcharbeitung einmal mehr, wie weit
diese Frage heute schon eine Domäne der polnischen Forschung ist. Um so
unverständlicher ist es, daß diese in der Untersuchung von Roland BAIER, Der
deutsche Osten als soziale Frage. Eine Studie zur preußischen und deutschen
Siedlungs- und Polenpolitik in den Ostprovinzen während des Kaiserreichs und
der Weimarer Republik ( = DissnG, Bd. 8), K ö l n - W i e n 1980, überhaupt keine
Berücksichtigung findet.
7 Sebastian HAFFNER, Preußen ohne Legende, Hamburg 1978, S. 417 ff.
§ 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens 437

als Lehre des Revolutions] ahrs 1848 geboren — die sonst eher von Prinzipien
unbelastete Politik dieses großen Naturalisten (L. Gali) bis zum Ende
bestimmt hat. Damit aber war preußische bzw. preußisch-deutsche Ost-
politik immer — wie schon im 18. Jahrhundert, in der Entstehungsperiode
eines Mächtesystems, als dessen letzten Sachwalter sich Bismarck verstand
- unabdingbar Rußlandpolitik, die wiederum in dem zerbrechlichen Rah-
men jener Allianz der drei „Schwarzen Adler" zum Zweck der Beherrschung
und Teilung Polens zu besorgen war. Als Bewahrer des mächtepolitischen
status quo in der östlichen Hälfte Europas, den er nur in der Deutschen
Frage begrenzt und sorgfältig gesteuert der Dynamik der nationalen Be-
wegung auszusetzen bereit war, ist Bismarck eine Figur auch der osteuro-
päischen Geschichte gewesen. Als eine solche hat ihn keine andere Histo-
riographie so intensiv umkreist wie die polnische. 8
In den Zielen der Germanisierung und Russifizierung im sprachlich-
kulturellen und sozialen Bereich konvergierten die preußische und die
russische Polenpolitik, auch als sich nach' Bismarcks Sturz die außenpoliti-
schen Wege trennten, um deren Koordinierung willen Bismarck die radikale
Entnationalisierung der preußischen Polen und der Polen überhaupt auf
sich genommen hatte. Daß es Bismarck dabei gleichgültig war, welche
dialektische Gegenwirkung diese Politik in bezug auf die nationale Integra-
tion der Polen, auf die Organisierung ihrer wirtschaftlichen und sozialen
Selbsthilfe innerhalb der zivilisatorischen Einrichtungen des preußischen
Rechtsstaates hatte, erklärt sich aus den machtstaatlich-außenpolitischen
Prioritäten seiner Politik, die ihn über die politischen Rückwirkungen nicht
lange nachdenken und notfalls mit äußerster Härte, letztlich den autoritären
Möglichkeiten des Staates, reagieren ließen. Freilich, auch dadurch konnten
die Gegensätze nur vertieft, nicht aufgehoben werden. 9
Es entspricht aber dem außenpolitischen Funktionszusammenhang dieser
Polenpolitik, wenn sich nach Bismarcks Sturz und der Preisgabe des Bünd-

8 S. dazu jetzt Jerzy W. BOREJSZA, Bismarck a sprawa polska (Bismarck und die
polnische Frage), in: Ders., Piçkny wiek X I X , Warszawa 1984, S. 283 — 291. N o c h
immer von Gewicht für die polnische Auffassung ist die dreimal aufgelegte Arbeit
von J. FELDMAN, Bismarck a Polska... (1937/1980) [161] (Bismarck und Polen);
der Herausgeber der dritten Auflage von 1980, L. Trzeciakowski, bereitet eine
neue Bismarck-Biographie vor.
9 Mit teilweiser Berücksichtigung der polnischen Forschung H.-U. WEHLER, Po-
lenpolitik... ( 2 1979) [169], Nur wenig k o m m t dieser Aspekt bei Lothar GALL,
Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M . — Berlin — Wien 1980, zum
Tragen. Die zweibändige Bismarck-Biographie des DDR-Historikers Ernst EN-
GELBERG, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985 und 1990, steht
in dieser Hinsicht in einer kleindeutsch-marxistischen Doppeltradition. Die eu-
ropageschichtliche Ausweitung der Probleme ist unermeßlich viel größer in der
Trilogie Henryk WERESZYCKIS, Sojusz trzech cesarzy. Geneza 1866 —1872 (Das
Dreikaiserbündnis. Seine Entstehung 1868 — 1872), Warszawa 1965; Walka o
pokój europejski 1872 — 1878 (Der Kampf um den europäischen Frieden 1872 —
1878), Warszawa 1971; Koniec sojuszu trzech cesarzy (Das Ende des Dreikaiser-
bündnisses), Warszawa 1977.
438 § 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens

nisses mit Rußland eine Neukonzipierung in bezug auf Polen andeutete.


Doch bezeichnenderweise stand dem Versöhnungskurs Caprivis 10 nunmehr
auf beiden Seiten die geballte Kraft verselbständigtet nationalistischer Op-
position entgegen. Diese gab ohne Zweifel fortan den Ton an und des-
avouierte — soweit es Deutschland betraf — die immerhin offiziell maßvolle
Handhabung der Bismarckischen Instrumente. Die bislang einem höheren
Zweck untergeordnete preußisch-deutsche Polenpolitik führte also nach
1890 - ohne den Halt der außenpolitischen Sinngebung — in einen natio-
nalistisch-deutschen Selbstlauf hinein, der nun den deutschen Nationalstaat
mit einem verschärften Nationalitätenkampf belastete.
Somit kündigte sich das Zurückweichen des historischen Staates aus
Ostmitteleuropa in dem Moment an, da das machtpolitische Einvernehmen
der Teilungs-Trias, vor allem aber Preußens und Rußlands, im polnischen
Berührungsraum aufhörte. Auf diese Weise eröffneten sich der polnischen
Nationalbewegung politische Alternativen und Optionsmöglichkeiten zwi-
schen den Teilungsmächten. Gerade solche Bündnischancen für den polni-
schen Nationalismus aber hatte Bismarck stets vermeiden wollen. Aus der
kämpferischen Assimilierungs- und Einschmelzungspolitik der achtziger und
neunziger Jahre wurde sehr rasch eine Politik der Eindämmung und Zu-
rückdrängung der mächtig anwachsenden und immer deutlicher sozial
homogenisierten, das heißt demokratisierten Unabhängigkeitsbewegung der
Polen. In der Propaganda des sogenannten Ostmarkenvereins klangen ideo-
logisch schärfste Töne an, die die letzten Schranken vor der völligen Iden-
tifizierung von staatlich-preußischer Verwaltungspraxis und nationaler
Ideologie einzureißen drohten. „Der nationale Kampf um Grund und Bo-
den" sei deshalb nötig geworden, weil die „beklagenswerte Schwäche des
nationalen Pflichtbewußtseins des deutschen Elements bisher andauernd
zum Nachteil des Deutschtums" ausgeschlagen sei. 11 Warnungen vor der
Preisgabe der rechtsstaatlichen Prinzipien für den nackten nationalen Vorteil
wurden vielfach in den Wind geschlagen.
Der gewaltige nationalideologische Impuls, der die „verspätete Nation"
getroffen hatte, wirkte sich, was die nationale Einschmelzungspolitik im
preußischen Osten angeht, bis in die Reihen der Sozialdemokratie aus. 12
Das Unabhängigkeitsprogramm der großen sozialistischen Massenpartei
Polens, der Polska Partia Socjalistyczna (PPS) unter der Führung Józef
Piísudskis, das heißt die Vorstellung eines wiedervereinigten historischen
Polenstaates, stieß nicht allein auf die konsequent internationalistisch-re-
volutionär begründete Ablehnung der linken Sozialdemokratischen Partei

10 L. TRZECIAKOWSKI, Polityka polskich klas posiadaj^cych... (1960) [167] (Die


Politik der besitzenden Klassen Polens in Großpolen in der Ära Caprivi 1890 —
1894).
11 M. BROSZAT, Zweihundert Jahre... ( 2 1978) [60],
12 Mit eindrucksvollen Belegen H.-U. WEHLER, Sozialdemokratie und National-
staat... ( 2 1971) [170],
§ 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens 439

Polens und Litauens (SDKPiL), 13 sondern auch auf zunächst weniger prin-
zipielle als vielmehr parteibürokratische Bedenken in den Reihen der SPD.
Für diese lag ein schwieriges Problem in der Widerspiegelung der unklaren
nationalen Verhältnisse des preußischen Ostens in den parteiorganisatori-
schen und wahltaktischen Fragen. Vor allem bereitete die Berücksichtigung
des Selbstbestimmungsrechts im innerparteilichen Zusammenleben der SPD
und der preußischen PPS Schwierigkeiten. Die Parteitagsdebatten der Jahre
1 8 9 7 - 1 9 1 3 zeigen ein überraschend starkes unifikatorisches Bewußtsein
auf der deutschen Seite. 1897 hieß es: „Wir kennen innerhalb unserer
Organisation nur eine deutsche Sozialdemokratie, und wir sind froh, daß
wir unter der Sprachverwirrung, mit der die Genossen in Österreich sich
abfinden müssen, nicht zu leiden haben. Es handelt sich hier gar nicht um
Polen und Deutsche, sondern einfach um Sozialdemokraten." 1 4 So zeigte
sich auch hier der tiefgreifende Wandel des preußischen Staatsgedankens in
Ostmitteleuropa durch seine nationalideologisch-deutsche Nutzbarma-
chung. 15
Was Bismarck noch durch ein konservatives etatistisches Vokabular in
einen zumindest rhetorischen Traditionszusammenhang mit älteren, vor-
nationalen Vorstellungen zu stellen verstanden hatte, das vermochten viele
Anwälte des nationalen Selbstbestimmungsrechts nur noch als eine unre-
flektierte Bejahung des unifikatorischen preußisch-deutschen Nationalstaa-
tes und seiner ideologischen Expansion auch dort zu verstehen, wo die
Voraussetzungen vom Gedanken der Selbstbestimmung her nicht mehr
gegeben waren. So war es kein Wunder, daß sich die strikt marxistisch-
internationalistische Rosa Luxemburg in der deutschen Sozialdemokratie
zur Propagandistin gegen die „nationalistischen Phrasen" der preußischen
PPS und die nationalpolitischen „Quertreibereien" machte und ein leichtes
Spiel damit hatte, die Gegensätze zwischen der SPD und der preußischen
PPS zu vertiefen. Ihr ging es dabei gar nicht — wie sie auf dem Lübecker
Parteitag 1901 ausführte — um den Konflikt zwischen Deutschen und Polen,
sondern um den Sieg polnischer Sozialisten auf „internationalem" über die
Polen auf „nationalem" Boden. Das war freilich ganz von der kongreß-
polnischen Auseinandersetzungen her gesehen, wo die radikale SDKPiL von
der Massenbewegung der nationalistischen PPS Pilsudskis erdrückt zu wer-

13 Umfassende Darstellung durch Georg W. STROBEL, Die Partei Rosa Luxemburgs,


Lenin und die SPD. Der polnische „europäische" Internationalismus in der
russischen Sozialdemokratie, Wiesbaden 1974; Ders., Quellen zur Geschichte des
Kommunismus in Polen 1 8 7 8 - 1 9 1 8 . Programme und Statuten ( = DokStKomm,
Bd. 5), Köln 1968.
14 Z i t i e r t bei H . - U . W E H L E R , S o z i a l d e m o k r a t i e u n d N a t i o n a l s t a a t . . . (21971) [170],
S. 1 3 3 f.
15 Das hat aber durchaus seine Folgen in der Geschichtsschreibung „der Arbeiter-
klasse", denn diese interpretiert seit Franz Mehring die deutsche Geschichte nach
1871 als Konkurrenzkampf zwischen dem junkerlich-bürgerlichen Staat und der
Sozialdemokratie um den gesellschaftspolitischen Führungsanspruch im Reich.
Die kleindeutsche Lösung als solche wird damit nicht mehr problematisiert.
440 § 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens

den drohte. 16 Im Königreich Polen, nicht in den preußischen Teilungsgebie-


ten, formierten sich denn auch seit dem Jahrhundertanfang die zukunfts-
entscheidenden Parteiengruppierungen des polnischen Nationalismus, die
Nationaldemokratie Roman Dmowskis und die Sozialistische Partei Józef
Pilsudskis, zu der großen Auseinandersetzung mit den Teilungsmächten.
Deren Auseinanderrücken seit den 1890er Jahren stellte in der Tat die große
außenpolitische Alternative und Optionsmöglichkeit für den nationalen
Unabhängigkeitskampf der Polen bereit. Die Lebenskraft der Synthese von
historischem Staats- und revolutionärem Nationsgedanken der Polen sollte
sich in dem Augenblick erweisen, da das osteuropäische Mächtesystem der
Teilungs-Trias auseinanderbrach. 17 Weder die austropolnische Lösung noch
die gemeinsame deutsch-österreichische Schöpfung des Königreichs Polen
vom November 1916 triumphierten am Ende, sondern der von der Entente
geförderte polnische Nationalstaat. 1 8 Dieser wuchs allerdings in seinem
Entstehungsprozeß sogleich über die schwer zu umschreibenden Grenzen
des polnischen Ethnos hinaus und strebte dem von Piisudski hartnäckig
festgehaltenen historischen Konzept der alten Republik im Herzen Ostmit-
teleuropas von Posen bis Wilna und Lemberg zu. Das Polen, das schließlich
1921 zur Ruhe kam, war wieder ein Vielvölkerstaat wie die alte Republik. 1 9
Von Versailles aus betrachtet war das ein seltsames Paradox, von der
historisch-staatlich begründeten nationalen Unabhängigkeitsidee her gese-
hen — und damit dem polnischen Verständnis nach — aber lediglich die
Wiedergutmachung des Unrechts von 1772 bis 1795. Es war eine Staatsbil-

16 J. Peter NETTL, Rosa Luxemburg, 2 B d e . , London 1966; G.W. STROBEL, Die


Partei Rosa Luxemburgs... ( 1 9 7 4 ) [s. o. Anm. 1 3 ] .
17 Unübertroffen, auch in der einleitenden Begründung des Problems seit 1871, W.
CONZE, Polnische Nation... (1958) [160]; Imanuel GEISS, Der Polnische Grenz-
streifen 1 9 1 4 - 1 9 1 8 . Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Welt-
krieg ( = HSt, Bd. 378), Lübeck - Hamburg 1960; Jerzy HoLZER/Jan M O L E N D A ,
Polska w pierwszej wojnie swiatowej (Polen im Ersten Weltkrieg) [1963], War-
szawa 2 1967.
18 Unter dem Beziehungsaspekt ragen heraus: W. M A R K E R T (Hg.), Osteuropa-
Handbuch Polen... (1959) [69]; Janusz PAJEWSKI, Odbudowa panstwa polskiego
1 9 1 4 - 1 9 1 8 (Der Aufbau des polnischen Staates 1 9 1 4 - 1 9 1 8 ) , Warszawa 1978;
Henryk JABLONSKI, Narodziny Drugiej Rzeczypospolitej 1918 - 1919 (Die Geburt
der Zweiten Republik 1 9 1 8 - 1 9 1 9 ) , Warszawa 1962; J[anusz] PAJEWSKI (Hg.)
Problem polsko-niemiecki w traktacie wersalskim (Das polnisch-deutsche Pro-
blem im Versailler Vertrag) ( = DzPoGrZ, Bd. 3), Poznan 1963; Louis L. GERSON,
Woodrow Wilson and the Rebirth of Poland 1 9 1 4 - 2 0 . A Study in the Influence
on American Policy of Minority Groups of Foreign Origin, New Haven 1953;
Kay LUNDGREEN-NIELSEN, The Polish Problem at the Paris Peace Conference. A
Study of the Policies of the Great Powers and the Poles 1918/19 ( = OdUSt,
Bd. 59), Odense 1979.
19 Józef LEWANDOWSKI, Federalizm. Litwa i Bialorus w polityce obozu belweders-
kiego (XI 1 9 1 8 - I V 1920) (Föderalismus. Litauen und Weißrußland in der Politik
des Pilsudski-Lagers), Warszawa 1962; Andrzej GARLICKI, U zródel obozu bel-
wederskiego (Die Entstehung des Pilsudski-Lagers), Warszawa 1978.
§ 9 Preußen ohne M o n a r c h i e und das wiedervereinigte Polen 441

dung, die Preußen notwendigerweise aus seiner 1772, ja 1618 eingegangenen


Verstrickung in die polnische Geschichte herauslöste. 20 Die Wiederherstel-
lung Polens, damit die Aufhebung von dessen Teilung, war nur auf Kosten
der alten Teilungsmächte zu erreichen gewesen. Sie alle gingen am Ende
des Ersten Weltkriegs als Monarchien zu Grunde.

ξ 9 Preußen ohne Monarchie und das


wiedervereinigte Polen (1919 — 1947)

Der dynastische Machtstaat aus Brandenburg und Preußen hatte durch sein
Zusammenwachsen unweigerlich die Geschichte Polens tangiert und seit
1657 durch Teilungspolitik in diese eingegriffen. Mit dem Ende der Hohen-
zollernmonarchie 1918 sind die tragenden Kräfte der Geschichte Preußens
als europäische Großmacht an ihr Ende gekommen: die Monarchie und die
Teilung Polens. Mit einer gewissen Berechtigung ließe sich von nun an von
dem Aufgehen des deutschen Staates Preußen in dem republikanischen Reich
von Weimar sprechen. Die „Reichsrepublik" (H. Ridder) kam in ihrer
Territorialbasis, ihrer ethno-demographischen Struktur und dem einheits-
staatlichen Zuschnitt ihrer Verfassung einem deutschen Nationalstaat be-
trächtlich näher als das Bismarck-Reich. Die Grenze der Republik zu dem
wiedererstandenen Polen fand schließlich annähernd den Verlauf jener „sta-
bilsten" deutsch-polnischen Grenze, die sich im 15. Jahrhundert herausge-
bildet und bis 1772 Bestand gehabt hatte. Aber gerade in der negativen
Einstellung der nunmehr deutschen Außenpolitik zu dieser Grenze und der
Staatenordnung des neuen, nicht mehr hegemonial unterdrückten, sondern
nationalstaatlichen, befreiten Ostmitteleuropa zeigte sich die Fortwirkung
des alten Preußens. Die Weimarer Demokratie, deren stabilster innerer
Pfeiler das republikanische, meist sozialdemokratisch regierte neue Preußen
war, blieb außenpolitisch in der alten preußischen Hegemonialtradition
stecken. 1

20 J. PAJEWSKI (Hg.), Problem polsko-niemiecki... (1963) [s. o. A n m . 18]; Stanislaw


KUBIAK, Niemcy a Wielkopolska 1 9 1 8 - 1 9 1 9 (Deutschland und Großpolen
1 9 1 8 - 1 9 1 9 ) ( = D z P o G r Z , Bd. 4), Poznan 1969; Dietrich VOIGT, Der Großpol-
nische Aufstand 1 9 1 8 / 1 9 1 9 . Bericht, Erinnerungen, Dokumente, M a r b u r g 1980.
1 Dieser Aspekt der Wirkungsgeschichte Preußens hat - trotz Peter Krügers großer
Darstellung der Weimarer Außenpolitik - leider noch immer nicht eine ent-
sprechend umfassende und konzentrierte Interpretation gefunden, wie sie mehr-
fach der Stellung Preußens in der inneren Geschichte Deutschlands in dieser
E p o c h e zuteil geworden ist; siehe vor allem H a g e n SCHULZE, O t t o Braun oder
Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, F r a n k f u r t / M . — Berlin — Wien
1 9 7 7 ; H o r s t MÖLLER, Das demokratische Preußen, in: O t t o Büsch (Hg.), Das
Preußenbild in der Geschichte. Protokoll eines Symposions ( = V H K z B , Bd. 50),
442 § 9 Preußen ohne Monarchie und das wiedervereinigte Polen

Der Mythos der preußisch(-deutschen) Monarchie mit ihrer gebietenden


Stellung in Ostmitteleuropa wirkte fort. Sie hatte — was Bismarck immer
als Schlimmstes befürchtet hatte — als historischer Staat einem anderen —
älteren — historischen Staat weichen müssen, mit dessen Wiederherstellung
Preußens „beste Sehnen" durchschnitten worden waren. Nur unwillig fügte
man sich auf beiden Seiten — nach zähen Grenz- und Freikorpskämpfen
— in die Machtentscheidungen und die Ergebnisse der Volksabstimmungen.
Dabei lebte rasch das nationalistische antipolnische Begriffsreservoir wie-
der auf, mit dem die Berechtigung der polnischen Nation zur eigenen
Staatlichkeit auf Kosten Preußens von den preußisch-deutschen Nationali-
sten schon immer angezweifelt worden war. In dieser Frage hatte der
imperiale Nationalismus der Wilhelminischen Ära, für den es sich hierbei
um ein geradezu ontologisches Verhältnis handelte, das rein politisch-
machtstrategische Denken der preußischen Konservativen noch überboten.
Der Haß der Nationalisten richtete sich nach 1918 in gleicher Weise gegen
den siegreichen polnischen Staat (und die polnische Nation) wie gegen den
eigenen „Novemberstaat", dem man die Schuld am Verlust der altpolnischen
Gebiete zuwies. Eine kampflose Preisgabe dessen, was man — wie in
wilhelminischer Zeit — Ostmark nannte, durfte es nach dieser Auffassung
nicht geben. Als der Friedensvertrag von Versailles am 28. Juni 1919 schließ-
lich angesichts der Androhung von Repressalien angenommen wurde, ge-
schah dies auch im Regierungslager nicht ohne den Vorbehalt künftigen
loyalen Revisionsstrebens in bezug auf die östliche Grenzziehung. 2
So war Grenzrevisionismus im Osten von Anbeginn an ins Auge gefaßt.
Der Gedanke erhielt Auftrieb, als die Plebiszite in den Abstimmungsgebieten
Masuren, Westpreußen und Oberschlesien die starke Anziehungskraft des
deutschen Staates auf die ethnisch-national für das Polentum in Anspruch
genommenen, polnisch sprechenden Masuren, Kaschuben und Oberschlesier

Berlin - New York 1981, S. 231 —245; Ansätze finden sich bei Klaus HILDEBRAND,
Das Deutsche Reich und die Sowjetunion im internationalen System 1918 — 1932.
Legitimität oder Revolution? ( = FrankfhV, Nr. 4), Wiesbaden 1977, bes. S. 16 ff.;
Peter KRÜGER, Friedenssicherung und deutsche Revisionspolitik. Die deutsche
Außenpolitik und die Verhandlungen über den Kellogg-Pakt, in: VfZ, Bd. 22
(1974), S. 227 - 257; Günter WOLLSTEIN, Vom Weimarer Revisionismus zu Hitler.
Das Deutsche Reich und die Großmächte in der Anfangsphase der nationalso-
zialistischen Herrschaft in Deutschland, Bonn 1973; vgl. zuletzt die Bemerkungen
A. Hillgrubers und anderer Diskussionsteilnehmer in dem Sammelband: Karl
Dietrich ERDMANN/Hagen SCHULZE (Hg.), Weimar: Selbstpreisgabe einer De-
mokratie. Eine Bilanz heute. Kölner Kolloquium der Fritz-Thyssen-Stiftung, Juni
1979, Düsseldorf 1980.
2 H . v o n RIEKHOFF, G e r m a n - P o l i s h R e l a t i o n s . . . ( 1 9 7 1 ) [ 1 8 4 ] ; J . KRASUSKI, S t o s u n k i
polsko-niemieckie... ( 2 1975) [182] (Die polnisch-deutschen Beziehungen 1 9 1 9 -
1 9 3 2 ) ; K . FIEDOR A n t y p o l s k i e o r g a n i z a c j e . . . (1973) [181] (Antipolnische Orga-
nisationen in Deutschland 1918 — 1933); J. SOBCZAK, Propaganda zagraniczna...
(1973) [185] (Die außenpolitische Propaganda des Weimarer Deutschland gegen
Polen).
§ 9 Preußen ohne Monarchie und das wiedervereinigte Polen 443

bekundeten. Hier wirkte offensichtlich die Assimilationskraft des alten


preußischen Staates fort. 3
Aber über die Abstimmungsgebiete hinaus, in bezug auf den mehrheitlich
polnischen Korridor und die alte Provinz Posen gewöhnte man sich rasch
an die - politisch nicht unwillkommene - Vorstellung, daß die deutsche
Bevölkerung Polens trotz Minderheitenschutzbestimmungen des Friedens-
vertrages unterdrückt würde. Dieses Problem hatte gewiß mehrere Seiten,
nicht zuletzt die Unfähigkeit des neuen Polen, die „Umkehrung" der preu-
ßisch-polnischen Verhältnisse als mehr als diese, als qualitativen Wandel,
zu begreifen und zu gestalten. Es war im politischen Bewußtsein der pol-
nischen Führungsschichten offenbar ein bloßer Rollentausch eingetreten.
Unbestreitbar ist, daß der „nachhelfende" Druck, den die polnischen Be-
hörden auf die Abwanderungsbewegung, die nach 1918 auch als eine
natürliche Reaktion auf die verstärkte Ansiedlungspolitik vor 1914 eintrat,
Verbitterung und in stärkstem Maße nationale Haßgefühle hervorrief. 4

3 Diesen Problemen wird auf polnischer Seite seit je große Beachtung zuteil; für
Masuren und Ermland gibt es jetzt eine beachtliche übergreifende Synthese von
W. WRZESINSKI, Warmie i Mazury... (1984) [171] (Ermland und Masuren im
politischen Denken in Polen 1864—1945) (zum Abstimmungsproblem s. Kap. IV,
S. 189 ff.); für Oberschlesien fehlt eine ähnlich umfassende Einordnung noch,
vorerst s. z. B. Wladyslaw ZIELIÑSKI, Polska i niemiecka propaganda plebiscy-
towa na Górnym Sl^sku (Die polnische und die deutsche Abstimmungspropa-
ganda in Oberschlesien), Wroclaw 1972; Ders., Stosunek spoleczenstwa pol-
skiego... (1968) [186] (Die Einstellung der polnischen Gesellschaft zu Aufständen
und Volksabstimmung in Oberschlesien 1919 — 1921). — Für die deutsche Auf-
fassung s. W. MARKERT (Hg.), Osteuropa-Handbuch Polen... (1959) [69]; Gott-
hold RHODE, Das Deutschtum in Posen und Pommerellen in der Zeit der
Weimarer Republik, in: Die deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik
( = StDtO, Bd. 3), K ö l n - G r a z 1966, S. 8 8 - 1 3 2 .
4 Daraus resultierten lange auch viele Schwierigkeiten für die historische For-
schung, siehe dazu meine Bemerkungen (in bezug auf zwei Neuerscheinungen):
Zur Problematik des deutsch-polnischen Dialogs, in: J G M O D , Bd. 25 (1976),
S. 464 — 466. — Der Stand der Forschung ist auch heute noch nicht befriedigend;
zuletzt Gerhard SCHULZ, Deutschland und Polen vom Ersten zum Zweiten
Weltkrieg, in: GWU, 33. Jg. (1982), S. 1 5 4 - 1 7 2 , gänzlich ohne Berücksichtigung
polnischer Auffassungen. Nur als Materialgrundlage brauchbar ist der Versuch
von Frank GOLCZEWSKI, Das Deutschlandbild der Polen 1918 - 1 9 3 9 . Eine Un-
tersuchung zur Historiographie und Publizistik ( = GStPGes, Bd. 7), Düsseldorf
1974. - Gute Fortschritte hat seit Otto HEIKE, Das Deutschtum in Polen 1918 -
1939, Bonn 1955, die Erforschung der deutschen Minderheit in Polen als Problem
deutscher Politik genommen; s. N. KREKELER, Revisionsanspruch... (1973) [183];
Manfred ALEXANDER, Die Politik der Weimarer Republik gegenüber den deut-
schen Minderheiten in Ostmitteleuropa. 1 9 1 8 - 1 9 2 6 , in: AIIGTr, Bd. 4 (1978),
S. 341 — 367; Rudolf JAWORSKI, Der auslandsdeutsche Gedanke in der Weimarer
Republik, in: A. a. O., S. 369 —386; Ders., Zainteresowanie zagadnieniem niemc-
zyzny zagranicznej i kresowej w Republice Weimarskiej (Das Interesse an den
Problemen des Auslands- und Grenzlanddeutschtums in der Weimarer Republik),
in: S t H S G , B d . 19 ( 1 9 8 1 ) , S . 1 4 1 - 1 5 8 ; w e i t e r e A n g a b e n bei W . WIPPERMANN,
444 § 9 Preußen ohne Monarchie und das wiedervereinigte Polen

Aber noch ein anderer, ein außenpolitischer Gedanke k a m machtvoll ins


Spiel: die mögliche Interessengemeinschaft der beiden großen Kriegsverlierer
Deutschland und Rußland, auf deren beider Kosten die Wiederherstellung
Polens gegangen war. Es lag für die Neuansätze einer eigenen deutschen
Außenpolitik eine gewisse Zwangsläufigkeit in der Vorstellung, in Rußland
ein Gegengewicht gegen die starke französische Unterstützung des wieder-
vereinigten Polen — dieser zeitgemäßen Version des alten Barrière de l'Est-
Konzepts — zu finden, und hierin fanden sich Stimmen aus den verschie-
densten politischen Lager zusammen. Wenn gesagt worden ist, daß der
Gedanke an Grenzrevision im Osten den deutschen Schrittmachern der
Annäherung an das bolschewistische Rußland ferngelegen habe, so muß
dagegen betont werden, daß dieses Grundmotiv der Weimarer Außenpolitik
gar nicht wegzudenken ist aus dem Bedingungsgefüge des Vertrages
v o m April 1922, wie vorsichtig und umsichtig die Diplomatie auch immer
bemüht gewesen sein mag, verbale Anklänge an diesen Revisionsgedanken
in den schriftlichen Fixierungen des Vertragswerkes zu vermeiden. 5 Im
rechtskonservativen Lager und bei der Reichswehr gab es noch sehr viele
weitergehende, gefährlichere Kombinationen und Überlegungen im An-
schluß an Rapallo, die in einem nebelhaften Tauroggen-Mythos außenpo-
litischen Revisionismus und antirepublikanische Restauration im Innern
verbanden. 6

Der „Deutsche Drang nach Osten"... (1981) [73], S. 104 ff. - Einen Einblick in
die Diskussion der DDR-Historiker bietet der Sammelband: Der deutsche Im-
perialismus und Polen... (1978) [176]. — Über die polnische Forschung orientiert
Leonid LUKS, Die Weimarer Republik im Spiegelbild der polnischen Geschichts-
schreibung nach 1945, in: VfZ, 28. Jg. (1980), S. 4 1 0 - 4 3 9 ; speziell M. CYGANSKI,
Mniejszosc niemiecka... (1962) [175] (Die deutsche Minderheit in Zentralpolen
1 9 1 8 - 1 9 3 9 ) ; S. POTOCKI, Polozenie mniejszosci niemieskiej... (1969) [178] (Die
Lage der deutschen Minderheit in Polen 1918 —1939). — Beziehungsgeschichtliche
Fragestellung bei Z. DWORECKI, Problem niemiecki... (1981) [177] (Das deutsche
Problem im nationalpolitischen Bewußtsein der polnischen Gesellschaft in den
Westgebieten der Republik 1922— 1939). Inzwischen macht sich in der Diskussion
der Fachleute eine beträchtliche Annäherung der Standpunkte bemerkbar, s.
zuletzt die Verhandlungen der 17. deutsch-polnischen Schulbuchkonferenz, die
1984 in Augsburg stattfand: Die deutsch-polnischen Beziehungen... (1985) [179].
5 Jerzy KRASUSKI, Wplyw traktatu w Rapallo na stosunki polsko-niemieckie (Der
Einfluß des Vertrages von Rapallo auf die deutsch-polnischen Beziehungen), in:
P Z , Bd. 17 (1961), H . 2, S. 5 3 - 6 5 ; H e r b e r t HELBIG, D i e T r ä g e r der Rapallo-
Politik ( = VMPIG, Bd. 3), Göttingen 1958; Theodor SCHIEDER, Die Probleme
des Rapallo-Vertrages. Eine Studie über die deutsch-russischen Beziehungen
1922 - 1 9 2 6 ( = VAGFGew, Bd. 43), Köln - Opladen 1956; Horst Günther LINKE,
Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo ( = AbhBioSt, Bd. 22), Köln 1972.
6 Kurt SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die
politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München
1962; Otto-Ernst SCHÜDDEKOPF, Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutio-
nären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart
1960; speziell: Gerd VOIGT, Otto Hoetzsch 1876 - 1 9 4 6 . Wissenschaft und Politik
im Leben eines deutschen Historikers ( = QStGOe, Bd. 21), Berlin 1978.
§ 9 Preußen ohne Monarchie und das wiedervereinigte Polen 445

Für eine Politik gegen das Versailler System war die Frage der deutschen
Ostgrenzen allerdings ein geeigneter Ansatzpunkt. Als ihr Garant trat allein
noch Frankreich ein, während England — ganz zu schweigen von den USA
— eher Anstalten machte, sich aus Verpflichtungen von so weitgehenden
Konsequenzen herauszuhalten. Natürlich besteht für die historische Betrach-
tung kein Grund zum Triumphieren gegen Versailles, besonders dann nicht,
wenn man die unausweichliche Vertiefung des deutsch-polnischen Gegen-
satzes auf Grund der unwiderruflichen Bindung der staatlichen Existenz
Polens an die Dauerhaftigkeit des Versailler Systems in Rechnung stellt. Die
Gültigkeit dieser Konstruktion aber haben ihre Schöpfer von Anfang an
nicht in allen Konsequenzen ernst genommen. Ein Staatensystem, das die
Ersetzung übernationaler historischer Ordnungsgrundlagen in Ostmitteleu-
ropa durch den am Selbstbestimmungsrecht der Völker orientierten Natio-
nalstaat im Auge hatte, war viel komplizierter als die alte Staatenordnung
und bedurfte besonders sorgfältiger Abstützung seiner Grundlagen. Ohne
Zweifel hätte Polen Beruhigung im östlichen Mitteleuropa bewirken kön-
nen, wenn es durch ein von allen beteiligten und betroffenen Staaten bejahtes
Sicherheitssystem in seiner Unabhängigkeit geschützt worden wäre. 7
Aber diese Möglichkeiten wurden versäumt, als die Westmächte - ähn-
lich wie Großbritannien und Frankreich 1768 — die ungeklärten Spannun-
gen in Osteuropa negligierten und die Kriegsverlierer Deutschland und
Sowjetrußland sich in diesen Fragen selbst überließen. In Deutschland
konnten mythologisierte Traditionen zu politischen Maximen herangedei-
hen, und was Rußland betraf, so nahm man die Erprobung revolutionärer
Taktiken in der Außenpolitik orientierungslos hin. Selbst noch Stresemanns
konsequente Erfüllungspolitik, die nach Locamo führte, ließ in ihrer Ver-
meidung eines analogen „Ost-Locarno" die gefährliche Lücke des Versailler
Staatensystems deutlich erkennen. Sie wäre nur zu schließen gewesen, wenn
man die ernsthafte staatenpolitische Konsequenz aus der territorialen Ent-
polonisierung Preußens, nämlich die Garantie der Grenzen, gezogen hätte. 8
So blieb die deutsche Politik — mit der Fracht unkontrollierter und unre-
flektierter preußischer Traditionen — über die staatenpolitische Situation
der Nachweltkriegszeit weiter osteuropäisch engagiert. Beim Abschluß der
Westverträge sah sich die deutsche Reichsregierung genötigt, der Sowjet-

7 Zu erinnern ist an L. Dehios Mahnung, die Lösungsmöglichkeiten, die Versailles


bot, zumindest in der historischen Reflexion ernster zu nehmen; s. Ludwig DEHIO,
Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, München 1955.
8 Christian HÖLTJE, Die Weimarer Republik und das Ostlocarno-Problem 1919 -
1934. Revision oder Garantie der deutschen Ostgrenze von 1919 ( = MOstf,
Bd. 8), Würzburg 1958; Martin BROSZAT, Außen- und innenpolitische Aspekte
der preußischen-deutschen Minderheitenpolitik in der Ära Stresemann, in: Kurt
Kluxen/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Politische Ideologien und nationalstaatli-
che Ordnung. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift
für Theodor Schieder, M ü n c h e n - W i e n 1968, S. 393 - 445; Klaus MEGERLE,
Danzig, Korridor und Oberschlesien. Zur deutschen Revisionspolitik gegenüber
Polen in der Locarnodiplomatie, in: JGMOD, Bd. 25 (1976), S. 1 4 5 - 1 7 8 .
446 § 9 Preußen ohne Monarchie und das wiedervereinigte Polen

union zu versichern, d a ß der Sicherheitspakt mit Frankreich „kein Verzicht


auf die politischen Z i e l e " bedeute, „die Deutschland hinsichtlich seiner
Ostgrenze verfolgen m u ß " . 9
Polen, wirtschaftlich in gefährlichen Krisen befindlich, sah sich durch die
L o c a r n o - P o l i t i k verlassen und rüstete sich zu politischer Selbstbehauptung
in der einmal gewonnenen Position. Pilsudskis Staatsstreich v o m M a i 1926
ist nicht zuletzt von hier aus zu verstehen. 1 0 In der Minderheitsfrage w a r
Polen dank des undifferenzierten nationaldemokratischen Integrationsnatio-
nalismus auf das schärfste mit den N a c h b a r n zerstritten; es mußte infol-
gedessen eine ständige M i n d e r u n g seines internationalen Ansehens hinneh-
men. Es klingt p a r a d o x , aber ist historisch verbürgt, d a ß man im Kreis um
Pilsudski Hitlers Machtergreifung als C h a n c e eines Neubeginns im polnisch-
deutschen Verhältnis begrüßte. Z u m ersten M a l nach dem Ersten Weltkrieg
hörte die deutsche Propaganda von den blutenden Grenzen auf, man k l a m -
merte sich an die H o f f n u n g , d a ß die dynamische und ideologische K o m -
ponente des neuen Regimes den Bruch mit den revisionistisch-preußischen
Traditionen gewissermaßen von selbst erwirken würde, daß mithin der T a g
von Potsdam nur M u m m e n s c h a n z war. Hitlers österreichische H e r k u n f t
mußte als vages Indiz dafür herhalten, d a ß die traditionelle „antipolnische
W u t " seiner Vorgänger nun das deutsch-polnische Verhältnis nicht mehr
beeinträchtigen würde.
D e n n o c h hielt Pilsudski einen Test für erforderlich, er lancierte den
G e d a n k e n einer „Polizeiaktion", nämlich der Besetzung Ostpreußens, D a n -
zigs und Oberschlesiens unter Aufsicht des Völkerbundes. Deutschland sollte
damit zur Einhaltung der Rüstungs- und Grenzbestimmungen des Versailler
Vertrages angehalten werden. In der T a t ließ Hitler sich, wie Pilsudski es
wünschte, durch die D r o h u n g zur Verständigung, das heißt zur Respektie-
rung der Grenze nötigen. D e r Weg für eine förmliche Nichtangriffserklärung
schien dem M a r s c h a l l frei, und seine Politik entwickelte sich nun in der
T a t zu einem Versuch, die Lücke im Versailler System — von dessen
Funktionieren Polens Überlebenschance abhing — zu schließen. D a s heißt:
D a s A b k o m m e n mit Hitler sollte deutschen Grenzrevisionismus ausschlie-
ßen und gleichzeitig soweit einen Keil zwischen Polen und die W e s t m ä c h t e
treiben, damit diese zum Ernstnehmen ihres Versailler Staateneuropa ge-
zwungen würden. Es w a r vielleicht die letzte Regung staatenpolitischen
Kalküls im europäischen M ä c h t e s p i e l im traditionellen Sinne. 1 1

9 Siehe T. SCHIEDER, Die Probleme des Rapallo-Vertrages... (1956) [s. o. Anm. 5],
S. 75 f.
10 Im Kontext der internationalen Beziehungen gesehen bei Joseph ROTHSCHILD,
Pilsudski's Coup d'Etat, New York —London 1968, S. 292 ff.; Karol LAPTER,
Miçdzynarodowe tío przewrotu majowego (Der internationale Hintergrund
des Mai-Umsturzes), in: SpM, 9. Jg. (1956), H. 5, S. 43 - 60, H. 6, S. 5 4 - 7 1 ;
Andrzej GARLICKI, Przewrót majowy (Der Mai-Umsturz), Warszawa 1978.
11 So M . WOJCIECHOWSKI, Die deutsch-polnischen Beziehungen... (1971) [190],
S. 108 ff.; ferner Hans Roos, Polen und Europa. Studien zur polnischen Außen-
politik 1 9 3 1 - 1 9 3 9 [1957], Tübingen 2 1 9 6 4 ; R . BREYER, D a s Deutsche Reich...
(1955) [188],
§ 9 Preußen ohne M o n a r c h i e und das wiedervereinigte Polen 447

Aber auch diese Schlußfolgerung zeigt nur, genauer durchdacht, daß das
Ende des alten Europa erreicht war: Weder waren die Westmächte in der
Lage, das Staatensystem gegen die Dynamik der Hitlerschen Machtpolitik
ab 1935 zu sichern, noch läßt sich bislang erkennen, ob die Sowjetunion
1934 ernsthaft an einer staatenpolitischen Stabilisierung des Versailler Sy-
stems interessiert gewesen ist. Für den Augenblick und für die nächsten
Jahre war sie es möglicherweise, ob aber auf Dauer, wird man angesichts
der radikal anderen ideologischen Zielsetzung der Stalinschen Außenpolitik
in den 30er Jahren mit Fug in Zweifel ziehen dürfen.
Seit etwa 1935/36, vor allem seit dem Spanischen Bürgerkrieg (mit den
spezifischen Interventionsinteressen der Achsenmächte und Sowjetrußlands)
wurde deutlich, daß eine neue ideologische Dynamik in die europäische
Politik einbrach. Die deutsche Politik bekam von nun an einen wahnhaft
revolutionären Zug, der auf den Traum von der Weltherrschaft des ger-
manischen Großreiches gegründet war.
Wenn sich nun preußisches Denken in der Entgegensetzung gegen die
Un-Politik des Weltverbesserers noch einmal konzentrierte, so ist diese
preußisch-konservative Opposition gegen Hitler an ihrer eigenen Befangen-
heit in der Ostgrenzenfrage gescheitert und dadurch zu außenpolitischer
Wirkungslosigkeit verurteilt worden. England traute 1938 Hitlers Beteue-
rungen mehr als dem ehrlich gemeinten Traditionalismus preußischer Ver-
schwörer gegen die braune Diktatur. 12
Dennoch kann die Gedankenführung, die auf den beziehungsgeschicht-
lichen Epochenzusammenhang im deutsch-polnischen Verhältnis seit 1848
gerichtet ist, hier noch nicht beendet sein. Die Außenpolitik und ihre
machttraditionalistischen Dominanten wiegen schwerer als jene inneren
Wandlungen Deutschlands, die mit der Verfassungsreform im „Reich" 1934
im Zusammenhang stehen. Im Blick auf den Funktionszusammenhang der
deutschen und der polnischen Frage, den das Scheitern der liberalen Na-
tionsbildung hervorgebracht hat und aus dem der Faktor Rußland nicht
eliminiert werden kann, müssen Ausbruch und Ende des Zweiten Weltkriegs
in die Kontinuitätsreflexion zur Geschichte Preußens in Ostmitteleuropa
einbezogen werden. Das Pendel schlug zwischen 1939 und 1945 von der
erneuten Teilung Polens zu dessen Wiederherstellung aus. Im Sinne der
Kontinuitätsfragestellung muß für 1945 von der Umkehrung des Bismarck-
schen Axioms negativer Polenpolitik, das heißt von der Lösung der polni-
schen Frage auf Kosten Preußens und Deutschlands, gesprochen werden.
Eine solche Umkehrung kann in bezug auf 1918 noch nicht konstatiert
werden, denn damals blieb Rußland noch traditionell mit (Preußen-)
Deutschland verknüpft: Die Langzeitfolge war 1939 der deutsch-russische
Krieg gegen Polen. Erst 1941, als die deutsch-russische Entente zerbrach,
ohne daß (wie 1914) eine Änderung der deutschen Polenpolitik folgte, ist
ein russisch-polnisches Bündnis entstanden, das die déstruction totale de la

12 Aufschlußreich ist die Untersuchung von Bernd-Jürgen WENDT, München 1938.


England zwischen Hitler und Preußen ( = H a m b S t N G , Bd. 3), F r a n k f u r t / M . 1965.
448 § 10 Anhang

Prusse 1945/1947 ermöglichte. Auch das ideengeschichtliche G r u n d p r o b l e m ,


das aus Preußens Politik für die Polen und die Deutschen nach 1848
resultierte, nämlich die konträre Entwicklung der beiderseitigen N a t i o n s -
begriffe, ist dabei als beziehungsgeschichtlicher Prozeß bis zu der förmlichen
A u f l ö s u n g des Staates Preußen im J a h r e 1947 zu verfolgen. 1 3

s 10 Anhang

(Siehe nebenstehende Stammtafel)

13 So die gründliche Untersuchung von A. LAWATY, Das Ende Preußens... (1986)


[64],
Stammtafel der mit dem Herzogtum Preußen belehnten
Albrecht Achilles
"24. XI. 1414 f l l . 111. 1486
Kf. von Brandenburg 1470

Johann Cicero
* 2. Vili. 1455 t 9. 1. 1499
Kf. von Brandenburg 1486
I
Joachim I. .1
* 21. IL 1484 f l l . VII. 1535 Kasimir
Kf. von Brandenburg 1499 * 27. IX. 1481 21. IX. 1527
I Mgf. zu Kulmbach 1515
J o a c h i m II. Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1525
4 9. I. 1505 3. I. 1571

oo 2) 1535 Hedwig, T. Kg. Sigismund l. Albrecht d. J . Alcibiades


von Polen 4 28. III. 1522 f 8. I. 1557

Kf. von Brandenburg 1535 Mgf. zu Kulmbach 1536


Hgtm. Preußen: Zulassung zur Lehns- Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1550
nachfolge 1563
Mitbelehnung 1569

1. 2.
J o h a n n Georg Siegmund
1 11. IX. 1525 t 8. I. 1598 8 2. XII. 1538 f 14. IX. 1566
Kf. von Brandenburg 1571 Eb. von Magdeburg 1553
Hgtm. Preußen: Zulassung zur Lehns- Hgtm. Preußen: Zulassung zur Lehnsnachfolge
nachfolge 1563 1563
Mitbelehnung 1569, 1578, 1589

JOACHIM FRIEDRICH
* 27. I. 1546 t 18. VII. 1608
oo 1) 1570 Katharina, T. Mg f. Johanns von
Brandenburg-Kiistrin
oo 2) 1602 Eleonore, T. Hg. Albrecht
Friedrichs von Preußen
Kf. von Brandenburg 1598
Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1578, 1589
Vormundschaft und Regentschaft 1605

1. 1.
JOHANN S I G I S M U N D J o h a n n Georg
* 8 . XI. 1572 t 23. XII. 1619 * 16. XII. 1577 1 2 . III. 1624
oo 1594 Anna, T. Hg. Albrecht Friedrichs Hg. zu Jägerndorf 1606
von Preußen Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1611, 1621
Kf. von Brandenburg 1608
Hgtm. Preußen: Vormundschaft und Ernst
Regentschaft 1609 * 18. I. 1617 t 24. IX. 1642
Belehnung 1611 Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1633, 1641

GEORG WILHELM J o a c h i m Sigismund


» 3 . XI. 1595 1 1· XII· 1640 * 25. VII. 1603 t 22. II. 1625
Kf. von Brandenburg 1619 Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1621
Hgtm. Preußen: Belehnung 1621, erneuert 1633

FRIEDRICH WILHELM
* 6. II. 1620 t 29. IV. 1688
Kf. von Brandenburg 1640
Hgtm. Preußen: Belehnung 1641, erneuert 1649

Quelle: Stephan DoLEZEL/Heidrun DOLEZEL (Hg.), Die Staatsverträge des Herzogtums Preußen, T. 1 (Polen
und Litauen. Verträge und Belehnungsurkunden 1 5 2 5 - 1 6 5 7 / 5 8 ( = VAPrKG, Bd. 4), Berlin 1971, S. 218 f.
und mitbelehnten Mitglieder des Hauses Brandenburg

Friedrich
* 8. V. 1460 14. IV. 1536
oo 1479 Sofie, T. Kg. Kasimirs IV. von Polen
Mgf. zu Ansbach 1486, zu Bayreuth 1495

Georg ALBRECHT Johann


* 4 . III. 1 4 8 4 t 2 7 . X I I . 1543 * 17. V. 1 4 9 0 t 2 0 . III. 1568 * 9. I. 1493 t V I I . 1525
M g f . zu A n s b a c h 1 5 3 6 H M . des D e u t s c h e n O r d e n s 1511 V i z e k ö n i g von Valencia 1516
H g t m . Preußen: H g t m . Preußen: B e l e h n u n g 1525, H g t m . Preußen: M i t b e l e h n u n g 1525
M i t b e l e h n u n g 1525 erneuert 1 5 5 0

G E O R G FRIEDRICH ALBRECHT FRIEDRICH


* 3 . IV. 1539 t 26. IV. 1603 * 2 9 . IV. 1553 t 18. VIII. 1618
M g f . zu A n s b a c h 1 5 5 6 , zu K u l m b a c h 1557 H g t m . Preußen: Belehnung 1569
H g t m . Preußen: M i t b e l e h n u n g 1 5 5 0 , 1569,
V o r m u n d s c h a f t und R e g e n t s c h a f t 1 5 7 7 , Anna Eleonore
B e l e h n u n g 1 5 7 8 , erneuert 1589 1. Johann Sigismund 1. Joachim Friedrich

1
1. 1.
Ernst Christian Wilhelm
* 3. IV. 1583 t 18. I X . 1613 * 2 8 . VIII. 1 5 8 7 f 1. I. 1665
H g t m . Preußen: M i t b e l e h n u n g A d m i n i s t r a t o r d. E b t s . M a g d e b u r g 1598
1611 K o a d j u t o r d. E b t s . M a g d e b u r g 1 6 1 4
H g t m . Preußen: M i t b e l e h n u n g 1 6 1 1 , 1 6 2 1 ,
1 6 3 3 , 1 6 4 1 , 1649

(Regierende H e r z ö g e in Preußen in K a p i t ä l c h e n . N a m e n , die lediglich zur Verdeutlichung genealogischer


Z u s a m m e n h ä n g e aufgeführt sind, kursiv. E h e - A n g a b e n nur bei denjenigen m ä n n l i c h e n Mitgliedern des
H a u s e s B r a n d e n b u r g , die mit ihrer H e i r a t eine Verbindung i n n e r h a l b des H a u s e s B r a n d e n b u r g oder mit dem
H a u s e J a g i e l l o eingegangen sind.)
II. Preußens Wirtschaft vom
Dreißigjährigen Krieg
bis zum Nationalsozialismus
Von Wilhelm Treue

Bibliographie

1. Zeitlich übergreifende Quellen werke, Handbücher und


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in: MendSt, Bd. 1 (1972), S. 2 9 - 8 0 ; [139] Wilhelm TREUE, Das Privatbankwesen
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der deutschen Sparkassen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1980.

2. 17. und 18. Jahrhundert


Überblicksdarstellungen: [141] Hermann FECHNER, Wirtschaftsgeschichte der preu-
ßischen Provinz Schlesien in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit 1741 —1806,
Breslau 1907; [142] William O. HENDERSON, Die Struktur der preußischen Wirtschaft
um 1786, in: ZgSt, Bd. 117 (1961), S. 2 9 2 - 3 1 9 ; [143] Wilhelm TREUE, Wirtschaft,
Gesellschaft und Technik in Deutschland vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in:
Herbert Grundmann (Hg.), Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Stuttgart
Ί 9 7 0 , Bd. 2, S. 4 4 1 - 5 4 5 .
Wirtschafts- und Finanzpolitik: [144] Kurt BREYSIG, Geschichte der brandenburgi-
schen Finanzen in der Zeit von 1640 bis 1697. Darstellung und Akten. Bd. 1: Die
Centraistellen der Kammerverwaltung. Die Amtskammer, das Kassenwesen und die
Domänen der Kurmark ( = UrkAFrWilh, T. 1, Bd. 1), Leipzig 1895; [145] William
O. HENDERSON, Studies in the Economic Policy of Frederick the Great, Liverpool —
London 1963; [146] Hugo RACHEL, Der Merkantilismus in Brandenburg-Preußen,
in: FBPG, Bd. 40 (1927), S. 2 2 1 - 2 6 6 ; [147] Gustav SCHMOLLER, Studien über die
wirthschaftliche Politik Friedrichs des Großen und Preußens überhaupt von 1680 —
1786, in: Schmjb, N.F., 8. Jg. (1884), S. 1 - 6 1 , 3 4 5 - 4 2 1 , 9 9 9 - 1 0 9 1 , 10. Jg. (1886),
S. 1 - 4 5 , 3 2 7 - 3 7 3 , 6 7 5 - 7 2 7 , 11. Jg. (1887), S. 1 - 5 8 , 7 8 9 - 8 8 3 ; [148] Adelheid
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456 Preußens Wirtschaft

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preußische Domänenverwaltung unter Friedrich Wilhelm I. und das Rétablissement
Litauens (= StSwF, H. 118), Leipzig 1906; [150] Johannes H. SONNTAG, Die preu-
ßische Wirtschaftspolitik in Ostfriesland 1744-1806, 1813-1815 ( = AbhVGOstfr,
Bd. 66), Aurich 1987; [151] Fritz TERVEEN, Gesamtstaat und Rétablissement. Der
Wiederaufbau des nördlichen Ostpreußen unter Friedrich Wilhelm I. 1714 —1740
(= GöBaustGw, Bd. 16), Göttingen 1954; [152] Friedrich WOLTERS, Geschichte der
brandenburgischen Finanzen in der Zeit von 1640 bis 1697. Darstellung und Akten.
Bd. 2: Die Zentralverwaltung des Heeres und der Steuern ( = UrkAFrWilh, T. 1,
Bd. 2), München 1915; [153] Anton ZOTTMANN, Die Wirtschaftspolitik Friedrichs
des Großen. Mit besonderer Berücksichtigung der Kriegswirtschaft ( = GeswAbh,
Bd. 8), Leipzig-Wien 1937.
Landwirtschaft: [154] Gustavo CORNI, Absolutistische Agrarpolitik und Agrarge-
s e l l s c h a f t in P r e u ß e n , in: Z H F , B d . 13 (1986), S. 2 8 5 - 3 1 3 ; [155] F r i e d r i c h GROSS-
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burg vom 16. bis 18. Jahrhundert ( = StSwF, Bd. 9, H. 4), Leipzig 1890; [156] Hartmut
HARNISCH, Die agrarpolitischen Reformmaßnahmen der preußischen Staatsführung
in d e m J a h r z e h n t v o r 1 8 0 6 / 0 7 , in: J b W G , 1 9 7 7 / 3 , S. 1 2 9 - 1 5 3 ; [157] Hartmut
HARNISCH/Gerhard HEITZ (Hg.), Deutsche Agrargeschichte des Spätfeudalismus
( = StBiDDRGw, Bd. 6), Berlin 1986; [158] Friedrich-Wilhelm HENNING, Bauern-
wirtschaft und Bauerneinkommen in Ostpreußen im 18. Jahrhundert ( = BeihJbUK,
Bd. 30), Würzburg 1969; [159] Friedrich-Wilhelm HENNING, Dienste und Abgaben
der Bauern im 18. Jahrhundert ( = QFAG, Bd. 21), Stuttgart 1969; [160] Friedrich-
Wilhelm HENNING, Die oberschlesische Landwirtschaft im ausgehenden 18. Jahr-
hundert, in: MRaGes, Bd. 1 (1988), S. 3 3 - 7 1 ; [161] Otto HINTZE, Zur Agrarpolitik
Friedrichs des Großen, in: FBPG, Bd. 10 (1898), S. 275 - 309; [162] Hans-Heinrich
MÜLLER, Märkische Landwirtschaft vor den Agrarreformen von 1807. Entwick-
lungstendenzen des Ackerbaues in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
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arbeit in der ostpreußischen Landwirtschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in:
Z A A , B d . 3 6 (1988), S. 1 1 - 2 2 ; [164] M a r i e RUMLER, D i e B e s t r e b u n g e n z u r B e f r e i u n g
der Privatbauern in Preußen 1 7 9 7 - 1 8 0 6 , in: FBPG, Bd. 33 (1920/21), S. 1 7 9 - 1 9 2 ,
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Bergbau und Hüttenwesen: [165] Hermann FECHNER, Geschichte des schlesischen


Berg- und Hüttenwesens in der Zeit Friedrichs des Großen, Friedrich Wilhelms II.
und Friedrich Wilhelms III. 1741-1806, in: ZBHS, Bd. 49 (1901), S. 1 - 8 6 , 2 4 3 -
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Handwerk: [175] Gerhard DETER, Handwerksförderung in den westfälischen Ter-


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Verkehr: [185] Horst KEMPAS, Seeverkehr und Pfundzoll im Herzogtum Preußen.


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Handel und Zölle: [ 1 8 9 ] W[ilhelm] NAUDE/G[ustav] ScHMOLLER/A[ugust] SKALWEIT,


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der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die einzelnen Gebiete der
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Münzwesen: [191] Friedrich Freiherr von SCHRÖTTER, Acta Borussica. Denkmäler


der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die einzelnen Gebiete der
Verwaltung. Das Preußische Münzwesen im 18. Jahrhundert. Beschreibender Teil,
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TER/Gustav SCHMOLLER, Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwal-
tung im 18. Jahrhundert. Die einzelnen Gebiete der Verwaltung. Das Preußische
Münzwesen im 18. Jahrhundert. Münzgeschichtlicher Teil, Berlin 1 9 0 4 - 1 9 1 3 (ND
Frankfurt/M. 1986/87).

Minderheiten in der preußischen Wirtschaft: [193] Stefi JERSCH-WENZEL, Juden und


„Franzosen" in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg zur Zeit des Mer-
kantilismus ( = EVHKzB, Bd. 23), Berlin 1978.

3. Von der Reformzeit bis zur Reichsgründung

Allgemeine Quellensammlungen und Überblicksdarstellungen: [194] Wolfram Fi-


scHER/Jochen KRENGEL/Jutta WIETOG, Materialien zur Statistik des Deutschen
Bundes 1815 - 1 8 7 0 ( = SGArbb, Bd. 1), München 1982; [195] Walter STEITZ (Hg.),
Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert bis zur
Reichsgründung ( = AQdGNz, Bd. 36), Darmstadt 1980; [196] Hans-Jürgen TEU-
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( = UWSTG, Bd. 6), Dortmund 1988; [197] Georg von VIEBAHN (Hg.), Statistik des
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[198] Wolfgang ZORN, Die wirtschaftliche Struktur der Rheinprovinz um 1820, in:
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Wirtschaftswachstum, Konjunkturen und Krisen: [200] Jürgen BERGMANN/Reinhard


SPREE, Die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft 1840 — 1864, in:
Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg
zum 70. Geburtstag ( = KrStGw, Bd. 11), Göttingen 1974, S. 2 8 9 - 3 2 5 ; [201] Knut
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( = KrStGw, Bd. 50), Göttingen 1982, S. 2 8 - 4 1 ; [202] Hans MOTTEK, Die Grün-
derkrise. Produktionsbewegung, Wirkungen, theoretische Problematik, in: J b W G ,
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Aspekt, in: Karl Lärmer (Hg.), Studien zur Geschichte der Produktivkräfte. Deutsch-
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Revolution. Agrarhistorische Untersuchungen über das ostelbische Preußen zwischen
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Krise der Weimarer Republik ( = KrStGw, Bd. 45), Göttingen 1981; [389] Klaus
RÖSELER, Unternehmer in der Weimarer Republik. Die Stellung der Unternehmer
zur Entwicklung in Staat, Politik und Wirtschaft bis 1928, in: Tr, 13. Jg. (1968),
S. 217 — 240; [390] Dirk STEGMANN, Zum Verhältnis von Großindustrie und Natio-
nalsozialismus 1 9 3 0 - 1 9 3 3 . Ein Beitrag zur Geschichte der sog. Machtergreifung,
in: AfS, Bd. 13 (1973), S. 3 9 9 - 4 8 2 ; [391] Henry Ashby TURNER, Jr., Faschismus
und Kapitalismus in Deutschland. Studien zum Verhältnis zwischen Nationalsozia-
lismus und Wirtschaft, Göttingen 1972; [392] Hans-Peter ULLMANN, Der Bund der
Industriellen. Organisation, Einfluß und Politik klein- und mittelbetrieblicher In-
dustrieller im deutschen Kaiserreich 1 8 9 5 - 1 9 1 4 ( = KrStGw, Bd. 21), Göttingen
1976; [393] Hans-Peter ULLMANN, Die Entwicklung von Organisationen der Wirt-
schaft vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des 2. Weltkrieges, in: Wirtschaftsver-
bände. Partner der Politik oder Pressure groups? ( = BDIDr, Nr. 227), S. 1 7 - 3 0 ;
[394] Heinrich August WINKLER, Unternehmer und Wirtschaftsdemokratie in der
Weimarer Republik, in: Probleme der Demokratie heute. Tagung der Deutschen
Vereinigung für Politische Wissenschaft in Berlin, Herbst 1969 ( = PVS, Sonderh. 2/
1 9 7 0 ) , O p l a d e n 1 9 7 1 , S. 3 0 8 - 3 2 2 .

Arbeiter: [395] Roswitha BERNDT (Hg.), Lage und Kampf der Landarbeiter im
ostelbischen Preußen ( 1 9 1 9 - 1 9 4 5 ) ( = AFGdArb, Bd. 8/3), Berlin 1985; [396] Ulrich
HERBERT, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980.
Saisonarbeiter - Zwangsarbeiter - Gastarbeiter, Berlin —Bonn 1986;
[397] Christoph KLESSMANN, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1 8 7 0 - 1 9 4 5 .
Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen
Industriegesellschaft ( = KrStGw, Bd. 30), Göttingen 1978; [398] Krystyna MURZY-
NOWSKA, Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre
1 8 8 0 - 1 9 1 4 ( = VFstOme, R . A . , Nr. 34), Dortmund 1979; [399] Heinrich August
WINKLER, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Wei-
marer Republik 1924 bis 1930, B e r l i n - B o n n 2 1988; [400] Heinrich August WINKLER,
Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Wei-
marer Republik 1918 bis 1924, B e r l i n - B o n n 1984; [401] Heinrich August WINKLER,
Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer
Republik 1930 bis 1933, B e r l i n - B o n n 1987.

Handel und Zölle: [402] Wilfried FELDENKIRCHEN, Deutsche Zoll- und Handels-
politik 1914 —1933, in: Hans Pohl (Hg.), Die Auswirkungen von Zöllen und anderen
Handelshemmnissen auf Wirtschaft und Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Ge-
genwart ( = VSWG, Beih. 80), Stuttgart 1987, S. 3 2 8 - 3 5 7 ; [403] Robert GELLATELY,
The Politics of Economic Despair. Shopkeepers and German Politics 1890 —1914
468 Preußens Wirtschaft

( = SAGESt, Bd. 1), London - Beverly Hills 1974; [404] Lothar RATHMANN, Bismarck
und der Übergang Deutschlands zur Schutzzollpolitik (1873/75 — 1879), in: ZfG,
4. J g . (1956), S. 8 9 9 - 9 4 9 ; [405] Hans-Peter ULLMANN, Staatliche E x p o r t f ö r d e r u n g
und private Exportinitiative. Probleme des Staatsinterventionismus im Deutschen
Kaiserreich am Beispiel der staatlichen Außenhandelsförderung (1880—1919), in:
V S W G , Bd. 6 5 (1978), S. 1 5 7 - 2 1 6 .

Verkehr: [406] Michael ERBE, Nahverkehrsplanung in Berlin und Paris 1870 bis
1939. Ein kommunalpolitischer Vergleich, in: Wilhelm Treue (Hg.), Geschichte als
Aufgabe. Festschrift für Otto Büsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 463 -
481; [407] Hannelore HORN, Der Kampf um den Bau des Mittellandkanals. Eine
politologische Untersuchung über die Rolle eines wirtschaftlichen Interessenverban-
des im Preußen Wilhelms II. ( = SP, Bd. 6), K ö l n - O p l a d e n 1964.

Banken: [408] Karl Erich BORN, Die deutsche Bankenkrise 1931. Finanzen und
Politik, München 1967; [409] Reiner BRÜGGESTRAAT, Die Landesbanken und Spar-
kassen der Rheinprovinz und Westfalens in der Bankenkrise 1931, in: ZbaySpG,
Bd. 1 (1987), S. 175 — 207; [410] Torsten FÖH, Die Entwicklung des Sparkassenwesens
in Schleswig-Holstein 1 8 6 4 - 1 9 1 4 ( = StWSGSchlHo, Bd. 16), Neumünster 1988;
[411] Hans HABEDANK, Die Reichsbank in der Weimarer Republik. Zur Rolle der
Zentralbank in der Politik des deutschen Imperialismus 1919 — 1933 ( = F W G ,
Bd. 12), Berlin 1981; [412] Hartmut MÜLLER, Die Zentralbank - eine Nebenregie-
rung. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht als Politiker der Weimarer Republik
( = SchrpWGl, Bd. 5), Opladen 1973; [413] Die Preußische Staatsbank (Seehandlung)
1922—1932. Denkschrift aus Anlaß des hundertsechzigjährigen Bestehens, Berlin
1932 [Verf.: Ludwig Riderer]; [414] Fritz SEIDENZAHL, 100 Jahre Deutsche Bank
1 8 7 0 - 1 9 7 0 , F r a n k f u r t / M . 1970.

Währungspolitik: [415] Gerd HARDACH, Weltmarktorientierung und relative Sta-


gnation. Währungspolitik in Deutschland 1 9 2 4 - 1 9 3 1 ( = SchrWSG, Bd. 27), Berlin
1976; [416] Karl-Bernhard NETZBAND/Hans Peter WIDMAIER, Währungs- und Fi-
nanzpolitik der Ära Luther 1923 - 1 9 2 5 ( = VListGes, Bd. 32), Basel - Tübingen 1964;
[417] Peter-Christian WITT, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis
1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland ( = HSt,
H. 415), L ü b e c k - H a m b u r g 1970.

Verzeichnis der Tabellen im Text


TABELLE 1: Pfandbriefumlauf der preußischen Landschaften 488
TABELLE 2: Die Gemeinheitsteilungen, Zusammenlegungen, Regulierun-
gen und Reallastenablösungen in Preußen 504/05
TABELLE 3: Anteil der Zinkindustrie am oberschlesischen Berg- und
Hüttenwesen 521
TABELLE 4: Durchschnittliches jährliches Arbeitseinkommen in Deutsch-
land 1 8 5 0 - 1 9 1 3 544
TABELLE 4A: Anteil der Staatsbeamten an den hauptberuflich Erwerbstäti-
gen 1858 - 1907 565
TABELLE 5: H y p o t h e k e n b a n k e n in Preußen 1 8 6 3 - 1 8 9 9 572
§ 1 Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gründung Preußens 469

§ 1 Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur


Gründung des Königreiches Preußen

Als im Jahre 1652 der im Alter von 20 Jahren 1640 zur Regierung gelangte
Kurfürst Friedrich Wilhelm sich einen Überblick über die durch den Krieg
verursachten Schäden verschaffte, um Schwerpunkte des Rétablissements
bilden zu können, stellte er fest, daß seine Kurmark, jahrzehntelang Auf-
und Durchmarsch-Raum fremder Heere, zu den Gebieten gehörte, die am
schwersten gelitten hatten. Annähernd die Hälfte der Bevölkerung war
umgekommen oder geflüchtet und hatte ein entsprechendes Ausmaß an
Wüstungen auf dem Lande, leeren Arbeitsplätzen im Handwerk, Hunger,
Arbeitslosigkeit, Entmutigung, Steuereinbußen usw. hinterlassen. Schweden
hatte Pommern, Rügen, Stettin und einen Landstrich östlich der Oder als
einen Stützpfeiler seines dominium maris baltici behalten. Zwar waren dem
Kurfürsten zum Ausgleich Hinterpommern, die säkularisierten Bistümer
Halberstadt, Minden und Kamin zugefallen, aber diese bildeten fast ebenso
wie die erst 1680 eingelöste Anwartschaft auf das Erzbistum Magdeburg
mit Halle im Augenblick eher zusätzliche Belastungen als wirkliche Ge-
winne.
Die Aufbaumaßnahmen 1 wurden durch drei Faktoren entscheidend ge-
prägt: durch die Wirkung des calvinistischen Erwählungsgedankens im
reformierten Bekenntnis des Kurfürsten, durch den Aufenthalt Friedrich
Wilhelms als Jüngling am Hofe der Oranier, der ihn in dieser Form der
Frömmigkeit bestärkte und ihn die Bedeutung der Seeschiffahrt sowie der
Seemacht erkennen, aber auch für sein armes, geographisch ungünstig
gelegenes Land überschätzen ließ, sowie schließlich durch das Erlebnis des
macht- und kulturell reizvollen französischen Absolutismus auf der Grund-

1 Gerd HEINRICH, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt/M. - Ber-


l i n - W i e n 1981, S. 89 ff.; Ernst OPGENOORTH, Friedrich Wilhelm. Der Große
Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie, 2 Bde., Göttingen 1971/
78; Peter BAUMGART, Zur Geschichte der kurmärkischen Stände im 17. und
18. Jahrhundert, in: Dietrich Gerhard (Hg.), Ständische Vertretungen in Europa
im 17. und 18. Jahrhundert ( = VMPIG, Bd. 27), Göttingen 1969, S. 1 3 1 - 1 6 1 ;
Max BRAUBACH, Der Aufstieg Brandenburg-Preußens 1 6 4 0 - 1 8 1 5 , in: Geschichte
der führenden Völker, Bd. 15, Freiburg i.Br. 1933, S. 1 6 5 - 3 6 7 ; K. BREYSIG,
Geschichte der brandenburgischen Finanzen... (1895) [144]; Kurt HINZE, Die
Bevölkerung Preußens im 17. und 18. Jahrhundert nach Quantität und Qualität
[1927], in: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Ge-
schichte 1 6 4 8 - 1 9 4 7 . Eine Anthologie ( = VHKzB, Bd. 52), B e r l i n - N e w York
1981, Bd. 1, S. 2 8 2 - 3 1 5 ; Gerd HEINRICH, Der Adel in Brandenburg-Preußen
1 5 4 0 - 1 8 6 0 , in: Hellmuth Rössler (Hg.), Deutscher Adel 1 5 5 5 - 1 7 4 0 . Büdinger
Vorträge 1964 ( = SchrDFühNz, Bd. 2), Darmstadt 1965, S. 259 - 314; Wolfgang
NEUGEBAUER, Zur neueren Deutung der preußischen Verwaltung im 17. und
18. Jahrhundert [1977], in: O. Büsch/W. Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische
Geschichte..., a. a. O., Bd. 2, S. 5 4 1 - 5 9 7 .
470 § 1 Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gründung Preußens

läge unter anderem einer vom Staat straff dirigierten Wirtschaft mit der
Tendenz zur reinen merkantilistischen Staatswirtschaft.
Der Besitzzuwachs von 1648 brachte dem Kurfürstentum nicht nur ein
beträchtliches wirtschaftliches Zukunftspotential, sondern auch eine gewisse
Gewichtsverlagerung nach dem Westen — ähnlich wie nach 1815 die Zu-
teilung des Rheinlandes dem Königreich Preußen. Daß damit die „europä-
ische Politik des brandenburg-preußischen Staates" begonnen hätte, 2 bildet
eine übertreibende Behauptung aus hohenzollernscher Herrschaftstradition.
Berlin und die Mark Brandenburg blieben durchaus Schwerpunkt der Wirt-
schaft. Auch ergab sich eine gewisse wirtschaftliche Umgewichtung durch
die Unterdrückung des ständischen Widerstandes 1661/63 nach der Siche-
rung der Souveränität in Preußen, welche später die Teilnahme an der in
Europa einsetzenden allgemeinen Rangerhöhung der Monarchien erleich-
terte.
Der Kurfürst hatte die Bedeutung einer starken Heeresmacht für die
Außen- und einer gefestigten Herrscherposition für die Innen- und Wirt-
schaftspolitik seit seiner Kindheit erlebt. Die Voraussetzung dafür bildeten
gesunde Staatsfinanzen. Unter diesem Gesichtspunkt in erster Linie standen
in Krieg und Frieden jene zwei Jahrzehnte in Anspruch nehmenden schweren
Auseinandersetzungen mit den Ständen, die eine absolutistisch-merkantili-
stische Herrschaft zum Ziele hatten und schließlich 1663 auch weitgehend
erreichten. Das gab dem Kurfürsten die Verfügungsgewalt über die Ver-
waltung, damit auch über das Heer und die Finanzen und ermöglichte die
Entwicklung einer weniger theoretisch als realistisch fundierten Gesamt-
staatsidee, die sich bis in die Gründung des Hohenzollern-Kaiserreiches
auswirkte - sogar bis in ihre Übersteigerung in der politikfernen Absicht
des Kronprinzen Friedrich (III.) zwischen 1866 und 1871, durch eine Invasion
die süddeutschen Staaten der preußischen Monarchie einzuverleiben.
Die durch den Sieg über die Stände ermöglichte erheblich wachsende,
aber infolge der kurfürstlichen Sparsamkeit nicht entsprechende Kosten
verursachende gesamtstaatliche Bürokratie oberhalb der Territorialbehör-
den konnte an die Einführung und Durchsetzung der „Kontribution" ge-
nannten Steuer auf dem Lande - unter Respektierung, ja Ausdehnung der
Gutsbesitzerprivilegien (Leibeigenschaft) und Einführung der in Westeuropa
bewährten Akzise, einer Art Mehrwertsteuer, an den Toren der Städte —
gehen, deren Ertrag automatisch mit dem Anwachsen der Bevölkerung und
ihres Lebensstandards stieg. Sie erbrachte 59 Prozent der gesamten staatli-
chen Steuerforderungen. Das ermöglichte zum Teil auf Veranlassung des
Staates und mit seiner Finanzhilfe die Gründung neuer Gewerbebetriebe.
Die Absicht, die Kontribution in die seit 1682 überall obligatorische Akzise
einzugliedern und diese nicht nur in den Städten erheben zu lassen, scheiterte
allerdings am Widerstand des Adels.

2 Reinhold KOSER, Geschichte der brandenburg-preußischen Politik. Bd. 1: Ge-


schichte der brandenburgischen Politik bis zum westfälischen Frieden von 1648
[m. n. e.], Stuttgart 1913.
§ 1 Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gründung Preußens 471

Doch reichten bis zum Tode des Kurfürsten trotz der durch die Tüchtig-
keit des Ministers Dodo zu Inn- und Knyphausen ( 1 6 8 3 - 1 6 9 7 ) in den
Jahren 1684 —1688 durch Zeitpacht und strenge Rechnungsprüfung in der
Kurmark um 160 Prozent steigenden Domänen-Erträge die eigenen seit
1676/79 zentral durch das Generalkriegskommissariat eingetriebenen Staats-
einnahmen nicht für die dauernde, regelmäßige Finanzierung des wachsen-
den Heeres: es bedurfte fast ständig der Subsidien hauptsächlich aus dem
reichen Frankreich, aber auch aus Schweden, Holland und Österreich, für
die der Kurfürst diesen Staaten Truppen vermietete beziehungsweise ver-
sprach, solche ihren jeweiligen Gegnern nicht anzudienen — eine empfind-
liche Beeinträchtigung der Souveränität, die sich im Politischen Testament
von 1667 niederschlug: „Allianzen sind zwar gut, aber eigene Kräfte noch
besser ... und ist ein Herr in keiner Konsideration, wenn er selber nicht
Mittel und Volk hat."
Die Jugenderlebnisse in Holland und später der Ehrgeiz des souveränen
Barockfürsten, der nach voller Anerkennung durch die europäischen Groß-
mächte strebte, drängten Friedrich Wilhelm nicht allein zum landwirt-
schaftlich-gewerblichen rationellen Landesausbau unter anderem durch För-
derung der Einwanderung und Kolonisationsmaßnahmen, der Flußschif-
fahrt mit Hilfe des Kanalbaues, sondern auch zur Beteiligung an der See-
und Überseepolitik. 3 Sein Vorbild auf diesem Gebiet war sein Onkel Jakob I.
von Kurland, der Paris und London bereits erlebt hatte, als er 1636/37
gleichzeitig mit seinem Neffen in Amsterdam und Leiden den niederländi-
schen Merkantilismus studierte und anschließend den Hafen Windau zum
„Tor in die Welt" ausbaute, eine staatliche Handelsflotte schuf, einen
günstigen Sundzollvertrag Schloß, den Handel mit den Westmächten zu
seinem Vorteil steigerte, 1651 die Gambiamündung „in Besitz" nahm, 1654
einen Schiffahrtsvertrag mit Cromwell Schloß und in Westindien Tobago
erwarb.
Nachdem in Deutschland 1658/60 mehrmals der groteske Gedanke auf-
getaucht war, eine „Reichsmarine" zu gründen, diese in Glückstadt zu
stationieren und den Kurfürsten zum Generaladmiral des Reiches zu erheben
oder eine deutsche Ostindische Kompanie zu schaffen, lockte der Erfolg
seines Onkels, des „Schiffahrtsherzogs", den Hohenzollern auf das Meer.
Aber was die Westmächte dem weit entfernt in einem Ostseewinkel regie-
renden Kurländer gestatteten, verfolgten sie bei dem seit 1682 nicht nur
von Königsberg und Pillau, sondern auch von den überfallartig okkupierten
Häfen Greetsiel und Emden aus in die Weltwirtschafts- und Imperialpolitik
drängenden ehrgeizigen Fürsten, der 1684 an der westafrikanischen Küste
das Fort Groß-Friedrichsburg gründete, mit mißtrauischer Aufmerksamkeit.
Jüngste unbefangene englische archäologische Forschungen bieten ein ganz
neues Bild von den Ergebnissen dieser Politik. Sie stellen fest, „daß das Fort

3 Otto Heinz MATTIESEN, Die Kolonial- und Überseepolitik der kurländischen


Herzöge im 17. und 18. Jahrhundert ( = SchrrStAd, Bd. 6), Stuttgart 1940; Fritz
REDLICH, Der deutsche fürstliche Unternehmer, eine typische Erscheinung des
16. Jahrhunderts, in: Tr, 3. Jg. (1958), S. 1 7 - 3 2 .
472 § 1 Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gründung Preußens

Groß-Friedrichsburg nächst der ... niederländischen Hauptniederlassung an


der Golfküste, Elmina, hinsichtlich der Qualität der aufgeführten Bauten
und Befestigungsanlagen an zweiter Stelle rangierte". Bei Besatzung und
Bewaffnung habe es sogar den Spitzenplatz behauptet. „Auch die wirt-
schaftliche Situation der brandenburgischen Niederlassung scheint ... selbst
im Spanischen Erbfolgekrieg nicht derart desolat gewesen zu sein, wie es
oft dargestellt wird. Der Handel florierte, freilich nicht der mit dem Mut-
terland." Auch der Handel auf St. Thomé lief „besser als meist angenom-
men". 3 3 Aber wie lange? Schon bald reichte beim Kurfürsten, wie beim
letzten Hohenzollern-Kaiser seit 1900, das Geld nicht für beides: für Heer
und Flotte, und die „Produktionskosten" der aus guineischem Gold ge-
prägten brandenburgischen Münzen überstiegen bei weitem deren Nomi-
nalwert. Die Flotten- und Überseepolitik eines Staates, der sich in Mittel-
europa nach mehreren Seiten behaupten mußte, blieb von 1680 bis 1918/
45 eine „Chimäre". Mit feinem Spott hat Otto Hintze in seiner wissen-
schaftlichen Festschrift für „Die Hohenzollern und ihr Werk" 1914 bemerkt:
„Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen jenen Bestrebungen des
17. Jahrhunderts und dem, was man heute Weltpolitik zu nennen pflegt." 4
Als tiefgläubiger Reformierter bevorzugte der Kurfürst in allen wichtigen
Verwaltungs- und Befehlspositionen Reformierte, zumal er bei ihnen auf-
grund ihrer Einstellung zum Alltag ein besseres Verständnis für die moderne
Weltwirtschaft und die Entwicklung von der agrarischen Hauswirtschaft
zur Handelswirtschaft beobachtete, als bei den passiv ständestaatsergebenen
Lutheranern. Der im Calvinismus steckende Republikanismus störte den
selbstbewußten Herrscher nicht und ist in Preußen nie auch nur annähernd
so sehr betont worden wie etwa in Holland und Schottland. 5 Das bildete
die Grundlage dafür, daß Friedrich Wilhelm nach der Aufhebung des Edikts
von Nantes nicht allein aus religiösen Gründen am 8. November 1685 die
Hugenotten im Edikt von Potsdam unter Zusicherung von Privilegien und
Hilfsgeldern zur Einwanderung einlud, sondern nun auch als furchtloser
selbstbewußter Kleinfürst eine nicht ungefährliche eigenständige Religions-
politik betrieb und schließlich, ganz im Sinne des Calvinismus, deutlich den
ersten systematischen Ansatz zur fortschrittlichen Gewerbe- und Manufak-
turpolitik machte, bei der die Gewerbekenntnisse und Geldvermögen vieler

3a Arnold Walter LAWRENCE, Tade Castles and Forts of West Africa, London 1963,
S. 42, 50, 93, 219; Klaus Jürgen MATZ, Das Kolonialexperiment des Großen
Kurfürsten in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gerd
Heinrich (Hg.), Ein sonderbares Licht in Teutschland. Beiträge zur Geschichte
des Großen Kurfürsten von Brandenburg ( 1 6 4 0 - 1 6 8 8 ) ( = ZHF, Beiheft Nr. 8),
Berlin 1990, S. 200 f.
4 Otto HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer
Geschichte, Berlin 1915 (ND Moers 1979/80), S. 244.
5 M a x WEBER, Die protestantische Ethik und der „Geist" des Kapitalismus, in:
A S W , B d . 2 0 ( 1 9 0 5 ) , S. 1 - 5 4 , B d . 2 1 ( 1 9 0 5 ) , S. 1 - 1 1 0 [ m e h r f a c h n a c h g e d r u c k t ] ;
Kemper FULLERTON, Calvinism and Capitalism, in: H T R , Bd. 21 (1928), S. 1 6 3 -
195.
S 1 Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gründung Preußens 473

meist jungen Einwanderer eine wichtige Rolle spielen sollten - bis die
industrielle Massenwirtschaft Meisterbetrieb und Manufaktur überholte.
Von 20.000 Réfugiés, die bis zum Ende des Jahrhunderts nach Brandenburg
einwanderten, gelangten bis 1700 annähernd 6.000 nach Berlin, das 15.000
Einwohner hatte, 1.500 nach Magdeburg. Dazu kamen 2.000 wirtschaftlich
fortschrittliche Wallonen und 4.000 Pfälzer. Ihre Integration verursachte
hohe Kosten und viel Unruhe in der Bevölkerung; nur die wenigsten waren
so wohlhabend, wie die Geschichtsschreibung bis 1985 meist angenommen
hat. Außerdem lebten dort um 1700 117 jüdische Familien mit 585 Personen,
die, überwiegend Händler, zumeist aus der Mark Brandenburg eingewandert
waren. Die alteingesessenen Berliner wurden für einige Zeit beinahe eine
Minderheit in der Landeshauptstadt. Sie bildete den Mittelpunkt dieser
Bestrebungen, die der Kurfürst unter Beachtung der militärischen Interessen
(Stehendes Heer, Kasernen, Waffenproduktion, Befestigungen) über den
Nachkriegswiederaufbau hinaus zu einem bedeutenden Wirtschaftszentrum
machte. 6
In dem Dutzend Jahre zwischen dem Tode des Kurfürsten, der seiner
Dynastie den Trieb zur Macht auf der Grundlage von Sparsamkeit und
Ausnutzung der Untertanen eingepflanzt, aber auch in seinem Testament
die Verteilung kleinerer Territorien und Ämter an seine Söhne aus zweiter
Ehe bestimmt und damit eine staatsgefährdende Herrschervorstellung ent-
wickelt hatte, und der eigenmächtigen Erhebung seines Staates zu einem
ärmlichen Königreich, bildete wohl für die Zukunft dieser Monarchie das
bedeutungsvollste Ereignis die Gründung der Universität Halle im Jahre
1694: rund ein Jahrhundert später sollte von den Hohen Schulen in Kö-

6 Helga SCHULTZ, Berlin 1 6 5 0 - 1 8 0 0 . Sozialgeschichte einer Residenz, (Ost-)Berlin


1987 hat begonnen die aus komplexen Ursachen erwachsene Überbewertung der
wirtschaftlichen Bedeutung der Réfugiés für Brandenburg-Preußen zu korrigieren.
Alles Frühere überholen Eckart BIRNSTIEL/Andreas REINKE, Hugenotten in Berlin,
in: Stefi Jersch-Wenzel/Barbara John (Hg.), Von Zuwanderern zu Einheimischen.
Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990, S. 13 —152; Brigitte
SCHWEIGER, Juden in Berlin, ebenda S. 193 ff; Stefi JERSCH-WENZEL, Juden und
„Franzosen"... (1978) [193]; Dies., Hugenotten in Berlin. Die Strumpfwirker
zwischen ethnischer Identität und wirtschaftlicher Integration, in: BGG, 1985,
S. 7 - 1 6 ; Ingrid MITTENZWEI, Die Hugenotten in der gewerblichen Wirtschaft
B r a n d e n b u r g - P r e u ß e n s , in: Z f G , 3 4 . J g . ( 1 9 8 6 ) , S. 4 9 7 - 5 0 7 ; E c k a r t BIRNSTIEL/
Evelyne LEPRÈTRE, Die Hugenotten aus dem Dauphiné und ihre Niederlassungen
in Brandenburg-Preußen um 1700. Ein Forschungsbericht, in: JbbLG, Bd. 37
( 1 9 8 6 ) , S. 6 0 - 7 8 ; H e l g a EICHLER, D i e H u g e n o t t e n in B r a n d e n b u r g - P r e u ß e n . I h r e
Rolle in Wirtschaft und Kultur, in: J b W G , 1986/4, S. 2 2 5 - 2 3 4 ; Rudolf von
THADDEN/Michelle MAGDELEINE (Hg.), Die Hugenotten. 1685 - 1985, München
1985. Dort besonders: Stefi JERSCH-WENZEL, Die Bedeutung der Hugenotten für
die Wirtschaft in Brandenburg, S. 1 6 0 - 1 7 1 ; Felix ESCHER, Die brandenburgisch-
preußische Residenz und Hauptstadt Berlin im 17. und 18. Jahrhundert, in:
Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, München 2 1988, Bd. 1, S. 3 4 1 - 4 0 3 ;
vgl. auch: Wolfgang RIBBE, Ergebnisse und Aufgaben der historischen Berlin-
Forschung, in: J G M O D , Bd. 38 (1989), S. 1 - 8 0 .
474 § 1 Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gründung Preußens

nigsberg und Halle eine gewisse Liberalisierung der Wirtschaft und damit
deren Erholung von den Übertreibungen des Absolutismus ausgehen.
Friedrich Wilhelms Nachfolger, Friedrich I., hat drei wirtschaftlich wich-
tige Leistungen vollbracht. Ohne Rücksicht auf Pietät hat er das Erstge-
burtsrecht bei der Erbfolge und die Unteilbarkeit des gesamten Staatsgebie-
tes einschließlich etwaiger neu gewonnener Territorien durchgesetzt, einen
wichtigen Faktor des nun seiner Höhe zuwachsenden Merkantilismus. Er
hat den einer reformierten Familie aus dem in oranischem Besitz befindli-
chen Lingen entstammenden Eberhard von Danckelmann 7 zum Leiter der
brandenburgischen Politik gemacht und 1695 in aller Form zum Oberprä-
sidenten des Geheimen Rates erhoben, als der dieser ganz dem Staat
ergebene, Colbert ähnliche, geistig überaus bewegliche Mann sich außer-
ordentlich bewährte, bis die durch vom unzufriedenen Adel in ihrer Ab-
neigung bestärkte Kurfürstin ihn bereits 1697 zu Fall brachte. Und der
Kurfürst hat sich schließlich schon 1689 von seinem Hofkammerpräsidenten
Dodo II. von Knyphausen zur Gründung der Geheimen Hofkammer, einer
Zentralbehörde für die Domänenverwaltung im ganzen Staate, bewegen
lassen, die unter anderem durch den Übergang von der Natural- zur Geld-
wirtschaft bei der Verpachtung sowie durch die Einführung von Jahresetats
das Finanzwesen zu rationalisieren versuchte. Das scheiterte allerdings an
der bedenkenlosen Ausgabenwirtschaft, die mit den gewaltigen Kosten der
Krönung begann und anschließend von dem Premierminister Kolbe von
Wartenberg als Vorsitzendem eines neu geschaffenen Ober-Domänen-Di-
rektoriums fortgesetzt wurde. Als Friedrich Wilhelm I. eben den Thron
bestiegen hatte, bemerkte er, der sofort Danckelmann rehabilitiert hatte,
1713 zu dem ihn besuchenden Zaren Peter den Großen, er brauche min-
destens ein Jahr, um wieder Ordnung in die Finanzwirtschaft seines Staates
zu bringen.
Die wirtschaftlich bedeutendste Gesellschaftsgruppe im Lande bildeten
zur Zeit der Königskrönung die adligen Rittergutsbesitzer, die keine Kon-
tribution zahlten, den Handel mit ihren Gutserzeugnissen zollfrei betrieben
sowie von Einquartierung und Marschleistung befreit waren. Ihnen unter-
standen die Bauern — im Osten in strengerer Abhängigkeit als im Westen:
jenseits der Weser gab es weder Gutsherrlichkeit noch Gutswirtschaft als
Großbetrieb, sondern Grundherrschaft mit gelegentlicher Eigenwirtschaft
geringen Umfanges sowie bäuerliche Kleinbetriebe. Dagegen wurden die
großen geschlossenen ostelbischen Besitzungen der Rittergutsbesitzer, die
Gericht und Polizei ausübten, mit Hilfe von Frondienstpflichtigen und ihrer
zum Gesindedienst gegen geringen Lohn verpflichteten Kinder bewirtschaf-
tet. Sie, die ihrem Herren, nicht dem Fürsten, den Untertaneneid leisteten,
so daß ihr Entweichen der Desertion glich, zahlten Steuern und stellten die
Soldaten, lebten häufig in nicht menschenwürdigen Verhältnissen, die nach

7 Hans SARING, Eberhard Christoph Balthasar Danckelmann, in: N D B , Bd. 3,


Berlin 1957, S. 503 f.; F. WOLTERS, Geschichte der brandenburgischen Finanzen...
(1915) [152],
§ 2 Staatswirtschaft und Privatwirtschaft in Preußen 1710 - 1 7 4 0 475

Mißernten, Viehsterben und Feuersbrünsten zur Ermöglichung des Neu-


anfangs noch verschärft wurden.
Einige wenige Städte blühten auf - in erster Linie Berlin 8 durch den
Aufwand des ersten Königspaares. Berlins Akzise-Einnahme stieg 1 6 9 0 -
1701 - 1 7 0 5 von 58.000 über 106.000 auf 170.000 Taler, während die Be-
völkerung 1 6 9 7 - 1 7 0 3 von 22.000 auf 37.000, darunter 4.300 bzw. 5.700
Hugenotten, wuchs. Aber nur in dieser Haupt- und Residenzstadt sowie in
Magdeburg und Königsberg existierte ein gewisser Großhandel. Das ge-
werblich regste, nicht stärkste Element bildeten in vielen Städten die Hu-
genotten, die neue Kenntnisse und Fähigkeiten, gelegentlich auch Kapital
mitbrachten und auf die Dauer manche Einfuhr überflüssig machten.
Diese Einwanderer und Speners pietistische Bewegung, 9 die von August
H. Franckes Schul- und Bildungswerk in Halle aus eine starke Verbreitung
erfuhr, und weit über Preußen hinauswirkte — zum Beispiel bis Rußland
—, hatten für den wirtschaftlichen Aufstieg des Königreiches eine weitaus
größere Bedeutung als die Krönung in Königsberg. Hier lag unter anderem
ein Ausgangspunkt der Manufakturpolitik seit dem Thronwechsel von 1713.

§ 2 Staatswirtschaft und Privatwirtschaft in


Preußen 1 7 1 0 - 1 7 4 0 1

Als Hunger und Pest 1710 das Land in großes Elend stürzten, 2 begann
Kronprinz Friedrich Wilhelm, in die Regierung einzugreifen: der Betrüger
Wittgenstein wurde gestürzt. Schon als Kronprinz plante Friedrich Wilhelm
nach dem Erlebnis der militärischen Hilflosigkeit Preußens im Nordischen
Krieg die Reform des Staates vom Heere aus, während gleichzeitig neben
dem Geist des Calvinismus der des Pietismus die Auffassung von Staat und
„Nation" zu beeinflussen begann, der auch im Hausgesetz vom 13. August
1713 zum Ausdruck kam: es erklärte nicht allein den Staat für unteilbar
und unveräußerlich, sondern machte auch Schluß mit allen Domänen-
Vererbpachtungs- und Verkaufsideen, mit denen Friedrich I. nach 1701 zur
Beschaffung von Geld gespielt hatte. Noch König Wilhelm I. hat sich

8 W. RIBBE (Hg.), Geschichte Berlins ( 2 1988) [s.o. Anm. 6], Bd. 1, passim; Karl
Heinrich KAUFHOLD, Der preußische Merkantilismus und die Berliner Unterneh-
mer, in: Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft
— Lehren und Erkenntnisse, Berlin — New York 1987, S. 19 — 40.
9 Klaus DEPPERMANN, Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter
Friedrich III. (I.), Göttingen 1961.
1 W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte... (1984) [15]; Carl HINRICHS,
Friedrich Wilhelm I., König in Preußen. Eine Biographie. Jugend und Aufstieg,
Hamburg 1941 (ND Darmstadt 1968).
2 F. TERVEEN, Gesamtstaat und Rétablissement... (1954) [151].
476 § 2 Staatswirtschaft und Privatwirtschaft in Preußen 1710 — 1740

anderthalb Jahrhunderte später bei den Erwägungen Bismarcks und der


Bankiers Bleichröder und Oppenheim in bezug auf die Privatisierung des
Staatsbesitzes im Saarland zu dessen Rettung bei einem etwaigen Siege
Napoleons III. diesem Hausgesetz entsprechend verhalten und die Diskus-
sion über eine Umwandlung des Staatsgutes in eine Aktiengesellschaft
verboten.
In dem so geschlossenen Staat führte der „Kameralistische König" 3 mit
der Staats- auch eine Wirtschafts-, insbesondere eine Finanzreform durch.
Er vereinigte am 27. März 1713 die Hofkammern und das Domänendirek-
torium zum Generalfinanzdirektorium, trennte am 13. August 1713 die
Finanzen von Krone und Staat und errichtete am 2. Oktober 1714 die
Generalrechenkammer als oberste, ihm selber unterstellte staatswirtschaft-
liche Finanz- und „Polizei"-Behörde. Er steigerte und sicherte die Domänen-
einkünfte mit Hilfe der Generalverpachtung, intensivierte die Wirksamkeit
von Kontribution und Akzise und verschärfte die Kontrolle des Staates über
die Städte, subventionierte die Gründung von Manufakturen und begün-
stigte diese steuerlich. Schließlich errichtete er ein Jahrzehnt nach diesen
Einzelaktionen auf der Höhe seiner absolutistischen Innenpolitik am 19.
Januar 1723 das General-Ober-Finanz-, Kriegs- und Domänendirektorium,
das „Generaldirektorium", mit den Funktionen eines Innen-, Finanz-, Han-
dels-, Gewerbe- und Landwirtschaftsministeriums sowie der ökonomischen
Militärverwaltung mit anfangs vier, später fünf Provinzdepartements, die
zwar jeweils hauptsächlich einzelne Provinzen verwalteten, jedoch auch für
den Gesamtstaat sachlich abgegrenzte Verwaltungsaufgaben übernahmen.
So bildete das „Generaldirektorium" im ersten Jahrzehnt seines Bestehens
— später litt seine Zusammenarbeit unter der übertriebenen Selbstregierung
des mißtrauischen und gelegentlich uneinsichtigen Königs — für einen
kleinen Staat mit einem fleißigen und kenntnisreichen Herrscher, einigen
loyalen Ministern und 7 0 - 9 0 studierten und gut vorgebildeten Beamten
nach außen fast die Verwirklichung des Ideals kameralistisch-merkantili-
stisch-absolutistischer Konzentration in der Hand eines überaus gewissen-
haften, strengen, auch mißtrauisch-aufmerksamen genialen Arbeitsorgani-
sators, der mit seinem zuweilen bis zur Grausamkeit gesteigerten Geiz die
Verdoppelung der jährlichen Staatseinnahmen von 3,4 auf 7 Millionen Taler
erreichte. Der Wirtschaft entzog er dabei allerdings im Laufe der Zeit nicht
weniger als 20 Millionen, die untätig und unverzinst als Staatsschatz im
Spandauer Juliusturm finanzielle Unabhängigkeit in Notzeiten garantierten.
Das von 30.000 auf 80.000 Mann vergrößerte Heer bildete zwar den größten
Konsumenten im Staate, wurde jedoch der Produktion nicht ganz entzogen,
da die Soldaten zumeist mehr als die Hälfte des Jahres einen Zivil-Beruf
ausüben konnten und mußten.

3 Carl HINRICHS, Die preußische Zentralverwaltung in den Anfängen Friedrich


Wilhelms I., in: Richard Dietrich/Gerhard Oestreich (Hg.), Forschungen zu Staat
und Verfassung. Festgabe für Fritz Härtung, Berlin 1958, S. 2 4 7 — 2 6 7 ; Gisela
KRAUSE, Altpreußische Uniformfertigung als Vorstufe der Bekleidungsindustrie
( = FUrkHeG, Bd. 2), Hamburg 1965.
§ 2 Staatswirtschaft und Privatwirtschaft in Preußen 1710 - 1 7 4 0 477

Als einen Agrarstaat 4 übernahm Friedrich Wilhelm I. das Königreich -


1740 war es ein Militärstaat mit beträchtlichen stadtwirtschaftlichen Berei-
chen, der auch durch Landgewinnung und Peuplierung, Vergrößerung des
Besitzes an Domänen, die schließlich ein Drittel des land- und waldwirt-
schaftlich nutzbaren Bodens umfaßten und deren Einnahmen von 1,8 auf
3,3 Millionen stiegen, immer stärker wurde. Der Übergang von Naturalab-
gaben zu Geldsteuern wurde überall vorangetrieben, die Kontribution so
gesteigert, daß sie etwa 40 Prozent des Reinertrages der Bauernwirtschaften
für den Staat in Anspruch nahm. Danach folgten dann die Ansprüche der
Rittergutsbesitzer oder Domänenpächter, so daß nicht selten der Soldat
besser und gesicherter lebte als sein bäuerlicher Vater.
Des Königs bedeutungsvollste Leistung für das Hauptgewerbe, die Land-
wirtschaft, bestand in der Inneren Kolonisation und in der 1718 begonnenen
Entwässerung des havelländischen Luchs. 5 Zeitweise 1.000 Arbeiter und
200 Grenadiere gewannen in sechs Jahren mit einem Aufwand von 71.000
Talern 15.000 Hektar Land, das allerdings erst nach mehreren Jahren einen
bescheidenen Ertrag brachte. Dazu traten allmählich die Retablissements-
erfolge, die in Ostpreußen bis 1730 20.000 Kolonisten und seit 1732 auch
ein Strom eingewanderter Salzburger Protestanten erzielten — mit dem
Aufwand von 3 Millionen Talern preußischen Geldes und von 0,7 Millionen
Talern Spenden aus England, Holland und Skandinavien.
Eine wichtige Rolle im Bereich dieser Agrarpolitik spielte die Regelung
des Getreide-, Woll- und Tuchhandels und damit zusammenhängend das
1713 errichtete „Lagerhaus", 6 eine Textilmanufaktur in Berlin, die ein Jahr
nach der Gründung des bald erheblichen unternehmerischen und wirt-
schaftspolitischen Einfluß ausübenden Handels- und Bankhauses Splitgerber
& Daum bereits zu exportieren begann. Belastet wurde die Landwirtschaft
zwar durch weit verbreitetes Viehsterben 1709 und wiederholte Mißernten.
Doch bildeten Schafzucht, Spinnerei, Weberei und Tuchexport — seit 1725
auch über eine Russische Handelskompanie — sowie Getreideanbau, Zoll-
schutz gegen billiges polnisches Getreide, Ausfuhrverbote bei schlechten
Ernten und Getreidemagazinierung zwecks Eindämmung der Hungersnöte
und Preisregulierung die beiden bedeutendsten großen Komplexe der Wirt-
schafts-, Finanz- und Rüstungspolitik Friedrich Wilhelms I.
Berlin, 1709 erstmals aus mehreren Orten zu einer Großgemeinde zusam-
mengelegt (später bis 1920 mehrmals wiederholt), war der Mittel- und
Hauptpunkt aller Wirtschaftspolitik und -aktivität — in erster Linie durch
ein aufblühendes Baugewerbe mit der Friedrichstadt als Schwerpunkt. 1721
standen in dieser Vorstadt etwa 700, im Jahre 1737 annähernd 1.700 Häuser

4 S. v o n FRAUENDORFER, I d e e n g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 ) [ 4 3 ] , B d . 1, S. 1 3 0 f f . ; W . ABEL,
Geschichte der deutschen Landwirtschaft... (1962) [37], S. 258ff.
5 R. STADELMANN (Hg.), Preußens Könige... ( 1 8 7 8 - 1 8 8 7 ) [29], Bd. 1, Leipzig 1878,
Bd. 2, Leipzig 1882.
6 Harald REISSIG, Das Berliner Lagerhaus 1713 —1816. Zum Einfluß von Regierung
und Wirtschaft auf die Entwicklung einer altpreußischen Staatsmanufaktur, in:
J G M O D , Bd. 29 (1980), S. 6 8 - 9 5 .
478 § 2 Staatswirtschaft und Privatwirtschaft in Preußen 1 7 1 0 - 1 7 4 0

- nicht zuletzt infolge der vielen vom König gewährten Abgabenbefrei-


ungen, Geld- und Baumaterialhilfen, großzügig gewährten Bürger- und
Meisterrechte. Im Jahr 1753 wohnten von annähernd 95.000 Zivilisten in
Berlin 29.000 in der Friedrichstadt, mit deren Planung man 60 Jahre zuvor
begonnen hatte.
Was die Förderung gewisser Gewerbe in der Kurmark angeht, so scheint
das Generaldirektorium 1740 - 1 7 8 6 für diese 2,8 Millionen Taler ausge-
geben zu haben, während der Heeresetat zum Beispiel 1784 15,5 Millionen
Taler betrug und Bau und Ausstattung des Neuen Palais 20 Millionen
kosteten. Von jenen 2,8 Millionen gingen 1,84 Millionen an das Seidenge-
werbe, dagegen nur 228.000 Taler an die Hersteller baumwollener Stoffe
(mehr als 50 Prozent an das nach 1763 gegründete Unternehmen von
Desjardins & Co.), denen allerdings durch Schutzzölle der heimische Markt
gesichert wurde. In beiden Bereichen kam es schnell zur Bildung einiger
relativ großer Manufakturen. Beim Seidengewerbe entfielen 1754 von 417
Stühlen insgesamt 378 auf vier, 1769 von 474 Stühlen 409 auf fünf, 1782
von 1.144 819 auf 13 Manufakturen mit mehr als 25 beziehungsweise 20
Stühlen. Baumwollstoffe wurden 1769 auf 622 Stühlen gefertigt, von denen
451 in sechs Manufakturen standen, 1782 von 950 Stühlen 712 in elf
Betrieben mit mehr als 25 Stühlen. Diese Manufakturen waren bald so
gesund, daß sie alle 40 und mehr Jahre existierten. Damit erreichte die
Manufakturarbeiterschaft in dieser Vor- und Frühphase der Industrialisie-
rung nach Menge und Qualität ein bemerkenswertes Niveau. 7
Weit hinter Berlin (mit Potsdam) und der Kurmark standen die anderen
Städte der Monarchie: an ihrer Spitze Königsberg, dessen Handel sich
langsam von Rückschlägen zu Beginn des Jahrhunderts erholte, und Halle
mit der vom König geförderten, wirtschaftlich wie staatsideologisch höchst
erfolgreichen Franckeschen Stiftung und der an Ansehen schnell wachsenden
Universität. Beide Institutionen halfen dem König, ein „Berufs"-Beamten-
tum 8 heranzuziehen und eine rationelle staats- und loyale privatkapitalisti-
sche Wirtschaftsführung aufzubauen. All das hinterließ 1740 der König in
einem Agrarstaat mit industriellen Ansätzen seinem Sohn, der nach dem
Fluchtversuch eine harte Lehrzeit hatte durchmachen müssen.
Die Hauptschwäche dieses entwicklungsfähigen Wirtschaftsbereiches be-
stand darin, daß der absolute „Herr im Hause" von der Eigeninitiative
seiner Untertanen im allgemeinen nur wenig hielt und diese Verachtung des

7 Wilhelm TREUE, David Splitgerber ( 1 6 8 3 - 1 7 6 4 ) . Ein Unternehmer im preußi-


schen Merkantilstaat, in: VSWG, Bd. 41 (1954), S. 253 - 267; Ders., David Split-
gerber, 1 6 8 3 - 1 7 6 4 , in: Walter Menn (Hg.), Pommersche Lebensbilder, Bd. 4
( = VHKP, R. 5, H. 15), Köln - Graz 1966, S. 7 0 - 84; Rolf STRAUBEL, Bemerkun-
gen zum Verhältnis von Lokalbehörde und Wirtschaftsentwicklung. Das Berliner
Seiden- und Baumwollgewerbe in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: JbG,
Bd. 35 (1987), S. 1 1 9 - 1 4 9 .
8 Siegfried] ISAACSOHN, Geschichte des preußischen Beamtenthums vom Anfang
des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, 3 Bde., Berlin 1 8 7 4 / 7 8 / 8 4 (ND Ahlen
1962).
s 3 Preußens Wirtschaft 1 7 4 0 - 1 7 5 6 479

zivilen Individuums auch seinen Beamten, Rittergutsbesitzern und Offizieren


anerzog. Aus einer solchen Einstellung drohten Stagnation und Verküm-
merung zu erwachsen. Es kam hinzu, daß im Rahmen der absolutistischen
Regierung mit Hilfe von Behörden, insbesondere des Generaldirektoriums,
eine starke Biirokratisierung der Wirtschaftsleitung und -lenkung stattfand:
in allen nicht ganz kleinen Städten und Regionen, im Verkehr mit dem
Ausland, bei der Einführung beziehungsweise Verstaatlichung der Akzise,
beim Handel mit Salz, Getreide, Wolle und Leinen, bei der Manufaktur-,
Jahrmarkt- und Messepolitik und bei zahlreichen anderen Entwicklungen
griff der König, häufig ohne genaue Sachkenntnis, regulierend ein. Schließ-
lich erklärte Grumbkow am 22. Februar 1735 im Zusammenhang mit der
Übertragung der Gold- und Silberfabrik auf das Potsdamer Waisenhaus, er
müsse „erinnern, daß laut Kgl. Instruktion das Gen.-Dir. mit soviel Arbeit
und Verantwortung überhäuft ist, daß es unmöglich die Direktion eines so
importanten und schweren Werkes führen kann. Ich meinenteils finde mich
dazu nicht capable, indem die Sache von so einem großen Detail, daß auch
verständige und im commerce erfahrene Leute genug damit zu tun haben
werden, und ist es leicht, ein Kollegium mit Sachen zu chargieren, die nicht
von seinem ressort sind, allein keiner leidet darunter mehr als der Herr und
das publicum, indem durch die Multiplikation der Arbeit, wovon die
meisten nichts verstehen, die Sachen in Konfusion geraten müssen." 9 Infol-
gedessen mußte dann auch Friedrich II. sofort nach seinem Regierungsantritt
mit Reformen des „Polizeiwesens", das heißt der Verwaltung, beginnen,
wobei er die Gewerbe bevorzugte, die heimische Rohstoffe verarbeiteten
und für den Heeresbedarf produzierten oder Luxusgüter herstellten. Der
Eroberungskrieg, den der junge König bald nach dem Thronwechsel begann,
war in dieser Situation ein nützliches Ereignis. Er und seine Folgen erschüt-
terten alles und schufen damit die Notwendigkeit, auch alles von neuem
zu durchdenken, vieles zu verändern, manches Verständnis- und taktvoll zu
beseitigen.

§ 3 Preußens Wirtschaft 1740 - 1756

In einer Kabinettsorder vom 10. September 1740 bekannte Friedrich II. sich
verehrungsvoll zur Aufbauarbeit seines Vaters gerade auf den grundlegenden
Gebieten der Finanzorganisation und des Finanzrechts, hatte jedoch bereits
mit Reform beziehungsweise Anpassung des vor fast 20 Jahren geschaffenen
Generaldirektoriums durch die Einrichtung eines V. Departements für Kom-
merz-, Fabrik- und Manufakturwesen begonnen. Drei weitere Departements
und auch Veränderungen in der Aufteilung der Arbeit des Generaldirekto-
riums folgten in den nächsten Jahrzehnten. Die Dynamik, mit der der

» H. RACHEL, Acta Borussica... (1911 - 1 9 2 8 ) [190], Bd. 2/2, Berlin 1922, S. 231 f.
480 § 3 Preußens W i r t s c h a f t 1 7 4 0 - 1 7 5 6

jugendliche Herrscher sein Amt antrat, bewegte ihn unvermindert bis tief
in den Siebenjährigen Krieg hinein, so daß der „aufgeklärte" Absolutismus
und wirtschaftliche Zentralismus in dieser Zeit eher verstärkt als gemindert
wurden — mit Ausnahme der Verwaltung der eroberten schlesischen Provinz
durch einen Sonder- und Entwicklungsminister, 1 was letzten Endes mehr
Verwirrung — unter anderem auch im Generaldirektorium - stiftete als
diese Agrar- und Textilregion förderte.
Diese Provinz Schlesien 13 mit ihrer reichen Wollproduktion von jährlich
zwei Millionen Kilogramm, am Rande der preußischen Monarchie gelegen,
geriet zunächst einmal in einen überaus teuren Zollkrieg mit den Nachbarn,
so daß ihr Außenhandel praktisch einging, während der mit den preußischen
Provinzen nur sehr langsam aufgebaut wurde, so daß der Lebensstandard
der 1,1 Millionen Schlesier, die preußische Untertanen geworden waren,
entschieden sank. Bis 1763 Schloß Preußen nicht einen einzigen für Schlesien
vorteilhaften Handelsvertrag.
Am 7. Juni 1744 ergriff Friedrich II. in aller Form Besitz von Ostfriesland,
das bereits der Große Kurfürst 1683 okkupiert hatte. Sofort ging man dort
an die Trockenlegung von Mooren, Ansetzung von Kolonisten und Verbes-
serung des Deichbaus. Warum der König, der vergeblich Handelsverträge
mit westeuropäischen Staaten anstrebte, also deren Wohlwollen und Part-
nerschaft suchte, in dieser Situation und trotz der teuren negativen Erfah-
rung des Großen Kurfürsten mit dem Überseehandel sich 1751 zur Gründung
einer Asiatischen Kompanie in Emden für den Handel ausgerechnet mit
dem Fernen Osten entschloß, ist nicht genau festzustellen. Als die ersten
vier Schiffe mit wertvoller Ladung zurückkehrten, machte das sofort die
Amsterdamer und Londoner Kaufleute aufmerksam: 1755 war es mit diesem
zweiten weltwirtschaftlichen Ansatz eines Hohenzollernfürsten vorbei. Im
Zusammenhang mit Viehzucht und -handel in Ostfriesland selber entwik-
kelte sich ein relativ starker jüdischer Bevölkerungsanteil (1871 1,3 Prozent,
1925 0,84 Prozent), so daß zum Beispiel Aurich, Norden und Leer bis 1933
verhältnismäßig große jüdische Gemeinden hatten. 2

1 C o l m a r GRÜNHAGEN, Die Entstehung eines schlesischen Sonderministeriums, in:


F B P G , Bd. 2 0 (1907), S. 1 0 5 - 1 2 4 ; Ders., Die beiden ersten schlesischen Sonder-
minister, a. a. O . , S. 4 2 9 — 4 6 4 .
la Wilhelm TREUE (Hg.), Preußens g r o ß e r König, Leben und Werk Friedrichs des
Großen. Eine Ploetz-Biographie, Freiburg — W ü r z b u r g 1 9 8 6 ; Peter BAUMGART,
Die A n n e x i o n und Eingliederung Schlesiens in den friderizianischen Staat, in:
Ders. (Hg.), E x p a n s i o n und Integration. Z u r Eingliederung neugewonnener Ge-
biete in den preußischen Staat ( = N F B P G , Bd. 5), Köln - W i e n 1 9 8 4 , S. 81 - 118;
Pierre GAXOTTE, Friedrich der Große [frz. 1972], F r a n k f u r t / M . - Berlin - W i e n
1 9 7 3 u. ö.; Q o l m a r ] GRÜNHAGEN, Schlesien unter Friedrich dem Großen, 2 Bde.,
Breslau 1 8 9 0 / 9 2 ; William O . HENDERSON, T h e State and the Industrial Revolu-
t i o n . . . ( 2 1 9 6 7 ) [69]; Η . KRÜGER, Z u r Geschichte der M a n u f a k t u r e n . . . (1958)
[179]; Gustav SCHMOLLER, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanz-
geschichte, Berlin 1 9 2 1 ; K. FUCHS, Vom Dirigismus zum Liberalismus... (1970)
[61]; Ders., Entwicklung und Bedeutung... (1987) [5],
2 H u b e r t R E Y E R / M a r t i n TIELKE (Hg.), Frisia judaica. Beiträge zur Geschichte der
Juden in Ostfriesland ( = A b h V G O s t f r , Bd. 6 7 ) , Aurich 1988.
§ 3 Preußens Wirtschaft 1 7 4 0 - 1 7 5 6 481

Während der König nach dem 2. Schlesischen Krieg die Zuständigkeiten


des Generaldirektoriums mehr und mehr beschnitt, bestätigte er den grund-
besitzenden Adel nach dessen Leistungen in den Kriegen in seinem Besitz-
stand von 1740 - allerdings unter gleichzeitiger „Konservation" des Bau-
ernstandes. Damit war die Struktur der, wie Friedrich 1750 schrieb, „ersten
aller Künste" festgelegt. Inzwischen war er bereits seit 1747 bei der Er-
schließung des Oderbruchs, die bis 1753 zur „Gewinnung einer Provinz im
Frieden" führte. Nach 1763 folgten weitere Maßnahmen dieser Art, so daß
Friedrich schließlich mehr als 300 Bauerndörfer angelegt hat - meist auf
Neuland, wovon auch Städte, Domänen und Rittergüter, der Handel und
schließlich die Gesamtwirtschaft des Staates profitierten.
Mit dieser Landgewinnungs- und Ansiedlungspolitik verband der König
eine ebenso überlegte Gewerbepolitik, die seit 1763 — unter mancherlei
Erschwerung — langsam um den Kern des V. Departements in eine Indu-
strialisierungspolitik überging. Unter den 1755 bereits 100.000 Einwohnern
Berlins 3 spielten nach wie vor die Hugenotten eine wichtige Rolle. Schlüs-
selgewerbe blieben auch jetzt noch Spinnerei, Weberei und Bauwesen. Unter
den größeren Gewerbebetrieben stand der Manufaktur-, Handels- und
Bankkonzern von Splitgerber & Daum, der Friedrich bereits als Kronprinz
aufmerksam geholfen hatte und nun verständnisvoll die Wirtschaftspolitik
des Königs unterstützte, kleine Verluste ohne Murren hinnahm und sich
damit dauernde gewinnreiche Aufträge sicherte, an der Spitze. Die Umsätze
von Splitgerber & Daum stiegen von 1738 bis 1762 von 600.000 auf
4 Millionen Taler eines zu dieser Zeit allerdings nicht mehr durchweg guten
Geldes.
Im Vordergrund der Wirtschaft befanden sich nächst der Landwirtschaft 4
nach wie vor die Textilien, bei denen es am häufigsten zur Gründung von
nicht selten langlebigen Manufakturen kam. 1729—1756 stieg der Anteil
der Manufakturarbeiter an der stark wachsenden Bevölkerung Berlins von
10 auf 14 Prozent. Sie machten 40 Prozent aller Beschäftigten aus; aus ihren
Reihen und dem Handwerkertum arbeiteten sich wiederholt, häufig vom
Staat gefördert, Männer zu selbständigen Unternehmern hoch. Doch mach-
ten ihnen Kriegs- und Währungsnöte schwer zu schaffen. Dabei entstanden
im Berliner Raum zwischen 1680 und 1780 mehr als 50 stattliche Manufak-
turbauten, die allerdings ebenso vom Repräsentationswillen des absoluten
Fürsten wie von den Anforderungen der neuen arbeitsteiligen Produktions-
weise zeugten. 5
Hinter den für deutsche, nicht für westeuropäische Verhältnisse großen
Fabrikanten, Kaufleuten, Geldwechslern und Edelmetallhändlern in Berlin,
mit Abstand auch in Potsdam, rangierte eine bis 1756 schnell wachsende
Zahl von einheimischen und zugewanderten Unternehmern, von denen viele

3 W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte... (1984) [15].


4 G . CORNI, A b s o l u t i s t i s c h e A g r a r p o l i t i k . . . ( 1 9 8 6 ) [154].
5 H. RACHEL/J. PAPRITZ/P. WALLICH, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten
(1967)... [135], Bd. 2; Werner MARTIN, Manufakturbauten im Berliner Raum seit
dem ausgehenden 17. Jahrhundert, Berlin 1989.
482 S 3 Preußens Wirtschaft 1 7 4 0 - 1 7 5 6

in ihrer Jugend die Niederlande, Frankreich, auch England und Skandina-


vien kennengelernt hatten. Im Westen der Monarchie stand durch seine
Seidenerzeugung Krefeld im Vordergrund, das seit 1702 zu Preußen gehörte.
Die vor der Religionsverfolgung dorthin geflüchtete reformierte Familie von
der Leyen machte in kurzer Zeit Krefeld zum Hauptort der preußischen
und deutschen Seiden- und Samtfabrikation.
Doch darf man das preußische Manufakturwesen 6 insgesamt vor 1763
nicht nach dieser schmalen Spitzengruppe bewerten. Noch waren Manu-
fakturen häufig Spekulations- und Verlustgeschäfte, nicht selten von Sub-
ventionsjägern mit unzureichenden Fach- und Marktkenntnissen gegründet,
vom König heute angelegt oder gefördert, morgen aufgrund neuer Überle-
gungen, auch aus unberechenbaren Einfallen im Stich gelassen. Obendrein
fehlte es dem König selber nicht selten an genauer Qualitäts- und Quanti-
tätskenntnis: zwar kann man den König als Vater der Wirtschaftsstatistik
in Preußen bezeichnen, doch seine Neigung zum die eigenen Fähigkeiten
überschätzenden Selbstregieren bildete zumindest im Bereich der Wirtschaft
eine gefährliche Schwäche. Als Leiter des V. Departements, also als sein
eigentlicher Handelsminister, hat er seit 1749 ähnlich wie später Bismarck
in dieser Position eine ohne Fachkenntnisse und Konsequenz letztlich un-
befriedigende Mischung von Gesamtpolitik und Staatswirtschaft betrieben,
bis ihm im Kriege und noch für einige Jahre nach dessen Beendigung die
Übersicht verlorenging und die Entwicklung weitgehend aus seinen Händen
in die von ausländischen und einheimischen Spekulanten und Plusmachern
glitt. Andererseits wuchs auch allmählich eine erhebliche Zahl von Fach-
arbeitern heran, die zur Verfügung standen, als seit etwa 1770 die wirkliche
Industrialisierung einsetzte.
Der Straßenfernverkehr, dem in einem so weit ausgedehnten Staat große
Bedeutung hätte zukommen können, litt unter Friedrichs Mangel an Inter-
esse für ihn, während er sich der Flußregulierung und der Förderung des
Wasserstraßenverkehrs angesichts von dessen Bedeutung in den Niederlan-
den und Frankreich sowie im Zusammenhang mit der Neulandgewinnung
annahm. Allerdings wurde das lästige Stapelrechts-Gegeneinander von Stet-
tin, Frankfurt und Breslau erst 1751 abgeschafft, als die Oder sich bereits
seit einem Jahrzehnt in ihrer ganzen Länge in preußischem Besitz befand.
Nun konnten das Fahrwasser gesäubert und der Elbhandel über den Plau-
enschen Kanal abgeleitet, der Oderzoll dem Elbzoll angepaßt werden. Mit
einem Schlage wurde das in diesem Zusammenhang gegründete Swine-
münde ein aufblühender, Stettin bis 1756 ein lebhaft tätiger Ein- und
Ausfuhrhafen.
Aufmerksam verzeichnete der König, daß die Hugenotten sich mehr und
mehr den höher bewerteten und einträglicheren Gewerben zuwandten, ihr
Wohlstand im Durchschnitt schneller stieg als der der Alteingesessenen. Die
Juden, insbesondere ihre Berliner Gemeinde mit etwa 320 Haushalten,

6 Wilhelm TREUE, Sozialgeschichte des Handwerks im Übergang zur privatkapi-


talistischen Industriewirtschaft. Anmerkungen zu einem Buch über europäische
Möbelkunst im 18. Jahrhundert, in: Z U n t G , Bd. 28 (1983), S. 2 1 4 - 2 2 2 .
§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement" 483

schätzte er als Wirtschafts- und Finanzpotential. Ein revidiertes General-


privileg vom 17. April 1750 gestattete den Zuzug von Juden nur, wenn
diese mindestens 1.000 Taler Kapital besaßen, und erhöhte zugleich ihre
Abgaben. Zur Spitzengruppe gehörten in dieser Zeit bereits die Ephraim,
Itzig und Isaac als Silberhändler und Münzpächter, die ein Jahrzehnt später
in Zusammenarbeit mit dem König bekannt und schließlich berüchtigt
wurden.
Hauptziele des friderizianischen Merkantilismus waren zu dieser Zeit die
Steigerung der staatlichen Einnahmen und Überschüsse, die Erhöhung des
Staatsschatzes von 13 auf 20 Millionen Taler als Garanten der politischen
Unabhängigkeit und militärischen Stärke für den zu erwartenden Krieg,
dessen Dauer der König richtig auf sieben Feldzüge mit 180.000 Mann und
etwa 170 Millionen Taler Kosten schätzte. Die „preußische Nation" und
von dieser in erster Linie die Kontribution zahlende bäuerliche Bevölkerung
wurde also bereits in den Friedens jähren bei minimaler Lebenshaltung zu
maximalen Leistungen gezwungen, deren Steigerung durch innere Anleihen
im Kriege kaum noch möglich war. Auch waren aus Meliorationen, An-
siedlungen und Kanalbauten, die viel Geld kosteten, erst nach langen
Anfangszeiten merkliche Gewinne zu erwarten. Friedrich achtete gewiß wie
sein Vater „Menschen für den größten Reichtum", aber in Form von
Regimentern und Produktionskraft, nicht im Sinne der „Aufklärung" als
Individuen mit Menschenwürde und Intelligenz.

§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege


und im „Rétablissement" 1

Fast alles Rüstungsgut, 2 das Friedrich in Vorbereitung auf den erwarteten


langen Krieg unter Einsatz von vielen Soldaten stapelte, mußte als Roh-
material (Eisen und Holz für Geschütze und Gewehre, Salpeter usw.) für
die eigene Verarbeitung in der Nähe der zentral gelegenen Hauptstadt oder,
noch teurer, in Form von fertigen Gewehren, Pulver, Kugeln, Bomben usw.
aus Schweden und vom Harz importiert werden. Ins Zentrum dieser Ein-
fuhrgeschäfte gerieten seit 1740 mehr und mehr Splitgerber & Daum, die
auch häufig Raseneisenstein verarbeitende Eisenhämmer pachteten, Ge-
wehrfabriken in Spandau und Potsdam besaßen, Kupfer- und Messingwerke
anlegten und bei deren Betrieb, etwa der Geschützgießerei, mit unerfahrenen
Arbeitern oft schlechte Ware lieferten und den König viel Lehrgeld zahlen

1 Reinhold KOSER, Die preußischen Finanzen im siebenjährigen Kriege, in: FBPG,


B d . 1 3 ( 1 9 0 0 ) , S. 1 5 3 - 2 1 7 , 3 2 9 - 3 7 5 ; J ö r g K . HOENSCH, F r i e d r i c h s II. W ä h r u n g s -
manipulationen im Siebenjährigen Krieg und ihre Auswirkung auf die polnische
M ü n z r e f o r m v o n 1 7 6 5 / 6 6 , in: J G M O D , B d . 2 2 ( 1 9 7 3 ) , S. 110-175.
2 P. R E H F E L D , D i e p r e u ß i s c h e R ü s t u n g s i n d u s t r i e . . . (1944) [181].
484 § 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement"

ließen. Insgesamt sind in Preußen 1741 - 1 7 6 5 etwa 1.500 Kanonen, Hau-


bitzen und Mörser gegossen worden - rund 1.200 in Berlin, der Rest in
Breslau —, was also einen Monatsdurchschnitt von etwa fünf Geschützen
(vier davon in Berlin) bedeutete. Genügend ausgerüstet, aber fast ohne
Reserve, zog die Armee 1756 in den Krieg, der schnell hohe Verluste
verursachte, so daß die teueren Einfuhren gesteigert werden mußten, wäh-
rend die Versorgung mit Leinen und Tuchen für die Uniformen keine
Schwierigkeiten bereitete. Splitgerber & Daum verdienten 1759 bis 1764
bei der Versorgung des Heeres mit Waffen und Munition, Uniformen und
Proviant, Fahrzeugen und Pferden ihren Büchern zufolge eine Million Taler,
von denen 50 Prozent auf Verluste und Einbußen, zum Beispiel bei der
russischen Besetzung Berlins und auf den Meeren, abgeschrieben wurden.
Insgesamt kostete der Krieg rechnerisch Friedrichs Erwartungen entspre-
chend 170 Millionen Taler, seinen Memoiren zufolge 125 Millionen, in
Wirklichkeit nach Berichtigung von Doppelzählungen und Währungsver-
schlechterung wahrscheinlich etwa 140 Millionen Taler. Davon kamen 27
Millionen aus der Umschmelzung der englischen Subsidien und 48 Millionen
Taler aus sächsischen Kriegsentschädigungen — insgesamt also 50 Prozent.
Der Reingewinn eines jeden der großen Silberhändler und Münzentre-
preneurs betrug wahrscheinlich etwa eine Million Taler, während sie ins-
gesamt dem König 5 Millionen Taler Verluste vorrechneten, ohne ihm
belegen zu können, wo sie diese Beträge vorher besessen hatten. Still-
schweigend nahm er dies hin, da ihm die Gompertz, Itzig, Ephraim, Isaac
usw. während des ganzen Krieges so viel Silber beschafft hatten, wie er
brauchte, und Splitgerber & Daum bei vergleichbaren Risikogeschäften
wohl kaum geringere Gewinne erzielten. Allerdings gelangten die Münz-
juden zu ihren hohen Gewinnen nur, indem sie im Laufe des Krieges
allmählich aus dem Graumannschen 14-Taler-Fuß zum 18- und 193Λ-, seit
1761/62 selbst zum 40-Taler-Fuß übergingen, was der König, dessen Schlag-
schatz-Einnahmen dadurch eintsprechend wuchsen, „ganz admirable" fand.
Ende 1762 begann angesichts des bevorstehenden Friedensschlusses der
Rückschwung in der Münzpolitik, indem man zum 19%-Taler-Fuß zurück-
kehrte. Am 17. Dezember 1762 Schloß der König mit dem jüdischen Münz-
konsortium von Ephraim &c Söhne und Daniel Itzig den letzten Kontrakt.
Sowohl diese wie Splitgerber & Daum blieben nach 1763 im Lande und
unterhielten weiter Geschäftsbeziehungen zum König — hinter ihnen eine
schließlich nicht mehr kleine Gruppe von Zulieferern, Porzellanhändlern,
Getreide- und Pferdelieferanten, von denen sich nur einer, reich geworden,
ins Ausland absetzte: Heinrich P. Schimmelmann, „ein kaufmännisches
Genie ersten Ranges", der von Hamburg aus den Transfer der englischen
Subsidien besorgte, nach diesem einträglichen Geschäft in dänische Dienste
übertrat und eine großartige Karriere machte. Friedrich II. haßte diesen
Mann, der es fertiggebracht hatte, aus der Abhängigkeit von ihm auszu-
brechen und als großer Unternehmer und Politiker in Westeuropa und
Skandinavien hohes Ansehen zu erwerben. Der unglücklichste aller Protégés
des Königs wurde der allzu idealistische „königliche Kaufmann" Johannes
E. Gotzkowski. Bei Kriegsausbruch ein reicher Manufakturbesitzer, kaufte
§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement" 485

er 1758 trotz sichtlich schrumpfender Konjunktur mit Unterstützung des


Königs eine große Tabakmanufaktur, half 1760/61 ohne Sicherheitsleistung
Berlin mit 1,1 Millionen Talern bei der Zahlung der Kontribution an die
Russen, errichtete dem König zuliebe 1761 in Berlin eine Porzellanmanu-
faktur und ging schließlich trotz mehrfacher königlicher Hilfe bis 1765
schrittweise in den totalen Konkurs: er starb, vom König verlassen, in
Armut. 3
Von allen Provinzen Preußens traf der Krieg am schwersten Schlesien, 4
wo überall die bescheidenen Ansätze eines Aufstiegs vernichtet, die Bergbau-
und Handelsbetriebe mindestens geplündert wurden, der Leinwandexport
dieser einst vom König als sein „Peru" bezeichneten Provinz 1757 —1766
von 3,3 auf 2,8 Millionen Taler sank, während der Tuchexport sich infolge
des allgemeinen Uniformbedarfs auf 1,5 Millionen Taler verdreifachte. Als
der König nach dem Friedensschluß von Hubertusburg im März 1763 über
Schlesien nach Berlin reiste, durchquerte er eine „schwer geprüfte Provinz"
und wiederholte seine nun bereits fast ein Vierteljahrhundert alten Aufbau-
befehle. Als der neue schlesische Sonderminister Graf Hoym 1770 sein Amt
antrat, erlebte er, daß die Einstellung der Schlesier zum König und zu
Preußen weit unfreundlicher war, als unmittelbar nach der Invasion von
1740.
In Ostpreußen begann 1762 nach mehrmaliger Brandschatzung durch die
Russen, die 1760 auch Berlin geplündert hatten, wieder einmal eine Zeit
des Rétablissements.
Anfang 1763 war die wirtschaftliche Lage des Staates nicht zuletzt auch
durch den moralischen Verfall von Teilen des Beamtentums bis hinein in
das Generaldirektorium so verzweifelt, daß der König am 4. April 1763 alle
seine Forderungen gegenüber allen Kassen strich, dem Generaldirektorium
fünf Tage später kurzerhand Entlastung erteilte und damit den Krieg staats-
wirtschaftlich auf dem Papier beendete, der unter gewaltigen Kosten und
Verlusten nicht mehr als die Behauptung Schlesiens gebracht hatte - einer
ausgebluteten Provinz, deren bergbauliches und industrielles Zukunftspo-
tential noch nicht bekannt war.
Es folgte eine Nachkriegskrise, 5 die alle Gewerbestädte, 6 hauptsächlich
aber die Hauptstadt, sehr schwer traf und in der spezifische Mängel der
preußischen Staatswirtschaft und -Verwaltung, auch der Beziehungen zwi-

3 Geschichte eines patriotischen Kaufmanns, Berlin 1768 u . ö . [Verf.: Johann Ernst


Gotzkowsky]; Fritz SPRINGBORN, Johann Ernst Gotzkowsky, in: NDB, Bd. 6,
Berlin 1964, S. 689 f.; dort auch Literatur über Wegely.
4 A. ZIMMERMANN, Blüthe und Verfall... (1885) [79].
5 Stephan SKALWEIT, Die Berliner Wirtschaftskrisis von 1763 und ihre Hintergründe
( = VSWG, Beih. 34), Stuttgart - Berlin 1937; W[illiam] O. HENDERSON, The
Berlin Commercial Crisis of 1763, in: EconHR, Bd. 15 (1962/63), S. 8 9 - 1 0 2 ;
Benno von KNOBELSDORFF-BRENKENHOFF, Zu Brenkenhoffs Tätigkeit auf dem
Gebiet der Landeskultur in Vorder- und Hinterpommern 1762 — 1780, in: BSt,
Bd. 70 (1984), S. 113 - 1 3 6 , Bd. 71 (1985), S. 81 - 1 0 4 .
6 W. SACHSE, Bibliographie... (1981) [77].
486 § 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement"

sehen dem Herrscher und seinem höheren Beamtentum aufgedeckt wurden.


Als Friedrich im Mai 1763 eben mit der Münzverbesserung begonnen hatte,
was zur allgemeinen Geldverknappung und -Verteuerung führte, da der
Staat, Gemeinden und Geschäftsleute nur noch gutes Geld annahmen, das
die Schuldner sich mit Aufgeld beschaffen mußten, brach in Amsterdam
eine der größten Banken Europas zusammen und zog viele andere Unter-
nehmen im In- und Ausland hinter sich her, was zu einem gewaltigen
Kreditbedarf mit einem entsprechenden Zinsanstieg und vielen Kreditkün-
digungen führte. Damit brach auch in Preußen die riesige Wechselwirtschaft
zusammen, die man seit Jahren gewohnt gewesen war. Am 6. August 1763
baten zehn Berliner Kaufleute den König um dreimonatige Hilfe unter
Hinweis auf die Gefährdung der gesamten Manufakturwirtschaft in Berlin
und auf die davon zu erwartenden Folgen. Der König, dem die Verhältnisse
über sein Vorstellungsvermögen hinauswuchsen, lehnte mit der üblichen
Befehlspolitik ab. Als drei Tage später Gotzkowski und sogar Splitgerber
&c Daum unter Hinweis auf die aus Amsterdam zu erwartenden Verschär-
fungen der Krise vergeblich Hilfe für zwei Monate beantragten, zog das
Unheil schnell weitere Kreise. Spätestens am 15. August erkannte auch
Friedrich die „jetzige große Revolution" in der Kaufmannschaft. Am
23. August richtete er für Wechselbankerotte einen besonderen Gerichtshof
unter dem Vorsitz des als höchst korrekt geltenden Präsidenten des Gerichts
der französischen Gemeinde, von Dorville, ein. Durch diese Ausschaltung
der ordentlichen Gerichtsbarkeit war die äußerste Strenge mit Exekution
und Personalarrest vorübergehend aufgehoben. Schuldner, denen man
traute, erhielten Vollzugsaufschub und selbst Geldhilfe. Bis in das Jahr 1765
hinein wurde so durch einen Staatseingriff die allgemein besonders hoch-
geschätzte preußische Wechselordnung von 1751 eingeschränkt. Im Jahre
1764 wurde zwar der 14-Taler-Fuß wieder hergestellt, mit der Münzprägung
aber absichtlich so langsam vorgegangen, daß erst 1767 die Höchstzahl der
Konkurse erreicht wurde und erst im Juni 1769 der Abschlußbericht jenes
Sondergerichts von einer gänzlich veränderten Lage sprach — sechs Jahre
nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, 13 Jahre nach seinem Anfang.
Im Zuge der geschäftlichen Nachkriegskrisis, die an vielen Stellen auch
eine menschliche war, verlor Friedrich das Vertrauen nicht allein in seine
Beamtenschaft, sondern auch in viele Berliner Unternehmer, die sich nach
seiner Auffassung als unfähig erwiesen hatten, ohne staatliche Hilfe zu
überleben. Der Staat mußte also, so Schloß er, noch stärker als bisher in
die Wirtschafts- und Finanzentwicklung eingreifen - und zwar mit Hilfe
von Männern, die im west- und südeuropäischen Kapitalismus Erfahrungen
gesammelt hatten. 7
Hier lag die Hauptursache für Friedrichs unheilvolle Wendung zu Italie-
nern, Franzosen und Niederländern, die er für fleißiger, origineller, dyna-

7 Wilhelm TREUE, Über preußische Könige und ihre Mitarbeiter im 18. Jahrhun-
dert, in: Norbert Horn (Hg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und
Gegenwart. Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, München 1982,
Bd. 1, S. 4 0 9 - 4 2 0 .
§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement" 487

mischer, auch für ehrlicher hielt als seine Untertanen — ein eigenartiges
Versagen des grundsätzlich so mißtrauischen Monarchen, der nicht in der
Lage war, einen Teil der Schuld an dieser Situation in seiner Wahl unerfah-
rener, auch unfähiger Mitarbeiter für freigewordene und neu geschaffene
Stellen zu erkennen. Daraus erwuchs das menschlich verlustreiche Kapitel
„Friedrich II. und die Beamten nach 1756". Auch vermochte er nicht
einzusehen, daß die Nachkriegskrisis in Preußen weitgehend vom Ausland
her verursacht wurde. Als ihm ein sorgfältiger Bericht die Schwächen seiner
Entscheidungen nachwies, wandte er sich gegen dessen Verfasser, den Geh.
Finanzrat Ursinus, konnte diesem engen Mitarbeiter unglücklicherweise
auch jahrelang betriebene Bestechungen durch Unternehmer, die der König
selber subventioniert hatte, nachweisen und fühlte sich nun erst recht in
seinem generellen Urteil über seine engste Umgebung bestätigt.
Jetzt war er endgültig überzeugt, daß seine Vorhaben wie etwa die
Wiederauffüllung des Staatsschatzes, Steuererhöhungen, die Einführung
einer allgemeinen Einkommenssteuer, die Forcierung der inneren Koloni-
sation, die Modernisierung der Land- und Forstwirtschaft, der Ausbau
Stettins, die Förderung des Überseehandels, schließlich die Aktivierung der
Handelsbilanz nur mit Hilfe ausländischer Spezialisten einerseits und durch
Verstärkung des Absolutismus andererseits, durch Ausdehnung des Pacht-
und Monopolwesens sowie durch staatliche „Regie" nach französischer Art
und durch allgemeine Abgabenerhöhung statt durch Stärkung der Unter-
nehmerkräfte möglich sei.
So entzog er dem Generaldirektorium den Rest seines Vertrauens, enga-
gierte den bereits in Frankreich verkrachten Bankier Antonio Calzabigi aus
Livorno als Finanz- und Kommerzienrat sowie einige Franzosen für Tabak-
monopol und Post, die sich insgesamt schnell als unfähig und unzuverlässig
erwiesen, so daß sie seit 1769 wieder durch preußische Beamten ersetzt
wurden. Die wichtigste neue Einrichtung, die „Generaladministration der
königlichen Gefalle", die „Regie", übertrug der König mit großen Voll-
machten für sechs Jahre fünf Franzosen. Die Befreiung von ihnen und ihren
vielen schlechten französischen Mitarbeitern zog sich von 1772 bis 1784
hin, obwohl der Minister Freiherr von Heinitz bereits 1781 in einer entlar-
venden Denkschrift nachgewiesen hatte, daß die Akzise 1780/81 weit we-
niger erbracht hatte als im Krisenjahr 1765/66. N u n nannte der König die
Franzosen „lauter solch Schurkenzeug", ohne daß dadurch das Vertrauen
seiner ungerecht behandelten Beamten in die Genialität seiner Urteilskraft
wiederhergestellt wurde. Nicht wenige hofften auf ein baldiges Ende seiner
Herrschaft.
In Friedrichs letzten 15 Jahren trat das Manufakturwesen in Berlin und
Brandenburg, auch in Schlesien stärker in den Vordergrund. Trotz Friedrichs
wachsender Enttäuschung über die Fehlleistungen der von ihm angewor-
benen Ausländer gelang es einem solchen, das Vertrauen des Königs zu
gewinnen und ein Projekt von großer dauernder Bedeutung ins Leben zu
rufen. Im Jahre 1767 empfahl der aus Bremen stammende Amsterdamer
Kaufmann Dietrich E. Bühring dem König, für den in großer Kreditnot
befindlichen grundbesitzenden Adel an die Stelle des gefährlichen Indivi-
488 § 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement"

dualkredits ein Pfandbriefsystem zu setzen. Daraus ging zunächst 1769/70


ein „Landschaft" genanntes Kreditinstitut für Schlesien hervor, das sich
durch sichere, zu relativ niedrigen Zinsen gewährte Kredite so bewährte,
daß seit 1777 weitere Institute dieses Typs in den anderen ostelbischen
Provinzen folgten.

TABELLE 1
Pfandbriefumlauf der preußischen Landschaften

Jahr Pfandbriefe
(in Mill. Mark)

1770 0,066
1805 164
1815 190
1848 257
1870 634
1890 1750
1900 2160
1906 2507

Quelle: F. H E C H T , D i e O r g a n i s a t i o n d e s B o d e n k r e d i t s . . . ( 1 8 9 1 - 1 9 0 8 ) [ 1 3 2 ] , A b t . 3 ,
Bd. 1, Leipzig 1908, S. VIII und 598.

Die Landschaften und landschaftsähnlichen Institute wurden als erste


Pfandbriefinstitute dieser Art in Europa, beruhend auf dem Prinzip der
Solidarhaft der schuldnerischen Grundbesitzer unter Wahrung eines öffent-
lich-rechtlichen Charakters, die typischen Repräsentanten für die Organi-
sation des Bodenkredits zugunsten des Großgrundbesitzes und erlebten bis
zum Ende Preußens einen dauernden Aufschwung, der die Entwicklung der
Großlandwirtschaft spiegelte (vgl. Tabelle l ) . 8
Seit etwa 1770 erlebte die potentiell nächst Berlin und Brandenburg
reichste Provinz des Staates, Schlesien, einen allgemeinen wirtschaftlichen
Aufschwung, mit dem nun 30 Jahre nach Eroberung und Okkupation
langsam die Integration des Territoriums in Preußens Staats- und Wirt-
schaftspolitik begann. 9 Den Kern des Prozesses bildete jetzt nicht mehr das
Sonderministerium, das sich alles in allem, weit von Berlin abgelegen und

8 Stephan SKALWEIT, Diederich Ernst Bühring, in: NDB, Bd. 2, Berlin 1955, S. 727;
Ernst KLEIN, Von den Anfängen bis zum Ende des alten Reiches (1806) ( = G.
Ashauer u.a. (Hg.), Deutsche Bankengeschichte... ( 1 9 8 2 - 1 9 8 3 ) [126], Bd. 1),
Frankfurt/M. 1982, S. 201 - 216; J. ZIEKURSCH, Hundert Jahre schlesischer Agrar-
geschichte... ( 2 1927) [59]; Ingrid MITTENZWEI, Friedrich II. und die Übergangs-
epoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: ZfG, 34. Jg. (1986), S. 6 8 4 - 6 9 8 ;
F. H E C H T , D i e O r g a n i s a t i o n d e s B o d e n k r e d i t s . . . ( 1 8 9 1 - 1 9 0 8 ) [ 1 3 2 ] , A b t . 3 , B d . 1
(Die Landschaften und landschaftlichen Institute), Leipzig 1908.
9 H[ermann] FECHNER, Die Wirkungen des preußischen Merkantilismus in Schle-
sien, in: VSWG, Bd. 7 (1909), S. 3 1 5 - 3 2 3 ; Wilhelm TREUE, Georg von Giesche's
Erben 1 7 0 4 - 1 9 6 4 , Hamburg 1964.
§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement" 489

besonders in seinen lokalen Vertretungen nicht immer sehr befähigt besetzt,


wenig bewährt hatte, sondern das neue Bergbau- und Hüttendepartement
in Berlin, an dessen Spitze der König den in Sachsen aufgestiegenen Freiherrn
A. von Heinitz 10 stellte — jedoch ohne eine Lockerung des Merkantilsy-
stems, die sein Genie und seine Dynamik verdient gehabt hätten. So kam
es auch hier zu Verzögerungen: Erst mußte Heinitz die Provinzen bereisen,
dann legte er im Oktober 1779 für Schlesien eine Planungsdenkschrift vor
und zog seinen aus Hannover stammenden Neffen Friedrich Wilhelm von
Reden 11 nach Schlesien, und erst weitere zwei Jahre später konnte Friedrich
gegen Ende seines Lebens die ersten günstigen Folgen einer gewissen Ko-
operation dieses ministeriellen Bereiches mit den geförderten Ansätzen eines
privatwirtschaftlichen Unternehmertums aus schlesischen Magnaten, deren
Mitarbeitern, aufsteigenden heimischen Gewerbetreibenden, die auf Aus-
landsreisen die Ursachen der Überlegenheit der Wirtschaft in England,
Skandinavien und Wallonien studierten, sowie Einwanderern, schließlich
durch erste Verbindungen der praktischen Wirtschaft mit der Berg- und
Metallwissenschaft beobachten. Auch die Waldwirtschaft — für Holzkohle,
Bergwerke und Straßen — sowie der Fluß- und Straßenverkehr nahmen seit
etwa 1780 deutlich einen Aufschwung. In solchen Zusammenhängen 12 be-
gann man, Dampfmaschinen zu importieren, den heimischen Bedürfnissen
anzupassen, schließlich zu verbessern, die Verwendung von Steinkohle an-
zuregen und mit Koks zu experimentieren. Die Bergordnung von 1769
beruhte zwar noch ganz auf dem absolutistisch-merkantilistischen Direk-
tionsprinzip, doch entsprach dies bis in das 19. Jahrhundert hinein den
Besitz- und Initiativ-Verhältnissen im Bergbau, insbesondere in Schlesien.
Erst als nach 1815 Kapital und Initiative von Privaten nach Investitions-
möglichkeiten suchten, brauchte man seit den vierziger Jahren auch hier

10 Evelyn KROKER, Bergverwaltung, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Chri-


stoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1984,
S. 514 - 526; W. WEBER, Das Berg- und Hüttenwesen... (1987) [166],
11 K . FUCHS, V o m D i r i g i s m u s z u m L i b e r a l i s m u s . . . ( 1 9 7 0 ) [ 6 1 ] , S. 4 7 f f . ; W . W E B E R ,
Innovationen... (1976) [167]; Konrad FUCHS, Friedrich Wilhelm Graf von Reden,
in: Z U n t G , 2 7 . J g . ( 1 9 8 2 ) , S. 1 — 2 1 ; H . FECHNER, G e s c h i c h t e d e s schlesischen
Berg- und Hüttenwesens... (1901/02) [ 1 6 5 ] ; M a r g a r e t e CZAJA, D e r industrielle
Aufstieg der Beuthen-Siemianowitzer und Tarnowitz-Neudecker Linie der Henk-
kel v. Donnersmarck bis zum Weltkrieg, Speyer a. Rh. 1936 (Staatswirtsch. Diss.
München 1 9 3 6 ) , S. 2 6 f f . ; W. KROKER, W e g e z u r V e r b r e i t u n g . . . (1971) [170];
Ulrich TROITZSCH, Ansätze technologischen Denkens bei den Kameralisten des
17. und 18. Jahrhunderts ( = SchrWSG, Bd. 5), Berlin 1966, S. 104ff.; Wolfhard
WEBER, Technologie und Polytechnik in Preußen im 18. und 19. Jahrhundert, in:
Friedrich Rapp/Hans-Werner Schütt, Philosophie und Wissenschaft in Preußen
( = TUBDok, H. 14), Berlin 1982, S. 175 - 200.
12 Konrad FUCHS, Zur Entwicklung des oberschlesischen Steinkohlenbergbaues vom
ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Oschljb,
Bd. 3 (1987), S. 22 - 36; Wolfhard WEBER, 250 Jahre Verwaltung und Wissenschaft
im Bergbau, in: Der Anschnitt, 39. Jg. (1987), S. 1 5 3 - 1 6 2 .
490 § 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement"

wie in den übrigen Gewerben die Lockerung des Dirigismus, schließlich die
Gewerbefreiheit und ein zeitgemäßes Aktienrecht.
Neben dieser Entwicklung von Schlesiens Bergbau- und Metallindustrie,
die in den achtziger Jahren an Breite und Tempo gewann, erlebte sein
Textilgewerbe weniger auffällig eine neue Blütezeit. Zwischen 1763 und
1786 sollen in Schlesien mehr als 1.300 neue „Industriebetriebe" gegründet
worden sein - davon etwa 850 im Textilbereich, wobei es sich allerdings
in der ersten Zeit mehr um Wiederaufbau als um Schaffung neuer Kapzitäten
gehandelt haben dürfte. Mit dieser Produktionssteigerung bei Leinen und
Wolle verbunden war die Leistung des Handels: Schlesisches Leinen war
über Lissabon und Cadiz bis nach Südamerika, über London bis nach
Indien und Nordamerika beliebt, stieß allerdings auf Behinderung durch
den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und auf irisch-schottische sowie
russische Konkurrenz, die sich neuer Bleichmethoden und zum Teil der
ersten mechanischen Webstühle, in England auch schon der Dampfmaschine
bediente, die in Preußen zum ersten Male erst 1785 bei Hettstedt verwendet
wurde.
Wenngleich um 1786 in Schlesiens Textilgewerbe viel mehr Menschen
beschäftigt wurden als im Bergbau nebst Hütten- und Metallverarbeitung,
war jenes ein zurückbleibender (und nie mehr ganz gesunder) und dieser
ein bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts steil ansteigender Gewerbebereich
mit spektakulären Leistungen, die sich zum Teil auch auf andere Bereiche
auswirkten: 1765 wurde in Breslau hauptsächlich für den Bedarf des Tex-
tilgewerbes das Bankhaus Eichborn & Co. gegründet, das sein Geschäft
bald auch auf die neuen Industriebereiche ausdehnte und dabei stärker mit
der Preussischen Seehandlungs-Societät, einer unter anderem zur Förderung
der Wirtschaft gegründeten Staatsbank, zusammenarbeitete als mit dem
Privathandelshaus Splitgerber & Daum. 1 3
Maulbeerbaumpflanzungen und Seidenfabrikation 14 aus heimischen Roh-
stoffen gehörten wie die Porzellanerzeugung mehr zur Repräsentation des
absoluten Fürstentums als zur produktiven Wirtschaft, wenngleich beides
in gewissem Umfang den Import verringerte. Die seit 1685 von Hugenotten
in Brandenburg geschaffenen ersten Ansätze zur Seidenwirtschaft waren bei
Friedrichs Thronbesteigung bereits wieder vergessen — so ähnlich wie die
Flotten- und Überseepolitik des Großen Kurfürsten. Der König begann
beides von neuem und erlebte wie jener Mißerfolge. 1783/84 wurde für eine
Million Taler Rohseide importiert und mit hohen Subventionen Rohseide
mäßiger Qualität im Werte von 54.000 Talern im Lande selber erzeugt.
Dagegen florierte nach wie vor die Seidenwaren- und Band-Produktion der

13 H[ermann] FECHNER, Die Fabrikengründungen in Schlesien nach dem Siebenjäh-


rigen Kriege unter Friedrich dem Großen. N a c h den Akten des Staatsarchivs und
des Oberbergamts zu Breslau, in: ZgSt, Bd. 57 (1901), S. 6 1 8 - 6 5 2 ; Ders., Die
Wirkungen des preußischen Merkantilismus... (1909) [s.o. Anm. 9].
14 I. MIECK, Preußischer Seidenbau... (1969) [180],
§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement" 491

Familie v. d. Leyen und anderer kleinerer Produzenten in Krefeld 15 unter


Verwendung mittelmeerischer und asiatischer Rohseide und erzielte, nicht
zuletzt durch starken (Schmuggel-)Export modischer Rokoko-Fabrikate so
hohe Gewinne, wie es sie um diese Zeit in ganz Preußen nicht noch einmal
gab. Friedrich ließ daher die selbstbewußten Krefelder Unternehmer, die
seiner Protektion nicht bedurften und die Übersiedlung nach Berlin oder
gar in das weit von ihren Märkten entfernte Schlesien strikt ablehnten, in
ihrem niederrheinisch-mennonitischen Milieu mit einer sonst nirgendwo in
Preußen gewährten bürgerlichen Freiheit auf rein privatwirtschaftliche
Weise Vorbild für spätere Entwicklungen in anderen Wirtschaftsbereichen
werden.
Wenngleich man sich seit den 70er Jahren in Berlin/Brandenburg und
Schlesien, auch in Königsberg und Halle mit technischer und volkswirt-
schaftlicher Literatur, wie den Schriften von Arthur Young und Adam Smith,
sowie mit dem Maschinen- und Gewerbeschulwesen zu beschäftigen begann,
unter dem Einfluß von Heinitz und Reden industrie- und technik-unterneh-
merische Studienreisen ins Ausland unternahm, stand doch für viele Jahr-
zehnte in Preußen noch die Landwirtschaft unter der Führung durch die
adlige Gutsherrschaft und die Domänen(-pächter) als Arbeitgeber, Produ-
zent, Steuerzahler und als „Lieferant" von Rekruten wie Offizieren ganz
und gar im Vordergrund von Wirtschaft und Gesellschaft. Friedrich setzte
die von seinen Vorgängern unter hohen Kosten betriebene zeitraubende und
teuere Landgewinnung 16 in Verbindung mit Flußregulierungen nach 1763
fort, nachdem bereits seit 1757 die Verbreitung des 1746 begonnenen feld-
mäßigen Kartoffelanbaus betrieben worden war, so daß man um 1785 allein
in der Kurmark 30.000 Tonnen erntete, wodurch obendrein die Brache fast
ganz verschwand, der Boden besser bearbeitet wurde, der Futteranteil
wuchs, die Fleischversorgung und die Mistmenge stieg, der Getreideanbau
verbessert werden konnte — und der Kartoffelschnaps-Konsum zu einer

15 Gerhard von BECKERATH, Die wirtschaftliche Bedeutung der Krefelder Menno-


niten und ihrer Vorfahren im 17. und 18. Jahrhundert, Rechts- und staatswiss.
Diss. Bonn 1952; Konrad FUCHS, Die „Seidenstädte" Krefeld und Lyon. Versuch
eines Vergleichs, in: Heinz Duchardt/Eberhardt Schmitt (Hg.), Deutschland und
Frankreich in der frühen Neuzeit. Festschrift Hermann Weber zum 65. Geburtstag
( = AnReg, Bd. 12) München 1987, S. 5 8 9 - 6 1 5 ; Susanne MÜLLER, Marktsitua-
tion und Absatzpolitik der Krefelder Samt- und Seidenindustrie in der Zeit vom
Ende des 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ( = Wirtschafts- und Rechtsge-
schichte, Bd. 7), Köln 1987, S. 41 ff.; Peter KRIEDTE, Eine Stadt am seidenen
Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte
des 19. Jahrhunderts ( = VMPIG, Bd. 97), Göttingen 1990.
16 Erich NEUHAUS, Die fridericianische Kolonisation im Warthe- und Netzebruch
( = SchrVGNeum, H. 18), Landsberg a. W. 1906; Peter Fritz MANGEL (Hg.), Das
Oderbruch, 2 Bde., Eberswalde 1930/34; Fridericianische Siedlungen rechts der
Oder bis 1800. Aufgrund der Aufnahme von Hammer und v. Massenbach bearb.
von Herbert Schienger, Breslau 2 1933 (ND Sigmaringen 1985); Edgar MELTON,
Gutsherrschaft in East Elbian Germany and Livonia, in: CEH, Bd. 21 (1988),
S. 3 1 5 - 3 4 9 .
492 § 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement"

Seuche in der ärmeren Bevölkerung zu werden begann. An der Oder wurden


etwa 25.000 Hektar, geringere Flächen an der Netze, Warthe, Elbe und
Weichsel gewonnen, 1773/74 der Bromberger Kanal zwischen Weichsel,
Netze und Oder angelegt, seit 1771 Versuche mit dem modernen Norfolker
Landwirtschaftssystem unter Betonung des Fruchtwechsels gemacht. Vor
der Verbesserung und Wertsteigerung des Ackerbaus zog die Schafhaltung
sich immer weiter in die östlichen Gebiete zurück, während sie in diesen
noch einmal 1763 —1780 an Zahl um etwa 70 Prozent wuchs und zugleich
infolge der Einfuhr von Merinos aus Sachsen die Qualität der Wolle sehr
viel wertvoller wurde. Gleichzeitig begann man allmählich mit der Rindvieh-
zucht. Alles zusammen führte zur Verdoppelung und Verdreifachung der
Bodenwerte und -preise, hinter denen die Preise für gewerbliche Erzeugnisse
und erst recht die Löhne erheblich zurückblieben: der Staat, die Ritterguts-
besitzer und die dem Staat so treu wie Offiziere und Geistliche ergebenen
Domänen-General- und -Unterpächter, auch Güterspekulanten und Geld-
verleiher erlebten in Friedrichs letzten 20 Jahren eine fast ununterbrochene
Hausse und waren daher an wirtschaftspolitischen Neuerungen im Sinne
von Adam Smith und gesellschaftlichen Liberalisierungen nach den Lehren
der Enzyklopädisten so wenig interessiert wie der König selber, der erkannte,
daß jede ernstliche Veränderung sein gesamtes in Jahrzehnten erst geschaf-
fenes und dann erstarrtes System von Zollkrieg, Protektion, Subvention,
auch Korruption einerseits, doppelter Untertanenschaft der meisten Men-
schen unter Rittergutsbesitzern und dem „ersten Diener" des Staates an-
dererseits zumindest abschwächen mußte.
Das gesamte agrarische Produktionsvolumen des preußischen Staates 17
hatte um 1780 einen Wert von 261 Millionen Taler. Davon stammten aus
dem Anbau von Roggen 17 Prozent, von Weizen 5 Prozent, von Gerste
6 Prozent, von anderen Getreidesorten 5 Prozent, aus der übrigen Acker-
produktion 5 Prozent, aus dem Gartenbau 6 Prozent, aus der Fleischpro-
duktion 8 Prozent, aus der übrigen tierischen Produktion 5 Prozent, aus
der Waldwirtschaft 7 Prozent — insgesamt also aus Land- und Waldwirt-
schaft 2/3 = mehr als 172 Millionen Taler. Der gesamte private Verbrauch
betrug 210 Millionen Taler. Davon entfielen allein auf Roggenbrot und
Roggenerzeugnisse 20 Prozent, auf Gerste- und Haferprodukte 7 bzw. 5
Prozent, auf Fleischwaren 9 Prozent. Exportiert wurde für 23 Millionen
Taler, davon für 27 Prozent Zucker und für 24 Prozent Kaffee — für mehr
als 6,3 Millionen Taler also diese beiden Luxusgüter.
Da Erbsen, Roggen und Gerste die preiswertesten Grundnahrungsmittel
waren, bildeten sie die Grundlage der Ernährung des großen Hauptteils der
Bevölkerung auf dem Lande und in den Städten. Die Nährstoffe des Fleisches
waren infolge dauernder Preissteigerungen seit etwa 1720/40 vier- bis fünf-

17 Mit freundlicher Erlaubnis aus einem Manuskript „Agrarproduktion in Frideri-


cianischer Zeit und die Nahrungsversorgung der preußischen Bevölkerung im
18. Jahrhundert" von Diedrich SAALFELD, Göttingen 1989; vgl. auch Ders., Die
Sorge um das tägliche Brot, in: Jerome Blum (Hg.), Die bäuerliche Welt. Ge-
schichte und Kultur in sieben Jahrhunderten, München 1982, S. 109 — 132.
§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement" 493

mal, die tierischer Fette zwei- bis dreimal so teuer wie die des Roggens
(Roggenbrot etwa 30 Prozent teurer als der Roggen selbst), so daß also der
ärmere Teil der Bevölkerung nur sehr selten in den Genuß von Fleisch und
Fett gelangte und die Ernährung dieses Bevölkerungsteils sich im Laufe des
18. Jahrhunderts merklich verschlechterte. Kartoffeln begannen erst nach
1780 eine erwähnenswerte Rolle zu spielen.
Die in Friedrichs Todesjahr 1786 erschienene zweite Auflage von Friedrich
Nicolais „Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam"
stellte die Hauptstadt der Monarchie und ihre Vorstädte mit über 6.600
Häusern und 147.000 Einwohnern (darunter 14.000 Soldaten mit 45.000
Frauen und Kindern, aber nur 9.140 Bürger und 5.500 Mitglieder der
französischen „Kolonie" sowie 400 — 500 jüdische Familien) an Schönheit
und wirtschaftlicher Lebenskraft neben die bedeutendsten kontinentaleu-
ropäischen Hauptstädte. 18 Der bekannteste Groß- und Speditionskaufmann,
Bankier und Unternehmer überhaupt in Preußen war „Splitgerbers Erben".
Bei der Produktion Berlins standen an der Spitze die Textil-, hauptsächlich
die Leinen- und Wollmanufakturen, die zwei Drittel aller Manufakturen
ausmachten. Die Bauwirtschaft spielte vom Künstler-Architekten bis zum
ungelernten Arbeiter, bis zu Tischlerei und Glaserei in dieser schnell wach-
senden Stadt eine die Gesamtwirtschaft sehr belebende und stabilisierende
Rolle. Der König selber ließ anfangs in Potsdam, nach der Besetzung Berlins
durch die Russen auch dort, insbesondere nach 1763, noch mehr seit 1775,
viel bauen: Jetzt entstand das frühklassizistische Berlin mit Kirchen, Palais
und Bürgerbauten mit einer vom König auf vielen Wegen geförderten
„Bauwut", die zahlreiche ausländische Saisonmaurer und -zimmerleute her-
anzog und insgesamt schon seit 1752 700 im Stadtteil „Voigtland" ansiedelte,
da immer mehr von ihnen auch im Winter Arbeit in der Stadt fanden.
Grundstücksspekulation und Mietsteigerung konnte der König, der selber
durch Kasernenbauten der bedeutendste Bauherr war, 1763 durch Gesetze
eindämmen.
Die Wohnverhältnisse waren nach mitteleuropäischen Maßstäben in Ber-
lin nicht schlecht: 6.644 Hausbesitzern standen 28.000 Haushaltungen mit
etwa 100.000 Zivilisten gegenüber. Mehr als 75 Prozent der Haushaltungen
entfielen also auf Mietwohnungen — viele davon in jungen, modernen
Häusern. Berlin, eine Beamten-, Militär- und Manufakturenstadt, so groß
wie Madrid und Rom, fast so groß wie Wien, aber kaum mehr als ein
Drittel so groß wie Paris, ein Sechstel so groß wie London, war, auf Sand
gebaut und zwischen fließenden Gewässern gelegen, gesünder als die meisten
anderen Großstädte. Die Sterblichkeit war etwa halb so groß wie die in
Wien, die Zahl der Geburten übertraf seit 1777 die der Todesfälle.
In der Berliner Oberschicht begann um 1800 die „klassische Zeit" der
seit 1780 entstandenen literarischen Salons. In ihnen spielten nicht wenige

18 Vgl. auch Ilja MIECK, Land und Leute und die Existenzbedingungen im Staat
Friedrichs II., in: Friedrich der Große. Herrscher zwischen Tradition und Fort-
schritt, Gütersloh 1985, S. 114 - 1 2 2 ; H.-P. ZIERHOLZ, Arbeiterschaft und Recht...
(1985) [184],
494 § 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1786 - 1806

Frauen wohlhabender Bankiers, Kaufleute und Industrieller eine Rolle —


mehr und mehr auch nach Assimilation strebende Juden, wie der „englische"
(Ephraim) Cohen aus Holland, der als erster eine englische Spinnmaschine
nach Berlin gebracht und damit der Textilwirtschaft eine wichtige Anregung
gegeben hatte. 1 9
Die „Unterschicht" war groß, aber wohl relativ nicht größer als die
anderer Großstädte ähnlicher Bevölkerungsstruktur. Das Handwerk hatte
für die Gelernten und Tüchtigen einen „goldenen Boden"; darunter wuchs
langsam ein Manufaktur- und Fabrikproletariat heran. Eine sehr große
Zahl unterhalb der Wohlhabenden besaß Gärten, hielt Kleinvieh, sammelte
Holz und Früchte, konservierte auf viele Arten Lebensmittel für den Winter,
spann und webte für die eigene Familie und zum Verkauf. Das ergänzte die
im allgemeinen niedrigen Löhne. Für die Armen und erst recht für die
Elenden bildete Krankheit schnell eine Katastrophe, welche die ganze Fa-
milie belastete, und, wo eine solche nicht existierte, häufig den qualvollen
Untergang.

§ 5 Wirtschaft, Finanz und Technik


1786-1806

In Friedrichs 46 Jahren Regierungszeit war Preußen von 119.000 auf 195.000


Quadratkilometer gewachsen, seine Bevölkerung von 2,2 auf 5,8 Millionen
gestiegen und damit ebensosehr ein beachtliches wirtschaftliches wie mili-
tärisches Potential geworden. Nur 27,8 Prozent der Menschen lebten in
Städten, von denen viele nicht mehr als größere Dörfer waren. 1
Friedrichs Nachfolger, 2 von dem man notwendig gewordene Anpassun-
gen an die Wirtschaftsstruktur und technische Entwicklung erwartete, be-

19 Petra WILHELMY, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780-1914)


( = V H K z B , Bd. 73), Berlin 1989, S. 623.
1 C[arl] F r i e d r i c h ] W[ilhelm] DIETERICI, Handbuch der Statistik des preußischen
Staats, Berlin 1861, S. 185; Erich KEYSER, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands
[1938], Leipzig 3 1943, S. 418.
2 Gerd HEINRICH, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt/M.— Ber-
l i n - W i e n 1981, S. 2 5 5 ff.; Erich BLEICH, Der H o f des Königs Friedrich Wilhelm
II. und des Königs Friedrich Wilhelm III. ( = Geschichte des preussischen Hofes,
Bd. 3, T. 1), Berlin 1914; Hans HAUSSHERR, Friedrich Wilhelm II., König von
Preußen, in: N D B , Bd. 5, Berlin 1961, S. 5 5 8 - 5 6 0 ; Edith RUPPEL-KUHFUSS, Das
Generaldirektorium unter der Regierung Friedrich Wilhelms II. mit Berücksich-
tigung der interimistischen Instruktion von 1798 ( = BStnG, H . 2), Würzburg —
Aumühle 1937; Martin PHILIPPSON, Geschichte des Preußischen Staatswesens
vom Tode Friedrichs des Großen bis zu den Freiheitskriegen, Bd. 1, Leipzig 1880;
E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974) [24], S. 6 0 f . ; Albert
§ 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1 7 8 6 - 1 8 0 6 495

gann seine Regierung unter dem Einfluß ungeeigneter Berater mit in sich
widersprüchlichen Maßnahmen: Er hob die verhaßten Kaffee- und Tabak-
monopole auf und erleichterte die Beschränkungen beim Getreide-Im- und
-Export, erhöhte aber die Steuern auf Lebensmittel und mußte außerdem
bereits 1788 den Getreidehandel erneut belasten und 1789 das Tabakmo-
nopol wiederherstellen, so daß schließlich für die große Masse der Bevöl-
kerung das Leben teuerer war als unter Friedrich II. Der Finanzminister
J . Ch. von Wöllner verschleuderte innerhalb von acht Jahren den Staats-
schatz, der mehr als 50 Millionen Taler betragen hatte, und überließ die
Einnahmen der Dispositionskasse, ein Achtel der Gesamteinnahmen, der
Hofhaltung, während die Staatsverwaltung immer teuerer wurde. Ein Jahr-
zehnt nach Friedrichs Tod war Preußen verarmt und wieder von In- und
Auslandsanleihen sowie von Scheingewinnen durch Erhöhung des Umlaufs
von Scheidemünzen abhängig, da Heeresvergrößerung, Offiziergehaltser-
höhungen und die Übernahme von Ansbach-Bayreuth hohe Kosten verur-
sachten. Im Jahre 1794 bezog Preußen erstmals nach dem Siebenjährigen
Kriege wieder englische Subsidien. Finanziell erschöpft, mußte es 1795 mit
Frankreich den Frieden von Basel schließen. 1797 hinterließ Friedrich Wil-
helm II. 50 Millionen Taler Schulden: Innerhalb eines, allerdings unruhigen,
Jahrzehnts hatte er 100 Millionen Taler mehr ausgegeben als eingenommen.
Friedrich Wilhelm III. begann unter der Beratung durch den mit ihm
befreundeten Kammergerichtsrat Beyme, den Kabinettsminister von Har-
denberg und den Kammerdirektor Freiherrn vom Stein in Westfalen 1798
mit einer Finanzreform, aus der bald die Vorbereitung einer umfassenden
Verwaltungsreform hervorging. Sie versuchte vergeblich zu sparen, verla-
gerte ein wenig Steuern, Zölle und Abgaben und hob 1805 Binnenzölle auf.
Allmählich ging man wieder zur Aufstellung realistischer Etats über: Die
Staatseinkünfte stiegen 1 7 9 7 / 9 8 - 1 8 0 5 / 0 6 von 20,5 auf 27 Millionen Taler,
so daß man nicht nur die Kosten des Heeres aufbringen, sondern auch die
Schulden um sieben Millionen Taler verringern und einen Staatsschatz in
Höhe von 13 Millionen Talern bilden konnte. Preußen befand sich auf dem
Wege zur finanziellen Gesundung, als es 1806 Frankreich den Krieg erklärte.
Er endete mit dem Verlust von 48 Millionen Talern in einer Niederlage,
der Besatzungskosten und Kriegsentschädigung folgen mußten.
Die landwirtschaftlichen Neuerungen, 3 die Friedrich II. in seinen letzten
Jahren begonnen hatte, wurden der Bevölkerungssteigerung und Urbanisie-

NAUDE, Der Preußische Staatsschatz unter König Friedrich Wilhelm II. und seine
E r s c h ö p f u n g , in: F B P G , B d . 5 ( 1 8 9 2 ) , S. 2 0 3 - 2 5 6 ; A r n o H E R Z I G / R a i n e r SACHS,
Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneider-
meisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation ( = GöBtrWSG,
Bd. 12), Göttingen 1988.
3 H . - H . MÜLLER, M ä r k i s c h e L a n d w i r t s c h a f t . . . (1967) [162]; Ders., Einige Aspekte
der Viehhaltung im ausgehenden 18. Jahrhundert. Eine Analyse auf Grund von
Preisschriften der Preußischen Akademie der Wissenschaften über die Einführung
der Stallfütterung aus dem Jahre 1788, in: JbWG, 1972/3, S. 7 7 - 1 0 5 ; Otto
BÜSCH, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713 —1807. Die Anfänge
496 § 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1 7 8 6 - 1 8 0 6

rung entsprechend fortgesetzt: die Düngung verbessert, der Anbau von


Weizen, insbesondere aber der von Kartoffeln als Hauptnahrungsmittel der
ärmeren Bevölkerung und Schweinefutter verstärkt. Der Rindviehbestand
wuchs besonders in den neuen Grünlandgebieten um 50 Prozent. Alles in
allem entfiel in Preußens Landwirtschaft gegen Ende des Jahrhunderts mehr
als die Hälfte ihres Produktionswertes auf Nahrungsmittel und je ein Viertel
auf andere pflanzliche und tierische Produkte wie Flachs, Wolle, Leder und
Holz.
In dieser Zeit des wirtschaftlichen Fortschritts sowie der Einnahme- und
Grundstückswert-Steigerungen begann man, erste Pläne für die „Bauern-
befreiung" aufzustellen und zu erproben: Seit 1798 wurden auf den Do-
mänen Hand- und Spanndienste abgeschafft und Vorbereitungen für die
Umwandlung größerer lebensfähiger Bauernwirtschaften in Eigentumsbe-
triebe getroffen. Doch blieben solche Planungen und Maßnahmen im In-
teresse des Bauernstandes immer eng verbunden mit der Berücksichtigung
des Bedarfs des im Laufe von zehn Jahren auf 235.000 Mann gewachsenen
Heeres sowohl an Offizieren und Soldaten wie an Pferden, Hafer, Heu usw.
Die bedeutungsvollste Veränderung, die Friedrich Wilhelm III., angeregt
und geleitet von Beyme und einer langsam sich bildenden Reformgruppe
jüngerer Beamter, plante, betraf die Befreiung der Bauern aus der Erbun-
tertänigkeit unter Vermeidung einer Adelsrevolte und der Gefährdung der
Hohenzollern-Herrschaft. Der Staat mußte also auf den Domänen 4 über-
zeugend beweisen, daß eine solche Maßnahme ohne unzumutbare wirt-
schaftliche Belastung der Rittergutsbesitzer und der ständisch geordneten
Gesellschaft, obendrein unter Berücksichtigung der angesichts der Ereignisse
in Frankreich auch in Preußen ständig wachsenden Unruhe in der Bauern-
schaft hauptsächlich in Ostpreußen und Schlesien, durchgeführt werden
konnte. Tatsächlich gelang es, als Abschluß einer langen Entwicklung seit
1763 zwischen 1799 und 1806/07 auf den Domänen der alten Provinzen
50.000 spannfähige und viele kleinere Bauern zu Eigentümern zu machen
— mehr als 1 8 1 0 - 1850 auf den Rittergütern.
Behilflich waren dabei die allgemeine Erschütterung und Lockerung des
Staats- und Gesellschaftsgefüges durch die Niederlage von 1806 und die
Reduzierung Preußens durch den Frieden von Tilsit auf die Größe und
Bedeutung eines geschlossenen ostelbischen Kleinstaates, in dem Gesell-
schaftsreformen sich weit leichter durchführen ließen als in einem großen
Territorium mit sehr unterschiedlichen sozialen Verhältnissen zwischen
Rhein und Memel.
In unmittelbarem Anschluß an die für diese sehr billige Befreiung der
Domänenbauern begann die der Privatbauern von Diensten und Abgaben,

der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft ( = VHKzB,


Bd. 7), Berlin 1962, S. 51 f.; H . HARNISCH, Die agrarpolitischen Reformmaßnah-
men... (1977) [156]; M . RUMLER, Die Bestrebungen zur Befreiung der Privatbau-
ern... ( 1 9 2 0 - 1 9 2 5 ) [164],
4 Hans-Heinrich MÜLLER, Domänen und Domänenpächter in Brandenburg-Preu-
ßen im 18. Jahrhundert, in: J b W G , 1 9 6 5 / 4 , S. 1 5 2 - 1 9 2 .
§ 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1 7 8 6 - 1 8 0 6 497

die Erteilung des Eigentums. Die zweite Stufe bildete dann die Aufhebung
der persönlichen Untertänigkeit. Diese Reform auf den Domänen stellte das
Bedeutendste dar, was das alte Preußen auf dem Gebiet der agrarischen
Gesetzgebung geleistet hat — womit es allerdings auch sein eigenes Ende
einleitete. Das alles hatte eine radikale Umstellung von der Fron- und
Zwangsarbeit auf „freie" Landarbeiterleistung, von der herrschaftlichen
Arbeitsverfassung zum „freien" Vertrag, sehr allmählich von der Dienst-
wirtschaft zur Geldwirtschaft zur Folge. In den östlichen Provinzen überwog
noch bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Bezahlung durch, seit
etwa 1880 verbesserte, Deputatleistungen.
Seit etwa 1800 erlebten auch die nichtlandwirtschaftlichen Gewerbe 5
immer deutlicher einen Aufschwung — an ihrer Spitze die Textil- und
Bekleidungsgewerbe, die, mit der Leinenverarbeitung in Schlesien an der
Spitze, unter langsamer Einführung einfacher Maschinen seit 1800 über ein
Drittel der Selbständigen und 80 Prozent der Manufaktur- und Fabrikar-
beiter beschäftigten, gefolgt von der Metallverarbeitung. Erst dahinter ent-
wickelte sich das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe, da die ländliche und
zu einem erheblichen Teil auch die städtische Bevölkerung auf diesem Gebiet
Selbstversorger war. Die durchschnittlichen Betriebsgrößen waren überall
sehr bescheiden; keineswegs jeder Handwerksmeister hatte einen Gesellen
oder Lehrling.
Als Preußen 1806/07 seine westlichen Gebiete verlor, bestand es nur noch
aus drei deutlich voneinander unterschiedenen Regionen: Berlin 6 mit der
Kurmark, der aktivste, auch relativ wohlhabendste, dicht bevölkerte Ver-
waltungs-, Militär- und Manufakturbereich; die östlichen Provinzen, die
durch die polnischen Teilungen 7 einen starken, armen und zunächst wenig
entwicklungsfähigen polnischen Bevölkerungsanteil erhalten hatten; schließ-
lich das verkehrsungünstig gelegene, noch immer mehr ausgebeutete als in
den Staat integrierte Schlesien, 83 das durch See- und Überseekriege sowie

5 K.-H. KAUFHOLD, Das Gewerbe in Preußen... (1978) [169],


6 Wolfgang RIBBE, Geschichte Berlins, Berlin 2 1988, Bd. 1; Otto BÜSCH (Hg.),
Industrialisierung und Gewerbe... (1977) [234].
7 Georg W. STROBEL, Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Polen am

Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Friedhelm Berthold Kaiser/Bernhard Stasiewski


(Hg.), Die erste polnische Teilung 1772 ( = StDtO, H. 10), Köln 1974, S. 49 - 74;
Manfred LAUBERT, Die preußische Polenpolitik von 1 7 7 2 - 1 9 1 4 [1920]
( = SchrrldOK, Bd. 1), Krakau 3 1944.
8a C[olmar] GRÜNHAGEN, Monatsberichte des Ministers v. Hoym über den schle-

sischen Handel 1786 bis 1797, in: ZVGSchl, 28. Jg. (1894), S. 3 4 1 - 4 1 0 ; A.
ZIMMERMANN, Blüthe und Verfall... (1885) [79], S. 188 ff.; J. ZIEKURSCH, Hundert
Jahre schlesischer Agrargeschichte... ( 2 1927) [59]; H. KISCH, The Textile Indu-
stries... (1959) [87]; Konrad WUTKE, AUS der Vergangenheit des schlesischen
Berg- und Hüttenlebens. Ein Beitrag zur preußischen Verwaltungs- und Wirt-
schaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Festschrift zum 12. Allgemeinen
Deutschen Bergmannstag in Breslau 1913 ( = Der Bergbau im Osten des König-
reichs Preußen, Bd. 5), Breslau 1913; K. FUCHS, Vom Dirigismus zum Liberalis-
mus... (1970) [61], S. 71 ff.; Hans-Wilhelm BÜCHSEL, Rechts- und Sozialgeschichte
498 § 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1 7 8 6 - 1 8 0 6

durch die völlige Vernichtung des polnischen und russischen Handels nach
den Teilungen Polens eine so schwere Arbeitslosigkeit erlitt, daß es 1792
zu Hungerunruhen und am 15. April 1793 in Breslau zu einem Gesellen-
aufstand kam — dem schwersten Aufstand dieser Art in Deutschland.
Dagegen erlebten Bergbau und Industrie durch Heinitz und Reden unter
Förderung der Privatinitiative und des Handels, Straßen- und Kanalbaues
eine Zeit lebhafter Entwicklung, wobei neben dem Erz- immer stärker auch
der Kohlenbergbau als Brennstoffbasis für Hütten- und Verarbeitungsbe-
triebe in den Vordergrund trat. Allerdings bedurfte die Metallwirtschaft
noch des Zollschutzes, der Befreiung von Akzise und anderen Abgaben
sowie staatlicher Abnahmegarantie.
Entscheidende Bedeutung für diesen gesamten Aufschwung hatte die
Übernahme englischer, wallonischer, auch schwedischer Erfahrungen, wobei
die seit 1799 nach Plänen von Reden gebaute staatliche „Königshütte" als
Vorbild für die Privatunternehmer wirkte, das großartigste Hüttenwerk,
seit 1802 mit den beiden größten Kokshochöfen, auf dem Kontinent. Seit
den späten 80er Jahren konnte Heinitz auch eine zentrale Transferpolitik
im Bereich der Technik mit Hilfe des 1768 geschaffenen Berg- und Hütten-
departments betreiben. Zum Erfolg dieser Politik trug auch das psycholo-
gische Klima bei, in dem dieses Departement und seine regionalen und
lokalen Mitarbeiter tätig waren: „Patriotismus" war ein in diesem Zusam-
menhang häufig benutzter Begriff. 8b Der alternde Heinitz und sein die
staatliche Lenkung bevorzugender Neffe Reden legten den Grund für ein
neues industriewirtschaftliches Zeitalter der Provinz und des Staates, wovon
nach 1815 zunächst auch die Wirtschaft in den neu erworbenen Gebieten
an Rhein und Ruhr profitierte.
Neben den Gruppen staatlicher und privater technischer und wirtschaft-
licher Könner standen die schlesischen Magnaten, die als „Schlotbarone"
in der preußisch-deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte einen
bedeutenden Platz erhalten sollten — zum Beispiel die Henckel-Donners-
marck mit der Antonien-Hütte seit 1805/06, die Hohenlohe mit der Ho-
henlohe-Hütte seit 1809, Philipp Graf Colonna mit dem 1806 vollendeten
Colonna-Hüttenwerk, das nach seinem Tode 1807 Graf Renard auf eine
höhere Stufe hob.
Entsprechend solchem Wachstum in diesen drei Regionen nahm dort der
Handel zu, mußte das Verkehrswesen verbessert werden, wurde allmählich
der lange Zeit vernachlässigte Chausseebau in Angriff genommen, der in

des oberschlesischen Berg- und Hüttenwesens 1740 —1806 ( = VHKSchl, R. 3,


Bd. 1), Breslau 1941; K. GRÖBA, Unternehmer... (1936) [261]; W. TREUE, Wirt-
schafts- und Technikgeschichte... (1984) [15], S. 206ff.; Arno HERZIG/Rai-
ner SACHS, Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des
Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation
( = GöBtrWSG, Bd. 12), Göttingen 1987, S. 6.
8b Wolfhard WEBER, Preußische Transferpolitik 1 7 8 0 - 1 8 2 0 , in: TG, Bd. 50 (1983),
S. 1 8 1 - 1 9 6 .
§ 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1786 - 1806 499

England und Frankreich seit Jahrzehnten wie der Kanalbau den Handel
erleichterte - bis seit 1835 die Eisenbahn hinzutrat.
Bei der Beobachtung der technisch-industriellen Fortschritte in England,
Schottland, Wallonien und Skandinavien war nicht zu übersehen, daß sie
in erster Linie Erfindern, Konstrukteuren, technisch „Gebildeten" zu ver-
danken waren und daß diese ihre Bildung nicht mehr in erster Linie auf
Universitäten und Gymnasien, Klosterschulen und Ritterakademien erwar-
ben, sondern auf Schulen neuer Art und in der wirtschaftlichen Praxis unter
Entwicklung neuer Bildungs- und Berufsideale. 9 Dabei erwiesen sich der
niederländische Calvinismus und der berlinisch-hallische Pietismus mit ih-
rem „Arbeitsethos" und ihrer „Berufungs-Auffassung" als eine vorzügliche
Voraussetzung. So traten seit 1770 das „besondere Berginstitut", seit 1774
„Bergakademie" genannt, in dem auch die Waldwirtschaft beachtet wurde,
seit 1799 die Berlinische Bauakademie als Ansatzpunkte für weiterreichende
Entwicklungen, seit 1804 Albrecht Thaers „Lehrinstitut" auf dem Gebiet
der modernen Landwirtschaft in Möglin zu den Schulen traditioneller Art
hinzu, während es in Berlin, im Gegensatz zu Paris und London, kaum
gelang, die Akademien für die angewandten Wissenschaften zu interessieren.
Dagegen tat sich manches bei den Staatswissenschaftlern und Volkswirt-
schaftlern einiger preußischer Universitäten. Bereits zu Beginn der achtziger
Jahre las und interpretierte man in Königsberg das 1776 erschienene Haupt-
werk des bedeutenden schottischen liberalen Wirtschaftstheoretikers Adam
Smith, die „Untersuchungen über den Wohlstand der Nationen" — ein
Buch, das, ganz calvinistischer Lebensauffassung entsprechend, in den fol-
genden Jahrzehnten insbesondere in den protestantischen Gesellschaften des
Abendlandes über das „Wirtschaftliche" hinaus in Richtung auf eine all-
gemeine Liberalisierung des Denkens und der Zielsetzungen tiefgreifende
Veränderungen verursachen sollte und schließlich die entscheidende Her-
ausforderung für Karl Marx wurde. In Verbindung mit den Ideen über die
„Bauernbefreiung" im weitesten Sinne und mit der zunehmenden „Techni-

9 Wolfgang MARQUARDT, Geschichte und Strukturanalyse der Industrieschule.


Arbeitserziehung, Industrieunterricht, Kinderarbeit in niederen Schulen (ca.
1 7 7 0 - 1 8 5 0 / 7 0 ) , Phil. Diss. Hannover 1975 [MS]; Jürgen Voss, Die Akademien
als Organisationsträger der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: H Z , Bd. 231
(1980), S. 43 - 74; Gert SCHUBRING, Pläne für ein Polytechnisches Institut in
Berlin, in: Friedrich Rapp/Hans-Werner Schutt (Hg.), Philosophie und Wissen-
schaft in Preußen ( = TUBDok, H. 14), Berlin 1982, S. 2 0 1 - 2 2 4 ; Wilhelm TREUE,
Adam Smith in Deutschland. Zum Problem des „Politischen Professors" zwischen
1776 und 1810, in: Werner Conze (Hg.), Deutschland und Europa. Historische
Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Festschrift für Hans
Rothfels, Düsseldorf 1951, S. 1 0 1 - 1 3 3 ; Wolfhard WEBER, Technische Entwick-
lung und Arbeitszeit im deutschen Bergbau in der Frühindustrialisierung 1770 —
1810, in: TG, Bd. 47 (1980), S. 1 9 4 - 2 1 4 ; Ders., Industriespionage... (1975) [277];
Ernst WERNER, Die ersten eisernen Brücken (1777 — 1859), Diss. TU München
1974; Karl KARMARSCH, Geschichte der Technologie seit der Mitte des
achtzehnten Jahrhunderts ( = GWDNz, Bd. 11), München 1872, S. 863.
500 § 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5

sierung" der Wirtschaft haben Smiths Gedanken 10 in Preußen die Entwick-


lung in Stadt und Land, Adel und Bürgertum, Handwerker- und Arbeiter-
schaft grundlegend verändert, den „wissenschaftlichen" Sozialismus mit-
geschaffen und damit dem seit Jahrhunderten existierenden Klassenkampf
in moderner Formulierung eine neue Dimension gegeben.
Nach dem Königsberger Staatswissenschaftler Kraus, der 1807 starb,
nachdem er 20 Jahre lang Smiths Lehren an die Studierenden, meist künftige
Beamte, herangetragen hatte, waren die Universitäten in Halle und in dem
unter englischem Einfluß stehenden Göttingen die wichtigsten Hochschulen
für die Verbreitung der Lehren von Smith und seinen Schülern.
Neben diesen wissenschaftlichen gab es praktische wirtschaftliche und
technische Fortschritte: Seit etwa 1790 „kunstverständiges" Personal bei
den Bergämtern, den senkrechten Schachtbau und den Kohlewagen im
Bergwerk, den Übergang von der Newcomen- zu der leistungsfähigeren
Wattschen Dampfmaschine zunächst für Wasserhaltung und Förderung
beim Bergbau, schließlich auch für andere Gewerbe, seit 1789 den verbes-
serten Kokshochofen. Die neuen Erfahrungen, Erkenntnisse und Erfindun-
gen wurden in Enzyklopädien und Lexika nach westeuropäischen Vorbil-
dern, in „Kalendern", Jahrbüchern und Zeitschriften Interessenten mitgeteilt
und so allmählich einer natur- und ingenieurwissenschaftlich beeinflußten
Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Höhepunkte der Literatur bildeten
Beckmanns „Entwurf einer allgemeinen Technologie" und die große Enzy-
klopädie von Krünitz, die zu seinen Lebzeiten bis zum Stichwort „Leiche"
90 Bände voller wichtiger geschichtlicher und aktueller Informationen bot:
der Anfang jener großen liberalen bildungsbürgerlichen Konversations-
Lexika mit der Grundüberzeugung „Wissen ist Macht" und „Bildung macht
frei". 1 1

§ 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5

Die preußische Monarchie hat vor dem Thronverzicht der Hohenzollern


im Jahre 1918 eine einzige Katastrophe erlitten: im Jahre 1806. Diese hat
zur Rück- und Vorausbesinnung und von dort aus zu einer umfassend
angelegten Reform geführt, dem bedeutendsten Ereignis ihrer Existenz -
und zwar nachdem sie durch die Niederlage von Jena und Auerstedt
territorial auf Altpreußen zurückgeworfen worden war. Von Königsberg,
der Gründungsstadt mit der dem Smithianismus am frühesten und stärksten
verbundenen Universität, und der Provinz Ostpreußen, dem staatlichen

10 W. TREUE, Adam Smith in Deutschland... (1951) [s.o. Anm. 9].


11 Ulrich TROITZSCH, Deutschsprachige Veröffentlichungen zur Geschichte der
Technik 1 9 7 8 - 1 9 8 5 . Ein Literaturbericht, in: AfS, Bd. 27 (1987), S. 3 6 1 - 4 3 8 ,
bes. S. 383 ff.
§ 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5 501

Zentralraum des Königreichs, aus, hat Preußen sich seit 1807 erneuert und
ist anschließend territorial und wirtschaftlich über sich selbst hinausge-
wachsen zum Ruhrgebiet, nach Köln, bis nach Aachen und zur Saar. In
den Feldzügen von 1813 - 1 8 1 5 ist es gewissermaßen neu begründet worden.
Im Wiener Kongreß hat es aber auch bereits begonnen, sein „preußisches"
Wesen zu verlieren im kleinen, nicht im großen, oder gar im „größeren"
Deutschland. Diese Entwicklung, die zum Zollverein, unter Verlust der
„preußischen Nation" von diesem zum Norddeutschen Bund und zum
kleindeutschen Reich führte, hatte eine starke wirtschaftliche Komponente.
Nach dem Frieden von Tilsit besaß Preußen in den vier ihm verbliebenen
Provinzen nur noch 5,2 Millionen Untertanen gegenüber 9,75 Millionen vor
dem Kriege. Von ihnen waren mehr als 50 Prozent erst in jüngster Zeit
durch die polnischen Teilungen Preußen geworden; Preußen war also 1807
bis 1813 ein kleiner Zwei-Nationen-Staat, der neben den großen Besat-
zungskosten eine hohe Kriegsentschädigung zahlen mußte und gleichzeitig
auf diesem schmalen Raum Reformen durchführen wollte. Im Vertrag zu
Paris forderte Napoleon 140 Millionen Francs Kriegsentschädigung, im
Jahre 1810 nur noch 120 Millionen, dazu allerdings Zinsen, Verzugszinsen
und Überweisungskosten zu einem erniedrigend ungünstigen Wechselkurs,
so daß sich schließlich mehr als 34 Millionen Taler in 30 Monaten ergaben.
Der Abzug der Besatzungsmacht war und blieb das nächste Hauptziel
der preußischen Politik. Doch war in der Wirtschaftskrise zwischen Steins
Sturz und der Ernennung Hardenbergs die „Bewußtseinslage" in der gesam-
ten Bevölkerung so sehr durch „Kummer", „Niedergeschlagenheit", „Miß-
mut" und „Ärger" gekennzeichnet, daß die nun einsetzende Reformpraxis
sehr behindert und verzögert wurde. 1
Bereits 1806 mußte Preußen sich der französischen Kontinentalsperre 2
gegen England anschließen, die mehrfach verschärft wurde und besonders
Getreide-Exporte der drei Agrarprovinzen und die Textilwirtschaft Schle-
siens treffen sollte. Aber der mit der Durchführung der Sperre beauftragte
Staatsrat von Heydebreck 3 erlaubte und Napoleon tolerierte gegen hohe
Zahlungen an die preußische Staatskasse den Schmuggel durch die Sperre.
Diese Einnahmen und die aus dem Weiterverkauf des Schmuggelgutes in
den Jahren 1810/13, hauptsächlich nach Frankreich, gewonnenen 15,3 Mil-
lionen Taler ermöglichen es, bis 1811 6,2 Millionen Taler Kriegsentschä-
digung aufzubringen sowie den Rückgang von Steuereinnahmen auszu-

1 Dazu ausführlich Bernd von MÜNCHOW-POHL, Zwischen Reform und Krieg.


Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809 - 1812 ( = VMPIG, Bd. 87),
Göttingen 1987, S. 94 ff.
2 D . SAALFELD, D i e K o n t i n e n t a l s p e r r e . . . ( 1 9 8 7 ) [294],
3 H. SCHISSLER, Preußens Finanzpolitik... (1982) [300]; Hans HAUSSHERR, Erfül-
lung und Befreiung. Der Kampf um die Durchführung des Tilsiter Friedens
1807/08, Hamburg 1935; E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974)
[24], S. 105 ff.; Hans SARING, Die Rolle des Geheimen Staatsrats v. Heydebreck
bei der Durchführung der Kontinentalsperre in Preußen, in: FBPG, Bd. 44 (1932),
S. 8 4 - 1 2 9 .
502 § 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5

gleichen, so daß Preußen in dieser Zeit keinen Staatsbankrott erleiden


mußte.
Während Preußen sich in solchen Finanz- und Existenznöten befand, die
man durch die Veräußerung von Domänen und die Säkularisierung von
Kirchengütern verringern konnte, ging unter der Führung des Reichsfrei-
herrn vom und zum Stein (Nassauer Denkschrift Juni 1807) und Karl August
Fürst von Hardenberg (1814) (gemeinsam mit Altensteins Rigaer Denk-
schrift von 1807) eine kleine Gruppe von Ministerialbeamten an eine „Re-
volution von oben", der sich adlige Großgrundbesitzer unter der Führung
des Freiherrn August Ludwig von der Marwitz entgegenstellten - mit dem
Erfolg der Verzögerung und Einschränkung der Reformen, allerdings erst
nach dem Sturz Napoleons.
Durch das Edikt vom 9. Oktober 1807 wurde die Agrarreform („Bauern-
befreiung") mit der entschädigungslosen Abschaffung der Gutsuntertänig-
keit der Bauern eingeleitet: Bauern mit relativ gutem Besitz- oder Pachtrecht
wurden sofort, die mit schlechterem Recht am 11. Oktober 1810 persönlich
frei; ihre Dienst- und Abgabenverpflichtungen an die Gutsherren blieben
jedoch bestehen. Zugleich wurden die ständischen Grenzen beim Kauf und
Verkauf von Grundstücken aufgehoben. In dem Edikt hieß es: es entspreche
„ebensowohl den unerläßlichen Forderungen der Gerechtigkeit als den
Grundsätzen einer wohlgeordneten Staatswirtschaft..., alles zu entfernen,
was den Einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach
dem Maße seiner Kräfte zu erreichen fähig war". Und Stein unterstrich,
daß es sich in erster Linie um die Schaffung freier, gleichberechtigter,
wirtschaftlich selbständiger, auch selbstverantwortlicher Bürger mit dem
Hauptziel ihrer Beteiligung an staatlichen Geschäften handele.
Am 19. November 1809 trat die Städteordnung in Kraft. Ihr Ziel war die
kommunale „Selbstverwaltung", doch unterstand selbst in der Hauptstadt
die Verwaltung noch lange Zeit mehreren Ministerien und wurde unter
deren Aufsicht nur von einer wirtschaftlichen Bürgerelite ausgeübt. Der
Erwerb des Bürgerrechts war an Grundbesitz sowie an ein Jahreseinkommen
von 150 — 200 Talern gebunden, so daß die wahlberechtigten Bürger weniger
als 10 Prozent der Einwohner zählten. Die gewählten Stadtverordneten
bestellten einen kollegialisch organisierten Magistrat, der wie die Bürger-
meister der königlichen Anerkennung bedurfte.
Wie die Städteordnung strebte auch das Finanzedikt vom 27. Oktober
1810 zunächst nur ein Fernziel an: eine Vereinheitlichung des Steuerwesens
unter Aufhebung der Trennung von Stadt und Land sowie die Umwandlung
von Kontribution und Akzise in Grund- und Verbrauchssteuern. Der pri-
vilegierte Adel, der sich über die Finanznot des Staates hinwegsetzte, ver-
hinderte dies und die Einführung einer allgemeinen Einkommenssteuer.
Eine Woche später brachte am 2. November 1810 eine neue Gewerbe-
ordnung, die am 7. September 1811 durch ein Edikt über eine Gewerbe-
polizei ergänzt wurde, die Gewerbefreiheit und die Beseitigung des Zunft-
zwanges. 4 Damit wurde der freie Wettbewerb im Sinne des Smithianismus

4 Ilja MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [238]; U. ENGELHARDT (Hg.),


Handwerker in der Industrialisierung... (1984) [68], darin insbes. Barbara VOGEL,
Staatliche Gewerbereform und Handwerk in Preußen 1810 — 1820, S. 1 8 4 - 2 0 8 .
§ 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5 503

möglich. Der an diesem Bereich nicht interessierte Adel erhob keine Ein-
wände.
Einstweilen besaßen die persönlich frei gewordenen Bauern also nicht das
freie Eigentum. Die Ansprüche der Gutsherren auf Dienste und andere Lei-
stungen bedurften noch der „Ablösung", einer staatlich verordneten Enteig-
nung gegen eine staatlich festgesetzte Entschädigung. Da der vom Bankrott
bedrohte Staat diese nicht selber aufbringen konnte, die Gutsherren auf sie
nicht verzichten konnten (wollten und sollten), mußte sie den Bauern auferlegt
werden. Das geschah am 14. September 1811 durch das „Edikt, die Regulie-
rung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse betreffend" und durch
das „Edikt zur Beförderung der Landeskultur", durch die die persönlich freien
Besitzer das volle Eigentum an ihrem Hof erhielten — wofür die bisher erb-
lichen Besitzer ein Drittel, die nicht erblichen Besitzer und die Pachtbauern
die Hälfte ihres Bodens an den Gutsherrn abtreten oder eine langfristige, vom
Staat sehr sorgfältig errechnete Geldabgabe leisten mußten. Beide Möglich-
keiten führten für viele Bauern zu einem alles in allem jahrzehntelangen Schwe-
bezustand zwischen dem Edikt von 1811 und dem am 2. März 1850 erlassenen
Gesetz „betr. Ablösung der Reallasten und die Regulierung der gutsherrlichen
und bäuerlichen Verhältnisse", das also in einem ganz anderen politischen
und gesellschaftlichen Milieu nach Bauernunruhen, Revolution, radikalen
Preis- und Kaufkraftveränderungen, agrartechnischen Fortschritten, Markt-
verschiebungen usw. erschien. Die nicht spannfähigen, also nicht über eigene
Zugtiere verfügenden Höfe wurden durch eine Deklaration von 1816 vom
Regulierungsedikt ausgenommen.
Als 1849 die Regulierung in Geld oder Land weitgehend abgeschlossen
und die betroffenen Flächen „separiert" waren, erwies sich, daß die durch
sie unmittelbar verursachte Besitzverschiebung zwischen Adel und Bauern
mengenmäßig gering ausgefallen war: 1816—1850 verringerte sich die Zahl
der Vollbauernhöfe in Altpreußen um 2 Prozent, ihre Fläche um 2,7 Prozent,
ihre Betriebsgröße von 25,0 auf 24,8 Hektar. Aber im allgemeinen dürften
die Bauern dabei gutes Land an den Gutsbesitzer verloren haben; auch sind
die Bauern bei der Aufteilung der Gemeindeländereien weit schlechter
weggekommen als die Gutsbesitzer — sowohl in bezug auf die Bodenqualität
als auch auf die Lage der neuen Stücke zum Hofe, denn durchweg galt die
Regel: Der Ertrag eines Ackers, der mehr als 1,5 Kilometer vom Hofe
entfernt lag, blieb „an den Rädern der Fahrzeuge hängen". Brachten die
Bauern die „Ablösung" in Geld auf, dann behielten sie zwar ihr im Laufe
der Zeit erheblich wertvoller werdendes Land, mußten aber 10,7 bis 20,5
Prozent des geschätzten Reinertrages ihres Hofes für den Ablösungsbetrag
aufbringen, was in schlechten Zeiten existenzgefährdend werden konnte
und Meliorationen behinderte, während der Gutsbesitzer Geld für Aufkäufe
erhielt. Beispielsweise stiegen in dieser Zeit die Domäneneinkünfte um 25
bis 30 Prozent. Im einzelnen ergab sich: (Siehe Tabelle 2 auf den Seiten 504
und 505)
Am 11. März 1812 erfolgte formell die rechtliche und wirtschaftliche
Gleichstellung der Juden („Judenemanzipation") mit den christlichen Un-
tertanen.
504 § 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5

Die Gemeinheitsteilungen, Reallastenablösungen, Zusammenlegungen

Zahl I II Zahl der


Laufende No. der Fläche ihre r übrigen
neu- Dienst- und
Provinz Jahr regulir- Grundstücke l n Abgaben-
ten pflichtigen,
Eigen- 1 welche abge-
tümer ha be0· lest haben

1 2 3 4 1 5 II 6
bis 1850 . . . . 6 275 •34 213809 4 >19
1 Ostpreussen 1 von 1850 ab . 437 1 2 850754II 169 826
1 überhaupt . . . 6712 II 137064 563 173 945
bis 1850 . . . . 7 3·6 153938 879 5 406
2 von 1850 ab . ι 676 y 22 882 914II 96 522
Westprenssen . . . . j
überhaupt . . . 8992 II 176821 793|| 101928
bis 1850 . . . . '5 674 314456 083 39 972
3 von 1850 ab . I 351 II 12 661 529II 260 759
Brandenburg . . . . <
I überhaupt . . . 17025 II 327 117 6i2| 300731
bis 1850 . . . . 10 715 308477 203 13 324
4 Pommern j von 1850 ab . 215 II 3 723 182 128 992
überhaupt . . . 10 930 y 312 200 385 II 142316
bis i8$o . . . . 25172 356387 945I »5 213
5 Posen j von 1850 ab . ι 490 II 16 096 838I1 165 893
Uberhaupt . . . 26 662 O 372 484 7S3I 181 106
bis :85ο . . . . 5 660 52 675 026 98 560
6 Schlesien j von 1850 ab . 7 876 II 25 684 776II 693 412
überhaupt . . . 13 536 II 78359 802II 791 972
Oestliche Provinzen 1 bie 1850 . . . .
von 1850 ab .
70 812 II ι 320 148 945|l ·76 594
13045 II 83899 99311 ι 5 > 5 404
zusammen ì 83 857 II ι 404 048
überhaupt . . . 938|| I 691 998
bis 1850 . . . . 3 56 682 98 Sil
7 Sachsen j von 18J0 ab . — II 497 493
überhaupt . . . 3 56 682|| 596 304
bis 1850 . . . . — 20 764
8 Westfalen j von 1850 ab . - - -II 150778
überhaupt . . . —h <71542
bis 1850 . . . . - - — 4 584
9 Rheinprovinz . . . . j von 1850 ab . — II 3> >47
überhaupt. . . . — 35 73'
10 Reg.-Bez. Sigmaringen . überhaupt . . . 25 594
bis 1850 . . . . 3 56 682 124 159
Aeltere Westprovinzen ] von 1850 ab . 705 012
zusammen ^
überhaupt . . . 3 56 682 829 171
Zusammen J bis 1850 . . . . 70815
von 1850 ab . 13045
ι 320 205 627 300753
Staat alten Bestandes 83 899 993 2 220 416
überhaupt . . . 83 860 I 404 105 620 2 521 169

11 Schleswig-Holstein . . überhaupt 79 389


12 Hannover do. 82 540
13 Hessen-Nassau . . . . ilo. 71 875
Zus. neue Provinzen überhaupt — — — 233 804
bis 1850 . . . . 70815 I 320 205 627 300 753
Zusammen Staat ' von 1850 ab . 13045 83 899 993 2 454 220
überhaupt. . . 83 860 H ι 404 105 620II 2 754 973

Quelle: August MEITZEN, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse... (1368 —
1908) [226], Bd. 6, Berlin 1901, S. 274 f.
§ 6 Preußens Wirtschaft 1806 - 1 8 1 5

und Regulierungen in Preußen im 19. Jahrhundert

Bei den Regulirongen und Ablesungen sind

an Diensten aufgehoben folgende Entschädigungen festgestellt:

Boggenrente
Spann- Hand-
Land in
Kapital I Geldrente in
Neuscheffel
Diensttage Il M Jt à 50 1 ha dec.

7 8 y 9 II 10 II 12

207 540 274 241 ι 130 937 188 337 13886 40 058 176
2 9 8 3 4 667 H 4 350 720 II ι 454 008 < 3 5 4 8 ι 656 490
210 523 278 908 H 5 481 657 II ι 642 345 2 7 4 3 4 41 714 666
169 141 296 508 145 284 273 678 1617 10 211 918
9095 37 786 II 3 711 616 I 1266721 I 037 2 296 419
178 236 334 294 I I 3856 900 Ι ι 5 4 0 399 2654 12 508 3 3 7
ι 145 494 2641724 125480821 801012 119367 103 620 642
5 5 7 6 6 3 7 4 5 7 5 I I 26997 3 2 2 || 3 259 770 5 ' 3 9 4 ι 999 247
ι 201 260 3016299 3 9 5 4 5 4 0 4 I I 4060782 170761 O 105619 889
818030 ι 465 156 4 220 547 I 4 2 4 140 40669 1 150880 776
1 2 092 30988 I I 18806937 II 1 7 1 6 9 8 6 3 3 9 1 7 1 5 0 6 0 4 1 3
830 122 1496 144 I I 23027484 y 2 141 126 74586 y 165941 189
ι 991 66; 4353946 3 1 6 ^ 4 4 1 4 8 1 1 7 5 1 1 4 6 5 Ii 5 3 2 8 8 568
5 3 9 2 9 160913 I I 6829995 II 2561254 6 390 II 2 987 5 9 4
2 045 594 4 5 1 4 8 5 9 I I 7 146 639 I 4042429 17855 I 56276 162
ι 436 482 7 888 624 12 756 864 ι 040 262 57336 1 30892 484
> 6 3 3 3 6
5 534982 I I II 217 580 II 5 III 721 2 290 II 7 193 271
ι 599818 13423606 I I 23974444 II 6 1 5 1 9 8 3 ι 59 626 ¡I 38 085 7 5 5
5 768352 16920199 y 31 118358 II 4208604 1 244 3 4 0 ¡I 3 8 8 952 564
297 201 6143911 I I 7 1 9 1 4 1 7 ο ! ! 15370460 ι 108576 I I 3 ' 193 4 3 4
6 065 553 23064110 y 103 032 528 H 19579064 I 352916 I I 420145 998

196 448 258640 18587412 312 701 26.292 3 792 5 7 4


15 689 113 932 I I 22 793 689 II 4376732 1 32 736 II 701 706
212 137 372572 II 41 381 101 II 4689433 1 59 028 II 4 494 280
35860 61884 6623247 212427 2 331 I 3 ' 8 388
3 9 8 3 9 96 3 7 5 I I 27 276 774 II 902 519 1 1015 II 92 5 4 7

7 5 6 9 9 158 259 3 3 900 021 O 1114946 Ο 3 346 H 410 9 3 5


928 950 10 824 695 II 34
5 6 5 9 213
188 5 4 1 3151826 II 81429 II 1093 II 4 084
244 600 4080776 II 92253 II 1788 1 38 2 9 7

• 316943 II 301343 II — II —
232 364 583
3 2 0 26139609 II 535952 I I 29318 II 4145 1 7 5
5 5 7 1 6 210848 5 4 5 3 9 232 I I 5 662 0 2 3 I 34 844 II 798 3 3 7
288 080 5 3 1 4 3 · 80678841 II 6197975 II 64162 ι 4 943 512
6000716 17 2 4 0 782 57257967 4744556 1 273658 3 9 3 097 7 3 9
352917 6 354 759 126453402 II 21032483 ¡ I 143420 ι 3 · 9 9 1 771
6 3 5 3 633 23 5 9 5 5 4 ' 183 711369 25777039 I 4 1 7 0 7 8 1 425 089 510

7 022 1 3 9 4 9 15 875 ' 7 3 1424395 — • 5 220


7 301 16 980 915 248861 119 ! 232 140
20 549
102 2 984 969 230385 II - Ii 21 146
4 7 7
14425 3 4 9 7 5 35 841 057 1903641 y 119 ii 2 6 8 506
6 000 716 17 240 782 5 7257 9 6 7 4 7 4 4 5 5 6 I I 273658 ! l 393097 7 3 9
3 6 7 3 4 2 6 389 734 162 294 459 22936124 I I 143539 Ii 32260 2 7 7
6 368058 23 630516 219552426 II 27680680 I I 417 197 425358 1 016
506 § 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5

Ende 1812 herrschte in Preußen „weniger euphorische Aufbruchstimmung


als die drückende Schwüle des nahen Gewitters... Es ist nötig, sich zu
vergegenwärtigen, wie unberechenbar sich der Bevölkerung Preußens die
politischen Geschicke des Landes und das eigene individuelle Schicksal in
den zurückliegenden 6 Jahren erwiesen hatten, um die ganze Bandbreite
der Empfindungen nachvollziehen zu können, die in den Reaktionen auf
die plötzliche Wetterwende mitschwangen." 5 Um die Jahreswende 1812/13
war für Preußen die Durststrecke noch längst nicht überwunden. Im Sommer
1812 lag der Kurs der Seehandlungs-Obligationen bei 29 Prozent ihres
Nominalwertes, im Sommer 1813 lange Zeit noch zwei bis vier Punkte
tiefer. „Daß die leitenden Reformer staatsfreudiger geworden wären, läßt
sich schwerlich behaupten." 6 Was 1812/13 den preußischen Staat über diese
kritische Situation „hinausrettete", war die Tatsache, daß trotz aller erheb-
lichen Autoritätsverluste seiner Führung das Legalitätsprinzip zu tief im
Denken und Fühlen der Bevölkerung wurzelte, als daß sie an eigenmächtiges
Vorgehen oder gar an direkte Auflehnung gegen die Krone dachte. 7
Alles in allem brachten die Reformen zwar für viele Menschen in Stadt
und Land „Freiheit", aber diese konnte von den Großbetrieben in Land-
wirtschaft und Gewerbe weit besser genutzt werden als von den kleinen,
so daß hier auch die Bildung des Landarbeiter- und Handwerker- bezie-
hungsweise Fabrikproletariats einsetzte und damit ein wichtiger Komplex
der „Sozialen Frage" entstand.
Kosellecks Behauptung, die „Gesamtreform" sei spätestens mit Harden-
bergs Tod im Jahre 1822 „gescheitert" gewesen, ist aus mehreren Gründen
unhaltbar. 83 Erstens hatte sie mit der Bauernbefreiung begonnen, zweitens
vor und nach 1807 eigentlich zwei verschiedene Staaten, mindestens einen
Staat sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Struktur und politischer Ziel-
setzung und seit 1813/15 wieder einen anderen Staat betroffen, und drittens
starb Hardenberg sieben Jahre, nachdem Preußen zu dieser neuen staatli-
chen Größenordnung aufgestiegen und dabei auch ganz neue Reform-
beziehungsweise Integrationsaufgaben mit einem Blick in eine politische
und wirtschaftlich-technische Zukunft übernommen hatte, von der man
dreißig, ja selbst zehn Jahre zuvor in Berlin keine Vorstellung hatte haben
können. In Preußen hat jeweils 1786, 1806/07 und 1813/15 eine „neue Ära"
begonnen.
Im ganzen ist davon auszugehen, daß der Deutsche Bund gegenüber dem
alten Reich einen großartigen Neuanfang bildete, in dem das aristokratische

5 Β. V. MÜNCHOW-POHL, Zwischen Reform und Krieg (1987) [s. O. Anm. 1], S. 383 f.
6 A . a . O . , S. 4 0 8 .
7 A. a. O., S. 427.
8a Kosellecks Irrtum berichtigt Ilja MIECK, Idee und Wirklichkeit: Die Auswirkun-
gen der Stein — Hardenbergschen Reformen auf die Berliner Wirtschaft, in: Berlin
und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft — Lehren und
Erkenntnisse - , Berlin —New York 1987, S. 4 1 — 5 8 ; Toni PIERENKEMPER (Hg.),
Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von
Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution, Stuttgart 1989.
§ 6 Preußens Wirtschaft 1806 - 1 8 1 5 507

Prinzip in weiten Teilen der Wirtschaft (auch durch die Besatzungs- und
Kriegsnöte angeregt) durch die bürgerlich-kaufmännische Rechenhaftigkeit
ersetzt wurde — wenn auch unter den Bedingungen der Vielstaaterei, die
manche Fortschritte blockierte oder verzögerte.
Als seit den 70er Jahren die wirtschaftspolitische Einsicht Friedrichs II.
nachließ und nach 1786 der Spätabsolutismus verfiel, so daß für die Land-
wirtschaft und die Gewerbe „Reformer" an die Arbeit gehen mußten und
konnten, bestand auch eine seit dem späten 17. Jahrhundert herangewach-
sene „Adelsfrage", die durch die Niederlage von 1806 und ihre innenpoli-
tischen Folgen deutlich, die Reformen erschwerend in Erscheinung trat. Im
17. und 18. Jahrhundert war die Zahl der Adligen sehr gewachsen durch
den Fortfall des Priesterstandes (Ehen), durch das Verschwinden der Sitte,
bei Besitzlosigkeit den Adel abzulegen, durch Güterzersplitterung und
schlechte Wirtschaft, durch die Zunahme der Nobilitierungen und durch
Einwanderung ausländischer, haupsächlich französischer und polnischer
Adliger. Infolgedessen drängten viele Adlige in den Staatsdienst (Beamte,
Offiziere), wo sie schlecht bezahlt wurden, so daß sie trotz vieler Boden-
verkäufe an Bürger ein ärmliches Dasein führen und nicht selten geradezu
bettelten („Adelsproletariat"). Seit 1806 wurde „aus der Adelsfrage eine
offene Adelskrise"; es kam zum Bankrott vieler Güter, zur Verkleinerung
des Offizierskorps, seit 1807/08 zum Verlust der Steuerprivelegien. 8b Für
den Historiker tritt der wirtschaftliche Alltag der Jahre 1806 — 1815 zurück
hinter jene Reformen auf mehreren Gebieten - für den Zeitgenossen tat
er es ganz und gar nicht. Dieser erlebte in Berlin am 27. Oktober 1806 die
Suspension der Kgl. Bank, die sonst durch die Flucht der Regierung und
den Verlust mehrerer Filialen mit schweren Folgen für viele Schuldner
auseinandergebrochen wäre. Die Tätigkeit der Seehandlung bestand schließ-
lich fast nur noch in der Überweisung der Kontributionen. Somit fielen
privaten Bankiers in Berlin plötzlich Aufgaben zu, auf die sie nicht vorbe-
reitet waren. Insofern sie solche der Staatsbanken übernahmen, erlangten
sie auch Einfluß auf die Finanzpolitik — sehr gegen Hardenbergs Absicht,
der prinzipiell mehr den Staat als die Privatwirtschaft stärken wollte.
Der Aufenthalt der Franzosen in Berlin kostete die Hauptstadt 1806 —
1808 an Kontributionen und sehr hohen Einquartierungsgeldern für üppige
Versorgung, zum Beispiel mit Reis, Branntwein und Kleidung, 15,1 Millio-
nen Taler, die hauptsächlich von den vier größten Privatbanken der Mon-
archie aufgebracht wurden. 9
Nächst Berlin hat am schwersten Schlesien unter der Besatzung gelitten
— Friedrichs des Großen „Peru", die Provinz, deren Abtretung an Napoleon
zwecks Rettung des kleinen agrarischen Restpreußens mit einer viel zu
menschen- und gewerbereichen Hauptstadt hohe Ministerialbeamte erwo-
gen zu haben scheinen. Breslau, nach langer Belagerung am 7. Januar 1807

8b Fritz MARTINY, Die Adelsfrage in Preußen vor 1806 als politisches und soziales
Problem. Erläutert am Beispiele des kurmärkischen Adels, in: VSWG, Beiheft
35, Stuttgart - Berlin 1938.
9 W. TREUE, Das Bankhaus Mendelssohn... (1972) [138], S. 32, 73.
508 § 6 Preußens Wirtschaft 1806 - 1815

erobert, blieb bis 1808 besetzt. Die Provinz mußte fünf Millionen Taler
Kontribution in bar, daneben viele große Sachlieferungen aufbringen, und
als die Franzosen abgezogen waren, verlangte der preußische Staat die
Beteiligung an seinen Anleihen und verfügte schließlich am 30. Oktober
1810 die Säkularisierung fast aller Klöster und Stifte. Durch die Kontinen-
talsperre erlitten Ein- und Ausfuhr schwere Verluste, und auch der Binnen-
handel mußte durch Besatzung und Verarmung große Einbußen hinnehmen.
Von diesen allgemeinen Leiden gab es einige wenige Ausnahmen: Seit 1808
trat die Zinkwirtschaft schnell in den Vordergrund, seit 1809 nahmen durch
die Initiative tüchtiger Beamter Bau und Verwendung von Maschinen,
insbesondere von Dampfmaschinen zu, seit 1812 arbeiteten erhebliche Teile
der Eisenindustrie für die Rüstung auf den bevorstehenden Befreiungskrieg.
Der innere Zusammenhang dieser drei Vorgänge: Die psychologische und
materielle Bewältigung der Niederlage und Besetzung, die Hinnahme der
wirtschaftlichen, technischen und rechtlichen Reformen, gegen die es durch-
aus Widerstände bei Gutsbesitzern und Bauern, Fabrikanten und Hand-
werkern gab, und schließlich die heimliche Vorbereitung während der
französisch-russischen Auseinandersetzung auf einen wahrscheinlich ver-
lustreichen Befreiungskrieg gegen ein seit vielen Jahren sieggewohntes Genie
ist eine bedeutende Leistung der „preußischen Nation" gewesen, zu der es
in Österreich keine Parallele gab. 1 0
Als man 1810 anfangen konnte, an einen Befreiungskampf zu denken,
herrschte in Ostpreußen seit Napoleons Sieg Elend und Hungersnot, standen
dort in den Hypothekenbüchern Grundstückswerten in Höhe von 23,6
Millionen Talern 20,7 Millionen Schulden sowie viele Wechselschulden
gegenüber, während die Bevölkerung etwa 90.000 Menschen weniger zählte
als 1805. In Schlesien betrug die Einnahme aus den Gütern nur noch etwa
die Hälfte derjenigen in der Vorkriegszeit.
Am 23. Januar 1813 entzog der König sich einem französischen Zugriff
durch die Übersiedlung nach Breslau, das nun für eine kurze Zeit Regie-
rungszentrale wurde. Doch blieb Berlin das Wirtschaftszentrum, in dem
viel Geld für die Rüstung aufgebracht werden mußte und einige Bankiers
und Kaufleute durch diese glänzend verdienten. Der Kriegserklärung an
Frankreich am 16. März folgte am 20. die offizielle Aufhebung der Konti-
nentalsperre und dann während des ganzen Jahres 1813 eine mehr oder
weniger zwangsweise auferlegte staatliche Anleihe nach der anderen, deren
Zins- und Rückzahlungsversprechungen nicht erfüllt wurden, so daß ihre
Kurse schnell sehr tief sanken. Die verbündeten Russen brachten viel un-
terwertiges Metallgeld ins Land. Im Durchschnitt stiegen die Preise bereits
1813 um etwa ein Drittel. Erst als angesichts der günstigen Kriegslage im
Herbst englische Subsidien eintrafen und am Jahresende keine feindlichen
Truppen mehr östlich des Rheins standen, besserte sich die Wirtschaftslage.

10 W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte... (1984) [15], S. 251 ff.; dort,


S. 256, die neuere west- und ostdeutsche Literatur.
§ 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8 509

Die Befreiungskriege sind in Preußen hauptsächlich durch viele innere,


häufig unter Druck - Verhaftungen, Zwangseinquartierungen bei Kaufleu-
ten und Bankiers - auferlegte Anleihen finanziert worden - weniger als
die friderizianischen durch englische Subsidien. Alles in allem kostete der
Krieg von 1813/14 Preußen 29 Millionen Taler, von denen je 7 Millionen
aus eigenen laufenden Einnahmen und englischen Subsidien sowie 5,5
Millionen Taler aus englischen Anleihen gedeckt werden konnten. Der Krieg
von 1815 kostete noch einmal 20 Millionen Taler, die auf ähnliche Weise
aufgebracht wurden.
Sofort nach der Befreiung Preußens von französischen Truppen wurde mit
den Anmeldungen der 1806 bis Ende 1813 entstandenen Verluste, Besatzungs-
und Kriegskosten begonnen. Sie kamen nicht nur aus den altpreußischen
Provinzen, sondern auch aus den wieder mit der Monarchie vereinigten Ge-
bieten und außerdem aus dem Rheinland, Westfalen und dem Saargebiet und
wurden von den preußischen Behörden unter hohem Zeitaufwand sehr sorg-
fältig geprüft. Erst am 25. April 1818 verständigte sich die inzwischen sehr
selbstbewußte und respektabel gewordene, auch geschickt taktierende fran-
zösische Monarchie mit den ehemaligen Gegnern Frankreichs: Preußen erhielt
52,5 Millionen Francs sowie Zinsen ab 12. März 1815, denen allein im Rhein-
land Schadensmeldungen für fast 65 Millionen Francs und anerkannte An-
sprüche von etwa 55 Millionen gegenüberstanden. Schließlich erhielten die
Geschädigten im Rheinland bis Ende 1819 19,8 Millionen Francs. Andere
Siegerstaaten gingen bei der Prüfung der Anmeldungen weniger korrekt vor
als Preußen und erhielten daher relativ mehr.
Daneben bestand der Komplex der Kriegsentschädigung von Staat zu
Staat. Nachdem 1814 der preußische König unter dem Druck des Zaren
auf diese ganz verzichtet hatte, konnte man 1815 der neuen französischen
Monarchie gegenüber nicht mehr so nobel sein: Preußen forderte 1.200
Millionen Francs und erhielt mit Metternichs Hilfe 800 Millionen und seine
Besatzungskosten in Frankreich, davon 40 Millionen sofort. Dennoch wäre
es in einen Staatsbankrott geraten, wenn ihm nicht Nathan Mayer Roth-
schild in London 22 Millionen Taler geliehen hätte. An der Transferierung
aller dieser Beträge haben, wie nach 1806, Berliner und nun auch preußische
Untertanen gewordene Bankiers im Rheinland gut verdient.

§ 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8

Beim zweiten Pariser Frieden am 20. November 1815 erhielt Preußen 1 von
seinen einstigen polnischen Gebieten nur Westpreußen mit Danzig und
Thorn sowie das Gebiet um Posen und damit eine Landbrücke zwischen

1 Wilhelm TREUE, Das industrielle Preußen, in: Otto Büsch (Hg.), Das Preußenbild
in der Geschichte ( = VHKzB, Bd. 50), Berlin 1981, S. 1 8 3 - 2 1 2 ; W. FISCHER/
510 § 7 Wirtschaft und Finanzen 1815 - 1848

Schlesien und den preußischen Provinzen zurück. Darüber hinaus überließ


man ihm eine neue Provinz Sachsen mit Magdeburg und Halle, Schwedisch-
Vorpommern mit Greifswald und Rügen, die Rheinlande ohne die nieder-
rheinischen Gebiete, schließlich einen großen Teil des Saarlandes. Während
also sein Anteil am ostmitteleuropäischen Agrarraum verkleinert wurde,
gewann es in der Mitte und im Westen Deutschlands wertvolle Gewerbe-
und Bergbaugebiete mit einer wirtschaftlich wie kulturell fortgeschrittenen
Bevölkerung, die freilich weithin nicht den Wunsch gehabt hatte, mit der
Hohenzollernmonarchie vereinigt zu werden und Berlin als ihre Hauptstadt
zu bezeichnen. Nach wie vor bestand also das Königreich Preußen aus zwei
voneinander getrennten Landblöcken, deren Zusammenschluß das Ziel eines
jeden Herrschers sein mußte. Da mit entsprechenden Eroberungen oder
Erwerbungen nicht zu rechnen war, setzten hier die letzten großen „Refor-
men" ein, die mit dem Zollgesetz von 1818 begannen und mit der Bildung
des Deutschen Zollvereins in der Nacht zum 1. Januar 1834 ein provisori-
sches Ende erreichten.
Da die Wiener Bundesakte den totalen Wirtschaftspartikularismus kon-
stituierte, war Preußen in der Lage, innerhalb seiner Grenzen Wirtschafts-
freiheit herzustellen und seine Handels- und Zollpolitik so zu gestalten, daß
sie seinen Nachbarn attraktiv erschien oder so schweren Schaden zufügte,
daß sie sich preußischen Pressionen in bezug auf handele- und zollpolitische
Maßnahmen ergaben.
Zunächst führten die preußischen Reformbeamten in nur ungenauer
Kenntnis der internationalen, insbesondere der englischen Produktionsver-
hältnisse und Handelsströme mit dem Zollgesetz von 1818 den uneinge-
schränkten Freihandel ein, 2 was zwar einen großen preußischen Binnen-
markt schuf, aber zu so schweren Schäden in Landwirtschaft, Handwerk
und Industrie führte, daß man 1821 zu mäßigem Schutzzoll, 1827 zur
Verfünffachung der Getreidezölle schreiten mußte. Von 1819 ab führte
Preußen konsequent Enklaven-Verhandlungen mit seinen Nachbarn mit dem
Ergebnis des ersten Zollanschluß-Vertrages am 25. Oktober 1819: Schwarz-

J . KRENGEL/J. WIETOG, M a t e r i a l i e n zur S t a t i s t i k . . . ( 1 9 8 2 ) [ 1 9 4 ] ; W i l h e l m TREUE,


Friedrich Lists „Zollvereinsblatt" als Geschichtsquelle, in: Hermann Kellenbenz/
Hans Pohl (Hg.), Historia socialis et oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn
zum 65. Geburtstag ( = VSWG, Beih. 84), Stuttgart 1987, S. 3 3 0 - 3 3 7 ; Deutsches
Zollvereinsblatt, 1 . - 7 . Jg., Stuttgart [Bd. 5 - 7 : Augsburg] 1843-1849 (ND
Frankfurt/M. 1986); Hans JAEGER, Geschichte der Wirtschaftsordnung in
Deutschland, Frankfurt/M. 1988.
2 Ernst KLEIN, Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformge-
setzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg
( = VHKzB, Bd. 16), Berlin 1965, S. 100 ff.; Wilhelm TREUE, Wirtschaftszustände
und Wirtschaftspolitik in Preußen 1815-1825 (=VSWG, Beih. 3), Stuttgart
1937, S. 114 ff.; Carl Julius BERGIUS, Preußische Zustände, Münster 1844,
S. 256 f.; Karl GRIEWANK, Der Wiener Kongreß und die europäische Restauration
1814/15 [1942], Leipzig 2 1954, S. 53 ff.; Carl BRINKMANN, Die preußische Han-
delspolitik vor dem Zollverein und der Wiederaufbau vor hundert Jahren, Ber-
lin-Leipzig 1922.
§ 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8 511

burg-Sondershausen schloß sich zollpolitisch an Preußen an. Das war ein


Musterabkommen von grundlegender Bedeutung. Ihm folgten einerseits
ähnliche Abkommen mit anderen Nachbarn, andererseits, unter dem Ein-
fluß Österreichs, mehr oder weniger dauerhafte Zusammenschlüsse mittel-
deutscher Staaten, die sich selber und das Fortbestehen des Deutschen
Bundes, das heißt ihre kleinstaatliche Scheinsouveränität in Anlehnung an
Österreich, bedroht sahen. Aber Metternich verfügte nicht über Waffen,
mit denen er der Attraktivität des preußischen Großmarktes und der für an
Preußen sich anschließende Staaten sehr vorteilhaften Aufteilung der Zoll-
einnahmen entgegentreten konnte — vollends nicht, als es Motz 1828 zum
ersten Male gelang, mit Hessen-Darmstadt einen Staat zum Eintritt in das
preußische Zollsystem zu bewegen, der hinter dem Widerstand leistenden
Kurhessen und jenseits der Mainlinie lag. Die unmittelbare Folge dieses
„zollpolitischen Sprunges" bildete Preußens Verständigung mit dem 1828
geschlossenen bayerisch-württembergischen Zollverein. Damit war die Aus-
gangslage geschaffen für ein großes, 20 Millionen Menschen umfassendes
Handelssystem, das eines Tages auch die letzten mitteldeutschen Gegner an
sich ziehen und zur wirtschaftlichen Einigung Deutschlands unter Ausschluß
Österreichs führen mußte. Im Jahre 1829 trat Kurhessen dem preußisch-
darmstädtischen Handelssystem bei, und am 22. März 1833 verschmolzen
schließlich der preußisch-hessische und der süddeutsche Verein — ohne
Baden — zum Deutschen Zollverein, der am 1. Januar 1834 in Kraft trat.
Wenige Wochen später schlossen sich diesem in realistischer Beurteilung
der Machtverhältnisse Sachsen und alle thüringischen Staaten an und ließen
damit ihre Schutzmacht Österreich allein.
In dem Maße, in dem Preußen bei diesem Prozeß, der sich über viele
Jahre hinzog, an wirtschaftlichem Einfluß und politischer Macht gewann,
verloren die nun mit ihm verbündeten Staaten an beidem. Daher begrüßten
diejenigen, die zuerst Preußens Lockungen gefolgt waren, den Beitritt wei-
terer Staaten, da sie hofften, mit diesen gemeinsam ein gewisses Gegenge-
wicht zur preußischen Großmacht bilden zu können. Erwies sich schon
diese Hoffnung als falsch, so verstärkte das Ergebnis der Ereignisse von
1848/49 obendrein auch noch Preußens Hegemonialkraft. Der Zollverein
als Institution wurde von der Revolution nicht behindert. Hansemann
konnte geradezu feststellen, die Revolution zeige, „welch fester Kitt in der
Verschmelzung der materiellen Interessen zu finden" sei und welches Ge-
wicht Preußen durch seine handelspolitischen Initiativen inzwischen zuge-
fallen war. Und die preußische Zollvereins-Bürokratie war sich dieser auch
verfassungspolitischen Macht im Besitz des liberalen Bürgertums stets voll
bewußt. 3

3 Frauke SCHÖNERT-RÖHLK, Aufgaben des Zollvereins, in: Kurt G. A. Jeserich/


Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte,
Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 2 8 6 - 3 0 0 ; Konrad FUCHS, Die Bedeutung des Deutschen
Zollvereins als Institution zur Austragung des preußisch-österreichischen Gegen-
satzes 1 8 3 4 - 1 8 6 6 , in: NassA, Bd. 78 (1967), S. 2 0 8 - 2 1 5 ; H.-W. HAHN, Hege-
monie und Integration... (1984) [289]; vgl. dazu auch Rolf H. DUMKE, Der
512 s 7 Wirtschaft und Finanzen 1815 - 1 8 4 8

Zu den erstaunlichsten Tatsachen der Entwicklung in Deutschland in


dieser Zeit gehört, daß Preußen, das den Zollverein bildete und sich seine
neuen Provinzen angliederte, ständig am Rande des Staatsbankrotts exi-
stierte. Die Einführung der Klassensteuer im Jahre 1820, die, schnell immer
komplizierter werdend, bis 1873 Preußens Hauptsteuer blieb, leitete nicht
eine allgemeine Vereinfachung und politische Modernisierung des Staates
ein, sondern 33 Grundsteuerverordnungen blieben erhalten und sorgten für
eine sehr unterschiedliche Besteuerung vom Rheinland bis nach Ost- und
Westpreußen. Das Staatsschuldengesetz von 1820 schuf für die Staatsschul-
den in Höhe von etwa 217 Millionen Talern eine Verwaltung, die dem
König fast alle Verfügungsgewalt über die Staatsmittel entzog und die
Aufnahme neuer Schulden von der Zustimmung einer preußischen Natio-
nalrepräsentation abhängig machte, auf diesem speziellem Gebiet also eine
konstitutionelle Monarchie schuf. Aus der lange Zeit bestehenden Bank-
rottgefahr retteten den Staat nur ausländische Anleihen, Domänen-Verkäufe
und die Ablösungsgelder der Domänenbauern, die 1820 bis 1848 45, bis
1865 weitere 23 Millionen Taler einbrachten, sowie die ständige Steigerung
der Steuereinnahmen aus dem Bevölkerungswachstum und der Produktions-
zunahme aller Gewerbe.
Ein in gewisser Weise groteskes Ereignis in diesem Komplex spielte sich
1823 ab. Als Ende 1817 das Schatzministerium von Bülow auf Klewitz
übergegangen war, hatte der König Karl Ferdinand Friese, bisher Mitglied
des Staatsrats, zum Präsidenten der Kgl. Staatsbank ernannt. Friese stellte
die ungünstige finanzielle Situation des preußischen Staates aufs genaueste
fest und schrieb am 21. März 1818 an Rother, den Präsidenten der See-
handlung, der sich zu Anleiheverhandlungen in London aufhielt, Klewitz
müsse demnächst „das Buch zumachen, wenn er nicht bis zum 1. April
506.000 rtl erhält... ich werde zwar, wenn Herr von Klewitz sich nicht
selbst hilft, dafür sorgen, daß am l . k . M . keine Stockung entsteht; aber
dann ist es mit dem Schatzminister auch rein zu Ende, wenn wir keine Hilfe
bekommen...". Die Anleihe kam zustande und bewahrte Preußen vor dem
Staatsbankrott.
Es ist kein Wunder, daß in dieser Situation die Kgl. Bank zum Lotterie-
Spielen überging. Im Jahre 1823 gewann sie auf einem ihr gehörenden
Prämien-Anleihe-Schein das große Los mit 90.000 Talern. Auf Frieses Antrag
verwendete der König einen Teil dieses Betrages zur Errichtung von Stif-
tungen für bedürftige protestantische Theologiestudenten. Der größere Teil

Deutsche Zollverein als Modell ökonomischer Integration, in: Helmut Berding


(Hg.), Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und
20. Jahrhundert ( = GG, Sonderh. 10), Göttingen 1984, S. 71 - 1 0 1 , und den
Ausstellungskatalog des Geheimen Staatsarchivs in Berlin zum 150jährigen Ju-
biläum des Zollvereins: Stefan HARTMANN, Als die Schranken fielen. Der Deut-
sche Zollverein. Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz
zur 150. Wiederkehr der Gründung des Deutschen Zollvereins, Mainz 1984; Paul
TIMME, Straßenbau und Straßenpolitik in Deutschland zur Zeit der Gründung
des Zollvereins 1 8 2 5 / 1 8 3 5 ( = VSWG, Beiheft 21), Stuttgart 1931.
§ 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8 513

aber wurde — offenbar ohne staatsethische Bedenken — zur Sanierung der


preußischen Monarchie benutzt. 4
Bei Ausbruch der Revolution von 1848 betrug die Staatsschuld nur noch
etwa 120 Millionen Taler. Seit 1818 entwickelte sich, in Berlin beginnend,
schnell das Sparkassenwesen 5 „für die ärmere Klasse" der Bevölkerung.
Für die Landwirtschaft brachte die „Deklaration" vom 29. Mai 1816 6
eine tiefgreifende Veränderung bei der 1811 eingeführten „Regulierung":
Dem Adel gelang es, die nicht spannfähigen Kossäten und alle sonstigen
Kleinstellenbesitzer von der Regulierung auszuschließen, sich auf diese
Weise weiterhin niedrig bezahlte Arbeitskräfte zu sichern und Bauernstellen
schlechter Besitzqualität einziehen zu können — bis 1838 fast 350.000
Morgen. Andererseits wurde für die breite Masse der Bauernstellen die
durch Adelsopposition gefährdete Befreiung gerettet und damit „die Basis
der feudalen Gesellschaft auf dem Lande, das feudale Obereigentum der
Feudalherren an dem Bauernland und die Feudalrente ablösbar gemacht".
Die Zahl der Regulierungen betrug im Jahresdurchschnitt 1812/20 1.632,
1821/31 2.909 und 1832/38 2.847, so daß bereits bis 1831 etwa 48 Prozent,
in Ostpreußen sogar 95 Prozent aller Betroffenen das volle Eigentum an
ihren Höfen erworben hatten — allerdings der schlechten Zeiten wegen
überwiegend durch Landabtretungen, wodurch nicht wenige Stellen zu klein
und daher schließlich aufgegeben wurden: zum Vorteil der Gutsbesitzer
einerseits, der „rationellen Landwirtschaft" andererseits.
Ihren Abschluß fand die Agrarreform mit dem Gesetz über die Gemein-
heitsteilungen vom 7. Juni 1821, nachdem bereits zwischen 1770 und 1807
zwei Millionen Morgen Gemeinheitsland aufgeteilt worden waren. Die
Aufteilung war im Rahmen der Bauernbefreiung eine notwendige Maß-
nahme. Sie löste allerdings zum Nachteil der Bauern die Dorfeinheit auf
und ließ sofort die besseren und günstiger gelegenen Teile der 40 Millionen
aufgeteilten Morgen an die Gutsbesitzer gelangen, später obendrein auch
noch den Teil des Landes, der zunächst an die Bauern gefallen war, von
diesen aber schließlich, ungünstig gelegen, nicht bewirtschaftet werden
konnte.
Als 1848 die Revolution ausbrach, war die 1807 gesetzlich, 1810 praktisch
begonnene, 1811 regulierte, 1816 modifizierte, 1820 auch auf die neuen
Provinzen ausgedehnte „Bauernbefreiung" für die Masse der spannfähigen
Bauern auf dem „preußischen Wege" abgeschlossen, während der Höhe-
punkt der Ablösungsleistungen in Geld erst Anfang der 60er Jahre erreicht
wurde. Bei alledem handelte es sich um 72 Prozent der Gesamtbevölkerung

4 Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, S. 212 ff.;
Werner von SCHAPER, Karl Ferdinand Friese (1769 — 1837). Ein preußischer Re-
former und Staatsbankier, in: JbPrKb, Bd. 24 (1987), S. 2 0 1 - 2 1 2 .
5 Herbert KRAFFT, Immer ging es ums Geld. Einhundertfünfzig Jahre Sparkasse in
Berlin, Berlin [1968]; J. WYSOCKI, Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozial-
g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 8 0 ) [ 1 4 0 ] , S. 2 3 ff.
6 H . HARNISCH, V o m O k t o b e r e d i k t . . . ( 1 9 7 8 ) [ 2 2 3 ] , S. 2 3 1 ff.; B a r b a r a VOGEL ( H g . ) ,
Preußische Reformen 1 8 0 7 - 1 8 2 0 ( = NWB, Bd. 96), Königstein/Ts. 1980.
514 § 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8

Preußens, in den östlichen Provinzen um einen noch erheblich höheren


Prozentsatz und auch um die Grundlegung der „modernen" Landwirtschaft 7
mit verbesserter Dreifelderwirtschaft und ihren vielen günstigen Folgen.
Dabei verbreitete sich auch immer stärker der Kartoffelanbau: 1847 führte
zum ersten Mal nicht eine Getreide-, sondern eine Kartoffelmißernte zur
Hungersnot, während allerdings im allgemeinen die Kartoffel die Ernährung
der ärmeren Bevölkerungsteile in Stadt und Land entschieden verbesserte
und der Anbau von Zuckerrüben auf schweren Böden der Landwirtschaft
insgesamt hohe zusätzliche Einnahmen neben Ziegelei, Torfstecherei, Gärt-
nerei usw. brachte und mit der Kartoffelbrennerei ein neues und sehr
profitables Nebengewerbe schuf. Die Viehhaltung stand noch immer an
Bedeutung hinter diesen ackerwirtschaftlichen Neuerungen weit zurück.
Vielerorts überwog der Wert ihrer Mistproduktion den von Fleisch, Leder
und Milchprodukten - mit Ausnahme der Pferdezucht für Landwirtschaft
und Heer.
Seit dem Anfang des 19. Jahrhundert zeichnete sich beim Garten- und
Obstbau ein „Neubeginn" ab. Auch hier ging wie beim Handwerk die
Initiative von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, vom Staat durch
finanzielle und schulische Hilfe aus. Nach englisch-belgischem Vorbild
wurde 1822, also in Beuths fruchtbarster Zeit für Handwerk- und Fabrik-
wesen, als erste agrarische Organisation Deutschlands der „Verein zur
Beförderung des Gartenbaues in den Königlichen-Preußischen Staaten" ge-
gründet: (bis 1862 200 Zöglinge). Ihm gehörten wie dem „Verein zur
Beförderung des Gewerbfleißes" unter der Führung von Gärtnern im Staats-
dienst (Lenné) 8 zunächst Honoratioren an: Borsig, Humboldt, Thaer, da-
nach auch Leiter größerer privater Gartenbaubetriebe (Spaeth, Mathieu).
Später folgten entsprechende Gesellschaften für Botanik, für „Blumistik und
Gartenanlagen" (Berlin 1849, nachdem 1844 Hofgärtner und Gärtnereibe-
sitzer in Berlin die Gründung einer Hagelversicherung für Gärtnereien
vorbereitet hatten). 9

7 H . HAUSHOFER, Die deutsche Landwirtschaft... (1963) [49]; Hans-Werner


SCHÜTT, Anfänge der Agrikulturchemie in der Ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
in: Z A A , 21. Jg. (1973), S. 8 3 - 9 1 . - Auch für das folgende: W. TREUE, Wirt-
schafte· und Technikgeschichte... (1984) [15], S. 3 0 9 f f . ; Hans-Heinrich MÜLLER,
Anfänge der deutschen Landmaschinenindustrie. Beispiele aus den 30er bis 50er
Jahren des 19. Jh., in: J b W G , 1987/3, S. 1 6 9 - 1 9 4 ; Ders., Die Produktion land-
wirtschaftlicher Geräte und Maschinen in Berlin während der industriellen Re-
volution; in: J b W G , 1 9 8 8 / 1 , S. 6 7 - 8 1 ; Georg MOLL, „Preußischer Weg" und
bürgerliche Umwälzung in Deutschland, Weimar 1988; Herbert OBENAUS, Guts-
besitzerliberalismus. Z u r regionalen Sonderentwicklung der liberalen Partei in
Ost- und Westpreußen während des Vormärz, in: GG, 14. Jg. (1988), S. 3 0 4 -
3 2 8 ; Gustav COMBERG, Die deutsche Tierzucht im 19. und 20. Jahrhundert,
Stuttgart 1984.
8 Hans Joachim WEFELD, Peter Joseph Lenne. Preußens „praefectus horti", in:
Günter Sodan (Hg.), Die Technische Fachhochschule Berlin im Spektrum Berliner
Bildungsgeschichte, Berlin 1988, S. 1 3 9 - 1 6 2 .
9 Georg WAGNER, Die Organisation des Gartenbaus im 19. und 20. Jahrhundert,
in: Günther Franz (Hg.), Geschichte des deutschen Gartenbaues... (1974) [42],
S. 4 8 3 - 5 0 5 .
§ 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8 515

Die Ausnutzung aller dieser Möglichkeiten setzte allerdings wie bei


Bergbau und Industrie ein gewisses M a ß an Berufs-„Bildung" und
-Ausbildung voraus. Diese wurden seit 1806 durch Albrecht Thaers „Kö-
nigliche akademische Lehranstalt des Landbaues" in Möglin (Oderbruch)
vermittelt, die 1814 an die Universität Berlin angeschlossen wurde. Ähnliche
Anstalten mit wissenschaftlichen und praktischen Lehrkräften folgten 1847/
48 in Proskau (Schlesien) und Poppelsdorf (bei Bonn). Bis 1850 wurden
etwa 160 landwirtschaftliche Zentralvereine gegründet und mit dem seit
1842 bestehenden Landesökonomie-Kollegium des Staates verbunden. 10
Die mit der Einführung der Gewerbefreiheit 1810/11 begonnene neue
Gewerbepolitik setzte einerseits die Fortführung der Industriellen Revolu-
tion voraus, erleichterte sie andererseits aber auch. Den nächsten Schritt
bildete die Gewerbeordnung von 1845, die sich als „Magna Carta der
Gewerbe- oder Wirtschaftsfreiheit" verstand und ausdrücklich auch das
Kartellwesen mit einschloß. 11 Wie weit es bei diesem komplizierten Prozeß
zu einer „Krise" des Handwerks kam und diese bei der Entstehung der
Revolution von 1848 in Preußen mitwirkte, ist nicht genau festzustellen.
Immerhin betrafen die Veränderungen bereits 1816 etwa ebenso viele Er-
werbstätige und deren Familien wie die von der „Bauernbefreiung" verur-
sachten: die Zahlen der Handwerksmeister, Gesellen und Lehrlinge in
Preußen (1815 404.000, darunter 145.000 „Gehilfen", 1848 842.000, darunter
385.000 „Gehilfen" = 11,6 bzw. 14 Prozent der erheblich gewachsenen
Bevölkerung) lassen erkennen, daß der Wettbewerb im Handwerk trotz
Entstehung neuer Tätigkeitsbereiche sich verschärfte und die Zahl der
Unselbständigen sowie der in ihrer Existenz gefährdeten Meister immer
schneller wuchs und hier ein Revolutionspotential entstand, zumal 1816 —
1848 die Zahl der Fabrikarbeiter von 187.000 und 554.000 wuchs, während
allerdings auch aus dieser Schicht eine nicht geringe Zahl von Männern zu
Selbständigkeit und Wohlstand als „Fabrikherr" aufstieg und der nächsten
Generation einen günstigen Anfang erarbeitete. Die genealogischen Vorbe-
merkungen zu den Lebensbeschreibungen in der Neuen Deutschen Biogra-
phie sowie die vielen in dieser Hinsicht bisher nicht genügend beachteten
landesgeschichtlichen „Lebensbilder"-Reihen machen diesen Prozeß ein-
drucksvoll deutlich.
Einen wesentlichen Bestandteil der gesellschaftlichen Umschichtung in
Preußen bildete nach 1815 die Binnen- und Auswanderung. 12 1 8 1 6 - 1 8 5 5

10 Ulrich TROITZSCH, Deutschsprachige Veröffentlichungen zur Geschichte der


Technik 1 9 7 8 - 1 9 8 5 . Ein Literaturbericht, in: AfS, Bd. 27 (1987), S. 3 6 1 - 4 3 8 ,
S. 412 ff.
11 Karl-Heinrich KAUFHOLD, Handwerk und Industrie 1 8 0 0 - 1 8 5 0 , in: H. Aubin/
W. Zorn (Hg.), Handbuch... (1971/76) [1], Bd. 2, Stuttgart 1972, S. 3 2 1 - 3 6 8 ;
Theodor BAUMS, Kartellrecht in Preußen. Von der Reformara zur Gründerkrise
( = Walter Eucken Institut, Vorträge und Aufsätze, Bd. 127), Tübingen 1990.
12 Konrad FUCHS, Zur Auswanderungsproblematik in Deutschland im 19. Jahrhun-
dert, in: Heinz Duchardt/Manfred Schlenke (Hg.), Festschrift für Eberhard
Kessel, München 1982, S. 1 6 6 - 1 8 1 .
516 § 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8

betrug die Bevölkerungszunahme in den östlichen Provinzen jährlich 14 - 1 7 ,


in Berlin in den 40er Jahren 22 Promille. Alle anderen Gebiete blieben weit
hinter dem Gesamtdurchschnitt dieser industriearmen Provinzen zurück.
Bereits 1829 konstatierte man diese Ostwanderung vieler Personen, die auf
dem Lande zwischen Berlin und Memel aus bloßen subditis temporariis
ansässige Untertanen wurden. Erst seit den 40er Jahren wuchsen die Arbeits-
und Lebensmöglichkeiten bei der Industrie in den Städten, bei Straßen-,
Eisenbahn- und Kanalbau sehr viel schneller als in der Landwirtschaft. Die
Eisenbahnbau-Gesellschaften mußten „Ausländer" anwerben, 1844 bei der
Berlin-Stettiner-Bahn mit „Gesindel" vorliebnehmen. Arbeitslosigkeit gab
es offenbar nicht, zumal jährlich 2 0 . 0 0 0 - 3 0 . 0 0 0 Menschen in die USA
auswanderten, vorwiegend Bauern, die den Agrarreformen, Mißernten oder
Unglück in der Wirtschaft zum Opfer fielen, Verwandten folgten, Freiheit
suchten — ähnlich wie früher die einwandernden Hugenotten und Salzbur-
ger.
Mittelpunkt aller Ausbildung 13 in den Bereichen der Industrialisierung
blieb Berlin. In den Provinzen wurden 1817—1850 20 Gewerbeschulen
gegründet. Künftige Staatstechniker studierten an der 1799 gegründeten
Berliner Bauakademie. Qualitativ über dieser stand die 1821 von Peter Chr.
Beuth geschaffene Technische Gewerbeschule, seit 1827 „Gewerbe-Institut",
in Berlin, in der Beuth „Gewerbeförderung durch Bildung" und „Bildungs-
förderung durch Kostenübernahme" von Seiten des Staates betrieb. 1821 —
1850 besuchten annähernd 2.500 junge Männer das Gewerbeinstitut, vor-
wiegend Söhne von gehobenen Handwerkern und Fabrikanten, die nicht in
den Staatsdienst treten durften, sondern nach Volontärzeit und häufig
Auslandsreisen private Unternehmer und als solche Multiplikatoren für das
Gewerbeinstitut werden mußten. Die 1831 modernisierte Bauakademie
sollte daneben und in personeller Verbindung mit der Kunstakademie ent-
sprechende Beamte ausbilden.
Eine Stufe über diesem Schulwesen leitete Beuth seit 1819 die „Technische
Deputation für Gewerbe" — unterstützt unter anderem durch den mit ihm
befreundeten Schinkel. Schließlich gründete er außerdem 1821 in Berlin den
„Verein zur Beförderung des Gewerbfleißes" als einen „Verein von Männern,
belebt von dem Sinn fürs öffentliche Beste, ... von dem Stolz, gegen keine
andere Nation zurückzustehen, die ihre Ideen austauschen... und der eige-

13 Hans Joachim WEFELD, Ingenieure aus Berlin. 300 Jahre technisches Schulwesen,
Berlin 1988; Wilhelm TREUE, Zur Frühgeschichte der technischen Lehr- und
Forschungsanstalten bis zu ihrer Beteiligung an der Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 ; in:
Geschichte als Aufgabe. Festschrift für O t t o Büsch zu seinem 60. Geburtstag,
hg. von Wilhelm Treue, Berlin 1988, S. 2 6 7 - 2 9 7 ; Wilhelm TREUE, Christian
Peter Wilhelm Friedrich Beuth, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hg.),
Berlinische Lebensbilder, Bd. 3 ( = EvHKzB, Bd. 60), Berlin 1987, S. 1 1 9 - 1 3 4 ;
vgl. auch U. TROITZSCH, Deutschsprachige Veröffentlichungen... (1987) [s.o.
Anm. 10], S. 386 ff.; Wolfgang KÖNIG, Technische Hochschule und Industrie, ein
Überblick zur Geschichte des Technologietransfers, in: Hermann J. Schuster
(Hg.), Handbuch des Wissenschaftstransfers, Berlin 1990, S. 2 9 —41.
§ 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8 517

nen Tätigkeit vertrauen". Dieser Grundgedanke der Reformer sollte 1856


noch einmal aufgegriffen werden bei der aus dem gleichen Milieu des
technischen Schul- und Bildungswesens stammenden Gründung des Vereins
deutscher Ingenieure. 14 Mit den von ihm geschaffenen und bis etwa 1840/
45 entwickelten handwerklich-technischen hohen und mittleren Ausbil-
dungsinstitutionen, die seit etwa 1850 entsprechend der Diversifizierung
und Verfeinerung alter Industriebereiche immer weiter entwickelt wurden
— in den Lehrwerkstätten der Industrie nicht weniger als vom Staat und
den Großstädten - schuf man die Basis für die industriewirtschaftlichen
sowie für soziale Verbesserungen und kulturelle Leistungen (Schulen) seit
den 60er Jahren. Vernachlässigt wurde in dieser Hinsicht die Landwirtschaft,
deren Förderung einer anderen Behörde oblag. So interessierte man sich
zum Beispiel bei ihr nach bescheidenen Ansätzen erst nach 1850 für die
Dampfmaschine. Dagegen gelangte man nach 1815 zu der letzten Perfektion
des handwerklich hergestellten Gerätes für die Landwirtschaft: Thaers seit
1815 erscheinende „Annalen" gehörten infolgedessen noch einem anderen
Zeitalter an als die 1826 gegründeten „Verhandlungen" des Vereins für die
Beförderung des Gewerbfleißes. Bei der Beschaffung von Ausbildungsstätten
auf dem Gebiet des Gartenbaus spielte - wie Albrecht Thaer für die
Landwirtschaft — Peter Joseph Lenne eine bedeutende, in der Geschichts-
schreibung, wie die Bedeutung des Gartenbaus selber, unterschätzte Rolle.
Auch die Naturwissenschaften im wissenschaftlichen Sinne zählten nicht zu
Beuths Arbeitsbereich, sondern zu den Universitäten und zur allmählich
entstehenden chemischen Industrie. Liebig nannte auf der Jahrhundertmitte
in seinen „Chemischen Briefen" die Soda-Erzeugung die „Grundlage des
außerordentlichen Aufschwunges der modernen Industrie nach allen Rich-
tungen", was zweifellos nicht für die Schwerindustrie zutraf, die Liebig
nicht interessierte.
Bei den bedeutendsten Wirtschaftsregionen der preußischen Monarchie
zeichneten sich nun deutlich zwei Blöcke ab: Berlin/Brandenburg mit Schle-
sien einerseits und Rheinland/Westfalen andererseits. 15

14 Ein Jahrhundert Technik... (1956) [115]; P. LUNDGREEN, Techniker in Preußen...


(1975) [273]; Wolfgang KÖNIG, Höhere technische Bildung in Preußen im Kai-
serreich; in: Günter Sodan (Hg.), Die Technische Fachhochschule Berlin im
Spektrum Berliner Bildungsgeschichte, Berlin 1988, S. 1 8 3 - 2 1 3 ; H.-J. WEFELD,
Ingenieure aus Berlin... (1988) [s.o. Anm. 13], S. 37ff.; W. TREUE/W. KÖNIG
(Hg.), Berlinische Lebensbilder... (1990) [116]; Harri GÜNTHER, Peter Joseph
Lenne. Gärten, Parke, Landschaften, Stuttgart 1985.
15 Für das folgende W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte... (1984) [15],
S. 330ff. (mit Lit.); Κ. GRÖBA, Unternehmer... (1936) [261], S. 14ff. - Franz
PETRI, Preußen und das Rheinland, in: Walter Forst (Hg.), Das Rheinland in
preußischer Zeit. 10 Beiträge zur Geschichte der Rheinprovinz, Köln-Berlin
1965, S. 37 - 70; Hans SEELING, Wallonische Industrie-Pioniere in Deutschland.
Historische Reflexionen, Lüttich 1983; Hermann RINGEL, Bergische Wirtschaft
zwischen 1790 und 1860. Probleme der Anpassung und Eingliederung einer
frühindustriellen Landschaft, Neustadt a. d. Aisch 1966; W. TREUE, Wirtschafts-
und Technikgeschichte... (1984) [15], S. 402ff.; H.-J. TEUTEBERG, Westfälische
518 § 7 Wirtschaft und Finanzen 1815 - 1 8 4 8

Preußens Hauptstadt war um 1830 mit 250.000 (1848 400.000) Einwoh-


nern zugleich die größte Stadt Deutschlands - viermal so groß wie Köln,
die bedeutendste Stadt Westdeutschlands, wirtschaftlich produktiver auch
als Wien. Hier regierte nicht nur eine Ministerialbiirokratie, welche im
allgemeinen qualitativ die der kleinen deutschen Staaten übertraf, sondern
entstand allmählich auch das Kommunalbeamtentum mit seinem wachsen-
den Anspruch auf Verwirklichung des Selbstverwaltungsrechts gegenüber
dem Staat und seiner Polizei, wuchs seit 1820 die Königliche Seehandlung
unter Rother zu einem wichtigen Instrument der Industrialisierung, der
Unternehmerförderung, schließlich zu einem viel kritisierten staatswirt-
schaftlichen Konzern auf, dem größten Gewerbe-Unternehmen in Preußen,
das mit annähernd 100 Millionen Talern Umsatz im Jahre 1843 seinen
eigenen Schützlingen gefährliche Konkurrenz bereitete.
Bis 1830 stieg die Zahl der Dampfmaschinen im Berliner Polizeibezirk
auf 25 (in der Monarchie auf 215), bis 1845 auf 700 in immer mehr
Wirtschaftsbereichen, wofür viel Kohle herangeschafft werden mußte —
hauptsächlich per Schiff aus England, solange es eine Eisenbahnverbindung
mit Schlesien nebst Nebenlinien zu den Bergwerken noch nicht gab. Ma-
schinen- und Lokomotivfabriken blühten auf, Anfänge der chemischen
Industrie traten hinzu, das Handwerk behielt unter Umschichtungen einen
goldenen Boden, 1 6 in einem weiten Umkreis arbeiteten Landhandwerker
und Heimarbeiter für die schnell wachsende wohlhabende Hauptstadt. Der
innovatorische Einfluß der nun relativ immer kleiner werdenden hugenot-
tischen Gemeinde ging zurück, während der der jüdischen Gemeinde all-

Textilunternehmer... (1980) [101]; Hans-Walter HERRMANN, Die wirtschaftlichen


Führungskräfte im Saarland in der Zeit der Frühindustrialisierung 1790 bis 1850,
in: Herbert Heibig (Hg.), Führungskräfte der Wirtschaft in Mittelalter und
Neuzeit 1 3 5 0 - 1 8 5 0 , T. 1 ( = DFühNz, Bd. 6), Limburg/Lahn 1973, S. 2 8 1 - 3 0 9 ;
Fritz HELLWIG, Heinrich Böcking, in: Saarländische Lebensbilder, Bd. 2, Saar-
brücken 1984, S. 1 1 7 — 1 5 9 ; Jürgen Heinz SCHAWACHT, Schiffahrt und Güterver-
kehr zwischen den Häfen des deutschen Niederrheins (insbesondere Köln) und
Rotterdam vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ( 1 7 9 4 - 1 8 5 0 /
51) ( = S c h r R h W W G , Bd. 26), Köln 1973; Wolfgang ZORN, Preußischer Staat
und rheinische Wirtschaft (1815 - 1830), in: Gerd Droege u. a. (Hg.), Landschaft
und Geschichte. Festschrift für Franz Petri zu seinem 65. Geburtstag, Bonn 1970,
S. 5 5 2 —560, hier S. 5 5 6 f.; Friedrich-Wilhelm HENNING, Düsseldorf und seine
Wirtschaft. Z u r Geschichte einer Region. Bd. 2: Von 1860 bis zur Gegenwart,
Düsseldorf 1981; Hartmut KAELBLE, Berliner Unternehmer... (1972) [262]; Wolf-
gang RIBBE (Hg.), Geschichte Berlins, Berlin 2 1988, Bd. 2; Otto BÜSCH, Industria-
lisierung und Gewerbe in Preußen im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Brandenburg
[1971/77], in: Ders., Z u r Rezeption und Revision der preußisch-deutschen Ge-
schichte. Ausgewählte sozialhistorische Beiträge, Berlin 1988, S. 7 9 —148; Conrad
MATSCHOSS, Die Entwicklung der Dampfmaschine. Eine Geschichte der ortsfe-
sten Dampfmaschine und der Lokomobile, der Schiffsmaschine und Lokomotive,
2 Bde., Berlin 1908 (ND Düsseldorf 1987).
16 J. BERGMANN, Das Berliner H a n d w e r k . . . (1973) [243]; K. PIERSON, Borsig...
(1973) [97],
s 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8 519

mählich wuchs, insbesondere beim Bankwesen und Handel sowie im Tex-


tilbereich. 1825 begann man mit Hilfe einer englischen Gesellschaft mit der
Einführung der Gasbeleuchtung, 1847 nahm man sie zwecks Verbesserung
der Leistung in kommunale Bewirtschaftung. Allmählich begann die Ein-
gemeindung der Umgebung. Bei alledem zeichnete sich 1834 — 1848 und
nach der Revolution erneut 1850 - 1 8 6 2 der erste der vielen bedeutenden
Berliner Bürgermeister aus: Wilhelm Krausnick, der am Anfang des großen
Kommunalunternehmertums in der preußischen Hauptstadt stand. Mit der
Bevölkerungszahl konnte die Bauwirtschaft nicht Schritt halten. Die Woh-
nungsversorgung wurde im Laufe der Jahrzehnte bei stark steigenden
Grundstückspreisen ein soziales, hygienisches, schließlich ein politisches
Problem, als allein 1841 - 1 8 4 8 die Zahl der Wohnungen je Haus von 7,7
auf mehr als 9, also um annähernd 20 Prozent wuchs und die Mieten so
sehr stiegen, daß ganze Familien in Einzimmer-Wohnungen zogen. Straßen-
und Eisenbahnbau lagen in Berlin-Brandenburg bis zur Jahrhundertmitte
weit hinter den Leistungen im Westen der Monarchie zurück. 17
Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts Preußens „Peru", war Schlesien
seit 1815 nicht mehr die reichste, vielmehr eine der ärmeren Provinzen
des Staates. Die Wiederbelebung der Landwirtschaft, 18 des Textilgewer-
bes, des Handels, auch die Investitionsbereitschaft im industriellen und
bergbaulichen Bereich litten unter dem Mangel an Kapital und blieben
weit hinter den Leistungen an Rhein und Ruhr, um Aachen und an der
Saar zurück, wohin sich außerdem nun die Anregungen aus der auslän-
dischen Industriellen Revolution stärker richteten als zum Beispiel nach
Breslau und Kattowitz. 1 9 Vor 1848 hat Schlesien sich nicht von der
Schwächung erholen können, die es 1 8 0 6 - 1 8 1 5 erlitten hatte. Die „We-
ber-Unruhen", Maschinenstürmerei, schließlich die Revolution bildeten
einen traurigen Beweis dafür. Unter allen Gebieten Preußens haben daher
auch die „Reformen" dieser Provinz am wenigsten Auftrieb gegeben,
zumal das Interesse der ministeriellen Industrie- und Verkehrs-Wirt-
schaftsbehörden sich immer stärker den westlichen Provinzen und dem
Zollverein zuwandte. Alle Versuche, die schlesische Ausfuhr über Ham-
burg und Bremen wieder zu beleben, scheiterten an den Gegenmaßnah-

17 Wilhelm TREUE, Das Aufkommen der Ernährungsindustrie, in: Edith Heischkel-


Artelt (Hg.), Ernährung und Ernährungslehre im 19. Jahrhundert. Vorträge eines
Symposiums am 5. und 6. Januar 1973 in Frankfurt/M. ( = StMedG, Bd. 6),
Göttingen 1976, S. 6 8 - 7 3 .
18 W.MAGURA, Geschichte der Landwirtschaft Schlesiens... (1986) [53]; D. STUTZER,
Die schlesische Landwirtschaft... (1985) [228].
19 Konrad FUCHS, Ursprung und Entwicklung der Industriestadt Kattowitz, in:
JbUB, Bd. 27 (1986), S. 1 4 5 - 1 6 5 ; Gerard CELLBROT, Die Sozialstruktur in den
oberschlesischen Dörfern im Jahre 1819 ( = VFstOme, R . Α., Bd. 48), Dortmund
1987; W. TREUE, Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung... (1987) [12]; Konrad
TOECHE-MITTLER, Der Friedrich-Wilhelm-Kanal und die Berlin-Hamburger Fluß-
schiffahrt. Zwei Beiträge zur preussischen Strompolitik des 17. und
18. Jahrhunderts, Teil 1, Abschnitt 1 - 3 , Berlin 1891.
520 § 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8

men der Konkurrenz, am Kapitalmangel und an der Unkenntnis der


schnell sich ändernden Verhältnisse des Welthandels, auch am Beharren
bei der teueren Handarbeit. So befanden Teile der schlesischen Textil-
wirtschaft sich fast dauernd in Not.
Eine günstigere Entwicklung nahmen Bergbau und Schwerindustrie. Beide
bedurften nicht des Exports und wurden von Einfuhren kaum behindert.
Aber auch hier machte sich das Gewicht der neuen Provinzen im Westen
immer mehr bemerkbar. Der Steinkohlenbergbau Schlesiens — der Anteil
Oberschlesiens überstieg bald nach 1815 den Niederschlesiens - blieb
schnell relativ hinter dem Westfalens zurück: 1850 betrug er nur noch 29
Prozent der gesamten Förderung in Preußen. Industrie und Eisenbahn
brauchten im Westen weit mehr Kohle und Koks als im Südosten. Auch
boten dort Eisenbahn, Flüsse und Kanäle mehr und billigere Transportmög-
lichkeiten als in Schlesien, und schließlich standen den Kohle-Exporten nach
den Niederlanden und bis nach Paris für Schlesien keine entsprechenden
Möglichkeiten gegenüber.
Am bedeutendsten wurde für Schlesien die Eisenindustrie, wenngleich
auch sie nach 1815 für den Staat an Wert hinter der in den westlichen
Provinzen zurückblieb, zumal das Zollgesetz von 1818 englisches und schwe-
disches Eisen mit überlegener Qualität praktisch immer mehr begünstigte,
da Schlesiens Verkehrslage zu den größeren Märkten ungünstig war und
auch durch Eisenbahnbauten und die Bildung des Zollvereins nicht sehr
verbessert wurde. Als man 1843 den „Betriebszustand der Eisenhütten-
werke" Schlesiens mit dem im Rheinland verglich, ergab sich, daß die
bekannteren Werke im Rheinland „mindestens so fortschrittlich" arbeiteten
wie in England und die größeren, mit Kapital gut ausgestatteten Unterneh-
men der reichen Magnaten mit tüchtigen bürgerlichen Betriebsdirektoren
nur dadurch mit ihnen Schritt halten konnten, daß im Westen im allge-
meinen Zinsen und Löhne, also die Produktionskosten, höher lagen als im
Südosten und erfolgreiche fortschrittliche Berliner Eisenindustrielle ihre
Betriebe aus der Enge der Hauptstadt zu den schlesischen Rohstoffen und
Halbfabrikaten verlagerten. Es kam hinzu, daß seit 1845 der Bau von
Eisenbahnen forciert wurde, so daß schon nach wenigen Jahren Schlesien
in seiner ganzen Länge von Eisenbahnen durchzogen wurde und Zweig-
strecken den inneren Verkehr in der Provinz erleichterten und verbilligten.
Doch blieb sie nach wie vor auch auf diesem Gebiet mit 690 Kilometern,
deren Schienen seit 1848 in Schlesien selber erzeugt wurden, hinter den
beiden westlichen Provinzen mit 835 Kilometern erheblich zurück. Durch
diesen Eisenbahnkomplex entstand in Schlesien wie in Berlin, Köln usw.
ein neues Bankgeschäft: der Handel mit Eisenbahnaktien und die Erledigung
des Geldverkehrs der Eisenbahngesellschaften.
Eine Ausnahme von dieser generell mindestens nicht günstigen Entwick-
lung bildete die oberschlesische Zinkindustrie, die nach 1815 einen bedeu-
tenden Aufschwung nahm, so daß ihr Anteil am gesamten oberschlesischen
Berg- und Hüttenwesen stark anstieg (vgl. Tabelle 3). Sie sicherte damit
(allerdings unter heftigen Mengenschwankungen und bedeutenden Preissen-
kungen) zeitweise überhaupt den Bestand der oberschlesischen Montan-
s 7 Wirtschaft und Finanzen 1815 - 1 8 4 8 521

TABELLE 3
Anteil der Zinkindustrie am oberschlesischen Berg- und Hüttenwesen

Jahr Anteil am Anteil an der Zahl Produktionsmenge


Produktionswert in % der Beschäftigten in % (in t)

1810 — — 107
1815 - - etwa 1.000
1816 9,33 9,64 -

1837 27,38 29,08 —

1850 32,59 30,06 24.800

Quelle: Uwe KÜHL, Die Anfänge der oberschlesischen Zinkindustrie bis 1850, in:
ScrM, Bd. 21 (1987), S. 101 ff., 105 ff.

industrie. Ihre Produktion war bis 1850 nahezu identisch mit der gesamten
preußischen und deutschen Zinkerzeugung. 20
Die Mehrheit der Bevölkerung der rheinischen und westfälischen Gebiete,
die 1813/14 der Hohenzollern-Monarchie eingegliedert wurden, fürchtete,
in dem Militär- und Beamtenstaat viel von ihrer altgewohnten Lebensweise
endgültig zu verlieren. 50 Jahre später feierte man in Anerkennung des
wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs in Stadt und Land das Jubiläum der
Zugehörigkeit zu diesem in Mitteleuropa wirtschaftlich fortschrittlichsten
Staat. 2 1
Als Preußen Köln übernahm, wo man gehofft hatte, Freie Reichsstadt zu
werden und als solche ein hohes M a ß von Selbständigkeit zu gewinnen,
bildeten dort Landwirtschaft, Wein- und Gartenbau sowie der Handel mit
deren Erzeugnissen, Tabak- und Kolonialwaren den ertragreichsten Wirt-
schaftsbereich. Aus dem Geldwechselgeschäft — der Franc war bis zur
Mitte der 20er Jahre das Hauptzahlungsmittel - erwuchs schnell in einem
kleinen Kreis, zu dem seit 1794 auch aus der Umgebung zugezogene Juden
gehörten, ein beträchtliches Bankgeschäft in Verbindung mit der bergbau-
lich-industriellen Erschließung des Raumes von Aachen bis Essen und
Dortmund. Beim Kölner Handwerk standen Textil, Baugewerbe und

20 Uwe KÜHL, Die Anfänge der oberschlesischen Zinkindustrie bis 1850, in: ScrM,
B d . 2 1 ( 1 9 8 7 ) , S. 1 0 1 - 1 1 5 , h i e r S. 1 0 1 ff., 1 0 5 ff.
21 F. PETRI, Preußen und das Rheinland... (1965) [s.o. Anm. 15], S. 39ff.; Hans
POHL, Wirtschaftsgeschichte Kölns im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in:
Hermann Kellenbenz (Hg.), Zwei Jahrtausende... (1975) [7], Bd. 2, S. 9 —162,
hier S. 146 ff.; Kurt DÜWELL, „Rheinisch-westfälisch" und verwandte Bezeich-
nungen im 19. Jahrhundert. Eine Betrachtung über regionales Raumbewußtsein
und seine sprachlichen Ausdrucksformen, in: Bevölkerung, Wirtschaft, Gesell-
schaft seit der Industrialisierung. Festschrift für Wolfgang Köllmann zum 65.
Geburtstag, Köln 1990, S. 3 1 1 - 3 1 9 ; Jeffry M. DIEFENDORF, Businessmen and
Politics in the Rhineland 1 7 8 9 - 1 8 3 4 , Princeton/N.J. 1980; Wolfgang SCHIEDER/
Alfred KUBE, Säkularisation und Mediatisierung. Die Veräußerung der Natio-
nalgüter im Rhein-Mosel-Departement 1803 — 1813 ( = FdSG, Bd. 4), Boppard
1987, S. 122 f.
522 § 7 Wirtschaft und Finanzen 1815 - 1 8 4 8

Nahrungsmittelerzeugung mit etwa 90 Prozent im Vordergrund, aus denen


nicht wenige Betriebe durch Mechanisierung und Konzentration zu Fabriken
heranwuchsen. Seit dem Ende der 30er Jahre begann unter dem Einfluß des
Eisenbahnbaues auch die Schwerindustrie sich zu entwickeln, die allerdings
bald, mit Ausnahme des leistungsfähigen Maschinenbaues, zu günstigeren
Standorten überwechselte. Sehr große Bedeutung für die wirtschaftliche
Entwicklung des ehemaligen Rhein-Mosel-Departements erhielt die 1803 -
1813 in dieser Region von den Franzosen vorgenommene Veräußerung der
„Nationalgüter" durch Säkularisation und Mediatisierung. Sie betraf rund
16% der Grundfläche des Departements (ohne den Wald), davon drei Viertel
wertvolles Ackerland, sowie weitere mehr als 1000 ländliche und insbeson-
dere städtische Gebäudekomplexe, hatte also einen „beispiellosen Mobili-
sierungseffekt... Die einerseits fiskalpolitische Motivation des Nationalgü-
terverkaufs, die die französische Politik bestimmte, fand auf der Käuferseite
ihre Entsprechung. Als Käufer kamen insbesondere diejenigen zum Zug,
die die größte Kapitalreserve besaßen." Das beeinflußte sehr stark neben
der landwirtschaftlichen auch die städtische Standorts- und Wirtschaftsent-
wicklung in Handwerk, Industrie und Verkehr bis hin zu den Grundstücks-
kosten beim Eisenbahnbau.
Als 1831 mit der Rheinschiffahrtsakte das Stapelrecht aufgehoben wurde,
schrumpfte Kölns Handel, andererseits brachte seit 1826/36 die Dampf-
schiffahrt für Köln und Düsseldorf eine beträchtliche Belebung des Perso-
nen- und Güterverkehrs sowie erhebliche Kapitalinvestitionen und Umsätze
der aufblühenden Banken Herstatt, Schaafhausen, Camphausen und Op-
penheim, die beim Handel mit säkularisiertem Kirchengut in der französi-
schen Zeit und bei Domänenverkäufen seit 1815 Kapital gebildet und am
Wein- und Getreidehandel so gut verdient hatten, daß sie nun Aktienge-
sellschaften für Eisenbahn und Dampfschiffahrt, Versicherung, Bergbau und
Industrie gründen und auch in Vorständen und Aufsichtsräten maßgeblich
beeinflussen konnten.
Mit Köln wirtschaftlich eng verbunden waren der Aachener Raum und
das Bergische Land. Das Gebiet um Aachen besaß im Wurm- und Inde-
Revier, in den Eifeltälern und deren Vorgelände Erz-, Stein- und Braunkohle-
sowie Kalksteinvorkommen, auch große Wasservorräte und Waldungen.
Auf dieser Grundlage, nahe wallonischen Industriezentren — bereits 1808
bezogen Aachener Tuchfabrikanten Spinnmaschinen von den Cockerills in
den Niederlanden —, und innerhalb eines Großraumes mit starkem Bevöl-
kerungswachstum sowie bedeutender Kapitalbildung entstand zwischen
1815 und 1850 ein leistungsfähiges liberales privatwirtschaftliches Unter-
nehmertum, auch in Verbindung mit einer Elite des preußischen Bergbeam-
tentums, das hier wie in Westfalen und an der Saar unter Beibehaltung des
Direktionsprinzips bedeutende wirtschaftliche, technische und soziale Vor-
bildleistungen vollbrachte. Um 1850 bestand auf dem linken Rheinufer in
der Nähe des Finanzzentrums Köln und mit diesem durch die Eisenbahn
lange Zeit, mit Ausnahme der Eifelbahn (Poensgen), gut verbunden ein
großer Bergbau-, Hütten- und Industriekomplex. Als wenige Jahre später
s 7 Wirtschaft und Finanzen 1815 - 1848 523

die Ruhrkohle per Bahn bis Aachen und Burtscheid gelangte, bildete dies
einen weiteren Vorteil für die dortige Industrie.
Als im Bergischen Land die vielen kleinen Erzbergbau- und Hüttenbe-
triebe sich angesichts der großbetrieblichen Konkurrenz in der weiteren
Umgebung als unrentabel erwiesen, blieb ein hochentwickeltes, spezialisie-
rungsfähiges Kleineisengewerbe übrig, das nach der preußischen Groß-
marktbildung durch das Zollgesetz von 1818 und vollends im Deutschen
Zollverein seit 1834 vorzügliche Ergebnisse erzielte, während der Export
die Zollschutzmauern der Empfängerländer immer weniger überwinden
konnte. 2 2
An der Ruhr konnte seit den 20er Jahren der Steinkohlenbergbau sehr
schnell gesteigert werden, da nun immer mehr Eisenproduktions- und
-Verarbeitungsbetriebe sich von der Holzkohle der Steinkohle und dem Koks
zuwandten. Im Jahre 1848 richtete die Friedrich-Wilhelms-Hütte den ersten
rentabel arbeitenden Kokshochofen im Oberbergamtsbezirk Dortmund ein.
Ein weiterer Steinkohle-Großverbraucher wurde die Dampfmaschine, als
sie über die Wasserhaltungen in Bergwerken hinaus Antriebsmaschine mit
wachsenden Leistungen wurde. Auch importierten die Niederlande nach
der Verselbständigung Belgiens 1831 wachsende Mengen von Steinkohle;
wenig später folgten Verschiffungen über den Rhein nach Südwest-
deutschland. Und schließlich trat seit den 40er Jahren die Eisenbahn mit
Schienenbedarf und Lokomotivheizung sowie als Transporteur schnell zu-
nehmend in Erscheinung. Allerdings mußten die Bahnen in Preußen noch
1851 zwei Drittel ihrer Schienen aus England importieren.
Hatte die Steinkohleförderung im Oberbergamtsbezirk Dortmund 1816 —
1825 mit etwa 0,5 Millionen Tonnen rund 40 Prozent des gesamten preu-
ßischen Bedarfs gedeckt, so blieb bis 1848 der Prozentsatz etwa gleich,
während die Menge auf 1,7 Millionen Tonnen stieg. Solche Massen konnten
nicht mehr in primitiver Stollenförderung und reiner Handarbeit beschafft
werden. Bereits seit 1810 ging man langsam zum Tiefbau über, 1830/33
begann der reiche Kohlenhändler Franz Haniel bei Mülheim Schächte
abzuteufen, welche unter erträglichen Kosten eine starke Mergeldecke
durchstoßen sollten. Als ihm 1841 Matthias Stinnes folgte, wurde damit
allgemein der Übergang zum Tiefbau eingeleitet. Nun wurde der Transport
dieser großen Kohlenmengen zum Hauptproblem des Ruhrbergbaus. Bald
war die Ruhr der meistbefahrene Fluß Deutschlands, wurde der Mittelrhein
der Kohle erschlossen.
Die Entstehung und Entwicklung einer eisenverarbeitenden Industrie
entsprach dem Aufstieg des Berg- und Hüttenwesens, wobei die Kaufleute
Friedrich Harkort und Heinrich Kampf, die auf der Burg Wetter eine der
ersten Maschinenfabriken Deutschlands gründeten, zu „Pionieren" wurden.
Auf der Grundlage ihrer Fabrik schufen sie im folgenden Jahrzehnt unter
Finanzschwierigkeiten einen ersten kleinen Vertikalkonzern, der sich sogar
für die Belieferung der Seeschiffahrt (Marine) mit Maschinen interessierte.

22 C. MÖCKEL, Technologietransfer... (1987) [274], S. 26f.


524 S 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8

Eine ähnliche Bedeutung gewann die gleichfalls 1819 geschaffene Gutehoff-


nungshütte. Ein Jahr später gründeten Fritz und Johann Dinnendahl in
Essen und Mülheim eine Hütte und eine Maschinenfabrik, die sie schließlich
zur Friedrich-Wilhelm-Hütte zusammenfaßten. Bei Alfred Krupp dagegen
begann nach vielen kostspieligen Versuchen der Aufstieg erst 1829/30 und
insbesondere nach der Gründung des Zollvereins. Gesichert war die Fort-
existenz der Firma allerdings erst, als sie etwa 140 Arbeiter beschäftigte
und nach Frankreich und Holland exportieren konnte.
Wie bei Bergbau und Industrie, so stand auch bei der Entwicklung des
Verkehrswesens im Westen der Monarchie die Privatinitiative an der Spitze
aller Unternehmungen. Der Staat beschränkte sich zunächst ganz auf, nicht
selten wirtschaftlich störende, Bestimmungen, hauptsächlich im Interesse
von Innenpolitik und militärischer Planung, behielt sich aber von Anfang
an die Verstaatlichung der unter privatem Risiko angelegten Bahnen gegen
von ihm diktierte Entschädigungen vor. Hinter dieser Entwicklung blieb
die im Siegerland zurück. Erst 1864 wurde nach der Fertigstellung der Bahn
von der Ruhr zur Sieg in Niederschelden der erste reine Kokshochofen des
Siegerlandes angeblasen, nachdem man bis dahin das im Siegerland geför-
derte Erz über die Lahn in den Raum zwischen Rhein, Ruhr und Emscher
transportiert hatte.
Schließlich die letzte wichtige Wirtschaftsregion im Westen: das Saarge-
biet, 2 3 das durch die Pariser Friedensschlüsse in zwei Teile geschnitten
wurde und an Bayern und Preußen gelangte. Im preußischen Teil begann
der Staat sofort mit der Rationalisierung der ihm zugefallenen Bergwerke,
Schloß kleine, unrentable Betriebe, gründete eine Bergschule, verbesserte
die technische Ausrüstung, führte Pferdebahnen und die Davysche Sicher-
heitslampe ein, zog Fachleute aus anderen preußischen Revieren heran,
teufte seit 1822 Tiefbauschächte ab und fing 1826 an, mit Dampfmaschinen
zu arbeiten. Das alles führte dazu, daß die Kohleförderung auf den staat-
lichen Gruben 1 8 1 6 - 1 8 4 7 von 100.000 auf 576.000 Tonnen stieg, die
Belegschaft dagegen nur von 900 auf 4.000. Bis 1845 wurde an der Saar nur
lokales Erz verhüttet, danach auch solches aus dem Siegerland. Neben dem
Bergbau und der Schwerindustrie entstand allmählich auch eine chemische
und eine Glas- und Fayence-Industrie, wobei der „christlich geführte In-
dustriebetrieb" (zum Beispiel Villeroy & Boch) eine besondere Rolle spielte.

23 Ernst KLEIN, Geschichte der saarländischen Steinkohlengrube Sulzbach-Alten-


wald ( 1 8 4 1 - 1 9 3 2 ) ( = V K S a L G V f , Bd. 16), Saarbrücken 1987 (dort die ältere
Lit. über den Saarbergbau); Peter NEU, Eisenindustrie in der Eifel. Aufstieg, Blüte
und Niedergang ( = Werken und Wohnen, Bd. 16), 2 Köln 1989, S. 187 ff.; Richard
van Dülmen (Hg.), Industriekultur an der Saar. Leben und Arbeiten in einer
Industrieregion 1 8 4 0 - 1 9 1 4 ( = Industriekultur deutscher Städte und Regionen),
M ü n c h e n 1 9 8 9 ; Klaus Michael MALLMANN/Horts STEFFENS, Lohn der Mühen.
Geschichte der Bergarbeiter an der Saar, Münster 1 9 8 9 ; Karl-Heinz GORGES, Der
christlich geführte Industriebetrieb im 19. Jahrhundert und das Modell Villeroy
& Boch ( = Z U n t G , Beiheft 60), Stuttgart 1989.
§ 7 Wirtschaft und Finanzen 1815 - 1848 525

Der Flußverkehr im Westen der Monarchie besaß seit 1815 im Rhein und
seinen Nebenflüssen ein Netz, dem die Flüsse und einstmals modernen
Kanäle im alten Preußen an Leistungsfähigkeit weit unterlegen waren. Auch
von den Straßen entfielen um 1820 etwa zwei Drittel auf dieses Gebiet. Auf
dem Rhein nahm nach Probefahrten seit 1816 eine niederländische Dampf-
schiffahrtsgesellschaft im Jahre 1824 den regelmäßigen Rotterdam — Köln-
Verkehr auf. Im folgenden Jahr wurden Mainz und Speyer miteinander
verbunden, 1826 in Köln die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-Ge-
sellschaft als Aktiengesellschaft für den mittleren Rhein gegründet; 1836
folgte eine Düsseldorfer Gesellschaft für den Nieder- und Mittelrhein.
Um 1845 begann die Auseinandersetzung zwischen Dampfschiff und
Eisenbahn. Seit 1847 blieb der Anteil des Wassertransports an der Güter-,
insbesondere der Ruhrkohle-Beförderung weit hinter dem der Eisenbahn
mit immer mehr Zweiglinien und Anschlüssen zurück. Der Eisenbahnbau
in Preußen, 24 der angesichts der Armut des Staates anfangs ganz dem
Privatkapital überlassen werden mußte, setzte 1838 mit der Strecke Berlin -
Potsdam ein. Seit den 40er Jahren förderte der Staat Bau und Betrieb in
gewissen Gebieten durch Zinsgarantie und '/-Beteiligung am Kapital, wobei
er sich das Recht vorbehielt, mit dem eigenen Anteil an der Dividende die
geförderten Gesellschaften allmählich aufzukaufen. Zu den frühesten Vor-
haben gehörten die schon seit 1832 diskutierte Strecke Köln-Antwerpen,
die 1844 eröffnet wurde, und die 1 8 4 4 - 1847 gebaute Köln-Mindener Bahn,
die als Teilstück der Verbindung zwischen Preußens westlichen und östlichen
Provinzen schnell die verkehrsreichste Bahnstrecke ganz Deutschlands
wurde.
In dieser gesamten Verkehrsentwicklung auf Straße und Schiene, Flüssen
und Kanälen wurde viel Kapital investiert. Dabei wie bei der industriellen
Kapitalbewegung blieben zwar die Berliner Banken - bis 1848 insgesamt
Privat-, nicht Aktienbanken — stets an der Spitze, doch bildeten sich auch
regionale Zentren wie Breslau und Köln, Düsseldorf und Elberfeld. 25
Wie stark in solchen Zusammenhängen — gefördert durch das relativ
liberale Aktiengesetz von 1843 - das Gewicht des Rheinlandes nicht nur

24 W . TREUE, W i r t s c h a f t s - u n d T e c h n i k g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 5 ] , S. 4 2 6 f f . ; A . SA-
LING, Die norddeutschen Börsen-Papiere. Ausführlicher Commentar zu allen an
der Berliner Börse Cours habenden in- und ausländischen Staats- und Prämien-
Anleihen, Pfand- und Renten-Briefen, Bank-, Industrie- und Eisenbahn-Effekten,
2. Jg. (1868/69), Berlin 1869, S. 115 ff., läßt die Menge des Kapitals besser als
die jüngste eisenbahngeschichtliche Literatur erkennen, das in rund einem Vier-
teljahrhundert in den preußischen Eisenbahnen angelegt wurde. Dazu vgl. W.
TREUE, E i s e n b a h n e n u n d I n d u s t r i a l i s i e r u n g . . . ( 1 9 8 7 ) [ 2 8 3 ] ; D e r s . , N e u e V e r k e h r s -
mittel... (1989) [125],
25 W . TREUE, D a s P r i v a t b a n k w e s e n . . . (1980) [ 1 3 9 ] , S. 9 8 f f . ; D e r s . , D i e Bankiers
Simon und Abraham Oppenheim 1828 —1880. Der private Hintergrund ihrer
beruflichen Tätigkeit, ihre Rolle in der Politik und ihre Nobilitierung, in: ZUntG,
B d . 3 1 ( 1 9 8 6 ) , S. 3 1 - 7 2 ; M a r i e - L u i s e BAUM, D i e v o n d e r H e y d t s a u s E l b e r f e l d ,
Wuppertal 1964; Alfred KRÜGER, Das Kölner Bankiergewerbe vom Ende des
18. Jahrhunderts bis 1875 ( = VARhWWG, Bd. 10), Essen 1925, S. 55 ff.
526 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung

für Preußen, sondern für ganz Deutschland und Mitteleuropa wurde, zeigt
die Tatsache, daß 1843 Luxemburg dem Deutschen Zollverein beitrat. Seiner
Industrie war es nicht zuletzt zu verdanken, daß Preußen bereits 1843 einen
Schutzzoll für Roheisen einführte, hinter dem der westdeutsch-luxembur-
gische Wirtschaftsverbund entstehen konnte, der 1871 um Elsaß und einen
Teil Lothringens erweitert wurde — was Schlesien immer tiefer in den
Hintergrund der mitteleuropäischen Wirtschaftsentwicklung geraten ließ.
Die Gründung der Internationalen Bank von Luxemburg durch Erlanger,
Oppenheim, Mevissen und andere westdeutsche Bankiers im Jahre 1856
war bezeichnend für die Erwartungen, die man an die Angliederung dieses
an Erzen reichen zentralen europäischen Kleinstaates an Preußen-Deutsch-
land entwickelte. Über die regionalen Unterschiede in der Entwicklung von
Produktion und Handel hinaus wuchsen die internationalen wirtschaftlichen
Beziehungen Preußens von 1818 über 1824 und 1839 bis 1853 beträchtlich.
Preußen unterhielt in diesen Jahren im außerdeutschen Ausland Konsulats-
stellen in 80, 114, 200 beziehungsweise 275 Orten. 2 6

§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution


bis zur Reichsgründung

Seit 1844 kam es von Irland bis Polen zu Mißernten, schweren Hungersnöten
in der schnell wachsenden Bevölkerung, Verteuerung der Lebensmittel,
Verarmung besonders in der Landwirtschaft und anschließend zu vorwie-
gend sozial begründeten Unruhen und Auswanderung. Diese stieg so sehr
an, daß im Rheinland die Bodenpreise um 3 0 - 5 0 Prozent sanken. Auch
die preußische Monarchie wurde von dieser Ereignisfolge getroffen, am
schwersten Oberschlesien wo 16.000 Menschen Hunger und Typhus zum
Opfer fielen. Nach einer schweren Mißernte im Jahre 1846 stiegen die
Getreide- und Mehlpreise 1847 außerordentlich. Daraufhin veröffentlichte
Rudolf Virchow 1848 (als nach einer guten Ernte im Jahre 1847 die Ge-
treidepreise um 50 Prozent und mehr sanken) 1 einen berühmt gewordenen
Bericht im „Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie", der über
das Ärztliche hinaus eine große Anklage gegen die Untätigkeit der Behörden
bildete und sich zu einem Aufruf „zum Sturz unseres alten Staatsgebäudes"
zwecks Herstellung der „vollen und uneingeschränkten Demokratie" stei-
gerte.

26 Wolfgang PENKWITT, Preußen und Brasilien. Z u m Aufbau des preußischen Kon-


sularwesens im unabhängigen Kaiserreich ( 1 8 2 2 - 1 8 5 0 ) , Wiesbaden 1983, S. 40.
1 J. H. KREMP, Über den Einfluß des Ernteausfalles auf die Getreidepreise während
der Jahre 1846 bis 1875 in den hauptsächlichen Ländern Europas, Jena 1878,
S. 18 f., 157, 162.
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 527

Die Bauern forderten den Abschluß der vor 40 Jahren begonnenen „Be-
freiung" unter Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage, das „ländliche
Proletariat" verlangte eine Neuverteilung des Bodens, das Handwerk Rück-
kehr zum vorindustriellen Zunftwesen, Einschränkung der Maschinenver-
wendung, der Frauenarbeit und der Beschäftigung von Ausländern, die
Arbeitslosen schließlich drängten auf Arbeitsbeschaffung: die Revolution
hatte im Volke wie für die Regierung mehrere sehr unterschiedliche Ge-
sichter.
Am 19. März 1848 berief König Friedrich Wilhelm IV. ein neues Kabinett
mit einigen Bürgerlichen in zweitrangigen Positionen. Zehn Tage später
mußte er Vertreter des liberalen Bürgertums der westlichen Provinzen hin-
zuziehen: der Kölner Kaufmann L. Camphausen wurde Ministerpräsident,
der Aachener Unternehmer D. Hansemann Finanzminister. Beide verlangten
in dem sonst unverändert konservativen Kabinett weder grundlegende Re-
formen noch Liberalisierung der Provinzbehörden, wurden von der tradi-
tionalistischen Ministerialbürokratie blockiert und traten nach dem Berliner
Zeughaussturm zurück. Zur Tarnung seiner konservativen Politik behielt
der König Hansemann als Finanzminister und ließ Auerswald als Minister-
präsidenten am 25. Juni ein neues Kabinett mit zwei liberalen Bürgerlichen
als - politisch unbedeutenden — Ministern für Handel und Landwirtschaft
bilden. Hansemann selber und der auf sein Drängen zum Innenminister
ernannte Aachener Regierungspräsident Fr. Kühlewetter erlagen bald der
Adelsreaktion in Gesellschaft und Parlament. Schon am 8. September ka-
pitulierte Hansemann und wurde Chef der Kgl. Bank; 1851 verdrängte die
Kreuzzeitungspartei ihn auch aus dieser Position. Er kehrte nach Aachen
zurück. Im folgenden Kabinett war kein rheinischer Liberaler, kein Unter-
nehmer. Dem vom 8. November 1848 bis zum 6. November 1850 amtieren-
den Kabinett Brandenburg gehörte der Elberfelder Bankier August von der
Heydt als kenntnisreicher Handelsminister an. Ein enger rechtsliberaler
Vertrauter des Königshauses und daher unangreifbar, blieb er in dieser
Position bis 1862, modernisierte das Berg- und Aktienrecht 2 und erleichterte
dadurch das Wachstum der privatkapitalistischen Industrie- und Verkehrs-
wirtschaft, verbesserte Post und Telegraf, stärkte Preußens Stellung im
Zollverein, sanierte die Staatsfinanzen als Grundlage von Preußens Politik
in Deutschland und Europa und trug mit alledem wesentlich zur Gründung
des preußischen Deutschen Reiches sowie zum Fortwirken liberaler Grund-
sätze in der Wirtschaftspolitik bis etwa 1876 bei.
Das war die Entwicklung der Wirtschaftspolitik. Die Wirtschaft selber
geriet unter den Druck der weitflächigen Revolution. 3 In Köln mußte das

2 Wolfram FISCHER, Das wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungsbild der preu-


ßischen Bergrechtsreform 1 8 5 1 - 1 8 6 5 [1961], in: Ders., Wirtschaft und Gesell-
schaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze — Studien — Vorträge
( = K r S t G w , B d . 1), S. 1 3 9 - 1 4 7 .
3 Hans-Jürgen TEUTEBERG, Vom Agrar- zum Industriestaat ( 1 8 5 0 - 1 9 1 4 ) , in: Wil-
helm Kohl (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 3, Düsseldorf 1984, S. 1 6 3 - 3 1 1 ;
Manfred GAILUS, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten
unter besonderer Berücksichtigung Preußens 1 8 4 7 - 1 8 4 9 ( = VMPIG, Bd. 96),
Göttingen 1990.
528 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung

Bankhaus von Abraham Schaafhausen, seit Jahren das bedeutendste Kre-


ditinstitut der westdeutschen Schwerindustrie und der Maschinenindustrie,
im April 1848 mit Hilfe des Staates zur Erhaltung von Tausenden von
Arbeitsplätzen gerettet und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden,
die erste deutsche Aktien-Kreditbank. Andere Banken waren weniger en-
gagiert und deshalb nicht so gefährdet. Das Kölner Bankhaus der Brüder
S. und A. Oppenheim wurde von deren Freund, dem Minister Hansemann,
durch Staatskredit gerettet.
Erhielt die rheinische Wirtschaft auf diese Weise Hilfe, bis sie seit 1849
aus eigener Kraft wieder an den Aufschwung in den frühen 40er Jahren
anschließen konnte, so versuchte v. d. Heydt ohne dauerhaften Erfolg, der
schlesischen Textilwirtschaft zu helfen: sie blieb ein wirtschaftlicher und
sozialer Notstandskomplex. Dagegen nahm die noch immer fast ganz pri-
vatwirtschaftlich finanzierte und vorwiegend auch betriebene Eisenbahn in
den 50er und 60er Jahren einen vorzüglichen, die Bauwirtschaft (Bahnhöfe:
Der erste Berliner „Potsdamer Bahnhof" kostete 1838 88.000 Tir. Der zweite,
1868/72 gebaute, 1,33 Millionen Tlr.) 3 a anregenden, den Verkehr erleich-
ternden und verbilligenden, die Entstehung von Zulieferindustrien verur-
sachenden, den Markt für land- und forstwirtschaftliche Produkte vergrö-
ßernden und damit auch diesem Bereich zu bedeutender Wertsteigerung
verhelfenden Aufschwung. Angesichts dieser günstigen Entwicklung begann
der Staat seit 1850 allmählich, mit Hilfe der guten Dividenden, die er durch
seine Beteiligung am Kapital der großen Eisenbahngesellschaften erhielt,
diese selber durch Aktienkäufe an den Börsen mit dem Ziel der gänzlichen
Verstaatlichung mehr und mehr zu beeinflussen. Hier kündigte sich neben
Post, Domänen und Heer die Bildung eines weiteren allgemeinwirtschaftlich
wichtigen Staatswirtschaftskomplexes an.
Insgesamt gingen der liberalbürgerliche Privatkapitalismus und die feu-
dale und großbäuerliche Landwirtschaft aus den Ereignissen von 1848/49
und deren Wirkungen unter individuellen Verlusten gestärkt hervor. 4 Beide
nahmen nun Spitzenpositionen in der Hofgesellschaft und in der Innenpo-
litik ein. V. d. Heydt bildete in mancher Hinsicht ein Bindeglied zwischen
West und Ost, Industrie, Verkehr, Landwirtschaft und Finanzen, „Bürger-
stolz" und Königsthron.
Im Bereich Handwerk und kleine Landwirtschaft fingen seit den 50er
Jahren unter der Initiative von Schultze-Delitzsch in Sachsen und Friedrich
Wilhelm Raiffeisen im Rheinland erste Selbsthilfe-Kreditgenossenschaften
an zu entstehen und ein neues Kredit-, Ein- und Verkaufssystem aufzubauen,
das seit den 80er Jahren große stabilisierende und schließlich fördernde
Bedeutung erhalten sollte.

3a Manfred BERGER, Historische Bahnhofsbauten. Bd. 1: Sachsen, Preussen, Meck-


lenburg und Thüringen, 2 Berlin(-Ost) 1986.
4 Wilhelm TREUE, Das österreichisch-mitteldeutsche und das norddeutsche staats-
und privatwirtschaftliche Interesse am Bau des Suez-Kanals, in: VSWG, Bd. 57
(1970), S. 5 3 4 - 5 5 5 .
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 529

Der Deutsche Zollverein blieb, wiederholten Angriffen Österreichs und


seiner mitteldeutschen Satelliten zum Trotz, 5 ein Führungsinstrument Preu-
ßens zur wirtschaftspolitischen Einigung Deutschlands. Das kleindeutsche
Element erfuhr wirtschaftlich in den 50er und 60er Jahren durch Persön-
lichkeiten wie den Bremer Duckwitz und den Mißerfolg des österreichi-
schen, aus dem Rheinland stammenden Ministers Bruck eine erhebliche
Stärkung. Außerdem bildete es einen glücklichen Zufall für Preußen, daß
ihm gerade seit 1849 ein Ministerialbeamter zur Verfügung stand, dessen
Sachkenntnis sich auf dem Niveau von Motz und Maaßen befand und der
in den folgenden Jahren zum liberal-wirtschaftlichen Staatsmann Preußens
heranwachsen sollte, bis sein Ausscheiden im Jahre 1876 schließlich das
Ende Preußens als selbständiger Wirtschaftsmacht markierte: Rudolph Del-
brück 6 — Enkel eines Berliner Bankiers, entschiedener Gegner von Öster-
reichs gegen Preußen gerichteten Konferenzplänen seit 1850. Als geschickter
Unterhändler brachte er es fertig, 1851/54 Hannover für den Zollverein zu
gewinnen und damit den Steuerverein zu sprengen, was dazu führte, daß
Bruck nach Berlin reisen und im Februar 1853 einen preußisch-österreichi-
schen Meistbegünstigungsvertrag für zwölf Jahre schließen mußte. In diesem
langen Zeitraum konnte Preußen unbehindert seine politische Position in
Kleindeutschland stärken und entsprechend die Österreichs in Mitteleuropa
schwächen. 7
Fast gleichzeitig mit der Ablehnung weiterer Verhandlungen mit Öster-
reich im Jahre 1858 nahm Preußen solche mit Frankreich auf, während
Napoleon III. noch mit England über eine handelspolitische Verständigung
konferierte — über den Cobden-Vertrag vom 23. Januar 1860. Am 29. März/
2. August 1862 kam es nach geschickten Verhandlungen unter Delbrücks
Führung zu einem preußisch-französischen Handelsvertrag, der jenem ent-
sprach und gleichfalls für zwölf Jahre zwischen dem Deutschen Zollverein
und Frankreich einen fast perfekten Freihandel herstellte. Der Vertrag
machte Preußen zum Partner einer westeuropäischen Wirtschaftsgemein-
schaft, stärkte das Gewicht des Rheinlands in Preußen und Deutschland 50
Jahre nach seiner unfreiwilligen Einverleibung in die Hohenzollern-Monar-
chie und nahm um den Preis einer schweren Zollvereinskrisis, die bis 1865
dauerte, in bezug auf die Wirtschaft die Entscheidung von 1866 vorweg.
Moltkes Sieg bei Königgrätz wurde nicht viel mehr als eine sehr blutige
militärische Bestätigung des wirtschaftspolitischen Sieges, der 1862 unter
der Führung von Bismarck und Rudolph Delbrück erzielt worden war. 8

5 Johann Albrecht von REISWITZ, Karl Ludwig v. Bruck, in: N D B , Bd. 2, Berlin
1955, S. 643 - 646, hier S. 644; Detlef STAGE, Frankfurt am Main im Zollverein.
Die Handelspolitik und die öffentliche Meinung der Freien Stadt Frankfurt in
den Jahren 1836 bis 1866 ( = StFrankfG, H . 5), Frankfurt/M. 1971.
6 Heinrich HEFFTER, Martin Friedrich Rudolph v. Delbrück, in: N D B , Bd. 3, Berlin
1957, S. 579 f.
7 Wilhelm TREUE, Die Finanzierung der Kriege 1 8 6 4 — 1 8 7 1 durch die deutschen
Länder, in: VSWG, Bd. 75 (1988), S. 1 - 14.
8 Wolf-Arno KROPAT, Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus. Die
Eingliederung der „Freien Stadt" in den preußischen Staat (1866 — 1871)
( = StFrankfG, H . 4), Frankfurt/M. 1971.
530 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung

Dem von Bismarck seit dem Frühjahr 1865 in systematischer Arbeit


finanziell vorbereiteten Krieg von 1866 folgte die Gründung des Norddeut-
schen Bundes im Jahre 1867. Mit Preußens territorialen Gewinnen durch
den Krieg von 1866 waren neben privatunternehmerischer Verstärkung (zum
Beispiel das Lokomotivbau-Unternehmen Henschel & Sohn in Kassel) Kon-
tributionen und Kriegsentschädigungen der Besiegten einerseits (Württem-
berg 8, Bayern 30, Großherzogtum Hessen 3, Frankfurt 5,7, Sachsen 10
Millionen Gulden, so daß Preußen also in Deutschland finanziell sehr
gestärkt und auf die Auseinandersetzung mit Frankreich vorzüglich vorbe-
reitet war), die Übernahme der Schulden und Verpflichtungen der annek-
tierten Staaten wie zum Beispiel Staatsanleihen und Pensionen sowie Zah-
lungen an die depossedierten Fürsten andererseits verbunden. Alles in allem
kam es zu einer noch stärkeren Verlagerung des wirtschaftlichen Schwer-
gewichts innerhalb Preußens nach dem Westen und zu einer beträchtlichen
Vergrößerung des staatlichen Anteils an den Eisenbahnen, da die Bahnen
in den annektierten Gebieten in den Besitz des Staates übergingen - also
zu einer Verstärkung der materiellen und politischen Staats Wirtschaft. 9
Der Kanzler des Norddeutschen Bundes, Graf Bismarck, wählte schließ-
lich Delbrück — und nicht, wie zeitweise vorgesehen, den katholischen
Hessen Karl Friedrich von Savigny — zum Präsidenten des Bundeskanzler-
amtes, praktisch zum Vizekanzler und gewann damit die rheinischen Li-
beralen für ein konservatives Staatskonzept, das wiederum den Beifall der
agrarischen Führungskräfte fand. Im Bundeskanzleramt wurde die gesamte
innere Verwaltung des kleindeutschen Bundesstaates zusammengefaßt. Am
8. Juli 1867 traten alle Mitglieder des Norddeutschen Bundes, dem nun
auch Lübeck und die beiden Mecklenburg angehörten, die vier Südstaaten
und Luxemburg dem neuen Zollvereinsvertrag bei, der am 1. Oktober 1868
einen Zollbundesstaat mit einer aus allgemeinen, gleichen und direkten
Wahlen hervorgehenden Volksvertretung, dem Zollparlament, schuf. 10 Die-
ses erarbeitete die radikale Zolltarifreform von 1870 mit einer sehr weit-
gehenden, an 1818 erinnernden Zollsenkung. Mit Österreich gelangte Bis-
marck am 14. Mai 1868 zu einem Handelsvertrag, der die Zölle auf beiden
Seiten gegen den Widerstand süd- und westdeutscher Schutzzöllner erheblich
reduzierte.
Als am 8. Juli 1867 der „Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde,
Bayern, Württemberg, Baden und Hessen, die Fortdauer des Zoll- und
Handelsvereins betreffend" (vom 1. Januar 1868 ab auf 12 Jahre), unter-

9 Heide BARMEYER, Politische Gedanken eines preußischen Generals zu Fragen der


Verwaltungsorganisation Hannovers. Eine unbekannte Denkschrift des General-
gouverneurs von Voigts-Rhetz vom 11. April 1867, in: Oswald Hauser (Hg.),
Preußen, Europa und das Reich ( = NFBPG, Bd. 7), Köln 1987, S. 2 2 3 - 2 5 9 ;
Wilhelm TREUE, Henschel & Sohn. Ein deutsches Lokomotivbau-Unternehmen
1 8 6 0 - 1 9 1 2 , in: Tr, Bd. 19 (1974), S. 3 - 2 7 , Bd. 20 (1975), S. 3 - 2 3 .
10 Ders., Expansion und Konzentration... (1977) [368]; Willy REAL, Karl Friedrich
von Savigny 1 8 1 4 — 1 8 7 5 . Ein preußisches Diplomatenleben im Jahrhundert der
Reichsgründung ( = HF, Bd. 43), Berlin 1990, S. 2 0 6 ff.
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 531

zeichnet und anschließend veröffentlicht worden war, schrieb Professor Dr.


Gustav Fischer, Jena, in einem gewissermaßen offiziösen Kommentar für
die „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik": „Der vorliegende
Vertrag ist epochemachend in der Geschichte der Zollgemeinschaft unter
den deutschen Staaten, denn er enthält die Bestimmungen, durch welche
nach der Gründung des Norddeutschen Bundes die Zoll- und Steuerge-
meinschaft mit den süddeutschen Staaten, welche bisher im deutschen
Zollvereine bestand, nicht nur fortgesetzt, sondern auch erweitert und
wesentlich umgestaltet wird." Ausdrücklich wurde anschließend durch ein
Zitat aus dem vom Reichstag des Norddeutschen Bundes verhandelten und
angenommenen, vom 24. August 1867 stammenden „Bericht der vereinigten
Ausschüsse des Bundesrates für Zoll- und Steuerwesen und für Handel und
Verkehr" über diesen Vertrag vom 8. Juli 1867 darauf hingewiesen, daß
durch ihn „die Institutionen des Norddeutschen Bundes bezüglich der Zoll-
und Handelssachen auf den gesamten Zollverein ausgedehnt" wurden, dann
aber abschwächend und damit zugleich Preußens Vorrang erst recht beto-
nend hinzugefügt: „Es leuchtet jedoch sofort ein, daß die Organe des
Zollvereins mit denen des Norddeutschen Bundes, ungeachtet der Gleichheit
der Benennungen, der Vorschriften über Competenz und Wirksamkeit und
selbst der teilweisen Identität der Personen doch nicht schlechthin [!] iden-
tisch sind. Präsidium, Bundesrath, Parlament und Aufsichtsbeamte sind
nicht die gleichnamigen Institutionen des Norddeutschen Bundes." Hier
hatte das Königreich Preußen also im wirtschaftlichen (und politischen)
Bereich vor der Reichgründung organisatorisch seine stärkste offizielle
Position erreicht. Zu den wirtschaftlich wichtigsten Folgen dieser Tatsache
gehörte das „Gesetz betreffend die Einführung... des Allgemeinen Deutschen
Handelsgesetzbuches als Bundesgesetz" vom 5. Juni 1869 zum 1. Januar
1870 (das am 10. Mai 1897 durch das Handelsgesetzbuch des Deutschen
Reiches ersetzt wurde, welches „gleichzeitig mit dem Bürgerlichen Gesetz-
buch in Kraft" trat). Dieses bildete 30 Jahre nach dem ersten Handelsge-
setzbuch unter anderem ein Symbol für die „Verreichlichung" Preußens.
Den Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich mit den Ideen, auch
mit dem Ethos Preußens in der Reformzeit zu erfüllen und zu aktivieren,
in ihm ein „System freier Marktwirtschaft" im Geiste jener von ihm idea-
lisierten Reformer zu schaffen, betrachtete Delbrück als seine wichtigste
Aufgabe. Da es ihm dabei um Prinzipien ging, die Wilhelm I. fernlagen,
und da Bismarck weniger Prinzipien- als Opportunitätspolitik trieb, mußte
Delbrück fast naturnotwendig eines Tages eine große Enttäuschung erleben.
Immerhin wurde zunächst am 24. Juni 1865 die längst überholte Bergbau-
gesetzgebung aus dem 18. Jahrhundert, das Direktionsprinzip, beseitigt und
damit sowie durch das Aktiengesetz von 1867 dem reichlich vorhandenen
Privatkapital der Zugang zum Bergbau erleichtert. Das Freizügigkeitsgesetz
von 1867 und die Gewerbeordnung von 1869 bildeten große letzte Akte des
Liberalismus und Anfänge der wirtschafts- und gesellschaftsrechtlichen
Ausfüllung des Bundes und des Reiches mit nationaler Ordnung, mit Freiheit
des Individuums bei abnehmender Freiheit der im Reich zusammengefaßten
und mehr und mehr in dieses aufgehenden Territorien.
532 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung

Die Modernisierung des Bergrechts in Preußen vom Miteigentümergesetz


des Jahres 1851 bis zum neuen Bergrecht von 1865 schuf eine neue Ära des
Bergbaus mit uneingeschränkter privater Bergbaufreiheit, aber auch mit der
im Freizügigkeitsgesetz von 1867 betonten „Befreiung" des Bergmanns ge-
genüber einem in vieler Hinsicht stärkeren Arbeitgeber — was schließlich
mehrere schwere Streiks zur Folge haben sollte: Der liberale Staat war kein
Sozialstaat. Damit wurde allerdings auch das ständische Sozialgefüge des
Bergbaues im liberalen Sinne grundlegend verändert: der bis dahin gesell-
schaftlich sicher eingeordnete Bergmann, der „Bergknappe", wurde „freier"
Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft; der „Steiger" zog sich aus den
Knappenvereinen zurück und baute bald ein schichtenspezifisches Vereins-
wesen auf („Grubenbeamtenvereine"), gegen das sich seit Anfang der 70er
Jahre erste gewerkschaftliche Organisationsversuche wandten. Das Gesetz
von 1865 übte seine Hauptwirkung im Ruhrgebiet aus — unmittelbar beim
Bergbau, jedoch gesellschaftlich weit über diesen hinaus, zum Beispiel durch
die Verursachung einer riesigen Ost-West-Wanderung. Dieses „moderne"
Aktienrecht schritt über eine nicht sehr glückliche Novelle vom 11. April
1870, die unbeabsichtigterweise die Spekulation förderte, zum neuen Ak-
tiengesetz von 1884 fort. Die schwerste negative Auswirkung der „Libera-
lisierung" des Bergrechts bildete der Bergarbeiterstreik an der Ruhr im Jahre
1889. Am 23. November 1889 hieß es in einer Denkschrift des Oberbergamts
Dortmund: „Ein erfolgreiches Eingreifen der Aufsichtsbehörde zur Milde-
rung und Beseitigung der etwa zu ihrer Kenntnis gelangenden Härten ist
nach den gesetzlichen Vorschriften ausgeschlossen, und ist in Folge dessen
im Laufe der Jahre eine solche Entfremdung zwischen den Organen der
Aufsichtsbehörde und den Arbeitern eingetreten, daß die letzteren nur in
seltenen Fällen den Versuch machen werden, eine eventuelle Vermittlung
anzurufen..."
Eng mit Bergrecht und Aktiengesellschaftsrecht verbunden war das Pa-
tentrecht, das nach langen Experimenten seit der Gründung des Zollvereins,
Enqueten und öffentlichen Diskussionen, bei denen Delbrück und Werner
Siemens die Hauptgegner waren, 1875/77, also von vornherein für das ganze
Reich geregelt wurde — nach Delbrücks Rücktritt protektionistisch unter
dem robusten Einfluß von Siemens im Sinne der Unternehmer, nicht der
Erfinder, die jenen weitgehend ausgeliefert wurden. 11
Das Königreich Preußen hatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts 16,5
Millionen Einwohner, von denen noch immer, trotz der Einverleibung von
Rheinland und Westfalen, 72 Prozent auf dem „platten Lande" und fast
genau je 50 Prozent in den vier östlichen beziehungsweise in den mittleren

11 Gustav FISCHER, Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde, Bayern, Württem-


berg, Baden und Hessen, die Fortdauer des Zoll- und Handelsvereins betr., in:
JbbNSt, Bd. 9 (1867), S. 1 7 0 - 1 7 9 ; Helmut TRISCHLER, Technische Angestellte
im deutschen Bergbau. Sozialgeschichte der Steiger 1815 - 1945, Phil. Diss. Mün-
chen 1986, S. 64 ff., 358 ff.; Karl DILL/Dagmar KIFT (Hg.), Bergarbeiterstreik und
Wilhelminische Gesellschaft ( = Westfälisches Industriemuseum, Schriften, Bd. 6),
Hagen 1989, S. 151.
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 533

und westlichen Provinzen zusammen lebten. Die Bevölkerung der Provinzen


Preußen, Posen und Schlesien verringerte sich sehr langsam, die der anderen
Provinzen war im Wachsen begriffen, am stärksten in Berlin und im Rhein-
land. Zwar lebte der größte Teil der Bevölkerung auf dem Lande, aber nur
45 Prozent waren landwirtschaftlich tätig, in Brandenburg nur 37 Prozent,
in Hannover dagegen 1866 noch 62 Prozent. Die Zahl der hauptberuflich
in der Landwirtschaft Tätigen sank 1848 — 1859 um 11 Prozent von 6,6 auf
5,9 Millionen, die der nebenberuflichen Landwirte stieg um 22 Prozent von
1,8 auf 2,2 Millionen. Städte mit 1.000 bis 3.000 Einwohnern hatten „mehr
den Charakter des platten Landes", womit 1,3 Millionen Städter in 600
Kleinstädten wie dort lebten. Die „Regulierung" der gutsherrlich-bäuerli-
chen Verhältnisse sowie die Ablösung der Reallasten, 1807/16 begonnen,
befand sich noch in vollem Gange und dauerte in Verbindung mit zahlrei-
chen Restlasten und sogar mit „Frondiensten" bis in die 80er Jahre — nicht
zuletzt infolge des Kapitalmangels der Bauern. Einen letzten Schub in der
Agrarreform nach dem Gesetz vom 2. März 1850 bildete das Gesetz vom
27. April 1872 über die Ablösung der Reallasten, welche Kirchen, Schulen
und Stiftungen gehörten. Jetzt konnten die Bauern relativ hohe Beträge aus
ihren gestiegenen Realeinkommen an die Berechtigten zahlen, die ihrerseits
ihre Betriebe intensivierten und große Gewinne aus dem Ansteigen der
Boden- und Produktpreise zogen. Vorbildlich für die meisten nach 1850
entstandenen preußischen Provinz-Rentenbanken wurde die „Paderborni-
sche Tilgungskasse" von 1836. 1 2
Die Maschinisierung der Landwirtschaft nahm nun schnell zu: 1848
konnte Heinrich F. Eckert 1 3 3 die erste deutsche Pflugfabrik errichten; seit
den 50er Jahren stellte er alles her, was Gutsbesitzer und Bauern an
technischer Ausrüstung brauchten. Seit etwa 1860 rentierte sich auf großen
Gütern die Anschaffung teuerer Dampfmaschinen, da die Arbeiter knapp
wurden.
Die Agrikulturchemie kam nicht mehr von A. Thaer, sondern seit 1840
von Justus Liebig in Gießen: 1861 wurde auf dieser Grundlage an Stelle
von Möglin in Berlin eine Landwirtschaftliche Lehranstalt gegründet. Im
gleichen Jahr erklärte Liebig: „Das Zeitalter der landwirtschaftlichen Aka-

12 [Ernst] ENGEL, Die Sterblichkeit und die Lebenserwartung im preussischen Staate


und besonders in Berlin, in: ZStatB, Bd. 1 (1861), S. 3 2 1 - 3 5 3 , hier S. 340; Carl
Friedrich] Wilhelm DIETERICI, Die Bevölkerung des preußischen Staats nach der
amtlichen Aufnahme des Jahres 1846, Berlin 1848, S. 4 ff.; R. BERTHOLD, Der
sozialökonomische Differenzierungsprozeß... (1974) [214], S. 13 f.; J. KOCKA, Zur
Schichtung der preußischen Bevölkerung... (1988) [208], S. 357; Edwin STERN-
KIKER, Die preußischen Rentenbanken und die Verwendung der Ablösungska-
pitalien in Preußen nach 1850, in: JbWG, 1989/4, S. 61 - 1 0 2 ; Maria BLÖMER,
Die Entwicklung des Agrarkredits in der preußischen Provinz Westfalen im
19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1990.
13i Friedrich STEINHARDT, Heinrich Ferdinand Eckert. Ein Lebensbild des ersten
deutschen Pflugkonstrukteurs. Aus Anlaß des 75jährigen Bestehens der Eckert-
werke am 1. X . 1921 verfaßt ( = WipolaBibl, Bd. 1), Berlin 1921.
534 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung

demien" für beendet und forderte die Wendung zur Universitätswissen-


schaft.
Die Revolution von 1848 hatte die Landarbeiterfrage intensiviert. Die
Maschinen gaben ihr einen zusätzlichen Akzent. Die Preußische Land-
arbeitsordnung von 1854, die in etwa dem Abschluß der Befreiungsgesetz-
gebung entsprach, konstituierte die ländlichen Arbeiter als eine besondere
Gruppe der Bevölkerung: als das Landproletariat neben dem Fabrikprole-
tariat. Im Jahre 1874 konstatierte Theodor von der Goltz, daß es diesem
in Preußen schlechter ging als im übrigen Deutschland.
Das Getreide bildete mit etwa 40 Prozent des gesamten Produktionswertes
nach wie vor das wichtigste Erzeugnis der preußischen Agrar-Wirtschaft —
für die Landwirte, die Müller und die weiterverarbeitenden Gewerbe. Seit
etwa 1863 brachten die Getreide-, neben ihnen auch die Kartoffelernten
mehr Ertrag; angesichts der Bevölkerungszunahme stiegen auch die Preise,
während die Bodenbearbeitung und die Düngemittel zugleich billiger und
besser wurden. Auch die Viehzucht, die Milch-, Butter- und Schmalzpro-
duktion erbrachten durchweg höhere Erträge. Insgesamt erzielte die Land-
wirtschaft um 1860 in der Provinz Sachsen mit 79 und im Rheinland mit
70 Groschen je Morgen den höchsten, in Posen und Ostpreußen mit 29
Groschen den niedrigsten Ertrag, was in etwa auch der gesellschaftlich-
zivilisatorischen Situation entsprach.
Eine ähnliche Entwicklung nahmen die landwirtschaftlichen „Nebenge-
werbe", die vielfach die Rentabilität der Güter bestimmende Betriebe wur-
den: die Rübenzuckerfabriken, Saatzüchtereien, Schnapsbrennereien, Zie-
geleien, Molkereien, Torfstechereien, Obst- und Weinbauplantagen und
insbesondere die Wald- und Forstwirtschaft. 13b
Immer deutlicher bildeten sich in Preußen nach der Jahrhundertmitte
Bergbau- und Industrieregionen heraus — an der Spitze, zugleich als durch
die Gründung des Norddeutschen Bundes schnell wachsendes staatliches
und privates, ministeriales und kommunales Administrationszentrum Ber-
lin, gefolgt von Rheinland-Westfalen und dem relativ zurückbleibenden
Schlesien.
Zwischen der Revolution von 1848 und dem Krieg von 1870 wuchs die
Bevölkerung Berlins, 14 hauptsächlich durch Eingemeindungen und Zuwan-
derungen, um annähernd 100 Prozent auf 830.000 - nicht zuletzt durch
eine tüchtige Kommunalpolitik einer wirtschaftlich starken und expandie-
renden Landeshauptstadt, in der das Handwerk an Bedeutung vom Fabrik-
wesen überholt wurde, wenngleich es mit 54.000 Personen noch weit mehr
Menschen beschäftigte als jenes (23.000). Beide Bereiche neigten zu immer
stärkerer Spezialisierung, Rationalisierung und wachsendem Kapitaleinsatz.
Adelige und hugenottische Unternehmer waren selten, während die Juden,

13b Heinrich RUBNER, Forstgeschichte im Zeitalter der Industriellen Revolution,


Berlin 1967, S. 137 ff.
14 Jochen BoBERG/Tilman FiCHTER/Eckhart GILLEN (Hg.), Exerzierfeld der M o -
derne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert ( = Industriekultur deutscher
Städte und Regionen, Berlin, Bd. 1), München 1984.
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 535

in vieler Hinsicht eine Oberschicht des Judentums im Staate, seit 1850


zunehmend 2,5 bis 4 Prozent der Bevölkerung, aber in einzelnen Bereichen
bis 50 Prozent des Unternehmertums stellten.
Beim allmählichen Übergang von einer Landes- zur Reichshauptstadt,
vom privatwirtschaftlichen Liberalismus zum staatlichen Dirigismus und
Protektionismus, von der reinen Gewerbegroßstadt zum Hauptort der preu-
ßisch-deutschen Finanzwirtschaft und bei der Einbeziehung Berlins in die
Weltwirtschaft seit deren Krisis von 1857 waren in Berlin, das bis in die
70er Jahre nur Ansätze zur Selbstverwaltung besaß, von den insgesamt
Erwerbstätigen 38 Prozent in den Gewerben, 32 Prozent im tertiären Sektor
und, infolge der Eingemeindungen, noch immer 30 Prozent in der Land-
und Gartenwirtschaft tätig. Eine führende Rolle spielte in Berlin als Folge
der Bevölkerungszunahme und des Eisenbahnbaues nach wie vor das Bau-
gewerbe, bei dem seit den 40er Jahren, vorwiegend im Industriebau (Borsig)
immer häufiger Eisen verwendet wurde. 15 Es folgten Eisen-, Stahl- und
Metallverarbeitung - immer stärker in Großbetrieben: Maschinen- und
Werkzeugbau, Feinmechanik und Optik. Diese bildeten „eine Gruppe von
Gewerbezweigen und -sparten, die für die Provinz Brandenburg und ins-
besondere für die Wirtschaftsmetropole Berlin ... eine strategische Bedeu-
tung in dem Sinne für sich in Anspruch nehmen konnten, als von dieser
Kapitalgüter produzierenden Industrie der technologische Fortschritt in der
industriellen Gesamtentwicklung in erster Linie abhing." Der Spezialisierung
der Betriebe entsprach unter Ausbildung von immer mehr Facharbeitern
eine Verfeinerung ihrer Erzeugnisse. Die Textilwirtschaft verließ zu einem
erheblichen Teil die teuere Hauptstadt und zog in die Provinz, während
das Bekleidungsgewerbe, die Konfektion, sich unter Mechanisierung durch
die Nähmaschine um den Markt der Großstadt Zusammenschloß. Ein paar
junge Gewerbezweige wiesen ein exzeptionell starkes Wachstum auf: die
Gummi- und Guttaperchawarenerzeugung, die chemische Industrie mit
Leuchtgaserzeugung, Apotheken usw., das Druckereigewerbe und schließ-
lich als jüngste die Elektroindustrie.
Bevölkerung und Gewerbe Berlins und Brandenburgs brauchten viel
Brennstoff — über Torf und Holz hinaus immer mehr Steinkohle, die
zunächst hauptsächlich per Schiff aus England, seit den späten 50er Jahren
aber schnell zunehmend aus Oberschlesien kam. 1 6

15 Felix ESCHER, Berlin und sein Umland. Z u r Genese der Berliner Stadtlandschaft
bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ( = EvHKzB, Bd. 47), Berlin 1985, S. 159 ff.;
Jutta LUBOWITZKI, Der „Hobrechtplan". Probleme der Berliner Stadtentwicklung
um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Berlin-Forschungen,
Bd. 5 ( = EvHKzB, Bd. 71), Berlin 1990, S. 11 - 1 3 0 . W. LORENZ, 150 Jahre Borsig
— Beitrag zur Technikgeschichte des frühen Eisenbahnbaus, in: Bauingenieur,
Bd. 63 (1988), S. 3 7 5 - 3 8 4 ; Wolfram FISCHER, Berlin und die Weltwirtschaft im
19. und 20. Jahrhundert ( = Historische Kommission zu Berlin, Informationen,
Beiheft Nr. 13), Berlin 1989.
16 Wilhelm TREUE, 100 Jahre Caesar Wollheim, München 1961; Ders., Preußens
Montanindustrie in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Gl, 125. Jg.
(1989), S. 6 1 - 6 4 .
536 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung

Über die alten, zum Teil noch aus der friderizianischen Zeit stammenden
Handels- und Bankhäuser der Mendelssohn, Bleichröder usw. hinaus wuch-
sen seit den 50er Jahren Aktienbanken, die sich zum Teil bereits speziali-
sierten — zum Beispiel auf Hypotheken-Geschäfte. Als seit 1857 einige
Jahre überall die Investitionstätigkeit stagnierte, existierten in Preußen so
viele anlagebereite Kapitalien, daß ein beträchtlicher Kapitalexport, haupt-
sächlich nach Rußland, 1 7 einsetzte, der fortan ein von der Politik scharf
beobachtetes Geschäft blieb.
Nicht mehr Schlesien, sondern das Rheinland und Westfalen waren
zwischen 1850 und 1870 Preußens wirtschaftlich wichtigste, unternehme-
risch dynamischste Provinzen. Der Bonner Historiker Sybel bezeichnete die
„rheinische Integration in den preußischen Gesamtstaat" erst 1865 als „so
gut wie vollendet".
Das Rheinland 18 mit dem weitaus höchsten Einkommensniveau und
Lebensstandard in Preußen wurde in den 60er Jahren die wirtschaftliche
Hauptregion nicht nur der Monarchie, sondern Mitteleuropas. Im Jahre
1867 lag das Pro-Kopf-Einkommen im Rheinland 18 Prozent über dem
Durchschnittseinkommen in der Monarchie, 28 Prozent über dem in Ost-
preußen, der Provinz mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen - aber
auch die Lebenshaltungskosten klafften weit auseinander. Bereits 1855 ent-
fielen von den 603 Fabriken mit 50 und mehr Arbeitern nicht weniger als
258 auf die Rheinprovinz mit den Regierungsbezirken Düsseldorf und
Aachen an erster Stelle. Erst danach folgten Berlin-Brandenburg mit 95,
Schlesien mit 76, Sachsen mit 73 und Westfalen mit 67 Fabriken dieser
Gruppe. Seit den 70er Jahren begann, seit den 80er Jahren stieg ständig die
Zuwanderung von Arbeitern aus den Ostprovinzen des preußischen Staates
in das Ruhrgebiet. 1880 stammten von dort im Ruhrgebiet 38.000, 1900
333.000, 1910 500.000 (davon 1900 143.000, 1911 304.000 polnische) Ein-
wohner (unter ihnen prozentual immer mehr Frauen). Auch die Auswan-
derung (insbesondere in die USA), die um 1845/50 ganz Deutschland be-
troffen hatte, stammte seit den 70er Jahren immer stärker vorwiegend aus
den Gebieten östlich der Elbe, die weniger Aufstiegsmöglichkeiten boten
als die westlichen Provinzen. 19

17 Manfred POHL, Geschäft und Politik. Deutsch-russisch/sowjetische Wirtschafts-


beziehungen 1 8 5 0 - 1 9 8 8 , M a i n z 1988.
18 Franz PETRI, Preußen und das Rheinland, in: Walter Forst (Hg.), Das Rheinland
in preußischer Zeit. 10 Beiträge zur Geschichte der Rheinprovinz, Köln — Berlin
1965, S. 3 7 — 70, hier S. 5 5 f.; 100 J a h r e „ M a d e in G e r m a n y " . Deutsche Technik
und Industrie zwischen 1880 und 1914 in der internationalen Konkurrenz
( = Technikgeschichte, Bd. 5 3 [1987], H . 3); Nicolaus HOCKER, Die Großindustrie
Rheinlands und Westfalens. Ihre Geographie, Geschichte, Production und Stati-
stik, Leipzig 1 8 6 7 ( N D Hildesheim 1987).
19 S. JERSCH-WENZEL/J. KRENGEL, Die Produktion der deutschen Hüttenindustrie...
(1984) [62]; K. MURZYNOWSKA, Die polnischen E r w e r b s a u s w a n d e r e r . . . (1979)
[398], S. 16 ff.; Wolfgang HELBICH/Walter O . KAMPHÖFNER/Ulrike SOMMER
(Hg.), Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt.
1 8 3 0 - 1 9 3 0 , M ü n c h e n 1988.
S 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 537

Noch mehr Menschen als die Industrie konzentrierte, wenn auch stets
nur vorübergehend und unter starker Fluktuation, der Eisenbahnbau, der
um 1850 mit dem Bergbau die bedeutendsten Schwerpunkte der Arbeits-
migration, vielfach aus dem Osten der Monarchie, so sehr bildete, daß
Schule, Kirche und Wohnungsbau nicht folgen konnten.
Schwerindustrie und Textilindustrie entwickelten sich in diesem Raum
sehr unterschiedlich. Die letztere war im Anfang ein altes „Gewerbe", die
erstere wurde eine Gruppe technisch wie finanziell ganz neuer „moderner"
Industrien. Das rheinische Textilgewerbe hatte auf der Jahrhundertmitte
einen höheren Industrialisierungsgrad und eine größere Beschäftigtenzahl
pro Unternehmen als Bergbau und Eisengewerbe. Doch bis 1870 kehrte sich
das Verhältnis — mit regionalen Unterschieden — um, nahm die Schwer-
industrie mit vielen Aktiengesellschaften Dimensionen an, die die im all-
gemeinen mittelbetrieblichen Personalgesellschaften in der Textilwirtschaft
nie erreichten. Fast alle Unternehmer in beiden Bereichen wie auch viele
Bankiers stammten noch aus der Landwirtschaft und gelangten über den
Kaufmanns- und Handwerkerstand in die Großwirtschaft der 60er und 70er
Jahre, besaßen also noch keine großindustriellen Traditionen und hatten
keine Unternehmerdynastien mit entsprechendem Sozialprestige hinter sich.
Unternehmerinnen waren nicht so selten wie um die Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert — meist handelte es sich um Witwen, die gelegentlich 20,
30 und mehr Jahre ihren Kindern den vom Vater geschaffenen Betrieb
erhielten und dabei Vettern und Schwäger zu ihrer Hilfe heranzogen. All-
mählich gewann auch der angestellte Manager Profil, Ansehen und Bedeu-
tung neben dem Eigentümer-Unternehmer. Das technische Studium begann
erst nach 1870, neben der kaufmännischen und handwerklichen Lehre
Bedeutung zu gewinnen. Fast alle Unternehmer waren vor 1871 heimat-,
wenn nicht sogar ortsgebunden. Die Auswärtigen kamen mit bergbaulich-
industrieller Erfahrung hauptsächlich aus dem nahegelegenen Wallonien,
aus England und Irland. Schlesien, bis gegen 1840 häufig Vorbild, blieb
hinter dieser Dynamik in der europawirtschaftlich günstiger gelegenen
Region zurück.
Die größte Stadt der Rheinprovinz und ihr wirtschaftlicher Mittelpunkt
war Köln 2 0 mit 1850 100.000, 1871 130.000 Einwohnern und der stärksten
Wohndichte in der Monarchie. Ihr unternehmerischer und finanzieller
Einfluß reichte durch Männer wie die Oppenheim, Mevissen und Stein
über Eisenbahngesellschaften und Rheinschiffahrt weit ins Umland: zum
Ruhrgebiet, nach Aachen und ins Bergische Land. In den 60er Jahren
galt Köln selbst noch vor Berlin als die vielseitigste Fabrikstadt Deutsch-
lands. Für das Wachstum bezeichnend war, daß seit 1879 Kölns Hafen-
anlagen zu klein wurden und 1891 mit dem Bau großer linksrheinischer
Hafenbecken sowie der Rheinuferstraße begonnen werden mußte. Mevis-
sen nannte man 1850—1870 den aktivsten und vielseitigsten Gründerun-

20 Klara van EYLL, Wirtschaftsgeschichte Kölns vom Beginn der preußischen Zeit
bis zur Reichsgründung, in: H . Kellenbenz (Hg.), Zwei Jahrtausende... (1975)
[7], Bd. 2, S. 1 6 3 - 2 6 6 , hier S. 169.
538 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung

ternehmer mit einem besonderen Gespür für finanzielle Engagements mit


hohen Kapitalbeträgen. Sein Ziel war eine ebenso gesunde wie starke
Ausgestaltung der rheinisch-westfälischen Industrie, wofür er Unterneh-
mer gelegentlich auch die Handelskammer benutzen ließ, 21 während die
Oppenheim über ihr eigenes Bankhaus, familiäre und freundschaftliche
Verbindungen zum Crédit Mobilier in Paris, nach Brüssel und Rotterdam,
sowie über die unter anderem von ihnen 1856 gegründete Internationale
Bank von Luxemburg über Westdeutschland und Wien hinaus die inter-
nationalen Beziehungen pflegten. Sehr bedeutungsvoll war in diesen An-
fängen der Industriellen Revolution der Zufluß von ausländischem Un-
ternehmertum und Kapital, da die neuen westlichen Provinzen Preußens
an beidem zunächst weit ärmer waren als Nordfrankreich, die Nieder-
lande und Belgien. Als Einzelunternehmer stand in diesem Bereich der
Ire Thomas Mulvany lange Zeit an der Spitze, doch wurden seit den
40er Jahren (bis 1870) auch Gesellschaften tätig, in denen englische,
belgische und französische Ingenieure und Kapitalisten einen entscheiden-
den Einfluß ausübten. Die Geschichte der Bergwerksgesellschaft „Dahl-
busch" bei Gelsenkirchen, die aus einer solchen Kombination hervorging
und trotz mancher Wandlungen und Kriegsgefahren bis heute eine aus-
ländische Kapitalmajorität behalten hat, bildet ein prominentes Beispiel
für diese nach 1871 seltener werdende „Entwicklungshilfe" aus Westeu-
ropa insbesondere im Bereich von Bergbau und Eisenbahn. 22
Im Ruhrgebiet 23 ging seit der Jahrhundertmitte das alte Leben in ländli-
chen Formen zu Ende. Zwischen 1860 und 1870 wurden an der Ruhr in
Bergbau, Hütten und Industrie 340, bei Eisenbahnen bis 1860 43 Millionen
Taler angelegt, während in den 40er Jahren nicht mehr als insgesamt 3
Millionen Taler gebraucht worden waren. Von nicht geringerer Bedeutung
war der technische Fortschritt bei der Dampfmaschine, beim Bau tiefer
senkrechter Schächte — allein im westfälischen Bergbau 1850 — 1870 nicht
weniger als 126. Schnell wachsende Bedeutung erlangte seit den 70er Jahren
westlich von Köln der Braunkohlenbergbau — zunächst nur zur Verwen-
dung als Haushaltsbrennstoff, seit den 90er Jahren immer stärker auch für
die Elektrizitätsgewinnung. 24
Bei der Eisengewinnung stand seit den 50er Jahren der Kokshochofen im
Vordergrund. So kam es, daß im Oberbergamtsbezirk Dortmund die jähr-

21 Peter COYM, Unternehmensfinanzierung im frühen 19. Jahrhundert. Dargestellt


am Beispiel der Rheinprovinz und Westfalens, Wirtsch.- und sozialwiss. Diss.
Hamburg 1971, S. 153; Andreas LÖTHER, Familie und Unternehmer, dargestellt
am Beispiel der Wuppertaler Textilunternehmer während der Frühindustrialisie-
rung bis 1870, Köln 1991; Stefan GOCH, Sozialdemokratische Arbeiterbewegung
und Arbeiterkultur im Ruhrgebiet. Eine Untersuchung am Beispiel Gelsenkirchen
1 8 4 8 - 1 9 7 5 ( = BtrGPPP, Bd. 91), Düsseldorf 1990, S. 45.
22 Wilhelm TREUE, Dahlbusch. Geschichte eines Unternehmens im Ruhrge-
biet, Mainz 1988; Ders., Preußens Montanindustrie... (1989) [s.o. Anm. 16].
23 W. TREUE, Grundzüge einer Geschichte... (1968) [14]; W. FELDENKIRCHEN, Die
Eisen- und Stahlindustrie... (1982) [379],
24 Arno KLEINEBECKEL, Unternehmen Braunkohle. Geschichte eines Rohstoffs, eines
Reviers, einer Industrie im Rheinland, Köln 1986.
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 539

liehe Roheisenerzeugung 1850 — 1870 von 11.500 auf 426.000 Tonnen und
der Anteil der Kokshochöfen daran von 9,6 auf 99,4 Prozent stieg, wobei
aus der Kohleneisensteinförderung des Ruhrgebiets selber 1850 600 Tonnen,
1860 70.000 Tonnen und 1870 150.000 Tonnen (1852 7 Prozent, 1860 21
Prozent und 1870 50 Prozent) stammten. Diese Leistung beruhte in erster
Linie auf technischen Verbesserungen und erst in zweiter auf der Zunahme
der Zahl der Hochöfen.
Die Expansion der Eisen- und Stahlindustrie ging vor 1873 hauptsächlich
auf die Einführung des englischen Puddelverfahrens zurück, das seit 1815
in Belgien aufgegriffen, seit den 20er Jahren im Rheinland angewendet
wurde. Seine Blütezeit erreichte es zwischen 1845 und 1860. Im Jahre 1854
arbeiteten im westfälischen Hauptbergamtsdistrikt 174 Puddel-Öfen. Für
dieses Verfahren brauchte man einen hohen Kapitaleinsatz und große tech-
nische Genauigkeit. Aber kaum hatte diese neue Technologie sich durch-
gesetzt, da mußte man sich schon mit den Verfahren zur Flußstahlerzeugung,
insbesondere mit dem 1855 von Henry Bessemer in England entwickelten
Verfahren zur Stahlerzeugung vertraut machen, mit dem der Durchbruch
zur Massenerzeugung von Stahl gelungen war.
Bei diesen Modernisierungen wurde das westfälische Ruhrgebiet 2 5 in
günstiger mitteleuropäischer Verkehrslage und durch seine gute Wirtschafts-
und Finanzsituation zum bergbaulich-schwerindustriellen Hauptraum Preu-
ßens und löste den Vorrang Oberschlesiens ab. Die praktische Bedeutung
beider Räume für den preußischen Staat wurde in kurzer Zeit beinahe
vertauscht, der rheinische Bürger-Unternehmer im Zeitalter der beginnenden
Hochindustrialisierung für ein modernes Preußen wichtiger als der ober-
schlesische Magnat, der sich - mit Ausnahmen — nur langsam aus dem
Zeitalter der Heinitz, Reden und Beuth in das der Delbrück, Bleichröder,
Mevissen und Oppenheim hineinfand. Dem Bergbau und den Hütten folgte
die Eisen- und Maschinenbau-Industrie. Ihr wichtigster Anreger und Träger
war um 1850 die Eisenbahn im weitesten Sinne. 1842 bezogen erstmals
preußische Eisenbahngesellschaften Lokomotiven von preußischen Fabri-
kanten, seit 1855 nur noch von solchen. Aber noch wichtiger als der Bedarf
an Lokomotiven und Waggons war der an Schienen. Ihn konnte man lange
Zeit nur durch Importe aus England und Belgien befriedigen.
Allerdings gab es auch in der Rheinprovinz Gebiete, die, am Rande des
wirtschaftlichen Aufschwungs gelegen, an diesem nur zögernd teilnahmen.
Trier zum Beispiel litt einerseits darunter, daß die Eisenbahn Eifel —Köln
den Verkehr auf der Mosel beeinträchtigte, so daß deren Ausbau unterblieb,
was wiederum andererseits die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamte.
Auch die politisch-militärische Grenzlage wirkte bis 1871 behindernd: Stein-,
Tuch- und Lederindustrie schrumpften. Erst seit den 80er Jahren kam es zu

25 Kara von BORRIES, Das Puddelsverfahren in Rheinland und Westfalen, volks-


wirtschaftlich betrachtet, Diss. Bonn 1929; W. TREUE, Preußens Montanindu-
strie... (1989) [ s . o . A n m . 16]; N . HOCKER, Die Großindustrie... (1867) [s.o.
Anm. 18]; H . - J . TEUTEBERG (Hg.), Westfalens W i r t s c h a f t . . . (1988) [196],
540 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung

Verflechtungen mit Luxemburg und Lothringen, was den Wein- und Ge-
müsebau belebte. 26
Große Bedeutung hatte die Versorgung der Berg-, Hütten- und Walzwerke
mit Dampfmaschinen und Dampfkesseln, Wasserhaltungs- und Förderein-
richtungen, Dampfhämmern und immer komplizierteren Maschinen aus
Spezialfabriken. In solchen Zusammenhängen begann in den 60er Jahren
die sprunghafte Expansion des Unternehmens der Gußstahlindustriellen-
familie Krupp, das nun in kurzer Zeit zum ersten preußischen Industrie-
komplex von internationalem Rang aufstieg.
Für den Transport dieser riesigen Förderungen und Produktionen bildeten
Eisenbahnen und Wasserstraßen Voraussetzung und Ergebnis. In den 60er
Jahren war das Ruhrgebiet der Raum mit der größten Eisenbahndichte,
Preußen das Land mit dem stärksten Eisenbahnwachstum, die Ruhr der am
meisten befahrene Fluß Deutschlands.
Im Saargebiet 27 stand der staatlich beamtete Unternehmer beherrschend
im Vordergrund des Bergbaus. Schienen bildeten seit 1850 das Hauptpro-
dukt der Eisenindustrie. Der Kohlenbergbau war seit dieser Zeit die Grund-
lage aller industriellen Entwicklungen im Aachener Raum, wobei Erfahrung
und Kapital aus Wallonien keine geringe Rolle spielten.
Auch in Schlesien 28 wurde der Steinkohlenbergbau der wichtigste Wirt-
schaftszweig. Zu ihm wanderte, wie im Westen, die Schwerindustrie. Aber
während Ruhr- und Saargebiet gute Exportmöglichkeiten besaßen, war die
oberschlesische Ausfuhr nach Rußland und Polen durch deren radikales
Prohibitivsystem minimal, die nach Österreich durch Sondertarife der Ei-
senbahn zugunsten der eigenen Bergwerke praktisch verhindert. Immerhin
nahm Ratibor seit den 50er Jahren dank der Erschließung durch die Eisen-
bahn mit dem Maschinenbau an der Spitze einen so lebhaften Aufschwung,
daß es 1880 bei 18.500 Einwohnern nicht weniger als 1113 Gewerbebetriebe
zählte, hatte das erst 1865 zur Stadt erhobene Kattowitz (1845 noch ein
„Flecken") 1880 6 Eisen-, 11 Zinkhütten und 14 Steinkohlengruben, wo-
durch die Einwohnerschaft 1865 - 1 9 0 5 von 4.800 auf 36.000 stieg. Unter
den Industrien stand in Schlesien noch immer die Zinkerzeugung im Vor-
dergrund. Sie erlebte eine großartige Weltkonjunktur. Relativ bescheiden

26 Kurt DÜWELL, Trier in der Zeit des zweiten Kaiserreiches 1871 - 1 9 1 8 , in: Ders./
Franz Irsigler (Hg.), Trier in der Neuzeit ( = 2 0 0 0 Jahre Trier, Bd. 3), Trier 1985,
S. 437 - 4 6 6 .
27 Konrad FUCHS, Die Bemühungen der preußischen Bergbauverwaltung um den
Absatz der Steinkohlenförderung des Saarreviers 1815 — 1900, in: ZGSaar, Bd. 13
(1963), S. 8 3 - 1 1 7 , hier S. 105; Erich WEIGERT, Die Großeisenindustrie des Saar-
gebiets, in: Schmjb, Bd. 4 6 (1922), S. 423 - 4 6 7 ; Ernst KLEIN, Der Saarbergbau
vor hundert Jahren, in: SbH, Bd. 43 (1976), S. 5 - 1 7 ; Hans POHL, Kohlen und
Koks aus Belgien, dem Saarland und Rheinland-Westfalen für Luxemburgs
Schwerindustrie. Ein Beitrag zur Energiegeschichte (ca. 1 8 6 0 - 1 9 1 0 ) , in:
Z G U n t G , 24. Jg. (1979), H. 3, S. 1 3 6 - 1 4 9 .
28 K. FUCHS, Vom Dirigismus zum Liberalismus... (1970) [61]; Ders., Aus Wirtschaft
und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte Schlesiens vom 18. bis 20. Jahrhundert
( = VFstOme, Bd. 50), Dortmund 1990, S. 58 ff., 100 ff.
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 541

blieben Bleibergbau und -Verarbeitung. Neben diesen Bereichen bildete die


Eisenindustrie, mehr und mehr in der Nähe der Kohle angesiedelt, Schlesiens
wichtigsten Industriezweig. Allein im Kreise Beuthen gab es um
die Jahrhundertmitte 55 Hochöfen, davon 48 Kokshochöfen, die insbeson-
dere für den Bedarf an Eisenbahnschienen arbeiteten. Aber dann machte
der Westen den großen Sprung: In den Oberbergämtern Bonn und Dort-
mund stieg die Roheisenproduktion 1 8 5 4 - 1 8 6 4 von 114.000 Tonnen auf
290.000 beziehungsweise von 51.000 Tonnen auf 250.000 Tonnen, dagegen
im Oberbergamtsbezirk Breslau nur von 86.000 Tonnen auf 150.000 Tonnen
— und davon wurde noch immer ein Viertel mit Holzkohle erblasen,
dagegen im Westen nur 12 beziehungsweise 2 Prozent. Dabei kam es
insbesondere in Oberschlesien zur Formierung einer „modernen Arbeiter-
schaft" unter dem Einfluß der Massenproduktion als „Schlüssel für den
Arbeitsmarkt", nachdem bis 1850 Heimarbeit und Handwerk das Überge-
wicht gehabt hatten. 2 9
Bis etwa 1870 stammten die meisten im oberschlesischen Revier tätigen
Führungekräfte aus Schlesien selber, seit den 60er Jahren aber ein schnell
zunehmender Prozentsatz aus Mitteldeutschland 30 und dem rheinisch-west-
fälischen Raum, der also nun über Personen und Erfindungen zurückreichte,
was er einst aus Schlesien/Berlin erhalten hatte. Wahrscheinlich gab es in
Schlesien mehr leitende Männer, die aus dem Staatsdienst kamen, als in
Rheinland und Westfalen — das Saargebiet war ohnehin hauptsächlich ein
Raum der Staatsbeamten. Gelegentlich stiegen angestellte Direktoren zu
voller unternehmerischer Selbständigkeit und nationaler Verbandspromi-
nenz auf. Bei Henckel-Donnersmarck, Thiele-Winckler und Ballestrem lei-
teten sie die größten und erfolgreichsten Konzerne — doch erreichten diese
um 1870 nur die unterste Stufe der Großkonzerne im rheinisch-westfälischen
Raum, blieb ihre Reichweite mit Schlesien, Berlin und den Ostprovinzen
im allgemeinen geringer als die ihrer Kollegen im Westen, die die ganze
westliche Monarchie bis Berlin und außerdem Süddeutschland und West-
europa in ihre Planungen und Exporte einbeziehen konnten.
Nächst der Schwerindustrie spielte das Textilgewerbe für Schlesien nach
wie vor eine große Rolle. Wenn dieser an sich große Komplex aus Wolle,
Leinen und Baumwolle keine Führungspersönlichkeiten vom Range der
Bergbau- und Eisenindustriellen aufzuweisen hatte, dann lag das an seiner
weiten Zersplitterung in Klein- und Kleinstbetriebe, die auch den Einsatz
von Maschinen erschwerte und dazu beitrug, daß die schlesischen Erzeug-
nisse teuerer waren als die rheinischen und englischen.
Die Entwicklung des Bankwesens in Schlesien litt mehr und mehr unter
dem Übergewicht der Berliner Banken, die seit den 60er Jahren durch
Kommanditeinlagen und Filialen in die Provinz einzudringen begannen.

29 L . SCHOFER, D i e F o r m i e r u n g . . . (1983) [112].


30 Konrad FUCHS, Z u m Wirken des mitteldeutschen Wirtschaftsführers Eduard
Meier in Oberschlesien, in: Peter Chmiel u . a . (Hg.), Beiträge zur Geschichte
Schlesiens im 19. und 20. Jahrhundert. Hans-Ludwig Abmeier zum 60. Geburtstag
( = SchrObschl, Bd. 1), Dülmen 1987, S. 3 5 - 4 3 .
542 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung

Da Schlesien am wirtschaftlich-technischen Aufschwung nach 1848 we-


niger teilnahm als Berlin und der Westen der Monarchie, wuchs seit den
60er Jahren die Abwanderung zur Hauptstadt und nach dem Westen sowie
die Auswanderung nach Übersee beträchtlich.
Preußen befand sich nach den Territorial-, Eisenbahn- und Kapitalgewin-
nen durch den Krieg von 1866 in den Jahren bis zum Kriege von 1870 am
Ende der nach der Revolution von 1848 begonnenen ersten Phase des großen
Aufschwungs nicht nur der Industrie und des Bankwesens, der Eisenbahnen
und der Binnenschiffahrt, sondern auch der Landwirtschaft, insbesondere
der Guts- und der großbäuerlichen Betriebe sowie der Domänen.
Die zwanzig bis 1867 in Betrieb getretenen Eisenbahn-Aktiengesellschaf-
ten, deren Aktien an der Berliner Börse notiert und gehandelt wurden,
schütteten 1 8 6 0 - 1 8 6 7 eine Durchschnittsdividende von 7,45 Prozent aus,
die damit mehr als 50 Prozent über einer von Saling 31 wiederholt als
„annehmbar" bezeichneten Verzinsung des Emissionskurses von 9 0 - 1 0 0
Prozent lag. Ein Kapitalist, der seit 1838 bei der Gründung einer jeden der
zwanzig Gesellschaften je eine Stammaktie zu einem Emissionskurs von 95
gekauft und Ultimo 1867 alle Aktien verkauft hätte, hätte 20 χ 95 = 1.900
Taler aufgewendet und 2.491 Taler erhalten, also einen Kapitalgewinn von
31,5 Prozent erzielt und darüber hinaus eine Dividende, die ihm auf den
Kurs Ultimo 1867 umgerechnet die „annehmbare" Rendite von 5,3 Prozent
eingebracht hätte. Das war gewiß ein Beweis für die Blüte dieses erst 30
Jahre alten Wirtschaftszweiges in Preußen. Die an der Berliner Börse ge-
handelten ausländischen Eisenbahnpapiere erbrachten in der gleichen Zeit
jährlich nur 4,9 Prozent.
Siebzehn in Berlin notierte Aktien großer Gesellschaften von Breslau über
Berlin bis Köln bestätigten diesen Eindruck: die von Versicherungen und
Kreditbanken 32 erbrachten 1848 - 1 8 6 7 eine Rendite von annähernd 5,93
Prozent, die von Berg- und Hüttenbetrieben dagegen 1 8 5 4 - 1 8 6 8 nur 3,9
Prozent. Versicherungen, Bahnen und Banken verzinsten also das bei ihnen
angelegte Kapital etwa 50 Prozent besser als Bergwerke und Hütten, die in
der Öffentlichkeit gerne als Spitzenbereiche bezeichnet wurden.
Ostelbische Guts- und großbäuerliche Betriebe rangierten allerdings vor
allen anderen Wirtschaftsbereichen. 33 Meitzen 3 4 ging im Jahre 1871 bei
seinen Untersuchungen über die preußische Landwirtschaft um 1866 von
der Auffassung aus: „Der Boden lohnt die Bewirtschaftung ... überall
hinreichend." In der Tat: Im „alten Staatsgebiet" stieg der jährliche Pachtzins

31 A. SALING, Die norddeutschen Börsen-Papiere. Ausführlicher Commentar zu


allen an der Berliner Börse Cours habenden in- und ausländischen Staats- und
Prämien-Anleihen, Pfand- und Renten-Briefen, Bank-, Industrie- und Eisenbahn-
Effekten, 2. Jg. (1868/69), Berlin 1869, passim.
32 Ebd.
33 T. Frhr. von der GOLTZ, Geschichte der deutschen Landwirtschaft... (1902/03)
[46], Bd. 2, S. 2 5 2 f f . , 336 ff.
34 A. MEITZEN, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse... ( 1 8 6 8 -
1 9 0 8 ) [ 2 2 6 ] , B d . 3 , B e r l i n 1 8 7 1 , S. 4 0 8 ff.
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 543

für den Morgen Agrarland im Landesdurchschnitt 1 8 4 9 - 1 8 6 7 von 1,19


Talern auf 2,11 Taler, also um 3,93 Prozent pro Jahr = annähernd 90
Prozent insgesamt. Seit 1830 hatten die Guts- und Pachtpreise „durch
Rüben- und Lupinenbau und durch den Einfluß der Eisenbahnen ... einen
immer lebhafteren Fortgang" genommen. Seit den 20er Jahren waren die
Preise größerer Güter auf das Drei- bis Vierfache gestiegen, „die Bauerngüter
im Vergleich noch teurer geworden". Die Preise für Roggen, Gerste, Hafer,
Kartoffeln und Weizen stiegen 1831 - 1 8 6 8 um 100 und mehr Prozent. Bei
den wichtigsten landwirtschaftlichen Nebengewerben, Brauerei, Rübenzuk-
kererzeugung und Kartoffelschnapsbrennerei, lagen die Kosten wesentlich
niedriger und die Gewinne erheblich höher als zu Beginn der Periode und
alles in allem weitaus an der Spitze. Die in Preußen, „weit überwiegend"
in den alten Provinzen, im Jahre 1831 15.786 und im Jahre 1865 infolge
dauernder Konzentration nur noch 6.363 betriebenen Schnapsbrennereien
auf dem Lande gehörten fast durchweg Gutsbesitzern, Domänenpächtern
und Gesellschaften im Besitz von Personen aus diesen Kreisen. Sie trugen,
wie auch M a x Eyth feststellte, noch vor den Zuckerfabriken wesentlich zu
einer enormen Wert- und Gewinnsteigerung der Großlandwirtschaft bei.
Bei der Zusammenfassung aller dieser Faktoren — Steigerung des Bo-
denwertes sowie der Preise der Erzeugnisse, daneben auch der Hektarerträge
sowie der Erträge aus der Forstwirtschaft - ergibt sich nicht nur, daß der
Besitzer eines landwirtschaftlichen Betriebes Ende der 60er Jahre wirt-
schaftlich erheblich besser dastand als der von Eisenbahnaktien. Anderes
wirtschaftlich und gesellschaftlich Wichtiges trat hinzu. Der preußische
Staat als Domänenbesitzer, die Domänenpächter, die Gutsbesitzer und die
Großbauern — der „Feudalismus" also — wurden durch die Eisenbahnen,
die ihrer Produktion Märkte beziehungsweise ihre Besitzungen den Märkten
erschlossen, politisch stärker denn je.
Meitzen verglich 1871 die Landwirtschaft mit der Eisenbahn und errech-
nete im alten Staatsgebiet den Kapitalwert der „Liegenschaften" auf 5,2
Milliarden Taler, den der „landwirtschaftlichen Wohn- und Fabrikgebäude"
auf 0,8 Milliarden Taler, den Gesamtwert also auf 6,0 Milliarden, anderer-
seits eine Verschuldung von 2,1 Milliarden = 34,8 Prozent, mithin einen
„wirklichen" Kapitalwert von 3,9 Milliarden Taler. Nach seiner Berechnung
hatten alle preußischen Eisenbahnen zusammen ein durchschnittlich mit
5 Vi Prozent verzinstes Anlagekapital von 520 Millionen Talern. Das Über-
gewicht der „konservativen" Landwirtschaft über die „liberalen" Eisenbahn-
Aktiengesellschaften war also sehr groß. Geriet der Landwirt durch Miß-
ernte, Feuer, Viehsterben oder familiäre Ursachen in Geldschwierigkeiten,
dann wandte er sich an die ausdrücklich für ihn geschaffenen Kreditinstitute
und erhielt praktisch kaum kündbare Kredite zu 3 Vi — 4 Prozent. Stürzten
die Kurse der Aktien eines „Coupon-Schneiders", dann sank mit ihnen
dessen Kreditwürdigkeit, so daß er in Existenzschwierigkeiten geraten
konnte. Der gut und sicher mit vorzüglichen Zukunftsaussichten von seinem
Besitz lebende Gutsherr konnte aus dieser Position seine Söhne nicht nur
Gutsbesitzer und Domänenpächter, sondern auch mit berechtigten Erwar-
tungen in bezug auf eine Karriere Offiziere, Diplomaten, Ministerialbeamte
544 § 9 Preußens Wirtschaft und der Krieg von 1870/71

usw. werden lassen und seine Töchter „standesgemäß" verheiraten. Der


Aktienbesitzer, auch der rechnerisch ebenso wohlhabende, besaß solche
Möglichkeiten nicht.

TABELLE 4
Durchschnittliches jährliches Arbeitseinkommen in Deutschland 1850-1913

Jahr Arbeitseinkommen (in Mark)


in Landwirtschaft, im „Verkehr"
Forst und Fischerei

1850 245 410


1860 302 527
1870 350 681
1880 402 834
1913 682 1.502

Quelle: W. G . HOFFMANN, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft... (1965) [20],


S. 4 9 2 .

Alles in allem: Um 1870 lebte es sich in Preußen als adliger oder bürger-
licher Gutsherr, auch als tüchtiger Bauer eher besser und bestimmt sicherer
denn als umsichtig vorgehender Eisenbahnaktionär, obgleich die Eisenbahn-
aktien im Durchschnitt zu den bestverzinsten Papieren gehörten. Allerdings
beruhte diese finanzielle Spitzenposition der Großlandwirtschaft nicht zu-
letzt darauf, daß diese zu allen Zeiten die niedrigsten Löhne zahlte und der
„Verkehr" sehr hohe.

§ 9 Preußens Wirtschaft und der Krieg von


1870/71

Die Jahre nach dem Sieg von 1866 bildeten eine Zeit hoher privat- und
staatswirtschaftlicher Prosperität in einem erheblich vergrößerten Raum
liberaler Marktwirtschaft. Die dabei entstehende Kapitalfülle führte dazu,
daß die Finanzierung des obendrein relativ kurzen Krieges von 1870/71, der
abgesehen von wenigen Tagen im Saargebiet nur in Frankreich geführt
wurde, keine Schwierigkeiten verursachte. Nach dem Fall von Paris am 28.
Januar 1871 begannen außerdem die französischen Kontributionszahlungen;
wenige Monate später trafen die ersten Raten der Kriegsentschädigung ein. 1
Insgesamt zahlte Frankreich dem Deutschen Reich an Kriegsentschädigung
und Kontributionen nach Abzug des Wertes der Eisenbahnen im Elsaß und

1 Wilhelm TREUE, Die Finanzierung der Kriege 1864 - 1 8 7 1 durch die deutschen
Länder, in: VSWG, Bd. 75 (1988), S. 1 - 14.
§ 10 Preußens Wirtschaft 1871 - 1 8 7 9 545

in Lothringen bis zum Herbst 1873 5 Milliarden Francs = 1,4 Milliarden


Taler. Dieser Betrag war dreimal so groß wie die Summe des gesamten zu
dieser Zeit in Deutschland umlaufenden Bargeldes.
International erfahrene Bankiers wie Ludwig Bamberger, die Oppenheim,
Bleichröder und Mendelssohn wußten, daß dieser Geldzufluß, dem nicht
eine entsprechende sinnvolle Verwendungsmöglichkeit gegenüberstand, zu
einer großen Verwirrung führen mußte. Diese trat 1873 ein, als die letzte
Rate der Kriegsentschädigung eingetroffen war, und verursachte in Mittel-
europa weit mehr Schäden, als die Aufbringung der 5 Milliarden Frankreich
Schwierigkeiten bereitete.
Während die Kriegsentschädigung zum größten Teil unter die Mitglied-
staaten des Deutschen Reiches verteilt, also zu einem erheblichen Teil an
Preußen weitergeleitet wurde, machte dieses keine Territorialgewinne. Es
hatte seine größte Ausdehnung 1866 mit dem Frieden von Prag erreicht.
Nun begann das Reich, sich in Mitteleuropa zu konsolidieren, während
Preußen anfing, in das Reich hineinzuwachsen, dieses auf vielfältige Weise
maßgeblich zu formen und zugleich in ihm aufzugehen.
Der Steinkohlenbergbau im preußischen Saargebiet profitierte erheblich
von der Annexion Lothringens mit seinen großen Minettevorkommen,
wenngleich deren wertvolleren und größeren Teil Frankreich behalten
konnte, weil Bismarck Annexionen nur so weit gestattete, als sie „durch
die Rücksicht auf das militärische Interesse unbedingt geboten" erschienen.
Der Wunsch saarländischer Industrieller, nicht Gebiete mit bereits arbeiten-
den, in französischem Besitz befindlichen Bergwerken, Hütten und Walz-
werken zu annektieren, die ihnen Konkurrenz machen würden, sondern nur
solche mit Erzvorkommen, die sie selber dann erschließen würden, wurde
nicht berücksichtigt. 2

s 10 Preußens Wirtschaft 1 8 7 1 - 1 8 7 9
Am 18. Januar 1932, dem preußischen Krönungs- und deutschen Reichs-
gründungstag also, hat der Historiker Fritz Härtung 1 geschrieben, Bismarck
habe das feste, staatliche Gefüge Preußens „als Grundlage für die Organi-

2 Eberhard KOLB, Ökonomische Interessen und politischer Entscheidungsprozeß.


Zur Aktivität deutscher Wirtschaftskreise und zur Rolle wirtschaftlicher Erwä-
gungen in der Frage von Annexion und Grenzziehung 1870/71, in: VSWG, Bd. 60
(1973), S. 3 4 3 - 3 8 5 ; Eberhard NAUJOKS, Die Elsaß-Lothringer als „preußische
Minderheit" ( 1 8 7 0 - 1 9 1 4 ) , in: Peter Baumgart (Hg.), Expansion und Integration.
Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat ( = NFBPG,
Bd. 5), K ö l n - W i e n 1984, S. 449 - 473.
1 Fritz HÄRTUNG, Preußen und das Deutsche Reich seit 1871. Rede gehalten bei
der Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 18. Ja-
nuar 1932, Berlin 1932; Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte
seit 1789, Bd. 4, Stuttgart 1969, S. 273.
546 § 10 Preußens Wirtschaft 1871 - 1879

sation des neuen Reiches benutzt". Der preußische Staat habe aber „damit,
daß er das Reich schuf, seine selbständige Existenz nicht etwa verloren".
Doch fügte er wenige Sätze später nach Ausführungen über Kaiser und
Kanzler, preußische Minister und Staatssekretäre des Reiches, Bundesstaaten
und Bundesrat hinzu: „So war die Zugehörigkeit zum Reich auch für
Preußen bei allem Zuwachs an Macht und Glanz zugleich eine Beeinträch-
tigung der eigenen Unabhängigkeit."
In der Tat verlor Preußen schon seit 1867 mit wechselnder Geschwindig-
keit allmählich seine Eigenart als souveräne Monarchie. 2 1869 erhob man
im Herrenhaus Einspruch dagegen, daß Preußen sich nun übergeordnete
Gesetze gefallen lassen mußte. Das alles geschah also nicht reibungslos. Im
preußischen Kabinett kam es bereits im Januar 1872 zu einer wirtschafts-
politisch wichtigen Änderung. Otto Graf Königsmarck, seit 1869 Oberprä-
sident der Provinz Posen, wurde Landwirtschaftsminister, aber als solcher
schon Anfang Dezember des gleichen Jahres für einige Monate durch den
regierungserfahrenen liberalen Juristen Heinrich von Achenbach ersetzt, der
seit dem Mai Handelsminister war und bis 1878 blieb. Dann erfolgte der
noch zu erwähnende Wechsel der Wirtschaftspolitik des Reiches, und Bis-
marck veranlaßte nicht nur seinen Vertreter im Reichskanzleramt, Delbrück,
sondern auch den liberalen Achenbach zum Rücktritt, dessen Ministerium
er nun wieder selber übernahm, um die Gleichläufigkeit der Wirtschafts-
politik im Reich und in Preußen zu sichern.
Diese Jahre 1872—1878 bildeten die Schlußphase des preußischen Libe-
ralismus, der also, mit manchen Unterbrechungen, sieben Jahrzehnte lang
die Wirtschaftspolitik bestimmt und Preußen zu einem international bedeu-
tenden Staat des Privatkapitalismus gemacht hatte. Träger dieser Politik
war im letzten Jahrzehnt Rudolf Delbrück, seit 1869 als Präsident des
Bundeskanzleramtes mit dem Rang und fast allen Rechten eines preußischen
Staatsministers, in vielen Bereichen seinen Kollegen überlegen, aber, ohne
Stimmrecht im Kabinett, diesen doch nicht ganz gleichgestellt. 3
Als Bismarck seit 1866, noch energischer seit 1871 daranging, dem Reich
eine festigende Konstruktion von Gesetzen und Behörden zu geben, konnte
dies nur auf Preußens Kosten beziehungsweise durch dessen Expansion zum
Reich geschehen. An der Spitze dieser Maßnahmen standen auf wirtschaft-
lichem Gebiet die Währungsgesetze: der 1866 gelungene Sieg des Talers
über den Gulden wurde dadurch relativiert, daß das Reichsmünzgesetz vom
4. Dezember 1871 die „ M a r k " als Rechnungseinheit einführte. Aus der
preußischen Giro- und Leihbank von 1765, einer in schwerer Zeit gegrün-

2 Eberhard NAUJOKS, Der Wandel des preußischen Staatsgedankens im Zeichen


des Aufstiegs zur wirtschaftlichen Großmacht, in: ZhoG, Bd. 109 (1986), S. 1 0 9 -
126; Hans POHL, Wirtschaft und Gesellschaft 1871 - 1 9 1 8 , in: Kurt G. A. Jeserich/
Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte,
Bd. 3, Stuttgart 1984, S. 1 6 - 7 1 ; Wilhelm TREUE, Heinrich Stephan, in: Berlini-
sche Lebensbilder. Bd. 6: Techniker ( = EvHKzB, Bd. 60), Berlin 1990, S. 1 7 7 -
192.
3 W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte... (1984) [15], S. 598 ff.
§ 10 Preußens Wirtschaft 1871 - 1 8 7 9 547

deten Zentralnotenbank, die 1846 den Namen „Preußische Bank" erhalten


hatte, wurde am 14. März 1875 die Deutsche Reichsbank, indem das Reich
sie zum Preise von 15 Millionen Mark erwarb. In diesem Bereich kam es
— aus Prestige- und Werbungsursachen — zu manchen irreführenden Be-
zeichnungen. So waren sowohl die 1870/71 in Berlin gegründete Deutsche
Bank als auch noch die ein Jahrzehnt später gleichfalls in Berlin gegründete
Nationalbank für Deutschland noch lange Zeit hauptsächlich Banken für
den schnell wachsenden Geldbedarf und -verkehr im Raum der preußischen
Monarchie.
Bereits seit dem 1. Januar 1867 gab es eine Norddeutsche Bundespost
unter der Leitung des Bundeskanzlers; sie wurde nun Deutsche Reichspost
unter dem Staatssekretär H. Stephan und war für das ganze Reichsgebiet,
einschließlich Preußen, zuständig — nur nicht für Bayern und Württemberg,
die ihre jeweilige Staatspost behielten. Die Reichspost wurde neben Heer
und Marine, Bergwerken in Schlesien, an Ruhr und Saar sowie den Ver-
waltungsbehörden mit um 1900 160.000 Bediensteten, „Stephansboten",
sowie Telegraphen- und Fernsprech-Reichsmonopol ein großer, die Privat-
wirtschaft erheblich beeinflussender staatswirtschaftlicher Komplex.
Bismarck wollte als Reichskanzler noch viel weiter gehen: die Eisenbah-
nen in Preußen, seit 1838 mit wenigen unbedeutenden Ausnahmen Aufbau-
und Betriebsleistungen des Privatkapitalismus, seit den 50er Jahren durch
Aktienbesitzwechsel langsam an den Staat gelangend, wollte der Kanzler
nun dem Reich zuführen. Doch 1879 scheiterte er im Reichstag endgültig
am gemeinsamen Widerstand der Partikularisten und Gegner der Staats-
wirtschaft, so daß er sich auf die generelle Verstaatlichung der Bahnen in
Preußen beschränken mußte.
In diesen Zusammenhängen erhebt sich die Frage, mit welcher Geschwin-
digkeit und welchen Ergebnissen Preußen die wirtschaftliche Integration
seiner bis 1866 neu gewonnenen Gebiete, insbesondere Schlesiens, der
Rheinlande und Westfalens, sächsischer Gebiete, Schleswig-Holsteins, Han-
novers und Frankfurts erreicht hat. 4 Am schwierigsten und langsamsten
gelang die Eingliederung Schlesiens. Nach einer vorteilhaften Etappe bis
1756 verlief der Integrationsprozeß durch Krieg und Nachkriegskrisis sowie
durch schwere Fehler der Provinzbeamtenschaft eher rückläufig. Erst als
Heinitz 1779/80 wirklich Einfluß auszuüben begann und Schlesiens Wirt-
schaft auf Berlins Entwicklung eingestellt wurde, setzte die wirtschaftliche
Integration nachhaltig ein. Die Integration der Rheinlande, die anfangs und
erneut 1848 auf großen Widerstand stieß, war 1865/66 angesichts eines

4 Wilhelm TREUE, Schlesiens Eingliederung in das preußische Wirtschaftssystem,


in: Peter Baumgart (Hg.), Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich
und Preußen. Ergebnisse eines Symposions in Würzburg vom 29. bis 31. Oktober
1987 ( = SchlF, Bd. 4), Sigmaringen 1990, S. 1 1 9 - 1 3 4 , insbes. S. 123 f.; anders
Peter BAUMGART, Die Annexion und Eingliederung Schlesiens in den friderizia-
nischen Staat, in: Ders. (Hg.), Expansion und Integration. Zur Eingliederung
neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat ( = NFBPG, Bd. 5). Köln —
Wien 1984, S. 8 1 - 1 1 8 .
548 § 10 Preußens Wirtschaft 1871 - 1 8 7 9

bedeutenden wirtschaftlichen Aufstiegs im Gesamtstaat und innerhalb West-


europas unter Behauptung einer starken eigenständigen provinziellen Kom-
ponente „so gut wie vollendet". 5 In Westfalen geschah, gefördert durch
eine erhebliche, den allgemeinen Lebensstandard hebende Industrialisierung,
Ähnliches. 6 In den sächsischen Gebietsteilen verlief die Entwicklung langsam
und sehr unterschiedlich - am einfachsten in den Lausitzen - , zumal die
preußische Regierung ungeschickt energisch auf die schnelle Beseitigung
alter Formen und Zusammenhänge auch in der Wirtschaft drängte und
ausschließlich die preußische Staatsräson herrschen ließ. 7 Die Eingliederung
von Schleswig-Holstein war keineswegs wirtschaftlich günstig beendet, als
durch die Reichsgründung 1871 eine neue Situation eintrat: Dem Deutschen
Reich gehörten die Einwohner uneingeschränkt gerne an, und die Entste-
hung der Marine sowie der Eisenbahnbau brachten wirtschaftliche Anre-
gungen. 8 In Hannover erwies sich die Durchführung einer liberalen Ver-
waltungsreform sowie der wirtschaftliche Aufschwung der Region als sehr
förderlich für die Eingliederung, die um 1885 in der großen deutschen
Konjunkturwelle abgeschlossen war. 9 Als Bismarck 1871 den Frieden von
Frankfurt schloß, wurde dieser „zugleich auch ein Friede für Frankfurt und
mit Frankfurt" (Oberbürgermeister Mumm am 8. Mai 1871), obwohl dieses
als Finanzplatz immer mehr hinter Berlin (und selbst hinter Köln) zurück-
blieb. 1 0
Wo die wirtschaftliche Eingliederung sich über mehrere Jahrzehnte hin-
zog, geschah dies hauptsächlich durch äußerliche Schwierigkeiten (Kriege,
Revolution) sowie durch die Ungeschicklichkeit der absolutistisch auftre-
tenden Ministerialbürokratie.
Die von Bismarck angestrebte Schaffung erst eines Reichs-, dann auch
eines preußischen Volkswirtschaftsrates verhinderten die Parlamente, die
eine Beeinträchtigung ihrer Rechte und ihres Ansehens befürchteten.
Wie wenig nach 1871 noch von einer Wirtschaft in Preußen oder gar von
einer preußischen Wirtschaft die Rede sein kann, geht aus der Entwicklung
der Etats deutlich hervor. Wesentliche Einnahmen und Ausgaben gingen an
das Reich über, und die direkten Steuern zum Beispiel erhielten für Preußen
größere Bedeutung als zuvor, da die indirekten zum großen Teil an das
Reich abzuliefern waren. 1865 erbrachten die indirekten Steuern 48, die
direkten 32 Millionen Taler, im Jahre 1880 94 bzw. 162 Millionen Mark.

5 Rüdiger SCHÜTZ, Z u r Eingliederung der Rheinlande, in: A . A . O . , S. 195 — 226.


6 Alfred HARTLIEB VON WALLTHOR, Die Eingliederung Westfalens in den preußi-
schen Staat, in: A . a . O . , S. 227 - 2 5 4 .
7 Richard DIETRICH, Die Eingliederung der ehemals sächsischen Gebiete in den
preußischen Staat nach 1815, in: A . a . O . , S. 2 5 5 - 2 9 7 .
8 Kurt JÜRGENSEN, Die Eingliederung der Herzogtümer Schleswig, Holstein und
Lauenburg in das preußische Königreich, in: A . a . O . , S. 327 — 356.
9 Heide BARMEYER, Liberale Verwaltungsreform als Mittel zur Eingliederung Han-
novers in Preußen 1 8 6 6 - 1 8 8 4 / 8 5 , in: A . a . O . , S. 3 5 7 - 4 0 2 .
10 Paul KLUKE, Die Integration der Freien Stadt Frankfurt in das Königreich Preu-
ßen, in: A. a . O . , S. 4 2 1 - 4 4 1 .
s 10 Preußens Wirtschaft 1871 - 1 8 7 9 549

Bis 1900 stieg hauptsächlich durch die Verstaatlichung der Eisenbahnen


unter hoher Verschuldung der preußische Staatsetat auf 2,5 Milliarden, bis
1914 auf 4,8 Milliarden (davon 2,6 Milliarden Einnahmen, 2,3 Milliarden
Ausgaben der Eisenbahnen). Insgesamt wuchsen die Einnahmen des preu-
ßischen Staates stärker als seine Ausgaben, so daß er unter anderem die
Beamtengehälter und die Aufwendungen für Bildung und Kultur erheblich
vermehren konnte. 1 1
Der Ausbau des Wirtschaftsrechts, in Preußen in den 50er und 60er
Jahren, zum Beispiel beim Berg- und Aktienrecht begonnen, wurde nun im
Reich fortgesetzt durch das Markenschutzgesetz und das Patentgesetz.
Unmittelbar nach der Reichsgründung gelang es Delbrück, den durch die
Kriegserklärung von 1870 hinfällig gewordenen Handelsvertrag mit Frank-
reich im Friedensvertrag durch eine „auf ewig" festgelegte, sehr ausgedehnte
gegenseitige Meistbegünstigung zu ersetzen, die praktisch für ganz Mittel-
und Westeuropa galt. Nun ging er daran, für das Reich den totalen Libe-
ralismus herzustellen. Aber unmittelbar vor dem Sieg der Freihändler —
der exportierenden Großgrundbesitzer in Nord- und Nordostdeutschland,
des Großhandels und der liberalen Theoretiker - bildete sich im Reichstag
eine Gruppe von süd- und südwestdeutschen Baumwoll- und sowie von
Schwerindustriellen an Saar, Rhein und Ruhr, die angesichts der Unüber-
sichtlichkeit der wirtschaftlichen Entwicklung unter dem Einfluß der
5 Milliarden Francs nicht auf jeden Zollschutz verzichten wollten: Preußens
Wirtschaftsliberalismus wurde nicht totalisiert, sondern nur erweitert.
Damit aber wurde er, wie sich in der Gründerkrisis herausstellte, von
dem schnell wachsenden deutschen Protektionismus schließlich beiseite
geschoben. Bismarck dachte bereits seit 1874 zeitweise daran, Reichsämter
für Handel und Zollwesen einzurichten, und schuf 1877 wenigstens ein
eigenes Staatssekretariat für Handelsfragen.
Angesichts dieser übermächtigen Entwicklung trat Delbrück am 1. Juni
1876 zurück, nachdem er sich bereits bei der Strukturierung der Reichsbank
nicht hatte durchsetzen können und 1875 dem Kaiser widersprochen hatte,
der unter dem Druck einer starken, ihm sympathischen konservativen Lobby
die Eisenzölle hatte aufrechterhalten wollen. Schließlich ließ Bismarck Del-
brück, der ihm immer unbequemer wurde, fallen. Am 16. April 1876
kapitulierte dieser - nicht Bismarck, sondern dem Kaiser gegenüber „im
Interesse des Reiches". Er schrieb, er sehe immer häufiger nur die „negativen
Seiten" der Entwicklung, nicht ihren „positiven Gehalt". Er wolle den
„ununterbrochenen Fluß" in Richtung auf ein protektionistisches Reich
nicht mitmachen.
Dieser Rücktritt bildete ein sehr eindrucksvolles Symbol der wirtschaft-
lichen Integration Preußens in das Reich. Alsbald erklärte Bismarck das
preußische Handelsministerium, das er selber zehn Jahre lang geleitet hatte,
geradezu für „so sinnwidrig wie ein mecklenburgisches oder ein sächsi-
sches".

11 Wolfgang RÜFNER, Preußen, in: K . G . A. Jeserich/H. Pohl/G.-C.v. Unruh (Hg.),


Deutsche Verwaltungsgeschichte... (1984) [s.o. Anm. 2], S. 6 7 8 - 7 1 4 , hier
S. 708 ff.
550 § 11 Von der Freihandelspolitik zu Protektionismus und Dirigismus

§ 11 Der Wechsel von der Freihandelspolitik


zu Protektionismus und Dirigismus
Seit dem Handelsvertrag von 1862 mit Frankreich beruhte die deutsche
Handelspolitik ganz und gar auf preußischer Aktivität. Die Zollvereins-
staaten setzten diese im Jahre 1818 begonnene Politik nach 1862 konsequent
fort. Durch Handelsverträge mit Belgien, England und Italien schufen sie
1865 in Mitteleuropa ein Handelssystem, das 1867 der Norddeutsche Bund
übernahm und auf Preußens Initiative erweiterte. Er schloß 1868 entspre-
chende Handelsverträge mit Österreich, Spanien und der Schweiz und
beseitigte beziehungsweise ermäßigte im gleichen Jahr eine große Zahl von
Zöllen. Insbesondere die auf Roheisen und Eisenwaren wurden 1868 auf
1 Mark, 1871 auf 50 Pfennig je 100 Kilogramm gesenkt.
Das Reich führte diese Politik Preußens, des größten deutschen Eisenpro-
duzenten und -Verbrauchers, zunächst fort. Als der freikonservative Abge-
ordnete v. Behr-Scholdow, ein an billigen Geräten und Maschinen interes-
sierter Rittergutsbesitzer, am 26. Mai 1873 im Reichstag den Antrag auf
völlige Aufhebung des Eisenzolles stellte, lag ein entsprechender Antrag
dem Bundesrat bereits vor, in dem es in typisch an die Fortschritte seit
Beuths Zeit erinnernder preußischer Formulierung hieß: „Der gewaltige
Aufschwung auf allen Gebieten des Gewerbefleißes erfordert und die finan-
zielle Lage des Reiches gestattet einen weiteren Schritt auf dem Wege der
begonnenen Tarifreform." Die daraufhin beschlossene Novelle zum Ver-
einszolltarif vom 7. Juli 1873 bildete den Höhepunkt der preußisch-deut-
schen Freihandelsbewegung: Sie hob die Zölle auf Roheisen und Rohstahl,
auf Seeschiffe und auf Dampfmaschinen auf, senkte die auf Stabeisen und
Lokomotiven, Maschinen und sonstige Eisenwaren und sah die Beseitigung
auch dieser Zölle für den 1. Januar 1877 vor. Während die deutschen,
insbesondere die preußischen Eisen- und Stahlproduzenten durch die Auf-
hebung der Zölle belastet wurden, bildete diese für die eisenverarbeitende
Industrie und damit unter anderem für den preußischen Großgrundbesitz,
der Maschinen einsetzte, eine Begünstigung.
Gegen diese Politik, die also 1873 ihren Höhepunkt erreichte, entwickelten
bereits seit den 50er Jahren im Anschluß an Friedrich List konservative
Nationalökonomen und Politiker ein System der staatlichen Wirtschafts-
intervention. Ihre Agitation wurde unterstützt seit den 60er und in den 70er
Jahren durch die „Kathedersozialisten", die auf Schwächen der freien
Marktwirtschaft hinwiesen und mit wirtschafts- wie mit sozialpolitischen
Argumenten den Übergang zur „kontrollierenden und regulierenden Wirt-
schaftsintervention" des Staates forderten. 1 Insbesondere Gustav Schmoller,
seit 1864 Professor in Halle (einst einem Zentrum des Smithianismus), seit
1872 an der Reichsuniversität Straßburg, und Ludwig Johann (Lujo) Bren-

1
Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, Stuttgart
1969, S. 983.
§ 1 1 Von der Freihandelspolitik zu Protektionismus und Dirigismus 551

tano, seit 1871 in Berlin, beide 1872 Gründungsmitglieder des Vereins für
Socialpolitik, wurden die eifrigsten bürgerlichen Befürworter des Interven-
tionismus.
Bezeichnend für die Situation war, daß Bismarck sich zwar im Oktober
1876 im preußischen Staatsministerium für die Beibehaltung der Eisenzölle
aussprach, im Reichstag aber eine liberale Mehrheit den Wechsel der Zoll-
politik verhinderte, so daß entsprechend der Novelle von 1873 am 1. Januar
1877 die gesamte Eisen- und Eisenwareneinfuhr von Zöllen befreit wurde.
Bereits zehn Tage später wurde zwar auch bei den Reichstagswahlen die
Mehrheit der Liberalen beseitigt, doch fanden sich bei den anderen Parteien
einstweilen noch so viele Anhänger des Freihandels, daß die Wiedereinfüh-
rung der Eisenzölle und sogar die Durchführung einer Enquête über Pro-
duktions- und Absatzverhältnisse der deutschen Industrie und Landwirt-
schaft verhindert wurde und sowohl die preußische wie die Reichsregierung
versichern mußte, daß an eine Umkehr in der Zollpolitik nicht gedacht,
vielmehr die gegenwärtige liberale Zollpolitik fortgeführt werden solle.
Doch kam es nach der Aufhebung der Eisenzölle durch die internationale
Wirtschaftsdepression schnell zu katastrophalen Folgen. Im Frühjahr 1877
führte die riesige Einfuhr englischen und französischen Eisens zur Stillegung
von Hochöfen und Industriebetrieben und zu entsprechenden Protesten in
der Öffentlichkeit. Am 12. Juli 1877 richtete der im Vorjahr gegründete
Centraiverein deutscher Industrieller eine Petition an den Kaiser, in der er
um die Wiedereinführung der bis 1876 gültigen Zölle sowie um die Durch-
führung jener Enquête als Grundlage für eine Diskussion über die künftige
Handelspolitik bat. Angesichts dieser Entwicklung entschloß Bismarck sich
im Herbst 1877 zu einer neuen Wirtschaftspolitik. Am 11. Dezember 1877
wies er den Nachfolger Delbrücks, den Staatssekretär des Reichskanzleram-
tes Hofmann, an, die Grundlinien einer neuen, dirigistisch-protektionisti-
schen Wirtschaftspolitik des Reiches auszuarbeiten. Doch sollte diese von
Preußen eingeleitet werden, da Bismarck „entscheidend an der vollen Un-
terstützung des Kurswechsels durch das ganze preußische Ministerkollegium
lag". In der Reichstagsdebatte am 22. Februar 1878 entwickelte Bismarck
die Grundsätze dieser neuen Wirtschaftspolitik, einer „Gesamtreform unse-
rer Reichssteuern" nach interventionistischen Grundsätzen.
Nach den Reichstagsneuwahlen teilte Reichskanzler Bismarck am 28.
Oktober 1879 den Regierungen der Bundesstaaten mit, daß er eine Revision
des Zolltarifs beabsichtigte. Am 15. Dezember legte er dem Bundesrat
Leitgedanken für den Schutz der Wirtschaft und für eine Tarifreform zwecks
Verbesserung der Reichseinnahmen vor, so daß er also deutlich preußische
Wirtschafts- und Reichsfinanzpolitik miteinander verband. Nach heftigen
Auseinandersetzungen im Reichstag, die zum Rücktritt der preußischen
Minister für Finanzen und Landwirtschaft führten, nahm der Reichstag am
12. Juli 1879 mit 217 Stimmen gegen die Liberalen und die Sozialdemokraten
den neuen Zolltarif an. Der Zolltarif vom 15. Juli 1879 setzte neue Zölle
und Zollsätze für Eisen, Petroleum, Vieh und Fette sofort, für Getreide und
Holz am 1. Oktober 1879, für die übrigen Waren am 1. Januar 1880 in
Kraft. Sie betrugen wie bis 1870 1 Mark je 100 Kilogramm für Roheisen
552 § 12 Wirtschaftliche Interessenverbände nach 1866/71

und Getreide. Der Getreidezoll wurde 1885 auf 3 Mark, 1887 auf 5 Mark
erhöht.
Damit erhielten die Großlandwirtschaft und die Eisenwirtschaft haupt-
sächlich in Preußen in der Zeit der Depression einen ausreichenden, die
Inlandspreise nur wenig steigernden Schutz. Die Zölle trugen merklich zur
Steigerung der Investitionsbereitschaft und zur Entstehung einer neuen Phase
des feudal-bürgerlichen Wirtschaftswachstums mit einer entsprechenden
Stärkung des Exports und somit auch zur Schaffung neuer Arbeitsplätze
für die schnell wachsende Bevölkerung bei.

§ 12 Von den preußischen zu den deutschen


wirtschaftlichen Interessenverbänden nach
1866/71

Hatte es bisher in der Wirtschaft, besonders in der Landwirtschaft Preußens


nur ein recht lockeres Vereinsleben gegeben, so verstärkte sich dieses seit
1867/71 schnell und nahm gesamtdeutsche Ausmaße an. 1 Und der Staat
erkannte seit 1878 diese freien Wirtschaftsverbände als legitime Vertreter
auch im Rahmen der Politik an: im Februar 1878, also während der Vor-
bereitung des Systemwechsels, nahm an einer Mitgliederversammlung des
„Centraiverbandes deutscher Industrieller" zum ersten Mal offiziell ein
Vertreter der Reichsregierung teil, der Geh. Regierungsrat Tiedemann.
Aus den „Versammlungen deutscher Landwirte" wurde 1868 der straff
geführte „Kongreß norddeutscher Landwirte". Das vorläufige Gewerbege-
setz und die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes führten im Hand-
werk die volle Gewerbefreiheit ein und verwandelten die Innungen in
privatrechtliche Vereine ohne Beitrittszwang. Die seit 1820 geschaffenen
Handelskammern 2 verschiedener Typen erhielten bereits vor der Reichs-

1 Fritz BLAICH, Staat und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und 1945,
Wiesbaden 1979, S. 5 ff.; Jürgen JOHN, Industrieverbände und Politik. Entwick-
lungstendenzen im kapitalistischen Deutschland bis 1933, in: ZfG, 34. Jg. (1986),
S. 976 —991; Michael GRÜBLER, Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das
erste Kabinett Brüning. Vom Ende der großen Koalition 1929/30 bis zum Vor-
abend der Bankenkrise 1931. Eine Quellenstudie ( = BGParl, Bd. 70), Düsseldorf
1982; Hans-Peter ULLMANN, Die Entwicklung der Organisationen der Wirtschaft
vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Wirtschaftsver-
bände, Partner der Politik oder Pressure Groups? Dokumentation einer Veran-
staltung der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte am 8. Mai 1989, Köln
1 9 8 9 , S. 17-32.
2 Hans POHL (Hg.), Zur Politik und Wirksamkeit des Deutschen Industrie- und
Handelstages und der Industrie- und Handelskammern 1861 - 1949 ( = ZUntG,
Beih. 53), Stuttgart 1987.
§ 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71 553

gründung durch ein Gesetz vom 24. Februar 1870 eine einheitliche Ordnung.
Der 1861 gegründete „Deutsche Handelstag", der erst 1868 zum ersten Male
in Preußen (Berlin) tagte, nahm sich von vornherein gesamtdeutscher Fragen
an — zum Beispiel der Verkehrsinteressen, der Vereinheitlichung der Münz-,
Maß- und Gewichtssysteme, der Handelsgesetzgebung, des Konkurs- und
Versicherungsrechts. Das gleiche gilt für den 1858 bis 1885 bestehenden
freihändlerischen „Kongreß deutscher Volkswirte" unter der Führung der
preußischen Politiker Wilhelm A. Lette, John Prince-Smith und Otto Mi-
chaelis. Aus dem 1852 gegründeten „Zollvereinsländischen Eisenhütten-
und Bergwerksverein" in Düsseldorf ging 1874 der „Verein deutscher Eisen-
und Stahlindustrieller" hervor, während der 1858 gegründete „Verein für
die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund" und der
ihm 1861 nachgebildete „Verein für die bergbaulichen Interessen in Ober-
schlesien" als Regionalvertretungen in Preußen fortbestanden. Aus dem
1870 gegründeten „Kohleverein Bielefeld" ging 1871 angesichts des preu-
ßischen Gewichts auf diesem Gebiet nur ein „Verein zur Wahrung der
gemeinschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen" („Langnamve-
rein") hervor, der allerdings häufig politisch höchst aktiv und einflußreich
für die gesamte Montanwirtschaft auftrat.
Nach der Reichsgründung wurden praktisch gar keine preußischen Wirt-
schaftsvereine und -verbände mehr gegründet, sondern nur noch solche für
das gesamte Reichsgebiet, wenngleich Preußen häufig in ihren Leitungen
ein Übergewicht erhielt — so etwa im „Deutschen Landwirtschaftsrat" von
1872 25 von 44 Sitzen und die Leitung des Geschäftsführenden Ausschusses.
Der liberale „Kongreß deutscher Volkswirte" war zunächst nach der
Reichsgründung der einzige überregionale wirtschaftspolitische Verband. Es
entsprach der politischen Entwicklung, daß er Mitte der 70er Jahre fast
jede Bedeutung verlor und am 15. Februar 1876 in Berlin die norddeutsche
Schwer- sowie die mittel- und süddeutsche Baumwollindustrie sich unter
der Initiative des konservativen Politikers W. von Kardorff im „Centraiver-
band deutscher Industrieller zur Beförderung und Wahrung nationaler Ar-
beit" organisierten — einem „Verband der Verbände". Seit 1893 arbeitete
er eng mit dem „Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller", seit 1906
in einer Interessengemeinschaft mit dem „Bund der Industriellen" zusam-
men, der 1895 in einer gewissen Distanzierung gegenüber der Schwerindu-
strie und Textilwirtschaft gegründet worden war.

§ 13 Preußische Staats Wirtschaft nach 1866/71


Gegen das 1772 von Friedrich II. in hochmerkantilistischer Reformzeit und
in den Jahren der Ausländervorherrschaft in der Wirtschaftsführung in
Preußen ausschließlich zur Förderung des Seehandels mit „Spanien und
allen anderen Plätzen" gegründete „Königliche Seehandlungsinstitut", das
nach 1815, vollends seit 1820 unter seinem Präsidenten Rother mehr und
554 § 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71

mehr zur Förderung von Produktion und Handel mit Hilfe eigener Gewer-
bebetriebe übergegangen war, entwickelte sich seit Beginn der 40er Jahre
aus liberalen Kreisen eine schnell wachsende Kampagne: Es greife als
Staatsinstitut mit riesiger Kapitalkraft in den Gewerbebereich ein, bilde eine
bedrückende Konkurrenz und schade der Privatwirtschaft insgesamt. 1 Der
Gesamtumsatz der Seehandlung betrug 1820—1843 2,1 Milliarden, im Jah-
resdurchschnitt 86,5 Millionen Taler. Gegen diese Ausdehnung der Staats-
wirtschaft und des staatswirtschaftlichen Prinzips wandte sich der privat-
kapitalistische Protest so energisch, daß Rother im April 1848 zurücktreten
mußte. Sein Nachfolger wurde sein ehemaliger Mitarbeiter Friedrich Bloch.
Gleich zu Beginn der „Ära Bloch" wurde die Seehandlung am 17. April
1848 dem Finanzministerium untergeordnet; sie verlor damit ihre Selbstän-
digkeit. Bis zu Blochs Rücktritt im März 1854 verkaufte dieser alle Handels-
und einen großen Teil der vielfach unrentablen Gewerbebetriebe der See-
handlung an Private und bekannte sich in seinem Rücktrittsgesuch — wie
der Minister Hansemann, der ihn angestellt hatte - zum Wirtschaftslibe-
ralismus. Mehrere Versuche, zum letzten Male im Dezember 1869, über-
haupt die Auflösung der Seehandlung zu beschließen, scheiterten an der
Landtagsmehrheit.
Zwar hat das Seehandlungs-Schiff „Princess Louise" 1830 - 1 8 3 2 die Welt
umsegelt, 2 aber als die Seehandlung 1849 gänzlich auf die Tätigkeit einer
Staatsbank reduziert wurde, hörte damit auch ihr Reedereibetrieb auf. Die
Schiffe wurden in den 50er Jahren verkauft. Danach ist der preußische Staat
am Überseehandel und vollends an der Kolonialpolitik und -Wirtschaft nicht
mehr beteiligt gewesen.
Die Seehandlung blieb also die einzige staatswirtschaftliche Institution,
die — in der Blütezeit des Privatkapitalismus — sich nie wirklich bedroht
sah, sondern nur in ihrem Geschäftsumfang beschnitten wurde. Die Preu-
ßische Staatsbank ging durch das „Bank-Gesetz" vom 14. März 1875 und
das „Gesetz betr. die Abtretung der preußischen Bank an das Deutsche
Reich" vom 27. März 1875 an dieses über. Ein entsprechender Vertrag
wurde am 17./18. März 1875 geschlossen. Die Deutsche Reichsbank (120
Millionen Mark Grundkapital, davon 50 Prozent umgetauschte Anteile der
Preußischen Bank) nahm am 1. Januar 1876 ihre Tätigkeit auf. Inzwischen
war der Staat in die Eisenbahnen eingedrungen, trieb er mit seinen Domänen
und Bergwerken Wirtschafts- und Sozialpolitik, vergrößerte er gewaltig das
Staatsmonopol der Post, baute er das von Friedrich Wilhelm I. geschaffene
Staatsunternehmen des Heeres (unter seiner Beteiligung an der Rüstungs-
industrie) aus.

I. Die Eisenbahnen
Als im Eisenbahnwesen den Perioden des ausschließlichen Privatbahnbaues
bis 1842, des Privatbahnbaues mit Staatssubvention 1843 - 1 8 4 7 , der Be-
gründung des Staatsbahnsystems 1848 - 1 8 6 2 , des „Zeitalters Strausbergs"

1 W . RADTKE, D i e P r e u ß i s c h e S e e h a n d l u n g . . . ( 1 9 8 1 ) [ 2 9 8 ] , S. 3 0 3 f f .
2 H . BURMESTER, W e l t u m s e g l u n g u n t e r P r e u ß e n s F l a g g e . . . ( 1 9 8 8 ) [ 1 1 7 ] , S. 3 3 .
II. Das Kanalwesen 555

(mit bevorzugten Stamm-Prioritäts-Aktien und der Einführung der „Gene-


ralentreprise") 1863 —1877 (unter den Ministern Itzenplitz und Achenbach)
im Jahre 1878 die Ära des höchst energischen Ressortministers Maybach
mit den großen Verstaatlichungen unter Einführung des Sekundärbahnwe-
sens begann, aber auch Bismarcks Versuch, das gesamte staatliche und
private Eisenbahnwesen in Deutschland in den Besitz des Reiches zu über-
führen und damit die Überlassung des gesamten preußischen Staatsbahn-
wesens gegen eine „angemessene Entschädigung" (zunächst 1876) an Mei-
nungsverschiedenheiten zwischen preußischen Ministern und dann 1878 am
Partikularismus hauptsächlich Bayerns und Sachsens scheiterte, wandte er
sich der Verstaatlichung aller Privatbahnen in Preußen allein zu, ohne das
Endziel der Überführung aller Bahnen in den Besitz des Reiches aufzugeben.
Um einen Erfolg sicherzustellen, teilte er im Sommer 1879 das alte preu-
ßische Handelsministerium in ein „Ministerium für öffentliche Arbeiten"
unter Maybach und ein „Ministerium für Handel und Gewerbe" unter der
Leitung von erprobten preußischen Beamten, auf deren Gefolgschaft in
Fragen der Reichspolitik er sich verlassen konnte. Sicherheitshalber über-
nahm er selber dann noch seit 1880 das Handelsministerium, so daß er nun
gemeinsam mit Maybach alle Ressorts beherrschte, die in Preußen und im
Reich für die Eisenbahnpolitik zuständig waren. So gelang es ihm, 1879/80
mit Hilfe von drei Gesetzen die Verstaatlichung der Bahnen in Preußen
durchzuführen. Sie wurde ein glänzendes Geschäft für den Staat, während
es unter den Benutzern der Bahn kein einheitliches Urteil über das Ergebnis
gab.
Am 1. April 1889 gab es in Preußen 21.610 Kilometer Staatsbahnen, 2.750
Kilometer preußischer Privatbahnen und privater Teilstrecken außerpreu-
ßischer Bahnen, insgesamt 24.360 Kilometer Bahnen, nachdem in der Mitte
der 60er Jahre noch Staats- und Privatkapital etwa je eine Hälfte der
Eisenbahnlinien besessen und betrieben hatten. 3

II. Das Kanalwesen

Zu Bismarcks Kriegszielen von 1864 gehörte die Möglichkeit, den seit dem
18. Jahrhundert viel diskutierten Plan eines Nord-Ostsee-Kanals zu reali-
sieren. Bereits am 23. Dezember 1864 beschloß auf sein Drängen das preu-
ßische Staatsministerium, den Kanal als preußische Staatseinrichtung zu
bauen und zu betreiben; Österreich stimmte in der Gasteiner Konvention
am 14. August 1865 diesem Vorhaben zu. Aber dann verhinderte viele Jahre
lang die politische und wirtschaftliche Entwicklung die Durchführung der
Beschlüsse. Erst 1879 begann Bismarck erneut, das Vorhaben zu betreiben.
Im Juni 1881 erklärte er im preußischen Staatsministerium, er wolle das
preußische Kanalwesen erweitern. Doch leisteten nun sowohl die Minister
wie Heer und Marine wegen der zu erwartenden hohen Kosten Widerstand.

3 A. von MAYER, Geschichte und Geographie... (1890) [121], Bd. 1, S. 98 ff.


556 § 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71

Daher befahl am 19. Oktober 1883 Wilhelm I. den Bau. Da die Militärs
weiterhin Einwände erhoben, einigte man sich 1885/86 dahin, daß das Reich
Bau und Verwaltung des Kanals finanzieren und Preußen einen Zuschuß
von 50 Millionen Mark zu den auf 156 Millionen Mark veranschlagten
Gesamtkosten leisten sollte. Der Bau begann im Sommer 1887. Die Eröff-
nung für den allgemeinen Verkehr fand am 18. Juni 1895 statt — Bismarcks
Verdienst um dieses große Werk wurde von keiner Seite erwähnt. Bereits
im folgenden Jahre befuhren 20.000 Schiffe den Kanal.
Im Gegensatz zu der Begeisterung der deutschen Öffentlichkeit für den
Nord-Ostsee-Kanal verstand diese nicht die nationale Bedeutung eines gro-
ßen Binnenschiffahrts-Kanalnetzes. Wilhelm II. dagegen interessierte sich
für die Technik des Kanalbaues und erkannte die nationalpolitische Bedeu-
tung eines Rhein-Weser-Elbe-Kanals. Nachdem ein Dortmunder Kanalko-
mitee bereits in den Anfängen des großen Eisenbahn-Güterverkehrs 1856
den Plan eines privatwirtschaftlichen Rhein-Weser-Ems-Kanals entwickelt
hatte, 4 beschäftigte sich die preußische Regierung mit dieser Lücke im
Massengutverkehr erst, als Bismarck seine neue wirtschaftspolitische Kon-
zeption des Dirigismus zu entwickeln begann. Nun erklärte er am 12. Januar
1876 dem Handelsminister Achenbach, der Kanalbau sei eine Aufgabe, die
der Staat nicht der Privatwirtschaft überlassen dürfe, sondern selber an-
packen müsse. Alsbald entwickelte der Minister einen Plan zur Verbesserung
und Vermehrung der Wasserstraßen in Preußen, in dem die Rhein-Weser-
Elbe-Verbindung in vier Bauabschnitten von Duisburg bis Magdeburg ent-
halten war. Aber erst 1892 - als also der Bau des Nord-Ostsee-Kanals
bereits weit fortgeschritten war - wurde die Teilstrecke Dortmund - Ems
(Emden) in Angriff genommen, nicht zuletzt um das größte und wichtigste
preußische Industriegebiet direkt mit der Nordsee zu verbinden. Im Jahre
1899 wurde der 280 Kilometer lange Kanal, der von Herne bis Bevergern
das erste Teilstück des Rhein-Weser-Elbe-Kanals bilden sollte, von Wilhelm
II. eröffnet. In diesem Jahre betrug der Umschlag des Hafens Dortmund
62.000 Tonnen, 1910 mehr als 1 Million, 1913 2 Millionen, im Jahre 1925
mehr als 3 Millionen Tonnen.
Im Jahre 1894 begann der große Streit um den Bau dieses Mittelland-
kanals, 5 den der Kaiser bauen und der 1893 gegründete „Bund der Land-
wirte" mit dem Argument verhindern wollte, er schaffe der westdeutschen
Industrie und dem Getreideimport aus den Rheinhäfen einen billigen Weg
nach Berlin und schade damit der preußischen Landwirtschaft. Zwar konnte
das ausländische Getreide ebenso gut von Hamburg auf der Elbe nach
Berlin und Mitteldeutschland und ostdeutsches Getreide auf dem Kanal
nach Westdeutschland gelangen, aber schon sehr früh ging es nicht mehr
um Getreide und Eisen, sondern um die Grundsatzfrage, ob Deutschland
in erster Linie ein Industrie- oder ein Agrarstaat mit entsprechenden poli-
tisch-gesellschaftlichen Prioritäten sein solle.

4 Paul H. MERTES, Die Straße, die alle Ströme vereint, Dortmund 1956.
5 H. HORN, Der Kampf um den Bau... (1964) [407]; Jürgen SUDMEYER, Verkehrs-
entwicklung des Mittellandkanals; in: ZfBinn, Bd. 116 (1989), S. 23 - 26.
II. Das Kanalwesen 557

In dieser Situation legte die preußische Regierung auf Veranlassung (Kö-


nig) Wilhelms II. am 14. März 1899 dem Abgeordnetenhaus die große
Kanalvorlage für die 40 Kilometer Duisburg — Herne und die 233 Kilometer
Bevergern — Magdeburg vor, die in zehn Jahren gebaut werden sollten und
deren Kosten auf 260 Millionen Mark veranschlagt waren. Nach langen
Verhandlungen, in denen der König/Kaiser sich wiederholt exponierte und
seine Autorität aufs Spiel setzte, lehnte das Abgeordnetenhaus die gesamte
Vorlage am 19. August 1899 ab. Anfang 1901 trat der neue Ministerpräsident
mit einer zweiten Kanalvorlage vor das Parlament. Sie verband den alten
Plan mit mehreren kleineren ostelbischen Projekten zugunsten der dortigen
Landwirtschaft. Unter dem Druck des Bundes der Landwirte mußten
Wilhelm II. und die preußische Regierung auch auf dieses Projekt verzichten.
Am 9. April 1904 legte die Regierung einen dritten Plan vor. Er sah die
Strecken Rhein — Herne, Bevergern — Hannover, den Ausbau des Großschif-
fahrtsweges Berlin — Stettin sowie Verbesserungen der Wasserstraßen im
Gebiet von Oder, Warthe, Glatzer Neiße und Weichsel mit einem Aufwand
von 197 Millionen Mark für die verkürzte Mittellandkanalstrecke und von
83 Millionen Mark für die ostelbischen Wasserstraßen vor. Abgeordneten-
und Herrenhaus stimmten zu: Am 1. April 1905 trat das entsprechende
Gesetz in Kraft, 1906 begann man mit dem Bau der Mittellandkanalteile,
am 17. Juli 1914 wurde die Strecke Rhein —Herne, am 15. Februar 1915 die
von der Ems zur Weser, im Herbst 1917 die von Minden nach Hannover
eröffnet. Als 1920 der Bau des Abschnittes Hannover - Magdeburg be-
schlossen wurde, übernahm das Reich die Bauleitung. Dieser letzte Kanal-
abschnitt begann 1938 mit dem Verkehr. Das Hauptergebnis der Ausein-
andersetzungen zwischen 1894 und 1905 mit ihren Folgen bis 1938 war,
daß der Bund der Landwirte den preußischen Großgrundbesitzern auf
Kosten der Allgemeinheit den verkehrsgünstigen Absatz ihres Getreides
gesichert und eine beachtliche Verbesserung des Wasserstraßennetzes östlich
der Elbe erreicht hat. Nebenher ergaben sich durch die Verzögerung und
Beschränkung des Kanalbaues auf die Strecke bis Hannover eine Behinde-
rung des Verkehrs von Rhein und Ruhr zum Raum Berlin/Brandenburg
sowie eine gewisse indirekte Förderung von Schlesiens Bergbau und Indu-
strie, die einer solchen dringend bedurften.
Dagegen unterließ der preußische Staat (wohl mit Rücksicht auf seine
Eisenbahnpolitik) die Kanalisierung der Mosel, die für den Massengutver-
kehr von Erz und Kohle zwischen Lothringen und dem Niederrhein erheb-
liche Bedeutung gehabt hätte, und die der Saar, die für die Versorgung der
Saarhütten mit gutem Ruhr-Koks (statt aus dem Saargebiet) vorteilhaft
gewesen wäre. Das hatte zur Folge, daß der Anteil der südwestlichen
Eisenindustrie (Saar, Lothringen, Luxemburg), deren Roheisenerzeugung
1902 den des Nordwestens (Ruhr, Niederrhein) überstiegen hatte, danach
schnell zurückging und dabei die gesamte Eisen- und Stahlindustrie dieses
Raumes mit sich zog. Der 1902 gegründete „Verband für die Kanalisierung
der Mosel und Saar" erreichte zwar die Einrichtung eines Kanalbauamtes
in Trier, und der Landtag forderte am 5. Februar 1905 die Regierung auf,
die Kanalisierung beider Flüsse so zu planen, daß der Betrieb gleichzeitig
558 § 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71

mit dem auf dem Kanal vom Rhein zur Weser eröffnet werden könne, aber
die Regierung wich dieser Forderung aus, indem sie eine zeitraubende
Untersuchung der Konkurrenzverhältnisse bei der südwestlichen und der
nordwestlichen Eisenindustrie anordnete. Am 30. Januar 1914 lehnte der
preußische Staat eine erneute Forderung des Rheinischen Provinzialland-
tages endgültig ab. 6
Beim Bau dieser Kanäle wurden viele tausend Arbeiter beschäftigt (Dort-
mund-Ems-Kanal 1894: 4.500), was ähnliche sozialpolitische Schwierigkei-
ten verursachte wie einige Jahrzehnte zuvor die Massierung von Menschen
beim Eisenbahnbau. 7

III. Die Domänen

Ursprünglich bildeten die land- und waldwirtschaftlichen Domänen, 8 wie


in anderen Staaten, so auch in Preußen, das einzige wirtschaftliche Eigentum
des Herrschers beziehungsweise des Staates. Mit der Zeit traten Bergwerke,
Salinen und Manufakturen hinzu. Friedrich Wilhelm I. vereinigte 1713 die
Schatull- und Kammergüter zu einem der Krone und Kur inkorporierten
Domänengut, stellte die „Inalienabilität" aller Domänengüter fest und be-
stimmte zugleich von ihren Erträgen einen festen Betrag von 270.000 Talern
für seine Schatulle und von 230.000 für den Hofstaat. Friedrich II. setzte
beide Posten zusammen auf 220.000 Taler herab. Die Vorschrift des All-
gemeinen Landrechts, II, 14, § 16, daß Domänengüter nur gegen Schadlos-
haltung des Staates an Private gelangen durften, bildete den Übergang zum
Grundsatz der Veräußerlichkeit. Ein Hausgesetz von 1808 bestimmte, daß
über die Veräußerung der Domänen nur die Bedürfnisse des Staates und
die Anwendung einer „verständigen" Staatswirtschaft entscheiden sollten.
Die Verordnung vom 17. Januar 1820 über das Staatsschuldenwesen legte
fest, daß aus dem Ertrag aller vorhandenen Domänen, Forsten und säku-
larisierten Güter eine Jahresrente von 2,5 Millionen Talern für das könig-
liche Haus vorweg entnommen werden sollte. Im übrigen wurden die
Domänen, die seit 1808 der Finanzminister, seit 1878 der Landwirtschafts-
minister verwaltete, für die Verzinsung der gesamten verzinslichen Staats-
schuld in Höhe von 180 Millionen Talern verpflichtet.
Meitzen stellte für das Jahr 1865, also vor den Veränderungen durch die
Annexionen von 1866, das Eigentum 1) der Krone, der Mitglieder des

6 Fritz HELLWIG, Alexander Tille, in: Peter Neumann (Hg.), Saarländische Le-
bensbilder, Bd. 4, Saarbrücken 1989, S. 1 5 5 - 1 9 0 , hier S. 177 ff.
7 Wolfgang R . KRABBE, Die Lage der Arbeiter bei staatlichen Auftragsvergaben in
wilhelminischer Zeit. Z u r Sozialgeschichte des Dortmund-Ems-Kanals, in: IWK,
22. Jg. (1986), S. 1 5 7 - 1 6 6 .
8 H . OELRICHS/P. GÜNTHER, Die Domänen-Verwaltung des Preußischen Staates,
Breslau 4 1904, S. 290; Felix ESCHER, Berlin und sein Umland. Z u r Genese der
Berliner Stadtlandschaft bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ( = EvHKzB,
Bd. 47), Berlin 1985, S. 171 ff.
III. Die Domänen 559

königlichen Hauses und der beiden hohenzollernschen Fürstentümer, 2) des


Staates „an ertragsfähigen Liegenschaften", 3) aller Stadt- und Landge-
meinden und 4) das „Grundeigentum der Kirchen und Pfarren, Universitäten
und höheren Lehranstalten, der anderen Schulen und milden Stiftungen im
Staate" zusammen. 9
Dabei ergab sich folgendes Bild: 1 0
1) „Die Krone" usw. besaß im preußischen Staate folgende „Liegenschaf-
ten": insgesamt 564.000 Morgen (davon 540.000 in den fünf östlichen
Provinzen, dagegen nichts in Westfalen und nur 6.000 Morgen im Rhein-
land). Das waren 5,5 Prozent von allen „ertragsfähigen" Liegenschaften in
Preußen überhaupt. Ihr gesamter Reinertrag betrug 326.000 Taler (davon
270.000 in den östlichen Provinzen) = 17,4 Groschen je Morgen (27,6 in
Posen, 12,2 in Preußen). „Dieser äußerst geringe Grundbesitz der Krone"
(so Meitzen 1868) „erklärte sich aus der von den preußischen Regenten
schon sehr früh erfolgten Anerkennung der Güter der Krone als Staatsdo-
mänen" (1820). Zum Ausgleich dafür, daß die Domänen seit 1820 als
Sicherheit für die Staatsschulden galten, erhielt die Krone eine „Krondota-
tionsrente" in Höhe von jährlich 2,5 Millionen Talern. Diese wurde 1859
auf 3 Millionen und 1868 auf 4 Millionen Taler erhöht.
2) Dem Staate gehörten 1865 an „ertragsfähigen Liegenschaften"
1,5 Millionen Morgen an landwirtschaftlich genutzten „Domänen",
8,0 Millionen Morgen an Forsten und 0,5 Millionen Morgen „sonstiges
Eigentum" (Flüsse, Straßen, Häfen usw.) = 9,9 Millionen Morgen =
10 Prozent der Gesamtfläche der „ertragsfähigen Liegenschaften" im Staate.
Ihr Reinertrag betrug 2,2 beziehungweise 3,1 beziehungsweise 0,2, insgesamt
5,5 Millionen Taler jährlich - je Morgen 45,0 beziehungsweise 11,7 bezie-
hungsweise 12,8 Groschen, womit der Domänen-Morgen-Ertrag etwa
2,5mal so hoch war wie der der Krongüter.
3) Die Stadtgemeinden besaßen 1,9 Millionen Morgen, die Landgemein-
den 2,3 Millionen Morgen, zusammen 4,1 Prozent aller Liegenschaften im
Staate mit einem Reinertrag von 1,3 beziehungsweise 1,4 Millionen Taler
= 21,6 beziehungsweise 18,2 Groschen je Morgen.
4) Die Kirchen, Pfarren usw. besaßen 1,6 beziehungsweise 0,1 beziehungs-
weise 0,2 beziehungweise 0,5 = 2,3 Millionen Morgen insgesamt = 2,3
Prozent der ertragsfähigen Liegenschaften im Staate mit einem Reinertrag
von 3,8 Millionen Taler (46 beziehungsweise 60 beziehungsweise 42 bezie-
hungsweise 49 Groschen je Morgen). Die 1866 neu gewonnenen Domänen
in Hannover, Hessen-Nassau, Schleswig wurden mit insgesamt 207.000
Morgen 1867 den alten gleichgestellt.

Im 19. Jahrhundert wurden in Preußen bis 1820 für 20 Millionen Taler,


1821 bis 1866 für 211 Millionen Taler, 1867 bis 1890 für 53 Millionen Mark
Domänenbesitzungen, seit 1851 fast immer im Durchschnitt jährlich für

9 A. MEITZEN, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse... (1868 —


1 9 0 8 ) [ 2 2 6 ] , B d . 1 , B e r l i n 1 8 6 8 , S . 5 2 0 ff.
10 4 Morgen = 1 Hektar.
560 § 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71

1 Million Taler, verkauft. 1899 wurde das Gesetz von 1820 aufgegeben, seit
1900 mit der Veräußerung von Domänen in größerem Umfang begonnen.
Zugleich wurden aber auch Privatgüter angekauft und als Domänen ein-
gerichtet ( 1 9 0 0 - 1 9 0 7 durch Kauf und Tausch 121.000 Hektar im Werte
von 104 Millionen Mark), und zwar in Bezirken, in denen besondere
Staatsrücksichten (Landeskultur, nationales Interesse, Parzellierungen
zwecks Verringerung der Auswanderung, auch Dotationen und Belohnun-
gen für Generäle und Staatsmänner) es erforderten: 1900 —1907 sind vom
Domänenbesitz (ohne Forsten) 25.000 Hektar im Werte von 51 Millionen
Mark veräußert worden (im Durchschnitt jährlich 3.500 Hektar für 7,3
Millionen Mark). In den Jahren 1899 beziehungsweise 1907 umfaßte Preu-
ßens Domänenbesitz 1054 Vorwerke mit 337.000 beziehungweise 1429 Vor-
werke mit 430.000 Hektar, von denen nur sechs Güter mit 1.400 Hektar
vom Staat selber bewirtschaftet wurden. Der Pachtertrag aus den anderen
betrug 15,4 Millionen Mark. Dazu kamen für den Domänenfiskus Einnah-
men aus Mühlen, Fischereien usw., aus Mineralbrunnen und Badeanstalten,
Domänenamortisationsrenten, grundherrlichen und anderen „Hebungen",
so daß die gesamten „etatmäßigen" Einnahmen seit 1907 bei der Domä-
nenverwaltung 30 Millionen Mark betrugen. Ihnen standen „dauernde
Gesamtausgaben" von 7,9 Millionen Mark und „außerordentliche Ausga-
ben" von 4,1 Millionen Mark gegenüber, so daß ein Überschuß von 18
Millionen Mark verblieb (1913: 15,7 Millionen Mark). 1 1
Bei weitem der bedeutendste Domanialbesitz befand sich noch immer in
den fünf östlichen Provinzen: 88,1 Prozent mit 81 Prozent der Gesamtein-
nahmen.
Über die Einnahmen aus den Domänen des Staates gegen Ende des
19. Jahrhunderts liegen widersprüchliche Angaben vor: für 1884/85 82
Millionen Mark = 7,2 Prozent des ganzen Staatseinkommens beziehungs-
weise 187 Millionen = 16,4 Prozent unter Einbeziehung der Erträge aus
den Bergwerken. Auf jeden Fall lagen Preußens Einnahmen aus Bergwerken
usw. seit etwa 1880 höher als die aus landwirtschaftlichen Domänen und
waren insgesamt beträchtlich. Den Hauptgrund für die Aufteilung von
Domänen und für den Verkauf zu günstigen Bedingungen beziehungsweise
für die Verpachtung der Teile bildete die Absicht, Bauernstellen zu schaffen
und das Bauerntum gegenüber dem Adel zu stärken, die Abwanderung von
Arbeitskräften in die Städte zu verlangsamen und die Macht des Großgrund-
besitzes zu verringern, wobei außerdem im allgemeinen der Wert der Nut-
zung etwa verdoppelt wurde.
Im Jahre 1911 Schloß der Abschnitt „Neue Maßregeln" des Beitrags
„Domänen" zum Handwörterbuch der Staatswissenschaften (Band 3,
S. 529) mit den Sätzen: Es ließe sich „nicht verkennen, daß die Durchführung
der inneren Kolonisation sowohl allgemein wie besonders auch auf den
Domänen zu guten Erfolgen geführt und segensreich gewirkt hat. Es ist

11 PRAETORIUS, Domänen (in wirtschaftlicher Hinsicht), in: Handwörterbuch der


Staatswissenschaft, Bd. 3, Jena 3 1909, S. 5 2 0 - 5 4 3 .
III. Die Domänen 561

deshalb anzunehmen, daß auch in Zukunft da, wo der Großgrundbesitz


sehr stark vertreten ist, in geeigneten Fällen die Verwendung von Domänen
zur Schaffung neuen Kleinbesitzes, aber auch, wie bisher schon in verschie-
denen Provinzen, zum Beispiel Pommern, Hessen-Nassau, geschehen, zur
Stärkung schon vorhandener kleiner Stellen erfolgen wird. Daß die preu-
ßische Domänenverwaltung an diesem Vorgehen festhalten wird, ist um so
wahrscheinlicher, als sie es sich auch zur Aufgabe gestellt hat, in Berück-
sichtigung des immer stärker hervortretenden Bedürfnisses nach Arbeits-
ansiedlungen auf dem Lande solche auch mit Hilfe von Domänen zu
begründen. Passende Domänen für diese Zwecke der inneren Kolonisation
zu bestimmen, ist sie aber auch deshalb in der Lage, weil neben der hiermit
verbundenen Veräußerung von Domänenbesitz solcher jetzt unausgesetzt
durch Ankauf von Privatgütern neu geschaffen wird."
Der Staat erzielte also aus seinem Domänenbesitz erhebliche Einnahmen
und trieb mit Aufteilung und Zukauf zielbewußt Gesellschaftspolitik. Zu
den „politischen Erwägungen" für die Beibehaltung von Domänen zählte
der Beitrag (S. 530) auch: Einnahmen aus Domänen statt aus einer „besol-
dungsähnlichen Zivilliste" erhöhten die Würde und stärkten die Unabhän-
gigkeit der Monarchen. Für die Verpachtung der Domänen (auf optimal 18
Jahre; die Erbpacht wurde 1815 gänzlich aufgehoben) spreche die Möglich-
keit, in relativ kurzen Abständen die Pachtforderungen zu steigern. Die
Summe von Betriebskapital und Intelligenz der Pächter sei im allgemeinen
größer als die landwirtschaftliche Bildung der Gutsbesitzer: „in den aller-
meisten Fällen ist der am Gutsertrag zunächst Interessierte", der Pächter,
ein Fachmann, „weil er erst dann prosperiert, wenn er die Erzeugung von
Werten so steigert, daß ihm über die Pacht hinaus ein Reinertrag verbleibt."
Schmoller urteilte abschließend, „die preußischen Domänenpächter haben
stets zu den besten Landwirten gehört, sie können sich nicht in falscher
Weise verschulden, sie strengen sich sehr an, verwenden jeden Gewinn als
Betriebskapital".
Als Theodor Freiherr von der Goltz 1902 das Manuskript zum zweiten
Band seiner „Geschichte der deutschen Landwirtschaft" abschloß, verglich
er eingehend die Fähigkeiten, Leistungen und Erfolge der Gutsbesitzer und
Domänenpächter in Preußen. Er schrieb 123 : „Die Domänenpächter gehören
im Durchschnitt zu den intelligentesten und erfolgreichsten praktischen
Landwirten." Sie verhielten sich bei der Übernahme von Pachtungen ko-
stenbewußter als die Käufer von Gütern. „Fast ausnahmslos werden Pacht-
güter von den Pächtern selbst bewirtschaftet. Diese wissen, daß ihr mate-
rielles Gedeihen lediglich von ihren eigenen Leistungen abhängt, daß sie,
wenn sie vorwärts kommen wollen, während der Pachtzeit alles aufbieten
müssen, um die Reinerträge zu steigern." Sie zeichneten sich „durch Fleiß,
Strebsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Sachkenntnis" gegenüber den Guts-
besitzern aus. Die Gutsbesitzer seien zumeist hoch verschuldet. Die Ver-

I2a T. Frhr. von der GOLTZ, Geschichte der deutschen Landwirtschaft... (1902/03)
[46], Bd. 2, S. 399 ff.
562 § 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71

schuldungsstatistik in 42 beziehungsweise 56 als typisch angesehenen, in


den verschiedensten Teilen der preußischen Monarchie gelegenen Amtsge-
richtsbezirken ergab zwischen 1883 und 1896 eine erheblich zunehmende
hypothekarische Verschuldung der Besitzer namentlich großer Güter. „Von
den großen Gütern waren 43 Prozent hoch... belastet, von den bäuerlichen
Besitzungen dagegen nur 14 Prozent, von den Kleinstellen 18 Prozent."
Viele Gutsbesitzer mußten mehr Zinsen zahlen, „als die ihnen zufließende
Grundrente ausmacht; sie sind dann schlechter gestellt als die Pächter", die
ihren Betrieb nicht verschulden konnten. Viele Großgrundbesitzer waren
von Hause aus nicht Landwirte. „Sie haben in jüngeren Jahren dem Staat
als Offiziere oder Beamte gedient und erst später die Bewirtschaftung ihrer
Güter in die Hand genommen... Sie verstanden zu wenig von der Praxis,
überließen die Wirtschaftsführung hauptsächlich ihren Beamten, welche sie
aus Mangel an Sachkenntnis nicht einmal richtig anzuleiten und genügend
zu beaufsichtigen verstanden", obendrein hoch bezahlen mußten. Andere
arbeiteten hauptsächlich in Parlamenten, Verbänden usw. und vernachläs-
sigten ihren Betrieb oder legten „einen größeren Wert auf ihre Eigenschaft
als Guts besitzet wie als landwirtschaftlicher Unternehmer". Durchweg hat-
ten sie im Vergleich zu den Pächtern (und Bauern) „erheblichere Aufwen-
dungen für sich und ihre Familie, namentlich für die Erziehung ihrer
Kinder".
Nicht wenige Domänenpächterfamilien und -Sippen brachten für lange
Zeit viel Land zusammen. Die aus der Gegend von Rheinsberg stammende
Familie Karbe gehörte zu den bekanntesten bürgerlichen Landgeschlechtern
der Mark Brandenburg. In den 200 Jahren zwischen 1740 und 1940 befanden
sich in ihren Händen bis zu 61 Güter (26 Ritter- oder andere Güter als
Eigentum, 18 Domänen, Schulamts- sowie 17 sonstige Güter als Pachtung
hauptsächlich in den Uckermarck, im Lebuser Land und im Barnim. Das
Ehepaar Joh. Chr. Karbe (1705/70) und Anna Baath (1713/1762) hatte acht
Söhne, die 1 7 7 0 - 1 8 0 0 30.000 Morgen bewirtschafteten und es danach bis
1840 auf 50.000 Morgen brachten, wodurch eine bürgerlich-„bäuerliche"
Latifundienwirtschaft entstand. 12b
Von der um 1900 herrschenden Agrarkrisis wurden die Großbesitzer
stärker getroffen als die anderen, weil ihre Wirtschaftskosten stärker ge-
stiegen, weil hauptsächlich die Preise von Wolle, Zucker und Getreide
gesunken waren, von Erzeugnissen also, die mehr in Großbetrieben als in
bäuerlichen Wirtschaften gewonnen wurden, weil die Einkommenssteuer
hohe Einkommen seit 1891 zwei bis dreimal so hoch belastete wie kleine
(und entsprechend einige Kommunalabgaben), schließlich weil die Sozial-
lasten sich nach der Zahl der beschäftigten Arbeiter richteten.
Was Goltz für die Zeit um 1900 feststellte, galt im wesentlichen auch
noch eine Generation später in der Zeit der „Osthilfe" und der großen
Krisis seit den 20er Jahren.

12b Harald RICHERT, Brandenburgische Landwirtsgeschlechter und ihre genealogi-


schen Verflechtungen, in: ASf, Bd. 32 (1966), S. 504 - 509.
IV. Die bergbaulichen und industriellen Interessen 563

IV. Die bergbaulichen und industriellen Interessen


des preußischen Staates
Seit 1815 übte der preußische Staat nicht allein durch Gruben usw. in
Schlesien, sondern auch durch seinen Bergwerksbesitz im Saargebiet auf die
Entwicklung hauptsächlich des Steinkohlenbergbaus in wirtschaftlicher,
sozialpolitischer und technischer Hinsicht einen erheblichen Einfluß aus. 13
Die Verstaatlichung der Eisenbahnen seit 1880 machte ihn zu einem bedeu-
tenden Kohlentransporteur und -konsumenten mit entsprechendem Einfluß
auf Transporttarife und Preise. Das „Allgemeine Berggesetz für die preu-
ßischen Staaten" vom 24. Juni 1865 stellte den Staat als Unternehmer
grundsätzlich dem privaten Unternehmer gleich. Doch entstanden praktisch
bedeutungsvolle Unterschiede. Der Staat verfügte als Alleininhaber der
Bergwerke weiterhin über die Produktionsmittel und war damit die allein
sozialordnende Instanz. Die Einbindung der Arbeiterschaft in ein Gemenge
von Privilegierung durch patriarchalische Fürsorgemaßnahmen und Diszi-
plinierung mit einem praktisch alle Lebensbereiche regulierenden Ordnungs-
und Strafsystem blieb hier auch nach 1865 zumindest das Ziel der bergbe-
hördlich-ministeriellen Arbeiterpolitik.
Im Jahre 1887 wurden von den 3.631 Gruben in Preußen zwar nur 115
= 3,2 Prozent vom Staat betrieben, aber sein Anteil am Wert aller dieser
Gruben machte 24,8 Prozent, beim Steinkohlenbergbau sogar 30,1 Prozent,
beim Bleierzbergbau 35,9 Prozent aus; den Salzbergbau betrieb zu dieser
Zeit der Staat in drei Gruben allein (100 Prozent). Ein Vergleich der
Arbeiterzahlen zeigt, daß auf 20 staatlichen Steinkohlegruben 26.300 Ar-
beiter beschäftigt wurden (1.300 je Grube), in 401 Privatbetrieben 76.500
(190 je Grube). Im Staatsbetrieb förderte 1 Arbeiter für 11.360 Mark, im
Privatbetrieb für 1.100 Mark Kohle, der Staat erreichte also mit 4,8 Prozent
der Steinkohlengruben und mit 25 Prozent der Bergarbeiter einen Anteil
von 30 Prozent am Wert der Gesamtförderung. Der Staat behauptete mithin
durch diese Tatsachen trotz der Gesetzgebung seit 1850 ein starkes dirigi-
stisches Gewicht. In den folgenden 35 Jahren bis zur Jahrhundertwende
sank die Zahl der Staatsbetriebe von 3,2 auf 1,8 Prozent, der Wert der
Erzeugnisse von 24,8 auf 16,4 Prozent und die Arbeiterzahl von 20 Prozent
auf 13,1 Prozent, weil der Staat kleinere und unwirtschaftliche Werke
verkaufte oder stillegte, hauptsächlich solche, die durch den Krieg von 1866
an Preußen gekommen waren. Beim Braunkohlenbergbau sank der Staats-
anteil von 8,8 Prozent auf 1,8 Prozent, so daß dieser also, abgesehen von
der Förderung für eigene staatliche Salzgruben und Salinen, praktisch ganz
der Privatwirtschaft überlassen war.
Am gesamten Bergbau des Staates stieg der Anteil der Steinkohle 1880 —
1900 dem Werte nach von 80 Prozent auf 90 Prozent, wobei die Gruben in

13 M . SCHULZ-BRIESEN, D e r preußische Staatsbergbau... ( 1 9 3 3 / 3 4 ) [65], Bd. 1 (Der


preußische Staatsbergbau von seinen Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhun-
derts), Berlin 1933.
564 § 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71

Oberschlesien einen noch stärker steigenden Anteil hatten — nicht zuletzt


dadurch, daß der Staat sie mit hohen Zuschüssen „sanieren" konnte. Der
Steinkohlenbergbau an der Saar blieb nach Menge, Wert, Arbeiterzahl und
'Höhe der Erträge unter den Staatswerken bei weitem an der Spitze und
konnte zum Beispiel im Jahr der Hochkonjunktur 1873 einen Bargewinn
von 36,6 Millionen Mark erzielen.
Dieser Staatsbergbau in Preußen führte neben der Privatwirtschaft ein
völliges Eigenleben, konnte unrentable Werke ohne Rücksicht auf Verluste
betreiben und kostspielige technische Verbesserungen vornehmen, so daß
die Fördermenge je Arbeiter sich 1867 - 1 9 0 0 verdoppelte. Doch ergab sich
im gleichen Zeitraum bei der Steinkohlenförderung ein Ansteigen des Staats-
anteils an der Zahl der Gruben von 4,8 Prozent auf 6 Prozent, während
der Anteil an der Förderung von 30,1 auf 18,3 Prozent sank. Allerdings
wurden die verbleibenden staatlichen Gruben erweitert: auf 17 Gruben
arbeiteten im Durchschnitt 3.500 Mann (1867: 1.315). Der Wert der För-
derung je Grube betrug im Jahre 1900 durchschnittlich 9,4 Millionen Mark
(1867: 1,8 Millionen Mark).
Als 1900 in Verbindung mit einer industriellen Hochkonjunktur die
Versorgung der Allgemeinheit mit Steinkohle ins Stocken geriet, benutzte
der preußische Staat diese Situation zu einer weiteren Stärkung seiner
wirtschaftlichen Position im allgemeinen und gegenüber dem 1893 gegrün-
deten Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat im besonderen, einem der
stärksten deutschen Produktions- und Absatzkartelle (die 1898 gegründete
Oberschlesische Kohlen-Konvention hatte eine geringere Bedeutung). 1902
erlaubte das Abgeordentenhaus dem preußischen Handelsminister von Möl-
ler, Kohlefelder und Anteile an Bergwerksgesellschaften im Bezirk des
Oberbergamts Dortmund bis zur Höhe von 58 Millionen Mark für den
Staat zu erwerben. Alsbald kaufte Preußen zwei Doppelschachtanlagen der
Gesellschaft „Vereinigte Gladbeck" sowie 100 einzelne Kohlefelder. Diese
Komplexe faßte er in der „Bergwerksgesellschaft Recklinghausen" zusam-
men, die nicht dem Ruhrkohlensyndikat beitrat, also eine eigene Produk-
tions- und Preispolitik insbesondere zur Versorgung seiner Eisenbahnen
treiben konnte.
Ein 1904/06 von Möller unternommener Versuch, auch die benachbarte
Bergwerksgesellschaft „Hibernia" für den Staat zu erwerben, scheiterte nach
heftigen Auseinandersetzungen mit den Großaktionären unter der Führung
vom Emil Kirdorf. Am Ende war der Staat mit einer Beteiligung von
27,5 Millionen Mark am Gesamtkapital in Höhe von 70 Millionen Mark
ein Minderheitsaktionär ohne Einfluß auf die Gesellschaft.
Als im Jahre 1915 der Syndikatsvertrag der Erneuerung bedurfte, erlaubt
der Staat diese im Tausch gegen die Hibernia-Aktien-Mehrheit. Zusammen
mit „Recklinghausen" verfügte er nun über 10 Prozent der Förderung im
Ruhrgebiet. Beide Gesellschaften traten dem Syndikat bei und übten in
diesem einen starken Einfluß aus. Durch seinen Besitz in Oberschlesien, an
Saar und Ruhr war der preußische Staat für einige Jahre der weitaus größte
Unternehmer in der deutschen Steinkohlewirtschaft.
V. Die Staatsbeamtenschaft als Wirtschaftsfaktor 565

Schließlich besaß der preußische Staat das Steinsalzbergwerk Staßfurt


sowie die Kaliwerke Bleicherode und, seit der Jahrhundertwende, Hercynia,
die dem 1870 gegründeten Kalisyndikat angehörten. Als am 1. Juli 1909 die
Erneuerung des Syndikats zu scheitern und damit das deutsche Welthan-
delsmonopol in Kali zu zerbrechen drohte, verwandelte es ein Reichsgesetz
über den Absatz von Kalisalzen vom 25. Mai 1910 praktisch in ein Zwangs-
syndikat.

V. Die Staatsbeamtenschaft als Wirtschaftsfaktor

Nach der Revolution von 1848/49 und insbesondere nach den Territorial-
gewinnen während der 60er Jahre sowie durch diese wurde der Staat, der
ohnehin durch Domänen, Bergwerke usw., Heeresvergrößerungen, das An-
wachsen des Postbetriebs, schließlich seit den 80er Jahren durch die Ver-
staatlichung der Eisenbahnen in Preußens Wirtschaft eine ständig wachsende
Rolle spielte, — wie in anderen Staaten auch — immer stärker ein Ver-
waltungsstaat mit einer kostenmäßig-finanziell bedeutenden Beamtenschaft.
Die Zahl der Staatsbeamten (also unter Ausschluß der Kommunalbeam-
ten und Mitarbeiter privatwirtschaftlicher Unternehmen, die häufig als [ζ. B.
Bank-]Beamte bezeichnet wurden, wuchs: 1 4

TABELLE 4 A
Anteil der Staatsbeamten an den hauptberuflich Erwerbstätigen
1858-1907

Jahr Zahl Anteil an den hauptberuflich


Erwerbstätigen in Preußen

1858 82000 1,5%


1882 160000 1,9%
1895 313000 2,4%
1907 496000 2,8%

Im Laufe eines halben Jahrhunderts fand also zahlenmäßig eine Versechs-


fachung, im Rahmen der Erwerbstätigkeit fast eine Verdoppelung statt.
Auch der Anteil der Beamtenfamilien an der Gesamtbevölkerung stieg in
dieser Zeit annähernd entsprechend: 1858 3,6% von 17,7 Millionen; 1895

14 Das Folgende beruht hauptsächlich auf Tibor SÜLE, Preußische Bürokratietra-


dition. Zur Entwicklung von Verwaltung und Beamtenschaft in Deutschland
1 8 7 1 - 1 9 1 8 ( = KrStGw, Bd. 81), Göttingen 1988, S. 29 ff.; vgl. aber auch Karl
Heinrich KAUFHOLD, Erwerbstätigkeit und soziale Schichtung im Deutschen Reich
um 1900. Quantitative Aspekte nach den Berufszählungen von 1895 und 1907,
in: Forschungen und Probleme, Karl Erich Born zur Vollendung des
65. Lebensjahres zugeeignet von Kollegen, Freunden und Schülern, hg. von
Hansjoachim Henning u . a . , o. O. 1987, S. 175 — 219.
566 § 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871

6,1% von 31,9 Millionen; 1907 6,6% von 38,4 Millionen Personen. 15 Von
dieser im Jahre 1907 fast genau einer halben Million preußischer Staats-
beamter war mehr als die Hälfte, nämlich 261.456 „Beamte (einschließlich
Unterbeamte) der ... preußisch-hessischen Staatseisenbahnen", von denen
75,8% dem „unteren", besonders niedrig besoldeten Dienst angehörten
(Bahnwärter, Weichensteller, Zugführer). 16
Die Gehälter dieser Beamten stiegen alles in allem um mehr als 100%:
1850 — 1910 das Jahresgehalt eines Regierungsrates von 3600 auf 7100 Mark,
das eines mittleren „Mittleren Beamten" von 1325 auf 3500 Mark und das
eines „Unterbeamten" (Bote usw.) von 720 auf 2030 Mark (bei der Eisenbahn
nur von 585 auf 1930 Mark). Das bedeutete also für 1907/10 rund eine
halbe Million „Staatsdiener" mit - wenn man das Gehalt eines unteren
„Mittleren Beamten" als Durchschnitt aller Beamtengehälter ansetzt
(2950 Mark, was angesichts der vielen sehr niedrigen Gehälter wahrschein-
lich eher etwas zu hoch als zu gering gegriffen ist) annähernd 1,5 Milliarden
Mark an Brutto-Jahresgehältern für etwa 3% aller Erwerbstätigen, bezie-
hungsweise 6,6% der Gesamtbevölkerung.

§ 14 Preußische Wirtschaftslandschaften
nach 1871

In den 70er Jahren fand eine Verwandlung der preußischen Wirtschafts-


landschaften statt. Seit etwa 1880 verlief die Entwicklung im Rheinland
und in Westfalen mit dem Ruhrgebiet als „Revier der großen Dörfer"
(D. Vonde), an der Saar (sowie in Lothringen) weit weniger in preußischen
Zusammenhängen, als in solchen des Reiches (Sozialpolitik!), wenn nicht
gar in einem großen westdeutsch-luxemburgisch-niederländisch-belgischen
Verbund mit Qualitäts- und Exportwettbewerb gegenüber England unter
anderem bei Eisenbahnschienen, Bessemer-, Thomasstahl und Siemens-
Martin-Stahl, wodurch unter anderem der Preis für 1 1 deutsches Roheisen
1870 - 1 8 8 5 von 90 auf 60 M . sank. 1 Mehr oder weniger geschlossene,

15 T. SÜLE, Preußische Bürokratietradition... [so. o. A n m . 14], S. 1 0 9 f f .


16 A . a . O . , S. 3 1 , 111.
1 Oskar SCHWARZER, Die räumliche Ordnung der Wirtschaft in Deutschland um
1910, Köln 1990; Wilfried FELDENKIRCHEN, Z u m Einfluß der Standortfaktoren
auf die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebietes (bis 1914), in: Fritz Blaich
(Hg.), Entwicklungsprobleme einer Region. Das Beispiel Rheinland und West-
falen im 19. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 4 7 - 8 8 ; Hubert KIESEWETTER, Regionale
Industrialisierung in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung. Ein vergleichend-
quantitativer Versuch, in: V S W G , Bd. 7 3 (1986), S. 3 8 - 6 0 ; Ulrich WENGENROTH,
Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt. Die deutsche und die bri-
tische Stahlindustrie 1865 - 1 8 9 5 ( = V D H I L o n , Bd. 17), Göttingen - Z ü r i c h 1986,
I. Berlin/Brandenburg 567

sichtlich preußische Wirtschaftslandschaften bildeten nur noch Berlin/Bran-


denburg, Schlesien und die östlichen Agrarprovinzen, in denen das land-
wirtschaftliche Verbands- und Vereinswesen seit der Gründung der Deut-
schen Landwirtschaftsgesellschaft durch M a x Eyth im Jahre 1882 eine
schnell wachsende standes- und wirtschaftspolitische Rolle spielte.

I. Berlin/Brandenburg

Die Riesengemeinde Berlin 2 wurde nach den Eingemeindungen von 1861


sowie nach den Siegen von 1866 und 1871 schnell, „über N a c h t " meinte
der Magistrat 1871, eine Reichshauptstadt und büßte dabei Teile ihres
Wesens als Landeshauptstadt ein. Das kaiserliche Berlin wurde sichtbarer
als das königliche - vollends nach 1 8 8 8 / 9 0 .
Reichskanzler und Reichstag hatten auch wirtschaftlich ein stärkeres
Gewicht als Ministerpräsident, Landtag und Herrenhaus. Bereits Hobrechts
Bebauungsplan 3 von 1862 galt einer Bevölkerung von 1,5 Millionen mit der
entsprechenden Versorgung und Entsorgung, Produktion und Konsumtion,
Verkehrs- und Geldbewegung. Er beruhte auf dem zentralen Gedanken einer

insbes. S. 136 ff., 176 ff.; Carl Ludwig HOLTFRERICH, Relative Preise, Kapazität
und Produktion in der deutschen Kohlen- und Eisenindustrie 1850 — 1913, in:
Hansjörg Siegenthaler, Ressourcenverknappung als Problem der Wirtschaftsge-
schichte ( = SchrVSP, Bd. 192), Berlin 1990, S. 118; T. PIERENKEMPER, Die west-
fälischen Schwerindustriellen... (1979) [96], insbes. S. 134ff.; Hans-Jürgen TEU-
TEBERG, Die Industrialisierung Westfalens im 19. Jahrhundert. Probleme und
Forschungsstand, in: Ders. (Hg.), Westfalens Wirtschaft... (1988) [196], S. 1 -
22; Clemens WISCHERMANN, Preußischer Staat und westfälische Unternehmer
zwischen Spätmerkantilismus und Liberalismus, Habil.-Schr. Münster 1989 [MS];
Gerhard ADELMANN, Vom Gewerbe zur Industrie im kontinentalen Nordwesteu-
ropa. Gesammelte Aufsätze zur regionalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte
( = ZUntG, Beih. 38), Stuttgart 1986.
2 Michael ERBE, Berlin im Kaiserreich (1871 - 1 9 1 8 ) , in: Wolfgang Ribbe (Hg.),
Geschichte Berlins, Berlin 2 1988, Bd. 2, S. 6 8 9 - 7 9 3 , hier S. 691; Otto SCHWARZ-
SCHILD, Die Großstadt als Standort der Gewerbe. Mit besonderer Berücksichti-
gung von Berlin, in: JbbNSt, Bd. 33 (1907), S. 7 2 1 - 7 8 3 , hier S. 728; Wolfgang
RIBBE, Ergebnisse und Aufgaben der historischen Berlin-Forschung, in: J G M O D ,
Bd. 38 (1989), S. 1 - 8 0 , bes. S. 27 ff.; Wolfram FISCHER, Berlin als Wirtschafts-
zentrum aus der Sicht der Unternehmer, in: Wilhelm Treue (Hg.), Geschichte als
Aufgabe. Festschrift für Otto Büsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988,
S. 483 - 5 0 5 ; F. HECHT, Die Organisation des Bodenkredits... (1891 - 1 9 0 8 ) [132],
2. Abt., Bd. 1 (Die Statistik der deutschen Hypothekenbanken), Leipzig 1903.
3 Wolfgang RIBBE, James Hobrecht, in: Wolfgang Ribbe/Wolfgang Schäche (Hg.),
Baumeister — Architekten — Stadtplaner. Biographien zur baulichen Entwicklung
Berlins, Berlin 1987, S. 219 - 234, hier S. 227 ff.; Karl-Heinrich KAUFHOLD, Die
maschinelle Ausstattung des deutschen Kleingewerbes zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts, in: Nils-Arvid Bringeus u. a. (Hg.), Wandel der Volkskultur. Festschrift
für Günter Wiegelmann zum 60. Geburtstag, München 1988, Bd. 1, S. 835 — 854;
Ders., Erwerbstätigkeit und soziale Schichtung... (1987) [341],
568 S 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871

Wohnblockstadt mit Mietskasernen mit einer sozial sehr gemischten Lei-


stungs-Mieterschaft. Aus der Residenz von Kaiser und König wurde eine
„Agglomeration", als die Bevölkerung, hauptsächlich durch Zuzugsge-
winne, 1 8 7 1 - 1 9 0 0 - 1 9 1 9 von 0,9 Millionen auf 2,7 und 3,8 Millionen
Menschen stieg. Entsprechend dieser Bevölkerungszunahme wuchs der
Dienstleistungssektor über alle anderen Berufsbereiche hinaus: das Beklei-
dungsgewerbe, das Bau- und Möbelgewerbe, Lebensmittelproduktion und
-handel — und zwar zunächst noch vorwiegend in kleinen und mittelgroßen
Betrieben. Erst danach folgten die seit den 30er Jahren entstandenen ei-
gentlichen Industrien wie der Maschinen-, Werkzeugmaschinen- und Eisen-
bahnbau, schließlich das Geld- und Kreditwesen. Schnell wuchs die Zahl
der in Verwaltung und Justiz Beschäftigten.
Seit den 90er Jahren nahm die „Verwissenschaftlichung" der Wirtschaft
hauptsächlich bei der Elektroindustrie, Chemischen Industrie, bei Maschi-
nen- und Schiffbau, auch in der Großlandwirtschaft in Preußen früher und
stärker als in den anderen Ländern des Reiches immer schneller zu. Um-
gekehrt richtete auch die Wirtschaft Wünsche an die Naturwissenschaftler
(Universität, Technische Hochschule, Fachschulen). Beides führte zu enor-
men Kostensteigerungen; von der Wirtschaft konnten diese teils durch
Rationalisierung aufgefangen, teils unter Innovationen und Qualitätsstei-
gerungen an die Kundschaft weitergegeben werden. Bei den Wissenschaften
versuchte das preußische Kultusministerium, Forschung und Lehre in neu
entstehenden Disziplinen auf finanzkräftige Kommunen zu übertragen, die
die damit verbundenen Kosten übernahmen, aber auch an Prestige gewannen
und interessierte Industriebetriebe an sich zogen. So kam es in Verbindung
mit wirtschaftlichen Interessen zu zahlreichen Gründungen von regional
oder lokal begrenzten wissenschaftsfördernden Gesellschaften, Akademien,
Stiftungen und Vereinen, wodurch die preußischen Kultus- und Wissen-
schaftsministerien allerdings an Einfluß auf die Entwicklung in einzelnen
Wissenschafts- und Wirtschaftsbereichen einbüßten. In dieser Situation kam
es nach Vorarbeiten des Geheimrats Althoff mit Unterstützung durch das
kaiserliche Interesse 1911 unter dem Einfluß des Ministerialdirektors im
preußischen Kultusministerium Friedrich Schmidt-Ott zur zentralen Anre-
gung für private Spenden und Stiftungen hauptsächlich für naturwissen-
schaftliche Zwecke durch die Gründung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
zur Förderung der Wissenschaften" (KWG), die in Berlin und hauptsächlich
für Preußen unter Absprache mit den politisch argumentierenden Ministe-
rien zur Konzentration und Lenkung der Mittel auf spezielle Wissenschaft -
lich-wirtschaftlich-politisch wichtig erscheinende Projekte in Chemie, Phy-
sik, Kohlenforschung usw. diente. Dadurch sollte neben der Ergänzung der
staatlichen durch private Mittel deren Zersplitterung und die Kräfte rau-
bende Konkurrenz vieler einzelner Fördergesellschaften untereinander ver-
ringert werden.
Die KWG erhielt eine Art Ergänzung, als der Berliner Bankier und
Industrielle Leopold Koppel, seit längerer Zeit ein am wirtschaftlichen
Ergebnis von Stiftungen für die Naturwissenschaften interessierter Mäzen,
auf Anregung von Fritz Haber und Schmidt-Ott 1916 die Mittel für die
I. Berlin/Brandenburg 569

Gründung einer „Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissen-


schaft" zur Verfügung stellte, die allerdings nur bis 1924 bestand. 4
Die Zukunftsindustrien der 70er und 80er Jahre waren die Chemische
sowie die Elektroindustrie, 5 in der 1895 in Berlin etwa ein Drittel der in
Deutschland in dieser Industrie Beschäftigten arbeitete. Ausgehend von den
Pionierleistungen von Werner Siemens und Emil Rathenau mit den von
ihnen gegründeten Gesellschaften, ist die Berliner Elektroindustrie mit dem
Bau von Maschinen und Transformatoren, Lampen und Kabeln, Zählern,
Akkumulatoren usw. sowie den Anlagen des Telegraphen- und Fernsprech-
wesens zwischen der Entdeckung des dynamoelektrischen Prinzips durch
Siemens im Jahre 1866 über die Weimarer Republik und die große Wirt-
schaftskrisis hinweg bis zum II. Weltkrieg zur „größten Zentrale der elektro-
technischen Produktion der Welt aufgestiegen". Beide Bereiche bedurften
für ihre schnelle Expansion der engen Zusammenarbeit mit der Deutschen
Bank einerseits, der Berliner Handelsgesellschaft andererseits, schließlich
auch der Dresdner Bank, die 1884 ihre Zentrale nach Berlin verlegte. Durch
die Tätigkeit dieser Aktien- und einiger großer Privatbanken stieg Berlin
auf diesem Gebiet über das Niveau einer Landes-, ja selbst einer Reichs-
hauptstadt hinaus zu einem internationalen Finanzzentrum auf. Dagegen
hat die Automobilindustrie in Berlin (und in Preußen) niemals überdurch-
schnittliche Bedeutung erlangt; die seit den 20er Jahren in Berlin jährlich
veranstalteten großen Automobil-Ausstellungen waren von vornherein in-
ternational konzipiert.
Dem schnell wachsenden Reichtum der adelig-bürgerlichen Oberschicht
entsprechend gründete Hermann Gerson (eigentlich Gerson Levin) 1836 das
erste „Modehaus" in Deutschland, das 1848 schon fünf Handwerksmeister,
drei Direktricen, etwa 150 Näherinnen in der eigenen Werkstatt, 150 Zwi-

4 Manfred RASCH, Thesen zur Preußischen Wissenschaftspolitik gegen Ende des


Wilhelminischen Zeitalters, in: BerWG, Bd. 12 (1989), S. 240 - 252; Ders., Ge-
schichte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Kohlenforschung 1913 - 1 9 4 3 , Wein-
heim 1989. In beiden Arbeiten wird erstmals wissenschaftlich aus Archiven die
immer enger werdende Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft dargestellt.
Vgl. weiter Rüdiger vom BRUCH U. a. (Hg.), Formen nichtstaatlicher Wissen-
schaftsförderung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989. Auf die Verwissen-
schaftlichung der Wirtschaft im Zusammenhang mit ihrer Entwicklung seit dem
Regierungsantritt Wilhelms II. wies nachdrücklich schon 1913 Karl Helfferich in
seinem Beitrag zu dem unten (§ 15, S. 579) behandelten Jubiläumswerk für
Wilhelm II. hin.
5 Frauke SCHÖNERT-RÖHLK, Die räumliche Verteilung der chemischen Industrien
in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Hans Pohl (Hg.), Gewerbe- und Indu-
strielandschaften... (1986) [76], S. 417 - 455, hier S. 429; Peter CZADA, Die Ber-
liner Elektroindustrie in der Weimarer Zeit. Eine regionalstatistisch-wirtschafts-
historische Untersuchung ( = EvHKzB, Bd. 4), Berlin 1969; Manfred POHL (Hg.),
Emil Rathenau und die AEG, Mainz 1988; Wilfried FELDENKIRCHEN, Unterneh-
mensfinanzierung in der deutschen Elektroindustrie der Zwischenkriegszeit, in:
Dietmar Petzina (Hg.), Zur Geschichte der Unternehmensfinanzierung
( = SchVSP, Bd. 196), Berlin 1990, S. 3 5 - 6 8 .
570 § 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871

schenmeister mit je 10 Gehilfen außer dem Hause sowie rund 100 weitere
Personen beschäftigte, in den 50er Jahren das größte seiner Art in der Welt
wurde, 1861 den Krönungsmantel Wilhelms I. anfertigte und seitdem alle
preußischen Königinnen belieferte. Angesichts des starken Wachstums der
Mittelschichten und des preußischen Heeres gründeten 1884 der Deutsche
Offiziersverein das „Armeemarinehaus" und gegen Ende des Jahrhunderts
auch Wertheim und Tietz Warenhäuser (bald mit Filialen in Süd- und
Südwestdeutschland), was 1903 zur Bildung eines Verbandes deutscher
Waren- und Kaufhäuser führte. Anschließend setzte die „Zeit der großen
Expansion" ein. 6
Der Bevölkerungszunahme folgte die Urbanisierung, die Monetarisierung
und eine Art von Industrialisierung der Ernährungsweise durch die Ver-
wendung von immer mehr auf viele Arten, auch unter Benutzung von
Chemikalien (Wasserglas, Backpulver usw.) konservierten Lebensmitteln. 7
Nicht weniger schnell als die Gesamtbevölkerung Berlins wuchsen das
Proletariat, die Unterschichten, die Armut. In diesen Zusammenhängen
wurde 1890 der erste Beamtenwirtschaftsverein, bald danach der „Berliner
Spar- und Bauverein" von 1892 für Arbeiterwohnungen und 1902 der
patriotische „Vaterländische Bauverein" zum Bau preiswerter hygienischer
Kleinwohnungen gegründet. 1896 richtete der seit 1886 bestehende Berliner
Asylverein für Obdachlose an die Stadt den Bauantrag für ein entsprechen-
des Gebäude für 700 Männer; 1905/07 folgte ein Frauen-Asyl mit 400 Betten
(1908 registrierten diese inzwischen erweiterten Häuser etwa 255.000 männ-
liche und 55.000 weibliche Besucher). 8
Für das Wachstum des hauptsächlich großstädtischen Hypothekenwesens
mit Vorrang von Berlin (auch des Immobiliarvermögens und des in Hypo-
theken angelegten Vermögens) während der zweiten Hälfte des 19. Jahr-

6 Aus den Warenhäusern beider Welten. Die Organisation der größten Berliner,
Pariser und amerikanischen Warenhäuser, Berlin 3 1 9 0 8 ; Werner SOMBART, Wirt-
schaft und Mode. Ein Beitrag zur Theorie der modernen Bedarfsgestaltung
( = GfNSl, H . 12), Berlin 1902; Siegried GERLACH, Das Warenhaus in Deutsch-
land. Seine Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg, Stuttgart 1988; Uwe WESTPHAL,
Berliner Konfektion und Mode. Die Zerstörung einer Tradition 1836 — 1939,
Berlin 1986.
7 Wilhelm TREUE, Das Aufkommen der Ernährungsindustrie, in: Edith Heischkel-
Artelt (Hg.), Ernährung und Ernährungslehre im 19. Jahrhundert. Vorträge eines
Symposiums am 5. und 6. Januar 1973 in Frankfurt/M. ( = StMedG, Bd. 6)
Göttingen 1976, S. 68 - 73; Hans-Jürgen TEUTEBERG, Die Nahrung der sozialen
Unterschichten im späten 19. Jahrhundert, in: a . a . O . , S. 205 — 287.
8 Ders., Die Veränderung der hausfraulichen Küchenarbeit unter dem Einfluß der
Industrialisierung, in: Dietmar Petzina/Jürgen Reulecke (Hg.), Bevölkerung,
Wirtschaft, Gesellschaft seit der Industrialisierung. Festschrift für Wolfgang Köll-
mann ( = U W S T G , Bd. 8), Dortmund 1990, S. 3 5 9 - 3 8 8 ; Dietlinde PETERS, Der
„Berliner Asylverein für Obdachlose" („Wiesenburg"), Wiesenstraße 55 — 59, in:
Helmut Engel/Stefi Jersch-Wenzel/Wilhelm Treue (Hg.), Geschichtslandschaft
Berlin, Bd. 3 (Wedding), Berlin 1990, S. 1 1 7 - 1 3 0 ; M . ERBE, Berlin im Kaiser-
reich... ( 2 1988) [s.o. Anm. 1], S. 731.
II. Schlesien 571

hunderte charakteristisch ist die Entwicklung der Hypothekenbanken (vgl.


unten Tabelle 5).
Je dichter das eigentliche Weichbild der Stadt besiedelt, je teurer dort
Grundstücke, Häuser, Wohnungen und Arbeitsplätze wurden, um so mehr
verließ die Großwirtschaft dieses Gebiet und verlagerte ihre Betriebe, ge-
legentlich in mehrfach wiederholten Umzügen, in die Vororte (wie Siemens
unter gleichzeitiger Anlage von großen Arbeitersiedlungen nach „Siemens-
Stadt"), in die Provinz Brandenburg zu Wasserstraßen und Bahnanschlüssen,
Borsig sogar zu Halbfabrikaten und Kohle in Schlesien. Andererseits wurden
immer weitere Teile des „Umlandes" in Berlins Wirtschaft einbezogen. So
führte der schnell wachsende Bedarf an Brennmaterial dazu, daß neben der
stark steigenden Menge von schlesischer Steinkohle auch die Niederlausitzer
Braunkohlen-Bergwerke, insbesondere die 1888 gegründete Ilse-Bergbau
AG, ihre Förderung immer stärker auf Berlins Brikettbedarf einstellten,
wobei die „Ilse"-Förderung 1888 - 1 9 1 8 von 230.000 auf 5,5 Mill, t Rohkohle
= 42.000 beziehungsweise 1,8 Mill, t Briketts stieg, von denen 1918
58 Prozent in Berlin, 25 Prozent auf anderen preußischen Märkten und
12 Prozent im Königreich Sachsen abgesetzt wurden. Der I. Weltkrieg
machte Berlin mehr denn je aus einer preußischen Landes- zur deutschen
Reichshauptstadt, zum kriegswirtschaftlichen Verwaltungszentrum mit Wal-
ther Rathenau als Initiator und anfänglich auch Leiter der Abteilung Roh-
stoffbewirtschaftung beim preußischen Kriegsministerium, der Zentrale
eines deutschen Mangelwirtschaftssystems. Insgesamt hat der Weltkrieg die
starke ökonomische Stellung der Hauptstadt mit ihrer besonderen Ausrich-
tung auf die modernen Wachstumsindustrien gefördert. Als sie 1920 mit
den meisten umliegenden Industriestandorten zu einem Gemeindeverband
zusammengefaßt wurde, wurde Groß-Berlin damit zur Industriemetropole
im mitteleuropäischen Raum schlechthin (siehe Tabelle 5 auf S. 572). 9

II. Schlesien

Im Jahre 1740 erobert, erst nach 1763 sehr langsam in den preußischen
Staat integriert und dessen wichtigste Bergbau- und Industrieprovinz, verlor
Schlesien für ihn seit etwa 1850 allmählich in dem Maße wieder an Bedeu-
tung, 10a in dem die westlichen Provinzen eine solche, mit Hilfe der Eisenbahn

9 F. HECHT, Die Organisation des Bodenkredits... ( 1 8 9 1 - 1 9 0 8 ) [132], 2. Abt.,


Bd. 1 (Die Statistik der deutschen Hypothekenbanken), Leipzig 1903; W. TREUE,
Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung... (1987) [12], S. 2 5 5 - 2 6 8 ; K. FUCHS,
Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung... (1987) [307], S. 2 6 9 - 2 8 9 ; "Wil-
helm TREUE, Die Ilse, Bergbau Actiengesellschaft 1 8 8 8 - 1 9 5 1 (1970) in der
Niederlausitz, in Hessen und in Bayern, in: J G M O D , Bd. 3 9 (1990), S. 2 2 1 - 2 4 6 .
10a Ders., Z u r Lage der Industrie West- und Ostoberschlesiens 1919 - 1939, in: ScrM,
10. Jg. (1976), S. 53 —74; Wilhelm TREUE, Die wirtschaftlichen Beziehungen
zwischen der preußischen Provinz Schlesien und Berlin, in: SchlVKWV, Bd. 3 4
(1989), S. 2 2 1 - 2 3 7 .
572 § 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871

TABELLE 5
Hypothekenbanken in Preußen 1863-1899

Jahr Zahl der Banken Aktienkapital Hypotheken- Pfandbrief-


darlehen umlauf
(in Tausend Mark)

1863 1 2.143 2.403 1.534


1870 5 22.596 24.462 1.951
1880 9 72.628 490.794 457.601
1890 11 92.095 966.660 892.358
1899 15 191.999 2.532.284 2.395.325

Quelle: F. HECHT, Die Organisation des Bodenkredits... (1891 - 1 9 0 8 ) [132], 2. Abt.,


Bd. 1, Leipzig 1903, S . 4 f .

und nach der Jahrhundertwende durch den allerdings nur bis Hannover
geführten Mittellandkanal für den Gesamtstaat gewannen. Auch konnte
Oberschlesien bei der Steigerung der Roheisenerzeugung nicht mit der des
übrigen Deutschlands mithalten. Die Eisenerzeugung Gesamtdeutschlands
verdreißigfachte sich 1850 — 1913, die oberschlesische verzehnfachte sich
nur, denn mehr vermochte die verarbeitende Industrie nicht aufzunehmen,
und den Absatz auf ausländischen und größeren inländischen Märkten
verhinderte die Verkehrslage. Der Steinkohlenförderung ging es infolge
wachsenden Absatzes an Gas- und Elektrizitätswerke zwar nicht ebenso
schlecht, aber bei weitem nicht so gut wie den Bergwerken in Westdeutsch-
land.
Diese Ungunst der Verkehrslage und die Zollpolitik. Rußlands und Öster-
reichs führten dazu, daß Schlesiens Bergbau und Industrie seit den 90er
Jahren immer mehr auf den heimischen Markt angewiesen blieb, sich also
von Preußen, mit Ausnahme Berlins, wieder entfernte und somit eine gewisse
Desintegration eintrat. Das war auch durch Sondertarife der Eisenbahn
nicht zu verhindern, eher durch Kartell- und Syndikatsregelungen — also
künstlich — zu verzögern. Auch die Versorgung der schlesischen Hochöfen
mit Schmelzmaterial zu akzeptablen Preisen wurde von Jahr zu Jahr schwie-
riger, da die Erze vorwiegend auf dem teueren Eisenbahnweg herangeschafft
werden mußten. Nur Unternehmen, die sich energisch von der Massenfa-
brikation auf Verfeinerungs- und Weiterverarbeitungsanlagen umstellten,
konnten diese Entwicklung überleben. Diese führte zum Beispiel dazu, daß
Henckel-Donnersmarck nicht seinen schlesischen Konzern vergrößerte, son-
dern Hochöfen bei Stettin errichtete, dort billig importiertes überseeisches
Erz verhüttete und mit dem Roheisen 1895 in Mitteldeutschland alle anderen
deutschen Produzenten unterbieten konnte. In solchen Zusammenhängen
geriet das schlesische Bankwesen immer stärker in Abhängigkeit von den
Berliner Großbanken, bei denen die schlesischen Finanzinteressen durchaus
nicht an erster Stelle rangierten.
Doch wäre die Lage Oberschlesiens noch ungünstiger gewesen, wenn
nicht seit 1904 der Deutsche Stahlwerksverband, dem der oberschlesische
II. Schlesien 573

Regionalverband angehörte, für einige Jahre Produktion und Absatz regle-


mentiert und somit für stabile Preise gesorgt hätte. Diese Hilfe fand aller-
dings bereits 1907/08 durch Geldverknappung und Zinssteigerung für das
seit langer Zeit finanziell schwach fundierte oberschlesische Eisengewerbe
ein Ende, da die teuere Einfuhr russischen und schwedischen Erzes per
Schiene eine Anpassung an die sinkenden Weltmarktpreise nicht gestattete.
Eine radikale Umstellung auf reine Verarbeitung wäre aber viel zu teuer
geworden. In dieser Situation erwartete der Oberschlesische Bergbau- und
Hüttenmännische Verein 1909 in einer Denkschrift mit dem Hinweis auf
die Grenzlandlage nicht nur von Preußen, sondern auch vom Reich massive
Hilfe für eine „moderne Ausgestaltung der Eisenhütten..., um die ober-
schlesische Produktion zu befruchten und ihre Bedeutung im schlesischen
Wirtschaftsraum zu erhalten". Schlesien - 1740 bis 1806 eine Entwick-
lungsprovinz mit Sonderministern - bedurfte seit 1909/10 erneut infolge
der Entwicklung der mitteleuropäischen und der Weltwirtschaft grundle-
gender, strukturverändernder Entwicklungshilfe, nachdem der Anteil Ober-
schlesiens an der preußischen Roheisenerzeugung von 45 Prozent im Jahre
1840 über 15 Prozent an der des Reiches 1870 bis zum Jahre 1910 auf
weniger als 6 Prozent gesunken war.
Als 1911 der Oberschlesische Berg- und Hüttenmännische Verein, der
1861 nicht zuletzt zur Überwindung der immer schwieriger werdenden
Produktions- und Absatzverhältnisse gegründet worden war, 50 Jahre alt
wurde, versuchte er, der Öffentlichkeit gegenüber die akute Krisenlage
wenigstens zum Teil auf außenpolitische Ereignisse wie Balkankrieg und
Marokkokrise zurückzuführen. Aber die Hauptursachen lagen eindeutig in
unveränderbaren Schwächen Oberschlesiens selber. Im Jahre 1913 war nicht
mehr zu beschönigen, daß die oberschlesische Schwerindustrie unter nor-
malen Marktbedingungen selbst mit den üblich gewordenen Mitteln der
Subvention und Protektion nicht mehr wettbewerbsfähig war und sich vor
einer schweren Existenzkrisis befand, die die Wirtschaft ganz Deutschlands
in Mitleidenschaft ziehen würde. Denn das Ende 1911 geschlossene Ko-
operationsabkommen zwischen der oberschlesischen Industrie und dem
Siegerländer Erzbergbau, das die Lieferung von jährlich 150.000 bis 200.000
Tonnen Erz zu extrem niedrigen Transporttarifen vorsah, konnte nur als
sehr teuere Sozialhilfe für 48.000 Beschäftigte in diesem Bereich betrachtet
werden, nicht aber als Teil einer grundlegenden Sanierung des Reviers, das
in seiner N o t immer lauter darauf hinwies, daß es „vom Ausland abge-
schlossen, von seinen inländischen Beziehern weit entfernt und mit natür-
lichen Verkehrsstraßen weit weniger als die anderen großen Montanreviere
ausgerüstet" war. Darüber hinaus ginge es um die Erhaltung des Deutsch-
tums im Revier, die in entscheidendem Ausmaß vom wirtschaftlichen Erfolg
abhing. Dieser aber war bei Ausbruch des I. Weltkrieges nicht mehr gesi-
chert.
Am 1. August 1914 begann für Oberschlesien durchaus nicht eine Kriegs-
konjunktur. Bis zum November stand das Revier unter dem Druck russi-
scher Erfolge gegenüber Österreich, nach einer erfolgreichen deutschen
Gegenoffensive hatte die Wirtschaft durch Einziehung so viele Arbeitskräfte
574 § 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871

verloren, daß die Steinkohlenförderung im Jahre 1914 um 20 Prozent


niedriger ausfiel, als die von 1913 und auch die Eisenindustrie mit einer
großen Zahl von ihr abhängiger Unternehmen empfindliche Rückschläge
erlitt, zumal das Schwedenerz zeitweise ganz ausblieb. Nur das Siegerländer
Erz ermöglichte in dieser Situation die Weiterarbeit, bis das polnische Gebiet
von Dombrowa erobert war. Doch blieb während des ganzen Krieges die
schlesische Roheisenproduktion unter der von 1913 — noch weit mehr die
Gewinnung von Blei und Zink. Die „Kriegsgewinne" hätten auch bei
günstigstem Ausgang der Ereignisse nicht die Finanzierung der Rückkehr
zur Friedenswirtschaft mit hohen Modernisierungskosten aufbringen kön-
nen - von der Versorgung mit Fachkräften nach den starken Menschen-
verlusten ganz abgesehen. Das sogenannte Hindenburg-Programm, von
wirtschaftlich kenntnisarmen Offizieren aufgestellt, führte durch die Er-
richtung zahlreicher neuer Produktionsanlagen, die schließlich nicht fertig-
gestellt wurden, zur Fehlleitung wichtiger Materialien und Arbeitskräfte.
Als abzusehen war, daß Deutschland den Krieg verlieren und nach hohen
Menschenverlusten schwere Folgelasten in Form von Kriegsentschädigungen
und Wiederaufbaukosten zu tragen haben würde, befand Oberschlesien sich
in der schwierigsten Lage seit den Anfängen der neuzeitlichen Bergbau-,
Industrie- und Verkehrswirtschaft. Der Verlust von Elsaß, Lothringen und
dem Saarrevier hätte Schlesiens Position merklich verbessern können, wenn
die Provinz nicht selbst geteilt und dadurch ihr Wirtschaftsverbund zerrissen
worden wäre.
Die schlesische Landwirtschaft hatte sich in den 50er und 60er Jahren
entsprechend der industriewirtschaftlichen Entwicklung in einer vorzügli-
chen Lage befunden. Seit dem Ende der 70er Jahre machte sich wie dort
ein Niedergang bemerkbar, der bald ein solches Ausmaß annahm, daß es
im Bericht des Deutschen Landwirtschaftsrates vom 27. Februar 1884 hieß,
die Notlage wird durch die „Grundentwertung während der letzten zehn
Jahre illustriert". Sie fände „ihren prägnanten Ausdruck in der Höhe und
besonders in der Zunahme der Verschuldung und in dem Verschwinden der
bäuerlichen Besitzungen... Ungünstige Verhältnisse herrschen in Oberschle-
sien." Als besonders bedrohlich für den bäuerlichen Besitz wurden hervor-
gehoben: das Fehlen einer Kreditorganisation, überhöhte Erbabfindungen
und die zunehmende Höhe der Staats- und Kommunallasten, während der
Großgrundbesitz in der Lage war, viele bäuerliche Betriebe aufzukaufen:
1850/80 115.000 Hektar. Die Lage wurde so bedrohlich, daß die Renten-
gutsgesetze 1890 und 1891 die Bildung neuer Bauernstellen förderten. 1891 -
1920 wurden 2.119 Rentengüter mit 12.803 Hektar geschaffen. Im Jahre
1885 stellte der Bericht des Landwirtschaftlichen Zentralvereins für Schle-
sien fest, daß der Anbau von Weizen und Roggen nicht mehr rentabel war
und auch der von Handelsgewächsen, „bisher die ergiebigste Geldquelle",
darniederlag. Die Preise der Ölfrüchte waren erheblich, der Zuckerrüben-
anbau war in jüngster Zeit um ein Drittel gesunken. Im Jahrzehnt 1873/83
ging die Schafzucht in der Provinz im Durchschnitt um 40 Prozent zurück.
Die Zölle brachten zwar eine Verbesserung der Getreidepreise, aber auch
eine Empörung der Bevölkerung über die Preiserhöhungen, so daß die 1891
III. Die fünf östlichen Provinzen 575

im Handelsvertrag mit Österreich-Ungarn festgelegten Zollsätze für Weizen


und Roggen 1893 von 5 auf 3 , 5 0 M a r k je 100 Kilogramm herabgesetzt
wurden; 1902 wurden sie den übrigen Sätzen wieder angeglichen.

III. Die fünf östlichen Provinzen

Die „polnischen" Provinzen Westpreußen, Südpreußen und Neuostpreußen


wurden 1772, 1793 beziehungsweise 1795 von Preußen annektiert. Südpreu-
ßen allein vergrößerte den preußischen Staat um 958 Quadratmeilen von
3 8 5 0 auf 4 8 0 8 (25 Prozent) und um 1,4 Millionen Einwohner (20 Prozent).
M a n begann sofort mit der Integration, die, gemessen an den Interessen
des preußischen Staates im wesentlichen gelang — zum Teil auf Kosten der
polnischen Bevölkerung. 1793 - 1 8 0 7 wandte der Staat für diese M a ß n a h -
men 2 0 Millionen Taler auf und erreichte jährlich Netto-Einnahmen bis zu
9 , 6 Millionen Taler. Die Erfolge beruhten hauptsächlich auf der Getreide-
ausfuhr, der Steigerung der Tuchproduktion und den Zolleinnahmen. In
dieser Zeit wuchs die Bevölkerung um 2 1 0 . 0 0 0 Personen (22 Prozent). 1 0 b
In den fünf östlichen Provinzen des Königreichs Preußen, 1 1 die rund 6 0
Prozent der Gesamtfläche der M o n a r c h i e einnahmen — Ostpreußen, West-
preußen, Brandenburg, Pommern und Posen — herrschte zwischen 1880

10b Adelheid SIMSCH, Die Wirtschaftspolitik des preußischen Staates in der Provinz
Südpreußen 1 7 9 3 - 1 8 0 6 ( = SchrWSG, Bd. 33), Berlin 1983, S. 20 u. 252 (zugl.
Habil.-Schrift FU Berlin 1980).
11 H.W. Graf Finck von FINCKENSTEIN, Die Entwicklung der Landwirtschaft...
(1960) [39], S. 38 ££.; Sabine WEHKING, Zum politischen und sozialen Selbstver-
ständnis preußischer Junker 1871 - 1914, in: BDLG, Bd. 121 (1986), S. 3 9 5 - 4 4 8 ;
Klaus HESS, Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich ( = HF,
Bd. 16), Stuttgart 1990; Heinz NEUMEYER, Westpreußen 1815 - 1 8 7 0 , in: Wprjb,
Bd. 37 (1987), S. 3 7 - 5 6 ; Gustav COMBERG, Die deutsche Tierzucht im 19. und
20. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 453 ff.; J. HANSEN, Die Landwirtschaft der
Provinz Ostpreußen... (1914) [47]; Theodor Freiherr von der GOLTZ, Die Ent-
wicklung der ostpreußischen Landwirtschaft während der letzten 25 Jahre
( 1 8 5 6 - 1 8 8 1 ) , in: Schmjb, Bd. 7/2 (1883), S. 7 3 - 1 2 9 , hier S. 95; Udo EGGERT,
Die Bewegung der Holzpreise und Tagelohn-Sätze in den preussischen Staatsfor-
sten von 1 8 0 0 - 1 8 7 9 , in: ZStatB, Bd. 23 (1883), S. 1 - 4 4 ; Preußens Staatsforsten,
in: ZStatB, Bd. 23 (1883), S. I/II (Statistische Correspondenz); Rudolf JAWORSKI,
Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Studien zur Wirtschaftsgesinnung
der Polen in der Provinz Posen (1871 - 1 9 1 4 ) ( = KrStGw, Bd. 70), Göttingen
1984, S. 155; Rainer FREMDLING, Innovation und Mengenanpassung. Die Los-
lösung der Eisenerzeugung von der vorindustriellen Zentralressource Holz, in:
Hansjörg Siegenthaler (Hg.), Ressourcenverknappung als Problem der Wirt-
schaftsgeschichte ( = SchrVSP, Bd. 192), Berlin 1990, S. 35; Alfons HAASE, Schle-
siens Landwirtschaft. Ein Gang durch die Geschichte der schlesischen Landwirt-
schaft von den ersten Anfängen bis zum Leistungsstand bei Beginn des zweiten
Weltkrieges. Eine agrarhistorische und agrargeographische Darstellung, Wolfen-
büttel 1981.
576 § 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871

und 1914 der Anbau von Roggen und Kartoffeln vor. Die Viehhaltung
wurde in diesen Provinzen trotz staatlicher Unterstützung durch Gestüte,
Hengststationen und Ankäufe von Remonten noch jahrzehntelang von den
Verlusten in den napoleonischen Kriegen beeinflußt. Auch die Separationen
im Zuge der Reformen verzögerten die Erholung. Erst nach 1852 begann
ein stetiger, bis 1914 kaum unterbrochener Aufstieg, wobei in Ostpreußen
neben der Rinderhaltung die Pferdezucht eine besondere Rolle spielte,
nachdem es gelungen war, aus dem kleinen zähen Litauerpferd mit Hilfe
von arabischem und englischem Vollblut ein kräftiges und ausdauerndes
Kavalleriepferd zu züchten. 1873 —1913 stieg der Pferdebestand Ostpreußens
von 351.000 auf 490.000; von den 15.000 Remonten, die um 1910 jährlich
in Deutschland gebraucht wurden, lieferte Ostpreußen etwa 9.000. Groß
war der Einfluß des Hauptgestüts Trakehnen und vier weiterer Landgestüte.
Die staatliche preußische Gestütsverwaltung war (nach Ansätzen im Jahre
1717) 1732 mit der Gründung des Hauptgestüts Trakehnen auf einem
großen, extra dafür trockengelegten Gelände als Domäne mit etwa 1100
Pferden für die Marställe des Hofes eröffnet worden. Da die Entwicklung
teuer und unergiebig war, plante Friedrich II. 1777 die Schließung des
Gestüts. Oberpräsident Domhardt verhinderte sie und erreichte 1779 sogar
eine Verbesserung und Erweiterung. 1788 gründete Friedrich Wilhelm II.
das „Hauptgestüt" Neustadt/Dosse, dem bis 1839 ein Dutzend und 1866 —
1928 17 weitere Landgestüte unterstellt wurden. Der bedeutendste Ober-
landstallmeister war 1887—1912 Graf Georg Lehndorff, der insbesondere
das Vordringen der schweren Pferdetypen organisch in die Gesamtzucht
einordnete; allerdings geriet trotzdem die sogenannte „Edelzucht" für das
Militär immer stärker in den Vordergrund, was nach 1919 eine Typ-
Umstellung zum „Wirtschaftspferd" nötig machte.
Erheblichen Einfluß auf die Rinderhaltung übte der Eisenbahnbau aus,
der die städtischen Märkte, insbesondere den von Berlin, dem Absatz
erschloß. 1864 gab es in Ostpreußen 700.000 Stück Rindvieh, 1911 1,2
Millionen, deren Lebendgewicht sich verdreifacht hatte, während die Milch-
leistung auf mehr als das Fünffache gestiegen war. Das gleiche galt für die
Schweinehaltung, die zum Beispiel in Ostpreußen 1880—1912 um etwa 360
Prozent stieg. Dagegen ging die Schafhaltung seit etwa 1880 zurück. Viel
und sehr kontrovers wurde in den Jahren zunehmender Kriegsgefahr die
Frage diskutiert, ob die deutsche, insbesondere die ostdeutsche Landwirt-
schaft das schnell wachsende deutsche Volk vollständig mit einheimischem
Fleisch und Getreide ernähren könne. Je nachdem, ob man vom Futter-
Getreide-Import im Werte von mehr als einer Milliarde Mark jährlich absah
oder nicht und wie hoch man den Pro-Kopf-Bedarf des Volkes ansetzte,
fielen die Antworten verschieden aus. Der Agrarwissenschaftler J . Hansen
glaubte in völliger Verkennung der Seeherrschaftsverhältnisse Anfang 1914,
man werde in naher Zukunft mit dem Getreideimport aus „Neudeutsch-
land", das heißt den Kolonien, beginnen und damit die „Unabhängigkeit"
der Versorgung sichern können.
Eine bedeutende Rolle spielte die weiterverarbeitende Industrie landwirt-
schaftlicher Rohstoffe in den Produktionsgebieten selber. Allerdings ging
III. Die fünf östlichen Provinzen 577

nach 1850/70 das bäuerliche Weben von Wolle und Leinen ebenso sehr
zurück wie die Guts- und Gemeindehandwerkerei. Die Kartoffelbrennerei
lag fast ganz im Bereich des Großgrundbesitzes. Je größer und leistungs-
fähiger die Getreidemühlen (Walzmühlen) wurden, um so mehr trennten
sie sich von den Getreideproduzenten und wandten sich, an günstigen
Standorten errichtet, auch dem Getreidehandel zu — mit Ausnahme der
Schrotmühlen für Futtergetreide, die weiterhin meist den Produzenten ge-
hörten. Bei der Zuckergewinnung gelangte man schon früh vom Privatbesitz
zu Genossenschaften und Aktiengesellschaften, an denen die Rübenprodu-
zenten häufig stark beteiligt waren.
Noch immer wurden (1837: 99.500 t von 100.000 t insgesamt) 1870
70.000 t von 1,55 Mill, t Roheisen insgesamt mit Holzkohle erzeugt, war
der Bedarf an Holzkohle bei den Gewerben sogar im Wachsen begriffen.
Außerdem brauchten die Bauwirtschaft, die Eisenbahn für Schwellen und
die Bergwerke für Stollen zunehmend Holz. Die Holzpreise waren je nach
Verkehrs- und Marktlage der Waldungen in den einzelnen Provinzen, von
Ost nach West steigend, sehr unterschiedlich.
Die Marktlage in den östlicheren der hier betrachteten Provinzen war
selbst um 1880 noch sehr schlecht, obwohl die Länge der Kunststraßen
sich in den jüngsten 20 Jahren verdreifacht hatte. Von der Goltz stellte
für Ostpreußen im Jahre 1883 fest: „Güter, welche keine Chaussee, Ei-
senbahn oder Wasserstraße in der Nähe haben, können kaum Produkte
zu Markt bringen." Und: „1875 existierte im Großhandel die osteuropäi-
sche Butter gar nicht, und wo dieselbe notiert wurde, geschah es an
letzter Stelle zu den niedrigsten Preisen, während heute ostpreußische
Butter der besten Ware zugezählt wird..." Der Jahresbericht der Pom-
merschen Ökonomischen Gesellschaft hob 1883 hervor: „Die Rindvieh-
zucht erfreut sich allgemein steigender Bedeutung, obschon der Absatz
der Molkereiprodukte noch ziemlich mangelhaft ist..." Über Posen hieß
es 1883: „Leider dürfte sich bei dem noch sehr niedrigen Stand der
Viehzucht dieses Landes die Knochenmenge in stärkerer Weise vermehrt
haben als die Fleischmenge... Das Molkereiwesen hat in Posen nicht die
Fortschritte gemacht wie die Rübenzuckerindustrie... 1882 waren 12 Zuk-
kerfabriken in Tätigkeit und 430 Spiritusbrennereien... die Schweinezucht
hat in Posen eine ganz ungewöhnliche Vermehrung erfahren... Mag auch
die Behauptung als eine kühne bezeichnet werden, daß der Konsum von
Schweinefleisch und Fett gerade in solchen Ländern zu einem größeren
Bedürfnis geworden sei, in welchem der Genuß alkoholischer Getränke
ein besonders starker ist, so trifft doch diese Voraussetzung in Posen, wo
die ländliche Bewohnerschaft gerade oft schrecklich dem Trünke ergeben
ist, vollständig zu." Im „Jahresbericht über die Gestaltung der landwirt-
schaftlichen Verhältnisse in der Provinz Posen" für 1882 schließlich steht:
„... die dunklen Punkte bilden die seitab vom Verkehr liegenden Gegen-
den, die noch 5 — 6 Meilen (35 — 45 km) und weiter bis zur nächsten
Eisenbahnstation haben und dabei vorwiegend auf Getreideanbau ange-
wiesen sind..." In dieser Provinz spielte außerdem über Handel und
Gewerbe bis in die Groß- und Kleinlandwirtschaft reichend, der Natio-
578 S 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871

nalitätenkampf zwischen 1880 und 1914 auch ökonomisch eine erhebliche


Rolle, wobei „paradoxerweise... die preußisch-deutschen Germanisie-
rungsanstrengungen... dem sozial-ökonomischen Fortschritt der Polen
mehr geholfen als geschadet haben". Polnische Beobachter bezeichneten
„die preußische Regierung und... die Hakatisten als Werkzeuge der gött-
lichen Vorsehung zu unserem Wohle zur Erziehung und Erhaltung der
polnischen Nationalität".
Unter solchen Umständen erhielten die Landarbeiter zumeist noch über
den I. Weltkrieg hinaus Deputatlohn: neben freier Wohnung, Kleinvieh,
Obst- und Gemüsegarten, Kartoffelland, Kranken- und Altersversorgung
34 Scheffel Roggen, Weizen, Gerste, Erbsen und Hafer, die Arbeiterinnen
14 Scheffel. Als die Hektarerträge um 1880 erheblich stiegen, wurden die
Deputatmengen vom Scheffel auf die gleiche Zahl Zentner umgestellt,
was eine Erhöhung um 20 Prozent bedeutete. Das hatte zur Folge, daß
die Maschinisierung seit dem Ende der 70er Jahre schnell stieg - nicht
zuletzt durch den Einsatz von Genossenschaften aller Art (Dresch-,
Dampfpflug-, Motorpflug-, Maschinen-Einkaufs- und Verkaufsgenossen-
schaften u.s.w.).
Einen Teil des Getreides brannte die Arbeiterfamilie zu Schnaps oder sie
tauschte diesen dafür ein; ein Teil der Gerste wurde zum Bierbrauen be-
nötigt; der Überschuß an Nahrungsmitteln diente als Futter für Schweine
und Geflügel. Man rechnete, daß der ständige Landarbeiter in natura den
Reinertrag einer kleineren bäuerlichen Wirtschaft erhielt, ohne deren Risiko
tragen zu müssen.
Alles in allem bleibt festzuhalten, daß um 1880 trotz Eisenbahn und
Macadamstraßen in den hier betrachteten Provinzen die marktfernen Ge-
biete weitaus größer waren als die marktnahen — am meisten in Posen,
am wenigsten in Brandenburg.
Als am 27. Januar 1914 J. Hansen in der Aula der Albertus-Universität
zu Königsberg die Kaiser-Geburtstags-Rede über das Thema „Die Land-
wirtschaft der Provinz Ostpreußen... im letzten Jahrhundert" hielt, berich-
tete er, daß in dieser Provinz sich 1859 41 Kilometer, 1885 1.400 Kilometer
(3,8 Kilometer auf 100 Quadratkilometer) und 1911 3.500 Kilometer (9,5
Kilometer auf 100 Quadratkilometer) Eisenbahnen befanden — gegenüber
19 Kilometern auf 100 Quadratkilometer in der Rheinprovinz.
An Preußens Ostseeküste entstand seit den 70er Jahren, insbesondere
nach 1885, ein neuer, wie ein halbes Jahrhundert zuvor der Lokomotivbau
stark auf englischen Erfahrungen beruhender Industriebereich: der Bau von
Handels-, Passagier- und Kriegsschiffen aus Eisen und Stahl. Die wichtigsten
Werftorte wurden Stettin (Vulcan), E l b i n g - D a n z i g (mit der in den 40er
Jahren gegründeten, seit 1860 allmählich an Bedeutung wachsenden König-
lich/Kaiserlichen W e r f t ) - P i l l a u (Schichau; Belegschaft 1870: 500, 1880:
1.000, 1892: 5.000) und Kiel (Howaldt und Staatsbetriebe) mit um 1910
insgesamt etwa 100.000 Arbeitern sowie vielen Maschinen-, Bewaffnungs-,
Instrumenten- und anderen Zulieferern im jeweiligen Um- sowie im rhei-
nischen und sächsischen Binnenland (zum Beispiel Krupp, Hoesch, Man-
§ 15 Preußens Reichtum und Armut am Vorabend des I. Weltkrieges 579

nesmann). 1 2 In diesem Industriezweig zeigte sich ganz besonders deutlich


die immer stärker werdende Abhängigkeit der preußischen Wirtschaft von
der Politik des Reiches.

§ 15 Preußens Reichtum und Armut


am Vorabend des I. Weltkrieges
Zu dem 1913 erschienenen Jubiläumswerk „Soziale Kultur und Volkswohl-
fahrt während der 25 Regierungsjahre Kaiser Wilhelms II." (der ebensolange
König von Preußen gewesen war) schrieb Universitätsprofessor und Bankier
Karl Helfferich einen Beitrag über „Deutschlands Volkswohlstand 1888 —
1 9 1 3 " , 1 der bald auch als selbständiges Buch erschien und zahlreiche Auf-
lagen erzielte. In ihm beschrieb er voller Bewunderung die Entwicklung in
Deutschlands Wirtschaft und konstatierte „eine allgemeine Verschiebung
der Einkommen nach oben, und zwar in besonderer Stärke aus der Klasse
der Steuerfreien in die der Einkommensstufen von 900 bis 6.000 M a r k " .
Helfferich schätzte den „tatsächlichen Wert des deutschen Nationalvermö-
gens" auf etwa 310 Milliarden M a r k , was 4.650 M a r k je Kopf der Bevöl-
kerung ergab (in Frankreich 5.924, in England 5.100 — 5.800, in den USA
5.500).
Der Historiker kann annähernd 80 Jahre später diese Angaben, zu denen
Helfferich viele Einzelheiten hinzufügte, ergänzen. Tatsächlich war Preußen
(und mit ihm das Deutsche Reich) auf der Höhe einer einzigartigen Wirt-
schaftsexpansion seit 40 Jahren bei Ausbruch des I. Weltkrieges ein reiches
Land mit einem bedeutenden Wirtschaftswachstum — das reichste in Mit-
teleuropa. Die Durchschnittslöhne und -gehälter sowie die Arbeitseinkom-
men der Selbständigen waren in sämtlichen Wirtschaftsbereichen seit zehn
bis 20 Jahren ununterbrochen im Steigen begriffen. 2

12 Wilhelm TREUE, Innovation, Know How, Rationalization and Investment in the


German Shipbuilding Industry 1860 — 1930, in: Hans Pohl (Hg.), Innovation,
Know How, Rationalization and Investment in the German and Japanese Eco-
nomies. Proceedings of the German-Japanese Symposion at the Siemens Training
Centre in Berlin, March 20 - 23, 1979 (ZUntG, Beih. 22), Wiesbaden 1982,
S. 103 —133; Marina CATTARUZZA, Arbeiter und Unternehmer auf den Werften
des Kaiserreichs ( = VIEG, Bd. 127), Stuttgart 1988 (dort die ältere Literatur, die
vorwiegend aus der Zeit vor 1933 stammt); Günther STAVORIUS, Die Königliche/
Kaiserliche Werft Danzig 1844-1918 ( = VAPrKb, Bd. 27), Köln 1990; Rudolf
MARTIN, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen,
2 Bde., Berlin 1912, Bd. 1, S. 2 u. S. 73, Bd. 2, S. 74 ff.
1 Dazu vgl. Wilhelm TREUE, Karl Helfferich über Deutschlands Wohlstand im
Jahre 1913 [1975], in: Ders., Unternehmens-und Unternehmergeschichte... (1989)
[ 1 0 2 ] , S. 6 3 4 - 6 5 7 .
2 W.G. HOFFMANN, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft... (1965) [20],
S. 4 9 2 f.
580 § 15 Preußens Reichtum und Armut am Vorabend des I. Weltkrieges

Nach der preußischen Statistik für die Jahre 1908, 1909 und 1910 lebten
in Preußen, wie Rudolf Martin feststellte, 8.355 „Millionäre". 3 In Wirk-
lichkeit waren es noch mehr. Martin nannte sie „acht kriegsstarke Bataillone
Millionäre" und fügte hinzu, daß es bereits im Jahre 1902 in Preußen 5.538
und wahrscheinlich ungefähr die gleiche Anzahl im übrigen Deutschland,
zusammen also etwa 10.000 Millionäre gegeben habe. 4 Das bedeutet für
Preußen innerhalb von sechs Jahren eine Zunahme um 2.817 = etwa 50
Prozent.
Bertha Krupp von Bohlen und Halbach versteuerte ein Vermögen von
187 Millionen Mark und war damit die reichste Privatperson in Preußen,
Kaufmann Ernst Hoffmann, Teilhaber eines Herrenmoden-Geschäfts in
Berlin und als solcher gleichfalls Hoflieferant, war nach dem Nachtrag zu
dem Werk von Martin 5 der letzte der mehr als 5.261 derer, die „nur" ein
Vermögen von mehr als 1,0 bis einschließlich 2,0 Millionen Mark besaßen
— erheblich mehr, denn die amtliche Statistik führte diejenigen Millionäre
nicht auf, die nicht ein Jahreseinkommen von mehr als 3.000 Mark hatten.
Nimmt man an, daß diese rund 5.000 kleinen (Steuer-)Millionäre im
Durchschnitt ein Vermögen von 1,5 Millionen Mark besaßen, dann ergibt
dies zusammen 5.000 χ 1,5 Millionen = 7,5 Milliarden Mark Vermögen
der kleinen preußischen Millionäre. 2.327 Personen besaßen ein Vermögen
von mehr als 2 Millionen bis 5 Millionen Mark, 747 Personen schließlich
ein solches von mehr als 5 Millionen Mark.
Die vier Personen mit einem Vermögen von mehr als 100 Millionen Mark
(Bertha Krupp 197, Guido Fürst Henckel von Donnermarck 177, Christian
Kraft Fürst zu Hohenlohe-Oehringen 151, M a x von Goldschmidt-Roth-
schild 107) verfügten zusammen über 622 Millionen Mark Vermögen. In
den Gruppen unter ihnen besaßen acht Personen 55 — 84, 120 Personen 10 —
49 Millionen Mark Vermögen. Unter den 100 reichsten „Multimillionären"
war der Adel (keine Nobilitierung nach 1901, also in den jüngsten zehn
Jahren) insgesamt 64mal vertreten, davon der gräfliche, fürstliche, her-
zogliche und königliche 22mal; und keiner dieser Adligen besaß ein Ver-
mögen unter 16 beziehungsweise über 177 Millionen Mark.
Martin hat neben den mehr als 8.355 (wohl sogar mehr als 9.000 6 )
jeweiligen großen Vermögen auch die Einkommen der meisten ihrer Besitzer
verzeichnet. Diese, die natürlich keineswegs nur aus den Vermögen zu
erwachsen brauchten, sondern auch in Geschäften aller Art von Besitzern,
Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern, als Gehälter (beziehungsweise
Pensionen) von Beamten, Honorare von Ärzten, Anwälten, aus Haus- und
Grundstücksvermietungen erworben beziehungsweise verdient werden
konnten, lagen zwischen 40.000 (der Mitbesitzerin eines Landgutes) und 17
Millionen Mark (Bertha Krupp). Die vier oben genannten Besitzer von mehr

3 Rudolf MARTIN, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in


Preußen, Berlin 1912, passim.
4 A . a . O . , S. IV.
5 A. a. O., S. 920.
6 A . a . O . , S. XIII.
§ 15 Preußens Reichtum und Armut am Vorabend des I. Weltkrieges 581

als 100 ( = 622) Millionen Mark Vermögen hatten insgesamt ein Einkommen
von 3 9 - 4 0 Millionen Mark. Das Gesamteinkommen aller etwa 8.355
Millionäre festzustellen, ist nicht möglich, da Martin nur für einige 20 ein-
bis zweifache Millionäre deren Einkommen angegeben hat.
Immerhin bieten die Zahlenangaben und die „Biographischen Notizen"
von Martin einen Blick in die finanzielle, gesellschaftliche und politische
Macht- und Führungsgruppe auf der Höhe der preußischen Monarchie und
ein Jahrzehnt vor ihrem Ende.
Wie viele „große" und „kleine" Millionäre es in Preußen 20 Jahre zuvor,
also etwa beim Regierungsantritt Wilhelms II., gegeben hatte und wie hoch
ihr Durchschnittseinkommen gewesen ist, läßt sich nicht feststellen. Die
Zahlen müssen sehr viel niedriger gelegen haben und kaum halb so groß
gewesen sein — insbesondere bei den ein- bis zweifachen Millionären. Aber
auch zum Beispiel ein Blick auf die Lebensläufe der drei um 1910 vermögens-
und einkommensreichsten Millionäre läßt erkennen, wie stark in diesen
drei Jahrzehnten beides gewachsen sein muß. Das Vermögen von Bertha
Krupps Vater Friedrich Alfred Krupp vor dem Jahre 1895 ist nicht bekannt;
sein Einkommen betrug 1892 6,8 Millionen Mark. Das Einkommen (Fürst)
Guido Henckel von Donnersmarcks betrug 1892 4,3 Millionen Mark, das
des Fürsten zu Hohenlohe-Oehringen und Herzogs von Ujest 1,8 Millionen
Mark. Die Einkommen, die schließlich in etwa den Vermögen entsprachen,
sind also 1890/95 — 1910 sehr stark gestiegen.
Zwar läßt sich, wie gesagt, das Gesamteinkommen der Millionäre in
Preußen nicht feststellen. Mit Sicherheit hat aber ihr Durchschnittseinkom-
men im Jahre 1910 mindestens 100.000 Mark betragen. Das würde bei
(mehr als) 8.355 Millionären ein Gesamtjahreseinkommen von mehr als
(und eher doppelt so viel wie) 835.500.000 Mark ausmachen. Natürlich
müssen bei der Beurteilung aller hier genannten Zahlen die Entwicklungen
der Preise einerseits und der Qualitäten der Waren andererseits berücksich-
tigt werden.
Der „große" Reichtum (20 und mehr Millionen Mark) war um 1910 in
Preußen sehr ungleichmäßig über die ganze Monarchie verteilt: von den
Oppenheim und Guilleaume in Köln zunächst zu den Krupp in Essen, A.
Thyssen in Mülheim, den Haniel in Düsseldorf, Hugo Stinnes in Mülheim
und den vielen Rothschild und Speyer in Frankfurt. Er wohnte naturgemäß
stark im Zentrum Deutschlands, in Berlin (die Mendelssohn, Friedländer-
Fuld, Rudolf Mosse, Eduard Arnhold, zwei Bleichröder, James und Eduard
Simon, Wilhelm von Siemens, Louis Ravené, Oskar Huldschinsky, E. v.
Borsig, Julius Bötzow). Der allergrößte war eigenartigerweise außerordent-
lich konzentriert in der zu dieser Zeit bergbau- und industriewirtschaftlich
schnell absinkenden Provinz Schlesien bei den Henckel-Donnersmarck, dem
Herzog von Ujest, dem Fürsten Pless, den Grafen Schaffgotsch, Thiele-
Winckler und Ballestrem, Julius Schottländer, Eugen von Kulmiz, Georg
Haase, dem Herzog von Ratibor; er war gar nicht vertreten in der Land-
wirtschaft und ihren Industrien in Brandenburg, Pommern, Ost- und West-
preußen.
582 § 15 Preußens Reichtum und Armut am Vorabend des I. Weltkrieges

Von den mindestens 5.261 „einfachen" Millionären, die also mehr als
eine Million bis zwei Millionen Mark besaßen und „zugleich Hausbesitzer
in Groß-Berlin" waren, lebten mehr als 1.500 in der preußischen Hauptstadt.
Die Konzentration des in Banken arbeitenden Kapitals (die größte, die
Deutsche Bank, 1910 mit einem Aktienkapital von 200 Millionen und einer
Bilanzsumme von 2,2 Milliarden Mark) in Berlin führte dazu, daß dort seit
der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (also weit später als in Paris)
neben den Kunstsalons auch ein paar „Finanzsalons" entstanden und Einfluß
ausübten: 7 der von Elli (von) Schwabach, Ehefrau des Seniorchefs des
Bankhauses Bleichröder, von Aniela, der Ehefrau des Bankiers Carl Für-
stenberg (die geradezu „Firmen-Empfangs-Chefin", also Geschäftsfrau
wurde) und der von Anna vom Rath, Ehefrau eines der Gründer der
Deutschen Bank. In diesen Salons verkehrten Geschäftsleute wie Ballin,
Bamberger, W. Rathenau, Paul von Schwabach, Siemens sowie hohe Beamte
und Politiker wie Dernburg und Forckenbeck.
Ein entsprechender Blick in die unterste Vermögens- und Einkommens-
schicht ist nicht möglich, da nie wissenschaftlich versucht worden ist, für
Preußen die Gesamtzahl der Arbeiter, Angestellten und Beamten, also der
Nicht-Selbständigen (mit Handwerkern oder ohne sie) sowie die Gesamt-
summe ihrer Löhne, Gehälter und anderen Entgelte in der preußischen
Wirtschaft festzustellen.
Aber immerhin kann man sich aus einigen Statistiken gewisse Vorstel-
lungen verschaffen. In Deutschland (für Preußen allein liegen entsprechende
Zahlen nicht vor) erreichten die durchschnittlichen jährlichen Arbeitslöhne
sowie die durchschnittlichen Arbeitseinkommen der Selbständigen zwischen
1873 und 1876 einschließlich eine erste Spitze. Danach sanken sie alle, einige
für etwa vier Jahre, und stiegen dann wieder, erreichten beziehungsweise
überstiegen jedoch die Spitze der 70er Jahre erst nach sehr unterschiedlichen
Zeiten - bei Landwirtschaft, Forsten und Fischerei sowie bei Bergbau und
Salinen (wo sie 1873 mit 1.052 Mark mit großem Abstand an der Spitze
gelegen haben) zum Beispiel erst nach 20 Jahren 1907/08, beim Verkehr
sowie bei Industrie und Handwerk dagegen schon zehn Jahre früher.
Im Jahre 1874 betrug das durchschnittliche jährliche Arbeitseinkommen
aller Abhängigen 752 Mark, im Jahre 1909 1.093 Mark, das aller Selbstän-
digen bei Handel, Banken, Versicherungen, Gaststätten, in den häuslichen
Diensten sowie bei „sonstigen Dienstleistungen ohne Heer und Marine"
1.325 Mark.
Bekanntlich standen an der Spitze der Löhne fast immer die der „Berg-
arbeiter" — zumindest die im Steinkohlenbergbau, nicht auch unbedingt
die im Braunkohlen-, Erz- und Steinsalzbergbau, und am Ende die in Land-
und Waldwirtschaft sowie in der Fischerei. Noch in der Kohlenkrise zwi-
schen 1954 und 1965 wurde die Erhaltung beziehungsweise Wiederherstel-
lung dieser Position in der Bundesrepublik Deutschland mit den Mitteln

7 Petra WILHELMY, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert ( 1 7 8 0 - 1 9 1 4 )


( = VHKzB, Bd. 73), B e r l i n - N e w York 1989, S. 335 ff. und die Register.
§ 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens 583

der Zuschläge verschiedenster Art, Arbeitszeitverkürzung, des verbilligten


Hausbaus und Wohnungserwerbs, teurer Rationalisierungen, Zechenstille-
gungen, Kohlepfennige, Einfuhrzölle und anderer Subventionen nicht nur
von den Gewerkschaften, sondern auch von den Regierungen angestrebt
und erreicht. 8
Im Jahre 1909 wurden im Steinkohlenbergbau der drei preußischen Ober-
bergämter Breslau, Dortmund und Bonn insgesamt 547.582 „Arbeiter"
beschäftigt, davon allein im Oberbergamt Dortmund mehr als 330.000. Ihr
Jahresdurchschnittslohn betrug in Breslau 984, in Dortmund 1.300, in Bonn
1.197 Mark, insgesamt also 1.170 Mark. Daraus ergibt sich für 1909 eine
Gesamtlohnsumme dieser Bergarbeiter von 640.670.940 Mark, also etwa
640 Millionen Mark 9 — gegenüber den mehr als 835 Millionen Mark der
etwa 8 . 5 0 0 - 9 . 0 0 0 Millionäre.

§ 1 6 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis


zum Ende Preußens

Im I. Weltkrieg hatten die militärischen und die zivilen Bereiche zwei ganz
verschiedene Strukturen. In dem — im engeren Sinne — militärischen
Bereich verfügte eine sehr kleine Gruppe hauptsächlich der Generalität und
Admiralität über die (eidgebundenen) Untergebenen wie über Leibeigene
vor der Bauernbefreiung. Im zivilen Bereich spielte eine Anzahl von Behör-
den und Ämtern eine Rolle, deren Rechte und Verantwortlichkeiten sich
sowohl sachlich wie geographisch vielfach überschnitten und in denen es
weit häufigere personelle Wechsel gab als beim Militär.
Bei Kriegsausbruch stand im Bereich der Wirtschaft in Preußen zunächst
die Sicherstellung der Ernährung im Vordergrund. Für diese war als Reichs-
zentralbehörde das Reichsamt des Innern zuständig. 1 Als Staatssekretär
Helfferich an die Spitze dieser Behörde trat, wurde am 22. Mai 1916 ein
spezielles Kriegsernährungsamt als leitende Behörde für die gesamte Ernäh-
rungswirtschaft unmittelbar unter dem Reichskanzler geschaffen. Sehr
schnell entwickelten sich Spannungen zwischen der Reichs- und der preu-
ßischen Verwaltung. Daher forderte Anfang 1917 v. Batocki als Leiter des
Kriegsernährungsamtes seine Berufung in das preußische Staatsministerium,

8 Wilhelm TREUE, Die Zeche „Dahlbusch A G " in der Kohlenkrise 1 9 5 4 - 1 9 6 5 , in:


Z U n t G , 34. Jg. (1989), S. 2 4 0 - 260.
9 Arbeitsleistungen und Arbeitslöhne im Bergbau 1908 bis 1909, in: StJbPrSt, 8. Jg.
(1910 [1911], S. 112 f.; W . G . HOFFMANN, Das Wachstum der deutschen Wirt-
schaft... (1965) [20], S. 492.
1 Hermann SCHREYER, Die Kriegswirtschaftsorganisationen im ersten Weltkrieg
und ihre Archivbestände als Quellen zur Geschichte des staatsmonopolistischen
Kapitalismus, in: J b W G , 1 9 8 5 / 3 , S. 1 8 1 - 2 0 8 .
584 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

um die Einheitlichkeit der Ernährungsverwaltung zu gewährleisten. Er


konnte sich mit seinem Verlangen beim Reichskanzler nur halb durchsetzen.
Schließlich wurden in den Kriegsjahren im Bereich der Ernährung zahllose
große und kleine Behörden, Beiräte mit den verschiedensten, fast nie Län-
dergrenzen respektierenden Kompetenzen gegründet, aufgelöst, zusammen-
gelegt usw.
Daneben gab es den „kriegswirtschaftlich wichtigsten Fachbereich, die
Getreidewirtschaft". 2 In ihm wurde am 25. November 1914 als erste
„Kriegsgesellschaft" die „Kriegsgetreidegesellschaft" in Form einer G m b H
gegründet. Sie sollte Brotgetreide beschaffen. Neben sie trat 1915 eine
Reichsverteilungsstelle, bald darauf arbeitete über ihr ein Reichskommissar.
Ende 1917 existierten „40 derartige dem Ernährungsamt unterstellte Zen-
tralorgane des ernährungswirtschaftlichen Sachbereichs". 3
Entsprechend gelangte man zu Kriegsorganisationen für die und in der
Rüstungswirtschaft. 4 Bei Kriegsausbruch waren für die Heeresrüstung das
preußische Kriegsministerium, für die Seerüstung das Reichsmarine-Amt
zuständig, so daß also die preußische Heeresverwaltung durch Aufträge mit
der Industrie in ganz Deutschland, zum Beispiel mit Daimler in Stuttgart
und Maybach in Friedrichshafen, und das Reichsmarine-Amt mit Werften
in Preußen und Maschinenfabriken in Sachsen in einer Art von Befehlsver-
hältnis standen. Diese Regelung genügte bald nicht mehr den riesigen
Anforderungen: es bedurfte eigentlich bereits im Herbst 1914 eines zentralen
Rüstungsamtes. Doch gelangte man bis 1916 über Improvisationen nicht
hinaus. Die erste und beste bildete im preußischen Kriegsministerium die
Gründung einer Kriegsrohstoffabteilung unter der Leitung von W. Rathenau
und W. von Möllendorff, die gemeinsam als Repräsentanten der Unterneh-
merschaft den Anstoß zu dieser Gründung gegeben hatten. Diese für das
Reich zentrale Abteilung in einem preußischen Ministerium hatte sofort die
Errichtung von „Kriegsrohstoffgesellschaften" zur Beschaffung und Vertei-
lung der einzelnen Rohstoffarten zur Folge. An die Stelle von Rathenau trat
am 1. April 1915 M a j o r J o s . Koeth, der nach dem Kriege bis zum Reichs-
wirtschaftsminister im 2. Kabinett Stresemann (1923) aufstieg.
Diese Organisation erwies sich schnell als zu kompliziert und der Reichs-
leitung gegenüber als zu schwach. Daher schuf man im September 1916 das
Reichsaufgaben erfüllende „Kriegsamt" innerhalb des preußischen Kriegs-
ministeriums, dessen übergeordnete Zuständigkeit die Kriegsministerien
Bayerns, Württembergs und Sachsens ausdrücklich anerkannten.
Bei der Energiewirtschaft genügten die privatwirtschaftlichen Kohlensyn-
dikate, an ihrer Spitze das rheinisch-westfälische, dem 1915/16 Preußen für
seine Zechen beitrat, lange Zeit vollauf, um die Rüstungswirtschaft mit

2 Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5, Stuttgart


1978, S. 83.
3 A . a . O . , S. 84.
4 Vgl. auch Fritz BLAICH, Stadt und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und
1945, Wiesbaden 1979, S. 52 ff.
I. Die preußische Staatswirtschaft 585

Kohle zu versorgen. Erst im F e b r u a r 1917 wurde ein R e i c h s k o h l e n k o m m i s -


sar für die Steigerung der Förderung und die Kohlenverteilung eingesetzt.
„Die deutsche Kriegswirtschaft hat im grundsätzlichen w o h l . . . zu viele
Einzelheiten regeln wollen, anstatt Zuständigkeiten und Verantwortlichkei-
ten scharf zu umgrenzen. So k a m e n viele M a ß n a h m e n spät, untergruben
die Autorität des Staates, verbitterten diejenigen, die die Kriegswirtschafts-
m a ß n a h m e n beachteten, und k a m e n denen zugute, die sie m i ß b r a u c h t e n . " 5

I. Die preußische Staatswirtschaft


D a nach dem Ende des Krieges eine viel diskutierte R e i c h s r e f o r m nicht
stattfand, blieb Preußen als Staat — abgesehen von den Gebietsverlusten
— erhalten. D e r Versuch, durch die Entwicklung einer gewissen staatlichen
„ P l a n w i r t s c h a f t " - der Begriff wurde gegen Ende des Krieges von W i e c h a r d
von M o e l l e n d o r f f in die R e f o r m - D i s k u s s i o n eingeführt — wurde jedoch
nicht für den größten Teilstaat des Reiches empfohlen, sondern für dieses
selbst.
Während die Privatwirtschaft im preußischen Staatsgebiet im wesent-
lichen im R a h m e n der Weimarer Republik tätig w a r und sich entwickelte,
einen „preußischen" C h a r a k t e r schon seit langer Z e i t also nicht hatte, was
bei der Rationalisierung des Steinkohlenbergbaus 1924— 1929 sehr deutlich
zum Ausdruck k a m , 6 existierte nach wie vor eine preußische Staatswirt-
s c h a f t . 7 Auch entstanden wirtschaftliche Probleme, die mehr den preußi-
schen Staat als das Reich und dessen andere Länder betrafen.
Die preußische Staatsindustrie 8 bestand nach wie vor im wesentlichen in
Bergwerken und Salinen. Ihre Verwaltung oblag bis 1923 einer speziellen
Abteilung im Staatsministerium. D a n a c h ü b e r n a h m die a m 13. Dezember
1923 gegründete „Preußische Bergwerks- und Hütten A G (Preussag)", deren
Aktienkapital ursprünglich 4 , 5 M i l l i o n e n R M betrug, die „Verwaltung und
Ausführung der S t a a t s b e t r i e b e " . Es handelte sich um 31 Bergwerke, Berg-
werkshütten und Salinenbetriebe sowie um vier Unternehmungen, die in
G e m e i n s c h a f t mit anderen v o m preußischen Staat betrieben wurden. In den
J a h r e n 1 9 2 5 / 2 6 dehnte die Preussag ihren Besitz an verschiedenen O r t e n
durch den E r w e r b von Bergwerksanteilen sowie Industrie- und Handels-
betrieben in diesem Bereich aus. Im J a h r e 1932 hatten die Förderung des

5 K . RÖSELER, U n t e r n e h m e r in d e r W e i m a r e r R e p u b l i k . . . ( 1 9 6 8 ) [ 3 8 9 ] .
6 Wilhelm TREUE, Dahlbusch. Geschichte eines Unternehmens im Ruhrge-
biet, Mainz 1988, S. 72 ff.
7 Gerhard HECKER, „Metallum Aktiengesellschaft": Industrielle und staatliche
Interessenidentität im Rahmen des Hindenburg-Programmes, in: MGM, Bd. 35
(1984), S. 1 1 3 - 1 3 9 ; Lothar BURCHARDT, Zwischen Kriegsgewinnen und Kriegs-
kosten. Krupp im Ersten Weltkrieg, in: ZUntG, 32. Jg. (1987), S. 71 - 1 2 3 ; Fritz
BLAICH, Kapitalistische Planwirtschaft, ein ordnungspolitischer Versuch zur Über-
windung der Weltwirtschaftskrise, in: Schmjb, Bd. 90 (1970), S. 4 3 - 6 6 .
8 H . - J . WINKLER, P r e u ß e n als U n t e r n e h m e r . . . ( 1 9 6 5 ) [ 3 5 0 ] , S. 1 5 7 .
586 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

preußischen Staates aus seinem gesamten Kohle-, Öl- und Salzbergbau sowie
sechs Salinen einen Wert von 120 Millionen R M ; die Zahl der dabei
Beschäftigten betrug 29.000 Arbeiter. Da der Wert der Förderung der
Privatwerke auf diesem Gebiet 1,3 Milliarden R M (mit annähernd 300.000
Arbeitern) betrug, handelt es sich bei den Staatsbetrieben um 8,8 Prozent
der Förderung beziehungsweise der Produktion und um 8,9 Prozent der
Beschäftigten. 9
Im Jahre 1913 hatten die Gemeinden in Preußen 78 Prozent Anteil an
den Gaswerken und 74 Prozent an der Gasversorgung. Der erstere stieg
1924 - 1 9 3 0 auf mehr als 80 Prozent, der letztere auf 84 Prozent. Im Jahre
1926 gründete angesichts erheblicher Absatzschwierigkeit das Rheinisch-
Westfälische Kohlensyndikat die Ruhrgas AG, die zunächst nur die Mög-
lichkeit der Ferngasversorgung studieren sollte, aber bereits im März 1927
in eine Betriebsgesellschaft umgewandelt wurde und ein gesamtdeutsches
Monopol der Ferngasversorgung mit den Gemeinden als Abnehmern an-
strebte. Die Gemeinden, die mit ihren Gaswerken hohe Einnahmen erzielten,
widersetzten sich erfolgreich und erreichten, daß es verschiedentlich zur
Bildung gemischter Unternehmen kam, an denen sie ähnlich wie am Rhei-
nisch-Westfälischen Elektrizitätswerk (RWE) beteiligt waren, sowie zur
direkten kommunalen Verbundwirtschaft.
Auf dem Gebiet der Elektrizitätswirtschaft 10 wurde die vor dem Kriege
begonnene Politik der qualifizierten Beteiligung des Staates an den Versor-
gungsunternehmen fortgesetzt. Bis 1924 baute der Staat Dampfkraftwerke
auf Stein- und Braunkohlenbasis bei Kassel und Hannover und organisierte
großräumig die elektrizitätswirtschaftliche Infrastruktur erst im Räume
Nordhessen — Hannover/Braunschweig, schließlich von der Nordsee bis
zum Main. Auch zog er notleidende privatwirtschaftliche Unternehmen an
sich. Im Jahre 1926 war der preußische Staat mit 26 bis 80 Prozent am
Kapital von zehn Elektrizitätswerken beteiligt, das Großkraftwerk Hanno-
ver und die preußischen Kraftwerke in Kassel besaß er zu 100 Prozent. Im
Jahre 1927 wurde für die gesamte staatliche Beteiligung an Elektrizitäts-
werken die „Preußische Elektrizitäts-AG" („Preußen-Elektra") mit einem
Kapital in Höhe von 80 Millionen R M gegründet, die nach dem sogenannten
Norddeutschen Elektrofrieden von 1927 mit der RWE-AG 1927/29 unter
Übernahme vieler weiterer privater Elektrizitätsgesellschaften und Berg-
werke auch in anderen Ländern (Braunschweig, Thüringen) ihre Stromer-
zeugung annähernd verdoppelte und bis 1930 ihr Kapital auf 125 Millionen
R M erhöhte.
Preussag und Preußen-Elektra wurden 1929 in der „Vereinigten Elektri-
zitäts- und Bergwerke-AG" (VEBA) zusammengefaßt, die als Holding die

9 M a x SCHULZ-BRIESEN, Der preußische Staatsbergbau... (1933/34) [65], Bd. 2,


S. 217.
10 Gerd HEINRICH, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt/M. - Ber-
l i n - W i e n 1981, S. 4 7 5 ; Wilfried BERG, Wirtschaftsverwaltung einschließlich
Bauwesen, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh, Deut-
sche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1985, S. 4 2 1 - 4 3 4 , hier S. 425.
II. Agrarkrise und „Osthilfe" in Preußen 587

Finanzpolitik der staatswirtschaftlichen Unternehmungen steuerte - nicht


selten in Konkurrenz und im Konflikt mit dem Reich. Bis 1937/38 hat die
,moderne' Wirtschaftsbürokratie als ein ziemlich geschlossener Block im
Preußischen (Reichs-)Wirtschaftsministerium arbeiten können. Erst dann
wechselten viele der qualifizierten Beamten in die freie Wirtschaft über. 1 1
In der Wirtschaftskrisis seit 1929 haben diese preußischen Staatsbetriebe,
die ihre Verluste an den Steuerzahler weiterzureichen vermochten, eine
Sozialpolitik betrieben, die weit über die der Privatwirtschaft hinausgehen
konnte. Während zum Beispiel 1932 der Umsatzrückgang gegenüber dem
Vorjahr 19,7 Prozent betrug, wurden nur 8,6 Prozent der Mitarbeiter
entlassen. Im Geschäftsbericht für dieses Jahr hieß es dazu: „Ein Beleg-
schaftsabbau im prozentualen Ausmaß des Umsatzschwundes wäre für eine
staatliche Gesellschaft schlechterdings unerträglich gewesen." In der Kom-
munalwirtschaft großer Städte, insbesondere Berlins, verhielt man sich
ähnlich — allerdings auch mit dem Blick der regierenden Parteien auf die
Wähler und auf die Dauer unter Rationalisierungsschwächen mit entspre-
chenden Kosten für die Steuerzahler etwa bei den Verkehrsbetrieben,
schließlich in Grenzgebieten auch unter Berücksichtigung außenpolitischer
Gesichtspunkte: Die Preussag leistete zum Beispiel dem Hüttenwerk Glei-
witz/Malapane in Oberschlesien 1930/32, das man aus bevölkerungspoli-
tischen Gründen nicht schließen wollte, etwa 10 Millionen R M an Zuschüs-
sen.
Große Aufmerksamkeit widmete der preußische Staat seit 1918 dem
Schulwesen (auch dem technischen), dessen Q u a l i t ä t als eine der Voraus-
setzungen des wirtschaftlichen Rétablissements erkannt wurde. Die Tech-
nischen Hochschulen wurden erweitert und modernisiert, Fachhochschulen
für den „Zweiten technischen Bildungsweg" insbesondere in Berlin vom
Staat gegründet und, schnell erfolgreich, von den Wirtschaftsverbänden
gefördert und beeinflußt. 1 2

II. Agrarkrise und „Osthilfe" in Preußen

Während des 19. Jahrhunderts hatte die Landwirtschaft in Preußens Ost-


provinzen mehrfach Krisen überstehen müssen. Diese waren durch kriege-
rische und politische Ereignisse, Mißernten, Zollpolitik des Auslandes, auch
durch kreditwirtschaftliche Entwicklungen verursacht gewesen. Im Jahre
1908 begann ein ostpreußischer Agrarpolitiker einen wissenschaftlichen

11 H.-J. WINKLER, Preußen als Unternehmer... (1965) [350], S. 157; Martin SOGE-
MEIER, Die öffentliche H a n d in der privaten Wirtschaft, Berlin [1926].
12 Lothar SCHULZ, Der zweite technische Bildungsweg im Berlin der Weimarer
Republik, in: Günter Sodan (Hg.), Die Technische Fachhochschule Berlin im
Spektrum Berliner Bildungsgeschichte, Berlin 1988, S. 215 —252; H a n s Joachim
WEFELD, Peter Joseph Lenne. Preußens „praefectus horti", in: A . a . O . , S. 139 —
162, hier S. 157.
588 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

Aufsatz über die „Verschuldung und Entschuldung der L a n d w i r t s c h a f t " , 1 3


der insbesondere eine Entschuldungsvorlage der „Ostpreußischen Land-
s c h a f t " behandelte, mit den Sätzen: „Während die deutsche Landwirtschaft
unzweifelhaft durch ein M e n s c h e n a l t e r organischen Leidens hindurchge-
schritten ist, beginnt sie sich jetzt wieder auf der Sonnenseite des W i r t -
schaftslebens zu fühlen. Es m u ß auffallen, daß gleichzeitig mit dieser ver-
änderten Lage das Entschuldungsproblem und die Entschuldungsbewegung
mit erneuter Stärke innerhalb der Landwirtschaft selbst und innerhalb der
gesetzgebenden Kreise um Anerkennung werben. D e r Reichskanzler und
die beiden letzten preußischen Landwirtschaftsminister haben sich mit ihrer
ganzen Autorität dafür eingesetzt." Eng mit diesem Problem verbunden
waren Kolonisationspläne der „ L a n d s c h a f t " . 1 4
Selbst die bereits zitierte euphorische Kaiser-Geburtstags-Rede von
J . H a n s e n im J a n u a r 1914 w a r durchsetzt mit Hinweisen auf die N ö t e und
Schwächen der Landwirtschaft in den Ostprovinzen im Vergleich zu ihrer
Lage in den westlichen Gebieten der M o n a r c h i e . D e r Weltkrieg fügte seine
besonderen Belastungen zu den gewissermaßen traditionellen hinzu, und
ihm folgten weitere territorialer und finanzieller Art durch den Friedens-
vertrag und seine Konsequenzen.
In den von Deutschland infolge des Vertrages abzutretenden Gebietsteilen
der Provinzen Posen und Westpreußen hatten bis 1918 1,2 Millionen Deut-
sche gelebt, von denen danach in kurzer Z e i t mehr als 8 0 0 . 0 0 0 nach
Deutschland abwanderten. D a d u r c h verminderte sich dort die deutsche
Bevölkerung um 55 Prozent im ländlichen und 85 Prozent im städtischen
Bereich. D a m i t verbunden war der Verlust von 5 0 0 . 0 0 0 H e k t a r privaten
landwirtschaftlichen Grundbesitzes an Polen. D i e Abwanderung eines so
beträchtlichen Bevölkerungsteiles w a r bisher in „hochzivilisierten Ländern
in solch kurzem Z e i t r a u m nicht b e o b a c h t e t w o r d e n " . D e r wesentliche
Grund für die A b w a n d e r u n g war die wirtschaftliche Aussichtslosigkeit für
Einwohner, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit behalten wollten, im
neugeschaffenen polnischen S t a a t . 1 5 Ähnlich w a r es in den entsprechenden
schlesischen Gebieten. Seit der Gründung der Weimarer Republik mit einem
Reichsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten geriet die
Landwirtschaft der Länder, ganz abgesehen von Zoll- und Handelsverträ-
gen, immer stärker unter den politischen und finanziellen Einfluß des
Reiches. D a s betraf in Preußen hauptsächlich die Kredit-, Getreideanbau-,

13 Felix BORCHARDT, Verschuldung und Entschuldung der Landwirtschaft, in:


Schmjb, Bd. 32 (1908), S. 162 ff.
14 F. SWART, Die Kolonisationspläne der Ostpreußischen Landschaft und ihr Zu-
sammenhang mit der Entschuldungsvorlage, in: Schmjb, Bd. 33 (1908), S. 1063 -
1095; Hermann MAUER, Die Entschuldungsaktion der Ostpreußischen Landschaft
kaufmännisch betrachtet, in: A . a . O . , S. 207 — 232.
15 Hermann RAUSCHNING, Die Entdeutschung Westpreußens und Posens. Zehn
Jahre polnischer Politik, Berlin 1930 (ND Berlin 1988 u.d.T.: Die Abwanderung
der Deutschen aus Westpreußen und Posen nach dem Ersten Weltkrieg. Ein
Beitrag zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen 1919 — 1929).
II. Agrarkrise und „Osthilfe" in Preußen 589

Subventions- und Siedlungspolitik. Infolgedessen kann bereits für die Infla-


tionszeit nicht mehr von einer „preußischen Landwirtschaft" im Sinne
früherer Zeiten die Rede sein. 16
Als die Inflation mit ihren unmittelbaren Wirkungen vorüber war, be-
schäftigte die Landwirtschaft 17 im Lande Preußen um 1925 annähernd
30 Prozent aller Erwerbstätigen (Handwerk und Industrie 41 Prozent). In
seinen östlichen Provinzen stieg der Anteil auf mehr als 61 Prozent, in
Rheinland und Westfalen lag er unter 20 Prozent. Eine hitzige Diskussion
über die Stärken und Schwächen des angeblich vorwiegend adligen Groß-
grundbesitzes, über die Kosten und wirtschaftlichen und politischen Vorteile
der inneren Kolonisation, Betriebstechnik, Verschuldung, lange und kurze
Agrarzyklen in Reichstag und Landtag bot der Landwirtschaft um so
weniger Hilfe, als sie sich häufig über die statistisch belegbaren Fakten
hinwegsetzte. Diese zeigten deutlich, daß nur in dem ehemals österreichi-
schen Schlesien und im dünn besiedelten Pommern um 1925 der Anteil des
Landadels und der Domänen etwa 28 Prozent, in Brandenburg 20 Prozent
an der Nutzfläche betrug, in Ostpreußen dagegen bei annähernd 13 Prozent
lag und daß 20 bis 24 Prozent dieses Besitzes, in Brandenburg sogar mehr
als 27 Prozent verpachtet waren. 1 8 Dagegen war die volkswirtschaftliche
Bedeutung der Großlandwirtschaft in Preußens Ost- und Mittelprovinzen
in den 20er Jahren beträchtlich. Um 1920 wurden 72 Prozent des Kartoffel-
und 60 Prozent des Getreidebedarfs im Reich von diesem Großgrundbesitz
gedeckt.
Im Jahre 1929 veröffentlichte der wohl beste Kenner der volkswirtschaft-
lichen Seite der deutschen Landwirtschaft, C. von Dietze, einen unmittelbar
vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrisis geschriebenen umfangreichen Auf-
satz über die Lage der deutschen Landwirtschaft. 19 Er stellte fest, daß 1926
der Kaufpreis für Landgüter in den Ostprovinzen bei weniger als 50 Prozent
der Vorkriegshöhe lag, der Domänen-Pachtzins erheblich höher, die Fläche
der Zwangsversteigerungen doppelt so hoch wie 1913 (beim Großgrund-
besitz noch weit höher) war. Unmittelbar nach der Inflation fast schulden-
frei, war die deutsche Landwirtschaft bereits 1926 sehr hoch verschuldet —
am höchsten in den östlichen Provinzen. Dietze stellte fest: „Man hat allen
Anlaß, von einer Notlage der deutschen Landwirtschaft zu sprechen" —
ganz besonders in Ostdeutschland „und dort wiederum in den Großbetrie-
ben", bei denen die Verschuldung „schneller zugenommen hat als in den

16 Heinrich BECKER, Handlungsspielräume der Agrarpolitik in der Weimarer Re-


publik zwischen 1923 und 1929, Phil. Diss. Göttingen 1987; vgl. Wilhelm TREUE,
Georg von Giesche's Erben 1 7 0 4 - 1 9 6 4 , Hamburg 1964.
17 Harald WINKEL, Landwirtschaft und Forsten, in: K. G. A. Jeserich/H. Pohl/
G.-C.von Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte (1985) [s.o. Anm. 10], § 5 ,
S. 435 - 449; W. MAGURA, Geschichte der Landwirtschaft... (1986) [53], S. 252ff.
18 G. HEINRICH, Geschichte Preußens... (1981) [s.o. Anm. 10], S. 481 f.
19 Constantin von DIETZE, Die Lage der deutschen Landwirtschaft, in: JbbNSt,
Bd. 130 (1929), S. 6 5 3 - 6 8 0 ; Friedrich RICHTER, Beiträge zur Industrie- und
Handwerksgeschichte... (1988) [383],
590 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

Bauernwirtschaften". Als Hauptursache dafür nannte Dietze: ungünstige


Preisverhältnisse, Senkung der Naturalerträge durch Verringerung der sach-
lichen Aufwendungen" (Düngung, Futtermittel), „sehr bedeutende" Steuer-
und Zinslasten. Die durchschnittliche Verschuldung der landwirtschaftli-
chen Betriebe (Reichsdurchschnitt 30 Prozent des Einheitswertes) betrug am
1. Januar 1928 in den Landesfinanzamtsbezirken Königsberg 57 Prozent,
Stettin 53 Prozent, Breslau 40 Prozent. Alle 14 Finanzamtsbezirke im Reich,
die mehr als 70 Prozent Verschuldung angaben, lagen in Ostpreußen,
Pommern und Schlesien. Dieser Schuldenstand führte bereits 1927/28 dazu,
daß vielfach die ordnungsgemäße Bewirtschaftung zum Stillstand kam,
übermäßige Verkäufe, Unterlassung von Reparaturen, Abholzung von Wäl-
dern festgestellt wurden, dagegen nicht Lohnsteigerungen und überhöhte
Lebenshaltung zu den Hauptgründen zählten, die er vielmehr als „sogar
stark herabgedrückt" und im Verhältnis zur Industrie „niedrig" bezeichnete.
Als „letzte, entscheidende Ursache der verschiedenen Schwierigkeiten"
nannte Dietze die „Tribute, welche Deutschland den Siegermächten leisten
muß".
Neben der „Agrarnot" existierte für die preußischen Ostprovinzen die
„Grenznot". Durch die Gebietsabtretungen waren die Wirtschaft in den
Ostgebieten und deren Verbund mit den weiter westlich gelegenen Regionen
schwer geschädigt worden. Dazu kam ein Flüchtlingsstrom aus den polnisch
gewordenen Gebieten, der in der „Grenzmark" etwa zehn Prozent der
ansässigen Bevölkerung erreichte.
Hilfsmaßnahmen für den preußischen Osten 2 0 setzten bald nach dem
Kriegsende ein. Zunächst wurden die Abstimmungsgebiete in Ostpreußen
und Oberschlesien bedacht: 1921 durch „Treudank" in Marienwerder und
Allenstein, „Abstimmungsdank" 1923 in Oberschlesien. Seit 1922 gab es
ein gemeinsam vom Reich und von Preußen getragenes mehrjähriges „Ost-
preußen-Programm" mit verkehrspolitischem Schwergewicht. 1926 folgte
erstmals eine „allgemeine Grenzhilfe" durch Schaffung eines besonderen
„Ostfonds" des Reiches sowie für die Landwirtschaft eine „Lastensenkungs-
und Zinsverbilligungs"-Aktion. 1927 trat daneben ein Sonderfonds für
Ostpreußen. Seit 1928 ging man an eine langfristige Ostpreußen-Hilfe, eine
Umschuldungs-, Lastensenkungs- und Frachterstattungs-Aktion für die
Landwirtschaft in Verbindung mit einer Verstärkung der Siedlungsförde-
rung. Die Erfolge der Umschuldungsmaßnahmen waren unbefriedigend: Die
Verschärfung der Krisis führte schon 1930 dazu, daß ein erheblicher Teil
der umgeschuldeten Betriebe erneut in Schwierigkeiten gerieten. Viele er-
hielten unter dem Einfluß von Schuldner- und Gläubigerkreisen bei den
bewilligenden Instanzen Hilfe, obgleich sie nicht mehr sanierbar waren.

20 Kurt HAMANN/Hans HARTENSTEIN, Die Osthilfegesetze. Eine Darstellung der


Osthilfemaßnahmen, der gewerblichen Kreditgewährung durch die Industriebank
( = VRDI, H. 59), Berlin 1931; Friedrich RICHTER, Industriepolitik im agrarischen
Osten. Ein Beitrag zur Geschichte Ostpreußens zwischen den Weltkriegen. Bericht
und Dokumentation, Wiesbaden 1984 mit „Ergänzungsband" „Beiträge zur In-
dustrie- und Handwerksgeschichte Ostpreußens 1919 - 1939", Stuttgart 1988.
II. Agrarkrise und „Osthilfe" in Preußen 591

Es folgte eine Neuregelung durch Garantieleistung von Reich und Preußen


auf der Grundlage der Notverordnung vom 26. Juli 1930. Zur einheitlichen
Durchführung der Maßnahmen schuf Reichspräsident von Hindenburg
im August 1930 eine „Oststelle bei der Reichskanzlei" mit fünf Landstellen
im Umschuldungsgebiet. Auf Drängen der landwirtschaftlichen Interessen-
ten erließ die Notverordnung einen Vollstreckungsschutz auf drei Monate.
Schließlich kam es zum „Osthilfegesetz" des Reiches vom 26. März 1931,
das die Hilfe auf ganz „Ostdeutschland" rechts der Elbe ausdehnte. Es
verlängerte alle bisher angeordneten Hilfsmaßnahmen bis 1936 und förderte
insbesondere Umschuldung und Siedlung.
Neben dieser Hilfe hauptsächlich für die Landwirtschaft existierten stän-
dig eine „Grenzhilfe" zur „Behebung der unmittelbaren Grenzzerreißungs-
schäden" sowie Kredithilfen für die kleinere und mittlere Industrie und das
mittelständische Gewerbe.
Der größte Teil der umfangreichen Mittel, die für die Durchführung der
in den Osthilfegesetzen gestellten Aufgaben — insbesondere die landwirt-
schaftliche Entschuldung und die Gewährung von Krediten — erforderlich
waren, wurden seit 1924 aus der „Aufbringungsumlage" gewonnen, mit der
die Unternehmer der industriellen und gewerblichen Betriebe und des Han-
dels in den anderen Teilen des Reiches belastet wurden (Industriebela-
stungsgesetz vom 30. August 1927). 2 1 Die Aufbringungslast betrug zum
Beispiel 1931/32 430 Millionen R M .
Im Osthilfegebiet gab es 1,3 Millionen landwirtschaftliche Betriebe; von
ihnen hatten nur 13.312, also etwa ein Prozent, mehr als 100 Hektar
Nutzfläche. Die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche des Osthilfegebietes
betrug 10,4 Millionen Hektar. Davon befanden sich Ende 1932 4 Millionen
Hektar = 38 Prozent im Entschuldungsverfahren. Insgesamt wurden 72.531
Entschuldungsverfahren anhängig gemacht, davon 40.438 im Sicherungs-
verfahren. Erledigt waren bis zum 1. Februar 1933 35.000 Fälle, und zwar
21.400 durch Ablehnung, 13.700 durch Entschuldungsdarlehen in einer
Gesamthöhe von 150 Millionen R M . Von diesem Betrag waren Anfang-
Februar 1933 48 Millionen R M in 5.516 Fällen restlos an die Gläubiger
ausgezahlt, etwa 78 Millionen R M in 7.946 Fällen den örtlichen Um-
schuldungskreditinstituten zur Verfügung gestellt.
Bei der Vergabe und Verwendung der „Osthilfe" kam es zu Skandalen:
Hilfsgelder wurden von den Großgrundbesitzern nicht zur Sanierung ihrer
Betriebe, sondern gänzlich zweckentfremdet oder zum Erwerb weiterer
Güter verwendet, die wiederum Anspruch auf zusätzliche Unterstützung
schufen. Auch entstand der Verdacht, daß das Gut Neudeck, welches die
Wirtschaft dem Reichspräsidenten von Hindenburg geschenkt hatte, auf
den Namen von dessen Sohn und Adjutanten eingetragen worden war.
Hitlers Machtergreifung und ihre Folgen lenkten schließlich die Öffent-
lichkeit von diesen Problemen ab, die die — hauptsächlich in Preußen

21 Vgl. auch F. BLAICH, Staat und Verbände... (1979) [s.o. Anm. 4], S. 57ff.
592 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

ansässige — agrar- und kulturkonservative „Elite" der Weimarer Gesell-


schaft betrafen.
Am 30. Januar 1933 übernahm der Reichsernährungs- und Reichswirt-
schaftsminister Hugenberg die Leitung des Reichskommissariats für die
Osthilfe. Er verlängerte am 14. Februar 1933 den landwirtschaftlichen Voll-
streckungsschutz bis zum 31. Oktober 1933. Danach sollte die Osthilfe in
die Maßnahmen „zur Gesundung der Landwirtschaft, insbesondere zur
Wiederherstellung ihrer Rentabilität" eingeordnet werden. Das geschah
nach der Beseitigung Preußens als Staat.
Der Gesamtgeldwert der vom Reich und von Preußen aufgebrachten
Osthilfe für die Landwirtschaft betrug vom März 1931 bis zum 31. März
1933 zwischen 850 und 1000 Millionen R M .
Zur „Osthilfe" gehörten jedoch nicht allein die Unterstützungsaktionen
für die vorwiegend preußische und hauptsächlich Großlandwirtschaft, son-
dern auch solche für Bergbau und Industrie in den östlichen Grenzgebieten
Preußens. Diese Hilfe begann mit der Einfuhrsperre für die wichtigsten
polnischen Exportgüter (hauptsächlich Kohle, davon 60 Prozent nach
Deutschland) sowie mit dem deutsch-polnischen Handelsvertrag vom
15. Juni 1925 und mit direkten finanziellen Maßnahmen nach dem Abschluß
des Locarno-Vertrages im Oktober 1925 als Rückendeckung und „Sicher-
heit" im Westen sowie mit Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund am
8. November 1926. 2 2 Bereits am 7. September 1925 hatte Stresemann an den
ehemaligen Kronprinzen geschrieben: Nächst der Lösung der Reparations-
frage und der Unterstützung der Auslandsdeutschen sei „die dritte große
Aufgabe die Korrektur der Ostgrenze, die Wiedergewinnung Danzigs, des
polnischen Korridors und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien... im
Hintergrund steht der Anschluß von Deutsch-Österreich".
Der preußische Minister des Innern bezeichnete in einem Schreiben vom
8. November 1926 an die Reichsregierung deren „Sofortprogramm 1926"
als eine „Abschlagszahlung" des Reiches an Preußen und erklärte, für 1927
dürfe nicht übersehen werden, daß mit dessen Erfüllung ein politischer
Nutzeffekt erzielt werden sollte, „nämlich den östlichen Grenzgebieten die
Hilfsbereitschaft des Reiches... sofort vor Augen zu führen, nachdem in
den ersten Nachkriegsjahren das Reich seine Unterstützung im wesentlichen
dem Westen hat angedeihen lassen müssen; dazu gehört auch eine gewisse
Industrialisierung Ostpreußens". 2 3
Zu dieser Zeit hatten die „Osthilfe"-Maßnahmen beider Regierungen für
die Industrie bereits begonnen mit der Subventionierung der bedeutendsten
industriellen Unternehmungen im deutsch gebliebenen Oberschlesien sowie

22 Annelise THIMME, Gustav Stresemann. Legende und Wirklichkeit, in: H Z , Bd. 181
(1956), S. 2 8 7 - 3 3 8 .
23 Friedrich RICHTER, Industriepolitik... (1984) [s.o. Anm. 20]; Ders., Beiträge zur
Industrie- und Handwerksgeschichte... (1988) [383]; Rudolf SAUERZAPF, Subven-
tionsgewährung im Dienste der deutschen Revisions- und Revanche-Politik gegen
Polen 1 9 2 5 / 2 6 - 1933. Die Industrie-„Osthilfe" der Weimarer Republik, Phil. Diss.
Halle 1965 [MS], S. 75.
II. Agrarkrise und „Osthilfe" in Preußen 593

in Ostpreußen, nämlich der Konzerne Oberschlesische Eisenindustrie AG


(Obereisen) und Oberschlesische Eisenbedarfs AG (Oberbedarf), 24 die zur
Oberhütten-Gesellschaft zusammengeschlossen wurden, „um den Fortbe-
stand einer eisenerzeugenden Industrie in Oberschlesien auch für die ferne
Zukunft" zu sichern. Doch im Herbst 1926 ging die Majorität von Obereisen
an die von Flick 2 5 beherrschten Mitteldeutschen Stahlwerke über, so daß
man die Überlagerung der staatlich-politischen Interessen durch privatka-
pitalistische von Flick und den Vereinigten Stahlwerken fürchten mußte,
die auf die Stillegung der oberschlesischen Betriebe zielten. Daraus ergab
sich ein bis 1933, letztlich bis 1939 reichender teurer und bald unübersicht-
licher Osthilfe-Komplex, der viel Ähnlichkeit mit den häufig fragwürdigen
Hilfsbegehren und -erfüllungen bei der Landwirtschaft hatte, wobei, wie
nicht selten auch dort, die Subventionierten mit Hilfe der erlangten Beträge
weitere Betriebe an sich zogen — zum Beispiel die Schrotthandelsfirma
Schweitzer & Oppler und die Schlesische Montan GmbH. 1931/32 mußte
erneut eine Sanierung von Oberhütten vorgenommen werden.
Einen weiteren gleichartigen Komplex bildete die Subventionsgewährung
an die Bergwerksgesellschaft Georg von Giesche's Erben (Breslau) und die
damit verbundene Einflußnahme Preußens und des Reiches auf die ober-
schlesische Zinkgewinnung, wobei seit 1931 das Interesse des Reichswehr-
ministeriums (Groener) an der Erhaltung der deutschen Zinkgruben und
-hütten immer deutlicher in den Vordergrund trat, während die chemische
Industrie und die Preussag die Entstehung von Überkapazitäten durch die
Errichtung einer Giesche-Zinkelektrolyse-Anlage in Magdeburg befürchte-
ten. Hitlers Regierungsübernahme machte die Verwirklichung des Magde-
burg-Projekts zu einem der ersten „Arbeitsbeschaffungs"-Anliegen.
Auch die Niederschlesische Bergbau AG in dem kohlewirtschaftlich dritt-
größten deutschen Revier wurde in die Osthilfe-Aktion einbezogen (obwohl
das Gebiet nicht unmittelbar von Grenzveränderungen betroffen worden
war), da das preußische Innenministerium bei Unterlassung von Hilfsmaß-
nahmen eine innen- und außenpolitische Gefährdung dieses Grenzgebietes
durch Polen und die Tschechoslowakei für möglich hielt. Von 1930 an
verschlechterte sich im Rahmen der Weltwirtschaftskrisis die Lage des
Unternehmens, so daß auch hier, nicht zuletzt aus sozialpolitischen Grün-
den, eine Sanierung nötig erschien. Die Gesellschaft verwendete jedoch
einen großen Teil der Subventionen zu Rationalisierungsmaßnahmen, die
Arbeiterentlassungen und Einsparungen ermöglichten, also nicht dem
Zweck der Unterstützung entsprachen.
Das Waldenburger Bergbau-Unternehmen des Fürsten von Pleß mußte in
die Osthilfe einbezogen werden, da die Rationalisierung bei der Nieder-
schlesischen Bergbau AG sie in Schwierigkeiten brachte. Außerdem sollte
der Fürst von Pleß durch das staatliche Eingreifen als Vorsitzender des
Deutschtum-Vereins gestützt werden. Im Mai 1933 ersetzte auf Wunsch von

24 A. a. 0 . , S . 9 4 f f . ; K . FUCHS, Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung... (1987)


[307],
25 Günter OGGER, Friedrich Flick der Große, Bern - München - Wien 1971, S. 85 ff.
594 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

Hess das Reichswirtschaftsministerium die bisherige Leitung bei Pleß durch


„Persönlichkeiten aus der nationalen Bewegung" — unter anderem durch
Prinz Reuß (Warmbrunn) und Graf Pückler (Friedland).
Die industrielle Osthilfe wurde auch Betrieben in Ostpreußen und Danzig
gewährt. So erhielt die alte Firma Schichau in Elbing und Danzig seit 1926
hohe Beträge, um sie für den militär-, bevölkerungs-, außen- und sozial-
politisch wichtigen Schiff-, Lokomotiv- und Maschinenbau an der Ostsee
und im nordöstlichen Deutschland zu erhalten. Diese Hilfe wurde gezielt
verstärkt, als die Marineleitung Schichau in die geheime Aufrüstung (unter
anderem Tankerbau für den Transport von Erdöl aus Estland) einbezog.
Schließlich wurde auch hier 1929/30 eine Sanierung nötig — zu den ein-
flußreichsten Begründungen für eine solche zählte die Absicht, die polnische
Werftindustrie (Gdingen) zu schädigen. Daß dadurch auch der übrigen
deutschen Werftindustrie, die bereits Not litt, weiterer Schaden zugefügt
wurde, nahmen beide Regierungen um so leichter in Kauf, als diese ohnehin
schon subventioniert werden mußte.
Weiter wurden seit 1930 die Maschinen- und Automobilfabrik Komnick
in Elbing (deren Reparaturwerkstatt 1930 das Braunschweiger Unternehmen
Büssing übernahm und ausbaute) und das dritte größere Industrie-Unter-
nehmen in Ostpreußen, die Union-Gießerei für Lokomotivbau und mit einer
kleinen Werft in Königsberg (die schließlich mit Schichau fusionierte) aus
den gleichen, im Laufe der Zeit immer stärker aus militärischen Gründen
subventioniert. Seit 1933 konnte Schichau einen lebhaften Auftragsanstieg
im Rüstungsgeschäft (U-Boote) verzeichnen.
Die Motive der „Osthilfe" für Landwirtschaft und Industrie waren also
im allgemeinen die gleichen, und zumindest die genannten Betriebe sowie
ihre Besitzer und Manager verstanden es, das vielseitig „nationale" Interesse
der Regierungen des Reiches und Preußens an der Erhaltung der Wirtschaft
in den östlichen Grenzgebieten zu ihrem privaten Vorteil auszunutzen, wobei
es nicht selten zu enger Zusammenarbeit von Unternehmern, Politikern und
hohen Beamten zum finanziellen Nachteil der Steuerzahler sowie zu Anse-
hensverlusten von Staatsmännern, Parlamenten und der Beamtenoberschicht
der Weimarer Republik kam. 2 6 Diese Wirtschaftskriminalität ist bisher so
wenig wissenschaftlich untersucht worden wie überhaupt dieser Komplex,

26 Arno FACKELMEYER, Subventionen und Produktionsförderung als Mittel der


Außenpolitik, Diss. TU Berlin 1952; Karl HOCHDÖRFFER, Die staatlichen Sub-
ventionen der Nachkriegszeit in Deutschland, Landau 1930 (Wirtsch.- und so-
zialwiss. Diss. Köln 1930); Wolfgang HOEFER, Die Industriesubventionen in
Deutschland seit 1924, Marburg 1937 (Rechts- und staatswiss. Diss. Marburg
1937); Wilhelm SMIKALLA, Subventionen als Mittel staatlicher Wirtschaftspolitik,
Rechts- und staatswiss. Diss. Würzburg 1954 [MS]; Max STEFFENS, Die volks-
wirtschaftliche Problematik der Subventionen mit besonderer Rücksicht auf ihre
Bedeutung in der Staatswirtschaft des Deutschen Reiches 1928 - 1935, Würzburg
1936 (Rechts- und staatswiss. Diss. Bonn 1936); Gerhard WENDE, Die Auswir-
kungen der Grenzziehung auf die oberschlesische Montanindustrie ( = SchrDAI,
R. E, Bd. 7), Stuttgart 1932.
III. Preußens bedeutendste Bergbau- und Industrieregion 595

der zum Beispiel in der GiinstlingsWirtschaft Friedrich Wilhelms I., in der


Spätzeit Friedrichs II. (Regie), unter Friedrich Wilhelm II. und seit den
„Gründerjahren" ein beträchtliches Ausmaß erlangt haben muß.

III. Preußens bedeutendste Bergbau- und


Industrieregion: das Rheinland

Unmittelbar nach der Beendigung der Kämpfe im November 1918 geriet


das Rheinland in eine schwere wirtschaftliche Krisis mit für Preußen (und
das Reich) gefährlicher politischer Auswirkung. Bereits vor dem Kriege war
die Infrastruktur dieses Gebietes kaum noch den Belastungen durch die seit
langer Zeit schnell expandierende Industrie und die sozialen Folgen (zum
Beispiel Wohnungsmangel) der entsprechenden Bevölkerungsverschiebun-
gen gewachsen gewesen. Zum Beispiel war die Belegschaft von Krupp
1 9 1 4 - 1 9 1 8 von 43.000 auf 100.000, die von Thyssen in Mülheim von 3.000
auf 26.000, von Rheinmetall von 9.000 auf 50.000 gestiegen, während
Handwerk, Einzelhandel, Bauwirtschaft usw. Schrumpfungen erlitten hat-
ten. Nun führten die Demobilmachung des Heeres und Anpassung der
Industrie an den Friedensbedarf zu schweren sozialen Problemen. 27 Nach-
dem die Nationalversammlung durch ein Gesetz vom 23. März 1919 die
„Vergesellschaftung" von Industrie und Bergbau angekündigt und bedeu-
tende Lohnerhöhungen veranlaßt hatte, geriet der Ruhrbergbau obendrein
nicht zuletzt durch Rationalisierungsmaßnahmen in der Wärmewirtschaft
der Industrie seit dem Ende des passiven Widerstandes und der Inflation in
eine Absatzkrise. 28 Und schließlich zerstörte Frankreich den Verbund zwi-
schen Ruhrkohle und Lothringischer Minette, löste Luxemburg aus dem
deutschen Zollgebiet, was den Aachener Raum schwer traf, und schuf eine
Zollunion zwischen dem Saargebiet und Frankreich.
Dies alles führte zu zweierlei Reaktionen:
1. Der sozialdemokratisch regierte und daher vielen Unternehmern ver-
dächtig gewordene preußische Staat verzichtete schließlich wie das Reich
auf Eingriffe in das Gefüge der Schwerindustrie und bemühte sich, die
Rahmenbedingungen der Region zu verbessern, die vom Königreich Preußen
vor dem Krieg vernachlässigt worden waren. Der Plan für die Gründung
einer Technischen Hochschule in Dortmund zwecks Modernisierung und
Erweiterung der Industrie im östlichen Ruhrgebiet, mindestens aber die
Schaffung einer ingenieurwissenschaftlichen Fakultät in Münster scheiterte
am Widerstand der T H Aachen, die auf ihre nationalpolitisch gefährdete

27 A . S C H L I E P E R / H . R E I N E C K E / H . - J . WESTHOLT, 1 5 0 J a h r e R u h r g e b i e t . . . ( 1 9 8 6 ) [ 1 0 ] ;
Peter HÜTTENBERGER, Strukturentwicklung in deutschen Wirtschaftsregionen
vom 19. Jahrhundert bis Ende der 1960er Jahre, in: ZUntG, Bd. 34 (1989),
S. 1 5 2 - 1 6 2 .
28 Wilhelm TREUE, Dahlbusch. Geschichte eines Unternehmens im Ruhrge-
biet, Mainz 1988, S. 52 ff.
596 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

Grenzlage hinwies und eine Art Äquivalent für die Unterstützung der
Universitäten Breslau und Königsberg forderte. Preußen betrieb weiter die
Anbindung des Ruhrreviers an den mitteldeutschen Industrieraum durch
die Fortführung des Baues des Mittelland-Kanals seit 1920, stieß aber auf
den Widerstand der Reichsbahn sowie auf die von der Ruhrindustrie be-
grüßte Absicht des Reiches, seit 1924/25 die Verwaltung aller Wasserstraßen
zu übernehmen. Diese komplizierten Interessengegensätze behinderten und
verzögerten die Durchführung der wirtschaftlichen Modernisierungspläne
Preußens bis in die Weltwirtschaftskrise hinein. An ähnlichen Spannungen
zwischen Reich, Preußen, Kommunen, Elektrizitätswirtschaft, Kohlenberg-
bau und Industrie scheiterten die Bemühungen des 1920 gegründeten Sied-
lungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, die Bahn- und Straßenverhältnisse in der
Region zu modernisieren und dem Bedarf anzupassen. 29 Schließlich bemühte
der Staat sich 1929 um eine kommunale Gebietsreform, um großflächige
Planungs- und Funktionseinheiten entstehen zu lassen. Auch hier stieß er
auf Widerstände von Kommunen und Industrie, deren eigene Projekte
(Wohnungen, Flughäfen, Ausstellungen usw.) dann jedoch vielfach der
Krisis zum Opfer fielen.
2. Anfang 1919 setzte sich der Kölner Bankier Simon Alfred von Oppen-
heim mit einem Referat des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer
auseinander und schrieb am 12. Februar über die „in weiten Kreisen hier
propagierte ,Westdeutsche Republik': Ich habe mich auch zu der Überzeu-
gung durchgerungen, daß dies die beste Lösung wirtschaftlich und politisch
für uns wäre." 3 0 Wie Oppenheim fürchteten auch viele andere bis dahin
durchaus „patriotische" führende rheinische Unternehmer, die „Versak-
kungspolitik" von Preußen und Reich werde sie um ihre wirtschaftliche
und gesellschaftliche Existenz bringen. Dabei spielte auf der Seite der
Wirtschaft der als skrupelloser Spekulant bekannte und gefürchtete Kölner
Industrielle und Bankier-Partner Oppenheims Louis Hagen eine führende
Rolle. Als im Frühjahr 1923 Poincaré das Ruhrgebiet militärisch besetzen
ließ und damit versuchte, die deutsche Stahlindustrie unter französische
Kontrolle zu bringen, sowie in der Folge immer stärker die Trennung des
Rheinlands von Preußen und vom Reich betrieb, um es in einen Sonderstatus
zu versetzen und zu einer Pufferzone unter französischer Vorherrschaft und
wirtschaftlicher Anlehnung an den Franc-Raum zu machen, scheiterte dies
nicht so sehr am Widerstand des Unternehmertums und der Reichsregierung
Stresemann als an dem Englands und der USA, die Schacht unterstützten.
Anfang November 1923 konnte der französische Militärgouverneur Tirard
nach Paris melden, „daß alle wichtigen Bankiers der besetzten Gebiete"
bereit seien, eine entsprechende „Rheinische Notenbank" zu gründen. An-
schließend bemühte sich Hagen, der schon ein Statut entworfen hatte, in

29 P. HÜTTENBERGER, Strukturentwicklung... (1989) [s.o. Anm. 27], S. 1 5 9 f .


30 M . STÜRMER/G. TEICHMANN/W. TREUE, Wägen und Wagen... (1989) [137],
S. 334 ff.; Über Adenauers schwankende Haltung in diesen Jahren vgl. Ludwig
BIELER, Konrad Adenauer — ein preußischer Politiker? Sein politisches Wirken
in den Jahren 1 9 0 6 - 1 9 3 3 , in: JbPrKb, Bd. 19 (1983), S. 1 0 9 - 1 2 7 , bes. S. 112ff.
III. Preußens bedeutendste Bergbau- und Industrieregion 597

Berlin um die Zustimmung der Reichsregierung. Aber dort traute man ihm
nicht, und da er dann am 1. Dezember den Franzosen nicht die gesetzliche
und wirtschaftliche Kontrolle über die Bank zusichern konnte, wurde
schließlich nichts aus der Bank und mithin auch nichts aus der Trennung
des Rheinlandes von Preußen oder gar vom Reich.
Vielmehr gelang es den Unternehmern, sich trotz Verstaatlichungsgefahr,
Betriebsrätegesetz, Verkürzung der Arbeitszeit, Lohnsteigerungen, Preis-
drosselungen, Besetzung des Ruhrgebiets und der Kosten des passiven
Widerstandes gegen diese mit Hilfe der Währungsreform-Maßnahmen und
Fusionen in eine neue, allerdings nur kurze Phase des privatwirtschaftlichen
Aufbaus zu gelangen. Da man strukturpolitische Eingriffe des Staates ab-
lehnte und bekämpfte, mußte man selber wenigstens einige durchführen.
Viele Großunternehmen bemühten sich daher um technologische Innovatio-
nen und betriebswirtschaftliche Rationalisierungen — Krupp ging zum
Beispiel 1926 zur Produktion nichtrostender Nickelstähle über, die man
schon 1912 erfunden hatte. Das Kohleforschungsinstitut der Kaiser-Wil-
helm-Gesellschaft in Mülheim entwickelte unter anderem die Kohlehydrie-
rung; 31 die Bergbaugesellschaften gründeten 1926 die AG für Kohleverwer-
tung (später AG für Steinkohleveredlung und Steinkohleverflüssigung); die
1927 geschaffene „Kohlechemie" — später „Ruhrchemie AG" — widmete
sich der technischen Modernisierung. Teuere Zechenstillegungen führten
zur Verbesserung der Ertragslage. Die Stahlindustrie nahm große Umgrup-
pierungen und Fusionen vor - bis hin zur Gründung der „Vereinigten
Stahlwerke" im Jahr 1926. So ergab sich ein starker privatwirtschaftlicher
Modernisierungsschub, während die vom Staat angestrebte soziale Um-
strukturierung der Region, zum Beispiel durch großzügige Eingemeindungen
1929, zur Vermeidung neuer schwerer Krisen ausblieb. Für die Großstädte,
die ihre Investitionen zum Teil mit USA-Krediten finanzierten, erlangten
jene Eingemeindungen nach hoher Verschuldung infolge der Wirkungen der
Weltwirtschaftskrisis keine anregende Bedeutung. Die wichtigsten Ober-
bürgermeister, zugleich preußische Berufsbeamte und Spitzenrepräsentanten
ihres Wirkungsraumes, spielten in der Reichspolitik eine wegen der Tendenz
ihrer Aktivitäten nicht immer unumstrittene Rolle. Während der Kölner
Adenauer, trotz seiner nicht ganz durchsichtigen Stellung zum Separatismus
mehrfach kurzfristig als ministrabel gehandelt, bis zu dessen Ende Präsident
des Preußischen Staatsrates blieb, amtierten Hans Luther (Essen) zur Zeit
der Markstabilisierung in Berlin als Finanzminister und danach als Reichs-
kanzler, Karl Jarres (Düsseldorf) als Reichsinnenminister. 32

31 Manfred RASCH, Geschichte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Kohlenforschung


1913 - 1943, Weinheim 1989, S. 101 ff.
32 Walter FORST, Kleine Geschichte Nordrhein-Westfalens, Düsseldorf 1986,
S. 12 ff.; Ursula ROMBECK-JASCHINSKI, Wie die Groß-Stadt Wuppertal entstand,
in: GWest, Bd. 3 (1988), H . 1, S. 1 9 - 3 4 ; Kurt DÜWELL, Reichsreform, Länder-
gliederung und Föderalismus, in: Walter Forst (Hg.), Die Länder und der Bund.
Beiträge zur Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1988, S. 2 2 9 —
254.
598 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

Die Nationalsozialisten blieben bis 1933 in den beiden Westprovinzen


mit sechs Reichstagswahlkreisen schwach vertreten, zumal die Stadtparla-
mente bereits 1929 zum letzten Male gewählt worden waren. Das Zentrum
erhielt daher bis zu den "Wahlen im März 1933 mehr Stimmen als die NSDAP.
Der entsprechend radikalen Gleichschaltung im Frühjahr 1933 fielen neben
den Parteien und Gewerkschaften naturgemäß auch die Oberbürgermeister
zum Opfer - allen voran Adenauer. Dagegen wurden die beiden Oberprä-
sidenten mit Rücksicht auf den starken Katholizismus erst nach mehreren
Jahren durch insgesamt sechs Partei-Gauleiter ersetzt. Durch die Remilita-
risierung des Rheinlandes im Jahre 1936 fand dann die Einbeziehung dieser
seit 1815 preußischen Region in das Dritte Reich ihren Abschluß, nachdem
der Bau des Westwalls, eines bedeutenden Wirtschaftsobjekts, die Tendenz
von Hitlers Außenpolitik unübersehbar gemacht hatte.
Der Nationalsozialismus hat nach Beendigung der Weltwirtschaftskrisis
die von Preußen und dem Reich „in Angriff genommenen, aber nicht
vollständig bewältigten Probleme des rheinisch-westfälischen Industriege-
bietes keineswegs aufgenommen und bereinigt, sondern lediglich durch
Aufrüstung und Krieg überdeckt". 3 3

IV. Die Kommunalwirtschaft in der


Landeshauptstadt Groß-Berlin 1919 - 1 9 3 4

Im Jahre 1911/12 wurde der „Zweckverband Groß-Berlin" gegründet. Seit-


dem 3 4 ging man daran, die kommunalwirtschaftlich betriebenen Bereiche
in ihm zu vergrößern. Doch beschränkte der Zweckverband diese Expansion
im wesentlichen auf den Verkehr sowie auf städtebauliche und forstliche
Planungen. Im Kriege trat die Lebensmittelbewirtschaftung hinzu.

33 P. HÜTTENBERGER, Strukturentwicklung... (1989) [s.o. Anm. 27], S. 162.


34 Z u r Frühgeschichte vgl. Wilhelm TREUE, Kommunale Unternehmen und ihre
Zusammenarbeit mit politischen Gremien, Verwaltungen und Verbänden (ab ca.
1850 bis zur Gegenwart), in: Hans Pohl (Hg.), Kommunale Unternehmen. Ge-
schichte und Gegenwart. Referate und Diskussionsbeiträge des 9. Wissenschaft-
lichen Symposiums der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e. V. am 17./
18. Januar 1985 in Köln ( = Z U n t G , Beih. 42), Stuttgart 1987, S. 1 9 4 - 2 2 2 ; O.
BÜSCH, Geschichte der Berliner Kommunalwirtschaft... (1960) [349], S. 15; Wolf-
gang RIBBE (Hg.), Geschichte Berlins, München 2 1 9 8 8 , Bd. 2; T h o m a s KÖSTER,
Die Entwicklung kommunaler Finanzsysteme am Beispiel Großbritanniens,
Frankreichs und Deutschlands 1 7 9 0 - 1 9 8 0 ( = FinwFa, N . F., Bd. 54), Berlin 1984,
S. 235 ff.; Felix ESCHER, Berlin und sein Umland. Z u r Genese der Berliner Stadt-
landschaft bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ( = EvHKzB, Bd. 47), Berlin 1983,
S. 246 ff., bes. S. 311 ff. - Vgl. auch G. AMBROSIUS, Die öffentliche Wirtschaft...
(1984) [348]; Jochen BOBERG U. a. (Hg.), Die Metropole. Industriekultur in Berlin
im 20. Jahrhundert ( = Industriekultur deutscher Städte und Regionen, Bd. 2),
München 1986.
IV. Die Kommunalwirtschaft in Groß-Berlin 1 9 1 9 - 1 9 3 4 599

Die Bildung der (neuen) „Stadtgemeinde Berlin" durch das von der
Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung verabschiedete Ge-
setz vom 27. April 1920 schuf durch den Zusammenschluß von acht Städten,
59 Landgemeinden, von denen Steglitz mit mehr als 100.000 Einwohnern
eine Großstadt war, und 27 Gutsbezirken die verwaltungsmäßigen und
kommunalwirtschaftlichen Voraussetzungen für die Weiterentwicklung und
Ausdehnung der Kommunalbetriebe in Berlin, das zwar in erster Linie
Reichshauptstadt, aber doch auch immer noch Hauptstadt des Landes
Preußen war. 3 5 Seine Endphase als solche begann mit dem ersten „Preußen-
schlag" gegen die politische und administrative Zentrale des preußischen
Staates; sie schloß 1933/34. 3 6
Einige große Betriebskomplexe bildeten das Schwergewicht der Berliner
Kommunalwirtschaft in der Nachkriegs- und Inflationszeit. An der Spitze
stand die Straßenbahn (Elektrifizierung 1896/1902), die 1913 bereits auf
583 km Schienennetz 651 Millionen Personen befördert hatte, deren Anteil
am Personenverkehr 1920 —1923 von 55 auf 27 Prozent zurückging, die
Zahl ihrer Beschäftigten dagegen nur von 19.000 auf 14.000. Am Kapital
der Allgemeinen Omnibusgesellschaft, die 0,6 bis 2,2 Prozent des Personen-
verkehrs erledigte, war die Stadt mit 30 Prozent, an den Hoch- und Unter-
grundbahn-Gesellschaften, die zwischen 7 Prozent und 16 Prozent des
Nahverkehrs bewältigten, unterschiedlich mit 30 bis 70 Prozent beteiligt.
1 9 2 0 - 1 9 2 4 schuf man für Häfen und Lagerhäuser (BEHALA), Wasser-
und Landstraßen, den Stadtfuhrpark, für den Luftverkehr, den Fremden-
verkehr und das Messewesen privatrechtliche, in beschränktem Maße nach
kaufmännischen, aber hauptsächlich nach sozialpolitischen Gesichtspunkten
geleitete Unternehmen, die sich nach Möglichkeit in kommunalem, gele-
gentlich auch in gemischtwirtschaftlichem Besitz befanden. 37 Gleichzeitig
drang man in den Wohnungsbau ein, indem man Gesellschaften übernahm
und gründete. Im Jahre 1923 wurde eine Stadtgüter GmbH gegründet, die
annähernd 100.000 Morgen Land verwaltete. Schließlich führte man eine
Konzentration des kommunalen Spar- und Kreditwesens durch.
In ihren Versorgungswerken für Gas, Wasser und Elektrizität beschäftigte
die Stadt Berlin 1923 1 7 . 0 0 0 - 1 8 . 0 0 0 Personen. In den Jahren der Hoch-

35 Christian ENGELI, Landesplanung in Berlin-Brandenburg. Eine Untersuchung zur


Geschichte des Landesplanungsverbandes Brandenburg-Mitte 1929-1936
( = SchrDIUrb, Bd. 75), Stuttgart 1986.
36 Karl Heinrich KAUFHOLD, Straßenbahnen im Deutschen Reich vor 1914, in:
Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft seit der Industrialisierung, Festschrift für
Wolfgang Köllmann zum 65. Geburtstag, hg. von Dietmar Petzina/Jürgen Reu-
lecke ( = U W S T G , Bd. 8), Dortmund 1990, S. 2 1 9 - 2 3 8 ; Berthold GRZYWATZ,
Arbeit und Bevölkerung im Berlin der Weimarer Zeit. Eine historisch-statistische
Untersuchung ( = EvHKzB, Bd. 63), Berlin 1988.
37 Karl Heinrich KAUFHOLD, Der Konflikt zwischen technischem Fortschritt und
Beschäftigung in den 1920er Jahren, in: Günter Gabisch (Hg.), Technischer
Fortschritt, Beschäftigung und wirtschaftliches Gleichgewicht, Berlin 1988,
S. 2 8 2 - 3 1 7 .
600 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

konjunktur nahmen diese Versorgungsunternehmen der Viermillionenstadt,


der Hauptstadt des deutschen Wirtschaftslebens, mit 2,3 Millionen Erwerbs-
tätigen, unter hoher Auslandsverschuldung Berlins außerordentlich zu. Im
Jahre 1929 waren 5 0 . 0 0 0 - 6 0 . 0 0 0 Arbeiter und Handwerker, Beamte und
Angestellte in ihnen tätig. Mit den Ruhegehaltsempfängern und allen Fa-
milienangehörigen ergaben sich etwa 150.000 — 200.000 Personen. „Annä-
hernd 5 Prozent der Berliner Bevölkerung lebten somit direkt von den
kommunalen Betrieben" Berlins und erhielten durch sie ihre Kranken- und
Altersversorgung, zum Teil auch ihren Wohnraum. Sie bildeten einen si-
cheren Konsumentenstamm mit bedeutender Kaufkraft für die Berliner
Wirtschaft. „Die erreichte Stabilisierung der Preisverhältnisse für die Ver-
sorgungs-Leistungen der Kommunalbetriebe, also der Tarife, trug wesentlich
zur Stabilisierung der darauf aufbauenden privatwirtschaftlichen Kalkula-
tionen und damit zur Prosperität der örtlichen Privatwirtschaft bei."
Den Höhepunkt dieser Entwicklung 38 bildete die vom Stadtrat Ernst
Reuter angeregte vollständige Zusammenfassung der drei Verkehrsbetriebe
zum 1. Januar 1929 in der „Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft" (BVG)
mit einem offiziellen, aber nie vorhanden gewesenen Aktienkapital in Höhe
von 400 Millionen R M , das sich gänzlich im Besitz der Stadt befand. Die
BVG war das größte kommunale Unternehmen der Welt und nach der
Deutschen Reichsbahn sowie der IG Farbenindustrie das drittgrößte Unter-
nehmen im Reich. Diese Regelung brachte erhebliche organisatorische,
finanzielle und verkehrliche Vorteile, eine Angleichung der Löhne, die
Vereinheitlichung der sozialen Einrichtungen (zum Beispiel der Betriebs-
krankenkasse für etwa 55.000 Personen), die Erleichterung städtebaulicher
und verkehrstechnischer und -politischer Planungen.
Seit 1930 gerieten aber auch die kommunalwirtschaftlichen Unterneh-
mungen und Einrichtungen in die große Wirtschaftskrisis. In dieser erlitt
die BVG Verluste, die nicht ohne eigene Schuld schließlich sehr schwer
wurden und nicht zu Unrecht heftige Kritik fanden. Die Zahl der von ihr
beförderten Personen ging 1 9 3 0 - 1 9 3 2 von 2 auf 1,2 Milliarden zurück,
unter anderem auch deshalb, weil sie ihre Tarife erhöhen mußte, als sozi-
alpolitisch belastetes Unternehmen bei Entlassungen und Lohnkürzungen
behindert war und der reichsbahneigene Anteil an der Gesamtbeförderung
von 23 auf 30 Prozent stieg. 1930 wurde der Untergrundbahn-Bau, der in
den 20er Jahren einschließlich Grundstückskäufen 480 Millionen R M ge-
kostet und in erster Linie die hohe Verschuldung der Stadt verursacht hatte,
fast ganz eingestellt. Die Bewag wurde unter dem Druck eines erheblichen
Rückgangs ihres Stromverkaufs in eine gemischtwirtschaftliche Gesellschaft
umgewandelt, an der zum Nachteil Berlins Preußen und das Reich beteiligt
waren. In keiner anderen deutschen Stadt wurde in den Stabilisierungsjahren
1 9 2 4 - 1 9 3 0 (mit Hilfe von 750 Millionen R M aus der 1924 eingeführten
Hauszinssteuer) so sehr kommunaler Wohnungsbau betrieben wie in Berlin

38 Ludovica SCARPA, Martin Wagner und Berlin. Architektur und Städtebau in der
Weimarer Republik, Braunschweig - Wiesbaden 1986; Walter SCHNEIDER, Der
Städtische Berliner Öffentliche Nahverkehr, 12 Bde., Berlin 1978 [MS],
IV. Die Kommunalwirtschaft in Groß-Berlin 1919 - 1 9 3 4 601

mit 1929/30 4,3 Millionen Einwohnern. Dennoch bestand Ende 1929 ein
Fehlbedarf von 200.000 Wohnungen. Dann hörte der Strom langfristiger
Anleihen unter anderem für solche Vorhaben nach Berlin auf. 3 9
Schließlich kam es in der Endphase Preußens und der Weimarer Republik
zu heftigen politischen Auseinandersetzungen um die sozialpolitisch bela-
stete Finanzpolitik der Berliner Kommunalbetriebe. Für ihren Ausbau waren
1924—1930 1,2 Milliarden R M Schulden gemacht worden — nicht zuletzt
weil die ungünstige Regelung des Finanzausgleichs zwischen Reich, Ländern
und Gemeinden zu einer ständigen Verkürzung der Steueranteile für Berlin
an mehreren wichtigen Steuern geführt hatte. Allerdings war das für die
Berliner Finanzpolitik keine Überraschung. Auch hätte man nicht unbedingt
die kurzfristige Verschuldung, die Ende 1929 400 Millionen R M erreichte,
erhöhen müssen, als die von Schacht eingerichtete „Anleiheberatungsstelle"
die Aufnahme langfristiger Auslandskredite erschwerte, um die Verschul-
dung von Reich, Ländern und Gemeinden in erträglichen Grenzen zu halten.
Eine Notverordnung des Reichspräsidenten vom 24. August 1931 er-
mächtigte die Landesregierungen, „alle Maßnahmen, die zum Ausgleich der
Haushalte von Ländern und Gemeinden ... erforderlich sind, im Verord-
nungswege vorzuschreiben. Sie können dabei von dem bestehenden Lan-
desrecht abweichen." Daraufhin erließ die preußische Regierung eine Spar-
verordnung, die festlegte, daß eine „Mitwirkung der kommunalen Vertre-
tungskörperschaften" an den von der Regierung zum Ausgleich der Ge-
meindefinanzen vorgesehenen Sparmaßnahmen „ausgeschlossen" sei. Eine
Durchführungsverordnung übertrug es den Exekutivorganen der Gemeinden
in Berlin, mithin dem Oberbürgermeister Sahm, alle Maßnahmen zum
Ausgleich des Haushaltes zu treffen.
Aber nachdem die präsidiale Notverordnungspolitik des Reichskanzlers
Brüning schon seit längerer Zeit das „Vordringen der Reichsgesetzgebung
in den Bereich der Landeszuständigkeit bewirkt" hatte, 4 0 wurde am 20. Juli
1932 mit dem ersten „Preußenschlag" (der zweite fand vom 31. Januar bis
zum 11. April 1933 statt und endete mit der Verdrängung des Reichs-
kommissars von Papen durch den Reichsstatthalter Hitler) von Papen die
amtierende preußische Regierung kaltgestellt und damit die Sanierungspo-

39 Henning KÖHLER, Berlin in der Weimarer Republik ( 1 9 1 8 - 1 9 3 2 ) , in: Wolfgang


Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins... ( 2 1988) [ s . o . A n m . 27], S. 7 9 5 - 9 2 3 , hier
S. 8 5 7 f f . ; M . ERBE, Nahverkehrsplanung... (1988) [406]; M a r t i n a SÖNNICHSEN,
Leistungsverwaltung in der ersten Berliner Demokratie. Stadtplanung, Siedlungs-
wesen und Wohnungsbau der Reichshauptstadt in der Amtszeit Martin Wagners
1 9 2 6 - 1 9 3 0 , in: O t t o Büsch (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Berliner D e m o -
kratie 1 9 1 9 - 1 9 3 3 / 1 9 4 5 - 1 9 8 5 . M i t einer Bibliographie und einem statistischen
Anhang ( = E v H K z B , Bd. 65), Berlin 1988, S. 8 5 - 1 0 6 .
40 Karl Dietrich BRACHER, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum
Problem des Machtverfalls in der Demokratie ( = SchrlpW, Bd. 4), 4 Berlin 1964,
S. 5 7 1 ; Fritz BLAICH, Kapitalistische Planwirtschaft... (1970) [ s . o . A n m . 7 ] ; Ilse
MAURER/Udo WENGST (Hg.), Politik und W i r t s c h a f t . . . (1980) [365]; H o r s t MÖL-
LER, Parlamentarismus in Preußen 1 9 1 9 — 1932, Düsseldorf 1985.
602 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

litik, die man seit der Notverordnung vom August 1931 zu treiben versucht
hatte, beendet. Noch am gleichen Tage verkündete Papen eine zweite
Notverordnung, die der Reichspräsident im voraus unterzeichnet hatte.
Diese „Verordnung betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Si-
cherheit und Ordnung in Groß-Berlin und Provinz Brandenburg" setzte die
gemäß Art. 48, Abs. 2 der Reichsverfassung suspendierbaren Grundrechte
bis auf weiteres außer Kraft und unterstellte die Berliner Schutzpolizei dem
Reich. Hatte Hindenburg am 24. August 1931 Berlin als eine Landeshaupt-
stadt behandelt, so galt es in der neuen Verordnung als Reichshauptstadt,
zumal ja Preußen von einem Reichskommissar regiert wurde. Von nun an
ging alles durcheinander. Das „Gesetz über die Verfassung der Hauptstadt
Berlin" vom 29. Juni 1934 war ein preußisches Gesetz und betraf mithin
die Landeshauptstadt. Der „Deutschen Gemeindeordnung" vom 30. Januar
1935 folgte eine Sonderregelung für die „Verfassung der Hauptstadt Berlin"
durch ein Reichsgesetz vom 1. Dezember 1936. Und fortan bestimmten je
nach der Machtlage Minister, Gauleiter, Staatskommissar, Generalinspek-
teur mit- und gegeneinander über Berlin und seine Wirtschaft. 4 1
Das alles spielte sich ab vor dem Streben der preußischen Ministerial-
bürokratie unter der Federführung des Staatssekretärs Grauert (Innenmi-
nisterium) und des Finanzministers von Popitz, eine neue Kommunalge-
setzgebung aufzubauen. Um dem Vollzug eines Verbots des Reichsinnen-
ministeriums vom 28. Oktober 1933, Kommunalordnungen zu erlassen,
zuvorzukommen, wurde zwischen dem 15. und dem 18. Dezember 1933
eine neue preußische Kommunalgesetzgebung durchgeführt, die einheitliches
Recht für das gesamte preußische Gebiet für die kommunale Organisation
und die kommunalen Aufgaben schuf, die bisher geltenden 15 Gemein-
deordnungen der verschiedenen Landesteile aufhob und die Bürgerschaft
zugunsten der staatlichen Parteiinstanzen entmachtete. Dieser staatsauto-
ritären Konzeption der kommunalen Neuordnung entsprach das Gemein-
definanzgesetz vom 15. Dezember 1933, das erneut die totale Staatsaufsicht
einführte, wie sie in Berlin bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden
hatte.
Berlin, das nach Hitlers Vorstellung einst „Germania" heißen sollte und
damit auch die Erinnerung an Preußen verloren hätte, blieb juristisch
Landeshauptstadt, solange Preußen, das nicht ein souveräner Staat war, so
daß ihm nur sehr eingeschränkt „Völkerrechtsobjektivität" zukam, bestand
und im Rahmen der Binnenverfassung staatsrechtlich eine Eigenstaatlichkeit
besaß.
Der Preußenschlag beendete diese nicht. Erst die Gleichschaltungsgesetze
vom 31. März und 7. April 1933 leiteten die Aufhebung der Staatlichkeit
Preußens ein; das Reichsgesetz vom 30. Januar 1934 über den Neuaufbau
des Reiches („die Hoheitsrechte der Länder gehen auf das Reich über") hob
in Verbindung mit den Gesetzen zur Aufhebung des Reichsrates und des

41 O t t o BÜSCH/Wolfgang HAUS, Berliner Demokratie 1 9 1 9 - 1 9 8 5 . Bd. 1: Berlin als


H a u p t s t a d t der Weimarer Republik 1 9 1 9 - 1 9 3 3 ( = V H K z B , Bd. 7 0 / 1 ) , Berlin
1987.
IV. Die Kommunalwirtschaft in Groß-Berlin 1 9 1 9 - 1 9 3 4 603

Reichswirtschaftsrates den Staatscharakter der Länder, auch Preußens, end-


gültig auf und hinterließ sie nur als Verwaltungsbezirke und Verwaltungs-
körperschaften. Huber 4 2 erklärte, von einer Staatlichkeit der Länder könne
keine Rede mehr sein, doch seien sie mehr als eine Provinz oder ein
Kommunalverband, sie seien „ein eigener verfassungsrechtlicher Typus".
Die preußischen Ministerien wurden in der Folgezeit, bis 1944 mit Aus-
nahme des Finanzministeriums, mit den entsprechenden Reichsministerien
vereinigt.
Mit Genehmigung des preußischen Ministerpräsidenten Göring wurde
im Juni 1934 das preußische Ministerium für Wirtschaft und Arbeit mit
dem Reichswirtschaftsministerium zum „Reichshaus für Wirtschaft und
Arbeit" in Berlin vereinigt. Damit verfügte also diese Reichsinstitution über
den großen preußischen Verwaltungs- und Herrschaftsapparat: über sieben
Fachabteilungen und eine gut funktionierende Verwaltungsabteilung.
Nächst der Wehrmacht hatte das Reichswirtschaftsministerium 1934 mit
über 260 Millionen R M den höchsten Etat aller Reichsressorts. Am
27. November 1934 wurden die preußischen Provinzialverwaltungen Außen-
stellen des Reiches. Da das Gleichschaltungsgesetz vom 30. Januar 1934
dem Reichswirtschaftsminister nicht genügte, um die dezentralisierte Ener-
giewirtschaft zu konzentrieren, erging am 13. Dezember 1935 das Gesetz
zur Förderung der Energiewirtschaft, „um die Energiewirtschaft als wich-
tigste Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Lebens im Zusammen-
wirken aller beteiligten Kreise der Wirtschaft und der öffentlichen Gebiets-
körperschaften einheitlich zu führen und im Interesse des Gemeinwohls die
Energiemacht wirtschaftlich einzusetzen, den notwendigen öffentlichen Ein-
fluß in allen Angelegenheiten der Energieversorgung zu sichern..." Dagegen
überließ der Erlaß des preußischen Ministerpräsidenten vom 11. März 1935
die gesamten Verkehrsangelegenheiten dem Reich.
Bei der preußischen Landwirtschaftsorganisation spielten sich entspre-
chende Konzentrationen auf das Reich ab, wobei es zu Aufteilungen auf
verschiedene Ministerien kam: 1933 gingen die Kammern auf den Reichs-
nährstand über. Die Gestütsverwaltung und Pferdezucht gelangten zunächst
am 30. Juni 1933 an das Reichsinnen-, 1934 an das Reichsernährungsmi-
nisterium, die preußische Forstverwaltung ging wegen Görings Interesse am
Wald am 1. Dezember 1933 auf sein Amt als Ministerpräsident über. Das
preußische Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten wurde
am 1. Januar 1935 mit dem entsprechenden Reichsministerium vereinigt
zum „Reichs- und preußischen Ministerium für Ernährung und Landwirt-
schaft", das jedoch am 11. März 1935 bereits Teile seiner Kompetenz an
das Reichsinnenministerium abtreten mußte.
Ein Gesetz vom 5. Juli 1935 brachte schließlich die fällige Vereinigung
der Landes- mit den Reichsbehörden als „Betrieben des Reiches", damit die
Unterscheidung von Landes- und Reichsaufgaben hinfällig wurde. 43

42 Ernst Rudolf HUBER, Das Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches [1937],


H a m b u r g 2 1 9 3 9 , S. 3 2 1 .
43 Willi A. BOELCKE, Wirtschaftsverwaltung, in: K. G. A. Jeserich/H. P o h l / G . - C . v .
Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte (1985) [ s . o . A n m . 10], S. 7 7 4 - 7 9 3 .
604 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens

Seit dem 30. Januar 1934 gab es also weder Preußen noch eine preußische
Landeshauptstadt, noch eine staatliche Wirtschaft Preußens, sondern nur
eine solche des Reiches sowie privatwirtschaftliche Unternehmen auf dem
Territorium, das bis dahin das Land Preußen gebildet hatte.
Z w a r behielt Preußen mit Hitler als Reichsstatthalter und Göring als
Ministerpräsident (bis zur Amtsenthebung durch Hitler am 23. April 1945)
eine Sonderstellung mit einer gewissen auch wirtschaftsorganisatorischen
Eigenständigkeit im Vergleich zu den anderen Ländern, doch ging es bei
dieser in sich widersprüchlichen Konstruktion nur darum, Göring persönlich
hinter Hitler eine Sonderstellung zu erhalten, nicht Preußen eine solche vor
den anderen Ländern.
Ein erheblicher Teil dieser Staats- und Privatwirtschaft wurde während
des II. Weltkrieges ausgelagert und gelangte später, wenn überhaupt nach
Deutschland, jedenfalls nicht nach Preußen zurück. Ein anderer Teil wurde
auf dem Territorium des ehemaligen Preußens aus der Luft und bei Erd-
kämpfen zerstört oder demontiert und nach dem Kriege gar nicht oder an
anderer Stelle, zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland wieder
aufgebaut. Ein weiterer Teil der ehemals „preußischen" Wirtschaft geriet
durch territoriale Gebietsveränderungen entschädigungslos in ausländi-
schen, polnischen und sowjetrussischen Besitz.
Von den seit 1918/19 polnischen Teilen Schlesiens und Ostpreußens, die
durch die Invasion Polens 1939 okkupiert wurden, gelangte nichts an
Preußen zurück, da dieses nicht mehr existierte.
Von einer Wirtschaftsgeschichte Preußens kann also seit 1934 keine Rede
mehr sein. Der Alliierte Kontrollrat, der im übrigen machtpolitisch, nicht
völker- oder staatsrechtlich entschied, konnte daher durch sein Gesetz Nr. 46
vom 25. Februar 1947 Preußens vor mehr als 13 Jahren vollzogene Auflösung
nur feststellen und nicht mehr befehlen.
III. Das Bildungswesen in Preußen seit
der Mitte des 17. Jahrhunderts
Von Wolfgang Neugebauer

Bibliographie

1. Bibliographien

[1] Erich BRANDENBURG (Hg.), Dahlmann-Waitz. Quellenkunde der deutschen Ge-


schichte, Leipzig 7 1906, Ergänzungsbd., Leipzig 1907; [2] Wilhelm ERMAN/Ewald
HORN, Bibliographie der deutschen Universitäten. Systematisch geordnetes Verzeich-
nis der bis Ende 1899 gedruckten Bücher und Aufsätze über das deutsche Univer-
sitätswesen. Im Auftrage des preußischen Unterrichts-Ministeriums bearbeitet,
3 Bde., Leipzig - Berlin 1904/1905 (ND Hildesheim 1965); [3] Hermann HAERING
(Hg.), Dahlmann/Waitz. Quellenkunde der deutschen Geschichte, Leipzig '1931,
Registerbd., Leipzig 1932; [4] Hermann HEIMPEL/Herbert GEUSS (Hg.), Dahlmann-
Waitz. Quellenkunde der deutschen Geschichte, Stuttgart 101965 - (darin: Bd. 2,
Stuttgart 1971, Abschn. 44 [Bildung und Erziehung], 45 [Wissenschaften] und
46 [Wissenschaftliche Gesellschaften]); [5] Wolfgang NEUGEBAUER, Auswahlbiblio-
graphie zur preußischen Geschichte, in: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hg.),
Moderne Preußische Geschichte 1648-1947. Eine Anthologie ( = VHKzB, Bd. 52),
Berlin - New York 1981, Bd. 3, S. 1677 - 1 7 6 4 ; [6] Johann Daniel SCHULZE, Literatur-
Geschichte der sämmtlichen Schulen und Bildungsanstalten im Deutschen Reiche.
Nach alphabetischer Ordnung bearbeitet, 2 Bde., Weißenfels - Leipzig 1804;
[7] Edwin STARK (Bearb.), Bibliographie zur Universitätsgeschichte. Verzeichnis der
im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland 1945 - 1 9 7 1 veröffentlichten Literatur,
hg. von Erich Hassinger ( = FreibBtrWUG, Bd. 1), München 1974.

2. Quellen

(Der Stand der editorischen Arbeit zur preußischen Schul- und Universitätsge-
schichte, insbesondere die „Bildungswirklichkeit" betreffend, ist noch durchaus
unbefriedigend.)
Sammlungen landesherrlich-staatlicher Veröffentlichungen (Edikten-, Gesetzsamm-
lungen usw.): [8] Centraiblatt [ab 1903: Zentralblatt] für die gesammte [ab 1899:
gesamte] Unterrichts-Verwaltung in Preussen, Berlin 1859-1834 (zit.: ZB1UV);
[9] Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichtswesens in Preußen. Vom Jahre
1817 bis 1868. Actenstücke mit Erläuterungen aus dem Ministerium der geistlichen,
606 Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts

Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Berlin 1869; [10] Gesetz-Sammlung für


die Königlichen Preußischen Staaten, Berlin 1810—1906 (Nachtragsbd.: Sammlung
der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen
von 1806 bis zum 27sten Oktober 1810..., Berlin 1822) (zit.: GS); [11] Johann
Friedrich Wilhelm KOCH, Die Preussischen Universitäten. Eine Sammlung der Ver-
ordnungen, welche die Verfassung und Verwaltung dieser Anstalten betreffen,
2 Bde. (in 3 Bdn.), Berlin - Posen - Bromberg 1839/40; [12] Christian Otto MYLIUS
(Hg.), Corpus Constitutionum Marchicarum, Oder Königl. Preußis. und Churfürstl.
Brandenburgische in der Chur- und Marek Brandenburg, auch incorporirten Landen
publicirte und ergangene Ordnungen, Edicta, Mandata, Rescripta etc. Von Zeiten
Friedrichs I. Churfürsten zu Brandenburg, etc. biß ietzo unter der Regierung Fri-
derich Wilhelms Königs in Preußen etc. ad annum 1736 inclusive, 6 Bde., Berlin —
Halle [1737] —1751; [13] Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgen-
sium Praecipue Marchicarum, Oder Neue Sammlung Königl. Preußl. und Churfürstl.
Brandenburgischer, sonderlich in der Chur- und Marek-Brandenburg, Wie auch
andern Provintzien, publicirten und ergangenen Ordnungen, Edicten, Mandaten,
Rescripte &cc. See. Vom Anfang des Jahrs 1751. und folgenden Zeiten. Mit König-
licher Allergnädigster Bewilligung, und Dero Academie der Wissenschaften, darüber
ertheilten Privilegio, Nebst einer Einleitung in die mannigfaltigen Gesetze eines
Staats, und besonders in die Königl. Preußl. und Chur-Brandenburgische Geistliche
und Weltliche Justiz-Militair-Cameral-Policey und übrige Landes-Gesetze, 12 Bde.,
Berlin 1 7 5 3 - 1 8 2 2 ; [14] Preußische Gesetzsammlung, Berlin 1 9 0 7 - 1 9 4 5 (zit.: GS);
[15] C. L. H. RABE, Sammlung Preußischer Gesetze und Verordnungen, 1. Bd.,
1. Abt.-Bd. 13, Halle - Berlin 1818 - 1825; [16] Ludwig von RÖNNE, Das Unterrichts-
Wesen des Preußischen Staates..., 2Bde., Berlin 1854/55; [17] J. J. SCOTTI (Hg.),
Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Herzogthum Cleve und
in der Grafschaft Mark über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung
und Rechtspflege ergangen sind, vom Jahre 1418 bis zum Eintritt der königlich
preußischen Regierungen im Jahre 1816, 5 Teile, Düsseldorf 1826; [18] Reinhold
VORMBAUM (Hg.), Evangelische Schulordnungen. Bd. 3: Die evangelischen Schulord-
nungen des achtzehnten Jahrhunderts, Gütersloh 1864.

Wichtige Einzeleditionen nichtstaatlichen Charakters: [19] Hans-Jürgen APEL/MÌ-


chael KLÖCKER, Schulwirklichkeit in Rheinpreußen. Analysen und neue Dokumente
zur Modernisierung des Bildungswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
( = StDokdBG, Bd. 30), K ö l n - W i e n 1986; [20] Eduard CLAUSNITZER (Hg.), Die
Volksschulpädagogik Friedrichs des Großen und der preußischen Unterrichtsver-
waltung seiner Zeit ( = PädKl, Bd. 7), Halle a. S. 1902; [21] Gerhardt GIESE (Hg.),
Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800 ( = QsKG, Bd. 15), Göttingen —
Berlin-Frankfurt/M. 1961; [22] Max LEHMANN/Herman GRANIER (Hg.), Preußen
und die Katholische Kirche seit 1640, 9 Bde. ( = PPrStA, Bd. 1, 10, 13, 18, 24, 53,
5 6 , 76, 77), Leipzig 1 8 7 8 - 1 9 0 2 ; [ 2 2 a ] M i c h a e l KLÖCKER ( H g . ) , S a m m l u n g der
Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Bekanntmachungen zum Elementar- bzw. Volks-
schulwesen im 19./20. Jahrhundert, Bd. I f f . , K ö l n - W i e n 1985 ff.

3. Handbücher, Gesamtdarstellungen, Überblicke

[22b] Seit 1987 erscheint: C. BERG u.a. (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungs-
geschichte, 1987 ff. (für die Zeit bis 1945: Bd. 1 - 5 ) ; [23] Eugene N. ANDERSON, Die
preußische Volksschule im neunzehnten Jahrhundert [engl. 1970], in: Otto Büsch/
Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1 6 4 8 - 1 9 4 7 . Eine
Bibliographie 607

Anthologie ( = VHKzB, Bd. 52), Berlin 1981, Bd. 3, S. 1 3 6 6 - 1 3 9 4 ; [24] Hermann


AuBiN/Wolfgang Z O R N (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialge-
schichte, Bd. 2, Stuttgart 1976; [25] Rainer BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen
Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart, Göttingen 1983; [26] Heinz Ernst
BRUNKHORST, Die Einbeziehung der preußischen Schule in die Politik des Staates
( 1 8 0 8 - 1 9 1 8 ) , Düsseldorf 1956 (Phil. Diss. Köln 1956); [27] L[eopold] CLAUSNITZER,
Geschichte des Preußischen Unterrichtsgesetzes. Mit besonderer Berücksichtigung
der Volksschule, Berlin 2 1891; [28] K. HEINEMANN, Geschichte der preußischen
Mittelschule, Halle/Saale 1931; [29] Ulrich HERRMANN (Hg.), Schule und Gesell-
schaft im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichte der Schule im Übergang zur Industrie-
gesellschaft, Weinheim - Basel 1977; [30] Alfred HEUBAUM, Geschichte des deutschen
Bildungswesens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Bd. 1: Bis zum Beginn der
allgemeinen Unterrichtsreform unter Friedrich dem Großen 1763 ff. Das Zeitalter
der Standes- und Berufserziehung [m. n. e.], Berlin 1905 (ND Aalen 1973); [31] Ernst
Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 7 Bde., Stuttgart 1 9 5 7 -
1984; [32] Karl-Ernst JEISMANN, Geschichte als Horizont der Gegenwart. Über den
Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunfts-
perspektive, hg. von Wolfgang Jacobmeyer und Erich Kosthorst, Paderborn 1985;
[33] Friedrich] Eduard KELLER, Geschichte des Preußischen Volksschulwesens,
Berlin 1873; [34] Margret KRAUL, Das deutsche Gymnasium 1 7 8 0 - 1 9 8 0 , Frankfurt/
M. 1984; [35] Anthony J. LA VOPA, Prussian Schoolteachers. Profession and Office,
1763 — 1848, Chapel Hill 1980 (nur vorläufig, da materialmäßig und methodisch
unzureichend); [36] Heinrich LEWIN, Geschichte der Entwicklung der preußischen
Volksschule und der Förderung der Volksbildung durch die Hohenzollern nebst den
wichtigsten Schul-Ordnungen, Schul-Gesetzen, Erlassen und Verfügungen, Leipzig
1910; [37] Peter LUNDGREEN, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick,
2 Bde., Göttingen 1980/81 (Rez. in: J G M O D , Bd. 31 [1982], S. 265 ff.); [38] C[arl]
MÜLLER, Grundriß der Geschichte des preußischen Volksschulwesens. Für Semina-
risten, Lehrer und Schulaufsichtsbeamte dargestellt ( = BüSchL, Bd. 7), Osterwieck/
Harz-Leipzig 4 1913; [39] Friedrich PAULSEN, Das deutsche Bildungswesen in seiner
geschichtlichen Entwicklung ( = A N a t G w e , Bd. 100), Leipzig 1906 u.ö.;
[40] Friedrich PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen
Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit
besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, 2 Bde., Leipzig 3 1919/21 (ND
Berlin 1965) (auch für die preußische Bildungsgeschichte noch immer unersetzt);
[41] Bernhard POTEN, Geschichte des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens in
den Landen deutscher Zunge. Bd. 4: Geschichte des Militär-, Erziehungs- und
Bildungswesens in Preußen ( = MGPaed, Bd. 17), Berlin 1896; [42] Otto SCHMEDING,
Die Entwicklung des realistischen höheren Schulwesens in Preußen bis zum Jahre
1933 mit besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit des Deutschen Realschulmän-
nervereins, Köln 1956; [43] Johannes TEWS, Ein Jahrhundert preußischer Schulge-
schichte. Volksschule und Volksschullehrerstand in Preußen im 19. und
20. Jahrhundert, Leipzig 1914; [44] Kurt WÖHE, Die Geschichte der Leitung der
preußischen Volksschule von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Osterwieck/Harz
1933 (Phil. Diss. Halle - Wittenberg 1933).

4. Universitäts- und Akademiegeschichte

Allgemein: [45] Conrad BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitätsverwal-


tung bis 1810, Berlin 1900 (noch heute für die ältere preußische Universitätsgeschichte
grundlegend); [46] Wilhelm DILTHEY, Studien zur Geschichte des deutschen Geistes
608 Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts

( = Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3), Stuttgart - Göttingen 5 1976; [47] Michael
DOEBERL u.a. (Hg.), Das akademische Deutschland, 3 Bde. und Registerbd., Berlin
1 9 3 0 - 1 9 3 1 ; [48] Franz EULENBURG, Die Frequenz der deutschen Universitäten von
ihrer Gründung bis zur Gegenwart ( = AbhSächsGesW, Bd. 24, No. 2), Leipzig 1904;
[49] Walther HUBATSCH U. a., Deutsche Universitäten und Hochschulen im Osten
( = WAbhAGF, Bd. 30), K ö l n - O p l a d e n 1964; [50] Konrad H. JARAUSCH, Deutsche
Studenten 1 8 0 0 - 1 9 7 0 , Frankfurt a . M . 1984; [51] Charles E. MCCLELLAND, State,
Society and University in Germany 1700—1914, Cambridge/Mass. 1980 (ersetzt eine
- noch ausstehende - Geschichte der Universitäten in Preußen nicht; Rez. in: HZ,
Bd. 235 [1982], S. 373 f.); [52] Frank R. PFETSCH, Zur Entwicklung der Wissen-
schaftspolitik in Deutschland 1 7 5 0 - 1 9 1 4 , Berlin 1974; [ 5 3 ] Hellmuth R Ö S S L E R /
Günther FRANZ (Hg.), Universität und Gelehrtenstand. 1 4 0 0 - 1 8 0 0 . Büdinger Vor-
träge 1966 ( = DFühNz, Bd. 4), Limburg/Lahn 1970.

Berlin: [54] Chronik der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin 1799 — 1899,
Berlin 1899; [55] Adolf HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie
der Wissenschaften zu Berlin, 3 Bde. (in 4 Bdn.), Berlin 1900; [ 5 6 ] Werner H A R T K O P F /
Gerhard DUNKEN, Von der brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften zur
Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1967; [ 5 7 ] Max L E N Z ,
Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 4 Bde. (in
5 Bdn.), Halle a. S. 1 9 1 0 - 1 9 1 8 (Bd. 4: Urkunden, Akten und Briefe, Halle a.S.
1910); [ 5 8 ] Reinhard R Ü R U P (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft. Beiträge zur
Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879 — 1979, 2 Bde., Berlin — Heidel-
b e r g - N e w York 1979.

Bonn: [59] Friedrich von BEZOLD, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-


Universität von der Gründung bis zum Jahr 1870, Bonn 1920; [60] Max BRAUBACH,
Kleine Geschichte der Universität Bonn ( = AlMa, H. 1), Krefeld [1950].

Duisburg: [61] Walter RING, Geschichte der Universität Duisburg, Duisburg 1920;
[62] Günter von RODEN, Die Universität Duisburg ( = DuisbF, Bd. 12), Duisburg
1968.

Frankfurt: [63] J. C. BECMAN, Memoranda Francofurtana Notitia Universitatis...,


Frankfurt/O. 1676; [64] Günther HAASE/Joachim W I N K L E R (Hg.), Die Oder-Uni-
versität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte, Weimar 1983.

Halle: [65] Johann Christoph HOFFBAUER, Geschichte der Universität zu Halle bis
zum Jahre 1805, Halle 1805 (ND Aalen 1981); [66] Wilhelm SCHRÄDER, Geschichte
der Friedrichs-Universität zu Halle, 2 Bde., Berlin 1894 (grundlegend).

Königsberg: [67] Daniel Heinrich ARNOLDT, Ausführliche, und mit Urkunden ver-
sehene Historie der Königsbergischen Universität, 2 Bde., Königsberg 1746;
[68] Ders., Kurtz-gefaßte Historie der Königsbergischen Academie, in: ErlPr, Bd. 4,
Königsberg 1726/28, S. 1 5 7 - 1 8 5 , 3 1 3 - 3 5 4 , 5 7 7 - 6 0 8 , 6 6 9 - 6 8 5 , 7 1 1 - 7 3 0 , 7 6 7 -
823, Bd. 5, Königsberg 1741/42, S. 2 6 9 - 3 2 5 ; [69] Götz von SELLE, Geschichte der
Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, Würzburg 2 1956.

Bibliographische Ergänzung

Nach Abschluß des Manuskriptes und während der redaktionellen Bearbeitung resp.
Drucklegung in den Jahren 1987 —1991 sind zahlreiche Veröffentlichungen erschie-
nen, die in der Regel nicht mehr in den Nachweisapparat eingearbeitet werden
Bibliographie 609

konnten, hier aber zur Orientierung über die jüngste wissenschaftliche Produktion
und den erreichten Kenntnisstand Aufnahme finden können.

Darstellungen und Sammlungen übergreifenden Charakters: [70] Karl-Ernst JEIS-


MANN/Peter LUNDGREEN (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 3:
1800 — 1870. Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen
Reiches, München 1987; [71] Dieter LANGEWIESCHE/Heinz-Elmar TENORTH (Hg.),
Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 5: 1918 —1945. Die Weimarer
Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989; [72] Detlef K.
MüLLER/Bernd ΖΥΜΕΚ/Ulrich HERRMANN, Sozialgeschichte und Statistik des Schul-
systems in den Staaten des Deutschen Reiches 1800 — 1945 ( = DhbdBG, Bd. 2/1),
Göttingen 1987; [73] Hartmut TITZE U. a., Das Hochschulstudium in Preußen und
Deutschland 1820 - 1 9 4 4 ( = DhbdBG, Bd. 1/1), Göttingen 1987; [73 a] Werner LEMM
u. a., Schulgeschichte in Berlin, Berlin 1987; [74] Udo ARNOLD (Hg.), Zur Bildungs-
und Schulgeschichte Preußens, Bd. 1 ( = TbHKprLf, Bd. 8), Lüneburg 1988 (darin
vor allem: Karl-Ernst JEISMANN, Preußische Bildungspolitik vom ausgehenden 18.
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Thesen und Probleme, S. 9 — 37; ferner Lokal-
und Regionalstudien); fast alle Beiträge wichtig in: [75] Wolfgang TREUE/Karlfried
GRÜNDER (Hg.), Berlinische Lebensbilder. Bd. 3: Wissenschaftspolitik in Berlin.
Minister, Beamte, Ratgeber ( = EvHKzB, Bd. 60), Berlin 1987; [76] Hubert LAITKO
u. a., Wissenschaft in Berlin. Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945,
Berlin 1987; [77] Tilmann BuDDENSiEG/Kurt DüwELL/Klaus-Jürgen SEMBACH (Hg.),
Wissenschaften in Berlin. Drei Begleitbände zur Ausstellung „Der Kongreß denkt".
Disziplinen, Objekte, Gedanken. Vom 14. Juni bis 1. November 1987 in der wieder-
eröffneten Kongreßhalle Berlin, 3 Bde., Berlin 1987; [78] Heinz KOSSACK U. a.,
Humboldt-Universität zu Berlin. Dokumente 1810 — 1985, hg. von Helmut Klein,
Berlin 1985; [79] Michael ERBE (Hg.), Berlinische Lebensbilder. Bd. 4: Geisteswis-
senschaftler ( = EvHKzB, Bd. 60), Berlin 1989; [80] Hans Heinrich MANDEL, Ge-
schichte der Gymnasiallehrerbildung in Preußen-Deutschland 1787 - 1 9 8 7
( = HPädSt, Bd. 14), Berlin 1989; [81] Hartmut TITZE/Axel NATH/Volker MÜLLER-
BENEDICT, Der Lehrerzyklus. Zur Wiederkehr von Überfüllung und Mangel im
höheren Lehramt in Preußen, in: ZfPäd, 31. Jg. (1985), S. 9 7 - 1 2 6 ; [82] Hans G.
KIRCHHOFF (Hg.), Der Lehrer in Bild und Zerrbild. 200 Jahre Lehrerausbildung.
W e s e l - S o e s t - D o r t m u n d . 1 7 8 4 - 1 9 8 4 ( = DoArbSGhD, Bd. 9), Bochum 1986; ver-
schiedene Bände der Nachdruckreihe von [83] Michael KLÖCKER (Hg.), Sammlungen
der Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Bekanntmachungen zum Elementar- bzw. Volks-
schulwesen im 19./20. Jahrhundert, Bd. I f f . , Köln —Wien 1985ff.; [83a] unergiebig,
konventionell und nur für das 19. Jh. mit partiell neuen Einsichten: Karl A. SCHLEU-
NES, Schooling and Society. The Politics of Education in Prussia and Bavaria 1750 —
1900, O x f o r d - N e w Y o r k - M ü n c h e n 1989.

Einzelstudien und Sammelbände (in chronologischer Folge der behandelten The-


men): [84] Christian VELDER, Die Anfänge des Französischen Gymnasiums. Anmer-
kungen zu seiner Gründungsgeschichte, in: BGG, 1988, S. 7 - 2 8 ; [85] Christian
VELDER, Die Anfänge des französischen Bildungswesens in Berlin, in: BvB, Bd. 37
(1988), S. 37 —54; [86] Gerhard KANTHAK, Der Akademiegedanke zwischen utopi-
schem Entwurf und barocker Projektmacherei. Zur Geistesgeschichte der Akade-
miebewegung des 17. Jahrhunderts ( = HF, Bd. 34), Berlin 1987; [87] Norbert HINSKE
(Hg.) Halle. Aufklärung und Pietismus ( = ZAufkl, Bd. 1), Heidelberg 1989;
[88] Karl-Ernst JEISMANN, Friedrich der Große und das Bildungswesen im Staat des
aufgeklärten Absolutismus, in: Johannes Kunisch (Hg.), Analecta Fridericiana
( = ZHF, Beih. 4), Berlin 1987, S. 9 1 - 1 1 3 ; [89] Jost LEMMERICH, Friedrich II. und
610 Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts

die Naturwissenschaften. „Scheint es Ihnen nicht, als ob es in der Physik ebensoviel


Ungewißheiten gibt wie in der Metaphysik?", in: BGG, 1988, S. 29 - 50; [90] Hans
Erich BÖDEKER/Ulrich HERRMANN (Hg.), Über den Prozeß der Aufklärung in
Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien ( = VMPIG,
Bd. 85), Göttingen 1987; [ 9 1 ] James van Horn MELTON, Absolutism and the Eigh-
teenth-Century Origins of Compulsory Schooling in Prussia and Austria, Cambridge
1988; vorzügliche Regionalstudie: [ 9 2 ] Sibylle BRÜGGEMANN, Landschullehrer in
Ostfriesland und Harlingerland während der ersten preußischen Zeit (1744-1806)
( = StDokdBG, Bd. 38), K ö l n - W i e n 1988; [ 9 3 ] Michael FREYER, Rochows „Kin-
derfreund". Wirkungsgeschichte und Bibliographie, Bad Heilbrunn/Obb. 1989 (das
Thema nicht erschöpfend); [ 9 4 ] Wolfgang H A R D T W I G , Sozialverhalten und Wert-
wandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft
( 1 7 . - 1 9 . Jahrhundert), in: VSWG, Bd. 73 (1986), S. 3 0 5 - 3 3 5 ; zahlreiche Beiträge
in [95] Karl-Ernst JEISMANN (Hg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert.
Mobilisierung und Disziplinierung ( = NassGFVSG, Bd. 2), Wiesbaden 1989; [95 a]
Winfried SPEITKAMP, Staat und Bildung in Deutschland unter dem Einfluß der
Französischen Revolution, in: HZ, Bd. 250 (1990), S . 5 4 9 - 5 7 8 ; [ 9 6 ] Klaus SCHWABE
(Hg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815 — 1945. Büdinger Forschungen zur
Sozialgeschichte 1983 ( = DFühNz, Bd. 17), Boppard a. Rh. 1988; [97] Helmut
BÖHME, Technische Innovation, die Entwicklung der Technischen Hochschulen und
die soziale Frage im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Wilhelm Treue (Hg.),
Geschichte als Aufgabe. Festschrift für Otto Büsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin
1988, S. 3 9 1 - 4 3 5 ; [ 9 8 ] Dieter KAUSCHE, Zur Geschichte der Registraturen des
Preußischen Kultusministeriums, in: Oswald Hauser (Hg.), Preußen, Europa und
das Reich ( = NFBPG, Bd. 7), K ö l n - W i e n 1987, S. 3 7 7 - 3 8 4 ; [ 9 9 ] Franzjörg BAUM-
GART, Zwischen Reform und Reaktion. Preußische Schulpolitik 1806 - 1859, Darm-
stadt 1990; [ 1 0 0 ] Kurt R. BIERMANN, Alexander von Humboldt. Vier Jahrzehnte
Wissenschaftsförderung. Briefe an das preußische Kultusministerium 1818 — 1859
( = BtrAvHF, Bd. 14), Berlin 1985; [ 1 0 1 ] Hans-Jürgen A P E L , Karl Friedrich August
Grashof (1770-1841), in: Wilhelm Janssen (Hg.), Rheinische Lebensbilder, Bd. 11,
K ö l n - B o n n 1988, S. 1 0 1 - 1 2 4 ; [ 1 0 2 ] Barbara SCHNEIDER, Johannes Schulze und
das preußische Gymnasium ( = EHschr, R. 11, Bd. 363), Frankfurt/M. — Bern - New
York —Paris 1989 (ersetzt die Bibliographie Schulzes von Varrentrapp auch für das
Schulwesen nicht); [103] Rudolf W. K E C K , Die Entwicklung der Lehrerbildung in
Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, in: Johann Georg Prinz von Hohenzollern/
M a x Liedtke (Hg.), Schreiber, Magister, Lehrer. Zur Geschichte und Funktion eines
Berufsstandes, Bad Heilbrunn/Obb. 1989, S . 1 9 5 - 2 1 3 ; [ 1 0 4 ] Michael SAUER, Volks-
schullehrerbildung in Preußen. Die Seminare und Präparandenanstalten vom
18. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik (= StDokdBG, Bd. 37), K ö l n - W i e n
1987; [105] Hans-Jürgen A P E L , Gymnasiallehrerbildung zwischen Wissenschaft und
fachdidaktischer Orientierung. Konzeption und Praxis der Lehrerbildung am Se-
minar für die gesamten Naturwissenschaften der Universität zu Bonn zwischen 1825
und 1848, in: VWP, 62. Jg. (1986), S. 2 8 9 - 3 1 9 ; [ 1 0 6 ] Hans-Jürgen A P E L , Preußische
Gymnasiallehrer 1820 —1850. Soziale Herkunft, Studienverhalten, Studienerfolg nach
Prüfungszeugnissen insbesondere der Bonner Schulamtskandidaten, in: VSWG,
Bd. 72 (1985), S. 3 5 3 - 3 6 8 ; [ 1 0 7 ] Wilhelm TREUE, Zur Frühgeschichte der techni-
schen Lehr- und Forschungsanstalten bis zu ihrer Beteiligung an der Revolution von
1848/49, in: Ders. (Hg.), Geschichte als Aufgabe. Festschrift für Otto Büsch zu
seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 267 - 297; [ 1 0 8 ] Wolfdietrich J O S T , Technische
Ausbildung im Widerstreit von Abgeordnetenhaus und Bürokratie. Über die Arbeit
der Ständigen Kommission für das technische Unterrichtswesen in Preußen in den
I. Das Landschulwesen 611

Jahren 1879/80 bis 1896, in: JGMOD, Bd. 36 (1987), S. 333-360; [109] Hans-Jürgen
APEL, Sonderwege der Mädchen zum Abitur im Deutschen Kaiserreich. Bildung zur
Studierfähigkeit und Durchsetzung der Abiturberechtigung am Ausgang des Kaiser-
reichs (1908), in: ZfPäd, 34. Jg. (1988), S. 171-189; [109 a] James C. ALBISETTI,
Schooling German Girls and Woman. Secondary Higher Education in the Nineteenth
Century, Princeton/New Jersey 1988; [110] Rudolf ViERHAUs/Bernhard vom BROCKE
(Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und
Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Aus Anlaß ihres 75jährigen
Bestehens, Stuttgart 1990; [111] Eckart HENNING (Hg.), Veröffentlichungen aus dem
Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Bd. 1 ff., Berlin 1988 ff.; [112] Notker HAM-
MERSTEIN (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988;
[113] Reimer HANSEN, Lise Meitner. Eine Würdigung, Berlin 1989; [114] Peter
LUNDGREEN (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1985;
[115] Marianne DOERFEL, Der Griff des NS-Regimes nach Elite-Schulen. Stätten
klassischer Bildungstradition zwischen Anpassung und Widerstand, in: VfZ, 37. Jg.
(1989), S. 401-455.

Verzeichnis der Tabellen im Text

TABELLE 1: Schuldichte in Preußen um 1805 631


TABELLE 2: Soziale Herkunft preußischer Abiturienten um 1800 638 f.
TABELLE 3: D i e preußischen Volksschulen 1 8 4 0 - 1 8 6 4 708
TABELLE 4: Schulbesuch in Preußen 1840 (in % aller Kinder vom 6. bis 14.
Lebensjahr) 714
TABELLE 5: „Schulbildung" der im Heer eingestellten „Ersatzmannschaften"
(in % ) ( 1 8 4 1 - 5 2 ) 723
TABELLE 6: Prozentsatz der R e k r u t e n o h n e Schulbildung ( 1 8 4 1 — 9 5 ) 723
TABELLE 7: Analphabetenquote in der Gesamtbevölkerung Preußens in %
(1871) 725
TABELLE 8: Soziale H e r k u n f t preußischer Oberschüler (1921/31) 791

§ 1 Bildungszustände in Brandenburg-Preußen
in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
I. Das Landschulwesen
Die neueren Forschungsergebnisse erlauben eine hinreichend zuverlässige
Antwort auf die Frage nach den Schulzuständen in den verschiedenen
Landschaften und Regionen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
zum politischen Verband Brandenburg-Preußens gehörten. Dabei ist für
diesen noch durchaus agrarisch geprägten Raum zunächst der Blick auf das
Landschulwesen und seine wahrscheinliche Dichte zu lenken.
Obwohl für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts wie auch für das
frühe 18. Jahrhundert noch keine statistischen Aufnahmen für das Dorf-
schulwesen in Brandenburg-Preußen vorliegen, besteht doch kein Zweifel,
daß schon in der Zeit unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg ein
612 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts

beachtliches Dorfschulnetz die Regel gewesen ist, und die historischen


Wurzeln der Landschulen in Preußen weisen sogar zum Teil in entschieden
frühere, vorabsolutistische Zeitschichten zurück. In Ostpreußen haben
schon die Visitatoren in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf dem
platten Land Schulen vorgefunden; um 1600 verfügten dort die meisten
Kirchspiele über eigene Schulen, und im 17. Jahrhundert beschränkten sich
die visitatorischen Maßnahmen „ganz auf die bereits bestehenden Schulen,
zur Anordnung von Neugründungen und Anstellung neuer Schulmeister
kommt es nur noch in wenigen Fällen"; von einer „Weiterentwicklung" der
ländlichen Schulstrukturen ist dagegen in den erhaltenen Akten „nichts zu
spüren". 1 In Magdeburg und in Halberstadt sind Landschulen schon in der
stiftischen Zeit, also lange vor dem Anfall dieser Gebiete an Kurbrandenburg
infolge des Westfälischen Friedens, vorhanden gewesen, und auch in Hin-
terpommern sind — bei allerdings wesentlich schlechterer Quellenlage und
ungünstigerem Forschungsstand — die ersten Dorfschulen bereits im
16. Jahrhundert nachgewiesen worden. 2 In dem gleichfalls nach dem Drei-
ßigjährigen Krieg an Kurbrandenburg gekommenen Fürstentum Minden
wurde 1650 sogleich eine Kirchenvisitation durchgeführt, bei der sich ergab,
daß „Küsterschulen" auf den Dörfern in aller Regel bereits vorhanden
waren; 3 die große Bedeutung, die nach den Kriegswirren der Kirchenzucht
beigelegt worden ist, wurde in diesem Zusammenhang besonders erwähnt.
In den brandenburgischen Kernlanden der Hohenzollern sind — durchaus
nicht zufällig — gleichfalls Dorfschulen schon unmittelbar nach den lang-
anhaltenden und tief in das Leben der Bevölkerung eingreifenden Kriegs-
wirren bezeugt. Nachdem schon im Jahre 1600 bei einer General-Kirchen-
visitation in den westlichen Teilen der Kurmark, in Altmark und Prignitz,
Dorfschulen Erwähnung fanden, war es bezeichnenderweise die märkische
Ritterschaft, die in einem Memorial vom Mai 1643 unter den kirchlichen
Mitteln, die geeignet erschienen, die aus den Kriegsunruhen resultierenden
ländlichen Mißstände zu bekämpfen, auch die „Einführung der Kinderlehre"
benannte. 4 Bezeichnend genug, zeitigte diese Anregung auf der Seite des

1 Gerhard DÜSTERHAUS, Das ländliche Schulwesen im Herzogtum Preußen im


16. und 17. Jahrhundert, Phil. Diss. Bonn 1975, S. 120, zum 16. Jh. S. 4 6 ff., 6 0 -
63, 2 0 2 f.; siehe bereits Emil WASCHINSKI, Erziehung und Unterricht im Deutschen
Ordenslande bis 1525 mit besonderer Berücksichtigung des niederen Unterrichts.
Historisch-pädagogische Abhandlung, Danzig 1908, S. 27 ff.
2 Z . B . : Martin WEHRMANN, Die Begründung des evangelischen Schulwesens in
Pommern bis 1563 ( = BtrGEUP, H . 7), Berlin 1905, S. 40; Wolfgang NEUGEBAUER,
Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen
( = V H K z B , Bd. 62), B e r l i n - N e w York 1985, T. 2, Kap. 1, S. 2 5 4 f., dieses Kap.
insges. für Brandenburg.
3 Ludwig KOECHLING, Die Kirchenvisitation vom Jahre 1650 im Fürstentum Min-
den, in: Dona Westfalica. Georg Schreiber zum 80. Geburtstag dargebracht von
der Historischen Kommission Westfalens ( = SchrHKW, Bd. 4), Münster 1963,
S. 1 6 7 - 1 7 3 , hier S. 169, 171.
4 Hugo LANDWEHR, Die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten,
Berlin 1894, S. 181.
II. Das Stadt- und Gelehrtenschulwesen 613

Landesherrn, etwa beim Konsistorium der Kurmark, keinerlei praktische


Folgen. Wenn dennoch und trotz der auch für die Anfänge des ländlichen
Schulwesens wahrhaft niederschmetternden Wirkungen des Dreißigjährigen
Krieges die Stände des Teltow schon 1651 mitteilen konnten, daß in vielen
Orten neben den Dorfküstern besondere Schulmeister vorhanden waren, so
lassen die brandenburgischen Quellen den Schluß zu, daß nach den Zerstö-
rungen, Verwüstungen und sozialen Folgeerscheinungen des Krieges gerade
das Dorfschulwesen von Adel und lokaler Geistlichkeit als Instrument auf-
und ausgebaut worden ist, um die entwurzelte und demoralisierte Land-
bevölkerung in die ständische Sozial- und Herrschaftswelt zu reintegrieren 5
- Sozialdisziplinierung53 aus lokalem Impuls.
Diese Hinweise auf die Wirksamkeit lokaler und dezentraler Kräfte und
Faktoren bei der Entstehung eines ländlichen Schulnetzes sind um so be-
merkenswerter, als schon die ältere Forschung mit guten Gründen als
auffällig erkannte, „daß unter der Regierung eines so weitschauenden und
energischen Fürsten, wie es der Große Kurfürst war, so wenig für das
Schulwesen getan worden ist", 6 zumal für das auf dem platten Lande. Und
doch fanden die seit 1710 in verschiedenen Teilen der Mark Brandenburg
visitierenden Konsistorialräte aus Berlin zum Beispiel im Land Ruppin ein
dichtes Landschulnetz, als sie die Dörfer bereisten! Die in der Literatur
dominierende These von der entscheidenden Rolle staatlicher Instanzen zur
Zeit des entstehenden fürstlichen Absolutismus für das Werden eines länd-
lichen Schulwesens in Brandenburg-Preußen hält einer landesgeschichtlichen
Überprüfung ebensowenig stand wie die Behauptung, dieses sei ein Resultat
des Bündnisses von Landesherrn und pietistischer Reformbewegung um und
nach 1700. 7 Das Dorfschulwesen in den Landschaften und Provinzen Bran-
denburg-Preußens verweist auf vorabsolutistische Zeiten und Strukturen,
die in der Epoche des monarchischen Absolutismus durchaus lebensfähig
blieben.

II. Das Stadt- und Gelehrtenschulwesen


Es kann nicht verwundern, daß das dreißigjährige Kriegswüten auch an
den städtischen Schulen Brandenburg-Preußens nicht spurlos vorübergegan-

5 W. NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit... (1985) [s.o.


Anm. 2]; vgl. damit Friedrich WIENECKE, Die Begründung der evangelischen
Volksschule in der Kurmark und ihre Entwicklung bis zum Tode König
Friedrichs I. 1 5 4 0 - 1 7 1 3 , in: Z G E , Bd. 3 (1913), S. 1 6 - 6 9 , bes. S . 4 0 f .
5a Z u m Begriff: Gerhard OESTREICH, Strukturprobleme des europäischen Absolu-
tismus, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte
Aufsätze, Berlin 1969, S. 1 7 9 - 1 9 7 , hier S. 1 8 7 - 1 9 5 .
6 F. WIENECKE, Die Begründung... [siehe Anm. 5], S. 36.
7 Vgl. dagegen ζ. B. Reinhold August DORWART, T h e Prussian Welfare State before
1740, Cambridge/Mass. 1971, S. 176, 181; vgl. die allgemeinen Behauptungen bei
P. LUNDGREEN, Sozialgeschichte der deutschen Schule... (1980/81) [37], Bd. 1,
S. 22 f.
614 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts

gen ist. Dies gilt für gewöhnliche Stadt- und für Gelehrtenschulen gleicher-
maßen. Es sei bekannt, so berichtete das Konsistorium zu Kölln an der
Spree im November des Jahres 1640, „was zu friedenszeiten an der Churf.
Landes schuelen zu Joachimsthall das ganze Landt vor ein Edell Cleinoth
gehabt undt wie so viele wohl qualificierte leute in derselben erzogen, so
hernach mit grossem nuz des ganzen landes hin und wieder in öffentlichen
Ämptern gebraucht worden, also daß nicht viele örte im Lande sein werden,
sowohl Kirchen als auch Canzleien undt Ratheuser, dorinnen nicht etwa
leute anzutreffen wahren, so ein gutt theil ihrer Wissenschaft undt zum
wenigsten die Fundamenten derselben aus obangezogener schulen mit sich
hinweg gebracht, was nun abermahl, das dieses so vornehme undt nützliche
wergk so gar undt ganz zu boden gehe, vor ein unwiederbringlicher Lan-
desschaden sei, indem feine leute dorinnen, so man künftig weiter gebrau-
chen könte, erzogen werden, auch alle andern trivial schulen inn Landen
ausser in den beiden Residentien zu gründe gerichtet undt verwüstet wor-
den". 8
Diese Klage beleuchtet die städtischen Schulzustände, wie sie nicht nur
im Brandenburgischen in der Mitte des 17. Jahrhunderts anzutreffen waren
und durch kriegsbedingten Verfall gekennzeichnet erscheinen. Immerhin
deuten die vorliegenden Informationen dahin, daß sich die Schulen des
gelehrten Bildungszuschnitts schon sehr bald von den Kriegsfolgen erholten,
doch haben sich die direkten landesherrlichen Unterstützungen auf diese
dünne Schicht ausgesprochen höherer Schulung beschränkt, während Ana-
loges für das niedere (lutherische) Schulwesen nicht zu ermitteln gewesen
ist. 9 Auch die Bitten der Stände bezogen sich zum Beispiel auf den Wieder-
aufbau des nach Berlin verlegten Joachimsthalschen Gymnasiums, einer
Anstalt fürstenschulähnlichen Zuschnitts, die zeitweise sogar im Stadtschloß
der Residenz selbst untergebracht war, sinnfälliges Zeichen für die Wert-
schätzung und Förderung einer ausgesprochenen Elitebildung seitens des
kurfürstlichen Hofes sogar unmittelbar nach den Kriegswirren um 1650.
Das Faktum, daß unter den Schülern dieses unter anderem mit Grund-
besitz in der M a r k Brandenburg ausgestatteten Instituts wie auch unter den
Zöglingen der anderen berlin-köllnischen Gymnasien der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts Absolventen nicht nur aus der Residenz und ihrer
näheren Umgebung, sondern auch solche zu finden waren, die aus anderen

8 GStA Berlin-Dahlem, Prov. Brandenburg, Rep. 40, Hauptregistratur, Nr. 1773,


Bericht an den Statthalter vom 27. XI. 1640, Konzept; (s. auch Karl THEMEL, in:
JbBBKG, Bd. 41. [1966], S. 5 2 - 1 1 1 , hier S. 99); die Stadt- und anstaltsgeschichtl.
Lit. bietet zahlreiche Bestätigungen für diese Darstellung.
9 Für Berlin: Dietrich RITTERSHAUSEN, Beiträge zur Geschichte des Berliner Ele-
mentar-Schulwesens. Von der Reformation bis 1836, in: MärkF, Bd. 9 (1865),
S. 1 7 8 - 3 1 7 , hier S. 209; Joachimsthal. Gymnasium: Ernst OPGENOORTH, Fried-
rich Wilhelm. Der Große Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie,
2 Bde., Göttingen 1971/78, hier Bd. 1, S. 172; Erich WETZEL, Die Geschichte des
Königl. Joachimsthalschen Gymnasiums 1607 - 1 9 0 7 . Festschrift zum Dreihun-
dertjährigen Jubiläum des Königl. Joachimsthalschen Gymnasiums am 24. August
1907, Halle a. S. 1907, S. 21 f.
II. Das Stadt- und Gelehrtenschulwesen 615

Provinzen Brandenburg-Preußens, ja selbst aus Ungarn, Polen und Sachsen


stammten, zeigt, daß diese Schulen nicht mit den üblichen und allerorten
anzutreffenden (lateinischen) Stadt-Schulen zu identifizieren sind, die den
lokalen Bedarf befriedigten. Die Gelehrtenschulen, die in Berlin-Kölln quel-
lenmäßig vergleichsweise gut erfaßt werden können, erfüllten eine kulturelle
Zentralitätsfunktion weit über den örtlichen Einzugsbereich hinaus.
In besonderem Maße konnten sich derartige Institute einer landesherrli-
chen Fürsorge erfreuen, wenn sie der reformierten Konfession zugehörten,
wie für Gymnasien verschiedener Provinzen festgestellt worden ist. In der
gezielten Förderung von Schulen der Reformierten scheint zugleich ein
Element praktischer Konfessionspolitik auf, die auch von dem ersten preu-
ßischen König fortgesetzt worden ist. Vor und nach 1700 ist in den sog.
Friedrichs-Schulen in Frankfurt a. Oder, in Küstrin und in Magdeburg das
Phänomen einer konfessionellen Sonderförderung von Schulen gymnasialen
Typs zu erkennen, wobei freilich die Initiative von den lokalen Gemeinden
ausgehen konnte. 1 0
Dagegen wäre es irrig, in den Ritterakademien Brandenburg-Preußens
im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert durchweg Resultate einer landes-
herrlichen „Schulpolitik" erkennen zu wollen. Richtig ist, daß auch in der
Mark Brandenburg, in Pommern und in Magdeburg adlige Standesschulen
dieser zeittypischen Art nachzuweisen sind, die sich in ihrer Benennung
teils selbst dieser Institutionenschicht zuordneten bzw. von der späteren
Forschung derart klassifiziert worden sind. 11 Wohl ist die im Jahre 1653 im
pommerschen Kolberg eingerichtete sog. Ritterakademie auf kurfürstliche
Gründungsinitiative hin angelegt worden, doch war die „Ritterschaft" an
der „Ausstattung und Erhaltung der Anstalt" (B. Poten) beteiligt, 12 die
freilich ganz das Gepräge eines militärischen Instituts trug, in der neben
körperlichen Exerzitien auch Unterricht in der Mathematik, in „Kriegsbau-
kunst", Französisch und Musik erteilt wurde. Die im Jahre 1704 geschaffene
Ritterakademie zu Dom Brandenburg (Havel) ging überhaupt auf eine
Gründung des dortigen Domkapitels zurück, die mit königlicher Einwilli-
gung erfolgte. In Brandenburg wie auch in dem fast gleichzeitig in Berlin
eingerichteten analogen Institut fand das utilitaristische Streben nach stan-

10 W. NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit ... (1985) [s.o.


A n m . 2 ] , S. 2 2 4 - 2 2 8 ; R.A. DORWART, T h e P r u s s i a n W e l f a r e S t a t e . . . (1971)
[s.o. Anm. 7], S. 199f.; Alfred HEUBAUM, Geschichte des deutschen Bildungs-
wesens... (1905) [30], S. 56 f. (auch zum Gymnasium in Hamm).
11 Allgemein zuletzt: Norbert CONRADS, Ritterakademien in der frühen Neuzeit.
Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert ( = SchrrHKBay, Bd. 21),
Göttingen 1982, S. 16 ff., in diesem Werk auch eine wertvolle Bibliographie;
Klaus BLEECK, Adelserziehung auf deutschen Ritterakademien. Die Lüneburger
Adelsschulen 1 6 5 5 - 1 8 5 0 ( = E H s c h r , R. 3, Bd. 89), Frankfurt/M. - Bern - Las
Vegas 1977, S. 1 1 - 3 3 .
12 Bernhard POTEN, Geschichte des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens...
(1896) [41], S. 7 ff.; A. HEUBAUM, Geschichte des deutschen Bildungs wesens...
(1905) [30], S. 56, 65. Das Kolberger Institut bestand bis 1701.
616 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts

desgemäß anwendbaren und praxisnahen Lehrinhalten insofern seinen Nie-


derschlag im Lehrplan, als sowohl das moderne Natur- und Völkerrecht
sowie Heraldik (Berlin) als auch - so in der domkapitularischen Akademie
— deutsche Rechtsgeschichte als Vorbereitung auf rechtskundliche Lehr-
veranstaltungen getrieben wurden, 13 bemerkenswerte und neuartige Lehr-
gegenstände in der deutschen Bildungswelt um 1700. Die Berliner Rittera-
kademie stand augenscheinlich in recht engen Beziehungen zum Hof, von
dem auch der Anstoß zu ihrer Gründung ausgegangen ist, auch insofern
verwandt der „Académie des nobles" späterer Jahrzehnte, die ihre Entste-
hung und erste Instruktion Friedrich II. verdankte (1765). Selbst wenn aber
des weiteren die Ritterakademie in Frankfurt an der Oder, die dort seit
1671 bis zu ihrer Vereinigung mit dem Berliner Institut im Jahre 1722
bestand, Berücksichtigung findet, wird doch vor einer Überschätzung dieser
Anstalten in ihrer Bedeutung für die Bildungsgeschichte Brandenburg-Preu-
ßens insgesamt zu warnen sein. Die Berliner Ritterakademie war auf ma-
ximal 36 Plätze ausgelegt, doch begann bald nach der Eröffnung im Mai
1705 ihr durch Geldmangel bedingter Verfall. Die Ritterakademie zu Dom
Brandenburg hat in dem ersten Jahrhundert bis 1805 ganze 800 Zöglinge
gezählt, was vor dem Hintergrund der Zahl von Adelsfamilien auch nur
der Kurmark Brandenburg vor einer Überschätzung ihrer Wirkungsmög-
lichkeit warnen lassen muß. 1 4 Die schließlich noch zu erwähnende Hallenser
„Ritterakademie" von 1686/88 1 5 hatte nur wenige Jahre Bestand und wird
korrekter als „bloße Exerzitienschule" (Bleeck) anzusprechen sein. Sie ge-
hört in die unmittelbare Vorgeschichte der Universitätsgründung zu Halle
an der Saale.

13 J. D. ARNOLD, Kurze Geschichte der Ritter = Akademie zu Dom-Brandenburg in


dem ersten Jahrhunderte, vom 4. August 1704 —1805, Brandenburg 1805, S. 1 ff.
(S. 9 8 - 1 3 4 : Schülerliste für 1 7 0 5 - 1 8 0 5 ) ; Beispiel: Albrecht von dem BUSCHE,
Die Ritterakademie zu Brandenburg, Frankfurt/M. u.s.w. 1989, S. 36 — 50; Fried-
rich DEBITSCH, Die staatsbürgerliche Erziehung an den deutschen Ritterakade-
mien ( = HallPädSt, H . 4), Osterwieck/H. 1928, S. 28, 30, 54 f., 57, 91.
14 B. POTEN, Geschichte des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens... (1896) [41],
S. 1 0 - 2 7 ; A. HEUBAUM, Geschichte des deutschen Bildungswesens... (1905) [30],
S. 41, 301 ff.; Ernst KAEBER, Geistige Strömungen in Berlin zur Zeit Friedrichs
des Großen, in: FBPG, Bd. 5 4 (1943), S. 2 5 9 ; Frankfurt a . O . : Hefnri Wilhelm
Nathanael] TOLLIN, Geschichte der Französischen Colonie in Frankfurt an der
Oder ( = MHStVFrankf, H . 8), Frankfurt/O. 1868, S. 166; N. CONRADS, Ritter-
akademien in der frühen Neuzeit... (1982) [s.o. Anm. 11], S. 3 5 6 f . (Lit.); J . D .
ARNOLD, Kurze Geschichte der Ritter-Akademie zu Dom-Brandenburg... (1805)
[s.o. Anm. 13].
15 Wilhelm HEHLMANN, Die Gründung der Ritterakademie Halle im Jahre 1686,
in: Z G E , 25. Jg. (1935), S. 9 2 - 1 0 1 , hier S. 93 f., 9 6 f f . ; dazu K. BLEECK, Adels-
erziehung auf deutschen Ritterakademien... (1977) [s. o. Anm. 11], Bd. 2, S. 559,
Anm. 1.
III. Universitäten und Universitätsgründungen im 17. Jahrhundert 617

III. Universitäten und Universitätsgründungen


im 17. Jahrhundert

Schwerlich wird der Bildungsgeschichte Brandenburg-Preußens in der zwei-


ten Hälfe des 17. Jahrhunderts gerecht, wer die Entwicklung unterhalb der
Universitäten unter dem Leitmotiv einer landesherrlich-staatlichen „Schul-
politik" zu subsumieren versuchte; eine solche Perspektive erscheint selbst
für die preußischen Universitäten seit dem Regierungsantritt des Großen
Kurfürsten durchaus nicht unproblematisch.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts befanden sich in Brandenburg-Preußen
zwei Universitäten, die beide schon im 16. Jahrhundert begründet worden
sind. Die Universität Königsberg i. Pr. verdankte gerade den Kriegsereignis-
sen in Mitteleuropa einen spürbaren Aufschwung, sie erlebte um 1640 ihre
„Blütezeit", da sie „ein Refugium in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges
bot und mit 1800 Studierenden zu den damals größten deutschen Univer-
sitäten zählen konnte" (W. Hubatsch). 16 Allerdings tat hier der schwedisch-
polnische Krieg sehr bald das Seine, um die Studentenzahlen zurückgehen
zu lassen; auch dürften die theologischen Auseinandersetzungen zwischen
lutherischer Orthodoxie und gemäßigten Lutheranern nicht eben zur An-
ziehungskraft der „Albertina", eben der Königsberger Universität, beigetra-
gen haben, die nach den Worten von Hans Rothfels als eigentliche „Lan-
desuniversität" in dieser Zeit fungierte und nur unter „besondere(n) Um-
ständein)" auf einen nennenswerten Zuzug auswärtiger, nicht aus (Ost-)
Preußen stammender Hörer rechnen konnte. 17
Die Universität Frankfurt an der Oder hatte gerade zu der Zeit, als die
Königsberger Universität in Blüte stand, unter dem Dreißigjährigen Krieg
besonders zu leiden. Die theologische Fakultät, die unter den üblichen
Fakultäten der Juristen, der Mediziner und der Philosophen traditionell
rangmäßig an erster Stelle stand, war um 1640 mit nur noch einem Professor
präsent, der ständig in Frankfurt tätig war. Freilich dominierte seit dem
frühen 17. Jahrhundert an der theologischen Fakultät die kalvinistische
Konfession trotz der lutherischen Prägung ihres Umlandes, wenn auch die
Kalvinisten in Frankfurt in der weiteren Entwicklung kein Monopol er-
hielten und im späteren 17. Jahrhundert das Toleranzprinzip auch an dieser
Universität Brandenburg-Preußens wirksam wurde.18

16 Walther HUBATSCH, Die Königsberger Universität und der preußische Staat, in:
JbUK, Bd. 17 (1967), S. 6 3 - 7 9 , hier S. 72; Georg ERLER (Hg.), Die Matrikel der
Albertus-Universität zu Königsberg i.Pr., Bd. 1, Leipzig 1910 (ND Nendeln 1976),
bes. S. C X X I V ; G. v. SELLE, Geschichte der Albertus-Universität... ( 2 1956) [69],
S. 7 8 - 8 3 .
17 A . a . O . , S. 8 8 - 9 9 ; Hans ROTHFELS, Die Albertina als Grenzlanduniversität
[1928], in: Ders., Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 2 1962, S. 205 —
222, hier S. 210 f.
18 Gerd HEINRICH, Frankfurt an der Oder, Universität, in: Gerhard Krause/Gerhard
Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 11, Berlin —New York 1983,
618 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts

Der in der älteren Forschung verbreiteten Unterschätzung der Frankfurter


„Viadrina" ist in den letzten beiden Jahrzehnten von Historikern der Bun-
desrepublik und der D D R mit gleicher Entschiedenheit widersprochen wor-
den. 1 9 Diese Universität war, dies läßt sich heute mit Sicherheit feststellen,
weit mehr als eine Provinz- bzw. Landeshochschule; ihre Bedeutung als „die
östliche Expositur des calvinistischen Westens" (Feyl) wird durch ihren weit
nach Ost- und Südosteuropa hineinreichenden Rekrutierungsraum der Stu-
dentenschaft illustriert. Dazu k o m m t , daß an der juristischen Fakultät der
Viadrina, in der im späteren 17. wie im 18. Jahrhundert das wissenschaft-
liche Schwergewicht dieser Universität erkannt werden kann, durchaus
moderne, wissenschaftsgeschichtlich äußerst signifikante Elemente nachge-
wiesen worden sind. Das gilt zum einen für die Beziehungen der Viadrina
zum westeuropäischen Gedankengut neustoischer Provenienz, einer Strö-
mung, deren Bedeutung für die Geistesgeschichte Brandenburg-Preußens
durch die Forschungen Gerhard Oestreichs eindringlich herausgearbeitet
worden ist. Dafür ist die Lipsius-Rezeption, die im ganzen 17. Jahrhundert
in Frankfurt an der Oder belegt werden kann, von hohem beziehungsge-
schichtlichem Beweiswert. 2 0 Hinzu k o m m e n enge personelle Verknüpfungen
zwischen der Viadrina und den niederländischen Universitäten Leiden und

S. 3 3 5 - 3 4 2 , hier S. 339 f.; Christof RÖMER, Herkunft der Studenten der Univer-
sität Frankfurt/O. 1506 - 1810 ( = HHaBB, Nachträge, H. 2), Berlin - New York
1980 (Karten mit Beih.); Günter MÜHLPFORDT, Die Oder-Universität 1506 - 1 8 1 1 .
Eine deutsche Hochschule in der Geschichte Brandenburg-Preußens und der
europäischen Wissenschaft, in: G. Haase/J. Winkler (Hg.), Die Oder-Universität
Frankfurt... (1983) [64], S. 23, 53; Martin LACKNER, Die Kirchenpolitik des
Großen Kurfürsten ( = U K G , Bd. 8), Witten 1973, S. 262f.; Walter Voss, Die
wirtschaftlichen Verhältnisse der Universität Frankfurt a. O. 1506 — 1653, Phil.
Diss. Berlin 1939, Greifswald 1939, S. 3 4 - 3 7 .
19 Gerhard OESTREICH, Fundamente preussischer Geistesgeschichte im 17. Jahrhun-
dert [1970], in: Ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Auf-
sätze, hg. von Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 275 - 297, hier S. 289 (mit Lit.);
Othmar FEYL, Die Viadrina und das östliche Europa. Eine bildungsgeschichtliche
Studie, in: G. Haase/J. Winkler, Die Oder-Universität Frankfurt... (1983) [64],
S. 1 0 5 - 1 3 9 , hier S. 111, 130 ff., 137 ff.; Eduard WINTER, Frühaufklärung. Der
Kampf gegen den Konfessionalismus in Mittel- und Osteuropa und die deutsch-
slawische Begegnung. Zum 250. Todestag von G. W. Leibniz im November 1966
( = BtrGrwD, Bd. 6), Berlin 1966, S. 240.
20 Gerhard OESTREICH, Politischer Neustoizismus und Niederländische Bewegung
in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen [1965], in: Ders., Geist und
Gestalt des frühmodernen Staates... [s.o. Anm. 5 a ] , S. 1 0 1 - 1 5 6 , hier S. 141 f.;
Ders., Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum. Eine Skizze, in: J G M O D ,
Bd. 5 (1956), S. 1 5 7 - 1 8 1 , hier S. 167, 170; Margarete KÜHN, Die Universität
Frankfurt a. d. Oder und der Humanismus in der Mark Brandenburg, in: Wilhelm
Arenhövel (Hg.), Berlin und die Antike. Architektur, Kunstgewerbe, Malerei,
Skulptur, Theater und Wissenschaft vom 16. Jahrhundert bis heute. Katalog,
Berlin 1979, S. 1 7 - 2 3 , hier S. 19 f.; O. FEYL, Die Viadrina und das östliche
Europa... (1983) [s.o. Anm. 19], S. 122f., und G. MÜHLPFORDT, Die Oder-
Universität 1 5 0 6 - 1 8 1 1 . . . (1983) [s.o. Anm. 19], S. 46, 48, 51, 53, 70.
III. Universitäten und Universitätsgründungen im 17. Jahrhundert 619

Utrecht. Der berühmte Jurist naturrechtlicher Prägung Heinrich (von) Coc-


ceji, der um 1700 in Frankfurt lehrte, war „in Leiden ausgebildet, einst
Nachfolger Pufendorfs auf dem Heidelberger Lehrstuhl für Natur- und
Völkerrecht, Verfasser eine(r) der umfangreichsten und bedeutendsten Kom-
mentare zu Grotius", 21 sein Sohn, der spätere preußische Großkanzler
Samuel von Cocceji lehrte in Frankfurt seit 1702 für wenige Jahre; Samuel
Stryk, gleichfalls langjähriger Professor in Frankfurt, hatte ebenfalls die
holländischen Universitäten selbst kennengelernt; diese Beispiele stehen
nicht allein für die unmittelbaren Kontakte der Viadrina zur niederländi-
schen Universitätslandschaft.22
Zu Königsberg und Frankfurt sollte schon sehr bald die Universität
Duisburg als die erste der beiden Neugründungen im Brandenburg-Preußen
des 17. Jahrhunderts treten, und schon deren Geschichte zeigt, daß Univer-
sitätsgründunge'n in dieser Zeit nicht unbedingt allein Produkte landesherr-
licher „Universitätspolitik" waren. Im Falle Duisburgs kamen wichtige
Anstöße aus dem Land. „Die Initiative zur Universitätsgründung ist nicht
von dem Großen Kurfürsten ausgegangen, sie lag vielmehr bei den klevi-
schen Ständen, bei der klevischen Regierung und bei der reformierten
Geistlichkeit." 23 Die Stände hatten in dieser Sache schon 1641 petitioniert,
und die reformierte Generalsynode hatte sich des Projekts 1650 erneut
angenommen. Die materielle Ausstattung der 1655 eröffneten evangelisch-
reformierten Universität sollte sich aber als deren großes Problem erweisen,
und so ist diese Anstalt trotz zumindest anfänglich zum Teil bemerkens-
werter Lehrer — Paul (von) Fuchs wirkte hier 1667—1670 — über eine
Kümmerexistenz nie hinausgekommen.
Ging im Duisburger Falle also der Gründungsimpuls nicht von landes-
herrlicher Seite aus, so sind doch schon sehr bald auch in Berlin Pläne
erörtert worden, die zeigen, daß die Gründung wissenschaftlicher Einrich-
tungen am Hof durchaus zum Beratungsgegenstand gemacht worden ist.
Das - freilich nicht realisierte — Projekt einer „Universitas Brandenburgica
Gentium, Scientiarum & Artium", das der schwedische Freiherr Benedikt
Skytte 1667 dem Großen Kurfürsten unterbreitet hatte, ist in diesem Zu-
sammenhang zu nennen, 24 wenngleich es eher in die weitere Vorgeschichte

21 Gerhard OESTREICH, Die Bedeutung des niederländischen Späthumanismus für


Brandenburg-Preußen, in: Hans Thieme (Hg.), Humanismus und Naturrecht in
Berlin-Brandenburg-Preußen. Ein Tagungsbericht ( = VHKzB, Bd. 48), B e r l i n -
New York 1979, S. 1 6 - 2 7 , hier S. 22.
22 Vgl. noch G. OESTREICH, Politischer Neustoizismus... (1969) [s.o. Anm. 20],
S. 1 4 4 f.
23 M . LACKNER, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten... (1973) [s.o. Anm. 18],
S. 2 6 6 f f . ; W. RING, Geschichte der Universität Duisburg... (1920) [61], S. 2 2 f f . ,
Fuchs: S. 155 f., Besucherzahlen: S. 2 0 5 ff.; G. v. RODEN, Die Universität Duis-
burg... (1968) [62], S. 37, 47, 61 ff., zur Finanzlage: S. 66, 69, 77, 81.
24 Fritz ARNHEIM, Freiherr Benedikt Skytte ( 1 6 1 4 - 1 6 8 3 ) , der Urheber des Planes
einer brandenburgischen „Universal-Universität der Völker, Wissenschaften und
Künste", in: Beiträge zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, hg.
620 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts

der Sozietät der Wissenschaften gestellt werden muß, die nach weit in die
1690er Jahre zurückreichenden Verhandlungen, in die Gottfried Wilhelm
Leibniz in besonderem M a ß e involviert war, ins Leben t r a t . 2 5 - Der
„Stiftungsbrief" 2 6 der Akademie datiert vom 11. Juli 1700, doch sollten bis
zur formellen Eröffnung mehr als zehn Jahre vergehen. - Das universitäts-
und wissenschaftsgeschichtliche Hauptereignis w a r die Gründung der Uni-
versität Halle, zumal die ersten Jahrzehnte der Berliner Akademie den
ambitiösen Plänen Leibniz' kaum entsprachen und die Sozietät zunächst
nicht zur Blüte gelangte. 2 7
Die Geschichte der Universität Halle zeigt, daß der typologische Unter-
schied zwischen den Akademien als Stätten der Wissenschaft im 17. und
18. Jahrhundert einerseits und den Universitäten als Orten der Lehre und
Weitergabe des — andernorts erarbeiteten bzw. überlieferten — Wissens
andererseits nicht überzeichnet werden darf. Die Entstehung der Universität
Halle ist auf das engste mit dem modernen Naturrecht des 17. Jahrhunderts
verknüpft. W a r es schon 1688 gelungen, Samuel (von) Pufendorf als H o f -

vom Verein für Geschichte der Mark Brandenburg, Festschrift zu Gustav Schmol-
lers 70. Geburtstag, Leipzig 1908, S. 65 - 99, hier S. 8 5 - 9 3 ; Abdruck des Grün-
dungspatentes: George Daniel Seyler, Leben und Thaten Friedrich Wilhelms des
Großen Churfürsten zu Brandenburg, Frankfurt — Leipzig [1730], S. 80 — 83.
25 A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaf-
ten... (1900) [55], hier Bd. 1/1, S. 38 f., 42 f., 48 f., 59, 66, 68 f., 78 (zur kurfürstl.
Entscheidung, nach der die Akademie auch die deutsche Sprache zu pflegen
hatte; dazu in Bd. 2, Nr. 28, S. 71: Brief des Hofpredigers Jablonski in dieser
Sache); Erik AMBURGER (Bearb.), Die Mitglieder der Deutschen Akademie der
Wissenschaften zu Berlin 1 7 0 0 - 1 9 5 0 , Berlin 1950; Hans POSER, Gottfried Wil-
helm Leibnitz, in: W. Treue/K. Gründer (Hg.), Berlinische Lebensbilder, Bd. 3...
(1987) [75], S. 1 - 1 6 , bes. S. I f . , S. 1 0 - 1 5 .
26 Abdruck bei A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der
Wissenschaften... (1900) [55], Bd. 1/1, S. 92ff., vgl. weiter S. 105ff., insges.
S. 73 - 1 7 5 ; das Statut vom 3. VI. 1710: Bd. 2, Nr. 99, S. 1 9 2 - 1 9 6 ; W. HARTKOPF/
G. DUNKEN, Von der brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften... (1967)
[56], S. 14, S. 25; Kurt MÜLLER, Zur Entstehung und Wirkung der Wissenschaft-
lichen Akademien und Gelehrten Gesellschaften des 17. Jahrhunderts, in:
H. Rößler/G. Franz (Hg.), Universität und Gelehrtenstand... (1970) [53], S. 1 2 7 -
144, hier S. 133 f., S. 139 ff.; Jürgen Voss, Die Akademien als Organisationsträger
der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: HZ, Bd. 231 (1980), S. 43 - 74, hier
S. 50, 57 f.
27 Vgl. A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissen-
schaften... (1900) [55], Bd. 1/1, S. 73; Carl HINRICHS, Die Idee des geistigen
Mittelpunktes Europas im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ders., Preußen als
historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hg. von Gerhard Oestreich
( = VHKzB, Bd. 10), Berlin 1964, S. 272 - 298, hier S. 295; G. OESTREICH, Fun-
damente preussischer Geistesgeschichte... (1980) [s. o. Anm. 19], S. 291; Sieglinde
C. OTHMER, Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa. Kultur- und
Sozialgeschichtliche Studien zu Jean Barbeyracs Pufendorf-Übersetzungen und
eine Analyse seiner Leserschaft ( = VHKzB, Bd. 30), Berlin 1970, S. 19f.
III. Universitäten und Universitätsgründungen im 17. Jahrhundert 621

historiographen nach Berlin zu ziehen, w o er 1 6 9 4 verstarb, 2 8 so ist mit


Christian Thomasius ( 1 6 5 5 - 1 7 2 8 ) der personelle Nukleus der Universität
Halle benannt. So wie der bis 1710 in Berlin wirkende Jean Barbeyrac mit
seinen französischen Übersetzungen der naturrechtlichen Hauptwerke Pu-
fendorfs („De jure naturae et gentium" 1672; „De officio homminis et civis"
1673) dessen Rezeption in E u r o p a maßgeblich förderte, 2 9 so war es an der
Hallenser Universität Thomasius, der das Pufendorfsche Naturrecht ver-
breitete und fortsetzte.
T h o m a s i u s , 3 0 geboren im kursächsischen Leipzig, hatte unter anderem in
Frankfurt an der Oder beim älteren Stryk die Rechte studiert und danach
die Niederlande besucht. In seiner Heimatstadt w a r er sehr bald mit der
dort herrschenden O r t h o d o x i e aneinandergeraten, hatte er doch zum
Beispiel August H e r m a n n Francke in dessen Auseinandersetzungen beige-
standen. Thomasius Bestallung als kurfürstlich brandenburgischer R a t da-
tiert v o m April 1690, und in ihr wurde ihm die Erlaubnis erteilt, in Halle
„der studierenden Jugend, welche sich allda vielleicht bei ihm einfinden
möchte, mit Lectionibus und Colegiis, wie er bishero zu Leipzigk gethan,
an die H a n d zu gehen". 3 1 N o c h im selben Jahr hat Thomasius in Halle die

28 Horst DENZER, Pufendorfs Naturrechtslehre und der brandenburgische Staat, in:


H. Thieme (Hg.), Humanismus und Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preußen...
(1979) [s.o. Anm. 21], S. 62 - 75, bes. S. 68F.; Erik WOLF, Große Rechtsdenker
der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen 4 1963, S. 3 1 1 - 3 9 0 (mit Lit.), bes.
S. 364; G. OESTREICH, Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum... (1956)
[s.o. Anm. 20], S. 173; Ders., Fundamente preussischer Geistesgeschichte...
(1980) [s. o. Anm. 19], S. 287; Conrad VARRENTRAPP, Der Große Kurfürst und
die Universitäten. Rede, zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers
am 27. Januar 1894 in der Aula der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg ge-
halten, Straßburg 1894, S. 40, Anm. 40.
29 Grundlegend: S. C. OTHMER, Berlin und die Verbreitung des Naturrechts... (1970)
[s.o. Anm. 27], passim, bes. S. 135ff., S. 143 und die Bibliographie S. 1 9 9 - 2 0 6 ;
G. OESTREICH, Fundamente preussischer Geistesgeschichte... (1980) [s.o.
Anm. 19], S. 291 f.; E. WOLF, Große Rechtsdenker... (1963) [s.o. Anm. 28],
S. 364 f.
30 A. a. O., S. 371 - 423, bes. S. 374 f.; Rolf LIEBERWIRTH, Christian Thomasius. Sein
wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Bibliographie ( = Thomasiana, H. 2), Wei-
mar 1955 (Werke von und über Thomasius); Notker HAMMERSTEIN, Jus und
Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen
Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 43 — 168,
zum Naturrecht Thomasius' bes. S. 72 ff.; Hinrich RÜPING, Thomasius und seine
Schüler im brandenburgischen Staat, in: H. Thieme (Hg.), Humanismus und
Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preußen... (1979) [s.o. Anm. 21], S. 7 6 - 8 9 .
31 Abdruck der Bestallung vom 4./14. 4. 1690: W. SCHRÄDER, Geschichte der
Friedrichs-Universität zu Halle... (1894) [66], Bd. 2, S. 353 f. (Anlage 2); dazu
Bd. 1, S. 7 f., 17, 37 ff., 43 f., 47 - 62, sowie die Dokumente in Bd. 2; wichtig
weiterhin: Johann Christoph von DREYHAUPT, Pagus Neletici et Nudzici, Oder
Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat
und Ertz-Stifft, nunmehr aber durch den westphälischen Friedens-Schluß secu-
larisirten Hertzogthum Magdeburg gehörigen Saal-Creyses..., Bd. 2, Halle 1755,
622 $ 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts

Vorlesungsarbeit aufgenommen, wobei offenbar die seit mehreren Jahren


dort bestehende „Ritterakademie" sowie aus Leipzig zuziehende Studenten
in dieser ersten Phase wichtige Voraussetzungen waren. Schon 1691 sprach
ein kurfürstliches Reskript von dem Plan einer Universitätsgründung, Ku-
ratoren wurden zugleich ernannt, weitere Dozenten wurden nach Halle
berufen, darunter der Frankfurter Jurist Stryk und der 1692 als Pfarrer nach
Glaucha vor Halle gezogene Francke, der zunächst eine Professur für
hebräische und griechische Sprache übernahm; kein Geringerer als Veit
Ludwig von Seckendorff, der allerdings schon Ende 1692 verstarb, konnte
als Kanzler gewonnen werden, während Pufendorf eine Berufung nach Halle
ablehnte. Die feierliche Einweihung der neuen Universität im Jahre 1694
bezeichnet lediglich den Abschluß ihrer Entstehungsgeschichte.
Die Hallenser Gründung hat Geschichte, Wissenschaftsgeschichte ge-
macht; die Universität Halle stellte nicht nur die anderen preußischen
Universitäten sehr schnell in den Schatten, sie wirkte auf deutsche Univer-
sitäten auch außerhalb Brandenburg-Preußens im 18. Jahrhundert, wie für
die Neugründung Göttingen oder die katholische Universität Würzburg
nachgewiesen werden kann. 3 2 Ist für Thomasius insbesondere herausgestellt
worden, daß er in der Tendenz durch eine „ Juridifizierung' des Weltver-
ständnisses" (Hammerstein) zugleich weltliche Begriffe bei der Erklärung
des Gemeinwohls dominieren ließ, 33 so ließ er das Jus Publicum, methodisch
gestützt durch die Pflege der Historie, zum Stilmerkmal des von ihm
geprägten Wissenschaftsbetriebes werden. In Halle wurde durch Thomasius
„ein völlig untheologisches Naturrecht" (G. Oestreich) gelehrt. Die juristi-
sche Fakultät dominierte an dieser Universität von Anfang an. Während
Thomasius' mehr als dreißigjähriger Tätigkeit an der Hallenser Universität
„belegten nicht weniger als 18.208 Hörer bei ihm Vorlesungen, darunter
9.528 Juristen und 7.050 Theologen" 3 4 - Zahlen, die auf die Breitenwirkung
dieses Gelehrten wie auf die der Hallenser Universität überhaupt hindeuten.

S. 4 - 1 8 , 7 2 - 8 8 ; J. C. HOFFBAUER, Geschichte der Universität zu Halle... (1805)


[65], S. 1 - 5 2 ; N. HAMMERSTEIN, Jus und Historie... (1972) [s.o. Anm. 30],
S. 150 —155; vgl. C. BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitätsverwal-
tung... (1900) [45], S. 5 4 - 6 0 .
32 Würzburg: Anton SCHINDLING, Die Julius-Universität im Zeitalter der Aufklä-
rung, in: Peter Baumgart (Hg.), Vierhundert Jahre Universität Würzburg, Neu-
stadt/Ai. 1982, S. 8 4 f . ; Göttingen: N. HAMMERSTEIN, JUS und Historie... (1972)
[s.o. Anm. 30], S. 310 ff., S. 3 1 6 f. u. ö.; vgl. Ders., Die deutsche Universität im
Zeitalter der Aufklärung, in: Z H F , Bd. 10 (1983), S. 7 3 - 8 9 , hier S. 7 4 - 7 8 ; Ders.,
Z u r Geschichte der deutschen Universität im Zeitalter der Aufklärung, in:
H. Rößler/G. Franz (Hg.), Universität und Gelehrtenstand... (1970) [53],
S. 166ff.; C. E. MCCLELLAND, State, Society and University in Germany... (1980)
[51], S. 34, 5 9 f.
33 Ν. HAMMERSTEIN, Jus und Historie... (1972) [s.o. Anm. 30], S. 81, ferner 4 3 f f . ,
91 f., 139, 148 ff., 3 7 5 f.; G. OESTREICH, Fundamente preussischer Geistesge-
schichte... (1980) [s. o. Anm. 19], S. 2 9 1 ; E. WOLF, Grosse Rechtsdenker... (1963)
[s.o. Anm. 28], S. 380, 382.
34 E. WINTER, Frühaufklärung... (1966) [ s . o . Anm. 19], S. 81; Dominanz der Juri-
IV. Halle und der Pietismus 623

IV. Halle und der Pietismus


Wenn die Universität zu Halle nicht nur die im ausgehenden 17. und frühen
18. Jahrhundert modernste deutsche Universität, sondern auch „rasch die
zahlenmäßig größte Universität" im alten Reich wurde, 35 so lag dies neben
dem modern-wissenschaftlichen Gepräge daran, daß die Saalestadt gleich-
zeitig Ausgangspunkt einer „politisch-sozialen Reformbewegung" (C. Hin-
richs) wurde, die sich zutiefst als pädagogische Strömung verstand: des
Hallischen Pietismus. Mit der Berufung Speners als Propst nach Berlin im
Jahre 1691 und mit Franckes Amtsantritt in Halle 1692 wurde jenes Bündnis
von brandenburg-preußischem Staat und pietistischer Reformbewegung
wirksam, das auch für die Bildungsgeschichte große Bedeutung erlangen
sollte.
Es muß an dieser Stelle genügen, auf das gleichsam pädagogische Grund-
anliegen dieser Reformströmung zu verweisen, die ursprünglich alles andere
als allein auf Brandenburg-Preußen beschränkt, vielmehr in der Tat univer-
sal wirksam werden wollte. Hatten die Krisenerscheinungen des 17. Jahr-
hunderts, wie sie insbesondere im und am Ende des Dreißigjährigen Krieges
den Zeitgenossen vor Augen standen, die Unfähigkeit der lutherischen
Orthodoxie, Antworten auf die Zeitprobleme zu geben, deutlich werden
lassen, so forderte der Pietismus eine Universalreform der Welt an Haupt
und Gliedern. Francke sah die Ursache des Verderbens insbesondere in dem
schlechten „Lehr = Stand", und die Quellen des Verderbens wollte er durch
praktische, tätige Frömmigkeit verstopfen. „Eine solche Quelle ist die böse
Aufferziehung der Jugend. Denn damit ist es so weit kommen, daß fast
niemand mehr weiß, was zu einer recht Christlichen und gemeinen Wesen
nützlichen Aufferziehung gehöre. Daher die Jugend insgemein rohe, wüst
und wilde, und ohne alle wahre Erkäntniß und Furcht Gottes, ohne Zucht
und Ermahnung des HErrn aufwächset", heißt es in einer programmatischen
Niederschrift Franckes. 3 6 Die praktische Folgerung, eine Reform des Erzie-

sten in Halle: H. RÜPING, Thomasius und seine Schüler... (1979) [s. o. Anm. 30],
S. 7 7 ; Studentenzahlen: J . C. von DREYHAUPT, Pagus Neletici et Nudzici... Bd. 2
(1755) [s.o. Anm. 31], S. 2 9 f . ; Lehrkörper 1713/40: O t t o BEHRE, Geschichte der
Statistik in Brandenburg-Preussen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen
Bureaus, Berlin 1905 (ND Vaduz 1979), S. 3 0 9 ; N. HAMMERSTEIN, JUS und
Historie... (1972) [s.o. Anm. 30], S. 155; schon J . C . HOFFBAUER, Geschichte der
Universität zu Halle... (1805) [65], S. 2 0 8 f .
35 So N . HAMMERSTEIN in seiner zusammenfassenden Studie: Z u r Geschichte und
Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation,
in: H Z , Bd. 241 (1985), S. 2 8 7 - 3 2 8 , hier S. 316.
36 In FRANCKES „Grosse(m) Aufsatz" (Otto PODCZECK [Hg.], August Hermann
Franckes Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als
Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen
Kirche des 18. Jahrhunderts. Der Grosse Aufsatz [ = AbhSächsGesW, Bd. 53,
H . 3], Berlin 1962), S. 7 5 f., sowie die Einleitung des Herausgebers, S. 9 f.; Carl
HINRICHS, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen
als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 18 f., 47, 54.
624 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts

hungs- und Bildungswesens — im Zeichen vertiefter Religiosität bei Offen-


heit für die reale Welt — in die Wege zu leiten, blieb beim Pietismus nicht
Postulat, sondern wurde unmittelbarer Aktivitätsimpuls. Die organisatori-
schen Anfänge, die mit der Eröffnung der ersten Armenschule durch Francke
und dem Beginn der Waisenbetreuung 1695 markiert seien, waren beschei-
den; 1698 wurde der Grundstein zu dem berühmten Waisenhaus gelegt, 37
doch blieb die finanzielle Ausstattung lange prekär, denn nicht primär durch
die staatliche Unterstützung, sondern aus einem aus ganz Deutschland
bezogenen Spendenaufkommen erwuchsen die Franckeschen Anstalten, de-
nen sodann eigene Erwerbsbetriebe angeschlossen wurden. Die landesherr-
lichen Privilegien erwiesen sich hingegen als wirkungsschwach, 38 und doch
erreichten die Anstalten in Halle bald eine für die Zeit ganz ungewöhnliche
quantitative Dimension. In den Schulen dieses Komplexes, den deutschen
Schulen, den Schulen für Bürgerkinder, der für künftige Studierende ge-
schaffenen Lateinschule am Pädagogium Regium und im Waisenhaus selbst
wurden 1706 knapp 1000 Kinder unterrichtet, und die Zahlen stiegen weiter
schnell an, so daß im Todesjahr Franckes (1727) rund 2300 Kinder von
etwa 150 Lehrpersonen versorgt wurden, 39 eine Zahl, die (in einem Staat
von ca. 2 Millionen Einwohnern in allen Provinzen zusammen!) doch in
der Tat erstaunlich genannt werden muß. Die Kinder wurden, wie die
Nennung der Schularten schon andeutungsweise zeigt, zwar nach dem von
Francke im Grundsatz anerkannten Ständeprinzip gruppiert, doch war die
Praxis in Halle dadurch gekennzeichnet, daß selbst Knaben des Waisenhau-
ses, wenn sie ein gutes „Ingenium" erkennen ließen, durch besonderen
Unterricht bis zum Studium gefördert, Standesbarrieren also potentiell
nivelliert wurden. 40

37 Quelle: August Hermann FRANCKE, Segens-volle Fußstapfen des noch lebenden


und waltenden liebreichen und getreuen Gottes, Z u r Beschämung des Unglaubens
und Stärckung des Glaubens, entdecket durch eine ... Nachricht von dem Waysen-
Hause und übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle [1701], Halle 3 1 7 0 9 , S. 7 ff.,
zu den Spenden auch S. 11 ff., 15, 3 2 ff. u. ö.; Gustav KRAMER, August Hermann
Francke. Ein Lebensbild, Bd. 1, Halle a. S. 1880, S. 1 6 2 - 1 6 9 ; Wolf OSCHLIES,
Die Arbeits- und Berufspädagogik August Hermann Franckes (1663 — 1727).
Schule und Leben im Menschenbild des Hauptvertreters des Halleschen Pietismus
( = ArbGPiet, Bd. 6), Witten 1969, S. 16, 18, 22.
38 A . H . FRANCKE, Segens-volle Fußstapfen... ( 3 1709) [s.o. Anm. 37], S. 2 8 f . , 5 6 f . ,
125, Anm. 2; vgl. damit Carl HINRICHS, Friedrich Wilhelm I. König in Preußen.
Eine Biographie. Jugend und Aufstieg, Hamburg 2 1 9 4 3 , S. 567.
39 G. KRAMER, August Hermann Francke... (1880) [s.o. Anm. 37], Bd. 2, S. 4 8 6 ;
Klaus DEPPERMANN, Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter
Friedrich III. (I.), Göttingen 1961, S. 90.
40 Vgl. A . H . FRANCKE, Segens-volle Fußstapfen... ( 3 1709) [s.o. Anm. 37], S. 23;
Hans AHRBECK, Über die Erziehungs- und Unterrichtsreform Α. H . Franckes und
ihre Grundlagen, in: 4 5 0 Jahre Martin-Luther-Universität Halle - Wittenberg.
Eine Festschrift aus Anlaß ihres 450jährigen Bestehens, Bd. 2, Halle - Wittenberg
1952, S. 7 7 - 9 5 , hier S. 88.
IV. Halle und der Pietismus 625

Die Frage, in welchem Umfange die preußischen Schulen und Universi-


täten vom Pietismus hallischer Prägung geformt oder doch beeinflußt wor-
den sind, wird aber nicht vorschnell beantwortet werden dürfen — die
Forschung hat für das Problem der Wirkungsgeschichte der führenden
Reformströmungen in bezug auf das preußische Bildungswesen noch erheb-
liche Defizite aufzuarbeiten. Es waren städtische Reforminseln im Branden-
burg-Preußen des späten 17. und anbrechenden 18. Jahrhunderts, in denen
pietistische Impulse nachgewiesen werden können. In Berlin haben Spener
und ihm verbundene Hofkreise um 1700 Einfluß auf die Besetzung einzelner
wichtigerer Schulstellen zu nehmen gewußt, auch gehen die Berliner Ar-
menschulen, die seit den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts begründet
wurden, auf die individuelle Tätigkeit einzelner, dem Pietismus zuneigender
Pfarrer zurück. 41 Daß in den Stadtschulen der westlichen Mark Brandenburg
die Lehrer zu einem nicht unbeträchtlichen Teil vom Hallenser Waisenhaus
genommen wurden, kann schon aus Gründen der geographischen Nähe
erklärt werden, 42 aber das Beispiel des ostpreußischen Königsberg belegt,
daß der Reformeinfluß des Pietismus nicht auf die mittleren Provinzen
beschränkt blieb. In Königsberg/Pr. war es der mit Francke persönlich
bekannte Holzkämmerer Theodor Gehr, der seit den 1690er Jahren nach
hallischem Vorbild ein Schulsystem aufzubauen begann, das mit dem seit
1701 unter landesherrlichem Schutz stehenden „Collegium Fridericianum"
(Name seit 1703), einer Gelehrtenschule, Berühmtheit erlangte. 43 Private
Waisenhausgründungen in Städten bescheidenerer Größe waren vom Pietis-
mus inspiriert. In Königsberg wurde 1701 ein Königliches Waisenhaus
geschaffen. Das militärische Schulwesen, das seit den 1690er Jahren von
vom Pietismus beeinflußten Offizieren und Feldpredigern mit Regiments-
und Garnisonsschulen geschaffen worden ist, sei als weiteres Beispiel er-
wähnt. Das nach Hallenser Vorbild errichtete Potsdamer Militärwaisenhaus

41 Joachim LANGE, Lebenslauf, zur Erweckung seiner in der evangelischen Kirche


stehenden, und ehemal gehabten vielen und wehrtesten Zuhörer, Von ihm selbst
verfaßet, und mit einigen Erläuterungen, auch eingeschalteten Materien, ausge-
fertigt. Nebst einem Anhange Väterlicher Warnung, an die der Theologie ergebene
studirende Jugend, vor dem Herrenhutischen Kirchenwesen und Mißionswercke,
Halle - Leipzig 1744, S. 5 6 f.; F. WIENECKE, Die Begründung der evangelischen
Volksschule... (1913) [s. o. Anm. 5], S. 5 8 ; Friedrich-Franz MENZEL, Das Berliner
Armenschulwesen unter besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit Wilhelm Lud-
wig Rauchs ( 1 7 4 0 - 1 7 7 8 ) - Ein Beitrag zur Geschichte des Berliner Elementar-
schulwesens, in: JbESG, Jg. 28 (1988), S. 4 4 - 5 6 , bes. S. 4 5 ff.
42 Johan Christian Gottlob SCHUMANN, Die Geschichte des Volksschulwesens in der
Altmark und des Altmärkischen Schullehrer-Seminars zu Gardelegen - Oster-
burg, Halle 1871, S. 2 3 0 , vgl. S. 3 5 0 , S. 3 5 2 .
43 Emil HoLLACK/Friedrich TROMNAU, Geschichte des Schulwesens der Königlichen
Haupt- und Residenzstadt Königsberg i. Pr. mit besonderer Berücksichtigung der
niederen Schulen. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Altpreußens, Königsberg 1899,
S. 2 1 1 - 2 3 4 , zum Armenschulwesen S. 2 3 5 ff., S. 2 8 0 f.; A. HEUBAUM, Geschichte
des deutschen Bildungswesens... (1905) [30], S. 1 5 2 - 1 5 5 ; C. HINRICHS, Preu-
ßentum und Pietismus... (1971) [ s . o . Anm. 36], S. 231 f., 2 7 1 , 2 9 1 .
626 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts

(1724) verdankt dagegen seine Gründung monarchischer Initiative. 44 Auch


im Falle der Schulen für Soldatenkinder wäre es aber — nach gegenwärtigem
Forschungsstand - falsch, von mehr als lokal begrenzten und lokal getra-
genen Reforminseln zu sprechen.
Gleichwohl: Halle als Zentrum einer verjüngten Universitätswissenschaft
und zugleich als organisatorisches Zentrum der pietistischen Reformbewe-
gung bezeichnet die kulturgeschichtliche Bedeutung der erst 1680 an Bran-
denburg gekommenen Saalestadt. Franckescher Waisenhaus- bzw. Schul-
komplex und Universität waren aber nicht nur über den bald in die -
pietistisch dominierte — theologische Fakultät 4 5 aufgerückten Anstalts-
gründer und das zum Teil aus den Studenten rekrutierte Personal sowie die
studentischen Freitische an den Anstalten verknüpft. Das Waisenhaus galt
als „ein Annexum der Universität", 46 und diese war eben mehr als eine
Provinz- oder Territorialuniversität traditionalen Zuschnitts. Sie war um
1700 und in der Folgezeit die Zentraluniversität des preußischen Staates. 47

V. Schule, Universität und Landesherrschaft bis 1700

Halten wir fest: Die Bildungsgeschichte Brandenburg-Preußens bis zum


Beginn des 18. Jahrhunderts kann keinesfalls primär am staatlichen Ver-
waltungshandeln orientiert gesehen werden. Landesherrliche Eingriffe im
Bereich von Schule und Universität blieben extrem selektiv. Es ist mit guten
Argumenten für die Zeit des Großen Kurfürsten darauf hingewiesen worden,
daß „der uns naheliegende Gedanke einer vereinheitlichenden und kontrol-
lierenden Tätigkeit der politischen Spitze" im Bereich des Bildungswesens
„der Zeit noch weithin, Kurbrandenburg völlig fremd" gewesen ist. 48 Für-
stenschulen wie das Joachimsthalsche Gymnasium und Universitäten waren
„Aufgabengebiet der Landeshoheit", doch führten die Universitäten faktisch
„weithin ein Eigenleben", was wohl in erster Linie auf das landesherrliche
„Desinteresse" zurückgeführt werden muß. Zwar gab es bisweilen Eingriffe
bei Berufungen, insbesondere bei der der Theologen, und der Kurfürst
versuchte „hin und wieder", besonders geschätzte Gelehrte zu piazieren.

44 Wolfgang NEUGEBAUER, Truppenchef und Schule im Alten Preußen. Das preu-


ßische Garnison- und Regimentsschulwesen vor 1806, besonders in der M a r k
Brandenburg, in: E c k a r t Henning/Werner Vogel (Hg.), Festschrift der Landes-
geschichtlichen Vereinigung für die M a r k Brandenburg zu ihrem hundertjährigen
Bestehen 1 8 8 4 - 1 9 8 4 , Berlin 1984, S. 2 2 7 - 2 6 3 , hier S. 2 3 0 ff., 2 3 9 f., 2 4 8 (mit
Lit.).
45 W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität zu H a l l e . . . (1894) [66], Bd. 1,
S. 118 - 1 2 6 , S. 128; Gustav Friedrich HERTZBERG, Geschichte der Stadt Halle an
der Saale von den Anfängen bis zur N e u z e i t . . . , Bd. 2, Halle 1891, S. 665.
46 J. C. HOFFBAUER, Geschichte der Universität zu H a l l e . . . (1805] [65], S. 122.
47 Siehe O t t o HINTZE, [Rezension zu] C o n r a d Bornhak, Geschichte der preussischen
Universitätsverwaltung bis 1810, in: F B P G , Bd. 14 (1901), S. 6 8 2 - 6 8 5 , hier S. 684.
48 So E. OPGENOORTH, Friedrich W i l h e l m . . . ( 1 9 7 1 / 7 8 ) [ s . o . Anm. 9], Bd. 2, S. 3 5 2 f .
§ 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit 627

„Die Routineaufgaben überließ der Kurfürst den Regierungen der Territo-


rien mit dem Ergebnis, daß es so etwas, wie eine Hochschulpolitik im
Grunde nicht gab"; es blieb bei „gelegenheitsbedingte(n) Einzelmaßnah-
men". 49 Von einer systematischen Finanzierung war noch lange nicht die
Rede. Immerhin wurde auf möglichste theologische Friedfertigkeit an den
Universitäten Brandenburg-Preußens geachtet und dieses auch in den Sta-
tuten der Universität Halle gefordert. 50 Die Sorge um den „Kir-
chen =Friede(n)" war es auch, die 1662 zu dem Verbot für alle Landeskinder
Brandenburg-Preußens führte, im kursächsischen Wittenberg Theologie
oder Philosophie zu studieren. 51
In der Summe der lokal recht verschiedenen Universitätsverhältnisse im
17. Jahrhundert wird zwar eine zunehmende Tendenz zu selbständiger
landesherrlicher Besetzung von Professoraten festgestellt werden müssen,
doch drang dieses Streben im 17. Jahrhundert nicht restlos durch, und die
Universitäten konnten sich durchaus gegen landesherrliche Interventionen
abschirmen. 52 Mit Halle wurde eine Bildungsinstitution gesamtstaatlicher
Bedeutung staatlicherseits geschaffen, und dennoch steht selbst die Univer-
sitätsgeschichte des folgenden „absolutistischen" Jahrhunderts nicht unter
dem Primat landesherrlicher Politik. Trotz der kulturellen Potenzen im
Preußen um 1700 war es doch noch kein moderner verwaltungsgestützter
„Kulturstaat".

§ 2 Schule und Universität im absolutistischen


Preußen und in der Reform
I. Die Grundstrukturen des schulischen
Bildungswesens im 18. Jahrhundert
1. Landschulbau und Schuldichte

Zu den bis in die neuere sozialgeschichtliche Literatur hinein verbreiteten


Topoi der preußischen Schulgeschichte gehört das Bild von den preußischen
Königen als den Schulgründern. Tatsächlich wurde dieses Bild geprägt von

49
Ebda, und C. BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitätsverwaltung...
(1900) [45], S. 52.
50
A.A.O., S. 3 7 F . ; N . HAMMERSTEIN, JUS und Historie... (1972) [ s . O . Anm. 30],
S. 151, 154.
51
Druck: C. O. M Y L I U S (Hg.), Corpus Constitutionum... ( 1 7 3 7 - 1 7 5 1 ) [12], T. 1/2,
B e r l i n - H a l l e [1737], Nr. 20, Sp. 7 9 - 8 2 (Edikt, 21. 8. 1662).
52
Vgl. C. BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitätsverwaltung (1900)
[45], S. 19 ff., 50; M. LACKNER, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten...
(1973) [s.o. Anm. 18], S. 260f., 264f., 267; G.v. RODEN, Die Universität Duis-
burg... (1968) [62], S. 97, 100 f.
628 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

durchaus beeindruckenden landesherrlichen Massen-Schulgründungen in


bestimmten Problemregionen, nicht aber flächendeckend im preußischen
Staat. Zu nennen ist das ostpreußische Schul-Retablissement. Es wurde
schon oben darauf hingewiesen, daß in Ostpreußen bereits im 16. und
17. Jahrhundert auf dem Lande ein geschlossenes Schulnetz existierte. Nach
der Verwüstung dieser Provinz Anfang des 18. Jahrhunderts (Hungersnot,
Pest 1709/10, Zusammenbruch der Verwaltung, Bevölkerungsverluste rd.
40 Prozent)1 ist auch der schulische Wiederaufbau nicht als die Schaffung
eines Landschulnetzes aus wilder Wurzel, sondern als Erneuerung kurzfristig
zugrunde gegangener Schulstrukturen zu interpretieren, wobei dem staat-
lichen Handeln der in Ostpreußen ungewöhnlich hohe Anteil landesherrli-
chen Eigenbesitzes auf dem Lande zugute gekommen sein dürfte. Nach
fruchtlosen Versuchen seit 1718 wurden dann insbesondere seit 1736 bis
1743 2 in großflächigen Schulbau- beziehungsweise Gründungsmaßnahmen
rund 1500 Schulen, davon in den Jahren 1736 bis 1739 884 Landschulen
geschaffen.3 Als schwieriges Problem erwies sich dabei sofort die Frage
nach der dauernden Unterhaltung der Schule, insbesondere aber die Bezah-
lung der Schulmeister. Ebenso ungewöhnlich wie der landesherrlich getra-
gene Schulenbau war die vom König beschlossene Stiftung des „Möns
pietatis", einer Summe von 50.000 Talern, von deren Zinsen Zuschüsse zur
Landlehrerbesoldung der Gemeinden gezahlt wurden.4 Freilich ist vor einer
allzu modernen Interpretation dieser Maßnahmen entschieden zu warnen;
der Gedanke staatlicher Schulfinanzierung im Sinne kulturstaatlicher Da-
seinsvorsorge auch im Schulbereich ist dem 18. Jahrhundert noch durchaus
fremd. In einem von ihm eigenhändig unterzeichneten, nicht veröffentlichten
Dekret vom Jahre 1735 lehnte Friedrich Wilhelm I. es ausdrücklich ab, die
zur Schulmeister-Besoldung erforderlichen Summen „auff den Etat mit
anzusetzen^) Weilen Sie aber nicht gewillt dero Cassen mit solchen ausgaben
zu beschweren, die dahin nicht gehören, und dennoch den großen unglauben
und Finsternüß, darin die Jugend aida stecket, gahr woll erkennen und
höchst nöthig finden auff Mittel und Wege zu dencken dieselbe aus solcher
Finsternüß heraus zu reißen", solle das Geld zu einem Fonds bereitgestellt
werden.5 Zugleich wird dabei ein Blick auf die Motive möglich. Vertreter

1 Fritz TERVEEN, Gesamtstaat und Rétablissement. Der Wiederaufbau des nördli-


chen Ostpreußen unter Friedrich Wilhelm 1.1714 —1740 ( = GöBaustGw, Bd. 16),
Göttingen 1954, S. 18.
2 A. a. O., bes. S. 113 ff.; Georges PARISET, L'État et les Églises en Prusse Sous
Frédéric-Guillaume 1er (1713 - 1 7 4 0 ) , Paris 1897, S. 4 6 1 - 4 8 5 , bes. S. 476, 483.
3 Ebda.; Hartwig NOTBOHM, Das evangelische Kirchen- und Schulwesen in Ost-
preussen während der Regierung Friedrich des Grossen ( = StGPr, Bd. 5), Hei-
delberg 1959, S. 43 - 46; vgl. die Zahlen bei Ferdinand VOLLMER, Friedrich
Wilhelm I. und die Volksschule, Göttingen 1909, S. 92; Ders., Die preußische
Volksschulpolitik unter Friedrich dem Großen ( = MGPaed, Bd. 56), Berlin 1918,
S. 11.
4 Z . B . F. VOLLMER, Friedrich Wilhelm I.... (1909) [s.o. Anm. 3], S. 76; A. HEU-
BAUM, Geschichte des deutschen Bildungswesens... (1905) [30], S. 167.
5 Ausfertigung: GStA Berlin-Dahlem, 20. Hauptabt., StA Königsberg, Rep. 5,
Tit. 22 I, Nr. 2, Vol. 2; Hervorhebung vom Verf.
I. Grundstrukturen schulischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert 629

des Pietismus sind beim Schulretablissement in Ostpreußen bei praktischer


Wirksamkeit zu beobachten. Wenn gelegentlich davon die Rede war, daß
es insbesondere um die Verbesserung von Schulstellen im preußisch-litaui-
schen Gebiet und in den polnischen Ämtern gehen solle, so ist doch von
einer „Germanisierungspolitik", wie die Forschung ergeben hat, nicht zu
sprechen 6 — auch dies eine unzulässige Riickübertragung jüngerer Phäno-
mene in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Die Grenzen des Erreichbaren, zumal beim Widerstand des ostpreußi-
schen Landadels, waren den Zeitgenossen wohl bewußt und dürfen ange-
sichts der zitierten Zahlen nicht übersehen werden. Trotz des ostpreußischen
Schulbaus bis 1743 und einer auch in den folgenden Jahrzehnten erkenn-
baren weiteren, wenn auch langsameren Zunahme der Schulstellenzahlen
auf dem Lande, galt die Verbreitung von Schulen in dieser Provinz nicht
als genügend, standen doch, um eine Stimme aus dem Jahre 1789 zu
erwähnen, die damals 1846 Landschulen rund 9000 Dörfern, Gütern und
Vorwerken gegenüber. 7 Auch um 1805 gehörte gerade Ostpreußen zu den
Teilen der Monarchie mit der geringsten Schuldichte.
In anderen Provinzen und Regionen Brandenburg-Preußens ist in der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein auch nur annähernd vergleichbares
staatliches Engagement in Sachen des niederen Schulwesens nicht zu be-
obachten. Überhaupt blieben auch in der Folgezeit entsprechende Maßnah-
men jeweils regional begrenzt, wobei sich insbesondere im letzten Jahrhun-
dertdrittel außergewöhnliche Aktivitäten in den neu an Preußen gekom-
menen Provinzen mit starkem katholischen Element beobachten lassen,
worauf zurückzukommen ist. Wenn außerhalb solcher besonderer Regionen
signifikanteren landesherrlichen Zugriffs für die Entwicklung der ländlichen
Schulstrukturen etwa im Zusammenhang von Siedlungs- und Meliorations-
maßnahmen, zum Beispiel im Oderbruch unter Friedrich dem Großen,
Schulen gegründet worden sind, 8 so ist dies noch nicht ein Beleg für
zielgerichtete Landschulpolitik im Auftrag des Staates. Wie die Quellen
deutlich machen, waren es häufig die nicht zuletzt aus religiösen Gründen
nach Preußen eingewanderten Kolonisten, die auf eine Schule in ihrem Ort

6 Die Lit. in Anm. 4 sowie grundsätzlich Carl HINRICHS, Preußentum und Pietis-
mus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewe-
gung, Göttingen 1971, S. 239; F. TERVEEN, Gesamtstaat und Rétablissement...
(1954) [s.o. Anm. 1], S. 89F.; Ders., Das Rétablissement Ostpreussens im
18. Jahrhundert, in: Deutsche Ostsiedlung in Mittelalter und Neuzeit ( = StdDtO,
H. 8), K ö l n - W i e n 1971, S. 1 6 0 - 1 8 1 , hier S. 175.
7 Ludwig Ernst BOROWSKI, Neue Preußische Kirchenregistratur, die neuen Verord-
nungen und Einrichtungen in Kirchen- und Schulsachen im Königreiche Preußen
enthaltend. Nebst einigen zur Kirchengeschichte Preußens gehörigen Aufsätzen,
Königsberg 1789, S. 189; die Zahl der Dörfer, Güter und Vorwerke liegt offenbar
zu niedrig.
8 Walther HUBATSCH, Friedrich der Große und die preußische Verwaltung
( = StGPr, Bd. 18), Köln - Berlin 1973, S. 100; Alberto DETTO, Die Besiedlung des
Oderbruches durch Friedrich den Großen, in: FBPG, Bd. 16 (1903), S. 1 6 3 - 2 0 5 ,
hier S. 177.
630 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

und in ihrer Konfession drängten. Dann konnte die Schule durchaus als
eine Stätte zur Pflege kultureller Eigenständigkeit wirken, nicht aber als ein
Integrationsinstrument zur Assimilation an die „preußische" Umgebung.
Die Berliner Kollegien mußten denn auch oft genug von Kolonistengemein-
den um die Einlösung der Versprechen angegangen werden, wenn ihnen
unter anderem eine Schule für ihren neuen "Wohnort zugesichert worden
war. 9
Auch in den weiten Teilen Brandenburg-Preußens, in denen es nicht zu
landesherrlich veranlaßten oder unterstützten Schulgründungen kam, war
ein dichtes Schulnetz auf dem Lande vorhanden, ja sie übertrafen in der
Schuldichte entschieden etwa das durch das landesherrliche Schulretablis-
sement geförderte Ostpreußen. Tabelle 1 stellt — auf der Grundlage zeit-
genössischer statistisch-topographischer Literatur 1 0 — die verfügbaren Da-
ten zur Schuldichte zusammen (siehe Tabelle 1 auf S. 631).
Die Tabelle zeigt die außerordentlich großen Unterschiede selbst zwischen
den mittleren und östlichen Provinzen des preußischen Staats bei einem
West-Ost-Gefälle, das übrigens innerhalb einzelner Landschaften ein Ost-
West-Gefälle durchaus nicht ausschloß. Die gegebenen Durchschnittswerte
verdecken also einen noch sehr viel tiefer greifenden Regionalismus der
schulischen Strukturen, gekennzeichnet nicht von landesherrlicher Schul-
politik, sondern — so eine Erklärung — nicht zuletzt von Siedlungsformen.
Nach wie vor darf die Bedeutung der ländlichen Herrschaften, der Land-
geistlichen, aber auch der Gemeinden für die Schulen in ihren Dörfern nicht
unterschätzt werden.
Was aber war eine Dorfschule in vormoderner Zeit und insbesondere in
den Regionen Brandenburg-Preußens? Bei aller Vorsicht vor idealtypischen
Kondensaten angesichts der stark regionalen Prägungen, wie sie angedeutet
wurden, läßt sich eine knappe Skizze so geben: 11 Die Dorfschule war bedingt
durch die Arbeitswelt des preußischen Agrarstaats. Das bedeutete zunächst,
und zwar auf adligem Boden sowohl als auf landesherrlichem Domanial-
besitz, daß Schule Winterschule war, da die Kinder ganz selbstverständlich
vom Frühjahr bis zum Herbst zur Arbeit im Hause und zur Unterstützung
der Feldarbeit herangezogen wurden. Dabei konnte die Winterschule leicht
auf wenige Wochen zusammenschmelzen. Ein kontinuierlicher, aufbauender
Unterricht war damit ausgeschlossen. In jeder Lehrperiode mußte er neu

9 Wolfgang NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Bran-


denburg-Preußen ( = V H K z B , Bd. 62), B e r l i n - N e w York 1985, S. 2 8 6 - 2 9 5 .
10 N a c h : Leopold KRUG, Abriß der neuesten Statistik des preußischen Staats, Halle
2 1 8 0 5 , S. 1 9 f . (Dorfzahlen); ders., Betrachtungen über den National-Reichthum

des preußischen Staats, und über den Wohlstand seiner Bewohner, Bd. 2, Berlin
1805, S. 4 0 0 (ND: Aalen 1970). Ergänzend siehe jetzt die wichtige Studie von
S. BRÜGGEMANN, Landschullehrer in Ostfriesland... (1988) [92], S. 3 5 1 f.
11 Ζ . Β.: Achim LESCHINSKY/Peter M a r t i n ROEDER, Schule im historischen Prozeß.
Z u m Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Ent-
wicklung, Stuttgart 1976, S. 108 f., sowie die Arbeit in A n m . 9, S. 4 6 8 - 5 0 7 (mit
Lit.).
I. Grundstrukturen schulischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert 631

TABELLE 1
Schuldichte in Preußen um 1805

Provinz Zahl der Dörfer Kirchen- und Dichte in %


Schuldiener

Südpreußen 8000 1399 17,5


Neuostpreußen 6000 495 8,3
Ostpreußen 7260 2032 28,0
Westpreußen 4130 1230 29,8
Schlesien 5300 ? -

Pommern 2240 1458 65,1


Neumark 860 728 84,7
Kurmark 2050 1712 83,5
Magdeburg 567 547 96,5
Halberstadt/Hohenstein 165 196 100
Minden-Ravensberg ? 243 -

Mark 464 190 41,0


Kleve 140 67 47,9
Hildesheim 234 ρ —

Paderborn 136 192 100


Tecklenburg/Lingen ? 70 -

Ostfriesland ? 251 -

Neufchatel } 106 -

Ansbach-Bayreuth 2230 (!) ? -

Quellen: Leopold KRUG, Abriß der neuesten Statistik des preußischen Staats, Halle
2 1805, S. 19. f. (Dorfzahlen); ders., Betrachtungen über den National-Reichthum des

preußischen Staats und über den Wohlstand seiner Bewohner, Bd. 2, Berlin 1805,
S. 400; siehe auch die ergänzende Literatur in Anm. 10.

begonnen werden, so daß er über die Vermittlung elementarer Kenntnisse


des Lesens, schon seltener des Schreibens und noch seltener des Rechnens
schwerlich gedeihen konnte. Gelernt wurde am Text von Katechismus und
bisweilen der Bibel, der religiöse Gehalt war stets präsent. Schulbesuch im
Sommer zu erzwingen erwies sich als unmöglich, und im Winter besuchte
das Kind die Schule einige wenige Jahre nacheinander. Damit waren zugleich
die Schulgeldeinnahmen des Schulmeisters stets recht unsicher, dieser blieb
auf ein Handwerk als Subsistenzbasis angewiesen, was wiederum soziale
Herkunft und „schlechte" Qualität des Lehrpersonals bedingte. Warum
sollte aber ein Bauer, Kossät, Büdner etc. seine Kinder zu einem solchen
Mann schicken und dann auch noch bezahlen? Die Prägungskraft der
Dorfschule blieb eng begrenzt und darf nicht im Sinne etwa der politischen
Indienstnahme moderner Zeiten mißverstanden werden!
Angesichts dieser durch die ländliche Lebens- und Arbeitswelt von Jahr-
hunderten, durch stabile Traditionen gestützten Grundstruktur der Schule
vom type ancien konnten staatliche Reglements nicht anders als wirkungslos
bleiben. Die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nur sehr vorsichtig
einsetzenden, wiederum regional begrenzten, keineswegs aber gesamtstaat-
lichen Maßnahmen, etwa durch sogenannte Gnadenschulstellen das länd-
632 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

liehe Schulniveau zu heben, konnten die Traditionalitäten nicht brechen.


Gnadenschulen, das waren in der Kurmark Brandenburg 12 seit den 1770er
Jahren teils neu geschaffene, teils finanziell aufgebesserte, also vorhandene
Schulstellen, die mit einem Gehalt von 120 Talern jährlich (bei Wegfall des
Schulgeldes!) ausgestattet wurden. Mit höchstens 58 Gnadenschulen in der
Kurmark bei 1700 Stellen (s.o. Tabelle 1), sind diese „Musteranstalten" „zu
einer Bedeutung ... nie gelangt". 1 3 In ganz Pommern sollen 86 Gnaden-
schulen geschaffen worden sein. 14 In den westlichen Gebieten Preußens ist
bislang nur eine solche Stelle nachgewiesen worden. 15 Das tendenziell
verstärkte Engagement des Staates für das Landschulwesen war im
18. Jahrhundert noch nicht annähernd stark genug, um die gewachsenen
Strukturen nachhaltig zu prägen beziehungsweise zu verändern.

2. Die Schulverfassung in den Städten des 18. Jahrhunderts

Die für die Dorfschule beschriebenen Charakteristika der Arbeits- und


Wirkungsbedingungen gelten auch für nicht unbedeutende Teile der „städ-
tischen" Schulen. Dies trifft nicht nur wegen des ausgesprochen agrarischen
Charakters der vielen Mittel- und Kleinstädte der mittleren und östlichen
Provinzen zu. Überhaupt meinte zum Beispiel — um nur eine Quelle zu
zitieren — das Oberkonsistorium im Jahre 1799, daß die 173 lutherischen
„Elementarschulen" in den Städten der Kurmark „sich in nichts von den
Dorfschulen unterscheiden". 16 Tatsächlich schlug sich das starke ackerbür-
gerliche Element darin nieder, daß auch in den Städten die „Sommerschule"
entschieden schwächer besucht wurde, wenn sie überhaupt stattfand; und
dies galt auch für von Rektoren geführte Stadtschulen noch um 1800.

12 F. VOLLMER, D i e p r e u ß i s c h e V o l k s s c h u l p o l i t i k . . . (1918) [ s . o . A n m . 3 ] , S. 1 4 0 ,
145 - 1 5 8 mit den technischen Details; Eduard CLAUSNITZER, Zur Geschichte der
preussischen Volksschule unter Friedrich dem Grossen, in: DSch, Bd. 5 (1901),
S. 3 4 2 — 3 6 6 , 4 1 1 - 4 2 8 , h i e r S. 4 1 7 ; M a n f r e d HEINEMANN, S c h u l e i m V o r f e l d d e r
Verwaltung. Die Entwicklung der preußischen Unterrichtsverwaltung von 1771 —
1800 ( = StWSG, Bd. 8), Göttingen 1974, S. 141, S. 145.
13 Friedrich WIENECKE, Die Landgnadenschulen der Kurmark, in: SchulBlBr, 70. Jg.
(1905), S. 255 — 266, hier S. 266; Ders., Die Landgnadenschulen der Kurmark, in:
B r a , 1 4 . J g . ( 1 9 0 5 / 0 6 ) , S. 3 1 2 - 3 1 7 .
14 Auszug aus einem Bericht der Pommerschen Regierung und des Pommerschen
Konsistoriums zu Stettin über die Verfassung der Schulanstalten im Herzogthum
Pommern, in: APrSchKw, Bd. 2 (1801), S. 108.
15 Manfred HEINEMANN/Wilhelm RÜTER, Landschulreform als Gesellschaftsinitia-
tive. Philipp von der Reck, Johann Friedrich Wilberg und die Tätigkeit der
„Gesellschaft der Freunde der Lehrer und Kinder in der Grafschaft M a r k " (1789 —
1815) ( = StWGesB, Bd. 11), Göttingen 1975, S. 37 ff. (Overdyck).
16 Dazu: Ueber das Schulwesen in der Kurmark. (Zwei Berichte des Kurmärkischen
Oberkonsistoriums als Provinzial-Schulkollegiums), in: APrSchKw, Bd. 1 (1800),
S. 13. Ferner die Belege der in Anm. 9 genannten Arbeit, S. 479, 5 3 1 - 5 3 7 ;
F. VOLLMER, Die preußische Volksschulpolitik... (1918) [s.o. Anm. 3], S. 274.
I. Grundstrukturen schulischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert 633

Die Grenzen zwischen den Elementar- und „Stadtschulen", ja zwischen


den verschiedenen Arten städtischer Schulen überhaupt waren unscharf,
eine Klassifikation nach „Schultypen" (wie im 19. Jahrhundert) noch lange
nicht in Sicht. Nur statistisch wurde um 1800 versucht, Schularten bei der
Zählung zu unterscheiden. Auch innerhalb der Schulen fand der Unterricht
in größtdenkbarer Ungebundenheit statt, da das Zeitalter landesweit ver-
bindlicher Lehrpläne in den Städten noch nicht begonnen hatte. Selbst 1804
konnte denn in Berlin von maßgebender Stelle beklagt werden, daß bisher
„nicht bestimmt fest gestanden hat, was in jeder Schule und jeder Abtheilung
derselben zu lehren sei. Dies hat durchaus von der Einsicht und Willkür
jedes Rectors und allenfalls der Ephoren [das heißt des lokalen Aufsichts-
gremiums, W. N.] abgehangen."17 Noch in dieser Zeit dominierte im Lehr-
plan der alttradierte Ltfiemunterricht, auch — wenn dafür irgendein Inter-
esse vorhanden war — in kleinen Städten.18 Immerhin ist im 18. Jahrhundert
und gehäuft in der zweiten Jahrhunderthälfte an verschiedenen Orten zu
verschiedenen Zeiten eine Erweiterung des Lehrkanons um Fächer zu be-
obachten, die man nach jüngerem Sprachgebrauch als Realien bezeichnen
würde. Seit dem frühen 18. Jahrhundert wird der Mathematikunterricht
intensiviert, Geographie und Geschichte, seit 1750 auch vermehrt deutscher
und französischer Sprachunterricht erweitern einen bislang auf Latein und
Religion konzentrierten Lehrplan.19
Entscheidend für die jeweilige Qualität und damit die Frequenz städti-
scher Schulen war im 18. Jahrhundert der Lehrer beziehungsweise der
Rektor der Schule, zugleich ein Indiz dafür, wie krisenanfällig, wie wenig
anstaltlich verfestigt städtische, auch Gelehrtenschulen waren. Wer waren
diese Lehrer an den Stadt- und an den gymnasialen Schulen? Übersehen wir
die Schicht der Elementarschullehrer, die auch in den Städten dem hand-
werklichen Nexus entstammten. Auch in Preußen hatte der Lehrer an
städtischen Schulen Theologie studiert, und wenn auch in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts die Fälle schon häufiger auftraten, in denen die
Rektoren und übrigen Lehrer an Gymnasien im Lehramt verblieben und
darin ihre Lebensaufgabe sahen — noch die bedeutenden Gymnasialdirek-
toren im Berlin des späten 18. Jahrhunderts: Meierotto, Büsching und
Gedike waren studierte Theologen —, so war dies aber keinesfalls die

17 So der Oberkonsistorial- und Oberschulrat Johann Friedrich ZÖLLNER, Ideen


über National-Erziehung besonders in Rücksicht auf die Königl. Preußischen
Staaten, T. 1, Berlin 1804, S. 346.
18 Paul SCHWARTZ, Die Gelehrtenschulen Preußens unter dem Oberschulkollegium
( 1 7 8 7 - 1 8 0 6 ) und das Abiturientenexamen, Bd. 1 ( = MGPaed, Bd. 46), Berlin
1910, S. 2 7 ; F. VOLLMER, Die preußische Volksschulpolitik... (1918) [s. o. Anm. 3],
S. 274. Z u m Ganzen auch M . KRAUL, Das deutsche Gymnasium... (1984) [34],
S. 15 f., auch zum Folgenden.
19 Beispiele: Conrad RETHWISCH, Das höhere Schulwesen in Preußen um die Mitte
des XVIII. Jahrhunderts, in: Prjbb, Bd. 43 (1879), S. 1 1 7 - 1 4 1 , S. 227 - 257, hier
S. 240, 2 5 0 f.; Adolf MATTHIAS, Geschichte des deutschen Unterrichts ( = H b D U ,
Bd. 1, T. 1), München 1907, S. 97, 188 f.
634 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

Regel. Vielmehr war es üblich, daß junge Kandidaten der Theologie in das
Lehramt eintraten, um dort die Zeit bis zur Übernahme der ersehnten
Pfarrstelle abzuwarten; das Lehramt war also Durchgangsstation zur
Pfarre, 20 und dies auch schon seit Jahrhunderten, wenngleich das Theolo-
genmonopol erst als eine Erscheinung des 18. Jahrhunderts anzusehen ist.
Die Pfarrstelle war - da weit höher dotiert — sehr viel attraktiver, und
da diese das Berufsziel war, wurde der junge Theologe während des Stu-
diums vor dem Ende des Jahrhunderts auch nicht auf das Lehramt besonders
vorbereitet. Insofern existierte kein Lehrerstand im eigentlichen, „professio-
nalisierten" Sinne. Da die Lehrer die Schulstelle als Durchgangsamt ansahen,
waren sie, wie regionale Studien zeigten, vergleichsweise jung. Die Rektoren
der 28 neumärkischen Stadtschulen im Jahre 1787 waren zu 36 Prozent
zwischen 20 und 30, zu weiteren 36 Prozent 30 bis 40 Jahre alt. Die
Konrektoren waren entsprechend jünger. 21 Auch städtische Schulstellen
wurden in der Regel ärmlich dotiert, und das Schulgeld kam nur unregel-
mäßig und selten in der zu zahlenden Höhe ein, die Lehrer waren von den
Gemeinden materiell hochgradig abhängig.
Nur wenige große Gymnasien verfügten über erheblichere Mittel aus
Vermächtnissen und Stiftungen; staatliche Besoldungszuschüsse waren die
Ausnahme. 22 Die Direktoren der wenigen bedeutenden Gelehrtenschulen
verfügten über stattliche Gehälter. Was freilich ein Gymnasium sei, welche
Schule zu diesen Anstalten zu zählen war, blieb noch lange unklar — auch
hier gab es keine deutliche „Typisierung" in Schularten. Für die Mitte des
18. Jahrhunderts hat man in Preußen etwa 80 lateinische Schulen mit fünf
und mehr Klassen „und wohl viermal soviel mit weniger als fünf, meist
sogar nur mit drei Klassen" festgestellt. 23
Potentiell hätte die Einführung des Abitur-Examens im Jahre 1788 24 eine
Unterscheidung bringen können zwischen den Schulen, an denen diese

20 Allgemein: R. BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer... (1983) [25],


S. 20 ff.; F. PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts... ( 3 1919) [40], Bd. 1,
S. 608; Paul SCHWARTZ, Die neumärkischen Schulen am Ausgang des 18. und am
Anfang des 19. Jahrhunderts ( = SchrVGNeum, H . 17), Landsberg a. W. 1905,
S. 7, 24, 36, 107.
21 A . a . O . , S. 9.
22 Außer C. RETHWISCH, Das höhere Schulwesen in Preußen... (1879) [s.o.
Anm. 19], S. 122, s. Karl-Ernst JEISMANN, Das preußische Gymnasium in Staat
und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und
der Gebildeten, 1 7 8 7 - 1 8 1 7 ( = IndW, Bd. 15), Stuttgart 1974, S. 180; Johannes
ZIEKURSCH, Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung und der Städte-
ordnung Steins. Am Beispiel der schlesischen Städte dargestellt, Jena 1908, S. 129.
23 C. RETHWISCH, Das höhere Schulwesen in Preußen... (1879) [s.o. Anm. 19],
S. 118.
24 Grundlegend jetzt: K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium in Staat und
Gesellschaft... (1974) [s.o. Anm. 22], S. 1 0 2 - 1 1 8 ; M . HEINEMANN, Schule im
Vorfeld der Verwaltung... (1974) [s.o. Anm. 12], S. 2 8 0 f f . ; P. SCHWARTZ, Die
Gelehrtenschulen Preußens... (1910) [s.o. Anm. 18], Bd. 1, S. 6 5 - 1 2 2 (zur Ent-
stehung); Hans-Georg HERRLITZ, Studium als Standesprivileg. Die Entstehung
I. Grundstrukturen schulischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert 635

Prüfung abgenommen wurde, und denen, die diesen Abschluß nicht bieten
konnten. Anlaß zu diesem in der Bildungsgeschichte intensiv behandelten
Abitur-Edikt war die Klage über die ungenügende Vorbereitung der Stu-
denten für das Studium; dem üblichen Eingangsexamen an den Universitäten
fehlten Gründlichkeit und Strenge. Deshalb wurde nun eine öffentliche
Abgangsprüfung an den gymnasialen Schulen eingeführt, ohne daß aller-
dings Prüfungsinhalte und Anforderungen genauer umschrieben worden
wären. Aber: Auch die für „unreif" befundenen „Jüngling(e)" 2 5 durften
durchaus studieren, freilich konnten sie nicht in den Genuß von Stipendien
gelangen. Das Abitur war also noch nicht obligatorisch für den Universi-
tätsbesuch. Die Wirkung dieser neuen Einrichtung war jedenfalls in der
Schulwirklichkeit begrenzt, 26 auch war das zuständige Oberschulkollegium
nicht konsequent bei der Einteilung der Schulen, denen es gestattet war,
das Abitur abzunehmen. An den Universitäten wurden auch weiterhin
Sekundaner und Tertianer akzeptiert. Selbst die Stipendienvergabe wurde
in der Praxis nicht an das Abitur gebunden. Das Abitur-Reglement galt
versierten Zeitgenossen schlicht als „Blendwerk". 2 7 Das Projekt einer neuen
Prüfungsverordnung kam vor dem Kriegsausbruch 1806 nicht mehr zur
Realisierung.
Von den rund 400 gelehrten Schulen in Preußen am Ende des 18. Jahr-
hunderts besaßen etwa 70 den Abitur-Standard; circa 40 dürften als tat-
sächliche Vorgänger künftiger Gymnasien angesehen werden. 28 Diese Gym-
nasien waren im 18. Jahrhundert aber nicht nur die Institute, auf denen
etwa auf ein künftiges Studium vorbereitet wurde. Ein erheblicher Teil der
Schüler ging vor Erreichen der oberen Klassen ab; das Gymnasium erfüllte
also zugleich die Aufgabe der gewöhnlichen Stadtschule. Diese „Frühab-
gänger" strebten Bürodienste, Tätigkeit in Handel und Gewerbe sowie im
Militär bevorzugt an. 2 9 Die Gymnasien als Gelehrtenschulen, das heißt

des Maturitätsproblems im 18. Jahrhundert. Lehrplan- und gesellschaftsge-


schichtliche Untersuchungen, Frankfurt/M. 1973, S. 9 9 - 1 0 8 , 156 ff. Text: N o -
vum Corpus Constitutionum... ( 1 7 5 3 - 1 8 2 2 ) [13], Bd. 8, Berlin 1791, Nr. 2 zu
1789, Sp. 2 3 7 7 - 2 3 8 4 ; daraus das Folgende.
25 S. das Zirkular an alle Universitäten vom 23. X I I . 1788, in: N o v u m Corpus
Constitutionum... ( 1 7 5 3 - 1 8 2 2 ) [13], Bd. 8, Berlin 1791, Sp. 2 3 8 5 - 2 3 9 2 , hier
Sp. 2 3 8 5 und Sp. 2 3 8 7 ff.
26 K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft... (1974)
[s.o. Anm. 22], S. 1 1 6 f . ; C. BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitäts-
verwaltung... (1900) [45], S. 164. Das Folgende: P. SCHWARTZ, Die Gelehrten-
schulen Preußens... (1910) [s.o. Anm. 18], Bd. 1, S. 135, 69, ferner S. 148, 150.
27 Gutachten des Oberkonsistorialrates Teller vom 1. Juli 1795: A. STÖLZEL, Die
Berliner Mittwochsgesellschaft über Aufhebung oder Reform der Universitäten
(1795), in: FBPG, Bd. 2 (1889), S. 2 0 1 - 2 2 2 , hier S. 2 0 8 f .
28 So: Paul R(obinson) SWEET, Wilhelm von Humboldt. A Biography, Bd. 2, Co-
lumbus 1980, S. 41, und wiederum K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium
in Staat und Gesellschaft... (1974) [ s . o . Anm. 22], S. 48.
29 Vgl. P. LUNDGREEN, Sozialgeschichte der deutschen Schule... (1980) [37], Bd. 1,
S. 49, sowie die Tab. S. 44.
636 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

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638 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

hinsichtlich der Absolventen der obersten Klasse, waren, wie die Forschun-
gen von Karl-Ernst Jeismann gezeigt haben, Institute vornehmlich „für die
Söhne der Beamten, Geistlichen und anderer akademischer Berufe. Sie
stellten um 1800 „mit 70 Prozent den weitaus überwiegenden Teil der
Abiturienten"; insofern darf das Gymnasium als „Schule der vorwiegend
auf den Staat bezogenen Berufsstände" angesehen werden, und darin un-
terschied es sich entschieden von den übrigen Stadtschulen. 30 Der geringe
Adelsanteil unter den Abiturienten verweist dabei auf den Charakter dieser
Gelehrtenschulen als Bildungseinrichtungen des oberen Bürgertums, was
einen nicht geringen Prozentsatz von Abiturienten aus Kreisen der Hand-
werker und aus unteren Soldatenkreisen bemerkenswerterweise nicht aus-
schloß. Kaufleute dagegen sind unter den Abiturienten nur schwach vertre-
ten; ihre Söhne verließen die Schule schon vor dem Abitur. Tabelle 2 (nach
der Studie von Jeismann) erläutert diese Problematik (siehe Tabelle 2 auf
den S. 636 u. 637).
Schon mit dieser Tabelle wird zugleich ein erster Hinweis darauf gegeben,
daß selbst die großen Gymnasien der Jahrhundertwende noch lange nicht jene
anonymen Großbetriebe waren, wie sie in jüngerer Zeit üblich geworden sind:
Das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin zählte um 1800 300 Schüler in
allen Klassen, am Friedrichs-Werderschen Gymnasium in der Residenz waren
es in der Blütezeit um 1790 300,1806 aber nur noch 150 Schüler. Die Beispiele
mögen genügen, es ließe sich Analoges aus der Provinz zeigen. 31 Insgesamt
wird die Quote der männlichen Bevölkerung der Städte Preußens, die 1805
gelehrte Schulen besuchte, auf 1,3 Prozent veranschlagt, von denen ein Fiinf-
zigstel die Universität bezog. 32 Auch die gewöhnlichen Stadtschulen hielten
sich in Größenordnungen von einigen Dutzend Schülern, bisweilen über 100
in allen Klassen zusammen. Allerdings darf aus diesen Zahlen nicht geschlos-
sen werden, daß alle anderen Kinder in den Städten keinen beziehungsweise
keinen über das Elementarniveau hinausführenden Unterricht genossen hät-
ten. Denn die „öffentlichen" Schulen waren in vormoderner Zeit beileibe nicht
die einzigen Stellen der Bildungsvermittlung.

3. Bildung ohne Staat

Zunächst: Im 17. und 18. Jahrhundert ist die Erziehungswirklichkeit noch


geprägt von der Lebens- und Arbeitseinheit des „Ganzen Hauses" 3 3 . Wich-
tige Kenntnisse erlangte der junge Mensch im elterlichen Heim, die Schule

30 K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft... (1974)


[s.o. Anm. 22], S. 166, die folgende Tabelle a . a . O . , S. 165, dazu S. 1 6 6 - 1 6 8 .
31 Z u r Frage der Frequenzen s. die in Anm. 9 genannte Schrift, S. 5 2 0 ff., 531.
32 K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium... (1974) [s.o. Anm. 22], S. 52.
33 Grundsätzlich: Wilhelm ROESSLER, Die Entstehung des modernen Erziehungs-
wesens in Deutschland, Stuttgart 1961, passim, bes. S. 3 0 f., 3 4 ff., 65; zusam-
menfassend mit Illustrationen für Brandenburg-Preußen W. NEUGEBAUER, Ab-
solutistischer Staat... (1985) [s.o. Anm. 9], S. 3 7 - 4 7 , für die folgenden Ausfüh-
I. Grundstrukturen schulischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert 639

hatte nur subsidiäre Bedeutung, der Erziehung im Haus entsprach die


Stabilität der ständischen Ordnung, die auch in Preußen erst im letzten
Drittel des 18. Jahrhunderts Auflösungserscheinungen zeigte.
Damit ist zugleich angedeutet, daß der Staatszugriff auf das Bildungs-
wesen im 18. Jahrhundert von qualitativ schwächerer Art war, als dies seit
dem 19. Jahrhundert zu beobachten ist. Bildung ist im 18. Jahrhundert zu
einem großen Teil in privaten, in außerstaatlichen Vermittlungsformen
weitergegeben worden, die sich staatlicher Kontrolle oder gar Indienststel-
lung entzogen. Dabei sind bildungsgeschichtliche Phänomene anzusprechen,
die erneut — siehe das Landschulwesen — auf Strukturen verweisen, die
mindestens seit dem 16. Jahrhundert die Schulwirklichkeit prägten.
Schon um 1600 sind Hauslehrer beim Adel auf dem Lande bezeugt, und
im 17. und 18. Jahrhundert ist diese Praxis weiter zu verfolgen.34 Aber es
waren nicht nur Adlige, wohlhabendere Bürger und etwa noch Pfarrerfa-
milien, die zur Schulung ihrer Kinder Hauslehrer, „Hofmeister", „Infor-
matoren", oder wie die Bezeichnung auch immer noch lautete, anstellten,
die in diesen Fällen in der Regel wiederum Kandidaten der Theologie waren
und auf die ersehnte Pfarrstelle im privaten Lehramt warteten. 35 In Berlin
waren ferner unstudierte Franzosen als Hauslehrer beliebt, auch Schüler
der Berliner Gymnasien haben sich ihr Schulstudium durch die Erteilung
von Privatunterricht finanziert, und zwar zum Beispiel bei Handwerkern.
Daß dies keine Berliner Eigentümlichkeit war, ist belegt, denn auch im
ostpreußischen Königsberg haben Angehörige der niederen Stände sich
„Hauslehrer" gehalten, worunter unter anderem Handwerker, Fuhrleute
und Bierschenker verstanden wurden.36 Wenn zudem auf dem Lande Haus-
lehrer selbst bei Müllern, Förstern, Dorfschulzen, und durchaus nicht nur
bei Gutsbesitzern, Amtleuten und Pfarrern nachgewiesen werden können,

rungen generell S. 581 — 6 2 4 mit Quellen und Lit. Die hier gegebene Darstellung
gegen die irrigen Ausführungen von Peter LUNDGREEN, Schule, Universität und
sozialer Wandel. Neuere Literatur zur Sozialgeschichte der Bildung, in: AfS,
Bd. 17 (1977), S. 5 1 7 - 5 3 7 , hier S. 5 2 1 .
34 Beispiele: Paul SCHWARTZ, Die Schulen der Provinz Westpreußen unter
dem Oberschulkollegium 1 7 8 7 - 1 8 0 6 , in: Z G E , Bd. 16 (1926), S. 51 - 1 2 3 ,
hier S. 5 2 ; Wilhelm STEFFEN, Stettiner Schülerleben im 16. - 1 8 . Jahrhundert
( = W B t r G L k O M e , Nr. 26), M a r b u r g 1957, S. 28.
35 Gerd HEINRICH, Amtsträgerschaft und Geistlichkeit. Z u r Problematik der se-
kundären Führungsschichten in Brandenburg-Preußen 1450 —1786, in: Günther
Franz (Hg.), Beamtentum und Pfarrerstand 1400 — 1800. Büdinger Vorträge 1967
( = D F ü h N z , Bd. 5), L i m b u r g / L a h n 1972, S. 1 7 9 - 2 3 8 , hier S. 211; [ J . H . F . UL-
RICH], Ueber den Religionszustand in den preußischen Staaten seit der Regierung
Friedrichs des Großen. In einer Reihe von Briefen, Bd. 2, Leipzig 1778, S. 154 f.
36 S. Anm. 33; ferner Paul SCHWARTZ, Die Schulen der Provinz Ostpreußen unter
dem Oberschulkollegium 1 7 8 7 - 1 8 0 6 , i n : Z G E , 2 1 . J g . ( 1 9 3 1 ) , S. 5 4 - 7 8 , 280-
307, hier S. 7 6 ; Emil HoLLACK/Friedrich TROMNAU, Geschichte des Schulwesens
der Königlichen H a u p t - und Residenzstadt Königsberg i. Pr. mit besonderer
Berücksichtigung der niederen Schulen. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Alt-
preußens, Königsberg 1899, S. 186 f.
640 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

so ist daraus der Schluß zu ziehen, daß die Bildung der Kinder im Hause
durch Privatlehrer nicht nur als ein Phänomen der Standeserziehung,37
sondern als sozial entschieden verbreitetere Erscheinung anzusehen ist. Das
heißt dann aber, daß der Anteil an Bildungsformen, die sich gänzlich
staatlicher Kontrolle entzogen, entsprechend größer zu berechnen ist! Erst
zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterlag die Hauslehrererziehung „dem
Differenzierungs-, Qualifikations- und Effizienzvorsprung der Gymnasien
und der Fachbreite seiner Lehrkräfte". 38
Zudem ist es mehr als fraglich, ob die oben behandelten „öffentlichen"
Schulen in den Städten — zumal angesichts der geringen Frequenzen — als
die Bildungsstätte der Städter anzusehen sind, denn in allen Fällen, die eine
Quantifizierung für das 18. Jahrhundert erlauben, dominierten in den
Städten die nicht obrigkeitlich zugelassenen „Winkelschulen", auch diese
ein Charakteristikum vormoderner Schulwirklichkeit, das seit dem
16. Jahrhundert in den Quellen erfaßt werden kann. Über drei Jahrhunderte
wurden die Winkelschulen verboten, und sie blühten doch, und zwar in
allen preußischen Landesteilen. Allgemein war um 1800 in Preußen die
Klage über „die Menge von neu entstandenen Neben = und zum Theil
wirklichen Winkel = Schulen, von denen die Obrigkeit oft gar Nichts weiß,
mithin sie auch durchaus nicht gehörig controllieren kann". 3 9 Zudem ent-
zogen diese zum Teil stattlich besuchten Institute den öffentlichen Schulen
die Nachfrage und gefährdeten sie bisweilen ernsthaft in ihrem Bestand.
Aber auch die einmal konzessionierten Privatschulen standen deshalb noch
lange nicht unter staatlicher Kontrolle. 40 In Berlin war 1738 der Versuch
unternommen worden, mit einem Reglement das Winkelschulwesen erneut
zu verbieten und die Privatschulen zu ordnen. Das Ergebnis war auch in
der Folgezeit das übliche. Für weite Teile Berlins liegen für das Jahr 1788
Zahlen vor, die die Proportionen verdeutlichen: Den 75 als beaufsichtigte
deutsche Schulen geführten Unternehmungen standen 102 Winkelschulen

37 Vgl. allgemein dazu Ludwig FERTIG, Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte
des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz, Stuttgart 1979, S. 97; vgl.
S. 68.
38 Detlef K. MÜLLER, Sozialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel
des Schulwesens im 19. Jahrhundert ( = StWGesB, Bd. 7), Göttingen 1977, S. 37.
39 So der wohlinformierte Seminar-Inspektor F. HERZBERG, Ueber einige wichtige
Hindernisse, die der Verbesserung des Volksschulwesens überhaupt ... im Wege
stehen, Berlin 1801, S. 19; als Beispiele: C[olmar] GRÜNHAGEN, Das schlesische
Schulwesen unter Friedrich Wilhelm II., in: ZVGSchl, S. 1 - 32, hier S. 28;
J. GRÜNER, Das Schulwesen des Netzedistriktes zur Zeit Friedrichs des Großen
( 1 7 7 2 — 1 7 8 6 ) . Ein Beitrag zur Schul- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts,
Breslau 1904, S. 53; Hermann KEUSSEN sen./Hermann KEUSSEN jun., Beiträge
zur Geschichte Crefelds und des Niederrheins, in: A H V N r h , Bd. 63 (1896), S. 63 -
176, hier S. 66 ff.
40 Carl Curt Ferdinand von SCHMIEDEN, Das Elementar- und Bürgerschulwesen in
der Provinz Brandenburg in seiner Entwicklung und seinen Fortschritten, Leipzig
1840, S. 54.
I. Grundstrukturen schulischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert 641

gegenüber, und dazu kamen noch 66 französische Schulen, die den Win-
kelinstituten an die Seite zu stellen sind.41
Diese privaten Schulen wiesen eine größtmögliche Unterschiedlichkeit in
Niveau und Qualität auf. Im ausgehenden 18. Jahrhundert ist dann die
Entstehung einer breiten hochqualitativen Schicht von Privatschulen in den
preußischen Städten auszumachen, die nur als Reflex auf eine wachsende
Bildungsnachfrage verstanden werden kann, die anders nicht befriedigt
worden zu sein scheint. Insbesondere fallen dabei Mädchenschulen und
-„Pensionen" auf, die einen über den („öffentlichen") Elementarunterricht
hinausgehenden Kanon anboten — die höheren Schulen waren ja ausschließ-
lich Knabeninstitute, und selbst in Berlin gab es um 1800 nur eine „öffent-
liche Töchterschule für die gebildetem Klassen". 42
Die bisherige Bildungsgeschichte hat sich für Preußen fast ausschließlich
mit den öffentlichen Schulen beschäftigt, mit einem durchaus nicht domi-
nanten Teilbereich des Erziehungswesens. Zudem ist Bildung im
18. Jahrhundert ja nicht nur organisiert, geschweige denn staatlich insti-
tutionalisiert, wie die Beispiele zeigten. Die in letzter Zeit mit großem Ertrag
betriebene Untersuchung der Lesegesellschaften,43 die auch und gerade in
Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts Konjunktur hatten, verweist auf
eine gewachsene Bildungsnachfrage, auf einen entwickelten Bildungswillen
insbesondere in den Städten, aber nicht nur dort. Der hier gegebene Über-
blick über die schulischen Grundstrukturen im Alten Preußen zeigt, daß die
in der bisherigen Literatur übliche, fast ausschließliche Ausrichtung auf die
öffentlichen Anstalten und auf staatliche Maßnahmen mehr als problema-
tisch ist.

41 Dietrich RITTERSHAUSEN, Beiträge zur Geschichte des Berliner Elementar-Schul-


wesens. Von der Reformation bis 1836, in: MF, Bd. 9 (1865), S. 1 7 8 - 3 1 7 , hier
S. 2 7 0 f.; zur Sache jetzt Gerhard KRIENKE, „ M a n hat nicht sehr strenge sein
dürfen". Wildwuchs im Berliner Elementarschulwesen des 18. Jahrhunderts, in:
M V G B , 77. Jg. (1981), S. 3 0 5 - 3 1 1 , bes. S. 306.
42 Friedrich GEDIKE, Beantwortung der Frage: Haben wir zu wenige oder zu viele
Schulen?, Berlin 1800, S. 11 f.
43 Überblick: Herbert G. GÖPFERT, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert [1971],
in: Franklin Kopitzsch (Hg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in
Deutschland, München 1976, S. 4 0 3 - 4 1 1 , bes. zu Preußen: S. 4 0 5 f.; die wichtige
Aufsatzsammlung von Otto DANN (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche
Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, darin bes. der Beitrag
von Marlies STÜTZEL-PRÜSENER, Die deutschen Lesegesellschaften im Zeitalter
der Aufklärung, S. 71 - 86, bes. S. 74; Henri BRUNSCHWIG, Gesellschaft und
Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert. Die Krise des preußischen Staates am
Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalität [frz.
1947], Berlin [1976], S. 5 2 —55, 383. Dazu die wichtige Zusammenstellung von
Irene JENTSCH, Z u r Geschichte des Zeitungslesens in Deutschland am Ende des
18. Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Formen
des Zeitungslesens (Phil. Diss. Leipzig 1936), Leipzig 1937, S. 145 —172.
642 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

II. Hochschulen und Akademien im Staat


des alten Preußens
1. Die Berliner Akademie der Wissenschaften

Die Berliner „Societät der Wissenschaften", auch in ihrem ersten Jahrzehnt


nach der Stiftung mangels ausreichender Dotierung und ungenügender
Personalauswahl nicht zur Blüte gelangt, 1 erlebte als landesherrliche Schöp-
fung im 18. Jahrhundert entsprechend dem fürstlichen Engagement Höhen,
aber auch extreme Tiefen. Leibniz' Einfluß war sehr schnell geschwunden.
Die schwere Zeit sollte dann unter Friedrich Wilhelm I. erst beginnen, der
im Bereich der Universitäten zu Neuerungen schritt, aber von Anfang an
der Sozietät und ihrer von ihm als praktisch nicht brauchbar eingeschätzten
Arbeit ablehnend gegenüberstand. 2 Zwar ist mit einigem Recht darauf
aufmerksam gemacht worden, daß der Zustand der Akademie bis 1740 zum
Beispiel mit dem gelehrten Präsidenten und Hofprediger Daniel Ernst Ja-
blonski (seit 1733) nicht zu schwarz gezeichnet werden darf. 3 Unter den
auswärtigen Mitgliedern dieser Zeit sind die Mathematiker Johann (I.)
Bernoulli und Nikolaus (I.) Bernoulli, August Hermann Francke, der (Auf-
klärungs-)Philosoph und Mathematiker Christian Wolff, Gottsched und
Maupertuis hervorzuheben. Der Berliner Chemiker Marggraf wurde 1738
Mitglied, Pott gehörte der Akademie seit 1722 an. Die Ernennung des
Juristen und Geschichtsschreibers J a k o b Paul Gundling zum Präsidenten
(1718) 4 erwies sich als schwerer Fehler, auch gehört die Anweisung des
Königs, daß die Sozietät unter anderem für die Besoldung der „Königl.
Narren" aufzukommen habe (bis 1740) zu den dunklen Kapiteln der Berliner
Akademiegeschichte. Unter Jablonski setzte aber schon wieder eine regel-

1 S. § 1, Anm. 27 mit dortiger Lit.


2 A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaf-
ten... ( 1 9 0 0 ) [ 5 5 ] , B d . 1 / 1 , S. 1 8 9 - 2 4 4 ; E d u a r d WINTER, F r ü h a u f k l ä r u n g . Der
Kampf gegen den Konfessionalismus in Mittel- und Osteuropa und die deutsch-
slawische Begegnung. Zum 250. Todestag von G. W. Leibniz im November 1966
( = BtrGrwD, Bd. 6), Berlin 1966, S. 78; W. HARTKOPF/G. DUNKEN, Von der
brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften... (1967) [56], S. 17.
3 Eduard WINTER (Hg.), Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften
1746 —1766. Dokumente für das Wirken Leonhard Eulers in Berlin. Zum 250.
Geburtstag, Berlin 1957, S. 20.
4 A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaf-
ten... (1900) [55], Bd. 1/1, S. 220ff.; das folgende Quellen-Zitat a . a . O . , S. 223;
die Bestallung (5. 3.1718): A. a. O., Bd. 2, S. 232 f. (Nr. 131); [Α. B. KÖNIG], Leben
und Thaten Jakob Paul Freiherrn von Gundling, Königl. Preußischen Geheimen
Krieges-, Kammer-, Ober-, Apellations- und Kammergerichts-Raths, wie auch
Zeremonienmeisters und Präsidenten bei der Königl. Societät der Wissenschaften
etc. ..., Berlin 1795, S. 34. Zu allen Personalia der Berliner Akademiegeschichte
jetzt: Werner HARTKOPF, Die Akademie der Wissenschaften der DDR. Ein Beitrag
zu ihrer Geschichte. Biographischer Index, Berlin 1983 (danach hier die Angaben).
II. Hochschulen und Akademien im Staat des alten Preußens 643

mäßigere Veröffentlichung der „Miscellanea Berolinensia" ein, die sich


insbesondere mit naturwissenschaftlich-medizinischen Arbeiten auszeich-
neten.
Friedrich II. hat nach seinem Regierungsantritt dieses Institut einer Re-
organisation unterzogen. Die „Académie Royale de Sciences et Belles Let-
tres", wie sie nun hieß, erhielt mit Maupertuis im Jahre 1746 einen wissen-
schaftsgeschichtlich nicht unbedeutenden Präsidenten (bis 1759); er ist unter
anderem mit dem endgültigen Beweis für die Abplattung der Erde an den
Polen bekannt geworden. 5 Zu den in den ersten Jahren gewonnenen be-
deutenden Gelehrten gehören Voltaire und Leonhard Euler. Bezeichnend
war der Befehl Friedrichs des Großen, daß die Akademieveröffentlichungen
künftig in französischer Sprache zu erfolgen haben sollten — Maupertuis
verstand kein Deutsch. Das Reglement vom 10. Mai 1746 ordnete die
Organisation der Akademie (neue Klasseneinteilung).
Der französische Einfluß in der Akademie blieb in den folgenden Jahren
von großer Bedeutung, nicht nur zum Nutzen dieses Instituts, jedenfalls zur
Klage der deutschen Mitglieder. Nach dem Tode Maupertuis' genügte Euler
dem König nicht, der sich vergeblich um D'Alembert — führend an der
„Encyclopédie" beteiligt — als neuen Präsidenten bemühte; nach dessen
Tod (1783) wurde Condorcet für einige Jahre „heimlicher Präsident" 6 der
Akademie.
Christian Wolff hatte die Leitung der Akademie in Berlin abgelehnt, auch
dies mag zum wachsenden Einfluß der französischen Aufklärung auf sie
beigetragen haben; Helvetius wurde 1764 Mitglied. Zugleich haben die
deutschen Akademiemitglieder des 18. Jahrhunderts, wie zum Beispiel der
schon erwähnte Marggraf sowie Achard in der Chemie oder etwa der
Berliner Propst Süßmilch in der Demographie wissenschaftliche Leistungen
erbracht, die über ihre Zeit hinausweisen. Am Ende des Jahrhunderts und
um 1800 wurden — um nur noch wenige zu nennen — Kant, Alexander
von Humboldt, Albrecht Thaer, der Mediziner Hufeland und der Verleger
und Publizist Friedrich Nicolai zu Mitgliedern bestellt. Der Minister Her-
tzberg suchte so auch der französischen Dominanz entgegenzuwirken.

5 [Hanns Hubert] H[OFMANN], Maupertuis, Pierre Louis Moreau de, in: Karl Bosl/
Günther Franz/Hanns Hubert Hofmann (Bearb.), Biographisches Wörterbuch
zur deutschen Geschichte, Bd. 2, München 2 1974, Sp. 1826 f., s. auch: M a x
PLANCK, Vorträge und Erinnerungen, Darmstadt 1 0 1975, S. 100 f. („Prinzip der
kleinsten Wirkung"); Bestallung: A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preus-
sischen Akademie der Wissenschaften... (1900) [55], Bd. 2, Nr. 163, S. 271 (1. 2.
1746), dazu Bd. 1/1, S. 2 9 4 - 297; das Folgende: S. 253 - 257, 2 9 4 - 302, 3 4 7 -
3 5 9 , 3 7 8 f.; E. WINTER, Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften...
(1957) [s. o. Anm. 3], S. 14 ff., 3 7 - 4 1 , 73; jetzt: Dominique BOUREL, Pierre Louis
Moreau de Maupertuis, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hg.), Berlinische
Lebensbilder... (1987) [75], S. 1 7 - 3 1 , bes. S. 2 9 f .
6 A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaf-
ten... (1900) [55], Bd. 1/1, S. 390; er wurde 1793 aus der Akademie ausgestoßen
(W. HARTKOPF, Die Akademie der Wissenschaften der D D R . . . [1983] [s.o.
Anm. 4], S. 104).
644 S 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

Die Berliner Akademie hatte damit in Preußen eine singuläre und über
diesen Staat hinausgehende Bedeutung erlangt, doch lassen sich seit den
Zeiten Friedrich Wilhelms I. nicht nur in Berlin auch private wissenschaft-
liche Gesellschaften nachweisen. In Frankfurt a. O. wurde in der Mitte der
1760er Jahre eine solche Vereinigung begründet, die nach königlicher Be-
stätigung als „gelehrte Gesellschaft zum Nutzen der Wissenschaften und
Künste" geführt wurde. 63 Die 1652 in Schweinfurt gebildete private Natur-
forschervereinigung „Academia Caesareo Leopoldina" (kaiserliche Bestäti-
gung 1672, Name seit 1687), die ihren Sitz am Wohnort ihres jeweiligen
Präsidenten hatte, war somit seit 1745 für ein Vierteljahrhundert in Halle
angesiedelt. Erst seit 1878 war dies auch ihr dauernder Sitz. 7

2. Die Rolle der Universitäten im 18. Jahrhundert

An der Berliner Akademie waren im 18. Jahrhundert Universitätsprofes-


soren als Mitglieder noch vergleichsweise selten vertreten. 8 Allerdings verlor
auch gerade die im frühen 18. Jahrhundert unter den deutschen Universi-
täten wissenschaftlich führende Universität Halle 9 ihren Rang unter Fried-
rich Wilhelm I.; die Führungsposition übernahm die 1737 eröffnete Univer-
sität Göttingen — auch auf wissenschaftlichem Gebiet war die preußisch-
hannoversche Konkurrenz spürbar. Dem Naturrechtler Thomasius, seinen
Fakultätskollegen Stryk und Christian Wolff, aber auch den Medizinern
Stahl und Hoffmann, wird man in der Hallenser Gelehrtengeneration der
folgenden Zeit etwa die Juristen Ludewig und den Hallenser Nikolaus
Hieronymus Gundling nicht ohne weiteres an die Seite stellen können, so
wichtig sie für die historische Betrachtung des Reichsrechts auch wurden. 10

6a Adolf STÖLZEL, Carl Gottlieb von Svarez. Ein Zeitbild aus der 2. Hälfte des
18. Jahrhunderts, Berlin 1885, S. 6 8 - 7 1 ; Gerd HEINRICH, Frankfurt an der Oder,
Universität, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzy-
klopädie, Bd. 11, Berlin - New York 1983, S. 3 3 5 - 342, hier S. 3 4 1 ; O t h m a r FEYL,
Die Viadrina und das östliche Europa. Eine bildungsgeschichtliche Studie, in:
G. H a a s e / J . Winkler, Die Oder-Universität Frankfurt... (1983) [64], S. 1 0 5 - 1 3 9 ,
hier S. 125.
7 Leo STERN, Z u r Geschichte und wissenschaftlichen Leistung der Deutschen
Akademie der Naturforscher „Leopoldina", Berlin 1952, S. 9 f., 12, 27, 38, 4 2 f.,
60 ff.; dazu Joh[ann] Christian FÖRSTER, Uebersicht der Geschichte der Univer-
sität zu Halle in ihrem ersten Jahrhunderte, Halle 1799, S. 151 f.
8 Jürgen Voss, Die Akademien als Organisationsträger der Wissenschaften im
18. Jahrhundert, in: H Z , Bd. 231 (1980), S. 43 - 74, hier S. 62.
9 Siehe die Lit. unter § 1, Anm. 28 — 34.
10 Notker HAMMERSTEIN, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des histo-
rischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhun-
dert, Göttingen 1972, S. 169 — 265, zum Folgenden: S. 149 f., S. 2 6 6 ; Bernd ROECK,
Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des
Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts ( = VIEG,
Bd. 112), Stuttgart 1984, S. 1 1 0 - 1 1 4 ; verschiedene Beiträge in dem Band von
N. HINSKE (Hg.), Halle... (1989) [87],
II. Hochschulen und Akademien im Staat des alten Preußens 645

War die Universität Halle bei ihrer Gründung als unorthodoxe modern-
antischolastische Ausbildungsstätte der Frühaufklärung gerade deshalb
„eine Heimstatt für die religiöse Opposition der Zeit", 1 1 das heißt für die
Pietisten, gewesen, so hat denn der seinerseits verfestigte und an Flexibilität
einbüßende Pietismus die Entwicklung der preußischen Universitäten auch
behindert. Pietistische Intoleranz bewirkte Stagnation und Rückschritt. Die
Unduldsamkeit der späteren Pietistengeneration fand ihren spektakulärsten
Ausdruck in der Vertreibung Christian Wolffs aus Halle (1723), dem der
König zum Vorwurf machte, seine Lehren würden der „geoffenbarten Re-
ligion" zuwiderlaufen; er hatte Preußen bei „Straffe des Stranges" in zwei
Tagen zu verlassen. Die Pietisten, als deren Speerspitze der Theologe J .
Lange wirkte, hatten ihr Ziel erreicht, und 1727 folgte das Verbot, auf den
preußischen Universitäten über Wolff zu lesen. Die bald darauf einsetzenden
Bemühungen des Königs, den Philosophen und Mathematiker nach Preußen
zurückzurufen, blieben erfolglos. Wolff kam erst nach dem Regierungs-
wechsel 1740 nach Halle zurück. In Königsberg, Frankfurt und wiederum
in Halle sind in den 1720er Jahren und bis 1740 eine Reihe analoger
Amtsentsetzungen nachweisbar. 12
Hatte also unter Friedrich Wilhelm I. der Pietismus an den Universitäten
unter massivem landesherrlichen Schutz gestanden, so waren doch gerade
unter den Anhängern dieser Theologie wichtige Vermittler zur rationalen
Weltsicht zu finden, 13 nicht nur, aber auch auf den Universitäten. Es war
also nicht nur die landesherrliche Förderung, die die Aufklärung seit der
Mitte des Jahrhunderts auf den Universitäten siegen ließ. Wolffs Einfluß
blieb an den preußischen Universitäten lange bedeutend - man denke etwa

11 So T h o m a s NIPPERDEY, Preußen und die Universität, in: Karl-Dietrich Erdmann


u. a., Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte. Vorlesungen, Stuttgart
1982, S. 6 5 - 8 5 , hier: S. 6 6 (auch zu Göttingen).
12 Absetzung Wolffs: Dekret Friedrich Wilhelms I. an v. Printz (8. 11. 1723):
W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle... (1894) [66], Bd. 2,
S. 4 5 9 ; dazu Carl HINRICHS, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Bran-
denburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 397 —
418, 4 3 0 - 434, 4 4 1 ; zu Wolff jetzt: Horst MÖLLER, Vernunft und Kritik. Deutsche
Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986, S. 5 4 — 61; Königs-
berg: G. v. SELLE, Geschichte der Albertus-Universität... ( 2 1956) [69], S. 1 3 2 -
139; C. BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitätsverwaltung... (1900)
[45], S. 123 ff.; Gustav Friedrich HERTZBERG, Geschichte der Stadt Halle an der
Saale von den Anfängen bis zur Neuzeit. Nach den Quellen dargestellt, Bd. 3,
Halle 1893, S. 105; Frankfurt a. O.: Z . B. O. FEYL, Die Viadrina und das östliche
E u r o p a . . . (1983) [s.o. Anm. 6 a ] , S. 1 3 0 f . , 140.
13 Beispiel: Hans ROTHFELS, Die Albertina als Grenzlanduniversität [1928], in: Ders.,
Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 2 1962, S. 2 0 5 - 222, hier S. 212 ff.;
Günter MÜHLPFORDT, Die Oder-Universität 1 5 0 6 - 1 8 1 1 . Eine deutsche Hoch-
schule in der Geschichte Brandenburg-Preußens und der europäischen Wissen-
schaft, in: G. H a a s e / J . Winkler (Hg.), Die Oder-Universität Frankfurt... (1983)
[64], S. 6 0 - 6 3 , 68.
646 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

an den Frankfurter Juristen Darjes, bei dem Carl Gottlieb Svarez studierte 1 3 3
- , doch verschärfte sich der rationalistische T o n ; der Hallenser Karl
Friedrich Bahrdt sei dafür als Beispiel genannt. 1 4 U m 1800 fand dann Kants
Philosophie auch außerhalb Königsbergs Verbreitung. Insbesondere in der
Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. ist es wiederholt zu Maßregelungen
und härteren M a ß n a h m e n gegen Vertreter der Hochaufklärung gekommen.
Bekannt ist der Konflikt Kants mit dem Minister Woellner wegen der Schrift
über „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" ( 1 7 9 3 ) . 1 5
Von Lehrfreiheit im modernen Sinn war an den preußischen Universitäten
im (17. und) 18. Jahrhundert noch nicht die Rede. Grundbestände etwa der
religiösen Lehre blieben zu respektieren, doch scheinen lenkende Eingriffe
in die universitäre Lehre - nach gegenwärtigem Forschungsstand - ins-
gesamt die Ausnahme und auch dann ineffektiv geblieben zu sein. Wiewohl
seit dem 17. Jahrhundert der landesherrliche Zugriff auf die Besetzung der
Professorenstellen merklich zugenommen hatte, blieb doch ein nicht zu
unterschätzender Spielraum für die Mitwirkung der akademischen Korpo-
rationen in diesem Bereich erhalten. 1 6
Ist im 18. Jahrhundert eine Verstärkung des Staatszugriffs auf die Uni-
versitäten nachzuweisen? Immerhin wurde 1 7 4 2 / 4 7 mit der Einsetzung eines
Oberkuratoriums für die Universitäten ein gesamtpreußisches Organ ge-
schaffen, das unter anderem für erledigte Stellen Vorschläge machen sollte
und, mit einer Unterbrechung seit 1787, amtierte. Und doch konnten die
Universitäten ihre korporativ gestützte Autonomie w a h r e n . 1 7

13a Jetzt: Günter BIRTSCH, Carl Gottlieb Svarez. Mitbegründer des preußischen
Gesetzesstaates, in: Peter Alter/Wolfgang J. Mommsen/Thomas Nipperdey (Hg.),
Geschichte und politisches Handeln. Studien zu europäischen Denkern der Neu-
zeit. Theodor Schieder zum Gedächtnis, Stuttgart 1985, S. 85 —100, hier S. 87.
Franz WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berück-
sichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 2 1967, S. 321 f.
14 Außer W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle... (1894)
[66], Bd. 1, S. 4 9 9 - 5 1 3 , die Arbeiten von G. MÜHLPFORDT, Z.B.: Deutsche
Präjakobiner, in: ZfG, 28. Jg. (1980), S. 970 - 989, bes. S. 972, 975.
15 Werner SELLNOW, Die Auseinandersetzung Kants mit der feudal-absolutistischen
Zensur — ein Beitrag zur Stellung der Universität im feudalen Absolutismus, in:
WZHumbU, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 17. Jg. (1968),
S. 4 3 1 - 4 4 8 , b e s . S. 4 3 8 , 4 4 2 ; siehe a u c h G . MÜHLPFORDT, D i e O d e r - U n i v e r s i t ä t . . .
(1983) [ s . o . A n m . 13], S. 6 5 - 6 8 .
16 Lehrfreiheit: C. BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitätsverwaltung...
(1900) [45], S. 35 f., 1 3 1 , 1 4 9 , 1 5 7 , 1 6 1 ; Stellenbesetzungen: S. 96 - 100; zum 18. Jh.
auch R. Steven TURNER, The Growth of Professorial Research in Prussia, 1818 —
1848 - Causes and Context, in: HStPhS, Bd. 3 (1971), S. 1 3 7 - 1 8 2 , hier S. 160 f.
17 Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert.
Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im
18. Jahrhundert, Bd. 7, Berlin 1904 (ND Frankfurt am Main 1986/87), Nr. 215,
S. 338 f. und Nr. 217, S. 339 f.; Reinhold KOSER, Friedrich der Große und die
preußischen Universitäten [1904], in: Ders., Zur preußischen und deutschen
Geschichte. Aufsätze und Vorträge, Stuttgart — Berlin 1921, S. 128 —201, hier
S. 139; Ernst MÜSEBECK, Das Preußische Kultusministerium vor 100 Jahren,
Berlin - Stuttgart 1918, S. 8.
II. Hochschulen und Akademien im Staat des alten Preußens 647

Die staatliche Aufsicht blieb im Positiven wie im Negativen in ihrer


praktischen Wirksamkeit sporadisch, darüber dürfen die spektakulären
Disziplinarmaßnahmen nicht hinwegtäuschen; sie wirkte überdies, mit den
Worten Otto Hintzes, „nur regulierend, nicht schöpferisch". 1 8 Selbst das
Interesse Friedrichs des Großen an den Universitäten war sehr begrenzt,
und ein gut informierter Berliner Rat dieser Zeit hat denn auch grundsätzlich
gemeint, daß dieser König „von der Verfassung der Universitäten überhaupt,
von der Einrichtung derjenigen insonderheit, welche in den königlichen
Ländern sind... keinen richtigen Begriff" hatte. „Der König hat an die
Aufnahm der Universitäten in Seinen Staaten nichts gewendet, wenn man
die kleinen Summen ausnimmt, welche Er zur Verbesserung der Gehalte
einiger Professoren zu Halle bewilliget h a t " , 1 9 ein Befund, der von der
Forschung bestätigt wird. Selbst das von Friedrich dem Großen bevorzugte
Halle erlebte eine jahrzehntelange Konstanz des Etats (um 1700: 6.700 Taler
jährlich, seit 1733: 7.000 Taler); nicht anders erging es zum Beispiel Kö-
nigsberg. Frankfurt erlitt unter Friedrich Wilhelm I. Verluste. 2 0 Die Uni-
versitäten waren überwiegend auf Einkünfte aus bestimmten, ihnen zuge-
wiesenen Domänen angewiesen. Erst unter dem in der preußischen Bil-
dungsgeschichte an sich schlecht beleumundeten Friedrich Wilhelm II. wur-
den die preußischen Universitäten mit Ausnahme Duisburgs zum Teil er-
heblich besser finanziell ausgestattet, und eine weitere Aufstockung der
Etats erfolgte sodann um 1800 in den Jahren vor Humboldt, so daß nach
den Mitteilungen des Statistikers Dieterici Halle 1805/6 über einen Etat von
rund 36.000 Talern verfügte. Die Ausgaben für alle preußischen Universi-
täten beliefen sich zu dieser Zeit auf 101.660 Taler. 2 1
Eine gezielte, zunächst finanzielle Entwicklung der Universitäten setzt im
preußischen Absolutismus also vergleichsweise spät, dann aber deutlich vor
der „Reformzeit" ein. Waren nun die preußischen Universitäten die Orte
zur Ausbildung von Staatsdienern? Sicher ist, daß auch an den preußischen
Universitäten neben der philosophischen und der medizinischen Fakultät
die Studenten dominierten, die Jura und Theologie betrieben. Insofern ist
die Bedeutung der Universitäten für die Ausbildung der Führungsschichten
evident. Damit ist aber noch nicht die soziale Herkunft der Studenten

18 Otto HINTZE in seiner wichtigen Rezension in: FBPG, Bd. 14 (1901), S. 684.
19 Anton Friedrich BÜSCHING, Character Friederichs des zweyten, Halle 1788, S. 79,
81; vgl. damit R. KOSER, Friedrich der Große... (1921) [s.o. Anm. 17], S. 198.
20 W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle... (1894) [66], Bd. 1,
S. 91 ff., 3 4 9 ; Königsberg: Martin PHILIPPSON, Geschichte des Preußischen Staats-
wesens vom Tode Friedrichs des Großen bis zu den Freiheitskriegen, Bd. 1,
Leipzig 1880, S. 135; Frankfurt/O.: Hermann FRICKE, Gesicht und Maske der
Viadrina, o. O . 1957, S. 22.
21 Conrad BORNHAK, Die Korporationsverfassung der Universitäten. Festgabe zur
100jährigen Jubelfeier der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Ber-
lin 1910, S. 21; [Carl Friedrich] Wilhelm DIETERICI, Geschichtliche und statisti-
sche Nachrichten über die Universitäten im preußischen Staate, Berlin 1836 (ND
Aalen 1982), S. 53 (Halle), ferner S. 169, 172, 177, 184 f.
648 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

beleuchtet. Die Zahlen für Halle zeigen, daß die Universitäten in Preußen
schon im 18. Jahrhundert Stätten begrenzter sozialer Mobilität waren. Bis
1730 haben rund 40 Prozent der Studenten an dieser Hochschule — offenbar
aus sozialen Gründen - keine Einschreibungsgebühren entrichtet. Für die
Jahre 1761 bis 1778 ist nachgewiesen worden, daß von den Hallenser
Studenten rund 55 Prozent von Familien mit akademischem Hintergrund
wie Pfarrern und Beamten abstammten, 14 Prozent waren Söhne von
Kaufleuten, „Industriellen" und Gutsbesitzern; der Rest von 31 Prozent wird
„Subalternbeamten", Handwerkern und Bauern zugeordnet. 22 Insofern kann
eine gewisse soziale Offenheit erkannt werden. Bis 1744 waren von knapp
30.000 Studenten Halles rund 2.000 vom Adel, in Frankfurt waren es im
17. Jahrhundert 5 — 8 Prozent, 1762—1805 14,5 Prozent; auch hier ist ein
starker Unterschichtenanteil ausgemacht worden. 23 Für arme Studenten gab
es an den meisten Universitäten Stipendien. Obwohl von der neueren
Forschung die Einführung des Abiturs mit einer ersten erkennbaren Über-
füllungskrise in Verbindung gebracht wird, 24 deuten doch die preußischen
Zahlen wie auch die der deutschen Universitäten überhaupt 25 eher in eine
andere Richtung; die Studentenzahlen stagnierten, wenn sie nicht sanken,
und dies, obwohl in Preußen seit den Tagen Friedrichs II. endgültig ein
genereller Befehl bestand, daß Preußen nur auf inländischen Universitäten
zu studieren hätten, 26 wenn sie im Land Anstellung finden wollten.
An Edikten fehlte es im preußischen Staate auch für die Universitäten
nicht, so wenn seit 1708 mit Immatrikulationspatenten gegen zu viele
Studenten im Sinne einer Stabilisierung der ständischen Ordnung vorgegan-

22 Wolfgang ZORN, Hochschule und höhere Schule in der Sozialgeschichte der


Neuzeit, in: Konrad Repgen/Stephan Skalweit (Hg.), Spiegel der Geschichte.
Festgabe für M a x Braubach zum 10. April 1964, Münster/Westf. 1964, S. 3 2 5 ;
zu den Fakultäten: Franz ZIMMERMANN, in: 4 5 0 J a h r e Martin-Luther-Universität
Halle - Wittenberg. Festschrift aus Anlaß ihres 450jährigen Bestehens, Bd. 2,
Halle - Wittenberg 1952, S. 95 ff., Adel: J o h a n n Christoph von DREYHAUPT,
Pagus Neletici et Nudzici, oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschrei-
bung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft, nunmehr aber durch den
westphälischen Friedens-Schluß secularisirten Hertzogthum Magdeburg gehöri-
gen Saal-Creyses..., Bd. 2, Halle 1755, S. 2 9 f .
23 G. HEINRICH, Frankfurt an der O d e r . . . (1983) [ s . o . A n m . 6a], S. 3 3 8 .
24 H a r t m u t TITZE, Die zyklische Überproduktion von Akademikern im 19. und
2 0 . Jahrhundert, in: G G , 10. Jg. (1984), S. 9 2 - 1 2 1 , hier S. 1 1 0 f .
25 Franz EULENBURG, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung
bis zur Gegenwart ( = AbhSächsGesW, Bd. 24, Nr. 2), Leipzig 1904, S. 131 f.,
2 6 7 f., 2 9 6 - 2 9 9 ; Christof RÖMER, Herkunft der Studenten der Universität Frank-
f u r t / O . 1506 - 1810 ( = H H a B B , N a c h t r ä g e , H . 2), Berlin - N e w York 1 9 8 0 (Karte
mit Beih.), S. 4 ; J. C. HOFFBAUER, Geschichte der Universität zu H a l l e . . . (1805)
[65], S. 4 1 7 , 4 8 7 , 5 1 5 f., für 1 7 8 7 - 1 8 0 4 .
26 R . KOSER, Friedrich der G r o ß e . . . (1921) [ s . o . A n m . 17], S. 171 ff.; Friedrich
SCHULZE/Paul SSYMANK, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis
zur Gegenwart, M ü n c h e n 4 1 9 3 2 , S. 186.
II. Hochschulen und Akademien im Staat des alten Preußens 649

gen worden ist. 2 7 Es ist auch noch sehr die Frage, ob mit der Einrichtung
der Kamer allehr Stühle an den Universitäten Halle und Frankfurt a. O. im
Jahre 1727, als erste an deutschen Universitäten überhaupt ein immerhin
bemerkenswerter Schritt, der nach vorherigen Initiativen aus den beiden
Universitäten und Gelehrtenkreisen durch den König erfolgt ist, 2 8 schon ein
wesentlich neues Element in der älteren preußischen Universitätspraxis
erkannt werden darf. Wie das königliche Einrichtungsdekret für die Pro-
fessur in Halle zeigt, sollten schwerpunktmäßig Themen der Domänenver-
waltung, der Regalien, städtische Polizeisachen sowie die Woll- und Fa-
brikverwaltung gelehrt werden. Erste Professoren waren der hallische
Kriegs- und D o m ä n e n r a t Simon Peter Gasser sowie der Frankfurter Jurist
und Historiker Justus Christoph Dithmar, die beide nicht zu den Großen
ihres Faches im 18. Jahrhundert zu zählen sind, obwohl letzterer in Frank-
furt die erste ökonomische Zeitschrift Deutschlands, die „Ökonomische
F a m a " , herausgab (seit 1 7 2 9 ) . 2 9 Die Universitätskameralistik krankte an
mangelndem Lehrpersonal, und zu Recht hat Wilhelm Treue darauf auf-
merksam gemacht, daß die Bedeutung dieser Professuren nicht überschätzt
werden sollte, zumal sie nicht sehr angesehen w a r e n . 3 0 Unter Friedrich II.
erlebte die Universitätskameralistik keine Blüte, 3 1 trotz gewisser Anfänge
nun auch in Königsberg und Duisburg. Erst mit der Rezeption von Adam
Smith auch an den Universitäten Preußens, insbesondere durch Kraus in
Königsberg seit den 1790er Jahren, gewannen wirtschaftswissenschaftliche
Lehrelemente hier eine sichere Grundlage und einen gewissen meßbaren

27 Hans-Georg HERRLITZ, Studium als Standesprivileg. Die Entstehung des Matu-


ritätsproblems im 18. Jahrhundert. Lehrplan- und gesellschaftsgeschichtliche
Untersuchungen, Frankfurt/M. 1973, S. 37 f., 4 6 - 5 2 , 57.
28 Zur Vorgeschichte: Wilhelm STIEDA, Die Nationalökonomie als Universitätswis-
senschaft ( = AbhSächsGesW, Bd. 25, Η. 2), Leipzig 1906 (ND Vaduz 1978),
S. 9 f., 17 — 21; Hans MAIER, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre,
München 3 1986, S. 177; Volker HENTSCHEL, Die Staatswissenschaften an den
deutschen Universitäten im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: BerWG, Bd. 1
(1978), S. 1 8 1 - 2 0 0 , hier S. 1 8 2 - 1 8 6 ; Acta Borussica... [s.o. Anm. 17], Bd. 4/2,
Berlin 1908 (ND Frankfurt am Main 1986/87), S. 2 1 6 - 2 2 0 : Kabinetts-Dekret
vom 23. 7. 1727.
29 Zu Dithmar: Conrad GRAU, Die Alma mater Viadrina und die Academia Scien-
tiarum Berolinensis. Beziehungen zwischen Frankfurt (Oder) und Berlin im
18. Jahrhundert, in: G. HAASE/J. WINKLER (Hg.), Die Oder-Universität Frank-
furt... (1983) [64], S. 192f., Gasser: Wilhelm ROSCHER, Geschichte der National-
Oekonomik in Deutschland ( = G W D N z , Bd. 14), München - Berlin 2 1924,
S. 372 — 376; zum ganzen zusammenfassend Wilhelm BLEEK, Von der Kameral-
ausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren
Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und
19. Jahrhundert ( = HPädSt, Bd. 2), Berlin 1972, S. 65 ff.
30 Wilhelm TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens ( = VHKzB,
Bd. 56), B e r l i n - N e w York 1984, S. 47; s. auch S. 136, 217.
31 S. die Wertungen bei Ingrid MITTENZWEI, Preußen nach dem Siebenjährigen
Krieg. Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Staat um die Wirtschafts-
politik ( = SchrZiG, Bd. 62), Berlin 1979, S. 2 0 8 - 2 2 3 .
650 S 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

Anteil unter den Studenten. Im Jahre 1804 studierten von den preußischen
Studenten knapp 5 Prozent Kameralia und Ökonomie. 3 2 Auch insofern
beginnt die Modernisierung der preußischen Hochschulen schon vor der
sogenannten Bildungsreform.

3. Fachschulen und Fachhochschulen im 18. Jahrhundert

Außerhalb der Universitäten, die sich in ihrer Fakultätsstruktur nicht ver-


änderten, entstanden im 18. Jahrhundert Lehrinstitutionen, die auf eine
anwendungsbezogene Ausbildung im medizinischen, technischen und künst-
lerisch-kunstgewerblichen Bereich abzielten.
Diese Institute waren ganz überwiegend im universitätslosen Berlin an-
gesiedelt, wie die wichtigen außeruniversitären medizinischen Lehranstalten
belegen. Zunächst ist das unter Friedrich Wilhelm I. begründete „Theatrum
anatomicum" zu nennen, das mit dem 1724 zu Lehrzwecken neu geschaf-
fenen „Collegium medico-chirurgicum" verbunden wurde, wobei der per-
sönliche Anteil des Königs an dessen Gründung unklar ist. Gleichzeitig
wirkte die Charité als klinische Lehrstätte. 33 Diese Einrichtungen dienten
nicht zuletzt der Ausbildung von Militärärzten. Nach einem Befehl vom
Jahre 1725 sollte die medizinische Promotion an preußischen Universitäten
an den Besuch des Theatrum anatomicum gebunden werden, und ebenso
wurde die Chirurgenausbildung Preußens zwar nicht in Berlin monopoli-
siert, so doch mit einem Kurs am anatomischen Theater obligat verknüpft. 34
Mit dem Collegium medico-chirurgicum, das bis zur Gründung der Berliner

32 Grundlegend: Wilhelm TREUE, Adam Smith in Deutschland. Zum Problem des


„Politischen Professors" zwischen 1776 und 1810, in: Werner Conze (Hg.),
Deutschland und Europa. Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung
des Abendlands. Festschrift für Hans Rothfels, Düsseldorf 1951, S. 101 — 133,
b e s . S. 1 1 2 - 1 1 8 ; W . ROSCHER, G e s c h i c h t e d e r N a t i o n a l - O e k o n o m i k . . . (21924)
[s.o. Anm. 29], S. 6 0 8 - 6 1 5 ; ferner Walther HUBATSCH, Die Albertus-Universität
zu Königsberg in Preußen in der deutschen Geistesgeschichte 1544 —1944, in:
W. HUBATSCH u.a., Deutsche Universitäten und Hochschulen... (1964) [49],
S. 15 f., 25; Studentenzahlen nach Otto BEHRE, Geschichte der Statistik in Bran-
denburg-Preussen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin
1 9 0 5 , ( N D V a d u z 1 9 7 9 ) , S. 3 1 1 , T a b . 103.
33 Manfred STÜRZBECHER, „Ihr noch der Welt mehr Nutzen stifften könnet".
Friedrich Wilhelm I. in Preußen und die Medizin, in: BvB, Bd. 14 (1965), S. 2 8 -
48, hier S. 42 - 45; Reinhold August DORWART, The Prussian Welfare State before
1740, Cambridge/Mass. 1971, S. 255 - 266; das Reglement von 1724: C. O. MY-
LIUS (Hg.), Corpus Constitutionum... ( 1 7 3 7 - 1 7 5 1 ) [12], Bd. 5, Berlin-Halle
[ 1 7 4 0 ] , 4 . A b t . , 1. K a p . , N r . 2 6 , S p . 2 1 1 - 2 1 6 , m i t L e h r p l a n .
34 S. die Medizinalordnung vom 27. IX. 1725 ( a . a . O . , Nr. 32, Sp. 219 - 256, hier
Sp. 224, 226 f.); dazu Wolfgang NEBELUNG, Zur Geschichte der Medizinischen
Fakultät der Viadrina unter besonderer Berücksichtigung ihrer Ordinarien 1506 —
1811, in: G. Haase/J. Winkler (Hg.), Die Oder-Universität Frankfurt... (1983)
[ 6 4 ] , S. 1 9 9 .
II. Hochschulen und Akademien im Staat des alten Preußens 651

Universität bestand, wurde auch die 1795 ins Leben gerufene militärärztliche
Pepiniere kombiniert. 3 5
An zweiter Stelle seien hier die gewerblichen Lehrinstitute erwähnt. Schon
an der 1 6 9 6 / 9 9 begründeten Akademie der Künste sollte nach den ursprüng-
lichen Intentionen unter anderem unterrichtet werden, 3 6 und so war es
gewissermaßen folgerichtig, wenn die 1799 eingerichtete Bauakademie als
Annex der Kunstakademie begründet wurde. In ihr sollten Architekten,
Baumeister, Bauhandwerker und Feldmesser ausgebildet werden. Die Bau-
akademie bildete vor allem Baubeamte aus. David und Friedrich Gilly
waren an diesem Institut tätig. 3 7 Seit 1790 gab es in mehreren Provinzstädten
zudem Provinzial-Kunstschulen für „Professionisten", die zum Teil auf
private Gründungen zurückgingen. Schließlich wurde 1770 in Berlin ein
insbesondere im Bergfach ausbildendes Institut geschaffen, das 1774 unter
dem Minister Heynitz zur Bergakademie erhoben wurde. 3 8 Hinzu traten
bald private Institute unterschiedlichen Ranges, in denen gewerblich-tech-
nischer Unterricht erteilt wurde.
Wird die Akademie der Wissenschaften in das vielfältige Bild der Berliner
Anstalten um 1800 einbezogen, so wird deutlich, daß die Berliner Univer-
sitätsgründung der Reformzeit also an einem O r t günstiger institutioneller
Voraussetzungen erfolgte.

35 Otto von SCHJERNING, Die alte „Pepiniere", was sie war und was aus ihr
geworden ist, in: Erforschtes und Erlebtes aus dem alten Berlin. Festschrift zum
50jährigen Jubiläum des Vereins für die Geschichte Berlins ( = SchrVGB, H. 50),
Berlin 1917, S. 4 9 - 5 6 , hier S. 50, 53.
36 Vgl. Oskar SIMON, Die Fachbildung des Preussischen Gewerbe- und Handels-
standes im 18. und 19. Jahrhundert nach den Bestimmungen des Gewerberechts
und der Verfassung des gewerblichen Unterrichtswesens, Berlin 1902, bes.
S. 643 - 647, und Helmut BÖRSCH-SUPAN, Die Kunst in Brandenburg-Preußen.
Ihre Geschichte von der Renaissance bis zum Biedermeier dargestellt am Kunst-
besitz der Berliner Schlösser, Berlin 1980, S. 55.
37 A. a. O., S. 196; Eduard DOBBERT, Bauakademie, Gewerbeakademie und Tech-
nische Hochschule bis 1884. Historische Skizze in: Chronik der Königlichen
Technischen Hochschule zu Berlin 1 7 9 9 - 1 8 9 9 , Berlin 1899, S. 1 1 - 1 1 4 , hier
S. 20 — 24, 29 — 32; Provinzial-Kunstschulen: O. SIMON, Die Fachbildung des
Preussischen Gewerbe- und Handelsstandes... (1902) [s.o. Anm. 36], S. 669 —
677.
38 Mit dieser Datierung: Hugo STRUNZ, Von der Bergakademie zur Technischen
Universität Berlin. 1770 bis 1970, [Berlin 1970], S. 11 ff.; W. TREUE, Wirtschafts-
und Technikgeschichte Preußens... (1984) [s.o. Anm. 30], S. 136, 195, 214; vgl.
P[aul] KRUSCH, Die Geschichte der Bergakademie zu Berlin von ihrer Gründung
im Jahre 1770 bis zur Neueinrichtung im Jahre 1860, Berlin 1904, bes. S. XIV.
652 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

III. Reformabsolutismus und Schulwesen


1. Staat und Lokalherrschaft im Schulbereich

Von einer „Schulverwaltung" für das Preußen des 18. Jahrhunderts zu


sprechen, ist problematisch, wie auch die Universitätsgeschichte dieser Zeit
nicht unter dem Paradigma einer „verwalteten" und staatlich entwickelten
Institution betrachtet werden konnte. Zunächst: Es waren keine Großbü-
rokratien moderner Zeiten, die das landesherrliche Regiment im Schulbe-
reich führten. Was war „Schulverwaltung" in Berlin? Wenn das „Departe-
ment" nicht gar nur aus einem oder zwei, zudem nebenamtlichen Ministern
ohne jedes weitere Personal bestand, dann waren es Kollegien von etwa
einem halben Dutzend Räten, die, wiederum neben vielfältigen anderen
Diensten und Stellungen, unter Mithilfe eines Kanzlisten und eines Boten
die Schulen des preußischen Staates zentral „verwalten" sollten. Das Gesagte
gilt ebenso für Provinzialkollegien, die die Schulsachen betreuten. 1 Zudem
ergriff die Modernisierung der Staatsverwaltung seit dem späten
17. Jahrhundert die geistlichen Kollegien für Kirche und Schule nicht. Hier
blieben traditionale Regimentsstrukturen dominant.
Der im frühen 17. Jahrhundert begründete Geheime Rat war im
18. Jahrhundert als Zentralinstanz in geistlichen Sachen tätig und behielt
diesen Arbeitsbereich bezeichnenderweise auch, als die für den preußischen
Machtstaat wichtigen Kompetenzen anderen Spezialbehörden übertragen
worden waren. Justiz und geistliche Angelegenheiten, das heißt auch Schul-
sachen, blieben bei dieser Restbehörde, und so waren bis in das frühe
19. Jahrhundert die Minister der geistlichen Angelegenheiten auch Justiz-
minister. 2 Unter diesem „Geistlichen Departement", wie es seit etwa 1735
genannt wurde und das aus einem, seit 1764 zwei Ministern ohne weitere
Mitarbeiter bestand, gab es dann in den Provinzen die Konsistorien. Dies
waren territoriale Kollegien, die in der Regel seit dem 16. Jahrhundert
bereits existierten, auch sie für Schule und Kirchensachen amtierend, 3 auf

1 Überblicke: Ernst MÜSEBECK, Das Preußische Kultusministerium vor 100 Jahren,


Berlin - Stuttgart 1918, S. 4 - 1 1 ; Otto HINTZE, Einleitende Darstellung der Be-
hördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungs-
antritt Friedrichs II. ( = Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsver-
waltung im 18. Jahrhundert. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staats-
verwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 6 / 1 ) , Berlin 1901 (ND Frankfurt
am Main 1986/87), S. 1 3 4 - 1 4 0 und passim; Wolfgang NEUGEBAUER, Absoluti-
stischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen ( = VHKzB, Bd. 62),
Berlin —New York 1985, S. 6 6 - 1 6 7 ; alle für die folgenden Ausführungen.
2 Seit 1730; vgl. Siegfried] ISAACSOHN, Geschichte des preußischen Beamtenthums
vom Anfang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, Bd. 3, Berlin 1884 (ND
Aalen 1962), S. 351 f.; s. auch Walther HUBATSCH, Friedrich der Große und die
preußische Verwaltung ( = StGPr, Bd. 18), K ö l n - B e r l i n 1973, S. 153.
3 Vgl. Conrad Bornhak, Geschichte des Preußischen Verwaltungsrechts, Bd. 2,
Berlin 1885, S. 268, 2 7 0 f., und Manfred HEINEMANN, Schule im Vorfeld der
III. Reformabsolutismus und Schulwesen 653

das engste mit regionalen Kräften verbunden. Im Jahre 1750 wurden dann
die Provinzialkonsistorien unter das neu geschaffene Oberkonsistorium
gestellt, das zugleich für die Kurmark in specie zu sorgen hatte — die
Schulsachen wurden neben den übrigen Aufgaben in der Instruktion beson-
ders erwähnt 4 - , doch behielten Schlesien und Geldern ihre Sonderstellung
auch in der geistlichen Verfassung. Die Konsistorien waren für die Masse
der lutherischen Schulen federführend; für die deutsch-reformierten, fran-
zösisch-reformierten und die Militärschulen existierten besondere konsisto-
riale Kollegien.
Die Forschung hat nun nicht erst in den letzten Jahrzehnten jener schein-
bar modernen „Behörde" eine große Bedeutung zugeschrieben, die als ein
Bruch mit den institutionellen Traditionen staatlichen Schulregiments an-
gesehen wird. Angesprochen ist das 1787 unter dem seit 1771 amtierenden
Minister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz eingerichtete Oberschulkolle-
gium, mit dem, wäre der ursprüngliche Plan ausgeführt worden, erstmals
ein von den geistlichen Materien getrenntes, spezialisiertes Fachkollegium
für Schul- und Universitätsangelegenheiten vorhanden gewesen wäre. 5 Doch
ist die Geschichte dieses Oberschulkollegiums die Geschichte seiner fortlau-
fenden Demontage. Abgesehen von bald einsetzenden Kompetenzbegren-
zungen dominierten die Theologen im Kollegium von Anfang an. Eine
zunehmende und schließlich fast vollendete Personalkongruenz mit dem
Oberkonsistorium ist nachgewiesen, und schließlich wurden auch die Prä-
sidien identisch. Eine förmliche Vereinigung beider Kollegien, also die
Wiederaufhebung des Oberschulkollegiums, unterblieb allein aus techni-
schen Gründen. 6 Auf der Provinzebene sind entgegen anfänglichen Plänen

Verwaltung. Die Entwicklung der preußischen Unterrichtsverwaltung von 1771 -


1800 ( = StWGesB, Bd. 8), Göttingen 1974, S. 1 6 9 - 1 7 5 . Nach dem Anfall von
Magdeburg, Halberstadt und Pommern im 17. Jh. waren auch dort Konsistorien
geschaffen worden.
4 Instruktion vom 4. X . 1750: C. O. MYLIUS (Hg.), Corpus Constitutionum...
( 1 7 3 7 - 1 7 5 1 ) [12], Cont. Bd. 4, B e r l i n - H a l l e [1751], Nr. 106, Sp. 2 9 1 - 2 9 8 , bes.
Sp. 292, 2 9 4 f.; dazu Ferdinand VOLLMER, Die preußische Volksschulpolitik unter
Friedrich dem Großen ( = MGPaed, Bd. 56), Berlin 1918, S. 18 f.
5 Zedlitz' Vorschläge jetzt gedruckt bei Christa BERG (Hg.), Staat und Schule oder
Staatsschule? Stellungnahmen von Pädagogen und Schulpolitikern zu einem un-
erledigten Problem 1 7 8 9 - 1 8 8 9 , Königstein/Ts. 1980, S. 1 ff.; die Instruktion
(22. II. 1787): N o v u m Corpus Constitutionum... ( 1 7 5 3 - 1 8 2 2 ) [13], Bd. 8, Berlin
1791, Nr. 25 zu 1787, Sp. 617 — 622; Karl-Ernst JEISMANN, Das preußische Gym-
nasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule
des Staates und der Gebildeten, 1 7 8 7 - 1 8 1 7 ( = IndW, Bd. 15), Stuttgart 1974,
S. 26, 75 - 86, 88 f., 9 7 f . ; M . HEINEMANN, Schule... (1974) [s. o. Anm. 3], S. 1 5 2 -
162; Conrad RETHWISCH, Der Staatsminister Freiherr v. Zedlitz und Preußens
höheres Schulwesen im Zeitalter Friedrichs des Großen, Straßburg 2 1886,
S. 184 ff.; zuletzt zusammenfassend: Peter BAUMGART, Karl Abraham von Zedlitz,
in: W . T r e u e / K . G r ü n d e r (Hg.), Berlinische Lebensbilder, Bd. 3 . . . (1987) [75],
S. 3 3 - 4 6 , bes. S . 3 6 f . , S. 45.
6 Alfred HEUBAUM, Die Geschichte des ersten preußischen Schulgesetzentwurfs
( 1 7 9 8 - 1 8 0 7 ) , in: MschrhSch, Bd. 1 (1902), S. 2 0 - 4 0 , 1 1 1 - 1 2 2 , 1 4 5 - 1 5 4 , 2 0 9 -
220, 3 0 5 - 3 2 1 , hier S. 112 f., 115.
654 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

gar keine besonderen Schulkollegien eingerichtet worden, die Provinzial-


konsistorien erhielten nur den Namen eines Provinzialschulkollegiums. In-
sofern besteht kein Grund, im Oberschulkollegium den Beginn einer mo-
dernen Schulverwaltung sehen zu wollen. Die Kontinuität und Tradition
herrschte noch, hier ist ein Modernisierungsschub beziehungsweise ein
engeres Verhältnis von Staat und Schule nicht zu sehen, eher schon in den
in ganz anderem Kontext stehenden Verwaltungsreformen unmittelbar vor
1806 in einzelnen, wenigen Provinzen, durch die nun die modernen Ver-
waltungsträger, die Kriegs- und Domänenkammern, die Schulsachen über-
nahmen. 7
Mit den geschilderten alten Kollegialorganen sind die Stellen benannt,
aus denen jene Schuledikte und Schulreglements hervorgingen, die in der
bisherigen Literatur unproportional viel Aufmerksamkeit gefunden haben.
Die prominentesten Beispiele dieser Emanationen des preußischen Edikten-
staates sind sicherlich das Schuledikt von 1717, mit dem angeblich die
Schulpflicht in Preußen vom absolutistischen Staat eingeführt wurde, das
aber sowieso nur an Orten gelten sollte, wo Schulen bestanden. Zudem
proklamierte dieses Edikt - bezeichnend für die „Schulgesetzgebung" dieser
Zeit — das, was längst Praxis in den ländlichen Schulen war, und von einer
darüber hinausgehenden Wirkung ist nichts erkennbar, 8 weiteres Indiz
dafür, daß die preußische Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts nicht
unter dem Primat staatlicher „Schulpolitik" gesehen werden darf. Dies gilt
auch für das General-Landschulreglement9 von 1763, das, wiewohl im
dritten Regierungsjahrzehnt Friedrichs II. herausgegeben, von dem Francke-
Schüler Johann Julius Hecker konzipiert worden war, wie denn pietistische
Konsistorialräte im 18. Jahrhundert bis in die 1760er Jahre — trotz der
Ablehnung des Königs gegen diese Richtung — federführend blieben. Das

7 Otto HINTZE, Preußens Entwicklung zum Rechtsstaat [1920], in: Ders., Regierung
und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialge-
schichte Preußens, hg. von Gerhard Oestreich ( = Ders., Gesammelte Abhand-
lungen, Bd. 3), Göttingen 2 1967, S. 9 7 - 1 6 3 , hier S. 141 ff., 149; Ders., Preußische
Reformbestrebungen vor 1806 [1896], in: A . a . O . , S. 5 0 4 - 5 2 9 , hier S. 523ff.
8 Detaillierter: Wolfgang NEUGEBAUER, Bemerkungen zum preußischen Schuledikt
von 1717, in: J G M O D , Bd. 31 (1982), S. 1 5 5 - 1 7 6 , b e s . S. 1 5 7 - 1 6 3 , 1 7 3 ff.;
Druck: C. O. MYLIUS (Hg.), Corpus Constitutionum... (1737-1751) [12],
B d . 1 / 1 , B e r l i n - H a l l e [ 1 7 3 7 ] , N r . 9 7 , Sp. 5 2 7 - 5 3 0 .
9 Druck: Novum Corpus Constitutionum... ( 1 7 5 3 - 1 8 2 2 ) [13], Bd. 3, Berlin 1766,
Nr. 53 zu 1763, Sp. 2 6 5 - 2 8 2 ; Lit.: F. VOLLMER, Die preußische Volksschulpoli-
tik... (1918) [s.o. Anm. 4], S. 26 f., 32, 4 8 - 6 0 , 73 u. ö.; immer noch wichtig:
A. HEUBAUM, Geschichte des deutschen Bildungswesens... (1905) [30], S. 3 2 0 -
336, bes. S. 325; in Teilen der neueren Lit. groteske Fehlurteile über die angeblich
durch das Landschulreglement verstärkte Staatlichkeit des Schulwesens: Hartmut
TITZE, Die Politisierung der Erziehung. Untersuchungen über die soziale und
politische Funktion der Erziehung von der Aufklärung bis zum Hochkapitalismus,
Frankfurt/M. 1973, S. 55; Helmut KÖNIG, Zur Geschichte der Nationalerziehung
in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ( = MGPaed, Bd. 1), Berlin
1960, S. 277.
III. Reformabsolutismus und Schulwesen 655

Schicksal auch dieser umfänglichen Verfügung über Dorfschulen und die


Schulen in den zahlreichen Landstädten steht für die Wirkung landesherr-
licher Normsetzungen im Bildungswesen überhaupt: Erst wurden wesent-
liche Bestimmungen revidiert und abgeschwächt (Visitationen/„Schulkata-
loge") beziehungsweise ganz zurückgenommen (Schulgeld), andere blieben
unausgeführt (Schulbücher), und nach wenigen Jahren konnte die bloße
Kenntnis von der Existenz des Reglements nicht mehr vorausgesetzt werden.
Mit dem Generallandschulreglement hatte der Pietismus den Höhepunkt
seines Einflusses überschritten; von nun an galt auch das Oberkonsistorium
als „Hort der Aufklärung" (P. Schwartz), dies freilich nicht deshalb, weil
Friedrich der Große, der für Landkinder nicht mehr als Lesen und Schreiben
zu lehren befahl, 1 0 gleichsam in eine Phase „bildungspolitischen" Interesses
eingetreten wäre. „Der König hatte von dem Zustand und der Beschaffenheit
der Gymnasien und Schulen in seinen Staaten keine unmittelbare Kenntniß
und beurtheilte sie also nach Berichten, Erzählungen und Vermuthungen",
berichtete der Oberkonsistorialrat und Gymnasialdirektor Büsching. 11 Al-
lerdings, und auch darauf setzt die neuere Forschung einen starken Akzent,
amtierte seit 1771 der aufgeklärte Minister Zedlitz, der sich in seiner
Amtszeit zudem zu Themen des Bildungswesens sowie über seine eigenen
Maximen publizistisch geäußert und wohl auch deshalb in der Geschichts-
schreibung so große Aufmerksamkeit gefunden hat. Was Zedlitz wünschte,
war eine ständisch geprägte Unterscheidung der vielfältigen existierenden
Schulen in Bauern-, Bürger- und Gelehrtenschulen. 12 Was Zedlitz in seiner
mehr als sechzehnjährigen Amtszeit außer dem oben erwähnten Abiturre-
glement 13 und dem Oberschulkollegium praktisch erreichte, das waren an
lokale Bedingungen geknüpfte Einzelreformen 14 gelehrter Schulen. Nicht
anders lautet der Befund hinsichtlich der Reformbestrebungen des
Ministers Julius von Massow (1798 - 1 8 0 7 ) , der ebenfalls eine Ordnung der
herrschenden Schulvielfalt wünschte, wobei die „Bürgerschule" als Typ
charakteristisch hervortrat. Auch dabei blieb es bis zum Zusammenbruch
bei Projekten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei denen freilich wie-
derum zumeist lokalspezifische Kräfte wirkten. Das Schulwesen selbst blieb

10 Die berühmte KO vom 5. Sept. 1779 gedruckt ζ. B. bei Gustav Berthold VOLZ
(Hg.), Die Werke Friedrichs des Großen. In deutscher Übersetzung, Bd. 8, Berlin
1913, S. 3 1 3 - 3 1 6 , bes. S. 3 1 5 f . ; vgl. Κ. E. JEISMANN, Friedrich der Große...
(1987) [88], S. 94, S. 100.
11 Anton Friederich BÜSCHING, Character Friedrichs des zweyten, Königs von Preu-
ßen, Halle 1788, S. 83 (1788).
12 K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium... (1974) [s.o. Anm. 5], S. 7 5 - 8 9 ,
bes. S. 7 9 ff.; Hans-Georg HERRLITZ, Studium als Standesprivileg. Die Entstehung
des Maturitätsproblems im 18. Jahrhundert. Lehrplan- und gesellschaftsge-
schichtliche Untersuchungen, Frankfurt/M. 1973, S. 8 7 - 9 1 ; Paul SCHWARTZ, Der
erste Kulturkampf in Preußen um Kirche und Schule (1788 - 1 7 9 8 ) ( = MGPäd,
Bd. 58), Berlin 1925, S. 5 4 - 5 6 ; vgl. Anm. 5.
13 S. o. § 2, I, bei Anm. 24.
14 S. die detaillierte Darstellung: C. RETHWISCH, Der Staatsminister Freiherr v.
Zedlitz... (1886) [s.o. Anm. 5], S. 1 4 3 - 1 6 0 , 166.
656 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

im Gesamtbild unverändert, Schulreglements und Reformprojekte („Mas-


sowscher Schulplan") beschäftigten die Kollegien.15
Es bleibt die Frage zu beantworten, ob unter dem geistlichen Minister
Johann Christof Woellner16 (1788 - 1798), der seine anti-aufklärerische Zwi-
schenperiode durch das Religionsedikt von 1788 einleitete, wenn nicht in
schulreformerischer Hinsicht, so doch allgemein ein stärker kontrollierender
Griff des Staates nach der Schule festzustellen ist. An markanten Willens-
bekundungen hat es in dieser Richtung nicht gefehlt, und wie das Beispiel
Kants zeigte,17 wurde in der Tat an den Universitäten in Einzelfällen zu
disziplinarischen Mitteln gegriffen. Veröffentlichende Tätigkeit und die Pu-
blizistik selbst waren entschieden härter betroffen als das Bildungswesen
im engeren Sinne; die Zensur gewann an Bedeutung, und eine Zeitschrift
wie Friedrich Nicolais „Allgemeine Deutsche Bibliothek" wich vor ihr in
das benachbarte Hamburg beziehungsweise nach Kiel aus; die Berlinische
Monatsschrift wurde in Jena und dann in Dessau gedruckt.18 Wenn aber
im Regiment Woellners im Hinblick auf das Bildungswesen „eine erste
moderne Gesinnungsdiktatur" gesehen worden ist, 19 so verkennt diese Li-
teraturmeinung nicht nur den vehementen Widerstand an den Universitäten,
sondern auch die Tatsache, daß selbst nach Einrichtung der Immediat-
Examinationskommission beziehungsweise ihrer provinzialen Pendants, die
Theologen, auch wenn sie in das Lehramt gingen, auf ihre Rechtgläubigkeit
hin zu prüfen hatten, der Widerstand der lokalen Herrschaftsträger, zum
Beispiel der Magistrate, ein höchst effektives Palliativ darstellte, gegen das
aus Berlin nicht anzukommen war. Im engeren Umkreis Woellners war man

15 Wiederum, da jetzt grundlegend, K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium...


(1974) [s. o. Anm. 5], bes. S. 175 ff.; außerdem M . HEINEMANN, Schule im Vorfeld
der Verwaltung... (1974) [s. o. Anm. 3], S. 3 5 4 - 3 6 3 ; A. HEUBAUM, Die Geschichte
des ersten preußischen Schulgesetzentwurfs... (1902) [s.o. Anm. 6], S. 3 6 f . , 216,
305, 311 f., 3 2 0 ; Ders., Die Reformbestrebungen unter dem preußischen
Minister Julius v. Massow auf dem Gebiete des höheren Bildungswesens (1798 —
1807), in: MGdESG, Bd. 14 (1904), S. 1 8 6 - 2 2 5 , bes. S. 192; K[arl] HEINEMANN,
Geschichte der preußischen Mittelschule, Halle-Saale 1931, S. 13; Otto SCHME-
DING, Die Entwicklung des realistischen höheren Schulwesens in Preußen bis
zum Jahre 1933 mit besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit des Deutschen
Realschulmännervereins, Köln 1956, S. 19.
16 Zur Person immer noch: Paul BAILLEU, Johann Christof Woellner [1898], in:
Ders., Preußischer Wille. Gesammelte Aufsätze, hg. von Melle Klinkenborg,
Berlin 1924, S. 138 — 153, S. 347 ff.; zu den Umständen seiner Ernennung S. 147 f.
17 S. o. § 2, II, bei Anm. 15; vgl. auch zu Halle a. S. W. SCHRÄDER, Geschichte der
Friedrichs-Universität zu Halle... (1894) [66], Bd. 1, S. 5 1 9 f . , Bd. 2, Ani. 27,
S. 480.
18 Horst MÖLLER, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist u. Geschichts-
schreiber Friedrich Nicolai ( = EvHKzB, Bd. 15), Berlin 1974, S. 198; Peter WEBER
(Hg.), Berlinische Monatsschrift (1783 — 1796). Herausgegeben von Friedrich
Gedike und Johann Erich Biester, Auswahl, Leipzig 1986, S. 386.
19 H. TITZE, Die Politisierung der Erziehung... (1973) [s.o. Anm. 9], S. 82; s. auch
S. 84.
III. Reformabsolutismus und Schulwesen 657

sich dessen auch sehr wohl bewußt. Gegen die bestimmende Macht der
lokalen Kräfte und Gewohnheiten konnten einmal erscheinende Visitations-
kommissionen wenig, ja nichts ausrichten. 20
Die Instrumente unterhalb der Kollegien in Berlin sowie in den Provin-
zialhauptstädten stammten, wie die Konsistorien auch, aus dem
16. Jahrhundert. Die nach der Reformation eingesetzten geistlichen Inspek-
toren, Oberprediger, Erzpriester, oder wie die Benennung auch jeweils
lautete, hatten schon damals die Schulen zu betreuen, wie auch die ihnen
unterstellten Ortspfarrer, die die Ortsschulaufsicht führten. 21 Dies waren
die Institute, die unter vielfach veränderten Bedingungen immer neue Auf-
gaben unter anderem im Schulbereich wahrnehmen sollten und unter den
wachsenden Erwartungen und Forderungen des „pädagogischen Jahrhun-
derts" notwendigerweise zum Objekt der Kritik werden mußten.
Moderne „Verwaltung" war von den traditionsbestimmten Organen des
landesherrlichen Schulregiments nicht zu leisten. Die lokalen Schulherren
blieben dominant. Dem Oberschulkollegium war noch in seiner Instruktion
vom Jahre 1787 ausdrücklich anbefohlen worden, die Rechte des Adels, der
Magistrate und der Schul-Patronatsherren überhaupt nicht im geringsten
zu schmälern. 22 Wiederum ist mit dem Patronatsrecht ein wesentliches
Strukturelement der Schulwirklichkeit von langer Dauer angesprochen -
in der Kurmark hatte der Landtagsrezeß von 1653 erneut die althergebrach-
ten Patronatsrechte bestätigt. 23 Herr der Dorfschule war der Dorfherr, und
das heißt: auf adligem Land in der Regel der Gutsherr, und auf der Domäne
war es der König. Der Patron bestimmte insbesondere, wer Schulmeister
wurde, 24 doch ging die patronatsherrliche Position gegenüber der Schule
wesentlich weiter. Er war mit seinen jurisdiktionellen und polizeilichen
Mitteln lokal überstark, und vor allem war der Gutsherr nah oder konnte
es jederzeit sein, die Berliner oder die Provinzialkollegien waren fern und
blieben wirkungsschwach. Auf den Domänen nahmen die Pächter eine den

20 W. NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit... (1985) [s.o.


A n m . 1 ] , S. 1 9 5 - 2 0 1 ( L i t . ) ; P. SCHWARTZ, D e r e r s t e K u l t u r k a m p f . . . ( 1 9 2 5 ) [s.o.
Anm. 12], S. 258 ff., vgl. C[olmar] GRÜNHAGEN, Der Kampf gegen „die Aufklä-
rung" unter Friedrich Wilhelm II. mit besonderer Rücksicht auf Schlesien, in:
ZVGSchl, Bd. 27 (1893), S. 1 - 2 7 , hier S. 23.
21 Werner HINDAHL, Die Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen der geistlichen
Aufsicht über die öffentlichen Volksschulen in den Brandenburgisch-Preußischen
Staaten vom 17. bis 19. Jahrhundert, Jur. Diss. Kiel [MS] 1959, S. 36 ff.; Enno
FOOKEN, Die geistliche Schulaufsicht und ihre Kritiker im 18. Jahrhundert
( = ProbE, Bd. 5), Wiesbaden-Dotzheim 1967, passim, bes. S. 1 5 3 - 2 0 0 .
22 Novum Corpus Constitutionum... (1753 - 1 8 2 2 ) [13], Bd. 8, Berlin 1791, Sp. 619.
23 Johannes NIEDNER, Die Entwicklung des städtischen Patronats in der Mark
Brandenburg. Ein Beitrag zur Geschichte der kirchlichen Lokalverwaltung
( = KrAbh, H. 73 und 74), Stuttgart 1911 (ND Amsterdam 1965), S. 97.
24 Georges PARISET, L'État et les Églises en Prusse Sous Frédéric-Guillaume 1er
( 1 7 1 3 - 1 7 4 0 ) , Paris 1897, S. 406, s. auch S. 3 9 0 - 3 9 4 .
658 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

Gutsherren durchaus vergleichbare patronatsherrliche Stellung ein. 25 Auch


die Geistlichen, die die Schulaufsicht führten, standen unter dem jeweiligen
Patron. Das Oberkonsistorium berichtete noch um 1800 in aller Öffentlich-
keit über die unbeschränkte Freiheit der Patrone.
In den Städten hatten in aller Regel die Magistrate das Patronatsrecht
über die Schulen in der Hand, und sie verteidigten es entschlossen gegen
Eingriffe. Nur bei wenigen bedeutenden, in der Regel gymnasialen Anstal-
ten, zu deren Finanzierung der Staat und nicht allein, wie üblich, Stadt und
Stadtgemeinde beitrugen, wurde auch das Patronat durch den Staat einge-
schränkt. 26 Insofern war noch 1794 der Satz des Allgemeinen Landrechts,
nach dem „Schulen und Universitäten... Veranstaltungen des Staats" 2 7 seien,
nicht mehr als eine Zukunftsprojektion.

2. Staat und Schule in Problemgebieten

Zeitlich beziehungweise regional begrenzt ist es in der zweiten Hälfte des


18. Jahrhunderts zu intensivierter Staatstätigkeit für die schulischen Grund-
strukturen gekommen - von dem Fall Ostpreußen und den „Gnadenschu-
len" war oben die Rede. 2 8 Diese Beobachtung ist insbesondere in den
Gebieten mit (polnisch-)katholischer beziehungsweise katholisch-evangeli-
scher Mischbevölkerung zu machen, für die in Bereichen ein deutlicher
schulischer Nachholbedarf sich mit ethnischen Integrationsproblemen ver-
band und auch schon recht „moderne", in das 19. Jahrhundert weisende
Motive der Verwaltung nachgewiesen worden sind.
So ist schon für den schlesischen Provinzialminister Ernst Wilhelm von
Schlabrendorff (1755 —1769) das Bestreben zu erkennen, in polnischen
Gebieten mit schulischen Mitteln die deutsche Sprache zu verbreiten, wobei
Zweisprachigkeit, nicht aber die Verdrängung des Polnischen das Ziel war,

25 Zum Folgenden W. NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit...


(1985) [s. o. Anm. 1], S. 134 — 167; allgemein ζ. B. Fritz MARTINY, Die Adelsfrage
in Preußen vor 1806 als politisches und soziales Problem. Erläutert am Beispiele
des kurmärkischen Adels ( = VSWG, Beih. 35), Stuttgart - Berlin 1938, S. 49; für
Ostpreußen vgl. Friedrich-Wilhelm HENNING, Herrschaft und Bauernuntertänig-
keit. Beiträge zur Geschichte der Herrschaftsverhältnisse in den ländlichen Be-
reichen Ostpreußens und des Fürstentums Paderborn vor 1800 ( = B e i h J b U K ,
Bd. 25), Würzburg 1964, S. 76 ff.
26 Vgl. noch Conrad RETHWISCH, Das höhere Schulwesen in Preußen um die Mitte
des XVIII. Jahrhunderts, in: Prjbb, Bd. 43 (1879), S. 1 1 7 - 1 4 1 , S. 227 - 257, hier
S. 119; Helga ROMBERG, Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen
Bildungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
unter besonderer Berücksichtigung Preußens ( = StDokdBG, Bd. 11), Weinheim-
Basel 1979, S. 384 f.
27 ALR, 2. T., 12. Tit., S 1.
28 Ostpreußen: s.o. § 2, I, bei Anm. 1 - 7 ; Gnadenschulen: bei Anm. 1 2 - 1 5 .
III. Reformabsolutismus und Schulwesen 659

das in seiner Amtszeit freilich nicht erreicht w u r d e . 2 9 Bemerkenswert er-


scheint aber der von ihm betriebene regionale Schulausbau, zunächst in
Oberschlesien. Im Jahr 1764 waren im Ratiborer Kreis in 169 Dörfern nur
3 0 und im ganzen Kreis Beuthen nur 2 Schulmeister vorhanden. Bis 1769
wurden in Schlesien 2 4 0 neue katholische und 2 3 8 evangelische Schulen
errichtet, wenn auch nicht immer ein besonderer Schulhausbau erfolgte.
Mit dem Tode des Ministers und dem Weggang des ihn tatkräftig unter-
stützenden Saganer Abtes Johann Ignaz von Felbiger, der 1774 nach Öster-
reich berufen wurde, war die Ausbauphase in Oberschlesien beendet. 3 0
Mit dem Erwerb Westpreußens setzen dort landesherrliche M a ß n a h m e n
zur Förderung des Schulwesens ein, die deutlich unter einem Integrations-
motiv durchgeführt worden sind, wie denn Friedrich der Große in einer
Kabinettsorder vom Juni 1772 ausdrücklich befahl, „den gemeinen M a n n "
in den neuen polnischen Gebieten unter anderem durch Ansetzung „teut-
sche(r) Schulmeister" „zur preußischen Landes-Art anzuführen". 3 1 Obwohl
bis 1806 in der Tat einige hundert neuer Schulen eingerichtet worden sind 3 2
und auch zum Teil eine gnadenschulähnliche Dotation erhielten, gehörte,
wie Tabelle 1 ausweist, diese Provinz um 1805 zu den Teilen der M o n a r c h i e
mit der geringsten Schuldichte, auch lassen die Berichte vom Ende des

29 Alois M[aria] KOSLER, Die preußische Volksschulpolitik in Oberschlesien 1742 —


1848 ( = EschrSG, Bd. 3), Breslau 1929 (ND [ = BtrGLkOschl, Bd. 2], Sigmaringen
1984), S. 30, 40, das Folgende: S. 15 f.; Johann Ignatz v. FELBIGER, Kleine Schul-
schriften. Nebst einer ausführlichen Nachricht von den Umständen und dem
Erfolge der Verbesserung der katholischen Land- und Stadt-Trivialschulen in
Schlesien und Glatz, Bamberg — Würzburg 1772, S. 334, 470 ff.; vgl. jetzt J. Van
Horn MELTON, Absolutism... (1988) [91], S. 156f., S. 197ff.
30 Eduard REIMANN, Uber die Verbesserung des niederen Schulwesens in Schlesien
in den Jahren 1 7 6 3 - 1 7 6 9 , in: ZVGSchl, Bd. 17 (1883), S. 3 1 7 - 3 5 0 , hier S. 348;
Diskussion der Zahlen bei Α. M. KOSLER, Die preußische Volksschulpolitik in
Oberschlesien... (1929) [s.o. Anm. 29], S. 30; Ulrich KRÖMER, Johann Ignaz von
Felbiger. Leben und Werk ( = U T h S , Bd. 22), Freiburg - Basel - Wien 1966,
S. 166 ff.; Franz VOLKMER, Johann Ignaz v. Felbiger und seine Schulreform. Ein
Beitrag zur Geschichte der Pädagogik des 18. Jahrhunderts, Habelschwerdt 1890,
S. 54.
31 Druck: Max BÄR, Westpreußen unter Friedrich dem Grossen, 2 Bde ( = PPrStA,
Bd. 83/84), Leipzig 1909 (ND Osnabrück 1966), hier: Bd. 2, S. 42 f. (Nr. 5), dazu
der Text: Bd. 1, S. 79, 550; J . GRÜNER, Das Schulwesen des Netzedistrikts zur
Zeit Friedrichs des Großen (1772—1786). Ein Beitrag zur Schul- und Kulturge-
schichte des 18. Jahrhunderts, Breslau 1904, S. 85; Jürgen-Peter RAVENS, Staat
und katholische Kirche in Preußens polnischen Teilungsgebieten (1772 — 1807)
( = VOelM, Bd. 21), Wiesbaden 1963, S. 56. Für das Ende des 18. Jh.: Paul
SCHWARTZ, Die Schulen der Provinz Westpreußen unter dem Oberschulkollegium
1 7 8 7 - 1 8 0 6 , in: ZGE, Bd. 16 (1926), S. 51 - 1 2 3 , hier S. 64 f.
32 Vgl. die Zahlen zu 1772/1806 für das Gebiet des späteren Regierungsbezirks
Marienwerder bei Horst MIES, Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks
Marienwerder ( 1 8 3 0 - 1 8 7 0 ) ( = StGPr, Bd. 17), K ö l n - B e r l i n 1972, S. 260, Anm.
932. Finanzausstattung von 163 Lehrerstellen: J.-P. RAVENS, Staat und katholische
Kirche... (1963) [s.o. Anm. 31], S. 58.
660 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

18. Jahrhunderts keinen Zweifel über die Statik der Zustände sowie darüber
aufkommen, daß sich die katholischen Schulen (auch die Gymnasien!) dem
staatlichen Zugriff zu entziehen wußten. 33
Erst recht mußte die strukturelle Wirksamkeit-der preußischen Verwal-
tung in den seit 1793 annektierten polnischen Gebieten hinsichtlich des
zudem nicht prioritären Schulwesens nur marginal bleiben, und so waren
(s. o. Tabelle 1) um 1805 in Neuostpreußen nur auf rund 8 Prozent, in
Südpreußen immerhin auf 17,5 Prozent der Dörfer Schulmeister beziehungs-
weise unterrichtende Küster vorhanden. Angesichts der geringen meßbaren
Folgen einer im übrigen wiederum mit überdurchschnittlichem Finanzein-
satz, hier insbesondere aus früherem Jesuitenvermögen, betriebenen Aus-
baukonjunktur städtischer und ländlicher schulischer Einrichtungen34 ist es
richtiger, von einer Integrationsintention denn von einer Integrationsfunk-
tion, die das Bildungswesen erfüllt hätte, zu sprechen.

IV. Schulreformen vor der Staatsreform


1. Schulinnovationen im Zeitalter der Aufklärung

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, insbesondere aber in dessen letztem
Drittel treten auffällige Reformströmungen in Theorie und Praxis entgegen,
die nicht auf staatliche Veranlassung beziehungsweise Förderung, sondern
auf ein wachsendes Bildungsinteresse und -bedürfnis zurückzuführen sind.
Auch in Preußen fand das Erziehungsdenken des Philanthropinismus pro-
minente Vertreter, so zum Beispiel in dem brandenburgischen Gutsherrn
Friedrich Eberhard von Rochow, 1 der in seinen Schriften und in seiner
Musterschule in Reckahn über Preußen hinaus Aufsehen erregte. Rochow

33 A. a. O . , S. 148 ff.; Fritz KEMPFF, Beiträge zur Schulgeschichte des Posener Landes,
Breslau 1912, S. 9 3 ff. (betr. B r o m b e r g e r Gebiet).
34 O t t o HEIKE, Die Provinz Südpreußen. Preußische Aufbau- und Verwaltungsarbeit
im W a r t h e und Weichselgebiet 1 7 9 3 - 1 8 0 6 ( = W B t r G L k O M e , N r . 12), M a r b u r g
1953, S. 54, 5 9 ff., der S. 5 7 f. d a r a u f hinweist, daß in Berlin gewichtige Stimmen
für die Pflege der polnischen Sprache eintraten; s. auch O t t o KONOPKA, Die
Schulpolitik Südpreussens. Auf Grund archivalischer Quellen ( = P ä d M a g ,
H . 6 1 4 / 1 ) , Langensalza 1 9 1 5 ; Paul SCHWARTZ, Die preußische Schulpolitik in den
Provinzen Südpreußen und Neuostpreußen ( 1 7 9 5 - 1 8 0 6 ) , in: Z G E , Bd. 1 (1911),
S. 133 - 195, hier S. 1 8 4 , 1 9 5 ; J.-P. RAVENS, Staat und katholische K i r c h e . . . (1963)
[ s . o . A n m . 3 1 ] , S. 1 3 8 f . , 1 4 1 , 1 4 8 , 157f.

1 Friedrich Eberhard von ROCHOW, Sämtliche pädagogische Schriften, hg. von Fritz
Jonas und Friedrich Wienecke, 4 Bde., Berlin 1 9 0 7 - 1 9 1 0 , darin: Bd. 3, Berlin
1909, S. 7 — 55: Geschichte meiner Schulen [ 1 7 9 5 ] ; für biographische Details bleibt
wichtig: Ernst SCHÄFER, Friedrich E b e r h a r d von R o c h o w . Ein Bild seines Lebens
und Wirkens, Gütersloh 1 9 0 6 ; zuletzt zu R o c h o w : G e r h a r d SPRENGER, Weltbürger
oder Patriot? Vor 2 5 0 J a h r e n wurde Friedrich E b e r h a r d von R o c h o w geboren,
i n : J b b L G , B d . 3 5 ( 1 9 8 4 ) , S. 9 2 - 1 1 6 , b e s . S. 1 0 0 f f . , 1 0 5 - 1 1 3 (mit Lit.).
IV. Schulreformen vor der Staatsreform 661

ist freilich nur der prominenteste Vertreter einer stillen, wenig beachteten
Schulreformströmung auf adligem Grundbesitz,2 die sicherlich noch nicht
die Schulwirklichkeit insgesamt revolutionierte, aber doch als eigenwüch-
sige, wenn auch subdominante Bewegung unter anderem in den mittleren
und östlichen Provinzen für die Zeit signifikant ist. Für die Grafschaft Mark
ist in diesem Zusammenhang die „Gesellschaft der Freunde der Lehrer und
Kinder" zu erwähnen. 3 In den Städten sind ebenfalls zahlreiche lokal in-
itiierte Schulreformen 4 nachgewiesen worden, die, ohne das Gesamtbild
schon zu prägen, doch eine neue Entwicklungsdynamik bezeugen, die in
Einzelfällen auf einen Bewußtseinswandel im Bürgertum des ausgehenden
18. Jahrhunderts nachweisbar bezogen werden kann. 5
Bekannter als diese zum großen Teil anonymen Vorgänge ist die Entste-
hung der sich von den zeitüblichen (lateinischen) Stadtschulen markant
abhebenden ersten preußischen Realschulen in der Mitte des 18. Jahrhun-
derts. Zwar war der erste Versuch mit einer Realschule mit mathematisch-
mechanisch-ökonomischem Schwerpunkt in Halle, doch unabhängig von
Francke, schon seit 1708 für einige Jahre und dann kurzzeitig seit 1738
durch den Prediger Christoph Semler unternommen worden. 6 Die erste
Realschule, die sich halten konnte, wurde aber 1747 in Berlin von dem
schon erwähnten Pfarrer Johann Julius Hecker begründet, und zwar als
Unterrichtsstätte insbesondere für künftige Handwerker und Kaufleute, die
hier Kenntnisse erwerben konnten, welche im späteren Erwerbsleben direkt

2 Beispiele: Friedrich DANNEIL, Geschichte des evangelischen Dorfschulwesens im


Herzogtum Magdeburg. Aus archivalischen und anderen Quellen, Halle 1876,
S. 206; Reinhold KOSER, Geschichte Friedrichs des Großen, Bd. 3, Stuttgart -
Berlin, 5 1913, S. 471; vorläufig noch: Wolfgang NEUGEBAUER, Bildungsreformen
von Wilhelm von Humboldt. Am Beispiel der M a r k Brandenburg, in: Eckart
Henning u . a . (Hg.), Dona Brandenburgia. Festschrift für Werner Vogel zum
60. Geburtstag ( = J b b L G , Bd. 41), Berlin 1990, S. 2 2 6 - 2 4 9 , bes. S. 243 ff.
3 Manfred HEINEMANN/Wilhelm RUTER, Landschulreform als Gesellschaftsinitia-
tive. Philip von der Reck, Johann Friedrich Wilberg und die Tätigkeit der
„Gesellschaft der Freunde der Lehrer und Kinder in der Grafschaft M a r k " (1789 -
1815) ( = StWGesB, Bd. 11), Göttingen 1975, (mit der älteren Lit.), bes. S. 49, 57.
4 Allgemein: Manfred HEINEMANN, Schule im Vorfeld der Verwaltung. Die Ent-
wicklung der preußischen Unterrichtsverwaltung von 1771 — 1800 ( = StWGesB,
Bd. 8), Göttingen 1974, S. 66.
5 Beispiel: Wolfgang NEUGEBAUER, Schule und Stadtentwicklung. Zweieinhalb
Jahrhunderte Schulwirklichkeit in der Residenz- und Großstadt Charlottenburg,
in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Von der Residenz zur City. 275 Jahre Charlottenburg,
Berlin 1980, S. 1 0 3 - 1 4 3 , hier S. 1 0 8 - 1 1 1 , 115; Neuruppin: Wilhelm ROESSLER,
Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland, Stuttgart 1961,
S. 425; Paul SCHWARTZ, Die Schulen der Provinz Ostpreußen unter dem Ober-
schulkollegium 1 7 8 7 - 1 8 0 6 , in: Z G E , 21. Jg. (1931), S. 5 4 - 7 8 , 2 8 0 - 3 0 7 , hier
S. 294 ff. (Memel).
6 Alfred HEUBAUM, Christoph Semlers Realschule und seine Beziehung zu A. H.
Francke, in: JbbPhilPäd, Bd. 39 (1893), S. 65 - 77, bes. S. 7 1 - 7 4 ; August GANS,
Das ökonomische Motiv in der preußischen Pädagogik des achtzehnten Jahr-
hunderts, Halle a . S . 1930, S. 11.
662 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

anwendbar sein sollten.7 Bei aller verbalen königlichen Billigung dieses


Projektes blieb die Finanzierung der Berliner Realschule, angewiesen ins-
besondere auf Spenden breiter Kreise, lange Zeit prekär; erst 1795 wurde
die Anstalt durch eine königliche Bewilligung finanziell abgesichert. Es darf
als bezeichnend für das Verhältnis von preußischem Merkantilstaat und
Schulwesen angesehen werden, daß es im 18. Jahrhundert nur zu wenigen
weiteren Realschulgründungen in Preußen gekommen ist (besonders Star-
gard, Züllichau, Breslau). In keinem Falle ging die Initiative von landes-
herrlicher, sie ging vielmehr ausschließlich von privater Seite aus. 8
Dies gilt gleichfalls für die preußischen Handelsschulen vor 1806, deren
bedeutendste auf Betreiben der Berliner Kaufmannschaft im Jahre 1791
eröffnet wurde und die durchaus nicht das Wohlwollen des Oberschulkol-
legiums genoß. 9 1803 als staatliche Anstalt übernommen, schloß das Institut
im Jahre 1806, nicht als Folge des Krieges, sondern auf Grund der staatlichen
Protektion der älteren Berliner Schulen. In Magdeburg hatte schon 1778
ein Kaufmann eine private Handelsschule gestiftet, die bald darauf als
öffentliche Anstalt fortgeführt wurde und bis zum Kriege fortbestand. 10
Real- und Handelsschulen boten eine auf bürgerliche Berufe vorbereitende
Bildung gehobenen Niveaus. Die Industrieschulen zielten auf eine Erziehung
zur „Industriösität" insbesondere der unteren Schichten, das heißt unter
anderem zu Arbeitsamkeit und Fleiß. Preußen gehörte nicht zu den Teilen
des deutschsprachigen Raumes, in denen diese Schulen auf dem Lande oder
in Städten weit verbreitet waren und dies, obwohl das Generaldirektorium

7 A. WIEDEMANN, Johann Julius Heckers pädagogisches Verdienst ( = Wissen-


schaftliche Beilage zu dem Jahresbericht der Realschule zu Plauen i. V. Ostern
1900), Plauen i.V. 1900, S. 15f., 24; Otto SIMON, Abriß der Geschichte der
Königlichen Realschule. Festschrift zum Einhundertfünfzigjährigen Bestehen des
Königlichen Realgymnasiums zu Berlin, T. 1, Berlin 1897, S. X - X V ; Hugo
Gotthard BLOTH, Johann Julius Hecker (1707 — 1768). Seine „Universalschule"
und seine Stellung zum Pietismus und zum Absolutismus, in: JbVWKG, Bd. 61
(1968), S. 63 —129, hier S. 64, 92 f.; Finanzierung: S. 98 (sowie Otto SIMON,
Abriß... [s.o.], S. LIV).
8 Vgl. A. GANS, Das ökonomische Motiv... (1930) [s. o. Anm. 6], S. 61 f.; O. SIMON,
Abriß der Geschichte der Königlichen Realschule... (1897) [s. o. Anm. 7], S. X L f.;
Hugo Gotthard BLOTH, Zwei „Gesamtschulen" an der Schwelle der industriellen
Gesellschaft. Zum Lebenswerk der Brüder Johann Julius Hecker (1707 — 1768)
in Berlin und Andreas Petrus Hecker ( 1 7 0 9 - 1 7 7 0 ) in Stargard/Pommern, in:
PädRd, 24. Jg. (1970), S. 6 7 7 - 6 9 2 , bes. 6 8 3 - 6 8 8 .
9 Zu den Details: Hermann GILOW, Das Berliner Handelsschulwesen des
18. Jahrhunderts im Zusammenhange mit den pädagogischen Bestrebungen seiner
Zeit ( = MGPaed, Bd. 35), Berlin 1906, S. 65 - 74, 95, 1 7 4 - 1 7 9 u.ö. (S. 247 f.:
Schließung); A. GANS, Das ökonomische Motiv... (1930) [s.o. Anm. 6], S. 130 —
134.
10 Werner WAGENER, Die Standes- und Berufserziehung in der Pädagogik der
Philanthropinisten, Diss. Handelshochschule Leipzig, Borna — Leipzig 1936,
S. 67 f.; Ferdinand Albrecht] WOLTER, Geschichte der Stadt Magdeburg von
ihrem Ursprünge bis auf die Gegenwart, Magdeburg 3 1901, S. 225 (auch zu einer
zweiten Handelsschule 1 8 0 0 - 1 8 1 7 ) .
IV. Schulreformen vor der Staatsreform 663

durchaus ein Interesse an Industrieschulen zeigte. Auch hinsichtlich dieser


Schulen dominierten schließlich private Einrichtungen. 11 In Schlesien ist seit
der Mitte des 18. Jahrhunderts in den in der Größenordnung von einigen
Tausend verbreiteten Spinnschulen ein Regionalphänomen auszumachen,
wobei allerdings um 1800 ein starker Rückgang der Zahlen zu beobachten
ist. 12

2. Lehrerseminar und Lehrerstand im 18. Jahrhundert

Die preußischen Dorfschulmeister — und auch viele Elementarschullehrer


in Städten — waren zu einem hohen Prozentsatz Handwerker (häufig
Schneider) und in den sogenannten Mutterdörfern auch zugleich Küster,
was ihnen notwendige zusätzliche Einnahmen verschaffte. Es ist fraglich,
ob aus der Unterrichtstätigkeit die überwiegenden Einnahmen der Lehrper-
sonen gezogen wurden. Einen „Lehrerstand" im modern-professionellen
Sinn kannte das 18. Jahrhundert noch nicht. Wo der Schulmeister seine
Fertigkeiten erwarb, war weitgehend ihm selbst überlassen; die hohe Erb-
lichkeit der Lehrerfunktion verweist auch hier auf das „Ganze Haus" als
bildungsgeschichtlich bedeutsame Sozialform. Auch autodidaktische Prä-
paration war für niedere Lehrerstellen üblich. - In den höheren Lehrerstel-
len blieben Theologen tätig. 13
Im 18. Jahrhundert entstanden in Preußen die ersten, selbst nach zeitge-
nössischen Maßstäben weder quantitativ noch qualitativ schon ausreichen-
den Seminarinstitute. Verschiedene „Gründungswellen" lassen sich zusam-
menfassend unterscheiden, doch ist allen frühen Einrichtungen dieser Art
der private, nicht-staatliche Ursprung eigen. 14 Bis zur Mitte des 18. Jahr-
hunderts handelte es sich um Gründungen pietistischer Geistlicher. Francke
machte um 1700 mit dem „Seminarium Praeceptorum" und dem „Semina-

11 Generell: Achim LESCHINSKY/Peter Martin ROEDER, Schule im historischen Pro-


zeß. Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher
Entwicklung, Stuttgart 1976, S. 3 1 6 - 3 1 8 , 320; Westprovinzen: Wolfgang MAR-
QUARDT, Geschichte und Strukturanalyse der Industrieschule. Arbeitserziehung,
Industrieunterricht, Kinderarbeit in niederen Schulen (ca. 1770 — 1850/70), Phil.
Diss. Hannover 1975, S. 270 ff., 277, 282; G[ünter] ULBRECHT, Die Industrie-
s c h u l e n d e r K u r m a r k , in: Z G E , 1. J g . ( 1 9 1 1 ) , S. 8 6 - 9 5 , b e s . S. 8 6 ff., 9 0 f.
12 Kurt HINZE, Die Arbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in Bran-
denburg-Preußen 1685 - 1 8 0 5 ( = VHKzB, Bd. 9), Berlin 2 1963, S. 189 f., vgl. auch
S. 144, 154 f.; Hermann FECHNER, Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz
Schlesien in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit 1 7 4 1 - 1 8 0 6 . . . , Breslau
1 9 0 7 , S. 6 2 - 6 5 .
13 S.o. § 2 , 1 , bei Anm. 11 und 20. Ergänzend jetzt S. BRÜGGEMANN, Landschulleh-
rer... (1988) [92],
14 Mit weiterer Lit.: Wolfgang NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirk-
lichkeit in Brandenburg-Preußen ( = VHKzB, Bd. 62), B e r l i n - N e w York 1985,
S. 364 — 433, zum Folgenden.
664 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

rium selectum", beide für Studenten (Theologen), den Anfang. 1 5 Seit den
1730er Jahren folgten auch kleine Lehrstätten für die systematische Ausbil-
dung von Elementar- und Dorflehrern, so kurzzeitig in Stettin seit 1732,
seit 1735 (bis 1810) in Kloster Berge bei Magdeburg 1 6 und wiederum durch
Hecker in Berlin seit 1748, der, da der König zu unterbreiteten Vorschlägen
nicht entschied, das Seminar an seiner Berliner Dreifaltigkeitskirche „als
ein Privatinstitut" begründete. 1 7 Obwohl seine Abgänger auf königlichen
Patronatsstellen bevorzugt piaziert werden sollten, war auch nach der
Übernahme als öffentliches Institut (1753) die Finanzierung bis zum Ende
des Jahrhunderts unsicher, als es bei Frequenzen von 60 — 80 Zöglingen als
größte preußische Einrichtung dieser Art zu wirken suchte.
Seit den 1770er Jahren setzen in einer zweiten Welle Gründungen in
weiteren Regionen Preußens durch verschiedenste Träger und aus durchaus
nicht identischen Motiven ein. Dazu gehören — um Beispiele zu geben —
die Stiftung eines Seminars im ostpreußischen Klein-Dexen durch einen
Privatmann (seit 1774/VerfalI seit 1793) sowie die etwa gleichzeitigen Se-
minargründungen in Minden durch einen Geistlichen beziehungsweise in
Halberstadt durch das dortige Domkapitel, in dem Aufklärer wie zum
Beispiel von Rochow von Einfluß waren. Erst das 1787 eingerichtete Zül-
lichauer Seminar geht auf staatliche Initiative zurück, erst im letzten Jahr-
zehnt des 18. Jahrhunderts — dritte Phase der älteren Seminarentwicklung
— zeigt sich ein neuartiges staatliches Engagement für diese Institute ins-
besondere in den seit 1793 angefallenen polnischen Teilungsprovinzen. 1 8
Schlesien verfügte schon seit den 1760er Jahren über ein für Preußen auch
später noch untypisch dichtes Netz insbesondere katholischer Lehrersemi-
nare, auch dies Resultat einer regional- und zeitspezifisch intensivierten
Sorge der Behörden für das niedere Schulwesen. Vollmer zählte für das Jahr
1768 in Schlesien neun katholische Seminare. 1 9

15 Wolf OSCHLIES, Die Arbeits- und Berufspädagogik August H e r m a n n Franckes


(1663 — 1727). Schule und Leben im Menschenbild des Hauptvertreters des Hal-
leschen Pietismus ( = ArbGPiet, Bd. 6), Witten 1969, S. 1 4 7 - 1 5 7 .
16 S. die Biographie des Stettiner Gründers: H[ermann] WATERSTRAAT, Johann
Christoph Schinmeyer. Ein Lebensbild aus der Zeit des Pietismus, Gotha 1897
S. 14, 21 u. ö.; F. DANNEIL, Geschichte des evangelischen Dorfschulwesens...
(1876) [ s . o . Anm. 2], S. 8 7 f . , 197ff.; H . HOLSTEIN, Geschichte der ehemaligen
Schule zu Kloster Berge, Leipzig 1886, S. 2 7 ff.
17 Gunnar THIELE, Über die Gründungsepoche der ältesten Lehrerbildungsanstalt
Preußens, in: DSch, 28. Jg. (1924), S. 2 5 7 - 265, 297 - 3 0 6 , hier S. 2 6 0 - 2 6 3 , auch
zum Folgenden.
18 KLEIN-DEXEN: M a h r a u n , in: Das Königliche Schullehrer-Seminar in Pr. Eylau.
Festschrift, Königsberg 1874, S. 13 ff.; C[arl] KEHR, Die Geschichte des Königl.
Schullehrer-Seminars zu Halberstadt..., Gotha 1878, S. 39, 42, 48, 5 0 f . u . ö . ;
Züllichau und die polnischen Provinzen: s. W. NEUGEBAUER, Absolutistischer
Staat und Schulwirklichkeit... (1985) [ s . o . Anm. 14], S. 3 9 6 f f . , 4 1 6 - 4 1 9 ; Schle-
sien: S. 4 1 4 ff.
19 Ferdinand VOLLMER, Die preußische Volksschulpolitik unter Friedrich dem Gro-
ßen ( = M G P a e d , Bd. 56), Berlin 1918, 1 1 9 f . , vgl. S. 2 9 3 ; nach einem Bericht
IV. S c h u l r e f o r m e n v o r d e r S t a a t s r e f o r m 665

Neben der seminaristischen Form der (Teil-)Ausbildung von späteren


Elementarschullehrern blieben aber um 1800 Formen freien, nicht institu-
tionsgebundenen Fertigkeitserwerbs von großer Bedeutung. Gleichwohl sind
Ansätze zu einem spezifischen Standesbewußtsein, allerdings primär unter
früheren Seminaristen, schon zu dieser Zeit zu erkennen.

3. Wirkungen des Neuhumanismus im 18. Jahrhundert

Die Entstehung erster Seminare für spätere Gelehrtenschullehrer steht in


Verbindung mit prominenten Vertretern des Neuhumanismus im Preußen
des späten 18. Jahrhunderts. So leitete der Oberkonsistorial- und Ober-
schulrat Friedrich Gedike, der geradezu als „Begründer des preußischen
Neuhumanismus" bezeichnet worden ist, 2 0 in Berlin ein auf Beschluß des
Oberschulkollegiums eingerichtetes Seminar für gelehrte Schulen. 2 1 Später-
hin bedeutsame Namen, wie der von Süvern oder Schleiermacher, finden
sich unter den Teilnehmern, deren Zahl 38 beziehungsweise 43 für die Jahre
1788 bis 1800 betrug - darunter mehrere spätere Pfarrer - , was jedoch
zeigt, daß von einer nennenswerten quantitativen Bedeutung für die Leh-
rerschaft bis 1806 nicht die Rede sein kann. 2 2 Dies gilt gleichfalls für das
philologische Seminar an der Universität Halle, das seit 1787, und zwar
unter der Leitung von Friedrich August Wolf (in Halle seit 1783), wohl des
bedeutendsten Repräsentanten des (frühen) Neuhumanismus, bestand und
bei dem es seinem Anreger ausdrücklich darum ging, einen höheren Leh-
rerstand von der Dominanz der Theologen zu emanzipieren. 2 3 Zugleich

S c h l a b r e n d o r f f s v o m 3 0 . X . 1 7 6 5 : 11 S e m i n a r e , s. M a x LEHMANN ( H g . ) , P r e u ß e n
u n d d i e K a t h o l i s c h e K i r c h e seit 1 6 4 0 , B d . 4 , L e i p z i g 1 8 8 3 , S. 2 5 4 f.; vgl. auch
A l o i s M f a r i a ] KOSLER, D i e p r e u ß i s c h e V o l k s s c h u l p o l i t i k in O b e r s c h l e s i e n 1742-
1 8 4 8 ( = E s c h r S G , B d . 3 ) , B r e s l a u 1 9 2 9 ( N D [ = B t r G L k O s c h l , B d . 2], S i g m a r i n g e n
1 9 8 4 ) , S. 2 1 , 2 4 f., 6 7 ff., 1 0 5 ff.
20 So H a r a l d SCHOLTZ, F r i e d r i c h G e d i k e ( 1 7 5 4 - 1 8 0 3 ) . E i n W e g b e r e i t e r d e r p r e u -
ß i s c h e n R e f o r m d e s B i l d u n g s w e s e n s , in: J G M O D , B d . 1 3 / 1 4 ( 1 9 6 5 ) , S. 1 2 8 - 181,
hier S. 1 2 8 ( Z i t a t ) , S. 1 7 6 .
21 L [ e o p o l d ] H f e r m a n n ] FISCHER, D a s K ö n i g l i c h e P ä d a g o g i s c h e S e m i n a r in Berlin
1 7 8 7 - 1 8 8 7 . . . , in: Z G y m , 4 2 . J g . ( 1 8 8 8 ) , S. 1 - 4 2 , hier S. 2 - 5 ; nur ergänzend:
H . H . MANDEL, G e s c h i c h t e d e r G y m n a s i a l l e h r e r b i l d u n g . . . ( 1 9 8 9 ) [ 8 0 ] , S. 11 ff.
22 P a u l SCHWARTZ, F. G e d i k e s letzter B e r i c h t ü b e r sein P ä d a g o g i s c h e s S e m i n a r v o m
6 . D e z e m b e r 1 8 0 0 , in: Z G E , B d . 2 0 ( 1 9 3 0 ) , S. 1 4 4 - 1 5 1 , hier S. 1 4 9 ff.
23 M a n f r e d FUHRMANN, F r i e d r i c h A u g u s t W O L F . . . , in: D V j s , B d . 3 3 ( 1 9 5 9 ) , S. 1 6 3 -
2 3 6 , bes. S. 2 0 1 ff., 2 0 6 ; J [ o h a n n ] F r i e d r i c h ] J [ u l i u s ] ARNOLDT, Fr. A u g . W o l f in
s e i n e m V e r h ä l t n i s s e z u m S c h u l w e s e n u n d z u r P ä d a g o g i k , B d . 1, Braunschweig
1861, S. 9 4 - 9 9 ; Quellen: S. 2 4 6 - 2 5 4 ; M[anfred] FUHRMANN, Wolf,
F r i e d r i c h A u g u s t , in: K u r t G a l l i n g ( H g . ) , D i e R e l i g i o n in G e s c h i c h t e u n d G e g e n -
w a r t . H a n d w ö r t e r b u c h für T h e o l o g i e u n d R e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t , B d . 6 , T ü b i n g e n
3 1 9 6 2 ( N D T ü b i n g e n 1 9 8 6 ) , Sp. 1 8 0 0 f. ( L i t . ) ; zu F. A . W o l f jetzt A x e l HORSTMANN,
Die „Klassische Philologie" zwischen Humanismus und Historismus.
F r i e d r i c h A u g u s t W o l f u n d die B e g r ü n d u n g d e r m o d e r n e n A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t ,
in: B e r W G , B d . 1 ( 1 9 7 8 ) , S. 5 1 - 7 0 , bes. S. 5 7 .
666 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

wandte sich Wolf gegen den philanthropinistischen Utilitarismus, wie er in


der zeitgenössischen Bildungstheorie dominierte.
Mit F. A. Wolf und F. Gedike setzt in Preußen der Wandel vom her-
kömmlichen, primär lateinischen Sprachunterricht zur spätestens seit Wink-
kelmann - geboren im altmärkischen Stendal - entstehenden „Griechen-
metaphysik" (Spranger) ein. 24 Überhaupt galt nun das Studium alter Spra-
chen nicht mehr als Mittel für praktische Zwecke, sondern als Weg, die
geistigen Kräfte des jungen Menschen überhaupt zu entwickeln. Die grie-
chische Antike, so wie sie aufgefaßt wurde, als Zeitalter der Menschheit
schlechthin, bot die Ursprünglichkeit und die Individualitäten, die als Vor-
bild auch für die pädagogische Praxis als unverzichtbar zu gelten began-
nen.25 Dabei kannten das neue individualistische Menschenbild und das
gewandelte Bildungsideal hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit keine ständi-
schen Grenzen mehr.
An einzelnen preußischen Gymnasien zeigen sich Wirkungen dieser Kon-
zeption schon um 1800. „Der" preußischen Bildungsreform gehen in Theorie
und Praxis Jahrzehnte deutlicher Reformimpulse voraus.

V. Staatsreform und Bildungswesen


im frühen 19. Jahrhundert
1. Die Periodisierungsfrage

In der älteren wie in der neueren Literatur findet die Auffassung bedeutende
Verfechter, nach der die mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verbun-
dene „Bildungsreform" geradezu konstitutive Bedeutung für die Entstehung
des modernen Bildungswesens erlangt habe. Dagegen betont eine neuere
Literaturgruppe die vor Humboldt einsetzende Bildungsreform1 und ins-

24 Eduard SPRANGER, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909,
S. 462 f., 470.
25 Karl-Ernst JEISMANN, „Nationalerziehung". Bemerkungen zum Verhältnis von
Politik und Pädagogik in der Zeit der preußischen Reform 1806 — 1815, in: GWU,
19. Jg. (1968), S. 2 0 1 - 2 1 8 , hier S. 2 0 6 f.; G e r h a r d ARNHARDT, Wilhelm von
Humboldt — neuhumanistischer Bildungstheoretiker und Schulpolitiker mit be-
achtlicher Fernwirkung, in: W Z Jena, 30. Jg. (1981), S. 6 0 3 - 6 1 2 , hier S. 605 f.;
Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, Frei-
burg/Br. 1929, S. 213 ff.
1 Zur - bislang eher impliziten - Periodisierungsdiskussion hinsichtlich der
Bildungsgeschichte: Karl-Ernst JEISMANN, Tendenzen zur Verbesserung des Schul-
wesens in der Grafschaft Mark 1798 —1848. Ein Beitrag zur Problematik der
preußischen Reform- und Restaurationszeit..., in: WF, Bd. 22 (1969/70), S. 7 8 -
97, hier S. 78 f.; Ders., Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft.
Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten,
1 7 8 7 - 1 8 1 7 ( = IndW, Bd. 15), Stuttgart 1974, S. 221, 223, 397; Helga ROMBERG,
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert 667

besondere, daß schon im ausgehenden 18. Jahrhundert der Staatszugriff auf


das Bildungswesen in signifikanter Weise intensiviert worden sei, eine
Ansicht, gegen die aber wiederum Bedenken erhoben worden sind. Zudem
ist die kritische Überprüfung des Bildes von der Humboldtschen Bildungs-
reform in jüngster Zeit in Gang gekommen, 2 und dies um so mehr, als eine
ausschließliche Orientierung an der gymnasialen beziehungsweise univer-
sitären Ebene nicht genügt. Unstrittig ist, daß unmittelbare Wirkungen der
Jahre 1809/10 auf die große Masse mittlerer und niederer Schulen nicht
plausibel gemacht worden sind. Insofern ist ein direkter Modernisierungs-
effekt durch eine faktische Intensivierung des staatlichen Zugriffs im Bil-
dungswesen um 1810 noch nicht zum Durchbruch gelangt.
Es ist also davor zu warnen, in der Amtszeit Humboldts oder in den
damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden bildungsgeschichtlichen
Vorgängen allzu scharfe Zäsuren für die preußische Schul- und Universi-
tätsgeschichte erblicken zu wollen. Der epochale Wandel setzt nach der
Zeit der preußischen Reformen, er setzt im Vormärz ein und ist nicht mit
einer „Bildungsreform" zu verbinden; die Stärke der Traditionen wurde
nicht mit einem Mal gebrochen. Die Warnung Notker Hammersteins vor
einer zu scharfen Abgrenzung bildungsgeschichtlicher Epochen findet auch
in der sogenannten Bildungsreform Wilhelm von Humboldts eine Bestäti-
gung. 3

2. Das preußische Schulwesen von Humboldt bis Süvern

Seit dem Sommer 1808 wurde in der preußischen Verwaltung über Verbes-
serungen im Elementarschulwesen diskutiert, wobei schon in diesem Sta-
dium mit Süvern und Nicolovius Personen hervortraten, die in der Folgezeit
eng mit der preußischen Bildungsgeschichte verbunden waren. 4 Wilhelm
von Humboldt wurde im Februar 1809 zum Leiter der Sektion für Kultus
und öffentlichen Unterricht im neu errichteten Innenministerium berufen.
Es ist in der Literatur nachdrücklich darauf hingewiesen worden, daß

Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen Bildungsverfassung vom
Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg unter besonderer Berück-
sichtigung Preußens ( = StDokdBG, Bd. 11), Weinheim - Basel 1979, S. 6 f.; vgl.
auch Walther HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen ( = EdF, Bd. 65),
Darmstadt 1977, S. 188.
2 Vgl. die Studien von Menze, Hübner, Turner und McClelland [s. u. Anm. 7, 14,
48],
3 Vgl. Notker HAMMERSTEIN, Bildungsgeschichtliche Traditionszusammenhänge
zwischen Mittelalter und früher Neuzeit, in: Der Übergang zur Neuzeit und die
Wirkung von Traditionen... ( = V J J G d W , Nr. 32), Göttingen 1978, S. 3 2 - 5 4 ,
hier S. 53 f.
4 Gunnar THIELE, Die Organisation des Volksschul- und Seminarwesens in Preußen
1 8 0 9 - 1 8 1 9 . Mit besonderer Berücksichtigung der Wirksamkeit Ludwig Natorps
( = SAbhPäd, Bd. 1), Leipzig 1912, S. 18 ff.; Gerhard Ritter, Stein. Eine politische
Biographie, Bd. 1, Stuttgart - Berlin 1931, S. 458 f.
668 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

Humboldt diesen Auftrag nur nach mehrmonatigem Widerstreben ange-


nommen hat, 5 wie er auch - selbst nur durch Hauslehrer und nicht in
Schulen unterrichtet — keinerlei einschlägige Vorkenntnisse und Erfahrun-
gen als vormaliger preußischer Vertreter beim Vatikan für den neuen Amts-
bereich mitbrachte. „Es kann niemand unvorbereiteter in einen Posten
kommen, als ich in meinen vorigen. Erst wie ich ihn hatte, hat mich eigenes
Nachdenken... auf die eigentlichen Gesichtspunkte geführt", schrieb er aus
Wien, kurz nach seiner nur rd. 16 Monate währenden Tätigkeit in der
Sektion. 6
Humboldt hat seine Maximen in internen Denkschriften, insbesondere
aber im Königsberger und im Litauischen Schulplan formuliert. Allgemeine
und — darauf folgend — spezielle Bildung trennend, wollte er nur noch
„Elementarunterricht", (gymnasialen) „Schulunterricht" und „Universitäts-
unterricht" unterscheiden; besondere Bürger- neben Gelehrtenschulen wur-
den von ihm grundsätzlich (für Orte mit Gymnasien, wenn jene nicht als
deren elementarer Unterbau fungierten) verworfen. 7 Nach diesem Konzept
hatte auch der Schüler armer Eltern in der Elementarschule „eine vollstän-
dige Menschenbildung" zu erhalten, ein Ziel, das für alle diese Schulen, die
nicht für bestimmte Stände, sondern für „die ganze Nation", für den
Menschen schlechthin bestimmt waren, verbindlich gemacht werden sollte.
Nicht nach nebeneinander stehenden Schultypen, sondern nach der Länge
des Schulbesuchs sollte die Bildung unterschieden werden; die so aufein-
ander bezogenen und aufeinander folgenden Anstalten bildeten nach Hum-
boldts Konzeption eine Einheitsschule. Zum Medium der allgemeinen Men-
schenbildung schien kein Unterrichtsbereich geeigneter als der auf die alten
Sprachen orientierte — auch deshalb war Humboldt ein Gegner der Real-
schulen. 8 Gleichwohl ist er nicht schlechterdings der Konzipient des hu-
manistischen Gymnasiums, denn er wünschte neben dem altsprachlichen
Schwerpunkt eine starke Berücksichtigung von Mathematik und Geschichte

5 Siegfried A. KAEHLER, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur
Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, München — Berlin 1927, S. 2 1 2 —
219; Paul R[obinson] SWEET, Wilhelm von Humboldt. A Biography, Bd. 2,
Columbus 1980, S. 6 - 1 1 , 14.
6 Humboldt an Nicolovius, 26. II. 1811, in: Wilhelm RICHTER (Hg.), Wilhelm von
Humboldts politische Briefe, Bd. 1, Berlin — Leipzig 1935, S. 311; dazu noch Bruno
GEBHARDT, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann, Bd. 1, Stuttgart 1896, S. 126;
Eduard SPRANGER, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens
[1910], Tübingen 3 1 9 6 5 , S. 3 4 u. 5 2 .
7 Wilhelm von HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen ( = Ders.,
Werke in 5 Bänden, Bd. 4), Darmstadt 2 1969, S. 1 6 8 - 1 7 6 (Königsberger Schul-
plan), und der litauische Schulplan (27. I X . 1809), a. a. O., bes. S. 187 f., S. 191 f.,
ferner der Immediatbericht vom 1. XII. 1809, S. 2 1 9 ; dazu E. SPRANGER, Wilhelm
von H u m b o l d t . . . ( 3 1965) [s.o. Anm. 6], S. 1 3 4 - 1 3 9 , auch zum Folgenden; ein-
gehend zur Bürgerschule bei Humboldt: Clemens MENZE, Die Bildungsreform
Wilhelm von Humboldts ( = BprobG, Bd. 13), Hannover u.s.w. 1975, S. 227 f.
8 W. RICHTER (Hg.), Wilhelm von Humboldts politische Briefe... (1935) [s.o.
Anm. 6 ] , S . 1 3 3 .
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. J a h r h u n d e r t 669

in einem ausgewogenen Verhältnis.9 Zudem akzeptierte Humboldt Spezial-


schulen zum Beispiel für Handwerker und Kaufleute, wenn deren Besuch
auf die Phase des allgemeinen Unterrichts folgte.10 Das Spannungsverhältnis
von neuhumanistisch inspirierter, auf das Individuum bezogener und inso-
fern Standesunterschiede nivellierender Bildungstheorie und der faktischen
Abhängigkeit des zu erreichenden Bildungsstandes von den ökonomischen
Bedingungen des einzelnen vermochte auch Humboldt nicht zu überbrük-
ken.
In der Praxis war Humboldt bald seit seiner Berufung um Maßnahmen
bemüht, die zu einer Verbesserung der Lehrart in Elementarschulen führen
sollten. Gedacht wurde an die gezielte Anwendung der Pädagogik Johann
Heinrich Pestalozzis, und auch in dieser Hinsicht wurde unter Humboldt
an Bestrebungen aus der Zeit vor 1806/7 angeknüpft, als insbesondere in
Südpreußen und am Plamannschen Lehrinstitut in Berlin die Anregungen
des Schweizer Pädagogen rezipiert worden waren.11 Hatte der König schon
im August 1807 gegenüber einer Deputation der Hallenser Universität aus-
gesprochen, daß „der Staat... durch geistige Kräfte ersetzen" müsse, „was
er an physischen verloren hat", 12 so verwies die Sektion in einem Bericht
Nicolovius' vom Januar 1809 im Bestreben um „die innere Wiedergeburt
der Nation" auf die Notwendigkeit einer besseren Unterrichtsmethode
durch die Anregungen Pestalozzis. „Ihr Wesen besteht darin", hieß es da
weiter, „daß sie nicht ein mechanisches Anlernen und Ausüben gewisser
Kenntnisse und Fertigkeiten bezweckt, sondern die innerste Grundkraft der
menschlichen Natur in allen den verschiedenen Zweigen ihrer Äußerung
umfassend in Anspruch nimmt und dem Entwicklungsgange der Natur
gemäß folgerecht bildet und stärkt. Sie erzeugt dadurch in ihren Zöglingen,
was ihnen als Menschen im allgemeinen, wes Volkes oder Standes sie auch

9 L e n o r e O'BOYLE, Klassische Bildung und soziale Struktur in Deutschland zwi-


schen 1 8 0 0 und 1848, in: H Z , Bd. 2 0 7 (1968), S. 5 8 4 - 6 0 8 , hier S. 6 0 5 ; Wilhelm
RICHTER, Der Wandel des Bildungsgedankens. Die Brüder von H u m b o l d t , das
Zeitalter der Bildung und die G e g e n w a r t ( = H P ä d S t , Bd. 2), Berlin 1971, S. 2 1 ;
Christoph LÜTH, Wilhelm von H u m b o l d t s Schulpläne im Licht kontrover-
ser Interpretationen, in: P ä d R d , 36. J g . (1982), S. 2 5 9 - 2 7 6 , hier S. 2 6 3 ff.;
W . v . HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen... ( 2 1 9 6 9 ) [ s . o .
A n m . 7], S. 2 2 0 .
10 K . - E . JEISMANN, D a s preußische G y m n a s i u m . . . (1974) [ s . o . A n m . 1], S. 3 2 4 f f . ;
H e r w i g BLANKERTZ, Berufsbildung und Utilitarismus. Problemgeschichtliche Un-
tersuchungen [1963], Weinheim — M ü n c h e n 2 1 9 8 5 , S. 2 2 f.
11 B r u n o GEBHARDT, Die Einführung der Pestalozzischen M e t h o d e in Preußen. Ein
urkundliches Kapitel preußischer Schulgeschichte, Berlin 1896, S. 6 —14; Fritz
FISCHER, Ludwig Nicolovius. R o k o k o , R e f o r m , Restauration ( = F K G G , Bd. 19),
Stuttgart 1939, S. 2 5 1 f.
12 So mitgeteilt von T h e o d o r SCHMALZ, Berichtigung einer Stelle in der Bredow-
Venturinischen Chronik für das J a h r 1 8 0 8 . . . , Berlin 1815, S. 5; zur Diskussion:
M . LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910)
[57], Bd. 1, S. 7 6 - 7 8 (bes. S. 7 8 , A n m . 3).
670 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

sein mögen, wesentlich und zugleich, was ihnen als Bürgern eines Gemein-
wesens notwendig und nützlich ist." 1 3
Aus diesen schon aus der Betrachtung des neuhumanistischen Anliegens
vertrauten Grundmotiven wurde einerseits nach Vorschlägen von Nicolovius
im Jahre 1808, also vor Humboldt, dazu geschritten, einige „Eleven" zu
Pestalozzi nach Yverdon in die Schweiz zu entsenden, deren Zahl insgesamt
siebzehn betrug, darunter Pädagogen, die durch ihre spätere Wirksamkeit
an Seminaren Bedeutung erlangten. 14 Zum anderen wurde unter Humboldt
1809 nach älteren Vorschlägen in Königsberg ein „Normalinstitut" geschaf-
fen, das unter der Leitung des Pestalozzi-Schülers Karl August Zeller dessen
Methode verbreiten sollte. Allerdings erwies sich diese Personalauswahl als
ein Fehlgriff, so daß nach anfänglichen quantitativ bedeutsamen Erfolgen
dieses Projekt sehr bald als gescheitert gelten mußte. 1 5 Zeller wirkte aber
über die engere Umgebung Königsbergs hinaus; einzelne ihm zu verdan-
kende Institutsgründungen im östlichen Preußen hatten Bestand (insbeson-
dere: Karalene bei Insterburg). Gleichwohl blieb in dieser Zeit „der faktische
Zustand des Elementarschulwesens... besonders auf dem Lande von den
reformerischen Anstrengungen unberührt". 1 6
Zellers Konzept der ausschließlich auf praktische Unterrichtsübungen
angelegten „Normalinstitute" konnte in der Situation um 1810 als sinnvoll
angesehen werden, doch regte sich schon zu dieser Zeit gegen sie Wider-
spruch, und die weitere Entwicklung der Lehrerbildung folgte eher den
Vorschlägen des Regierungsrates Ludwig Natorp für Lehrerseminare, die
in der Folgezeit zum Ansatzpunkt einer Veränderung schulischer Grund-
strukturen wurden. 17 Insofern sind vor, unter und nach Humboldt Weichen
für die künftige Entwicklung des niederen Schulwesens gestellt worden.

13 Bericht vom 3 1 . 1 . 1809, noch vor Humboldts Amtsantritt, in: Johann Wilhelm
SÜVERN, Die Reform des Bildungswesens. Schriften zum Verhältnis von Pädagogik
und Politik, hg. von Hans-Georg Große-Jäger u. Karl-Ernst Jeismann, Paderborn
1981, S. 5 4 (Hervorhebung vom Verfasser).
14 So nach Ulrich HÜBNER, Wilhelm von Humboldt und die Bildungspolitik. Eine
Untersuchung zum Humboldtbild als Prolegomena zu einer Theorie der histo-
rischen Pädagogik, Phil. Diss. München 1983, S. 199 f.; B. GEBHARDT, Die Ein-
führung der Pestalozzischen M e t h o d e . . . (1896) [s.o. Anm. 11], S. 16f., 3 0 f f . ,
58 f. u . ö .
15 A . a . O . , S. 16f., 5 9 - 8 0 ; E. SPRANGER, Wilhelm von Humboldt... ( 3 1965) [s.o.
Anm. 6], S. 149 f., 162 f.; C. MENZE, Die Bildungsreform Wilhelm von Hum-
boldts... (1975) [s.o. Anm. 7], S. 1 5 7 - 1 8 1 ; Wilhelm DILTHEY, Süvern, in: Ders.,
Gesammelte Schriften, Bd. 4, Leipzig — Berlin 2 1 9 2 5 , S. 4 5 1 - 5 0 6 , hier S. 4 6 5 ff.,
473.
16 So treffend C. MENZE, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts... (1975)
[s. o. Anm. 7], S. 197, ferner S. 229 ff.; schon deshalb irrig: P. R . SWEET, Wilhelm
von H u m b o l d t . . . (1985) [s.o. Anm. 5], S. 40.
17 Karl A. SCHLEUNES, Enlightenment, Reform, Reaction: T h e Schooling Revolution
in Prussia, in: C E H , Bd. 12 (1979), S. 3 1 5 - 3 4 2 , hier S. 3 2 6 - 3 3 0 ; Paul ESPEY,
Bernhard Christoph Ludwig N a t o r p als pädagogischer Schriftsteller (Phil. Diss.
Köln 1930), Essen 1930, S. 2 6 - 3 0 ; G. THIELE, Die Organisation des Volksschul-
und Seminar wesens... (1912) [s.o. Anm. 4], S. 94 — 102.
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert 671

Für die höheren städtischen Schulen wurden zwei unter Humboldt er-
arbeitete beziehungsweise angeregte Reglements bedeutsam. Mit dem „Edikt
wegen einzuführender allgemeiner Prüfung der Schulamtskandidaten. Vom
12ten Juli 1810", 1 8 das schon nicht mehr Humboldts Unterschrift tragen
konnte, wurde erstmals ein Examen pro facúltate docendi, nicht für eine
bestimmte Stelle, sondern als genereller Befähigungsnachweis geschaffen;
erfordert wurden — in dieser Reihenfolge — „philologische, historische
und mathematische" Kenntnisse. Lehrer an Elementar- und niederen Bür-
gerschulen wurden vom Examen freigestellt, doch wurde für die Gelehrten-
schullehrer die Entwicklung zu einem besonderen, von dem der Theologen
abgesonderten Stand irreversibel, die in Ansätzen seit F. A. Wolf im
18. Jahrhundert erkennbar ist. Im größeren Umfang konnte in den ersten
Jahren nach 1810 allerdings diese Prüfung zunächst nicht praktiziert werden;
schon der Lehrermangel stand gegen die rigorose Anwendung der strengen
Prüfung. Mithin blieb auch der — durchaus beabsichtigte — Eingriff (nicht:
Aufhebung) in die Stellenbesetzungsrechte der städtischen Patrone 19 zu-
nächst begrenzt, was sich seit den 1820er Jahren bei schärferer Verwal-
tungspraxis dann ändern sollte; auch in dieser Hinsicht sind nicht harte
Schritte, sondern längerfristige Prozesse des Wandels in Rechnung zu stellen.
Zunächst waren jedenfalls primär Schulen, die auf Universitäten vorberei-
teten, von den neuen Bestimmungen betroffen, für die im Jahre 1812 sodann
ein neues und hinsichtlich der Anforderungen präzises Abiturreglement
erging, 20 das aber auch weiterhin bei „Untüchtigkeit" den Universitätsbe-
such nicht ausschloß.
Zusammenfassung und Abschluß der Reformprojekte und Einzeledikte
sollte ein umfassend angelegter Schulplan primär für die höheren Schulen
werden, an dem seit 1810 gearbeitet wurde. Nach Humboldt war es der
Staatsrat Johann Wilhelm Süvern, der in einem Schulgesetz die Unterrichts-
anstalten von der Elementarschule bis zum Gymnasium in ein System zu

18 Druck: N o v u m Corpus Constitutionum... (1753 - 1822) [13], Bd. 12, Berlin 1822,
Nr. 121, Sp. 1 0 4 7 - 1 0 5 4 , bes. Sp. 1049 f.; vgl. zur Entstehung und Bedeutung bes.
K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium... (1974) [s.o. Anm. 1], S. 3 1 2 -
319; B. GEBHARDT, Wilhelm von H u m b o l d t . . . Bd. 1, (1896) [ s . o . Anm. 6],
S. 233 — 246; relativierend: Christoph FÜHR, Gelehrter Schulmann — Oberlehrer —
Studienrat. Z u m sozialen Aufstieg der Philologen, in: Werner Conze/Jürgen
Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. 1 (Bildungssystem und
Professionalisierung in internationalen Vergleichen) ( = IndW, Bd. 38), Stuttgart
1985, S. 4 1 7 - 4 5 7 , bes. S. 4 2 5 ff., 4 5 3 .
19 Siehe W. von HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen... ( 2 1969)
[s.o. A n m . 7], S. 125, 198, 2 4 1 - 2 4 4 ; 1809 schon Prüfungen zu Rektoratsstellen:
Q o n r a d ] VARRENTRAPP, Johannes Schulze und das höhere preußische Unter-
richtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, S. 251 f.
20 Druck (Auszug): L[udwig] WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen.
Historisch-statistische Darstellung... Bd. 1, Berlin 1864, S. 4 8 4 f f . ; Gerhardt PE-
TRAT, Reifenormen der öffentlichen Schulen Preußens. Eine historisch-systema-
tische Untersuchung (Phil. Diss. H a m b u r g 1961), H a m b u r g 1961, S. 93 ff., 99,
127 und Anhang Nr. 17 (S. 3 9 - 4 5 ) .
672 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

bringen beabsichtigte. Wiewohl schon konservativer als Humboldts Kon-


zeption, ist der 1819 fertiggestellte Schulgesetzentwurf21 nicht mehr zur
Rechtskraft gelangt, doch erhielten die die Gymnasien und Stadtschulen
betreffenden Grundsätze seit 1815/16 gleichsam halbamtlich-informelle
Wirksamkeit.
Siivern hat mehrmals deutlich werden lassen, daß die moderne Bildungs-
verwaltung künftighin ernst zu machen gedachte mit dem Grundsatz der
Öffentlichkeit des Schulwesens; „das öffentliche Erziehungswesen" sollte
„Stamm und Muster auch für die Privaterziehung" werden; Privatanstalten
müßten unter Aufsicht gestellt werden. 2 2 Die künftige Entwicklung, von
welchen politischen Kräften auch immer getragen, hat die nun formulierten
Prinzipien nicht mehr verlassen — die Zeit schulischer Freiräume von
staatlicher Dominanz ging zu Ende. Im Schulgesetzentwurf war ausdrück-
lich vorgesehen, daß an keinem Ort die Privatanstalten das quantitative
Übergewicht haben dürften. Alle Institute dieser Art waren von den Schul-
behörden zu erfassen. Den Winkelschulen, die im 18. Jahrhundert geradezu
als die Institute zur Massenbildung in den Städten anzusehen sind, hatte
schon Humboldt im Königsberger Schulplan 1809 den Kampf angesagt;
Schule zu halten, dürfe nur noch nach entsprechender Prüfung erlaubt, die
zu „unterdrücken(den)" Schulen sollten durch Visitationen festgestellt wer-
den, 2 3 wiewohl er ansonsten die Rolle der „Nation" im Bildungswesen —
insbesondere für dessen Finanzierung — stark betonte. Auch um 1810
wurden insofern Grenzen der Staatswirksamkeit, von Humboldt theoretisch
postuliert, anerkannt, wiewohl seit der Zeit der preußischen Reformen die
Entwicklung auch im Bildungswesen entschieden in Richtung auf den star-
ken Staat verlief. 2 4

21 Erstdruck (der 2. Fassung): Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichts-
wesens in Preußen. Vom Jahre 1817 bis 1868. Actenstücke mit Erläuterungen aus
dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten,
Berlin 1869, S. 1 5 - 7 4 , bes. S. 14 ff., 21 ff. (zum Schicksal des Entwurfs: S. 8 8 -
97); zu den Fassungen s. die Ausgabe: J . W . SÜVERN, Die Reform des Bildungs-
wesens... (1981) [s.o. Anm. 13], S. 1 1 4 - 1 1 7 (mit Lit.); Gunnar THIELE (Hg.),
Siiverns Unterrichtsgesetzentwurf vom Jahre 1819. Mit einer Einleitung, Leipzig
1913, bes. S. X X V I f.; dazu noch G. THIELE, Die Organisation des Volksschul-
und Seminarwesens... (1912) [s.o. Anm. 4], S. 31 - 7 5 , 142, 184; C. MENZE, Die
Bildungsreform Wilhelm von Humboldts... (1975) [s.o. Anm. 7], S. 3 6 3 f .
22 Denkschrift von 1817, in: Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichts-
wesens... (1896) [s.o. Anm. 21], S. 8; ferner im Schulgesetzentwurf die §§ 91
(S. 7 0 - 7 4 ) ; dazu Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahr-
hundert, Bd. 2, Freiburg 1933, S. 3 4 4 ; anders H . ROMBERG, Staat und Höhere
Schule... (1979) [s.o. Anm. 3], S. 65.
23 W. von HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen... ( 2 1969) [s. o.
Anm. 7], S. 185; das Folgende: z . B . S. 33 (Immediatbericht vom 12. V. 1809)
sowie S. 47, 1 0 4 f . , 2 5 7 ; dazu z . B . W. RICHTER, Der Wandel des Bildungsgedan-
kens... (1971) [s.o. Anm. 9], S. 19.
24 M a n vergleiche die Positionen von S. A. KAEHLER, Wilhelm von Humboldt und
der Staat... (1927) [s.o. Anm. 5], bes. S. 2 2 7 f . und C. MENZE, Die Bildungsreform
Wilhelm von Humboldts... (1975) [ s . o . Anm. 7], S. 133ff.
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert 673

Zur Zeit Humboldts selbst drang diese Tendenz aber in der Schulwirk-
lichkeit noch nicht durch; eher ist - in dieser Perspektive — die Zuordnung
zum ediktenschwachen Schulregiment um 1800 sinnvoll als zur Bildungs-
verwaltung der vormärzlichen Jahrzehnte, mögen auch die seit 1809/10
formulierten Programme in die Zukunft weisen. Sogar der Königsberger
Schulplan konnte nicht durchgeführt werden, und die Regierung Gumbinnen
im preußisch-litauischen Distrikt wurde von Humboldt in der Verwaltungs-
praxis zum behutsamen Vorgehen ermahnt! 25 Selbst auf der gymnasialen
Ebene blieb es - wie im 18. Jahrhundert! - bei „spontanen Einzelrefor-
men" (Jeismann), 26 wo die lokalen Bedingungen dies zuließen. Ein flächen-
deckender, verwaltungsgesteuerter Strukturwandel mit einem auch deutlich
verstärkten staatlichen Finanzengagement ist erst für die Jahre nach 1815
nachzuweisen, 27 wobei die von dem Minister von Massow um 1800 pro-
jektierte Umwandlung kleinerer Lateinschulen in „Bürgerschulen" nun in
die Praxis umgesetzt wurde, und dies jetzt auch gegen den Widerstand der
betroffenen Städte; um 1820 war der Zugriff der (Provinzial-)Behörden
schon spürbar rigoroser als zur Zeit Humboldts, wobei freilich normale
Stadtschulen weniger Beachtung fanden und das Humboldtsche Konzept
nicht mehr unmittelbar als Vorbild wirkte.
Zu bedenken bleibt, daß auch in dieser Zeit nicht alle Zeichen, die auf
einen schulischen Wandel hinweisen, als Resultate staatlicher Reformtätig-
keit zu deuten sind. Waren vor 1806 auf dem platten Land Indizien für
grundlegende Schulverbesserungen gerade auf adligem Besitz erkennbar, so
lassen sich auch in der schweren Zeit um 1810 auf derartigen Herrschaften
Bemühungen der Prediger ausmachen, die zum Beispiel pädagogische Kurse
für die Schullehrer ihrer Umgebung abhielten und selbsttätig schlechtem
Personal Nachhilfen zuteil werden ließen, wobei zum Teil die Unterstützung
des adligen Patrons bezeugt ist. 28 Dem folgten in den nächsten Jahren dann

25 Königsberg: Eduard SPRANGER, Philosophie und Pädagogik der preußischen


Reformzeit, in: H Z , Bd. 104 (1910), S. 278 - 321, hier S. 315, und U. HÜBNER,
Wilhelm von Humboldt und die Bildungspolitik... (1983) [s. o. Anm. 14], S. 231 f.;
Peter BERGLAR, Wilhelm von Humboldt. In Selbstzeugnissen und Bilddokumen-
ten, 2 2 . - 2 4 . Tausend, Reinbek b. Hamburg 1982, S. 86. Litauen: Rolf ENGELS,
Die preußische Verwaltung von Kammer und Regierung Gumbinnen (1724 —
1870) ( = StGPr, Bd. 20), K ö l n - B e r l i n 1974, S. 6 6 f .
26 Siehe K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium... (1974) [s. o. Anm. 1], S. 372,
zum Folgenden: S. 373 — 395, 397 (vorzügliche Untersuchung der Verwaltungs-
praxis!); s. noch z . B . E. SPRANGER, Wilhelm von Humboldt... ( 3 1965) [s.o.
Anm. 6], S. 178 und weiter S. 1 7 8 - 1 9 4 (mit Beispielen).
27 Außer JEISMANN, Das preußische Gymnasium... (1974) [s.o. Anm. 1], s. jetzt
Hans-Jürgen APEL, Das preußische Gymnasium in den Rheinlanden und West-
falen 1814— 1848. Die Modernisierung der traditionellen Gelehrtenschulen durch
die preußische Unterrichtsverwaltung ( = StDokdBG, Bd. 25), K ö l n - W i e n 1984,
S. 93 - 96, 99 f., 141, 252.
28 Grundlegend: G. THIELE, Die Organisation des Volksschul- und Seminarwesens...
(1912) [ s . o . Anm. 4], S. 2 4 - 2 8 , 108, 181 f.; Monika WÖLK, Der preußische
Volksschulabsolvent als Reichstagswähler 1871 - 1 9 1 2 . Ein Beitrag zur Histori-
schen Wahlforschung in Deutschland ( = EvHKzB, Bd. 28), Berlin 1980, S. 237.
674 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

behördlicherseits Anweisungen, die zur Ausbreitung derartiger Schullehrer-


Konferenzgesellschaften beitragen sollten.
Diesen P h ä n o m e n e n eines selbständigen Schulwandels aus lokalen Im-
pulsen zur Z e i t H u m b o l d t s und in den J a h r e n unmittelbar danach sollte
die Forschung um so mehr A u f m e r k s a m k e i t schenken, als die Überprüfung
des h e r k ö m m l i c h e n Bildes von der „Bildungsreform W i l h e l m von H u m -
b o l d t s " schon hinsichtlich des Schulwesens Zweifel an der Berechtigung
einer derartigen Apostrophierung geweckt h a t . 2 9

3. Universitätsreformen und Universitätsgründungen in den


ersten beiden Jahrzehnten

Deutlicher noch als im Bereich des Schulwesens beginnen Innovationen


hinsichtlich der Universitäten in Preußen vor 1806. W i e schon dargelegt
wurde, setzte seit dem späten 18. J a h r h u n d e r t ein bis dahin unbekanntes
staatliches Finanzengagement für die Universitäten ein, das a m deutlichsten
an der Entwicklung einzelner Hochschulen zu verfolgen ist, während für
die entsprechenden G e s a m t a u s g a b e n im Preußen des Jahres 1806 die ver-
änderte Universitätslandschaft in R e c h u n g gestellt werden muß: D u r c h den
Anfall von Ansbach-Bayreuth, die Entschädigungslande und schließlich
H a n n o v e r waren zu den vier Universitäten Halle, F r a n k f u r t a. O . , Königs-
berg/Pr. und Duisburg noch Erlangen, Erfurt, M ü n s t e r , Paderborn (ohne
Medizin- und Rechtsfakultät) und schließlich G ö t t i n g e n an Preußen g e k o m -
men; in Breslau bestand seit 1 7 0 2 die als „Jesuitenuniversität" begründete
Leopoldina, die allerdings nur über eine theologische und eine philosophi-
sche Fakultät verfügte. 3 0
Schon seit 1803 schien eine Verringerung der Z a h l preußischer Univer-
sitäten geboten, und überhaupt wurde unter den Zeitgenossen eine lebhafte
Diskussion darüber geführt, o b nicht auf diese Institution zugunsten von
Fachschulen beziehungsweise Spezialakademien gänzlich verzichtet werden
sollte, eine M e i n u n g , die zum Beispiel der M i n i s t e r v. M a s s o w vertrat und

29 So im Ergebnis die — freilich methodisch nicht optimale — Arbeit von


U. HÜBNER, Wilhelm von Humboldt und die Bildungspolitik... (1983)
[s.o. Anm. 14], passim, bes. S. 9, 21 f. u.ö.; das „Scheitern der Reform" betont
C. MENZE, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts... (1975) [s.o. Anm. 7],
S. 3 3 7 - 4 6 7 ; s. auch K. A. SCHLEUNES, Enlightenment, Reform, Reaction... (1979)
[s.o. Anm. 1 7 ] , S. 3 2 5 .
30 Übersicht zu 1804 (7 Universitäten): Otto BEHRE, Geschichte der Statistik in
Brandenburg-Preussen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus,
Berlin 1905, (ND Vaduz 1979), S. 311 und 309; C. BORNHAK, Geschichte der
preussischen Universitätsverwaltung... (1900) [45], S. 189ff.; Friedrich ANDREAE,
Die Geschichte der Jesuitenuniversität, in: Ders./August Grisebach (Hg.), Die
Universität zu Breslau, Breslau 1928, S. 5 — 26, hier S. 21—24.
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert 675

die geradezu konträr zu dem späteren Humboldtschen Konzept stand. 31 Es


blieb nicht bei theoretischen Überlegungen. Die Praxis wurde von ersten
Reformen der bestehenden Universitäten bestimmt. Die Frankfurter Via-
drina, durchaus nicht im Abstieg begriffen, erlebte seit 1804 eine Erweite-
rung und Erneuerung.32 In Königsberg war von dortigen Universitätskreisen
im Jahre 1805 die für notwendig erkannte Reform zum Verhandlungsge-
genstand gemacht worden, und daran knüpften dann Bewilligungen im
Jahre 1808 — noch vor und unabhängig von Humboldt — an, ein „provin-
zielles Seitenstück" (Prutz) zur Universitätseinrichtung in Berlin, 33 wiewohl
eine Erneuerung, nicht eine völlige Neuschöpfung.
Humboldts Name ist primär mit der Berliner Universitätsgründung ver-
bunden, aber auch in diesem Fall setzten die Pläne und Vorbereitungen zur
Gründung einer universitären Institution schon vor der Reformzeit — seit
etwa 1798/1800 - und unabhängig von den später mit der Berliner Grün-
dung in Verbindung gebrachten prominenten Namen ein, wobei insbeson-
dere der Kabinettsrat Beyme zu nennen ist. 34 Dieser hat auch nach Jena
und Tilsit das Projekt weiter betrieben, als Preußen — ohne Breslau — nur
noch über zwei Universitäten verfügte und im deutschsprachigen Raum die
Krise der Universitäten in einem großflächigen Universitätssterben kulmi-
nierte. In Berlin hatten 1807/8 insbesondere frühere Hallenser Professoren
zu lesen begonnen, und der Verlust der saalestädtischen Universität hatte
schon unter dem 4. September 1807 zur Entscheidung des Königs geführt,
zur „Ausfüllung dieser Lücke" eine „allgemeine Lehranstalt" zu errichten,
die in Verbindung zur Akademie stehen sollte. 35 Humboldt überwand

31 Helmut SCHELSKY, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen
Universität und ihrer Reformen ( = W W W , Bd. 20), Düsseldorf 2 1971, S. 21, 36 f.;
Ludwig PETRY, Die Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten Berlin,
Breslau und Bonn, in: O t t o Brunner u. a. (Hg.), Festschrift für Hermann Aubin
zum 80. Geburtstag, Bd. 2, Wiesbaden 1965, S. 6 8 7 - 7 0 9 , hier S. 6 9 1 ; vgl. noch
die Studie von Adolf STÖLZEL, Die Berliner Mittwochsgesellschaft über Aufhe-
bung oder Reform der Universitäten (1795), in: FBPG, Bd. 2 (1889), S. 2 0 1 - 2 2 2 .
32 Gerd HEINRICH, Frankfurt an der Oder, Universität, in: Gerhard Krause/Gerhard
Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 11, B e r l i n - N e w York 1983,
S. 3 3 5 - 3 4 2 , hier S. 341; Günter MÜHLPFORDT, Die Oder-Universität 1506 - 1 8 1 1 .
Eine deutsche Hochschule in der Geschichte Brandenburg-Preußens und der
europäischen Wissenschaft, in: G. H a a s e / J . Winkler (Hg.), Die Oder-Universität
Frankfurt... (1983) [64], S. 68.
33 Hans PRUTZ, Die Königliche Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. im
neunzehnten Jahrhundert, Königsberg 1894, S. 4 f., 7 - 15, 38 (Zitat), 43 f., 133 f.;
G. von SELLE, Geschichte der Albertus-Universität... ( 2 1956) [69], S. 2 3 2 , 2 3 5 f f .
34 Rudolf KÖPKE, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität
zu Berlin. Nebst Anhängen über die Geschichte der Institute und den Personal-
bestand, Berlin 1860, S. 1 9 - 2 5 , 32, 1 4 7 - 1 5 3 ; Μ . LENZ, Geschichte der König-
lichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910) [57], Bd. 1, S. 3 6 f f . ; zum Folgen-
den S. 138, 144.
35 Abdruck: R . KÖPKE, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Univer-
sität... (1860) [s.o. Anm. 34], S. 163 (Nr. 6), dazu S. 26ff., 3 8 - 4 9 und Ulrich
676 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

sodann nach seiner Berufung an die Spitze der Kultus-Sektion erneute


Stockungen, er hielt am N a m e n und Prinzip der Universität und ihrem
organisatorischen R a h m e n für die verschiedenen Wissenschaftszweige fest
und formulierte zugleich — in internen Ausarbeitungen - ein in die Zukunft
weisendes Universitätskonzept. 3 6
Es ist in der Literatur umstritten, ob und inwieweit Humboldt von den
Gedanken der idealistischen Bildungsphilosophie beeinflußt worden ist.
Jedenfalls geht der Universitätserneuerung im frühen 19. Jahrhundert eine
theoretische Neubegründung der Wissenschaften unter den Leitprinzipien
der Freiheit und Einheit voraus (Schelling: „Vorlesungen über die Methode
des academischen Studium[s]" 1 8 0 3 ) . 3 7 „Einsamkeit und Freiheit" galten
dann Humboldt als die „vorwaltenden Principien" wissenschaftlicher An-
stalten, die „die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes
Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben" müßten. „Wis-
senschaft" sei an diesen Institutionen „als etwas noch nicht ganz Gefundenes
und nie ganz Aufzufindendes zu b e t r a c h t e n " , 3 8 nicht aber als etwas, was
als sammelnd-kompilative Anhäufung weitergegeben werden könne. 3 9
Humboldt wandte sich unter diesen Prämissen gegen die Trennung in

MUHLACK, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealismus:


Berlin, in: Peter Baumgart/Notker Hammerstein (Hg.), Beiträge zu Problemen
deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, Nendeln/Liechtenstein
1978, S. 299 - 340, hier S. 300,304 f., 308 ff.; M. LENZ, Geschichte der Königlichen
Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910) [57], Bd. 1, S. 80, 130ff., 144; Heinrich
DEITERS, Wilhelm von Humboldt als Gründer der Universität Berlin, in: Willi
Göber/Friedrich Herneck (Hg.), Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahr-
Feier der Humboldt-Universität zu Berlin 1 8 1 0 - 1 9 6 0 , Bd. 1, Berlin 1960, S. 1 5 -
39, hier S. 15 ff., 21.
36 S. die grundsätzlichen Überlegungen von Peter MORAW, Aspekte und Dimensio-
nen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: Ders./Volker Press (Hg.), Aca-
demia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte. Zum
375jährigen Jubiläum dargebracht ( = VHKH, Bd. 45), Marburg 1982, S. 1 - 4 4 ,
hier S. 18F.; H. SCHELSKY, Einsamkeit und Freiheit... ( 2 1971) [s.o. Anm. 31],
S. 42 - 48. S. auch die Lit. in Anm. 40.
37 Friedrich Wilhelm Joseph SCHELLING, Vorlesungen über die Methode des aka-
demischen Studiums, jetzt die Ausgabe von Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1974,
bes. die 1. —3. Vorlesung und die Einleitung des Hg. S. VII; vgl. die verschiedenen
Positionen, z.B.: P. BERGLAR, Wilhelm von Humboldt... (1982) [s.o. Anm. 25],
S. 26, U. MUHLACK, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und
Idealismus... (1978) [s.o. Anm. 35], S. 299; dagegen Manfred RIEDEL, Wilhelm
von Humboldts Begründung der „Einheit von Forschung und Lehre" als Leitbild
der Universität, in: Ulrich Herrmann (Hg.), Historische Pädagogik ( = ZfPäd,
Beih. 14), Weinheim-Basel 1977, S. 2 3 1 - 2 4 7 , hier S. 235.
38 Humboldts undatiertes Denkschrift-Fragment (zuerst 1896/1900 veröffentlicht):
Ueber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen An-
stalten in Berlin, in: Wilhelm von HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum
Bildungswesen... ( 2 1969) [s.o. Anm. 7], S. 2 5 5 - 2 6 6 , Zitat: S. 255 - 257; zur
Quelle noch Bd. 5, Darmstadt 1981, S. 556f. (mit Lit.).
39 A. a. O. Bd. 4, S. 258, 260.
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert 677

wissenschaftsschöpfende Akademien und wissenschaftstradierende Univer-


sitäten, 4 0 eine Unterscheidung, die, wie die neuere Forschung zeigte, den
Universitätsverhältnissen zumindest seit Halle und Göttingen nicht voll
gerecht wurde, den älteren, bisweilen schulmäßigen F o r m e n des Universi-
tätsbetriebs aber jedenfalls den K a m p f ansagte, insofern lediglich „gege-
bene" Wahrheiten und Sätze die Lehre bestimmten: N o c h um 1800 hatten
in' Königsberg die Dekane nach den Universitätsgesetzen darauf zu achten,
daß in den Dissertationen keine Neuerungen vorkämen („ne quid novi
insit"). 4 1
Die Universitäten sollten künftighin Stätten von Forschung und Lehre
sein, die Studierenden sollten am Prozeß der Wissensschöpfung teilhaben.
Freiheit, auch Zweckfreiheit der Wissenschaft, Schloß aber nicht den Staats-
zugriff auf die Universitäten aus, wie Humboldt selbst formulierte, als er
auf die enge Verflochtenheit beider Seiten ebenso verwies wie auf die
Notwendigkeit, daß „die Ernennung der Universitätslehrer... dem Staat
ausschließlich vorbehalten bleiben" müsse, 4 2 wie denn auch die nun ge-
samtstaatlich neugeordnete Universitätsgerichtsbarkeit mit dem alten Prin-
zip „eines eigenen Gerichtsstandes" b r a c h 4 3 und den weiteren Abbau der
akademischen Jurisdiktion im 19. Jahrhundert einleitete. Die Intensivierung
des Staatszugriffs auf die preußischen Universitäten ist jedenfalls nicht erst
nach Humboldt, etwa unter dem Leiter der Kultusabteilung Friedrich von
Schuckmann (seit N o v e m b e r 1 8 1 0 ) 4 4 und in der Zeit der Restauration

40 A . a . O . S. 262; vgl. o. § 1 bei Anm. 28ff.; s. ferner Kurt v. RAUMER, Zum


geschichtlichen Hintergrund und europäischen Kontext der preußischen Bildungs-
reform, in: Rudolf von Thadden/Gert von Pistohlkors/Hellmuth Weiss (Hg.),
Das Vergangene und die Geschichte. Festschrift für Reinhard Wittram zum 70.
Geburtstag, Göttingen 1973, S. 42 — 62, hier S. 57 f.; aus der Fülle der Lit. noch:
H. SCHELSKY, Einsamkeit und Freiheit... ( 2 1971) [s.o. Anm. 31], S . 5 5 f f . , 68ff.,
73 und passim; Manfred RIEDEL, Forschung und Bildung. Wilhelm von Hum-
boldts ursprünglicher Begriff der Wissenschaft, in: Friedrich Kaulbach/Werner
Krawietz (Hg.), Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65.
Geburtstag, Berlin 1978, S. 4 1 9 - 4 3 3 , bes. S. 427f.; Otto VOSSLER, Humboldts
Idee der Universität, in: HZ, Bd. 178 (1954), S. 251 - 268, bes. S. 263,266; Thomas
NIPPERDEY, Preußen und die Universität, in: Karl-Dietrich Erdmann u. a., Preu-
ßen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte. Vorlesungen, Stuttgart 1982,
S. 6 5 - 8 5 , hier S. 66 - 73.
41 H. PRUTZ, Die Königliche Albertus-Universität... (1894) [s.o. Anm. 33], S. 4 f .
42 W. von HUMBOLDT, Ueber die innere und äussere Organisation... ( 2 1969) [s.o.
Anm. 38], S. 264 f.; Klemens PLEYER, Die Vermögens- und Personalverwaltung
der deutschen Universitäten. Ein Beitrag zum Problemkreis Universität und Staat,
Marburg 1955, S. 99; C. E. MCCLELLAND, State, Society and University in Ger-
many... (1980) [51], S. 144 (auch zum Folgenden).
43 U. MUHLACK, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealis-
mus... (1978) [s. o. Anm. 35], S. 321 f.; Reglement vom 28. XII. 1810, in: GS 1810,
Nr. 18, S. 1 4 2 - 1 4 4 .
44 Zu ihm ausgewogen: Hans Hubert HOFMANN, Kaspar Friedrich (1834 Frh.) von
Schuckmann, in: Karl Bosl/Günther Franz/Hans Hubert Hofmann (Hg.), Bio-
graphisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte, Bd. 3, München 2 1975,
678 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit

eingetreten, sie ist schon bei Humboldt selbst angelegt. Allerdings hat
Schuckmann seKr bewußt den Zug zur Staatlichkeit der Universitäten ver-
stärkt, so insbesondere in Abweichung von Humboldts Vorhaben, die
Berliner Gründung durch Zuordnung von Domänen gleichsam staatsfern
zu finanzieren. Der neue Leiter der Sektion stellte entschieden in Abrede,
daß es „ratsam sei, die höchsten wissenschaftlichen Centrai-Institute des
Staates nicht etwa bloss in ihrem freien wissenschaftlichen Streben und
Wirken, sondern auch mit ihrer Subsistenz und Dauer vom Oberhaupte des
Staates unabhängig zu machen, und sie von dieser Seite gegen das Bestehen
der jetzigen Verfassung, des Königs und Seiner Dynastie in den Zustand
der Gleichgültigkeit zu versetzen... Wie aber auch die Köpfe exaltirt sein
mögen, so behalten doch die Mägen immer ihre Rechte gegen sie... Wem
die Herrschaft über letztere bleibt, der wird immer auch mit ersteren fertig,
und wer die Befriedigung der letzteren an seine Wahl bindet, hat die beste
Sicherheit, dass die ersteren dafür arbeiten", so begründete Schuckmann
seinen erfolgreichen Antrag, die Humboldtschen Dotationspläne nicht zu
realisieren. 45
Wilhelm von Humboldt hat die von ihm beantragte Eröffnung der im
Prinz-Heinrichschen Palais untergebrachten Berliner Universität im Herbst
des Jahres 1810 nicht mehr im Amt der Kultussektion erlebt, wohl aber hat
er noch tatkräftig an der Berufung führender Wissenschaftler mitgewirkt,
so daß Namen wie die eines Fichte, Schleiermacher, Wolf, Böckh, Niebuhr
(als lesendes Akademiemitglied), Savigny, Eichhorn, Hufeland usw. mit der
jungen Berliner Universität verbunden werden können, 4 6 Gelehrte, die zu-
meist in ihrer Person Forschungsinnovation und Universitätslehre für ihr
Fach zu verknüpfen in der Lage waren.
Insofern waren in Berlin Voraussetzungen dafür geschaffen worden, daß
die Prinzipien von „Forschung und Lehre" sowie „Lehre durch Forschung"
in Anwendung kommen konnten, „ohne daß alle Berliner Kräfte von Anfang
an darauf hingearbeitet hätten", wie Peter Moraw zu Recht einschränkend
bemerkt hat; etwa in der Medizin unterschied sich Berlin noch lange nicht
vom zeitüblichen Durchschnittsniveau, es dominierte die naturphilosophi-
sche Spekulation. 47 Erst recht ist davor gewarnt worden, die Entwicklung

Sp. 2 5 5 7 ff. (mit Lit.); M . LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-


Universität... (1910) [57], Bd. 1, S. 305, 3 0 8 - 3 1 6 .
45 Schuckmann an Hardenberg, 3. III. 1811, in: R. KÖPKE, Die Gründung der
Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1860) [s.o. Anm. 34], S. 2 2 6 f . ;
vgl. damit Humboldts „Antrag auf Errichtung der Universität Berlin", Königs-
berg, 24. VII. 1809, in: W. v. HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum Bildungs-
wesen... ( 2 1969) [s.o. Anm. 7], S. 1 1 3 - 1 2 0 , hier S. 1 1 7 f .
46 Wichtige Korrespondenzen in Bd. 4 der Universitätsgeschichte von M . LENZ,
Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910) [57], bes.
Kap. 3; Lit.: Eberhard KESSEL, Wilhelm von Humboldt. Idee u. Wirklichkeit,
Stuttgart 1967, S. 2 2 3 ; M . LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-
Universität... (1910) [57], Bd. 1, S. 3 4 4 - 3 5 8 .
47 P. MORAW, Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte...
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert 679

der preußischen Universitätsgeschichte in den ersten Jahrzehnten des


19. Jahrhunderts überhaupt als Nachvollzug der Konzeptionen Humboldts
oder auch der von Fichte oder Schleiermacher zu betrachten, 4 8 zumal gleich
die erste große hochschulpolitische M a ß n a h m e nach Humboldt, die Ein-
richtung einer Volluniversität in Breslau 1811 unter Verlegung der Frank-
furter Viadrina 4 9 nach entsprechenden Wünschen, die unter anderem aus
Schlesien selbst seit 1807 laut wurden, von ihm entschieden verworfen
worden war. Die Breslauer Universitätsstatuten von 1816 lehnten sich eng
an die wenig später ergangenen Berliner Organisationsnormen a n , 5 0 und
auch für die Bonner Universität, die ebenfalls im 18. Jahrhundert eine
Vorläuferinstitution besaß, erlangten diese große Bedeutung. Auch diese
Universität, 1818 eingerichtet, ist nicht als Humboldtsche Gründung anzu-
sprechen, wohl aber ist die Tätigkeit des Reformbeamtentums in der Person
Altensteins, vor allem aber Süverns für die Bonner Hochschule entscheidend
geworden, nachdem der König bei der Besitznahme der Rheinlande dieser
Provinz eine solche Institution versprochen hatte. 5 1 Die Duisburger Univer-

(1982) [s. o. Anm. 36], S. 32; Medizin: Herbert HERXHEIMER, Die Entwicklung
der medizinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin seit 1810,
in: Hans Leussink/Eduard Neumann/Georg Kotowski (Hg.), Studium Beroli-
nense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte
der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, S. 205 — 211, hier
S. 206; vgl. auch C. E. MCCLELLAND, State, Society and University in Germany...
(1980) [51], S. 121, 127.
48 S. a. a. O., S. 121; gegen die Überschätzung der Berliner Gründung: R. Stevens
TURNER, The Prussian Universities and the Concept of Research, in: IASL, Bd. 5
(1980), S. 68 — 93, hier S. 73; klassische, von Ernst Anrieh besorgte Textausgabe:
Die Idee der deutschen Universität. Die 5 Grundschriften aus der Zeit ihrer
Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus,
Darmstadt 1956.
49 Abdruck der KO vom 24. IV. 1811: Aus dem Leben der Universität Breslau,
[Breslau 1936] [Bearb.: Friedrich Andreae], S. 13 (die Stücke von 1807/8: S. Ι -
ό); zu Humboldt ζ. B. sein Bericht vom 19. V. 1809, in: W. v. HUMBOLDT, Schriften
zur Politik und zum Bildungswesen... ( 2 1969) [s.o. Anm. 7], S. 44; Ernst MÜSE-
BECK, Das Preußische Kultusministerium vor 100 Jahren, Berlin — Stuttgart 1918,
S. 147; Georg KAUFMANN, Geschichte der Universität Breslau 1811 — 1911 ( = Fest-
schrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 1),
Breslau 1911, S. 19 ff.; Ludwig PETRY, Geistesleben des Ostens im Spiegel der
Breslauer Universitätsgeschichte, in: Walther Hubatsch u. a., Deutsche Univer-
sitäten und Hochschulen im Osten... (1964) [49], S. 8 7 - 1 1 2 , hier S. 93; L. PETRY,
Die Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten... (1965) [s. o. Anm. 31],
S. 6 9 9 f.
50 U. MUHLACK, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealis-
mus... (1978) [s.o. Anm. 35], S. 326, und G. KAUFMANN, Geschichte der Univer-
sität Breslau... (1911) [s.o. Anm. 49], S. 25, 30.
51 F. von BEZOLD, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität...
(1920) [59], S. 1 7 - 3 0 , bes. S. 5 3 - 5 7 , 67f., 83, 85, 99ff., 279; jetzt Christian
RENGER, Die Gründung und Einrichtung der Universität Bonn und die Beru-
fungspolitik des Kultusministers Altenstein ( = AcBo, Bd. 7), Bonn 1982, S. 33,
680 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 2 0 . Jahrhundert

sität wurde aufgehoben, Wittenberg mit der wieder preußisch gewordenen


Hallenser Alma mater kombiniert, und schließlich gehörte seit 1815 auch
Greifswald als sechste Universität zum preußischen Staat.
Die Erinnerung an Humboldts Amtstätigkeit war kurz nach seinem
Ausscheiden aus der Sektion verblaßt. In seinen um die Wende zum
20. Jahrhundert veröffentlichten52 Überlegungen zum forschungsorientierten
Universitätsbetrieb wurden die zukunftsträchtigen Elemente der Universi-
tätserneuerung in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts er-
kannt, in denen sich auch das Bildungsbürgertum um 1900 wiederzufinden
vermochte.

§ 3 Der Umbruch in der Bildungswirklichkeit


des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

I. Verwaltungsstaat und Bildungswesen


1. Ordnungsverwaltung — Leistungsverwaltung — Kulturstaat

Erst im Vormärz übernimmt der preußische Staat mit seiner modernisierten


Verwaltung die Führung in der Gestaltung und Entwicklung des Bildungs-
wesens. Bis dahin blieb die Bildungswirklichkeit der großen Bevölkerungs-
mehrheit staatsfern, freiraumartig, dominiert von lokalen Kräften, Verhält-
nissen und Gewohnheiten. Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts
nehmen staatliche Einzelfallinterventionen zu, die aber das Gesamtbild der
Schulwirklichkeit noch nicht verändern. Gleichzeitig ist eine von örtlichen
Faktoren abhängige, subdominante Reformströmung in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts zu erkennen, die um so bemerkenswerter ist, als die
landesherrlichen Eingriffe vormodern-typisch wirkungsschwach blieben. In
dieser wirkungsgeschichtlichen Hinsicht ist die Zeit Wilhelm von Hum-
boldts als Abschluß der vormodernen Epoche anzusehen.
Im Vormärz setzt in Preußen eine Bildungsevolution mit revolutionären
Konsequenzen ein. Die Kultusverwaltung — erst jetzt kann von Verwaltung
in diesem Zusammenhang gesprochen werden — greift ordnend und, bis-
weilen entgegen den Intentionen der staatlich Handelnden, modernisierend
in die Bildungsentwicklung ein; Reformspielräume werden durch die Ver-
waltung staatlich gefüllt. Sie vereinheitlicht und rationalisiert, sie ordnet
zunächst Bestehendes, auch unter nun durchaus politischen, das heißt sozial-
und innenpolitischen Prämissen. Hatte Fichte den Kulturstaatsbegriff ge-

4 0 , 5 6 ff., 7 9 ff. und passim; Halle: Jfulius] JORDAN/O[tto] KERN, Die Universi-
täten Wittenberg und Halle vor und bei ihrer Vereinigung. Ein Beitrag zur
Jahrhundertfeier a m 21. Juni 1917, Halle a . S . 1917, S. 3 9 ff.
52 Vgl. o. Anm. 3 8 .
I. Verwaltungsstaat und Bildungswesen 681

prägt, so wird er auch erst in dieser Zeit sinnvoll. Freilich erscheint eine
weitere Differenzierung nützlich und erforderlich. Die Phase kulturstaatli-
cher Ordnungsverwaltung mit rudimentärem finanzstaatlichem Engagement
ist von dem Stadium daseinsvorsorgender Leistungsverwaltung mit starkem
Finanzeinsatz seit dem späten 19. Jahrhundert abzuheben,1 in dem die
einzelnen - zusammengeballt zu Menschenmassen auf engem Raum — auf
staatlich vorgehaltene Fürsorge angewiesen sind, zugleich aber gesellschaft-
liche Freiräume im Bildungsbereich minimiert werden. Indem die Verwal-
tung im Bildungswesen Daseinsvorsorge — mit zeitweisem Benutzungs-
zwang — betreibt und auch finanzierend in bis dahin unbekanntem Ausmaß
unterstützt, gewinnt der Staat Herrschaftspotenzen, die allerdings bei po-
litischen Systemwechseln in je verschiedener Richtung eingesetzt werden
können. Insofern kumuliert das Entwicklungsstadium des Kulturstaats in
seiner modernen Gestalt mit neuartigen Gefahren seiner Indienststellung
auch entgegen ursprünglichen Intentionen. Das preußische Beispiel zeigt
dies mit aller Deutlichkeit.
Die Entwicklung zur „Staatsallmacht" auch über die Schule (F. Schnabel),
zur „Staatsschule", zur öffentlichen Zwangsanstalt mit kommunaler oder
direkt staatlicher Bestimmtheit, setzt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts ein — „Schulpolitik" wurde „ein neues Jahrhundertphänomen", 2 und
seitdem ist der Kampf der Parteiungen und gesellschaftlichen Fraktionen
um Schule und Universität ein unverzichtbarer Teil des Ringens um den
Primat in der Politik — auch in der preußischen Geschichte.

2. Verwaltungsreform und Kultusministerium

Die Reorganisation und Rationalisierung der Verwaltung, die nun auch in


Preußen der modernen Ministerialverfassung zum Durchbruch verhalf, hatte
mittelbare und unmittelbare Folgen für das Verhältnis von Staat und Bil-
dungswesen im Preußen des 19. Jahrhunderts. Unter den zunächst einge-
richteten fünf Fachministerien befand sich noch keines speziell für Kultus
und Unterricht. Nach dem entscheidenden „Publikandum, betreffend die
veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der Preußischen Mon-

1 Die Terminologie nach Ernst FORSTHOFF, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung


( = Rp, Bd. 1), Stuttgart 1959, bes. S. 9 („Leistungsverwaltung" — „Eingriffsver-
waltung"— „Daseinsvorsorge"), S. 38, 42, 44; Ders., Lehrbuch des Verwaltungs-
rechts, Bd. 1, München - Berlin 1950, S. 31 f., S. 2 6 4 f., S. 3 0 0 ff.; Ernst Rudolf
HUBER, Vorsorge für das Dasein. Ein Grundbegriff der Staatslehre Hegels und
Lorenz v. Steins, in: Ders., Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen
Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Berlin 1975, S. 3 1 9 - 3 4 2 , hier S. 3 2 0 f.;
Fichte: Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert,
Bd. 1, Freiburg 1929, S . 2 9 6 f .
2 So allgemein T h o m a s NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1 8 0 0 - 1 8 6 6 . Bürgerwelt
und starker Staat, München 1983, S. 4 5 1 ; dazu F. SCHNABEL, Deutsche Geschichte
im 19. Jahrhundert..., Bd. 2 (1933) [s.o. Anm. 1], S. 3 4 6 f .
682 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

archie" vom 16. Dezember 1808 wurde in dem nunmehr geschaffenen In-
nenministerium eine (3.) „Sektion für den Kultus und öffentlichen Unter-
richt" begründet, die unter anderem für die Akademien sowie „alle Lehr-
anstalten, Universitäten, Gymnasien, gelehrte, Elementar = , Bürger = , In-
dustrie = und Kunstschulen, ohne Unterschied der Religion" — neuartig
schon in dieser Zentralisierung — zuständig sein sollte. 3 Das Oberschul-
kollegium wurde aufgehoben und an seiner Stelle die Wissenschaftliche
Deputation für den öffentlichen Unterricht eingerichtet, die zunächst als
Examinationsbehörde fungieren sollte, aber darüber hinaus allgemeine Re-
formvorschläge zu unterbreiten hatte. An deren Spitze sollte erst der Phi-
lologe Friedrich August Wolf treten; 1810 stand ihr der Theologe Schleier-
macher vor. Im selben Jahr wurden analoge Deputationen in Königsberg
und Breslau geschaffen. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit lag neben der
Beratung eines allgemeinen Lehrplans aber eindeutig auf dem Gebiet des
Prüfungswesens, und so wurden sie 1816 aufgehoben und durch Prüfungs-
kommissionen bei den Provinzialkonsistorien ersetzt.4
Unterhalb der so gestalteten zentralen Regierungs- und Verwaltungsebene
für den Wissenschafts- und Bildungsbereich waren es die vorherigen, ab-
solutistischen Kammer-Kollegien für die innere und die Finanzverwaltung,
die 1808 als „Regierungen" auch die Schulsachen übernahmen.5 Bei allen
Veränderungen der Folgezeit blieb die gesamtstaatlich-uniforme Gestaltung
der Unterrichtsverwaltung auf der Provinzial- beziehungsweise Regierungs-
ebene als Charakteristikum erhalten. So wie in Berlin Oberschulkollegium
und Oberkonsistorium, Französisches Oberkonsistorium und deutsch-re-
formiertes Kirchenkollegium aufgehoben wurden, so sollte auch auf der
Ebene der Länderteile das kirchliche Territorialsystem mit seinen Regio-
nalismen und geistlichen Kollegien der rationaleren Reformverwaltung wei-
chen. Die 1815/17 neu geschaffenen Konsistorien — je eines pro Provinz
und unter dem Präsidium des jeweiligen Oberpräsidenten — waren staatlich
einheitliche Neuschöpfungen,6 nicht aber eine Restauration des altpreußi-

3 Druck z.B.: Novum Corpus Constitutionum... ( 1 7 5 3 - 1 8 2 2 ) [13], Bd. 12, Berlin


1822, Nr. 59, Sp. 527 — 546, hier Sp. 533 f.; zur Deputation: Sp. 5 3 3 - 5 3 6 ; dazu
Ernst MÜSEBECK, Das Preußische Kultusministerium vor 100 Jahren, Berlin —
Stuttgart 1918, S. 45 f. und zur Entstehung der Regelung von 1808: Karl-Heinz
MANEGOLD, Das „Ministerium des Geistes". Zur Organisation des ehemaligen
preußischen Kultusministeriums, in: DBFSch, Bd. 63 (1967), S. 512 —524, hier
S. 512 f., auch zum Anschluß des Medizinalwesens unter Humboldt.
4 Paul SCHWARTZ, Die Gründung der Universität Berlin und der Anfang der Reform
der höheren Schulen im Jahre 1810, in: MGdESG, 20. Jg. (1910), S. 1 5 1 - 2 0 8 ,
hier S. 152ff.; E. MÜSEBECK, Das Preußische Kultusministerium... (1918) [s.o.
Anm. 3], S. 73 f.; Clemens MENZE, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts
( = BprobG, Bd. 13), Hannover 1975, S. 97, 104.
5 Novum Corpus Constitutionum... ( 1 7 5 3 - 1 8 2 2 ) [13], Bd. 12, Berlin 1822,
Sp. 535 f.; zum Folgenden grundsätzlich E. MÜSEBECK, Das Preußische Kultus-
m i n i s t e r i u m . . . ( 1 9 1 8 ) [ s . o . A n m . 3 ] , S. 8 3 f .
6 Aus der kirchengeschichtlichen Lit.: Rudolf von THADDEN, Kirche im Schatten
des Staates. Zur Problematik der evangelischen Kirche in der preußischen Ge-
I. Verwaltungsstaat und Bildungswesen 683

sehen Schulregiments. Die Regierungen aber behielten wesentliche Kom-


petenzen insbesondere im Bereich des Privat- und des Elementarschulwe-
sens. Waren die Konsistorien also die Behörden, die unter anderem für die
höheren Schulen zu sorgen hatten, so lag es in dieser Entwicklung begründet,
daß 1825 mit der Teilung dieser Organe in geistliche Kollegien für die
evangelischen Religionsbelange unter Weiterführung des Namens der Kon-
sistorien einerseits und die Provinzialschulkollegien unter Vorsitz der Ober-
präsidenten andererseits auf der mittleren Ebene die Verwaltungsstrukturen
des 19. Jahrhunderts im Grundriß festgelegt wurden; 1831 gab es acht
Provinzialschulkollegien. Akademien und Universitäten standen direkt unter
der Zentralinstanz. 7 Die Regierungen mit ihren Abteilungen für das Kirchen-
und Schulwesen waren die staatlichen Instrumente, mit denen das Elemen-
tar· und Bürgerschulwesen in den Griff genommen, Schulstellen königlichen
Patronats besetzt, die Schulaufsicht organisiert, die Lehrpläne beeinflußt
und dann auch der Schulbesuch gefördert wurden. 8
Die Reformen auf lokaler Ebene brachten in den Städten mit den Bestim-
mungen der Städteordnung die Einführung von Schuldeputationen, die unter
der jeweiligen Regierung standen und aus Magistratsmitgliedern, Stadtver-
ordneten, Bürgern sowie einem Vertreter der Schulen nichtstädtischen Pa-
tronats bestehen sollten. Gelehrte Schulen größerer Städte behielten beson-
dere Schulvorsteher.
Für das platte Land erging im Oktober 1812 aus dem „Departement" für
Kultus und öffentlichen Unterricht die Verfügung, nach der „Schulvor-

schichte, in: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick


( = GG, Sonderh. 6), Göttingen 1980, S. 148 - 1 7 5 , hier S. 159; O t t o HINTZE, Die
Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen [1906], in: Ders., Re-
gierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und
Sozialgeschichte Preußens, hg. von Gerhard Oestreich ( = Ders., Gesammelte
Abhandlungen, Bd. 3), Göttingen 2 1 9 6 7 , S. 56 —96, hier S. 86; ferner Conrad
BORNHAK, Das preussische Unterrichtswesen als Staatsinstitut in rechtsgeschicht-
licher Entwicklung, in: A Ö R , Bd. 4 (1889), S. 101 - 1 4 6 , hier S. 135 ff.; Quellen:
L. v. RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates... (1854) [16],
Bd. 1, S. 2 5 9 f.; L. WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen. Historisch-
statistische Darstellung..., Bd. 1, Berlin 1864, S. 5 f f .
7 Ebda, und L. von RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staa-
tes..., (1854/55) [16], Bd. 1, S. 259, 261 f.; guter Überblick ferner bei Helga
ROMBERG, Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen Bildungsverfas-
sung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg unter besonderer
Berücksichtigung Preußens ( = StDokdBG, Bd. 11), Frankfurt/M. 1979, S. 1 2 8 -
137.
8 Ε. N. ANDERSON, Die preußische Volksschule im neunzehnten Jahrhundert...
(1981) [23], S. 1367 ff., 1374; Alwin PETERSILIE, Das öffentliche Unterrichtswesen
im Deutschen Reiche und in den übrigen europäischen Kulturländern
( = HLbStw, 3. Abt., Bd. 3), Bd. 1, Leipzig 1897, S. 3 0 8 - 3 1 2 ; ferner: PETERS,
Schulrecht, in: Fritz Stier-Somlo (Hg.), Das kommunale Verwaltungsrecht in
Preußen ( = HbkVVRPr, Bd. 2), 1. Hauptt., Oldenburg i.Gr. 1916, S. 4 3 7 - 5 5 2 ,
hier S. 4 5 5 f.
684 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

stände" gebildet werden sollten, denen außer dem Vorsitz führenden Patron
der Pfarrer und ferner noch mehrere Familienväter der Schulsozietät an-
gehören sollten. 9 Die Patronatsrechte blieben formell gewahrt, doch ist die
Tendenz zur Uniformität der Organisationsgestalt und zur Einengung durch
die Verwaltungspraxis, wie für höhere Schulen am Lehramtsexamen seit
1810 betrachtet, 10 in unscheinbaren Bestimmungen angelegt gewesen. Der
Zugriff der Behörden galt dabei vorrangig dem städtischen Bereich, auch
mochten bei der in den nächsten Jahrzehnten noch unverändert fortbeste-
henden (zumeist nebenamtlichen) geistlichen Schulaufsicht über die mittle-
ren und die niederen Schulen durch die seit 1806 Superintendenten genann-
ten Inspektoren, die über den Ortsgeistlichen standen, auf dem Lande die
Wirkungsgrenzen enger gezogen sein. 11 Hier behielten die Patronatsherren
das Berufungsrecht für die Lehrerstellen, und auch noch um 1900 galt als
„Grundsatz" in den meisten Provinzen, „daß, wenn ein zur Lehrerwahl
berechtigter Gutsherr bei Stellenerledigungen von seinem Rechte Gebrauch
machen will, es ihm überlassen ist, in welcher Weise er Bewerber um die
Stellen ermittelt. Die Schulvorstände und Schulunterhaltungspflichtigen
haben hierauf keine Einwirkung." 12 Schon die zunehmende Verstädterung
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwächte freilich die Bedeutung
der ländlichen Schulpatronatsverhältnisse für die Bildungsversorgung breiter
Volkskreise entscheidend ab.
Eine langsame Intensivierung der staatlichen Aufsicht über die ländlichen
Schulen ist gleichwohl auszumachen, zumal auch die unter den Regierungen
amtierenden Landräte in Schulangelegenheiten eingesetzt wurden13 —

9 Städte: N o v u m Corpus Constitutionum... ( 1 7 5 3 - 1 8 2 2 ) [13], Bd. 12, Berlin 1822,


Nr. 57, (Städteordnung), bes. Sp. 507 —512; dazu die nähere Verfügung vom
26. VI. 1811, in: L. v. RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen
Staates..., (1854/55) [16], Bd. 1, S. 3 3 3 - 3 3 7 ; Land: A . a . O . , S. 3 2 1 - 3 2 5 , (Res-
kript vom 28. X . 1812); bei königlichen Patronatsstellen kein Patronatsvertreter;
J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte... (1914) [43], S. 6 6 f .
10 S. § 2, V, bei Anm. 18, 19.
11 Z u m Komplex: Heinrich BUSSHOFF, Die preußische Volksschule als soziales
Gebilde und politischer Bildungsfaktor in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
in: G W U , 22. Jg. (1971), S. 3 8 5 - 3 9 6 , hier S. 391 (auch zum Folgenden); Christian
HOMRICHHAUSEN, Evangelische Pfarrer in Deutschland, in: Werner Conze/Jürgen
Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. 1 (Bildungssystem und
Professionalisierung in internationalen Vergleichen) ( = IndW, Bd. 38), Stuttgart
1985, S. 248 - 278, hier S. 268 (mit Lit.); Κ. F. Robert SCHNEIDER, Der preußische
Staat in geographischer, topographischer und militärischer Hinsicht. Ein Hand=
und Hülfsbuch für jeden Stand, Breslau 3 1 8 4 0 , S. 177.
12 ZB1UV, 1901, Nr. 5 4 (Ministerialreskript vom 25. II. 1901 „An die Königliche
Regierung zu N . " ) , S. 3 4 2 f. — Eine Untersuchung der Position der lokalen
Magistrate und der Gutsherrschaften hinsichtlich der Schule im Übergang vom
18. zum 19. Jh. ist ein Forschungsdesiderat.
13 L. von RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates... (1854/55)
[16], Bd. 1, S. 279, 571 (betr. Schulbesuch); H . - J . APEL/M. KLÖCKER, Schulwirk-
lichkeit in Rheinpreußen... (1986) [19], S. 61 f.
I. Verwaltungsstaat und Bildungswesen 685

Schule war seit der Reformzeit Objekt der allgemeinen Staatsverwaltung


— wie zum Beispiel in Ostpreußen eine Intensivierung der Kreisschulin-
spektion durch Teilung der Amtssprengel und Zuordnung von Hilfspersonal
zu erkennen ist. Schon vor dem grundlegenden Schulaufsichtsgesetz von
1872 wird der Zugriff strenger; besondere Schulvisitationen traten an die
Stelle der auch die Schulen einbeziehenden Kirchenvisitationen. 14
In den Städten sind seit etwa 1820 erste weltliche Schulinspektoren
nachzuweisen. 15 Der staatliche Einfluß auf das höhere städtische Schulwesen
scheint insbesondere über die ausgeweiteten Interventionsrechte bei Perso-
nalentscheidungen für diese Anstalten intensiviert worden zu sein. 16 Zu-
gleich ist die Verdichtung des Kommunikations- und Verkehrsnetzes in ihrer
Bedeutung für die Entstehung der Verwaltungspräponderanz über das Schul-
wesen nicht zu vernachlässigen. Seit dem Vormärz wurden Schulen regel-
mäßig von den Vertretern aus den Provinzialkollegien, nunmehr also von
den Schulräten der Regierungen visitiert, und bei Abiturientenprüfungen
wurden lokale Gewohnheiten durch die nun mögliche direkte Intervention
aus der zuständigen Behörde nivelliert. „Bei der wachsenden Erleichterung
des schriftlichen und persönlichen Verkehrs zwischen Berlin und der Provinz
wurden nun alle diese Funktionen mehr und mehr durch die Aufsichtsbe-
hörde selbst, seit 1825 durch das Kgl. Provinzialschulkollegium und seine
Departementsräte, versehen. Insbesondere wurde es Regel, daß der Depar-
tementsrat des Kgl. Provinzialschulkollegiums als Kgl. Prüfungskommissar
an der Reifeprüfung persönlich teilnahm", heißt es zum Beispiel in einer
brandenburgischen Schulchronik. 17
Die Eingrenzung lokaler Freiräume und partikularer Herrschaftspositio-
nen im Schulwesen, wie sie am Beispiel des Patronats seit der Reformepoche
zu beobachten ist, und „den Eingriffen in die traditionelle alteuropäische
Autonomie der lokalen und regionalen Gebilde, die mit den berühmten
Reformedikten zur Bauernbefreiung, zur Gewerbefreiheit, zur Städteord-
nung verbunden waren", 1 8 entspricht, brachte durch die größere Nähe von
Volksbildung und Staat das Individuum der Staatsunmittelbarkeit ein gutes
Stück näher. Dieser Prozeß verlief über Jahrzehnte, und zwar zumeist

14 ZB1UV, 1869, S. 1 9 7 - 2 0 0 .
15 H . J . A P E L / M . KLÖCKER, S c h u l w i r k l i c h k e i t . . . ( 1 9 8 6 ) [ 1 9 ] , S. 6 3 .
16 L. WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen... (1864) [s. o. Anm. 6], Bd. 1,
S. 9 ff.; H . ROMBERG, Staat und Höhere Schule... (1979) [s. o. Anm. 7], S. 393 -
396, 4 0 7 f., 4 1 1 ; Conrad RETHWISCH, Deutschlands höheres Schulwesen im
neunzehnten Jahrhundert. Geschichtlicher Überblick..., Berlin 1893, S. 26.
17 Heinrich BEGEMANN, Die Lehrer der Lateinischen Schule zu Neuruppin 1 4 7 7 -
1817. Beilage zum Jahresbericht des Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums zu Neu-
ruppin (Ostern 1914), Neuruppin 1914, S. 96, Anm. 1.
18 So hinsichtlich des Patronats: Hans-Dietrich LOOCK, Die preußische Union, der
Streit um die Kirchenverfassung 1808 —1817 und die Reaktion der brandenbur-
gischen Landpfarrer, in: Adolf M . Birke/Kurt Kluxen (Hg.), Kirche, Staat und
Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Ein deutsch-englischer Vergleich ( = PriASt,
Bd. 2), München 1984, S. 4 5 - 6 5 , hier S. 54.
686 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

verdeckt, verbunden mit einer unbemerkten Gewöhnung an eine bis dahin


unbekannte Dominanz des Öffentlichen.
Die Modernisierung der mit dem Bildungswesen befaßten Behörden fand
in der Zentralinstanz ihren Abschluß mit der Begründung des „Ministeriums
der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten" im Jahre
1817; die Medizinalabteilung wurde erst 1911 dem Innenministerium zu-
geschlagen. Erster preußischer Kultusminister wurde Karl Freiherr vom
Stein zum Altenstein (1770—1840), 19 ein studierter Jurist, wie denn auch
alle 26 Ministerialdirektoren in der hundertjährigen Geschichte des Mini-
steriums und alle Unterstaatssekretäre (seit 1861) Juristen waren, die zum
großen Teil dem Verwaltungs- und Justizdienst entstammten, während unter
den insgesamt rund 200 vortragenden Räten nur ein kleiner Teil aus der
Justiz- beziehungsweise Verwaltungslaufbahn kam. Unter den vortragenden
Räten sowie den bisweilen bedeutenden „Hilfsarbeitern" des Ministeriums
waren Philologen, Theologen und Naturwissenschaftler und zu über einem
Viertel Hochschulprofessoren stark vertreten; 20 im Ministerium und in den
Provinzialschulkollegien waren „Schulmänner" in der Position „technischer
Räte" tätig. Seit dem Ende der 1860er Jahre wurden die Wirkungsmöglich-
keiten dieser Räte im Ministerium beschränkt. Das stärkere Gewicht des
juristischen Elements fand auch in der Formalisierung des Geschäftsganges
seinen Niederschlag, was pädagogische Gesichtspunkte zu überlagern ge-
eignet war.
Dies gilt noch nicht für die ersten Jahrzehnte des preußischen Kultus-
ministeriums, in denen Altenstein das Amt leitete. Er tat dies in abge-
schwächter Kontinuität zur reformzeitlichen Tradition, wobei er in seinem

19 Jetzt grundlegend: K.-H. MANEGOLD, Das „Ministerium des Geistes"... (1967)


[s.o. Anm. 3], S. 513 — 515, auch zu den Umständen der Gründung („Minister-
krise von 1 8 1 7 " ) und der Abteilungsgliederung; E. MÜSEBECK, Das Preußische
Kultusministerium... (1918) [s.o. Anm. 3], S. 161 — 164; zum Personal: Reinhard
LÜDICKE, Die Preußischen Kulturminister und ihre Beamten im ersten Jahrhundert
des Ministeriums 1 8 1 7 - 1 9 1 7 , Stuttgart - Berlin 1918, zu den Abteilungen S. 1 -
3; Reinhart KOSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines
Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 - 1 8 4 8 ( = IndW, Bd. 1),
Stuttgart 2 1975, S. 2 2 7 ; Christian RENGER, Die Gründung und Einrichtung der
Universität Bonn und die Berufungspolitik des Kultusministers Altenstein
( = AcBo, Bd. 7), Bonn 1982, S. 61 - 6 5 , auch zur Person Altensteins (dazu ferner
K[arl] KUPISCH, Altenstein, Karl Frhr. vom Stein zum, in: Kurt Galling [Hg.],
Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und
Religionswissenschaft, Bd. 1, Tübingen 3 1957, Sp. 291 f. [Lit.]); jetzt Werner VO-
GEL, Karl Sigmund Franz von Altenstein, in: W. Treue/K. Gründer [Hg.], Berli-
nische Lebensbilder..., Bd. 3 . . . [1987] [75], S. 8 9 - 1 0 5 , bes. S. 9 8 f f . ; Otto HAT-
TERMANN, Konservative und liberale Strömungen in der preußischen Volksschul-
politik 1 8 1 9 - 1 8 4 8 , Hamburg 1938, S. 6 3 - 7 4 . Quelle: L . v . RÖNNE (Hg.), Das
Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates... [1854/55] [16], S. 2 5 0 f . )
20 K.-H. MANEGOLD, Das „Ministerium des Geistes"... (1967) [s.o. Anm. 3],
S. 5 1 5 f.; zum Folgenden noch S. 5 1 9 f. und C. RETHWISCH, Deutschlands höheres
Schulwesen... (1893) [s.o. Anm. 16], S. 26.
I. Verwaltungsstaat und Bildungswesen 687

Ressort konservative Tendenzen der Restaurationszeit zu mildern bemüht


w a r . 2 1 In den Regierungen war zudem das reformerische Beamtentum bis
in die 1830er Jahre ein wirksames Palliativ gegen restaurative Bestrebungen.
Im Ministerium übte nach Süvern seit 1818 der Wirkliche Vortragende R a t
Johannes Schulze 2 2 lange Zeit, insbesondere aber bis 1840, großen Einfluß
auf das höhere Unterrichtswesen aus, selbst ein Schüler der Philologen F. A.
Wolf und Böckh. Schulze hat von seiner Position im Ministerium insbeson-
dere auf das Gymnasium vereinheitlichend und ordnend zu wirken gesucht,
indem er seine Stellung zur Förderung von Philologen und besonders zur
Einsetzung hochqualifizierter Direktoren nutzte; zugleich zeigt seine Amts-
führung die Einwirkungsmöglichkeiten der neu organisierten Kultusver-
waltung auch bei sehr beschränkten Finanzkapazitäten. Schulze hat wie-
derholt selbst Gymnasien in den Provinzen intensiven Visitationen unter-
zogen. 2 3 Altenstein und Schulze standen in engen, auch persönlichen Bezie-
hungen zu dem 1 8 1 7 / 1 8 an die Berliner Universität berufenen Philosophen
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 2 4 dessen Schüler in den nächsten beiden
Jahrzehnten 2 4 3 in Preußen besondere Protektion genossen, wirkungsvoll
zumal, da in der Berufungspraxis Altenstein und das Ministerium in der
Regel und wie auch im Falle Hegels selbst, zunehmend ohne auf den R a t
von Universität oder Fakultäten zu achten, nach Gutdünken verfuhren,

21 Thomas NIPPERDEY, Volksschule und Revolution im Vormärz. Eine Fallstudie


zur Modernisierung II [1968], in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesam-
melte Aufsätze zur neueren Geschichte ( = K r S t G w , Bd. 13), Göttingen 1976,
S. 2 0 6 - 2 2 7 , hier S. 214 f., 449 Anm. 16; wichtig auch Rudolf MURTFELD, Über
die Herrschaft der Bürokratie in Preußen während des 19. Jahrhunderts. Unter
besonderer Berücksichtigung des Volksschulwesens, in: ZGE, 23. Jg. (1933),
S. 243 - 262, hier S. 245 ff. (nach: Nachlaß Altenstein).
22 Grundlegend die Monographie von C[onrad] VARRENTRAPP, Johannes Schulze

und das höhere preußische Unterrichtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, passim,
bes. S. 3 1 - 3 7 , 218 ff., 350, 430, 517 (Anm.); E. MÜSEBECK, Das Preußische
Kultusministerium... (1918) [s.o. Anm. 3], S. 170ff., 177; F. PAULSEN, Geschichte
des gelehrten Unterrichts... ( 3 1921) [40], Bd. 2, S. 319ff., 362f.; nur ergänzend:
B.SCHNEIDER, Johannes Schulze... (1989) [102], bes. S. 2 6 7 - 3 0 1 ; P.MAST, in:
K.-E. Jeismann (Hg.), Bildung... (1989) [95], S. 1 2 8 - 1 4 3 , bes. S. 129ff.
23 C. VARRENTRAPP, Johannes Schulze... (1889) [s.o. Anm. 22], S. 3 9 6 - 3 9 9 , 401.

24 A . a . O . , S. 432 f., und Otto PÖGGELER (Hg.), Hegel in Berlin. Preußische Kul-

turpolitik und idealistische Ästhetik. Zum 150. Todestag des Philosophen


( = SBPKAK, Bd. 16), Berlin 1981, S. 15 ff., 33, 36; R. Steven TURNER, The Growth
of Professorial Research in Prussia, 1818 — 1848 — Causes and Context, in:
HStPhS, Bd. 3 (1971), S. 1 3 7 - 1 8 2 , hier S. 166, 172; M. LENZ, Geschichte der
Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910) [57], Bd. 2/1, S. 4, 14f., 33,
u. ö.; Bd. 4, S. 333 (Nr. 132), Schreiben Altensteins an Hegel, 26. XII. 1817.
2 4 a Zu 1840 ff. s. Friedrich Wilhelm KANTZENBACH, Gerd Eilers und Kultusminister

Eichhorn. Zur Beurteilung der Ära Friedrich Wilhelms IV. ( 1 8 4 0 - 1 8 4 8 ) und


seines Ministeriums, in: Oswald Hauser (Hg.), Zur Problematik „Preußen und
das Reich" ( = NFBPG, Bd. 4), K ö l n - W i e n 1984, S. 247 - 297, hier S. 285.
688 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

dabei aber immerhin die Forschungs- und Publikationsleistungen der zu


Berufenden als ein wichtiges Urteilskriterium einführten. 2 5
Der bei Humboldt postulierte Staatsprimat über die Universitäten kenn-
zeichnete also in der Tat die Verwaltungspraxis der folgenden Jahrzehnte.
Z u d e m wurde in den 1820er Jahren im Ministerium die Beamtengruppe
stärker, die der Restaurationspartei zuzuzählen ist, wie zum Beispiel der
Geheime R a t von Kamptz, der besonders im Z u s a m m e n h a n g mit den
Demagogenverfolgungen genannt zu werden pflegt, jedoch auch unter an-
derem als hervorragender Gelehrter bekannt blieb, oder etwa der Ober-
Regierungsrat Beckedorff, der als Referent für das niedere Schulwesen
gerade die städtischen Verwaltungen zur Modernisierung des Volksschul-
wesens drängte, wiewohl er Schule durchaus als Standesschule verstanden
wissen wollte. 2 6 Dies schloß bei ihm aber bedeutende Verdienste um die
Entwicklung des niederen Schulwesens, insbesondere aber um die Lehrerse-
minare nicht aus.
Nicht mit umfassend angelegten Schulplänen oder -Ordnungen begann
die neue Kultusverwaltung in die schulischen Strukturen einzugreifen. Für
das Elementarschulwesen blieben bisherige Reglements die normative
Grundlage. Lediglich für die Provinz Preußen k a m nach entsprechenden
Anregungen der dortigen Provinzialstände eine „Schulordnung für die Ele-
mentarschulen" im Dezember 1845 zustande — mit den üblicherweise fol-
genden Symptomen der Ediktenschwäche. 2 7 Ferner wäre in diesem Kontext
noch das „Regulativ für die Errichtung und Unterhaltung der Landschulen

25 Jetzt grundlegend: R. S. TURNER, The Growth of Professorial Research... (1971)


[s.o. Anm. 24], S. 164ff., 171, 1 7 4 - 1 8 2 ; Ders., The Prussian Universities and
the Concept of Research, in: IASL, Bd. 5 (1980), S. 6 8 - 9 3 , hier S. 74 f.; M a x
LENZ, Freiheit und Macht im Lichte der Entwicklung unserer Universität. Rede
beim Antritt des Rektorats gehalten am 15. X . 1911 [1911], in: Wilhelm Wei-
schedel (Hg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte
der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, S. 467 —481, hier
S. 471.
26 Zu Kamptz zuletzt: Konrad KETTIG, Demagogenverfolgungen in Berlin im Jahre
1819, in: BvB, Bd. 31 (1982), S. 7 - 5 7 , hier S. 29f., ferner E . R . HUBER, Deutsche
Verfassungsgeschichte... (1957) [31], Bd. 1, S. 142f. und Friedrich HOLTZE, Ge-
schichte des Kammergerichts in Brandenburg-Preußen, T. 4 ( = BtrBPrRG, Bd. 6),
Berlin 1904, S. 128 f.; Beckedorff: H. BRUNNENGRÄBER, L. v. Beckedorff. Ein
Volksschulpädagoge des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1929, S. 16, 41 ff., 104 ff.
und passim; Adolf MEYER, Ludolph von Beckedorff (1778 — 1858), in: Hans
Scheuerl (Hg.), Klassiker der Pädagogik, Bd. 1, München 1979, S. 270 - 282, bes.
S. 271 f. und passim, mit positiverer Wertung; R. MURTFELD, Über die Herrschaft
der Bürokratie... (1933) [s.o. Anm. 21], S. 259.
27 S. die amtliche Sammlung: Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichts-
wesens... (1869) [9], S. 99ff., Abdruck: S. 1 0 2 - 1 1 3 ; dazu außer Rolf ENGELS,
Die preußische Verwaltung von Kammer und Regierung Gumbinnen (1724 —
1870) ( = StGPr, Bd. 20), K ö l n - B e r l i n 1974, S. 75 f., Erich HOFFMANN, Theodor
von Schön und die Gestaltung der Schule in Westpreußen ( = WBtrGLkOMe,
Nr. 71), Marburg/L. 1965, S. 5 5 - 5 9 ; grundsätzlich: Alwin PETERSILIE, Preußens
öffentliche Volksschulen, in: ZStatB, 23. Jg. (1883), S. 4 5 - 8 9 , hier S. 51.
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 689

in Neu = Vorpommern" (1831) 2 8 oder die Ausdehnung der „Schulpflicht"


auf die Teile der Monarchie, in denen das ALR nicht galt (Kabinettsordre
vom 14. Mai 1825) zu erwähnen. Andere, umfassende Schulordnungen
kamen vor den Märzereignissen des Jahres 1848 nicht mehr zur Publikation.
Überhaupt scheint die Verwaltung im Vormärz weniger daran interessiert
gewesen zu sein, zentralbürokratisch zu „normieren", 2 9 sondern zu leiten,
Vorhandenes vorsichtig zu ordnen. Einzelverfügungen waren dafür das
gegebene, flexible Mittel. Der Wandel vollzog sich langsam, aber seit der
Vormärzzeit mit stiller, unwiderstehlicher Gewalt.

II. Höhere Bildung in Vormärz und


Reichsgründungszeit
1. Die preußischen Universitäten nach Humboldt

An den preußischen Universitäten erlebten nach der Reformzeit die philo-


sophisch-philologischen Studien eine bis dahin unbekannte Blüte. Die phi-
losophische Fakultät, im 18. Jahrhundert eine schlecht besuchte Vorberei-
tungsstätte für die drei „höheren" Fakultäten, erlebte seit 1820 einen er-
staunlichen Aufschwung, nur zu erklären durch die Tatsache, daß mit dem
Bedarf an den vom Theologenstand gelösten professionellen Oberlehrern
nun der entsprechende Studententyp das Bild der Universität veränderte. In
Berlin umfaßte, um ein quantitatives Exempel zu geben, die philosophische
Fakultät im Jahre 1820 insgesamt 32 Lehrpersonen, im Jahre 1848 waren
es schon 91. Die altsprachliche Philologie an den Universitäten des preu-
ßischen Staates erfuhr durch das Kultusministerium zum Beispiel in der
Personalpolitik massive Unterstützung und dies nicht nur in Berlin. 1 Im

28 Abdruck: Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichtswesens... (1869) [9],
S. 9 7 f . ; zum Folgenden: C. BORNHAK, Das preussische Unterrichtswesen... (1889)
[s.o. Anm. 6], S. 131 f.
29 Vgl. dazu T. NIPPERDEY, Volksschule und Revolution im Vormärz... (1976) [s.o.
Anm. 21], S. 214; wenig weiterführend: F. BAUMGART, Zwischen Reform und
Revolution... (1990) [99], bes. S. 6 1 - 6 6 , S. 1 0 7 - 1 3 2 ; wichtig als Material:
O. HATTERMANN, Konservative und liberale Strömungen... (1938) [s. o. Anm. 19],
passim, bes. S. 30 ff., S. 40.
1 R. Steven TURNER, The Growth of Professorial Research in Prussia, 1818 - 1 8 4 8
- Causes and Context, in: HStPhS, Bd. 3 (1971), S. 1 3 7 - 1 8 2 , hier S. 143;
C[onrad] VARRENTRAPP, Johannes Schulze und das höhere preußische Unter-
richtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, S. 445 - 471, 548; Walther HUBATSCH,
Die Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen in der deutschen Geistesge-
schichte 1544 — 1944, in: Ders. u . a . , Deutsche Universitäten und Hochschulen...
(1964) [49], S. 9 - 3 1 , hier S. 17 f.; zum Folgenden M. LENZ, Geschichte der
Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910) [57], Bd. 1, S. 610f.,
Bd. 2/1, S. 255 - 264, 277, 286 ff., Bd. 2/2, S. 68 f.; Barthold C. WITTE, Der preu-
ßische Tacitus. Aufstieg, Ruhm und Ende des Historikers Barthold Georg Niebuhr
1 7 7 6 - 1 8 3 1 , D ü s s e l d o r f 1 9 7 9 , S. 1 4 5 - 1 6 5 .
690 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Rahmen der philosophischen Fakultäten entwickelte sich zum Beispiel auch


die von dem nach Berlin berufenen Karl Ritter nachhaltig geprägte Geo-
graphie sowie die Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung eines
Leopold Ranke, eines Friedrich von Raumer oder — in Halle — eines
Heinrich Leo. Niebuhr war wieder seit 1825 (bis 1831) in Bonn wissen-
schaftlich tätig. Theodor Mommsen wurde noch von Johannes Schulze 1854
für Breslau (1858/61: Berlin) gewonnen. Schlechter vertreten waren zunächst
noch die neusprachlichen Philologien.
Seit den 1820er Jahren ist der Aufschwung der Naturwissenschaften an
den Universitäten Preußens nicht zu übersehen.2 Dies gilt sowohl für die
im Verbund der philosophischen Fakultät stehenden Forschungsbereiche23
wie zum Beispiel die Chemie, als auch für die Medizin. In diesen verschie-
denen Arbeitsgebieten ist ein Prozeß der Vernaturwissenschaftlichung älterer
Disziplinen auszumachen, hin zu einer forschenden Betrachtung der Natur,
weg von einer zum Beispiel primär von Naturspekulation und -philosophie
bestimmten Sicht. Auch die seit Alexander von Humboldt im Vormarsch
befindliche physische Geographie ist in diesem Zusammenhang zu nennen,
wie denn Adolf (von) Harnack überhaupt dem Wirken dieses Humboldt
für die Naturwissenschaften in Preußen große Bedeutung zugeschrieben
hat. 3 Besonders deutlich ist das Vordringen naturwissenschaftlich-empiri-
scher und experimenteller Methoden an der Berliner medizinischen Fakultät
zu beobachten, an der seit 1833 der von Bonn in die Hauptstadt berufene
Johannes Müller wirkte, ein führender Gelehrter, tätig auf den Gebieten
der Anatomie, Physiologie, Pathologie und Psychologie. Zu seinen Schülern
zählten Helmholtz, Virchow und du Bois-Reymond. 4

2 M . LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910)


[57], Bd. 2 / 1 , S. 2 2 4 - 230, 3 6 4 f . , vgl. Bd. 1, S. 550, und o. § 2, V, bei Anm. 4 7 ;
zu A. von HUMBOLDT die Arbeiten von H a n n o BECK, Z. B. sein Abriß: Geographie
und Statistik. Die Lösung der Polarität, in: M o h a m m e d Rassem/Justin Stagi
(Hg.), Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 1 6 . -
18. Jahrhundert. Bericht über ein interdisziplinäres Symposion in Wolfenbüttel,
2 5 . - 2 7 . September 1978 ( = QAbhGSt, Bd. 1), Paderborn 1980, S. 2 6 9 - 276, hier
S. 271 ff.
2a Ulrich Peter RITTER, Die Rolle des Staates in den Frühstadien der Industrialisie-
rung. Die preußische Industrieförderung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
( = VwSchr, H . 60), Berlin 1961, S. 26, 36.
3 Adolf von HARNACK, Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften
[1900], in: Ders., Reden und Aufsätze, Bd. 2, Gießen 1904, S. 1 8 9 - 2 1 5 , hier
S. 2 0 9 ; zur Wirksamkeit A. von Humboldts jetzt Kurt R . BIERMANN (Hg.), Alex-
ander von Humboldt. Vier Jahrzehnte Wissenschaftsförderung. Briefe an das
preußische Kultusministerium 1 8 1 8 - 1 8 5 9 ( = BtrAvHF, Bd. 14), Berlin 1985,
passim, bes. S. 18 ff. (Einleitung).
4 Manfred STÜRZBECHER, Z u r Berufung Johannes Müllers an die Berliner Univer-
sität, in: J G M O D , Bd. 21 (1972), S. 1 8 4 - 2 2 6 , hier S. 184ff., 195, 213 f.; Richard
SIEBECK, Ansätze und Entwicklung der modernen naturwissenschaftlichen Me-
dizin in den Berliner Universitätskliniken seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts
bis zur Gegenwart, in: Hans Leussink/Eduard Neumann/Georg Kotowski (Hg.),
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 691

Allerdings war damit eine Entwicklungsrichtung eingeschlagen, die vom


Ideal Wilhelm von Humboldts, der „zweckfreie(n) ,Bildung durch Wissen-
schaft' " wegführte, und Humboldt hatte die Berliner Universität mit einem
entschieden geisteswissenschaftlichen Schwergewicht versehen. 5 Auch ist
mit Hinweis auf die Expansion von Instituten darauf verwiesen worden,
daß die Einheit von Forschung und Lehre dadurch in der Praxis nachdrück-
lich behindert worden sei. 6 In der Tat sind an den preußischen Universitäten
wie auch an den deutschen insgesamt besonders seit den 1820er Jahren
spezielle Institute und Seminare eingerichtet worden, an denen ein intensi-
vierter forschungsorientierter (auch: Lehr-) Betrieb stattfand, der ebenso
der einsetzenden Spezialisierung und Segmentierung der Wissenschaften
Rechnung trug, wie er andererseits dem Ideal umfassender Bildung und der
Einheit der Wissenschaften, wie es um 1800 gedacht worden war, wider-
sprach. Allein in Berlin wurden 1820 zwölf Seminare und Institute gezählt,
davon sieben in der Medizin. 7 Das Bild an den anderen Universitäten
Preußens war mutatis mutandis das gleiche, wiewohl Altenstein eine be-
sondere zentralstaatliche Rolle der seit 1828 den Namen einer Friedrich-
Wilhelms-Universität tragenden Berliner Alma mater auch hinsichtlich der
institutionell-apparativen Ausstattung zugedacht hatte, an die auch die
besten jungen Kräfte von den anderen Hochschulen gezogen werden soll-

Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und


zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, S. 312 —
321, hier S. 313; Herbert HERXHEIMER, Die Entwicklung der medizinischen
Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin seit 1810, in: A. a. O.,
S. 205 - 211, hier S. 206ff.; Emil du BOIS-REYMOND, Reden in zwei Bänden...,
Leipzig 1912, darin Bd. 1, S. 135 —317: Gedächtnisrede auf Johannes Müller
(1858), bes. S. 172ff.
5 Dazu insges. Karl-Heinz MANEGOLD, Universität, Technische Hochschule und
Industrie. Ein Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter
besonderer Berücksichtigung der Bestrebungen Felix Kleins ( = SchrWSG, Bd. 16),
Berlin 1970, S. 26, 28, 30 ff.
6 Siehe Manfred RIEDEL, Wilhelm von Humboldts Begründung der „Einheit von
Forschung und Lehre" als Leitbild der Universität, in: Ulrich Herrmann (Hg.),
Historische Pädagogik... ( = ZfPäd, Beih. 14), Weinheim - Basel 1977, S. 231 -
247, hier S. 245; immerhin kannte auch W. von Humboldt „Hülfsinstitute":
Wilhelm von HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen ( = Ders.,
Werke in 5 Bänden, Bd. 4), Darmstadt 2 1969, S. 266. Zum Problem auch Thomas
NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800—1866. Bürgerwelt und starker Staat,
München 1983, S. 474.
7 Ebda, und C. E. MCCLELLAND, State, Society and University in Germany... (1980)
[51], S. 175, 177, 211 f.; hier die Zahl im Text; Königsberg: G.von SELLE,
Geschichte der Albertus-Universität... (21956) [69], S. 280, 285ff., 327ff.; Bonn:
Kurt DÜWELL, Konstitution, Maschine und Schule. Zur preußischen Hochschul-
politik im Rheinland vor der Reichsgründung, in: Kurt Kluxen/Wolfgang J.
Mommsen (Hg.), Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Studien
zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Theodor Schieder
zu seinem 60. Geburtstag, München — Wien 1968, S. 275 — 295, hier S. 275, 282.
692 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

ten. 8 Der Zuwachs der für die Universitäten verausgabten Finanzmittel von
rund 100.000 Talern um 1805 auf etwa 450.000 Taler 1835 geht wesentlich
auf den steigenden Bedarf durch die zunehmende Zahl besonderer Institute
zurück, 9 wobei diese Ziffer für die Zeitgenossen eher die Mangellage
bezeugte und zudem die Einkünfte der Universitäten aus Liegenschaften in
diesen Daten enthalten sind. Trotz des Ausbaus der Instituts-Infrastruktur
betrug der von Staatseinnahmen für die Universitäten verausgabte Anteil
ein Hundertzweiundachtzigstel. Deutlicher stiegen dann die Universitätse-
tats seit 1840 an. 1 0
Seminare und Institute, das waren beileibe nicht ausschließlich naturwis-
senschaftliche oder medizinische Arbeitsstätten. Das theologische und das
philologische Seminar an der Hallenser Universität waren schon im
18. Jahrhundert entstanden. 11 In den 1820er Jahren existierten an allen
preußischen Universitäten philologische Seminare, auch dies Ausdruck für
die Professionalisierung der höheren Lehrer. In Berlin und Breslau entstan-
den die ersten dieser Institute schon 1812, 1 2 historische Seminare folgten,
so in Königsberg schon 1832. In Berlin mußte auf eine solche Einrichtung
trotz der besonderen Förderung der Universität noch bis 1885 gewartet
werden — Leopold (von) Ranke hielt sein berühmtes Seminar noch in seiner
Wohnung ab. 1 3 In den nächsten Jahrzehnten trat das forschungsorientierte

8 M . LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910)


[57], Bd. 2/1, S. 10 ff., 445; vgl. dagegen R. S. TURNER, The Growth of Professorial
Research... (1971) [s.o. Anm. 1], S. 145.
9 C . E . MCCLELLAND, State, Society and University in Germany... (1980) [51],
S. 2 0 4 - 2 0 9 ; C . VARRENTRAP, J o h a n n e s S c h u l z e . . . ( 1 8 8 9 ) [ s . o . A n m . 1], S. 5 0 6 ,
5 0 9 - 5 1 1 ; Carl Friedrich Wilhelm DIETERICI, Geschichtliche und statistische
Nachrichten über die Universitäten im preußischen Staate, Berlin 1836 (ND
A a l e n 1 9 8 2 ) , S. 1 7 7 f., 1 8 5 f.
10 A . a . O . , S. 9 6 f . ; vgl. noch S. 22, 27, 3 1 - 3 6 , 5 6 f . , 6 4 - 6 8 , 7 8 - 8 1 ; für die
einzelnen Universitäten zur folgenden Entwicklung: C. E. MCCLELLAND, State,
Society and University in Germany... (1980) [51], S. 211 f.
" W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle... (1894) [66], Bd. 1,
S . 573 f., 579; s. o. § 2, IV, Anm. 23.
12 L[eopold] WIESE, Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen,

2. Abt., Berlin 1868, S. 27 ff., 32; Ders. (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen.
Historisch-statistische Darstellung, Bd. 1, Berlin 1864, S. 532 f., 537; Rudolf
KÖPKE, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.
Nebst Anhängen über die Geschichte der Institute und den Personalbestand,
Berlin 1860, S. 241 f.
13 L. WIESE, Verordnungen und Gesetze... (1868) [s.o. Anm. 12], 2. Abt., S. 3 0 f . ;

W. HUBATSCH, Die Albertus-Universität zu Königsberg... (1964) [s.o. Anm. 1],


S. 32 f.; M a x LENZ/M[ICHAEL] TANGL, Das historische Seminar, in: M a x Lenz,
Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 3, Halle
a.S. 1910, S. 247 - 263, hier S. 248 ff., s. auch a. a. O., Bd. 1, S. 373; Uwe MEVES,
Die Gründung germanistischer Seminare an den preußischen Universitäten
( 1 8 7 5 - 1 8 9 5 ) , in: DVjs, 61. Jg. (1981), Sonderheft, S. 6 9 - 1 2 2 , bes. S. 72 f. (Ta-
belle).
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 693

Seminar mit zum Teil begrenzter Mitgliederzahl im Universitätsbetrieb


neben die Vorlesung.
In diesen Instituten sollte nicht eigentliche Lehrerbildung getrieben wer-
den, doch gingen in der Praxis die meisten Absolventen zum höheren
Schulamt als neu definierte Karriere ab. Die Ausbildungsfunktion der Uni-
versitäten für immer stärker rechtlich normierte Laufbahnen — und dies
war die Realität trotz aller idealistischer Bildungsentwürfe - hatte Folgen
hinsichtlich der Studenten- und der jeweils fachspezifischen Abgängerzah-
len. Die neuere und neueste Forschung hat diesem Problemkreis große
Aufmerksamkeit gewidmet. Nach ihren Ergebnissen war der Aufschwung
der Universitäten seit der Reformzeit verbunden mit einem drastischen
Anstieg der Studentenzahlen auch an den preußischen Universitäten, der
bis an das Ende des dritten Jahrzehnts dauerte und — neben den angeführten
Faktoren — auf einen Nachholbedarf aus den 1790er Jahren bis 1815
zurückgeführt werden kann. 1 4 Seit etwa 1830 gingen dann die Zahlen in
Preußen, die zu dieser Zeit - an allen Universitäten zusammen - über
6100 gelegen hatten, deutlich zurück und betrugen in den 1840er Jahren
etwa viereinhalbtausend Universitätsstudenten, wobei der Rückgang ent-
sprechend der stellenspezifischen Nachfrage beziehungsweise Überfüllungs-
konjunktur insbesondere in der theologischen und der juristischen Fakultät
zu beobachten ist, während schon den zeitgenössischen Statistikern die
Entwicklung der Frequenzen in den philosophischen Fakultäten, zumal
gemessen am Bevölkerungswachstum, als sehr viel stetiger expansiv auffiel;
hier scheinen eine Stagnation und ein leichter Rückgang erst Ende der
1840er Jahre eingetreten zu sein. 15 Seit dem Ende der 1830er Jahre deutete

14 Grundlegend: Konrad H. JARAUSCH, Die neuhumanistische Universität und die


bürgerliche Gesellschaft 1800— 1870. Eine quantitative Untersuchung zur Sozial-
struktur der Studentenschaften deutscher Universitäten, in: Christian Probst u. a.
(Hg.), Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung
im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Bd. 11, Heidelberg 1981, S. 11 —
58, hier S. 19f., mit weiteren Argumenten; Zahlen: Hartmut TITZE u.a., Das
Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820 —1944 ( = Datenhandbuch
zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1/1), Göttingen 1987 [73], S. 34 f. (mit
Grafik); R . Steven TURNER, Universitäten, in: Κ. E. JEISMANN/P. LUNDGREEN
(Hg.), Handbuch..., Bd. 3 (1987) [70], S. 2 2 1 - 2 4 9 , hier S. 235; Ders., The Bil-
dungsbürgertum and the Learned Professions in Prussia, 1770 —1830: The Origins
of a Class, in: Histoire sociale — Social History, Bd. 13 (1980), S. 105— 135, bes.
S. 129, S. 131 ff.
15 H. TITZE u.a., Das Hochschul-Studium... (1987) [s.o. Anm. 14], S. 9 4 f . (Zahlen
für „Sprach- und Kulturwissenschaften"); mit Zahlen bis 1840: J[ohann]
G[ottfried] HOFFMANN, Uebersicht der auf den sämmtlichen Universitäten des
Preußischen Staats vom Sommersemester 1820 bis zum Wintersemester 1839/40
Studirenden. Mit Bemerkungen über das Verhältnis derselben zu den Bedürfnissen
der Zeit, in: Ders., Sammlung kleiner Schriften staatswirthschaftlichen Inhalts,
Berlin 1843, S. 1 8 7 - 2 2 6 , bes. S. 190 - 222, hier S. 220; Hartmut TITZE/
Axel NATH/Volker MÜLLER-BENEDICT, Der Lehrerzyklus. Zur Wiederkehr von
Überfüllung und Mangel im höheren Lehramt in Preußen, in: ZfPäd, 31. Jg.
(1985), S. 9 7 - 1 2 6 , hier S. 98 f.
694 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

sich eine Überfüllungskrise auch für die Laufbahn im höheren Lehramt an,
die bis in die 1850er Jahre dauerte und der weitere Zyklen seit den 1880er
Jahren folgten.16 In den späten 1860er Jahren setzt dann wieder ein Anstieg
der Studentenzahlen ein, der nicht allein auf den Bevölkerungszuwachs
zurückgeführt werden kann, sondern auch in der Zunahme des relativen
Hochschulbesuchs (Studenten in Relation zur Einwohnerzahl) seinen Nie-
derschlag findet.17 Abbildung 1 18 verdeutlicht den Universitätsbesuch in
Preußen im Vergleich mit den deutschen Universitäten insgesamt für den
behandelten Zeitraum (siehe Abbildung 1 auf S. 695).
Erst am Ende dieser Zeit, erst seit 1867, überflügelte an den preußischen
Universitäten die philosophische Fakultät, im Aufstieg seit dem zweiten
Jahrzehnt, mit 35 Prozent der Studenten (einschließlich der Naturwissen-
schaftler) die der Juristen, die ihrerseits seit den vormärzlichen Zeiten die
Stätte des „Brot-Studiums" mit dem Ziel der Beamtenlaufbahn im Zeichen
des sich verfestigenden Juristenmonopols wurde. Die Theologie trat in
quantitativer Hinsicht hinter der Medizin zurück, und das Kameralstudium
spielte erst mit dem Aufstieg der modernen Wirtschaftswissenschaften nach
der Reichsgründung wieder eine Rolle im Universitätsbetrieb.19
Insofern war nach einem halben Jahrhundert der philosophischen Fa-
kultät in quantitativer Hinsicht eine Bedeutung zugewachsen, wie sie in
Entwürfen um 1810 der Philosophie an der Universität überhaupt zugedacht
worden war. Freilich war gerade diese Fakultät in besonderem Maße von
der einsetzenden Spezialisierung gezeichnet. Was nach den ersten Jahrzehn-
ten der Universitätsentwicklung nach Humboldt als sozialgeschichtliches
Resultat schon Zeitgenossen angesichts der Quantitäten erkennbar wurde,
das war der Sozialtyp des Akademikers, auch außerhalb der bisher klassi-
schen Berufsstudien. Die Universität wirkte dabei als „elitäre Institution"
(Jarausch); in Berlin machte der Anteil von Studenten aus Elternhäusern
von Besitz und höherer Bildung in den Jahrzehnten nach 1810 über

16 Rainer BÖLLING, Lehrerarbeitslosigkeit in historischer Perspektive, in: RJB,


34. Jg. (1986), S. 1 9 8 - 2 1 2 , hier S. 199; K . H . JARAUSCH, Deutsche Studenten...
(1984) [50], S. 73 f.; Hartmut TITZE, Die zyklische Überproduktion von Akade-
mikern im 19. und 20. Jahrhundert, in: GG, 10. Jg. (1984), S. 9 2 - 1 2 1 , hier S. 103.
17 H. TITZE, Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland... (1987) [s.o.
Anm. 14], S. 36 f., 76 f., 94 f.
18 Quelle: K . H . JARAUSCH, Die neuhumanistische Universität... (1981) [s.o.
Anm. 14], S. 16; daß die durch die Ereignisse von 1864/66 an Preußen gefallenen
Universitäten in den Zahlen von Schaubild 1 nicht enthalten sind, zeigt der
Vergleich mit H. TITZE, Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland...
( 1 9 8 7 ) [ s . o . A n m . 1 4 ] , S. 3 6 .
19 K . H . JARAUSCH, Die neuhumanistische Universität... (1981) [s.o. Anm. 14],
S. 45 f., das Folgende: S. 51, 53, 56; Wilhelm BLEEK, Von der Kameralausbildung
zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten
des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert
( = HPädSt, Bd. 2), Berlin 1972, S. 1 1 0 - 1 1 6 .
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 695

ABBILDUNG 1
Frequenz an deutschen und preußischen Universitäten

Zahl der Studenten


in Deutschland:
in Preussen:
pro 100Û00 Einwohner
in Deutschland:
in Preussen :

Quelle: Konrad H. JARAUSCH, Die neuhumanistische Universität und die bürgerliche


Gesellschaft 1800 — 1870. Eine quantitative Untersuchung zur Sozialstruktur der
Studentenschaften deutscher Universitäten, in: Christian Probst u.a. (Hg.), Darstel-
lungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten
und zwanzigsten Jahrhundert, Bd. 11, Heidelberg 1981, S. 1 1 - 5 8 , hier S. 16.
696 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

70 Prozent aus. 20 Insofern blieb der Selbstrekrutierungsgrad der bürgerlichen


Oberschicht relativ hoch, und die Universität wirkte primär selektiv und
nur sekundär mobilitätsfördernd. Für die Entstehung des Bildungsbürger-
tums, gleichermaßen ein Sozial- und Kulturphänomen des 19. Jahrhunderts,
wurde die universitäre Schulung konstitutiv. Darin ist zugleich die sozial-
geschichtliche Bedeutung der neuen Philosophie-Fakultäten zu bestimmen,
die nicht nur als Bildungs- und Ausbildungsstätte für die Lehrer an den
expandierenden höheren Schulen galten, und zugleich war die Entwicklung
der Studentenzahlen Ergebnis des allgemein gestiegenen Bildungsniveaus.
„Wissenschaftliche Bildung" wurde überhaupt „immer mehr Bedürfniss für
Männer, welche auch ausser dem Kreise der Fakultätsgelehrten in ständi-
schen, kommunal- und gewerblichen Verhältnissen mehr als das Gewöhn-
liche leisten wollen" (J.G. Hoffmann/1843). 21

2. Die Neuordnung des preußischen Gymnasialschulwesens

Nach der Zeit der preußischen Reformen begann die preußische Kultusver-
waltung das höhere Schulwesen in den preußischen Städten zu ordnen und
seine Effizienz zu steigern, indem die Vielfalt verschiedener städtischer
Schuleinrichtungen in Anwendung und Verschärfung der seit 1810/12 gel-
tenden Normen auf bestimmte Schultypen reduziert und diese zueinander
in Beziehung gesetzt wurden. Erst im 19. Jahrhundert wurde aus Reform-
projekten Verwaltungshandeln, aus einem von lokalen Bedingungen und
Kräften getragenen Schulwesen ein „Schulsystem".22 Lehrpläne, die Zuord-
nung von geforderten Schulabschlüssen zu verrechtlichten Laufbahnen in-
und außerhalb der Staatsverwaltung, Prüfungsvorschriften und zunehmend
durchgreifender Vollzug begannen dem (höheren) Schulwesen eine neuartige
Stellung im Staat zuzuschreiben. Zugleich wurde damit auf die (in
den Jahrhunderten zuvor landesherrlich unberührte) Substruktur privater
und zum Teil organisatorisch wenig verfestigter Bildungsformen ein bis
dahin unbekannter Konformitätsdruck mit Reduktionseffekt ausgeübt.
Wiederum ist damit eine Entwicklung angesprochen, die sich über Jahr-
zehnte erstreckte, und die nicht an einzelnen (Reform-)Daten festgemacht
werden kann. Nachdem der Süvernsche Gymnasiallehrplan nicht offiziell
in Kraft gesetzt worden war und nur halbamtliche Bedeutung erlangte,

20 P. LUNDGREEN, Sozialgeschichte der deutschen Schule... (1980) [37], Bd. 1, S. 108;


vgl. Ch.E. MCCLELLAND, State, Society and University in Germany... (1980)
[ 5 1 ] , S. 1 1 9 f., 1 2 1 f.
21 Wie Anm. 15, S. 220 f. im Zusammenhang mit den philosophischen Fakultäten.
22 Grundsätzlich: Detlef K. MÜLLER, Der Prozeß der Systembildung im Schulwesen
Preußens während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: ZfPäd, 27. Jg.
(1981), S. 2 4 5 - 2 6 9 , hier S. 245, 251; Ders., Sozialstruktur und Schulsystem.
Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert ( = StWGesB,
Bd. 7), Göttingen 1977, S. 37; Ders./Bernd ZYMEK, Sozialgeschichte... (1987) [72],
S. 3 5 - 4 6 .
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 697

waren für die Gymnasien zunächst die Bestimmungen der Abiturinstruktion


von 1812 maßgebend. Im Jahre 1834 wurden die Reifeprüfungsbestimmun-
gen neu gefaßt: Für Staatsexamina und damit für eine Karriere im Staats-
dienst wurde das nur am „Gymnasium" abzulegende Reifezeugnis als er-
forderlich erklärt, wenn auch für unreif Befundene nicht völlig von der
Immatrikulation ausgeschlossen wurden. 23 Der Konformitätsdruck zum Be-
such der als Gymnasien staatlich anerkannten Anstalten wurde zu Lasten
etwa der Hauslehrererziehung immer größer. Das Reglement von 1834
umriß — wie schon 1812 geschehen - die Anforderungen, und somit wurde
dem traditionellen Lehrplanindividualismus der gymnasialen Schulen ent-
gegengewirkt. Schließlich folgte 1837 der von Johannes Schulze verfaßte
Lehrplan für Gymnasien 24 mit der genaueren Bestimmung von Fächern und
Stundenzahlen, jedoch mit später unbekannten Gestaltungsspielräumen,
zugleich Reaktion auf die öffentliche Kritik an der Überbürdung der Schul-
jugend auf den preußischen höheren Schulen. In den folgenden Jahrzehnten,
mit den Lehrplanbestimmungen von 1856 und den seit 1882 mehrmals
revidierten Lehrplänen, schritt die verbindliche Festlegung der Pensen für
Fächer und Klassenstufen weiter fort, 2 5 nun in Kodifikationen, die die
Aufgaben der höheren Schulen im systemischen Zusammenhang regelten.
Bis in die Mitte des Jahrhunderts tendierte die Lehrplanentwicklung zu
einer Reduzierung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Anteils unter
Betonung des Lateinischen, nicht jedoch des den Neuhumanisten so we-
sentlichen Griechischen. Die von Süvern angestrebte Ausgewogenheit ging
verloren.
Waren Prüfungsvorschriften und Lehrpläne die allgemeinen Instrumente
zur Vereinheitlichung des Lehrbetriebs, insbesondere an den Gymnasien, so

23 H. Helga ROMBERG, Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen Bil-
dungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
unter besonderer Berücksichtigung Preußens ( = StDokdBG, Bd. 11), Weinheim —
Basel 1979, S. 200 ff., 213 f., und F. PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unter-
richts... ( 3 1921) [40], Bd. 2, S. 347ff., bes. S. 349; M. KRAUL, Das deutsche
Gymnasium... (1984) [34], S. 55f., Peter LUNDGREEN, Zur Konstituierung des
„Bildungsbürgertums": Berufs- und Bildungsauslese der Akademiker in Preußen,
in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert,
T. 1 (Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen)
( = IndW, Bd. 38), Stuttgart 1985, S. 7 9 - 1 0 8 , hier S. 89; Auszug (1834): G.
PETRAT, Reifenormen der öffentlichen Schulen Preußens, Phil. Diss. Hamburg
1961, Anhang, Nr. 18, S. 4 6 - 5 3 , bes. S. 50.
24 Druck: L[udwig] WIESE, Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in
Preußen, 3. Ausg., bearb. und fortgeführt von Otto Kübler, 1. Abt., Berlin 1886,
S. 5 3 - 6 5 ; dazu C. VARRENTRAPP, Johannes Schulze... (1889) [s.o. Anm. 1],
S. 4 2 1 - 4 2 8 ; H. ROMBERG, Staat und Höhere Schule... (1979) [s.o. Anm. 23],
S. 209f., 2 1 3 - 2 1 7 (auch zum Folgenden); Karl-Ernst JEISMANN, Gymnasium,
Staat und Gesellschaft in Preußen [1970], in: Ders., Geschichte als Horizont der
Gegenwart... (1985) [32], S. 1 4 5 - 1 5 8 , S. 3 3 4 - 3 3 7 , hier S. 335 (Anm. 13); H . E .
BRUNKHORST, Die Einbeziehung der preußischen Schule... (1956) [26], S. 17.
25 Die Verfügungen von 1856 und 1882 in: L[udwig] WIESE, Verordnungen und
G e s e t z e . . . ( 1 8 8 6 ) [ s . o . A n m . 2 4 ] , S. 6 6 - 7 0 , 110-144.
698 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

schritt nach 1810, nach der Einführung des Examens pro facúltate docendi,26
auch die staatlich geförderte Herausbildung des höheren Lehrerstandes fort.
Bald nach 1815 wurde die Schulamtskandidatenprüfung unabdingbar für
die Einstellung im höheren Schuldienst, die Prüfung wurde rigoros durch-
geführt und dies auch bei dem anfangs herrschenden Mangel an geeignetem
Lehrpersonal.27 1826 wurde (aus pädagogischen und politischen Motiven)
ein Probejahr für Schulamtskandidaten eingeführt, das am Gymnasium oder
einer höheren Bürgerschule abzulegen war, und schließlich folgte 1831 ein
neues Prüfungsreglement für Schulamtskandidaten mit genaueren Bestim-
mungen über Examensleistungen und Prüfungsgang. Die Anforderungen
waren hoch wie auch das Lehrniveau an den Gymnasien überhaupt, und
daran sollte sich schon aus Gründen der Überfüllungsprobleme in akade-
mischen Berufen nichts ändern, wie denn die neuen Bestimmungen der
1830er Jahre auch als Reflex der Kultusverwaltung auf das Überangebot an
Universitätsabsolventen angesehen worden sind. 28
Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß trotz des Bevölkerungswachs-
tums in den Jahren 1832 bis 1852 in Preußen bei sinkenden Abiturienten-
zahlen nur sieben neue Vollgymnasien gegründet worden sind.29 Je genauer
Lehrpläne und Prüfungsordnungen aufgestellt und von den stets präsenten
Provinzialschulkollegien exekutiert wurden, desto schärfer wurden die nun
allein zu Abgangsprüfungen auf Universitäten berechtigten Gymnasien von
anderen, auch höheren Stadtschulen abgegrenzt. Gab es am Ende des
18. Jahrhunderts in Ostpreußen 60 Lateinschulen, so waren es in dieser
Region 1818 noch 12 Gymnasien. In ganz Preußen waren es in der Mitte
des 18. Jahrhunderts, wie gezeigt, rund 400 Lateinschulen, im sehr viel
größeren Preußen des Jahres 1818 gab es 91 Gymnasien (1828 nach hoch-
greifender Zählung 125, davon 86 evangelische und 39 katholische Gym-
nasien beziehungsweise progymnasiale Schulen). 30

26 S. o. § 2, V, bei Anm. 18.


27 Hans-Jürgen APEL, Die Auslese des Gymnasiallehrernachwuchses in Preußen
(1813 — 1815). Beispiele aus den preußischen Rheinprovinzen zur Rekrutierung
und beruflichen Qualifizierung von Gymnasiallehrern, in: ZfPäd, 30. Jg. (1984),
S. 297 - 322, bes. S. 3 0 1 - 3 0 4 , 306; zum Folgenden: S. 307, 313; Christoph FÜHR,
Gelehrter Schulmann — Oberlehrer — Studienrat. Zum sozialen Aufstieg der Phi-
lologen, in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahr-
hundert, T. 1 (Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Ver-
gleichen) ( = IndW, Bd. 38), Stuttgart 1985, S. 4 1 7 - 4 5 7 , hier S. 426 ff.; R. BÖL-
LING, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer... (1983) [25], S. 21 f., 26f.; L[udwig]
WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen. Historisch-statistische Dar-
stellung, Bd. 1, Berlin 1864, S. 548 f., 553.
28 So schon F. PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts... ( 3 1921) [40], Bd. 2,
S. 343; K . H . JARAUSCH, Deutsche Studenten... (1984) [50], S. 26; Ders., Die
neuhumanistische Universität... (1981) [s.o. Anm. 14], S. 22.
29 H. TITZE, Die zyklische Überproduktion von Akademikern... (1984) [s.o.
Anm. 16], S. 112.
30 S. o. § 2, 1, Anm. 23, zum 18. Jh.; L. WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in
P r e u ß e n . . . ( 1 8 6 4 ) [ s . o . A n m . 2 7 ] , Bd. 1, S. 2 1 ; F. PAULSEN, G e s c h i c h t e des ge-
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 699

Auch in den Jahrzehnten nach Humboldt und Siivern blieb das Gymna-
sium aber insofern ein polyfunktionales Gebilde, als die Unterklassen von
der großen Zahl der Frühabgänger praktisch als Bürgerschulen benutzt
wurden. 1831—41 besuchte nur ein Fünftel der Gymnasialabgänger Uni-
versitäten.31 Aber waren diese Anstalten nicht in den oberen, eigentlich
gymnasialen Klassen Standesschulen? Zunächst ist unstrittig, daß schon die
Durchsetzung des Bildungsprinzips und des Zwanges zur Ablegung niveau-
voller Prüfungen dem tradierten Prinzip ständischer Funktionszuschreibung
grundsätzlich widersprach. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde
auch der „Adel ins Examen" gezwungen (K.-E. Jeismann). 32 Trotz deutlicher
Tendenzen zu stärkerer sozialer Selektivität auch in den preußischen West-
provinzen33 ist gerade am Beispiel ausgewählter Gymnasien des Rheinlands
und der Provinz Westfalen für die Mitte der 1820er Jahre bis 1848 darauf
hingewiesen worden, daß aus Oberschicht (2 Prozent) und oberer Mittel-
schicht (17 Prozent) zusammen 19 Prozent der Schüler stammten und aus
der „mittleren Mittelschicht" 36 Prozent. Aber für die untere Mittelschicht
konnte ein Anteil von 42 Prozent, für die eigentliche „Unterschicht" aller-
dings nur 3 Prozent der Schüler festgestellt werden. Letztere Schichten, in
der Gesamtbevölkerung mit 90 Prozent vertreten, sind insofern mit
45 Prozent der Gymnasiasten unterrepräsentiert, doch wird zugleich ange-
zeigt, daß nicht vom Gymnasium als einer Eliteschule etwa im Sinne der
primären Selbstergänzung für die Akademikerschicht und das Besitzbürger-
tum gesprochen werden kann. Die Zahlen deuten vielmehr auf eine erstaun-
liche soziale Offenheit des Gymnasiums im Vormärz hin, auch Bauernkinder
und solche von Handwerkern waren vertreten, und der Befund wird —
wenn auch mit einem geringeren Anteil der unteren Mittelschicht — für
die Berliner Abiturienten seit den 1830er Jahren bestätigt.34

lehrten Unterrichts... ( 3 1921) [40], Bd. 2, S. 2 9 0 ; zu 1828: Leopold Frhr. von


ZEDLITZ, Die Staatskräfte der Preußischen Monarchie unter Friedrich
Wilhelm III., Bd. 1, Berlin 1828, S. 333 ff.; vgl. E. R . HUBER, Deutsche Verfas-
sungsgeschichte... (1957) [31], Bd. 1, S. 2 8 3 ; die zeitgenössischen Statistiken stim-
men nicht überein.
31 So J. G. HOFFMANN, Zahlenverhältnisse der Gymnasien, Progymnasien und hö-
hern Bürgerschulen im Preussischen Staate von 1831 bis 1841, in: Ders., Samm-
lung kleiner Schriften staatswirthschaftlichen Inhalts... (1843) [s.o. Anm. 15],
S. 1 6 5 - 1 7 9 .
32 Karl-Ernst JEISMANN, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die
Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787 —
1817 ( = IndW, Bd. 15), Stuttgart 1974, S. 1 5 2 f .
33 Siehe H . - J . APEL, Die Auslese des Gymnasiallehrernachwuchses... (1984) [s.o.
Anm. 27], S. 147 ff., 260.
34 Margret KRAUL, Gymnasium und Gesellschaft im Vormärz. Neuhumanistische
Einheitsschule, städtische Gesellschaft und soziale Herkunft der Schüler
( = StWGesB, Bd. 18), Göttingen 1980, S. 7 0 , 1 4 3 f . , 147 (auch zur z . T . geringen
Verweildauer); Zahlen für Berlin (nach D. Κ. Müller) bei P. LUNDGREEN, Sozial-
geschichte der deutschen Schule... (1980) [37], Bd. 1, S. 88 f.; s. a. S. 84; vgl. jetzt
Peter LUNDGREEN U. a., Bildungschancen und soziale Mobilität in der städtischen
700 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Soviel aber ist sicher: Das preußische Gymnasium des 19. Jahrhunderts
war nicht ein „Humboldtsches Gymnasium",35 es war Produkt des struk-
turordnenden Griffs der modernisierten preußischen Innenverwaltung, ins-
besondere des Kultusministeriums und eines Johannes Schulze. Die Lehr-
planentwicklung war im Vormärz aber nicht ohne Einseitigkeiten verlaufen.
Und gerade gegen den altsprachlichen Unterricht regte sich in der Schul-
realität erfolgreicher Widerstand.36

3. Bildung im Zeichen der Industrialisierung

„Es ist in den Leuten ein dunkles Gefühl(,) daß allerdings für den industri-
ellen Theil ein anderer Unterricht Noth thut(,) als der in den philologischen
Schulen" schrieb 1829 der Historiker Barthold Georg Niebuhr aus dem
rheinischen Bonn, und er beklagte, daß die dortigen „protestantischen
Fabrikgegenden so antiphilologisch wie nur möglich" seien.37
Damit ist ein Hauptproblem der Entwicklung des höheren und, allge-
meiner formuliert, des städtischen Schulwesens nach Humboldt und Süvern
angesprochen; die Frage, inwieweit mit der Reform der Bürger- und der
Schaffung von Realschulen direkt dem wirtschaftlich-sozialen Wandel des
19. Jahrhunderts Rechnung getragen wurde. Dabei waren nun mit Real-
schulen — anders als bei den wenigen so bezeichneten Einrichtungen des
18. Jahrhunderts — allgemeinbildende Anstalten gemeint, nicht aber mehr
Institute mit starkem, direkt berufsbezogenem Einschlag.38 Nunmehr ent-
stand eine potentielle Konkurrenz zwischen humanistischen und realisti-,
sehen Bildungsinteressen, die bis zum Jahrhundertende Konflikte unaus-
weichlich machte. Im Kultusministerium wurden Bürgerschulen neben Ele-

Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1988, S. 69, S. 118 ff. Neue, diffe-
renzierte Resultate zu erwarten nach der Studie von Sigrid BORMANN-HEISCHKEIL/
Karl-Ernst JEISMANN, Abitur, Staatsdienst und Sozialstruktur, in: Ders. (Hg.),
Bildung... (1989) [95], S. 1 5 4 - 1 8 6 , bes. S. 175, S. 182£.; grundsätzlich auch C.
FÜHR, Gelehrter Schulmann... (1985) [s.o. Anm. 27], S. 4 4 4 ; sehr prononciert
auch Bernhard vom BROCKE, Preußen — Land der Schulen, nicht nur der
Kasernen. Preußische Bildungspolitik von Gottfried Wilhelm Leibniz und Wil-
helm von Humboldt bis Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker (1700 —
1930), in: Wolfgang Böhme (Hg.), Preußen, eine Herausforderung ( = H e r T ,
Bd. 32), Karlsruhe 1981, S. 69.
35 Vgl. die grundsätzlichen Ausführungen bei K.-E. JEISMANN, Das preußische
Gymnasium... (1974) [s.o. Anm. 32], S. 217, 3 9 6 f f .
36 Siehe H . - J . APEL, Die Auslese des Gymnasiallehrernachwuchses... (1984)
[s. o. Anm. 27], S. 255 f.
37 Barthold Georg NIEBUHR, Briefe. Neue Folge. 1 8 1 6 - 1 8 3 0 , hg. von Eduard
Vischer, Bd. 3, B e r n - M ü n c h e n 1983, Nr. 1181, S. 443 (20. VI. 1829).
38 Heinrich-Wilhelm BRANDAU, Die mittlere Bildung in Deutschland. Historisch-
systematische Untersuchung einiger ihrer Probleme ( = GöStPäd, N . F., H . 2),
W e i n h e i m - B e r l i n 1959, S. 122.
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 701

mentarschulen und Gymnasien akzeptiert. Gegen selbständige Realschulen


aber gab es hier starke Bedenken. 39
An Forderungen und Vorschlägen für allgemeinbildende höhere Schulen,
die für solche Kinder besonders geeignet wären, die einmal praktische Berufe
ergreifen sollten, hat es seit den 1820er Jahren nicht gefehlt (Spilleke 1822;
Kunth: „Realgymnasien"); auch haben einzelne Provinziallandtage auf die
Einrichtung von Realschulen, wenn auch vergeblich, gedrängt. 40 Konzen-
trierten sich die staatlichen Maßnahmen zur Ordnung der zum großen Teil
schon bestehenden höheren Schulen zunächst auf die Gymnasien, so war
für die Kommunen und auch noch für private Träger Gestaltungsraum im
breiten Mittelfeld zwischen elementarer und gelehrter Bildung vorhanden.
Die Realschulen sind zu einem großen Umfang das Produkt einer Schul-
politik der Städte, wenn diese zum Beispiel ihre überkommenen (lateini-
schen) Stadtschulen, die für eine gymnasiale Entwicklung nicht in Frage
karrten, des altsprachlichen Anteils entkleideten (beziehungsweise diesen
stark reduzierten) und eine Annäherung an den Typ allgemeinbildender
Realschulen betrieben. 41
Eine genaue Abgrenzung zu anderen Schularten war zunächst nicht
gegeben. Im Jahre 1832 wurde die Verwaltung auch auf diesem Felde
ordnend, normsetzend tätig, als mit einer „Vorläufige(n) Instruktion über
die an den höheren Bürger- und Realschulen anzuordnenden Entlassungs-
prüfungen" die Entscheidung für die Realschule mit Latein getroffen wurde.
Schulen dieses Zuschnitts und mit staatlicher Anerkennung sollten unter
anderem die begehrte Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst
und für bestimmte Zivillaufbahnen vergeben können. 4 2 Ausnahmen vom

39 Siehe C. VARRENTRAPP, Johannes Schulze... (1889) [s.o. Anm. 1], S. 411 (S. 405
für Realien auf Gymnasien), 523; s. auch H. ROMBERG, Staat und Höhere
Schule... (1979) [s.o. Anm. 23], S. 2 0 8 , 2 5 7 , u n d F. PAULSEN, G e s c h i c h t e des
gelehrten Unterrichts... ( 3 1921) [40], Bd. 2, S. 546.
40 Friedrich GoLDSCHMiDT/Paul GOLDSCHMIDT, Das Leben des Staatsrath Kunth,
Berlin 1881, S. 124 ff., 1 4 1 - 1 5 4 ; Quellen: S. 319, 332 f.; Lenore O'BOYLE, Klas-
sische Bildung und soziale Struktur in Deutschland zwischen 1800 und 1848, in:
H Z , B d . 2 0 7 ( 1 9 6 8 ) , S. 5 8 4 - 6 0 8 , h i e r S. 5 9 7 ; C o n r a d RETHWISCH, D e u t s c h l a n d s
höheres Schulwesen im neunzehnten Jahrhundert. Geschichtlicher Überblick...,
Berlin 1893, S. 49; Landtage: Reinhart KOSELLECK, Preußen zwischen Reform
und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von
1791 - 1 8 4 8 ( = IndW, Bd. 1), Stuttgart 2 1975, S. 444.
41 Herwig BLANKERTZ, Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Pädagogik, Schule
und Berufsbildung im 19. Jahrhundert ( = BprobG, Bd. 15), Hannover 1969,
S. 96; Peter Martin ROEDER, Gemeindeschule in Staatshand. Zur Schulpolitik des
Preußischen Abgeordnetenhauses [1966], in: U. HERRMANN (Hg.), Schule und
Gesellschaft im 19. Jahrhundert... (1977) [29], S. 229f., Anm. 49; wiederum
H.ROMBERG, Staat und Höhere Schule... (1979) [s.o. Anm. 23], S. 258; zum
Folgenden: S. 259 ff.; zu 1859 ff.: S. 2 6 2 - 2 6 6 sowie M. KRAUL, Gymnasium und
Gesellschaft im Vormärz... (1980) [33], S. 62f., 8 0 - 8 6 .
42 Zu den genauen Details: L. WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen...
(1864) [s.o. Anm. 27], Bd. 1, S. 504f.
702 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Latein als Prüfungsbestandteil wurden noch anerkannt, doch in den näch-


sten Jahren faktisch ausgeschlossen. Mit der Instruktion von 1832 „war die
vorherige Unbestimmtheit über Wahl und Mass des Lernstoffs vermindert
und ein bestimmtes Lehrziel aufgestellt. Das Recht zu Entlassungsprüfungen
zu erlangen, woran wichtige Berechtigungen geknüpft waren, wurde Ge-
genstand des eifrigsten Strebens aller Schulen dieser Kategorie" (L. Wiese,
1864). 43
Freilich war die 1832 umrissene Schulart denn doch die einer höheren
Lehranstalt mit Latein auf erheblichem Niveau. So wurde denn 1859 44
zwischen der Realschule I. Ordnung mit Latein (1882: „Realgymnasium")
und Realschulen II. Ordnung unterschieden, in denen Latein nur fakultativ
angeboten werden konnte, wie der Lehrplan sowie die Prüfungsanforde-
rungen überhaupt reduziert werden durften, und die allerdings auch mit
verminderten Berechtigungen auszukommen hatten. Abiturienten der Real-
schulen I. Ordnung konnten seit 1870 an philosophischen Fakultäten in
mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachrichtungen mit dem Ziel des
höheren Lehramtes studieren und auch promovieren. Die Neuordnung des
Realschulwesens sollte aber insbesondere „dem Bedürfniss der nicht studie-
renden Jugend gerecht werden... Ausserdem lagen in den Fortschritten der
Naturwissenschaften, so wie in der Entwickelung des öffentlichen Lebens
und der Industrie, unabweisliche Aufforderungen dazu." 45
Neben diesen allgemeinbildenden Realschulen, die dem Kultusministe-
rium unterstanden, wurden seit den 1820er Jahren gewerbliche Lehrinstitute
gegründet. Die Initiative dazu ging nicht vom Kultusministerium aus, viel-
mehr war es der Leiter der Abteilung für Handel und Gewerbe im Finanz-
ministerium Peter Christian Wilhelm Beuth, der Vorschläge zu Gewerbe-
schulen vorlegte, in denen eine technische Elite herangebildet werden
sollte. 46 Tatsächlich existierten um 1840 rund 20 Provinzialgewerbeschulen,
die, unter dem Handelsdepartement beziehungsweise dem Finanzministe-

43 A. a. O . , S. 27.
44 „Unterrichts- und Prüfungs-Ordnung der Realschulen und der höheren Bürger-
schulen v. 6. October 1 8 5 9 " , in: L[udwig] WIESE, Verordnungen und Gesetze...
(1886) [ s . o . Anm. 24], S. 7 0 - 8 4 , bes. S. 81 ff.; dazu die Lit. in Anm. 41 und
L.WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen... (1864) [ s . o . Anm. 27],
Bd. 1, S. 2 7 ff.; Berechtigungen: S. 6 1 8 - 6 2 1 .
45 So wiederum a. a. O., Bd. 1, S. 27.
46 Christiane SCHIERSMANN, Z u r Sozialgeschichte der preußischen Provinzial-Ge-
werbeschulen im 19. Jahrhundert ( = StDokdBG, Bd. 8), Weinheim - Basel 1979,
S. 28, 38 ff., 5 7 ff. und passim; Peter LUNDGREEN, Techniker in Preußen während
der frühen Industrialisierung. Ausbildung und Berufsfeld einer entstehenden
sozialen Gruppe ( = E v H K z B , Bd. 16), Berlin 1975, S. 4 2 - 4 9 ; W[illiam] O. HEN-
DERSON, T h e State and the Industrial Revolution in Prussia 1 7 4 0 - 1 8 7 0 , Liver-
pool 1958, S. 107 ff.; U. P. RITTER, Die Rolle des Staates in den Frühstadien der
Industrialisierung... (1961) [s. o. A n m . 2a], S. 2 7 f . ; Kurt DÜWELL, Das Schul- und
Hochschulwesen der Rheinlande. Wissenschaft und Bildung seit 1815, in: Franz
Petri/Georg Droege (Hg.), Rheinische Geschichte in drei Bänden, Bd. 3, Düssel-
dorf 2 1 9 8 0 , S. 4 6 5 - 5 5 2 , hier S. 4 9 0 .
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 703

rium stehend, in ihrer Ausgestaltung allerdings starke Unterschiede aufwie-


sen, wobei die kommunalen Interessen und die örtliche Gewerbestruktur
die jeweilige Anstalt prägten. Im Jahre 1850 neu und einheitlich organisiert,
wurde den Provinzialgewerbeschulen, denen bis dahin zum Teil der Cha-
rakter allgemeinbildender Schulen durch entsprechende Erweiterung des
Lehrplanes eigen war, da die Kommunen entgegen dem Ministerium eher
einen breiten Interessenkreis erreichen wollten, 47 nunmehr ein noch deut-
licherer technisch-gewerblicher Charakter gegeben. Allerdings blieben diese
Schulen hinsichtlich der Ausstattung mit Berechtigungen für die zu wählen-
den Laufbahnen denkbar schlecht gestellt, und dieser Umstand dürfte für
den markanten Niedergang des gewerblichen Schulwesens in Preußen gerade
in der Zeit der industriellen Hochkonjunktur verantwortlich zu machen
sein, ein Umstand, der im übrigen davor warnen läßt, die wirtschaftliche
(und soziale) Entwicklung allzu direkt in Interdependenz mit der Bildungs-
entwicklung zu betrachten. 48 Jedenfalls haben auch erneute Reorganisa-
tionsbemühungen (Aufnahme von Latein in den Lehrplan) nicht verhindert,
daß um 1880 die Provinzialgewerbeschulen in allgemeinbildende Anstalten,
zumeist (Ober)Realschulen, verwandelt wurden. 49 Immerhin wurde für den
Bedarf einzelner Gewerbezweige in der Folgezeit durch besondere Fach-
schulen Sorge getragen (zum Beispiel Bergschulen, Baugewerksschulen, Ma-
schinenbau- und Werkmeisterschulen, Textilfachschulen usw.). 50
Hatten technisch-gewerbliche Fächer unter Humboldt und seinen Nach-
folgern innerhalb der Universitäten keine Berücksichtigung gefunden, so
beschränkte sich der Lehrbetrieb in diesen Feldern nicht nur auf das skiz-

47 C. SCHIERSMANN, Z u r Sozialgeschichte der preußischen Provinzial-Gewerbeschu-


len... (1979) [s.o. Anm. 46], S. 117, 141 ff., 190; zur Reform 1850: S. 1 9 4 - 2 3 0 ,
bes. 2 0 7 ff.; Wolfdietrich JOST, Gewerbliche Schulen und politische Macht. Z u r
Entwicklung des gewerblichen Schulwesens in Preußen in der Zeit von 1850 —
1880 ( = BBBp, Bd. 10), Weinheim - Basel 1982, S. 7 2 - 8 5 .
48 Vgl. die Argumente von Karl-Ernst JEISMANN in seiner Rezension des Buches von
W. JOST, Gewerbliche Schulen und politische M a c h t . . . (1982) [s. o. Anm. 47], in:
H Z , Bd. 2 4 0 (1985), S. 196.
49 Vgl.: Denkschrift über die Gewerbeschulen, ZB1UV, 1881, S. 1 8 9 - 2 1 2 , bes.
S. 191 ff.; C. SCHIERSMANN, Z u r Sozialgeschichte der preußischen Provinzial-
Gewerbeschulen... (1979) [s.o. Anm. 46], S. 278 —283; Dies., Die preussischen
Provinzial-Gewerbeschulen..., in: K.-E. JEISMANN (Hg.), Bildung... (1989) [95],
S. 2 0 3 - 2 1 7 , hier S. 2 1 4 f . ; P. LUNDGREEN, Techniker in Preußen... (1975) [s.o.
Anm. 46], S. 7 5 , 83; W. JOST, Gewerbliche Schulen und politische M a c h t . . . (1982)
[s. o. Anm. 47], S. 255.
50 Jürgen KOCKA, Bildung, soziale Schichtung und soziale Mobilität im deutschen
Kaiserreich. Am Beispiel der gewerblich-technischen Ausbildung, in: Dirk Steg-
mann/Bernd-Jürgen Wendt/Peter-Christian Witt (Hg.), Industrielle Gesellschaft
und politisches System... ( = SchrrFiFESt, Bd. 137), Bonn 1978, S. 2 9 7 - 3 1 3 , hier
S. 303; Oskar SIMON, Die Fachbildung des Preussischen Gewerbe- und Handels-
standes im 18. und 19. Jahrhundert nach den Bestimmungen des Gewerberechts
und der Verfassung des gewerblichen Unterrichtswesens, Berlin 1902, S. 7 4 7 —
831, 9 1 5 ff., 924, 927.
704 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

zierte Schulniveau. Z w a r hatte Altenstein schon 1823 den Plan für eine
polytechnische Anstalt vorgelegt und dabei auf ähnliche Institute in Frank-
reich und Österreich verwiesen, doch w a r dieses Projekt nicht zur Realisie-
rung gelangt, auch deshalb, weil der König zu den erforderlichen Bewilli-
gungen nicht zu bewegen w a r . 5 1 Aber Beuth, der 1821 führend an der
Begründung des „Vereins zur Beförderung des Gewerbfleißes" beteiligt war
und der den auch in Berlin mit seinen Gymnasien mangelnden Unterricht
für künftige Gewerbetreibende beklagte, schuf im selben Jahr in der Resi-
denz eine „technische Schule", die nach Erweiterungen seit 1827 unter der
Bezeichnung „Königliches Gewerbe-Institut" arbeitete. 5 2 Z u dessen Schülern
zählte August Borsig, während Werner v. Siemens 1835 — 1838 die Berliner
Artillerie- und Ingenieurschule besuchte. 5 3
Bis 1860 hatte das Gewerbe-Institut einen rein schulmäßigen Betrieb
gepflogen; der Unterricht war an dieser Anstalt — wie gleichzeitig auch an
der 1799 begründeten Bauakademie — auf die Praxis, nicht an der Wissen-
schaft orientiert. Allerdings ist spätestens seit den 1860er Jahren mit der
Einführung der Lehrfreiheit am Gewerbeinstitut und der Umbenennung in
„Gewerbe-Akademie" (1866) der Weg zur technischen Hochschule einge-
schlagen worden, schon bevor 1876 das Abgeordnetenhaus für die Verei-
nigung von Gewerbe- und Bauakademie eintrat, die schließlich 1 8 7 9 durch-
geführt und damit die Königliche Technische Hochschule zu Berlin (in
Charlottenburg) begründet w u r d e . 5 4 Insofern fließen in die Vorgeschichte

51 Karl-Heinz MANEGOLD, Eine Ecole Polytechnique in Berlin. Über die im preu-


ßischen Kultusministerium in den Jahren 1820 bis 1850 erörterten Pläne zur
Gründung einer höheren mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehranstalt, in:
T G , Bd. 33 (1966), S. 1 8 2 - 1 9 6 , bes. S. 1 8 6 - 1 9 0 ; Ders., Universität, Technische
Hochschule und Industrie... (1970) [s. o. Anm. 5], S. 32; schon C. VARRENTRAPP,
Johannes Schulze... (1889) [s.o. Anm. 1], S. 465, 506.
52 Ilja MIECK, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1 8 0 6 - 1 8 4 4 . Staatshilfe und
Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus ( = VHKzB, Bd. 20),
Berlin 1965, S. 38ff., 42; P. LUNDGREEN, Techniker in Preußen... (1975) [s.o.
Anm. 46], S. 5 4 - 7 4 ; U. P. RITTER, Die Rolle des Staates in den Frühstadien der
Industrialisierung... (1961) [s.o. Anm. 2a], S. 29f., 35f.; W . O . HENDERSON, The
State and the Industrial Revolution... (1958) [s.o. Anm. 46], S. 107f.
53 Werner von SIEMENS, Lebenserinnerungen, Berlin "1938, S. 19.
54 P. LUNDGREEN, Techniker in Preußen... (1975) [s.o. Anm. 46], S. 74, 81; Franz
SCHNABEL, Die Anfänge des technischen Hochschulwesens, Karlsruhe 1925, S. 23;
Wilhelm TREUE, Das Verhältnis der Universitäten und Technischen Hochschulen
zueinander und ihre Bedeutung für die Wirtschaft, in: Friedrich Lütge (Hg.), Die
wirtschaftliche Situation in Deutschland und Österreich um die Wende vom 18.
und 19. Jahrhundert. Bericht über die Erste Arbeitstagung der Gesellschaft für
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Mainz. 4.—6. März 1963, Stuttgart 1964,
S. 223 - 237, hier S. 226; Wilhelm TREUE, Die Geschichte des technischen Unter-
richts, in: 125 Jahre Technische Hochschule Hannover. Festschrift zur 125-
Jahrfeier der Technischen Hochschule Hannover, [Hannover 1956,] S. 9 - 6 4 , hier
S. 49, 58; jetzt Reinhard RÜRUP, Die Technische Universität Berlin 1 8 7 9 - 1 9 7 9 .
Grundzüge und Probleme ihrer Geschichte, in: Ders. (Hg.), Wissenschaft und
Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879 —
1979, Bd. 1, B e r l i n - H e i d e l b e r g - N e w York 1979, S. 3 - 4 7 , bes. S. 9 - 1 2 .
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 705

dieser Institution ältere staatliche Bestrebungen zur Gewerbeförderung


durch das Gewerbeinstitut und jüngere Impulse der liberalen preußischen
Parlamentsmehrheit ein.
Zudem hatte Preußen 1866 die Polytechnische Schule Hannover über-
nommen. In Aachen wurde schon 1870 die „Königliche Rheinisch-Westfä-
lische Polytechnische Schule" begründet, bemerkenswert auch deshalb, weil
schon in diesem Zusammenhang der (in diesem Falle: rheinische) Liberalis-
mus zum Zustandekommen des Projektes wesentlich beitrug, denn aus
liberalen Gewerbekreisen wurden nicht allein wesentliche Anregungen, son-
dern auch - erstmals - maßgebliche Finanzmittel für ein solches Institut
beigebracht. 55 Mit der Berliner Gründung erhielten auch die beiden Poly-
technika den Namen einer Technischen Hochschule, die Verleihung von
Rektoratsverfassung und Habilitationsrecht folgte sodann, und es lag gleich-
sam in dieser Entwicklung, wenn schließlich im Jahre 1899 diesen Hoch-
schulen — gegen den Widerstand der Universitäten und mit persönlichem
Engagement des Kaisers - das Promotionsrecht zum „Dr.-Ing." verliehen
wurde, ein Schritt, dem die außerpreußischen Staaten des Deutschen Reiches
mit Ausnahme Bayerns folgten. 56 Die Technischen Hochschulen waren
längst auch Forschungsstätten. Berlin hatte eine führende Stellung unter
den Technischen Hochschulen Deutschlands inne, aber auch in Aachen
lehrte zeitweise eine Kapazität wie der Physiker Sommerfeld. Nach 1900
wurden in Preußen weitere Technische Hochschulen in Danzig und Breslau
begründet.
Somit war der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachtende
Prozeß einer Akademisierung des technischen Bildungswesens zum Ab-
schluß gelangt, 57 einhergehend mit einer Erhöhung der Aufnahmekriterien
und einer Verwissenschaftlichung, Mathematisierung und Spezialisierung
des Lehrstoffes, zugleich Indiz für den sozialen Aufstieg der Technikerelite.
Im weiteren Sinne wird in diesem Kontext auf andere Hochschultypen
hinzuweisen sein, die um 1900 entstanden. War bei den Technischen Hoch-

55 K. DÜWELL, Konstitution, Maschine und Schule... (1968) [s.o. Anm. 7], S. 2 9 0 f . ;


Ders., Das Schul- und Hochschulwesen der Rheinlande... ( 2 1980) [s. o. Anm. 46],
S. 505 ff.; K.-H. MANEGOLD, Universität, Technische Hochschule und Industrie...
(1970) [s.o. Anm. 5], S. 6 4 f . , zum Folgenden auch S. 73ff.
56 Karl-Heinz MANEGOLD, Technische Forschung und Promotionsrecht. Zur Ge-
schichte des „Dr. Ing." und des Promotionsrechtes der Technischen Hochschulen
Deutschlands, in: TG, Bd. 36 (1969), S. 2 9 1 - 3 0 0 , bes. S. 297 ff.; Ders., Univer-
sität, Technische Hochschule und Industrie... (1970) [s.o. Anm. 5], S. 249 — 305,
bes. S. 282 ff., 299 f.; ZB1UV, 1899, Nr. 190, S. 786 (Erlaß Wilhelms II. vom 11. X .
1899); W. TREUE, Das Verhältnis der Universitäten und Technischen Hochschu-
len... (1964) [s.o. Anm. 54], S. 2 3 4 f .
57 Dazu J. KOCKA, Bildung, soziale Schichtung und soziale Mobilität... (1978) [s. o.
Anm. 50], S. 300, 302; Manfred SPÄTH, Die Professionalisierung von Ingenieuren
in Deutschland und Rußland 1800 —1914, in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hg.),
Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. 1 (Bildungssystem und Professionali-
sierung in internationalen Vergleichen) ( = IndW, Bd. 38), Stuttgart 1985, S. 561 -
588, hier S. 565.
706 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

schulen um 1870 bereits deutlich gesellschaftliche Initiative und auch au-


ßerstaatliche materielle Unterstützung im Spiel, was sich in der Förderung
zum Beispiel von Forschungseinrichtungen an Technischen Hochschulen
durch die Industrie fortsetzte,58 ist, worauf hingewiesen wurde, in der
Geschichte der preußischen Realschulen im 19. Jahrhundert kommunale
und private Initiative und Trägerschaft von großer Bedeutung gewesen, so
entstanden um die Jahrhundertwende Handelshochschulen (zum Beispiel in
Berlin 1906) und Handelsschulen nicht primär als staatliche Schöpfungen,
sondern als solche von Städten und der örtlichen Kaufmannschaft oder
Handelskammer. Der Staat hielt lediglich gewisse Aufsichtsrechte über
Studienbetrieb und Personalangelegenheiten59 mit individueller Ausgestal-
tung im einzelnen Fall. Insofern wurde nun, wie mit Recht festgestellt
worden ist, das staatliche Hochschulmonopol endgültig aufgegeben. Staat,
Wirtschaft und Wissenschaft zeigen sich um 1900 in zunehmender Verflech-
tung.
Wird zudem berücksichtigt, daß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts neben
die Universität und die Technischen (Hoch-)Schulen das Industrie- bezie-
hungsweise Werkslaboratorium (bei Krupp seit 1863) trat, in dem, zumal
flexibler und auch besser ausgestattet als in Universitätsinstituten, For-
schung getrieben wurde,60 so wird deutlich, daß die preußische Verwaltung
im 19. Jahrhundert auf diesem Gebiet zwar — wie bei den Realschulen und
den Hochschulberechtigungen — ordnend und strukturierend wirkte, der
Aufbau der Leistungsstrukturen selbst aber nicht auf eine Politik des ent-
stehenden Kulturstaats allein zurückzuführen ist.

58 Peter LUNDGREEN, Forschungsförderung durch technisch-wissenschaftliche Ver-


eine, 1 8 6 0 - 1 9 1 4 , in: Reinhard Riirup (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft...
(1979) [s.o. Anm. 54], Bd. 1, S. 2 6 5 - 2 8 2 , bes. S. 2 6 9 ; M . SPÄTH, Die Professio-
nalisierung von Ingenieuren... (1985) [ s . o . Anm. 57], S. 5 7 9 f .
S5 Lothar BURCHARDT, Kultur- und Bildungswesen, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans
Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3,
Stuttgart 1984, S. 4 6 6 - 492, hier S. 483 f.; Frank R . PFETSCH, Z u r Entwicklung
der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1 7 5 0 - 1 9 1 4 , Berlin 1974, S. 1 4 2 - 1 4 5 ;
APT, Handelshochschulen, in: S. Körte u . a . (Hg.), Deutschland unter Kaiser
Wilhelm II., Bd. 2, Berlin 1914, S. 1072 - 1 0 8 3 , hier S. 1073 ff.; Beispiel: Franz
URBSCHAT, Die Geschichte der Handelshochschule Königsberg/Pr. ( = BeihJbUK,
H. 21) Würzburg 1962, bes. S. 11 - 1 9 ; zu den landwirtschaftlichen Lehrinstituten
im 19. Jh. vgl.: Norbert ANDERNACH, Der Einfluß der Parteien auf das Hoch-
schulwesen in Preußen 1848 - 1918 ( = StWGesB, Bd. 4), Göttingen 1972, S. 81 ff.
60 W. TREUE, Das Verhältnis der Universitäten und Technischen Hochschulen...
(1964) [s.o. Anm. 54], S. 2 2 8 - 2 3 1 .
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 707

III. Die elementare Bildungsevolution


des 19. Jahrhunderts
1. Volksschulwesen und Lehrerbildung

Auch nach Jahrzehnten deklarierten Reformwillens für das niedere Schul-


wesen blieb staatlicherseits praktisches Finanzengagement gering. Die Ge-
meinden hatten im Vormärz wie in den Jahrhunderten zuvor die Schullasten
zu tragen, und die auf dem Lande standen weiterhin im Ruf, den Lehrern
ihr Einkommen nach Möglichkeit zu schmälern, während freilich in ver-
schiedenen Städten deutliche Gehaltsanhebungen zu bemerken waren. Um
1820 machte der Anteil staatlicher Besoldungsleistungen und Zuschüsse für
die preußischen „Stadtschullehrer" 9 Prozent der städtischen Lehrereinkom-
men aus; darin enthalten sind die 800 Stellen königlichen Patronats. Für
über 6.600 Landschulstellen königlichen Patronats wurden staatlicherseits
rund 78.000 Taler jährlich aufgewandt, für Schulzwecke überhaupt 1821
140.000 Taler. Wenn die Summe auch 1831 auf etwa 230.000 Taler im
Preußen des damaligen Gebietsumfanges angewachsen war, 1 so wird aus
diesen Zahlen gleichwohl gefolgert werden müssen, daß insbesondere das
niedere Schulwesen in den Augen der Kultusverwaltung primär Aufsichts-
und Reglementierungsobjekt war. Die Masse der preußischen Aufwendun-
gen für das Bildungswesen kam den Universitäten und Gymnasien zugute.
Zu warnen ist davor, aus der bloßen Vermehrung der Schulzahlen im
Vormärz schon auf eine Verbesserung der Bildungssituation schließen zu
wollen. 1822/23 wurden in Preußen 20.440 „Land- und Elementarschulen,
an denen 20.543 Lehrer angestellt waren", 2 gezählt, eine Angabe, aus der
zugleich hervorgeht, daß die einklassige Volksschule nahezu ausschließlich
das Bild beherrschte, was sich in den Städten allerdings bald zu ändern
begann. Ein Schulmangel wurde insbesondere in der Rheinprovinz, in Teilen
Westfalens und im Posenschen festgestellt. Wenn die Zahl der Schulen 1816
— 1846 um 18 Prozent und die der Lehrer um 40 Prozent zunahm, so stand
dem ein Anwachsen der Schülerzahlen um 108 Prozent gegenüber. Der
Schulausbau hielt also mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt. 3 Der

1 C. MÜLLER, Grundriß der Geschichte des preußischen Volksschulwesens...


(*1913) [38], S. 146 f.; für den Stand von 1821 ist zu vgl. der Aufsatz: Zahl und
Einkommen aller Schullehrer-Stellen in den Städten und auf dem Lande, in:
JbbPV, Bd. 1 (1825), S. 6 8 - 7 5 , bes. S. 7 4 f . ; zum Folgenden auch Hans-Georg
HERRLITZ/WUIí H o P F / H a r t m u t TITZE, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis
zur Gegenwart, Königstein/Ts. 1981, S. 53 f.
2 So Ljeopold] Frhr. von ZEDLITZ(-Neukirch), Die Staatskräfte der Preußischen
Monarchie unter Friedrich Wilhelm III. . . . , Bd. 1, Berlin 1828, S. 3 3 6 f., auch
zum Folgenden.
3 Reinhart KOSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines
Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 — 1848 ( = IndW, Bd. 1),
Stuttgart 2 1 9 7 5 , S. 4 4 1 ; R. BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen L e h r e r . . .
(1983) [25], S. 65 f., zum Folgenden.
708 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Durchschnitt von Schülern pro Lehrer (1822: 68) betrug um 1850 90 Kinder
auf eine Unterrichtskraft in den Volksschulen Preußens, wobei für die Frage
nach den Unterrichtsbedingungen und dem Lehrerfolg auch der — wie zu
betrachten ist - gesteigerte Schulbesuch der im schulfähigen Alter befind-
lichen Kinder in Rechnung gestellt werden muß. Allerdings blieb der Schul-
besuch im Sommer auch in dieser Zeit weit hinter dem Durchschnitt zurück.
Erst seit den 1840er Jahren verlief die äußere Entwicklung des Volksschul-
wesens dem Bevölkerungswachstum parallel, ohne daß schon die Zahl der
Schüler pro Lehrer (in) vermindert worden wäre, wie Tabelle 3 zeigt. 4

TABELLE 3
Die preußischen Volksschulen 1840—1864

Jahr Ew. (in Mill.) Volksschulen Lehrer/innen Schulkinder Kinder


(in Mill.) pro Lehrkraft

1840 14,93 23.323 25.887 2,23 86


1849 16,33 24.201 28.121 2,45 87
1855 17,20 24.770 29.884 2,62 88
1858 17,74 24.923 30.795 2,72 88
1864 19,26 25.056 33.620 2,83 84

Quelle: J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte... (1914) [43], S. 156


(mit Korrekturen der Angaben durch den Autor).

Diesem Wachstum insbesondere in der Zahl der Lehrkräfte stand noch


keine entsprechende dauerhafte Zunahme der Staatsaufwendungen für die
Volksschulen in ganz Preußen gegenüber (1849: 231.729 Taler; 1855: 206.905
Taler; 1860: 264.522 Taler; 1861: 230.247 Taler; 1865: 239.494 Taler).
Es war nicht ein umfassend angelegter Neubau des Massenschulwesens
in Land und Stadt, der auf die Oberflächenreform der ersten beiden Jahr-
zehnte des 19. Jahrhunderts folgte. Es war nicht die Ersetzung der Schule
vom type ancien durch ein neues, staatlich-öffentliches Institut, die in den
Jahrzehnten bis zur Jahrhundertmitte geschah. Noch blieben Spielräume
für lokale Kräfte, wenn auch der Zugriff der Verwaltung erstarkte, aber
einheitliche Lehrpläne oder -texte gab es auch im Preußen der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts noch nicht. 5 Süverns Gesetzentwurf hatte für das
niedere Schulwesen keinerlei Bedeutung erlangt, und wenn er als Minimal-
programm Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen und Gesang vorsah, so war
zu dieser Zeit - 1819 — nach offizieller Aussage dies in „vielen" preußi-
schen Volksschulen schlechterdings noch nicht zu erreichen. 6 Geringer Wir-
kungsgrad der Schulen, Desinteresse insbesondere der Eltern auf Grund

4 Nach: J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte... (1914) [43],


S. 156; in TABELLE 3 sind die dortigen Angaben bereinigt.
5 Kenneth D. BARKIN, Social Control and the Volksschule in Vormärz Prussia, in:
CEH,Bd. 16 (1983), S. 31 - 52, hier S. 45 f.
6 Die Gesetzgebung... (1869) [9], S. 1 5 - 7 4 , hier S. 22 und S. 75.
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 709

wiederum geringen Bildungsstandes in den Unterschichten, mangelnde Leh-


rerbesoldung und geringe funktionsspezifische Qualifikation des Lehrper-
sonals hatten sich bis dahin gegenseitig, geradezu vom System her bedingt
und so eine Modernisierung des Massenschulwesens blockiert, so daß
einzelne, lokale, allenfalls regionale Verbesserungen isoliert blieben und also
die Strukturen insgesamt nicht zu verändern vermochten. Die Ansatzstelle
zur Modernisierung des niederen Schulwesens war (noch) nicht ein ent-
schieden stärkeres staatliches Finanzengagement, es war zunächst die ratio-
nellere Strukturierung und Ordnung des Lehrerbildungswesens. Die ersten
preußischen Seminare waren, fast hundert Jahre zuvor entstanden, durchaus
nicht Produkte landesherrlicher Initiative. Nun wurde das regional und
qualitativ sehr unterschiedliche Seminarnetz verdichtet und — langsam -
vereinheitlicht. Eine aus dem Jahre 1825 stammende „Tabellarische Nach-
weisung sämmtlicher Preußischen Haupt-Seminarien" führt 28 Anstalten
auf, von denen 13 als nach 1806 eingerichtet ausgewiesen sind.7 In ihnen
wurde sowohl für Stadt- als auch für Landschulen, besonders aber für
letztere ausgebildet. Hinzu trat eine offenbar nicht geringe Anzahl kleinerer
Seminare, darunter auch private Institute, „von denen die Behörden bis
jetzt [1825 — d. Verf.] nur sehr entfernte Kenntniß nehmen". 8 Im Jahre
1840 existierten schon 46 Seminare, die unter den Provinzial-Schulkollegien
und der Spezialaufsicht der Regierungen standen, im Jahre 1853 dann
58 „Haupt- und Nebenseminare". Gleichwohl galten im Vormärz einzelne
Regionen wie Ostpreußen, Pommern und die Rheinprovinz als unzureichend
versorgt.9 Die Einrichtung der Seminare war auch durchaus noch nicht

7 In den vom Oberregierungsrat im Kultusministerium Ludolph Beckedorff her-


ausgegebenen JbbPV, Bd. 1 (1825), S. 1 2 8 - 1 4 5 , danach die Zählung des Verf.;
abweichend: Hans-Günter THIEN, Schule, Staat und Lehrerschaft. Z u r histori-
schen Genese bürgerlicher Erziehung in Deutschland und England (1790 — 1918),
F r a n k f u r t / M . - N e w York 1984, S. 140 f.
8 So der Aufsatz: Die Preußischen Schullehrer-Seminarien, in: JbbPV, Bd. 1 (1825),
S. 9 7 - 1 2 7 , hier bes. S. l l l f . , 1 1 6 f . , Zitat: S. 112; ferner: Die kleineren Preußi-
schen Schul-Lehrer-Seminarien und Lehrer-Bildungs-Anstalten, in: JbbPV, Bd. 6
(1827), S. 3 3 - 5 5 , bes. 3 3 - 3 5 .
9 J[ohann] G[ottfried] HOFFMANN, Übersicht der Seminarien zur Bildung von
Elementarschullehrern im Preußischen Staate. N a c h der zu Ende des Jahres 1840
aufgenommenen Kirchen- und Schultabelle, in: Ders., Sammlung kleiner Schriften
staatswirthschaftlichen Inhalts, Berlin 1843, S. 1 8 0 - 1 8 6 , hier S. 183 ff.; K. F.
Robert SCHNEIDER, Der preußische Staat in geographischer, statistischer, topo-
graphischer und militärischer Hinsicht. Ein Hand= und Hülfsbuch für jeden
Stand, Breslau 3 1840, S. 169 f.; zum Lehrbetrieb vgl. Clemens MENZE, Die Bil-
dungsreform Wilhelm von Humbolts ( = B p r o b G , Bd. 13), Hannover 1975,
S. 457 ff.; Karl A. SCHLEUNES, Enlightenment, Reform, Reaction: T h e Schooling
Revolution in Prussia, in: C E H , Bd. 12 (1979), S. 3 1 5 - 3 4 2 , hier S. 3 3 0 ; J. ANTZ,
Die seminaristische Lehrerbildung des 19. und 20. Jahrhunderts in historischer
und kritischer Beleuchtung, in: VWP, Bd. 6 (1930), S. 9 - 3 7 , 13 f. (auch zu
Harnisch); eine speziellere Untersuchung wäre erwünscht; für die vormärzliche
Zeit nur sehr summarisch: Michael SAUER, Volksschullehrerbildung in Preußen.
710 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

einheitlich, selbst nicht in der Länge der Kurse. Gemeinsam war ihnen der
praktische, nichtliterarische Charakter des Betriebs, geleitet wurden sie zum
Teil von ausgesprochenen Pestalozzianern, doch ist die generelle Bedeutung
des Schweizer Pädagogen für die praktische Ausgestaltung der preußischen
Seminare im Vormärz umstritten.
Große Verdienste gerade um das niedere preußische Seminarwesen erwarb
sich der Oberregierungsrat im Kultusministerium Beckedorff, 1 0 in dessen
Amtszeit eine erhebliche Zahl der Neugründungen fällt, der aber - ohne
allgemeinen Seminarlehrplan — auch durch persönliche Einwirkung auf
dem Wege intensiver Reisetätigkeit seine Verwaltungsarbeit effektivierte. In
seine Zeit als zuständiger Ministerialreferent fällt auch die bedeutsame
Verfügung vom 1. Juni 1826, nach der förmliche Abgangsprüfungen an den
Seminaren eingeführt wurden und den Regierungen für die von ihnen zu
besetzenden Stellen empfohlen werden sollte, Absolventen der „Haupt-
Seminarien" zu bevorzugen. Zugleich wurden, wenn auch in milder Form,
die Berufungsrechte der Patronatsherren staatlicherseits neu bestimmt, denn
es sollte „den Privat-Collatoren... empfohlen werden, vorzugsweise Semi-
naristen zu vociren, jedenfalls" sollte ihnen „aber obliegen, nur auf solche
Subjecte zu reflectiren, die mit einem Prüfungs-Zeugnisse, wodurch ihre
Anstellungsfähigkeit begründet ist, versehen sind". 1 1 Damit hatten die Se-
minare nahezu ein Zertifikationsmonopol für das künftige Lehrpersonal.
Ein größeres staatliches Finanzengagement war auch mit diesen Maß-
nahmen nicht verbunden. Für die Seminare ganz Preußens wurden 1826
rund 90.000 Taler aufgewandt und diese durchaus nicht allein aus staatli-
chen Kassen; im Jahre 1831 waren es über 110.000 Taler, von denen 88.000
Taler vom Staat gezahlt wurden. 12 Die Ausbildung eines Seminaristen soll
rund 68 Taler gekostet haben.

Die Seminare und Präparandenanstalten vom 18. Jh. bis zur Weimarer Republik
( = StDokdBG, Bd. 37), K ö l n - W i e n 1987, S. 1 7 - 2 9 , zu Beckedorff S. 21; jetzt
mit einigen Beispielen aus dem Rheinland: Dieter P[eter] J[osef] WYNANDS, Die
Herausbildung des Lehrerstandes im Rheinland während des 19. Jahrhunderts
( = StPädAG, Bd. 1), Frankfurt/M. u.s.w. 1989, bes. S. 6 2 - 7 8 . . Z u 1853: L. von
RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates..., (1854/55) [16],
S. 387.
10 Lit.: s. o. § 3, I, Anm. 26; bes. Hans BRUNNENGRÄBER, Ludolph von Beckedorff
(1778 - 1858). Ein Volksschulpädagoge des 19. Jahrhunderts ( = KathPäd, Bd. 1),
Düsseldorf 1929, S. 40, 43; K. A. SCHLEUNES, Enlightenment, Reform, Reaction...
(1979) [s. o. Anm. 9], S. 3 3 5 ; J. ANTZ, Die seminaristische Lehrerbildung (1930)
[s. o. Anm. 9], S. 12, 15 f.
11 Die (beiden) Zirkularreskripte vom 1. VI. 1826 (1. an die Konsistorien bzw.
Provinzialschulkollegien; 2. an alle Regierungen), gedruckt: JbbPV, Bd. 4 (1826),
S.154 —162, Zitate: S. 160; dazu z. B. Hans-Karl BECKMANN, L e h r e r s e m i n a r -
Akademie — Hochschule. Das Verhältnis von Theorie und Praxis in drei Epochen
der Volksschullehrerausbildung... ( = GöStPäd, N . F., Bd. 14), Weinheim-Berlin
1968, S. 48 f., 2 5 4 ; A. J . LA VOPA, Prussian Schoolteachers... (1980) [35], S. 54.
12 Siehe die - nicht ganz übereinstimmenden - Daten: K. F. R. SCHNEIDER, Der
preußische Staat... ( 3 1840) [s. o. Anm. 9], S. 170, und C. MÜLLER, Grundriß der
Geschichte des preußischen Volksschulwesen... ( 4 1913) [38], S. 148.
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 711

Vor einer Überschätzung der seminaristischen Lehrerausbildung im Vor-


märz ist jedenfalls zu Recht gewarnt worden. Vorhandene Seminare wurden
reorganisiert, neue — auch solche für weibliche Kräfte 1 3 — insbesondere
in ländlicher Umgebung gegründet und für alle erste gemeinsame N o r m e n
vorgegeben, dabei allerdings gerade auch auf die einzuhaltenden „Grenzen
des Unterricht(s)" hingewiesen und vor einer „Ueberbildung für die Lehrer
und Zöglinge der Volksschulen" - durchaus zeittypisch - gewarnt.14
Dieser Vorbehalt galt gerade für die vergleichsweise modernen Materien
wie Vaterlandskunde und Naturkenntnis. Die Modernisierung des niederen
Schulwesens durch die Ablösung der vormaligen Handwerkerlehrer durch
— auf wie primitivem Niveau auch immer — systematisch vorgebildetes
Personal setzte, wenn auch langsam, im Vormärz ein, wobei natürlich nur
die nach und nach freiwerdenden beziehungsweise gerade geschaffenen
Stellen neu besetzt wurden und der Anteil nicht seminaristisch präparierter,
ja ungeprüfter Dorflehrer noch jahrzehntelang beträchtlich blieb. Unter den
Seminaristen dominierten hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft die unteren
sozialen Stufen aus Handwerk beziehungsweise Gewerbe und der Land-
wirtschaft, der Anteil der Söhne von Lehrern und Küstern scheint bei einem
knappen Drittel gelegen zu haben. 1 5 Dies gilt besonders für die künftigen
Landschullehrer, während in dem 1831 eröffneten Stadtschullehrerseminar
in Berlin unter den 958 Ansolventen der beiden folgenden Jahrzehnte die
Söhne der Kaufleute (420) dominierten (Söhne der Lehrer: 245, die der
unteren Beamten: 114, Bauern etc.: 52, Arbeitersöhne: 3 8 ) . 1 6 Die Professio-

13 Siehe Marika MÖRSCHNER, Entwicklung und Struktur der Lehrerinnenbildung.


Studien zur Situation der Seminare in der Rheinprovinz unter besonderer Be-
rücksichtigung der staatlichen Einrichtungen, Rheinstetten 1977, S. 26 f., 3 0 - 3 3 ,
auch zu weiterhin notwendigen städtischen und privaten Seminaren.
14 KO vom 10. IX. 1829 (an Altenstein und Motz), bei L. v. RÖNNE (Hg.), Das
Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates..., (1854/55) [16], S. 407f., mit Ge-
nehmigung eines Seminars in Berlin „für städtische Schulen", das dann Anfang
1831 eröffnet und von Diesterweg geleitet wurde, s. Karl SCHULTZE, Nachrichten
über das Königliche Seminar für Stadtschullehrer in Berlin. Eine Festschrift zur
Feier des 50jährigen Bestehens der Anstalt am 6. I. 1881, Berlin 1881, S. 1 9 - 2 3 ;
div. Beiträge in: Adolph Diesterweg. Wissen im Aufbruch. Katalog zur Ausstel-
lung zum 200. Geburtstag, Weinheim 1990, darin bes.: Michael SAUER, „Daß das
Seminar wirklich der lebendige Mittelpunkt des Ganzen werde." Die Gründungs-
phase der seminaristischen Lehrerbildung in Preußen, S. 191 - 1 9 9 , bes. S. 197.
15 S. schon J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte... (1914) [43],
S. 96 f.; Heinrich BUSSHOFF, Die preußische Volksschule als soziales Gebilde und
politischer Bildungsfaktor in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: GWU,
2 2 . J g . ( 1 9 7 1 ) , S . 3 8 5 - 3 9 6 , h i e r S . 3 8 9 ; A . J . LA V O P A , P r u s s i a n S c h o o l t e a c h e r s . . .
( 1 9 8 0 ) [35], S. 7 0 f., 1 7 6 ; J . ANTZ, D i e s e m i n a r i s t i s c h e L e h r e r b i l d u n g ( 1 9 3 0 ) [s.
o. Anm. 9], S. 16 f.; G. LÜTTGERT, Preußens Unterrichtskämpfe in der Bewegung
von 1848. Ein geschichtlicher Rückblick, Berlin 1924, S. 21.
16 Vgl. Anm. 14; K. D. BARKIN, Social Control and the Volksschule in Vormärz
Prussia... (1983) [s. o. Anm. 5], S. 45, bes.: Douglas R. SKOPP, Auf der untersten
Sprosse: Der Volksschullehrer als „Semi-Professional" im Deutschland des
19. Jahrhunderts, in: GG, 6. Jg. (1980), S. 3 8 3 - 4 0 2 , hier S. 391.
712 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

nalisierung nun auch der Volksschullehrer setzt im Vormärz ein, wenn auch
noch über die Jahrhundertmitte hinaus angesichts des Lehrermangels und
der unzureichenden Besoldung das handwerkliche Element unter den Leh-
rern erhalten blieb und ein Teil von ihnen die ungeliebten Küsterdienste zu
verrichten hatte.
Es war ein evolutionärer Umbruch in der Bildungsrealität der Unter-
schichten, der sich seit den 1820er Jahren vollzog, und daß nun überhaupt
mehr und mehr systematisch vorgebildetes Personal die Lehrerstellen über-
nahm, gehört in dieses Bild ebenso wie die deutliche Zunahme des Schul-
besuchs im Vormärz. Mit der Modernisierung der elementaren Bildungs-
strukturen in einem Zentralbereich wurden Impulse gegeben für Schulbe-
such und Bildungswillen, und dies war Zeitgenossen wohl bewußt. „In dem
Maaße als der Unterricht in den Elementar-Schulen sich bessert, nimmt
auch das Interesse der Gemeinden für dieselben zu, und man kann wohl
gewiß seyn, daß, wo der Lehrer vorzügliches leistet und der Schulvorstand
seine Pflicht thut, nicht nur der Schulbesuch regelmäßig, sondern auch
allgemeine Bereitwilligkeit, für die gehörigen Schullocalien und den nöthigen
Unterhalt des Lehrers zu sorgen, vorhanden ist", heißt es in einer Quelle
aus dem Jahre 1827. 17
Dabei schienen auf den ersten Blick gerade die Bedingungen in der Zeit
der Frühindustrialisierung zur Durch- und damit eigentlichen Einführung
der allgemeinen Schulpflicht, zur Maximierung des Schulbesuchs alles an-
dere als günstig, trat doch zur weiterhin üblichen Feldarbeit der Kinder im
agrarischen Nexus die Kinderarbeit in den „Fabriken" hinzu. Allerdings
waren diese neuen Probleme, die, weil zugleich die physische Konstitution
der Jugend durch die frühzeitige gewerbliche Tätigkeit gefährdet schien,
auch das Militär betrafen, nicht in allen Teilen des preußischen Staates,
sondern natürlich primär in den industriell entwickelten Regionen bedeut-
sam. Diese Bedenken hatten schon 1817 zu einem Runderlaß des Staats-
kanzlers Hardenberg an die Oberpräsidenten geführt, ohne daß praktische
Konsequenzen daraus gefolgt waren. 18 Es ist sehr zweifelhaft, ob in staat-

17 So der namentlich nicht gezeichnete Aufsatz: Schulwesen im Regierungs-Bezirk


Düsseldorf, in: JbbPV, Bd. 7 (1827), S. 141 - 1 4 4 , hier S. 1 4 2 f . mit Beispielen aus
dem ländlichen R a u m ; zuvor zum Seminar in Moers.
18 Wolfgang KÖLLMANN, Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik in Preußen bis
1869 [1966], in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfas-
sungsgeschichte ( 1 8 1 5 - 1 9 1 8 ) ( = N W B , Bd. 51), Köln 1972, S. 4 1 0 - 4 2 9 , hier
S. 4 1 2 ff., 4 1 8 ; Jürgen KUCZYNSKI, Studien zur Geschichte der Lage des arbeiten-
den Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart ( = Ders., Die Geschichte
der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 19), Berlin 1968, S. 6 4 ff.,
88 f.; Klaus L. HARTMANN, Schule und „Fabrikgeschäft". Z u m historischen
Zusammenhang von Kinderarbeit, Kinderschutzgesetz und allgemeiner Elemen-
tarbildung, in: Ders./Friedhelm Nyssen/Hans Waldeyer (Hg.), Schule und Staat
im 18. und 19. Jahrhundert. Z u r Sozialgeschichte der Schule in Deutschland,
Frankfurt/M. 1974, S. 1 7 1 - 2 5 3 , hier S. 2 0 1 - 2 1 6 ; Wally SCHULZE, Kinderarbeit
und Erziehungsfragen in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: SW, 9. Jg.
(1958), S. 2 9 9 - 3 0 9 , hier S. 303 ff., Druck: S. 3 0 7 - 3 0 9 .
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 713

liehen Eingriffen die wesentlichen Schritte zur Verminderung des Wider-


spruchs von gewerblicher Kinderarbeit und Erzwingung der Schulpflicht zu
sehen sind, sei es in Altensteins Zirkular v o m April 1827 (Sicherstellung des
Schulbesuchs der Fabrikkinder), 1 9 oder in dem berühmten Regulativ vom
9. M ä r z 1839 (Einschränkung der Kinderarbeit; mindestens dreijähriger
Schulunterricht beziehungsweise Schulzeugnis), 2 0 das in der Praxis freilich
wenig griff und bei fehlenden Inspektionsinstrumenten leicht zu umgehen
war. Wichtiger auch als die gesetzliche Verschärfung des Jahres 1853 mit
der regionalen Einsetzung von Fabrikinspektoren, die unter anderem auf
die Schulbildung der arbeitenden Kinder zu achten hatten, war die ma-
schinelle Entwicklung selbst, die Kinderarbeit in den modernen Fabriken
zunehmend überflüssig, ja unwirtschaftlich werden ließ, so daß die gesetz-
lichen Eingriffe die Entwicklung allenfalls beschleunigten. Im Jahre 1849
gab es in ganz Preußen nur rund 3 0 . 0 0 0 Fabrikarbeiter unter 14 Jahren,
was 1,5 Prozent aller Neun- bis Dreizehnjährigen ausmachte. 2 1
In diesem F a k t u m ist ein Erklärungsmoment für die Expansion von
Schulbesuch (und Alphabetisierungsquote) in den Jahrzehnten bis 1870 zu
erkennen. Für Preußen im Jahre 1816 wird von einem Schulbesuch von
6 0 Prozent der im schulpflichtigem Alter Befindlichen ausgegangen, wäh-
rend die Vergleichszahl des Jahres 1846 für die in den Schulen voll erfaßten
Kinder schon um 8 0 Prozent liegt, wobei bemerkenswerte Fortschritte im
Rheinland und im Posenschen zu verzeichnen sind. 2 2 Diese Durchschnitts-

19 Druck: Günther K. ANTON, Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung bis


zu ihrer Aufnahme durch die Reichsgewerbeordnung. Auf Grund amtlicher
Quellen bearbeitet [1891], hg. von Horst Bülter, Berlin H953, S. 190ff., dazu
S. 57f.; W. KÖLLMANN, Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik... (1972) [s. o.
Anm. 18], S. 414.
20 Druck: G. K. ANTON, Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung... ( 2 1953)
[s. o. Anm. 19], S . 7 4 f f . ; dazu S. 6 1 - 7 4 , 85 f., 89, (zu 1853: S. 1 0 2 - 1 4 5 ) ;
J. KUCZYNSKI, Studien zur Geschichte der Lage des arbeitenden Kindes... (1968)
[s.o. Anm. 18], S. 8 9 - 9 2 (auch zu den militärischen Motiven); W. KÖLLMANN,
Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik... (1972) [s. o. Anm. 18], S. 417, zum
Gesetz von 1853: S. 421.
21 Grundlegend: Karl-Heinz LUDWIG, Die Fabrikarbeit von Kindern im 19. Jahr-
hundert. Ein Problem der Technikgeschichte, in: VSWG, Bd. 52 (1965), S. 6 3 -
85, hier S. 66 ff., 70 ff., 74, 77 ff.; s. auch die Einleitung von Michael KLÖCKER
zu Hermann ALTGELT, Sammlung der gesetzlichen Bestimmungen und Vorschrif-
ten des Elementar-Schulwesens im Bezirke der Königlichen Regierung zu Düs-
seldorf. Nebst einer historischen Einleitung in die Verwaltung des öffentlichen
Unterrichts aus den Zeiten des Churfürsten Carl Theodor, bis auf das Todesjahr
Königs Friedrich Wilhelm III. 1 7 9 4 - 1 8 4 0 , Düsseldorf 2 1842 (ND [ = SGVSch,
Bd. 3], Köln-Wien 1986), S. XIII. J . KUCZYNSKI, Studien zur Geschichte der Lage
des arbeitenden Kindes... (1968) [s. o. Anm. 18], S. 103, hielt die Wirtschaftskrise
von 1857 in diesem Kontext für entscheidend.
22 Vgl. die Zahlen bei Thomas NIPPERDEY, Volksschule und Revolution im Vormärz.
Eine Fallstudie zur Modernisierung II [1968], in: Ders., Gesellschaft, Kultur,
Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte ( = KrStGw, Bd. 18),
Göttingen 1976, S. 206 - 227, S. 447 - 450, hier S. 448, Anm. 9; R. KOSELLECK,
Preußen zwischen Reform und Revolution... ( z 1975) [s. o. Anm. 3], S. 442.
714 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

zahlen verdecken allerdings starke regionale Unterschiede gerade für die


frühen Jahrzehnte, wenn 1816 etwa in der Provinz Sachsen die Schulbe-
suchsquote über 80 Prozent, in der Provinz Posen aber bei 20 Prozent lag. 2 3
Diese Schwankungsbreite wurde allerdings schnell verringert. Tabelle 4 gibt
für das Jahr 1840 den Prozentsatz der Kinder vom 6. bis 14. Lebensjahr
(nach J. G. Hoffmann) wieder, die tatsächlich die Schule besucht haben. 2 4

TABELLE 4
Schulbesuch in Preußen 1840
(in Prozent aller Kinder vom 6. bis 14. Lebensjahr)

Reg.-Bez. % Reg.-Bez. %

Merseburg 93,06 Düsseldorf 80,36


Magdeburg 91,90 Köln 79,87
Erfurt 90,03 Minden 78,19
Koblenz 89,85 Trier 78,11
Potsdam (o. Berlin) 88,77 Oppeln 79,35
Liegnitz 85,64 Königsberg 74,67
Breslau 85,43 Gumbinnen 74,14
Münster 84,09 Köslin 72,86
Arnsberg 83,93 Posen 67,52
Frankfurt 83,38 Danzig 67,49
Stettin 80,63 Marienwerder 65,69
Aachen 80,41 Bromberg 56,01

Quelle: Johann Gottfried HOFFMANN, Uebersicht des Zahlenverhältnisses der schul-


fähigen Kinder zu denjenigen, welche wirklich Unterricht in öffentlichen Schulen
erhalten. Nach den Ergebnissen der am Ende des Jahres 1840 im Preussischen Staate
aufgenommenen Kirchen- und Schultabelle, in: Ders., Sammlung kleiner Schriften
staatswirthschaftlichen Inhalts, Berlin 1843, S. 154 — 158.

Außer den noch immer starken regionalen Unterschieden wird deutlich,


daß die östlichen Provinzen diejenigen Regionen mit dem noch immer
geringsten Schulbesuch aufwiesen, die rheinisch-westfälischen Regierungs-
bezirke aber mitnichten an der Spitze der Entwicklung standen. Vielmehr
war in den mittleren Provinzen der Schulbesuch um 1840 besonders hoch,
also in den Gebieten, die schon am Ende des 18. Jahrhunderts eine außer-

23 Achim LESCHINSKY/Peter Martin ROEDER, Schule im historischen Prozeß. Zum


Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Entwick-
lung, Stuttgart 1976, S. 137 f.; dazu noch die Angaben von 1840 bei J. G. HOFF-
MANN, Übersicht des Zahlenverhältnisses der schulfähigen Kinder zu denjenigen,
welche wirklich Unterricht in öffentlichen Schulen erhalten. Nach den Ergebnis-
sen der am Ende des Jahres 1840 im Preussischen Staate aufgenommenen Kirchen-
und Schultabelle, in: Ders., Sammlung kleiner Schriften... (1843) [s. o. Anm. 9],
S. 1 5 1 .
24 A.a.O., S. 1 5 4 - 1 5 8 ; zur K r i t i k d e r Z a h l e n : A . LESCHINSKY/P. M . ROEDER,
Schule im historischen Prozeß... (1976) [s. o. Anm. 23], S. 139.
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 715

ordentliche Schuldichte aufwiesen (s. o. Tabelle 1 auf S. 631). Die Anglei-


chung der Regionalismen auf ein annähernd identisches gesamtstaatliches
Niveau war nur noch eine Frage der Zeit. In der Mitte der 1860er Jahre
lagen die Schulbesuchszahlen aller preußischer Provinzen bei über
90 Prozent, während die gesamtstaatliche Quote 1838 noch bei 76 Prozent
gelegen hatte. 25
Es ist allerdings nicht allein und wohl auch nicht primär ein gesteigertes
Bildungsinteresse in der Bevölkerung selbst, das in den Quellen und in
ortsgeschichtlicher Literatur freilich zu fassen ist, das sich in diesen Zahlen
widerspiegelt. Den Schulbesuchsquoten modernen Niveaus entsprach eine
bis dahin nicht gekannte Strenge des staatlichen Zugriffs. Wurde im
18. Jahrhundert gebeten, ermahnt und — wenn das Vorgehen schärfer
wurde — die Gemeinde ernsthaft „erinnert", die Kinder zur Schule zu
schicken, so wurde seit den Jahrzehnten des Vormärz aus Deklarationen
eine wirkliche Pflichtigkeit zum Schulbesuch, die die moderne Verwaltung
nun auch zwangsweise durchzusetzen suchte. Erst seit dieser Zeit kann von
einer wirklichen Schulpflicht gesprochen werden. Geld- und Haftstrafen
wurden — undenkbar im 18. Jahrhundert — exekutiert. Jetzt wurden zur
Durchsetzung die Polizeibehörden herangezogen, um Schulbesuchskontrol-
len durchzuführen.26 Auf dem Lande wurde nun der starke weltliche Arm
der Verwaltung, der Landrat, bei der Bestrafung von Schulversäumnissen
eingesetzt.27 In Berlin haben die Kommunalbehörden mit einer Verdichtung
der Kontroll- und Exekutionsorgane, deren Befugnisse weit gefaßt wurden,
in einer über Jahrzehnte sich erstreckenden Tätigkeit einen prozentual hohen

25 Die Zahlen bei Rolf ENGELSING, Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialge-
schichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesell-
schaft, Stuttgart 1973, S. 103; zu 1838 vgl. die Zahlen a. a. O., S. 73, und Etienne
FRANÇOIS, Alphabetisierung in Frankreich und Deutschland während des
19. Jahrhunderts, in: ZfPäd, 29. Jg. (1983), S. 7 5 5 - 7 6 8 , bes. S. 764 (hier auch
Provinzdaten für 1838).
26 Beispiele: Zirkular der Regierung Arnsberg vom 25. I. 1825, in: JbbPV, Bd. 2
(1825), S. 258 f.; G. K. ANTON, Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung...
( 2 1 9 5 3 ) [s. o . A n m . 1 9 ] , S. 5 4 ( B e r l i n ) , S. 1 3 2 ( A a c h e n ) ; H . J . A P E L / M . KLÖCKER,
Schulwirklichkeit in Rheinpreußen... (1986) [19], S. 66; Detlef K. MÜLLER, So-
zialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im
19. Jahrhundert ( = StWGesB, Bd. 7), Göttingen 1977, S. 181 f. (Berlin); Wolfgang
Ribbe (Hg.), Von der Residenz zur City. 275 Jahre Charlottenburg, Berlin 1980,
S. 1 2 0 f.
27 Beispiele für landrätliches Eingreifen: MICHAELIS, Was ist in der Oelsner Super-
intendentur seit drei Jahren für's Elementarschulwesen geschehen?, in: JbbPV,
Bd. 2 (1825), S. 173, 178; für die Probleme in den 1870er Jahren: Horst MIES,
Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Marienwerder ( 1 8 3 0 - 1 8 7 0 )
( = StGPr, Bd. 17), Köln-Berlin 1972, S. 158 f. Allgemein s. die Einleitung von
Michael KLÖCKER ZU dem von ihm herausgegebenen Neudruck des Werkes von
Karl RITSCH (Hg.), Sammlung der Verordnungen und Bekanntmachungen, welche
in Bezug auf das Elementar-Unterrichtswesen für den Regierungs-Bezirk Aachen
erlassen worden sind, 1 Bd. und 2 Nachtr., Aachen 1835 - 1 8 4 5 (ND [ = SGVSch,
Bd.l], Köln-Wien 1985), S. XXXIII.
716 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Schulbesuch zu erzwingen gewußt.28 Dabei ist zugleich beispielhaft zu


beobachten, daß auch durch den modernen Zugriff zur Durchsetzung der
Schulpflicht der Effekt erst nach Jahrzehnten durchschlagend wurde; es ist
von einem langen Erzwingungs- und Gewöhnungsprozeß auszugehen, der
erst in den 1860er bis zum Anfang der 1880er Jahre zum Abschluß gelangte.
In den Städten, zum Beispiel in Berlin, trat zu dem Problem des Schul-
besuchs an sich das der Privat- sowie der Winkelschulen, wiewohl seit den
1820er Jahren entschiedene Maßnahmen auch in dieser Hinsicht ergriffen
wurden. Um erneut das Beispiel der Hauptstadt als Illustration zu wählen,
so hatten Beratungen zwischen Kultusministerium und städtischen Behörden
diese (1824) zur Überzeugung gebracht, „daß die Privatschulen sowohl
wegen ihrer zeitigen mangelhaften Organisation und Beaufsichtigung, als
auch wegen der in der Natur ihres Verhältnisses liegenden Mängel unge-
nügend seien; daß das Privat-Schulwesen in Berlin überhaupt zu sehr Ober-
hand genommen habe, und es in jeder Beziehung als unzulässig erscheine,
das ganze Bürger-Schulwesen einer großen Stadt auf die von Privat-Unter-
nehmern errichteten und daher von so vielen Zufälligkeiten abhängenden
Parochial- und Privatschulen zu gründen." 29 Dagegen wurde nun einerseits
zu dem Mittel gegriffen, parallel zu dem Privatschulwesen öffentliche An-
stalten zu errichten, um somit Normen zu setzen und einen Anpassungs-
druck zu erzeugen, andererseits wurde die Beaufsichtigung der privaten
Institute zum Beispiel durch die reformierten Stadtorgane entschieden in-
tensiviert und überhaupt in preußischen Städten die Winkelschulen langsam
verdrängt, was in der Residenz eine zeitweise erneute Zunahme der Win-
kelschulen als Reflex auf steigende Schülerzahlen noch nicht ausschloß.30
Die Hauslehrererziehung spielte um 1840 quantitativ für die Knaben keine
bedeutende Rolle mehr. Befand sich „die Mehrheit der Schulpflichtigen in
den preußischen Städten... am Beginn des 19. Jahrhunderts in Privatschu-

28 Außer der Arbeit von D. K. MÜLLER, Sozialstruktur und Schulsystem... (1977)


[s. o. Anm. 26] noch immer wichtig: Leopold Hermann FISCHER, Die Entwicklung
des Berliner Volksschulwesens, in: Festschrift zum VIII. Deutschen Lehrertage
1890, Berlin 1890, S. 4 9 - 1 0 8 , hier S. 8 8 - 9 2 .
29 Besonders: Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin in den Jahren 1829 bis
incl. 1840, hg. von den Städtischen Behörden, Berlin 1842, S. 271.
30 A. a. O., S. 272, ferner S. 301 ff.; L. H. FISCHER, Die Entwicklung des Berliner
Volksschulwesens... (1890) [s. o. Anm. 28], S. 6 7 - 7 9 (mit weiteren Details), und
Peter LUNDGREEN, Schulbildung und Frühindustrialisierung in Berlin/Preußen,
in: O t t o Büsch (Hg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisie-
rung ( = EvHKzB, Bd. 6), Berlin 1971, S. 5 6 2 - 6 1 0 , hier S. 5 7 0 (mit Lit.), und
Konrad FISCHER, Geschichte des deutschen Volksschullehrerstandes, Hannover
1892 (ND Leipzig 1969), S. 180; Kurt DÜWELL, Das Schul- und Hochschulwesen
der Rheinlande. Wissenschaft und Bildung seit 1815, in: Franz Petri/Georg Droege
(Hg.), Rheinische Geschichte in drei Bänden, Bd. 3, Düsseldorf 2 1980, S. 4 6 5 —
552, hier S. 472. — Diese Fragen bedürfen weiterer Forschung; Hauslehrer: J. G.
HOFFMANN, in: Ders., Sammlung kleiner Schriften... (1843) [s. o. Anm. 9], S. 151;
s. oben § 2, I, Anm. 38.
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 717

len", 31 so ist auch in dieser Hinsicht ein grundlegender evolutionärer Wandel


in Jahrzehnten erfolgt, ohne daß aber bereits ein öffentliches Schulmonopol
bestanden hätte. Der Druck steigender staatlicher Ansprüche, zugeschnitten
auf die öffentlichen beziehungsweise öffentlich (teil-)finanzierten Schulen,
engte den Spielraum privater Tätigkeit in diesem Sektor zunehmend ein; in
den — nun freilich überwachten und an staatlichen Normen orientierten
- Privatschulen wurden 1864 noch 8,5 Prozent aller Vo/èsschûler in den
Städten unterrichtet. Im Jahre 1911 standen dann in Preußen 38.684 öf-
fentlichen Volksschulen noch ganze 271 private gegenüber. In Berlin betrug
1868 der Anteil „unterer Privatschüler" an den Schulpflichtigen 15,2 Prozent,
hinzu kamen 6 Prozent „höherer Privatschüler"; beide Gruppen zusammen
machten 1888 knappe 4 Prozent, 1908 noch 1,6 Prozent aus. 32 Zahlen wie
diese sind zugleich Ausdruck einer bedeutenden schulpolitischen Leistung
der Stadtkommunen für den Aufbau einer schulischen Infrastruktur.33 Das
öffentliche Schulwesen war eben nicht allein eine Institution des Staats.

2. Bildung als Verlangen der Gesellschaft

In einem Bereich blieben private Anstalten im ganzen 19. Jahrhundert von


besonderer Bedeutung: auf dem Gebiet des höheren Mädchenschulwesens.
In Ermangelung von Anstalten, in denen Mädchen so wie die Knaben auf
den Realschulen bis hin zum gymnasialen Niveau Unterricht empfangen
konnten, blieb hier ein Aufgabenfeld sowohl für Hauslehrer als auch für
Privatanstalten erhalten. 34 Allenfalls standen sie unter kommunaler Träger-
schaft, doch blieben staatliche finanzielle Unterstützungen auch im letzten

31 So Detlef K. MÜLLER u. a., Modellentwicklung zur Analyse von Krisenphasen


im Verhältnis von Schulsystem und staatlichem Beschäftigungssystem. Materia-
lien und Interpretationsansätze zur Situation in Preußen zur 2. Hälfte des
19. Jahrhunderts, in: Ulrich Herrmann (Hg.), Historische Pädagogik... ( = ZfPäd,
Beih. 14), Weinheim-Basel 1977, S. 3 7 - 7 7 , hier S. 41; s. auch D.K. MÜLLER,
Sozialstruktur und Schulsystem... (1977) [s. o. Anm. 26], S. 42, ferner S. 44, 54
u. ö.
32 P. LUNDGREEN, Sozialgeschichte der deutschen Schule... (1980) [37], Bd. 1, S. 94 f.,
S. 97; Helga ROMBERG, Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen
Bildungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
unter besonderer Berücksichtigung Preußens ( = StDokdBg, Bd. 11), Weinheim —
Basel 1979, S. 439.
33 P. LUNDGREEN, Sozialgeschichte der deutschen Schule... (1980) [37], Bd. 1, S. 99,
und grundsätzlich: H. ROMBERG, Staat und Höhere Schule... (1979) [s. o.
Anm. 32], S. 384, 398, 409 f., zur juristischen Problematik: S. 405 f.
34 Beispiele aus orts- bzw. lokalgeschichtlicher Lit.: H. MIES, Die preußische Ver-
waltung des Regierungsbezirks Marienwerder... (1927) [s. o. Anm. 27], S. 149;
Martin WEHRMANN, Geschichte der Stadt Stettin, Stettin 1911 (ND Frankfurt/
M. 1979), S. 488; Wilhelm RICHTER, Berliner Schulgeschichte. Von den mittel-
alterlichen Anfängen bis zum Ende der Weimarer Republik ( = HPädSt, Bd. 13),
Berlin 1981, S. 78.
718 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts für höhere Mädchenschulen die Ausnahme. 35


Noch 1899 wurden rund 70.000 Mädchen in über das Volksschulniveau
hinausgehenden öffentlichen, und annähernd dieselbe Zahl „in privaten
Schulen" gezählt. 353
Nicht nur in der privaten Trägerschaft dieser Anstalten wird beispielhaft
deutlich, wie sich ein im 19. Jahrhundert wachsendes Bildungsverlangen
gesellschaftlicher Gruppen die Institute zur Befriedigung dieser Bedürfnisse
schuf — auf Ansätze seit dem späten 18. Jahrhundert wurde hingewiesen 36
—, der gesellschaftliche Impuls wird auch in der Rolle der Frauenbewegung
des späten 19. Jahrhunderts (besonders Helene Lange/Gertrud Bäumer) für
die Entwicklung des höheren Mädchenschulwesens und das Recht der
Frauen zum Universitätsstudium deutlich. Zu den Forderungen der Frau-
enbewegung gehörte die Ordnung der bis dahin außerordentlich vielgestal-
tigen Mädchenschulen und die Ausdehnung der staatlichen Kontrolle auf
diese, eine Anregung, der seitens der Verwaltung mit Rücksicht auf die zu
erwartenden Belastungen nur zögernd gefolgt wurde. 37
Wichtige Etappen zur Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens in
Preußen waren die Lehrplanbestimmungen von 1886, die aber „der gleich-
mäßigen Regelung noch entbehrt(en)", und dann insbesondere die von 1894. 38
Seit 1896 konnten Frauen mit einer besonderen Genehmigung des Universi-
tätskurators als Hospitantinnen an Universitäten studieren; in den Jahren
zuvor hatte es schon Spezialerlaubnisse des Ministers gegeben. Schließlich
wurde im Jahre 1908 das höhere Mädchenschulwesen Preußens einer gründ-
lichen Reform unterzogen und nunmehr — 1908 an den Universitäten und
1909 an den Technischen Hochschulen — den Frauen auch das unbeschränkte

35 Jürgen ZINNECKER, Sozialgeschichte der Mädchenbildung. Zur Kritik der Schul-


erziehung von Mädchen im bürgerlichen Patriarchalismus, Weinheim-Basel 1973,
S.38; James C. ALBISETTI, Secondary School Reform in Imperial Germany,
Princeton-New Jersey 1983, S. 113; jetzt ders., Schooling German Girls and
Women. Secondary and Higher Education in the Nineteenth Century, Princeton/
New Jersey 1988, S. 33 ff. und zum Folgenden passim.
3Ja Nichtamtliches Gutachten vom 23. II. 1899, ZB1UV, 1899, S. 400-404, hier S. 402.
36 S. o. § 2, I, bei Anm. 42.
37 M. KRAUL, Das deutsche Gymnasien... (1984) [34], S. 144f.; ferner: Norbert
ANDERNACH, Der Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen in Preußen
1848-1918 ( = S t W G e s B , B d . 4 ) , G ö t t i n g e n 1 9 7 2 , S. 1 6 7 f . ; T h e o b a l d ZIEGLER,
Geschichte der Pädagogik mit besonderer Rücksicht auf das höhere Unterrichts-
wesen ( = HbEUl, Bd. 1/1), München 3 1909, S. 403 f.; Paul CAUER, Das höhere
Schulwesen, in: S. Körte u. a. (Hg.), Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Bd. 2,
B e r l i n 1 9 1 4 , S. 1 0 8 4 - 1 1 0 0 , S. 1 0 8 8 f.
38 ZB1UV, 1894, Nr. 95, S. 4 4 6 - 5 1 8 ; das vorhergehende Zitat (Erlaß des Kultus-
ministers vom 31. V. 1894), S. 447; die Lehrpläne: S. 4 5 9 - 4 8 3 ; dazu und zum
folgenden: Rudolf LEHMANN, Der gelehrte Unterricht bis zum Weltkrieg. 1 8 9 2 -
1914, in: F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts... ( 3 1921) [40], Bd. 2,
S. 6 9 3 - 7 9 7 , hier S. 7 7 4 — 781; aus der neueren Lit.: Barbara DuDEN/Hans EBERT,
Die Anfänge des Frauenstudiums an der Technischen Universität Berlin, in: R.
RÜRUP (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft... (1979) [58], Bd. 1, S. 4 0 4 f .
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 719

Immatrikulationsrecht zugebilligt, in Preußen übrigens später als in zahlrei-


chen anderen deutschen Staaten. 39 In der Ministerialverwaltung und beson-
ders an den Universitäten selbst war gegen die Zulassung der Frauen erheb-
licher Widerstand geübt worden. In Preußen betrug der Frauenanteil an den
Studierenden der Universitäten 1914 immerhin 7,4 Prozent. 40
So hatte eine Bildungsbewegung — eben die für eine geordnete höhere
Frauenbildung — letztlich für den Staat zu erneutem Regelungsbedarf geführt
und im Ergebnis zu der Reform des Jahres 1908 mit ihrer Klassifizierung der
höheren Mädchenschulen (Lyzeum, Studienanstalt usw.) beigetragen. Die Ni-
veauanhebung brachte in der Folgezeit „viele Schulen in kleineren Städten
und überall die Privatschulen" in eine „üble Lage". „Konnten sie den neuen
Ansprüchen in bezug auf Lehrräume und Lehrkräfte nicht genügen, so wurden
sie zur Minderwertigkeit gestempelt, zwangen sie sich aber, die Mittel auf-
zubringen, so war damit in vielen Fällen eine unerträgliche Last übernom-
men." Als „Erwerbsunternehmen" waren die reformierten höheren Mäd-
chenschulen nicht mehr zu führen. Insofern lag die Übernahme dieser An-
staltsart in öffentliche Hände im Zuge der weiteren Entwicklung. 41
Elementares Bildungsstreben auch außerhalb der von der Kultusverwaltung
genormten und kontrollierten Institutionenschichten, in denen Aufstiegschan-
cen und Karriereberechtigungen zugewiesen wurden, kennzeichnete das
19. Jahrhundert. Die „Mittelschulen" für Knaben 4 2 im ausgehenden
19. Jahrhundert mit ihrem noch lange bedeutenden privaten Anteil böten für
die Befriedigung spezieller Bildungsbedürfnisse außerhalb des öffentlichen
Schulwesens einen weiteren Beleg. Adolf (von) Harnack sprach um 1900 da-
von, daß gerade das „Bildungsstreben" der Frauen und der Arbeiterschaft
„unsrer Epoche recht eigentlich den Stempel auf(drücke)". Nun nähmen auch
die „kleinen Leute" und Arbeiter am intellektuellen Leben teil. „Ein brennen-
des Verlangen, ein Hunger nach wirklichen Kenntnissen, nach einer wissen-

39 ZB1UV, 1896, S. 5 6 7 (Zirkular v o m 16. VII. 1896); Β. DUDEN/H. EBERT, Die


Anfänge des Frauenstudiums... (1979) [s. o. A n m . 3 8 ] , S. 4 0 3 - 4 0 7 ; vgl. damit
J . ZINNECKER, Sozialgeschichte der Mädchenbildung... (1983) [s. o. A n m . 35],
S. 88 f.; zu 1 9 0 8 / 9 die Quellen bei G. GIESE (Hg.), Quellen zur deutschen Schul-
geschichte... (1961) [21], S. 2 2 1 - 2 2 6 , und T h o m a s ELLWEIN, Die deutsche Uni-
versität v o m Mittelalter bis zur Gegenwart, Königstein/Ts. 1985, S. 179; Friedrich
ScHULZE/Paul SSYMANK, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis
zur Gegenwart, M ü n c h e n 4 1 9 3 2 , S. 3 9 9 — 4 0 2 ; P. LUNDGREEN, Sozialgeschichte
der deutschen Schule... (1980) [37], Bd. 2, S. 6 7 f f . ; jetzt: H . - J . APEL, Sonder-
w e g e . . . (1988) [109], bes. S. 184 ff.; Stand um 1 9 0 0 bei Gertrud BÄUMER, Das
Mädchenschulwesen, in: Wfilhelm] Lexis (Hg.), Das Unterrichtswesen im Deut-
schen R e i c h . . . , Bd. 2, Berlin 1904, S. 2 3 5 - 4 2 6 , bes. S. 3 1 2 - 3 5 4 .
40 Konrad H . JARAUSCH, T h e Social Transformation of the University: T h e Case
of Prussia 1 8 6 5 - 1 9 1 4 , in: J S H , Bd. 12 (1979), S. 6 0 9 - 6 3 6 , hier S. 6 1 8 f.
41 So P. CAUER, Das höhere Schulwesen... (1914) [s. o. A n m . 37], S. 1096.
42 A. LESCHINSKY/P. M . ROEDER, Schule im historischen P r o z e ß . . . (1976) [s. o.
A n m . 11], S. 2 0 0 f.; vgl. damit die Zahlen bei Ρ. LUNDQREEN, Sozialgeschichte
der deutschen Schule... (1980) [37], Bd. 2, S. 5 8 f.
720 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

schaftlichen Weltanschauung ist vorhanden." 43 Die ersten Arbeiterbildungs-


vereine und analoge Einrichtungen für Handwerker entstanden im Vormärz;
schon 1844 läßt sich ein Handwerkerbildungsverein in Berlin nachweisen, und
in Köln hat ein solcher Zusammenschluß für Arbeiter 1848 bestanden. 44 Die
in den Jahren nach der Revolution zum Teil zu beobachtende Entwicklung
dieser Arbeitervereine mit Bildungsambitionen zu Lesezirkeln erinnert an die
sehr viel ältere Tradition der Lesegesellschaften, die vom 18. in das
19. Jahrhundert hineinreicht. 45 Seit den 1860er Jahren ist ein erneuter Auf-
schwung der Arbeiter- und Handwerkerbildungsvereine festzustellen, in de-
nen auch Anfänge der Erwachsenenbildung entgegentreten. Das Vereinswe-
sen 46 des 19. Jahrhunderts, Aktivitäten zur Erfüllung sozialer Zwecke in freier
Geselligkeit und unabhängig von älteren ständischen oder herrschaftlichen
Bindungen, gehört zu einem Teil in den Kontext freier, gesellschaftlicher Wis-
senschafts- und Bildungsbestrebungen, die mit der zunehmenden staatlichen
Durchdringung der institutionellen Bildung parallel verliefen. Schon seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts sind etwa in dem Raum Berlin/Brandenburg ver-
einsmäßige Volksbildungsbemühungen auszumachen, wobei zum Adressa-
tenkreis auch ein breiteres Publikum gewählt wurde. 47 Insofern reihen sie sich
in die Vorgeschichte der Volkshochschulbewegung um 1900 ein, in die Bil-
dungsbestrebungen liberaler bildungsbürgerlicher Kreise eingingen. Daß zu
dieser Zeit sich auch Universitätsprofessoren — unter anderem in Berlin und
gegen Bedenken der preußischen Regierung — dem gesellschaftlichen Bil-
dungsverlangen offen zur Verfügung stellten, um, wie der Nationalökonom
Schmoller formulierte, Spezialkenntnisse auch in den Mittel- und Unterschich-
ten und besonders in der Arbeiterschaft zu verbreiten, beleuchtet die quan-
titative und qualitative Kulturevolution im Preußen des 19. Jahrhunderts. 48

43 Adolf von HARNACK, Die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bil-
dungsstrebens [1902], in: Ders., Reden und Aufsätze, Bd. 2, Gießen 1904, S. 7 7 —
106, hier S. 80 ff.
44 Karl BIRKER, Die deutschen Arbeiterbildungsvereine 1 8 4 0 - 1 8 7 0 ... ( = EvHKzB,
Bd. 10), Berlin 1973, S. 35, 49, 86, 90, u. ö.; Frolinde BALSER, Die Anfänge der
Erwachsenenbildung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Eine kultursoziologische Deutung..., Stuttgart 1959, S. 89 - 92, 227, 2 3 6 ; dazu
R . ENGELSING, Analphabetentum und Lektüre... (1973) [s. o. Anm. 25], S. 108 ff.
45 Vgl. oben § 2, I, bei Anm. 43.
46 Grundlegend, bes. für die sozialgeschichtlichen Zusammenhänge: T h o m a s NIP-
PERDEY, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen
19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I [1972], in: Ders., Gesell-
schaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte ( =
KrStGw, Bd. 18), Göttingen 1972, S. 174 - 205, S. 4 3 9 - 447, bes. S. 175, 1 7 7 f . ,
181 f., 187ff. u. ö.; wissenschaftliche Vereinsbildungen in Preußen: Frank R .
PFETSCH, Z u r Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750 - 1 9 1 4 ,
Berlin 1974, S. 2 0 5 ff.
47 Georg KOTOWSKI, Bildungswesen, in: Hans Herzfeld/Gerd Heinrich (Hg.), Berlin
und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert (VHKzB, Bd. 25),
Berlin 1968, S. 5 1 5 - 5 5 5 , hier S. 548 f.
48 Rüdiger vom BRUCH, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrten-
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 721

3. Die Alphabetisierungsentwicklung des 19. Jahrhunderts

Die elementare Bildungsentwicklung im 19. Jahrhundert ist auf das engste


verknüpft mit der Steigerung des Alphabetisierungsgrades insbesondere in
den Unterschichten. In der entscheidenden Steigerung des Alphabetisie-
rungsstandes, der um 1900 von einer nahezu gänzlich über elementare
Kenntnisse des Lesens und Schreibens verfügenden Bevölkerung sprechen
läßt, ist einerseits eine Folge des Ausbaus im (niederen) Schulwesen aus-
zumachen, und zugleich wird eine wesentliche Voraussetzung für die —
auch mittlere und höhere — Bildungsentwicklung im Preußen des
19. Jahrhunderts deutlich, die bei einer nur schulgeschichtlichen Betrachtung
allzu leicht übersehen wird. Wird von elementaren Formen kultureller
Beteiligung durch mündliche Tradierung abgesehen, wie sie für frühere
Zeiten mehr angenommen als bislang quellenmäßig gefaßt werden konnten,
nimmt seit dem 19. Jahrhundert ein ständig größer werdender Bevölke-
rungsanteil über die Schriftlichkeit am Kulturprozeß teil.
Die frühesten Zahlen über den Alphabetisierungsstand sind lokal begrenzt
und unsicher, zumal der Indikator der Unterschriftsfähigkeit — wiewohl
nicht zu ersetzen — nur ungefähre Schlüsse erlaubt. Gleichwohl gehen
Schätzungen für das Preußen des Jahres 1800 von einem Anteil der „Al-
phabetisierten" um 60 Prozent aus, 4 9 doch scheint dieses Datum etwas zu
hoch angesetzt worden zu sein, wie regionale Stichproben 50 zeigen, muß
doch bei der unterbäuerlichen Bevölkerung und insbesondere unter den
Frauen mit einem weit überdurchschnittlichen Prozentsatz derer gerechnet
werden, die ihren eigenen Namen nicht zu schreiben vermochten. Daß dies
nicht allein Probleme des ländlichen Raumes waren, zeigen zum Beispiel
die Analphabetenanteile in kleineren und mittleren Städten Schlesiens zu
Beginn des 19. Jahrhunderts; unter den 900 Bürgern und Tuchmachermei-
stern in Grünberg — um diesen Fall herauszugreifen — konnte 1821/22 ein
Drittel seinen Namen gar nicht, ein weiteres Drittel nicht leserlich schreiben.

Politik im Wilhelminischen Deutschland 1 8 9 0 - 1 9 1 4 ( = HSt, Bd. 453), Husum


1980, S. 2 6 2 ff., (S. 264, Anm. 206: hoher Arbeiteranteil an Berliner Hochschul-
kursen). G. KOTOWSKI, Bildungswesen... (1968) [s. o. Anm. 47], S. 548 f.;
R . LEHMANN; Der gelehrte Unterricht bis zum Weltkrieg... (1921) [s. o. Anm. 38],
S. 699; Beispiel: Ludwig LEWIN, Z u r Geschichte der Lessing-Hochschule Berlin
1914 — 1933, in: Ludwig Lewin und die Lessing-Hochschule. Festschrift zum
zehnjährigen Bestehen der Lessing-Hochschule nach der Neugründung im Jahre
1965, [Berlin 1975], S. 1 f.
49 Die Zahl bei Peter FLORA, Die Bildungsentwicklung im Prozeß der Staaten- und
Nationenbildung. Eine vergleichende Analyse, in: Peter Christian Ludz (Hg.),
Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme ( = KZSozSp, Sonderheft
16), Opladen 1972, S. 2 9 4 - 3 1 9 , hier S. 304.
50 So nach noch unpublizierten Erhebungen an Hand brandenburgischen Materials
im GStA Berlin-Dahlem; vgl. K.-E. JEISMANN (Hg.), Bildung... (1989) [95], S. 41,
vgl. ferner noch R. ENGELSING, Analphabetentum und Lektüre... (1973) [s. o.
Anm. 25], S. 62, und damit F . W . HENNING, Herrschaft und Bauernuntertänig-
keit... (1964) [s. o. Anm. 25], S. 79.
722 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Auch in Berlin konnten zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht alle Besitzer
größerer Textilfabriken mit ihrem Namen unterzeichnen.51 Analphabeten
fanden sich in Provinzstädten selbst unter den Stadtverordneten.
Seit dem zweiten Jahrhundertdrittel liegen Erhebungen über die „Schul-
bildung" der in das Heer eingestellten „Ersatzmannschaften" vor, die neben
dem Anteil der Analphabeten auch noch — seit 1851/52 — den Prozentsatz
junger Soldaten mit mangelnder beziehungsweise genügender Schulbildung
angeben. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß diese Zahlen wiederum
- gemessen an der Gesamtbevölkerung — ein entschieden positives Bild
ergeben, da mit dem spezifischen Lebensalter, noch nahe an dem gegebe-
nenfalls absolvierten Schulbesuch, und der geschlechtsspezifischen Selektion
eine entschieden überdurchschnittlich alphabetisierte Bevölkerungsgruppe
erfaßt worden ist. Tabelle 5 gibt nach Ludwig von Rönne die Daten für
die Jahrhundertmitte (siehe Tabelle 5 auf S. 723). 5 2
Wie ein Vergleich mit den zeitgleichen Statistiken einzelner Regionen
zeigt, verbargen sich unter der Rubrik der „mangelhaften" Schulbildung
zahlreiche Fälle von jungen Männern, die ausschließlich gedruckte Schrift
zu lesen vermochten. Deutlich ist jedoch aus diesen ersten einschlägigen
Erhebungen der Abbau der Analphabetenmaxima in den mittleren Jahr-
zehnten des 19. Jahrhunderts nach Provinzen abzulesen, wobei allerdings
in Ost- und Westpreußen dieser Prozeß signifikant verlangsamt, ja aufge-
halten erscheint. Als längerfristiger Überblick wird Tabelle 6 gegeben (auf
S. 723). 5 3

51 Diese Beispiele: Friedrich GoLDSCHMiDT/Paul GOLDSCHMIDT, Das Leben des


Staatsrath Kunth, Berlin 2 1888, S. 107 und 32.
52 L. von RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates... (1854/55)
[16], Bd. 1, S. 238; vgl. die detailliertere Statistik für die Ersatzmannschaften der
Provinz Preußen (1844) bei A. LESCHINSKY/P. M . ROEDER, Schule im historischen
Prozeß... (1976) [s. o. Anm. 11], S. 159; Zahlen für die Regierungsbezirke Posen
und Bromberg (seit 1836): Karl B[RÄMER], Religionsbekenntnis und Schulbildung
der Bevölkerung des preußischen Staats, in: ZStatB, 14. Jg. (1874), S. 1 4 3 - 1 5 2 ,
hier S. 151; zur gesamtstaatlichen Statistik H. BUSSHOFF, Die preußische Volks-
schule als soziales Gebilde... (1971) [s. o. Anm. 15], S. 390. Zur Kritik der Zahlen
auch J . TEWS, Zur deutschen Bildungsstatistik, in: DSch, 13. Jg. (1909), S. 9 0 -
96, hier S. 92; A[lwin] PETERSILIE, Analphabeten, in: HwbdSt, Bd. 1, Jena 3 1909,
S. 439 - 444, hier S . 4 4 2 f .
53 O. Verf.: Unterrichtsfortschritte in Preußen während eines Menschenalters, in:
DSch, 1. Jg. (1897), S. 9 6 - 1 0 4 , bes. S. 97, danach Tab. 6; daß unter den Rekruten
ohne Schulbildung Analphabeten zu verstehen sind, zeigt ein Vergleich mit den
Zahlen a. a. O . , S. 98. Die Zahlen beziehen sich ausschließlich auf Soldaten der
Landtruppe; zum Analphabetenstand 1866 — 68 die detaillierte Statistik von K.
BRÄMER, Die Schulbildung der Ersatzmannschaften in Preußen mit Rücksicht
auf ihre Familiensprache, in: ZStatB, 11. Jg. (1871), S. 371; vgl. auch Gerd
HOHORST/Jürgen KocKA/Gerhard A. RITTER, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch.
Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1 8 7 0 - 1 9 1 4 ( = S G A r b b ) , München
1975, S. 167.
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 723

TABELLE 5
Schulbildung" der im Heer eingestellten „Ersatzmannschaften" (in % )

Provinz „ohne alle Schulbildung" „mangelhafte „genügende


1841 1846-49 1851/52 Schulbildung" Schulbildung"
1851-52 1851-52

Preußen 15,33 9,21 10,40 45,29 44,31


Posen 41,00 18,42 20,67 31,31 48,02
Brandenburg 2,47 1,10 0,76 11,80 87,44
Berlin - - 0,22 5,12 94,66
Pommern 1,23 1,01 0,93 22,67 76,40
Schlesien 9,22 5,88 4,78 17,94 77,28
Sachsen 1,19 0,37 0,64 5,69 93,67
Westfalen 2,14 1,69 2,11 19,39 78,50
Rheinland 7,06 3,43 2,54 10,19 87,27
Hohenzollern - - 0,00 9,39 90,61

Gesamt - - 4,81 20,01 75,18


(1851/52: 50.191 Mann)

Quelle: L . v. R Ö N N E (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staats...


(1854/55) [16], Bd. 1, S. 238; vgl. noch Anm. 52.

TABELLE 6
Prozentsatz der Rekruten ohne Schulbildung

Provinz 1841 1864/65 1881 1894/95

Ostpreußen
Westpreußen
115,33 116,54 1 7,05 0,99
1,23
Brandenburg 2,47 0,96 0,32 0,06
Pommern 1,23 1,47 0,43 0,12
Posen 41,00 16,90 9,97 0,98
Schlesien 9,22 3,78 2,33 0,43
Sachsen 1,19 0,49 0,28 0,09
Westfalen 2,14 1,03 0,60 0,02
Rheinland 7,06 1,13 0,23 0,05
Hohenzollern - 0,00 - 0,00

Staat — 5,52 — 0,33

Quelle: Unterrichtsfortschritte in Preußen während eines Menschenalters, in: DSch,


1. Jg. (1897), S. 9 6 - 1 0 4 , hier S. 97; vgl. noch Anm. 53.
724 $ 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Die Zahl für die bei Landheer und Marine im Ersatzjahr 1900 eingestellten
„Preußischen Mannschaften" „ohne Schulbildung" wird für den ganzen
Staat schließlich mit 0,1 Prozent angegeben. 54
Der Analphabetenanteil in der Gesamtbevölkerung lag im 19. Jahrhundert
entschieden über den bei Rekruten ermittelten Zahlen, denn in älteren
Bevölkerungsgruppen nahm der Prozentsatz zu, und noch um 1870 wußten
Statistiker zu berichten, „dass bei geringer Uebung im Lesen und Schreiben
nach absolvierter Schulzeit beide Fertigkeiten sehr vielen Individuen, welche
derselben kurz nach Verlassen der Schule mächtig waren, allmählig abhan-
den kommen", und dies bei Frauen entschieden häufiger als bei Männern. 5 5
Die Schätzungen für die Gesamtbevölkerung Preußens in der Mitte des
19. Jahrhunderts gehen von etwa noch 20 Prozent Analphabeten unter den
über zehn Jahre alten Preußen aus. 56
„Zum ersten Male ist bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1871 auch
der Grad der Elementarbildung einer Aufzeichnung unterzogen worden",
wobei nach der Fähigkeit im Schreiben und Lesen gefragt wurde. 57 Das
Ergebnis wird in Tabelle 7 dargestellt (siehe Tabelle 7 auf S. 725).
Um 1870 waren die Maßstäbe dafür, wer als Analphabet in Preußen
bezeichnet wurde, offenbar strenger geworden. Unter den Zahlen von
Tabelle 7 sind auch diejenigen Inbegriffen, die nur entweder schreiben oder
lesen konnten. 5 8 Deutlich ist das weiterhin bestehende Übergewicht der
östlichen Provinzen in den Analphabetenregionen, wobei zu berücksichtigen
ist, daß unter der katholischen und der polnischen Bevölkerung die Pro-

54 Statistik, gedruckt im ZBlUV, 1901, Nr. 156, S. 7 9 4 - 7 9 8 , bes. S. 798 (0,1 Prozent
= 156 Mann).
55 So K. BRÄMER, Religionsbekenntnis und Schulbildung... (1874) [s. o. Anm. 52],
S. 151 f.
56 So Peter FLORA, Modernisierungsforschung. Z u r empirischen Analyse der ge-
sellschaftlichen Entwicklung ( = StSw, Bd. 20), Opladen 1974, S. 171, 148 f.: 1870
in Preußen in der Bevölkerung 88 Prozent Alphabeten, unter den Rekruten 97
Prozent; zu 1850 auch T. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1 8 0 0 - 1 8 6 6 . Bürger-
welt und starker Staat, München 1983, S. 463.
57 K. BRÄMER, Religionsbekenntnis und Schulbildung... (1874) [s. o. Anm. 52],
S. 147, auch zu weiterhin bestehenden Unsicherheiten; Tab. 7 nach a. a. O.,
S. 1 4 8 f . ; zusammenfassend auch A. PETERSILIE, Analphabeten... ( 3 1909) [s. o.
Anm. 52], S. 4 4 0 ; Knut BORCHARDT, Z u m Problem der Erziehungs- und Ausbil-
dungsinvestitionen im 19. Jahrhundert [1965], in: U. Herrmann (Hg.), Schule
und Gesellschaft... (1977) [29], S. 4 0 9 - 4 2 1 , hier S. 4 2 0 , Anm. 16; R . ENGELSING,
Analphabetentum und Lektüre... (1973) [s. o. Anm. 25], S. 98; E. FRANÇOIS,
Alphabetisierung in Frankreich und Deutschland... (1983) [s. o. Anm. 25], S. 7 5 6 ,
rechnet den Anteil unsicherer Fälle mit ein und k o m m t für 1871 auf 10,3 Prozent
männlicher und 16,4 Prozent weiblicher Personen ohne Lese- und Schreibfähig-
keit.
58 K. BRÄMER, Religionsbekenntnis und Schulbildung... (1874) [s. o. Anm. 52],
S. 150, auch zum Konfessionsfaktor; dazu auch Ε. FRANÇOIS, Alphabetisierung
in Frankreich und Deutschland... (1983) [s. o. Anm. 25], S. 7 6 0 , 762, auch zum
hochalphabetisierten, aber katholischen Sigmaringen.
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 725

TABELLE 7
Analphabetenquote in der Gesamtbevölkerung Preußens in % (1871)

Provinz Bevölkerung
männlich weiblich

Preußen 27,29 33,54


Brandenburg 3,45 7,64
Pommern 8,18 14,85
Posen 31,80 41,04
Schlesien 11,09 17,06
Sachsen 2,21 5,05
Schleswig-Holstein 3,02 5,05
Hannover 3,91 7,95
Westfalen 3,74 6,53
Hessen-Nassau 2,15 5,35
Rheinland 4,81 9,79

Staat 9,50 14,73

Quelle: K. BRÄMER, Religionsbekenntnis und Schulbildung der Bevölkerung des


preußischen Staats, in: ZStatB, 14. Jg. (1874), S. 1 4 3 - 1 5 2 , hier S. 148 f.

zentsätze erheblich höher lagen als bei der etwa gleich stark des Lesens und
Schreibens fähigen evangelischen Bevölkerung und der des jüdischen Glau-
bens. Die schon bei den Rekrutenerhebungen zu diagnostizierende Annä-
herung des Bildungsstandes an die nahezu vollständige Alphabetisierung
spätestens in den 1890er Jahren wird durch die bei den Eheschließungen
festgestellte Lese- und Schreibfähigkeit bestätigt, nach der die Analphabe-
tenquote 1882 für Männer nur rund 4 Prozent, bei Frauen 6 Prozent betrug
und nach den Daten für 1906 bei beiden Gruppen im preußischen Durch-
schnitt nur noch im Promillebereich zu messen war. 59
Die Aussagekraft der preußischen Alphabetisierungsstatistik erschließt
sich erst voll im internationalen Vergleich. Schon die Schätzungen für den
Beginn des 19. Jahrhunderts zeigen Preußen in deutlichem Alphabetisie-
rungsvorsprung vor Westeuropa, vor Frankreich und England.60 Wenn
zur Jahrhundertmitte in Preußen von einer Literarisierungsrate von 80
Prozent, nach anderen Rechnungen gar von 85 Prozent ausgegangen wird,
so markieren diese Zahlen gegenüber den englischen Vergleichswerten von
52 Prozent (Lesen und Schreiben) beziehungsweise 61 Prozent für Frankreich
(nur Lesefähigkeit) einen Fortschritt der Bildungsentwicklung, wie er auch

59 J. TEWS, Zur deutschen Bildungsstatistik... (1909) [s. o. Anm. 52], S. 95; dazu
G . H O H O R S T / J . K O C K A / G . A . RITTER, M a t e r i a l i e n z u r S t a t i s t i k d e s K a i s e r r e i c h s . . .
(1975) [s. o. Anm. 53], S. 166.
60 Vgl. o. bei A n m . 4 9 und P. FLORA, Die Bildungsentwicklung... (1972) [s.o.
Anm. 49], S. 304.
726 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 2 0 . J a h r h u n d e r t

an Hand des Schulbesuchs bezeugt ist. 61 Um 1870 hatte Preußen in der


Alphabetisierungsentwicklung einen „Vorsprung von einer Generation ge-
genüber Frankreich" (E. François). Vor diesem, die Bildungsrealität und
ihren evolutionären Wandel bezeichnenden Befund wird deutlich, daß durch
das Bildungswesen und Bildungsstreben seit dem Vormärz ein Modernisie-
rungseffekt bewirkt worden ist, und dies in Jahrzehnten, die über weite
Perioden von einer auf den ersten Blick konservativen Schul- und Univer-
sitätspolitik des preußischen Staates charakterisiert erscheinen.

IV. Universität und Schule in der Innenpolitik

1. Von Karlsbad bis Stiehl

Es gehört zu den scheinbaren Widersprüchen der vormärzlichen Jahrzehnte,


daß die Neuordnung und der Ausbau des niederen und des höheren Bil-
dungswesens zu einer Zeit erfolgten, als die „Kulturpolitik" Preußens unter
restaurativ-konservativem Vorzeichen stand. Mit guten Argumenten sind
denn auch von amerikanischen Autoren Bedenken gegen das in großen
Teilen gerade auch der deutschsprachigen Literatur vorherrschende Bild
von der obrigkeitsstaatlich-sozialrestaurativ instrumentalisierten Schule er-
hoben worden. Selbst für das 19. Jahrhundert dürfen nicht die bisweilen
stark formulierten staatlichen Absichtserklärungen das Bild beherrschen, 1
auch nicht die „Bremserlasse", die auf die einzuhaltenden Grenzen schuli-
schen Unterrichts zur Verhinderung von „Überbildung" hinwiesen. Der
Beurteilung in Teilen der modern-kritischen Literatur stehen zahlreiche
zeitgenössische — außerpreußische, insbesondere englische, französische

61 Vgl. o. bei A n m . 5 6 ; dazu K. BARKIN, Social C o n t r o l and the Volksschule in


V o r m ä r z Prussia... (1983) [s. o. A n m . 5], S. 4 9 f f . ; vgl. damit die Zahlen bei
T. NIPPERDEY, Deutsche G e s c h i c h t e . . . (1983) [ s . o . A n m . 5 6 ] , S. 4 6 3 ; zum Fol-
genden: E . FRANÇOIS, Alphabetisierung in Frankreich und D e u t s c h l a n d . . . (1983)
[ s . o . A n m . 2 5 ] , S. 7 5 6 ; v o m selben A u t o r die vorzügliche, differenzierende und
den europäischen Vergleich weitertreibende Studie: Alphabetisierung und Lese-
fähigkeit in Frankreich und Deutschland u m 1800, in: H e l m u t BERDING/Etienne
FRANçois/Hans-Peter ULLMANN (Hg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter
der Französischen Revolution, F r a n k f u r t / M . 1 9 8 9 , S. 4 0 7 - 4 2 5 , bes. S. 4 1 3 f.
1 Dazu bes. Kenneth D. BARKIN, Social C o n t r o l and the Volksschule in V o r m ä r z
Prussia, in: C E H , Bd. 16 (1983), S. 3 1 - 5 2 , hier S. 3 5 ff.; Karl A. SCHLEUNES,
Enlightenment, R e f o r m , Reaction: T h e Schooling Revolution in Prussia, in: C E H ,
Bd. 12 (1979), S. 3 1 5 - 3 4 2 , hier S. 3 3 7 ; T h o m a s NIPPERDEY, Deutsche Geschichte
1 8 0 0 - 1 8 6 6 . Bürgerwelt und starker Staat, M ü n c h e n 1983, S. 4 6 3 , und Ders.,
Volksschule und Revolution im V o r m ä r z . Eine Fallstudie zur Modernisierung II
[1968], in: Ders., Gesellschaft, Kultur, T h e o r i e . G e s a m m e l t e Aufsätze zur neueren
Geschichte ( = KrStGw, Bd. 18), Göttingen 1976, S. 2 0 6 - 2 2 7 , S. 4 4 7 - 4 5 0 , hier
S. 2 1 9 . „Bremserlasse": L. von RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preu-
ßischen S t a a t e s . . . ( 1 8 5 4 / 5 5 ) [16], Bd. 1, S. 6 4 2 f . (Beispiele).
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 727

und amerikanische! - Beurteilungen über das preußische (Volks-)Schul-


wesen seit den 1830er Jahren und in den folgenden Jahrzehnten gegenüber. 2
Die Betrachtung der preußischen Universitätsgeschichte nach Humboldt
hat schon gezeigt, daß es nicht angeht, die Entwicklung der Hochschulen
seit dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ausschließlich unter dem
Vorzeichen der Karlsbader Beschlüsse von 1819 zu beurteilen. Nach dem
Wartburgfest 1817 und den Attentaten der Folgezeit, insbesondere aber
nach dem mit der deutschen studentischen Bewegung im Zusammenhang
stehenden Mord an dem Schriftsteller Kotzebue, hatte Preußen schon in der
Teplitzer Punktation mit Östereich vom 1. August 1819 „Maßregeln in
Hinsicht auf die Universitäten, Gymnasien und Schulen" verabredet und
dabei insbesondere ein Vorgehen gegen die „Umtriebe des heutigen Studen-
ten-Unfugs" ins Auge gefaßt. 3 Damit hatte sich Preußen in dieser Hinsicht
der Position Metternichs angeschlossen und den Weg beschritten, der zu
den Karlsbader Beschlüssen führte, von denen hier insbesondere das „Bun-
des-Universitätsgesetz" vom 20. September 1819 4 hervorzuheben ist. Danach
sollte an jeder Universität zum Zwecke der Beaufsichtigung ein „außer-
ordentlicher landesherrlicher Bevollmächtigter" eingesetzt werden; akade-
mische Lehrer, die der Verbreitung „der öffentlichen Ordnung und Ruhe
feindseliger, oder die Grundlagen der bestehenden Staatseinrichtungen un-
tergrabender Lehren" schuldig waren, sollten entfernt werden und die
„allgemeine Burschenschaft" unter die geltenden Bestimmungen über ge-
heime Gesellschaften fallen. Wer aber einer „geheimen Verbindung" ange-
hörte, sollte künftig „bei keinem öffentlichen Amte zugelassen werden".
Studentische Verbindungen zum Beispiel auf landsmannschaftlicher
Grundlage hatte es schon im 18. Jahrhundert, insbesondere in dessen letzten

2 K. BARKIN, Social Control and the Volksschule... (1983) [s.o. Anm. 1], S. 3 9 f f . ,
44, 46, 4 9 ; K. A. SCHLEUNES, Enlightenment, Reform, Reaction... (1979) [s.o.
Anm. 1], S. 317, und aus der deutschen Lit. für das 19. Jh. insgesamt Bernhard
vom BROCKE, Preußen — Land der Schulen, nicht nur der Kasernen. Preußische
Bildungspolitik von Gottfried Wilhelm Leibnitz und Wilhelm von Humboldt bis
Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker ( 1 7 0 0 - 1 9 3 0 ) , in: Wolfgang Böhme
(Hg.), Preußen, eine Herausforderung ( = HerT, Bd. 32), Karlsruhe 1981, S. 5 4 -
99, hier S. 69 f., 76.
3 Druck bei Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert
( = SGnZ, Bd. 25), Bd. 2, Leipzig 3 1 8 8 6 , S. 634.
4 Druck: Ernst Rudolf HUBER (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsge-
schichte, Bd. 1, Stuttgart 3 1 9 7 8 , Nr. 32, S. 101 f., daraus die Zitate; zum preußi-
schen Anteil an der Entstehung: Ernst MÜSEBECK, Das Preußische Kultusmini-
sterium vor 100 Jahren, Berlin-Stuttgart 1918, S. 2 1 3 - 2 2 5 ; Eberhard BÜSSEM,
Die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Die endgültige Stabilisierung der restaura-
tiven Politik im Deutschen Bund nach dem Wiener Kongreß von 1814/15,
Hildesheim 1974, S. 371 ff., zur Ausführung in Preußen S. 454. Z u den Karlsbader
Beschlüssen in ihrem Verhältnis zu älteren reichsrechtlichen Traditionen: Wolf-
gang HARDTWIG, Studentische Mentalität - politische Jugendbewegung - Na-
tionalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft, in: H Z , Bd. 2 4 2 (1986),
S. 5 8 1 - 6 2 8 , hier S. 627 f.
728 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Jahrzehnten ebenso wie überregional rekrutierte Studentenorden (seit etwa


1770) gegeben/ Doch hatte die Beteiligung von Studenten an den Befrei-
ungskriegen sowie die Enttäuschung über deren Resultat das Bestreben nach
allgemeinen, weder regional noch ständisch segmentierten studentischen
Zusammenschlüssen verstärkt, wie sie nun in den Burschenschaften zutage
traten. An der Universität Halle wurde eine „Teutonia" schon Ende 1814
gegründet, „die erste burschenschaftliche Verbindung überhaupt", und nach
ihrem Vorbild erfolgte 1816 die Einrichtung eines gleichnamigen Zusam-
menschlusses an der Breslauer Alma mater. 6 An dem Wartburgfest mit der
im Anschluß daran erfolgten symbolischen Bücherverbrennung hatten 1817
Berliner Studenten wie auch Mitglieder der Hallenser Teutonia teilgenom-
men, eine Tatsache, die beim König große Besorgnis erregte. Auch an der
1818 begründeten Allgemeinen Deutschen Burschenschaft und an ihrem
ersten Burschentag waren Vertreter aus Preußen beteiligt; in Berlin, Bonn,
Breslau und Königsberg existierten studentische Verbindungen, gegen die
nun im Zeichen des Restaurationskurses vorgegangen wurde.
Bekannt ist, daß die Staaten des Deutschen Bundes in der Durchführung
der Bundesbeschlüsse zum Beispiel zur Unterdrückung „demagogischer"
Bestrebungen weder einheitlich noch immer rigoros vorgegangen sind. Ge-
rade Preußen 7 aber steht im Ruf scharfer Exekution zum Beispiel der
Karlsbader Beschlüsse, und die ausführenden Verordnungen Preußens, ins-
besondere die „Instruktion für die außerordentlichen Regierungsbevoll-

5 Dies betont zuletzt W. HARDTWIG, Studentische Mentalität - politische Jugend-


bewegung — Nationalismus... (1986) [ s . o . Anm. 4], S. 6 1 4 f f . ; ders., Sozialver-
halten und Wertwandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bür-
gerlichen Gesellschaft (17. - 1 9 . Jahrhundert), in: V S W G , Bd. 73 (1986), S. 305 -
3 3 5 , b e s . S . 3 0 9 - 3 1 3 ; s i e h e s c h o n F r i e d r i c h S C H U L Z E / P a u l SSYMANK, D a s d e u t -
sche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, München 4 1932,
S. 160 ff., 165 - 1 6 9 , 1 7 4 , mit Beispielen aus Preußen; noch E. R . HUBER, Deutsche
Verfassungsgeschichte...(1957-1984) [ 3 1 ] , B d . 1, S. 7 0 5 f f .
6 Karl-Alexander HELLFAIER, Die politische Funktion der Burschenschaft von ihren
Anfängen 1814 bis zum Revolutionsjahr 1848 an der Universität Halle-Witten-
berg, in: J G M O D , Bd. 12 (1963), S. 1 0 3 - 1 4 9 , hier S. 104, 108, 1 1 2 f f . , 117f.; die
Hallenser Teutonia löste sich 1817 auf; vgl. Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte
im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 2, Freiburg 1933, S. 241 ff. (auch zur Jenaer
Burschenschaft von 1815 und den Unterschieden zu Halle); als Synthese der
ä l t e r e n L i t . z u r G e s c h i c h t e d e r B u r s c h e n s c h a f t : F. SCHULZE/P. SSYMANK, Das
deutsche Studententum... ( 4 1932) [s.o. Anm. 5], S. 2 1 6 f f . ; Günter STEIGER, Auf-
bruch. Urburschenschaft und Wartburgfest, Leipzig-Jena-Berlin 1967, bes.
S. 33 ff.; Ders., Das „Phantom der Wartburgverschwörung" 1817 im Spiegel neuer
Quellen aus den Akten der preußischen politischen Polizei. Eine Quellenedition...,
in: W Z J e n a , H. 2, 15. Jg. (1966), S. 1 8 3 - 2 1 2 , bes. S. 191 ff., S. 197 ff.; Heinz
WARNECKE, Berliner Studenten - Lützower Burschenschaftler, Mitinitiatoren
des Wartburgfestes 1817, in: A . a . O . , S. 2 1 3 - 2 2 1 , bes. S. 2 1 6 f f . ; Hermann RA-
FETSEDER, Bücherverbrennungen. Die öffentliche Hinrichtung von Schriften im
historischen Wandel, Wien - Köln - Graz 1988, S. 262.
7 Z . B. F. SCHNABEL, Deutsche Geschichte... (1933) [s. o. Anm. 6], Bd. 2, S. 261 f.;
T. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte... (1983) [s.o. Anm. 1], S. 284.
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 729

mächtigten bei den Universitäten" vom 18. November 1819, scheinen eine
andere Interpretation kaum zuzulassen; denn diese hatten selbst „den Geist
in welchem die akademischen Lehrer bei ihren öffentlichen und Privatvor-
trägen [!] verfahren, sorgfältig zu beobachten und demselben, jedoch ohne
unmittelbare Einmischung in das Wissenschaftliche und die Lehrmethode,
eine heilsame auf die künftige Bestimmung der Jugend berechnete Richtung
zu geben." Dazu sollten sie sich auch „von der Beschaffenheit der Vorträge
der Dozenten und ihrem Geiste die erforderliche Ueberzeugung verschaf-
fen", wie sie auch die Studierenden im Auge zu halten hatten. 8 Kabinetts-
ordern beziehungsweise Gesetze der folgenden Jahre haben wiederholt -
insbesondere 1821, 1822, 1824 und 1838 - studentische, insbesondere
burschenschaftliche Verbindungen untersagt und zu verfolgen befohlen. 9
Spektakuläre Aktionen gegen Prominente, darunter Publizisten und Wis-
senschaftler, haben wohl zum herkömmlichen Bild der Reaktionsjahrzehnte
maßgeblich beigetragen. In der Tat wurde der an die eben geschaffene
Bonner Universität berufene Ernst Moritz Arndt, nach Erscheinen des
vierten Bandes seines „Geist der Zeit" 1 0 bereits verwarnt, aus dem Lehramt,
freilich bei Weiterzahlung des Gehaltes, entfernt, und auch gegen die Brüder
Welcker wurde - 1819 — wegen früherer Verbindungen zu den radikalen
„Gießener Schwarzen" ermittelt, woraufhin der Jurist Karl Theodor Welk-
ker einen Ruf nach Freiburg annahm. 11 Etwa gleichzeitig wurde in Berlin
gegen Jahn und Schleiermacher vorgegangen; an der Berliner Universität
wurde der Professor der Theologie de Wette, nachdem er an die Mutter
Karl Ludwig Sands, des Kotzebue-Mörders, ein tröstendes Schreiben gesandt

8 Druck: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte...


( 3 1978) [s.o. Anm. 4], Bd. 1, Nr. 36, S. 1 0 9 - 1 1 3 , Zitat: S. 111; dazu Ders.,
Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 1 9 5 7 - 1 9 8 4 ) [31], Bd. 1, S. 738, 7 4 9 - 7 5 3 .
9 GS 1821, Nr. 662, S. 107 f.; GS 1824, Nr. 870, S. 122; GS 1838, Nr. 1863, S. 1 3 -
16; vgl. außerdem L. von RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen
Staates... (1854/55) [16], Bd. 1, S. 4 4 0 ; zur akademischen Gerichtsbarkeit bei
geheimen bzw. burschenschaftlichen Verbindungen: J. F. W. KOCH, Die Preussi-
schen Universitäten... (1840) [11], Bd. 2 / 1 , bes. die Stücke Nr. 9 7 - 1 7 4 ; dazu
M.LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910)
[57], Bd. 2 / 1 , S. 175 f.; Q o n r a d ] VARRENTRAPP, Johannes Schulze und das höhere
preußische Unterrichtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, S. 334, 338, 342 f.
10 Erschienen: Berlin (bei G. Reimer) 1818.
11 Mit weiterer Lit.: Christian RENGER, Die Gründung und Einrichtung der Uni-
versität Bonn und die Berufungspolitik des Kultusministers Altenstein ( = AcBo,
Bd. 7), Bonn 1982, S. 8 5 - 9 0 , 222, 2 7 3 - 2 7 6 ; F. von BEZOLD, Geschichte der
Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1920) [59], S. 80 ff., 117ff., 125 f.,
136, 2 8 4 ; M . BRAUBACH, Kleine Geschichte der Universität Bonn... (1950) [60],
S. 12; Jahn und Schleiermacher: Konrad KETTIG, Demagogenverfolgungen in
Berlin im Jahre 1819, in: BvB, Bd. 31 (1982), S. 7 - 5 7 , hier S. 3 4 f., 37 ff.; zu
Jahns politischem Denken: Wilhelm MOMMSEN, Das politische Weltbild Jahns,
in: LÜKE, Bd. 61 (1942), S. 1 1 - 2 4 , bes. S. 13 ff.; Friedrich-Wilhelm KANTZEN-
BACH, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in Selbstzeugnissen und Bilddoku-
menten, 2 2 . - 2 4 . Tausend, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 126.
730 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

hatte, entlassen, der „einzige der Berliner Ordinarien, der im Zusammen-


hang mit dem Beginn der Demagogenverfolgungen 1819 sein Amt als
Hochschullehrer verlor" (K. Kettig). 12
Und doch wird vor einer Überzeichnung dieses Bildes zu warnen sein.
Schon die mehrmalige Wiederholung der gegen Burschenschaften gerichte-
ten Verfügungen zeigt deren recht begrenzte Wirksamkeit an, und dies war
durchaus kein Zufall. Wenn auch mit Recht vor einer Verharmlosung der
staatlichen Maßnahmen zur Ordnung der Universitäten im restaurativen
Sinn gewarnt worden ist, so bleibt doch die Beobachtung festzuhalten, daß
(auch) in Preußen etwa die Karlsbader Beschlüsse nur sehr vermittelt durch-
zuschlagen vermochten. 13 Wichtig war, wer an der jeweiligen Universität
als Regierungsbevollmächtigter fungierte, und diese haben nicht selten ge-
mäßigt reagiert, ja zum Teil Studentenverbindungen (zeitweise) geduldet. 14
Daß Burschenschaften von Universitätsbehörden bisweilen mit Sympathie
behandelt, ja gedeckt worden sind, ist ebenso mehrfach bezeugt. 15
Von einer ständigen Verfolgung studentischer Zusammenschlüsse kann
also für Preußen nicht gesprochen werden, und diese sind denn auch nach
Verboten oder schärferen Maßnahmen immer wieder neu entstanden. Die
staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen erfolgten gleichsam in Wellenform:
Zu massiverem Einschreiten ist es zunächst in den Jahren direkt nach
Karlsbad gekommen, das heißt zum Beispiel 1824 in Berlin zur Relegation
beziehungsweise Maßregelung von rund 130 Studenten; auch an anderen
Universitäten kam es zu Strafaktionen. 16 Nach den politischen Ereignissen

12 K. KETTIG, Demagogenverfolgungen in Berlin ... (1982) [s.o. Anm. 11], S. 3 6 f . ;


M . LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910)
[57], Bd. 2 / 1 , S. 61 - 87; K. R. HAGENBACH, Wilhelm Martin Leberecht de Wette.
Eine akademische Gedächtnisrede mit Anmerkungen und Beilagen, Leipzig 1850,
S. 3 4 f.
13 Treffend Alexander KLUGE, Die Universitäts-Selbstverwaltung. Ihre Geschichte
und gegenwärtige Rechtsform, Frankfurt/M. 1958, S. 83.
14 So ζ. B. für Bonn (1830er Jahre): Georg HEER, Geschichte der deutschen Bur-
schenschaft. Bd. 2: Die Demagogenzeit. Von den Karlsbader Beschlüssen bis zum
Frankfurter Wachensturm ( 1 8 2 0 - 1 8 3 3 ) ( = Q D G B , Bd. 10), Heidelberg 1927,
S. 3 1 4 ff.; F. von BEZOLD, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Uni-
versität... (1920) [59], S. 3 0 6 ; W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität
zu Halle... (1894) [66], Bd. 2, S. 113.
15 Otto HEINEMANN, Die alte Greifswalder Burschenschaft 1818 — 1834, in: Q D G B ,
Bd. 4 (1913), S. 1 3 0 - 2 3 6 , hier S. 189 f.; Königsberg: G. von SELLE, Geschichte
der Albertus-Universität... ( 2 1956) [69], S. 271 f. (auch zu zeitweiligen Unter-
drückungen), vgl. noch S. 3 1 4 f.; Georg KAUFMANN, Geschichte der Universität
Breslau 1811 — 1911 ( = Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der
Universität Breslau, Bd. 1), Breslau 1911, S. 111, 113.
16 M . LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910)
[57], Bd. 2 / 1 , S. 178, 182 ff.; für die unmittelbare Zeit nach 1819 noch Beispiele
b e i K . K E T T I G , D e m a g o g e n v e r f o l g u n g e n i n B e r l i n . . . ( 1 9 8 2 ) [ s . o . A n m . 1 1 ] , S. 4 5 —
50; Hans PRUTZ, Die Königliche Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. im
neunzehnten Jahrhundert, Königsberg 1894, S. 100, 107; Albrecht TIMM, Die
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 731

der frühen 1830er Jahre ergingen die spektakulären und vielzitierten Urteile
des Berliner Kammergerichtes gegen 2 0 4 Teilnehmer an burschenschaftli-
chen Verbindungen verschiedener Universitäten Preußens; dabei wurde in
3 9 Fällen auf die Todesstrafe erkannt. Allerdings folgten die Strafmilderun-
gen beziehungsweise Begnadigungen auf dem Fuße — wie schon in vielen
Fällen der 1820er J a h r e . 1 7 So spektakulär die zum Teil mehrjährigen Haft-
strafen waren, die zum Beispiel ein Fritz Reuter verbüßte, so hatte offenbar
keiner der Verurteilten seine Strafe in vollem Umfang zu erdulden. Die
Amnestie des Jahres 1840 tat hier nur ein Letztes. Obwohl insbesondere
nach dem strengen Wortlaut der Karlsbader Beschlüsse Teilnehmer von
nicht erlaubten Verbindungen niemals zu einem öffentlichen A m t zugelassen
werden durften, 1 8 behielt sich Friedrich Wilhelm III. die Erteilung der
Anstellungsfähigkeit — nicht pauschal, wohl aber im jeweiligen Einzelfall
- ausdrücklich v o r . 1 9 Tatsächlich sind nachweisbar ehemalige Burschen-
schaftler nicht nur in den Justizdienst gelangt, sondern es war ihnen auch
eine rasche Karriere durchaus möglich. 2 0 Arnold Ruge zum Beispiel, der
1838 die „Hallischen J a h r b ü c h e r " gründete und später als Exponent des
politischen Radikalismus weiter von sich reden machte, war 1824 wegen
„Teilnahme an einer hochverräterischen geheimen Verbindung" zu 15 Jahren
H a f t verurteilt worden, von denen er sechs verbüßte; 1831 bis 1839 war er
dennoch — eben in Halle — als Privatdozent tätig.

Universität Halle-Wittenberg. Herrschaft und Wissenschaft im Spiegel ihrer


Geschichte ( = MdHSch, Bd. 5), Frankfurt/M. 1960, S. 59; G. KAUFMANN, Ge-
schichte der Universität Breslau... (1911) [s. o. Anm. 15], Bd. 1, S. 114.
17 L[eopold] Friedrich] ILSE, Geschichte der politischen Untersuchungen, welche
durch die neben der Bundesversammlung errichteten Commissionen... in den
Jahren 1819 bis 1827 und 1833 bis 1842 geführt sind, Frankfurt/M. 1860 (ND
Hildesheim 1970), S. 366 ff., zu den Begnadigungen S. 420 f.; Wolfgang NEUGE-
BAUER, Demagogenverfolgungen im preußischen Vormärz. Bericht über einen
Aktenfund, in: AVR, Bd. 3 (1983), S. 5 7 - 6 3 , hier S. 60, 62 Anm. 28f. (mit
weiterer Lit.); Beispiel für die 1820er Jahre: H. Prutz, Die Königliche Albertus-
Universität zu Königsberg... (1894) [s. o. Anm. 16], S. 97f., zu den 1830ern S. 122;
K.-A. HELLFAIER, Die politische Funktion der Burschenschaft... (1963) [s.o.
Anm. 6], S. 119 - 1 3 4 , 1 3 7 f.; W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität
zu Halle... (1894) [66], Bd. 2, S. 1 0 8 - 1 1 5 , auch zum Folgenden; O. HEINEMANN,
Die alte Greifswalder Burschenschaft... (1913) [s.o. Anm. 15], S. 217ff.
18 S.: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte... ( 3 1978)
[s.o. Anm. 4], Bd. 1, S. 102; zu den preußischen Bestimmungen: Hans BRANIG,
Wesen und Geist der höheren Verwaltungsbeamten in Preußen in der Zeit des
Vormärz, in: NFBPG, Bd. 1 ( = VAPrKb, Bd. 14), Köln - Wien 1979, S. 161 - 171,
hier S. 168.
19 Zu den Details: W. NEUGEBAUER, Demagogenverfolgungen im preußischen Vor-
märz... (1983) [s.o. Anm. 17], S. 5 8 f .
20 A. a. O., S. 59; Ruge: Κ. A. HELLFAIER, Die politische Funktion der Burschen-
schaft... (1963) [s.o. Anm. 6], S. llOf. (hier auch das Zitat); Hans ROSENBERG,
Arnold Ruge und die „Hallischen Jahrbücher" [1930], in: Ders., Politische Denk-
strömungen im deutschen Vormärz ( = KrStGw, Bd. 3), Göttingen 1972, S. 97 —
1 1 4 , S. 1 3 5 - 1 3 8 , hier S. 9 8 ff.
732 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Bis 1840 hat Altenstein als Kultusminister die Schärfe demagogenverfol-


gender Bestrebungen abzumildern vermocht, und in den unteren Behörden-
ebenen waren noch lange Zeit Beamte liberaler beziehungsweise reform-
zeitlicher Einstellung tätig. Nach 1840, unter dem an sich konservativen
Minister Eichhorn, 21 ebbten die Verfolgungen ab, wiewohl nach 1842 Hoff-
mann von Fallersleben als Professor der Germanistik aus politischen Mo-
tiven abgesetzt wurde. Aber Ernst Moritz Arndt wurde 1840 rehabilitiert
und erhielt seine Professur zurück, und von den sieben Göttinger Profes-
soren, die 1837 gegen die Aufhebung der hannoverschen Verfassung pro-
testiert hatten, wurden Jakob und Wilhelm Grimm nach Preußen gezogen
— sie wirkten in Berlin als hauptamtliche Akademiemitglieder mit Vorle-
sungsrecht an der Universität —, und der Historiker Dahlmann, Haupt des
Göttinger Protestes, erhielt schließlich 1842 eine Professur in Bonn. Zu den
prominenten Berufenen der frühen 1840er Jahre gehörten auch, als konser-
vativere Denker, der Jurist und Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl und
der alternde Schelling.22 Insgesamt ist schon in dieser Zeit, in der ein
Dahlmann, ein Arndt und auch der ältere Welcker „zu neuer ungehinderter
Tätigkeit gelangt" sind,23 eine wachsende Politisierung unter den Profes-
soren zu beobachten. Es verdient festgehalten zu werden, daß schon in den
vormärzlichen Jahren, noch also zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse, die
Tendenz zum liberalen Professorentyp deutlich ist, der insbesondere bis zur
Zeit von Verfassungskonflikt und Reichsgründung wichtig blieb, so „daß
auch im vermeintlich so obrigkeitlichen preußischen Staat gerade die uni-
versitären Staatsbeamten Führer der Opposition waren". 24 An Sybels Rolle
im Verfassungskonflikt sei beispielhaft erinnert.

21 Friedrich-Wilhelm KANTZENBACH, Gerd Eilers und Kultusminister Eichhorn. Z u r


Beurteilung der Ära Friedrich Wilhelms IV. (1840 — 1848) und seines Ministeri-
ums, in: Oswald Hauser (Hg.), Z u r Problematik „Preußen und das Reich"
( = N F B P G , Bd. 4), Köln-Wien 1984, S. 247 - 297, zur grundsätzlichen Beurteilung
bes. S. 283 —287; Rudolf MURTFELD, Über die Herrschaft der Bürokratie in
Preußen während des 19. Jahrhunderts. Unter besonderer Berücksichtigung des
Volksschulwesens, in: Z G E , 23. Jg. (1933), S. 2 4 3 - 2 6 2 , hier S. 247 ff. (nach:
Nachlaß Eichhorn).
22 M . LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910)
[57], Bd. 2 / 2 , S. 15, s. auch S. 42, 63; Hubert LAITKO U. a., Wissenschaft in Berlin.
Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945, Berlin 1987, S. 150; zu
Dahlmann zuletzt: Reimer HANSEN, Friedrich Christian Dahlmann, in: Hans-
Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 5, Göttingen 1972, S. 27 - 53, hier
S. 30.
23 M a x BRAUBACH, Bonner Professoren und Studenten in den Revolutionsjahren
1 8 4 8 / 4 9 ( = WAbhAGF, Bd. 38), Köln-Opladen 1967, S. 9, zum Folgenden S. 11 f.;
s. auch F. von BEZOLD, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Univer-
sität... (1920) [59], S. 418 ff.; in Königsberg wurden zwei weitere der „Göttinger
Sieben" ehrenhalber promoviert, was das Ministerium 1838 rügte, H. PRUTZ,
Die Königliche Albertus-Universität zu Königsberg... (1894) [s.o. Anm. 16],
S. 125-131.
24 So T h o m a s NIPPERDEY, Preußen und die Universität, in: Karl-Dietrich Erdmann
u. a., Preußen. Sein Wirkung auf die deutsche Geschichte. Vorlesungen, Stuttgart
1982, S. 65-85, hier S. 82.
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 733

Es ist also deutlich, daß eine konservative, zeitweilig sogar repressive


Bildungspolitik durchaus nicht zu dem intendierten Resultat führen mußte.
Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn von den auf das Schulwesen über-
greifenden Maßnahmen im Zeichen der restaurativen Innenpolitik die Rede
ist, und diese gingen über Schulen und Studenten gleichermaßen treffende
Turnverbote weit hinaus, sollten doch auch die Lehrer an den Schulen
hinsichtlich demagogischer Bestrebungen kontrolliert beziehungsweise in
vereinfachter Form entlassen werden. Über die sozialrestaurative Gestaltung
des Unterrichts zur Verhinderung unerwünschter sozialer Mobilität hinaus
sollte nun positiv-gesinnungsbildend auf die Schülerschaft eingewirkt wer-
den, wie seit den 1820er Jahren deutlich befohlen wurde. 25 Die Einführung
eines Probejahres für Gymnasiallehrer (1826) muß unter anderem unter
dem Motiv der politischen Siebung gerade des höheren Lehrerstandes be-
trachtet werden. Allerdings wußte Altenstein auch bezüglich der Schulen
abschwächend auf Strafmaßnahmen Einfluß zu nehmen. Doch erscheint es
signifikant, daß nun die privaten Bildungsstätten verstärkt in den Griff der
die politische Ordnung schützenden Verwaltung gerieten. Auch die Lehrer
an Privatschulen wurden überwacht. 26 Für die Lehrerseminare wurde der
Weg politischer Ruhigstellung gewählt: Historisch-politische Themen soll-
ten im Unterricht ebenso eingeschränkt werden wie Belehrungen über die
„Einrichtungen des Vaterlandes". 27
Abgesehen von den städtischen Organen, die einen eigenen Spielraum
noch zu sichern vermochten, traten neben die geschwächten traditionalen
Intermediärgewalten lokaler Verwurzelung nun politisch relevante Oppo-
sitionspotentiale, die ihrerseits bereits Resultat der Modernisierungsent-
wicklung waren, potentiell überständisch und überlokal verankert und

25 Harro-Jürgen REJEWSKI, Die Pflicht zur politischen Treue im preußischen Be-


amtenrecht ( 1 8 5 0 - 1 9 1 8 ) . Eine rechtshistorische Untersuchung anhand von Mi-
nisterialakten aus dem Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kultur-
besitz ( = SchrRG, H . 4), Berlin 1973, S. 30; H. E. BRONKHORST, Die Einbeziehung
der preußischen Schule... (1956) [26], S. 2 6 f . , 35, auch zum Folgenden, Heinrich
BUSSHOFF, Die preußische Volksschule als soziales Gebilde und politischer Bil-
dungsfaktor in der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts, in: G W U , 22. Jg. (1971),
S.385-396, hier S. 392, 3 9 4 f.; zu den Gymnasiallehrern: Christoph FÜHR, Gelehr-
ter Schulmann — Oberlehrer — Studienrat. Z u m sozialen Aufstieg der Philolo-
gen, in: Werner Conze/Jiirgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im
19. Jahrhundert, T. 1 (Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen
Vergleichen) ( = IndW, Bd. 38), Stuttgart 1985, S. 4 1 7 - 4 5 7 , hier S. 4 4 9 f.
26 Dazu C. VARRENTRAPP, Johannes Schulze... (1889) [s.o. Anm. 9], S. 5 1 7 f . ;
Günther K. ANTON, Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung bis zu ihrer
Aufnahme durch die Reichsgewerbeordnung. Auf Grund amtlicher Quellen be-
arbeitet [1891], hg. von Horst Bülter, Berlin 2 1953, S. 20 f.; L. von RÖNNE (Hg.),
Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates... (1854/55) [16], Bd. 1, S. 4 4 0 ;
s. das Ministerialreskript vom 28. VI. 1836 bei J. F. W. KOCH, Die Preussischen
Universitäten... (1840) [11], Bd. 2 / 1 , S. 152 (Nr. 156).
27 Andreas FLITNER, Die politische Erziehung in Deutschland. Geschichte und
Probleme 1 7 5 0 - 1 8 8 0 , Tübingen 1957, S. 141 f.
734 S 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 2 0 . Jahrhundert

schon deshalb auch politisierungsfähig. Ist der Reaktionseffekt der Reak-


tionspolitik an den preußischen Universitäten der Vormärz- und Reichs-
gründungszeit mehr als zweifelhaft, so erwuchs gerade für das niedere
Schulwesen in der Lehrerbewegung ein bildungs- und sozialgeschichtlich
gleichermaßen neuartiger und zunehmend bedeutsamer Faktor.
Die Anfänge von Lehrervereinigungen sind schon um 1800 in Preußen
auszumachen, doch erlebten diese dann in den 1820er und besonders in
den 1830er Jahren ihren eigentlichen Aufschwung, wobei zunehmend die
Interessen der Lehrerschaft im Zentrum der Aktivitäten standen. 28 Die
anhaltend schlechte Besoldung, die Abhängigkeit von lokalen Gewalten,
von Eltern, Pfarrern beziehungsweise Magistraten, trug zur Radikalisie-
rung von Teilen der — zunehmend seminaristisch ausgebildeten! — Leh-
rerschaft ebenso bei wie die staatlichen Maßnahmen gegen die als mehr
und mehr gefährlich eingeschätzten organisierten Volksschullehrer, 29 zu-
mal unter einem Minister wie Eichhorn, der im Ruf orthodox-konfessio-
neller Tendenzen stand und insofern in einer Kontinuität zu den nachre-
volutionären Jahren gesehen worden ist. Die Lehrer forderten die Eman-
zipation von den geistlichen Autoritäten (Schulaufsicht) und den zuneh-
mend als diskriminierend empfundenen kirchlichen Dienstleistungen. Mag
es auch umstritten sein, seit wann von einer eigentlichen „Lehrerbewe-
gung" gesprochen werden sollte, so ist seit den späten 1830er Jahren eine
„Politisierung" der Volksschullehrerzusammenschlüsse auszumachen, je-
denfalls in den mittleren und westlichen Provinzen. Der bedeutende Päd-
agoge Adolph Diesterweg, 30 erst Seminardirektor in Moers, dann seit

28 Robert RISSMANN, Geschichte des Deutschen Lehrervereins, Leipzig 1909, S. 2 2 —


2 5 ; M o n i k a WÖLK, Der preußische Volksschulabsolvent als Reichstagswähler
1871 - 1 9 1 2 . Ein Beitrag zur Historischen Wahlforschung in Deutschland
( = E v H K z B , Bd. 28), Berlin 1980, S. 2 3 8 f., zum Folgenden S. 9 2 - 9 7 .
29 Karl-Ernst JEISMANN, Tendenzen zur Verbesserung des Schulwesens in der Graf-
schaft M a r k 1798 - 1 8 4 8 . Ein Beitrag zur Problematik der preußischen Reform-
und Restaurationszeit, in: W F , Bd. 2 2 ( 1 9 6 9 / 7 0 ) , S. 7 8 - 9 7 , hier S. 89, S. 93 ff.;
zuletzt als Zusammenfassung des älteren Kenntnisstandes A. J . LA VOPA, Prussian
Schoolteachers... (1980) [35], S. 6 8 ff., S. 133 ff.; Diesterweg: S. 127; hingegen
grundlegend: T h o m a s NIPPERDEY, Volksschule und Revolution im Vormärz. Eine
Fallstudie zur Modernisierung II [1968], in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie.
Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte ( = KrStGw, Bd. 18), Göttingen
1976, S. 2 0 6 - 2 2 7 , hier S. 2 1 8 f.
30 Vgl. die Lit. in § 3, III, A n m . 14; H u g o G o t t h a r d BLOTH, Adolph Diesterweg.
Sein Leben und Wirken für Pädagogik und Schule, Heidelberg 1966, passim, bes.
S. 98, 1 0 9 - 1 5 8 ; Ders., Adolph Diesterweg ( 1 7 9 0 - 1 8 6 6 ) , in: H a n s Scheuerl (Hg.),
Klassiker der Pädagogik, Bd. 1, M ü n c h e n 1979, S. 2 8 3 - 2 9 8 , hier S. 2 8 3 , 2 8 8 ,
2 9 7 ; Friedrich KNÖNAGEL/Gerhard BUCHWALD, Das Königliche Seminar für Stadt-
schullehrer in Berlin 1831 — 1911 und das Lehrerseminar in Spandau 1911 — 1925,
in: Friedrich Buchholz/Gerhard Buchwald (Hg.), Die brandenburgischen Leh-
rerseminare und die ihnen angegliederten Präparandenanstalten, Berlin 1961,
S. 1 6 5 - 2 1 2 , h i e r S. 1 7 2 - 1 7 5 ; T. NIPPERDEY, Volksschule und Revolution im
Vormärz... ( 1 9 7 6 ) [ s . o . A n m . 2 9 ] , S. 2 1 8 .
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 735

1832 Leiter des Berliner Stadtschullehrerseminars, darf als prominenter


Vertreter derjenigen Forderungen angesehen werden, die die entstehende
Lehrerbewegung formulierte. Gegen diesen Verbindungsmann von Leh-
reremanzipation und liberaler O p p o s i t i o n , den Altenstein noch gegen
Angriffe gedeckt hatte, wurde unter Eichhorn die Entlassung betrieben.
1847 wurde Diesterweg, nachdem er mehrmals verwarnt worden war,
zur Disposition gestellt, und zwar unter Belassung des vollen Gehalts,
ein Verfahren, das ebenso bemerkenswert ist wie die T a t s a c h e , daß ein
M a n n wie er immerhin siebenundzwanzig J a h r e sich im aktiven Dienst
im vormärzlichen Preußen befunden hat. Gegen den Hirschberger Lehrer
Karl Friedrich Wilhelm Wander, der in Schriften sowie mit der Organi-
sation von Lehrervereinen und -festen im Sinne der Lehrerbewegung aktiv
geworden war, wurden Verfahren eingeleitet, die jedoch mit einem Frei-
spruch endeten — erst nach der Revolution erhielt er eine Freiheitsstrafe
und Amtsverbot. 3 1 Lehrerfeste wurden untersagt, Lehrerzeitungen — ge-
leitet von B e a m t e n , Seminardirektoren und -lehrern! — gemaßregelt und
das Breslauer Seminar 1846 geschlossen. Dies alles waren M a ß n a h m e n
gegen Volksschullehrer, während lose Zusammenschlüsse der Lehrer an
höheren Schulen 3 2 offenbar wenig Anlaß zur Sorge gaben.
G e w i ß waren es nicht die Volksschullehrer, die sich an der vormärzlichen
Lehrerbewegung beteiligt hatten, und so wird auch bei dem Urteil über die
R o l l e von Lehrern in der Revolution in Preußen eine voreilige Verallgemei-
nerung zu vermeiden sein. Aus dem von h o h e m Selbstwertgefühl getragenen
und zunächst standespolitisch gespeisten Oppositionspotential in der Volks-
schullehrerschaft resultierte die Beteiligung eines Teiles von ihnen an der
Revolution, während der auch die schulpolitischen Forderungen wie die
nach der Schule als „Staatsanstalt" (Tivoli-Versammlung, April 1848)

31 Karl MÜLLER, Kulturreaktion in Preußen im 19. Jahrhundert, Berlin 1929, S. 45 -


51; R. RISSMANN, Geschichte des Deutschen Lehrervereins...(1909) [s.o.
Anm. 28], S. 306 ff.; Hans-Günter THIEN, Schule, Staat und Lehrerschaft. Zur
historischen Genese bürgerlicher Erziehung in Deutschland und England (1790 —
1918), Frankfurt/M.-New York 1984, S. 169f.; sowie die Diesterweg-Monogra-
p h i e v o n H . G . BLOTH, A d o l p h D i e s t e r w e g . . . ( 1 9 7 9 ) [ s . o . A n m . 3 0 ] , S. 1 5 1 ; z u m
Folgenden noch L. von RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen
Staates... (1854/55) [16], Bd. 1, S. 480; Reinhart KOSELLECK, Preußen zwischen
Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewe-
gung von 1791 - 1 8 4 8 ( = IndW, Bd. 1), Stuttgart 2 1975, S. 404 - 407.
32 Differenzierung: R. BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer... (1983) [25],
S. 45 ff., (auch zum Realschulmännerverein, 1843); Kurt DÜWELL, Das Schul- und
Hochschulwesen der Rheinlande. Wissenschaft und Bildung seit 1815, in: Franz
Petri/Georg Droege (Hg.), Rheinische Geschichte in drei Bänden, Bd. 3, Düssel-
dorf H980, S. 4 6 5 - 5 5 2 , hier S. 488 f.; C. FÜHR, Gelehrter Schulmann - Ober-
lehrer - Studienrat... (1985) [s.o. Anm. 25], S. 446f.; Hans-Jürgen APEL, Das
preußische Gymnasium in den Rheinlanden und Westfalen 1814 — 1848. Die
Modernisierung der traditionellen Gelehrtenschulen durch die preußische Unter-
richtsverwaltung ( = StDokdBG, Bd. 25), Köln-Wien 1984, S. 231 f., 256.
736 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

drastisch formuliert wurden,33 mag auch wohl - wie die Beteiligung an


den Lehrerversammlungen zeigt — die Masse der Lehrer sich passiv ver-
halten haben. Für die Universitäten brachten die Revolutionsereignisse
zunächst die Aufhebung der Bestimmungen von 1819, womit nun auch die
Regierungsbevollmächtigten verschwanden. In den Märztagen selbst diffe-
rierte das studentische Engagement je nach Hochschulort. In Berlin haben
sich von den 1490 Studenten etwa 100 an den Barrikadenkämpfen beteiligt,
von denen zwei erschossen wurden, doch haben hier die Radikalen nur für
kurze Zeit die Oberhand besessen. In Halle war die studentische Beteiligung
noch geringer, in Königsberg und Greifswald spielte die Universität 1848
keine Rolle. In Bonn dominierte — trotz des Professors Kinkel und des
Studenten Carl Schurz - nicht das radikal-revolutionäre Element, sondern
die Liberalen. Sieben Bonner Professoren waren Paulskirchenabgeordnete,
darunter Arndt und Dahlmann. 34
Nach der Revolution lösten sich studentische Verbindungen auf bezie-
hungsweise sie unterlagen der Verfolgung, doch konnten die Universitäten
ihre Freiräume wahren. Die Gymnasien erfuhren unter dem 1850 bis 1858
amtierenden Kultusminister von Raumer eine Politik noch stärkerer religiös-
konfessioneller Einbindung in Fortsetzung der Eichhornschen Grundsätze
und mit zweifelhaftem Erfolg. Immerhin wurde eine größere Anzahl Gym-
nasialdirektoren ausgewechselt. Besonders deutlich war die innenpolitische
Instrumentalisierung des Bildungswesens im revolutionspräventiven Sinn
für die Volksschulen. Schon Ende 1848 war eine Verfügung ergangen, die
die Erziehung künftiger „Staatsbürger" zur Liebe für Vaterland und Mo-
narchen betraf. Es folgten Verbote für Lehrer, regierungsfeindlichen Verei-
nen beizutreten. Ausdrücklich wurde bei Beförderung und Anstellung die
politische Haltung berücksichtigt.35 Besondere Bekanntheit erlangten die
nach dem Geheimen Regierungsrat im Kultusministerium Ferdinand Stiehl
benannten Regulative vom Jahre 1854, die, wie Karl-Ernst Jeismann treffend
formulierte, „als Versuch der Lösung der sozialen Frage mit restaurativen
Erziehungsmitteln" angesehen werden können und insofern in einer Tra-

33 J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte... (1914) [43], S. 123 f.;


T. NIPPERDEY, Volksschule und Revolution im Vormärz... (1976) [s.o. Anm. 29],
S. 2 0 6 ; G. LÜTTGERT, Preußens Unterrichtskämpfe in der Bewegung von 1848.
Ein geschichtlicher Rückblick, Berlin 1924, S. 2 1 9 - 2 2 4 ; R . RISSMANN, Geschichte
des Deutschen Lehrervereins... (1909) [s.o. Anm. 28], S. 3 4 f f .
34 Heide THIELBEER, Universität und Politik in der deutschen Revolution von 1848,
Bonn 1983, S. 93 ff. (Berlin), 97 ff. (Bonn), 103 f. (Breslau), 105 (Halle), 107 f.;
Karl GRIEWANK, Deutsche Studenten und Universitäten in der Revolution von
1848, Weimar 1949, S. 27 ff.; für Bonn speziell noch M . BRAUBACH, Bonner
Professoren und Studenten in den Revolutionsjahren... (1967) [s.o. Anm. 23],
passim, bes. S. 16 f., 20-28, 7 9 - 9 3 ; abweichend: K. H . JARAUSCH, Deutsche Stu-
denten 1 8 0 0 - 1 9 7 0 . . . (1984) [50], S. 51.
35 L. von RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates... (1854/55)
[16], Bd. 1, S. 4 7 4 - 4 8 4 , betreffend „das politische Verhalten" der „Volksschul-
lehrer"; generell: K.-E. JEISMANN, Preußische Bildungspolitik... (1988) [74],
S. 31 f.
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 737

dition standen, die weit in den Vormärz zurückverweist. 36 Die Stiehlschen


Regulative waren der prominenteste Ausdruck einer nach- und antirevolu-
tionären Schulpolitik, die die Verwaltung zur Sicherung der inneren Ord-
nung einzusetzen entschlossen war. Damit waren Rahmennormen für Se-
minarausbildung sowie für „Einrichtung und Unterricht der evangelischen
einklassigen Elementarschule" 37 gegeben, und zwar im Sinne einer strikten
„Beschränkung auf die Grenzen der Elementarschule". 38 „Der Gedanke einer
allgemein menschlichen Bildung durch formelle Entwicklung der Geistes-
vermögen an abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungs-
los, oder schädlich erwiesen", hieß es hinsichtlich der Elementarschulen,
die statt dessen auf dem „Fundament des Christentums" im Dienst des
„praktischen Leben(s)" arbeiten sollten. Der — zeitlich eng begrenzte, aber
grundsätzlich vorgesehene — Unterricht „in der vaterländischen Geschichte,
Erd- und Naturkunde" sollte die Jugend einführen „in die Kenntniß der
Geschichte unserer Herrscher und unseres Volkes, wie der göttlichen Lei-
tung, die sich in derselben offenbart, und Herz und Sinn der Schüler mit
Liebe zum König und mit Achtung vor den Gesetzen und Einrichtungen
des Vaterlandes... erfüllen". 3 9
Die Indizien sprechen dafür, daß die Stiehlschen Regulative auch tat-
sächlich auf der örtlichen Ebene durchgesetzt worden sind, 40 wiewohl zu
diesem Problemkreis noch nähere Forschungen geboten erscheinen. An
zeitgenössischer Kritik an den Regulativen, die bis 1872 galten, aber in der
Zeit der „Neuen Ära" eine leichte Abschwächung des religiös-gedächtnis-

36 Grundlegend: Karl-Ernst JEISMANN, Die „Stiehlschen Regulative" [1966], in:


Ders., Geschichte als H o r i z o n t der G e g e n w a r t . . . (1985) [32], S. 125 — 143, 3 3 2 -
3 3 4 (zum höheren Bildungswesen: S. 127 f.), Zitat: S. 137, zum K o m p l e x ferner
S. 131 ff., 137 f.; Bernhard KRUEGER, Stiehl und seine Regulative. Ein Beitrag zur
preußischen Schulgeschichte, Weinheim 1970, zur Person Stiehls S. 3 2 ff., 65 —
6 8 ; zur Abfassung der Regulative: S. 104 f.; schließlich Friedhelm NYSSEN, Das
Sozialisationskonzept der Stiehlschen Regulative und sein historischer Hinter-
grund. Z u r historisch-materialistischen Analyse der Schulpolitik in den fünfziger
und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Klaus L . H a r t m a n n / F r i e d h e l m
N y s s e n / H a n s Waldeyer (Hg.), Schule und Staat im 18. und 19. Jahrhundert. Z u r
Sozialgeschichte der Schule in Deutschland, F r a n k f u r t / M . 1974, S. 2 9 2 - 3 2 2 , bes.
S. 3 0 0 ff., 3 1 1 ; H a r t m u t TITZE, Die Politisierung der Erziehung. Untersuchungen
über die soziale und politische Funktion der Erziehung von der Aufklärung bis
zum Hochkapitalismus, F r a n k f u r t / M . 1973, S. 189 ff.
37 So die „Grundzüge" (3. Regulativ) v o m 3. X . 1854; amtlicher Druck: F. STIEHL
(Hg.), Die drei Preußischen Regulative v o m ersten, zweiten und dritten O c t o b e r
1854 über Einrichtung des evangelischen Seminar-, Präparanden- und Elemen-
tarschul-Unterrichts, Berlin 1854, S. 6 1 - 7 6 , das 1. Regulativ: S. 3 - 4 8 , zu der
evangelischen Präparandenausbildung S. 4 9 — 5 9 .
38 A. a. O., S. 5 ; folgendes Zitat: S. 64.
39 A. a. O., S. 7 3 f.
40 M . WÖLK, Der preußische Volksschulabsolvent als Reichstagswähler... (1980)
[ s . o . A n m . 28], S. 135F.; F. NYSSEN, Das Sozialisationskonzept der Stiehlschen
Regulative... (1974) [ s . o . Anm. 36], S. 3 0 3 f f .
738 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

mäßigen Unterrichts erfuhren, 4 1 hat es schon seinerzeit nicht gefehlt, zumal


in der in den 1860er Jahren wieder auflebenden Lehrerbewegung, und ihre
schroffe Verurteilung hat sich bis in die neuere Literatur erhalten. Dagegen
ist allerdings auf einen deutlichen Modernisierungseffekt der (intentional)
konservativen Regulative aufmerksam gemacht worden, wurden doch mit
diesen Bestimmungen, die auf Bildungsbegrenzung angelegt schienen und
staatsweit galten, vielfach Minimalziele gesteckt, die bis dahin nicht erreicht
worden waren. Mögen auch die Seminare noch immer nicht quantitativ
vollständig ausgereicht haben, so wurden doch nun auch für sie erstmals
einheitliche Grundbestimmungen vorgegeben und damit eine Rationalisie-
rung der organisierten Volksschullehrerbildung bewirkt, 4 2 zumal Stiehl wei-
tergehenden Forderungen nach einer Aufhebung der Seminare überhaupt
zuvorgekommen ist. Die Stiehlschen Grundzüge, die freilich so, wie sie
vorlagen, nur für einklassige Schulen galten 4 3 und in den Städten eine
Lehrplanerweiterung nicht zu verhindern vermochten, haben regional
durchaus die Fortentwicklung des Bildungsniveaus beschleunigt. Der Rück-
gang der Analphabetenquote hielt auch im Zeichen einer „reaktionären"
Bildungspolitik an. Im Jahre 1871 war für den aufmerksamen Betrachter
der Schulwirklichkeit in Preußen evident, daß „die Schulbildung der Deut-
schen [!] in den verschiedensten Gegenden durch die Schulregulative und
den administrativen Druck auf die Gemeinden ziemlich uniformiert worden
i s t " . 4 4 Insofern ist die Wirkungsgeschichte der Regulative, denen an sich

41 Amtlicher Druck mit Vorwort von F. STIEHL (Hg.), Die Weiterentwicklung der
drei Preußischen Regulative vom ersten, zweiten und dritten October 1854, Berlin
1861, S. 5 - 1 5 , 5 3 - 6 0 ; dazu vgl. B. KRUEGER, Stiehl und seine Regulative...
(1970) [s.o. Anm. 36], S. 118; zur Kritik an den Regulativen S. 107-117, auch
zum Folgenden.
42 K.-E. JEISMANN, Die „Stiehlschen Regulative"... (1985) [s.o. Anm. 36], S. 125,
128, 139; Beispiele bei P[eter] J[osef] WYNANDS, Die Herausbildung des Leh-
rerstandes im Rheinland während des 19. Jahrhunderts ( = StPädAG, Bd. 1),
Frankfurt/M. u.s.w. 1989, S. 1 1 0 - 1 2 8 , bes. S. 112, S. 122f.; zum Ziel der Ver-
einheitlichung auch F. STIEHL (Hg.), Die drei Preußischen Regulative... (1854)
[s. o . A n m . 3 7 ] , S. 3 f . ; F. B U C H H O L Z / G . BUCHWALD ( H g . ) , D i e b r a n d e n b u r g i s c h e n
Lehrerseminare... (1961) [s.o. Anm. 30], S. 112; s. im obigen Sinne ferner die an
sich sehr kritische Darstellung von Folkert MEYER, Schule der Untertanen. Lehrer
und Politik in Preußen 1 8 4 8 - 1 9 0 0 ( = HPersp, Bd. 4), Hamburg 1976, S. 38.
43 Reskript des Kultusministers vom 17. II. 1865, gedruckt bei K[arl] SCHNEIDER/
E[duard] von BREMEN, Das Volksschulwesen im preußischen Staate, in syste-
matischer Zusammenstellung der auf seine innere Einrichtung und seine Rechts-
verhältnisse, sowie auf seine Leitung und Beaufsichtigung bezüglichen Gesetze
und Verordnungen. Zugleich ein vollständiger Auszug der durch das Centralblatt
für die gesamte Unterrichtsverwaltung von 1 8 5 9 - 1 8 8 5 mitgetheilten, auf das
Volksschulwesen bezüglichen und noch in Kraft stehenden Gesetze und Verord-
nungen, Bd. 3, Berlin 1887, S. 32; ferner ζ. B. Detlef K. MÜLLER, Sozialstruktur
und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im
19. Jahrhundert ( = StWGesB, Bd. 7), Göttingen 1977, S. 266.
44 So K. BRÄMER, Die Schulbildung der Ersatzmannschaften in Preußen mit Rück-
sicht auf ihre Familiensprache, in: ZStatB, 11. Jg. (1871), S. 372.
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 739

eine hinsichtlich ihres gesinnungspädagogischen Charakters negative Rolle


zugeschrieben wird, in differenzierter Sicht zu beurteilen: Sie sind ein
Beispiel für das seit den 1820er Jahren, als unter Beckedorff die Seminare
ausgebaut wurden, zu beobachtende Phänomen, daß eine konservative
Ordnungsverwaltung durch Vereinheitlichung und Rationalisierung zum
Zwecke ihres Programmes faktisch einen Modernisierungseffekt bewirkte,
und dies auch ohne leistungsstaatliches Finanzengagement und Einflußstei-
gerung durch staatlich vorgehaltene Daseinsvorsorge im Bildungswesen für
die breiten Bevölkerungsschichten.

2. Schulpolitik in den Kämpfen des Kaiserreichs

Wie in den Jahren zwischen erster und „zweiter Reichsgründung" um


1878/79 generell, so stand auch die preußische Innenpolitik hinsichtlich des
Bildungswesens zunächst unter liberalem Vorzeichen. Hatte die preußische
Verfassung des Jahres 1850, 4 5 durchaus im liberalen Sinne, das Unterrichts-
wesen als Teil des staatlichen Herrschaftsbereiches behandelt und dement-
sprechend für die staatlichen Behörden ein umfassendes Aufsichtsrecht auch
bezüglich der „Privat-Unterrichts- und Erziehungsanstalten" (Art. 23) fest-
gestellt, so kam gleichwohl das in Art. 26 vorgesehene Unterrichtsgesetz
nie zustande, so daß, wie Art. 112 der Verfassung regelte, „es hinsichtlich
des Schul- und Unterrichtswesens bei den jetzt geltenden gesetzlichen Be-
stimmungen" blieb. Da nach der Verfassungslage von 1867/71 den Bundes-
staaten die Kultushoheit zustand, bedeutet dies für Preußen, daß die Ver-
waltung nach wie vor befugt war, nicht nur auf der Grundlage bisheriger
Normen zu arbeiten, sondern auch neue zu erlassen. Auf diesem "Wege
schritt die staatliche Indienststellung der Schule in der Zeit der vom Libe-
ralismus geprägten Innenpolitik fort, deutlich besonders in den Jahren des

45 Zu den Unterrichtsartikeln (Art. 20 - 26, dazu noch Art. 112) der preußischen
Verfassung vom 30. I. 1850 die klassischen Kommentare von Gerhard AN-
SCHÜTZ, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.
Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, Berlin 1912 (ND Aalen
1974), S. 364 - 496, bes. S. 380; zur Entstehung der Artikel S. 366 ff.; Adolf
ARNDT, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat, Berlin 7 1911,
S. 1 2 2 - 1 4 0 , 380 (Aufhebung von Art. 112 durch Gesetz vom 10. VI. 1906), auch
zum Folgenden; neuere Lit.: Helga ROMBERG, Staat und Höhere Schule. Ein
Beitrag zur deutschen Bildungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis
zum Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung Preußens ( = St-
DokdBG, Bd. 11), Weinheim - Basel 1979, S. 67, 69 - 74; E. R. HUBER, Deutsche
Verfassungsgeschichte... (1963/70) [31], Bd. 3, S. 118ff.; zu den verschiedenen
Unterrichtsgesetzentwürfen und ihren Schicksalen: L. CLAUSNITZER (Hg.), Ge-
schichte des Preußischen Unterrichtsgesetzes... ( 2 1891) [27], passim, bes. S. 167 ff.,
211-219, 2 4 8 ff., 282, 309-312; dazu Kurt RICHTER, Der Kampf um den
Schulgesetzentwurf des Grafen Zedlitz-Trützschler vom Jahre 1892. Ein Beitrag
zur Geschichte der inneren Politik des „Neuen Kurses" und zur Parteienge-
schichte, Phil. Diss. Halle 1934, bes. S. 1 3 - 3 0 .
740 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Kulturkampfes, als — 1872 — auch die o r t h o d o x e n Regulative Stiehls durch


die Allgemeinen Bestimmungen ersetzt wurden, mit denen — nun gleichfalls
für katholische Volks- und die neu abgegrenzten „Mittelschulen" - unter
Abschwächung des religiösen Stoffanteils die Realien eine deutliche Auf-
wertung erfuhren. 4 6 Diese schon unter dem Kulturkampf-Kultusminister
Adalbert F a l k 4 7 verfaßten Regelungen für Volks-, Mittelschulen und Leh-
rerseminare riefen vor allem den Protest der evangelischen Kirche hervor,
drohte doch in den Auseinandersetzungen zwischen Staat und katholischer
Kirche auch ihr Besitzstand betroffen zu werden, während die Kräfte des
Katholizismus in der Simultanschulfrage sowie im Streit um die Missio
canonica für den Religionsunterricht an Schulen involviert waren.
Schulfragen standen schon in den ersten Kulturkampfjahren im Z e n t r u m
des Streites, sah sich doch der preußische Staat unmittelbar nach Verkün-
dung des Infallibilitätsdogmas mit der Frage konfrontiert, wie er sich in
den Fällen verhalten sollte, in denen Lehrpersonen an Schulen und Univer-
sitäten die Missio canonica von kirchlichen Instanzen entzogen wurde, weil
jene die Beschlüsse des Vatikanums nicht anerkennen wollten. Im Brauns-
berger Schulstreit48 k a m es zu dem wohl eklatantesten dieser Konflikte.
Unter Falk wurde der staatliche Anspruch auf die Schulhoheit militant
gewahrt und die Stellung der Kirchen reduziert, so wenn 1872 Mitgliedern

46 Zu den „Allgemeinen Bestimmungen": Christa BERG, Die Okkupation der Schule.


Eine Studie zur Aufhellung gegenwärtiger Schulprobleme an der Volksschule
Preußens ( 1 8 7 2 - 1 9 0 0 ) , Heidelberg 1973, S. 6 1 - 8 8 , zur Entstehung S. 6 4 - 6 8 ,
zu Gliederung und Inhalt S. 68 ff., 73 f.; K. SCHNEIDER/E. von BREMEN, Das
Volksschulwesen im preußischen Staate... (1877) [s. o. Anm. 43], Bd. 3, S. 326 ff.;
F. MEYER, Schule der Untertanen... (1976) [s.o. Anm. 42), S. 5 8 - 6 3 , 67; Anita
MÄCHLER, Aspekte der Volksschulpolitik in Preußen im 19. Jahrhundert. Ein
Überblick über wichtige gesetzliche Grundlagen im Hinblick auf ausgewählte
Gesichtspunkte, in: Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit
des Kaiserreichs ( = PriG, Bd. 1), Stuttgart 1980, S. 224 - 241, hier S. 236; (Teil-)
Druck: C. MÜLLER, Grundriß der Geschichte des preußischen Volksschulwesen...
( 4 1913) [38], 2 2 8 - 2 4 6 .
47 Noch immer grundlegend: Erich FOERSTER, Adalbert Falk. Sein Leben und
Wirken als preußischer Kultusminister dargestellt auf Grund seines Nachlasses,
Gotha 1927, S. 75, hier bes. S. 170; ergänzend: H. ROSIN, Adalbert Falk. Der
Erneuerer der preußischen Volksschule. Ein Gedenkblatt zu seinem
100. Geburtstage. Im Auftrage des Preußischen Lehrervereins, Magdeburg 1927,
bes. S. 133 ff. und passim; vgl. damit Jos[eph] HESS, Der Kampf um die Schule
in Preußen. 1 8 7 2 - 1 9 0 6 , Köln 1912, S. 29; das Folgende: C. BERG, Die Okku-
pation der Schule... (1973) [s.o. Anm. 46], S. 83f.
48 Georg FRANZ, Kulturkampf. Staat und katholische Kirche in Mitteleuropa von
der Säkularisation bis zum Abschluss des preussischen Kulturkampfes, München
1954, S. 216 f.; Adelheid CONSTABEL (Bearb.), Die Vorgeschichte des Kulturkamp-
fes. Quellenveröffentlichung aus dem Deutschen Zentralarchiv ( = SchrrAv,
B d . 6 ) , B e r l i n 2 1 9 5 7 , S. 6 6 - 7 1 , 7 9 , 8 5 f f . , 8 9 - 9 2 , 9 7 f f . , u. ö . ; d a z u die E i n l e i t u n g
von Fritz HÄRTUNG, S. 9 f.; zu analogen Konfliktfällen vgl. die Stücke S. 46, 51,
56, 67, 67 ff., 76 ff., u. ö., Renate RUHENSTROTH-BAUER, Bismarck und Falk im
Kulturkampf ( = HeidAbhMNH, H. 70), Heidelberg 1944, S. 36.
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 741

geistlicher Kongregationen die Lehrbefugnis an öffentlichen Schulen ent-


zogen wurde oder durch Erlaß im Jahre 1876 festgelegt wurde, daß der
schulplanmäßige Religionsunterricht an Volksschulen nur durch vom Staat
berufene Lehrkräfte und unter seiner Aufsicht stattfinden sollte. 49
Bedeutendstes und bleibendes Produkt des Kulturkampfes auf dem Bil-
dungssektor war unstrittig das „Gesetz, betreffend die Beaufsichtigung des
Unterrichts- und Erziehungswesens. Vom 11. März 1872", nach dem „die
Aufsicht über alle öffentlichen und Privat-Unterrichts- und Erziehungs-
Anstalten dem Staate" zustand und „alle mit dieser Aufsicht betrauten
Behörden und Beamten im Auftrage des Staates" handelten, der auch die
„Ernennung der Lokal- und Kreis-Schulinspektoren" ausübte und neben-
amtliche Beauftragungen — man denke an die bisherige Praxis der geistli-
chen Schulaufsicht — jederzeit widerrufen konnte. 5 0 Die Praxis der nun,
juristisch gesprochen, in staatlicher Auftragsverwaltung durchgeführten und
neu geregelten Schulaufsicht mit der Tendenz, „die Schule unter die alleinige
Herrschaft des Staates zu stellen" (Bismarck), 51 sah freilich so aus, daß in
den protestantischen Gebieten Preußens die Superintendenten und Orts-
pfarrer als Kreis- beziehungsweise Lokalschulinspektoren in aller Regel
weiter fungierten, im katholischen Raum aber von den Möglichkeiten des
Gesetzes in großem Umfang Gebrauch gemacht wurde. 52 Bis 1875 sahen
sich 373 katholische, aber nur 17 evangelische Kreisschulinspektoren ihres
Amtes enthoben und vor allem durch Gymnasial-, Realschul- oder Semi-
narlehrer ersetzt, während zu Lokalinspektoren Bürgermeister, Gutsbesitzer,
aber auch Förster, Ärzte, Landräte und Offiziere bestellt wurden. Hatte in
den 1870er Jahren unter Falk schon der Finanzmangel einer allzu ausge-
dehnten Anwendung der Möglichkeiten des Schulaufsichtsgesetzes im Wege
gestanden, da hauptamtliche Inspektoren entsprechend zu besolden waren,
so verlief unter den Kultusministern nach Falk die weitere Entwicklung der
Schulaufsicht in der Praxis durchaus nicht geradlinig, da Kultusminister

49 C. BERG, Die Okkupation der Schule... (1973) [s.o. Anm. 46], S. 100; E. R.
HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969) [31], Bd. 4, S. 704; G. GIESE
(Hg.), Quellen zur deutschen Schulgeschichte... (1961) [21], S. 36, S. 178.
50 GS 1872, S. 183 (Nr. 7975); zu den weiteren, auch ausführenden Bestimmungen:
Alwin PETERSILIE, Das öffentliche Unterrichtswesen im Deutschen Reiche und
in den übrigen europäischen Kulturländern ( = HLbStw, 3. Abt., Bd. 3), Bd. 1,
Leipzig 1897, S. 303, 315 — 324; vgl. schon oben § 3, I, bei Anm. 14; aus der Lit.:
E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969) [31], Bd. 4, S. 7 0 1 - 7 0 4 .
C. BERG, Die Okkupation der Schule... (1973) [s.o. Anm. 46], S. 1 6 - 6 0 ; die
katholische Sicht: J. HESS, Der Kampf... (1912) [s.o. Anm. 47], S. 1 3 - 3 5 .
51 So Bismarck im November 1871 anläßlich der Beratung der Schulaufsichtsgesetzes
im Staatsministerium; A. CONSTABEL, Die Vorgeschichte des Kulturkampfes...
( 2 1957) [s.o. Anm. 48], S. 137.
52 Zahlen für 1875ff. bei C. BERG, Die Okkupation der Schule... (1973) [s.o.
Anm. 46], S. 5 5 - 5 8 ; zum Folgenden S. 52 — 55; R MEYER, Schule der Unterta-
nen... (1976) [s.o. Anm. 42], S. 89, 160, S. 180, 186; vgl. die Zahlen bei E. N.
ANDERSON, Die preußische Volksschule im neunzehnten Jahrhundert... (1981)
[23], S. 1389.
742 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

wie Puttkamer ( 1 8 7 9 - 1 8 8 1 ) oder Gossler ( 1 8 8 1 - 1 8 9 1 ) die hauptamtliche


Schulaufsicht nicht prioritär ausbauten, ja zum Teil Geistliche wieder in
ihre frühere Position einsetzten. Am Ende des Jahrhunderts arbeiteten rund
zwei Drittel der preußischen Volksschulen noch unter einem Geistlichen als
Inspektor; im Jahre 1909 waren 73 Prozent der Kre/sschulinspektoren
(Haupt- und Nebenamt) Geistliche, 1913 betrug der Anteil hauptamtlicher,
staatlicher Inspektoren 30 Prozent, der der nebenamtlichen 19 Prozent, und
der Anteil der nebenamtlich wirkenden Geistlichen 51 Prozent. 53 Allerdings
muß an dieser Stelle auf Strukturverschiebungen jenseits staatlicher Schul-
politik aufmerksam gemacht werden, wie sie in der zunehmenden Verstäd-
terung im letzten Jahrhundertdrittel zu beobachten sind, denn gerade die
hochentwickelten mehrklassigen Volksschulen in den großen Städten stan-
den unter verschiedenartig gestalteten, vielfach weltlichen Inspektoraten. 54
Die Orisschulaufsicht der Geistlichen über die Volksschulen blieb aber in
Preußen gleichwohl als Regelfall erhalten.
Mit dem antikatholischen Motiv bei der Einführung des Schulaufsichts-
gesetzes hatte sich von Anfang an ein antipolnischer Affekt verbunden, der
in den Quellen der frühen 1870er Jahre mit Deutlichkeit entgegentritt -
Bismarck sprach in diesem Kontext 1871 von der „Germanisierungsaufgabe
der Elementarschulen" 55 ! —, und auch nach dem Kulturkampf war die
Schulaufsicht ein willkommenes Instrument der Polenpolitik.
Bei allen Schwankungen der preußischen Polenpolitik im 19. Jahrhundert
— es sei nur an die schärfere Gangart einer auf Zurückdrängung des
polnischen Elementes zielenden Politik unter dem Oberpräsidenten Flottwell
in der Provinz Posen nach dem polnischen Aufstand von 1830 erinnert
sowie an die mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. eingetretene
zeitweilige Wende 56 — wird doch festgestellt werden können, daß mit der

53 Lothar BURCHARDT, Kultur- und Bildungswesen, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans


Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3,
Stuttgart 1984, S. 4 6 6 - 4 9 2 , hier S. 472.
54 Z. B.: ZB1UV, 1898, Nr. 186, S. 723 f.
55 Bismarcks Immediatbericht vom 27. Nov. 1871, bei A. CONSTABEL, Die Vorge-
schichte des Kulturkampfes... ( 2 1957) [s.o. Anm. 48], S. 143; ferner die Stücke
S. 128, 137; siehe auch Bismarcks Abgeordnetenhausrede vom 9. Febr. 1872:
Horst KOHL (Hg.), Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-
kritische Gesamtausgabe, Bd. 5, Stuttgart 1893, S. 266; G. FRANZ, Kulturkampf...
(1954) [s. o. Anm. 48], S. 213 f.; wichtig ferner R. RUHENSTROTH-BAUER, Bismarck
und Falk im Kulturkampf... (1944) [s.o. Anm. 48], S. 18f.
56 Martin BROSZAT, Zweihundert Jahre deutscher Polenpolitik, München 1963,
S. 65 ff., 75 - 80; Gotthold RHODE, Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965,
S. 380 ff.; Lech TRZECIAKOWSKI, Preussische Polenpolitik im Zeitalter der Auf-
stände ( 1 8 3 0 - 1 8 6 4 ) , in: JGMOD, Bd. 30 (1981), S. 9 6 - 1 1 0 , hier S. 100f.; zur
Unterversorgung der polnischen Gebiete hinsichtlich des mittleren und höheren
Bildungswesens mit Schulen katholischer Konfession jetzt Nora KOESTLER, In-
telligenzschicht und höhere Bildung im geteilten Polen, in: W. Conze/J. Kocka
(Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. 1. (1985) [s.o. Anm. 25],
S. 1 8 6 - 2 0 6 , hier S. 184 f.
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 743

Reichsgründung und der damit sich für die Polen ergebenden Zwangsmit-
gliedschaft in einem deutschen Nationalstaat die Schulpolitik in diesen
Provinzen ein neues Gewicht erhielt, und dies stellte sich im Kulturkampf
sogleich heraus. 57 Das Aufeinanderprallen zweier Nationalismen führte zu
einer schicksalhaften Konstellation im preußischen Osten mit Ausprägungen
auf dem Feld des Bildungswesens überhaupt, wie unter anderem die pol-
nischen Vereinsgründungen (1880: „Verband der polnischen Volksbibliothe-
ken") zeigen. Im Jahre 1872 verfügte Falk, daß der Religionsunterricht an
höheren Schulen der Ostprovinzen in deutscher Sprache zu erfolgen habe,
der Polnischunterricht wurde eingeschränkt. An Volksschulen der Provinz
Posen — der Provinz mit der höchsten Analphabetenquote (siehe oben
Tabellen 6 und 7) — und in der Provinz Preußen sollte, wie 1873 verfügt
wurde, außer in der Religion der Unterricht nur noch in deutscher Sprache
stattfinden, 58 Maßnahmen, deren Ergebnis in einer wachsenden Erbitterung
im polnisch-katholischen Bevölkerungsteil gegen die deutsche (und prote-
stantische) Verwaltung bestand, ohne schon die späteren Formen eines
Volkstumskampfes anzunehmen. 59 Zudem schritt das Ministerium gegen
das allzu scharfe Vorgehen der Provinzialinstanzen mäßigend ein.
Die 1880er Jahre brachten in diesen Provinzen trotz Abbau des Kultur-
kampfes keine Entspannung der schulpolitischen Lage; nach dem Gesetz
vom 15. Juli 1886 geschah die Volksschullehreranstellung in Posen und
Westpreußen künftig alleine „durch den Staat" 6 0 - Magistrate, Schulvor-
stände oder Gutsherren waren nur noch vorher anzuhören, eine Regelung,
die, wie richtig festgestellt worden ist, einer Beseitigung der Patronatsrechte
des (polnischen) Adels in Preußen gleichkam, 61 ein Vorgang, der ebenso tief

57 So mit Rudolf KORTH, Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schul-
streiks. Ein Beitrag zur preußischen Polenpolitik der Ära Biilow ( = MOstf,
Bd. 23), Würzburg 1963, S. 3 9 f., zur Entwicklung seit der Amtszeit Altensteins
S. 37 f., zu den Vereinsgründungen S. 5 f.; Jerzy TOPOLSKI, Die Geschichte Polens,
Warschau 1985, S. 199.
58 E. R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969) [31], Bd. 4, S. 4 8 4 f . ;
M . BROSZAT, Zweihundert Jahre deutscher Polenpolitik... (1963) [s. o. Anm. 56],
S. 101 f., 105; zur Polenpolitik ferner: Hans-Ulrich WEHLER, Krisenherde des
Kaiserreichs 1871 — 1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsge-
r i c h t e , Göttingen 1979, S. 184-202, hier S. 185; Christa BERG, Schulpolitik ist
Verwaltungspolitik. Die Schule als Herrschaftsinstrument staatlicher Verwaltung,
in: VWP, 51. Jg. (1975), S. 2 1 1 - 2 3 6 , hier S. 2 2 4 f f .
59 So R. KORTH, Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks...
(1963) [s.o. Anm. 57], S. 4 6 (zum ganzen Komplex S. 4 0 —46, auch zu den
sozialgeschichtlichen Hintergründen).
60 GS 1886, S. 185 f. (Nr. 9145).
61 So L. BURCHARDT, Kultur- und Bildungswesen... (1984) [s.o. Anm. 53], S. 4 7 3 ;
ferner R . KORTH, Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks...
(1963) [s.o. Anm. 57], S. 19ff., 3 0 f . , 4 6 f f . ; E. R . HUBER, Deutsche Verfassungs-
geschichte... (1969) [31], Bd. 4, S. 493 (auch zum Folgenden); Joachim MAI, Die
preußisch-deutsche Polenpolitik 1 8 8 5 / 8 7 . Eine Studie zur Herausbildung des
Imperialismus in Deutschland ( = VHIGr, Bd. 1), Berlin 1962, S. 103, 106, 132 ff.,
744 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

in die Rechte der Lokalherrschaften eingriff, wie er dem Staat nun das
Instrument in die Hand gab, gezielt nur solche Lehrer in den polnischen
Landschaften anzustellen, die ausschließlich der deutschen Sprache bezie-
hungsweise des Deutschen und des Polnischen mächtig waren. Der Unter-
richt in dem Fach der polnischen Sprache wurde an Volksschulen Posens
beseitigt, an den Universitäten Preußens wurden 1886 alle polnischen Stu-
dentenverbindungen aufgelöst. Begleitet wurden diese Maßnahmen von
einem deutlich intensivierten staatlichen Finanzeinsatz in Posen und West-
preußen mit dem Ziel einer Stützung des deutschen Elementes.
Nach einer zeitweisen Entspannung der Lage in den 1890er Jahren mit
einer partiellen Zurücknahme der den Sprachenunterricht betreffenden Re-
striktionsbestimmungen,62 erreichten die Schulkämpfe um 1900 ihren Hö-
hepunkt, getragen von einer zunehmend durch breite Bevölkerungskreise,
nicht mehr primär von Adel und Klerus allein gestützten polnischen Natio-
nalbewegung. Die rücksichtsloser werdende Germanisierungspolitik insbe-
sondere der provinzialen Behörden, die nun das Schulwesen rigoros ein-
setzten, und die polnische Agitation steigerten sich gegenseitig. Das Vor-
gehen der Verwaltung gegen den polnischsprachigen Unterricht — auch
gegen privaten — führte zu Tumulten, wie dem in Wreschen (1901), und
zu „Schulstreiks", von denen der im Jahre 1906 zeitlich und regional mit
maximal 60.000 beteiligten Kindern die größte Ausdehnung erreichte. Daß
die Frage des deutschsprachigen Religionsunterrichts zur Erbitterung be-
sonders beitrug, macht die Verknüpfung der Nationalitäten- mit der Kon-
fessionsfrage sinnfällig. Sicherlich wird zur Gesamtbilanz der preußischen
Bildungspolitik in Posen und Westpreußen aber auch die weitgehende Be-
seitigung des Analphabetismus zu rechnen sein, eine Basis, auf der sodann
im nationalpolnischen Sinne von Vereinen und Zirkeln weitergearbeitet
werden konnte (G. Rhode). 63
In der Nationalitätenproblematik der Provinzen Posen und (West-)Preu-
ßen ist sicherlich die bedeutendste Auseinandersetzung dieser Art zu erken-
nen, doch hat es entsprechende Maßnahmen gegen polnischen Sprachun-
terricht, polnische Privatschulen und Lehrmittel auch in der Rheinprovinz
und in Westfalen gegeben, ohne daß es hier zu „Streiks" gekommen wäre. 64
Im Gebiet der Kaschuben ging die Regierung Danzig in den 1880er Jahren

145 f. (zum Lehreranstellungsgesetz und zum Folgenden); Studentenverbindun-


gen: Norbert ANDERNACH, Der Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen in
Preußen 1 8 4 8 - 1 9 1 8 ( = StWGesB, Bd. 4), Göttingen 1972, S. 198.
62 Wiederum die grundlegende Studie von R. KORTH, Die preußische Schulpolitik
u n d d i e p o l n i s c h e n S c h u l s t r e i k s . . . ( 1 9 6 3 ) [s. o . A n m . 5 7 ] , S. 5 0 - 5 3 , 60.
" A . a . O . , S. 6 3 f., 68, 82-107, 115-160 (zum „Schulstreik" 1906/07), bes.
S. 130ff., 134; M. BROSZAT, Zweihundert Jahre deutscher Polenpolitik... (1963)
[s.o. Anm. 56], S. 123; G. RHODE, Kleine Geschichte Polens... (1965) [s.o.
Anm. 5 6 ] , S. 4 2 3 ff.
64 Manfred HEINEMANN, Die Assimilation fremdsprachiger Schulkinder durch die
Volksschule in Preußen seit 1880, in: BE, 28. Jg. (1975), S. 5 3 - 6 9 , bes. S. 6 0 -
64.
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 745

im Sinne einer Germanisierungspolitik vor, und nach 1870 wurde auch die
masurische beziehungsweise die litauische Sprache in den Schulen benach-
teiligt. Wenn auch in Nordschleswig zunächst seit 1871 die Schule nicht zur
Verdrängung des Dänischen eingesetzt wurde, so doch zur Verbreitung des
Deutschen als Geschäftssprache; 1888 wurde sodann Deutsch als einzige
Unterrichtssprache eingeführt mit der Folge, daß die dänische Opposition
einen deutlichen Zulauf erhielt, für die im übrigen dänische Volkshoch-
schulen und „Bauernschulen" im Nationalitätenkampf eine wichtige Rolle
spielten. 65
Das Schulwesen und insbesondere die Volksschule hatte begonnen, als
Werkzeug und Waffe im innenpolitischen Kampf eine wichtige Bedeutung
zu erlangen, einsetzbar nach Lage der politischen Konjunkturen: Bismarck
hatte ja auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes vom Rednerpult des preu-
ßischen Abgeordnetenhauses aus angekündigt, er gedächte nach dem Frie-
densschluß mit der Zentrumspartei „den Kampf, den aggressiv zu führen
wir eine Weile genöthigt gewesen sind, demnächst nur defensiv fortzusetzen
und die Aggression mehr der Schulbildung als der Politik zu überlassen". 66
Selbstverständlich sollte auch im staatlich geordneten und gelenkten Schul-
system des Kaiserreiches im Sinne der bestehenden politischen Ordnung
erzogen werden, und das hieß in dieser Zeit: „zu gottesfürchtigen und
monarchisch gesinnten Staatsbürgern". 67 Insofern kann der Einsatz gerade
auch der Volksschulen in der Auseinandersetzung mit der erstarkenden
Sozialdemokratie nicht verwundern, und die preußische Bildungspolitik
steht in dieser Hinsicht eben in einer längeren Tradition. In dem Allerhöch-
sten Erlaß vom 1. Mai 1889 sprach Wilhelm II. deutlich aus, daß „die Schule
in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen" sei, „um der Ausbrei-
tung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken". Dies
sollte insbesondere durch „Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum
Vaterlande" geschehen. Der Unterricht in „vaterländischer Geschichte"
sollte entsprechend verstärkt und auch auf Themen der wirtschaftlich-
sozialen Entwicklung ausgedehnt werden. 68 Obwohl der Einsatz der Schule

65 Kaschubien: J. MAI, Die preußisch-deutsche Polenpolitik... (1962) [s. o. Anm. 61],


S. 158; Masuren: C. BERG, Schulpolitik ist Verwaltungspolitik... (1975) [s.o.
Anm. 58], S. 227; Litauisch: Kurt FORSTREUTER, Die Anfänge der Sprachstatistik
in Preußen und ihre Ergebnisse zur Litauerfrage [1953], wieder in: Ders., Wir-
kungen des Preußenlandes. Vierzig Beiträge ( = StGPr, Bd. 33), Köln-Berlin 1981,
S. 3 1 2 - 3 3 3 , hier S. 314, vgl. S. 326, 332; Dänen: Oswald HAUSER, Polen und
Dänen im Deutschen Reich, in: Theodor Schieder/Ernst Deuerlein (Hg.), Reichs-
gründung 1870/71. Tatsachen — Kontroversen — Interpretationen, Stuttgart
1 9 7 0 , S. 3 0 2 , 3 1 0 f., 3 1 3 , 3 1 6 .
66 In der Anm. 55 zit. Ausgabe der Bismarck-Reden besorgt von H. KOHL (Hg.),
Die politischen Reden des Fürsten Bismarck... (1893) [s.o. Anm. 55], Bd. 6,
Stuttgart 1893, S. 274 f.
67 So A. ARNDT, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat... ( 7 1911)
[s. o. Anm. 45], S. 126, betreffend die Volksschulen.
68 Druck ζ. B.: Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4. bis
17. Dezember 1890. Im Auftrage des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und
746 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

gegen die sozialistischen Strömungen schon seit den 1870er Jahren gefordert
worden ist und Lehrer bei Wahlen zur Unterstützung der Regierung ange-
halten wurden beziehungsweise ein Einsatz zugunsten von Zentrum, So-
zialdemokratie oder Fortschritt geahndet wurde, hat auch die Volksschule
die Zunahme des Oppositionspotentials in den Jahrzehnten des Kaiserrei-
ches nicht zu verhindern vermocht. D a ß nach Aussage der Schulbücher in
den Lehranstalten der wilhelminischen Ära im Geschichtsunterricht ein Bild
von „Preußen als Vollendung der deutschen Geschichte" gezeichnet und
nicht eben zu revolutionärer Gesinnung erzogen wurde, 6 9 kann nicht er-
staunen. Ob an den höheren Schulen Preußens es zu einer praktischen
Bekämpfung sozialdemokratischer Tendenzen kam, ist aber unlängst mit
guten Gründen in Zweifel gezogen w o r d e n , 7 0 jedenfalls stehen hier die
Schulwirklichkeit erhellende Untersuchungen noch aus, wie auch solche,
die etwa die einschlägigen Lehrplanbestimmungen und Unterrichtspraktiken
auf Unterscheidungen und Gemeinsamkeiten mit dem im Europa dieser
Jahre allgemein Üblichen hin überprüften. Selbst hinsichtlich des Vollzuges

Medizinalangelegenheiten, Berlin 1891, S. 3 £.; dazu die Vorschläge des Staats-


ministeriums: S. 5 —8, ferner S. 11 f.; die (Teil-)Veröffentlichung des Kronrats-
Protokolls vom 30. IV. 1889, bei Michael STÜRMER (Hg.), Bismarck und die
preußisch-deutsche Politik 1871 - 1890 [1970], München 3 1978, Nr. 140, S. 2 7 0 -
273; danach dachte Bismarck in diesem Zusammenhang primär an die Volks-
schule. Aus der Lit.: Helmut KÖNIG, Der Kaiser-Erlaß vom 1. Mai 1889 — eine
Studie zu seiner Stellung und Funktion in der antikommunistischen Bildungs-
politik und Pädagogik des imperialistischen Deutschlands, in: JbESG, 12. Jg.
( 1 9 7 2 ) , S. 5 3 - 1 0 4 , b e s . 6 0 , 6 6 f f . ; H . T I T Z E , D i e P o l i t i s i e r u n g d e r E r z i e h u n g . . .
( 1 9 7 3 ) [ s . o . A n m . 3 6 ] , S. 2 2 7 f . ; M . WÖLK, D e r p r e u ß i s c h e V o l k s s c h u l a b s o l v e n t
als R e i c h s t a g s w ä h l e r . . . ( 1 9 8 0 ) [ s . o . A n m . 2 8 ] , S. 2 0 3 — 2 1 1 ; J a m e s C . ALBISETTI,
Secondary School Reform in Imperial Germany, Princeton-New Jersey 1983,
S. 1 7 2 - 1 8 4 ; vgl. auch S. 306; jetzt Hilke GÜNTHER-ARDT, Monarchische Präven-
tivbelehrung oder curriculare Reform? Zur Wirkung des Kaiser-Erlasses vom
1. M a i 1 8 8 9 a u f den G e s c h i c h t s u n t e r r i c h t , in: K . - E . JEISMANN, B i l d u n g . . . ( 1 9 8 9 )
[ 9 5 ] , S. 2 5 6 - 2 7 5 , bes. S. 2 7 1 ff.
69 Horst SCHALLENBERGER, Untersuchungen zum Geschichtsbild der Wilhelmini-
schen Ära und der Weimarer Zeit. Eine vergleichende Schulbuchanalyse deutscher
Schulgeschichtsbücher aus der Zeit von 1888 bis 1933, Ratingen b. Düsseldorf
1964, S. 55 (Zitat), überhauptS. 55 ff., 62f.; vgl. auch C. BERG, Die Okkupation...
(1973) [s.o. Anm. 46], S. 143ff. zum Geschichtsunterricht der Volksschule. Ger-
hard SCHNEIDER, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht am Ende des
Kaiserreichs (vorwiegend in Preußen), in: Paul Leidinger (Hg.), Geschichtsunter-
richt und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des
Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen, Stuttgart
1988, S. 54 - 67, bes. S. 54 f.,'S. 57 ff.
70 Christoph FÜHR, Die preußischen Schulkonferenzen von 1890 - 1 9 0 0 . Ihre bil-
dungspolitische Rolle und bildungsgeschichtliche Bewertung, in: P. Baumgart
(Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs... (1980) [s.o.
Anm. 46], S. 1 8 9 - 2 2 3 , bes. S. 222, ferner S. 216, 218 f., dazu vgl. L. BURCHARDT,
Kultur- und Bildungswesen... (1984) [s.o. Anm. 53], S. 475; ZB1UV. 1898,
S. 725 f.: Ausschluß v. Sozialdemokraten von Schuldeputationen u. Schulvorstän-
den.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 747

jenes vielzitierten „Kaisererlasses" von 1889 ergeben sich jedenfalls ver-


schiedene Zweifel, 71 ja es ist nicht ausgeschlossen, daß im Sinne eines
„Negativeffektes" 72 Beeinflussungsversuche der Kultusverwaltung über eine
kontraproduktive Wirkung innerhalb der Lehrerschaft gerade zu den un-
erwünschten Folgen einer tendenziell mehrheitlich-linksliberal geprägten
Volksschullehrerschaft führten, für deren politische Position es verschiedene
Belege und Argumente gibt. Jedenfalls ist selbst für die Zeit des Kaiserreiches
mit seinem verstärkten Staatszugriff auf die in den Dienst innenpolitischer
Auseinandersetzungen gestellte Schule davor zu warnen, allzu direkt von
Erlassen und Lehrplänen auf eine „Schule der Untertanen" zu schließen. 73

V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung


im Kaiserreich

1. Finanzstaat und Bildung um 1900

Im Kaiserreich, insbesondere in dessen zweitem Jahrzehnt beginnt der Staat


als Kulturstaat das Massenbildungswesen in ungewohntem Ausmaß und
mit neuen Mitteln zu prägen. Nicht mehr nur mit den Instrumenten der
ordnenden, schon Vorhandenes normierenden, auch ungewollte Folgen von
Bildung möglichst inhibierenden Verwaltung formt der Staat das Bildungs-
wesen; seit den Jahren nach 1870 ist der Staat in der Lage und Willens,
selbst als Leistungsträger Daseinsvorsorge im Bildungsbereich vorzuhalten.
Zugleich ist er nunmehr fähig und entschlossen, den Gemeinden unter
Ausübung administrativen und jurisdiktioneilen Zwanges Leitlinien für die
finanzielle Ausstattung des Schulwesens nicht nur vorzugeben, sondern
deren Einhaltung und Anwendung auch zu gewährleisten. Dies ist auch als
Hintergrund zu beachten, wenn der Einsatz des Schulwesens in innenpoli-
tischen Auseinandersetzungen dieser Zeit herausgestellt wird. 1
Hatte der Landesherr beziehungsweise die staatliche Kultusverwaltung
in früheren Phasen der preußischen Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte

71 Vgl. dazu H. E. BRONKHORST, Die Einbeziehung der preußischen Schule... (1956)


[26], S. 85; differenzierte Mitteilungen: M. WÖLK, Der preußische Volksschul-
absolvent als Reichstagswähler... (1980) [s.o. Anm. 28], S. 209 - 212, 226f.
72 So auf der Basis quantifizierender Wahlanalysen a. a. O., S. 450 ff.
73 Vgl. auch Thomas NIPPERDEY, Jugend und Politik um 1900 [1974], in: Ders.,
Gesellschaft, Kultur, Theorie... (1976) [s.o. Anm. 29], S. 3 3 8 - 3 5 9 , S. 462 - 464,
hier S. 342; Ders., Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918 ( = BGParl,
Bd. 18), Düsseldorf 1961, S. 187; gegen F. MEYER, Schule der Untertanen... (1976)
[s.o. Anm. 42], s. ferner jetzt R. BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen Leh-
rer... (1983) [25], S. 89 —91 mit regionaler Differenzierung; sowie Rainer BÖL-
LING, Volksschullehrer und Politik, Der Deutsche Lehrerverein 1 9 1 8 - 1 9 3 3
( = KrStGw, Bd. 32), Göttingen 1978, S. 9 f.
1 S. oben Abschnitt § 3, I, bei Anm. 1 und 2.
748 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

überhaupt finanzielle Beiträge geleistet, so waren sie für Universitäten


beziehungsweise höhere, zumeist gymnasiale Schulen, das heißt solche für
Knaben, geflossen. Der Kultusetat des preußischen Staates, der in den 1850er
Jahren bei — umgerechnet - etwa 11 Millionen Mark konstant geblieben
war und erst nach den Gebietsgewinnen der 1860er Jahre, die unter anderem
die Zahl der Universitäten in Preußen von sechs auf neun ansteigen ließen,
ein Wachstum auf rund 20 Millionen Mark erlebte, expandierte schon in
den 1870er Jahren deutlich (1879: 57 Mill. Mark), 2 um im Jahre 1900 153,4
Millionen und 1910 311 Millionen Mark zu betragen. Für die Hochschulen
alleine wurden 1880 12,4, 1900 17,3 und 1910 28 Millionen Mark im
preußischen Staatsetat bereitgestellt (nach Pfetsch), woraus trotz des An-
stiegs in absoluten Zahlen das überproportionale Wachstum anderer Posten
des Kultusetats hervorgeht. „Die Wissenschaftsausgaben" insgesamt in Preu-
ßen „steigen relativ kontinuierlich bis zu einem ersten Höhepunkt am Ende
der 80er Jahre, fallen Anfang der 90er Jahre etwas ab und nehmen ab 1897
wieder ziemlich gleichmäßig zu." Die größten Steigerungsraten sind in den
70er Jahren des 19. und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu
beobachten, wiewohl die preußischen Kultusausgaben, gemessen am Ge-
samtetat, unter den vergleichbaren Relationen anderer deutscher Bundes-
staaten blieben. 3 Mit dem wachsenden staatlichen Finanzengagement kor-
respondierte der Anspruch auf entsprechenden Staatseinfluß zum Beispiel
an den Universitäten gegenüber dem korporativen Element seit den 1880er
Jahren. 4
Die Zahlen der Staatsausgaben für den öffentlichen Unterricht weisen
auf noch deutlichere Steigerungsraten hin (1870: 9,5 Millionen Mark, 1880:
34,1 Millionen Mark, 1890: 74,5 Millionen Mark, 1898: beziehungsweise
1899: 110 Millionen Mark) - Insgesamt ist in der Zeit von 1870 bis 1899

2 Die Zahlen in der Lit. differieren erheblich. S. die Tabelle bei Frank R. PFETSCH,
Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750 — 1914, Berlin
1974, S. 71 f.; s. auch (leicht abweichend) Werner SOMBART, Die deutsche Volks-
wirtschaft im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, Berlin 5 1921, S. 411; ferner
ist vergleichend heranzuziehen: 0 [ t t o ] ScHWARZ/G[eorg] STRUTZ, Die Verwal-
tung der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten ( = Dies., Der
Staatshaushalt und die Finanzen Preußens. Unter Benutzung amtlicher Quellen
bearbeitet, Bd. 2, Lfg. 1), Berlin 1900, S. 1 3 8 , 1 5 6 ff., 162; Tabelle der ordentlichen
Ausgaben für Universitäten und Technische Hochschulen 1887 — 1913: Peter
LUNDGREEN, Natur und Technikwissenschaften an deutschen Hochschulen,
1870 — 1970. Einige quantitative Entwicklungen, in: R. RÜRUP (Hg.), Wissenschaft
und Gesellschaft... (1979) [58], Bd. 1, S. 209 - 230, bes. S. 226; ferner Alexander
KLUGE, Die Universitäts-Selbstverwaltung. Ihre Geschichte und gegenwärtige
Rechtsform, Frankfurt/M. 1958, S. 93 f.
3 F. R . PFETSCH, Z u r E n t w i c k l u n g d e r W i s s e n s c h a f t s p o l i t i k . . . ( 1 9 7 4 ) [s. o . A n m . 2 ] ,
S. 54, vgl. auch S. 50.
4 C. E. MCCLELLAND, State, Society and University in Germany... (1980) [51],
S. 288 ff., 300 und unten im Abschnitt § 3, VI, zu F. Althoff.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 749

für Preußen ein Anstieg der entsprechenden Mittel um 1057 Prozent be-
rechnet worden (Vergleichszahl für England: 476 Prozent).5
Im Bereich des niederen Schulwesens waren bis in die Jahre des Kaiser-
reichs die Gemeinden beziehungsweise Private unbestritten die Träger der
Bildungsstrukturen. Noch in den 1860er Jahren lag der staatliche Finanz-
anteil für das Elementarschulwesen insgesamt bei 3,5 Prozent; ein Drei-
zehntel der Personalkosten in diesem Bereich trug der Staat. 6 Daß sich die
in diesen Zahlen zum Ausdruck kommenden Verhältnisse bald grundlegend
änderten, muß auch als ein Resultat der Industrialisierungs- beziehungsweise
der Konjunkturentwicklung angesehen werden, die den Staat, aber auch die
Kommunen, zur großzügigen Finanzierung des Schulwesens erst befähigte
und zugleich in die Lage versetzte, den bildungspolitischen Herausforde-
rungen des Bevölkerungswachstums standzuhalten.
In den 1870er Jahren stieg der Staatsanteil an den „Unterhaltungskosten
der öffentlichen Volksschulen mit Einschluß der öffentlichen Mittelschulen"
schnell von 5,2 Prozent (1871) auf 12,3 Prozent (1878) bei gleichbleibenden
Gemeindelasten und reduzierter Bedeutung des Schulgeldes.7 In diesen Jah-
ren, in der Ära Falk, erfolgte eine spürbare Verbesserung der Lehrerbesol-
dungen sowohl durch die Gemeinden als auch durch Staatszuschüsse, 1874
bis 1881 wurden knapp 6000 Schulen mit großem staatlichen Finanzaufwand
neu gebaut; die Ausgaben für die Volksschulen stiegen im Kultusetat weit
überproportional, die Volksschullehrereinkommen, deren Niveau lange Zeit
stagniert hatte, erfuhren in den 1870er Jahren erstmals eine deutliche
Steigerung. Die Zahl der Lehrerbildungsanstalten wurde drastisch erhöht,
in den Jahren 1870 bis 1882 insgesamt verdoppelt. Dies waren allerdings
nur die Anfänge einer Entwicklung, die in der Mitte der 1880er Jahre, schon

5 Diese Angaben nach O . SCHWARZ/G. STRUTZ, Die Verwaltung der geistlichen


Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten... (1900) [ s . o . A n m . 2], S. 11; ab-
weichende Zahlen: Achim LESCHINSKY/Peter M a r t i n ROEDER, Schule im histo-
rischen Prozeß. Z u m Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und ge-
sellschaftlicher Entwicklung, Stuttgart 1976, S. 4 7 9 f.
6 A. a. O . , S. 4 8 3 ; Peter M a r t i n ROEDER, Gemeindeschule in Staatshand. Z u r
Schulpolitik des Preußischen Abgeordnetenhauses [1966], wieder in: Ulrich Herr-
mann (Hg.), Schule und Gesellschaft im 19. J a h r h u n d e r t . . . (1977) [29], S. 2 2 0 f . ;
L. von RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates... ( 1 8 5 4 / 5 5 )
[16], Bd. 1, S. 2 3 8 f.
7 Alwin PETERSILIE, Das Schulgeld, in: Z S t a t B , 2 6 . Jg. (1886), S. 1 9 1 - 2 1 3 , hier
S. 195, A n m . ; zum Folgenden: Folkert MEYER, Schule der Untertanen. Lehrer
und Politik in Preußen 1 8 4 8 - 1 9 0 0 ( = HPersp, Bd. 4), H a m b u r g 1976, S . 5 6 f . ;
vgl. damit Christa BERG, Die Okkupation der Schule. Eine Studie zur Aufhellung
gegenwärtiger Schulprobleme an der Volksschule Preußens (1872 — 1900), Hei-
delberg 1973, S. 124. J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte...
(1914) [43], S. 171 f., 177, 1 9 4 - 1 9 7 ; Hans-Günter THIEN, Schule, Staat und
Lehrerschaft. Z u r historischen Genese bürgerlicher Erziehung in Deutschland
und England ( 1 7 9 0 - 1 9 1 8 ) , F r a n k f u r t / M . - N e w York 1984, S. 146 f.; L. CLAUS-
NITZER, Geschichte... ( 2 1 8 9 1 ) [27], S. 2 7 6 , 299.
750 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

angesichts des Bevölkerungswachstums, die Schulsituation, wie sie durch


hohe Klassenfrequenzen und anhaltenden Lehrermangel gekennzeichnet
wurde, noch nicht nachhaltig zu verbessern vermochte.
Für die 1880er Jahre ist geradezu von einer „Umschichtung im preußischen
Budget zugunsten der Schule" 8 gesprochen worden, die allerdings nicht mehr
direkt dem Lehrpersonal, sondern den Schulgemeinden als Trägern zugute
kam. Dies gilt schon für die wichtigen Gesetze der 1880er Jahre — ihrerseits
schwer erklärlich ohne die Reform des Steuersystems seit 1879 - , so das
Pensionsgesetz von 1885 und die „Erleichterungsgesetze" von 1888/89, dabei
insbesondere jenes „Gesetz, betreffend die Erleichterung der Volksschulla-
sten" vom 14. Juni 1888, nach dem „aus der Staatskasse" bestimmte Zuschüsse
zu den Personalkosten gezahlt wurden, eine Schulgelderhebung an Volks-
schulen aber in der Regel fürderhin nicht mehr stattfand 9 — schon die Ver-
fassung des Jahres 1850 hatte die Unentgeltlichkeit des öffentlichen Volks-
schulunterrichts vorgesehen, und in Berlin war die Schulgeldfreiheit schon
1870 verwirklicht worden. Nun wurden die Gemeinden und die patronats-
pflichtigen Gutsbesitzer durch die staatliche Besoldungsübernahme erheblich
entlastet. Die Lehrergehälter, die nach den 1870er Jahren in der Zeit der
Depression stagniert beziehungsweise in den Städten eine rückläufige Ent-
wicklung erlebt hatten, wurden mit dem „Gesetz, betreffend das Dienstein-
kommen der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen" vom
3. März 1897, 10 erstmals hinsichtlich festgelegter Mindestsätze unter Gewäh-
rung von Staatsmitteln bei Unvermögen der Gemeinde vereinheitlicht, ein
Prozeß, der sodann mit dem Lehrerbesoldungsgesetz von 1909 abgeschlossen
wurde, das zugleich eine deutliche Anhebung der Volksschullehrereinkommen
bewirkte. Um 1900 verdiente ein Volksschullehrer zweieinhalbmal soviel wie
ein Arbeiter; männliche Volksschullehrer gehörten zu den 8 Prozent der Best-
verdienenden in der preußischen Einkommensstatistik (Bölling). Den hohen
Gehaltszahlungen durch finanzstarke städtische Gemeinden suchte der Kul-
tusminister Studt ( 1 8 9 9 - 1907) entgegenzuwirken, um einer Landflucht der
Lehrer vorzubeugen.

8 F. MEYER, Schule der Untertanen... (1976) [s.o. Anm. 7], S. 57, zum Folgenden
auch S. 165, und insges. S. 160-165.
9 GS 1888, S. 240 - 242, (Nr. 9301); dazu das Gesetz vom 31. März 1889, GS 1889,
S. 64 (Nr. 9326); siehe z.B. E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
(1969) [31], Bd. 4, S. 884; Karlheinz KITZEL, Die Herrfurth'sche Landgemeinde-
ordnung ( = SchrrVPkomA, Bd. 3), Stuttgart 1957, S. 51; zur Tendenz, den Land-
adel von Schullasten zu befreien, s. auch J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer
S c h u l g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 1 4 ) [ 4 3 ] , S. 1 6 0 , 1 9 2 und G S 1 8 8 7 , S. 1 7 5 ff. (Gesetz N r . 9 2 0 6
vom 26. Mai 1887).
10 GS 1897, S. 2 5 - 3 8 , (Nr. 9880), bes. die §§ 1, 2 und 27 (S. 25 f., 34 f.); zu 1897
und 1909 vgl. aus der Lit. R. BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer...
(1983) [25], S. 72 - 75; E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969)
[31], Bd. 4, S. 9 0 1 - 9 0 5 ; H.-G. THIEN, Schule, Staat und Lehrerschaft... (1984)
[s.o. Anm. 4], S. 217, 219; C. BERG, Die Okkupation der Schule... (1973) [s.o.
Anm. 7], S. 171.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 751

Staatliche Unterstützung finanzschwacher Gemeinden bei der Aufrechter-


haltung und Entwicklung der schulischen Infrastruktur zur Massenversor-
gung einer wachsenden Bevölkerung umfaßte gleichfalls finanzielles Enga-
gement bei Schulhausbau und -Unterhaltung, was an der grundsätzlichen Ver-
pflichtung der „bürgerlichen Gemeinden" und Gutsbezirke zur Übernahme
der Schullasten nichts änderte, wie sie auch im „Gesetz, betreffend die Un-
terhaltung der öffentlich en Volksschulen" vom28. Juli 1906 11 erneut festgelegt
worden war. Dieses Gesetz, das an die Stelle großer Teile des in der Verfassung
vorgesehenen, aber nicht zustande gekommenen Unterrichtsgesetzes trat, re-
gelte neben den „Ergänzungszuschüssen" aus dem Staatshaushalts-Etat bei
„nachgewiesene(m) Unvermögen der Schulverbände"12 auch das Konfessio-
nalitätsprinzip in der Volksschule sowie die Berufung der Lehrer. Dabei ist in
dieser Hinsicht die Verschärfung staatlicher Aufsicht und Intervention bei
erhöhter Finanzleistung besonders deutlich, so daß wohlinformierte Zeitge-
nossen im Zusammenhang mit dem Volksschulunterhaltungsgesetz von einer
„Aufhebung aller Schulpatronatsrechte" sprechen konnten, 13 was auf die
Tiefe der staatlichen Eingriffe in traditionale ortsobrigkeitliche Rechte par-
allel zu dem zunehmenden finanzstaatlichen Leistungsengagement hinweist.
Insofern läßt sich das Fazit so formulieren, daß auch bei gewahrtem, ja
rechtlich fixiertem Kommunalprinzip und weiterhin erheblichen Eigenlei-
stungen der — durch die Steuerreform in den 1880er und 1890er Jahren
finanziell gekräftigten — Kommunen die niedere Schule dem Typ der
Staatsschule14 entschieden näher gerückt war. Allein durch die Gesetze der
späten 1880er Jahre stieg der Anteil staatlicher Gelder für die Vo/&5schul-
unterhaltung bei entfallendem Schulgeld 1886 — 1891 von 12 auf rund
32 Prozent, während Gemeinden und Gutsherren statt 78,6 Prozent noch
67 Prozent aufbrachten. Für das Jahr 1913 liegen Angaben vor, nach denen
für die „persönlichen Volksschullasten" der Staat mit 100 Millionen und
die Gemeinden mit 238 Millionen Mark aufkamen, was eine Relation von
30 zu 70 Prozent ergibt; eine Verhältniszahl, die sich in den Weimarer Jahren
mit einem Staatsanteil von rund 60 Prozent weiterentwickelte (1929). 15 Für

11 GS 1906, S. 3 3 5 - 3 6 4 (Nr. 10741), bes. § 1 (S. 335), §§ 7 f. (S.337), § 18 (S. 341),


§§ 33 — 4 2 (S. 346 — 350) zu den konfessionellen Verhältnissen; zur Entstehung
J . TEWS, Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte... (1914) [43], S. 232 - 2 4 2 ;
dazu ferner C. MÜLLER, Grundriß der Geschichte des preußischen Volksschul-
wesen... ( 4 1913) [38], S. 2 7 6 f . ; E. R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
(1969) [31], Bd. 4, S. 903 ff.
12 GS 1906, § 18, S. 3 4 1 ; Lehrerberufung: bes. §§ 58 - 61, S. 360 f.
13 S. den Beitrag von SACHSE, Volksschulen, in: S. Körte u. a. (Hg.), Deutschland
unter Kaiser Wilhelm II., Bd. 2, Berlin 1914, S. 1 1 0 1 - 1 1 2 7 , hier S. 1118 f. mit
genaueren Ausführungen.
14 Vgl. Christa BERG, Volksschule im Abseits von „Industrialisierung" und „Fort-
schritt", in: PädRd, Bd. 28 (1974), S. 3 8 5 - 4 0 6 , hier S. 393, sowie: Dies., Die
Okkupation der Schule... (1973) [s.o. Anm. 7], S. 1 2 4 f . , hier auch die Zahlen
für 1 8 8 6 - 1 8 9 1 .
15 Die Angaben zu 1913 und 1929 bei Wolfgang W. WITTWER, Die sozialdemokra-
tische Schulpolitik in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur politischen Schul-
752 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

die höheren Schulen kann (1911) von einer Finanzierung von 22 Prozent
aus staatlichen, 34 Prozent aus Gemeindemitteln sowie 43,5 Prozent aus
Eigeneinnahmen der Anstalten (Schulgeld) gerechnet werden.
Wenn die Volksschulausgaben überhaupt in den 50 Jahren von 1861 bis
1911 in Preußen von 30 auf 420 Millionen Mark stiegen (Tews), so wird diese
Zahl erst in vollem Umfang aussagefähig, wenn für die entsprechenden Jahre
die Ausgaben pro Volksschulkind mit 11 beziehungsweise 63 Mark zu be-
rechnen sind; für höhere Schüler wurden freilich schon 1882/83 170, für einen
Studenten 640 Mark im Jahr aufgewandt. 16 In dem Rückgang der auf einen
Lehrer entfallenden Schüler in Volksschulen von 84 (1857) auf 57 (1911; in
Mittelschulen 1857:44,1911: 29) wird eine Verbesserung der Unterrichtsqua-
lität gesehen, die die aufgezeigte Steigerung des Kultusetats mit bedingte. 17
Natürlicherweise ist auch hinsichtlich der finanzstaatlichen Unterstützung
und Lenkung des Schulwesens in den Jahrzehnten des Kaiserreichs - zumal
in regionaler Hinsicht - zu differenzieren. Um 1900 trug der Staat 11,3 Prozent
der städtischen, aber 37 Prozent der ländlichen Elementarschulkosten. 18 Be-
vorzugt unterstützt wurden die ländlichen Gebiete der mittleren und östlichen
Provinzen, 19 unter anderem Ausdruck einer den ostelbischen Großgrundbesitz
bevorzugenden Innenpolitik. Insofern wird im einsetzenden staatlichen
Finanzengagement, das ja erstmals direkt einzelne Dorfschulen in großer Zahl
erreichte, auch ein Verwaltungshandeln greifbar, das tendenziell den — nach
wie vor tiefen — Stadt-Land-Gegensatz im Bildungswesen verminderte.
Gleichwohl blieben kommunale Spielräume, je nach lokalem Steueraufkom-
men und der Bevölkerungsentwicklung erheblich und dies trotz der entgegen-
gesetzten Bestrebungen der preußischen Kultusverwaltung, die auch für die

geschichte im Reich und in Preußen ( = H P ä d S t , Bd. 12), Berlin 1980, S. 387


Anm. 3 5 0 ; vgl. auch die schon zit. Tabelle bei A. LESCHINSKY/P. M . ROEDER,
Schule im historischen Prozeß... (1976) [s. o. Anm. 5], S. 483.
16 J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte... (1914) [43], S. 2 5 7 f . ;
vgl. die Zahlen bei Knut BORCHARDT, Z u m Problem der Erziehungs- und Aus-
bildungsinvestitionen im 19. Jahrhundert [1965], in: U. Herrmann (Hg.), Schule
und Gesellschaft... (1977) [29], S. 4 0 9 - 4 2 1 , hier S. 4 1 5 f . , danach sind Schulbau-
kosten in den Zahlen nicht enthalten; vgl. auch die Daten bei O. SCHWARZ/G.
STRUTZ, Die Verwaltung... (1900) [s.o. Anm. 2], S. 291.
17 Walther G. HOFFMANN, Erziehungs- und Forschungsausgaben im wirtschaftlichen
Wachstumsprozeß. Die Bedeutung der Erziehungs- und Forschungsaufgaben für
das wirtschaftliche Wachstum, in: Gerhard Heß (Hg.), Eine Freundesgabe der
Wissenschaft für Ernst Hellmut Vits zur Vollendung seines 60. Lebensjahres...,
Frankfurt/M. 1963, S. 101 - 1 3 3 , hier S. 120.
18 So Ε. N. ANDERSON, Die preußische Volksschule im neunzehnten Jahrhundert...
(1981) [23], S. 1389; s. auch in diesem Sinne O. SCHWARZ/G. STRUTZ, Die Ver-
waltung... (1900) [s.o. Anm. 2], S. X X X .
19 Marion KLEWITZ, Preußische Volksschule vor 1914. Z u r regionalen Auswertung
der Schulstatistik, in: ZfPäd, 27. Jg. (1981), S. 5 5 1 - 5 7 3 , hier S. 569 (grundlegend),
zum Folgenden vgl. S. 556 ff.; vgl. noch Lothar BURCHARDT, Kultur- und Bildungs-
wesen, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deut-
sche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1984, S. 4 6 6 - 4 9 2 , hier S. 474.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 753

höheren Schulen gewährte „Bedürfniszuschüsse" dazu zu benutzen wußte,


verstärkten Einfluß auf die städtischen Anstalten zu erlangen beziehungsweise
diese der Norm staatlicher Schultypen anzugleichen. 20

2. Volksschullehrer und Philologen vor 1914

Wie die Betrachtung des finanzstaatlichen Engagements seit 1870 im Bereich


des Schulwesens zeigte, waren die Volksschullehrer in besonderem Maße
die Nutznießer der Entwicklung. Verbunden mit der materiellen Besserstel-
lung war die „Stand"-Werdung der Volksschullehrer, ihre — hier im über-
tragenen Sinne — „Professionalisierung".
Am Anfang dieser Epoche war noch ein Drittel der ländlichen Lehrerstellen
mit dem örtlichen Küsteramt kombiniert, wenn auch dieser Anteil durch die
stetige Zunahme der Stellenzahl sank, aber in absoluten Zahlen erhalten blieb.
Landwirtschaftliche Nebentätigkeit war unter Dorfschullehrern verbreitet.
Nach einer Statistik des Jahres 1864 erhielten 84 Prozent der preußischen
Volksschullehrer bis zu 300 Talern im Jahr, nur 2,3 Prozent konnten mit mehr
als 500 Talern rechnen. 21 Unter diesen Bedingungen war der Lehrerberuf nicht
sonderlich attraktiv und mithin herrschte — im Unterschied zu den höheren
Lehranstalten - für die niederen, elementaren Schulen im 19. Jahrhundert
auch angesichts des Bevölkerungswachstums und der Stellenvermehrung ein
chronischer Lehrermangel, der sich nur graduell veränderte. In den 1880er
Jahren fanden so auch arbeitslose Philologen den Weg in den Volksschuldienst,
und zunehmend wurden auch Frauen dazu herangezogen; ihr Anteil stieg im
Preußen des Kaiserreichs von 7,4 auf 21 Prozent (1911). 2 2

20 Dazu Helga ROMBERG, Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen
Bildungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
unter besonderer Berücksichtigung Preußens ( = StDokdBg, Bd. 11), Weinheim -
Basel 1979, S . 4 1 0 f .
21 F. M E Y E R , S c h u l e d e r U n t e r t a n e n . . . ( 1 9 7 6 ) [ s . o . A n m . 7 ] , S. 1 0 2 ; E r n s t CLOER,
Sozialgeschichtliche Aspekte der Sozialisierung der preußischen Volksschulleh-
rerschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Manfred Heinemann
(Hg.), Der Lehrer und seine Organisation ( = VHKDGE, Bd. 2), Stuttgart 1977,
S. 5 9 - 7 9 , h i e r S. 6 2 f.
22 Grundlegend die Arbeiten von Rainer BÖLLING, Lehrerarbeitslosigkeit in histo-
rischer Perspektive, in: RJB, 34. Jg. (1986), S. 1 9 8 - 2 1 2 , hier S. 202 f.; Ders.,
Lehrerarbeitslosigkeit. Historische Erfahrungen, gegenwärtige Situation und Zu-
kunftsperspektiven, in: APuZ, Β 21/87, 23. V. 1987, S. 3 - 14, hier S. 5 f.; Ders.,
Sozialgeschichte der deutschen Lehrer... (1983) [25], S. 60f.; man vgl. die Inter-
pretation von Franz WENZEL, Sicherung von Massenloyalität und Qualifikation
der Arbeitskraft als Aufgabe der Volksschule, in: Klaus L. Hartmann/Friedhelm
Nyssen/Hans Waldeyer (Hg.), Schule und Staat im 18. u. 19. Jahrhundert. Zur
Sozialgeschichte der Schule in Deutschland, Frankfurt/M. 1974, S. 322 — 386, hier
S. 371 ff. Den Anteil weibl. Volksschullehrer gibt Hartmut KAELBLE, Soziale
Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im
internationalen Vergleich ( = KrStGw, Bd. 55), Göttingen 1983, S. 98 schon mit
26 Prozent für 1911 an.
754 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Nicht allein mit der Vermehrung von Lehrerbildungsstätten wie unter


Falk und wieder besonders seit 1900 2 3 war dem Problem zu begegnen,
wesentlich war die Statusanhebung des Volksschullehrers, wie sie auch in
der Verbesserung der Besoldung (besonders 1909) und der Einrichtung einer
Pensionsregelung zum Ausdruck kam. Als „Errungenschaft des Volksschul-
lehrerstandes... von hervorragender Wichtigkeit" (C. Müller) wurde die
den Volksschullehrern um 1900 verliehene Berechtigung bezeichnet, der
Wehrpflicht als Einjährig-Freiwillige zu genügen, womit zugleich der Zu-
gang zu dem sozial hochgeschätzten Reserveoffiziersrang verbunden war. 2 4
Dies alles ist in Rechnung zu stellen, wenn für die Jahre unmittelbar vor
dem Ersten Weltkrieg erstmals ein mögliches Überangebot an Volksschul-
lehrern erkennbar wurde. 2 5
Die soziale Herkunft dieser preußischen Volksschullehrer im Kaiserreich
ist in den letzten Jahren näher erforscht worden. Als gemeinsames Resultat
dieser Untersuchungen darf der über 80 Prozent liegende Anteil solcher
Volksschullehrer hervorgehoben werden, die der Mittelschicht, insbesondere
der unteren Mittelschicht entstammten, während Ober- und Unterschichten
schwach vertreten waren, was zugleich die Grenzen des über den Volks-
schullehrerberuf stattfindenden sozialen Aufstiegs beleuchtet. 26 Allerdings

23 Zahl der Seminare für Seminaristen bei J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer
S c h u l g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 1 4 ) [ 4 3 ] , S. 2 4 7 ( 1 8 9 7 ) : 1 1 5 , 1 9 0 7 : 1 5 3 ; vgl. a b e r S. 2 4 7 f f . ;
weitere Zahlen (1912/13: 188 Seminare für Lehrer, 16 für Lehrerinnen) bei C.
MÜLLER, Grundriß der Geschichte des preußischen Volksschulwesens... (41913)
[ 3 8 ] , S. 3 8 6 .
24 A . a . O . , S. 420; H.-G. THIEN, Schule, Staat und Lehrerschaft... (1984) [s.o.
Anm. 4], S. 222, 224, s. auch noch S. 219; Manfred HEINEMANN, Der Lehrerverein
als Sozialisationsagentur. Überlegungen zur beruflichen Sozialisation der Volks-
schullehrer in Preußen, in: Ders. (Hg.), Der Lehrer und seine Organisation
( = VHKDGE, Bd. 2), Stuttgart 1977, S. 3 9 - 5 8 , hier S. 55.
25 R . BÖLLING, L e h r e r a r b e i t s l o s i g k e i t . . . , in: A P u Z . . . ( 1 9 8 7 ) [ s . o . A n m . 2 2 ] , S. 6 ;
zur Lehrerausbildung vor 1914 jetzt Harald REISSIG, Die Lehrerseminare in
Preußen im ersten Weltkrieg. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung der Orga-
nisationsstruktur und Erziehungswirklichkeit der staatlichen preußischen Leh-
rerbildungsanstalten mit einem Ausblick auf das Ende der seminaristischen
Lehrerbildung in der Weimarer Republik, Phil. Diss. FU Berlin 1986 [MS], S. 71,
zur (sechsjährigen) Volksschullehrerausbildung (3 Jahre in der Präparandenan-
stalt, 3 Jahre im Seminar) um 1900 bes. S. 61—77.
26 Aus den für diese Thematik einschlägigen Arbeiten von Hartmut KAELBLE sei
beispielhaft verwiesen auf seine Studie: Sozialer Aufstieg in Deutschland 1850 —
1914, in: VSWG, Bd. 60 (1973), S. 4 1 - 7 1 , hier S. 66f.; sodann Ders., Soziale
Mobilität und Chancengleichheit... (1983) [s. o. Anm. 22], Tabelle S. 97 und Text
S. 96 (leichte Zunahme des Unterschichtenanteils); M. KLEWITZ, Preußische
Volksschule vor 1914... (1981) [s.o. A n m . 1 9 ] , S. 5 5 6 ; M . HEINEMANN, Der
Lehrerverein als Sozialisationsagentur... (1977) [s.o. Anm. 24], S. 39; nach aus-
gewählten brandenbg. Seminaren: Rainer BÖLLING, Volksschullehrer und Politik.
Der Deutsche Lehrerverein 1918-1933 (=KrStGw, Bd. 32), Göttingen 1978,
S. 22; Ders., Sozialgeschichte... (1983) [25], S. 77ff.; Rita WEBER, Die Neuord-
nung der preußischen Volksschullehrerbildung in der Weimarer Republik. Zur
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 755

ließen Volksschullehrer gern ihre Kinder höhere Schulen besuchen, und da


die Lehrer zu einem erheblichen Prozentsatz „aus der gewerblichen Mittel-
schicht" (Kaelble) mit 50 bis 60 Prozent (bei sinkender Selbstrekrutierungs-
rate aus der Lehrerschaft) stammten, war der Volksschullehrer als eine
„Zwischenstation zu den akademischen Berufen" in einem über mehrere
Generationen sich vollziehenden Aufstieg eine Berufsgruppe von mobili-
tätsgeschichtlicher Relevanz. Jedenfalls hatte die Masse der Volksschullehrer
die Volksschule noch selbst als Schüler passiert. Für die weiblichen Lehr-
kräfte dieser Schulen ist von einem deutlich höheren sozialen Niveau der
Rekrutierung auszugehen.
Die Volksschullehrer waren zu einem großen Teil in Standesvereinen
organisiert, die seit den 1870er Jahren trotz zeitweiser Gegenmaßnahmen
der Regierung einen neuen Aufschwung nahmen. Im Jahre 1872 wurde der
„Landesverein preußischer Volksschullehrer" (später: „Preußischer Leh-
rerverein") ins Leben gerufen, der über seine Provinzialverbände dem 1871
in Berlin begründeten Deutschen Lehrerverein angeschlossen war, sicherlich
der bedeutendsten Organisation ihrer Art; unter anderem für Volksschul-
lehrer katholischer Konfession existierten besondere Vereine. Insgesamt
wird für die Volksschullehrer von einem Organisationsgrad von bis zu
90 Prozent ausgegangen werden können. 27
Hatten Lehrer höherer Schulen in der ersten Jahrhunderthälfte nur lose
Zusammenschlüsse gebildet, so entstanden im Preußen zur Zeit des Kaiser-
reichs „pädagogische Standes vereine", und zwar zunächst auf Provinzebene,
so daß um 1900 95 Prozent der preußischen Philologen organisiert waren.
Trotz mangelnder Geschlossenheit der Lehrer an höheren Schulen lassen sich
doch als markante Schwerpunkte ihrer Interessenpolitik das Streben nach der
- 1909 erreichten — Gleichstellung mit den Richtern und Veränderungen im
Prüfungswesen im Sinne einer deutlicheren Abgrenzung der Philologenschaft
ausmachen.28 Die durch die zyklische Wiederkehr von Überfüllungsphäno-

Entstehung und gesellschaftlichen Bedeutung der Pädagogischen Akademien


( = StDokdBg, Bd. 26), Köln-Wien 1984, S. 268 ff., 464 f.; eine abweichende Schät-
zung bei H. REISSIG, Die Lehrerseminare in Preußen... (1986) [s.o. Anm. 25],
S. 110 f.; weibl. Lehrkräfte: Marika MÖRSCHNER, Entwicklung und Struktur der
Lehrerinnenbildung. Studien zur Situation der Seminare in der Rheinprovinz
unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen Einrichtungen, Rheinstetten
1977, S. 59; vgl. aber H. KAELBLE, Soziale Mobilität und Chancengleichheit...
(1983) [s.o. Anm. 22], S. 98.
27 Robert RISSMANN, Geschichte des Deutschen Lehrervereins, Leipzig 1908,
S. 1 1 7 f . , 1 2 1 , 1 3 2 f . , 1 6 0 f . ; R . BÖLLING, Volksschullehrer und P o l i t i k . . . (1978)
[ s . o . A n m . 2 6 ] , S. 3 5 - 4 9 , S. 5 3 ; M . HEINEMANN, D e r L e h r e r v e r e i n als Sozialisa-
t i o n s a g e n t u r . . . ( 1 9 7 7 ) [ s . o . A n m . 2 4 ] , S. 4 0 , 4 2 , 4 6 .
28 Sebastian F. MÜLLER, Die Verbandsinteressen der Lehrer an den höheren Schulen
am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Manfred Heinemann (Hg.), Der Lehrer und
seine Organisation ( = VHKDGE, Bd. 2), Stuttgart 1977, S. 235 - 247, hier
S. 235 f., 238 ff., 245; vgl. oben: § 3, IV, Anm. 32; zum Folgenden: H.-G. THIEN,
Schule, Staat und Lehrerschaft... (1984) [s. o. Anm. 4], S. 225 ff.; Christoph FÜHR,
Gelehrter Schulmann — Oberlehrer — Studienrat. Zum sozialen Aufstieg der
756 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

menen im höheren Lehramt auftretenden Probleme durch lange Wartezeiten


verstärkten noch das Streben zum interessenpolitischen Zusammenschluß.
Auf dem Höhepunkt einer dieser Überfüllungswellen erfolgte im Jahre 1890
die Einführung eines „Seminarjahres" für Lehramtskandidaten an höheren
Schulen, eine Regelung, mit der durch Seminar- und „Probejahr" die prakti-
sche Ausbildungszeit auf zwei Jahre bemessen wurde. 2 9 Damit verbunden war
die Einrichtung von 40 „Gymnasialseminaren" in den Jahren 1890 - 93, bis
1912 waren es 153 pädagogische Seminare, die eingerichtet worden waren.
Im Jahre 1897 wurden in Berlin und Halle die ersten preußischen Lehrstühle
für Pädagogik geschaffen, gleichfalls konzipiert für die Ausbildung künftiger
Lehrer an höheren Schulen. Mit der Neuordnung der höheren Lehrerbildung
in den 1890er Jahren wird zugleich deutlich, daß trotz zunehmender Fach-
spezialisierung 30 der Lehrer die Entwicklung weg vom spezifisch wissen-
schaftlichen Berufsbild hin zu dem des praktischen Pädagogen verlief. Dem
entsprach, daß trotz der zunehmenden Zahl preußischer Oberlehrer das Auf-
kommen von wissenschaftlichen Publikationen aus diesen Kreisen zurück-
ging, Promotionen höherer Lehrer seltener wurden, wie auch die Fälle, in
denen Lehrer zur Universität übergingen. 31

Philologen, in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im


19. Jahrhundert, T. 1 (Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen
Vergleichen) (=IndW, Bd. 38), Stuttgart 1985, S. 417 - 457, hier S. 4 3 8 - 4 4 1 ,
446 ff.; zu den Überfüllungskonjukturen zuletzt zusammenfassend R. BÖLLING,
Lehrerarbeitslosigkeit in historischer Perspektive... (1986) [s.o. Anm. 22],
S. 199 ff. auch zur Besoldungsregelung von 1909; ferner die Pilotstudie von Hans-
Georg HERRLiTz/Hartmut TITZE, Überfüllung als bildungspolitische Strategie.
Zur administrativen Steuerung der Lehrerarbeitslosigkeit in Preußen 1870 — 1914
[1976], wieder in: Ulrich Herrmann (Hg.), Schule und Gesellschaft im
19. J a h r h u n d e r t . . . ( 1 9 7 7 ) [ 2 9 ] , S. 3 4 9 - 3 5 7 , 3 6 0 f .
29 ZB1UV, 1892, Nr. 96, S. 6 1 2 - 6 1 9 : „Ordnung der praktischen Ausbildung der
Kandidaten für das Lehramt an höheren Schulen", bes. § 2 (S. 612); dazu z.B.
R. BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer... (1983) [25], S. 26 ff., auch
zur 1917 eingeführten (pädagogischen) Staatsprüfung; Hans-Jürgen APEL, Durch
Seminar und Probejahr zur „Anstellungsfähigkeit". Die nachuniversitäre Ausbil-
dung der Gymnasiallehrer in Preußen (1890 - 1 9 1 8 ) , in: BE, 40. Jg., Heft 2 (1987),
S. 151 —166, bes. S. 156 ff.; C. FÜHR, Gelehrter Schulmann — Oberlehrer —
Studienrat... (1985) [s.o. Anm. 28], S. 434; „Gymnasialseminare": Conrad RETH-
WISCH, Deutschlands höheres Schulwesen im neunzehnten Jahrhundert. Ge-
schichtlicher Überblick..., Berlin 1893, S. 147f.
30 Dazu C. FÜHR, Gelehrter Schulmann - Oberlehrer - Studienrat... (1985) [s.o.
Anm. 28], S. 453; zur mathematischen Fachrichtung die zahlreichen Beiträge von
Gert SCHUBRING, ζ. B. seine Monographie: Die Entstehung des Mathematikleh-
rerberufs im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien zum Prozeß der Profes-
sionalisierung in Preußen (1810 - 1 8 7 0 ) ( = BielBAS, Bd. 2), Weinheim-Basel 1983,
z.B. S. 1 9 2 - 1 9 8 .
31 Hartmut TITZE, Die soziale und geistige Umbildung des preußischen Oberleh-
rerstandes von 1870 bis 1914, in: Ulrich Herrmann (Hg.), Historische Pädago-
gik... ( = ZfPäd, Beih. 14), Weinheim-Basel 1977, S. 1 0 7 - 1 2 8 , hier S. 119f. (zur
politischen Tendenz der Oberlehrer: S. 126); Alexander BUSCH, Die Geschichte
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 757

Gleichwohl verlief eine scharfe Trennlinie zwischen studiertem Philologen


und — in sechs Jahren! — präparandisch-seminaristisch vorgebildetem
Volksschullehrer, wenn von der zeitweisen Stellungssuche von zu Oberleh-
rerstellen qualifiziertem Personal in Volksschulen und als Seminarlehrer
abgesehen wird; ein Übergang von der Volksschullehrerstellung in das
höhere Lehramt war ausgeschlossen. Im Unterschied zu der Masse der
Volksschullehrer ist für die Oberlehrer von einer zumeist konservativen
beziehungsweise nationalliberalen politischen Grundeinstellung auszugehen.

3. Das Sozialprofil des preußischen Bildungswesens


im Kaiserreich

In der Zweiteilung der Lehrerschaft wird ein Strukturmerkmal des preu-


ßischen Schulsystems insbesondere in der Zeit des Kaiserreiches deutlich:
die Trennung zwischen niederem (dabei auch Mittelschulen) und dem
höheren Schulwesen, das 4ie begehrten „Berechtigungen" verlieh. Das Be-
rechtigungswesen ordnete bestimmte schulische Abschlüsse oder Leistungen,
wie das Erreichen einer gewissen Klassenstufe, dem Recht zum Besuch
höherer Ausbildungsinstitutionen oder der Erlaubnis zum Eintritt in genau
definierte Laufbahnen zu, 3 2 ohne daß natürlich ein Rechtsanspruch auf eine
bestimmte Stelle erworben wurde. Die Berechtigungen banden das weitere
berufliche Schicksal eines Menschen an das einmal in der Schule erworbene
Zertifikat, insofern Ausdruck eines geburtsständische Zuweisungen durch-
brechenden Leistungsprinzips; die Verabsolutierung des durchlaufenen Bil-
dungsganges, der durch Staatsprüfungen nachgewiesen wurde, legte sodann
das Ausmaß an individueller sozialer Mobilität fest. Prominentestes Beispiel
war der an den Besuch öffentlicher oder doch staatlich anerkannter An-
stalten geknüpfte Erwerb des Privilegs zum einjährig-freiwilligen Militär-
dienst, der ja vom Besitz einer „wissenschaftlichen Befähigung" abhing, 33

des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung


der deutschen Universitäten ( = GöAbhSoz, Bd. 5), Stuttgart 1959, S. 93 - 96; und
wiederum C. FÜHR, Gelehrter Schulmann - Oberlehrer — Studienrat... (1985)
[s.o. Anm. 28], S. 448f. und in Auseinandersetzung mit Titze: S. 450ff. (zur
politischen Haltung); eine Gegenüberstellung der Ausbildung von höheren und
Volksschullehrern (um 1900) bei R. WEBER, Die Neuordnung der preußischen
V o l k s s c h u l l e h r e r b i l d u n g . . . ( 1 9 8 4 ) [s. o . A n m . 2 6 ] , S . 3 6 f .
32 Ruth MEYER, Das Berechtigungswesen in seiner Bedeutung für Schule und
Gesellschaft im 19. Jahrhundert, in: ZgSt, Bd. 124 (1968), S. 763 - 776, bes.
S. 763 f., 766, 768, 774, zur Bedeutung des Examens pro fac. doc. S. 767 f., vgl.
§ 2, V, bei Anm. 18; Detlef K. MÜLLER, Sozialstruktur und Schulsystem. Aspekte
zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert ( = StWGesB, Bd. 7),
Göttingen 1977, S. 70 - 76; treffend auch die Definition bei H. E. BRUNKHORST,
Die Einbeziehung der preußischen Schule... (1956) [26], S. 25f.
33 Aus dem einschlägigen zeitgenössischen Schrifttum: Der Einjährig-Freiwillige und
Rerserve-Offizier-Aspirant im königlich preußischen Heereskontingent. Nach den
758 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

und von diesem (seit der Roonschen Heeresreform) wiederum der Zugang
zur sozial wertvollen Reserveoffizierscharge. Als „Grundstein" des Berech-
tigungswesens wird das 1810 eingeführte Lehramtsexamen angesehen.
Schon durch den wachsenden Verwaltungs- und Beamtenapparat gewann
das System der Berechtigungen im 19. Jahrhundert fortwährend an Bedeu-
tung; schließlich waren nicht nur für den höheren Staats- und Kirchen-, für
den Post- und Telegraphendienst, sondern auch für zahlreiche „bürgerliche
Berufe", zum Beispiel für Tierärzte und Apothekengehilfen, die erforderli-
chen Berechtigungen, für letztere übrigens die Berechtigung zum einjährigen
Militärdienst, vorgeschrieben. Wenn auch nur recht bedingt, so schlug das
Berechtigungswesen auch auf die Unternehmensbürokratie um 1900 durch. 34
Die zunehmende Laufbahndifferenzierung, zumal im Staatsdienst, stand mit
dem in wachsendem Maße ausgefeilten Berechtigungssysiew in einem Wech-
selverhältnis. Das Gymnasium war ursprünglich der Ort, an dem die Be-
rechtigungen erworben werden konnten und mußten. Ob und inwieweit
andere entstehende Schultypen zur Verleihung der Berechtigungen autori-
siert wurden, sollte ihre soziale Wertigkeit bestimmen, und dies auch über
die Zeit des Kaiserreichs hinaus.
Daß die Volksschule als die Bildungsstätte, in der um 1890 über 90
Prozent der Bevölkerung ihre Schulbildung erhielten, keine „Berechtigun-
gen" verlieh und insofern die Masse der Volksschüler von der Möglichkeit
eines sozialen Aufstiegs durch Bildung (in einer Generation) ausgeschlossen
war, besagt noch nicht, daß die Volksschule als ausschließlich sozialrestau-
rativ-konservative Institution, die keinerlei modernisierende Wirkung er-
bracht habe, anzusehen ist. Selbst abgesehen von der freisinnigen Prägung
der evangelischen Volksschullehrer verkürzte eine solche Darstellung35 die

neuesten gesetzlichen Bestimmungen bearb., Leipzig — Frankfurt/M. [ca. 1895],


S. 15 (Zitat: „Berechtigungsschein"), S. 21 ff.; dazu ist zu vgl. ZB1UV, Nr. 41
(1901), S. 275-279; Manfred MESSERSCHMIDT, Militär und Schule in der wilhel-
minischen Zeit, in: M G M , Bd. 23 (1978), S. 51 - 7 6 , bes. S. 66ff., S. 70, S. 72.
34 Verzeichnis der „Berechtigungen" bei Alwin PETERSILIE, Das öffentliche Unter-
richtswesen im Deutschen Reiche und in den übrigen europäischen Kulturländern
( = H L b S t w n , 3 . A b t . , B d . 3 ) , B d . 1, L e i p z i g 1 8 9 7 , S. 3 9 1 - 3 9 8 ; J ü r g e n KOCKA,
Bildung, soziale Schichtung und soziale Mobilität im Deutschen Kaiserreich. Am
Beispiel der gewerblich-technischen Ausbildung, in: Dirk Stegmann/Bernd-Jürgen
Wendt/Peter-Christian Witt (Hg.), Industrielle Gesellschaft und politisches Sy-
stem. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte. Festschrift für Fritz Fischer zum
siebzigsten Geburtstag ( = SchrrFiFESt, Bd. 137), Bonn 1978, S. 2 9 7 - 3 1 3 ; hier
S. 3 0 6 f . , 3 0 9 ; Κ . H . JARAUSCH, D e u t s c h e S t u d e n t e n 1 8 0 0 - 1 9 7 0 . . . (1984) [50],
S. 8 0 .
35 Gegen z.B. C. BERG, Die Okkupation der Schule... (1973) [s.o. Anm. 7], S. 190,
Hartmut TITZE, Die Politisierung der Erziehung. Untersuchungen über die soziale
und politische Funktion der Erziehung von der Aufklärung bis zum Hochkapi-
talismus, Frankfurt/M. 1973, S. 273 u. a.; mit M . KLEWITZ, Preußische Volks-
schule vor 1914... (1981) [s.o. Anm. 19], S. 5 5 1 - 5 5 4 , 5 6 2 - 5 6 7 , (S. 551 zu
Wehler, Titze, F. Meyer und Berg), danach im folgenden; die folgenden Zahlen
bei Gerd HOHORST/Jürgen KocKA/Gerhard A. RITTER, Sozialgeschichtliches
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 759

historischen Realitäten, denn „die" Volksschule um 1900 war längst nicht


mehr generell die Dorf- oder städtische Armenschule früherer Jahrzehnte.
Wenn in Preußen 1864 25.056 Volksschulen mit 30.805 Lehrern, im Jahre
1911 aber in den 38.684 Volksschulen 117.162 Lehrkräfte gezählt wurden,
so kommt in diesen Zahlen schon zum Ausdruck, daß die einklassige
Elementarschule entschieden an Bedeutung verloren hatte und die in der
Lehrer-Schüler-Relation ablesbare Entwicklung der Unterrichtsqualität po-
sitiv zu deuten ist, wiewohl natürlich örtlich die Durchschnittszahlen er-
heblich überschritten wurden. Im Jahre 1886 absolvierten nur noch 24
Prozent der Volksschüler den Unterricht in einklassigen Volksschulen, und
im Jahre 1906 waren es noch 6 Prozent, während in Schulen mit mindestens
7 Klassen 1886 4 Prozent, 1906 schon 29 Prozent der Kinder gingen. Insofern
ergibt ein allein am Gegenüber von Volks- und höherer Schule orientiertes
Urteil ein zu statisches Bild. Der Lehrplan der niederen Schule war nach
den Allgemeinen Bestimmungen von 1872 im Vergleich zu dem der
ersten Jahrhunderthälfte deutlich erweitert. Bei den Volksschulen gab es
eine erhebliche Vielfalt hinsichtlich des jeweiligen Grades der Binnendiffe-
renzierung, wobei die einklassige Dorfschule und die achtklassige, mit
Jahrgangsklassen ausgestattete städtische Volksschule die Bandbreite mar-
kieren. Die ländlichen Regionen des östlichen Preußen waren nach wie vor
unterversorgt, während in den Großstädten, in denen die Volksschulen
endgültig seit den 1890er Jahren in Unter-, Mittel- und Oberstufe gegliedert
waren, das Schulkind einen erheblich qualifizierteren Unterricht erhielt,
wenngleich diese Kommunen durch das rasche Bevölkerungswachstum,
insbesondere durch Zuzug, zeitweise vor große schulische Probleme gestellt
wurden. In Berlin gab es fast ausschließlich achtstufige Volksschulen; mit
den Volksschulverhältnissen der Hauptstadt hielten Königsberg, Danzig,
Stettin, Magdeburg und Halle Schritt; Frankfurt/M. und Wiesbaden über-
flügelten Berlin, während ausgesprochene Industrieregionen im städtischen
Raum um den wenigstens sechsstufigen Ausbau bemüht waren. Im Jahre
1911 wurden rund 72 Prozent der Volksschüler in Städten in sieben oder
achtsstufigen Anstalten unterrichtet, und dieser Anteil stieg weiter.36 Auf
dem Lande schlugen nach wie vor siedlungsstrukturelle Faktoren (Orts-

beitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1 8 7 0 — 1 9 1 4 (Statistische


Arbeitsbücher zur neueren deutschen Geschichte), München 1975, S. 157, sowie
Werner CONZE, Sozialgeschichte 1 8 5 0 - 1 9 1 8 , in: H . AUBIN/W. ZORN (Hg.),
H a n d b u c h der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte... ( 1 9 7 1 / 1 9 7 6 ) [24],
Bd. 2, S. 6 0 2 - 6 8 4 , hier S. 6 7 0 ; aus der zeitgenössischen Lit.: C. MÜLLER, Grund-
riß der Geschichte des preußischen Volksschulwesens... ( 4 1 9 1 3 ) [38], S. 2 7 4 und
( 1 8 8 2 / 8 3 ) Alwin PETERSILIE, Preußens öffentliche Volksschulen, in: Z S t a t B , 2 3 .
Jg. (1883), S. 4 5 - 89, hier S. 4 7 - 5 3 .
36 Achim LESCHINSKY, Volksschule zwischen Ausbau und Auszehrung. Schwierig-
keiten bei der Steuerung der Schulentwicklung seit den zwanziger Jahren, in:
V f Z , 3 0 . Jg. (1982), S. 2 7 — 81, hier S. 4 5 ; m a n vgl. Zahlen und Interpretationen
bei H a n s - G e o r g HERRLITZ/WUIÍ H o P F / H a r t m u t TITZE, Deutsche Schulgeschichte
von 1800 bis zur Gegenwart, Königstein/Ts. 1981, S. 9 0 f.
760 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

große, Entfernungen) und konfessionelle Verhältnisse zu Buche; Kleinstädte


waren gegenüber Landgemeinden finanziell benachteiligt. Jedenfalls wird
angesichts eines fast hundertprozentigen Schulbesuchs in einem zunehmend
(auch) im Volksschulbereich gegliederten Bildungswesen trotz der berech-
tigungspolitischen Abgrenzung des niederen Schulwesens nicht behauptet
werden dürfen, daß die Entwicklung für die Unterschichten keinerlei Vor-
teile erbrachte, die Volksschule für diese ausschließlich Disziplinierungsin-
stanz gewesen sei.
Ergänzt wurde der Volksschulunterricht durch die Fortbildungsschulen,37
deren Vorgeschichte in Preußen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts
zurückreicht, deren eigentliche Entwicklungsgrundlage aber mit der Ge-
werbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 gelegt wurde, die die
Einführung der obligatorischen Fortbildungsschule durch Ortsstatut für
Gesellen und Lehrlinge vorsah. Diese Institution, seit 1874 auch vom Staat
finanziell unterstützt, sollte Elementarkenntnisse festigen und zugleich die
„Gewerbstüchtigkeit des Zöglings" (O. Simon) steigern, so daß der Lehr-
plan, je nach Gewerbestruktur des Ortes, auch Physik und Chemie oder
kaufmännische Kenntnisse umfassen konnte. Mit dieser Motivation ver-
banden sich später wiederum Überlegungen, ob nicht auch die Fortbil-
dungsschule politisch benutzt werden könne. Wiewohl es auch ländliche
Einrichtungen dieser Art gab, kam es nicht zur Einführung einer allgemeinen
Pflicht zum Besuch der Fortbildungsschulen, die als Vorläufer der Berufs-
schulen anzusehen sind und deren Finanzierung um 1914 zu über 50 Prozent
von den Gemeinden getragen wurde.
Die bloße Gegenüberstellung von rund 92 Prozent der Bevölkerung, die
ihrer Schulpflicht in der Volksschule genügten und allenfalls in einer Fort-
bildungsschule Erwerbswissen akkumulierten, mit den Teilen eines Jahr-
ganges, die ein Gymnasium beziehungsweise eine andere höhere Schule
besuchten, darf nicht über Indizien hinwegsehen lassen, die auf Entwick-

37 Klaus HARNEY, Die preußische Fortbildungsschule. Eine Studie zum Problem der
Hierarchisierung beruflicher Schultypen im 19. Jahrhundert ( = StDokdBG,
Bd. 14), Weinheim-Basel 1980, passim, bes. S. 67, 70, 73 ff., 84 f.; Klaus HARNEY/
Heinz-Elmar TENORTH, Berufsausbildung und industrielles Ausbildungsverhälnis.
Z u r Genese, Formalisierung und Pädagogisierung beruflicher Ausbildung in
Preußen bis 1914, in: ZfPäd, Bd. 3 2 (1986), S. 9 1 - 1 1 3 , bes. S. 106 f. (Gewerbe-
ordnung 1912); Oskar SIMON, Die Fachbildung des Preußischen Gewerbe- und
Handelsstandes im 18. und 19. Jahrhundert nach den Bestimmungen des Ge-
werberechts und der Verfassung des gewerblichen Unterrichtswesens, Berlin 1902,
S. 835 ff., 847 ff., 8 5 3 - 8 6 0 , (Zitat: S. 859); Herwig BLANKERTZ, Bildung im
Zeitalter der großen Industrie. Pädagogik, Schule und Berufsbildung im
19. Jahrhundert ( = BprobG, Bd. 15), Hannover 1969, S. 128 f.; Wolfdietrich JOST,
Gewerbliche Schulen und politische M a c h t . Z u r Entwicklung des gewerblichen
Schulwesens in Preußen in der Zeit von 1850 - 1 8 8 0 ( = BBBp, Bd. 10), Weinheim-
Basel 1982, S. 93, 100; ferner der Abschnitt „Zur Geschichte der Berufsschul-
pflicht" bei Eduard SPRANGER, Z u r Geschichte der deutschen Volksschule. Neu-
auflage mit einem N a c h w o r t von W. Flitner, Heidelberg 1971, S. 6 4 — 96, 107 ff.,
bes. S. 64, 78, 81 - 84.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 761

lungen sozialer Dynamik im Bildungswesen verweisen. Sicherlich war die


Schülerdichte von Schülern höherer Lehranstalten in Preußen generell ab-
hängig vom regionalen Niveau des Volkseinkommens pro Kopf der Ein-
wohner, wie die Forschung deutlich gezeigt hat. 38 Gewiß funktionierten die
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Preußen an höheren
Lehranstalten eingerichteten Vorschulen als Stätten einer zu den Volksschu-
len in deutlicher Distanz eingerichteten Elementarbildung zum Beispiel
künftiger Gymnasiasten, zugleich die frühere Form der Vorbereitung im
Privatunterricht ersetzend. Der Übergang von der Volks- oder Mittelschule
zum Gymnasium war aber nicht ausgeschlossen. Das an den höheren
Schulen auch noch 1888 forterhobene Schulgeld hatte für Teile der Bevöl-
kerung prohibitive Wirkungen.
Das preußische Schulwesen in der Zeit des Kaiserreichs war gekennzeich-
net sowohl von dem Versuch politischer Instrumentalisierung, sozialer Sta-
bilisierung durch Abschottung des niederen Schulwesen von den Berechti-
gungen39 als auch von Reform und begrenzter sozialer Mobilität. Schon die
Tatsache, daß, wie Margret Kraul hervorhebt,40 auch weiterhin nur ein
vergleichsweise kleiner Teil der Schüler die Oberstufe der Gymnasien be-
suchte, die Masse der Schüler also vor Erreichen des Abiturs das Gymnasium
mit anderem Berufsziel verließ, läßt diese Schule als mehr als nur eine Stätte
der Führungs- und Oberschichten erscheinen. Umstritten ist unter anderem,
ob die „Überschußproblematik" am Ende des 19. Jahrhunderts von der
Kultusverwaltung Preußens zu einer gezielten und effektiven Einschränkung
der durch höhere Schulbildung ermöglichten sozialen Mobilität genutzt
wurde.41 Sicher ist aber, daß die Zahl von Oberschülern und Abiturienten

38 Zu Preußen die Ausführungen von Knut BORCHARDT, Regionale Wachstumsdif-


ferenzierung in Deutschland im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichti-
gung des West-Ost-Gefälles, in: Wilhelm Abel u. a. (Hg.), Wirtschaft, Geschichte
und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge,
Stuttgart 1966, S. 3 2 5 - 3 3 9 , hier S. 334 ff.
39 Vgl. aber zu den Berechtigungen, die seit 1911 an den zu den niederen Schulen
gehörenden „Mittelschulen" zu erwerben waren: ZB1UV, 1911, Nr. 77, S. 396 f.
40 So - gegen D. K. Müller - M. KRAUL, Das deutsche Gymnasium... (1984) [34],
S. 115f., 230 Anm. 42, vgl. noch S. 65; H. ROMBERG, Staat und Höhere Schule...
( 1 9 7 9 ) [ s . o . A n m . 2 0 ] , S. 2 7 3 , V o r s c h u l e n : D . K . MÜLLER, S o z i a l s t r u k t u r und
S c h u l s y s t e m . . . ( 1 9 7 7 ) [ s . o . A n m . 3 2 ] , S. 4 1 f.
41 Mit weiterer Lit.: Konrad H. JARAUSCH, Frequenz und Struktur. Zur Sozial-
gschichte der Studenten im Kaiserreich, in: Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik
in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs ( = PriG, Bd. 1), Stuttgart 1980, S. 119 —
149, hier S. 130f.; Ders., Deutsche Studenten 1 8 0 0 - 1 9 7 0 . . . (1984) [50], S. 74f.,
S. 79 (Zyklen); Hartmut TITZE, Die zyklische Überproduktion von Akademikern
im 19. und 20. Jahrhundert, in: GG, 10. Jg. (1984), H. 1, S. 9 2 - 1 2 1 , hier
S. 114ff.; (zu den Thesen von D . K . Müller:) Peter LUNDGREEN, Die Bildung-
schancen beim Übergang von der „Gesamtschule" zum Schulsystem der Klassen-
gesellschaft im 19. Jahrhundert, in: ZfPäd, 24. Jg. (1978), S. 1 0 1 - 1 1 5 , hier
S. 109 f. (auch zu den Schwankungen der 1890er Jahren); Ders., Das Bildungs-
verhalten höherer Schüler während der akademischen Überfüllungskrise der
762 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

nicht nur absolut, sondern auch - und erst dies ist aussagekräftig -
gemessen in Anteilen an den jeweiligen Altersjahrgängen in Preußen fast
anhaltend z u n a h m . 4 2 N a c h Jarausch stieg in Preußen zur Zeit des Kaiser-
reichs der Anteil der Hochschüler unter den 2 0 bis 23jährigen von 0 , 5 auf
1,5 Prozent, um nach dem Ersten Weltkrieg weiter bis zu einem M a x i m u m
von 2 , 7 Prozent zuzunehmen. In dem Vierteljahrhundert vor 1914 war
insbesondere die philosophische Fakultät an den sprunghaft steigenden
Studentenzahlen (an den Universitäten 1870: 7 . 5 3 1 , 1880: 1 0 . 3 7 1 , 1 9 0 0 : rund
16.000, 1913: rund 3 0 . 5 0 0 Studenten) beteiligt, wobei darin die Naturwis-
senschaften an den Universitäten weiterhin mit enthalten w a r e n . 4 3 Hinsicht-
lich der sozialen Herkunft der preußischen Studenten im Kaiserreich ist der
wachsende Anteil von Kindern aus dem Mittelstand und insbesondere aus
der unteren Mittelschicht hervorgehoben worden, der um 1910 über 5 0
Prozent betrug. 4 4 Der Elternanteil mit akademischer Bildung, das heißt die
Selbstrekrutierungsrate, war auf 2 2 Prozent zurückgegangen, wie sich auch
das besitzbürgerliche Element unter den Studenten nur abgeschwächt hatte
halten können, ohne daß allerdings der Anteil aus den ausgesprochenen
Unterschichten, von Jarausch auf 0,3 Prozent veranschlagt, gesteigert wor-
den wäre. Die juristische und die medizinische Fakultät wiesen eine über-
durchschnittlich hohe soziale Herkunft der Studenten auf, während für die

1880er und 1890er Jahre in Preußen, in: ZfPäd, 27. Jg. (1981), S. 225-244, hier
S. 228; D. K. MÜLLER, Sozialstruktur und Schulsystem... (1977) [s.o. Anm. 32],
S. 274 - 297.
42 Zahlen bei Fritz K. RINGER, Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland
1 8 0 0 - 1 9 6 0 , in: GG, 6. Jg. (1980), S. 5-35, hier S. 11; vgl. noch Konrad H.
JARAUSCH, The Social Transformation of the University. The Case of Prussia
1 8 6 5 - 1 9 1 4 , in: JSH, Bd. 12 (1979), S. 6 0 9 - 6 3 6 , hier S. 6 1 0 - 6 1 4 , 628.
43 Κ. H. JARAUSCH, Frequenz und Struktur... (1980) [s.o. Anm. 41], S. 1 2 5 - 1 2 8 ,
zum steilen Anstieg der Studentenzahlen Mitte der 1870er bis Ende der 1880er
Jahre: S. 123; vgl. die Tabellen bei Hartmut TITZE, Das Hochschulstudium...
(1987) [73], S. 36 f., 76 f.
44 Κ. H. JARAUSCH, Frequenz und Struktur... (1980) [s.o. Anm. 41], S. 140f., 145;
Ders., The Social Transformation of the University... (1979) [s.o. Anm. 42],
S. 6 2 5 - 6 2 8 , auch zum Folgenden; vgl. die Zahlen bei J. KOCKA, Bildung, soziale
Schichtung und soziale Mobilität... (1978) [s.o. Anm. 34], S. 309 Anm. 32; den
Anteil von Arbeiterkindern unter den preußischen Universitätsstudenten beziffert
für 1911 auf „weniger als 2 % " Fritz K. RINGER, Die Gelehrten. Der Niedergang
der deutschen Mandarine 1 8 9 0 - 1 9 3 3 [engl. 1969], Stuttgart 1983, S. 61; zu
diesem vieldiskutierten Werk ζ. B. die inhaltsreiche Stellungnahme von Kenneth
D. BARKIN, Fritz K. Ringer's „The Decline of the Mandarins", in: The Journal
of Modern History, Bd. 43 (1971), S. 276 - 286; vgl. auch F. K. RINGER, Bildung,
Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland... (1980) [s. o. Anm. 42], S. 23 f. und
ferner (mit weiterer) Lit.: Rüdiger vom BRUCH, Wissenschaft, Politik und öf-
fentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland 1 8 9 0 -
1914 ( = HSt, Bd. 453), Husum 1980, S. 427: 1902/3 0,07 Prozent ( = 11) Arbei-
tersöhne an allen preußischen Universitäten; zumeist waren es Katholiken; ferner
die Daten bei Hartmut KAELBLE, Chancenungleichheit und akademische Ausbil-
dung in Deutschland 1 9 1 0 - 1 9 6 0 , in: GG, 1. Jg. (1975), S. 121 - 1 4 9 , hier S. 124.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 763

philosophische Fakultät als von einer Bildungsstätte sozialer Aufsteiger aus


der unteren Mittelschicht ausgegangen werden darf. „Zusammengenommen
bewirkten Frequenzwachstum und Strukturveränderung im Kaiserreich die
Umwandlung der traditionellen Eliteuniversität in die moderne Mittelklas-
senhochschule." 45
Insofern verweist dieser Befund auf die von der Forschung herausgestellte
Tatsache, daß das höhere preußische Bildungswesen einen deutlich weniger
plutokratischen Charakter trug und sich weniger aus höheren Schichten
rekrutierte, als dies etwa in Frankreich und England der Fall gewesen ist. 46
Das schließt natürlich nicht aus, daß gerade im Bürgertum akademische
Bildung als Statussymbol angesehen wurde — im westdeutschen Bürgertum
neigten Unternehmer dazu, ihre Söhne zum Studium zu bringen und pro-
movieren zu lassen 47 —, wie auch über die staatlich gesetzten Berechti-
gungsnormen hinaus eine soziale Selektion durch besonders exklusive stu-
dentische Korporationen bewirkt wurde, denen angehört zu haben für
bestimmte Karrieren als erforderlich galt. 48
Die relative soziale Offenheit des höheren preußischen Bildungswesens,
zwar nicht für Arbeiterkinder, wohl aber für solche aus den (unteren)
Mittelschichten, wie sie aus den Zahlen um 1910 herauszulesen ist, muß
auf dem Hintergrund einerseits der — späten — Zulassung von Frauen
zum Hochschulstudium verstanden werden. Andererseits spiegelt sich darin
eine weitere wesentliche Entwicklung im preußischen Bildungswesen der
Zeit des Kaiserreichs: die Gleichberechtigung von Realgymnasium und
Oberrealschulen mit den Gymnasien, berechtigungspolitisch und sozialge-
schichtlich von größter Bedeutung, waren die Realanstalten doch sozial
entschieden offener als das mit ihnen konkurrierende und das Hochschul-
monopol zäh verteidigende Humanistische Gymnasium. Schließlich tritt

45
Κ. H . JARAUSCH, Frequenz und Struktur... (1980) [s. o. A n m . 41], S. 146.
46
Siehe die dem Vergleich mit Preußen gewidmeten Passagen bei Fritz RINGER,
Education and the Middle Classes in Modern France, in: Werner Conze/Jürgen
Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. 1 (Bildungssystem und
Professionalisierung in internationalen Vergleichen) ( = IndW, Bd. 38), Stuttgart
1985, S. 109 — 146, hier S. 131 f.; s. ferner zusammenfassend Thomas NIPPERDEY,
Preußen und die Universität, in: Karl-Dietrich Erdmann u. a., Preußen. Seine
Wirkung auf die deutsche Geschichte. Vorlesungen, Stuttgart 1982, S. 65 — 85,
hier S. 78; Ders., War die wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesell-
schaft?, in: Klaus Hildebrand/Rainer Pommerin (Hg.), Deutsche Frage und
europäisches Gleichgewicht. Festschrift für Andreas Hillgruber zum 60. Geburts-
tag, Köln-Wien 1985, S. 6 7 - 8 2 , hier S. 72.
47
Hansjoachim HENNING, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hoch-
industrialisierung 1860-1914. Soziales Verhalten und soziale Strukturen, T. 1: Das
Bildungsbürgertum in den preußischen Westprovinzen ( = Historische Forschun-
gen, Bd. 6), Wiesbaden 1972, S. 485 f.
48
Beispiel: Hans PHILIPPI, Das deutsche diplomatische Korps 1871 —1914, in: Klaus
Schwabe (Hg.), Das Diplomatische Korps 1871 —1945. Büdinger Forschungen
zur Sozialgeschichte 1982 ( = DFühNz, Bd. 16), Boppard a. Rh. 1985, S. 4 1 - 8 0 ,
hier S. 72.
764 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

darin ein weiteres, durchaus modernes Kennzeichen der preußischen Schul-


und Universitätsstrukturen dieser Zeit entgegen, das in der Ergänzung und
Erweiterung des tradierten Kanons an die erfolgreichen Gleichberechti-
gungsbestrebungen der Technischen Hochschulen erinnern läßt. Auch der
Aufstieg von (Ober-)Realschule und Realgymnasium ist als bildungsge-
schichtliche Resultante der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung
in den Jahrzehnten des Kaiserreiches zu deuten.
Spätestens seit den 1860er Jahren war der Berechtigungskampf49 im
Gange. Wichtige Marksteine auf dem Wege zur Neuordnung des Berechti-
gungswesens um 1900 sind in den „revidirten Lehrpläne(n) für die höheren
Schulen" vom März 1882, mit denen „erstmals das gesamte höhere Schul-
wesen in einer einheitlichen Ordnung" (Kraul) behandelt und auch die
Bezeichnung „Realgymnasien" eingeführt wurde, sowie in der Schulkonfe-
renz des Jahres 1890 und den Lehrplänen von 1892 zu erkennen.50 Bis dahin
hatten Realgymnasialabiturienten schon die Berechtigung erlangt, nach
einem entsprechenden Universitätsstudium eine Lehramts-Staatsprüfung für
neusprachliche Fächer, für Mathematik beziehungsweise Naturwissenschaf-
ten abzulegen, und 1891/92 wurden die Berechtigungen der Oberrealschulen
erweitert, deren Absolventen auf Universitäten nun gleichfalls Mathematik
oder Naturwissenschaften für ein Lehramt an höheren Schulen beziehungs-
weise an Technischen Hochschulen studieren durften.
Doch wurde damit der gesellschaftliche, zum Beispiel vom Verein Deut-
scher Ingenieure ausgeübte Druck in Richtung einer Gleichberechtigung der
Realanstalten mit dem Humanistischen Gymnasium nicht schwächer, son-
dern stärker. Nach einer weiteren Schulkonferenz unter starker wissen-
schaftlicher Beteiligung wurde dann mit dem Allerhöchsten Erlaß vom
26. November 1900 das „Gymnasialmonopol" endgültig beseitigt und der
Berechtigungsstreit mit einer Regelung beendet, der sich die übrigen deut-

49 Neuere Überblicke: M . KRAUL, Das deutsche Gymnasium 1 7 8 0 - 1 9 8 0 . . . (1984)


[34], S. 8 6 - 1 1 4 , (Zitat: S. 93); H . ROMBERG, Staat und Höhere Schule... (1979)
[s.o. Anm. 20], S. 217 - 233, 271 f., 2 7 8 f . , 6 1 0 ; vgl. die Bewertungen bei E. R .
HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969) [32], Bd. 4, S. 9 1 2 - 9 2 3 .
50 1882: Druck in L. WIESE/O. KÜBLER, Verordnungen und Gesetze für die höheren
Schulen in Preußen, 1. Abt., 3. Ausg., Berlin 1886, S. 1 1 0 - 1 4 4 , vgl. noch S. 5;
vgl. oben im § 3, II, bei Anm. 25 und Anm. 44; 1890: vgl. den oben § 3, IV,
Anm. 68 zitierten Protokollband, sowie Christoph FÜHR, Die preußischen Schul-
konferenzen von 1 8 9 0 - 1 9 0 0 . Ihre bildungspolitische Rolle und bildungsge-
schichtliche Bewertung, in: Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur
Zeit des Kaiserreichs ( = PriG, Bd. 1), Stuttgart 1980, S. 1 8 9 - 2 2 3 , hier S. 1 9 4 -
206; James C. ALBISETTI, Secondary School Reform in Imperial Germany, Prin-
ceton-New Jersey 1983, S. 208 - 2 4 2 ; „Neue Lehrpläne und Prüfungsordnungen
für höhere Schulen" vom 6. Januar 1892, ZB1UV, 1892, Nr. 1, S. 1 9 9 - 3 3 9 (zu
nationalen Lehrzielen S. 213, 271), zu den Berechtigungen Nr. 2, S. 3 4 0 —343;
vgl. ZB1UV, 1894, Nr. 109, S. 5 4 4 (Ablehnung erweiterter Berechtigungen für
Realgymnasien).
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 765

sehen Staaten — bezeichnenderweise — anschlossen.51 „Bezüglich der Be-


rechtigungen ist davon auszugehen, daß das Gymnasium, das Realgymna-
sium und die Oberrealschule in der Erziehung zur allgemeinen Geistesbil-
dung als gleichwerthig anzusehen sind", hieß es in dem genannten Erlaß.
Für einige Berufszweige wurde lediglich eine „Ergänzung" gefordert — in
der Praxis bedeutete das Zusatzkurse in Sprachen zum Beispiel für Ober-
realschüler, die Rechtswissenschaften zu studieren beabsichtigten bezie-
hungsweise die Notwendigkeit zur Ablegung von Ergänzungsprüfungen;
grundsätzlich wurde aber „die grössere Verallgemeinerung des realistischen
Wissens" angestrebt.52 Außer den drei genannten Anstaltstypen, für die
deutliche Unterschiede in der sozialen Herkunft der Schülerschaft (stärkerer
Anteil von Familien aus Handel und Gewerbe bei den Realanstalten; stär-
kerer Akademikeranteil auf den Gymnasien) auf die erreichte Flexibilität
und Modernität im höheren Bildungswesen verweisen, wurden 1901 „Re-
formschulen" im höheren Schulwesen zugelassen, die die Variationsbreite
der Typenvielfalt zumal durch „Doppelanstalten" mit teilweise gemeinsa-
mem Unterbau noch erhöhten, und, wie Bernd Zymek dargelegt hat, eine
Anpassung an die regionalen Verhältnisse beziehungsweise an die Bedürf-
nisse der Gemeinden - im Rahmen des behördlich Genehmigten - zulie-
ßen; dies setzte sich dann nach 1918 fort. 53 Wenn freilich nach dem Fall
des Gymnasialmonopols die Schülerzahlen an den Realgymnasien und Ober-
realschulen zunahmen und aufstiegsorientierten Mittelschichten der Weg
über das Studium freigegeben wurde, wenn andererseits die Zahl der Gym-
nasien nach 1900 nur noch leicht stieg, relativ jedoch die quantitative
Bedeutung dieser Schulart abnahm (1914: 54 Prozent der Vollanstalten
Gymnasien, 29 Prozent Realgymnasien, 17 Prozent Oberrealschulen)54, deu-

51 Z. B. C. FÜHR, Die preußischen Schulkonferenzen... (1980) [s.o. Anm. 50],


S. 206 — 212; J. C. ALBISETTI, Secondary School Reform in Imperial Germany...
(1983) [s.o. Anm. 50], S. 2 6 3 - 2 9 1 .
52 Der Erlaß ζ. B. gedruckt bei Wilhelm LEXIS (Hg.), Die Reform des höheren
Schulwesens in Preußen, Halle a. S. 1902, S. VII - X , Zitate: S. VII (in diesem
Bd. verschiedene wichtige Aufsätze, z. B. von Friedrich PAULSEN, Das Prinzip der
Gleichwertigkeit der drei Formen der höheren Schule, S. 35 — 48); ergänzend z. B.
ZB1UV, 1902, Nr. 32, S. 275, Nr. 71, S. 347 f., Nr. 122, S . 5 4 2 Í . ; 1901, Nr. 42,
S. 279 ff.; die neuen Lehrpläne Nr. 63, S. 3 9 2 - 3 9 6 ; Nr. 92, S. 4 7 1 - 5 4 4 (sie galten
bis in die 20er Jahre); zu den Details der Gleichstellung H. ROMBERG, Staat und
Höhere Schule... (1979) [s. o. Anm. 20], S. 278 f. (bis 1907), zur sozialen Herkunft
der Schülerschaft S. 645 f. und bes. F. K. RINGER, Bildung, Wirtschaft und Ge-
sellschaft in Deutschland... (1980) [s.o. Anm. 42], S. 17 (Tabelle), 16ff.
53 Bernd ZYMEK, Der verdeckte Strukturwandel im höheren Knabenschulwesen
Preußens zwischen 1920 und 1940, in: ZfPäd, 27. Jg. (1981), S. 2 7 1 - 2 8 0 , hier
S. 272 f., vgl. auch S. 276.
54 Vgl. die Tabelle bei E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969) [31],
Bd. 4, S. 924; ferner die als Beilage zum ZB1UV erschienenen „Statistische(n)
Mitteilungen über das höhere Unterrichtswesen im Königreich Preußen", z. B.
Η. 17, Berlin 1900, bes. S. 68, 77, 84.
766 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

tete dies auch auf eine relative Aufwertung der elitären humanistischen
Gymnasien hin.
Die Bildungsentwicklung in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs ist durch
eine begrenzte soziale Mobilisierung und relative Modernität gekennzeich-
net.

VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft


1. Das „System Althoff"

Mit den Wissenschaften und der Wissenschaftspolitik in Preußen zur Zeit


des Kaiserreiches wird ein weiteres Element gesellschaftlicher Dynamik
angesprochen. Sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht
gewinnt Forschung (und Lehre) neue Dimensionen. So wie auf dem Gebiete
des Schulwesens nicht nur immer mehr, sondern auch immer größere,
unpersönlich wirkende Anstalten die Regel wurden — vor 1914 schien dem
Zeitgenossen selbst „die preußische Volksschule zum Großbetriebe" gewor-
den zu sein 1 - , so wie die Berliner Universität mit rund 10.000 Studenten
als „die erste deutsche Massenuniversität" (Jarausch) bezeichnet worden
ist, so nehmen wissenschaftliche Lehr- und Forschungsstätten überhaupt in
einer Zeit neue Ausmaße an, in der die Forschungsergebnisse zum Beispiel
der Physik das Weltbild neu begründen. Dabei kam Institutionen in Preußen
eine außerordentliche Bedeutung zu, aber zu den Einrichtungen des preu-
ßischen Staates traten schon jetzt Institutionen des Reiches und solche
gesellschaftlicher Gruppeninitiative.
Auf den ersten Blick scheint die Kultussouveränität des preußischen
Staates in der Zeit des Kaiserreichs bei maximierter Verwaltungsleistung
das eigentliche bildungsgeschichtliche Zeitcharakteristikum. Bei wachsen-
dem staatlichen Finanzeinsatz für die Universitäten, unter anderem Resultat
des aus dem Aufschwung der Naturwissenschaften sich ergebenden Bedarfs
an den Hochschulen, nahmen mit den Staatszuschüssen auch die Einfluß-
möglichkeiten der Kultusverwaltung zu. 2 In Preußen steht die Person Fried-
rich Althoffs sinnbildhaft für diese Entwicklung, derjenige einflußreiche
Beamte, der in den Jahren 1882 bis 1907 im preußischen Kultusministerium
zuerst als Geheimer (1888: O ber-) Regierungsrat und Universitätsreferent,
seit 1896/97 als Ministerialdirektor und Leiter der I. Unterrichtsabteilung
unter anderem für wissenschaftliche Institute, für die Bibliotheken Preußens,

1 C. MÜLLER, Grundriß der Geschichte des preußischen Volksschulwesens...


("1913) [38], S. 274; s. noch R. BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer...
(1983) [25], S. 32f.; K. H. Jarausch, Deutsche Studenten... (1984) [50], S. 72.
2 Allgemein: Klemens PLEYER, Die Vermögens- und Personalverwaltung der deut-
schen Universitäten. Ein Beitrag zum Problemkreis Universität und Staat...,
Marburg 1955, S. 109 ff; vgl. oben: § 3, V, bei Anm. 2 - 4 .
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 767

die ihm Wesentliches verdanken, 23 und schließlich auch für das höhere
Schulwesen zuständig war und insbesondere durch seine Personalmacht
gegenüber den Universitäten als graue Eminenz in einem Vierteljahrhundert
preußischer Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte betrachtet werden muß. 3
Althoff als einen der Nachfolger Johannes Schulzes anzusprechen, ist in
verschiedener Hinsicht berechtigt — Althoff gewann schon durch seine
mehrere ministerielle Amtsperioden umspannende Tätigkeit durch Sach-
kenntnis und als Kontinuitätsgarant besonderes fachliches Gewicht. Seit
1888/89 unterstützte Althoff im Kultusministerium der Jurist Friedrich
Schmidt(-Ott), der in den Jahren 1917/18 der letzte preußische Kultusmi-
nister des monarchischen Preußen werden sollte. 4
Wenn geradezu von einem System Althoff gesprochen worden ist, so zielt
dieses Diktum auf die bürokratische Machtmaximierung mittels eines Net-
zes von Vertrauensleuten an den Universitäten, im Parlament, in der Fi-
nanzwelt und nicht zuletzt durch direkte Kontakte zum Hof und zum Kaiser
persönlich. Gefürchtet, bei den einen geachtet und bei anderen ob umstrit-
tener Praktiken („Reverse") verachtet, wurde er, der im Unterschied etwa
zu Humboldt nicht über eine bildungspolitische Reformkonzeption mit
theoretischer Fundierung verfügte, durch seine langjährige Verwaltungspra-
xis zur Schlüsselfigur. Althoff scheute sich nicht, auch gegen den Vorschlag
der betroffenen Fakultät Berufungen vorzunehmen, doch zeigt die Statistik
in seiner Amtszeit keine prozentuale Zunahme der Oktrois. Allerdings
waren Althoffs Instrumente so vielfältig, daß er seinen Einfluß auch ohne
dieses letzte Mittel zur Geltung zu bringen vermochte. Einen Robert Koch
hat Althoff durch Oktroi zum Berliner Ordinarius und Direktor des Insti-
tutes für Infektionskrankheiten gemacht; Karl Lamprecht als Nachfolger
Heinrich von Treitschkes durchzusetzen, gelang hingegen nicht. 5 Die Ver-

2a Eugen PAUNEL, Die Staatsbibliothek zu Berlin. Ihre Geschichte und Organisation


während der ersten zwei Jahrhunderte seit ihrer Eröffnung 1661 — 1871, Berlin
1965, S. 3 2 0 , 3 3 6 f.; Werner SCHOCHOW, Griff in die Geschichte der Staatsbiblio-
thek, in: S B P K M , 14. Jg. (1982), H . 3 / 4 , S. 154 f.
3 Jetzt grundlegend: Bernhard v o m BROCKE, Hochschul- und Wissenschaftspolitik
in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882 — 1907: das „System Althoff", in:
Peter B a u m g a r t (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs
( = PriG, Bd. 1), Stuttgart 1980, S. 9 - 1 1 8 , hier S. 2 4 - 2 7 , ferner z . B . S. 3 3 , 3 8 ,
4 0 ; Ders., Friedrich Althoff, in: W. TREUE/K. GRÜNDER (Hg.), Berlinische Le-
bensbilder, Bd. 3... (1987) [ 7 5 ] , S. 1 9 5 - 2 1 4 , b e s . S. 1 9 9 f f . , S. 2 0 6 - 2 1 0 ; Hans
PETER, Friedrich Althoff 1 8 3 9 - 1 9 0 8 , in: M ä n n e r der deutschen Verwaltung. 2 3
biographische Essays, K ö l n - B e r l i n 1963, S. 2 2 9 - 2 4 4 S. 3 9 6 , bes. S. 2 3 1 ff.,
2 3 7 ff.; daneben weiterhin Arnold SACHSE, Friedrich Althoff und sein Werk,
Berlin 1928, S. 4 8 - 5 8 ; ferner die Skizze von Franz SCHNABEL, Althoff, in: N D B ,
Bd. 1, Berlin 1953, S. 2 2 2 - 2 2 4 ; Adolf HARNACK, Friedrich Althoff, in: Ders.,
Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 2, Gießen 1911, S. 3 3 2 - 3 3 8 , bes. 3 3 5 f.
4 Friedrich SCHMIDT-OTT, Erlebtes und Erstrebtes 1 8 6 0 - 1 9 5 0 , Wiesbaden 1952,
S. 15 ff. und passim.
5 Β. v o m BROCKE, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deut-
schen Kaiserreich... (1980) [ s . o . A n m . 3], S. 1 0 - 1 5 , 8 2 f f „ 8 9 f f „ 9 3 ; Ders.,
768 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

einheitlichung zum Beispiel der Promotionsbestimmungen oder die Reform


der Professorenbesoldung 6 zählen gleichfalls zu wichtigen Maßnahmen die-
ses Wissenschaftspolitikers.
Zum „System Althoff" gehörte aber gleichfalls „der systematische Ausbau
des Hochschulwesens zum zentral gelenkten ,Großbetrieb'"7 Dies meint
nicht zuletzt eine durch Ansätze einer vorausschauenden Bildungsstatistik
flankierte, weitblickende Universitäts- und Wissenschaftspolitik, mit der
neben der Einrichtung neuer Hochschulen (zum Beispiel Universität Mün-
ster 1902; Akademie in Posen 1903; Technische Hochschulen Danzig und
Breslau), dem Ausbau bestehender Universitäten und der Vergrößerung
ihrer Lehrkörper die Ergänzung dieser herkömmlichen Organisationsformen
eines durch die Verbindung von Forschung und Lehre gekennzeichneten
Wissenschaftsbetriebes durch reine Forschungsinstitute geleistet wurde. Die
Notwendigkeit arbeitsteiliger, immer stärker spezialisierter, von assistieren-
dem Personal unterstützter Forschung, die zunehmend in Widerspruch zu
dem auf Breite angelegten Lehrbetrieb treten mußte, die zunehmende Be-
deutung wissenschaftlicher Großprojekte, das heißt solcher, die nicht mehr
von einem einzelnen Gelehrten getragen werden konnten, in den Naturwis-
senschaften zudem die „Technisierung der Forschung" (Schelsky), dies alles
führte zu einem Zug zur Betriebsförmigkeit, zum „Großbetrieb der Wissen-
schaft", von dem Harnack und vor ihm Theodor Mommsen gesprochen
hatten. 8 Um 1900 ging diese Entwicklung — gekoppelt an wachsenden
Finanzbedarf — auch in Preußen, wo diese grundsätzlichen Einsichten mit
besonderer Deutlichkeit und Prägnanz formuliert wurden, einem Höhe-
punkt entgegen, nachdem schon seit den Jahrzehnten des Vormärz die ersten
Institute an Universitäten eingerichtet worden waren. Althoff lenkte diesen

Preußen — Land der Schulen, nicht nur der Kasernen. Preußische Bildungspolitik
von Gottfried Wilhelm Leibniz und Wilhelm von Humboldt bis Friedrich Althoff
und Carl Heinrich Becker ( 1 7 0 0 - 1 9 3 0 ) , in: Wolfgang Böhme (Hg.), Preußen,
eine Herausforderung ( = HerT, Bd. 32), Karlsruhe 1981, S. 54-99, hier S. 81, 87;
vgl. das Urteil bei Agnes von ZAHN-HARNACK, Adolf von Harnack, Berlin 1936,
S. 304. Illustrativ jetzt die Edition von William M . CALDER III./Alexander KO-
SENINA (Hg.), Berufungspolitik innerhalb der Altertumswissenschaft im wilhel-
minischen Preußen. Die Briefe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs an Friedrich
Althoff ( 1 8 8 3 - 1 9 0 8 ) , Frankfurt/M. 1989, Texte: S. 1 - 1 7 0 , und im N a c h w o r t
bes. S. 173 ff., S. 177.
6 ZB1UV, 1898, S. 685 f.; dazu A. SACHSE, Friedrich Althoff... (1928) [s. o. Anm. 3],
S. 201, 2 0 6 - 211, 222, ferner S. 170.
7 Β. v. BROCKE, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen
Kaiserreich... (1980) [s.o. Anm. 3], S. 49, zum Folgenden: S. 4 9 - 5 3 .
8 Klassisch: Adolf HARNACK, Vom Großbetrieb der Wissenschaft [1905], in: Ders.,
Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 1, Gießen 1911, S. 10 — 20, bes. S. 12 f.; Theodor
MOMMSEN, Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 2 0 9 ; aus der Lit. ferner Helmut
SCHELSKY, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität
und ihrer Reformen ( = W W W , Bd. 20), Düsseldorf 2 1971, S. 145 - 149; Christian
von FERBER, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und
Hochschulen 1 8 6 4 - 1 9 5 4 ( = ULdHsch, Bd. 3), Göttingen 1956, S. 53 f.
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 769

Trend, indem er an den preußischen Universitäten die Institutsentwicklung


in Bahnen fachlicher Schwerpunktbildung betrieb; in Göttingen, um ein
Beispiel zu wählen, wurden durch die preußische Kultusverwaltung beson-
ders die Mathematik und die Naturwissenschaften gepflegt und dies auch
mit der Schaffung der einschlägigen Institute. In Halle fand die evangelische
Theologie, in Berlin erhielten die Altertumswissenschaften und die Ge-
schichtsforschung eine besondere Förderung. Zu der Einrichtung von mit
Lehre und Forschung befaßten Universitätsseminaren, ausgestattet mit eige-
nen Räumen, Bibliotheken, Laboratorien usw. traten zunächst die der
Akademie der Wissenschaft zugeordneten (Groß-)Projekte allein der For-
schung. Harnack zählte bei der preußischen Akademie um 1905 vierzig
„große wissenschaftliche Unternehmungen". Dazu gehörten große Editio-
nen, wie die „Politische Correspondenz Friedrich's des Großen" (seit 1879)
und die seit 1892 erscheinenden „Acta Borussica", die zusammen mit den
seit 1878 von der preußischen Archivverwaltung veranstalteten Publikatio-
nen zugleich eine deutliche Schwerpunktverlagerung in der deutschen Ge-
schichtswissenschaft nach Berlin anzeigen mit erstarkender Konkurrenz für
die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissen-
schaften. 9 Seit den 1870er Jahren standen auch die Monumenta Germaniae
Histórica in näherer Verbindung mit der Akademie in Berlin. Sybel und
Waitz wurden unter anderem als lesende Akademiemitglieder in der Resi-
denz tätig. Die Berufungen Treitschkes, Schmollers und des Professors der
Staatswissenschaft Adolf Wagner nach Berlin deuteten gleichfalls auf die
Verstärkung des Wissenschaftsgewichtes der preußischen und Reichshaupt-
stadt seit 1870 hin, auch hinsichtlich von Staatswissenschaft und National-
ökonomie in Schwerpunktverlagerung von Süddeutschland nach Preußen,
wo auch ein Werner Sombart, erst in Breslau, und dann in Berlin seinen
Weg machte. 1 0 Althoff hat gerade „Kathedersozialisten" bei Berufungen

9 Theodor SCHIEDER, Organisation und Organisationen der Geschichtswissen-


schaft, in: H Z , Bd. 237 (1983), S. 2 6 5 - 2 8 7 , hier S. 271 ff.; zuletzt Wilhelm TREUE,
Die Acta Borussica - Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im
18. Jahrhundert - zwischen ihrer Gründung im Jahr 1887 und der Reprint-
Ausgabe von 1 9 8 6 / 8 7 ( = IHKzB, Beih. 10), Berlin 1987, S. 5, 7, zu Althoff in
seinen Beziehungen zu den Acta Borussica: S. 9, 15, 20; Conrad GRAU u. a., Die
Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus, T. 1 ( = Stu-
dien zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Bd. 2/1), Ber-
lin(-Ost) 1975, S. 165 f., S. 258.
10 Günter SCHMÖLDERS, Die wirtschaftlichen Staatswissenschaften an der Univer-
sität Berlin von der Reichsgründung bis 1945, in: Hans Leussink/Eduard Neu-
mann/Georg Kotowski (Hg.), Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu
Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Univer-
sität zu Berlin, Berlin 1960, S. 1 5 2 - 1 7 3 , hier S. 153 ff., 160 f.; zu den wichtigsten
Schulen und Persönlichkeiten jetzt Harald WINKEL, Die deutsche Nationalöko-
nomie im 19. Jahrhundert ( = E d F , Bd. 74), Darmstadt 1977, passim., bes.
S. 104 ff., 119, 122 ff., 130 ff.; Berufung von Kathedersozialisten: Rüdiger vom
BRUCH, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wil-
helminischen Deutschland 1 8 9 0 - 1 9 1 4 ( = HSt, Bd. 453), Husum 1980, S. 3 3 0 f.
Anm. 144; C. E. MCCLELLAND, State, Society and University in Germany... (1980)
[51], S. 295.
770 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

gegen starke Widerstände bevorzugt. W a r e n an den preußischen Universi-


täten und selbst in Berlin die „wirtschaftlichen Staatswissenschaften" bis in
die 1870er J a h r e nur mangelhaft vertreten, 1 1 so gewann der Universitäts-
betrieb auch hinsichtlich der vermittelten Lehrinhalte ein modernes Aus-
sehen. W i e G e r h a r d Oestreich darlegte, haben in den 1880er und 1890er
J a h r e n an den preußischen Universitäten und insbesondere an der hervor-
ragend ausgestatteten Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Historiker
und N a t i o n a l ö k o n o m e n alles andere als konventionellen Unterricht betrie-
ben, in dem auch sozial- und wirtschaftsgeschichtliche T h e m e n durchaus
vertreten w a r e n . 1 2
In den J a h r e n 1886 bis 1902 hatten neun der zehn preußischen Universitäten
staatswissenschaftliche Seminare erhalten, die Z a h l der Universitätsinstitute
(ohne Kliniken) wuchs von 3 2 0 (1882) auf 4 7 6 im J a h r e 1907 a n , 1 3 darunter
zahlreiche für medizinische Disziplinen. G e r a d e auf dem Gebiet der Natur-
wissenschaften w a r das Problem zunehmender Behinderung der Forschung
durch die Lehrverpflichtungen besonders früh und besonders deutlich auf-
getreten. D i e Bedeutung preußischer Forschungsstätten auf diesen Arbeits-
feldern geht daraus hervor, d a ß — nach einer Z ä h l u n g Bernhard v o m Brockes
— von den 5 8 bis 1918 verliehenen naturwissenschaftlichen Nobelpreisen 18
nach Deutschland vergeben wurden und unter deren Trägern 16 in Preußen
tätig w a r e n . 1 4 An der Universität Berlin w a r zum Beispiel seit 1889, seit 1 8 9 2
als Ordinarius M a x Planck tätig, und dieser war zusammen mit dem preu-
ßischen Kultusministerium entscheidend daran beteiligt, daß Albert Einstein
zu einer Z e i t als Akademiemitglied mit Lehrbefugnis in die preußisch-deutsche
Hauptstadt berufen wurde, als dessen Ansichten zu Relativitätsprinzip und
Q u a n t e n t h e o r i e durchaus noch auf Widerstand im F a c h stießen. Überhaupt
hatte, um A r m i n H e r m a n n zu zitieren, „mit der Q u a n t e n - und Relativitäts-
t h e o r i e . . . das ,Goldene Zeitalter der deutschen Physik' begonnen. D a s Z e n -
trum der Forschung lag in B e r l i n . " 1 5

11 Otto HINTZE, Gustav Schmoller. Ein Gedenkblatt [1919], in: Ders., Soziologie
und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie
der Geschichte ( = d e r s . , Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2), Göttingen 2 1964,
S. 5 1 9 - 5 4 3 , h i e r S. 5 2 0 .
12 Gerhard OESTREICH, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen
Forschung in Deutschland [1969], in: Ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit.
Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 5 7 - 9 5 , hier
S. 6 8 ff., S. 7 4 .
13 B. vom BROCKE, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deut-
schen Kaiserreich... (1980) [s. o. Anm. 3], S. 50ff.; A. SACHSE, Friedrich Althoff...
( 1 9 2 8 ) [ s . o . A n m . 3 ] , S. 2 3 4 - 244.
14 Berhard vom BROCKE, Preußen - Land der Schulen, nicht nur der Kasernen.
Preußische Bildungspolitik von Gottfried Wilhelm Leibniz und Wilhelm von
Humboldt bis Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker ( 1 7 0 0 - 1 9 3 0 ) , in:
Wolfgang Böhme (Hg.), Preußen, eine Herausforderung ( = HerT, Bd. 32), Karls-
ruhe 1981, S. 5 4 - 9 9 , hier S. 88
15 Armin HERMANN, Die neue Physik. Der Weg in das Atomzeitalter. Zum Gedenken
an Albert Einstein, Max von Laue, Otto Hahn, Lise Meitner, München 1979,
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 771

Außer der Universität, der Akademie und der Technischen Hochschule


war zum Beispiel mit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (gegr.
1887) wie auch durch preußische Staatsinstitute (zum Beispiel Königl.
Materialprüfungsamt, Dahlem) 16 in Berlin eine wissenschaftliche Infrastruk-
tur auf naturwissenschaftlichem Gebiet entstanden, die schwerlich von
einem anderen deutschen Wissenschaftsstandort zu übertreffen war. Dabei
ging es nun auch um die außeruniversitäre Bearbeitung praktischer, wirt-
schaftlich bedeutsamer Probleme, und, wie zum Beispiel die Gründungs-
geschichte eben der PTR zeigt, gingen Demarchen aus Wirtschaftskreisen
(Siemens) auf die Einrichtung solcher naturwissenschaftlich-technischer For-
schungsstätten aus.
Der „Bund von Wissenschaft und Kapitalismus" (Franz Schnabel), der
unter Althoffs Ägide geschlossen worden ist, wurde erneut bei der von
Althoff unterstützten und aus der Industrie materiell geförderten „Göttinger
Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik"
wirksam. 17 Und auch bei der Begründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
zur Förderung der Wissenschaften (KWG) anläßlich der Jahrhundertfeier
der Universität Berlin waren es drei Faktoren — Wissenschaft, Kultusver-
waltung und Industrie - , die zusammenwirkten. Doch setzten erste Über-
legungen zur Einrichtung reiner Forschungsinstitute schon mehr als zehn
Jahre zuvor ein, als an Althoff Vorschläge zur Schaffung chemischer For-
schungsstätten herangetragen worden waren, wie denn auch die Chemie-
industrie seit langer Zeit außeruniversitäre staatliche Forschungsinstitute
für ihre Belange gefordert und schließlich die Vorbereitungen zur Gründung
einer Chemischen Reichsanstalt selbst in die Hände genommen hatte. Diese
Initiative, verbunden mit der Sammlung ansehnlicher Geldbeträge, ging in
die Planung zur Gründung der KWG ein, mit der dann auch Althoffs
Überlegungen zur Schaffung eines „deutschen Oxfords" ihr Ziel fanden.18

S. 33 f.; Wilhelm H . WESTPHAL, AUS der großen Zeit der Berliner Physik, in: H.
Leussink/E. Neumann/G. Kotowski (Hg.), Studium Berolinense... (1960) [s.o.
Anm. 4], S. 791 f., mit weiteren Nobelpreisträgern; Arnim HERMANN, Deutsche
Nobelpreisträger, München J 1 9 8 7 , passim.
16 Walter RUSKE, Außeruniversitäre technisch-naturwissenschaftliche Forschungs-
anstalten in Berlin bis 1945, in: R. RÜRUP (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft...
( 1 9 7 9 ) [ 5 8 ] , B d . 1, S. 2 3 1 - 2 6 3 , b e s . S. 2 3 4 - 2 4 9 , 2 5 4 ff., 2 5 8 f., z u v e r s c h i e d e n e n
Instituten; F. R. PFETSCH, Z u r Entwicklung der Wissenschaftspolitik... (1974)
[s.o. Anm. 2], S. 104 — 125; zu Reichsinstituten etc.: Georg SCHREIBER, Deutsche
Wissenschaftspolitik von Bismarck bis zum Atomwissenschaftler Otto Hahn
( = VAGFGew, Bd. 6), Köln-Opladen 1954, S. 2 4 ff.
17 Karl-Heinz MANEGOLD, Universität, Technische Hochschule und Industrie. Ein
Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter besonderer
Berücksichtigung der Bestrebungen Felix Kleins ( = SchrWSG, Bd. 16), Berlin
1970, S. 1 5 7 - 1 8 8 , bes. S. 168 ff.; Wolfgang TREUE, Forschungsförderung in
Deutschland, in: J G M O D , Bd. 28 (1979), S. 5 5 8 ; Zitat F. SCHNABEL, Artikel:
Althoff... (1953) [s.o. Anm. 3], S. 223.
18 Lothar BURCHARDT, Wissenschaft und Wirtschaftswachstum: Industrielle Ein-
flußnahmen auf die Wissenschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland, in:
772 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Damit wurde (Berlin-) Dahlem zu einem international bedeutsamen Wis-


senschaftsstandort, wie dies auch von der Berliner Universität gewünscht
worden war. In gemeinsamer Finanzierung durch private Geldgeber und
den preußischen Staat, wobei erstere je nach Engagement einen zum Teil
erheblichen Einfluß auf einzelne Institute zu erlangen vermochten, wurde
nach der Verkündung des Gründungsvorhabens durch Wilhelm II. im Jahre
1910 und der Konstituierung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im darauf
folgenden Jahr unter der Präsidentschaft des Theologen und Kirchenhisto-
rikers Adolf (von) H a r n a c k , der a m Entwurf der Konzeption für die Ge-
sellschaft maßgeblich beteiligt war, mit dem Aufbau der Institute begonnen;
als Vizepräsidenten fungierten zunächst Krupp und der Bankier Delbrück.
5 0 wie zum Beispiel in der Harnackschen Gründungsdenkschrift die K W G
zunächst mit dem sich schon um 1910 abzeichnenden Rückstand Deutsch-
lands auf dem Gebiet der Naturwissenschaften gegenüber dem westlichen
Ausland begründet worden w a r , 1 9 so betrafen die ersten Instituts-Schöp-
fungen in der kurzen Zeit bis zum Kriegsausbruch die Fächer der Chemie,
der Biologie, der Kohlenforschung (in Mühlheim/Ruhr), der experimentellen
Therapie und der Arbeitsphysiologie. N o c h vor dem Ende des Weltkrieges

Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hg.), Soziale Bewegung und poli-


tische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt (Festschrift Werner
CONZE) ( = IndW, Sonderbd.), Stuttgart 1976, S. 770 - 797, hier S. 787 - 794;
Ders., Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland. Vorgeschichte,
Gründung und Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wis-
senschaften ( = S t N a t w T W , B d . 1), G ö t t i n g e n 1 9 7 5 , S. 17, 21, 3 1 - 3 4 , 36-39,
51 ff., 93 f. und passim, zur Frage von Althoffs Anteil S. 23 f.; dazu ist zu vgl.
Günter WENDEL, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1 9 1 1 - 1 9 1 4 . Zur Anatomie
einer imperialistischen Forschungsgesellschaft ( = StGAW, Bd. 4), Berlin 1975,
S. 71 ff., 103 f. u. ö., alle auch zur Frage von Harnacks Anteil; nach Abschluß
des Manuskripts erschien die umfangreiche Festschrift: Rudolf VIERHAUS/Bern-
hard vom BROCKE (Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesell-
schaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft.
Aus Anlaß ihres 75jährigen Bestehens, Stuttgart 1990, darin bes. der Beitrag B.
vom Brockes S. 63 —143 zur Frage des Anteils Harnacks, S. 138 ff. Quellen zu
Althoffs Dahlemer Plänen bei Wilhelm WEISCHEDEL (Hg.), Idee und Wirklichkeit
einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität
zu Berlin, Berlin 1960, S. 485 - 522, bes. S. 520; F. SCHMIDT-OTT, Erlebtes und
Erstrebtes... (1952) [s. o. Anm. 4], S. 99, 115 - 1 3 0 ; Adolf HARNACK, Zur kaiser-
lichen Botschaft vom 11. Oktober 1910. Begründung von Forschungsinstituten,
in: Ders., Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 1, Gießen 1911, S. 39 —64, bes.
S. 43 ff., 53 f., 56 f. (Denkschrift); 50 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Max-
Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1911 - 1961. Beiträge und
Dokumente, Göttingen 1961, S. 8 0 - 9 4 .
19 A. HARNACK, Zur kaiserlichen Botschaft... [s.o. Anm. 18], S. 47ff.; zu den
Instituten z.B. L. BURCHARDT, Wissenschaft und Wirtschaftswachstum... (1976)
[s. o. Anm. 18], S. 95 - 121, Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und
Staat für das Jahr 1918, Berlin 1918, S. 120 f,; T. SCHIEDER, Organisation und
Organisationen der Geschichtswissenschaft... (1983) [s.o. Anm. 9], S. 279.
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 773

waren auch archäologische und historische Projekte in die Förderung auf-


genommen worden.
Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war bei und in den Jahren unmittelbar
nach ihrer Gründung, um mit Lothar Burchardt zu formulieren, eine „halb-
staatliche Organisation auf Reichsebene", doch faktisch eine „innerpreu-
ßische Gründung"; die privaten Spenden, in Millionenhöhe eingekommen
und vom preußischen Kultus- und Staatsministerium unter persönlichem
Engagement Wilhelms II. eingeworben, stammten zu rund 90 Prozent aus
Preußen, so daß die Gesellschaft „langezeit... (als) eine innerpreußische
Angelegenheit" angesehen werden durfte. 20 Das Reich war vorerst nicht
beteiligt, was sich erst nach den Verlusten des Ersten Weltkrieges ändern
sollte. Insofern verweist die Frühgeschichte der KWG auf zwei markante
Entwicklungstendenzen des preußischen Wissenschafts- (und Bildungs-) We-
sens zur Zeit des Kaiserreiches: zum einen auf den staatlich unterstützten
Aufbau einer bald auch geographisch breiter gestreuten Leistungsstruktur
auf dem Gebiet der Wissenschaftsförderung des höchsten Niveaus unter
Einräumung finanziell bedingter Einflußmacht für die herangezogenen au-
ßerstaatlichen Geldgeber, also die Aufgabe des wissenschaftspolitischen
Staatsmonopols auf einem bis dahin weitgehend von der Kultusverwaltung
beherrschten Feld. — Die Geschichte der Frankfurter „Stiftungsuniversität"
ist in diesem Kontext als weiteres Beispiel zu erwähnen, ging doch auch
diese Gründung (1914) auf Finanzzuwendungen aus privaten beziehungs-
weise Wirtschaftskreisen zurück, wobei in diesem Fall ferner die Stadt an
der Gründung zusammen mit der Kultusverwaltung beteiligt war und die
Stifter Einfluß auf die Institute erhielten; 21 auch die oben erwähnten Han-
delshochschulen sind in diesem Kontext von Bedeutung.
Zum anderen hatte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft eine weit über die
preußischen Grenzen hinausweisende Bedeutung, wie denn auch die Insti-
tutsentwicklung nach 1918 das schnelle Herauswachsen der Gesellschaft
aus Preußen in das übrige Reichsgebiet erkennen läßt. Schon zuvor hatten
preußische Kultusinstitutionen über Preußen hinaus Bedeutung erlangt,
waren dessen Normen von anderen Einzelstaaten des Reiches übernommen
worden, wie schon das Beispiel des Promotionsrechtes an Technischen
Hochschulen zeigte. Theodor Schieder hat denn auch von einem „preußisch-
hegemoniale(n)" Ordnungselement im „Wissenschaftsbereich" des Kaiser-
reiches gesprochen, 22 was natürlich über die Bedeutung süd- und mittel-

20 L. BURCHARDT, Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland... (1975)


[ s . o . A n m . 1 8 ] , S. 8 3 , 7 1 , F i n a n z i e r u n g : S. 5 3 - 5 9 , 64, 7 0 - 8 0 , 133ff., Spender-
liste: S. 155 — 158; Ders., Wissenschaft und W i r t s c h a f t s w a c h s t u m . . . (1976) [ s . o .
A n m . 18], S. 7 9 5 , 797; G. WENDEL, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft... (1975)
[ s . o . A n m . 1 8 ] , b e s . S. 104-109.
21 Paul KLUKE, Die Stiftungsuniversität Frankfurt a m M a i n 1 9 1 4 - 1 9 3 2 , Frankfurt/
M . 1972, S. 3 2 ff., 3 9 ff., 4 6 - 4 9 , 89 ff., 138, 144 f., 148; Handelshochschulen: s. o.
§ 3 , I I , bei A n m . 5 9 .
22 T h e o d o r SCHIEDER, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat
( = WabhAGF, Bd. 2 0 ) , Köln-Opladen 1961, S. 6 3 ; zum Promotionsrecht vgl. oben
S 3, I I , bei A n m . 5 6 .
774 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

deutscher Universitäten nicht hinwegtäuschen darf. Preußen übernahm


gleichwohl und trotz des gerade in diesem Feld starken Förderativprinzips
in vielen Bereichen die Führung auf dem Gebiet der Wissenschafts- und
Bildungspolitik, nicht nur durch Universitäten und Akademie, sondern zum
Beispiel dadurch, daß sich andere deutsche Staaten an preußischen Instituten
beteiligten (zum Beispiel am Geodätischen Institut in Potsdam) oder daß
vom preußischen Staat finanzierte Forschungsstellen dann vom Reich ge-
fördert beziehungsweise übernommen wurden, wie es bei dem — ursprüng-
lich privat begründeten - Archäologischen Institut der Fall gewesen ist. 2 3
Das je zur Hälfte vom Reich und von Preußen finanzierte „Seminar für
Orientalische Sprachen bei der Königlichen Friedrich-Wilhelm-Universität
zu Berlin", 2 4 im Jahre 1887 durch Althoff auf Wunsch Bismarcks aus
Gründen der diplomatischen (und kolonialpolitischen!) Praxis begründet,
stand, der Kultusverfassung im Reich entsprechend, unter der preußischen
Wissenschafts- und Bildungsverwaltung, aber zugleich auch unter dem
Auswärtigen Amt, das auch das Archäologische Institut betreute, bezeich-
nend zugleich für das Ausgreifen des Reichs auf den Kultussektor und für
die Funktion preußischer Einrichtungen in diesem Prozeß.
Einer „Verpreußung" der Wissenschafts- und Bildungslandschaft hatte
die Verfassung des Reiches ebenso einen unüberwindlichen D a m m ent-
gegengestellt wie eine Verreichlichung der preußischen Schul- und Uni-
versitätsstrukturen ausgeschlossen war. Die Entwicklungstendenz scheint,
über eine anfängliche und lang anhaltende Kompetenzanreicherung der
preußischen Kultusverwaltung um Reichsmaterien hin zu einer stillen
Übernahme von Aufgaben des Wissenschafts- und Bildungswesens durch
das Reich verlaufen zu sein, und dies schon am Ende des
19. Jahrhunderts, wie auch die angeführten Beispiele zeigen. Das preu-
ßische Muster war nicht in allem - bei der Gewährung des vollen
Studienrechts für Frauen hinkte Preußen nach! —, aber doch in vielem
auf dem Feld des Bildungswesens maßgebend; 2 5 seit der Reichsgründung

23 G. SCHREIBER, Deutsche Wissenschaft... (1954) [s. o. Anm. 16], S. 24, 2 7 f f . , (auch


zum preußischen Historischen Institut in R o m ) , S. 60, m. Lit.; T. SCHIEDER, Das
Deutsche Kaiserreich... (1961) [s.o. Anm. 22], S. 6 3 f . ; Volker Michael STROCKA/
Hans Georg KOLBE, 150 Jahre Deutsches Archäologisches Institut, in: Willmuth
Arenhövel (Hg.), Berlin und die Antike. Architektur, Kunstgewerbe, Malerei,
Skulptur, Theater und Wissenschaft vom 16. Jahrhundert bis heute. Katalog,
Berlin 1979, S. 4 1 9 - 4 2 9 , hier S. 4 2 0 f., 425.
24 Kurt FORSTREUTER, Das Seminar für orientalische Sprachen in Berlin 1887 —
1936 (1945), in: Ders., Wirkungen des Preußenlandes. Vierzig Beiträge ( = StGPr,
Bd. 33), Köln-Berlin 1981, S. 1 9 4 - 2 0 6 , bes. S. 194 f.; Bernhard vom BROCKE, Der
deutsch-amerikanische Professorenaustausch. Preußische Wissenschaftspolitik,
internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen aus-
wärtigen Kulturpolitik vor dem 1. Weltkrieg, in: ZKulta, 31. Jg. (1981), S. 128 —
182, hier S. 130.
25 Vgl. z. B. o. § 3, III, bei Anm. 39; Helga ROMBERG, Staat und Höhere Schule.
Ein Beitrag zur deutschen Bildungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts
bis zum Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung Preußens
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 775

existierte die insbesondere auf dem Gebiet des Berechtigungswesens tätige


Re/c/7sschulkommission, und seit der Jahrhundertwende fanden deutsche
Universitätskonferenzen statt. Der vom preußischen Kultusministerium
unter Friedrich Althoff betriebene deutsch-amerikanische Professorenau-
stausch vor dem Weltkrieg, in letzter Zeit von der Forschung stark
beachtet, darf als ein Beispiel für Preußens Anteil an der deutschen
Kulturaußenpolitik betrachtet werden, und dazu zählten auch dem preu-
ßischen Kultusministerium unterstellte Lehrstätten in Shanghai! 2 6
Aber wie die Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts und
die der verschiedenen auch mit Forschungsaufgaben betrauten Reichsämter
zeigen oder auch die Stellung der „Reichsuniversität" in Straßburg lehrt,
war die Richtung auf eine Verreichlichung einzelner kulturpolitischer Ak-
tionsfelder schon um 1900 unübersehbar, und dazu gehörten auch zum
Beispiel die Deutsch-Chinesische Hochschule in Tsingtau bzw. das Aus-
landsschulwesen, das dem Auswärtigen Amt unterstand. 2 7 Bildung und
Wissenschaft hatten endgültig den preußischen Wirkungsraum von Politik
zu sprengen begonnen.

2. Wissenschaft und Politik bis zum Ende der Monarchie

In einem vielzitierten Ausspruch hat der Berliner Physiologe Emil du Bois-


Reymond im Jahre 1870 die Berliner Universität als „das geistige Leibre-
giment des Hauses Hohenzollern" charakterisiert. 2 8 Doch zeigte schon die

( = StDokdBg, Bd. 11), Weinheim-Basel 1979, S. 278, 503; zum Gesamtkomplex


Karl GRIEWANK, Staat und Wissenschaft im Deutschen Reich. Zur Geschichte
und Organisation der Wissenschaftspflege in Deutschland ( = SchrdP, H. 17/18),
Freiburg 1927, S. 29 - 34; zur Reichsschulkommission auch Manfred MESSER-
SCHMIDT, Militär und Schule in der wilhelminischen Zeit, in: M G M , Bd. 23
(1978), S. 5 1 - 7 6 , hier S. 67, S. 72.
26 B. vom BROCKE, Der deutsch-amerikanische Professorenaustausch... (1981) [s.o.
Anm. 24], S. 1 2 8 - 1 3 2 , 134ff., 160f., 167ff., und passim; Rüdiger vom BRUCH,
Weltpolitik als Kulturmission. Auswärtige Kulturpolitik und Bildungsbürgertum
in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges ( = QFGG, N. F., Bd. 4),
Paderborn 1982, S. 33, und insges. S. 2 6 - 4 0 .
27 Reichsämter: W. RUSKE, Außeruniversitäre technisch-naturwissenschaftliche For-
schungsanstalten... (1979) [s. o. Anm. 16], S. 2 4 9 - 2 5 8 ; K. GRIEWANK, Staat und
Wissenschaft... (1927) [s.o. Anm. 25], S. 2 0 - 2 6 , vgl. S. 13 f.; Kurt DÜWELL,
Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918 —1932. Grundlinien und Dokumente,
Köln-Wien 1976, zur Zeit vor 1914, S. 7 f., 59 ff.; dazu auch Ders., Probleme des
deutschen Auslandsschulwesens in der Weimarer Republik, in: GWU, 26. Jg.
(1975), S. 1 4 2 - 1 5 4 , hier S. 142 ff.
28 M. LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910)
[57], Bd. 2, 2. Hälfte, S. 353; Emil du BOIS-REYMOND, Der deutsche Krieg. In der
Aula der Berliner Universität am 3. August 1870 gehaltene Rektoratsrede, in:
Ders., Reden in zwei Bänden, Bd. 1, Leipzig 2 1912, S. 393 - 420, Zitat: S. 418;
zum Kontext: Peter W. RUFF, Emil du Bois-Reymond ( = B h N T M , Bd. 54), Leipzig
1981, S. 85.
776 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Berufung von Kathedersozialisten nach Berlin seit Adolf Wagner (1870) und
verstärkt unter Althoff, daß die Kultusverwaltung durchaus eine Richtung
nicht nur duldete, sondern förderte, die gewiß in strikter Frontstellung
gegen Sozialrevolutionäre Strömungen zugleich gegen den Manchesterlibe-
ralismus im Bewußtsein sozialpolitischer Aufgaben anging (wobei auch in
dieser Hinsicht die politische Trendwende der späten 1870er Jahre zu
bedenken ist!). 29 Wenn unter dem „System Althoff" trotz des intensiven
bürokratischen Zugriffs einer Leistungsstrukturen auch materiell vorhalten-
den Kultusverwaltung die Forschungsfreiheit gewahrt wurde — und im
Interesse der Resultate gewahrt werden mußte —, so fand dies Ausdruck
in einer unkonventionellen, auch kritische, politische Köpfe durchaus för-
dernden Berufungspolitik im Preußen des Kaiserreiches; die Namen von
Hans Delbrück, Friedrich Meinecke und Ernst Troeltsch — und (vor 1870:)
Theodor Mommsen und Rudolf Virchow — seien dafür als Beispiele
genannt, wobei der Gesamttrend sicherlich vom liberal-freisinnigen Op-
positionsprofessor zu dem des integrierten Nationalliberalen ging 30 — der
linksliberale Soziologe Tönnies, der sich in den 1890er Jahren politisch
engagiert hatte, wurde allerdings von Althoff nicht gefördert und blieb in
Kiel. Althoff war allerdings bei allen Bestrebungen zur Deckung hinsichtlich
der Kathedersozialisten dagegen, daß Sozialdemokraten eine beamtete Uni-
versitätskarriere offenstand. In dem spektakulären Fall des sozialdemokra-
tischen Privatdozenten der Physik Leo Arons hat er aber, wenn auch
vergeblich, die Disziplinarmaßnahmen durch Verschleppen zu mildern ge-
sucht.31 Erst nachdem das als Lex Arons bekannte „Gesetz, betreffend die

29 H. WINKEL, Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert... (1977) [s.o.


Anm. 10], S. 161 - 1 7 0 ; vorzüglich: R . v. BRUCH, Wissenschaft, Politik und öf-
fentliche Meinung... (1980) [s.o. Anm. 10], S. 157ff., 2 6 7 f f . , bes. S. 2 9 4 - 3 6 3 ,
u. ö., mit breiter Lit.! S. 3 2 2 gegen das Werk Fritz K. RINGER, Die Gelehrten.
Der Niedergang der deutschen Mandarine 1 8 9 0 - 1 9 3 3 [engl. 1969], Stuttgart
1983; vgl. auch Hans ROSENBERG, Große Depression und Bismarckzeit.
Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Frankfurt/M.-Berlin-
Wien 2 1976, S. 65 ff., 77, 135.
30 T h o m a s NIPPERDEY, Preußen und die Universität, in: Karl-Dietrich Erdmann
u. a., Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte. Vorlesungen, Stuttgart
1982, S. 65 — 85, hier S. 81 ff.; und Ders., War die wilhelminische Gesellschaft
eine Untertanen-Gesellschaft?, in: Klaus Hildebrand/Rainer Pommerin (Hg.),
Deutsche Frage und europäisches Gleichgewicht. Festschrift für Andreas Hill-
gruber zum 60. Geburtstag, Köln-Wien 1985, S. 67 — 82, S. 80; aus der reichen
Lit. z . B . R . vom BRUCH, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung... (1980)
[s.o. Anm. 95], S. 3 3 0 f . , S. 4 3 2 - 4 3 5 , bes. zu Delbrück; Tönnies: S. 408
(Anm. 95); F. K. RINGER, Die Gelehrten... (1983) [s.o. Anm. 29], S. 153ff.; Georg
KOTOWSKI, Friedrich Meinecke als Kritiker der Bismarckschen Reichsverfassung,
in: Richard Dietrich/Gerhard Oestreich (Hg.), Forschungen zu Staat und Verfas-
sung. Festgabe für Fritz Härtung, Berlin 1958, S. 1 4 5 - 1 6 2 , bes. S. 146, 150 ff.,
154 ff.
31 B. vom BROCKE, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deut-
schen Kaiserreich... (1980) [s.o. Anm. 3], S. 86, 95 — 99; Dieter FRICKE, Z u r
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 777

Disziplinarverhältnisse der Privatdozenten" vom 17. Juni 1898 3 2 unter an-


derem die Entziehung der Eigenschaft als Privatdozent näher geregelt hatte,
wurde entsprechend in dem speziellen Fall verfahren. Bemerkenswert ist
allerdings, daß gerade dieses Gesetz für die Gruppe der Privatdozenten,
deren quantitative Expansion im 19. Jahrhundert im besonderen Maße die
großbetriebsähnliche Wissenschaftsentwicklung widerspiegelt, 33 also für
den habilitierten Wissenschaftsnachwuchs, fürderhin Schutz gegen willkür-
liches Verfahren aus den Fakultäten bot und insofern trotz des stärkeren
Staatszugriffs und des Gebrauchs in einem zweifelhaften Einzelfall für die
Zukunft die Rechtsbasis der Privatdozenten durchaus verbesserte. Ebenfalls
ist festzuhalten, daß dieses Gesetz nach dem Fall Arons nicht wieder gegen
einen zu Removierenden eingesetzt worden ist. Insofern ist Rüdiger vom
Bruch zuzustimmen, wenn er im Fall Arons nicht den „Ausgangspunkt
einer weitergehenden, ursprünglich geplanten Repressionspolitik, vielmehr
in gewisser Weise deren Abschluß" sehen will. 34 Allerdings war einige Jahre
später dem Sozialdemokraten und Soziologen Robert Michels die Habili-
tation an einer preußischen Universität überhaupt unmöglich, während
Gustav Schmoller den der Regierung durch seine politische Publizistik in
den 1890er Jahren mißliebig gewordenen Nationalökonomen Jastrow zu
decken vermochte. Katholiken wurden von dem Protestanten Althoff hin-
gegen durchaus befördert. 35
Schmoller und die ganze Philosophische Fakultät der Berliner Universität
hatten im Falle Arons — bei politisch großer Bandbreite von Mommsen
bis Treitschke — ein erstaunliches Maß von Widerstand gegen das Verfahren
des Staatsministeriums an den Tag gelegt. Ebenso gehört zu einem voll-

Militarisierung des deutschen Geisteslebens im wilhelminischen Kaiserreich. Der


F a l l L e o A r o n s , i n : Z f G , 8 . J g . ( 1 9 6 0 ) , S. 1 0 6 9 - 1 1 0 7 , b e s . S. 1083-1093,1099-
1103; Nobert ANDERNACH, Der Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen in
Preußen 1 8 4 8 - 1 9 1 8 ( = StWGesB, Bd. 4) Göttingen 1972, S. 1 1 9 - 1 2 4 ; E. R.
HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 1 9 6 9 ) [ 3 1 ] , B d . 4 , S. 9 5 2 - 9 5 7 ; B d . 6 ,
S. 989. Jetzt nach Stefan L. WOLFF, Der Fall des Physikers Leo, in: T. BUDDENSIEG/
K . D Ü W E L L / K . - J . SEMBACH ( H g . ) , W i s s e n s c h a f t e n i n B e r l i n . . . (1987) [77], Bd. 3,
S. 7 7 - 8 0 .
32 GS 1898, S. 1 2 5 - 1 2 7 (Nr. 10005), bes. S. 125 f., SS 1 - 3 , § 5 , § 8.
33 Näheres: Alexander BUSCH, Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologi-
sche Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten
( = GöAbhSoz, Bd. 5), Stuttgart 1959, passim, bes. S. 6, 6 6 - 7 6 , 83, (zur „Nicht-
ordinarienbewegung" in Preußen um 1910: S. 1 0 9 - 1 1 3 ) ; N . ANDERNACH, Der
Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen in Preußen... (1972) [s. o. Anm. 32],
S. 121 f., 1 4 2 - 1 4 5 .
34 R. vom BRUCH, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung... (1980) [s.o.
Anm. 10], S. 333, zum ganzen S. 333 ff., zu Jastrow S. 340, zum Fall Michels ζ. B.
E. R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 1 9 6 9 ) [ 3 1 ] , B d . 4 , S. 9 5 7 f .
35 Ζ . B. Karl BACHEM, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zen-
trumspartei. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Katholischen Bewegung,
sowie zur allgemeinen Geschichte des neueren und neuesten Deutschland 1815 —
1914, Bd. 4, Köln 1928, S. 7 4 f.
778 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 2 0 . Jahrhundert

ständigen Bild, sowohl auf den von Heinrich von Treitschke durch eine
Artikelserie in den Preußischen Jahrbüchern 1879/80 3 6 ausgelösten Antise-
mitismusstreit hinzuweisen, als auch auf den Widerspruch, auf den
Treitschke unter seinen Kollegen stieß. Nicht nur ein Theodor Mommsen,
dieser freilich besonders spektakulär, ist dem publizistischen und dem
einsetzenden universitären Antisemitismus entgegengetreten; gegen
Treitschke wandten sich öffentlich unter anderem Droysen, Sybel, Virchow,
Gneist und Wattenbach. 37 Gleichwohl deuten die Indizien auf eine Zunahme
antisemitischer Strömungen auch an preußischen Universitäten hin, wiewohl
dieses Phänomen weder auf Preußen noch auf Deutschland um 1900 in
seiner räumlichen Ausdehnung beschränkt blieb. Wenn auch neben den
österreichischen Universitäten eher das sächsische Leipzig als Hochburg des
universitären Antisemitismus galt, so sind auch an preußischen Universi-
täten seit den 1880er Jahren studentische Vereinigungen mit entsprechender
Färbung begründet worden; in Göttingen protestierten allerdings Studenten
gegen den Antisemitismus, und es sind auch in Preußen philosemitische
Studentenvereine zeitweise aufgetreten, die allerdings gegen die im „Kyff-
häuserverband" zusammengeschlossenen Verbände nichts Vergleichbares
aufgebracht zu haben scheinen, doch sind weitere Forschungen auf diesem
Gebiet wie auch solche zur politischen Wirkungsgeschichte der Studenten-
verbindungen erwünscht, zumal für die Jahre expandierender Studenten-
zahlen. Auch in den Burschenschaften nahm offenbar die antisemitische
und nationalistische Tendenz zu.
„Politisch ging es abwärts, geistig wieder aufwärts", so hat Friedrich
Meinecke die Lage im Preußen-Deutschland der 1890er Jahre zu fassen
gesucht, 38 und dieser Satz gilt auch für die wissenschafts- und bildungsge-
schichtliche Entwicklung dieser Zeit insofern, als bei allen bedenklichen
und irrigen politischen Tendenzen etwa an den Universitäten, für die von
einer partiellen Politisierung gesprochen werden kann, doch die Gesamt-

36 Wieder in: Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Kämpfe. Neue Folge. Schriften
zur Tagespolitik, Leipzig 1896, der auslösende erste Aufsatz v o m November
1879: S. 1 - 28, hier S. 21 ff., sodann S. 2 9 - 125, 133 ff., 136 ff.
37 T h e o d o r MOMMSEN, Auch ein W o r t über unser Judentum [1880], in: Ders.,
Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 4 1 0 - 4 2 6 , bes. S. 4 1 3 f., 4 1 8 - 4 2 2 . Walther
BÖHLICH (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, F r a n k f u r t / M . 1965, S. 5 - 2 3 5
die zeitgenöss. Kontroverstexte, S. 2 3 7 — 2 6 3 das N a c h w o r t bes. S. 2 4 5 f., 2 6 2 ; A.
BUSCH, Die Geschichte des Privatdozenten... (1959) [s. o. A n m . 33], S. 156. T r o t z
schwacher Materialbasis: H a n s Peter BLEUEL, Deutschlands Bekenner. Profes-
soren zwischen Kaiserreich und Diktatur, Bern-München-Wien 1968, S. 3 4 ff.;
F . K . RINGER, Die Gelehrten... (1983) [ s . o . A n m . 2 9 ] , S. 126 f.; gegen Ringer:
Kenneth D. BARKIN, Fritz K. Ringer's T h e Decline of the Mandarines, in: J M H ,
Bd. 43 (1971), S. 2 7 6 — 2 8 6 , hier S. 281 auch zum akademischen Antisemitismus
im außerdeutschen Ausland; Studenten: K. H . JARAUSCH, Deutsche Studenten...
(1984) [50], S. 8 5 - 9 0 , 103; Friedrich ScHULZE/Paul SSYMANK, Das deutsche
Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, M ü n c h e n 4 1 9 3 2 ,
S. 3 4 2 - 3 5 1 .
38 Friedrich MEINECKE, Erlebtes 1 8 6 2 - 1 9 0 1 , Leipzig 1941, S. 167.
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 779

bilanz von zeitgenössischen ausländischen Beobachtern vielfach positiv ge-


zogen wurde. Das preußische Schulwesen galt nun 1900 selbst in den USA
als vorbildlich, 3 9 englische und amerikanische Studenten studierten in nicht
unbeträchtlicher Zahl unter anderem in Berlin. In England wurden Pläne
zur Gründung eines eigenen „Charlottenburg" diskutiert, und es ist gerade
von amerikanischer Seite darauf aufmerksam gemacht worden, daß über-
haupt die deutschen Universitäten vor 1914 in der westlichen Welt als
Vorbilder betrachtet worden seien. 4 0 Verbunden mit der politischen In-
dienstnahme und staatlichen Kontrolle von Bildung und Wissenschaft war
vor dem Ersten Weltkrieg eine Phase ihrer singulären Blüte.
Waren vor 1914 die preußischen Universitäten durchaus Orte politischer
Auseinandersetzungen, hatten auch Professoren preußischer Hochschulen
an organisierten politischen Kampagnen zum Beispiel für die Flottenpolitik
teilgehabt, so verstärkte sich dieses Engagement naturgemäß im Kriege,
wiederum weder eine speziell preußische noch eine allein deutsche Erschei-
nung. Mit Klaus Schwabe kann unter den Wissenschaftlern zwischen „An-
nexionisten" als Mehrheitsgruppe und „Gemäßigten" unterschieden werden,
wobei letztere auch an preußischen Universitäten Benachteiligungen zu
erleiden hatten. 4 1 Eine Zuordnung nach wissenschaftlichen Schulen ist dabei
im übrigen nicht möglich.
Die staatliche Indienststellung von Wissenschaft, Universität und Schule
erreichte in den Jahren 1914 bis 1918 einen vorläufigen Höhepunkt. Getra-
gen von der auch die Hochschulen erfassenden Kriegsbegeisterung des
Kriegsbeginns, befand sich mehr als die Hälfte der Studenten im militäri-
schen Einsatz, und, wie das Marburger Beispiel zeigt, waren unter ihnen
die Verluste besonders hoch. 4 2 Bekannt ist diè Arbeit einiger Kaiser-Wil-

39 Jürgen HERBST, Professionalization in Public E d u c a t i o n , 1 8 9 0 — 1920: T h e A m e -


rican High School Teacher, in: Werner C o n z e / J ü r g e n K o c k a (Hg.), Bildungsbür-
gertum im 19. J a h r h u n d e r t , T. 1 (Bildungssystem und Professionalisierung in
internationalen Vergleichen) ( = IndW, Bd. 38), Stuttgart 1985, S. 4 9 5 - 5 2 8 , hier
S. 4 9 7 .
40 K. D. BARKIN, Fritz K. Ringer's T h e Decline of the M a n d a r i n e s . . . (1971) [ s . o .
A n m . 37], S. 2 8 1 f.; M a n f r e d SPÄTH, Die Technische H o c h s c h u l e Berlin-Charlot-
tenburg und die internationale Diskussion des technischen Hochschulwesens
1 9 0 0 - 1 9 1 4 , in: R . R ü r u p (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft... (1979) [58],
Bd. 1, S. 193 f., und zur Kritik S. 194 ff.
41 Vor 1914: R . v o m BRUCH, Wissenschaft, Politik und öffentliche M e i n u n g . . . (1980)
[ s . o . A n m . 10], S. 6 6 - 9 1 , 1 9 1 4 f f . : Klaus SCHWABE, Wissenschaft und Kriegs-
moral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des
Ersten Weltkrieges, G ö t t i n g e n - Z ü r i c h - F r a n k f u r t / M . 1969, passim, bes. S. 9, 21 —
45, 179, 181 f., 186; Ders., Z u r politischen Haltung der deutschen Professoren
im Ersten Weltkrieg, in: H Z , Bd. 193 (1961), S. 6 0 1 - 6 3 4 , bes. S. 6 0 3 - 6 0 6 , 6 3 0 ff.
42 Insbes. K o n r a d H . JARAUSCH, G e r m a n Students in the First World W a r , in: C E H ,
B d . 1 7 ( 1 9 8 4 ) , S. 3 1 0 - 3 2 9 , b e s . S. 3 1 5 - 3 1 8 ; D e r s . , D e u t s c h e S t u d e n t e n . . . (1984)
[50], S. 1 0 6 - 1 1 1 , 113; Studentenzahlen: Gerd HOHORST/Jürgen K o c K A / G e r h a r d
A. RITTER, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kai-
serreichs 1 8 7 0 - 1 9 1 4 ( = SGArbb, Bd. 2), M ü n c h e n 1975, S. 163; Κ W G : L. BUR-
780 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert

helm-Institute im Dienste der Militärtechnik, so des Instituts für Physika-


lische Chemie zur Kampfstoffentwicklung. Fritz Haber und auch zum
Beispiel O t t o H a h n arbeiteten theoretisch und praktisch an dem zweifel-
haften Konzept einer Kriegsverkürzung durch Giftgas.
Auch die Schule 4 3 wurde wie selbstverständlich in den Dienst von Kriegs-
ertüchtigung, Kriegserziehung und Kriegswirtschaft gestellt, wenngleich das
Ausmaß der Indienstnahme — in der Literatur nicht einheitlich beurteilt -
noch einer (komparatistisch abgestützten) intensiveren Erhellung bedarf.
Ein Historiker v o m Range Otte Hintzes, v o m preußischen Kultusministe-
rium 1915 zu gutachtlicher Stellungnahme über eventuelle Lehrplanverän-
derungen an Schulen aufgefordert, verlangte aber mitten im Krieg einen
universalgeschichtlich ausgerichteten Geschichtsunterricht an den Schulen
Preußens, da, wie er schrieb, „eine isolierte nationalgeschichtliche Behand-
lung des historischen Stoffes... die Gefahr falscher Vorstellungen und M a ß -
stäbe und eines engen Horizontes in sich" berge!

CHARDT, Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland... (1975) [s.o.


Anm. 18], S. 100; A. HERMANN, Die neue Physik... (1979) [s.o. Anm. 15], S. 47;
F. SCHMIDT-OTT, Erlebtes und Erstrebtes... (1952) [s.o. Anm. 4], S. 124.
43 Vgl. den instruktiven Katalog der vom preußischen Kultusministerium geförder-
ten Ausstellung: Schule und Krieg. Sonderausstellung im Zentralinstitut für
Erziehung und Unterricht Berlin..., Berlin 1915, bes. S. 5 - 7 , 19 ff., 4 8 - 5 2 , 5 3 -
58; Harald REISSIG, Die Lehrerseminare in Preußen im Ersten Weltkrieg. Eine
sozialgeschichtliche Untersuchung der Organisationsstruktur und Erziehungs-
wirklichkeit der staatlichen preußischen Lehrerbildungsanstalten mit einem Aus-
blick auf das Ende der seminaristischen Lehrerbildung in der Weimarer Republik,
Phil. Diss. FU Berlin 1986 [MS], S. 138 ff., 144, 1 4 7 - 1 5 5 , 164 ff., 2 5 1 - 2 7 1 u. ö.;
M. KRAUL, Das deutsche Gymnasium 1 7 8 0 - 1 9 8 0 . . . (1984) [34], S. 125f.; aber
H. E. BRUNKHORST, Die Einbeziehung der preußischen Schule... (1956) [26], S. 88,
90, hier auch das Zitat aus Hintzes Gutachten (zur Identifizierung die Hof- und
Staats-Handbücher 1913 ff.); jetzt noch die kurzen Mitteilungen bei Gerhard
SCHNEIDER, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht am Ende des Kaiser-
reiches (vorwiegend in Preußen), in: Paul Leidiger (Hg.), Geschichtsunterricht
und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des
Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen, Stuttgart
1988, S. 5 4 - 6 7 , bes. S. 61 ff.
§ 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung 781

§ 4 Bildung und Wissenschaft in Preußen


von der Novemberrevolution
bis zur Gleichschaltung
I. Der Umbruch 1918/19

Mit der Novemberrevolution und der militärischen Niederlage des Deut-


schen Reiches war für das Bildungs- und Wissenschaftswesen Preußens ein
Einschnitt verbunden, und zwar sowohl hinsichtlich des Finanzpotentials,
der Bildungsstrukturen als auch in mentaler Hinsicht, waren doch etwa
Wissenschaftler und höhere Lehrer zumeist in der politischen und sozialen
Welt des Kaiserreiches tief verwurzelt.
Nachdem der Sozialdemokrat Konrad Haenisch und der der USPD an-
gehörende Adolf Hoffmann am 12. November 1918 das bald darauf in
„Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung" umbenannte Kul-
tusministerium unter Beibehaltung der bisherigen Beamtenstäbe übernom-
men hatten, 1 erfolgten erste Maßnahmen, wobei nunmehr, wie Hoffmann
formulierte, die Schule als das Instrument „für die Erhaltung und Festigung
des durch die Revolution geschaffenen neuen Staates" zu wirken hatte. 2
Mit Ministerialerlaß vom 15. November 1918 wurde nicht allein, wie es
hieß, „Volksverhetzung" im Geschichtsunterricht verboten und eine Säu-
berung von Schulbibliotheken befohlen, wobei kriegsverherrlichende Lite-
ratur ausgesondert werden sollte, sondern Schulleiter und Lehrer wurden
zugleich angewiesen, alles zu unterlassen, was ein Engagement der Schüler
für eine „Gegenrevolution" hätte befördern können. „In keinem Unter-
richtsfache sind seitens der Lehrkräfte abfällige oder entstellende Bemer-
kungen über die Ursachen und Folgen der Revolution sowie der gegenwär-
tigen Regierung [!] zu äußern, welche geeignet sind, bei der Schuljugend
das Ansehen und die Errungenschaften der Volksbefreiung herabzuwürdi-
gen", hieß es in diesem Erlaß, 3 der an den Schulen und besonders unter

1 Wolfgang W. WITTWER, Die sozialdemokratische Schulpolitik in der Weimarer


Republik. Ein Beitrag zur politischen Schulgeschichte im Reich und in Preußen
( = HPädSt, Bd. 12), Berlin 1980, S. 25 ff., 7 7 f . , 2 9 3 - 2 9 8 , auch zur Provinzebene;
Hermann GIESECKE, Z u r Schulpolitik der Sozialdemokraten in Preußen und im
Reich 1 9 1 8 / 1 9 [1965], in: O t t o Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne
Preußische Geschichte 1 6 4 8 - 1 9 4 7 . Eine Anthologie ( = VHKzB, Bd. 52), Berlin-
New York 1981, Bd. 3, S. 1 4 5 8 - 1 4 7 6 , hier S. 1 4 5 9 - 1 4 6 3 ; aus der DDR: Gerd
HOHENDORF, Die Schulpolitik der deutschen Arbeiterklasse in der November-
revolution 1918, in: Päd, 13. Jg. (1958), S. 7 7 6 - 8 0 6 , hier S. 787 ff.
2 Horst DIERE, Rechtssozialdemokratische Schulpolitik im Dienste des deutschen
Imperialismus. Der Geschichtsunterricht an den höheren Schulen Preußens zwi-
schen 1918 und 1923 im Zeichen des Klassenverrats der rechten SPD-Führung,
Berlin 1964, S. 21 Anm. 34.
3 ZB1UV, 1918, Nr. 227, S. 708 f.; vgl. z. B. E. R . HUBER, Deutsche Verfassungs-
782 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung

den Philologen auf erheblichen Widerspruch stieß. In Aufrufen vom 27.


November 1918 an Lehrkräfte höherer Lehranstalten Preußens wurde diesen
bei Gewährung außerdienstlicher Meinungsfreiheit nähere Weisungen für
das Verhalten im Unterricht erteilt, die Schüler hatten künftig die „völlige
Freiheit zur Bildung unpolitischer Vereine" sowie zur Schaffung von Gre-
mien der Schülermitberatung.
In besonderem Maße führten diejenigen Schritte der Revolutionsregierung
zu Widerstand und Protest, die die geistliche Schulaufsicht endgültig eli-
minieren sollten, entsprechend der sozialdemokratischen Programmatik
einer vollständigen Hinausdrängung der Kirche aus dem Schulbereich und
der völligen Staatlichkeit der Schule - was auch gegen Privatschulen zielte.
Hatten schon Adolf Hoffmanns Äußerungen vor der Revolution in katho-
lischen Kreisen die „Furcht vor einem neuen Kulturkampf" (Grünthal)
ausgelöst, so schien der von Haenisch gekennzeichnete Erlaß vom
29. November (Aufhebung von Schulgebet und obligatem Religionsunter-
richt) dem ebenso zu entsprechen wie die zwei Tage ältere Verfügung
Hoffmanns über die sofortige Aufhebung der geistlichen Orisschulaufsicht,
Maßnahmen, die aber auch durchaus bürgerlich-liberalen Forderungen ent-
sprachen.4 Dagegen richtete sich eine Protest- und Boykottbewegung, ge-
tragen nicht nur vom katholischen Episkopat und Klerus, sondern auch
von Landräten und Kommunalbehörden. Nach dem Ausscheiden der USPD
wurde der Schulaufsichtserlaß für die Orte, an denen er noch nicht ausge-
führt worden war, suspendiert,5 wohl primär deshalb, weil die preußische
Schulpolitik vom November 1918 den Separatismus in den katholischen
Provinzen nachhaltig gestärkt hatte. Auch der Erlaß vom 29. November
sollte dort, wo er auf Widerstände stieß, nicht ausgeführt werden.
Allerdings wurde mit dem von der verfassunggebenden Preußischen Lan-
desversammlung verabschiedeten Gesetz vom 18. Juli 1919 endgültig die

geschichte... (1978) [31], Bd. 5, S. 885 f.; H . E. BRONKHORST, Die Einbeziehung


der preußischen Schule... (1956) [26], S. 92; H . DIERE, Rechtssozialdemokratische
Schulpolitik... (1964) [s.o. Anm. 2], S. 2 6 f f . , 35, zum Folgenden S. 4 0 - 43; die
Aufrufe vom 27. Nov. 1918: ZB1UV, 1918, S. 7 1 1 - 7 1 6 .
4 Günther GRÜNTHAL, Reichsschulgesetz und Zentrumspartei in der Weimarer
Republik ( = B G P a r l , Bd. 39), Düsseldorf 1968, S. 1 7 f . (Zitat), S. 2 0 - 2 7 , der
Erlaß v. 29. Nov. 1918: ZB1UV, 1918, S. 7 1 9 - 7 2 1 (dazu Paul HIRSCH, Der Weg
der Sozialdemokratie zur M a c h t in Preußen, Berlin 1929, S. 146 f.),
W. W. WITTWER, Die sozialdemokratische Schulpolitik... (1980) [s.o. Anm. 1],
S. 78 ff., Schulaufsicht: ZB1UV, 1918, S. 7 5 7 f.
5 Die Quellen auch bei Karl-Heinz GÜNTHER U. a. (Hg.), Quellen zur Geschichte
der Erziehung, Berlin 7 1 9 7 5 , S. 4 0 0 f., hier (nach ZB1UV, 1919, S. 362) die Ver-
ordnung vom 15. Febr. 1919; G. GIESE (Hg.), Quellen zur deutschen Schulge-
schichte... (1961) [21], S. 237 ff.; die Einzelheiten bei G. GRÜNTHAL, Reichsschul-
gesetz und Zentrumspartei... (1968) [ s . o . Anm. 4], S. 2 1 — 2 7 ; E. R . HUBER,
Deutsche Verfassungsgeschichte... (1978) [31], Bd. 5, S. 8 8 6 - 8 9 0 ; Hagen
SCHULZE, O t t o Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie,
Frankfurt/M.-Berlin-Wien 2 1977, S. 2 3 4 f.; ZB1UV, 1918, S. 7 2 2 (Erlaß vom
28. XII. 1918).
I. Der U m b r u c h 1 9 1 8 / 1 9 783

Ortsschulinspektion, Bastion der geistlichen Schulaufsicht, aufgehoben, und


durch die Weimarer Verfassungsbestimmung, nach der die Schulaufsicht
nur „durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte ausge-
übt" werden durfte (Artikel 144), war die Wahrnehmung der Kreisinspek-
tion durch Geistliche künftig ausgeschlossen. 6 Überhaupt kann die bil-
dungsgeschichtliche Bilanz der Novemberrevolution für Preußen nicht mehr
gezogen werden, ohne einen kurzen Hinweis auf die Rolle des Reiches,
denn wenn bis 1918 nach der Verfassungslage das Bildungswesen, dem
einsetzenden Reichszugriff zum Trotz, prinzipiell als Ländersache galt, so
hatte das Reich nach der Weimarer Verfassung (Artikel 10) die Grundsatz-
gesetzgebung für „das Schulwesen einschließlich des Hochschulwesens". Im
Reichsinnenministerium wurde eine kulturpolitische Abteilung, gleichsam
ein „Reichsschulamt", zugleich aber für die Wissenschaftspolitik zuständig,
eingerichtet. 7 Es waren preußische Stimmen, der frühere Kultusminister
Schmidt-Ott sowie der amtierende preußische Staatssekretär Becker, die in
den Verfassungsdiskussionen des Jahres 1919 für stärkere Reichskompeten-
zen in der Kultur- und Wissenschaftspolitik eingetreten waren, ohne sich
mit ihren weitergehenden Vorstellungen durchsetzen zu können. 8 Preußen
war es auch, das, nach älteren sozialdemokratischen Vorschlägen, schon
im Dezember 1918 eine (Reichs-) Schulkonferenz angeregt hatte, auf der
sodann im Juni 1920 organisatorische Grundsatzfragen der weiteren Schul-
entwicklung diskutiert werden sollten. 9
Wenn gleichwohl das Gewicht des Reichs in der Schulpolitik zunächst
noch nicht in dem zu erwartenden M a ß e die preußische Bildungsgeschichte
prägte, wenn in den Jahren nach 1918 also noch von einer preußischen
Schul (- und Wissenschafts-) Geschichte gesprochen werden kann, so ist der
Grund dafür in einer nur begrenzten Inanspruchnahme der potentiellen

6 GS 1919, S. 147, (Nr. 1 1 7 9 7 ) ; dazu W . W . WITTWER, Die sozialdemokratische


Schulpolitik... (1980) [s. o. A n m . 1], S. 1 6 2 f f . ; H . GIESECKE, Z u r Schulpolitik der
Sozialdemokraten... (1981) [ s . o . A n m . 1], S. 1 4 6 5 f f .
7 Christoph FÜHR, Z u r Schulpolitik der Weimarer Republik. Die Z u s a m m e n a r b e i t
von Reich und Ländern im Reichsschulausschuß (1919 - 1 9 2 3 ) und im Ausschuß
für das Unterrichtswesen (1924 — 1933). Darstellung und Quellen, Weinheim
2 1 9 7 2 , S. 11, 19, 3 7 - 4 0 , 1 0 1 - 1 0 6 ; Klaus von der GROEBEN, Reichsinnenmini-
sterium, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hg.),
Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1985, S. 156 - 1 6 8 , hier S. 164;
E. R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1981) [31], Bd. 6, S. 9 3 9 f . , 9 6 2 ,
9 7 6 f.
8 T h o m a s NIPPERDEY/Ludwig SCHMUGGE, 5 0 J a h r e Forschungsförderung in
Deutschland. Ein Abriß der Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft
1920 - 1 9 7 0 , Bonn-Bad Godesberg 1970, S. 13; E n n o EIMERS, Das Verhältnis von
Preußen und Reich in den ersten Jahren der Weimarer Republik (1918 —1923)
( = SchrVG, Bd. 11), Berlin 1969, S. 2 0 3 ; ebda, und S. 4 1 4 auch zu späteren
preußischen Positionen.
9 Offizieller Druck: Die Reichsschulkonferenz 1920. Ihre Vorgeschichte und ihre
Verhandlungen. Amtlicher Bericht, erstattet v o m Reichsministerium des Innern,
Leipzig 1921, zur Vorgeschichte S. 11 — 18.
784 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung

Reichskompetenzen in der kurzen Lebenszeit der Weimarer Demokratie zu


erblicken. Das Reich war befugt zur Grundsatzgesetzgebung und aufgefor-
dert zu einem Reichsschulgesetz und zu einem solchen, in dem die Leh-
rerbildung geregelt werden sollte. Dazu kam es nicht. Lediglich ein „Gesetz
betreffend die Grundschulen und Aufhebung der Vorschulen" wurde
im April 1920 verabschiedet und damit — noch durch die Deutsche Natio-
nalversammlung — auch in die preußische Schulverfassung insofern nach-
haltig eingegriffen, als nunmehr die zum Teil noch privaten Vorschulen, die
Schüler künftiger höherer Lehranstalten abseits von den Volksschulen vor-
gebildet hatten, (endgültig bis 1930) wegfallen sollten, privater Unterricht
aber „nur ausnahmsweise in besonderen Fällen zugelassen werden" durfte
und ansonsten die in der Regel ersten vier Schuljahre von allen Kindern
gemeinsam auf der Grundschule zu absolvieren waren — Niederschlag des
sozialdemokratischen Programms der Einheitsschule.10 Der Anteil auf se-
paraten Vorschulen vorgebildeter Sextaner höherer Lehranstalten, der 1921
42 Prozent betragen hatte, ging bis 1926 auf 4 Prozent zurück.
Wenn es zu weiteren reichsrechtlich-reichseinheitlichen Eingriffen unter
anderem in die preußische Bildungsverfassung nicht kam, so hatte doch das
katholische Zentrum der Verfassung von Weimar mit der Sperrklausel des
Artikel 174 eine weitere, auch für Preußen bedeutsame Bestimmung einge-
fügt, nach der bis zum Zustandekommen des Reichsschulgesetzes es beim
bisherigen Rechtszustand zu bleiben habe. Dies brachte für Preußen in den
meisten Provinzen faktisch die reichsrechtliche Zementierung der zuletzt im
Volksschulunterhaltungsgesetz 1906 bestätigten Konfessionsschule, ein
Schritt, der den revolutionären Zielen im Schulbereich frontal entgegenge-
setzt war. 11
Das Ergebnis der revolutionären und unmittelbar nachrevolutionären
Phase preußischer Schulgeschichte war ein zwiespältiges. Die Sozialdemo-
kratie hatte in der Unterordnung der Schulpolitik unter reichspolitische
Rücksichten und koalitionspolitische Überlegungen (Zentrum!) auf bil-
dungspolitischem Gebiet in besonderem Maße zurückstecken müssen, 12 aber
auf dem Gebiet von Ortsschulaufsicht und Grundschule essentielle Positio-
nen behauptet. Haenischs Verwaltungspraxis jenseits der Strukturentschei-
dungen wird man nach dem gegenwärtigen Forschungsstand als eher be-
hutsam kennzeichnen dürfen; er mußte freilich mit einem starken monar-
chistischen Element an den höheren Schulen Preußens rechnen, das auf die

10 Druck: C. FÜHR, Z u r Schulpolitik der Weimarer Republik... ( 2 1972) [s.o.


Anm. 7], S. 161 f., dazu S. 43 f.; ferner dazu W. W. WITTWER, Die sozialdemokra-
tische Schulpolitik... (1980) [s.o. Anm. 1], S. 2 0 6 f . , 2 0 9 ; die Prozentzahl: P.
LUNDGREEN, Sozialgeschichte der deutschen Schule... (1980) [37], Bd. 2, S. 105.
11 Z . B. G . GRÜNTHAL, Reichsschulgesetz und Zentrumspartei... (1968) [s.o.
Anm. 4], S. 58, 102f.; E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1981)
[31], Bd. 6, S. 945-950; H. GIESECKE, Zur Schulpolitik der Sozialdemokraten...
(1981) [s.o. Anm. 1], S. 1 4 6 9 - 1 4 7 5 .
12 Vorzügliche Analyse: W . W . WITTWER, Die sozialdemokratische Schulpolitik...
(1980) [s.o. Anm. 1], S. 82ff.
II. Universität u. Hochschulreformversuche i. republikan. Preußen 785

Entfernung monarchischer Symbole aus den Schulen mit heftigen Protesten


und zum Beispiel mit Schul-„Streiks" reagierte. 13 Die alten Lehrpläne blieben
zunächst in Kraft, und das Verbot einer Benutzung der bisherigen Ge-
schichtslehrbücher im Jahre 1919 schuf noch nicht die benötigten neuen.
Die Einführung eines staatsbürgerlichen Unterrichts sollte eine dem neuen
Staat konforme Gesinnung ebenso verbreiten helfen, wie dies eine im
republikanischen Sinne geforderte Umgestaltung des Geschichtsunterrichtes
leisten sollte, 14 doch sind noch weitere, die Schulwirklichkeit erfassende
Forschungen auch in diesem Bereich erforderlich.
Generell scheint die Akzeptanz für den republikanischen Staat unter den
preußischen Volksschullehrern entschieden größer gewesen zu sein als zum
Beispiel bei den Philologen. Die materielle Besserstellung der Volksschul-
lehrer im Jahre 1920 diente auch der Loyalitätsfestigung, 15 doch wurde von
sozialdemokratischen Kreisen noch 1920 darüber Klage geführt, daß auch
nach der Revolution auf dem Lande einzelne Gutsherren oder die Bauern
in den örtlichen Schulvorständen mächtige Positionen wahrten.

II. Universität und Hochschulreformversuche


im republikanischen Preußen
An weitreichenden, revolutionären Plänen für die — mit der Kölner Grün-
dung von 1919 - zwölf preußischen Universitäten und vier Technischen
Hochschulen hat es um 1919/20 nicht gefehlt, wenn etwa der sozialdemo-
kratische preußische Minister Lüdemann überhaupt die Universitäten ab-
zubauen wünschte zugunsten eines Fachschulwesens auf mittlerem Niveau,
um so das Akademikermonopol in höheren Positionen zu vernichten und
diese verstärkt aus den unteren Schichten zu besetzen. 16 Wenn solche Po-

13 A. a. O., S. 2 9 9 , 3 0 5 ff., vgl. S. 3 1 6 f.; H . DIERE, Rechtssozialdemokratische Schul-


politik... (1964) [s. o. Anm. 2], S. 8 4 - 9 0 , 212 f. zu den Schulbüchern S. 56, 5 8 -
62; Elke PETERS, Nationalistisch-völkische Bildungspolitik in der Weimarer Re-
publik. Deutschkunde und höhere Schule in Preußen, Weinheim-Basel-Wien 1972,
S. 66, 143 f.
14 Reinhard VENT, Stellungsnahmen der politischen Parteien zur Staatsbürgerkunde
im Preußischen Landtag (1919 — 1932), in: Manfred Heinemann (Hg.), Soziali-
sation und Bildungswesen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1976, S. 231 —
244, hier S. 2 3 6 f . ; H . DIERE, Rechtssozialdemokratische Schulpolitik... (1964)
[s.o. Anm. 2], S. 1 4 2 f . ; H. E. BRONKHORST, Die Einbeziehung der preußischen
Schule... (1956) [26], S. 9 2 f . ; ZB1UV, 1919, S. 6 7 2 f . (Nr. 278).
15 Ernst CLOER, Sozialgeschichtliche Aspekte der Sozialisierung der preußischen
Volksschullehrerschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Manfred
Heinemann (Hg.), Der Lehrer und seine Organisation ( = V H K D G E , Bd. 2),
Stuttgart 1977, S. 7 4 f.; d. Folgende: W . W . WITTWER, Die sozialdemokratische
Schulpolitik... (1980) [s.o. Anm. 1], S. 3 6 6 Anm. 624.
16 Jetzt grundlegend: Dietmar RIMMELE, Die Universitätsreform in Preussen 1918 -
1924. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildungspolitik der Weimarer Zeit
( = GswDiss, Bd. 47), Hamburg 1978, S. 381 f., 385 f., vgl. noch S. 3 1 6 f . , 319,
327 und passim.
786 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung

sitionen auch in der MSPD wohl nicht mehrheitsfähig waren, so waren


doch Forderungen, nach denen künftig an Universitäten auch sozialistische
Standpunkte vertreten werden sollten, weit verbreitet. Immerhin wurde auf
Betreiben von Sozialdemokratie und Gewerkschaften an der Frankfurter
Universität eine „Akademie der Arbeit" begründet, an der der Forderung
nach Betriebsrätekursen und Funktionärsausbildung entsprochen werden
sollte.
An den traditionsreichen Universitäten kam es nicht zu einem Personal-
revirement, das die Vorherrschaft gemäßigter und konservativer Kräfte
gebrochen hätte, zumal schon der Sozialdemokrat Haenisch dem parteilo-
sen, der DDP zuneigenden Staatssekretär (und späteren preußischen Kul-
tusminister) Karl Heinrich Becker 17 freie Hand in Hochschulangelegenheiten
ließ. Becker, selbst wissenschaftlich als Orientalist ausgewiesen, war seit
1916 im preußischen Kultusministerium tätig und verbürgte in den Jahren
1919 bis zu seinem Sturz 1930, in denen er je zweimal als Kultusminister
beziehungsweise als Staatssekretär amtierte, ein hohes Maß von Kontinuität
in der preußischen Universitäts- und Wissenschaftspolitik der Weimarer
Zeit. Seine Reformpläne zielten insbesondere auf die Stärkung universitärer
Selbstverwaltungsrechte und auf eine verbesserte Stellung von Extraordi-
narien und Privatdozenten im Sinne einer „Wiederbelebung der akademi-
schen Genossenschaftsidee". 18 Die Widerstände an den Universitäten wie
auch finanzpolitische Faktoren setzten den praktischen Reformresultaten
allerdings enge Grenzen hinsichtlich der Vereinheitlichung der Professoren-
schaft und der Mitverwaltungsrechte der Nichtordinarien. Zu einem Ausbau
der Hochschulrechte gegenüber der Staatsverwaltung kam es nicht, doch
erhielten die Universitäten durch die Reform des volkswirtschaftlichen
Studiums wie auch durch die Organisation der Studentenschaft als Selbst-
verwaltungskörper19 eine partiell modernisierte Gestalt. Wenn Becker aller-

17 Ebda., S. 98, 102; Erich WENDE, C. H. BECKER. Mensch und Politiker. Ein
biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, Stuttgart
1959, bes. S. 58 ff.; mit Lit.: Heidemarie NOWAK, Über Leben und Nachlaß des
preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker (1876 — 1933), in: JbbLG,
Bd. 33 (1982), S. 118 - 122; programmatisch: C[arl] H[einrich] BECKER, Gedanken
zur Hochschulreform, Leipzig 1919, bes. S. 5 ff., S. 30 ff., S. 66.
18 Kurt DÜWELL, Staat und Wissenschaft in der Weimarer Epoche. Zur Kulturpolitik
des Ministers C. H. Becker, in: Theodor Schieder (Hg.), Beiträge zur Geschichte
der Weimarer Republik ( = HZ, Beih. 1), München 1971, S. 31 - 74, hier S. 43 ff.,
zum Folgenden noch S. 50ff.; D. RIMMELE, Die Universitätsreform in Preussen...
(1971) [s. o. Anm. 16], S. 1 8 0 - 2 6 8 , 3 2 0 - 3 2 7 ; Helmut SCHELSKY, Einsamkeit und
Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen
( = WWW, Bd. 20), Düsseldorf 2 1971, S. 127 ff.
19 Ebda. u. E. WENDE, Carl Heinrich Becker... (1959) [s.o. Anm. 17], S. 112;
Studentenschaft: D. RIMMELE, Die Universitätsreform in Preussen... (1971) [s.o.
Anm. 16], S. 252, 258 — 266, 326; Thomas NIPPERDEY, Die deutsche Studenten-
schaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik [1961], wieder in: Ders.,
Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte
( = KrStGw, Bd. 18), Göttingen 1976, S. 3 9 0 - 4 1 6 , hier S. 391.
II. Universität u. Hochschulreformversuche i. republikan. Preußen 787

dings beabsichtigt hatte, aus der spezialisierten Wissenschaftsuniversität


zurück zu einer die Synthese suchenden „Bildungsuniversität" zu leiten und
dies auch im Sinne einer Betonung des Humboldt verwandten Ideals zweck-
freier Wissenschaft, so war ein Scheitern derartiger Konzepte in der harten
Wirklichkeit des geschlagenen Preußen-Deutschland unausweichlich.20
Die kriegsbedingten Probleme der deutschen Wissenschaft und der deut-
schen Universitäten - internationale Boykottierung, Probleme der Litera-
turbeschaffung, materieller Mangel — trafen auch die preußischen Institute,
und diese Situation hielt nach 1918 noch jahrelang an. Die Inflation hatte
ein weiteres bewirkt, wenn etwa das durch Spenden aufgebrachte Vermögen
der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die ihren Namen trotz entgegengesetzter
Forderungen von Politikern beibehielt, stark reduziert wurde. Dies alles
führte zu einem wachsenden Staatseinfluß auf die Wissenschaften, und das
hieß auch: zu einer wachsenden Macht des Reiches auf diesem Gebiet,
obwohl von der Rahmengesetzgebungskompetenz in Hochschulsachen, wie
sie in der Weimarer Verfassung vorgesehen war, kein Gebrauch gemacht
wurde. Die KWG mit (1929) 30 Instituten nicht nur in Preußen, seit 1921
zu gleichen Teilen von Preußen und dem Reich bei wachsendem Anteil des
letzteren finanziert, hat diese gewachsenen Abhängigkeiten trotz zusätzli-
cher starker privater Förderung schmerzlich erfahren müssen.21 Die 1920
als eingetragener Verein begründete „Notgemeinschaft der Deutschen Wis-
senschaft",22 die nur korporative Mitglieder kannte, wie etwa die Berliner
Akademie, die maßgeblich an der Gründung zusammen mit allen anderen
deutschen Akademien und wissenschaftlichen Hochschulen beteiligt war,
wurde allerdings außer vom Stifterverband nur vom Reich finanziert, nicht

20 H . SCHELSKY, E i n s a m k e i t u n d F r e i h e i t . . . ( 2 1 9 7 1 ) [ s . o . A n m . 1 8 ] , S. 1 2 6 f . , und
wiederum D. RIMMELE, Die Universitätsreform in Preussen... (1971) [s.o.
A n m . 1 6 ] , S. 1 3 8 - 1 4 8 , S. 1 7 1 .
21 Dietrich GERHARD, Adolf v. Harnacks letzte Monate als Präsident der Kaiser-
Wilhelm-Gesellschaft [1970], in: Ders., Gesammelte Aufsätze ( = VMPIG, Bd. 54),
Göttingen 1977, S. 245 - 267, hier S. 246 - 2 5 2 , 2 5 5 , 2 5 7 ff., 262; Wolfgang TREUE,
Forschungsförderung in Deutschland, in: J G M O D , Bd. 28 (1979), S. 5 6 2 f . ; vgl.
noch Karl GRIEWANK, Staat und Wissenschaft im Deutschen Reich. Zur Ge-
schichte und Organisation der Wissenschaftspflege in Deutschland ( = SchrdP,
H. 17/18), Freiburg 1927, S. 6 0 - 6 5 ; K W G und Inflationsfolgen: Peter Christian
WITT, Wissenschaftsfinanzierung zwischen Inflation und Deflation: Die K W G
1918/19 bis 1934/35, in: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.), Forschung
im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der
Kaiser-Wilhelm —/Max-Planck-Gesellschaft. Aus Anlaß ihres 75jährigen Beste-
hens, Stuttgart 1990, S. 5 7 9 - 6 5 6 , bes. S. 600 ff.
22 Kurt ZIEROLD, Forschungsförderung in drei Epochen. Deutsche Forschungsge-
meinschaft. Geschichte — Arbeitsweise — Kommentar, Wiesbaden 1968, S. 4,
S. 11 f., zur Abhängigkeit vom Reichsinnenministerium bes. S. 24 f.; T. NIPPER-
D E Y / L . SCHMUGGE, 5 0 J a h r e F o r s c h u n g s f ö r d e r u n g in D e u t s c h l a n d . . . ( 1 9 7 0 ) [ s . o .
A n m . 8], S. 1 4 - 1 9 , 22, 2 5 ff., 3 0 , 3 9 f.; W . TREUE, Forschungsförderung in
Deutschland... (1979) [s. o. Anm. 21], S. 560; K. DÜWELL, Staat und Wissenschaft
in d e r W e i m a r e r E p o c h e . . . ( 1 9 7 1 ) [ s . o . A n m . 1 8 ] , S. 5 6 - 5 9 .
788 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung

von den Ländern beziehungsweise von Preußen, wird von der unmittelbaren
Anfangsphase abgesehen. Wie die KWG sollte auch diese, nun zur Wissen-
schafts-Förderung bestimmte Institution in Selbstverwaltung geführt wer-
den, doch war in diesem Falle der überstarke Reichseinfluß von Anfang an
von keinem der Beteiligten zu ignorieren. Der im späten 19. Jahrhundert
vorsichtig einsetzende Griff des Reichs auf die Kulturdomäne der Länder
und besonders Preußens wurde nach 1918 nicht schwächer, sondern stärker,
ein Trend, dessen Gefährlichkeit bald evident werden sollte.

III. Schulreform und Lehrerbildung

Hatte das Reich — auch wegen finanzpolitischer Zwänge in den ersten


Weimarer Jahren — von den verfassungsmäßigen Möglichkeiten zur ge-
setzgeberischen Einflußnahme auf das Bildungswesen weit weniger als ur-
sprünglich vorgesehen Gebrauch gemacht und schließlich - endgültig 1924
— diesen Wirkungsbereich grundsätzlich den Ländern überlassen,23 so war
auch die preußische Kultusverwaltung zu selbständigem reformerischen
Vorgehen in der Lage. Preußen hat den Spielraum auf zwei Gebieten des
Schulwesens genutzt, dem der Volksschullehrerbildung und hinsichtlich der
höheren Schulen.
Nachdem schon vor 1914 die Notwendigkeit einer Reform der bisherigen
seminaristischen Volksschullehrerausbildung öffentlich diskutiert worden
war und nach dem Krieg das Überangebot von Seminaristen den Hand-
lungsdruck verstärkt hatte, begann schon 1919 der Abbau der Lehrersemi-
nare, wobei das preußische Staatsministerium am gleichzeitigen Nichtzu-
standekommen einer Reichsregelung mit Teil hatte und schon unter dem
seit 1921 amtierenden Kultusminister Boelitz (DVP) auf eine Lösung der
Lehrerbildungsfrage hinarbeitete, die zwar die Seminarausbildung beseitigte,
nicht aber der von der Volksschullehrerschaft schon 1848 und auch weiter-
hin gewünschten universitären Berufsvorbereitung entsprach. 24 Der in Preu-

23 C. FÜHR, Zur Schulpolitik der Weimarer Republik... ( 2 1971) [s.o. Anm. 7],
S. 52 f., dazu Sebastian F. MÜLLER, Zur Sozialisationsfunktion der höheren
Schule. „Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens" im Jahre 1924/
25, in: M. Heinemann (Hg.), Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer
R e p u b l i k . . . ( 1 9 7 6 ) [ s . o . A n m . 1 4 ] , S. 1 0 5 - 1 1 6 , h i e r S. 1 0 7 .
24 Marika MÖRSCHNER, Entwicklung und Struktur der Lehrerinnenbildung. Studien
zur Situation der Seminare in der Rheinprovinz unter besonderer Berücksichti-
gung der staatlichen Einrichtungen, Rheinstetten 1977, S. 121 f.; jetzt bes. Rita
WEBER, Die Neuordnung der preußischen Volksschullehrerbildung in der Wei-
marer Republik. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Bedeutung der Pädago-
gischen Akademien ( = StDokdBg, Bd. 26), Köln-Wien 1984, S. 56 ff., 163 f., 196 -
248, 315, 317, die die Finanzüberlegungen als nur vorgeschoben betrachtet; zu
Webers Studie, in der die ältere Lit. diskutiert wird, die Rezensionen von Karl-
E r n s t JEISMANN, in: HZ, Bd. 241 (1985), S. 2 2 1 f., und Sören SCHUPPAN, in:
JGMOD, Bd. 34 (1985), S. 2 1 8 - 2 2 0 ; vgl. auch schon E. R. HUBER, Deutsche
III. Schulreform und Lehrerbildung 789

ßen beschrittene Weg der Pädagogischen Akademien erfüllte diese Maxi-


malforderung nicht, denn diese hatten keinen Hochschulcharakter, sondern
können als fachschulartige Institutionen mit entschieden pädagogischer
Praxisorientierung auf erhöhtem Niveau angesehen werden. 25 Quantitative
Bedeutung für die Bildungsrealität Preußens in seiner letzten Phase erlangte
diese Reform nicht mehr, denn der definitiven Einrichtung von Pädagogi-
schen Akademien in den Jahren seit 1926 bis zu einer Höchstzahl von 15 im
Jahre 1930 folgte in der Zeit der Wirtschaftskrise eine Reduzierung auf nur
noch sieben, so daß um 1933 den rund 100.000 Schulstellen nur 3.500
Abgänger aus der neuen Volksschullehrerausbildung gegenüberstanden, von
denen nur ein Teil sogleich eine Anstellung fand. 2 6
Als Novität sah die Reform der Lehrerbildung in Preußen vor, daß die
Volksschullehrer, die zur Zeit der Seminarausbildung ihrerseits aus der
Volksschule zur Berufsausbildung übergingen, künftig das Reifezeugnis einer
höheren Schule aufzuweisen hatten. Diese Vorbildung sollte weder auf dem
altsprachlichen Gymnasium noch auf dem neusprachlichen Realgymnasium
oder der mathematisch-naturwissenschaftlichen Oberrealschule erfolgen,
sondern auf einer neuen Art zum Abitur führender Schulen mit Konzentra-
tion auf das deutsche Kulturgut: der Deutschen Oberschule,27 deren allge-
meine Einführung allerdings gleichfalls durch die Finanzlage Preußens ver-
hindert wurde. Obwohl seit 1921/22 im Kultusministerium die ersten Maß-
nahmen zur Einrichtung dieses Typs höherer Schule eingeleitet wurden —
bestehende Seminare sollten entsprechend umgeformt werden —, gab es
1931/32 in Preußen ganze zwölf grundständige Deutsche Oberschulen, deren
Zahl im ganzen Reich dreißig betrug, denn diese Schulform gab es auch in

Verfassungsgeschichte... (1981) [31], Bd. 6, S. 968! Rainer BÖLLING, Lehrerbil-


dungsreform und Standespolitik, in: M . Heinemann (Hg.), Sozialisation und
Bildungswesen in der Weimarer Republik... (1976) [s.o. Anm. 14], S. 2 6 9 - 2 7 9 ,
hier S. 2 6 9 - 2 7 2 mit anderen Akzenten als Weber; Ders., Volksschullehrer und
Politik. Der Deutsche Lehrerverein 1918 - 1 9 3 3 ( = KrStGw, Bd. 32), Göttingen
1978, S. 180 f.
25 R . WEBER, Die Neuordnung der preußischen Volksschullehrerbildung... (1984)
[s.o. Anm. 24], S. 4 - 7 , 16f., 111, 1 1 4 f . , 120 u. ö., 327, 329; siehe auch schon
E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1981) [31], Bd. 6, S. 971 f.
26 R. WEBER, Die Neuordnung der preußischen Volksschullehrerbildung... (1984)
[s.o. Anm. 24], S. 121, 1 3 6 - 1 4 5 ; W . W . WITTWER, Die sozialdemokratische
Schulpolitik... (1980) [ s . o . Anm. 1], S. 2 3 1 - 2 3 8 .
27 Sebastian F. MÜLLER, Die Höhere Schule Preußens in der Weimarer Republik.
Der Einfluß von Parteien, Verbänden und Verwaltung auf die Schul- und Lehr-
planreform 1 9 1 9 - 1 9 2 5 ( = S t D o k d B G , Bd. 3), Weinheim-Basel 1977, S. 71 f.,
7 9 f., 1 7 0 - 1 7 9 , 186 f.; Bernd ZYMEK, Der verdeckte Strukturwandel im höheren
Knabenschulwesen Preußens zwischen 1920 und 1940, in: ZfPäd, 27. Jg. (1981),
S. 2 7 1 - 2 8 0 , hier S. 271 f.; E. WENDE, Carl Heinrich Becker... (1959) [s.o.
Anm. 17], S. 170ff.; Kritisch E. PETERS, Nationalistisch-völkische Bildungspoli-
tik... (1972) [ s . o . Anm. 13], S. 4 8 f f . , 64; vgl. ZB1UV, 1922, Nr. 142, S. 1 2 3 f .
(Stundentafel); ZB1UV, 1924, Nr. 138, S. 103 f., Nr. 392, S. 287 f. (Stundentafel).
790 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung

einigen anderen deutschen Ländern. 28 Der Widerstand der Universitäten


gegen die neue Schulart ist als eine Erklärung für diese Entwicklung in
Rechnung zu stellen.
Die Reform des höheren Schulwesens in Preußen, nachhaltig von dem
Ministerialrat Hans Richert beeinflußt (sogenannte „Richertsche Reform") 29
und nach der Reformabstinenz der SPD in diesem Bereich im Sinne des
Nationalliberalismus geführt, beschränkte sich allerdings nicht auf die
Schaffung einer neuen Schulform. Sie schloß eine Lehrplanrevision der
höheren Schulen ein, die im Zusammenhang der Entwicklung im Reich
generell die zentrale Stellung deutschkundlicher Fächer betonte und auch
den Einfluß von Fachverbänden und Interessengruppen (Germanistenver-
band, mathematisch-naturwissenschaftliche Organisationen) erkennbar
werden ließ. Die Schule sollte dezidiert im „Dienst des nationalen Wieder-
aufstiegs" (S. F. Müller) stehen;30 die höhere Schule sollte nicht mehr dem
Ideal der „allgemeinen Bildung" folgen, sie sollte in schultypenspezifischer
Arbeitsteilung Gegenwartsströmungen wie zum Beispiel die Anregungen der
Jugendbewegung aufnehmen mit ausdrücklichem Vorbehalt gegen den „in-
tellektualistischen Charakter unserer höheren Bildung". 31 Mit den Lehrplä-
nen des Jahres 1925 und der Reifeprüfungsordnung von 1926 fand diese
Reform ihren Abschluß.
Wie tief griffen die republikanischen Reformen in die Schulrealität Preu-
ßens in Stadt und Land ein, Reformen, die unter Boelitz und Becker
endgültig nicht mehr an die revolutionären Maßnahmen der ersten Monate
erinnerten? Die Einführung der Deutschen Oberschule war im Prinzip auch
von der SPD unterstützt worden, die davon eine Aufstiegschance für Ar-
beiterkinder erhofft hatte. Zwar nahm die Schülerzahl der höheren Lehr-
anstalten von 1922 bis 1927 um nicht weniger als 67 Prozent zu (das
Bevölkerungswachstum machte in dieser Zeit knapp 4 Prozent aus), 32 doch
spiegeln diese Zahlen nicht eine gesteigerte Teilnahme beziehungsweise
Teilhabe der Unterschichten an höherer Bildung wieder, wobei gewiß in

28 C. FÜHR, Zur Schulpolitik der W e i m a r e r Republik... (21972) [s.o. A n m . 7],


S. 323 f., 352 f.; dazu noch 72 „in Aufbauform", vgl. S. F. MÜLLER, Zur Sozia-
lisationsfunktion der höheren Schule... (1976) [s. o. Anm. 23], S. 108 mit Anm. 12.
29 Zur Kritik der Terminologie: a. a. O., S. 110; Ders., Die Höhere Schule Preußens
in der Weimarer Republik... (1977) [s.o. Anm. 27], S. 7, 192f., 3 0 5 - 3 1 3 , vgl.,
Otto BOELITZ, Der Aufbau des preußischen Bildungswesens nach der Staats-
umwälzung, Leipzig 2 1925, S. 16 f., 91.
30 S. F. MÜLLER, Die Höhere Schule Preußens in der Weimarer Republik... (1977)
[ s . o . A n m . 2 7 ] , S. 2 0 2 f . , f e r n e r S. 1 1 5 - 1 2 2 , 1 2 5 , 1 3 4 , 1 4 0 f f . , 2 2 1 , 2 4 5 f . , 3 0 3 f f . ,
u. passim.
31 Quellen: Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens. Denkschrift
des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Berlin
1924, S. 9; ferner ZB1UV, 1924, Nr. 392, S. 2 8 5 - 2 8 9 (Stundentafeln); Jg. 1926,
Nr. 344, S. 283 - 294.
32 Ruth MEYER, Das Berechtigungswesen in seiner Bedeutung für Schule und
Gesellschaft im 19. Jahrhundert, in: ZgSt, Bd. 124 (1968), S. 7 6 3 - 7 7 6 , S. 7 6 4
Anm. 4.
III. Schulreform und Lehrerbildung 791

Rechnung gestellt werden muß, daß die Oberschüler der Weimarer Zeit
noch überwiegend vor 1918 eingeschult worden waren. Tabelle 8 gibt nach
Kaelble 33 Daten für die soziale Herkunft preußischer Oberschüler in der
Weimarer Republik an.

TABELLE 8
Soziale Herkunft preußischer Oberschüler (in Prozent)

1921 1931

Obere Mittelschicht 23 22
Untere Mittelschicht 66 60
Unterschicht 9 11
(darunter Arbeiter 5 5)
keine Angaben - 7

Quelle: Hartmut KAELBLE, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und


20. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich ( = KrStGw, Bd. 55),
Göttingen 1983, S. 142; vgl. noch Anm. 33.

Der Anteil der Arbeiterkinder unter den Studenten der preußischen Uni-
versitäten blieb mit 1 Prozent um 1925/26 marginal. Freilich hat Jarausch,
der den Arbeiteranteil auf 3 Prozent beziffert, unlängst vor einer Unter-
schätzung der in den Großgruppen zu diagnostizierenden sozialen Öffnung
der Universität in der Weimarer Zeit gewarnt, die darin zum Ausdruck
komme, daß der Neue Mittelstand (Angestellte, mittlere Beamte) in der
sozialen Herkunft der männlichen preußischen Studenten seinen Anteil von
31 Prozent auf fast 47 Prozent zu steigern vermochte, Mittelstand und
Arbeiter bei Rückgang des Anteils von oberer Mittelschicht und Bildungs-
bürgertum ihre Quote von etwa 61 auf 72 Prozent vermehrten.
Insofern zeigt eine genauere, nicht nur auf die Anfangsjahre des republi-
kanischen Preußen bezogene Betrachtung sektoralen Wandel, wiewohl die
Jahre, die der Demokratie verblieben, schwerlich ausreichten, um die Re-
formeffekte in der Schulwirklichkeit — von der Aufhebung der geistlichen
Schulaufsicht, der Reform der Lehrerbildung, der Deutschen Oberschule,
bis zur quasi-obligaten Grundschule und anderem mehr — voll erkennbar
werden zu lassen. Trotz des Verlustes „schulischer Notstandsgebiete" (Kle-

33 Aus: Hartmut KAELBLE, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und


20. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich ( = KrStGw, Bd. 55),
Göttingen 1983, S. 142; man vgl. die Zahlen bei Karl KELLER, Die soziale
Herkunft der Schüler der höheren Lehranstalten, in: ZStatB, 65. Jg. (1925),
S. 392-406, hier S. 398 f., auch für höhere Mädchenschulen; S. 400: 5,47 Prozent
Arbeitersöhne; ferner Heinrich KÜPPERS, Weimarer Schulpolitik in der Wirt-
schafts- und Staatskrise der Republik, in: VfZ, 28. Jg. (1980), S. 2 0 - 4 6 , hier
S. 27; Universitäten: „Preußische Hochschulstatistik 1911 bis 1925", in: ZB1UV,
1926, Nr. 15, S. 9-11, bes. S. 10. W. W. WITTWER, Die sozialdemokratische Schul-
politik... (1980) [s.o. Anm. 1], S. 219, 279f., 322; Κ. H. JARAUSCH, Deutsche
Studenten... (1984) [50], S. 134f., 140 Anm. 8 (u. a. gegen Kaelble).
792 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung

witz) durch die Gebietsabtretungen nach dem Weltkrieg dominierten aller-


dings auch weiter in Preußen um 1930 die ländlichen Volksschulen, sehr
viel weniger gegliedert als die in den Städten, und auf dem Lande zeigten
auch nach 1918 die schulischen Strukturen wenig Veränderungen. Trotz der
Tendenzen zur Trennung von Kirche und Schule blieben noch Tausende
Schulstellen mit kirchlichen Nebenämtern (Küster etc.) kombiniert. In dieser
Hinsicht fand die Entwicklung erst mit der endgültigen gesetzlichen Rege-
lung im Jahre 1938 ihren Abschluß. 34

IV. Krise — Machtergreifung — Gleichschaltung:


Das Ende der preußischen Kulturstaatlichkeit

Als der Sozialdemokrat Adolf Grimme in der Nachfolge des von der SPD
gestürzten Kultusministers Becker die preußische Bildungs- und Wissen-
schaftsverwaltung 1930 übernahm und eine Politik pädagogischer Neuan-
sätze durchzuführen beabsichtigte, stellte sich deren Unmöglichkeit ange-
sichts der allgemeinen Krisenprobleme schnell heraus.3S Aber schon in den
Jahren zuvor deuteten sich kommende Entwicklungen in Preußen an, deren
Impulse allerdings nicht mehr allein, ja vielleicht nicht einmal mehr primär
aus Preußen kamen.
Schon Becker, dem die Sozialdemokratie nicht ganz zu Unrecht eine
Bevorzugung von Konservativen und Nationalliberalen, nicht aber von
Sozialisten in der universitären Personalpolitik zum Vorwurf gemacht hatte,
mußte früh Konflikte mit der radikalisierten Studentenschaft durchstehen.
Dabei ging es um die Frage, ob die Studentenschaften an den preußischen
Universitäten ihre Rechte als Selbstverwaltungsorgane behalten sollten, auch
wenn sie mit solchen Studentenorganisationen außerhalb Preußens in Ver-
bindung standen, die nach dem „völkischen Prinzip" organisiert waren, wie
die österreichischen Studentenschaften, in denen antisemitische Tendenzen
früh zu maßgeblichem Einfluß gelangt waren. Der Streit erreichte damit
einen vorläufigen Höhepunkt, daß den preußischen Studentenschaften die
ihnen 1920 verliehene Rechtsqualität verlorenging und diese als private
Vereinigungen fortbestanden.36 War also in dieser preußischen Auseinan-

34 Marion KLEWITZ, Preußische Volksschule vor 1914. Zur regionalen Auswertung


der Schulstatistik, in: ZfPäd, 27. Jg. (1981), S. 5 5 1 - 5 7 3 , hier S. 571; Achim
LESCHINSKY, Volksschule zwischen Ausbau und Auszehrung. Schwierigkeiten bei
der Steuerung der Schulentwicklung seit den zwanziger Jahren, in: VfZ, 30. Jg.
(1982), S. 2 7 - 8 1 , hier S. 40 f., die Tabelle S. 43, 45, grundsätzlich S. 60 f.;
R. BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer... (1983) [25], S. 64f.
35 H. KÜPPERS, Weimarer Schulpolitik in der Wirtschafts- u. Staatskrise... (1980)
[s.o. Anm. 33], S. 43 f.; Sturz Beckers: H. SCHULZE, Otto Braun... (1977) [s.o.
Anm. 5 ] , S. 4 7 8 f., 5 5 8 ff.
36 Eingehende Schilderung bei E. WENDE, Carl Heinrich Becker... (1959) [s.o.
Anm. 17], S. 257 - 263; E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1981)
[ 3 1 ] , B d . 6 , S. 1 0 1 4 - 1 0 1 7 ; T . N I P P E R D E Y , D i e d e u t s c h e S t u d e n t e n s c h a f t . . . ( 1 9 7 6 )
IV. Das Ende der preußischen Kulturstaatlichkeit 793

dersetzung die Haltung der österreichischen (und der sudeten-deutschen)


Studentenschaft von Bedeutung und insofern der außerpreußische Faktor
virulent, so erlangten diese Auseinandersetzungen dadurch eine Verschär-
fung aus dem nun auch auf diesem Felde auftretenden Gegensatz von Reich
und Preußen, als der deutschnationale Reichsinnenminister von Keudell der
Studentenschaft in ihrem Protest gegen das preußische Kultusministerium
seine Sympathie bekundete und daraufhin der preußische Ministerpräsident,
Otto Braun, nicht nur beim Reichskanzler Verwahrung einlegte. Braun
kündigte für den Wiederholungsfall an, daß die preußische Regierung „jeden
Verkehr mit dem Herrn Reichsminister Dr. von Keudell abzubrechen"
entschlossen sei. 37 — Anläßlich des zehnten Jahrestages des Versailler Ver-
trages, für den das Preußische Staatsministerium Demonstrations- bezie-
hungsweise Veranstaltungsverbote erlassen hatte, wogegen die Universitäten
und deren Rektoren aber Einspruch erhoben hatten, kam es in Berlin zu
massiven Ausschreitungen der Studenten (Rufe: „Deutschland erwache,
Becker verrecke!"). 3 8
Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund, 1926 in München
gegründet, hatte bald auch an preußischen Hochschulen Anhänger gefunden
und Organisationen aufzubauen vermocht, so noch im Jahre seiner Grün-
dung an der Technischen Hochschule in Berlin. 3 9 Die neuere Sozialge-
schichtsforschung hat den engen Zusammenhang von zum Teil extremer
materieller Not der Studenten und dem Aufstieg des NSDStB erhellt und
darauf hingewiesen, daß es durchaus nicht nur „Lippenbekenntnisse" waren,
wenn dieser sich als „Sprachrohr" der notleidenden Studentenschaft ver-
stand — in Berlin wohnten Studenten schon vor der Wirtschaftskrise zum
Beispiel in ärmlichen Kriegsbaracken. Die Anziehungskraft des National-
sozialistischen Deutschen Studentenbundes nahm in den Krisenjahren zu,
zumal er durch die Praxis seine Funktion als Vertreter studentischer Inter-
essen zu untermauern suchte, 40 so etwa, wenn 1932 unter nationalsoziali-
stischem Einfluß unter anderem über deren preußische Landtagsfraktion
auf eine Herabsetzung der Studiengebühren hingewirkt und insofern die

[s.o. Anm. 19], S. 410; Philipp EGGERS, Bildungswesen, in: Kurt G. A. Jeserich/
Hans Pohl/Georg-Christian von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte,
Bd. 4, Stuttgart 1985, S. 3 4 9 - 3 7 3 , hier S. 368 f.
37 Schreiben Brauns vom 30. XI. 1927, bei Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente
zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 2 1966, S. 390 f. (Nr. 362).
38 E. WENDE, Carl Heinrich Becker... (1959) [s.o. Anm. 17], S. 266f.
39 Grundlegend jetzt: Michael H. KATER, Studentenschaft und Rechtsradikalismus
in Deutschland 1918 - 1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in
der Weimarer Republik ( = Historische Perspektiven, Bd. 1), Hamburg 1975 (mit
weiterer Lit.), hier S. 11, 111; Ders., Der NS-Studentenbund von 1926 bis 1928.
Randgruppe zwischen Hitler und Strasser, in: VfZ, 22. Jg. (1974), S. 1 4 8 - 1 9 0 ,
hier S. 149.
40 So M. H. KATER, Studentenschaft und Rechtsradikalismus... (1975) [s.o.
Anm. 39], S. 17, S. 111 ff., bes. S. 113, 116 ff.; vgl. auch zu diesen Zusammen-
hängen Κ. H. JARAUSCH, Deutsche Studenten... (1984) [50], S. 142.
794 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung

Aktivitäten anderer Studentengruppen in den Schatten gestellt wurden. 41


Beckers konfrontative Hochschulpolitik trug das ihre dazu bei, den Rechts-
trend unter den Studenten noch zu verstärken (Jarausch), und die Situation
wurde an den Universitäten weiter dadurch verschärft, daß die Auseinan-
dersetzungen zunehmend Züge eines Generationenkonfliktes annahmen:
nationalsozialistische Studenten gegen die durchaus nationale und konser-
vative, aber „bürgerliche" Universität. 42 Den Nationalsozialisten gelangen
schon um 1930 auch an preußischen Hochschulen erschreckende Abstim-
mungssiege, zum Beispiel in Breslau mit über 70 Prozent, in Greifswald mit
60 Prozent, in Königsberg mit 50 Prozent und an der Berliner Technischen
Hochschule mit 67 Prozent; Universitäten mit starkem katholischen Element
erwiesen sich als widerstandsfähiger.
Zu den älteren sozialen Problemen der Studenten, die die Anfälligkeit
für den Rechtsradikalismus vermehrten, traten in den Jahren der Wirt-
schaftskrise drastisch steigende Studentenzahlen mit entsprechenden Über-
füllungsproblemen, Akademikerarbeitslosigkeit und Deklassierungsängsten.
Mehrere Faktoren, die eine kurzschlüssige Erklärung verbieten, 43 waren es
auch, die dem Nationalsozialismus auch in Preußen schon vor der eigent-
lichen Machtergreifung einen Einbruch in die Lehrerschaft erlaubten, und
zwar besonders bei den Junglehrern. Ein gewiß besonders wichtiger Grund
ist in den personalpolitischen Maßnahmen der frühen 1930er Jahre zu
erkennen, die in einer schweren Überfüllungskrise den Berufsnachwuchs
der ohnehin eher zur Rechten neigenden Gymnasiallehrer durch zeitweisen
Einstellungsstop und lange Wartezeiten — obwohl besser gestellt als die
Volksschullehrer — in die Nähe des Nationalsozialismus geraten ließen. 44
Deuten die verfügbaren Daten für die Mitte der 1920er Jahre auf eine nach
wie vor starke Linke in der Volksschullehrerschaft und auf einen nur

41 M . H. KATER, Studentenschaft und Rechtsradikalismus... (1975) [s.o. Anm. 39],


S. 120, 277 Anm. 62.
42 Κ. H. JARAUSCH, Deutsche Studenten... (1984) [50], S. 141, 162; dazu noch
T h o m a s NIPPERDEY, Preußen und die Universität, in: Karl-Dietrich Erdmann
u. a., Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte. Vorlesungen, Stuttgart
1982, S. 65 — 85, hier S. 84; Abstimmungen: Karl Dietrich BRACHER, Die Auflö-
sung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der
Demokratie, Villingen 5 1971, S. 133.
43 Siehe: Johannes ERGER, Lehrer und Schulpolitik in der Finanz- und Staatskrise
der Weimarer Republik 1 9 2 9 - 1 9 3 3 , in: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst
Stuke (Hg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte
der modernen Welt (Festschrift Werner Conze) ( = IndW, Sonderbd.), Stuttgart
1976, S. 2 3 3 - 2 5 9 , hier S. 257.
44 Axel NATH, Der Studienassessor im Dritten Reich. Eine sozialhistorische Studie
zur „Überfüllungskrise" des höheren Lehramtes in Preußen 1 9 3 2 - 1 9 4 2 , in:
ZfPäd, 27. Jg. (1981), S. 2 8 1 - 3 0 6 , bes. S. 287, 292, 2 9 8 - 3 0 1 ; Rainer BÖLLING,
Lehrerarbeitslosigkeit in historischer Perspektive, in: R J B , 34. Jg. (1986), S. 198 -
212, hier S. 201.
IV. Das Ende der preußischen Kulturstaatlichkeit 795

geringen systemkritisch-antiparlamentarischen Anteil auf der Rechten hin, 45


so nahm die Loyalität in dem Tempo ab, in dem durch Stellenabbau,
Erhöhung der Lehrverpflichtungen, durch Beförderungsstopp, Entlassung
von Junglehrern und insbesondere durch die sparpolitisch motivierten Be-
soldungskürzungen etc. in den erreichten Status der Volksschullehrer ein-
gegriffen wurde; die preußische Sparnotverordnung vom September 1931
kann als markantes Beispiel genannt werden. 46 Nach Breyvogel verlor ein
Junglehrer mit kleiner Familie in Preußen 1930/32 35 bis 43 Prozent des
Gehalts, und er war gegenüber den Tausenden ohne Stelle noch weniger
hart getroffen. Die Radikalisierung war die Folge, sie kam der NSDAP
zugute, wie dieses auch für die Absolventen der preußischen Pädagogischen
Akademien bezeugt ist.
Deutlich vor der Machtergreifung hatte der Nationalsozialismus auch an
den preußischen Schulen und Hochschulen Einfluß erlangt, und die preu-
ßische Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte, die spätestens für die 1920er
Jahre nicht mehr ohne einen Blick auf die vom Reich (und darüber hinaus!)
ausgehenden Einwirkungen geschrieben werden kann, stand seit dem Beginn
der 1930er Jahre vollends nicht mehr unter dem Primat preußischer Innen-
politik. Auf die Phase kultur- und leistungsstaatlicher Souveränitätsmaxi-
mierung im Bereich von Bildung und Wissenschaft, wie sie im letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts beobachtet werden kann, folgte schließlich und endlich
die des Souveränitätsverlustes an das Reich und an gesellschaftliche Mächte,
auch an Parteien und - man denke an die KWG - gesellschaftliche
beziehungsweise Interessenverbände. Gab es nach der nationalsozialisti-
schen Machtergreifung überhaupt noch eine spezifisch preußische Schul-
und Universitätsgeschichte?
Zunächst: Preußen war von der nationalsozialistischen Machtergreifung
in mehrfacher Hinsicht besonders betroffen, schien doch zum Beispiel den
neuen Machthabern in diesem Land — bezeichnenderweise! — die Über-
prüfung und teilweise Auswechslung des Lehrpersonals in besonderem
Maße erforderlich zu sein. Etwa 15 Prozent der Leiterstellen höherer Schulen
wurden neu besetzt. Unter den Volksschullehrern gingen die Säuberungen
so weit, daß der Beginn des Schuljahres 1933/34 verschoben werden mußte.
An den zu Hochschulen für Lehrerbildung ernannten früheren Pädagogi-
schen Akademien wurden 60 Prozent der Lehrkräfte ausgewechselt. Unter
137 Oberschulräten wurden in Preußen 46, von 527 Schulräten 115 umge-

45 Vgl. — auch zu den methodologischen Problemen - R . BÖLLING, Volksschul-


lehrer und Politik... (1978) [s.o. Anm. 24], S. 193, zum Folgenden S. 196, 200,
202, 2 0 5 ; Ders., Sozialgeschichte der deutschen Lehrer... (1983) [25], S. 125ff.,
131, 133.
46 Ebda.; J. ERGER, Lehrer und Schulpolitik in der Finanz- und Staatskrise der
Weimarer Republik... (1976) [s. o. Anm. 43], S. 236, 2 4 0 f f . ; Wilfried BREYVOGEL,
Die staatliche Schul- und Lehrerpolitik 1928 - 1 9 3 2 und die Lehrervereine als
Interessenorgane der Volksschullehrer, in: M . Heinemann (Hg.), Sozialisation
und Bildungswesen in der Weimarer Republik... (1976) [s. o. Anm. 14], S. 281 -
290, bes. S. 2 8 6 ff.
796 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung

hend amtsentsetzt. 4 7 Die Rechte kommunaler beziehungsweise privater


Schulträger wurden auf Zeit suspendiert; die Schulpolitik gegenüber pri-
vaten, auch konfessionell-privaten Schulen wurde sowieso laufend ver-
schärft, da sie der politischen Infiltration Widerstand leisteten; ihre Besei-
tigung war das Ziel. 4 8 Zuverlässigkeit hinsichtlich der Parteiideologie war
für Lehrer Einstellungserfordernis, entsprechende Schulungen wurden ob-
ligat, ebenso der SA-Dienst für eine Zulassung zur zweiten Lehrerprüfung. 4 9
Wohl in keinem Bereich waren die Personalwechsel beziehungsweise die
Personalverluste in ihrer längerfristigen Wirkung so verheerend, wie in dem
Bereich der Wissenschaftsinstitutionen in Preußen. Hier waren Abgänge
schwer oder nicht ersetzbar, es war ein nicht kompensierbarer „Substanz-
verlust" (Bracher), an den verschiedenen Universitäten verschieden stark.
In Berlin schieden 3 2 Prozent des Personals aus, in Breslau 2 2 Prozent, in
Göttingen und Köln 18 bis 19 Prozent. Z u den Nobelpreisträgern, die
Preußen verließen, gehörten Einstein und der im Ausland wegen seines
Engagements im Weltkrieg (Gaskampf) und in Deutschland als Jude ver-
femte Fritz H a b e r ; M a x Born, der später den Nobelpreis erhielt, verließ
gleichfalls Preußen und Deutschland. 5 0 Stark waren auch preußische Justiz-
professoren von der politisch oder rassisch motivierten Säuberung betroffen
(Hans Kelsen/Hermann Heller). Für einzelne Fächer, darunter sicherlich die
Physik, war damit ein Niveauverlust verbunden, und es mag sinnbildhaft

47 Noch immer materialiter unverzichtbar: Rolf EILERS, Die nationalsozialistische


Schulpolitik. Eine Studie zur Funktion der Erziehung im totalitären Staat ( = SP,
Bd. 4), Köln-Opladen 1963, S. 6 8 - 7 1 ; Ottwilm OTTWEILER, Die Volksschule im
Nationalsozialismus, Weinheim-Basel 1979, S. 56; Hans-Georg HERLITZ/WUIí
HoPF/Hartmut TITZE, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart,
Königstein/Ts. 1981, S. 134.
48 R . E I L E R S , D i e n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e S c h u l p o l i t i k . . . ( 1 9 8 3 ) [s. o . A n m . 4 7 ] , S . 9 2 -
98.
49 A. a. O., S. 6-9; Karl Dietrich BRACHER, Stufen der Machtergreifung [1960]
( = Karl Dietrich Bracher/Gerhard Schulz/Wolfgang Sauer, Die Nationalsoziali-
stische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssy-
stems in Deutschland 1933/34, Bd. 1), Frankfurt/M.-Berlin-Wien 3 1974, S. 430.
50 A . a . O . , S. 434 ff.; Ders., Die Gleichschaltung der deutschen Universität, in:
Nationalsozialismus und die deutsche Universität. Universitätstage 1966, Berlin
1966, S. 126 - 1 4 2 , hier S. 135; Hans-Joachim DAHMS, Einleitung, in: Heinrich
Becker/Hans-Joachim Dahms/Cornelia Wegeier (Hg.), Die Universität Göttingen
unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Ge-
schichte, München u.s.w. 1987, S. 1 5 - 6 0 , bes. S. 25 - 42; Physik: Armin HER-
MANN, Die neue Physik. Der Weg in das Atomzeitalter. Zum Gedenken an Albert
Einstein, M a x von Laue, Otto Hahn, Lise Meitner, München 1979, S. 93 - 1 0 0 ,
zu Einsteins und Habers Schicksal S. 76, 80 f.; noch S. 89; Hubert LAITKO U. a.,
Wissenschaft in Berlin. Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945, Berlin
1987, S. 520 — 540; jetzt die prosopographischen Angaben bei Herbert A. STRAUSS
u. a. (Hg.), Emigration. Deutsche Wissenschaftler nach 1933. Entlassung und
Vertreibung, Berlin 1987; Reimer HANSEN, Lise Meitner. Eine Würdigung, Berlin
1989, S. 9 ff., S. 16 ff.; Otto HAHN, Mein Leben., hg. von Dietrich Hahn, München
6 1986, bes. S. 1 4 9 - 1 5 7 .
IV. Das Ende der preußischen Kulturstaatlichkeit 797

für die Folgen politisch motivierter Schädigung von Forschungssubstanz


stehen, daß zwar in Berlin-Dahlem Otto Hahn am Kaiser-Wilhelm-Institut
für Chemie die Kernspaltung Ende 1938 entdeckte, die volle Ausdeutung
der Versuche aber aus einer weiten Entfernung Lise Meitner gelang: Sie,
langjährige Mitarbeiterin Hahns, befand sich als Jüdin seit kurzer Zeit im
schwedischen Exil.
Lehrervereine und studentische Korporationen verfielen der Gleichschal-
tung. Die politisierte Schule und Hochschule erlebte auch in der Lehre einen
deutlichen Leistungsschwund. 51 Mit der Bücherverbrennung durch Studen-
ten und Dozenten im Mai 1933 hatte schon das moralische Niveau einen
absoluten Tiefstpunkt erreicht. Die Einführung des „Führerprinzips" an
Schulen und Universitäten hatte auch das Ziel, die Stellung der Professo-
renschaft gegenüber den den Hochschulbetrieb unter anderem durch Boy-
kotte und Tumulte terrorisierenden nationalsozialistischen Studenten zu
stärken — als eine Antwort auf die vom NSDStB progagierte „Hochschul-
revolution". Die Rektoren wurden nunmehr — in Preußen später nach
Anhörung der Gauleiter - vom Kultusminister ernannt.
Zum nationalsozialistischen preußischen Kultusminister wurde der bis
1940 auch als Gauleiter fungierende frühere Oberlehrer Bernhard Rust 5 2
bestellt, eine besonders schwache politische Persönlichkeit; neben ihm hatte
zunächst der Reichsinnenminister auch im Bildungswesen Kompetenzen,
bis zum Mai 1934, als Rust zum „Reichsminister für Wissenschaft, Erzie-
hung und Volksbildung" ernannt wurde. Für eine kurze Übergangszeit
behielt Preußen noch den Schein einer eigenen Kultusverwaltung, indem
Rust das preußische Ministerium in Personalunion leitete, doch wurde die

51 Mit Beispielen aus Preußen: Michael H . KATER, Hitlerjugend und Schule im


Dritten Reich, in: H Z , Bd. 2 2 8 (1979), S. 5 7 2 - 6 2 3 , hier S. 5 7 5 ff.; zum Folgenden:
Κ. H . JARAUSCH, Deutsche Studenten... (1984) [50], S. 1 6 6 f . ; Hellmut SEIER, Der
Rektor als Führer. Z u r Hochschulpolitik des Reichserziehungsministeriums
1 9 3 4 - 1 9 4 5 , in: V f Z , 12. Jg. (1964), S. 1 0 5 - 1 4 6 , hier S. 105 f., 109, 118, 121 ff.,
144 f.; Gerhard SCHULZ, Die Anfänge des totalitären M a ß n a h m e n s t a a t e s [1960]
( = Karl Dietrich B r a c h e r / G e r h a r d Schulz/Wolfgang Sauer, Die Nationalsoziali-
stische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssy-
stems in Deutschland 1 9 3 3 / 3 4 , Bd. 2), Frankfurt/M.-Berlin-Wien 3 1 9 7 4 , S. 2 3 7 ,
2 4 2 , 4 9 9 , A n m . 2 4 2 ; zur Bücherverbrennung etc. zuletzt (m. Lit.): Christian
ENGELI/Wolfgang RIBBE, Berlin in der NS-Zeit (1933 - 1945), in: Wolfgang Ribbe
(Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, M ü n c h e n 1987, S. 9 2 5 - 1 0 2 4 , hier S. 9 4 8 - 9 5 2 ;
H e r m a n n RAFETSEDER, Bücherverbrennungen. Die öffentliche Hinrichtung von
Schriften im historischen Wandel, W i e n — Köln — Graz 1988, S. 2 7 0 f., zu den
verschiedenen Aktionen v o m M a i / J u n i 1933.
52 Z u ihm: Peter HÜTTENBERGER, Die Gauleiter. Studien zum Wandel des M a c h t -
gefüges in der NSDAP ( = SchrrVfZ, Nr. 19), Stuttgart 1969, S. 2 1 7 u. ö.; Peter
D. STACHURA, Das Dritte Reich und die Jugenderziehung. Die Rolle der Hitler-
jugend 1933 - 1 9 3 9 , in: Karl-Dietrich B r a c h e r / M a n f r e d F u n k e / H a n s Adolf
Jacobsen (Hg.), Nationalsozialistische Diktatur 1933 — 1945. Eine Bilanz
( = B o S c h r P Z g , Bd. 21), Bonn 1983, S. 2 2 4 - 2 4 4 , hier S. 2 3 9 f.; jetzt H a r a l d
SCHOLTZ , Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz, Göttingen 1985, S. 58 f.
798 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung

Realunion schon bald durchgesetzt. Beide Ministerien wurden am 1. Januar


1935 vereinigt, eine Maßnahme, die unter anderem politischen Vorzeichen
schon in der Reformdiskussion der Jahre 1930/32 eine Rolle gespielt hatte. 53
Nach dem Ende der eigenen preußischen Bildungs- und Wissenschafts-
verwaltung, das zugleich anzeigt, daß die Gleichschaltung Preußens in
diesem Bereich nicht schlagartig erfolgte, schritt die Angleichung der Län-
derrechte auf diesem Sektor weiter fort. Zentrale Parteistellen nahmen auch
auf die preußischen Bildungsstrukturen mehr und mehr Einfluß. Die reichs-
einheitliche Organisation von Schulen und Hochschulen schritt nun be-
schleunigt fort, wenn es auch bis 1945 nicht zu einer völligen Angleichung
gekommen ist. Die schleichende Vereinheitlichung durch Rezeption natio-
nalsozialistischer Lehrinhalte (Vererbungslehre und Rassekunde in den preu-
ßischen Volksschulen schon 1933) und durch die Uniformisierung der Län-
derrechte wurde beschleunigt in den Jahren unmittelbar vor dem Zweiten
Weltkrieg, besonders seit 1937. Zwar hatte der Re/cta-Innenminister Frick
schon Juli 1933 Richtlinien unter anderem zum Geschichtsunterricht bezie-
hungsweise Geschichtslehrbüchern ausgegeben; nun aber wurden auf breiter
Front seit 1938/39 neue Schulbücher und Lehrpläne reichseinheitlich ein-
geführt, 54 wie gleichzeitig auch die Vereinheitlichung des Hochschulwesens
und des Hochschulrechtes in neuem Tempo voranschritt. Im Juli 1939
wurden Lehrer öffentlicher Schulen zu Reichsbeamten erklärt.
Gewiß verlief die Gleichschaltung des Bildungswesens im Sinne der na-
tionalsozialistischen Politisierung, Verreichlichung und Homogenisierung
regional und zeitlich sehr verschieden — hier bleibt die Forschung zur
Weiterarbeit aufgefordert —, und es ist zu Recht allgemein bezweifelt
worden, ob die nationalsozialistische Bewegung in der Tat auf dem Gebiet
des Schulwesens so weit vorangekommen ist, wie bisweilen behauptet
wird. 55 Aber auch unabhängig vom Grad der politischen Indienstnahme
endet 1933/34 mit der Ländergleichschaltung und der Aufhebung des Kul-
turföderalismus, spätestens aber 1937/39 die letzte Phase, für die von einer
eigenen preußischen Kulturstaatlichkeit gesprochen werden kann.

53 C. FÜHR, Z u r Schulpolitik der Weimarer Republik... ( 2 1972) [s.o. Anm. 7],


S. 1 1 8 f . ; R. EILERS, Die nationalsozialistische Schulpolitik... (1983) [s.o.
Anm. 47], S. 5 4 f f . ; P. EGGERS, Bildungswesen [II]... (1985) [s.o. Anm. 36],
S. 968 - 972, 979, auch zum Folgenden.
54 Außer R . EILERS, Die nationalsozialistische Schulpolitik... (1983) [s. o. Anm. 47],
S. 13ff., 17, 5 4 - 5 7 ; O. OTTWEILER, Die Volksschule im Nationalsozialismus...
(1979) [s.o. Anm. 47], S. 21 ££.; Ders., Die nationalsozialistische Schulpolitik im
Bereich des Volksschulwesens, in: Manfred Heinemann (Hg.), Erziehung und
Schulung im Dritten Reich ( = V H K D G E , Bd. 4), Stuttgart 1980, T. 1, S. 1 9 3 -
215, hier S. 1 9 7 - 2 0 4 , 208, 210; Kurt-Ingo FLESSAU, Schule der Diktatur. Lehr-
pläne und Schulbücher des Nationalsozialismus, München 1977, S. 14 f., 19, 53;
Helmut GENSCHEL, Politische Erziehung durch Geschichtsunterricht. Der Beitrag
der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts zur politischen Erziehung
im Nationalsozialismus ( = Studien zur Politikdidaktik, Bd. 15), Frankfurt/M.
1980, S. 19 f., 2 2 - 2 8 .
55 So H. SCHOLTZ (Hg.), Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz... (1985)
[s.o. Anm. 52], S. 23 (u. a. gegen Flessau).
Personen- und Sachregister

Abkürzungen
Bf. Bischof Kgr. Königreich
Dir. Direktor Kr. Kreis
Ebf. Erzbischof MdR. Mitglied des Reichstages
Frhr. Freiherr Min. Minister
Ft. Fürst Off. Offizier
Gf.(-n) Graf, Gräfin Präs. Präsident
Gft. Grafschaft Prov. Provinz
Hg. Herzog s. seit
Hgt. Herzogtum s. a. siehe auch
Kft. Kurfürst s. unt. siehe unter
Kg.(-n) König, Königin Vers. Versammlung
(Aus sich selbst heraus verständliche Abkürzungen sind nicht erfaßt)

Aachen 66, 86,159, 176, 182, 193 f., 501, - Zahlen 698
519, 521, 523, 537, 705 s. a. Reifezeugnis
- Bistum 176 Ablösungen 138
- Kongreß (Sept.-Nov. 1818) 82 — Ablösung der Dienste 256
- Regierungsbezirk 536 — Ablösungsgelder 127, 512
- Protokoll (15.Nov. 1818) 159 — Ablösungslasten 139
- Raum 95, 522, 540, 595 — Ablösungsordnung vom 2. März
Abdülmecid (1823-1861), Sultan d. Os- 1850 141
manen s. 1839 165 f. — Ablösungsrenten 257
Abendmahlsstreit 170 — Ablösungsrezesse 256
Abgaben 495 £. Abnahmegarantien, staatl. 498
Abgabenverpflichtungen 502 Absolutismus 388, 474, 613, 647
Abgabenverweigerung 257 — aufgeklärter 428, 480
Abgeordnete 113 ff., 208, 252 f. — brandenburgischer 417
- Wahl 306 — bürokratischer 84
- provinzialständische 211 Abteien 174
Abgeordnetenhaus 305, 307 f., 311, 325, Abteilung für Kultus 168
327 f., 330 ff., 349, 557, 745 Academia Caesareo Leopoldina 644
- Wahl v. 1858 325 Académie des nobles 616
Abitur 635, 648, 761 Académie Royale de Sciences et Belies
- Edikt (1780) 635 Lettres s. unt. Akademien (Preuß.
- Examen (1788 ff.) 634 Akademie der Wissenschaften)
- Instruktion 697 Achard, Franz Karl (1753-1821), Che-
- Reglement (1788) 655, (1812) 671 miker 643
- Abiturienten 636 ff., 699, 702, 761 Achenbach, Heinrich (1888:) v. (1829-
— Prüfungen 685 1899), preuß. Verwaltungsbeamter,
800 Personen- und Sachregister

Jurist, Mitgl. d. preuß. Abgeordne- Akademien 677, 682 f., 787


tenhauses s. 1866, Handelsmin. — Akademie der Künste 516, 651
1873-1878 546, 555 f. — Akademie Posen 768
Achtundvierziger Revolution s. unt. Re- — Bauakademie 499, 516, 651, 704
volution v. 1848 — Bayerische Akademie der Wissen-
Acta Borussica 769 schaften 769
Adalbert v. Prag (um 9 5 5 - 9 9 7 ) , Bf. v. — Preuß. Akademie der Wissenschaften
Prag, Apostel d. Preußen 393 200, 620, 642 ff., 651, 769, 771, 787
Adel, Adlige 30 f., 54, 98, 222, 228, 254, Akademiker
268, 481, 487, 500, 502 f., 507, 513, — Arbeitslosigkeit 794
560, 580, 589, 657 — Bildung 763
— polnischer 103, 162 — Jurisdiktion 677
— westfälischer katholischer 101 — Lehrer, akademische 727
— Adelskrise 507 Akademisierung des technischen Bil-
— Adelsproletariat 507 dungswesens 705
— Adelsreaktion 527 Aktien 219
— Adelsrevolte 496 Aktienbanken 536
— Jagdrecht 256 f. Aktiengesellschaften 135, 147, 219, 522,
— Landadel, ostpreuß. 629 537, 577
— Standesschulen s. unt. Ritterakade- Aktiengesetz (1843) 525, (1867) 531,
mien (1884) 532
Adenauer, Konrad ( 1 8 7 6 - 1 9 6 7 ) , Mitgl. Aktienrecht 490, 527, 532, 549
d. preuß. Herrenhauses 1917/18, Akzise 28, 117, 132, 470, 476, 487, 498,
Kölner Oberbürgermeister 1917 — 502
1933, Präs. d. preuß. Staatsrats Alberti, Johann Gustav Wilhelm (1757 -
1920-1933 596 ff. 1837), Kaufmann u. Industrieller i.
Administration, frz. 97 Waldenburg/Schlesien, mit seinem
Admiralität 583 Bruder Inh. d. Maschinenspinnerei
Adria 395 Gebr. Alberti 146
Adrianopel 158 Albertina s. unt. Universität Königsberg
— Frieden v. (1829) 160 Albrecht, Wilhelm Eduard (1800-
AG für Kohleverwertung 597 1876), Jurist u. Germanist, Prof. i.
AG für Steinkohleveredlung und Stein- Königsberg 1825 u. Göttingen 1830,
kohleverflüssigung 597 als einer d. Göttinger Sieben entlas-
Agende, Agendenstreit 169 ff. sen 1837, Prof. i. Leipzig 1 8 4 0 - 1 8 6 8
A G O s. unt. Allgemeine Gerichtsord- 198
nung Albrecht Friedrich ( 1 5 5 3 - 1 6 1 8 ) , Hg. v.
Agrarbewegung, schlesische 257 Preußen 410, 412 f.
Agrardurchschnittspreise 214 Albrecht d. Ält., Markgf. v. Branden-
Agrargesetzgebung 29, 497 burg· Ansbach ( 1 4 9 0 - 1 5 6 8 ) , letzter
Agrarkapitalismus 141 Hochmeister d. Deutschen Ordens
Agrarkrise 213, 216, 562 587 1 5 1 1 - 1 5 2 5 , Hg. i. Preußen 1 5 2 5 -
Agrarnot 590 1568 404, 410
Agrarreformen 30 f., 98, 108, 138, 141, Alexander I. ( 1 7 7 7 - 1 8 2 5 ) , Zar v. Ruß-
152, 502, 516, 533 land s. 1801 69, 75, 429
Agrarrevolution, schlesische 257 Alexander II. ( 1 8 1 8 - 1 8 8 1 ) , Zar v. Ruß-
Agrarstädte 28 land s. 1855 343
Agrartechnik 503 Algerien 165
Agrarverfassung 256 Alienstein 590
Agrarwirtschaft s. unt. Landwirtschaft Allgemeine Deutsche Bibliothek 656
Agrikulturchemie 533 Allgemeine Deutsche Burschenschaft
Ägypten 165 183, 728
Personen- und Sachregister 801

Allgemeine Gerichtsordnung (AGO) ν. Staatsrats 1833, Finanzmin. 1835 —


1793 96 1842 131, 203
Allgemeine Gewerbeordnung v. 1845 „Amazone" (Korvette), erstes i. 19. Jh.
144 v. Preußen gebautes seetüchtiges
„Allgemeine Preußische Zeitung" 216, Hochseeschiff, Stapellauf 1843
243 Grabow b. Stettin, i. Orkan gesun-
Allgemeines Berggesetz für die preußi- ken 1861 152
schen Staaten 563 Amnestie des Jahres 1840 240, 731
Allgemeines Deutsches Handelsgesetz- Amsterdam 486
buch 531 Amtsblätter 84
Allgemeines Landrecht für die Preußi- Amtssprache 102
schen Staaten (ALR) 96, 98 f., 103, Analphabeten 721 f., 724 f., 738, 743 f.
105,155,176, 228, 271, 428, 558, 689 Ancillon, Johann Peter Friedrich (1767 —
Alliierter Kontrollrat 604 1837), preuß. Beamter, Prediger an
Almosenempfänger 118 d. Frz. Kirche zu Berlin 1790, kgl.
Alpen 68 Historiograph 1803, Staatsrat 1809,
Alphabetisierung Erzieher d. Kronprinzen 1810,
— Alphabetenquote 713 Außenmin. 1 8 3 2 - 1 8 3 7 112,158
— Alphabetisierungsgrad 721 Angestellte 152 f., 582
— Alphabetisierungsstatistik 725 Anhalt-Dessau 230
— Alphabetisierungsvorsprung 725 f. Anjou, Dynastie 400
s. a. Analphabeten Anleihen 123 f., 128, 219, 483, 508 f., 512
Anna v. Preußen (1576-1625), s. 1594
ALR s. unt. Allgemeines Landrecht für
Gemahlin Kft. Joh. Sigismunds v.
die Preußischen Staaten
Preußen 413
Alsen 338
Anneke, Fritz (1817 — 1872), ursprüngl.
Altenstein, Karl Frhr. vom Stein zum
preuß. Off., Sozialrevolutionär, mi-
(1770-1840), Finanzmin. 1 8 0 8 -
litär. Führer d. Pfälzer Aufstandes,
1810, Kultusmin. 1817 - 1 8 3 8 23 f.,
Emigration i. d. Schweiz 1849 u. i.
34, 131, 157, 177, 182, 189, 502, 679,
d. U.S.A. 280
686, 691, 704, 713, 732 f., 735
Annexionen 345, 545, 558
Altersversorgung 153
Ansbach-Bayreuth 77, 495, 674
Altertumswissenschaften 769
Ansiedlungspolitik s. unt Landgewin-
Althoff, Friedrich (1839 - 1 9 0 8 ) , Jurist u. nung
Wissenschaftspolitiker, Prof. i. Straß-
Anstett, Johann Protasius v. (1765 —
burg 1872, preuß. Ministerialdir. f.
1835), russ. Diplomat u. Staatsrat 50
d. Universitäts- u. höh. Unterrichts- Anti-Reaktions-Erlaß 267
wesen 568, 766, 769, 771 f., 774 ff. Antisemitismus 182, 778, 792
Altkonservative 352, 366 Antonien-Hütte 498
Altliberale 329, 354 Aprilaufstand i. Baden (1848) 247
— Fraktion 330 Ära Falk 749
— Fraktion Vincke 325 Arbeiter, -schaft 153, 266, 280, 328, 500,
— Partei 324 541, 563, 582, 720
Altlutheraner 172 - Arbeitsbedingungen 153, 193
Altmark 16, 53, 76, 86, 612 - Bergarbeiter 145, 582 f.
Altpreußen 167 - Fabrikarbeiter 141 f., 144, 156, 228,
Altpreußische Union 169 ff., 312 497, 515
Alvensleben, Gustav v. (1803-1881), - Facharbeiter 145, 217, 482, 535
preuß. General, Generaladjutant - Kinder 156, 763, 790 f.
Wilhelms I. 329, 334 Arbeiterbewegung 209
Alvensleben, Albrecht Graf v. ( 1 7 9 4 - - Berliner 227, 259
1858), preuß. Staatsmann, Mitgl. d. - radikale 212
802 Personen- und Sachregister

Arbeiterbildungsvereine 720 Arnim-Suckow, Heinrich Alexander


Arbeiterklub 259 Frhr. v. (1798-1861), preuß. Diplo-
Arbeiterschutzgesetzgebung 157 mat, Gesandter i. Brüssel 1840-1846
Arbeitervereine 255 u. i. Paris 1846-1848, Außenmin.
Arbeitsbeschaffung 259 f., 527 21.3.-20.6.1848, Mitgl. d. preuß.
Arbeitseinkommen, Arbeitslöhne 544, Ersten Kammer 1849-1851 241,
582 245
Arbeitslose, Arbeitslosigkeit 153, 193, Arnim-Boitzenburg, Adolf Gf. v. (1803 -
214,259, 527 1868), preuß. Staatsmann, Oberpräs,
Arbeitsmangel 193 d. Prov. Posen 1840, Innenmin.
Arbeitsmigration 537 1842-1845, Min.-Präs. 19.-29.3.
Arbeitsphysiologie 773 1848 204, 210, 237 ff., 245, 266
Arbeitsscheue 156 Arons, Leo (1860-1919), Physiker, Pri-
Arbeitszeit 154, 597 vatdozent, Sozialist 777 f.
Architekten 651 Arpaden, Dynastie 400
Archiv für pathologische Anatomie und Artillerie- und Ingenieurschule Berlin
Physiologie 526 704
Arcis-sur-Aube, Schlacht bei (20./ Artois, Charles Philippe Comte d'
21. März 1814) 69 (1757-1836), jüngster Bruder d.
Armee 37, 49, 244, 266, 308, 327 f., 330, 1793 hingerichteten Ludwig XVI., als
357 Karl X. Kg v. Frankreich 1824 - 1 8 3 0
— Armeemarinehaus 570 72, 192
— Armeeorganisation 304 Ascher, Saul (1767-1822), jüd. Schrift-
s. a. Heer, Militär steller (Pseudonym: Theodisius) 182
Arme/Armut 154 f., 214, 226, 570 Aschoff, Friedrich Heinrich v. (1789 —
— „Armen-Speisungsanstalt" 217 1854), preuß. Off., Generalmajor,
— Armenfürsorge, private 154 Chefkommandant d. Berliner Bür-
— städtische 154 gerwehr 6.4. -1.6.1848 260
— Armengesetzgebung 156 Asiatische Kompanie 480
— Armenpflege 154, 156 Auerstedt s. unt. Jena-A.
— Armenproblem 153, 155 Auerswald, Hans Jakob v. (1757-1833),
— Armenschulen (Berlin) 624 f. preuß. Reformer 428
— Armenunterstützung 250 Auerswald, Hans Adolf Erdmann v.
— Armenverbände 156 (1792-1848), Sohn v. H. J. ν. Α.,
— Armenwesen 109, 217 preuß. Off., Oberst 1841, Brigade-
Arndt, Ernst Moritz (1769 -1860), Dich- kommandeur i. Neiße 1846 u. i. Bres-
ter, Schriftsteller u. Publizist, Prof. f. lau 1848, Mitgl. d. dt. Nationalvers.
Geschichte i. Greifswald 1805/06, 1848, ermordet 18.9.1848 264
Prof. i. Bonn s. 1818, suspendiert Auerswald, Rudolf v. (1795-1866),
1820, rehabilitiert 1840, Abgeordne- preuß. Off. u. Beamter, Oberbürger-
ter d. dt. Nationalvers. 1848/49 32, meister v. Königsberg 1838, Ober-
38, 40,105,166, 175,181,184,191 f., präs. d. Prov. Preußen 1848, Min.-
200, 279, 729, 732, 736 Präs. u. Außenmin. 25.6.-20.9.1848,
Arnhold, Eduard (Bankier, Unterneh- Präs. d. Ersten Kammer 1849/50,
mer, Mäzen) 581 Oberpräs. d. Rheinprov. 1850/51
Arnim, Karl Joachim Friedrich Ludwig 261, 527
(genannt Achim) v. (1781-1831), Auerswald, Alfred v. (1797-1870),
Dichter 172 preuß. Beamter, Generallandschafts-
Arnim, Bettina (eigentl. Anna Elisabeth) dir. d. Prov. Preußen 1845-1848,
v. (1785 -1859), Schriftstellerin 156, Innenmin. 19.3.-20.6.1848 238,
198, 217 245, 261
Personen- und Sachregister 803

Auerswald, Hans Jakob v. (1757-1833), 1850, dann an Rußland ausgeliefert,


Oberpräs. v. Ost- u. Westpreußen i. Sibirien 1855 - 1 8 6 0 280
1808-1810, Oberpräs. v. (Ost-) Balkan 160, 318
Preußen 1815 - 1 8 2 4 46, 86 Ballenstedt, Albrecht (d. Bär) v. (um
Aufbringungsumlage 591 1100-1170), s. 1157 Markgf. v.
Aufklärung 20, 22, 483, 660 Brandenburg 396
— katholische 176 Ballestrem, schlesische Magnatenfamilie
— Gegner 172 541
Aufruhrbewegungen, ländliche 258 Ballestrem, Franz Gf. v. (1834-1910),
Aufrüstung 56 Zentrumspolitiker 581
August III. (1696-1763), s. 1733 Kg. v. Ballin, Albert (1857-1918), Reeder, Ge-
Polen, als Friedrich A. II. s. 1733 Kft. neraldir. d. Hapag s. 1899 582
v. Sachsen 421, 423 Ballungszentren 153
August d. Starke (1670-1733) Kft. v. Balten 393
Sachsen s. 1694, Kg. v. Polen 1697 - - Baltische Frage 408
1706 u. 1709-1733 418 f. - Baltische Krise 408
August, Ernst Ferdinand (1795-1870), Bamberger, Ludwig (1823-1899), Poli-
Primaner am Grauen Kloster 1812/ tiker u. Publizist, MdR. 1871 -1893,
13, später Mathematikprof., Dir. d. finanzpolit. Berater Bismarcks, Vor-
Köllnischen Realgymnasiums 40 kämpfer d. Freihandels 545
Aurich 480 Banken, Bankwesen 131 ff., 222, 519,
Ausfuhrverbote 477 541 f.
Ausländer 118
- Berliner 541
Auslandsdeutsche 592
- polnische Bank 161
Auslandskredite 601
- Bank des Berliner Kassenvereins 136
Auslandsschulwesen 775
- Bank-Gesetz vom 14. März 1875
Auswanderung 91, 212, 282, 515 f., 526,
554
536, 542, 560
- Bankiers 494, 507 f.
Auswärtiges Amt 162, 774 f.
- Bankpolitik 135
Autodafé 181
Bar-sur-Aube, Schlacht bei (27. Feb.
Automobil-Ausstellungen 569
1814) 69
Automobilindustrie 569
Barbareskenstaaten 164
Außenminister 368
Barbeyrac, Jean (1674-1744), Überset-
Avignon 73
zer Pufendorfs 621
Bäcker 154, 215 Barclay de Tolly, Michael Bogdano-
Bad Ems 362 witsch (s. 1815:) Ft. (1761-1818),
Baden 65, 79, 188, 195, 230, 247, 280 ff., russ. Heerführer, Kriegsmin. 1810 —
326, 358, 365 1812, Feldmarschall 1814 40,59,70
— Aufstand 265 Bardeleben, v., Landrat, Polizeipräs. v.
— Radikale 247 Berlin s. 27.6.1848 261
— Revolution 281 Barer Konföderation 424
— Revolutionsarmee 281 Barrière de l'Est-Diplomatie, frz. 420,
Bahnhofspartei 283 444
Bahrdt, Karl Friedrich (1741-1792), Bartels, Adolf (1762-1845), belg. Jour-
Aufklärer 646 nalist 194
Bakunin, Michael (1814-1876), russ. Basel, Frieden v. (1795) 495
Revolutionär, lebte i. Berlin 1840, Bassermann, Friedrich Daniel (1811 —
Dresden 1842, Zürich, Paris, Brüssel, 1855), dt. Politiker, Mitgl. d. bad.
Berlin 1848, Mitgl. d. revolutionären Zweiten Kammer 1841, d. Vorpar-
Regierung i. Dresden 1849, nach Ver- laments 1848 u. d. dt. Nationalvers.
urteilung zum Tode an Österreich 1848/49, Präs. d. Verfassungsaus-
804 Personen- und Sachregister

schusses, nach Berlin entsandt Nov. Bayerische Akademie der Wissenschaf-


1848 272, 283 ten s. unt. Akademien
Batocki-Friebe, Adolf Tortilowicz v. Bayern 65, 77, 79 f., 188, 195, 230, 247,
(1868-1944), Präs. d. Kriegsernäh- 281, 283 f., 316, 358 f., 365, 369, 524,
rungsamtes, Reichskommissar f. 530, 547, 555
Wiederaufbau 583 Bayerisch-württembergischer Zollverein
Bauakademie s. unt.: Akademien 511
Bauer, Bruno (1809 - 1 8 8 2 ) , ev. Theologe Beamte, Beamtenschaft 19 f., 152 f., 199,
u. polit. Publizist, Privatdozent i. 254, 428, 478, 486 f., 566, 582
Berlin 1834 u. i. Bonn 1839, Lehr- — Laufbahn 694
verbot 1842 209 — Reformer 687
Bauer, Edgar (1820-1886), philosoph. — Beamtenwirtschaftsverein 570
Schriftsteller, Bruder v. B. Bauer 209 Bebel, August (1840-1913), Politiker,
Bauern, Bauernstand 29 f., 113,118,138, Parlamentarier u. Mitbegründer d.
254, 256, 408, 496, 502 f., 508, 513, SPD 1869 355
516, 527, 560, 562 Beckedorff, Ludolph v. (1778-1858)
— Großbauern 142, 542 f. Oberregierungsrat 688, 710, 739
— Halbbauern 30 Becker, Karl Heinrich (1876-1933),
— Kleinbauern 141, 153, 256 Orientalist, Staatssekretär, preuß.
— Kleinbetriebe 474 Kultusmin. 1921 u. 1925 - 1 9 3 0
— Kleinstbauern 141 783, 786, 790, 792, 794
— Kleinstbesitzungen 153 Becker, Nikolaus (1809-1845), Jurist,
— Konservation des Bauernstandes 481 Gelegenheitsdichter ( „Rheinlied" )
— Mittelbauern 103, 142, 153 166
— Pachtbauern 503 Beckerath, Hermann v. (1801-1870),
— Unruhen 503 Kaufmann, Bankier u. Politiker,
— Vollbauern 30, 141 Mitgl. d. Vereinigten Landtags 1847
s. a. Kossäthen u. d. dt. Nationalvers. 1848/49,
Bauernbefreiung 103, 313, 428, 432, 496, Reichsfinanzmin.4.8.1848 - 9.5.1849,
499, 502, 506, 513, 515, 527 Mitgl. d. preuß. Abgeordnetenhauses
Bauernlegen 103 1849 262, 283
Bauernpolitik 408
Befreiungsgesetzgebung 534
Bauernschulen 655
Befreiungskampf, Befreiungskriege
Baugewerbe, Bauwesen 477, 481, 493,
s. unt. Freiheitskriege
519, 521, 528, 535, 568
Begnadigungen 731
— Baubeamte 651
— Baugewerksschulen 703 Beguelin, Heinrich v. (1765 - 1818), Vor-
Baumann, Johann Friedrich Theodor v. tragender Rat im Staatskanzleramt
(1768 - 1 8 3 0 ) , preuß. Beamter, Ober- 1811-1813 43
präs. d. Prov. Posen 1 8 2 4 - 1 8 3 0 BEHALA 599
102, 162 Behr-Schmoldow, Friedrich v. (1821 —
Bäumer, Gertrud (1873-1954), M d R . 1912), freikonservativer Politiker 550
(DDP) 1920 - 1933, Führerin d. Frau- Bekleidungsgewerbe 497, 535, 568
enbewegung 718 Belagerungszustand 271, 280
Baumstark, Eduard (1807-1889), Jurist, Belgien 161, 178, 193 f., 523, 538 f.
Privatdozent 1829, Prof. i. Greifs- — belg. Frage 161
wald 1838 u. i. Straßburg 1842, Lei- — Unabhängigkeitskampf 192
ter d. Staats- u. Landwirtschaftlichen Belle-Alliance 71
Akad. Eldena bei Greifswald 1843, „Belohnungs- und Unterstützungsanstalt
Mitgl. d. preuß. Nationalvers. 254 für das Gesinde" 217
Baumwollindustrielle 549 Benedetti, Vincent Gf. (1817-1900), frz.
Bautzen 59 Botschafter 362
Personen- und Sachregister 805

Berechtigungen, Berechtigungswesen — Dekret vom 21. Nov. 1806 36


757 f., 761, 764 f., 775 — Demokraten 233
Berends, Julius (1817-1891), Theologe — Dom 170
u. Buchdruckereibesitzer i. Berlin, — Frieden (2. Juli 1850) 284
Mitgl. d. preuß. Nationalvers. 1848 — Friedrichshain 242
255 — Friedrichstadt 235, 477 f.
Beresina (Fluß in Rußland) 39 — Kammergericht 196, 731
Berg, Großhgt. 16, 145 — Kommunalaufsicht 88
Bergbau, Bergwerke 489 f., 498,500,515, — Konvention v. (1808) 32 f.
520, 524, 531, 537 ff., 558, 560, 565, — Kriminalgericht 207
572, 592 — Magistrat 171, 233
— Bergakademien 499, 651 — Nikolaikirche 170
— Bergarbeiter s. unt. Arbeiter — Oberschicht 493
— Bergämter 500 — Oppositionelle, Berliner 233
— Bergbau- und Metallindustrie 490 — Quadriga 73
— Bergbaugesetzgebung 531 — Regierungsbezirk 88
— Bergbeamtentum 522 — Revolutionsbewegung 259
— Bergknappe 532 — Spandau 37, 237 f., 483
— Bergmann 532 — Stadtgefängnisse 196
— Bergordnung v. 1769 489 — Stadtschullehrerseminar 735
— Bergrecht 527, 532, 549 — Stadtverordnete 233
— Bergschulen 524, 703 — Steglitz 599
— Bleibergbau 541, 563 — Zeughaussturm 260 f., 263, 527
— Knappenvereine 532 Berlin/Brandenburg 517, 519, 536, 557,
— Steiger 532 567, 720
Berg- und Hüttendepartement 489, 498 Berliner Asylverein 570
Berg- und Hüttenwesen 520 f., 523, 542 Berliner Erweckungsbewegung 172 ff.
Berg- und Metallwissenschaft 489 Berliner Handelsgesellschaft 569
Bergwerksgesellschaft Recklinghausen
Berliner Handwerker-Verein 209
564
„Berliner Kassen-Verein" 135
Bergisches Land 522 f., 537
„Berliner Spar- und Bauverein" 570
Berlin 18, 44,49, 51, 63, 86, 95,113,135,
Berliner Sparkasse 136 f.
142, 144 ff., 154, 156, 160, 167, 174,
„Berliner Verein zur Besserung der Straf-
189,193 f., 204, 207 ff., 214, 217, 219,
gefangenen" 217
221 f., 226 ff., 231 f., 234, 238, 240 f.,
Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft
244, 252, 254, 256 f., 259 f., 267 ff.,
272,275,278, 280,283, 317,470,473, (BVG) 600
475, 477 f., 481, 484 f., 487 f., 491, Berlin-Stettiner Bahn 516
493,497,499, 507,516,518,520,525, Bernadotte, Jean-Baptiste (1763-1844),
533 ff., 541 f., 547, 556, 567 ff., 571, frz. Marschall, Kronprinz v. Schwe-
576, 587, 598 ff., 619, 621, 623, 625, den 1810, als Karl XIV. Kg. v. Schwe-
633, 639 ff., 644, 650 ff., 656 f., 661 f., den u. Norwegen 1818 60, 63 f.
664 f., 669, 678, 682, 685, 689, 694, Bernoulli, Johann (I.) (1667-1748),
704 ff., 711, 715 ff., 720, 722, 729, Schweiz. Mathematiker, Mitgl. d.
732, 750, 759, 771 f., 779, 793 Preuß. Akad. d. Wiss. 642
— Akademie der Wissenschaften s. unt. Bernoulli, Nikolaus (I.), (1687-1759),
Akademien Mathematiker u. Jurist, Mitgl. d.
— Barrikadenkämpfe s. unt. Revolution Preuß. Akad. d. Wiss. 642
von 1848 Bernstorff, Christian Günther Gf. v.
— Börse 219, 542 (1769-1835), dän. u. preuß. Staats-
— Brandenburger Tor 73 mann, dän. Außenmin. 1800—1810,
— Bürgerschaft 233 Gesandter i. Berlin 1817/18, preuß.
— Dahlem Außenmin. 1818 - 1 8 3 2 83, 158 f.
806 Personen- und Sachregister

Berufe, freie 254 — Bildungsbürger 153, 252, 680, 696,


Berufsausbildung 515 791
Berufsschulen 760 — Bildungsnachfrage 641
Berufswahl, freie 29 — Bildungsniveau 696, 738
Besatzung, frz. 18 — Bildungsphilosophie, idealistische
Besatzungskosten 21, 495, 501, 509 s. a. 676
Kontributionen — Bildungsreform 25 f., 29, 666
Beschäftigungsmangel 259 — Bildungsstreben der Arbeiterschaft
Besitzbürger 28 719
Bessemer, Henry (1813-1898), engl. In- — Bildungsstreben der Frauen 719
genieur u. Erfinder 539 — Bildungswillen 641
Bethmann Hollweg, Moritz August v. Binnenhandel 508
(1795 - 1 8 7 7 ) , Jurist u. ev. Theologe, Binnenmarkt 510
Prof. i. Bonn 1829, Kurator d. Uni- Binnenschiffahrt 542
versität Bonn 1842, Mitgl. d. rhein. Binnenwanderung 91, 94, 515
Provinzialsynode, Mitbegründer d. Binnenzölle 147, 495
„Vereins f. Kg. u. Vaterland", Mitgl. Biologie 773
d. Ersten u. Zweiten Preuß. Kammer Birkenfeld, Fstm. 82
1 8 4 9 - 5 5 , Kultusmin. 1858, Gründer Bischöfe 200, 312
d. „Preuß. Wochenblattes" 1851, Be- — Ernennung 200
gründer u. Präs. d. Dt. Ev. Kirchen- — Wahl 200
tage 1 8 4 8 - 7 2 173,314 Bismarck, Otto v. (1815-1898), Guts-
Bethusy-Huc, Eduard Georg Gf. v. besitzer, Mitgl. d. Vereinigten Land-
(1829-1893), s. 1862 Mitgl. d. tags 1847 u. d. preuß. Abgeordneten-
preuß. Abgeordnetenhauses 351 hauses 1 8 4 9 - 1 8 5 0 , preuß. Min.-
Bettler 153, 156 Präs. 1 8 6 2 - 1 8 9 0 (außer J a n . - N o v .
Beuth, Christian Peter Wilhelm (1781 - 1873), dt. Reichskanzler 1 8 7 1 - 1 8 9 0
1853), preuß. Beamter, Geh. Oberfi- 173, 224, 244, 265 f., 277, 283, 307,
nanzrat 1814, Chef d. Abtl. f. Handel 315 f., 319, 323, 325, 331 ff., 337 ff.,
u. Gewerbe 1 8 1 8 - 1 8 4 5 , Mitgl. d. 342, 345 ff., 352, 354 f., 359 ff.,
Staatsrats 1821, Wirklicher Geh. 364 ff., 370, 435 ff., 439, 442, 476,
Oberregierungsrat 1830 131, 142, 529, 531, 545 ff., 551, 555 f., 741 f.,
514, 516, 539, 702, 704 745, 774
Beuthen, Kr. 541, 659 — Reichskonzeption 436
Bevergern 556 f. Blanckenburg, Moritz Karl Henning v.
Bevölkerungsbewegung, Bevölkerungs- (1815-1888), Gutsbesitzer i. Pom-
entwicklung 17, 88 ff., 92, 95, 138, mern, Mitgl. d. preuß. Abgeordne-
494 f., 501, 508, 512, 516, 534, 532 f. tenhauses 1851 - 1 8 7 3 173
Bewag 600 Bleiverarbeitung 541 s. a. Bergbau
Beyme, Karl Friedrich (1816:) v. ( 1 7 6 5 - Bleichröder (Kölner Bankiersfamilie)
1838), Geh. Kabinettsrat 1 7 9 8 - 539, 545, 581
1808, Justizmin. (Großkanzler) Bleichröder (Bankhaus) 536
1808 —1810, Gesetzgebungsmin. Bleichröder, Gerson (1872:) v. ( 1 8 2 2 -
1817-1819 20 f. 99, 111, 189, 1893), Bankier, Vertrauensmann u.
495 f., 675 Finanzberater Bismarcks, als erster
Bezirkszensoren 208 nichtgetaufter preuß. Jude in den
Bialystok, Kr. 16 f., 429 erblichen Adelsstand erhoben 476
Biedermann, Karl (1812-1901), Publi- Blesson, Johann Ludwig Urban (1790 —
zist u. Historiker, Prof. i. Leipzig 1861), preuß. Off. u. Militärschrift-
1838, Mitgl. d. dt. Nationalvers. 229 steller, Major 1829, Kommandant d.
Biedermeier 180 Berliner Bürgerwehr 2.6.-15.6.1848
Bildung, -swesen 25, 29, 639 260
Personen- und Sachregister 807

Bloch, Friedrich (geb. 1890), Abtl.-Leiter Bonn 175, 189


bei d. Preuß. Bergwerks- u. Hütten- - Oberbergamt 541
AG s. 1925 554 Born, M a x (1882-1970), Physiker 796
Blücher, Gebhard Leberecht (s. 1814:) Ft. Born, Stephan (eigentlich Simon Butter-
v. Wahlstatt (1742-1819), preuß. milch) (1824-1898), Schriftsetzer,
Feldmarschall 58 f., 63 f., 67 ff., 181 Sozialist, Arbeiterführer, Emigration
Blum, Robert (1807-1848), liberaler i. d. Schweiz 1849 209, 259, 280
Politiker, Schriftsteller, Mitgl. d. dt. Bornemann, Ferdinand Wilhelm Ludwig
Nationalvers. 1848, i. Wien stand- (1798-1864), preuß. Beamter, Vor-
rechtlich erschossen 9.11.1848 212 tragender Rat i. Finanzmin. 1837,
Böckh, Philipp August (1785-1867), Präs. d. Oberzensurgerichts 1843,
Altphilologe 678, 687 Justizmin. 20.3.-20.6.1848 208,
Bodelschwingh-Heyde, Ludwig Karl 240, 245
Christian Gisbert Frhr. v. ( 1 8 0 0 - Borodino, Schlacht v. (7. Sept. 1812) 39
1873), preuß. Staatsmann, Ober- Börsenkrach (1844) 219
regierungsrat 1844, Regierungspräs. Borsig, August (1804-1854), Maschi-
1849, Finanzmin. 1 8 5 1 - 1 8 5 8 u. nenbau-Unternehmer i. Berlin, Be-
1 8 6 2 - 1 8 6 6 131 triebseröffnung 1837 221, 514, 704
Bodelschwingh, Ernst Albert Karl Wil- Borsig, Ernst v. (1869-1933), Industri-
helm Ludwig Frhr. v. (1794-1854), eller 581
preuß. Staatsmann, Oberpräs. d. Borstell, Karl Leopold Georg Ludwig
Rheinprov. 1834—1842, Finanzmin. Frhr. v. (1773 - 1844), preuß. General
1 8 4 2 - 1 8 4 4 , Kabinettsmin. 1844/45, 51
Innenmin. 1 8 4 5 - 1 8 4 8 131, 204, Bötzow, Julius (Unternehmer) 581
208, 225, 236, 266 Bourbonen 72, 81
Bodenkredit 488 Boyen, Leopold Hermann Ludwig v.
Bodenpreise 526, 533 (1771-1848), preuß. General u.
Bodenrecht 98 Staatsmann, M a j o r 1808, i. russ.
Bodenwert 543 Dienst 1812/13, Kriegsmin. 1 8 1 4 -
Boelitz, Otto (1876-1951), DVP-Politi- 1819, verabschiedet 1819, General
ker, preuß. Kultusmin. 1 9 2 1 - 1 9 2 5 1840, Kriegsmin. 1841 - 1847, Gene-
788, 790 ralfeldmarschall 1847 28, 38, 49,
Böhmen 78, 231, 262, 400 111, 189, 200
Böhmerwald 395 Brandenburg 24, 86, 96, 113, 157, 252,
Boisserée, Sulpiz (1783-1854), Kunst- 256, 270, 273, 393, 395 f., 405 f.,
wissenschaftler u. -Sammler (gemein- 411 f., 414, 473, 487 f., 490 f., 533,
sam mit seinem Bruder Melchior B. 535, 571, 575, 578, 589
[1786 - 1 8 5 1 ] ) , Übersiedlung v. M ü n - - Bistum 392
chen nach Bonn 1845, Geh. H o f r a t Brandenburg, Friedrich Wilhelm Gf. v.
1845 201 (1792-1850), Halbbruder Friedrich
Bojaren, litauische 402 Wilhelms III., preuß. Off. u. Politi-
Boleslaw III., Hg. v. Polen (1085-1139) ker, General, Min.-Präs. 2.11.1848-
393 6.11.1850 269 f., 278, 284 f.
Bonin, Gustav v. (1797-1878), preuß. Brandt, Ahasvérus ν. (1758-1822),
Beamter, Oberpräs. d. Prov. Sachsen preuß. Beamter, Justizrat i. Königs-
1 8 4 5 - 1 8 4 8 u. 1 8 4 9 - 1 8 5 0 sowie d. berg 1796, Vertreter Auerswalds f. d.
Prov. Posen 1850/51 u. 1 8 6 0 - 1 8 6 2 , ostpreuß. Ständevers. 1813 47
Finanzmin. 21.9. -1.11.1848 131 Braun, Otto (1872-1955), Sozialdemo-
Bonin, Eduard Wilhelm Ludwig v. krat. Politiker, preuß. Min.-Präs.
(1793-1865), preuß. General, 1 9 2 0 - 1 9 3 2 793
Kriegsmin. 1852 u. 1858/59 319, Braunkohlenbergbau 538, 563, s. unt.:
324, 327 Bergbau
808 Personen- und Sachregister

Braunsberg 410 Bülow, Ludwig Friedrich Viktor Hans


Braunsberger Schulstreit 740 (1810:) Gf. v. (1774-1825), preuß.
Braunschweig 78, 194, 246 Staatsmann, Finanzmin. 1813 —1818,
Bregenzer Schutz- und Trutzbündnis (12. Handelsmin. 1818 — 1825, Oberpräs,
Okt. 1850) 284 d. Prov. Schlesien s. 1825 125, 131,
Bremen 92 512
Brennerei-Arbeiter 154 Bülow, Ernst Gottfried Georg v., gen.
Brentano, Ludwig Johann 550 f. B.-Cummerow (1775 — 1851), natio-
Breslau 44, 46, 48 ff., 189, 252, 280, 482, nalökonomischer Schriftsteller u. Po-
484,490,498,507,519,525,662,682, litiker, Gründer d. ritterschaftlichen
705 Bank f. Pommern 1824 135, 266
— Bistum 175 f. „Bund der Eidechsen" 402
— Oberbergamtsbezirk 541 „Bund der Gerechten" 211 f., 227
— Turnerstreit 181 „Bund der Industriellen" 553
Brienne-le-Chäteau, Schlacht bei (29. „Bund der Kommunisten" 211
Jan. 1814) 68 „Bund der Landwirte" 556 f.
Brockhausen, Karl Christian v. (1766 — Bundesakte s. unt. Wiener Bundesakte
1829), preuß. Diplomat, Gesandter i. Bundesfeldherr 234
Paris 1807-1810 34 Bundesflagge 234
Bromberg 94, 102 f. Bundesgericht 234
Bromberger Kanal 492 Bundesheer 234
Bronnzell 285 Bundesrat 551
Brotpreise 213 Bundesrepräsentation 234
Bruck, Karl Ludwig Frhr. v. (1798- Bundesstaaten 367
1860), österr. Kaufmann u. Staats- Bundeswahlgesetz 248
mann, Handelsmin. 1848 —1851, Bunsen, Christian Carl Josias (1858:)
Finanzmin. 1855 - 1 8 6 0 316, 529 Frhr. v. (1791-1860), preuß. Diplo-
Brüning, Heinrich (1885-1970), MdR. mat, Gesandter i. Rom 1823 - 1 8 3 8
1924-1933, Reichskanzler 1930- u. i. London 1842-1854, Mitgl. d.
1932, Reichsaußenmin. 1931/32 dt. Nationalvers. 1848/49, Wegberei-
601 ter d. anglik.-ev. Bistums i. Jerusalem
Brünneck, Karl Otto Magnus v. (1786 — 1841 173, 177, 204, 278, 310, 319
1866), Schwager d. Oberpräs. Schön, Buol-Schauenstein, Karl Ferdinand Gf.
Rittergutsbesitzer, Mitgl. d. Vereinig- (1797-1865) österr. Außenmin.
ten Landtags 1847, d. preuß. Natio- 1852-1859 319
nalvers. 1848 u. d. Ersten Kammer Burckhardt, Jacob Christoph (1818 —
1849 232 1897), Schweiz. Kulturhistoriker 348
Brüssel 211, 538 Burg Wetter 523
Bücherverbote 208
Bücherverbrennung 181 f. (1817), 797 Bürger, -tum 20, 24, 28, 108 f., 118, 152,
(1933) 233, 280, 328, 500, 638, 661, 763
Budget 307 s. a. Staatshaushalt - liberales 228, 511, 527
— budgetloses Regiment 332 - rheinisches 194
— Budgetrecht 248, 307 f. - Bewegung, bürgerliche 245, 248
Bug (Fluß i. d. Ukraine) 392 - Bürgerbewaffnung 233 f.
Bühring, Dietrich E. 487 - Bürgermilizen, -wehr 48, 193, 233,
Bühring, Johann Carl, Tischlergeselle, 238, 248, 260, 268 ff., 280
Mitangeklagter i. Berliner Kommu- - Bürgerrechte 244, 329, 502
nistenprozeß 1847 227 - Bürgerwehrgesetz 268
Bülow, Friedrich Wilhelm (s. 1814:) v. - Bürgerwehrverfassung 244
Dennewitz (1755-1816), preuß. Ge- - Mitte, bürgerliche 252, 265
neral 51 - Revolution, bürgerliche 231
Personen- und Sachregister 809

— Revolutionsbewegung, bürgerliche diktator. Vollmachten) u. Min.-Präs.


230 1848 263
Bürgerliches Gesetzbuch 99, 370, 531 Celle 53
Bürgermeister 28, 109 Central-Untersuchungs-Commission 188
Bürgermeisterei (Mairie) - Verfassung 109 „Centraiverband deutscher Industriel-
Bürgerschulen 655,668,673, 682 f., 698 f. ler" 552
Bürokratie 24, 29 f., 84, 157, 312, 357, „Centraiverband deutscher Industrieller
470, 479 zur Beförderung und Wahrung natio-
Burschenschaften, Burschenschaftler naler Arbeit" 553
180 f., 185, 190, 196 f., 727 ff., 731, „Centraiverein deutscher Industrieller"
778 551
Burtscheid 523 „Centraiverein für das Wohl der arbei-
Büsching, Anton Friedrich (1724 -1793), tenden Klassen" 217
Gymnasialdir. i. Berlin 633, 655 Châlons-sur-Marne (Hauptstadt d. frz.
Depart. Marne) 68
Calvinismus 472, 475, 499 Champagny, Jean-Baptiste Nompère de
Calzabigi, Antonio 487 (1756-1834), frz. Diplomat, Außen-
Camphausen (Kölner Bankhaus) 522 min. 1807-1811 34
Camphausen, Ludolf (1803-1890), Champaubert, Schlacht bei (10. Feb.
preuß. Staatsmann, Gründung einer 1814) 68
Bank 1826, Mitgl. d. Vereinigten Charité 650
Landtags 1847, preuß. Min.-Präs. Charlotte Luise Wilhelmine, genannt
29.3.-20.6.1848, Urheber d. preuß. (1817:) Alexandra (1798-1860),
Zirkularnote v. 23.1.1849, Mitgl. d. Prinzessin v. Preußen, älteste Tochter
preuß. Ersten Kammer 1849-1850 Friedrich Wilhelms III., Gemahlin d.
Zaren Nikolaus I. 160
211, 219, 229, 240, 245, 248, 260 f.,
Charte Waldeck 255, 268, 273
277, 283, 527
Chasot, Ludwig August Friedrich Adolf
Camphausen, Otto (1896:) v. (1812-
v. (1763-1813), preuß. Off., Kom-
1896), Bruder v. Ludolf C., Vortra-
mandant v. Berlin 1809 38 f.
gender Rat i. preuß. Finanzministe-
Château-Thierry, Schlacht bei (12. Feb.
rium 1845, Mitgl. d. preuß. Zweiten
1814) 68
Kammer 1849 u. 1850-1852, Präs.
Châtillon-sur-Seine (Friedenskongreß
d. Seehandlung 1854, Finanzmin.
1814) 68 f., 79
1869 - 1 8 7 8 283, 352
Chaumont-en-Bassigny 69, 79
Cannes 70 Chausseen 94, 147
Canning, George (1770 — 1827), engl. - Chausseebau 148, 498
Staatsmann, Außenmin. 1807-1809 Chemie 690, 773
u. 1822-1827 159 f. Chemische Industrie 517 f., 524, 535,
Caprivi, Georg Leo Gf. v. (1831 -1899), 568 f., 593, 771
dt. Reichskanzler v. 1890-1894 Chirurgenausbildung 650
438 Cholera 89, 161
Castlereagh, Robert Stewart Viscount, Christen, -tum 81, 95, 172, 737
Marquess of Londonderry (1769 — Christianisierung 394
1822), engl. Staatsmann, Außenmin. Christine (1626-1689), Kgn. v. Schwe-
1812-1822 73,78 den 1632-1654 416
Caulaincourt, Armand Augustin Louis, „ Christlich-deutsche Tischgesellschaft"
Gf. v. (1772-1827), Duc de Vicence, 172 f.
frz. Diplomat u. Staatsmann, Außen- Clausewitz, Karl v. (1780 -1831), preuß.
min. 1813/14 u. 1815 62, 68, 73 General, Heeresreformer u. Kriegs-
Cavaignac, Louis-Eugène (1802 — 1857), theoretiker, i. russ. Diensten 1812 —
frz. Off. u. Politiker, Kriegsmin. (mit 1815, Verwaltungsdir. d. Allg.
810 Personen- und Sachregister

Kriegsschule 1 8 1 8 - 1 8 3 0 28, 34, Daimler-Benz (Industrie-Unternehmen)


38 f., 42, 47, 161 584
Cobden-Vertrag (23. Jan. 1860) 529 d'Alembert, Jean le Rond (1717-1783),
Cocceji, Heinrich v. (1644 —1719), Jurist frz. Philosoph u. Mathematiker,
619 Enzyklopädist 643
Cocceji, Samuel v. (1679 — 1755), Jurist, Dampfhämmer 540
preuß. Justizmin. s. 1738 u. Groß- Dampfmaschinen 137, 145 f., 489 f., 500,
kanzler s. 1747 619 508, 517 f., 523 f., 533, 538, 540
Cockerill, Charles James (1786 — 1837), Dampfkessel 540
Bruder v. J. C., Mitbegründer d. Dampfschiffahrt 150 f., 522, 525
Filialbetriebes (Wollspinnerei) i. Ber- Danckelmann, Christian Balthasar Eber-
lin 146 hard (1695:) Frhr. v. (1643-1722),
Cockerill, John (1790-1840), Sohn v. leitender Min. Friedrichs III. (I.), auf-
W. C. sen., Maschinenbauunterneh- grund v. Intrigen 1697 — 1707 inhaf-
mer i. Seraing, Filialbetrieb i. Berlin tiert, 1713 rehabilitiert 474
1 8 1 5 - 1 8 3 1 193 Dänemark 60, 77, 104, 262, 279, 284,
Cockerill, William sen. (1759-1832), 335 f., 338, 409
Maschinenbauer i. England 146 - dt.-dän. Krieg ( 1 8 4 8 - 5 0 ) 335
Cockerill, William jun. 146 - dt.-dän. Krieg (1864) 339
Code Civil (s. 1807: Code Napoléon) 99, - nationalliberale Partei 336
182 Danzig 17, 62, 64, 76,101, 113,148,161,
Code Napoléon 182 340,426,429,446,509, 578,592,594,
Code pénal 229 705, 744, 759
Cohen, Ephraim (Fabrikant) 494 Dardanellenvertrag (13. Juli 1841) 166
Collegium Fridericianum 625 Darjes, Joachim Georg (1714—1791),
Collegium medico-chirurgicum 650 Jurist 646
Colonna, Philipp Gf. 498 Daru, Pierre Antoine Noël Bruno Comte
Colonna-Hüttenwerk 498 de (1767-1829), frz. Generalinten-
Condorcet, Marie-Jean-Antoine Mar- dant f. Preußen 1806 - 1 8 0 8 32
quis de (1743 - 1794), frz. Philosoph d'Auvray, Fjodor Filippowitsch (1766 —
643 1846), russ. Off., Generalmajor 1812,
Consistoire supérieur 168 Generalstabschef b. Korps Wittgen-
Cottbus, Kr. 17, 76 stein 1813 58
„Courier" (Dampfschiff) 150 Davou(s)t, Louis Nicolas, Duc d'Auer-
Craonne, Schlacht bei (7. März 1814) 69 stedt, Prince d'Eckmühl (1770 —
Crédit Mobilier (frz. Bankhaus) 538 1832), frz. Marschall 35
Cromwell, Oliver (1599-1658), engl. Davysche Sicherheitslampe 524
Staatsmann u. Heerführer 471 DDP (Deutsche Demokratische Partei)
Custozza, Schlacht v. (1848) 263 786
Defensionssteuern 412
Dahlbusch (Bergwerksgesellschaft) 538 Deklaration vom 29. Mai 1816 30, 513
Dahlem 772 Delbrück, Ludwig (1860-1913), Ban-
Dahlmann, Friedrich Christoph (1785 - kier 772
1860), Historiker u. Politiker, Prof. i. Delbrück, Hans (1848-1929), Histori-
Kiel 1813 u. Göttingen 1829, als einer ker u. Publizist 776
d. Göttinger Sieben entlassen 1837, Delbrück, Martin Friedrich Rudolf
Prof. i. Bonn 1842, Mitgl. d. Siebzeh- (1896:) v. (1817-1903), Beamter i.
nerausschusses, d. Vorparlaments u. preuß. Handelsministerium s. 1848,
d. dt. Nationalvers. 1848/49 sowie d. Präs. d. Reichskanzleramtes 1871 —
Kaiserdeputation 200, 246 f., 252, 1876, M d R . 1 8 7 8 - 1 8 8 1 529,531 f.,
264, 283, 732, 736 539, 546, 549
Personen- und Sachregister 811

Demagogen, -Verfolgungen 182, 189, Deutscher Bund 80, 83, 157, 162, 179,
191 f., 196, 688, 7 3 0 185, 190, 192, 195, 218, 249 f., 258,
Demographie 643 262, 304, 315 ff., 319 ff., 335 f., 342 f.,
Demokraten, Demokratie 325, 367, 526 345, 351, 506, 511, 728
— demokrat. Linke 256 — Bundesexekution 285, 338, 343
— demokrat. Partei 303 — Bundesfarben 246
„Demokratischer Klub" 255, 259 f. — Bundesfestungen 167
Dennewitz, Schlacht v. (6. Sept. 1813) 63 — Bundesgesetze 195
Departement für Handel und Gewerbe — Bundesintervention 338
131 — Bundeskriegsverfassung 167
Departements — Bundespolizeizentrale 315
— Meuse-Inférieure 66 — Bundespressegesetz 185, 315
— M o n t Tonnerre 66 — Bundesrat 317
— Ourthe 66 — Bundesreform 231, 246
— Rhin-et-Moselle 66, 5 2 2 — Bundestag 167, 195, 206, 246 ff., 252,
— Roer 66 315, 317 f., 338
— Sarre 66 — Bundes-Universitätsgesetz (1819)
Depeschen 149 185, 727
Depositenscheine 135 — Bundes-Untersuchungsgesetz 188
Depression 552, 750 — Bundesverfassung 82
Deputationen 109 — Bundesversammlung 83, 185, 195,
— für geistliche u. Schulangelegenheiten 248, 284
— Bundes-Zentralbehörde 195
168
„Deutscher Handelstag" 553
Deputatleistungen 497
„Deutscher Landwirtschaftsrat" 553,
„Der Sprecher oder: Rheinisch-westfä-
574
lischer Anzeiger" (Zeitung) 211
„Deutscher Lehrerverein" 755
Dernburg, Bernhard (1865 - 1 9 3 7 ) , Dir.
„Deutscher Nationalverein" 348
d. Bank f. Handel u. Industrie 1901 -
„Deutscher Offiziersverein" 570
1906, Staatssekretär d. Reichskolo-
Deutscher Orden in Preußen 385 ff.,
nialamts 1907-1910, Mitgl. d.
391 f., 394, 396 ff., 4 0 0 ff., 406, 413
Preuß. Herrenhauses 1913 - 1 9 1 8 ,
Deutscher Stahlwerksverband 572
Reichsfinanzmin. 1919 582
Deutscher Zollverein 138, 1 6 2 f . , 194,
Desertionen 55
220, 316 f., 358, 501, 510 ff., 523,
Desjardins & Co. (Handelshaus) 478
526 f., 529, 531
Dessau 64, 656 — Zollbundesrat 358
d'Ester, Karl ( 1 8 1 1 - 1 8 5 9 ) , Kölner Arzt — Zollparlament 358, 530
u. Sozialist 211 — Zollparlamentswahlen (1868) 359
Deutsch-Krone 399 — Zollvereinskrise 316, 529
Deutsch-Österreich 592 — Zollvereinspolitik 148, 162 ff.
Deutsche Bank 547, 569, 5 8 2 — Zollvereinsvertrag vom 1. Okt. 1868
Deutsche Bundesakte 80 530
Deutsche Fortschrittspartei 329 — Zollvereinsverträge 316 f.
Deutsche Frage 386, 390, 433 ff. Deutsches Komitee 79
Deutsche Gemeindeordnung 602 Deutsches Reich 365, 367, 369, 386, 392,
„Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft" 419, 435 f., 527, 531, 544 f., 548, 579,
567 781
Deutsche Legion 40 Deutschkatholizismus 212
Deutsche Reichsbahn 596, 600 Deutschland
Deutsche Reichsbank 547, 549, 554 — Einheit, Einheitsbewegung 163, 181,
Deutsche Reichspost 547 283, 434
„Deutscher Arbeiter-Kongress" 259 — Einigung 360
812 Personen- und Sachregister

- Einigungspolitik 359 Dohna, Ludwig v. (1776-1814), Burggf.


— Einheitsgedanke 436 u. Gf. zu Dohna-Schlobitten, preuß.
- Nation 242, 434 Off., Emissär Yorcks 1813 48, 50
— Nationalbewegung 334, 338, 348, „Doktorenclub" 209
354, 360, 433 Domänen 108, 475, 477, 491, 496 f., 502,
- Nationalstaat 348, 354, 438 528, 542, 554, 558 ff., 565, 589, 657
— Stimmung, antideutsche 166 - Amortisationsrenten 560
Deutschtum-Verein 593 - Bauern 496, 512
Diebitsch (1829:) -Sabalkanski, Hans - Besitzer 543
Karl Friedrich Anton Gf. v. (1785 - - Domänendirektorium 476
1831), russ. General 42, 58 - Domänenfiskus 560
Dienstverpflichtungen 502 - Erträge 127, 471, 476
Dienstwirtschaft 496 f. - Generalpächter 492
Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm - Pächter 477, 491, 543, 561 f., 657
(1790-1866), Pädagoge 734f. - Pachtzins 589
Dieterici, Carl Friedrich Wilhelm - Unterpächter 492
(1790-1859), preuß. Nationalöko- - Verkäufe 127, 512, 522
nom u. Statistiker, Geh. Oberregie- - Verwaltung 474, 560 f., 649
rungsrat, Prof. d. Staatswissenschaf- Domanialbesitz 560
ten i. Berlin 1834, Dir. d. Statist. Dombrowa (poln. Gebiet) 574
Büros 1844, Mitgl. d. preuß. Akad. Domhardt, Johann Friedrich v. (1712 —
d. Wiss. 1847 250 1781), preuß. Verwaltungsbeamter,
Dietze, Constantin ν. (Prof. f. Volks- 576
wirtschaft) 589 f. Dominium maris Baltici 409, 469
Dijon 70 Domkapitel 113
Dinnendahl, Franz (1775-1826), Me- Donaufürstentümer 318
Dönhoff, August Heinrich Hermann Gf.
chaniker u. Maschinenbauindustriel-
v. (1797-1874), preuß. Diplomat,
ler 524
Gesandter beim Dt. Bundestag
Dinnendahl, Johann (1780-1849), Me-
1842-4.5.1848, Außenmin. 2 1 . 9 . -
chaniker u. Industrieller 524
30.10.1848 232
Direktionsprinzip 531 Dorfküster 613
Dirigismus, staatlicher 535
Dorfschulwesen s. unt. Landschulwesen
Disconto-Gesellschaft 135
Dörnberg, Wilhelm Kaspar Ferdinand
Dispositionskasse 495
Frhr. v. (1768-1850), preuß. Off.
Disziplinarrecht 312
1796, i. russ. Diensten 1812, hann.
Dithmar, Justus Christoph (1678 —
General 1815 53
1737), Kameralist, Prof. i. Frankfurt/
Dörnigheim 65
O. 649
Dortmund 521, 556
Dmowski, Roman (1864-1939) poln. - Oberbergamt 220, 564
Staatsmann 440 - Oberbergamtsbezirk 221, 523, 538,
Dohna, Karl Friedrich Emil v. (1784 — 541
1859), Burggf. u. Gf. zu Dohna- Dortmund-Ems-Kanal 558
Schlobitten, preuß. General, zeit- Drage (Fluß i. Preußen) 399
weise i. russ. Diensten (Tauroggen), Drang nach Osten 397
Generalfeldmarschall 1854 42 Dreifelderwirtschaft 514
Dohna, Friedrich Ferdinand Alexander Drei-Klassen-Wahlrecht 275, 306, 370
v. (1771-1831), Burggf. u. Gf. zu Dreikönigsbündnis (26. Mai 1849) 283
Dohna-Schlobitten, preuß. Staats- Dreiständekurie 224
mann, Innenmin. 1808 — 1810, Präs. Dreißigjähriger Krieg 414, 611 ff., 617,
d. ostpreuß. Ständetages 1813 25, 623
46 f., 428 Dresden 63, 280
Personen- und Sachregister 813

Dresdner Bank 569 Egells, Franz Anton ( 1 7 8 8 - 1 8 5 4 ) , M a -


Drittes Reich 598 schinenbau-Unternehmer i. Berlin,
Dronke, Ernst ( 1 8 2 2 - 1 8 9 1 ) , radikal- Lehrherr v. A. Borsig u. C. Hoppe,
demokrat. u. sozialkrit. Schriftsteller, Betriebseröffnung 1822 221, 235
Mitarbeiter v. K. M a r x u. F. Engels Eichborn & Co. 490
210 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich
Droste zu Vischering, Klemens August ( 1 7 7 9 - 1 8 5 6 ) , preuß. Beamter, Le-
Frhr. v. (1773 - 1 8 4 5 ) , Kapitelvikar d. gationsrat i. Auswärtigen Amt 1815,
Diözese Münster 1805 - 1 8 2 0 , Weih- Mitgl. d. Staatsrats 1817, Referent f.
bischof v. Münster 1827, Ebf. v. Köln d. dt. Angelegenheiten i. Auswärti-
1835, interniert 1 8 3 7 - 1 8 4 1 , Verzicht gen Amt 1817, Verfechter d. Zollver-
1842 177 f., 200 eins, Kultusmin. 1 8 4 0 - 1 8 4 8 162,
Droysen, Johann Gustav ( 1 8 0 8 - 1 8 8 4 ) , 168, 198, 205, 212, 238, 678, 732,
Historiker, Politiker 778 734 f.
Druckereigewerbe 535 Eichsfeld 76
Du Bois-Reymond, Emil ( 1 8 1 8 - 1 8 9 2 ) Eiderdänische Partei 335
Physiologe 690, 775 Eidgenossenschaft 76
Duckwitz, Arnold ( 1 8 0 2 - 1 8 8 1 ) , Kauf- Eifel 95, 2 0 2
mann u. Politiker, Reichshandels- - Eifeltäler 5 2 2
min. 1848/49 529 Ein- und Ausfuhr 508
Duesberg, Franz v. (1793 - 1 8 7 2 ) , preuß. Eindeutschung 4 3 2
Beamter, Mitgl. d. Staatsrats 1836, Einfuhrzölle 213
Dir. d. „Katholischen Abteilung" i. Eingemeindungen 597
Kultusministerium 1841, Finanzmin. Einheitsschule 668, 784
1846-1848 131 Einkommensteuer 117 f., 225, 487, 502
Duisburg 556 f. Einstein, Albert ( 1 8 7 9 - 1 9 5 5 ) , Physiker,
Nobelpreisträger 770, 796
Dunin-Sulgustowski, Marcin (1774 —
Einwanderer, Einwanderung 91, 95, 471,
1842), Ebf. v. Gnesen u. Posen 1830,
489
Absetzung u. Verhaftung 1839 178,
Einzelgehöfte 94
200
Eisen, -industrie, -Wirtschaft 218, 220,
Düppeler Schanzen 338
508, 520, 523, 537, 539 ff., 550, 552,
Durchschnittslöhne und Durchschnitts-
557, 572, 574
gehälter 579
— Einfuhr 551
Düsseldorf 522, 525
- Verarbeitung 535
— Regierungsbezirk 536
- Zölle 549 ff.
Eisenbahn, -wesen 137, 499, 520, 523,
Eckert, Heinrich Ferdinand (Maschinen-
5 2 5 , 5 2 8 , 5 3 0 , 5 3 8 ff., 542 ff., 5 4 7 , 5 5 4
bauer) 533 - Aktien 219, 520, 5 4 4
Edikte — Aktiengesellschaften 542
— v. Nantes (1598) 4 7 2 - Betrieb 220
— v. Potsdam (1685) 4 7 2 - Eisenbahnbau 94, 207, 218 ff., 519 f.,
— wegen der Auswanderung preuß. Un- 522, 525, 537, 548, 558, 568, 576
tertanen (2.Juli 1812) 39 — — Gesellschaften 516
— wegen einzuführender allg. Prüfung — Eisenbahnboom 147, 220
der Schulamtskandidaten. Vom 12. - - Gesellschaften 218, 528, 537, 539
Juli 1810 671 - Eisenbahnnetz 94, 194, 208
— zur Beförderung d. Landeskultur 503 — Eisenbahnpolitik 555, 557
— die Regulierung d. gutsherrlichen u. — Finanzierung 219 f.
bäuerlichen Verhältnisse betreffend — Tarife 356
(14. Sept. 1811) 30, 503 — Unternehmer 222
s. a. Oktoberedikt, Emanzipationsedikt s. a. Verstaatlichung der Eisenbahnen
814 Personen- und Sachregister

Eisernes Kreuz 57 Erich v. Pommern (um 1382-1459), Kg.


Elba 70 v. Dänemark (s. 1397), Norwegen (s.
Elbe 16, 44, 52 f., 59, 63 f., 98, 393 ff., 1389) u. Schweden (s. 1397), abge-
492, 556 setzt 1439 bzw. 1441 404
- Elbhandel 482 Erlanger, Raphael Frhr. v. (1806-1878),
- Elbherzogtümer 335, 338 ff., 345 Bankier 526
- Elbzoll 482 Erleichterungsgesetze v. 1888/89 750
Elberfeld 193, 211, 280, 525 Ermland 76,
Elbing 45, 198, 211, 578, 594 — Bistum 176
Elektrizitätswirtschaft 586, 596 — Fürstbistum 407, 410
Elektroindustrie 535, 568 f. Ernährungsverwaltung 584
Elementarschulen, -wesen 154, 632 f., Ernährungswirtschaft 583
667 ff., 670 f., 682 f., 688, 700 f., 707, Erste Kammer 273, 275 f., 303, 305
712, 737, 742, 749, 753, 759 Erwachsenenbildung 720
— Elementarschulkosten 752 Erweckungstheologen 174
— Elementarunterricht 668 Erzbergbau 498, 573
Elmina (Stadt i. Oberguinea) 472 Erzgebirge 280
Elsaß 74, 81, 363 f., 526, 544 Erzpriester 657
— Elsaß-Lothringen 317, 369 Essen 109, 521, 524
s. a. Lothringen Etappenstraßen s. unt. Militärstraßen
Emanzipationsedikt v. 1812 95, 225 Etat 330
Emden 104, 471, 480, 556 — Geheimer 131
Emigration s. unt. Auswanderung — Bewilligungsrecht 304
Emscher 524 — Kontrolle 132
Emser Depesche 362 s. a. Staatshaushalt
Energiewirtschaft 584 Etoges, Schlacht bei (14. Feb. 1814) 68
Engels, Friedrich (1820-1895), Sozialist. Euler, Leonhard (1707-1783), Schweiz.
Politiker u. Schriftsteller, Freund u. Mathematiker 643
engster Mitarbeiter v. Karl Marx, Be- Europa
teiligung am Pfälzer Aufstand u. an — Friedensordnung 360
d. Reichsverfassungskampagne 1849, — Gleichgewicht 160, 334
Flucht über d. Schweiz nach England — Mächtesystem 321, 334
1850 209, 211, 280 — Pentarchie 334
England 36 ff., 41, 81, 145 f., 158 ff., Examen pro facúltate docendi (1810)
163 f., 282, 314, 318 f., 338, 347, 361, 671, 698
445,447,489,499,501,518,520,523, Experimentelle Therapie 773
529, 535, 537, 779 Export 491, 552
„Entschädigungsprovinzen" 96 Extraordinarien 786
Ephraim & Söhne 484 Eylert, Rulemann Friedrich (1770 —
Ephraim, Veitel Heine (1703-1775), 1852), ev. Theologe, Hofprediger i.
Münzmeister Friedrichs d. Gr. 483 f. Potsdam 1806, Bf. u. Mitgl. d. Staats-
Episkopalverfassung 169 rates 1818 170
Epuration des Bundestages 247 Eyth, Max (1835-1906), Techniker u.
Erbhuldigung 327 Schriftsteller 543, 567
Erbkaisertum 252
Erbuntertänigkeit 29, 496
Fabrikwesen 534
Erfüllungspolitik 445
— Fabrikanten 508
Erfurt 17, 33, 76
— Fabrikarbeiter s. unt. Arbeiter
- Fürstentag (Okt. 1808) 104 — Fabrikinspektoren 313
- Erfurter Union 284, 315 — Fabrikkinder 157
— Erfurter Unionsparlament 283 — Fabrikproletariat 494, 506, 534
— Erfurter Verfassung 284 Fachschulen, -wesen 568, 703, 785
Personen- und Sachregister 815

Falk, Adalbert (1827 -1900), preuß. Kul- Mitgl. d. dt. Nationalvers. 1848/49
tusmin. 1872 - 1 8 7 9 352,740 f., 743 u. d. Ersten preuß. Kammer 1849,
Familienhäuser 156, 217 Oberpräs. d. Prov. Brandenburg
Färber 154 1850 — 1862, zwischenztl. Innenmin.
Fein, Georg (1803 - 1869), liberaler Jour- (1858/59) 103,131,134,162, 200,742
nalist u. Politiker, Emigration 1832 Flüsse 520
(nach Paris u. Zürich, später i. d. - Regulierungen 482, 491
U.S.A.), veröffentlichte unbefugt - Schiffahrt 471
Schöns Schrift „Woher u. wohin" i. - Verkehr 489, 525
Straßburg 1842 206 Folien, Karl (1796-1840), Jurist, Privat-
Feinmechanik 535 dozent i. Gießen u. Jena 1818, Emi-
Felbiger, Johann Ignaz v. (1724-1788), gration nach Frankreich 1819, i. d.
Pfarrer u. Schulreformer 659 Schweiz u. d. U.S.A. 1824 183 f.,
Feldmesser 651 192
Festtagsarbeit 157 Fontainebleau 70
Feudalbindungen 257 - Dekret v. (Okt. 1810) 36
Feuer- und Hagelversicherung 113 Fontane, Theodor (1819 -1898), Dichter
Feuerwerks-Revolution (1835) 197 u. Schriftsteller 179, 252
Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814), Forckenbeck, Max v. (1821-1892),
Philosoph 32, 192, 678, 680 Mitgl. d. preuß. Abgeordnetenhauses
Finanzpolitik, Finanzwesen 128, 130, 1858-1873, dessen Präs. 1866-
132, 477, 507 1873, Oberbürgermeister v. Breslau
— Finanzausgleich 601 1873 u. v. Berlin 1878 -1892, Reichs-
— Finanzbehörden 131 ff. tagspräs. 1874-1879 582
— Finanzedikt vom 27. Okt. 1810 25, Forschung 706, 768 f.
110, 117, 133, 502 - und Lehre 568, 677 f., 766, 769
— Finanzen 117 ff., 138, 470 - Forschungsfreiheit 776
— Finanzgesetzentwürfe 307 - Forschungsinstitute 768
— Finanzministerium 131, 245, 554 Forsten 108
— Finanznot 124 - Forstverwaltung 603
— Finanzreform 28, 110, 476, 495 - Forstwirtschaft 487, 489, 492, 534,
— Finanzressort 131 543
— Finanzverfassung 117 Fortbildungsschulen 760 f.
— Finanzverwaltung 132 f., 682 Fortschrittspartei 330, 349 f., 352, 746
Finanzsalons 582 Frachtkosten 150, 221
Finckenstein, Karl Albrecht Finck v. Fraktion „Mathis" 325
(1772-1811), Reichsgf., preuß. Di- Francke, August Hermann (1663 —
plomat 26 1727), ev. Theologe, Philologe, Päd-
Fischer, Gustav (Prof. i. Jena) 531 agoge, pietistischer Organisator 475,
Flaggengelder 164 621 ff., 625, 642, 661, 663
Flecken 94 Franckesche Anstalten (Halle, Glaucha)
Flick, Friedrich (1883 -1972), Industri- 624
eller, i. Nürnberg zu 7 Jahren Ge- Franckesche Stiftungen 478
fängnis verurteilt 1947, vorzeitig ent- Franckesches Waisenhaus 624 ff.
lassen 1950 593 Frankfurt/M. 65, 67, 83,185,195,246 ff.,
Flotte 234, 472 252, 264, 267, 277, 279, 337, 345 ff.,
— Flottenpolitik 472, 490, 779 530, 547f., 759
Flottwell, Eduard Heinrich v. (1786- - Akzessionsverträge 74
1865), preuß. Staatsmann, Regie- - Frieden (10. Mai 1871) 363
rungspräs. 1825, Oberpräs. d. Prov. - Konferenz vom Mai 1850 284
Posen 1830-1840, d. Prov. Sachsen - Nationalversammlung s. unt. Natio-
1840 - 1 8 4 4 , Finanzmin. 1844 -1846, nalversammlung, dt.
816 Personen- und Sachregister

— Paulskirche 248, 254, 262, 367, 433 f. Friedländer-Fuld (Unternehmerfamilie)


— Reichsverfassung 283 581
— Territorialrezeß (20. Juli 1819) 82 Friedrich (III.), Kronprinz 470
— Wachensturm (1833) 195 Friedrich August I. (1750-1827), Kg. v.
Frankfurt/O. 227, 482, 615, 621, 644 Sachsen s. 1806, als F. A. III. Kft. v.
Fränkisches Reich 396 Sachsen (s. 1768), Hg. v. Warschau
Frankreich 31, 35 ff., 41 f., 49, 57, 60, s. 1807 60
67 f., 72 ff., 77 f., 81 f., 158 ff., 163 ff., Friedrich August v. Sachsen s. unt.
178, 193 ff., 212, 230, 240, 318 ff., August d. Starke
334, 339, 341, 344, 347, 360 f., 363, Friedrich d. Gr. s. unt. Friedrich II.
419 ff., 426,430,445 f., 471, 495,501, Friedrich I. (1371-1440), Kft. u.
508, 529 f., 544 f., 595, 704 Markgf. v. Brandenburg 1415/17
Franz I. (1768 —1835), als Franz II. röm.- 199
dt. Kaiser 1792-1806, s. 1804 Kaiser Friedrich I. (1657-1713), Kg. i. Preußen
v. Österreich 39, 62 s. 1701, als F. III. Kft. v. Brandenburg
Franzosenfeindschaft 18 s. 1688 474 f.
Franzosenherrschaft 31 Friedrich II. (1413-1471), Kft. v. Bran-
Französische Revolution 22 f., 157, 256 denburg 1440 - 1 4 7 0 416
Frauenarbeit 153, 527 Friedrich II. (d. Gr.) (1712-1786), Kg.
Frauenbewegung, bürgerliche 718 v. Preußen s. 1740 421 ff., 426 f.
Frauenbildung, höhere 719 479 ff., 483 f., 486 f., 491 ff., 507, 553,
Freibataillon 48 558, 576, 595, 616, 629, 643, 647 ff.,
Freiburg 282 654 f., 659
Freihandel 510, 551 Friedrich v. Sachsen (1498-1510),
— Freihandelsbewegung 550 Hochmeister d. Deutschen Ordens
— Freihändler 164 403
Freiheit des Grundstückverkehrs 29 Friedrich Wilhelm (1620-1688), (d. Gr.)
Freiheiten, staatsbürgerliche 248 Kft. v. Brandenburg 414 ff., 469,
Freiheitskriege 21, 45, 51 f., 67, 70, 72, 471 f., 613, 619, 626
80, 148, 157, 179 ff., 508 f., 728 Friedrich Wilhelm I. (1688 - 1 7 4 0 ) , Kg.
Freikonservative 352, 354 i. Preußen s. 1713, Kft. u. Markgf. v.
Freikorps Lützow 53 f., 61, 160, 181 Brandenburg s. 1713 199, 418,
Freischärler 53 474 f., 477, 554, 558, 595, 628, 642,
Freizügigkeit 156, 234 644 f., 647, 650
— Freizügigkeitsgesetz v. 1867 531 f. Friedrich Wilhelm II. (1744-1797), Kg.
Freund, Georg Christian (1793-1819), v. Preußen s. 1786 426 f., 495, 576,
Maschinenbauer u. Konstrukteuer d. 595, 646 f.
ersten funktionstüchtigen Dampf- Friedrich Wilhelm III. (1770-1840), Kg.
maschine i. Berlin 1816 146 v. Preußen s. 1797 20, 31, 35, 37 ff.,
Freund, Julius Conrad (1801-1871), 42 f., 45 f., 48 ff., 52 ff., 56, 58, 67,
Maschinenbau-Unternehmer i. Ber- 69, 71, 75 ff., 83, 158 ff., 169 ff., 178,
lin u. (1837:) i. Charlottenburg 146 182, 184, 188, 192, 194, 198 f., 495 f.,
Frey, Johann Gottfried (1762-1831), 731
preuß. Reformbeamter 428 „Friedrich Wilhelm III." (Dampfschiff)
Frick, Wilhelm (1877-1946), national- 151
sozialist. Politiker, M d R . s. 1924, Friedrich Wilhelm (IV.), Kronprinz 159,
Fraktionsvorsitzender d. NSDAP s. 173, 191, 201
1928, thüring. Innen- u. Volksbil- Friedrich Wilhelm IV. (1795 - 1861), Kg.
dungsmin. 1930/31 Reichsinnenmin. v. Preußen s. 1840, regierungsunfähig
1933 - 1 9 4 3 , Reichsprotektor v. Böh- 1859 173, 199 ff., 203 ff., 208, 210,
men u. Mähren 1 9 4 3 - 1 9 4 5 , hinge- 217, 225 f., 228 f., 233 f., 236 ff.,
richtet 1946 798 241 ff., 248 f., 254, 266 ff., 272 f., 276,
Personen- und Sachregister 817

277 ff., 284 f., 303, 310, 320 ff., 326, Gallus Anonymus, südfrz. Benediktiner,
331, 527, 742 wirkte nach 1100 i. Polen, Autor d.
Friedrich-Denkmal 199 „Cronica et gesta ducum sive prin-
Friedrich-Wilhelm-Hütte 523 f. cipum Polonorum" 395
Friedrich-Wilhelms-Universität s. unt. Gambiamündung 471
Universität Berlin Gans, Eduard (1797-1839), Rechtsphi-
Friedrichs-Schulen 615 losoph, Prof. i. Berlin 1826 193
Friedrichs-Werdersches Gymnasium, Garnisonsschulen 625
Berlin 638 Garten- und Obstbau 514, 517, 521
Friedrichshafen 584 Gasbeleuchtung 519
Friedrichshain s. unt. Berlin Gasser, Simon Peter (1676 — 1745), Ka-
Friedrichstadt s. unt. Berlin meralprof. i. Halle 649
Friese, Karl Ferdinand (1769-1837), Gasteiner Konvention (14.8.1865) 340,
preuß. Beamter, Geh. Kriegs- u. Do- 555
mänenrat 1805, Mitgl. d. Zentralver- Gdingen 594
waltungsrates (Finanzen) 1813, Präs. Geborenenziffer 89, 91
d. Schatzministeriums u. d. Staats- Geburtenüberschuß 91
bank 1817 111, 134 f., 512 Gedike, Friedrich (1754-1803), Philo-
Friseure 215 loge, Gymnasialprof. am Grauen
Fronarbeit 497 Kloster (Berlin) 633, 665 f.
— Frondienste 533 Gefängnisse 196
— Frondienstpflichtige 474 Gehälter 582
Fruchtwechselwirtschaft 142 Geheimallianz, preuß.-russ. (1813) 50, 52
Frühaufklärung 645 Geheime Beschlüsse v. 1834 195 f., 247
Frühindustrialisierung 152 Geheime Hofkammer 474
Fuchs, Paul (1702:) Frhr. (1684:) v. Geheimer Rat 652
(1640-1704), Jurist, Min. 619 Geheimvertrag vom 12.6.1866 (zw.
Führerprinzip 797 Frankr. u. Österr.)341
Fünfzigerausschuß 248 Gehr, Theodor (1663-1705), Holzkäm-
Fürsten 113, 367 merer, Schulstifter i. Königsberg 625
— Fürstenkongreß in Erfurt (27.9. - Geissei, Johannes v. (1796 - 1 8 6 4 ) , kath.
14.10.1808) 33 Prälat, Bf. v. Speyer 1837, Koadjutor
— Fürstentag zu Dresden (16.— 28.Mai d. suspendierten Ebfs. v. Köln, Ebf.
1812) 39 v. Köln 1846, Kardinal 1850 200
Fürstenberg, Aniela (Ehefrau d. Bankiers Geistliches Departement 652
Karl F.) 582 Geld- und Kreditwesen 568
Geldern 77, 653
Gablenz, Anton v. (1810-1878), preuß. Geldverleiher 492
Parlamentarier i. Herrenhaus 343 „Gelehrte Gesellschaft zum Nutzen der
Gagern, Wilhelm Heinrich August Frhr. Wissenschaften und Künste" 644
v. (1799-1880), Bruder v. M . Frhr. Gelehrtenstand 254
v. G., Mitgl. u. Präs. (19.5.-Dez. Gelsenkirchen 538
1848) d. dt. Nationalvers. 1848/49, Gemeinden 586
Min.-Präs. 16.12.1848-21.3./20.5. — Gemeindefinanzgesetz vom 15. Dez.
1849 262, 273, 283 1933 602
Gagern, Maximilian Frhr. v. (1810 — — frz. Gemeindeordnung 109
1889), dt. Politiker, Vertreter d. 13. — preuß. Gemeindeordnung 275
Kurie i. Siebzehnerausschuß 1848, — Gemeindeverfassung 256
Mitgl. d. dt. Nationalvers. 1848/49 Gemeinheitsteilungen 142, 504 f.
246, 283 General-Landschulreglement v. 1763
Galizien 228, 426 654 f.
818 Personen- und Sachregister

General-Ober-Finanz-Kriegs- und Do- gehörig (wie seine beiden Brüder)


mänendirektorium 476, 478 ff., 485, 173, 204, 265, 305, 309, 367
487, 662 Gerlach, Ludwig Friedrich Leopold v.
Generaldirektorium s. unt. General- (1790-1861), preuß. General u. Poli-
Ober-Finanz-Kriegs- und Domänen- tiker, Bruder v. E. L. u. O. v. Gerlach,
direktorium Adjutant d. Prinzen Wilhelm 1826,
Generalgouvernements 67 Generalstabschef d. 3. Armeekorps
— Berg 66 f. 1838, Generaladjutant 1849, General
— Elsaß 66 1859, führender Kopf d. „Kamarilla"
— Frankfurt 66 Friedrich Wilhelms IV. 204, 265, 283,
310, 312, 367
— Mittelrhein 66
Gerlach, Otto v. (1801 -1849), ev. Theo-
— Nieder- und Mittelrhein 67
loge, Prediger an d. Elisabethkirche
— Niederrhein 66
zu Berlin 1834, Hof- u. Domprediger
— Sachsen 66
u. Konsistorialrat 1847 173, 204,
— zw. Weser u. Rhein 66 265, 367
Generalität 583 Gerlach-Kreis 282
Generalkommissionen 108 Germania-Slavica 396, 400
Generalkontrolle 132 Germanisierung 103, 162, 437, 742
Generalkriegskommissariat 471
— „Germanisierungspolitik" 629, 744 f.
Generallandschulreglement 654 f.
Germanistenverband 790
Generalpostmeister 148
Gerson (ursprüngl. Hirsch), Herrmann
Generalprivileg vom 17. April 1750 483
(1813-1861), Textil- Unternehmer,
Generalrechenkammer 476
Hoflieferant s. 1848 569
Generalstaatskasse 124
Geschichtsforschung 769
Generalstab 363 f., 368
— Geschichtsunterricht 633, 668, 746,
Generalstände 205
780 f., 785, 798
Generalsuperintendent 169
— Geschichtswissenschaft 690, 769
Generalsynode 169
- polnische 386 ff., 390, 430
Generalverpachtung 476 Gesellen, -schaft 209, 254
Genossenschaften 577 f. — Aufstand (Breslau 1793) 498
Geodätisches Institut Potsdam 774 „Gesellschaft d. Freunde d. Lehrer u.
Geographie 690 Kinder i. d. Gft. Mark" 661
Geographieunterricht 633 „Gesellschaftsspiegel" (Zeitschrift) 211
Georg Friedrich (1539-1603), Markgf. Gesetzgebung 106, 307
v. Brandenburg-Ansbach u. Branden- — Gesetz, betr. die Beaufsichtigung des
burg-Bayreuth 411 f. Unterrichts- u. Erziehungswesens
Georg v. Giesche's Erben (Breslauer vom 11. März 1872 741 (s. a. Schul-
Bergwerksgesellschaft) 593 aufsichtsgesetz)
Georg Wilhelm (1595-1640), Kft. u. — Gesetz, betr. das Diensteinkommen
Markgf. v. Brandenburg s. 1620 der Lehrer u. Lehrerinnen a. d. öff.
199 Volksschulen (3. März 1897) 750
— Gesetz, betr. die Disziplinarverhält-
Geraer Hausvertrag v. 1598 411
nisse der Privatdozenten (17. Juni
Gerlach, Ernst Ludwig v. (1795-1877),
1898) 777
älterer Bruder v. O. v. Gerlach, Ju-
— Gesetz über die Gemeinheitsteilun-
rist, Gründer d. „Evangelischen Kir-
gen vom 7. Juni 1821 513
chenzeitung" 1828, Mitgl. d. Staats-
— Gesetz, betr. die Grundschulen und
rats 1842, Präs. d. Oberlandesge-
Aufhebung der Vorschulen (April
richts i. Magdeburg 1844-1874, Be- 1920) 784
gründer d. „Neuen Preuß. Zeitung", — Gesetz, betr. die Unterhaltung der öf-
d. sog. „Kreuzzeitung" 1848, zur fentlichen Volksschulen (28. Juli
„Kamarilla" Friedrich Wilhelms IV. 1906) 751
Personen- und Sachregister 819

— Gesetz-Sammlung für die Königli- Gilly, David (1748 -1808), Architekt 651
chen Preußischen Staaten 84 Gilly, Friedrich (1772-1800), Künstler
Gesetzesinitiative 307 651
Gesinde 118, 153 Gitschin 61
— Gesindedienst 474 Glan (Nebenfluß d. Nahe) 77
— Gesindedienstbefreiung 30 Glas- und Fayence-Industrie 524
— Gesindeordnung (8.Nov.l810) 30 Glaser 215
— Gesindezwangsrecht 98 Glatzer Neiße 557
Gestütsverwaltung 603 Glaucha (Vorstadt v. Halle) 622
Getreide Gleichschaltung s. unt. Nationalsozialis-
— Anbau 477, 491 mus
— Anbaupolitik 588 Glogau 33, 64
— Einfuhren 164, 495, 556 Glückstadt 471
— Export 495, 501 Gnadenschulen, Gnadenschulstellen 631,
— Handel 477, 495 658
— Magazinierung 477 Gneisenau, August Gf. (1814:) Neid-
— Wirtschaft 584 hardt v. (1749-1831), preuß. Gene-
— Zölle 510 ralfeldmarschall u. Heeresreformer
Gewerbe, -wesen 142, 144, 147, 153 24, 28, 31, 34 f., 37 f., 55 f., 58 f.,
— Gewerbe-Akademie 704 67 ff., 71, 161, 192
— Gewerbeförderung 142 Gneist, Rudolf v. (1816-1895), Staats-
— Gewerbefreiheit 26, 142, 144, 490, rechtslehrer 778
502, 515, 552 Gnesen-Posen, Ebt., 176
— Gewerbegesetz 552 Goethe, Johann Wolfgang (1782:) ν.
— Gewerbe-Institut 143, 516 (1749-1832) 33
— Gewerbekrise 213, 216 Goldschmidt-Rothschild, Max Benedikt
— Gewerbeleben, Liberalisierung 29 (1907:) Frhr. (1903:) v. (geb. 1843),
— Gewerbeordnung 552 Unternehmer 580
- v. 2. Nov. 1810 502 Goltz, August Friedrich Ferdinand Gf.
- v. 17. Jan. 1845 515 v. d. (1765-1832), Politiker u. Di-
- v. 21. Juni 1869 531 plomat, preuß. Außenmin. 1807 33,
— Gewerbepolitik 143, 358, 472, 481, 38
515
Goltz, Theodor Frhr. v. d. (1836-1905),
— Gewerbepolizei 502
Agrarwissenschaftler, Prof. i. Kö-
— Gewerbeschulen, Gewerbeschulwe-
nigsberg (1869), Jena (1885) u. Bonn
sen 491, 516
(1896), Dir. d. landwirtschaftl. Insti-
— Gewerbesteuer 25, 118, 214 f., 219
tuts i. Königsberg (1875) u. d. land-
— Gewerbeverwaltung 142
wirtschaftl. Akad. i. Poppelsdorf
Gewerkschaften 786
(1896) 534, 561
Gewichte s. unt. Maße u. Gewichte
Gompertz, Herz Moses (1716 — 1758),
Gex (frz.-schweizer. Landschaft) 73
Gierke, Julius (1807-1855), Mitgl. d. Kaufmann, Münzpächter 484
preuß. Nationalvers. 1848, Land- Göring, Hermann (1893-1946), MdR.
wirtschaftsminister 25.6. - 20.9.1848, (NSDAP) 1928-1945, Reichstags-
Präs. d. Appellationsgerichts Brom- präs. 1932—1945, preuß. Innenmin.
berg 1850 261 1933/34, preuß. Min.-Präs. 1933-
Gierke, Otto Friedrich v. (1841-1921), 1945 603 f.
Rechtshistoriker 368 Görres, Joseph (1839:) v. (1776-1848),
Gießen 183 kath. Publizist u. Wissenschaftler,
„Gießener Schwarze" 183, 729 Begründer d. „Rheinischen Merkur"
Gifhorn 78 1814 178,201
Giftgas 780 Goslar 77
820 Personen- und Sachregister

Gossler, Gustav v. (1838-1902), preuß. Grimm, Jakob (1785 - 1 8 6 3 ) , Sprachwis-


Staatsmann, Unterrichtsmin. 1881 — senschaftler, Prof. i. Göttingen 1830,
1891 742 als einer d. Göttinger Sieben entlas-
Göteborg 36 sen 1837, Berufung i. d. preuß. Akad.
Gottesdienstordnung 171 d. Wiss. 1841, Mitgl. d. dt. Natio-
Gottesgnadentum 81, 228, 327 nalvers. 1848/49 200,732
Göttinger Professoren 198, 732 Grimm, Wilhelm (1786-1859), Bruder
Göttinger Vereinigung zur Förderung der v. J. G., Germanist, Sprachwissen-
angewandten Physik und Mathema- schaftler, Prof. i. Göttingen 1830, als
tik 771 einer d. Göttinger Sieben entlassen
Gottschalk, Andreas (1815-1849), Ar- 1837, Berufung i. d. preuß. Akad. d.
Wiss. 1841 200, 732
menarzt u. radikaler Sozialist i. Köln
Grimme, Adolf (1889-1963), preuß.
231
Gottsched, Johann Christoph (1700 — Kultusmin. 1930 - 1 9 3 3 792
1766), Schriftsteller 642 Grolman, Karl Wilhelm v. (1777-1843),
Gotzkowski, Johannes Ernst (1710 — Heeresreformer, Generalmajor 1814,
1775), Kaufmann, Gründer d. Berli- Generalquartiermeister 1815, Kom-
ner Porzellanmanufaktur 484, 486 mandierender General i. Posen 1832
Goßner, Johannes Evangelista ( 1 7 7 3 - 24, 69, 71, 111, 162
1858), kath. Geistlicher, konvertiert Grouchy, Emmanuel Marquis de
1826, Prediger an d. Bethlehemskir- (1766-1847), frz. Marschall 71
che zu Berlin 1829 173 Groß-Friedrichsburg 471 f.
Grande Armée 37 ff., 71, 411 Großbanken 572
Grauert, Ludwig (Staatssekretär i. Großbeeren, Schlacht v. 63
Großdeutschtum 278
preuß. Innenministerium) 602
Großer Kurfürst s. unt. Friedrich Wil-
Graumannscher 14-Taler-Fuß 484
helm
Gravelotte, Reiterschlacht (1870) 363
Grawert, Julius August Reinhold v. Großgörschen, Schlacht v. 58 ff.
(1746-1821), General, Chef d. Großgrundbesitz, -er 30, 120, 138, 141,
153, 266, 408, 488, 502, 543, 549 f.,
preuß. Hilfskorps 1812 41
552, 557, 560 ff., 568, 574, 589, 591 f.,
Greetsiel 471
752
Gregor XVI. (1765 - 1 8 4 6 ) , Papst s. 1831
Großhandel 549
177 f.
Großmächte 166
Greifen, Dynastie 414 Großmachtpolitik 130
Greifswald 104 f., 258, 510 Großschiffahrtsweg Berlin-Stettin 557
Grenzhilfe 590 f., Grubenbeamtenvereine 532
Grenzmark 590 Grumbkow, Friedrich Wilhelm (1678 -
Grenzzollsystem 28 1739), als Dir. (1712), Leiter (1719)
Griechenland 82, 160 u. Vizepräs. (1723) d. Generaldirek-
— Freiheitskampf 160 toriums sowie Dirigierender Min. d.
— Griechenmetaphysik 666 Ersten Departements einer d. engsten
— Griechenvereine 160 Mitarbeiter Friedrich Wilhelms I.,
Griesheim, Gustav v. (1798-1854), Generalfeldmarschall 1737 479
preuß. Off., Lehrer f. Taktik an d. Grün, Karl (1817-1887), sozialist. Pu-
Allg. Kriegsschule 1831, als Oberst- blizist 211
leutnant Dir. d. Allg. Kriegsdeparte- Grünberg/Schlesien 721
ments 1847-1850, führender Kopf Grundbesitzer 112, 118
d. gegenrevolutionären Militärpartei Gründerjahre 595
i. Herbst 1848 265 Gründerkrisis 549
Grillparzer, Franz (1791 - 1 8 7 2 ) , Dichter Grundherrschaft 474
193 Grundrechte 244, 252, 255, 264, 315
Personen- und Sachregister 821

— Grundrechtsdebatte 263 f. — Gutsherrlichkeit 474


— Grundrechtskatalog 303, 356 — Gutsherrschaft 408, 491
Grundschulen 784, 791 — Gutsunternehmer 142
Grundsteuern 28, 97, 117 £., 219, 502 — Gutsuntertänigkeit 29, 502
— Grundsteuererträge 119 — Guts Wirtschaft 408, 474
— Grundsteuerordnungen 120 Gymnasien 2 9 , 1 8 5 , 4 9 9 , 6 1 5 , 633 ff., 638,
— Grundsteuerreform 118 640, 655, 660, 666, 668, 671 f., 682,
— Grundsteuerverordnungen 512 687, 697 ff., 700, 704, 707, 727, 736,
Grundstückspreise 519 758, 761, 764 f.
Grundstücksspekulation 493 — Berliner 639
Gruner, Justus Karl (1814:) v. ( 1 7 7 7 - — Berlin-köllnisches Gymnasium 614
1820), Reformbeamter, Polizeipräs, — Direktoren 633, 736
v. Berlin 1809, Geh. Staatsrat u. Chef — gymnasiale Schulen 635, 748
d. preuß. Polizei 1811, Generalgou- — Gymnasialmonopol 765
verneur 1813/14, Gesandter i. d. — Gymnasialseminare 756
Schweiz 1816 24, 38, 66 f. — humanistische 668, 764
Grunewald, Jagdschloß 73 — Joachimsthalsches Gymnasium, Ber-
Grunholzer, Heinrich (1819-1873), lin 638
Schweiz. Lehrer, beurlaubt 1842, Stu- — Realgymnasien 701 f., 764 f.
dent i. Berlin 1842/43, Dir. d. Leh- — Unterricht 668
rerseminars Bern 1 8 4 7 - 1 8 5 2 217
Guerillakrieg 33, 55 Haase, Georg ( 1 8 5 9 - 1 9 3 1 ) , Brauerei-
Guilleaume (Unternehmerfamilie) 581 besitzer 581
Guizot, François Pierre Guillaume Habeas-Corpus-Gesetz 268
( 1 7 8 7 - 1 8 7 4 ) , frz. Politiker u. Histo- Haber, Fritz (1868 - 1 9 3 4 ) , Leiter d. Kai-
riker, Außenmin. 1 8 4 0 - 1 8 4 8 166 ser-Wilhelm-Imstituts f. physikali-
Gumbinnen 94 sche Chemie 1911 —1933, Nobelpreis
Gummi- und Guttaperchawarenerzeu- f. Chemie 1918 568, 780, 796
gung 535 Habsburg, -er s. unt. Österreich
Gundling, Jakob Paul ( 1 6 7 3 - 1 7 3 1 ) , Haenisch, Konrad (1876 — 1925), Sozial-
Historiker, Oberzeremonienmeister, demokrat. Politiker, preuß. Kultus-
Präs. d. Akad. d. Wiss. 642 min. 1918 —1921, Regierungspräs. i.
Gundling, Nikolaus Hieronymus Wiesbaden 1923 - 1 9 2 5 781 f., 784,
(1671 - 1 7 2 9 ) , Jurist i. Halle 644 786
Gustav II. Adolf ( 1 5 9 4 - 1 6 3 2 ) , Kg. v. Hagelversicherung 514
Schweden s. 1611 104, 416 Hagen, Louis (1855 — 1932), Bankier u.
Gutehoffnungshütte 524 Unternehmer 596
Güterbeförderung 151, 522, 525 Hahn, Otto ( 1 8 7 9 - 1 9 6 8 ) , Chemiker,
Gütertarife 221 Nobelpreisträger 780, 797
Güterzersplitterung 507 Halberstadt 76, 78, 469, 612, 664
Guts- und Gemeindehandwerkerei 577 Halic (Gebiet i. altruss. Südwesten) 401
Gutsbesitz, Gutsbetriebe 103, 542 Halle 64, 189, 227, 469, 474 f., 478, 491,
— Gutsbesitzer, Gutsherren 30, 108, 510, 622 ff., 626, 644, 661, 759
503, 508, 513, 543 f., 561 f., 657 f., Haller, Carl Ludwig v. ( 1 7 6 8 - 1 8 5 4 ) ,
684, 743, 750 f. Schweiz. Historiker, Prof. d. Ge-
— Privilegien 470 schichte u. d. Staatswissenschaften i.
— Gutsbezirke 108 Bern 1806 179, 182
— gutsherrlich-bäuerliche Verhältnisse Hallische Jahrbücher 731
29 Hambacher Fest (1832) 195
— gutsherrliche Gewalt 29 Hamburg 53, 61, 92, 151, 556, 656
— gutsherrliche Rechte 309 Hanau 64
— gutsherrliches Jagdrecht 268 Hand- und Spanndienste 496
822 Personen- und Sachregister

Handel 147, 498, 519 Hansemann, David (1790 - 1864), preuß.


- Handelsagenturen 151 Staatsmann u. Wirtschaftspolitiker,
- Handelsbürgertum 98 Unternehmer, Mitgl. d. Vereinigten
- Handelsfreiheit 142, 234 Landtags 1847, Min.-Präs. 1848 98,
- Handelsgesetzgebung 553 131, 135, 194, 222, 224 f., 232, 245,
- Handelskammer 538, 552, 706 248, 261, 266, 511, 527 f., 554
- Handelspolitik 162 ff., 358, 510, 551 Hansen, Johannes (1863 — 1938), Tier-
- Handelsrecht 234 zucht· Wissenschaftler, Dir. d. Acker-
- Handels- und Wirtschaftspolitik, bauschule i. Zwätzen b. Jena 1889,
liberale 98 Administrator d. Großbetriebes
Handelsflotte, Handelsmarine 164, 356 Oberglogau/Schles. 1897, Prof. an d.
Handelsgesetzbuch des Deutschen Rei- Landwirtschaftl. Akademie Bonn-
ches 531 Poppelsdorf 1901, i. Königsberg
Handelsminister 368 1910, Prof. f. Tierzucht i. Berlin s.
Handelsministerium 131, 148, 245, 549, 1922 576, 578, 588
555 Hansestädte 62, 317
Handelsschulen 662, 706 Hardenberg, Karl August Frhr. (1814:)
Handelsverträge Ft. v. ( 1 7 5 0 - 1 8 2 2 ) , preuß. Staats-
- mit Belgien (1865) 550 mann, Staatskanzler 1810 — 1822
- mit Brasilien (9.Juli 1827) 165 20 ff., 34, 36 f., 41, 49 ff., 57, 71, 74 f.,
- mit Dänemark (17.Juni 1818) 163 79 f., 99, 104, 106 f., 110 ff., 116,
- mit England (1865) 550 131 f., 156 f., 159, 175 f., 182, 192,
- mit Frankreich (1862) 529, 550 432, 495, 501 f., 506 f., 712
Hardenberg, Ernst Christian Georg Au-
- mit Italien (1865) 550
gust Frhr. v. ( 1 7 5 4 - 1 8 2 7 ) , hann. Di-
- mit Österreich (1853) 317 (1868) 530,
plomat, Gesandter i. Dresden 1794 —
550
1805 u. i. Wien 1 8 1 4 - 1 8 2 5 79
- mit Rußland (11. März 1825) 163
Harkort, Friedrich Wilhelm ( 1 7 9 3 -
- mit Rußland (19. Dez. 1818) 163
1880), westf. Industrieller, Mitgl. d.
- mit der Schweiz (1868) 550
Westf. Landtages 1 8 3 0 - 1 8 3 4 , d.
- mit Spanien (1868) 550
preuß. Nationalvers. 1848 u. d.
Handwerk, -er 1 4 2 , 1 4 4 , 1 5 2 , 2 1 3 ff., 232,
preuß. Zweiten Kammer 98, 255, 523
254, 260, 494, 500, 508, 510, 514 f.,
Harmssen, D. Andreas, Kapitän d.
518, 522, 527 f., 534, 537, 541
preuß. Seehandlung, mehrere Welt-
- Alleinmeister 153, 214
umsegelungen zw. 1822 u. 1838 152
- Bildungsvereine 720 Harnack, Adolf (1914:) v. (1851 - 1930),
- Gesellen 144, 153, 209, 214, 228 Theologe u. Wissenschaftspolitiker,
- Handwerkskrise 152 Präs. d. Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
- Kleinmeister 214 1910 - 1 9 3 0 690, 719, 768, 772
- Meister 144, 209, 214, 216 Harrach, Auguste Gfn. v. ( 1 8 0 0 - 1 8 7 3 ) ,
- Lehre 537 Ftn. v. Liegnitz u. Gfn. v. Hohenzol-
- Lehrer 711 lern 1824, morganatische Gemahlin
- Proletariat 506 Friedrich Wilhelms III. s. d. 9.11.
- Schutz 313 1824 199
„Handwerkerverein" 209, 217 Harz 77, 483
Haniel, Johann Franz (1779 - 1 8 6 8 ) , Un-
ternehmer, Begründer d. Gutehoff- Hassenpflug, Hans Daniel Ludwig
nungshütte 523 Friedrich ( 1 7 9 4 - 1 8 6 2 ) , Politiker,
Haniel (Unternehmerfamilie) 581 hess. Justiz- u. Innenmin. 1832 —
Hannover 50, 53, 61, 66, 77 ff., 104, 146, 1837 u. 1 8 5 0 - 1 8 5 5 , Zivilgouverneur
188,198, 283, 316 f., 345 ff., 5 2 9 , 5 3 3 , i. Luxemburg 1 8 3 9 - 1 8 4 1 , Mitgl. d.
547 f., 557, 559, 674 preuß. Obertribunals i. Berlin 1841,
Personen- und Sachregister 823

Präs. d. Oberappellationsgerichts i. „Heilige Allianz" (1815) 81, 112


Greifswald 1846 - 1 8 5 0 205, 284 Heiliger Rock v. Trier 201
Hatzfeld, Franz Ludwig Gf., (1803:) Ft. Heiliges Römisches Reich 366
v. (1756 — 1827), preuß. General u. Heilsberg 44
Diplomat 43 Heimarbeit 541
Hauptrustikalverein 257 — Heimarbeiter 216, 518
Haus- und Mietsteuer 154, 194, 272 — Heimgewerbe 213, 216
Hausgesetz vom 13. Aug. 1713 475 s. a. Verleger
Haushalt Heimatrecht 156
— Haushaltsgesetze 307 Heine, Heinrich (1797-1856), Dichter
— Haushaltslage 124 u. polit. Schriftsteller, Auswande-
- Haushaltspläne 125 f., 127, 307 rung nach Paris 1831 98, 221
— Haushaltsrecht 355 Heinitz, Friedrich Anton Frhr. v. (1725 -
s. a. Staatshaushalt 1802), Montanist u. preuß. Min.
Häusler 30 1777-1784 u. s. 1786 487, 489,
Hauszinssteuer 600 491, 498, 539, 547, 651
Havel- und Spreelandschaften 392, Heiratskonsens 98
394 ff. Heister, Levin Karl v. (1757-1816),
Havelländisches Luch 477 preuß. Off., Generalmajor 1810,
Hecker, Friedrich Karl Franz (1811 - Militärgouverneur 1813 66
1881), bad. Revolutionär, Emigration Held, Friedrich Wilhelm Alexander
i. d. U.S.A. 1848 u. erneut 1849 210, (1813 -1872), anfänglich preuß.
247 Off., dann polit. Schriftsteller i. Leip-
Hecker, Johann Julius (1707-1768), zig, Erfurt u. Berlin, Wortführer i.
Prediger u. Schulgründer 654, 661, radikaldemokrat. eingestellten „Po-
664 litischen (später: „Demokratischen")
Hedemann, Heinrich (1800-1872), Bür- Klub" 1848/49 255
germeister v. Berlin u. Stadtsyndikus, Helfferich, Karl (1872-1924), Prof. d.
Vorsitzender d. „Handwerkerver- Staatswissenschaften i. Berlin 1901,
eins" 238 Dir. bei d. Dt. Bank 1908, Staatsse-
Heer 28, 33,53,57,304, 307, 369,470 ff., kretär d. Reichsschatzamtes 1915 u.
475 f., 484, 495 f., 528, 554 f., 722 des Reichsamts d. Innern 1916/17,
- Bedarf 479 Vizekanzler 1916/17, MdR. (DNVP)
- Etat 478 1920-1924 579,583
— Organisation 327 Helgoland 36
- Reform 25, 28, 327 f., 332 Heller, Hermann (1891-1933), Staats-
— Reorganisation 26, 328 rechtler 796
- Rüstung 584 Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand
- Stärke 128 ff., 327 (1821-1894), Physiker 690
— stehendes 473 Helvetius, Claude Adrien (1715-1771),
— Vergrößerung 327, 565 frz. Philosoph, Enzyklopädist 643
- Verwaltung 584 Henckel v. Donnersmarck, Guido Ft.
s. a. Armee, (1830-1916), Industrieller 580 f.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770- Henckel-Donnersmarck (schles. Ma-
1831), Philosoph, Prof. i. Heidelberg gnatenfamilie) 498, 581
1816, i. Berlin 1818 84, 687 Henckel-Donnersmarck (Firma) 541
Hegemonialpolitik 314 Hengstenberg, Ernst Wilhelm (1802-
Hegemonialstellung 368 1869), ev. Theologe, Prof. i. Berlin
Heidelberg 247 1826 — 1828, Begründer d. „Evange-
„Heidelberger Versammlung" (5. März lischen Kirchenzeitung" 1827 173,
1848) 246 212
Heidenkampf 402 Henschel & Sohn 530
824 Personen- und Sachregister

Hercynia (Kaliwerk) 565 Kammerpräs. i. Pommern 1806 —


Herder, Johann Gottfried (1802:) v. 1808, Oberpräs. d. Prov. Branden-
(1744-1803), Philosoph, Theologe burg 1815 157
u. Schriftsteller 434 Heydebreck, v. (Staatsrat) 501
Hergenhahn, August (1804-1874), Ju- Heydt, August Frhr.v. d. (1801-1874),
rist, Advokat i. Wiesbaden 1833, preuß. Bankier u. Politiker, Min. f.
Mitgl. d. dt. Nationalvers. 1848/49, Handel, Gewerbe u. öff. Arbeiten
nass. Min.-Präs. 16.4.1848-Juni 1848 - 1862, Finanzmin. 17.3. -
1849 272 19.12.1862 u. 1866-1869 527f.
Hermes, Justus Georg (1775 — 1831), Heynitz s. unt. Heinitz
kath. Theologe, Prof. i. Münster Hibernia (Bergwerkgesellschaft) 564
1807 u. i. Bonn 1820 177 Hierarchisch-episkopales Prinzip 169
Hermesianer 177 Hildesheim 77
Herne 556 f. Hinckeldey, Karl Ludwig Friedrich v.
Herren 113, 138 (1805-1856), Berliner Polizeipräs.
- Herrenhaus 305, 307, 367, 546 312 f.
- Herrenkurie 224 Hindenburg, Paul v. Beneckendorff u. v.
- Herrenstand 114 f. (1847-1934), Berufssoldat, General
Herstatt (Kölner Bankhaus) 522 d. Infanterie 1914, Generalfeldmar-
Hertling, Georg Gf. v. (1843-1919), schall 1915, Chef d. obersten Hee-
preuß. Min.-Präs. 1.11.-30.9.1918 resleitung 1916 — 1919, Reichspräs.
370 1925-1934 591,602
Hertzberg, Ewald Friedrich Gf. v. Hindenburg-Programm 574
(1725-1795), preuß. Außenmin. Hinrichtungen 197, 210, 282
1763-1791 425 ff., 643 Hinterpommern 414, 469, 612
Hess, Moses (1812 —1875), jüd. Sozialist. Hippel, Theodor Gottlieb v. (1775 -
Schriftsteller, Mitarbeiter v. F. Engels 1843), Reformbeamter, Staatsrat i.
1845 211 Staatskanzleramt 1810, Regierungs-
Heß, Rudolf (1894-1987), NSDAP- präs. i. Oppeln 1823 - 1 8 3 7 56
Mitgl. s. 1920, Sekretär Hitlers „Historisch-politische Blätter für das
1925-1933, „Stellvertreter d. Füh- katholische Deutschland" 178
rers" u. Reichsmin. ohne Geschäfts- Hitler, Adolf (1889-1945), Vorsitzender
bereich s. 1933, Mitgl. d. Geh. Ka- d. NSDAP s. 1921, Reichskanzler
binettsrates s. 1938 u. d. Minister- 1933 - 1 9 4 5 446 f., 598, 601 f., 604
rates f. Reichsverteidigung s. 1939, Hochaufklärung 646
zum 2. Nachfolger Hitlers (nach Go- Hochindustrialisierung 539
ring) ernannt 1939, nach Geheimflug Hochkonservative 305, 309 f., 313 ff.,
nach England 1941 dort interniert u. 319, 322 ff., 350, 367
i. Nürnberg zu lebenslanger Haft Hochöfen 539, 541
verurteilt 594 Hochschulen 727, 748, 766, 768, 779,
Hessen 78, 347, 530 787, 793 ff., 797 f.
- Hessen-Darmstadt 65, 82, 188, 194, — Deutsch-chinesische Hochschule in
230, 247, 346, 358, 365, 511 Tsingtau 775
- Hessen-Nassau 65, 170, 559, 561 — Handelshochschulen 706, 773
- Kurhessen 194, 284 f., 345 f., 511 — Hochschulmonopol, staatliches 706
Hettstedt 490 — Hochschulpolitik 794
Heun, Karl Gottlieb Samuel (Pseud- — Hochschüler 762
onym: H. Clauren) (1771-1854), — Hochschulwesen 768, 783
preuß. Romanschriftsteller u. Beam- — für Lehrerbildung 795
ter 58 — Recht 798
Heydebreck, Georg Friedrich Christian — Technische Hochschule zu Berlin 704
v. (1765-1828), preuß. Beamter, Hochverrat 207, 228, 271
Personen- und Sachregister 825

Hoesch (Industrieunternehmen) 578 — Hohenzollern-Nebenlinie 361


Hofer, Andreas (1767-1810), Tiroler — Hohenzollern-Sigmaringen 361
Freiheitskämpfer 35 Hohenzollern-Hechingen, Fstm. 77
Hoffmann, Adolf (1858-1930), Sozial- Hohenzollern-Sigmaringen Fstm. 77
demokrat. Politiker, preuß. Kultus- Hohenzollern-Sigmaringen, Karl Anton
min. 1918 781 f. Ft. v. (1811-1885), preuß. Min.-
Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (so Präs. 1858 - 1 8 6 2 324
aus Verehrung Mozarts, eigentlich Höker 153
E.T.Wilhelm) (1776-1822), preuß. Holland 36, 68, 74, 471
Beamter, Dichter, Musiker u. Maler, Holstein 317, 335, 338 f.
Regierungsrat 1802, Musikdir. i. Holzeinfuhren 164
Bamberg 1808, i. Dresden u. Leipzig Holzhauer 30
1813 — 1815, Kammergerichtsrat i. Holzkohle 523, 541
Berlin 1816 191 Hönigern bei Namslau 172
Hoffmann, Ernst (Textilunternehmer) Hoppe, Carl (1812-1898), Maschinen-
580 bau-Unternehmer i. Berlin, Betriebs-
Hoffmann, Friedrich (1660-1742), Me- eröffnung 1844 221
diziner i. Halle 644 Howaldt (Werft) 578
Hoffmann v. Fallersleben, August Hein- Hoym, Karl Georg Heinrich Gf. v.
rich (1798-1874), Sprachforscher u. (1739-1807), Kriegs- u. Domänen-
Dichter („Lied d. Deutschen": 26.8. rat 1762, Geheimrat u. zweiter Kam-
1841 auf Helgoland) 166, 732 merdir. 1767, Regierungspräs. i.
Hofhaltung 495 Kleve 1769, dirigierender Min. i.
Hofkammer 476 Schlesien 1770, Regierungspräs. i.
Hofmann, Karl v. (1827-1910), hess. Südpreußen 1793 - 1 8 0 7 485
Min.-Präs. s. 1871, Präs. d. Reichs- Hubertusburg, Frieden v. (März 1763)
kanzleramts s. 1876, Staatssekretär i. 485
Reichsamt d. Innern sowie preuß. Hufeland, Christoph Wilhelm (1762-
Min. f. Handel u. Gewerbe 1879/80 1836), Mediziner 643, 678
551 Hugenberg, Alfred (1865-1951), Unter-
Hofmeister 639 nehmer u. Politiker, MdR. 1 9 2 0 -
Hofstaat 558 1945, Vorsitzender d. DNVP 1928 -
Hohenlohe, Familie 498 1933, Mitbegründer d. Harzburger
Hohenlohe-Hütte 498 Front 1931, Reichsmin. f. Wirtschaft
Hohenlohe-Ingelfingen, Adolph Ft. zu u. Ernährung Jan. — Juni 1933 592
(1797-1873), preuß. Min.-Präs. Hugenotten 475, 481 f., 490, 518, 534
17.3.-23.9.1862 330, 370 Hugo, Victor Marie (1802-1885), frz.
Hohenlohe-Ingelfingen, Kraft Prinz zu Schriftsteller 166
(1827-1892), preuß. Off. u. Militär- Huldschinsky, Oskar (Unternehmer) 581
schriftsteller, Sekondeleutnant 1848, Humboldt, Alexander v. (1769-1859),
General d. Artillerie 1889 244 Geograph, Forschungsreisender 643,
Hohenlohe-Oehringen, Christian Kraft 690
Ft. zu (geb. 1848), Unternehmer, erb- Humboldt, Wilhelm Frhr. v. (1767-
liches Mitgl. d. württ. Kammer d. 1835), Gelehrter u. Staatsmann, Geh.
Standesherren u. d. preuß. Herren- Staatsrat u. Chef d. Sektion f. Kultus
hauses, MdR. 1880/81 u. s. 1883 u. Unterricht 1809, Min. f. ständ.
580 f. Angelegenheiten 1819 25, 74, 79 f.,
Hohenzollern, Dynastie 31, 404, 409, 82, 111, 159, 168, 189, 514, 666 ff.,
415 ff., 418 673, 675 ff., 688, 691, 700, 703
— ansbachische Linie 410 „Hundertmännerkolleg", Danziger 429
— brandenburgische Linie 409, 413 Hundesteuer 194
— fränkische Linie 405 f., 410 f., 413 Hungersnöte 227, 508, 526
826 Personen- und Sachregister

Hungerunruhen 498 Inflation 589, 595, 787


Huschke, Philipp Eduard (1801-1886), Informatoren 639
Jurist u. Theologe, Prof. i. Rostock Ingersleben, Karl Heinrich Ludwig v.
1824 u. Breslau 1827, Wortführer d. (1753 -1831), preuß. Beamter, Ober-
„Altlutheraner", Dir. d. Oberkir- präs. d. Prov. Pommern 1815, d.
chenkollegiums 1841 172 Prov. Niederrhein 1816 u. d. Rhein-
Huskisson, William (1770-1830), engl. prov. 1822 104
Politiker, Sekretär d. Schatzes 1804 — Innenministerium 25, 88, 168
1806 u. 1807-1809, Präs. d. Han- Innere Mission 174
delsamtes 1823, Staatssekretär f. d. Innovationen, technische 535, 597
Kolonien 1827-1828 164 Innungen 552 s. a. Zunftwesen
Hüttenbetriebe 490, 498 Inspektoren, geistliche 657
Hüttenwerk Gleiwitz/Malapane 587 Institut für Physikalische Chemie 780
Hypothekenbanken 571 f. Instruktion für die außerordentlichen
Hypothekenordnung 103 Regierungsbevollmächtigten bei den
Universitäten (18.Nov. 1819) 190
Ibell, Karl Friedrich Justus Emil v. Interimistische Nationalrepräsentation
(1780-1834), nass. Staatsmann, Re- 26
gierungspräs. 1815, durch Attentat Internationale Bank v. Luxemburg 526,
verletzt 1819, Geh. Rat u. Regie- 538
rungspräs. i. Hessen-Homburg Interventionismus 551
1827-1832 184 - Interventionsmächte, Interventions-
IG Farbenindustrie 600 politik 159
Illyrische Provinzen 62 - Interventionsrecht 82
Ilse-Bergbau AG 571 Irland 526, 537
Immatrikulationspatente 648 Isaac, Nathan 483 f.
Immatrikulationsrecht für Frauen 718 f. Iserlohn 280
Immediat-Examinationskommission 656 Italien 82, 230, 323, 341, 343, 346, 390
Immédiat-Justiz-Kommission, rheinische - Italien-Krise 347
99 - Nationalbewegung 321
- Norditalien 263
Importe 539
- Unabhängigkeitsbewegung 263
Indemnitätsgesetz, -vorläge 349 ff.
Itzenplitz, Heinrich Friedrich August Gf.
Indien 318
v. (1799-1883), Regierungspräs. i.
Individualkredit 487 f.
Arnsberg 1845 - 1848, Mitgl. d. Ver-
Industrie 498, 510, 515, 520, 522, 524,
einigten Landtags, d. Ersten Kammer
542, 551, 572, 592, 596, 771
u. d. Herrenhauses, Landwirtschafts-
- Arbeiterschaft 222, 254
min. 1862, Handelsmin. 1862-1873
— Industriebau 535
555
— Industriebelastungsgesetz vom 30.
Itzig, Daniel (1723-1799), Bankier u.
Aug. 1927 591
Münzmeister Friedrichs d. Gr. 483 f.
- Industrielle 254, 494
Itzstein, Johann Adam v. (1775-1855),
— Laboratorien 706 bad. Politiker, Mitgl. d. Vorparla-
- Lobby 157 ments 1848 210
— Proletariat 145 lus liturgicum negativum, -positivum
- Schulen 663, 682 171
Industrialisierung 94, 137, 152, 180, 216, Ivan IV. (d. Schreckliche) (1530-1584),
218, 478, 482, 516, 518, 548, 749 Zar v. Rußland s. 1533 409
Industrialisierungspolitik 481
Industrielle Revolution 218, 515, 519, Jablonski, Daniel Ernst (1660-1741),
538 Theologe, Senior d. Brüderunität 642
Infallibilitätsdogma 740 Jacoby, Johann (1805-1877), preuß.
Infanterie 59 Politiker u. Publizist, Mitgl. d. preuß.
Personen- und Sachregister 827

Nationalvers. 1848 u. d. Stuttgarter Johann III. (1537-1592), Kg. v. Schwe-


Rumpfparlaments 1849 206 f., 247, den s. 1569 411
255, 269 £. Johann Sigismund (1572-1619), Kft. v.
Jadebusen 77 Brandenburg s. 1608 412 f.
Jäger-Abteilungen, freiwillige 48 Johann, Erzhg. (1782-1859), österr.
JagieHo, Wladisiaw (1351-1434), Prinz u. Off., Generalfeldmarschall
Großft. v. Litauen 401, 404 1836, Wahl zum Reichsverweser
Jagiellonen durch d. dt. Nationalvers. 24.6.1848
- Dynastie 406, 409 262, 272, 279, 281
- Reich 403, 406 f., 411 John, Zensor i. Berlin um 1830/40 196
Jagow, Ludwig Friedrich Andreas Gün- Joseph Bonaparte (1768-1844), Bruder
ther v. (1770-1825), preuß. Off., Napoleons I., Kg. v. Neapel 1 8 0 6 -
Oberstleutnant 1807, Vizeoberstall- 1808, Kg. v. Spanien 1808 - 1 8 1 3 33
meister d. Kgs. 1808, Generalmajor Joseph II. (1741-1790), Kaiser d. hl.
1813 34 Rom. Reiches s. 1765 426
Jahn, Friedrich Ludwig (1778-1852), Juden 26, 95, 102, 113, 168, 226, 473,
Pädagoge u. „Turnvater" 32, 180 f., 480,482 f., 493 f., 503,518,521,534 f.
184, 191 — Judengesetzgebung 26, 106, 225
„Jahrbücher zur gesellschaftlichen Re- Jugendbewegung 790
form" 211 Juli-Revolution i. Frankr. (1830) 161,
Jakob I., Hg. v. Kurland 471 192, 195 s. a. Paris
Jakobiner 256 Jülich 193
Jänicke, Johannes (1748 — 1827), ev. Jülich-Kleve-Berg 86
Theologe, Prediger an d. Bethle- Jung, Georg (1814-1886), Jurist, i. Ber-
hemskirche zu Berlin, Gründer d. lin s. 1846, Mitgl. d. preuß. Natio-
Missionsseminars 1800 172 f. nalvers. 1848, Gründer d. radikal-
Jarres, Karl (1874-1951), Oberbürger- demokrat. eingestellten „Politischen
meister v. Duisburg 1 9 1 4 - 1 9 3 3 , (später: „Demokratischen") Klubs"
Reichsinnenmin. 1923 - 1 9 2 5 597 1848 255
Jastrow, Ignaz (1856-1937), National- Junghegelianer 209, 211
ökonom 777 Junkerparlament 266
Jaxa v. Köpenick v. (2. Hälfte 12. Jh.), Juristenmonopol 694
Justiz, -apparat 28, 189, 191
Slawenfürst 396
— Unabhängigkeit d. Richter 244
Jellàcic v. Buzim, Joseph (1801-1859),
Jütland 338
österr. Off. u. Politiker, Banus (Vi-
zekg.) v. Kroatien 23.3.1848, Feld-
Kabinett Brandenburg 269, 291, 527
züge geg. Wien 1848 u. Ungarn 1849 Kabinett Manteuffel 312 f.
263 Kabinettsdiplomatie 348
Jena 180 f., 183 f., 656 Kabinettskriege 348, 363
- Schlacht (J.-Auerstedt) 430, 500 Kabinettsregierung 20
Jérôme Bonaparte (1784-1860), Bruder Kaffeemonopol 495
Napoleons I., Kg. v. Westfalen „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur För-
1 8 0 7 - 1 8 1 3 16 derung der Wissenschaften" (KWG)
Joachim Friedrich (1546-1608), Kft. v. 568, 771 ff., 787f., 795
Brandenburg s. 1598 412 Kaiser-Wilhelm-Institute 780
Joachim II. (1505-1571), Kft. v. Bran- — Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie
denburg s. 1535 409 f., 416 780, 797
Johann II. (1435 - 1504), Hg. v. Schlesien — Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohle-
u. Herr zu Sagan 405 forschung 597
Johann II. Kasimir (1609-1672), Kg. v. — Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegs-
Polen 1648 - 1 6 6 8 416 technische Wissenschaft 569
828 Personen- und Sachregister

Kaiserreich 352, 470, 746 f., 749, 752, Diensten 1813, Statthalter i. Belgien
754, 757 f., 762 ff., 781 1814 181
— Kaisertitel 365 Karl Emil ( 1 6 5 5 - 1 6 7 4 ) , Kurprinz v.
— Kaisertum 367 Brandenburg 416
— Kaiserwürde 278 f. Karl X . ( 1 7 5 7 - 1 8 3 6 ) , Gf. v. Artois, Kg.
Kaiisch, Vertrag v. (28.2.1813) 50, 52 v. Frankreich 1 8 2 4 - 1 8 3 0 72, 192
- Proklamation v. (25.3.1813) 52, 57 f., Karl XII. ( 1 6 8 2 - 1 7 1 8 ) , Kg. v. Schweden
60 s. 1697 418
Kaliwerke Bleicherode 565 Karl XIII. ( 1 7 4 8 - 1 8 1 8 ) , Kg. v. Schwe-
Kalmarer Union 404 den s. 1809 u. Norwegen s. 1814
Kalvinisten 617 104
Kamarilla 203, 246, 262, 283 Karlsbad 185
Kameralia, Kameralistik 649 f. — Beschlüsse (1819) 111, 183, 185,
- Lehrstühle 649 188 ff., 247, 727 f., 730 ff.
- Studium 694 — Konferenzen 186 f.
Kamin 469 Karpaten 392
Kammer-Kollegien 682 Kartätschenprinz 238, 324 s. a. Wilhelm,
Kammergerichtsbarkeit 429 Prinz v. Preußen)
Kammerwirtschaft 125 Kartoffeln 491, 493, 496, 514
Kampf, Heinrich, Maschinenfabrikant „Kartoffelrevolution" (1847) 226
523 Kaschubei (poln. Landschaft) 92
Kamptz, Karl Christoph Albert Heinrich Kaschuben 442, 744
v. ( 1 7 6 9 - 1 8 4 9 ) , Jurist, preuß. Be- Kasimir III. (d. Große) (1310 - 1370), Kg.
amter, Geh. Legationsrat u. Vortra- v. Polen s. 1333 399
gender Rat i. Polizeidepartement Kasimir IV. ( 1 4 2 7 - 1 4 9 2 ) , Kg. v. Polen
1812, Mitgl. d. Staatsrats 1817, s. 1447, Großft. v. Litauen 1 4 4 0 -
Mitgl. d. Ministerialkommission ge- 1490 403, 405
gen demagogische Umtriebe 1819, Kassel 285, 530
Gesetzgebungsmin. 1832 - 1 8 4 2 Kassenscheine 135
171, 182, 184, 189, 688 Kassenwesen 132
Kanäle 471, 483, 498, 520, 525, 555 ff. Katasterbüro 108
Kanitz, August Gf. v. ( 1 7 8 3 - 1 8 5 2 ) , Katharina II. (d. Gr.) ( 1 7 2 9 - 1 7 9 6 ) , Ge-
preuß. Off., Generalleutnant 1842, mahlin Zar Peters III., Kaiserin v.
Kriegsmin. 30.4. - 1 7 . / 2 0 . 6 . 1 8 4 8 Rußland s. 1762 423, 426
245 Katharina Jagiellonica, Tochter Sigis-
Kant, Immanuel ( 1 7 2 4 - 1 8 0 4 ) , Philo- munds II. August, Gemahlin Kg. Jo-
soph, Prof. i. Königsberg 643, 646, hanns III. v. Schweden 411
656 Kathedersozialisten 550, 769, 776
Kapitalexport 536 Katholiken, Katholizismus 1 0 2 , 1 6 7 , 1 7 5 ,
Kapitalismus 528 178, 201, 314, 329, 352, 740
Karalene bei Insterburg (Seminar) 670 — Bruderschaften 201
Karbe (Landwirtsfamilie) 562 — Fraktion, kath. 314
Kardorff, Wilhelm v. ( 1 8 2 8 - 1 9 0 7 ) , In- — Kirchengut 174
dustrieller, freikonservativ. Politiker, — integraler 178
Mitgl. d. preuß. Abgeordnetenhauses — politischer 66
1 8 6 6 , 1 8 7 6 , 1 8 8 8 - 1 9 0 7 , u. d. Reichs- — rheinischer 194
tages 1868 - 1 9 0 6 553 — „strengkirchliche Bewegung" 176
Karl Albert ( 1 7 9 8 - 1 8 4 9 ) , Kg. v. Pie- — ultramontane Propaganda 176
mont-Sardinien s. 1831 263 — ultramontaner Radikalismus 177
Karl August ( 1 7 5 7 - 1 8 2 8 ) , regierender Kätner 30
Hg. 1775, Großhg. v. Sachsen-Wei- Kattowitz 519, 540
mar 1815, preuß. General, i. russ. Kattundrucker 154, 217 f.
Personen- und Sachregister 829

Katzbach 63 Kirdorf, Emil (1847-1938), Unterneh-


Kaub 68 mer 564
Kaufleute 118, 254, 494, 508, 537, 706 Kitzen 61
— Lehre 537 Klassenkampf 500
Kavallerie 59 Klassensteuer 28, 97, 118, 120, 225, 512
Kelsen, Hans (1881-1973), Staatsrecht- Klein- u Mittelstaaten 316 f., 320
ler 796 Kleinbesitz 561
Kernspaltung 797 Kleindeutsche Union 283 f.
Ketzerei 177 Klein-Dexen/Ostpreußen (Seminar) 664
Keudell, Walter v. (1884-1973), deutsch- Kleineisengewerbe 523
nat. Politiker, Reichsinnenmin. 1927/ Kleinsiedlungen 94
28 793 Kleinstädte 113
Kiel 340, 578, 656 Kleinstangestellte 153
— Frieden v. (14. Jan. 1814) 104 Kleinstellen 562 s. a. Bauern
Kinderarbeit 153, 156 f., 313, 712 f. — Kleinstelleninhaber 142
Kindersterblichkeit 89 f. Kleinstsiedlungen 94
Kinkel, Gottfried (1815-1882), republi- Kleist, Heinrich v. (1777 - 1811), Dichter
kan. Schriftsteller, Prof. f. Kunst- u. 32
Kulturgeschichte i. Bonn 1846, Re- Kleist, Friedrich Heinrich Ferdinand
dakteur d. „Bonner Zeitung" Aug. Emil v. (1814: K. v. Nollendorf)
1848, Mitgl. d. preuß. Zweiten Kam- (1762-1823), preuß. General 43 f.,
mer 1849, als Teilnehmer am Pfälzer 46, 63, 69
Aufstand zu lebenslänglicher Fe- Kleist-Retzow, Hans v. (1814 - 1892), Ju-
stungshaft verurteilt, nach d. Befrei- rist, Mitgl. d. Vereinigten Landtags
1847, Mitbegründer d. „Kreuzzei-
ung aus d. Festung Spandau durch
tung", Leiter d. „Junkerparlaments"
C. Schurz i. Nov. 1850 Emigration
i. August 1848 265 f., 283
nach London 280, 313, 736
Kleve 77, 86, 170
Kirchen
Kleve-Berg 86
— evangelische 168 f., 174 f., 740
Klewitz (auch: Klewiz), Wilhelm Anton
— evangelischer Oberkirchenrat 304,
(1803:) v. (1760-1838), preuß.
312
Staatsmann, Oberfinanzrat 1798, Zi-
— katholische 168, 174 f., 200, 740
vilgouverneur 1813, Wirklicher Geh.
— lutherische 170 Rat 1816, Finanzmin. 1 8 1 7 - 1 8 2 4 ,
— reformierte 170 Oberpräs. d. Prov. Sachsen 1825 —
— Kirchenagende für die Hof- und 1837 131, 512
Domkirche zu Berlin 171 Klodawa 49
— Kirchenagende für die Kgl. Preußi- Klöster 162, 174
sche Armee 171 — Berge b. Magdeburg 664
— Kirchendirektorium 168 — Grüssau 175
— Kirchenkollegium, deutsch-refor- — Klosterschulen 499
miertes 682 Knappenvereine s. unt. Bergbau
— Kirchenkonflikt 200 Knesebeck, Karl Friedrich v. d. (1768 —
— Kirchenpatronat 108 1848), preuß. General, 1. General-
— Kirchenpolitik 212 adjutant d. Kgs. 1813, Kommandie-
— Kirchenrecht 96 render General d. Observations-
— Kirchenregiment, landesherrliches armee 1831, Generalfeldmarschall
169, 304 1831 48 ff.
— Kirchenunion 171 f. Knyphausen, zu Innhausen und, Dodo
— Kirchenvisitationen 612, 685 Frhr. (1641 - 1 6 9 8 ) , Geheimrat d. Gr.
— Kirchenwesen 108 Kurf. s. 1683, Hofkammerpräs. s.
— Reform der Kirchenverfassung 169 1683 471,474
830 Personen- und Sachregister

Koblenz 66, 68, 176 Kommunalgesetzgebung 602


Koch, Robert ( 1 8 4 3 - 1 9 1 0 ) , Mediziner Kommunalverfassung, rheinische 109
767 Kommunalwirtschaft 587, 598
Koeppen, Karl Friedrich ( 1 8 0 8 - 1 8 6 3 ) , Kommunen 596
Lehrer u. Journalist, Mitgl. d. Kommunismus 211, 227
„Freien" i. Berlin 209 — Ideen 212
Koeth, Joseph ( 1 8 7 0 - 1 9 3 6 ) , Off., Leiter Konditoreien, Lesecafés 209
d. Kriegsrohstoffabteilung 1915 — Konfektion 535
1918, Reichswirtschaftsmin. 1920 Konfessionen s. a. Kirchen
584 — Diskriminierungen 176
Kohle, Kohlenbergbau 218, 498, 518, — Konfessionsfrage 175, 744
520, 524, 540, 596 s. a. Bergbau — Konfessionspolitik 615
- Exporte 520 — Konfessionsschule 784
Kohlechemie 597 — Parität 176
Kohlenforschung 773 — Toleranz 176
Kohleneisensteinförderung 539 „Kongreß deutscher Volkswirte" 553
Kohlensyndikate 584 „Kongreß norddeutscher Landwirte"
„Kohleverein Bielefeld" 553 552
Koks 489, 523 Königgrätz 344, 348, 353, 529
- Hochöfen 220, 500, 523 f., 538 f., 541 Königliches Materialprüfungsamt, Dah-
Kolberg 37, 258 lem 771
Kollegien 652, 656 Königlich/Kaiserliche Werft 578
- geistliche 682 f. Königliche akademische Lehranstalt des
Kollektivstimmen 113 f. Landbaues 515
Kölln 614 f. Königliche Bank 132, 134
Köln 99, 175, 193, 211, 227, 501, 521 f., Königliche Eisengießerei 146, 221, 235
525, 527, 537 f., 720 Königliche Porzellanmanufaktur 146
- Dombaufest 1842 200 f. Königliche Rheinisch-Westfälische Poly-
- Erzbistum 176 ff., 200 technische Schule 705
- Regierungsbezirk 155 Königliche Seehandlung s. unt. Seehand-
- Stadt- und Reichspatriotismus 201 lung
Köln-Mindener Bahn 222, 525
Königliches Gewerbe-Institut 143, 516,
Kölner Ereignis, -Wirren 178, 194
704
Kolonien 94
Königsberg 18, 34, 43 ff., 113, 117, 189,
Kolonialhandel 164
202, 204, 252, 471, 473 ff., 478, 491,
Kolonialpolitik 370, 554
499 f., 625, 639, 670, 682, 759
Kolonialwirtschaft 554
Kolonisation — Konvention (12. Juli 1807) 32
- hochmittelalterliche 397 f., 400, 404 Königsberger Schulplan (Humboldt)
- innere 477, 487, 560 f., 589 668, 672 f.
- Kolonisationsmaßnahmen 471 Königshütte 498
- Kolonisten 480 Königsmarck, Otto v. ( 1 8 1 5 - 1 8 8 9 ) ,
„Komitee für die deutschen Angelegen- Oberpräs. d. Prov. Posen s. 1869,
heiten" 38, 40 f. preuß. Landwirtschaftsmin. 1872
Kommunalverwaltung 103 546
- Armendirektion 154 Konkursrecht 553
- Ausgaben 154 Konrad I. (um 1 1 8 7 - 1 2 4 7 ) , Hg. v. Ma-
- Beamte 518 sowien (Mazowiecki) 396 f.
- Betriebe 600 Konservative 26, 199, 244 f., 256, 259 f.,
Kommunale Gebietsreform 596 266, 329, 348, 442
Kommunale Selbstverwaltung 312 — gemäßigte 254
Kommunaler Wohnungsbau 600 — Fronde 246, 267, 270
Personen- und Sachregister 831

- Kreise 55, 117, 158, 195, 199, 203 ff., Kossäten 513
206, 209, 265 f., 273, 549 Kossuth, Ludwig (od.:Lajos) (1802 —
- Partei 26, 234, 351 f. 1894), ungar. Politiker u. Revolu-
- Ultrakonservative 265, 309 tionsführer, „Taufrede" am 3.3.1848
Konsistorialverfassung 169 i. Preßburg, ungar. Finanzmin. 1848,
Konsistorien, Provinzialkonsistorien Emigration 1849 230
108, 168 f., 652 ff., 657, 682 f. Kottwitz, Hans Ernst Frhr. v. (1757 —
Konstantinopel 33, 152, 160 1843), Grundbesitzer, Sozialrefor-
Konstanzer Konzil 402 mer, Philanthrop u. Mittelpunkt d.
Konstitution 206 Berliner Erweckungsbewegung 172
- vom 3. Mai 1791 388 „Kottwitzsche Beschäftigungsanstalt"
Konstitutionalismus 229 217
- monarchischer 304, 307, 356 Kotzebue, August v. (1761 - 1 8 1 9 ) , Lust-
- konstitutionelles System 244 spieldichter, Gerichtspräs. i. Reval
- Scheinkonstitutionalismus 26, 308 1785-1795, russ. Staatsrat 1813, i.
Konstitutionelle Monarchie 512 Weimar s. 1817, ermordet 1819
„Konstitutioneller Klub" 259 f. 182 f., 727
Konsulate, Konsulatswesen 151, 356,526 Krakau 36, 76, 228, 406
Konsumtionssteuer 117 Krämer 153
Kontinentalsperre 18, 36, 46, 501, 508 Kraus, Christian Jacob (1753-1807),
Kontribution (Grundsteuer) 117, 470, Königsberger Staatswissenschaftler
476 f., 483, 502 500
Kontributionen, frz. 18, 25, 32 f., 35, 37, Krausnick, Heinrich Wilhelm (1797 —
123, 175, 507, 544 1882), preuß. Beamter, Geh. Justizrat
- russ. 485 u. Vortragender Rat 1832, Oberbür-
Kontributionszahlungen (v. Frankr.) 544 germeister d. Stadt Berlin 1834 —
Kontrollratsgesetz Nr. 46 (25. Feb. 1947) 1848 u. 1850 - 1 8 6 2 204, 239 f., 519
128 Kreditbanken 135, 542
Konvention Alvensleben (8. Feb. 1863) Kredithilfen 591
335 Kreditpolitik 131 ff., 588
Konvention v. Berlin Krefeld 482, 491
- Entwurf (9. März 1808) 32 Kreis(e) 84, 86
- Endfassung (6. Nov. 1808) 33 — Gerichte 257
Konvention v. Reichenbach (27. Juni — Grenzen 86
1813) 62 f. — Ordnung 108
Konvention v. Tauroggen (30. Dez. 1812) — Schulinspektion, Schulinspektoren
42 ff., 50 f. 685, 742
Konversations-Lexika 500 — Städte 86
Koppe, Karl Wilhelm (1777-1837), — Stände 108
preuß. Beamter, Assessor bei d. See- — Synoden 169
handlung 34 — Verfassung 108
Koppel, Leopold (Unternehmer) 568 Kreis-Schulinspektoren 741
Körner, Karl Theodor (1791-1813), Kreuznach 281
Freiheitskämpfer u. Dichter 61 Kreuzzeitung 265, 310
„Kornmessersches Waisenhaus" 217 — Kreuzzeitungspartei 265, 319, 527
Korruption 492 Kriegsamt 584
Kosaken 53 Kriegsanleihen 223
Kosegarten, Ludwig Gotthard (1758 — Kriegsdienstgesetz 332
1818), Dichter u. Theologe, Prof. d. Kriegsentschädigung 82, 124, 363, 484,
Geschichte i. Greifswald 1808, d. 495, 501, 509, 530, 544 f., 574 s. a.
Theologie 1817 106 Kontributionen
Köslin 94, 258 Kriegsernährungsamt 583
832 Personen- und Sachregister

Kriegserziehung 780 Ersten Kammer 1850/51 131, 238,


Kriegsgerichte 282 291
Kriegsgetreidegesellschaft 584 Kulm 63, 176
Kriegskosten 124, 509 Kulmer Land 101, 397, 402
Kriegsmarine 356 Kulmer Ländchen 76
Kriegsministerium 200, 282, 571, 584 Kulmiz, Eugen v. (Hütten-, Bergwerks-
Kriegsrecht 271 u. Gutsbesitzer) 581
Kriegsrohstoffabteilung 584 Kulturaußenpolitik 775
Kriegsrohstoffgesellschaften 584 Kulturföderalismus 798
Kriegsschatz 224 Kulturkampf 740 ff., 745
Kriegs- und Domänenkammern 17, 28, Kulturpolitik 726
107, 654 Kultus- und Unterrichtsverwaltung 25
Kriegswesen s. unt. Armee, Heer Kultusausgaben, Kultusetat 748 f., 752
Kriegswirtschaft 585, 780 Kultushoheit 739
Kriegsziele v. 1864 555 Kultusministerium 106, 171, 200, 568,
Kriminalordnung v. 1805 96 686, 700, 702 s. a. Ministerium d.
Krimkrieg 314, 318 ff., 341, 347
geistl.-, Unterrichts- u. Medizinal-
Krim-Krise 324
angelegenheiten
Kristianopeler Rolle (Zolltarif v. 1645)
Kultussouveränität 766
163
Kultusverwaltung 189, 191, 696, 698,
Kroatische Nationalbewegung 263
707, 719, 747, 753, 761, 766, 771,
Krondotationsrente 559
773 f., 776, 788, 797
Kronprinzenkommission 112
Kunstsalons 582
Krossen 405
Kunstschulen 682
Krummacher, Friedrich Wilhelm
Kunth, Gottlob Johann Christian
(1796-1868), ev. Theologe, Hofpre-
diger i. Berlin 1847 u. i. Potsdam (1757-1829), preuß. Reformbeam-
1853 173 ter, Erzieher d. Gebr. Humboldt
Krümper-System 54 1777-1789, dann Assessor, s. 1801
Dir. d. Manufaktur- u. Kommerz-
Krupp (Industrieunternehmen) 578, 595
Krupp (Unternehmerfamilie) 540, 581 kollegiums, General-Handels-Kom-
Krupp v. Bohlen u. Halbach, Bertha missar 1815, Wirklicher Geh. Ober-
(1886-1957), Unternehmerin 580 f. regierungsrat, Mitgl. d. Staatsrats
Krupp, Alfred (1812-1887), Industriel- 118
ler 524 Kurisches Haff 43
Krupp, Friedrich Alfred (1854-1902), Kurmark 86, 145, 411, 469, 478, 491,
Industrieller 581 497, 612 f., 632, 653, 657
Krusemarck, Friedrich Wilhelm Ludwig Küstenschiffahrt 164
v. (1767-1822), preuß. General u. Küster 660, 663
Diplomat, Gesandter i. Paris 1810 — Küsterschulen 612
1813 3 7 , 4 3 Küstrin 33, 615
Küddow (Nebenfluß d. Netze) 399 Kutusow, Michail Ilarionowitsch Gole-
Kühlwetter, Friedrich v. (1809-1882), niscer (1812:) Ft. Smolenskij (1745 -
preuß. Beamter, Regierungspräs. i. 1813), russ. Feldmarschall 50, 52,
Aachen 1848 u. 1 8 5 0 - 1 8 6 6 , Innen- 57 f., 64
min. J u n i - S e p t . 1848 261, 527 Kußmaul, Adolf (1822-1902), Medizi-
Kühne, Ludwig (1786 - 1864), preuß. Be- ner, Prof. i. Erlangen 1859, Frei-
amter, Wirklicher Geh. Finanzrat u. burg 1863 u. Straßburg 1876-1888,
Generalsteuerdir. 1842, Finanzmin. Pseudonym (zusammen mit Ludwig
(kommissarisch) März 1848 u. Nov. Eichrodt [1827-1892]): Gottlieb
1848-Febr. 1849, Mitgl. d. preuß. Biedermaier 179
Personen- und Sachregister 833

K W G s. unt. Kaiser-Wilhelm-Gesell- — Landschulstellen königlichen Patro-


schaft zur Förderung der Wissen- nats 707
schaften — Patronatsverhältnisse 684
Kyffhäuserverband 778 Landstände 202
Landstreicher 153, 156
Labiau 415 Landsturm 48, 55
Ladenberg, Adalbert v. ( 1 7 9 8 - 1 8 5 5 ) , Landtag 100, 1 1 3 , 1 2 7 f., 208, 304 f., 308,
Wirklicher Geh. Regierungsrat u. 330 s. a. Erste Kammer, Herrenhaus
Mitgl. d. Staatsrats 1839, Kultusmin. — Abgeordnete 113
Mai —Okt. 1840 (kommissarisch) u. — Auflösung 330
1 8 4 8 - 1 8 5 0 (bis Okt. 1848 kommis- — Ausschüsse 206
sarisch), Präs. d. Oberrechnungs- — Landtagsmarschall 113
kammer 1 8 5 0 - 1 8 5 5 132,168 — Stenographen 226
Lagerhaus 477 Landverkehr 98, 147 ff., 220 ff.
Lahn 524 Landwehr 48, 50, 54 f., 273, 279 f., 329
Laibach, Kongreß v. (Jan.—Mai 1821) Landwirtschaft 138,141 f., 1 4 7 , 1 5 2 , 4 7 7 ,
82, 159 481, 487, 491 f., 496, 499, 507, 510,
Lamartine, Alphonse Marie Louis de 513, 517, 519, 521, 526, 528, 533 f.,
( 1 7 9 0 - 1 8 6 9 ) , frz. Dichter u. Politi- 542 ff., 551 f., 556 f., 562, 574, 578,
ker, Außenmin. 1848 - 1 8 5 1 166 587 ff.
Lamprecht, Karl ( 1 8 5 6 - 1 9 1 5 ) , Histori- — großbäuerliche 140 f., 528
ker 767 — Entschuldung 588, 591
Landarmeninstitute 113 — Nebengewerbe 153, 534
Landarmen-Verbände 156 — Umschuldung 590
Landbevölkerung 94, 142, 252, 258, 613 — Verschuldung 590
Landarbeiter 94, 256, 534, 578 — landwirtschaftliche Zentralvereine
Landarbeiterfrage 534 515 s. a. Rustikalvereine
Landarbeitsordnung v. 1854 534 „Landwirtschaftlicher Zentralverein für
Landhandwerker 518 Schlesien" 574
Landlose 142 Lange, Helene (1848 - 1930), Führerin d.
Landproletariat 142, 506, 527, 534 Frauenbewegung 718
Landau 73 Lange, Joachim (1670 — 1744), Theologe
Landbinnenzölle 118 645
Ländergleichschaltung 798 Langensalza 344
Landesökonomie-Kollegium 515 Langres 68 f.
„Landesverein preußischer Volksschul- Laon, Schlacht bei (9./10. März 1814) 69
lehrer" 755 La Rothière, Schlacht bei (1. Feb. 1814)
Landesverrat 228 68
Landesverteidigung 304 Lasker, Eduard ( 1 8 2 9 - 1 8 8 4 ) , liberaler
Landgemeinden 108, 113 ff., 207 preuß. Publizist u. Parlamentarier s.
— Landgemeindeordnung 108 1865 350
Landgewinnung 477, 481 ff., 491 Lateinamerika 82, 159
Landkreise 87 Lateinschulen 624, 673, 698
Landräte 108, 162, 684, 715 Lateinunterricht 633
— Landratsamt 102, 108 Lauenburg 77, 104, 335, 338 ff.
— Landratskammer 275, 311 Lausitzen 548
Landrentenbanken 224 Lebensmittelpreise 215, 226
Landschaften 488 Lebensmittelproduktion 568
Landschulwesen 611 f., 613, 628 f., Lebus 393, 397
630 ff., 639, 655, 657, 707, 709, 752, Lebuser Land 392
759 Lederindustrie 539
— Landschulpolitik 629 Leer 480
834 Personen- und Sachregister

Legitimitätsprinzip 161 Lehrfreiheit 646


Lehndorff, Georg Gf. v. (Oberlandstall- Lehrlinge 144
meister) 576 Lehrpläne, schulische 633, 683, 696 ff.,
Lehnspreußen 405 702, 708, 746 f., 760, 764, 780, 785,
Lehnsrecht 96 790, 798
Lehrer, -schaft 118, 254, 633 f., 663, 665, - Bestimmungen v. 1856 697
671, 673, 707, 711 f., 733 f., 736, - Entwicklung 700
746 f., 751 f., 759, 781, 794 Lehrstühle für Pädagogik 756
— Dorfschullehrer 663 f., 711, 753 Leibeigenschaft 98, 105, 470
— Elementarschullehrer 633, 663 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646-
— Gelehrtenschullehrer 671 1716), Philosoph, Präs. d. (preuß.)
— Gymnasiallehrer 663, 733, 741, 794 Akad. d. Wiss. 620, 642
— Hauslehrer 639, 668 Leinen, Leinwand 490
— Hauslehrererziehung 640, 697, 716 - Export 151, 216, 485
— höhere 698, 733, 755, 781 - Manufakturen 493
— Landschullehrer 711 - Verarbeitung 216, 497
— Lehrerberuf 753 Leiningen, Ft. Karl v. (1804-1856),
— Lehrerbesoldung 707, 709, 749 f. Halbbruder d. Kgn. Viktoria, Präs.
— Besoldungsgesetz v. 1909 750 d. bayer. Kammer d. Reichsräte 1843,
— Landschullehrerbesoldung 628 Min.-Präs. d. ersten Frankfurter
— Lehrerbewegung 734f., 738 Reichskabinetts Juli-Sept. 1848
— Lehrerbildung, -swesen 670, 693, 262
709, 711, 756, 784, 791, 795 Leipzig 41, 61, 64 f., 77, 212, 315, 621,
— Bildungsstätten 749, 754 778
— Lehrerbildungsfrage 788 - Konvention (21. Okt. 1813) 65
— Lehrerseminare, 663 ff., 670, 688, Leitzkau 393
709 f., 733, 735, 737 ff., 756 f., Lemberg 440
788 f. Lenau (eigentlich Niembsch v. Strehle-
— Lehreremanzipation 735 nau), Nikolaus (1802-1850), Dich-
— Lehrerfeste 735 ter 193
— Lehrermangel 671, 712, 753 Lenne, Peter Joseph (1789-1866), Gar-
— Lehrerstellen 684, 712 tenbaumeister, s. 1854 Generaldir. d.
— höhere 663 Kgl. Gärten i. Preußen 514, 517
— niedere 663 Leo, Heinrich (1799-1878), polit. Hi-
— Lehrervereine 734 f., 797 storiker, Privatdozent i. Erlangen
— Lehrerversammlungen 736 1820, Prof. i. Berlin 1825 u. i. Halle
— Lehrerzeitungen 735 1828, Mitarbeiter am „Polit. Wo-
— Oberlehrer 756 f. chenblatt", an d. „Ev. Kirchenzei-
— Privatlehrer 640 tung" u. an d. „Kreuzzeitung" 265,
— Realschullehrer 741 690
— Schullehrer-Konferenzgesellschaften Leonhardt, Adolf (1815-1880), preuß.
674 Justizmin. 1867-1879 352
s. a. Volksschullehrer Leopold II. (1747-1792), Großhg. v.
Lehramt, schulisches 634 Toskana s. 1765, Kaiser d. hl. Rom.
— Examen 684, 758 Reiches s. 1790 426
— höheres 694, 702, 756 f. Leopold (1790-1852), Großhg. v. Baden
— Kandidaten 756 1830, kurzzeitig zur Flucht gezwun-
— Staatsprüfung 764 gen Mai/Juli 1849 281
Lehranstalten 682 Leopoldina s. unt. Universität Breslau
— gewerbliche 651, 702 674
— höhere 753, 782, 784 Lesecafes 209
— medizinische 650 Lesegesellschaften 641, 720
Personen- und Sachregister 835

Leszczynski, Stanislaw (1677 — 1766), Lindenau 64


Kg. v. Polen 1704-1709, Hg. v. Lingen 77
Lothringen s. 1738 420 Linkshegelianer 209
Lette, Wilhelm Adolf (1799-1868), Ju- Lippe, Gf. Leopold zur (1815-1889),
rist, Wirtschafts- u. Sozialpolitiker, preuß. Justizmin. 1862-1867 352
Mitgl. d. preuß. Abgeordnetenhauses Lippstadt 77
1852 u. d. Norddt. Reichstages 1867 List, Friedrich (1789-1846), Volkswirt-
553 schaftler u. Politiker, Gründer d. Dt.
Levante 318 Handels- u. Gewerbevereins 1819,
Lex Arons 777
Emigration zunächst i. d. U.S.A. u.
Leyen, Familie v. d. (Seiden- u. Samt- 1837 nach Paris 550
fabrikanten) 482, 491 Litauen 400 ff., 404, 410, 429
Liberale 99 f., 195, 205, 210, 223 f., 245, - Sprache 745
259, 275, 314, 325, 327 f., 332, 348 f.,
Litauischer Schulplan (Humboldt) 668
356, 367, 369, 551
„Literarisches Wochenblatt" 183
— Berliner 209
Livland 409, 413, 417
— Bewegung 303
Locarno 445
— Bürgertum 366
- Locarno-Politik 446
— kleindeutsche 323
- Locarno-Vertrag vom Okt. 1925 592
— linksliberale Kreise 231,256,352,433
— liberale Mitte 247, 254 Löffler, Konrad Adam Valentin (geb.
— liberale Mittelpartei 329 1782), ev. Theologe, Prediger an d.
— liberale Opposition 192, 212, 230, Gertrauden (Spittel)-Kirche zu Berlin
735 1820-1824, Prediger i. Tornow
— liberale Partei 350 1824-1844 (amtsentsetzt) 173
— liberale Theoretiker 549 Löhne 154, 217 f., 544, 582
— liberalkonservative Partei 314 - Erhöhungen 595, 597
— liberal-konservativer Flügel 319 - Hungerlöhne 154
— rheinische 530 Lokal-Schulinspektoren 741
Liberalisierung 52 Lokalzensoren 208
— des Wirtschaftslebens 21, 29, 142, Lokomotivbau 221, 518, 594
474 Lola-Montez-Affäre 230
s. a. Altliberale Lombardei 263, 322, 339
Liberalismus 326,350, 531, 546, 549,739 Lombardo-Venetien 263, 321
— bürokratischer 27 London 212, 338, 499
— privatwirtschaftlicher 535 - Konferenz v. (4. Nov. 1830-Jan.
— rheinischer 245, 705 1831) 161
— südwestdeutscher 246 - Protokoll vom 8.5.1852 336 ff.
Lichnowsky, Felix Maria Vinzenz An- - Protokoll vom 24.5.1852 320 f.
dreas Ft. (1814-1848), Off. i. preuß. - Vertrag v. (15. Juli 1840) 165
u. span. Diensten, Mitgl. d. Vereinig-
Lothringen 69, 74, 363 f., 526, 540, 545,
ten Landtags 1847 u. d. dt. Natio-
557, 566
nalvers. (1848/49), ermordet 18.9.
Lottum, Karl Friedrich Heinrich Gf. v.
1848 264
Wylich (1767-1841), preuß. General
Lichtenberg, Fstm. 77
„Lichtfreunde" 212 u. Politiker, Mitgl. d. Staatsrats 1817,
Liebig, Justus (1845:) Frhr. v. (1803- Schatzmin. 1819-1822, Kabinetts-
1873), Chemiker u. Agrarwissen- min. 1823 - 1 8 4 1 106, 204
schaftler 517, 533 Louvre 73
Ligny, Schlacht bei (16. Juni 1815) 71 Lübeck 530
Linden, Franz Joseph Ignaz Reichsfrhr. „Lücken-Theorie" 332
v. (1760-1836), württ. Beamter, Ge- Lüdemann, Hermann (1880-1959), So-
sandter i. Dresden u. Wien 79 zialdemokrat, preuß. Finanzmin.
836 Personen- und Sachregister

1920/21, Oberpräs. v. Niederschle- steuerdir. 1818, Finanzmin. 1830 —


sien 1928 - 1 9 3 2 785 1834 118, 131, 162, 288, 529
Ludewig, Johann Peter (1668 —1743), Ju- Macdonald, Jacques-Etienne-Joseph-
rist u. Historiker i. Halle 644 Alexandre Duc de Tarente ( 1 7 6 5 -
Ludwig I. Karl August (1786 - 1 8 6 8 ) , Kg. 1840), frz. Marschall 41, 43
v. Bayern 1825, i. Zusammenhang Madrid 361
mit d. Lola-Montez-Affäre Thron- Mädchenschulen 641, 718 f.
verzicht 20.3.1848 230 Maercker, Carl Anton v. (1803-1871),
Ludwig II. (1845-1886), Kg. v. Bayern i. preuß. Justizdienst s. 1831, Dir. d.
s. 1864 365 Kriminalgerichts Berlin 1847/48, Ju-
Ludwig Philipp v. Orléans (1773 - 1 8 5 0 ) , stizmin. Juni —Sept. 1848, Präs. d.
Duc de Chartres 1785, General 1792, Appellationsgerichts Halberstadt
Kg. v. Frankreich („Bürgerkönig") 1 8 5 0 - 1 8 6 8 261
1830-1848 161,192 Magdeburg 16, 64, 77, 86, 222, 469, 473,
Ludwig XVIII. (1755-1824), jüngerer 475, 510, 556 f., 593, 612, 615, 759
Bruder d. 1793 hingerichteten Lud- „Magdeburg" (Dampfschiff) 150 f.
wig XVI., Comte de Provence, Kg. „Magine Reim" 217
v. Frankreich 1814/15 70, 72 £. Magistrate 28, 109, 502, 656 ff., 743
Luise (1776—1810), geb. Prinzessin v. Mahl- und Schlachtsteuer 97, 118, 213,
Mecklenburg-Strelitz, Kronprinzes- 225
sin s. 1793 u. Kgn. v. Preußen s. 1797 Mahmud II. (1784-1839), Sultan d. Os-
57 manen s. 1808 81, 165
„Luisenstift" 217 Mailand 263
„Luisenstiftung" 217 — Dekrete v. (Nov./Dez. 1807) 36
Lüning, Otto (1818 - 1 8 6 8 ) , Dortmunder Mainfeldzug 344
Arzt u. Sozialist 211 Mainlinie 322, 343, 359
Luther, Hans (1879 - 1962), Oberbürger- Mainz 66, 175, 264, 525
meister v. Essen 1918, Reichsmin. — Mainzer Kommission 191
1922/23, Reichskanzler 1925/26, — Mainzer Theologenschule 176
Reichsbankpräs. 1930 - 1 9 3 3 , dt. Mairevolution 1849 279 f.
Botschafter i. U.S.A. 1 9 3 3 - 1 9 3 7 Malmö 262
597 — Malmö-Frage 264
Luther, Martin (1483-1546), Reforma- Malta 36, 73
tor 407 Manager 537
Lutheraner 169 f., 472 Manchesterliberalismus 776
Lutherische Orthodoxie 617 Mannesmann (Industrieunternehmen)
Lützow, Adolf Frhr. v. (1782-1834), 578
Freischarführer 1813 u. Off., Oberst Mannheim 68, 230, 281 f.
1815, Generalmajor 1822 38, 53, 58 Manteuffel, Edwin Hans Karl Frhr. v.
Lützowsches Freikorps s. unt. Freikorps (1809-1885), preuß. Off., Rittmei-
Lützow ster u. Adjutant d. Prinzen Albrecht
Luxemburg 343, 360, 526, 530, 540, 557 v. Preußen 1839, Flügeladjutant d.
- Dynastie 400, 404 Kgs. 1848, Generalfeldmarschall
— luxemburg. Krise 360 1873, Statthalter i. Elsaß-Lothringen
Luxemburg, Rosa (1870-1919), Sozia- 204, 237, 329
list. Politikerin 439 Manteuffel, Otto Theodor Frhr. v.
Luxussteuer 117 f. (1805-1882), Vetter v. E. v. M.,
Lyzeum 719 preuß. Beamter u. Politiker, Landrat
1833, Mitgl. d. Vereinigten Landtags
Maaßen, Karl Georg (1769-1834), 1847, Innenmin. Nov. 1 8 4 8 - D e z .
preuß. Beamter, Regierungsdir. 1809, 1850, Außenmin. Nov. 1850 (kom-
Mitgl. d. Staatsrats 1817, General- missarisch)/Dez. 1850 (definitiv) —
Personen- und Sachregister 837

Sept. 1858, Min.-Präs. 1 9 . 1 2 . 1 8 5 0 - Massenschulwesen 708 f.


1858 285 f. , 291, 309 ff., 313 Massenelend 153 ff., 213 f.
Manufakturen, -wesen 472 f., 475 f., 478, Massenproduktion 541
481 f., 485 ff., 493, 558 Masso w, Ludwig v. (1794-1859),
— Manufakturarbeiter 478, 481, 497 preuß. Beamter, Hofmarschall 1835,
— Manufakturproletariat 494 Wirklicher Geh. Rat 1840, Mitgl. d.
Marchia transoderana (Neumark) 399 Staatsrats 1843, Min. d. Kgl. Hauses
Marggraf, Andreas Sigismund (1709 — 1854-1859 204
1782); Chemiker 642 f. Massow, Julius v. (1750 — 1816), Finanz-
Marienburg 45, 403 min., Präs. d. Oberkonsistoriums u.
Marienwerder 590 Oberschulkollegiums 655, 673 f.
Marine 151 f., 548, 555 Massowscher Schulplan 656
Mark Brandenburg 113, 3 8 7 , 3 9 2 , 3 9 6 ff., Masuren 442
404, 409, 470, 473, 613, 615, 625 - Sprache 745
Mark, Gft. 76, 145, 167, 170 Mathematik 769
Markenschutzgesetz 549 - Unterricht 633, 668
Marktwirtschaft Mathieu (Leiter eines Gartenbau-Groß-
— freie 531, 550 betriebes) 514
— liberale 544 Mauguin, François (1875 — 1854), repu-
Marne 69 blikan. Abgeordneter i. d. frz. De-
Mars La Tour, Reiterschlacht (1870) 363 putiertenkammer 166
Marwitz, Friedrich August Ludwig v. d. Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de
( 1 7 7 7 - 1 8 3 7 ) , preuß. Off. u. Politi- ( 1 6 9 8 - 1 7 5 9 ) , frz. Mathematiker,
ker, Generalmajor 1817, Mitgl. d. Präs. d. Akad. d. Wiss. 642 f.
Staatsrats 1827 26, 502 Mauritius 73
M a r x , Karl Heinrich ( 1 8 1 8 - 1 8 8 3 ) , So- Maximilian II. Joseph (1811 - 1 8 6 4 ) , Kg.
zialist. Politiker u. Schriftsteller, Pro- v. Bayern durch d. Thronverzicht sei-
motion 1841, Redakteur d. „Rhein. nes Vaters Ludwig I. am 20.3.1848
Zeitung" 1842/43, Emigration 230
1845 - 1 8 4 8 , Chefredakteur d. Maximilian ( 1 5 5 8 - 1 6 1 8 ) , Hoch- u.
„Neuen Rhein. Zeitung", Auswei- Deutschmeister, Erzhg. v. Österreich
sung Mai 1849 209, 211, 280, 435, 411
499 Maybach, Albert v. ( 1 8 2 2 - 1 9 0 4 ) , Präs.
Märzrevolution s. unt. Revolution v. d. Reichseisenbahnamtes 1874 —
1848 1876, preuß. Handelsmin. 1878 u.
Märzbewegung (1848) 259 Min. f. öffentl. Arbeiten 1 8 7 9 - 1 8 9 1
Märzforderungen (1848) 230, 232 555
Märzgefallene (1848) 240, 243 Maybach (Industrie-Unternehmen) 584
Märzminister (1848) 245 Mecklenburg 104, 230, 317, 530
Märzministerien (1848) 230, 245, 261 Mecklenburg-Schwerin 92, 165
Märzpatent (1863) 336 Mediatisierung 522
Maschinenbau 218, 221, 518, 522, 535, Medizin 690, 694
539, 568, 594 Mehmed Ali ( 1 7 6 9 - 1 8 4 9 ) , Vizekg. v.
— Maschinenbauarbeiter 235, 269 Ägypten 165
— Maschinenbauer 154 Meierotto, Johann Heinrich Ludwig
— Maschinenbauschulen 703 (1742 - 1 8 0 0 ) , Gymnasialdir. i. Berlin
Maschinenstiirmerei 193, 519 633
Maschinisierung 578 Meinecke, Friedrich ( 1 8 6 2 - 1 9 5 4 ) , Hi-
— Landwirtschaft 533 storiker 776, 778
Masowien 396, 407 Mehner, Lise ( 1 8 7 8 - 1 9 6 8 ) , Physikerin
Maße und Gewichte 234, 292, 553 797
Massenbildungswesen 747 Meliorationen 141 f., 483, 629
838 Personen- und Sachregister

Memel 43, 393 Mietsteuer s. unt. Haus- u. Mietsteuer


Mendelssohn (Bankhaus) 536 Milde, Karl August (1805-1861), Indu-
Mendelssohn (Bankiersfamilie) 545, 581 strieller, Mitgl. d. Vereinigten Land-
Menschenrechte s. unt. Grundrechte tags 1847 u. d. preuß. Nationalvers.
Mentel, Christian Friedrich (geb. 1822), 1848, Handelsmin. J u n i - S e p t . 1848
Schneidergeselle, Mitangeklagter i. 261
Berliner Kommunistenprozeß 1847 Militär, -wesen 258, 304, 355, 357, 583
227 s. a. Armee, Heer
Merckel, Friedrich Theodor (1828:) v. Militäradministration, frz. 40
(1775-1846), preuß. Beamter, Militäragende 171
Kriegs- u. Domänenrat 1804, Ober- Militärärzte 650
präs. d. Prov. Schlesien 1 8 1 6 - 1 8 2 0 Militärausgaben, Militäretat 128 f., 330,
u. 1825 - 1 8 4 5 157 355
Merinoschafe 492 Militärdienst 331, 701
Merkantilismus - einjährig-freiwilliger 53, 758
— friderizianischer 483 Militärgeistliche 176
— niederländischer 471 Militärgerichte 248
Merseburg 77, 227 Militärgottesdienst 176
Metallindustrie 490 Militärgouvernements 56
Metallverarbeitung 490, 497, 535 Militarismus 128, 324
Metternich, Clemens Lothar Wenzel Ft. Militärkabinett 368
v. (1773 — 1859), österr. Staatsmann Militärkirchenordnung vom 12. Feb.
61 f., 68, 75, 77 ff., 81 ff., 110 ff., 1832 176
157 ff., 162 f., 179, 182, 189 f., 195, Militärpartei 234, 267, 350
210, 231, 233, 509, 511, 727 Militärpostämter 148
Metz 363 f. Militär-Reorganisationskommission
Mevissen, Gustav (1884:) v. ( 1 8 1 5 - (MRK) 24
1899), rhein. Unternehmer, Bankier Militärschulen 653
u. Politiker, Mitgl. d. Vereinigten Militärstaat 477
Landtags 1847 u. d. dt. Nationalvers. Militärstraßen 17, 284 f.
1848/49, Dir. d. Schaafhausenschen Militärtechnik 780
Bankvereins s. 1848 225, 526, 537, Millionäre 580 ff.
539 Minden 78, 469, 612, 664
Mexiko 165 Minderheitenschutz 443
Michaelis, Otto (1826-1890), Wirt- Minderheitsfrage 446
schaftspolitiker, Mitbegr. d. „Kon- Minister, Ministerien 286 — 291 (Über-
gresses dt. Volkswirte" 1858, grün- sicht)
dete mit J. Faucher 1863 die „Vier- Minister für öffentliche Arbeiten 368
teljahrsschrift f. Volkswirtschaft u. Ministeranklage 304
Kulturgeschichte", 1861 i. d. preuß. Ministerialbürokratie20f., 23 f., 27,155,
Abgeordnetenhaus, 1867 i. d. Reichs- 518, 527, 548, 602
tag gewählt, vortragender Rat i. Ministerium der Geistlichen-, Unter-
Reichskanzleramt 1871 - 1879 553 richts- und Medizinalangelegenhei-
Michels, Robert (1876 - 1 9 3 6 ) , Soziologe ten (Kultusministerium) 106, 168,
777 686
Mieroslawski, Ludwik (1814-1878), Ministerium des Königlichen Hauses 106
poln. Revolutionär, i. Polenprozeß Ministerium Dohna-Altenstein 25, 35 f.
zum Tode verurteilt 1847, Führer d. Ministerium für Handel, Gewerbe und
badischen Revolutionsarmee 1849 Öffentliche Arbeit 106, 257, 287 ff.,
228, 240, 281 555
Mietskasernen 568 Ministerium für Landwirtschaft, Do-
Mietsteigerung 493 mänen und Forsten 106, 291, 603
Personen- und Sachregister 839

Ministerium für Wirtschaft und Arbeit Möller, Theodor Adolf v . ( 1 8 4 0 - 1 9 2 5 ) ,


603 Großindustrieller u. nationallib. Po-
Ministerium für Wissenschaft, Kunst litker, M d R . 1 8 9 0 - 1 8 9 5 u. 1 8 9 8 -
und Volksbildung 781 1901, Mitgl. d. preuß. Abgeordneten-
Ministerkrise 1819 111, 189 hauses 1893 - 1 9 0 1 , preuß. Handels-
Ministerpräsident 106, 238, 290 f., 357, min. 1901 - 1 9 0 5 564
368 Moltke, Helmuth Karl Bernhard Gf. v.
Ministerrat 208, 210 ( 1 8 0 0 - 1 8 9 1 ) , preuß. Generalfeld-
Ministerverantwortlichkeit 244, 304, 332 marschall, Chef d. Generalstabes
Minutoli, Julius Frhr. v. ( 1 8 0 5 - 1 8 6 0 ) , 1858 - 1 8 8 8 340, 529
preuß. Beamter, Polizeipräs. v. Berlin Mommsen, Theodor ( 1 8 1 7 - 1 9 0 3 ) , Hi-
1 8 4 7 - J u n i 1848, Kommandant d. storiker 339, 348, 690, 768, 776, 778
Berliner Bürgerwehr März/April Mömpelgard 73
1848 232, 238 f., 261
Monarchisches Prinzip 83, 111, 116, 304,
„Mirakel des Hauses Brandenburg" 422
308
„Miscellanea Berolinensia" 643
Monopolwesen 487
Mischehenfrage 103, 176 ff., 200
Monroe-Doktrin 159
Missio canonica 740
Montanindustrie 220 f., 521 f.
Miteigentümergesetz v. 1851 532
Montereau, Schlacht bei (18. Feb. 1814)
Mitteldeutschland 541
68
— mitteldeutsche Staaten 163, 230
Montez, Lola (1820 — 1861), Tänzerin,
— Mittel- und Kleinstaaten, deutsche
durch Kg. Ludwig I. v. Bayern zur
194, 316, 336 f., 339
Gfn. v. Landsberg erhoben 1847, Ver-
Mitteldeutsche Stahlwerke 593
bannung aus München März 1848
Mitteldeutscher Industrieraum 596
230
Mitteleuropa 404
Mittellandkanal 556 f., 572, 596 Montmartre 70
Mittelmächte 167 Montmirail, Schlacht bei (11. Feb. 1814)
Mittelmeerpolitik, frz. 165 68
Mittelmeerraum 318, 321 „Monumenta Germaniae Histórica" 769
Mittelprovinzen 98, 714, 752 Mormant, Schlacht bei (17. Feb. 1814)
Mittelrhein 523 68
Mittelschicht, Mittelstand 152 f., 720, Mosel 77, 82, 99, 539
754, 762, 765, 791 Moseltal 201
— gewerbliche 755 Moskau 39
— untere 153, 754, 762 f. - Zartum 409
Mittelschulen 719, 740, 749, 752, 757, Mosse, Rudolf ( 1 8 4 3 - 1 9 2 0 ) , Verleger,
761 Gründer d. „Berliner Tageblatts" 581
Mittelstaaten 338, 369 Motz, Friedrich Christian Adolf v.
Mißernten 193,226 f., 2 5 6 , 4 7 7 , 514,516, (1775 - 1 8 3 0 ) , preuß. Staatsmann,
526, 543, 587 Regierungspräs. 1820, Oberpräs. d.
Möbelgewerbe 568 Prov. Sachsen 1 8 2 4 - 1 8 2 5 , Finanz-
Möckern, Schlacht bei (16. Okt. 1813) min. 1825 - 1 8 3 0 24, 131, 162, 288,
64 511, 529
Moers 77, 734 MSPD 786
Möglin 499, 515
Müffling, Philipp Friedrich Karl Ferdi-
Möllendorff, Wichard v. ( 1 8 8 1 - 1 9 3 7 ) ,
nand Frhr. v. ( 1 7 5 5 - 1 8 5 1 ) , preuß.
Wirtschaftspolitiker, Unterstaats-
Off. u. Diplomat, Oberstleutnant
sekretär i. Reichswirtschaftsministe-
1813, Gouverneur v. Paris 1815, Ge-
rium Dez. 1 9 1 8 - J u l i 1919, an-
schließ. Präs. d. Materialprüfungs- neralleutnant 1818, General d. Infan-
amtes u. Leiter d. Kaiser-Wilhelm- terie 1832, Gouverneur v. Berlin 1839
Instituts f. Metallforschung 584 f. 160
840 Personen- und Sachregister

Mühler, Heinrich v. (1813 - 1 8 7 4 ) preuß. 1804-1814/15 16,18, 21,31 ff., 41,


Kultusmin. 1 8 6 2 - 1 8 7 2 352 43, 48 f., 51 f., 58 ff., 68 ff., 80, 501,
Mühlhausen/Thüringen 76 508
Mülhausen/Elsaß 73 - Rußlandfeldzug 37 ff.
Mülheim/Ruhr 109, 523 f., 773 Napoleon III. (1808-1873), Kaiser d.
Müller, Adam Friedrich, Ritter v. Nit- Franzosen 1852 - 1 8 7 0 321, 360 ff.,
tersdorf (1779-1829), konservativer 476, 529
Staats- u. Gesellschaftstheoretiker, Nassau 188, 246, 345 ff.
Sekretär d. kurmärkischen Ritter- Nassauer Denkschrift (1807) 22,431,502
schaft i. Berlin 1 8 0 9 - 1 8 1 1 , österr. „National-Kavallerie" 48
Generalkonsul i. Leipzig 1815 —1825 Nationalbank 547
172 Nationalbewegung s. unt. einzelnen
Müller, Johannes (1801-1858), Prof. d. Ländern
Medizin 690 Nationalgüterverkauf 522
Müller, Wilhelm (1794-1827), Dichter, Nationalismus
Lehrer an d. Gelehrtenschule u. Bi- - deutscher 51 f., 165 ff., 179, 386, 390
bliothekar i. Dessau s. 1819 („Grie- — französischer 165 f., 347
chen-Müller") 160 - polnischer 161, 257 f., 438, 440
Mulvany, Thomas, irischer Bergwerk- Nationalitätenfrage 386, 744
singenieur u. -besitzer 538 Nationalitätenkampf 438, 577 f., 745
M u m m (Frankfurter Oberbürgermei- Nationalitätenprinzip 345
ster) 548 Nationalliberale, Nationalliberalismus
München 175 352, 354 f., 790
Münster, Ernst Herbert (1792:) Reichsgf. Nationalliberale Partei 350 f.
v. (1766 — 1839), hann. Staatsmann Nationalökonomie 769
76, 79, 100, 176, 227 Nationalsozialismus 598, 794 f.
Münzen 292, 472, 553 - NSDAP 598, 795
— Münzentrepreneurs 484 — nationalsozialist. Gleichschaltung
— Münzfuß 234 598, 602 f., 797 f.
— Münzjuden 484 — nationalsozialist. Lehrinhalte 798
— Münzpächter 483 — nationalsozialist. Machtergreifung
— Münzpolitik 484 795
— Münzprägung 486 — Nationalsozialistischer Deutscher
Murat, Joachim (1767-1815), frz. Mar- Studentenbund 793, 797
schall, Großhg. v. Berg 1806-1809, Nationalstaat 433, 445
Kg. v. Neapel 1808 - 1 8 1 5 43 - deutscher 230, 234, 242, 351, 366,
Musset, Alfred de (1810-1857), frz. 369, 434, 439, 441, 743
Schriftsteller u. Dichter 166 — polnischer 440
— Nationalstaatsgedanke, deutscher
Nachrichtenübermittlung 148 366
Nachtarbeit 157 Nationalvermögen 579
Nagler, Karl Friedrich Ferdinand (1823:) Nationalversammlung 249
v. (1770-1846), preuß. Beamter, Le- - deutsche 242, 246 ff., 252 f., 262 ff.,
ga tionsrat 1804, Generalpostmeister 269, 272, 277, 279
1823-1846, preuß. Gesandter b. - preußische 252, 254 ff., 261, 267 ff.,
Bundestag i. Frankfurt 1824-1835, 273, 276
Staatsmin. 1836 148 Natorp, Bernhard Christoph Ludwig
Nahe 77 (1772-1846), Pfarrer u. Pädagoge,
Nahrungs- und Genußmittelgewerbe 497 Konsistorial- u. Schulrat i. Münster
Nahrungsmittelerzeugung 522 670
Napoleon Bonaparte (1769-1821), als Naturalabgaben 477
Napoleon I. Kaiser d. Franzosen Naturkenntnis 711
Personen- und Sachregister 841

Naturrecht 620 ff. Niebuhr, Markus Carsten Nikolaus


Naturwissenschaften 517, 690, 702, 762, (1855:) v. ( 1 8 1 7 - 1 8 6 0 ) , Sohn v. B.G.
766, 768 ff., 772 Niebuhr, preuß. Beamter u. Journa-
— naturwissenschaftlich-technische list, Kabinettsrat 1851, s. 1854 Mitgl.
Forschungsstätten 771 d. Staatsrats 204, 310
Natzmer, Oldwig Leopold Anton v. Niederlande 1 6 1 , 1 6 3 , 1 6 5 , 1 9 4 , 5 2 3 , 5 3 8 ,
( 1 7 8 2 - 1 8 6 1 ) , preuß. Off., Major 621
1809, Kgl. Flügeladjutant 1812/13, Niederlausitzer Braunkohlen-Bergwerke
General 1840 44, 46 571
Naumburg 77 Niederrhein 557
Naunyn, Franz Christian ( 1 7 9 9 - 1 8 6 0 ) , — Großhgt. 86
Bürgermeister v. Berlin, kommiss. — Industriebezirk 95
Oberbürgermeister 1848-1850 Niederschelden 524
240 Niederschlesien 520
Navarino, Seeschlacht v. (1827) 160 Niederschlesische Bergbau AG 593
Navigationsakten 164 Niederlassungsfreiheit 156
Neapel 70, 159 Nikolaus I. ( 1 7 9 6 - 1 8 5 5 ) , Zar v. Ruß-
Neiße, Kr. 175 land s. 1825 160, 284
Nesselrode, Karl Robert, Gf. v. ( 1 7 8 0 - Nobelpreis 770, 796
1862), russ. Diplomat u. Staatsmann — Nobelpreisträger 796
57, 65 Nobiling, Carl Philipp (geb. 1799), Fär-
Netze 399, 492 bereibesitzer u. Stadtrat in Berlin
- Distrikt 16, 92 236, 238
Neue Ära 324, 326, 330, 737 Nobilitierungen 507
„Neue Preußische Zeitung" 310 Nollendorf 63
„Neue Rheinische Zeitung" 280 Nord-Ostsee-Kanal 555 f.
Neuenburg (Neuchâtel), Fürstentum Norddeutsche Bundespost 547
76 f., 320 Norddeutscher Bund 77, 345 ff., 352 ff.,
Neues Palais 478 357 f., 364 ff., 368, 501, 530 f., 550,
Neuhumanismus 665 552
Neumark 399, 404 — Bundesbehörden 355, 357
Neuostpreußen 96, 429, 575, 660 — Bundesexekutive 357
Neu(vor)pommern 104 ff. — Bundesfeldherr 357
Neustadt/Dosse 576 — Bundesfinanzen 356
Neutralitätspolitik 43 f., 157 ff., 323 — Bundesgesetze 357
New York 152 — Bundeskanzler 356 f.
Ney, Michel ( 1 7 6 9 - 1 8 1 5 ) , frz. Mar- — Bundeskanzleramt 530, 546
schall, Duc d'Elchingen 1808, Prince — Bundeskriegswesen 356
de la Moskowa 1812 43, 63 — Bundesmarine 357
Nicolai, Friedrich Christoph (1733 — — Bundespräsidium 355 f.
1811) Verleger u. Publizist 493, 643, — Bundesrat 358, 370
656 — Bundestruppen 357
Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig — Bundesverfassung 343, 354 f.
(1767 - 1 8 3 9 ) , Unterrichtsreformer, — Bundesvorstand 356
Dir. i. preuß. Kultusministerium 25, — Reichstag s. unt. Reichstag
168, 667, 669 f. Norddeutscher Elektrofrieden v. 1927
Niebuhr, Barthold Georg ( 1 7 7 6 - 1 8 3 1 ) , 586
Historiker u. Staatsmann, Dir. d. Norddeutschland 317, 339, 353, 359 f.
Seehandlung 1806, Geh. Staatsrat u. — norddeutsche Staaten 369
Chef d. Sektion f. d. Staatsschulden- — nord- und mitteldeutsche Kleinstaa-
wesen 1808, Gesandter i. Rom ten 343
1816 - 1 8 2 3 24, 176, 678, 690, 700 Norden/Ostfriesland 480
842 Personen- und Sachregister

Nordhausen 76 Oberschüler 761, 791


Nordischer Krieg 415, 417 ff., 475 Oberschulkollegium (1788 ff.) 635,
Nordschleswig 345, 745 653 ff., 657, 662, 665, 682
Nordsee 556 Oberschulräte 795
Norfolker Landwirtschaftssystem 492 Obertribunal 205
Normalinstitute 670 Obst- und Weinbau 534
Normann-Ehrenfels, Karl Friedrich Leb- Oder 45, 51 f., 63, 92, 151, 292, 392 f.,
recht (1806:) Gf. v. (1784-1822), 395, 397, 469, 482, 557
württ. Off., Philhellene, Oberstleut- - Oderbruch 481, 629
nant 1809, Generalmajor 1813 160 — Odermündung 414
Norwegen 60 f., 104 - Oderzoll 482
Notabeinversammlung (1811) 26 Offiziere 28, 38 f., 54, 56, 153, 244, 260
„Notgemeinschaft der Deutschen Wis- - Offizierskorps 244, 266, 304, 507
senschaft" 787 — Offizierswahl 273
Notstandsprogramm (1848) 259 — Unteroffiziere 56
Notverordnungen s. a. „Deutscher Offiziersverein"
- vom 24. Aug. 1931 601 „Ökonomische Fama" (Zeitschrift) 649
- vom 26. Juli 1930 591 Oktoberedikt (9. Okt. 1807) 24, 29, 502
- vom 30. Mai 1849 275, 305 Oldenburg 33, 36, 316
- Notverordnungsrecht, kgl. 273,275 f. Olmützer Punktation 285 f., 315 f., 323 f.
Novelle zum Vereinszolltarif vom 7. Juli Ompteda, Ludwig Karl Georg Frhr. v.
1873 550 (1767-1854), hann. Diplomat u.
Novemberaufstand (1830) 103, 389, 432 Min. 49
Novemberrevolution (1918) 781, 783 Oppenheim (Kölner Bankhaus) 522
Nystadt, Frieden v. (1721) 418 Oppenheim (Bankiersfamilie) 538, 545,
581
Ober-Domänen-Direktorium 474
Oppenheim, Simon u. Abraham (Ban-
Oberbürgermeister 28, 109, 239 f., 597 f.
kiers) 476, 526, 528, 537, 539, 596
Oberhütten-Gesellschaft 593
Optik 535
Oberitalien 231, 263
Ordensland Preußen 392
Oberkonsistorium (1808) 168, (Berlin
Organisationsedikt (24. Nov., 16./26.
1750 ff.) 632, 653, 655, 658, 682
Dez. 1808) 24
Oberkuratorium d. Universitäten 646
Orient 158, 166
Oberlandstallmeister 576
Oberlausitz 59 - Orientalische Frage 159, 165 f., 426
Oberpräsidenten 28, 84, 169, 208 — Orientalische Krise v. 1769 426
Oberpräsidium, niederrheinisches 86 Ortsgeistliche 684
Oberprediger 657 Ortspfarrer 657, 741
Oberrealschulen 764 f. Ortspolizei 30
Oberrechenkammer 132 Ortsschulaufsicht 657, 742, 782, 784
Oberrechnungskammer 132, 368 — Ortsschulinspektion 783
Oberschicht 153, 754 Osmanisches Reich s. unt. Türkei
Oberschlesien 92, 221, 227, 442, 446, Ostbahn 222, 224
520, 526, 535, 541, 564, 572 ff., 587, - Anleihe 225
590, 592 f., 659 Ostelbische Gebiete 108
Oberschlesische Eisenbedarfs AG (Ober- Ostelbische Rittergüter 30
bedarf) 593 Osterode 227
Oberschlesische Eisenindustrie AG Österreich 33 ff., 37 f., 41, 44, 60 ff., 64 f.,
(Obereisen) 593 70, 73 ff., 79, 81, 95,157 ff., 162,166,
Oberschlesische Kohlen-Konvention 564 185, 188 f., 194 f., 228, 230 f., 252,
Oberschlesischer Bergbau- und Hütten- 263, 279, 284 f., 315 ff., 326, 332,334,
männische Verein 573 336, 338 ff., 343 ff., 349, 353, 360 f.,
Personen- und Sachregister 843

386, 388 £., 411, 419 ff., 426 f., 433, Preußen 1932, Reichsvizekanzler
471, 511, 529, 540, 555, 659, 704 1933/34 601
— Orientpolitik 159, 165 f., 319 Papismus 175
— Wirtschaft 317 Papst 81
Osteuropäisches Mächtesystem 440 - päpstl. Primat 178
„Ostfonds" (1923) 590 Paris 68 ff., 72 f., 166, 192, 344, 363, 499,
Ostfriesland 77, 104, 480 538
Osthilfe 562, 587, 592 ff. - Februarrevolution (1848) 229
— Osthilfegesetz vom 26. März 1931 - Frieden (Erster) (30. Mai 1814) 72 ff.
591 - Frieden (Zweiter) (20.Nov.1815) 77,
Östliche Grenzgebiete 592, 594 80, 82, 509
Ostmark 442 - Junirevolution (1848) 263
— Ostmarkenverein 438 - Julirevolution (1830) 192 ff.
Ostmitteleuropa 389, 395, 398, 400, 402, - Vertrag (Konvention) (1808) 33 f.,
408, 411,416, 419,··438 f., 445 501
Ostmitteleuropaforschung, deutsche 399 Parlament, deutsches 230
Ostpreußen 18,43,46 f., 50,96,113,117, Parochialschulen 716
148,176,205,211,231,247,250,256, Partikularismus 555
429,431,446,477,485,496,500,508, Partisanenkrieg 55
512 f., 534, 536, 575 ff., 589 f., 592 ff., Parzellierungen 560
604, 612, 628, 658, 685, 709, 722 Patentrecht 532
— Ostpreußen-Programm 590 - Patentgesetz 549
Ostprovinzen 92, 95, 98, 207, 334, 436, Patow, Robert Frhr. v. (1804-1890),
497, 514, 516 532, 536, 541, 559 f.,
preuß. Beamter, Geh. Oberfinanzrat
567, 575, 587 ff., 714, 724, 743, 752
u. Mitgl. d. Staatsrats 1840, Mitgl.
Ostsee 392, 395, 401, 403, 417, 594
d. Vereinigten Landtags 1847, Han-
— Küste 401, 406, 409, 578
delsmin. 17.4.-20.6.1848 245, 257,
— Ostseemächte 409
259
— Ostseeprovinzen, russ. 41
Patrimonialgerichte, Patrimonialge-
Oststelle bei der Reichskanzlei 591
richtsbarkeit 30, 103, 105, 108, 244,
256 f.
Pachtwesen 487
Patriotismus 21, 498
— Pachtbauern 503
Patriotenpartei 37 f., 51, 74
— Pachtertrag 560
Patronat 30
— Pachtzins 542
Pädagogen 756 - Patronatsherren 684, 710
— Pädagogische Akademien 789, 795 - Patronatsrechte 657 f., 684, 743
— pädagogische Seminare 756 - Patronatsstellen 664
— pädagogische Standesvereine 755 Paulskirchenverfassung 263 f., 277 f.,
Pädagogium Regium (Halle) 624 283, 303
Paderborn 76, 176 Pauperisierung 154
Paderbornische Tilgungskasse 533 Pauperismus 214
Palmerston, Henry John Temple, Vis- Peloponnes 160
count (1784-1865), engl. Staats- Pensionäre 153
mann, Kriegsmin. 1809-1828, Pensionsgesetz v. 1885 750
Außenmin. 1 8 3 0 - 1 8 4 1 u. 1 8 4 6 - Pentarchie 159, 192, 432
1851, Premiermin. 1 8 5 5 - 1 8 5 8 u. Pepinière 651
1 8 5 9 - 1 8 6 5 165 Personenverkehr 148 f., 150 ff., 522
Pantin (frz. Stadt) 70 Pest (Ostpreußen 1709 ff.) 628
Papen, Franz v. (1879-1969), Mitgl. d. Pestalozzi, Johann Heinrich (1746 —
preuß. Landtags 1921 — 1932, Reichs- 1827), Pädagoge 669 f.
kanzler 1932, Reichskommissar i. - Pestalozzianer 710
844 Personen- und Sachregister

Peter d. Große (1672-1725) Zar (s. Plamannsches Lehrinstitut 669


1682) u. Kaiser (s. 1721) v. Rußland Planck, Gottlieb Jakob (1751 -1833), ev.
418, 474 Theologe u. Kirchenhistoriker,
Petersburg 40, 325 Oberkonsistorialrat 1830 170
Petitionsrecht 113 Planck, Max (1859-1947), Physiker,
- Petitionsbewegung 256 Nobelpreisträger 770
Peucker, Eduard v. (1791 -1876), preuß. Planwirtschaft 585
Off., i. Kriegsmin. s. 1815, Reichs- Pläswitz (bei Striegau) 60
kriegsmin. 15.7.1848-9.5.1849, Be- Platen-Hallermund, August Gf. v.
fehlshaber d. Reichsarmee geg. d. „3. (1796-1835), Dichter, 193
bad. Revolution" 1849 262, 281 Plauenscher Kanal 482
Peuplierung 477 Pleß, Hans Heinrich Ft. v. (1833 -1907),
Pfalz 280, 282 Mitgl. d. preuß. Herrenhauses u. bis
- Pfälzer 473 1884 MdR. 581
Pfandbriefe 219 Pleß, Fürsten v. 593
- Pfandbriefinstitute 488 Pleß, Kr. 227
- Pfandbriefsystem 488 Plünderungen 193
Pfarrklerus 312 Po 322
Pferdezucht 514, 576, 603 Poincaré, Raymond (1860-1934), frz.
Pforte s. unt. Türkei Staatsmann 596
Pfuel, Ernst v. (1779 -1866), preuß. Off. Polaben 392
u. Politiker, Kommandant v. Paris Polen 17, 36, 59, 75 f., 101, 161, 192 f.,
1815, General 1825, Gouverneur v. 200, 247, 526, 540, 588, 593, 615, 743
Neuenburg (Neufchâtel) 1831 - - Adel 743
1848, Gouverneur v. Berlin März - altpolnische Gebiete 442
1848, Mitgl. d. preuß. Nationalvers. - Armee 161
1848, Min.-Präs. Sept./Okt. 1848 - Aufstand (1830) 161 f., 192 f., 431,
234, 267 f. 742
Philanthropismus 660 - Aufstand (1863) 334
Philhellenismus 160 - Bevölkerung 497
Philologen 687, 753, 755, 757, 782 - Beziehungen, dt.-poln. 386 f.
- philologische Seminare 692 - Debakel der Republik Polen 422
- philosophisch-philologische Studien - Handelsvertrag, dt.-poln. (15. Juni
689 1925) 592
Physikalisch-Technische Reichsanstalt - Geschichtsdenken, poln. 390
771 - Großpolen 398 f., 432
Physikunterricht 760 - Hocharistokratie 389
Piasten, Dynastie 400 - Kongreßpolen 76, 103
- Piastenländer 404 - Königswahl (1586/87) 411
- Piastenstaat 392 ff., 398 ff. - Korridor, poln. 443, 592
Piémont 159, 263, 322 - Maiverfassung 430
- Piemont-Sardinien 321 - Nationalbewegung 161, 258, 389,
Pietismus 172 ff., 475, 499, 613, 623 f., 433, 438, 744
629, 645, 655 - Nationalkomitee, poln. 257
Pillau 37, 48, 471, 578 - Nationsbegriff 436
Pilsudski, Józef Klemens (1867-1935), - Nationsdenken 389
poln. Staatsmann 438, 440, 446 - Polenbegeisterung 192, 228, 389
Pistor, Karl Philipp Heinrich (1778- - Polenpolitik 161, 437 f., 742
1847), Mechaniker, Astronom, Geh. - — „negative" 388
Postrat 1803 u. (s. 1813) Inhaber e. - Polentum 101
physikalisch-technischen Werkstatt - Poln. Frage 386, 390, 418, 420, 426,
149 433, 435
Personen- und Sachregister 845

— Privatschulen, polnische 744 546, 575, 577 f., 588, 707, 713 f.,
— Studentenverbindungen, poln. 744 742 ff.
497 f. Post, -wesen 148 f., 356, 487, 527 f., 565
— Teilungen 16, 96, 388, 424, 427 f., - Fahrpost 148 f.
431, - Porto 148
— Unabhängigkeitsbewegung 438 - Posthaltereien 148
— Vereinsgründungen, poln. 743 - Postillone 148
— preuß.-poln. Beziehungen 161, 392 - Postkutschenverkehr 148
— Vierjähriger Reichstag 425 f. - Postsendungen 149
— Wahl-Reichstag v. 1764 423 - Postüberwachung 196
— Werftindustrie 594 - Schnellpost 148 f.
s. a. Nationalismus Potsdam 38, 244 f., 478, 483, 493, 525
Politische Correspondenz Friedrichs des - Garnisonkirche 170
Großen (Edition) 769 - Interessen-Konvention vom 17. Feb.
„Politischer Klub" 255, 259 1720 418
Politisches Testament d. Großen Kurfür- - Militärwaisenhaus 625
sten v. 1667 471 - Tag v. (1933) 446
„Politisches Wochenblatt" 204 - Waisenhaus 479
Polizei Pott, Johann Heinrich (1692-1777),
— politische 312 f. Chemiker 642
— niedere Polizeigewalt 108 PPS s. unt. Polska Partia ...
— Polizeihoheit 104 Präfektursystem 107
— polizeiliche Angelegenheiten 107 f. Prag 38
— Polizeiministerium 106 - Frieden v. (1866) 346 f., 357 f., 545
— Polizeipräsident 108 - Slawenkongreß (1848) 262
— städtische Polizeisachen 649 Präliminarfriede vom 26. Feb. 1871 363
— Polizeistunde 271 Präliminarfrieden v. Nikolsburg (26.7.
Polska Partía Socjalistyczna (PPS) 438 f. 1866) 345
Polytechnische Schule Hannover 705 Präliminarfrieden v. Villafranca (11.7.
Pommerellen 398, 400, 413 1859) 321 f.
Pommern 24, 86, 96, 113, 252, 256, 258, Präsidialabteilungen 107
400, 414, 469, 561, 575, 589 f., 615, Präsidialbüro 108
632, 709 Preissteigerungen (1830) 193
Pommersche Ökonomische Gesellschaft Piemysliden, Dynastie 400
577 Presse, -wesen 185, 212, 259, 303, 312
Poniatowski, Stanislaw II. August Gf. v. - Pressefreiheit 208, 230 f., 233, 246
(1732-1798), Kg. v. Polen 1 7 6 4 - - Presseverbote 208, 211 f., 280
1795 422 ff. Preussag s. unt. Preußische Bergwerks-
Popitz, Johannes (1884-1945), Staats- u. Hütten AG
sekretär i. Reichsfinanzministerium Preußische Seehandlungs-Societät s. unt.
1925 - 1 9 2 9 , Reichsmin. ohne Porte- Seehandlung
feuille u. Reichskommissar i. preuß. Preußen, Prov. 86, 91, 533, 743
Finanzministerium 1932, preuß. Preußenschlag 601 f.
Staats- u. Finanzmin. 1933 - 1 9 4 4 „Preußenverein" (1848) 259
602 Preuß.-frz. Krieg v. 1870/71 362
Poppelsdorf (bei Bonn) 515 Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-
Portugal 73, 159 Gesellschaft 151, 525
Porzellanerzeugung 490 Preußische Akademie der Wissenschaf-
— M a n u f a k t u r 146, 485 ten s. unt. Akademien
Posen 76, 86, 91, 95, 101 ff., 109, 113, Preußische Bank 134 f., 547
161 f., 175,192, 206, 226 ff., 247,250, Preußische Bergwerks- und Hütten AG
257 f., 431 f., 440, 443, 509, 533 f., (Preussag) 585, 587, 593
846 Personen- und Sachregister

Preußische Elektrizitäts-AG („Preußen- Proskau/Schlesien 515


Elektra") 586 Protektionismus, Protektionisten 164,
„Preußische Jahrbücher", hg. v. Her- 535, 549
mann Püttmann, 2 Bde., 1845 u. 1846 Protestanten, Protestantismus 98, 167,
(m.n.e.) 778 169, 176, 407
Preußische Staatsbank s. unt. Seehand- — Kirchengut, protestantisches 174
lung „Protestantische Freunde" 212
Preußischer Aufstand v. 1454 403 Provinzen 84, 86 f., 107
„Preußischer Lehrerverein" 755 — Behörden 84
Preußischer Staatsrat 27 f., 107, 597 — Departements 476
„Preußisches Wochenblatt" 314 — Hauptstädte 107
Preßburg 230 — Kirchen 169
Prignitz 612 — Kreisordnungen 108
Prince-Smith, John (1809-1874), dt. — Landtage 114, 116, 206 f., 210 f., 222
Volkswirt, Begr. u. Führer d. dt. — Minister 28
Freihandelspartei, Mitgl. d. preuß. — Rentenbanken 533
Abgeordnetenhauses 1861 —1866, — Selbstverwaltung 110
M d R . 1871 - 1 8 7 3 553 — Stände 26, 112, 116 f.
Prinz Wilhelm (1797-1888), Regent Provinzialagende für Rheinland und
1858-1861, Kg. v. Preußen 1 8 6 1 - Westfalen 172
88, Dt. Kaiser 1 8 7 1 - 8 8 254,281, Provinzialbankcomptoirs 134
319 s. a. Wilhelm I. Provinzial-Kunstschulen 651
„Prinzessin Charlotte" (Dampfschiff) Provinzialgewerbeschulen 702 f.
150 Provinzialkollegien 652, 657, 685
„Prinzeß Louise" (Dampfschiff ) 152, 554 Provinzialschulkollegien 108, 169, 654,
Prittwitz, Karl Ludwig Wilhelm Ernst v. 683, 685 f., 698, 709
(1790-1871), preuß. Off., Major Provinzialständegesetze 116
1813, Adjutant d. Prinzen Wilhelm Provinzialsynoden 169, 172
1 8 1 8 - 1 8 2 1 , Flügeladjutant d. Kgs. Provinzialverwaltungen 22, 107, 603
1822 — 1828, Kommandeur d. Gar- „Provisorische Exekutions-Ordnung"
dekorps 1843, Befehlshaber d. i. Ber- 188
lin stationierten Truppen am „Provisorisches Fürstenkollegium" (Juni
18.3.1848, Oberbefehlshaber d. 1850) 284
Reichsheeres i. Schleswig 1849 232, Prozessionswesen 201
234 f., 237, 239, 241, 244 Prüfungsreglement für Schulamtskandi-
Privatbanken 134 f., 147 daten v. 1831 698
Privatdozenten 777, 786 Prußen 392 ff.
Privaterziehung 672 Przyluski, Leo v. (1789-1865), Ebf. v.
Privatflüsse 207 Gnesen-Posen 257
Privatkapitalismus 547, 554 Publizistik 202, 656
Privatschulen 640 f., 683,716 f., 719,733, Puddelöfen 220
782, 796 Puddelverfahren 539
Pufendorf, Samuel Frhr. (1694:) v.
— Unterricht 639 (1632-1694), Jurist u. Historiker
Professoren 185, 190, 732, 779, 786, 619 ff.
796 f. Puttkamer, Robert v. (1828-1900), Kul-
— dt.-amerik. Austausch 775 tus· u. Innenmin. 742
— Besoldung 768 Puttkamer, Johanna v. (1824-1894), ad-
— liberaler Professorentyp 732 lige Gutstochter, Gemahlin O. v. Bis-
Proklamation v. Kaiisch (25. März 1813) marcks s. 28.7.1847 173
52, 57 f., 60 Püttmann, Hermann (1811-1894),
Proletariat 144 f., 153, 213 f., 570 rhein. Sozialist. Schriftsteller 211
Promotionsbestimmungen 768, 773 Pyrenäen 68
Personen- und Sachregister 847

Quadrupelallianz (Nov. 1815) 81, 165 Reichsmin. f. Wiederaufbau 1921,


Quedlinburg 76 Reichsaußenmin. 1922 571, 582,
Quinet, Edgar (1803 - 1 8 7 5 ) , frz. Dichter 584
u. Publizist 166 Ratibor, Kr. 227, 540, 659
Rationalisierung 568, 585, 595, 597
Rabe, Arnold v. ( 1 8 0 6 - 1 8 7 0 ) , preuß. Rationalismus, theologischer 212
Beamter, Geh. Oberfinanzrat 1847, Rauch, Friedrich Wilhelm v. ( 1 7 9 0 -
Finanzmin. 1 8 4 9 - 1 8 5 1 131 1850), Generalleutnant u. General-
Radetzky, Johann Joseph Wenzel Anton adjutant d. Kgs. 204, 240 f.
Franz Karl Gf. ( 1 7 7 6 - 1 8 5 8 ) , österr. Raumer, Friedrich Ludwig Georg v.
General, Feldmarschall 1836 63, (1781 — 1873), Geschichtsschreiber u.
263 Staatswissenschaftler, Prof. i. Breslau
Radikale, Radikalismus 193, 266 f. 1811 u. Berlin 1 8 1 9 - 1 8 5 9 , Mitgl. d.
— radikaldemokrat. Linke 247 dt. Nationalvers. 1848/49 u. d.
— radikale Demokraten 259, 265, 267 preuß. Ersten Kammer 1849 193,
— radikale Linke 252 690
— radikale Opposition 211 Raumer, Karl Otto v. (1805 - 1 8 5 9 ) , Kul-
— radikale Partei 264 f. tusmin. 736
— Berliner Radikale 209 Ravené, Louis Ferdinand August (geb.
— politische Radikalisierung 209 1866) Unternehmer 581
— intellektueller Radikalismus 207 Ravensberg 76
— religiöser Radikalismus 212 Reaktion 111, 158, 179, 193, 309, 324
— volkstümlicher Radikalismus 207
— Reaktionäre 204
— Rechtsradikalismus 794
— reaktionäre Kräfte 195, 205
Radowitz, Joseph Maria v. (1797 —
— Reaktionsausschuß 315
1853), preuß. General u. Politiker,
— Reaktionspartei 261
unabhängiger Katholik, General-
— Reaktionspolitik 734
major 1845, Mitgl. d. dt. National-
— Reaktionszeit 275
vers. 1848/49, Außenmin. 2 6 . 9 . -
Realien 633, 740
2.11.1850 173, 204, 229, 267, 283,
Reallastenablösungen 504 f.
285
Realschulen 661 f., 668, 700, 702 f., 706
Radziwill, Anton Heinrich Ft. v. (1775 -
Rechberg, Johann Bernhard Gf. v.
1833), preuß. Staatsmann, verh. mit
(1806-1899), österr. Außenmin.
Prinzessin Luise v. Preußen, Statthal-
1 8 5 9 - 6 4 u. leitender Min. 1 8 5 9 - 6 1
ter i. Großhgt. Posen 1815 102, 162
338 f.
Raiffeisen, Friedrich Wilhelm ( 1 8 1 8 -
Rechnungsprüfung 132
1888), Sozialreformer u. Genossen-
schaftsgründer 528 Recht, bürgerl. 370
Rambouillet, Dekret v. (9.Juli 1810) 36 Recht, frz. 99 f.
Ranke, Leopold (1865:) v. ( 1 7 9 5 - 1 8 8 6 ) , Rechtsangleichung (1814 ff.) 98 ff.
Historiker 690, 692 Rechtseinheit 96 ff., 208
Rapallo, Vertrag v. 444 Recke, Eberhard Friedrich Christoph
Rassekunde 798 Ludwig Reichsfrhr. v. d. ( 1 7 4 4 -
Rastatt 167, 281 f. 1816), preuß. Beamter, Finanzmin.
Rath, Anna v. (Bankiersgattin) 582 1785 — 1806, Gouverneur i. Sachsen
Rathenau, Emil ( 1 8 3 8 - 1 9 1 5 ) , Industri- 1815 66
eller, Gründer d. AEG 569 Reckahn (Dorf u. Gut i. Brandenburg)
Rathenau, Walther ( 1 8 6 7 - 1 9 2 2 ) , Sohn 660
v. E.R., Wirtschaftspolitiker u. Reden, Friedrich Wilhelm Frhr. (1786:)
Staatsmann, Organisator d. Roh- Gf. v. ( 1 7 5 2 - 1 8 1 5 ) , Dir. d. Ober-
stoffabtl. d. preuß. Kriegsministeri- bergamtes Breslau s. 1779, Berg-
ums 1914, Präs. d. AEG s. 1915, hauptmann s. 1795, Oberberghaupt-
848 Personen- und Sachregister

mann 1 8 0 2 - 1 8 0 7 489, 491, 498, Reichensperger, August (1808-1895),


539 kath. Politiker, Appellationsgerichts-
Reformation 407 rat i. Köln 1849, Mitgl. d. dt. Natio-
- Jubiläum 1817 175 nalvers. 1848/49 u. d. preuß. Zweiten
- Literatur 407 Kammer 1 8 5 0 - 1 8 6 3 201
Reformen 21, 29, 31, 255, 502, 506 f., Reichensperger, Peter Franz (1810 —
510, 519 1892), Bruder v. A.R., preuß. Politi-
— Reformbeamtentum 20 ff., 112, 116, ker, Mitgl. d. preuß. Nationalvers.
679 1848 u. d. Volkshauses i. Erfurt 1850,
— Reformbestrebungen 19, 22 f. Appellationsgerichtsrat i. Köln 1850
— Reformbewegung 24, 26 f. 256
- Reformedikte 24 ff., 27 ff., 96, 432, Reichsämter 370
685 Reichsamt des Innern 583
- Reformer 20, 117, 428, 506 f. Reichsarmee 281
— Reformgesetzgebung 25, 138, 142 Reichsbahn s. unt. Deutsche Reichsbahn
- Reformpartei 20 f., 111, 189 Reichsbank s. unt. Deutsche Reichsbank
- Reformpolitik 27, 29, 179 Reichsbeamte 368
— Reformprogramm (1848) 234 Reichsdeputationshauptschluß 96, 174
- Reformzeit 19, 27,110,158, 229, 267, Reichseinnahmen 551
647 Reichsernährungsministerium 603
Reformierte 167, 169 f. Reichsexekution 368
Regalien 649 Reichsfinanzminister (1848) 262
Regie (Generaladministration d. kgl. Ge- Reichsfinanzpolitik 551
falle) 487 Reichsgesetzgebung 370
Regierung Arnim-Boitzenburg 238, 241 Reichsgründung, -szeit 78, 548 f., 732,
Regierung Auerswald-Hansemann 261, 734, 739
266 Reichshaus für Wirtschaft und Arbeit
Regierung Brandenburg 269 ff. 603
Regierung Camphausen-Hansemann Reichshaushalt 370
245, 248 ff. Reichsheer 368 f.
Regierung Manteuffel 314 f. Reichsinnenministerium 603
Regierung Pfuel 267 f. Reichskabinett v. Leiningen 262 ff.
Regierungen (Provinzen) 107,132, 682 f., — v. Schmerling 264, 277
308 Reichskanzler 368
— Regierungsbezirke 17, 28, 84, 86 f., Reichskohlenkommissar 585
107 Reichskommissar 584
— Regierungspräsidenten 28, 86, 107 Reichskriegsminister (1848) 262
Regimentsschulen 625 Reichsmarine 368
Reglement für die künftige Verwaltung Reichsmarine-Amt 584
der akademischen Disziplin- und Po- Reichsminister für Wissenschaft, Erzie-
lizeigewalt bei den Universitäten 190 hung und Volksbildung 797
Regnum Poloniae 394 Reichsministerium für Ernährung, Land-
Regulativ über die Beschäftigung jugend- wirtschaft u. Forsten 588
licher Arbeiter in Fabriken (6. April Reichsmünzgesetz vom 4. Dez. 1871
1839) 157 546
Regulierungen 29 ff., 138, 504 f., 513,533 Reichsnährstand 603
Regulierungsedikte (14. Sept. 1811, Reichsrat 602
29. Mai 1816) 29 ff. Regulierungsge- Reichsreform 585
setz vom 8.April 1823 (Großhgt. Reichsschulgesetz 784
Posen) 103 Reichsschulkommission 775
Rehlingen (Ort. i. Saarland) 77 Reichsstaatssekretäre 368
Reichenbach, Verträge v. (1813) 61 Reichsstände 117, 211, 224
Personen- und Sachregister 849

Reichstag (Norddt. Bund) 355, 357 f., Reuter, Ernst (1889-1953), Mitgl. d.
365, 370, (nach 1871) 547, 549, 551 Berliner Magistrats 1926-1931,
Reichstagsauflösung 357 Oberbürgermeister v. Magdeburg
Reichstagswahlen 1867 354 1 9 3 1 - 1 9 3 3 , M d R . 1932/33, Ober-,
— 1878 551 bzw. Regierender Bürgermeister v.
Reichs- und preußisches Ministerium für Berlin s. 1948 600
Ernährung und Landwirtschaft 603 Reuter, Fritz (1810-1874), mundartli-
Reichsverfassung 275, 277 f., 280 f., 365, cher Dichter, Burschenschaftler, ver-
369 urteilt 1836, amnestiert 1840 197,
Reichsverfassungskampagne (1849) 279 731
Reichsverwaltung 368 Reuß ältere Linie 92, 346
Reichsverweser s. unt. Johann, Erzhg. Revisionskammer 303
Reichs Wahlgesetz v. 1849 353 Revolution v. 1848 198 f., 234 ff.,
Reichswehr 444 255 ff., 261, 278, 283, 303, 307, 386,
Reichswehrministerium 593 503, 513, 515, 534, 565, 735 f.
Reichswirtschaftsministerium 594, 603 — Barrikadenkämpfe 235 ff.
Reichswirtschaftsrat 603 Revolution v. oben 342, 502
Reifeprüfungsbestimmungen 697 Revolutionäre Umtriebe 196
— Reifeprüfungsordnung v. 1926 790 Revolutionärer Geist 159
— Reifezeugnis 697 Revolutionsfurcht 158
Reimer, Georg Andreas (1776-1842), Revolutionswelle 1830/31 192
Buchhändler u. Verleger i. Berlin 184 Reyher, Karl (1828:) v. (1786-1857),
Reims, Schlacht bei (13. März 1814) 69 preuß. Off., Generalmajor 1839,
Rekruten 130 Chef d. Allg. Kriegsdepartements
— Rekrutenaushebung 327 1840, Kriegsmin. April 1848 245
Religionsedikt v. 1788 656 Rheda (Stadt i. Westfalen) 211
Religionsgruppen 167 Rhein 64, 67 f., 74, 98 f., 151, 161, 166,
Religionspolitik 472 322, 341, 498, 508, 519, 523 ff., 549,
Religionsunterricht 633, 740 f., 743 f., 557 f.
782 Rheinbund 26, 33, 57, 60, 63, 65, 74
Renard, Gf. 498 Rheingrenze 166, 319, 321
Rentenbanken 313 Rheinlied 166, 205
Rentengutsgesetze v. 1890 und 1891 Rheinschiffahrt 537
574 Rheinschiffahrtsakte (1831) 522
Rentiers 153 Rheinschiffahrtsmonopol 194
Reparationsfrage 592 Rheinuferstraße 537
Repnin-Volkonskij, Nikolai G. Ft. Rheinland 77, 97 ff., 101, 103, 118, 148,
(1778 - 1 8 4 5 ) , russ. General u. Diplo- 167, 175 f., 201, 211, 213, 222, 247,
mat 66, 75 280, 509 f., 512, 520, 525 f., 528 f.,
Repressionsmaßnahmen 183 ff., 189 ff., 533 f., 536, 539, 547, 559, 566, 589,
195 ff., 226 f. 595 f., 598, 699, 713
Repressionspolitik 272, 282 Rheinische Aufstände 280
Reserveoffiziersrang 754, 758 Rheinische Städte 252
Ressortminister, -ien 27, 106, 131 „Rheinische Zeitung" 211
Restauration, -szeit 27, 72, 74, 158, Rheinkrise v. 1840 165 ff., 200
179 ff., 192, 198 f., 677, 687 Rheinischer Provinziallandtag 116, 558
— Restaurationspartei 688 Rheinland-Westfalen 517, 534
— Restaurationspolitik 192 — Industrie 538
— restaurative Kräfte 112 — Industriegebiet, rhein.-westfäl. 598
— restaurative Politik 273 ff., 279 — Raum 541
Rétablissement 469, 477, 485 — Regierungsbezirke 714
850 Personen- und Sachregister

Rheinisch-Westfälisches Elektrizitäts- Röder, Friedrich v. ( 1 7 6 8 - 1 8 3 4 ) , Flü-


werk (RWE) 586 geladjutant d. Kgs. bei Yorck 1812,
Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat General 1827 42
564, 586 Roheisenerzeugung 220, 539, 557, 573 f.
Rheinmetall (Wirtschaftsunternehmen) Rohr, Ferdinand v. (1783 - 1851), preuß.
595 Off., Generalleutnant, Kriegsmin.
Rheinpfalz 281 ff. Okt. 1 8 4 7 - A p r i l 1848 245
Rheinprovinz 78, 86, 100, 105, 109, 113, Rohstoffbewirtschaftung 571
155, 175 f., 178, 192, 194, 231, 250, Rom 212
252, 539, 707, 709, 744 Romanismus 175
Rhein-Weser-Elbe-Kanal 556 Romanow, russ. Zarendynastie (1613 —
Rhein-Weser-Ems-Kanal 556 1730/62) 161
Richert, Hans ( 1 8 6 9 - 1 9 4 0 ) , Ministe- Romanzow (auch: Rumjanzow), Nikolai
rialrat i. preuß. Kultusministerium Petrowitsch, Gf. ( 1 7 5 4 - 1 8 2 6 ) , russ.
1923 - 1 9 3 4 790 Staatsmann, Außenmin. u. Reichs-
Richertsche Reform 790 kanzler 1 8 0 7 - 1 8 1 4 57
Ried, Vertrag v. (8. Okt. 1814) 65, 74 Ronge, Johannes ( 1 8 1 3 - 1 8 8 7 ) , kath.
Riesen, Jacob van ( 1 7 6 8 - 1 8 6 4 ) , Kauf- Theologe, Kaplan 1840, Priester i.
mann i. Elbing 198 Breslau 1845, Begründer d. dt.-kath.
Rigaer Denkschrift (1807) 23, 502
Bewegung, Mitgl. d. Vorparlaments
Rimpler, Otto, Major a.D., Komman-
1848, Flucht nach England 1849
dant d. Berliner Bürgerwehr 15.6.
212
(interim.)/2.8. (definitiv) - 11.11.
Roon, Albrecht Theodor Gf. v. ( 1 8 0 3 -
1848 261
1879), preuß. Feldmarschall, Kriegs-
Rinderhaltung 576
min. 1 8 5 9 - 1 8 7 3 , Min.-Präs. J a n . -
- Rindviehzucht 492, 577 Nov. 1873, 327 f., 331
Rittberg, Gf., Breslauer Kriminalge- Roth v. Schreckenstein, Ludwig Frhr.
richtspräsident 1844 216 ( 1 7 8 9 - 1 8 5 8 ) , preuß. Off. s. 1815,
Ritter, Karl ( 1 7 7 9 - 1 8 5 9 ) , Geograph, Brigadekommandeur i. Münster
Prof. i. Berlin 690 1837, Divisionskommandeur i.
Ritterakademien 499, 615 Frankfurt/O. u. i. Köln 1848, Kriegs-
- Berlin 616 min. J u n i - S e p t . 1848 261
- zu Dom Brandenburg 615 f. Rother, Christian (1831:) v. ( 1 7 7 8 -
- Frankfurt/O. 616 1849), preuß. Beamter, Geh. Ober-
- Halle 616, 622 finanzrat 1814, Präs. d. Staatsschul-
- Kolberg 615 denverwaltung u. d. Seehandlung
Rittergüter 141, 496
1820-1848, Ministerrang 1836,
- Rittergutsbesitzer 30, 116, 266, 474, Präs. d. Staatsbank 1837-1848
477, 492, 496
133 ff., 151, 512, 518, 553 f.
Ritterschaft 113, 115, 207, 612
Rothschild (Bankierfamilie) 581
Ritterschaftliche Privatbank Stettin 135
Rothschild, Amschel Meyer (1773 —
Rochow, Friedrich Eberhard v. (1734 —
1855), Bankier i. Frankfurt/M. 124
1805), Gutsherr u. Schulreformer
Rothschild, Nathan Meyer (1777-
660, 664
1836), Bankier i. London, Bruder v.
Rochow, Gustav Adolf Rochus Gf. v.
A.M. Rothschild 124, 509
( 1 7 9 2 - 1 8 4 7 ) , preuß. Staatsmann,
Rotterdam 525, 538
Innenmin. 1834 - 1842 198, 204 ff.
Rodbertus, Johann Karl ( 1 8 0 5 - 1 8 7 5 ) , Rousseau, Jean Jacques ( 1 7 1 2 - 1 7 7 8 ) ,
preuß. Politiker u. Volkswirtschaft- frz. Philosoph 424 f.
ler, Generallandschaftsrat, Mitgl. d. Rudelbach, Andreas Gottlob ( 1 7 9 2 -
preuß. Nationalvers., Kultusmin. 1862), ev. Theologe (luth.), Mitar-
Juni/Juli 1848 168, 254, 261 beiter an d. „Evangelischen Kirchen-
Personen- und Sachregister 851

zeitung" s. 1827, Superintendent i. — Sachsen-Meiningen 346


Glauchau 1828 170 — Sachsen-Weimar 197
Ruge, Arnold ( 1 8 0 2 - 1 8 8 0 ) , Schriftstel- Sächsisch-polnische Union 419
ler 731 Sächsisch-thüringische Fürstentümer 65
Rügen 77, 104 f., 469, 510 Sächsische Gebiete 547 f.
Ruhr 498, 519, 523 f., 540, 549, 557, 564 Sack, Friedrich Samuel Gottfried
Ruhrgebiet, Ruhrrevier 145, 220, 501, ( 1 7 3 8 - 1 8 1 7 ) , ev. (ref.) Theologe,
532, 536 ff., 564, 566, 596 Hof- u. Domprediger i. Berlin 1777,
- Bergbau 523, 595 Oberschulrat 1804, Bf. v. Berlin 1816,
- Besetzung 596 f. Mitgl. d. Staatsrats 1817 170
- Industrie 596 Sack, Johann August ( 1 7 6 4 - 1 8 3 1 ) , Re-
- Kohle 523 formbeamter, Geh. Oberfinanzrat,
- - Beförderung 525 Zivilgouverneur 1813, Oberpräs. d.
Ruhrchemie AG 597 Pro v. Pommern 1815 66 f., 99, 105,
Ruhrgas AG 586 107
Ruhrkohlensyndikat 564 Sahm, Heinrich ( 1 8 7 7 - 1 9 3 9 ) , Bürger-
Ruppin 613 meister v. Bochum 1912, Oberbür-
Rußland, Russen 17, 36 ff., 40, 43 f., 49 f., germeister v. Danzig 1919, Senats-
60 f., 64, 67, 70, 73, 76, 79, 81, 95, präs. i. Danzig 1920 - 1 9 3 0 , Berliner
103, 158 ff., 284f., 318 ff., 334f., 341, Oberbürgermeister 1931 - 1 9 3 5
347, 361, 388 f., 414, 417, 419 ff., 601
425 ff., 4 3 3 , 4 3 6 , 438, 444 f., 4 4 7 , 5 0 8 , Saint-Aignan, Nicolas-Marie Comte de
536, 540
( 1 7 7 0 - 1 8 5 8 ) , frz. General u. Diplo-
- Russisch-Polen 334 mat, Gesandter i. Dresden 1812 68
- russische Westpolitik 420 Säkularisation 175, 502, 508, 522
Rußlandpolitik Friedrichs II. 426, 437 — Säkularisationsedikt 174
Russifizierung 437
Salinen 558, 563
Russische Handelskompanie 477
Salisches Erbfolgerecht 335
Rust, Bernhard ( 1 8 8 3 - 1 9 4 5 ) , Gauleiter,
Salons, literarische 493
preuß. Kultusmin., Reichswissen-
Salzburger Protestanten 477
schaftsmin. 797
Salzbergbau 563
„Rustikalvereine" 257
— Salzgruben 563
Rüstung 594
— Salzsteuer 207
- Rüstungsindustrie 554
Samland 393
- Rüstungspolitik 477
Samtfabrikation 482
- Rüstungswirtschaft 584
Sand, Karl Ludwig ( 1 7 9 5 - 1 8 2 0 ) , ev.
Rybnik, Kr. 227
Theologiestudent i. Erlangen 1816 u.
Saale 395 Jena 1817, radikaler Burschenschaft-
Saar 77, 82, 95, 501, 519, 522, 524, 549, ler, weg. d. Ermordung Kotzebues
557, 564, 566 (23.3.1819) am 20.5.1820 hingerich-
Saarbrücken 73, 77, 81 f. tet 184, 729
Saargebiet, Saarland 145, 476, 509 f., Saône-Tal 69
524, 540 f., 545, 557, 563 Sauer 77
Saarkantone 77 Savigny, Friedrich Karl v. ( 1 7 7 9 - 1 8 6 1 ) ,
Saarlouis 77, 81 f. Jurist u. Staatsmann, Prof. i. Mar-
Saarrevier 221 burg 1802, i. Berlin 1810, Min. f. d.
Sachsen 16 f., 63, 86, 109, 113, 148, 156, (Revision d.) Gesetzgebung 1842 —
194, 212, 230, 252, 256, 280, 316 f., 1848 99, 107, 198, 229, 240, 289
319, 419, 492, 510, 528, 534, 536, 714 Savigny, Karl Friedrich v. ( 1 8 1 4 - 1 8 7 5 ) ,
- Kgr. 57, 65, 67, 75 f., 79 f., 92, 146, Sohn v. F.K. v. S., preuß. Diplomat,
247, 280 ff., 369, 511, 530, 555, 571, Legationsrat 1845, Sonderbevoll-
615 mächtigter i. Baden 1849, Geschäfts-
852 Personen- und Sachregister

träger i. Karlsruhe 1850 - 1 8 5 9 282, Schimmelmann, Heinrich Karl (1762:)


530, 678 dän. Frhr. (1779:) dän. Gf. ( 1 7 2 4 -
Schaafhausen (Kölner Bankhaus) 522 1782), Kaufmann 484
Schaafhausen, Johann Abraham Anton „Schindlersches Waisenhaus" 217
(1808:) v. (1756-1824), Bankier i. Schinkel, Karl Friedrich (1781-1841),
Köln 98, 528 preuß. Baumeister, Bildhauer u.
Schacht, Hjalmar (1877-1970), Ban- Maler, Mitgl. d. Berliner Akad. 1811,
kier, Reichsbankpräs. 1923 — 1930 u. Prof. 1820, Oberlandesbaudir. 1839
1933 - 1 9 3 9 , Reichswirtschaftsmin. 201, 516
1 9 3 4 - 1 9 3 7 596, 601 Schlabrendorff, Ernst Wilhelm v.
Schack, Hans Wilhelm v. (1791-1866), (1719 — 1769), schles. Provinzialmin.
preuß. Off., Major 1813, General- 658
major 1847 43 f. Schlacht- und Mahlsteuer 97
Schaffhausen 68 Schlächter 215
Schafhaltung, Schafzucht 477, ,492 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel
Schapper, Karl (1813-1870), Burschen- (1768 - 1 8 3 4 ) , ev. Theologe, Prediger
schaftler u. Sozialist, Arbeiterführer an d. Dreifaltigkeitskirche 1809,
u. Organisator i. Exil 212 Prof. i. Berlin 1810, Sekretär d.
Scharnhorst, Gerhard Johann v. (1775 — preuß. Akad. d. Wiss. 1814 170 f.,
1813), General u. Heeresreformer, 184, 191 f., 665, 678, 682
Dir. d. Kriegsdepartements u. Chef Schleinitz, Alexander Frhr. (1879:) Gf. v.
d. Militär-Reorganisationskommis- (1807-1885), preuß. Außenmin.
sion 1807 24, 28, 34, 36 ff., 48 f., Juni 1848, 1849/50 u. 1858-1861,
52, 56 ff. Min. d. Kgl. Hauses 1 8 6 1 - 1 8 8 5
Scharnweber, Christian Friedrich 323
(1770-1822), Reformbeamter, Mit- Schlesien 24, 35, 37 f., 50, 59, 86, 96,113,
arbeiter Hardenbergs 24 145, 171, 175 f., 231, 252, 256, 279 f.,
Schatull- und Kammergüter 558 319, 400, 421 f., 430 f., 480, 485,
Schatzministerium 512 488 ff., 496 f., 501, 507 f., 510, 517,
Schaumburg-Lippe 316 519 f., 526, 533, 536 f., 540 ff., 547,
Scheibel, Johann Gottfried (1783 — 563,567, 571 ff., 581, 589 f., 604, 653,
1843), ev. Theologe (luth.), Prof. i. 659, 663 f., 679, 721
Breslau 1811, Absetzung u. Auswei- - Bankwesen 572
sung 1830 172 - Magnaten 489, 498
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph - schlesischer Krieg (zweiter) 481
(1806:) v. (1775-1854), Philosoph, - schlesischer Krieg (dritter) 422
Prof. i. Jena 1798, Würzburg 1803, Schlesische Montan GmbH 593
Erlangen 1820, München 1827 u. Schlesisches Gebirge 95
Berlin 1841 205, 676, 732 Schleswig 262, 335 ff., 559
Schichau (Werft) 578, 594 Schleswig-Holstein 284, 337, 340, 343,
Schiffahrtsverträge 165 346 f., 419, 547 f.
- mit den USA (3. März 1819, 1. Mai - Schleswig-Holstein-Vereine 337
1828) 163 - schleswig-holsteinische Frage 335
- mit England (2. April 1824) 164 Schlotbarone 498
- mit Hansestädten (4. Okt. 1828) 165 Schmerling, Anton Ritter v. ( 1 8 0 5 -
- mit Schweden (14. März 1827) 165 1893), österr. Staatsmann, Mitgl. d.
Schiffahrtswege 147 dt. Nationalvers. 1848, Reichsmin. d.
Schiffbau 151, 568, 594 Innern (s. Juli 1848), d. Äußeren (s.
Schill, Ferdinand v. (1776-1809), Major Sept. 1848) u. Min.-Präs. (s. Sept.
u. Chef. d. Leibhusarenregiments 1848) bis Dez. 1848, österr. Justiz-
1807 31 min. 1 8 4 9 - 1 8 5 1 264
Personen- und Sachregister 853

Schmidt, Johann Kaspar (1806-1856), schulen, Gymnasien, Handelsschu-


philosoph. Schriftsteller (Pseud- len, Landschulwesen, Lateinschulen,
onym: M a x Stirner), Mitgl. d. Mädchenschulen, Massenschulwe-
„Freien" i. Berlin 209 sen, Mittelschulen, Oberrealschulen,
Schmidt-Ott, Friedrich (1860-1956), Privatschulen, Realschulen, Stadt-
preuß. Kultusmin. 1917/18 568, schulen, Volksschulen
767, 783 - deutsche 624, 640
Schmoller, Gustav (1908:) v. ( 1 8 3 8 - - deutsch-reformierte 653
1917), Nationalökonom, Prof. i. - evangelische 659
Halle, Straßburg u. Berlin 550, 720, - französische 641
769, 777 f. - französisch-reformierte 653
Schmuggel 36, 501 - gelehrte 613, 615, 633 ff., 638, 655,
Schneckenburger, M a x (1819-1849), 668, 682 f.
Gelegenheitsdichter („Die Wacht am - höhere 683 f., 696 f., 701, 735, 743,
Rhein") 166 746, 752 f., 755 ff., 759, 761, 764 f.,
Schneider 154, 215 767, 788 ff.
Schollenbindung 408 - höhere städtische 671
Schön, Theodor v. (1773-1856), Re- - katholische 659 f.
formbeamter, Mitarbeiter Steins, - ländliche 654, 684
Oberpräs. v. Westpreußen 1816 — - lateinische 634
1824, v. (Ost- u. West-)Preußen - lutherische 653
1824-1842 46 f., 86, 101, 107, - militärische 625
205 f., 242, 244, 428 f. - mittlere 667, 684
Schönbrunn, Frieden v. (14. Okt. 1809) - niedere 614, 629, 664, 667, 670, 684,
35 f. 688, 707 ff., 721, 734, 749, 751, 753,
Schornsteinfeger 215 757, 759 ff.
Schottland 499 - städtische 613, 632 f., 685, 696, 700
Schottländer, Julius (Rittergutsbesitzer) s - Oberschule, dt. 789 ff.
581 - Reformschulen 765
Schrötter, Friedrich Leopold Frhr. v. Schulabschlüsse 696
(1743-1815), preuß. Off. u. Refor- Schulamt, höheres 693
mer, Staats- u. Finanzmin. 1795 — Schulamtskandidaten 698
1808 428 f. Schulamtskandidatenprüfung (1812) 698
Schrötter, Karl Wilhelm Frhr. v., preuß. Schulaufsicht 658, 684, 734, 741, 782 f.,
Reformer 428 791
Schuckmann, Kaspar Friedrich Frhr. v. Schulaufsichtsgesetz v. 1872 685, 742
(1755 — 1834), preuß. Staatsmann, s. a. Gesetz, betr. d. Beaufsichtigung
Geh. Staatsrat 1810, Innenmin. d. Unterrichts ...
1 8 1 4 - 1 8 3 4 (f. Inneres u. Handel Schulbau 628
1830-1834) 157, 168, 677 f. Schulbesuch 683, 708, 712 f., 716, 726
Schuhmacher 154, 215 - Kontrollen 715
Schuldendienst 21, 127 - Quote 714
Schulden wesen 131 - Zahlen 715
Schulen, Schulwesen 108, 162, 185, 499, Schulbildung 723 f.
516, 587, 612, 615, 625, 629 f., 633 f., Schulbücher 655
638, 652 ff., 658 ff., 671 f., 674, 681, Schuldeputationen 683
685, 696, 707, 717, 719, 726 f., 733, Schuldichte 629 ff., 659, 715
739 ff., 744 f., 747, 749 f., 752 f., 759, Schuldienst, höherer 698
761, 779 ff., 783, 785, 788, 792, 795, Schuledikte 654
797 f. s. a. Bürgerschulen, Einheits- Schüler 752
schule, Elementarschulwesen, Fach- Schülerzahlen 707
schulen, Gnadenschulen, Grund- Schulfinanzierung 628
854 Personen- und Sachregister

Schulgebet 782 gründer d. dt. Genossenschaftswe-


Schulgeld 632, 634, 655, 749, 751 f., 761 sens 528
— Erhebung 750 Schulze, Johannes (1786-1869), Philo-
- Freiheit 750 loge, Dir. i. preuß. Kultusministe-
Schulgemeinden 750 rium 687, 690, 697, 700, 767
Schulgesetzgebung 654 Schurz, Carl (1829-1906), dt.-amerik.
Schulgründungen 630 Politiker, Teilnehmer am Badischen
Schulhausbau 751 Aufstand, Auswanderung i. d. USA
Schulhausunterhaltung 751 1852 97 f., 736
Schulherren, lokale 657 Schutzbürger 233
Schulhoheit 740 Schutzverwandte 108
Schulinspektoren 685 Schutzzölle 118 f., 316, 478, 526
Schulische Infrastruktur 717, 751 — Schutzzollpolitik, engl. 164
Schulkämpfe 744 — Schutzzollpolitik, frz. 164
Schulkataloge 655 Schwabach, Elli v. (geb. 1869), Gattin v.
Schulkollegien 654 P. H. v. Sch. s. 1896 582
Schullasten 707, 751 Schwabach, Paul Hermann v. (1867 —
Schulmangel 707 1938), Bankier, Mitinh. u. Seniorchef
Schulmeister 612 f., 628, 631, 657, 659 f. d. Bankhauses Bleichröder 582
Schulordnungen 688 f. Schwartzkopff, Louis (1825 - 1892), Ma-
Schul-Patronatsherren 657 schinenbau-Unternehmer i. Berlin,
Schulpatronatsrechte 751 Betriebseröffnung 1852 221
Schulpflicht 303, 654, 689, 712 f., 715 f., Schwarzburg-Sondershausen 510 f.
761 Schwarzenberg, Karl Philipp Ft. zu
Schulpläne 688 (1771-1820), österr. Feldmarschall
Schulpolitik 312, 681, 737, 739, 742 f., 63, 68 f., 71, 283 ff.
782 f., 796 „Schwarzes Buch" (d. Bundes-Zentral-
- landesherrliche 615, 617, 630 behörde) 195
- städtische 701 Schwarzes Meer 318
Schulräte 685, 795 Schweden 38, 60 f., 70, 73, 104 f., 409,
Schulreformen 660 ff. 413 ff., 417f., 420 f., 469, 471, 483
Schulregiment 683 — Ostseeimperium 388, 418
— landesherrliches 657 — Schwedisch-Pommern 104
— staatliches 653 — Schwedisch-Vorpommern 60, 77, 510
Schulreglements 654, 656 Schweinezucht 577
Schul-Retablissement, ostpreußisches Schweinfurt 644
628 ff. Schweitzer & Oppler 593
Schulrektoren 633 f. Schweiz 81, 161, 212, 282, 320 f., 670
Schulstellen, städtische 634 Schwerin-Putzar, Maximilian Gf. v.
„Schulstreiks" 744, 785 (1804-1872), preuß. Politiker,
Schulstudium 639 Mitgl. d. Vereinigten Landtags 1847,
Schulsystem 696, 745, 757 d. dt. Nationalvers. 1848/49 u. d.
Schultypen 633, 668, 696, 753 preuß. Zweiten Kammer bzw. d. Ab-
Schulunterhaltspflichtige 684 geordnetenhauses 1 8 4 9 - 1 8 7 2 , Kul-
Schulverfassung 784 tusmin. 19.3. -17./20.6.1848 168,
Schulverwaltung 169, 652, 654 238, 245
Schulvisitationen 685 Schwerindustrie 220 f., 520, 522, 524,
Schulvorstände 683 f., 712, 743, 785 537, 540 f., 553, 573, 595
Schulzustände, städtische 614 — Schwerindustrielle 549
Schultze-Delitzsch, Hermann (1808 — Schwurgerichte 230, 244
1883), linksliberaler Politiker, Be- „Sechs Artikel" (1832) 247
Personen- und Sachregister 855

Seckendorff, Veit Ludwig v. (1626 — „Siebzehnerausschuß" 246 f., 252


1692) Kameralist u. Kirchenhistori- Siedlungsförderung, Siedlungspolitik
ker, Kanzler d. Universität Halle 162, 589 f., 629
1691 622 Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk 596
Sedan 363 Siegburg 280
Seehandlung 132 ff., 151 f., 4 9 0 , 5 0 7 , 5 1 2 , Siegerland 524
518, 553 f. Siemens, Werner (1888:) v. (1816 - 1 8 9 2 )
— Seehandlungsobligationen 506 Erfinder u. Industrieller 5 3 2 , 5 6 9 , 7 0 4
Seekriege 497 Siemens, Wilhelm v. ( 1 8 5 5 - 1 9 1 9 ) , In-
Seepolitik 471 dustrieller 581
Seerüstung 584 Siemensstadt 571
Seidenfabrikation, Seidenindustrie 18, Sigismund I. (d. Alte) ( 1 4 6 7 - 1 5 4 8 ) , Kg.
478, 482, 490 v. Polen s. 1506 409
Sektion für Kultus und öffentlichen Un- Sigismund II., August ( 1 5 2 0 - 1 5 7 2 ) , Kg.
terricht 168, 682 v. Polen s. 1548 409
Sektor, großgewerblich-industrieller 152 Sigismund III. Vasa ( 1 5 6 6 - 1 6 3 2 ) , Kg. v.
Selbständige 582 Polen 1587 - 1 6 3 2 u. Kg. v. Schweden
Selbsthilfe-Kreditgenossenschaften 528 1592-1604 411
Selbstverwaltung 28, 429, 502, 535 Sigismund, Prinz V.Brandenburg (1538 —
— Selbstverwaltungsrechte 109, 518 1566), Erzbf. v. Magdeburg s. 1552
Seminare s. unt. Lehrerseminare 409 f.
Seminarium praeceptorum (Halle) 664 Simon, August Heinrich ( 1 8 0 5 - 1 8 6 0 ) ,
Seminarium selectum (Halle) 663 f. Jurist, i. preuß. Justizdienst 1834 —
Semler, Christoph ( 1 6 6 9 - 1 7 4 0 ) , Predi- 1845, Mitgl. d. Vorparlaments 1848
ger i. Halle 661
u. d. dt. Nationalvers. 1848/49, Emi-
Semper, Gottfried ( 1 8 0 3 - 1 8 7 9 ) , Archi- gration i. d. Schweiz 1849 277
tekt, Prof. i. Dresden, Barrikaden- Simon, Eduard (1865 - 1 9 2 9 ) , Unterneh-
kämpfer Mai 1849, Emigration nach mer u. Mäzen 581
Paris u. London, Prof. i. Zürich 1853
Simon, James (Unternehmer u. Mäzen)
280 581
Senfft-Pilsach, Ernst Frhr. v. ( 1 7 9 5 -
Simon-Gagern-Pakt 277
1882), preuß. Beamter, Geh. Ober-
Simson, Martin Eduard (1888:) v.
finanzrat 1845, Oberpräs. d. Prov.
( 1 8 1 0 - 1 8 9 9 ) , Jurist, Prof. i. Königs-
Pommern 1852 - 1 8 6 6 204
berg 1833, Mitgl. (s. 18.12.1848
Separationen 142, 256, 576
Präs.) d. dt. Nationalvers. 1848/49,
Separatismus 782
Leiter d. Kaiserdeputation April
Septemberaufstand (1848) 264, 269
1849, Mitgl. d. preuß. Zweiten Kam-
Septemberunruhen (1830) 193 f., 197
mer 1 8 4 9 - 1 8 5 2 u. d. Abgeordneten-
Seychellen 73
hauses 1 8 5 9 - 1 8 6 7 , Präs. d. Reichs-
Seydlitz, Anton Florian Friedrich Frhr.
gerichts i. Leipzig 1879 - 1 8 9 1 272,
v. ( 1 7 7 7 - 1 8 3 2 ) , M a j o r 1811, Adju-
278
tant Yorcks s. 1808 42
Shanghai 775 Simultanschulfrage 740
„Siebenerausschuß" 246 Sizilien 36
Siebenjähriger Krieg (1756 - 1 7 6 3 ) 421 f., Skandinavien 489, 499
480, 483 Skytte (Skytta), Benedikt ( 1 6 4 0 - 1 6 8 3 ) ,
— Nachkriegskrise 485 ff. schwed. Gelehrter 619
Sieburg, Johann Georg (1712 — 1801), Slaven 392
Besitzer e. Baumwollspinnerei i. Ber- Smith, Adam ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ) , engl. Natio-
lin, Betreiber d. ersten industriell ge- nalökonom 2 0 , 1 1 9 , 4 9 1 f., 499 f., 649
nutzten Dampfmaschine i. Berlin Smithianismus 500, 502, 550
( 1 7 9 7 - 1 8 0 0 ) 145 Smolensk 39
856 Personen- und Sachregister

Societät der Wissenschaften s. unt. Preu- kirche in Berlin 1764, Oberkonsisto-


ßische Akademie der Wissenschaften rialrat bis 1788 170
Spandau s. unt. Berlin
Sofortprogramm (1926) 592 Spanien 32 f., 55, 62, 73, 82, 159
Soissons 69 — Bürgerkrieg 447
Solms-Lich (eigentl.: S.-Hohensolms-L.), — Thronfolge,-kandidatur 361 f.
Friedrich Alexander Prinz zu (1763 — Spanndiensttage 141
1830), preuß. Off., Generalmajor Sparkassen, -wesen 136 f., 147, 513
1810, Militärgouverneur 1813 67 Sparnotverordnung vom Sept. 1931
Sombart, Werner (1863-1941), Natio- 795
nalökonom u. Staatswissenschaftler Spätabsolutismus 507
769 Spätaufklärung, polnische 430
Sommerfeld, Arnold (1868-1951), Phy- Spekulanten 482
siker 705 Spener, Philipp Jakob (1635-1705)
Sommerschule 632 Theologe u. Pietist, Konsistorialrat
Sonderburg-Augustenburg, Hg. Chri- 623, 625
stian Karl Friedrich August v. Speyer 525
(1798-1869), vertrat s. 1814 seine Speyer (Bankierfamilie) 581
Erbansprüche gegen Dänemark Spichern, Schlacht v. (1870) 363
336 f. Spiegel zum Desenberg, Ferdinand Au-
Sonderburg-Glücksburg, Hg. Christian gust Gf. v. (1764-1835), Bf. v. Mün-
v. (1818-1906), s. 1863 als Chri- ster 1813, Ebf. v. Köln 1824 176 f.
stian IX. Kg. v. Dänemark 336 f. Spinnerei 477, 481
Sonntagsarbeit 157 Spinnmaschine, engl. 494
Spinnschulen 663
Soult, Nicolas-Jean de Dieu (1769 —
1851), frz. Marschall u. Politiker, Splitgerber & Daum (Bank- u. Handels-
Kriegsmin. 1834 u. 1840 (zgl. Regie- haus) 477, 481, 483 f., 486, 490
rungschef) 166 „Splitgerbers Erben" 493
Sowjetunion 446 f. Sposetti, Joseph Zerboni di (1760 —
1831), preuß. Beamter u. Publizist,
Sozialdemokraten, Sozialdemokratie
Justitiar 1793, Wirkl. Geheimrat
438 f., 551, 745 f., 776, 784, 786 1810, Oberpräs. d. Prov. Posen
Sozialdemokratische Partei Deutsch- 1815-1824 102,162
lands (SPD) 439, 790, 792 Sprachunterricht, poln. 633, 743 f.
Sozialdemokratische Partei Polens und
— frz. 633
Litauens (SDKPiL) 438 f. St. Helena 166
Sozialdisziplinierung 613 St. Johann 77
Soziale Absicherung 153 St. Thomé 472
- Frage 137, 216, 506 St. Marsan, Antonio Maria Filippo Asi-
- Probleme 595 nari Marquis de (1761-1828), ital.
- Schichtung 152 ff. Staatsmann, i. frz. Dienst s. 1799,
- Unruhen 213, 256 ff. Gesandter i. Berlin 1809 - 1813 51
Sozialismus 500 Staatenhaus 283
- Ideen 211 f. Staatsanleihen 124, 530
- Strömungen 746 Staatsausgaben 128 f.
Sozialpolitik 370, 554, 587 Staatsautoriät 311
Sozialrevolutionäre Strömungen 776 Staatsbahnen 220
Sozialstaat 532 Staatsbank, Kgl. 512
Spaeth (Inh. eines Gartenbaubetriebes) Staatsbankrott 124, 509, 512
514 Staatsbergbau 564
Spalding, Johann Joachim (1714 - 1 8 0 4 ) , Staatsbetriebe 563, 586 f.
ev. Theologe, Propst an d. Nicolai- Staatsbürgerliche Rechte 248
Personen- und Sachregister 857

Staatsdienst 758 — Stadtverordnetenversammlung 113


Staatsdomänen 559 Stadtgüter G m b H 599
Staatseinnahmen 123, 125, 471, 476, 495 Städtische Bank in Breslau 135
Staatsetat 549, 748 Stadtschulen 613, 625,632 ff., 638, 672 f.,
Staatsexamina 697, 757 709
Staatsfinanzen 117 ff., 527 — lateinische 615, 661, 701
Staatsgedanke 433 — höhere 698
Staatshaushalt 21, 123, 125 f., 131, 307 — Lehrer 707
Staatsindustrie 585 Stägemann, Friedrich August (1763 —
Staatskanzleramt 28, 106, 132 1840), preuß. Reformer 428
Staatskasse 132, 175, 501 Stahl, Georg Ernst (1659-1734), Medi-
Staatskirchenpolitik 167 ff., 172 ziner i. Halle 644
Staatsministerium 106 f., 304, 349, 551, Stahl, Friedrich Julius (eigentlich Jolson)
555 (1802-1861), Jurist u. Rechtsphilo-
Staatsnotstand 332 soph, ev.-luth. Prof. i. Würzburg
Staatspapiere 218 1832, i. Erlangen 1834 u. Berlin 1840,
Staatsrat 27, 107, 110, 132 Mitgl. d. preuß. Herrenhauses u.
Staatsreform 19 ff., 476, 660 ff. Staatsrats 170,204 f., 265, 283, 309 f.,
Staatsschatz 476, 483, 487, 494 f. 732
Staatsschulden 73, 111, 123 ff., 127, 223, Stahlerzeugung, Stahlindustrie 220 f.,
512 f., 558 f. 535, 539, 550, 596 f.
— Kontrolle, parlamentarische 127 f. Stände 111, 113, 206 f., 224, 229, 417,
— Staatsschuldengesetz v. 17. Jan. 1820 470
111, 124, 208, 219, 512 — Privilegien 311
— Staatsschuldenkommission 128 — Selbstverwaltung 108
— Staatsschuldenverwaltung 124, 127 — Ständekampf 415
— Staatsschuldscheine 219 — Ständepolitik, brandenburgische 414
Staatsschule 681, 751 — Ständeversammlung 202
Staatssekretariat für Handelsfragen 549 Standeserziehung 640
Staatsstreich 185, 272 f., 310 Standesvereine 755
Staatsstreichpartei 273 Standgerichte 282
Staatsstreichplan 267, 270, 310 Stargard/Pommern 662
Staatsverwaltung 84, 495 Stavenhagen, Friedrich (1796-1869),
Staatswirtschaft 547, 554, 585 preuß. General, Landtagsabgeord-
Staatswissenschaften 769 f. neter 331
Stabeisenerzeugung 220 Steffens, Henrich (oder Henrik) (1773 —
Stadion-Warthausen, Johann Philipp 1845), Naturphilosoph u. Dichter,
Karl Joseph Gf. v. (1763-1824), Prof. i. Halle 1804, in Breslau 1811
österr. Staatsmann, Außenmin. u. Berlin 1831 172, 181
1806 - 1809, Finanzmin. 1815 74 Steglitz s. unt. Berlin
Städte 86, 94 f., 98, 108 f., 113 ff., 118, Stein, Dr., Oberlehrer, Mitgl. d. preuß.
207 National vers. 1848 266
— Städteordnung (19. Nov. 1808) 24, Stein zum Altenstein, Karl Frhr. vom
28, 103, 108 ff., 155, 429, 502 s. unt. Altenstein
- Revidierte (17. März 1831) 105, Stein (Kölner Bankier) 537
109 Stein, Karl Frhr. vom u. zum (1757 —
- v. 1853 275 1831), Min. f. Akzise, Zoll, Fabriken
— Stadtgemeinden 94 f., 108 u. Handel 1 8 0 4 - 1 8 0 6 , Chef d.
— Stadtkreise 86 f., 108 Zivilverwaltung 1 8 0 7 - 1 8 0 8 20 ff.,
— Stadträte 109 27 ff., 32, 34 f., 38, 40, 46 f., 50, 57,
— Stadtverfassungen 105 65, 74, 79 f., 97 f., 101, 106 f., 110,
— Stadtverordnete 28, 109, 502 176, 192, 205, 429, 431, 495, 501 f.
858 Personen- und Sachregister

Steinindustrie 539 1840, Generalmajor 1841, Min. d.


Steinkohle, -bergbau 220 £., 489, 520, Kgl. Hauses 1842-1848 u. 1851-
523, 535, 545, 563 £., 572, 574, 585 1854 204, 240
s. a. Bergbau Stourdza, Alexander (1791 -1854), russ.
Steinsalzbergwerk Staßfurt 565 Publizist u. Staatsrat 1817 182
Stempelsteuer 118 Straferlasse 197
Stendal/Altmark 666 Strafgesetzbuch v. 1851 100
Stephan, Heinrich (1885:) v. (1831- Strafprozesse 96
1897), Gründer d. Weltpostvereins Stralsund 32, 86, 104, 258
1874, dt. Generalpostmeister 1880 - Straßburg 775
1897 547 Straßen 147, 489, 525
Sterblichkeitsziffer 89 f., 91, 95 - Bau 148, 498, 519
Stettin 33, 64, 227, 252, 414, 469, 482, - Baufonds 113
487, 572, 578, 664, 759 - Fernverkehr 482
Steuern 108, 117 ff., 138, 223, 276, 477, - Straßennetz 94, 148
495, 502, 512, 548 - Verkehr 489
- Befreiungen 154, 214 f., 272 Straßenunruhen 193 f., 197, 216, 226 f.,
— Bewilligungsrecht 248 235 f., 259, 264, 268 f.
— Einnahmen 120, 357 Strauß, Gerhard Friedrich Abraham
— Erhöhungen 487 (1786-1863), ev. Theologe, Ober-
- Freiheit 117, 120, 266 hofprediger i. Berlin 173
- Gesetze v. 1810/12 117 f. Streckfuß, Adolph (1823-1895), libera-
- Gesetze v. 1819/20 97, 118 f. ler Schriftsteller, Politiker u. Histo-
- Gleichheit 97, 117 riker, Vors. d. demokrat. Kreisaus-
- Klassen 118 schusses d. Mark Brandenburg 1848
— Privilegien 507 270
- Reform 28, 110, 117 ff., 124, 751 Streiks 532
- Schoß 117 - Berliner Kattundrucker 1844 217 f.
- System 117ff., 272 - Drucker und Setzer 1848 259
— Umsatzsteuer 118 Stresemann, Gustav (1878-1929), dt.
— Verweigerung 257 Reichskanzler (1923) u. Außenmin.
— Verweigerungsbeschluß 272 (1923 -1929) 445
— Verbrauchssteuern 28, 117, 356, 502 Strickerinnen 154
Stiehl, Anton Wilhelm Ferdinand Striegau 60
(1812-1878), Leiter d. Volksschul- Struensee v. Karlsbach, Karl Gustav
abtl. i. preuß. Kultusministerium (1735-1804), Min. f. Akzise-, Zoll-,
736, 738 Kommerz- u. Fabrikwesen 1791 —
Stiehlsche Regulative 736 ff., 740 1804 19
Stiftungsuniversität Frankfurt am Main Struve, Gustav v. (1805-1870), Jurist u.
773 Revolutionär, Mitinitiator d. bad.
Stinnes, Hugo (1870-1924), Industriel- Aufstandes 1848, Teilnehmer am
ler, MdR. (DVP) 1920-1924 581 bad. Aufstand 1849, Emigration über
Stinnes, Matthias (1790-1845), Indu- d. Schweiz 1849 i. d. U.S.A. 1851
strieller 523 247
Stipendien 635 Stryk, Samuel (1640-1710), Jurist, Na-
— Vergabe 635 turrechtler 619, 622, 644
Stirner, Max s. unt. Schmidt, Kaspar Studenten 54, 181 ff., 185 ff., 190, 197,
Stolberg-Wernigerode, Anton Gf. zu 650, 727 f., 733, 752, 762 f., 791 ff.
(1785 -1854), preuß. Off. u. Beam- - Korporationen, Verbindungen 778,
ter, Oberstleutnant 1815, Regie- 797
rungspräs. i. Düsseldorf 1834 — 1838, - Zahlen 648, 693 f., 696, 762, 794
Oberpräs. d. Prov. Sachsen 1838 — Studiengebühren 793
Personen- und Sachregister 859

Studienrecht für Frauen 775 1838), frz. Staatsmann, Außenmin.


Studienreisen 491 1797 - 1 8 0 7 u. 1814/15 75, 355
Studt, Konrad v. (1838-1921), Kultus- Tannenberg 402
min. 750 Tapezierer 215
Stuhlmacher 215 Tarifreform 551
Stummer Reichstag v. Grodno 1716/17 Tauroggen s. unt. Konvention v. Taurog-
418 gen
Stuttgart 279, 584 „Technische Deputation für Gewerbe"
Subsidien 61, 64, 69, 124, 471, 484, 495, 516
508 f. Technische Gewerbeschule (Berlin) 516
Subventionen, Subventionierung 489, Technische Hochschulen 568, 587,
492, 592 704 ff., 718, 764, 773 f., 785
Süddeutschland 348, 357 ff., 541 — Berlin 771, 793 f.
- süddt. Staaten 163, 230, 345 f., 364, — Breslau 768
369, 470, 531 — Danzig 768
Südpreußen 96, 575, 660, 669 Technisierung der Forschung 768
Summus episcopus 170 Tecklenburg, Gft. 76
Sundzoll 163 Telegraph 149 f., 356, 527
— Sundzollvertrag 471 Teller, Wilhelm Abraham (1734-1804),
Superintendenten 684, 741 ev. Theologe (luth.), Oberkonsisto-
Süvern, Johann Wilhelm (1775-1829), rialrat i. Berlin 1767, Mitgl. d. preuß.
Pädagoge u. Unterrichtsreformer, Akad. d. Wiss. 170
Dir. i. preuß. Kultusministerium 25, Temme, Jodocus Deodatus Hubertus
665, 667, 671 f., 679, 687, 697, 700, (1798-1881), i. preuß. Justizdienst
708 s. 1821, Strafversetzung nach Tilsit
Süvernscher Schulgesetzentwurf 696 1844, Staatsanwalt i. Berlin 1848,
Süßmilch, Johann Peter (1707-1767), Mitgl. d. preuß. (1848) u. d. dt. Na-
Berliner Propst, Statistiker u. Natio- tionalvers. (1849), Prof. i. Zürich
nalökonom 643 1852-1878 255
Svarez, Carl Gottlieb (1746-1798) Ju- Teplitzer Allianzvertrag (1813) 64
rist, Großkanzler u. Obertribunalrat, Teplitzer Punktation (1819) 110 f., 185,
Mitarbeiter am Allg. Landrecht 646 727
Swinemünde 482
Territorialentwicklung 16, 76
Sybel, Heinrich v. (1817-1895), Histo-
Teutonia (Burschenschaft) 728
riker, Prof. i. Bonn 1844, i. Marburg
Textilerzeugung, Textilwirtschaft 216,
1846 u. i. München 1856, Mitgl. d.
490, 497, 501, 519 f., 528, 535, 537,
Vorparlaments 1848 u. i. Ständehaus
541, 553
d. Erfurter Unionsparlaments 1850,
Mitgl. d. preuß. Abgeordnetenhauses — Fachschulen 703
1862-1864 u. 1874-1880, Dir. d. — Manufakturen 493
preuß. Staatsarchive s. 1875 283, Thadden(-Trieglaff), Adolf v. (1796-
331, 339, 536, 732, 769, 778 1882), Gutsbesitzer 173
Syrien 165 Thaer, Albrecht Daniel (1752-1828),
„System Althoff" 766 ff., 776 Arzt u. Agrarwissenschaftler, preuß.
„System Metternich" 192 Staatsrat 1807, Prof. f. Landwirt-
schaft s. 1810 499, 514 f., 517, 533,
Tabakmanufaktur 485 643
Tabakmonopol 487, 494 Theatrum anatomicum 650
Tagelöhner 30, 94, 118, 153, 254, 256 Theologie 694, 769
Tageslöhne 154, 259 Thiele-Winckler (schlesisches Industrie-
Talleyrand Périgord, Charles-Maurice unternehmen) 541
de, (1806:) Duc de Bénévent (1754- Thiele-Winckler, Franz-Hubert Gf. 581
860 Personen- und Sachregister

Thiers, Adolphe (1797-1877), frz. Po- Troeltsch, Ernst Peter Wilhelm (1865-
litiker, Historiker u. Journalist, 1923), Theologe u. Philosoph, Mit-
Min.-Präs. u. Außenmin. 1836 u. begründer d. DDP 1918, Staatssekre-
1840, erster Präs. d. Dritten Republik tär i. preuß. Kultusministerium
1871 - 1 8 7 3 165 f., 347 1920-1922 776
Thile, Ludwig Gustav v. (1781-1852), Troppau 159
preuß. General u. Staatsmann, Dir. - Kongreß ( O k t . - D e z . 1820) 82
i. Kriegsministerium 1812, Mitgl. d. - Troppauer Verfassungsplan 111
Staatsrats 1838, Kabinetts- u. Schatz- Troyes 69
min. 1841 - 1 8 4 8 46, 204 f., 239 Tschech, Heinrich Ludwig (1789 -1844),
Tholuck, Friedrich August Gottgetreu Bürgermeister v. Storkow, nach At-
(1799-1877), ev. Theologe, Prof. i. tentat auf Friedrich Wilhelm IV.
Berlin 1823 u. Halle 1826, Dir. d. (26.7.) am 14.12.1844 hingerichtet
Hauptbibelgesellschaft 1821 - 1825 210
174
Tschechoslowakei 593
Thomasius, Christian (1655-1728), Ju- Tübingen 175
rist u. Philosoph 621 f., 644 Tucheier Heide 95
Thorn 76, 101, 161, 402, 426, 509 Tuchindustrie 539
- Frieden (erster) 403 - Export 151, 477, 485
- Frieden (zweiter) (1466) 403, 406 - Handel 477
Thüringer Wald 77 Tugendbund 192
Thüringische Staaten 511 Türkei, Türken 70,160,165 f., 420 f., 426
Thyssen, August (1842-1926), Industri- - Türkenkrieg 426
eller 581 - türkische Meerengen 318
Thyssen (Wirtschaftsunternehmen) 595 Turnbewegung 180 ff., 183
Tiedemann (Geh. Regierungsrat) 552 - Turnverbote 733
Tietz (Warenhausunternehmer) 570
Turnvater s. unt. Jahn, Friedrich Ludwig
Tilsit 43
Twesten, Karl (1820-1870), Politiker, s.
- Frieden (1807) 16, 18, 24, 31 f., 76, 1861 Mitgl. d. Abgeordnetenhauses
96, 431, 496, 501
331
Tirard, Paul (1879-1945), Oberkom-
missar u. frz. Vorsitzender d. Rhein- Typhus 227, 526
landkommission 1919 - 1 9 3 0 596
Tirol 32, 35, 55 U-Boote 594
Tischler 154
Tobago 73, 471 Überseehandel 151, 165, 480, 487, 554
Überseekriege 497
Todesstrafe, Todesurteile 190, 197,
Überseepolitik 163, 471 f., 490
228 f., 268, 282, 731
Uhden, Karl Albrecht Alexander v.
Tönnies, Ferdinand (1855 - 1936), Sozio-
loge 776 (1798-1878), Kammergerichtsrat
Torgau 77 1833, Kabinettsrat u. Mitgl. d.
Trakehnen 576 Staatsrats 1841, Justizmin. 1844-
Transportkosten, Transporttarife 150, 1848 240
221, 563 ' Uhland, Johann Ludwig (1787-1862),
Treitschke, Heinrich v. (1834-1896), Dichter, Literaturforscher u. Politi-
Historiker u. Publizist 339, 768 f., ker, Prof. i. Tübingen 1829-1832,
778 Abgeordneter i. württ. Landtag
Tresorscheine 123 1832-1839, Vertreter Württembergs
Trianon, Dekret v. (5.Aug. 1810) 36 i. Siebzehnerausschuß 1848, Mitgl. d.
„Trieglaffer Konferenzen" 173 dt. Nationalvers. 1848/49 u. d.
Trier 66, 99, 176, 539, 557 Rumpfparlaments 1849 252
„Trierische Zeitung" 211 Uhlich, Leberecht (1799-1872), ev.
Pfarrer i. d. Prov. Sachsen 212
Personen- und Sachregister 861

Ujest, Hg. v. s. unt. Hohenlohe-Oehrin- — - juristische 693 f., 763


gen 581 — — medizinische 763
Ulm 167 — - philosophische 689 f., 693 f., 696,
Ungarn 231, 263, 400, 615 702, 762 f.
Universitäten 159, 181 ff., 185, 188, 499, — — theologische 693
517, 568, 617 ff., 625 ff., 635, 642, — Gerichtsbarkeit 677
644 ff., 656, 658, 671, 674 f., 677, — Gründungen 25, 617 ff., 674
681 ff., 687 ff., 696, 698, 703, 705 ff., — Personalpolitik 792
718 f., 726,729 ff., 734, 736, 740,744, — Professoren 190, 644, 720
748, 762, 766 ff., 774, 777 ff., 785 ff., — Reformen 674
790 ff., 796 f. — revolutionärer Geist 159
- Berlin 25, 29, 184, 515, 675, 678, — Selbstverwaltungsrechte 786
691 f., 728 ff., 732, 736, 766, 769 ff., — Seminare 769
774 f., 778, 793, 796 — Universitätserneuerung 680
- Bonn 175, 177, 184, 200, 679, 728 f., — Universitätsgesetze (1819) 185, 188,
732, 736 190
- Breslau 172, 596, 674, 679, 692, 728, — Universitätskommissare 189
794, 796 — Universitätskonferenzen, dt. 775
- Duisburg 619, 647, 649, 674, 679 f. — Universitätskonzepte 676
- Erfurt 674 — Universitätspolitik 768, 786
- Erlangen 181, 674 — — landesherrliche 619
- Frankfurt 786 — Universitätsrichter 190
- Frankfurt/O. 617 ff., 645, 647 ff., — Universitätssterben 675
674 f., 679 — Universitätsunterricht 668
- Gießen 181, 183 Unruh, Hans Viktor v. (1806-1886),
- Göttingen 500, 622, 644, 674, 769, preuß. Beamter bis 1844, danach Un-
778, 796 ternehmer, Mitgl. d. preuß. Natio-
- Greifswald 680, 736, 794 nalvers. 1848 254, 269
- Halle 473, 500, 620 ff., 626 f., 644 f., Unruhen 259, 526
647 ff., 665, 669, 674, 680, 692, 728,
Unternehmer, -innen 145, 481, 498, 537
731, 736, 769
— frühindustrielle 147
- Heidelberg 181
— Unternehmerförderung 518
- Jena 181, 183
Unterricht, altsprachlicher 700
- Köln 175, 796
Unterrichtswesen 29, 739
- Königsberg 182, 198, 407, 596, 617,
Unterrichtsqualität 752, 759
645, 647, 649, 674 f., 677, 728, 736,
794 Unterrichtsverwaltung 106, 682
Unterschichten 153,155 f., 570, 709, 712,
- Leiden 618
- Leipzig 778 720 f., 754, 760, 763, 790
- Marburg 181 — ländliche 256
- Münster 177, 674, 768 — proletarische 260
- Paderborn 674 Unterstützungsanspruch 156
- Straßburg 550 Untertänigkeit 497
- Tübingen 176 Ursinus (Geh. Finanzrat) 487
- Wittenberg 680 Urwähler 249, 251 f., 306 f.
- Würzburg 622 U.S.A. 163, 282, 445, 779
- Universitas Brandenburgica Gen- U.S.A.-Kredite 597
tium, Scientarum & Artium 619 USPD 781 f.
- süd- und mitteldeutsche 774
- Absolventen 698 Varnhagen v. Ense, Karl August (1785 -
- Etats 692 1858), Schriftsteller, Off. u. preuß.
- Fakultäten Diplomat 1 8 1 4 - 1 8 1 9 193,198,269
862 Personen- und Sachregister

Varnhagen v. Ense, Rahel Antonie Frie- Vereinigte Gladbeck (Bergwerksgesell-


derike, geb. Levin (1771-1833), ge- schaft) 564
bildete Kaufmannstochter, Mittel- Vereinigte Staaten v. Amerika s. unt.
punkt eines literarisch-philosophi- U.S.A.
schen Salons, Ehefrau ν. Κ. Α. V. v. Vereinigte Stahlwerke 593, 597
Ense s. 27.9.1814 193 Vereinigter Landtag 210, 222 ff., 229,
V. Departement 479, 481 f. 231 ff., 238, 244, 249, 254, 256
„Vaterländischer Bauverein" 570 Vereinigter Ständischer Ausschuß 225,
Vaterlandskunde 711 229
Vatikan 176, 200 Vereinigungsrecht 231, 244
Venaissin 73 Vereinswesen 720
Vendée 55 — Vereins- und Versammlungsfreiheit
Venedig 263 248, 303
Venetien 341, 346 — karitative Vereinigungen 217
Venn (Gebiet i. Regierungsbezirk Aa- — politische Vereinigungen 259, 271
chen) 95 Verelendung 153, 217
Verband der polnischen Volksbibliothe- Vererbungslehre 798
ken 743 Verfassung 26,106 ff., 203,206,244, 274,
Verband deutscher Waren- und Kaufhäu- 303 ff., 308, 310 f., 739
ser 570 — belgische 255
Verband für die Kanalisierung der Mosel — deutsche 79
und Saar 557 — konstitutionelle 234, 252
„Verein deutscher Eisen- und Stahlindu- — oktroyierte 272 f.
strieller" 553 — polnische 429
„Verein Deutscher Ingenieure" 517, 764 — landständische 110
„Verein für die bergbaulichen Interessen — verfassunggebende Versammlung
im Oberbergamtsbezirk Dortmund" - deutsche 247, 263 ff.
553 - preußische 254 ff., 268
„Verein für die bergbaulichen Interessen Verfassungsberatungen 255 f., 263 f., 268
in Oberschlesien" 553 Verfassungsbewegung 179, 190, 194
„Verein für Socialpolitik" 551 Verfassungsdebatte 111, 206, 208, 211
„Verein zum Schutze des Eigentums und Verfassungsdiskussionen des Jahres 1919
zur Förderung des Wohlstandes aller 783
Klassen des Volkes" 266 Verfassungseid 267, 276 f.
„Verein zur Beförderung der Arbeitsam- Verfassungsentwurf 252, 254 ff., 276,
keit und Sparsamkeit" 137 354 f.
„Verein zur Beförderung der Kleinkin- Verfassungsfrage 79, 110 f., 185, 205 ff.
der-Bewahranstalten" 217 Verfassungsgegner l l l f .
„Verein zur Beförderung des Garten- Verfassungskampf 207
baues in den Königlichen-Preußi- Verfassungskommission 110
schen Staaten" 514 Verfassungskonflikt 117, 273, 324, 332,
„Verein zur Beförderung des Gewerb- 349 f., 352, 732
fleißes" 514, 516 f., 704 Verfassungskrise 331
„Verein zur Wahrung der gemeinschaft- Verfassungspläne 111,182,204,208,210,
lichen Interessen in Rheinland und 222, 229, 249
Westfalen" („Langnamverein") 553 Verfassungsrecht 96
„Verein zur Wahrung der Interessen des Verfassungsrevisionen 230, 276
Grundbesitzes und zur Förderung des Verfassungsstreit 229, 232
Wohlstandes aller Klassen" 266 Verfassungsversprechen 26 f., 31, 110,
Vereinigte Ausschüsse 207 ff., 210, 219 124,194, 202, 206, 211, 222, 229, 231
Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerke- Verfassungswandel 326, 370
AG (Veba) 586 Verfassungswünsche, ständische 204
Personen- und Sachregister 863

Vergolder 215 1837-1848, Mitglied d. Vereinigten


Verkehr, -swesen 147 ff., 220, 498, 524, Landtags 1847 u. d. dt. Nationalver-
522 sammlung 1848/49 211, 225, 240
— Entwicklung 525 Virchow, Rudolf (1821-1902), Medizi-
— Verkehrsfreiheit 119 ner, Anthropologe u. Politiker, Un-
— Verkehrsnetz 147 f. terarzt an d. Charité i. Berlin, Pri-
Verleger 216 vatdozent 1847, Prof. i. Würzburg
Verona, Kongreß v. ( O k t . - D e z . 1822) 1849 u. i. Berlin 1856, Mitgl. d.
82, 159 preuß. Abgeordnetenhauses 1862,
Verordnung wegen der Militärstrafen MdR. 252, 526, 690, 776, 778
(3. Aug. 1808) 25 Virilstimmen 113 f.
Verpreußung des Reichs 369 Visitationen 655, 687
Verpreußung Deutschlands 436 Vitoria, Schlacht bei (21. Juni 1813) 62
Verreichlichung Preußens 370, 436, 531 Vogesenkamm 364
Versailles 367 Vogtland 280
— Kaiserproklamation 365 Völkerbund 446, 592
— Versailler System 445 ff. Völkerschlacht bei Leipzig (16. — 19.Okt.
— Versailler Vertrag 442, 446 1813) 64, 67
„Versammlungen deutscher Landwirte" Volksbewaffnung 31, 46 f., 55, 230 f., 260
552 Volkserhebungen 31, 40, 47, 230
Versammlungsfreiheit 248 Volkshaus 283
Versammlungsrecht 244 Volkshochschulen 745
Versicherungen 542 — Volkshochschulbewegung 720
— Versicherungsrecht 553 Volkskaisertum 367
Verstaatlichung der Eisenbahnen 547, Volkskrieg 37, 55
549, 555, 563, 565 Volkskriegspläne 41
Verstädterung 742
Volksschulen 29, 688, 707 f., 711, 717,
Vertrag zw. d. Norddeutschen Bunde,
727, 736, 740 ff., 746, 749 ff., 755,
Bayern, Württemberg, Baden u. Hes-
757 ff., 766, 784, 789, 792, 798
sen, die Fortdauer des Zoll- u. Han-
— Aufsicht 312
delsvereins betr. (v. 1. Jan. 1868) 530
— Ausgaben 752
Verwaltung 84 f., 102,106 ff., 131 f., 143,
— Volksschüler 717
148, 307 f., 311, 357, 479
— Volksschullehrer, 712, 734 f., 747,
Verwaltungsgliederung 84, 87 f.
750, 753 ff., 757f., 785, 789, 794 f.
Verwaltungskontrolle 132
Verwaltungsreform 27, 495, 548 — Anstellungen 743
Vetorecht, königliches 256, 273 — Ausbildung 788 f.
Vicenza 263 — Bildung 738, 788
Viehhaltung, Viehzucht 514, 534, 576 — Einkommen 749 f.
— Viehsterben 477 — Zusammenschlüsse 734
Villafranca, Frieden v. 323 Volksschulpolitik 312
Villeroy & Boch (Industriebetrieb) 524 Volksschulunterhaltungsgesetz 1906
Vincennes 70 784
Vincke, Friedrich Ludwig Wilhelm Phi- Volkssouveränität 40, 304, 308
lipp (1837:) Frhr. v. (1774-1844), Volksvertreter 111
preuß. Beamter, Zivilgouverneur Volksvertretung 110, 304, 308
1813, Oberpräs. d. Prov. Westfalen Volkswahlen 247
1816, Mitgl. d. Staatsrats 1817, Volkswehr 273
Wirklicher Geheimrat 1825 66 f., Volkszählung vom 1. Dez. 1871 724
107 Voltaire (eigentl.: François-Marie Aro-
Vincke, Georg Ernst Friedrich (1837:) uet), frz. Philosoph u. Schriftsteller
Frhr. v. (1811-1875), Landrat 643
864 Personen- und Sachregister

Vormärz 138, 162, 198 f., 203, 205, 211, Wahlbeteiligung 275
213, 216, 229, 389, 433 f., 667, 680, Wahlbezirke 306 f.
685,689, 699 f., 707, 709 ff., 715,720, Wahlboykott 275, 283
734, 737 Wählerschaft 329
Vorparlament 246 ff. Wahlgesetze (1848) 248 ff.
Vorpommern 414 Wahlkreise 249
Vorschulen 761 Wahllokale 252
Vorwerke 94 Wahlmänner 113, 249 f., 252, 275, 306
Voß, Otto Karl Friedrich Frhr. v. (1755 - Wahlrecht 109, 208, 231, 244, 247, 249,
1823), preuß. Min. 1 7 9 8 - 1 8 0 7 , 260, 273, 275, 303, 305, 307, 356
Nachfolger Hardenbergs 1822 34 Wahlverfahren 247 f., 249 f., 252, 273
Voß, Sophie Marie Gfn. v. (1729-1814), Währungsgesetze 546
Oberhofmeisterin 34, 44 Währungsreform 597
Voß-Buch, Otto Karl Friedrich Gf. v. Waisenhausgründungen 625
(1755 — 1823), preuß. Beamter, mehr- Waitz, Georg (1813-1886), Historiker
fach Provinzialmin. vor 1806, Präs. u. Publizist 769
d. Friedensvollziehungskommission Waldeck, Benedikt Franz (1802-1870),
1808, scharfer Reformgegner, Vize- Jurist i. preuß. Staatsdienst, Ober-
präs. d. Staatsministeriums 1822 landesgerichtsrat i. Hamm 1836,
112 Obertribunalrat i. Berlin 1846, Mitgl.
Vulcan (Werft) 578 d. preuß. Nationalvers. 1848, Frei-
spruch i. Hochverratsverfahren 1849
Waffenstillstand vom 28. Januar 1871 255, 313, 339
363 Waldenburg/Schlesien 146
Waffenstillstand v. Znaim (12. Juli 1809) Waldwirtschaft s. unt. Forstwirtschaft
35 Wallfahrtswesen 201
Wagener, Hermann (1815 - 1889), Jurist, Wallmoden, Ludwig Georg Thedel Gf.
Konsistorialassessor i. Magdeburg v. W.-Gimborn (1769-1862), Off. i.
1847, Redakteur d. „Kreuzzeitung" österr. (1795), engl. (1812), russ.
1848 - 1 8 5 4 265 (1813) u. erneut österr. (1815) Dien-
Waghäusel, Schlacht bei (21. Juni 1849) sten, Generalmajor 1807, Feldmar-
281 schalleutnant 1809, Militärkomman-
Wagner, Adolf (1835-1917), National- dant v. Mailand 1827 - 1 8 4 8 , General
ökonom, Staatswissenschaftler, „Ka- 1838 53
thedersozialist" 769, 776 Wallonien 489, 499, 537, 540
Wagner, Wilhelm Richard (1813 - 1 8 8 3 ) ,
Dichter u. Komponist, Theaterka- - Wallonen 473
pellmeister i. Magdeburg 1834 — Wander, Karl Friedrich Wilhelm (1803 -
1836, Königsberg 1837 u. Riga 1879), Pädagoge u. Schulpolitiker
1837 — 1839, sächs. Hofkapellmeister 735
1843, Teilnehmer an d. Mairevolu- Warentransport 150
tion i. Dresden 1849, Emigration Warschau 161, 432
nach Weimar, Paris, Zürich u. Mün- - Hgt. 16, 36, 50, 62, 76, 101, 103
chen (1864) 280 Wartburg 181
Wagram 35 - Wartburgfest 181 f., 727 f.
Wahlen 248, 306 f., 329, 342, 348, 746 Wartenberg, Johann Kasimir v. Kolbe
- zur Zweiten Kammer vom 17. Juli (1699:) Gf. v. (1634-1712), Ober-
1849 275 stallmeister u. Oberkämmerer Fried-
- vom 6. Mai 1862 330 richs III. (I.) s. 1696, Min. u. Vorsit-
- vom 7. Nov. 1867 352 zender d. Generalökonomiedirekto-
Wahlalter 248, 250 riums s. 1699, Generalpostmeister s.
Wahlberechtigte 113, 248 f., 250 1700, Marschall v. Preußen u. Pre-
Personen- und Sachregister 865

miermin. s. 1701, entmachtet 1711 Bonn 1819, Mitgl. d. dt. National-


474 vers. 1848/49 184, 729
Wartenburg 64 Weifen-Abfindung 352
Warthe 492, 557 Wellington, Arthur Wellesley Duke o f
Wasserstraßen, -verkehr 98, 147, 150 £., (1769-1852), engl. Feldherr u.
4 8 2 525, 540, 557 Staatsmann 62, 71
Waterloo, Schlacht (1815) 41, 71 Weltumsegelung 152
Wattenbach, Ernst Christian Wilhelm Weltwirtschaftskrise 593, 596 ff., 600
( 1 8 1 9 - 1 8 9 7 ) , Historiker 778 Wenzel ( 1 3 6 1 - 1 4 1 9 ) , dt. Kg. 1 3 7 8 -
Weber, Wilhelm Eduard ( 1 8 0 4 - 1 8 9 1 ) , 1400, Kg. v. Böhmen 1 3 7 8 - 1 4 1 9
Physiker, Prof. i. Halle 1828 u. Göt- 401
tingen 1831, als einer d. Göttinger Werden und Essen, Gft. 76
Sieben entlassen 1837, Prof. i. Leipzig Werften, -industrie 578, 594
1843 u. wiederum i. Göttingen 1849 Werkmeisterschulen 703
198 Werkslaboratorien 706
Weber, M a x ( 1 8 6 4 - 1 9 2 0 ) , Sozioöko- Werkzeugbau 535
nom u. Soziologe 311 Werkzeugmaschinenbau 568
Weber, Weberei 153 f., 215 f., 477, 481 Werra 53
Weberaufstand (Schlesien 1844) 216 f., Wertheim (Warenhausunternehmer) 570
519 Werther, Heinrich August Alexander
Webstühle, mechanische 490 Wilhelm (1841:) Frhr. v. ( 1 7 7 2 -
1859), preuß. Off. u. Diplomat, Ge-
Wechselbankrotte 4 8 6
sandter i. London 1821 - 1 8 2 4 u. Pa-
Wechselordnung v. 1751 486
ris 1 8 2 4 - 1 8 3 7 , Außenmin. 1 8 3 8 -
Wechselwirtschaft 486
1841 164
Wehlau 415
Wesel 211
Wehrdienst 48
Weser 558
- Freistellungen 130
„Weser-Dampfboot" ( Zeitschrift) 212
Wehrgerechtigkeit 327
Wessenberg, Johann Philipp Frhr. v.
Wehrpflicht, -ige 28, 130, 303, 3 2 7 f f . ,
( 1 7 7 3 - 1 8 5 8 ) , österr. Diplomat, Ver-
754
treter auf d. Wiener Kongreß 79
Wehrmacht 603
West-Savoyen 73
Weichsel 37, 43, 45, 48, 161, 392 f., 397,
westdeutsch-luxemburgischer Wirt-
413, 492, 557
schaftsverbund 526
Weichselland 92
Westeuropa 541
Weimarer Republik 441, 569, 588
Westfalen 86, 95, 98, 100 f., 109, 113,
- Außenpolitik 4 4 4
148,175, 211,231,256, 280,495,509,
- „Novemberstaat" 4 4 2 520, 522, 536, 547 f., 559, 566, 589,
Wein- und Gemüsebau 521, 5 4 0 699, 707, 744
Weinmoststeuer 97 - Kgr. ( 1 8 0 7 - 1 8 1 3 ) 16, 31 f., 66
Weitling, Wilhelm ( 1 8 0 8 - 1 8 7 1 ) , Sozia- — westfäl. Hauptbergamtsbezirk 539
list. Schriftsteller, Arbeiterführer u. Westgalizien 36, 228
Organisator i. Exil 212 Westgrenze, deutsche 364
Weißenburg, Schlacht (1870) 363 Westindien 471
Weißenfels 64, 77 Westliche Provinzen 98 ff., 109, 167, 207,
Welcker, Friedrich Gottlieb (1784- 520, 536, 699
1868), Altphilologe, Prof. i. Gießen Westmächte 446 f., 471
1809, i. Göttingen 1816 u. i. Bonn „Westphälisches Dampfboot" (Zeit-
1819 184, 729 schrift) 212
Welcker, Karl Theodor ( 1 7 9 0 - 1 8 6 9 ) , Westpreußen 18, 50, 76, 86, 9 6 , 1 0 1 , 1 1 7 ,
Bruder v. F.G. Welcker, Jurist, Prof. 148, 228, 231, 247, 431 f., 442, 509,
i. Kiel 1814, i. Heidelberg 1816 u. i. 512, 575, 588, 659, 722, 743 f.
866 Personen- und Sachregister

Westrußland 401 Winckelmann, Johann Joachim (1717 —


Westwall 598 1768), Altertumsforscher 666
Wette, Wilhelm Martin Leberecht de Windau (Stadt u. Fluß i. Kurland) 471
( 1 7 8 0 - 1 8 4 9 ) , ev. Theologe, Prof. i. Windischgrätz, Alfred Ft. zu ( 1 7 8 7 -
Heidelberg 1807 u. i. Berlin 1 8 1 0 - 1862), österr. Off., Eroberer Wiens
1819, i. Basel s. 1822 184, 729 31.10.1848, Abberufung 1849 263
Wettin, Dynastie 419 Winkelschulen 640 f., 672, 716
Wetzlar 66, 109 Winterschule 630
Wichern, Johann Hinrich ( 1 8 0 8 - 1 8 8 1 ) , Wintzingerode, Georg Ernst Levin Gf. v.
ev. Theologe i. Hamburg, Begründer ( 1 7 5 2 - 1 8 3 4 ) , württ. Staatsmann,
d. „Rauhen Hauses" 1833 u. d. In- Außenmin. 1 8 0 1 - 1 8 1 6 79
neren Mission 1848 174 Wirsitz 254
Wiedenbrück (Stadt an d. Ems) 211 Wirtschaftsbürger 98, 153
Wieland, Christoph Martin (1733 — Wirtschaftsbürokratie 587
1813), Dichter 33 Wirtschaftsfreiheit 119, 142, 510
Wien 70, 74, 175, 344, 538 Wirtschaftsintervention, staatliche 550
— Revolution 269 Wirtschaftskriminalität 594
Wiener Bundesakte 80, 185, 510 Wirtschaftskrise 18, 216, 226 f., 256 ff.,
— Frieden ν 30.10.1864 339 551, 569, 587
— Kongreß 67, 74, 79 f., 84, 101 f., Wirtschaftslandschaften 145, 567
431 f., 501 Wirtschaftsliberalismus 2 9 , 1 1 9 , 5 4 9 , 554
— Kongreß, Schlußakte ( = Kongreß- Wirtschaftspartikularismus 510
akte) 80, 82 Wirtschaftsrecht 549
— Ministerial-Konferenzen 82 f. Wirtschaftsreform 476
Wirtschaftsstatistik 482
— Schlußakte („Bundes-Supplementar-
Wirtschafts- und Gesellschaftsreform 29
Akte", 15. Mai 1820) 83 f., 111, 190,
Wirtschaftsverbände, Wirtschaftsvereine
304, 432
552 f., 587
— System v. 1815 348
Wirtschaftswissenschaften 694
Wiesbaden 759
Wislicenus, Gustav Adolf (1803 - 1 8 7 5 ) ,
Wigard, Franz Jakob W. ( 1 8 0 7 - 1 8 8 5 ) ,
ev. Pfarrer i. d. Prov. Sachsen, i.
Stenograph u. Arzt, Prof. u. Vorste-
Halle 1841 - 1 8 4 6 212
her d. Stenograph. Instituts Dresden
Wissenschaften, Wissenschaftler 303,
1839, Mitgl. d. dt. Nationalvers.
766, 771, 779, 781, 787
1848/49 226
— Wissenschaftliche Deputation für
Wilhelm I. ( 1 7 9 7 - 1 8 8 8 ) , Dt. Kaiser s.
den öffentlichen Unterricht 682
1871, Kg. v. Preußen s. 1861 326,
— Wissenschaftsausgaben 748
328 ff., 345, 357, 361 f., 366 f., 475,
— Wissenschaftspolitik 766, 768, 783,
531, 556 s. a. Prinz Wilhelm
786
Wilhelm II. ( 1 8 5 9 - 1 9 4 1 ) , Dt. Kaiser u.
Wissmann, Ludwig Friedrich August v.
Kg. v. Preußen 1888 - 1 9 1 8 556 f.,
( 1 7 7 0 - 1 8 5 6 ) , preuß. Beamter, Präs.
745, 772 f.
d. westpreuß. Regierung 46
Wilhelm, Prinz v. Preußen (1783 - 1 8 5 1 ) ,
Wittenberg 64, 77
Bruder Friedrich Wilhelms III., Un-
Wittgenstein (eigentl.: Sayn-W.-Lud-
terhändler i. Paris 1807 34
wigsburg), Ludwig Adolf Peter
Wilhelm, Prinz v. Preußen ( 1 7 9 7 - 1 8 8 8 ) ,
(1834:) Ft. zu (1768 - 1 8 4 3 ) , russ. Ge-
jüngerer Bruder Friedrich Wilhelms
neral, Feldmarschall 1823 43 f.,
IV., als Wilhelm I. Kg. v. Preußen
58 f.
1861 u. Dt. Kaiser 1871 (siehe dort)
Wittgenstein (eigentl.: Sayn-W.-Hohen-
238, 254
stein), Wilhelm Ludwig Georg Gf. (s.
Wilhelminische Ära 442, 746
1792: Reichsft.) v. ( 1 7 7 0 - 1 8 5 1 ) ,
Wilna 440
Diplomat, Polizeimin. 1 8 1 4 - 1 8 1 9 ,
Personen- und Sachregister 867

Min. d. Kgl. Hauses 1819-1851 feldmarschall 1821 34, 41 ff., 59,


34, 106 f., 112, 204, 208 64, 69, 71
Wochenblatt-Partei 314, 324 f. - Yor(c)ksches Korps 46, 48, 51, 64
Woellner, Johann Christoph (1786:) v. Young, Arthur (1741-1820), engl. Na-
(1732-1800), zunächst ev. Pfarrer, tionalökonom, Mitbegr. d. Land-
Rat b. d. Domänenkammer d. Prin- wirtschaftslehre 491
zen Heinrich, Rosenkreuzer s. 1779, Yverdon/Schweiz 670
Hauptratgeber Friedrich Wilhelms
II., Staats-, u. Justizmin. u. Chef d. Zech-Burkersroda, Gf. v., Rittergutsbe-
geistl. Departements s. 1788, entlas- sitzer, Mitgl. d. Vereinigten Landtags
sen 1798 495, 646, 656 1847 232
Woeniger, August Theodor (geb. 1815), Zechenstillegungen 597
Jurist u. Publizist, Revolutionär i. Zedlitz, Karl Abraham Frhr. v. (1731-
Berlin 1848, Adjutant d. Bürger- 1793), preuß. Justizmin. 1771 - 1789,
wehrchefs v. Aschoff 233 Präs. d. Oberkonsistoriums 653, 655
Wöhlert, Friedrich (1797-1877), Ma- Zehntablösung 256
schinenbau-Unternehmer i. Berlin, Zeitschriften 208, 211 f.
Betriebseröffnung 1843 221 Zeitungen 209, 211 f.
Wohnverhältnisse 217, 493 Zeller, Karl August (1774-1847), Päd-
— Wohnungsmangel 595 agoge, Schulrat i. Königsberg 670
— Wohnungsversorgung 519 Zensur, -wesen 185, 188, 202, 206, 208,
Wolf, Friedrich August (1759-1824), 231, 312, 656
Philologe 665 f., 671, 678, 682, 687 Zensus 109, 305
Wolff, Christian (1679-1754), Philo- Zensuswahlrecht 109, 306 f.
soph, Mathematiker, Mitgl. d. Akad. Zentral-Dombauverein 201
d. Wiss. 642 ff. „Zentralkomitee für Arbeiter" 259
Wolhynien 401 „Zentralmärzverein" 279
Wolle 490, 492 Zentralverwaltungsdepartement 67
— Handel 477 Zentralverwaltungsrat 57, 65
— Manufakturen 493 Zentrumspartei 598, 745 f., 784
— Woll- und Fabrikverwaltung 649 - linkes Zentrum 254, 330, 349, 352
Wörth, Schlacht (1870) 363 Zeughaussturm s. unt. Berlin
Wrangel, Friedrich Heinrich Ernst Gf. v. Zinkwirtschaft 508, 520 f., 540, 593
(1784-1877), preuß. Off., Oberst Zinsablösung 256
1815, kommandierender General i. Zivilgerichte 248
Königsberg 1839-1842, Oberbe- Zivillaufbahnen 701
fehlshaber i. d. Marken 1848, Gene- Zivilliste 127
ralfeldmarschall 1856 267, 270 f. Zivilprozesse 96
Wrede, Karl Philipp (1814:) Ft. v. Zölle, Zollwesen 108, 117 ff., 132, 356,
(1767-1838), bayer. General, Feld- 495, 550, 552
marschall 1814, Vertreter Bayerns - Einnahmen 122 f., 357, 511
auf d. Wiener Kongreß 79 - Zollanschluß-Vertrag (1819) 510
Wreschen/Prov. Posen 744 - Zollgesetz v. 1818 118 f., 510, 520,
Wurm- und Inderevier 522 523
Württemberg 65, 79, 195, 247, 282 ff., - frz. vom 17. Mai 1826 164
358, 365, 369, 530, 547 - Zollkrieg 480, 492
- mit Rußland 163
Yor(c)k (1814:) Gf. v. Wartenburg, Hans - Zollpolitik 162 ff., 358, 510, 551
David Ludwig v. (1759-1830), Ge- - Zollreform 117 ff.
neralgouverneur v. Ost- u. Westpreu- - Zollschutz 498, 549
ßen 1811, General d. preuß. Hilfs- - Zolltarife 119, 551
korps i. d. Grande Armée, General- - Zolltarifreform v. 1870 530
868 Personen- und Sachregister

— Zollverein s. unt. Deutscher Zollver- Zwangsarbeit 497


ein Zwangsversteigerungen 589
Zollvereinsländischer Eisenhütten- u. Zweikammersystem 252
Bergwerksverein 553 Zweite Kammer 273,275 f., 279,286,305
Züchtigung, körperliche 28, 193 f., 248 Zweiter Demokratischer Kongreß (26. —
Zuckerfabriken 543 30. Okt. 1848) 269
Züllichau/Neumark 405, 662 Weltkriege
— Züllichauer Seminar 664 - Erster 571, 579, 583, 754, 762, 779
Zunftwesen 142, 144, 527 - Zweiter 386, 447, 569, 604
Zunftzwang 502 Zwirner, Ernst Friedrich (1802-1861),
Zusammenlegungen 504 f. Architekt , Leiter d. Dombaus zu
Zwangsanleihen 124 Köln 1833 201

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