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Band II
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DE
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HISTORISCHE KOMMISSION
ZU BERLIN
HANDBUCH DER
PREUSSISCHEN GESCHICHTE
Band II
Otto Büsch
Band II
Das 19. Jahrhundert
und
Große Themen der Geschichte Preußens
ISBN 3 11 0 0 8 3 2 2 1
Band III
Vom 19. zum 20. Jahrhundert
und
Große Themen der Geschichte Preußens
Der vorliegende zweite Band des auf drei Bände angelegten Handbuchs der
Preußischen Geschichte bestätigt Erfahrungen, die beim Entstehen anderer
mehrbändiger Handbuchwerke bereits zahlreich gemacht worden sind: Per-
sonelle Bedingungen und sachliche Voraussetzungen, unter denen die Auto-
ren des Handbuchs angetreten sind, haben es mit sich gebracht, daß der
II. Band vor dem I. und dem III. zum Abschluß gelangt ist. Herausgeber
und Autoren sind sich einig, daß es unangebracht wäre, die vorliegenden
Beiträge zurückzuhalten, bis die Teile der beiden anderen Bände fertig
geworden sind. Der Band wird daher dem Benutzer in dem Bewußtsein
angeboten, daß seine Einordnung im Zusammenhang der Darstellung von
dreihundert Jahren brandenburgisch-preußischer und preußisch-deutscher
Geschichte und ihrer universalgeschichtlichen Interpretation sich erst be-
friedigend wird erweisen können, wenn auch die beiden noch vorzulegenden
Bände ausgeliefert werden können.
Zwei chronologisch und drei sachthematisch angeordnete Teile umschlie-
ßen in diesem Band einerseits den Bereich der preußischen Geschichte des
19. Jahrhunderts von der Reformzeit bis zur preußisch-deutschen Reichs-
gründung; sie erfassen, bezogen auf die Bereiche der Wirtschafts-, Bildungs-
und — als Sonderthema — der preußisch-polnischen Beziehungsgeschichte,
den gesamten Zeitraum der brandenburgisch-preußischen und preußisch
bestimmten deutschen Geschichte von der Mitte des 17. bis zur Mitte des
20. Jahrhunderts. Herausgeber und Autoren kommt es dabei nicht zuletzt
darauf an, die Klammer- und Leitbildfunktion Preußens im Rahmen der
deutschen und europäischen Geschichte in den verschiedenen Bereichen von
Gesellschaft und Wirtschaft, Recht und Kultur, Politik und Krieg sowie den
zwischenstaatlich-internationalen Außenbeziehungen deutlich zu machen.
Hat der vorliegende Band insofern seinen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert,
so sollen der I. Band, der auch eine einleitende Darstellung der Entwick-
lung des Preußenbildes in der Geschichte erhalten wird, das 17. und
18. Jahrhundert, der III. Band das ausgehende 19. und die erste Hälfte des
20. Jahrhunderts bis zur Auflösung Preußens 1947 als chronologische
Schwerpunkte behandeln, in systematisch-thematischer Hinsicht daneben
die Militär- und die Konfessionsgeschichte, die preußisch-französische Be-
ziehungsgeschichte sowie das Sonderthema der Hauptstadtrolle Berlins
umfassen.
Als Konzession an die zeitlich vorgezogene Herausgabe dieses II. Bandes
des Handbuchs sind hier bibliographische Teile sowie ein besonderes Re-
gister beigegeben, obwohl auf diese Weise gegenüber den Bänden I und III
Vili Vorwort
Bibliographie 3
Verzeichnis der Abbildungen im Text 14
Verzeichnis der Tabellen im Text 14
§ 6 Anhang 286
I. Das preußische Staatsministerium 286
1. 1 8 0 7 - 1 8 4 1 286
2. 1 8 4 1 - 1 8 4 8 289
3. 1 8 4 8 - 1 8 5 0 290
II. Preußische Maße und Gewichte (im Verhältnis zum Dezimal-
system) 291
III. Preußische Münzen 292
Von H a g e n Schulze
Bibliographie 293
§ 1 P r e u ß e n als k o n s t i t u t i o n e l l e M o n a r c h i e 1 8 5 0 - 1 8 6 7 303
I. Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 303
II. Die Ära Manteuffel 1 8 5 0 - 1 8 5 8 309
III. Preußen in der deutschen und europäischen Politik 1 8 5 0 - 1 8 5 9 315
IV. Neue Ära und Verfassungskonflikt 1858 - 1866 324
V. Die schleswig-holsteinische Frage und die Kriege 1864 und 1866 333
VI. Entscheidungsjahr 1866 347
§ 2 P r e u ß e n s W e g ins R e i c h 1 8 6 7 - 1 8 7 1 352
I. Der Norddeutsche Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 1 352
II. Der deutsch-französische Krieg und die Reichseinigung 1870/1871 360
III. Preußens Stellung im Reichsgefüge 367
§ 3 Anhang 371
Das preußische Staatsministerium 1 8 5 0 - 1 8 7 2 371
Bibliographie 377
Bibliographie 449
Verzeichnis der Tabellen im Text 468
Bibliographie 605
Verzeichnis der Tabellen im Text 611
H Historia
HallFnG Hallische Forschungen zur neueren Geschichte
HallPädSt Hallesche pädagogische Studien
Hambjb Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik
HambStNG Hamburger Studien zur Neueren Geschichte
HarvHSt Harvard Historical Studies
HbdG Handbuch der deutschen Geschichte
HbdMG Handbuch der deutschen Militärgeschichte 1648 - 1 9 3 9
HbDU Handbuch des Deutschen Unterrichts an höheren Schulen
HbeG Handbuch der europäischen Geschichte
HbEUl Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere
Schulen
HbkVVRPr Handbuch des kommunalen Verfassungs- und
Verwaltungsrechts in Preußen
HbmnG Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte
HeidAbhMNG Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren
Geschichte
HeimBg Heimatchroniken der Städte und Kreise des Bundesgebietes
HerT Herrenaiber Texte
HessJbLG Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte
HF Historische Forschungen
HHaBB Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin
HiAll Histoire de l'Allemagne
HJb Historisches Jahrbuch
HLbStw Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften in selbständigen
Bänden
Hojb Hohenzollern-Jahrbuch
HPädSt Historische und Pädagogische Studien
HPersp Historische Perspektiven
HPHRaGes Historisch-Politische Hefte der Ranke-Gesellschaft
HSR Historical Social Research — Historische Sozialforschung
HStPhS Historical Studies in the Physical Sciences
HSwF Historisch-Sozialwissenschaftliche Forschungen
HSt Historische Studien
HT/Nz Historische Texte / Neuzeit
XXII Abkürzungen
JaBü Janus-Bücher
JbbLG Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte
JbBBKG Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte
JbbNSt Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik
JbbpG Jahrbücher für die preußische Gesetzgebung
JbbPV Jahrbücher des Preußischen Volksschulwesens
JbBWG Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft
JbESG Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte
JbG Jahrbuch für Geschichte
JbbPhilPäd Jahrbücher für Philologie und Pädagogik
JbPrKb Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz
JbUB Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Breslau
JbUK Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr.
JbVKG Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte
JbVWKG Jahrbuch des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte
JbWG Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte
JCEA Journal of Central European Affairs
JEH Journal of Economic History
JGMOD Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands
JGO Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
JMH Journal of Modern History
JNSt Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik
JSH Journal of Social History
Päd Pädagogik
PädGTP Pädagogik in Geschichte, Theorie und Praxis
PädKl Die pädagogischen Klassiker. Zur Einführung in ihr Leben und
ihre Schriften
PädMag Friedrich Mann's Pädagogisches Magazin
PädRd Pädagogische Rundschau
ParHSt Pariser Historische Studien
ParlEstRep Parliaments, Estates and Representation
PAUWydKH Polska Akademia Umiejçtnosci. Wydawnictwa Komisji
Historycznej
PersG Persönlichkeit und Geschichte
PF Politische Forschungen
PfStrasb Le petit format. Publications de la Faculté des lettres de
l'Université de Strasbourg
PGG Politik und Gesellschaftsgeschichte
PH Przegl^d Historyczny
PhG Philosophie und Geschichte
PNL Przewodnik naukowy i literacki
PPrStA Publikationen [bzw.: Publicationen] aus den [Königlichen]
preußischen Staatsarchiven
PriASt Prinz-Albert-Studien
PriG Preußen in der Geschichte
PrIZ Praca Instytutu Zachodniego
PrKNH Polska Akademia Nauk. Oddzial w Krakowie. Prace Komisji
Nauk Historycznych
PrKWh Prace Komisji Wojskowo-historycznej Ministerstwa Obrony
Narodowej
PrVB Preußen. Versuch einer Bilanz
PrWrTN Prace Wroclawskiego Towarzystwa Naukowego
Prjbb Preußische Jahrbücher
ProbE Probleme der Erziehung
PrStat Preußische Statistik (Amtliches Quellenwerk)
PSQ Political Science Quarterly
PublGesRhGk Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde
PublHLux Publications de la Section historique de l'Institut Grand-Ducal
de Luxembourg
PublRIMetz Publications du Centre des recherches Relations internationales
de l'Université de Metz
PublREE Publications on Russia and Eastern Europe
PublUDij Publications de l'Université de Dijon
PVS Politische Vierteljahresschrift
PZ Przegl^d Zachodni
Bibliographie
Staat und Gesellschaft: [30 a] Peter BAUMGART (Hg.), Expansion und Integration.
Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat ( = NFBPG,
B. 5), K ö l n - W i e n 1984. [31] Dirk BLASIUS, Bürgerliche Gesellschaft und Krimina-
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tingen 1981; [44a] Reinhard SPREE, Wachstumstrends und Konjunkturzyklen in der
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Bd. 5), Köln-Berlin 1970; [97] Friedrich MEINECKE, Das Zeitalter der deutschen
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Zwischen Reform und Krieg, Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen
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( = PersG, Bd. 3), Göttingen 1957; [110] Werner HAHLWEG (Hg.), Dokumente aus
dem Clausewitz-, Scharnhorst- und Gneisenau-Nachlaß sowie aus öffentlichen und
privaten Sammlungen. Bd. 1: Carl von Clausewitz, Schriften — Aufsätze — Studien
- Briefe ( = DGq, Bd. 45), Göttingen 1966; [111] Carl von CLAUSEWITZ, Vom Kriege.
Hinterlassenes Werk. Vollständige Ausgabe im Urtext, hg. von Werner Hahlweg,
Bonn "1973; [112] Max LEHMANN, Scharnhorst, 2 Bde., Leipzig 1886/87;
[113] Günther MARTIN, Die bürgerlichen Exzellenzen. Zur Sozialgeschichte der
preußischen Generalität 1 8 1 2 - 1 9 1 8 , Düsseldorf 1979; [114] Ulrich MARWEDEL, Carl
von Clausewitz. Persönlichkeit und Wirkungsgeschichte seines Werkes bis 1918
( = WWFMGSt, Bd. 25), Boppard a. Rh. 1978; [115] Hans OTTO, Gneisenau. Preu-
ßens unbequemer Patriot, Bonn 1979; [116] Peter PARET, Clausewitz and the State,
Oxford 1976; [117] Peter PARET, York and the Era of Prussian Reform 1 8 0 7 - 1 8 1 5 ,
Princeton 1966; [118] G[eorg] H[einrich] PERTZ, Das Leben des Feldmarschalls
Grafen Neithardt von Gneisenau, 5 Bde. [Bd. 4 und 5 bearb. von Hans Delbrück],
Berlin 1864 — 1880; [119] Gerhard RITTER, Gneisenau und die deutsche Freiheitsidee
( = PhG, H. 37), Tübingen 1932; [120] Heinz STÜBIG, Scharnhorst. Die Reform des
preußischen Heeres ( = PersG, Bd. 131), Göttingen 1988.
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und 1833 bis 1842 geführt sind, Frankfurt/M. 1860 (ND Hildesheim 1975);
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in Preußen. Beiträge zu ihrer Geschichte, in: Wilhelm Treue (Hg.), Geschichte als
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in Preußen [1906], in: Ders., Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen
zur Staats-, Rechts-, und Sozialgeschichte Preußens, hg. von Gerhard Oestreich
( = Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3), Göttingen 2 1967, S. 56 —96;
[177] Friedrich KEINEMANN, Das Kölner Ereignis, sein Widerhall in der Rheinprovinz
und in Westfalen. T. 1: Darstellung ( = VHKW, Bd. 22), Münster 1974; T. 2: Quellen
( = PublGesRhGk, Bd. 59), Münster 1974; [178] Thomas NIPPERDEY, Kirche und
Nationaldenkmal. Der Kölner Dom in den 40er Jahren, in: Werner Pols (Hg.), Staat
und Gesellschaft im politischen Wandel. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt
(Walter Bußmann zum 14. Januar 1979), Stuttgart 1979, S. 1 7 5 - 2 0 2 ; [179] Wolfgang
SCHIEDER, Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt
von 1844, in: AfS, Bd. 14 (1974), S. 419 - 454.
Preußen und Europa: [185] Hermann von der DUNK, Der deutsche Vormärz und
Belgien ( = VIEG, Bd. 41), Wiesbaden 1966; [186] Peter EHLEN (Hg.), Der polnische
12 Preußen von 1807 bis 1850
5. Revolution 1848/49
Verfassung, 3 Bde., Berlin 1848 (ND Vaduz 1986); [203] Franz WIGARD (Hg.), Reden
für die deutsche Nation 1848/1849. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen
der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 9 Bde.
und Register, Leipzig 1 8 4 8 - 1 8 5 0 , neu hg. von Christoph Stoll, München 1 9 8 7 -
1988.
Parlamente und Parteien: [223] Werner BOLDT, Die Anfänge des deutschen Partei-
wesens. Fraktionen, politische Vereine und Parteien in der Revolution 1848. Dar-
stellung und Dokumentation, Paderborn 1971; [224] Manfred BOTZENHART, Deut-
scher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 - 1 8 5 0 , Düsseldorf 1977;
[225] Frank EYCK, Deutschlands große Hoffnung. Die Frankfurter Nationalver-
sammlung 1848/49 [engl. 1968], München 1973; [226] Erich JORDAN, Die Entstehung
der Konservativen Partei und die preußischen Agrarverhältnisse von 1848, Mün-
chen - Leipzig 1914; [227] Dieter LANGEWIESCHE, Die Anfänge der deutschen Par-
teien. Partei, Fraktion und Verein in der Revolution von 1848/49, in: GG, 4. Jg.
14 Preußen von 1807 bis 1850
TABELLE 37: Kommunal unterstützte Arme in den preußischen Provinzen (1849) 155
TABELLE 38: Die Karlsbader Konferenzen (6. 8. bis 31. 8. 1819) 186
TABELLE 3 9 : Preußische A g r a r d u r c h s c h n i t t s p r e i s e 1 8 4 4 - 1 8 5 0 214
TABELLE 40: Preußische Handelsbilanz bei Weizen und Roggen 1 8 4 6 - 1 8 4 8 . . 214
TABELLE 41: Lebensmittelpreise in 63 preußischen Städten 1845 - 1 8 4 8 215
TABELLE 42: Nettoinvestitionen und Kapitalstock im deutschen Eisenbahnbau
(1846/47) 219
TABELLE 43: Erfolgszahlen des frühen preußischen Eisenbahnbaus 220
TABELLE44: D i e S t e i n k o h l e n p r o d u k t i o n in P r e u ß e n 1 8 4 0 — 1 8 5 0 221
TABELLE 45: Zusammensetzung des preußischen Vereinigten Landtags von 1847 223
TABELLE 46: Übersicht der 303 im März 1848 in Berlin Gefallenen und an
Verwundungen Verstorbenen 243
TABELLE 47: Volljährigkeitsalter in preußischen Landesteilen 250
TABELLE 48: Soziale Zusammensetzung der Urwähler in Preußen (1848) . . . . 251
TABELLE 49: Soziale Herkunft der preußischen Abgeordneten in der Frankfurter
Nationalversammlung 253
TABELLE 50: Ergebnisse der Maiwahlen 1848 in zwei schlesischen Kreisen . . . 257
TABELLE 51: Soziale Zusammensetzung der am 17.7. 1849 gewählten preußi-
schen Zweiten Kammer im Vergleich 276
Bialystok fiel an Rußland. Danzig wurde zur Freien Stadt unter dem Schutz
von Preußen und Sachsen erklärt, erhielt aber eine französische Garnison
und mußte auf den wichtigen Handel mit England verzichten. Sachsen
bekam den Kreis Cottbus sowie eine durch preußisches Gebiet führende
Militärstraße nach Polen. Erfurt wurde dem französischen Kaiserreich un-
mittelbar einverleibt.
Die Bevölkerungszahl ging auch aufgrund dieser territorialen Einbußen
erheblich zurück. Während für das Jahr 1 8 0 4 eine Einwohnerzahl von
9 . 9 7 7 . 4 7 0 ( = 9 . 7 0 6 . 3 0 0 Zivil- und 2 7 1 . 1 7 0 Militärpersonen) genannt wird,
waren es 1808 nur noch 4 . 5 5 9 . 3 0 6 . 2 Infolge der kriegerischen Wirren und
des allgemeinen Nachkriegselends sank die Bevölkerung bis zum Jahre 1814
auf 4 . 3 7 6 . 0 3 6 Personen.
Von den 23 Bezirken der Kriegs- und D o m ä n e n k a m m e r n , die seit Ende
1808 die Bezeichnung „Regierungen" führten, blieben nur acht bestehen.
Sie wurden den drei neugeschaffenen Oberbehörden folgendermaßen zu-
geordnet:
TABELLE 1
Einwohnerzahlen der Regierungsbezirke in Preußen 1808
Quelle: A[rtur] Frhr. von F I R C K S , Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im
preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, S. 2.
II. Die R e f o r m z e i t
1 Vgl. Otto HINTZE, Preußische Reformbestrebungen vor 1806 [1896], in: Ders.,
Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und
Sozialgeschichte Preußens, hg. von Gerhard Oestreich ( = Ders., Gesammelte
Abhandlungen, Bd. 3), Göttingen 21967, S. 504 - 529, Ernst MÜSEBECK, Zur Ge-
schichte der Reformbestrebungen vor dem Zusammenbruche des alten Preußens
1806, in: FBPG, Bd. 30 (1918), S. 1 1 5 - 1 4 6 , und Hartmut HARNISCH, Die agrar-
politischen Reformmaßnahmen der preußischen Staatsführung in dem Jahrzehnt
vor 1806/07, in: J b W G , 1977/3, S. 1 2 9 - 1 5 3 , jeweils passim.
2 Zit. von Otto HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre
vaterländischer Geschichte, Berlin 1915 (ND Moers 1979), S. 427.
20 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
3 Barbara VOGEL, Die Preußischen Reformen als Gegenstand und Problem der
Forschung, in: Dies. (Hg.), Preußische Reformen... (1980) [67], S. 1 —27, hier
S. 6.
4 R. KOSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution... ( 2 1975) [35], S. 153.
Einen Teilaspekt erörtert Ilja MIECK, Idee und Wirklichkeit: Die Auswirkungen
der Stein-Hardenbergschen Reformen auf die Berliner Wirtschaft, in: Berlin und
seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft — Lehren und
Erkenntnisse - , Berlin - New York 1987, S. 4 1 - 5 8 , hier S. 41 f.
5 Hardenberg, Rigaer Denkschrift vom 12. IX. 1807, in: G. WINTER (Hg.), Die
Reorganisation des Preussischen Staates... (1931) [62], S. 3 0 2 - 3 6 3 , Zitat S. 320.
6 Hans ROSENBERG, Die Überwindung der monarchischen Autokratie (Preußen)
[engl. 1958], in: Karl Otmar Freiherr von Aretin (Hg.), Der Aufgeklärte Abso-
lutismus ( = NWB, Bd. 67), Köln 1974, S. 182 - 204, hier S. 201.
7 W. HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen... (1977) [63], S. 136.
8 G. WINTER (Hg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates... (1931) [62],
S. 4 - 1 3 .
II. Die Reformzeit 21
Reduziert man die Ansichten der Reformer über Ziele und Richtungen des
einzuschlagenden Weges auf einige Grundüberzeugungen, so bestand die
wichtigste Aufgabe in der Wiederherstellung des Staates und der Überwin-
dung der Kriegsfolgen im weitesten Sinne. Angesichts der schweren Bela-
stungen des Staatshaushalts durch Schuldendienst, Besatzungskosten und
Kontribution spielten bei allen Maßnahmen finanzielle Überlegungen eine
hervorragende, oft sogar die dominierende Rolle. 1 1 Ein zweites Grundmotiv
war, Preußen möglichst schnell in den Kreis der Großmächte zurückzufüh-
ren. Dieses Ziel galt in besonderem Maße auch für den wirtschaftlichen
Bereich, in dem die westeuropäische Industrie einen beachtlichen Vorsprung
zu erringen im Begriffe war. Ein geeignetes Mittel dazu sahen viele Reformer
in der Liberalisierung des Wirtschaftslebens. Einigkeit bestand auch darin,
daß ein Befreiungskampf gegen die napoleonische Herrschaft zwar nur als
Fernziel ins Auge zu fassen sei, daß aber mit der finanziellen und ideolo-
gischen Vorbereitung unverzüglich begonnen werden müsse. Neben die
materielle Besserstellung der Bevölkerung hatte ihre politisch-moralische
Wiederaufrichtung zu treten: Opferbereitschaft setzte Patriotismus voraus,
dieser eine Identifizierung der Bevölkerung mit ihrem Staat. Große Anstren-
gungen auf den Gebieten Bildung und Erziehung waren demnach vonnöten.
Zu diesen gemeinsamen Grundüberzeugungen trat eine Fülle von spe-
ziellen Zielvorstellungen, die personengebunden und zumeist an bestimmte
9 Eckart KEHR, Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaats. Ein
Beitrag zum Diktaturproblem [1932], in: Ders., Der Primat der Innenpolitik, hg.
von Hans-Ulrich Wehler ( = VHKzB, Bd. 19), Berlin 2 1976, S. 3 1 - 5 2 , hier S. 37.
10 B . VOGEL, D i e P r e u ß i s c h e n R e f o r m e n . . . ( 1 9 8 0 ) [ s . o . A n m . 3 ] , S. 1 7 .
11 E. KLEIN, Von der Reform zur Restauration... (1965) [82], passim.
22 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
Die Erneuerung des Staates nahm ihren Ausgang von der nordöstlichsten
Ecke der Monarchie, wohin Hof und Regierung 1806 geflohen waren, und
beschränkte sich zunächst auf die nach dem Tilsiter Frieden verbliebenen
Kernprovinzen Brandenburg, Pommern, Preußen und Schlesien. Unter Ein-
beziehung der Jahre nach 1814/15 lassen sich drei Phasen der Reformbe-
wegung unterscheiden:
1) „Ich hoffe und wünsche", schrieb Friedrich Wilhelm III. am 2. Oktober
1807 über den soeben in Memel eingetroffenen Stein an Hardenberg, „daß
seine kraftvolle Geschäftsführung das Chaotische unseres jetzigen Zustandes
baldigst zu ordnen imstande sein möge. . . " 2 4 Als Stein den preußischen
Dienst Ende November 1808 wiederum verlassen mußte, waren das Okto-
ber-Edikt (9. Oktober 1807) und die Städteordnung (19. November 1808)
vollzogen. Das Organisationsedikt (24. November 1808) sah eine Neuor-
ganisation der oberen und unteren Staatsbehörden vor, wurde allerdings,
nach dem Ausscheiden Steins, nur erheblich modifiziert in Kraft gesetzt
(16./26. Dezember 1808).
Für die seit dem Sommer 1807 unter dem Vorsitz von Scharnhorst
arbeitende Militär-Reorganisationskommission (MRK), in der auch Stein
beratend mitwirkte, gilt das Jahr 1808 als „die Zeit der kühnsten Gedanken,
Diskussionen und Entwürfe und zugleich des entscheidenden Durchbruchs
29 K . v o n R A U M E R / M . BOTZENHART, D e u t s c h l a n d u m 1 8 0 0 . . . ( 1 9 8 0 ) [ 2 0 ] , S. 5 4 9 .
30 Zu einer differenzierten Beurteilung kommt Madelaine von BUTTLAR, Die poli-
tischen Vorstellungen des F. A. L. von der Marwitz. Ein Beitrag zur Genesis und
Gestalt konservativen Denkens in Preußen ( = SchrrPG, Bd. 13), Frankfurt/M.
1980, passim.
II. Die Reformzeit 27
Vorteile, die sich aus den Bestimmungen ziehen ließen, und bemühte sich,
den weiteren Verlauf der Agrarreform zum größtmöglichen Nutzen des
Adels zu beeinflussen. 41 Diese Absicht traf sich mit den Intentionen der
Bürokratie, deren Spitzen nach wie vor dem Adel angehörten. Sie hatte,
parallel zur liberalen Gesetzgebung, von Anfang an eine Konservierungs-
politik betrieben: erstens wurden die hochverschuldeten Gutsbesitzer durch
ein mehrfach verlängertes Moratorium vor dem Bankrott geschützt. Zwei-
tens trat kurz vor dem Martinitag 1810, an dem die Gesindedienstbefreiung
wirksam wurde, eine neue Gesindeordnung in Kraft (8. November 1810),
die den Großgrundbesitzern billige Arbeitskräfte erhalten und ein Abströ-
men der Landbevölkerung in die Städte verhindern sollte. 42 Drittens wurde
die Regulierungsfrage in zunehmendem Maße im Sinne der Gutsbesitzer
entschieden: Schon beim Regulierungsedikt (14. September 1811) konnte
der Adel seine Interessen in beträchtlichem Umfang durchsetzen. Es kam
allerdings wegen des bald ausbrechenden Krieges kaum zur Anwendung,
und erst die für den Bauernstand noch ungünstigere Deklaration vom 29.
Mai 1816 hatte Bestand: Sie beschränkte die Möglichkeit der Eigentums-
übertragung (meist durch Landabtretung in Höhe eines Drittels) auf „spann-
fähige" Höfe alten Besitzstandes, die zudem noch einige andere Bedingungen
erfüllen mußten. So kam es, daß nicht mehr als 83.860 Bauernhöfe mit
zusammen 1,4 Millionen Hektar Landbesitz von der Regulierungsgesetz-
gebung profitieren konnten.
So sehr diese Agrarreformen in erster Linie die bestehende Gutsherrschaft
stärkten und den etwa 12.000 ostelbischen Rittergütern über 400.000 Hektar
Entschädigungsland zufielen, brachten sie es andererseits doch zuwege, daß
im Vormärz eine beträchtliche Zunahme bäuerlicher, namentlich kleinbäu-
erlicher Stellen erfolgte. 43 Gleichzeitig aber haben die Regulierungen auf
verhängnisvolle Weise die Praxis des Bauernlegens und damit die zuneh-
mende Polarisierung der ländlichen Gesellschaft begünstigt. 1846 standen
den 157.347 Vollbauern (mit 50 bis 240 Morgen Land) 668.400 Halbbauern
(Häusler, Kätner und andere mit geringem Ackeranteil) und 873.286 Land-
lose (Tagelöhner, Holzhauer und andere) gegenüber. Preußen war, im gan-
zen gesehen, nach Abschluß der Agrarreformen in noch stärkerem Maße
als vorher ein vom Großgrundbesitz bestimmtes Land. „Patronat, Ortspo-
lizei (bis 1872) und Patrimonialgerichtsbarkeit (bis 1848) zementierten die
herrschaftliche Stellung und schirmten. . . ungefähr die Hälfte aller Bewoh-
1 J . STREISAND, D e u t s c h l a n d . . . ( 1 9 5 9 ) [ 2 6 ] , S. 1 7 7 .
32 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
Was beim Friedensschluß von Tilsit noch offengeblieben war, regelten einige
Folgeverträge. 4 Die Konvention von Königsberg (12. Juli 1807) knüpfte den
in Aussicht gestellten etappenweisen Abzug der französischen Besatzungs-
armee an die pauschale Voraussetzung, daß Preußen bis dahin sämtliche
ihm auferlegten Requisitions- und Kontributionsleistungen erbracht habe.
Daß beide Seiten zu höchst unterschiedlichen Einschätzungen des Kontri-
butionsvolumens gelangten, war ganz im Sinne Napoleons, der Preußen
durch die Auferlegung unerfüllbarer Lasten beliebig lange besetzt und
gefügig halten wollte. Bei den Verhandlungen mit Daru, dem in Berlin
residierenden Generalintendanten der französischen Armee, stellte sich bald
heraus, wie aussichtslos die von Stein zunächst verfolgte Erfüllungspolitik
war. Einem mühsam ausgehandelten Kompromiß (Berliner Konvention,
Entwurf vom 9. März 1808) 5 versagte Napoleon die Zustimmung. Erst im
8 Dazu grundlegend Rainer WOHLFEIL, Spanien und die deutsche Erhebung 1808 -
1814, Wiesbaden 1965, passim.
9 Vgl. P. HASSEL, Geschichte der Preußischen Politik... (1881) [87], S. 2 4 4 - 247.
Die Quellen a . a . O . , S. 4 8 4 - 4 8 9 , 5 0 8 f . und 5 8 1 - 5 8 4 .
10 R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 131-138.
III. Preußen und das napoleonische System 35
bescheinigte Friedrich Wilhelm dem erneut, aber nun in Gnaden aus dem
preußischen Dienst Scheidenden, „den ersten Grund, die ersten Impulse zu
einer erneuerten, besseren und kräftigeren Organisation des in Trümmern
liegenden Staatsgebäudes gelegt zu haben". Wahrscheinlich war es auf eine
gezielte Denunziation des Marschalls Davoust zurückzuführen, daß Na-
poleon drei Wochen später, am 16. Dezember in einem bei Madrid heraus-
gegebenen Armeebefehl ein fast vergessenes Rechtsinstrument aufgriff und
eine förmliche Ächtung des entlassenen preußischen Ministers aussprach.
Seine Güter sollten beschlagnahmt werden, ihm selbst, „ennemi de la France
et de la confédération du Rhin", drohten Verhaftung und Erschießung.
Dieser „Kriegserklärung gegen ein einzelnes Individuum ohne amtliche
Stellung" (G. Ritter) entzog sich Stein durch die Flucht nach Österreich
und später nach Rußland. „Napoleon hätte", so schrieb Gneisenau dem
Geächteten, „für Ihre erweiterte Zelebrität nichts Zweckmäßigeres tun
können. Sie gehörten ehedem nur unserm Staate an, nun der ganzen zivi-
lisierten Welt." 1 1
Anders als im Bereich der inneren Verwaltung brachte die Entlassung
Steins keine Änderung der außenpolitischen Zielsetzungen. An der Maxime
einer möglichst risikofreien Neutralitätspolitik hielt Friedrich Wilhelm auch
dann weiter fest, als sich im Frühjahr 1809 die Bergbauern Tirols unter
Andreas Hofer erhoben und Österreich Frankreich den Krieg erklärte
(9. April 1809). Seine Skepsis im Hinblick auf die militärischen Fähigkeiten
der Österreicher („Sie werden doch geschlagen, und dann ist alles aus")
bestätigte bereits die „von einer beispiellosen Verworrenheit" geprägte
Vorgeschichte dieses Krieges. 12 Selbst erste österreichische Teilerfolge, die
in der zweiten Aprilhälfte in Preußen eine geradezu euphorische Kriegsbe-
geisterung breitester Kreise auslösten, konnten den König nicht zu einer
Änderung des Kurses bewegen. Nach dem Prestigeerfolg bei Aspern (21./
22. Mai) vertröstete er den österreichischen Unterhändler mit den Worten:
„Versetzen Sie dem Feinde noch einen Schlag, und wir sind vereint", aber
die nächste Schlacht, bei Wagram am 5-/6. Juli, brachte den entscheidenden
Sieg Napoleons und führte — über den Waffenstillstand von Znaim (12.
Juli) - zum Frieden von Schönbrunn (14. Oktober 1809), der Österreich,
das 2150 Quadratmeilen mit 3,5 Millionen Einwohnern verlor, zum Bin-
nenstaat machte.
Während dieses Krieges war Preußen mit seinen monatlichen Kontribu-
tionszahlungen erheblich in Rückstand geraten. Bei den Verhandlungen
über eine Neuregelung der Zahlungsmodalitäten deutete Napoleon an, daß
auch an eine Abtretung Schlesiens gedacht werden könne. In der illusionären
Erwartung, Preußen dadurch von dem permanenten politisch-finanziellen
Druck Napoleons befreien zu können, empfahl das Ministerium Dohna/
Altenstein, in Verhandlungen über die Zession Schlesiens einzutreten. Als
11
Gneisenau an Stein am 15. II. 1809, in: Karl G R I E W A N K (Hg.), Gneisenau. Ein
Leben in Briefen [1939], Leipzig 3 1943, S. 109.
12
Manfred RAUCHENSTEINER, Kaiser Franz und Erzherzog Carl. Dynastie und
Heerwesen in Österreich 1 7 9 6 - 1 8 0 9 , München 1972, S. 94.
36 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
15 Der Hauptvertrag, die vier geheimen Zusatzartikel sowie die beiden ebenfalls
geheimgehaltenen Spezialkonventionen (sämtlich nicht im Vertrags-Ploetz!) sind
abgedruckt bei G. F. de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil... [s. o. Anm. 6], Bd. 1,
S. 4 1 4 - 4 2 4 .
38 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
den folgenden Monaten wiederholte sich der ganze Schrecken der Besat-
zungszeit der Jahre 1806/08 mit ihren Requisitionen, Einquartierungen,
Plünderungen, Drangsalierungen und Schikanen. Friedrich Wilhelm, der die
Verträge am 4. März 1812 ratifizierte, hatte Staat und Volk unvorstellbar
hohe Opfer auferlegt, „um in Potsdam mit ein paar Paradebataillonen von
1.200 Mann praktisch als Gefangener Napoleons zu leben". 1 6 Die Gesamt-
summe aller Leistungen und Lieferungen während der Okkupationsmonate
des Jahres 1812 betrug über 85 Millionen Taler, während die Kontributions-
schuld nur noch rund 12 Millionen Taler ausgemacht hatte. Als die Große
Armee nach Rußland zog, stand Preußen wirtschaftlich und finanziell am
Rand des Bankrotts. 1 7
16 R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 2 4 9 .
17 Über die Auswirkungen des Februarvertrages informiert gründlich das in seiner
Gesamttendenz kritisch zu beurteilende Buch von P. STULZ, Fremdherrschaft und
Befreiungskampf... (1960) [105], S. 7 1 - 9 0 .
18 Gneisenau an Münster am 10. II. 1812, in: K. GRIEWANK, Gneisenau... ( 3 1943)
[s.o. Anm. 1 1 ] , S. 1 8 2 f.
19 Gabriele VENZKY, Die russisch-deutsche Legion in den Jahren 1 8 1 1 - 1 8 1 5
( = V O e l M , Bd. 30), Wiesbaden 1966, S. 4 2 - 5 5 .
20 Zusammenfassende Darstellung bei P. STULZ, Fremdherrschaft und Befreiungs-
kampf... (1960) [105], S. 118 - 1 3 3 (mit der älteren Lit.). Ergänzend: W. SIEMANN,
„Deutschlands R u h e . . . " (1985) [173], S. 6 5 - 7 1 .
III. Preußen und das napoleonische System 39
Offiziere damals die Armee verlassen haben, ist allerdings eine Legende. 21
Durch das „Edikt wegen der Auswanderung preußischer Untertanen und
ihrer Naturalisation in fremden Staaten" vom 2. Juli 1812 suchte die
Regierung dieser Absetzbewegung entgegenzuwirken. Offiziere wie Clau-
sewitz und Chasot wurden — bei Androhung der Vermögenskonfiskation
— öffentlich zur Rückkehr aufgefordert. 22 Scharnhorst, der sich vom Staats-
dienst zurückgezogen hatte, aber fest entschlossen war, „mein Vaterland
nicht zu verlassen und mit demselben das ungewisse Schicksal zu teilen",
schrieb aus Schlesien, man habe das Edikt dort „weder billig, noch politisch
richtig befunden".
Nachdem Napoleon auf dem Fürstentag zu Dresden ( 1 6 . - 2 8 . Mai 1812),
zu dem auch Friedrich Wilhelm III. und Franz I. erscheinen mußten, glän-
zende Heerschau gehalten hatte, eröffnete er mit der Grande Armée von
457.000 Mann am 24. Juni den Krieg gegen Rußland. 23 Die zahlenmäßig
unterlegenen russischen Truppen wichen jedoch einer möglicherweise ent-
scheidenden Schlacht aus, zogen sich in die Weite des Raumes zurück und
bereiteten den Franzosen durch militärische Störversuche, durch Wegschaf-
fen der Vorräte und eine Kriegspolitik der „Verbrannten Erde" beträchtliche
Schwierigkeiten. Dennoch konnte Napoleon Smolensk erobern (18. August),
sich in der blutigen Schlacht von Borodino (7. September) behaupten und
am 14. November mit der bereits stark dezimierten Armee in das fast
menschenleere Moskau einziehen, das am gleichen Tage in Flammen auf-
ging. Da der Zar alle Friedensangebote unbeantwortet ließ, blieb schließlich
nichts übrig, als Moskau wieder zu räumen (19. —23. Oktober) und den
Rückmarsch anzutreten. Gepeinigt durch den einsetzenden Winter, ohne
ausreichende Verpflegung und Bekleidung und erheblich geschwächt durch
fortwährende Gefechte mit russischen Partisanen und den regulären Trup-
pen, die durch ihre Taktik der parallelen Verfolgung die französische Armee
zu einem pausenlosen Rückzug zwangen, erreichten nur noch etwa 70.000
Mann die Beresina. Bei ihrer Überquerung mittels zweier Behelfsbrücken
(26. — 29. November) verlor die Grande Armée mehr als 30.000 Mann.
Während die kaum noch kampffähigen Trümmer in trostlosem Zustand
weiter nach Westen zogen, eilte Napoleon nach Paris, um die Aushebung
neuer Truppen vorzubereiten.
24 Vgl. Freiherr vom STEIN, Briefe und amtliche Schriften... [72], Bd. 3, Stuttgart
1 9 6 1 , S. 674-677.
15 Georg Heinrich PERTZ, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein... (1849 —
1855) [70], Bd. 3, S. 225. Beste Problematisierungdieses Dilemmas bei R . IBBEKEN,
Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 368-371.
III. Preußen und das napoleonische System 41
30 Mitgeteilt von J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von
Wartenburg... (21851-1852) [ 1 0 7 ] , B d . 1 , S. 3 4 1 .
31 Vgl. Walter von ELZE, Der Streit um Tauroggen, Breslau 1926, passim. Knappe
Zusammenfassung, nicht ohne Polemik, bei P. STULZ, Fremdherrschaft und
Befreiungskampf... ( 1 9 6 0 ) [ 1 0 5 ] , S. 188-191.
III. Preußen und das napoleonische System 43
32 Beide Briefe bei J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von
Wartenburg... ( 2 1851 - 1 8 5 2 ) [107], Bd. 1, S. 3 5 9 und 3 6 7 - 3 6 9 .
33 G.F. de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil... [ s . o . Anm. 6), Bd. 1, S. 5 5 6 f .
34 York an Bülow am 5. I. 1813; Auszug bei J. G. DROYSEN, Das Leben des
Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg... ( 2 1851 - 1852) [107], Bd. 1, S. 392.
35 Hermann ONCKEN, Die Sendung des Fürsten Hatzfeld nach Paris, Januar bis
M ä r z 1813. Urkundliche Mitteilungen, in: DRd, Bd. 2 4 (1899), passim.
44 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
41 Otto HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer
Geschichte, Berlin 1915 (ND Moers 1979/80), S. 469.
42 Die Behauptung Natzmers, er habe bereits am 1 3 . 1 . dem Zaren eine Offensiv-
und Defensivallianz mit Preußen angeboten (Gneomar Ernst von NATZMER [Hg.],
Unter den Hohenzollern. Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generals Oldwig
v. Natzmer, Bd. 1, Gotha 1887, S. 92 f.), läßt sich durch andere Quellen nicht
stützen. Auch J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von
Wartenburg... ( 2 1 8 5 1 - 1 8 5 2 ) [107], Bd. 1, S. 454, erwähnt diesen nur mündlich
erteilten Geheimauftrag, allerdings ohne jeden Beleg. Ein förmliches Bündnisan-
gebot widerspräche der Regierungspolitik. Vgl. P. STULZ, Fremdherrschaft und
Befreiungskampf... (1960) [105], S. 194, Anm. 722.
43 J . G . DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg...
( 2 1851 - 1 8 5 2 ) [107], Bd. 1, S. 407.
44 A . a . O . , S. 4 0 9 f. Vgl. auch R . IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 379.
46 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
45 Berlinische N a c h r i c h t e n , 19. I. 1813. Die Gründe für diese späte Publikation sind
nicht klar. W. ONCKEN, Das Zeitalter der R e v o l u t i o n . . . ( 1 8 8 4 / 8 6 ) [19], Bd. 2 ,
S. 5 5 6 , meint, d a ß für die Franzosen in Berlin d a d u r c h der „wolkenlose H i m m e l
unbedingter Vertrauensseligkeit hergestellt" werden sollte, damit der König drei
Tage später unbehelligt nach Breslau reisen könnte.
46 Die Vollmacht Steins v o m 6 . / 8 . I. 1 8 1 3 ist publiziert bei Freiherr v o m STEIN,
Briefe und amtliche Schriften... [72], Bd. 4 , N r . 6, S. 13 f. Z u den Vorgängen vgl.
R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 3 8 0 f f .
47 Abdruck der B e k a n n t m a c h u n g bei J . G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls
Grafen York von Wartenburg... (21851 - 1 8 5 2 ) [ 1 0 7 ] , B d . 1, S. 4 2 2 .
III. Preußen und das napoleonische System 47
Stein fühlte sich dadurch noch mehr beflügelt, den nun handlungsunfä-
higen König durch eine von Ostpreußen ausgehende Volkserhebung auf-
zurütteln und mitzureißen. Jetzt ging es ihm vor allem um die auf dem
Landtag zu beschließende Volksbewaffnung. Nach wenigen Tagen war er
mit York und den preußischen Spitzenbeamten völlig zerstritten; Schön fand
ihn am 3. Februar „in hoher Spannung, scheltend und tobend auf alle
Autoritäten in Königsberg". 4 8 Vor allem seinem alten Mitarbeiter Schön
war es zu danken, daß Stein schließlich einlenkte und die vermittelnden
Vorschläge, die auf die Wahrung der Verfassungsgemäßheit zielten, akzep-
tierte. So wurde der auf Wunsch Steins zum 5. Februar einberufene Landtag
zu einer weniger formellen „Landesversammlung" umdefiniert. Die Eröff-
nungssitzung leitete weder Schön (1. Vorschlag Steins) noch York (2. Vor-
schlag Steins) noch Stein (Vorschlag Yorks), sondern der Stellvertreter des
erkrankten Oberpräsidenten, der Geheime Justizrat v. Brandt. Stein erklärte
sich bereit, auf der Landesversammlung nicht zu erscheinen, den Deputier-
ten aber in einer Eröffnungsadresse mitzuteilen, daß er diese Versammlung
veranlaßt habe, damit sie „über die Auswahl der Mittel zur allgemeinen
Verteidigung des Landes" berate. Er bäte, die „Anerbieten und Vorschläge
verfassungsmäßig zu leiten und solche denen geordneten Behörden vorzu-
legen". 4 9 Schön konnte Stein sogar dazu bewegen, Königsberg zu verlassen:
Am selben Tag, als die Deputierten die entscheidenden Beschlüsse faßten,
reiste Stein, der wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung genommen hatte,
ins russische Hauptquartier ab. Schön notierte, „daß er mir niemals größer
als in dem Momente der Resignation erschienen ist". 5 0
Auf ausdrücklichen Wunsch der Landesversammlung erschien während
der ersten Sitzung am 5. Februar York, von den 64 Teilnehmern stürmisch
begrüßt. 51 „Nicht Stein als Statthalter des Zaren, sondern York als Statt-
halter des Königs war der Name der herrschenden Autorität". 5 2 Die von
ihm erbetenen Vorschläge zur Bewaffnung des Landes und zur Verstärkung
der Armee unterbreitete er noch am selben Abend einer siebenköpfigen
Delegation der Versammlung. Sie basierten auf einem von Clausewitz und
Graf Alexander Dohna ausgearbeiteten Entwurf, fanden allgemeine Zustim-
mung und wurden — nach einigen Vorberatungen — bereits in der zweiten
48 Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von
Schön, 6 Bde., H a l l e - B e r l i n 1 8 7 5 - 1 8 8 3 , hier Bd. 1, S. 91.
49 Mitgeteilt von J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von
Wartenburg... ( 2 1851 - 1852) [107], Bd. 1, S. 429.
50 Aus den Papieren... ( 1 8 7 5 - 1 8 8 3 ) [s.o. Anm. 48], Bd. 1, S. 96.
51 A. BEZZENBERGER (Hg.), Urkunden... (1894) [100], passim; Robert MÜLLER,
Urkunden zur Geschichte der ständischen Versammlung in Königsberg im Januar
und Februar 1813 betr. die Errichtung der Landwehr, in: A P M , Bd. 13 (1876),
S. 3 2 4 - 3 4 2 , 4 3 6 - 4 6 5 , 6 0 0 - 6 4 2 , Bd. 14 (1877), S. 1 0 1 - 1 6 1 , 3 1 8 - 3 3 9 . - Von
den gewählten Deputierten vertraten 2 4 die Rittergutsbesitzer, 18 die Städte und
13 die Köllmer. Dazu kamen die acht Mitglieder des ständischen Komitees und
dessen Syndicus als Protokollführer.
52 R. IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 383.
48 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
lau, Berlin glich einem Pulverfaß, und fast wäre es dort am 22. Februar zu
einem regelrechten Aufstand gekommen. 55 „Der König", so schrieb der
Baron v. Ompteda am 20. Februar, „ist nicht mehr in der Lage, die
Begeisterung zu unterdrücken, die sich beinahe aller Gemüter bemächtigt
hat. . . Wenn der König sich weigerte, die Mittel zu gebrauchen, die seine
Untertanen entsprechend dem allgemeinen Willen der Nation zu seiner
Verfügung gestellt haben, oder wenn er nur zögert, die Bemühungen zu
unterstützen, die Rußland unternimmt, um die preußische Monarchie wie-
derherzustellen, halte ich die Revolution für unvermeidlich, und wahr-
scheinlich würde die Armee selbst das erste Beispiel und das erste Signal
geben..." 5 6 So war es in der Tat.
Ohne die Antwort Napoleons auf die letzten preußischen Vorschläge
abzuwarten, entschloß sich Friedrich Wilhelm am 23. Februar zum Bruch
mit Frankreich. 57 Hardenberg bereitete die in Berlin zurückgebliebene Ober-
regierungskommission am gleichen Tage auf „un très prochain changement
du système" vor und beklagte die Politik Napoleons: „...il nous jette de
force dans le parti opposé..." Gleichzeitig befahl eine Kabinettsorder, den
auf Betreiben der Franzosen am 19. Februar gestoppten Abmarsch der
Freiwilligen aus Berlin nicht länger zu behindern. 58
Am dringendsten war nun der Abschluß des Bündnisses mit Rußland,
über das Knesebeck, an dessen Stelle die Russen viel lieber Boyen oder
Scharnhorst gesehen hätten, seit dem 16. Februar im Hauptquartier zu
Klodawa verhandelte. 59 Gewiß hat er durch manche Eigenmächtigkeiten
und mangelnde Flexibilität die Gespräche in die Länge gezogen. Vorzuwer-
fen ist ihm insbesondere, daß er es versäumt hat, mit Breslau in ständiger
Fühlungnahme zu bleiben, doch darf man bei aller Kritik dreierlei nicht
übersehen: erstens versuchte Knesebeck von dem Vertragsentwurf, der in
seiner Erstfassung für die Russen nicht akzeptabel war, soviel wie möglich
zu retten, zweitens entsprach seine zögernde Verhandlungsführung genau
der bisher von der Regierung verfolgten Linie, und drittens stellte Harden-
berg noch am 21. Februar seinem Unterhändler frei, vom König unterzeich-
nete Marschbefehle an drei Generale weiterzuleiten oder nicht — „...vous
jugerez à propos d'après les circonstances..." 6 0
Daß seine Verhandlungsführung seit dem 23. Februar obsolet geworden
war, konnte Knesebeck erst Tage später erfahren; daß die Russen die Geduld
verloren hatten, erfuhr man in Breslau am 25. Februar, als der Freiherr
vom Stein und der bevollmächtigte Staatsrat v. Anstett mit einem russischen
Gegenentwurf eintrafen. Während Stein, durch ein Nervenfieber für mehrere
Tage ans Bett gefesselt, ein zweites Mal ein von ihm herbeigesehntes Ereignis
von historischer Tragweite verpaßte, billigten der König und sein Kanzler
am 26. Februar den russischen Vertragsentwurf ohne den leisesten Versuch
einer Abänderung — es war nunmehr von höchster Dringlichkeit, „...de ne
plus prolonger l'incertitude et de terminer la négociation". 6 1 Am 27. Februar
brachte Hardenberg in Breslau mit Anstett, am 28. Scharnhorst in Kaiisch
mit Marschall Kutusow das preußisch-russische Bündnis unter Dach und
Fach.
Der Vertrag von Kaiisch, 62 eine Offensiv- und Defensivallianz, sah die
Wiederherstellung Preußens in seinen „statistischen, geographischen und
finanziellen Verhältnissen" von Anfang 1806 vor, also ohne Hannover. Der
Zar garantierte „la vieille Prusse" ( = Ost- und Westpreußen) sowie ein
Gebiet, das diese Provinz künftig mit Schlesien verbinden sollte ( = Teil des
derzeitigen Herzogtums Warschau). Preußen verpflichtete sich, eine „milice
nationale" ( = Landwehr) aufzustellen und alle verfügbaren Kräfte für den
Krieg einzusetzen. Erstes Ziel der militärischen Operationen, für die Ruß-
land 150.000 und Preußen 80.000 Mann aufzubringen hatten, war die
Vertreibung der Franzosen aus Norddeutschland. Wegen der Erschöpfung
der russischen Truppen und zur möglichst ungestörten Durchführung der
vorbereitenden Maßnahmen wurde der Vertrag vorerst geheimgehalten.
Der König blieb skeptisch. Angesichts der recht dürftigen Zusagen fühlte
er sich übervorteilt und meinte, dem Drängen der Patrioten zu schnell
nachgegeben zu haben. Dementsprechend unfreundlich fiel der Empfang
des ostpreußischen Emissärs Graf Ludwig Dohna aus. Die ironische Frage,
ob „Herr von York schon eine Bürgerkrone trage", entsprach in ihrem
Mißtrauen gegen die Ereignisse in Ostpreußen der kurz zuvor ergangenen
Aufforderung an York, „behufs eines kriegsrechtlichen Erkenntnisses" die
militärisch ausschlaggebenden Gründe für den (doch zuvorderst politisch
motivierten!) Abschluß der Konvention von Tauroggen darzulegen. 63 Da
60 D a z u M . LEHMANN, S c h a r n h o r s t . . . ( 1 8 8 6 / 8 7 ) [ 1 1 2 ] , B d . 2 , S. 5 0 8 , A n m . 1.
61 Hardenberg an Knesebeck am 27. II. (L.K. AEGIDI, Die Sendung Knesebecks...
[s.o. Anm. 59], S. 288).
62 Vertragstext: G.F. de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 3,
Göttingen 1818, S. 2 3 4 - 2 3 8 . Häufig wird in der Lit. fälschlich der 26./27. II. als
Vertragsdatum genannt.
63 Vgl. J. G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Warten-
burg... ( 2 1851 —1852) [107], Bd. 2, S. 1 2 - 1 4 .
III. Preußen und das napoleonische System 51
TABELLE 2
Gesamtzählung der 27.763 Freiwilligen nach militärischen Einheiten
TABELLE 3
Gesamtzählung von 25.363 beruflich erfaßbaren Freiwilligen
gezählt
Berufe
absolut in %
73 A. a. O., S. 411 f. Die älteren Darstellungen sprechen von etwa 8.000 Mann, ζ. B.
M. LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 526.
74 Die Zitate aus dem Aufruf vom 3. II. (GS 1813, S. 15 —17. Leichter zugäng-
lich: Eugen von FRAUENHOLZ, Das Heerwesen des XIX. Jahrhunderts
( = EntwGdHeerw, Bd. 5), München 1941, S. 141 - 143). Zur Lützowschen Mon-
tur vgl. M. LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 534, Anm. 3.
III. Preußen und das napoleonische System 55
75 Ernst MÜSEBECK (Hg.), Freiwillige Gaben und Opfer des preußischen Volkes in
den Jahren 1 8 1 3 - 1 8 1 5 ( = MKPrAv, H. 23), Leipzig 1913, passim.
76 Dorothea SCHMIDT, Die preußische Landwehr. Ein Beitrag zur Geschichte der
allgemeinen Wehrpflicht in Preußen zwischen 1813 und 1830 ( = MhSt, N . F.,
Bd. 21), Berlin (Ost) 1981, passim. Knappe Zusammenfassung: H. G. NITSCHKE,
Die Preußischen Militärreformen... (1983) [83], S. 1 7 8 - 1 8 6 . Verteilung auf die
Provinzen: M . LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 536, Anm. 2.
77 Die Verordnungen über Landwehr und Landsturm bei E. von FRAUENHOLZ, Das
Heerwesen... (1941) [s.o. Anm. 74], S. 1 4 8 f . , 1 4 9 - 1 5 7 , 1 6 1 - 1 7 1 . Vgl. M a x i -
milian BLUMENTHAL, Der Preußische Landsturm von 1813. Auf archivalischen
Grundlagen dargestellt, Berlin 1900, passim.
78 Klaus MAMMACH, Der Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1 9 4 4 / 4 5 ( = KB, Bd. 233),
Köln 1981, S. 3 9 - 4 1 , 59. Vgl. auch Franz W. SEIDLER, „Deutscher Volkssturm".
Das letzte Aufgebot 1944/45, München-Berlin 1989, S. 261 ff.
79 R . IBBEKEN, Preußen 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . (1970) [96], S. 4 0 1 ; H . G . NITSCHKE, Die
Preußischen Militärreformen... (1983) [83], S. 1 8 9 - 1 9 1 .
80 Friedrich MEINECKE, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen,
2 Bde., Stuttgart 1896/99, hier Bd. 1, S. 289.
56 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
81 R . IBBEKEN, P r e u ß e n 1 8 0 7 - 1 8 1 3 . . . ( 1 9 7 0 ) [ 9 6 ] , S. 4 2 7 .
82 Die Gouvernements umfaßten die Gebiete zwischen (1) russischer Grenze und
Weichsel, (2) Weichsel und Oder, (3) Oder und Elbe und (4) Schlesien. Später
kamen die Gouvernements zwischen (5) Elbe und Weser und (6) Weser und
Rhein hinzu. Vgl. M . LEHMANN, Scharnhorst... (1886/87) [112], Bd. 2, S. 5 5 6
sowie Anm. 2 und 3.
83 Ein Faksimile-Abdruck der achtseitigen Zeitungsausgabe bei Ernst BERNER, Ge-
schichte des Preußischen Staats, 2 Bde., Bonn 2 1896, hier Bd. 2, nach S. 538.
84 Nur dieser Aufruf wird abgedruckt bei H.-B. SPIES (Hg.), Die Erhebung gegen
Napoleon... (1981) [93], S . 2 5 4 Í .
III. Preußen und das napoleonische System 57
Kriegesheer" (17. März), der sich an das stehende Heer richtete und ihm
— unter Hinweis auf die große Zahl der Freiwilligen - auftrug, nunmehr
ebenfalls „die Freiheit und Selbständigkeit des Vaterlandes zu erkämpfen",
nicht ohne für die Pflichtvergessenen „tiefe Schande und strenge Strafe" in
Aussicht zu stellen. 85 Der nächste Abdruck betraf (4) die „Urkunde über
die Stiftung des eisernen Kreuzes", die bereits am 10. März, dem Geburtstag
der 1810 verstorbenen Königin Luise, unterzeichnet worden war. Dieser
Orden in zwei Klassen und einem Großkreuz war nur im Hinblick auf den
bevorstehenden Krieg gestiftet worden und sollte nach seinem Absehluß
nicht weiter verliehen werden. 86 Ebenfalls vom 17. März datierte (5) eine
Bekanntmachung, wonach jeder, der mit dem „Feind" in Verbindung bleibt,
ihm Lieferungen zukommen läßt oder ihn sonstwie unterstützt, vor ein
Kriegsgericht gestellt und, sofern seine Schuld erwiesen sei, hingerichtet
werden sollte. Schließlich erschien noch (6) ein Publikandum der Breslauer
Stadtbehörden (9. März), das alle Mitbürger „zu Sammlung und Beiträgen
für die freiwilligen aber unbemittelten Verteidiger des Vaterlandes" aufrief,
sei es „in Gelde, oder Kleidungs- und Armatur-Stücken".
Einen Tag vor der Bekanntgabe dieser geballten Ladung hochbrisanter
politischer Informationen war eine preußisch-russische Konvention unter-
zeichnet worden, in der sich Hardenberg und Scharnhorst auf der einen,
Stein und Graf Nesselrode als Vertreter des russischen Kanzlers Romanzow
auf der anderen Seite über die Errichtung eines Zentralverwaltungsrates
verständigt hatten. Diesem Gremium sollte die vorläufige Verwaltung der
im Krieg eroberten nicht-preußischen Gebiete — wobei man vor allem an
das schwankende Sachsen dachte — übertragen werden. 87 Gleichzeitig
verabredete man, sich in einem Aufruf an alle deutschen Fürsten zu wenden.
Kutusow verkündete diese „Proklamation von Kaiisch", deren Endfassung
aus der Feder Hardenbergs stammte und in der die Verbündeten folgende
Kriegsziele formulierten, am 25. März: Wiederherstellung der Freiheit und
Unabhängigkeit der Fürsten und der Völker Deutschlands „aus dem urei-
gensten Geiste des deutschen Volkes" heraus, Auflösung des Rheinbundes,
Wiederherstellung der Unabhängigkeit aller europäischen Staaten, aber
Erhalt Frankreichs als Großmacht in seinen „rechtmäßigen" Grenzen. Die
deutschen Fürsten wurden zum Anschluß aufgerufen, anderenfalls mit dem
Verlust ihrer Throne bedroht. 88
93 Gneisenau an Hardenberg, 22. und 23. V. (a. a. O., S. 228 f.). Ähnliche Einschät-
zungen des Oberkommandos zitiert auch J . G. DROYSEN, Das Leben des Feld-
marschalls Grafen York von Wartenburg... ( 2 1 8 5 1 - 1 8 5 2 ) [107], Bd. 2, S. 62, 64,
67 f.
94 York an Knesebeck, 4. VI. ( a . a . O., S. 9 4 - 9 6 ) .
60 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
ein entscheidender Sieg war nicht errungen; die Disziplin lockerte sich;
Nachschub und Krankenversorgung waren verbesserungsbedürftig. Es hatte
sich gezeigt, daß die russisch-preußische Koalition nicht in einem militäri-
schen Spaziergang zu bezwingen war. Eine Art Patt-Situation hatte sich
ergeben, in der alle Beteiligten eine Ruhepause für ihre Truppen zu gewinnen
suchten, um gleichzeitig verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, die
verfahrene Situation auf diplomatischem Wege einer Lösung näherzubrin-
gen. Napoleon hoffte dabei nicht nur auf das Zerbrechen der russisch-
preußischen Allianz; er glaubte auch, das zwar neutrale, aber zu den
Verbündeten tendierende Österreich doch noch auf seine Seite ziehen zu
können. So erklärten sich schließlich die Kriegsparteien bereit, eine erneute
Vermittlung Österreichs, das seit März 1813 eine Politik der „bewaffneten
Mediation" trieb, anzunehmen: Der in Pläswitz bei Striegau beschlossene
Waffenstillstand sollte am 4. Juni beginnen und am 20. Juli zum 27. Juli
kündbar sein.
Zur Enttäuschung der preußischen Staatsführung war das Echo auf die
Proklamation von Kaiisch überaus dürftig gewesen. Der vorsichtige Sach-
senkönig Friedrich August I. lehnte sich zunächst an Österreich an (Kon-
vention vom 20. April), kehrte aber nach Großgörschen ins Lager Napoleons
zurück. Die Rheinbundfürsten stellten ihrem Protektor weiterhin die gefor-
derten Truppenkontingente zur Verfügung. Nur der Herzog von Mecklen-
burg hatte sich dem russisch-preußischen Bündnis angeschlossen. Verhei-
ßungsvoller sah es am europäischen Horizont aus: Der 1810 zum Kron-
prinzen von Schweden gewählte ehemalige Marschall Napoleons Bernadotte
hatte im Frühjahr 1812 eine außenpolitische Neuorientierung eingeleitet
und sich mit Rußland (30. August) und England (3. März 1813) verbündet.
Der schwedischen Kriegserklärung an Frankreich (23. März) folgte schließ-
lich auch das Bündnis mit Preußen (22. April 1813), dem ein Expeditions-
korps von 30.000 Mann zugesagt wurde. Weil sich aber die Ratifizierung
verzögerte, blieb Bernadotte zunächst mit 23.000 Mann in Schwedisch-
Vorpommern stehen, um klare Zusagen über die von ihm erstrebte Kriegs-
beute — Norwegen — zu erzwingen. 95 Als sich nur Rußland und England
Mitte Mai dazu bereitfanden und Dänemark auf diese Weise in die Arme
Napoleons trieben, begnügte sich Bernadotte mit einem halbherzig geführten
96 Vgl. Fritz von JAGWITZ, Geschichte des Lützowschen Freikorps. Nach archiva-
lischen Quellen bearbeitet, Berlin 1892; Adolf BRECHER, Napoleon I. und der
Überfall des Lützowschen Freikorps bei Kitzen am 17. Juni 1813. Ein Beitrag
zur Geschichte der Befreiungskriege, Berlin 1897; Albert PFISTER, Der Untergang
d e r L ü t z o w e r bei K i t z e n , in: D R e v , 2 1 . J g . ( 1 8 9 6 ) , B d . 3 , S . 1 5 9 - 1 7 6 , 343-360;
Karl KOBERSTEIN, „Lützows wilde verwegene Jagd", in: Prjbb, Bd. 51 (1883),
S. 4 1 7 - 4 3 7 .
97 Abdruck: G.F. de MARTENS, Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 1, S. 571 —
573, 568 — 571. Der Geheimartikel zum englisch-preußischen Vertrag a . a . O . ,
Bd. 7, Göttingen 1818, S. 267.
98 Brief Metternichs vom 8. VI. 1813, mitgeteilt von Karl OBERMANN, Diplomatie
und Außenpolitik im Jahre 1813, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle
Metternichs. Zu den diplomatischen Gesprächen zwischen Rußland, Preußen
und Österreich gegen Ende des Jahres 1812, in: Das Jahr 1813... (1963) [s.o.
Anm. 68], S. 131 - 1 6 0 , hier S. 147.
62 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
immer wieder gebaut hatte, sechs Wochen lang nicht betreten wollte, sah
dieser keinen Grund mehr für eine neue taktische Variante: Das am
7. August übermittelte Ultimatum ging erheblich über die vier Punkte von
Reichenbach hinaus, verlangte faktisch die Auflösung des Rheinbundes und
sprach von Souveränitäts- und Besitzstandsgarantien der kleinen und großen
Mächte nach einem künftigen Friedensschluß. Man erwarte „ein Ja oder
ein Nein im Laufe des 10." (August), anderenfalls erfolge umgehend die
österreichische Kriegserklärung. 103
Anders als die früheren Verhandlungsangebote war dieses Ultimatum,
das eine ganze Reihe von höchst interpretationsfähigen Formulierungen
enthielt, für Napoleon unannehmbar. Als seine Gegenvorschläge am
11. August eintrafen, war die Kriegserklärung dem französischen Gesandten
— eine Stunde nach Mitternacht — bereits übergeben worden.
In sicherer Erwartung der französischen Ablehnung stellten die Verbün-
deten unter Hinzuziehung des schwedischen Kronprinzen bereits im Juli
1813 konkrete militärische Überlegungen an, die zu dem „Kriegsplan von
Trachenberg" (12. Juli 1813) führten. 104 Mit einigen Modifikationen, die
Radetzky, der Generalstabschef des Fürsten Schwarzenberg, vorschlug, bil-
dete dieser Plan die Grundlage für den Mitte August beginnenden Herbst-
feldzug.
Die Haupt- oder Südarmee unter Schwarzenberg (255.000 Mann) schob
sich von Böhmen aus nach Sachsen vor, die Schlesische Armee (Blücher,
105.000 Mann) operierte gegen die weit vorgeschobene und zahlenmäßig
überlegene Boberarmee, während die Nordarmee (Bernadotte, 125.000
Mann) Berlin decken und zur Elbe vorrücken sollte. Die drei Armeekorps
umgaben die zwischen Oder und Elbe stehenden Truppen Napoleons
(389.000 Mann) in einem großen Halbkreis. Jede Armee sollte sich nur
dann einer Schlacht stellen, wenn gesichert sei, daß sie von den beiden
anderen unterstützt werden könne. Strategisches Ziel war die Zusammen-
führung der drei Armeen und die Herbeiführung einer Entscheidungs-
schlacht. Die Absicht Napoleons, dem durch vernichtende Einzelsiege ent-
gegenzuwirken, scheiterte binnen weniger Tage in drei für beide Seiten
verlustreichen Schlachten: Die Nordarmee behauptete sich gegen die Ber-
linarmee (Oudinot, 70.000 Mann) bei Großbeeren (23. August), die Haupt-
armee konnte die bei Dresden erlittene empfindliche Schlappe (26./27.
August) durch den Sieg bei Kulm und Nollendorf (30. August), der dem
preußischen Korps des Generals Kleist zu danken war, wettmachen, und
die Schlesische Armee brachte den Franzosen an der Katzbach eine schwere
Niederlage bei (26. August), machte 18.000 Gefangene und erbeutete über
100 Geschütze. Ein zweiter Stoß der Berlinarmee, die jetzt unter dem
Kommando des Marschalls Ney stand, auf die preußische Hauptstadt,
endete bei Dennewitz (6. September): Sie wurde völlig zerschlagen, verlor
22.000 Mann und 53 Geschütze.
103 W. ONCKEN, Das Zeitalter der Revolution... (1884/86) [19], Bd. 2, S. 673.
104 H. ULMANN, Geschichte der Befreiungskriege... (1914/15) [s.o. Anm. 69], Bd. 1,
S. 4 3 5 f.
64 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
105 Abdruck: G.F. de MARTENS, Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 1, S. 5 9 6 -
607 (9. IX.) und S. 6 0 7 - 6 0 9 (3. X.).
III. Preußen und das napoleonische System 65
106
Der Vertrag von Ried und die Frankfurter Akzessionsverträge a . a . O . , S. 610 —
614 und 643 - 650 und Bd. 4, S. 96 - 1 1 0 .
107
P. Graf von KIELMANNSEGG, Stein und die Zentralverwaltung... (1964) [s.o.
Anm. 87], S. 28.
66 § 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
Im Laufe des Jahres 1814 wurden auf dem linken Rheinufer drei weitere
Generalgouvernements errichtet:
Auch Gneisenau und Blücher, die für eine sofortige Weiterführung des
Krieges auf französischem Boden plädierten und die Schlesische Armee
schon am 15. November über den Rhein führen wollten, mußten erfahren,
daß im Hauptquartier der Verbündeten zu Frankfurt statt dessen die Kriegs-
zieldebatten in eine neue heiße Phase führten. Was sich längst angedeutet
hatte, trat immer offener zutage: Der Schwung des nationalen Befreiungs-
kampfes wurde gebremst und überlagert durch eine dynastisch orientierte
Interessenpolitik und ein restauratives Gleichgewichtsstreben, das ein relativ
starkes Frankreich als Gegengewicht zu dem aufstrebenden Rußland und
dem restituierten Preußen erhalten wollte. Auch Friedrich Wilhelm fragte,
„was uns dann die am andern Rheinufer angingen? Wir würden doch wohl
nicht die lächerliche Idee haben wollen, nach Paris zu gehen?", registrierte
Gneisenau, und: „In Frankfurt ist das Intrigenwesen in vollem Gange. Da
wimmelt es von Diplomatikern und geschäftigen Müßiggängern, die hör-
68 S 1 Die Überwindung der Staatskrise ( 1 8 0 7 - 1 8 1 5 )
111 Gneisenau an Clausewitz, 16. XI. 1813; ders. an Dörnberg, 4. XII. 1813, in: G. H.
PERTZ, D a s Leben des Feldmarschalls... ( 1 8 7 9 - 1 8 8 0 ) [118], Bd. 3, S. 558 und
567.
112 J. TULARD, N a p o l e o n . . . (1978) [s.o. Anm. 102], S. 4 6 4 f .
III. Preußen und das napoleonische System 69
113 A . a . O . , S. 469.
114 Abdruck: G.F. de MARTENS (Hg.), Nouveau Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 1,
S. 6 8 3 - 6 8 8 .
70 § 1 Die Überwindung der Staatskrise (1807-1815)
115 J.G. DROYSEN, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg...
( 2 1 8 5 1 - 1 8 5 2 ) [ 1 0 7 ] , B d . 2 , S. 3 8 5 .
116 J . TULARD, N a p o l e o n . . . ( 1 9 7 8 ) [ s . o . A n m . 1 0 2 ] , S. 4 8 6 .
117 Abdruck der „Vier-Mächte-Konvention": G. F. de MARTENS (Hg.), Nouveau
Recueil... [s.o. Anm. 6], Bd. 2, Göttingen 1818, S. 112.
III. Preußen und das napoleonische System 71
führte zur völligen Auflösung der Armee. Napoleon wurde von den Pariser
Behörden erneut zur Abdankung gezwungen (22. Juni). Einen Tag später
erreichten die preußischen Truppen Paris, das von der provisorischen Re-
gierung für die Verteidigung vorbereitet worden war, und schlossen die
Stadt ein. Angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses von 75.000:161.000
Mann kapitulierte die Regierung am 3. Juli; die preußischen Truppen
rückten am 7. Juli in die französische Hauptstadt ein, Wellington und
Ludwig XVIII. folgten am Tage danach. Nun, da der Krieg zu Ende war,
galt es, den Frieden zu organisieren.
Der Gedanke, daß eine Neuordnung Europas ohne Teilnahme des als
Großmacht bestätigten Frankreich fragwürdig bleiben müsse, setzte sich
gegen manche Widerstände allmählich durch. Dementsprechend forderte
Artikel 32 des Friedensvertrages alle am Krieg beteiligten europäischen
Mächte auf, binnen zwei Monaten Bevollmächtigte nach Wien zu entsenden,
„um auf einem allgemeinen Kongreß die Verfügungen zu treffen, welche
die Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages ergänzen sollen", wobei
sich freilich die Siegermächte für die Regelung der territorialen Fragen und
für das Gesamtproblem der Wiederherstellung des europäischen Gleichge-
wichts den maßgebenden Einfluß vorbehielten („...sur les bases, arrêtées
par les puissances alliées entre elles..."). Um späteren Widersprüchen Frank-
reichs vorzubeugen, nahmen die Verbündeten einige „Grundlagen" der
Friedensregelung als geheime Separatartikel bereits in das Pariser Friedens-
dokument auf. Dazu gehörte die Bestimmung, daß das linke Rheinufer —
aber ohne Elsaß und Lothringen - als Entschädigung für Holland, Preußen
und andere deutsche Staaten vorgesehen sei und daß die deutschen Terri-
torien insgesamt unabhängig und durch ein föderatives Band vereinigt sein
sollten („indépendants et unis par un lien fédératif", Artikel 6).
Spätestens seit dem Vertrag von Kaiisch wußte die preußische Regierung,
daß sie große Teile der bei der Demontage Polens erworbenen Gebiete
abschreiben konnte. So konzentrierte sie ihre Bemühungen um Entschädi-
gung und Kriegsbeute auf das gut bevölkerte und gewerbereiche Königreich
Sachsen, das unter der geschickten und straffen Administration, die der
russische Gouverneur Repnin in Namen der Steinschen Zentralverwaltung
ausübte, die Kriegsfolgen rasch überwand, während Friedrich August in
Preußen interniert blieb. Metternich hatte den Plänen einer Gesamtannexion
Sachsens ursprünglich, zuletzt nochmals am 22. Oktober 1814, zugestimmt,
obwohl er den großpolnischen Plänen des Zaren wegen der polnischen
Untertanen des Habsburgerreiches mißtrauisch gegenüberstand. 7 Als sich
aber Friedrich Wilhelm seiner antirussischen Eindämmungsdiplomatie nicht
anzuschließen geneigt zeigte, bereitete Metternich einen gründlichen poli-
tischen Kurswechsel vor: An die Stelle der bisherigen österreichisch-preu-
ßischen Verbindung setzte er (1) ein enges Zusammengehen mit Frankreich,
um dessen politische Aufwertung sich Talleyrand unablässig und erfolgreich
bemühte, (2) das Ziel der möglichst weitgehenden Erhaltung Sachsens und
(3) Widerstand gegen die strafferen Bundespläne Preußens in Deutschland.
Als der österreichische Politiker in seiner Note vom 10. Dezember nur noch
einen kleinen Teil des Königreichs Sachsen als Diskussionsbasis anbot, war
Hardenberg „auf der ganzen Linie von Metternich überlistet und geschla-
gen" (Griewank), da auch England auf seine Linie eingeschwenkt war. Die
sich abzeichnende neue Mächtekonstellation des Kongresses bekam schär-
fere Konturen, als aus der russisch-preußischen Ecke leichtes Säbelrasseln
hörbar wurde und Österreich, England und Frankreich daraufhin ein de-
fensives Militärbündnis schlossen (3. Januar 1815). Diese Koalition war es
auch, die — aus durchaus unterschiedlichen Motiven — die territoriale
8 Vgl. dazu Gotthold RHODE, Polen und die polnische Frage von den Teilungen
bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Walter Bußmann (Hg.), Europa
von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des
19. Jahrhunderts ( = HbeG, Bd. 5), Stuttgart 1981, S. 6 7 7 - 7 4 5 , hier S. 6 9 5
und 7 1 5 f.
9 Uber die zahlreichen Territorialveränderungen informiert mit genauen Quellen-
angaben E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1,
S. 571 f. und 576 - 582. Vgl. auch Friedrich Wilhelm von ROHRSCHEIDT, Preußens
Staatsverträge, Berlin 1852, S. 25 — 27.
10 Alle Angaben zur Flächengröße (in stark gerundeten Zahlen) nach Afrtur] Frhr.
von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im preussischen Staate
während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874 ( = PrStat, H . 48a),
Berlin 1879, S. 1 - 6 . Etwas abweichende Zahlen enthält die von Hans-Joachim
SCHOEPS, Preußen. Geschichte eines Staates, Berlin 6 1 9 6 7 , S. 3 9 4 - 399, mitgeteilte
Ubersicht, die — leicht gekürzt — übernommen wurde aus: Meyers Großes
Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 16,
L e i p z i g - W i e n 6 1909, nach S. 316.
II. Der Wiener Kongreß 77
ßen die nördlichen Gebiete mit den Städten Torgau, Wittenberg, Merseburg,
Weißenfels und Naumburg, aber ohne das begehrte Leipzig, sowie zahlreiche
Splittergebiete zwischen Magdeburg, Harz und Thüringer Wald, alles in
allem 20.842 Quadratkilometer mit 855.000 Einwohnern.
Neben seinen alten linksrheinischen Besitzungen Kleve, Geldern und
Moers erhielt Preußen die Rheinlande bis zur Flußlinie Nahe — G l a n -
Saar — Mosel — Sauer. Einen weiteren territorialen Gewinn konnte Preußen
im Zweiten Pariser Frieden verbuchen: Frankreich mußte die vom Sonnen-
könig gegründete Festung Saarlouis und die vier Saarkantone (Saarbrücken,
Saarlouis, St. Johann, Rehlingen) abtreten. Von dem nördlich davon gele-
genen Gebiet, das seit Juni 1814 einer österreichisch-bayerischen Admini-
strations-Kommission unterstand, ging der westliche Teil 1815/16 ebenfalls
an Preußen. 11 Insgesamt umfaßten diese territorialen Gewinne 20.403 Qua-
dratkilometer.
Demgegenüber fielen die sonstigen Erwerbungen deutlich ab. Wichtig
war, daß Schwedisch-Vorpommern mit Rügen durch einen Ringtausch über
Dänemark an Preußen gelangte, das dafür das von Hannover erhaltene
Lauenburg abgab, und daß der rechtsrheinisch-westfälische Landkomplex
durch viele kleinere Gebiete arrondiert und vergrößert werden konnte.
Andererseits verlor Preußen endgültig Ansbach und Bayreuth (an Bayern)
sowie Ostfriesland, Hildesheim, Goslar und Lingen (an Hannover). Im
ganzen blieb das preußische Territorium nach 1815 deutlich hinter dem
Vorkriegsstand zurück.
Bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes vergrößerte sich die preu-
ßische Monarchie nur noch um das Fürstentum Lichtenberg (1834 von
Sachsen-Coburg-Gotha gekauft), um die Fürstentümer Hohenzollern-Sig-
maringen und Hohenzollern-Hechingen (1850 „durch einen Akt antizipierter
Erbfolge" im Rahmen eines Staatsvertrages) 12 und um zwei Gebietssplitter
in Norddeutschland (1850/51 Lippstadt, 13 1853 Jadebusen). Aufgegeben
wurde 1857 das Fürstentum Neuenburg/Neuchätel.
Die folgende Übersicht zeigt die territoriale Entwicklung der preußischen
Monarchie seit dem Regierungsantritt Friedrichs II. 1 4 Dabei war Friedrich
Wilhelm III. „der erste der hohenzollernschen Könige, der sein Landge-
biet kleiner hinterließ als er es von den Vorfahren übernommen hatte"
(Treitschke) (siehe Tabelle 4 auf S. 78).
Mit den Gebietszuweisungen von 1815 erfuhr das preußische Staatsgebiet
eine deutliche Westverschiebung. Metternich hatte nicht nur die drohende
TABELLE 4
Territoriale Entwicklung der preußischen Monarchie (1740-1861)
Quelle: A[rtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im
preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, S. 1 - 6 .
Die zweieinhalb Jahrzehnte, in denen Preußen nach dem Ende der Frei-
heitskriege noch von dem gutwilligen, aber konservativen und im Grunde
unpolitischen König Friedrich Wilhelm III. regiert wurde, entziehen sich,
betrachtet man den Gesamtstrom des historischen Geschehens, jeder gene-
ralisierenden Etikettierung. Auf die Turbulenzen der napoleonischen Epoche
folgte eine Zeit der Erholung und des Neubeginns, die — was viel zu selten
betont wird — von großen äußeren Erschütterungen verschont blieb; Preu-
ßen stand am Anfang einer langen Friedensperiode. Nach einem Jahrzehnt
des nahezu ununterbrochenen Ausnahmezustandes kam die Normalität
wieder zu ihrem Recht. Gemäß der in Preußen allemal gültigen Formel
„Regieren heißt Verwalten" begann damit eine neue Blütezeit der Bürokra-
tie. Eine administrative Führungsschicht, die sich in hohem Maße aus
bürgerlichen Kreisen rekrutierte, formte und strukturierte das neue Preußen.
Sie paßte den Staat seinem noch ungewohnten neuen Gehäuse an, das ihm
der Wiener Kongreß gegeben hatte, und leitete, förderte, kontrollierte und
überwachte die Untertanen. N u r eine Grenze hatte der bürokratische Ab-
solutismus zu respektieren: Der König blieb immer der König. Bei ihm lag
die letzte Entscheidung. Mit seinen Kabinettsordern wahrte er den monar-
chischen Charakter Preußens. Er war, wie Hegel es einmal ausdrückte, „die
Spitze und der Anfang des Ganzen", 1 er bestimmte die Richtlinien der
Politik.
1
Zit. in der glänzenden Überblicksdarstellung von K.-G. FABER, Deutsche Ge-
schichte... (1979) [12], S. 28.
2
GS 1815, S. 85. Eine Ausführungsinstruktion vom 3. VII. 1815.
3
Neues Material zur Institution der Oberpräsidenten bringt Rüdiger SCHÜTZ,
Preußen und die Rheinlande. Studien zur preußischen Integrationspolitik im
Vormärz, Wiesbaden 1979, S. 2 9 - 8 3 .
4
Für die Geschichte der preußischen Verwaltung gibt es seit kurzem zwei Stan-
dardwerke: Waither HUBATSCH (Hg.), Grundriß zur deutschen Verwaltungsge-
schichte 1 8 1 5 - 1 9 4 5 . Reihe A: Preußen, 12 Bde. (in 13 Bdn.), Marburg/Lahn
I. Die administrative Neugliederung 85
ABBILDUNG 1
Regierung und Verwaltung in Preußen seit 1807/1815
TABELLE 5
Verwaltungsgliederung Preußens (Stand: 1830)
Preußen
1. Königsberg 19 1 (Königsberg)
2. Gumbinnen 16 -
3. Danzig 7 1 (Danzig)
4. Marienwerder 13
Brandenburg
5. Potsdam 13 1 (Potsdam)
6. Frankfurt 17 -
Pommern
7. Stettin 12 -
8. Köslin 9 —
9. Stralsund 4 -
Posen
10. Posen 17 -
11. Bromberg 9 -
Schlesien
12. Breslau 23 -
13. Liegnitz 18 -
14. Oppeln 16 -
Sachsen
15. Magdeburg 14 1 (Magdeburg)
16. Merseburg 15 1 (Naumburg)
17. Erfurt 9 -
Westfalen
18. Münster 11 -
19. Minden 12 -
20. Arnsberg 14 -
Rheinprovinz
21. Koblenz 12
22. Düsseldorf 13
23. Köln 10 1 (Köln)
24. Trier 11 1 (Trier)
25. Aachen 10 1 (Aachen)
kleineren Korrekturen abgesehen, für ein halbes oder auch ganzes Jahrhun-
dert Bestand hatte. 6 Das 1830, am Ende dieser Einführungsphase, erreichte
Gesamtbild der Verwaltungsgliederung zeigt Tabelle 5 auf S. 87.
Eine Sonderstellung nahm bis 1828 die Hauptstadt der preußischen Mon-
archie ein. Nachdem die Staatsregierung im Zuge ihrer Sparmaßnahmen
den Regierungsbezirk Berlin durch eine Kabinettsorder vom 21. Dezember
1821 aufgelöst hatte, wurde die Stadt unmittelbar dem Innenministerium
unterstellt, dessen höchster Repräsentant in Berlin der Polizeipräsident war.
Eine Kabinettsorder vom 2. August 1828 beendete diesen Rest einer Son-
derstellung und übertrug die Kommunalaufsicht über Berlin — genau wie
die aller anderen Städte des Regierungsbezirks — der Regierung in Potsdam.
„Bei dieser Regelung sollte es dann für die nächsten 50 Jahre verbleiben"
(Dietrich).
2 A. KRAUS, Quellen... (1980) [s. o. Anm. 1], S. 2. Die Tabellen für Preußen in den
Grenzen von 1815: S. 1 5 3 - 2 3 0 (Tab. 2 1 - 3 3 a ) .
3 Die folgenden Angaben nach Gerd HOHORST, Wirtschaftswachstum und Bevöl-
kerungsentwicklung in Preußen 1816 bis 1914. Z u r Frage demo-ökonomischer
Entwicklungszusammenhänge, New York 1977, Tab. 11, S. 131.
4 Vgl. auch Hartmut HARNISCH, Bevölkerungsgeschichtliche Probleme der Indu-
striellen Revolution in Deutschland, in: Karl Lärmer (Hg.), Studien zur Geschichte
der Produktivkräfte. Deutschland zur Zeit der Industriellen Revolution ( = F W G ,
Bd. 15), Berlin (Ost) 1979, S. 2 6 7 - 3 3 9 , hier S. 2 7 7 - 2 8 0 .
5 A. Frhr. von FIRCKS, Rückblick... (1879) [s.o. Tab. 12], Tab. 166, S. 129.
90 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
Quelle: Zusammengestellt nach A[rtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewe-
gung der Bevölkerung im preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre
1816 bis zum Jahre 1874 ( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, Tab. 81, S. 58.
TABELLE 7
Zahl der am Kindbett-Fieber gestorbenen Frauen in Preußen 1816 — 1850
Quelle: A[rtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im
preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, Tab. 160, S. 126.
Der Geburtenüberschuß, der sich aus der Differenz von Geborenen- und
Sterbeziffer errechnet, betrug im ersten Friedensjahrzehnt jeweils mehr als
13 Promille (Maximum 1821: 19,1)· In der anschließenden Phase, in der die
Werte um 10 Promille schwankten, wurden derartig hohe Überschüsse nur
1844/45 und 1850/51 noch einmal erreicht.
Da die in den Quellen überlieferten Zahlen über Aus- und Einwanderung
durchweg ungenau und lückenhaft sind und über die Binnenwanderung
zwischen den preußischen Provinzen überhaupt keine zuverlässigen Anga-
ben vorliegen, arbeitet die moderne Forschung mit „berechneten Wande-
rungsbilanzen", die lediglich die Differenz zwischen Bevölkerungszuwachs
und Geborenenüberschuß ausweisen. 7 Ein hoher positiver Saldo kann dem-
nach sehr wohl auf einen beträchtlichen Wanderungsgewinn hinweisen, er
kann aber auch — wie Peter Marschalck für die preußischen Provinzen
Preußen und Posen nachgewiesen hat 8 — ein Indikator für die Unzuverläs-
sigkeit und Lückenhaftigkeit vorangegangener Zählungen sein. Unter die-
sem Vorbehalt steht die ältere Angabe, daß zwar für die Jahre 1821 bis
1823 ein Wanderungsverlust von insgesamt 13.400 Personen errechnet wor-
den ist, Preußen aber im übrigen bis 1846 ein typisches Einwanderungsland
geblieben sei. Erst 1847 setzte eine gegenläufige und bis 1858 nicht wieder
unterbrochene Entwicklung ein: In den ersten drei Jahren soll jeweils ein
Wanderungsverlust von etwa 29.000 Personen zu verzeichnen gewesen sein. 9
Immerhin sind auch schon von 1836 bis 1843 jährlich zwischen 20.000 und
30.000 Personen aus Preußen in die USA ausgewandert; danach nahmen
die Zahlen stark zu. 1 0
Geborenenüberschuß und positive Wanderungsbilanz ergaben eine stetige
Zunahme der preußischen Gesamtbevölkerung. Nach den von Marschalck
vorgenommenen Berichtigungen betrug die Einwohnerzahl (1816 gezählt:
10.349.031) 1818 erstmals mehr als 11 Millionen. 1824 wurde die 12-, 1830
die 13-, 1837 die 14-, 1841 die 15- und 1846 die 16-Millionen-Grenze
7 A. KRAUS, Quellen... (1980) [s. o. Anm. 1], S. 4. - Ein besonderes Problem, auf
das nur hingewiesen werden kann, waren die Wanderungen der Handwerksge-
sellen; vgl. dazu Hermann-Josef RUPIEPER, Die Polizei und die Fahndungen
anläßlich der deutschen Revolution von 1848/49, in: VSWG, Bd. 64 (1977),
S. 328 - 355, hier S. 333 - 335.
8 Wolfgang KÖLLMANN, Bevölkerung und Arbeitskräftepotential in Deutschland
1 8 1 5 - 1 8 6 5 . Ein Beitrag zur Analyse der Problematik des Pauperismus [1968],
in: Ders., Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungs-
geschichte Deutschlands ( = KrStGw, Bd. 12), Göttingen 1974, S. 6 1 - 9 8 , Ani. 2:
Neuberechnung der Volkszahlen für Nordostdeutschland, bearb. von Peter Mar-
schalck, S. 9 2 - 9 8 , hier S. 92 - 95.
9 A. Frhr. von FIRCKS, Rückblick... (1879) [s.o. Tab. 12], Anlagen: Tab. 1, S. 3.
- Zur Binnenwanderung vgl. auch H. HARNISCH, Bevölkerungsgeschichtliche
Probleme... (1979) [s.o. Anm. 4], S. 322f.
10 Karl OBERMANN, Die deutsche Auswanderung nach den Vereinigten Staaten von
Amerika im 19. Jahrhundert, ihre Ursachen und Auswirkungen (1830 bis 1870),
in: JbWG, 1975/2, S. 3 3 - 5 5 , hier S. 35.
92 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
überschritten. 1850 lag die Bevölkerung bei 16,5 Millionen. Insgesamt ergibt
sich für die „Zähljahre" folgendes statistisches Bild:
TABELLE 8
Bevölkerungsentwicklung in Preußen im Zeitraum 1819 — 1852
TABELLE 9
Bevölkerungswachstwn in den preußischen Provinzen
im Zeitraum 1816 — 1855 (in Promille)
Quelle: A . ZAHN, Die Bevölkerung des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert auf
Grund der deutschen und der internationalen Bevölkerungsstatistik, in: VjhStDR,
11. Jg. (1902), H. 1, S. 1 6 1 - 2 2 6 , hier S. 163.
TABELLE 1 0
Einwohnerzahlen in den preußischen Provinzen 1816 — 1848
(in Millionen Einwohnern)
TABELLE 1 1
Preußischer Landesausbau 1802 —1861
(in Prozent der preußischen Gesamtfläche)
11 Vgl. Gunter IPSEN, Die preußische Bauernbefreiung als Landesausbau, in: ZAA,
Bd. 2 (1954), S. 2 9 - 5 3 , hier S. 36, 4 0 ff. und Ani. 1, Tab. II.
12 Karl OBERMANN, Die Arbeitermigrationen in Deutschland im Prozeß der Indu-
strialisierung und der Entstehung der Arbeiterklasse in der Zeit von der Gründung
bis zur Auflösung des Deutschen Bundes (1815 bis 1867), in: J b W G , 1972/1,
S. 1 3 5 - 1 8 1 , hier S. 1 4 4 - 1 6 3 .
13 Z u r regionalen Differenzierung von Bevölkerungswachstum und -dichte vgl.
Wilfried STRENZ, Z u m Prozeß der Bevölkerungsagglomeration unter den Bedin-
gungen der Industriellen Revolution des Kapitalismus am Beispiel der Entwick-
lung im Königreich Preußen in seiner territorialen Ausdehnung vor 1866. Eine
Materialstudie unter historisch-geographischem Aspekt, in: K. Lärmer (Hg.),
Studien zur Geschichte... (1979) [s.o. Anm. 4], S. 341 - 3 6 2 , passim.
II. Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsstruktur 95
TABELLE 1 2
Einwohnerzahlen der preußischen Großstädte 1816 — 1855
Quelle: Afrtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im
preussischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, Tab. 33, S. 24.
14 A. Frhr. von FIRCKS, Rückblick... (1879) [s.o. Tab. 12], S. 2 6 - 2 9 . Vgl. dazu
neuerdings auch Stefi JERSCH-WENZEL/Barbara JOHN (Hg.), Von Zuwanderern
zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990,
S. 2 9 2 - 3 5 7 , und Albert A. BRUER, Geschichte der Juden in Preußen ( 1 7 5 0 -
1820), Frankfurt/M./New York 1991.
96 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
III. Integrationsprobleme
15 K . OBERMANN, Die A r b e i t e r m i g r a t i o n e n . . . ( 1 9 7 2 ) [ s . o . A n m . 1 2 ] , S. 1 4 7 ; J ü r g e n
BERGMANN, Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung
( = EvHKzB, Bd. 11), Berlin 1973, Tab. 6, S. 137.
1 Vgl. M[anfred] LAUBERT, Die preußische Polenpolitik von 1772-1914
( = SchrrldOK, Bd. 1), Krakau 3 1 9 4 4 , S. 21, 2 7 ; Werner SCHUBERT, Französisches
Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zivilrecht, Gerichtsver-
fassungsrecht und Zivilprozeßrecht ( = F n P R G , Bd. 24), K ö l n - W i e n 1977,
S. 1 5 0 , Anm. 1 1 0 .
III. Integrationsprobleme 97
5 K . - G . FABER, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 2 ] , S. 1 2 5 F .
6 S. u. S 3, VIII, 4.
7 F. KEINEMANN, Das Kölner Ereignis... (1974) [177], I . T . , S. 14, Anni. 15 (Stein),
und 35 (Schurz).
8 W. SCHUBERT, Französisches Recht... [1977) [s.o. Anm. 1], S. 1 5 0 - 1 5 4 . Vgl.
Zum Rechtsproblem auch I. MIECK, Die Integration... (1990) [145a], passim.
III. Integrationsprobleme 99
Eine Kabinettsorder vom 20. November 1814 befahl die Einführung des
ALR auch für die rechtsrheinischen Neuerwerbungen Preußens sowie für
die altpreußischen Territorien links des Rheines. Dieser eindeutigen Ab-
sichtserklärung widersetzte sich der Generalgouverneur Sack, der die links-
rheinische Rechtseinheit nicht zerrissen sehen wollte. Dieses Argument
erhielt jedoch eine andere Perspektive, als in Wien am 8. Februar 1815
beschlossen wurde, die linksrheinischen Gebiete bis etwa zur Mosellinie
Preußen zuzuweisen. Jetzt konnte man im Interesse einer preußischen
Rechtseinheit daran denken, das gesamte Rheinpreußen dem Regime des
ALR zu unterwerfen. In der Tat gab es namhafte Stimmen, die energisch
für die Abschaffung des französischen Rechts plädierten, beispielsweise
Savigny, für den der napoleonische Code Civil „ein Schritt vorwärts in den
Zustand der Revolution hinein" war. 9 Dem Rheinländer Sack, der seit dem
1. Juli 1815 als Oberpräsident der gesamten Zivilverwaltung „der preußi-
schen Provinzen am Rhein" vorstand, war klar, daß eine Aufhebung des
französischen Rechts auf erheblichen Widerstand bei der Bevölkerung sto-
ßen würde. Seine Auffassung, daß man einen anderen Weg beschreiten
müsse, teilte auch Hardenberg, der, um Zeit zu gewinnen, 1816 die rhei-
nische Immédiat-Justiz-Kommission einsetzen ließ. Ihren Empfehlungen wi-
dersprach der als Berater tätige Daniels, ein rheinischer Jurist von inter-
nationalem Ansehen. Seine in einem ausführlichen Gutachten vom 14. Juli
1817 niedergelegte Argumentation überzeugte auch den Gesetzgebungsmi-
nister v. Beyme, so daß schließlich am 19. November 1818 eine Kabinetts-
order erging, die bestimmte, daß die im Rheinland bestehende Gesetzgebung
im wesentlichen fortbestehen solle, bis die seit 1817 in Aussicht genommene
„Revision der ganzen preußischen Rechts- und Gerichtsverfassung und eine
darauf zu gründende allgemein gültige Gesetzgebung vollendet sein wird". 1 0
Damit verzichtete die Regierung auf eine auch nur teilweise Einführung
des ALR in den Rheinprovinzen - ohne freilich zu ahnen, daß der Code
Civil als letztes der fünf großen französischen Gesetzbücher erst zum
1. Januar 1900 durch das Bürgerliche Gesetzbuch abgelöst werden würde.
Was das französische Recht für die Rheinländer so attraktiv machte,
waren nicht diese oder jene Einzelbestimmungen, sondern die Grundsätze,
auf denen es beruhte. Sie gingen auf einige Fundamentalsätze des franzö-
sischen Rechts- und Verfassungssystems zurück. Worum es dabei konkret
ging, haben die Stadträte von Trier und Köln 1817 katalogartig zusammen-
gefaßt: „Freiheit in Ausübung des Handels und der Gewerbe, Entfernung
des Feudalsystems, gleiche Verteilung der Staats- und öffentlichen Lasten,
Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und dem Richter, Trennung
9 Hermann CONRAD, Preußen und das französische Recht in den Rheinlanden, in:
Adolf Klein/Josef Wolffram (Hg.), Recht und Rechtspflege in den Rheinlanden.
Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Oberlandesgerichts Köln, Köln 1969,
S. 78 —112, hier S. 79. Allgemein: Werner SCHUBERT, Savigny und die rheinisch-
französische Gerichtsverfassung, in: Z R G GA, Bd. 95 (1978), S. 1 5 8 - 1 6 9 .
10 W. SCHUBERT, Französisches Recht... (1977) [s.o. Anm. 1], S. 1 5 6 - 1 6 7 ;
H. CONRAD, Preußen und das französische Recht... (1969) [s. o. Anm. 9], S. 87f.
100 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
15 A.a.O., S. 341. Vgl. auch Heinz REIF, Westfälischer Adel 1770-1816. Vom
Herrschaftsstand zur regionalen Elite ( = KrStGw, Bd. 35), Göttingen 1979,
S. 202 - 206. Vgl. zur Gesamtproblematik Alfred Hartlieb von WALLTHOR, Die
Eingliederung Westfalens in den preußischen Staat, in: P. BAUMGART, Expansion...
( 1 9 8 4 ) [ 3 0 a ] , S. 2 2 7 - 2 5 4 ; Karl T E P P E / M i c h a e l EPKENHANS ( H g . ) , W e s t f a l e n u n d
Preußen. Integration und Regionalismus, Paderborn 1991.
16 F. KEINEMANN, D a s K ö l n e r E r e i g n i s . . . ( 1 9 7 4 ) [ 1 7 7 ] , T . 1, S. 1 4 , A n m . 1 5 .
17 Lech TRZECIAKOWSKI, Preußische Polenpolitik im Zeitalter der Aufstände (1830 -
1864), in: Klaus Zernack (Hg.), Polen und die polnische Frage in der Geschichte
der Hohenzollernmonarchie 1701 - 1 8 7 1 . Referate einer deutsch-polnischen
Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee
( = EvHKzB, Bd. 33), Berlin 1982, S. 9 6 - 1 1 0 , hier S. 99.
102 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
TABELLE 13
Konfessionszugehörigkeit im Großherzogtum Posen 1815/16 — 1855
Während der „stillen Jahre der Versöhnungsära 1815 bis 1 8 3 0 " 1 9 bemühte
sich die preußische Verwaltung, die teilweise etwas unbedachten Formulie-
rungen des königlichen „Zurufs" vom 15. Mai 1815 so gut es ging auszu-
füllen. Demonstrativen Charakter hatte die Ernennung eines im Lande
ansässigen Katholiken, Josef v. Zerboni di Sposetti, zum Oberpräsidenten
(bis 1824; ihm folgte v. Baumann, „ein geistloser Bürokrat von reinstem
Wasser", der 1830 starb) sowie die ganz und gar singuläre Ernennung eines
„Statthalters", des Fürsten Anton Radziwill, der als Pole - mit dem
vierfachen Gehalt eines Oberpräsidenten! — und Mitglied der königlichen
Familie für eine Vermittlerrolle prädestiniert schien. Dem wohlwollenden
und kunstsinnigen Magnaten fehlte aber jedes politische und geschäftliche
Format; er wurde „eine Puppe seiner Unterorgane" und „blieb Statist ohne
fruchtbare Wirksamkeit" (Laubert).
Entsprechend der im „Zuruf" enthaltenen Verheißungen galt das Polni-
sche neben dem Deutschen als Amtssprache, standen den (adligen) Polen
auch die Landratsämter offen. So waren beispielsweise im Regierungsbezirk
Posen von 17 Landratsstellen 12 von Polen besetzt, in Bromberg acht von
18 Gute Übersicht: Gotthold RHODE, Polen und die polnische Frage bis zur Grün-
dung des Deutschen Reiches, in: Walter Bußmann (Hg.), Europa von der Fran-
zösischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhun-
derts ( = HbeG, Bd. 5), Stuttgart 1981, S. 677 - 745, hier S. 695 f. und 7 1 5 - 7 1 7 .
19 So lautet das entsprechende Kapitel bei M. LAUBERT, Die preußische Polenpoli-
tik... (31944) [s.o. Anm. 1], S. 4 6 - 6 6 . Die folgenden Zitate: S. 49 und 51 f.
III. Integrationsprobleme 103
20 A. a. O., S. 4 9 und 58 f.
21 A. a. O., S. 56.
22 Vgl. G. RHODE, Polen und die polnische Frage... (1981) [s. o. Anm. 18], S. 7 1 7 f . ;
M . LAUBERT, Die preußische Polenpolitik... ( 3 1944) [s.o. Anm. 1], S. 6 6 - 8 2 ;
Martin BROSZAT, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik [1963], Frankfurt/M.
2 1978, S. 101 f. S. auch u. § 3, VII, 2, S. 161 f.
23 S. u. § 3, Vili, 4, S. 178.
104 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
24 S.o. S. 3 3 .
25 Vgl. Martin WEHRMANN, Geschichte von Pommern, Bd. 2 ( = AStG, Abt. 3,
Bd. 5), Gotha 2 1921, S. 274.
26 Vgl. dazu K. GRIEWANK, Der Wiener Kongreß... ( 2 1954) [123], S. 260f.
27 M . WEHRMANN, G e s c h i c h t e v o n P o m m e r n . . . ( 1 9 2 1 ) [ s . o . A n m . 2 5 ] , S. 2 8 4 .
28 Detaillierte Informationen: B. SCHULZE, Die Reform der Verwaltungsbezirke...
(1931) [84], S. 95 - 97. Vgl. auch Tab. 5, S. 87.
III. Integrationsprobleme 105
unbekannt war. 2 9 Der seit Juni 1816 amtierende Oberpräsident Sack, der
sich bereits im Rheinland für eine behutsame Integrationspolitik eingesetzt
hatte, 3 0 stellte sich hinter die städtischen Forderungen. Tatsächlich gelang
es ihm, die Regierung zum stillschweigenden Verzicht auf ihre Pläne zu
bewegen. 31 Auch die spätere Absicht, die Städteordnung von 1831 (oder
wahlweise die von 1808) einzuführen, ließ sich nicht realisieren. Die alten
Stadtverfassungen blieben im wesentlichen erhalten. 32
Im agrarischen Bereich Neupommerns, das Schweden jahrzehntelang als
Kornkammer gedient hatte, vollzogen sich wirtschaftliche und soziale Um-
strukturierungen, die teilweise noch aus schwedischen Reformgesetzen re-
sultierten, aber ähnlich wie in den preußischen Kernprovinzen zum Aus-
verkauf oder zur Parzellierung von Bauernstellen führten. Abgeschafft blie-
ben aber die Leibeigenschaft und die Patrimonialgerichte. Ernst Moritz
Arndt, der 1806 und 1810 bis 1812 Professor in Greifswald war, hat diesem
landwirtschaftlichen Strukturwandel eine eigene Untersuchung gewidmet. 33
Durch eine Kabinettsorder vom 19. November 1821 wurde das preußische
Zoll- und Steuersystem in Neupommern eingeführt, doch galten für einige
Artikel, die man aus Schweden zu beziehen gewöhnt war, Sondertarife. 34
Eine neue Rechtsordnung gab es dagegen nicht, denn der zum 1. Januar
1828 vorgesehenen Einführung des ALR widersetzten sich die neupommer-
schen Landtage 35 mit vollem Erfolg: Sie erreichten die Beibehaltung des
Gemeinen Rechts und der eigenen Gerichtsbarkeit. Um die Rechtsprechung
auf eine festere Basis zu stellen, wurden wenigstens die Provinzialrechte
Neupommerns und Rügens 1837 aufgezeichnet. 36 Auch in anderen Bereichen
7 Monographische Arbeiten gibt es bisher nur für Berlin (P. CLAUSWITZ, Die
Städteordnung von 1 8 0 8 . . . (1908) [79], für die Provinzen Pommern (Oskar
EGGERT, Die Einführung der preußischen Städteordnung in Pommern, Hamburg
1954) und Schlesien (Johannes ZIEKURSCH, Das Ergebnis der friderizianischen
Städteverwaltung und der Städteordnung Steins. Am Beispiel der schlesischen
Städte dargestellt, Jena 1908) sowie für einige Städte wie Braunsberg (Adolf
POSCHMANN, Die Einführung der Steinschen Städteordnung in Braunsberg 1809 —
1817, in: Z G A E , Bd. 26 [1938], S. 1 - 7 1 ) , Breslau (Heinrich WENDT, Die Steinsche
Städteordnung in Breslau. Denkschrift der Stadt Breslau zur Jahrhundertfeier der
Selbstverwaltung [ = MSaSbB, H. 9 / 1 0 ] , Breslau 1909), Danzig (Erich HOFFMANN,
Danzig und die Städteordnung des Freiherrn vom Stein [ = KHF, Bd. 6], Leipzig
1934) und Königsberg (Gertrud NICOLAUS, Die Einführung der Städteordnung
vom 19. November 1808 in Königsberg i. Pr., (Phil. Diss. Königsberg 1931),
Minden i. Westf. 1931. Für Berlin vgl. demnächst die Untersuchung von Manfred
A. PAHLMANN, Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung unter der
Steinschen Städteordnung ( 1 8 0 8 - 1 8 5 0 ) , Phil. Diss. FU Berlin 1992, die auf neu
aufgefundenen, von Clauswitz nicht benutzten Archivalien basiert.
110 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
8 Zur Verfassungsproblematik in den Jahren 1815 bis 1821 vgl. neuerdings die
grundlegende Untersuchung von H. OBENAUS, Anfänge des Parlamentarismus...
( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 5 5 - 1 4 9 , d e r e i n i g e n S c h l u ß f o l g e r u n g e n v o n H u b e r ( E . R . H U B E R ,
Deutsche Verfassungsgeschichte... [1957/60] [49], Bd. 1, S. 137, Anm. 5) und
Koselleck (R. KOSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution... [ 2 1975]
[35], S. 149) überzeugend widerspricht. Zur „außenpolitischen Ebene" der Har-
denbergschen Verfassungspolitik vgl. H. OBENAUS, a. a. O., S. 137 f.
IV. Verwaltung und Verfassung 111
tation, 1. August 1819). 9 Damit Schloß sich Preußen der Auffassung Met-
ternichs an, daß der Artikel 13 der Bundesakte als Repräsentationsorgane
nur Stände, aber keine Volksvertreter in Aussicht stellte. Folgerichtig ver-
warf die Wiener Schlußakte entsprechend dem monarchischen Prinzip jede
Teilung der Gewalten: die gesamte Staatsgewalt müsse im Staatsoberhaupt
vereinigt bleiben, weshalb der Monarch nur bei der Ausübung bestimmter
Rechte an die (beratende) „Mitwirkung" von Ständen gebunden sein könne
(Artikel 57).
Ein besonderes Dilemma der Verfassungspolitik Hardenbergs lag in ihrer
Doppelbödigkeit: Während der Staatskanzler gegenüber Metternich, zuletzt
noch bei seinem Troppauer Verfassungsplan vom Oktober 1820, eine durch-
aus restriktive Haltung einnahm und österreichisch-preußische Gemeinsam-
keit demonstrierte, verfolgte er in Wirklichkeit eine ganz andere, sehr viel
liberalere Verfassungspolitik. Dieser politische Balanceakt konnte nur gelin-
gen, solange die Autorität des Staatskanzlers unangefochten war und er das
volle Vertrauen seines Königs besaß.
Im Laufe des Jahres 1819 kam es jedoch zu einer schweren innenpoliti-
schen Krise, die sich mittelbar auf die Verfassungsdebatte auswirkte. 10
Wilhelm von Humboldt, der 1819 zum Minister für Ständische Angelegen-
heiten ernannt worden war und massiv, aber erfolglos gegen die übermäch-
tige Position des Staatskanzlers intrigiert hatte, wurde wegen seiner Kritik
an der Übernahme der Karlsbader Beschlüsse für Preußen entlassen; gleich-
zeitig verlor der Großkanzler Beyme (Teilbereiche der Justiz) sein Amt;
ebenfalls erbaten Kriegsminister Boyen sowie Generalstabschef v. Grolman
ihren Abschied, veranlaßt durch „die jetzt eingetretenen Zeitumstände und
die traurigen Jahre, die ich seit 1815 erlebt" (Grolman). Nach außen wirkte
diese Ministerkrise wie ein Zeichen des Sieges der Reaktion über die
fortschrittlichen Kräfte der Reform. In der Tat war die Front der Konsti-
tutionsanhänger, die Hardenberg für seine Verfassungspläne gegen die wach-
sende Opposition brauchte, erheblich geschwächt worden. Es drohte seine
Isolierung. In dieser Situation, als Hardenberg das reaktionäre Wetter über
sich ergehen ließ, um auf bessere Zeiten zu warten („die freilich diesmal
nicht gekommen sind", O. Hintze), trat er in der Verfassungsfrage noch
einmal die Flucht nach vorn an: Im Staatsschuldengesetz vom 17. Januar
1820 fügte die preußische Monarchie ihren bisherigen Verfassungsverspre-
chen ein weiteres, ein letztes, hinzu, indem sie erklärte, daß neue Staats-
schulden „nur mit Zuziehung und unter Mitgarantie der künftigen reichs-
ständischen Versammlung" aufgenommen werden dürften. 11
Die verfassungsfeindlichen Kräfte formierten sich daraufhin zum Angriff.
Den besten Ansatzpunkt erblickten sie in den Entwürfen zu einer Kom-
munal- und Kreisordnung, die eine siebenköpfige Kommission unter dem
Staatssekretär und Staatsbankpräsidenten Friese von Februar bis August
15 Zu diesem ganzen Komplex kann nur nachdrücklich auf die bereits mehrfach
genannte Untersuchung von H. OBENAUS, Anfänge des Parlamentarismus...
(1984) [146] verwiesen werden.
114 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
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116 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
Durch die obligatorischen Plenardebatten und das freie Mandat der Abge-
ordneten, das durchaus ein ständeüberschreitendes Abstimmungsverhalten
zuließ, waren trotz aller politischen Beschränkungen erste Ansätze einer
parlamentarischen Praxis gegeben. Ganz auf der Linie der begrenzten und
kontrollierten Wirksamkeit der Provinzialstände lag das Verbot von Aus-
schüssen, die nach Beendigung der Session, etwa als eine Art Exekutiv-
komitee, hätten wirksam werden können. Ebenso wenig wurde von vorn-
herein das Recht auf Periodizität zugestanden.
„Die Einführung der Provinzialstände markierte nach außen das Ende
des Zeitalters der Reform in Preußen" (Obenaus). Das Bündnis zwischen
Krone und Rittergutsbesitzern, das während der Staatskrise nach 1806
vorübergehend zerbrochen war, wurde unter etwas veränderten Bedingun-
gen, da es inzwischen auch viele bürgerliche Rittergutsbesitzer gab, erneuert.
Die reformerischen Kräfte in der Ministerialinstanz verloren mit der Aus-
schaltung Hardenbergs ihren Einfluß; eine neue bürokratische Führungs-
gruppe, die eng mit König und Kronprinz zusammenarbeitete, trat an ihre
Stelle. Auf dem Weg zu ihrem politischen Ziel, der uneingeschränkten
Restauration des monarchischen Prinzips, stellten die Provinzialständege-
setze einen ersten großen Erfolg dar. Sie verbanden eine Politik der sozialen
Protektion zugunsten der Rittergutsbesitzer mit einer Politik der sozialen
Restriktion gegenüber den Städten und Landgemeinden.
Nur allmählich wurde den neuen Selbstverwaltungskörperschaften eine
koordinierte Einberufung und eine gewisse Regelmäßigkeit der Session
zugestanden:
TABELLE 1 6
Tagungsorte und -jähre der preußischen Provinziallandtage* 1824 — 1846
1824 25 26 27 28 29 30 31 32 33 3 4 35 36 37 38 39 40 41 42 43 4 4 45 46
Brandenburg (Berlin)
Pommern (Stettin)
Posen (Posen)
Preußen (Königsberg) D D D D
Rheinprovinz (Düsseldorf) k
Sachsen (Merseburg)
Schlesien (Breslau)
Westfalen (Münster)
D = Danzig
Κ = Koblenz
* Die Versammlungen dauerten meist zwei bis drei Monate.
Die letzten drei Sitzungsperioden fielen dabei bereits in eine Phase politi-
scher Gärung, in der nach der Gewährung politischer Zugeständnisse der
V. Steuern und Finanzen 117
Auf der Grundlage des Finanzedikts vom 27. Oktober 1810 wurden bis
1812 mehrere Steuern neu eingeführt: 2 (1) eine allgemeine Konsumtions-
steuer, welche die Akzise auf das platte Land ausdehnte, gleichzeitig aber
auf etwa 20 Produkte beschränkte (Fleisch, Mahlprodukte, Bier, Brannt-
wein, Schlachtvieh; Kaffee, Zucker, Gewürze, Austern und andere), (2) eine
1 Vgl. Gustav SCHMOLLER, Die Epochen der preußischen Finanzpolitik bis zur
Gründung des deutschen Reiches, in: Ders., Umrisse und Untersuchungen zur
Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen
Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898 (ND Hildesheim — New York
1974), S. 1 0 4 - 2 4 6 , hier S. 1 8 5 - 1 8 9 .
2 Darüber orientieren die Untersuchungen von Conrad BORNHAK, Die preußische
Finanzreform von 1810, in: FBPG, Bd. 3 (1890), S. 555 - 608, ferner Karl MAM-
ROTH, Geschichte der preußischen Staatsbesteuerung im 19. Jahrhundert. Mit
Rücksicht auf Volks- und Staatswirtschaft, Finanzverfassung und Finanzverwal-
tung dargestellt, T. 1: Geschichte der preußischen Staats-Besteuerung 1806—1816
[m. n. e.], Leipzig 1890, und besonders Rolf GRABOWER, Preußens Steuern vor
und nach den Befreiungskriegen, Berlin 1932 (jeweils passim).
118 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
3 Vgl. dazu die KO vom 6. IX. 1811, abgedr. von Carl [Friedrich Wilhelm]
DIETERICI, Zur Geschichte der Steuer-Reform in Preußen von 1810 bis 1820.
Archiv-Studien, Berlin 1875 (ND Glashütten/Ts. 1972), S. 3 2 - 4 6 .
4 Ernst KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen in Deutschland (1500—1870),
Wiesbaden 1974, S. 107 f., 111.
5 Takeo OHNISHI, Die preußische Steuerreform nach dem Wiener Kongreß, in:
B.Vogel (Hg.), Preußische Reformen... (1980) [67], S. 266 - 284, hier S. 268ff.
6 H. ONCKEN/F.Ε.M. SAEMISCH ( H g . ) , V o r g e s c h i c h t e u n d B e g r ü n d u n g . . . (1934)
[184], Bd. 1, S. 3 - 7 . Die einschlägigen Quellen ebd., S. 23 - 82.
V. Steuern und Finanzen 119
10 E . R . HUBER, D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . (1957/60) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 2 1 4 ,
Anm. 2.
11 Genauere Angaben bei E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974)
[s.o. Anm. 4 ] , S. 118.
12 A.a.O., S. 113.
13 Eine Bestandsaufnahme gibt C. DIETERICI, Zur Geschichte der Steuer-Reform...
( 1 8 7 5 ) [ s . o . A n m . 3 ] , S. 2 1 7 - 2 2 4 .
V. Steuern und Finanzen 121
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122 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
TABELLE 1 8
Zusammensetzung der Steuereinnahmen in Preußen in den Jahren 1816 und 1821
(in 1000 Reichstalern)
13.419 17.247
Indirekte Steuern
Verzehrungsabgaben 2.406 -
17.858 17.810
Quelle: Takeo OHNISHI, Die preußische Steuerreform nach dem Wiener Kongreß,
in: B. Vogel (Hg.), Preußische Reformen... (1980) [67], S. 2 6 6 - 2 8 4 , hier S. 281.
TABELLE 1 9
Preußische Staatseinnahmen 1821 —1850
(in Millionen Talern, in Prozent)
Domänen, Forsten 9,2 17,5 8,1 15,2 7,6 12,3 8,1 11,9
Regalien, Staatsbetriebe 5,7 10,8 7,6 14,2 9,2 14,9 8,6 12,6
Direkte Steuern 17,2 32,8 19,3 36,2 18,8 30,3 19,5 28,6
Indirekte Abgaben 18,6 35,4 17,8 33,3 22,5 36,4 25,2 37,0
(davon Zölle ρ ρ ? ? 11,0 17,8 11,8 17,3)
Sonstige Einnahmen 1,9 3,5 0,6 1,1 3,8 6,1 6,8 9,9
14 E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974) [s.o. Anm. 4], S. 103.
Danach die folgenden Angaben. Vgl. auch Ders., Von der Reform zur Restau-
ration... (1965) [82], S. 8 2 - 9 9 ; Fritz KARL, 150 Jahre Staatsschuldenverwaltung.
17.1. 1820 — 17.1. 1970. Ein Gang durch anderthalb Jahrhunderte deutscher
Finanzgeschichte, Berlin 1970, S. 15 ff.
15 Grundlegend: Leopold KRUG, Geschichte der Preussischen Staatsschulden, hrsg.
von Carl Julius Bergius ( = Leopold Krug's nachgelassene Schriften geschichtli-
chen, statistischen und volkswirtschaftlichen Inhalts, Bd. 1), Breslau 1861 (ND
Vaduz 1977), S. 4 6 - 1 0 1 . Vgl. von SCHIMMELPFENNIG, Preußens Finanzpolitik im
Lichte der Tresorscheine, in: APM, Bd. 50 (1913), S. 398 - 450, hier S. 407 ff.,
und S. SPANGENTHAL, Geschichte der Berliner Börse, Berlin 1903, S. 20 ff.
124 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
16 Nach neueren Quellenfunden sind die von E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen
Finanzen... (1974) [s.o. Anm. 4], S. 112, genannten 9 Mill. Rtlr. wohl zu korri-
gieren, vgl. Takeo OHNISHI, Die Entstehung des ersten preußischen Staatshaus-
haltsetats im Jahre 1821, in: Jürgen Schneider (Hg.), Wirtschaftskräfte und
Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz ( = BWG, Bd. 6), Stuttgart
1 9 7 8 , B d . 3 , S. 2 8 1 - 2 9 5 , hier S. 2 8 5 f.
17 Vgl. Hildegard THIERFELDER, Rother als Finanzpolitiker unter Hardenberg
1 7 7 8 - 1 8 2 2 , in: F B P G , B d . 4 6 ( 1 9 3 4 ) , S. 7 0 - 1 1 1 , hier S. 8 4 - 9 9 ; E . KLEIN, Von
der Reform zur Restauration... (1965) [82], S. 79.
18 Ders., Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974) [s.o. Anm. 4], S. 121 f.
V. Steuern und Finanzen 125
TABELLE 2 0
Preußischer Staatshaushalt 1821
Einnahmen Reinertrag
(in Talern)
" T . OHNISHI, D i e E n t s t e h u n g . . . ( 1 9 7 8 ) [ s . o . A n m . 1 6 ] , S. 2 8 4 - 2 8 9 .
126 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
TABELLE 2 0
Preußischer Staatshaushalt 1821
wurde — ein Jahr später — der durch die KO vom 7. Juni 1821 festgesetzte
Staatshaushalt für 1821 veröffentlicht! Das war - ebenso wie die öffentliche
Bekanntgabe der Staatsschulden ein Jahr zuvor - ein absolutes Novum in
der preußischen Finanzgeschichte (siehe Tabelle 20 auf S. 125 f.). Schließlich
wurden die Ausgaben des Königlichen Hofes aus dem Haushalt herausge-
nommen und auf 2,5 Millionen Reichstaler jährlich festgesetzt, die aus
bestimmten Domäneneinkünften stammten. Die Einführung dieser „Zivil-
liste", die der vollen Verfügungsgewalt des Herrschers über die gesamten
Staatsmittel ein Ende setzte, „war ein bedeutender Schritt auf dem Weg
Preußens vom absoluten zum konstitutionellen Staat". 2 0
In den Haushaltsplänen wurde der Schuldendienst mit mehr als 10
Millionen Reichstalern zwar berücksichtigt, doch war es in der Praxis so,
daß aus den laufenden Einkünften dafür nur wenig abgezweigt werden
konnte. Der bis 1833 erfolgten Schuldabtragung stand eine beträchtliche
Neuverschuldung gegenüber, so daß die Gesamtschuld 1833 noch immer
bei 216 Millionen Reichstalern lag. Günstiger war die Entwicklung in den
Jahren bis 1848, in denen eine Reduzierung der Staatsschulden auf 158,5
Millionen Reichstaler erreicht wurde. Nicht unbeträchtlich war zwar der
Anteil, der aus Domänenverkäufen und bäuerlichen Ablösegeldern kam,
doch erreichte er nicht mehr als 55,7 beziehungsweise 36 Prozent; rechnet
man noch die Domänenverkäufe ab, erscheint die Behauptung: „Die armen
Bauern retteten den preußischen Staat" etwas übertrieben. 21
TABELLE 2 1
Anteil von Domänenverkäufen und Ablösegeldern an der
Abtragung der preußischen Staatsschulden 1820 — 1848
(in Millionen Reichstalern)
20 E . R . H U B E R , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 2 1 6 .
21 W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens... (1984) [47], S. 301 f.
128 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
TABELLE 2 2
Preußische Staatsausgaben 1821 —1850
(in Millionen Reichstalern, in Prozent)
Den Anteil einiger Ressorts im Vergleich der Jahre 1821 und 1841 zeigt
Tabelle 23 auf S. 129.
Da auf die wenigen Ministerien aber sehr unterschiedliche Ausgaben
entfielen, folgt — exemplarisch für das Jahr 1850 - eine detaillierte
Aufstellung, in der die funktionellen Verwendungsbereiche genannt werden
(siehe Tabelle 23 A auf S. 129).
Da Preußen laut Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 „seit
jeher der Träger des Militarismus ... in Deutschland" gewesen sein soll,
erscheint es nützlich, auf die Entwicklung des Militärhaushalts zwischen
1815 und 1850 hinzuweisen. „Der ständig hart bekräftigte Primat der
Finanzpolitik" hielt die militärische Präsenz in diesen Friedensjahrzehnten
etwa konstant, obwohl die Bevölkerung erheblich zunahm. Infolgedessen
22 E. KLEIN, Geschichte der öffentlichen Finanzen... (1974) [s.o. Anm. 4], S. 123.
V. Steuern und Finanzen 129
TABELLE 2 3
Anteil einiger Ressorts an den preußischen Staatsausgaben in den Jahren
1821 und 1841
(in Millionen Reichstalern)
TABELLE 2 3 A
Funktionelle Verwendungsbereiche der preußischen Staatsausgaben 1850
(in Millionen Talern, in Prozent)
Verwendungsbereich abs. %
TABELLE 2 6
Preußische private Banken und Geldinstitute 1820-1849
Rheinpreußen 50 93 102
Berlin 60 80 107
Preußischer Staat 330 424 439
Mit der Neuorganisation der Preußischen Bank war endlich ein Weg
beschritten, der von der restriktiven Geld- und Kreditpolitik der ersten
Jahrhunderthälfte wegführte. Jahrelang hatte insbesondere Rother alle Ver-
suche, das private Bankwesen dem gestiegenen Bevölkerungs- und Wirt-
schaftspotential anzupassen, blockiert oder gestört, weil er überall „das
luftige Geschäft der Spekulation" witterte. Aktiengesellschaften wurden nur
selten als „gemeinnützig" anerkannt und konnten demzufolge weder Im-
mobilien noch Kapitalien erwerben; in Berlin sind von 1815 bis 1840 nur
vier Gründungen von industriellen Aktiengesellschaften nachzuweisen. 34
Rother vermochte es sogar, die gegen seine Überzeugung erfolgte Zulassung
von Privatbanken noch zwei Jahre zu hintertreiben. Erst nach seinem
Ausscheiden aus dem Staatsdienst (April 1848) wurde als erstes derartiges
Unternehmen die Städtische Bank in Breslau genehmigt (10. Juni 1848).
Bedeutender wurde dann die von David Hansemann 1851 in Berlin gegrün-
dete Disconto-Gesellschaft. 35
Bis zu der 1846 eingeleiteten Liberalisierung der preußischen Bankpolitik
hatte es in der ganzen Monarchie nur zwei erfolgreiche Versuche gegeben,
die Modernisierung des Geschäfts- und Geldverkehrs auf privater Ebene
voranzutreiben. Eine recht unglückliche Gründung, die auf eine Initiative
des Gutsbesitzers Ernst Gottfried v. Bülow-Cummerow zurückging, war die
Ritterschaftliche Privatbank in Stettin, der sogar ein beschränktes Noten-
emissionsrecht zugestanden wurde. Sie begann ihre Tätigkeit 1824, über-
nahm sich aber bald und konnte nur durch wiederholte Stützungsmaßnah-
men des Staates vor dem Zusammenbruch gerettet werden. 36
Sehr viel bedeutsamer wurde der seit 1823 arbeitende, aber erst zum
1. Januar 1824 von neun Berliner Bankiers vertraglich gegründete „Berliner
Kassen-Verein", der nach dem Muster des Clearing House in London
hauptsächlich als Giro- und Diskontbank fungierte. Die vom Verein aus-
gegebenen Depositen- und Kassenscheine wurden bald wie bares Geld
gehandelt — sehr zum Ärger von Friese und Rother, die hier mit Recht
einen ihren beiden Staatsbanken gefährlich werdenden Konkurrenten her-
anwachsen sahen. Der von ihnen inszenierte Kleinkrieg gegen den Kassen-
verein fand aber nicht durchweg die Billigung des Ministeriums. Der Verein
ging seinerseits zur Offensive über und offerierte seine Dienstleistungen seit
März 1834 dem gesamten Publikum. Die von ihm ausgestellten Wechsel
erfreuten sich zunehmender Beliebtheit. Ihr Wertvolumen betrug (in Reichs-
talern):
1850 wurde der Verein in die „Bank des Berliner Kassenvereins" mit einem
Stammkapital von 1 Million Reichstaler umgewandelt. 37
Ganz andere Aufgaben hatten die Sparkassen. Das erste Unternehmen
dieser Art war auf Empfehlung der Stadtverordnetenversammlung als „Spar-
kasse für die ärmere Klasse der hiesigen Einwohner" am 15. Juni 1818 in
Berlin errichtet worden. 38 Zulässig waren Guthaben von 15 Silbergroschen
bis 50 Reichstalern, die mit 4% — 5 Prozent verzinst wurden. Das Interesse
der Bevölkerung war außerordentlich groß, wie folgende Zahlen unterstrei-
chen:
TABELLE 2 7
Sparbücher und Spareinlagen der Berliner Sparkasse 1818 — 1824
Quellen: Nach einem Bericht der Stadtverordneten von 1822 und einem Bericht
Kunths von 1825 (GStA PK, Abt. Merseburg, Rep. 120, A V 2, 5, Vol. 2, fol. 103).
Trotz der sicher unpräzisen Bezeichnungen (ein „Beamter" konnte auch ein
Angestellter bei Borsig sein) und recht groben Zuordnungen läßt diese
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VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 141
TABELLE 3 0
Landwirtschaftliche Bodennutzung in Preußen in den Jahren 1802 und 1861
(in Prozent der preußischen Gesamtfläche)
Dieser Landesausbau war zum Teil eine indirekte Folge der Agrarreformen,
weil einerseits die Bauern ihre Landabtretungen zu kompensieren suchten,
und weil andererseits auch die Grundherren ihre erheblichen Zugewinne
12 A . a . O . , S. 426 - 428.
13 Vgl. dazu I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], passim. Ähnlich
auch Ulrich Peter RITTER, Preußische Gewerbeförderung in frühindustrieller Zeit
[1961], in: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Ge-
schichte 1 6 4 8 - 1 9 4 7 . Eine Anthologie, 3 Bde. ( = VHKzB, Bd. 52), B e r l i n - N e w
York 1981, Bd. 2, S. 1031 - 1 0 8 7 , hier S. 1085.
14 I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 5 4 2 - 5 4 8 .
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144 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
TABELLE 3 1
Handwerker und Fabrikarbeiter in Berlin in den Jahren 1801 und 1846
Handwerker Fabrikarbeiter
Selbständige Abhängige Insgesamt
Quelle: I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 5 4 3 .
Für Gesamtpreußen war charakteristisch, daß die Zahl der Gesellen und
Lehrlinge vor allem nach 1830 erheblich stärker zunahm als die der Meister:
TABELLE 3 2
Meister, Gesellen und Lehrlinge in Preußen 1816 — 1849 (Index)
(1816=100)
Quelle: Karl Heinrich KAUFHOLD, Handwerk und Industrie 1800 - 1 8 5 0 , in: Hermann
Aubin/Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialge-
schichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 3 2 1 - 3 6 8 , hier S. 323.
15 Vgl. I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], S. 211. Bei dieser Gele-
genheit wurden auch die verstreuten Bestimmungen über Betriebsbeschränkungen
aus Gründen des Umweltschutzes vereinheitlicht; vgl. I. MIECK, Umweltschutz
in P r e u ß e n . . . ( 1 9 8 1 ) [ 4 2 ] , S. 1 1 6 3 .
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 145
TABELLE 3 3
Entwicklung des Industrieproletariats in Preußen im Verhältnis zur
Gesamtbevölkerung 1849 — 1852
Quelle: Walter BECKER, Die Bedeutung der nichtagrarischen Wanderungen für die
Herausbildung des industriellen Proletariats in Deutschland, unter besonderer Be-
rücksichtigung Preußens von 1850 bis 1870, in: Hans Mottek u. a., Studien zur
Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland ( = VIWGBKa, Bd. 1), Berlin
1960, S. 2 0 9 - 240, hier S. 2 1 2 (ergänzt).
1810: 1 1837: 3 0
1820: 8 1840: 5 4
1830: 2 6 1843: 6 2
Dabei stieg der Jahresdurchschnitt der Neuanlagen von 1,8 Prozent (1820 —
1830) auf 5,6 Prozent ( 1 8 3 7 - 1 8 4 0 ) - ein deutlicher Hinweis darauf, daß
die Phase des abwartenden Beobachtens zu Ende ging und auch breitere
Kreise die neue Energiequelle zu akzeptieren bereit waren.
Entsprechend verlief die Entwicklung des Dampfmaschinenbestandes im
Gesamtstaat:
1830: 2 1 5 1837: 4 2 3
Allein in den beiden westlichen Provinzen liefen 1843 bereits 470 Dampf-
maschinen mit 13.763 Pferdestärken. Um die führende Position Preußens
auf diesem Sektor zu unterstreichen, sei darauf hingewiesen, daß im ge-
werbereichen Königreich Sachsen 1830 lediglich 25 Dampfmaschinen in
Betrieb waren und daß im Königreich Hannover die erste Dampfmaschine
1832, in einem Krankenhaus, installiert wurde. 22
18 Vgl. Karl LÄRMER, J o h a n n Georg Sieburg — ein Berliner Pionier der Industriellen
Revolution in Deutschland, in: BG, Bd. 7 (1986), S. 6 4 - 7 4 , hier S. 6 8 - 7 2 .
19 Knappe Zusammenfassung: Ilja MIECK, Von der Kopie zur Innovation: Einfüh-
rung der Dampfkraft in Preußen, in: SpW, Jg. 1982, H . 5, S. 116 - 127, hier S. 119;
ausführlicher: Karl LÄRMER, Berlins Dampfmaschinen im quantitativen Vergleich
zu den Dampfmaschinen Preußens und Sachsens in der ersten Phase der Indu-
striellen Revolution, in: Ders. (Hg.), Studien zur Geschichte der Produktivkräfte.
Deutschland zur Zeit der Industriellen Revolution ( = F W G , Bd. 15), Berlin 1979,
S. 1 5 5 - 1 8 1 , hier S. 166.
20 I. MIECK, Preußische Gewerbepolitik... (1965) [41], S. 63 - 6 7 und 1 0 2 - 1 0 7 .
21 A. a. O . , S. 2 2 6 - 2 2 8 sowie 2 4 5 : Ani. E ; ergänzend: Κ. LÄRMER, Berlins Dampf-
maschinen... (1979) [ s . o . A n m . 19], S. 1 7 6 - 1 8 1 .
22 H . - U . WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 81 f.;
K. LÄRMER, Berlins D a m p f m a s c h i n e n . . . (1979) [ s . o . A n m . 19], S. 173 und 177.
- Von den 2 1 5 Dampfmaschinen des Jahres 1830 arbeiteten 7 7 in Bergwerken.
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 147
TABELLE 3 4
Durchschnittliche jährliche Nettoinvestitionen in Preußen 1816 — 1840
(Millionen Mark in Preisen von 1913)
Land- Nicht-
Jahre wirt- landwirtschaft- Verkehr Industrie Insgesamt
schaft liche Gebäude
Den steigenden Bedürfnissen von Handel und Gewerbe des seit 1818 von
allen Binnenzöllen befreiten Gesamtstaats wurde das preußische Verkehrs-
netz nur recht langsam angepaßt. Noch 1785 verfügte Preußen zwar über
856 Kilometer schiffbare Wasserstraßen, aber über keinen einzigen Kilo-
meter ausgebauter Chaussee. Bis 1800 wurden nur einige wenige feste
Straßen gebaut, meist von Berlin ausgehend. Im ganzen galt auch für
Preußen: „Das Kommunikationsnetz der Straßen und Schiffahrtswege, Po-
Von den verbesserten Straßen profitierte nicht zuletzt die Königliche Post,
die seit 1823 dem Generalpostmeister im Ministerrang v. Nagler unterstand.
1848 wurde sie dem Handelsministerium zugewiesen. Bis 1844 war das
Briefporto überaus hoch: Für eine Entfernung bis zu 2 Meilen (etwas über
15 Kilometer) war ein Silbergroschen zu entrichten. Der höchste Portosatz
betrug 19 Silbergroschen, was dem Tageslohn eines ziemlich gut verdienen-
den Handwerkers entsprach. Da sie die Löhne und andere Kosten niedrig
halten konnte, erzielte die Post, anders als heute, in diesem Bereich regel-
mäßig Gewinne — von 1821 bis 1850 insgesamt rund 36 Millionen Reichs-
taler. 1846 gab es 103 Zivil- und 132 Militärpostämter, die nicht selten der
Versorgung invalider Offiziere dienten. 25
Die Fahrpost erfuhr durch die Einrichtung der Schnellpost (1821: Ko-
b l e n z - K ö l n - D ü s s e l d o r f ; bis 1837: 182) eine wesentliche Verbesserung.
Am Beispiel der Strecke Berlin — Breslau, die 43,5 Meilen ( = 328 Kilometer)
lang war, lassen sich die drei möglichen Reisearten für das Jahr 1829
verdeutlichen (siehe Tabelle 35 auf S. 149).
Daß zur Aufrechterhaltung des verbesserten Postkutschenverkehrs auch
eine breitere Infrastruktur erforderlich war, versteht sich von selbst: 1845
gab es bei etwa 1.500 Posthaltereien 5.106 Postillone und 17.892 Pferde.
Dennoch war, im ganzen gesehen, die durchschnittliche Reisegeschwindig-
keit von quälender Langsamkeit: Wer Berlin montags um 10.00 Uhr mit
der Fahrpost verließ, traf am Sonnabend um 10.00 Uhr in Königsberg ein,
TABELLE 3 5
Dauer und Kosten einer Reise Berlin — Breslau (1829)
Quelle: I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 518.
26 Vgl. I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 5 1 8 f .
27 H. KELLENBENZ, Verkehrs- und Nachrichtenwesen... (1976) [s.o. Anm. 25],
S. 3 8 1 .
150 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
TABELLE 3 6
Frachtkostensituation vor der Eisenbahnzeit
Berlin Kassel 2% 16 48 V2
Frankfurt a. M. 2V2 18 67%
Minden 2 12 50
Münster 22/3 20 66
Düsseldorf 2% 21 80
Köln 22/3 24 84
Aachen 3 26 90
Magdeburg /
3 4 5 20
Stettin % 5 20
Breslau iv6 10 44
Neu-Berun* 2V4 22 77
Königsberg i. Pr. 2% 20 87
Dresden IV« 8 21
Hamburg 1V4 10 38
* Dorf in Oberschlesien an der Grenze zu Österreich, 4 km westlich von Auschwitz,
später Eisenbahnstation (polnisch: Berun-Zabrezeg).
bürg" und „Friedrich Wilhelm III." entstanden, von denen das letztere 2.000
Zentner laden konnte. Es ergaben sich aber viele unvorhergesehene Schwie-
rigkeiten, so daß die erste preußische Dampfschiffahrt bald ein ruhmloses
Ende fand. 2 9 Auch auf dem Rhein gab es seit 1816 Probefahrten mit
Dampfschiffen, aber erst 1824 eröffnete eine niederländische Gesellschaft
eine regelmäßige Verbindung zwischen Köln und Rotterdam. 1826 wurde
die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrtsgesellschaft auf Aktien in Köln
gegründet, der 1836 eine in Düsseldorf ansässige Gesellschaft folgte. 30
Im Berlin-Hamburger Bereich nahm sich 1830/32 die Preußische See-
handlung der Dampfschiffahrt an, einmal, um investiertes Kapital nicht zu
verlieren, zum anderen aber auch durch das persönliche Engagement des
Seehandlungs-Präsidenten Rother dazu bewogen - galten doch als „Rothers
Lieblingskinder die dampfbetriebene Binnenschiffahrt... und der Aufbau
einer preußischen Staatsreederei". 1843 betrieb die Seehandlung sieben
Dampfboote und zehn Schleppschiffe zum Personen- und Gütertransport
von und nach Hamburg. Dreimal wöchentlich gab es einen regelmäßigen
Liniendienst dorthin. Diese Verbindung war für das gesamte östliche Preu-
ßen volkswirtschaftlich von großer Bedeutung, da in Ermangelung eines
eigenen Nordseehafens der Hauptanteil des preußischen Exports nach West-
europa und Ubersee über Hamburg lief. Dagegen ließen sich Pläne, auch
auf der Oder einen Dampfschiffahrtsbetrieb einzurichten, nicht realisieren. 31
Seit 1822 gab es seitens der Seehandlung auch ernsthafte Versuche zur
Wiederbelebung des Überseehandels, um vor allem dem preußischen Tuch-
und Leinenexport neue Märkte zu erschließen, beispielsweise in Mexiko,
Südamerika, Westindien und China. Trotz hoffnungsvoller Anfänge, die zur
Errichtung zahlreicher preußischer Handelsagenturen/Konsulate führten,
beispielsweise in Lima, Mexiko City, Valparaiso, Buenos Aires, Havanna,
Rio de Janeiro und Haiti, haben sich die hochgespannten Erwartungen
Rothers nicht erfüllt. Das Geschäftsergebnis des Überseehandels war, als
man in den 40er Jahren eine Gesamtbilanz versuchte, „betriebswirtschaftlich
niederschmetternd". Was dennoch blieb, waren einige indirekte Vorteile:
Die preußische Präsenz auf den Weltmeeren und in Übersee, die Verbesse-
rung des Schiffbaus, die Ausbildung zahlreicher tüchtiger Seeleute und nicht
zuletzt ein gewisses Prestige, wie Rother in seiner berühmten Rechtferti-
gungsdenkschrift unterstrich: „Schiffe der Seehandlung umsegelten wieder-
holt die Erde, was vor ihnen weder von preußischen noch von andern
deutschen Staaten angehörigen Schiffen gewagt worden war." 3 2
29 I. M I E C K , P r e u ß i s c h e G e w e r b e p o l i t i k . . . ( 1 9 6 5 ) [ 4 1 ] , S. 1 6 4 - 1 6 6 .
30 Über andere Verkehrsaktiengesellschaften s. u. S. 219.
31 I. M I E C K , P r e u ß i s c h e G e w e r b e p o l i t i k . . . ( 1 9 6 5 ) [ 4 1 ] , S. 1 6 7 f . ; W o l f g a n g RADTKE,
Die Preußische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der
Industrialisierung ( = EvHKzB, Bd. 30), Berlin 1981, S. 245 (Zitat) und 249 f.
32 A . a . O . , S. 252 - 261; die Zitate: S. 259 und 252. Ein von Rother eigenhändig
korrigiertes Manuskript der 1845 publizierten Denkschrift „Die Verhältnisse des
Königlichen Seehandlungs-Institutes und dessen industrielle Unternehmungen"
befindet sich im GStAPK Berlin-Dahlem, Rep. 109, D 1, 1 (5153).
152 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
33 Vgl. Willi A. BOELCKE, SO kam das Meer zu uns. Die preußisch-deutsche Kriegs-
marine in Übersee 1822 bis 1914, Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1981, S. 16 f., 323
und 3 8 6 ; neuerdings auch: Heinz BURMESTER, Weltumsegelung unter Preußens
Flagge. Die Königlich Preußische Seehandlung und ihre Schiffe, Hamburg 1988,
passim. — Den später als Maschinengehilfe auf der Pfaueninsel arbeitenden
„Sandwich-Insulaner" Harry Maitey hatte die „ M e n t o r " übrigens aus Hawaii
mitgebracht. Mit den Königen dieser Inseln tauschten die preußischen Herrscher
mehrfach Geschenke aus, letztmals 1848 (Johann Friedrich MEUSS, Die Bezie-
hungen König Friedrich Wilhelms III. und König Friedrich Wilhelms IV. zu
Kamehameha III. von Hawaii, in: H o J b , 16. Jg. [1912], S. 65 — 72, passim).
34 Jürgen KOCKA, Zur Schichtung der preußischen Bevölkerung während der in-
dustriellen Revolution, in: Wilhelm Treue (Hg.), Geschichte als Aufgabe. Fest-
schrift für O t t o Büsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 3 5 7 — 390, hier
S. 385.
VI. Wirtschaft, Verkehr, Soziale Frage 153
Im Hinblick auf die soziale Stratifikation kommt die Studie, bezogen auf
den Zeitraum 1846/49, zu folgenden Resultaten: 35
1) Zur preußischen Oberschicht gehörten etwa 600.000 Personen ( = 3,7
Prozent der Gesamtbevölkerung). Sie setzte sich zusammen aus Großgrund-
besitzern, hohen Staatsbeamten, Bildungs- und Wirtschaftsbürgern, Offizie-
ren, Pensionären und Rentiers, jeweils mit ihren Angehörigen.
2) Die Mittelschicht umfaßte etwa 4,7 Millionen Menschen ( = 29 Prozent
der Gesamtbevölkerung). Zu ihr zählten 384.000 Mittelbauern mit 30 bis
600 Morgen Landbesitz (mit Angehörigen: 1,7 Millionen) sowie der besser
situierte Mittelstand (Gewerbe, Beamte, Angestellte), alles in allem etwa 3
Millionen.
3) Knapp 600.000 Kleinbauern, Alleinmeister und Kleinstangestellte
waren, um ihren Lebensunterhalt sichern zu können, auf Nebenbeschäfti-
gung angewiesen. Die zu dieser Gruppe gehörenden 1,5 Millionen sollten
deshalb nicht zur Mittelschicht gerechnet werden. Einschließlich der eben
erwähnten Gruppe gehörten zur Unterschicht 10,9 Millionen Menschen
( = 67,3 Prozent der Gesamtbevölkerung). Diese Gruppe setzte sich wie folgt
zusammen:
Untere Mittelschicht 1,5 Mio. Arbeiter 0,9 Mio.
Gesinde 1,2 Mio. Weber 1,5 Mio.
Tagelöhner 3,7 Mio. Krämer, Höker 0,2 Mio.
Handwerksgesellen 0,5 Mio. Soldaten; Bettler, Landstreicher 1,4 Mio.
Demnach gehörten um die Mitte des 19. Jahrhunderts rund zwei Drittel
der preußischen Bevölkerung zu den am Rande des Existenzminimums
lebenden sozialen Gruppen, die sich teilweise nur mit Hilfe landwirtschaft-
lich nutzbarer Kleinstbesitzungen über Wasser halten konnten. Andererseits
war es besonders in den Unterschichtfamilien die Regel, daß das Haushalts-
budget durch die Einnahmen aus Frauen- und Kinderarbeit aufgestockt
wurde.
Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß unter diesen Umständen von
den fast elf Millionen, die am Rande des Existenzminimums lebten und
über keinerlei Rücklagen für Krankheiten oder besondere Notfälle verfüg-
ten, ein beträchtlicher Teil den weiteren sozialen Abstieg innerhalb der
Großgruppe der „Unterschicht" vorübergehend oder auf Dauer nicht ver-
meiden konnte. Damit stellte sich das Armenproblem vor allem in den
Ballungszentren in bisher nicht gekannter Weise.
Die Hauptursache der zunehmenden Verelendung breiter Bevölkerungs-
kreise lag in dem Überangebot an Arbeitskräften, das jeder Willkür Tür
und Tor öffnete. Dazu kam das Fehlen jeglicher sozialer Absicherung im
Falle von Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit, von einer Altersver-
sorgung ganz zu schweigen. Wer einen Arbeitsplatz hatte, klammerte sich
trotz der unsäglichen Arbeitsbedingungen an diese Beschäftigung, weil es
im Falle einer Entlassung nur noch schlimmer werden konnte.
Das sich ausbreitende materielle Elend resultierte vor allem aus den
niedrigen Löhnen bei überlanger Arbeitszeit. Der normale Arbeitstag konnte
bis zu 17 Stunden dauern. N o c h a m günstigsten standen sich die Maschi-
nenbauer mit 12 Stunden, es folgten Kattundrucker (13), Schneider und
Färber (14), Schuhmacher und Tischler (15), Brennerei-Arbeiter, Bäcker und
- allüberall am äußersten Ende - die Weber. Aus einer tabellarischen
Übersicht, die Saß 1846 für Berlin für rund 6 0 „männliche Arbeiten"
ermittelte, ergibt sich, daß mit ganz wenigen Ausnahmen der Tageslohn
unter einem Taler lag und nicht selten weniger als zehn Silbergroschen
betrug. Bei den 31 „weiblichen Arbeiten" lagen die Löhne fast ausnahmslos
unter zehn Silbergroschen. Ganz unten rangierten die Strickerinnen, die
„selten mehr als zwei Silbergroschen pro T a g " verdienten. Die Konsequen-
zen dieser Hungerlöhne schlugen unmittelbar auf den Arbeitsmarkt und
mittelbar auf die gesamte Gesellschaft zurück. 3 6
Für den Bereich der preußischen Hauptstadt, in der weder das Angebot
an Arbeitsplätzen noch an W o h n r a u m mit der sich in drei Jahrzehnten
verdoppelnden Bevölkerungszahl Schritt halten konnte, soll diese Entwick-
lung an einigen Beispielen illustriert werden: Bereits im Jahre 1828, als der
eigentliche Industrialisierungsschub noch bevorstand, befanden sich
16,5 Prozent aller Berliner Familien in einem durch die städtische Armen-
kommission amtlich anerkannten Zustand der A r m u t und waren deshalb
von der Zahlung der Mietsteuer befreit. Trotz zahlreicher privater Hilfs-
organisationen wurden die Ausgaben, die auf die städtische Armendirektion
zukamen, immer größer. Seit der Mitte der 30er Jahre traten die Kosten
für die Armenpflege an die erste Stelle der kommunalen Ausgaben. Auch
im Elementarschulwesen fand diese Pauperisierung breiter Bevölkerungs-
schichten ihren Niederschlag: N a c h neueren Berechnungen kann man ver-
muten, daß im Jahre 1840 über 5 0 Prozent der fünf- bis 14jährigen in Berlin
auf einen unentgeltlichen Schulbesuch angewiesen waren, weil sie aus mit-
tellosen Familien s t a m m t e n . 3 7
Jeder Versuch, die Z a h l der Armen für den Gesamtstaat zu ermitteln, ist
mit zahllosen Schwierigkeiten verbunden, auf die schon Dieterici, langjäh-
riger Direktor des statistischen Büros in Berlin, hingewiesen hat. Ein Haupt-
problem besteht darin, daß es neben den von den kommunalen Armen-
direktionen unterstützten Bedürftigen eine große Anzahl Armer gab, denen
durch private Wohltätigkeitsvereine geholfen wurde. Sie werden durch keine
amtliche Registratur erfaßt. Dieterici nahm an, daß im speziellen Falle
Berlins die private Armenfürsorge insgesamt einen erheblich höheren Betrag
aufbrachte als die städtische („viel mehr als noch einmal so viel"). 3 8
Ausgehend von der statistisch erfaßbaren Zahl der aus Kommunalkassen
unterstützten Armen hat Dieterici — mit allen nur denkbaren Vorbehalten -
TABELLE 3 7
Kommunal unterstützte Arme in den preußischen Provinzen (1849)
Quellen: Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das
Jahr 1849, 6 Bde. (in 7Bdn.), Berlin 1 8 5 1 - 1 8 5 5 , hier Bd. 4, S. 448 (Verhältnis);
A[rtur] Frhr. von FIRCKS, Rückblick auf die Bewegung der Bevölkerung im preus-
sischen Staate während des Zeitraumes vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1874
( = PrStat, H. 48a), Berlin 1879, Anlagen: Tab. VI, S. 8 f. (Bevölkerungszahlen);
ergänzende eigene Berechnungen (Gesamtzahlen).
39 Das ergibt die Umrechnung der Angaben in: Tabellen und amtliche Nachrichten
über den Preussischen Staat für das Jahr 1849, hrsg. von dem statistischen Bureau
zu Berlin, 6 Bde. (in 7 Bdn.), Berlin 1851 - 1 8 5 5 , hier Bd. 4, S. 434 ff. Vgl. auch
C. SACHSSE/F. TENNSTEDT, Geschichte der Armenfürsorge... (1980) [s.o.
Anm. 38], S. 269. Die hohen Zahlen der Rheinprovinz weisen übrigens auch auf
eine gut ausgebaute Armenfürsorge hin.
40 Vgl. dazu a . a . O . , S. 196 (mit Anm. 87 und 88).
156 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
1 Zit. von Gerd HEINRICH, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frank-
furt/M. - Berlin - Wien 1981, S. 328.
2 S . o . S 2, II, 3.
VII. Die auswärtige Politik (1815 - 1840) 159
26. November 1823 in Genua deutet auch in diesem Bereich auf neue
Entwicklungen hin.
Die Gelegenheit für eine eigenständigere preußische Außenpolitik bot der
Freiheitskampf der Griechen, die sich eine liberale Verfassung gegeben und
am 27. Januar 1822 ihre Unabhängigkeit erklärt hatten. Ihr Aufstand gegen
die Türken bewegte ganz Europa; viele Prominente aus unterschiedlichen
politischen Lagern, darunter der König von Württemberg, der bayerische
und der preußische Kronprinz, zeigten offen ihre Sympathie. Der Philhel-
lenismus schwoll zu einer mächtigen europäischen Strömung an; überall
wurden Griechenvereine gegründet und Spenden- und Hilfsaktionen orga-
nisiert. 5 Während Wilhelm Müller, der im Lützowschen Freikorps gekämpft
hatte, die „Lieder der Griechen" herausgab und als „Griechen-Müller" große
Popularität erlangte, stellte der württembergische General Normann-Ehren-
fels, der das Lützowsche Korps 1813 bei Kitzen aufgerieben hatte, ein
Philhellenen-Bataillon im fernen Griechenland auf.
Getreu seinen antirevolutionären Grundsätzen hatte Metternich den Kon-
greß von Verona noch dazu bestimmen können, den Aufstand der Griechen
grundsätzlich zu mißbilligen. Als die Türken aber die Oberhand zu gewinnen
schienen, schlossen England und Rußland, in dem seit dem 1. Dezember
1825 Zar Nikolaus I. regierte, zwecks Unterstützung der Griechen eine
Vereinbarung (4. April 1826), der sich Frankreich anschloß (6. Juli 1827).
Nach dem Seesieg der Verbündeten bei Navarino (20. Oktober 1827), der
Kriegserklärung Rußlands an die Türkei (April 1828) und der Landung
französischer Truppen auf dem Peloponnes war die militärische Niederlage
der Türkei abzusehen. In den Vordergrund traten nun die politischen
Auseinandersetzungen um die Kriegsziele. Metternich, bisher völlig isoliert,
konnte die englische Regierung nach dem Tode Cannings (8. August 1827)
von der Gefährdung des europäischen Gleichgewichts durch russischen
Machtzuwachs überzeugen. Ein internationaler Konflikt von beachtlichen
Ausmaßen zeichnete sich ab.
Preußen, das auf dem Balkan keine direkten Interessen verfolgte, aber
sowohl mit dem Zaren, der 1817 die älteste Tochter Friedrich Wilhelms III.
geheiratet hatte, gute Beziehungen pflegte, als auch in gutem Verhältnis zur
Türkei stand, griff die russische Anregung einer Vermittlung auf. Der Zar
erschien Anfang Juni 1829 mit großem Gefolge in Berlin. Ein farbenpräch-
tiges Reiterfest im mittelalterlichen Geschmack, „Der Zauber der weißen
Rose", zur Geburtstagsfeier der Zarin unterstrich die russisch-preußische
Freundschaft (13. Juli). 6 Unterdessen war der General v. Müffling nach
Konstantinopel unterwegs, wo es ihm tatsächlich gelang, den Friedensver-
trag von Adrianopel auszuhandeln (14. September 1829), der die russische
Position gegenüber der Türkei stärkte, aber nicht übermächtig werden ließ.
Metternich mußte mit ansehen, daß Preußen in einer Frage, die Österreich
überaus wichtig war, an ihm vorbei zum Vorteil Rußlands agiert hatte.
Obwohl sich der preußische Staat vor den Ausstrahlungen der französischen
Julirevolution des Jahres 1830 weitgehend zu schützen wußte, blieb er
außenpolitisch nicht untätig. In der belgischen Frage operierte Friedrich
Wilhelm beschwichtigend. Er erkannte den französischen „Bürgerkönig"
Ludwig Philipp an, verstärkte aber seine Truppen am Rhein und verweigerte
die vom König der Niederlande geforderte militärische Hilfe. Zusammen
mit England brachte Preußen die Londoner Konferenz zustande und be-
sänftigte den kriegswilligen, aufs Legitimitätsprinzip pochenden Zaren. Von
Preußen ging auch der Vorschlag aus, Belgien nach dem Vorbild der Schweiz
den von den Großmächten garantierten Status der Neutralität zuzubilligen. 7
Auch im Osten wurde Preußen von der Revolutionswelle der Jahre
1830/31 mittelbar betroffen. Der nationalpolnische Aufstand gegen die
russische Herrschaft brach Ende November 1830 aus, führte zur Vertreibung
der russischen Besatzung, zur Absetzung der Romanows und zur Errichtung
einer nationalpolnischen Regierung. Da nicht auszuschließen war, daß die
Erhebung auf die preußische Provinz Posen übergreifen könne, ließ Preußen
an der östlichen Staatsgrenze eine Observationsarmee aufmarschieren, die
unter dem Befehl des Feldmarschalls Gneisenau und seines Stabschefs Clau-
sewitz stand.
Die preußische Polenpolitik war zwar defensiv, aber nicht neutral, son-
dern offen unfreundlich. 8 Die Regierung unterstützte die russische Armee
durch Lieferung von Lebensmitteln und Munition, sie verschärfte die Grenz-
kontrollen, blockierte das in Berlin liegende Geld der polnischen Bank und
beschlagnahmte im Ausland gekaufte Waffen. Eine in Thorn errichtete Basis
mit Versorgungsgütern, Booten, Baumaterialien und Munition ermöglichte
den Russen den strategisch wichtigen Weichselübergang. Nach dem Fall
Warschaus (September 1831) brach der Aufstand zusammen. Die Reste der
polnischen Armee, rund 20.000 Mann, gingen über die Grenze und ließen
sich von den Preußen entwaffnen. Polen wurde zur russischen Provinz; es
begann die große Emigration.
In Danzig, das zahlreiche russische Schiffe anliefen, trat die aus Rußland
eingeschleppte Cholera zuerst auf. Sie verbreitete sich rasch über die Provinz
Posen und ganz Preußen. Im Abstand weniger Monate fielen ihr auch
Gneisenau und Clausewitz zum Opfer (23. August und 16. November 1831).
7 Vgl. die Untersuchungen von Kurt M . HOFFMANN, Preußen und die Julimonarchie
1 8 3 0 - 1 8 3 4 ( = HSt, H. 288), Berlin 1936, und Hermann von der DUNK, Der
deutsche Vormärz und Belgien ( = VIEG, Bd. 41), Wiesbaden 1966, jeweils pas-
sim.
8 Treffende Zusammenfassung von Lech TRZECIAKOWSKI, Preußische Polenpolitik
im Zeitalter der Aufstände (1830 — 1864), in: Klaus Zernack (Hg.), Polen und
die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1 7 0 1 - 1 8 7 1 .
Referate einer deutsch-polnischen Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November
1979 in Berlin-Nikolassee ( = EvHKzB, Bd. 33), Berlin 1982, S. 9 6 - 1 1 0 , hier
S. 103 - 1 0 5 .
162 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
Trotz der vier preußischen Armeekorps, für die nach und nach 80.000
Mann mobilisiert worden waren, hat der Funke der Rebellion die 130
Meilen lange Grenze an einigen Stellen übersprungen. Die Resonanz blieb
aber relativ gering, wohl auch deshalb, weil sich die preußischen Untertanen
polnischer Nationalität im großen und ganzen mit dem preußischen Regi-
ment abgefunden hatten. Immerhin war die polnische Sprache amtlich neben
der deutschen geduldet worden, polnische Adlige hatten zu Landräten
ernannt werden können, und an der Spitze der Provinz stand neben dem
konfliktscheuen Oberpräsidenten Theodor v. Baumann als Statthalter der
Fürst Radziwill, der aus einer der vornehmsten polnischen Adelsfamilien
stammte und mit einer Nichte Friedrichs II. verheiratet war.
Während die Bestrafung der am Aufstand beteiligten preußischen Polen
recht glimpflich ausfiel, hatte die Rebellion schwerwiegende Folgen für die
Provinz Posen. Unter dem 1830 eingesetzten Oberpräsidenten Flottwell und
dem General v. Grolman, der das in Posen stehende 5. Armeekorps kom-
mandierte und ein ausgezeichneter Kenner der Provinz wurde, begann die
Politik der „allmählichen Germanisierung". Deutsch wurde alleinige Amts-
sprache; die Kreise verloren das Vorschlagsrecht für die Landräte, die jetzt
von den Regierungen ausgewählt wurden; verschuldete Güter kaufte der
Staat und veräußerte sie weiter, aber nur an Deutsche, wie überhaupt der
Siedlungspolitik — auch in den Städten — großes Gewicht beigemessen
wurde. Aus säkularisierten Klöstern flössen die Mittel für den Ausbau des
Schulwesens, bei dem man auf die Germanisierung natürlich besonderen
Wert legte.
Daß sich die auswärtige Politik Preußens durchaus von der Bevormundung
durch Metternich freimachen konnte, sofern es — nach Auffassung der
maßgebenden politischen Kräfte — das besondere Staatsinteresse verlangte,
erweist die Handels- und Zollpolitik. Vorgeschichte und Begründung des
Deutschen Zollvereins, der am 1. Januar 1834 ins Leben trat, werden im
Abschnitt B.II dieses Handbuchs behandelt. An dieser Stelle ist nur auf
einige Grundtatsachen hinzuweisen, um die außenpolitische Bedeutung die-
ses Vertragswerkes zu unterstreichen, denn deutsche Politik war im Vormärz
— trotz des Deutschen Bundes — auswärtige Politik.
Der Zollverein ist gegen den erbitterten Widerstand Metternichs und
unter Ausschluß Österreichs zustande gekommen. Der österreichische
Staatskanzler ließ keine sich bietende Möglichkeit ungenutzt, die preußische
Zollpolitik direkt oder indirekt zu bekämpfen. Er scheiterte an der zähen
Beharrlichkeit, mit der drei preußische Beamte, vom König gedeckt, an der
Verwirklichung der Zollvereinspläne arbeiteten. Neben Motz und Maassen,
die auch schon vor ihrer jeweiligen Ministertätigkeit ( 1 8 2 5 - 1 8 3 0 / 1 8 3 0 -
1834) die Zollpolitik wesentlich bestimmten, war es vor allem Joh. Albrecht
Friedrich Eichhorn, der seit 1817 im Auswärtigen Amt als Referent für die
deutschen Angelegenheiten tätig war und sich um das Zustandekommen
VII. Die auswärtige Politik (1815 - 1 8 4 0 ) 163
13 KO vom 20. VI. 1822 (GS 1822, S. 177 f.). Vgl. auch C. BRINKMANN, Die preu-
ß i s c h e H a n d e l s p o l i t i k . . . ( 1 9 2 2 ) [ 1 8 0 ] , S. 1 4 4 - 1 5 2 .
14 A. a. O., S. 152.
15 Der Text ist abgedruckt bei Georges Frédéric de MARTENS (Hg.), Nouveaux
suppléments au Recueil de traités d'alliance, de paix, de trêves, de neutralité, de
commerce, de limites, d'échange ... des puissances et États de l'Europe ... depuis
1808..., hg. von Frédéric Murhard, 3 Bde., Göttingen 1 8 3 9 - 1 8 4 2 , hier Bd. 1,
S. 644 ff. — Eine ausgewogene Beurteilung gibt C. BRINKMANN, Die preußische
Handelspolitik... (1922) [180], S. 167.
16 A . a . O . , S. 182f.
17 Schreiben Motz' ans Innenministerium, 30. VII. 1827 (zit. a . a . O . , S. 192). -
Zum preußischen Handel allgemein: Takeo OHNISHI, Der Strukturwandel und
VII. Die auswärtige Politik (1815 - 1 8 4 0 ) 165
Noch in den 1820er Jahren wurde das System der preußischen Schiff-
fahrtsverträge durch die Einbeziehung der wichtigsten Ost- und Nordsee-
staaten abgerundet; nur mit den Niederlanden gelang keine Übereinkunft.
Den Vereinbarungen mit Mecklenburg-Schwerin (2. Dezember und 18.
Dezember 1826) folgten Schiffahrtsabkommen mit Schweden (14. März
1827) und den Hansestädten (4. Oktober 1828). Der Sicherung des Über-
seehandels dienten schließlich der Handelsvertrag mit Brasilien (9. Juli 1827)
sowie die Abmachungen mit Mexiko (20. Januar 1827), die erst später
Vertragscharakter erhielten (1831/34).
die Regionalverteilung des preußischen Außenhandels in den 20er Jahren des 19.
Jahrhunderts, in: K K N , Bd. 13 (1973), S. 1 - 2 0 , passim (mit neun tabellarischen
Übersichten).
18 Eine gute neuere Analyse aus deutscher Sicht gibt K.-G. FABER, Deutsche Ge-
schichte... (1979) [12], S. 1 5 7 - 1 6 1 .
19 Text bei Georges Frédéric de MARTENS, Nouveau recueil général de traités, de
conventions et autres transactions remarquables..., 20 Bde., Göttingen 1843 —
1876 (ND Nendeln/Liecht. 1975), hier Bd. 1, S. 156. - Z u r Bedeutung der
orientalischen Frage für die Außenpolitik des neuen preußischen Königs vgl.
Winfried BAUMGART, Z u r Außenpolitik Friedrich Wilhelms IV. 1 8 4 0 - 1 8 5 8 , in:
Otto Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines Colloqui-
ums ( = EvHKzB, Bd. 62), Berlin 1987, S. 1 3 2 - 1 5 6 , hier S. 1 3 2 - 1 3 8 .
166 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
insgesamt nicht mehr als 0,1 Prozent ausmachten, waren die Juden mit
einem Prozent die einzige religiöse Gruppe, die zahlenmäßig noch ins
Gewicht fiel.
Die Gesetze vom 16. und 26. Dezember 1808 zur Reorganisation der
obersten Staatsbehörden regelten auch die Zuständigkeiten für kirchliche
Angelegenheiten neu. Aufgehoben wurden das lutherische Oberkonsisto-
rium und die Konsistorien in den Provinzen, das reformierte Kirchendirek-
torium sowie das Consistoire supérieur. An ihre Stelle trat als neue staatliche
Zentralbehörde für alle kirchlichen Angelegenheiten die „Abteilung für
Kultus", die Teil der vom Innenministerium ressortierenden „Sektion für
Kultus und öffentlichen Unterricht" war. 5 Leiter dieser Abteilung wurde
der Geheime Rat Georg Heinrich Nicolovius, der zuerst auch die Sektion
interimistisch verwaltete, bis Wilhelm v. Humboldt am 18. Februar 1809
zu ihrem Direktor ernannt wurde. Er amtierte nur 14 Monate. Sein Nach-
folger wurde der konservative Schuckmann, der 1814 zum Innenminister
aufstieg, die Leitung der Kultus-Sektion aber beibehielt.
Diese Spezialbehörde wurde 1817 aus dem Innenministerium ausgeglie-
dert und zum „Ministerium der geistlichen Angelegenheiten und des öf-
fentlichen Unterrichts" erhoben, das von diesem Zeitpunkt an bis 1838 vom
Freiherrn von Altenstein geleitet wurde. Seine Nachfolger waren — nach
einer zweijährigen Vakanz — Ladenberg (Mai — Oktober 1840, erneut Juli
1848-Dezember 1850), Eichhorn (Oktober 1 8 4 0 - M ä r z 1848), Schwerin
(März-Juni 1848) und Rodbertus (Juni-Juli 1848).
Auf der Provinzialebene wurden nach 1808 an Stelle der bisherigen
Provinzialkonsistorien bei jeder Regierung Deputationen für geistliche und
Schulangelegenheiten eingerichtet, doch kehrte man 1815 zur Institution der
Provinzialkonsistorien zurück, die aber jetzt reine Staatsbehörden waren
und gleichzeitig die Staatsgewalt und die Kirchengewalt innehatten: Im
Hinblick auf die katholische Kirche nahmen sie die landesherrlichen „iura
circa sacra" ( = Rechte der obersten Aufsicht und Fürsorge des Staates
bezüglich der Religionsübung), hinsichtlich der evangelischen Kirche zu-
sätzlich die „iura in sacra" oder „iura sacrorum" ( = Befugnisse des Königs
bezüglich des Kirchenregiments) ohne jede Einschränkung wahr. 1825 er-
6 E . R . H U B E R , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 4 6 3 .
7 Martin SCHMIDT, Christentum und Kirche im frühen 19. Jahrhundert, in: Hans
Herzfeld (Hg.), Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert
( = VHKzB, Bd. 25), Berlin 1968, S. 423 - 478, hier S. 443.
8 E . R . H U B E R , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 4 7 2 .
170 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
9 H . v o n TREITSCHKE, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [ 2 7 ] , B d . 2 , S. 2 4 0 .
10 Eine gute historisch-theologische Analyse bietet Klaus WAPPLER, Der theologische
Ort der preußischen Unionsurkunde vom 27. 9. 1817 ( = ThArb, Bd. 35), Berlin
1978, Text: S. 9 f.
11 Propst Hanstein an den König, 29. VIII. 1817, zit. von K. WAPPLER, a . a . O . ,
S . 13.
12 M . SCHMIDT, Christentum und Kirche... (1968) [s.o. Anm. 7], S. 446.
VIII. Staat und Kirche 171
13 Vgl. E . R . H U B E R / W . HUBER, S t a a t u n d K i r c h e . . . ( 1 9 7 3 ) [ s . o . A n m . 5 ] , S. 5 7 8 f . ,
und E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], B d . 1,
S. 4 6 7 - 4 7 0 .
14 M . SCHMIDT, C h r i s t e n t u m u n d K i r c h e . . . ( 1 9 6 8 ) [ s . o . A n m . 7 ] , S. 4 4 7 - 4 4 9 .
15 Luther in Beziehung auf die Preußische Kirchenagende vom Jahre 1822, mit den
im Jahre 1823 bekannt gemachten Verbesserungen und Vermehrungen [Verf.:
Friedrich Wilhelm III.], Berlin 1827.
16 Teilpublikation: v. Kamptz über das bischöfliche Recht in der evangelischen
Kirche in Deutschland, in: JbbpG, Bd. 31 (1828), S. 2 5 - 1 5 0 .
17 Die KO vom 4. I. 1829 ist abgedruckt bei Erich FOERSTER, Die Entstehung der
preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des
Dritten. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenbildung im deutschen Protestan-
tismus, 2 Bde., Tübingen 1905/07, hier Bd. 2, S. 191.
172 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
3. Die Erweckungsbewegung
Manche Kritiker der Kirchenunion wie der Breslauer Pfarrer Scheibel und
der Berliner Prediger Jänicke hingen einer neuen religiösen Strömung an,
die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Gegner der Aufklärung, roman-
tisch geprägte Traditionalisten und Anhänger eines vertieften und verinner-
lichten Christentums vereinte. Sammelpunkt und Sammelbecken der Auf-
klärungsgegner aus christlicher Wurzel oder mit christlichem Einschlag
wurde in Berlin die am 18. Januar 1810 durch Achim v. Arnim und Adam
Müller ins Leben gerufene „Christlich-deutsche Tischgesellschaft". Vor al-
lem nach den Freiheitskriegen erfaßte diese neupietistische, biblisch-roman-
tisch orientierte Erweckungsbewegung viele Schichten der hauptstädtischen
Gesellschaft. 19 Zum Mittelpunkt der Berliner Erweckungsbewegung wurde
der schlesische Grundbesitzer Hans Ernst Freiherr von Kottwitz
(1757—1843), der seit 1807 in Berlin eine Armen-Beschäftigungs-Anstalt
unterhielt, die nach dem Prinzip „Arbeit statt Almosen" organisiert war
und Hunderten von arbeitslosen (Weber-)Familien materiellen und geistigen
Rückhalt gab. Um Kottwitz, der selbst in seiner Anstalt, einer ehemaligen
Kaserne, in großer Bescheidenheit wohnte, und in seiner einfachen schlichten
Frömmigkeit alle Besucher tief beeindruckte, 20 bildete sich ein lockerer
Kranz von Anhängern aus Pfarrer- und Laienkreisen, die ihre geistige
Heimat an drei verschiedenen Orten hatten: die einen, eher konservativ und
meist adlig, kamen von der Tischgesellschaft her; die zweiten, eher bürger-
lich-intellektuell, stammten aus dem Kreise um Moritz August von Beth-
mann-Hollweg, während die dritten als Pfarrer und Prediger die Erneuerung
innerhalb der Kirche anstrebten. Zu ihnen gehörten Karl Löffler, Johannes
Jänicke, Gerhard F. A. Strauß, Johannes E. Goßner (seit 1829), F.W. Krum-
macher (seit 1847) und der streitbare Ernst Wilhelm Hengstenberg, der es
in seinem „rationalen Antirationalismus" (Martin Schmidt) erreichte, daß
die emotionale Seite, die die Berliner Erweckungsbewegung zunächst be-
herrscht hatte, stärker zurücktrat.
Von christlich-sozialem Verantwortungsbewußtsein war auch der Pfarrer
der Berliner Elisabethkirche, Otto v. Gerlach, durchdrungen. Er schuf in
seiner vorwiegend von Armen bewohnten Gemeinde ein Unterstützungs-
werk, das vorbildhaft wirkte. Über die beiden anderen Brüder v. Gerlach,
Leopold und Ludwig, die später so einflußreichen Berater Friedrich Wil-
helms IV., auch über J . v. Bunsen und selbst über den unabhängigen Ka-
tholiken J . v. Radowitz ergaben sich enge Beziehungen der Erweckungsbe-
wegung zum Hof, wo ihr besonders der Kronprinz aufgeschlossen begeg-
nete, weil sie seinen Vorstellungen des antikonstitutionellen, auf Gott ge-
gründeten und in christlicher Selbstverantwortung geleiteten Staates am
besten entgegenkam.
Darin lag das Besondere der Berliner Erweckungsbewegung, daß nahezu
alle Stände an dem religiösen Aufschwung teilnahmen: „Das evangelische
Erweckungschristentum gab es in der hausbackenen und kleinbürgerlichen
Form wie in der höfischen und politischen, wobei Staatspolitik und Kir-
chenpolitik ineinanderflossen oder sich wenigstens die Hand reichten." 2 1
Nur im Handwerk und im kaufmännischen Unternehmertum fand es, wie
teilweise auch beim Bildungsbürgertum, weniger Rückhalt, bot aber durch
seine sozial-karitativen Implikationen selbst den Ärmsten der Armen Lin-
derung, Trost und Hoffnung.
Die Erweckungsbewegung blieb nicht auf Berlin beschränkt. Adolf v.
Thadden, der zeitweise im Kreise der Tischgesellschaft verkehrt hatte,
wurde zum Haupt der Erweckungsbewegung in Pommern. Die auf seinem
Gut veranstalteten „Trieglaffer Konferenzen" führten pietistische Pastoren
verschiedener Provinzen zusammen. 1844 trafen sich hier 108 Personen,
darunter sechs Superintendenten, 64 Prediger, mehrere Rektoren, 26 Kan-
didaten und einige Laien. 2 2 Ein Jahr zuvor war Bismarck mit den pom-
merschen Pietisten in Beziehung getreten. Moritz v. Blanckenburg, ein
ehemaliger Mitschüler und künftiger Schwiegersohn Adolfs v. Thadden,
führte ihn in diesen Kreis ein, in dem er auch Johanna v. Puttkamer, seine
spätere Frau, kennenlernte. Den Versuchen, ihn für die Erweckungsbewe-
gung zu gewinnen, widerstand Bismarck jedoch; „der Sturm auf seine Seele
war gescheitert". 23
Das Verhältnis des preußischen Staates zur katholischen Kirche wurde durch
das „Edikt über die Einziehung sämtlicher geistlicher Güter in der Monar-
chie" 2 7 vom 30. Oktober 1810 nicht sonderlich belastet, weil Preußen drei
Jahre zuvor große Teile seiner katholischen Gebiete verloren hatte. Mit
dem Säkularisationsedikt machte Preußen, wie andere Staaten vor ihm,
Gebrauch von der im § 35 des Reichsdeputationshauptschlusses vom
25. Februar 1803 reichsrechtlich zugestandenen Ermächtigung, das gesamte
katholische und protestantische Kirchengut der landsässigen Stifter, Abteien
und Klöster auf landesrechtlichem Wege zu enteignen. 28
zung noch verschärft und auf die Ebene eines politischen Konfessionalismus
gehoben hatte: Der preußische Staat versuchte zunächst, das Problem auf
höherer Ebene zu lösen und mit dem Heiligen Stuhl zu einer akzeptablen
Vereinbarung zu gelangen.
Die Verhandlungen zwischen Berlin und dem Heiligen Stuhl liefen über
Barthold Georg Niebuhr, der wegen der leichtfertigen Finanzpolitik Har-
denbergs 1810 das Ministerium verlassen hatte und 1816 preußischer Ge-
sandter in Rom geworden war. Sein Verhandlungsgeschick und die maß-
vollen preußischen Forderungen erleichterten die Einigung auf der Basis der
in Schlesien bereits bewährten konfessionellen Parität und Toleranz.
Die rechtliche Grundlage des Verhältnisses von Staat und Kirche blieben
die entsprechenden Artikel des Allgemeinen Landrechts sowie — in der
Rheinprovinz — die „Organischen Artikel" von 1802. Die Bulle „De salute
animarum" vom 23. August 1821 hob das napoleonische Bistum Aachen
auf und errichtete das Erzbistum Köln mit den drei Suffraganen Trier,
Münster und Paderborn. Im Osten entstanden das Erzbistum Gnesen-Posen
und das Bistum Kulm; hinzu kamen die exemten Bistümer Ermland und
Breslau für die Provinzen Ostpreußen und Schlesien. Erster Erzbischof von
Köln wurde, von seinem Freund, dem Freiherrn vom Stein, vorgeschlagen,
1824 Ferdinand August von Spiegel, ein im Geiste der katholischen Aufklä-
rung großgewordener Prälat.
Dem neuen Erzbischof stand die „strengkirchliche Bewegung" mit äußer-
stem Mißtrauen gegenüber. Diese besonders in Aachen und Koblenz ver-
breitete, ziemlich militant eingestellte und ultramontan orientierte Gruppie-
rung betrieb eine orthodox-katholische Abgrenzungs- und Profilierungs-
politik. 3 2 Ihre Verbindungen reichten über die Mainzer Theologenschule,
über die katholische Fakultät der Universität Tübingen bis hin zu den
belgischen Katholiken und zu jesuitischen Kreisen in Frankreich.
Kritikpunkte waren — neben dem angeblich amtlich geförderten Prote-
stantismus überhaupt — konfessionelle Diskriminierungen, die es in der
Tat gab. So durften Geistliche nicht unmittelbar mit dem Heiligen Stuhl
korrespondieren, und katholische Soldaten hatten, falls kein katholischer
Militärgeistlicher zur Verfügung stand, entsprechend der Militärkirchen-
ordnung vom 12. Februar 1832, die aber nur eine seit 1809/10 geltende
Regelung bestätigte, einmal monatlich am evangelischen Militärgottesdienst
teilzunehmen. Nichts hat der ultramontanen Propaganda im Rheinland
soviel Gehör verschafft, wie die zwangsweise Teilnahme katholischer Sol-
daten am evangelischen Garnisongottesdienst; „dies vermochte freilich ins-
besondere der König als stark engagierter Protestant nur schwer einzuse-
hen". 3 3
Ein anderes Problem betraf die konfessionelle Erziehung der Mischehen-
kinder. Hier agierte der preußische König, der 1825 für Söhne die Erziehung
im väterlichen Glauben angeordnet hatte, ähnlich selbstherrlich wie bei der
32 Vgl. dazu die grundlegende Untersuchung von F. KEINEMANN, Das Kölner Ereig-
nis... (1974) [177], T. 1, S. 3 7 - 5 8 .
33 A . a . O . , S. 46.
VIII. Staat und Kirche 177
37 Vgl. F. KEINEMANN, D a s K ö l n e r E r e i g n i s . . . ( 1 9 7 4 ) [ 1 7 7 ] , T . 1, S. 7 1 - 8 7 .
38 Zur Situation in Westfalen und den dortigen Reaktionen um 1837 vgl. neuerdings
die ergänzende Studie von Friedrich KEINEMANN, Das Kölner Ereignis und die
Kölner Wirren (1837 - 1 8 4 1 ) . Weichenstellungen, Entscheidungen und Reaktionen
mit besonderer Berücksichtigung Westfalens. Ein Nachtrag zu: Das Kölner Er-
eignis... (1974) [177], Hamm 1986, passim.
39 Vgl. Gotthold RHODE, Polen und die polnische Frage von den Teilungen bis zur
Gründung des Deutschen Reiches, in: Walter Bußmann (Hg.), Europa von der
Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahr-
hunderts ( = HbeG, Bd. 5), Stuttgart 1981, S. 677 - 745, hier S. 717f.
IX. Restauration und Reaktion 179
Seit dem Jahre 1815 befanden sich die fortschrittlichen Kräfte in Preußen,
die nach der äußeren Befreiung auch die innere erhofft hatten und nationale
und konstitutionelle Wünsche erfüllt sehen wollten, auf dem Rückzug. Die
während der Freiheitskriege aufgeflammte und von allerhöchster Stelle
ermunterte patriotisch-nationale Grundstimmung, die sich mit liberalen
Erwartungen verknüpfte, war nicht mehr gefragt. Wie erwähnt, wurden die
Verfechter der Reformpolitik nach und nach beiseitegeschoben. Anhänger
einer neuen konservativen Politik unter der geistig-diplomatischen Führung
des österreichischen Außenministers und (seit 1821) Staatskanzlers Metter-
nich versuchten, die 1815 erreichten Zustände zu stabilisieren, die Dynamik
der Reformen zu brechen, die Verfassungsbewegung und die gesellschaftli-
chen Veränderungen anzuhalten. Dazu gehörte im Bereich des Deutschen
Bundes eine strikt antinationale und antiliberale Politik. Der Buchtitel eines
Juristen, der die „Restauration der Staatswissenschaft" darstellte, 1 wurde
zum Kennwort für diese konservativ-reaktionäre Haltung, die in Preußen
während der politischen „Stillstands- und Polizeiperiode der 20er und 30er
Jahre" (Fontane) vorherrschte.
Die häufige Folge war eine resignierte Abwendung von der Politik, ein
bewußter Rückzug in die eigene Behausung, die man, sofern die Mittel
dazu ausreichten, so wohnlich wie möglich zu machen suchte. Ein apoliti-
scher, auf Behaglichkeit und Beschaulichkeit ausgerichteter bürgerlicher
Wohn- und Lebensstil mit einem ausgeprägten geselligen Leben, künstleri-
schen und literarischen Interessen und starken Anleihen bei der Romantik
setzte sich in den besser gestellten Kreisen durch. Das Pseudonym, unter
dem Adolf Kußmaul diese städtisch-bürgerliche Lebensart 1855/57 in den
Während sich der König gegenüber den Turnern eher reserviert verhielt,
erfuhr die Turnbewegung eine beachtliche Aufwertung durch die Besuche,
die Blücher und der Kronprinz im Spätsommer 1814 dem Turnplatz ab-
statteten. Für die Berliner Jugend blieb Jahn ein Idol. Selbst der „Breslauer
Turnerstreit", den der ernsthafte Patriot Henrich Steffens durch seine war-
nende Stimme gegen die Ausartungen der Turnerei auslöste, konnte die
Popularität Jahns wenig schmälern, obwohl die Turnbewegung „unter dem
Terrorismus deutschtümelnder Kraftworte und Kraftsitten" (Treitschke)
neben einem etwas verschwommenen Nationalismus kaum konkrete poli-
tische Ziele artikulierte und in Sprache und Brauch manche Züge einer
Sekte trug, die von den Behörden mit wachsendem Mißtrauen beobachtet
wurde. 4
Auch die Anfänge der Burschenschaften reichen in die Zeit der Freiheits-
kriege zurück. 5 Nachdem sich bereits im Sommer 1814 in Jena eine „Wehr-
schaft" gebildet hatte, erfolgte dort am 12. Juni 1815 die Gründung der
ersten „Burschenschaft". Anders als die bisherigen landsmannschaftlichen
Verbindungen oder die aus dem Geist der Aufklärung erwachsenen Studen-
tenorden verstand sich die Burschenschaft als eine vaterländisch-christliche
Organisation, ohne jedoch anfangs sehr konkrete politische Ziele zu ver-
folgen. Dennoch breitete sich die Bewegung rasch auf andere Universitäten
aus, erreichte allerdings — außer in Jena — zu keiner Zeit die Gesamtheit
der Studenten. Ganz im Sinne ihrer patriotisch-nationalen Leitgedanken,
die sich insbesondere an den Schriften und Gedichten von Ernst Moritz
Arndt orientierten, erkannten die Burschen nur ein Vaterland an, das
deutsche. Sie stellten ihre Verbindung unter das Motto „Ehre, Freiheit,
Vaterland" und nahmen auf Vorschlag Jahns die Uniformfarben des Frei-
korps Lützow an, das im schwarzen Rock mit roten Aufschlägen und gelben
Knöpfen gekämpft hatte. Diese Farbkombination, die man auch in den
Farben des alten Deutschen Reiches wiederzufinden glaubte (schwarzer
Adler mit roten Fängen auf goldenem Grund), wurde zum Symbol der
liberal-demokratischen deutschen Einheitsbewegung. 6
Zum Jahrestag der Völkerschlacht und zum dreihundertsten Reforma-
tionsjubiläum lud die Jenenser Burschenschaft mit Genehmigung des Lan-
desherrn, des Großherzogs Karl August von Sachsen-Weimar, ihre Gesin-
nungsfreunde auf die Wartburg ein. Es erschienen etwa 500 Studenten, auch
einige Professoren, darunter 250 aus Jena selbst, 30 aus Berlin, die übrigen
aus Gießen, Marburg, Erlangen, Heidelberg und einigen anderen Univer-
sitäten. Größeres Aufsehen als die bei dem eigentlichen Festakt am
18. Oktober gehaltenen Reden erregte das auf Anstiftung Jahns von einigen
radikalen Studenten am Abend veranstaltete Autodafé: man verbrannte
„eine wunderlich gemischte Gesellschaft von etwa zwei Dutzend guten und
schlechten Büchern" - vom Code Napoléon über Hallers „Restauration"
und Kotzebues „Deutscher Geschichte" bis hin zu Aschers „Germanoma-
nie", was dem in der Burschenschaft sehr verbreiteten Antisemitismus zur
besonderen Genugtuung gereichte. Anschließend warf man noch einige
Symbole der Unfreiheit (Ulanen-Schnürleib, Zopf und Korporalstock) ins
Feuer.7
Die Ereignisse vom Oktober 1817, die ein großes publizistisches Echo
fanden, veranlaßten Friedrich Wilhelm III. zu einer Umfrage, wer an der
Veranstaltung teilgenommen habe. Er lobte die Königsberger Burschen, weil
sie sich ferngehalten hatten,8 ordnete aber an, alle Verbindungen sofort zu
verbieten und auch das Turnwesen scharf zu beaufsichtigen: „Ich werde
nicht den mindesten Anstand nehmen, diejenige Universität, auf welcher
der Geist der Zügellosigkeit nicht zu vertilgen ist, aufzuheben."9 Kurz vorher
hatte bereits Metternich dem preußischen Gesandten erklärt, daß nun die
Zeit gekommen sei, gemeinsam „auch gegen diesen Geist des Jakobinismus"
energisch vorzugehen. Ähnlich radikale Positionen vertraten Hardenberg
(der durch die studentischen Umtriebe seine Verfassungspläne gefährdet
sah) und der spätere Minister v. Kamptz (dessen „Gendarmerie-Kodex",
eine Sammlung deutscher Polizeigesetze, ebenfalls im Feuer gelandet war
und der öffentlich Genugtuung verlangte). Dagegen sah der Kultusminister
v. Altenstein die Lage als weniger bedrohlich an und behandelte die Uni-
versitäten zunächst noch „mit wohlwollender Schonung".
Die im September 1818 in Aachen stattfindende Gipfelkonferenz der
europäischen Großmächte beschäftigte sich ebenfalls mit den von den
deutschen Universitäten ausgehenden „demagogischen Umtrieben" und for-
derte zu erhöhter Wachsamkeit auf. Grundlage der Debatte war eine vom
russischen Staatsrat Stourdza vorgelegte Denkschrift, nach der an den
deutschen Universitäten eine auf den national-demokratischen Einheitsstaat
zielende Revolution vorbereitet werde. Maßgebende Kreise glaubten allen
Ernstes an die Verschwörung der von Stein, Niebuhr, Jahn und Görres
geleiteten 40.000 Rebellen, die Deutschland in eine liberale Republik ver-
wandeln wollten.10
(Hg.), Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert
( = VHKzB, Bd. 25), Berlin 1968, S. 1 - 1 8 0 , hier S. 30 f. Vgl. auch E. BÜSSEM,
D i e K a r l s b a d e r B e s c h l ü s s e . . . ( 1 9 7 4 ) [ 1 6 9 ] , S. 1 0 1 - 1 2 8 , u n d E . R . H U B E R , D e u t -
s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 7 2 5 - 7 2 7 .
11 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 436.
12 Vgl. J. WÜST, Karl Folien... (1936) [162a], passim; zur Einschätzung seiner
radikalen Gruppierung: E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/
60) [49], Bd. 1, S. 724 f. und 731 f.
13 So T. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte... (1983) [17], S. 281. Vgl. dazu auch
E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 723 f.;
H . v o n TREITSCHKE, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [ 2 7 ] , B d . 2 , S. 4 4 2 .
184 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
14 Vgl. K.A. von MÜLLER, Karl Ludwig Sand... (1925) [160a], passim; H. von
TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 527. Zu Kot-
zebue: A . a . O . , S. 4 3 3 - 4 3 5 ; T. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte... (1983) [17],
S. 281.
15 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 530f.
16 Vgl. W. NEUGEBAUER, Die Demagogenverfolgungen... (1988) [172], S. 212; Jo-
hannes PAUL, Ernst Moritz Arndt. „Das ganze Teutschland muß es sein!"
( = PersG, Bd. 63/64, Göttingen - Zürich - Frankfurt/M. 1971, S. 94 - 97.
H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 2, S. 544,
bemerkt in diesem Zusammenhang: „Für Preußen und sein Verhältnis zur Nation
ward der Unsinn dieser Demagogenverfolgung wahrhaft verhängnisvoll."
17 Vgl. K. KETTIG, Demagogen Verfolgungen... (1982) [171], S. 36 f.
18 P. WENTZKE, G e s c h i c h t e d e r D e u t s c h e n B u r s c h e n s c h a f t . . . ( 2 1 9 6 2 ) [ 1 6 2 ] , B d . 1,
S. 358 f. Zur Organisation und zur personellen Ausstattung der politischen Polizei
vgl. neuerdings die gründliche Studie von W. SIEMANN, „Deutschlands Ruhe..."
( 1 9 8 5 ) [ 1 7 3 ] , S. 1 7 4 - 1 9 0 .
IX. Restauration und Reaktion 185
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188 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
mittel gab. Dieses auf fünf Jahre befristete Gesetz wurde am 16. August
1824 auf unbestimmte Zeit verlängert. 22
3) Das „Bundes-Untersuchungsgesetz" rief eine siebenköpfige „Central-
Untersuchungs-Commission" ins Leben, die in Mainz amtieren sollte. Sie
erhielt Weisungsbefugnisse gegenüber den einzelstaatlichen Verwaltungen
und konnte Haft- und Durchsuchungsbefehle durch deren Polizei ausführen
lassen. Ziel der Kommission war eine „möglichst gründliche und umfas-
sende Untersuchung und Feststellung des Tatbestandes, des Ursprungs und
der mannigfachen Verzweigungen der gegen die bestehende Verfassung und
innere Ruhe... gerichteten revolutionären Umtriebe und demagogischen
Verbindungen". Zu Mitgliedern der Kommission wurden Österreich, Preu-
ßen, Bayern, Hannover, Baden, Hessen-Darmstadt und Nassau gewählt.
Ihren Hauptbericht erstattete sie am 14. Dezember 1827. Nachdem sie neun
Jahre als eine Art Verfassungsschutz des Bundes tätig gewesen war, stellte
sie ihre Tätigkeit im Herbst 1828 ein. 2 3
4) Die ebenfalls beschlossene „Provisorische Exekutions-Ordnung" wurde
bereits am 3. August 1820 durch ein definitives Bundesgesetz abgelöst. Mit
ihm erlangte der Bund die Möglichkeit des Einschreitens gegen widerspen-
stige Gliedstaaten und die Kompetenz der Intervention gegen umstürzleri-
sche Bewegungen in den Einzelstaaten.
Da die Karlsbader Beschlüsse, wie alle Bundesgesetze, der landesrechtli-
chen Verkündung und Vollziehung bedurften, nahm Friedrich Wilhelm III.
durch eine Bekanntmachung vom 18. Oktober 1819 die Publikation vor.
Die zwei ergänzenden Verordnungen über die Zensur vom 18. Oktober 1819
und über die Universitäten vom 18. November 1819 regelten die Kontroll-
und Überwachungsmaßnahmen bis in die letzten Einzelheiten. 24
Königsberg, obwohl sie außerhalb des Bundesgebietes lag. Vgl. zu diesen Ver-
ordnungen Claudia SCHLEICH, Der Vollzug der Ausnahmegesetze von 1819 in
Preußen, Magisterarbeit am FB Geschichtswissenschaften der FU Berlin 1987,
passim.
25 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 341.
26 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 3, S. 436. Zur
personellen Stärke des „Häscherhaufens" vgl. W. SIEMANN, „Deutschlands
Ruhe..." (1985) [173], S. 1 8 2 - 1 8 7 .
27 Vgl. E. BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse... (1974) [169], S. 454.
28 Vgl. dazu W. NEUGEBAUER, Die Demagogenverfolgungen... (1988) [172], S. 216 -
223.
190 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
ausgeschaltet wurde; 2 9 die zweite betraf die seit dem November 1819 in
Wien stattfindenden Verhandlungen mit dem von Metternich angestrebten
Ziel, dem Statut des deutschen Bundes „endlich seine den Konservativen
genehme verbindliche Schlußfassung" zu geben. 30
Karlsbader Beschlüsse, preußische Vollzugsverordnungen, die Minister-
krise sowie die Wiener Schlußakte zeigen in ihrer Gesamtheit, daß der Streit
zwischen liberaler Verfassungsbewegung und Fürstenherrschaft auch in
Preußen erst in der „Grenzsituation von 1819/20" entschieden wurde.
Dementsprechend läßt sich in dieser Zeit in Preußen sogar noch eine
Verschärfung des Unterdrückungsinstrumentariums beobachten. Gleichzei-
tig mit der erwähnten „Instruktion für die außerordentlichen Regierungs-
bevollmächtigten bei den Universitäten" vom 18. November 1819 31 erschien
ein „Reglement für die künftige Verwaltung der akademischen Disziplin-
und Polizeigewalt bei den Universitäten", 32 das lediglich leichte Fälle, die
mit einem Verweis zu ahnden waren, dem Rektor überließ. Der Hauptzu-
ständige war der Universitätsrichter, ein den ordentlichen Professoren
gleichgestellter Regierungsbeamter mit Sitz und Stimme im Senat. Er konnte
die Verhaftung von Studenten anordnen und in Zivilrechts-, Straf- und
Disziplinarsachen bis zu vier Wochen Freiheitsstrafe verhängen. Bei Rele-
gation war der Senat zustimmungspflichtig; kam eine Einigung nicht zu-
stande, entschied der Staatskommissar. Seit einer Kabinettsorder vom 7. Juli
1821 konnte der Regierungsbevollmächtigte Studenten, die verdächtig
waren, unerlaubte Verbindungen zu unterhalten, ohne Mitwirkung des
Universitätsrichters oder des Senats sofort von der Universität entfernen. 3 3
Seit 1824 wurden alle burschenschaftlichen Verbindungen nicht mehr als
bloße Studentenorganisationen, sondern als geheime politische Verbindun-
gen angesehen und den entsprechenden Regelungen von 1798/1816 unter-
worfen. Dementsprechend waren für sie fortan die ordentlichen Gerichte
zuständig, die auf langjährige Festungsstrafen, auf lebenslangen Freiheits-
entzug oder sogar auf die Todesstrafe erkennen konnten. 3 4
29
S.o. S. 111.
30
H . - U . WEHLER, D e u t s c h e G e s e l l s c h a f t s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 8 7 ) [ 2 9 ] , B d . 2 , S. 3 4 2 .
31
A b d r u c k : E . R . HUBER ( H g . ) , D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 7 8 ) [ 5 0 ] , N r . 3 6 , S. 1 0 9 - 1 1 3 ; G S
1819, S. 2 3 3 - 2 3 8 ; zum Inhalt: E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 7 5 1 f.; C . SCHLEICH, D e r V o l l z u g d e r A u s n a h m e g e s e t z e . . .
(1987) [s.o. A n m . 24], S. 3 2 - 3 5 ; knapper: E. BÜSSEM, D i e Karlsbader Be-
s c h l ü s s e . . . ( 1 9 7 4 ) [ 1 6 9 ] , S. 4 5 2 - 4 5 4 .
32
Abdruck: GS 1819, S. 238; zum Inhalt: E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsge-
schichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 751 f.; C. SCHLEICH, Der Vollzug der Ausnah-
m e g e s e t z e . . . ( 1 9 8 7 ) [ s . o . A n m . 2 4 ] , S. 3 2 f f .
33
KO vom 7. VII. 1821 „betreffend die Bestrafung der Studierenden, welche uner-
laubte Verbindungen unterhalten"; zum Inhalt: E.R. HUBER, Deutsche Verfas-
sungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 1, S. 752; C. SCHLEICH, Der Vollzug der
Ausnahmegesetze... (1987) [s.o. Anm. 24], S. 49f.
34
A . a . O . , S. 50f.; E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 1, S. 752 f. Abdruck der KO vom 21. V. 1824: GS 1824, S. 122.
IX. Restauration und Reaktion 191
44 Vgl. I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 5 2 5 - 5 2 8 ;
Karl HAENCHEN, Zur revolutionären Unterwühlung Berlins vor den Märztagen
des Jahres 1848, in: FBPG, Bd. 55 [1944], S. 8 3 - 1 1 4 , hier S. 8 3 - 8 6 . Zur Poli-
zeistärke vgl. Hermann-Josef RUPIEPER, Die Polizei und die Fahndungen anläßlich
d e r d e u t s c h e n R e v o l u t i o n v o n 1 8 4 8 / 4 9 , in: V S W G , B d . 6 4 ( 1 9 7 7 ) , S. 3 2 8 - 3 5 5 ,
hier S. 332 f.
45 K.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 138f.
46 Zu den „Kölner Wirren" s. o. § 3, VIII, 4.
47 Vgl. dazu H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,
S. 3 4 7 ff.
IX. Restauration und Reaktion 195
48 A. a. O., S. 365.
49 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 43, S. 1 3 0 - 1 3 2 .
50 Vgl. H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2,
S. 366f.; Abdruck der drei Bundesbeschlüsse: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente...
( 3 1978) [50], Nr. 44 - 46, S. 1 3 2 - 1 3 6 . Zur Bundes-Zentralbehörde vgl. W. SIE-
MANN, „Deutschlands Ruhe..." (1985) [173], S. 9 3 - 1 0 8 . Wegen der Quellennähe
unentbehrlich: L.F. ILSE, Geschichte der politischen Untersuchungen... (1860)
[170], S. 265 ff. Preußen entsandte den Kammergerichtsrat von Eichmann in die
Untersuchungsbehörde.
196 § 3 Staat und Gesellschaft zwischen Reform und Revolution
54 Vgl. I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 530f.
55 E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 176,
Anm. 18.
56 W. NEUGEBAUER, Die Demagogen Verfolgungen... (1988) [172], S. 226; H. von
TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 4, S. 612.
57 Zu diesen Schlußfolgerungen kommt aufgrund der ihm vorliegenden Akten
198 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )
I. Der Regierungswechsel
Friedrich Wilhelm III. war ein beliebter König. Alles, was Gutes in Preußen
geschah, schrieb man dem König zu, seiner Gerechtigkeit und seiner Gut-
mütigkeit, während man die Summe der unbeliebten Maßnahmen seinen
Ministern und Ratgebern anlastete. Mit der Zeit fand sich die Öffentlichkeit
auch damit ab, daß Friedrich Wilhelm am 9. November 1824 mit der dreißig
Jahre jüngeren Gräfin Auguste v. Harrach eine morganatische Ehe einge-
gangen war. Die neue Gemahlin, vom König zur Fürstin von Liegnitz
erhoben, lebte mit ihm und pflegte ihn in Krankheitsfällen „wie eine rechte
Bürgerfrau". 2
Da seine Vorfahren Friedrich I. 1440, Georg Wilhelm 1640 und Friedrich
Wilhelm I. 1740 gestorben waren, glaubte Friedrich Wilhelm fest daran,
das Jahr 1840 nicht zu überleben. Tatsächlich schwanden im Laufe des
Frühjahrs seine Kräfte. Der Grundsteinlegung des Friedrich-Denkmals am
1. Juni konnte er nicht mehr beiwohnen. Er starb am 7. Juni 1840.
Als Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestieg, war das für die Öffentlich-
keit eine Stunde der Hoffnung. Er wurde „von den Liberalen mit hoff-
nungsvollen Wünschen, von den Konservativen mit dem Bewußtsein gehei-
men Einverständnisses, von der Beamtenschaft mit Skepsis und von der
und der Eifel, ergriffen hatte. Dieses Faktum erklärt auch die wohlwollende
Duldung der Aktion durch die preußischen Behörden. 6
Zu den mit dem Regierungswechsel zusammenhängenden Neuerungen
gehörte auch die allerdings erst im Dezember 1841 verfügte Lockerung der
Zensur. Der Charakter der gedruckten öffentlichen Meinung veränderte
sich schlagartig, vor allem seit auch der Druck von Lithographien und
Kupferstichen freigegeben wurde (28. Mai 1842). Angesichts der überschäu-
menden politischen Publizistik, der man endlich ein Ventil geöffnet hatte,
wurde das Experiment schrittweise wieder zurückgenommen und am
23. Februar 1843 eine neue Organisation der Zensurbehören geschaffen. 7
Zu dieser Zeit war die Euphorie, mit der man die ersten Maßnahmen des
neuen Königs begrüßt hatte, längst verflogen.
6 W. SCHIEDER, Kirche und Revolution... (1974) [179], S. 419 - 454. Sehr sarkastisch
äußert sich dazu H. v. TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27],
Bd. 5, S. 335 f.
7 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 543f.
1 Noch immer lesenswert ist das eingehende, mit „Die frohen Tage der Erwartung"
überschriebene Einleitungskapitel von Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Ge-
schichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 3ff., insbes. S. 4 0 - 4 8 . Ob der Oberprä-
sident v. Schön den Ständebeschluß vom September veranlaßt hat, ist umstritten.
Jedenfalls entsprach er seinen Intentionen (E. R. HUBER, Deutsche Verfassungs-
geschichte... [1957/60] [49], Bd. 2, S. 486, Anm. 44).
II. Der König und seine Ratgeber 203
Wilhelm zum Teil schon von seiner Kronprinzenzeit her kannte und
schätzte. Viele von ihnen hatten am „Politischen Wochenblatt" mitgearbei-
tet, der 1831 als Sprachrohr der romantischen Reaktionäre und Anhänger
einer altständischen Verfassung gegründeten konservativen Zeitschrift. Als
führender Kopf dieser Nebenregierung galt der 1849 zum Generaladjutanten
aufsteigende Leopold v. Gerlach (1790—1861). Neben ihm spielten auch
seine Brüder Ernst Ludwig, seit 1844 Oberlandesgerichtspräsident in Mag-
deburg, und Otto, seit 1847 Dom- und Hofprediger, eine wichtige Rolle,
ebenso der Generaladjutant Friedrich Wilhelm v. Rauch, der Kabinettsrat
Marcus Niebuhr, der Flügeladjutant Edwin v. Manteuffel, der Freiherr
v. Senfft-Pilsach, in dem der König einen besonders geschätzten Ratgeber
sah, und der spätere Hausminister Ludwig v. Massow. Auch den Staats-
rechtler Stahl, den Diplomaten Bunsen und den vielseitigen Radowitz rech-
nete man zu diesem inneren Zirkel, dessen Grenzen zu den durchweg
ebenfalls konservativen Ministern fließend waren: Die beiden Minister des
königlichen Hauses, Fürst Wittgenstein (bis 1851) und Graf Stolberg-Wer-
nigerode (1842—1848, seit 1851), die Kabinettsminister v.Lottum (bis
1841) und Ludwig Gustav v. Thile (1841 —1848) sowie die Innenminister
v. Rochow (bis 1842), v.Arnim-Boitzenburg ( 1 8 4 2 - 1 8 4 5 ) und v. Bodel-
schwingh (1845 — 1848) zählten teils mehr, teils weniger zu diesem Berater-
kreis. Auch der Bruder und Thronfolger des kinderlosen Königs, Prinz
Wilhelm, gehörte zu den stärksten Stützen der monarchischen Autorität,
wie sich vor allem im März 1848 zeigen sollte.
1 Vgl. I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S . 5 8 7 f .
III. Mißgriffe und Verfassungspläne 205
noch versäumen...?") und als Antwort ein „ehrenfestes J a " erbeten und
erhalten. Wer aber, so gaben die Kritiker zu bedenken, von seinen Unter-
tanen ein freies „Ja" erbitte, der gebe ihnen auch das Recht, „Nein" zu
sagen. Entsprechend seiner romantisch-idealistischen Grundstimmung nahm
der König diese euphorische Massenakklamation ernst und erinnerte seine
Untertanen gelegentlich daran. 2
Im Laufe der folgenden Monate verschlechterte sich die Stimmung weiter,
als der König dem Innenminister v. Rochow den Roten Adlerorden I. Klasse
mit Brillanten verlieh und — was langfristig bedeutsamer war — einige
überaus unpopuläre Personalentscheidungen fällte. Konservative bis reak-
tionäre Kräfte wurden in die Regierung (Eichhorn, v. Thile), an die Uni-
versität (Stahl, Schelling) und an das höchste Gericht, das Obertribunal
(Hassenpflug), berufen. Insbesondere Hassenpflug, der frühere hessische
Reaktionsminister, der in ganz Deutschland den Spottnamen „von Haß und
Fluch" trug, wurde zur Zielscheibe der Kritik. Das damals gerade populär
werdende Rheinlied („Sie sollen ihn nicht haben...") wurde in eine fünf-
strophige Parodie auf den verhaßten Reaktionär umgedichtet („Wir wollen
ihn nicht haben, den Herrn von Hassenpflug, den eine Schar von Raben zu
Preußens Adlern trug..."). 3
Ein gutes halbes Jahr nach seinem Regierungsantritt hatte Friedrich
Wilhelm IV. bei den Liberalen fast allen Kredit verspielt. Sie hatten in ihrem
anfänglichen Überschwang allerdings auch übersehen, daß der neue König
niemals daran gedacht hatte, ihre hochgespannten Erwartungen zu erfüllen.
Das betraf vor allem die Verfassungsfrage, die zum zentralen Konfliktstoff
im preußischen Vormärz werden sollte.
Die ersten spitzen Pfeile, die in dieser Frage auf den König abgeschossen
wurden, kamen wiederum aus Ostpreußen. Der dortige Oberpräsident
Theodor v. Schön ( 1 7 7 3 - 1 8 5 6 ) , einst einer der führenden Köpfe der Re-
formpolitiker, enger Mitarbeiter Steins und geistiger Vater der dem König
im September 1840 übergebenen Landtagsresolution, verfaßte eine sechs-
seitige Schrift „Woher und wohin?", in der er sich für die „Repräsentativ-
idee" aussprach und die Einberufung von „Generalständen" forderte. Er
sandte die an sich anonyme und nur in wenigen Exemplaren verbreitete
Schrift an den König, der sie trotz seiner grundsätzlichen Ablehnung („ge-
fällt mir nicht") ausführlich beantwortete. Dabei vertrat er wiederum seine
ziemlich patriarchalischen Anschauungen und sprach verächtlich von den
„constitutionellen Fürsten", die „durch ein Stück Papier", also eine ge-
schriebene Verfassung, für ihre Völker zu Fiktionen und abstrakten Figuren
geworden seien. Obwohl v. Schön durch diese Schrift als Beamter politisch
untragbar geworden war und auch zweimal seinen Rücktritt angeboten hat,
beließ ihn der König im Amt - zur großen Empörung der konservativen
Kreise um den Minister v. Rochow. 4
Der zweite Pfeil kam von dem Königsberger Arzt Johann Jacoby. In
seiner Schrift „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen", die
im Februar 1841 in Leipzig erschien, wies er nach, daß das preußische Volk
ein wohlbegründetes Recht auf eine Verfassung, eine „Konstitution", habe
und daß die Stände verpflichtet seien, dieses Recht einzufordern. Der König
sah in dem Buch Jacobys sofort eine revolutionäre Schrift. Eine Untersu-
chung gegen den Verfasser wurde eingeleitet und der Vertrieb des Buches,
auf Antrag Preußens, vom Bundestag verboten. 5
Die beiden Initiativen machten dem König deutlich, daß er seine verfas-
sungspolitischen Vorstellungen endlich konkretisieren müsse. Als geeignetes
Forum dafür sah er die Provinzial-Landtage an, die er — nach vierjähriger
Unterbrechung — sämtlich zum Frühjahr 1841 einberief. In seinem Pro-
positionsdekret erlaubte Friedrich Wilhelm die künftige Veröffentlichung
der Protokolle der Landtagsverhandlungen und versprach die regelmäßige
Einberufung der Landtage alle zwei Jahre. Außerdem sollten für die da-
zwischenliegende Zeit Landtagsausschüsse gewählt werden, die er, einzeln
oder gemeinsam, um Rat fragen und „ihre Mitwirkung in wichtigen Lan-
desangelegenheiten stattfinden lassen" könne. Dabei blieb zwar völlig un-
klar, welche Funktionen diese Ausschüsse haben und wie ihre „Mitwirkung"
praktisch aussehen sollte, aber selbst einige kritische Köpfe glaubten, aus
diesen wohlwollend präsentierten Vorschlägen die Einlösung des Verfas-
sungsversprechens von 1815 herauslesen zu können. So verliefen die Land-
tagsversammlungen in ruhiger Erwartung der königlichen Verfassungspläne;
radikalere Petitionen wurden überstimmt. Nur in Posen gab es Probleme,
die aber mit der Verfassungsfrage nur am Rande zu tun hatten. 6
Im Jahre 1842 verschärfte sich die Verfassungsdebatte aus drei Gründen,
begünstigt durch die im Dezember 1841 eingetretene Lockerung der Zensur.
Erstens war die kaum verbreitete Schrift Schöns von 1840 in Straßburg
nachgedruckt worden und auf dem Büchermarkt erschienen. Die von Georg
Fein mit einem langen, antipreußischen und königsfeindlichen Nachwort
versehene Abhandlung wirkte in der erweiterten Fassung wie eine „Brand-
schrift", und diesmal setzten sich die konservativen Kräfte um v. Rochow
durch: Dem ungeliebten Schön, an dessen Stuhl man schon lange gesägt
hatte, wurde sein drittes Abschiedsgesuch am 31. März 1842 bewilligt. Aber
auch v. Rochow verlor sein Ministeramt (14. April 1842). Da beide Entlas-
sungen geheim blieben, geschah das Kuriosum, daß beim Erscheinen der
Schönschen Schrift ein entlassener Minister über das Werk eines entlassenen
Oberpräsidenten zu gutachten hatte. Erst am 3. beziehungsweise am 13. Juni
wurden die Entlassungen bekanntgegeben. 7
Das zweite Ereignis, das, über die Verfassungsfrage hinausgehend, von
einem äußerst lebhaften publizistischen Echo begleitet wurde und zu einer
wachsenden Politisierung der Öffentlichkeit führte, war der Prozeß gegen
Johann Jacoby, der vor dem Berliner Kriminalgericht wegen Hochverrats,
Majestätsbeleidigung und „frechen, unehrerbietigen Tadels der Landesge-
setze" angeklagt und zu zweieinhalb Jahren Festungshaft verurteilt wurde.
Erst in zweiter Instanz erkannte das Berliner Kammergericht am 2. Februar
1843 auf Freispruch. Die Broschüre Jacobys, der in einer Neuauflage den
Text des Kammergerichtsurteils mit abdrucken ließ, fand große Verbreitung
und drang selbst in Kreise vor, die sich bisher wenig mit Politik beschäftigt
hatten. Durch die „Vier Fragen" des streitbaren Ostpreußen „wurde eine
neue politische Ära geschaffen, sie zogen die große Masse des Volks in den
Verfassungskampf hinein". 8 Jacoby wurde zum Sprecher eines volkstümli-
chen Radikalismus, der viel breitere Schichten erfaßte als der intellektuelle
Radikalismus, den es schon vorher gegeben hatte. 9
Mit großen Erwartungen verfolgte die Öffentlichkeit — drittens — den
Zusammentritt und die Arbeit der „Vereinigten Ausschüsse" (18. Oktober
bis 10. November 1842). Auf königliche Weisung waren von allen preußi-
schen Provinziallandtagen Vertreter aus ihrer Mitte (nach Ständen getrennt)
gewählt und nach Berlin entsandt worden, insgesamt 44 Vertreter der
Ritterschaft, 32 der Städte und 20 der Landgemeinden. Der unterschied-
lichen Sozialstruktur der preußischen Landesteile trug der Verteilungsschlüs-
sel dadurch Rechnung, daß die zwölf Ausschußmitglieder jeder Provinz in
den sechs östlichen Provinzen im Verhältnis 6 : 4 : 2 , in den beiden westlichen
im Verhältnis 4 : 4 : 4 nominiert wurden. 10
Da eine klare Kompetenzzuweisung wiederum ausblieb, war das nächste
Mißverständnis programmiert: Dem König galten die Vereinigten Aus-
schüsse nicht etwa als der Anfang einer Überleitung Preußens in das kon-
stitutionelle System, sondern als „die Krönung der ständischen Entwick-
lung". Die von der Regierung vorgelegten Beratungsthemen enthielten kei-
nen politischen Zündstoff; es ging um die bereits beschlossene Ermäßigung
der Salzsteuer und die Benutzung der Privatflüsse. Das dritte Beratungs-
thema, der Eisenbahnbau, erhielt aber unversehens politische Brisanz: Zu-
15 Vgl. dazu I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 5 8 8 -
592 (mit Lit.). Einen Teilbereich behandelt aus marxistischer Sicht Kurt WER-
NICKE, Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung 1830— 1849 ( =
BtrGBArb), Berlin 1978.
210 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )
Politiker; zur Lösung praktischer Aufgaben fehlte ihnen die Vorschule und
der politische Blick".
Diese Charakterisierung paßte ziemlich genau auf Heinrich Ludwig
Tschech, den ehemaligen Bürgermeister von Storkow, der am 26. Juli 1844
ein Pistolenattentat auf Friedrich Wilhelm IV. und seine Gemahlin Elisabeth
verübte, dessen Motive bis heute nicht endgültig geklärt sind. Lediglich der
König erlitt eine unbedeutende Verletzung; der Täter wurde ergriffen und
nach erfolgtem Prozeß am 14. Dezember 1844 in Spandau hingerichtet. Auf
ein Gnadengesuch, dem vom König mit großer Sicherheit stattgegeben
worden wäre, hatte Tschech verzichtet. 16
Kaum hatte sich die Erregung der liberalen Kräfte über diese Hinrichtung
gelegt, als es neuen Grund zur Aufregung gab. Am 21. Mai 1845 kamen
zwei oppositionelle badische Landtagsabgeordnete, Johann Adam v. Itzstein
und Friedrich Hecker, auf einer „Vergnügungsreise" nach Berlin. Am 23.,
morgens um 5.00 Uhr, erschien die Polizei bei ihnen mit dem Befehl, Berlin
und Preußen mit dem nächsten Eisenbahnzug zu verlassen. Alle Widersprü-
che halfen nicht, sie mußten abreisen. Hatte die kurz vorher erfolgte
Ausweisung des freisinnigen Schriftstellers Ernst Dronke schon Wellen
geschlagen, so hallte jetzt durch ganz Deutschland ein Schrei der Empörung.
Fünf Tage später veröffentlichte eine Berliner Kunsthandlung eine Zeitungs-
anzeige, daß sie wegen der vielfachen Nachfrage Porträts von Itzstein und
Hecker bestellt habe, die demnächst eintreffen würden. Die Angelegenheit
trug dazu bei, daß der Innenminister v.Arnim seinen Hut nahm. 1 7
Tief erschüttert durch den Anschlag auf seine Person, wandte sich Fried-
rich Wilhelm IV. in der zweiten Jahreshälfte 1844 verstärkt seinen Verfas-
sungsplänen zu. Zur Erläuterung des von ihm entwickelten Projektes un-
terstrich er in einem Schreiben an Metternich zunächst das, was er nicht
wollte: „Ich will bestimmt und entschieden 1. keine Nationalrepräsentation,
2. keine Charte, 3. keine periodischen Fieber, d. h. periodischen Reichstage,
4. keine Reichstagswahlen..., weil ich König von Preußen bleiben... will."
Im übrigen hoffe er, „jedes fernere Begehren des Fortschritts nach den
Theorien des Tages nachdrücklich und wohlgemut zurückzuweisen". 18 Vor-
gesehen war ein dreistufiger Aufbau ständischer Vertretungskörperschaften
— von den Provinziallandtagen über die Vereinigten Ausschüsse bis hin
zum Vereinigten Landtag. Im Sommer 1845 beauftragte der König den
Ministerrat, das Verfassungswerk in diesem Sinne vorzubereiten.
4 Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei H.-U. WEHLER, Deutsche Ge-
sellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, Kap. 4/2, S. 6 4 1 - 6 5 9 : Agrar- und
Gewerbekrisen von 1845 —1848; W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte
Preußens... (1984) [47], S. 454.
214 § 4 Der preußische Vormärz (1840 - 1 8 4 7 )
TABELLE 3 9
Preußische Agrardurchschnittspreise 1844-1850
(in Scheffel/Silbergroschen bzw. in Mark/Tonne)
1844 40 57 32 21 13 137
1845 51 65 38 26 14 155
1846 70 86 50 33 21 206
1847 87 110 67 40 30 263
1848 38 62 32 22 17 156
1849 31 61 25 18 13 147
1850 36 58 28 20 14 139
TABELLE 4 0
Preußische Handelsbilanz bei Weizen und Roggen 1846 — 1848
(in Millionen Scheffel)
kerung eine außergewöhnlich lange Zeit ihr Leben unterhalb der Hunger-
grenze zu fristen versuchen (siehe Tabelle 41 auf S. 215).
2) Daß der Absatz fast aller handwerklichen Produkte 1846 ins Stocken
geriet, weil die Konsumenten das Geld für Lebensmittel ausgeben mußten,
verstärkte noch die strukturelle Krise, in der sich das preußische Handwerk
seit längerem befand. Die starke Zunahme der Meister und Gesellen hatte
zur „Übersetzung" vieler Handwerkszweige geführt: Das Angebot an hand-
werklicher Arbeit ging weit über die Nachfrage hinaus. Betroffen davon
waren insbesondere zahlreiche „Alleinmeister", die keine Gesellen beschäf-
tigten und oft am Rande des Existenzminimums vegetierten. Arbeitslosigkeit
und Verarmung waren die Folgen; „der Pauperismus fraß sich immer tiefer
in das Handwerk hinein" (Wehler). Um die Jahrhundertmitte gehörten
75 Prozent aller Handwerker Berlins 5 zur Gruppe der bedürftigen, vielfach
„proletaroiden" Kleinmeister, von denen viele wegen Armut von der Zah-
lung der Gewerbesteuer befreit waren. Von über 70 Gewerbezweigen gab
es nur drei in Berlin, in denen alle Selbständigen auch Gewerbesteuer
5 I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 542 - 545 und
550 f.
IV. Verschärfung der politischen und sozialen Spannungen 215
TABELLE 4 1
Lebensmittelpreise in 63 preußischen Städten 1845 — 1848
(Jahrespreis auf der Basis der monatlichen Durchschnittspreise;
in Scheffel/Silbergroschen)
TABELLE 4 2
Nettoinvestitionen und Kapitalstock im deutschen Eisenbahnbau (1846/47)
(in Millionen Goldmark)
1846 1847
3 S.o. S. 111.
4 H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 6 1 9 -
622; das Zitat: S. 620. Während sich Friedrich Wilhelm III. gegenüber den
Eisenbahnen eher reserviert verhalten hatte, sprach sein Nachfolger schon 1838
davon, daß „diesen Karren, der durch die Welt läuft, ... kein menschlicher Arm
mehr" aufhalten könne.
220 § 4 Der preußische Vormärz (1840 - 1 8 4 7 )
TABELLE 4 3
Erfolgszahlen des frühen preußischen Eisenbahnbaus
1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850
1 Deutscher Bund 461 677 922 1310 1758 2151 3291 4317 5002 5458 5875
Preußen 185 395 588 815 924 1106 1972 2424 2718 2880 2967
2 Verzinsung
der preußischen 3,9 3,8 3,9 3,9 3,5 3,6 3,7 3,8 4,4 4,0 4,3
Staatsanleihen
3 Verzinsung
der Privat- 5,1 5,6 5,0 6,2 5,0 5,5 5,4 5,1 3,2 3,7 4,4
eisenbahnen
Von den 1850 geförderten 4,56 Millionen Tonnen kamen etwa 21 Prozent
aus Oberschlesien und rund 14 Prozent aus dem Saarrevier. 5
TABELLE 4 4
Die Steinkohlenproduktion in Preußen 1840 — 1850
(in Millionen Tonnen)
5 Berechnet nach den Zahlen bei H.-U. WEHLER, a. a. O., S. 626 f. Vgl. auch
Tabelle 44.
6 Vgl. dazu I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 5 7 3 -
580.
7 Heinrich HEINE, Artikel vom 5. Mai 1843, in: Ders., Säkularausgabe. Werke,
Briefwechsel, Lebenszeugnisse, hg. von den Nationalen Forschungs- und Ge-
denkstätten... in Weimar und dem C.N.R.S. in Paris. Bd. 10: Pariser Berichte
222 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )
TABELLE 4 5
Zusammensetzung des preußischen Vereinigten Landtags von 1847
Brandenburg 11 32 23 12 78
Ost- und Westpreußen 5 45 28 22 100
Pommern 1 24 16 8 49
Posen 5 22 16 8 51
Schlesien 24 36 30 16 106
Sachsen 7 30 24 13 74
Westfalen 12 21 20 20 73
Rheinprovinz 5 27 25 25 82
Als enttäuschend empfanden die Liberalen bei dieser Einladung, daß der
Vereinigte Landtag künftig nicht regelmäßig, sondern nur auf königlichen
Wunsch zusammentreten solle; auch die ihm zugedachten Kompetenzen
entsprachen nicht den Erwartungen der konstitutionellen Kreise. Die Ent-
täuschung steigerte sich noch, als der König in seiner Thronrede zur
Eröffnung des Landtages am 11. April 1847 erklärte, daß er es „nie und
nimmermehr zugeben werde, daß sich zwischen unseren Herrgott im Him-
mel und dieses Land ein beschriebenes Blatt gleichsam als eine zweite
Vorsehung eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren und durch
sie die alte, heilige Treue zu ersetzen". Ausdrücklich lehnte er es ab, das
natürliche und gerade in Preußen „durch seine innere Wahrheit so mächtig
machende Verhältnis zwischen Fürst und Volk in ein konventionelles, kon-
stitutionelles zu wandeln" 4 - offensichtlich hatte der König seit seinem
Widerwillen gegen alle „auf Pergament geschriebenen Staatsgrundgesetze
(1840) und der Bemerkung vom „papiernen Wisch" (1842) nichts dazuge-
lernt. 5 Zwar hatte er dem Landtag die Beschlußkompetenz über Steuern
und Staatsschulden zugebilligt; in den übrigen Fragen einschließlich even-
tueller Kriegsanleihen war er aber „auf Rat und Bitte" beschränkt. Auch
die Periodizität wurde ihm verweigert. 6
3 H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 6 6 1 f., g i b t f ü r
einige Provinzen geringfügig von Huber abweichende Zahlen. Die Mitglieder des
Herrenstandes bildeten eine, alle übrigen eine zweite Kurie.
4 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 619.
5 Die beiden Äußerungen finden sich in einer KO vom 4. X . 1840 und in einem
Brief des Königs an v. Schön vom 21./28. XII. 1842 (beide zit. von E. R. HUBER,
Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 486f.).
6 H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 6 4 9 , s p r i c h t in
diesem Zusammenhang von einer dem König vorschwebenden „Minimalisierung
repräsentativer Rechte".
224 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )
gleichen Sitzung „Erpressung" vorwarf, weil sie das Junktim von Periodi-
zität und Ostbahn-Anleihe hergestellt hatten.
Ohne Ergebnis blieb auch das Regierungsprojekt, die städtische Mahl-
und Schlachtsteuer durch die Klassensteuer zu ersetzen und den mehr als
400 Taler Verdienenden eine zwei- bis dreiprozentige Einkommensteuer
aufzuerlegen. 10
Erregte Debatten gab es über die Regierungsinitiative, das Emanzipations-
edikt aus dem Jahre 1812, das bisher nur in den vier alten Provinzen galt,
im gesamten Staatsgebiet einzuführen. Das neue Judengesetz, das erst nach
Abschluß des Landtages am 23. Juli 1847 veröffentlicht wurde, ließ die
Sonderstellung der Juden im Großherzogtum Posen bestehen. Wegen der
großen Zahl der dort lebenden Juden (1820 etwa 57.000) war die Regierung
von jeher davor zurückgeschreckt, das Emanzipationsedikt auf diese Provinz
auszudehnen. Die Juden hatten dort nur die Rechtsstellung von „geschützten
Untertanen". Ihre staatsbürgerliche Gleichheit erreichten sie erst durch die
Verfassung von 1848/50. 1 1
Die letzte Aufgabe des Vereinigten Landtages bestand in der Wahl der
Abgeordneten für den Vereinigten Ausschuß, der zwischen zwei Landtags-
sessionen von der Regierung zur Beratung von Gesetzentwürfen herange-
zogen werden konnte. Da der König inzwischen die erneute Berufung eines
Landtages binnen vier Jahren in Aussicht gestellt hatte, war für den zu
wählenden Ausschuß eine längere Funktionszeit abzusehen. Eine radikale
Oppositionsgruppe um den westfälischen Landrat Georg v. Vincke trat —
wiederum aus Rechtsgründen — für einen Wahlboykott ein, fand aber keine
Mehrheit. So wählten am 25. Juni 1847 284 Delegierte ohne jede Einschrän-
kung sowie weitere 157 unter gewissen, faktisch bedeutungslosen Vorbe-
halten. 58 Abgeordnete, darunter 28 Rheinländer mit Hansemann und
Mevissen, nahmen an der Wahl nicht teil. Nur mit Mühe konnte der König
davon abgehalten werden, diese hartnäckigen Opponenten, unter denen
sich vier Landräte befanden, zu maßregeln.
Einen Tag nach dieser Wahl schloß der Regierungskommissar, Innenmi-
nister v. Bodelschwingh, die erste große preußische Ständeversammlung mit
der vielsagenden Bemerkung, „daß die Ergebnisse des Vereinigten Landtages
weniger fruchtbringend für das Land gewesen sind, als sie es hätten sein
können". Die Doppeldeutigkeit dieser Worte war symptomatisch für die
ambivalente Stimmung nach Abschluß dieser Versammlung mit ihren „so
geistreichen und doch so wunderlich verworrenen Verhandlungen"
(Treitschke). Niemand wußte genau, wie es nun weitergehen solle; allein
Friedrich Wilhelm IV. glaubte trotz seines vorübergehenden Unmuts noch
immer, die Zukunft seines Verfassungswerkes fest in der Hand zu haben.
Sonst herrschte allenthalben eine merkwürdige Mischung von Unsicherheit,
Mißmut, Resignation und Aufbegehren. Niemand aber, so kennzeichnete
Treitschke sehr treffend diese Situation, trug größere Schuld an dieser
10 H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 7 0 9 f .
11 A. a. O., S. 709; ausführliche Darstellung: H. von TREITSCHKE, Deutsche Ge-
schichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 6 2 9 - 6 3 6 .
226 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )
Verstimmung als der König, „der die Nation so ganz väterlich nach seinen
unerforschlichen Ratschlüssen gängeln wollte". 1 2
Während im Weißen Saal des Schlosses die Debatten des Landtages ihren
Lauf nahmen, verkaufte man in Berlin „Konstitutions-Pfannkuchen", denen
der Inhalt fehlte. 13 Die Aufmerksamkeit, mit der die politisch interessierten
Kreise nicht nur der Hauptstadt die Debatten des Vereinigten Landtags
verfolgten, erklärt sich auch daraus, daß die Verhandlungen umgehend
bekanntgemacht wurden. Erstmals in der Geschichte des preußischen Par-
lamentarismus hatte man acht „Geschwindschreiber" eingestellt, deren „ste-
nographische Berichte" vollständig in der „Allgemeinen Preußischen Zei-
tung" abgedruckt wurden, offensichtlich aufgrund eines Erstdruck-Privilegs,
das sich als äußerst lukrativ erwies. Von den acht nach dem System von
Stolze arbeitenden Stenographen wurden bald vier entlassen und durch
Gabelsberger-Schüler, die bereits als sächsische Landtagsstenographen tätig
gewesen waren, ersetzt. Unter ihnen befand sich Franz Wigard, der später
als Herausgeber der stenographischen Berichte der Frankfurter National-
versammlung bekannt wurde. Nach Abschluß des Landtages wurden die
„stenographischen Berichte" in mehreren Buchausgaben publiziert. 14
Die zunehmende Politisierung einer breiteren Öffentlichkeit im Frühjahr
1847 beruhte auf einer rapiden Verschlechterung der Versorgungslage. Nach
einem harten Winter machte sich eine allgemeine Verknappung der Le-
bensmittel bemerkbar, nicht zuletzt eine Folge der Mißernte des Vorjahres.
Als die Lebensmittelpreise stiegen und stiegen, entlud sich die wachsende
Erregung am 21. April, als für die Metze Kartoffeln fast das Vierfache des
sonst üblichen Preises verlangt wurde. Die Plünderung der Kartoffelstände,
meist durch einkaufende Frauen ausgelöst, breitete sich über alle Märkte
Berlins aus und ging in eine tumultuarische Erregung über, die große Teile
der Stadt ergriff. Die Menschen wogten durch die Straßen, plünderten
Bäcker- und Fleischerläden, randalierten und demolierten. Die Zwischen-
fälle wiederholten sich am 22. und 23. April. Aus den Vorstädten zogen
Scharen „zerlumpten Gesindels" zum Alexanderplatz und führten radikale
Parolen auf den Lippen. Die Revolution der Armen, von der Grunholzer
gesprochen hatte, schien auszubrechen. Nur mit Hilfe des herbeigerufenen
Militärs konnte die Ruhe nach drei Tagen wiederhergestellt werden.
Über 300 Teilnehmer an der „Kartoffelrevolution" wurden verhaftet.
Sechs Untersuchungsrichter arbeiteten von früh bis spät und verurteilten
viele zu schweren Gefängnis- oder Zuchthausstrafen. Zweifellos war die
„Kartoffelrevolution" in erster Linie eine aus der unerträglich gewordenen
Not entstandene Hungerrevolte und kein bewußter, politisch motivierter
Aufstand, wenn sich auch politische Forderungen mit den wirtschaftlichen
verbanden. 15
12 A . a . O . , S. 6 4 1 - 6 4 3 .
13 Adolf STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt.
Geschichte und Sage, Berlin 3 1880, S. 940 f.
14 H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 6 9 8 f .
15 Vgl. dazu I. MIECK, Von der Reformzeit zur Revolution... ( 2 1988) [16], S. 600f.
VI. 1847 - Am Vorabend der Revolution III
Der neuerdings vertretenen These, daß die Hungerrevolten des Frühjahrs 1847
den Auftakt eines sich bis zum Sommer 1849 hinziehenden Protestzyklus bildeten
(Manfred GAILUS, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten
unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1 8 4 7 - 1 8 4 9 [ = VMPIG, Bd. 96],
Göttingen 1990, passim), wird man zustimmen können; den weitergehenden
Folgerungen aus der detailfreudigen Untersuchung der „Straßenpolitik" ist, behält
man die Gesamtzusammenhänge im Blick, eher mit Skepsis zu begegnen.
16 H . - U . W E H L E R , D e u t s c h e G e s e l l s c h a f t s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 8 7 ) [ 2 9 ] , B d . 2 , S. 6 5 7 f .
17 H. von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 522f.
18 I. M I E C K , V o n d e r R e f o r m z e i t z u r R e v o l u t i o n . . . ( 2 1 9 8 8 ) [ 1 6 ] , S. 6 0 1 .
228 § 4 Der preußische Vormärz ( 1 8 4 0 - 1 8 4 7 )
19 Über die handelspolitischen Aspekte und die diplomatische Niederlage, die Preu-
ßen einstecken mußte, informiert ausführlich: H. von TREITSCHKE, Deutsche
Geschichte... ( 1 8 7 9 - 1 8 9 4 ) [27], Bd. 5, S. 5 4 7 - 5 5 3 .
VI. 1847 - Am Vorabend der Revolution 229
ausgesetzt. Wie schon in früheren Fällen wurde auch diesmal keins der
Todesurteile vollstreckt. 20
Nur vier Monate nach dem Ende des Vereinigten Landtages, im Oktober
1847, erschien aus der Feder des Leipziger Historikers Karl Biedermann die
„Geschichte des ersten preußischen Reichstags", in der er das Kardinalpro-
blem des preußischen Vormärz noch einmal auf den Punkt brachte und
unumwunden den Übergang dieses Staates zum Konstitutionalismus for-
derte. Das nicht erfüllte Verfassungsversprechen der Reformzeit belastete
die politische Zukunft Preußens in unerhörter Weise: „Sieben Jahre sind
verflossen, die nicht wiederkehren. Im tiefsten Schmerze sorge ich, daß,
weil das Mögliche nicht versucht worden, jetzt das Unmögliche unternom-
men werde", orakelte im Juni 1847 der königliche Intimus Radowitz; 21 ein
halbes Jahr später zog Camphausen die politische Bilanz des preußischen
Vormärz: „Ein Wort hätte hingereicht, den Verfassungsstreit in Preußen auf
immer zu beendigen; es ist nicht gesprochen worden, die Folgen müssen
getragen werden; die Geschichte aber wird richten zwischen der Regierung
und uns." 2 2
auch gelegentlich murrend, getreulich erfüllt hatten, wollte er, als eine Art
Belohnung, „den gehorsamen Kindern das letzte Geschenk seiner väterlichen
Huld, die periodische Berufung des Landtags" (Treitschke), ankündigen.
Dies geschah in der Abschlußsitzung des Ausschusses am 6. März 1848. 1
Diese lang ersehnte Bewilligung der Periodizität erfolgte zu einer Zeit,
als das revolutionäre Donnergrollen längst aus Frankreich, Italien, Baden,
Württemberg, Bayern, Sachsen und Hessen-Darmstadt auch nach Preußen
hinübertönte; sie kam mindestens ein Jahr zu spät und ihre Wirkung
verpuffte in den vorrevolutionären Erregungen der frühen Märztage.
1 Vgl. d a z u H . OBENAUS, A n f ä n g e d e s P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 4 6 ] , S. 7 1 1 .
2 K.-G. FABER, Deutsche Geschichte... (1979) [12], S. 2 0 8 - 2 1 2 ; V. VALENTIN,
Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31) [213], Bd. 1, S. 338 ff.; H.-U.
WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 703 - 717.
I. Das Ubergreifen der Revolution auf Deutschland 231
v. Prittwitz: „Die Stimmung wurde jetzt auch unheimlich, man fühlte sich
unbehaglich in der eigenen Haut; die untersten Volksklassen nahmen eine
in die Augen springende düstere Physiognomie an. An der Börse sanken die
Kurse in fast unerhörtem Maße, ... auch mit den Kommunalbehörden war
man unzufrieden." Prittwitz sah voraus, „daß bei dem nicht unwahrschein-
lichen Eintritt von Volksbewegungen diese von ganz anderer Stärke sein
würden als die des vorhergegangenen Jahres". Vier Tage später bemerkte
er „die veränderte, herausfordernde, beinahe freche Haltung ..., welche die
unteren Schichten der Einwohnerschaft, namentlich aber die Gehilfen des
Handwerkerstandes, nach und nach in immer steigendem Verhältnis an-
nahmen". 7
Hinsichtlich des Verfassungsstreites, der trotz aller darüber hinausgehen-
den Forderungen der Ausgangspunkt des Konfliktes war und sein Kernstück
blieb, fehlte es nicht an wohlgemeinten Ratschlägen. Weitergehende Er-
wägungen der Regierung trafen sich mit mehreren Vorschlägen (Graf Dön-
hoff, Hansemann, Brünneck u.a., Graf Zech-Burkersroda), die das Heil in
der Flucht nach vorn sahen und zur Verhinderung der drohenden Revolution
die umgehende Berufung des mit erweiterten Kompetenzen ausgestatteten
Vereinigten Landtages empfahlen. „Nur der schnelle Übergang zum vollen
konstitutionellen Repräsentativsystem konnte Preußen im Frühjahr 1848
vor dem Umsturz retten" (Huber).
Der König zögerte; noch ahnte er nicht, daß — nach Treitschkes treffen-
der Einschätzung — „eine neue Zeit gekommen war". Wenn ihm am
11. März die sofortige Einberufung des Landtages als ein rettender Ausweg
erschienen sein soll, beeilte er sich jedenfalls nicht, diesen Gedanken in die
Tat umzusetzen, denn das Einberufungspatent erschien erst am 14. März 8
— viel zu spät, um die inzwischen hochgehenden Wogen zu glätten: Die
seit einer Woche andauernden Demonstrationen und Versammlungen hatten
am 13. März bereits zu ersten bewaffneten Konflikten mit dem Militär
geführt.
Eigentliches Ziel der Opposition war es, einen Katalog von neun For-
derungen, die eine „In den Zelten" stattfindende Volksversammlung am
7. März beschlossen hatte, in Form einer „Adresse" dem König zu über-
geben. Als das nicht gelang - der Polizeipräsident v. Minutoli schlug vor,
die Adresse durch die königliche Stadtpost ins Schloß befördern zu lassen
- setzte sich der Gedanke einer „Sturmpetition" nach süddeutschem Muster
durch: Man wollte die Adresse im Rahmen einer Massendemonstration vor
dem Schloß überreichen. 9
Mit den dezidiert politischen „Märzforderungen" verknüpfte sich in
Berlin der zusätzliche Wunsch nach Aufstellung einer wirksam bewaffneten
7 K . L . v o n PRITTWITZ, B e r l i n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 5 ) [ 2 0 0 ] , S. 1 8 , 2 5 u n d 4 5 . D i e s e 1985
edierten Aufzeichnungen stellen eine außerordentlich wichtige Quelle für die
Märzereignisse in Berlin dar.
8 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 148, S . 4 4 4 f .
9 Dies und die folgenden Angaben nach G. RICHTER, Zwischen Revolution und
Reichsgründung... ( 2 1988) [209], S. 6 0 7 - 6 1 3 .
I. Das Übergreifen der Revolution auf Deutschland 233
Bürgerwehr. Die Entscheidung fiel am Abend des 17. März, als eine Bür-
gerversammlung drei Entscheidungen fällte:
1) Sie beschloß eine von dem Publizisten Dr. Woeniger auf vier zentrale
Punkte (Militärrückzug, Bürgerbewaffnung, Pressefreiheit, Einberufung des
Landtages) reduzierte Adresse, die neue Prioritäten setzte.
2) Diese Resolution sollte am folgenden Nachmittag im Rahmen einer
Großdemonstration übergeben werden, an deren Spitze die aus dem Bür-
gertum rekrutierten, mit Armbinden und Holzstäben ausgerüsteten Ord-
nungstrupps stehen sollten. Diese Entscheidung war möglich geworden,
weil sich auch der Reformflügel der Berliner Bürgerschaft zu einer solchen
Massenpetition entschlossen hatte.
3) Schließlich wurde die gesamte Bevölkerung eingeladen, zu der De-
monstration am 18. März um 14.00 Uhr auf dem Schloßplatz zu erscheinen.
Daß diese Massenmobilisierung das geplante Unternehmen aller Wahr-
scheinlichkeit nach unkalkulierbar machen würde, haben die Verantwort-
lichen wohl bewußt in Kauf genommen. Die Nachricht vom Sturz Metter-
nichs, die am 16. März zur Gewißheit geworden war, hat die Eskalations-
bereitschaft der Berliner Oppositionellen zweifellos gefördert. „Nicht nur
die Berliner Demokraten und die kleine Gruppe um Woeniger vertraten
dieses Konzept, sondern auch die aus Handwerk und Bildungsschichten
stammenden Schutzbürger, ja sogar Stadtverordnete und ein Teil des Ma-
gistrats stellten sich hinter die Bewaffnungsadresse." Die allgemeine Ein-
schätzung der Lage war so, daß man für den 18. März mit einer Konfron-
tation rechnete. 10
Der König, davon informiert, daß man „in der Nachmittagsstunde auf
dem Schloßplatz in politischem Sinne agitieren" wolle, trat die Flucht nach
vorn an: Er gewährte die Pressefreiheit 11 und erließ ein Patent „wegen
beschleunigter Einberufung des Vereinigten Landtages", der nicht erst am
27., sondern bereits am 2. April zusammentreten sollte. 12
Ein Vergleich der beiden Einberufungspatente vom 14. und vom 18. März
zeigt, was für ein politischer Erdrutsch inzwischen erfolgt war. Hatte sich
das erste Dokument auf ziemlich allgemeine Aussagen beschränkt, enthielt
Als der sich am Sonnabend, dem 18. M ä r z , seit den Mittagsstunden auf
dem Schloßplatz versammelnden Menge die beiden königlichen Patente
bekanntgemacht wurden, herrschte zunächst Zufriedenheit. Der Anblick
der im Schloßhof postierten Soldaten erinnerte die Menge jedoch daran,
daß man eigentlich gekommen war, um Bürgerbewaffnung und Militärab-
zug zu fordern. Die Rufe „Militär zurück!" wurden lauter und zahlreicher;
die Jubelversammlung wurde zur Protestdemonstration. „König, Minister
und Stadthonoratioren sahen hilflos, wie ihnen die Massen entglitten"
(Richter) und immer heftiger gegen die Schloßportale drängten.
Es ist wahrscheinlich, daß die konservative Partei um den Prinzen Wil-
helm eine solche Entwicklung vorausgesehen hatte und deshalb den König
bestimmte, den als konziliant bekannten Gouverneur v. Pfuel, der kurzzeitig
nicht auffindbar war (er hatte zu Hause „einige eilige Briefe zu schreiben"!),
durch den Generalleutnant v. Prittwitz, den Kopf der „Militärpartei", zu
ersetzen. Er erhielt seine Ernennung zum Oberbefehlshaber der in und um
Berlin befindlichen Truppen gegen 14 Uhr, wurde unverzüglich zum König
bestellt, der ihm eröffnete, „daß er die Kavallerie nehmen, mit derselben
den Schloßplatz säubern und dem dort herrschenden Skandal endlich ein
Ende machen solle". 1
Nachdem ein Beschwichtigungsversuch des Generals die Menge nur noch
mehr gereizt hatte, ließ er den Platz durch eine Schwadron Dragoner
räumen. Diese Aktion wurde durch zwei Infanterie-Kompanien unterstützt.
Während dieser Konfrontation fielen zwei zufällig ausgelöste Schüsse, die
zwar niemanden trafen, aber zu einer hysterischen Massenreaktion führten.
Mit dem Ruf „Der König hat uns verraten!" stürmten die Demonstranten
vom Schloßplatz in die angrenzenden Straßen und begannen mit dem Bau
von Barrikaden. Die Revolution in Berlin hatte begonnen.
Die Barrikadenkämpfe dauerten etwa 16 Stunden und wurden besonders
von den stadtfremden Truppenteilen äußerst brutal geführt. 14.000 Soldaten
mit 36 Geschützen waren im Einsatz; bei den Aufständischen hatten nur
die Mitglieder der Schützengilde Gewehre, sonst kämpften sie mit Beilen,
Äxten, Eisenstangen, Messern und Steinen. Aus dem Schützenhaus stamm-
ten drei Böller, die mit Flintenkugeln und Murmeln geladen wurden. Die
Zahl der aktiven Barrikadenkämpfer wird auf 3.000 bis 4.000 geschätzt:
Angehörige aller bürgerlichen Berufe, Arbeiter und Studenten, vor allem
aber Handwerker. Viel größer war der Kreis der Helfer und Sympathisanten:
„Ohne diese Teilnahme fast der ganzen Bürgerschaft wäre der ungleiche
Kampf in den ersten Stunden entschieden gewesen" (Kaeber). Studenten,
die sich auf dem Fechtboden mit Schlägern bewaffnet hatten, eilten in die
Oranienburger Vorstadt, um die Arbeiter der zahlreichen Maschinenbau-
anstalten zum Kampf aufzurufen, an dem sich, wie Egells berichtet, vor-
zugsweise jüngere Männer beteiligten. Wie die Königliche Eisengießerei
gingen auch die Wagenhäuser der in der Nähe liegenden Artilleriekaserne
in Flammen auf, nachdem ihre Besatzung mit einer Haubitze in die Menge
geschossen hatte und fünf Tote zurückgeblieben waren. 2
Den militärischen Mittelpunkt der heftig umkämpften Friedrichstadt
bildete der Gendarmenmarkt, auf dem Kavallerie stand, um die Gefangenen
zum Schloß zu bringen. Ihren Höhepunkt fanden die nächtlichen Straßen-
und Barrikadenkämpfe in der Erstürmung des Köllnischen Rathauses, wobei
fünf Soldaten getötet, 68 verwundet sowie „nach einer mäßigen Schätzung
70 Leute vom Volk teils getötet, teils gefangen" wurden. Trotz der erbitterten
Gefechte, bei denen sich die im Straßenkampf gänzlich ungeübten Soldaten
von allen Seiten attackiert sahen und gelegentlich ein heftiger „Hagel von
Steinen, Balkenstücken, Brettern und Schutt" auf sie niederging, waren die
Erfolge aus militärischer Sicht enttäuschend. Um Mitternacht erklärte Pritt-
witz dem König, daß für die Niederschlagung des Aufstandes über das
bisher gewonnene Terrain hinaus, sofern er „länger als einige Tage" dauere,
die Zahl der vorhandenen Streitkräfte nicht ausreiche, da es neben dem
Kampf „Straße um Straße, Haus um Haus" auch darauf ankäme, „den
Wiederaufbau der Barrikaden und die Wiederaufnahme der Feindseligkeit
im Rücken der vordringenden Truppen zu verhindern". Allenfalls könnte
man die Truppen zurückziehen, die Stadt eng einschließen und an einigen
Punkten von außen bombardieren lassen. 3
Der König ging darauf nicht ein, sondern entschied sich für einen anderen
Lösungsversuch, der seinen paternalistischen Vorstellungen vom treusor-
genden, zwar mißverstandenen, aber doch vergebungsbereiten Landesvater
besser entsprach. Der von ihm selbst in den ersten Stunden des 19. März
verfaßte Aufruf „An Meine lieben Berliner" 4 stellte zunächst fest, daß „eine
Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend", durch Lügen und
Verdrehungen die erhitzten Gemüter mit Rachegedanken erfüllt hätte und
„so die gräulichen Urheber von Blutvergießen geworden" seien. Diese Ver-
schwörungstheorie, der schon von den Zeitgenossen widersprochen wurde,
wertet auch die neuere Forschung als Legende. 5 Sie erlaubte aber dem König
den für ihn psychologisch bedeutsamen Schritt, seine „lieben Berliner" nicht
als rebellische Untertanen ansehen zu müssen und ihnen eine goldene Brücke
bauen zu können. Sie bestand in dem Angebot, daß nach Wegräumung der
Barrikaden „alle Straßen und Plätze sogleich von den Truppen geräumt
werden sollen". Lediglich das Schloß, das Zeughaus und wenige andere
Gebäude sollten noch für kurze Zeit eine militärische Besatzung behalten.
Mit diesem Aufruf, der noch in der Nacht gedruckt wurde und gegen 8 Uhr
allgemein in der Stadt bekannt war, hatte der König die Weichen für die
Entscheidungen des 19. März gestellt.
Die Straßenkämpfe hatten in den frühen Morgenstunden fast ganz auf-
gehört, da die Truppen nicht weiter vorrückten. Die Kontrahenten standen
sich abwartend gegenüber. „In den Straßen, welche noch durch Barrikaden
abgeschlossen waren", so notierte der Stadtrat Nobiling, „bemerkte man
deutlich die Verlegenheit, mit welcher die Bewohner die Werke der Finsternis
und der äußersten Erregung ansahen. Man schien aus einem bösen Traum
erwacht zu sein. Nur in den entfernteren Stadtteilen sollte noch eine größere
Aufregung herrschen... Eine Erneuerung der Feindseligkeiten schien mir, in
der inneren Stadt wenigstens, unmöglich." 6
Während der recht konfusen Verhandlungen, die am frühen Vormittag
im Schloß stattfanden, gelang es den „Tauben" um den (inzwischen zu-
rückgetretenen!) Minister V.Bodelschwingh, das vom König hergestellte
Junktim - Wegräumung der Barrikaden/Rückzug der Truppen - allmäh-
lich aufzubrechen. Der unbestätigte Bericht einer städtischen Deputation,
daß man mit der Abtragung einiger Barrikaden in der Königsstadt begonnen
habe, wurde zum Anlaß genommen, den Rückzug der Truppen zu befehlen.
Die inhaltliche Tragweite dieses Befehls gehört zu den umstrittensten
Fragen der Revolutionsforschung. Die Kontroverse entzündete sich bereits
im Vorzimmer des Königs an der Frage, ob der Rückzug „aus allen Straßen
und von allen Plätzen" auch das Schloß und das Zeughaus sowie den
Schloßplatz und den Lustgarten betreffen sollte. Der durch die königliche
Proklamation ohnehin gekränkte Prittwitz entschied sich für „eine ganz
verengte Auslegung", befahl gegen 12.30 Uhr den Abmarsch der Truppen
„mit klingendem Spiel". Als Besatzung von Schloß und Zeughaus hielt er
drei Bataillone für ausreichend, aber infolge einiger Mißverständnisse und
mangels klarer Befehle hinsichtlich des Schloßplatzes blieb das Zeughaus
schließlich unbesetzt, während der Riesenkomplex des Schlosses mit seinen
fünf offenen Portalen lediglich von sieben Kompanien bewacht wurde. 7 Als
der König die Konsequenzen dieser unkoordinierten Rückzugsbefehle be-
merkte, war es zu spät. Die Strukturschwäche der vormärzlichen Regie-
rungspraxis, der autokratische Herrschaftsanspruch des Monarchen, den
Friedrich Wilhelm in diesen Tagen nicht auszufüllen vermochte, machte ihn
zu einem schwankenden Rohr im Winde. Ein militärischer Erfolg hätte nur
erreicht werden können, so schrieb der Rittmeister v. Manteuffel, „wenn
gleichzeitig eine Anzahl Personen aus den königlichen Vorzimmern entfernt,
einige zwanzig aber entweder gehangen oder zu den Gefangenen nach
Spandau geschickt worden wären". 8
Indem Prittwitz die Truppen aus der Gefahrenzone herauszog und nur
die Schloßwache zurückließ („Die anderen haben sich verkrümelt", erklärte
er dem neuen Ministerpräsidenten v. Arnim), „opferte er den König, lieferte
ihn der Revolution aus" (Richter). Binnen weniger Stunden mußte sich
Friedrich Wilhelm dreimal den Forderungen beugen, die „das siegestrunkene
Volk" vorbrachte: 9
Tagen widerfuhr; 10 sie war aber, daran gibt es keinen Zweifel, „das Symbol
der politischen Kapitulation" (Huber).
3) Auch die letzte Forderung der am 17. März beschlossenen Petition
gestand der König noch zu: Gegen 15 Uhr genehmigte er die Aufstellung
und Bewaffnung von Bürgern und Schutzverwandten auf Staatskosten. An
die Spitze der Bürgerwehr trat der Polizeipräsident v. Minutoli, sein Vertreter
wurde der Stadtrat Nobiling. Der Minister v. Arnim begab sich persönlich
zum Zeughaus, um die ersten Gewehre zu verteilen, bevor der Syndikus
Hedemann ihn ablöste. Da für jedes der elf Berliner Stadtviertel 400 Ge-
wehre als Dienstwaffen vorgesehen waren, wurden über 4.000 Stück aus-
gegeben. Gegen 17 Uhr kamen die ersten bewaffneten Bürger und besetzten
die Posten um das Schloß, etwas später erschien die Schützengilde in voller
Uniform, um die eigentliche Schloßwache zu übernehmen. Das bisher zu-
ständige Füsilier-Bataillon wurde ins Schloßinnere zurückgezogen; „der
König hatte sich in den Schutz seiner Bürger begeben". 1 1
Ebenfalls am Nachmittag des 19. März gab Friedrich Wilhelm die Bildung
der neuen Regierung bekannt, die vom Grafen v. Arnim(-Boitzenburg) ge-
führt wurde, der zunächst auch für die Außenpolitik und „Verfassungssa-
chen" zuständig war. Graf Schwerin wurde Nachfolger Eichhorns im Kul-
tusministerium; v. Auerswald, der als liberaler Sprecher beim Vereinigten
Landtag hervorgetreten war, erhielt das Innenministerium. Das Finanzmini-
sterium verwaltete interimistisch der Generalsteuerdirektor Kühne. Die
anderen Minister behielten ihre Ressorts. 1 2
Der letzte Triumph der siegreichen Revolutionäre an diesem so ereignis-
reichen 19. März war die Abschiebung des Prinzen Wilhelm. Der jüngere
Bruder des Königs gehörte zu den „Falken", hatte sich mehrfach, auch im
Beisein städtischer Deputationen, deutlich für ein hartes Durchgreifen aus-
gesprochen und wurde für den brutalen Militäreinsatz verantwortlich ge-
macht („Kartätschenprinz"). Auf Wunsch des Königs verließ der Prinz von
Preußen „vorläufig und bis auf weiteres" noch am Abend die Hauptstadt,
gelangte verkleidet bis nach Spandau, wo er erst in einem Wirtshaus abstieg,
dann aber in der Zitadelle übernachten konnte. Da Wilhelm von der
weiteren Entwicklung in Berlin wenig erfuhr und einen Thronwechsel nicht
für unmöglich hielt, befahl er von der Pfaueninsel aus, wo er sich anschlie-
ßend zwei Tage aufhielt, Truppen um Berlin zu konzentrieren, da er „sobald
als möglich in deren Mitte erscheinen werde, um die Zügel der Regierung
ergreifen zu können". Sein königlicher Bruder blieb jedoch im Amt und
schickte Wilhelm „in geheimer Mission" nach London, wo er am 27. März
eintraf. Inwischen hatten die Revolutionäre in Berlin sein Palais zum Eigen-
tum der Nation erklärt und mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne ge-
schmückt. 13
Am Abend des 19. März feierten die Aufständischen ihren Sieg mit
Illuminationen, Feuerwerk und den seit 1835 verpönten Freudenschüssen.
Mißliebige Politiker wie v. Thile und Eichhorn mußten sich vor ihren
Häusern „Pereat!"-Rufe und Katzenmusiken („Charivaris") anhören; zur
Zeit Beliebteren wie v. Minutoli brachte man ein „Vivat!" dar; der Berliner
Oberbürgermeister Krausnick erhielt beides. 14
Gegen 23.00 Uhr, als Prittwitz „zu Fuß und in Zivilkleidern" nach Hause
ging, war in der Stadt Ruhe eingekehrt. Von den vielfältigen Ergebnissen
dieses Tages verdienen zwei hervorgehoben zu werden. Erstens war es
gelungen, in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und gemäßigten
Kräften die heiße Phase des Revolutionskampfes zu beenden, obwohl es
offensichtlich starke Gegenkräfte gegeben hat: Als zwei Offiziere und drei
Bürgerdeputierte mittags in der Stadt den Rückzug der Truppen bekannt-
geben wollten, schlug ihnen wiederholt eine feindselige Stimmung entgegen:
„In den unteren Volksklassen aber war das Gefühl der Rache noch nicht
gewichen, und... (die Offiziere)... waren zu verschiedenen Malen, wo
Schußwaffen auf sie gerichtet wurden, in Lebensgefahr... Vielseitig ließ sich
der Ruf hören, daß die Fortsetzung des Kampfes von der Einwohnerschaft
auf das hartnäckigste fortgeführt werden sollte, und es ist nicht zu leugnen,
die Erbitterung war eine allgemeine und in den unteren Klassen wohl bis
zur Wut gesteigerte."
Zu dieser Radikalisierung hatte sicher beigetragen, daß die Soldaten
„zuviel und mitunter ohne genügende Veranlassung geschossen" hatten,
zweifellos eine Reaktion auf die militärisch unbefriedigenden Straßen-
kämpfe, durch welche „die Aufregung und die Erbitterung der Soldaten...
einen hohen, kaum mehr zu zügelnden Grad erreicht" hatten. Diese auf
beiden Seiten vorhandene Konfliktbereitschaft erklärt, warum es bis in die
späten Abendstunden immer wieder zu Zwischenfällen in der Stadt kam. 1 5
Von Bedeutung war zweitens, daß sich der König, obwohl es ihm sicher
schwergefallen ist, auf Anraten v. Arnims („Ein preußischer König flieht
nicht vor seinem Volke") entschlossen hatte, die mehrfach erörterten Pläne
seiner eventuellen Abreise nach Potsdam zu verwerfen. Es ist nicht auszu-
schließen, daß die Flucht des Königs, wie v. Arnim befürchtete, „die Erklä-
rung der Republik und die Plünderung des Schlosses" zur Folge gehabt
13 Vgl. Günter RICHTER, Wilhelm I., in: Wilhelm Treue (Hg.), Drei deutsche Kaiser:
Wilhelm I . - F r i e d r i c h I I I . - W i l h e l m II. Ihr Leben und ihre Zeit 1 8 5 8 - 1 9 1 8 ,
Freiburg — Würzburg 1987, S. 14 — 7 5 , hier S. 2 6 f. Eine ausführliche Darstellung
bei K . L . v o n PRITTWITZ, B e r l i n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 5 ) [ 2 0 0 ] , S. 3 4 5 - 3 4 9 u n d 3 7 2 ; ergän-
z e n d : E . K A E B E R , B e r l i n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 4 8 ) [ 2 0 6 ] , S . 8 2 ; A d o l f STRECKFUSS, 5 0 0 J a h r e
Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Geschichte und Sage, Berlin
31 8 8 0 , S. 1008 f. und 1087 f. (Erklärung Camphausens in der Nationalversamm-
lung a m 6. Juni).
14 K . L . v o n PRITTWITZ, Berlin 1 8 4 8 . . . (1985) [200], S. 3 4 4 .
15 A. a. O . , S. 2 4 4 f. Die Zitate: S. 3 0 1 , 2 3 4 und 209.
240 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)
hätte. General v. Rauch widersprach dem zwar, aber sein Diktum: „Berlin
ist nicht die Monarchie" unterschätzte wohl doch die Fernwirkung, die eine
derart spektakuläre Proklamation auch von Berlin aus gehabt hätte. Der
Landrat v. Vincke hatte schon in der Nacht zum 19. März dem König zu
bedenken gegeben, es sei „in der Geschichte noch nicht dagewesen, daß,
wenn 400.000 Menschen wie hier aufständen wie ein Mann, daß solch eine
Macht durch Bajonette niederzuhalten wäre...; angenommen, S. M. blieben
heut und morgen Sieger, so würden sie übermorgen unterliegen, und was
dann?" 16
Vor dem Hintergrund dieser Äußerung wird deutlich, daß es für die
preußische Monarchie an diesem 19. März noch viel schlimmer hätte
kommen können. Anders als in Frankreich 1830 und 1848 war der König
nicht gestürzt und auch nicht wie 1792 und 1848 die Republik ausgerufen
worden; auch stand die Dynastie zu keiner Zeit in Frage, und zudem befand
sich der Thronfolger in Sicherheit. Auch die Truppen hatten sich, bis auf
wenige Ausnahmen, bisher loyal verhalten — so schlecht waren die Karten
nicht, mit denen die Regierung in das politische Kräftespiel der folgenden
Wochen und Monate eintrat.
16
A . a . O . , S. 229 (Vincke) und 352 mit Anm. 152 (Arnim, Rauch).
III. Die Sicherung des Erfolges 241
5 G.RICHTER, Friedrich Wilhelm IV... (1987) [236], S. 126 f. Zum Umritt allgemein:
A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte... (31880) [s.o. Anm. 3], S. 1018-
1020.
6 Abdruck: E. R. HUBER (Hg.), D o k u m e n t e . . . ( 3 1978) [50], Nr. 152, S. 448 f.;
W. G R A B ( H g . ) , D i e R e v o l u t i o n v o n 1 8 4 8 . . . ( 1 9 8 0 ) [ 1 9 7 ] , N r . 2 0 , S. 5 9 f.
7 Zit. von G. RICHTER, Friedrich Wilhelm IV... (1987) [236], S. 127.
8 Vgl. G . RICHTER, Z w i s c h e n Revolution und R e i c h s g r ü n d u n g . . . ( 2 1988) [209],
S. 620 —623. Z u r sozialen H e r k u n f t der O p f e r vgl. E. KAEBER, Berlin 1848...
III. Die Sicherung des Erfolges 243
TABELLE 4 6
Übersicht von 303 im März 1848 in Berlin gefallenen und an Verwundungen
gestorbenen Zivilisten
303
Deputation zum Anlaß, der Öffentlichkeit einen ganzen Katalog von Ge-
setzesvorschlägen zu präsentieren, die er dem Vereinigten Landtag vorzu-
legen beabsichtigte. Stichwortartig aufgeführt, betrafen diese Projekte ein
volksnahes Wahlrecht, die persönliche Freiheit, freies Versammlungs- und
Vereinigungsrecht, eine Bürgerwehrverfassung, Ministerverantwortlichkeit,
Schwurgerichte, Unabhängigkeit der Richter, Aufhebung der Patrimonial-
gerichtsbarkeit. Außerdem gewährte der König etwas, was bisher noch
niemand gefordert hatte: die Vereidigung der Armee auf die neue Verfas-
sung. Die Verfechter des konstitutionellen Systems und der Menschen- und
Bürgerrechte, die vielleicht noch vor einer Woche auf der Festung gesessen
hatten, mußten bei der Lektüre dieser Sätze glauben, sie befänden sich auf
einem anderen Stern. 1 0 Ähnlich erging es den Offizieren der Gardetruppen
in Potsdam, die Friedrich Wilhelm am 25. März mit einer Ansprache
beglückte, 11 in der er drei Dinge klarmachte: Erstens habe er sämtliche
bisherigen Entscheidungen „aus vollster und freier Überzeugung getan",
und keine Macht könne ihn nun bewegen, „das Gegebene zurückzuneh-
men", da es für Deutschlands Heil notwendig sei, daß er, der preußische
König, sich „an die Spitze der Bewegung zu stellen" habe. Zweitens wünsche
er, „daß auch das Offizierkorps den Geist der Zeit ebenso erfassen möge,
wie ich ihn erfaßt habe", und er hoffe, daß sich die treuen Soldaten von
nun an „ebenso als treue Staatsbürger" bewähren mögen. Da nach Ein-
schätzung von Prittwitz, der bei der Rede anwesend war, der König „die
Erhaltung von Krone und Leben der Bürgerschaft von Berlin zu verdanken"
glaubte, erklären sich — drittens — die geradezu euphorischen Bemerkun-
gen über die Berliner Einwohner: „Ich habe den gesunden und edlen Sinn
meiner Bürger kennengelernt... Ich bin niemals freier und sicherer gewesen
als unter dem Schutze meiner Bürger... In Berlin herrscht ein so ausgezeich-
neter Geist in der Bürgerschaft, wie er in der Geschichte ohne Beispiel ist."
Diese Rede, die teilweise „ein Murren und Aufstoßen von Säbelscheiden"
hervorrief (Bismarck) war „tief betrübend" (Hohenlohe-Ingelfingen) und
machte einen „tiefen, aber einen niederbeugenden Eindruck" auf die Offi-
ziere, die den Saal mit dem Gefühl verließen, „das ein begossener Pudel
haben mag" (Prittwitz).
Die skeptischen Worte des erfahrenen Theodor v. Schön — gelten sie
auch hier? Nach der Rede soll der Monarch im Nebenzimmer zusammen-
gebrochen sein und schluchzend ausgerufen haben: „Oh, mein Gott, mein
Gott, das mußte ich meinen braven Offizieren sagen, die für mich so brav
gekämpft haben." 12
Jedenfalls kehrte der preußische König am nächsten Tag seinen so gelob-
ten Berlinern dennoch den Rücken und verlegte seine Residenz nach Pots-
dam (26. März). Von dort gedachte er, unbedrängt von seinen „lieben
Berlinern", die Geschicke Preußens besser lenken zu können.
Den vorläufigen Schlußstrich unter die von den Konservativen nur noch
mit respektvoller Entrüstung betrachtete Anbiederungspolitik zog Friedrich
Wilhelm mit der Regierungsumbildung vom 29. März. Ob dabei tatsächlich
„an die Stelle des bürokratischen Übergangsministeriums ... ein liberales
Märzministerium" trat, 13 mag bezweifelt werden, da von sieben Regierungs-
mitgliedern lediglich zwei ausgewechselt wurden. Während die Ressorts für
Äußeres (v.Arnim), Inneres (v. Auerswald), Krieg (v.Rohr), Kultus (Graf
Schwerin-Putzar) und Justiz (Bornemann) unverändert blieben, trat mit
Ludolf Camphausen der erste liberale Ministerpräsident an die Spitze der
Regierung. Das Finanzministerium wurde ebenfalls einem Vorkämpfer des
rheinischen Liberalismus übertragen, nämlich David Hansemann. Am
2. April trat an die Stelle des Kriegsministers v. Rohr General v. Reyher,
dem schon am 30. April Graf Kanitz folgte. Diese Regierung, in die Mitte
April noch der Chef des neu geschaffenen Handelsministeriums, v. Patow,
eintrat, blieb bis zum 20. Juni 1848 im Amt. Sie war eine Koalition zwischen
dem linken Flügel der Konservativen und dem rechten Flügel der Liberalen
mit dem Ziel, einen Kompromiß zwischen Königtum und bürgerlicher
Bewegung zu finden und Preußen auf den Weg zur konstitutionellen Mon-
archie mit bürgerrechtlichen Garantien zu führen.
12
Prinz Kraft zu HOHENLOHE-INGELFINGEN, Aufzeichnungen aus meinem Leben.
Bd. 1: 1 8 4 8 - 1 8 5 6 , Berlin 1897, S. 69.
13
E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 579.
246 § 5 Revolution und Gegenrevolution ( 1 8 4 8 / 1 8 4 9 )
5
Abdruck der ersten preußischen Verfassungsgesetze vom April und Mai 1848:
A . a . O . , Nr. 1 5 5 - 1 5 7 , S. 451—453. Zum Ablauf: Ders., Deutsche Verfassungs-
geschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 580.
IV. Versuche der Konsolidierung 249
TABELLE 4 7
Volljährigkeitsalter in preußischen Landesteilen
TABELLE 4 8
Soziale Zusammensetzung der Urwähler in Preußen (1848)
Rheinprovinz
Brandenburg
Westfalen
Pommern
Schlesien
Preußen
Preußen
Sachsen
Posen
A. Großgrundbesitz
1. Adlige 13 4 2 3 2 2 -
2. Bürgerliche 7 1 1 1 1 3
B. Großbürgertum
1. Kaufleute 3 1 - - - 1 - 1
2. Fabrikanten 2 1 1
C. Intelligenz
I. beamtete
1. höh. Staatsbeamte 30 8 3 2 2 2 2 5 6
2. Landräte 8 3 1 2 1 1
3. Kommunalbeamte 3 1 2
4. Richter 42 4 6 3 10 1 8 5 5
5. Hochschullehrer 15 2 2 1 4 1 5
6. Lehrer an höh. Sch. 11 1 4 3 1 1 1
7. sonstige Lehrer 5 1 2 1 1
8. Geistlichkeit, kath. 4 1 1 1 1
9. Geistlichkeit, ev. 5 1 1 1 1 1
II. freie
1. Dr. jur.
2. Advokaten 7 1 6
3. Dr. phil. 8 1 1 1 2 3
4. Redakteure
5. Schriftsteller 1 1
6. Buchhändler 3 1 - 1 1
7. Dr. 1 1
8. Mediziner 4 1 1 2
D. Kleinbürgertum
I. beamtetes
1. Staatsbeamte 2 - 2 - -
2. Kommunalbeamte 2 1 1
3. n. Gerichtsbeamte 9 3 2 2 1 1
II. freies
1. Landwirte 1 - 1
2. Kaufleute 3 - 1 1 - - - 1
3. Handwerker
E. Militär 7 1 2 - 1 - 1 2 -
F. ohne Beruf 4 - - - 1 - - - 3
Gesamt 200 31 27 15 38 12 23 19 35
Auf Zeitgewinn spekulierte wohl auch der preußische König, als er den
Dahlmannschen Entwurf zum Anlaß nahm, „seine phantastischen Pläne
von einem Fürstenrat neben dem Kaiser, von einem regierenden Wahlkönig
oder einem erblichen Reichserzfeldherrn, von Reichswehrherzogtümern
nach Art der alten Reichskreise und ähnlichen unpraktischen Institutionen
mit einer Art von künstlerischer Freude zu entwickeln". 1 3
Vier Tage nach der Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in
der Frankfurter Paulskirche wurde am 22. Mai 1848 in Berlin die preußische
Nationalversammlung durch eine Thronrede im Weißen Saal des Schlosses
eröffnet. Das war ein erster Dämpfer für diejenigen Abgeordneten, die
verlangt hatten, der König möge zur Eröffnung in das Tagungsgebäude, die
Singakademie, kommen. Anders als in Frankfurt sollten die Abgeordneten
eine schriftliche Diskussionsgrundlage erhalten: Der König kündigte die
Vorlage eines von der Regierung ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs an. 1 4
In ihrer sozialen Zusammensetzung unterschied sich die Nationalver-
sammlung erheblich von dem Vereinigten Landtag. Unter den 402 Abge-
ordneten befanden sich zwar nicht wenige Adlige, aber auch 46 Angehörige
des Bauernstandes, darunter einige Tagelöhner, 39 Industrielle und Kauf-
leute, 18 Handwerker, 21 Lehrer und viele Angehörige freier Berufe. Als
Gruppe dominierten die Beamten aus der Justiz und den Staats- und Ge-
meindeverwaltungen. Kaum vertreten war der Gelehrtenstand, gar nicht die
Gesellen- und Industriearbeiterschaft. 15 Als Abgeordneter von Wirsitz saß
seit dem 8. Juni der aus England zurückgekehrte Prinz Wilhelm in der
Nationalversammlung. 16
In ihrer politischen Ausrichtung war die Berliner Versammlung wesentlich
radikaler als die Frankfurter. 17 Die altliberalen Anhänger eines konstitutio-
nellen Königtums, die vor zwei Monaten noch als fortschrittlich gegolten
hatten, bildeten jetzt den konservativen Flügel. Ihr Sprecher war Professor
Baumstark aus Greifswald. Die liberale Mitte war gespalten. Das „rechte
Zentrum" um den Regierungsrat v.Unruh, etwa 40 Köpfe stark, tendierte
zur Zusammenarbeit mit den gemäßigten Konservativen, während das
„linke Zentrum" unter dem Nationalökonomen Rodbertus antifeudalistisch
13 Otto HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer
Geschichte, Berlin 1915 (ND Moers 1979), S. 535.
14 Adolf STRECKFUSS, 5 0 0 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt.
Geschichte und Sage, Berlin 3 1880, S. 1074 f., druckt auch die Thronrede ab. Den
Verfassungsentwurf veröffentlichte der Preußische Staatsanzeiger noch am Abend
des 22. V.
15 Vgl. M . BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 5 1 6 f . ;
etwas abweichende Zahlen gibt E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
(1957/60) [49], Bd. 2, S. 5 8 4 f. Z u m Vergleich siehe oben S. 223.
16 Vgl. zu diesem Gesamtkomplex A. STRECKFUSS, 5 0 0 Jahre Berliner Geschichte...
( 3 1880) [s.o. Anm. 14], S. 1 0 8 7 - 1 0 8 9 , der auch die Einführungsrede des Prinzen
vor der Nationalversammlung abdruckt.
17 Vgl. dazu E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,
S. 5 8 5 f. Grundlegend zur Tätigkeit der preußischen Nationalversammlung:
M . BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 5 1 5 - 5 5 5 .
IV. Versuche der Konsolidierung 255
und antiklerikal eingestellt war, für soziale Reformen eintrat, aber keine
soziale Revolution anstrebte. Später entwickelte sich noch ein „drittes
Zentrum" unter dem Abgeordneten Harkort. Der linke Flügel mit etwa
110 Anhängern war republikanisch gesinnt und verfolgte radikaldemokra-
tische Ziele. Seine Führer waren der Arzt Jacoby, der Staatsanwalt Temme
und der Obertribunalrat Waldeck, „ein scharfsinniger und mit größter
Beredsamkeit begabter Doktrinär" (Huber). Diese Gruppierung fand außer-
halb der Nationalversammlung starken Rückhalt in den entstehenden Ar-
beitervereinen sowie vor allem im „Politischen Klub", der sich später
„Demokratischer Klub" nannte. Geführt von Georg Jung und Friedrich
Wilhelm Alexander Held verstand sich der Klub als „ein Kind der Revo-
lution" und erklärte „die demokratisch-soziale Republik" für die einzig
akzeptable Staatsform.
Der erste massive Streit in der Nationalversammlung entstand über eine
an den König zu richtende Adresse. Als der Text endlich vorlag, formulierte
der Abgeordnete Berends am 8. Juni in einem Gegenantrag, daß sich die
Kämpfer des 18./19. März „wohl ums Vaterland verdient gemacht haben".
Das zielte auf die staatsrechtliche Legalisierung der Märzrevolution und
war für die Regierung und die Mehrheit der Versammlung unannehmbar.
Nach zweitägiger hitziger Debatte fand man auf dem Umweg über eine
„motivierte Tagesordnung" eine mühsam ausgetüftelte Kompromißformel,
die schließlich mit 1 9 6 : 1 7 7 Stimmen angenommen wurde. Die Frage nach
der Rechtmäßigkeit der Revolution blieb dabei ausgeklammert. 18
Die Nationalversammlung konnte sich nun wieder ihrer eigentlichen
Aufgabe, der Beratung des ihr von der Regierung am 22. Mai übergebenen
Verfassungsentwurfs, zuwenden. Dieses vom 20. Mai datierte Dokument
erstrebte in starker Anlehnung an die belgische Verfassung von 1831, die
damals als die liberale Musterkonstitution galt, einen gemäßigten Konsti-
tutionalismus mit Grundrechtsgarantien. Dennoch fand dieser Entwurf nicht
den ungeteilten Beifall der Versammlung. 19 Er wurde am 15. Juni einer
Kommission unter dem Vorsitz von Waldeck überwiesen, die ihn einer so
gründlichen Umarbeitung unterzog, daß nach Abschluß der Kommissions-
arbeiten am 26. Juli ein eigener Verfassungsentwurf, die „Charte Waldeck",
3. Soziale Protestbewegungen
TABELLE 5 0
Ergebnisse der Maiwahlen 1848 in zwei schlesischen Kreisen
Landkreis 28 (9) 34 6 10 15 14 1
Breslau
Kreis 2 2 (9) 9 4 12 9 1 4 1
Wohlau
23 A. a. O., S. 391 f. Der freie mittelständische Bauer wandelte sich nach Erreichen
seiner Ziele vom triumphierenden Revolutionär zum Parteigänger des Konser-
vativismus: „Das Bündnis von Bauer und Adel wurde zur entscheidenden so-
zialgeschichtlichen Weichenstellung der 48er Revolution" (a. a. O., S. 393). — Bei
H.-U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte... (1987) [29], Bd. 2, S. 7 1 3 f . ,
der sich hier auf den Aufsatz von Koch bezieht, finden sich in drei Absätzen
leider mehrere Übertragungsfehler (Daten, Zahlen, Zitate, Sachverhalte).
258 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)
Tage amtiert hatte, mußte seine Stelle wegen Unfähigkeit an den Major
Rimpler abtreten; den Polizeipräsidenten v. Minutoli, der als zu nachgiebig
galt, ersetzte der Landrat v. Bardeleben, und das Märzministerium erklärte
am 20. Juni seinen Rücktritt, weil es dem Regierungschef Camphausen
nicht gelungen war, für die Umwandlung seines „Ministeriums der Ver-
mittlung" in ein „Ministerium der Ausführung" eine sichere Mehrheit in
der Nationalversammlung zu erreichen. 34
Das vom König am 25. Juni berufene Koalitionskabinett stand unter der
Leitung des bisherigen Oberpräsidenten von Preußen, Rudolf v. Auerswald,
der auch das Außenministerium übernahm. Er war ein Bruder des bisherigen
Innenministers Alfred v. Auerswald. Neben einigen Fachministern (Innen:
v. Kühlwetter; Justiz: Maercker; Krieg: Roth v. Schreckenstein) gehörten
ihm auch Abgeordnete der Nationalversammlung an: Hansemann (Finan-
zen) und Milde (Handel) vom rechten Zentrum, Gierke (Landwirtschaft)
und Rodbertus (Kultus) vom linken Zentrum. Die breite parlamentarische
Absicherung schien eine gute Grundlage für die künftige Regierungspolitik
zu sein, aber durch den bereits am 4. Juli erfolgenden Rücktritt des Führers
des linken Zentrums, Rodbertus, vom Amt des Kultusministers wurde diese
Basis erheblich geschwächt. 35
Mit dem Sturz des Märzministeriums war der Versuch, die Ergebnisse
der Märzrevolution auf gouvernementaler Ebene zu konsolidieren, im
Grunde gescheitert, obwohl es noch einige Wochen dauern sollte, bis dieses
Ergebnis offenkundig war. In seiner Abschiedsrede vor der Nationalver-
sammlung am 26. Juni deutete Camphausen die Schwierigkeiten an, die
ihm die stärker werdende Reaktionspartei in Potsdam bei seiner Regie-
rungsarbeit in den Weg gelegt hatte. 3 6 Er war klug genug, nicht den Brief
zu zitieren, den ihm Friedrich Wilhelm IV. am 18. Juni, wohl noch unter
dem Eindruck des Zeughaussturmes, geschrieben hatte: „Ich wiederhole
zum Schluß, daß die Eiterbeule von Berlin operiert werden muß. Je eher,
je besser. Jeder Tag ist unwiederbringlich verloren, weil es das Ansehen der
Regierung antastet und meine Stellung zu Grunde richtet." 3 7
34 Teilabdruck der Abschiedsrede von Camphausen in der 20. Sitzung der Natio-
nalversammlung vom 26. VI.: A. STRECKFUSS, 500 Jahre Berliner Geschichte...
( 3 1880) [s.o. Anm. 14], S. 1113.
35 Vgl. E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2,
S. 727 - 729. Siehe auch unten S. 290 (Übersicht).
36 Gute Einschätzung der von der Kamarilla verfolgten Politik: G. RICHTER, Fried-
rich Wilhelm IV.... (1987) [236], S. 129.
37 Friedrich Wilhelm an Camphausen, 18. VI. 1848, in: Erich BRANDENBURG (Hg.),
König Friedrich Wilhelm IV. Briefwechsel Ludolf Camphausen, Berlin 1906,
S. 178.
262 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)
V. Die Gegenrevolution
Nachdem am 18. Mai 1848 die bis dahin eingetroffenen 330 der nominell
649 Abgeordneten zur Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in
der Frankfurter Paulskirche zusammengetreten waren und am folgenden
Tag Heinrich v. Gagern zum Präsidenten gewählt hatten, bemühte man sich
zunächst um die Bildung von politischen Fraktionen mit Programmen und
formellen Mitgliedschaften, um die noch ungewohnte parlamentarische
Arbeit zu kanalisieren und in geordnete Bahnen zu lenken. Am 28. Juni
übertrug die Nationalversammlung die oberste vollziehende Gewalt in allen
Angelegenheiten der „allgemeinen Sicherheit und Wohlfahrt des deutschen
Bundesstaates", die Oberleitung der bewaffneten Macht und die völker-
rechtliche Vertretung Deutschlands einem Reichsverweser. Am folgenden
Tag wurde Erzherzog Johann mit 4 3 6 : 1 1 2 Stimmen in dieses Amt berufen.
Er ernannte den dem rechten Zentrum nahestehenden Fürsten Karl v.
Leiningen am 15. Juli zum Ministerpräsidenten des ersten Reichskabinetts;
in der von ihm gebildeten Regierung stammten zwei von sechs Ministern
aus Preußen: Beckerath (Finanzen) und v. Peucker (Krieg). Beide sollten mit
als erste das doppelte Dilemma der deutschen Nationalversammlung zu
spüren bekommen: Die fehlende finanzielle Grundlage und das mangelnde
Durchsetzungsvermögen. Die zunehmende Distanzierung der Regierungen
im Inland zeigte sich beispielsweise bei der fast wirkungslosen Verfügung
des Reichskriegsministers vom 16. Juli, daß sämtliche Truppen dem Reichs-
verweser als „Oberkriegsherrn" huldigen sollten. 1
Die außenpolitisch schwache Position der Nationalversammlung wurde
deutlich, als Preußen, das die Aufnahme Schleswigs in den Deutschen Bund
militärisch sichern sollte, mit Dänemark den Waffenstillstand von Malmö
Schloß (26. August 1848), ohne dabei die von der Nationalversammlung als
Voraussetzung genannten Bedingungen zu berücksichtigen. 2 Diese bewußte
Mißachtung der Frankfurter Zentralgewalt entsprach nicht nur der politi-
schen Generallinie der in diesen Monaten immer stärker an Einfluß gewin-
nenden preußischen Gegenregierung der Kamarilla, sie war auch eine Re-
aktion auf die ersten Erfolge der Gegenrevolution jenseits der preußischen
Grenzen.
1. Erste Erfolge
Die im Sommer 1848 noch dominierende revolutionäre Grundstimmung
erhielt einen ersten massiven Dämpfer durch die aus Böhmen eintreffenden
Nachrichten. Dort war eine im Anschluß an den Prager Slawenkongreß am
3 Vgl. dazu die beiden neuen Darstellungen von Jörg K. HOENSCH, Geschichte
Böhmens. Von der slawischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München
1987, S. 3 4 2 - 344, und Friedrich PRINZ, Geschichte Böhmens 1848 - 1 9 4 8 , Heim-
stetten 1988, S. 69 ff.
4 Gilbert ZIEBURA, Frankreich von der Großen Revolution bis zum Sturz Napo-
leons III. 1 7 8 9 - 1 8 7 0 , in: Walter Bußmann (Hg.), Handbuch der europäischen
Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 1981, S. 1 8 7 - 3 1 8 , hier S. 288 f. „Mit diesem Sieg
bereitete die französische Bourgeoisie zugleich den Weg für den Triumph der
reaktionären Gewalt in ganz Europa über die nationalen und demokratischen
Bewegungen" (a.a. O., S. 289).
5 Rudolf LILL, Italien im Zeitalter des Risorgimento, in: W. Bußmann (Hg.),
Handbuch... [s.o. Anm. 4], S. 8 2 7 - 8 8 5 , hier S. 8 5 3 f . ; H. LUTZ, Zwischen Habs-
burg und Preußen... (1985) [15], S. 294 - 296. Venedig, „der letzte Herd der
Revolution von 1848" (Adolfo OMODEO, Die Erneuerung Italiens und die Ge-
schichte Europas 1 7 0 0 - 1 9 2 0 , Zürich 1951, S. 523 f.), fiel am 26. August 1849.
Vgl. auch Reinhold SCHUMANN, Geschichte Italiens, Stuttgart 1983, S. 203 ff.
6 V. VALENTIN, G e s c h i c h t e d e r d e u t s c h e n Revolution... (1930/31) [213], Bd. 2,
S. 1 9 4 f f . ; H . LUTZ, Z w i s c h e n H a b s b u r g u n d P r e u ß e n . . . ( 1 9 8 5 ) [ 1 5 ] , S. 2 9 5 f .
264 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)
7 Vgl. E . R . H U B E R , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 2 , §57,
S. 774 — 783: „Der Kampf um die Freiheit".
8 V. VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution... (1930/31) [213], Bd. 2,
S. 1 4 9 - 1 5 7 ; E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 2, S. 6 7 4 - 6 8 1 . Daß der 16. September „der schwarze Tag des Frankfurter
Parlaments" gewesen sein soll (Valentin), bestreitet Huber, der dieses Epitheton
eher dem 5. September beilegen möchte (a. a. O., S. 681).
9 Der Antrag auf "Weiterführung des Krieges wurde mit 2 5 8 : 2 3 7 Stimmen abge-
lehnt, der Antrag auf Billigung des Waffenstillstandes mit 2 5 7 : 2 3 6 Stimmen
angenommen.
V. Die Gegenrevolution 265
Seit dem Sommer 1848 gewannen die Ultrakonservativen, die sich nach
ihrem Publikationsorgan die „Kreuzzeitungspartei" nannten, zunehmend an
Einfluß. 12 In enger Verbindung zu den Brüdern Gerlach, dem jungen Bis-
marck und anderen Konservativen wie Kleist-Retzow, Stahl, Wagener und
Leo stand auch das Haupt der preußischen Militärpartei, der Chef des
Allgemeinen Kriegsdepartements, Gustav v. Griesheim. Er agierte im Kriegs-
ministerium als Graue Eminenz und war Verfasser mehrerer anonymer
Schriften, darunter „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" (Ende No-
vember 1848). Von den radikalen Demokraten wurde er als „preußischer
Cavaignac" bezeichnet. 13
Obwohl Friedrich Wilhelm IV. den von ihm selbst ausgearbeiteten Staats-
streichplan am 11. September schriftlich niedergelegt hatte, 17 hielt er die
Zeit für seine Realisierung noch nicht gekommen. „Nach dem Rat seines
klugen Freundes... Radowitz wartete er ab und spielte den konstitutionellen
Herrscher" weiter: Das von ihm am 21. September berufene Ministerium
Pfuel war ein Übergangskabinett, das unter einem General nur noch Beamte
und keine Abgeordneten mehr umfaßte. Langfristig bedeutsamer war, daß
der König schon am 13. September den General Wrangel zum Oberkom-
mandierenden in den Marken ernannt hatte. 1 8
Pfuel, „der letzte große Repräsentant der preußischen Reformzeit", kam
der Nationalversammlung durch seinen „Anti-Reaktions-Erlaß" vom
23. September 1848 weit entgegen. Die höheren Kommandostellen der Ar-
mee wurden angewiesen, reaktionären Bestrebungen in der Truppe „ent-
schieden entgegenzutreten"; antikonstitutionelle Bestrebungen seien mit
dem zu erwartenden Verfassungseid, aber auch mit der Stellung eines
Offiziers nicht zu vereinbaren. Es müsse sich die Überzeugung ausbreiten,
„daß die... freie Entwicklung des konstitutionellen Staates von der vater-
ländischen Kriegsmacht nicht bedroht, sondern beschützt wird". 1 9
Pfuels Erlaß, der von der konservativen Fronde, insbesondere der Mili-
tärpartei, heftig kritisiert wurde, war das äußerste Zugeständnis, das die
zur Verständigung bereiten Kräfte im Herbst 1848 dem König noch abringen
konnten. 2 0 Dies nicht erkannt zu haben, wurde der entscheidende Fehler
der Radikalen in der Nationalversammlung. Sie sahen in dem Entgegen-
kommen Pfuels ein Zeichen der Schwäche und schraubten ihre Forderungen
höher und höher. Da sie dabei rasch über die Grenzen des politisch Zu-
mutbaren hinausgingen und somit eine scharfe Gegenattacke der Vertreter
der konservativen Ordnung geradezu provozierten, wurden die radikalen
Demokraten wie in Frankfurt so auch in Berlin zu den eigentlichen Toten-
gräbern der Revolution. Das Opfer, das sie bestatteten, war freilich längst,
aus vielen Wunden blutend, verschieden.
Betrachtet man die seit dem Sommer 1848 gefaßten Beschlüsse der preu-
ßischen Nationalversammlung, wird die ihnen innewohnende Brisanz deut-
lich: 21
17 Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 163, S. 459f. Zur
Problematisierung dieses „Kampfprogramms" vgl. G. GRÜNTHAL, Bemerkungen
zur K a m a r i l l a . . . ( 1 9 8 7 ) [ s . o . A n m . 1 2 ) , S. 4 2 ; M . BOTZENHART, D e u t s c h e r P a r -
l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 7 7 ) [ 2 2 4 ] , S. 5 3 2 f.
18 A.a. O., S. 534f.; E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 2, S. 739 - 742. Die Kabinettsliste: Siehe unten S. 290.
19 Abdruck: Ders. (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 166, S. 463f.
20 Das Ministerium Pfuel saß bald zwischen allen Stühlen; es „hat praktisch seit
dem Tag seiner Einsetzung mit dem Abschiedsgesuch in der Tasche regiert"
( M . BOTZENHART, D e u t s c h e r P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 7 7 ) [ 2 2 4 ] , S. 5 4 3 ) .
21 Vgl. z u r V e r f a s s u n g s d e b a t t e M . BOTZENHART, a . a . O . , S. 5 3 4 - 5 3 7 und 541-
544; knappe Zusammenfassung: E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
( 1 9 5 7 / 6 0 ) [ 4 9 ] , B d . 2 , S. 7 4 2 - 7 4 6 .
268 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)
Noch bevor diese Beschlüsse gefaßt wurden, hatte der König dem Mi-
nisterpräsidenten erklärt, daß er die Verfassung, so wie sie als „Charte
Waldeck" vorlag, „niemals und unter keiner Bedingung annehmen" würde.
Da Pfuel ganz anderer Meinung war, reichte er sein erstes Rücktrittsgesuch
ein, dem der König aber nicht stattgab (7. Oktober). In den folgenden
Tagen wurden die hitzigen Debatten in der Nationalversammlung, die im
September von der Singakademie ins Schauspielhaus am Gendarmenmarkt
übergesiedelt war, von wachsenden Straßenunruhen begleitet. Den schwer-
sten Zwischenfall gab es am 16. Oktober, als sich eine Gruppe von Kanal-
arbeitern, die einen Sabotageakt begangen hatten, gegen die folgenden
Repressionsmaßnahmen zur Wehr setzten und Barrikaden errichteten. Der
Sturm der Bürgerwehr auf die Barrikaden kostete elf Arbeitern und einem
Bürgerwehrmann das Leben. 2 2
Als der König diese Auseinandersetzung zum Anlaß nahm, von Pfuel die
Verhängung des Belagerungszustandes zu verlangen, reichte der Minister-
präsident sein zweites Rücktrittsgesuch ein, weil er darin das Ende seiner
Ausgleichsbemühungen sehen mußte (16. Oktober). Der König nahm die
Demission im Prinzip an, griff aber auf die schon im Frühjahr 1842 geübte
Praxis zurück und bat Pfuel, im Amt zu bleiben und seinen Rücktritt
geheimzuhalten, damit die Öffentlichkeit nicht noch weiter erregt werde.
Im Grunde befand sich die preußische Hauptstadt seit den Sommermo-
naten in einem Zustand permanenter Unruhe. Fast täglich kam es zu
Zusammenstößen von demonstrierenden Gruppen mit den Ordnungskräf-
27 A . a . O . , S. 1162.
28 Abdruck beider Texte: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 179
und 180, S. 4 7 6 f. Die neue Ministerliste siehe unten S. 291.
29 Beste Darstellung aus der Sicht eines beteiligten Zeitgenossen: A. STRECKFUSS,
5 0 0 Jahre Berliner Geschichte... ( 3 1880) [s.o. Anm. 15], S. 1 1 6 2 - 1 1 7 5 .
V. Die Gegenrevolution 271
34
Vgl. dazu M. BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224], S. 547
u n d 5 5 5 - 5 6 5 ; E. R . HUBER, D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e . . . (1957/60) [49],
Bd. 2, S. 756 - 761.
35
A . A . O . , S. 7 6 2 f . ; M . BOTZENHART, D e u t s c h e r P a r l a m e n t a r i s m u s . . . ( 1 9 7 7 ) [ 2 2 4 ] ,
S. 5 4 8 - 5 5 1 .
274 § 5 Revolution und Gegenrevolution (1848/1849)
V. Die Gegenrevolution 275
TABELLE 5 1
Soziale Zusammensetzung der am 17. 7. 1849 gewählten preußischen
Zweiten Kammer im Vergleich
(in Prozent der Abgeordneten)
40 A . a . O . , S. 7 5 0 - 7 6 6 ; G . GRÜNTHAL, P a r l a m e n t a r i s m u s in P r e u ß e n . . . ( 1 9 8 2 ) [ 2 3 9 ] ,
S. 126 —159. Zu den Königlichen Propositionen vom 7.1. vgl. a.a.O.,
S. 1 6 2 - 1 7 3 .
V. Die Gegenrevolution 277
4. Nachspiele
41 Abdruck der Verfassung: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 194,
S. 5 0 1 - 5 1 4 ; der Verfassungseid des Königs: A . a . O . , Nr. 195, S. 515f. Das fol-
gende Zitat: M. BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977) [224],
S. 766.
42 G . WOLLSTEIN, D e u t s c h e G e s c h i c h t e 1848/49... (1986) [ 2 1 4 ] , S. 1 4 4 . Gemeint
sind die Ereignisse in Frankfurt, Wien und Berlin.
43 Eingehende Würdigung und Analyse bei M. BOTZENHART, Deutscher Parlamen-
tarismus... (1977) [224], Kap. VIII/1 und 2: S. 6 4 1 - 6 9 5 ; vgl. auch die umfassende
Darstellung bei E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49],
Bd. 2, Kap. XII: S. 7 6 7 - 8 4 1 .
44 A . a . O . , S. 8 1 4 - 8 1 7 ; M. BOTZENHART, Deutscher Parlamentarismus... (1977)
[224], S. 691 f. Abdruck: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1978) [50], Nr. 108,
S. 3 7 5 - 3 9 6 .
278 § 5 Revolution und Gegenrevolution ( 1 8 4 8 / 1 8 4 9 )
testen, wenn auch gottlob nicht der bösesten dieses Jahrhunderts". 4 8 In der
von den Frankfurter Delegierten an ihn herangetragenen Kaiserwürde sah
Friedrich Wilhelm, wie er an Ernst Moritz Arndt schrieb, das „eiserne
Halsband der Knechtschaft", durch das er der Revolution leibeigen gemacht
werden sollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit war sich der preußische König
der Tragweite seiner Ablehnung bewußt: Er versetzte der deutschen Revo-
lution den endgültigen Todesstoß.
Ein weiteres Nachspiel begann ebenfalls in Frankfurt, wo es zur schritt-
weisen Auflösung der Nationalversammlung kam. Preußen erklärte am
14. Mai die Mandate seiner Abgeordneten für erloschen, andere deutsche
Staaten folgten. Viele Abgeordnete verließen von sich aus das Parlament.
Um einer Auflösung durch die in Mainz stationierten österreichisch-preu-
ßischen Truppen zu entgehen, beschloß die Nationalversammlung am 30.
Mai ihre Verlegung nach Stuttgart ( 7 1 : 6 4 Stimmen), während Reichsver-
weser und Reichsministerium weiterhin in Frankfurt amtierten. Die würt-
tembergische Regierung, unter preußischen Druck gesetzt, unterband die
Aktivitäten dieses „Rumpfparlaments" durch den Einsatz einer militärischen
Einheit am 18. Juni 1849. Damit hatte das erste deutsche Nationalparlament
zu bestehen aufgehört. 49
Über den in Frankfurt verbliebenen Reichsverweser vereinbarten Preußen
und Österreich die Übertragung seiner Befugnisse interimistisch auf eine
paritätisch besetzte Bundeskommission (30. September). Am 6. Oktober
trat der Reichsverweser diesem Abkommen bei. Nach dem Austausch der
Ratifikationsurkunden legte er sein Amt nieder, entließ das Ministerium
und übergab seine Rechte der Bundeskommission (20. Dezember 1849). 5 0
Weitaus stärker wurde Preußen von einem anderen Nachspiel der Re-
volution betroffen, das seinerseits so revolutionäre Züge trug, daß man
geradezu von der „Mairevolution 1849" spricht. Ausgangspunkt war die
vom „Zentralmärzverein" äußerst erfolgreich durchgeführte Reichsverfas-
sungskampagne. Dieser im November 1848 gegründete Verein stellte mit
seinen über 800 Ortsvereinen und 500.000 Mitgliedern eine schlagkräftige
Massenorganisation dar, die ihre Schwerpunkte in West- und Süddeutsch-
land sowie im preußischen Schlesien hatte. Seit Ende März 1849 organisierte
der Verein einen ausgedehnten Propagandafeldzug mit dem Ziel, die deut-
schen Regierungen durch eine Volksbewegung zur Annahme der Reichsver-
fassung zu zwingen. In Preußen verknüpfte sich diese Forderung mit Pro-
testen gegen die restaurative Politik, gegen die Auflösung der Zweiten
Kammer sowie gegen die Anfang Mai (wegen des Krieges mit Dänemark)
einberufene Landwehr. 51
zugte Objekte die Presse, die Administration und das Militär waren, gegen
die sich eine energische Strafverfolgungskampagne richtete. Zur Schlüssel-
figur wurde dabei der dem Gerlach-Kreis nahestehende Legationsrat
v. Savigny, der erst als preußischer Sonderbevollmächtigter, dann als Ge-
schäftsträger in Karlsruhe tätig war. 5 8
Sichtbarster Ausdruck dieser Repressionspolitik war die Errichtung dreier
Standgerichte in Mannheim, Rastatt und Freiburg am 27. Juli. Sie waren
etwa paritätisch besetzt, den Vorsitz führte jeweils ein preußischer Major;
Bestätigungs- und Revisionsinstanz war das badische Kriegsministerium.
Die ersten Todesurteile wurden bereits am ersten Verhandlungstag, dem
6. August, ausgesprochen und schnellstens vollstreckt, auch durch preußi-
sche Exekutionskommandos. Damit beschritt man in Baden einen Weg der
blutigen Vergeltung, den es vorher weder in Sachsen noch in der Rheinpfalz
gegeben hatte, wo keine Hinrichtungen stattfanden. In den drei Monaten
ihrer Tätigkeit verurteilten die Standgerichte 27 Personen zum Tode und 62
zu zehnjähriger Zuchthausstrafe. Anschließend fanden vor den Kriegsge-
richten rund 2.000 weitere Verfahren statt, die zu 37 Todesurteilen und
über 900 Freiheitsstrafen führten. Von den zuerst ausgesprochenen 27 To-
desurteilen wurden vier, von den späteren 37 alle nicht vollstreckt. Die
badischen Hofgerichte, vor denen die Zivilisten angeklagt wurden, sprachen
kein Todesurteil aus. 5 9
Die Annahme der maßgebenden Kreise, „mit einem gewissermaßen gut
preußisch sparsamen Terror" (Valentin) die Gegenrevolution in Baden
schnell und gründlich durchsetzen zu können, erwies sich als irrig. In der
Pfalz und in Sachsen, auch in Württemberg, beruhigte sich die Situtation
sehr viel schneller als in Baden, wo es rund 80.000 Einwohner vorzogen,
ihre Heimat zu verlassen. Sie gingen in die Schweiz, nach England und vor
allem in die Vereinigten Staaten, weil sie das unsichere Schicksal der
Emigration der Gewißheit vorzogen, in einem Lande leben zu müssen, das
in einem Satellitenverhältnis zu der preußischen Militärmacht stand, deren
erklärtes Ziel es war, „in Baden die deutsche Revolution mit Stumpf und
Stiel auszurotten". 60
Mit seiner dreimaligen militärischen Intervention binnen weniger Wochen
zog Preußen den endgültigen Schlußstrich unter eine Entwicklung, die in
den Märztagen 1848 so hoffnungsvoll begonnen hatte. Trotz aller Rück-
ferenz in Berlin Anfang Mai nur zwölf der 26 vertretenen Staaten bereit waren,
die Erfurter Verfassung anzuerkennen. 62
Der von Schwarzenberg geführte Gegenschlag zielte auf eine Reaktivie-
rung der Bundesversammlung, die am 12. Juli 1848 in erstaunlicher Hell-
sichtigkeit nicht das Ende ihres Bestehens erklärt, sondern nur „ihre bis-
herige Tätigkeit als beendet" angesehen hatte. 6 3 Bei den langwierigen und
komplizierten Verhandlungen, die das preußisch-österreichische Tauziehen
um kleindeutsche Unionspläne und großdeutsche Bundesprojekte in den
folgenden Monaten begleiteten und den eigentlichen Auftakt zum Dualismus
der 50er und 60er Jahre bildeten, ging es im Kern um die Frage, welche
Großmacht das Dritte Deutschland auf ihre Seite ziehen konnte: Die zur
Restauration des alten Staatenbundes entschlossenen Länder unter Öster-
reichs Führung und die einen eigenen Bundesstaat anstrebenden Mächte
der Erfurter Union unter preußischer Führung standen sich drohend gegen-
über. Seit der Frankfurter Konferenz vom Mai 1850 konnte Österreich auf
neun Verbündete zählen, während im „Provisorischen Fürstenkollegium",
das sich im Juni konstituierte, 22 unionstreue Staaten mitarbeiteten. 64
Die innerdeutschen Streitigkeiten wurden durch außenpolitische Probleme
zusätzlich belastet. Nikolaus I. stand den preußischen Unionsplänen grund-
sätzlich mißtrauisch gegenüber. Außerdem beschuldigte er seinen preußischen
Schwager, in Schleswig-Holstein die gegen Dänemark rebellierenden Kreise
zu unterstützen und dadurch die europäische Revolution zu schüren. Um die
guten Beziehungen zu erhalten und Rußland nicht in die Arme Österreichs zu
treiben, gab Friedrich Wilhelm nach: Preußen zog sich nicht nur aus den
Herzogtümern zurück (Berliner Frieden, 2. Juli 1850), sondern ließ auch seine
Unionspläne fallen (Warschauer Übereinkunft zwischen Graf Brandenburg
und Schwarzenberg, 28. Oktober 1850), nachdem Österreich, Bayern und
Württemberg im Bregenzer Schutz- und Trutzbündnis vom 12. Oktober ge-
genüber Preußen eine kaum verhüllte Kriegsdrohung ausgesprochen hatten. 65
Es ging dabei um die vergleichsweise sekundäre Frage, daß die am
2. September endgültig reaktivierte Bundesversammlung in Frankfurt, an
der allerdings nur 13 Staaten teilnahmen („Rumpfbundestag"), am 21.
September die Bundesintervention gegen Kurhessen beschlossen hatte, wo
Armee und Gerichte, Landstände und Verwaltung dem Kurfürsten und
seinem ungeliebten Minister Hassenpflug den Gehorsam versagten.
Preußen sah sich durch diesen Beschluß essentiell betroffen, da seine zwei
Etappenstraßen, die das Kernland mit den westlichen Provinzen verbanden,
66
Vgl. dazu ders., Deutsche Verfassungsgeschichte... (1957/60) [49], Bd. 2, S. 9 0 8 -
915.
67
A . a . O . , S. 9 1 7 - 9 1 9 .
286 § 6 Anhang
§ 6 Anhang
I. Das preußische Staatsministerium *
1. 1807-1841
68 A . a . O . , S. 9 1 9 - 9 2 2 ; k n a p p e r : K . - G . FABER, D e u t s c h e G e s c h i c h t e . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 2 ] ,
S. 2 7 6 . D i e T e x t e : E . R . H U B E R ( H g . ) , D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 7 8 ) [ 5 0 ] , N r . 2 2 3 , S. 5 8 0 -
582 (Vertrag) und Nr. 224, S. 5 8 2 - 5 8 4 (Bismarck-Rede).
* Zusammengestellt nach den Angaben bei E. R. HUBER, Deutsche Verfassungs-
geschichte... (1957/1960) [ 4 9 ] , B d . 1, S. 1 6 0 f., B d . 2 , S. 4 8 3 f. u n d S. 7 5 0 f . ; I.
MIECK, P r e u ß i s c h e G e w e r b e p o l i t i k . . . ( 1 9 6 5 ) [ 4 1 ] , S. 3 0 - 3 2 ; O l a f WIRTH, Das
preußische Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Ein
Beitrag zu seiner Entstehungsgeschichte, Jur. Diss. München 1962, passim.
I. Das preußische Staatsministerium 287
4. Justizminister: v. Beyme
5. Kriegsminister: v. Scharnhorst
2. 1841-1848
1. Kabinettsminister
(und Schatzminister): v. Thile 1841-48)
v. Bodelschwingh 1844 - 45)
2. Außenminister: Graf Maltzan 1841-42)
Frh. v. Bülow 1842-45)
Frh. v. Canitz 1845-48)
3. Innenminister: Graf Arnim-
Boitzenburg 1842-45)
v. Bodelschwingh 1845-48)
4. Finanzminister: v. Bodelschwingh 1842-44)
v. Flottwell 1844-46)
v. Duesberg 1846-48)
5. Chef des Handelsamtes: v. Rönne 1844-48)
6. Kultusminister: v. Eichhorn 1840-48)
7. Justizminister: v. Mühler 1832-44)
v. Uhden 1844-48)
8. Gesetzgebungsminister: v. Savigny 1842-48)
9. Kriegsminister: v. Boyen 1841-47)
v. Rohr 1847-48)
10. Generalpostmeister: v. Nagler 1823-46)
(1836: Ministerrang)
11. Präsident der Staatsbank: v. Rother 1837-48)
12. Präsident der Seehandlung: v. Rother 1820-48)
(1836: Ministerrang)
13. Chef der Domänen- und
Forstverwaltung: Graf Stolberg 1842-48)
14. Minister des Königl. Hauses: Fürst Wittgenstein 1819-51)
Graf Stolberg 1842-48)
290 § 6 Anhang
3. 1848-1850
4
Als Camphausen nur für zwei der am 17. 6. zurückgetretenen drei Minister
(Äußeres, Kultus, Krieg) Nachfolger fand, erbat er am 20. 6. seine Entlassung
mit dem Gesamtkabinett.
II. Preußische Münzen 291
Längenmaße
Linie 1 l/ 1/
0,00220
12 '144
Flächenmaße
1 Quadratfuß = 0,0985 m 2
1 Quadratruthe = 144 Quadratfuß = 14,1840 m 2
1 Viertel = 45 Quadratruthen = 638,2800 m 2
1 Morgen = 180 Quadratruthen = 2.553,1200 m 2
1 Quadratmeile = 56,7383 km 2
292 § 6 Anhang
* Zu den Münz- und Währungsfragen vgl. Friedrich Freiherr von Schroetter, Das
preußische Münzwesen 1806 — 1873 (= Acta Borussica, Münzgeschichte,
Bd. 4/1), Berlin 1926 (ND Frankfurt/M. 1986/87).
II. Preußen von 1850 bis 1871
Verfassungsstaat und Reichsgründung
Von Hagen Schulze
Bibliographie
1. Zeitlich übergreifende Quellen werke, Handbücher und
Gesamtdarstellungen
Quellenkunde und Bibliographie: [1] John C. FOUT, German History and Civilisa-
tion, 1806 - 1 9 1 4 . A Bibliography of Scholarly Periodical Literature, Metuchen/N. J.
1974; [2] Wolfram SIEMANN, Restauration, Liberalismus und nationale Bewegung.
Akten, Urkunden und persönliche Quellen (1815 - 1 8 7 0 ) ( = QkdGNz, Bd. 4), Darm-
stadt 1982.
Verfassung und Verwaltung: [34] Ludwig BENTFELDT, Der Deutsche Bund als natio-
nales Band 1 8 1 5 - 1 8 6 6 , Göttingen - Frankfurt/M. - Zürich 1985; [35] Ernst-Wolf-
gang BÖCKENFÖRDE, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie
im 19. Jahrhundert [1967], in: Ders. (Hg.), Moderne Deutsche Verfassungsgeschichte
(1815 - 1 9 1 8 ) ( = NWB, Bd. 51), Köln 1972, S. 146 - 1 7 0 ; [36] Albrecht FUNK, Polizei
und Rechtsstaat. Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preußen
1 8 4 8 - 1 9 1 8 , Frankfurt a . M . - N e w York 1986; [37] Dieter GRIMM, Deutsche Ver-
fassungsgeschichte 1776 —1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur
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Crown and Parliament in Prussia 1848 - 1866, in: ParlEstRep, Bd. 5 (1985), S. 165 -
174; [39] Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 3:
Bismarck und das Reich, Stuttgart 3 1988; [40] Emst Rudolf H U B E R (Hg.), Dokumente
zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851 —
1890, Stuttgart 3 1986; [41] Hagen SCHULZE, Preußen und das Reich, in: Hans-
Bibliographie 295
O. von Bismarck: [42] Otto von BISMARCK, Die gesammelten Werke, 15 Bde. (in
19 Bdn.), Berlin 1 9 2 4 - 1 9 3 5 (ND Nendeln/Liecht. 1972); [43] Otto von BISMARCK,
Werke in Auswahl. Jahrhundertausgabe zum 23. September 1862, hg. von Gustav
A. Rein u.a., 8 Bde. (in 9 Bdn.) ( = AQdGNz, Bd. 3 - 1 0 ) , Darmstadt 1 9 6 2 - 1 9 8 2 ;
[44] Ernst ENGELBERG, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985;
[45] Erich EYCK, Bismarck. Leben und Werk, 3 Bde., Erlenbach - Zürich 1941 -
1944; [46] Lothar GALL, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt/M. — Berlin —
Wien 1980; [47] Lothar GALL (Hg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschrei-
bung nach 1945 ( = NWB, Bd. 42), Köln-Berlin 1971; [48] Hans HALLMANN (Hg.),
Revision des Bismarckbildes. Die Diskussion der deutschen Fachhistoriker 1945 —
1955 ( = WdF, Bd. 285), Darmstadt 1972; [49] Willy HERTEL, Bismarck-Bibliogra-
phie. Quellen und Literatur zur Geschichte Bismarcks und seiner Zeit, hg. von Karl
Erich Born, Köln —Berlin 1966; [50] Andreas HILLGRUBER, Otto von Bismarck.
Gründer der europäischen Großmacht Deutsches Reich ( = PersG, Bd. 101/102),
Göttingen - Zürich - Frankfurt/M. 1978; [51] Horst KOHL (Hg.), Die politischen
Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 14 Bde., Stuttgart
1 8 9 2 - 1 9 0 5 ; [52] Erich MARCKS, Otto von Bismarck. Ein Lebensbild, Stuttgart-
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nicht auf dem Grundsatz der Volkssouveränität, sondern auf dem monar-
chischen Prinzip, wie es durch Artikel 57 der Wiener Schlußakte von 1820
für alle Mitglieder des Deutschen Bundes verbindlich festgelegt worden
war; danach hatte „die gesamte Staats-Gewalt in dem Oberhaupte des
Staats vereinigt (zu) bleiben". 5 So blieb die preußische Verfassungsurkunde
ein klassisches Dokument des monarchischen Konstitutionalismus. 6 Das
hieß: Der Monarch blieb Herrscher aus eigenem Recht, während Volk und
Volksvertretung ihre Rechte aus der Verfassungsurkunde ableiteten. Infol-
gedessen war der Monarch unverletzlich und trug für die Regierung keine
Verantwortung; dagegen war das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit
festgelegt. Aber das preußische Staatsministerium war persönlich wie insti-
tutionell vom Landtag unabhängig, königliche, nicht parlamentarische Re-
gierung. Allerdings bedeutete die Verantwortlichkeit der Minister auch, daß
sie auf Verlangen vor der Volksvertretung zu erscheinen und Rechenschaft
abzulegen hatten; eine formale Absicherung dieser Pflicht lag in dem Recht
des Parlaments zur Ministeranklage, das freilich mangels eines von der
Verfassung geforderten Ausführungsgesetzes nie verwirklicht wurde (Ar-
tikel 61). Dem König allein stand die vollziehende Gewalt zu, er führte den
Oberbefehl über das Heer, erklärte Krieg und Frieden und schloß völker-
rechtliche Verträge. Auch war er der Träger des obersten Kirchenregiments;
ihm unterstand der evangelische Oberkirchenrat, die oberste protestantisch-
kirchliche Behörde des Staats. Der König ernannte und entließ die Minister,
aber alle Regierungsakte mußten von einem Minister gegengezeichnet sein
— mit Ausnahme der Armeebefehle und der kirchlichen Erlasse.
In diesen beiden letzteren Bereichen blieb der Monarch extrakonstitutio-
nell. Das Heer insbesondere blieb Königsheer, wurde nicht, ein Traum der
Achtundvierziger-Liberalen, zum Parlamentsheer. Indem die Verfassung
dem König den Oberbefehl über das Heer überließ, blieb der Monarch
Inhaber der effektiven Kommandogewalt; in Fragen der Armeeorganisation
und der Landesverteidigung, also praktisch bei allen Materien des Militär-
wesens, war der König frei von verfassungsmäßigen Beschränkungen. Dem
entsprach, daß das Heer nicht auf die Verfassung, sondern wie eh und je
auf den König vereidigt wurde; die persönliche Treuebindung zwischen
König und Offizierskorps, eine der traditionellen Säulen des preußischen
Regierungssystems, wurde also nicht durch rivalisierende Loyalitätsver-
pflichtungen beeinträchtigt. Allein auf dem Umweg über das Etat-Bewilli-
gungsrecht blieb dem Parlament die Möglichkeit, Einfluß auf den militäri-
schen Bereich zu nehmen. 7
Der preußische Landtag bestand aus einem Herren- und einem Abgeord-
netenhaus. Die Erste Kammer war noch 1849 eine gewählte Institution
gewesen, bei der das aktive wie passive Wahlrecht von einem hohen Zensus
abgehangen hatte; sie war also als Vertretung der besitzenden Klassen
konzipiert. Es bezeichnet den Geist der Verfassungsrevision, daß nach langen
Debatten und königlichen Interventionen die künftige Erste Kammer neben
gewählten Mitgliedern auch solche kraft königlicher Ernennung sowie sol-
che kraft Geburt umfassen sollte. Und selbst dieser Kompromiß zwischen
liberalen und konservativen Ideen wurde durch verfassungsänderndes Ge-
setz vom 7. Mai 1853 verschoben; die endgültig 1854 ins Leben gerufene
Erste Kammer, die nunmehr den bezeichnenden Namen „Herrenhaus"
führte, umfaßte neben erblichen hochadligen und gutsherrschaftlichen Mit-
gliedern vom König auf Lebenszeit berufene Beamte, Offiziere oder Geist-
liche sowie Vertreter der Landesuniversitäten und der größeren Städte. 8 Das
konservative Übergewicht war damit in dieser Institution bis 1918 sicher-
gestellt. Nicht das Industrie- und Bildungsbürgertum sollte nach dem Willen
des Königs wie der preußischen Hochkonservativen das Rückgrat des preu-
ßischen Staats bilden; vielmehr ging es mit den Worten Ludwig von Gerlachs
darum, mit Hilfe des „in Königsdienst und Waffenehre" erprobten Adels
Preußens den „prachtvollen Dom der constitutionellen Monarchie" zu er-
richten. 9
Herrenhaus und Zweite Kammer, das Abgeordnetenhaus, waren gleich-
berechtigt; beide mußten wie der König die Zustimmung zu den Gesetzen
geben. Die eigentliche Volksvertretung, das Haus der Abgeordneten, war
nicht wie die Zweite Kammer nach der oktroyierten Verfassung aufgrund
allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu wählen; vielmehr beruhte sie bereits
seit der staatsstreichartigen Notverordnung vom 30. Mai 1849 1 0 auf einem
Aber mit der Revolution von 1848, die das allgemeine und gleiche
Wahlrecht zu einer ihrer Kernforderungen gemacht hatte, war das Zensus-
wahlrecht doch bereits obsolet geworden, und zudem war es auch als
solches ungerecht: denn die sehr unterschiedlichen Steueraufkommen in den
einzelnen Wahlbezirken führten dazu, daß bei ein und derselben Steuerlei-
stung ein Urwähler in einem durchschnittlich armen Bezirk in der ersten,
nach seinem Umzug in einen durchschnittlich wohlhabenden Bezirk dagegen
oft genug in der dritten Klasse zu wählen hatte. Es kam hinzu, daß die
Wahlen öffentlich stattfanden, der Wähler seine Entscheidung also zu Pro-
tokoll geben mußte. Das hatte zur Folge, daß Lohn- und Dienstabhängige
dazu neigten, wie ihre Herrschaft zu stimmen, wenn sie es nicht vorzogen,
auf ihr Wahlrecht zu verzichten - 1903 beispielsweise gaben nur 21 Prozent
der Wähler der dritten Klasse ihre Stimmen ab.
Trotz der Verzerrung, die sich in der Repräsentation ergab, und die
namentlich seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einer maßlosen Benachteili-
gung sozialdemokratischer Stimmen führte, und trotz der massiv geübten
Wahlbeeinflussung durch die Regierung konnten selbst aufgrund dieses
Wahlverfahrens oppositionelle Kammermehrheiten entstehen, wie die Re-
gierung in den sechziger Jahren erfahren sollte; eben das war der Grund
dafür, daß Bismarck meinte, ein „widersinnigeres, elenderes Wahlgesetz"
als das preußische gebe es nirgendwo, 14 weshalb er für den Reichstag das
gleiche und direkte Wahlrecht vorzog, in der Hoffnung, hiermit zu regie-
rungstreueren Mehrheiten zu gelangen.
Das so zustandegekommene Abgeordnetenhaus besaß, wie auch das
Herrenhaus, eigentlich nur eine Aufgabe: Die gemeinschaftlich mit dem
König auszuübende Gesetzgebung, wobei die Gesetzesinitiative jedem der
drei Teilhaber der gesetzgebenden Gewalt zustand. Allerdings, auch dies
ein bestimmendes Merkmal des monarchischen Konstitutionalismus, blieb
diese Gesetzgebungskompetenz im wesentlichen auf die persönlichen und
gesellschaftlichen Interessen der Bürger beschränkt, da insbesondere Heer
und Verwaltung Reservat der Monarchie waren. Doch da war, als wichtig-
ster Ausfluß und zugleich eigentliche raison d'être der parlamentarischen
Gesetzgebungszuständigkeit, das Budgetrecht. Zwar konnten Finanzgesetz-
entwürfe und Haushaltspläne nur von der Regierung aufgestellt werden,
doch bedurfte die Verabschiedung der jährlichen Haushaltsgesetze der Zu-
stimmung beider Häuser des Landtags, wobei das Herrenhaus den Staats-
haushalt nur im Ganzen beschließen oder ablehnen, das Abgeordnetenhaus
dagegen auch einzelne Positionen im Budget verändern konnte. Die Über-
einstimmung von Krone, Herren- und Abgeordnetenhaus über das Budget-
gesetz mußte allerdings gegeben sein; war dies nicht der Fall, war der
Haushaltsplan gescheitert. 15
14 Bismarck vor dem Norddeutschen Reichstag, 28. III. 1849, in: O. von BISMARCK,
Die gesammelten Werke... ( 1 9 2 4 - 1 9 3 5 ) [42], Bd. 10, bearb. von Wilhelm Schüß-
ler, Berlin 1928, S. 3 5 6 - 3 6 1 .
15 Eva HAHNDORF, Das Budgetrecht in den Verhandlungen des Preußischen Land-
tags. Ein Beitrag zur preußischen Verfassungsgeschichte 1848 — 1866, Stettin 1931
308 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1867
Betrachtet man die Verfassung als Ganzes, so kann es scheinen, als hätten
Krone und Regierung ein kaum anfechtbares Übergewicht behalten; das
monarchische Prinzip war gesichert, Regierung, Verwaltung und Armee
nahmen alle effektiven Herrschaftspositionen ein, und nirgendwo besaß die
Volksvertretung ein alleiniges Herrschaftsrecht. Der liberale Vorwurf eines
„Scheinkonstitutionalismus", der lediglich ein spätabsolutistisches Regime
verschleiere, ein Begriff, der als Kennzeichnung des preußisch-deutschen
Verfassungssystems der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in die
Geschichtsschreibung eingegangen ist, 1 6 ist jedoch eher als zeitgenössischer
Kampfbegriff denn als analytische Kategorie der Wissenschaft akzeptabel.
Es gab sehr wohl Verfassungselemente, die im Konfliktfall einer entschlos-
senen Oppositionsmehrheit im Abgeordnetenhaus wirksame Kampfmittel
in die Hand gaben. Zum einen war der Monarch an die Verfassung gebun-
den; in Fragen der Verfassungsänderung standen sich also Parlament und
König auf dem Boden der Verfassung unvermittelt gegenüber. Und da war
vor allem das Budgetrecht des Landtags, das dem Abgeordnetenhaus eine
probate Waffe gegen das monarchische Prinzip verschaffte und zu einer
tatsächlichen Abhängigkeit der Regierung von der Volksvertretung führen
konnte. In zentralen Bereichen der Verfassung bestand somit eine „Schwe-
belage", 1 7 die Entscheidungen zwischen dem monarchischen Prinzip und
der Volkssouveränität offenließ. Auf den Ernstfall gestellt, war diese Ver-
fassung offener, als ihre Urheber ahnten, wie sich in den sechziger Jahren
erweisen sollte.
(Phil. Diss. Berlin 1931); Paul KICHLER, Entwicklung und Wandlung des parla-
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II. Die Ära Manteuffel 1 8 5 0 - 1 8 5 8 309
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konservative Gedanke. Die Zusammenhänge zwischen Außenpolitik, innerer
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9 Leo EISNER, Beamte als Parlamentarier, Greifswald 1914 (Jur. Diss. Greifswald
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312 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 — 1 8 6 7
offenstand; die „Kunst der Abschaffung eines Gesetzes durch seine Inter-
pretationen auf den einzelnen Gebieten der Verwaltung" 10 wurde zur Per-
fektion entwickelt. Über das gesamte öffentliche Leben legte sich ein dichtes
Netz der bürokratischen Kontrolle; die Presse wurde durch Zensur, Kon-
zessionszwang und steuerliche Maßnahmen eingeschränkt, die kommunale
Selbstverwaltung wurde von den Bezirksregierungen, oft ohne gesetzliche
Grundlage, nach freiem Ermessen reguliert, 11 die Schul-, vor allem die
Volksschulpolitik wurde konservativ korrigiert. Die Bürokratie überwachte
aber auch sich selbst, indem das Disziplinarrecht verschärft, die aktive
Unterstützung der Regierungspolitik zur Pflicht gemacht, ein liberaler Be-
amter oder Richter versetzt und nicht befördert wurde. 12
In kirchlichen Angelegenheiten wucherte derweil die Orthodoxie; die
Kompetenzen des Evangelischen Oberkirchenrats der Altpreußischen Union
wurden ausgeweitet. Auch gegenüber der katholischen Kirche verzichtete
die Regierung weitgehend auf alte kirchenhoheitliche Rechte, so daß nun-
mehr die Stellung und die amtlichen Rechte des Pfarrklerus zur alleinigen
Disposition der Bischöfe stand; insbesondere wurde die örtliche Volksschul-
aufsicht den lokalen Pfarrern beider Konfessionen überlassen. Dissidenten-
gemeinden mußten jeder Form staatlicher Kontrolle und Schikane gewärtig
sein, und jeder Beamte war sich darüber im klaren, daß sein Avancement
von einem erkennbar frommen Lebenswandel abhängig war.
Für die Öffentlichkeit personifizierte sich die Politik der Reaktionsära in
dem Berliner Polizeipräsidenten Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey,
einem Günstling des Königs, der 1854 zum Generalpolizeidirektor im In-
nenministerium ernannt wurde und somit praktisch die Funktionen eines
Polizeiministers ausübte. 13 Unter Hinckeldeys Ägide wurde die politische
Polizei zu einem gefürchteten Machtinstrument ausgebaut; nicht nur sozia-
listische und demokratische Strömungen und Einzelpersonen unterlagen
schärfster Überwachung, sondern auch alle übrigen politischen Gruppie-
rungen. Hinckeldey schreckte nicht einmal davor zurück, sich des Brief-
wechsels zwischen dem König und seinem Generaladjutanten von Gerlach
zu bemächtigen, um im Interesse des Kabinetts Manteuffel die hochkonser-
14 Heinrich Bernhard OPPENHEIM, Benedikt Franz Leo Waldeck, der Führer der
preußischen Demokratie (1848 - 1 8 7 0 ) , Berlin 1873; Wilhelm BIERMANN, Franz
Leo Benedikt Waldeck. Ein Streiter für Freiheit und Recht, Paderborn 1928;
Ludwig DEHIO, Benedikt Waldeck, in: H Z , Bd. 144 (1930), S. 25 - 57.
15 Carl Valerius HERBERGER, Die Stellung der preußischen Konservativen zur so-
zialen Frage 1848 - 1 9 6 2 , Meißen 1914; Jakob BAXA, Die wirtschaftlichen An-
sichten von Joseph Maria von Radowitz. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen
Volkswirtschaftslehre, in: JbbNSt, Bd. 139 (1933), S. 1 8 8 - 2 1 0 ; Karl Erich BORN,
Sozialpolitische Probleme und Bestrebungen in Deutschland von 1848 bis zur
Bismarckschen Sozialgesetzgebung, in: VSWG, Bd. 4 6 (1959), S. 2 9 - 4 4 ; Wolf-
gang KÖLLMANN, Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik in Preußen bis 1869
[1966], in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungs-
geschichte ( 1 8 1 5 - 1 9 1 8 ) (= N W B , B d . 5 1 ) , K ö l n 1 9 7 2 , S. 410-429.
16 Allgemein zur Geschichte der politischen Parteien in Deutschland: Ludwig BERG-
STRASSER, Geschichte der politischen Parteien in Deutschland ( = DHbP, Bd. 2),
hg. von Wilhelm Mommsen, München - Wien " 1 9 6 5 ; Walter TORMIN, Geschichte
der deutschen Parteien seit 1848, Stuttgart 1966; Heino KAACK, Geschichte und
314 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867
vative Gruppierung, die ihrerseits in der Frage der Unterstützung oder der
Gegnerschaft zur Regierung Manteuffel gespalten war, trat unter Führung
des Bonner Rechtslehrers August von Bethmann Hollweg eine liberalkon-
servative Partei, die sich nach ihrem 1851 gegründeten publizistischen Or-
gan, dem „Preußischen Wochenblatt", die Wochenblatt-Partei nannte und
namentlich in der preußischen Bürokratie und Diplomatie, aber auch am
Hof des Thronfolgers eine einflußreiche Anhängerschaft mobilisieren konn-
te 1 7 ; sie verteidigte die bestehenden Verfassungsverhältnisse, trat für eine
aktive Hegemonialpolitik Preußens in Deutschland ein und forderte eine
entschiedene Anlehnung der preußischen Außenpolitik an England. Die
Liberalen des preußischen Abgeordnetenhauses dagegen standen zur Regie-
rung Manteuffel in prinzipieller Opposition; sie waren jedoch im Abgeord-
netenhaus schwach vertreten und besaßen auch kaum Rückhalt in der
Beamtenschaft. Das gleiche galt für die 1852 im Abgeordnetenhaus gebildete
Katholische Fraktion, 1 8 die für die kirchlichen und kulturellen Forderungen
des Katholizismus und deren verfassungsmäßige Absicherung, aber auch
für die habsburgisch-großdeutsche Lösung der deutschen Frage eintrat;
abgesehen von ihrer westlichen außenpolitischen Orientierung, die sie wäh-
rend des Krimkriegs an die Seite der Wochenblatt-Partei und der Liberalen
gegen die Neutralitätspolitik der Regierung auftreten ließ, galt sie während
der fünfziger Jahre als zuverlässige Stütze der Reaktions-Politik.
4 Bismarck an Leopold von Gerlach, 19./20. XII. 1853, in: O. von BISMARCK, Die
gesammelten Werke... ( 1 9 2 4 - 1 9 3 5 ) [42], Bd. 14/1, hg. von Wolfgang Windel-
band und Werner Frauendienst, Berlin 1933, S. 334; A. O. MEYER, Bismarcks
Kampf mit Österreich... (1927) [122],
5 Eugen FRANZ, Der Entscheidungskampf um die wirtschaftspolitische Führung
Deutschlands 1 8 5 6 - 1 8 6 7 , München 1933; W. ZORN, Wirtschafts- und sozial-
geschichtliche Zusammenhänge... ( 4 1974) [33]; Wfilliam] O. HENDERSON, The
Zollverein [1939], London 3 1968; H. BÖHME, Deutschlands Weg... ( 2 1972) [19],
III. Preußen in der deutschen und europäischen Politik 1850 — 1859 317
6 Ders. (Hg.), Vor 1866. Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik der deutschen Mittel-
staaten ( = H a m b S t N G , Bd. 7), Frankfurt/M. 1966; Detlef STAGE, Frankfurt am
Main im Zollverein. Handelspolitik und die öffentliche Meinung der Freien Stadt
Frankfurt in den Jahren 1836 bis 1866 ( = StFrankfG, H . 5), Frankfurt/M. 1971;
W. ZORN, Die wirtschaftliche Integration Kleindeutschlands... (1973) [32]; Hans-
Werner HAHN, Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert. Die hessischen
Staaten und der Deutsche Zollverein ( = KrStGw, Bd. 52), Göttingen 1982.
7 Nach H . BÖHME, Deutschlands W e g . . . ( 2 1972) [19], S. 76.
318 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7
Grenzen des Deutschen Bundes und als europäische, nicht als deutsche
Macht verwickelt war. Kompliziert wurde die preußische Haltung durch
innenpolitische Konflikte; während die hochkonservative Partei, aber auch
der Bundestagsgesandte Bismarck für ein Bündnis mit Rußland eintraten,
befürwortete ein liberal-konservativer Flügel, verkörpert durch den Lon-
doner Gesandten Bunsen, den Kriegsminister von Bonin sowie den Thron-
folger Prinz Wilhelm, das Bündnis mit den Westmächten und mit Österreich.
Der Konflikt spitzte sich zum Staatskonflikt zu; am 4. Mai 1854 wurde
Bonin entlassen und durch den der Kreuzzeitungs-Partei nahestehenden
Grafen Waldersee ersetzt, was zum offenen Bruch zwischen dem König und
dem Thronfolger führte. Damit war die Entscheidung gegen die preußische
Unterstützung der österreichischen Orientpolitik gefallen; zwar gab es den
beiderseitigen Bündnisvertrag vom 20. April 1854, der für die Dauer des
Krimkriegs die gegenseitige Unterstützung bei kriegerischer Verwicklung
eines Partners vorsah, 1 0 aber während Österreich diesen Vertrag als Hebel
ansah, um Preußen und die übrigen Bundesmitglieder zur Unterstützung
seiner Balkanpläne zu bringen, nutzte Preußen den Vertrag, um den Partner
am Kriegseintritt zu hindern. 1 1
Diese von Bismarck als schwächlich empfundene Politik der Negation,
die Preußen vor der Hand keinen gestaltenden Einfluß auf die Ereignisse
gestattete, zahlte sich jedoch in dem Moment des offenen Bündnisses
zwischen Österreich und den Westmächten vom 2. Dezember 1854 aus.
Österreich forderte jetzt die Mobilisierung des Bundes unter seinem Ober-
befehl an der Seite Englands und Frankreichs gegen Rußland; daß Preußen
seine Teilnahme verweigern würde, war dem österreichischen Außenmini-
ster Graf Buoi durchaus klar, aber das gehörte sogar zu seinem Plan: Sollte
Preußen sich mit Rußland verbünden, sah der österreichische Außenminister
die Chance gekommen, die deutsche Landkarte auf den Stand von 1740 zu
revidieren: Krieg Österreichs gegen Preußen im Bündnis mit Frankreich,
Zurückeroberung Schlesiens, Wiederherstellung Sachsens, um den Preis der
französischen Rheingrenze.
Preußen ging jedoch nicht in die diplomatische Falle; es verweigerte die
Mobilmachung seiner Truppen und derer des Bundes, ohne jedoch seine
12 Zur „bewaffneten Neutralität" Preußens und des Bundes vgl. auch A. O. MEYER,
Bismarcks Kampf mit Österreich... (1927) [122], S. 2 3 7 ; K. BORRIES, Preußen im
Krimkrieg... (1930) [128]; Ders., Z u r Politik der deutschen M ä c h t e in der Zeit
des Krimkrieges und der italienischen Einigung, in: H Z , Bd. 151 (1935), S. 2 9 4 —
3 1 0 ; Winfried BAUMGART, Z u r Außenpolitik Friedrich Wilhelms IV. 1 8 4 0 - 1 8 5 8 ,
in: Otto Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Beiträge eines Col-
loquiums ( = EvHKzB, Bd. 62), Berlin 1987, S. 1 3 2 - 1 5 6 .
13 Z u m Verhältnis Preußens zu den Mittelstaaten vgl. Wolf D. GRUNER, Die deut-
schen Einzelstaaten und der Deutsche Bund. Z u m Problem der „nationalen"
Integration in der Frühgeschichte des Deutschen Bundes und der süddeutschen
Staaten, in: Andreas Kraus (Hg.), Land und Reich, Stamm und Nation. Probleme
und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für M a x Spindler zum
90. Geburtstag, Bd. 3 ( = SchrrbayLG, Bd. 80), München 1984, S. 1 9 - 3 6 ; Theo-
dor SCHIEDER, Die mittleren Staaten im System der großen Mächte, in: H Z ,
Bd. 2 3 2 (1981), S. 5 8 3 - 6 0 4 ; Ina Ulrike PAUL, Die bayerische Trias-Politik in der
Regierungszeit König Maximilians II. Z u Vorgeschichte, Idee und Wirklichkeit,
in: König Maximilian II. von Bayern 1 8 4 8 - 1 8 6 4 , Rosenheim 1988, S. 1 1 5 - 1 2 9 .
— Neuerdings zur mittelstaatlichen Triaspolitik: Peter BURG, Die deutsche Trias
in Idee und Wirklichkeit. Vom Alten Reich zum Deutschen Zollverein ( = VIEG,
Bd. 136), Stuttgart 1989.
14 Edgar BONJOUR, Vorgeschichte des Neuenburger Konflikts 1848-56
( = BernUAG, Bd. 5), Bern - Leipzig 1932; Ders., Der Neuenburger Konflikt 1856/
5 7 . . . (1957) [127],
III. Preußen in der deutsehen und europäischen Politik 1850 — 1859 321
15 Druck des Londoner Protokolls über die Beilegung des Neuenburger Konflikts
(24.V. 1852) bei: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 16 (16),
S. 19 f.
16 Ernst SCHÜLE, Rußland und Frankreich vom Ausgang des Krimkrieges bis zum
italienischen Krieg 1 8 5 6 - 1 8 5 9 ( = OEF, N.F., Bd. 19), Königsberg 1935; Eric
CAHM, Politique et société. La France de 1814 à nos jours, Paris 1977; André
CASTELOT, Napoléon III et le Second Empire, 6 Bde., Paris 1975; Adrien DAN-
SETTE, Le Second Empire, 3 Bde., Paris 1972 - 1 9 7 6 ; Georges DUBY (Hg.), Histoire
de la France. Bd. 3: Le temps nouveau. De 1852 à nos jours, Paris 1972; Alice
GÉRARD (Hg.), Le Second Empire. Innovation et réaction ( = D o C l , Bd. 68),
Paris 1973; Georges PRADALIÉ, Le Second Empire ( = Qs, Bd. 739), Paris 1957
u. ö.; Theodore ZELDIN, France, 1848 - 1945, 2 Bde., Oxford 1973/77.
322 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867
bis zu den Anfängen des Faschismus, Darmstadt 1980; Derek BEALES, The
Risorgimento and the Unification of Italy [1971], L o n d o n - N e w York 2 1981.
19 Annie MITTELSTAEDT, Der Krieg von 1859... (1904) [153]; Heinrich Ritter von
SRBIK, Die politischen Willensrichtungen im deutschen Volk. Der italienische
Krieg 1859, in: Ders., Deutsche Einheit... ( 1 9 3 5 - 1 9 4 2 ) [16], Bd. 2, München
1935, Buch VI, S. 295 - 411, hier S. 377 - 390; Kurt BACHTELER, Die öffentliche
Meinung in der italienischen Krise und die Anfänge des Nationalvereins in
Württemberg 1859, [Tübingen] 1934 (Phil. Diss. Tübingen 1934); Traute AMANN,
Die Stellung der deutschen politischen Gruppen zum Habsburgerstaat in den
Jahren 1859 bis 1866, Phil. Diss. Hamburg 1948 [MS]; Ernst PORTNER, Die
Einigung Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen ( = BoHF, Bd. 13),
Bonn 1959; Nicholas Martin HOPE, The Alternative to German Unification. The
Anti-Prussian Party Frankfurt, Nassau and the Two Hessen 1859—1867
( = VIEG, Bd. 75), Wiesbaden 1973; Wolf D. GRUNER, Die deutsche Frage. Ein
Problem der europäischen Geschichte seit 1800, München 1985, S. 94 — 98 (mit
weiterführender Literatur). - Vgl. auch die Darstellung und den ausführlichen
Literaturbericht in: H.SCHULZE, Der Weg zum Nationalstaat... (1985) [61],
S. 1 0 1 - 1 0 9 und 179 f.
III. Preußen in der deutschen und europäischen Politik 1 8 5 0 - 1 8 5 9 323
helms IV. an Einfluß verloren hatte; dagegen sprach eine breite Front, von
einzelnen Hochkonservativen wie Bismarck über die kleindeutschen Libe-
ralen bis hin zu radikalen Demokraten und Sozialisten. Wie bei den vor-
angegangenen außen- und bündnispolitischen Entscheidungen setzte sich
jedoch eine mittlere Linie des Vorrangs der preußischen Interessenwahrung
durch, getragen vor allem von dem Prinzregenten sowie von Außenminister
von Schleinitz. Im Bundestag setzte Preußen gegen heftigen Widerspruch
die Ablehnung der von Österreich geforderten Bundeshilfe durch, da durch
den Krieg in Italien das Bundesgebiet nicht unmittelbar bedroht sei. Hinter
der preußischen Neutralitätspolitik stand die Erwartung einer österreichi-
schen Niederlage und einer Schwächung der französischen Militärmacht,
die es Preußen ermöglichen werde, gestützt auf seine intakte Armee den
Frieden zu diktieren und die österreichischen Interessen in Italien zu wahren.
Damit wäre die „Schmach von Olmütz" getilgt, Preußens Stellung in
Deutschland wäre unangreifbar geworden. 20
Das preußische Kalkül scheiterte an dem schnellen Kompromißfrieden
von Villafranca. Preußens „bewaffnete Vermittlung" war nicht gefragt, und
zudem hatte seine Neutralität in einer Sache, die von dem weit überwie-
genden Teil der öffentlichen Meinung unter dem Imperativ der nationalen
Aufgabe gesehen wurde, zu einer peinlichen Einbuße an politischem Prestige
geführt. Das Mißverhältnis zwischen dem preußischen Führungsanspruch
und dem Versagen in einer Krisenlage machte die kleindeutsch-preußische
Lösung des deutschen Problems fragwürdig; die Anhänger einer großdeut-
schen Lösung unter habsburgischen Auspizien durch Reform der Bundes-
verfassung beherrschten am Ende der fünfziger Jahre die öffentliche Mei-
nung in Deutschland. 21
20 Rudolfine KÖLBL, Das Verhältnis Österreichs und Preußens zur Einigung Italiens
1 8 5 9 - 1 8 7 1 . Vom Züricher Frieden 1859 bis Ende Sommer 1862, Phil. Diss. Wien
1941; Oswald HAUSER, Preußische Staatsräson und nationaler Gedanke. Auf
Grund unveröffentlichter Akten aus dem schleswig-holsteinischen Landesarchiv.
Mit einem Dokumentenanhang ( = Q F G S c h l H o , Bd. 42), Neumünster 1960;
Frank-Lothar KROLL, Bismarck und Friedrich Wilhelm IV., in: Jost Dülffer/
Bernd Martin/Günter Wollstein (Hg.), Deutschland in Europa. Kontinuität und
Diskontinuität in der deutschen Politik im 19. und 20. Jahrhundert. Gedenkschrift
für Andreas Hillgruber, Berlin 1990, S. 205 - 228.
21 Vgl. dazu Anm. 19, den Literaturbericht in: W. BUSSMANN, Das Zeitalter Bis-
marcks... ( 4 1968) [6], S. 258 f., sowie Fritz GREVE, Die Politik der deutschen
Mittelstaaten und die österreichischen Bundesreformbestrebungen bis zum Frank-
furter Fürstentag 1 8 6 1 - 1 8 6 3 , Rostock 1938 (Phil. Diss. Rostock 1938); Erika
EBERSBACH, Studien zur deutschen Politik Österreichs, Preußens und der deut-
schen Mittelstaaten von Villafranca bis zum Scheitern der österreichisch-preu-
ßischen Militärverhandlungen im April 1861 und Beusts Bundesreformprojekt
vom 18. Oktober 1861, Phil. Diss. Leipzig 1942 [MS],
324 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7
und Diplomatie ein bedeutendes Revirement statt, in dessen Zuge vor allem
Anhänger der Wochenblatt-Partei die wichtigsten Ämter besetzten: Bis-
marck, der trotz seiner Differenzen mit den Brüdern Gerlach als Anhänger
der Hochkonservativen galt, wurde nach Petersburg geschickt und damit
kaltgestellt; die Kamarilla wurde vollkommen ausgeschaltet. 5
Das Regierungsprogramm des Prinzregenten, das dieser am 8. November
1858 dem Staatsministerium bekanntgab, wurde von der liberalen Öffent-
lichkeit mit hoffnungsvollem Beifall aufgenommen. Viel zitiert wurde vor
allem der Satz: „In Deutschland muß Preußen moralische Eroberungen
machen durch eine weise Gesetzgebung bei sich, durch Hebung aller sitt-
lichen Elemente und durch Ergreifung von Einigungselementen, wie der
Zollverband es ist ... Die Welt muß wissen, daß Preußen überall das Recht
zu schützen bereit ist." Weniger deutlich wahrgenommen wurde die War-
nung vor der „Phrase, daß die Regierung sich fort und fort treiben lassen
müsse, liberale Ideen zu entwickeln", und der Hinweis auf die Notwendig-
keit, das Heer auch bei Inkaufnahme erheblicher Kosten zu reorganisieren,
wurde in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der erhöhten preußischen
Machtstellung in Deutschland betrachtet, weniger unter dem der innenpo-
litischen Voraussetzungen und Folgen. 6
Besonders auffallend schlug sich die Veränderung des politischen Klimas
im Ergebnis der Abgeordnetenhaus-Wahl von 1858 nieder. Diesmal hatte
die Regierung auf Wahlbeeinflussung verzichtet, und als Folge schmolzen
die konservativen Fraktionen von 224 auf 47 Sitze zusammen. Sieger der
Wahl wurde die alt-liberale Fraktion Vincke, die 151 Mandate erzielte,
während die konservativ-liberale Wochenblatt-Partei in Gestalt der Fraktion
Mathis immerhin auf 44 Mandate kam. Da die Demokraten die Wahl nach
wie vor boykottierten, verfügten die gemäßigten und konstitutionellen Li-
beralen nunmehr über eine sichere Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Sie
waren mit Rücksicht auf die schwierige Lage des Prinzregenten und dessen
7 Z u den „Erfindern" der Parole „Nur nicht drängen" s. L. HAUPTS, Die liberale
Regierung... (1978) [132], S. 63, Anm. 84; Haupts charakterisiert in Anm. 5 (S. 46)
kurz die wichtigeren Quellenveröffentlichungen, Gesamtdarstellungen sowie die
ältere Literatur. - Κ . H . BÖRNER, Die Krise... (1976) [134]; Siegfried BAHNE,
Vor dem Konflikt. Die Altliberalen in der Regentschaftsperiode der „Neuen Ära",
in: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hg.), Soziale Bewegung und
politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt ( = IndW,
Sonderbd.), Stuttgart 1976, S. 1 5 4 - 1 9 6 ; H. DIWALD (Hg.), Von der Revolution...
(1970) [62],
8 Lothar GALL, Der deutsche Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgrün-
d u n g , in: H Z , B d . 2 2 8 ( 1 9 7 9 ) , S. 9 8 - 1 6 8 ; H . SCHROTH, W e l t - u n d S t a a t s i d e e n . . .
(1931) [146]. — Mittelstaaten: Lothar GALL, Der Liberalismus als regierende
Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung
( = VIEG, Bd. 47), Wiesbaden 1968; Dieter LANGEWIESCHE, Liberalismus und
Demokratie in Württemberg zwischen Revolution und Reichsgründung
( = B G P a r l , Bd. 52), Düsseldorf 1974; Hans RALL, Die politische Entwicklung
von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in: M a x Spindler (Hg.), Handbuch der
bayerischen Geschichte, Bd. 4 / 1 , München 2 1981, S. 2 2 4 — 282, hier bes. S. 243 —
245; Hans RUIDER, Bismarck und die öffentliche Meinung in Bayern 1862 — 1866
( = DGbü, Bd. 1), München 1924; Andreas KRAUS, Geschichte Bayerns. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, München 1983. — Z u Österreich vgl. Ernst-Joseph
GöRUCH/Felix ROMENIK, Geschichte Österreichs [1970], Innsbruck - W i e n -
München 2 1977, S. 405 ff.; Hugo HANTSCH, Die Geschichte Österreichs, Bd. 2,
Graz-Wien 3 1 9 6 2 , S. 3 6 1 - 3 7 0 ; H a n n s L e o MIKOLETZKY, Ö s t e r r e i c h . D a s e n t -
scheidende 19. Jahrhundert. Geschichte, Kultur und Wirtschaft, Wien 1972,
S. 3 8 2 ff.
IV. Neue Ära und Verfassungskonflikt 1858 - 1866 327
Dienstzeit der Wehrpflichtigen von zwei auf drei Jahre, sowie die Beseitigung
der Selbständigkeit der Landwehr, die in den Rahmen des stehenden Heeres
eingegliedert werden sollte. Die Landwehr war 1813 zur Volksbewaffnung
ins Leben gerufen und von den Liberalen immer als bürgerliches Institut
angesehen worden, das gegenüber der adlig geführten Linienarmee das freie
Volk in Waffen verkörpert hatte. Wer die Selbständigkeit der Landwehr
antastete, setzte sich dem Verdacht aus, die Kluft zwischen Bürgertum und
Armee vertiefen zu wollen. Auch gegen die dreijährige Dienstzeit erhoben
sich liberale Bedenken, denn damit wurden die Söhne des Bürgertums zu
lange von Studium und Kontor, die der Arbeiterschaft von ihren Arbeits-
plätzen ferngehalten und im Geist der Armee, in liberalen Augen also
reaktionär, erzogen. 12
Zunächst kam es zum Kompromiß. Da die Regierung erkannte, daß die
für die Heeres-Reorganisation notwendigen Gesetzänderungen von der li-
beralen Mehrheit im Abgeordnetenhaus nicht zu erlangen waren, ließ sie
die Wehrvorlage im Mai 1859 zunächst fallen und ersuchte den Landtag
um Bewilligung einer außerordentlichen Pauschalsumme zur Deckung der
Kosten, die die anläßlich der Mobilmachung dieses Jahres bereits neu
aufgestellten Regimenter verursachten. Der Landtag, froh, auf diese Weise
dem Konflikt ausweichen zu können, bewilligte die Pauschale in der An-
nahme, es handle sich um einen Ausnahmefall, der die weitere Behandlung
der Heeresreform nicht präjudizierte. Der Prinzregent ging jedoch davon
aus, daß, da so die Kosten der endgültig aufgestellten neuen Regimenter
bewilligt worden waren, der weitere Fortgang der Heeresreform damit vom
Parlament sanktioniert worden sei. Er wurde darin von dem neuen Kriegs-
minister von Roon unterstützt, der vollendete Tatsachen schuf, während er
im liberalen Kabinett mit ausweichenden Erklärungen taktierte.
Das Mißverständnis klärte sich anläßlich der Thronrede des Königs am
14. Januar 1861; der König erklärte den Abgeordneten unumwunden, er
sehe die Heeres-Reorganisation als irreversibel und endgültig an. Getreu
ihrem Motto „Nur nicht drängen" stimmte die altliberale Mehrheit des
Abgeordnetenhauses noch einmal einem erneuten Provisorium für 1861/62
zu, aber nur mit Abstrichen und der Maßgabe, daß die Regierung in der
nächsten Session dem Landtag ein Gesetz über die Dienstpflicht vorlege. 13
Eben dies hatte der König nicht vor; seine militärischen Berater, vor allem
der Chef des Militärkabinetts Edwin von Manteuffel und der Generalad-
jutant Gustav von Alvensleben, machten ihm klar, daß dies die Armee vom
Parlament abhängig machen werde. Die Armee sei aber die einzige sichere
Stütze des Throns, und gerade dieses enge, außerverfassungsmäßige Ver-
hältnis von Krone und Armee drohe das Parlament zu untergraben. 14
Am 6. Dezember 1861 fanden Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus statt;
das Ergebnis zeigte, wie tief im Laufe des vergangenen Jahres die Kluft
zwischen Regierung und bürgerlicher Wählerschaft geworden war. Der linke
Flügel der Altliberalen hatte sich aus Protest gegen die Abwartetaktik dieser
Partei abgespalten und sich unter der Bezeichnung „Deutsche Fortschritts-
partei" zur Wahl gestellt; ihr Programm umfaßte die Forderung nach der
Einigung Kleindeutschlands unter preußischer Führung, aber auch liberale
Wünsche wie die Sicherung der verfassungsmäßigen Bürgerrechte sowie die
parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister. 15 Neben dem Bekenntnis
zur Monarchie fand sich die Forderung nach Beibehaltung der Landwehr,
vormilitärischer Ausbildung aller männlichen Jugendlichen sowie zweijäh-
riger Dienstzeit aller Wehrpflichtigen. Von den 352 Sitzen des Abgeordne-
tenhauses errang die Fortschrittspartei 104, während die Altliberalen nur
noch 91 Abgeordnete stellten. Hinzu kam eine liberale Mittelpartei, vor-
wiegend aus rheinischen Honoratioren bestehend, während die Konserva-
tiven nur noch 14 Sitze erringen konnten.
Die Gewichte im neuen Landtag hatten sich also ins liberale Spektrum
verschoben; dennoch verfügte der ministerielle Block der Altliberalen, Ka-
tholiken und Konservativen noch über die knappe Mehrheit, und auch die
Fortschrittspartei suchte keineswegs den offenen Konflikt mit der Regierung.
Die Militärpartei in der Umgebung des Königs dagegen sah bereits die
Revolution vor der Tür; während der neue Landtag zusammentrat, unter-
zeichnete der König die geheimen Marschbefehle für Truppenteile, die im
Ernstfall gegen Berliner Aufständische eingesetzt werden sollten. Der Land-
tag überlebte nur ein Vierteljahr; den Anlaß für die erneute Auflösung am
11. März 1862 bot die Annahme eines Antrags im Abgeordnetenhaus, in
dem die Regierung aufgefordert wurde, den Etat stärker zu spezifizieren,
um die Verwaltung daran zu hindern, größere Etatposten im Rahmen der
groben Kapitel- und Titeleinteilung zu verschieben und so der Armee
unkontrolliert zusätzliche Mittel zuzuschanzen. 16 Wenige Tage nach der
Landtagsauflösung entließ der König die liberalen Mitglieder des Staats-
ministeriums; an ihre Stellen traten aus der Verwaltung stammende kon-
servative Minister, an ihrer Spitze der neue Ministerpräsident Adolph Fürst
zu Hohenlohe-Ingelfing. Die Neue Ära war damit demonstrativ beendet. 17
Die Neuwahl vom 6. Mai 1862 fand in erregter Atmosphäre statt, und
nie zuvor und hinterher war die Beteiligung an preußischen Abgeordneten-
hauswahlen so hoch wie 1862, als sie 34,3 Prozent betrug. Als das neuge-
wählte Abgeordnetenhaus am 19. Mai 1862 zusammentrat, hatte die Fort-
schrittspartei ihre Mandatszahl auf 133 erhöhen können; auch das ihr
nahestehende „Linke Zentrum" vereinigte jetzt 96 Mandate, also doppelt
so viele wie im vorigen Landtag, während die altliberale Fraktion nur noch
19 Sitze besaß, unterboten lediglich durch die konservative Fraktion, die
mit 11 Abgeordneten nie weniger Mandate hatte als in diesem Landtag.
Diesmal besaß die Linke eine deutliche Mehrheit.
Zunächst schien es, als ließe sich der anbahnende offene Konflikt ver-
meiden; die Regierung legte sogar für 1862 und 1863 spezifizierte Etats vor,
dementierte damit also den Anlaß der letzten Landtagsauflösung. Doch
anläßlich der Beratung des Militäretats vom 11. bis zum 18. September
1862 zeigte sich, daß der Spielraum der Regierung zu eng war, um zum
18 Der Antrag Stavenhagen — Sybel — Twesten vom 8. IX. 1862 abgedruckt in: E. R.
HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 40, S. 41. - Wilhelm TREUE, Wollte
König Wilhelm I. 1862 zurücktreten?, in: FBPG, Bd. 51 (1939), S. 275 - 310; E. R.
HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 3 1988) [39], S. 9 4 - 9 9 .
19 Vgl. den Entwurf der Abdankungsurkunde König Wilhelms I. in: E. R. HUBER
(Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 43, S. 45ff., hier S. 46.
20 L. GALL, Bismarck... (1980) [46], S. 248 ff.
332 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867
21 Henry A. Kissinger führte mit seinem Aufsatz: The White Revolutionary. Re-
flections on Bismarck, in: Daed, Bd. 97 (1968), S. 8 8 8 - 9 2 4 , eine Formulierung
Ludwig Bambergers von 1868 in die Forschung ein.
22 Bismarck vor der Budgetkommission am 30. IX. 1862, in: O. von BISMARCK, Die
gesammelten Werke... ( 1 9 2 4 - 1 9 3 5 ) [42], Bd. 10, hg. von Wilhelm Schüßler,
B e r l i n 1 9 2 8 , S. 1 4 0 ; O . NIRRNHEIM, D a s e r s t e J a h r . . . ( 1 9 0 8 ) [ 1 3 9 ] ; L u d w i g DEHIO,
Bismarck und die Heeresvorlage der Konfliktzeit, in: HZ, Bd. 144 (1931),
S. 3 1 - 4 7 ; H a n s ROTHFELS, B i s m a r c k s S t a a t s a n s c h a u u n g , in: G W U , 4 . J g . ( 1 9 5 3 ) ,
S. 676 - 703; E. ZECHLIN, Bismarck... ( 2 1960) [58] (reicht bis Ende 1863; grund-
legend).
23 Die Proklamation des budgetlosen Regiments durch die preußische Regierung in
einer Rede Bismarcks bei Schließung des Landtags am 13. X . 1862 ist gedruckt
in: E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 49, S. 53. - Winfried
BECKER, Die angebliche Lücke der Gesetzgebung im preußischen Verfassungs-
konflikt, in: HJb, Bd. 100 (1980), S. 2 5 7 - 2 8 5 .
24 Die Adresse des Abgeordnetenhauses an den König vom 22. V. 1863 schließt mit
den Worten: „Das Haus der Abgeordneten hat kein Mittel der Verständigung
V. Die schleswig-holsteinische Frage 333
8. Februar 1863 mit dem Zaren eine Konvention ab, derzufolge russische
und preußische Truppen bei der Verfolgung polnischer Insurgenten die
beiderseitige Grenze überschreiten durften. 4 Damit sollte nicht nur das
Übergreifen des Aufstands auf Preußen verhindert, sondern vor allem Ruß-
land auf die Bekämpfung des Aufstands verpflichtet werden. Damit war
die Gefahr eines pro-polnischen französisch-russischen Arrangements auf
preußische Kosten gebannt; einer drohenden französisch-österreichischen
diplomatischen Offensive entzog sich Bismarck, indem er Ende Februar
1863 die Konvention wieder kündigte, nachdem ihr Zweck erfüllt war: so
hatte Preußen ohne Bruch mit den übrigen Mächten die Sympathie des
Zaren gewonnen und zugleich eine französisch-polnisch-russische Einkrei-
sung vermieden. Der liberalen und traditionell pro-polnischen Öffentlichkeit
allerdings schien dies Politik im Geiste der Heiligen Allianz; das Bild vom
reaktionären Junker an der Spitze des preußischen Staatsministeriums fe-
stigte sich.
Dazu paßte auch das preußische Vorgehen in der schleswig-holsteinischen
Frage. 5 Das Problem der unter dänischer Herrschaft stehenden deutsch-
sprachigen Elbherzogtümer hatte seit der Kieler Erhebung vom 23. März
1848 und dem darauf folgenden deutsch-dänischen Krieg (1848 - 1 8 5 0 ) die
national gesinnte deutsche Öffentlichkeit aufs heftigste bewegt. Den deut-
schen nationalen Interessen stand im Herzogtum Schleswig die nicht minder
nationalistische eiderdänische Partei entgegen, die die volle Eingliederung
der Herzogtümer in den dänischen Staatsverband betrieb. 6 Die rechtliche
Situation war nicht weniger kompliziert als die nationale. Schleswig, Hol-
stein und Lauenburg waren der dänischen Krone durch Personalunion
verbunden; kraft alten Landesrechts befanden sich die Herzogtümer „in
unlösbarer ständischer Einheit", doch gehörten nur Holstein und Lauenburg
gleichzeitig dem Deutschen Bund an. Die irredentistischen deutschen Hoff-
nungen richteten sich auf das bevorstehende Aussterben des dänischen
Königshauses Oldenburg, denn nur in Dänemark galt die weibliche Thron-
folge, in den Herzogtümern dagegen das salische Erbfolgerecht. Demnach
wäre der Schwager des dänischen Königs, Herzog Christian von Sonder-
burg-Glücksburg, dessen Nachfolger in Dänemark geworden, während die
Herzogtümer unter das Regiment des Herzogs Christian August von Son-
derburg-Augustenburg gelangt wären, um als souveränes Mitglied des Deut-
schen Bundes aus dem dänischen Gesamtstaat auszuscheren. Erschwert
wurde dies jedoch durch das Londoner Protokoll v o m 8. Mai 1 8 5 2 , 7 in dem
die beteiligten europäischen M ä c h t e , darunter Österreich und Preußen, die
Unteilbarkeit des dänischen Gesamtstaats unter dem Hause Glücksburg
garantiert hatten. Der dänische König hatte dafür allerdings Zusagen für
die selbständigen und besonderen Rechte der Herzogtümer gemacht. Kom-
pliziert wurde die rechtliche Lage dadurch, daß die schleswig-holsteinischen
Stände die weibliche Erbfolge für die Herzogtümer nicht akzeptierten, und
daß der deutsche Bund, und mit ihm die deutschen Mittel- und Kleinstaaten,
an dem Londoner Protokoll nicht beteiligt gewesen w a r e n . 8
Unter dem Druck der dänischen nationalliberalen Partei nutzte der dä-
nische Reichsrat die polnischen Wirren, auf die sich die gesamte europäische
Aufmerksamkeit richtete, um am 30. M ä r z 1863 mit dem „ M ä r z p a t e n t " 9
die Einverleibung Schleswigs in den dänischen Staat vorzubereiten, die mit
der neuen dänischen Verfassung v o m 13. N o v e m b e r 1863 zur vollendeten
Tatsache wurde. Zwei Tage darauf starb der König, und sein Nachfolger,
7 Während sich im Ersten Londoner Protokoll (4. VII./2. VIII. 1850) die beteiligten
Mächte Rußland, England, Frankreich und Dänemark — Österreich trat ihm
später, am 23. VIII., bei — weitere Verhandlungen über die schleswig-holsteini-
sche Frage vorbehalten hatten, sprach das Zweite Protokoll der Londoner Kon-
ferenzen (8. V. 1852; gedruckt in: Ernst Rudolf HUBER (Hg.), Dokumente zur
deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803 —
1850, Stuttgart 3 1978, Nr. 247 (202), S. 610 f.) die Erbfolge in der dänischen
Gesamtmonarchie dem Prinzen Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-
Glücksburg zu. — Vgl. auch: Alexander SCHARFF, Das erste Londoner Protokoll.
Ein Beitrag zur europäischen Problematik der schleswig-holsteinischen Frage, in:
Harald Thurau (Hg.), Beiträge zur deutschen und nordischen Geschichte. Fest-
schrift für Otto Scheel, Schleswig 1952, S. 3 1 4 - 3 3 4 .
8 Zur Haltung der einzelnen deutschen Staaten zur schleswig-holsteinischen Frage
vgl. Josef FISCHER, Die öffentliche Meinung in Hessen-Darmstadt zur schleswig-
holsteinischen Frage 1 8 5 0 - 1 8 6 4 , Mainz a. Rh. 1933 (Phil. Diss. Gießen 1933);
Helmut LUBRICH, Hannover und die schleswig-holsteinische Frage 1863/64,
Weende - Göttingen 1934 (Phil. Diss. Göttingen 1934); Lothar KÜHN, Oldenburg
und die Schleswig-Holsteinische Frage 1 8 4 6 - 1 8 6 6 , Köln 1934 (Phil. Diss. Köln
1934); Theodor LOSKARN, Bayern und die schleswig-holsteinische Frage 1863/
64, Ingolstadt [1928] (Phil. Diss. München 1926); Julie RATH, Württemberg und
die schleswig-holsteinische Frage in den Jahren 1863 — 1865, B ü h l - B a d e n 1935
(Phil. Diss. Tübingen 1935); Liselotte KONRAD, Baden und die schleswig-holstei-
nische Frage 1863 - 1 8 6 6 ( = HSt, H. 265) Berlin 1935 (ND Vaduz 1965); Günther
DEITENBECK, Kurhessen und die schleswig-holsteinische Frage 1863/64, in:
ZVhessGLk, Bd. 62 (1940), S. 1 8 3 - 2 8 9 .
' E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 129 (126), S. 178ff.: Bekannt-
machung König Friedrichs VII. von Dänemark betreffend die holstein-lauenbur-
gische Verfassungsfrage.
V. Die schleswig-holsteinische Frage 337
10 H . ROSENBERG, D i e n a t i o n a l p o l i t i s c h e P u b l i z i s t i k . . . ( 1 9 3 5 ) [ 1 6 1 ] ; K . - G . FABER,
Die nationalpolitische Publizistik... (1963) [106]. — 491 Abgeordnete des „Deut-
schen Abgeordnetentages" in Frankfurt/M. nahmen bei ihrer Sitzung vom 21. XII.
1863 einstimmig durch Akklamation den „Beschluß des Frankfurter Abgeord-
netentags über die schleswig-holsteinische Erbfolgefrage" an; Text bei E. R.
HUBER (Hg.), D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 8 6 ) [40], N r . 138 (135), S. 190.
11 Vgl. dazu vor allem L. GALL, Bismarck... (1980) [46], S. 2 9 3 - 3 3 9 ; s. auch Arnold
Oskar MEYER, Die Zielsetzung in Bismarcks schleswig-holsteinischer Politik von
1 8 5 5 - 1 8 6 5 , in: ZfSHG, Bd. 53 (1923), S. 1 1 9 - 1 3 4 ; Friedrich FRAHM, Die Bis-
marcksche Lösung der schleswig-holsteinischen Frage, in: A. a. O., Bd. 59 (1930),
S. 3 3 5 - 4 3 1 ; Walter HAUSCHILDT, Bismarcks politische Strategie in der Schleswig-
Holsteinischen Frage, Phil. Diss. Kiel 1942 [MS]; Leonhard von MURALT, Bis-
marcks Politik der europäischen Mitte, Wiesbaden 1954. — Bismarck und die
europäischen Mächte: Robert Howard LORD, Bismarck and Russia in 1863, in:
AHR, Bd. 29 (1923/24), S. 24 - 48; Aage FRIIS/POVI BAGGE (Hg.), Europa, Dan-
mark og Nordslesvig. Aktstykker og Breve fra udenlandske Arkiver til Belysning
af Danmarks udenrigspolitiske Stilling efter Freden i Wien. 1864 — 1879, 3 Bde.,
Kebenhavn 1 9 3 9 - 1 9 4 8 ; Herbert GEUSS, Bismarck und Napoleon III. Ein Beitrag
zur Geschichte der preußisch-französischen Beziehungen 1 8 5 1 - 1 8 7 1 ( = K ö -
HAbh, Bd. 1), K ö l n - G r a z 1959; Rudolf ISLER, Diplomatie als Gespräch. Bis-
marcks Auseinandersetzung mit Österreich im Winter 1862/63, Winterthur 1966;
H. BURCKHARDT, Deutschland-England-Frankreich... (1970) [151]; Keith A. P.
SANDIFORD, Great Britain and the Schleswig-Holstein Question 1848 —1864. A
Study in Diplomacy, Politics and Public Opinion, Toronto - Buffalo 1975; E.
KOLB (Hg.), Europa und die Reichsgründung... (1980) [92]; vgl. auch O. PFLANZE,
Bismarcks Herrschaftstechnik... (1982) [s.o. Anm. 1],
338 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850 — 1867
November 1863 mit dem zweiten deutschen Signatar des Londoner Proto-
kolls, mit dem österreichischen Außenminister Rechberg, und so erblickten
die liberale Öffentlichkeit und der Bundestag das ungewohnte Bild eines
einträchtigen preußisch-österreichischen Auftretens, als am 7. Dezember
1863 die Frage der Bundesintervention auf der Tagesordnung des Bundestags
stand. 12 Mit nur einer Stimme Mehrheit setzten sich die beiden Führungs-
mächte mit ihrem Verlangen durch, statt dessen die Bundesexekution gegen
Holstein und Lauenburg zu proklamieren; die Verschiebung der juristischen
Terminologie bedeutete, daß nunmehr gegen die unrechtmäßigen Maßnah-
men des damit als rechtmäßiger Herrscher anerkannten Glücksburgers in
den Herzogtümern vorgegangen werden sollte: ein Schlag ins Gesicht der
deutschen Nationalbewegung und der Mittelstaaten, aber eine Beruhigung
für die europäischen Mächte, denn Preußen und Österreich traten damit
als Garanten des Londoner Protokolls und der europäischen Rechtsordnung
auf. Eine Intervention Englands, auf die Dänemark hoffte, fand daher nicht
statt; bei russischer Rückendeckung und französischer Zurückhaltung hat-
ten die Exekutionstruppen in den Elbherzogtümern praktisch freie Hand.
Am 21. Januar 1864 rückten österreichische und preußische Truppen in
Holstein ein und besetzten, da die dänischen Truppen sich zunächst kampf-
los zurückzogen, anschließend Schleswig als „Pfand". 1 3 Österreich, das sich
an den Operationen vor allem beteiligt hatte, um Preußen das Feld nicht
allein zu überlassen, und um den Bundesgenossen zu überwachen und zu
bremsen, sah den Zweck des Kriegs mit der Eroberung Schleswigs erreicht;
erst nach langen Verhandlungen erreichte Bismarck, daß die gemeinsamen
Operationen weiter nach Jütland vorgetragen werden konnten, um die
Entscheidung herbeizuführen. Am 18. April 1864 stürmten preußische Trup-
pen unter schweren Verlusten die Düppeler Schanzen; bis zur Jahresmitte
waren Jütland und Alsen in der Hand der verbündeten Armeen, während
eine Konferenz in London, auf der eine diplomatische Lösung beraten
wurde, ergebnislos auseinanderging. Nach einem Präliminarfrieden am
12 E . R . H U B E R ( H g . ) , D o k u m e n t e . . . ( 3 1 9 8 6 ) [ 4 0 ] , N r . 1 3 6 ( 1 3 3 ) , S. 1 8 8 : B u n d e s b e -
schluß über den Vollzug der für Holstein und Lauenburg angeordneten Bundes-
exekution.
13 Kriegsverlauf: Hans DELBRÜCK/EITIÍI DANIELS, Geschichte der Kriegskunst im
Rahmen der politischen Geschichte, Bd. 5, Berlin 1928; Der Deutsch-Dänische
K r i e g . . . ( 1 8 8 6 / 8 7 ) [ 1 5 6 ] ; [ H . v o n MOLTKE,] G e s a m m e l t e S c h r i f t e n . . . (1891-1893)
[101]; Moltkes Militärische Werke, Abt. 1: Militärische Korrespondenz, Bd. 1:
Krieg 1864, Berlin 1892; Wolfgang FÖRSTER (Hg.), Prinz Friedrich Karl von
Preußen. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben. Vornehmlich auf Grund des
schriftlichen Nachlasses des Prinzen, 2 Bde., Stuttgart 1910; Heinrich FRIEDJUNG
(Hg.), Benedeks nachgelassene Papiere [1901], Dresden 3 1904; Anneliese KLEIN-
WUTTIG, Politik und Kriegführung in den deutschen Einigungskriegen 1864, 1866
und 1870/71 ( = AbhmnG, Bd. 75), Berlin 1934. - Vgl. dazu auch H. HELMERT/
H. USCZECK, Preußisch-deutsche Kriege ... ( 4 1978) [98]; H. HELMERT, Kriegspo-
litik und Strategie... (1970) [97],
V. Die schleswig-holsteinische Frage 339
1. August und dem endgültigen Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864 1 4
verzichtete der König von Dänemark auf seine Rechte in den Herzogtümern
Schleswig, Holstein und Lauenburg zugunsten des Kaisers von Österreich
und des Königs von Preußen, die das Land vorerst als Kondominium
verwalteten.
Im nachhinein erscheint der deutsch-dänische Krieg von 1864 als untrenn-
barer Teil der Einigungskriege, die zur Reichsgründung führten; die Zeit-
genossen sahen das anders, und auch Bismarck hat den Krieg unter anderen
Prämissen geführt. Der Krieg war als reiner Kabinettskrieg 15 geführt wor-
den, die Ansprüche des Augustenburgers wurden von Preußen und Öster-
reich negiert, das Kondominium kam einer Vergewaltigung der schleswig-
holsteinischen Selbstbestimmung gleich, als legitimierende Rechtsgrundlage
hatte nicht die Einheitsforderung der deutschen Nation, sondern das gegen
nationale Selbstbestimmung gerichtete internationale europäische Recht
gedient. Abgesehen von einer Minderheit preußischer liberaler Intellektu-
eller wie den Historikern Mommsen, Treitschke und Sybel, aber auch dem
Demokraten Waldeck, die jetzt zu Bismarcks Politik keine nationale Alter-
native mehr sahen, war die Stimmung der liberalen deutschen National-
bewegung, ob klein- oder großdeutsch gesinnt, ebenso wie die der Klein-
und Mittelstaaten antipreußisch, vor allem antibismarckisch. 16
Und Bismarck war entschlossen, entgegen den Forderungen der öffent-
lichen Meinung die Herzogtümer in eine preußische Provinz umzuwandeln,
womit allerdings eine entschiedene anti-österreichische Politik nicht von
vornherein verbunden sein mußte: zu den vielfältigen politischen Optionen
des preußischen Ministerpräsidenten gehörte auch die Alternative eines
preußisch-österreichischen Interessenausgleichs. Im August 1864 schlug Bis-
marck dem österreichischen Außenminister Rechberg vor, Österreich möge
der preußischen Hegemonie in Norddeutschland zustimmen und auf die
Elbherzogtümer verzichten, wogegen Preußen bereit sei, Österreich bei der
Wiedergewinnung der Lombardei, auch gegen Frankreich, militärisch zu
unterstützen. Der Vertragsentwurf wurde von beiden Seiten nicht weiter-
verfolgt, nicht zuletzt, weil Rechberg, der Befürworter des Ausgleichs,
im Oktober 1864 entlassen wurde, aber er zeigt, wie offen die Situation
14 Ein Auszug (Art. I —III) des Friedensvertrags von Wien zwischen Österreich,
Preußen und Dänemark vom 30. X . 1864 bei E . R . HUBER (Hg.), Dokumente...
( 3 1986) [40], Nr. 153 (149), S. 206.
15 Vgl. dazu u. a. Alan PALMER, Glanz und Niedergang der Diplomatie. Die Ge-
heimpolitik der europäischen Kanzleien vom Wiener Kongreß bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkriegs, Düsseldorf 1986, S. 2 2 6 - 2 3 1 .
16 Vgl. dazu die in Anm. 10 genannte Lit.; Adolf RAPP (Hg.), Großdeutsch —
kleindeutsch. Stimmen aus der Zeit von 1815 bis 1914 ( = D S t a G e d , Bd. 1),
München 1922; Georg REINHARDT, Preußen im Spiegel der öffentlichen Meinung
Schleswig-Holsteins 1866 — 1870. Eine Untersuchung der Volksmeinung im über-
wiegend deutschen Gebiet der Herzogtümer in der Zeit von der Eingliederung
des Landes in Preußen bis zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, Phil.
Diss. Kiel 1952 [MS],
340 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7
noch war. Die Beziehungen zwischen Wien und Berlin verschlechterten sich;
in einer N o t e v o m 22. Februar 1865 teilte Bismarck Bedingungen mit, unter
denen Preußen der Errichtung eines schleswig-holsteinischen Staats zustim-
men wolle, die den Augustenburger praktisch zum preußischen Vasallen
gemacht hätten. Preußen verschärfte den Konflikt, indem es eine Marine-
station von Danzig nach Kiel verlegte, doch blieb der Weg eines friedlichen
Ausgleichs lange offen; die „Gasteiner K o n v e n t i o n " v o m 14. August 1865, 1 7
die auf eine definitive Teilung der Elbherzogtümer in einen nördlichen
österreichischen und einen südlichen preußischen Teil hinauslief, wenngleich
die gemeinsame Verantwortung der beiden M ä c h t e für Schleswig-Holstein
bestehen bleiben sollte, während Österreich seine Rechte a m H e r z o g t u m
L a u e n b u r g für 2 Vi Millionen dänische Taler an Preußen veräußerte, machte
die Möglichkeit einer einvernehmlichen Teilung Deutschlands in eine öster-
reichische und eine preußische M a c h t s p h ä r e ungeachtet aller deutsch-natio-
nalen Strömungen noch einmal sichtbar.
D o c h die Gasteiner Konvention konnte nicht mehr verschleiern, daß die
Situation sich zur definitiven und militärischen Entscheidung über die Frage
der deutschen Vormachtstellung zuspitzte. Bereits anläßlich des preußischen
Kronrats a m 29. M a i 1865, 1 8 auf d e m die Frage der vollen Annexion
Schleswig-Holsteins zur D e b a t t e stand, hatten sowohl der K ö n i g als auch
Generalstabschef M o l t k e den Krieg gegen Österreich für unvermeidlich
erklärt; Bismarck allerdings hatte jeder Entscheidung widersprochen, die
den militärischen Konflikt zwangsläufig herbeiführte. D o c h als auch nach
Gastein die österreichische P r o p a g a n d a für den Augustenburger in den
Herzogtümern nicht nachließ und damit offensichtlich wurde, daß Wien
die Arrondierung Preußens durch Annexion Schleswig-Holsteins nicht hin-
zunehmen bereit war, wuchs auch im preußischen Ministerpräsidenten die
Überzeugung, daß der entscheidende Konflikt nicht mehr aufzuhalten sei.
A m 28. Februar 1866 k a m ein K r o n r a t übereinstimmend zu dem Ergebnis,
daß der Krieg unvermeidlich sei; man beschloß, dem Waffengang nicht
17 S. den Text der Konvention von Gastein vom 14. VIII. 1863 bei E. R. HUBER
(Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 158 (153), S . 2 1 2 Í . ; Eberhard KESSEL,
Gastein, in: H Z , Bd. 176 (1953), S. 5 2 1 - 5 4 4 . - Vgl. auch: Otto BECKER, Der
Sinn der dualistischen Verständigungsversuche Bismarcks vor dem Kriege 1866,
in: H Z , Bd. 169 (1949), S. 2 6 4 - 2 9 8 ; Walter LIPGENS, Bismarcks Österreich-
Politik vor 1866. Die Urheberschaft des Schönbrunner Vertragsentwurfs
vom August 1864, in: WaG, Bd. 10 (1950), S. 240 - 262.
18 Arnold Oskar MEYER, Der preußische Kronrat vom 29. Mai 1865, in: Gesamt-
deutsche Vergangenheit. Festschrift für H. v. Srbik, München 1938, S. 3 0 8 - 3 1 8 ;
Protokoll des Kronrats: Die auswärtige Politik Preußens... ( 1 9 3 2 - 1 9 4 5 ) [90],
Bd. 6, Oldenburg i. O. - Berlin 1939, Nr. 100, S. 174 ff.; Karl Friedrich Graf
VITZTHUM VON ECKSTÄDT, London, Gastein und Sadowa 1 8 6 4 - 1 8 6 6 . Denkwür-
digkeiten, Stuttgart 1889; Heinrich Ritter von SRBIK, Die Schönbrunner Konfe-
renzen vom August 1864, in: H Z , Bd. 153 (1936), S. 4 3 - 8 8 ; R. STADELMANN,
Das Jahr 1865... (1933) [155],
V. Die schleswig-holsteinische Frage 341
19 Protokoll des preußischen Kronrats vom 28. II. 1866 in: Die auswärtige Politik
Preußens... ( 1 9 3 2 - 1 9 4 5 ) [90], Bd. 6, Oldenburg i. O.-"Berlin 1939, Nr. 499,
S. 611 ff.
20 Protokoll des österreichischen Ministerrats vom 21. II. 1866: Heinrich Ritter von
SRBIK (Hg.), Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1 8 5 9 - 1 8 6 6 , Bd. 5/1
( = DGq, Bd. 33/1), Oldenburg i . O . - B e r l i n 1938 (ND Osnabrück 1967),
N r . 2 3 2 5 , S. 2 0 2 ff.
21 F. BEICHE, Bismarck und Italien... (1931) [150]; den preußisch-italienischen Bünd-
nisvertrag vom 8. IV. 1866 vgl. in: E. R. HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40],
Nr. 162 (157), S. 222 f. - Lothar GALL, Bismarck und England, in: Paul Kluke/
Peter Alter (Hg.), Aspekte der deutsch-britischen Beziehungen im Laufe der
Jahrhunderte. Ansprachen und Vorträge zur Eröffnung des Deutschen Histori-
schen Instituts in London. Aspects of Anglo-German Relations through the
Centuries ( = V D H I L o n , Bd. 4), Stuttgart 1978, S. 4 6 - 5 9 . - Zu Bismarcks
Rußlandpolitik s. E. FLEISCHHAUER, Bismarcks Rußlandpolitik... (1976) [s.o.
Anm. 3]; Horst MÜLLER-LINK, Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-
Deutschland und das Zarenreich von 1860 bis 1890 (KrStGw, Bd. 24), Göttingen
1977. - Zur Frankreichpolitik: Lauri Adolf PUNTILA, Bismarcks Frankreichpo-
342 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1 8 5 0 - 1 8 6 7
Auch innerhalb des Deutschen Bundes suchten die beiden Gegner nach
Verbündeten. A m 9. April 1866 ließ Bismarck a m Bundestag den Antrag
auf Berufung eines Bundesparlaments stellen, das aus allgemeinen Wahlen
hervorgehen und eine Bundesreform beraten sollte. 2 2 Diese Übernahme
nationaler und liberaler Forderungen zeigte, wie wenig es Bismarck auf die
Mittel der Politik ankam, solange sie den Zielen dienten: das erste M a l
zeigte der reaktionäre Konfliktsminister die andere Seite seines politischen
Wesens, die Bereitschaft, die nationale Revolution zu adoptieren, mit dem
Appell an die Massen die monarchischen, bürokratischen und staatlichen
Institutionen unter Druck zu setzen und in cäsaristischer Manier die Re-
volution von oben zu wagen. Der Einsatz des plebiszitären Arguments k a m
diesmal allerdings unvorbereitet und verfrüht; die liberale Publizistik zeigte
sich entrüstet über dieses scheinbar heuchlerische Manöver, und im Bun-
destag sahen vor allem die kleinen und mittleren Staaten die Gefahren, die
aus einem nationaldemokratisch geprägten gesamtdeutschen Parlament für
ihre Existenz erwuchsen, und wandten sich empört gegen den preußischen
Reformvorschlag. Das dritte Deutschland blieb einstweilen zwischen den
Fronten und suchte einer kriegerischen Entscheidung auszuweichen. 2 3
litik [finn. 1952], Göttingen — Frankfurt/M. - Zürich 1971. - Text der österrei-
chisch-französischen Geheimkonvention vom 12. VI. 1866 bei H. ONCKEN, Die
Rheinpolitik Kaiser Napoleons III... (1926) [202], Bd. 1, Nr. 147, S. 265; Heinrich
Ritter von SRBIK, Der Geheimvertrag Österreichs und Frankreichs vom 12. Juni
1 8 6 6 , i n : H J b , B d . 5 7 ( 1 9 3 7 ) , S . 4 5 4 - 5 0 7 ; E v e l y n A n n POTTINGER, N a p o l e o n III
and the German Crisis, 1865 — 1866 ( = HarvHSt, Bd. 75), Cambridge/Mass.
1966; Elisabeth FEHRENBACH, Preußen-Deutschland als Faktor der französischen
Außenpolitik der Reichsgründungszeit, in: E. Kolb (Hg.), Europa und die Reichs-
gründung... (1980) [92], S. 1 0 9 - 1 3 7 ; R a y m o n d PoiDEViN/Heinz-Otto SIEBURG
(Hg.), Aspects des relations franco-allemandes à l'èpoche du second Empire,
1851 — 1866. Deutsch-französische Beziehungen im Zeitalter des Second Empire,
1 8 5 1 - 1 8 6 6 . Actes du colloque d'Otzenhausen, 5 - 8 octobre 1981 ( = P u b l -
RIMetz, Bd. 15), Metz 1982; Michael STÜRMER, France and German Unification,
in: Hagen Schulze (Hg.), Nation-Building in Central Europe ( = GHPer, Bd. 3),
Leamington S p a - H a m b u r g - N e w York 1987, S. 1 3 5 - 1 4 8 .
22 Preußischer Antrag auf die Reform der Bundesverfassung, gestellt am Bundestag
durch den Gesandten von Savigny am 9. IV. 1866, in: E. R. HUBER (Hg.),
Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 163 (158), S. 223ff.
23 Η. SCHULZE, Der Weg zum Nationalstaat... (1985) [61], S. 101 - 1 1 9 ; Ders. (Hg.),
Nation-Building in Central Europe... (1987) [s.o. Anm. 21]; O. BECKER, Bis-
marcks Ringen... (1958) [178], S. 126ff. (zur Bundesreform); Rolf BAUER, Öster-
reich, Preußen und Deutschland. Der Weg nach Königgrätz und seine Folgen,
in: R. Dietrich (Hg.), Europa und der Norddeutsche Bund... (1968) [189],
S. 57 - 84. - Mittelstaaten: Theodor GRIEWANK/Fritz HELLWAG, Württemberg
und die deutsche Politik in den Jahren 1 8 5 9 - 1 8 6 6 ( = DwüG, Bd. 25), Stuttgart
1934; H. KRETZSCHMAR, Schicksal und Anteil Sachsens auf dem Wege zum Kriege
1866, in: NAsächsG, Bd. 60 (1939), S. 6 6 - 1 2 5 ; Ernst TRUSS, Die Politik des
Großherzogtums Sachsen-Weimar 1 8 6 2 - 1 8 6 7 ( = Z V t h ü r G A , Beih. 22), Jena
1940; Johannes RIEKEN, Ludwig von der Pfordten und die preußischen Bundes-
reformbewegungen vor Ausbruch des Deutschen Krieges 1866, Phil. Diss. Kiel
V. Die schleswig-holsteinische Frage 343
A m 21. April 1866 beschloß der Wiener Ministerrat, wegen der italieni-
schen Kriegsdrohung die Grenztruppen gegen Italien zu mobilisieren; am
1. Mai folgte die volle österreichische Mobilisierung, und als Antwort
darauf die preußische. Ein letzter Vermittlungsversuch des sächsischen Kam-
merherrn Anton von der Gablenz, der in der Hauptsache die Errichtung
eines selbständigen schleswig-holsteinischen Staats unter einem preußischen
Prinzen und die Teilung des militärischen Oberbefehls im Deutschen Bund
zwischen Preußen und Österreich entlang der Mainlinie vorsah, scheiterte
an der österreichischen Ablehnung. 2 4 Österreich war, mit den Worten des
Z a r e n Alexanders II., „zum Kriege resigniert"; am 1. Juni übertrug der
Wiener Gesandte beim Bundestag die österreichischen Ansprüche in Schles-
wig-Holstein auf den Deutschen B u n d , 2 5 womit jede Brücke der Verstän-
digung abgebrochen wurde. Preußen marschierte daraufhin am 9. Juni in
Holstein ein und gab am folgenden Tag seinen Vorschlag für eine neue
Bundesverfassung bekannt, nach der das Bundesgebiet ohne die österrei-
chischen und niederländischen Gebietsteile neu konstituiert werden solle. 2 6
Dem a m 11. Juni von Österreich gestellten Antrag auf Mobilisierung der
nichtpreußischen Armeekorps des Bundesheeres stimmte der Bundestag am
14. Juni zu; gegen den Antrag stimmten neben Preußen nur die nord- und
mitteldeutschen Kleinstaaten sowie Luxemburg, während Baden sich der
Stimme enthielt. Der preußische Bundestagsgesandte erklärte daraufhin den
Bundesvertrag für erloschen; zwei Tage später beschloß die Mehrheit des
1942 [MS]; Erich MICHELS, Hannover und die deutsche Politik Österreichs 1859 -
1866, Phil. Diss. Bonn 1942 [MS]; Nicholas Martin HOPE, The Alternative to
German Unification. The Anti-Prussian Party Frankfurt, Nassau, and the Two
Hessen 1 8 5 5 - 1 8 6 7 ( = VIEG, Bd. 65), Wiesbaden 1973. - Aus marxistischer
Sicht: Herbert SCHWAB, Von Düppel bis Königgrätz. Die politische Haltung der
deutschen Bourgeoisie zur nationalen Frage 1864 — 1866, in: ZfG, 14. Jg. (1966),
S. 5 8 8 - 6 1 0 .
24 Zu dem Vermittlungsversuch von Anton Freiherrn v. Gablenz (1810 —1878), dem
Bruder des österreichischen Statthalters in Holstein, vgl. L. GALL, Bismarck...
(1980) [47], S. 356; s. a. Chester Wells CLARK, Franz Joseph and Bismarck. The
Diplomacy of Austria before 1866 ( = H a r v H S t , Bd. 36), Cambridge/Mass.—
London 1934, S. 4 1 4 - 4 2 8 .
25 Erklärung Österreichs am Bundestag über die Wahrung des Bundesfriedens,
abgegeben vom Bundestagsgesandten Freiherrn von Kübeck am l . V I . 1866, in:
E . R . HUBER (Hg.), Dokumente... ( 3 1986) [40], Nr. 167 (162a), S . 2 2 7 f .
26 Erklärung des preußischen Bundestagsgesandten von Savigny vor dem Bundestag
vom 9. VI. 1866, in: A. a. O., Nr. 170 (164), S. 231 ff.; s. a. die am gleichen Tage
abgegebene Antwort-Erklärung des österreichischen Gesandten, in: A. a. O.,
Nr. 171 (165), S. 233. — Zum preußischen Bundesreform-Entwurf s. den Rund-
erlaß Bismarcks über den preußischen Bundesreform-Entwurf an die preußischen
Gesandten bei den deutschen Regierungen vom 10. VI. 1866 und die „Grundzüge
einer neuen Bundesverfassung", der Bundesversammlung von der preußischen
Regierung vorgelegt am 10. VI. 1866, in: A . a . O . , Nr. 172 (166a) und 173 (166b),
S. 233 - 236.
344 § 1 Preußen als konstitutionelle Monarchie 1850—1867
27 Die Dokumente zur Bundesexekution gegen Preußen sowie den Rücktritt Preu-
ßens vom Bundesvertrag vgl. a . a . O . , S. 236 — 242.
28 Der Feldzug v o n 1 8 6 6 . . . (1867) [168]; A. KLEIN-WUTTIG, Politik und Kriegfüh-
rung... (1934) [s.o. Anm. 13]; Gerhard RITTER, Staatskunst und Kriegshandwerk.
Das Problem des „Militarismus" in Deutschland, Bd. 1, München 1954, S. 238 ff.
(Moltke, Kriegsverlauf); G . A . CRAIG, Königgrätz... (1966) [164]; W . v o n
GROOTE/U. v o n GERSDORFF ( H g . ) , E n t s c h e i d u n g 1 8 6 6 . . . ( 1 9 6 6 ) [ 1 7 0 ] ; A . W A N -
DRUSZKA, Schicksalsjahr 1866... (1966) [176] (behandelt vorwiegend die politi-
schen Probleme). — Zu Moltkes Persönlichkeit: Wolfgang FOERSTER, Moltke.
Persönlichkeit und Werk. Vortrag, gehalten am 13. März 1941 im Auditorium
Maximum der Universität Wien, Berlin 1941; R. STADELMANN, Moltke und der
Staat... (1950) [ 1 0 2 ] ; E. KESSEL, M o l t k e . . . (1957) [100], - [H.v. MOLTKE,]
Gesammelte Schriften... (1891 - 1893) [101]; [Helmuth von] MOLTKE, Gespräche,
hg. von Eberhard Kessel [1940], Hamburg 2 1941; Franz HERRE, Moltke. Der
Mann und sein Jahrhundert, Stuttgart 1984. — Von österreichischer Seite: Hein-
rich Ritter von SRBIK, Erzherzog Albrecht, Benedek [ = der Oberbefehlshaber
der österreichischen Armee] und der altösterreichische Soldatengeist [1943], in:
Aus Österreichs Vergangenheit. Von Prinz Eugen zu Franz Joseph, Salzburg
[1949], S. 107 - 140; John PRESLAND, Vae Victis. The Life of Ludwig von Benedek,
1 8 0 4 - 1 8 8 1 , London 1934; Edmund von GLAISE-HORSTENAU, Franz Josephs
Weggefährte. Das Leben des Generalstabschefs Grafen Beck. Nach seinen Auf-
zeichnungen und hinterlassenen Dokumenten, Wien 1930; Fritz HÖNIG, Öster-
reichs Finanzpolitik im Kriege von 1866, Wien 1937.
29 Zum Mainfeldzug vgl. Oscar von LETTOW-VORBECK, Geschichte des Krieges von
1866 in Deutschland, 3 Bde., Berlin 1 8 9 6 - 1 9 0 2 .
V. Die schleswig-holsteinische Frage 345
des Deutschen Bundes unter Ausschluß Österreichs und der Errichtung eines
Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung einverstanden; die Elb-
herzogtümer konnten mit Preußen vereinigt werden, wenn auch, eine un-
verbindliche Verneigung vor dem Nationalitätenprinzip, in Nordschleswig
eine Volksabstimmung vorgesehen war. Die von Bismarck geforderte Ar-
rondierung Preußens um Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt
wurde nicht ausdrücklich erwähnt, aber von Napoleon schweigend gebilligt.
Die süddeutschen Staaten sollten das Recht erhalten, einen unabhängigen
Staatenbund zu bilden: durch die Dreiteilung Deutschlands gedachte Na-
poleon das Schwergewicht Preußens zu neutralisieren. 3 0
Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zum Friedensschluß ergab sich im
preußischen Lager selbst: während Bismarck weder von Wien noch von
den übrigen besiegten Staaten territoriale Opfer fordern wollte, um den
künftigen Bundesstaat nicht durch irredentistische Forderungen zu belasten,
und um künftige Bündnisse zu erleichtern, bestand Wilhelm I. auf Anne-
xionen und einen triumphalen Einzug der preußischen Truppen in Wien.
„Meine beiden größten Schwierigkeiten", sagte Bismarck später einmal,
„waren, zuerst den König Wilhelm nach Böhmen hinein- und ihn dann
wieder herauszubekommen." 3 1 Nachdem diese Hürden bewältigt waren,
kam es endlich am 26. Juli 1866 auf der Grundlage der preußisch-franzö-
sischen Vereinbarungen zum Präliminarfrieden von Nikolsburg, 3 2 der aller-
dings noch am selben Tag durch plötzliche französische Kompensations-
forderungen an Preußen gefährdet wurde. Bismarck lehnte jede Abtretung
deutschen Gebiets energisch ab, war sogar bereit, den Krieg wieder aufzu-
nehmen, lenkte aber dann die ohnehin wenig nachdrücklich vorgetragenen
französischen Gebietshoffnungen auf belgisches und luxemburgisches Ter-
ritorium um. Damit hatte Napoleon eigentlich der preußischen Politik in
die Hände gespielt, denn Bismarck verfehlte nicht, die französischen Ge-
bietsforderungen publizistisch verbreiten zu lassen, was auf die süddeut-
schen Staaten einigen Eindruck machte. Das erleichterte es dem Minister-
präsidenten, neben den Friedensverträgen mit diesen Staaten, die am
9. August 1866 zustande kamen, auch geheime Schutz- und Trutzabkommen
zu schließen. 33
Bereits am 23. August 1866, wenig mehr als zwei Monate nach Kriegs-
beginn, kam es zum endgültigen Friedensschluß in Prag. 34 Er unterschied
sich nicht wesentlich von den Nikolsburger Abmachungen: Österreich blieb,
abgesehen von der Abtretung Venetiens an Italien, territorial unversehrt
und hatte 40 Millionen Taler Kriegsentschädigung zu zahlen, die sich
allerdings durch Anrechnungen auf 20 Millionen ermäßigten. Der Bildung
eines Norddeutschen Bundes sowie einer süddeutschen Staatenunion unter
Ausschluß der Donaumonarchie stimmte es zu; allerdings wurde die inter-
nationale unabhängige Existenz des Südbundes ausdrücklich vertraglich
fixiert, um die französischen Interessen zu befriedigen. Die österreichischen
Rechte in Schleswig-Holstein gingen auf Preußen über, das auch freie Hand
für alle in Norddeutschland geplanten Gebietserweiterungen erhielt.
Jetzt endlich war Preußen imstande, den Schönheitsfehler der Friedens-
ordnung von 1815, seine Trennung in einen östlichen und einen westlichen
Landesteil, zu bereinigen. Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt
wurden preußisch; hinzu kamen Schleswig und Holstein. 35 Sachsen entging
der Annexion nur als Preis für die österreichische Zustimmung zu den
norddeutschen Gebietsveränderungen; 36 das besiegte Hessen-Darmstadt be-
hielt seine territoriale Unversehrtheit hauptsächlich aufgrund russischen
Einspruchs, und die auf österreichischer Seite stehenden norddeutschen
Kleinstaaten Reuß ältere Linie und Sachsen-Meiningen entgingen der Se-
questration lediglich, weil sich der preußische Staat damit neue Exklaven
eingehandelt hätte. So war das Staatsgebiet von 279.045 auf 348.435 Qua-
dratkilometer oder um annähernd 20 Prozent gewachsen.
nalliberalen Partei, 1 1 die sich am 28. Februar 1867 als politisches Dach aller
deutschen Liberalen bildete, die die nationale Einheit als gleichwichtig wie
bürgerliche Freiheit betrachteten und die Herstellung des deutschen Natio-
nalstaats unter preußischer Führung bejahten: in den folgenden zwölf Jahren
die bedeutendste staatstragende Kraft in Deutschland. Auf der anderen Seite
spaltete sich auch die Konservative Partei; 1 2 sie hatte dem Indemnitätsgesetz
nur widerwillig zugestimmt und neigte dazu, zu Bismarck auf Distanz zu
gehen, dem sie die Versöhnungspolitik gegenüber den Liberalen, aber auch
die anti-österreichische Zerreißung des Deutschen Bunds anlastete. Eine
Reihe von Abgeordneten unter der Führung des Grafen Bethusy-Huc er-
klärte sich jedoch für Bismarcks Politik, für Konstitution und nationale
13
Vgl. dazu auch L. GALL, Bismarck... (1980) [47], S. 380.
14
Detailliert dazu: Κ. E. POLLMANN, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund...
(1985) [183], S. 93 —151. — Zur Liberalisierung des Ministeriums Bismarck
1867-70 vgl. E.R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (31988) [39],
S. 3 7 3 - 3 7 7 .
I. Der Norddeutsche Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 1 353
inneren Ausbau des Reiches von 1867 bis 1880, Borna — Leipzig 1936; H . O.
Meisner, Bundesrat, Bundeskanzler und Bundeskanzleramt... (1972) [182]; Theo-
dor MAUNZ, Der Bundesrat in Vergangenheit und Gegenwart, in: H J b , Bd. 7 4
(1955), S. 5 4 6 - 5 5 6 ; Rudolf MORSEY, Die oberste Reichsverwaltung unter Bis-
marck 1 8 6 7 - 1 8 9 0 ( = NMünstBGf, Bd. 3), Münster 1957; Hans FENSKE, Deut-
sche Verfassungsgeschichte. Vom Norddeutschen Bund bis heute ( = B t r Z G ,
Bd. 6), Berlin 1981.
14 K. BRAUN, Gewerbe-, Zug- und Verehelichungsfreiheit im Norddeutschen Bunde,
in: Prjbb, Bd. 21 (1868), S. 4 3 5 - 4 6 6 .
15 Eckart BUSCH, Der Oberbefehl. Seine rechtliche Struktur in Preußen und Deutsch-
land seit 1848 ( = MGSt, Bd. 5), Boppard a . R h . 1967.
16 Heinrich TRIEPEL, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine
staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 1907; Ders., Die Hegemonie.
Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1938; O. BECKER, Bismarcks Ringen...
(1958) [178], S. 386 ff.; Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Re-
volution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791
bis 1848 ( = IndW, Bd. 7), Stuttgart 1967, S. 337 ff.; Gerhard A. RITTER, Ent-
wicklungsprobleme des deutschen Parlamentarismus, in: Ders. (Hg.), Gesell-
schaft, Parlament und Regierung. Z u r Geschichte des Parlamentarismus in
Deutschland, Düsseldorf 1974, S. 1 1 - 5 4 .
I. Der Norddeutsche Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 1 357
einem Verfassungsorgan, das nicht nur gleiche legislative Rechte wie der
Reichstag besaß, sondern darüber hinaus auch oberster Träger der Bundes-
exekutive war: er beschloß unter anderem die Bundesexekutive und über
die Reichstagsauflösung, ohne seine Zustimmung gab es keine Kriegserklä-
rung, keinen völkerrechtlichen Vertrag, er schlichtete Verfassungsstreitig-
keiten, und er war für die Durchführung der Bundesgesetze und die Ein-
richtung von Bundesbehörden zuständig: streng genommen war der Nord-
deutsche Bund keine Monarchie, sondern eine Aristokratie. 17
Aber das war Verfassungstheorie; tatsächlich konnte an der umfassenden
Dominanz der preußischen Krone im Norddeutschen Bund kein Zweifel
sein. Zwar besaß Preußen im Bundesrat lediglich 17 von 43 Stimmen, also
erheblich weniger, als es seinem Bevölkerungs- und Territorialanteil am
Norddeutschen Bund entsprochen hätte; doch benötigte es lediglich fünf
weitere Stimmen, um den Bundesrat zu majorisieren, und zudem konnten
gegen die preußischen Stimmen allein weder die Verfassung noch Gesetze
über das Militärwesen und die bundesunmittelbaren Zoll- und Steuerein-
nahmen geändert werden. 18 Zudem waren die zwei wichtigsten Säulen des
preußischen Staats, Armee und Verwaltung, ohne weiteres zu den Haupt-
stützen des Bundes verlängert worden; indem der preußische Ministerprä-
sident das Amt des Bundeskanzlers übernahm, war er zwar nicht der
formellen Verfassung, wohl aber der materiellen Substanz nach Inhaber der
Exekutive, gestützt einerseits auf die preußische Bürokratie, 1 9 die fünf
Sechstel des Bundesgebietes verwaltete, andererseits auf die Beamtenschaft
der neuen Bundesinstitutionen, die praktisch ausschließlich aus dem preu-
ßischen Dienst übernommen wurde. Und die Stellung des preußischen
Königs als Bundesfeldherr, als Inhaber der obersten Kommandogewalt
sämtlicher Bundestruppen und der Bundesmarine in Krieg und Frieden,
sicherte die vollständige militärische Prädominanz Preußens. 20
Wenn also der Norddeutsche Bund, mit den Worten Wilhelms I., als
„verlängerter Arm Preußens" gelten konnte, so reichte der andere Arm weit
nach Süddeutschland. Da waren die im Zusammenhang mit dem Prager
21
Schutz- und Trutzbündnis zwischen Preußen und Bayern vom 22. VIII. 1866, in:
E.R. HUBER (Hg.), Dokumente... (31986) [40], Nr. 200, S. 288; zwischen Preußen
und Hessen vom 11. IV. 1867, in: A . a . O . , Nr. 201, S. 289; Heinrich von
TREITSCHKE, Die Verträge mit den Südstaaten, in: Prjbb, Bd. 26 (1870), S. 6 8 4 -
695; Wilhelm SCHÜSSLER, Bismarcks Kampf um Süddeutschland 1867, Berlin
1929; Gustav ROLOF, Bismarcks Friedensschlüsse mit den Süddeutschen im Jahre
1866, in: H Z , Bd. 146 (1932), S. 1 - 7 0 ; Manfred MESSERSCHMIDT, Militärge-
schichte im 19. Jahrhundert, 2 Teile ( = HbdMG, Bd. 4), München 1975/76. -
Über Unitarismus und Föderalismus in der deutschen Heeresverfassung nach
1867: E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (31988) [39], S. 998ff.;
Lothar GALL, Bismarcks Süddeutschlandpolitik 1866 - 1 8 7 0 , in: Eberhard Kolb
(Hg.), Europa vor dem Krieg von 1870. Mächtekonstellation — Konfliktfelder —
Kriegsausbruch (= SchrHKol, Bd. 10), München 1987, S . 2 3 - 3 2 .
22
Das Zollparlament und seine Kompetenzerweiterung. Eine Warnung vor falschen
Wegen, in: Prjbb, Bd. 21 (1868), S. 5 9 1 - 6 0 0 ; W. ZORN, Die wirtschaftliche
Integration... (1973) [32]; Ders., Zwischenstaatliche wirtschaftliche Integration
im Deutschen Zollverein 1867 — 1870. Ein quantitativer Versuch, in: VSWG,
Bd. 65 (1978), S. 3 8 - 7 6 ; Michael KERWAT, Die wechselseitige wirtschaftliche
Abhängigkeit der Staaten des nachmaligen Deutschen Reiches im Jahrzehnt vor
der Reichsgründung, Staatswiss. Diss. München 1976; Hans-Werner HAHN, Ge-
schichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984; Klaus MEGERLE, Ökono-
mische Integration und politische Orientierung deutscher Mittel- und Kleinstaa-
ten im Vorfeld der Reichsgründung, in: Helmut Berding (Hg.), Wirtschaftliche
und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert ( = GG, Sonderh.
10), Göttingen 1984, S. 1 0 2 - 1 2 7 .
I. Der Norddeutsche Bund 1 8 6 7 - 1 8 7 1 359
23 Walter SCHÜBELIN, Das Zollparlament und die Politik von Baden, Bayern und
Württemberg. 1866 - 1 8 7 0 ( = HSt, H. 262), Berlin 1935 (ND Vaduz 1965); Jochen
SCHMIDT, Bayern und das Zollparlament. Politik und Wirtschaft in den letzten
Jahren vor der Reichsgründung (1866/67—1870). Zur Strukturanalyse Bayerns
im Industriezeitalter ( = MiscBavMon, Bd. 46), München 1973; Rolf WILHELM,
Das Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund (1867 — 1870)
( = HSt, H. 431), Husum 1978; Hans-Werner HAHN, Wirtschaftliche Integration
im 19. Jahrhundert. Die hessischen Staaten und der Zollverein ( = KrStGw,
Bd. 52), Göttingen 1982; Ders., Hegemonie und Integration. Voraussetzungen
und Folgen der preußischen Führungsrolle im Deutschen Zollverein, in: H.
Berding (Hg.), Wirtschaftliche und politische Integration... (1984) [s. o. Anm. 22],
S. 45 - 70; Friedrich Wilhelm HENNING, Die wirtschaftliche Integration Deutsch-
lands im 19. Jahrhundert. Die Bedeutung Preußens für die Entstehung der
deutschen Volkswirtschaft, in: O. Hauser (Hg.), Preußen, Europa und das Reich...
(1987) [s.o. Anm. 17], S. 295 - 312.
24 Georg FREYE, Motive und Taktik der Zollpolitik Bismarcks. Auf Grund der
amtlichen Quellen, R.- und staatswiss. Diss. Hamburg 1926 [MS]; W. SCHÜSSLER,
Bismarcks Kampf... (1929) [s.o. Anm. 21]; Alfred MEYER, Der Zollverein und
die deutsche Politik Bismarcks. Eine Studie über das Verhältnis von Wirtschaft
und Politik im Zeitalter der Reichsgründung ( = EHschr, R. 3, Bd. 288), Frank-
f u r t / M . - B e r n - N e w York 1986, S. 1 9 1 - 2 3 0 .
25 Ernst GÖTZ, Die Stellung Hessen-Darmstadts zur deutschen Einigungsfrage in
den Jahren 1 8 6 6 - 1 8 7 1 , Darmstadt 1914, S. 43 ff.; Theodor SCHIEDER, Die klein-
deutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863 —1871
( = MünchHAbh, R. 1, Bd. 12), München 1936; G . G . WINDELL, The Catholics...
(1954) [188]; Lothar GALL, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Groß-
herzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung ( = VIEG, Bd. 47),
Wiesbaden 1968, S. 376ff.; A . M . BIRKE, Bischof Ketteier... (1971) [86];
J.SCHMIDT, Bayern und das Zollparlament... (1973) [s.o. Anm. 23], S. 140 ff.;
A. MEYER, Der Zollverein... (1986) [s.o. Anm. 24], S. 222ff.
360 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1
Wie stets, wenn die deutsche Frage sich weiterentwickelte, geschah dies
durch Druck von außen, und auch jetzt war es wieder Frankreich, das die
deutsche Einigung förderte, gerade indem es sie fürchtete und zu verhindern
suchte. Das war bereits in der luxemburgischen Krise sichtbar geworden;
auf der Suche nach Kompensationen für die preußische Machterweiterung
hatte Napoleon III. sein Auge auf Luxemburg geworfen, bis 1866 deutsche
Bundesfestung in holländischem Besitz, und Bismarck war anfangs durchaus
damit einverstanden gewesen, um das französische Prestigebedürfnis zu
stillen und die Beziehungen zu Frankreich zu verbessern. Aber Kabinettspo-
litik dieses Stils war bereits nicht mehr möglich; die Sache kam an die
Öffentlichkeit, das deutsche Nationalgefühl in Nord- wie in Süddeutschland
wallte mächtig auf, und Bismarck, wie stets zwischen Nationalbewegung
und europäischer Friedensordnung wie zwischen Scylla und Charybdis
manövrierend, entschied sich für die patriotische Ablehnung der französi-
schen Forderung. Bereits 1867 stand man am Rande des Kriegs, und der
Gedanke griff in der deutschen Öffentlichkeit um sich, daß wie zuvor die
26 H . MICHAEL, B i s m a r c k , E n g l a n d u n d E u r o p a . . . ( 1 9 3 0 ) [ 1 9 1 ] ; G e r h a r d RITTER,
Die Politik Napoleons III. und das System der Mainlinie, in: KB1GAV, Bd. 80
(1932), S. 1 7 8 - 1 8 2 ; Herbert GEUSS, Bismarck und Napoleon III. Ein Beitrag zur
Geschichte der preußisch-französischen Beziehungen 1851 —1871 ( = KielHSt,
Bd. 1), Köln - Graz 1959; Lauri Adolf PUNTILA, Bismarcks Frankreichpolitik [finn.
1952], Göttingen - Frankfurt/M. — Zürich 1971; Elisabeth FEHRENBACH, Preußen-
Deutschland als Faktor der französischen Außenpolitik der Reichsgründungszeit,
in: E. Kolb (Hg.), Europa und die Reichsgründung... (1980) [92], S. 1 0 9 - 1 3 7 ;
Wilfried RADEWAHN, Europäische Fragen und Konfliktzonen im Kalkül der
französischen Außenpolitik vor dem Krieg von 1870, in: E. Kolb (Hg.), Europa
v o r d e m K r i e g . . . ( 1 9 8 7 ) [ s . o . A n m . 2 1 ] , S. 3 3 - 6 3 .
27 Walter PLATZHOFF, England und der Kaiserplan vom Frühjahr 1870, in: HZ,
Bd. 127 (1923), S. 454 - 475.
II. Der deutsch-französische Krieg und die Reichseinigung 1870/1871 361
1 H. ONCKEN, Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III.... (1926) [202]; Karl August
SCHIERENBERG, Die deutsch-französische Auseinandersetzung und die Luxem-
burger Frage, dargestellt vor allem an der Luxemburger Angelegenheit des Jahres
1867, Marburg 1933 (Phil. Diss. Marburg 1933); Jules GARSOU, Le Grand-Duché
de Luxembourg entre la Belgique, la France et la Prusse (1867 — 1871), in: CahLux,
12. J g . (1935), S. 8 0 5 - 8 1 6 , 13. Jg. (1936), S. 5 9 3 - 6 0 1 , 14. J g . ( 1 9 3 7 ) , S. 5 1 5 -
537, 661—669; Marcel JUNOD, Die Neutralität des Großherzogtums Luxemburg
von 1867 bis 1 9 4 8 , in: P u b l H L u x , Bd. 72 (1951), S. 7 - 1 0 3 ; Herbert GEUSS,
Bismarck und Napoleon III. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-französi-
schen Beziehungen 1 8 5 1 - 1 8 7 1 ( = KöHAbh, Bd. 1), K ö l n - G r a z 1959; Wilfried
RADEWAHN, Europäische Fragen und Konfliktzonen im Kalkül der französischen
Außenpolitik vor dem Krieg von 1870, in: Eberhard Kolb (Hg.), Europa vor dem
Krieg von 1870. Mächtekonstellation — Konfliktfelder — Kriegsausbruch ( =
SchrHKol, Bd. 10), München 1987, S. 3 3 - 6 3 .
2 Rudolf MORSEY, Geschichtsschreibung und amtliche Zensur. Zum Problem der
Aktenveröffentlichung über die spanische Thronkandidatur der Sigmaringer Ho-
henzollern, in: HZ, Bd. 184 (1957), S. 5 5 5 - 5 7 2 ; Ders., Die Hohenzollernsche
Thronkandidatur in Spanien, in: HZ, Bd. 186 (1958), S. 5 7 3 - 5 8 8 ; Richard Ko-
NETZKE, Spanien, die Vorgeschichte des Krieges und die deutsche Reichsgründung,
in: HZ, Bd. 214 (1972), S. 5 8 0 - 6 1 3 .
3 Georges BONNIN (Hg.), Bismarck and the Hohenzollern Candidature for the
Spanish Throne. The Documents in the German Diplomatic Archives, London
1957; L . D . STEEFEL, Bismarck... (1962) [204]; J. DITTRICH, Bismarck... (1962)
[200]; Josef BECKER, Zum Problem der Bismarckschen Politik in der spanischen
Thronfolge 1870, in: HZ, Bd. 212 (1971), S. 529 - 607; S. William HALPERIN,
The Origins of the Franco-Prussian War Revisited. Bismarck and the Hohenzol-
lern Candidature for the Spanish Throne, in: J M H , Bd. 45 (1973), S. 8 3 - 9 1 ;
Josef BECKER, Bismarck, Prim, die Sigmaringer Hohenzollern und die spanische
Thronfrage. Zum Fund von „Bismarcks Instruktionsbrief für Bucher" vom 25.
Juni 1870 in der „Real Academia de la Historia" Madrid, in: Fr, Bd. 9 (1981),
S . 435 - 472.
362 § 2 Preußens Weg ins Reich 1 8 6 7 - 1 8 7 1
bodens", also des Elsaß und Lothringens, forderte, 8 und dem preußischen
Generalstab, der mit rein militärtechnischen Begründungen die Gewinnung
des Vogesenkamms und der Festung Metz zum Kriegsziel erhob, 9 war
Bismarck nicht gewachsen, obwohl er sehr wohl erkannte, daß damit sein
Kriegsziel, die endgültige und dauerhafte Beseitigung der Kriegsgefahr an
der deutschen Westgrenze, bereits mit dem Friedensschluß in Frage gestellt
war.
Parallel zu den kriegerischen Ereignissen vollzog sich die politische Ei-
nigung der kriegführenden deutschen Staaten. Die nationale Hochstimmung
der Bevölkerung und der öffentlichen Meinung übte einen derartigen Druck
auf die Kabinette der süddeutschen Staaten aus, 1 0 daß ihnen nur noch der
wie auch immer geartete Weg des Zusammenschlusses mit dem Norddeut-
8 Gert KROEGER, Julius Eckhardts Artikelreihe „Für und wider das Elsaß-Projekt",
August 1 8 7 0 , in: Z f O , Bd. 10 (1961), S. 2 0 1 - 2 2 5 ; W . LIPGENS, B i s m a r c k , die
öffentliche Meinung... (1964) [211]; Ders., Bismarck und die Frage der Annexion
1870. Eine Erwiderung, in: HZ, Bd. 206 (1968), S. 586 - 617; Josef BECKER, Baden,
Bismarck und die Annexion von Elsaß und Lothringen. Mit einem dokumenta-
rischen Anhang, in: Z G O , Bd. 115 (1967), S. 1 6 7 - 2 0 4 ; Lothar GALL, Zur Frage
der Annexion von Elsaß und Lothringen 1870, in: HZ, Bd. 206 (1968), S. 265 —
326; Rudolf BUCHNER, Die deutsche patriotische Dichtung vom Kriegsbeginn
1870 über Frankreich und die elsässische Frage, in: HZ, Bd. 206 (1968), S. 3 2 6 -
336; Eberhard KOLB, Bismarck und das Aufkommen der Annexionsforderungen
1870, in: HZ, Bd. 209 (1969), S. 3 1 8 - 3 5 6 ; Ders., Ökonomische Interessen...
(1973) [210]; Alfred WAHL, La question des courants annexionistes en Allemagne
et „l'Alsace-Lorraine", in: Fernand L'Huillier (Hg.), L'Alsace en 1 8 7 0 - 1 8 7 1
( = PfStrasb, Bd. 6), Paris 1971, S. 1 8 5 - 2 1 0 ; Ursula E. KOCH, Berliner Presse und
europäisches Geschehen 1871. Eine Untersuchung über die Rezeption der großen
Ereignisse im ersten Halbjahr 1871 in den politischen Tageszeitungen der deut-
schen Reichshauptstadt ( = EvHKzB, Bd. 22), Berlin 1978; Eberhard KOLB, Der
Weg aus dem Krieg. Bismarcks Politik im Krieg und die Friedensanbahnung
1870/71, München 1989.
9 Arnold Oskar MEYER, Bismarck und Moltke vor dem Fall von Paris und beim
Friedensschluß, in: Kurt von Raumer/Theodor Schieder (Hg.), Stufen und Wand-
lungen der deutschen Einheit. Festschrift für Karl Alexander von Müller, Stutt-
g a r t - B e r l i n 1943, S. 3 2 9 - 3 4 1 ; R. STADELMANN, Moltke und der Staat... (1950)
[102]; E. KESSEL, Moltke... (1957) [100], S. 581 ff.; Ernst ENGELBERG, Der preu-
ßische Militarismus und die Reichsgründung 1870/71, in: ZfM, 10. Jg. (1971),
S. 5 - 1 9 .
10 Wilhelm BUSCH, Württemberg und Bayern in den Einheitsverhandlungen 1870,
in: HZ, Bd. 109 (1911), S. 1 6 1 - 1 9 0 ; M[ichael] DOEBERL, Bayern und Deutsch-
land. Bd. 2: Bayern und die Bismarcksche Reichsgründung, München 1925; Karl
BOSL, Die Verhandlungen über den Eintritt der süddeutschen Staaten in den
Norddeutschen Bund und die Entstehung der Reichsverfassung, in: T. Schieder/
E. Deuerlein (Hg.), Reichsgründung 1870/71... (1970) [218], S. 1 4 8 - 1 6 3 ; Hans
RALL, Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in:
Max Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4/1, München
2 1981, hier S. 275 - 282 (Bayern und die Reichsgründung); Waither Peter FUCHS
sehen Bund gangbar schien; gerade hier wird deutlich, daß der deutsche
Einigungsprozeß keineswegs allein als „Revolution von oben" beschrieben
werden kann, sondern daß hier ein Zusammenspiel zwischen Bismarcks
Politik der preußischen Machtkonsolidierung und den nationalpolitischen
Tendenzen der Epoche stattfand, die im Ergebnis nicht zu einem Großpreu-
ßen, sondern zu einem Deutschen Reich führte. 11 Der Weg von Kriegseintritt
bis zur Versailler Kaiserproklamation war kurz, aber er war mit Hinder-
nissen besät. Vor allem Bayerns König Ludwig II. sperrte sich entschieden
gegen einen Beitritt zum Norddeutschen Bund und war allenfalls bereit,
einem Staatenbündnis zwischen einem Nord- und einem Südbund zuzustim-
men. Erst die fortschreitenden Verhandlungen zwischen Bismarck und den
übrigen süddeutschen Staaten, durch die Bayern isoliert zu werden drohte,
sowie die Zusage verfassungsmäßiger Sonderrechte machte die bayerische
Regierung langsam geneigt, sich dem neuen deutschen Bund anzuschließen;
daß die bayerische Zustimmung zum Kaisertitel für den preußischen König
durch eine jährliche Zahlung an die Privatschatulle Ludwigs II. erkauft
werden mußte, macht deutlich, wie gegenwärtig das 18. Jahrhundert jenseits
von Parlamenten und Öffentlichkeit noch war. 1 2
Das Deutsche Reich, das durch die Ratifikation der vertraglich fixierten
neuen Reichsverfassung seitens der süddeutschen Landtage und des nord-
deutschen Reichstags am 1. Januar 1871 ins Leben trat, unterschied sich
vom Norddeutschen Bund lediglich durch den Hinzutritt Bayerns, Württem-
bergs, Badens und Hessen-Darmstadts, durch einige in der Substanz uner-
hebliche Veränderungen, durch die die Verfassung des Norddeutschen Bun-
des in die neue Reichsverfassung umgewandelt worden war, 1 3 sowie durch
die Einführung der Begriffe Kaiser und Reich, die staatsrechtlich nichts
Neues brachten, durch ihre Symbolkraft jedoch dem neuen Staatsgebilde
eine völlig neue Legitimität verliehen. 14
Nicht anders als zuvor der Norddeutsche Bund definierte sich das neue
Reich in seiner Verfassung als „ewiger Bund zum Schutze des Bundesgebietes
und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt
des Deutschen Volkes", wie die Präambel sich ausdrückte; Oberhaupt dieses
Bundes war weiterhin der König von Preußen, der das Bundespräsidium
innehatte und in dieser Eigenschaft „den Namen Deutscher Kaiser führt"
(Artikel 11). Tatsächlich verbanden nicht die geringsten staatsrechtlichen
Bezüge Wilhelm I. mit dem letzten Römischen Kaiser, mit Franz II., wie
auch der großpreußisch-kleindeutsche Nationalstaat mit dem transnatio-
nalen Wesen des einstigen Heiligen Römischen Reichs nichts zu tun hatte.
Aber das Bewußtsein der Trägerschicht des deutschen Nationalstaatsgedan-
kens, in der Hauptsache des liberalen Bürgertums, hatte sich generationen-
lang an den Bildern und Mythen einer romantischen, rückwärtsgewandten
Utopie von der Wiedererrichtung einer angeblichen mittelalterlichen deut-
schen Kaiserherrlichkeit gebildet, und dieser sinnstiftende Mythos war so
stark, daß kein deutscher Nationalstaat ohne den Bezug darauf legitimiert
erschien. 15 Der Kaisertitel hatte zudem, wie Bismarck deutlich erkannte,
sehr unterschiedliche Bedeutungsinhalte; er kam den partikularistischen
Vorstellungen der süddeutschen Fürsten entgegen, indem der föderalistische
Aspekt des einstigen Kaisertums hervorgehoben wurde, durch den einst die
territorialen Libertäten und die Unabhängigkeit der Fürstentümer garantiert
gewesen waren. 1 6 Alt-Konservative, die sich mit den neuen Verfassungsver-
geschichte ( 1 8 1 5 - 1 9 1 8 ) ( = N W B , Bd. 51), Köln 1972, S. 1 7 1 - 1 9 4 ; Michael
STÜRMER, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871 —1880. Cäsarismus
oder Parlamentarismus ( = BGParl, Bd. 54), Düsseldorf 1974; Hans BOLDT, Deut-
scher Konstitutionalismus und Bismarckreich, in: Michael Stürmer (Hg.), Das
kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918 [1970], Düsseldorf
4 1984, S. 1 1 9 - 1 4 3 .
14 Hans GoLDSCHMiDT/Hans KAISER/Hans THIMME (Hg.), Ein Jahrhundert deut-
scher Geschichte. Reichsgedanke und Reich 1815 — 1919. 150 faksimilierte Ur-
kunden und Aktenstücke aus den Beständen vornehmlich der Reichskanzlei, des
Auswärtigen Amtes, des Reichsministeriums des Innern, des Preußischen Mini-
steriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung und anderer Reichs- und
Preußischer Ministerien, des Reichsarchivs, des Preußischen Geheimen Archivs
und des Hausarchivs, sowie der Archive des Deutschen Bundes und der Deutschen
Nationalversammlung zu Frankfurt/M., Berlin 1928; Karl HAMPE, Wilhelm I.
Kaiserfrage und Kölner Dom. Ein biographischer Beitrag zur Geschichte der
deutschen Reichsgründung, Stuttgart 1936; Gustav Adolf REIN, Die Reichsgrün-
dung in Versailles. 18. Januar 1871 ( = JaBü, Bd. 7), München 1958; E. FEHREN-
BACH, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens... (1969) [215]; W. RIBBE,
Adler und Krone... (1976) [217].
15 H. SCHULZE, Der Weg zum Nationalstaat... (1985) [61]; Ders., Gibt es überhaupt
eine deutsche Geschichte?, Berlin 1989.
16 Georg MEYER, Die Reichsgründung und das Großherzogtum Baden, Heidelberg
III. Preußens Stellung im Reichsgefiige 367
hältnissen schwer abfinden konnten, trösteten sich mit der Idee eines christ-
lich-romantischen, gottesunmittelbaren Kaisertums als Schutz gegen säku-
lare Liberalisierungstendenzen, und Liberale und Demokraten sahen den
Kaisertitel im Lichte des Volkskaisertums der Paulskirche, während der
Zusammenhang von Krieg und Kaiserproklamation in Versailles auch cä-
saristisch-bonapartistische Heerkaiser-Perspektiven zuließ. Es war nicht zu-
letzt die Ambivalenz des Kaisertitels, die Wilhelm I. davor zurückschrecken
ließ; er klagte über das „Scheinkaisertum", das lediglich ein „Charakter-
major" sei, und glaubte, mit der Kaiserproklamation werde Preußen zu
Grabe getragen.
„Der Kanzler ist der Ansicht", so ein Mitarbeiter Bismarcks 1874 an den
Präsidenten des Reichskanzleramts, „die Haupthindernisse zur Konsolidie-
rung des Reichs lägen gerade in dem Jahrhunderte hindurch genährten
Partikularismus der einzelnen Bundesstaaten, und zwar wäre gerade der
preußische der Reichsidee am gefährlichsten, nicht nur weil Preußen der
mächtigste Staat und sein Monarch zugleich der Kaiser sei, sondern weil
gerade das Mißtrauen gegen partikulare preußische Bestrebungen ... die
Empfindlichkeit der übrigen Staaten schärfe und den Gegnern der Reichsidee
Hauptwaffen in die Hand liefere. Es gäbe keine wirksamere Idee im Sinne
der Feinde des Reichs als diejenige, das Reich als vergrößertes Preußen
darzustellen ... l < 1 Die Spannweite zwischen diesem Urteil Bismarcks und
dem Wilhelms I., „einem der entschlossensten Partikularisten unter den
deutschen Fürsten", 2 macht deutlich, wie schwierig die Einbettung des
preußischen Staats in das Deutsche Reich war. Bedeutete die Reichsgrün-
dung, wie die namentlich im preußischen Herrenhaus und um die Brüder
Gerlach versammelten preußischen Hochkonservativen fest glaubten und
Wilhelm I. fürchtete, die Auflösung Preußens in einen nationalliberalen
Einheitsbrei, „finis borussiae"? Oder hatten Sprecher des borussisch-klein-
3 Otto GIERKE, Das alte und das neue deutsche Reich. Vortrag gehalten zu Breslau
am 7. December 1873 ( = DZStrFr, H. 35), Berlin 1874, S. 19.
4 Heinrich TRIEPEL, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart
1938; E . R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... ( 3 1988) [39], S. 7 9 8 f f .
5 Carl SCHMITT, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsge-
dankens bis zum proletarischen Klassenkampf [1922], Berlin 4 1 9 7 8 , S. 18.
III. Preußens Stellung im Reichsgefüge 369
Vor allem zeigte sich im Laufe der Jahre eine allmähliche Machtverla-
gerung vom Bundesrat hinüber zum Reichstag, wo die großen Gesetzes-
werke in der Hauptsache entstanden; bereits die Ausdehnung der Reichs-
gesetzgebung auf das gesamte bürgerliche Recht, die in der Neufassung des
Bürgerlichen Gesetzbuchs vom 1. Januar 1900 gipfelte, zeigte diese Tendenz
an, und sie verstärkte sich in dem Maße, indem dem Reich neue Aufgaben
zuwuchsen; das war hauptsächlich in den ohnehin stark expandierenden
Bereichen der Wirtschafts-, Sozial- und Kolonialpolitik der Fall. Das Vo-
lumen des Reichshaushalts erweiterte sich zwischen 1871 und 1914 um mehr
als das siebenfache, das Personal der obersten Reichsämter nahm im gleichen
Zeitraum um das Achtfache zu: An solchen Zahlen, so wenig sie im
einzelnen besagen mögen, zeigt sich die Ausweitung der Reichspräsenz in
Verwaltung und Gesetzgebung, wie denn auch die Zahl und Bedeutung der
von den obersten Reichsämtern vorbereiteten Gesetzesvorlagen bereits in
den 1890er Jahren die entsprechende Tätigkeit der preußischen Ministerien
überstieg. Und gerade die Personalunion zwischen den Staatssekretären der
Reichsämter und preußischen Ministern, von Bismarck gefördert, um den
preußischen Einfluß auf die Reichspolitik zu sichern, wirkte sich im Laufe
der Zeit in der entgegengesetzten Richtung aus. Immer mehr Nichtpreußen
rückten in diese Ämter auf, so daß bereits von einer „Staatssekretarisie-
rung", einer Verreichlichung der Zusammensetzung des preußischen Staats-
ministeriums, gesprochen wurde; immerhin waren von den acht Kanzlern
des Kaiserreichs drei Süddeutsche, zwei von ihnen — Fürst von Hohenlohe
und Graf Herding — ehemalige bayerische Ministerpräsidenten.
So kam es zu einem langsamen, kaum merklichen Verfassungswandel, 8
zu einer Umschichtung der Machtgewichte zugunsten des Reichs, der
Reichsämter und des Reichstags, die mit einem allmählichen Verblassen der
borussischen Färbung der politischen Kultur Deutschlands einherging. 9 Bei
allen unbestreitbaren Wandlungstendenzen, die eher für eine Verreichli-
chung Preußens als für eine gegenläufige Entwicklung sprechen, ist aber
festzuhalten, daß die klassischen Machtreservate der alten preußischen
Führungsschichten in Armee, Bürokratie und Gesellschaft kaum angetastet
wurden; die schwerste verfassungspolitische Bürde des Reichs, das preußi-
sche Dreiklassen-Wahlrecht, sollte erst im Oktober 1918 fallen, unmittelbar
vor dem Sturz der Monarchie.
8
In der Betonung der Wandlungstendenzen geht am weitesten Manfred RAUH,
Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich ( = BGParl,
Bd. 47), Düsseldorf 1973; ähnlich: Ders., Die Parlamentarisierung... (1977) [225].
Die Kritik an diesen vorzüglich dokumentierten, aber gelegentlich allzu thesenhaft
zugespitzten Werken faßt in ausgewogener Weise zusammen Dieter LANGEWIE-
SCHE, Das Deutsche Kaiserreich. Bemerkungen zur Diskussion über Parlamen-
tarisierung und Demokratisierung Deutschlands, in: AfS, Bd. 19 (1979), S. 628 —
642; siehe auch Gerhard A. RITTER, Die deutschen Parteien 1830-1914. Parteien
und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985, S. 85 ff.;
Hagen SCHULZE, Preußen und das Reich ... (1982) [41], S. 1 6 6 - 172.
9
Vgl. Michael STÜRMER, Eine politische Kultur - oder zwei? Betrachtungen zur
Regierungsweise des Kaiserreichs, in: O. Hauser (Hg.), Zur Problematik „Preußen
und das Reich"... (1984) [223], S. 3 5 - 4 7 .
Das preußische Staatsministerium 1850-1872 371
§ 3 Anhang
Das preußische Staatsministerium 1850-1872 *
* Unter Verwendung von Aufstellungen aus: Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Ver-
fassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 31988,
S. 376 f.; vgl. Ders., A. a. O., Bd. 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Stuttgart
etc. 3 1988, S. 164.
372 § 6 Anhang
IV. Erstes Ministerium Bismarck (23. 9.18. 10. 1862 - 21. 12. 1872)
1. Ministerpräsident: v.Bismarck (23. 9. 1862 - 21. 12. 1872)
(9. 11. 1873-20. 3. 1890)
2. Außenminister: v. Bismarck (8. 10. 1862-20. 3. 1890)
3. Innenminister: Graf Eulenburg (9. 12. 1862-30. 3. 1878)
4. Finanzminister: a) v. Bodelschwingh (3. 10. 1862-1. 6. 1866)
b) v. d. Heydt (1. 6. 1866-26. 10. 1869)
c) Camphausen (26. 10. 1869-23. 3. 1878)
5. Handelsminister: Graf Itzenplitz (9. 12. 1862-13. 5. 1873)
6. Landwirtschaftsminister: v. Selchow (9. 12. 1862-14. 1. 1873)
7. Justizminister: a) Graf zur Lippe (17. 3. 1 8 6 2 - 5 . 12. 1867)
b) Leonhardt (5. 12. 1867-30. 10. 1879)
8. Kultusminister: a) v. Mühler (17. 3. 1862-17. 1. 1872)
b) Falk (23. 1. 1872 - 5. 7. 1879)
9. Kriegsminister: v. Roon (1. 12. 1858-9. 11. 1873)
10. Minister des Königl.
Hauses: v. Schleinitz (12. 10. 1861 - 1 9 . 2. 1885)
Anhang: Karten zum Abschnitt A 373
0 100km
ι ι
ÖSTERREICH
0 100 k m
1 I
LANDE
KGR.
UNGARISCHE
MONARCHIE
SCHWEIZ
100 km
KSRR.
BAYERN
UNGARISCHE
BJ9
MONARCHIE
Preußen 1866
Β. Große Themen
der preußischen Geschichte
I. Polen in der Geschichte Preußens
Von Klaus Z e r n a c k
Bibliographie
1. Bibliographien
Polen: [1] Haiina BACHULSKA, Bibliografia historii Polski. 1815 - 1 9 1 4 . Tom wstçpny,
Warszawa 1954; [2] Bibliografia historii polskiej za rok [bzw.: za lata] 1948 [1949
usw.], Krakow [bzw. Wroclaw usw.] 1952 ff. (verzeichnet jahrweise die seit 1948
neu erschienene historische Literatur); [3] Ludwik FINKEL, Bibliografya historii
polskiej, 3 Bde., Lwów [Bd. 2 - 3 : Krakow] 1 8 9 1 - 1 9 0 6 , Nachtr. 2, T. 1 [m.n.e.]
Krakow 1914 (ND Warszawa 1955), Bd. 1, bearb. von Karol Maleczynski, Lwów
2 1937 (erfaßt den Zeitraum bis 1815); [4] Günther FRANZ, Bücherkunde zur Welt-
geschichte vom Untergang des Römischen Weltreiches bis zur Gegenwart, München
1956 (darin der Abschnitt: Polen, bearb. von Herbert Ludat, S. 287 — 312);
[5] Stanislaw PtosKi [ab Bd. 2/2: Wladyslaw CHOJNACKI] (Hg.), Bibliografía historii
Polski X I X wieku, Bd. 1 - 2 (in 9 Bdn.), Wroclaw [usw.] 1 9 5 8 - 1 9 8 3 .
Ost- und Westpreußen: [9] Ernst WERMKE, Bibliographie der Geschichte von Ost-
und Westpreußen bis 1929, Königsberg 1933 (ND Aalen 1962); [10] Ernst W E R M K E ,
Bibliographie der Geschichte von Ost- und Westpreußen für die Jahre 1930 — 38,
Aalen 1964; [11] Ernst WERMKE, Bibliographie der Geschichte von Ost- und West-
preußen für die Jahre 1939 - 1 9 7 0 , Bonn - Bad Godesberg 1974; [12] Ernst W E R M K E ,
Bibliographie der Geschichte von Ost- und Westpreußen für die Jahre 1971 —1974
(WBtrOme, Nr. 109), Marburg/Lahn 1978.
Deutscher Orden: [13] Karl H. LAMPE, Bibliographie des Deutschen Ordens bis
1 9 5 9 ( = QStGDO, Bd. 3 ) , B o n n - B a d Godesberg 1 9 7 5 ; [ 1 4 ] Rudolf T E N H A A F ,
Kurze Bibliographie zur Geschichte des Deutschen Ordens 1198 — 1561, Kitzingen/
Main 1949.
Literatur Pommerns 1956 —1960 mit Nachträgen aus früheren Jahren ( = WBtrOme,
Nr. 67), Marburg/Lahn 1966; [17] Herbert RISTER, Geschichtliche und landeskund-
liche Literatur Pommerns 1961 —1970 mit Nachträgen aus früheren Jahren, 2 Bde.
( = WBtrOme, Nr. 98), Marburg/Lahn 1975/77; [18] Herbert RISTER, Geschichtliche
und landeskundliche Literatur Pommerns 1971 — 1976 mit Nachträgen aus früheren
Jahren ( = WBtrOme, Nr. 111), Marburg/Lahn 1979; [19] Herbert RISTER, Ge-
schichtliche und landeskundliche Literatur Pommerns 1977 —1980 mit Nachträgen
aus früheren Jahren ( = BiblOme, Nr. 2), Marburg/Lahn 1985; [20] Herbert RISTER,
Geschichtliche und landeskundliche Literatur Pommerns 1981 — 1984 mit Nachträgen
aus früheren Jahren ( = BiblOme, Nr. 4), Marburg/Lahn 1986; [21] Herbert RISTER,
Geschichtliche und landeskundliche Literatur Pommerns 1977 — 1980 und 1981 —
1984. Register ( = BiblOme, Nr. 6), Marburg/Lahn 1986; [22] Verzeichnis der
Schriften über Pommern ( = KatSchrdO, Bd. 3), Hannover 1964.
Schlesien: [23] Romuald GELLES/Jerzy PABISZ, Bibliografia historii Sl^ska za lata
1 9 4 5 - 1 9 7 5 , Wroclaw 1981; [24] Viktor LOEWE, Bibliographie der Schlesischen
Geschichte ( = SchlBibl, Bd. 1), Breslau 1927.
Posener Land: [25] Herbert RISTER, Schrifttum über Polen 1943 - 1 9 5 1 mit beson-
derer Berücksichtigung des Posener Landes (Auswahl) ( = WBtrOme, Nr. 10),
Marburg/Lahn 1953; [26] Herbert RISTER/Hans Moritz MEYER, Schrifttum über
Polen mit besonderer Berücksichtigung des Posener Landes 1952 —1953 und Nach-
träge (Auswahl) ( = WBtrOme, Bd. 20), Marburg/Lahn 1955; [27] Herbert RISTER/
Hans Moritz MEYER, Schrifttum über Polen mit besonderer Berücksichtigung des
Posener Landes 1 9 5 4 - 1 9 5 5 und Nachträge (Auswahl) ( = WBtrOme, Nr. 33),
Marburg/Lahn 1958; [28] Herbert RISTER, Schrifttum über Polen mit besonderer
Berücksichtigung des Posener Landes 1956 — 1958 und Nachträge (Auswahl), 2 Bde.
( = WBtrOme, Nr. 47/49), Marburg/Lahn 1958/60; [29] Herbert RISTER, Schrifttum
über Polen mit besonderer Berücksichtigung des Posener Landes 1959 — 1960 und
Nachträge (Auswahl) ( = WBtrOme, Nr. 75), Marburg/Lahn 1966; [30] Andrzej
Wojtkowski, Bibliografia historii Wielkopolski, 2 Bde., Poznan 1934/38.
Allgemein (bis zu den Teilungen): [32] Acta histórica res gestas Poloniae illustrantia
ab anno 1507 usque ad annum 1795, 13 Bde. (in 16 Bdn.), Krakow 1 8 7 8 - 1 9 0 8 ;
[33] Comte d'ANGEBERG, Recueil des traités, conventions et actes diplomatiques
concernant la Pologne 1 7 6 2 - 1 8 6 2 , Paris 1862; [34] Codex diplomaticus Maioris
Poloniae. Documenta et jam typis descripta et adhuc inedita complectens annum
1400 attingentia [Bd. 6 — 7: Kodex dyplomatyczny Wielkopolski], Bd. 1—5, Posna-
niae 1 8 7 7 - 1 9 0 8 , Bd. 6 - 7 ( = WydZKH, Bd. 18/19), Warszawa - Poznan 1982/85;
[35] Monumenta Poloniae Historica/Pomniki Dziejowe Polski, [Bd. 1—2: hg. von
Adam Bielowski], 6 Bde., Lwów [Bd. 4 - 6 : Krakow] 1 8 6 4 - 1 8 9 3 (ND Warszawa
1960 — 1961); [36] Volumina legum. Leges, statuta, constitutiones et privilegia Regnis
Poloniae, Magni Ducatus Lithuaniae omniumque provinciarum annexarum, a Com-
mitiis Visliciae anno 1347 celebratis usque ad ultima regnis comitia [ab Bd. 2:/
Prawa, konstytucye y przywileie Królestwa Polskiego, Wielkiego Xiçstwa Litew-
Bibliographie 379
Allgemein (seit den Teilungen): [37] Helmut BLEIBER/Jan KOSIM (Hg.), Dokumente
zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830—1832, Berlin 1982;
[38] Documenta occupationis Teutonicae [Bd. 5 — 7: Documenta occupationis], 7
Bde., Poznañ 1 9 4 5 - 1 9 5 9 ; [39] Enno MEYER (Hg.), Deutschland und Polen 1 7 7 2 -
1914 ( = QAhGP, H. 4263), Stuttgart 1972; [40] Enno MEYER (Hg.), Deutschland
und Polen 1 9 1 5 - 1 9 7 0 ( = QAhGP, H. 4264), Stuttgart 1971.
Deutscher Orden: [42] Karol GÓRSKI, Zwi^zek Pruski i poddanie siç Prus Polsce
( = BiblTH; Bd. 1), Poznan 1949; [43] Erich JoACHiM/Walther HUBATSCH (Hg.),
Regesta historico-diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum 1198 —1525,2 Teile
(in 4 Bdn.), Göttingen 1948 — 1950; [44] Lites ac res gestae inter Polonos Ordinemque
Cruciferorum, 3 Bde., hg. von Titus comes Dzialynski, Posnaniae 1855 —1856,
Supplementum quo continetur causa inter Vladislaum regem et Cruciferos anno
1320, Posnaniae 1880, Bd. 1 - 2 , hg. von Z[ygmunt] Celichowski, Posen 2 1890/92,
Bd. 3, hg. von Jadwiga Karwasinska, Warszawa 2 1935, Bd. 1, hg. von Helena
Chlopocka, Wroclaw 3 1970; [45] Preußisches Urkundenbuch [Bd. 1: Politische (all-
gemeine) Abtheilung], Bd. 1 / 1 - 3 / 1 , Königsberg 1 8 8 2 - 1 9 4 4 (ND Aalen 1961/62),
Bd. 3/2 — 6/1, Marburg 1958 — 1986; [46] Scriptores rerum Prussicarum. Die Ge-
schichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft,
Bd. 1 - 5 , Leipzig 1861 - 1 8 7 4 , Bd. 6, Frankfurt/M. 1968; [47] M[ax] TOEPPEN (Hg.),
Acten der Ständetage Preussens unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, 5 Bde.
( = ActStOWp, Bd. 1 - 5 ) , Leipzig 1 8 7 4 - 1 8 8 6 ; [48] Erich WEISE (Hg.), Die Staats-
verträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, 3 Bde. und
2 Registerbde., Bd. 1 [1939], Marburg/Lahn 2 1970, Bd. 2 - 3 und Registerbde.,
Marburg/Lahn 1955 - 1 9 6 9 .
Ost- und Westpreußen: [49] Akta Stanów Prus Królewskich / Acta Statuum terrarum
Prussiae Regalis), hg. von Marian Biskup und Karol Górski [Bd. 4 — 5: Marian
Biskup, Bd. 6 — 7: Marian Biskup und Irena Janosz-Biskupowa], Bd. 1—7 (in 11 Bdn.)
( = FonTo, Bd. 41, 43, 50, 54, 57, 59, 6 4 - 6 6 , 58, 71), Torun [bzw. (War-
szawa - )Poznan] 1955 - 1 9 8 6 ; [50] Stephan DoLEZEL/Heidrun DOLEZEL, Die Staats-
verträge des Herzogtums Preußen. T. 1: Polen und die Litauen. Verträge und
Belehnungsurkunden 1 5 2 5 - 1 6 5 7 / 5 8 ( = VAPrKb, Bd. 4), K ö l n - B e r l i n 1971;
[51] M[ax] PERLBACH (Hg.), Pommerellisches Urkundenbuch, Danzig 1882; [52] Die
preußischen Geschichtsschreiber des 16. und 17. Jahrhunderts, 5 Bde., Leipzig 1875 —
1896; [53] Franz THUNERT (Hg.), Acten der Ständetage Preussens Königlichen
Antheils (Westpreussen). Bd. 1: 1 4 6 6 - 1 4 7 9 , Danzig 1896 [m. η. e.].
Schlesien: [55] Codex diplomaticus Silesiae, 35 Bde., Breslau 1857 — 1930; [56] Karol
MALECZYNSKI [Bd. 2: /Anna Skowronska] (Hg.), Codex diplomaticus nec non
epistolaris Silesiae [Bd. 1: /Kodeks dyplomatyczny Slaska. Zbiór dokumentów i
listów dotycz?cych Sl^ska], 3 Bde., Wroclaw [Bd. 2 - 3 : Wratislaviae] 1956-1964;
[57] Schlesisches Urkundenbuch, Bd. 1-4, Köln-Graz 1971-1988;
[58] Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einfüh-
rung und Verbreitung deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Ober-
lausitz, Hamburg 1932.
3. Ausgewählte Sekundärliteratur
Preußen — Deutschland — Polen: [59] Marian BISKUP, Preußen und Polen. Grundlinien
und Reflexionen, in: JGO, N. F., Bd. 31 (1983), S. 1 - 2 7 ; [60] Martin B R O S Z A T ,
Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik [1963], Frankfurt/M. 21978; [61] Lothar
D R A L L E (Hg.), Preußen · Deutschland · Polen im Urteil polnischer Historiker. Bd. 1:
Millenium germano-polonicum ( = EvHKzB, Bd. 37), Berlin 1983; [62] Jerzy KRA-
S U S K I / G e r a r d L A B U D A / A n t o n i W . WALCZAK ( H g . ) , S t o s u n k i p o l s k o - n i e m i e c k i e w
historiografii. Studia ζ dziejów historiografii polskiej i niemieckiej, 2 Bde. ( = StNIZ,
Nr. 25/41), Poznan 1974/84; [63] Gerard LABUDA, Polska granica zachodnia. Tysi^c
lat dziejów politycznych [1971], Poznan 21974; [64] Andreas LAWATY, Das Ende
Preußens in polnischer Sicht. Zur Kontinuität negativer Wirkungen der preußischen
Geschichte auf die deutsch-polnischen Beziehungen ( = VHKzB, Bd. 63), Berlin 1986;
[65] Tadeusz LEPKOWSKI, Polska - narodziny nowoczesnego narodu 1764 — 1870,
Warszawa 1967; [66] Herbert LUDAT, Deutsch-slawische Frühzeit und modernes
polnisches Geschichtsbewußtsein. Ausgewählte Aufsätze, Köln —Wien 1969;
[67] Herbert LUDAT, Polen und Deutschland. Wissenschaftliche Konferenz polnischer
Historiker über die polnisch-deutschen Beziehungen in der Vergangenheit ( =
OhGwOe, R. 1, H. 1), Köln-Graz 1963; [68] Herbert LUDAT, Slaven und Deutsche
im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zu Fragen ihrer politischen, sozialen und
kulturellen Beziehungen ( = MF, Bd. 86), Köln-Wien 1982; [69] Werner M A R K E R T
(Hg.), Osteuropa-Handbuch Polen, Köln-Graz 1959; [70] Nationalgeschichte als
Problem der deutschen und der polnischen Geschichtsschreibung. XV. Deutsch-
Polnische Schulbuchkonferenz der Historiker 16. — 20. November 1982 in Braun-
schweig ( = SchrrGEI, Bd. 62/6), Braunschweig 1983; [71] Rex REXHEUSER, Die
Deutschen im Osten. Von der Ostbewegung im Mittelalter bis zu den Westverschie-
bungen im 20. Jahrhundert ( = LüVGOd, Bd. 2), Lüneburg 1986; [72] Stanislaw
SALMONOWICZ, Prusy. Dzieje pañstwa i spoleczenstwa, Poznan 1987; [73] Wolfgang
WIPPERMANN, Der „Deutsche Drang nach Osten". Ideologie und Wirklichkeit eines
politischen Schlagwortes ( = IdF, Bd. 35), Darmstadt 1981; [74] Zygmunt W O J C I E -
CHOWSKI, Polska — Niemcy. Dziesiçc wieków zmagania ( = PrIZ, Nr. 3), Poznan
1945; [75] Zygmunt WOJCIECHOWSKI, Rozwój terytorialny Prus w stosunku do ziem
macierzystych Polski, Torun 1939; [76] Klaus ZERNACK, Das Jahrtausend der
deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problem-
feld und Forschungsaufgabe, in: Wolfgang H. Fritze/Klaus Zernack (Hg.), Grund-
fragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen
( = EvHKzB, Bd. 18), Berlin 1976, S. 3 - 4 6 ; [77] Klaus ZERNACK, Die Geschichte
Preußens und das Problem der deutsch-polnischen Beziehungen, JGO, N. F., Bd. 31
(1983), S. 2 8 - 4 9 ; [78] Klaus ZERNACK, Osteuropa. Eine Einführung in seine Ge-
Bibliographie 381
schichte, München 1977; [79] Klaus ZERNACK, Preußen als Problem der osteuro-
päischen Geschichte, in: StHSG, Bd. 6 (1977), S. 31 - 4 8 .
Landesgeschichtliche Synthesen: [80] Historia Sl^ska, Bd. 1—3 (in 8 Bdn.), Wroclaw
1960-1985; [81] Gerard LABUDA (Hg.), Historia Pomorza, Bd. 1 - 2 (in 4 Bdn.),
Poznan 1969-1984; [82] Czestaw LUCZAK U. a. (Hg.), Dzieje Wielkopolski, Bd. 1 - 2 ,
Poznan 1969/73.
[102] Herbert LUDAT, Bistum Lebus. Studien zur Gründungsfrage und zur Entstehung
und Wirtschaftsgeschichte seiner schlesisch-polnischen Besitzungen, Weimar 1942;
[103] Ewa MALECZYÑSKA, Spoleczenstwo polskie pierwszej polowy XV wieku wobec
zagadnien zachodnich (Studia nad dynastyczn^ polityk^ Jagiellonów) ( = PrWrTN,
R. A, Nr. 5), Wroclaw 1947; [104] Die Rolle Schlesiens und Pommerns in den
deutsch-polnischen Beziehungen des Mittelalters (12. deutsch-polnische Schulbuch-
konferenz der Historiker vom 5. bis 10. Juni 1979 in Allenstein/Olsztyn)
( = SchrrGEI, Bd. 22/3), Braunschweig 1980; [105] Walter SCHLESINGER (Hg.), Die
deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte.
Reichenau-Vorträge 1970-1972 ( = VF, Bd. 18), Sigmaringen 1975; [106] Stanislaw
SMOLKA, Polska in Brandenburgia za czasów Jagielly, in: BiblWarsz, 1896, Bd. 2,
S. 1 - 1 7 ; [107] Benedykt ZIENTARA, Henryk Brodaty i jego czasy, Warszawa 1975.
17), Leipzig 1941; [127] Emanuel ROSTWOROWSKI, O polsk^ koronç. Polityka Francji
w latach 1 7 2 5 - 1 7 3 3 ( = PrKNH, Nr. 2), Wroclaw 1958; [ 1 2 8 ] Jacek STAS-
ZEWSKI, August III Sas, Wroclaw 1989; [129] Klaus ZERNACK, Das preußische
Königtum und die polnische Republik im europäischen Mächtesystem des 18.
Jahrhunderts ( 1 7 0 1 - 1 7 6 3 ) , in: Ders. (Hg.), Polen und die polnische Frage in der
Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701 — 1871. Referate einer deutsch-polni-
schen Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee
( = EvHKzB, Bd. 33), Berlin 1982, S. 4 - 2 7 .
[130] William W. HAGEN, The Partitions of Poland and the Crisis of the Old Regime
in Prussia 1772 - 1 8 0 6 , in: CEH, Bd. 9 (1976), S. 115 - 1 2 8 ; [131] Herbert H. KAPLAN,
The First Partition of Poland, New Y o r k - L o n d o n 1962; [132] Henryk Kocój,
Wielka Rewolucja Francuska a Polska. Zarys stosunków dyplomatycznych
polsko — francuskich w okresie Sejmu Wielkiego i powstania Kosciuszkowskiego,
Warszawa 1987; [133] Wladystaw KONOPCZYÑSKI, Fryderyk Wielki a Polska [1947]
( = PrIZ, Nr. 9), Poznan 2 1981; [134] Jan KOSIM, Pod pruskim zaborem: Warszawa
w latach 1 7 9 6 - 1 8 0 6 , Warszawa 1980; [135] Robert Howard LORD, The Second
Partition of Poland. A Study in Diplomatic History ( = HarvHSt, Bd. 23), Cam-
bridge/Mass. 1915; [136] Erhard MORITZ, Preußen und der Kosciuszko-Aufstand
1794. Zur preußischen Polenpolitik in der Zeit der Französischen Revolution
( = SchrrHUB, Bd. 11), Berlin 1968; [137] Michael G. MÜLLER, Die Teilung Polens
1 7 7 2 - 1 7 9 3 - 1 7 9 5 , München 1984; [138] Polen und Deutschland im Zeitalter der
Aufklärung. Reformen im Bereich des politischen Lebens, der Verfassung und der
Bildung. XIII. Deutsch-Polnische Schulbuchkonferenz der Historiker vom
27. Mai — 1. Juni 1980 in Münster/W. ( = SchrrGEI, Bd. 22/4), Braunschweig 1981;
[139] Jürgen-Peter RAVENS, Staat und katholische Kirche in Preußens polnischen
Teilungsgebieten ( 1 7 7 2 - 1 8 0 7 ) ( = VOelM, Bd. 21), Wiesbaden 1963; [140] Emanuel
ROSTWOROWSKI, Podbój Sl^ska przez Prusy a pierwszy rozbiór Polski, in: PH, Bd. 63
(1972), S. 3 8 9 - 4 1 2 ; [141] Marian Henryk SEREJSKI, Europa a rozbiory Polski,
Studium historiograficzne, Warszawa 1970; [142] Adelheid SIMSCH, Die Wirtschafts-
politik des preußischen Staates in der Provinz Südpreußen 1793 —1806/07
( = SchrWSG, Bd. 33), Berlin 1983; [143] Albert SOREL, La Question d'Orient au
XVIIIe siècle. Le Partage de la Pologne et le traité de Kaïnardji, Paris 1889; [144] Jan
W^SICKI, Ziemie polskie pod zaborem pruskim: Prusy Nowoschodnie 1795 — 1806
( = WydZKH, Bd. 20/1), Poznan 1963; [145] Klaus ZERNACK, Negative Polenpolitik
als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jahrhun-
derts, in: Uwe Liszkowski (Hg.), Rußland und Deutschland. Festschrift für Georg
von Rauch ( = KielHSt, Bd. 22), Stuttgart 1974, S. 1 4 4 - 1 5 9 .
e) 19. Jahrhundert ( 1 8 1 5 - 1 9 1 8 )
1815 — 1871: [153] Siegfried BASKE, Praxis und Prinzipien der preußischen Polen-
politik vom Beginn der Reaktionszeit bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in:
FOEG, Bd. 9 (1963), S. 7 - 2 6 8 ; [154] Peter BÖHNING, Die nationalpolnische Bewe-
gung in Westpreußen 1815— 1871. Ein Beitrag zum Integrationsprozeß der polni-
schen Nation ( = MOstf, Bd. 33), Marburg 1973; [155] Die deutsch-polnischen
Beziehungen 1831 — 1848: Vormärz uqd Völkerfrühling (11. deutsch-polnische Schul-
buchkonferenz der Historiker vom 16. bis 21. Mai 1978 in Deidesheim) ( = SchrrGEI,
Bd. 22/2), Braunschweig 1979; [156] Manfred LAUBERT, Die Verwaltung der Provinz
Posen 1 8 1 5 - 4 7 , Breslau 1923; [157] Witold MOLIK, Kszaltowanie siç inteligencji
polskiej w Wielkim Ksiçstwie Poznanskim (1841 — 1870), Warszawa — Poznan 1979;
[159] Karl Heink STREITER, Die nationalen Beziehungen im Großherzogtum Posen
(1815-1948) ( = GWZ, Bd. 71), Bern -Frankfurt/M. - N e w York 1986; [159] Maria
WAWRYKOWA, „Für eure und unsere Freiheit". Studentenschaft und junge Intelligenz
in Ost- und Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ( = SchrMPhF,
Nr. 10), Stuttgart 1985.
1871 -1918: [160] Werner CONZE, Polnische Nation und deutsche Politik im Ersten
Weltkrieg ( = OmeVG, Bd. 4), K ö l n - G r a z 1958; [161] Józef FELDMAN, Bismarck a
Polska [1937], Warszawa 1980; [162] Walther HUBATSCH, Masuren und Preußisch-
Litthauen in der Nationalitätenpolitik Preußens 1 8 7 0 - 1 9 2 0 , Marburg 1966;
[163] Rudolf JAWORSKI, Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Studien zur
Wirtschaftsgesinnung der Polen in der Provinz Posen (1871 — 1914) ( = KrStGw, Bd.
70), Göttingen 1986; [164] Joachim MAI, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885/
87. Eine Studie zur Herausbildung des Imperialismus in Deutschland ( = VHIGr,
Bd. 1), Berlin 1962; [165] Hans ROTHFELS, Bismarck, der Osten und das Reich
[Neuausg. 1960], Darmstadt 2 1962; [166] Lech TRZECIAKOWSKI, Kulturkampf w
zaborze pruskim, Poznan 1970; [167] Lech TRZECIAKOWSKI, Polityka polskich klas
posiad^jacych w Wielkopolsce w erze Capriviego (1890 — 1894), Poznan 1960;
[168] Hans-Ulrich WEHLER, Die Polen im Ruhrgebiet bis 1918 [1961], in: Ders.
(Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte ( = NWB, Bd. 10), Köln-Berlin Ί 9 7 0 ,
S. 437 - 455; [169] Hans-Ulrich WEHLER, Polenpolitik im Deutschen Kaiserreich, in:
Ders., Krisenherde des Kaiserreichs 1871 —1918. Studien zur deutschen Sozial- und
Verfassungsgeschichte, Göttingen M979, S. 184 - 202; [170] Hans-Ulrich WEHLER,
Sozialdemokratie und Nationalstaat. Nationalitätenfragen in Deutschland 1840 —
1914 [1962], Göttingen 2 1971; [171] Wojciech WRZESINSKI, Warmie i Mazury w
polskiej mysli politycznej 1 8 6 4 - 1 9 4 5 ( = RoMatOl, Nr. 90), Warszawa 1984.
moment eigener Art auf: Preußen hat als Staat zwischen den beiden Völkern
tief auf den geschichtlichen Charakter der deutsch-polnischen Beziehungen
eingewirkt.
Diese besondere Wirkung Preußens bekam nach dem Scheitern der Re-
volution von 1848 durch den preußischen Weg zur deutschen Einigung eine
neue Qualität. Denn die preußisch-kleindeutsche Lösung der deutschen
Frage bewahrte Preußens Grenzen im Osten und war somit auf die Nicht-
lösung der polnischen Frage, das heißt auf die Perpetuierung der Teilung
Polens, gegründet. Dabei gewann nach 1866 jenes Moment, durch das sich
die Hohenzollernmonarchie von dem aus Deutschland verdrängten Rivalen
Österreich grundlegend unterschied, zunehmend an Gewicht: Preußens Ver-
zicht auf das föderative Prinzip bei der Regelung der Nationalitätenpro-
bleme. Mit der Bewahrung der territorialen Grundlagen des preußischen
Teilungsstaates von 1815 wurden diese dem jungen Deutschen Reich als
Erblast aufgebürdet; zugleich war man bestrebt, die nationalen Gegensätze
unter der preußisch-deutschen Krone zu überspielen. Seit 1871 stand somit
der Staat Preußen nicht mehr wie vorher als eine halbwegs „objektive"
Obrigkeit über seinen Landeskindern, sondern er war nun das Instrument
eines imperialen und integrativen Nationalismus der Deutschen. Die Polen
konnten dem nur ihren immer entschiedeneren, nunmehr schnell breitere
Volksschichten erfassenden, funktionalen Nationalismus entgegenstellen.
Dieser bedeutete - trotz allen sozialen Spannungen - Bekenntnis und
Kampf für die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit in der
Orientierung an der 1772 bis 1795 aufgeteilten Republik.
In Übereinstimmung damit entwickelte sich auch im historischen Denken
der Polen und ihrer Geschichtswissenschaft ein Verständnis der eigenen
Geschichte, das die Einwirkungen preußischer Politik in wachsendem Maße
zur Erklärung des Ganzen in Betracht zog. Bald standen die kleindeutsche
Sicht vom „deutschen Beruf" Preußens und die polnische Auffassung von
der jahrhundertelangen tödlichen Bedrohung Polens durch Preußen unver-
bunden und um so unversöhnlicher einander gegenüber, je mehr sich der
aktuelle nationale Antagonismus der Deutschen und der Polen im Zeitalter
der Weltkriege zur Katastrophe zuspitzte. Vieles davon wirkt bis heute nach
und wird in Polen bewußter und radikaler auch für die Deutung der Lage
in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg in Anspruch genommen. In
der deutschen Öffentlichkeit und auch weithin in der deutschen Geschichts-
wissenschaft — das heißt für die Zeit von 1949 bis 1990: in beiden deutschen
Staaten - herrschte dagegen eher Irritation über die Radikalität der histo-
rischen Denkweise der Nachbarnation. 1 Immerhin ist der fachwissenschaft-
liche Kontakt zwischen den deutschen und polnischen Historikern inzwi-
schen intensiver als je zuvor, und es beginnen sich Übereinstimmungen im
1 Ausführlicher behandelt sind diese Fragen in zwei Aufsätzen, die hier zusam-
menfassend wiedergegeben werden: K. ZERNACK, Die Geschichte Preußens...
(1983) [77] sowie ders., Das Preußenproblem in der Geschichte Polens, in:
Manfred Schlenke (Hg.), Preußen. Beiträge zu einer politischen Kultur ( = PrVB,
Bd. 2), Reinbek bei Hamburg 1981, S. 3 2 2 - 3 3 4 .
§ 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen 387
2 Diese Feststellung wird auch nicht widerlegt durch die Beobachtungen sozial-
wissenschaftlicher Forschungen an den „Einstellungsmustern" jüngerer Bevöl-
kerungsgruppen, da bei diesen die historische „Erblast" eher beiseite gelegt als
reflektiert wird. Häufig gilt das auch schon für die Standortgebundenheit der
Fragesteller selbst, vgl. etwa Dieter BINGEN, Die Bonner Deutschlandpolitik
1969 - 1 9 7 9 in der polnischen Publizistik ( = DokDlp, Beih. 5), Frankfurt/M.
1982.
3 Zentrale Texte der polnischen Historiographie, an denen die Entwicklung dieser
Einsichten deutlich wird, liegen in deutscher Übersetzung vor: L. DRALLE (Hg.),
Preußen · Deutschland • Polen... (1983) [61]. S. dazu die Rezension von Gotthold
RHODE in: Z f O , B d . 3 2 ( 1 9 8 3 ) , S. 2 8 3 - 2 8 7 , die, bei a l l e r B e r e c h t i g u n g d e r K r i t i k
in den Einzelpunkten, den fälschlichen Eindruck erweckt, als gäbe es keine
konzeptionelle Grundlage einer solchen Textsammlung. Nun kann man die in
der Einleitung dieses Bandes vorgetragene Auffassung vom Gang der Problem-
geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, die der tragende Grund gerade
dieser Textauswahl ist, natürlich ablehnen. Doch müßte dies dann auch gesagt
und begründet werden. Eine grundsätzliche Debatte darüber wäre gewiß lohnend
und auch in Deutschland an der Zeit. — Die instruktivste Zusammenfassung
der polnischen Sicht findet sich bislang bei G. LABUDA, Polska granica zachod-
nia... ( 2 1974) [63] (Die polnische Westgrenze. Tausend Jahre politische Ge-
schichte); Ders., Die Revision der Geschichte Preußens - Errungenschaften und
Forschungspläne [poln. 1971], in: L. DRALLE (Hg.), Preußen · Deutschland ·
P o l e n . . . ( 1 9 8 3 ) [ 6 1 ] , S. 1 5 1 - 1 7 0 ; f e r n e r M . BISKUP, P r e u ß e n u n d P o l e n . . . ( 1 9 8 3 )
[59], Von deutscher Seite s. K. ZERNACK, Das Jahrtausend der deutsch-polnischen
Beziehungsgeschichte... (1976) [76].
388 § 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen
am stärksten verkörpert gewesen. 4 Bis 1945 war diese Sicht in der polnischen
Historiographie vorherrschend. Sie hat auch Nachwirkungen über diese
Zeitgrenze hinaus. 5
Eine derart grundsätzliche Negativität in der Sicht auf Preußen hat
Gründe, die tief in der Geschichte liegen. Sie bedürfen der Aufdeckung,
auch über die schon eingangs angedeuteten Zusammenhänge mit der preu-
ßisch-deutschen Nationalstaatsgeschichte hinaus. Bei genauerem Rückblick
— das heißt einer beziehungsgeschichtlichen Reflexion auf den Jahrtau-
sendprozeß — wird man für die Geschichte des historisch-politischen Den-
kens in Polen in Betracht zu ziehen haben, daß die negativen Elemente in
der Preußeneinstellung sich zu entwickeln begannen als Reaktion auf das,
was man als eine grundsätzlich „negative Polenpolitik" auf preußischer
Seite bezeichnen muß. Diese bereitete sich mit dem Durchbruch des Abso-
lutismus in Brandenburg — Preußen vor, formierte sich zu einem System
preußischer Politik aber erst in der Annäherung Preußens an den neuen
großen aufsteigenden Machtfaktor im Osten des Kontinents, an Rußland.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entfaltete sich eine intensive preußisch-
russische, bald auch österreichisch-russische Kooperation, durch die das
alte Staatensystem der frühen Neuzeit mit seinen bestimmenden Mächte-
faktoren im Osten, der Republik Polen und dem schwedischen Ostseeim-
perium, in die Krise geriet. 1772 ist aus diesem Konstellationswandel die
erste Teilung Polens hervorgegangen. 6
Als Antwort auf diese setzte in Polen eine intensive Reflexion über die
politische Lage der Republik ein, und in dieser politischen Krisendebatte,
die die theoretische Auseinandersetzung mit dem Absolutismus Preußens,
Österreichs und Rußlands aufnahm, bildete sich im politischen Vorstel-
lungshorizont der Führungsschichten der Republik Polen ein moderner
Nationsbegriff aus. Er fand frühzeitig seine konkrete Formulierung in der
ältesten Verfassungsurkunde der europäischen Geschichte, der Konstitution
vom 3. Mai 1791. Doch dieser Erfolg einer nichtabsolutistischen Moder-
nisierung aus altrepublikanischer Tradition koinzidierte mit der gewaltsa-
men Auflösung des soeben konstitutionell erneuerten alten Staates durch
die Intervention der drei Nachbarmächte. Aber weil dieser Staat seine
republikanische Regenerations- und Modernisierungsfähigkeit gerade unter
Beweis gestellt hatte, knüpfte die nationale Bewegung im geteilten Polen
gefehlt. Erst seit 1987 gibt es den Versuch einer modernen Synthese der preußi-
schen Geschichte aus polnischer Sicht von S. SALMONOWICZ, Prusy... (1987) [72]
(Preußen. Geschichte des Staates und der Gesellschaft). Daß ein solcher Versuch
beim heutigen Stand der geschichtswissenschaftlichen Debatte auch in Polen
nicht nur auf Zustimmung stößt, zeigt die ausführliche Kritik von Bogdan
§ 1 Einleitung: Polnisches Geschichtsdenken über Preußen 391
9 Dieser Probleme hat sich vor allem die moderne polnische Mediävistik angenom-
men, s. H . towMiAÑSKi, Stosunki polsko-pruskie... (1950) [97] (Die polnisch-
prußischen Beziehungen unter den ersten Piasten); J . POWIERSKI, Stosunki polsko-
pruskie... (1968) [99] (Die polnisch-prußischen Beziehungen bis 1230).
10 Für die Ausbildung des frühesten Nationalbewußtsein der polnischen Führungs-
schicht war dies gewiß von größter Bedeutung; vgl. F. GRAUS, Die Nationenbil-
dung der Westslaven... (1980) [83], S. 64 ff.; Klaus ZERNACK, Die deutsche Nation
zwischen West und Ost. Probleme und Grundzüge, in: Nationalgeschichte als
Problem... (1983) [70], S. 6 7 - 8 0 , hier S. 6 9 f f .
11 Allgemein B. ZIENTARA, Henry Brodaty ... (1975) [107] (Heinrich der Bärtige
und seine Zeit), S. 13 ff.; zur West-Ost-Bewegung s. den internationalen Sam-
melband: W. SCHLESINGER (Hg.), Die deutsche Ostsiedlung... (1975) [105]; von
Walter KUHNS zahlreichen Studien nenne ich nur den wertvollen Sammelband
II. Polnische Teilfürsten — M a r k Brandenburg - Ordensstaat 395
der anderen Zeitstellung und der viel längeren Dauer der Neustammbildung 1 9
- sehr weitgehend. Die beiden historischen Keimzellen der preußischen Ge-
schichte, die M a r k Brandenburg und das Ordensland Preußen, sind also als
typische Produkte des hochmittelalterlichen Kolonisations- und Kulturvor-
gangs und seiner starken Wandlungsdynamik anzusehen.
Als solche sind sie auch im Polen der Teilfürstenepoche, also nach 1138,
verstanden worden. Die Beziehungen der polnischen Fürsten zu ihren N a c h -
barlandschaften standen im 13. Jahrhundert ganz im Zeichen der großen
west-östlichen Akkulturationsvorgänge, denen sich selbstverständlich auch
die polnischen Teilfürstentümer öffneten. Weder die Überlassung des Kul-
merlandes als Territorialglacis für die Pazifikationstätigkeit des Deutschen
Ordens durch Herzog Konrad von M a s o w i e n 2 0 noch die Abtretung des
Landes Lebus durch die schlesischen Teilfürsten an die Markgrafen von
Brandenburg um 1 2 5 0 2 1 konnten in den Teilfürstentümern Polens als Ver-
sagen gegenüber den Aufgaben polnischer Gesamtstaatspolitik eingeschätzt
werden, so wie spätere, nationalgeschichtlich urteilende Historiker dies
angesehen h a b e n . 2 2 Die ostdeutsche Territorienbildung dieses Zeitalters hat
zweifellos zu Grenzverschiebungen geführt, die sich nur in der Perspektive
einer nationalgeschichtlichen Teleologie als resignierende Z u r ü c k n a h m e der
polnischen Positionen an Oder und Weichsel oder gar als Indiz für den der
deutschen Geschichte in die Wiege gelegten „Drang nach Osten" in An-
spruch nehmen lassen. 2 3
19 Reinhard WENSKUS, Der deutsche Orden und die nichtdeutsche Bevölkerung des
Preußenlandes mit besonderer Berücksichtigung der Siedlung, in: W. SCHLESINGER
(Hg.), Die deutsche Ostsiedlung... (1975) [105], S. 417 - 438.
20 In der Frage der Echtheit des sog. Kruschwitzer Privilegs von 1230 wird die
Fälschung der Urkunde durch den Deutschen Orden inzwischen nicht mehr in
den Kategorien von Anklage (polnischerseits) und Apologie (deutscherseits) be-
urteilt, s. zuletzt H. BOOCKMANN, Der Deutsche Orden... (1981) [95], S. 80ff.,
sowie Gerard LABUDA, Die Urkunden über die Anfänge des Deutschen Ordens
im Kulmerland und in Preußen in den Jahren 1226 — 1235, in: Josef Fleckenstein/
Manfred Hellmann (Hg.), Die geistlichen Ritterorden Europas ( = VF, Bd. 26),
Sigmaringen 1980, S. 2 9 9 - 3 1 6 , hier S. 312 ff.; M . BISKUP/G. LABUDA, Dzieje
Zakonu Krzyzackiego... (1986) [94], S. 126ff.
21 B. STASIEWSKI, Kirchengeschichtliche Beiträge... (1955) [90], S. 46; Gerard LA-
BUDA, Przynaleznosc terytorialna Ziemi Lubuskiej w XII i XIII wieku (Die
territoriale Zugehörigkeit des Lebuser Landes im 12. und 13. Jahrhundert), in:
RoH, Bd. 35 (1969), S. 1 9 - 3 2 .
22 Vgl. Klaus ZERNACK, Brandenburgische Landesgeschichte in der polnischen Ge-
schichtswissenschaft, in: Geschichte und Verfassungsgefüge. Frankfurter Festgabe
für Walter Schlesinger ( = FrankfhAbh, Bd. 5), Wiesbaden 1973, S. 1 - 3 1 , hier
S. 22f.; W.WIPPERMANN, Der Ordensstaat als Ideologie... (1979) [101], S. 357f.;
s. dazu generell die Kontroverse zwischen Marian BISKUP und Wolfgang WIP-
PERMANN in: J G O , N. F., Bd. 31 (1983), S. 1 1 9 - 1 3 5 .
23 Das Gewicht der nationalgeschichtlich reklamierbaren Aspekte ist in der Fach-
diskussion namentlich über den Deutschen Orden inzwischen erheblich relativiert
worden, s. deutscherseits H. BOOCKMANN, Der Deutsche Orden... (1981) [95];
für die aktuelle polnische Forschung vgl. den Sammelband U. ARNOLD/M. BISKUP
(Hg.), Der Deutschordensstaat Preußen... (1982) [93],
398 § 2 Prolog: Zeitalter der Piastenmonarchie (10. bis 14. Jh.)
Dabei kann gewiß das Faktum nicht bestritten werden, daß die beiden
Keimzellen der späteren preußischen Geschichte ihre geschichtliche Lebens-
bahn als expandierende Territorialstaaten auf der Hochwelle des Koloni-
sationszeitalters an den westlichen Grenzen der polnischen Teilfürstentümer
begonnen haben. Stärker aber als diese, die in der Tradition des Piasten-
staates standen, waren die Mark Brandenburg und das Ordensland Neu-
bildungen der Kolonisation im Heidenland und hatten alle Kräfte des Neuen
auf ihrer Seite. So gibt es objektive Gründe für die größere Expansionsdy-
namik der neuen Territorialstaaten. Es müssen also die Wirkungsgrade der
hochmittelalterlichen Kolonisation in Ostmitteleuropa unterschieden wer-
den, je nachdem, ob der materielle Modernisierungsprozeß auf die heidni-
schen Randzonen und Nachbargebiete der christlichen Fürstentümer oder
auf diese selbst stieß. 24 In den polnischen Teilfürstentümern formierte sich
bald eine deutliche Abneigung des Adels in seiner allodialen Besitzstruktur
gegen das emphyteutische ius teutonicum.
standen denn auch die Zeichen der Außenpolitik des restituierten Königtums
nach 1320 auf Eindämmung der ordenspreußischen 2 6 wie der brandenbur-
gischen Expansionskraft. Die Diplomatie Kasimirs des Großen (1333 —1370)
hatte dabei in bezug auf Brandenburg beachtliche Erfolge zu verzeichnen,
sie war ein Angelpunkt plastischer Westpolitik. An der östlichen Peripherie
der Marchia transoderana - wie die N e u m a r k in den Quellen der Zeit
heißt — konnte die Grenze Großpolens für kurze Frist wieder nach Westen
verschoben werden, und nördlich der Netze traten die ehemals pomorani-
schen Gebiete zwischen Drage und Kiiddow (um Deutsch-Krone) auf lange
Zeit wieder unter polnische Herrschaft. 2 7 Die polnische Wissenschaft inter-
pretiert diese Vorgänge wie schon traditionellerweise auch weiterhin als
großen westpolitischen Abwehrerfolg der wiedererstarkten plastischen M o -
narchie, der es damit gelungen sei, den Riegel deutscher Herrschaft in der
territorialen Verbindung zwischen der brandenburgischen N e u m a r k und
dem Staat des Deutschen Ordens zu durchbrechen und die unmittelbare
Grenznachbarschaft Polens zu den pommerschen Herzögen zum politischen
Nutzen beider wiederherzustellen. 2 8 M a n wird den nationalgeschichtlichen
Akzent nicht überhören können und dennoch konstatieren, daß diese Blick-
richtung eine eingehende und kritische territorialgeschichtliche Erörterung
auch in der deutschen Ostmitteleuropaforschung, die bisher kaum stattge-
funden hat, erfordert, 2 9 denn hier sind grenzpolitische Entscheidungen ge-
fallen, die für mehrere Jahrhunderte von Dauer waren.
Polen auf einen weiteren Faktor setzen: auf die Attraktivität seines Privi-
legiensystems für die Aristokratien in den Nachbarländern. Nicht allein die
litauisch-westrussischen Bojaren haben dies sofort erkannt, 9 auch im Adel
Ordenspreußens, nämlich bei den Kulmerländern, entstand schon bald ein
oppositioneller „Bund der Eidechsen", der sich nach Polen orientierte. 1 0
Die Erschütterung des Ordensstaates als Folge der neuen Machtverhältnisse
in Ostmitteleuropa war evident, und der große Krieg von 1409 bis 1411, in
den ihn Litauen geschickt hineinsteuerte, führte 1410 bei Tannenberg zu
der bis dahin größten Niederlage der Ordensstreitmacht. 1 1 Trotz dem über-
raschend günstigen Friedensschluß in T h o r n 1411 und trotz der erfolgrei-
chen Abwehr der polnischen Forderungen nach einem Verbot des Heiden-
kampfes auf dem Konstanzer Konzil 1 2 standen die Zeichen der Zeit gegen
das Ancien Régime im Preußenland. Die Hochmeister konnten die Kriegs-
folgen nicht mehr ohne die wirtschaftliche Hilfe ihrer weltlichen Untertanen,
das heißt des Dienstadels und der Städte, beheben, weigerten sich aber,
dafür ständische Rechte in Gestalt von Herrschaftsbeteiligung einzuräumen.
Und wie die Stände in den Königstaaten Ostmitteleuropas die Dynastiekri-
sen in ihren Ländern zu nutzen verstanden, so wußten auch die Prälaten,
Ritter und Städte im Ordensland aus der Zwangslage ihrer Regierung
Vorteile zu ziehen. 1 3 Der politische Druck von unten auf den Orden als
Landesherrschaft hörte nicht mehr auf.
Immer deutlicher spürbar setzte sich also seit dem ersten Thorner Frieden
die Erfolgslinie polnischer Politik — mit ihrem Ziel der territorialen Revi-
sion an der Ostsee und mit der gleichsam selbstläufigen Ausstrahlung des
polnischen Verfassungsmodells in ganz Ostmitteleuropa - in der Ausein-
andersetzung mit Ordenspreußen durch. In dem preußischen Aufstand von
1454, dem Abfall der Stände Preußens von ihrem Landesherrn und der
Wahl König Kasimirs IV. von Polen zum neuen Oberhaupt, war das Ma-
ximum polnischer Vorstellungen erreicht. Sie konnten in diesem Umfang
nicht gehalten werden. Aber der adelsdemokratische Verfassungsgedanke,
bürgerliches Geld und polnische Kriegführung zwangen dem Ordensstaat
im zweiten Thorner Frieden 1466 eine umfassende territoriale Reduktion
und eine schon damals tiefwirkende Verfassungsänderung auf. 1 4 Die An-
passung des prä-absolutistischen Ausnahmestaates an die politische Kultur
Ostmitteleuropas war gelungen.
Zugleich war eine Epochenwende in den polnisch-ordenspreußischen
Beziehungen eingetreten. Sie fand ihren nach außen erkennbaren Ausdruck
in dem Übergang der Marienburg an Polen. Von 1309 bis zu den Friedens-
regelungen von 1466 war sie der Sitz der Hochmeister des Deutschen Ordens
gewesen, von nun an sollte sie bis zur ersten Teilung Polens, also fast
doppelt so lange, polnisches Königsschloß sein. 15 Das polnisch-litauisch-
preußische Jagiellonenreich aber näherte sich nach dem Sieg über den
Deutschen Orden seinem Goldenen Zeitalter; der von Wiederaufbaube-
dürfnissen absorbierte Reststaat des geistlichen Ritterordens geriet mehr
noch als vor 1466 in den Sog des mächtigen Nachbarn und vollendete unter
den fürstlichen Hochmeistern Friedrich von Sachsen (1498 — 1510) und
andersetzung zwischen dem Deutschen Orden und Polen — Litauen um die Ra-
tifizierung des Friedensvertrages vom Melno-See 1422/1423, in: JGO, N. F.,
Bd. 31 (1983), S. 5 0 - 8 0 ; Karol GÓRSKI, Die Anfänge der ständischen Vertretung
der Ritterschaft im Ordensland Preußen im 15. Jahrhundert, in: U. A R N O L D /
M. BISKUP (Hg.), Der Deutschordensstaat Preußen... (1982) [93], S. 2 1 8 - 2 3 6 .
14 Die umfangreiche polnische und deutsche Forschung wird übersichtlich referiert
bei Marian BISKUP, Die Erforschung des Deutschordensstaates Preußen. For-
schungsstand-Aufgabe-Ziele, in: a . a . O . , S. 1 - 3 5 , hier S. 18 — 20.
15 Der Symbolwert ist daher für die preußische wie für die polnische Geschichte
hoch zu veranschlagen, was die borussische Legende, die die Rekonstruktion im
19. Jahrhundert getragen hat, geflissentlich übersehen hat; vgl. Hartmut B O O C K -
MANN, Das ehemalige Deutschordensschloß Marienburg 1772 — 1945. Die Ge-
schichte eines politischen Denkmals, in: Ders. u. a. (Hg.), Geschichtswissenschaft
und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer For-
schung in Deutschland ( = V M P I G , Bd. 1), Göttingen 1972, S. 9 9 - 1 6 2 ;
S. EKDAHL, Denkmal und Geschichtsideologie... (1986) [172], S. 128 —155. -
Eine vergleichsweise kritische Analyse der zeitpolitischen Prämissen beim pol-
nischen Wiederaufbau der Marienburg nach dem Zweiten Weltkrieg wäre loh-
nend, vgl. dazu z. B. die methodisch analoge Fragestellung in der Untersuchung
von Jürgen VIETIG, Die polnischen Grunwaldfeiern der Jahre 1902 und 1910, in:
Wolfgang H. Fritze (Hg.), Germania Slavica, Bd. 2 ( = BHSt, Bd. 4), Berlin 1981,
S. 237 - 262.
404 § 3 Polen — Litauen und der Niedergang des Ordensstaates in Preußen
16 Lothar DRALLE, Der Staat des Deutschen Ordens in Preußen nach dem II. Thorner
Frieden. Untersuchungen zur ökonomischen und ständischen Geschichte Alt-
preußens zwischen 1466 und 1497 ( = FrankfHAbh, Bd. 9), Wiesbaden 1975;
Marian BISKUP, Das Ende des Deutschen Ordensstaates Preußen im Jahre 1525,
in: Josef Fleckenstein/Manfred Hellmann (Hg.), Die geistlichen Ritterorden Eu-
ropas ( = V F , Bd. 26), Sigmaringen 1980, S. 403 —416; Ders., Polska a Zakon
Krzyzacki w Prusach w pocz^tkach XVI wieku. U zródeí sekularyzacji Prus
Krzyzackich (Polen und der Deutsche Orden in Preußen in den Anfängen des
16. Jahrhunderts), Olsztyn 1983.
17 Am ergiebigsten sind dafür die Arbeiten Benedykt ZIENTARAS, vor allem seine
Untersuchung Die Agrarkrise in der Uckermark im 14. Jahrhundert [poln. 1961],
in: Evamaria Engel/Benedykt Zientara (Hg.), Feudalstruktur, Lehnbürgertum
und Fernhandel im spätmittelalterlichen Brandenburg ( = AbhHdlSG, Bd. 7),
Weimar 1967, S. 223 —396). Zu Zientaras weiteren einschlägigen Arbeiten s.
Klaus ZERNACK, Deutschlands Osten — Polens Westen. Zum Lebenswerk des
polnischen Mediävisten Benedykt Zientara (1928-1983), in: J G M O D , Bd. 33
(1984), S. 9 2 - 1 1 1 .
18 Einen Grundriß gab schon 1896 S. SMOLKA, Polska i Brandenburgia... (1896)
[106],
19 Zenon NOWAK, Polityka pólnocna Zygmunta Luksemburskiego do roku 1411
(Die Nordpolitik Sigismunds von Luxemburg bis 1411) ( = RTor, Bd. 69/1), Torun
1964; s. auch NOWAKS o., Anm. 8, genannte Studien. — Die Neumark-Verpfän-
dung an den Deutschen Orden und ihre Auswirkungen auf die polnische Politik
behandeln: Wiktor FENRYCH, Pròba nabycia Nowej Marchii przez Polskç w roku
1402 (w swietle dokumentu Sçdziwoja ζ Szubina i towarzyszy ζ dn. 14 lutego t.
r.) (Der Versuch zur Erwerbung der Neumark durch Polen 1402), in: ZNUPH,
Bd. 3 (1958), S. 69—117; Ders., Zabiegi Polski o nabycie Nowej Marchii w latach
1402 — 1411 (Polens Bemühungen um die Erwerbung der Neumark 1402—1411),
in: Antoni Horst u. a. (Hg.), Opuscula Casimiro Tymieniecki Septuagenario
dedicata, Poznan 1959, S. 3 7 - 5 8 . Zur Pommern-Politik Benedykt ZIENTARA,
Bydgoszcz, Naklo i hold w Pyzdrach. Ksiçstwo Slupskie a Polska w latach 1386 —
I. Polen, Lehnspreußen und die fränkische Linie (1525 — 1618) 405
1412 (Bromberg, Nakel und die Huldigung in Peisern. Das Fürstentum Stolp und
Polen in den Jahren 1388 - 1 4 1 2 ) , in: ZH, Bd. 34 (1969), S. 7 - 4 8 , mit Korrekturen
an Wiktor FENRYCH, Zwi^zki Pomorza Zachodniego ζ Polsk^ w latach 1370 —
1412 (Verbindungen Pommerns mit Polen 1370-1412) ( = BiblSlu, Bd. 10), Poz-
nan 1963; ferner Henryk LESIÑSKI, Udzial wojsk polskich w wojnach Pomorza
Zachodniego ζ Brandenburgia w latach 1419 —1427 (Die Teilnahme polnischer
Truppen an den Kriegen Pommerns mit Brandenburg 1413 —1427), in: ZH, Bd. 27
(1962), S. 5 2 3 - 5 3 9 .
20 Stanislaw GAWÇDA, Pròba osadzenia Fryderyka Hohenzollerna na ironie polskim
a sprawa pomorska (Der Versuch, Friedrich von Hohenzollern auf den polnischen
Thron zu bringen, und die pommersche Frage), in: Mediaevalia. W 50 rocznicç
pracy naukowej Jana D^browskiego, Warszawa 1960, S. 177 — 205; doch eröffnen
die Anregungen S. SMOLKAS (Polska i Brandenburgia... (1896) [106] und Jacob
CAROS (Geschichte Polens, Bd. 3 [1386 - 1 4 3 0 ] [ = G E S t , L f g . 35/1], G o t h a 1869),
noch ein weites Arbeitsfeld; allgemein s. E. MALECZYÑSKA, Spoleczenstwo pols-
kie... (1947) [103] (Die polnische Gesellschaft in der ersten Hälfte des 15. Jh.
und die Westprobleme. Studien zur dynastischen Politik der Jagiellonen).
21 Hieronim SzczEGÓtA, Koniec panowania piastowskiego nad srodkow^ Odr$
(Das Ende der plastischen Herrschaft an der mittleren Oder), Poznan 1968.
406 § 4 Polen - Lehnspreußen - Haus Hohenzollern (1525 - 1 7 0 1 )
waren, nämlich die Einrichtung der Universität Königsberg und die kon-
sequente Weiterführung des Landesausbaus in der preußischen Wildnis, der
schon in der Ordenszeit begonnen hatte.
Die Universitätsgründung von 1544 gab dem Protestantismus in ganz
Ostmittel- und Nordosteuropa ein Z e n t r u m von hohem Rang; denn nicht
nur die preußische Reformation selbst, auch die pommerellischen, polnisch-
litauischen und livländischen reformatorischen Gruppen fanden hier ihren
geistigen H a l t . 5 Vor allem bezeugt der Druck der Reformationsliteratur in
praktisch allen Sprachen des Jagiellonenreichs die große Bedeutung der
preußischen Universitätsstadt. Für das Litauische und das Prußische waren
die Übersetzungen von Luthers Katechismus die ersten gedruckten Bücher.
Der Landesausbau in der Wildnis mit Hilfe von Siedlern aus Masowien
hat vor allem die ethnodemographischen Wandlungen in Preußen um eine
wichtige Komponente bereichert. 6 Neben dem deutschen N e u s t a m m der
Preußen festigte sich hier in den südlichen Teilen des Herzogtums das
polnischsprachige masurische Bevölkerungselement, dessen politisch-kul-
turelles Preußen-Bewußtsein seit der Reformation die sprachliche Sonder-
stellung überdeckte. (Das galt naturgemäß nicht für das Gebiet des Fürst-
bistums Ermland, das seit 1466 zum Preußen königlichen Anteils gehörte.)
Somit hat das 16. Jahrhundert in Preußen den ethnodemographischen
N e u s t a m m der Preußen in einen — größeren — politisch-territorialen
erweitert.
7 Auf der Grundlage der modernen Forschung argumentiert Peter KRIEDTE, Spät-
feudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsge-
schichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1980, S. 39 ff.,
201 f. - S. auch Hans ROSENBERG, Die Ausprägung der Junkerherrschaft in
Brandenburg — Preußen 1410 — 1618, in: Ders., Machteliten und Wirtschaftskon-
junkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
( = KrStGw, Bd. 31), Göttingen 1978, S. 24 - 82; ältere Gesichtspunkte bei Gustav
AUBIN, Zur Geschichte der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse in Ostpreußen
von der Gründung des Ordensstaates bis zur Steinschen Reform, Leipzig 1910.
8 K. ZERNACK, Das Zeitalter der nordischen Kriege... (1974) [122]; noch immer
grundlegend Walther KIRCHNER, The Rise of the Baltic Question ( = UDelMS,
Bd. 3), Delaware 1954.
I. Polen, Lehnspreußen und die fränkische Linie (1525 — 1618) 409
12 S. DOLEZEL/H. DOLEZEL (Hg.), Die Staats vertrage... (1971) [50], S. 73 ff.; Paul
KARGE, Kurbrandenburg und Polen. Die polnische Nachfolge und preußische
Mitbelehnung 1 5 4 8 - 1 5 6 3 , in: FBPG, Bd. 11 (1898), S. 1 0 3 - 1 7 3 ; Karl KLETKE,
Die Unterhandlungen des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg wegen der
Erbhuldigung der preußischen Stände, in: Z p r G L k , Bd. 16 (1879), S. 33 —113;
von polnischer Seite die ältere Untersuchung von Ferdynand BOSTEL, Przeniesienie
lenna pruskiego na elektorów brandenburskich (Die Übertragung des preußischen
Lehens auf die brandenburgischen Kurfürsten), in: P N L , 9. Jg. (1883),
S. 5 5 7 - 5 7 2 , 7 5 6 - 7 6 2 , 8 2 6 - 8 6 0 , hier S. 5 6 5 ff., sowie A. VETULANI, Polskie
wplywy polityczne... (1939) [121].
13 Lubliner Belehnungsurkunde, in: S. DOLEZEL/H. DOLEZEL (Hg.), Die Staatsver-
träge... (1971) [50], S. 77 ff.; S. DOLEZEL, Das polnisch-preußische Lehnsverhält-
nis... (1967) [109], S. 165 ff.
14 M a x TOEPPEN, Beitrag zur Geschichte Preußens unter der Regierung der Herzöge.
Die preußischen Landtage zunächst vor und nach dem Tode des Herzogs Al-
brecht, Hohenstein 1855 (Programm Hohenstein Progymn. 1855); Wieslaw Li-
TEWSKI, Zwierzchnictwo s^dowe króla polskiego w Prusach Ksi^zçcych w latach
1569 —1657 (Die Gerichtshoheit des polnischen Königs im Herzogtum Preußen
in den Jahren 1569 bis 1657), in: ROI, Bd. 3 (1960), S. 2 1 - 4 4 .
I. Polen, Lehnspreußen und die fränkische Linie (1525 - 1 6 1 8 ) 411
wie möglich zu machen versucht. So erklärt sich die hohe Forderung von
3 0 0 . 0 0 0 Gulden in bar, die Brandenburg an den polnischen König für die
Belehnung mit der Regentschaft und Vormundschaft (da ja der geisteskranke
Herzog noch lebte) zahlen sollte. Sie wurden in langwierigen Verhandlungen
schließlich zur Grundlage der brandenburgischen Regentschaftsnachfolge,
die Kurfürst J o a c h i m Friedrich 1605 nach dem Tode Georg Friedrichs von
Ansbach (1603) antreten k o n n t e . 1 9 Die Stände Preußens haben sich zu
behaupten gewußt und eine Stärkung der Stellung des Landesherrn, wie sie
unter Georg Friedrich versucht worden war, nicht zugelassen. A m Verfas-
sungszustand des Herzogtums änderte sich durch den dynastischen Wechsel
also vorerst nichts.
Auch Kurfürst Johann Sigismund hatte - nach dem Tod J o a c h i m Fried-
richs (1608) — sowohl beim Lehnsherrn als auch bei den Ständen Preußens
große Widerstände zu überwinden, ehe seinem dynastischen Rechtsanspruch
Genüge geschah. Erst 1611 hat er, nachdem ihm 1609 die Regentschaft und
Vormundschaft in Preußen übertragen worden war, die Belehnung mit dem
Herzogtum für den Todesfall seines Schwiegervaters, Herzog Albrecht
Friedrich, erhalten. In dieser Situation haben die lutherischen Stände Preu-
ßens dem landfremden kalvinistischen Kurfürsten gegenüber das konfessio-
nelle M o m e n t sehr wohl politisch ausgespielt. 2 0 Ähnliche Schwierigkeiten
gab es aber auch in den brandenburgischen Stammlanden, w o sich die
Stände gegen die Defensionssteuern bloß „fremder Lande halber, davon die
Untertanen der M a r k wenig F r o m m e n hoffen" zur Wehr setzten. N u r der
28 Näheres bei Ernst OPGENOORTH, Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfürst von
Brandenburg. Eine politische Biographie, Bd. 2, Göttingen 1978, S. 11 f.; im
Interregnum von 1668 unterstützte der Kurfürst die Pfalz-Neuburger Kandidatur
( a . a . O . , S. 97ff.). Zur Polenpolitik des Großen Kurfürsten im einzelnen die
Studien von A. KAMINSKA, Brandenburg-Prussia and Poland... (1982) [110]; Dies.,
Miçdzy Polsk^ a Brandenburg^... (1966) [III],
29 A. KAMINSKA, Brandenburg-Prussia and Poland... (1982) [110], S. 153f.; Bogdan
WACHOWIAK, Also doch Republik Polen „welche nimmer aussterben thut". Zur
Interpretation einer Textstelle im Testament des Großen Kurfürsten von 1667,
in: JGMOD, Bd. 33 (1984), S. 1 1 2 - 1 2 0 .
I. Der große Nordische Krieg ( 1 7 0 0 - 1 7 2 1 ) 417
30 Die historiographische Resonanz auf das Ereignis der Königserhebung und die
Person des neuen Königs in der deutschen wie in der polnischen Forschung ist
erstaunlich schwach — vergleicht man sie mit der Beachtung, die August dem
Starken, Karl XII. und Peter dem Großen zuteil werden; wichtig aber noch immer
Theodor SCHIEDER, Die preußische Königskrönung von 1701 in der politischen
Ideengeschichte [1935], in: Ders., Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen
1962, S. 1 8 3 - 2 0 9 .
1 Das Buch E. HASSINGERS, Brandenburg-Preußen... (1953) [123], bietet - was
der Titel nicht vermuten läßt — die genaueste Analyse eben dieser Situation
Polens. Im übrigen folge ich in diesem Abschnitt meinen Darlegungen in dem
Beitrag Das preußische Königtum... (1982) [129].
418 § 5 Polen im „Niedergang" — Hohenzollern-Monarchie im Aufstieg
Das neue Königtum der Hohenzollern hat dabei abwartend und sorgfältig
beobachtend im Hintergrund gestanden, um zum geeigneten Zeitpunkt an
der Seite des siegreichen Rußland seine Interessen in der polnischen Frage
wahrnehmen zu können. Im ersten Jahrzehnt des Krieges, als Peters Rußland
in innerer und äußerer Bedrängnis am Rande des Zusammenbruchs stand,
war Polen in erster Linie von Schweden bedroht. Ein staatlicher Zusam-
menbruch Rußlands hätte die schwedische Ostseeherrschaft weit über Ost-
europa ausgedehnt und die Adelsrepublik zum Satelliten Karls XII. gemacht.
Auch Preußens Stellung wäre davon nicht unberührt geblieben. Nach der
Niederlage des Schwedenkönigs geriet die Republik unter den wachsenden
Druck Rußlands, das sich den inneren Konflikt inter majestatem ac liber-
tatem, das heißt zwischen den absolutistischen Reformbestrebungen des
Wahlkönigs August von Sachsen und dem Konservatismus des Adels, zu-
nutze machte, um die Rolle des Mittlers zu spielen, der in Wirklichkeit
„den beteiligten Parteien seinen Willen aufzwang". 2 In der „staatlichen
Souveränitätskrise" Polens (E. Rostworowski) verwischten sich die Grenzen
zwischen innerer und äußerer Politik. Die erste große und eigentümliche
Manifestation dieses Problems bot der Stumme Reichstag von Grodno
1716/17, auf welchem Peter der Große die militärische Kontrolle des aus-
gedehnten Staatsgebietes der Republik durch diese selbst zugesichert bekam.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Preußen seine abwartende Haltung der ersten
Kriegsphase bereits aufgegeben; seit dem Thronwechsel von 1713 war es
zu einer Annäherung an Rußland gekommen, bei der auch persönliche
Sympathien Friedrich Wilhelms für den Reformer-Zaren im Spiel gewesen
sein mögen. 1720 aber ging es, trotz beträchtlicher diplomatischer Risiken,
die in der Schlußphase des großen Krieges sich häuften, um den Anschluß
an Peters Polenpolitik, die Friedrich Wilhelm mit der Potsdamer Interessen-
Konvention vom 17. Februar 1720 zu unterstützen versprach. Diese erste
vertragliche Manifestation „negativer Polenpolitik" durch Preußen und
Rußland gehört zu den Ergebnissen des Nordischen Krieges.3 Von nun an
gewann die Ausnutzung der geopolitischen Zwischenlage Polens einen im-
mer festeren Platz in der Systematik der Großmächtepolitik.
Im Friedensvertrag von Nystad 1721 vermochte Peter der Große seinen
Interventionserfolg in Polen durch völkerrechtliche Regelungen abzusichern.
Sie ließen sich als Interventionsrecht Rußlands für den Fall verfassungsän-
dernder Reformen in Polen und in Schweden auslegen. Eben dafür hatte
Preußen 1720 seine Partnerschaft zugesichert. So war mit dem Ereignisablauf
des Nordischen Krieges, insbesondere den Entscheidungen seiner Schluß-
Peter des Großen Nachfolger wußten genau abzuschätzen, daß sich in der
Nachbarschaft des „veränderten Rußland" nicht allein Preußen, sondern
mehr noch Österreich dem mächtepolitischen Sog des neuen „Systems von
Nystad", in dem die polnische Frage und das Schleswig-Holstein-Problem
verbunden waren, nicht würden entziehen können. 4 In dem Kalkül, ob eine
von Frankreich gelenkte Barrière de l'Est oder ein russisch geführtes Bündnis
der drei „Schwarzen Adler" Ostmitteleuropa beherrschen würde, lag für
die von Rußland gesuchten Partner eine zwingende Herausforderung, nicht
zuletzt, wenn man auch die Ambitionen des Hauses Wettin in der Konkur-
renz um die Vormachtansprüche im Deutschen Reich in Rechnung stellt.
So wurden Preußen und Österreich in die polnische Frage durch Rußland
und durch Sachsen doppelt engagiert. Jedenfalls diente die Übereinkunft
der Adler-Mächte im Jahre 1732 der Aufrechterhaltung der im Nordischen
Krieg erwiesenen Handlungsunfähigkeit Polens: Man wollte die Wahl eines
von Frankreich unterstützten Kandidaten für den polnischen Thron verhin-
dern, aber auch dem Haus Wettin den Weg zu einem erneuten polnischen
Königtum verlegen. Wie fest dieser Interessenverbund gefügt war, geht aus
dem Ablauf des polnischen Interregnums nach dem Tode Augusts des Star-
ken hervor: Als sich Petersburg und Wien überraschend auf dessen Sohn
Friedrich August einigten, sah sich Preußen um sein polenpolitisches Ziel,
nämlich die Auflösung der sächsisch-polnischen Union geprellt und trat von
dem Bündnis zurück. 5 Dennoch verhielt es sich zunächst wohlwollend
neutral, und später - als aus der Thronfolgekrise der Thronfolgekrieg
geworden war — drängte es sogar auf Kriegsbeteiligung im Reich.
Das russische Konzept der Umschichtung und Reduzierung des östlichen
Mächtesystems auf die Herrschaft der Adler-Trias — zur Ausschaltung
jeder französischen Barrière-Politik — war also erfolgreich auf der Grund-
läge der Steuerung der polnischen Frage. 6 Freilich komplizierten sich die
Probleme der Dreierkoalition, weil das Konzept russischer Westpolitik, das
auf Teilungsvermeidung zugunsten eines intakten und weitreichenden rus-
sischen Vorfelds beruhte, bei den Partnern des Allianzsystems auf die Dauer
nicht vollkommen durchzusetzen war. Dem hegemonial gemeinten Vorfeld-
konzept trat im Verlauf des 18. Jahrhunderts ein - diesem gegenüber —
obstruktiver Gedanke von „Interessenkompensation" (auch als Mittel der
Eindämmung Rußlands, die Preußen und Österreich offenbar für möglich
gehalten haben) gegenüber. Dabei bildete der an sich alte Teilungsgedanke
einen Anknüpfungspunkt für eine denkbare Alternative zum russischen
Vorfeld: ein systeme copartageant, bereitgehalten für den Krisenfall im
eigenen Allianzsystem. Aber nicht nur bei den Ostmächten, auch im poli-
tischen Ideenhorizont des übrigen Europa war der fundamentale Wandel
nach 1717—1721 reflektiert worden. Es wurde — anders als nach der
großen Regelung von 1648 - jetzt ein Politikverständnis sichtbar, das auf
der Unterscheidung von Großmächten und ihren „Interessensphären" auf-
baute. 7
Nachdem sich die Erwartungen Rußlands, daß Preußen zwangsläufig der
Gravitation des russisch-österreichischen Bündnisses folgen werde, in vollem
Umfang erfüllt und die Dreierkoalition 1733 die erste Krise überstanden
hatte, war das System „negativer Polenpolitik" der Ostmächte vorerst
etabliert. Wenn es trotzdem noch einmal in die Krise geriet, so beweist das,
daß die „polnische Frage" noch nicht — wie fünfzig Jahre später — gänzlich
der Steuerung durch die drei Nachbarmächte anheimgefallen war. Eben von
der polnischen Thronfolgekrise der Jahre nach 1732, die ja Frankreichs
Pläne in Ostmitteleuropa — gruppiert um die Durchsetzung Stanislaw
Leszczynskis als polnischen Wahlkönig — zu Fall gebracht hatte, ist ein
starker Impuls zur forcierten Reaktivierung der französischen Barrière de
l'Est-Diplomatie ausgegangen. Der Kampf um die polnische Krone fand
seine Fortsetzung in der Konkurrenz der beiden kontinentalen Flügelmächte
und ihrer Systementwürfe für das östliche Mitteleuropa: Französische Bar-
rière (die Schweden, Polen und das Osmanische Reich umfaßte) oder
russisches Vorfeld (beruhend auf der „Nystader" Verfassungskontrolle in
6 Maßgebend sind heute dazu die Arbeiten des polnischen Historikers E. RoST-
WOROWSKI, O polsk? k o r o n ç . . . (1958) [127]; Ders., Polska w ukladzie sil poli-
tycznych Europy XVIII wieku (Polen im System der politischen Kräfte Europas
im 18. Jahrhundert), in: Polska w epoce oswiecenia, Warszawa 1971, S. 1 1 — 5 9 .
7 Dies ist die andere — zerstörerische — Seite in der Wirkung des neuen Systems
der Großmächte, das sich in den Kriegen des Jahrhundertanfangs konstituiert
hat. Eine genaue Untersuchung der Geschichte dieser Spaltung Europas im
18. Jahrhundert steht noch aus, während die vorgeblich „aufbauende" und „ra-
tionale" Komponente der Kabinetts- und Interessenpolitik immer wieder Beach-
tung und Zuspruch findet, s. zuletzt Johannes KUNISCH, Staatsverfassung und
Mächtepolitik. Z u r Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus
( = HF, Bd. 15), Berlin 1979. Grundsätzlich in der anderen Argumentationsrich-
tung Günter BARUDIO, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung
1 6 4 8 - 1 7 7 9 ( = FiWeG, Bd. 25), Frankfurt/M. 1981.
II. Zwischen den Flügelmächten des Staatensystems 421
Schweden und Polen), das war seit 1733 die Frage. Das polnische Vorfeld
sah man in Rußland mit der Durchsetzung des wettinischen
Wahlkönigs Augusts III., der für die russische Unterstützung eine Verfas-
sungsgarantie abgegeben hatte, zusätzlich gesichert, und die Stellung gegen-
über dem Osmanischen Reich glaubte man in dem Bündnis mit Österreich
hinreichend gefestigt zu haben. Hier aber — gegenüber der Pforte — mußten
die Kaisermächte - jede auf ihre Art - 1739 empfindlich zurückstecken. 8
Im Zeichen der Belebung französischer Barriere-Aktivitäten, vor allem in
Schweden, trat der junge Preußen-König Friedrich II. in dem turbulenten
Jahr 1740 seine Regierung an. Durch das Bedürfnis, den Spielraum für das
eigene Staatsinteresse — in dem eben in Bewegung gekommenen europä-
ischen System nach 1740 — auszunützen, ist das übergeordnete und von
größeren Machtpotentialen getragene russische Interesse tangiert worden.
Man kann sagen: Preußen ist in der Verfolgung seiner Aufstiegschancen im
Reich an die Seite Frankreichs geraten und damit — sichtbar in dem Griff
nach Schlesien — in den Augen Rußlands ungewollt zum verlängerten Arm
der französischen Barrière geworden. So wuchs ein Konflikt mit eigentlich
verkehrten Fronten heran.
In Rußland sah man nicht allein die aktuelle Bedrohung des Vorfelds
durch Frankreichs diplomatischen Einfluß in Schweden, der ja auch über
temporäre Einbußen hinweg, die aus der Niederlage Schwedens gegen
Rußland von 1743 folgten, erhalten blieb. 9 Auch in bezug auf Polen witterte
man Gefahren: man sah dort das Anwachsen einer profranzösischen Partei
und befürchtete verfassungsändernde Auswirkungen der polnischen Re-
formbestrebungen. Abgesehen von Rußlands Besorgnis war aber eine Bar-
rière-Politik, die Spielräume eigenständiger Politik in Polen eröffnet hätte,
auch für Preußen keineswegs wünschbar, vor allem deshalb nicht, weil in
einem innerlich gestärkten Sachsen-Polen wiederum eine Basis für die säch-
sischen Großmachtambitionen im Reich entstanden wäre, die Preußen bis
in den Anfang der vierziger Jahre zu fürchten gehabt hatte. 1 0 So führte die
russisch-österreichische Bündnispolitik mit ihrem Ziel, das abtrünnige Preu-
ßen sich wieder so gefügig zu machen, wie es 1732 gewesen war, beim
Ausbruch des Siebenjährigen Krieges mit der überraschenden Einbeziehung
8 Dabei ist vor allem die vermittelnde Wirkung der französischen Diplomatie zu
beachten, s. Moritz Edler von ANGELI, Der Krieg mit der Pforte 1737 - 1 7 3 9 ,
Wien 1881, sowie Georgij Aleksandrovic NEKRASOV, Rol' Rossii Ν evropejskoj
mezdunarodnoj politike 1735 —1739 gg. (Rußlands Rolle in der europäischen
internationalen Politik 1735 - 1 7 3 9 ) , Moskva 1976.
* Joh[ann] Rich[ard] DANIELSON, Die nordische Frage 1 7 4 5 - 1 7 5 1 . Mit einer
Darstellung der russisch-schwedisch-finnischen Beziehungen 1740 - 1 7 4 3 , Hel-
singfors 1888. Eine Untersuchung der preußischen Politik gegenüber Nordeuropa
in den vierziger Jahren wird in Kürze Matti Männikkö in Helsinki vorlegen.
10 Beziehungsgeschichtliche Aufarbeitung der deutschen, polnischen und russischen
Beim Eintritt des Interregnums in Polen nach dem Tode Augusts III. im
Jahre 1763 herrschte wieder Einvernehmen zwischen Berlin und Petersburg,
und unter russisch-preußischen Pressionen ist Stanislaw August Poniatowski
auf dem Wahl-Reichstag von 1764 zum letzten König der Adelsrepublik
gewählt worden. 1
Die Lehre, die Friedrich aus dem Kriege gezogen hatte, war das Ruß-
landbündnis um jeden Preis. Das erklärt den Eifer, mit dem Friedrich der
anfangs zögernden Katharina das preußisch-russische Bündnis vom Frühjahr
1764 förmlich abrang. Im Hinblick auf Polen bestimmte ein geheimer
Zusatzartikel die „Aufrechterhaltung der Anarchie". 2 Für Rußland ging es
um die Wiederaufnahme petrinischer Traditionen als Grundlage für ein
erweitertes Vorfeldsystem, dem sich Friedrich als ein allianzbedürftiger,
aber mißtrauischer, nicht leicht berechenbarer Partner anbot.
Den Preußenkönig kümmerte es wenig, was Polen als die Basis des
preußischen Einvernehmens mit Rußland aufs Spiel zu setzen hatte. Insge-
heim hat Friedrich viel über Katharinas despotisches Vorgehen in der
Adelsrepublik geklagt, und er hat auch gesehen, daß er Rußland durch sein
Wohlverhalten zu nur noch rigoroserem Vorgehen verlockte. Er glaubte
dies aber dem Sicherheitsbedürfnis seines verwüsteten Landes schuldig zu
sein und gefiel sich im Kokettieren mit dem Gedanken der eigenen Macht-
losigkeit. 3 Es ist dabei wirklich schwer auszumachen, ob bei Friedrich -
trotz aller Tradition des Gedankens einer Landbrücke nach Preußen — ein
aktuelles Teilungskalkül im Spiel war. Das ist auch eine ziemlich neben-
sächliche Frage, wenn man im Einklang mit dem außenpolitischen Vorstel-
lungshorizont der Zeit voraussetzt, daß kein Machtstaat im System der
Großen Mächte die Möglichkeit einer territorialen Arrondierung, das heißt
einer im Staatsinteresse sinnvollen Gebietserwerbung, ungenutzt gelassen
hätte. Es kam Friedrich nach 1763 in der Tat einzig auf die Risikolosigkeit
der Expansion an. 4
Alle Anstrengungen König Stanislaw Augusts und seiner Ratgeber, den
außenpolitischen Teufelskreis, der aus der Situation des preußisch-russischen
Bündnisses von 1764 auf verschlungene Weise und unerwartet zum ersten
Gebietsabtretungsvertrag von 1772/1773 führte, zu durchbrechen, waren ver-
gebens. Über dem Scheitern des letzten Königs von Polen wird jedoch seine
staatsmännische Leistung für die Modernisierung einer altständischen Re-
publik ohne absolutistische Gewaltmittel in der außerpolnischen Geschichts-
schreibung kaum registriert. Im wesentlichen unausgeschöpft ist als ein Pa-
radigma der preußisch-polnischen Beziehungen auch der historisch reizvolle
Kontrast zwischen dem traditionalistischen Reformer Stanislaw August und
dem aufgeklärten Despoten Friedrich. 5 In ihrer Gegenüberstellung wird der
schon von Rousseau auf den philosophischen Begriff gebrachte Gegensatz der
politischen Kultur Polens zu der universalen Despotie in Europa sinnfällig. 6
Diese war als preußisch-russischer Druck auf die Adelsrepublik in der Tat
allgegenwärtig und hat so auf ihre Weise die Energien der politischen Reform
als einzige Überlebenschance Polens angefacht. Nach dem furchtbaren Bür-
gerkrieg der Barer Konföderation, der 1768 aus dem unauflöslichen Junktim
von Intervention und polnischer Verfassung entstand 7 und in die erste Teilung
führte, brachen sie machtvoll hervor.
Jetzt wurde spürbar, was es bedeutete, daß Preußen 1740 „mit dem Krieg
gegen das Kaiserhaus ... den Boden von Münster und Osnabrück verlassen
und zugleich eine neue Seite der deutschen Verfassungspolitik aufgeschla-
gen" hatte. 21
Und dennoch - und eigentlich folgerichtig - machten sich unter der
schütter gewordenen Decke des Machtstaates Anzeichen dafür bemerkbar,
daß in der Erbschaft des aufgeklärten Absolutismus auch jene Potenzen zu
Buche standen, die den Fall des Ancien Regime so tatkräftig gefördert
hatten. Das bedeutet, daß die machtpolitische Krise der Teilungen Polens
nur die eine Seite der politischen Energien verbrauchte, die das friderizia-
nische Preußen geweckt hatte.
An der Innenseite zeigte sich in Anknüpfung an die eigenen reformeri-
schen Antriebe, wie sie im Preußischen Allgemeinen Landrecht und den
Anfängen der Bauernbefreiung sichtbar wurden, jener staatliche und soziale
Erneuerungswille, der vor allem seine Früchte in der höheren Beamtenschaft,
der bürokratischen Elite des Staates, trug. Dieser hochbürokratische Re-
formansatz wies indes wenig über Preußen auf Deutschland hinaus, wirkte
also kaum in dem Maße nationsbildend wie jener „geistige Umbruch", der
in Polen in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts die
ganze politische Öffentlichkeit erfaßt hatte. Hier werden fundamentale
Unterschiede zwischen der altständischen Republiktradition Polens und dem
Absolutismus Preußens deutlich, die für die moderne Demokratiegeschichte
von großem Gewicht waren. 2 2 Zu beachten ist freilich, daß die Begegnung
der preußischen Reformer mit den ostmitteleuropäisch strukturierten Ge-
bieten des alten Polens eine gewisse Rolle für die Antriebe und bei der
Ausformung des staatlichen und gesellschaftlichen Reformdenkens in Preu-
ßen gespielt hat. Denn auch dieses Moment hat zu der Symbiose der
Aufklärungsphilosophie mit der ständisch-libertären Bewußtseinstradition
im alten Herzogtum Preußen beigetragen.
Jedenfalls haben prominente Vertreter der Reformerschule der ostpreu-
ßischen Bürokratie — wie die Gebrüder Schrötter, Auerswald und später
Theodor Schön, Alexander von Dohna, Johann Gottfried Frey und
Friedrich August Stägemann — bei geradezu programmatischem Desinter-
esse an den außenpolitischen Fragen der neunziger Jahre und der Jahrhun-
dertwende — ihre verwaltungs- und sozialpolitischen Aufgaben vom Stand-
punkt eines liberalen Verfassungs- und Rechtsstaatsdenken aus energisch in
Angriff genommen und dabei eingestandenermaßen aus der Begegnung mit
21 Ebda.
22 Auf den Kontrast der politischen Kulturen hat schon — in polemischer Absicht
- hingewiesen W. KONOPCZYNSKI, Fryderyk Wielki... ( 2 1981) [133]; in ruhiger
Tonlage jetzt der deutsch-polnische Sammelband: Polen und Deutschland...
(1981) [138]; S. auch Klaus ZERNACK, Die deutsche Nation zwischen West und
Ost. Probleme und Grundzüge, in: Nationalgeschichte als Problem... (1983) [70],
S. 67 — 80, hier S. 79 f.; Ders., Germans and Poles: Two Cases of Nation-Building,
in: Hagen Schulze (Hg.), Nation-Building in Central Europe ( = GHPer, Bd. 3),
Oxford 1986, S. 1 4 9 - 1 6 6 .
III. Von der dritten zur vierten Teilung 429
den altpolnischen Gebieten, in denen sie zum Teil ihre Lehrjahre absolviert
und ihre ersten Reformversuche durchexerziert hatten, gelernt. Friedrich
Leopold von Schrötter stand als Oberpräsident der ost- und westpreußischen
sowie der litauischen Kammer dirigierend hinter diesen Bemühungen; er
schickte den jungen Theodor von Schön nach Biaiystok. Hier, im soge-
nannten Neuostpreußen, ist der erste Schritt zur Trennung der exekutiven
von der jurisdiktionellen Gewalt getan worden, und die Überwindung der
alten Kammergerichtsbarkeit bahnte sich an. Von hier aus ist dieses Rechts-
staatsprinzip 1804 auf die Kammerbezirke Ostpreußen und Litauen über-
tragen worden. Gewiß war das nur ein indirekter Impuls, der von dem
eingegliederten und gleichgeschalteten Land als einem bloßen Objekt neuen
Planens ausging. Am Beispiel von Danzig wird indes deutlich, daß das alte
polnische Reich auch unmittelbare Antriebskräfte für den preußischen Re-
formgedanken ausstrahlte. Hans Rothfels hat auf diesen Zusammenhang
eindringlich hingewiesen: In Danzig hatten sich in der polnischen Zeit doch
mehr „gesunde Triebe" von Bürgerfreiheit und Bürgerverantwortung be-
wahren können als in den meisten Reichs- und Hansestädten. Neben Rat
und Schöffen gab es hier 1793 noch jenes „Hundertmännerkolleg", das als
teilweise gewählte Repräsentanz der Bürgerschaft legislative und kontrol-
lierende Befugnisse aufwies. Die Ehrenämter in den Deputationen zeigten
beträchtliche Ansätze bürgerlicher Selbstverwaltung. Es waren Elemente,
die auf Schön und auf Stein nachweislich stark gewirkt haben und vor
allem durch das zähe Festhalten der Danziger an diesen „Privilegien" gegen
die anfängliche Tendenz, sie dem Landrecht aufzuopfern, zur Keimzelle der
Diskussionen um die Städteordnung geworden sind. 23
Wenn man vor diesem Hintergrund in Betracht zieht, welche Rolle das
polnische Problem, das heißt die Frage der polnischen Verfassung und der
Wiederherstellung polnischer Eigenstaatlichkeit, im Denken des jungen
Alexander I. und in der russischen Reformdiskussion seit der Jahrhundert-
wende spielte, 24 dann wird eine enorme Bedeutung sichtbar, die die polni-
sche Frage nach 1795 für die osteuropäische Innenpolitik hatte, nachdem
außenpolitisch für Polen alles verloren war und als der machtpolitische
Aufbruch des napoleonischen Frankreich auch die Teilungsmächte an den
Rand der Katastrophe führte.
Sieht man genauer hin, dann war also mancher Gedankengang der
preußischen Reformelite — zumindest im Denktypus — der polnischen
Spätaufklärung verwandt. 25 Freilich hat die strukturelle Analogie, die tief
in der ostmitteleuropäischen Ständetradition wurzelte, kaum einen positiven
beziehungsgeschichtlichen Effekt gehabt. Im ganzen — auf das Heer der
Beamten bezogen — ist doch das Verdikt der polnischen Historiographie
richtig, die der preußischen Bürokratie jedes Einfühlungsvermögen und die
Fähigkeit abspricht, die polnischen Länder Preußens für den bürokratischen
Staatsgedanken Preußens mit seinem rigiden Zentralismus zu gewinnen. 26
Umgekehrt aber wäre auch eine zu dieser Zeit nicht undenkbare preußische
Nationsbildung — hätte sie sich auch auf die Polen Preußens gerichtet —
gerade an der Stärke des polnischen Nationsbegriffs, der Traditionen
der Maiverfassung und der alten Republik gescheitert. Auch ein Kompromiß
österreichischen Musters war nicht zu erreichen: So gewiß Preußen in
mancher Hinsicht aus der neuen Lage Nutzen zog, so fehlten doch im
Ausgang des 18. Jahrhunderts auf beiden Seiten die Voraussetzungen, wegen
des quantitativen Ubergewichts der polnischen Ländermasse die Hohenzol-
lernmonarchie den Weg in eine neojagiellonische Föderationslösung gehen
zu lassen. 27 Sie allein hätte Aussicht auf Bestand gehabt. So aber mußte der
Staat zwischen den Nationen aus der Extremposition, die er zwischen 1795
und 1807 eingenommen hat, zwangsläufig wieder verdrängt werden. Die
Katastrophe von Jena und Auerstedt sollte also auch unter dem Gesichts-
punkt der imperialen Uberspannung nach 1795 gesehen werden.
Gleichwohl blieb die osteuropäische Teilungsallianz der drei Adlermächte
der tragende Grund preußischer Geschichte. Denn gegen Napoleons radi-
Lediglich in der kurzen Zeitspanne vom Wiener Kongreß 1815 bis zum
polnischen Novemberaufstand von 1830 gab es Ansätze für den Wandel der
axiomatischen Negativität preußischer Polenpolitik. Das hängt auch damit
1 Texte in: Clive PARRY (Hg.), The Consolidated Treaty Series, Bd. 64 (1815), New
York 1969, S. 1 3 6 - 1 4 4 ; 1 4 6 - 1 5 5 ; s. auch Hans-Dieter DYROFF, Der Wiener
Kongreß 1814/15. Die Neuordnung Europas, München 1966, S. 91 ff.
2 W.W. HAGEN, Germans, Poles and Jews... (1980) [148], S. 76 ff.
3 Zuletzt Henryk Kocój, Prusy wobec Powstania Listopadowego (Preußen und
der Novemberaufstand), Warszawa 1980.
4 Belege finden sich in dem Quellenband H. BLEIBER/J. KOSIM (Hg.), Dokumente...
(1982) [37],
§ 7 Preußen und Polen im Vormärz 433
5 Ihre Erforschung steckt noch in den Anfängen, die in Polen weiter gediehen sind
als bei uns; s. die Untersuchungen von Franciszek PAPROCKI, Wielkie ksiçstwo
Poznanskie w okresie rz^dów Flottwella (1830 — 1841) (Das Großherzogtum
Polen in der Regierungszeit Flottwells) ( = UAMH, Bd. 33), Poznan 1970, sowie
in W . M O L I K , K s z t a l t o w a n i e s i ç . . . ( 1 9 7 9 ) [ 1 5 7 ] . A l l g e m e i n e r W . JAKOBCZYK ( H g . ) ,
Dzieje Wielkopolski... (1969/73) [82], Bd. 2, Poznaá 1973; Κ. Η. STREITER, Die
nationalen Beziehungen... (1986) [158],
6 Reich belegt in dem in Anm. 4 zitierten Quellenbd.; s. auch die Einleitung (mit
Lit.) sowie die Regionalstudie von P. BOHNING, Die nationalpolnische Bewe-
gung... (1973) [154]; M. WAWRYKOWA, „Für eure und unsere Freiheit"... (1985)
[159].
7 Michael G. MÜLLER, Deutsche und polnische Nation im Vormärz, in: Klaus
Zernack (Hg.), Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzol-
lernmonarchie 1701 — 1871. Referate einer deutsch-polnischen Historiker-Tagung
vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee ( = EvHKzB, Bd. 33), Berlin
1982, S. 69 — 95, hier S. 84 f.; ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet Theo-
dor FONTANES Aufsatz „Preußens Zukunft" von August 1848, in: Ders., Sämtliche
Werke (Nymphenburger Ausgabe), Bd. 19, München 1969, S. 45 f.; s. auch den
Brief an Bernhard v. Lepel vom 12.X.1848, in: Ders., Von dreißig bis achtzig.
Sein Leben in seinen Briefen, hg. von Hans-Heinrich Reuter, München 1970,
S. 39 ff.
434 § 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens
das Wesensmerkmal der Periode von 1849 bis 1918 sieht 1 - spielt die
ideenpolitische Komponente eine große Rolle. Denn auf dieser Ebene spiel-
ten sich die ideologischen Auseinandersetzungen der politischen Eliten ab,
und daran bildeten sich die politischen Mentalitäten der Nationen aus. In
dem ständig sich verschärfenden Antagonismus hatte die Epoche ihre be-
ziehungsgeschichtliche Grundsignatur, während sich die administrativen
Maßnahmen des Staates Preußen gegenüber seiner polnischen Bevölkerung
— keineswegs geradlinig — auf ein System der Unterdrückung zuspitzten.
Denn letztlich muß in einem solchen, trotz allem formal rechtsstaatlichen
Charakter der preußischen Administration, die politische Absicht der preu-
ßisch-deutschen Polenpolitik gesehen werden. Gerade weil das rechtliche
System auch polnische Gegenwirkungen ermöglichte, war die politische
Intentionalität der Unterdrückung so ausgeprägt. In der wissenschaftlichen
Bearbeitung ist bisher vornehmlich die institutionelle Seite der deutsch-
polnischen Konfliktverschärfung in der Ära der Vorbereitung und Realisie-
rung der deutschen Einheit untersucht worden. 2 Die für den beziehungs-
geschichtlichen Ablauf entscheidende Ebene war das jedoch nicht. Diese ist
doch im Prinzipiellen zu suchen, vor allem darin, daß die kleindeutsche
Lösung der Deutschen Frage mit der unverrückbaren Beibehaltung des
preußischen Staates von 1815 auch ebenso unaufhebbar die Prämisse ver-
knüpfte, daß es — sollte dieses Deutsche Reich Bestand haben — zu keiner
Lösung der Polnischen Frage kommen durfte. Preußen hat somit als Motor
der kleindeutschen Nationalreichsbildung seit 1849 ein funktionales Junktim
zwischen der Deutschen und der Polnischen Frage gestiftet, das im Verlauf
eines knappen Jahrhunderts eine tödliche Dialektik — bis zur Umkehrung
des von Bismarck 1863 im Zusammenhang mit dem Januar-Aufstand be-
mühten Amboß-Hammer-Gleichnisses 3 — entfalten sollte.
Erst mit solcher konsequenten historiographischen Einbettung der Deut-
schen Frage in ihr ungelöstes preußisches Ostproblem kann die tragende
Aporie der deutschen Geschichte seit 1871 an den Tag gebracht werden
und mit ihr die Grundvoraussetzung der beiden schwierigen Nachkriegs-
zeiten unseres Jahrhunderts, die die Fachforschung so noch kaum erschlos-
sen hat. 4 Die Bedeutung von Karl Marx als Geschichtsschreiber der natio-
1 M . BISKUP, P r e u ß e n u n d P o l e n . . . ( 1 9 8 3 ) [ 5 9 ] , S . 1 5 .
2 Gute Darlegung des Forschungsstandes beider Seiten bei W. W. HAGEN, Germans,
Poles and J e w s . . . (1980) [148], S. 118ff.
3 L[ouis] RASCHDAU (Hg.), Die politischen Berichte des Fürsten Bismarck aus
Petersburg und Paris ( 1 8 5 9 - 1 8 6 2 ) , 2 Bde., Berlin 1920.
4 Einen ersten Versuch in dieser Richtung unternimmt die Gießener Dissertation
von A. LAWATY, Das Ende Preußens... (1986) [64]. Lawatys Untersuchung zeigt,
daß in einer bewußt beziehungsgeschichtlichen Interpretation sowohl die Entste-
hung politischer Mentalitäten als auch ihre Geltungskraft für die jeweilige N a -
tionsgesellschaft deutlicher erkennbar werden, zumindest in dem deutsch-polni-
schen Fall. Darin unterscheidet sich dieser Versuch von den in mancher Hinsicht
ähnlichen Ansätzen der „imagologischen" Methode (siehe dazu vor allem M a r i a
LAMMICH, Das deutsche Osteuropabild in der Zeit der Reichsgründung, Boppard
1978) sowie von dem ideologiekritischen Verfahren (siehe zuletzt vor allem W.
WIPPERMANN, Der „Deutsche Drang nach O s t e n " . . . (1981) [73]).
436 § 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens
nalen Frage des 19. Jahrhunderts ist hieran abzulesen. 5 Preußen war nach
dem Scheitern der liberalen Nationsbildung (die ja in der Alternative zur
dynastischen Staatlichkeit bestanden hätte) gerade im Zeichen der „orga-
nischen Arbeit" seiner polnischen Bevölkerung mehr denn je ein „Staat
zweier Nationen". Es war dies stärker als zuvor der Fall, weil die Hohen-
zollernmonarchie nach 1848 zum Schrittmacher des Einheitsgedankens
wurde und schließlich ungeschmälert mit allen ihren ostmitteleuropäischen
Erbschaften in den Verband eines Deutschen Reiches eingehen sollte. Dieses
verstand sich als nationalstaatliche Lösung für die Deutschen, konnte sie
aber Preußens wegen nur durch eine integralistische Handhabung eines —
eben imperialen — Nationsbegriffs realisieren. Das bedeutete, in kompli-
zierter Parallele zu Rußland, den radikalen Einsatz aller staatlichen Mittel
zur Unterdrückung des polnischen Nationsgedankens. Allerdings bewirkte
diese Politik eher ihr Gegenteil: Durch den Druck von oben einerseits und
mit Hilfe der „organischen Arbeit" sowie durch die Teilhabe an dem sozialen
Wandel im preußisch-deutschen Reich andererseits erfuhr der polnische
Nationsbegriff seine qualitative politische Durchformung und breite gesell-
schaftliche Verankerung. Preußen ging in seinen Ostprovinzen also keines-
wegs in Deutschland auf, konnte es seiner Natur nach als Staat zwischen
den Nationen auch gar nicht. 6
In der Umkehrung der Lage von 1848 durch Bismarcks Reichskonzeption
war das auch nicht mehr das Problem. Damit ist auch die leidige Frage, ob
in der Folge von 1871 die Verdeutschung Preußens oder die Verpreußung
Deutschlands stattgefunden habe, eindeutig zu beantworten. Die ostpoliti-
schen Hypotheken der Hohenzollernmonarchie haben der kurzen deutschen
Nationalreichsgeschichte eine borussische Belastung beschert, die Deutsch-
land als Nationalstaat nicht hat ertragen können und an der es als dieser
gescheitert ist. Die so griffige Formel vom „langen Sterben Preußens" nach
1871 führt eigentlich von den wesentlichen Problemen der preußisch-deut-
schen Geschichte ab. 7
Kein Protagonist preußischer Politik hat den Bestand der preußischen
Monarchie so konstruktiv mit der Nichtexistenz des polnischen Staates
verbunden wie Bismarck. Es ist dies eines der wenigen Prinzipien, das —
5 S. die tiefschürfenden Manuskripte über die polnische Frage 1863 — 1864, hg. von
Werner Conze und Dieter Hertz-Eichenrode ( = QUGdöArb, Bd. 4), 's-Graven-
hage 1961.
6 S. d e n d e u t s c h - p o l n i s c h e n Sammelband W. CONZE/G. SCHRAMM/K. ZERNACK
(Hg.), Modernisierung und nationale Gesellschaft... (1979) [146]; R. JAWORSKI,
Handel und Gewerbe... (1986) [163]; W.W. HAGEN, Germans, Poles and Jews...
(1980) [148], zeigt in seiner gründlichen Durcharbeitung einmal mehr, wie weit
diese Frage heute schon eine Domäne der polnischen Forschung ist. Um so
unverständlicher ist es, daß diese in der Untersuchung von Roland BAIER, Der
deutsche Osten als soziale Frage. Eine Studie zur preußischen und deutschen
Siedlungs- und Polenpolitik in den Ostprovinzen während des Kaiserreichs und
der Weimarer Republik ( = DissnG, Bd. 8), K ö l n - W i e n 1980, überhaupt keine
Berücksichtigung findet.
7 Sebastian HAFFNER, Preußen ohne Legende, Hamburg 1978, S. 417 ff.
§ 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens 437
als Lehre des Revolutions] ahrs 1848 geboren — die sonst eher von Prinzipien
unbelastete Politik dieses großen Naturalisten (L. Gali) bis zum Ende
bestimmt hat. Damit aber war preußische bzw. preußisch-deutsche Ost-
politik immer — wie schon im 18. Jahrhundert, in der Entstehungsperiode
eines Mächtesystems, als dessen letzten Sachwalter sich Bismarck verstand
- unabdingbar Rußlandpolitik, die wiederum in dem zerbrechlichen Rah-
men jener Allianz der drei „Schwarzen Adler" zum Zweck der Beherrschung
und Teilung Polens zu besorgen war. Als Bewahrer des mächtepolitischen
status quo in der östlichen Hälfte Europas, den er nur in der Deutschen
Frage begrenzt und sorgfältig gesteuert der Dynamik der nationalen Be-
wegung auszusetzen bereit war, ist Bismarck eine Figur auch der osteuro-
päischen Geschichte gewesen. Als eine solche hat ihn keine andere Histo-
riographie so intensiv umkreist wie die polnische. 8
In den Zielen der Germanisierung und Russifizierung im sprachlich-
kulturellen und sozialen Bereich konvergierten die preußische und die
russische Polenpolitik, auch als sich nach' Bismarcks Sturz die außenpoliti-
schen Wege trennten, um deren Koordinierung willen Bismarck die radikale
Entnationalisierung der preußischen Polen und der Polen überhaupt auf
sich genommen hatte. Daß es Bismarck dabei gleichgültig war, welche
dialektische Gegenwirkung diese Politik in bezug auf die nationale Integra-
tion der Polen, auf die Organisierung ihrer wirtschaftlichen und sozialen
Selbsthilfe innerhalb der zivilisatorischen Einrichtungen des preußischen
Rechtsstaates hatte, erklärt sich aus den machtstaatlich-außenpolitischen
Prioritäten seiner Politik, die ihn über die politischen Rückwirkungen nicht
lange nachdenken und notfalls mit äußerster Härte, letztlich den autoritären
Möglichkeiten des Staates, reagieren ließen. Freilich, auch dadurch konnten
die Gegensätze nur vertieft, nicht aufgehoben werden. 9
Es entspricht aber dem außenpolitischen Funktionszusammenhang dieser
Polenpolitik, wenn sich nach Bismarcks Sturz und der Preisgabe des Bünd-
8 S. dazu jetzt Jerzy W. BOREJSZA, Bismarck a sprawa polska (Bismarck und die
polnische Frage), in: Ders., Piçkny wiek X I X , Warszawa 1984, S. 283 — 291. N o c h
immer von Gewicht für die polnische Auffassung ist die dreimal aufgelegte Arbeit
von J. FELDMAN, Bismarck a Polska... (1937/1980) [161] (Bismarck und Polen);
der Herausgeber der dritten Auflage von 1980, L. Trzeciakowski, bereitet eine
neue Bismarck-Biographie vor.
9 Mit teilweiser Berücksichtigung der polnischen Forschung H.-U. WEHLER, Po-
lenpolitik... ( 2 1979) [169], Nur wenig k o m m t dieser Aspekt bei Lothar GALL,
Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M . — Berlin — Wien 1980, zum
Tragen. Die zweibändige Bismarck-Biographie des DDR-Historikers Ernst EN-
GELBERG, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985 und 1990, steht
in dieser Hinsicht in einer kleindeutsch-marxistischen Doppeltradition. Die eu-
ropageschichtliche Ausweitung der Probleme ist unermeßlich viel größer in der
Trilogie Henryk WERESZYCKIS, Sojusz trzech cesarzy. Geneza 1866 —1872 (Das
Dreikaiserbündnis. Seine Entstehung 1868 — 1872), Warszawa 1965; Walka o
pokój europejski 1872 — 1878 (Der Kampf um den europäischen Frieden 1872 —
1878), Warszawa 1971; Koniec sojuszu trzech cesarzy (Das Ende des Dreikaiser-
bündnisses), Warszawa 1977.
438 § 8 Die preußische Lösung der Deutschen Frage auf Kosten Polens
Polens und Litauens (SDKPiL), 13 sondern auch auf zunächst weniger prin-
zipielle als vielmehr parteibürokratische Bedenken in den Reihen der SPD.
Für diese lag ein schwieriges Problem in der Widerspiegelung der unklaren
nationalen Verhältnisse des preußischen Ostens in den parteiorganisatori-
schen und wahltaktischen Fragen. Vor allem bereitete die Berücksichtigung
des Selbstbestimmungsrechts im innerparteilichen Zusammenleben der SPD
und der preußischen PPS Schwierigkeiten. Die Parteitagsdebatten der Jahre
1 8 9 7 - 1 9 1 3 zeigen ein überraschend starkes unifikatorisches Bewußtsein
auf der deutschen Seite. 1897 hieß es: „Wir kennen innerhalb unserer
Organisation nur eine deutsche Sozialdemokratie, und wir sind froh, daß
wir unter der Sprachverwirrung, mit der die Genossen in Österreich sich
abfinden müssen, nicht zu leiden haben. Es handelt sich hier gar nicht um
Polen und Deutsche, sondern einfach um Sozialdemokraten." 1 4 So zeigte
sich auch hier der tiefgreifende Wandel des preußischen Staatsgedankens in
Ostmitteleuropa durch seine nationalideologisch-deutsche Nutzbarma-
chung. 15
Was Bismarck noch durch ein konservatives etatistisches Vokabular in
einen zumindest rhetorischen Traditionszusammenhang mit älteren, vor-
nationalen Vorstellungen zu stellen verstanden hatte, das vermochten viele
Anwälte des nationalen Selbstbestimmungsrechts nur noch als eine unre-
flektierte Bejahung des unifikatorischen preußisch-deutschen Nationalstaa-
tes und seiner ideologischen Expansion auch dort zu verstehen, wo die
Voraussetzungen vom Gedanken der Selbstbestimmung her nicht mehr
gegeben waren. So war es kein Wunder, daß sich die strikt marxistisch-
internationalistische Rosa Luxemburg in der deutschen Sozialdemokratie
zur Propagandistin gegen die „nationalistischen Phrasen" der preußischen
PPS und die nationalpolitischen „Quertreibereien" machte und ein leichtes
Spiel damit hatte, die Gegensätze zwischen der SPD und der preußischen
PPS zu vertiefen. Ihr ging es dabei gar nicht — wie sie auf dem Lübecker
Parteitag 1901 ausführte — um den Konflikt zwischen Deutschen und Polen,
sondern um den Sieg polnischer Sozialisten auf „internationalem" über die
Polen auf „nationalem" Boden. Das war freilich ganz von der kongreß-
polnischen Auseinandersetzungen her gesehen, wo die radikale SDKPiL von
der Massenbewegung der nationalistischen PPS Pilsudskis erdrückt zu wer-
Der dynastische Machtstaat aus Brandenburg und Preußen hatte durch sein
Zusammenwachsen unweigerlich die Geschichte Polens tangiert und seit
1657 durch Teilungspolitik in diese eingegriffen. Mit dem Ende der Hohen-
zollernmonarchie 1918 sind die tragenden Kräfte der Geschichte Preußens
als europäische Großmacht an ihr Ende gekommen: die Monarchie und die
Teilung Polens. Mit einer gewissen Berechtigung ließe sich von nun an von
dem Aufgehen des deutschen Staates Preußen in dem republikanischen Reich
von Weimar sprechen. Die „Reichsrepublik" (H. Ridder) kam in ihrer
Territorialbasis, ihrer ethno-demographischen Struktur und dem einheits-
staatlichen Zuschnitt ihrer Verfassung einem deutschen Nationalstaat be-
trächtlich näher als das Bismarck-Reich. Die Grenze der Republik zu dem
wiedererstandenen Polen fand schließlich annähernd den Verlauf jener „sta-
bilsten" deutsch-polnischen Grenze, die sich im 15. Jahrhundert herausge-
bildet und bis 1772 Bestand gehabt hatte. Aber gerade in der negativen
Einstellung der nunmehr deutschen Außenpolitik zu dieser Grenze und der
Staatenordnung des neuen, nicht mehr hegemonial unterdrückten, sondern
nationalstaatlichen, befreiten Ostmitteleuropa zeigte sich die Fortwirkung
des alten Preußens. Die Weimarer Demokratie, deren stabilster innerer
Pfeiler das republikanische, meist sozialdemokratisch regierte neue Preußen
war, blieb außenpolitisch in der alten preußischen Hegemonialtradition
stecken. 1
Berlin - New York 1981, S. 231 —245; Ansätze finden sich bei Klaus HILDEBRAND,
Das Deutsche Reich und die Sowjetunion im internationalen System 1918 — 1932.
Legitimität oder Revolution? ( = FrankfhV, Nr. 4), Wiesbaden 1977, bes. S. 16 ff.;
Peter KRÜGER, Friedenssicherung und deutsche Revisionspolitik. Die deutsche
Außenpolitik und die Verhandlungen über den Kellogg-Pakt, in: VfZ, Bd. 22
(1974), S. 227 - 257; Günter WOLLSTEIN, Vom Weimarer Revisionismus zu Hitler.
Das Deutsche Reich und die Großmächte in der Anfangsphase der nationalso-
zialistischen Herrschaft in Deutschland, Bonn 1973; vgl. zuletzt die Bemerkungen
A. Hillgrubers und anderer Diskussionsteilnehmer in dem Sammelband: Karl
Dietrich ERDMANN/Hagen SCHULZE (Hg.), Weimar: Selbstpreisgabe einer De-
mokratie. Eine Bilanz heute. Kölner Kolloquium der Fritz-Thyssen-Stiftung, Juni
1979, Düsseldorf 1980.
2 H . v o n RIEKHOFF, G e r m a n - P o l i s h R e l a t i o n s . . . ( 1 9 7 1 ) [ 1 8 4 ] ; J . KRASUSKI, S t o s u n k i
polsko-niemieckie... ( 2 1975) [182] (Die polnisch-deutschen Beziehungen 1 9 1 9 -
1 9 3 2 ) ; K . FIEDOR A n t y p o l s k i e o r g a n i z a c j e . . . (1973) [181] (Antipolnische Orga-
nisationen in Deutschland 1918 — 1933); J. SOBCZAK, Propaganda zagraniczna...
(1973) [185] (Die außenpolitische Propaganda des Weimarer Deutschland gegen
Polen).
§ 9 Preußen ohne Monarchie und das wiedervereinigte Polen 443
3 Diesen Problemen wird auf polnischer Seite seit je große Beachtung zuteil; für
Masuren und Ermland gibt es jetzt eine beachtliche übergreifende Synthese von
W. WRZESINSKI, Warmie i Mazury... (1984) [171] (Ermland und Masuren im
politischen Denken in Polen 1864—1945) (zum Abstimmungsproblem s. Kap. IV,
S. 189 ff.); für Oberschlesien fehlt eine ähnlich umfassende Einordnung noch,
vorerst s. z. B. Wladyslaw ZIELIÑSKI, Polska i niemiecka propaganda plebiscy-
towa na Górnym Sl^sku (Die polnische und die deutsche Abstimmungspropa-
ganda in Oberschlesien), Wroclaw 1972; Ders., Stosunek spoleczenstwa pol-
skiego... (1968) [186] (Die Einstellung der polnischen Gesellschaft zu Aufständen
und Volksabstimmung in Oberschlesien 1919 — 1921). — Für die deutsche Auf-
fassung s. W. MARKERT (Hg.), Osteuropa-Handbuch Polen... (1959) [69]; Gott-
hold RHODE, Das Deutschtum in Posen und Pommerellen in der Zeit der
Weimarer Republik, in: Die deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik
( = StDtO, Bd. 3), K ö l n - G r a z 1966, S. 8 8 - 1 3 2 .
4 Daraus resultierten lange auch viele Schwierigkeiten für die historische For-
schung, siehe dazu meine Bemerkungen (in bezug auf zwei Neuerscheinungen):
Zur Problematik des deutsch-polnischen Dialogs, in: J G M O D , Bd. 25 (1976),
S. 464 — 466. — Der Stand der Forschung ist auch heute noch nicht befriedigend;
zuletzt Gerhard SCHULZ, Deutschland und Polen vom Ersten zum Zweiten
Weltkrieg, in: GWU, 33. Jg. (1982), S. 1 5 4 - 1 7 2 , gänzlich ohne Berücksichtigung
polnischer Auffassungen. Nur als Materialgrundlage brauchbar ist der Versuch
von Frank GOLCZEWSKI, Das Deutschlandbild der Polen 1918 - 1 9 3 9 . Eine Un-
tersuchung zur Historiographie und Publizistik ( = GStPGes, Bd. 7), Düsseldorf
1974. - Gute Fortschritte hat seit Otto HEIKE, Das Deutschtum in Polen 1918 -
1939, Bonn 1955, die Erforschung der deutschen Minderheit in Polen als Problem
deutscher Politik genommen; s. N. KREKELER, Revisionsanspruch... (1973) [183];
Manfred ALEXANDER, Die Politik der Weimarer Republik gegenüber den deut-
schen Minderheiten in Ostmitteleuropa. 1 9 1 8 - 1 9 2 6 , in: AIIGTr, Bd. 4 (1978),
S. 341 — 367; Rudolf JAWORSKI, Der auslandsdeutsche Gedanke in der Weimarer
Republik, in: A. a. O., S. 369 —386; Ders., Zainteresowanie zagadnieniem niemc-
zyzny zagranicznej i kresowej w Republice Weimarskiej (Das Interesse an den
Problemen des Auslands- und Grenzlanddeutschtums in der Weimarer Republik),
in: S t H S G , B d . 19 ( 1 9 8 1 ) , S . 1 4 1 - 1 5 8 ; w e i t e r e A n g a b e n bei W . WIPPERMANN,
444 § 9 Preußen ohne Monarchie und das wiedervereinigte Polen
Der „Deutsche Drang nach Osten"... (1981) [73], S. 104 ff. - Einen Einblick in
die Diskussion der DDR-Historiker bietet der Sammelband: Der deutsche Im-
perialismus und Polen... (1978) [176]. — Über die polnische Forschung orientiert
Leonid LUKS, Die Weimarer Republik im Spiegelbild der polnischen Geschichts-
schreibung nach 1945, in: VfZ, 28. Jg. (1980), S. 4 1 0 - 4 3 9 ; speziell M. CYGANSKI,
Mniejszosc niemiecka... (1962) [175] (Die deutsche Minderheit in Zentralpolen
1 9 1 8 - 1 9 3 9 ) ; S. POTOCKI, Polozenie mniejszosci niemieskiej... (1969) [178] (Die
Lage der deutschen Minderheit in Polen 1918 —1939). — Beziehungsgeschichtliche
Fragestellung bei Z. DWORECKI, Problem niemiecki... (1981) [177] (Das deutsche
Problem im nationalpolitischen Bewußtsein der polnischen Gesellschaft in den
Westgebieten der Republik 1922— 1939). Inzwischen macht sich in der Diskussion
der Fachleute eine beträchtliche Annäherung der Standpunkte bemerkbar, s.
zuletzt die Verhandlungen der 17. deutsch-polnischen Schulbuchkonferenz, die
1984 in Augsburg stattfand: Die deutsch-polnischen Beziehungen... (1985) [179].
5 Jerzy KRASUSKI, Wplyw traktatu w Rapallo na stosunki polsko-niemieckie (Der
Einfluß des Vertrages von Rapallo auf die deutsch-polnischen Beziehungen), in:
P Z , Bd. 17 (1961), H . 2, S. 5 3 - 6 5 ; H e r b e r t HELBIG, D i e T r ä g e r der Rapallo-
Politik ( = VMPIG, Bd. 3), Göttingen 1958; Theodor SCHIEDER, Die Probleme
des Rapallo-Vertrages. Eine Studie über die deutsch-russischen Beziehungen
1922 - 1 9 2 6 ( = VAGFGew, Bd. 43), Köln - Opladen 1956; Horst Günther LINKE,
Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo ( = AbhBioSt, Bd. 22), Köln 1972.
6 Kurt SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die
politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München
1962; Otto-Ernst SCHÜDDEKOPF, Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutio-
nären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart
1960; speziell: Gerd VOIGT, Otto Hoetzsch 1876 - 1 9 4 6 . Wissenschaft und Politik
im Leben eines deutschen Historikers ( = QStGOe, Bd. 21), Berlin 1978.
§ 9 Preußen ohne Monarchie und das wiedervereinigte Polen 445
Für eine Politik gegen das Versailler System war die Frage der deutschen
Ostgrenzen allerdings ein geeigneter Ansatzpunkt. Als ihr Garant trat allein
noch Frankreich ein, während England — ganz zu schweigen von den USA
— eher Anstalten machte, sich aus Verpflichtungen von so weitgehenden
Konsequenzen herauszuhalten. Natürlich besteht für die historische Betrach-
tung kein Grund zum Triumphieren gegen Versailles, besonders dann nicht,
wenn man die unausweichliche Vertiefung des deutsch-polnischen Gegen-
satzes auf Grund der unwiderruflichen Bindung der staatlichen Existenz
Polens an die Dauerhaftigkeit des Versailler Systems in Rechnung stellt. Die
Gültigkeit dieser Konstruktion aber haben ihre Schöpfer von Anfang an
nicht in allen Konsequenzen ernst genommen. Ein Staatensystem, das die
Ersetzung übernationaler historischer Ordnungsgrundlagen in Ostmitteleu-
ropa durch den am Selbstbestimmungsrecht der Völker orientierten Natio-
nalstaat im Auge hatte, war viel komplizierter als die alte Staatenordnung
und bedurfte besonders sorgfältiger Abstützung seiner Grundlagen. Ohne
Zweifel hätte Polen Beruhigung im östlichen Mitteleuropa bewirken kön-
nen, wenn es durch ein von allen beteiligten und betroffenen Staaten bejahtes
Sicherheitssystem in seiner Unabhängigkeit geschützt worden wäre. 7
Aber diese Möglichkeiten wurden versäumt, als die Westmächte - ähn-
lich wie Großbritannien und Frankreich 1768 — die ungeklärten Spannun-
gen in Osteuropa negligierten und die Kriegsverlierer Deutschland und
Sowjetrußland sich in diesen Fragen selbst überließen. In Deutschland
konnten mythologisierte Traditionen zu politischen Maximen herangedei-
hen, und was Rußland betraf, so nahm man die Erprobung revolutionärer
Taktiken in der Außenpolitik orientierungslos hin. Selbst noch Stresemanns
konsequente Erfüllungspolitik, die nach Locamo führte, ließ in ihrer Ver-
meidung eines analogen „Ost-Locarno" die gefährliche Lücke des Versailler
Staatensystems deutlich erkennen. Sie wäre nur zu schließen gewesen, wenn
man die ernsthafte staatenpolitische Konsequenz aus der territorialen Ent-
polonisierung Preußens, nämlich die Garantie der Grenzen, gezogen hätte. 8
So blieb die deutsche Politik — mit der Fracht unkontrollierter und unre-
flektierter preußischer Traditionen — über die staatenpolitische Situation
der Nachweltkriegszeit weiter osteuropäisch engagiert. Beim Abschluß der
Westverträge sah sich die deutsche Reichsregierung genötigt, der Sowjet-
9 Siehe T. SCHIEDER, Die Probleme des Rapallo-Vertrages... (1956) [s. o. Anm. 5],
S. 75 f.
10 Im Kontext der internationalen Beziehungen gesehen bei Joseph ROTHSCHILD,
Pilsudski's Coup d'Etat, New York —London 1968, S. 292 ff.; Karol LAPTER,
Miçdzynarodowe tío przewrotu majowego (Der internationale Hintergrund
des Mai-Umsturzes), in: SpM, 9. Jg. (1956), H. 5, S. 43 - 60, H. 6, S. 5 4 - 7 1 ;
Andrzej GARLICKI, Przewrót majowy (Der Mai-Umsturz), Warszawa 1978.
11 So M . WOJCIECHOWSKI, Die deutsch-polnischen Beziehungen... (1971) [190],
S. 108 ff.; ferner Hans Roos, Polen und Europa. Studien zur polnischen Außen-
politik 1 9 3 1 - 1 9 3 9 [1957], Tübingen 2 1 9 6 4 ; R . BREYER, D a s Deutsche Reich...
(1955) [188],
§ 9 Preußen ohne M o n a r c h i e und das wiedervereinigte Polen 447
Aber auch diese Schlußfolgerung zeigt nur, genauer durchdacht, daß das
Ende des alten Europa erreicht war: Weder waren die Westmächte in der
Lage, das Staatensystem gegen die Dynamik der Hitlerschen Machtpolitik
ab 1935 zu sichern, noch läßt sich bislang erkennen, ob die Sowjetunion
1934 ernsthaft an einer staatenpolitischen Stabilisierung des Versailler Sy-
stems interessiert gewesen ist. Für den Augenblick und für die nächsten
Jahre war sie es möglicherweise, ob aber auf Dauer, wird man angesichts
der radikal anderen ideologischen Zielsetzung der Stalinschen Außenpolitik
in den 30er Jahren mit Fug in Zweifel ziehen dürfen.
Seit etwa 1935/36, vor allem seit dem Spanischen Bürgerkrieg (mit den
spezifischen Interventionsinteressen der Achsenmächte und Sowjetrußlands)
wurde deutlich, daß eine neue ideologische Dynamik in die europäische
Politik einbrach. Die deutsche Politik bekam von nun an einen wahnhaft
revolutionären Zug, der auf den Traum von der Weltherrschaft des ger-
manischen Großreiches gegründet war.
Wenn sich nun preußisches Denken in der Entgegensetzung gegen die
Un-Politik des Weltverbesserers noch einmal konzentrierte, so ist diese
preußisch-konservative Opposition gegen Hitler an ihrer eigenen Befangen-
heit in der Ostgrenzenfrage gescheitert und dadurch zu außenpolitischer
Wirkungslosigkeit verurteilt worden. England traute 1938 Hitlers Beteue-
rungen mehr als dem ehrlich gemeinten Traditionalismus preußischer Ver-
schwörer gegen die braune Diktatur. 12
Dennoch kann die Gedankenführung, die auf den beziehungsgeschicht-
lichen Epochenzusammenhang im deutsch-polnischen Verhältnis seit 1848
gerichtet ist, hier noch nicht beendet sein. Die Außenpolitik und ihre
machttraditionalistischen Dominanten wiegen schwerer als jene inneren
Wandlungen Deutschlands, die mit der Verfassungsreform im „Reich" 1934
im Zusammenhang stehen. Im Blick auf den Funktionszusammenhang der
deutschen und der polnischen Frage, den das Scheitern der liberalen Na-
tionsbildung hervorgebracht hat und aus dem der Faktor Rußland nicht
eliminiert werden kann, müssen Ausbruch und Ende des Zweiten Weltkriegs
in die Kontinuitätsreflexion zur Geschichte Preußens in Ostmitteleuropa
einbezogen werden. Das Pendel schlug zwischen 1939 und 1945 von der
erneuten Teilung Polens zu dessen Wiederherstellung aus. Im Sinne der
Kontinuitätsfragestellung muß für 1945 von der Umkehrung des Bismarck-
schen Axioms negativer Polenpolitik, das heißt von der Lösung der polni-
schen Frage auf Kosten Preußens und Deutschlands, gesprochen werden.
Eine solche Umkehrung kann in bezug auf 1918 noch nicht konstatiert
werden, denn damals blieb Rußland noch traditionell mit (Preußen-)
Deutschland verknüpft: Die Langzeitfolge war 1939 der deutsch-russische
Krieg gegen Polen. Erst 1941, als die deutsch-russische Entente zerbrach,
ohne daß (wie 1914) eine Änderung der deutschen Polenpolitik folgte, ist
ein russisch-polnisches Bündnis entstanden, das die déstruction totale de la
s 10 Anhang
Johann Cicero
* 2. Vili. 1455 t 9. 1. 1499
Kf. von Brandenburg 1486
I
Joachim I. .1
* 21. IL 1484 f l l . VII. 1535 Kasimir
Kf. von Brandenburg 1499 * 27. IX. 1481 21. IX. 1527
I Mgf. zu Kulmbach 1515
J o a c h i m II. Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1525
4 9. I. 1505 3. I. 1571
1. 2.
J o h a n n Georg Siegmund
1 11. IX. 1525 t 8. I. 1598 8 2. XII. 1538 f 14. IX. 1566
Kf. von Brandenburg 1571 Eb. von Magdeburg 1553
Hgtm. Preußen: Zulassung zur Lehns- Hgtm. Preußen: Zulassung zur Lehnsnachfolge
nachfolge 1563 1563
Mitbelehnung 1569, 1578, 1589
JOACHIM FRIEDRICH
* 27. I. 1546 t 18. VII. 1608
oo 1) 1570 Katharina, T. Mg f. Johanns von
Brandenburg-Kiistrin
oo 2) 1602 Eleonore, T. Hg. Albrecht
Friedrichs von Preußen
Kf. von Brandenburg 1598
Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1578, 1589
Vormundschaft und Regentschaft 1605
1. 1.
JOHANN S I G I S M U N D J o h a n n Georg
* 8 . XI. 1572 t 23. XII. 1619 * 16. XII. 1577 1 2 . III. 1624
oo 1594 Anna, T. Hg. Albrecht Friedrichs Hg. zu Jägerndorf 1606
von Preußen Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1611, 1621
Kf. von Brandenburg 1608
Hgtm. Preußen: Vormundschaft und Ernst
Regentschaft 1609 * 18. I. 1617 t 24. IX. 1642
Belehnung 1611 Hgtm. Preußen: Mitbelehnung 1633, 1641
FRIEDRICH WILHELM
* 6. II. 1620 t 29. IV. 1688
Kf. von Brandenburg 1640
Hgtm. Preußen: Belehnung 1641, erneuert 1649
Quelle: Stephan DoLEZEL/Heidrun DOLEZEL (Hg.), Die Staatsverträge des Herzogtums Preußen, T. 1 (Polen
und Litauen. Verträge und Belehnungsurkunden 1 5 2 5 - 1 6 5 7 / 5 8 ( = VAPrKG, Bd. 4), Berlin 1971, S. 218 f.
und mitbelehnten Mitglieder des Hauses Brandenburg
Friedrich
* 8. V. 1460 14. IV. 1536
oo 1479 Sofie, T. Kg. Kasimirs IV. von Polen
Mgf. zu Ansbach 1486, zu Bayreuth 1495
1
1. 1.
Ernst Christian Wilhelm
* 3. IV. 1583 t 18. I X . 1613 * 2 8 . VIII. 1 5 8 7 f 1. I. 1665
H g t m . Preußen: M i t b e l e h n u n g A d m i n i s t r a t o r d. E b t s . M a g d e b u r g 1598
1611 K o a d j u t o r d. E b t s . M a g d e b u r g 1 6 1 4
H g t m . Preußen: M i t b e l e h n u n g 1 6 1 1 , 1 6 2 1 ,
1 6 3 3 , 1 6 4 1 , 1649
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1932 [Verf.: Ludwig Riderer]; [414] Fritz SEIDENZAHL, 100 Jahre Deutsche Bank
1 8 7 0 - 1 9 7 0 , F r a n k f u r t / M . 1970.
Als im Jahre 1652 der im Alter von 20 Jahren 1640 zur Regierung gelangte
Kurfürst Friedrich Wilhelm sich einen Überblick über die durch den Krieg
verursachten Schäden verschaffte, um Schwerpunkte des Rétablissements
bilden zu können, stellte er fest, daß seine Kurmark, jahrzehntelang Auf-
und Durchmarsch-Raum fremder Heere, zu den Gebieten gehörte, die am
schwersten gelitten hatten. Annähernd die Hälfte der Bevölkerung war
umgekommen oder geflüchtet und hatte ein entsprechendes Ausmaß an
Wüstungen auf dem Lande, leeren Arbeitsplätzen im Handwerk, Hunger,
Arbeitslosigkeit, Entmutigung, Steuereinbußen usw. hinterlassen. Schweden
hatte Pommern, Rügen, Stettin und einen Landstrich östlich der Oder als
einen Stützpfeiler seines dominium maris baltici behalten. Zwar waren dem
Kurfürsten zum Ausgleich Hinterpommern, die säkularisierten Bistümer
Halberstadt, Minden und Kamin zugefallen, aber diese bildeten fast ebenso
wie die erst 1680 eingelöste Anwartschaft auf das Erzbistum Magdeburg
mit Halle im Augenblick eher zusätzliche Belastungen als wirkliche Ge-
winne.
Die Aufbaumaßnahmen 1 wurden durch drei Faktoren entscheidend ge-
prägt: durch die Wirkung des calvinistischen Erwählungsgedankens im
reformierten Bekenntnis des Kurfürsten, durch den Aufenthalt Friedrich
Wilhelms als Jüngling am Hofe der Oranier, der ihn in dieser Form der
Frömmigkeit bestärkte und ihn die Bedeutung der Seeschiffahrt sowie der
Seemacht erkennen, aber auch für sein armes, geographisch ungünstig
gelegenes Land überschätzen ließ, sowie schließlich durch das Erlebnis des
macht- und kulturell reizvollen französischen Absolutismus auf der Grund-
läge unter anderem einer vom Staat straff dirigierten Wirtschaft mit der
Tendenz zur reinen merkantilistischen Staatswirtschaft.
Der Besitzzuwachs von 1648 brachte dem Kurfürstentum nicht nur ein
beträchtliches wirtschaftliches Zukunftspotential, sondern auch eine gewisse
Gewichtsverlagerung nach dem Westen — ähnlich wie nach 1815 die Zu-
teilung des Rheinlandes dem Königreich Preußen. Daß damit die „europä-
ische Politik des brandenburg-preußischen Staates" begonnen hätte, 2 bildet
eine übertreibende Behauptung aus hohenzollernscher Herrschaftstradition.
Berlin und die Mark Brandenburg blieben durchaus Schwerpunkt der Wirt-
schaft. Auch ergab sich eine gewisse wirtschaftliche Umgewichtung durch
die Unterdrückung des ständischen Widerstandes 1661/63 nach der Siche-
rung der Souveränität in Preußen, welche später die Teilnahme an der in
Europa einsetzenden allgemeinen Rangerhöhung der Monarchien erleich-
terte.
Der Kurfürst hatte die Bedeutung einer starken Heeresmacht für die
Außen- und einer gefestigten Herrscherposition für die Innen- und Wirt-
schaftspolitik seit seiner Kindheit erlebt. Die Voraussetzung dafür bildeten
gesunde Staatsfinanzen. Unter diesem Gesichtspunkt in erster Linie standen
in Krieg und Frieden jene zwei Jahrzehnte in Anspruch nehmenden schweren
Auseinandersetzungen mit den Ständen, die eine absolutistisch-merkantili-
stische Herrschaft zum Ziele hatten und schließlich 1663 auch weitgehend
erreichten. Das gab dem Kurfürsten die Verfügungsgewalt über die Ver-
waltung, damit auch über das Heer und die Finanzen und ermöglichte die
Entwicklung einer weniger theoretisch als realistisch fundierten Gesamt-
staatsidee, die sich bis in die Gründung des Hohenzollern-Kaiserreiches
auswirkte - sogar bis in ihre Übersteigerung in der politikfernen Absicht
des Kronprinzen Friedrich (III.) zwischen 1866 und 1871, durch eine Invasion
die süddeutschen Staaten der preußischen Monarchie einzuverleiben.
Die durch den Sieg über die Stände ermöglichte erheblich wachsende,
aber infolge der kurfürstlichen Sparsamkeit nicht entsprechende Kosten
verursachende gesamtstaatliche Bürokratie oberhalb der Territorialbehör-
den konnte an die Einführung und Durchsetzung der „Kontribution" ge-
nannten Steuer auf dem Lande - unter Respektierung, ja Ausdehnung der
Gutsbesitzerprivilegien (Leibeigenschaft) und Einführung der in Westeuropa
bewährten Akzise, einer Art Mehrwertsteuer, an den Toren der Städte —
gehen, deren Ertrag automatisch mit dem Anwachsen der Bevölkerung und
ihres Lebensstandards stieg. Sie erbrachte 59 Prozent der gesamten staatli-
chen Steuerforderungen. Das ermöglichte zum Teil auf Veranlassung des
Staates und mit seiner Finanzhilfe die Gründung neuer Gewerbebetriebe.
Die Absicht, die Kontribution in die seit 1682 überall obligatorische Akzise
einzugliedern und diese nicht nur in den Städten erheben zu lassen, scheiterte
allerdings am Widerstand des Adels.
Doch reichten bis zum Tode des Kurfürsten trotz der durch die Tüchtig-
keit des Ministers Dodo zu Inn- und Knyphausen ( 1 6 8 3 - 1 6 9 7 ) in den
Jahren 1684 —1688 durch Zeitpacht und strenge Rechnungsprüfung in der
Kurmark um 160 Prozent steigenden Domänen-Erträge die eigenen seit
1676/79 zentral durch das Generalkriegskommissariat eingetriebenen Staats-
einnahmen nicht für die dauernde, regelmäßige Finanzierung des wachsen-
den Heeres: es bedurfte fast ständig der Subsidien hauptsächlich aus dem
reichen Frankreich, aber auch aus Schweden, Holland und Österreich, für
die der Kurfürst diesen Staaten Truppen vermietete beziehungsweise ver-
sprach, solche ihren jeweiligen Gegnern nicht anzudienen — eine empfind-
liche Beeinträchtigung der Souveränität, die sich im Politischen Testament
von 1667 niederschlug: „Allianzen sind zwar gut, aber eigene Kräfte noch
besser ... und ist ein Herr in keiner Konsideration, wenn er selber nicht
Mittel und Volk hat."
Die Jugenderlebnisse in Holland und später der Ehrgeiz des souveränen
Barockfürsten, der nach voller Anerkennung durch die europäischen Groß-
mächte strebte, drängten Friedrich Wilhelm nicht allein zum landwirt-
schaftlich-gewerblichen rationellen Landesausbau unter anderem durch För-
derung der Einwanderung und Kolonisationsmaßnahmen, der Flußschif-
fahrt mit Hilfe des Kanalbaues, sondern auch zur Beteiligung an der See-
und Überseepolitik. 3 Sein Vorbild auf diesem Gebiet war sein Onkel Jakob I.
von Kurland, der Paris und London bereits erlebt hatte, als er 1636/37
gleichzeitig mit seinem Neffen in Amsterdam und Leiden den niederländi-
schen Merkantilismus studierte und anschließend den Hafen Windau zum
„Tor in die Welt" ausbaute, eine staatliche Handelsflotte schuf, einen
günstigen Sundzollvertrag Schloß, den Handel mit den Westmächten zu
seinem Vorteil steigerte, 1651 die Gambiamündung „in Besitz" nahm, 1654
einen Schiffahrtsvertrag mit Cromwell Schloß und in Westindien Tobago
erwarb.
Nachdem in Deutschland 1658/60 mehrmals der groteske Gedanke auf-
getaucht war, eine „Reichsmarine" zu gründen, diese in Glückstadt zu
stationieren und den Kurfürsten zum Generaladmiral des Reiches zu erheben
oder eine deutsche Ostindische Kompanie zu schaffen, lockte der Erfolg
seines Onkels, des „Schiffahrtsherzogs", den Hohenzollern auf das Meer.
Aber was die Westmächte dem weit entfernt in einem Ostseewinkel regie-
renden Kurländer gestatteten, verfolgten sie bei dem seit 1682 nicht nur
von Königsberg und Pillau, sondern auch von den überfallartig okkupierten
Häfen Greetsiel und Emden aus in die Weltwirtschafts- und Imperialpolitik
drängenden ehrgeizigen Fürsten, der 1684 an der westafrikanischen Küste
das Fort Groß-Friedrichsburg gründete, mit mißtrauischer Aufmerksamkeit.
Jüngste unbefangene englische archäologische Forschungen bieten ein ganz
neues Bild von den Ergebnissen dieser Politik. Sie stellen fest, „daß das Fort
3a Arnold Walter LAWRENCE, Tade Castles and Forts of West Africa, London 1963,
S. 42, 50, 93, 219; Klaus Jürgen MATZ, Das Kolonialexperiment des Großen
Kurfürsten in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gerd
Heinrich (Hg.), Ein sonderbares Licht in Teutschland. Beiträge zur Geschichte
des Großen Kurfürsten von Brandenburg ( 1 6 4 0 - 1 6 8 8 ) ( = ZHF, Beiheft Nr. 8),
Berlin 1990, S. 200 f.
4 Otto HINTZE, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer
Geschichte, Berlin 1915 (ND Moers 1979/80), S. 244.
5 M a x WEBER, Die protestantische Ethik und der „Geist" des Kapitalismus, in:
A S W , B d . 2 0 ( 1 9 0 5 ) , S. 1 - 5 4 , B d . 2 1 ( 1 9 0 5 ) , S. 1 - 1 1 0 [ m e h r f a c h n a c h g e d r u c k t ] ;
Kemper FULLERTON, Calvinism and Capitalism, in: H T R , Bd. 21 (1928), S. 1 6 3 -
195.
S 1 Vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gründung Preußens 473
meist jungen Einwanderer eine wichtige Rolle spielen sollten - bis die
industrielle Massenwirtschaft Meisterbetrieb und Manufaktur überholte.
Von 20.000 Réfugiés, die bis zum Ende des Jahrhunderts nach Brandenburg
einwanderten, gelangten bis 1700 annähernd 6.000 nach Berlin, das 15.000
Einwohner hatte, 1.500 nach Magdeburg. Dazu kamen 2.000 wirtschaftlich
fortschrittliche Wallonen und 4.000 Pfälzer. Ihre Integration verursachte
hohe Kosten und viel Unruhe in der Bevölkerung; nur die wenigsten waren
so wohlhabend, wie die Geschichtsschreibung bis 1985 meist angenommen
hat. Außerdem lebten dort um 1700 117 jüdische Familien mit 585 Personen,
die, überwiegend Händler, zumeist aus der Mark Brandenburg eingewandert
waren. Die alteingesessenen Berliner wurden für einige Zeit beinahe eine
Minderheit in der Landeshauptstadt. Sie bildete den Mittelpunkt dieser
Bestrebungen, die der Kurfürst unter Beachtung der militärischen Interessen
(Stehendes Heer, Kasernen, Waffenproduktion, Befestigungen) über den
Nachkriegswiederaufbau hinaus zu einem bedeutenden Wirtschaftszentrum
machte. 6
In dem Dutzend Jahre zwischen dem Tode des Kurfürsten, der seiner
Dynastie den Trieb zur Macht auf der Grundlage von Sparsamkeit und
Ausnutzung der Untertanen eingepflanzt, aber auch in seinem Testament
die Verteilung kleinerer Territorien und Ämter an seine Söhne aus zweiter
Ehe bestimmt und damit eine staatsgefährdende Herrschervorstellung ent-
wickelt hatte, und der eigenmächtigen Erhebung seines Staates zu einem
ärmlichen Königreich, bildete wohl für die Zukunft dieser Monarchie das
bedeutungsvollste Ereignis die Gründung der Universität Halle im Jahre
1694: rund ein Jahrhundert später sollte von den Hohen Schulen in Kö-
nigsberg und Halle eine gewisse Liberalisierung der Wirtschaft und damit
deren Erholung von den Übertreibungen des Absolutismus ausgehen.
Friedrich Wilhelms Nachfolger, Friedrich I., hat drei wirtschaftlich wich-
tige Leistungen vollbracht. Ohne Rücksicht auf Pietät hat er das Erstge-
burtsrecht bei der Erbfolge und die Unteilbarkeit des gesamten Staatsgebie-
tes einschließlich etwaiger neu gewonnener Territorien durchgesetzt, einen
wichtigen Faktor des nun seiner Höhe zuwachsenden Merkantilismus. Er
hat den einer reformierten Familie aus dem in oranischem Besitz befindli-
chen Lingen entstammenden Eberhard von Danckelmann 7 zum Leiter der
brandenburgischen Politik gemacht und 1695 in aller Form zum Oberprä-
sidenten des Geheimen Rates erhoben, als der dieser ganz dem Staat
ergebene, Colbert ähnliche, geistig überaus bewegliche Mann sich außer-
ordentlich bewährte, bis die durch vom unzufriedenen Adel in ihrer Ab-
neigung bestärkte Kurfürstin ihn bereits 1697 zu Fall brachte. Und der
Kurfürst hat sich schließlich schon 1689 von seinem Hofkammerpräsidenten
Dodo II. von Knyphausen zur Gründung der Geheimen Hofkammer, einer
Zentralbehörde für die Domänenverwaltung im ganzen Staate, bewegen
lassen, die unter anderem durch den Übergang von der Natural- zur Geld-
wirtschaft bei der Verpachtung sowie durch die Einführung von Jahresetats
das Finanzwesen zu rationalisieren versuchte. Das scheiterte allerdings an
der bedenkenlosen Ausgabenwirtschaft, die mit den gewaltigen Kosten der
Krönung begann und anschließend von dem Premierminister Kolbe von
Wartenberg als Vorsitzendem eines neu geschaffenen Ober-Domänen-Di-
rektoriums fortgesetzt wurde. Als Friedrich Wilhelm I. eben den Thron
bestiegen hatte, bemerkte er, der sofort Danckelmann rehabilitiert hatte,
1713 zu dem ihn besuchenden Zaren Peter den Großen, er brauche min-
destens ein Jahr, um wieder Ordnung in die Finanzwirtschaft seines Staates
zu bringen.
Die wirtschaftlich bedeutendste Gesellschaftsgruppe im Lande bildeten
zur Zeit der Königskrönung die adligen Rittergutsbesitzer, die keine Kon-
tribution zahlten, den Handel mit ihren Gutserzeugnissen zollfrei betrieben
sowie von Einquartierung und Marschleistung befreit waren. Ihnen unter-
standen die Bauern — im Osten in strengerer Abhängigkeit als im Westen:
jenseits der Weser gab es weder Gutsherrlichkeit noch Gutswirtschaft als
Großbetrieb, sondern Grundherrschaft mit gelegentlicher Eigenwirtschaft
geringen Umfanges sowie bäuerliche Kleinbetriebe. Dagegen wurden die
großen geschlossenen ostelbischen Besitzungen der Rittergutsbesitzer, die
Gericht und Polizei ausübten, mit Hilfe von Frondienstpflichtigen und ihrer
zum Gesindedienst gegen geringen Lohn verpflichteten Kinder bewirtschaf-
tet. Sie, die ihrem Herren, nicht dem Fürsten, den Untertaneneid leisteten,
so daß ihr Entweichen der Desertion glich, zahlten Steuern und stellten die
Soldaten, lebten häufig in nicht menschenwürdigen Verhältnissen, die nach
Als Hunger und Pest 1710 das Land in großes Elend stürzten, 2 begann
Kronprinz Friedrich Wilhelm, in die Regierung einzugreifen: der Betrüger
Wittgenstein wurde gestürzt. Schon als Kronprinz plante Friedrich Wilhelm
nach dem Erlebnis der militärischen Hilflosigkeit Preußens im Nordischen
Krieg die Reform des Staates vom Heere aus, während gleichzeitig neben
dem Geist des Calvinismus der des Pietismus die Auffassung von Staat und
„Nation" zu beeinflussen begann, der auch im Hausgesetz vom 13. August
1713 zum Ausdruck kam: es erklärte nicht allein den Staat für unteilbar
und unveräußerlich, sondern machte auch Schluß mit allen Domänen-
Vererbpachtungs- und Verkaufsideen, mit denen Friedrich I. nach 1701 zur
Beschaffung von Geld gespielt hatte. Noch König Wilhelm I. hat sich
8 W. RIBBE (Hg.), Geschichte Berlins ( 2 1988) [s.o. Anm. 6], Bd. 1, passim; Karl
Heinrich KAUFHOLD, Der preußische Merkantilismus und die Berliner Unterneh-
mer, in: Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft
— Lehren und Erkenntnisse, Berlin — New York 1987, S. 19 — 40.
9 Klaus DEPPERMANN, Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter
Friedrich III. (I.), Göttingen 1961.
1 W. TREUE, Wirtschafts- und Technikgeschichte... (1984) [15]; Carl HINRICHS,
Friedrich Wilhelm I., König in Preußen. Eine Biographie. Jugend und Aufstieg,
Hamburg 1941 (ND Darmstadt 1968).
2 F. TERVEEN, Gesamtstaat und Rétablissement... (1954) [151].
476 § 2 Staatswirtschaft und Privatwirtschaft in Preußen 1710 — 1740
4 S. v o n FRAUENDORFER, I d e e n g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 5 7 ) [ 4 3 ] , B d . 1, S. 1 3 0 f f . ; W . ABEL,
Geschichte der deutschen Landwirtschaft... (1962) [37], S. 258ff.
5 R. STADELMANN (Hg.), Preußens Könige... ( 1 8 7 8 - 1 8 8 7 ) [29], Bd. 1, Leipzig 1878,
Bd. 2, Leipzig 1882.
6 Harald REISSIG, Das Berliner Lagerhaus 1713 —1816. Zum Einfluß von Regierung
und Wirtschaft auf die Entwicklung einer altpreußischen Staatsmanufaktur, in:
J G M O D , Bd. 29 (1980), S. 6 8 - 9 5 .
478 § 2 Staatswirtschaft und Privatwirtschaft in Preußen 1 7 1 0 - 1 7 4 0
In einer Kabinettsorder vom 10. September 1740 bekannte Friedrich II. sich
verehrungsvoll zur Aufbauarbeit seines Vaters gerade auf den grundlegenden
Gebieten der Finanzorganisation und des Finanzrechts, hatte jedoch bereits
mit Reform beziehungsweise Anpassung des vor fast 20 Jahren geschaffenen
Generaldirektoriums durch die Einrichtung eines V. Departements für Kom-
merz-, Fabrik- und Manufakturwesen begonnen. Drei weitere Departements
und auch Veränderungen in der Aufteilung der Arbeit des Generaldirekto-
riums folgten in den nächsten Jahrzehnten. Die Dynamik, mit der der
» H. RACHEL, Acta Borussica... (1911 - 1 9 2 8 ) [190], Bd. 2/2, Berlin 1922, S. 231 f.
480 § 3 Preußens W i r t s c h a f t 1 7 4 0 - 1 7 5 6
jugendliche Herrscher sein Amt antrat, bewegte ihn unvermindert bis tief
in den Siebenjährigen Krieg hinein, so daß der „aufgeklärte" Absolutismus
und wirtschaftliche Zentralismus in dieser Zeit eher verstärkt als gemindert
wurden — mit Ausnahme der Verwaltung der eroberten schlesischen Provinz
durch einen Sonder- und Entwicklungsminister, 1 was letzten Endes mehr
Verwirrung — unter anderem auch im Generaldirektorium - stiftete als
diese Agrar- und Textilregion förderte.
Diese Provinz Schlesien 13 mit ihrer reichen Wollproduktion von jährlich
zwei Millionen Kilogramm, am Rande der preußischen Monarchie gelegen,
geriet zunächst einmal in einen überaus teuren Zollkrieg mit den Nachbarn,
so daß ihr Außenhandel praktisch einging, während der mit den preußischen
Provinzen nur sehr langsam aufgebaut wurde, so daß der Lebensstandard
der 1,1 Millionen Schlesier, die preußische Untertanen geworden waren,
entschieden sank. Bis 1763 Schloß Preußen nicht einen einzigen für Schlesien
vorteilhaften Handelsvertrag.
Am 7. Juni 1744 ergriff Friedrich II. in aller Form Besitz von Ostfriesland,
das bereits der Große Kurfürst 1683 okkupiert hatte. Sofort ging man dort
an die Trockenlegung von Mooren, Ansetzung von Kolonisten und Verbes-
serung des Deichbaus. Warum der König, der vergeblich Handelsverträge
mit westeuropäischen Staaten anstrebte, also deren Wohlwollen und Part-
nerschaft suchte, in dieser Situation und trotz der teuren negativen Erfah-
rung des Großen Kurfürsten mit dem Überseehandel sich 1751 zur Gründung
einer Asiatischen Kompanie in Emden für den Handel ausgerechnet mit
dem Fernen Osten entschloß, ist nicht genau festzustellen. Als die ersten
vier Schiffe mit wertvoller Ladung zurückkehrten, machte das sofort die
Amsterdamer und Londoner Kaufleute aufmerksam: 1755 war es mit diesem
zweiten weltwirtschaftlichen Ansatz eines Hohenzollernfürsten vorbei. Im
Zusammenhang mit Viehzucht und -handel in Ostfriesland selber entwik-
kelte sich ein relativ starker jüdischer Bevölkerungsanteil (1871 1,3 Prozent,
1925 0,84 Prozent), so daß zum Beispiel Aurich, Norden und Leer bis 1933
verhältnismäßig große jüdische Gemeinden hatten. 2
7 Wilhelm TREUE, Über preußische Könige und ihre Mitarbeiter im 18. Jahrhun-
dert, in: Norbert Horn (Hg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und
Gegenwart. Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, München 1982,
Bd. 1, S. 4 0 9 - 4 2 0 .
§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement" 487
mischer, auch für ehrlicher hielt als seine Untertanen — ein eigenartiges
Versagen des grundsätzlich so mißtrauischen Monarchen, der nicht in der
Lage war, einen Teil der Schuld an dieser Situation in seiner Wahl unerfah-
rener, auch unfähiger Mitarbeiter für freigewordene und neu geschaffene
Stellen zu erkennen. Daraus erwuchs das menschlich verlustreiche Kapitel
„Friedrich II. und die Beamten nach 1756". Auch vermochte er nicht
einzusehen, daß die Nachkriegskrisis in Preußen weitgehend vom Ausland
her verursacht wurde. Als ihm ein sorgfältiger Bericht die Schwächen seiner
Entscheidungen nachwies, wandte er sich gegen dessen Verfasser, den Geh.
Finanzrat Ursinus, konnte diesem engen Mitarbeiter unglücklicherweise
auch jahrelang betriebene Bestechungen durch Unternehmer, die der König
selber subventioniert hatte, nachweisen und fühlte sich nun erst recht in
seinem generellen Urteil über seine engste Umgebung bestätigt.
Jetzt war er endgültig überzeugt, daß seine Vorhaben wie etwa die
Wiederauffüllung des Staatsschatzes, Steuererhöhungen, die Einführung
einer allgemeinen Einkommenssteuer, die Forcierung der inneren Koloni-
sation, die Modernisierung der Land- und Forstwirtschaft, der Ausbau
Stettins, die Förderung des Überseehandels, schließlich die Aktivierung der
Handelsbilanz nur mit Hilfe ausländischer Spezialisten einerseits und durch
Verstärkung des Absolutismus andererseits, durch Ausdehnung des Pacht-
und Monopolwesens sowie durch staatliche „Regie" nach französischer Art
und durch allgemeine Abgabenerhöhung statt durch Stärkung der Unter-
nehmerkräfte möglich sei.
So entzog er dem Generaldirektorium den Rest seines Vertrauens, enga-
gierte den bereits in Frankreich verkrachten Bankier Antonio Calzabigi aus
Livorno als Finanz- und Kommerzienrat sowie einige Franzosen für Tabak-
monopol und Post, die sich insgesamt schnell als unfähig und unzuverlässig
erwiesen, so daß sie seit 1769 wieder durch preußische Beamten ersetzt
wurden. Die wichtigste neue Einrichtung, die „Generaladministration der
königlichen Gefalle", die „Regie", übertrug der König mit großen Voll-
machten für sechs Jahre fünf Franzosen. Die Befreiung von ihnen und ihren
vielen schlechten französischen Mitarbeitern zog sich von 1772 bis 1784
hin, obwohl der Minister Freiherr von Heinitz bereits 1781 in einer entlar-
venden Denkschrift nachgewiesen hatte, daß die Akzise 1780/81 weit we-
niger erbracht hatte als im Krisenjahr 1765/66. N u n nannte der König die
Franzosen „lauter solch Schurkenzeug", ohne daß dadurch das Vertrauen
seiner ungerecht behandelten Beamten in die Genialität seiner Urteilskraft
wiederhergestellt wurde. Nicht wenige hofften auf ein baldiges Ende seiner
Herrschaft.
In Friedrichs letzten 15 Jahren trat das Manufakturwesen in Berlin und
Brandenburg, auch in Schlesien stärker in den Vordergrund. Trotz Friedrichs
wachsender Enttäuschung über die Fehlleistungen der von ihm angewor-
benen Ausländer gelang es einem solchen, das Vertrauen des Königs zu
gewinnen und ein Projekt von großer dauernder Bedeutung ins Leben zu
rufen. Im Jahre 1767 empfahl der aus Bremen stammende Amsterdamer
Kaufmann Dietrich E. Bühring dem König, für den in großer Kreditnot
befindlichen grundbesitzenden Adel an die Stelle des gefährlichen Indivi-
488 § 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement"
TABELLE 1
Pfandbriefumlauf der preußischen Landschaften
Jahr Pfandbriefe
(in Mill. Mark)
1770 0,066
1805 164
1815 190
1848 257
1870 634
1890 1750
1900 2160
1906 2507
Quelle: F. H E C H T , D i e O r g a n i s a t i o n d e s B o d e n k r e d i t s . . . ( 1 8 9 1 - 1 9 0 8 ) [ 1 3 2 ] , A b t . 3 ,
Bd. 1, Leipzig 1908, S. VIII und 598.
8 Stephan SKALWEIT, Diederich Ernst Bühring, in: NDB, Bd. 2, Berlin 1955, S. 727;
Ernst KLEIN, Von den Anfängen bis zum Ende des alten Reiches (1806) ( = G.
Ashauer u.a. (Hg.), Deutsche Bankengeschichte... ( 1 9 8 2 - 1 9 8 3 ) [126], Bd. 1),
Frankfurt/M. 1982, S. 201 - 216; J. ZIEKURSCH, Hundert Jahre schlesischer Agrar-
geschichte... ( 2 1927) [59]; Ingrid MITTENZWEI, Friedrich II. und die Übergangs-
epoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: ZfG, 34. Jg. (1986), S. 6 8 4 - 6 9 8 ;
F. H E C H T , D i e O r g a n i s a t i o n d e s B o d e n k r e d i t s . . . ( 1 8 9 1 - 1 9 0 8 ) [ 1 3 2 ] , A b t . 3 , B d . 1
(Die Landschaften und landschaftlichen Institute), Leipzig 1908.
9 H[ermann] FECHNER, Die Wirkungen des preußischen Merkantilismus in Schle-
sien, in: VSWG, Bd. 7 (1909), S. 3 1 5 - 3 2 3 ; Wilhelm TREUE, Georg von Giesche's
Erben 1 7 0 4 - 1 9 6 4 , Hamburg 1964.
§ 4 Die Wirtschaft im Siebenjährigen Kriege und im „Rétablissement" 489
wie in den übrigen Gewerben die Lockerung des Dirigismus, schließlich die
Gewerbefreiheit und ein zeitgemäßes Aktienrecht.
Neben dieser Entwicklung von Schlesiens Bergbau- und Metallindustrie,
die in den achtziger Jahren an Breite und Tempo gewann, erlebte sein
Textilgewerbe weniger auffällig eine neue Blütezeit. Zwischen 1763 und
1786 sollen in Schlesien mehr als 1.300 neue „Industriebetriebe" gegründet
worden sein - davon etwa 850 im Textilbereich, wobei es sich allerdings
in der ersten Zeit mehr um Wiederaufbau als um Schaffung neuer Kapzitäten
gehandelt haben dürfte. Mit dieser Produktionssteigerung bei Leinen und
Wolle verbunden war die Leistung des Handels: Schlesisches Leinen war
über Lissabon und Cadiz bis nach Südamerika, über London bis nach
Indien und Nordamerika beliebt, stieß allerdings auf Behinderung durch
den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und auf irisch-schottische sowie
russische Konkurrenz, die sich neuer Bleichmethoden und zum Teil der
ersten mechanischen Webstühle, in England auch schon der Dampfmaschine
bediente, die in Preußen zum ersten Male erst 1785 bei Hettstedt verwendet
wurde.
Wenngleich um 1786 in Schlesiens Textilgewerbe viel mehr Menschen
beschäftigt wurden als im Bergbau nebst Hütten- und Metallverarbeitung,
war jenes ein zurückbleibender (und nie mehr ganz gesunder) und dieser
ein bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts steil ansteigender Gewerbebereich
mit spektakulären Leistungen, die sich zum Teil auch auf andere Bereiche
auswirkten: 1765 wurde in Breslau hauptsächlich für den Bedarf des Tex-
tilgewerbes das Bankhaus Eichborn & Co. gegründet, das sein Geschäft
bald auch auf die neuen Industriebereiche ausdehnte und dabei stärker mit
der Preussischen Seehandlungs-Societät, einer unter anderem zur Förderung
der Wirtschaft gegründeten Staatsbank, zusammenarbeitete als mit dem
Privathandelshaus Splitgerber & Daum. 1 3
Maulbeerbaumpflanzungen und Seidenfabrikation 14 aus heimischen Roh-
stoffen gehörten wie die Porzellanerzeugung mehr zur Repräsentation des
absoluten Fürstentums als zur produktiven Wirtschaft, wenngleich beides
in gewissem Umfang den Import verringerte. Die seit 1685 von Hugenotten
in Brandenburg geschaffenen ersten Ansätze zur Seidenwirtschaft waren bei
Friedrichs Thronbesteigung bereits wieder vergessen — so ähnlich wie die
Flotten- und Überseepolitik des Großen Kurfürsten. Der König begann
beides von neuem und erlebte wie jener Mißerfolge. 1783/84 wurde für eine
Million Taler Rohseide importiert und mit hohen Subventionen Rohseide
mäßiger Qualität im Werte von 54.000 Talern im Lande selber erzeugt.
Dagegen florierte nach wie vor die Seidenwaren- und Band-Produktion der
mal, die tierischer Fette zwei- bis dreimal so teuer wie die des Roggens
(Roggenbrot etwa 30 Prozent teurer als der Roggen selbst), so daß also der
ärmere Teil der Bevölkerung nur sehr selten in den Genuß von Fleisch und
Fett gelangte und die Ernährung dieses Bevölkerungsteils sich im Laufe des
18. Jahrhunderts merklich verschlechterte. Kartoffeln begannen erst nach
1780 eine erwähnenswerte Rolle zu spielen.
Die in Friedrichs Todesjahr 1786 erschienene zweite Auflage von Friedrich
Nicolais „Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam"
stellte die Hauptstadt der Monarchie und ihre Vorstädte mit über 6.600
Häusern und 147.000 Einwohnern (darunter 14.000 Soldaten mit 45.000
Frauen und Kindern, aber nur 9.140 Bürger und 5.500 Mitglieder der
französischen „Kolonie" sowie 400 — 500 jüdische Familien) an Schönheit
und wirtschaftlicher Lebenskraft neben die bedeutendsten kontinentaleu-
ropäischen Hauptstädte. 18 Der bekannteste Groß- und Speditionskaufmann,
Bankier und Unternehmer überhaupt in Preußen war „Splitgerbers Erben".
Bei der Produktion Berlins standen an der Spitze die Textil-, hauptsächlich
die Leinen- und Wollmanufakturen, die zwei Drittel aller Manufakturen
ausmachten. Die Bauwirtschaft spielte vom Künstler-Architekten bis zum
ungelernten Arbeiter, bis zu Tischlerei und Glaserei in dieser schnell wach-
senden Stadt eine die Gesamtwirtschaft sehr belebende und stabilisierende
Rolle. Der König selber ließ anfangs in Potsdam, nach der Besetzung Berlins
durch die Russen auch dort, insbesondere nach 1763, noch mehr seit 1775,
viel bauen: Jetzt entstand das frühklassizistische Berlin mit Kirchen, Palais
und Bürgerbauten mit einer vom König auf vielen Wegen geförderten
„Bauwut", die zahlreiche ausländische Saisonmaurer und -zimmerleute her-
anzog und insgesamt schon seit 1752 700 im Stadtteil „Voigtland" ansiedelte,
da immer mehr von ihnen auch im Winter Arbeit in der Stadt fanden.
Grundstücksspekulation und Mietsteigerung konnte der König, der selber
durch Kasernenbauten der bedeutendste Bauherr war, 1763 durch Gesetze
eindämmen.
Die Wohnverhältnisse waren nach mitteleuropäischen Maßstäben in Ber-
lin nicht schlecht: 6.644 Hausbesitzern standen 28.000 Haushaltungen mit
etwa 100.000 Zivilisten gegenüber. Mehr als 75 Prozent der Haushaltungen
entfielen also auf Mietwohnungen — viele davon in jungen, modernen
Häusern. Berlin, eine Beamten-, Militär- und Manufakturenstadt, so groß
wie Madrid und Rom, fast so groß wie Wien, aber kaum mehr als ein
Drittel so groß wie Paris, ein Sechstel so groß wie London, war, auf Sand
gebaut und zwischen fließenden Gewässern gelegen, gesünder als die meisten
anderen Großstädte. Die Sterblichkeit war etwa halb so groß wie die in
Wien, die Zahl der Geburten übertraf seit 1777 die der Todesfälle.
In der Berliner Oberschicht begann um 1800 die „klassische Zeit" der
seit 1780 entstandenen literarischen Salons. In ihnen spielten nicht wenige
18 Vgl. auch Ilja MIECK, Land und Leute und die Existenzbedingungen im Staat
Friedrichs II., in: Friedrich der Große. Herrscher zwischen Tradition und Fort-
schritt, Gütersloh 1985, S. 114 - 1 2 2 ; H.-P. ZIERHOLZ, Arbeiterschaft und Recht...
(1985) [184],
494 § 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1786 - 1806
gann seine Regierung unter dem Einfluß ungeeigneter Berater mit in sich
widersprüchlichen Maßnahmen: Er hob die verhaßten Kaffee- und Tabak-
monopole auf und erleichterte die Beschränkungen beim Getreide-Im- und
-Export, erhöhte aber die Steuern auf Lebensmittel und mußte außerdem
bereits 1788 den Getreidehandel erneut belasten und 1789 das Tabakmo-
nopol wiederherstellen, so daß schließlich für die große Masse der Bevöl-
kerung das Leben teuerer war als unter Friedrich II. Der Finanzminister
J . Ch. von Wöllner verschleuderte innerhalb von acht Jahren den Staats-
schatz, der mehr als 50 Millionen Taler betragen hatte, und überließ die
Einnahmen der Dispositionskasse, ein Achtel der Gesamteinnahmen, der
Hofhaltung, während die Staatsverwaltung immer teuerer wurde. Ein Jahr-
zehnt nach Friedrichs Tod war Preußen verarmt und wieder von In- und
Auslandsanleihen sowie von Scheingewinnen durch Erhöhung des Umlaufs
von Scheidemünzen abhängig, da Heeresvergrößerung, Offiziergehaltser-
höhungen und die Übernahme von Ansbach-Bayreuth hohe Kosten verur-
sachten. Im Jahre 1794 bezog Preußen erstmals nach dem Siebenjährigen
Kriege wieder englische Subsidien. Finanziell erschöpft, mußte es 1795 mit
Frankreich den Frieden von Basel schließen. 1797 hinterließ Friedrich Wil-
helm II. 50 Millionen Taler Schulden: Innerhalb eines, allerdings unruhigen,
Jahrzehnts hatte er 100 Millionen Taler mehr ausgegeben als eingenommen.
Friedrich Wilhelm III. begann unter der Beratung durch den mit ihm
befreundeten Kammergerichtsrat Beyme, den Kabinettsminister von Har-
denberg und den Kammerdirektor Freiherrn vom Stein in Westfalen 1798
mit einer Finanzreform, aus der bald die Vorbereitung einer umfassenden
Verwaltungsreform hervorging. Sie versuchte vergeblich zu sparen, verla-
gerte ein wenig Steuern, Zölle und Abgaben und hob 1805 Binnenzölle auf.
Allmählich ging man wieder zur Aufstellung realistischer Etats über: Die
Staatseinkünfte stiegen 1 7 9 7 / 9 8 - 1 8 0 5 / 0 6 von 20,5 auf 27 Millionen Taler,
so daß man nicht nur die Kosten des Heeres aufbringen, sondern auch die
Schulden um sieben Millionen Taler verringern und einen Staatsschatz in
Höhe von 13 Millionen Talern bilden konnte. Preußen befand sich auf dem
Wege zur finanziellen Gesundung, als es 1806 Frankreich den Krieg erklärte.
Er endete mit dem Verlust von 48 Millionen Talern in einer Niederlage,
der Besatzungskosten und Kriegsentschädigung folgen mußten.
Die landwirtschaftlichen Neuerungen, 3 die Friedrich II. in seinen letzten
Jahren begonnen hatte, wurden der Bevölkerungssteigerung und Urbanisie-
NAUDE, Der Preußische Staatsschatz unter König Friedrich Wilhelm II. und seine
E r s c h ö p f u n g , in: F B P G , B d . 5 ( 1 8 9 2 ) , S. 2 0 3 - 2 5 6 ; A r n o H E R Z I G / R a i n e r SACHS,
Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneider-
meisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation ( = GöBtrWSG,
Bd. 12), Göttingen 1988.
3 H . - H . MÜLLER, M ä r k i s c h e L a n d w i r t s c h a f t . . . (1967) [162]; Ders., Einige Aspekte
der Viehhaltung im ausgehenden 18. Jahrhundert. Eine Analyse auf Grund von
Preisschriften der Preußischen Akademie der Wissenschaften über die Einführung
der Stallfütterung aus dem Jahre 1788, in: JbWG, 1972/3, S. 7 7 - 1 0 5 ; Otto
BÜSCH, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713 —1807. Die Anfänge
496 § 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1 7 8 6 - 1 8 0 6
die Erteilung des Eigentums. Die zweite Stufe bildete dann die Aufhebung
der persönlichen Untertänigkeit. Diese Reform auf den Domänen stellte das
Bedeutendste dar, was das alte Preußen auf dem Gebiet der agrarischen
Gesetzgebung geleistet hat — womit es allerdings auch sein eigenes Ende
einleitete. Das alles hatte eine radikale Umstellung von der Fron- und
Zwangsarbeit auf „freie" Landarbeiterleistung, von der herrschaftlichen
Arbeitsverfassung zum „freien" Vertrag, sehr allmählich von der Dienst-
wirtschaft zur Geldwirtschaft zur Folge. In den östlichen Provinzen überwog
noch bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Bezahlung durch, seit
etwa 1880 verbesserte, Deputatleistungen.
Seit etwa 1800 erlebten auch die nichtlandwirtschaftlichen Gewerbe 5
immer deutlicher einen Aufschwung — an ihrer Spitze die Textil- und
Bekleidungsgewerbe, die, mit der Leinenverarbeitung in Schlesien an der
Spitze, unter langsamer Einführung einfacher Maschinen seit 1800 über ein
Drittel der Selbständigen und 80 Prozent der Manufaktur- und Fabrikar-
beiter beschäftigten, gefolgt von der Metallverarbeitung. Erst dahinter ent-
wickelte sich das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe, da die ländliche und
zu einem erheblichen Teil auch die städtische Bevölkerung auf diesem Gebiet
Selbstversorger war. Die durchschnittlichen Betriebsgrößen waren überall
sehr bescheiden; keineswegs jeder Handwerksmeister hatte einen Gesellen
oder Lehrling.
Als Preußen 1806/07 seine westlichen Gebiete verlor, bestand es nur noch
aus drei deutlich voneinander unterschiedenen Regionen: Berlin 6 mit der
Kurmark, der aktivste, auch relativ wohlhabendste, dicht bevölkerte Ver-
waltungs-, Militär- und Manufakturbereich; die östlichen Provinzen, die
durch die polnischen Teilungen 7 einen starken, armen und zunächst wenig
entwicklungsfähigen polnischen Bevölkerungsanteil erhalten hatten; schließ-
lich das verkehrsungünstig gelegene, noch immer mehr ausgebeutete als in
den Staat integrierte Schlesien, 83 das durch See- und Überseekriege sowie
sischen Handel 1786 bis 1797, in: ZVGSchl, 28. Jg. (1894), S. 3 4 1 - 4 1 0 ; A.
ZIMMERMANN, Blüthe und Verfall... (1885) [79], S. 188 ff.; J. ZIEKURSCH, Hundert
Jahre schlesischer Agrargeschichte... ( 2 1927) [59]; H. KISCH, The Textile Indu-
stries... (1959) [87]; Konrad WUTKE, AUS der Vergangenheit des schlesischen
Berg- und Hüttenlebens. Ein Beitrag zur preußischen Verwaltungs- und Wirt-
schaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Festschrift zum 12. Allgemeinen
Deutschen Bergmannstag in Breslau 1913 ( = Der Bergbau im Osten des König-
reichs Preußen, Bd. 5), Breslau 1913; K. FUCHS, Vom Dirigismus zum Liberalis-
mus... (1970) [61], S. 71 ff.; Hans-Wilhelm BÜCHSEL, Rechts- und Sozialgeschichte
498 § 5 Wirtschaft, Finanz und Technik 1 7 8 6 - 1 8 0 6
durch die völlige Vernichtung des polnischen und russischen Handels nach
den Teilungen Polens eine so schwere Arbeitslosigkeit erlitt, daß es 1792
zu Hungerunruhen und am 15. April 1793 in Breslau zu einem Gesellen-
aufstand kam — dem schwersten Aufstand dieser Art in Deutschland.
Dagegen erlebten Bergbau und Industrie durch Heinitz und Reden unter
Förderung der Privatinitiative und des Handels, Straßen- und Kanalbaues
eine Zeit lebhafter Entwicklung, wobei neben dem Erz- immer stärker auch
der Kohlenbergbau als Brennstoffbasis für Hütten- und Verarbeitungsbe-
triebe in den Vordergrund trat. Allerdings bedurfte die Metallwirtschaft
noch des Zollschutzes, der Befreiung von Akzise und anderen Abgaben
sowie staatlicher Abnahmegarantie.
Entscheidende Bedeutung für diesen gesamten Aufschwung hatte die
Übernahme englischer, wallonischer, auch schwedischer Erfahrungen, wobei
die seit 1799 nach Plänen von Reden gebaute staatliche „Königshütte" als
Vorbild für die Privatunternehmer wirkte, das großartigste Hüttenwerk,
seit 1802 mit den beiden größten Kokshochöfen, auf dem Kontinent. Seit
den späten 80er Jahren konnte Heinitz auch eine zentrale Transferpolitik
im Bereich der Technik mit Hilfe des 1768 geschaffenen Berg- und Hütten-
departments betreiben. Zum Erfolg dieser Politik trug auch das psycholo-
gische Klima bei, in dem dieses Departement und seine regionalen und
lokalen Mitarbeiter tätig waren: „Patriotismus" war ein in diesem Zusam-
menhang häufig benutzter Begriff. 8b Der alternde Heinitz und sein die
staatliche Lenkung bevorzugender Neffe Reden legten den Grund für ein
neues industriewirtschaftliches Zeitalter der Provinz und des Staates, wovon
nach 1815 zunächst auch die Wirtschaft in den neu erworbenen Gebieten
an Rhein und Ruhr profitierte.
Neben den Gruppen staatlicher und privater technischer und wirtschaft-
licher Könner standen die schlesischen Magnaten, die als „Schlotbarone"
in der preußisch-deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte einen
bedeutenden Platz erhalten sollten — zum Beispiel die Henckel-Donners-
marck mit der Antonien-Hütte seit 1805/06, die Hohenlohe mit der Ho-
henlohe-Hütte seit 1809, Philipp Graf Colonna mit dem 1806 vollendeten
Colonna-Hüttenwerk, das nach seinem Tode 1807 Graf Renard auf eine
höhere Stufe hob.
Entsprechend solchem Wachstum in diesen drei Regionen nahm dort der
Handel zu, mußte das Verkehrswesen verbessert werden, wurde allmählich
der lange Zeit vernachlässigte Chausseebau in Angriff genommen, der in
England und Frankreich seit Jahrzehnten wie der Kanalbau den Handel
erleichterte - bis seit 1835 die Eisenbahn hinzutrat.
Bei der Beobachtung der technisch-industriellen Fortschritte in England,
Schottland, Wallonien und Skandinavien war nicht zu übersehen, daß sie
in erster Linie Erfindern, Konstrukteuren, technisch „Gebildeten" zu ver-
danken waren und daß diese ihre Bildung nicht mehr in erster Linie auf
Universitäten und Gymnasien, Klosterschulen und Ritterakademien erwar-
ben, sondern auf Schulen neuer Art und in der wirtschaftlichen Praxis unter
Entwicklung neuer Bildungs- und Berufsideale. 9 Dabei erwiesen sich der
niederländische Calvinismus und der berlinisch-hallische Pietismus mit ih-
rem „Arbeitsethos" und ihrer „Berufungs-Auffassung" als eine vorzügliche
Voraussetzung. So traten seit 1770 das „besondere Berginstitut", seit 1774
„Bergakademie" genannt, in dem auch die Waldwirtschaft beachtet wurde,
seit 1799 die Berlinische Bauakademie als Ansatzpunkte für weiterreichende
Entwicklungen, seit 1804 Albrecht Thaers „Lehrinstitut" auf dem Gebiet
der modernen Landwirtschaft in Möglin zu den Schulen traditioneller Art
hinzu, während es in Berlin, im Gegensatz zu Paris und London, kaum
gelang, die Akademien für die angewandten Wissenschaften zu interessieren.
Dagegen tat sich manches bei den Staatswissenschaftlern und Volkswirt-
schaftlern einiger preußischer Universitäten. Bereits zu Beginn der achtziger
Jahre las und interpretierte man in Königsberg das 1776 erschienene Haupt-
werk des bedeutenden schottischen liberalen Wirtschaftstheoretikers Adam
Smith, die „Untersuchungen über den Wohlstand der Nationen" — ein
Buch, das, ganz calvinistischer Lebensauffassung entsprechend, in den fol-
genden Jahrzehnten insbesondere in den protestantischen Gesellschaften des
Abendlandes über das „Wirtschaftliche" hinaus in Richtung auf eine all-
gemeine Liberalisierung des Denkens und der Zielsetzungen tiefgreifende
Veränderungen verursachen sollte und schließlich die entscheidende Her-
ausforderung für Karl Marx wurde. In Verbindung mit den Ideen über die
„Bauernbefreiung" im weitesten Sinne und mit der zunehmenden „Techni-
§ 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5
Zentralraum des Königreichs, aus, hat Preußen sich seit 1807 erneuert und
ist anschließend territorial und wirtschaftlich über sich selbst hinausge-
wachsen zum Ruhrgebiet, nach Köln, bis nach Aachen und zur Saar. In
den Feldzügen von 1813 - 1 8 1 5 ist es gewissermaßen neu begründet worden.
Im Wiener Kongreß hat es aber auch bereits begonnen, sein „preußisches"
Wesen zu verlieren im kleinen, nicht im großen, oder gar im „größeren"
Deutschland. Diese Entwicklung, die zum Zollverein, unter Verlust der
„preußischen Nation" von diesem zum Norddeutschen Bund und zum
kleindeutschen Reich führte, hatte eine starke wirtschaftliche Komponente.
Nach dem Frieden von Tilsit besaß Preußen in den vier ihm verbliebenen
Provinzen nur noch 5,2 Millionen Untertanen gegenüber 9,75 Millionen vor
dem Kriege. Von ihnen waren mehr als 50 Prozent erst in jüngster Zeit
durch die polnischen Teilungen Preußen geworden; Preußen war also 1807
bis 1813 ein kleiner Zwei-Nationen-Staat, der neben den großen Besat-
zungskosten eine hohe Kriegsentschädigung zahlen mußte und gleichzeitig
auf diesem schmalen Raum Reformen durchführen wollte. Im Vertrag zu
Paris forderte Napoleon 140 Millionen Francs Kriegsentschädigung, im
Jahre 1810 nur noch 120 Millionen, dazu allerdings Zinsen, Verzugszinsen
und Überweisungskosten zu einem erniedrigend ungünstigen Wechselkurs,
so daß sich schließlich mehr als 34 Millionen Taler in 30 Monaten ergaben.
Der Abzug der Besatzungsmacht war und blieb das nächste Hauptziel
der preußischen Politik. Doch war in der Wirtschaftskrise zwischen Steins
Sturz und der Ernennung Hardenbergs die „Bewußtseinslage" in der gesam-
ten Bevölkerung so sehr durch „Kummer", „Niedergeschlagenheit", „Miß-
mut" und „Ärger" gekennzeichnet, daß die nun einsetzende Reformpraxis
sehr behindert und verzögert wurde. 1
Bereits 1806 mußte Preußen sich der französischen Kontinentalsperre 2
gegen England anschließen, die mehrfach verschärft wurde und besonders
Getreide-Exporte der drei Agrarprovinzen und die Textilwirtschaft Schle-
siens treffen sollte. Aber der mit der Durchführung der Sperre beauftragte
Staatsrat von Heydebreck 3 erlaubte und Napoleon tolerierte gegen hohe
Zahlungen an die preußische Staatskasse den Schmuggel durch die Sperre.
Diese Einnahmen und die aus dem Weiterverkauf des Schmuggelgutes in
den Jahren 1810/13, hauptsächlich nach Frankreich, gewonnenen 15,3 Mil-
lionen Taler ermöglichen es, bis 1811 6,2 Millionen Taler Kriegsentschä-
digung aufzubringen sowie den Rückgang von Steuereinnahmen auszu-
möglich. Der an diesem Bereich nicht interessierte Adel erhob keine Ein-
wände.
Einstweilen besaßen die persönlich frei gewordenen Bauern also nicht das
freie Eigentum. Die Ansprüche der Gutsherren auf Dienste und andere Lei-
stungen bedurften noch der „Ablösung", einer staatlich verordneten Enteig-
nung gegen eine staatlich festgesetzte Entschädigung. Da der vom Bankrott
bedrohte Staat diese nicht selber aufbringen konnte, die Gutsherren auf sie
nicht verzichten konnten (wollten und sollten), mußte sie den Bauern auferlegt
werden. Das geschah am 14. September 1811 durch das „Edikt, die Regulie-
rung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse betreffend" und durch
das „Edikt zur Beförderung der Landeskultur", durch die die persönlich freien
Besitzer das volle Eigentum an ihrem Hof erhielten — wofür die bisher erb-
lichen Besitzer ein Drittel, die nicht erblichen Besitzer und die Pachtbauern
die Hälfte ihres Bodens an den Gutsherrn abtreten oder eine langfristige, vom
Staat sehr sorgfältig errechnete Geldabgabe leisten mußten. Beide Möglich-
keiten führten für viele Bauern zu einem alles in allem jahrzehntelangen Schwe-
bezustand zwischen dem Edikt von 1811 und dem am 2. März 1850 erlassenen
Gesetz „betr. Ablösung der Reallasten und die Regulierung der gutsherrlichen
und bäuerlichen Verhältnisse", das also in einem ganz anderen politischen
und gesellschaftlichen Milieu nach Bauernunruhen, Revolution, radikalen
Preis- und Kaufkraftveränderungen, agrartechnischen Fortschritten, Markt-
verschiebungen usw. erschien. Die nicht spannfähigen, also nicht über eigene
Zugtiere verfügenden Höfe wurden durch eine Deklaration von 1816 vom
Regulierungsedikt ausgenommen.
Als 1849 die Regulierung in Geld oder Land weitgehend abgeschlossen
und die betroffenen Flächen „separiert" waren, erwies sich, daß die durch
sie unmittelbar verursachte Besitzverschiebung zwischen Adel und Bauern
mengenmäßig gering ausgefallen war: 1816—1850 verringerte sich die Zahl
der Vollbauernhöfe in Altpreußen um 2 Prozent, ihre Fläche um 2,7 Prozent,
ihre Betriebsgröße von 25,0 auf 24,8 Hektar. Aber im allgemeinen dürften
die Bauern dabei gutes Land an den Gutsbesitzer verloren haben; auch sind
die Bauern bei der Aufteilung der Gemeindeländereien weit schlechter
weggekommen als die Gutsbesitzer — sowohl in bezug auf die Bodenqualität
als auch auf die Lage der neuen Stücke zum Hofe, denn durchweg galt die
Regel: Der Ertrag eines Ackers, der mehr als 1,5 Kilometer vom Hofe
entfernt lag, blieb „an den Rädern der Fahrzeuge hängen". Brachten die
Bauern die „Ablösung" in Geld auf, dann behielten sie zwar ihr im Laufe
der Zeit erheblich wertvoller werdendes Land, mußten aber 10,7 bis 20,5
Prozent des geschätzten Reinertrages ihres Hofes für den Ablösungsbetrag
aufbringen, was in schlechten Zeiten existenzgefährdend werden konnte
und Meliorationen behinderte, während der Gutsbesitzer Geld für Aufkäufe
erhielt. Beispielsweise stiegen in dieser Zeit die Domäneneinkünfte um 25
bis 30 Prozent. Im einzelnen ergab sich: (Siehe Tabelle 2 auf den Seiten 504
und 505)
Am 11. März 1812 erfolgte formell die rechtliche und wirtschaftliche
Gleichstellung der Juden („Judenemanzipation") mit den christlichen Un-
tertanen.
504 § 6 Preußens Wirtschaft 1 8 0 6 - 1 8 1 5
1 2 3 4 1 5 II 6
bis 1850 . . . . 6 275 •34 213809 4 >19
1 Ostpreussen 1 von 1850 ab . 437 1 2 850754II 169 826
1 überhaupt . . . 6712 II 137064 563 173 945
bis 1850 . . . . 7 3·6 153938 879 5 406
2 von 1850 ab . ι 676 y 22 882 914II 96 522
Westprenssen . . . . j
überhaupt . . . 8992 II 176821 793|| 101928
bis 1850 . . . . '5 674 314456 083 39 972
3 von 1850 ab . I 351 II 12 661 529II 260 759
Brandenburg . . . . <
I überhaupt . . . 17025 II 327 117 6i2| 300731
bis 1850 . . . . 10 715 308477 203 13 324
4 Pommern j von 1850 ab . 215 II 3 723 182 128 992
überhaupt . . . 10 930 y 312 200 385 II 142316
bis i8$o . . . . 25172 356387 945I »5 213
5 Posen j von 1850 ab . ι 490 II 16 096 838I1 165 893
Uberhaupt . . . 26 662 O 372 484 7S3I 181 106
bis :85ο . . . . 5 660 52 675 026 98 560
6 Schlesien j von 1850 ab . 7 876 II 25 684 776II 693 412
überhaupt . . . 13 536 II 78359 802II 791 972
Oestliche Provinzen 1 bie 1850 . . . .
von 1850 ab .
70 812 II ι 320 148 945|l ·76 594
13045 II 83899 99311 ι 5 > 5 404
zusammen ì 83 857 II ι 404 048
überhaupt . . . 938|| I 691 998
bis 1850 . . . . 3 56 682 98 Sil
7 Sachsen j von 18J0 ab . — II 497 493
überhaupt . . . 3 56 682|| 596 304
bis 1850 . . . . — 20 764
8 Westfalen j von 1850 ab . - - -II 150778
überhaupt . . . —h <71542
bis 1850 . . . . - - — 4 584
9 Rheinprovinz . . . . j von 1850 ab . — II 3> >47
überhaupt. . . . — 35 73'
10 Reg.-Bez. Sigmaringen . überhaupt . . . 25 594
bis 1850 . . . . 3 56 682 124 159
Aeltere Westprovinzen ] von 1850 ab . 705 012
zusammen ^
überhaupt . . . 3 56 682 829 171
Zusammen J bis 1850 . . . . 70815
von 1850 ab . 13045
ι 320 205 627 300753
Staat alten Bestandes 83 899 993 2 220 416
überhaupt . . . 83 860 I 404 105 620 2 521 169
Quelle: August MEITZEN, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse... (1368 —
1908) [226], Bd. 6, Berlin 1901, S. 274 f.
§ 6 Preußens Wirtschaft 1806 - 1 8 1 5
Boggenrente
Spann- Hand-
Land in
Kapital I Geldrente in
Neuscheffel
Diensttage Il M Jt à 50 1 ha dec.
7 8 y 9 II 10 II 12
207 540 274 241 ι 130 937 188 337 13886 40 058 176
2 9 8 3 4 667 H 4 350 720 II ι 454 008 < 3 5 4 8 ι 656 490
210 523 278 908 H 5 481 657 II ι 642 345 2 7 4 3 4 41 714 666
169 141 296 508 145 284 273 678 1617 10 211 918
9095 37 786 II 3 711 616 I 1266721 I 037 2 296 419
178 236 334 294 I I 3856 900 Ι ι 5 4 0 399 2654 12 508 3 3 7
ι 145 494 2641724 125480821 801012 119367 103 620 642
5 5 7 6 6 3 7 4 5 7 5 I I 26997 3 2 2 || 3 259 770 5 ' 3 9 4 ι 999 247
ι 201 260 3016299 3 9 5 4 5 4 0 4 I I 4060782 170761 O 105619 889
818030 ι 465 156 4 220 547 I 4 2 4 140 40669 1 150880 776
1 2 092 30988 I I 18806937 II 1 7 1 6 9 8 6 3 3 9 1 7 1 5 0 6 0 4 1 3
830 122 1496 144 I I 23027484 y 2 141 126 74586 y 165941 189
ι 991 66; 4353946 3 1 6 ^ 4 4 1 4 8 1 1 7 5 1 1 4 6 5 Ii 5 3 2 8 8 568
5 3 9 2 9 160913 I I 6829995 II 2561254 6 390 II 2 987 5 9 4
2 045 594 4 5 1 4 8 5 9 I I 7 146 639 I 4042429 17855 I 56276 162
ι 436 482 7 888 624 12 756 864 ι 040 262 57336 1 30892 484
> 6 3 3 3 6
5 534982 I I II 217 580 II 5 III 721 2 290 II 7 193 271
ι 599818 13423606 I I 23974444 II 6 1 5 1 9 8 3 ι 59 626 ¡I 38 085 7 5 5
5 768352 16920199 y 31 118358 II 4208604 1 244 3 4 0 ¡I 3 8 8 952 564
297 201 6143911 I I 7 1 9 1 4 1 7 ο ! ! 15370460 ι 108576 I I 3 ' 193 4 3 4
6 065 553 23064110 y 103 032 528 H 19579064 I 352916 I I 420145 998
• 316943 II 301343 II — II —
232 364 583
3 2 0 26139609 II 535952 I I 29318 II 4145 1 7 5
5 5 7 1 6 210848 5 4 5 3 9 232 I I 5 662 0 2 3 I 34 844 II 798 3 3 7
288 080 5 3 1 4 3 · 80678841 II 6197975 II 64162 ι 4 943 512
6000716 17 2 4 0 782 57257967 4744556 1 273658 3 9 3 097 7 3 9
352917 6 354 759 126453402 II 21032483 ¡ I 143420 ι 3 · 9 9 1 771
6 3 5 3 633 23 5 9 5 5 4 ' 183 711369 25777039 I 4 1 7 0 7 8 1 425 089 510
5 Β. V. MÜNCHOW-POHL, Zwischen Reform und Krieg (1987) [s. O. Anm. 1], S. 383 f.
6 A . a . O . , S. 4 0 8 .
7 A. a. O., S. 427.
8a Kosellecks Irrtum berichtigt Ilja MIECK, Idee und Wirklichkeit: Die Auswirkun-
gen der Stein — Hardenbergschen Reformen auf die Berliner Wirtschaft, in: Berlin
und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft — Lehren und
Erkenntnisse - , Berlin —New York 1987, S. 4 1 — 5 8 ; Toni PIERENKEMPER (Hg.),
Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von
Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution, Stuttgart 1989.
§ 6 Preußens Wirtschaft 1806 - 1 8 1 5 507
Prinzip in weiten Teilen der Wirtschaft (auch durch die Besatzungs- und
Kriegsnöte angeregt) durch die bürgerlich-kaufmännische Rechenhaftigkeit
ersetzt wurde — wenn auch unter den Bedingungen der Vielstaaterei, die
manche Fortschritte blockierte oder verzögerte.
Als seit den 70er Jahren die wirtschaftspolitische Einsicht Friedrichs II.
nachließ und nach 1786 der Spätabsolutismus verfiel, so daß für die Land-
wirtschaft und die Gewerbe „Reformer" an die Arbeit gehen mußten und
konnten, bestand auch eine seit dem späten 17. Jahrhundert herangewach-
sene „Adelsfrage", die durch die Niederlage von 1806 und ihre innenpoli-
tischen Folgen deutlich, die Reformen erschwerend in Erscheinung trat. Im
17. und 18. Jahrhundert war die Zahl der Adligen sehr gewachsen durch
den Fortfall des Priesterstandes (Ehen), durch das Verschwinden der Sitte,
bei Besitzlosigkeit den Adel abzulegen, durch Güterzersplitterung und
schlechte Wirtschaft, durch die Zunahme der Nobilitierungen und durch
Einwanderung ausländischer, haupsächlich französischer und polnischer
Adliger. Infolgedessen drängten viele Adlige in den Staatsdienst (Beamte,
Offiziere), wo sie schlecht bezahlt wurden, so daß sie trotz vieler Boden-
verkäufe an Bürger ein ärmliches Dasein führen und nicht selten geradezu
bettelten („Adelsproletariat"). Seit 1806 wurde „aus der Adelsfrage eine
offene Adelskrise"; es kam zum Bankrott vieler Güter, zur Verkleinerung
des Offizierskorps, seit 1807/08 zum Verlust der Steuerprivelegien. 8b Für
den Historiker tritt der wirtschaftliche Alltag der Jahre 1806 — 1815 zurück
hinter jene Reformen auf mehreren Gebieten - für den Zeitgenossen tat
er es ganz und gar nicht. Dieser erlebte in Berlin am 27. Oktober 1806 die
Suspension der Kgl. Bank, die sonst durch die Flucht der Regierung und
den Verlust mehrerer Filialen mit schweren Folgen für viele Schuldner
auseinandergebrochen wäre. Die Tätigkeit der Seehandlung bestand schließ-
lich fast nur noch in der Überweisung der Kontributionen. Somit fielen
privaten Bankiers in Berlin plötzlich Aufgaben zu, auf die sie nicht vorbe-
reitet waren. Insofern sie solche der Staatsbanken übernahmen, erlangten
sie auch Einfluß auf die Finanzpolitik — sehr gegen Hardenbergs Absicht,
der prinzipiell mehr den Staat als die Privatwirtschaft stärken wollte.
Der Aufenthalt der Franzosen in Berlin kostete die Hauptstadt 1806 —
1808 an Kontributionen und sehr hohen Einquartierungsgeldern für üppige
Versorgung, zum Beispiel mit Reis, Branntwein und Kleidung, 15,1 Millio-
nen Taler, die hauptsächlich von den vier größten Privatbanken der Mon-
archie aufgebracht wurden. 9
Nächst Berlin hat am schwersten Schlesien unter der Besatzung gelitten
— Friedrichs des Großen „Peru", die Provinz, deren Abtretung an Napoleon
zwecks Rettung des kleinen agrarischen Restpreußens mit einer viel zu
menschen- und gewerbereichen Hauptstadt hohe Ministerialbeamte erwo-
gen zu haben scheinen. Breslau, nach langer Belagerung am 7. Januar 1807
8b Fritz MARTINY, Die Adelsfrage in Preußen vor 1806 als politisches und soziales
Problem. Erläutert am Beispiele des kurmärkischen Adels, in: VSWG, Beiheft
35, Stuttgart - Berlin 1938.
9 W. TREUE, Das Bankhaus Mendelssohn... (1972) [138], S. 32, 73.
508 § 6 Preußens Wirtschaft 1806 - 1815
erobert, blieb bis 1808 besetzt. Die Provinz mußte fünf Millionen Taler
Kontribution in bar, daneben viele große Sachlieferungen aufbringen, und
als die Franzosen abgezogen waren, verlangte der preußische Staat die
Beteiligung an seinen Anleihen und verfügte schließlich am 30. Oktober
1810 die Säkularisierung fast aller Klöster und Stifte. Durch die Kontinen-
talsperre erlitten Ein- und Ausfuhr schwere Verluste, und auch der Binnen-
handel mußte durch Besatzung und Verarmung große Einbußen hinnehmen.
Von diesen allgemeinen Leiden gab es einige wenige Ausnahmen: Seit 1808
trat die Zinkwirtschaft schnell in den Vordergrund, seit 1809 nahmen durch
die Initiative tüchtiger Beamter Bau und Verwendung von Maschinen,
insbesondere von Dampfmaschinen zu, seit 1812 arbeiteten erhebliche Teile
der Eisenindustrie für die Rüstung auf den bevorstehenden Befreiungskrieg.
Der innere Zusammenhang dieser drei Vorgänge: Die psychologische und
materielle Bewältigung der Niederlage und Besetzung, die Hinnahme der
wirtschaftlichen, technischen und rechtlichen Reformen, gegen die es durch-
aus Widerstände bei Gutsbesitzern und Bauern, Fabrikanten und Hand-
werkern gab, und schließlich die heimliche Vorbereitung während der
französisch-russischen Auseinandersetzung auf einen wahrscheinlich ver-
lustreichen Befreiungskrieg gegen ein seit vielen Jahren sieggewohntes Genie
ist eine bedeutende Leistung der „preußischen Nation" gewesen, zu der es
in Österreich keine Parallele gab. 1 0
Als man 1810 anfangen konnte, an einen Befreiungskampf zu denken,
herrschte in Ostpreußen seit Napoleons Sieg Elend und Hungersnot, standen
dort in den Hypothekenbüchern Grundstückswerten in Höhe von 23,6
Millionen Talern 20,7 Millionen Schulden sowie viele Wechselschulden
gegenüber, während die Bevölkerung etwa 90.000 Menschen weniger zählte
als 1805. In Schlesien betrug die Einnahme aus den Gütern nur noch etwa
die Hälfte derjenigen in der Vorkriegszeit.
Am 23. Januar 1813 entzog der König sich einem französischen Zugriff
durch die Übersiedlung nach Breslau, das nun für eine kurze Zeit Regie-
rungszentrale wurde. Doch blieb Berlin das Wirtschaftszentrum, in dem
viel Geld für die Rüstung aufgebracht werden mußte und einige Bankiers
und Kaufleute durch diese glänzend verdienten. Der Kriegserklärung an
Frankreich am 16. März folgte am 20. die offizielle Aufhebung der Konti-
nentalsperre und dann während des ganzen Jahres 1813 eine mehr oder
weniger zwangsweise auferlegte staatliche Anleihe nach der anderen, deren
Zins- und Rückzahlungsversprechungen nicht erfüllt wurden, so daß ihre
Kurse schnell sehr tief sanken. Die verbündeten Russen brachten viel un-
terwertiges Metallgeld ins Land. Im Durchschnitt stiegen die Preise bereits
1813 um etwa ein Drittel. Erst als angesichts der günstigen Kriegslage im
Herbst englische Subsidien eintrafen und am Jahresende keine feindlichen
Truppen mehr östlich des Rheins standen, besserte sich die Wirtschaftslage.
Beim zweiten Pariser Frieden am 20. November 1815 erhielt Preußen 1 von
seinen einstigen polnischen Gebieten nur Westpreußen mit Danzig und
Thorn sowie das Gebiet um Posen und damit eine Landbrücke zwischen
1 Wilhelm TREUE, Das industrielle Preußen, in: Otto Büsch (Hg.), Das Preußenbild
in der Geschichte ( = VHKzB, Bd. 50), Berlin 1981, S. 1 8 3 - 2 1 2 ; W. FISCHER/
510 § 7 Wirtschaft und Finanzen 1815 - 1848
4 Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, S. 212 ff.;
Werner von SCHAPER, Karl Ferdinand Friese (1769 — 1837). Ein preußischer Re-
former und Staatsbankier, in: JbPrKb, Bd. 24 (1987), S. 2 0 1 - 2 1 2 .
5 Herbert KRAFFT, Immer ging es ums Geld. Einhundertfünfzig Jahre Sparkasse in
Berlin, Berlin [1968]; J. WYSOCKI, Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozial-
g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 8 0 ) [ 1 4 0 ] , S. 2 3 ff.
6 H . HARNISCH, V o m O k t o b e r e d i k t . . . ( 1 9 7 8 ) [ 2 2 3 ] , S. 2 3 1 ff.; B a r b a r a VOGEL ( H g . ) ,
Preußische Reformen 1 8 0 7 - 1 8 2 0 ( = NWB, Bd. 96), Königstein/Ts. 1980.
514 § 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8
13 Hans Joachim WEFELD, Ingenieure aus Berlin. 300 Jahre technisches Schulwesen,
Berlin 1988; Wilhelm TREUE, Zur Frühgeschichte der technischen Lehr- und
Forschungsanstalten bis zu ihrer Beteiligung an der Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 ; in:
Geschichte als Aufgabe. Festschrift für O t t o Büsch zu seinem 60. Geburtstag,
hg. von Wilhelm Treue, Berlin 1988, S. 2 6 7 - 2 9 7 ; Wilhelm TREUE, Christian
Peter Wilhelm Friedrich Beuth, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hg.),
Berlinische Lebensbilder, Bd. 3 ( = EvHKzB, Bd. 60), Berlin 1987, S. 1 1 9 - 1 3 4 ;
vgl. auch U. TROITZSCH, Deutschsprachige Veröffentlichungen... (1987) [s.o.
Anm. 10], S. 386 ff.; Wolfgang KÖNIG, Technische Hochschule und Industrie, ein
Überblick zur Geschichte des Technologietransfers, in: Hermann J. Schuster
(Hg.), Handbuch des Wissenschaftstransfers, Berlin 1990, S. 2 9 —41.
§ 7 Wirtschaft und Finanzen 1 8 1 5 - 1 8 4 8 517
TABELLE 3
Anteil der Zinkindustrie am oberschlesischen Berg- und Hüttenwesen
1810 — — 107
1815 - - etwa 1.000
1816 9,33 9,64 -
Quelle: Uwe KÜHL, Die Anfänge der oberschlesischen Zinkindustrie bis 1850, in:
ScrM, Bd. 21 (1987), S. 101 ff., 105 ff.
industrie. Ihre Produktion war bis 1850 nahezu identisch mit der gesamten
preußischen und deutschen Zinkerzeugung. 20
Die Mehrheit der Bevölkerung der rheinischen und westfälischen Gebiete,
die 1813/14 der Hohenzollern-Monarchie eingegliedert wurden, fürchtete,
in dem Militär- und Beamtenstaat viel von ihrer altgewohnten Lebensweise
endgültig zu verlieren. 50 Jahre später feierte man in Anerkennung des
wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs in Stadt und Land das Jubiläum der
Zugehörigkeit zu diesem in Mitteleuropa wirtschaftlich fortschrittlichsten
Staat. 2 1
Als Preußen Köln übernahm, wo man gehofft hatte, Freie Reichsstadt zu
werden und als solche ein hohes M a ß von Selbständigkeit zu gewinnen,
bildeten dort Landwirtschaft, Wein- und Gartenbau sowie der Handel mit
deren Erzeugnissen, Tabak- und Kolonialwaren den ertragreichsten Wirt-
schaftsbereich. Aus dem Geldwechselgeschäft — der Franc war bis zur
Mitte der 20er Jahre das Hauptzahlungsmittel - erwuchs schnell in einem
kleinen Kreis, zu dem seit 1794 auch aus der Umgebung zugezogene Juden
gehörten, ein beträchtliches Bankgeschäft in Verbindung mit der bergbau-
lich-industriellen Erschließung des Raumes von Aachen bis Essen und
Dortmund. Beim Kölner Handwerk standen Textil, Baugewerbe und
20 Uwe KÜHL, Die Anfänge der oberschlesischen Zinkindustrie bis 1850, in: ScrM,
B d . 2 1 ( 1 9 8 7 ) , S. 1 0 1 - 1 1 5 , h i e r S. 1 0 1 ff., 1 0 5 ff.
21 F. PETRI, Preußen und das Rheinland... (1965) [s.o. Anm. 15], S. 39ff.; Hans
POHL, Wirtschaftsgeschichte Kölns im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in:
Hermann Kellenbenz (Hg.), Zwei Jahrtausende... (1975) [7], Bd. 2, S. 9 —162,
hier S. 146 ff.; Kurt DÜWELL, „Rheinisch-westfälisch" und verwandte Bezeich-
nungen im 19. Jahrhundert. Eine Betrachtung über regionales Raumbewußtsein
und seine sprachlichen Ausdrucksformen, in: Bevölkerung, Wirtschaft, Gesell-
schaft seit der Industrialisierung. Festschrift für Wolfgang Köllmann zum 65.
Geburtstag, Köln 1990, S. 3 1 1 - 3 1 9 ; Jeffry M. DIEFENDORF, Businessmen and
Politics in the Rhineland 1 7 8 9 - 1 8 3 4 , Princeton/N.J. 1980; Wolfgang SCHIEDER/
Alfred KUBE, Säkularisation und Mediatisierung. Die Veräußerung der Natio-
nalgüter im Rhein-Mosel-Departement 1803 — 1813 ( = FdSG, Bd. 4), Boppard
1987, S. 122 f.
522 § 7 Wirtschaft und Finanzen 1815 - 1 8 4 8
die Ruhrkohle per Bahn bis Aachen und Burtscheid gelangte, bildete dies
einen weiteren Vorteil für die dortige Industrie.
Als im Bergischen Land die vielen kleinen Erzbergbau- und Hüttenbe-
triebe sich angesichts der großbetrieblichen Konkurrenz in der weiteren
Umgebung als unrentabel erwiesen, blieb ein hochentwickeltes, spezialisie-
rungsfähiges Kleineisengewerbe übrig, das nach der preußischen Groß-
marktbildung durch das Zollgesetz von 1818 und vollends im Deutschen
Zollverein seit 1834 vorzügliche Ergebnisse erzielte, während der Export
die Zollschutzmauern der Empfängerländer immer weniger überwinden
konnte. 2 2
An der Ruhr konnte seit den 20er Jahren der Steinkohlenbergbau sehr
schnell gesteigert werden, da nun immer mehr Eisenproduktions- und
-Verarbeitungsbetriebe sich von der Holzkohle der Steinkohle und dem Koks
zuwandten. Im Jahre 1848 richtete die Friedrich-Wilhelms-Hütte den ersten
rentabel arbeitenden Kokshochofen im Oberbergamtsbezirk Dortmund ein.
Ein weiterer Steinkohle-Großverbraucher wurde die Dampfmaschine, als
sie über die Wasserhaltungen in Bergwerken hinaus Antriebsmaschine mit
wachsenden Leistungen wurde. Auch importierten die Niederlande nach
der Verselbständigung Belgiens 1831 wachsende Mengen von Steinkohle;
wenig später folgten Verschiffungen über den Rhein nach Südwest-
deutschland. Und schließlich trat seit den 40er Jahren die Eisenbahn mit
Schienenbedarf und Lokomotivheizung sowie als Transporteur schnell zu-
nehmend in Erscheinung. Allerdings mußten die Bahnen in Preußen noch
1851 zwei Drittel ihrer Schienen aus England importieren.
Hatte die Steinkohleförderung im Oberbergamtsbezirk Dortmund 1816 —
1825 mit etwa 0,5 Millionen Tonnen rund 40 Prozent des gesamten preu-
ßischen Bedarfs gedeckt, so blieb bis 1848 der Prozentsatz etwa gleich,
während die Menge auf 1,7 Millionen Tonnen stieg. Solche Massen konnten
nicht mehr in primitiver Stollenförderung und reiner Handarbeit beschafft
werden. Bereits seit 1810 ging man langsam zum Tiefbau über, 1830/33
begann der reiche Kohlenhändler Franz Haniel bei Mülheim Schächte
abzuteufen, welche unter erträglichen Kosten eine starke Mergeldecke
durchstoßen sollten. Als ihm 1841 Matthias Stinnes folgte, wurde damit
allgemein der Übergang zum Tiefbau eingeleitet. Nun wurde der Transport
dieser großen Kohlenmengen zum Hauptproblem des Ruhrbergbaus. Bald
war die Ruhr der meistbefahrene Fluß Deutschlands, wurde der Mittelrhein
der Kohle erschlossen.
Die Entstehung und Entwicklung einer eisenverarbeitenden Industrie
entsprach dem Aufstieg des Berg- und Hüttenwesens, wobei die Kaufleute
Friedrich Harkort und Heinrich Kampf, die auf der Burg Wetter eine der
ersten Maschinenfabriken Deutschlands gründeten, zu „Pionieren" wurden.
Auf der Grundlage ihrer Fabrik schufen sie im folgenden Jahrzehnt unter
Finanzschwierigkeiten einen ersten kleinen Vertikalkonzern, der sich sogar
für die Belieferung der Seeschiffahrt (Marine) mit Maschinen interessierte.
Der Flußverkehr im Westen der Monarchie besaß seit 1815 im Rhein und
seinen Nebenflüssen ein Netz, dem die Flüsse und einstmals modernen
Kanäle im alten Preußen an Leistungsfähigkeit weit unterlegen waren. Auch
von den Straßen entfielen um 1820 etwa zwei Drittel auf dieses Gebiet. Auf
dem Rhein nahm nach Probefahrten seit 1816 eine niederländische Dampf-
schiffahrtsgesellschaft im Jahre 1824 den regelmäßigen Rotterdam — Köln-
Verkehr auf. Im folgenden Jahr wurden Mainz und Speyer miteinander
verbunden, 1826 in Köln die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-Ge-
sellschaft als Aktiengesellschaft für den mittleren Rhein gegründet; 1836
folgte eine Düsseldorfer Gesellschaft für den Nieder- und Mittelrhein.
Um 1845 begann die Auseinandersetzung zwischen Dampfschiff und
Eisenbahn. Seit 1847 blieb der Anteil des Wassertransports an der Güter-,
insbesondere der Ruhrkohle-Beförderung weit hinter dem der Eisenbahn
mit immer mehr Zweiglinien und Anschlüssen zurück. Der Eisenbahnbau
in Preußen, 24 der angesichts der Armut des Staates anfangs ganz dem
Privatkapital überlassen werden mußte, setzte 1838 mit der Strecke Berlin -
Potsdam ein. Seit den 40er Jahren förderte der Staat Bau und Betrieb in
gewissen Gebieten durch Zinsgarantie und '/-Beteiligung am Kapital, wobei
er sich das Recht vorbehielt, mit dem eigenen Anteil an der Dividende die
geförderten Gesellschaften allmählich aufzukaufen. Zu den frühesten Vor-
haben gehörten die schon seit 1832 diskutierte Strecke Köln-Antwerpen,
die 1844 eröffnet wurde, und die 1 8 4 4 - 1847 gebaute Köln-Mindener Bahn,
die als Teilstück der Verbindung zwischen Preußens westlichen und östlichen
Provinzen schnell die verkehrsreichste Bahnstrecke ganz Deutschlands
wurde.
In dieser gesamten Verkehrsentwicklung auf Straße und Schiene, Flüssen
und Kanälen wurde viel Kapital investiert. Dabei wie bei der industriellen
Kapitalbewegung blieben zwar die Berliner Banken - bis 1848 insgesamt
Privat-, nicht Aktienbanken — stets an der Spitze, doch bildeten sich auch
regionale Zentren wie Breslau und Köln, Düsseldorf und Elberfeld. 25
Wie stark in solchen Zusammenhängen — gefördert durch das relativ
liberale Aktiengesetz von 1843 - das Gewicht des Rheinlandes nicht nur
24 W . TREUE, W i r t s c h a f t s - u n d T e c h n i k g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 8 4 ) [ 1 5 ] , S. 4 2 6 f f . ; A . SA-
LING, Die norddeutschen Börsen-Papiere. Ausführlicher Commentar zu allen an
der Berliner Börse Cours habenden in- und ausländischen Staats- und Prämien-
Anleihen, Pfand- und Renten-Briefen, Bank-, Industrie- und Eisenbahn-Effekten,
2. Jg. (1868/69), Berlin 1869, S. 115 ff., läßt die Menge des Kapitals besser als
die jüngste eisenbahngeschichtliche Literatur erkennen, das in rund einem Vier-
teljahrhundert in den preußischen Eisenbahnen angelegt wurde. Dazu vgl. W.
TREUE, E i s e n b a h n e n u n d I n d u s t r i a l i s i e r u n g . . . ( 1 9 8 7 ) [ 2 8 3 ] ; D e r s . , N e u e V e r k e h r s -
mittel... (1989) [125],
25 W . TREUE, D a s P r i v a t b a n k w e s e n . . . (1980) [ 1 3 9 ] , S. 9 8 f f . ; D e r s . , D i e Bankiers
Simon und Abraham Oppenheim 1828 —1880. Der private Hintergrund ihrer
beruflichen Tätigkeit, ihre Rolle in der Politik und ihre Nobilitierung, in: ZUntG,
B d . 3 1 ( 1 9 8 6 ) , S. 3 1 - 7 2 ; M a r i e - L u i s e BAUM, D i e v o n d e r H e y d t s a u s E l b e r f e l d ,
Wuppertal 1964; Alfred KRÜGER, Das Kölner Bankiergewerbe vom Ende des
18. Jahrhunderts bis 1875 ( = VARhWWG, Bd. 10), Essen 1925, S. 55 ff.
526 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung
für Preußen, sondern für ganz Deutschland und Mitteleuropa wurde, zeigt
die Tatsache, daß 1843 Luxemburg dem Deutschen Zollverein beitrat. Seiner
Industrie war es nicht zuletzt zu verdanken, daß Preußen bereits 1843 einen
Schutzzoll für Roheisen einführte, hinter dem der westdeutsch-luxembur-
gische Wirtschaftsverbund entstehen konnte, der 1871 um Elsaß und einen
Teil Lothringens erweitert wurde — was Schlesien immer tiefer in den
Hintergrund der mitteleuropäischen Wirtschaftsentwicklung geraten ließ.
Die Gründung der Internationalen Bank von Luxemburg durch Erlanger,
Oppenheim, Mevissen und andere westdeutsche Bankiers im Jahre 1856
war bezeichnend für die Erwartungen, die man an die Angliederung dieses
an Erzen reichen zentralen europäischen Kleinstaates an Preußen-Deutsch-
land entwickelte. Über die regionalen Unterschiede in der Entwicklung von
Produktion und Handel hinaus wuchsen die internationalen wirtschaftlichen
Beziehungen Preußens von 1818 über 1824 und 1839 bis 1853 beträchtlich.
Preußen unterhielt in diesen Jahren im außerdeutschen Ausland Konsulats-
stellen in 80, 114, 200 beziehungsweise 275 Orten. 2 6
Seit 1844 kam es von Irland bis Polen zu Mißernten, schweren Hungersnöten
in der schnell wachsenden Bevölkerung, Verteuerung der Lebensmittel,
Verarmung besonders in der Landwirtschaft und anschließend zu vorwie-
gend sozial begründeten Unruhen und Auswanderung. Diese stieg so sehr
an, daß im Rheinland die Bodenpreise um 3 0 - 5 0 Prozent sanken. Auch
die preußische Monarchie wurde von dieser Ereignisfolge getroffen, am
schwersten Oberschlesien wo 16.000 Menschen Hunger und Typhus zum
Opfer fielen. Nach einer schweren Mißernte im Jahre 1846 stiegen die
Getreide- und Mehlpreise 1847 außerordentlich. Daraufhin veröffentlichte
Rudolf Virchow 1848 (als nach einer guten Ernte im Jahre 1847 die Ge-
treidepreise um 50 Prozent und mehr sanken) 1 einen berühmt gewordenen
Bericht im „Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie", der über
das Ärztliche hinaus eine große Anklage gegen die Untätigkeit der Behörden
bildete und sich zu einem Aufruf „zum Sturz unseres alten Staatsgebäudes"
zwecks Herstellung der „vollen und uneingeschränkten Demokratie" stei-
gerte.
Die Bauern forderten den Abschluß der vor 40 Jahren begonnenen „Be-
freiung" unter Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage, das „ländliche
Proletariat" verlangte eine Neuverteilung des Bodens, das Handwerk Rück-
kehr zum vorindustriellen Zunftwesen, Einschränkung der Maschinenver-
wendung, der Frauenarbeit und der Beschäftigung von Ausländern, die
Arbeitslosen schließlich drängten auf Arbeitsbeschaffung: die Revolution
hatte im Volke wie für die Regierung mehrere sehr unterschiedliche Ge-
sichter.
Am 19. März 1848 berief König Friedrich Wilhelm IV. ein neues Kabinett
mit einigen Bürgerlichen in zweitrangigen Positionen. Zehn Tage später
mußte er Vertreter des liberalen Bürgertums der westlichen Provinzen hin-
zuziehen: der Kölner Kaufmann L. Camphausen wurde Ministerpräsident,
der Aachener Unternehmer D. Hansemann Finanzminister. Beide verlangten
in dem sonst unverändert konservativen Kabinett weder grundlegende Re-
formen noch Liberalisierung der Provinzbehörden, wurden von der tradi-
tionalistischen Ministerialbürokratie blockiert und traten nach dem Berliner
Zeughaussturm zurück. Zur Tarnung seiner konservativen Politik behielt
der König Hansemann als Finanzminister und ließ Auerswald als Minister-
präsidenten am 25. Juni ein neues Kabinett mit zwei liberalen Bürgerlichen
als - politisch unbedeutenden — Ministern für Handel und Landwirtschaft
bilden. Hansemann selber und der auf sein Drängen zum Innenminister
ernannte Aachener Regierungspräsident Fr. Kühlewetter erlagen bald der
Adelsreaktion in Gesellschaft und Parlament. Schon am 8. September ka-
pitulierte Hansemann und wurde Chef der Kgl. Bank; 1851 verdrängte die
Kreuzzeitungspartei ihn auch aus dieser Position. Er kehrte nach Aachen
zurück. Im folgenden Kabinett war kein rheinischer Liberaler, kein Unter-
nehmer. Dem vom 8. November 1848 bis zum 6. November 1850 amtieren-
den Kabinett Brandenburg gehörte der Elberfelder Bankier August von der
Heydt als kenntnisreicher Handelsminister an. Ein enger rechtsliberaler
Vertrauter des Königshauses und daher unangreifbar, blieb er in dieser
Position bis 1862, modernisierte das Berg- und Aktienrecht 2 und erleichterte
dadurch das Wachstum der privatkapitalistischen Industrie- und Verkehrs-
wirtschaft, verbesserte Post und Telegraf, stärkte Preußens Stellung im
Zollverein, sanierte die Staatsfinanzen als Grundlage von Preußens Politik
in Deutschland und Europa und trug mit alledem wesentlich zur Gründung
des preußischen Deutschen Reiches sowie zum Fortwirken liberaler Grund-
sätze in der Wirtschaftspolitik bis etwa 1876 bei.
Das war die Entwicklung der Wirtschaftspolitik. Die Wirtschaft selber
geriet unter den Druck der weitflächigen Revolution. 3 In Köln mußte das
5 Johann Albrecht von REISWITZ, Karl Ludwig v. Bruck, in: N D B , Bd. 2, Berlin
1955, S. 643 - 646, hier S. 644; Detlef STAGE, Frankfurt am Main im Zollverein.
Die Handelspolitik und die öffentliche Meinung der Freien Stadt Frankfurt in
den Jahren 1836 bis 1866 ( = StFrankfG, H . 5), Frankfurt/M. 1971.
6 Heinrich HEFFTER, Martin Friedrich Rudolph v. Delbrück, in: N D B , Bd. 3, Berlin
1957, S. 579 f.
7 Wilhelm TREUE, Die Finanzierung der Kriege 1 8 6 4 — 1 8 7 1 durch die deutschen
Länder, in: VSWG, Bd. 75 (1988), S. 1 - 14.
8 Wolf-Arno KROPAT, Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus. Die
Eingliederung der „Freien Stadt" in den preußischen Staat (1866 — 1871)
( = StFrankfG, H . 4), Frankfurt/M. 1971.
530 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung
15 Felix ESCHER, Berlin und sein Umland. Z u r Genese der Berliner Stadtlandschaft
bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ( = EvHKzB, Bd. 47), Berlin 1985, S. 159 ff.;
Jutta LUBOWITZKI, Der „Hobrechtplan". Probleme der Berliner Stadtentwicklung
um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Berlin-Forschungen,
Bd. 5 ( = EvHKzB, Bd. 71), Berlin 1990, S. 11 - 1 3 0 . W. LORENZ, 150 Jahre Borsig
— Beitrag zur Technikgeschichte des frühen Eisenbahnbaus, in: Bauingenieur,
Bd. 63 (1988), S. 3 7 5 - 3 8 4 ; Wolfram FISCHER, Berlin und die Weltwirtschaft im
19. und 20. Jahrhundert ( = Historische Kommission zu Berlin, Informationen,
Beiheft Nr. 13), Berlin 1989.
16 Wilhelm TREUE, 100 Jahre Caesar Wollheim, München 1961; Ders., Preußens
Montanindustrie in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Gl, 125. Jg.
(1989), S. 6 1 - 6 4 .
536 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung
Über die alten, zum Teil noch aus der friderizianischen Zeit stammenden
Handels- und Bankhäuser der Mendelssohn, Bleichröder usw. hinaus wuch-
sen seit den 50er Jahren Aktienbanken, die sich zum Teil bereits speziali-
sierten — zum Beispiel auf Hypotheken-Geschäfte. Als seit 1857 einige
Jahre überall die Investitionstätigkeit stagnierte, existierten in Preußen so
viele anlagebereite Kapitalien, daß ein beträchtlicher Kapitalexport, haupt-
sächlich nach Rußland, 1 7 einsetzte, der fortan ein von der Politik scharf
beobachtetes Geschäft blieb.
Nicht mehr Schlesien, sondern das Rheinland und Westfalen waren
zwischen 1850 und 1870 Preußens wirtschaftlich wichtigste, unternehme-
risch dynamischste Provinzen. Der Bonner Historiker Sybel bezeichnete die
„rheinische Integration in den preußischen Gesamtstaat" erst 1865 als „so
gut wie vollendet".
Das Rheinland 18 mit dem weitaus höchsten Einkommensniveau und
Lebensstandard in Preußen wurde in den 60er Jahren die wirtschaftliche
Hauptregion nicht nur der Monarchie, sondern Mitteleuropas. Im Jahre
1867 lag das Pro-Kopf-Einkommen im Rheinland 18 Prozent über dem
Durchschnittseinkommen in der Monarchie, 28 Prozent über dem in Ost-
preußen, der Provinz mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen - aber
auch die Lebenshaltungskosten klafften weit auseinander. Bereits 1855 ent-
fielen von den 603 Fabriken mit 50 und mehr Arbeitern nicht weniger als
258 auf die Rheinprovinz mit den Regierungsbezirken Düsseldorf und
Aachen an erster Stelle. Erst danach folgten Berlin-Brandenburg mit 95,
Schlesien mit 76, Sachsen mit 73 und Westfalen mit 67 Fabriken dieser
Gruppe. Seit den 70er Jahren begann, seit den 80er Jahren stieg ständig die
Zuwanderung von Arbeitern aus den Ostprovinzen des preußischen Staates
in das Ruhrgebiet. 1880 stammten von dort im Ruhrgebiet 38.000, 1900
333.000, 1910 500.000 (davon 1900 143.000, 1911 304.000 polnische) Ein-
wohner (unter ihnen prozentual immer mehr Frauen). Auch die Auswan-
derung (insbesondere in die USA), die um 1845/50 ganz Deutschland be-
troffen hatte, stammte seit den 70er Jahren immer stärker vorwiegend aus
den Gebieten östlich der Elbe, die weniger Aufstiegsmöglichkeiten boten
als die westlichen Provinzen. 19
Noch mehr Menschen als die Industrie konzentrierte, wenn auch stets
nur vorübergehend und unter starker Fluktuation, der Eisenbahnbau, der
um 1850 mit dem Bergbau die bedeutendsten Schwerpunkte der Arbeits-
migration, vielfach aus dem Osten der Monarchie, so sehr bildete, daß
Schule, Kirche und Wohnungsbau nicht folgen konnten.
Schwerindustrie und Textilindustrie entwickelten sich in diesem Raum
sehr unterschiedlich. Die letztere war im Anfang ein altes „Gewerbe", die
erstere wurde eine Gruppe technisch wie finanziell ganz neuer „moderner"
Industrien. Das rheinische Textilgewerbe hatte auf der Jahrhundertmitte
einen höheren Industrialisierungsgrad und eine größere Beschäftigtenzahl
pro Unternehmen als Bergbau und Eisengewerbe. Doch bis 1870 kehrte sich
das Verhältnis — mit regionalen Unterschieden — um, nahm die Schwer-
industrie mit vielen Aktiengesellschaften Dimensionen an, die die im all-
gemeinen mittelbetrieblichen Personalgesellschaften in der Textilwirtschaft
nie erreichten. Fast alle Unternehmer in beiden Bereichen wie auch viele
Bankiers stammten noch aus der Landwirtschaft und gelangten über den
Kaufmanns- und Handwerkerstand in die Großwirtschaft der 60er und 70er
Jahre, besaßen also noch keine großindustriellen Traditionen und hatten
keine Unternehmerdynastien mit entsprechendem Sozialprestige hinter sich.
Unternehmerinnen waren nicht so selten wie um die Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert — meist handelte es sich um Witwen, die gelegentlich 20,
30 und mehr Jahre ihren Kindern den vom Vater geschaffenen Betrieb
erhielten und dabei Vettern und Schwäger zu ihrer Hilfe heranzogen. All-
mählich gewann auch der angestellte Manager Profil, Ansehen und Bedeu-
tung neben dem Eigentümer-Unternehmer. Das technische Studium begann
erst nach 1870, neben der kaufmännischen und handwerklichen Lehre
Bedeutung zu gewinnen. Fast alle Unternehmer waren vor 1871 heimat-,
wenn nicht sogar ortsgebunden. Die Auswärtigen kamen mit bergbaulich-
industrieller Erfahrung hauptsächlich aus dem nahegelegenen Wallonien,
aus England und Irland. Schlesien, bis gegen 1840 häufig Vorbild, blieb
hinter dieser Dynamik in der europawirtschaftlich günstiger gelegenen
Region zurück.
Die größte Stadt der Rheinprovinz und ihr wirtschaftlicher Mittelpunkt
war Köln 2 0 mit 1850 100.000, 1871 130.000 Einwohnern und der stärksten
Wohndichte in der Monarchie. Ihr unternehmerischer und finanzieller
Einfluß reichte durch Männer wie die Oppenheim, Mevissen und Stein
über Eisenbahngesellschaften und Rheinschiffahrt weit ins Umland: zum
Ruhrgebiet, nach Aachen und ins Bergische Land. In den 60er Jahren
galt Köln selbst noch vor Berlin als die vielseitigste Fabrikstadt Deutsch-
lands. Für das Wachstum bezeichnend war, daß seit 1879 Kölns Hafen-
anlagen zu klein wurden und 1891 mit dem Bau großer linksrheinischer
Hafenbecken sowie der Rheinuferstraße begonnen werden mußte. Mevis-
sen nannte man 1850—1870 den aktivsten und vielseitigsten Gründerun-
20 Klara van EYLL, Wirtschaftsgeschichte Kölns vom Beginn der preußischen Zeit
bis zur Reichsgründung, in: H . Kellenbenz (Hg.), Zwei Jahrtausende... (1975)
[7], Bd. 2, S. 1 6 3 - 2 6 6 , hier S. 169.
538 § 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung
liehe Roheisenerzeugung 1850 — 1870 von 11.500 auf 426.000 Tonnen und
der Anteil der Kokshochöfen daran von 9,6 auf 99,4 Prozent stieg, wobei
aus der Kohleneisensteinförderung des Ruhrgebiets selber 1850 600 Tonnen,
1860 70.000 Tonnen und 1870 150.000 Tonnen (1852 7 Prozent, 1860 21
Prozent und 1870 50 Prozent) stammten. Diese Leistung beruhte in erster
Linie auf technischen Verbesserungen und erst in zweiter auf der Zunahme
der Zahl der Hochöfen.
Die Expansion der Eisen- und Stahlindustrie ging vor 1873 hauptsächlich
auf die Einführung des englischen Puddelverfahrens zurück, das seit 1815
in Belgien aufgegriffen, seit den 20er Jahren im Rheinland angewendet
wurde. Seine Blütezeit erreichte es zwischen 1845 und 1860. Im Jahre 1854
arbeiteten im westfälischen Hauptbergamtsdistrikt 174 Puddel-Öfen. Für
dieses Verfahren brauchte man einen hohen Kapitaleinsatz und große tech-
nische Genauigkeit. Aber kaum hatte diese neue Technologie sich durch-
gesetzt, da mußte man sich schon mit den Verfahren zur Flußstahlerzeugung,
insbesondere mit dem 1855 von Henry Bessemer in England entwickelten
Verfahren zur Stahlerzeugung vertraut machen, mit dem der Durchbruch
zur Massenerzeugung von Stahl gelungen war.
Bei diesen Modernisierungen wurde das westfälische Ruhrgebiet 2 5 in
günstiger mitteleuropäischer Verkehrslage und durch seine gute Wirtschafts-
und Finanzsituation zum bergbaulich-schwerindustriellen Hauptraum Preu-
ßens und löste den Vorrang Oberschlesiens ab. Die praktische Bedeutung
beider Räume für den preußischen Staat wurde in kurzer Zeit beinahe
vertauscht, der rheinische Bürger-Unternehmer im Zeitalter der beginnenden
Hochindustrialisierung für ein modernes Preußen wichtiger als der ober-
schlesische Magnat, der sich - mit Ausnahmen — nur langsam aus dem
Zeitalter der Heinitz, Reden und Beuth in das der Delbrück, Bleichröder,
Mevissen und Oppenheim hineinfand. Dem Bergbau und den Hütten folgte
die Eisen- und Maschinenbau-Industrie. Ihr wichtigster Anreger und Träger
war um 1850 die Eisenbahn im weitesten Sinne. 1842 bezogen erstmals
preußische Eisenbahngesellschaften Lokomotiven von preußischen Fabri-
kanten, seit 1855 nur noch von solchen. Aber noch wichtiger als der Bedarf
an Lokomotiven und Waggons war der an Schienen. Ihn konnte man lange
Zeit nur durch Importe aus England und Belgien befriedigen.
Allerdings gab es auch in der Rheinprovinz Gebiete, die, am Rande des
wirtschaftlichen Aufschwungs gelegen, an diesem nur zögernd teilnahmen.
Trier zum Beispiel litt einerseits darunter, daß die Eisenbahn Eifel —Köln
den Verkehr auf der Mosel beeinträchtigte, so daß deren Ausbau unterblieb,
was wiederum andererseits die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamte.
Auch die politisch-militärische Grenzlage wirkte bis 1871 behindernd: Stein-,
Tuch- und Lederindustrie schrumpften. Erst seit den 80er Jahren kam es zu
Verflechtungen mit Luxemburg und Lothringen, was den Wein- und Ge-
müsebau belebte. 26
Große Bedeutung hatte die Versorgung der Berg-, Hütten- und Walzwerke
mit Dampfmaschinen und Dampfkesseln, Wasserhaltungs- und Förderein-
richtungen, Dampfhämmern und immer komplizierteren Maschinen aus
Spezialfabriken. In solchen Zusammenhängen begann in den 60er Jahren
die sprunghafte Expansion des Unternehmens der Gußstahlindustriellen-
familie Krupp, das nun in kurzer Zeit zum ersten preußischen Industrie-
komplex von internationalem Rang aufstieg.
Für den Transport dieser riesigen Förderungen und Produktionen bildeten
Eisenbahnen und Wasserstraßen Voraussetzung und Ergebnis. In den 60er
Jahren war das Ruhrgebiet der Raum mit der größten Eisenbahndichte,
Preußen das Land mit dem stärksten Eisenbahnwachstum, die Ruhr der am
meisten befahrene Fluß Deutschlands.
Im Saargebiet 27 stand der staatlich beamtete Unternehmer beherrschend
im Vordergrund des Bergbaus. Schienen bildeten seit 1850 das Hauptpro-
dukt der Eisenindustrie. Der Kohlenbergbau war seit dieser Zeit die Grund-
lage aller industriellen Entwicklungen im Aachener Raum, wobei Erfahrung
und Kapital aus Wallonien keine geringe Rolle spielten.
Auch in Schlesien 28 wurde der Steinkohlenbergbau der wichtigste Wirt-
schaftszweig. Zu ihm wanderte, wie im Westen, die Schwerindustrie. Aber
während Ruhr- und Saargebiet gute Exportmöglichkeiten besaßen, war die
oberschlesische Ausfuhr nach Rußland und Polen durch deren radikales
Prohibitivsystem minimal, die nach Österreich durch Sondertarife der Ei-
senbahn zugunsten der eigenen Bergwerke praktisch verhindert. Immerhin
nahm Ratibor seit den 50er Jahren dank der Erschließung durch die Eisen-
bahn mit dem Maschinenbau an der Spitze einen so lebhaften Aufschwung,
daß es 1880 bei 18.500 Einwohnern nicht weniger als 1113 Gewerbebetriebe
zählte, hatte das erst 1865 zur Stadt erhobene Kattowitz (1845 noch ein
„Flecken") 1880 6 Eisen-, 11 Zinkhütten und 14 Steinkohlengruben, wo-
durch die Einwohnerschaft 1865 - 1 9 0 5 von 4.800 auf 36.000 stieg. Unter
den Industrien stand in Schlesien noch immer die Zinkerzeugung im Vor-
dergrund. Sie erlebte eine großartige Weltkonjunktur. Relativ bescheiden
26 Kurt DÜWELL, Trier in der Zeit des zweiten Kaiserreiches 1871 - 1 9 1 8 , in: Ders./
Franz Irsigler (Hg.), Trier in der Neuzeit ( = 2 0 0 0 Jahre Trier, Bd. 3), Trier 1985,
S. 437 - 4 6 6 .
27 Konrad FUCHS, Die Bemühungen der preußischen Bergbauverwaltung um den
Absatz der Steinkohlenförderung des Saarreviers 1815 — 1900, in: ZGSaar, Bd. 13
(1963), S. 8 3 - 1 1 7 , hier S. 105; Erich WEIGERT, Die Großeisenindustrie des Saar-
gebiets, in: Schmjb, Bd. 4 6 (1922), S. 423 - 4 6 7 ; Ernst KLEIN, Der Saarbergbau
vor hundert Jahren, in: SbH, Bd. 43 (1976), S. 5 - 1 7 ; Hans POHL, Kohlen und
Koks aus Belgien, dem Saarland und Rheinland-Westfalen für Luxemburgs
Schwerindustrie. Ein Beitrag zur Energiegeschichte (ca. 1 8 6 0 - 1 9 1 0 ) , in:
Z G U n t G , 24. Jg. (1979), H. 3, S. 1 3 6 - 1 4 9 .
28 K. FUCHS, Vom Dirigismus zum Liberalismus... (1970) [61]; Ders., Aus Wirtschaft
und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte Schlesiens vom 18. bis 20. Jahrhundert
( = VFstOme, Bd. 50), Dortmund 1990, S. 58 ff., 100 ff.
§ 8 Preußens Wirtschaft von der Revolution bis zur Reichsgründung 541
TABELLE 4
Durchschnittliches jährliches Arbeitseinkommen in Deutschland 1850-1913
Alles in allem: Um 1870 lebte es sich in Preußen als adliger oder bürger-
licher Gutsherr, auch als tüchtiger Bauer eher besser und bestimmt sicherer
denn als umsichtig vorgehender Eisenbahnaktionär, obgleich die Eisenbahn-
aktien im Durchschnitt zu den bestverzinsten Papieren gehörten. Allerdings
beruhte diese finanzielle Spitzenposition der Großlandwirtschaft nicht zu-
letzt darauf, daß diese zu allen Zeiten die niedrigsten Löhne zahlte und der
„Verkehr" sehr hohe.
Die Jahre nach dem Sieg von 1866 bildeten eine Zeit hoher privat- und
staatswirtschaftlicher Prosperität in einem erheblich vergrößerten Raum
liberaler Marktwirtschaft. Die dabei entstehende Kapitalfülle führte dazu,
daß die Finanzierung des obendrein relativ kurzen Krieges von 1870/71, der
abgesehen von wenigen Tagen im Saargebiet nur in Frankreich geführt
wurde, keine Schwierigkeiten verursachte. Nach dem Fall von Paris am 28.
Januar 1871 begannen außerdem die französischen Kontributionszahlungen;
wenige Monate später trafen die ersten Raten der Kriegsentschädigung ein. 1
Insgesamt zahlte Frankreich dem Deutschen Reich an Kriegsentschädigung
und Kontributionen nach Abzug des Wertes der Eisenbahnen im Elsaß und
1 Wilhelm TREUE, Die Finanzierung der Kriege 1864 - 1 8 7 1 durch die deutschen
Länder, in: VSWG, Bd. 75 (1988), S. 1 - 14.
§ 10 Preußens Wirtschaft 1871 - 1 8 7 9 545
s 10 Preußens Wirtschaft 1 8 7 1 - 1 8 7 9
Am 18. Januar 1932, dem preußischen Krönungs- und deutschen Reichs-
gründungstag also, hat der Historiker Fritz Härtung 1 geschrieben, Bismarck
habe das feste, staatliche Gefüge Preußens „als Grundlage für die Organi-
sation des neuen Reiches benutzt". Der preußische Staat habe aber „damit,
daß er das Reich schuf, seine selbständige Existenz nicht etwa verloren".
Doch fügte er wenige Sätze später nach Ausführungen über Kaiser und
Kanzler, preußische Minister und Staatssekretäre des Reiches, Bundesstaaten
und Bundesrat hinzu: „So war die Zugehörigkeit zum Reich auch für
Preußen bei allem Zuwachs an Macht und Glanz zugleich eine Beeinträch-
tigung der eigenen Unabhängigkeit."
In der Tat verlor Preußen schon seit 1867 mit wechselnder Geschwindig-
keit allmählich seine Eigenart als souveräne Monarchie. 2 1869 erhob man
im Herrenhaus Einspruch dagegen, daß Preußen sich nun übergeordnete
Gesetze gefallen lassen mußte. Das alles geschah also nicht reibungslos. Im
preußischen Kabinett kam es bereits im Januar 1872 zu einer wirtschafts-
politisch wichtigen Änderung. Otto Graf Königsmarck, seit 1869 Oberprä-
sident der Provinz Posen, wurde Landwirtschaftsminister, aber als solcher
schon Anfang Dezember des gleichen Jahres für einige Monate durch den
regierungserfahrenen liberalen Juristen Heinrich von Achenbach ersetzt, der
seit dem Mai Handelsminister war und bis 1878 blieb. Dann erfolgte der
noch zu erwähnende Wechsel der Wirtschaftspolitik des Reiches, und Bis-
marck veranlaßte nicht nur seinen Vertreter im Reichskanzleramt, Delbrück,
sondern auch den liberalen Achenbach zum Rücktritt, dessen Ministerium
er nun wieder selber übernahm, um die Gleichläufigkeit der Wirtschafts-
politik im Reich und in Preußen zu sichern.
Diese Jahre 1872—1878 bildeten die Schlußphase des preußischen Libe-
ralismus, der also, mit manchen Unterbrechungen, sieben Jahrzehnte lang
die Wirtschaftspolitik bestimmt und Preußen zu einem international bedeu-
tenden Staat des Privatkapitalismus gemacht hatte. Träger dieser Politik
war im letzten Jahrzehnt Rudolf Delbrück, seit 1869 als Präsident des
Bundeskanzleramtes mit dem Rang und fast allen Rechten eines preußischen
Staatsministers, in vielen Bereichen seinen Kollegen überlegen, aber, ohne
Stimmrecht im Kabinett, diesen doch nicht ganz gleichgestellt. 3
Als Bismarck seit 1866, noch energischer seit 1871 daranging, dem Reich
eine festigende Konstruktion von Gesetzen und Behörden zu geben, konnte
dies nur auf Preußens Kosten beziehungsweise durch dessen Expansion zum
Reich geschehen. An der Spitze dieser Maßnahmen standen auf wirtschaft-
lichem Gebiet die Währungsgesetze: der 1866 gelungene Sieg des Talers
über den Gulden wurde dadurch relativiert, daß das Reichsmünzgesetz vom
4. Dezember 1871 die „ M a r k " als Rechnungseinheit einführte. Aus der
preußischen Giro- und Leihbank von 1765, einer in schwerer Zeit gegrün-
1
Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, Stuttgart
1969, S. 983.
§ 1 1 Von der Freihandelspolitik zu Protektionismus und Dirigismus 551
tano, seit 1871 in Berlin, beide 1872 Gründungsmitglieder des Vereins für
Socialpolitik, wurden die eifrigsten bürgerlichen Befürworter des Interven-
tionismus.
Bezeichnend für die Situation war, daß Bismarck sich zwar im Oktober
1876 im preußischen Staatsministerium für die Beibehaltung der Eisenzölle
aussprach, im Reichstag aber eine liberale Mehrheit den Wechsel der Zoll-
politik verhinderte, so daß entsprechend der Novelle von 1873 am 1. Januar
1877 die gesamte Eisen- und Eisenwareneinfuhr von Zöllen befreit wurde.
Bereits zehn Tage später wurde zwar auch bei den Reichstagswahlen die
Mehrheit der Liberalen beseitigt, doch fanden sich bei den anderen Parteien
einstweilen noch so viele Anhänger des Freihandels, daß die Wiedereinfüh-
rung der Eisenzölle und sogar die Durchführung einer Enquête über Pro-
duktions- und Absatzverhältnisse der deutschen Industrie und Landwirt-
schaft verhindert wurde und sowohl die preußische wie die Reichsregierung
versichern mußte, daß an eine Umkehr in der Zollpolitik nicht gedacht,
vielmehr die gegenwärtige liberale Zollpolitik fortgeführt werden solle.
Doch kam es nach der Aufhebung der Eisenzölle durch die internationale
Wirtschaftsdepression schnell zu katastrophalen Folgen. Im Frühjahr 1877
führte die riesige Einfuhr englischen und französischen Eisens zur Stillegung
von Hochöfen und Industriebetrieben und zu entsprechenden Protesten in
der Öffentlichkeit. Am 12. Juli 1877 richtete der im Vorjahr gegründete
Centraiverein deutscher Industrieller eine Petition an den Kaiser, in der er
um die Wiedereinführung der bis 1876 gültigen Zölle sowie um die Durch-
führung jener Enquête als Grundlage für eine Diskussion über die künftige
Handelspolitik bat. Angesichts dieser Entwicklung entschloß Bismarck sich
im Herbst 1877 zu einer neuen Wirtschaftspolitik. Am 11. Dezember 1877
wies er den Nachfolger Delbrücks, den Staatssekretär des Reichskanzleram-
tes Hofmann, an, die Grundlinien einer neuen, dirigistisch-protektionisti-
schen Wirtschaftspolitik des Reiches auszuarbeiten. Doch sollte diese von
Preußen eingeleitet werden, da Bismarck „entscheidend an der vollen Un-
terstützung des Kurswechsels durch das ganze preußische Ministerkollegium
lag". In der Reichstagsdebatte am 22. Februar 1878 entwickelte Bismarck
die Grundsätze dieser neuen Wirtschaftspolitik, einer „Gesamtreform unse-
rer Reichssteuern" nach interventionistischen Grundsätzen.
Nach den Reichstagsneuwahlen teilte Reichskanzler Bismarck am 28.
Oktober 1879 den Regierungen der Bundesstaaten mit, daß er eine Revision
des Zolltarifs beabsichtigte. Am 15. Dezember legte er dem Bundesrat
Leitgedanken für den Schutz der Wirtschaft und für eine Tarifreform zwecks
Verbesserung der Reichseinnahmen vor, so daß er also deutlich preußische
Wirtschafts- und Reichsfinanzpolitik miteinander verband. Nach heftigen
Auseinandersetzungen im Reichstag, die zum Rücktritt der preußischen
Minister für Finanzen und Landwirtschaft führten, nahm der Reichstag am
12. Juli 1879 mit 217 Stimmen gegen die Liberalen und die Sozialdemokraten
den neuen Zolltarif an. Der Zolltarif vom 15. Juli 1879 setzte neue Zölle
und Zollsätze für Eisen, Petroleum, Vieh und Fette sofort, für Getreide und
Holz am 1. Oktober 1879, für die übrigen Waren am 1. Januar 1880 in
Kraft. Sie betrugen wie bis 1870 1 Mark je 100 Kilogramm für Roheisen
552 § 12 Wirtschaftliche Interessenverbände nach 1866/71
und Getreide. Der Getreidezoll wurde 1885 auf 3 Mark, 1887 auf 5 Mark
erhöht.
Damit erhielten die Großlandwirtschaft und die Eisenwirtschaft haupt-
sächlich in Preußen in der Zeit der Depression einen ausreichenden, die
Inlandspreise nur wenig steigernden Schutz. Die Zölle trugen merklich zur
Steigerung der Investitionsbereitschaft und zur Entstehung einer neuen Phase
des feudal-bürgerlichen Wirtschaftswachstums mit einer entsprechenden
Stärkung des Exports und somit auch zur Schaffung neuer Arbeitsplätze
für die schnell wachsende Bevölkerung bei.
1 Fritz BLAICH, Staat und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und 1945,
Wiesbaden 1979, S. 5 ff.; Jürgen JOHN, Industrieverbände und Politik. Entwick-
lungstendenzen im kapitalistischen Deutschland bis 1933, in: ZfG, 34. Jg. (1986),
S. 976 —991; Michael GRÜBLER, Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das
erste Kabinett Brüning. Vom Ende der großen Koalition 1929/30 bis zum Vor-
abend der Bankenkrise 1931. Eine Quellenstudie ( = BGParl, Bd. 70), Düsseldorf
1982; Hans-Peter ULLMANN, Die Entwicklung der Organisationen der Wirtschaft
vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Wirtschaftsver-
bände, Partner der Politik oder Pressure Groups? Dokumentation einer Veran-
staltung der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte am 8. Mai 1989, Köln
1 9 8 9 , S. 17-32.
2 Hans POHL (Hg.), Zur Politik und Wirksamkeit des Deutschen Industrie- und
Handelstages und der Industrie- und Handelskammern 1861 - 1949 ( = ZUntG,
Beih. 53), Stuttgart 1987.
§ 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71 553
gründung durch ein Gesetz vom 24. Februar 1870 eine einheitliche Ordnung.
Der 1861 gegründete „Deutsche Handelstag", der erst 1868 zum ersten Male
in Preußen (Berlin) tagte, nahm sich von vornherein gesamtdeutscher Fragen
an — zum Beispiel der Verkehrsinteressen, der Vereinheitlichung der Münz-,
Maß- und Gewichtssysteme, der Handelsgesetzgebung, des Konkurs- und
Versicherungsrechts. Das gleiche gilt für den 1858 bis 1885 bestehenden
freihändlerischen „Kongreß deutscher Volkswirte" unter der Führung der
preußischen Politiker Wilhelm A. Lette, John Prince-Smith und Otto Mi-
chaelis. Aus dem 1852 gegründeten „Zollvereinsländischen Eisenhütten-
und Bergwerksverein" in Düsseldorf ging 1874 der „Verein deutscher Eisen-
und Stahlindustrieller" hervor, während der 1858 gegründete „Verein für
die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund" und der
ihm 1861 nachgebildete „Verein für die bergbaulichen Interessen in Ober-
schlesien" als Regionalvertretungen in Preußen fortbestanden. Aus dem
1870 gegründeten „Kohleverein Bielefeld" ging 1871 angesichts des preu-
ßischen Gewichts auf diesem Gebiet nur ein „Verein zur Wahrung der
gemeinschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen" („Langnamve-
rein") hervor, der allerdings häufig politisch höchst aktiv und einflußreich
für die gesamte Montanwirtschaft auftrat.
Nach der Reichsgründung wurden praktisch gar keine preußischen Wirt-
schaftsvereine und -verbände mehr gegründet, sondern nur noch solche für
das gesamte Reichsgebiet, wenngleich Preußen häufig in ihren Leitungen
ein Übergewicht erhielt — so etwa im „Deutschen Landwirtschaftsrat" von
1872 25 von 44 Sitzen und die Leitung des Geschäftsführenden Ausschusses.
Der liberale „Kongreß deutscher Volkswirte" war zunächst nach der
Reichsgründung der einzige überregionale wirtschaftspolitische Verband. Es
entsprach der politischen Entwicklung, daß er Mitte der 70er Jahre fast
jede Bedeutung verlor und am 15. Februar 1876 in Berlin die norddeutsche
Schwer- sowie die mittel- und süddeutsche Baumwollindustrie sich unter
der Initiative des konservativen Politikers W. von Kardorff im „Centraiver-
band deutscher Industrieller zur Beförderung und Wahrung nationaler Ar-
beit" organisierten — einem „Verband der Verbände". Seit 1893 arbeitete
er eng mit dem „Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller", seit 1906
in einer Interessengemeinschaft mit dem „Bund der Industriellen" zusam-
men, der 1895 in einer gewissen Distanzierung gegenüber der Schwerindu-
strie und Textilwirtschaft gegründet worden war.
mehr zur Förderung von Produktion und Handel mit Hilfe eigener Gewer-
bebetriebe übergegangen war, entwickelte sich seit Beginn der 40er Jahre
aus liberalen Kreisen eine schnell wachsende Kampagne: Es greife als
Staatsinstitut mit riesiger Kapitalkraft in den Gewerbebereich ein, bilde eine
bedrückende Konkurrenz und schade der Privatwirtschaft insgesamt. 1 Der
Gesamtumsatz der Seehandlung betrug 1820—1843 2,1 Milliarden, im Jah-
resdurchschnitt 86,5 Millionen Taler. Gegen diese Ausdehnung der Staats-
wirtschaft und des staatswirtschaftlichen Prinzips wandte sich der privat-
kapitalistische Protest so energisch, daß Rother im April 1848 zurücktreten
mußte. Sein Nachfolger wurde sein ehemaliger Mitarbeiter Friedrich Bloch.
Gleich zu Beginn der „Ära Bloch" wurde die Seehandlung am 17. April
1848 dem Finanzministerium untergeordnet; sie verlor damit ihre Selbstän-
digkeit. Bis zu Blochs Rücktritt im März 1854 verkaufte dieser alle Handels-
und einen großen Teil der vielfach unrentablen Gewerbebetriebe der See-
handlung an Private und bekannte sich in seinem Rücktrittsgesuch — wie
der Minister Hansemann, der ihn angestellt hatte - zum Wirtschaftslibe-
ralismus. Mehrere Versuche, zum letzten Male im Dezember 1869, über-
haupt die Auflösung der Seehandlung zu beschließen, scheiterten an der
Landtagsmehrheit.
Zwar hat das Seehandlungs-Schiff „Princess Louise" 1830 - 1 8 3 2 die Welt
umsegelt, 2 aber als die Seehandlung 1849 gänzlich auf die Tätigkeit einer
Staatsbank reduziert wurde, hörte damit auch ihr Reedereibetrieb auf. Die
Schiffe wurden in den 50er Jahren verkauft. Danach ist der preußische Staat
am Überseehandel und vollends an der Kolonialpolitik und -Wirtschaft nicht
mehr beteiligt gewesen.
Die Seehandlung blieb also die einzige staatswirtschaftliche Institution,
die — in der Blütezeit des Privatkapitalismus — sich nie wirklich bedroht
sah, sondern nur in ihrem Geschäftsumfang beschnitten wurde. Die Preu-
ßische Staatsbank ging durch das „Bank-Gesetz" vom 14. März 1875 und
das „Gesetz betr. die Abtretung der preußischen Bank an das Deutsche
Reich" vom 27. März 1875 an dieses über. Ein entsprechender Vertrag
wurde am 17./18. März 1875 geschlossen. Die Deutsche Reichsbank (120
Millionen Mark Grundkapital, davon 50 Prozent umgetauschte Anteile der
Preußischen Bank) nahm am 1. Januar 1876 ihre Tätigkeit auf. Inzwischen
war der Staat in die Eisenbahnen eingedrungen, trieb er mit seinen Domänen
und Bergwerken Wirtschafts- und Sozialpolitik, vergrößerte er gewaltig das
Staatsmonopol der Post, baute er das von Friedrich Wilhelm I. geschaffene
Staatsunternehmen des Heeres (unter seiner Beteiligung an der Rüstungs-
industrie) aus.
I. Die Eisenbahnen
Als im Eisenbahnwesen den Perioden des ausschließlichen Privatbahnbaues
bis 1842, des Privatbahnbaues mit Staatssubvention 1843 - 1 8 4 7 , der Be-
gründung des Staatsbahnsystems 1848 - 1 8 6 2 , des „Zeitalters Strausbergs"
1 W . RADTKE, D i e P r e u ß i s c h e S e e h a n d l u n g . . . ( 1 9 8 1 ) [ 2 9 8 ] , S. 3 0 3 f f .
2 H . BURMESTER, W e l t u m s e g l u n g u n t e r P r e u ß e n s F l a g g e . . . ( 1 9 8 8 ) [ 1 1 7 ] , S. 3 3 .
II. Das Kanalwesen 555
Zu Bismarcks Kriegszielen von 1864 gehörte die Möglichkeit, den seit dem
18. Jahrhundert viel diskutierten Plan eines Nord-Ostsee-Kanals zu reali-
sieren. Bereits am 23. Dezember 1864 beschloß auf sein Drängen das preu-
ßische Staatsministerium, den Kanal als preußische Staatseinrichtung zu
bauen und zu betreiben; Österreich stimmte in der Gasteiner Konvention
am 14. August 1865 diesem Vorhaben zu. Aber dann verhinderte viele Jahre
lang die politische und wirtschaftliche Entwicklung die Durchführung der
Beschlüsse. Erst 1879 begann Bismarck erneut, das Vorhaben zu betreiben.
Im Juni 1881 erklärte er im preußischen Staatsministerium, er wolle das
preußische Kanalwesen erweitern. Doch leisteten nun sowohl die Minister
wie Heer und Marine wegen der zu erwartenden hohen Kosten Widerstand.
Daher befahl am 19. Oktober 1883 Wilhelm I. den Bau. Da die Militärs
weiterhin Einwände erhoben, einigte man sich 1885/86 dahin, daß das Reich
Bau und Verwaltung des Kanals finanzieren und Preußen einen Zuschuß
von 50 Millionen Mark zu den auf 156 Millionen Mark veranschlagten
Gesamtkosten leisten sollte. Der Bau begann im Sommer 1887. Die Eröff-
nung für den allgemeinen Verkehr fand am 18. Juni 1895 statt — Bismarcks
Verdienst um dieses große Werk wurde von keiner Seite erwähnt. Bereits
im folgenden Jahre befuhren 20.000 Schiffe den Kanal.
Im Gegensatz zu der Begeisterung der deutschen Öffentlichkeit für den
Nord-Ostsee-Kanal verstand diese nicht die nationale Bedeutung eines gro-
ßen Binnenschiffahrts-Kanalnetzes. Wilhelm II. dagegen interessierte sich
für die Technik des Kanalbaues und erkannte die nationalpolitische Bedeu-
tung eines Rhein-Weser-Elbe-Kanals. Nachdem ein Dortmunder Kanalko-
mitee bereits in den Anfängen des großen Eisenbahn-Güterverkehrs 1856
den Plan eines privatwirtschaftlichen Rhein-Weser-Ems-Kanals entwickelt
hatte, 4 beschäftigte sich die preußische Regierung mit dieser Lücke im
Massengutverkehr erst, als Bismarck seine neue wirtschaftspolitische Kon-
zeption des Dirigismus zu entwickeln begann. Nun erklärte er am 12. Januar
1876 dem Handelsminister Achenbach, der Kanalbau sei eine Aufgabe, die
der Staat nicht der Privatwirtschaft überlassen dürfe, sondern selber an-
packen müsse. Alsbald entwickelte der Minister einen Plan zur Verbesserung
und Vermehrung der Wasserstraßen in Preußen, in dem die Rhein-Weser-
Elbe-Verbindung in vier Bauabschnitten von Duisburg bis Magdeburg ent-
halten war. Aber erst 1892 - als also der Bau des Nord-Ostsee-Kanals
bereits weit fortgeschritten war - wurde die Teilstrecke Dortmund - Ems
(Emden) in Angriff genommen, nicht zuletzt um das größte und wichtigste
preußische Industriegebiet direkt mit der Nordsee zu verbinden. Im Jahre
1899 wurde der 280 Kilometer lange Kanal, der von Herne bis Bevergern
das erste Teilstück des Rhein-Weser-Elbe-Kanals bilden sollte, von Wilhelm
II. eröffnet. In diesem Jahre betrug der Umschlag des Hafens Dortmund
62.000 Tonnen, 1910 mehr als 1 Million, 1913 2 Millionen, im Jahre 1925
mehr als 3 Millionen Tonnen.
Im Jahre 1894 begann der große Streit um den Bau dieses Mittelland-
kanals, 5 den der Kaiser bauen und der 1893 gegründete „Bund der Land-
wirte" mit dem Argument verhindern wollte, er schaffe der westdeutschen
Industrie und dem Getreideimport aus den Rheinhäfen einen billigen Weg
nach Berlin und schade damit der preußischen Landwirtschaft. Zwar konnte
das ausländische Getreide ebenso gut von Hamburg auf der Elbe nach
Berlin und Mitteldeutschland und ostdeutsches Getreide auf dem Kanal
nach Westdeutschland gelangen, aber schon sehr früh ging es nicht mehr
um Getreide und Eisen, sondern um die Grundsatzfrage, ob Deutschland
in erster Linie ein Industrie- oder ein Agrarstaat mit entsprechenden poli-
tisch-gesellschaftlichen Prioritäten sein solle.
4 Paul H. MERTES, Die Straße, die alle Ströme vereint, Dortmund 1956.
5 H. HORN, Der Kampf um den Bau... (1964) [407]; Jürgen SUDMEYER, Verkehrs-
entwicklung des Mittellandkanals; in: ZfBinn, Bd. 116 (1989), S. 23 - 26.
II. Das Kanalwesen 557
mit dem auf dem Kanal vom Rhein zur Weser eröffnet werden könne, aber
die Regierung wich dieser Forderung aus, indem sie eine zeitraubende
Untersuchung der Konkurrenzverhältnisse bei der südwestlichen und der
nordwestlichen Eisenindustrie anordnete. Am 30. Januar 1914 lehnte der
preußische Staat eine erneute Forderung des Rheinischen Provinzialland-
tages endgültig ab. 6
Beim Bau dieser Kanäle wurden viele tausend Arbeiter beschäftigt (Dort-
mund-Ems-Kanal 1894: 4.500), was ähnliche sozialpolitische Schwierigkei-
ten verursachte wie einige Jahrzehnte zuvor die Massierung von Menschen
beim Eisenbahnbau. 7
6 Fritz HELLWIG, Alexander Tille, in: Peter Neumann (Hg.), Saarländische Le-
bensbilder, Bd. 4, Saarbrücken 1989, S. 1 5 5 - 1 9 0 , hier S. 177 ff.
7 Wolfgang R . KRABBE, Die Lage der Arbeiter bei staatlichen Auftragsvergaben in
wilhelminischer Zeit. Z u r Sozialgeschichte des Dortmund-Ems-Kanals, in: IWK,
22. Jg. (1986), S. 1 5 7 - 1 6 6 .
8 H . OELRICHS/P. GÜNTHER, Die Domänen-Verwaltung des Preußischen Staates,
Breslau 4 1904, S. 290; Felix ESCHER, Berlin und sein Umland. Z u r Genese der
Berliner Stadtlandschaft bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ( = EvHKzB,
Bd. 47), Berlin 1985, S. 171 ff.
III. Die Domänen 559
1 Million Taler, verkauft. 1899 wurde das Gesetz von 1820 aufgegeben, seit
1900 mit der Veräußerung von Domänen in größerem Umfang begonnen.
Zugleich wurden aber auch Privatgüter angekauft und als Domänen ein-
gerichtet ( 1 9 0 0 - 1 9 0 7 durch Kauf und Tausch 121.000 Hektar im Werte
von 104 Millionen Mark), und zwar in Bezirken, in denen besondere
Staatsrücksichten (Landeskultur, nationales Interesse, Parzellierungen
zwecks Verringerung der Auswanderung, auch Dotationen und Belohnun-
gen für Generäle und Staatsmänner) es erforderten: 1900 —1907 sind vom
Domänenbesitz (ohne Forsten) 25.000 Hektar im Werte von 51 Millionen
Mark veräußert worden (im Durchschnitt jährlich 3.500 Hektar für 7,3
Millionen Mark). In den Jahren 1899 beziehungsweise 1907 umfaßte Preu-
ßens Domänenbesitz 1054 Vorwerke mit 337.000 beziehungweise 1429 Vor-
werke mit 430.000 Hektar, von denen nur sechs Güter mit 1.400 Hektar
vom Staat selber bewirtschaftet wurden. Der Pachtertrag aus den anderen
betrug 15,4 Millionen Mark. Dazu kamen für den Domänenfiskus Einnah-
men aus Mühlen, Fischereien usw., aus Mineralbrunnen und Badeanstalten,
Domänenamortisationsrenten, grundherrlichen und anderen „Hebungen",
so daß die gesamten „etatmäßigen" Einnahmen seit 1907 bei der Domä-
nenverwaltung 30 Millionen Mark betrugen. Ihnen standen „dauernde
Gesamtausgaben" von 7,9 Millionen Mark und „außerordentliche Ausga-
ben" von 4,1 Millionen Mark gegenüber, so daß ein Überschuß von 18
Millionen Mark verblieb (1913: 15,7 Millionen Mark). 1 1
Bei weitem der bedeutendste Domanialbesitz befand sich noch immer in
den fünf östlichen Provinzen: 88,1 Prozent mit 81 Prozent der Gesamtein-
nahmen.
Über die Einnahmen aus den Domänen des Staates gegen Ende des
19. Jahrhunderts liegen widersprüchliche Angaben vor: für 1884/85 82
Millionen Mark = 7,2 Prozent des ganzen Staatseinkommens beziehungs-
weise 187 Millionen = 16,4 Prozent unter Einbeziehung der Erträge aus
den Bergwerken. Auf jeden Fall lagen Preußens Einnahmen aus Bergwerken
usw. seit etwa 1880 höher als die aus landwirtschaftlichen Domänen und
waren insgesamt beträchtlich. Den Hauptgrund für die Aufteilung von
Domänen und für den Verkauf zu günstigen Bedingungen beziehungsweise
für die Verpachtung der Teile bildete die Absicht, Bauernstellen zu schaffen
und das Bauerntum gegenüber dem Adel zu stärken, die Abwanderung von
Arbeitskräften in die Städte zu verlangsamen und die Macht des Großgrund-
besitzes zu verringern, wobei außerdem im allgemeinen der Wert der Nut-
zung etwa verdoppelt wurde.
Im Jahre 1911 Schloß der Abschnitt „Neue Maßregeln" des Beitrags
„Domänen" zum Handwörterbuch der Staatswissenschaften (Band 3,
S. 529) mit den Sätzen: Es ließe sich „nicht verkennen, daß die Durchführung
der inneren Kolonisation sowohl allgemein wie besonders auch auf den
Domänen zu guten Erfolgen geführt und segensreich gewirkt hat. Es ist
I2a T. Frhr. von der GOLTZ, Geschichte der deutschen Landwirtschaft... (1902/03)
[46], Bd. 2, S. 399 ff.
562 § 13 Preußische Staatswirtschaft nach 1866/71
Nach der Revolution von 1848/49 und insbesondere nach den Territorial-
gewinnen während der 60er Jahre sowie durch diese wurde der Staat, der
ohnehin durch Domänen, Bergwerke usw., Heeresvergrößerungen, das An-
wachsen des Postbetriebs, schließlich seit den 80er Jahren durch die Ver-
staatlichung der Eisenbahnen in Preußens Wirtschaft eine ständig wachsende
Rolle spielte, — wie in anderen Staaten auch — immer stärker ein Ver-
waltungsstaat mit einer kostenmäßig-finanziell bedeutenden Beamtenschaft.
Die Zahl der Staatsbeamten (also unter Ausschluß der Kommunalbeam-
ten und Mitarbeiter privatwirtschaftlicher Unternehmen, die häufig als [ζ. B.
Bank-]Beamte bezeichnet wurden, wuchs: 1 4
TABELLE 4 A
Anteil der Staatsbeamten an den hauptberuflich Erwerbstätigen
1858-1907
6,1% von 31,9 Millionen; 1907 6,6% von 38,4 Millionen Personen. 15 Von
dieser im Jahre 1907 fast genau einer halben Million preußischer Staats-
beamter war mehr als die Hälfte, nämlich 261.456 „Beamte (einschließlich
Unterbeamte) der ... preußisch-hessischen Staatseisenbahnen", von denen
75,8% dem „unteren", besonders niedrig besoldeten Dienst angehörten
(Bahnwärter, Weichensteller, Zugführer). 16
Die Gehälter dieser Beamten stiegen alles in allem um mehr als 100%:
1850 — 1910 das Jahresgehalt eines Regierungsrates von 3600 auf 7100 Mark,
das eines mittleren „Mittleren Beamten" von 1325 auf 3500 Mark und das
eines „Unterbeamten" (Bote usw.) von 720 auf 2030 Mark (bei der Eisenbahn
nur von 585 auf 1930 Mark). Das bedeutete also für 1907/10 rund eine
halbe Million „Staatsdiener" mit - wenn man das Gehalt eines unteren
„Mittleren Beamten" als Durchschnitt aller Beamtengehälter ansetzt
(2950 Mark, was angesichts der vielen sehr niedrigen Gehälter wahrschein-
lich eher etwas zu hoch als zu gering gegriffen ist) annähernd 1,5 Milliarden
Mark an Brutto-Jahresgehältern für etwa 3% aller Erwerbstätigen, bezie-
hungsweise 6,6% der Gesamtbevölkerung.
§ 14 Preußische Wirtschaftslandschaften
nach 1871
I. Berlin/Brandenburg
insbes. S. 136 ff., 176 ff.; Carl Ludwig HOLTFRERICH, Relative Preise, Kapazität
und Produktion in der deutschen Kohlen- und Eisenindustrie 1850 — 1913, in:
Hansjörg Siegenthaler, Ressourcenverknappung als Problem der Wirtschaftsge-
schichte ( = SchrVSP, Bd. 192), Berlin 1990, S. 118; T. PIERENKEMPER, Die west-
fälischen Schwerindustriellen... (1979) [96], insbes. S. 134ff.; Hans-Jürgen TEU-
TEBERG, Die Industrialisierung Westfalens im 19. Jahrhundert. Probleme und
Forschungsstand, in: Ders. (Hg.), Westfalens Wirtschaft... (1988) [196], S. 1 -
22; Clemens WISCHERMANN, Preußischer Staat und westfälische Unternehmer
zwischen Spätmerkantilismus und Liberalismus, Habil.-Schr. Münster 1989 [MS];
Gerhard ADELMANN, Vom Gewerbe zur Industrie im kontinentalen Nordwesteu-
ropa. Gesammelte Aufsätze zur regionalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte
( = ZUntG, Beih. 38), Stuttgart 1986.
2 Michael ERBE, Berlin im Kaiserreich (1871 - 1 9 1 8 ) , in: Wolfgang Ribbe (Hg.),
Geschichte Berlins, Berlin 2 1988, Bd. 2, S. 6 8 9 - 7 9 3 , hier S. 691; Otto SCHWARZ-
SCHILD, Die Großstadt als Standort der Gewerbe. Mit besonderer Berücksichti-
gung von Berlin, in: JbbNSt, Bd. 33 (1907), S. 7 2 1 - 7 8 3 , hier S. 728; Wolfgang
RIBBE, Ergebnisse und Aufgaben der historischen Berlin-Forschung, in: J G M O D ,
Bd. 38 (1989), S. 1 - 8 0 , bes. S. 27 ff.; Wolfram FISCHER, Berlin als Wirtschafts-
zentrum aus der Sicht der Unternehmer, in: Wilhelm Treue (Hg.), Geschichte als
Aufgabe. Festschrift für Otto Büsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988,
S. 483 - 5 0 5 ; F. HECHT, Die Organisation des Bodenkredits... (1891 - 1 9 0 8 ) [132],
2. Abt., Bd. 1 (Die Statistik der deutschen Hypothekenbanken), Leipzig 1903.
3 Wolfgang RIBBE, James Hobrecht, in: Wolfgang Ribbe/Wolfgang Schäche (Hg.),
Baumeister — Architekten — Stadtplaner. Biographien zur baulichen Entwicklung
Berlins, Berlin 1987, S. 219 - 234, hier S. 227 ff.; Karl-Heinrich KAUFHOLD, Die
maschinelle Ausstattung des deutschen Kleingewerbes zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts, in: Nils-Arvid Bringeus u. a. (Hg.), Wandel der Volkskultur. Festschrift
für Günter Wiegelmann zum 60. Geburtstag, München 1988, Bd. 1, S. 835 — 854;
Ders., Erwerbstätigkeit und soziale Schichtung... (1987) [341],
568 S 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871
schenmeister mit je 10 Gehilfen außer dem Hause sowie rund 100 weitere
Personen beschäftigte, in den 50er Jahren das größte seiner Art in der Welt
wurde, 1861 den Krönungsmantel Wilhelms I. anfertigte und seitdem alle
preußischen Königinnen belieferte. Angesichts des starken Wachstums der
Mittelschichten und des preußischen Heeres gründeten 1884 der Deutsche
Offiziersverein das „Armeemarinehaus" und gegen Ende des Jahrhunderts
auch Wertheim und Tietz Warenhäuser (bald mit Filialen in Süd- und
Südwestdeutschland), was 1903 zur Bildung eines Verbandes deutscher
Waren- und Kaufhäuser führte. Anschließend setzte die „Zeit der großen
Expansion" ein. 6
Der Bevölkerungszunahme folgte die Urbanisierung, die Monetarisierung
und eine Art von Industrialisierung der Ernährungsweise durch die Ver-
wendung von immer mehr auf viele Arten, auch unter Benutzung von
Chemikalien (Wasserglas, Backpulver usw.) konservierten Lebensmitteln. 7
Nicht weniger schnell als die Gesamtbevölkerung Berlins wuchsen das
Proletariat, die Unterschichten, die Armut. In diesen Zusammenhängen
wurde 1890 der erste Beamtenwirtschaftsverein, bald danach der „Berliner
Spar- und Bauverein" von 1892 für Arbeiterwohnungen und 1902 der
patriotische „Vaterländische Bauverein" zum Bau preiswerter hygienischer
Kleinwohnungen gegründet. 1896 richtete der seit 1886 bestehende Berliner
Asylverein für Obdachlose an die Stadt den Bauantrag für ein entsprechen-
des Gebäude für 700 Männer; 1905/07 folgte ein Frauen-Asyl mit 400 Betten
(1908 registrierten diese inzwischen erweiterten Häuser etwa 255.000 männ-
liche und 55.000 weibliche Besucher). 8
Für das Wachstum des hauptsächlich großstädtischen Hypothekenwesens
mit Vorrang von Berlin (auch des Immobiliarvermögens und des in Hypo-
theken angelegten Vermögens) während der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
6 Aus den Warenhäusern beider Welten. Die Organisation der größten Berliner,
Pariser und amerikanischen Warenhäuser, Berlin 3 1 9 0 8 ; Werner SOMBART, Wirt-
schaft und Mode. Ein Beitrag zur Theorie der modernen Bedarfsgestaltung
( = GfNSl, H . 12), Berlin 1902; Siegried GERLACH, Das Warenhaus in Deutsch-
land. Seine Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg, Stuttgart 1988; Uwe WESTPHAL,
Berliner Konfektion und Mode. Die Zerstörung einer Tradition 1836 — 1939,
Berlin 1986.
7 Wilhelm TREUE, Das Aufkommen der Ernährungsindustrie, in: Edith Heischkel-
Artelt (Hg.), Ernährung und Ernährungslehre im 19. Jahrhundert. Vorträge eines
Symposiums am 5. und 6. Januar 1973 in Frankfurt/M. ( = StMedG, Bd. 6)
Göttingen 1976, S. 68 - 73; Hans-Jürgen TEUTEBERG, Die Nahrung der sozialen
Unterschichten im späten 19. Jahrhundert, in: a . a . O . , S. 205 — 287.
8 Ders., Die Veränderung der hausfraulichen Küchenarbeit unter dem Einfluß der
Industrialisierung, in: Dietmar Petzina/Jürgen Reulecke (Hg.), Bevölkerung,
Wirtschaft, Gesellschaft seit der Industrialisierung. Festschrift für Wolfgang Köll-
mann ( = U W S T G , Bd. 8), Dortmund 1990, S. 3 5 9 - 3 8 8 ; Dietlinde PETERS, Der
„Berliner Asylverein für Obdachlose" („Wiesenburg"), Wiesenstraße 55 — 59, in:
Helmut Engel/Stefi Jersch-Wenzel/Wilhelm Treue (Hg.), Geschichtslandschaft
Berlin, Bd. 3 (Wedding), Berlin 1990, S. 1 1 7 - 1 3 0 ; M . ERBE, Berlin im Kaiser-
reich... ( 2 1988) [s.o. Anm. 1], S. 731.
II. Schlesien 571
II. Schlesien
Im Jahre 1740 erobert, erst nach 1763 sehr langsam in den preußischen
Staat integriert und dessen wichtigste Bergbau- und Industrieprovinz, verlor
Schlesien für ihn seit etwa 1850 allmählich in dem Maße wieder an Bedeu-
tung, 10a in dem die westlichen Provinzen eine solche, mit Hilfe der Eisenbahn
TABELLE 5
Hypothekenbanken in Preußen 1863-1899
und nach der Jahrhundertwende durch den allerdings nur bis Hannover
geführten Mittellandkanal für den Gesamtstaat gewannen. Auch konnte
Oberschlesien bei der Steigerung der Roheisenerzeugung nicht mit der des
übrigen Deutschlands mithalten. Die Eisenerzeugung Gesamtdeutschlands
verdreißigfachte sich 1850 — 1913, die oberschlesische verzehnfachte sich
nur, denn mehr vermochte die verarbeitende Industrie nicht aufzunehmen,
und den Absatz auf ausländischen und größeren inländischen Märkten
verhinderte die Verkehrslage. Der Steinkohlenförderung ging es infolge
wachsenden Absatzes an Gas- und Elektrizitätswerke zwar nicht ebenso
schlecht, aber bei weitem nicht so gut wie den Bergwerken in Westdeutsch-
land.
Diese Ungunst der Verkehrslage und die Zollpolitik. Rußlands und Öster-
reichs führten dazu, daß Schlesiens Bergbau und Industrie seit den 90er
Jahren immer mehr auf den heimischen Markt angewiesen blieb, sich also
von Preußen, mit Ausnahme Berlins, wieder entfernte und somit eine gewisse
Desintegration eintrat. Das war auch durch Sondertarife der Eisenbahn
nicht zu verhindern, eher durch Kartell- und Syndikatsregelungen — also
künstlich — zu verzögern. Auch die Versorgung der schlesischen Hochöfen
mit Schmelzmaterial zu akzeptablen Preisen wurde von Jahr zu Jahr schwie-
riger, da die Erze vorwiegend auf dem teueren Eisenbahnweg herangeschafft
werden mußten. Nur Unternehmen, die sich energisch von der Massenfa-
brikation auf Verfeinerungs- und Weiterverarbeitungsanlagen umstellten,
konnten diese Entwicklung überleben. Diese führte zum Beispiel dazu, daß
Henckel-Donnersmarck nicht seinen schlesischen Konzern vergrößerte, son-
dern Hochöfen bei Stettin errichtete, dort billig importiertes überseeisches
Erz verhüttete und mit dem Roheisen 1895 in Mitteldeutschland alle anderen
deutschen Produzenten unterbieten konnte. In solchen Zusammenhängen
geriet das schlesische Bankwesen immer stärker in Abhängigkeit von den
Berliner Großbanken, bei denen die schlesischen Finanzinteressen durchaus
nicht an erster Stelle rangierten.
Doch wäre die Lage Oberschlesiens noch ungünstiger gewesen, wenn
nicht seit 1904 der Deutsche Stahlwerksverband, dem der oberschlesische
II. Schlesien 573
10b Adelheid SIMSCH, Die Wirtschaftspolitik des preußischen Staates in der Provinz
Südpreußen 1 7 9 3 - 1 8 0 6 ( = SchrWSG, Bd. 33), Berlin 1983, S. 20 u. 252 (zugl.
Habil.-Schrift FU Berlin 1980).
11 H.W. Graf Finck von FINCKENSTEIN, Die Entwicklung der Landwirtschaft...
(1960) [39], S. 38 ££.; Sabine WEHKING, Zum politischen und sozialen Selbstver-
ständnis preußischer Junker 1871 - 1914, in: BDLG, Bd. 121 (1986), S. 3 9 5 - 4 4 8 ;
Klaus HESS, Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich ( = HF,
Bd. 16), Stuttgart 1990; Heinz NEUMEYER, Westpreußen 1815 - 1 8 7 0 , in: Wprjb,
Bd. 37 (1987), S. 3 7 - 5 6 ; Gustav COMBERG, Die deutsche Tierzucht im 19. und
20. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 453 ff.; J. HANSEN, Die Landwirtschaft der
Provinz Ostpreußen... (1914) [47]; Theodor Freiherr von der GOLTZ, Die Ent-
wicklung der ostpreußischen Landwirtschaft während der letzten 25 Jahre
( 1 8 5 6 - 1 8 8 1 ) , in: Schmjb, Bd. 7/2 (1883), S. 7 3 - 1 2 9 , hier S. 95; Udo EGGERT,
Die Bewegung der Holzpreise und Tagelohn-Sätze in den preussischen Staatsfor-
sten von 1 8 0 0 - 1 8 7 9 , in: ZStatB, Bd. 23 (1883), S. 1 - 4 4 ; Preußens Staatsforsten,
in: ZStatB, Bd. 23 (1883), S. I/II (Statistische Correspondenz); Rudolf JAWORSKI,
Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Studien zur Wirtschaftsgesinnung
der Polen in der Provinz Posen (1871 - 1 9 1 4 ) ( = KrStGw, Bd. 70), Göttingen
1984, S. 155; Rainer FREMDLING, Innovation und Mengenanpassung. Die Los-
lösung der Eisenerzeugung von der vorindustriellen Zentralressource Holz, in:
Hansjörg Siegenthaler (Hg.), Ressourcenverknappung als Problem der Wirt-
schaftsgeschichte ( = SchrVSP, Bd. 192), Berlin 1990, S. 35; Alfons HAASE, Schle-
siens Landwirtschaft. Ein Gang durch die Geschichte der schlesischen Landwirt-
schaft von den ersten Anfängen bis zum Leistungsstand bei Beginn des zweiten
Weltkrieges. Eine agrarhistorische und agrargeographische Darstellung, Wolfen-
büttel 1981.
576 § 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871
und 1914 der Anbau von Roggen und Kartoffeln vor. Die Viehhaltung
wurde in diesen Provinzen trotz staatlicher Unterstützung durch Gestüte,
Hengststationen und Ankäufe von Remonten noch jahrzehntelang von den
Verlusten in den napoleonischen Kriegen beeinflußt. Auch die Separationen
im Zuge der Reformen verzögerten die Erholung. Erst nach 1852 begann
ein stetiger, bis 1914 kaum unterbrochener Aufstieg, wobei in Ostpreußen
neben der Rinderhaltung die Pferdezucht eine besondere Rolle spielte,
nachdem es gelungen war, aus dem kleinen zähen Litauerpferd mit Hilfe
von arabischem und englischem Vollblut ein kräftiges und ausdauerndes
Kavalleriepferd zu züchten. 1873 —1913 stieg der Pferdebestand Ostpreußens
von 351.000 auf 490.000; von den 15.000 Remonten, die um 1910 jährlich
in Deutschland gebraucht wurden, lieferte Ostpreußen etwa 9.000. Groß
war der Einfluß des Hauptgestüts Trakehnen und vier weiterer Landgestüte.
Die staatliche preußische Gestütsverwaltung war (nach Ansätzen im Jahre
1717) 1732 mit der Gründung des Hauptgestüts Trakehnen auf einem
großen, extra dafür trockengelegten Gelände als Domäne mit etwa 1100
Pferden für die Marställe des Hofes eröffnet worden. Da die Entwicklung
teuer und unergiebig war, plante Friedrich II. 1777 die Schließung des
Gestüts. Oberpräsident Domhardt verhinderte sie und erreichte 1779 sogar
eine Verbesserung und Erweiterung. 1788 gründete Friedrich Wilhelm II.
das „Hauptgestüt" Neustadt/Dosse, dem bis 1839 ein Dutzend und 1866 —
1928 17 weitere Landgestüte unterstellt wurden. Der bedeutendste Ober-
landstallmeister war 1887—1912 Graf Georg Lehndorff, der insbesondere
das Vordringen der schweren Pferdetypen organisch in die Gesamtzucht
einordnete; allerdings geriet trotzdem die sogenannte „Edelzucht" für das
Militär immer stärker in den Vordergrund, was nach 1919 eine Typ-
Umstellung zum „Wirtschaftspferd" nötig machte.
Erheblichen Einfluß auf die Rinderhaltung übte der Eisenbahnbau aus,
der die städtischen Märkte, insbesondere den von Berlin, dem Absatz
erschloß. 1864 gab es in Ostpreußen 700.000 Stück Rindvieh, 1911 1,2
Millionen, deren Lebendgewicht sich verdreifacht hatte, während die Milch-
leistung auf mehr als das Fünffache gestiegen war. Das gleiche galt für die
Schweinehaltung, die zum Beispiel in Ostpreußen 1880—1912 um etwa 360
Prozent stieg. Dagegen ging die Schafhaltung seit etwa 1880 zurück. Viel
und sehr kontrovers wurde in den Jahren zunehmender Kriegsgefahr die
Frage diskutiert, ob die deutsche, insbesondere die ostdeutsche Landwirt-
schaft das schnell wachsende deutsche Volk vollständig mit einheimischem
Fleisch und Getreide ernähren könne. Je nachdem, ob man vom Futter-
Getreide-Import im Werte von mehr als einer Milliarde Mark jährlich absah
oder nicht und wie hoch man den Pro-Kopf-Bedarf des Volkes ansetzte,
fielen die Antworten verschieden aus. Der Agrarwissenschaftler J . Hansen
glaubte in völliger Verkennung der Seeherrschaftsverhältnisse Anfang 1914,
man werde in naher Zukunft mit dem Getreideimport aus „Neudeutsch-
land", das heißt den Kolonien, beginnen und damit die „Unabhängigkeit"
der Versorgung sichern können.
Eine bedeutende Rolle spielte die weiterverarbeitende Industrie landwirt-
schaftlicher Rohstoffe in den Produktionsgebieten selber. Allerdings ging
III. Die fünf östlichen Provinzen 577
nach 1850/70 das bäuerliche Weben von Wolle und Leinen ebenso sehr
zurück wie die Guts- und Gemeindehandwerkerei. Die Kartoffelbrennerei
lag fast ganz im Bereich des Großgrundbesitzes. Je größer und leistungs-
fähiger die Getreidemühlen (Walzmühlen) wurden, um so mehr trennten
sie sich von den Getreideproduzenten und wandten sich, an günstigen
Standorten errichtet, auch dem Getreidehandel zu — mit Ausnahme der
Schrotmühlen für Futtergetreide, die weiterhin meist den Produzenten ge-
hörten. Bei der Zuckergewinnung gelangte man schon früh vom Privatbesitz
zu Genossenschaften und Aktiengesellschaften, an denen die Rübenprodu-
zenten häufig stark beteiligt waren.
Noch immer wurden (1837: 99.500 t von 100.000 t insgesamt) 1870
70.000 t von 1,55 Mill, t Roheisen insgesamt mit Holzkohle erzeugt, war
der Bedarf an Holzkohle bei den Gewerben sogar im Wachsen begriffen.
Außerdem brauchten die Bauwirtschaft, die Eisenbahn für Schwellen und
die Bergwerke für Stollen zunehmend Holz. Die Holzpreise waren je nach
Verkehrs- und Marktlage der Waldungen in den einzelnen Provinzen, von
Ost nach West steigend, sehr unterschiedlich.
Die Marktlage in den östlicheren der hier betrachteten Provinzen war
selbst um 1880 noch sehr schlecht, obwohl die Länge der Kunststraßen
sich in den jüngsten 20 Jahren verdreifacht hatte. Von der Goltz stellte
für Ostpreußen im Jahre 1883 fest: „Güter, welche keine Chaussee, Ei-
senbahn oder Wasserstraße in der Nähe haben, können kaum Produkte
zu Markt bringen." Und: „1875 existierte im Großhandel die osteuropäi-
sche Butter gar nicht, und wo dieselbe notiert wurde, geschah es an
letzter Stelle zu den niedrigsten Preisen, während heute ostpreußische
Butter der besten Ware zugezählt wird..." Der Jahresbericht der Pom-
merschen Ökonomischen Gesellschaft hob 1883 hervor: „Die Rindvieh-
zucht erfreut sich allgemein steigender Bedeutung, obschon der Absatz
der Molkereiprodukte noch ziemlich mangelhaft ist..." Über Posen hieß
es 1883: „Leider dürfte sich bei dem noch sehr niedrigen Stand der
Viehzucht dieses Landes die Knochenmenge in stärkerer Weise vermehrt
haben als die Fleischmenge... Das Molkereiwesen hat in Posen nicht die
Fortschritte gemacht wie die Rübenzuckerindustrie... 1882 waren 12 Zuk-
kerfabriken in Tätigkeit und 430 Spiritusbrennereien... die Schweinezucht
hat in Posen eine ganz ungewöhnliche Vermehrung erfahren... Mag auch
die Behauptung als eine kühne bezeichnet werden, daß der Konsum von
Schweinefleisch und Fett gerade in solchen Ländern zu einem größeren
Bedürfnis geworden sei, in welchem der Genuß alkoholischer Getränke
ein besonders starker ist, so trifft doch diese Voraussetzung in Posen, wo
die ländliche Bewohnerschaft gerade oft schrecklich dem Trünke ergeben
ist, vollständig zu." Im „Jahresbericht über die Gestaltung der landwirt-
schaftlichen Verhältnisse in der Provinz Posen" für 1882 schließlich steht:
„... die dunklen Punkte bilden die seitab vom Verkehr liegenden Gegen-
den, die noch 5 — 6 Meilen (35 — 45 km) und weiter bis zur nächsten
Eisenbahnstation haben und dabei vorwiegend auf Getreideanbau ange-
wiesen sind..." In dieser Provinz spielte außerdem über Handel und
Gewerbe bis in die Groß- und Kleinlandwirtschaft reichend, der Natio-
578 S 14 Preußische Wirtschaftslandschaften nach 1871
Nach der preußischen Statistik für die Jahre 1908, 1909 und 1910 lebten
in Preußen, wie Rudolf Martin feststellte, 8.355 „Millionäre". 3 In Wirk-
lichkeit waren es noch mehr. Martin nannte sie „acht kriegsstarke Bataillone
Millionäre" und fügte hinzu, daß es bereits im Jahre 1902 in Preußen 5.538
und wahrscheinlich ungefähr die gleiche Anzahl im übrigen Deutschland,
zusammen also etwa 10.000 Millionäre gegeben habe. 4 Das bedeutet für
Preußen innerhalb von sechs Jahren eine Zunahme um 2.817 = etwa 50
Prozent.
Bertha Krupp von Bohlen und Halbach versteuerte ein Vermögen von
187 Millionen Mark und war damit die reichste Privatperson in Preußen,
Kaufmann Ernst Hoffmann, Teilhaber eines Herrenmoden-Geschäfts in
Berlin und als solcher gleichfalls Hoflieferant, war nach dem Nachtrag zu
dem Werk von Martin 5 der letzte der mehr als 5.261 derer, die „nur" ein
Vermögen von mehr als 1,0 bis einschließlich 2,0 Millionen Mark besaßen
— erheblich mehr, denn die amtliche Statistik führte diejenigen Millionäre
nicht auf, die nicht ein Jahreseinkommen von mehr als 3.000 Mark hatten.
Nimmt man an, daß diese rund 5.000 kleinen (Steuer-)Millionäre im
Durchschnitt ein Vermögen von 1,5 Millionen Mark besaßen, dann ergibt
dies zusammen 5.000 χ 1,5 Millionen = 7,5 Milliarden Mark Vermögen
der kleinen preußischen Millionäre. 2.327 Personen besaßen ein Vermögen
von mehr als 2 Millionen bis 5 Millionen Mark, 747 Personen schließlich
ein solches von mehr als 5 Millionen Mark.
Die vier Personen mit einem Vermögen von mehr als 100 Millionen Mark
(Bertha Krupp 197, Guido Fürst Henckel von Donnermarck 177, Christian
Kraft Fürst zu Hohenlohe-Oehringen 151, M a x von Goldschmidt-Roth-
schild 107) verfügten zusammen über 622 Millionen Mark Vermögen. In
den Gruppen unter ihnen besaßen acht Personen 55 — 84, 120 Personen 10 —
49 Millionen Mark Vermögen. Unter den 100 reichsten „Multimillionären"
war der Adel (keine Nobilitierung nach 1901, also in den jüngsten zehn
Jahren) insgesamt 64mal vertreten, davon der gräfliche, fürstliche, her-
zogliche und königliche 22mal; und keiner dieser Adligen besaß ein Ver-
mögen unter 16 beziehungsweise über 177 Millionen Mark.
Martin hat neben den mehr als 8.355 (wohl sogar mehr als 9.000 6 )
jeweiligen großen Vermögen auch die Einkommen der meisten ihrer Besitzer
verzeichnet. Diese, die natürlich keineswegs nur aus den Vermögen zu
erwachsen brauchten, sondern auch in Geschäften aller Art von Besitzern,
Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern, als Gehälter (beziehungsweise
Pensionen) von Beamten, Honorare von Ärzten, Anwälten, aus Haus- und
Grundstücksvermietungen erworben beziehungsweise verdient werden
konnten, lagen zwischen 40.000 (der Mitbesitzerin eines Landgutes) und 17
Millionen Mark (Bertha Krupp). Die vier oben genannten Besitzer von mehr
als 100 ( = 622) Millionen Mark Vermögen hatten insgesamt ein Einkommen
von 3 9 - 4 0 Millionen Mark. Das Gesamteinkommen aller etwa 8.355
Millionäre festzustellen, ist nicht möglich, da Martin nur für einige 20 ein-
bis zweifache Millionäre deren Einkommen angegeben hat.
Immerhin bieten die Zahlenangaben und die „Biographischen Notizen"
von Martin einen Blick in die finanzielle, gesellschaftliche und politische
Macht- und Führungsgruppe auf der Höhe der preußischen Monarchie und
ein Jahrzehnt vor ihrem Ende.
Wie viele „große" und „kleine" Millionäre es in Preußen 20 Jahre zuvor,
also etwa beim Regierungsantritt Wilhelms II., gegeben hatte und wie hoch
ihr Durchschnittseinkommen gewesen ist, läßt sich nicht feststellen. Die
Zahlen müssen sehr viel niedriger gelegen haben und kaum halb so groß
gewesen sein — insbesondere bei den ein- bis zweifachen Millionären. Aber
auch zum Beispiel ein Blick auf die Lebensläufe der drei um 1910 vermögens-
und einkommensreichsten Millionäre läßt erkennen, wie stark in diesen
drei Jahrzehnten beides gewachsen sein muß. Das Vermögen von Bertha
Krupps Vater Friedrich Alfred Krupp vor dem Jahre 1895 ist nicht bekannt;
sein Einkommen betrug 1892 6,8 Millionen Mark. Das Einkommen (Fürst)
Guido Henckel von Donnersmarcks betrug 1892 4,3 Millionen Mark, das
des Fürsten zu Hohenlohe-Oehringen und Herzogs von Ujest 1,8 Millionen
Mark. Die Einkommen, die schließlich in etwa den Vermögen entsprachen,
sind also 1890/95 — 1910 sehr stark gestiegen.
Zwar läßt sich, wie gesagt, das Gesamteinkommen der Millionäre in
Preußen nicht feststellen. Mit Sicherheit hat aber ihr Durchschnittseinkom-
men im Jahre 1910 mindestens 100.000 Mark betragen. Das würde bei
(mehr als) 8.355 Millionären ein Gesamtjahreseinkommen von mehr als
(und eher doppelt so viel wie) 835.500.000 Mark ausmachen. Natürlich
müssen bei der Beurteilung aller hier genannten Zahlen die Entwicklungen
der Preise einerseits und der Qualitäten der Waren andererseits berücksich-
tigt werden.
Der „große" Reichtum (20 und mehr Millionen Mark) war um 1910 in
Preußen sehr ungleichmäßig über die ganze Monarchie verteilt: von den
Oppenheim und Guilleaume in Köln zunächst zu den Krupp in Essen, A.
Thyssen in Mülheim, den Haniel in Düsseldorf, Hugo Stinnes in Mülheim
und den vielen Rothschild und Speyer in Frankfurt. Er wohnte naturgemäß
stark im Zentrum Deutschlands, in Berlin (die Mendelssohn, Friedländer-
Fuld, Rudolf Mosse, Eduard Arnhold, zwei Bleichröder, James und Eduard
Simon, Wilhelm von Siemens, Louis Ravené, Oskar Huldschinsky, E. v.
Borsig, Julius Bötzow). Der allergrößte war eigenartigerweise außerordent-
lich konzentriert in der zu dieser Zeit bergbau- und industriewirtschaftlich
schnell absinkenden Provinz Schlesien bei den Henckel-Donnersmarck, dem
Herzog von Ujest, dem Fürsten Pless, den Grafen Schaffgotsch, Thiele-
Winckler und Ballestrem, Julius Schottländer, Eugen von Kulmiz, Georg
Haase, dem Herzog von Ratibor; er war gar nicht vertreten in der Land-
wirtschaft und ihren Industrien in Brandenburg, Pommern, Ost- und West-
preußen.
582 § 15 Preußens Reichtum und Armut am Vorabend des I. Weltkrieges
Von den mindestens 5.261 „einfachen" Millionären, die also mehr als
eine Million bis zwei Millionen Mark besaßen und „zugleich Hausbesitzer
in Groß-Berlin" waren, lebten mehr als 1.500 in der preußischen Hauptstadt.
Die Konzentration des in Banken arbeitenden Kapitals (die größte, die
Deutsche Bank, 1910 mit einem Aktienkapital von 200 Millionen und einer
Bilanzsumme von 2,2 Milliarden Mark) in Berlin führte dazu, daß dort seit
der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (also weit später als in Paris)
neben den Kunstsalons auch ein paar „Finanzsalons" entstanden und Einfluß
ausübten: 7 der von Elli (von) Schwabach, Ehefrau des Seniorchefs des
Bankhauses Bleichröder, von Aniela, der Ehefrau des Bankiers Carl Für-
stenberg (die geradezu „Firmen-Empfangs-Chefin", also Geschäftsfrau
wurde) und der von Anna vom Rath, Ehefrau eines der Gründer der
Deutschen Bank. In diesen Salons verkehrten Geschäftsleute wie Ballin,
Bamberger, W. Rathenau, Paul von Schwabach, Siemens sowie hohe Beamte
und Politiker wie Dernburg und Forckenbeck.
Ein entsprechender Blick in die unterste Vermögens- und Einkommens-
schicht ist nicht möglich, da nie wissenschaftlich versucht worden ist, für
Preußen die Gesamtzahl der Arbeiter, Angestellten und Beamten, also der
Nicht-Selbständigen (mit Handwerkern oder ohne sie) sowie die Gesamt-
summe ihrer Löhne, Gehälter und anderen Entgelte in der preußischen
Wirtschaft festzustellen.
Aber immerhin kann man sich aus einigen Statistiken gewisse Vorstel-
lungen verschaffen. In Deutschland (für Preußen allein liegen entsprechende
Zahlen nicht vor) erreichten die durchschnittlichen jährlichen Arbeitslöhne
sowie die durchschnittlichen Arbeitseinkommen der Selbständigen zwischen
1873 und 1876 einschließlich eine erste Spitze. Danach sanken sie alle, einige
für etwa vier Jahre, und stiegen dann wieder, erreichten beziehungsweise
überstiegen jedoch die Spitze der 70er Jahre erst nach sehr unterschiedlichen
Zeiten - bei Landwirtschaft, Forsten und Fischerei sowie bei Bergbau und
Salinen (wo sie 1873 mit 1.052 Mark mit großem Abstand an der Spitze
gelegen haben) zum Beispiel erst nach 20 Jahren 1907/08, beim Verkehr
sowie bei Industrie und Handwerk dagegen schon zehn Jahre früher.
Im Jahre 1874 betrug das durchschnittliche jährliche Arbeitseinkommen
aller Abhängigen 752 Mark, im Jahre 1909 1.093 Mark, das aller Selbstän-
digen bei Handel, Banken, Versicherungen, Gaststätten, in den häuslichen
Diensten sowie bei „sonstigen Dienstleistungen ohne Heer und Marine"
1.325 Mark.
Bekanntlich standen an der Spitze der Löhne fast immer die der „Berg-
arbeiter" — zumindest die im Steinkohlenbergbau, nicht auch unbedingt
die im Braunkohlen-, Erz- und Steinsalzbergbau, und am Ende die in Land-
und Waldwirtschaft sowie in der Fischerei. Noch in der Kohlenkrise zwi-
schen 1954 und 1965 wurde die Erhaltung beziehungsweise Wiederherstel-
lung dieser Position in der Bundesrepublik Deutschland mit den Mitteln
Im I. Weltkrieg hatten die militärischen und die zivilen Bereiche zwei ganz
verschiedene Strukturen. In dem — im engeren Sinne — militärischen
Bereich verfügte eine sehr kleine Gruppe hauptsächlich der Generalität und
Admiralität über die (eidgebundenen) Untergebenen wie über Leibeigene
vor der Bauernbefreiung. Im zivilen Bereich spielte eine Anzahl von Behör-
den und Ämtern eine Rolle, deren Rechte und Verantwortlichkeiten sich
sowohl sachlich wie geographisch vielfach überschnitten und in denen es
weit häufigere personelle Wechsel gab als beim Militär.
Bei Kriegsausbruch stand im Bereich der Wirtschaft in Preußen zunächst
die Sicherstellung der Ernährung im Vordergrund. Für diese war als Reichs-
zentralbehörde das Reichsamt des Innern zuständig. 1 Als Staatssekretär
Helfferich an die Spitze dieser Behörde trat, wurde am 22. Mai 1916 ein
spezielles Kriegsernährungsamt als leitende Behörde für die gesamte Ernäh-
rungswirtschaft unmittelbar unter dem Reichskanzler geschaffen. Sehr
schnell entwickelten sich Spannungen zwischen der Reichs- und der preu-
ßischen Verwaltung. Daher forderte Anfang 1917 v. Batocki als Leiter des
Kriegsernährungsamtes seine Berufung in das preußische Staatsministerium,
5 K . RÖSELER, U n t e r n e h m e r in d e r W e i m a r e r R e p u b l i k . . . ( 1 9 6 8 ) [ 3 8 9 ] .
6 Wilhelm TREUE, Dahlbusch. Geschichte eines Unternehmens im Ruhrge-
biet, Mainz 1988, S. 72 ff.
7 Gerhard HECKER, „Metallum Aktiengesellschaft": Industrielle und staatliche
Interessenidentität im Rahmen des Hindenburg-Programmes, in: MGM, Bd. 35
(1984), S. 1 1 3 - 1 3 9 ; Lothar BURCHARDT, Zwischen Kriegsgewinnen und Kriegs-
kosten. Krupp im Ersten Weltkrieg, in: ZUntG, 32. Jg. (1987), S. 71 - 1 2 3 ; Fritz
BLAICH, Kapitalistische Planwirtschaft, ein ordnungspolitischer Versuch zur Über-
windung der Weltwirtschaftskrise, in: Schmjb, Bd. 90 (1970), S. 4 3 - 6 6 .
8 H . - J . WINKLER, P r e u ß e n als U n t e r n e h m e r . . . ( 1 9 6 5 ) [ 3 5 0 ] , S. 1 5 7 .
586 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens
preußischen Staates aus seinem gesamten Kohle-, Öl- und Salzbergbau sowie
sechs Salinen einen Wert von 120 Millionen R M ; die Zahl der dabei
Beschäftigten betrug 29.000 Arbeiter. Da der Wert der Förderung der
Privatwerke auf diesem Gebiet 1,3 Milliarden R M (mit annähernd 300.000
Arbeitern) betrug, handelt es sich bei den Staatsbetrieben um 8,8 Prozent
der Förderung beziehungsweise der Produktion und um 8,9 Prozent der
Beschäftigten. 9
Im Jahre 1913 hatten die Gemeinden in Preußen 78 Prozent Anteil an
den Gaswerken und 74 Prozent an der Gasversorgung. Der erstere stieg
1924 - 1 9 3 0 auf mehr als 80 Prozent, der letztere auf 84 Prozent. Im Jahre
1926 gründete angesichts erheblicher Absatzschwierigkeit das Rheinisch-
Westfälische Kohlensyndikat die Ruhrgas AG, die zunächst nur die Mög-
lichkeit der Ferngasversorgung studieren sollte, aber bereits im März 1927
in eine Betriebsgesellschaft umgewandelt wurde und ein gesamtdeutsches
Monopol der Ferngasversorgung mit den Gemeinden als Abnehmern an-
strebte. Die Gemeinden, die mit ihren Gaswerken hohe Einnahmen erzielten,
widersetzten sich erfolgreich und erreichten, daß es verschiedentlich zur
Bildung gemischter Unternehmen kam, an denen sie ähnlich wie am Rhei-
nisch-Westfälischen Elektrizitätswerk (RWE) beteiligt waren, sowie zur
direkten kommunalen Verbundwirtschaft.
Auf dem Gebiet der Elektrizitätswirtschaft 10 wurde die vor dem Kriege
begonnene Politik der qualifizierten Beteiligung des Staates an den Versor-
gungsunternehmen fortgesetzt. Bis 1924 baute der Staat Dampfkraftwerke
auf Stein- und Braunkohlenbasis bei Kassel und Hannover und organisierte
großräumig die elektrizitätswirtschaftliche Infrastruktur erst im Räume
Nordhessen — Hannover/Braunschweig, schließlich von der Nordsee bis
zum Main. Auch zog er notleidende privatwirtschaftliche Unternehmen an
sich. Im Jahre 1926 war der preußische Staat mit 26 bis 80 Prozent am
Kapital von zehn Elektrizitätswerken beteiligt, das Großkraftwerk Hanno-
ver und die preußischen Kraftwerke in Kassel besaß er zu 100 Prozent. Im
Jahre 1927 wurde für die gesamte staatliche Beteiligung an Elektrizitäts-
werken die „Preußische Elektrizitäts-AG" („Preußen-Elektra") mit einem
Kapital in Höhe von 80 Millionen R M gegründet, die nach dem sogenannten
Norddeutschen Elektrofrieden von 1927 mit der RWE-AG 1927/29 unter
Übernahme vieler weiterer privater Elektrizitätsgesellschaften und Berg-
werke auch in anderen Ländern (Braunschweig, Thüringen) ihre Stromer-
zeugung annähernd verdoppelte und bis 1930 ihr Kapital auf 125 Millionen
R M erhöhte.
Preussag und Preußen-Elektra wurden 1929 in der „Vereinigten Elektri-
zitäts- und Bergwerke-AG" (VEBA) zusammengefaßt, die als Holding die
11 H.-J. WINKLER, Preußen als Unternehmer... (1965) [350], S. 157; Martin SOGE-
MEIER, Die öffentliche H a n d in der privaten Wirtschaft, Berlin [1926].
12 Lothar SCHULZ, Der zweite technische Bildungsweg im Berlin der Weimarer
Republik, in: Günter Sodan (Hg.), Die Technische Fachhochschule Berlin im
Spektrum Berliner Bildungsgeschichte, Berlin 1988, S. 215 —252; H a n s Joachim
WEFELD, Peter Joseph Lenne. Preußens „praefectus horti", in: A . a . O . , S. 139 —
162, hier S. 157.
588 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens
21 Vgl. auch F. BLAICH, Staat und Verbände... (1979) [s.o. Anm. 4], S. 57ff.
592 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens
22 Annelise THIMME, Gustav Stresemann. Legende und Wirklichkeit, in: H Z , Bd. 181
(1956), S. 2 8 7 - 3 3 8 .
23 Friedrich RICHTER, Industriepolitik... (1984) [s.o. Anm. 20]; Ders., Beiträge zur
Industrie- und Handwerksgeschichte... (1988) [383]; Rudolf SAUERZAPF, Subven-
tionsgewährung im Dienste der deutschen Revisions- und Revanche-Politik gegen
Polen 1 9 2 5 / 2 6 - 1933. Die Industrie-„Osthilfe" der Weimarer Republik, Phil. Diss.
Halle 1965 [MS], S. 75.
II. Agrarkrise und „Osthilfe" in Preußen 593
27 A . S C H L I E P E R / H . R E I N E C K E / H . - J . WESTHOLT, 1 5 0 J a h r e R u h r g e b i e t . . . ( 1 9 8 6 ) [ 1 0 ] ;
Peter HÜTTENBERGER, Strukturentwicklung in deutschen Wirtschaftsregionen
vom 19. Jahrhundert bis Ende der 1960er Jahre, in: ZUntG, Bd. 34 (1989),
S. 1 5 2 - 1 6 2 .
28 Wilhelm TREUE, Dahlbusch. Geschichte eines Unternehmens im Ruhrge-
biet, Mainz 1988, S. 52 ff.
596 § 16 Preußens Wirtschaft vom I. Weltkrieg bis zum Ende Preußens
Grenzlage hinwies und eine Art Äquivalent für die Unterstützung der
Universitäten Breslau und Königsberg forderte. Preußen betrieb weiter die
Anbindung des Ruhrreviers an den mitteldeutschen Industrieraum durch
die Fortführung des Baues des Mittelland-Kanals seit 1920, stieß aber auf
den Widerstand der Reichsbahn sowie auf die von der Ruhrindustrie be-
grüßte Absicht des Reiches, seit 1924/25 die Verwaltung aller Wasserstraßen
zu übernehmen. Diese komplizierten Interessengegensätze behinderten und
verzögerten die Durchführung der wirtschaftlichen Modernisierungspläne
Preußens bis in die Weltwirtschaftskrise hinein. An ähnlichen Spannungen
zwischen Reich, Preußen, Kommunen, Elektrizitätswirtschaft, Kohlenberg-
bau und Industrie scheiterten die Bemühungen des 1920 gegründeten Sied-
lungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, die Bahn- und Straßenverhältnisse in der
Region zu modernisieren und dem Bedarf anzupassen. 29 Schließlich bemühte
der Staat sich 1929 um eine kommunale Gebietsreform, um großflächige
Planungs- und Funktionseinheiten entstehen zu lassen. Auch hier stieß er
auf Widerstände von Kommunen und Industrie, deren eigene Projekte
(Wohnungen, Flughäfen, Ausstellungen usw.) dann jedoch vielfach der
Krisis zum Opfer fielen.
2. Anfang 1919 setzte sich der Kölner Bankier Simon Alfred von Oppen-
heim mit einem Referat des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer
auseinander und schrieb am 12. Februar über die „in weiten Kreisen hier
propagierte ,Westdeutsche Republik': Ich habe mich auch zu der Überzeu-
gung durchgerungen, daß dies die beste Lösung wirtschaftlich und politisch
für uns wäre." 3 0 Wie Oppenheim fürchteten auch viele andere bis dahin
durchaus „patriotische" führende rheinische Unternehmer, die „Versak-
kungspolitik" von Preußen und Reich werde sie um ihre wirtschaftliche
und gesellschaftliche Existenz bringen. Dabei spielte auf der Seite der
Wirtschaft der als skrupelloser Spekulant bekannte und gefürchtete Kölner
Industrielle und Bankier-Partner Oppenheims Louis Hagen eine führende
Rolle. Als im Frühjahr 1923 Poincaré das Ruhrgebiet militärisch besetzen
ließ und damit versuchte, die deutsche Stahlindustrie unter französische
Kontrolle zu bringen, sowie in der Folge immer stärker die Trennung des
Rheinlands von Preußen und vom Reich betrieb, um es in einen Sonderstatus
zu versetzen und zu einer Pufferzone unter französischer Vorherrschaft und
wirtschaftlicher Anlehnung an den Franc-Raum zu machen, scheiterte dies
nicht so sehr am Widerstand des Unternehmertums und der Reichsregierung
Stresemann als an dem Englands und der USA, die Schacht unterstützten.
Anfang November 1923 konnte der französische Militärgouverneur Tirard
nach Paris melden, „daß alle wichtigen Bankiers der besetzten Gebiete"
bereit seien, eine entsprechende „Rheinische Notenbank" zu gründen. An-
schließend bemühte sich Hagen, der schon ein Statut entworfen hatte, in
Berlin um die Zustimmung der Reichsregierung. Aber dort traute man ihm
nicht, und da er dann am 1. Dezember den Franzosen nicht die gesetzliche
und wirtschaftliche Kontrolle über die Bank zusichern konnte, wurde
schließlich nichts aus der Bank und mithin auch nichts aus der Trennung
des Rheinlandes von Preußen oder gar vom Reich.
Vielmehr gelang es den Unternehmern, sich trotz Verstaatlichungsgefahr,
Betriebsrätegesetz, Verkürzung der Arbeitszeit, Lohnsteigerungen, Preis-
drosselungen, Besetzung des Ruhrgebiets und der Kosten des passiven
Widerstandes gegen diese mit Hilfe der Währungsreform-Maßnahmen und
Fusionen in eine neue, allerdings nur kurze Phase des privatwirtschaftlichen
Aufbaus zu gelangen. Da man strukturpolitische Eingriffe des Staates ab-
lehnte und bekämpfte, mußte man selber wenigstens einige durchführen.
Viele Großunternehmen bemühten sich daher um technologische Innovatio-
nen und betriebswirtschaftliche Rationalisierungen — Krupp ging zum
Beispiel 1926 zur Produktion nichtrostender Nickelstähle über, die man
schon 1912 erfunden hatte. Das Kohleforschungsinstitut der Kaiser-Wil-
helm-Gesellschaft in Mülheim entwickelte unter anderem die Kohlehydrie-
rung; 31 die Bergbaugesellschaften gründeten 1926 die AG für Kohleverwer-
tung (später AG für Steinkohleveredlung und Steinkohleverflüssigung); die
1927 geschaffene „Kohlechemie" — später „Ruhrchemie AG" — widmete
sich der technischen Modernisierung. Teuere Zechenstillegungen führten
zur Verbesserung der Ertragslage. Die Stahlindustrie nahm große Umgrup-
pierungen und Fusionen vor - bis hin zur Gründung der „Vereinigten
Stahlwerke" im Jahr 1926. So ergab sich ein starker privatwirtschaftlicher
Modernisierungsschub, während die vom Staat angestrebte soziale Um-
strukturierung der Region, zum Beispiel durch großzügige Eingemeindungen
1929, zur Vermeidung neuer schwerer Krisen ausblieb. Für die Großstädte,
die ihre Investitionen zum Teil mit USA-Krediten finanzierten, erlangten
jene Eingemeindungen nach hoher Verschuldung infolge der Wirkungen der
Weltwirtschaftskrisis keine anregende Bedeutung. Die wichtigsten Ober-
bürgermeister, zugleich preußische Berufsbeamte und Spitzenrepräsentanten
ihres Wirkungsraumes, spielten in der Reichspolitik eine wegen der Tendenz
ihrer Aktivitäten nicht immer unumstrittene Rolle. Während der Kölner
Adenauer, trotz seiner nicht ganz durchsichtigen Stellung zum Separatismus
mehrfach kurzfristig als ministrabel gehandelt, bis zu dessen Ende Präsident
des Preußischen Staatsrates blieb, amtierten Hans Luther (Essen) zur Zeit
der Markstabilisierung in Berlin als Finanzminister und danach als Reichs-
kanzler, Karl Jarres (Düsseldorf) als Reichsinnenminister. 32
Die Bildung der (neuen) „Stadtgemeinde Berlin" durch das von der
Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung verabschiedete Ge-
setz vom 27. April 1920 schuf durch den Zusammenschluß von acht Städten,
59 Landgemeinden, von denen Steglitz mit mehr als 100.000 Einwohnern
eine Großstadt war, und 27 Gutsbezirken die verwaltungsmäßigen und
kommunalwirtschaftlichen Voraussetzungen für die Weiterentwicklung und
Ausdehnung der Kommunalbetriebe in Berlin, das zwar in erster Linie
Reichshauptstadt, aber doch auch immer noch Hauptstadt des Landes
Preußen war. 3 5 Seine Endphase als solche begann mit dem ersten „Preußen-
schlag" gegen die politische und administrative Zentrale des preußischen
Staates; sie schloß 1933/34. 3 6
Einige große Betriebskomplexe bildeten das Schwergewicht der Berliner
Kommunalwirtschaft in der Nachkriegs- und Inflationszeit. An der Spitze
stand die Straßenbahn (Elektrifizierung 1896/1902), die 1913 bereits auf
583 km Schienennetz 651 Millionen Personen befördert hatte, deren Anteil
am Personenverkehr 1920 —1923 von 55 auf 27 Prozent zurückging, die
Zahl ihrer Beschäftigten dagegen nur von 19.000 auf 14.000. Am Kapital
der Allgemeinen Omnibusgesellschaft, die 0,6 bis 2,2 Prozent des Personen-
verkehrs erledigte, war die Stadt mit 30 Prozent, an den Hoch- und Unter-
grundbahn-Gesellschaften, die zwischen 7 Prozent und 16 Prozent des
Nahverkehrs bewältigten, unterschiedlich mit 30 bis 70 Prozent beteiligt.
1 9 2 0 - 1 9 2 4 schuf man für Häfen und Lagerhäuser (BEHALA), Wasser-
und Landstraßen, den Stadtfuhrpark, für den Luftverkehr, den Fremden-
verkehr und das Messewesen privatrechtliche, in beschränktem Maße nach
kaufmännischen, aber hauptsächlich nach sozialpolitischen Gesichtspunkten
geleitete Unternehmen, die sich nach Möglichkeit in kommunalem, gele-
gentlich auch in gemischtwirtschaftlichem Besitz befanden. 37 Gleichzeitig
drang man in den Wohnungsbau ein, indem man Gesellschaften übernahm
und gründete. Im Jahre 1923 wurde eine Stadtgüter GmbH gegründet, die
annähernd 100.000 Morgen Land verwaltete. Schließlich führte man eine
Konzentration des kommunalen Spar- und Kreditwesens durch.
In ihren Versorgungswerken für Gas, Wasser und Elektrizität beschäftigte
die Stadt Berlin 1923 1 7 . 0 0 0 - 1 8 . 0 0 0 Personen. In den Jahren der Hoch-
38 Ludovica SCARPA, Martin Wagner und Berlin. Architektur und Städtebau in der
Weimarer Republik, Braunschweig - Wiesbaden 1986; Walter SCHNEIDER, Der
Städtische Berliner Öffentliche Nahverkehr, 12 Bde., Berlin 1978 [MS],
IV. Die Kommunalwirtschaft in Groß-Berlin 1919 - 1 9 3 4 601
mit 1929/30 4,3 Millionen Einwohnern. Dennoch bestand Ende 1929 ein
Fehlbedarf von 200.000 Wohnungen. Dann hörte der Strom langfristiger
Anleihen unter anderem für solche Vorhaben nach Berlin auf. 3 9
Schließlich kam es in der Endphase Preußens und der Weimarer Republik
zu heftigen politischen Auseinandersetzungen um die sozialpolitisch bela-
stete Finanzpolitik der Berliner Kommunalbetriebe. Für ihren Ausbau waren
1924—1930 1,2 Milliarden R M Schulden gemacht worden — nicht zuletzt
weil die ungünstige Regelung des Finanzausgleichs zwischen Reich, Ländern
und Gemeinden zu einer ständigen Verkürzung der Steueranteile für Berlin
an mehreren wichtigen Steuern geführt hatte. Allerdings war das für die
Berliner Finanzpolitik keine Überraschung. Auch hätte man nicht unbedingt
die kurzfristige Verschuldung, die Ende 1929 400 Millionen R M erreichte,
erhöhen müssen, als die von Schacht eingerichtete „Anleiheberatungsstelle"
die Aufnahme langfristiger Auslandskredite erschwerte, um die Verschul-
dung von Reich, Ländern und Gemeinden in erträglichen Grenzen zu halten.
Eine Notverordnung des Reichspräsidenten vom 24. August 1931 er-
mächtigte die Landesregierungen, „alle Maßnahmen, die zum Ausgleich der
Haushalte von Ländern und Gemeinden ... erforderlich sind, im Verord-
nungswege vorzuschreiben. Sie können dabei von dem bestehenden Lan-
desrecht abweichen." Daraufhin erließ die preußische Regierung eine Spar-
verordnung, die festlegte, daß eine „Mitwirkung der kommunalen Vertre-
tungskörperschaften" an den von der Regierung zum Ausgleich der Ge-
meindefinanzen vorgesehenen Sparmaßnahmen „ausgeschlossen" sei. Eine
Durchführungsverordnung übertrug es den Exekutivorganen der Gemeinden
in Berlin, mithin dem Oberbürgermeister Sahm, alle Maßnahmen zum
Ausgleich des Haushaltes zu treffen.
Aber nachdem die präsidiale Notverordnungspolitik des Reichskanzlers
Brüning schon seit längerer Zeit das „Vordringen der Reichsgesetzgebung
in den Bereich der Landeszuständigkeit bewirkt" hatte, 4 0 wurde am 20. Juli
1932 mit dem ersten „Preußenschlag" (der zweite fand vom 31. Januar bis
zum 11. April 1933 statt und endete mit der Verdrängung des Reichs-
kommissars von Papen durch den Reichsstatthalter Hitler) von Papen die
amtierende preußische Regierung kaltgestellt und damit die Sanierungspo-
litik, die man seit der Notverordnung vom August 1931 zu treiben versucht
hatte, beendet. Noch am gleichen Tage verkündete Papen eine zweite
Notverordnung, die der Reichspräsident im voraus unterzeichnet hatte.
Diese „Verordnung betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Si-
cherheit und Ordnung in Groß-Berlin und Provinz Brandenburg" setzte die
gemäß Art. 48, Abs. 2 der Reichsverfassung suspendierbaren Grundrechte
bis auf weiteres außer Kraft und unterstellte die Berliner Schutzpolizei dem
Reich. Hatte Hindenburg am 24. August 1931 Berlin als eine Landeshaupt-
stadt behandelt, so galt es in der neuen Verordnung als Reichshauptstadt,
zumal ja Preußen von einem Reichskommissar regiert wurde. Von nun an
ging alles durcheinander. Das „Gesetz über die Verfassung der Hauptstadt
Berlin" vom 29. Juni 1934 war ein preußisches Gesetz und betraf mithin
die Landeshauptstadt. Der „Deutschen Gemeindeordnung" vom 30. Januar
1935 folgte eine Sonderregelung für die „Verfassung der Hauptstadt Berlin"
durch ein Reichsgesetz vom 1. Dezember 1936. Und fortan bestimmten je
nach der Machtlage Minister, Gauleiter, Staatskommissar, Generalinspek-
teur mit- und gegeneinander über Berlin und seine Wirtschaft. 4 1
Das alles spielte sich ab vor dem Streben der preußischen Ministerial-
bürokratie unter der Federführung des Staatssekretärs Grauert (Innenmi-
nisterium) und des Finanzministers von Popitz, eine neue Kommunalge-
setzgebung aufzubauen. Um dem Vollzug eines Verbots des Reichsinnen-
ministeriums vom 28. Oktober 1933, Kommunalordnungen zu erlassen,
zuvorzukommen, wurde zwischen dem 15. und dem 18. Dezember 1933
eine neue preußische Kommunalgesetzgebung durchgeführt, die einheitliches
Recht für das gesamte preußische Gebiet für die kommunale Organisation
und die kommunalen Aufgaben schuf, die bisher geltenden 15 Gemein-
deordnungen der verschiedenen Landesteile aufhob und die Bürgerschaft
zugunsten der staatlichen Parteiinstanzen entmachtete. Dieser staatsauto-
ritären Konzeption der kommunalen Neuordnung entsprach das Gemein-
definanzgesetz vom 15. Dezember 1933, das erneut die totale Staatsaufsicht
einführte, wie sie in Berlin bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden
hatte.
Berlin, das nach Hitlers Vorstellung einst „Germania" heißen sollte und
damit auch die Erinnerung an Preußen verloren hätte, blieb juristisch
Landeshauptstadt, solange Preußen, das nicht ein souveräner Staat war, so
daß ihm nur sehr eingeschränkt „Völkerrechtsobjektivität" zukam, bestand
und im Rahmen der Binnenverfassung staatsrechtlich eine Eigenstaatlichkeit
besaß.
Der Preußenschlag beendete diese nicht. Erst die Gleichschaltungsgesetze
vom 31. März und 7. April 1933 leiteten die Aufhebung der Staatlichkeit
Preußens ein; das Reichsgesetz vom 30. Januar 1934 über den Neuaufbau
des Reiches („die Hoheitsrechte der Länder gehen auf das Reich über") hob
in Verbindung mit den Gesetzen zur Aufhebung des Reichsrates und des
Seit dem 30. Januar 1934 gab es also weder Preußen noch eine preußische
Landeshauptstadt, noch eine staatliche Wirtschaft Preußens, sondern nur
eine solche des Reiches sowie privatwirtschaftliche Unternehmen auf dem
Territorium, das bis dahin das Land Preußen gebildet hatte.
Z w a r behielt Preußen mit Hitler als Reichsstatthalter und Göring als
Ministerpräsident (bis zur Amtsenthebung durch Hitler am 23. April 1945)
eine Sonderstellung mit einer gewissen auch wirtschaftsorganisatorischen
Eigenständigkeit im Vergleich zu den anderen Ländern, doch ging es bei
dieser in sich widersprüchlichen Konstruktion nur darum, Göring persönlich
hinter Hitler eine Sonderstellung zu erhalten, nicht Preußen eine solche vor
den anderen Ländern.
Ein erheblicher Teil dieser Staats- und Privatwirtschaft wurde während
des II. Weltkrieges ausgelagert und gelangte später, wenn überhaupt nach
Deutschland, jedenfalls nicht nach Preußen zurück. Ein anderer Teil wurde
auf dem Territorium des ehemaligen Preußens aus der Luft und bei Erd-
kämpfen zerstört oder demontiert und nach dem Kriege gar nicht oder an
anderer Stelle, zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland wieder
aufgebaut. Ein weiterer Teil der ehemals „preußischen" Wirtschaft geriet
durch territoriale Gebietsveränderungen entschädigungslos in ausländi-
schen, polnischen und sowjetrussischen Besitz.
Von den seit 1918/19 polnischen Teilen Schlesiens und Ostpreußens, die
durch die Invasion Polens 1939 okkupiert wurden, gelangte nichts an
Preußen zurück, da dieses nicht mehr existierte.
Von einer Wirtschaftsgeschichte Preußens kann also seit 1934 keine Rede
mehr sein. Der Alliierte Kontrollrat, der im übrigen machtpolitisch, nicht
völker- oder staatsrechtlich entschied, konnte daher durch sein Gesetz Nr. 46
vom 25. Februar 1947 Preußens vor mehr als 13 Jahren vollzogene Auflösung
nur feststellen und nicht mehr befehlen.
III. Das Bildungswesen in Preußen seit
der Mitte des 17. Jahrhunderts
Von Wolfgang Neugebauer
Bibliographie
1. Bibliographien
2. Quellen
(Der Stand der editorischen Arbeit zur preußischen Schul- und Universitätsge-
schichte, insbesondere die „Bildungswirklichkeit" betreffend, ist noch durchaus
unbefriedigend.)
Sammlungen landesherrlich-staatlicher Veröffentlichungen (Edikten-, Gesetzsamm-
lungen usw.): [8] Centraiblatt [ab 1903: Zentralblatt] für die gesammte [ab 1899:
gesamte] Unterrichts-Verwaltung in Preussen, Berlin 1859-1834 (zit.: ZB1UV);
[9] Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichtswesens in Preußen. Vom Jahre
1817 bis 1868. Actenstücke mit Erläuterungen aus dem Ministerium der geistlichen,
606 Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts
[22b] Seit 1987 erscheint: C. BERG u.a. (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungs-
geschichte, 1987 ff. (für die Zeit bis 1945: Bd. 1 - 5 ) ; [23] Eugene N. ANDERSON, Die
preußische Volksschule im neunzehnten Jahrhundert [engl. 1970], in: Otto Büsch/
Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1 6 4 8 - 1 9 4 7 . Eine
Bibliographie 607
( = Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3), Stuttgart - Göttingen 5 1976; [47] Michael
DOEBERL u.a. (Hg.), Das akademische Deutschland, 3 Bde. und Registerbd., Berlin
1 9 3 0 - 1 9 3 1 ; [48] Franz EULENBURG, Die Frequenz der deutschen Universitäten von
ihrer Gründung bis zur Gegenwart ( = AbhSächsGesW, Bd. 24, No. 2), Leipzig 1904;
[49] Walther HUBATSCH U. a., Deutsche Universitäten und Hochschulen im Osten
( = WAbhAGF, Bd. 30), K ö l n - O p l a d e n 1964; [50] Konrad H. JARAUSCH, Deutsche
Studenten 1 8 0 0 - 1 9 7 0 , Frankfurt a . M . 1984; [51] Charles E. MCCLELLAND, State,
Society and University in Germany 1700—1914, Cambridge/Mass. 1980 (ersetzt eine
- noch ausstehende - Geschichte der Universitäten in Preußen nicht; Rez. in: HZ,
Bd. 235 [1982], S. 373 f.); [52] Frank R. PFETSCH, Zur Entwicklung der Wissen-
schaftspolitik in Deutschland 1 7 5 0 - 1 9 1 4 , Berlin 1974; [ 5 3 ] Hellmuth R Ö S S L E R /
Günther FRANZ (Hg.), Universität und Gelehrtenstand. 1 4 0 0 - 1 8 0 0 . Büdinger Vor-
träge 1966 ( = DFühNz, Bd. 4), Limburg/Lahn 1970.
Berlin: [54] Chronik der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin 1799 — 1899,
Berlin 1899; [55] Adolf HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie
der Wissenschaften zu Berlin, 3 Bde. (in 4 Bdn.), Berlin 1900; [ 5 6 ] Werner H A R T K O P F /
Gerhard DUNKEN, Von der brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften zur
Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1967; [ 5 7 ] Max L E N Z ,
Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 4 Bde. (in
5 Bdn.), Halle a. S. 1 9 1 0 - 1 9 1 8 (Bd. 4: Urkunden, Akten und Briefe, Halle a.S.
1910); [ 5 8 ] Reinhard R Ü R U P (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft. Beiträge zur
Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879 — 1979, 2 Bde., Berlin — Heidel-
b e r g - N e w York 1979.
Duisburg: [61] Walter RING, Geschichte der Universität Duisburg, Duisburg 1920;
[62] Günter von RODEN, Die Universität Duisburg ( = DuisbF, Bd. 12), Duisburg
1968.
Halle: [65] Johann Christoph HOFFBAUER, Geschichte der Universität zu Halle bis
zum Jahre 1805, Halle 1805 (ND Aalen 1981); [66] Wilhelm SCHRÄDER, Geschichte
der Friedrichs-Universität zu Halle, 2 Bde., Berlin 1894 (grundlegend).
Königsberg: [67] Daniel Heinrich ARNOLDT, Ausführliche, und mit Urkunden ver-
sehene Historie der Königsbergischen Universität, 2 Bde., Königsberg 1746;
[68] Ders., Kurtz-gefaßte Historie der Königsbergischen Academie, in: ErlPr, Bd. 4,
Königsberg 1726/28, S. 1 5 7 - 1 8 5 , 3 1 3 - 3 5 4 , 5 7 7 - 6 0 8 , 6 6 9 - 6 8 5 , 7 1 1 - 7 3 0 , 7 6 7 -
823, Bd. 5, Königsberg 1741/42, S. 2 6 9 - 3 2 5 ; [69] Götz von SELLE, Geschichte der
Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, Würzburg 2 1956.
Bibliographische Ergänzung
Nach Abschluß des Manuskriptes und während der redaktionellen Bearbeitung resp.
Drucklegung in den Jahren 1987 —1991 sind zahlreiche Veröffentlichungen erschie-
nen, die in der Regel nicht mehr in den Nachweisapparat eingearbeitet werden
Bibliographie 609
konnten, hier aber zur Orientierung über die jüngste wissenschaftliche Produktion
und den erreichten Kenntnisstand Aufnahme finden können.
Jahren 1879/80 bis 1896, in: JGMOD, Bd. 36 (1987), S. 333-360; [109] Hans-Jürgen
APEL, Sonderwege der Mädchen zum Abitur im Deutschen Kaiserreich. Bildung zur
Studierfähigkeit und Durchsetzung der Abiturberechtigung am Ausgang des Kaiser-
reichs (1908), in: ZfPäd, 34. Jg. (1988), S. 171-189; [109 a] James C. ALBISETTI,
Schooling German Girls and Woman. Secondary Higher Education in the Nineteenth
Century, Princeton/New Jersey 1988; [110] Rudolf ViERHAUs/Bernhard vom BROCKE
(Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und
Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Aus Anlaß ihres 75jährigen
Bestehens, Stuttgart 1990; [111] Eckart HENNING (Hg.), Veröffentlichungen aus dem
Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Bd. 1 ff., Berlin 1988 ff.; [112] Notker HAM-
MERSTEIN (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988;
[113] Reimer HANSEN, Lise Meitner. Eine Würdigung, Berlin 1989; [114] Peter
LUNDGREEN (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1985;
[115] Marianne DOERFEL, Der Griff des NS-Regimes nach Elite-Schulen. Stätten
klassischer Bildungstradition zwischen Anpassung und Widerstand, in: VfZ, 37. Jg.
(1989), S. 401-455.
§ 1 Bildungszustände in Brandenburg-Preußen
in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
I. Das Landschulwesen
Die neueren Forschungsergebnisse erlauben eine hinreichend zuverlässige
Antwort auf die Frage nach den Schulzuständen in den verschiedenen
Landschaften und Regionen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
zum politischen Verband Brandenburg-Preußens gehörten. Dabei ist für
diesen noch durchaus agrarisch geprägten Raum zunächst der Blick auf das
Landschulwesen und seine wahrscheinliche Dichte zu lenken.
Obwohl für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts wie auch für das
frühe 18. Jahrhundert noch keine statistischen Aufnahmen für das Dorf-
schulwesen in Brandenburg-Preußen vorliegen, besteht doch kein Zweifel,
daß schon in der Zeit unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg ein
612 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
gen ist. Dies gilt für gewöhnliche Stadt- und für Gelehrtenschulen gleicher-
maßen. Es sei bekannt, so berichtete das Konsistorium zu Kölln an der
Spree im November des Jahres 1640, „was zu friedenszeiten an der Churf.
Landes schuelen zu Joachimsthall das ganze Landt vor ein Edell Cleinoth
gehabt undt wie so viele wohl qualificierte leute in derselben erzogen, so
hernach mit grossem nuz des ganzen landes hin und wieder in öffentlichen
Ämptern gebraucht worden, also daß nicht viele örte im Lande sein werden,
sowohl Kirchen als auch Canzleien undt Ratheuser, dorinnen nicht etwa
leute anzutreffen wahren, so ein gutt theil ihrer Wissenschaft undt zum
wenigsten die Fundamenten derselben aus obangezogener schulen mit sich
hinweg gebracht, was nun abermahl, das dieses so vornehme undt nützliche
wergk so gar undt ganz zu boden gehe, vor ein unwiederbringlicher Lan-
desschaden sei, indem feine leute dorinnen, so man künftig weiter gebrau-
chen könte, erzogen werden, auch alle andern trivial schulen inn Landen
ausser in den beiden Residentien zu gründe gerichtet undt verwüstet wor-
den". 8
Diese Klage beleuchtet die städtischen Schulzustände, wie sie nicht nur
im Brandenburgischen in der Mitte des 17. Jahrhunderts anzutreffen waren
und durch kriegsbedingten Verfall gekennzeichnet erscheinen. Immerhin
deuten die vorliegenden Informationen dahin, daß sich die Schulen des
gelehrten Bildungszuschnitts schon sehr bald von den Kriegsfolgen erholten,
doch haben sich die direkten landesherrlichen Unterstützungen auf diese
dünne Schicht ausgesprochen höherer Schulung beschränkt, während Ana-
loges für das niedere (lutherische) Schulwesen nicht zu ermitteln gewesen
ist. 9 Auch die Bitten der Stände bezogen sich zum Beispiel auf den Wieder-
aufbau des nach Berlin verlegten Joachimsthalschen Gymnasiums, einer
Anstalt fürstenschulähnlichen Zuschnitts, die zeitweise sogar im Stadtschloß
der Residenz selbst untergebracht war, sinnfälliges Zeichen für die Wert-
schätzung und Förderung einer ausgesprochenen Elitebildung seitens des
kurfürstlichen Hofes sogar unmittelbar nach den Kriegswirren um 1650.
Das Faktum, daß unter den Schülern dieses unter anderem mit Grund-
besitz in der M a r k Brandenburg ausgestatteten Instituts wie auch unter den
Zöglingen der anderen berlin-köllnischen Gymnasien der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts Absolventen nicht nur aus der Residenz und ihrer
näheren Umgebung, sondern auch solche zu finden waren, die aus anderen
16 Walther HUBATSCH, Die Königsberger Universität und der preußische Staat, in:
JbUK, Bd. 17 (1967), S. 6 3 - 7 9 , hier S. 72; Georg ERLER (Hg.), Die Matrikel der
Albertus-Universität zu Königsberg i.Pr., Bd. 1, Leipzig 1910 (ND Nendeln 1976),
bes. S. C X X I V ; G. v. SELLE, Geschichte der Albertus-Universität... ( 2 1956) [69],
S. 7 8 - 8 3 .
17 A . a . O . , S. 8 8 - 9 9 ; Hans ROTHFELS, Die Albertina als Grenzlanduniversität
[1928], in: Ders., Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 2 1962, S. 205 —
222, hier S. 210 f.
18 Gerd HEINRICH, Frankfurt an der Oder, Universität, in: Gerhard Krause/Gerhard
Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 11, Berlin —New York 1983,
618 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
S. 3 3 5 - 3 4 2 , hier S. 339 f.; Christof RÖMER, Herkunft der Studenten der Univer-
sität Frankfurt/O. 1506 - 1810 ( = HHaBB, Nachträge, H. 2), Berlin - New York
1980 (Karten mit Beih.); Günter MÜHLPFORDT, Die Oder-Universität 1506 - 1 8 1 1 .
Eine deutsche Hochschule in der Geschichte Brandenburg-Preußens und der
europäischen Wissenschaft, in: G. Haase/J. Winkler (Hg.), Die Oder-Universität
Frankfurt... (1983) [64], S. 23, 53; Martin LACKNER, Die Kirchenpolitik des
Großen Kurfürsten ( = U K G , Bd. 8), Witten 1973, S. 262f.; Walter Voss, Die
wirtschaftlichen Verhältnisse der Universität Frankfurt a. O. 1506 — 1653, Phil.
Diss. Berlin 1939, Greifswald 1939, S. 3 4 - 3 7 .
19 Gerhard OESTREICH, Fundamente preussischer Geistesgeschichte im 17. Jahrhun-
dert [1970], in: Ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Auf-
sätze, hg. von Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 275 - 297, hier S. 289 (mit Lit.);
Othmar FEYL, Die Viadrina und das östliche Europa. Eine bildungsgeschichtliche
Studie, in: G. Haase/J. Winkler, Die Oder-Universität Frankfurt... (1983) [64],
S. 1 0 5 - 1 3 9 , hier S. 111, 130 ff., 137 ff.; Eduard WINTER, Frühaufklärung. Der
Kampf gegen den Konfessionalismus in Mittel- und Osteuropa und die deutsch-
slawische Begegnung. Zum 250. Todestag von G. W. Leibniz im November 1966
( = BtrGrwD, Bd. 6), Berlin 1966, S. 240.
20 Gerhard OESTREICH, Politischer Neustoizismus und Niederländische Bewegung
in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen [1965], in: Ders., Geist und
Gestalt des frühmodernen Staates... [s.o. Anm. 5 a ] , S. 1 0 1 - 1 5 6 , hier S. 141 f.;
Ders., Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum. Eine Skizze, in: J G M O D ,
Bd. 5 (1956), S. 1 5 7 - 1 8 1 , hier S. 167, 170; Margarete KÜHN, Die Universität
Frankfurt a. d. Oder und der Humanismus in der Mark Brandenburg, in: Wilhelm
Arenhövel (Hg.), Berlin und die Antike. Architektur, Kunstgewerbe, Malerei,
Skulptur, Theater und Wissenschaft vom 16. Jahrhundert bis heute. Katalog,
Berlin 1979, S. 1 7 - 2 3 , hier S. 19 f.; O. FEYL, Die Viadrina und das östliche
Europa... (1983) [s.o. Anm. 19], S. 122f., und G. MÜHLPFORDT, Die Oder-
Universität 1 5 0 6 - 1 8 1 1 . . . (1983) [s.o. Anm. 19], S. 46, 48, 51, 53, 70.
III. Universitäten und Universitätsgründungen im 17. Jahrhundert 619
der Sozietät der Wissenschaften gestellt werden muß, die nach weit in die
1690er Jahre zurückreichenden Verhandlungen, in die Gottfried Wilhelm
Leibniz in besonderem M a ß e involviert war, ins Leben t r a t . 2 5 - Der
„Stiftungsbrief" 2 6 der Akademie datiert vom 11. Juli 1700, doch sollten bis
zur formellen Eröffnung mehr als zehn Jahre vergehen. - Das universitäts-
und wissenschaftsgeschichtliche Hauptereignis w a r die Gründung der Uni-
versität Halle, zumal die ersten Jahrzehnte der Berliner Akademie den
ambitiösen Plänen Leibniz' kaum entsprachen und die Sozietät zunächst
nicht zur Blüte gelangte. 2 7
Die Geschichte der Universität Halle zeigt, daß der typologische Unter-
schied zwischen den Akademien als Stätten der Wissenschaft im 17. und
18. Jahrhundert einerseits und den Universitäten als Orten der Lehre und
Weitergabe des — andernorts erarbeiteten bzw. überlieferten — Wissens
andererseits nicht überzeichnet werden darf. Die Entstehung der Universität
Halle ist auf das engste mit dem modernen Naturrecht des 17. Jahrhunderts
verknüpft. W a r es schon 1688 gelungen, Samuel (von) Pufendorf als H o f -
vom Verein für Geschichte der Mark Brandenburg, Festschrift zu Gustav Schmol-
lers 70. Geburtstag, Leipzig 1908, S. 65 - 99, hier S. 8 5 - 9 3 ; Abdruck des Grün-
dungspatentes: George Daniel Seyler, Leben und Thaten Friedrich Wilhelms des
Großen Churfürsten zu Brandenburg, Frankfurt — Leipzig [1730], S. 80 — 83.
25 A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaf-
ten... (1900) [55], hier Bd. 1/1, S. 38 f., 42 f., 48 f., 59, 66, 68 f., 78 (zur kurfürstl.
Entscheidung, nach der die Akademie auch die deutsche Sprache zu pflegen
hatte; dazu in Bd. 2, Nr. 28, S. 71: Brief des Hofpredigers Jablonski in dieser
Sache); Erik AMBURGER (Bearb.), Die Mitglieder der Deutschen Akademie der
Wissenschaften zu Berlin 1 7 0 0 - 1 9 5 0 , Berlin 1950; Hans POSER, Gottfried Wil-
helm Leibnitz, in: W. Treue/K. Gründer (Hg.), Berlinische Lebensbilder, Bd. 3...
(1987) [75], S. 1 - 1 6 , bes. S. I f . , S. 1 0 - 1 5 .
26 Abdruck bei A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der
Wissenschaften... (1900) [55], Bd. 1/1, S. 92ff., vgl. weiter S. 105ff., insges.
S. 73 - 1 7 5 ; das Statut vom 3. VI. 1710: Bd. 2, Nr. 99, S. 1 9 2 - 1 9 6 ; W. HARTKOPF/
G. DUNKEN, Von der brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften... (1967)
[56], S. 14, S. 25; Kurt MÜLLER, Zur Entstehung und Wirkung der Wissenschaft-
lichen Akademien und Gelehrten Gesellschaften des 17. Jahrhunderts, in:
H. Rößler/G. Franz (Hg.), Universität und Gelehrtenstand... (1970) [53], S. 1 2 7 -
144, hier S. 133 f., S. 139 ff.; Jürgen Voss, Die Akademien als Organisationsträger
der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: HZ, Bd. 231 (1980), S. 43 - 74, hier
S. 50, 57 f.
27 Vgl. A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissen-
schaften... (1900) [55], Bd. 1/1, S. 73; Carl HINRICHS, Die Idee des geistigen
Mittelpunktes Europas im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ders., Preußen als
historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hg. von Gerhard Oestreich
( = VHKzB, Bd. 10), Berlin 1964, S. 272 - 298, hier S. 295; G. OESTREICH, Fun-
damente preussischer Geistesgeschichte... (1980) [s. o. Anm. 19], S. 291; Sieglinde
C. OTHMER, Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa. Kultur- und
Sozialgeschichtliche Studien zu Jean Barbeyracs Pufendorf-Übersetzungen und
eine Analyse seiner Leserschaft ( = VHKzB, Bd. 30), Berlin 1970, S. 19f.
III. Universitäten und Universitätsgründungen im 17. Jahrhundert 621
sten in Halle: H. RÜPING, Thomasius und seine Schüler... (1979) [s. o. Anm. 30],
S. 7 7 ; Studentenzahlen: J . C. von DREYHAUPT, Pagus Neletici et Nudzici... Bd. 2
(1755) [s.o. Anm. 31], S. 2 9 f . ; Lehrkörper 1713/40: O t t o BEHRE, Geschichte der
Statistik in Brandenburg-Preussen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen
Bureaus, Berlin 1905 (ND Vaduz 1979), S. 3 0 9 ; N. HAMMERSTEIN, JUS und
Historie... (1972) [s.o. Anm. 30], S. 155; schon J . C . HOFFBAUER, Geschichte der
Universität zu Halle... (1805) [65], S. 2 0 8 f .
35 So N . HAMMERSTEIN in seiner zusammenfassenden Studie: Z u r Geschichte und
Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation,
in: H Z , Bd. 241 (1985), S. 2 8 7 - 3 2 8 , hier S. 316.
36 In FRANCKES „Grosse(m) Aufsatz" (Otto PODCZECK [Hg.], August Hermann
Franckes Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als
Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen
Kirche des 18. Jahrhunderts. Der Grosse Aufsatz [ = AbhSächsGesW, Bd. 53,
H . 3], Berlin 1962), S. 7 5 f., sowie die Einleitung des Herausgebers, S. 9 f.; Carl
HINRICHS, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen
als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 18 f., 47, 54.
624 § 1 Bildungszustände in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
49
Ebda, und C. BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitätsverwaltung...
(1900) [45], S. 52.
50
A.A.O., S. 3 7 F . ; N . HAMMERSTEIN, JUS und Historie... (1972) [ s . O . Anm. 30],
S. 151, 154.
51
Druck: C. O. M Y L I U S (Hg.), Corpus Constitutionum... ( 1 7 3 7 - 1 7 5 1 ) [12], T. 1/2,
B e r l i n - H a l l e [1737], Nr. 20, Sp. 7 9 - 8 2 (Edikt, 21. 8. 1662).
52
Vgl. C. BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitätsverwaltung (1900)
[45], S. 19 ff., 50; M. LACKNER, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten...
(1973) [s.o. Anm. 18], S. 260f., 264f., 267; G.v. RODEN, Die Universität Duis-
burg... (1968) [62], S. 97, 100 f.
628 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
6 Die Lit. in Anm. 4 sowie grundsätzlich Carl HINRICHS, Preußentum und Pietis-
mus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewe-
gung, Göttingen 1971, S. 239; F. TERVEEN, Gesamtstaat und Rétablissement...
(1954) [s.o. Anm. 1], S. 89F.; Ders., Das Rétablissement Ostpreussens im
18. Jahrhundert, in: Deutsche Ostsiedlung in Mittelalter und Neuzeit ( = StdDtO,
H. 8), K ö l n - W i e n 1971, S. 1 6 0 - 1 8 1 , hier S. 175.
7 Ludwig Ernst BOROWSKI, Neue Preußische Kirchenregistratur, die neuen Verord-
nungen und Einrichtungen in Kirchen- und Schulsachen im Königreiche Preußen
enthaltend. Nebst einigen zur Kirchengeschichte Preußens gehörigen Aufsätzen,
Königsberg 1789, S. 189; die Zahl der Dörfer, Güter und Vorwerke liegt offenbar
zu niedrig.
8 Walther HUBATSCH, Friedrich der Große und die preußische Verwaltung
( = StGPr, Bd. 18), Köln - Berlin 1973, S. 100; Alberto DETTO, Die Besiedlung des
Oderbruches durch Friedrich den Großen, in: FBPG, Bd. 16 (1903), S. 1 6 3 - 2 0 5 ,
hier S. 177.
630 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
und in ihrer Konfession drängten. Dann konnte die Schule durchaus als
eine Stätte zur Pflege kultureller Eigenständigkeit wirken, nicht aber als ein
Integrationsinstrument zur Assimilation an die „preußische" Umgebung.
Die Berliner Kollegien mußten denn auch oft genug von Kolonistengemein-
den um die Einlösung der Versprechen angegangen werden, wenn ihnen
unter anderem eine Schule für ihren neuen "Wohnort zugesichert worden
war. 9
Auch in den weiten Teilen Brandenburg-Preußens, in denen es nicht zu
landesherrlich veranlaßten oder unterstützten Schulgründungen kam, war
ein dichtes Schulnetz auf dem Lande vorhanden, ja sie übertrafen in der
Schuldichte entschieden etwa das durch das landesherrliche Schulretablis-
sement geförderte Ostpreußen. Tabelle 1 stellt — auf der Grundlage zeit-
genössischer statistisch-topographischer Literatur 1 0 — die verfügbaren Da-
ten zur Schuldichte zusammen (siehe Tabelle 1 auf S. 631).
Die Tabelle zeigt die außerordentlich großen Unterschiede selbst zwischen
den mittleren und östlichen Provinzen des preußischen Staats bei einem
West-Ost-Gefälle, das übrigens innerhalb einzelner Landschaften ein Ost-
West-Gefälle durchaus nicht ausschloß. Die gegebenen Durchschnittswerte
verdecken also einen noch sehr viel tiefer greifenden Regionalismus der
schulischen Strukturen, gekennzeichnet nicht von landesherrlicher Schul-
politik, sondern — so eine Erklärung — nicht zuletzt von Siedlungsformen.
Nach wie vor darf die Bedeutung der ländlichen Herrschaften, der Land-
geistlichen, aber auch der Gemeinden für die Schulen in ihren Dörfern nicht
unterschätzt werden.
Was aber war eine Dorfschule in vormoderner Zeit und insbesondere in
den Regionen Brandenburg-Preußens? Bei aller Vorsicht vor idealtypischen
Kondensaten angesichts der stark regionalen Prägungen, wie sie angedeutet
wurden, läßt sich eine knappe Skizze so geben: 11 Die Dorfschule war bedingt
durch die Arbeitswelt des preußischen Agrarstaats. Das bedeutete zunächst,
und zwar auf adligem Boden sowohl als auf landesherrlichem Domanial-
besitz, daß Schule Winterschule war, da die Kinder ganz selbstverständlich
vom Frühjahr bis zum Herbst zur Arbeit im Hause und zur Unterstützung
der Feldarbeit herangezogen wurden. Dabei konnte die Winterschule leicht
auf wenige Wochen zusammenschmelzen. Ein kontinuierlicher, aufbauender
Unterricht war damit ausgeschlossen. In jeder Lehrperiode mußte er neu
des preußischen Staats, und über den Wohlstand seiner Bewohner, Bd. 2, Berlin
1805, S. 4 0 0 (ND: Aalen 1970). Ergänzend siehe jetzt die wichtige Studie von
S. BRÜGGEMANN, Landschullehrer in Ostfriesland... (1988) [92], S. 3 5 1 f.
11 Ζ . Β.: Achim LESCHINSKY/Peter M a r t i n ROEDER, Schule im historischen Prozeß.
Z u m Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Ent-
wicklung, Stuttgart 1976, S. 108 f., sowie die Arbeit in A n m . 9, S. 4 6 8 - 5 0 7 (mit
Lit.).
I. Grundstrukturen schulischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert 631
TABELLE 1
Schuldichte in Preußen um 1805
Ostfriesland ? 251 -
Neufchatel } 106 -
Quellen: Leopold KRUG, Abriß der neuesten Statistik des preußischen Staats, Halle
2 1805, S. 19. f. (Dorfzahlen); ders., Betrachtungen über den National-Reichthum des
preußischen Staats und über den Wohlstand seiner Bewohner, Bd. 2, Berlin 1805,
S. 400; siehe auch die ergänzende Literatur in Anm. 10.
12 F. VOLLMER, D i e p r e u ß i s c h e V o l k s s c h u l p o l i t i k . . . (1918) [ s . o . A n m . 3 ] , S. 1 4 0 ,
145 - 1 5 8 mit den technischen Details; Eduard CLAUSNITZER, Zur Geschichte der
preussischen Volksschule unter Friedrich dem Grossen, in: DSch, Bd. 5 (1901),
S. 3 4 2 — 3 6 6 , 4 1 1 - 4 2 8 , h i e r S. 4 1 7 ; M a n f r e d HEINEMANN, S c h u l e i m V o r f e l d d e r
Verwaltung. Die Entwicklung der preußischen Unterrichtsverwaltung von 1771 —
1800 ( = StWSG, Bd. 8), Göttingen 1974, S. 141, S. 145.
13 Friedrich WIENECKE, Die Landgnadenschulen der Kurmark, in: SchulBlBr, 70. Jg.
(1905), S. 255 — 266, hier S. 266; Ders., Die Landgnadenschulen der Kurmark, in:
B r a , 1 4 . J g . ( 1 9 0 5 / 0 6 ) , S. 3 1 2 - 3 1 7 .
14 Auszug aus einem Bericht der Pommerschen Regierung und des Pommerschen
Konsistoriums zu Stettin über die Verfassung der Schulanstalten im Herzogthum
Pommern, in: APrSchKw, Bd. 2 (1801), S. 108.
15 Manfred HEINEMANN/Wilhelm RÜTER, Landschulreform als Gesellschaftsinitia-
tive. Philipp von der Reck, Johann Friedrich Wilberg und die Tätigkeit der
„Gesellschaft der Freunde der Lehrer und Kinder in der Grafschaft M a r k " (1789 —
1815) ( = StWGesB, Bd. 11), Göttingen 1975, S. 37 ff. (Overdyck).
16 Dazu: Ueber das Schulwesen in der Kurmark. (Zwei Berichte des Kurmärkischen
Oberkonsistoriums als Provinzial-Schulkollegiums), in: APrSchKw, Bd. 1 (1800),
S. 13. Ferner die Belege der in Anm. 9 genannten Arbeit, S. 479, 5 3 1 - 5 3 7 ;
F. VOLLMER, Die preußische Volksschulpolitik... (1918) [s.o. Anm. 3], S. 274.
I. Grundstrukturen schulischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert 633
Regel. Vielmehr war es üblich, daß junge Kandidaten der Theologie in das
Lehramt eintraten, um dort die Zeit bis zur Übernahme der ersehnten
Pfarrstelle abzuwarten; das Lehramt war also Durchgangsstation zur
Pfarre, 20 und dies auch schon seit Jahrhunderten, wenngleich das Theolo-
genmonopol erst als eine Erscheinung des 18. Jahrhunderts anzusehen ist.
Die Pfarrstelle war - da weit höher dotiert — sehr viel attraktiver, und
da diese das Berufsziel war, wurde der junge Theologe während des Stu-
diums vor dem Ende des Jahrhunderts auch nicht auf das Lehramt besonders
vorbereitet. Insofern existierte kein Lehrerstand im eigentlichen, „professio-
nalisierten" Sinne. Da die Lehrer die Schulstelle als Durchgangsamt ansahen,
waren sie, wie regionale Studien zeigten, vergleichsweise jung. Die Rektoren
der 28 neumärkischen Stadtschulen im Jahre 1787 waren zu 36 Prozent
zwischen 20 und 30, zu weiteren 36 Prozent 30 bis 40 Jahre alt. Die
Konrektoren waren entsprechend jünger. 21 Auch städtische Schulstellen
wurden in der Regel ärmlich dotiert, und das Schulgeld kam nur unregel-
mäßig und selten in der zu zahlenden Höhe ein, die Lehrer waren von den
Gemeinden materiell hochgradig abhängig.
Nur wenige große Gymnasien verfügten über erheblichere Mittel aus
Vermächtnissen und Stiftungen; staatliche Besoldungszuschüsse waren die
Ausnahme. 22 Die Direktoren der wenigen bedeutenden Gelehrtenschulen
verfügten über stattliche Gehälter. Was freilich ein Gymnasium sei, welche
Schule zu diesen Anstalten zu zählen war, blieb noch lange unklar — auch
hier gab es keine deutliche „Typisierung" in Schularten. Für die Mitte des
18. Jahrhunderts hat man in Preußen etwa 80 lateinische Schulen mit fünf
und mehr Klassen „und wohl viermal soviel mit weniger als fünf, meist
sogar nur mit drei Klassen" festgestellt. 23
Potentiell hätte die Einführung des Abitur-Examens im Jahre 1788 24 eine
Unterscheidung bringen können zwischen den Schulen, an denen diese
Prüfung abgenommen wurde, und denen, die diesen Abschluß nicht bieten
konnten. Anlaß zu diesem in der Bildungsgeschichte intensiv behandelten
Abitur-Edikt war die Klage über die ungenügende Vorbereitung der Stu-
denten für das Studium; dem üblichen Eingangsexamen an den Universitäten
fehlten Gründlichkeit und Strenge. Deshalb wurde nun eine öffentliche
Abgangsprüfung an den gymnasialen Schulen eingeführt, ohne daß aller-
dings Prüfungsinhalte und Anforderungen genauer umschrieben worden
wären. Aber: Auch die für „unreif" befundenen „Jüngling(e)" 2 5 durften
durchaus studieren, freilich konnten sie nicht in den Genuß von Stipendien
gelangen. Das Abitur war also noch nicht obligatorisch für den Universi-
tätsbesuch. Die Wirkung dieser neuen Einrichtung war jedenfalls in der
Schulwirklichkeit begrenzt, 26 auch war das zuständige Oberschulkollegium
nicht konsequent bei der Einteilung der Schulen, denen es gestattet war,
das Abitur abzunehmen. An den Universitäten wurden auch weiterhin
Sekundaner und Tertianer akzeptiert. Selbst die Stipendienvergabe wurde
in der Praxis nicht an das Abitur gebunden. Das Abitur-Reglement galt
versierten Zeitgenossen schlicht als „Blendwerk". 2 7 Das Projekt einer neuen
Prüfungsverordnung kam vor dem Kriegsausbruch 1806 nicht mehr zur
Realisierung.
Von den rund 400 gelehrten Schulen in Preußen am Ende des 18. Jahr-
hunderts besaßen etwa 70 den Abitur-Standard; circa 40 dürften als tat-
sächliche Vorgänger künftiger Gymnasien angesehen werden. 28 Diese Gym-
nasien waren im 18. Jahrhundert aber nicht nur die Institute, auf denen
etwa auf ein künftiges Studium vorbereitet wurde. Ein erheblicher Teil der
Schüler ging vor Erreichen der oberen Klassen ab; das Gymnasium erfüllte
also zugleich die Aufgabe der gewöhnlichen Stadtschule. Diese „Frühab-
gänger" strebten Bürodienste, Tätigkeit in Handel und Gewerbe sowie im
Militär bevorzugt an. 2 9 Die Gymnasien als Gelehrtenschulen, das heißt
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638 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
hinsichtlich der Absolventen der obersten Klasse, waren, wie die Forschun-
gen von Karl-Ernst Jeismann gezeigt haben, Institute vornehmlich „für die
Söhne der Beamten, Geistlichen und anderer akademischer Berufe. Sie
stellten um 1800 „mit 70 Prozent den weitaus überwiegenden Teil der
Abiturienten"; insofern darf das Gymnasium als „Schule der vorwiegend
auf den Staat bezogenen Berufsstände" angesehen werden, und darin un-
terschied es sich entschieden von den übrigen Stadtschulen. 30 Der geringe
Adelsanteil unter den Abiturienten verweist dabei auf den Charakter dieser
Gelehrtenschulen als Bildungseinrichtungen des oberen Bürgertums, was
einen nicht geringen Prozentsatz von Abiturienten aus Kreisen der Hand-
werker und aus unteren Soldatenkreisen bemerkenswerterweise nicht aus-
schloß. Kaufleute dagegen sind unter den Abiturienten nur schwach vertre-
ten; ihre Söhne verließen die Schule schon vor dem Abitur. Tabelle 2 (nach
der Studie von Jeismann) erläutert diese Problematik (siehe Tabelle 2 auf
den S. 636 u. 637).
Schon mit dieser Tabelle wird zugleich ein erster Hinweis darauf gegeben,
daß selbst die großen Gymnasien der Jahrhundertwende noch lange nicht jene
anonymen Großbetriebe waren, wie sie in jüngerer Zeit üblich geworden sind:
Das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin zählte um 1800 300 Schüler in
allen Klassen, am Friedrichs-Werderschen Gymnasium in der Residenz waren
es in der Blütezeit um 1790 300,1806 aber nur noch 150 Schüler. Die Beispiele
mögen genügen, es ließe sich Analoges aus der Provinz zeigen. 31 Insgesamt
wird die Quote der männlichen Bevölkerung der Städte Preußens, die 1805
gelehrte Schulen besuchte, auf 1,3 Prozent veranschlagt, von denen ein Fiinf-
zigstel die Universität bezog. 32 Auch die gewöhnlichen Stadtschulen hielten
sich in Größenordnungen von einigen Dutzend Schülern, bisweilen über 100
in allen Klassen zusammen. Allerdings darf aus diesen Zahlen nicht geschlos-
sen werden, daß alle anderen Kinder in den Städten keinen beziehungsweise
keinen über das Elementarniveau hinausführenden Unterricht genossen hät-
ten. Denn die „öffentlichen" Schulen waren in vormoderner Zeit beileibe nicht
die einzigen Stellen der Bildungsvermittlung.
rungen generell S. 581 — 6 2 4 mit Quellen und Lit. Die hier gegebene Darstellung
gegen die irrigen Ausführungen von Peter LUNDGREEN, Schule, Universität und
sozialer Wandel. Neuere Literatur zur Sozialgeschichte der Bildung, in: AfS,
Bd. 17 (1977), S. 5 1 7 - 5 3 7 , hier S. 5 2 1 .
34 Beispiele: Paul SCHWARTZ, Die Schulen der Provinz Westpreußen unter
dem Oberschulkollegium 1 7 8 7 - 1 8 0 6 , in: Z G E , Bd. 16 (1926), S. 51 - 1 2 3 ,
hier S. 5 2 ; Wilhelm STEFFEN, Stettiner Schülerleben im 16. - 1 8 . Jahrhundert
( = W B t r G L k O M e , Nr. 26), M a r b u r g 1957, S. 28.
35 Gerd HEINRICH, Amtsträgerschaft und Geistlichkeit. Z u r Problematik der se-
kundären Führungsschichten in Brandenburg-Preußen 1450 —1786, in: Günther
Franz (Hg.), Beamtentum und Pfarrerstand 1400 — 1800. Büdinger Vorträge 1967
( = D F ü h N z , Bd. 5), L i m b u r g / L a h n 1972, S. 1 7 9 - 2 3 8 , hier S. 211; [ J . H . F . UL-
RICH], Ueber den Religionszustand in den preußischen Staaten seit der Regierung
Friedrichs des Großen. In einer Reihe von Briefen, Bd. 2, Leipzig 1778, S. 154 f.
36 S. Anm. 33; ferner Paul SCHWARTZ, Die Schulen der Provinz Ostpreußen unter
dem Oberschulkollegium 1 7 8 7 - 1 8 0 6 , i n : Z G E , 2 1 . J g . ( 1 9 3 1 ) , S. 5 4 - 7 8 , 280-
307, hier S. 7 6 ; Emil HoLLACK/Friedrich TROMNAU, Geschichte des Schulwesens
der Königlichen H a u p t - und Residenzstadt Königsberg i. Pr. mit besonderer
Berücksichtigung der niederen Schulen. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Alt-
preußens, Königsberg 1899, S. 186 f.
640 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
so ist daraus der Schluß zu ziehen, daß die Bildung der Kinder im Hause
durch Privatlehrer nicht nur als ein Phänomen der Standeserziehung,37
sondern als sozial entschieden verbreitetere Erscheinung anzusehen ist. Das
heißt dann aber, daß der Anteil an Bildungsformen, die sich gänzlich
staatlicher Kontrolle entzogen, entsprechend größer zu berechnen ist! Erst
zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterlag die Hauslehrererziehung „dem
Differenzierungs-, Qualifikations- und Effizienzvorsprung der Gymnasien
und der Fachbreite seiner Lehrkräfte". 38
Zudem ist es mehr als fraglich, ob die oben behandelten „öffentlichen"
Schulen in den Städten — zumal angesichts der geringen Frequenzen — als
die Bildungsstätte der Städter anzusehen sind, denn in allen Fällen, die eine
Quantifizierung für das 18. Jahrhundert erlauben, dominierten in den
Städten die nicht obrigkeitlich zugelassenen „Winkelschulen", auch diese
ein Charakteristikum vormoderner Schulwirklichkeit, das seit dem
16. Jahrhundert in den Quellen erfaßt werden kann. Über drei Jahrhunderte
wurden die Winkelschulen verboten, und sie blühten doch, und zwar in
allen preußischen Landesteilen. Allgemein war um 1800 in Preußen die
Klage über „die Menge von neu entstandenen Neben = und zum Theil
wirklichen Winkel = Schulen, von denen die Obrigkeit oft gar Nichts weiß,
mithin sie auch durchaus nicht gehörig controllieren kann". 3 9 Zudem ent-
zogen diese zum Teil stattlich besuchten Institute den öffentlichen Schulen
die Nachfrage und gefährdeten sie bisweilen ernsthaft in ihrem Bestand.
Aber auch die einmal konzessionierten Privatschulen standen deshalb noch
lange nicht unter staatlicher Kontrolle. 40 In Berlin war 1738 der Versuch
unternommen worden, mit einem Reglement das Winkelschulwesen erneut
zu verbieten und die Privatschulen zu ordnen. Das Ergebnis war auch in
der Folgezeit das übliche. Für weite Teile Berlins liegen für das Jahr 1788
Zahlen vor, die die Proportionen verdeutlichen: Den 75 als beaufsichtigte
deutsche Schulen geführten Unternehmungen standen 102 Winkelschulen
37 Vgl. allgemein dazu Ludwig FERTIG, Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte
des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz, Stuttgart 1979, S. 97; vgl.
S. 68.
38 Detlef K. MÜLLER, Sozialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel
des Schulwesens im 19. Jahrhundert ( = StWGesB, Bd. 7), Göttingen 1977, S. 37.
39 So der wohlinformierte Seminar-Inspektor F. HERZBERG, Ueber einige wichtige
Hindernisse, die der Verbesserung des Volksschulwesens überhaupt ... im Wege
stehen, Berlin 1801, S. 19; als Beispiele: C[olmar] GRÜNHAGEN, Das schlesische
Schulwesen unter Friedrich Wilhelm II., in: ZVGSchl, S. 1 - 32, hier S. 28;
J. GRÜNER, Das Schulwesen des Netzedistriktes zur Zeit Friedrichs des Großen
( 1 7 7 2 — 1 7 8 6 ) . Ein Beitrag zur Schul- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts,
Breslau 1904, S. 53; Hermann KEUSSEN sen./Hermann KEUSSEN jun., Beiträge
zur Geschichte Crefelds und des Niederrheins, in: A H V N r h , Bd. 63 (1896), S. 63 -
176, hier S. 66 ff.
40 Carl Curt Ferdinand von SCHMIEDEN, Das Elementar- und Bürgerschulwesen in
der Provinz Brandenburg in seiner Entwicklung und seinen Fortschritten, Leipzig
1840, S. 54.
I. Grundstrukturen schulischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert 641
gegenüber, und dazu kamen noch 66 französische Schulen, die den Win-
kelinstituten an die Seite zu stellen sind.41
Diese privaten Schulen wiesen eine größtmögliche Unterschiedlichkeit in
Niveau und Qualität auf. Im ausgehenden 18. Jahrhundert ist dann die
Entstehung einer breiten hochqualitativen Schicht von Privatschulen in den
preußischen Städten auszumachen, die nur als Reflex auf eine wachsende
Bildungsnachfrage verstanden werden kann, die anders nicht befriedigt
worden zu sein scheint. Insbesondere fallen dabei Mädchenschulen und
-„Pensionen" auf, die einen über den („öffentlichen") Elementarunterricht
hinausgehenden Kanon anboten — die höheren Schulen waren ja ausschließ-
lich Knabeninstitute, und selbst in Berlin gab es um 1800 nur eine „öffent-
liche Töchterschule für die gebildetem Klassen". 42
Die bisherige Bildungsgeschichte hat sich für Preußen fast ausschließlich
mit den öffentlichen Schulen beschäftigt, mit einem durchaus nicht domi-
nanten Teilbereich des Erziehungswesens. Zudem ist Bildung im
18. Jahrhundert ja nicht nur organisiert, geschweige denn staatlich insti-
tutionalisiert, wie die Beispiele zeigten. Die in letzter Zeit mit großem Ertrag
betriebene Untersuchung der Lesegesellschaften,43 die auch und gerade in
Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts Konjunktur hatten, verweist auf
eine gewachsene Bildungsnachfrage, auf einen entwickelten Bildungswillen
insbesondere in den Städten, aber nicht nur dort. Der hier gegebene Über-
blick über die schulischen Grundstrukturen im Alten Preußen zeigt, daß die
in der bisherigen Literatur übliche, fast ausschließliche Ausrichtung auf die
öffentlichen Anstalten und auf staatliche Maßnahmen mehr als problema-
tisch ist.
5 [Hanns Hubert] H[OFMANN], Maupertuis, Pierre Louis Moreau de, in: Karl Bosl/
Günther Franz/Hanns Hubert Hofmann (Bearb.), Biographisches Wörterbuch
zur deutschen Geschichte, Bd. 2, München 2 1974, Sp. 1826 f., s. auch: M a x
PLANCK, Vorträge und Erinnerungen, Darmstadt 1 0 1975, S. 100 f. („Prinzip der
kleinsten Wirkung"); Bestallung: A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preus-
sischen Akademie der Wissenschaften... (1900) [55], Bd. 2, Nr. 163, S. 271 (1. 2.
1746), dazu Bd. 1/1, S. 2 9 4 - 297; das Folgende: S. 253 - 257, 2 9 4 - 302, 3 4 7 -
3 5 9 , 3 7 8 f.; E. WINTER, Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften...
(1957) [s. o. Anm. 3], S. 14 ff., 3 7 - 4 1 , 73; jetzt: Dominique BOUREL, Pierre Louis
Moreau de Maupertuis, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hg.), Berlinische
Lebensbilder... (1987) [75], S. 1 7 - 3 1 , bes. S. 2 9 f .
6 A. HARNACK, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaf-
ten... (1900) [55], Bd. 1/1, S. 390; er wurde 1793 aus der Akademie ausgestoßen
(W. HARTKOPF, Die Akademie der Wissenschaften der D D R . . . [1983] [s.o.
Anm. 4], S. 104).
644 S 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
Die Berliner Akademie hatte damit in Preußen eine singuläre und über
diesen Staat hinausgehende Bedeutung erlangt, doch lassen sich seit den
Zeiten Friedrich Wilhelms I. nicht nur in Berlin auch private wissenschaft-
liche Gesellschaften nachweisen. In Frankfurt a. O. wurde in der Mitte der
1760er Jahre eine solche Vereinigung begründet, die nach königlicher Be-
stätigung als „gelehrte Gesellschaft zum Nutzen der Wissenschaften und
Künste" geführt wurde. 63 Die 1652 in Schweinfurt gebildete private Natur-
forschervereinigung „Academia Caesareo Leopoldina" (kaiserliche Bestäti-
gung 1672, Name seit 1687), die ihren Sitz am Wohnort ihres jeweiligen
Präsidenten hatte, war somit seit 1745 für ein Vierteljahrhundert in Halle
angesiedelt. Erst seit 1878 war dies auch ihr dauernder Sitz. 7
6a Adolf STÖLZEL, Carl Gottlieb von Svarez. Ein Zeitbild aus der 2. Hälfte des
18. Jahrhunderts, Berlin 1885, S. 6 8 - 7 1 ; Gerd HEINRICH, Frankfurt an der Oder,
Universität, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzy-
klopädie, Bd. 11, Berlin - New York 1983, S. 3 3 5 - 342, hier S. 3 4 1 ; O t h m a r FEYL,
Die Viadrina und das östliche Europa. Eine bildungsgeschichtliche Studie, in:
G. H a a s e / J . Winkler, Die Oder-Universität Frankfurt... (1983) [64], S. 1 0 5 - 1 3 9 ,
hier S. 125.
7 Leo STERN, Z u r Geschichte und wissenschaftlichen Leistung der Deutschen
Akademie der Naturforscher „Leopoldina", Berlin 1952, S. 9 f., 12, 27, 38, 4 2 f.,
60 ff.; dazu Joh[ann] Christian FÖRSTER, Uebersicht der Geschichte der Univer-
sität zu Halle in ihrem ersten Jahrhunderte, Halle 1799, S. 151 f.
8 Jürgen Voss, Die Akademien als Organisationsträger der Wissenschaften im
18. Jahrhundert, in: H Z , Bd. 231 (1980), S. 43 - 74, hier S. 62.
9 Siehe die Lit. unter § 1, Anm. 28 — 34.
10 Notker HAMMERSTEIN, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des histo-
rischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhun-
dert, Göttingen 1972, S. 169 — 265, zum Folgenden: S. 149 f., S. 2 6 6 ; Bernd ROECK,
Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des
Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts ( = VIEG,
Bd. 112), Stuttgart 1984, S. 1 1 0 - 1 1 4 ; verschiedene Beiträge in dem Band von
N. HINSKE (Hg.), Halle... (1989) [87],
II. Hochschulen und Akademien im Staat des alten Preußens 645
War die Universität Halle bei ihrer Gründung als unorthodoxe modern-
antischolastische Ausbildungsstätte der Frühaufklärung gerade deshalb
„eine Heimstatt für die religiöse Opposition der Zeit", 1 1 das heißt für die
Pietisten, gewesen, so hat denn der seinerseits verfestigte und an Flexibilität
einbüßende Pietismus die Entwicklung der preußischen Universitäten auch
behindert. Pietistische Intoleranz bewirkte Stagnation und Rückschritt. Die
Unduldsamkeit der späteren Pietistengeneration fand ihren spektakulärsten
Ausdruck in der Vertreibung Christian Wolffs aus Halle (1723), dem der
König zum Vorwurf machte, seine Lehren würden der „geoffenbarten Re-
ligion" zuwiderlaufen; er hatte Preußen bei „Straffe des Stranges" in zwei
Tagen zu verlassen. Die Pietisten, als deren Speerspitze der Theologe J .
Lange wirkte, hatten ihr Ziel erreicht, und 1727 folgte das Verbot, auf den
preußischen Universitäten über Wolff zu lesen. Die bald darauf einsetzenden
Bemühungen des Königs, den Philosophen und Mathematiker nach Preußen
zurückzurufen, blieben erfolglos. Wolff kam erst nach dem Regierungs-
wechsel 1740 nach Halle zurück. In Königsberg, Frankfurt und wiederum
in Halle sind in den 1720er Jahren und bis 1740 eine Reihe analoger
Amtsentsetzungen nachweisbar. 12
Hatte also unter Friedrich Wilhelm I. der Pietismus an den Universitäten
unter massivem landesherrlichen Schutz gestanden, so waren doch gerade
unter den Anhängern dieser Theologie wichtige Vermittler zur rationalen
Weltsicht zu finden, 13 nicht nur, aber auch auf den Universitäten. Es war
also nicht nur die landesherrliche Förderung, die die Aufklärung seit der
Mitte des Jahrhunderts auf den Universitäten siegen ließ. Wolffs Einfluß
blieb an den preußischen Universitäten lange bedeutend - man denke etwa
an den Frankfurter Juristen Darjes, bei dem Carl Gottlieb Svarez studierte 1 3 3
- , doch verschärfte sich der rationalistische T o n ; der Hallenser Karl
Friedrich Bahrdt sei dafür als Beispiel genannt. 1 4 U m 1800 fand dann Kants
Philosophie auch außerhalb Königsbergs Verbreitung. Insbesondere in der
Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. ist es wiederholt zu Maßregelungen
und härteren M a ß n a h m e n gegen Vertreter der Hochaufklärung gekommen.
Bekannt ist der Konflikt Kants mit dem Minister Woellner wegen der Schrift
über „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" ( 1 7 9 3 ) . 1 5
Von Lehrfreiheit im modernen Sinn war an den preußischen Universitäten
im (17. und) 18. Jahrhundert noch nicht die Rede. Grundbestände etwa der
religiösen Lehre blieben zu respektieren, doch scheinen lenkende Eingriffe
in die universitäre Lehre - nach gegenwärtigem Forschungsstand - ins-
gesamt die Ausnahme und auch dann ineffektiv geblieben zu sein. Wiewohl
seit dem 17. Jahrhundert der landesherrliche Zugriff auf die Besetzung der
Professorenstellen merklich zugenommen hatte, blieb doch ein nicht zu
unterschätzender Spielraum für die Mitwirkung der akademischen Korpo-
rationen in diesem Bereich erhalten. 1 6
Ist im 18. Jahrhundert eine Verstärkung des Staatszugriffs auf die Uni-
versitäten nachzuweisen? Immerhin wurde 1 7 4 2 / 4 7 mit der Einsetzung eines
Oberkuratoriums für die Universitäten ein gesamtpreußisches Organ ge-
schaffen, das unter anderem für erledigte Stellen Vorschläge machen sollte
und, mit einer Unterbrechung seit 1787, amtierte. Und doch konnten die
Universitäten ihre korporativ gestützte Autonomie w a h r e n . 1 7
13a Jetzt: Günter BIRTSCH, Carl Gottlieb Svarez. Mitbegründer des preußischen
Gesetzesstaates, in: Peter Alter/Wolfgang J. Mommsen/Thomas Nipperdey (Hg.),
Geschichte und politisches Handeln. Studien zu europäischen Denkern der Neu-
zeit. Theodor Schieder zum Gedächtnis, Stuttgart 1985, S. 85 —100, hier S. 87.
Franz WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berück-
sichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 2 1967, S. 321 f.
14 Außer W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle... (1894)
[66], Bd. 1, S. 4 9 9 - 5 1 3 , die Arbeiten von G. MÜHLPFORDT, Z.B.: Deutsche
Präjakobiner, in: ZfG, 28. Jg. (1980), S. 970 - 989, bes. S. 972, 975.
15 Werner SELLNOW, Die Auseinandersetzung Kants mit der feudal-absolutistischen
Zensur — ein Beitrag zur Stellung der Universität im feudalen Absolutismus, in:
WZHumbU, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 17. Jg. (1968),
S. 4 3 1 - 4 4 8 , b e s . S. 4 3 8 , 4 4 2 ; siehe a u c h G . MÜHLPFORDT, D i e O d e r - U n i v e r s i t ä t . . .
(1983) [ s . o . A n m . 13], S. 6 5 - 6 8 .
16 Lehrfreiheit: C. BORNHAK, Geschichte der preussischen Universitätsverwaltung...
(1900) [45], S. 35 f., 1 3 1 , 1 4 9 , 1 5 7 , 1 6 1 ; Stellenbesetzungen: S. 96 - 100; zum 18. Jh.
auch R. Steven TURNER, The Growth of Professorial Research in Prussia, 1818 —
1848 - Causes and Context, in: HStPhS, Bd. 3 (1971), S. 1 3 7 - 1 8 2 , hier S. 160 f.
17 Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert.
Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im
18. Jahrhundert, Bd. 7, Berlin 1904 (ND Frankfurt am Main 1986/87), Nr. 215,
S. 338 f. und Nr. 217, S. 339 f.; Reinhold KOSER, Friedrich der Große und die
preußischen Universitäten [1904], in: Ders., Zur preußischen und deutschen
Geschichte. Aufsätze und Vorträge, Stuttgart — Berlin 1921, S. 128 —201, hier
S. 139; Ernst MÜSEBECK, Das Preußische Kultusministerium vor 100 Jahren,
Berlin - Stuttgart 1918, S. 8.
II. Hochschulen und Akademien im Staat des alten Preußens 647
18 Otto HINTZE in seiner wichtigen Rezension in: FBPG, Bd. 14 (1901), S. 684.
19 Anton Friedrich BÜSCHING, Character Friederichs des zweyten, Halle 1788, S. 79,
81; vgl. damit R. KOSER, Friedrich der Große... (1921) [s.o. Anm. 17], S. 198.
20 W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle... (1894) [66], Bd. 1,
S. 91 ff., 3 4 9 ; Königsberg: Martin PHILIPPSON, Geschichte des Preußischen Staats-
wesens vom Tode Friedrichs des Großen bis zu den Freiheitskriegen, Bd. 1,
Leipzig 1880, S. 135; Frankfurt/O.: Hermann FRICKE, Gesicht und Maske der
Viadrina, o. O . 1957, S. 22.
21 Conrad BORNHAK, Die Korporationsverfassung der Universitäten. Festgabe zur
100jährigen Jubelfeier der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Ber-
lin 1910, S. 21; [Carl Friedrich] Wilhelm DIETERICI, Geschichtliche und statisti-
sche Nachrichten über die Universitäten im preußischen Staate, Berlin 1836 (ND
Aalen 1982), S. 53 (Halle), ferner S. 169, 172, 177, 184 f.
648 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
beleuchtet. Die Zahlen für Halle zeigen, daß die Universitäten in Preußen
schon im 18. Jahrhundert Stätten begrenzter sozialer Mobilität waren. Bis
1730 haben rund 40 Prozent der Studenten an dieser Hochschule — offenbar
aus sozialen Gründen - keine Einschreibungsgebühren entrichtet. Für die
Jahre 1761 bis 1778 ist nachgewiesen worden, daß von den Hallenser
Studenten rund 55 Prozent von Familien mit akademischem Hintergrund
wie Pfarrern und Beamten abstammten, 14 Prozent waren Söhne von
Kaufleuten, „Industriellen" und Gutsbesitzern; der Rest von 31 Prozent wird
„Subalternbeamten", Handwerkern und Bauern zugeordnet. 22 Insofern kann
eine gewisse soziale Offenheit erkannt werden. Bis 1744 waren von knapp
30.000 Studenten Halles rund 2.000 vom Adel, in Frankfurt waren es im
17. Jahrhundert 5 — 8 Prozent, 1762—1805 14,5 Prozent; auch hier ist ein
starker Unterschichtenanteil ausgemacht worden. 23 Für arme Studenten gab
es an den meisten Universitäten Stipendien. Obwohl von der neueren
Forschung die Einführung des Abiturs mit einer ersten erkennbaren Über-
füllungskrise in Verbindung gebracht wird, 24 deuten doch die preußischen
Zahlen wie auch die der deutschen Universitäten überhaupt 25 eher in eine
andere Richtung; die Studentenzahlen stagnierten, wenn sie nicht sanken,
und dies, obwohl in Preußen seit den Tagen Friedrichs II. endgültig ein
genereller Befehl bestand, daß Preußen nur auf inländischen Universitäten
zu studieren hätten, 26 wenn sie im Land Anstellung finden wollten.
An Edikten fehlte es im preußischen Staate auch für die Universitäten
nicht, so wenn seit 1708 mit Immatrikulationspatenten gegen zu viele
Studenten im Sinne einer Stabilisierung der ständischen Ordnung vorgegan-
gen worden ist. 2 7 Es ist auch noch sehr die Frage, ob mit der Einrichtung
der Kamer allehr Stühle an den Universitäten Halle und Frankfurt a. O. im
Jahre 1727, als erste an deutschen Universitäten überhaupt ein immerhin
bemerkenswerter Schritt, der nach vorherigen Initiativen aus den beiden
Universitäten und Gelehrtenkreisen durch den König erfolgt ist, 2 8 schon ein
wesentlich neues Element in der älteren preußischen Universitätspraxis
erkannt werden darf. Wie das königliche Einrichtungsdekret für die Pro-
fessur in Halle zeigt, sollten schwerpunktmäßig Themen der Domänenver-
waltung, der Regalien, städtische Polizeisachen sowie die Woll- und Fa-
brikverwaltung gelehrt werden. Erste Professoren waren der hallische
Kriegs- und D o m ä n e n r a t Simon Peter Gasser sowie der Frankfurter Jurist
und Historiker Justus Christoph Dithmar, die beide nicht zu den Großen
ihres Faches im 18. Jahrhundert zu zählen sind, obwohl letzterer in Frank-
furt die erste ökonomische Zeitschrift Deutschlands, die „Ökonomische
F a m a " , herausgab (seit 1 7 2 9 ) . 2 9 Die Universitätskameralistik krankte an
mangelndem Lehrpersonal, und zu Recht hat Wilhelm Treue darauf auf-
merksam gemacht, daß die Bedeutung dieser Professuren nicht überschätzt
werden sollte, zumal sie nicht sehr angesehen w a r e n . 3 0 Unter Friedrich II.
erlebte die Universitätskameralistik keine Blüte, 3 1 trotz gewisser Anfänge
nun auch in Königsberg und Duisburg. Erst mit der Rezeption von Adam
Smith auch an den Universitäten Preußens, insbesondere durch Kraus in
Königsberg seit den 1790er Jahren, gewannen wirtschaftswissenschaftliche
Lehrelemente hier eine sichere Grundlage und einen gewissen meßbaren
Anteil unter den Studenten. Im Jahre 1804 studierten von den preußischen
Studenten knapp 5 Prozent Kameralia und Ökonomie. 3 2 Auch insofern
beginnt die Modernisierung der preußischen Hochschulen schon vor der
sogenannten Bildungsreform.
Universität bestand, wurde auch die 1795 ins Leben gerufene militärärztliche
Pepiniere kombiniert. 3 5
An zweiter Stelle seien hier die gewerblichen Lehrinstitute erwähnt. Schon
an der 1 6 9 6 / 9 9 begründeten Akademie der Künste sollte nach den ursprüng-
lichen Intentionen unter anderem unterrichtet werden, 3 6 und so war es
gewissermaßen folgerichtig, wenn die 1799 eingerichtete Bauakademie als
Annex der Kunstakademie begründet wurde. In ihr sollten Architekten,
Baumeister, Bauhandwerker und Feldmesser ausgebildet werden. Die Bau-
akademie bildete vor allem Baubeamte aus. David und Friedrich Gilly
waren an diesem Institut tätig. 3 7 Seit 1790 gab es in mehreren Provinzstädten
zudem Provinzial-Kunstschulen für „Professionisten", die zum Teil auf
private Gründungen zurückgingen. Schließlich wurde 1770 in Berlin ein
insbesondere im Bergfach ausbildendes Institut geschaffen, das 1774 unter
dem Minister Heynitz zur Bergakademie erhoben wurde. 3 8 Hinzu traten
bald private Institute unterschiedlichen Ranges, in denen gewerblich-tech-
nischer Unterricht erteilt wurde.
Wird die Akademie der Wissenschaften in das vielfältige Bild der Berliner
Anstalten um 1800 einbezogen, so wird deutlich, daß die Berliner Univer-
sitätsgründung der Reformzeit also an einem O r t günstiger institutioneller
Voraussetzungen erfolgte.
35 Otto von SCHJERNING, Die alte „Pepiniere", was sie war und was aus ihr
geworden ist, in: Erforschtes und Erlebtes aus dem alten Berlin. Festschrift zum
50jährigen Jubiläum des Vereins für die Geschichte Berlins ( = SchrVGB, H. 50),
Berlin 1917, S. 4 9 - 5 6 , hier S. 50, 53.
36 Vgl. Oskar SIMON, Die Fachbildung des Preussischen Gewerbe- und Handels-
standes im 18. und 19. Jahrhundert nach den Bestimmungen des Gewerberechts
und der Verfassung des gewerblichen Unterrichtswesens, Berlin 1902, bes.
S. 643 - 647, und Helmut BÖRSCH-SUPAN, Die Kunst in Brandenburg-Preußen.
Ihre Geschichte von der Renaissance bis zum Biedermeier dargestellt am Kunst-
besitz der Berliner Schlösser, Berlin 1980, S. 55.
37 A. a. O., S. 196; Eduard DOBBERT, Bauakademie, Gewerbeakademie und Tech-
nische Hochschule bis 1884. Historische Skizze in: Chronik der Königlichen
Technischen Hochschule zu Berlin 1 7 9 9 - 1 8 9 9 , Berlin 1899, S. 1 1 - 1 1 4 , hier
S. 20 — 24, 29 — 32; Provinzial-Kunstschulen: O. SIMON, Die Fachbildung des
Preussischen Gewerbe- und Handelsstandes... (1902) [s.o. Anm. 36], S. 669 —
677.
38 Mit dieser Datierung: Hugo STRUNZ, Von der Bergakademie zur Technischen
Universität Berlin. 1770 bis 1970, [Berlin 1970], S. 11 ff.; W. TREUE, Wirtschafts-
und Technikgeschichte Preußens... (1984) [s.o. Anm. 30], S. 136, 195, 214; vgl.
P[aul] KRUSCH, Die Geschichte der Bergakademie zu Berlin von ihrer Gründung
im Jahre 1770 bis zur Neueinrichtung im Jahre 1860, Berlin 1904, bes. S. XIV.
652 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
das engste mit regionalen Kräften verbunden. Im Jahre 1750 wurden dann
die Provinzialkonsistorien unter das neu geschaffene Oberkonsistorium
gestellt, das zugleich für die Kurmark in specie zu sorgen hatte — die
Schulsachen wurden neben den übrigen Aufgaben in der Instruktion beson-
ders erwähnt 4 - , doch behielten Schlesien und Geldern ihre Sonderstellung
auch in der geistlichen Verfassung. Die Konsistorien waren für die Masse
der lutherischen Schulen federführend; für die deutsch-reformierten, fran-
zösisch-reformierten und die Militärschulen existierten besondere konsisto-
riale Kollegien.
Die Forschung hat nun nicht erst in den letzten Jahrzehnten jener schein-
bar modernen „Behörde" eine große Bedeutung zugeschrieben, die als ein
Bruch mit den institutionellen Traditionen staatlichen Schulregiments an-
gesehen wird. Angesprochen ist das 1787 unter dem seit 1771 amtierenden
Minister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz eingerichtete Oberschulkolle-
gium, mit dem, wäre der ursprüngliche Plan ausgeführt worden, erstmals
ein von den geistlichen Materien getrenntes, spezialisiertes Fachkollegium
für Schul- und Universitätsangelegenheiten vorhanden gewesen wäre. 5 Doch
ist die Geschichte dieses Oberschulkollegiums die Geschichte seiner fortlau-
fenden Demontage. Abgesehen von bald einsetzenden Kompetenzbegren-
zungen dominierten die Theologen im Kollegium von Anfang an. Eine
zunehmende und schließlich fast vollendete Personalkongruenz mit dem
Oberkonsistorium ist nachgewiesen, und schließlich wurden auch die Prä-
sidien identisch. Eine förmliche Vereinigung beider Kollegien, also die
Wiederaufhebung des Oberschulkollegiums, unterblieb allein aus techni-
schen Gründen. 6 Auf der Provinzebene sind entgegen anfänglichen Plänen
7 Otto HINTZE, Preußens Entwicklung zum Rechtsstaat [1920], in: Ders., Regierung
und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialge-
schichte Preußens, hg. von Gerhard Oestreich ( = Ders., Gesammelte Abhand-
lungen, Bd. 3), Göttingen 2 1967, S. 9 7 - 1 6 3 , hier S. 141 ff., 149; Ders., Preußische
Reformbestrebungen vor 1806 [1896], in: A . a . O . , S. 5 0 4 - 5 2 9 , hier S. 523ff.
8 Detaillierter: Wolfgang NEUGEBAUER, Bemerkungen zum preußischen Schuledikt
von 1717, in: J G M O D , Bd. 31 (1982), S. 1 5 5 - 1 7 6 , b e s . S. 1 5 7 - 1 6 3 , 1 7 3 ff.;
Druck: C. O. MYLIUS (Hg.), Corpus Constitutionum... (1737-1751) [12],
B d . 1 / 1 , B e r l i n - H a l l e [ 1 7 3 7 ] , N r . 9 7 , Sp. 5 2 7 - 5 3 0 .
9 Druck: Novum Corpus Constitutionum... ( 1 7 5 3 - 1 8 2 2 ) [13], Bd. 3, Berlin 1766,
Nr. 53 zu 1763, Sp. 2 6 5 - 2 8 2 ; Lit.: F. VOLLMER, Die preußische Volksschulpoli-
tik... (1918) [s.o. Anm. 4], S. 26 f., 32, 4 8 - 6 0 , 73 u. ö.; immer noch wichtig:
A. HEUBAUM, Geschichte des deutschen Bildungswesens... (1905) [30], S. 3 2 0 -
336, bes. S. 325; in Teilen der neueren Lit. groteske Fehlurteile über die angeblich
durch das Landschulreglement verstärkte Staatlichkeit des Schulwesens: Hartmut
TITZE, Die Politisierung der Erziehung. Untersuchungen über die soziale und
politische Funktion der Erziehung von der Aufklärung bis zum Hochkapitalismus,
Frankfurt/M. 1973, S. 55; Helmut KÖNIG, Zur Geschichte der Nationalerziehung
in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ( = MGPaed, Bd. 1), Berlin
1960, S. 277.
III. Reformabsolutismus und Schulwesen 655
10 Die berühmte KO vom 5. Sept. 1779 gedruckt ζ. B. bei Gustav Berthold VOLZ
(Hg.), Die Werke Friedrichs des Großen. In deutscher Übersetzung, Bd. 8, Berlin
1913, S. 3 1 3 - 3 1 6 , bes. S. 3 1 5 f . ; vgl. Κ. E. JEISMANN, Friedrich der Große...
(1987) [88], S. 94, S. 100.
11 Anton Friederich BÜSCHING, Character Friedrichs des zweyten, Königs von Preu-
ßen, Halle 1788, S. 83 (1788).
12 K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium... (1974) [s.o. Anm. 5], S. 7 5 - 8 9 ,
bes. S. 7 9 ff.; Hans-Georg HERRLITZ, Studium als Standesprivileg. Die Entstehung
des Maturitätsproblems im 18. Jahrhundert. Lehrplan- und gesellschaftsge-
schichtliche Untersuchungen, Frankfurt/M. 1973, S. 8 7 - 9 1 ; Paul SCHWARTZ, Der
erste Kulturkampf in Preußen um Kirche und Schule (1788 - 1 7 9 8 ) ( = MGPäd,
Bd. 58), Berlin 1925, S. 5 4 - 5 6 ; vgl. Anm. 5.
13 S. o. § 2, I, bei Anm. 24.
14 S. die detaillierte Darstellung: C. RETHWISCH, Der Staatsminister Freiherr v.
Zedlitz... (1886) [s.o. Anm. 5], S. 1 4 3 - 1 6 0 , 166.
656 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
sich dessen auch sehr wohl bewußt. Gegen die bestimmende Macht der
lokalen Kräfte und Gewohnheiten konnten einmal erscheinende Visitations-
kommissionen wenig, ja nichts ausrichten. 20
Die Instrumente unterhalb der Kollegien in Berlin sowie in den Provin-
zialhauptstädten stammten, wie die Konsistorien auch, aus dem
16. Jahrhundert. Die nach der Reformation eingesetzten geistlichen Inspek-
toren, Oberprediger, Erzpriester, oder wie die Benennung auch jeweils
lautete, hatten schon damals die Schulen zu betreuen, wie auch die ihnen
unterstellten Ortspfarrer, die die Ortsschulaufsicht führten. 21 Dies waren
die Institute, die unter vielfach veränderten Bedingungen immer neue Auf-
gaben unter anderem im Schulbereich wahrnehmen sollten und unter den
wachsenden Erwartungen und Forderungen des „pädagogischen Jahrhun-
derts" notwendigerweise zum Objekt der Kritik werden mußten.
Moderne „Verwaltung" war von den traditionsbestimmten Organen des
landesherrlichen Schulregiments nicht zu leisten. Die lokalen Schulherren
blieben dominant. Dem Oberschulkollegium war noch in seiner Instruktion
vom Jahre 1787 ausdrücklich anbefohlen worden, die Rechte des Adels, der
Magistrate und der Schul-Patronatsherren überhaupt nicht im geringsten
zu schmälern. 22 Wiederum ist mit dem Patronatsrecht ein wesentliches
Strukturelement der Schulwirklichkeit von langer Dauer angesprochen -
in der Kurmark hatte der Landtagsrezeß von 1653 erneut die althergebrach-
ten Patronatsrechte bestätigt. 23 Herr der Dorfschule war der Dorfherr, und
das heißt: auf adligem Land in der Regel der Gutsherr, und auf der Domäne
war es der König. Der Patron bestimmte insbesondere, wer Schulmeister
wurde, 24 doch ging die patronatsherrliche Position gegenüber der Schule
wesentlich weiter. Er war mit seinen jurisdiktionellen und polizeilichen
Mitteln lokal überstark, und vor allem war der Gutsherr nah oder konnte
es jederzeit sein, die Berliner oder die Provinzialkollegien waren fern und
blieben wirkungsschwach. Auf den Domänen nahmen die Pächter eine den
18. Jahrhunderts keinen Zweifel über die Statik der Zustände sowie darüber
aufkommen, daß sich die katholischen Schulen (auch die Gymnasien!) dem
staatlichen Zugriff zu entziehen wußten. 33
Erst recht mußte die strukturelle Wirksamkeit-der preußischen Verwal-
tung in den seit 1793 annektierten polnischen Gebieten hinsichtlich des
zudem nicht prioritären Schulwesens nur marginal bleiben, und so waren
(s. o. Tabelle 1) um 1805 in Neuostpreußen nur auf rund 8 Prozent, in
Südpreußen immerhin auf 17,5 Prozent der Dörfer Schulmeister beziehungs-
weise unterrichtende Küster vorhanden. Angesichts der geringen meßbaren
Folgen einer im übrigen wiederum mit überdurchschnittlichem Finanzein-
satz, hier insbesondere aus früherem Jesuitenvermögen, betriebenen Aus-
baukonjunktur städtischer und ländlicher schulischer Einrichtungen34 ist es
richtiger, von einer Integrationsintention denn von einer Integrationsfunk-
tion, die das Bildungswesen erfüllt hätte, zu sprechen.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, insbesondere aber in dessen letztem
Drittel treten auffällige Reformströmungen in Theorie und Praxis entgegen,
die nicht auf staatliche Veranlassung beziehungsweise Förderung, sondern
auf ein wachsendes Bildungsinteresse und -bedürfnis zurückzuführen sind.
Auch in Preußen fand das Erziehungsdenken des Philanthropinismus pro-
minente Vertreter, so zum Beispiel in dem brandenburgischen Gutsherrn
Friedrich Eberhard von Rochow, 1 der in seinen Schriften und in seiner
Musterschule in Reckahn über Preußen hinaus Aufsehen erregte. Rochow
33 A. a. O . , S. 148 ff.; Fritz KEMPFF, Beiträge zur Schulgeschichte des Posener Landes,
Breslau 1912, S. 9 3 ff. (betr. B r o m b e r g e r Gebiet).
34 O t t o HEIKE, Die Provinz Südpreußen. Preußische Aufbau- und Verwaltungsarbeit
im W a r t h e und Weichselgebiet 1 7 9 3 - 1 8 0 6 ( = W B t r G L k O M e , N r . 12), M a r b u r g
1953, S. 54, 5 9 ff., der S. 5 7 f. d a r a u f hinweist, daß in Berlin gewichtige Stimmen
für die Pflege der polnischen Sprache eintraten; s. auch O t t o KONOPKA, Die
Schulpolitik Südpreussens. Auf Grund archivalischer Quellen ( = P ä d M a g ,
H . 6 1 4 / 1 ) , Langensalza 1 9 1 5 ; Paul SCHWARTZ, Die preußische Schulpolitik in den
Provinzen Südpreußen und Neuostpreußen ( 1 7 9 5 - 1 8 0 6 ) , in: Z G E , Bd. 1 (1911),
S. 133 - 195, hier S. 1 8 4 , 1 9 5 ; J.-P. RAVENS, Staat und katholische K i r c h e . . . (1963)
[ s . o . A n m . 3 1 ] , S. 1 3 8 f . , 1 4 1 , 1 4 8 , 157f.
1 Friedrich Eberhard von ROCHOW, Sämtliche pädagogische Schriften, hg. von Fritz
Jonas und Friedrich Wienecke, 4 Bde., Berlin 1 9 0 7 - 1 9 1 0 , darin: Bd. 3, Berlin
1909, S. 7 — 55: Geschichte meiner Schulen [ 1 7 9 5 ] ; für biographische Details bleibt
wichtig: Ernst SCHÄFER, Friedrich E b e r h a r d von R o c h o w . Ein Bild seines Lebens
und Wirkens, Gütersloh 1 9 0 6 ; zuletzt zu R o c h o w : G e r h a r d SPRENGER, Weltbürger
oder Patriot? Vor 2 5 0 J a h r e n wurde Friedrich E b e r h a r d von R o c h o w geboren,
i n : J b b L G , B d . 3 5 ( 1 9 8 4 ) , S. 9 2 - 1 1 6 , b e s . S. 1 0 0 f f . , 1 0 5 - 1 1 3 (mit Lit.).
IV. Schulreformen vor der Staatsreform 661
ist freilich nur der prominenteste Vertreter einer stillen, wenig beachteten
Schulreformströmung auf adligem Grundbesitz,2 die sicherlich noch nicht
die Schulwirklichkeit insgesamt revolutionierte, aber doch als eigenwüch-
sige, wenn auch subdominante Bewegung unter anderem in den mittleren
und östlichen Provinzen für die Zeit signifikant ist. Für die Grafschaft Mark
ist in diesem Zusammenhang die „Gesellschaft der Freunde der Lehrer und
Kinder" zu erwähnen. 3 In den Städten sind ebenfalls zahlreiche lokal in-
itiierte Schulreformen 4 nachgewiesen worden, die, ohne das Gesamtbild
schon zu prägen, doch eine neue Entwicklungsdynamik bezeugen, die in
Einzelfällen auf einen Bewußtseinswandel im Bürgertum des ausgehenden
18. Jahrhunderts nachweisbar bezogen werden kann. 5
Bekannter als diese zum großen Teil anonymen Vorgänge ist die Entste-
hung der sich von den zeitüblichen (lateinischen) Stadtschulen markant
abhebenden ersten preußischen Realschulen in der Mitte des 18. Jahrhun-
derts. Zwar war der erste Versuch mit einer Realschule mit mathematisch-
mechanisch-ökonomischem Schwerpunkt in Halle, doch unabhängig von
Francke, schon seit 1708 für einige Jahre und dann kurzzeitig seit 1738
durch den Prediger Christoph Semler unternommen worden. 6 Die erste
Realschule, die sich halten konnte, wurde aber 1747 in Berlin von dem
schon erwähnten Pfarrer Johann Julius Hecker begründet, und zwar als
Unterrichtsstätte insbesondere für künftige Handwerker und Kaufleute, die
hier Kenntnisse erwerben konnten, welche im späteren Erwerbsleben direkt
rium selectum", beide für Studenten (Theologen), den Anfang. 1 5 Seit den
1730er Jahren folgten auch kleine Lehrstätten für die systematische Ausbil-
dung von Elementar- und Dorflehrern, so kurzzeitig in Stettin seit 1732,
seit 1735 (bis 1810) in Kloster Berge bei Magdeburg 1 6 und wiederum durch
Hecker in Berlin seit 1748, der, da der König zu unterbreiteten Vorschlägen
nicht entschied, das Seminar an seiner Berliner Dreifaltigkeitskirche „als
ein Privatinstitut" begründete. 1 7 Obwohl seine Abgänger auf königlichen
Patronatsstellen bevorzugt piaziert werden sollten, war auch nach der
Übernahme als öffentliches Institut (1753) die Finanzierung bis zum Ende
des Jahrhunderts unsicher, als es bei Frequenzen von 60 — 80 Zöglingen als
größte preußische Einrichtung dieser Art zu wirken suchte.
Seit den 1770er Jahren setzen in einer zweiten Welle Gründungen in
weiteren Regionen Preußens durch verschiedenste Träger und aus durchaus
nicht identischen Motiven ein. Dazu gehören — um Beispiele zu geben —
die Stiftung eines Seminars im ostpreußischen Klein-Dexen durch einen
Privatmann (seit 1774/VerfalI seit 1793) sowie die etwa gleichzeitigen Se-
minargründungen in Minden durch einen Geistlichen beziehungsweise in
Halberstadt durch das dortige Domkapitel, in dem Aufklärer wie zum
Beispiel von Rochow von Einfluß waren. Erst das 1787 eingerichtete Zül-
lichauer Seminar geht auf staatliche Initiative zurück, erst im letzten Jahr-
zehnt des 18. Jahrhunderts — dritte Phase der älteren Seminarentwicklung
— zeigt sich ein neuartiges staatliches Engagement für diese Institute ins-
besondere in den seit 1793 angefallenen polnischen Teilungsprovinzen. 1 8
Schlesien verfügte schon seit den 1760er Jahren über ein für Preußen auch
später noch untypisch dichtes Netz insbesondere katholischer Lehrersemi-
nare, auch dies Resultat einer regional- und zeitspezifisch intensivierten
Sorge der Behörden für das niedere Schulwesen. Vollmer zählte für das Jahr
1768 in Schlesien neun katholische Seminare. 1 9
S c h l a b r e n d o r f f s v o m 3 0 . X . 1 7 6 5 : 11 S e m i n a r e , s. M a x LEHMANN ( H g . ) , P r e u ß e n
u n d d i e K a t h o l i s c h e K i r c h e seit 1 6 4 0 , B d . 4 , L e i p z i g 1 8 8 3 , S. 2 5 4 f.; vgl. auch
A l o i s M f a r i a ] KOSLER, D i e p r e u ß i s c h e V o l k s s c h u l p o l i t i k in O b e r s c h l e s i e n 1742-
1 8 4 8 ( = E s c h r S G , B d . 3 ) , B r e s l a u 1 9 2 9 ( N D [ = B t r G L k O s c h l , B d . 2], S i g m a r i n g e n
1 9 8 4 ) , S. 2 1 , 2 4 f., 6 7 ff., 1 0 5 ff.
20 So H a r a l d SCHOLTZ, F r i e d r i c h G e d i k e ( 1 7 5 4 - 1 8 0 3 ) . E i n W e g b e r e i t e r d e r p r e u -
ß i s c h e n R e f o r m d e s B i l d u n g s w e s e n s , in: J G M O D , B d . 1 3 / 1 4 ( 1 9 6 5 ) , S. 1 2 8 - 181,
hier S. 1 2 8 ( Z i t a t ) , S. 1 7 6 .
21 L [ e o p o l d ] H f e r m a n n ] FISCHER, D a s K ö n i g l i c h e P ä d a g o g i s c h e S e m i n a r in Berlin
1 7 8 7 - 1 8 8 7 . . . , in: Z G y m , 4 2 . J g . ( 1 8 8 8 ) , S. 1 - 4 2 , hier S. 2 - 5 ; nur ergänzend:
H . H . MANDEL, G e s c h i c h t e d e r G y m n a s i a l l e h r e r b i l d u n g . . . ( 1 9 8 9 ) [ 8 0 ] , S. 11 ff.
22 P a u l SCHWARTZ, F. G e d i k e s letzter B e r i c h t ü b e r sein P ä d a g o g i s c h e s S e m i n a r v o m
6 . D e z e m b e r 1 8 0 0 , in: Z G E , B d . 2 0 ( 1 9 3 0 ) , S. 1 4 4 - 1 5 1 , hier S. 1 4 9 ff.
23 M a n f r e d FUHRMANN, F r i e d r i c h A u g u s t W O L F . . . , in: D V j s , B d . 3 3 ( 1 9 5 9 ) , S. 1 6 3 -
2 3 6 , bes. S. 2 0 1 ff., 2 0 6 ; J [ o h a n n ] F r i e d r i c h ] J [ u l i u s ] ARNOLDT, Fr. A u g . W o l f in
s e i n e m V e r h ä l t n i s s e z u m S c h u l w e s e n u n d z u r P ä d a g o g i k , B d . 1, Braunschweig
1861, S. 9 4 - 9 9 ; Quellen: S. 2 4 6 - 2 5 4 ; M[anfred] FUHRMANN, Wolf,
F r i e d r i c h A u g u s t , in: K u r t G a l l i n g ( H g . ) , D i e R e l i g i o n in G e s c h i c h t e u n d G e g e n -
w a r t . H a n d w ö r t e r b u c h für T h e o l o g i e u n d R e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t , B d . 6 , T ü b i n g e n
3 1 9 6 2 ( N D T ü b i n g e n 1 9 8 6 ) , Sp. 1 8 0 0 f. ( L i t . ) ; zu F. A . W o l f jetzt A x e l HORSTMANN,
Die „Klassische Philologie" zwischen Humanismus und Historismus.
F r i e d r i c h A u g u s t W o l f u n d die B e g r ü n d u n g d e r m o d e r n e n A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t ,
in: B e r W G , B d . 1 ( 1 9 7 8 ) , S. 5 1 - 7 0 , bes. S. 5 7 .
666 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
In der älteren wie in der neueren Literatur findet die Auffassung bedeutende
Verfechter, nach der die mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verbun-
dene „Bildungsreform" geradezu konstitutive Bedeutung für die Entstehung
des modernen Bildungswesens erlangt habe. Dagegen betont eine neuere
Literaturgruppe die vor Humboldt einsetzende Bildungsreform1 und ins-
24 Eduard SPRANGER, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909,
S. 462 f., 470.
25 Karl-Ernst JEISMANN, „Nationalerziehung". Bemerkungen zum Verhältnis von
Politik und Pädagogik in der Zeit der preußischen Reform 1806 — 1815, in: GWU,
19. Jg. (1968), S. 2 0 1 - 2 1 8 , hier S. 2 0 6 f.; G e r h a r d ARNHARDT, Wilhelm von
Humboldt — neuhumanistischer Bildungstheoretiker und Schulpolitiker mit be-
achtlicher Fernwirkung, in: W Z Jena, 30. Jg. (1981), S. 6 0 3 - 6 1 2 , hier S. 605 f.;
Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, Frei-
burg/Br. 1929, S. 213 ff.
1 Zur - bislang eher impliziten - Periodisierungsdiskussion hinsichtlich der
Bildungsgeschichte: Karl-Ernst JEISMANN, Tendenzen zur Verbesserung des Schul-
wesens in der Grafschaft Mark 1798 —1848. Ein Beitrag zur Problematik der
preußischen Reform- und Restaurationszeit..., in: WF, Bd. 22 (1969/70), S. 7 8 -
97, hier S. 78 f.; Ders., Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft.
Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten,
1 7 8 7 - 1 8 1 7 ( = IndW, Bd. 15), Stuttgart 1974, S. 221, 223, 397; Helga ROMBERG,
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert 667
Seit dem Sommer 1808 wurde in der preußischen Verwaltung über Verbes-
serungen im Elementarschulwesen diskutiert, wobei schon in diesem Sta-
dium mit Süvern und Nicolovius Personen hervortraten, die in der Folgezeit
eng mit der preußischen Bildungsgeschichte verbunden waren. 4 Wilhelm
von Humboldt wurde im Februar 1809 zum Leiter der Sektion für Kultus
und öffentlichen Unterricht im neu errichteten Innenministerium berufen.
Es ist in der Literatur nachdrücklich darauf hingewiesen worden, daß
Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen Bildungsverfassung vom
Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg unter besonderer Berück-
sichtigung Preußens ( = StDokdBG, Bd. 11), Weinheim - Basel 1979, S. 6 f.; vgl.
auch Walther HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen ( = EdF, Bd. 65),
Darmstadt 1977, S. 188.
2 Vgl. die Studien von Menze, Hübner, Turner und McClelland [s. u. Anm. 7, 14,
48],
3 Vgl. Notker HAMMERSTEIN, Bildungsgeschichtliche Traditionszusammenhänge
zwischen Mittelalter und früher Neuzeit, in: Der Übergang zur Neuzeit und die
Wirkung von Traditionen... ( = V J J G d W , Nr. 32), Göttingen 1978, S. 3 2 - 5 4 ,
hier S. 53 f.
4 Gunnar THIELE, Die Organisation des Volksschul- und Seminarwesens in Preußen
1 8 0 9 - 1 8 1 9 . Mit besonderer Berücksichtigung der Wirksamkeit Ludwig Natorps
( = SAbhPäd, Bd. 1), Leipzig 1912, S. 18 ff.; Gerhard Ritter, Stein. Eine politische
Biographie, Bd. 1, Stuttgart - Berlin 1931, S. 458 f.
668 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
5 Siegfried A. KAEHLER, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur
Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, München — Berlin 1927, S. 2 1 2 —
219; Paul R[obinson] SWEET, Wilhelm von Humboldt. A Biography, Bd. 2,
Columbus 1980, S. 6 - 1 1 , 14.
6 Humboldt an Nicolovius, 26. II. 1811, in: Wilhelm RICHTER (Hg.), Wilhelm von
Humboldts politische Briefe, Bd. 1, Berlin — Leipzig 1935, S. 311; dazu noch Bruno
GEBHARDT, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann, Bd. 1, Stuttgart 1896, S. 126;
Eduard SPRANGER, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens
[1910], Tübingen 3 1 9 6 5 , S. 3 4 u. 5 2 .
7 Wilhelm von HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen ( = Ders.,
Werke in 5 Bänden, Bd. 4), Darmstadt 2 1969, S. 1 6 8 - 1 7 6 (Königsberger Schul-
plan), und der litauische Schulplan (27. I X . 1809), a. a. O., bes. S. 187 f., S. 191 f.,
ferner der Immediatbericht vom 1. XII. 1809, S. 2 1 9 ; dazu E. SPRANGER, Wilhelm
von H u m b o l d t . . . ( 3 1965) [s.o. Anm. 6], S. 1 3 4 - 1 3 9 , auch zum Folgenden; ein-
gehend zur Bürgerschule bei Humboldt: Clemens MENZE, Die Bildungsreform
Wilhelm von Humboldts ( = BprobG, Bd. 13), Hannover u.s.w. 1975, S. 227 f.
8 W. RICHTER (Hg.), Wilhelm von Humboldts politische Briefe... (1935) [s.o.
Anm. 6 ] , S . 1 3 3 .
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. J a h r h u n d e r t 669
sein mögen, wesentlich und zugleich, was ihnen als Bürgern eines Gemein-
wesens notwendig und nützlich ist." 1 3
Aus diesen schon aus der Betrachtung des neuhumanistischen Anliegens
vertrauten Grundmotiven wurde einerseits nach Vorschlägen von Nicolovius
im Jahre 1808, also vor Humboldt, dazu geschritten, einige „Eleven" zu
Pestalozzi nach Yverdon in die Schweiz zu entsenden, deren Zahl insgesamt
siebzehn betrug, darunter Pädagogen, die durch ihre spätere Wirksamkeit
an Seminaren Bedeutung erlangten. 14 Zum anderen wurde unter Humboldt
1809 nach älteren Vorschlägen in Königsberg ein „Normalinstitut" geschaf-
fen, das unter der Leitung des Pestalozzi-Schülers Karl August Zeller dessen
Methode verbreiten sollte. Allerdings erwies sich diese Personalauswahl als
ein Fehlgriff, so daß nach anfänglichen quantitativ bedeutsamen Erfolgen
dieses Projekt sehr bald als gescheitert gelten mußte. 1 5 Zeller wirkte aber
über die engere Umgebung Königsbergs hinaus; einzelne ihm zu verdan-
kende Institutsgründungen im östlichen Preußen hatten Bestand (insbeson-
dere: Karalene bei Insterburg). Gleichwohl blieb in dieser Zeit „der faktische
Zustand des Elementarschulwesens... besonders auf dem Lande von den
reformerischen Anstrengungen unberührt". 1 6
Zellers Konzept der ausschließlich auf praktische Unterrichtsübungen
angelegten „Normalinstitute" konnte in der Situation um 1810 als sinnvoll
angesehen werden, doch regte sich schon zu dieser Zeit gegen sie Wider-
spruch, und die weitere Entwicklung der Lehrerbildung folgte eher den
Vorschlägen des Regierungsrates Ludwig Natorp für Lehrerseminare, die
in der Folgezeit zum Ansatzpunkt einer Veränderung schulischer Grund-
strukturen wurden. 17 Insofern sind vor, unter und nach Humboldt Weichen
für die künftige Entwicklung des niederen Schulwesens gestellt worden.
13 Bericht vom 3 1 . 1 . 1809, noch vor Humboldts Amtsantritt, in: Johann Wilhelm
SÜVERN, Die Reform des Bildungswesens. Schriften zum Verhältnis von Pädagogik
und Politik, hg. von Hans-Georg Große-Jäger u. Karl-Ernst Jeismann, Paderborn
1981, S. 5 4 (Hervorhebung vom Verfasser).
14 So nach Ulrich HÜBNER, Wilhelm von Humboldt und die Bildungspolitik. Eine
Untersuchung zum Humboldtbild als Prolegomena zu einer Theorie der histo-
rischen Pädagogik, Phil. Diss. München 1983, S. 199 f.; B. GEBHARDT, Die Ein-
führung der Pestalozzischen M e t h o d e . . . (1896) [s.o. Anm. 11], S. 16f., 3 0 f f . ,
58 f. u . ö .
15 A . a . O . , S. 16f., 5 9 - 8 0 ; E. SPRANGER, Wilhelm von Humboldt... ( 3 1965) [s.o.
Anm. 6], S. 149 f., 162 f.; C. MENZE, Die Bildungsreform Wilhelm von Hum-
boldts... (1975) [s.o. Anm. 7], S. 1 5 7 - 1 8 1 ; Wilhelm DILTHEY, Süvern, in: Ders.,
Gesammelte Schriften, Bd. 4, Leipzig — Berlin 2 1 9 2 5 , S. 4 5 1 - 5 0 6 , hier S. 4 6 5 ff.,
473.
16 So treffend C. MENZE, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts... (1975)
[s. o. Anm. 7], S. 197, ferner S. 229 ff.; schon deshalb irrig: P. R . SWEET, Wilhelm
von H u m b o l d t . . . (1985) [s.o. Anm. 5], S. 40.
17 Karl A. SCHLEUNES, Enlightenment, Reform, Reaction: T h e Schooling Revolution
in Prussia, in: C E H , Bd. 12 (1979), S. 3 1 5 - 3 4 2 , hier S. 3 2 6 - 3 3 0 ; Paul ESPEY,
Bernhard Christoph Ludwig N a t o r p als pädagogischer Schriftsteller (Phil. Diss.
Köln 1930), Essen 1930, S. 2 6 - 3 0 ; G. THIELE, Die Organisation des Volksschul-
und Seminar wesens... (1912) [s.o. Anm. 4], S. 94 — 102.
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert 671
Für die höheren städtischen Schulen wurden zwei unter Humboldt er-
arbeitete beziehungsweise angeregte Reglements bedeutsam. Mit dem „Edikt
wegen einzuführender allgemeiner Prüfung der Schulamtskandidaten. Vom
12ten Juli 1810", 1 8 das schon nicht mehr Humboldts Unterschrift tragen
konnte, wurde erstmals ein Examen pro facúltate docendi, nicht für eine
bestimmte Stelle, sondern als genereller Befähigungsnachweis geschaffen;
erfordert wurden — in dieser Reihenfolge — „philologische, historische
und mathematische" Kenntnisse. Lehrer an Elementar- und niederen Bür-
gerschulen wurden vom Examen freigestellt, doch wurde für die Gelehrten-
schullehrer die Entwicklung zu einem besonderen, von dem der Theologen
abgesonderten Stand irreversibel, die in Ansätzen seit F. A. Wolf im
18. Jahrhundert erkennbar ist. Im größeren Umfang konnte in den ersten
Jahren nach 1810 allerdings diese Prüfung zunächst nicht praktiziert werden;
schon der Lehrermangel stand gegen die rigorose Anwendung der strengen
Prüfung. Mithin blieb auch der — durchaus beabsichtigte — Eingriff (nicht:
Aufhebung) in die Stellenbesetzungsrechte der städtischen Patrone 19 zu-
nächst begrenzt, was sich seit den 1820er Jahren bei schärferer Verwal-
tungspraxis dann ändern sollte; auch in dieser Hinsicht sind nicht harte
Schritte, sondern längerfristige Prozesse des Wandels in Rechnung zu stellen.
Zunächst waren jedenfalls primär Schulen, die auf Universitäten vorberei-
teten, von den neuen Bestimmungen betroffen, für die im Jahre 1812 sodann
ein neues und hinsichtlich der Anforderungen präzises Abiturreglement
erging, 20 das aber auch weiterhin bei „Untüchtigkeit" den Universitätsbe-
such nicht ausschloß.
Zusammenfassung und Abschluß der Reformprojekte und Einzeledikte
sollte ein umfassend angelegter Schulplan primär für die höheren Schulen
werden, an dem seit 1810 gearbeitet wurde. Nach Humboldt war es der
Staatsrat Johann Wilhelm Süvern, der in einem Schulgesetz die Unterrichts-
anstalten von der Elementarschule bis zum Gymnasium in ein System zu
18 Druck: N o v u m Corpus Constitutionum... (1753 - 1822) [13], Bd. 12, Berlin 1822,
Nr. 121, Sp. 1 0 4 7 - 1 0 5 4 , bes. Sp. 1049 f.; vgl. zur Entstehung und Bedeutung bes.
K.-E. JEISMANN, Das preußische Gymnasium... (1974) [s.o. Anm. 1], S. 3 1 2 -
319; B. GEBHARDT, Wilhelm von H u m b o l d t . . . Bd. 1, (1896) [ s . o . Anm. 6],
S. 233 — 246; relativierend: Christoph FÜHR, Gelehrter Schulmann — Oberlehrer —
Studienrat. Z u m sozialen Aufstieg der Philologen, in: Werner Conze/Jürgen
Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. 1 (Bildungssystem und
Professionalisierung in internationalen Vergleichen) ( = IndW, Bd. 38), Stuttgart
1985, S. 4 1 7 - 4 5 7 , bes. S. 4 2 5 ff., 4 5 3 .
19 Siehe W. von HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen... ( 2 1969)
[s.o. A n m . 7], S. 125, 198, 2 4 1 - 2 4 4 ; 1809 schon Prüfungen zu Rektoratsstellen:
Q o n r a d ] VARRENTRAPP, Johannes Schulze und das höhere preußische Unter-
richtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, S. 251 f.
20 Druck (Auszug): L[udwig] WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen.
Historisch-statistische Darstellung... Bd. 1, Berlin 1864, S. 4 8 4 f f . ; Gerhardt PE-
TRAT, Reifenormen der öffentlichen Schulen Preußens. Eine historisch-systema-
tische Untersuchung (Phil. Diss. H a m b u r g 1961), H a m b u r g 1961, S. 93 ff., 99,
127 und Anhang Nr. 17 (S. 3 9 - 4 5 ) .
672 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
21 Erstdruck (der 2. Fassung): Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichts-
wesens in Preußen. Vom Jahre 1817 bis 1868. Actenstücke mit Erläuterungen aus
dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten,
Berlin 1869, S. 1 5 - 7 4 , bes. S. 14 ff., 21 ff. (zum Schicksal des Entwurfs: S. 8 8 -
97); zu den Fassungen s. die Ausgabe: J . W . SÜVERN, Die Reform des Bildungs-
wesens... (1981) [s.o. Anm. 13], S. 1 1 4 - 1 1 7 (mit Lit.); Gunnar THIELE (Hg.),
Siiverns Unterrichtsgesetzentwurf vom Jahre 1819. Mit einer Einleitung, Leipzig
1913, bes. S. X X V I f.; dazu noch G. THIELE, Die Organisation des Volksschul-
und Seminarwesens... (1912) [s.o. Anm. 4], S. 31 - 7 5 , 142, 184; C. MENZE, Die
Bildungsreform Wilhelm von Humboldts... (1975) [s.o. Anm. 7], S. 3 6 3 f .
22 Denkschrift von 1817, in: Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichts-
wesens... (1896) [s.o. Anm. 21], S. 8; ferner im Schulgesetzentwurf die §§ 91
(S. 7 0 - 7 4 ) ; dazu Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahr-
hundert, Bd. 2, Freiburg 1933, S. 3 4 4 ; anders H . ROMBERG, Staat und Höhere
Schule... (1979) [s.o. Anm. 3], S. 65.
23 W. von HUMBOLDT, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen... ( 2 1969) [s. o.
Anm. 7], S. 185; das Folgende: z . B . S. 33 (Immediatbericht vom 12. V. 1809)
sowie S. 47, 1 0 4 f . , 2 5 7 ; dazu z . B . W. RICHTER, Der Wandel des Bildungsgedan-
kens... (1971) [s.o. Anm. 9], S. 19.
24 M a n vergleiche die Positionen von S. A. KAEHLER, Wilhelm von Humboldt und
der Staat... (1927) [s.o. Anm. 5], bes. S. 2 2 7 f . und C. MENZE, Die Bildungsreform
Wilhelm von Humboldts... (1975) [ s . o . Anm. 7], S. 133ff.
V. Staatsreform und Bildungswesen im frühen 19. Jahrhundert 673
Zur Zeit Humboldts selbst drang diese Tendenz aber in der Schulwirk-
lichkeit noch nicht durch; eher ist - in dieser Perspektive — die Zuordnung
zum ediktenschwachen Schulregiment um 1800 sinnvoll als zur Bildungs-
verwaltung der vormärzlichen Jahrzehnte, mögen auch die seit 1809/10
formulierten Programme in die Zukunft weisen. Sogar der Königsberger
Schulplan konnte nicht durchgeführt werden, und die Regierung Gumbinnen
im preußisch-litauischen Distrikt wurde von Humboldt in der Verwaltungs-
praxis zum behutsamen Vorgehen ermahnt! 25 Selbst auf der gymnasialen
Ebene blieb es - wie im 18. Jahrhundert! - bei „spontanen Einzelrefor-
men" (Jeismann), 26 wo die lokalen Bedingungen dies zuließen. Ein flächen-
deckender, verwaltungsgesteuerter Strukturwandel mit einem auch deutlich
verstärkten staatlichen Finanzengagement ist erst für die Jahre nach 1815
nachzuweisen, 27 wobei die von dem Minister von Massow um 1800 pro-
jektierte Umwandlung kleinerer Lateinschulen in „Bürgerschulen" nun in
die Praxis umgesetzt wurde, und dies jetzt auch gegen den Widerstand der
betroffenen Städte; um 1820 war der Zugriff der (Provinzial-)Behörden
schon spürbar rigoroser als zur Zeit Humboldts, wobei freilich normale
Stadtschulen weniger Beachtung fanden und das Humboldtsche Konzept
nicht mehr unmittelbar als Vorbild wirkte.
Zu bedenken bleibt, daß auch in dieser Zeit nicht alle Zeichen, die auf
einen schulischen Wandel hinweisen, als Resultate staatlicher Reformtätig-
keit zu deuten sind. Waren vor 1806 auf dem platten Land Indizien für
grundlegende Schulverbesserungen gerade auf adligem Besitz erkennbar, so
lassen sich auch in der schweren Zeit um 1810 auf derartigen Herrschaften
Bemühungen der Prediger ausmachen, die zum Beispiel pädagogische Kurse
für die Schullehrer ihrer Umgebung abhielten und selbsttätig schlechtem
Personal Nachhilfen zuteil werden ließen, wobei zum Teil die Unterstützung
des adligen Patrons bezeugt ist. 28 Dem folgten in den nächsten Jahren dann
31 Helmut SCHELSKY, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen
Universität und ihrer Reformen ( = W W W , Bd. 20), Düsseldorf 2 1971, S. 21, 36 f.;
Ludwig PETRY, Die Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten Berlin,
Breslau und Bonn, in: O t t o Brunner u. a. (Hg.), Festschrift für Hermann Aubin
zum 80. Geburtstag, Bd. 2, Wiesbaden 1965, S. 6 8 7 - 7 0 9 , hier S. 6 9 1 ; vgl. noch
die Studie von Adolf STÖLZEL, Die Berliner Mittwochsgesellschaft über Aufhe-
bung oder Reform der Universitäten (1795), in: FBPG, Bd. 2 (1889), S. 2 0 1 - 2 2 2 .
32 Gerd HEINRICH, Frankfurt an der Oder, Universität, in: Gerhard Krause/Gerhard
Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 11, B e r l i n - N e w York 1983,
S. 3 3 5 - 3 4 2 , hier S. 341; Günter MÜHLPFORDT, Die Oder-Universität 1506 - 1 8 1 1 .
Eine deutsche Hochschule in der Geschichte Brandenburg-Preußens und der
europäischen Wissenschaft, in: G. H a a s e / J . Winkler (Hg.), Die Oder-Universität
Frankfurt... (1983) [64], S. 68.
33 Hans PRUTZ, Die Königliche Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. im
neunzehnten Jahrhundert, Königsberg 1894, S. 4 f., 7 - 15, 38 (Zitat), 43 f., 133 f.;
G. von SELLE, Geschichte der Albertus-Universität... ( 2 1956) [69], S. 2 3 2 , 2 3 5 f f .
34 Rudolf KÖPKE, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität
zu Berlin. Nebst Anhängen über die Geschichte der Institute und den Personal-
bestand, Berlin 1860, S. 1 9 - 2 5 , 32, 1 4 7 - 1 5 3 ; Μ . LENZ, Geschichte der König-
lichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910) [57], Bd. 1, S. 3 6 f f . ; zum Folgen-
den S. 138, 144.
35 Abdruck: R . KÖPKE, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Univer-
sität... (1860) [s.o. Anm. 34], S. 163 (Nr. 6), dazu S. 26ff., 3 8 - 4 9 und Ulrich
676 § 2 Schule und Universität in Absolutismus und Reformzeit
eingetreten, sie ist schon bei Humboldt selbst angelegt. Allerdings hat
Schuckmann seKr bewußt den Zug zur Staatlichkeit der Universitäten ver-
stärkt, so insbesondere in Abweichung von Humboldts Vorhaben, die
Berliner Gründung durch Zuordnung von Domänen gleichsam staatsfern
zu finanzieren. Der neue Leiter der Sektion stellte entschieden in Abrede,
daß es „ratsam sei, die höchsten wissenschaftlichen Centrai-Institute des
Staates nicht etwa bloss in ihrem freien wissenschaftlichen Streben und
Wirken, sondern auch mit ihrer Subsistenz und Dauer vom Oberhaupte des
Staates unabhängig zu machen, und sie von dieser Seite gegen das Bestehen
der jetzigen Verfassung, des Königs und Seiner Dynastie in den Zustand
der Gleichgültigkeit zu versetzen... Wie aber auch die Köpfe exaltirt sein
mögen, so behalten doch die Mägen immer ihre Rechte gegen sie... Wem
die Herrschaft über letztere bleibt, der wird immer auch mit ersteren fertig,
und wer die Befriedigung der letzteren an seine Wahl bindet, hat die beste
Sicherheit, dass die ersteren dafür arbeiten", so begründete Schuckmann
seinen erfolgreichen Antrag, die Humboldtschen Dotationspläne nicht zu
realisieren. 45
Wilhelm von Humboldt hat die von ihm beantragte Eröffnung der im
Prinz-Heinrichschen Palais untergebrachten Berliner Universität im Herbst
des Jahres 1810 nicht mehr im Amt der Kultussektion erlebt, wohl aber hat
er noch tatkräftig an der Berufung führender Wissenschaftler mitgewirkt,
so daß Namen wie die eines Fichte, Schleiermacher, Wolf, Böckh, Niebuhr
(als lesendes Akademiemitglied), Savigny, Eichhorn, Hufeland usw. mit der
jungen Berliner Universität verbunden werden können, 4 6 Gelehrte, die zu-
meist in ihrer Person Forschungsinnovation und Universitätslehre für ihr
Fach zu verknüpfen in der Lage waren.
Insofern waren in Berlin Voraussetzungen dafür geschaffen worden, daß
die Prinzipien von „Forschung und Lehre" sowie „Lehre durch Forschung"
in Anwendung kommen konnten, „ohne daß alle Berliner Kräfte von Anfang
an darauf hingearbeitet hätten", wie Peter Moraw zu Recht einschränkend
bemerkt hat; etwa in der Medizin unterschied sich Berlin noch lange nicht
vom zeitüblichen Durchschnittsniveau, es dominierte die naturphilosophi-
sche Spekulation. 47 Erst recht ist davor gewarnt worden, die Entwicklung
(1982) [s. o. Anm. 36], S. 32; Medizin: Herbert HERXHEIMER, Die Entwicklung
der medizinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin seit 1810,
in: Hans Leussink/Eduard Neumann/Georg Kotowski (Hg.), Studium Beroli-
nense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte
der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, S. 205 — 211, hier
S. 206; vgl. auch C. E. MCCLELLAND, State, Society and University in Germany...
(1980) [51], S. 121, 127.
48 S. a. a. O., S. 121; gegen die Überschätzung der Berliner Gründung: R. Stevens
TURNER, The Prussian Universities and the Concept of Research, in: IASL, Bd. 5
(1980), S. 68 — 93, hier S. 73; klassische, von Ernst Anrieh besorgte Textausgabe:
Die Idee der deutschen Universität. Die 5 Grundschriften aus der Zeit ihrer
Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus,
Darmstadt 1956.
49 Abdruck der KO vom 24. IV. 1811: Aus dem Leben der Universität Breslau,
[Breslau 1936] [Bearb.: Friedrich Andreae], S. 13 (die Stücke von 1807/8: S. Ι -
ό); zu Humboldt ζ. B. sein Bericht vom 19. V. 1809, in: W. v. HUMBOLDT, Schriften
zur Politik und zum Bildungswesen... ( 2 1969) [s.o. Anm. 7], S. 44; Ernst MÜSE-
BECK, Das Preußische Kultusministerium vor 100 Jahren, Berlin — Stuttgart 1918,
S. 147; Georg KAUFMANN, Geschichte der Universität Breslau 1811 — 1911 ( = Fest-
schrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 1),
Breslau 1911, S. 19 ff.; Ludwig PETRY, Geistesleben des Ostens im Spiegel der
Breslauer Universitätsgeschichte, in: Walther Hubatsch u. a., Deutsche Univer-
sitäten und Hochschulen im Osten... (1964) [49], S. 8 7 - 1 1 2 , hier S. 93; L. PETRY,
Die Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten... (1965) [s. o. Anm. 31],
S. 6 9 9 f.
50 U. MUHLACK, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealis-
mus... (1978) [s.o. Anm. 35], S. 326, und G. KAUFMANN, Geschichte der Univer-
sität Breslau... (1911) [s.o. Anm. 49], S. 25, 30.
51 F. von BEZOLD, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität...
(1920) [59], S. 1 7 - 3 0 , bes. S. 5 3 - 5 7 , 67f., 83, 85, 99ff., 279; jetzt Christian
RENGER, Die Gründung und Einrichtung der Universität Bonn und die Beru-
fungspolitik des Kultusministers Altenstein ( = AcBo, Bd. 7), Bonn 1982, S. 33,
680 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 2 0 . Jahrhundert
4 0 , 5 6 ff., 7 9 ff. und passim; Halle: Jfulius] JORDAN/O[tto] KERN, Die Universi-
täten Wittenberg und Halle vor und bei ihrer Vereinigung. Ein Beitrag zur
Jahrhundertfeier a m 21. Juni 1917, Halle a . S . 1917, S. 3 9 ff.
52 Vgl. o. Anm. 3 8 .
I. Verwaltungsstaat und Bildungswesen 681
prägt, so wird er auch erst in dieser Zeit sinnvoll. Freilich erscheint eine
weitere Differenzierung nützlich und erforderlich. Die Phase kulturstaatli-
cher Ordnungsverwaltung mit rudimentärem finanzstaatlichem Engagement
ist von dem Stadium daseinsvorsorgender Leistungsverwaltung mit starkem
Finanzeinsatz seit dem späten 19. Jahrhundert abzuheben,1 in dem die
einzelnen - zusammengeballt zu Menschenmassen auf engem Raum — auf
staatlich vorgehaltene Fürsorge angewiesen sind, zugleich aber gesellschaft-
liche Freiräume im Bildungsbereich minimiert werden. Indem die Verwal-
tung im Bildungswesen Daseinsvorsorge — mit zeitweisem Benutzungs-
zwang — betreibt und auch finanzierend in bis dahin unbekanntem Ausmaß
unterstützt, gewinnt der Staat Herrschaftspotenzen, die allerdings bei po-
litischen Systemwechseln in je verschiedener Richtung eingesetzt werden
können. Insofern kumuliert das Entwicklungsstadium des Kulturstaats in
seiner modernen Gestalt mit neuartigen Gefahren seiner Indienststellung
auch entgegen ursprünglichen Intentionen. Das preußische Beispiel zeigt
dies mit aller Deutlichkeit.
Die Entwicklung zur „Staatsallmacht" auch über die Schule (F. Schnabel),
zur „Staatsschule", zur öffentlichen Zwangsanstalt mit kommunaler oder
direkt staatlicher Bestimmtheit, setzt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts ein — „Schulpolitik" wurde „ein neues Jahrhundertphänomen", 2 und
seitdem ist der Kampf der Parteiungen und gesellschaftlichen Fraktionen
um Schule und Universität ein unverzichtbarer Teil des Ringens um den
Primat in der Politik — auch in der preußischen Geschichte.
archie" vom 16. Dezember 1808 wurde in dem nunmehr geschaffenen In-
nenministerium eine (3.) „Sektion für den Kultus und öffentlichen Unter-
richt" begründet, die unter anderem für die Akademien sowie „alle Lehr-
anstalten, Universitäten, Gymnasien, gelehrte, Elementar = , Bürger = , In-
dustrie = und Kunstschulen, ohne Unterschied der Religion" — neuartig
schon in dieser Zentralisierung — zuständig sein sollte. 3 Das Oberschul-
kollegium wurde aufgehoben und an seiner Stelle die Wissenschaftliche
Deputation für den öffentlichen Unterricht eingerichtet, die zunächst als
Examinationsbehörde fungieren sollte, aber darüber hinaus allgemeine Re-
formvorschläge zu unterbreiten hatte. An deren Spitze sollte erst der Phi-
lologe Friedrich August Wolf treten; 1810 stand ihr der Theologe Schleier-
macher vor. Im selben Jahr wurden analoge Deputationen in Königsberg
und Breslau geschaffen. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit lag neben der
Beratung eines allgemeinen Lehrplans aber eindeutig auf dem Gebiet des
Prüfungswesens, und so wurden sie 1816 aufgehoben und durch Prüfungs-
kommissionen bei den Provinzialkonsistorien ersetzt.4
Unterhalb der so gestalteten zentralen Regierungs- und Verwaltungsebene
für den Wissenschafts- und Bildungsbereich waren es die vorherigen, ab-
solutistischen Kammer-Kollegien für die innere und die Finanzverwaltung,
die 1808 als „Regierungen" auch die Schulsachen übernahmen.5 Bei allen
Veränderungen der Folgezeit blieb die gesamtstaatlich-uniforme Gestaltung
der Unterrichtsverwaltung auf der Provinzial- beziehungsweise Regierungs-
ebene als Charakteristikum erhalten. So wie in Berlin Oberschulkollegium
und Oberkonsistorium, Französisches Oberkonsistorium und deutsch-re-
formiertes Kirchenkollegium aufgehoben wurden, so sollte auch auf der
Ebene der Länderteile das kirchliche Territorialsystem mit seinen Regio-
nalismen und geistlichen Kollegien der rationaleren Reformverwaltung wei-
chen. Die 1815/17 neu geschaffenen Konsistorien — je eines pro Provinz
und unter dem Präsidium des jeweiligen Oberpräsidenten — waren staatlich
einheitliche Neuschöpfungen,6 nicht aber eine Restauration des altpreußi-
stände" gebildet werden sollten, denen außer dem Vorsitz führenden Patron
der Pfarrer und ferner noch mehrere Familienväter der Schulsozietät an-
gehören sollten. 9 Die Patronatsrechte blieben formell gewahrt, doch ist die
Tendenz zur Uniformität der Organisationsgestalt und zur Einengung durch
die Verwaltungspraxis, wie für höhere Schulen am Lehramtsexamen seit
1810 betrachtet, 10 in unscheinbaren Bestimmungen angelegt gewesen. Der
Zugriff der Behörden galt dabei vorrangig dem städtischen Bereich, auch
mochten bei der in den nächsten Jahrzehnten noch unverändert fortbeste-
henden (zumeist nebenamtlichen) geistlichen Schulaufsicht über die mittle-
ren und die niederen Schulen durch die seit 1806 Superintendenten genann-
ten Inspektoren, die über den Ortsgeistlichen standen, auf dem Lande die
Wirkungsgrenzen enger gezogen sein. 11 Hier behielten die Patronatsherren
das Berufungsrecht für die Lehrerstellen, und auch noch um 1900 galt als
„Grundsatz" in den meisten Provinzen, „daß, wenn ein zur Lehrerwahl
berechtigter Gutsherr bei Stellenerledigungen von seinem Rechte Gebrauch
machen will, es ihm überlassen ist, in welcher Weise er Bewerber um die
Stellen ermittelt. Die Schulvorstände und Schulunterhaltungspflichtigen
haben hierauf keine Einwirkung." 12 Schon die zunehmende Verstädterung
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwächte freilich die Bedeutung
der ländlichen Schulpatronatsverhältnisse für die Bildungsversorgung breiter
Volkskreise entscheidend ab.
Eine langsame Intensivierung der staatlichen Aufsicht über die ländlichen
Schulen ist gleichwohl auszumachen, zumal auch die unter den Regierungen
amtierenden Landräte in Schulangelegenheiten eingesetzt wurden13 —
14 ZB1UV, 1869, S. 1 9 7 - 2 0 0 .
15 H . J . A P E L / M . KLÖCKER, S c h u l w i r k l i c h k e i t . . . ( 1 9 8 6 ) [ 1 9 ] , S. 6 3 .
16 L. WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen... (1864) [s. o. Anm. 6], Bd. 1,
S. 9 ff.; H . ROMBERG, Staat und Höhere Schule... (1979) [s. o. Anm. 7], S. 393 -
396, 4 0 7 f., 4 1 1 ; Conrad RETHWISCH, Deutschlands höheres Schulwesen im
neunzehnten Jahrhundert. Geschichtlicher Überblick..., Berlin 1893, S. 26.
17 Heinrich BEGEMANN, Die Lehrer der Lateinischen Schule zu Neuruppin 1 4 7 7 -
1817. Beilage zum Jahresbericht des Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums zu Neu-
ruppin (Ostern 1914), Neuruppin 1914, S. 96, Anm. 1.
18 So hinsichtlich des Patronats: Hans-Dietrich LOOCK, Die preußische Union, der
Streit um die Kirchenverfassung 1808 —1817 und die Reaktion der brandenbur-
gischen Landpfarrer, in: Adolf M . Birke/Kurt Kluxen (Hg.), Kirche, Staat und
Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Ein deutsch-englischer Vergleich ( = PriASt,
Bd. 2), München 1984, S. 4 5 - 6 5 , hier S. 54.
686 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
und das höhere preußische Unterrichtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, passim,
bes. S. 3 1 - 3 7 , 218 ff., 350, 430, 517 (Anm.); E. MÜSEBECK, Das Preußische
Kultusministerium... (1918) [s.o. Anm. 3], S. 170ff., 177; F. PAULSEN, Geschichte
des gelehrten Unterrichts... ( 3 1921) [40], Bd. 2, S. 319ff., 362f.; nur ergänzend:
B.SCHNEIDER, Johannes Schulze... (1989) [102], bes. S. 2 6 7 - 3 0 1 ; P.MAST, in:
K.-E. Jeismann (Hg.), Bildung... (1989) [95], S. 1 2 8 - 1 4 3 , bes. S. 129ff.
23 C. VARRENTRAPP, Johannes Schulze... (1889) [s.o. Anm. 22], S. 3 9 6 - 3 9 9 , 401.
24 A . a . O . , S. 432 f., und Otto PÖGGELER (Hg.), Hegel in Berlin. Preußische Kul-
28 Abdruck: Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichtswesens... (1869) [9],
S. 9 7 f . ; zum Folgenden: C. BORNHAK, Das preussische Unterrichtswesen... (1889)
[s.o. Anm. 6], S. 131 f.
29 Vgl. dazu T. NIPPERDEY, Volksschule und Revolution im Vormärz... (1976) [s.o.
Anm. 21], S. 214; wenig weiterführend: F. BAUMGART, Zwischen Reform und
Revolution... (1990) [99], bes. S. 6 1 - 6 6 , S. 1 0 7 - 1 3 2 ; wichtig als Material:
O. HATTERMANN, Konservative und liberale Strömungen... (1938) [s. o. Anm. 19],
passim, bes. S. 30 ff., S. 40.
1 R. Steven TURNER, The Growth of Professorial Research in Prussia, 1818 - 1 8 4 8
- Causes and Context, in: HStPhS, Bd. 3 (1971), S. 1 3 7 - 1 8 2 , hier S. 143;
C[onrad] VARRENTRAPP, Johannes Schulze und das höhere preußische Unter-
richtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, S. 445 - 471, 548; Walther HUBATSCH,
Die Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen in der deutschen Geistesge-
schichte 1544 — 1944, in: Ders. u . a . , Deutsche Universitäten und Hochschulen...
(1964) [49], S. 9 - 3 1 , hier S. 17 f.; zum Folgenden M. LENZ, Geschichte der
Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... (1910) [57], Bd. 1, S. 610f.,
Bd. 2/1, S. 255 - 264, 277, 286 ff., Bd. 2/2, S. 68 f.; Barthold C. WITTE, Der preu-
ßische Tacitus. Aufstieg, Ruhm und Ende des Historikers Barthold Georg Niebuhr
1 7 7 6 - 1 8 3 1 , D ü s s e l d o r f 1 9 7 9 , S. 1 4 5 - 1 6 5 .
690 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
ten. 8 Der Zuwachs der für die Universitäten verausgabten Finanzmittel von
rund 100.000 Talern um 1805 auf etwa 450.000 Taler 1835 geht wesentlich
auf den steigenden Bedarf durch die zunehmende Zahl besonderer Institute
zurück, 9 wobei diese Ziffer für die Zeitgenossen eher die Mangellage
bezeugte und zudem die Einkünfte der Universitäten aus Liegenschaften in
diesen Daten enthalten sind. Trotz des Ausbaus der Instituts-Infrastruktur
betrug der von Staatseinnahmen für die Universitäten verausgabte Anteil
ein Hundertzweiundachtzigstel. Deutlicher stiegen dann die Universitätse-
tats seit 1840 an. 1 0
Seminare und Institute, das waren beileibe nicht ausschließlich naturwis-
senschaftliche oder medizinische Arbeitsstätten. Das theologische und das
philologische Seminar an der Hallenser Universität waren schon im
18. Jahrhundert entstanden. 11 In den 1820er Jahren existierten an allen
preußischen Universitäten philologische Seminare, auch dies Ausdruck für
die Professionalisierung der höheren Lehrer. In Berlin und Breslau entstan-
den die ersten dieser Institute schon 1812, 1 2 historische Seminare folgten,
so in Königsberg schon 1832. In Berlin mußte auf eine solche Einrichtung
trotz der besonderen Förderung der Universität noch bis 1885 gewartet
werden — Leopold (von) Ranke hielt sein berühmtes Seminar noch in seiner
Wohnung ab. 1 3 In den nächsten Jahrzehnten trat das forschungsorientierte
2. Abt., Berlin 1868, S. 27 ff., 32; Ders. (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen.
Historisch-statistische Darstellung, Bd. 1, Berlin 1864, S. 532 f., 537; Rudolf
KÖPKE, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.
Nebst Anhängen über die Geschichte der Institute und den Personalbestand,
Berlin 1860, S. 241 f.
13 L. WIESE, Verordnungen und Gesetze... (1868) [s.o. Anm. 12], 2. Abt., S. 3 0 f . ;
sich eine Überfüllungskrise auch für die Laufbahn im höheren Lehramt an,
die bis in die 1850er Jahre dauerte und der weitere Zyklen seit den 1880er
Jahren folgten.16 In den späten 1860er Jahren setzt dann wieder ein Anstieg
der Studentenzahlen ein, der nicht allein auf den Bevölkerungszuwachs
zurückgeführt werden kann, sondern auch in der Zunahme des relativen
Hochschulbesuchs (Studenten in Relation zur Einwohnerzahl) seinen Nie-
derschlag findet.17 Abbildung 1 18 verdeutlicht den Universitätsbesuch in
Preußen im Vergleich mit den deutschen Universitäten insgesamt für den
behandelten Zeitraum (siehe Abbildung 1 auf S. 695).
Erst am Ende dieser Zeit, erst seit 1867, überflügelte an den preußischen
Universitäten die philosophische Fakultät, im Aufstieg seit dem zweiten
Jahrzehnt, mit 35 Prozent der Studenten (einschließlich der Naturwissen-
schaftler) die der Juristen, die ihrerseits seit den vormärzlichen Zeiten die
Stätte des „Brot-Studiums" mit dem Ziel der Beamtenlaufbahn im Zeichen
des sich verfestigenden Juristenmonopols wurde. Die Theologie trat in
quantitativer Hinsicht hinter der Medizin zurück, und das Kameralstudium
spielte erst mit dem Aufstieg der modernen Wirtschaftswissenschaften nach
der Reichsgründung wieder eine Rolle im Universitätsbetrieb.19
Insofern war nach einem halben Jahrhundert der philosophischen Fa-
kultät in quantitativer Hinsicht eine Bedeutung zugewachsen, wie sie in
Entwürfen um 1810 der Philosophie an der Universität überhaupt zugedacht
worden war. Freilich war gerade diese Fakultät in besonderem Maße von
der einsetzenden Spezialisierung gezeichnet. Was nach den ersten Jahrzehn-
ten der Universitätsentwicklung nach Humboldt als sozialgeschichtliches
Resultat schon Zeitgenossen angesichts der Quantitäten erkennbar wurde,
das war der Sozialtyp des Akademikers, auch außerhalb der bisher klassi-
schen Berufsstudien. Die Universität wirkte dabei als „elitäre Institution"
(Jarausch); in Berlin machte der Anteil von Studenten aus Elternhäusern
von Besitz und höherer Bildung in den Jahrzehnten nach 1810 über
ABBILDUNG 1
Frequenz an deutschen und preußischen Universitäten
Nach der Zeit der preußischen Reformen begann die preußische Kultusver-
waltung das höhere Schulwesen in den preußischen Städten zu ordnen und
seine Effizienz zu steigern, indem die Vielfalt verschiedener städtischer
Schuleinrichtungen in Anwendung und Verschärfung der seit 1810/12 gel-
tenden Normen auf bestimmte Schultypen reduziert und diese zueinander
in Beziehung gesetzt wurden. Erst im 19. Jahrhundert wurde aus Reform-
projekten Verwaltungshandeln, aus einem von lokalen Bedingungen und
Kräften getragenen Schulwesen ein „Schulsystem".22 Lehrpläne, die Zuord-
nung von geforderten Schulabschlüssen zu verrechtlichten Laufbahnen in-
und außerhalb der Staatsverwaltung, Prüfungsvorschriften und zunehmend
durchgreifender Vollzug begannen dem (höheren) Schulwesen eine neuartige
Stellung im Staat zuzuschreiben. Zugleich wurde damit auf die (in
den Jahrhunderten zuvor landesherrlich unberührte) Substruktur privater
und zum Teil organisatorisch wenig verfestigter Bildungsformen ein bis
dahin unbekannter Konformitätsdruck mit Reduktionseffekt ausgeübt.
Wiederum ist damit eine Entwicklung angesprochen, die sich über Jahr-
zehnte erstreckte, und die nicht an einzelnen (Reform-)Daten festgemacht
werden kann. Nachdem der Süvernsche Gymnasiallehrplan nicht offiziell
in Kraft gesetzt worden war und nur halbamtliche Bedeutung erlangte,
23 H. Helga ROMBERG, Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen Bil-
dungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
unter besonderer Berücksichtigung Preußens ( = StDokdBG, Bd. 11), Weinheim —
Basel 1979, S. 200 ff., 213 f., und F. PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unter-
richts... ( 3 1921) [40], Bd. 2, S. 347ff., bes. S. 349; M. KRAUL, Das deutsche
Gymnasium... (1984) [34], S. 55f., Peter LUNDGREEN, Zur Konstituierung des
„Bildungsbürgertums": Berufs- und Bildungsauslese der Akademiker in Preußen,
in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert,
T. 1 (Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen)
( = IndW, Bd. 38), Stuttgart 1985, S. 7 9 - 1 0 8 , hier S. 89; Auszug (1834): G.
PETRAT, Reifenormen der öffentlichen Schulen Preußens, Phil. Diss. Hamburg
1961, Anhang, Nr. 18, S. 4 6 - 5 3 , bes. S. 50.
24 Druck: L[udwig] WIESE, Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in
Preußen, 3. Ausg., bearb. und fortgeführt von Otto Kübler, 1. Abt., Berlin 1886,
S. 5 3 - 6 5 ; dazu C. VARRENTRAPP, Johannes Schulze... (1889) [s.o. Anm. 1],
S. 4 2 1 - 4 2 8 ; H. ROMBERG, Staat und Höhere Schule... (1979) [s.o. Anm. 23],
S. 209f., 2 1 3 - 2 1 7 (auch zum Folgenden); Karl-Ernst JEISMANN, Gymnasium,
Staat und Gesellschaft in Preußen [1970], in: Ders., Geschichte als Horizont der
Gegenwart... (1985) [32], S. 1 4 5 - 1 5 8 , S. 3 3 4 - 3 3 7 , hier S. 335 (Anm. 13); H . E .
BRUNKHORST, Die Einbeziehung der preußischen Schule... (1956) [26], S. 17.
25 Die Verfügungen von 1856 und 1882 in: L[udwig] WIESE, Verordnungen und
G e s e t z e . . . ( 1 8 8 6 ) [ s . o . A n m . 2 4 ] , S. 6 6 - 7 0 , 110-144.
698 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
schritt nach 1810, nach der Einführung des Examens pro facúltate docendi,26
auch die staatlich geförderte Herausbildung des höheren Lehrerstandes fort.
Bald nach 1815 wurde die Schulamtskandidatenprüfung unabdingbar für
die Einstellung im höheren Schuldienst, die Prüfung wurde rigoros durch-
geführt und dies auch bei dem anfangs herrschenden Mangel an geeignetem
Lehrpersonal.27 1826 wurde (aus pädagogischen und politischen Motiven)
ein Probejahr für Schulamtskandidaten eingeführt, das am Gymnasium oder
einer höheren Bürgerschule abzulegen war, und schließlich folgte 1831 ein
neues Prüfungsreglement für Schulamtskandidaten mit genaueren Bestim-
mungen über Examensleistungen und Prüfungsgang. Die Anforderungen
waren hoch wie auch das Lehrniveau an den Gymnasien überhaupt, und
daran sollte sich schon aus Gründen der Überfüllungsprobleme in akade-
mischen Berufen nichts ändern, wie denn die neuen Bestimmungen der
1830er Jahre auch als Reflex der Kultusverwaltung auf das Überangebot an
Universitätsabsolventen angesehen worden sind. 28
Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß trotz des Bevölkerungswachs-
tums in den Jahren 1832 bis 1852 in Preußen bei sinkenden Abiturienten-
zahlen nur sieben neue Vollgymnasien gegründet worden sind.29 Je genauer
Lehrpläne und Prüfungsordnungen aufgestellt und von den stets präsenten
Provinzialschulkollegien exekutiert wurden, desto schärfer wurden die nun
allein zu Abgangsprüfungen auf Universitäten berechtigten Gymnasien von
anderen, auch höheren Stadtschulen abgegrenzt. Gab es am Ende des
18. Jahrhunderts in Ostpreußen 60 Lateinschulen, so waren es in dieser
Region 1818 noch 12 Gymnasien. In ganz Preußen waren es in der Mitte
des 18. Jahrhunderts, wie gezeigt, rund 400 Lateinschulen, im sehr viel
größeren Preußen des Jahres 1818 gab es 91 Gymnasien (1828 nach hoch-
greifender Zählung 125, davon 86 evangelische und 39 katholische Gym-
nasien beziehungsweise progymnasiale Schulen). 30
Auch in den Jahrzehnten nach Humboldt und Siivern blieb das Gymna-
sium aber insofern ein polyfunktionales Gebilde, als die Unterklassen von
der großen Zahl der Frühabgänger praktisch als Bürgerschulen benutzt
wurden. 1831—41 besuchte nur ein Fünftel der Gymnasialabgänger Uni-
versitäten.31 Aber waren diese Anstalten nicht in den oberen, eigentlich
gymnasialen Klassen Standesschulen? Zunächst ist unstrittig, daß schon die
Durchsetzung des Bildungsprinzips und des Zwanges zur Ablegung niveau-
voller Prüfungen dem tradierten Prinzip ständischer Funktionszuschreibung
grundsätzlich widersprach. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde
auch der „Adel ins Examen" gezwungen (K.-E. Jeismann). 32 Trotz deutlicher
Tendenzen zu stärkerer sozialer Selektivität auch in den preußischen West-
provinzen33 ist gerade am Beispiel ausgewählter Gymnasien des Rheinlands
und der Provinz Westfalen für die Mitte der 1820er Jahre bis 1848 darauf
hingewiesen worden, daß aus Oberschicht (2 Prozent) und oberer Mittel-
schicht (17 Prozent) zusammen 19 Prozent der Schüler stammten und aus
der „mittleren Mittelschicht" 36 Prozent. Aber für die untere Mittelschicht
konnte ein Anteil von 42 Prozent, für die eigentliche „Unterschicht" aller-
dings nur 3 Prozent der Schüler festgestellt werden. Letztere Schichten, in
der Gesamtbevölkerung mit 90 Prozent vertreten, sind insofern mit
45 Prozent der Gymnasiasten unterrepräsentiert, doch wird zugleich ange-
zeigt, daß nicht vom Gymnasium als einer Eliteschule etwa im Sinne der
primären Selbstergänzung für die Akademikerschicht und das Besitzbürger-
tum gesprochen werden kann. Die Zahlen deuten vielmehr auf eine erstaun-
liche soziale Offenheit des Gymnasiums im Vormärz hin, auch Bauernkinder
und solche von Handwerkern waren vertreten, und der Befund wird —
wenn auch mit einem geringeren Anteil der unteren Mittelschicht — für
die Berliner Abiturienten seit den 1830er Jahren bestätigt.34
Soviel aber ist sicher: Das preußische Gymnasium des 19. Jahrhunderts
war nicht ein „Humboldtsches Gymnasium",35 es war Produkt des struk-
turordnenden Griffs der modernisierten preußischen Innenverwaltung, ins-
besondere des Kultusministeriums und eines Johannes Schulze. Die Lehr-
planentwicklung war im Vormärz aber nicht ohne Einseitigkeiten verlaufen.
Und gerade gegen den altsprachlichen Unterricht regte sich in der Schul-
realität erfolgreicher Widerstand.36
„Es ist in den Leuten ein dunkles Gefühl(,) daß allerdings für den industri-
ellen Theil ein anderer Unterricht Noth thut(,) als der in den philologischen
Schulen" schrieb 1829 der Historiker Barthold Georg Niebuhr aus dem
rheinischen Bonn, und er beklagte, daß die dortigen „protestantischen
Fabrikgegenden so antiphilologisch wie nur möglich" seien.37
Damit ist ein Hauptproblem der Entwicklung des höheren und, allge-
meiner formuliert, des städtischen Schulwesens nach Humboldt und Süvern
angesprochen; die Frage, inwieweit mit der Reform der Bürger- und der
Schaffung von Realschulen direkt dem wirtschaftlich-sozialen Wandel des
19. Jahrhunderts Rechnung getragen wurde. Dabei waren nun mit Real-
schulen — anders als bei den wenigen so bezeichneten Einrichtungen des
18. Jahrhunderts — allgemeinbildende Anstalten gemeint, nicht aber mehr
Institute mit starkem, direkt berufsbezogenem Einschlag.38 Nunmehr ent-
stand eine potentielle Konkurrenz zwischen humanistischen und realisti-,
sehen Bildungsinteressen, die bis zum Jahrhundertende Konflikte unaus-
weichlich machte. Im Kultusministerium wurden Bürgerschulen neben Ele-
Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1988, S. 69, S. 118 ff. Neue, diffe-
renzierte Resultate zu erwarten nach der Studie von Sigrid BORMANN-HEISCHKEIL/
Karl-Ernst JEISMANN, Abitur, Staatsdienst und Sozialstruktur, in: Ders. (Hg.),
Bildung... (1989) [95], S. 1 5 4 - 1 8 6 , bes. S. 175, S. 182£.; grundsätzlich auch C.
FÜHR, Gelehrter Schulmann... (1985) [s.o. Anm. 27], S. 4 4 4 ; sehr prononciert
auch Bernhard vom BROCKE, Preußen — Land der Schulen, nicht nur der
Kasernen. Preußische Bildungspolitik von Gottfried Wilhelm Leibniz und Wil-
helm von Humboldt bis Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker (1700 —
1930), in: Wolfgang Böhme (Hg.), Preußen, eine Herausforderung ( = H e r T ,
Bd. 32), Karlsruhe 1981, S. 69.
35 Vgl. die grundsätzlichen Ausführungen bei K.-E. JEISMANN, Das preußische
Gymnasium... (1974) [s.o. Anm. 32], S. 217, 3 9 6 f f .
36 Siehe H . - J . APEL, Die Auslese des Gymnasiallehrernachwuchses... (1984)
[s. o. Anm. 27], S. 255 f.
37 Barthold Georg NIEBUHR, Briefe. Neue Folge. 1 8 1 6 - 1 8 3 0 , hg. von Eduard
Vischer, Bd. 3, B e r n - M ü n c h e n 1983, Nr. 1181, S. 443 (20. VI. 1829).
38 Heinrich-Wilhelm BRANDAU, Die mittlere Bildung in Deutschland. Historisch-
systematische Untersuchung einiger ihrer Probleme ( = GöStPäd, N . F., H . 2),
W e i n h e i m - B e r l i n 1959, S. 122.
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 701
39 Siehe C. VARRENTRAPP, Johannes Schulze... (1889) [s.o. Anm. 1], S. 411 (S. 405
für Realien auf Gymnasien), 523; s. auch H. ROMBERG, Staat und Höhere
Schule... (1979) [s.o. Anm. 23], S. 2 0 8 , 2 5 7 , u n d F. PAULSEN, G e s c h i c h t e des
gelehrten Unterrichts... ( 3 1921) [40], Bd. 2, S. 546.
40 Friedrich GoLDSCHMiDT/Paul GOLDSCHMIDT, Das Leben des Staatsrath Kunth,
Berlin 1881, S. 124 ff., 1 4 1 - 1 5 4 ; Quellen: S. 319, 332 f.; Lenore O'BOYLE, Klas-
sische Bildung und soziale Struktur in Deutschland zwischen 1800 und 1848, in:
H Z , B d . 2 0 7 ( 1 9 6 8 ) , S. 5 8 4 - 6 0 8 , h i e r S. 5 9 7 ; C o n r a d RETHWISCH, D e u t s c h l a n d s
höheres Schulwesen im neunzehnten Jahrhundert. Geschichtlicher Überblick...,
Berlin 1893, S. 49; Landtage: Reinhart KOSELLECK, Preußen zwischen Reform
und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von
1791 - 1 8 4 8 ( = IndW, Bd. 1), Stuttgart 2 1975, S. 444.
41 Herwig BLANKERTZ, Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Pädagogik, Schule
und Berufsbildung im 19. Jahrhundert ( = BprobG, Bd. 15), Hannover 1969,
S. 96; Peter Martin ROEDER, Gemeindeschule in Staatshand. Zur Schulpolitik des
Preußischen Abgeordnetenhauses [1966], in: U. HERRMANN (Hg.), Schule und
Gesellschaft im 19. Jahrhundert... (1977) [29], S. 229f., Anm. 49; wiederum
H.ROMBERG, Staat und Höhere Schule... (1979) [s.o. Anm. 23], S. 258; zum
Folgenden: S. 259 ff.; zu 1859 ff.: S. 2 6 2 - 2 6 6 sowie M. KRAUL, Gymnasium und
Gesellschaft im Vormärz... (1980) [33], S. 62f., 8 0 - 8 6 .
42 Zu den genauen Details: L. WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen...
(1864) [s.o. Anm. 27], Bd. 1, S. 504f.
702 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
43 A. a. O . , S. 27.
44 „Unterrichts- und Prüfungs-Ordnung der Realschulen und der höheren Bürger-
schulen v. 6. October 1 8 5 9 " , in: L[udwig] WIESE, Verordnungen und Gesetze...
(1886) [ s . o . Anm. 24], S. 7 0 - 8 4 , bes. S. 81 ff.; dazu die Lit. in Anm. 41 und
L.WIESE (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preußen... (1864) [ s . o . Anm. 27],
Bd. 1, S. 2 7 ff.; Berechtigungen: S. 6 1 8 - 6 2 1 .
45 So wiederum a. a. O., Bd. 1, S. 27.
46 Christiane SCHIERSMANN, Z u r Sozialgeschichte der preußischen Provinzial-Ge-
werbeschulen im 19. Jahrhundert ( = StDokdBG, Bd. 8), Weinheim - Basel 1979,
S. 28, 38 ff., 5 7 ff. und passim; Peter LUNDGREEN, Techniker in Preußen während
der frühen Industrialisierung. Ausbildung und Berufsfeld einer entstehenden
sozialen Gruppe ( = E v H K z B , Bd. 16), Berlin 1975, S. 4 2 - 4 9 ; W[illiam] O. HEN-
DERSON, T h e State and the Industrial Revolution in Prussia 1 7 4 0 - 1 8 7 0 , Liver-
pool 1958, S. 107 ff.; U. P. RITTER, Die Rolle des Staates in den Frühstadien der
Industrialisierung... (1961) [s. o. A n m . 2a], S. 2 7 f . ; Kurt DÜWELL, Das Schul- und
Hochschulwesen der Rheinlande. Wissenschaft und Bildung seit 1815, in: Franz
Petri/Georg Droege (Hg.), Rheinische Geschichte in drei Bänden, Bd. 3, Düssel-
dorf 2 1 9 8 0 , S. 4 6 5 - 5 5 2 , hier S. 4 9 0 .
II. Höhere Bildung in Vormärz und Reichsgründungszeit 703
zierte Schulniveau. Z w a r hatte Altenstein schon 1823 den Plan für eine
polytechnische Anstalt vorgelegt und dabei auf ähnliche Institute in Frank-
reich und Österreich verwiesen, doch w a r dieses Projekt nicht zur Realisie-
rung gelangt, auch deshalb, weil der König zu den erforderlichen Bewilli-
gungen nicht zu bewegen w a r . 5 1 Aber Beuth, der 1821 führend an der
Begründung des „Vereins zur Beförderung des Gewerbfleißes" beteiligt war
und der den auch in Berlin mit seinen Gymnasien mangelnden Unterricht
für künftige Gewerbetreibende beklagte, schuf im selben Jahr in der Resi-
denz eine „technische Schule", die nach Erweiterungen seit 1827 unter der
Bezeichnung „Königliches Gewerbe-Institut" arbeitete. 5 2 Z u dessen Schülern
zählte August Borsig, während Werner v. Siemens 1835 — 1838 die Berliner
Artillerie- und Ingenieurschule besuchte. 5 3
Bis 1860 hatte das Gewerbe-Institut einen rein schulmäßigen Betrieb
gepflogen; der Unterricht war an dieser Anstalt — wie gleichzeitig auch an
der 1799 begründeten Bauakademie — auf die Praxis, nicht an der Wissen-
schaft orientiert. Allerdings ist spätestens seit den 1860er Jahren mit der
Einführung der Lehrfreiheit am Gewerbeinstitut und der Umbenennung in
„Gewerbe-Akademie" (1866) der Weg zur technischen Hochschule einge-
schlagen worden, schon bevor 1876 das Abgeordnetenhaus für die Verei-
nigung von Gewerbe- und Bauakademie eintrat, die schließlich 1 8 7 9 durch-
geführt und damit die Königliche Technische Hochschule zu Berlin (in
Charlottenburg) begründet w u r d e . 5 4 Insofern fließen in die Vorgeschichte
Durchschnitt von Schülern pro Lehrer (1822: 68) betrug um 1850 90 Kinder
auf eine Unterrichtskraft in den Volksschulen Preußens, wobei für die Frage
nach den Unterrichtsbedingungen und dem Lehrerfolg auch der — wie zu
betrachten ist - gesteigerte Schulbesuch der im schulfähigen Alter befind-
lichen Kinder in Rechnung gestellt werden muß. Allerdings blieb der Schul-
besuch im Sommer auch in dieser Zeit weit hinter dem Durchschnitt zurück.
Erst seit den 1840er Jahren verlief die äußere Entwicklung des Volksschul-
wesens dem Bevölkerungswachstum parallel, ohne daß schon die Zahl der
Schüler pro Lehrer (in) vermindert worden wäre, wie Tabelle 3 zeigt. 4
TABELLE 3
Die preußischen Volksschulen 1840—1864
einheitlich, selbst nicht in der Länge der Kurse. Gemeinsam war ihnen der
praktische, nichtliterarische Charakter des Betriebs, geleitet wurden sie zum
Teil von ausgesprochenen Pestalozzianern, doch ist die generelle Bedeutung
des Schweizer Pädagogen für die praktische Ausgestaltung der preußischen
Seminare im Vormärz umstritten.
Große Verdienste gerade um das niedere preußische Seminarwesen erwarb
sich der Oberregierungsrat im Kultusministerium Beckedorff, 1 0 in dessen
Amtszeit eine erhebliche Zahl der Neugründungen fällt, der aber - ohne
allgemeinen Seminarlehrplan — auch durch persönliche Einwirkung auf
dem Wege intensiver Reisetätigkeit seine Verwaltungsarbeit effektivierte. In
seine Zeit als zuständiger Ministerialreferent fällt auch die bedeutsame
Verfügung vom 1. Juni 1826, nach der förmliche Abgangsprüfungen an den
Seminaren eingeführt wurden und den Regierungen für die von ihnen zu
besetzenden Stellen empfohlen werden sollte, Absolventen der „Haupt-
Seminarien" zu bevorzugen. Zugleich wurden, wenn auch in milder Form,
die Berufungsrechte der Patronatsherren staatlicherseits neu bestimmt, denn
es sollte „den Privat-Collatoren... empfohlen werden, vorzugsweise Semi-
naristen zu vociren, jedenfalls" sollte ihnen „aber obliegen, nur auf solche
Subjecte zu reflectiren, die mit einem Prüfungs-Zeugnisse, wodurch ihre
Anstellungsfähigkeit begründet ist, versehen sind". 1 1 Damit hatten die Se-
minare nahezu ein Zertifikationsmonopol für das künftige Lehrpersonal.
Ein größeres staatliches Finanzengagement war auch mit diesen Maß-
nahmen nicht verbunden. Für die Seminare ganz Preußens wurden 1826
rund 90.000 Taler aufgewandt und diese durchaus nicht allein aus staatli-
chen Kassen; im Jahre 1831 waren es über 110.000 Taler, von denen 88.000
Taler vom Staat gezahlt wurden. 12 Die Ausbildung eines Seminaristen soll
rund 68 Taler gekostet haben.
Die Seminare und Präparandenanstalten vom 18. Jh. bis zur Weimarer Republik
( = StDokdBG, Bd. 37), K ö l n - W i e n 1987, S. 1 7 - 2 9 , zu Beckedorff S. 21; jetzt
mit einigen Beispielen aus dem Rheinland: Dieter P[eter] J[osef] WYNANDS, Die
Herausbildung des Lehrerstandes im Rheinland während des 19. Jahrhunderts
( = StPädAG, Bd. 1), Frankfurt/M. u.s.w. 1989, bes. S. 6 2 - 7 8 . . Z u 1853: L. von
RÖNNE (Hg.), Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates..., (1854/55) [16],
S. 387.
10 Lit.: s. o. § 3, I, Anm. 26; bes. Hans BRUNNENGRÄBER, Ludolph von Beckedorff
(1778 - 1858). Ein Volksschulpädagoge des 19. Jahrhunderts ( = KathPäd, Bd. 1),
Düsseldorf 1929, S. 40, 43; K. A. SCHLEUNES, Enlightenment, Reform, Reaction...
(1979) [s. o. Anm. 9], S. 3 3 5 ; J. ANTZ, Die seminaristische Lehrerbildung (1930)
[s. o. Anm. 9], S. 12, 15 f.
11 Die (beiden) Zirkularreskripte vom 1. VI. 1826 (1. an die Konsistorien bzw.
Provinzialschulkollegien; 2. an alle Regierungen), gedruckt: JbbPV, Bd. 4 (1826),
S.154 —162, Zitate: S. 160; dazu z. B. Hans-Karl BECKMANN, L e h r e r s e m i n a r -
Akademie — Hochschule. Das Verhältnis von Theorie und Praxis in drei Epochen
der Volksschullehrerausbildung... ( = GöStPäd, N . F., Bd. 14), Weinheim-Berlin
1968, S. 48 f., 2 5 4 ; A. J . LA VOPA, Prussian Schoolteachers... (1980) [35], S. 54.
12 Siehe die - nicht ganz übereinstimmenden - Daten: K. F. R. SCHNEIDER, Der
preußische Staat... ( 3 1840) [s. o. Anm. 9], S. 170, und C. MÜLLER, Grundriß der
Geschichte des preußischen Volksschulwesen... ( 4 1913) [38], S. 148.
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 711
nalisierung nun auch der Volksschullehrer setzt im Vormärz ein, wenn auch
noch über die Jahrhundertmitte hinaus angesichts des Lehrermangels und
der unzureichenden Besoldung das handwerkliche Element unter den Leh-
rern erhalten blieb und ein Teil von ihnen die ungeliebten Küsterdienste zu
verrichten hatte.
Es war ein evolutionärer Umbruch in der Bildungsrealität der Unter-
schichten, der sich seit den 1820er Jahren vollzog, und daß nun überhaupt
mehr und mehr systematisch vorgebildetes Personal die Lehrerstellen über-
nahm, gehört in dieses Bild ebenso wie die deutliche Zunahme des Schul-
besuchs im Vormärz. Mit der Modernisierung der elementaren Bildungs-
strukturen in einem Zentralbereich wurden Impulse gegeben für Schulbe-
such und Bildungswillen, und dies war Zeitgenossen wohl bewußt. „In dem
Maaße als der Unterricht in den Elementar-Schulen sich bessert, nimmt
auch das Interesse der Gemeinden für dieselben zu, und man kann wohl
gewiß seyn, daß, wo der Lehrer vorzügliches leistet und der Schulvorstand
seine Pflicht thut, nicht nur der Schulbesuch regelmäßig, sondern auch
allgemeine Bereitwilligkeit, für die gehörigen Schullocalien und den nöthigen
Unterhalt des Lehrers zu sorgen, vorhanden ist", heißt es in einer Quelle
aus dem Jahre 1827. 17
Dabei schienen auf den ersten Blick gerade die Bedingungen in der Zeit
der Frühindustrialisierung zur Durch- und damit eigentlichen Einführung
der allgemeinen Schulpflicht, zur Maximierung des Schulbesuchs alles an-
dere als günstig, trat doch zur weiterhin üblichen Feldarbeit der Kinder im
agrarischen Nexus die Kinderarbeit in den „Fabriken" hinzu. Allerdings
waren diese neuen Probleme, die, weil zugleich die physische Konstitution
der Jugend durch die frühzeitige gewerbliche Tätigkeit gefährdet schien,
auch das Militär betrafen, nicht in allen Teilen des preußischen Staates,
sondern natürlich primär in den industriell entwickelten Regionen bedeut-
sam. Diese Bedenken hatten schon 1817 zu einem Runderlaß des Staats-
kanzlers Hardenberg an die Oberpräsidenten geführt, ohne daß praktische
Konsequenzen daraus gefolgt waren. 18 Es ist sehr zweifelhaft, ob in staat-
TABELLE 4
Schulbesuch in Preußen 1840
(in Prozent aller Kinder vom 6. bis 14. Lebensjahr)
Reg.-Bez. % Reg.-Bez. %
25 Die Zahlen bei Rolf ENGELSING, Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialge-
schichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesell-
schaft, Stuttgart 1973, S. 103; zu 1838 vgl. die Zahlen a. a. O., S. 73, und Etienne
FRANÇOIS, Alphabetisierung in Frankreich und Deutschland während des
19. Jahrhunderts, in: ZfPäd, 29. Jg. (1983), S. 7 5 5 - 7 6 8 , bes. S. 764 (hier auch
Provinzdaten für 1838).
26 Beispiele: Zirkular der Regierung Arnsberg vom 25. I. 1825, in: JbbPV, Bd. 2
(1825), S. 258 f.; G. K. ANTON, Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung...
( 2 1 9 5 3 ) [s. o . A n m . 1 9 ] , S. 5 4 ( B e r l i n ) , S. 1 3 2 ( A a c h e n ) ; H . J . A P E L / M . KLÖCKER,
Schulwirklichkeit in Rheinpreußen... (1986) [19], S. 66; Detlef K. MÜLLER, So-
zialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im
19. Jahrhundert ( = StWGesB, Bd. 7), Göttingen 1977, S. 181 f. (Berlin); Wolfgang
Ribbe (Hg.), Von der Residenz zur City. 275 Jahre Charlottenburg, Berlin 1980,
S. 1 2 0 f.
27 Beispiele für landrätliches Eingreifen: MICHAELIS, Was ist in der Oelsner Super-
intendentur seit drei Jahren für's Elementarschulwesen geschehen?, in: JbbPV,
Bd. 2 (1825), S. 173, 178; für die Probleme in den 1870er Jahren: Horst MIES,
Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Marienwerder ( 1 8 3 0 - 1 8 7 0 )
( = StGPr, Bd. 17), Köln-Berlin 1972, S. 158 f. Allgemein s. die Einleitung von
Michael KLÖCKER ZU dem von ihm herausgegebenen Neudruck des Werkes von
Karl RITSCH (Hg.), Sammlung der Verordnungen und Bekanntmachungen, welche
in Bezug auf das Elementar-Unterrichtswesen für den Regierungs-Bezirk Aachen
erlassen worden sind, 1 Bd. und 2 Nachtr., Aachen 1835 - 1 8 4 5 (ND [ = SGVSch,
Bd.l], Köln-Wien 1985), S. XXXIII.
716 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
43 Adolf von HARNACK, Die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bil-
dungsstrebens [1902], in: Ders., Reden und Aufsätze, Bd. 2, Gießen 1904, S. 7 7 —
106, hier S. 80 ff.
44 Karl BIRKER, Die deutschen Arbeiterbildungsvereine 1 8 4 0 - 1 8 7 0 ... ( = EvHKzB,
Bd. 10), Berlin 1973, S. 35, 49, 86, 90, u. ö.; Frolinde BALSER, Die Anfänge der
Erwachsenenbildung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Eine kultursoziologische Deutung..., Stuttgart 1959, S. 89 - 92, 227, 2 3 6 ; dazu
R . ENGELSING, Analphabetentum und Lektüre... (1973) [s. o. Anm. 25], S. 108 ff.
45 Vgl. oben § 2, I, bei Anm. 43.
46 Grundlegend, bes. für die sozialgeschichtlichen Zusammenhänge: T h o m a s NIP-
PERDEY, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen
19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I [1972], in: Ders., Gesell-
schaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte ( =
KrStGw, Bd. 18), Göttingen 1972, S. 174 - 205, S. 4 3 9 - 447, bes. S. 175, 1 7 7 f . ,
181 f., 187ff. u. ö.; wissenschaftliche Vereinsbildungen in Preußen: Frank R .
PFETSCH, Z u r Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750 - 1 9 1 4 ,
Berlin 1974, S. 2 0 5 ff.
47 Georg KOTOWSKI, Bildungswesen, in: Hans Herzfeld/Gerd Heinrich (Hg.), Berlin
und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert (VHKzB, Bd. 25),
Berlin 1968, S. 5 1 5 - 5 5 5 , hier S. 548 f.
48 Rüdiger vom BRUCH, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrten-
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 721
Auch in Berlin konnten zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht alle Besitzer
größerer Textilfabriken mit ihrem Namen unterzeichnen.51 Analphabeten
fanden sich in Provinzstädten selbst unter den Stadtverordneten.
Seit dem zweiten Jahrhundertdrittel liegen Erhebungen über die „Schul-
bildung" der in das Heer eingestellten „Ersatzmannschaften" vor, die neben
dem Anteil der Analphabeten auch noch — seit 1851/52 — den Prozentsatz
junger Soldaten mit mangelnder beziehungsweise genügender Schulbildung
angeben. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß diese Zahlen wiederum
- gemessen an der Gesamtbevölkerung — ein entschieden positives Bild
ergeben, da mit dem spezifischen Lebensalter, noch nahe an dem gegebe-
nenfalls absolvierten Schulbesuch, und der geschlechtsspezifischen Selektion
eine entschieden überdurchschnittlich alphabetisierte Bevölkerungsgruppe
erfaßt worden ist. Tabelle 5 gibt nach Ludwig von Rönne die Daten für
die Jahrhundertmitte (siehe Tabelle 5 auf S. 723). 5 2
Wie ein Vergleich mit den zeitgleichen Statistiken einzelner Regionen
zeigt, verbargen sich unter der Rubrik der „mangelhaften" Schulbildung
zahlreiche Fälle von jungen Männern, die ausschließlich gedruckte Schrift
zu lesen vermochten. Deutlich ist jedoch aus diesen ersten einschlägigen
Erhebungen der Abbau der Analphabetenmaxima in den mittleren Jahr-
zehnten des 19. Jahrhunderts nach Provinzen abzulesen, wobei allerdings
in Ost- und Westpreußen dieser Prozeß signifikant verlangsamt, ja aufge-
halten erscheint. Als längerfristiger Überblick wird Tabelle 6 gegeben (auf
S. 723). 5 3
TABELLE 5
Schulbildung" der im Heer eingestellten „Ersatzmannschaften" (in % )
TABELLE 6
Prozentsatz der Rekruten ohne Schulbildung
Ostpreußen
Westpreußen
115,33 116,54 1 7,05 0,99
1,23
Brandenburg 2,47 0,96 0,32 0,06
Pommern 1,23 1,47 0,43 0,12
Posen 41,00 16,90 9,97 0,98
Schlesien 9,22 3,78 2,33 0,43
Sachsen 1,19 0,49 0,28 0,09
Westfalen 2,14 1,03 0,60 0,02
Rheinland 7,06 1,13 0,23 0,05
Hohenzollern - 0,00 - 0,00
Die Zahl für die bei Landheer und Marine im Ersatzjahr 1900 eingestellten
„Preußischen Mannschaften" „ohne Schulbildung" wird für den ganzen
Staat schließlich mit 0,1 Prozent angegeben. 54
Der Analphabetenanteil in der Gesamtbevölkerung lag im 19. Jahrhundert
entschieden über den bei Rekruten ermittelten Zahlen, denn in älteren
Bevölkerungsgruppen nahm der Prozentsatz zu, und noch um 1870 wußten
Statistiker zu berichten, „dass bei geringer Uebung im Lesen und Schreiben
nach absolvierter Schulzeit beide Fertigkeiten sehr vielen Individuen, welche
derselben kurz nach Verlassen der Schule mächtig waren, allmählig abhan-
den kommen", und dies bei Frauen entschieden häufiger als bei Männern. 5 5
Die Schätzungen für die Gesamtbevölkerung Preußens in der Mitte des
19. Jahrhunderts gehen von etwa noch 20 Prozent Analphabeten unter den
über zehn Jahre alten Preußen aus. 56
„Zum ersten Male ist bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1871 auch
der Grad der Elementarbildung einer Aufzeichnung unterzogen worden",
wobei nach der Fähigkeit im Schreiben und Lesen gefragt wurde. 57 Das
Ergebnis wird in Tabelle 7 dargestellt (siehe Tabelle 7 auf S. 725).
Um 1870 waren die Maßstäbe dafür, wer als Analphabet in Preußen
bezeichnet wurde, offenbar strenger geworden. Unter den Zahlen von
Tabelle 7 sind auch diejenigen Inbegriffen, die nur entweder schreiben oder
lesen konnten. 5 8 Deutlich ist das weiterhin bestehende Übergewicht der
östlichen Provinzen in den Analphabetenregionen, wobei zu berücksichtigen
ist, daß unter der katholischen und der polnischen Bevölkerung die Pro-
54 Statistik, gedruckt im ZBlUV, 1901, Nr. 156, S. 7 9 4 - 7 9 8 , bes. S. 798 (0,1 Prozent
= 156 Mann).
55 So K. BRÄMER, Religionsbekenntnis und Schulbildung... (1874) [s. o. Anm. 52],
S. 151 f.
56 So Peter FLORA, Modernisierungsforschung. Z u r empirischen Analyse der ge-
sellschaftlichen Entwicklung ( = StSw, Bd. 20), Opladen 1974, S. 171, 148 f.: 1870
in Preußen in der Bevölkerung 88 Prozent Alphabeten, unter den Rekruten 97
Prozent; zu 1850 auch T. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1 8 0 0 - 1 8 6 6 . Bürger-
welt und starker Staat, München 1983, S. 463.
57 K. BRÄMER, Religionsbekenntnis und Schulbildung... (1874) [s. o. Anm. 52],
S. 147, auch zu weiterhin bestehenden Unsicherheiten; Tab. 7 nach a. a. O.,
S. 1 4 8 f . ; zusammenfassend auch A. PETERSILIE, Analphabeten... ( 3 1909) [s. o.
Anm. 52], S. 4 4 0 ; Knut BORCHARDT, Z u m Problem der Erziehungs- und Ausbil-
dungsinvestitionen im 19. Jahrhundert [1965], in: U. Herrmann (Hg.), Schule
und Gesellschaft... (1977) [29], S. 4 0 9 - 4 2 1 , hier S. 4 2 0 , Anm. 16; R . ENGELSING,
Analphabetentum und Lektüre... (1973) [s. o. Anm. 25], S. 98; E. FRANÇOIS,
Alphabetisierung in Frankreich und Deutschland... (1983) [s. o. Anm. 25], S. 7 5 6 ,
rechnet den Anteil unsicherer Fälle mit ein und k o m m t für 1871 auf 10,3 Prozent
männlicher und 16,4 Prozent weiblicher Personen ohne Lese- und Schreibfähig-
keit.
58 K. BRÄMER, Religionsbekenntnis und Schulbildung... (1874) [s. o. Anm. 52],
S. 150, auch zum Konfessionsfaktor; dazu auch Ε. FRANÇOIS, Alphabetisierung
in Frankreich und Deutschland... (1983) [s. o. Anm. 25], S. 7 6 0 , 762, auch zum
hochalphabetisierten, aber katholischen Sigmaringen.
III. Die elementare Bildungsevolution des 19. Jahrhunderts 725
TABELLE 7
Analphabetenquote in der Gesamtbevölkerung Preußens in % (1871)
Provinz Bevölkerung
männlich weiblich
zentsätze erheblich höher lagen als bei der etwa gleich stark des Lesens und
Schreibens fähigen evangelischen Bevölkerung und der des jüdischen Glau-
bens. Die schon bei den Rekrutenerhebungen zu diagnostizierende Annä-
herung des Bildungsstandes an die nahezu vollständige Alphabetisierung
spätestens in den 1890er Jahren wird durch die bei den Eheschließungen
festgestellte Lese- und Schreibfähigkeit bestätigt, nach der die Analphabe-
tenquote 1882 für Männer nur rund 4 Prozent, bei Frauen 6 Prozent betrug
und nach den Daten für 1906 bei beiden Gruppen im preußischen Durch-
schnitt nur noch im Promillebereich zu messen war. 59
Die Aussagekraft der preußischen Alphabetisierungsstatistik erschließt
sich erst voll im internationalen Vergleich. Schon die Schätzungen für den
Beginn des 19. Jahrhunderts zeigen Preußen in deutlichem Alphabetisie-
rungsvorsprung vor Westeuropa, vor Frankreich und England.60 Wenn
zur Jahrhundertmitte in Preußen von einer Literarisierungsrate von 80
Prozent, nach anderen Rechnungen gar von 85 Prozent ausgegangen wird,
so markieren diese Zahlen gegenüber den englischen Vergleichswerten von
52 Prozent (Lesen und Schreiben) beziehungsweise 61 Prozent für Frankreich
(nur Lesefähigkeit) einen Fortschritt der Bildungsentwicklung, wie er auch
59 J. TEWS, Zur deutschen Bildungsstatistik... (1909) [s. o. Anm. 52], S. 95; dazu
G . H O H O R S T / J . K O C K A / G . A . RITTER, M a t e r i a l i e n z u r S t a t i s t i k d e s K a i s e r r e i c h s . . .
(1975) [s. o. Anm. 53], S. 166.
60 Vgl. o. bei A n m . 4 9 und P. FLORA, Die Bildungsentwicklung... (1972) [s.o.
Anm. 49], S. 304.
726 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 2 0 . J a h r h u n d e r t
2 K. BARKIN, Social Control and the Volksschule... (1983) [s.o. Anm. 1], S. 3 9 f f . ,
44, 46, 4 9 ; K. A. SCHLEUNES, Enlightenment, Reform, Reaction... (1979) [s.o.
Anm. 1], S. 317, und aus der deutschen Lit. für das 19. Jh. insgesamt Bernhard
vom BROCKE, Preußen — Land der Schulen, nicht nur der Kasernen. Preußische
Bildungspolitik von Gottfried Wilhelm Leibnitz und Wilhelm von Humboldt bis
Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker ( 1 7 0 0 - 1 9 3 0 ) , in: Wolfgang Böhme
(Hg.), Preußen, eine Herausforderung ( = HerT, Bd. 32), Karlsruhe 1981, S. 5 4 -
99, hier S. 69 f., 76.
3 Druck bei Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert
( = SGnZ, Bd. 25), Bd. 2, Leipzig 3 1 8 8 6 , S. 634.
4 Druck: Ernst Rudolf HUBER (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsge-
schichte, Bd. 1, Stuttgart 3 1 9 7 8 , Nr. 32, S. 101 f., daraus die Zitate; zum preußi-
schen Anteil an der Entstehung: Ernst MÜSEBECK, Das Preußische Kultusmini-
sterium vor 100 Jahren, Berlin-Stuttgart 1918, S. 2 1 3 - 2 2 5 ; Eberhard BÜSSEM,
Die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Die endgültige Stabilisierung der restaura-
tiven Politik im Deutschen Bund nach dem Wiener Kongreß von 1814/15,
Hildesheim 1974, S. 371 ff., zur Ausführung in Preußen S. 454. Z u den Karlsbader
Beschlüssen in ihrem Verhältnis zu älteren reichsrechtlichen Traditionen: Wolf-
gang HARDTWIG, Studentische Mentalität - politische Jugendbewegung - Na-
tionalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft, in: H Z , Bd. 2 4 2 (1986),
S. 5 8 1 - 6 2 8 , hier S. 627 f.
728 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
mächtigten bei den Universitäten" vom 18. November 1819, scheinen eine
andere Interpretation kaum zuzulassen; denn diese hatten selbst „den Geist
in welchem die akademischen Lehrer bei ihren öffentlichen und Privatvor-
trägen [!] verfahren, sorgfältig zu beobachten und demselben, jedoch ohne
unmittelbare Einmischung in das Wissenschaftliche und die Lehrmethode,
eine heilsame auf die künftige Bestimmung der Jugend berechnete Richtung
zu geben." Dazu sollten sie sich auch „von der Beschaffenheit der Vorträge
der Dozenten und ihrem Geiste die erforderliche Ueberzeugung verschaf-
fen", wie sie auch die Studierenden im Auge zu halten hatten. 8 Kabinetts-
ordern beziehungsweise Gesetze der folgenden Jahre haben wiederholt -
insbesondere 1821, 1822, 1824 und 1838 - studentische, insbesondere
burschenschaftliche Verbindungen untersagt und zu verfolgen befohlen. 9
Spektakuläre Aktionen gegen Prominente, darunter Publizisten und Wis-
senschaftler, haben wohl zum herkömmlichen Bild der Reaktionsjahrzehnte
maßgeblich beigetragen. In der Tat wurde der an die eben geschaffene
Bonner Universität berufene Ernst Moritz Arndt, nach Erscheinen des
vierten Bandes seines „Geist der Zeit" 1 0 bereits verwarnt, aus dem Lehramt,
freilich bei Weiterzahlung des Gehaltes, entfernt, und auch gegen die Brüder
Welcker wurde - 1819 — wegen früherer Verbindungen zu den radikalen
„Gießener Schwarzen" ermittelt, woraufhin der Jurist Karl Theodor Welk-
ker einen Ruf nach Freiburg annahm. 11 Etwa gleichzeitig wurde in Berlin
gegen Jahn und Schleiermacher vorgegangen; an der Berliner Universität
wurde der Professor der Theologie de Wette, nachdem er an die Mutter
Karl Ludwig Sands, des Kotzebue-Mörders, ein tröstendes Schreiben gesandt
der frühen 1830er Jahre ergingen die spektakulären und vielzitierten Urteile
des Berliner Kammergerichtes gegen 2 0 4 Teilnehmer an burschenschaftli-
chen Verbindungen verschiedener Universitäten Preußens; dabei wurde in
3 9 Fällen auf die Todesstrafe erkannt. Allerdings folgten die Strafmilderun-
gen beziehungsweise Begnadigungen auf dem Fuße — wie schon in vielen
Fällen der 1820er J a h r e . 1 7 So spektakulär die zum Teil mehrjährigen Haft-
strafen waren, die zum Beispiel ein Fritz Reuter verbüßte, so hatte offenbar
keiner der Verurteilten seine Strafe in vollem Umfang zu erdulden. Die
Amnestie des Jahres 1840 tat hier nur ein Letztes. Obwohl insbesondere
nach dem strengen Wortlaut der Karlsbader Beschlüsse Teilnehmer von
nicht erlaubten Verbindungen niemals zu einem öffentlichen A m t zugelassen
werden durften, 1 8 behielt sich Friedrich Wilhelm III. die Erteilung der
Anstellungsfähigkeit — nicht pauschal, wohl aber im jeweiligen Einzelfall
- ausdrücklich v o r . 1 9 Tatsächlich sind nachweisbar ehemalige Burschen-
schaftler nicht nur in den Justizdienst gelangt, sondern es war ihnen auch
eine rasche Karriere durchaus möglich. 2 0 Arnold Ruge zum Beispiel, der
1838 die „Hallischen J a h r b ü c h e r " gründete und später als Exponent des
politischen Radikalismus weiter von sich reden machte, war 1824 wegen
„Teilnahme an einer hochverräterischen geheimen Verbindung" zu 15 Jahren
H a f t verurteilt worden, von denen er sechs verbüßte; 1831 bis 1839 war er
dennoch — eben in Halle — als Privatdozent tätig.
41 Amtlicher Druck mit Vorwort von F. STIEHL (Hg.), Die Weiterentwicklung der
drei Preußischen Regulative vom ersten, zweiten und dritten October 1854, Berlin
1861, S. 5 - 1 5 , 5 3 - 6 0 ; dazu vgl. B. KRUEGER, Stiehl und seine Regulative...
(1970) [s.o. Anm. 36], S. 118; zur Kritik an den Regulativen S. 107-117, auch
zum Folgenden.
42 K.-E. JEISMANN, Die „Stiehlschen Regulative"... (1985) [s.o. Anm. 36], S. 125,
128, 139; Beispiele bei P[eter] J[osef] WYNANDS, Die Herausbildung des Leh-
rerstandes im Rheinland während des 19. Jahrhunderts ( = StPädAG, Bd. 1),
Frankfurt/M. u.s.w. 1989, S. 1 1 0 - 1 2 8 , bes. S. 112, S. 122f.; zum Ziel der Ver-
einheitlichung auch F. STIEHL (Hg.), Die drei Preußischen Regulative... (1854)
[s. o . A n m . 3 7 ] , S. 3 f . ; F. B U C H H O L Z / G . BUCHWALD ( H g . ) , D i e b r a n d e n b u r g i s c h e n
Lehrerseminare... (1961) [s.o. Anm. 30], S. 112; s. im obigen Sinne ferner die an
sich sehr kritische Darstellung von Folkert MEYER, Schule der Untertanen. Lehrer
und Politik in Preußen 1 8 4 8 - 1 9 0 0 ( = HPersp, Bd. 4), Hamburg 1976, S. 38.
43 Reskript des Kultusministers vom 17. II. 1865, gedruckt bei K[arl] SCHNEIDER/
E[duard] von BREMEN, Das Volksschulwesen im preußischen Staate, in syste-
matischer Zusammenstellung der auf seine innere Einrichtung und seine Rechts-
verhältnisse, sowie auf seine Leitung und Beaufsichtigung bezüglichen Gesetze
und Verordnungen. Zugleich ein vollständiger Auszug der durch das Centralblatt
für die gesamte Unterrichtsverwaltung von 1 8 5 9 - 1 8 8 5 mitgetheilten, auf das
Volksschulwesen bezüglichen und noch in Kraft stehenden Gesetze und Verord-
nungen, Bd. 3, Berlin 1887, S. 32; ferner ζ. B. Detlef K. MÜLLER, Sozialstruktur
und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im
19. Jahrhundert ( = StWGesB, Bd. 7), Göttingen 1977, S. 266.
44 So K. BRÄMER, Die Schulbildung der Ersatzmannschaften in Preußen mit Rück-
sicht auf ihre Familiensprache, in: ZStatB, 11. Jg. (1871), S. 372.
IV. Universität und Schule in der Innenpolitik 739
45 Zu den Unterrichtsartikeln (Art. 20 - 26, dazu noch Art. 112) der preußischen
Verfassung vom 30. I. 1850 die klassischen Kommentare von Gerhard AN-
SCHÜTZ, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.
Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, Berlin 1912 (ND Aalen
1974), S. 364 - 496, bes. S. 380; zur Entstehung der Artikel S. 366 ff.; Adolf
ARNDT, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat, Berlin 7 1911,
S. 1 2 2 - 1 4 0 , 380 (Aufhebung von Art. 112 durch Gesetz vom 10. VI. 1906), auch
zum Folgenden; neuere Lit.: Helga ROMBERG, Staat und Höhere Schule. Ein
Beitrag zur deutschen Bildungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis
zum Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung Preußens ( = St-
DokdBG, Bd. 11), Weinheim - Basel 1979, S. 67, 69 - 74; E. R. HUBER, Deutsche
Verfassungsgeschichte... (1963/70) [31], Bd. 3, S. 118ff.; zu den verschiedenen
Unterrichtsgesetzentwürfen und ihren Schicksalen: L. CLAUSNITZER (Hg.), Ge-
schichte des Preußischen Unterrichtsgesetzes... ( 2 1891) [27], passim, bes. S. 167 ff.,
211-219, 2 4 8 ff., 282, 309-312; dazu Kurt RICHTER, Der Kampf um den
Schulgesetzentwurf des Grafen Zedlitz-Trützschler vom Jahre 1892. Ein Beitrag
zur Geschichte der inneren Politik des „Neuen Kurses" und zur Parteienge-
schichte, Phil. Diss. Halle 1934, bes. S. 1 3 - 3 0 .
740 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
49 C. BERG, Die Okkupation der Schule... (1973) [s.o. Anm. 46], S. 100; E. R.
HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969) [31], Bd. 4, S. 704; G. GIESE
(Hg.), Quellen zur deutschen Schulgeschichte... (1961) [21], S. 36, S. 178.
50 GS 1872, S. 183 (Nr. 7975); zu den weiteren, auch ausführenden Bestimmungen:
Alwin PETERSILIE, Das öffentliche Unterrichtswesen im Deutschen Reiche und
in den übrigen europäischen Kulturländern ( = HLbStw, 3. Abt., Bd. 3), Bd. 1,
Leipzig 1897, S. 303, 315 — 324; vgl. schon oben § 3, I, bei Anm. 14; aus der Lit.:
E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969) [31], Bd. 4, S. 7 0 1 - 7 0 4 .
C. BERG, Die Okkupation der Schule... (1973) [s.o. Anm. 46], S. 1 6 - 6 0 ; die
katholische Sicht: J. HESS, Der Kampf... (1912) [s.o. Anm. 47], S. 1 3 - 3 5 .
51 So Bismarck im November 1871 anläßlich der Beratung der Schulaufsichtsgesetzes
im Staatsministerium; A. CONSTABEL, Die Vorgeschichte des Kulturkampfes...
( 2 1957) [s.o. Anm. 48], S. 137.
52 Zahlen für 1875ff. bei C. BERG, Die Okkupation der Schule... (1973) [s.o.
Anm. 46], S. 5 5 - 5 8 ; zum Folgenden S. 52 — 55; R MEYER, Schule der Unterta-
nen... (1976) [s.o. Anm. 42], S. 89, 160, S. 180, 186; vgl. die Zahlen bei E. N.
ANDERSON, Die preußische Volksschule im neunzehnten Jahrhundert... (1981)
[23], S. 1389.
742 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Reichsgründung und der damit sich für die Polen ergebenden Zwangsmit-
gliedschaft in einem deutschen Nationalstaat die Schulpolitik in diesen
Provinzen ein neues Gewicht erhielt, und dies stellte sich im Kulturkampf
sogleich heraus. 57 Das Aufeinanderprallen zweier Nationalismen führte zu
einer schicksalhaften Konstellation im preußischen Osten mit Ausprägungen
auf dem Feld des Bildungswesens überhaupt, wie unter anderem die pol-
nischen Vereinsgründungen (1880: „Verband der polnischen Volksbibliothe-
ken") zeigen. Im Jahre 1872 verfügte Falk, daß der Religionsunterricht an
höheren Schulen der Ostprovinzen in deutscher Sprache zu erfolgen habe,
der Polnischunterricht wurde eingeschränkt. An Volksschulen der Provinz
Posen — der Provinz mit der höchsten Analphabetenquote (siehe oben
Tabellen 6 und 7) — und in der Provinz Preußen sollte, wie 1873 verfügt
wurde, außer in der Religion der Unterricht nur noch in deutscher Sprache
stattfinden, 58 Maßnahmen, deren Ergebnis in einer wachsenden Erbitterung
im polnisch-katholischen Bevölkerungsteil gegen die deutsche (und prote-
stantische) Verwaltung bestand, ohne schon die späteren Formen eines
Volkstumskampfes anzunehmen. 59 Zudem schritt das Ministerium gegen
das allzu scharfe Vorgehen der Provinzialinstanzen mäßigend ein.
Die 1880er Jahre brachten in diesen Provinzen trotz Abbau des Kultur-
kampfes keine Entspannung der schulpolitischen Lage; nach dem Gesetz
vom 15. Juli 1886 geschah die Volksschullehreranstellung in Posen und
Westpreußen künftig alleine „durch den Staat" 6 0 - Magistrate, Schulvor-
stände oder Gutsherren waren nur noch vorher anzuhören, eine Regelung,
die, wie richtig festgestellt worden ist, einer Beseitigung der Patronatsrechte
des (polnischen) Adels in Preußen gleichkam, 61 ein Vorgang, der ebenso tief
57 So mit Rudolf KORTH, Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schul-
streiks. Ein Beitrag zur preußischen Polenpolitik der Ära Biilow ( = MOstf,
Bd. 23), Würzburg 1963, S. 3 9 f., zur Entwicklung seit der Amtszeit Altensteins
S. 37 f., zu den Vereinsgründungen S. 5 f.; Jerzy TOPOLSKI, Die Geschichte Polens,
Warschau 1985, S. 199.
58 E. R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969) [31], Bd. 4, S. 4 8 4 f . ;
M . BROSZAT, Zweihundert Jahre deutscher Polenpolitik... (1963) [s. o. Anm. 56],
S. 101 f., 105; zur Polenpolitik ferner: Hans-Ulrich WEHLER, Krisenherde des
Kaiserreichs 1871 — 1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsge-
r i c h t e , Göttingen 1979, S. 184-202, hier S. 185; Christa BERG, Schulpolitik ist
Verwaltungspolitik. Die Schule als Herrschaftsinstrument staatlicher Verwaltung,
in: VWP, 51. Jg. (1975), S. 2 1 1 - 2 3 6 , hier S. 2 2 4 f f .
59 So R. KORTH, Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks...
(1963) [s.o. Anm. 57], S. 4 6 (zum ganzen Komplex S. 4 0 —46, auch zu den
sozialgeschichtlichen Hintergründen).
60 GS 1886, S. 185 f. (Nr. 9145).
61 So L. BURCHARDT, Kultur- und Bildungswesen... (1984) [s.o. Anm. 53], S. 4 7 3 ;
ferner R . KORTH, Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks...
(1963) [s.o. Anm. 57], S. 19ff., 3 0 f . , 4 6 f f . ; E. R . HUBER, Deutsche Verfassungs-
geschichte... (1969) [31], Bd. 4, S. 493 (auch zum Folgenden); Joachim MAI, Die
preußisch-deutsche Polenpolitik 1 8 8 5 / 8 7 . Eine Studie zur Herausbildung des
Imperialismus in Deutschland ( = VHIGr, Bd. 1), Berlin 1962, S. 103, 106, 132 ff.,
744 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
in die Rechte der Lokalherrschaften eingriff, wie er dem Staat nun das
Instrument in die Hand gab, gezielt nur solche Lehrer in den polnischen
Landschaften anzustellen, die ausschließlich der deutschen Sprache bezie-
hungsweise des Deutschen und des Polnischen mächtig waren. Der Unter-
richt in dem Fach der polnischen Sprache wurde an Volksschulen Posens
beseitigt, an den Universitäten Preußens wurden 1886 alle polnischen Stu-
dentenverbindungen aufgelöst. Begleitet wurden diese Maßnahmen von
einem deutlich intensivierten staatlichen Finanzeinsatz in Posen und West-
preußen mit dem Ziel einer Stützung des deutschen Elementes.
Nach einer zeitweisen Entspannung der Lage in den 1890er Jahren mit
einer partiellen Zurücknahme der den Sprachenunterricht betreffenden Re-
striktionsbestimmungen,62 erreichten die Schulkämpfe um 1900 ihren Hö-
hepunkt, getragen von einer zunehmend durch breite Bevölkerungskreise,
nicht mehr primär von Adel und Klerus allein gestützten polnischen Natio-
nalbewegung. Die rücksichtsloser werdende Germanisierungspolitik insbe-
sondere der provinzialen Behörden, die nun das Schulwesen rigoros ein-
setzten, und die polnische Agitation steigerten sich gegenseitig. Das Vor-
gehen der Verwaltung gegen den polnischsprachigen Unterricht — auch
gegen privaten — führte zu Tumulten, wie dem in Wreschen (1901), und
zu „Schulstreiks", von denen der im Jahre 1906 zeitlich und regional mit
maximal 60.000 beteiligten Kindern die größte Ausdehnung erreichte. Daß
die Frage des deutschsprachigen Religionsunterrichts zur Erbitterung be-
sonders beitrug, macht die Verknüpfung der Nationalitäten- mit der Kon-
fessionsfrage sinnfällig. Sicherlich wird zur Gesamtbilanz der preußischen
Bildungspolitik in Posen und Westpreußen aber auch die weitgehende Be-
seitigung des Analphabetismus zu rechnen sein, eine Basis, auf der sodann
im nationalpolnischen Sinne von Vereinen und Zirkeln weitergearbeitet
werden konnte (G. Rhode). 63
In der Nationalitätenproblematik der Provinzen Posen und (West-)Preu-
ßen ist sicherlich die bedeutendste Auseinandersetzung dieser Art zu erken-
nen, doch hat es entsprechende Maßnahmen gegen polnischen Sprachun-
terricht, polnische Privatschulen und Lehrmittel auch in der Rheinprovinz
und in Westfalen gegeben, ohne daß es hier zu „Streiks" gekommen wäre. 64
Im Gebiet der Kaschuben ging die Regierung Danzig in den 1880er Jahren
im Sinne einer Germanisierungspolitik vor, und nach 1870 wurde auch die
masurische beziehungsweise die litauische Sprache in den Schulen benach-
teiligt. Wenn auch in Nordschleswig zunächst seit 1871 die Schule nicht zur
Verdrängung des Dänischen eingesetzt wurde, so doch zur Verbreitung des
Deutschen als Geschäftssprache; 1888 wurde sodann Deutsch als einzige
Unterrichtssprache eingeführt mit der Folge, daß die dänische Opposition
einen deutlichen Zulauf erhielt, für die im übrigen dänische Volkshoch-
schulen und „Bauernschulen" im Nationalitätenkampf eine wichtige Rolle
spielten. 65
Das Schulwesen und insbesondere die Volksschule hatte begonnen, als
Werkzeug und Waffe im innenpolitischen Kampf eine wichtige Bedeutung
zu erlangen, einsetzbar nach Lage der politischen Konjunkturen: Bismarck
hatte ja auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes vom Rednerpult des preu-
ßischen Abgeordnetenhauses aus angekündigt, er gedächte nach dem Frie-
densschluß mit der Zentrumspartei „den Kampf, den aggressiv zu führen
wir eine Weile genöthigt gewesen sind, demnächst nur defensiv fortzusetzen
und die Aggression mehr der Schulbildung als der Politik zu überlassen". 66
Selbstverständlich sollte auch im staatlich geordneten und gelenkten Schul-
system des Kaiserreiches im Sinne der bestehenden politischen Ordnung
erzogen werden, und das hieß in dieser Zeit: „zu gottesfürchtigen und
monarchisch gesinnten Staatsbürgern". 67 Insofern kann der Einsatz gerade
auch der Volksschulen in der Auseinandersetzung mit der erstarkenden
Sozialdemokratie nicht verwundern, und die preußische Bildungspolitik
steht in dieser Hinsicht eben in einer längeren Tradition. In dem Allerhöch-
sten Erlaß vom 1. Mai 1889 sprach Wilhelm II. deutlich aus, daß „die Schule
in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen" sei, „um der Ausbrei-
tung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken". Dies
sollte insbesondere durch „Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum
Vaterlande" geschehen. Der Unterricht in „vaterländischer Geschichte"
sollte entsprechend verstärkt und auch auf Themen der wirtschaftlich-
sozialen Entwicklung ausgedehnt werden. 68 Obwohl der Einsatz der Schule
gegen die sozialistischen Strömungen schon seit den 1870er Jahren gefordert
worden ist und Lehrer bei Wahlen zur Unterstützung der Regierung ange-
halten wurden beziehungsweise ein Einsatz zugunsten von Zentrum, So-
zialdemokratie oder Fortschritt geahndet wurde, hat auch die Volksschule
die Zunahme des Oppositionspotentials in den Jahrzehnten des Kaiserrei-
ches nicht zu verhindern vermocht. D a ß nach Aussage der Schulbücher in
den Lehranstalten der wilhelminischen Ära im Geschichtsunterricht ein Bild
von „Preußen als Vollendung der deutschen Geschichte" gezeichnet und
nicht eben zu revolutionärer Gesinnung erzogen wurde, 6 9 kann nicht er-
staunen. Ob an den höheren Schulen Preußens es zu einer praktischen
Bekämpfung sozialdemokratischer Tendenzen kam, ist aber unlängst mit
guten Gründen in Zweifel gezogen w o r d e n , 7 0 jedenfalls stehen hier die
Schulwirklichkeit erhellende Untersuchungen noch aus, wie auch solche,
die etwa die einschlägigen Lehrplanbestimmungen und Unterrichtspraktiken
auf Unterscheidungen und Gemeinsamkeiten mit dem im Europa dieser
Jahre allgemein Üblichen hin überprüften. Selbst hinsichtlich des Vollzuges
2 Die Zahlen in der Lit. differieren erheblich. S. die Tabelle bei Frank R. PFETSCH,
Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750 — 1914, Berlin
1974, S. 71 f.; s. auch (leicht abweichend) Werner SOMBART, Die deutsche Volks-
wirtschaft im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, Berlin 5 1921, S. 411; ferner
ist vergleichend heranzuziehen: 0 [ t t o ] ScHWARZ/G[eorg] STRUTZ, Die Verwal-
tung der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten ( = Dies., Der
Staatshaushalt und die Finanzen Preußens. Unter Benutzung amtlicher Quellen
bearbeitet, Bd. 2, Lfg. 1), Berlin 1900, S. 1 3 8 , 1 5 6 ff., 162; Tabelle der ordentlichen
Ausgaben für Universitäten und Technische Hochschulen 1887 — 1913: Peter
LUNDGREEN, Natur und Technikwissenschaften an deutschen Hochschulen,
1870 — 1970. Einige quantitative Entwicklungen, in: R. RÜRUP (Hg.), Wissenschaft
und Gesellschaft... (1979) [58], Bd. 1, S. 209 - 230, bes. S. 226; ferner Alexander
KLUGE, Die Universitäts-Selbstverwaltung. Ihre Geschichte und gegenwärtige
Rechtsform, Frankfurt/M. 1958, S. 93 f.
3 F. R . PFETSCH, Z u r E n t w i c k l u n g d e r W i s s e n s c h a f t s p o l i t i k . . . ( 1 9 7 4 ) [s. o . A n m . 2 ] ,
S. 54, vgl. auch S. 50.
4 C. E. MCCLELLAND, State, Society and University in Germany... (1980) [51],
S. 288 ff., 300 und unten im Abschnitt § 3, VI, zu F. Althoff.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 749
für Preußen ein Anstieg der entsprechenden Mittel um 1057 Prozent be-
rechnet worden (Vergleichszahl für England: 476 Prozent).5
Im Bereich des niederen Schulwesens waren bis in die Jahre des Kaiser-
reichs die Gemeinden beziehungsweise Private unbestritten die Träger der
Bildungsstrukturen. Noch in den 1860er Jahren lag der staatliche Finanz-
anteil für das Elementarschulwesen insgesamt bei 3,5 Prozent; ein Drei-
zehntel der Personalkosten in diesem Bereich trug der Staat. 6 Daß sich die
in diesen Zahlen zum Ausdruck kommenden Verhältnisse bald grundlegend
änderten, muß auch als ein Resultat der Industrialisierungs- beziehungsweise
der Konjunkturentwicklung angesehen werden, die den Staat, aber auch die
Kommunen, zur großzügigen Finanzierung des Schulwesens erst befähigte
und zugleich in die Lage versetzte, den bildungspolitischen Herausforde-
rungen des Bevölkerungswachstums standzuhalten.
In den 1870er Jahren stieg der Staatsanteil an den „Unterhaltungskosten
der öffentlichen Volksschulen mit Einschluß der öffentlichen Mittelschulen"
schnell von 5,2 Prozent (1871) auf 12,3 Prozent (1878) bei gleichbleibenden
Gemeindelasten und reduzierter Bedeutung des Schulgeldes.7 In diesen Jah-
ren, in der Ära Falk, erfolgte eine spürbare Verbesserung der Lehrerbesol-
dungen sowohl durch die Gemeinden als auch durch Staatszuschüsse, 1874
bis 1881 wurden knapp 6000 Schulen mit großem staatlichen Finanzaufwand
neu gebaut; die Ausgaben für die Volksschulen stiegen im Kultusetat weit
überproportional, die Volksschullehrereinkommen, deren Niveau lange Zeit
stagniert hatte, erfuhren in den 1870er Jahren erstmals eine deutliche
Steigerung. Die Zahl der Lehrerbildungsanstalten wurde drastisch erhöht,
in den Jahren 1870 bis 1882 insgesamt verdoppelt. Dies waren allerdings
nur die Anfänge einer Entwicklung, die in der Mitte der 1880er Jahre, schon
8 F. MEYER, Schule der Untertanen... (1976) [s.o. Anm. 7], S. 57, zum Folgenden
auch S. 165, und insges. S. 160-165.
9 GS 1888, S. 240 - 242, (Nr. 9301); dazu das Gesetz vom 31. März 1889, GS 1889,
S. 64 (Nr. 9326); siehe z.B. E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte...
(1969) [31], Bd. 4, S. 884; Karlheinz KITZEL, Die Herrfurth'sche Landgemeinde-
ordnung ( = SchrrVPkomA, Bd. 3), Stuttgart 1957, S. 51; zur Tendenz, den Land-
adel von Schullasten zu befreien, s. auch J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer
S c h u l g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 1 4 ) [ 4 3 ] , S. 1 6 0 , 1 9 2 und G S 1 8 8 7 , S. 1 7 5 ff. (Gesetz N r . 9 2 0 6
vom 26. Mai 1887).
10 GS 1897, S. 2 5 - 3 8 , (Nr. 9880), bes. die §§ 1, 2 und 27 (S. 25 f., 34 f.); zu 1897
und 1909 vgl. aus der Lit. R. BÖLLING, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer...
(1983) [25], S. 72 - 75; E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte... (1969)
[31], Bd. 4, S. 9 0 1 - 9 0 5 ; H.-G. THIEN, Schule, Staat und Lehrerschaft... (1984)
[s.o. Anm. 4], S. 217, 219; C. BERG, Die Okkupation der Schule... (1973) [s.o.
Anm. 7], S. 171.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 751
die höheren Schulen kann (1911) von einer Finanzierung von 22 Prozent
aus staatlichen, 34 Prozent aus Gemeindemitteln sowie 43,5 Prozent aus
Eigeneinnahmen der Anstalten (Schulgeld) gerechnet werden.
Wenn die Volksschulausgaben überhaupt in den 50 Jahren von 1861 bis
1911 in Preußen von 30 auf 420 Millionen Mark stiegen (Tews), so wird diese
Zahl erst in vollem Umfang aussagefähig, wenn für die entsprechenden Jahre
die Ausgaben pro Volksschulkind mit 11 beziehungsweise 63 Mark zu be-
rechnen sind; für höhere Schüler wurden freilich schon 1882/83 170, für einen
Studenten 640 Mark im Jahr aufgewandt. 16 In dem Rückgang der auf einen
Lehrer entfallenden Schüler in Volksschulen von 84 (1857) auf 57 (1911; in
Mittelschulen 1857:44,1911: 29) wird eine Verbesserung der Unterrichtsqua-
lität gesehen, die die aufgezeigte Steigerung des Kultusetats mit bedingte. 17
Natürlicherweise ist auch hinsichtlich der finanzstaatlichen Unterstützung
und Lenkung des Schulwesens in den Jahrzehnten des Kaiserreichs - zumal
in regionaler Hinsicht - zu differenzieren. Um 1900 trug der Staat 11,3 Prozent
der städtischen, aber 37 Prozent der ländlichen Elementarschulkosten. 18 Be-
vorzugt unterstützt wurden die ländlichen Gebiete der mittleren und östlichen
Provinzen, 19 unter anderem Ausdruck einer den ostelbischen Großgrundbesitz
bevorzugenden Innenpolitik. Insofern wird im einsetzenden staatlichen
Finanzengagement, das ja erstmals direkt einzelne Dorfschulen in großer Zahl
erreichte, auch ein Verwaltungshandeln greifbar, das tendenziell den — nach
wie vor tiefen — Stadt-Land-Gegensatz im Bildungswesen verminderte.
Gleichwohl blieben kommunale Spielräume, je nach lokalem Steueraufkom-
men und der Bevölkerungsentwicklung erheblich und dies trotz der entgegen-
gesetzten Bestrebungen der preußischen Kultusverwaltung, die auch für die
20 Dazu Helga ROMBERG, Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen
Bildungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
unter besonderer Berücksichtigung Preußens ( = StDokdBg, Bd. 11), Weinheim -
Basel 1979, S . 4 1 0 f .
21 F. M E Y E R , S c h u l e d e r U n t e r t a n e n . . . ( 1 9 7 6 ) [ s . o . A n m . 7 ] , S. 1 0 2 ; E r n s t CLOER,
Sozialgeschichtliche Aspekte der Sozialisierung der preußischen Volksschulleh-
rerschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Manfred Heinemann
(Hg.), Der Lehrer und seine Organisation ( = VHKDGE, Bd. 2), Stuttgart 1977,
S. 5 9 - 7 9 , h i e r S. 6 2 f.
22 Grundlegend die Arbeiten von Rainer BÖLLING, Lehrerarbeitslosigkeit in histo-
rischer Perspektive, in: RJB, 34. Jg. (1986), S. 1 9 8 - 2 1 2 , hier S. 202 f.; Ders.,
Lehrerarbeitslosigkeit. Historische Erfahrungen, gegenwärtige Situation und Zu-
kunftsperspektiven, in: APuZ, Β 21/87, 23. V. 1987, S. 3 - 14, hier S. 5 f.; Ders.,
Sozialgeschichte der deutschen Lehrer... (1983) [25], S. 60f.; man vgl. die Inter-
pretation von Franz WENZEL, Sicherung von Massenloyalität und Qualifikation
der Arbeitskraft als Aufgabe der Volksschule, in: Klaus L. Hartmann/Friedhelm
Nyssen/Hans Waldeyer (Hg.), Schule und Staat im 18. u. 19. Jahrhundert. Zur
Sozialgeschichte der Schule in Deutschland, Frankfurt/M. 1974, S. 322 — 386, hier
S. 371 ff. Den Anteil weibl. Volksschullehrer gibt Hartmut KAELBLE, Soziale
Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im
internationalen Vergleich ( = KrStGw, Bd. 55), Göttingen 1983, S. 98 schon mit
26 Prozent für 1911 an.
754 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
23 Zahl der Seminare für Seminaristen bei J. TEWS, Ein Jahrhundert preußischer
S c h u l g e s c h i c h t e . . . ( 1 9 1 4 ) [ 4 3 ] , S. 2 4 7 ( 1 8 9 7 ) : 1 1 5 , 1 9 0 7 : 1 5 3 ; vgl. a b e r S. 2 4 7 f f . ;
weitere Zahlen (1912/13: 188 Seminare für Lehrer, 16 für Lehrerinnen) bei C.
MÜLLER, Grundriß der Geschichte des preußischen Volksschulwesens... (41913)
[ 3 8 ] , S. 3 8 6 .
24 A . a . O . , S. 420; H.-G. THIEN, Schule, Staat und Lehrerschaft... (1984) [s.o.
Anm. 4], S. 222, 224, s. auch noch S. 219; Manfred HEINEMANN, Der Lehrerverein
als Sozialisationsagentur. Überlegungen zur beruflichen Sozialisation der Volks-
schullehrer in Preußen, in: Ders. (Hg.), Der Lehrer und seine Organisation
( = VHKDGE, Bd. 2), Stuttgart 1977, S. 3 9 - 5 8 , hier S. 55.
25 R . BÖLLING, L e h r e r a r b e i t s l o s i g k e i t . . . , in: A P u Z . . . ( 1 9 8 7 ) [ s . o . A n m . 2 2 ] , S. 6 ;
zur Lehrerausbildung vor 1914 jetzt Harald REISSIG, Die Lehrerseminare in
Preußen im ersten Weltkrieg. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung der Orga-
nisationsstruktur und Erziehungswirklichkeit der staatlichen preußischen Leh-
rerbildungsanstalten mit einem Ausblick auf das Ende der seminaristischen
Lehrerbildung in der Weimarer Republik, Phil. Diss. FU Berlin 1986 [MS], S. 71,
zur (sechsjährigen) Volksschullehrerausbildung (3 Jahre in der Präparandenan-
stalt, 3 Jahre im Seminar) um 1900 bes. S. 61—77.
26 Aus den für diese Thematik einschlägigen Arbeiten von Hartmut KAELBLE sei
beispielhaft verwiesen auf seine Studie: Sozialer Aufstieg in Deutschland 1850 —
1914, in: VSWG, Bd. 60 (1973), S. 4 1 - 7 1 , hier S. 66f.; sodann Ders., Soziale
Mobilität und Chancengleichheit... (1983) [s. o. Anm. 22], Tabelle S. 97 und Text
S. 96 (leichte Zunahme des Unterschichtenanteils); M. KLEWITZ, Preußische
Volksschule vor 1914... (1981) [s.o. A n m . 1 9 ] , S. 5 5 6 ; M . HEINEMANN, Der
Lehrerverein als Sozialisationsagentur... (1977) [s.o. Anm. 24], S. 39; nach aus-
gewählten brandenbg. Seminaren: Rainer BÖLLING, Volksschullehrer und Politik.
Der Deutsche Lehrerverein 1918-1933 (=KrStGw, Bd. 32), Göttingen 1978,
S. 22; Ders., Sozialgeschichte... (1983) [25], S. 77ff.; Rita WEBER, Die Neuord-
nung der preußischen Volksschullehrerbildung in der Weimarer Republik. Zur
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 755
und von diesem (seit der Roonschen Heeresreform) wiederum der Zugang
zur sozial wertvollen Reserveoffizierscharge. Als „Grundstein" des Berech-
tigungswesens wird das 1810 eingeführte Lehramtsexamen angesehen.
Schon durch den wachsenden Verwaltungs- und Beamtenapparat gewann
das System der Berechtigungen im 19. Jahrhundert fortwährend an Bedeu-
tung; schließlich waren nicht nur für den höheren Staats- und Kirchen-, für
den Post- und Telegraphendienst, sondern auch für zahlreiche „bürgerliche
Berufe", zum Beispiel für Tierärzte und Apothekengehilfen, die erforderli-
chen Berechtigungen, für letztere übrigens die Berechtigung zum einjährigen
Militärdienst, vorgeschrieben. Wenn auch nur recht bedingt, so schlug das
Berechtigungswesen auch auf die Unternehmensbürokratie um 1900 durch. 34
Die zunehmende Laufbahndifferenzierung, zumal im Staatsdienst, stand mit
dem in wachsendem Maße ausgefeilten Berechtigungssysiew in einem Wech-
selverhältnis. Das Gymnasium war ursprünglich der Ort, an dem die Be-
rechtigungen erworben werden konnten und mußten. Ob und inwieweit
andere entstehende Schultypen zur Verleihung der Berechtigungen autori-
siert wurden, sollte ihre soziale Wertigkeit bestimmen, und dies auch über
die Zeit des Kaiserreichs hinaus.
Daß die Volksschule als die Bildungsstätte, in der um 1890 über 90
Prozent der Bevölkerung ihre Schulbildung erhielten, keine „Berechtigun-
gen" verlieh und insofern die Masse der Volksschüler von der Möglichkeit
eines sozialen Aufstiegs durch Bildung (in einer Generation) ausgeschlossen
war, besagt noch nicht, daß die Volksschule als ausschließlich sozialrestau-
rativ-konservative Institution, die keinerlei modernisierende Wirkung er-
bracht habe, anzusehen ist. Selbst abgesehen von der freisinnigen Prägung
der evangelischen Volksschullehrer verkürzte eine solche Darstellung35 die
37 Klaus HARNEY, Die preußische Fortbildungsschule. Eine Studie zum Problem der
Hierarchisierung beruflicher Schultypen im 19. Jahrhundert ( = StDokdBG,
Bd. 14), Weinheim-Basel 1980, passim, bes. S. 67, 70, 73 ff., 84 f.; Klaus HARNEY/
Heinz-Elmar TENORTH, Berufsausbildung und industrielles Ausbildungsverhälnis.
Z u r Genese, Formalisierung und Pädagogisierung beruflicher Ausbildung in
Preußen bis 1914, in: ZfPäd, Bd. 3 2 (1986), S. 9 1 - 1 1 3 , bes. S. 106 f. (Gewerbe-
ordnung 1912); Oskar SIMON, Die Fachbildung des Preußischen Gewerbe- und
Handelsstandes im 18. und 19. Jahrhundert nach den Bestimmungen des Ge-
werberechts und der Verfassung des gewerblichen Unterrichtswesens, Berlin 1902,
S. 835 ff., 847 ff., 8 5 3 - 8 6 0 , (Zitat: S. 859); Herwig BLANKERTZ, Bildung im
Zeitalter der großen Industrie. Pädagogik, Schule und Berufsbildung im
19. Jahrhundert ( = BprobG, Bd. 15), Hannover 1969, S. 128 f.; Wolfdietrich JOST,
Gewerbliche Schulen und politische M a c h t . Z u r Entwicklung des gewerblichen
Schulwesens in Preußen in der Zeit von 1850 - 1 8 8 0 ( = BBBp, Bd. 10), Weinheim-
Basel 1982, S. 93, 100; ferner der Abschnitt „Zur Geschichte der Berufsschul-
pflicht" bei Eduard SPRANGER, Z u r Geschichte der deutschen Volksschule. Neu-
auflage mit einem N a c h w o r t von W. Flitner, Heidelberg 1971, S. 6 4 — 96, 107 ff.,
bes. S. 64, 78, 81 - 84.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 761
nicht nur absolut, sondern auch - und erst dies ist aussagekräftig -
gemessen in Anteilen an den jeweiligen Altersjahrgängen in Preußen fast
anhaltend z u n a h m . 4 2 N a c h Jarausch stieg in Preußen zur Zeit des Kaiser-
reichs der Anteil der Hochschüler unter den 2 0 bis 23jährigen von 0 , 5 auf
1,5 Prozent, um nach dem Ersten Weltkrieg weiter bis zu einem M a x i m u m
von 2 , 7 Prozent zuzunehmen. In dem Vierteljahrhundert vor 1914 war
insbesondere die philosophische Fakultät an den sprunghaft steigenden
Studentenzahlen (an den Universitäten 1870: 7 . 5 3 1 , 1880: 1 0 . 3 7 1 , 1 9 0 0 : rund
16.000, 1913: rund 3 0 . 5 0 0 Studenten) beteiligt, wobei darin die Naturwis-
senschaften an den Universitäten weiterhin mit enthalten w a r e n . 4 3 Hinsicht-
lich der sozialen Herkunft der preußischen Studenten im Kaiserreich ist der
wachsende Anteil von Kindern aus dem Mittelstand und insbesondere aus
der unteren Mittelschicht hervorgehoben worden, der um 1910 über 5 0
Prozent betrug. 4 4 Der Elternanteil mit akademischer Bildung, das heißt die
Selbstrekrutierungsrate, war auf 2 2 Prozent zurückgegangen, wie sich auch
das besitzbürgerliche Element unter den Studenten nur abgeschwächt hatte
halten können, ohne daß allerdings der Anteil aus den ausgesprochenen
Unterschichten, von Jarausch auf 0,3 Prozent veranschlagt, gesteigert wor-
den wäre. Die juristische und die medizinische Fakultät wiesen eine über-
durchschnittlich hohe soziale Herkunft der Studenten auf, während für die
1880er und 1890er Jahre in Preußen, in: ZfPäd, 27. Jg. (1981), S. 225-244, hier
S. 228; D. K. MÜLLER, Sozialstruktur und Schulsystem... (1977) [s.o. Anm. 32],
S. 274 - 297.
42 Zahlen bei Fritz K. RINGER, Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland
1 8 0 0 - 1 9 6 0 , in: GG, 6. Jg. (1980), S. 5-35, hier S. 11; vgl. noch Konrad H.
JARAUSCH, The Social Transformation of the University. The Case of Prussia
1 8 6 5 - 1 9 1 4 , in: JSH, Bd. 12 (1979), S. 6 0 9 - 6 3 6 , hier S. 6 1 0 - 6 1 4 , 628.
43 Κ. H. JARAUSCH, Frequenz und Struktur... (1980) [s.o. Anm. 41], S. 1 2 5 - 1 2 8 ,
zum steilen Anstieg der Studentenzahlen Mitte der 1870er bis Ende der 1880er
Jahre: S. 123; vgl. die Tabellen bei Hartmut TITZE, Das Hochschulstudium...
(1987) [73], S. 36 f., 76 f.
44 Κ. H. JARAUSCH, Frequenz und Struktur... (1980) [s.o. Anm. 41], S. 140f., 145;
Ders., The Social Transformation of the University... (1979) [s.o. Anm. 42],
S. 6 2 5 - 6 2 8 , auch zum Folgenden; vgl. die Zahlen bei J. KOCKA, Bildung, soziale
Schichtung und soziale Mobilität... (1978) [s.o. Anm. 34], S. 309 Anm. 32; den
Anteil von Arbeiterkindern unter den preußischen Universitätsstudenten beziffert
für 1911 auf „weniger als 2 % " Fritz K. RINGER, Die Gelehrten. Der Niedergang
der deutschen Mandarine 1 8 9 0 - 1 9 3 3 [engl. 1969], Stuttgart 1983, S. 61; zu
diesem vieldiskutierten Werk ζ. B. die inhaltsreiche Stellungnahme von Kenneth
D. BARKIN, Fritz K. Ringer's „The Decline of the Mandarins", in: The Journal
of Modern History, Bd. 43 (1971), S. 276 - 286; vgl. auch F. K. RINGER, Bildung,
Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland... (1980) [s. o. Anm. 42], S. 23 f. und
ferner (mit weiterer) Lit.: Rüdiger vom BRUCH, Wissenschaft, Politik und öf-
fentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland 1 8 9 0 -
1914 ( = HSt, Bd. 453), Husum 1980, S. 427: 1902/3 0,07 Prozent ( = 11) Arbei-
tersöhne an allen preußischen Universitäten; zumeist waren es Katholiken; ferner
die Daten bei Hartmut KAELBLE, Chancenungleichheit und akademische Ausbil-
dung in Deutschland 1 9 1 0 - 1 9 6 0 , in: GG, 1. Jg. (1975), S. 121 - 1 4 9 , hier S. 124.
V. Bildungsentwicklung und Leistungsverwaltung im Kaiserreich 763
45
Κ. H . JARAUSCH, Frequenz und Struktur... (1980) [s. o. A n m . 41], S. 146.
46
Siehe die dem Vergleich mit Preußen gewidmeten Passagen bei Fritz RINGER,
Education and the Middle Classes in Modern France, in: Werner Conze/Jürgen
Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. 1 (Bildungssystem und
Professionalisierung in internationalen Vergleichen) ( = IndW, Bd. 38), Stuttgart
1985, S. 109 — 146, hier S. 131 f.; s. ferner zusammenfassend Thomas NIPPERDEY,
Preußen und die Universität, in: Karl-Dietrich Erdmann u. a., Preußen. Seine
Wirkung auf die deutsche Geschichte. Vorlesungen, Stuttgart 1982, S. 65 — 85,
hier S. 78; Ders., War die wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesell-
schaft?, in: Klaus Hildebrand/Rainer Pommerin (Hg.), Deutsche Frage und
europäisches Gleichgewicht. Festschrift für Andreas Hillgruber zum 60. Geburts-
tag, Köln-Wien 1985, S. 6 7 - 8 2 , hier S. 72.
47
Hansjoachim HENNING, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hoch-
industrialisierung 1860-1914. Soziales Verhalten und soziale Strukturen, T. 1: Das
Bildungsbürgertum in den preußischen Westprovinzen ( = Historische Forschun-
gen, Bd. 6), Wiesbaden 1972, S. 485 f.
48
Beispiel: Hans PHILIPPI, Das deutsche diplomatische Korps 1871 —1914, in: Klaus
Schwabe (Hg.), Das Diplomatische Korps 1871 —1945. Büdinger Forschungen
zur Sozialgeschichte 1982 ( = DFühNz, Bd. 16), Boppard a. Rh. 1985, S. 4 1 - 8 0 ,
hier S. 72.
764 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
tete dies auch auf eine relative Aufwertung der elitären humanistischen
Gymnasien hin.
Die Bildungsentwicklung in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs ist durch
eine begrenzte soziale Mobilisierung und relative Modernität gekennzeich-
net.
die ihm Wesentliches verdanken, 23 und schließlich auch für das höhere
Schulwesen zuständig war und insbesondere durch seine Personalmacht
gegenüber den Universitäten als graue Eminenz in einem Vierteljahrhundert
preußischer Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte betrachtet werden muß. 3
Althoff als einen der Nachfolger Johannes Schulzes anzusprechen, ist in
verschiedener Hinsicht berechtigt — Althoff gewann schon durch seine
mehrere ministerielle Amtsperioden umspannende Tätigkeit durch Sach-
kenntnis und als Kontinuitätsgarant besonderes fachliches Gewicht. Seit
1888/89 unterstützte Althoff im Kultusministerium der Jurist Friedrich
Schmidt(-Ott), der in den Jahren 1917/18 der letzte preußische Kultusmi-
nister des monarchischen Preußen werden sollte. 4
Wenn geradezu von einem System Althoff gesprochen worden ist, so zielt
dieses Diktum auf die bürokratische Machtmaximierung mittels eines Net-
zes von Vertrauensleuten an den Universitäten, im Parlament, in der Fi-
nanzwelt und nicht zuletzt durch direkte Kontakte zum Hof und zum Kaiser
persönlich. Gefürchtet, bei den einen geachtet und bei anderen ob umstrit-
tener Praktiken („Reverse") verachtet, wurde er, der im Unterschied etwa
zu Humboldt nicht über eine bildungspolitische Reformkonzeption mit
theoretischer Fundierung verfügte, durch seine langjährige Verwaltungspra-
xis zur Schlüsselfigur. Althoff scheute sich nicht, auch gegen den Vorschlag
der betroffenen Fakultät Berufungen vorzunehmen, doch zeigt die Statistik
in seiner Amtszeit keine prozentuale Zunahme der Oktrois. Allerdings
waren Althoffs Instrumente so vielfältig, daß er seinen Einfluß auch ohne
dieses letzte Mittel zur Geltung zu bringen vermochte. Einen Robert Koch
hat Althoff durch Oktroi zum Berliner Ordinarius und Direktor des Insti-
tutes für Infektionskrankheiten gemacht; Karl Lamprecht als Nachfolger
Heinrich von Treitschkes durchzusetzen, gelang hingegen nicht. 5 Die Ver-
Preußen — Land der Schulen, nicht nur der Kasernen. Preußische Bildungspolitik
von Gottfried Wilhelm Leibniz und Wilhelm von Humboldt bis Friedrich Althoff
und Carl Heinrich Becker ( 1 7 0 0 - 1 9 3 0 ) , in: Wolfgang Böhme (Hg.), Preußen,
eine Herausforderung ( = HerT, Bd. 32), Karlsruhe 1981, S. 54-99, hier S. 81, 87;
vgl. das Urteil bei Agnes von ZAHN-HARNACK, Adolf von Harnack, Berlin 1936,
S. 304. Illustrativ jetzt die Edition von William M . CALDER III./Alexander KO-
SENINA (Hg.), Berufungspolitik innerhalb der Altertumswissenschaft im wilhel-
minischen Preußen. Die Briefe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs an Friedrich
Althoff ( 1 8 8 3 - 1 9 0 8 ) , Frankfurt/M. 1989, Texte: S. 1 - 1 7 0 , und im N a c h w o r t
bes. S. 173 ff., S. 177.
6 ZB1UV, 1898, S. 685 f.; dazu A. SACHSE, Friedrich Althoff... (1928) [s. o. Anm. 3],
S. 201, 2 0 6 - 211, 222, ferner S. 170.
7 Β. v. BROCKE, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen
Kaiserreich... (1980) [s.o. Anm. 3], S. 49, zum Folgenden: S. 4 9 - 5 3 .
8 Klassisch: Adolf HARNACK, Vom Großbetrieb der Wissenschaft [1905], in: Ders.,
Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 1, Gießen 1911, S. 10 — 20, bes. S. 12 f.; Theodor
MOMMSEN, Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 2 0 9 ; aus der Lit. ferner Helmut
SCHELSKY, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität
und ihrer Reformen ( = W W W , Bd. 20), Düsseldorf 2 1971, S. 145 - 149; Christian
von FERBER, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und
Hochschulen 1 8 6 4 - 1 9 5 4 ( = ULdHsch, Bd. 3), Göttingen 1956, S. 53 f.
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 769
11 Otto HINTZE, Gustav Schmoller. Ein Gedenkblatt [1919], in: Ders., Soziologie
und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie
der Geschichte ( = d e r s . , Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2), Göttingen 2 1964,
S. 5 1 9 - 5 4 3 , h i e r S. 5 2 0 .
12 Gerhard OESTREICH, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen
Forschung in Deutschland [1969], in: Ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit.
Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 5 7 - 9 5 , hier
S. 6 8 ff., S. 7 4 .
13 B. vom BROCKE, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deut-
schen Kaiserreich... (1980) [s. o. Anm. 3], S. 50ff.; A. SACHSE, Friedrich Althoff...
( 1 9 2 8 ) [ s . o . A n m . 3 ] , S. 2 3 4 - 244.
14 Berhard vom BROCKE, Preußen - Land der Schulen, nicht nur der Kasernen.
Preußische Bildungspolitik von Gottfried Wilhelm Leibniz und Wilhelm von
Humboldt bis Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker ( 1 7 0 0 - 1 9 3 0 ) , in:
Wolfgang Böhme (Hg.), Preußen, eine Herausforderung ( = HerT, Bd. 32), Karls-
ruhe 1981, S. 5 4 - 9 9 , hier S. 88
15 Armin HERMANN, Die neue Physik. Der Weg in das Atomzeitalter. Zum Gedenken
an Albert Einstein, Max von Laue, Otto Hahn, Lise Meitner, München 1979,
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 771
S. 33 f.; Wilhelm H . WESTPHAL, AUS der großen Zeit der Berliner Physik, in: H.
Leussink/E. Neumann/G. Kotowski (Hg.), Studium Berolinense... (1960) [s.o.
Anm. 4], S. 791 f., mit weiteren Nobelpreisträgern; Arnim HERMANN, Deutsche
Nobelpreisträger, München J 1 9 8 7 , passim.
16 Walter RUSKE, Außeruniversitäre technisch-naturwissenschaftliche Forschungs-
anstalten in Berlin bis 1945, in: R. RÜRUP (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft...
( 1 9 7 9 ) [ 5 8 ] , B d . 1, S. 2 3 1 - 2 6 3 , b e s . S. 2 3 4 - 2 4 9 , 2 5 4 ff., 2 5 8 f., z u v e r s c h i e d e n e n
Instituten; F. R. PFETSCH, Z u r Entwicklung der Wissenschaftspolitik... (1974)
[s.o. Anm. 2], S. 104 — 125; zu Reichsinstituten etc.: Georg SCHREIBER, Deutsche
Wissenschaftspolitik von Bismarck bis zum Atomwissenschaftler Otto Hahn
( = VAGFGew, Bd. 6), Köln-Opladen 1954, S. 2 4 ff.
17 Karl-Heinz MANEGOLD, Universität, Technische Hochschule und Industrie. Ein
Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter besonderer
Berücksichtigung der Bestrebungen Felix Kleins ( = SchrWSG, Bd. 16), Berlin
1970, S. 1 5 7 - 1 8 8 , bes. S. 168 ff.; Wolfgang TREUE, Forschungsförderung in
Deutschland, in: J G M O D , Bd. 28 (1979), S. 5 5 8 ; Zitat F. SCHNABEL, Artikel:
Althoff... (1953) [s.o. Anm. 3], S. 223.
18 Lothar BURCHARDT, Wissenschaft und Wirtschaftswachstum: Industrielle Ein-
flußnahmen auf die Wissenschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland, in:
772 § 3 Bildungswirklichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Berufung von Kathedersozialisten nach Berlin seit Adolf Wagner (1870) und
verstärkt unter Althoff, daß die Kultusverwaltung durchaus eine Richtung
nicht nur duldete, sondern förderte, die gewiß in strikter Frontstellung
gegen Sozialrevolutionäre Strömungen zugleich gegen den Manchesterlibe-
ralismus im Bewußtsein sozialpolitischer Aufgaben anging (wobei auch in
dieser Hinsicht die politische Trendwende der späten 1870er Jahre zu
bedenken ist!). 29 Wenn unter dem „System Althoff" trotz des intensiven
bürokratischen Zugriffs einer Leistungsstrukturen auch materiell vorhalten-
den Kultusverwaltung die Forschungsfreiheit gewahrt wurde — und im
Interesse der Resultate gewahrt werden mußte —, so fand dies Ausdruck
in einer unkonventionellen, auch kritische, politische Köpfe durchaus för-
dernden Berufungspolitik im Preußen des Kaiserreiches; die Namen von
Hans Delbrück, Friedrich Meinecke und Ernst Troeltsch — und (vor 1870:)
Theodor Mommsen und Rudolf Virchow — seien dafür als Beispiele
genannt, wobei der Gesamttrend sicherlich vom liberal-freisinnigen Op-
positionsprofessor zu dem des integrierten Nationalliberalen ging 30 — der
linksliberale Soziologe Tönnies, der sich in den 1890er Jahren politisch
engagiert hatte, wurde allerdings von Althoff nicht gefördert und blieb in
Kiel. Althoff war allerdings bei allen Bestrebungen zur Deckung hinsichtlich
der Kathedersozialisten dagegen, daß Sozialdemokraten eine beamtete Uni-
versitätskarriere offenstand. In dem spektakulären Fall des sozialdemokra-
tischen Privatdozenten der Physik Leo Arons hat er aber, wenn auch
vergeblich, die Disziplinarmaßnahmen durch Verschleppen zu mildern ge-
sucht.31 Erst nachdem das als Lex Arons bekannte „Gesetz, betreffend die
ständigen Bild, sowohl auf den von Heinrich von Treitschke durch eine
Artikelserie in den Preußischen Jahrbüchern 1879/80 3 6 ausgelösten Antise-
mitismusstreit hinzuweisen, als auch auf den Widerspruch, auf den
Treitschke unter seinen Kollegen stieß. Nicht nur ein Theodor Mommsen,
dieser freilich besonders spektakulär, ist dem publizistischen und dem
einsetzenden universitären Antisemitismus entgegengetreten; gegen
Treitschke wandten sich öffentlich unter anderem Droysen, Sybel, Virchow,
Gneist und Wattenbach. 37 Gleichwohl deuten die Indizien auf eine Zunahme
antisemitischer Strömungen auch an preußischen Universitäten hin, wiewohl
dieses Phänomen weder auf Preußen noch auf Deutschland um 1900 in
seiner räumlichen Ausdehnung beschränkt blieb. Wenn auch neben den
österreichischen Universitäten eher das sächsische Leipzig als Hochburg des
universitären Antisemitismus galt, so sind auch an preußischen Universi-
täten seit den 1880er Jahren studentische Vereinigungen mit entsprechender
Färbung begründet worden; in Göttingen protestierten allerdings Studenten
gegen den Antisemitismus, und es sind auch in Preußen philosemitische
Studentenvereine zeitweise aufgetreten, die allerdings gegen die im „Kyff-
häuserverband" zusammengeschlossenen Verbände nichts Vergleichbares
aufgebracht zu haben scheinen, doch sind weitere Forschungen auf diesem
Gebiet wie auch solche zur politischen Wirkungsgeschichte der Studenten-
verbindungen erwünscht, zumal für die Jahre expandierender Studenten-
zahlen. Auch in den Burschenschaften nahm offenbar die antisemitische
und nationalistische Tendenz zu.
„Politisch ging es abwärts, geistig wieder aufwärts", so hat Friedrich
Meinecke die Lage im Preußen-Deutschland der 1890er Jahre zu fassen
gesucht, 38 und dieser Satz gilt auch für die wissenschafts- und bildungsge-
schichtliche Entwicklung dieser Zeit insofern, als bei allen bedenklichen
und irrigen politischen Tendenzen etwa an den Universitäten, für die von
einer partiellen Politisierung gesprochen werden kann, doch die Gesamt-
36 Wieder in: Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Kämpfe. Neue Folge. Schriften
zur Tagespolitik, Leipzig 1896, der auslösende erste Aufsatz v o m November
1879: S. 1 - 28, hier S. 21 ff., sodann S. 2 9 - 125, 133 ff., 136 ff.
37 T h e o d o r MOMMSEN, Auch ein W o r t über unser Judentum [1880], in: Ders.,
Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 4 1 0 - 4 2 6 , bes. S. 4 1 3 f., 4 1 8 - 4 2 2 . Walther
BÖHLICH (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, F r a n k f u r t / M . 1965, S. 5 - 2 3 5
die zeitgenöss. Kontroverstexte, S. 2 3 7 — 2 6 3 das N a c h w o r t bes. S. 2 4 5 f., 2 6 2 ; A.
BUSCH, Die Geschichte des Privatdozenten... (1959) [s. o. A n m . 33], S. 156. T r o t z
schwacher Materialbasis: H a n s Peter BLEUEL, Deutschlands Bekenner. Profes-
soren zwischen Kaiserreich und Diktatur, Bern-München-Wien 1968, S. 3 4 ff.;
F . K . RINGER, Die Gelehrten... (1983) [ s . o . A n m . 2 9 ] , S. 126 f.; gegen Ringer:
Kenneth D. BARKIN, Fritz K. Ringer's T h e Decline of the Mandarines, in: J M H ,
Bd. 43 (1971), S. 2 7 6 — 2 8 6 , hier S. 281 auch zum akademischen Antisemitismus
im außerdeutschen Ausland; Studenten: K. H . JARAUSCH, Deutsche Studenten...
(1984) [50], S. 8 5 - 9 0 , 103; Friedrich ScHULZE/Paul SSYMANK, Das deutsche
Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, M ü n c h e n 4 1 9 3 2 ,
S. 3 4 2 - 3 5 1 .
38 Friedrich MEINECKE, Erlebtes 1 8 6 2 - 1 9 0 1 , Leipzig 1941, S. 167.
VI. Der Großbetrieb der Wissenschaft 779
17 Ebda., S. 98, 102; Erich WENDE, C. H. BECKER. Mensch und Politiker. Ein
biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, Stuttgart
1959, bes. S. 58 ff.; mit Lit.: Heidemarie NOWAK, Über Leben und Nachlaß des
preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker (1876 — 1933), in: JbbLG,
Bd. 33 (1982), S. 118 - 122; programmatisch: C[arl] H[einrich] BECKER, Gedanken
zur Hochschulreform, Leipzig 1919, bes. S. 5 ff., S. 30 ff., S. 66.
18 Kurt DÜWELL, Staat und Wissenschaft in der Weimarer Epoche. Zur Kulturpolitik
des Ministers C. H. Becker, in: Theodor Schieder (Hg.), Beiträge zur Geschichte
der Weimarer Republik ( = HZ, Beih. 1), München 1971, S. 31 - 74, hier S. 43 ff.,
zum Folgenden noch S. 50ff.; D. RIMMELE, Die Universitätsreform in Preussen...
(1971) [s. o. Anm. 16], S. 1 8 0 - 2 6 8 , 3 2 0 - 3 2 7 ; Helmut SCHELSKY, Einsamkeit und
Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen
( = WWW, Bd. 20), Düsseldorf 2 1971, S. 127 ff.
19 Ebda. u. E. WENDE, Carl Heinrich Becker... (1959) [s.o. Anm. 17], S. 112;
Studentenschaft: D. RIMMELE, Die Universitätsreform in Preussen... (1971) [s.o.
Anm. 16], S. 252, 258 — 266, 326; Thomas NIPPERDEY, Die deutsche Studenten-
schaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik [1961], wieder in: Ders.,
Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte
( = KrStGw, Bd. 18), Göttingen 1976, S. 3 9 0 - 4 1 6 , hier S. 391.
II. Universität u. Hochschulreformversuche i. republikan. Preußen 787
20 H . SCHELSKY, E i n s a m k e i t u n d F r e i h e i t . . . ( 2 1 9 7 1 ) [ s . o . A n m . 1 8 ] , S. 1 2 6 f . , und
wiederum D. RIMMELE, Die Universitätsreform in Preussen... (1971) [s.o.
A n m . 1 6 ] , S. 1 3 8 - 1 4 8 , S. 1 7 1 .
21 Dietrich GERHARD, Adolf v. Harnacks letzte Monate als Präsident der Kaiser-
Wilhelm-Gesellschaft [1970], in: Ders., Gesammelte Aufsätze ( = VMPIG, Bd. 54),
Göttingen 1977, S. 245 - 267, hier S. 246 - 2 5 2 , 2 5 5 , 2 5 7 ff., 262; Wolfgang TREUE,
Forschungsförderung in Deutschland, in: J G M O D , Bd. 28 (1979), S. 5 6 2 f . ; vgl.
noch Karl GRIEWANK, Staat und Wissenschaft im Deutschen Reich. Zur Ge-
schichte und Organisation der Wissenschaftspflege in Deutschland ( = SchrdP,
H. 17/18), Freiburg 1927, S. 6 0 - 6 5 ; K W G und Inflationsfolgen: Peter Christian
WITT, Wissenschaftsfinanzierung zwischen Inflation und Deflation: Die K W G
1918/19 bis 1934/35, in: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.), Forschung
im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der
Kaiser-Wilhelm —/Max-Planck-Gesellschaft. Aus Anlaß ihres 75jährigen Beste-
hens, Stuttgart 1990, S. 5 7 9 - 6 5 6 , bes. S. 600 ff.
22 Kurt ZIEROLD, Forschungsförderung in drei Epochen. Deutsche Forschungsge-
meinschaft. Geschichte — Arbeitsweise — Kommentar, Wiesbaden 1968, S. 4,
S. 11 f., zur Abhängigkeit vom Reichsinnenministerium bes. S. 24 f.; T. NIPPER-
D E Y / L . SCHMUGGE, 5 0 J a h r e F o r s c h u n g s f ö r d e r u n g in D e u t s c h l a n d . . . ( 1 9 7 0 ) [ s . o .
A n m . 8], S. 1 4 - 1 9 , 22, 2 5 ff., 3 0 , 3 9 f.; W . TREUE, Forschungsförderung in
Deutschland... (1979) [s. o. Anm. 21], S. 560; K. DÜWELL, Staat und Wissenschaft
in d e r W e i m a r e r E p o c h e . . . ( 1 9 7 1 ) [ s . o . A n m . 1 8 ] , S. 5 6 - 5 9 .
788 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung
von den Ländern beziehungsweise von Preußen, wird von der unmittelbaren
Anfangsphase abgesehen. Wie die KWG sollte auch diese, nun zur Wissen-
schafts-Förderung bestimmte Institution in Selbstverwaltung geführt wer-
den, doch war in diesem Falle der überstarke Reichseinfluß von Anfang an
von keinem der Beteiligten zu ignorieren. Der im späten 19. Jahrhundert
vorsichtig einsetzende Griff des Reichs auf die Kulturdomäne der Länder
und besonders Preußens wurde nach 1918 nicht schwächer, sondern stärker,
ein Trend, dessen Gefährlichkeit bald evident werden sollte.
23 C. FÜHR, Zur Schulpolitik der Weimarer Republik... ( 2 1971) [s.o. Anm. 7],
S. 52 f., dazu Sebastian F. MÜLLER, Zur Sozialisationsfunktion der höheren
Schule. „Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens" im Jahre 1924/
25, in: M. Heinemann (Hg.), Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer
R e p u b l i k . . . ( 1 9 7 6 ) [ s . o . A n m . 1 4 ] , S. 1 0 5 - 1 1 6 , h i e r S. 1 0 7 .
24 Marika MÖRSCHNER, Entwicklung und Struktur der Lehrerinnenbildung. Studien
zur Situation der Seminare in der Rheinprovinz unter besonderer Berücksichti-
gung der staatlichen Einrichtungen, Rheinstetten 1977, S. 121 f.; jetzt bes. Rita
WEBER, Die Neuordnung der preußischen Volksschullehrerbildung in der Wei-
marer Republik. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Bedeutung der Pädago-
gischen Akademien ( = StDokdBg, Bd. 26), Köln-Wien 1984, S. 56 ff., 163 f., 196 -
248, 315, 317, die die Finanzüberlegungen als nur vorgeschoben betrachtet; zu
Webers Studie, in der die ältere Lit. diskutiert wird, die Rezensionen von Karl-
E r n s t JEISMANN, in: HZ, Bd. 241 (1985), S. 2 2 1 f., und Sören SCHUPPAN, in:
JGMOD, Bd. 34 (1985), S. 2 1 8 - 2 2 0 ; vgl. auch schon E. R. HUBER, Deutsche
III. Schulreform und Lehrerbildung 789
Rechnung gestellt werden muß, daß die Oberschüler der Weimarer Zeit
noch überwiegend vor 1918 eingeschult worden waren. Tabelle 8 gibt nach
Kaelble 33 Daten für die soziale Herkunft preußischer Oberschüler in der
Weimarer Republik an.
TABELLE 8
Soziale Herkunft preußischer Oberschüler (in Prozent)
1921 1931
Obere Mittelschicht 23 22
Untere Mittelschicht 66 60
Unterschicht 9 11
(darunter Arbeiter 5 5)
keine Angaben - 7
Der Anteil der Arbeiterkinder unter den Studenten der preußischen Uni-
versitäten blieb mit 1 Prozent um 1925/26 marginal. Freilich hat Jarausch,
der den Arbeiteranteil auf 3 Prozent beziffert, unlängst vor einer Unter-
schätzung der in den Großgruppen zu diagnostizierenden sozialen Öffnung
der Universität in der Weimarer Zeit gewarnt, die darin zum Ausdruck
komme, daß der Neue Mittelstand (Angestellte, mittlere Beamte) in der
sozialen Herkunft der männlichen preußischen Studenten seinen Anteil von
31 Prozent auf fast 47 Prozent zu steigern vermochte, Mittelstand und
Arbeiter bei Rückgang des Anteils von oberer Mittelschicht und Bildungs-
bürgertum ihre Quote von etwa 61 auf 72 Prozent vermehrten.
Insofern zeigt eine genauere, nicht nur auf die Anfangsjahre des republi-
kanischen Preußen bezogene Betrachtung sektoralen Wandel, wiewohl die
Jahre, die der Demokratie verblieben, schwerlich ausreichten, um die Re-
formeffekte in der Schulwirklichkeit — von der Aufhebung der geistlichen
Schulaufsicht, der Reform der Lehrerbildung, der Deutschen Oberschule,
bis zur quasi-obligaten Grundschule und anderem mehr — voll erkennbar
werden zu lassen. Trotz des Verlustes „schulischer Notstandsgebiete" (Kle-
Als der Sozialdemokrat Adolf Grimme in der Nachfolge des von der SPD
gestürzten Kultusministers Becker die preußische Bildungs- und Wissen-
schaftsverwaltung 1930 übernahm und eine Politik pädagogischer Neuan-
sätze durchzuführen beabsichtigte, stellte sich deren Unmöglichkeit ange-
sichts der allgemeinen Krisenprobleme schnell heraus.3S Aber schon in den
Jahren zuvor deuteten sich kommende Entwicklungen in Preußen an, deren
Impulse allerdings nicht mehr allein, ja vielleicht nicht einmal mehr primär
aus Preußen kamen.
Schon Becker, dem die Sozialdemokratie nicht ganz zu Unrecht eine
Bevorzugung von Konservativen und Nationalliberalen, nicht aber von
Sozialisten in der universitären Personalpolitik zum Vorwurf gemacht hatte,
mußte früh Konflikte mit der radikalisierten Studentenschaft durchstehen.
Dabei ging es um die Frage, ob die Studentenschaften an den preußischen
Universitäten ihre Rechte als Selbstverwaltungsorgane behalten sollten, auch
wenn sie mit solchen Studentenorganisationen außerhalb Preußens in Ver-
bindung standen, die nach dem „völkischen Prinzip" organisiert waren, wie
die österreichischen Studentenschaften, in denen antisemitische Tendenzen
früh zu maßgeblichem Einfluß gelangt waren. Der Streit erreichte damit
einen vorläufigen Höhepunkt, daß den preußischen Studentenschaften die
ihnen 1920 verliehene Rechtsqualität verlorenging und diese als private
Vereinigungen fortbestanden.36 War also in dieser preußischen Auseinan-
[s.o. Anm. 19], S. 410; Philipp EGGERS, Bildungswesen, in: Kurt G. A. Jeserich/
Hans Pohl/Georg-Christian von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte,
Bd. 4, Stuttgart 1985, S. 3 4 9 - 3 7 3 , hier S. 368 f.
37 Schreiben Brauns vom 30. XI. 1927, bei Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente
zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 2 1966, S. 390 f. (Nr. 362).
38 E. WENDE, Carl Heinrich Becker... (1959) [s.o. Anm. 17], S. 266f.
39 Grundlegend jetzt: Michael H. KATER, Studentenschaft und Rechtsradikalismus
in Deutschland 1918 - 1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in
der Weimarer Republik ( = Historische Perspektiven, Bd. 1), Hamburg 1975 (mit
weiterer Lit.), hier S. 11, 111; Ders., Der NS-Studentenbund von 1926 bis 1928.
Randgruppe zwischen Hitler und Strasser, in: VfZ, 22. Jg. (1974), S. 1 4 8 - 1 9 0 ,
hier S. 149.
40 So M. H. KATER, Studentenschaft und Rechtsradikalismus... (1975) [s.o.
Anm. 39], S. 17, S. 111 ff., bes. S. 113, 116 ff.; vgl. auch zu diesen Zusammen-
hängen Κ. H. JARAUSCH, Deutsche Studenten... (1984) [50], S. 142.
794 § 4 Bildung u. Wissenschaft v. d. Novemberrev. z. Gleichschaltung
Abkürzungen
Bf. Bischof Kgr. Königreich
Dir. Direktor Kr. Kreis
Ebf. Erzbischof MdR. Mitglied des Reichstages
Frhr. Freiherr Min. Minister
Ft. Fürst Off. Offizier
Gf.(-n) Graf, Gräfin Präs. Präsident
Gft. Grafschaft Prov. Provinz
Hg. Herzog s. seit
Hgt. Herzogtum s. a. siehe auch
Kft. Kurfürst s. unt. siehe unter
Kg.(-n) König, Königin Vers. Versammlung
(Aus sich selbst heraus verständliche Abkürzungen sind nicht erfaßt)
Aachen 66, 86,159, 176, 182, 193 f., 501, - Zahlen 698
519, 521, 523, 537, 705 s. a. Reifezeugnis
- Bistum 176 Ablösungen 138
- Kongreß (Sept.-Nov. 1818) 82 — Ablösung der Dienste 256
- Regierungsbezirk 536 — Ablösungsgelder 127, 512
- Protokoll (15.Nov. 1818) 159 — Ablösungslasten 139
- Raum 95, 522, 540, 595 — Ablösungsordnung vom 2. März
Abdülmecid (1823-1861), Sultan d. Os- 1850 141
manen s. 1839 165 f. — Ablösungsrenten 257
Abendmahlsstreit 170 — Ablösungsrezesse 256
Abgaben 495 £. Abnahmegarantien, staatl. 498
Abgabenverpflichtungen 502 Absolutismus 388, 474, 613, 647
Abgabenverweigerung 257 — aufgeklärter 428, 480
Abgeordnete 113 ff., 208, 252 f. — brandenburgischer 417
- Wahl 306 — bürokratischer 84
- provinzialständische 211 Abteien 174
Abgeordnetenhaus 305, 307 f., 311, 325, Abteilung für Kultus 168
327 f., 330 ff., 349, 557, 745 Academia Caesareo Leopoldina 644
- Wahl v. 1858 325 Académie des nobles 616
Abitur 635, 648, 761 Académie Royale de Sciences et Belies
- Edikt (1780) 635 Lettres s. unt. Akademien (Preuß.
- Examen (1788 ff.) 634 Akademie der Wissenschaften)
- Instruktion 697 Achard, Franz Karl (1753-1821), Che-
- Reglement (1788) 655, (1812) 671 miker 643
- Abiturienten 636 ff., 699, 702, 761 Achenbach, Heinrich (1888:) v. (1829-
— Prüfungen 685 1899), preuß. Verwaltungsbeamter,
800 Personen- und Sachregister
Demagogen, -Verfolgungen 182, 189, Deutscher Bund 80, 83, 157, 162, 179,
191 f., 196, 688, 7 3 0 185, 190, 192, 195, 218, 249 f., 258,
Demographie 643 262, 304, 315 ff., 319 ff., 335 f., 342 f.,
Demokraten, Demokratie 325, 367, 526 345, 351, 506, 511, 728
— demokrat. Linke 256 — Bundesexekution 285, 338, 343
— demokrat. Partei 303 — Bundesfarben 246
„Demokratischer Klub" 255, 259 f. — Bundesfestungen 167
Dennewitz, Schlacht v. (6. Sept. 1813) 63 — Bundesgesetze 195
Departement für Handel und Gewerbe — Bundesintervention 338
131 — Bundeskriegsverfassung 167
Departements — Bundespolizeizentrale 315
— Meuse-Inférieure 66 — Bundespressegesetz 185, 315
— M o n t Tonnerre 66 — Bundesrat 317
— Ourthe 66 — Bundesreform 231, 246
— Rhin-et-Moselle 66, 5 2 2 — Bundestag 167, 195, 206, 246 ff., 252,
— Roer 66 315, 317 f., 338
— Sarre 66 — Bundes-Universitätsgesetz (1819)
Depeschen 149 185, 727
Depositenscheine 135 — Bundes-Untersuchungsgesetz 188
Depression 552, 750 — Bundesverfassung 82
Deputationen 109 — Bundesversammlung 83, 185, 195,
— für geistliche u. Schulangelegenheiten 248, 284
— Bundes-Zentralbehörde 195
168
„Deutscher Handelstag" 553
Deputatleistungen 497
„Deutscher Landwirtschaftsrat" 553,
„Der Sprecher oder: Rheinisch-westfä-
574
lischer Anzeiger" (Zeitung) 211
„Deutscher Lehrerverein" 755
Dernburg, Bernhard (1865 - 1 9 3 7 ) , Dir.
„Deutscher Nationalverein" 348
d. Bank f. Handel u. Industrie 1901 -
„Deutscher Offiziersverein" 570
1906, Staatssekretär d. Reichskolo-
Deutscher Orden in Preußen 385 ff.,
nialamts 1907-1910, Mitgl. d.
391 f., 394, 396 ff., 4 0 0 ff., 406, 413
Preuß. Herrenhauses 1913 - 1 9 1 8 ,
Deutscher Stahlwerksverband 572
Reichsfinanzmin. 1919 582
Deutscher Zollverein 138, 1 6 2 f . , 194,
Desertionen 55
220, 316 f., 358, 501, 510 ff., 523,
Desjardins & Co. (Handelshaus) 478
526 f., 529, 531
Dessau 64, 656 — Zollbundesrat 358
d'Ester, Karl ( 1 8 1 1 - 1 8 5 9 ) , Kölner Arzt — Zollparlament 358, 530
u. Sozialist 211 — Zollparlamentswahlen (1868) 359
Deutsch-Krone 399 — Zollvereinskrise 316, 529
Deutsch-Österreich 592 — Zollvereinspolitik 148, 162 ff.
Deutsche Bank 547, 569, 5 8 2 — Zollvereinsvertrag vom 1. Okt. 1868
Deutsche Bundesakte 80 530
Deutsche Fortschrittspartei 329 — Zollvereinsverträge 316 f.
Deutsche Frage 386, 390, 433 ff. Deutsches Komitee 79
Deutsche Gemeindeordnung 602 Deutsches Reich 365, 367, 369, 386, 392,
„Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft" 419, 435 f., 527, 531, 544 f., 548, 579,
567 781
Deutsche Legion 40 Deutschkatholizismus 212
Deutsche Reichsbahn 596, 600 Deutschland
Deutsche Reichsbank 547, 549, 554 — Einheit, Einheitsbewegung 163, 181,
Deutsche Reichspost 547 283, 434
„Deutscher Arbeiter-Kongress" 259 — Einigung 360
812 Personen- und Sachregister
Falk, Adalbert (1827 -1900), preuß. Kul- Mitgl. d. dt. Nationalvers. 1848/49
tusmin. 1872 - 1 8 7 9 352,740 f., 743 u. d. Ersten preuß. Kammer 1849,
Familienhäuser 156, 217 Oberpräs. d. Prov. Brandenburg
Färber 154 1850 — 1862, zwischenztl. Innenmin.
Fein, Georg (1803 - 1869), liberaler Jour- (1858/59) 103,131,134,162, 200,742
nalist u. Politiker, Emigration 1832 Flüsse 520
(nach Paris u. Zürich, später i. d. - Regulierungen 482, 491
U.S.A.), veröffentlichte unbefugt - Schiffahrt 471
Schöns Schrift „Woher u. wohin" i. - Verkehr 489, 525
Straßburg 1842 206 Folien, Karl (1796-1840), Jurist, Privat-
Feinmechanik 535 dozent i. Gießen u. Jena 1818, Emi-
Felbiger, Johann Ignaz v. (1724-1788), gration nach Frankreich 1819, i. d.
Pfarrer u. Schulreformer 659 Schweiz u. d. U.S.A. 1824 183 f.,
Feldmesser 651 192
Festtagsarbeit 157 Fontainebleau 70
Feudalbindungen 257 - Dekret v. (Okt. 1810) 36
Feuer- und Hagelversicherung 113 Fontane, Theodor (1819 -1898), Dichter
Feuerwerks-Revolution (1835) 197 u. Schriftsteller 179, 252
Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814), Forckenbeck, Max v. (1821-1892),
Philosoph 32, 192, 678, 680 Mitgl. d. preuß. Abgeordnetenhauses
Finanzpolitik, Finanzwesen 128, 130, 1858-1873, dessen Präs. 1866-
132, 477, 507 1873, Oberbürgermeister v. Breslau
— Finanzausgleich 601 1873 u. v. Berlin 1878 -1892, Reichs-
— Finanzbehörden 131 ff. tagspräs. 1874-1879 582
— Finanzedikt vom 27. Okt. 1810 25, Forschung 706, 768 f.
110, 117, 133, 502 - und Lehre 568, 677 f., 766, 769
— Finanzen 117 ff., 138, 470 - Forschungsfreiheit 776
— Finanzgesetzentwürfe 307 - Forschungsinstitute 768
— Finanzministerium 131, 245, 554 Forsten 108
— Finanznot 124 - Forstverwaltung 603
— Finanzreform 28, 110, 476, 495 - Forstwirtschaft 487, 489, 492, 534,
— Finanzressort 131 543
— Finanzverfassung 117 Fortbildungsschulen 760 f.
— Finanzverwaltung 132 f., 682 Fortschrittspartei 330, 349 f., 352, 746
Finanzsalons 582 Frachtkosten 150, 221
Finckenstein, Karl Albrecht Finck v. Fraktion „Mathis" 325
(1772-1811), Reichsgf., preuß. Di- Francke, August Hermann (1663 —
plomat 26 1727), ev. Theologe, Philologe, Päd-
Fischer, Gustav (Prof. i. Jena) 531 agoge, pietistischer Organisator 475,
Flaggengelder 164 621 ff., 625, 642, 661, 663
Flecken 94 Franckesche Anstalten (Halle, Glaucha)
Flick, Friedrich (1883 -1972), Industri- 624
eller, i. Nürnberg zu 7 Jahren Ge- Franckesche Stiftungen 478
fängnis verurteilt 1947, vorzeitig ent- Franckesches Waisenhaus 624 ff.
lassen 1950 593 Frankfurt/M. 65, 67, 83,185,195,246 ff.,
Flotte 234, 472 252, 264, 267, 277, 279, 337, 345 ff.,
— Flottenpolitik 472, 490, 779 530, 547f., 759
Flottwell, Eduard Heinrich v. (1786- - Akzessionsverträge 74
1865), preuß. Staatsmann, Regie- - Frieden (10. Mai 1871) 363
rungspräs. 1825, Oberpräs. d. Prov. - Konferenz vom Mai 1850 284
Posen 1830-1840, d. Prov. Sachsen - Nationalversammlung s. unt. Natio-
1840 - 1 8 4 4 , Finanzmin. 1844 -1846, nalversammlung, dt.
816 Personen- und Sachregister
277 ff., 284 f., 303, 310, 320 ff., 326, Gallus Anonymus, südfrz. Benediktiner,
331, 527, 742 wirkte nach 1100 i. Polen, Autor d.
Friedrich-Denkmal 199 „Cronica et gesta ducum sive prin-
Friedrich-Wilhelm-Hütte 523 f. cipum Polonorum" 395
Friedrich-Wilhelms-Universität s. unt. Gambiamündung 471
Universität Berlin Gans, Eduard (1797-1839), Rechtsphi-
Friedrichs-Schulen 615 losoph, Prof. i. Berlin 1826 193
Friedrichs-Werdersches Gymnasium, Garnisonsschulen 625
Berlin 638 Garten- und Obstbau 514, 517, 521
Friedrichshafen 584 Gasbeleuchtung 519
Friedrichshain s. unt. Berlin Gasser, Simon Peter (1676 — 1745), Ka-
Friedrichstadt s. unt. Berlin meralprof. i. Halle 649
Friese, Karl Ferdinand (1769-1837), Gasteiner Konvention (14.8.1865) 340,
preuß. Beamter, Geh. Kriegs- u. Do- 555
mänenrat 1805, Mitgl. d. Zentralver- Gdingen 594
waltungsrates (Finanzen) 1813, Präs. Geborenenziffer 89, 91
d. Schatzministeriums u. d. Staats- Geburtenüberschuß 91
bank 1817 111, 134 f., 512 Gedike, Friedrich (1754-1803), Philo-
Friseure 215 loge, Gymnasialprof. am Grauen
Fronarbeit 497 Kloster (Berlin) 633, 665 f.
— Frondienste 533 Gefängnisse 196
— Frondienstpflichtige 474 Gehälter 582
Fruchtwechselwirtschaft 142 Geheimallianz, preuß.-russ. (1813) 50, 52
Frühaufklärung 645 Geheime Beschlüsse v. 1834 195 f., 247
Frühindustrialisierung 152 Geheime Hofkammer 474
Fuchs, Paul (1702:) Frhr. (1684:) v. Geheimer Rat 652
(1640-1704), Jurist, Min. 619 Geheimvertrag vom 12.6.1866 (zw.
Führerprinzip 797 Frankr. u. Österr.)341
Fünfzigerausschuß 248 Gehr, Theodor (1663-1705), Holzkäm-
Fürsten 113, 367 merer, Schulstifter i. Königsberg 625
— Fürstenkongreß in Erfurt (27.9. - Geissei, Johannes v. (1796 - 1 8 6 4 ) , kath.
14.10.1808) 33 Prälat, Bf. v. Speyer 1837, Koadjutor
— Fürstentag zu Dresden (16.— 28.Mai d. suspendierten Ebfs. v. Köln, Ebf.
1812) 39 v. Köln 1846, Kardinal 1850 200
Fürstenberg, Aniela (Ehefrau d. Bankiers Geistliches Departement 652
Karl F.) 582 Geld- und Kreditwesen 568
Geldern 77, 653
Gablenz, Anton v. (1810-1878), preuß. Geldverleiher 492
Parlamentarier i. Herrenhaus 343 „Gelehrte Gesellschaft zum Nutzen der
Gagern, Wilhelm Heinrich August Frhr. Wissenschaften und Künste" 644
v. (1799-1880), Bruder v. M . Frhr. Gelehrtenstand 254
v. G., Mitgl. u. Präs. (19.5.-Dez. Gelsenkirchen 538
1848) d. dt. Nationalvers. 1848/49, Gemeinden 586
Min.-Präs. 16.12.1848-21.3./20.5. — Gemeindefinanzgesetz vom 15. Dez.
1849 262, 273, 283 1933 602
Gagern, Maximilian Frhr. v. (1810 — — frz. Gemeindeordnung 109
1889), dt. Politiker, Vertreter d. 13. — preuß. Gemeindeordnung 275
Kurie i. Siebzehnerausschuß 1848, — Gemeindeverfassung 256
Mitgl. d. dt. Nationalvers. 1848/49 Gemeinheitsteilungen 142, 504 f.
246, 283 General-Landschulreglement v. 1763
Galizien 228, 426 654 f.
818 Personen- und Sachregister
— Gesetz-Sammlung für die Königli- Gilly, David (1748 -1808), Architekt 651
chen Preußischen Staaten 84 Gilly, Friedrich (1772-1800), Künstler
Gesetzesinitiative 307 651
Gesinde 118, 153 Gitschin 61
— Gesindedienst 474 Glan (Nebenfluß d. Nahe) 77
— Gesindedienstbefreiung 30 Glas- und Fayence-Industrie 524
— Gesindeordnung (8.Nov.l810) 30 Glaser 215
— Gesindezwangsrecht 98 Glatzer Neiße 557
Gestütsverwaltung 603 Glaucha (Vorstadt v. Halle) 622
Getreide Gleichschaltung s. unt. Nationalsozialis-
— Anbau 477, 491 mus
— Anbaupolitik 588 Glogau 33, 64
— Einfuhren 164, 495, 556 Glückstadt 471
— Export 495, 501 Gnadenschulen, Gnadenschulstellen 631,
— Handel 477, 495 658
— Magazinierung 477 Gneisenau, August Gf. (1814:) Neid-
— Wirtschaft 584 hardt v. (1749-1831), preuß. Gene-
— Zölle 510 ralfeldmarschall u. Heeresreformer
Gewerbe, -wesen 142, 144, 147, 153 24, 28, 31, 34 f., 37 f., 55 f., 58 f.,
— Gewerbe-Akademie 704 67 ff., 71, 161, 192
— Gewerbeförderung 142 Gneist, Rudolf v. (1816-1895), Staats-
— Gewerbefreiheit 26, 142, 144, 490, rechtslehrer 778
502, 515, 552 Gnesen-Posen, Ebt., 176
— Gewerbegesetz 552 Goethe, Johann Wolfgang (1782:) ν.
— Gewerbe-Institut 143, 516 (1749-1832) 33
— Gewerbekrise 213, 216 Goldschmidt-Rothschild, Max Benedikt
— Gewerbeleben, Liberalisierung 29 (1907:) Frhr. (1903:) v. (geb. 1843),
— Gewerbeordnung 552 Unternehmer 580
- v. 2. Nov. 1810 502 Goltz, August Friedrich Ferdinand Gf.
- v. 17. Jan. 1845 515 v. d. (1765-1832), Politiker u. Di-
- v. 21. Juni 1869 531 plomat, preuß. Außenmin. 1807 33,
— Gewerbepolitik 143, 358, 472, 481, 38
515
Goltz, Theodor Frhr. v. d. (1836-1905),
— Gewerbepolizei 502
Agrarwissenschaftler, Prof. i. Kö-
— Gewerbeschulen, Gewerbeschulwe-
nigsberg (1869), Jena (1885) u. Bonn
sen 491, 516
(1896), Dir. d. landwirtschaftl. Insti-
— Gewerbesteuer 25, 118, 214 f., 219
tuts i. Königsberg (1875) u. d. land-
— Gewerbeverwaltung 142
wirtschaftl. Akad. i. Poppelsdorf
Gewerkschaften 786
(1896) 534, 561
Gewichte s. unt. Maße u. Gewichte
Gompertz, Herz Moses (1716 — 1758),
Gex (frz.-schweizer. Landschaft) 73
Gierke, Julius (1807-1855), Mitgl. d. Kaufmann, Münzpächter 484
preuß. Nationalvers. 1848, Land- Göring, Hermann (1893-1946), MdR.
wirtschaftsminister 25.6. - 20.9.1848, (NSDAP) 1928-1945, Reichstags-
Präs. d. Appellationsgerichts Brom- präs. 1932—1945, preuß. Innenmin.
berg 1850 261 1933/34, preuß. Min.-Präs. 1933-
Gierke, Otto Friedrich v. (1841-1921), 1945 603 f.
Rechtshistoriker 368 Görres, Joseph (1839:) v. (1776-1848),
Gießen 183 kath. Publizist u. Wissenschaftler,
„Gießener Schwarze" 183, 729 Begründer d. „Rheinischen Merkur"
Gifhorn 78 1814 178,201
Giftgas 780 Goslar 77
820 Personen- und Sachregister
Kaiserreich 352, 470, 746 f., 749, 752, Diensten 1813, Statthalter i. Belgien
754, 757 f., 762 ff., 781 1814 181
— Kaisertitel 365 Karl Emil ( 1 6 5 5 - 1 6 7 4 ) , Kurprinz v.
— Kaisertum 367 Brandenburg 416
— Kaiserwürde 278 f. Karl X . ( 1 7 5 7 - 1 8 3 6 ) , Gf. v. Artois, Kg.
Kaiisch, Vertrag v. (28.2.1813) 50, 52 v. Frankreich 1 8 2 4 - 1 8 3 0 72, 192
- Proklamation v. (25.3.1813) 52, 57 f., Karl XII. ( 1 6 8 2 - 1 7 1 8 ) , Kg. v. Schweden
60 s. 1697 418
Kaliwerke Bleicherode 565 Karl XIII. ( 1 7 4 8 - 1 8 1 8 ) , Kg. v. Schwe-
Kalmarer Union 404 den s. 1809 u. Norwegen s. 1814
Kalvinisten 617 104
Kamarilla 203, 246, 262, 283 Karlsbad 185
Kameralia, Kameralistik 649 f. — Beschlüsse (1819) 111, 183, 185,
- Lehrstühle 649 188 ff., 247, 727 f., 730 ff.
- Studium 694 — Konferenzen 186 f.
Kamin 469 Karpaten 392
Kammer-Kollegien 682 Kartätschenprinz 238, 324 s. a. Wilhelm,
Kammergerichtsbarkeit 429 Prinz v. Preußen)
Kammerwirtschaft 125 Kartoffeln 491, 493, 496, 514
Kampf, Heinrich, Maschinenfabrikant „Kartoffelrevolution" (1847) 226
523 Kaschubei (poln. Landschaft) 92
Kamptz, Karl Christoph Albert Heinrich Kaschuben 442, 744
v. ( 1 7 6 9 - 1 8 4 9 ) , Jurist, preuß. Be- Kasimir III. (d. Große) (1310 - 1370), Kg.
amter, Geh. Legationsrat u. Vortra- v. Polen s. 1333 399
gender Rat i. Polizeidepartement Kasimir IV. ( 1 4 2 7 - 1 4 9 2 ) , Kg. v. Polen
1812, Mitgl. d. Staatsrats 1817, s. 1447, Großft. v. Litauen 1 4 4 0 -
Mitgl. d. Ministerialkommission ge- 1490 403, 405
gen demagogische Umtriebe 1819, Kassel 285, 530
Gesetzgebungsmin. 1832 - 1 8 4 2 Kassenscheine 135
171, 182, 184, 189, 688 Kassenwesen 132
Kanäle 471, 483, 498, 520, 525, 555 ff. Katasterbüro 108
Kanitz, August Gf. v. ( 1 7 8 3 - 1 8 5 2 ) , Katharina II. (d. Gr.) ( 1 7 2 9 - 1 7 9 6 ) , Ge-
preuß. Off., Generalleutnant 1842, mahlin Zar Peters III., Kaiserin v.
Kriegsmin. 30.4. - 1 7 . / 2 0 . 6 . 1 8 4 8 Rußland s. 1762 423, 426
245 Katharina Jagiellonica, Tochter Sigis-
Kant, Immanuel ( 1 7 2 4 - 1 8 0 4 ) , Philo- munds II. August, Gemahlin Kg. Jo-
soph, Prof. i. Königsberg 643, 646, hanns III. v. Schweden 411
656 Kathedersozialisten 550, 769, 776
Kapitalexport 536 Katholiken, Katholizismus 1 0 2 , 1 6 7 , 1 7 5 ,
Kapitalismus 528 178, 201, 314, 329, 352, 740
Karalene bei Insterburg (Seminar) 670 — Bruderschaften 201
Karbe (Landwirtsfamilie) 562 — Fraktion, kath. 314
Kardorff, Wilhelm v. ( 1 8 2 8 - 1 9 0 7 ) , In- — Kirchengut 174
dustrieller, freikonservativ. Politiker, — integraler 178
Mitgl. d. preuß. Abgeordnetenhauses — politischer 66
1 8 6 6 , 1 8 7 6 , 1 8 8 8 - 1 9 0 7 , u. d. Reichs- — rheinischer 194
tages 1868 - 1 9 0 6 553 — „strengkirchliche Bewegung" 176
Karl Albert ( 1 7 9 8 - 1 8 4 9 ) , Kg. v. Pie- — ultramontane Propaganda 176
mont-Sardinien s. 1831 263 — ultramontaner Radikalismus 177
Karl August ( 1 7 5 7 - 1 8 2 8 ) , regierender Kätner 30
Hg. 1775, Großhg. v. Sachsen-Wei- Kattowitz 519, 540
mar 1815, preuß. General, i. russ. Kattundrucker 154, 217 f.
Personen- und Sachregister 829
- Kreise 55, 117, 158, 195, 199, 203 ff., Kossäten 513
206, 209, 265 f., 273, 549 Kossuth, Ludwig (od.:Lajos) (1802 —
- Partei 26, 234, 351 f. 1894), ungar. Politiker u. Revolu-
- Ultrakonservative 265, 309 tionsführer, „Taufrede" am 3.3.1848
Konsistorialverfassung 169 i. Preßburg, ungar. Finanzmin. 1848,
Konsistorien, Provinzialkonsistorien Emigration 1849 230
108, 168 f., 652 ff., 657, 682 f. Kottwitz, Hans Ernst Frhr. v. (1757 —
Konstantinopel 33, 152, 160 1843), Grundbesitzer, Sozialrefor-
Konstanzer Konzil 402 mer, Philanthrop u. Mittelpunkt d.
Konstitution 206 Berliner Erweckungsbewegung 172
- vom 3. Mai 1791 388 „Kottwitzsche Beschäftigungsanstalt"
Konstitutionalismus 229 217
- monarchischer 304, 307, 356 Kotzebue, August v. (1761 - 1 8 1 9 ) , Lust-
- konstitutionelles System 244 spieldichter, Gerichtspräs. i. Reval
- Scheinkonstitutionalismus 26, 308 1785-1795, russ. Staatsrat 1813, i.
Konstitutionelle Monarchie 512 Weimar s. 1817, ermordet 1819
„Konstitutioneller Klub" 259 f. 182 f., 727
Konsulate, Konsulatswesen 151, 356,526 Krakau 36, 76, 228, 406
Konsumtionssteuer 117 Krämer 153
Kontinentalsperre 18, 36, 46, 501, 508 Kraus, Christian Jacob (1753-1807),
Kontribution (Grundsteuer) 117, 470, Königsberger Staatswissenschaftler
476 f., 483, 502 500
Kontributionen, frz. 18, 25, 32 f., 35, 37, Krausnick, Heinrich Wilhelm (1797 —
123, 175, 507, 544 1882), preuß. Beamter, Geh. Justizrat
- russ. 485 u. Vortragender Rat 1832, Oberbür-
Kontributionszahlungen (v. Frankr.) 544 germeister d. Stadt Berlin 1834 —
Kontrollratsgesetz Nr. 46 (25. Feb. 1947) 1848 u. 1850 - 1 8 6 2 204, 239 f., 519
128 Kreditbanken 135, 542
Konvention Alvensleben (8. Feb. 1863) Kredithilfen 591
335 Kreditpolitik 131 ff., 588
Konvention v. Berlin Krefeld 482, 491
- Entwurf (9. März 1808) 32 Kreis(e) 84, 86
- Endfassung (6. Nov. 1808) 33 — Gerichte 257
Konvention v. Reichenbach (27. Juni — Grenzen 86
1813) 62 f. — Ordnung 108
Konvention v. Tauroggen (30. Dez. 1812) — Schulinspektion, Schulinspektoren
42 ff., 50 f. 685, 742
Konversations-Lexika 500 — Städte 86
Koppe, Karl Wilhelm (1777-1837), — Stände 108
preuß. Beamter, Assessor bei d. See- — Synoden 169
handlung 34 — Verfassung 108
Koppel, Leopold (Unternehmer) 568 Kreis-Schulinspektoren 741
Körner, Karl Theodor (1791-1813), Kreuznach 281
Freiheitskämpfer u. Dichter 61 Kreuzzeitung 265, 310
„Kornmessersches Waisenhaus" 217 — Kreuzzeitungspartei 265, 319, 527
Korruption 492 Kriegsamt 584
Kosaken 53 Kriegsanleihen 223
Kosegarten, Ludwig Gotthard (1758 — Kriegsdienstgesetz 332
1818), Dichter u. Theologe, Prof. d. Kriegsentschädigung 82, 124, 363, 484,
Geschichte i. Greifswald 1808, d. 495, 501, 509, 530, 544 f., 574 s. a.
Theologie 1817 106 Kontributionen
Köslin 94, 258 Kriegsernährungsamt 583
832 Personen- und Sachregister
386, 388 £., 411, 419 ff., 426 f., 433, Preußen 1932, Reichsvizekanzler
471, 511, 529, 540, 555, 659, 704 1933/34 601
— Orientpolitik 159, 165 f., 319 Papismus 175
— Wirtschaft 317 Papst 81
Osteuropäisches Mächtesystem 440 - päpstl. Primat 178
„Ostfonds" (1923) 590 Paris 68 ff., 72 f., 166, 192, 344, 363, 499,
Ostfriesland 77, 104, 480 538
Osthilfe 562, 587, 592 ff. - Februarrevolution (1848) 229
— Osthilfegesetz vom 26. März 1931 - Frieden (Erster) (30. Mai 1814) 72 ff.
591 - Frieden (Zweiter) (20.Nov.1815) 77,
Östliche Grenzgebiete 592, 594 80, 82, 509
Ostmark 442 - Junirevolution (1848) 263
— Ostmarkenverein 438 - Julirevolution (1830) 192 ff.
Ostmitteleuropa 389, 395, 398, 400, 402, - Vertrag (Konvention) (1808) 33 f.,
408, 411,416, 419,··438 f., 445 501
Ostmitteleuropaforschung, deutsche 399 Parlament, deutsches 230
Ostpreußen 18,43,46 f., 50,96,113,117, Parochialschulen 716
148,176,205,211,231,247,250,256, Partikularismus 555
429,431,446,477,485,496,500,508, Partisanenkrieg 55
512 f., 534, 536, 575 ff., 589 f., 592 ff., Parzellierungen 560
604, 612, 628, 658, 685, 709, 722 Patentrecht 532
— Ostpreußen-Programm 590 - Patentgesetz 549
Ostprovinzen 92, 95, 98, 207, 334, 436, Patow, Robert Frhr. v. (1804-1890),
497, 514, 516 532, 536, 541, 559 f.,
preuß. Beamter, Geh. Oberfinanzrat
567, 575, 587 ff., 714, 724, 743, 752
u. Mitgl. d. Staatsrats 1840, Mitgl.
Ostsee 392, 395, 401, 403, 417, 594
d. Vereinigten Landtags 1847, Han-
— Küste 401, 406, 409, 578
delsmin. 17.4.-20.6.1848 245, 257,
— Ostseemächte 409
259
— Ostseeprovinzen, russ. 41
Patrimonialgerichte, Patrimonialge-
Oststelle bei der Reichskanzlei 591
richtsbarkeit 30, 103, 105, 108, 244,
256 f.
Pachtwesen 487
Patriotismus 21, 498
— Pachtbauern 503
Patriotenpartei 37 f., 51, 74
— Pachtertrag 560
Patronat 30
— Pachtzins 542
Pädagogen 756 - Patronatsherren 684, 710
— Pädagogische Akademien 789, 795 - Patronatsrechte 657 f., 684, 743
— pädagogische Seminare 756 - Patronatsstellen 664
— pädagogische Standesvereine 755 Paulskirchenverfassung 263 f., 277 f.,
Pädagogium Regium (Halle) 624 283, 303
Paderborn 76, 176 Pauperisierung 154
Paderbornische Tilgungskasse 533 Pauperismus 214
Palmerston, Henry John Temple, Vis- Peloponnes 160
count (1784-1865), engl. Staats- Pensionäre 153
mann, Kriegsmin. 1809-1828, Pensionsgesetz v. 1885 750
Außenmin. 1 8 3 0 - 1 8 4 1 u. 1 8 4 6 - Pentarchie 159, 192, 432
1851, Premiermin. 1 8 5 5 - 1 8 5 8 u. Pepinière 651
1 8 5 9 - 1 8 6 5 165 Personenverkehr 148 f., 150 ff., 522
Pantin (frz. Stadt) 70 Pest (Ostpreußen 1709 ff.) 628
Papen, Franz v. (1879-1969), Mitgl. d. Pestalozzi, Johann Heinrich (1746 —
preuß. Landtags 1921 — 1932, Reichs- 1827), Pädagoge 669 f.
kanzler 1932, Reichskommissar i. - Pestalozzianer 710
844 Personen- und Sachregister
— Privatschulen, polnische 744 546, 575, 577 f., 588, 707, 713 f.,
— Studentenverbindungen, poln. 744 742 ff.
497 f. Post, -wesen 148 f., 356, 487, 527 f., 565
— Teilungen 16, 96, 388, 424, 427 f., - Fahrpost 148 f.
431, - Porto 148
— Unabhängigkeitsbewegung 438 - Posthaltereien 148
— Vereinsgründungen, poln. 743 - Postillone 148
— preuß.-poln. Beziehungen 161, 392 - Postkutschenverkehr 148
— Vierjähriger Reichstag 425 f. - Postsendungen 149
— Wahl-Reichstag v. 1764 423 - Postüberwachung 196
— Werftindustrie 594 - Schnellpost 148 f.
s. a. Nationalismus Potsdam 38, 244 f., 478, 483, 493, 525
Politische Correspondenz Friedrichs des - Garnisonkirche 170
Großen (Edition) 769 - Interessen-Konvention vom 17. Feb.
„Politischer Klub" 255, 259 1720 418
Politisches Testament d. Großen Kurfür- - Militärwaisenhaus 625
sten v. 1667 471 - Tag v. (1933) 446
„Politisches Wochenblatt" 204 - Waisenhaus 479
Polizei Pott, Johann Heinrich (1692-1777),
— politische 312 f. Chemiker 642
— niedere Polizeigewalt 108 PPS s. unt. Polska Partia ...
— Polizeihoheit 104 Präfektursystem 107
— polizeiliche Angelegenheiten 107 f. Prag 38
— Polizeiministerium 106 - Frieden v. (1866) 346 f., 357 f., 545
— Polizeipräsident 108 - Slawenkongreß (1848) 262
— städtische Polizeisachen 649 Präliminarfriede vom 26. Feb. 1871 363
— Polizeistunde 271 Präliminarfrieden v. Nikolsburg (26.7.
Polska Partía Socjalistyczna (PPS) 438 f. 1866) 345
Polytechnische Schule Hannover 705 Präliminarfrieden v. Villafranca (11.7.
Pommerellen 398, 400, 413 1859) 321 f.
Pommern 24, 86, 96, 113, 252, 256, 258, Präsidialabteilungen 107
400, 414, 469, 561, 575, 589 f., 615, Präsidialbüro 108
632, 709 Preissteigerungen (1830) 193
Pommersche Ökonomische Gesellschaft Piemysliden, Dynastie 400
577 Presse, -wesen 185, 212, 259, 303, 312
Poniatowski, Stanislaw II. August Gf. v. - Pressefreiheit 208, 230 f., 233, 246
(1732-1798), Kg. v. Polen 1 7 6 4 - - Presseverbote 208, 211 f., 280
1795 422 ff. Preussag s. unt. Preußische Bergwerks-
Popitz, Johannes (1884-1945), Staats- u. Hütten AG
sekretär i. Reichsfinanzministerium Preußische Seehandlungs-Societät s. unt.
1925 - 1 9 2 9 , Reichsmin. ohne Porte- Seehandlung
feuille u. Reichskommissar i. preuß. Preußen, Prov. 86, 91, 533, 743
Finanzministerium 1932, preuß. Preußenschlag 601 f.
Staats- u. Finanzmin. 1933 - 1 9 4 4 „Preußenverein" (1848) 259
602 Preuß.-frz. Krieg v. 1870/71 362
Poppelsdorf (bei Bonn) 515 Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrts-
Portugal 73, 159 Gesellschaft 151, 525
Porzellanerzeugung 490 Preußische Akademie der Wissenschaf-
— M a n u f a k t u r 146, 485 ten s. unt. Akademien
Posen 76, 86, 91, 95, 101 ff., 109, 113, Preußische Bank 134 f., 547
161 f., 175,192, 206, 226 ff., 247,250, Preußische Bergwerks- und Hütten AG
257 f., 431 f., 440, 443, 509, 533 f., (Preussag) 585, 587, 593
846 Personen- und Sachregister
Reichstag (Norddt. Bund) 355, 357 f., Reuter, Ernst (1889-1953), Mitgl. d.
365, 370, (nach 1871) 547, 549, 551 Berliner Magistrats 1926-1931,
Reichstagsauflösung 357 Oberbürgermeister v. Magdeburg
Reichstagswahlen 1867 354 1 9 3 1 - 1 9 3 3 , M d R . 1932/33, Ober-,
— 1878 551 bzw. Regierender Bürgermeister v.
Reichs- und preußisches Ministerium für Berlin s. 1948 600
Ernährung und Landwirtschaft 603 Reuter, Fritz (1810-1874), mundartli-
Reichsverfassung 275, 277 f., 280 f., 365, cher Dichter, Burschenschaftler, ver-
369 urteilt 1836, amnestiert 1840 197,
Reichsverfassungskampagne (1849) 279 731
Reichsverwaltung 368 Reuß ältere Linie 92, 346
Reichsverweser s. unt. Johann, Erzhg. Revisionskammer 303
Reichs Wahlgesetz v. 1849 353 Revolution v. 1848 198 f., 234 ff.,
Reichswehr 444 255 ff., 261, 278, 283, 303, 307, 386,
Reichswehrministerium 593 503, 513, 515, 534, 565, 735 f.
Reichswirtschaftsministerium 594, 603 — Barrikadenkämpfe 235 ff.
Reichswirtschaftsrat 603 Revolution v. oben 342, 502
Reifeprüfungsbestimmungen 697 Revolutionäre Umtriebe 196
— Reifeprüfungsordnung v. 1926 790 Revolutionärer Geist 159
— Reifezeugnis 697 Revolutionsfurcht 158
Reimer, Georg Andreas (1776-1842), Revolutionswelle 1830/31 192
Buchhändler u. Verleger i. Berlin 184 Reyher, Karl (1828:) v. (1786-1857),
Reims, Schlacht bei (13. März 1814) 69 preuß. Off., Generalmajor 1839,
Rekruten 130 Chef d. Allg. Kriegsdepartements
— Rekrutenaushebung 327 1840, Kriegsmin. April 1848 245
Religionsedikt v. 1788 656 Rheda (Stadt i. Westfalen) 211
Religionsgruppen 167 Rhein 64, 67 f., 74, 98 f., 151, 161, 166,
Religionspolitik 472 322, 341, 498, 508, 519, 523 ff., 549,
Religionsunterricht 633, 740 f., 743 f., 557 f.
782 Rheinbund 26, 33, 57, 60, 63, 65, 74
Renard, Gf. 498 Rheingrenze 166, 319, 321
Rentenbanken 313 Rheinlied 166, 205
Rentengutsgesetze v. 1890 und 1891 Rheinschiffahrt 537
574 Rheinschiffahrtsakte (1831) 522
Rentiers 153 Rheinschiffahrtsmonopol 194
Reparationsfrage 592 Rheinuferstraße 537
Repnin-Volkonskij, Nikolai G. Ft. Rheinland 77, 97 ff., 101, 103, 118, 148,
(1778 - 1 8 4 5 ) , russ. General u. Diplo- 167, 175 f., 201, 211, 213, 222, 247,
mat 66, 75 280, 509 f., 512, 520, 525 f., 528 f.,
Repressionsmaßnahmen 183 ff., 189 ff., 533 f., 536, 539, 547, 559, 566, 589,
195 ff., 226 f. 595 f., 598, 699, 713
Repressionspolitik 272, 282 Rheinische Aufstände 280
Reserveoffiziersrang 754, 758 Rheinische Städte 252
Ressortminister, -ien 27, 106, 131 „Rheinische Zeitung" 211
Restauration, -szeit 27, 72, 74, 158, Rheinkrise v. 1840 165 ff., 200
179 ff., 192, 198 f., 677, 687 Rheinischer Provinziallandtag 116, 558
— Restaurationspartei 688 Rheinland-Westfalen 517, 534
— Restaurationspolitik 192 — Industrie 538
— restaurative Kräfte 112 — Industriegebiet, rhein.-westfäl. 598
— restaurative Politik 273 ff., 279 — Raum 541
Rétablissement 469, 477, 485 — Regierungsbezirke 714
850 Personen- und Sachregister
Thiers, Adolphe (1797-1877), frz. Po- Troeltsch, Ernst Peter Wilhelm (1865-
litiker, Historiker u. Journalist, 1923), Theologe u. Philosoph, Mit-
Min.-Präs. u. Außenmin. 1836 u. begründer d. DDP 1918, Staatssekre-
1840, erster Präs. d. Dritten Republik tär i. preuß. Kultusministerium
1871 - 1 8 7 3 165 f., 347 1920-1922 776
Thile, Ludwig Gustav v. (1781-1852), Troppau 159
preuß. General u. Staatsmann, Dir. - Kongreß ( O k t . - D e z . 1820) 82
i. Kriegsministerium 1812, Mitgl. d. - Troppauer Verfassungsplan 111
Staatsrats 1838, Kabinetts- u. Schatz- Troyes 69
min. 1841 - 1 8 4 8 46, 204 f., 239 Tschech, Heinrich Ludwig (1789 -1844),
Tholuck, Friedrich August Gottgetreu Bürgermeister v. Storkow, nach At-
(1799-1877), ev. Theologe, Prof. i. tentat auf Friedrich Wilhelm IV.
Berlin 1823 u. Halle 1826, Dir. d. (26.7.) am 14.12.1844 hingerichtet
Hauptbibelgesellschaft 1821 - 1825 210
174
Tschechoslowakei 593
Thomasius, Christian (1655-1728), Ju- Tübingen 175
rist u. Philosoph 621 f., 644 Tucheier Heide 95
Thorn 76, 101, 161, 402, 426, 509 Tuchindustrie 539
- Frieden (erster) 403 - Export 151, 477, 485
- Frieden (zweiter) (1466) 403, 406 - Handel 477
Thüringer Wald 77 Tugendbund 192
Thüringische Staaten 511 Türkei, Türken 70,160,165 f., 420 f., 426
Thyssen, August (1842-1926), Industri- - Türkenkrieg 426
eller 581 - türkische Meerengen 318
Thyssen (Wirtschaftsunternehmen) 595 Turnbewegung 180 ff., 183
Tiedemann (Geh. Regierungsrat) 552 - Turnverbote 733
Tietz (Warenhausunternehmer) 570
Turnvater s. unt. Jahn, Friedrich Ludwig
Tilsit 43
Twesten, Karl (1820-1870), Politiker, s.
- Frieden (1807) 16, 18, 24, 31 f., 76, 1861 Mitgl. d. Abgeordnetenhauses
96, 431, 496, 501
331
Tirard, Paul (1879-1945), Oberkom-
missar u. frz. Vorsitzender d. Rhein- Typhus 227, 526
landkommission 1919 - 1 9 3 0 596
Tirol 32, 35, 55 U-Boote 594
Tischler 154
Tobago 73, 471 Überseehandel 151, 165, 480, 487, 554
Überseekriege 497
Todesstrafe, Todesurteile 190, 197,
Überseepolitik 163, 471 f., 490
228 f., 268, 282, 731
Uhden, Karl Albrecht Alexander v.
Tönnies, Ferdinand (1855 - 1936), Sozio-
loge 776 (1798-1878), Kammergerichtsrat
Torgau 77 1833, Kabinettsrat u. Mitgl. d.
Trakehnen 576 Staatsrats 1841, Justizmin. 1844-
Transportkosten, Transporttarife 150, 1848 240
221, 563 ' Uhland, Johann Ludwig (1787-1862),
Treitschke, Heinrich v. (1834-1896), Dichter, Literaturforscher u. Politi-
Historiker u. Publizist 339, 768 f., ker, Prof. i. Tübingen 1829-1832,
778 Abgeordneter i. württ. Landtag
Tresorscheine 123 1832-1839, Vertreter Württembergs
Trianon, Dekret v. (5.Aug. 1810) 36 i. Siebzehnerausschuß 1848, Mitgl. d.
„Trieglaffer Konferenzen" 173 dt. Nationalvers. 1848/49 u. d.
Trier 66, 99, 176, 539, 557 Rumpfparlaments 1849 252
„Trierische Zeitung" 211 Uhlich, Leberecht (1799-1872), ev.
Pfarrer i. d. Prov. Sachsen 212
Personen- und Sachregister 861
Vormärz 138, 162, 198 f., 203, 205, 211, Wahlbeteiligung 275
213, 216, 229, 389, 433 f., 667, 680, Wahlbezirke 306 f.
685,689, 699 f., 707, 709 ff., 715,720, Wahlboykott 275, 283
734, 737 Wählerschaft 329
Vorparlament 246 ff. Wahlgesetze (1848) 248 ff.
Vorpommern 414 Wahlkreise 249
Vorschulen 761 Wahllokale 252
Vorwerke 94 Wahlmänner 113, 249 f., 252, 275, 306
Voß, Otto Karl Friedrich Frhr. v. (1755 - Wahlrecht 109, 208, 231, 244, 247, 249,
1823), preuß. Min. 1 7 9 8 - 1 8 0 7 , 260, 273, 275, 303, 305, 307, 356
Nachfolger Hardenbergs 1822 34 Wahlverfahren 247 f., 249 f., 252, 273
Voß, Sophie Marie Gfn. v. (1729-1814), Währungsgesetze 546
Oberhofmeisterin 34, 44 Währungsreform 597
Voß-Buch, Otto Karl Friedrich Gf. v. Waisenhausgründungen 625
(1755 — 1823), preuß. Beamter, mehr- Waitz, Georg (1813-1886), Historiker
fach Provinzialmin. vor 1806, Präs. u. Publizist 769
d. Friedensvollziehungskommission Waldeck, Benedikt Franz (1802-1870),
1808, scharfer Reformgegner, Vize- Jurist i. preuß. Staatsdienst, Ober-
präs. d. Staatsministeriums 1822 landesgerichtsrat i. Hamm 1836,
112 Obertribunalrat i. Berlin 1846, Mitgl.
Vulcan (Werft) 578 d. preuß. Nationalvers. 1848, Frei-
spruch i. Hochverratsverfahren 1849
Waffenstillstand vom 28. Januar 1871 255, 313, 339
363 Waldenburg/Schlesien 146
Waffenstillstand v. Znaim (12. Juli 1809) Waldwirtschaft s. unt. Forstwirtschaft
35 Wallfahrtswesen 201
Wagener, Hermann (1815 - 1889), Jurist, Wallmoden, Ludwig Georg Thedel Gf.
Konsistorialassessor i. Magdeburg v. W.-Gimborn (1769-1862), Off. i.
1847, Redakteur d. „Kreuzzeitung" österr. (1795), engl. (1812), russ.
1848 - 1 8 5 4 265 (1813) u. erneut österr. (1815) Dien-
Waghäusel, Schlacht bei (21. Juni 1849) sten, Generalmajor 1807, Feldmar-
281 schalleutnant 1809, Militärkomman-
Wagner, Adolf (1835-1917), National- dant v. Mailand 1827 - 1 8 4 8 , General
ökonom, Staatswissenschaftler, „Ka- 1838 53
thedersozialist" 769, 776 Wallonien 489, 499, 537, 540
Wagner, Wilhelm Richard (1813 - 1 8 8 3 ) ,
Dichter u. Komponist, Theaterka- - Wallonen 473
pellmeister i. Magdeburg 1834 — Wander, Karl Friedrich Wilhelm (1803 -
1836, Königsberg 1837 u. Riga 1879), Pädagoge u. Schulpolitiker
1837 — 1839, sächs. Hofkapellmeister 735
1843, Teilnehmer an d. Mairevolu- Warentransport 150
tion i. Dresden 1849, Emigration Warschau 161, 432
nach Weimar, Paris, Zürich u. Mün- - Hgt. 16, 36, 50, 62, 76, 101, 103
chen (1864) 280 Wartburg 181
Wagram 35 - Wartburgfest 181 f., 727 f.
Wahlen 248, 306 f., 329, 342, 348, 746 Wartenberg, Johann Kasimir v. Kolbe
- zur Zweiten Kammer vom 17. Juli (1699:) Gf. v. (1634-1712), Ober-
1849 275 stallmeister u. Oberkämmerer Fried-
- vom 6. Mai 1862 330 richs III. (I.) s. 1696, Min. u. Vorsit-
- vom 7. Nov. 1867 352 zender d. Generalökonomiedirekto-
Wahlalter 248, 250 riums s. 1699, Generalpostmeister s.
Wahlberechtigte 113, 248 f., 250 1700, Marschall v. Preußen u. Pre-
Personen- und Sachregister 865