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Nr.

4 I 2013

Sexualität
und Alter
2I 4 I 2013

Inhalt Impressum
ISSN 0175-2960 / 41. Jahrgang · 5,10 Euro
Editorial 3
Herausgeber und Redaktion:
Alterssexualität pro familia Deutsche Gesellschaft für
Das Sexualleben als „pharmako-soziales Konstrukt“ Familienplanung, Sexualpäda­gogik
und Sexualberatung e.V.
Josef Christian Aigner 4
Bundesverband, Stresemannallee 3
60596 Frankfurt am Main
Beratung älterer Menschen Telefon: 069 26 95 779-0
Interview mit Susanna Ganarin, pro familia Berlin 8 Fax: 069 26 95 779-30
Internet: www.profamilia.de
Häusliche Pflege E-Mail: info@profamilia.de

Partnerschaftliche Pflegebeziehungen und Sexualität V.i.S.d.P.:


Monika Reichert und Ralph-Michael Karrasch 10 Prof. Dr. Daphne Hahn
Redaktion: Prof. Dr. Daphne Hahn,
Älter werden in Einrichtungen ­Regine Wlassitschau
Bezug: Für ein Einzelheft 5,10 Euro zu-
Sexualität – (K)ein Thema in der Altenpflege?
züglich Versandkosten und einschließ-
Silke Wendland 14 lich Mehrwertsteuer. Für ein Jahres-
abonnement 19,50 Euro (Ausland 21,50
Sexualität und Demenz Euro) einschließlich Mehrwertsteuer.
Sexuelle Bedürfnisse, Paarbeziehungen Das Abonnement erstreckt sich über
und Sexualleben demenzkranker Menschen ein Kalenderjahr. Es verlängert sich
­automatisch um ein Jahr, wenn nicht
Herbert Mück 16
bis zum 30. September eines Jahres
­gekündigt wird. Das Jahresabonne-
Von der Heilungsphantasie zu Verstehen, Akzeptanz und Entwicklung ment wird am Jahresanfang in Rech-
Ein paar Sexualitäten, vom Therapeutensessel aus gesehen nung gestellt. Bestellungen richten Sie
Amely Wahnschaffe 20 bitte direkt an den pro familia Bundes-
verband, Frankfurt.

Film Vierzehn: „Ich dachte, es sitzt noch locker und Erscheinungsweise:


löst sich von selbst!“ Vierteljährlich
Rezension von Verena Mörath 24 Anzeigen:
Zur Zeit gelten die Mediadaten 1/2013
Layout:
Zum Weiterlesen:
Katharina Gandner
Vorsicht Sexualität! 26 Druck: Strube OHG, 34584 Felsberg
Ältere Menschen b ­ eraten 26 Copyright:
©pro familia Bundesverband,
Lesbische Ärztinnen. Erfahrungen und Strategien im Berufsleben Deutsche Gesellschaft für Familien­
planung, Sexualpädagogik und
Rezension des Buches von Helga Seyler 27
Sexualberatung e. V.,
Frankfurt am Main.
Aus den Landesverbänden Die Beiträge sind urheberrechtlich
Niedersachsen – Netzwerk „Sexualität in der Altenpflege“ 28 ­geschützt. Die Textinhalte geben die
Bayern – Augsburg: pro familia als location für freies Theater 29 AutorInnenmeinung wieder und
Schleswig-Holstein – Neue Leiterin bei pro familia / AWO Neumünster 29 ­stimmen nicht zwangsläufig mit der
Meinung der pro familia Redaktion
Berlin – Unterwegs im Auftrag der sexuellen Rechte 30
überein. Dies gilt ebenfalls für
Anzeigen und Beilagen.
Kurzberichte 31 Titel-Foto: copyright (c)
Termine 31 plainpicture/Thomas Reutter
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Editorial

Sexualität ist keine Frage des Alters

n Ursprünglich war als letztes pro fami- erfahren wird, von unterschiedlichen
lia magazin in diesem Jahr ein Heft mit Faktoren ab und Alter ist nur einer da-
dem Titel „Sexualität und Biografie“ ge- von. Im magazin finden sich daher auch
plant, in dem wir Sexualität über den ge- Beiträge zu Sexualität in der Pflege bei-
samten Lebensverlauf hinweg themati- spielsweise zum ­Sexualleben von Men-
sieren wollten, das heißt wir hätten mit schen mit Demenz. Tabuisierung hilft
kindlicher Sexualität begonnen und mit hier nicht weiter und wir wollen dazu
Sexualität im Alter geendet. Nachdem eine verbandsübergreifende Diskussion
in der Presse massive Vorwürfe laut wurden, der Verband anregen. Gerade in der Pflege von Menschen mit demen-
habe in den 1980er und 1990er Jahren pädophilenfreund- ziellen Veränderungen gibt es keine einfach applizierba-
liche Ansichten im pro familia magazin veröffentlicht, ren Techniken und Patentrezepte, auch und schon gar
wollten wir an dem Titel und den Inhalten nicht wie ge- nicht zu ihren sexuellen Bedürfnissen und Reaktionen. Es
plant festhalten. erweist sich gegenwärtig als schwierig, schlecht bezahl-
tem Pflegepersonal als weitere Aufgabe aufzubürden,
Die Vorwürfe haben direkt ins Herz des Verbandes getrof- sich angemessen um die sexuellen Bedürfnisse pflegebe-
fen, weil wir uns damals wie heute engagiert und fachlich dürftiger Menschen zu kümmern. Das wird eine größere
für die Rechte von Kindern und Jugendlichen auf Selbst- Aufgabe sein. Eine Aufgabe, die eine Diskussion darüber
bestimmung und Schutz vor sexualisierter Gewalt ein- erfordert, ob Sexualität ein Grundbedürfnis ist, ein Men-
setzen. Der Bundesvorstand von pro familia nimmt diese schenrecht, auf das Menschen zu jeder Zeit ihres Lebens
Vorwürfe deshalb sehr ernst. Wir werden umfassend und einen Anspruch haben und ob bzw. wie dies gegebenen-
genau untersuchen, ob und inwieweit damals Pädosexu- falls erfüllt oder befriedigt werden kann.
elle Publikationen oder Verbandsstrukturen von pro fami-
lia dazu benutzt haben, um ihre Ansichten zu verbreiten. Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen des neuen ma-
Wir werden Wege finden, diese Fragen auf Bundes- wie gazins und freue mich wie immer auf Kommentare zum
auf Landesebene zu beantworten. Das pro familia maga- Heft.  <<
zin 2/2014 wird diesen Gegenstand aufnehmen.
Mit herzlichen Grüßen
Wir haben gut abgewogen die Entscheidung gefällt, das Prof. Dr. Daphne Hahn
aktuelle magazin nur dem Thema Sexualität im Alter zu pro familia Bundesvorsitzende
widmen, wohlwissend, dass es keine Altersgrenze gibt,
in der sich Sexualität schlagartig anders gestaltet als
vorher. Vielmehr hängt die Art und Weise, wie Sexualität
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Alterssexualität

„Und wie die Alten sungen …“ –


Das Sexualleben als
„pharmako-soziales Konstrukt“
Josef Christian Aigner

n Über Alterssexualität wird in un- eher koitusorientiert, während Frau- Männer sind mit dem Sexualleben im
serer Gesellschaft mit wachsendem en auch andere Formen der Zärtlich- Alter generell zufriedener als Frauen
Anteil älterer Menschen zunehmend keit und Befriedigung schätzen, und – wobei sich hier die Qualitätsfrage
diskutiert. Dabei hat es den Anschein, die emotionale Qualität der Paarbe- stellt, weil Männer entlang der weit
als hätten Menschen dieser Alters- ziehung ist für Frauen wichtiger als verbreiteten patriarchalen „Schnell-
gruppen besondere Schwierigkeiten die Qualität sexuellen Verkehrs. (vgl. befriedigungen“ auch leichter zufrie-
und deshalb auch eine besondere Berberich uund Brähler, Hg., 2001). denzustellen sind als Frauen: also
Förderungswürdigkeit. Neben massi- Das aber ist – wie wir wissen – keine auch hier nichts Besonderes der älte-
ven Interessen der Pharma- und Well- Besonderheit der älteren Menschen. ren Menschen. Neben den ge-
nessindustrie, die kritisch aufgezeigt schlechtsspezifischen Rollenprägun-
werden, soll auf die angebliche Be- Nicht Alter, sondern gen spielen auch noch Faktoren wie
sonderheit der Bedürfnisse und Mög- ­Geschlechtsrolle!? Bildung, Einkommen, Schulabschluss
lichkeiten älterer Menschen einge- Dabei finden wir bei quantitativen eine Rolle. Die wichtigste Determi-
gangen und gefragt werden, ob diese Aussagen zur Sexualität älterer Men- nante sexueller Zufriedenheit aber
wirklich so typisch und anders sind schen in der Literatur häufig Kann- ist die eigene Aktivität, die ihrerseits
als bei jüngeren Menschen. Formulierungen, die aber auch impli- wiederum sehr stark vom Gesund-
zieren: „Es kann auch ganz anders heitszustand, aber in versteckterer
Die Sexualität alter Menschen ist sein“. Klaiberg et. al. (2001) haben Weise auch vom Selbstzutrauen und
nach wie vor ein kaum existierender mittels tiefenpsychologischer Verfah- den Gelegenheiten, PartnerInnen zu
Forschungsbereich. Meist werden re- ren (wie dem Gießen-Test) versucht, finden und zu haben, abhängt, also
lativ isoliert medizinische Daten über ein paar tiefere Einblicke in das sexu- streng genommen ebenfalls nicht
das Nachlassen gewisser Funktionen elle Erleben von Menschen im Alter rein altersabhängig ist (vgl. auch Klai-
berichtet (zum Beispiel zur sexuellen zu gewinnen. Zunächst hängt die se- berg et al. 2001, S. 117 ff.).
Reaktionsfähigkeit des Mannes oder xuelle Aktivität klarer Weise vom Vor-
zum Empfindlicher werden von Vulva handensein einer Partnerschaft ab. Geschlechtsrolle anstatt Alter –
und Vagina bei Frauen, über Proble- Deshalb haben ältere Singles – die es die ergebene, unzufriedene Frau
me bei Stimulation und Geschlechts- vor allem auf Seiten verwitweter Auch andere geschlechtsspezifische
verkehr u.a.m.). Die Unterschiede in Frauen zuhauf gibt – viel weniger se- Besonderheiten beeinflussen das Se-
den Bedürfnissen älterer Männern xuelle Kontakte, als sie vielleicht xualleben, etwa was die Häufigkeit
und Frauen aber deuten schon an, möchten – wie übrigens auch jünge- sexueller Kontakte betrifft: So geben
dass hier auch innerhalb der Alters- re Singles viel weniger Sexualkontak- viele ältere Frauen heute noch an,
kohorten geschlechtsspezifische Un- te haben, als wir meinen (vgl. Schmidt dass sie „es“ hauptsächlich wegen
terschiede vorliegen: Männer sind 2004). „ihm“ machen, „man kommt nicht
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drum rum“, sagte eine

© WavebreakmediaMicro – Fotolia
(Bamler 2008, S. 115).
Hier ist die traditionelle
weibliche Rolle, sich
den sexuellen Bedürf-
nissen des Mannes zu
unterwerfen, das Ent-
scheidende. Diese fü-
gen sich in diese patri-
archalen Scripts ein,
obwohl sie eigentlich
mehr Bedürfnisse nach
nicht-koitaler Intimität
hätten (ebd., S. 120 f.).
Ob’s das nicht auch bei
Jüngeren noch gibt?

Auch andere interes-


sante Details sind nicht
auf das Alter, sondern
auf die Geschlechtsrol-
len zurückzuführen: so
sind beispielsweise jene
Frauen, die sich selbst
als „fürsorglich“ und
„aufopfernd“ empfin-
den, mit ihrer Sexualität Für Frauen ist die emotionale Qualität wichtiger als die Qualität der sexuellen Beziehung.

ebenso unzufrieden wie


Frauen, die sich als ab-
weisend und kalt beschreiben (Klai- schätzt wird, geht nach mehrere Jah- xualwissenschaftlicher Sicht sehr
berg et al. 2001, S. 119). Offenbar reibt ren der Partnerschaft zurück. Bei älte- kritisch hinterfragt werden. Schnell
sich eine allzu fürsorglich-mütterliche ren Menschen kommen dann noch drängt sich der Eindruck auf, dass der
Weiblichkeit bis ins Alter hinein mit soziale Faktoren – wie zuallererst die wohl auch durch das Absatzinteresse
sexueller Erlebnisfreude. Dagegen Frage nach dem Gesundheitszustand der pharmazeutischen Industrie ge-
scheinen emanzipierte Frauen laut ei- oder Vorhandensein einer Partner- tragene Diskurs um die Sexualität
ner Studie an Frauen zwischen 50 und schaft – hinzu. des alternden Mannes mittlerweile
65 Jahren über ein äußerst erfülltes eine fragwürdige Selbstverständlich-
und befriedigendes Sexualleben zu Isoliert man den Faktor Alter mit stei- keit angenommen hat: so gehört
verfügen (Schultz-Zehden 2003, S. 33). gender Tendenz, so ist er nur bei man ab 45 Jahren (da beginnen die
Auch das Äußern eigener Wünsche Männern ein Prädikator für zuneh- Statistiken) schon automatisch zur
ebenso wie das Geben- bzw. Anneh- mende sexuelle Unsicherheit, bei potenziell gefährdeten Gruppe, die
men-Können bedingen eine deutlich Frauen hingegen nicht. Dies mag zum Erleben glückender Sexualität
erhöhte sexuelle Zufriedenheit. Aber: auch mit den zahlreichen physiologi- auf Gedeih und Verderb auf Viagra,
all diese Faktoren gelten nicht nur für schen Veränderungen bei vielen Levitra und Co. angewiesen ist.
ältere, sondern ebenso für junge Männern ab 50 Jahren (bis zur erekti-
Menschen: sogar die Koitusfrequenz len Dysfunktion) zu tun haben. Gera- Gerade in dieser Frage scheinen ein
bei jüngeren Paaren, die oft weit über- de dieses Problem aber muss aus se- gnadenloses Leistungsdenken und
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ten wegen besonderer sexueller
Schwierigkeiten medikamentöser Hil-
fe, kann durchaus als ein „pharmako-
soziales“ Konstrukt in einer Gesell-
schaft verstanden werden, in der
Jugendlichkeit zum erotischen Fe-
tisch geworden ist und in verantwor-
tungsloser Art die Illusion genährt
wird, wir könnten für immer jung
bleiben.

Weil nun aber tatsächlich auch jünge-


Die Beziehungsdauer wirkt sich mehr auf die sexuelle Aktivität aus als das Alter. re Menschen ähnliche Probleme ha-
ben, werden auch sie immer mehr zur
Zielscheibe der Pharma-Manipulati-
eine engstirnigen Penis- bzw. Potenz- anhaltenden Leistungsfähigkeit und on, wie man an der Werbung zeigen
fixiertheit vorzuherrschen. Ein über ewiger Juvenilität entsteht. kann – zum Beispiel: „Die sexuelle
50-jähriger Mann weist auch andere Funktionsfähigkeit nimmt ab den
physiologische Abbauprozesse auf: er „Pharmako-soziales“ Konstrukt Zwanzigern langsam ab. Viagra ver-
radelt nicht mehr so schnell wie ein ­Alterssexualität bessert die Erektionsfähigkeit, wenn
20-Jähriger, er geht auch nicht so lo- Jedenfalls staune ich immer wieder, diese aus welchen Gründen auch im-
cker auf Berge und er schwimmt nicht wie viele oft noch unter 50-jährige mer eingeschränkt ist“, so ein gewis-
mehr im selben Tempo wie ein jünge- Teilnehmer von Männergruppen ser Dr. Sweeney von der Firma Pfizer.
rer Mann! Kinzl et. al. (1997) haben schon Potenzpillen genommen ha-
übrigens schon vor Jahren an der Uni- ben oder sie kontinuierlich einneh- „Gerade bei jüngeren Männern kann
versität Innsbruck an jungen Studie- men. In den meisten Fällen handelt es Viagra dazu beitragen, die sogenann-
renden eine ganze Reihe sexueller sich dabei nicht um sexuelle Störun- te Versagensangst zu verringern … Be-
Probleme – vermindertes sexuelles gen, sondern um Krisen oder Umbrü- ziehungsprobleme können die Erekti-
Verlangen, vorzeitigen Samenerguss che entlang bestimmter biografischer onsfähigkeit eines jeden Mannes,
und gelegentliche Erektionsstörun- Ereignisse (zum Beispiel Trennungen), ganz gleich welchen Alters, beein-
gen – nachgewiesen (S. 43), ohne in denen auch die Sexualität in die trächtigen …“
dass damals jemand auf die Idee ge- Krise gerät. Auch die geschilderte (Quelle: www.online-artikel.de/article
kommen wäre, für diese Altersgruppe Nicht-Akzeptanz des Alterns, die Pa- /erektile-dysfunktion-betrifft-nicht-
einen pharmakologischen Massenbe- thologisierung körperlicher Abbau- nur-aeltere-maenner-6906-1.html
darf zu proklamieren. Fragen danach, prozesse führen dann zu den unter- Abrufdatum 18.8.2012 – Hervh. JCA).
was mit diesen jungen Männern los schiedlichsten Verunsicherungen.
sein und an ihren Beziehungen zu Wie froh sind manche ältere Klienten Man beachte Formulierungen wie „ab
Frauen schief liegen könnte, werden dann, wenn man ihnen sagt, dass ihr den Zwanzigern“ nähme „aus wel-
heute wegen der erektionsfördern- Problem normal ist und im Bett eben chen Gründen auch immer“ die Po-
den Pharma-Segnungen häufig erst alles ein wenig anders als früher geht. tenz ab usw. Ja sogar „Beziehungs-
gar nicht mehr gestellt. probleme“ werden ausdrücklich in
Die pharmazeutische Industrie hin- Betracht gezogen, allerdings nicht,
Insofern haben wir es bei der Sexuali- gegen scheint ein anhaltendes Inter- um sie zu lösen zu versuchen, son-
tät älterer Menschen also auch mit esse daran zu haben, diese Verunsi- dern um auch sie pharmazeutisch
einem Stück diskursiv hergestellter cherungen auch noch zu schüren. Der wegzuzaubern – und dies gilt für alle,
konstruierter Wirklichkeit zu tun, die dadurch erweckte Anschein, Men- „ganz gleich welchen Alters“. Dieses
erst durch eine bestimmte Ideologie schen dieser Altersgruppen bedürf- „pharmakologische Harakiri“, wie ich
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eine solche Haltung nenne, spiegelt Aktivität dann sehr hoch ist, wenn sie tät“ ergeben (ebd.). Das ist doch im-
wider, wie hier mit den Problemen al- in neueren Partnerschaften leben. So- merhin eine hoffnungsvolle Perspek-
ter und junger Männer im Rahmen mit erlaubt die Dauer der Beziehung tive. <<
eines gnadenlosen sexuellen Leis- statistisch eine exaktere Voraussage
tungsdenkens und einer engstirnigen des sexuellen Aktivitätsgrades als das Literatur
phallisch-patriarchalen Potenzfixiert- Alter (ebd., S. 18) – auch hier also kein Bamler V. (2008). Sexualität im weiblichen
­Lebenslauf. Juventa, Weinheim und Basel
heit umgegangen wird. Alleinmerkmal von Alterssexualität. Berberich, Hermann; Brähler, Elmar (Hrsg.)
(2001): Sexualität und Partnerschaft in der
zweiten Lebenshälfte. Psychosozial Verlag,
Abschaffung des Begriffs Resümee Giessen
­Alterssexualität? Ein Resümee könnte lauten: „Es Bucher, Thomas; Hornung, Rainer; Gutzwiller,
Felix; Buddeberg, Claus (2001): Sexualität in
Angesichts dessen können wir Gunter kommt alles vor: Der Sex ist erfüllen- der zweiten Lebenshälfte. In: Berberich,
H. u. Brähler,E.(Hrsg.): a.a.O. S. 31–59
Schmidts Vorschlag, den Begriff Al- der oder weniger wild als früher; er
Kinzl, Johann; Mangweth, Barbara; Traweger,
terssexualität am besten überhaupt gilt als unverzichtbar oder man hat Christian; Biebl, Wilfried (1997): Sexuelle
Funktionsstörungen bei Männern und Frau-
abzuschaffen (vgl. Schmidt 2004), Ei- sich wehmütig, resignativ oder er- en. In: Zeitschrift für Psychotherapie, Psycho-
niges abgewinnen. Der Begriff sugge- leichtert von ihm verabschiedet; er somatik und medizinische Psychologie,
Heft 47, S. 41–45
riert, es gäbe etwas klar von der Er- macht beide zufrieden und glücklich Klaiberg, Antje; Brähler, Elmar; Schumacher,
wachsenensexualität in Richtung – oder ist nur oder vor allem die Sache Jörg (2001): Determinanten der Zufriedenheit
mit Sexualität und Partnerschaft in der zwei-
Alter hin als problematisch Abgrenz- des einen, in der Regel die des Man- ten Lebenshälfte. In: Berberich u. Brähler
(Hrsg.): a.a.O., S. 105-112
bares. Zwar muss man generationelle nes“ (ebd., S. 21). Womit auch hier kei-
Neises, Mechthild; Ploeger, Andreas (2003):
Unterschiede berücksichtigen, Zeit- ne wirkliche differentia specifica für „Meine Eltern tun das nicht“. Zum Umgang
mit Sexualität in der Generationenfolge.
abschnitte, in denen die sexuelle Ent- das Alter gegeben ist. BZgA-Forum 1/2 (Alter und Sexualität),
wicklung der einzelnen Generationen S. 34–36.
Otto, Petra; Hauffe, Ulrike (2003): „Anti-
unter unterschiedlichen pädagogi- Ein Überblick über einige empirische Aging“ – rückwärts in die Zukunft. Über den
schen Bedingungen stattgefunden Befunde über das sexuelle Erleben Umgang mit Alter und Sexualität in unserer
Gesellschaft. BZgA-Forum 1/2 (Alter und
hat, weil diese Bedingungen das Erle- und Verhalten älterer Menschen ­Sexualität), S. 3–6.
ben und Empfinden der späteren „Al- zeigt, dass wir es hier mit einem kom- Schmidt, Gunter; Arentewicz, Gert (Hrsg.)
(1993): Sexuell gestörte Beziehungen.
ten“ prägen, aber – und das ist ent- plexen, multifaktoriellen Bedingungs- ­Konzept und Technik der Paartherapie. Enke,
Stuttgart.
scheidend – nicht wegen ihres Alters, gefüge zu tun haben, das den Ein-
Schmidt, Gunter, Matthiesen, Silja (2000):
sondern wegen der jeweiligen epo- druck erzeugt, diese Menschen Kinder der sexuellen Revolution. Kontinuität
und Wandel studentischer Sexualität 1966–
chalen Erziehungsauffassungen. So hätten besondere Probleme. Dabei 1996. Psychosozial-Verlag, Gießen 2000.
spielt es beispielsweise eine wichtige stecken aber hinter dieser Problem- Schmidt, Gunter (2004): Beziehungsbiogra-
phien im Wandel. Von der sexuellen zur fami-
Rolle, dass die älteren Menschen (die sicht recht fragwürdige Leistungsvor- liären Revolution. In: Richter-Appelt, Hertha;
heute 60 bis 70-Jährigen) noch in der stellungen, die einer Gesellschaft ent- Hill, Andreas (Hrsg.): Geschlecht zwischen
Spiel und Zwang. Psychosozial Verlag, Gießen,
„vorliberalen“ Epoche erzogen wor- springen, die Faktoren wie endlose S. 275–294.
den sind, während jüngere die sexuel- Jugendlichkeit und ständige Dauerfit- Schultz-Zehden, Beate (2003): Das Sexual­
leben der älteren Frau – ein tabuisiertes
le Revolution und in der Folge eine ness von jung bis alt geradezu feti- ­Thema? In BZgA-Forum 1/2 (Alter und
­Sexualität), S. 31–33.
eher kommerziellen Pseudo-Libera­ schisiert.
lisierungsbewegung erlebten.
Solange das Alter aber „wie ein wert- Josef Christian
Man muss bei den Unterschieden loser Wurmfortsatz der ersten Le- Aigner, Jahrgang
aber auch die meist viel längere Be- benshälfte betrachtet wird, lässt sich 1953, Dr. phil.,
ziehungsdauer der Menschen im Al- kein echtes Selbstbewusstsein … ent- Psychologe und
ter von 60 Jahren aufwärts berück- wickeln“, schreiben Otto und Hauffe Psychoanalytiker,
sichtigen – und Beziehungsdauer ist (2003, S. 5). Und aus einer längst not- Sexualtherapeut,
ein wichtiger Indikator für sexuelle wenigen „Neudefinition des Sinns ist Professor am
Aktivität. Tatsächlich sehen wir auch des Alterns“ würden sich schnell auch Institut für Erziehungswissenschaften
bei 60+-Jährigen, dass die sexuelle „Sinn, Platz und Formen der Sexuali- der Universität I­ nnsbruck.
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Interview

„Hinter sexuellen Problemen


verbergen sich oft ungeklärte Beziehungskonflikte
und unverarbeitete Kränkungen“

© privat
n pro familia magazin: Zu Ihnen eine andere, erfordern ein
kommen immer häufiger ältere Men- stabiles Selbstwertgefühl,
schen in die Beratung. Über welche die Möglichkeit Ressour-
Themen wollen sie sprechen? cen zu mobilisieren, eine
körperliche Selbstannahme
Susanna Ganarin: Anlass für Men- und Selbstakzeptanz und
schen ab 60+, eine psychologische häufig auch eine aktive
Beratung bei uns aufzusuchen, sind Auseinandersetzung mit
häufig das Fremdgehen des Partners/ den unvermeidlichen Ver-
der Partnerin, sexuelle Funktions- änderungen und Verlusten
störungen, mangelndes Begehren Susanna Ganarin ist Diplom-­ des jeweiligen Lebensab-
oder aber auch unerfülltes Begehren, Psychologin und psychologische schnitts.
das gerade bei (älteren) Frauen eher Psychotherapeutin. Sie arbeitet in Durch die mediale Über-
schamhaft artikuliert wird und als eigener Praxis und bei pro familia präsenz junger, makello-
unpassend erlebt wird. Die Problema- Berlin. ser Körper und dem damit
tik der PartnerInnensuche im fortge- verbundenen Jugendwahn
schrittenen Alter ist ebenfalls Bera- ten sexuellen Problemen – die na- einer Gesellschaft, die Angst vor dem
tungsthema. Ältere Paare kommen türlich stets medizinisch abgeklärt Alter hat und gleichzeitig bereits
oftmals zu uns, wenn sich bereits eine werden sollten – verbergen sich überaltert ist, in der die Wertschät-
Mauer der Sprachlosigkeit (nicht nur) meines Erachtens häufig ungeklärte zung für die Erfahrung und Reife
im sexuellen Bereich aufgebaut hat. Beziehungskonflikte, unbefriedigen- älterer Menschen fehlt, ist es zuwei-
Auch die sexuelle Orientierung kann de Partnerschaften, unverarbeitete len nicht leicht, einen sinnhaften
im Alter noch einmal zur Dispositi- Kränkungen und Enttäuschungen, inneren Lebensentwurf im Alter vor
on stehen. Manche ältere Menschen aber auch Selbstwertkonflikte, die Augen zu haben. Wir leben in einer
kommen zur Beratung, weil sie fest- nicht selten in sexuelle Lustlosigkeit Kultur, in der angemessene Rituale
stellen, dass sie ihre eigene Sexualität und Libidoverlust münden können. für die Übergänge in fortgeschritte-
im Grunde wenig kennen und jetzt So kann das Älter-Werden und die ne Lebensphasen fehlen. So erfordert
erst Zeit, Muße und Offenheit finden, damit verbundenen körperlichen Ein- es für das Individuum eine oft kraft-
sich damit auseinander zu setzen. schränkungen an sich schon als krän- zehrende, aber lohnenswerte innere
kend für das eigene Selbst erlebt wer- Auseinandersetzung und eine aktive
pro familia magazin: Stehen eher die den und eine Auseinandersetzung Gestaltung und Eroberung von Hand-
physischen oder die psychischen As- mit dem Ich-Ideal und den in unserer lungsräumen, die es erlauben, sich
pekte im Vordergrund? Gesellschaft präsenten Diskursen auch im Alter als sexuelles Wesen zu
zu normierten Weiblichkeiten und erfahren und auszudrücken.
Susanna Ganarin: Wir müssen das Männlichkeiten notwendig machen.
Thema Sexualität im Alter komplex Schwellensituationen, das heißt pro familia magazin: Um dies zu er-
betrachten. Hinter den sogenann- Übergänge von einer Lebensphase in reichen, um eine erfüllte Sexualität
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© Robert Kneschke – Fotolia.com


zu erleben, welches sind die
Haupthemmnisse für ältere
Menschen?

Susanna Ganarin: Bei (äl-


teren) Männern können
sexuelle Funktionsstörun-
gen zum völligen Rückzug
aus der partnerschaftlichen
Sexualität führen. Häufig
verhindert die damit ver-
bundene Scham ein offenes
Gespräch mit der Partnerin.
Das internalisierte Bild einer
männlich definierten koi- Sexualität als Ausdruck körperlicher Lebensfreude begreifen.

tuszentrierten phallischen
Sexualität erschwert es
(nicht nur älteren) Männern, sich ei- zung mit der bisherigen sexuellen Gesamtkonzept der psychologischen
ner ganzheitlicheren Sicht auf sexuel- Biographie und sexuellen Erfahrungs- Beratung ein?
les Erleben und sexuelle Erfüllung zu welt und damit verbundener innerer
öffnen. Auf die Suche nach einer neu- und äußerer Konflikte und Ambiva- Susanna Ganarin: Wir beobachten,
definierten Männlichkeit zu gehen lenzen anbieten. Durch einfühlsame dass Ageism, das heißt Diskrimie-
und damit innere Bilder zu hinter- Aufklärung kann in der Beratung zur rungserfahrungen aufgrund des
fragen, kann zu einer vertieften part- Entwicklung einer erhöhten sexuel- Alters allgegenwärtig sind. Die Viel-
nerschaftlichen und authentischen len Selbstbestimmung beigetragen falt der modernen Gesellschaft in
Beziehung führen, die eine wirkliche werden, denn diese ist Vorausset- Deutschland, die durch Globalisie-
Begegnung zwischen den Geschlech- zung, um auch (aber nicht nur) im rung und demographischen Wandel
tern erst möglich macht. Alter eine lustvolle und befriedigende geprägt ist, benötigt daher dringend
Für Frauen kann es wiederum ei- Sexualität zu erleben. Dazu gehört, ein Umdenken und die Wertschät-
ne Herausforderung sein, sich eine sich mit den eigenen Bildern von zung von Menschen unabhängig von
selbstbestimmte Sexualität, die von Männlichkeit und Weiblichkeit aus- Alter, Geschlecht, Nationalität, ethni-
den eigenen Bedürfnissen und Phan- einanderzusetzen, die eigene Lebens- scher Herkunft, Behinderung, Religi-
tasien geleitet wird, zuzugestehen. bilanz, das Erreichte wertschätzend on oder Weltanschauung, sexueller
Dem eigenen weiblichen Begehren zu betrachten, Verluste angemessen Orientierung und Identität. Ein erwei-
auf die Spur zu kommen, verliert auch zu betrauern, sich neue, erreichbare tertes psychologisches Beratungsan-
im Alter nicht an Bedeutung, ob mit Ziele zu stecken, Neues auch im Alter gebot für ältere Menschen, Singles,
oder ohne real gelebter Partnerschaft. zu wagen, längst vergessene Interes- Paare und polyamouröse Beziehungs-
sen auszugraben und sich dem Le- formen sollte dem Rechnung tragen
pro familia magazin: Wie gehen Sie ben neu zu öffnen, das bedeutet neu und den unterschiedlichen Lebens-
in der Beratung vor, was kann sie leis- gewonnene Lebenslust und damit und Erfahrungswelten in ihrer Diver-
ten? manchmal auch Lust auf Sexualität sität und Komplexität, Kenntnis und
mit sich oder anderen als körperlicher Offenheit entgegen bringen.  <<
Susanna Ganarin: Die eigenen Erfah- Ausdruck von Lebensfreude wieder zu
rungen prägen in der Regel auch das finden. Das Interview führte ­
partnerschaftliche und sexuelle Erle- Regine Wlassitschau.
ben älterer Menschen. Beratung kann pro familia magazin: Wie ordnet sich
im besten Falle eine Auseinanderset- Beratung älterer Menschen in das
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Partnerschaftliche Pflegebeziehungen und Sexualität

„Pflegende und ihre PartnerInnen


brauchen psychologische, ärztliche
und seelsorgerische Hilfe
Monika Reichert und Ralph-Michael Karrasch

n Die weit überwiegende Mehrheit ve betrachtet. Studien, die sich aus 2002; Fiedler, & Klaiberg, 2000; Klai-
pflegebedürftiger Menschen wird zu psychologischer Perspektive damit berg, Brähler, & Schumacher, 2001).
Hause versorgt und hier insbeson- auseinander setzen und das subjekti- Allerdings sind Untersuchungen, die
dere von der Ehepartnerin oder vom ve Erleben von Sexualität bei älteren die Sichtweise des Pflegenden und
Ehepartner (Schneekloth 2006). Für Männern und Frauen in den Mittel- die des Gepflegten berücksichtigen
die Pflegeübernahme sind zumeist punkt stellen, sind hingegen noch und gegenüber stellen, noch ein
Motive wie Liebe, Zuneigung oder selten (Heidenblut & Zank, 2012). Das Novum. Im Folgenden werden die
auch Verpflichtung ausschlaggebend. medizinische Interesse richtet sich zen­tralen Ergebnisse einer Untersu-
Dennoch kann die Pflegebedürftigkeit vor allem auf sexuelle Funktionsstö- chung präsentiert, in der insgesamt
und die ihr zugrunde liegende Krank- rungen, hervorgerufen durch körper- 43 Interviews mit Pflegenden und
heit das Pflegedual physisch und liche Veränderungen, chronische Er- 32 Interviews mit Gepflegten – darun-
psychisch sehr belasten und die Be- krankungen (zum Beispiel Diabetes ter auch 32 Paare – realisiert werden
ziehung, insbesondere bei Vorliegen mellitus, Arteriosklerose, Harninkon- konnten (Karrasch, 2005 Karrasch &
einer chronischen und voranschrei- tinenz), vorangegangene Operatio- Reichert, 2008). Diese Personen wur-
tenden Erkrankung der Partnerin/ nen sowie Nebenwirkungen von Me- den mit einem teilstandardisierten
des Partners, vor große Herausforde- dikamenten (Nussbaum, Lenahan & Fragebogen interviewt, der neben
rungen stellen. Besonders die pfle- Sadowsky, 2005). Diese Ursachen für Fragen zur allgemeinen Lebens- und
gebedingten Belastungen können sexuelle Funktionsstörungen liegen Pflegesituation auch Fragen zur Sexu-
sich auf die Partnerschaft auswirken vielfach bei Pflegebedürftigen vor. Sie alität enthielt.
und ihre Qualität, auch im Hinblick beeinträchtigen das sexuelle Erleben
auf Sexualität, negativ beeinflussen. und wirken sich häufig auch belas- Studie untersucht Auswirkungen
Interessanterweise gibt es nur weni- tend auf die Partnerschaft aus (Beier der Pflege auf die Sexualität
ge Untersuchungen, die sich mit den & Ahlers, 2004) in einer Partnerschaft
Auswirkungen der Pflegebedürftig- Die pflegenden Personen waren
keit auf die Sexualität eines Paares Bei Betrachtung der Studienergeb- in der Mehrzahl weiblich und im
beschäftigen. Dies könnte daran lie- nisse zur Partnerschaftsqualität im Durchschnitt etwa 66 Jahre alt. Die
gen, dass hier Tabu-Themen aufein- höheren Lebensalter allgemein sowie zu pflegenden Personen waren vor-
andertreffen: einerseits Pflegebedürf- zu den Auswirkungen der Pflege auf wiegend männlich und ebenfalls
tigkeit, andererseits Sexualität älter die Partnerschaft wird deutlich, dass im Mittel 66 Jahre alt. Die Mehrheit
werdender und älterer Menschen. sie zwar viele Einflussfaktoren auf die der gepflegten Personen litt unter
Zufriedenheit mit der Partnerschaft einer Parkinsonschen Erkrankung,
Sexualität im Alter wird häufig nur identifizieren (vgl. auch Jungbau- die zweithäufigste Krankheitsursa-
aus einer medizinischen Perspekti- er, von Cramon, & Wilz, 2003; Brink, che stellten Schlaganfälle dar. Unter
4 I 2013 I 11

©Panthermedia – siberia
sonstigen Erkrankungen
litten sechs Personen. Die
Dauer der Pflegesituation
variierte stark von einem
bis zu sechzehn Jahren und
betrug im Schnitt 5,8 Jahre.

Was die Entwicklung der


Partnerschaftsqualität an-
geht, so berichtet die über-
wiegende Mehrzahl der
Befragten über eine nega-
tive Entwicklung, wobei
sie als Ursache die Krank-
heit der gepflegten Perso-
nen und die damit einher-
gehenden Folgen nannte.
In diesem Kontext spielte
auch Sexualität eine her-
ausragende Rolle. Aus Liebe, Zuneigung oder auch Verpflichtung übernehmen die meisten Frauen und Männer die Pflege ihrer
PartnerInnen.

Das häufigste Problem ge-


pflegter Männer (insgesamt n = 31) naten gegenüber dem Arzt thema- begehrt, empfanden sich nicht mehr
stellte mit acht Nennungen das Vor- tisiert und in der Folge dann durch „als Frau“ und erlebten die fehlende
liegen sexueller Funktionsstörungen Umstellung der Medikation behoben Sexualität als Einschränkung ihrer Le-
dar. Hierunter litten die Betroffenen wurde. bensqualität.
selbst, aber auch deren Partnerinnen,
die sich dadurch teils psychisch stark Gepflegte Frauen (insgesamt n = 12) Von Seiten pflegender Partnerinnen
belastet zeigten. Insbesondere die berichteten in zwei Fällen darüber, (insgesamt n = 31) wurde als größtes
verzweifelten Versuche der betroffe- dass es für sie schwer sei, zu akzep- sexuelles Problem eine Abneigung
nen Männer, Erektionsstörungen zu tieren, dass von Seiten des Partners gegenüber dem erkrankten Partner
überwinden und den bei der Ehefrau keine sexuellen Initiativen mehr aus- genannt. Man müsse dem sexuellen
vermuteten sexuellen Wünschen ge- gingen. In einem weiteren Fall ging Drängen des Partners jedoch gele-
recht zu werden, bedeuteten für bei- der Partner davon aus, dass sexuelle gentlich nachgeben, was sehr be-
de Partner negativen Stress. Dabei Kontakte mit zu starken Schmerzen lastend sei. Während vier pflegende
wurde deutlich, dass die gepflegten für die Partnerin einhergehen wür- Ehefrauen mit dem zu häufigen Wün-
Männer zumeist an den Bedürfnis- den. Ein das Missverständnis auf- schen nach Sexualität des Partners
sen ihrer Ehefrauen vorbei handel- klärendes Gespräch fand nicht statt. Schwierigkeiten hatten, schien nur ei-
ten. Diese wünschten sich ein größe- In einem Fall sprach der pflegende ne Pflegende darunter zu leiden, dass
res Maß an Zärtlichkeit. In einem Fall Partner davon, dass die Schlaganfall­ es kaum noch zu sexuellen Aktivitä-
bestand bei einem gepflegten Mann erkrankung der Ehefrau nun eben ten komme. Bei den pflegenden Män-
eine medikamentös induzierte mas- das „Zölibat“ bedeute, was die Auf- nern (n = 12) warf ein Ehemann die
siv verstärkte Libido und ein mit Ent- fassung widerspiegelt, dass mit der Frage auf, inwieweit es vertretbar sei,
hemmung verbundener Sexualtrieb, schweren Erkrankung der Partnerin eine außereheliche sexuelle Bezie-
der von der betroffenen Ehefrau als automatisch das Ende jeglicher Sexu- hung oder eine Lebensgemeinschaft
große Belastung und sehr trennend alität verbunden war. Die betroffenen mit zwei Frauen in einem Hause zu
erlebt wurde, jedoch erst nach Mo- Ehefrauen fühlten sich nicht mehr führen, gleichzeitig aber die Ehefrau
12 I 4 I 2013

© Robert Kneschke - Fotolia.com


– die für ihn an sexueller Attraktivität
verloren habe – aufgrund der weiter-
hin vorhandenen Zuneigung weiter
zu pflegen.

In fünf Fällen wurde in den Interviews


auch darauf hingewiesen, dass Prob-
leme im sexuellen Bereich direkt ge-
waltauslösend seien. Häufiger wur-
den diese Probleme aber als indirekt
gewaltfördernd genannt (n = 13), was
so erklärte wurde, dass erst in Verbin-
dung mit zusätzlichen Belastungsfak-
toren Gewalt auftrat. In 18 Beziehun-
gen wurden Schwierigkeiten in Bezug
auf Sexualität als als über längere
Zeiträume hinweg psychisch belas-
tend beschrieben.
Häufiges Problem: Bedürfnisse des Partners/der Partnerin werden falsch eingeschätzt
Fazit und eigene nicht geäußert.

Zunächst sei angemerkt, dass auf-


grund der Stichprobengröße die In- körperlicher Intimität und fehlender weiter für sich zu gewinnen sowie
terviewaussagen bzw. die daraus ab- Reziprozität waren die Folge. Obwohl das häufig bestehende Unvermögen,
zuleitenden Schlussfolgerungen mit in der Literatur darauf hingewiesen über Sexualität zu sprechen.
Vorsicht interpretiert werden sollten. wird, dass Sexualität neben einer Be-
Gleichwohl konnten durch das ge- lastung auch eine Ressource im Alter Zusätzlich ließen sich in sexueller
trennt voneinander erfolgte Befragen sein kann, indem sie einen Rückzugs- Hinsicht bei beiden Partnern Infor-
beider am Pflegedual beteiligter Part- und Erholungsraum bildet und somit mationsdefizite und „Sprachlosig-
nerinnen und Partner wesentliche zur Bewältigung von schwierigen keit“ erkennen, die zur negativen
Erkenntnisse zu den Auswirkungen Situationen beitragen kann (Bucher, Entwicklung beitrugen. In gemeinsa-
der Pflegebedürftigkeit auf das Sexu- Hornung, Buddeberg, 2003), wurde men Gesprächen wurde der Bereich
alleben sowohl für die Gepflegten als Sexualität in dieser Untersuchung Sexualität bei vielen Paaren häufig
auch für die Pflegenden gewonnen fast ausschließlich als Problemfeld überhaupt nicht thematisiert, Be-
werden. betrachtet. dürfnisse der Partnerin/des Partners
wurden häufig falsch eingeschätzt
Es zeigte sich, dass für eine negative Dabei ließen sich vier Bereiche erken- und eigene nicht geäußert, was Miss-
Entwicklung der Partnerschaftsqua- nen, welche die Zufriedenheit mit der verständnisse, Enttäuschungen und
lität Probleme im sexuellen Bereich Partnerschaft negativ tangierten: se- Auseinandersetzungen nach sich
durchaus von Bedeutung sind. Pfle- xuelle Funktionsstörungen gepflegter zog. Von den Beteiligten selbst wurde
gende Personen leiden häufig stark Männer und deren Folgen, Abneigung zudem angegeben, dass belastende
unter den körperlichen und psychi- und Ekel Pflegender gegenüber ihrem Aspekte im Hinblick auf Sexualität
schen Folgen der Erkrankung der an sexuellen Aktivitäten interessier- direkt zum Auftreten von Gewalt,
Partnerin/des Partners. Das vor der ten Partner, der Widerspruch zwi- aber auch zur Überforderung beider
Pflege vorhandene Bild vom anderen schen dem Wunsch pflegender Ehe- Partner beitrügen, sodass in einigen
wurde in einigen Fällen völlig verän- frauen nach vermehrter Zärtlichkeit Fällen der Zusammenhalt der Part-
dert, Deprivation der Paarbeziehung und dem Versuch gepflegter Männer, nerschaft existentiell gefährdet war
mit schwindender emotionaler und ihre Frauen durch sexuelle Aktivitäten bzw. ist.
4 I 2013 I 13

Wie kann unterstützt werden? lung von Bewältigungsstrategien der Gewalt. Zeitschrift für Gerontopsycholo-
gie und -psychiatrie, 21, 4, S. 259–265.
Zusammengefasst lässt sich kons- wesentliche Aspekte dar. Auch eine Klaiberg, A., Brähler, E. & Schumacher, J.
tatieren, dass die Pflege einer Part- Beratung bei moralischen Bedenken (2001). Determinanten der Zufriedenheit mit
Sexualität und Partnerschaft in der zweiten
nerin/eines Partners im höheren Le- hinsichtlich alternativer Beziehungs- Lebenshälfte. In: H. Berberich & E. Brähler
bensalter nicht selten mit vielfältigen und Lebensformen sollte darin bein- (Hrsg.), Sexualität und Partnerschaft in der
zweiten Lebenshälfte. Gießen: Psychosozial-
Anforderungen und Problemen auf haltet sein. Verlag, S. 105–127.
beiden Seiten einhergeht und ins- Des Weiteren gilt es, Partnerschaften Schneekloth, U. (2006). Entwicklungstrends
und Perspektiven in der häuslichen Pflege.
besondere aus Sicht der pflegenden im höheren Lebensalter – und insbe- Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie,
39, S. 405–412.
Personen die Partnerschaftsqualität sondere das Thema „Pflegebedürftig-
Heidenblut, S. & Zank, S. (2012). Sexualität. In
negativ tangiert. Um eine bessere keit und Sexualität“ vermehrt in den H.W. Wahl, C. Tesch-Römer, J.P. Ziegelmann
(Hrsg.)., Angewandte Gerontologie,
Bewältigung partnerschaftlicher und Fokus von zukünftigen Forschungs- S. 441–446. Stuttgart: Kohlhammer.
sexueller Probleme zu ermöglichen, vorhaben zu stellen, um die Konse-
müssten psychologische, ärztliche, quenzen von Pflegebedürftigkeit für Kontakt:
aber auch seelsorgerische Instanzen die Paarbeziehung und die Zufrieden- mreichert@fk12.tu-dort mund.de
besser und zeitlich früher ineinan- heit mit der Partnerschaft besser dar-
dergreifen. Hauptziele sollten dabei stellen und beurteilen zu können.
sein:
●●
Schaffung neuer Formen der Selbst- Literatur
wertbildung für PartnerInnen mit chro- Beier, K. M. & Ahlers, C. J. (2004). Auswirkun- Prof. Dr. Monika
gen des M. Parkinson auf Sexualität und Part-
nisch einschränkender Erkrankung, nerschaft. Psychoneuro, 30, 8, S. 449–452. Reichert ist
●●
Aufzeigen von Möglichkeiten, Bezie- Brink, L. (2002). Was belastet pflegende ­Professorin für
­Angehörige von Apoplexbetroffenen?
hungen in veränderter Form neu struk- In: W. Schnepp (Hrsg.), Angehörige pflegen. Soziale Geron­
Bern: Verlag Hans Huber, S. 219–239.
turieren und beleben zu können, tologie mit dem
Bucher, T., Hornung, R. & Buddeberg, C.
●●
Förderung von Kompetenzen auf (2003). Sexualität in der zweiten Lebens­ Schwerpunkt
hälfte. Zeitschrift für Sexualforschung,
kommunikativer Ebene. Dadurch kön- 16, S. 249–270 Lebenslauf­
nen Betroffene wieder mehr Nähe und Fiedler, A. & Klaiberg, A. (2000). Belastung forschung an der
und Partnerschaftszufriedenheit. In: P. Mar-
Verständnis füreinander entwickeln tin, U. Lehr, K.- U. Ettrich, D. Roether, M. Mar- technischen Universität Dortmund.
und gemeinsam erfolgreich Probleme tin & A. Fischer-Cyrulies (Hrsg.), Aspekte der Zu ihren Arbeits- und Forschungs-
Entwicklung im mittleren und höheren Er-
lösen. wachsenenalter: Ergebnisse der Interdiszipli- schwerpunkten gehören u.a.
nären Längsschnittstudie des Erwachsenenal-
●●
Vermehrte Vermittlung von Stressbe- ters (ILSE). Darmstadt: Steinkopff, S. 116–127. ­Gesundheitsförderung, Evaluierung
wältigungstechniken. Merbach, M., Brähler, E. & Klaiberg, A. (2004). von Versorgungsstrukturen für Men-
Partnerschaft und Sexualität in der zweiten
Lebenshälfte, im Internet unter: http://www. schen mit Demenz und ihre Ange­
Darüber hinaus gilt es, den Betroffe- familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_ hörigen, Häusliche Pflege und Soziale
Partnerschaft/s_1488.html
nen vermehrt Gelegenheiten zu bie- Nussbaum, M., Lenahan, P. & Sadowsky,
Beziehungen im Alter.
ten, sich Rat und Unterstützung zu R. (2005). Sexual health in ageing men and
women. Addressing the physiologic and psy-
holen sowie Trost und Ermutigung zu chological sexual changes that occur with Dr. med. Dr. phil.
age. Geriatrics, 60, 18–23.
suchen. Aus medizinischer Perspek- Ralph-Michael
Jungbauer, J., von Cramon, D. Y. & Wilz, G.
tive ist es notwendig, eine zeitnahe, (2003). Langfristige Lebensveränderungen Karrasch ist
und Belastungsfolgen bei Ehepartnern von
gründliche Behandlung sexueller Schlaganfallpatienten. Der Nervenarzt,
Diplom-Geron­
Funktionsstörungen als auch die Be- 74, 12, S. 1110–1117. tologe und seit
handlung krankheitsbedingter oder Karrasch, R.-M. (2005). Gewalt im Rahmen 2009 Facharzt
der Pflege eines Partners im höheren Lebens-
medikamentös induzierter psychi- alter – eine Analyse der Ursachen und daraus für ­Psychiatrie
abzuleitender Interventionsmaßnahmen.
scher Störungen zu gewährleisten. In ­Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades und Psycho­
psychotherapeutischer Hinsicht stel- im Fachbereich 12 „Erziehungswissen­
schaften und Soziologie“ der TU Dortmund.
therapie. Er ist stellvertretender ärzt­
len die Förderung der Krankheitsver- Karrasch, R.-M. & Reichert, M. (2008). Subjek- licher Leiter der psychosomatischen
arbeitung, der Austausch zwischen tive Beurteilungen und Wahrnehmungen Fachklinik Wollmarshöhe in Bodnegg
vom Pflegenden und Gepflegten in der Part-
beiden Partnern sowie die Vermitt- nerpflege – Zusammenhänge mit auftreten- bei Ravensburg.
14 I 4 I 2013

Älter werden in Einrichtungen

Sexualität – (K)ein Thema


in der Altenpflege?
Silke Wendland

n In dem für pro familia relativ jun- zu ihrem beruflichen Alltag. Alten- dem umgegangen wird, hat nichts
gen Themengebiet „Sexualität und pflegerinnen und -pfleger sind den mit Sexualität zu tun – und darf es
Älterwerden“ ist die Zusammenarbeit Menschen, die sie pflegen, aber nicht auch nicht! Historisch entstanden
mit dem System Altenpflege beson- nur körperlich nah. Da sie diese meist aus der kirchlichen Armenfürsorge
ders neu und ungewohnt. Wir bewe- über Jahre hinweg betreuen, entwi- hat Pflege grundsätzlich asexuell und
gen uns dabei in einem unbekannten ckeln sie zu ihnen oft auch eine sehr geschlechtsneutral zu sein. Relikte
Terrain, das am ehesten vergleichbar persönliche Nähe. Vor allem in der davon sind heute noch zu finden: Die
ist mit unserer Arbeit im Bereich „Se- ambulanten Pflege sind sie häufig Farbe der Pflegekleidung ist überwie-
xualität und Behinderung“; vor al- einer der wenigen noch verbliebenen gend „jungfräuliches“ Weiß; weibli-
lem, wenn es die Besonderheiten von sozialen Kontakte, den der oft allein- ches Pflegepersonal wird in der Regel
stationären Einrichtungen betrifft. stehende alte und pflegebedürftige mit „Schwester“ angesprochen – und
Einiges ist übertragbar, anderes aber Mensch tagtäglich erlebt. Die Pflege- zu seiner Schwester hat man keine
auch fremd und vollkommen neu. kraft wird somit zu einer Art intimer sexuelle Beziehung!
Bezugsperson, der auch viel Privates
Bei pro familia in Niedersachsen sam- anvertraut wird. In dieser sowohl Folgendes Beispiel soll dies noch nä-
meln wir seit ca. 2008 gezielt Erfah- körperlich als auch persönlich nahen her erläutern: Wenn eine Altenpflege-
rungen in diesem Arbeitsbereich. Wir Pflegebeziehung wird die Altenpfle- kraft einen inkontinenten Bewohner
veranstalten Fachtagungen, bilden Al- gekraft mit sehr viel konfrontiert: Mit im Intimbereich wäscht und dabei die
tenpflege- und Betreuungskräfte fort Bedürfnissen nach Nähe und Zärt- Vorhaut des Penis zurückschiebt, um
und arbeiten mit Altenpflegeschulen lichkeit, Schamgefühlen, kleinen Ne- ihn zu säubern, ist dies für sie nichts
zusammen. Diese Erfahrungen sowie ckereien und Flirten, Eifersüchteleien, Sexuelles, sondern ihr Pflegeauftrag.
meine eigene Tätigkeit in der Alten- guten wie schlechten Stimmungen Dass diese Handlung sehr wohl an
pflege während meiner Studienzeit der Bewohnerinnen und Patienten, etwas Sexuelles erinnern kann und
bilden die Basis für die folgenden Berührungen, dem Anvertrauen sehr sowohl bei dem Bewohner als auch
Ausführungen; sie gelten gleicher- privater Lebensgeschichten und Ähn- bei ihr selbst (positiv wie negativ) et-
maßen für stationäre wie ambulante lichem. was auslösen kann, wird in der Regel
Einrichtungen der Altenpflege. verdrängt.
Mit all dem gehen Pflegende tagtäg-
Im Pflegealltag gilt Sexualität lich um. Sie würden diese Dinge aber Eine selbstreflexive Auseinanderset-
als störend niemals selbst unter die Überschrift zung mit Themen und speziell mit
Altenpflege ist ein Berührungsberuf. „Sexualität“ setzen. Das hängt damit dem Thema Sexualität wird in der
Pflegekräfte berühren die Menschen, zusammen, dass in der Altenpflege Altenpflegeausbildung meist nicht
die sie pflegen, auch an den intims- das Verständnis von Sexualität sehr erlernt oder eingeübt und auch im
ten Stellen ihres Körpers. Die ständi- eng gefasst ist. Als Sexualität gilt das, weiteren Berufsalltag nicht gefördert
ge Verletzung und Überschreitung was unmittelbar mit Geschlechts- oder unterstützt. Es ist zum Beispiel
fremder und eigener Grenzen gehört verkehr zu tun hat. Alles andere, mit nicht üblich, dass Altenpflegerinnen
4 I 2013 I 15

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und Altenpfleger Supervision für ih- rinnen auf dem Wohn-
re anspruchsvolle und zum Teil sehr bereichsflur. Manchmal
belastende Arbeit erhalten. Auch in- werden sie auch von der
stitutionalisierte Teamsitzungen, in Einrichtung geschickt
denen sich das Personal kollegial aus- mit dem Auftrag, diese
tauscht oder berät, sind keine Selbst- Techniken zu erlernen,
verständlichkeit. um im Anschluss ihrer-
seits das übrige Personal
Im Pflegealltag gilt Sexualität als das schulen zu können. Klar
Störende und als Ausnahme. Sexuali- ist aber, dass unsere Fort-
tät ist ein Problem, das gelöst werden bildungen an einer ganz
muss und das bei der grundsätzlich anderen Stelle ansetzen
herrschenden Zeitnot noch zusätzli- und ansetzen müssen. Die Pflegebeziehung ist körperlich und persönlich nah.
che Arbeit verursacht. Dabei geste- Wir versuchen zunächst,
hen Pflegekräfte alten Menschen Sexualität überhaupt
durchaus eine Sexualität zu und besprechbar zu machen und einen als menschliches Grundbedürfnis,
verstehen, dass dies etwas Positives grundsätzlich anderen Blick darauf zu auf das Menschen ein Recht haben,
und Lustvolles sein kann. Sie ordnen ermöglichen. Es geht um sexuelle Bil- Berücksichtigung findet. Es müssen
sie aber der Privatsphäre zu, die mit dung und um die persönliche Ausei- Strukturen in der Altenpflege und den
ihnen als Pflegende und mit ihrer nandersetzung mit dem Thema. Erst jeweiligen Einrichtungen geschaffen
Berufssphäre nichts zu tun hat. In zu einem späteren Zeitpunkt ist dann werden, wie Konzepte, Standards,
Fortbildungen höre ich von Altenpfle- der Weg geebnet, auch auf konkrete die Überprüfung baulicher Gegeben-
gerinnen und Altenpflegern häufig: Problemfälle schauen zu können. In heiten, spezifische Angebote und
„Das ist doch deren Sache; das geht unseren Fortbildungen geht es zu- Schulungen für Pflege- und Betreu-
mich doch nichts an. Das ist doch viel nächst mehr um Haltung statt um ungskräfte, leitendes Personal, für
zu privat!“ Deutlich wird: Sexualität Handlung. Mit diesem thematischen Bewohnerinnen und Patienten sowie
ist ein menschliches Grundbedürfnis Zugang erscheinen wir den Pflege- deren Angehörige usw. Und nicht zu-
(wie Essen, Trinken oder Schlafen), es kräften, die erwarten etwas sogleich letzt muss sexuelle Bildung zu einem
gibt dafür jedoch keinen definierten praktisch Umsetzbares an die Hand selbstverständlichen Teil der Alten-
Pflegeauftrag. Zwar gibt es Ansätze zu bekommen, manchmal wie aus ei- pflegeausbildung werden. Bei diesen
hierzu in einigen Pflegekonzepten, ner anderen Dimension. Prozessen kann pro familia unterstüt-
genauer ausformuliert und in der zend schulen und begleiten durch ihr
Praxis umgesetzt werden sie bisher Eigentlich braucht es in der Zusam- spezifisches Verständnis von sexuel-
leider nur selten. menarbeit mit dem System Altenpfle- ler Bildung. <<
ge länger andauernde Fortbildungs-
Pflegekräfte brauchen Schulung, einheiten oder -reihen. In der Praxis
doch dies reicht nicht aus ist es aber schon schwer zu organi-
Damit kommen Altenpflege- und sieren, Pflegekräfte für einen Tag oder Silke Wend-
Betreuungskräfte in unsere pro fa- auch nur einen halben freizustellen, land ist Dipl.-
milia Fortbildungsveranstaltungen: da der ungestörte Ablauf des Pflege- Pädagogin und
Sie erwarten Techniken und (Patent) betriebs gewährleistet sein muss. Dipl.-Theologin
Lösungen, um mit den aktuellen Si- und Leiterin des
tuationen umgehen zu können, in Zu betonen ist: Die Schulung des Fachbereichs
denen Sexualität als Problem auftritt, Personals ist wichtig, reicht aber „Sexualität und
zum Beispiel in Form von Übergriffen nicht aus. Es kann nicht allein in der Älterwerden“
auf das Pflegepersonal oder exhibiti- Verantwortung des Pflegepersonals beim pro familia Landesverband
onistischem Verhalten von Bewohne- liegen, dass Sexualität in der Pflege Niedersachsen
16 I 4 I 2013

Sexualität und Demenz

Sexuelle Bedürfnisse,
Paarbeziehungen und Sexualleben
demenzkranker Menschen
Herbert Mück

n In Deutschland sollen bereits lockerung beigetragen. Im Alltag wird 36,4 Prozent der Demenzkranken auf
1,2 Millionen Menschen von einer De- es oft noch so sein, wie es ein Bericht das Angebot von Geschlechtsverkehr
menz betroffen sein. Der „Geist“ mag im Kölner Stadt-Anzeiger (21.02.2011) ein. Nur 27,9 Prozent der Kranken ge-
zwar weichen („De-Mens“), körperli- andeutet: Danach kommentierten lang es, während der sexuellen Aktivi-
che und soziale Bedürfnisse (zum Bei- peinlich berührte Angehörige mas- tät sich nicht ablenken zu lassen und
spiel nach Kontakt) schwinden damit turbatorische Handlungen ihres Va- die Erregung zu bewahren.
aber nicht zwangsläufig. Im Gegen- ters mit dem Kommentar „Er leidet
teil. Durch den Wegfall sozial antrai- halt an einer Lebensmittelallergie“. Als häufigstes sexuelles Problem De-
nierter „Hemmungsmechanismen“ menzkranker beschreiben mehrere
werden manchmal Verhaltenswei- Einfluss der Demenz auf ältere Studien nachlassendes sexu-
sen (erstmalig) möglich, die von den das Sexualleben elles Interesse (!) mit ca. 23 Prozent
Betroffenen bislang nicht ausgelebt Nach wie vor gibt es nur wenige Un- (teilweise gibt es wohl Schätzungen
werden konnten. Dazu gehören auch tersuchungen, die dieser Frage nach- bis zu 70 Prozent), gefolgt vom zwei-
sexuelle Bedürfnisse. gegangen sind. Fast alle wurden ten Problem, einer Libidozunahme,
außerhalb von Deutschland durch- mit ca. 14 Prozent. Ein „unangemesse-
Das Thema „Sexualität von und mit geführt. Von neueren Zahlen berich- nes sexuelles Verhalten“ wird mit le-
Demenzkranken“ ist deswegen so tet eine US-amerikanische Studie an diglich 5 Prozent beziffert (Miller et al.
schwierig zu handhaben, weil es mit 162 ursprünglich zu Hause lebenden 1995; Cummings et al. 1990, Harris et
mehreren ähnlich gelagerten Tabus Paaren, von denen ein Teil an einer al. 1998). Während in der öffentlichen
einhergehen kann: dem Tabu der leichten bis mittelschweren Demenz Wahrnehmung das „störende Verhal-
„Sexualität im Alter“, dem Tabu der erkrankt war (Davies et al. 2012). In ten“ möglicherweise im Vordergrund
„Sexualität mit Abhängigen“, dem dieser Untersuchung berichteten die steht (dieses fällt eben auf), stellt sich
Tabu der „Sexualität mit Behinder- gesunden Partner, dass immerhin das häufigste „Problem“ (nachlassen-
ten“, dem Tabu „Sexualität im Pfle- über 70 Prozent der Demenzkran- des sexuelles Interesse) offenbar nur
geheim“ und dem Tabu „Sexualität ken intime Kontakte aktiv während im privaten Bereich der Zweierbezie-
der Pflegenden“. Erfreulicherweise des zurückliegenden Monats begon- hung ein, wo es eher ein „Problem“
nimmt seit ca. 2009 die Zahl der Wei- nen hatten (einschließlich Küssen der gesunden PartnerInnen ist und
terbildungs- und Informationsveran- und Umarmen). Geschlechtsverkehr nach außen kaum kommuniziert
staltungen eindrucksvoll zu, die sich selbst hatten aber nur 27,5 Prozent wird. Eine Studie (Zeiss et al. 1996),
dem Thema widmen. Auch Filme wie aktiv angestrebt. Während 82,5 Pro- die zeitlich sehr genau „problemati-
„An ihrer Seite“ und „Wolke 9“ sowie zent der Kranken generell auf inti- sches Verhalten“ in der Öffentlichkeit
erste Bücher (Böhm: Sexualität in der me Angebote der gesunden Partner erfasste, gelangt ebenfalls zu dem Er-
Demenz, 2010) haben sicher zur Tabu- eingegangen waren, ließen sich nur gebnis, dass es in nur 1,6 Prozent der
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© bilderstoeckchen – Fotolia.com
gesamten Beobachtungszeit zu ein- an ein älteres Bild,
deutig „sexuell unangemessenem“ in dem der Partner
Verhalten der Kranken kam. Dass noch attraktiv, ak-
problematische Verhaltensweisen tiv, sexuell in sei-
häufiger aus stationären Einrichtun- nen Bedürfnissen
gen berichtet werden als aus dem klar, hygienisch
häuslichen Bereich, mag daran liegen, anspruchsvoll und
dass das enge Zusammenleben vieler kontinent war.
Betroffener auf engem Raum Prob- Nach Einsetzen
leme fördert, die sich im häuslichen der Demenz ha-
Bereich oder im öffentlichen Raum ben sie es zuneh-
weniger stellen. mend mit einer
Person zu tun, die
Bezogen auf den Entwicklungsver- diesen Vorstellun-
lauf einer Demenz lässt sich verall- gen immer we-
gemeinernd sagen, dass die partner- niger entspricht.
bezogene Sexualität kontinuierlich Stattdessen leidet Durch Demenz werden manchmal Verhaltensweisen möglich,
die die Betroffenen bislang nicht ausleben konnten.
abnimmt, um spätestens im Stadium der Kranke viel-
einer schweren Demenz komplett zu leicht noch unter
fehlen. Parallel dazu nimmt Verhal- weiteren Gesundheitsproblemen und Wie mit sexuellen Bedürfnissen
ten, das als „sexuell problematisch“ medikamentösen Nebenwirkungen, ­Demenzkranker umgehen?
erlebt wird, bis zum Stadium der mit- was das Bild noch stärker verfremdet. Analog zu anderen funktionierenden
telschweren Demenz zu, um dann bei In einer solchen Situation fühlen sich Lebensbereichen und Fähigkeiten
schwerer Demenz ebenfalls eher wie- die Gesunden nicht mehr als gleich- kann man auch eine weiterhin vor-
der zu versiegen. Im Hinblick auf die wertige Partner, sondern eher als handene „sexuelle Kompetenz“ wert-
Vorgänge im Gehirn geht man davon mütterliche oder väterliche Pflege- schätzen und sich mit dem Kranken
aus, dass im Bereich des Vorderhirns person (für die dann unter Umstän- daran erfreuen, dass es in der Sexu-
angesiedelte Hemmungsmechanis- den ein gefühltes „Inzestverbot“ gilt). alität noch Beziehung und Gemein-
men aufgrund der Demenz nachlas- samkeit gibt. Gelungene Begegnun-
sen. Dies kann bei ursprünglich sehr Die Gesunden leiden zunehmend da- gen können nachhaltig entspannen
gehemmten Menschen dazu führen, runter, dass sich der Demenzkranke und zufrieden machen (auch den
dass sich diese erstmalig aus Sicht immer weniger auf sie beziehen kann gesunden Partner). Denn selbst wenn
der jeweiligen Partner „angenehm (vermehrte Unbeholfenheit, Verges- die Erinnerung nach einer sexuellen
normal“ (nämlich „frei“) verhalten. sen der Bedürfnisse des Anderen, Na- Begegnung bei Demenzkranken viel-
Dagegen kann der Wegfall von Hem- mensverwechslung). Auch glauben leicht rasch verblasst, kann eine po-
mung bei immer schon lustbetonten sie oft, bestimmte gesellschaftliche sitive Stimmung durchaus länger an-
Personen zu „überschießenden“ sexu- Erwartungen an den Umgang mit halten. Gesunden und verantwortlich
ellen Impulsen führen. dem Kranken erfüllen zu müssen. Da- denkenden und handelnden Partnern
durch werden sie selbst zunehmend gilt es die Sorge zu nehmen, dass sie
In Paarbeziehungen beeinflusst nicht erschöpfter und sexuell immer lustlo- bei sexuellen Begegnungen den Kran-
nur die Demenz des Betroffenen das ser. Werden dann auch noch getrenn- ken „missbrauchen“. In diesem Zu-
sexuelle Miteinander, auch eine ver- te Schlafzimmer bezogen und gilt die sammenhang können mitunter fol-
änderte Einstellung des gesunden Vorstellung, den Demenzkranken se- gende Überlegungen helfen: Ehe und
Partners wirkt darauf wesentlich ein. xuell „schonen“ zu müssen, dann ver- Liebe enden nicht mit dem Eintritt
So sehen manche Partner im Kranken siegt aus Sicht der gesunden Partne- einer Demenz. Sexualität zwischen
nicht mehr die Person, die sie einmal rInnen das gemeinsame Sexualleben Erwachsenen ist kein Rechtsgeschäft,
geheiratet haben: Sie klammern sich irgendwann komplett. sondern eine intime „Begegnung“.
18 I 4 I 2013

Solange der Demenzkranke zu „Be- den seltensten Fällen seine Umwelt Öffentlichkeit erfolgt. Zu einer ande-
gegnungen“ in der Lage ist und nicht „herausfordern“ will. In solchen Fällen ren Betrachtungsweise des Phäno-
dazu gezwungen wird, schließt dies „projiziert“ man ein eigenes Problem mens mögen folgende Überlegungen
einen „Missbrauch“ eher aus. Grund- in die andere Person und erwartet von beitragen: Einer Befragung zufolge
sätzlich gelten die gleichen Prinzi- dieser Person die Lösung. (Brecher 1984, Consumer´s Union´s
pien wie vor Eintritt der Demenz: Es summary) masturbieren im Alter von
kommt immer auf den natürlichen Neben dem Bewusstmachen von eige- 70 und mehr Jahren 43 Prozent der
Willen beider Partner an. Soweit der nen „Deutungen“, die wenig hilfreich Männer und 33 Prozent der Frauen.
demenzkranke Partner weiterhin zu sind, kann auch der Versuch eines Je höher die Bildung, umso eher wird
verstehen gibt, dass er sexuellen Ver- „Perspektivwechsels“ scheinbar sexu- masturbiert. Ab 70 Jahren ist Mastu-
kehr wünscht und genießt, sind keine ell aufgeladene Situationen entspan- bieren häufiger als herkömmlicher
ethischen oder rechtlichen Probleme nen. Wenn sich beispielsweise ein Geschlechtsverkehr. Heutzutage gilt
zu erwarten. Ein entgegenstehender Demenzkranker im Speisesaal einer Masturbieren auch in der Sexualwis-
Wille des Partners ist auf jeden Fall zu Einrichtung entkleidet, kann man sich senschaft nicht mehr als „Ersatzbe-
akzeptieren. Problematisch erscheint (und mitunter auch den Betreffenden friedigung“, sondern als eine eigen-
es, wenn der kranke Partner schon vor selbst) fragen, wo dieser glaubt sich ständige und gleichberechtigte Form
der Ehe nur um des lieben Friedens momentan zu befinden. Denn unter der Sexualität. Ein in anderem Kon-
willen Sex über sich ergehen ließ. Der der Vorstellung, auf der Toilette, im text normales Verhalten (wenn man
gesunde Partner kann dann nicht auf Schlafzimmer, am FKK-Strand oder sich in der eigenen Wohnung ohne
„Gewohnheitsrecht“ oder die „stän- in einer Arztpraxis zu sein, kann das Zuschauer allein befriedigt) wirkt nun
dige Praxis“ pochen. Sexualität sollte Verhalten durchaus passen. In einem oft nur deshalb „pathologisch“ oder
zudem nicht die einzige oder haupt- solchen Fall würde es möglicherweise störend, weil es nicht mehr „diskret“
sächlich verbliebene Form des Mit- mehr helfen, die örtliche Orientierung vorgenommen werden kann. Die Ver-
einanders sein. Auch anderweitige des Kranken zu verbessern, statt seine ringerung von „Zimmerkontrollen“
Zärtlichkeit und Zuwendung sollten „Hypersexualität“ zu bekämpfen. Um oder das Schaffen von Privatsphären
ausreichend vorhanden sein. solche Perspektivwechsel überhaupt könnte manches „Masturbationspro-
vornehmen zu können, ist es nötig, blem“ in Einrichtungen lösen. Mas-
Perspektiven wechseln die Biografie des Kranken wenigstens turbation hat neben dem Lusterleben
Es ist auf jeden Fall wichtig, sich be- etwas zu kennen. weitere positive Effekte. So kann se-
wusst zu machen, dass man durch xuelle Erregung innere Unruhe und
die eigene Deutung der sexuellen Be- Obwohl Humor oft heilsam und ent- Langweile beseitigen. Sie wird manch-
dürfnisse des Kranken („Das ist ja ab- lastend ist, sollte er im Umgang mit mal eingesetzt, wenn die Umgebung
norm!“) wie auch der eigenen („Das sexuellen Bedürfnissen Demenzkran- keine interessanteren Reize und Ein-
wäre ja Missbrauch“) entscheidend ker vorsichtig gehandhabt werden. ladungen bietet. Durch Masturbation
dazu beiträgt, ob eine Entwicklung Schnell kann daraus ein abwerten- kann sich auch ein Demenzkranker
als „Drama“ oder als „märchenhaft“ des Auslachen werden, das letztlich selbst regulieren und Kontrolle über
erlebt wird. Unzulässige „Deutungen“ nur die eigene Unsicherheit verbirgt. sein Befinden erlangen (was sich
liegen zumindest teilweise auch dann Oberstes Gebot ist es vielmehr, auch auch als fortbestehende „Kompe-
vor, wenn man den Kranken als „ver- den sexuellen Bedürfnissen und Ver- tenz“ verstehen lässt). „Der Gebrauch
haltensgehört“ oder sein Vorgehen haltensweisen Demenzkranker mit erhält“ – sexuell aktive ältere Frauen
mit „Problemverhalten“ oder „heraus- Respekt zu begegnen. haben ein feuchteres Scheidenmili-
forderndem Verhalten“ beschreibt. eu, ihre Vagina schrumpft weniger.
Damit blendet man nämlich aus, dass Masturbation anders bewerten Wer masturbiert, erlebt sich dabei als
das Erleben von „Störung“ und „Prob- Offenbar betrachten noch immer vie- „Mann“ oder „Frau“ und wird sich da-
lem“ in einem selbst entsteht (wäh- le Menschen Masturbation älterer mit möglicherweise seiner Identität
rend der Kranke sich vielleicht kindlich Personen als ein „Problem“ und zwar bewusst. Mancher fühlt sich dadurch
freut) und dass der Kranke bewusst in nicht nur dann, wenn diese in der „lebendig“.
4 I 2013 I 19

Umgang mit gesteigerten haben: juckende Textilien, zu enge halten herauszufinden (wie Wunsch
sexuellen Bedürfnissen Kleidung, schlechte Hygiene, Mikti- nach Nähe, Berührung, Abwechs-
Wenn der gesunde Partner mit ge- onsdrang, Infektion der Harnröhre, lung, Zuwendung). Das als vorrangig
steigerten sexuellen Bedürfnissen Unterleibsschmerzen oder eine Situ- erkannte Bedürfnis kann man dann
eines Demenzkranken nicht zurecht- ationsverkennung (wie sie oben un- gegebenenfalls auch stillen. Es klärt
kommt, bieten sich mehrere Mög- ter dem Aspekt des Perspektivwech- die Situation und erleichtert das wei-
lichkeiten an, die Situation zu ent- sels beschrieben wurde). tere Vorgehen, wenn man das unan-
schärfen: gemessene Verhalten mit Hilfe der
●●
Man deutet das Verlangen positiv Generell hat es sich bewährt, auf „se- Biografie des Betroffenen einordnen
(Statt „Er / sie will mich nur noch xuell unangemessenes Verhalten“ und verstehen kann. Erkrankungen,
benutzen“ vielleicht besser „Wie beein- in folgenden Schritten zu reagieren: die eine Demenz begleiten können,
druckend vital und genussfähig er/sie Es gilt IMMER Ruhe zu bewahren sollten immer sorgfältig ausgeschlos-
in diesem Bereich doch ist“). und auszustrahlen, also sich selbst sen werden. Auch sollte man routine-
●●
Man reagiert wohlwollend (wert- als „Medikament“ einzusetzen. Man mäßig überprüfen, inwieweit Neben-
schätzend) auf mögliche Einladungen sollte weiterhin respektvoll kom- wirkungen von Medikamenten eine
und lenkt zugleich auf ein anderes munizieren (Kein „Schämen Sie sich Rolle für „problematisches Verhalten“
Thema, statt (brüsk) den Wunsch denn nicht?!“ „Hören Sie auf rumzu- spielen können. Erst wenn alle bishe-
zurückweisen. fingern!“) und bessere innere Bilder rigen Strategien nicht greifen, sollten
●●
Man motiviert den Demenzkranken wählen (zum Beispiel „Liebesspiel“). medikamentöse Maßnahmen erwo-
sich vermehrt zu bewegen („abzure- Auf Vorwürfe und Drohungen oder gen werden. Das kann das Absetzen
agieren“). gar Bestrafungen ist zu verzichten. oder Niedrigerdosieren eines Arznei-
●●
Man vermeidet „Trigger“ (zum Bei- Sofern nötig, sollte man das Gesche- mittels sein (das vielleicht sexuell sti-
spiel Bilder, Filme etc.), die Lust auslö- hen entdramatisieren (insbesondere mulierend wirkt) oder die Gabe eines
sen können. auch gegenüber sonstigen Anwesen- Medikaments, das „dämpfend“ wirkt.
●●
Man beugt vor, indem man andere den). Denn in Situationen mit meh- Hierzu gibt es allerdings bislang keine
Lust und Entspannung vermittelnde reren Menschen dienen „fachkompe- Richtlinien und sehr oft widersprüch-
Maßnahmen einsetzt (wie Streicheln tente Menschen“ als Vorbild, an dem liche Erfahrungen.  <<
oder Massieren, warme Bäder). eigenes weiteres Verhalten orientiert
●●
Man ermutigt oder bittet den Kran- wird („Social Referencing“). Ein offen- Die ungekürzte Fassung des Artikels
ken, sich selbst zu befriedigen. kundiges Gefühl gilt es zu validieren ist im Internet unter www.dr-mueck.
●●
Nur im Notfall sollte man (meist („Sie verspüren Lust“), damit dieses de/HM_Beziehung/Sexualitaet/HM_
dämpfende) Medikamente einsetzen. abebben kann, weil es seine Funktion Sexualitaet_Demenz_Alzheimer.htm
erfüllt hat. Es wird dann nicht mehr zu finden.
Was unter „sexuell unangemesse- als Signal für ein unerfülltes Bedürf-
nem Verhalten“ zu verstehen ist, lässt nis benötigt („Sie wünschen sich of- Dr. Dr. med.
sich nicht allgemein sagen. Wie schon fenbar Abwechslung / Berührung.“) Herbert Mück
angedeutet, kann ein bestimmtes Wenn es möglich ist, sollte man den ist Facharzt
Verhalten „angemessen“ sein, wenn Demenzkranken mit einem positiven für Psychoso­
es unter Ausschluss der Öffentlich- Affekt (Gefühl) „anstecken“ (Sicher- matische Medi-
keit erfolgt, nicht aber wenn es vor heit, Wertschätzung, Gelassenheit). zin und Psycho-
den Augen anderer stattfindet (zum therapie in Köln.
Beispiel Masturbation). Bevor man Mit freundlich entschiedener Stimme Aktuell befasst er sich mit Bindungs-
ein Verhalten vorschnell als „sexuell“ kann man um ein Alternativverhalten forschung, „Positiver Psychologie“
deutet, sollte man immer alternati- bitten („Bitte essen Sie jetzt weiter.“). (Ressourcenorientierung) und der
ve Beschreibungsweisen prüfen. So Man sollte immer versuchen, das ­Behandlung von Traumata. Im Inter-
kann ein „Herumnesteln“ zwischen (möglicherweise) „wahre Bedürfnis“ net hat er Ratgeber unter anderem zu
den Beinen auch folgende Gründe hinter dem sexuell wirkenden Ver- Demenz und Parkinson veröffentlicht.
20 I 4 I 2013

Von der Heilungsphantasie zu Verstehen, Akzeptanz und Entwicklung

Ein paar Sexualitäten, vom


Therapeutensessel aus gesehen*
Amely Wahnschaffe

n Vier Geschichten, vier Liebesfor- bei erwischt, wie ich zwar nicht ver- Liebesformen
men, erzählen von inneren Kerkern urteilend und moralisierend, aber Sylvia, 38 (Die Namen sind geändert
und Befreiungsversuchen. Bei nähe- doch mich wundernd und hinterfra- und die Fallgeschichten anonymi-
rem Hinsehen kann sich das Skurrile gend, meine eigenen Normalitäts- siert), hat in ihrem Leben drei Verge-
als nachvollziehbarer Lösungsver- vorstellungen entlarvte. Hätte ich waltigungen erlebt, mit 14, 19 und 23,
such entpuppen und die eigene eben so viele Fragen gestellt, wenn danach wechselnde Beziehungen,
„Normalität“ fragwürdig werden. Po- sie mir vom beschaulichen Feier- lange Singlephasen. Sie ist hetero­
sitive Entwicklung besteht dann abendsex mit einem festen Partner sexuell, offen, kann sich verlieben.
nicht unbedingt in der „Heilung“ ei- erzählt hätte? Ein anderer Patient ist Aber Sex kann sie nur genießen, wenn
nes sexuellen Symptoms, sondern weniger wehrhaft und fragt mich sie alles absolut unter Kontrolle hat.
auch in dessen Verständnis und sei- mit flehenden Augen, ob dass, was er Sie kommandiert, unterbricht und
ner Integration in ein stimmiges sexuell lebt und fühlt, noch normal zieht sich zurück. Und wenn sie sich
Selbst-und Weltbild. ist oder schon völlig krank. Spätes- mal „Mühe gibt“ und einfach mit-
tens da wird mir klar, dass mein The- macht, dann kommt das ganze alte
rapeutensessel gar nicht so weit ent- scheußliche Gefühl wieder hoch und
„Misère et grandeur de ce monde: fernt steht von Beichtstuhl oder sie muss sich wehtun. Wenn sie dann
il n‘offre point de vérités mais des Kirchenkanzel. Angerufen als Richte- sehr lange duscht und dann sehr lan-
amours. L‘Absurdité règne et l‘amour rin über gut und böse, über richtig ge zusammengerollt mit ihrem alten
en sauve.“ und falsch, fällt es gar nicht so leicht, Stoffhasen im Arm auf dem Sofa liegt
„Elend und Größe dieser Welt: sie der Versuchung zu widerstehen und und dabei leise Kinderlieder summt,
­bietet keine Wahrheiten, sondern das angebotene Zepter hinzuwerfen. kann es wieder gut werden.
­Liebesmöglichkeiten. Es herrscht das Schon die Idee einer Heilung, ja doch
Absurde, und die Liebe errettet davor.“ definiertes Ziel der Therapie an sich, Songül, 48, ist genervt von ihrem
verlangt eine Definition dessen, was Mann. Er hat sie jahrelang betrogen,
(Camus, Albert: Carnets I, Mai 1935 – Février
1942. Gallimard: Paris 1962. Tagebücher denn heil und damit anzusteuern ist, manchmal auch geschlagen. Am
1935 – 1951. Übers.: Guido Meister. Rowohlt:
Reinbek 1972) und damit eine Position des Richtens schlimmsten findet sie aber, dass er
und Bewertens, die entwertend und sie mit den Kindern so alleine gelas-
entfremdend wirken kann. Was also sen hat. Jetzt bemüht er sich sogar
„Sie schon wieder mit Ihrem hetero- ist eine, was also ist seine, was also um sie und benimmt sich anständig.
normativen Diskurs“, sagte mir eine ist Ihre heile Sexualität? Als Plädoyer Aber es ist zu spät. Das Herz bleibt
Patientin immer, wenn ich mich an- für den Verzicht auf generalisierte kalt. Sie hatte einmal Träume von
schickte, mit ihr die Motive zu ihren Heilungsvorstellungen im Bereich ­einer erfüllten Sexualität, auch von
doch immer wieder überraschenden der Sexualität möchte ich vier kleine scharfen Dessous und roten Lippen.
sexuellen Experimenten zu erkun- Geschichten aus meinen zwei Ses- Dafür hat er sich nur bei den anderen
den. Und tatsächlich hat sie mich da- seln erzählen. interessiert, mit denen er nicht
4 I 2013 I 21

v­ erheiratet war. Trotzdem verlässt sie ­eine Windel gewickelt wieder zu er- Zahlenreihen waren versteckte Bot-
ihn nicht, trotzdem guckt sie sich scheinen. Nur wenn er in dieser Auf- schaften zu ihrer Rettung. Das ist zum
nicht um. Wenn sie es täte, würden machung weiter begehrt wird, kann Glück vorbei. Sie hat nicht aufgehört,
ihre Eltern nicht mehr mit ihr spre- er eine Erektion bekommen. Er pinkelt an die Liebe zu glauben, aber die
chen. Wenn sie es täte, würden etliche nie in die Windeln rein, liebt aber die- ­Präsenz eines realen Mannes löst
Familien ihre Kinder als Ehepartner ses Gefühl der Sicherheit und Gebor- noch immer Angst und Widerwillen
für deren Kinder ablehnen. Wenn sie genheit. Den Frauen sagt er, dass es aus. Sie wartet auf ihren Prinzen, der
es täte, müsste sie nachts alleine im das ist, was er dringend braucht. In die schon leicht gealterte Prinzessin
Zimmer schlafen: die Gespenster ihrer Wirklichkeit zieht er die Windeln aus ihrem Dornröschenschlaf befreit.
Kindheit würden über
sie herfallen. Sie kann
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sie nicht erkennen als


Körpererinnerungen an
die früheren Misshand-
lungen. Stattdessen hält
sie diese Gespenster für
Botschaften teuflischer
Wesen, die sie nur durch
äußerste Tugend und
regelmäßiges Beten im
Griff behalten kann, wie
der Imam sie gelehrt
hat. Glücklich ist sie,
wenn sie im Fernsehen
einen Liebesfilm sieht,
während niemand zu
Hause ist. Dafür hat sie
sich extra von ihrem
Mann einen Beamer Schon die Idee einer Heilung verlangt eine Definition dessen, was „heil“ ist.

­gewünscht und bekom-


men. So groß ist das
­Gesicht der strahlenden, jungen, ­jedoch nie an, wenn er alleine in Immer wieder findet sie ihn für eine
­liebenden und geliebten Frau auf der ­seiner Wohnung ist. Er ist glücklich, ­Weile im sozialen Netz des Internets,
Leinwand, dass sie ihr eigenes Dasein wenn er sein erigiertes Glied durch die das sind wundervolle, hochromanti-
für einen Moment vergisst und ganz Windelwatte hindurch an den Körper sche Texte, die da hin und her gehen.
diese Frau ist. Das ist ein unbezahl­ einer sehnsüchtigen Frau drücken Ein Reichtum an gegenseitiger Ein-
barer Trost. kann. Der Rest ist Nebensache. fühlung und Inspiration, von der sich
so manche „Realbeziehung“ einige
Patrick, 42, ist Unternehmensberater Karin, 54, ist viel allein zu Hause. Sie Scheiben abschneiden könnte. Und
mit dicker Karre, feschem Anzug, an- verlässt das Haus eigentlich nur noch manchmal wird dann sogar telefo-
sehnlichem Einkommen und männ- für ihre Arzt- und Therapeutentermi- niert, über Stunden und Stunden,
lich-markanten Gesichtszügen. Die ne und um ein bisschen was einzu- ­einen ganzen Alltag lang. Und
Frauen recken auf der Straße reihen- kaufen. Vor sechs Jahren ist sie am manchmal sogar geskyped mit ange-
weise die Hälse nach ihm. Wenn ihn ­Ende einer schwierigen Ehe paranoid schalteter Kamera, dann wird das Eis
dann jedoch eine in seine Wohnung geworden. Das Gesicht ihres Mannes schon dünn. Und manchmal sogar
begleitet, zieht er sich bald zurück, um hat sich in eine Satansfratze verwan- die Bluse geöffnet. Dann kann es sehr
seine Garderobe abzulegen und in delt, in allem Essen lauerte Gift und schön sein, aber auch leicht umkip-
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dung, um die zeitweilige Erfahrung
der Zugehörigkeit zum anderen Ge-
schlecht zu erleben“, wird als Störung
aufgeführt, ohne dass irgendwelche
Symptome, die einen psychischen
Leidensdruck nahelegen, als weitere
Kriterien formuliert werden. Gleiches
gilt für den Fetischismus. Die neue,
umstrittene Revision 5 des amerika-
nischen Diagnosesystems DSM (Dia-
gnostic and Statistical Manual of
Mental Disorders) unterscheidet er-
freulicherweise „atypische sexuelle
Interessen, die in der Regel nicht mit
psychischen Störungen einhergehen“
und solche sexuelle Interessen, die
„bei den Betroffenen Leid verursa-
chen, ohne dass dies in erster Linie
durch die soziale Verurteilung verur-
sacht ist“ oder aber „bei anderen be-
teiligten Personen Leid, Verletzung
oder Tod auslösen oder aber andere
Personen gegen ihren Willen oder
Und Sie? Haben Sie Spaß? Was nehmen Sie dafür in Kauf? nicht einwilligungsfähige Personen
beteiligen“ (American Psychiatric As-
sociation, 2013). Das kommt dem, was
pen. Alles, bloß nicht noch einmal sind für die Therapie ebenso langwei- meiner Ansicht nach in der Therapie
­benutzt werden. Da reicht ein Klick lig wie irrelevant. Sie messen die be- relevant ist, schon sehr viel näher.
auf das kleine Kreuzchen rechts oben, schriebenen Phänomene an kulturell
ein kleiner böser Brief und AUS. Zum definierten Normalitätsvorstellun- Aber von dem, was Forschungsinsti-
Glück gibt es dieses kleine bisschen gen, die von der modernen europäi- tutionen, Kostenträgern, ÄrztInnen
­sichere Liebe, Safersex für die Seele, schen Sexualwissenschaft (zum Bei- und TherapeutInnen als Norm ge-
sonst wäre das Leben zum Sterben spiel Volkmar Sigusch: Neosexua litä- setzt wird, will ich nun zurückkehren
leer. ten, Campus 2005; Gunter Schmidt: zu meinen zwei Sesseln im Therapie-
Das neue Der Die Das, Psychosozial- raum. Dort wird es interessant und
Symptom und Lösung Verlag 2005) schon lange für in der hilfreich, wenn man sich auf die Su-
Was ist hier behandlungsbedürftig? Auflösung begriffen erklärt werden, che danach macht, warum man tickt,
Ist Karin Opfer der medialen Gesell- aber in der klinischen Praxis und so- wie man tickt und fickt, wie man
schaft, weil sie nur im Netz liebt? Ist gar in den Diagnosesystemen fröh- fickt (oder eben nicht), und wie gut
Patrick pervers, weil er ohne Not Win- lich weiter herumspuken. Im ICD-10 oder schlecht es einem dabei geht,
deln trägt und nicht ohne kann und (International Classification of Disea- und das ganz unabhängig davon wie
kommt? Ist Sylvia hochneurotisch, ses), dem in Europa gängigen Diag- „typisch“ oder „atypisch“ das Sexual-
weil sie beim Sex immer „die Hosen nosesystem, heißen die Perversionen verhalten zunächst einmal erscheint.
anhaben“ muss oder sich danach wie jetzt zwar „Störungen der Ge- Es geht also zunächst ums Verstehen
ein Kleinkind benimmt? Ist Songül schlechtsidentität“, aber zum Beispiel und Akzeptieren des Gewordenen
selber schuld, dass sie einem solchen der Transvestitismus, definiert als und dann um eine ganz pragmati-
Mann die Treue hält? Diese Fragen „Tragen gegengeschlechtlicher Klei- sche Bilanzierung: Was habe ich oder
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der/die Andere(n) von meiner Art zu auf vertrauen, dass sie jemanden fin- seine positiven Veränderungen deut-
lieben oder mich zu erregen für ei- det, der sie ebenso annimmt wie sie licher zu sehen, sich ihm gegenüber
nen Gewinn und was kostet es mich ist oder das sogar gerade gut findet. klarer abzugrenzen, ohne ihn entwer-
oder den/die Andere(n), welche ten zu müssen. Zugleich würde sie
Wünsche bleiben dabei unerfüllt? Karin könnte ihre Angst vor der Be- Freundschaften und familiäre Bin-
Diese Fragen lohnen sich meines Er- gegnung mit realen Männern erken- dungen und ein Hobby intensiver
achtens nicht nur in der Therapie, wo nen, deren lebensgeschichtliche Hin- pflegen, um nicht mehr so ausgelie-
sie natürlich durch den dahinter ste- tergründe verstehen und die virtuelle fert zu sein.
henden Leidensdruck eine besonde- Liebe als suchtartige Flucht vor der
re Dringlichkeit haben, sondern glei- Realität entlarven, sich Internetver- Und Sie?
chermaßen für Nonnen, Nympho- bote erteilen und geplante Kneipen- Nehmen Sie sich einen Moment Zeit
maninnen, Monogamisten in Misso- besuche durchführen. Sie könnte und erkunden Sie Ihren eigenen Sex:
narsstellung, ganz normale Fremd- aber auch aufhören, sich für ihr zu- Haben Sie Spaß? Was nehmen Sie
geher, glücklich Verliebte, ewig Su- rückgezogenes, „unerfülltes“ Liebes- dafür in Kauf? Spielen Sie Spielchen?
chende, die LeserInnen dieser Zeit- leben zu schämen, stolz die Tiefe des Liegen Sie immer unten und würden
schrift und die Verfasserin dieses Ar- geistigen Austauschs (die sie sehr eigentlich gerne mal oben liegen?
tikels. Und wenn man festgestellt körperlich erlebt!) genießen und das Warum nicht? Wie viel sind sie allein
hat, was einen stört, dann kann man als positive Alternative zu ihrem ver- gelassen worden und wie viel müs-
gucken im Detail der Gegenwart, ob gangenen frustrierenden Eheleben sen Sie jetzt allein lassen? Was ver-
es eine Chance auf mehr Freiheit gibt bewerten. bieten Sie sich aus Angst vor Verlust
oder ob es die bestehenden Kerker von Geborgenheit? Wann wurden
anzuerkennen und zu betrauern gilt, Patrick könnte erkennen, wie er sich Ihre Grenzen überschritten und
oder sie gar so bequem eingerichtet durch die Windeln emotional zurück wann sind Sie über die Grenzen von
sind, dass man gar nicht hinaus ins Kleinkindalter beamt und mit der anderen hinweg gerannt? Wie hoch
möchte. An den vier Beispielen ent- gegenwärtigen Inszenierung eine al- müssen die Mauern um Sie jetzt
lang, will ich in groben Zügen thera- te Wunde aus Machtlosigkeit und sein, damit Ihnen nicht schwindlig
peutische Entwicklungsmöglichkei- Verlassenheit heilt. Er könnte aber wird vor Liebe? Lohnt sich das? Trau-
ten in Augenschein nehmen. auch anerkennen, dass die Entlas- en Sie sich? Möchten Sie sich noch
tung und der Lustgewinn durch das ein wenig befreien oder lieber Ihren
Sylvia könnte die Zusammenhänge Windelspiel so groß und unersetzlich Kerker schmücken oder von beidem
zwischen ihren Gewalterfahrungen sind, dass er nicht darauf verzichten etwas? <<
und den aktuellen Gefühlen verste- kann und eine Partnerin suchen, die
hen und dann Schritt für Schritt ge- auf Männer in Windeln steht oder *Ein kürzerer „Vorläufer“ dieses
nau erkennen lernen, welche sexuel- sich zumindest davon ihren Spaß ­Artikels ist schon einmal erschienen
len Handlungen ihres Freundes die nicht verderben lässt. unter dem Titel „Liebe, Schmerz,
Zusammenbrüche auslösen. Sie ­Hoffnung“ in der Zeitschrift
könnte lernen, ihrem Freund ihre Zu- Songül könnte die Auffassungen ih- POLAR 14, 2013, S. 117–119 bei Campus.
stände zu erklären und mit ihm zag- rer Kultur in Frage stellen, ihre Ängste
haft experimentieren, um die Erleb- therapeutisch bekämpfen, sich ein Amely Wahn-
nismöglichkeiten auszudehnen. Sie soziales Netz aufbauen, schließlich in schaffe ist
könnte aber auch erkennen, wie viel eine betreute Frauen-WG ziehen und psychologische
sie an Verarbeitung geleistet hat, die familiären Bindungen kappen. Sie Psychothera­
dass sie sich überhaupt wieder auf könnte aber auch anerkennen, dass peutin mit
Sex einlassen kann und es ihr durch ihre Kraft nicht ausreicht für Revoluti- Schwerpunkt
ihre dominante Position gelingt, onen und versuchen, sich das Leben tiefenpsycholo-
Spaß daran zu haben, ohne sich da- mit ihrem Mann halbwegs erträglich gisch fundierte Psychotherapie. Sie
nach beschmutzt zu fühlen, und dar- zu gestalten, indem sie sich bemüht, lebt und arbeitet in Berlin.
24 I 4 I 2013

Rezension „Einmal ohne Gummi, da passiert


schon nichts!“, dachte Steffi. Auch
Fabienne glaubte fest daran, dass
„Ich dachte, es sitzt noch locker und es sie beim ersten Mal „schon nicht
löst sich von selbst! trifft!“. Lisa wundert sich nicht, als
Der Dokumentarfilm „14“ zeigt das Leben minderjähriger Mütter ihre Regel ausbleibt und macht erst
nach vier Monaten einen Schwan-
gerschaftstest. Sie nehmen alle vier
n „Unsere Beziehung ist im Arsch, cherin. Sie blieb hartnäckig und fand kein Blatt vor den Mund, wenn es um
weil ich ihm kaum noch vertrauen nach Jahren eine Finanzierung und Sex oder Jungs geht – und doch wa-
kann. Ich weiß nicht, wenn ich fünf begann zu filmen. Am Schluss hat- ren sie nicht aufgeklärt genug. Auch
Minuten fortgehe, was er wieder an- te Cornelia Grünberg für „14“ 250 nicht, als der erste Schock über die
stellt“, sagt Laura in die Kamera. Sie Stunden Drehmaterial, das sie auf ungewollte Schwangerschaft über-
ist 18 und spricht über den Vater ihrer 90 Minuten reduzieren musste. Ent- wunden ist. „Ich wollte es nur los
Tochter. Mit 14 Jahren ist sie ungewollt standen ist ein eindringlicher Film werden, ohne dass es jemand merkt“,
schwanger geworden und entschied auf Augenhöhe mit den Teenagern, schildert Steffi, und Lisas Freund frag-
sich gegen einen Schwangerschafts- der sie begleitet, als sie entscheiden te, ob er ihr in den Bauch treten solle,
abbruch und für ein Leben mit Kind. müssen, ob sie abtreiben oder nicht, damit alles vorbei sei. Fabienne war
Laura ist eine von vier Protagonistin- der ihre Schwangerschaft und die Ge- nicht minder naiv: „Ich dachte zuerst,
nen in dem Dokumentarfilm „14“, der burt ihrer Kinder zeigt und wie sie ih- es sitzt noch locker und löst sich von
in Berlin am 11. September Prämiere ren Alltag mit Kind stemmen. „14“ ist selbst!“
feierte. Im Publikum saßen Gleichalt- nah dran an den Mädchen und offen-
rige, 12- bis 15-jährige SchülerInnen bart nicht nur ihre Gefühle, sondern Sie sind Kinder, zwar ganz coole, aber
des John-Lennon-Gymnasiums. auch die der Familien, der jungen Vä- sind sie auch reif genug, um Mütter
ter und des sozialen Umfelds. zu werden? Drei von ihnen entschei-
Es ist eine intensive und intime Lang- den sich bewusst für ein Kind, Lisa
zeitbeobachtung von Regisseurin „Alle vier haben sehr frei geredet und hätte vielleicht abgetrieben, aber war
und Autorin Cornelia Grünberg, die konnten im Schnitt noch entschei- schon im vierten Monat schwanger.
sie nur mit einem Kameramann und den, Szenen nicht zu verwenden, die
einem Tonmann gedreht hat. Inspi- ihnen unangenehm waren“, erzählt Eindringlich erleben die Zuschaue-
riert wurde die Filmemacherin aus die Filmemacherin. Dass sie sich auf rInnen wie es den vier schwangeren
Berlin schon 2003 durch das Buch die Präsenz des Teams eingelassen Jugendlichen ergeht, auch in ihren
„Rückwärts ist kein Weg“ von Jana haben, war für sie „ein großes Glück“. Beziehungen zu den Vätern – Lisas
Frey, in der das Leben von Lilli be- Sie betont, wie wichtig es für sie war, Freund war gerade 13, als sie Sex hat-
schrieben wird, die mit 14 schwanger „nur Beobachterin zu sein und nichts ten. Die Peergroup – FreundInnen
und minderjährig Mutter wird. Wäh- zu inszenieren. Alles ist so wie es der und MitschülerInnen – reagieren
rend ihrer bundesweiten Recherchen Film zeigt, passiert, ich versuche we- unterschiedlich, mit Bewunderung
begegnete Cornelia Grünberg in un- der zu beschönigen, noch zu drama- oder Distanz, gar mit Mobbing. Alle
terschiedlichen Schwangerschafts- tisieren.“ Das ist ihr gelungen. „14“ Mädchen wachsen auf ihre Weise
konflikt-Beratungsstellen Mädchen urteilt nicht, zeigt schlicht, wie die ohne unüberwindbare Probleme in
mit ähnlichem Schicksal und verwarf Mädchen sich fühlen, wenn sie über die neue Rolle hinein, sie sind stär-
die Idee eines Spielfilms, entschied Leben und Tod entscheiden müssen, ker und sicherer als man vermutet
sich für einen Dokumentarfilm. Das selbst noch Kinder, die sich gerade hätte.
echte Leben. mal auf dem Weg machen, ein we-
nig erwachsen zu werden. Das Leben Dann wird das Kind real: Vor allem
Erst fand sich kein Produzent, „zu überrumpelt sie, als sie in „Feierlau- bei Lauras Entbindung offenbart „14“,
wenig Interesse“, so die Filmema- ne“ sind. was in einem so jungen Mädchen
4 I 2013 I 25

Die vier Protagonistinnen: Lisa, Laura, Fabienne und Steffi

vor sich geht, wenn es ein Kind be- Im nächsten Jahr kommt „18“ in die Benning selbst findet den Film sehr
kommt und selbst noch ein Kind ist. Kinos, mit „28“ will Cornelia Grün- dicht erzählt und voller interessan-
Von der Geburt und den Schmerzen berg ihre Trilogie über Teenager-Müt- ter Anregungen, aber „die Probleme,
überrumpelt, dann das Baby auf dem ter beenden. Dann sind die Kinder die auftauchen, wenn man eine sol-
Bauch, sagt Laura panisch: „Das ist von Laura, Steffi, Fabienne und Lisa che Verantwortung übernimmt, sind
doch nicht mein Kind!“ Doch, es ist! 14, so alt wie ihre Mütter, als sie ge- stellenweise zu ‚weich‘ dargestellt“,
Nun ist das Leben nicht mehr kinder- boren wurden. Ihr Leben geht weiter urteilt sie, selbst Mutter zweier Kin-
leicht, sondern voller Verantwortung – mit Trennungen, Schulabschlüssen, der. Aber „hart“ genug, dass eine
und Entbehrungen, wenn auch mit Dramen und Enttäuschungen. Auf Schülerin sagt: „Ich möchte auf kei-
Freude und Stolz. Der Film blickt hin- „28“ müssen wir noch gute 10 Jahre nen Fall so früh schwanger werden!“
ter gängige Statistiken zu Teenager- warten, aber bald geht ein interak-
Schwangerschaften und trifft mitten tives Cross-Mediaprojekt online, in Wenn „14“ bei jungen Zuschauerin-
in ihr Leben. dem die Fülle des Materials über das nen und Zuschauern präventiv wirkt,
Leben der jungen Frauen Platz finden obwohl er weder verurteilt noch be-
In Deutschland werden derzeit rund soll. wertet, dann ist viel gewonnen. Aber
acht bis neun von Tausend 15- bis „sicher“ ist im Leben und in der Liebe
17-Jährigen schwanger, vier von ihnen Maria Benning, Deutschlehrerin am leider nichts.  <<
entscheiden sich für einen Abbruch. John-Lennon-Gymnasium, bespricht
Das Risiko minderjährig schwanger später „14“ im Unterricht ihrer 9. Klas- Der Link zum Film:www.14derfilm.de.
zu werden, liegt bei Hauptschülerin- se. „Es ist schon toll, wenn so ein Film Dort gibt es auch ein pädagogisches
nen in etwa fünf Mal höher als bei offen anspricht, worüber nur wenige Begleitheft als Download.
Gymnasiastinnen. Interessant ist, reden“, sagt Finley, und Philipp zeigt
dass zur Hälfte Verhütungspannen sich schockiert, „dass eigentlich kei- Verena Mörath, freie Journalistin
Ursache für die frühen Schwanger- ne der Beziehungen zu den Vätern und stellvertretende Vorsitzende des
schaften sind. wirklich intakt geblieben ist. Maria pro familia Bundesverbands
26 I 4 I 2013

Zum Weiterlesen menhängen herauszureißen und zu befasst sich das von Harald Blonski
isolieren. Das Buch soll Bekanntes mit herausgegebene Buch.
Vorsicht Sexualität! Neuem und Verschüttetem (davon
gibt es bei der Sexualität sehr viel) Die AutorInnen erläutern, wann und
und Kritisches mit Originellem ver- warum die Beratung älterer Men-
mengen, um neugierig zu machen schen notwendig ist. Sie demonstrie-
und zum Tätigwerden zu ermuntern. ren die Vielfalt der Möglichkeiten, ei-
Es soll somit tatsächlich ein Mut- ne solche Beratung anzubieten.
mach-Buch sein, um einmal einen
neuen, in seiner Breite vielleicht un-
gewohnten Blick auf diese zutiefst
menschlichen Eigenheiten und ihre
so oft vom Scheitern bedrohten Äu-
ßerungsformen zu wagen – einen
Blick, der auch ermutigt, dieses
‚schwierige‘ Thema offensiv in die Be-
ratungs- oder psychotherapeutische
n Josef Christian Aigner, Innsbrucker Arbeit mit aufzunehmen.“
Uni-Prof. für Psychosoziale Arbeit und Aus dem Inhalt: Ein Einblick in die Ge-
Psychoanalytische Pädagogik, hat ei- schichte: Sexualität und Sexualwis-
ne „grundlegende Einstimmung in senschaft, Jugend als Seismograph
Sexualwissenschaft, Sexualberatung gesellschaftlicher Trends, Die Bedeu-
und Sexualtherapie“ verfasst. Er tung der gesellschaftlichen Umbrü- Außerdem teilen sie ihre Erfahrungen
schreibt im seinem Vorwort: „ Das che für Partnerschaft und Sexualität, und stellen sowohl Ansätze und Me-
Buch trägt – neben der Darstellung Altensexualität, Asexualität und Post- thoden vor, die sich in ihrer prakti-
eigener Erfahrungen aus Beratung sexualität, Was ist schon „normal“?, schen Arbeit bewährt haben, als auch
und Therapie – somit zusammen, was Was wir aus der Psychotherapie sexu- solche, die sie in Zukunft für zielfüh-
ich selbst als hilfreich und brauchbar eller Störungen lernen können, Die rend halten.
zur Arbeit mit und zum Verständnis Geschlechterfrage. <<
von sexuellen Problemen erfahren Das Buch zeigt das breite Feld der Se-
habe, um es weiter zu geben. … Es soll Josef Christian Aigner (2013), niorenberatung, in dem die Berück-
auch kein ‚wissenschaftliches‘, aber ­Vorsicht Sexualität! Sexualität sichtigung der Altersdifferenz zwi-
ein wissenschaftlich fundiertes Fach- in Psychotherapie, Beratung und schen BeraterIn und KlientIn eine
buch sein, das sich der Lesbarkeit hal- ­Pädagogik; eine integrative Per- wichtige Rolle spielt. Thematisiert
ber mit Dauerzitationen zurückhält, spektive. Stuttgart: Kohlhammer wird in einem Beitrag auch die Sexu-
aber dennoch auf einen breiten Lite- Verlag, 233 Seiten, 29,90 Euro alberatung im Alter: Christiane Schra-
raturschatz verweist, der im Fall de- der und Robert Bolz befassen sich mit
taillierteren Interesses oder Bedarfs Sexualität und Partnerschaft im Alter
nachgeschlagen werden kann. Es soll und greifen dabei auf ihre langjähri-
deutlich machen, dass Sexualität so
Ältere Menschen ­beraten gen Erfahrungen aus der Beratungs-
vielfältig in unser Leben verstrickt ist, n Angesichts des demografischen praxis bei pro familia zurück. <<
dass wir bei ihrer Erforschung immer Wandels und komplexer werdender
ein breites Spektrum von Äußerungs- Versorgungsstrukturen wird die kom- Harald Blonski (Hrsg.) (2013),
formen im Auge haben müssen, um petente Beratung älterer Menschen Beratung ä ­ lterer Menschen.
nicht der Gefahr zu erliegen, Sexuali- immer wichtiger. Wie diese Beratung ­Methoden – Konzepte –
tät tatsächlich in entfremdender aussehen soll und wie sie ihre Ziel- ­Erfahrungen. Frankfurt: Mabuse-
Form aus den großen Lebenszusam- gruppe am besten erreicht – damit Verlag 2013, 294 Seiten, 34,90 Euro
4 I 2013 I 27

Rezension Der größte Teil der Bevölkerung ist ge- denn welche toughe Lesbe und Ärz-
gen die Benachteiligung Homosexu- tin möchte heute noch als Diskrimi-
Berufsalltag: eller. Aber manchen ist gar nicht be- nierungsopfer dastehen?
Lesbische Ärztinnen wusst, dass sie mit gut gemeinten
Bemerkungen Klischees transportie- Und so haben die vielen wohlwollen-
Die Frauenärztin Helga Seyler veröf- ren, die nichts anderes sind als Diskri-den Heteros und Heteras auch kaum
fentlicht die ersten qualitativen For- minierungen. Helga Seyler zeigt eine Chance, sensibel zu reagieren.
schungsergebnisse zu lesbischen Ärz- durch die sensible Aufarbeitung der Wie sollen sie denn um die Alltagsre-
tinnen im deutschsprachigen Raum. alität von Lesben wissen, es
Die gründlich reflektierten Ergebnis- sei denn, sie haben die Ge-
se zeigen, dass der Umgang mit Ho- legenheit, im engen Be-
mosexualität am (ärztlichen) Arbeits- kanntenkreis an deren
platz für die Betroffenen auch heute Freud und Leid teilzuneh-
nicht immer einfach ist. Neben tiefen men. Diese Wissenslücke
Einblicken in persönliche Erfahrun- kann Helga Seylers Buch
gen garantiert das Buch einen Zu- schließen. Die Leserinnen
wachs an psychosozialem Wissen und Leser werden von den
und vermittelt damit situativ ange- offenen und ehrlichen Ein-
messene Handlungsmöglichkeiten blicken in das Leben der
im Umgang mit Kolleginnen oder Pa- Ärztinnen berührt sein. Die
tientinnen. durchgängige Wertschät-
zung der Autorin für jede
Die Autorin hat aus zahlreichen Inter- einzelne Interviewpartne-
views zehn biografische Berichte von rin kann einen weiten
lesbischen Ärztinnen ausgewählt Raum öffnen für Verständ-
und wiedergegeben. Darüber hinaus nis, für Hochachtung, sogar
hat sie Gruppendiskussionen ausge- für Nähe, wo vorher Fremd-
wertet und Schlüsse gezogen. Die heit war. Insofern berei-
Einzelberichte wirken durch ihre Helga Seyler (2013): Lesbische Ärztinnen. chert dieses Buch nicht nur
nüchterne und prägnante Darstel- Erfahrungen und Strategien im Berufsle- unser Wissen über den Ein-
lung jenseits jeglicher Larmoyanz und ben. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main, fluss der sexuellen Orien-
nehmen die Leserinnen und Leser mit 199 Seiten, 19,90 Euro tierung auf das Berufsle-
in spannende Lebensgeschichten, ben. Es schafft Verbindung
wie sie unterschiedlicher nicht sein und „normalisiert“ bei aller
könnten. Was ein Coming-out bedeu- Erfahrungsberichte, wie weitrei- Unterschiedlichkeit.  <<
ten kann, davon haben auch die hete- chend der Einfluss der sexuellen Ori-
rosexuellen Leserinnen und Leser ver- entierung im Berufsleben ist, auch Maria Beckermann, Frauenärztin,
mutlich eine Vorstellung. Aber dass in oder gerade weil Probleme meist we- Psychotherapie, Homöopathie,
einer heteronormativen Gesellschaft der von den Frauen selbst noch im ­Vorsitzende des Arbeitskreises
das Abwägen, wo und wie viel die Umfeld zum Thema gemacht wer- ­Frauengesundheit in Medizin,
Frauen von sich offenbaren wollen, den. Es gibt eine Art stillschweigen- Psychotherapie und Gesellschaft
niemals aufhört, und was das im All- des Einverständnis darüber, dass es (AKF) e.V.
tag bedeutet, darüber haben sich die heute kein Problem mehr ist, homo-
wenigsten wohl kaum je Gedanken sexuell zu sein. Daher machen Les- Die Rezension erschien erstmals im
gemacht. Dabei geht es im Beruf um ben Konflikte und Belastungen, aber Deutschen Ärzteblatt, Heft 21 / 2013.
mehr als um Empfindlichkeiten, oft auch Stolz und Freude mit sich allein Wir danken dem Verlag für die
geht es um die Existenz. oder im ganz intimen Rahmen aus, freundliche Nachdruckerlaubnis.
28 I 4 I 2013

Niedersachsen
kündigte. pro familia und LVG&AFS
Netzwerk „Sexualität in der Altenpflege“ haben sich in Niedersachsen mit dem
Paritätischen Wohlfahrtsverband und
der Berufsfachschule Altenpflege me-
n „Heimlich, still und leise?“ fragte der Pflege älterer Menschen und der bino zusammengeschlossen, um als
zunächst der Titel der Fachtagung in Bedeutung von Scham und Beschä- Trägerorganisationen dieses Netz-
Hannover; öffentlich und laut aber mung verursachte insbesondere das werk auf den Weg zu bringen. Es will
sprachen die eingeladenen Referen- Thema Sexualassistenz rege Diskus- Erfahrungen, Wissen und Energien
tinnen über das Thema Sexualität in sionen mit Publikumsbeteiligung. In bündeln, um zu einer Enttabuisierung
der Altenpflege und diskutierten mit zwei Projektarbeiten präsentierten von Sexualität in der Altenpflege bei-
dem Publikum mögliche Ideen und die Auszubildenden der hannover- zutragen und die Berücksichtigung
Strategien eines professionellen Um- sche Altenpflegeschule mebino ihre von Intimität und Sexualität als Qua-
gangs damit in der Praxis. Rund ein- eigene Auseinandersetzung mit Inti- litätsmerkmal in der Pflege zu etab-
hundert Vertreterinnen und Vertreter mität und Sexualität im Pflegealltag. lieren. Auf der Grundlage des Rechts
aus den verschiedensten Bereichen Vor allem das Konzept eines lust- auf eine selbstbestimmte Sexualität
der Altenpflege und -hilfe waren der freundlichen Altenheims bot dem soll auf diese Weise eine Verbesse-
Einladung des pro familia Landesver- Publikum viele Anlässe zum Schmun- rung der Lebens- und Pflegesituation
bands und der Landesvereinigung für zeln, aber auch einige Ideen zum älterer Menschen erreicht werden.
Gesundheit und Akademie für Sozi- ernsthaften Weiterdenken.
almedizin (LVG&AFS) Niedersachsen Viele Tagungsteilnehmerinnen und
am 16. September 2013 nach Hanno- Aufgrund der Erfahrungen aus den -teilnehmer unterstützten dieses Vor-
ver gefolgt. vergangenen Tagungen, stand in die- haben und erklärten sich an einer Zu-
sem Jahr eines von vornherein fest: sammenarbeit interessiert. Das erste
Wie in den beiden Jahren zuvor konn- Es sollte nicht bei der Theorie und Treffen wird im November stattfin-
ten auch dieses Mal wieder namhafte gut gemeinten Vorsätzen bleiben. Im den. So endete die Tagung mit einem
Persönlichkeiten, wie zum Beispiel die Fokus stand der nachhaltige Transfer positiven und in die Praxis weisenden
Bremer Gesundheitswissenschaftle- in die Praxis durch die Gründung des Ergebnis. <<
rin Prof. Dr. Annelie Keil, gewonnen Netzwerks „Sexualität in der Alten-
werden, die über wichtige und sen- pflege“, wie es die stellvertretende Silke Wendland, Fachbereichs­
sible Aspekte von Sexualität in der Vorsitzende von pro familia Nieder- leitung, pro familia Landesverband
Altenpflege referierten. Neben der sachsen, Prof. Dr. Heike Fleßner aus Niedersachsen
Relevanz biografischen Wissens in Oldenburg, in ihrer Begrüßung an-

40 Jahre pro familia Braunschweig


n Am 5. September 2013 feierte die
© Foto privat

pro familia Beratungsstelle Braun-


schweig ihr 40jähriges Bestehen.
v.l.n.r.: Dr. Christoph Pelster, Dr. Hei-
ke Fleßner (stellv. Vorsitzende des LV
Niedersachsen), Uwe Niehus, Doris
Zimmermann, Sigrid Korfhage, Jette
Walla, Andreas Bergen (Geschäftsfüh-
rer des LV Niedersachsen ) Dr. ­Almut
Wollschläger, Ute Henschel, Elke
Dirks, Ute Ahrens <<
4 I 2013 I 29

Bayern

pro familia als location für freies Theater – Kunst trifft Realität
n pro familia Augsburg wurde im expressiven Monolo-

© Nontira Kigle
Juni zum Aufführungsort für „Mutter gen etwa der Medea,
Collage“, der Theatergruppe bluespot- Zeitungsausschnitten,
productions. Zu den beiden Auffüh- die Verbrechen in Fa-
rungen kamen über 100 Zuschauer milien schilderten und
in die Beratungsstelle im 7. Stock am hübschen Kinderlied-
Königsplatz. chen offerierte die The-
atergruppe auch derbe
Schon im Aufzug erlebten die Besu- Mutterwitze aus Kin-
cher seltsame Begegnungen mit dermund.
Menschen, die distanzlos über ihre
Magenverhältnisse schwadronierten Flankierend zu dem
und oben angekommen ermahnte Theaterevent ist noch
ungefragt eine freundlich-dominan- bis Ende 2013 eine Fo-
te Mutterfigur, ausreichend zu trin- toausstellung von Nina
ken und die Jacken schön aufzuräu- Hortig im Empfangs-
men. bereich der Beratungs-
stelle zu sehen, mit
Nach einer kurzen Begrüßung der Portraits, Momentauf-
pro familia Beraterin Marianne Weiß nahmen und kurzen
und der Regisseurin und Autorin des Texten von Müttern Das Plakat zur Aufführung in Augsburg.

Stückes Helen Hockauf entwarfen verschiedener Alters-


die KünstlerInnen eine Collage vol- gruppen und Lebenssituationen, da- pro familia Augsburg,
ler Aspekte des Kindseins und Mut- runter auch Fotos der pro familia augsburg@profamilia.de
terseins, die manchen Zuschauer an Gruppe mama mia für junge Schwan-
die eigenen Grenzen führte. Neben gere und Mütter bis 23 Jahren. <<

Schleswig-Holstein

Neue Leiterin bei pro familia / AWO Neumünster


n Nach 30 bewegten Jahren geht kennt die Dipl.-Sozi-
© pro familia NNeumünster

die Leiterin der pro familia/AWO-Be- alpädagogin schon


ratungsstelle in Neumünster, Gisela bestens, arbeitet
Schaale (links), in den Ruhestand. sie doch seit fast 20
Als Beraterin der ersten Stunde hat Jahren im Team.  <<
die Dipl.-Sozialpädagogin das An-
gebot auf- und ausgebaut und sich Renate
mit großem Engagement auch für Eisen-Rätsch,
die Interessen der Ratsuchenden Presse- und Öffent-
und für soziale Gerechtigkeit einge- lichkeitsarbeit,
setzt. Als Nachfolgerin betritt Urte pro familia
Kringel (rechts) die Stufen. Den Weg Schleswig-Holstein
30 I 4 I 2013

Berlin
Rechte vermittelt und gleichzeitig die

Unterwegs im Auftrag der sexuellen Rechte lustvollen, positiven und Lebensener-


gie spendenden Seiten von Sexuali-
tät betont. Zudem besteht eine enge

© pro youth Berlin


Kooperation mit den hauptamtlichen
Fachkräften von pro familia Berlin,
mit welchen ein regelmäßiger fach-
licher Austausch stattfindet. Auch
wurden Informationsstände auf der
You-Messe und dem schwul-lesbi-
schen Stadtfest gemeinsam gestaltet
und betreut.

Die letzte von pro youth durchgeführ-


te größere Veranstaltung war der The-
menabend „hormonfreie Verhütung
– reloaded!“. Da das Recht auf eine
freie Wahl der Verhütungsmethode
Die Fotoausstellung zeigt u.a. eine Spirale in ungewöhnlicher Umgebung …
nur in Anspruch genommen werden
kann, wenn auch die gesamte Vielfalt
n pro youth ist das Jugendpartizipa- Organisation von Themenabenden. an Verhütungsmethoden bekannt ist,
tionsprojekt des pro familia Landes- Dabei bilden die sexuellen und repro- haben wir an diesem Abend, die Fem-
verbands Berlin und wird von Studie- duktiven Rechte die Grundlage unse- cap, das Caya, Kondome, das Femi-
renden der Fachrichtungen der rer Arbeit. dom, NFP und Apps, die Kupferspirale
Sozialen Arbeit sowie Bildungswis- und -kette in Kleingruppen vorge-
senschaft gestaltet. Die Schwerpunk- Das Ziel des Projekts ist es, Jugend- stellt. Gleichzeitig wurde unsere Foto-
te unserer Arbeit sind sexualpädago- liche und junge Erwachsene über ausstellung, die sich dem Thema auf
ihre sexuellen und eher unkonventionelle Weise nähert,
reproduktiven Rechte in den Räumen der pro familia Berlin
© pro youth Berlin

aufzuklären und ein eröffnet. Die Ausstellung kann noch


Rechtsbewusstsein für in den nächsten Monaten betrachtet
die eigenen sowie die werden.
Rechte anderer Men-
schen zu entwickeln. Wir freuen uns über den bereits statt-
Somit werden sie in gefundenen Austausch mit anderen
die Lage versetzt, in Jugendprojekten, und im speziellen
eigener Verantwor- mit Jugendprojekten der pro familia,
tung über ihr sexuel- wie dem „Let`s Talk“ Projekt aus Mün-
les und reproduktives chen. Gerne würden wir die Netz-
Leben entscheiden zu werkarbeit im Bereich der Jugendpar-
können, sowie befä- tizipation weiter ausbauen und laden
... und ein futuristisch anmutendes Caya.
higt, sich in Situation andere Projekte ein, sich mit uns zu
von Entmündigung vernetzen. <<
gische Veranstaltungen in Form von aktiv für ihre Rechte einzusetzen. In
Workshops für Jugendliche und junge den mehrstündigen Workshops wird Alina Schmitz und David Schulz,
Erwachsene im außerschulischen sachlich fundiertes Wissen über Se- pro youth Berlin
Kontext, Öffentlichkeitsarbeit und die xualität und die damit verbundenen proyouth.berlin@profamilia.de
4 I 2013 I 31

Termine
Broschüren in leichter Sprache
n Sexuelle Rechte: Der pro familia Verhütung: Beim pro familia Lan- 31. Januar bis 2. Februar 2014
Bundesverband hat die Broschüre desverband Nordrhein-Westfalen in Würzburg
„Sexualität – was sind unsere Rechte? gibt es eine Broschüre in leichter Kindliche Sexualität im Vor- und
Sprache über Verhütungsmittel. Sie Grundschulalter – Sexualpädago-
informiert, wie sie funktionieren, gische Begleitung und Prävention
wie man sie anwendet, was es zu sexueller Gewalt
beachten gibt und welche Neben- Seminar des Instituts für Sexual­
wirkungen sie haben können. Die pädagogik: www.isp-dortmund.de

13. und 14. März 2014 in Berlin


Kongress Armut und Gesundheit
2014
Das Motto des Kongresses lautet
2014: Gesundheit nachhaltig
in leichter Sprache“ überarbeitet. Sie ­fördern: langfristig - ganzheitlich –
informiert über Gesetze und darüber, gerecht. Informationen unter:
was man bei der Sexualität selbst be- Verhütung in leichter Sprache
www.armut-und-gesundheit.de
stimmen kann. Die Broschüre listet
auf, wo es im Internet Informationen 10. bis 11. Mai 2014 in Hannover
gibt und wo man sich Hilfe holen Broschüre kostet 1 Euro plus Ver- SAVE THE DATE!
kann. Kostenlose Bestellungen und sandkosten. Eine Leseprobe und Be- pro familia Fachtagung zum Thema
Download: www.profamilia.de/inter- stellhinweise sind online abrufbar Kinderwunsch im Rahmen der
aktiv/publikationen/publikatio nen. unter: www.profami lia.de/angebote- ­Bundesdelegiertenversammlung
html vor-ort/nordrhein-westfalen.html <<

pro familia in Bulgarien Behinderungen in Europa engagiert pro familia ist an der Erarbeitung von
sich der pro familia Bundesverband Manuals für Fortbildungen für Mul-
n Keep me Safe: Empowering young im Rahmen eines Projekts der IPPF Eu- tiplikatorInnen beteiligt, berät die
people across Europe with learning ropean Network. Insgesamt sind bulgarische Mitgliedsorganisation,
disabilities to protect themselves 13 europäische Mitgliedsorganisatio- und führt vor Ort MultiplikatorInnen-
against sexual abuse and violence. nen der IPPF beteiligt. Sie tauschen Schulungen durch. 2014 erwarten
Erfahrungen und Best Practices aus, wir eine Delegation aus Bulgarien zu
Für die Rechte von Menschen mit um sie anderen Organisationen, die einem Fachbesuch. Geplant ist ein
Lernschwierigkeiten bzw. geistigen sich für die sexuellen und reprodukti- dabei auch ein Fachgespräch mit pro
ven Rechte von Men- familia KollegInnen. <<
© IPPF

schen mit Behinderun-


gen engagieren, zu- Für Rückfragen zum Projekt steht
gänglich zu machen. ­Sigrid Weiser in der Bundes­
Ziel ist die Prävention geschäftsstelle zur Verfügung:
und der Schutz vor Ge- sigrid.weiser@profamilia.de
walt und sexuellem Mehr Informationen zum Projekt
Missbrauch von jungen finden Sie unter: www.ippfen.org/
Ein Treffen der beteiligten Mitgliedsorganisationen zur
Erarbeitung der Manuals fand vom 9. bis 11. September
Menschen mit Lernbe- our-work/programmes/keep-me-
2013 in Brüssel statt. hinderung. safe
Neue Materialien zum Thema Verhütung

www.profamilia.de/publikationen

Plakat DIN A1 Überarbeitete Broschüren

Herausgeber:
pro familia Bundesverband
Stresemannallee 3 · 60596 Frankfurt

ISSN 0175-2960
Nr. 4 I 2013 · 41. Jahrgang · 5,10 Euro

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