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© Robert Koch-Institut
SBN 978-3-89606-193-5
Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Beiträge zur
Gesundheitsberichterstattung
des Bundes
Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ........................................................................................................ 5
Vorwort
Gesundheit und Krankheit im Alter, der kompakte Diskussionen im Autorinnen- und Autorenteam
Titel des vorliegenden Buches, spannt einen Bogen steht der interessierten Öffentlichkeit nun in Form
über eine facettenreiche Thematik, von der Junge dieses Buches zur Verfügung.
wie Alte und Gesunde wie Kranke betroffen sind. Inhaltlicher Ausgangspunkt des Buches sind
Die alten und hochaltrigen Menschen stehen dabei theoretische Positionen zum Alter und Altern,
im Mittelpunkt der Betrachtung. Auch wenn wir auf die im ersten Teil eingegangen wird. Die
betonen können, dass alt an Jahren nicht gleichbe Ausführungen des zweiten Teils »Gesundheits
deutend mit Kranksein ist, nimmt die Wahrschein zustand und Gesundheitsentwicklung« münden
lichkeit, an Krankheiten zu leiden, mit dem Alter in der Frage, ob der demografische Wandel zu ei
doch zu. Da aber das Altern bekanntlich auch die ner Kompression oder Expansion der Morbidität
Jungen nicht ausnimmt, hoffen die Autorinnen führen wird. Die Beiträge zu den gesundheitsre
und Autoren mit ihren Beiträgen auf das Interesse levanten Lebenslagen und Lebensstilen im drit
einer großen Leserschaft zu stoßen. ten Teil schließen mit einer Erörterung der Frage
Gemessen an der Anzahl der Veröffentli »Wie wichtig ist Prävention?«. Die Vernetzung
chungen ist die Aufmerksamkeit für Gesundheit als Option rundet den vierten Teil zu den Ange
und Alter in den vergangenen Jahren gestiegen. boten gesundheitlicher und pflegerischer Versor
Die Herausforderungen einer alternden Gesell gung für alte Menschen ab. Die Beiträge zu den
schaft nehmen dabei häufig eine herausgehobene ökonomischen Chancen und Herausforderungen
Stellung gegenüber den damit verbundenen Chan einer alternden Gesellschaft im fünften Teil des
cen und Potentialen ein. Im vorliegenden Buch Buches führen zu der Frage, ob Gesundheit unter
werden gerade auch die positiven Gesundheits den Bedingungen von Demografie und Fortschritt
aspekte in Bezug auf alte und hochaltrige Men bezahlbar bleibt.
schen angemessen heraus gearbeitet. Gelingen Die umfangreiche Palette möglicher Themen
konnte dies aber nur in den Fällen, in denen die zu Gesundheit und Krankheit im Alter bietet An
verfügbaren gesundheitsbezogenen Angaben ent knüpfungspunkte für weitere Analysen. Aus der
sprechende Aussagen und Schlussfolgerungen Resonanz auf dieses Buch werden wir Motivation
ermöglichen. für die Fortsetzung unserer Arbeiten schöpfen.
Das Buch ist arbeitsteilig entstanden. Am An Redaktionsschluss für das Buch war der 30.
fang stand die Idee dreier Institutionen – des Sta Juni 2008. Veröffentlichungen von statistischen
tistischen Bundesamts, des Deutschen Zentrums Ergebnissen und Ereignisse mit thematischem Be
für Altersfragen und des Robert Koch-Instituts – im zug zum Buch nach dem Redaktionsschluss sind
Bereich Gesundheit und Alter enger zu kooperie daher nicht berücksichtigt.
ren und das entsprechende interdisziplinäre Fach
wissen der Kolleginnen und Kollegen in geeigneter Karin Böhm, Clemens Tesch-Römer,
Weise zusammenzuführen. Das Kondensat der Thomas Ziese
themenbezogenen Analysen und inspirierenden
More than one quarter of children and adolescents under the age
of 18 in Germany come from a migrational background. In many
cases, these children and young people have not experienced
migration themselves, but live in Germany as part of the second
or third generation of an immigrant family. Nevertheless,
migration still influences their way of life in specific ways,
irrespective of whether they immigrated themselves or were born
into subsequent generations. Up to now comparatively little has
been known about how this affects migrant children’s chances of
leading a healthy life. The German Health Interview and Examina-
tion Survey for Children and Adolescents (KiGGS), conducted by
the Robert Koch Institute on behalf of the Federal Ministry of
Health, provides for the first time comprehensive data on this
group’s health status. This report looks at various aspects of
health and health-related behaviour and shows that, although the
majority of children and adolescents with a migrational back-
ground grow up in a socially disadvantaged environment, their
health situation is not generally precarious. For example, health
resources seem to exist in the form of culture-specific healthy
lifestyle patterns, reflected in better breast-feeding behaviour by
mothers and less consumption of tobacco and alcohol by
adolescents with a migrational background. Since life in the host
country involves a change of lifestyle which may also lead to a
deterioration of lifestyle patterns, it is important to preserve such
resources. Areas in which disadvantages manifest themselves,
include overweight, subjective health, nutrition, oral health and
the use of screening tests. The results also show that migrants
are a very heterogeneous group and that health within the
migrant population varies according to the country of origin, sex,
age, social status and duration of residence – or the generation to
which the children/adolescents belong.
Gesundheit und Krankheit im Alter 7
Abbildung 1.1.1.1
Zwei-Prozess-Modell der Intelligenzentwicklung über die Lebensspanne
Quelle: Eigene Darstellung nach [4]
Mec
Leistung
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Alter
toren und Mechanismen beeinflusst werden (die lung des älter werdenden Individuums. Die so
für alle Menschen gelten), gibt es zugleich große ziologischen Interpretationen dieser gesellschaft
Unterschiede zwischen Personen im Verlauf und lichen Position älter werdender Menschen reichen
in der Regulation des Alterungsprozesses. vom Ausrufen der »späten Freiheit« [7] bis hin
In der Soziologie wird das Altwerden als Teil zu Warnungen vor der »sozialen Schwäche des
von Lebensläufen betrachtet. »Lebensläufe zu ver Alters« [8]. Bei der Analyse von Lebensläufen geht
stehen, bedeutet, individuelle und kollektive Er es schließlich auch um die Frage, wie historische
fahrungen, Zustände und Übergänge über lange Ereignisse und sozialer Wandel die Lebenslagen
Zeiträume zu beschreiben und die Ursachen sowie und Biografien älter werdender Menschen beein
Konsequenzen von Entwicklungsmustern zu ana flussen und inwieweit sich – als Folge davon – va
lysieren« [6]. Aus soziologischer Sicht sind indi riierende Alternsprozesse in unterschiedlichen
viduelle Alternsveränderungen somit eingebettet Geburtskohorten beobachten lassen.
in lebenslange Sozialisationsprozesse. Mit dieser Alternsforschung (Gerontologie) erfordert
biografischen Betrachtung des Alterns stellt sich multidisziplinäres – und im Idealfall interdiszi
die Frage, ob und wie Alternsprozesse durch frü plinäres – Arbeiten. Um die Prozesse des Alterns
here Lebenserfahrungen beeinflusst werden. Eine richtig zu verstehen, ist es notwendig, dass meh
wichtige Annahme bezieht sich auf die Kumula rere Disziplinen miteinander arbeiten und ihre
tion (Anhäufung, Sammlung) sozialer Ungleich Ergebnisse austauschen (Multidisziplinarität).
heit im Lebenslauf. Alternsverläufe werden dabei Neben den hier genannten Fächern Biologie,
vor den gesamten Erfahrungen des Lebenslaufs Psychologie und Soziologie sind dies unter an
betrachtet. Insbesondere die Bedeutung kumulier derem Medizin (Geriatrie, Gerontopsychiatrie),
ter Risiken (beginnend mit geringer Bildung und Pflegewissenschaft, Gesundheitswissenschaft
fortgesetzt durch belastende Arbeitsbedingungen) und Politikwissenschaft. Allerdings erfordern
ist für die Gesundheit im Alter hoch. Der Über alternwissenschaftliche Fragestellungen häufig
gang in den Ruhestand stellt den soziologischen eine interdisziplinäre Kooperation, die sich da
Marker des »Alters« dar. Die damit beginnende durch auszeichnet, dass verschiedene Disziplinen
Lebensphase »Alter« ist damit durch geringere gemeinsame Fragestellungen formulieren und
Vergesellschaftungsprozesse, also Einbindungen ihre disziplinspezifischen Methoden aufeinander
in gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, beziehen (Interdisziplinarität). In den folgenden
charakterisiert als frühere Lebensabschnitte – und Kapiteln dieses Buches wird in der Regel eine mul
es verändert sich auch die gesellschaftliche Stel tidisziplinäre Perspektive eingenommen.
10 Gesundheit und Krankheit im Alter
Drittes und Viertes Lebensalter Krankheitsprozesse oder eine mit dem Älterwer
den sich verschlechternde Gesundheit eine Folge
Altern als Prozess und Alter als Lebensabschnitt von Alternsprozessen ist, berührt die wissenschaft
sind unterschiedliche Konzepte. Wenngleich Pro liche Erklärung von Gesundheitsveränderungen
zesse des Älterwerdens schon früher im Lebenslauf im Alter ebenso wie die Legitimation von Inter
von Bedeutung sind, sollen in dem vorliegenden ventionen. Sind alterskorrelierte Krankheitspro
Buch gesundheitsrelevante Alternsprozesse in der zesse beeinflussbar, sollten entsprechende Inter
Phase des Alters betrachtet werden. Dabei sollen ventionen besonders auf Prävention ausgerichtet
biologische, psychosoziale und gesellschaftliche sein (etwa auf die Veränderung eines ungünstigen
Dimensionen des Alterns Berücksichtigung fin- Gesundheitsverhaltens). Sind hingegen alterskor
den. Angesichts der Dauer der Lebensphase Al relierte Gesundheitseinbußen unvermeidlich und
ter erscheint es sinnvoll, zwei Abschnitte dieser unveränderbar, sollten Interventionen stärker auf
Lebensphase Alter zu differenzieren: Das »dritte den alltagspraktischen Umgang mit diesen Einbu
Lebensalter« und das »vierte Lebensalter«. Im vor ßen sowie ihre psychische Bewältigung ausgerich
liegenden Buch werden innerhalb der Gruppe der tet sein, auch um mögliche Krankheitsfolgen und
alten Menschen (65 Jahre und älter) zwei Unter Ko-Morbidität zu vermeiden.
gruppen unterschieden, nämlich die Gruppe der Warum ist es so schwierig, zwischen Krank
»jungen Alten« (65 Jahre bis unter 85 Jahre) und heit und Alter zu unterscheiden? Ein wesentlicher
die Gruppe der »alten Alten« (85 Jahre und älter). Grund hierfür ist, dass der altersabhängige An
Dabei werden die Begriffe »sehr alte Menschen«, stieg von Erkrankungen und Funktionsverlusten
»alte Alte«, »Hochaltrige« und »Hochbetagte« sy nicht allein bedingt ist durch altersphysiologi
nonym verwendet (siehe Tabelle 1.1.1.1). sche Veränderungen von Organen und Organ
systemen [12]. Hinzu kommt die lange Latenzzeit
mancher Krankheiten, die dazu führt, dass diese
Tabelle 1.1.1.1 Krankheiten erst im mittleren und höheren Er
Drittes und Viertes Lebensalter wachsenenalter gehäuft auftreten. Hierzu zählen
Quelle: Eigene Darstellung
beispielsweise verschiedene Formen von Krebser
Alters- Alter Bezeichnung
krankungen, bei denen zugleich die mit dem Alter
abschnitt (synonyme Verwendung) abnehmende Immunresponsivität (Fähigkeit des
Organismus, auf Krankheitserreger zu reagieren)
Alter 65 Jahre alte Menschen,
und älter ältere Menschen eine Rolle spielt. Ein weiterer Faktor für den alters
korrelierten Anstieg von Erkrankungen ist oftmals
drittes 65 bis junge Alte
Lebensalter unter 85 Jahre auch die jahre- oder jahrzehntelange Exposition
verschiedener Risikofaktoren (Umfeldfaktoren,
viertes 85 Jahre sehr alte Menschen, alte Alte,
Lebensalter und älter Hochaltrige, Hochbetagte
z. B. Lärm, Gifte; Gesundheitsverhalten, z. B. Rau
chen). Diese führt zur sukzessiven Schädigung
von Organen bis hin zu chronischen Erkrankun
gen (z. B. chronische Bronchitis) oder dauerhaften
Funktionsverlusten (z. B. Verluste der Hörfähig
1.1.2 Gesundheit und Krankheit im Alter keit). Schließlich ist zu berücksichtigen, dass nicht
alle Krankheiten erst im mittleren und höheren
Alter(n) und Krankheit Erwachsenenalter auftreten, sondern lediglich
»mitaltern«, d. h. seit dem Auftreten in jüngeren
Ein schwieriges konzeptuelles Problem besteht in Lebensjahren fortbestehen [13]. Einige dieser Er
der Unterscheidung zwischen alternsbezogenen krankungen können durch die lange Dauer ihres
Veränderungen und pathologischen Prozes Bestehens zu Folgekrankheiten führen. Dies ist
sen, oder einfacher gesagt, zwischen Altern und beispielweise für Diabetes bekannt, der Arterio
Krankheit. Diese Unterscheidung hat erhebliche sklerose begünstigt und dadurch unter anderem
theoretische, aber auch praktische Bedeutung. Ob die Wahrscheinlichkeit für Herzinfarkt, Nieren
der Gesundheitsstatus im Alter bedingt ist durch versagen und Erblindung erhöht.
12 Gesundheit und Krankheit im Alter
Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvoll Gesundheit, funktionale Gesundheit und subjek
ziehen, dass ältere Menschen oftmals Schwie tive Gesundheit.
rigkeiten haben, zwischen alter(n)sbedingten
Beschwerden und behandlungsbedürftigen Somatische und psychische Gesundheit
Erkrankungen zu unterscheiden. Diese Unter Die Begriffe »Gesundheit« und »Krankheit« wer
scheidung ist jedoch keineswegs trivial, denn den oftmals in erster Linie mit medizinischen
verschiedene Studien haben darauf hingewiesen, Klassifikationssystemen (wie der International
dass ältere Menschen, die gesundheitliche Be Classification of Diseases and Related Health
schwerden ihrem Alter zuschreiben, ein schlech Problems) in Verbindung gebracht. Stellt ein Arzt
teres Gesundheitsverhalten haben und seltener oder eine Ärztin eine medizinische Diagnose, so
zum Arzt gehen als jene, die ihre Beschwerden gilt eine Person als krank, andernfalls gilt sie als
als krankheitsbedingt erachten [14, 15]. Auch in gesund. Diese Auffassung spiegelt sich auch in
der medizinischen Versorgung ist festzustellen, der sozialrechtlichen Definition von Krankheit.
dass Erkrankungen und Risikofaktoren (z. B. Diese beschreibt Krankheit als ein »von einem
Bluthochdruck) bei Älteren häufiger übersehen Experten festgestellter Zustand, der es einem
werden. Körperliche wie psychische Beschwerden Menschen ermöglicht, Ansprüche gegenüber
werden als normale Begleiterscheinung des Al der Gemeinschaft der Versicherten geltend zu
terns angesehen. Dies birgt nicht nur die Gefahr, machen und sich vorübergehend aus dem Er
dass behandlungsbedürftige Krankheiten nicht werbsleben zu lösen« [16], wobei sich der letzte
erkannt werden, sondern auch, dass einer (z. B. Teil dieser Definition auf Menschen im mittleren
medikamentösen) Dauerversorgung, die auf den Erwachsenenalter (»zweites Lebensalter«) bezieht,
Umgang mit Beschwerden ausgerichtet ist, der die einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Im voran
Vorrang gegeben wird gegenüber therapeutischen gegangenen Abschnitt wurde bereits dargestellt,
Maßnahmen. dass körperliche Erkrankungen mit dem Alter zu
nehmen und die Ursachen hierfür nicht allein in
altersphysiologischen Veränderungen begründet
Dimensionen von Gesundheit und Krankheit sind, sondern auch im gesamten Lebenslauf lie
gen. Damit gehen zwei Entwicklungen einher, die
Gesundheit ist nicht allein die Abwesenheit (oder besonders häufig bei älteren Personen anzutreffen
Nicht-Diagnose) von Krankheiten. Dies spiegelt sind: chronische Erkrankungen und Mehrfach
sich in der Gründungspräambel der Weltge erkrankungen (Multimorbidität).
sundheitsorganisation (WHO) von 1946 wider, Chronischen Erkrankungen, wie beispiels
die Gesundheit definiert als »einen Zustand voll weise kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs oder
kommenen körperlichen, geistigen und sozialen Diabetes kann zwar in gewissem Ausmaß über
Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von den Lebensstil vorgebeugt werden; treten sie je
Krankheit und Gebrechen«. Diese Definition doch auf, sind sie oftmals unheilbar. Auf längere
legt Wert auf die Subjektivität von Gesundheit Sicht konzentrieren sich die Behandlungen des
als einem individuellen Erleben. Entsprechend halb stärker auf den Umgang mit der jeweiligen
enthalten neuere Gesundheitsmodelle neben Krankheit und der Verhinderung von Folgeprob
krankheitsbezogenen Kriterien auch die Aspekte lemen wie funktionalen Einschränkungen. Die
subjektives Gesundheitserleben, Lebenszufrie oftmals mit dem Altern einhergehende Zunahme
denheit, Gesundheitsverhalten und soziale Akti chronischer Erkrankungen ist sowohl auf die Ku
vität. Das vorliegende Buch greift klassisch-medi mulation (sukzessive Summierung) von Risiken
zinische wie subjektive Gesundheitsaspekte auf. über den Lebensverlauf als auch auf altersphy
Auch wenn mit steigendem Alter die Gesundheit siologische Veränderungen zurückzuführen. Ein
zunehmend fragiler wird, muss dies nicht für Beispiel hierfür ist Osteoporose: Der normale
alle Dimensionen der Gesundheit gelten. Im Fol Alterungsprozess geht mit einer Abnahme der
genden werden drei Dimensionen von Gesund Mineralstoffe im Knochen einher, die Knochen
heit vorgestellt in Hinblick auf ihre spezifische werden dadurch »poröser« und die Gefahr von
Bedeutung im Alter: somatische und psychische Knochenbrüchen steigt. Zugleich ist die Erkran
Gesundheit und Krankheit im Alter 13
kung an einer Osteoporose oftmals mitbedingt qualität der Betroffenen in einer adäquaten medi
durch Rauchen, ungünstiges Ernährungsverhal zinischen Versorgung) spiegelt sich ebenfalls in
ten sowie mangelnde körperliche Aktivität. dem seit den 1970er-Jahren von der WHO entwi
Da chronische Erkrankungen in der Regel ckelten Klassifikationssystem von Krankheitsaus
persistent (nachhaltig, dauerhaft) sind und teilwei wirkungen wider. Dieses Klassifikationssystem,
se zu Folgeerkrankungen führen, wie dies bereits die International Classification of Impairments,
beispielhaft für Diabetes dargestellt wurde, steigt Disabilities and Handicaps (ICIDH) betrachtet
mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit, dass eine den Gesundheitszustand als interaktiven, multi
Person von mehreren chronischen Erkrankungen perspektivischen Prozess, der sich auf drei Ebenen
gleichzeitig betroffen ist. In diesem Fall wird auch von Erkrankung und Erkrankungsfolgen bewegt
von Multimorbidität gesprochen. Multimorbid (siehe Abbildung 1.1.2.1): Strukturelle und funk
erkrankte Personen benötigen oftmals nicht nur tionelle Schädigung (Impairment), Fähigkeits
ein besonderes Maß an ambulanter (und teilwei störung (Einschränkung im Alltag, Disability)
se stationärer) Versorgung. Ist eine Person von und Partizipationsstörung (soziale/ökonomische
mehreren Erkrankungen betroffen, besteht auch Krankheitsfolgen, Handicap).
die Gefahr einer zusätzlichen psychischen Ko Aus einer Schädigung resultieren individuelle
morbidität sowie der Einschränkung körperlicher Einschränkungen von Fähigkeiten, die wiederum
Funktionsfähigkeit und Selbstständigkeit. Neben zu einer Beeinträchtigung der Erfüllung sozialer
chronischen Erkrankungen und Multimorbidität Rollen führen können: Die Schlaganfallpatientin
treten auch manche psychischen Erkrankungen mit Hemiparese (Halbseitenlähmung), Fazialispa
mit steigendem Alter häufiger auf. Eine der be rese (Gesichtslähmung) und Dysarthrie (Sprech
deutsamsten psychischen Erkrankungen des ho störung) braucht durch diese krankheitsbedingten
hen Erwachsenenalters ist die Alzheimer-Demenz. Schädigungen (Impairment) seither Unterstüt
zung beim Waschen, Anziehen und Essen und
Funktionale Gesundheit kann nur mit einem Rollator als Hilfsmittel laufen
Chronische Erkrankungen und Multimorbidität (Disability). Weil sie durch ihre Dysarthrie in ih
können besonders im höheren Alter die Alltags rer Sprechverständlichkeit eingeschränkt ist und
kompetenz und Selbstständigkeit gefährden. Da sich ihres hängenden Mundwinkels schämt, be
bei bezieht sich funktionale Gesundheit auf die sucht sie nicht mehr wie früher die regelmäßigen
Fähigkeit, selbstständig eigenen Grundbedürf Treffen mit ihren Freundinnen und singt nicht
nissen wie Essen, Körperpflege oder Anziehen mehr im Kirchenchor, was ihre Kontakte stark ein
nachzukommen sowie weitere alltägliche Auf schränkt (Handicap). Mit dem Ansatz der ICIDH
gaben wie Einkaufen, Mahlzeiten zubereiten oder werden nicht allein Diagnosen erstellt, sondern
Wohnungsreinigung ausführen zu können. Es deren Folgen unter dem Aspekt ihrer körper
zeichnet sich die Tendenz ab, dass medizinische lichen, individuellen und gesellschaftlichen Di
Versorgung, die sich auf Diagnostik und Behand mension beurteilt. Im Jahr 2001 verabschiedete
lung von Krankheitssymptomen beschränkt, ohne die WHO die zweite behinderungsspezifische
deren Auswirkungen im Alltag des Erkrankten mit Klassifikation, die International Classification of
einzubeziehen abgelöst wird von einer Medizin, Functioning, Disability and Health (ICF), die im
die diese in die Behandlung integriert. In diesem Gegensatz zur ICIDH nicht den Entstehungspro
neuen Rahmen wird heute nicht mehr nur von zess von Behinderung, sondern die dynamische
Krankheit und Krankheitsprozessen gesprochen, und komplexe Wechselwirkung zwischen ver
sondern auch von Behinderung und Behinde schiedenen Gesundheitskomponenten und Kon
rungsprozessen [17]. Dies wird auch als »Paradig textfaktoren beschreibt.
menwechsel in der Medizin« bezeichnet – weg
von einem biomedizinischen Krankheitsbild hin Subjektive Gesundheit
zu einem biopsychosozialen Krankheitsbild. Eine dritte Dimension der Gesundheit, die mit
Die Notwendigkeit des Managements von Be steigendem Alter an Stellenwert gewinnt, ist die
hinderungen und der Akzentuierung chronischer subjektive Gesundheit. Subjektive Gesundheit
Krankheiten (auch unter dem Aspekt der Lebens bezieht sich auf die Bewertung des eigenen Ge
14 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 1.1.2.1
Ebenen von Gesundheit und Folgen von Gesundheitseinbußen
Quelle: Eigene Darstellung nach ICIDH
Ebenen der
Gesundheit Illness Disability Handicap
Subjektive Gesundheit
sundheitszustandes durch die ältere Person selbst. se darauf, dass sich die Vorstellung von Gesund
Die subjektive Gesundheit ist aus zwei Gründen heit verändert und im höheren Erwachsenenalter
besonders bedeutsam im Alter: Zum einen haben weniger als Abwesenheit von Krankheit, sondern
verschiedene Studien gezeigt, dass zwischen dem als Abwesenheit von quälenden Beschwerden und
objektiven, medizinisch messbaren Gesundheits funktionellen Einschränkungen angesehen wird.
zustand und einer subjektiven Gesundheitsein Hinzu kommt, dass ältere Personen leichte, dau
schätzung lediglich ein moderater Zusammen erhafte Symptome eher dem Alterungsprozess
hang besteht, d. h., die subjektive Gesundheit als einer Krankheit zuschreiben, wodurch die Ge
reflektiert nicht einfach den objektiven Zustand. sundheitseinschätzung trotz objektiver Symptome
Zudem hat sich die subjektive Gesundheit im hö positiv ausfallen kann. Die positiven Wirkungen
heren Lebensalter als ein sensitiverer Indikator eines gesundheitsbezogenen Optimismus können
für das Mortalitätsrisiko erwiesen als der objektive sich allerdings dann umkehren, wenn im Fall von
Gesundheitszustand. Zum Zweiten stimmen sub behandlungsbedürftigen Erkrankungen kein Arzt
jektive Gesundheitseinschätzung und objektiver aufgesucht wird. Schließlich kann auch der soziale
Gesundheitsstatus im höheren und hohen Alter Vergleich mit anderen Gleichaltrigen (insbeson
im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen am ge dere jenen, denen es vergleichsweise schlechter
ringsten überein. Während sich der medizinisch geht) statt eines selbstbezogenen, temporalen
diagnostizierte Zustand mit steigendem Alter Vergleiches zu einer positiven Gesundheitsein
oftmals deutlich verschlechtert, gilt dies nicht in schätzung beitragen. Für die vergleichsweise gute
gleichem Ausmaß für subjektive Gesundheit, ein Mortalitätsprognose spielt wahrscheinlich noch
Befund, der teilweise auch als »Altersinvarianz- ein weiterer Faktor eine Rolle. In der subjekti
Paradox« bezeichnet wird. ven Gesundheitseinschätzung spiegeln sich auch
Welche möglichen Erklärungen gibt es für verschiedene Personen- und Umweltmerkmale
diese beiden Befunde? Eine Erklärung ist, dass die wider, wie Lebenszufriedenheit sowie psychische
subjektive Gesundheit über die Lebensspanne ei und soziale Ressourcen. So kann beispielsweise
nen Bedeutungswandel vollzieht. Es gibt Hinwei eine positive Sicht auf das eigene, vergangene wie
Gesundheit und Krankheit im Alter 15
zukünftige, Leben einen günstigen Einfluss auf stellt den wichtigsten, modifizierbaren Risiko
Gesundheit und Langlebigkeit haben. faktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und
Krebserkrankungen, insbesondere Lungenkrebs,
dar. Während der Risikofaktor »Rauchen« im hö
1.1.3 Determinanten für Gesundheit und heren Alter vergleichsweise weniger verbreitet ist
Krankheit im Alter als im jungen und mittleren Erwachsenenalter, ist
in älteren Altersgruppen der Anteil von Personen
Führt man sich die verschiedenen Ebenen von mit Übergewicht oder sogar schwerem Überge
Gesundheit vor Augen – somatische, funktionale wicht (Adipositas) größer. Auch Übergewicht trägt
und subjektive Aspekte –, so stellt sich die Frage, wesentlich zu Entstehung sowie Art des Verlaufes
welche Faktoren Gesundheit im Verlauf des Al von Erkrankungen bei; hierzu zählen z. B. Diabe
terns beeinflussen. Bisherige Schätzungen gehen tes mellitus Typ 2 oder Osteoarthrose.
davon aus, dass genetische Faktoren weniger als Im Gegensatz zu diesen Risikofaktoren trägt
die Hälfte der Varianz in Krankheiten und Mor körperliche Aktivität wesentlich zu gesundem
talität erklären können [18]. Es stellt sich deshalb Altern bei. Körperliche Aktivität hat eine zentrale
die Frage, welche weiteren Faktoren dazu beitra präventive Funktion, die über den gesamten Le
gen, mit welch guter oder schlechter Gesundheit bensverlauf wichtig ist und im Alter zudem im
Personen ins höhere Lebensalter kommen. Wel Kontext der Krankheitsbehandlung und Reha
che Rolle spielen die objektiven Lebensumstände bilitation an Bedeutung gewinnt. Ausreichende
und die soziale Ungleichheit? Wie bedeutsam sind Bewegung schützt vor chronischen Krankheiten
schließlich die individuellen Entscheidungen ei wie Osteoporose, Diabetes, Bluthochdruck und
ner Person und ihr Lebensstil für Gesundheit im kardiovaskulären Erkrankungen und trägt zur Ver
Alter? Das Ziel dieses Abschnitts ist, eine Reihe meidung von funktionellen Einschränkungen bei.
von Einflussfaktoren auf Gesundheit im Alter zu Körperliche Aktivität wirkt außerdem biologischen
diskutieren, wobei verschiedene Disziplinen Be Alterungsprozessen entgegen, indem altersabhän
rücksichtigung finden. gige Verluste an Muskelkraft, Knochenmasse und
Lungenkapazität ausgeglichen werden. Positive Ef
fekte zeigen sich schließlich auch für das Immun
Lebensstil und Gesundheitsverhalten system und die seelische Gesundheit, insbeson
dere bei Depressivität. Dennoch ist festzustellen,
Das Verhalten einer Person hat hohe Bedeutung dass ältere Menschen, obwohl ihr Gesundheits
für ihre Gesundheit – und dies gilt auch für die zustand meist eine zumindest gemäßigte Bewe
Lebensphasen des höheren und sehr hohen Al gungsform zulassen würde, deutlich häufiger kör
ters [19]. Individueller Lebensstil und Gesund perlich inaktiv sind als jüngere Menschen.
heitsverhalten haben einen großen Einfluss auf Schließlich ist ein weiterer wichtiger Aspekt
die Beschleunigung oder Verlangsamung von des Gesundheitsverhaltens die Inanspruchnahme
Alterungsprozessen sowie die Entstehung und von Gesundheitsdienstleistungen. Hierzu zählt
Bewältigung von Krankheiten. Lebensstil und die Gesundheitsvorsorge zur Früherkennung von
Gesundheitsverhalten tragen entscheidend zur Krankheiten, regelmäßige Kontrolluntersuchun
Länge und Qualität des Lebens bei. Eine zentrale gen im Fall von bestehenden Erkrankungen (z. B.
Rolle nehmen hierbei Rauchen, Übergewicht und bei medikamentösen Therapien) sowie schließ
Ernährung sowie körperliche Aktivität ein und lich die Nutzung von Heilhilfsbehandlungen
damit Verhaltensweisen und verhaltensbezogene wie Krankengymnastik oder Rehabilitation. Auch
Risikofaktoren, die eine Vielzahl von Organfunk hier ist festzustellen, dass ältere Menschen die
tionen und -systemen beeinflussen. präventiven Potenziale der Gesundheitsversor
Der lebenslange, gesundheitsschädigende gung oftmals nicht ausreichend nutzen. Dies
Einfluss des Rauchens ist gut belegt. Rauchen ist teilweise darauf zurückzuführen, dass ältere
beschleunigt eine Vielzahl von biologischen Al Menschen selbst, aber auch ihre behandelnden
terungsprozessen, unter anderem die Abnahme Ärzte, Schwierigkeiten haben, zwischen alterns
der Lungenkapazität sowie Knochenverlust und bedingten, irreversiblen Verlusten sowie behan
16 Gesundheit und Krankheit im Alter
delbaren und behandlungsbedürftigen Erkran länger leben, unabhängig von ihrer subjektiven
kungen oder körperlichen Einschränkungen zu Gesundheitseinschätzung. Noch ist wenig über
unterscheiden. die Gründe dieser Wirkung bekannt, aber wie
beim Optimismus wird auch bei einer positiven
Sicht auf das Älterwerden angenommen, dass sie
Psychosoziale Faktoren sowohl das Gesundheitsverhalten als auch ein ge
ringes Stresserleben begünstigt.
Auch psychische und soziale Faktoren spielen eine Selbstwirksamkeitserwartungen stellen
bedeutsame Rolle für die Gesundheit im Alter. Ne schließlich eine dritte, bis ins hohe Alter bedeutsa
gative Emotionen wie Feindseligkeit, Angst und me psychische Ressource dar. Diese Erwartungen
Stress tragen zur Entstehung von Krankheiten wie umfassen die Überzeugung, neue oder schwieri
beispielsweise kardiovaskulären Erkrankungen ge Anforderungen aufgrund eigener Kompetenz
und Krebserkrankungen bei – teilweise indirekt bewältigen zu können. Eine solche Anforderung
durch ein erhöhtes Risikoverhalten, teilweise kann beispielsweise die Veränderung eines un
direkt über eine Immunsuppression (Unterdrü günstigen Lebensstils darstellen, indem eine
ckung des Immunsystems). ältere Person das Rauchen aufgibt oder beginnt,
Zu psychischen Ressourcen, die bis ins Al körperlich aktiv zu werden. Es kann sich bei ei
ter einen protektiven Einfluss auf die Gesundheit ner solchen Anforderung jedoch auch um die Be
ausüben, zählen unter anderem Optimismus, wältigung einer Krankheit oder den Umgang mit
Selbstwirksamkeit sowie eine positive Sicht auf chronischen Schmerzen handeln. Zahlreichen
das Älterwerden. Unter Optimismus wird meist empirischen Studien zufolge können Personen,
ein zuversichtlicher Blick in die Zukunft verstan die eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung ha
den. Diese Zuversicht erweist sich als günstig ben, mit beiden Formen von Herausforderungen
für die gesundheitliche Entwicklung; so konnte besser umgehen. Sie haben ein besseres Gesund
bei Patienten, die trotz ihrer Erkrankung (z. B. heitsverhalten und sie haben auch in Interven
Krebserkrankung) optimistisch in die Zukunft tionsprogrammen zur Veränderung des Gesund
sehen, eine schnellere und umfassende Rekonva heitsverhaltens größere Erfolge; ebenso können
leszenz festgestellt werden als bei vergleichsweise sie mit krankheitsbedingtem Stress und chroni
pessimistischen Patienten. Von einer optimisti schen Schmerzen besser umgehen als Personen
schen Sicht auf die Zukunft wird der so genannte mit geringen Selbstwirksamkeitserwartungen.
»optimistische Interpretationsstil« unterschieden, Neben psychischen Ressourcen hat auch die
der sich darauf bezieht, wie Menschen vergangene Einbindung in ein soziales Netzwerk, die Mög
Ereignisse interpretieren. Personen mit einem op lichkeit, in sozialen Rollen aktiv zu sein sowie die
timistischen Interpretationsstil schreiben negative soziale Unterstützung durch andere Menschen
Ereignisse konkreten, äußeren und zeitlich be in der Regel einen positiven Einfluss auf den Ge
grenzten Ursachen zu. Analog zum Optimismus sundheitsstatus älter werdender Menschen [22].
hat auch ein optimistischer Interpretationsstil ei Positive Wirkungen sozialer Beziehungen sind
nen günstigen Einfluss auf die objektive Gesund sowohl hinsichtlich Mortalität als auch hinsicht
heit und geht mit einem widerstandsfähigeren lich Morbidität nachgewiesen worden [23]. Zudem
Immunsystem einher. Ältere Menschen neigen konnte gezeigt werden, dass soziale Integration
allerdings eher dazu, negative Ereignisse gemäß mit geringerer Inanspruchnahme medizinischer
eines pessimistischen Interpretationsstils zu er Dienste sowie geringeren Gesundheitskosten
klären, indem sie die Ursachen solcher Ereignisse einhergeht [24]. Zwei mögliche Wirkweisen der
häufiger sich selbst, das heißt z. B. ihrem eigenen sozialen Integration auf Gesundheit sind zu unter
Älterwerden, zuschreiben. scheiden: direkte und indirekte Effekte. Postuliert
Ähnlich wie Optimismus hat sich auch eine man direkte Beziehungen, so kann man anneh
positive Sicht auf das Älterwerden für die Gesund men, dass das Vorhandensein von Personen im
heit und Langlebigkeit von älteren Personen als sozialen Netzwerk sowie soziale Unterstützung zu
günstig erwiesen [20, 21]. Dabei zeigte sich, dass erhöhtem Wohlbefinden und geringer Einsamkeit
Personen, die ihr Älterwerden positiv bewerten, führt und dadurch in direkter Weise die Gesund
Gesundheit und Krankheit im Alter 17
heit beeinflusst. Indirekte Effekte können darin (z. B. sind Arbeitsplatz, Wohnung und Wohnum
bestehen, dass Angehörige des sozialen Netzes feld von Personen aus niedrigen sozialen Schich
dafür sorgen, dass ältere Menschen ein besseres ten häufiger mit Belastungen verbunden als dies
Gesundheitsverhalten sowie präventive Inan bei Personen aus höheren sozialen Schichten der
spruchnahme medizinischer Dienste zeigen, was Fall ist), sondern auch mit der Verfügbarkeit von
sich auf den Gesundheitsstatus älterer Menschen personalen wie sozialen Bewältigungsressour
positiv auswirkt. cen. Neben diesen Differenzen in den Lebens
verhältnissen sind aber auch Unterschiede im
gesundheitsrelevanten Verhalten zu beachten: So
Soziale Ungleichheit zeigen Personen mit niedrigem sozialen Status
beispielsweise im Hinblick auf Essgewohnheiten,
Gesundheit im Alter wird auch durch die soziale Alkohol- und Nikotinkonsum sowie der Befolgung
Lage einer Person mitbestimmt. Mittlerweile ist ärztlicher Empfehlungen häufiger ein weniger ge
in vielen Studien nachgewiesen worden, dass sich sundheitszuträgliches Verhalten als Personen mit
Unterschiede in der Lebenslage in der Morbidität höherem sozialen Status. Schließlich muss auch
und Mortalität im Erwachsenenalter widerspie auf Unterschiede in der Inanspruchnahme der ge
geln [25, 26]. Bedeutsame Merkmale des sozialen sundheitlichen Versorgung hingewiesen werden:
Status sind Bildung, beruflicher Status sowie Ein Personen aus niedrigen sozialen Schichten sind
kommen und Vermögen. Aber auch Geschlecht, etwa in der Kommunikation mit Ärzten im Ver
Herkunftsregion und Migrationshintergrund gleich zu Personen aus höheren sozialen Schich
sind Kategorien sozialer Ungleichheit. Empirisch ten benachteiligt.
konnte gezeigt werden, dass Personen mit gerin Von besonderer Bedeutung in diesem Zu
ger Bildung, geringem beruflichem Status oder sammenhang ist die Frage, ob sich der Zusam
geringem Einkommen durchschnittlich eine nied menhang zwischen sozialer Ungleichheit und
rigere Lebenserwartung haben als Personen mit Gesundheit im Alter verändert. Betrachtet man
hoher Bildung, hohem Berufsstatus oder hohem die Entwicklung des Zusammenhangs zwischen
Einkommen. Die Unterschiede in der Lebenser sozialer Lage und Gesundheit im hohen Erwach
wartung zwischen Angehörigen der höchsten und senenalter, so sind verschiedene Annahmen
niedrigsten sozialen Schicht ist beträchtlich (für möglich [27]. Zum einen könnte es sein, dass sich
Männer beträgt der Unterschied etwa 3 Jahre, für soziale Unterschiede in Bezug auf den Gesund
Frauen etwa 4 Jahre) [25]. Für die Morbidität konn heitsstatus im Alter vergrößern, da der Prozess
te beispielsweise gezeigt werden, dass Erwachsene des Alterns mit vielen Belastungen einhergeht, die
aus niedrigen sozialen Schichten häufiger einen Personen mit geringer Ressourcenausstattung in
Herzinfarkt erleiden, häufiger unter psychischen besonderem Maß beeinträchtigen (»age as dou
Störungen leiden und eine geringere subjektive ble jeopardy«). Außerdem dürfte die Kumulation
Einschätzung der eigenen Gesundheit angeben von gesundheitlichen Belastungen und Risiken
als Erwachsene aus höheren sozialen Schichten im Lebenslauf bei ihnen besonders zum Tragen
(vgl. Kapitel 3.1). kommen. Zum anderen ist es aber auch möglich,
Der Zusammenhang zwischen sozialen Fak dass sich soziale Unterschiede in der Gesundheit
toren und Gesundheit kann über die Wirkung ge mit dem Alter abschwächen, da biologische Pro
sundheitlicher Risiko- und Schutzfaktoren erklärt zesse für Angehörige aller sozialer Schichten mit
werden, die mit spezifischen Lebenslagen ver fortschreitendem Alter an Bedeutung zunehmen
knüpft sind. In Bezug auf den Vermittlungsme (»age as leveler«). Die wenigen Studien zu dieser
chanismus zwischen sozialer Lage und Gesund Frage kommen allerdings nicht zu einheitlichen
heit wird angenommen, dass Ressourcen (etwa Ergebnissen [22, 28]. Dabei ist zu bedenken, dass
Wissen, Macht, Geld, Prestige) in verschiedenen sozial benachteiligte Gruppen ein höheres Risiko
sozialen Schichten unterschiedlich verfügbar vorzeitiger Sterblichkeit haben, was zu Selektivi
sind. Diese Unterschiede in der Verfügbarkeit tätseffekten bei Vergleichen zwischen alten und
von Ressourcen korrelieren nicht allein mit einem sehr alten Menschen unterschiedlicher Schichten
anderen Ausmaß gesundheitlicher Belastungen führt.
18 Gesundheit und Krankheit im Alter
Medizinische und pflegerische Faktoren Bedingungen der Heime, in denen sie leben, von
hoher Bedeutung. Moderne Pflegekonzepte, die
Mit zunehmendem Alter gewinnen medizinische auf Prävention und Aktivierung ausgerichtet sind,
und pflegerische Interventionen an Bedeutung für haben für die Aufrechterhaltung und Steigerung
die Gesundheit einer Person. Im Verlauf des Le der funktionalen Gesundheit alter Menschen eine
bens verändern sich allerdings die Bedingungen hohe Bedeutung. Demgegenüber kann Pflege, die
und Auswirkungen von medizinischer und pfle ausschließliche »Grundpflege- und Bewahrfunk
gerischer Intervention erheblich. tionen« ausübt, die Selbstständigkeit und Kompe
Im Unterschied zur Medizin früherer Le tenz alter Menschen beeinträchtigen.
bensabschnitte ist in der Geriatrie (Altersmedizin)
nicht immer die Heilung das Ziel des therapeuti
schen Bemühens (»restitutio ad integrum«). Viel Altern und Gesundheit
mehr geht es häufig darum, Funktionen wieder im gesellschaftlichen Kontext
herzustellen mit dem Ziel, Selbstständigkeit und
Lebensqualität der betagten Patienten möglichst Der Blick auf die gesundheitliche Versorgung alter
sicherzustellen (»restitutio ad optimum«). Zudem Menschen macht deutlich, dass Gesundheit im Al
verändern sich die Möglichkeiten für Diagnostik ter durch verschiedene soziale Sicherungssysteme
erheblich. Erkrankungen, die im mittleren Le (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) ent
bensalter typische Beschwerden hervorrufen, ver scheidend beeinflusst wird. Allerdings ist es kei
laufen im Alter oft atypisch. So kann bei einem neswegs einfach, diesen Einfluss empirisch nach
Herzinfarkt der im mittleren Lebensalter häufig zuweisen. Grundsätzlich sind dabei zwei Wege
geschilderte Brustschmerz fehlen; stattdessen denkbar: die Analyse von Gesellschaften mit un
findet sich aufgrund der verminderten Gehirn terschiedlicher Struktur (komparative, kultur- und
durchblutung eine neu auftretende Verwirrtheit. gesellschaftsvergleichende Forschung) und die
Mit dem Alter nehmen auch die Krankheitsdauer Analyse der historischen Entwicklung von Gesell
und die Länge der Rekonvaleszenz zu. Darüber schaften, insbesondere nach sozial- und gesund
hinaus leiden älter werdende und alte Menschen heitspolitischen Veränderungen.
in der Regel an mehreren, häufig chronisch pro Um den Einfluss dieser gesellschafts- und
gredienten Krankheiten (Multimorbidität). Dies sozialpolitischen Strukturen deutlich zu machen,
bedeutet, dass bei medizinischen Interventionen kann ein Vergleich zwischen Gesellschaften mit
die Auswirkungen auf andere Erkrankungen unterschiedlichen Sicherungssystemen sinnvoll
sowie die Wechselwirkungen mit anderen Maß sein [29]. So könnte man zeigen, ob verschiedene
nahmen (etwa Medikamenten) zu prüfen sind. Typen von Gesundheitssystemen mit unterschied
Insbesondere die Arzneimitteltherapie im Alter lichen Prävalenzen von Gesundheitsindikatoren
hat veränderte Bedingungen zu berücksichtigen, verknüpft sind. Da sich Gesellschaften allerdings
vornehmlich mit Blick auf unerwünschte Arznei in der Regel nicht allein im Hinblick auf sozial
mittelwirkungen. Zudem sind viele Medikamente politische Strukturen und Systeme unterscheiden,
an jüngeren Populationen getestet worden, sodass sondern in einer Vielzahl weiterer Aspekte (z. B.
die Wirkungen bei älteren Personen möglicher gesellschaftlicher Wohlstand, Kultur), sind ver
weise nicht ausreichend bekannt sind. Schließlich gleichende Analysen in der Regel aufwändig (und
ist auch zu berücksichtigen, dass medizinisches nicht immer eindeutig interpretierbar).
Personal, etwa niedergelassene Haus- und Fach Gesellschaften wandeln sich im Verlauf der
ärzte, nicht immer spezifisch geriatrische Kennt historischen Zeit [30]. Es verändern sich gesell
nisse besitzt. schaftliche Institutionen und gesellschaftlicher
Neben medizinischen Interventionen gewin Wohlstand, aber auch individuelle Erwartungen
nen Pflegeprofessionen und -institutionen für Ge und Verhaltensweisen. Sozialer Wandel wird aber
sundheit und Lebensqualität im Alter zunehmend auch durch den Wechsel von Kohorten vorange
an Gewicht. Insbesondere für Bewohnerinnen trieben. Mit dem sozialen Wandel ist insofern
und Bewohner von stationären Pflegeeinrichtun eine Veränderung individueller Alternsverläufe
gen sind die ökologischen und professionellen verbunden. Individuelle Lebensläufe sind in den
Gesundheit und Krankheit im Alter 19
gesellschaftlichen Wandel eingebettet und werden stil (Einflüsse durch individuelles Verhalten und
von diesem beeinflusst (beispielsweise wirken Ressourcen) und Lebenslagen (Einflüsse sozialer
sich gesellschaftlich-historische Ereignisse je nach Ungleichheit). Schließlich geht es auch darum,
Lebensalter einer Person unterschiedlich aus). In den Einfluss gesellschaftlicher Systeme auf die
den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat Gesundheit im Alter und ökonomische Aspekte
sich unter anderem die Gesundheit nachfolgen der Gesundheit im Alter zu untersuchen.
der Generationen alter Menschen verändert. In Diesen Überlegungen folgt die Gliederung
der Regel war diese Veränderung positiv (bessere des vorliegenden Buches. Im ersten Teil führen
Gesundheit in nachfolgenden Geburtskohorten), zwei Kapitel in die Thematik dieses Buches ein.
aber es gab auch eine – nur auf den ersten Blick Im zweiten Teil des Buches geht es um die Be
– paradoxe Entwicklung im vierten Lebensalter. schreibung des Gesundheitszustandes und der
Die Zahl dementiell veränderter und erkrankter Gesundheitsentwicklung älterer Menschen in
Menschen ist in den letzten Jahrzehnten abso Deutschland. Dabei werden die Ergebnisse, so
lut gewachsen – Grund hierfür ist die gestiegene weit es die Datenlage zulässt, nach den Katego
durchschnittliche Lebenserwartung. rien Alter (65- bis unter 85-Jährige, 85-Jährige
Mit Blick auf die Gesundheit im Alter wird und Ältere), Geschlecht (Frauen und Männer),
diskutiert, ob es zu einer Kompression oder einer Region (West- und Ostdeutschland, Nord- und
Expansion der Morbidität im Alter kommt. Mor Süddeutschland), Bildung (geringe, mittlere und
biditätskompression entsteht, wenn die Lebens hohe Bildung) sowie Migrationshintergrund (Her
erwartung insgesamt langsamer wächst als die kunft, Nationalität) dargestellt.
Lebenserwartung in Gesundheit [31], Morbiditäts Im dritten Teil des Buches werden Ein
expansion entsteht dann, wenn die Lebenserwar flussfaktoren auf die Gesundheit im Alter genauer
tung insgesamt schneller wächst als die Lebenser analysiert. Dabei stehen Lebenslagen und soziale
wartung in Gesundheit (vgl. Kapitel 2.5). Zunächst Ungleichheit, Lebensstile und Gesundheitsverhal
ist die Frage zu beantworten, ob die gesellschaft ten sowie die Inanspruchnahme gesundheitlicher
liche Entwicklung der letzten Jahrzehnte eher und medizinischer Angebote im Mittelpunkt. Im
durch Morbiditätskompression oder durch Mor vierten Teil des Buches wechselt die Perspektive
biditätsexpansion gekennzeichnet ist. In einem vom Individuum zum Gesundheitssystem: Hier
weiteren Schritt ist schließlich zu fragen, welche geht es um Angebote der Gesundheitsförderung
gesellschaftlichen Faktoren für die gesundheit und Prävention, um ambulante und stationäre
liche Entwicklung im Alter verantwortlich sind, Versorgung sowie um die Rolle der Familie bei
damit dieses Wissen für gezielte Interventionen der Versorgung alter hilfe- und pflegebedürftiger
nutzbar gemacht werden kann. Menschen.
Im fünften Teil des Buches werden schließ
lich gesundheitsökonomische Chancen und
1.1.4 Gliederung des vorliegenden Buches Herausforderungen einer alternden Gesellschaft
vorgestellt. Dabei geht es u. a. um die Analyse der
Im vorangegangenen Abschnitt wurde deutlich, Kosten nach altersrelevanten Krankheitsgruppen,
dass Gesundheit im Alter von einer Vielzahl von um den Einfluss gesellschaftlichen Alterns auf das
Faktoren beeinflusst wird. Biologische, verhal Ausgabengeschehen und die Frage, ob Gesund
tensbezogene, psychische, soziale, medizinische, heit in Zukunft bezahlbar bleiben wird.
pflegerische und gesamtgesellschaftliche Faktoren
müssen dabei berücksichtigt werden. Angesichts
dieser Vielzahl möglicher Determinanten sind Literatur
Fragen zur Gesundheit im Alter auf verschie
denen Ebenen zu behandeln. Hierzu zählt eine 1. Wahl HW, Heyl V (2004) Gerontologie – Einführung
und Geschichte. Kohlhammer, Stuttgart
deskriptive Betrachtung des Gesundheitszu 2. Baltes PB, Baltes MM (1994) Gerontologie: Begriff,
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sind bedeutsame Einflussfaktoren für Gesundheit Mittelstrass J, Staudinger UM (Hrsg) Alter und Altern.
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20 Gesundheit und Krankheit im Alter
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Rehabilitation geeignet. Zeitschrift für Gerontologie
und Geriatrie 34 (1): I/30 – I/35
Gesundheit und Krankheit im Alter 21
prognostiziert das Statistische Bundesamt einen derzeit in China, wo seit Ende der 1970er-Jahre
Anstieg auf 10 % und für die Männer auf 7 % im eine rigorose Ein-Kind-Politik praktiziert wird [5].
Jahr 2050 [1]. Das heißt auch, dass in Deutschland Offensive bevölkerungs- und gesundheitspoliti
zunehmend mehr 100-Jährige leben. Aus diesem sche Maßnahmen beeinflussen im Kontext mit
Grund versendet der Bundespräsident beispiels wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmen
weise seit 1996 seine jährlichen Gratulations bedingungen die regionale Bevölkerungsdyna
schreiben nicht mehr ab dem 100., sondern erst mik. Da die Geburtenrückgänge in weniger ent
ab dem 105. Geburtstag [2]. Zählte man in West wickelten Ländern nicht den historischen Vorlauf
deutschland Anfang der 1960er-Jahre noch we wie in den industrialisierten Regionen haben,
niger als zwei Hundertjährige je einer Millionen werden sie die Alterungsprozesse vergleichsweise
Einwohner, waren es im Deutschland des Jahres intensiver und zeitlich geraffter durchlaufen. Al
2000 bereits über 82 Personen [3]. terungsprozesse setzten später ein, so dass nach
Diese Anteilsverschiebungen zwischen Jung holende Effekte zu verzeichnen sind [6]. Forciert
und Alt charakterisieren den demografischen werden diese durch massive Maßnahmen zur
Wandel in Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhun Geburtenkontrolle sowie durch den Rückgriff auf
derts. Es ist ein globaler, langfristig verlaufender moderne medizin-technische Möglichkeiten mit
Prozess, wie Abbildung 1.2.1.1 zeigt. Das Durch lebensverlängernden Effekten. Nach neuesten
schnittsalter für Deutschland liegt zu den gezeig UN-Prognosen wird das heutige Medianalter bis
ten Eckzeitpunkten bei 35 – 41 – 50 Jahren [4]. 2050 in Industrieländern um etwa 15 %, in Ent
Auch wenn die Alterung von Bevölkerungen wicklungsländern um etwa 42 % und in den am
ein globaler Prozess ist, sind es regionale Beson wenigsten entwickelten Ländern der Welt um etwa
derheiten, die sein Tempo und seine Intensität 50 % ansteigen [5].
prägen. Da die meisten Länder der Welt einen Ge Eine sensible Kennziffer zur Messung von
burtenrückgang verzeichnen, altert die Weltbevöl Alterung ist das Billetermaß. Es bezieht alle Al
kerung insgesamt. Am intensivsten geschieht das tersgruppen einer Bevölkerung wie folgt in die
Abbildung 1.2.1.1
Durchschnittliches Alter der Bevölkerung in Weltregionen (in Jahren)
Quelle: Vereinte Nationen (nach Globus Infografik, 17.04.2003)
Welt
1950 2000 2050*
36,8
26,4
23,6
24,2 30,7
20,1
19,0 18,3 27,8
* Prognose
Gesundheit und Krankheit im Alter 23
Berechnung ein: Vom Umfang der Kindergene und die Niederlande bilden mit einer sich verjün
ration (noch nicht reproduktiv) wird der Umfang genden Bevölkerung die Ausnahme. Die ältesten
der Großelterngeneration (nicht mehr reproduk Bevölkerungen leben gegenwärtig in Nordspa
tiv) abgezogen. Die Differenz wird ins Verhältnis nien, Norditalien, Ostdeutschland und in Nord
gesetzt zur Größe der Elterngeneration als dem griechenland. Unter Bezug auf siedlungsstruk
reproduktiven Teil der Bevölkerung. Es ist ein turelle Merkmale weisen städtische Regionen im
Indikator dafür, wie jung oder alt eine Bevölke Kontext mit ihrem verdichteten Umland günsti
rung im Zeitverlauf, in regionalen oder anderen gere Altersstrukturen auf, während Regionen mit
vergleichenden Betrachtungen ist. Je kleiner das sehr intensiver Alterung zumeist im ländlichen
Billetermaß, desto älter ist im demografischen Raum verortet sind [9]. Insgesamt ist zu konsta
Sinne die Bevölkerung, weil sich das zahlenmä tieren, dass die Bevölkerungsdynamik unter dem
ßige Verhältnis der drei Generationen zueinander regionalen Aspekt zunehmend heterogener wird
zuungunsten der jüngeren verschiebt. Negative und dadurch regionale Disparitäten von Bevölke
Werte entstehen, wenn der Anteil der älteren grö rungsstrukturen anwachsen.
ßer ist als der Anteil der jungen Bevölkerung [7].
Abbildung 1.2.1.2 zeichnet den kontinuierli
chen Alterungsprozess in Europa anhand dieses Exkurs: Räumliche Muster der demografischen
Maßes in einigen ausgewählten Ländern. Irland Alterung in Deutschland
und Frankreich sind Beispiele für Länder mit
einer in Europa vergleichsweise jüngeren Bevöl Unter Rückgriff auf die Raumordnungsprognose
kerung, Deutschland und Italien stehen für die des Bundesamtes für Bauwesen und Raumord
ältesten Bevölkerungen. nung (BBR) sind folgende ausgewählte regionale
Dem Alterungstrend folgen nahezu alle eu Muster und Verläufe hier von Interesse:
ropäischen Länder. Am stärksten war er in einem Der demografische Alterungsprozess findet
Betrachtungszeitraum seit 1990 in Griechenland, in allen Regionen Deutschlands statt. Auffal
Bulgarien, Spanien, in den baltischen Staaten und lend ist der Ost-West-Unterschied. Mit Ausnah
in Ostdeutschland. Norwegen, die Südschweiz me großer Teile von Mecklenburg-Vorpommern
Abbildung 1.2.1.2
Billetermaß in ausgewählten Ländern Europas 1956 bis 2025*
Quelle: [8], EUROSTAT – Databases NewCronos, eigene Berechnungen
0 Jahr
–20
–40
Irland
Frankreich
–60
Deutschland
–80 Italien
–100
* Ab 2006 nationale Prognosen. Im Jahr 2010 haben Deutschland und Italien die gleichen Prognosewerte.
24 Gesundheit und Krankheit im Alter
sind die östlichen Bundesländer bis hin zum Bevölkerung dort noch immer jünger als im Sü
östlichen Niedersachsen überdurchschnittlich den [10].
alt (siehe Abbildung 1.2.1.3). Das betrifft auch die Hinsichtlich des Tempos der Alterung ist der
alten Industrieregionen des Westens sowie viele Osten schneller, insbesondere in Regionen mit ge
Kernstädte mit Wanderungsverlusten durch jun ringer Siedlungsdichte (siehe Abbildung 1.2.1.4).
ge Familien und landschaftlich attraktive Regio Dieser Zusammenhang gilt auf einem deutlich
nen an der Küste und am Alpenrand mit Wande niedrigeren Niveau auch für einige westliche Re
rungsgewinnen durch ältere Menschen. Jünger gionen, für kreisfreie Städte und für Umlandregio
sind städtische Umlandregionen, in die vor allem nen großer Städte, deren Besiedlung durch eine
junge Familien ziehen sowie einige Regionen mit relativ homogene Bevölkerung (junge Familien
vergleichsweise höheren Geburtenraten. Obwohl mit Kindern) im Wesentlichen abgeschlossen ist.
Mecklenburg-Vorpommern zu den Regionen mit Die Zahl der Regionen mit rückläufigen Be
überdurchschnittlich hoher Alterung zählt, ist die völkerungsbeständen wird immer größer. Am
Abbildung 1.2.1.3
Regionale Altersstrukturen, Deutschland 2002
Quelle: Raumordnungsprognose der BBR [10]
Kiel
Hamburg Schwerin
Szczecin
Bremen
Berlin
Hannover
Amsterdam Potsdam
Magdeburg
Düsseldorf
Dresden
Erfurt
Liège
Praha
Wiesbaden
Mainz
Luxembourg
Saarbrücken
Stuttgart
Strasbourg
Altersstruktur im Vergleich
München
zum Bundesdurchschnitt
jünger
100 km Zürich Innsbruck älter
Gesundheit und Krankheit im Alter 25
Abbildung 1.2.1.4
Tempo der regionalen Alterung, Deutschland 2002 bis 2020
Quelle: Raumordnungsprognose der BBR [10]
Kiel
Hamburg Schwerin
Szczecin
Bremen
Berlin
Hannover
Amsterdam Potsdam
Magdeburg
Düsseldorf
Dresden
Erfurt
Liège
Wiesbaden Praha
Mainz
Luxembourg
Saarbrücken
Stuttgart
Strasbourg
Alterung 2002 bis 2020
München
durchschnittlich
unterdurchschnittlich
100 km
Zürich Innsbruck überdurchschnittlich
nur noch zu etwa 70 % ersetzt wird (europäischer heute 70-Jähriger wird in einiger Zeit vergleichs
Durchschnitt). Für die nächsten Jahrzehnte wird weise jünger erscheinen als gegenwärtig. Damit
dieses Niveau – zumindest für Deutschland – als wird das Alter als jene spezifische, mit dem Tod
relativ stabil bewertet. Dieser Trend wird häufig – endende Lebensphase, auch aus demografischer
mit Blick auf die »Alterspyramide« – als »Alterung Perspektive ständig neu zu definieren sein.
von unten« bzw. als fertilitätsgeleitete Alterung
bezeichnet, da er den Anteil der Kinder- und Ju
gendgeneration an der Bevölkerung reduziert. 1.2.2 Die Gruppe der Alten im Dritten und
Das Sterbegeschehen ist seit Mitte des 20. Vierten Lebensalter
Jahrhunderts geprägt von einer anhaltenden Ver
schiebung des Sterberisikos in immer höhere Die im vorangehenden Abschnitt beschriebene
Lebensalter. Die Menschen leben länger, was – Alterung wird in Deutschland seit Anfang dieses
isoliert betrachtet – eine Zunahme des Anteiles Jahrhunderts begleitet von einer Abnahme der
der Älteren an der Bevölkerung bewirkt. Dieser Bevölkerungszahl. In Deutschland leben derzeit
Effekt wird entsprechend als »Alterung von oben« 82,3 Millionen Menschen. Für den Zeitraum bis
bzw. als mortalitätsgeleitete Alterung bezeichnet. 2050 prognostiziert das Statistische Bundesamt
Experten sprechen bei diesem Phänomen von sin eine weitere Abnahme um 10 % bis 17 % auf ei
kender Alterssterblichkeit. Sie dominiert das jet nen Bestand von ca. 69 bis 74 Millionen [1]. Die
zige Sterbegeschehen und ist in der historischen anhaltend geringe Geburtenrate unterhalb des Er
Perspektive das Ergebnis einer langfristigen Trans satzniveaus und die momentan starke Besetzung
formation [12]. Diese ist zunächst gezeichnet von der Generation im mittleren Lebensalter bewir
dem rapiden Rückgang der Sterbeziffern zwischen ken, dass dieser Trend die Altersgruppen in recht
1870 und 1950 von etwa 30 auf 12 Gestorbene je unterschiedlichem Maße trifft.
1.000 der Bevölkerung, der zu großen Teilen auf
dem Zurückdrängen der Säuglingssterblichkeit
basierte. So stieg die Lebenserwartung für Säug Bevölkerung nach Altersgruppen
linge in dieser Zeit um 80 %, was für Neugebore
ne einen Zugewinn an 30 Lebensjahren bedeutete. Gegenwärtig sind die Bevölkerungsanteile der
Für Personen ab dem 65. Lebensjahr stieg sie um jüngsten (unter 20 Jahre) und der ältesten Gene
vergleichsweise geringe 27 %, das waren etwa 3,5 ration (65 Jahre und älter) mit 20 % noch gleich
Lebensjahre mehr (Werte für Deutschland). Seit groß. Im Jahr 2050 wird der Anteil der Älteren
Ende des 20. Jahrhunderts, vor allem nach 1970, doppelt so groß sein wie jener der Jüngsten. Der
ist der Anstieg der Lebenserwartung zunehmend Anteil der Kinder- und Jugendgeneration (unter
auf verbesserte Überlebensraten älterer und sehr 20-Jährige) wird um etwa fünf Prozentpunkte auf
alter Menschen zurückzuführen. 1950 hatten 15 % 15 % sinken. Der Anteil der Generation im Er
der Frauen und 11 % der Männer eine Chance, das werbsalter wird sich um ca. zehn Prozentpunkte
85. Lebensjahr zu erleben, heute sind es 48 % der auf etwa 52 % verringern, wobei die Bevölkerung
Frauen und 30 % der Männer. Neuere demografi zwischen dem 20. und dem 49. Lebensjahr rasch
sche Forschungen führen zu der Annahme, dass abnehmen wird, während der Anteil der 50- bis
im 21. Jahrhundert Geborene zu über 50 % die 64-Jährigen deutlich ansteigt. Dieser wird dann
Chance haben, ihren 100. Geburtstag zu feiern reichlich ein Drittel der Bevölkerung im Erwerbs
[13]. Vaupel prognostiziert für Länder mit hoher alter ausmachen. Durch das Nachrücken relativ
Lebenserwartung einen weiteren, fast linearen gut besetzter Geburtsjahrgänge in das Senioren
Anstieg von mehr als zwei zusätzlichen Jahren alter und durch die steigende Lebenserwartung
pro Jahrzehnt [14] (vgl. Kapitel 2.4). wird der Anteil der Älteren kontinuierlich auf ein
Hinsichtlich des Zusammenspiels der demo Drittel der Gesamtbevölkerung anwachsen.
grafischen Ursachen der Alterung von Bevölke Die Alterung ist ein dynamischer Prozess,
rungen ist die Mortalität momentan der dynami der keinesfalls linear abläuft. Er ist untersetzt von
schere Aspekt und relativiert immer aufs Neue die wellenförmigen Veränderungen und temporären
Antwort auf die Frage »Wer sind die Alten?«. Ein Schwankungen. Die Ursache dafür liegt in der
Gesundheit und Krankheit im Alter 27
Nachhaltigkeit demografischer Prozesse, einem ration im Dritten Lebensalter (65 bis 84 Jahre)
Phänomen, das auch gern als »demografisches prognostiziert.
Gedächtnis« bezeichnet wird. Die jährlich nach
wachsenden Geburtsjahrgänge schaffen die Basis
für die Bevölkerungsentwicklung der folgenden Bevölkerung nach Geschlecht
Jahrzehnte und Jahrhunderte.
Heute relativ stark besetzte Altersgruppen Die Geschlechterproportion im Altersverlauf wird
um das 65. Lebensjahr erhöhen in den nächsten sowohl durch biologische wie auch durch soziale
Jahren temporär den Anteil der Bevölkerung im Faktoren geprägt. Zunächst werden auf Grund der
Vierten Lebensalter. Da dieser Trend ergänzt wird genetischen Konstitution der Menschen mehr Jun
von der voranschreitenden Lebensverlängerung gen gezeugt und auf 100 Mädchen etwa 106 Jun
insbesondere für sehr alte Menschen, wird sich gen geboren. Da das höhere Sterberisiko männ
der temporäre Effekt als ein recht langfristiger licher Neugeborener heutzutage weitestgehend
konstituieren. Abbildung 1.2.2.1 zeigt, wie sich der zurückgedrängt ist, bleibt dieser Proporz solange
Anteil der Generation ab dem 65. Lebensjahr an erhalten, bis lebensphasenspezifische soziale Ri
der Bevölkerung insgesamt im Zeitraum von 100 siken für Männer ein höheres Sterberisiko verur
Jahren von zehn auf prognostizierte 33 % konti sachen. Das ist zu beobachten in der Lebensphase
nuierlich erhöht (mittlere Linie). Die untere Linie der Motorisierung zwischen dem 20. und 25. Le
weist nach, dass diese Entwicklung vor allem auf bensjahr sowie ab dem 50. Lebensjahr durch die
die Zunahme der Bevölkerung im Vierten Lebens Akkumulation spezifischer Lebens- und Arbeits
alter zurückzuführen ist. Sie bildet den wachsen risiken. Der ursprüngliche Männerüberschuss
den Anteil dieser Gruppe an der Bevölkerung ab verkehrt sich etwa in der Lebensmitte in einen
dem 65. Lebensjahr ab, während die obere Linie leichten Frauenüberschuss, der sich mit zuneh
ein anhaltendes Absinken des Anteils der Gene- mendem Lebensalter vergrößert. Hierfür sind vor
Abbildung 1.2.2.1
Entwicklung des Anteils der älteren Bevölkerung in Deutschland 1952 bis 2050
Quelle: Bevölkerungsfortschreibung des Statistischen Bundesamtes und Statistische Jahrbücher der DDR 1952 bis 1990,
ab 2006 Daten der 11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Var. 1-W1 [1], eigene Berechnungen
Prozent
100
90
80
70
60
20
10
1952 1962 1972 1982 1992 2002 2012 2022 2032 2042 2050
Jahr
28 Gesundheit und Krankheit im Alter
Trend, so dass auch ältere Frauen zunehmend län Hälfte allein in einem Haushalt, weitere 43 % mit
ger in Partnerschaften leben können. ihrem Ehepartner.
Daten zum Familienstand sind für die gesam Familiale Lebensformen können jedoch im
te Bevölkerung verfügbar. Der Familienstand ist reinen Haushaltskontext nur unzureichend be
für die konkreten Lebensformen der Älteren aber schrieben werden. Familialer Zusammenhalt, Un
nur ein sehr grober Indikator. Der Mikrozensus terstützung und Solidarität finden über die Gren
liefert auch Daten zu den konkreten Lebensfor zen der Wohn- und Wirtschaftseinheit »Haushalt«
men im Haushaltskontext, das heißt, beschränkt statt. Im Begriff der »Familie« sind mehrere Ge
auf den Personenkreis, der in Privathaushalten nerationen miteinander verbunden, anders als
lebt. Informationen zu Heimbewohnerinnen und im Haushalt, in dem in der Regel heutzutage nur
Heimbewohnern fehlen diesbezüglich. Mit dieser eine oder zwei Generationen zusammenleben.
Einschränkung lässt sich folgendes Bild für das Die Verwandtschaftsbeziehungen von nicht im
Zusammenleben der älteren Menschen zeichnen gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen
(siehe Abbildung 1.2.2.2): Sofern ältere Menschen werden auch mit dem Begriff der »Mehrgenera
in Partnerschaften leben, tun sie dies nach wie tionenfamilie« bezeichnet. Das Bild der Familie
vor in der Regel in einer ehelichen Gemeinschaft. in diesem erweiterten Sinn hat sich gewandelt. Es
Alternative Lebensformen wie nichteheliche Le vollzieht sich ein Wechsel von eher horizontalen
bensgemeinschaften haben sich bei den Älteren zu eher vertikalen Familienstrukturen. Das heißt
bisher nicht als verbreitete Lebensform etabliert. einerseits, es gibt heute mehr Generationen, die
Daraus kann geschlossen werden, dass die Ehe vor gemeinsam zu einem Familienverband gehören.
allem bei den Männern noch immer die zentrale Andererseits sind diese Generationen aber mit
Lebensform des Alters ist. Von den Frauen ab dem weniger Personen besetzt. Es existieren weniger
65. Lebensjahr lebt und wirtschaftet dagegen die horizontale Verzweigungen in der Familie, es gibt
also z. B. weniger Geschwister und entsprechend
weniger Seitenverwandte wie Onkel, Tanten usw.
Abbildung 1.2.2.2 Diese Form der vorrangig vertikalen Familien
Lebensformen der 65-Jährigen und Älteren in Privathaushal struktur hat den anschaulichen Begriff der »Boh
ten nach Geschlecht 2006
Quelle: Mikrozensus 2006, eigene Berechnungen nenstangenfamilie« erhalten. Bedingt ist diese
Entwicklung durch die zunehmende Langlebig
Prozent keit der älteren Generationen und die abnehmen
100 de durchschnittliche Kinderzahl in den jüngeren
Generationen. Die Generationen, die eine lange
80 Lebenszeit miteinander verbringen, übernehmen
die Funktion eines generationenübergreifenden
60 Unterstützungsnetzwerkes und können dadurch
Lücken ausfüllen, die durch die abnehmende
40 innergenerationale Breite der Familie unter Um
ständen entstehen.
20 Empirische Daten zu diesen Familienbezie
hungen sind im Deutschen Alterssurvey 2002 zu
finden. Demzufolge verweisen die Deutschen in
Frauen Männer der zweiten Lebenshälfte (im Alter von 40 bis 85
Jahren) mehrheitlich auf Familienkonstellationen
allein lebend mit drei Generationen. Bei den 40- bis 54-Jährigen
traf das auf 61 %, bei den 55- bis 69-Jährigen auf
nur mit Ehepartner/Ehepartnerin
50 % und bei den 70- bis 85-Jährigen auf 53 % zu.
nur mit Lebenspartner/Lebenspartnerin Ein erheblicher Teil der älteren Erwachsenen er
mit Partner/Partnerin und Kind lebt aber auch den Kontext einer 4-Generationen-
Familie, also die gleichzeitige Existenz von Ur
nur mit Kind
großeltern, Großeltern, Eltern und (Ur-) Enkeln.
30 Gesundheit und Krankheit im Alter
In einer solchen Generationenkonstellation lebte 5. Schulz R, Swiaczny F (2005) Bericht 2005 zur Ent
wicklung der Weltbevölkerung. Zeitschrift für Bevöl
2002 knapp ein Viertel (23 %) all jener Befragten,
kerungswissenschaft 4 (30): 409 – 453
die das 55. Lebensjahr überschritten hatten. Mit 6. Menning S (2008) Ältere Menschen in einer alternden
zunehmendem Alter steigt aber auch der Anteil Welt – Globale Aspekte der demografischen Alterung.
derjenigen, die nur noch Verwandte der eigenen GeroStat Report Altersdaten 01/2008 Deutsches Zen
trum für Altersfragen (Hrsg), Berlin
Generation im Familienverbund haben; bei den
7. Dinkel R (1989) Demografie. Band 1: Bevölkerungs
70- bis 85-Jährigen betraf das 13 % [16]. dynamik. Vahlen, München
Mit dieser Auswahl demografischer Perspek 8. Europäische Kommission (2006) Bevölkerungssta
tiven soll das einleitende Kapitel beendet werden. tistik. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Euro
päischen Gemeinschaften. Themenkreis: Bevölkerung
Es wurden theoretische Grundpositionen zum
und soziale Bedingungen. Luxemburg
Altern und zum Alter erörtert, die das Altern als 9. Bucher H, Mai R (2006) Bevölkerungsschrumpfung
Prozess und das Alter als Lebensabschnitt be in den Regionen Europas. Zeitschrift für Bevölke
schreiben. Dimensionen von Gesundheit wurden rungswissenschaft 3/4 (31): 311 – 343
10. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg)
im Hinblick auf ihre spezifische Bedeutung für
(2006) Raumordnungsprognose 2020/2050. Berichte
das Alter vorgestellt und es wurde eine Reihe von Band 23. Selbstverlag des BBR, Bonn
Einflussfaktoren auf Gesundheit mit einem inter 11. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg)
disziplinären Blick diskutiert. Es folgte die demo (2005) Raumordnungsbericht 2005. Berichte Band 21.
Selbstverlag des BBR, Bonn
grafische Analyse, die das Phänomen des Alterns
12. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung beim Sta
von Bevölkerungen als einen Prozess der Ver tistischen Bundesamt (Hrsg) (2004) Bevölkerung.
schiebung der Altersstruktur einer Gesellschaft Fakten – Trends – Ursachen – Erwartungen – Die
zugunsten des Anteils der älteren Menschen be wichtigsten Fragen. Sonderheft der Schriftenreihe des
BIB, Wiesbaden
trachtete und demografische Merkmale des Alters
13. Vaupel J (2006) Steigende Lebenserwartung: Kein
als einem spezifischen Lebensabschnitt spiegelte. Ende in Sicht. Zentrum für demografischen Wandel
www.zdwa.de/zdwa/experten/001_vaupel_jW3Dna
vidW261.php (Stand: 19.11.2008)
14. Zentrum für demografischen Wandel. Weitere Infor
Literatur
mationen unter dem Stichwort: Alter/Lebenserwar
tung www.zdwa.de (Stand: 19.11.2008)
1. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2006) Bevölkerung 15. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2007) Bevölkerung
Deutschlands bis 2050. Übersicht der Ergebnisse der mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozen
11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung – sus 2005. – Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden
Varianten und zusätzliche Modellrechnungen, Wies 16. Hoff A (2006) Intergenerationale Familienbezie
baden hungen im Wandel. In: Tesch-Römer C, Engstler H,
2. Scholz R, Maier H (2005) Forschung an der Spitze der Wurm S (Hrsg) Alt werden in Deutschland. Sozialer
Bevölkerungspyramide. Demografische Forschung Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten
aus erster Hand 2 (4): 1 – 2 Lebenshälfte. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesba
3. Zentrum für demografischen Wandel (2007) Zahlen den, S 231 – 287
und Fakten www.zdwa.de (Stand: 19.11.2008)
4. Mai R (2005) Demografische Alterung in Deutsch
land. Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 1 (30):
43 – 80
Gesundheit und Krankheit im Alter 31
2 Alter = Krankheit?
Gesundheitszustand und Gesundheitsentwicklung
Abbildung 2.1.1.1
Erkrankte/Unfallverletzte in den letzten 4 Wochen nach Alter und Geschlecht 2005
Quelle: Mikrozensus 2005 [6]
Prozent
30
25
20
15
Frauen
10 Männer
Risiko für die Aufrechterhaltung der selbststän übereinstimmend, dass das somatische Krank
digen Lebensführung [5]. heitsspektrum im Alter insbesondere von Herz
Als Ursachen für die genannten Spezifika Kreislauf-Erkrankungen und Krankheiten des Be
von Gesundheit und Krankheit im Alter sind zu wegungsapparates dominiert wird. Einbezogen
nächst altersphysiologische Veränderungen von wurden hier sowohl Selbstangaben der älteren
Organen und Organsystemen zu nennen, die sich Menschen (z. B. Alterssurvey 2002) als auch Stu
unter anderem in einer verminderten Belastbar dien, die ärztliche Untersuchungen beinhalten
keit und Anpassungsfähigkeit äußern [1]. Die ab (z. B. Berliner Altersstudie), Abrechnungsdaten
nehmende Immunresponsivität des Organismus (z. B. Abrechnungsdatenträger-Panel (ADT-Panel)
– die Fähigkeit, auf Krankheitserreger zu reagie für die ambulanten Versorgung) und die amtliche
ren – spielt ebenfalls eine Rolle. Zum typischen Statistik (z. B. Krankenhausdiagnosenstatistik).
Krankheitsspektrum im Alter trägt auch die lange Im Detail zeigen sich jedoch in den verwendeten
Latenzzeit (symptomlose Zeit) mancher Krank Datenquellen Unterschiede hinsichtlich der Rang
heiten bei, zum Beispiel bei Krebserkrankungen. folge einzelner Diagnosen. Dies ist unter anderem
Andere Gesundheitsprobleme altern lediglich auf Spezifika der Datenerhebung zurückzuführen
»mit«, sie bestanden bereits im jüngeren Alter. (Art der Erhebung, Kontext) sowie auf die jeweils
Dies trifft häufig auf Arthrosen (Gelenkverschleiß) ausgewählten Altergruppen. Auf spezielle Ergeb
zu. Im Alterssurvey zeigte sich, dass bereits ein nisse soll deshalb kurz eingegangen werden.
nennenswerter Anteil der 40- bis 54-Jährigen von Im Alterssurvey 2002 gaben die Befragten in
Erkrankungen betroffen ist: Etwa die Hälfte der allen Altersgruppen am häufigsten Erkrankungen
Befragten in dieser Altersgruppe berichtete über des Bewegungsapparates an (Gelenk-, Bandschei
eine Knochen- oder Gelenkerkrankung [7]. Mital ben-, Knochen und Rückenleiden) [8, 9]. Herz
ternde Krankheiten können durch die lange Dauer Kreislauf-Erkrankungen folgten an zweiter Stelle,
ihres Bestehens zu Folgekrankheiten führen [8]. wobei mit steigendem Alter eine deutliche Zu
Eine weitere Ursache für die erhöhte Prävalenz nahme zu verzeichnen war [9]. Durchblutungs
bestimmter Erkrankungen im Alter ist in der jah störungen wurden allerdings bei Datenanalyse
re- oder jahrzehntelangen schädigenden Wirkung nicht unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen gefasst.
von Risikofaktoren zu sehen. Hier sind sowohl In allen anderen Datenquellen, die für die vorlie
Umfeldfaktoren (z. B. Lärm, Gifte) als auch das gende Zusammenstellung ausgewertet wurden,
Gesundheitsverhalten (z. B. körperliche Aktivität, nahmen die Herz-Kreislauf-Erkrankungen den
Rauchen) zu nennen. ersten Platz ein, unter anderem auch in der Ber
Der Prozess des Alterns vollzieht sich bei je liner Altersstudie. Die meisten der dort erfassten
dem Einzelnen in individueller Weise und auch Krankheiten mit besonders hohen Prävalenzen
im Auftreten von Krankheiten und funktionellen (45 % bis 76 %) waren den Herz-Kreislauf-Erkran
Einschränkungen bestehen große Differenzen. kungen zuzuordnen, beispielsweise Hyperlipidä
Es wurden eine Reihe von Faktoren identifiziert, mie (Fettstoffwechselstörung), Varikosis (Krampf
die Einfluss auf die gesundheitliche Lage im Alter adern), Zerebralarteriosklerose (Verkalkung der
haben, unter anderem das Geschlecht, die sozio Gefäße im Gehirn), Herzinsuffizienz (Herzschwä
ökonomische Lage und das Gesundheitsverhal che) und arterielle Hypertonie (Bluthochdruck).
ten. Im Abschnitt 1.1.3 wird ausführlich auf die Lediglich zwei Diagnosen aus dem Bereich der
Determinanten für Gesundheit und Krankheit im Muskel- und Skeletterkrankungen waren ähnlich
Alter eingegangen. Vertiefende Informationen zu weit verbreitet: Arthrose (Gelenkverschleiß) und
den Spezifika von Krankheit im Alter und deren Dorsopathie (Rückenbeschwerden). Weitere Diag
Ursachen sind ebenfalls im Kapitel 1 nachzulesen. nosen, die von den Teilnehmerinnen und Teil
nehmern ab 70 Jahren häufig angegeben wurden,
waren arterielle Verschlusskrankheit (36 %) und
2.1.2 Überblick: Erkrankungsspektrum im Alter koronare Herzkrankheit (23 %) sowie obstruktive
Lungenerkrankung (25 %) und Diabetes mellitus
Die Auswertung zahlreicher Datenquellen zur Typ 2 (Zuckerkrankheit; 19 %). Auch gemäß dem
Krankheitslast älterer Frauen und Männer ergab ADT-Panel sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen am
34 Gesundheit und Krankheit im Alter
weitesten verbreitet. An zweiter Stelle folgen wie sich hier um Diagnosen handelt, die im Rahmen
derum Erkrankungen des Bewegungsapparates. von Abrechnungsprozessen gestellt wurden. Bei
Die häufigsten Einzeldiagnosen in der ambu einem älteren Patienten mit chronischer Bronchi
lanten Versorgung (Praxen von Allgemeinmedizi tis steht unter Umständen die Grunderkrankung
nerinnen und -medizinern sowie von praktischen im Vordergrund und wird als Abrechnungsdiag
Ärztinnen und Ärzten) waren im Jahr 2007 die nose erfasst, selbst wenn beim aktuellen Praxis
(primäre) Hypertonie (31 % aller Behandlungs besuch zusätzlich ein akuter Infekt vorlag.
fälle), Fettstoffwechselstörungen (23 %), Rücken Fokussiert man die Analysen zum Krank
schmerzen (14 %) [10]. Diese Diagnosen waren heitsspektrum älterer und alter Menschen auf die
auch bei den älteren Patientinnen und Patienten Erkrankungsfälle, die eine Krankenhauseinwei
(ab 60 Jahren) am häufigsten, wie sich in einer sung nach sich ziehen, stehen wiederum die Herz
nach Altersgruppen aufgeschlüsselten Auswer Kreislauf-Erkrankungen im Vordergrund. Im
tung des ADT-Panels vom 1. Quartal 2005 zeigte Jahr 2006 waren Herzinsuffizienz, Angina pec
[9, 11]. Bei Patientinnen und Patienten ab 80 toris und Hirninfarkt die häufigsten Diagnosen
Jahren nahm die Bedeutung der chronisch ischä bei Krankenhausaufenthalten älterer Menschen.
mischen Herzerkrankung, Herzinsuffizienz, Gon Aufgegliedert nach Geschlecht sind die Diagno
arthrose (Gelenkverschleiß am Knie), Osteoporose sen Herzinsuffizienz, Angina pectoris und chro
(Knochenschwund) und Demenz (krankhafte Ab nisch ischämische Herzkrankheit die häufigsten
nahme der geistigen Leistung) deutlich zu. Dass Behandlungsanlässe für die 3,1 Millionen männ
im Alter chronische Erkrankungen dominieren lichen Patienten im Alter von 65 Jahren und älter
und die Bedeutung akuter Erkrankungen relativ gewesen (siehe Abbildung 2.1.2.1). Bei den 3,9 Mil
zurückgeht, lässt sich ebenfalls mit den Daten des lionen weiblichen Patienten dieser Altersgruppe
Panels belegen: Akute Infekte (Erkältungskrank waren demgegenüber die Diagnosen Herzinsuf
heiten, Magen-Darm-Entzündungen u. a.) wur fizienz, Fraktur des Femurs (Oberschenkelkno
den bei 86 % aller Patientinnen und Patienten chenbruch) und Hirninfarkt die häufigsten Grün
zwischen 20 und 29 Jahren diagnostiziert, aber de für eine stationäre Krankenhausbehandlung.
nur bei 13 % der 80-Jährigen und Älteren [9]. Da Die Bedeutung der Herz-Kreislauf-Diagnosen
bei muss allerdings berücksichtigt werden, dass es für das Krankheitsgeschehen im Alter wird auch
Abbildung 2.1.2.1
Häufigste Diagnosen der aus dem Krankenhaus entlassenen vollstationären Patienten im Alter von 65 Jahren und älter
(einschl. Sterbe- und Stundenfälle) in 1.000 nach Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Krankenhausdiagnosen 2006 [13]
weibliche Patienten
Herzinsuffizienz (I50)
Fraktur des Femurs (S72)
Hirninfarkt (I63)
Gonarthrose [Arthrose des Kniegelenkes] (M17)
Angina pectoris (I20)
männliche Patienten
Herzinsuffizienz (I50)
Angina pectoris (I20)
chronische ischämische Herzkrankheit (I25)
bösartige Neubildung der Bronchien und der Lunge (C34)
akuter Myokardinfarkt (I21)
0 20 40 60 80 100 120 140 160 180
Fälle in 1.000
Gesundheit und Krankheit im Alter 35
dadurch unterstrichen, dass laut Todesursachen sich die Bedeutung der Geschlechtsspezifik für
statistik im Jahr 2006 fast jeder fünfte Sterbefall die Lebenssituation mit steigendem Alter wesent
bei Personen ab 65 Jahren auf ischämische Herz lich verändert [15].
krankheiten (19 %), darunter Herzinfarkt (8 % Im folgenden Abschnitt 2.1.3 wird auf aus
aller Todesfälle) zurückgeführt werden kann [12]. gewählte somatische Erkrankungen im Alter
Im Kapitel 2.4 folgen detaillierte Ausführungen zu vertiefend eingegangen, wobei auch geschlechts
den wichtigen Todesursachen. spezifische Aspekte der Prävalenz, Inzidenz,
Nicht nur die Statistik der Krankenhausdiag Diagnostik und Therapie dargestellt werden. Im
nosen, sondern auch alle anderen einbezogenen Abschnitt 2.1.4 folgen detaillierte Ausführungen
Datenquellen belegen Unterschiede zwischen zu den beiden psychischen Erkrankungen, die
Frauen und Männern im Krankheitsspektrum bei älteren Männern und Frauen im Vordergrund
und bei den Prävalenzen einzelner Erkrankungen. stehen: Demenzen und Depressionen [16]. Psy
Nach Angaben der Berliner Altersstudie werden chische Störungen bei 65-Jährigen und Älteren
für Frauen insgesamt mehr medizinische Diag weisen – insgesamt betrachtet – allerdings zu
nosen als für Männer gestellt. Fünf und mehr nächst die gleiche Vielfalt, dieselben Ursachen
Diagnosen stellten die Projektärzte bei 27 % der und Erscheinungsbilder wie bei Erwachsenen im
Frauen und 19 % der Männer von 70 bis 84 Jah mittleren Lebensalter auf [17]. Sie gehen allerdings
ren (85-Jährige und Ältere: 54 % vs. 41 %). Auch häufiger mit körperlichen Erkrankungen einher
das Diagnosenspektrum zeigt geschlechtsspezi und verlaufen öfter chronisch. Der Anteil psy
fische Differenzen [3]. Allerdings ist die lange Zeit chisch Kranker insgesamt scheint aber durchaus
verbreitete Ansicht, dass der Herzinfarkt eine ty vergleichbar mit dem mittleren Lebensalter zu
pische Männerkrankheit ist, inzwischen widerlegt sein [17]. Verschiedene Studien ergaben überein
[14]. Herzinfarkte bei Frauen äußern sich oftmals stimmend, dass etwa ein Viertel der 65-jährigen
durch andere Symptome als bei Männern, was und älteren Bevölkerung unter einer psychischen
dazu führen kann, dass notfallmedizinische Hilfe Störung irgendeiner Art leidet [17]. Es gibt jedoch
zu spät gerufen wird [14]. auch Hinweise darauf, dass im sehr hohen Le
Hinweise auf ein spezifisches Diagnosespek bensalter ein Anstieg psychischer Erkrankungen
trum bei Frauen und Männern ergeben sich auch zu beobachten ist. Dieser Anstieg ist hauptsäch
aus dem Alterssurvey. Hier waren insbesondere lich bedingt durch die Zunahme der Demenzen
Frauen von Einschränkungen des Bewegungsap [17]. Kruse und Schmitt [15] vermuten, dass trotz
parates betroffen [8] und mussten in größerem des häufigeren Auftretens psychischer Symptome
Umfang Mobilitätsverluste hinnehmen [5]. Daten bei Älteren seltener eine eindeutige Diagnose ge
aus den Vereinigten Staaten belegen ebenfalls, stellt wird.
dass Frauen von fast allen chronischen Beein In der Berliner Altersstudie zeigte fast die
trächtigungen häufiger betroffen sind als Männer Hälfte der 70-Jährigen und Älteren keinerlei
[3]. Zum einen ist dies auf die höhere Lebens psychische Symptome, knapp ein Viertel war
erwartung von Frauen zurückzuführen. Zum eindeutig psychisch krank [15]. Frauen klagten
anderen bestehen unterschiedliche Rahmenbe häufiger über psychische Störungen, wobei der
dingungen des Alterns bei Frauen und Männern, Geschlechtsunterschied auf depressive Erkran
aus denen sich unterschiedliche Möglichkeiten kungen zurückzuführen ist, die auch in anderen
ergeben, den eigenen Alternsprozess zu gestalten Altersgruppen bei Frauen häufiger auftreten [18,
[15]. Als sozialstrukturelle Ungleichheiten sind 19]. In der Berliner Altersstudie wurden bezüg
zu nennen: Ältere Frauen sind häufiger verwit lich einzelner psychischer Erkrankungen folgende
wet, sie hatten deutlich schlechtere Chancen auf Häufigkeiten ermittelt: 14 % der Untersuchten lit
einen höheren Bildungsabschluss, ihre Einkom ten an einer Demenz, 9 % an einer depressiven
mens- und Wohnsituation ist meist ungünstiger. Störung und knapp 2 % an einer Angststörung
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der ge [20]. Ebenfalls knapp 2 % waren von anderen Stö
sundheitsbezogenen und allgemeinen Lebens rungen, z. B. wahnhafte Störungen oder Persön
situation werden über die gesamte Lebensspanne lichkeitsstörungen, betroffen. Speziell bezüglich
beobachtet. Es ist Gegenstand der Diskussion, ob der depressiven Störungen aber auch im Hinblick
36 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 2.1.3.1
Sterblichkeit an ischämischen Herzkrankheiten (ICD-10: I20 – 25) je 100.000 Einwohner
nach Alter und Geschlecht 1990 und 2006
Quelle: Todesursachenstatistik 1990, 2006 [12, 14]
4.000
3.000
1990
2.000 2006
1.000
65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+ 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+
Altersgruppe
eignen sich anteilig mehr Herzinfarkte als zu den als auch für Männer seit Mitte der 1980er-Jahre
anderen Stunden des Tages. Ältere Menschen, [14]. Dies entspricht dem Ergebnis einer Analyse
die den Infarkt nicht überleben, sind zumeist zu der Todesursachenstatistik von 1990 und 2006.
Hause und häufig allein [14]. Die Augsburger Re- Dabei wurde, bezogen auf alle Formen der ischä
gisterdaten belegen positive Veränderungen der mischen Herzkrankheit insgesamt, ebenfalls ein
Sterblichkeit bei Herzinfarkt, sowohl für Frauen positiver Trend deutlich (siehe Abbildung 2.1.3.1).
Tabelle 2.1.3.1
Herzinfarktraten je 100.000 Einwohner und Letalität (in Prozent) nach Alter und Geschlecht in der Region Augsburg und
altersstandardisierte Raten (Standard: Alte Europabevölkerung)
Quelle: Tabelle entnommen aus [14], MONICA/KORA-Herzinfarktregister Augsburg 2001–2003
Abbildung 2.1.3.2
Sterblichkeit an zerebrovaskulären Krankheiten nach Alter und Geschlecht 1990 und 2006
Quelle: Todesursachenstatistik 1990 ICD-9: 430 – 438, 2006 ICD-10: I60 – 69 [12, 22]
3.500
3.000
2.500
2.000 1990
1.500 2006
1.000
500
65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+ 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+
Altersgruppe
Wenn arteriosklerotische Gefäßverände 1984, 1988 und 1998 zeigte beispielsweise für
rungen nicht im Bereich des Herzens sondern im Westdeutschland einen Anstieg des Anteils von
Gehirn auftreten, können sie einen Schlaganfall Personen mit Bluthochdruck [24]. Auch im in
zur Folge haben. Unter dem Begriff Schlaganfall ternationalen Vergleich werden für Deutschland
werden verschiedene Krankheitsbilder zusam und weitere europäischen Staaten hohe Hyper
mengefasst, die man auch als zerebrovaskuläre tonieprävalenzen ermittelt (unbehandelte und
(die Blutgefäße im Gehirn betreffende) Erkran unzureichend behandelte Hypertonie). Deutlich
kungen bezeichnet [22]. Durch die plötzlich auf günstiger sieht es in den USA aus [25, 26].
tretende Durchblutungsstörung kommt es zu Zerebrovaskuläre Erkrankungen haben je
schlagartigen Lähmungen sowie Störungen der doch nicht nur hinsichtlich ihrer Mortalität große
Sinne, der Sprache und des Bewusstseins [22]. Der Bedeutung sondern auch bezüglich der Morbidi
Schlaganfall war im Jahr 2006 bei Frauen die viert tät (Krankheitslast). Innerhalb der Herz-Kreislauf-
häufigste Todesursache, bei den Männern stand Leiden stehen sie an dritter Stelle der häufigsten
der Schlaganfall an siebenter Stelle [12]. Auch Gründe für einen Krankenhausaufenthalt [26].
hier ist die Sterblichkeit seit Anfang der 1990er Der Hirninfarkt (ICD-10: I63) rangierte im Jahr
Jahre deutlich zurückgegangen (siehe Abbildung 2006 in der Rangfolge der häufigsten Gründe für
2.1.3.2). Dies wird unter anderem auf bessere Un einen Krankenhausaufenthalt auf dem 10. Platz
tersuchungs- und Behandlungsmethoden [22] und [13]. Die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls
auf eine verbesserte Kontrolle der Risikofaktoren nimmt mit steigendem Alter deutlich zu. Dies
[23], insbesondere des Bluthochdrucks, zurückge spiegelt sich in der Zahl der Krankenhausauf
führt. Es liegen allerdings auch Analyseergebnisse enthalte wegen zerebrovaskulärer Erkrankungen
vor, die darauf hindeuten, dass die Bemühungen wider (siehe Abbildung 2.1.3.3). Fast 85 % aller
um die Beeinflussung kardiovaskulärer Risikofak Schlaganfälle treten jenseits des 60. Lebensjahres
toren in der deutschen Allgemeinbevölkerung in auf. In verschiedenen europäischen Studien
den 1980er- und 1990er-Jahren wenig erfolgreich wurde ein Anstieg der Lebenszeitprävalenz von
waren. Der Vergleich repräsentativer Surveys von Schlaganfall (mindestens einmal im bisherigen
Gesundheit und Krankheit im Alter 39
Abbildung 2.1.3.3
Anzahl der aus dem Krankenhaus entlassenen vollstationären Patienten mit zerebrovaskulären Krankheiten
(ICD-10: I60 – 69) nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Krankenhausdiagnosen 2006 [13]
Anzahl
40.000
35.000
30.000
25.000
20.000
Frauen
15.000
Männer
10.000
5.000
40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+
Altersgruppe
Leben einen Schlaganfall erlitten) mit dem Alter Patientinnen und Patienten, die einen Schlag
gefunden, von unter 1 % bei den unter 60-Jährigen anfall überleben, haben in der Zeit direkt danach
bis knapp 10 % bei den über 85-Jährigen [23, 27]. größtenteils Schwierigkeiten bei den Aktivitäten
Direkte Schätzungen zur Inzidenz (Zahl der des täglichen Lebens. Bleibende neurologische
neu auftretenden Erkrankungen) sind anhand Schäden finden sich bei rund 60 % der Betrof
des Erlanger Schlaganfallregisters möglich. Da fenen [22]. Etwa 25 % der Schlaganfallpatien
nach fand sich im Zeitraum von 1994 bis 1996 tinnen und -patienten bleiben voll pflegebedürftig
eine jährliche altersstandardisierte Schlaganfall- [2]. Schlaganfall ist einer der Hauptgründe für
Inzidenz von 182 Erkrankungsfällen pro 100.000 Pflegebedürftigkeit im Erwachsenenalter [22].
Einwohner [28]. Männer sind häufiger betroffen Die meisten Schlaganfallpatientinnen und -pa
als Frauen. Die Inzidenz steigt dabei deutlich von tienten sind ältere und alte Menschen. Durch die
4 pro 100.000 in der Altersgruppe der 25- bis im Alter verminderte Anpassungsfähigkeit des
34-Jährigen auf 2.117 pro 100.000 bei den 85-Jäh Organismus und die verlängerte Rekonvaleszenz
rigen und Älteren. Ein besonders steiler Anstieg zeit (Genesungszeit), durch das Vorliegen weiterer
der Inzidenz ist für die Altersgruppe 75 bis 84 chronischer Erkrankungen und Funktionsein
Jahre zu beobachten. Hier wurden deutlich über schränkungen treffen die Folgen eines Schlagan
1.000 Betroffene pro 100.000 Einwohner regis falls ältere Menschen häufig besonders hart.
triert. In der Gruppe der 75-Jährigen und Älteren
traten insgesamt mehr als 50 % aller im Erlan Ansätze für die Prävention
ger Register zwischen 1994 und 1996 erfassten Die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Schlaganfälle auf [28]. zielt insbesondere auf die Modifikation lebensstil
Nach Daten des Erlanger Registers waren bedingter Gesundheitsrisiken. Nicht allein das
19 % aller Patientinnen und Patienten mit Schlag kalendarische Alter bestimmt die kardiovasku
anfall innerhalb eines Monats verstorben, knapp läre Leistungsfähigkeit, sondern insbesondere
29 % innerhalb von drei Monaten und 37 % nach die Lebensweise, die körperliche Fitness sowie
12 Monaten (Zeitraum 1994 bis 1996) [28]. eine eventuelle Multimorbidität [9]. Präventions
40 Gesundheit und Krankheit im Alter
potenziale werden vor allem in einer Steigerung Ein körperlich aktiver Lebensstil und eine
der körperlichen Aktivität, der Regulierung des ausgewogene Ernährung können zur Regulie
Körpergewichts und dem Nichtrauchen gesehen. rung des Blutdrucks beitragen, denn Bluthoch
Nach Daten des Telefonischen Gesundheitssur druck ist einer der wichtigsten Risikofaktoren
vey 2003 raucht etwa jeder zehnte Mann ab 65 für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Risiko
Jahren täglich (12 %), bei den Frauen trifft dies steigt mit zunehmenden Blutdruckwerten linear
nur auf 5 % zu [22]. Die Raucherquote nimmt mit an [22]. In der Berliner Altersstudie wurde der
zunehmendem Alter deutlich ab. Dies erklärt sich Blutdruck bei einer ärztlichen Untersuchung ge
auch durch die erhöhten Erkrankungsraten bei messen. Davon ausgehend wurde geschätzt, dass
ausgeprägtem Tabakkonsum, die im Alter zum deutschlandweit insgesamt 46 % der 70-Jährigen
Rauchverzicht führen können, sowie durch eine und Älteren unter Bluthochdruck leiden [21]. Der
erhöhte Sterblichkeit von Raucherinnen und Rau Anteil liegt bei den Frauen durchgängig höher
chern [22, 23]. als bei den Männern. Im Alter ab 85 Jahren sind
Neben dem Rauchverzicht würde ein Großteil vermutlich sogar 57 % der Frauen von Bluthoch
der älteren Menschen von einer Umstellung des druck betroffen. Die Prävalenz der Hypertonie in
Ernährungsverhaltens profitieren, denn Überge einer Bevölkerungsgruppe hängt immer auch von
wicht ist unter Älteren, speziell unter den »jun den gewählten Grenzwerten ab. Während man
gen« Alten weit verbreitet. Laut Telefonischem vor einigen Jahren noch von einem Erfordernis
Gesundheitssurvey 2003 waren 85 % der Männer hochdruck sprach und der Hypertoniegrenzwert
und 79 % der Frauen im Alter von 60 bis 69 Jah mit 100 mm Hg plus Lebensalter definiert wur
ren übergewichtig oder sogar adipös mit einem de, gelten heute für Erwachsene jeden Alters die
Body-Mass-Index (BMI) von 25 und mehr (Quo Grenzwerte von 140/90 mm Hg [29, 30]. Auch für
tient aus Körpergroße in m und dem Gewicht die über 60-Jährigen wurden die Hypertonie als
(quadriert) in kg). Bei den 70-Jährigen und Älteren Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen
betraf dies immerhin noch 81 % der Männer und und der Nutzen einer antihypertensiven Therapie
78 % der Frauen [22]. Obwohl der BMI im 8. und inzwischen eindeutig nachgewiesen [29, 31, 32].
9. Lebensjahrzehnt deutlich abnimmt, bleibt die Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 wurde der
ser Risikofaktor, insbesondere bei Frauen, selbst Blutdruck (wie in der Berliner Altersstudie) im
im 9. Lebensjahrzehnt noch bedeutsam [23]. Rahmen einer ärztlichen Untersuchung gemes
Auch durch eine Steigerung der körperlich sen. Die Hypertoniegrenzwerte von 140/90 mm
sportlichen Aktivität könnten viele ältere Men Hg werden in dieser Studie von über 80 % der
schen ihr Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen über 65-jährigen Männer und Frauen überschrit
reduzieren. In der Berliner Altersstudie wurde er ten (60- bis 69-Jährige: 79 % der Männer, 81 % der
mittelt, dass insgesamt 55 % der Teilnehmerinnen Frauen; 70- bis 79-Jährige: 88 % der Männer, 86 %
und Teilnehmer ab 70 Jahren unter Bewegungs der Frauen) [29]. Dabei wurden auch die Personen
mangel leiden [21]. Geht man von den aktuellen als hyperton eingestuft, die einen Blutdruckmess
Empfehlungen zur körperlichen Aktivität aus – wert im Normbereich aufwiesen, dies aber nur
mindestens an drei, besser jedoch an allen Tagen durch Medikamenteneinnahme erreichten.
der Woche eine halbe Stunde körperlich aktiv zu Auch bezüglich Fettstoffwechselstörungen,
sein, so dass man leicht ins Schwitzen gerät – er die ebenfalls an der Entstehung von Herz-Kreis
reichen dies sehr wenige ältere Menschen [22]. lauf-Leiden beteiligt sind, wird das bestehende
Körperliche Aktivität in diesem Umfang zielt in Präventionspotenzial von vielen Betroffenen nicht
erster Linie nicht auf Muskelaufbau oder Steige ausgeschöpft. Wiederum sind es Lebensstilfak
rung der sportlichen Leistungsfähigkeit, sondern toren – die Beteiligung genetischer Faktoren wird
auf die allgemeine Förderung von Gesundheit diskutiert – die das im Alter weit verbreitete »hohe
und Wohlbefinden. Trotzdem bewegen sich laut Cholesterin« mitverursachen [22]. Im Bundes-
Bundes-Gesundheitssurvey 1998 nur 6 % bis 12 % Gesundheitssurvey 1998 zeigte sich, dass Choles
der 70- bis 79-jährigen Männer (alte bzw. neue terinwerte von ≥ 250 mg/100 ml am häufigsten
Bundesländer) und 2 % bis 6 % der gleichaltrigen bei Frauen im Alter zwischen 60 und 69 Jahren
Frauen entsprechend der Empfehlung. auftraten (64 %) [22]. Bei den Männern nimmt der
Gesundheit und Krankheit im Alter 41
Anteil von Personen mit erhöhten Cholesterin Schmerzen und Einschränkungen der Funk
werten bis zum 80. Lebensjahr zu. Für das höhere tionsfähigkeit. Große Bedeutung kommt dieser
Alter (ab 85 Jahre) wurde in der Berliner Alters Erkrankungsgruppe aber auch deshalb zu, weil
studie bezogen auf verschiedene relevante Labor einige MSK-Erkrankungen, insbesondere bei äl
werte ein Rückgang des Anteils der Personen mit teren Patienten, tödlich endende Komplikationen
Fettstoffwechselstörungen ermittelt [21]. nach sich ziehen können. Beim osteoporotischen
Die sogenannte Zuckerkrankheit, Diabetes Schenkelhalsbruch beispielsweise beträgt die
mellitus Typ 2, erhöht die Gefahr einer Arterien Sterblichkeit während des stationären Aufent
verkalkung. Auch für Diabetes gilt, dass sowohl haltes (perioperative Sterblichkeit) bereits 6 %
die Entstehung als auch der Krankheitsverlauf [34]. Man geht davon aus, dass 12 Monate nach
durch das Gesundheitsverhalten beeinflusst wer dem Bruch bis zu ein Drittel der Betroffenen ver
den können. Eine erhöhte Diabetesprävalenz, storben ist [20], zumeist an Erkrankungen des
so bestätigen es die Daten des Bundes-Gesund Herzens, der Gefäße oder der Lunge. Auch bei
heitssurvey 1998, ist vor allem ein Problem der chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten
60-Jährigen und Älteren [22, 33]. Die Prävalenzen aufgrund von MSK kommt es durch die einge
des diagnostizierten Diabetes lagen in den neuen nommenen Medikamente häufig zu Komplika
Bundesländern deutlich höher als in den alten und tionen. Die im Magen-Darm-Bereich auftreten
nahmen mit dem Alter (bis 79 Jahre) bei Männern den Nebenwirkungen können durch Blutungen
leicht und bei Frauen deutlich zu. Die höchste zum Tode führen [34].
Diabetesprävalenz von 25 % wurde für Frauen Aus Abbildung 2.1.3.4 wird deutlich, dass
von 70 bis 79 Jahren in den neuen Bundesländern sich die Wahrscheinlichkeit eines Krankenhaus
ermittelt. Die Ergebnisse der Berliner Altersstudie aufenthaltes aufgrund muskuloskelettaler Erkran
deuten darauf hin, dass es ab dem 85. Lebensjahr kungen mit dem Alter erhöht. Insbesondere bei
bei Frauen zu einem Rückgang der Diabeteshäu den Verletzungen ist ein exponentieller Anstieg
figkeit kommt, bei Männern wurde hingegen ein zu beobachten. Im höheren Lebensalter sind
Anstieg beobachtet [21]. Frauen bei Weitem häufiger betroffen. Mehr als
Problematisch ist vor allem das gleichzeitige jeder fünfte Krankenhausaufenthalt (22 %) ist bei
Auftreten mehrerer Risikofaktoren, da sie unterei den 65-jährigen und älteren Frauen durch dieses
nander in Wechselwirkung stehen und sich in ih Diagnosespektrum bedingt (Verletzungen ohne
ren Wirkungen nicht addieren sondern potenzie MSK: 12 %) [26].
ren [2]. Mehr als die Hälfte der 70- bis 84-jährigen
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Berliner Prävalenz ausgewählter muskuloskelettaler
Altersstudie wiesen mindestens vier kardiovasku Erkrankungen und Stürze
läre Risikofaktoren auf [21]. Die Anzahl der Risi Osteoporose, eine Skeletterkrankung, die sich
kofaktoren ist unter den 85-Jährigen und Älteren in einer verminderten Bruchfestigkeit des Kno
geringer, da ein Teil der Personen mit zahlreichen chens äußert, ist vor allem wegen des Risikos
Risikofaktoren vermutlich schon verstorben ist. von Knochenbrüchen bei geringer oder fehlender
äußerer Einwirkung von Bedeutung (Fragilitäts
frakturen). Das Auftreten einer solchen Fraktur
Muskuloskelettale Erkrankungen und Stürze signalisiert ein fortgeschrittenes Krankheitssta
dium [34]. Osteoporose tritt vorwiegend jenseits
Neben den Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird das des 60. Lebensjahres auf und bedeutet für die
Krankheitsspektrum im Alter vor allem durch Be Betroffenen in der Regel chronische Schmerzen
einträchtigungen des Bewegungsapparates domi und wiederholte Krankenhausaufenthalte wegen
niert. Hier sind zum Beispiel Osteoporose (Kno Knochenbrüchen [2]. Weil geeignete Screening
chenschwund), Coxarthrose (Gelenkverschleiß methoden (Testverfahren für Reihenuntersu
an der Hüfte), Gonarthrose (Gelenkverschleiß chung) zur Frühdiagnose der Osteoporose fehlen,
am Knie) und Rückenschmerzen zu nennen. diagnostische Beschränkungen bestehen und es
Muskuloskelettale Erkrankungen (MSK) führen derzeit keine repräsentativen Stichprobenuntersu
zum einen zu Einbußen der Lebensqualität durch chungen gibt, ist die Einschätzung der Häufigkeit
42 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 2.1.3.4
Krankenhausbehandlungen aufgrund von muskuloskelettaler Erkrankungen (MSK; M00 – 99) und Verletzungen (S00 – T98)
nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Krankenhausdiagnose 2006 [13]
8.000
6.000
Frauen
4.000 Männer
2.000
65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+ 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+
Altersgruppe
der Erkrankung, die häufigen Begleitdiagnosen drei Monate hintereinander auf. Bei den Männern
und Folgeerkrankungen wirken sich negativ auf ab 60 Jahren berichteten bis zu 59 % von Rücken
die Befragungsbereitschaft aus. Die erhöhte Mor schmerzen im letzten Jahr, bei 20 % bis 23 %
talität von Arthrosepatientinnen und -patienten waren die Rückenschmerzen chronisch. Unter
dürfte ebenfalls eine Rolle spielen [42]. Menschen mit spezifischen Knochen- und Ge
Über alle Altersgruppen betrachtet, sind Män lenkerkrankungen, wie zum Beispiel Arthrose,
ner und Frauen etwa gleich häufig von Arthrose findet sich erwartungsgemäß ein hoher Anteil
betroffen [14]. Differenziert nach Alter zeigte sich von Personen mit Rückenbeschwerden. In den
im Bundes-Gesundheitssurvey, dass bei den unter meisten Fällen lassen sich Rückenschmerzen je
60-Jährigen die Männer ein höheres Arthroserisi doch nicht auf eine spezielle Krankheit zurück
ko aufweisen, bei den Älteren verschiebt sich das führen; man spricht von »unspezifischen Rü
Risiko zu Lasten der Frauen [42]. Arthrose ist ein ckenschmerzen« [14]. Wie sie entstehen und sich
ausgesprochen häufiger Behandlungsgrund in der zu chronischen Leiden entwickeln, bleibt weit
stationären wie ambulanten Versorgung. Nach gehend unklar. Bei Rückenschmerzen und auch
Daten des Zentralinstituts für die kassenärztliche bei anderen muskuloskelettalen Erkrankungen
Versorgung zählen sowohl die Kniegelenks- als kommen vielfach Schmerzmittel zum Einsatz.
auch die Hüftgelenksarthrose zu den zehn häu Bestimmte Schmerzmittel können sich negativ
figsten Einzeldiagnosen in orthopädischen Pra auf den Magen-Darm-Trakt und die Nieren aus
xen [14]. Zur Krankenhausbehandlung kommt es wirken (z. B. nicht steroidale Antirheumatika).
bei einer Arthrose deutlich seltener, nämlich vor Bekannte Nebenwirkungen sind beispielweise
allem dann, wenn ein künstliches Gelenk einge Magenblutungen. Mit zunehmendem Alter treten
setzt werden soll. Trotzdem gehören sowohl die unerwünschten Arzneimittelwirkungen häufiger
Hüft- als auch die Kniegelenksarthrose zu den 30 auf [23].
häufigsten Einzeldiagnosen bei stationären Auf
enthalten [14]. Die Rate der stationären Behand Ansätze für die Prävention
lungsfälle steigt bei Männern und Frauen mit zu Den dargestellten Erkrankungen des Bewegungs
nehmendem Alter deutlich an. Der höchste Wert systems liegen verschiedene Ursachen zugrunde,
wurde für Frauen ab 75 Jahre ermittelt: ca. 1.500 beispielsweise spezielle Belastungen im Berufs
Fälle je 100.000 Personen (alte Bundesländer; leben, Lebensstilfaktoren, hormonelle Ursachen
Jahr 2002) [14]. und eine genetische Disposition (Veranlagung).
Nach Daten des Bundes-Gesundheitssurvey Oftmals wirken mehrere Faktoren zusammen,
1998 sind Rückenschmerzen bei Frauen und Män und nicht für alle Erkrankungen sind die Entste
nern aller Altersgruppen die häufigste Schmerzart hungsmechanismen im Einzelnen geklärt. Einige
und rangieren noch vor Kopf-, Nacken- und Schul der genannten Risikofaktoren können durch prä
terschmerzen [14]. Rückenschmerzen nehmen ventive Maßnahmen beeinflusst werden, um den
mit steigendem Lebensalter zu und erreichen ty Ausbruch der Erkrankung bzw. ihr Fortschreiten
pischerweise ihre maximale Häufigkeit im fünften zu verhindern oder zu verzögern.
und sechsten Lebensjahrzehnt [14]. Gleichwohl Der verstärkten Knochenbrüchigkeit als
sind sie auch in höheren Altersgruppen ein be Symptom einer Osteoporose kann beispielsweise
deutsames Problem. Frauen geben durchgängig durch eine ausreichende Versorgung mit Kalzium
mehr Rückenschmerzen an als Männer, zudem und Vitamin D vorgebeugt werden [14]. Eine aktu
ist bei Frauen die Intensität der Schmerzen im elle Metaanalyse (Zusammenführung zahlreicher
Schnitt größer und ihre Dauer länger. Im Tele wissenschaftlicher Studien) zum Nutzen der Nah
fonischen Gesundheitssurvey 2003 berichteten rungsergänzung durch Kalzium und Vitamin D
bis zu zwei Drittel der Frauen ab 60 Jahren über ergab, dass sowohl die isolierte Einnahme von Kal
Rückenschmerzen im letzten Jahr (je nach Alters zium als auch die Kombination mit Vitamin D der
gruppe) [14]. Bis zu 29 % der befragten älteren Entstehung von Osteoporose bei Personen ab 50
Frauen hatten während des letzten Jahres chro Jahren vorbeugt (63.897 Studienteilnehmerinnen
nische Rückenschmerzen, das heißt die Schmer und -teilnehmer). Der beste therapeutische Effekt
zen traten täglich oder fast täglich und mindestens wurde bei einer kombinierten täglichen Einnah
Gesundheit und Krankheit im Alter 45
me von 1.200 mg Kalzium und 800 IE Vitamin D Vorteil sein [3]. Diese Maßnahme zur Verhinde
erreicht [43]. rung von Oberschenkelhalsbrüchen ist allerdings
Bei Osteoporose wird ebenfalls die präven nicht unumstritten [44]. Ergebnisse von rando
tive Bedeutung körperlicher Aktivität besonders misierten und kontrollierten Studien variieren
betont [14]. Ein verantwortungsvoller Umgang mit erheblich nach Art der untersuchten Personen-
Alkohol und der Verzicht auf das Rauchen kön und Vergleichsgruppen sowie methodischen Ge
nen auch zu einer Senkung des Osteoporoserisi sichtspunkten [34, 45]. Eine aktuelle Metaanalyse
kos beitragen [3]. Insbesondere für Hochbetagte verschiedener Studien kam gar zu dem Schluss,
gilt, dass dem Erzielen und der Aufrechterhaltung dass Hüftprotektoren für ältere Menschen, die zu
eines im Normbereich liegenden Körpergewichts Hause leben, keinen präventiven Nutzen haben
große Bedeutung zukommt, denn in Studien [46]. Bei Personen in Pflegeheimen werden die
zeigte sich ein Zusammenhang zwischen BMI Effekte als »unsicher« eingestuft.
und Frakturrisiko [34]. Das Risiko stieg, wenn die Die Prävention schmerzhafter Gelenkverän
Patientinnen und Patienten ein für ihre Größe zu derung bei Hüft- oder Kniegelenksarthrose zielt
geringes Körpergewicht hatten. auf mehrere Risikofaktoren, deren Zusammen
Das Frakturrisiko ist auf der einen Seite wirken und Bedeutung noch nicht im Einzelnen
durch die mit dem Alter abnehmende Knochen geklärt ist [34]. In Studien zeigte sich, dass Über
festigkeit (bis hin zur manifesten Osteoporose) gewicht und erhöhte Cholesterinwerte häufig
erhöht. Auf der anderen Seite spielt die steigende zusammen mit einer Kniegelenksarthrose auftre
Prävalenz von Stürzen bei Älteren eine wichtige ten, während sich erhöhte Harnsäurespiegel und
Rolle. Sie werden meist durch mehrere Faktoren frühkindliche Gelenkerkrankungen häufiger bei
verursacht. Die Sturzgefahr steigt mit der Zahl Hüftgelenksarthrosen feststellen lassen [34]. Ne
der Risikofaktoren. Dazu zählen kardiovaskuläre ben diesen, zum großen Teil lebensstilbedingten
Erkrankungen, Herzrhythmusstörungen mit ver Faktoren, wozu ebenfalls bestimmte berufliche
minderter Hirndurchblutung, Erkrankungen mit und sportliche Aktivitäten (bei Männern) zählen,
Störungen der neuromuskulären Koordination werden eine genetische Veranlagung sowie hor
(Zusammenspiel von Nerven und Muskeln) und monelle Veränderungen (Menopause) bei Frauen
des Gleichgewichts, Sehstörungen, die Einnahme als Verursacher von Arthrose diskutiert [34]. Als
bestimmter Medikamente (z. B. Beruhigungsmit vorbeugende Maßnahmen, die das erstmalige Auf
tel, Medikamente gegen Depressionen) [23] sowie treten bzw. die Verschlimmerung der Beschwer
Faktoren der räumlichen Umwelt (glatter Fußbo den günstig beeinflussen, werden indiviualisierte
den, schlechte Beleuchtung, Schnee und Glatteis) Bewegungsprogramme, gegebenenfalls kombi
[20]. Stürze im Alter sind kein »Schicksal«. In niert mit physikalischen Maßnahmen und Kran
verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, kengymnastik empfohlen [3].
dass präventive Maßnahmen, die auf eine Verrin Auch beim Gesundheitsproblem Rücken
gerung von Barrieren in der Umwelt sowie auf schmerzen sind viele Fragen der Vorbeugung
eine Verbesserung der Mobilität und der allge sowie der Entstehung, Chronifizierung und Be
meinen Fitness zielen, Stürze und sturzbedingte handlung noch ungelöst [34]. Langjährige und
Verletzungen reduzieren können [3]. Dazu gehö sehr schwere körperliche Arbeit ist als Risikofak
ren beispielsweise körperlich-sportliche Übungs tor auch gesetzlich anerkannt [34]. In unserer Ge
programme, die auf Kraftzuwachs und eine Ver sellschaft ist jedoch die soziale Lage der stärkste
besserung des Gleichgewichts ausgerichtet sind bekannte Risikofaktor. Personen mit niedrigem
[3] sowie Hausbesuche von Ergotherapeutinnen sozioökonomischem Status (Bildung, Beruf, Ein
bzw. -therapeuten mit dem Ziel, Gefahrenquellen kommen) berichten sehr viel häufiger von Rü
für Stürze in der Wohnumgebung zu beseitigen. ckenschmerzen [34]. Hinsichtlich des Verlaufs
Für Patientinnen und Patienten mit starker Sturz einmal aufgetretener Rückenschmerzen spielen
neigung und in stationären Einrichtungen könnte psychische Faktoren offenbar eine besondere
das Tragen von sogenannten Hüftprotektoren (in Rolle. Ungünstige Vorstellungen, Einstellungen,
die Unterkleidung eingearbeitete Hüftpolster Befürchtungen und Verhaltensweisen sowie De
zur Dämpfung eines Aufpralls auf die Seite) von pressivität werden neben anderen Risikofaktoren
46 Gesundheit und Krankheit im Alter
diskutiert [34]. Anders verhält es sich bei Rücken unter Berücksichtigung etwaiger Registrierungs
schmerzen infolge bestimmter Erkrankungen. Ihr fehler eine Hochrechnung für Deutschland er
Verlauf ist durch den Verlauf der Grundkrankheit stellt.
geprägt (beispielsweise Tumorleiden). Aber auch Von den geschätzten 436.500 Neuerkran
hier können sich Persönlichkeitsmerkmale und kungen an Krebs im Jahr 2004 sind Männer und
(mit psychologischer Unterstützung erlernbare) Frauen je etwa zur Hälfte betroffen (53 % vs. 47 %)
Bewältigungsstile günstig auswirken [34]. [47]. Auf die 65-Jährigen und Älteren entfallen bei
den Frauen ca. 61 % und bei den Männern sogar
ca. 64 % der Neudiagnosen [eigene Berechnungen
Krebserkrankungen nach 48]. In der Altersgruppe ab 75 Jahren wur
den immerhin gut ein Drittel der bei Frauen di
Krebserkrankungen sind durch das Vorliegen agnostizierten bösartigen Neubildungen (35 %)
eines malignen (bösartigen) Tumors gekenn und ein Viertel der bei Männern neu entdeckten
zeichnet, der entsteht, wenn Körperzellen un Krebserkrankungen (26 %) gefunden. Prognosen
kontrolliert wachsen, sich teilen und gesundes zur absoluten Häufigkeit von Krebserkrankungen
Gewebe verdrängen und zerstören. Prinzipiell in den nächsten Jahren gehen davon aus, dass sich
kann jedes Organ des menschlichen Körpers von die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen bei den
Krebs befallen werden, es gibt jedoch erhebliche über 65-jährigen Männern bis zum Jahr 2020 auf
Häufigkeitsunterschiede nach Alter, Geschlecht, grund der Bevölkerungsentwicklung um mindes
geografischer Region, Ernährungs- und Lebens tens 50 % erhöhen wird [22]. Bei über 65-jährigen
gewohnheiten. In Deutschland treten Krebser Frauen wird ein Anstieg um mindestens 25 %
krankungen gehäuft in Organen wie Brustdrüse prognostiziert.
(Frauen), Prostata (Vorsteherdrüse; Männer), Lun Das mittlere Erkrankungsalter für alle Krebs
ge und Dickdarm auf [47]. Die Entstehung einer arten liegt aktuell für Männer und Frauen bei etwa
Krebskrankheit beruht in der Regel nicht auf ei 69 Jahren [47]. Abbildung 2.1.3.5 enthält Schätz
ner einzigen Ursache, sondern auf einem Geflecht werte zur alterspezifischen Neuerkrankungsrate
verschiedener Faktoren. Der bisherige Wissens pro 100.000 Personen für Krebs insgesamt im
stand erlaubt nur bei einem Teil der häufigeren Jahr 2004. Die höchsten Raten werden mit 1.852
Tumorarten eine Prävention oder Früherkennung je 100.000 bei den 85-jährigen und älteren Frauen
[47]. und mit 2.913 je 100.000 bei den 80- bis 84-jäh
rigen Männern erreicht (alle Altersgruppen: 331
Morbidität und Mortalität durch vs. 445 je 100.000, altersstandardisiert). Neben
Krebserkrankungen dem altersbezogenen Anstieg sind auch die ab
Aussagen über die Häufigkeit von Krebserkran dem 60. Lebensjahr geschlechtsspezifisch erhöh
kungen im höheren Lebensalter sind anhand der ten Erkrankungsraten von Männern erkennbar.
Inzidenzschätzungen der Dachdokumentation Dies könnte mit dem Risikofaktor (Zigaretten-)
Krebs am Robert Koch-Institut (RKI) möglich, Rauchen in Zusammenhang stehen, der für ein
die in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft der Viertel bis ein Drittel aller Krebstodesfälle verant
epidemiologischen Krebsregister in Deutschland wortlich gemacht wird [49].
e.V. (GEKID) vorgenommen werden. Als jährliche Hinsichtlich der einzelnen Krebslokalisatio
Inzidenz oder Erkrankungshäufigkeit bezeichnet nen sind für die 65-Jährigen und Älteren beiderlei
man die Zahl aller im Laufe eines Jahres neu auf Geschlechts insbesondere Krebserkrankungen
getretenen Erkrankungen in einer definierten des Darmes und der Lunge von Bedeutung [ei
Bevölkerung. Während einige Bundesländer seit gene Berechnungen nach 48] (siehe Abbildung
vielen Jahren oder Jahrzehnten eine gut funktio 2.1.3.6). 17 % der Neudiagnosen bei Männern
nierende Registrierung neu auftretender Krebs dieser Altersgruppe und sogar fast ein Viertel der
fälle etabliert haben, sind die Register in anderen Neudiagnosen bei gleichaltrigen Frauen (22 %)
Ländern noch im Aufbau begriffen. Auf der Basis entfielen auf Darmkrebs. Bösartige Neubildungen
der bei allen Registern gemeldeten Neuerkran der Lunge werden bei 14 % aller an Krebs erkrank
kungen für sämtliche Krebslokalisationen wird ten 65-jährigen und älteren Männern festgestellt
Gesundheit und Krankheit im Alter 47
Abbildung 2.1.3.5
Schätzung der Krebsinzidenz, Neuerkrankungen pro 100.000 nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Grafik entnommen aus [47], Schätzung der Dachdokumentation Krebs am RKI für Deutschland
3.500
3.000
2.500
2.000
Frauen
1.500
Männer
1.000
500
40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80–84 85+
Altersgruppe
und bei 6 % aller gleichaltrigen Frauen. An erster 65 Jahren an Krebs (Männer 52 %, Frauen 48 %).
Stelle bezüglich der Auftretenshäufigkeit steht Damit entfielen auf diese Altersgruppe 82 % aller
bei den Männern allerdings eine geschlechtsspe krebsbedingten Sterbefälle bei Männern und 84 %
zifische Krebslokalisation: 28 % aller Neudiagno der Fälle bei Frauen. Das mittlere Sterbealter an
sen im Alter von 65 und mehr Jahren entfallen Krebs lag für Männer im Jahr 2004 bei 71 Jahren
auf Prostatakrebs. Bei den Frauen ab 65 Jahren und für Frauen bei 75 Jahren [47].
folgen geschlechtsspezifische Neubildungen, hier Aus den aktuellen Daten der Krankenhaus
der Brustdrüse, mit 20 % an zweiter Stelle nach diagnosestatistik geht hervor, dass Krebserkran
Darmkrebs. Betrachtet man nur die älteste Al kungen für einen erheblichen Teil der stationären
tersgruppe, die ab 75-Jährigen, verschiebt sich die Aufenthalte bei älteren Menschen verantwortlich
Reihenfolge der häufigsten Krebslokalisationen sind. Nur Krankheiten des Kreislaufsystems wa
bei den Frauen: An erster Stelle steht in dieser ren 2006 bei den 65-Jährigen und Älteren noch
Altersgruppe Darmkrebs, gefolgt von Krebs der häufiger Grund für einen Krankenhausaufent
Brustdrüse und Magenkrebs. Bei den Männern ab halt (eigene Berechnungen nach [26]). Jeder 6.
75 Jahren gibt es keine Veränderung in der Reihen männliche Krankenhauspatient zwischen 65 und
folge der häufigsten Lokalisationen im Vergleich 74 Jahren wurde wegen einer bösartigen Neu
zur Gruppe der 65-Jährigen und Älteren. bildung stationär aufgenommen (17 %). Unter
Auch mit Blick auf die Krebssterbefälle im den im Krankenhaus behandelten Frauen dieser
Jahr 2004 sind die genannten Lokalisationen be Altergruppe betraf dies immerhin 13 %. Bei den
sonders häufig vertreten, allerdings in etwas ver 75-Jährigen und Älteren geht der Anteil der wegen
änderter Reihenfolge. 25 % aller Krebssterbefälle Krebs behandelten Patientinnen und Patienten et
bei Männern ab 65 Jahren wurden durch Lungen was zurück (Männer 12 %, Frauen 7 %).
krebs verursacht, bei den gleichaltrigen Frauen
waren es 10 % [eigene Berechungen nach 48]. Prävention und Früherkennung
Bei ihnen standen mit jeweils etwa 16 % Krebs von Krebserkrankungen
erkrankungen der Brustdrüse und des Darmes an Unter den vermeidbaren Risikofaktoren von
erster Stelle der Todesursachen. Insgesamt star Krebserkrankungen hat das (Zigaretten-)Rauchen,
ben im Jahr 2004 174.699 Personen im Alter ab das zwischen einem Viertel und einem Drittel aller
48 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 2.1.3.6
Prozentualer Anteil ausgewählter Tumorlokalisationen an allen Krebsneuerkrankungen ohne nicht-melanotischen Hautkrebs
für 65-Jährige und Ältere, 10 wichtigste Diagnosen 2004
Quelle: Schätzung der Dachdokumentation Krebs am RKI für Deutschland, eigene Berechnungen [48]
Frauen Männer
Darm Prostata
Brustdrüse Darm
Lunge Lunge
Gebärmutterkörper Harnblase
Magen Magen
Harnblase Niere
Eierstöcke Bauchspeicheldrüse
Bauchspeicheldrüse Non-Hodgkin-Lymphome
Niere Malignes Melanom der Haut
Non-Hodgkin-Lymphome Leukämien
30 25 20 15 10 5 0 0 5 10 15 20 25 30
Prozent Prozent
Krebstodesfälle verursacht, überragende Bedeu Allerdings gibt es derzeit nur für einen Teil der
tung [49]. Ein weniger genau abschätzbarer, aber häufigeren Tumorarten Früherkennungsuntersu
vielleicht noch etwas höherer Anteil aller Kreb chungen mit wissenschaftlich belegtem Nutzen.
stodesfälle dürfte auf ungünstige Ernährungs Zur Verbesserung der Früherkennung der bei
muster, wie allgemeine Überernährung, einen zu Frauen häufigsten Krebslokalisation – Brustkrebs
hohen Anteil von (tierischen) Fetten und einen zu – wird derzeit ein strukturiertes und qualitätsge
geringen Anteil an Obst und Gemüse zurückzu sichertes Mammographie-Screening-Programm
führen sein [49]. Weitere Risikofaktoren für die für Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren flächen
Entwicklung bestimmter Krebskrankheiten sind deckend aufgebaut [47]. Träger sind die gemein
chronische Infektionen (z. B. Helicobacter pylori same Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkas
für Magenkrebs), ein hoher Alkoholkonsum, spe sen in Kooperation mit den Ländern. Parallel dazu
zielle Belastungen am Arbeitsplatz und Einflüsse bleiben die ärztliche Tastuntersuchung der Brust
aus der Umwelt. Dazu zählen neben den ultra sowie die Anleitung zur Selbstuntersuchung im
violetten Anteilen des Sonnenlichts und Feinstaub gesetzlichen Früherkennungsangebot. Sowohl bei
auch bestimmte chemische Substanzen, die in Brustkrebs als auch bei der für Männer häufigsten
Auto- und Industrieabgasen enthalten sind, sowie Krebslokalisation – bösartige Neubildungen der
Radon (ein radioaktives chemisches Element) und Prostata – ist seit Jahren ein Anstieg der Neuer
Passivrauchen in Innenräumen. An der Entste krankungsraten zu beobachten [47]. Bei den Män
hung einer Krebskrankheit sind in der Regel meh nern wird die Zunahme auf den Einsatz neuer
rere Faktoren beteiligt, die im Laufe des Lebens in Methoden in der Diagnostik (Bestimmung des
vielfältiger Weise zusammenwirken. Nicht für alle prostataspezifischen Antigens, PSA) zurückge
Krebserkrankungen sind die wichtigen Risikofak führt. Studienergebnisse legen nahe, dass bei den
toren heute schon umfassend erforscht. 70-jährigen und älteren Männern, insbesondere
Hat sich ein bösartiger Tumor gebildet, kann bei den über 80-jährigen Männern, oftmals unent
eine Früherkennungsuntersuchung die indivi deckte Prostatakarzinome vorliegen, die keine Be
duelle Prognose der Betroffenen erheblich ver schwerden verursachen und keinen Einfluss auf
bessern. Durch die frühzeitige Einleitung einer die Lebenserwartung und die Lebensqualität der
Therapie wird versucht, die Lebensqualität und Betroffenen haben [47]. Für den PSA-Test laufen
die Lebenserwartung der Patienten zu erhöhen. derzeit zwei große wissenschaftliche Studien, die
Gesundheit und Krankheit im Alter 49
zeigen sollen, ob ein Überlebensvorteil durch eine Älteren auf über 30 % an [50]. Nicht sicher be
Teilnahme am Test besteht [47]. Die Ergebnisse antwortet ist bislang, ob sich der Anstieg der De
dieser Studien werden bis 2010 erwartet. menzprävalenz bei den über 95-jährigen Personen
Ältere Menschen nehmen die verschiedenen fortsetzt oder abschwächt [50, 51].
Früherkennungsuntersuchungen, die aktuell von Schätzungen zur Zahl der Neuerkrankungen
der Gesetzlichen Krankenversicherung angeboten pro Jahr besagen, dass zwischen 1,4 % und 3,2 %
werden, eher unterdurchschnittlich in Anspruch der 65-Jährigen und Älteren im Laufe eines Jahres
(vgl. Abschnitt 3.3.6). Sie sollten, insbesondere we erstmals an einer Demenz erkranken [50]. Daraus
gen des deutlich ansteigenden Krebsrisikos im Al ergeben sich nahezu 200.000 neue Fälle von De
ter, noch stärker zur Teilnahme motiviert werden. menz pro Jahr. Aufgrund ihrer höheren Lebens
erwartung treten Neuerkrankungen bei Frauen
wesentlich häufiger auf als bei Männern, über
2.1.4 Psychische Erkrankungen 70 % entfallen auf Frauen [50, 52] (siehe Abbil
dung 2.1.4.1).
Demenzen Legt man die oben genannten Werte für den
Anteil Demenzkranker in der Allgemeinbevölke
Der normale Alternsprozess geht mit einer Verän rung zugrunde, so sind, bezogen auf die 65-Jäh
derung der kognitiven Leistungsfähigkeit (geistige rigen und Älteren, in Deutschland etwa eine
Fähigkeiten, Denken) einher, und es ist häufig Million Menschen von einer mittelschweren oder
nicht einfach, altersübliche Veränderungen der schweren Demenz betroffen und in der Regel
kognitiven Leistungen von frühen Demenzsta nicht mehr zur selbstständigen Lebensführung in
dien zu unterscheiden [50]. Demenzielle Erkran der Lage [50]. Die geschätzten altersspezifischen
kungen sind durch fortschreitenden Gedächt Raten für Demenzerkrankungen in Deutschland
nisverlust und den Abbau kognitiver Fähigkeiten enthält Abbildung 2.1.4.2.
gekennzeichnet. In den diagnostischen Leitlinien Etwa 60 % der Demenzkranken leben in Pri
zur Demenz wird in der ICD-10 außerdem das vathaushalten [50]. Vor allem die zusätzlich zu
Vorliegen erheblicher Beeinträchtigungen der Ak den kognitiven Störungen auftretenden Verhal
tivitäten des täglichen Lebens erwähnt. Etwa zwei tensprobleme erhöhen die Belastung pflegender
Drittel aller Demenzerkrankungen entfallen auf Angehöriger erheblich und führen häufig zu ei
die Alzheimerkrankheit, 15 % bis 20 % auf vasku ner Heimaufnahme. Demenzen sind der wich
läre Demenzen (beruhen auf Durchblutungsstö tigste Grund für den Eintritt in ein Heim und sehr
rungen des Gehirns), der Rest auf Mischformen häufig unter Heimbewohnern: Etwa zwei Drittel
und andere seltene Demenzerkrankungen [50]. der Bewohner von Altenpflegeheimen leiden an
Von den Demenzen abzugrenzen sind kurzzei einer Demenz [50]. Insbesondere bei Personen
tige Verwirrtheitszustände, die z. B. durch hohe mit fortgeschrittener Demenz treten oftmals wei
psychische Belastungen oder Medikamente her tere medizinisch relevante Veränderungen auf,
vorgerufen werden können. Sie dauern wenige beispielsweise Gebrechlichkeit mit der Folge ge
Stunden bis wenige Tage. Durch die konkreten häufter Stürze [50, 53]. Es gibt Hinweise darauf,
Ursachen bestehen meist gute Chancen für eine dass Demenzkranke, u. a. wegen der häufigen
erfolgreiche Therapie [3]. Begleitdiagnosen und unabhängig von ihrem Al
ter, eine Hochrisikogruppe für nosokomiale (im
Prävalenz und Inzidenz von Demenzen Krankenhaus erworbene) Infektionen sind [54].
in der älteren Bevölkerung Dies könnte ein Erklärungsansatz für die zum Teil
Als übereinstimmendes Ergebnis aller bislang deutlich erhöhten Mortalitätsraten Demenzkran
durchgeführten Bevölkerungsstudien zeigte sich, ker sein. Ein anderer Grund für die wesentlich
dass die Häufigkeit von Demenzen bei Männern niedrigere Lebenserwartung bei Demenz resul
und Frauen mit dem Alter deutlich zunimmt. Sie tiert aus der mangelnden Fähigkeit der Betrof
liegt bei den 65- bis 69-Jährigen bei etwa 1,5 %, fenen, ernst zu nehmende somatische Symptome
verdoppelt sich im Abstand von jeweils etwa fünf wahrzunehmen bzw. adäquat darauf zu reagieren
Altersjahren und steigt bei den 90-Jährigen und (z. B. Blinddarmentzündung) [50].
50 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 2.1.4.1
Schätzung der jährlichen Anzahl von Neuerkrankungen an Demenz nach Alter und Geschlecht
Quelle: Grafik entnommen aus [50]
Neuerkrankungen in 1.000
40
35
30
25
20 Frauen
15 Männer
10
Abbildung 2.1.4.2
Schätzung der Anzahl Demenzkranker in Deutschland zum Ende des Jahres 2002 nach Alter und Geschlecht
Quelle: Grafik entnommen aus [50]
Prävalenz in 1.000
180
160
140
120
100 Frauen
80 Männer
60
40
20
Präventive und therapeutische Ansätze – auch die Tatsache, dass die Demenz zu den teu
bei demenziellen Erkrankungen ersten Krankheitsgruppen im Alter gehört. Eine
Präventionspotenziale in Bezug auf die Alzhei Schätzung der direkten und indirekten Kosten für
mer Demenz sind begrenzt. Ein günstiger Ein Alzheimerdemenz in Deutschland stammt von
fluss wird einer ausgewogenen Ernährung sowie Hallauer und Kollegen. Sie ermittelten pro Pati
der Kontrolle von Blutdruck und Fettstoffwechsel ent und Jahr durchschnittlich Kosten von 43.767
zugeschrieben [50, 55, 56]. Vaskulären Demenzen Euro, wobei zwei Drittel auf die Familie entfallen
kann durch eine Beeinflussung der Risikofaktoren (68 %) und knapp ein Drittel auf die gesetzliche
vorgebeugt werden, die zum großen Teil ebenfalls Pflegeversicherung (30 %) [59].
für Schlaganfälle und andere arterielle Verschluss
krankheiten verantwortlich sind. Neben den ge
nannten Faktoren sind dies u. a. Zigarettenrau Depressionen
chen und Alkoholmissbrauch [50].
Trotz der insgesamt begrenzten Therapie Depressionen sind Störungen der Gemütslage, die
möglichkeiten bei demenziellen Erkrankungen ist mit Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Interes
festzuhalten, dass das Wissen auf diesem Gebiet senverlust sowie Energie- und Antriebslosigkeit
in den letzten Jahren stark zugenommen hat [14]. einhergehen. Behandlungsbedürftig ist diese Er
Es stehen heute eine Reihe nicht medikamentöser krankung, wenn die Symptome mindestens zwei
Behandlungsformen und neu entwickelter Arz Wochen anhalten [22]. Wichtige Diagnosen, die
neimittel zur Verfügung, die das Fortschreiten zu den depressiven Syndromen gezählt werden,
kognitiver Störungen verzögern und dem Verlust sind insbesondere Majore Depressionen (nach Di
an Alltagskompetenz entgegenwirken. Für die agnostic and Statistical Manual of Mental Disor
medikamentöse Behandlung mit Cholinesterase ders; DSM-IV) und Dysthymien [60]. Bei den Ma
hemmern zeigte sich allerdings in Metaanalysen, joren Depressionen werden leichte, mittelgradige
in denen die Ergebnisse großer wissenschaftlicher und schwere Episoden unterschieden. Je nach
Studien zusammengeführt wurden, dass es nur Ausprägungsgrad entstehen Leidensdruck und
schwache Evidenz (wissenschaftliche Belege) Beschwernis im Alltag bis hin zur vollständigen
für die Wirksamkeit dieser Präparate bei Alzhei Aufgabe von Alltagsaktivitäten und dem Auftreten
merdemenz gibt [57]. Für vaskuläre Demenzen von Suizidgedanken [60]. Majore Depressionen
wurden ebenfalls nur geringe und unsichere Ef dauern mindestens zwei Wochen an. Dysthymien
fekte gemessen [58]. Es wird aber vermutet, dass sind durch eine schwächer ausgeprägte Sympto
Subgruppen von Patientinnen und Patienten von matik gekennzeichnet, die allerdings oftmals
der Therapie mit Cholinesterasehemmern stärker chronifiziert und lange anhält, mindestens zwei
profitieren [58]. Jahre [60]. Die Entstehungsmechanismen von
Im nichtmedikamentösen Bereich werden Depressionen sind nicht vollständig geklärt. Man
vor allem psychologische Therapiemethoden ein geht vom Zusammenwirken verschiedener Fak
gesetzt (z. B. Training zum Erhalt von Alltagskom toren aus, bedeutsam sind unter anderem eine
petenzen), außerdem ökologische (die Lebens genetische Veranlagung und kritische Lebenser
umwelt betreffende) und soziale Maßnahmen eignisse [60].
(z. B. die Orientierung unterstützende Raumge
staltung). Ein großer medizinischer Durchbruch Prävalenz von Depressionen
bei der Demenzbehandlung ist bislang noch nicht bei älteren Menschen
gelungen. Verschiedene Bevölkerungsstudien zeigen, dass
Ein wichtiger Punkt in der gesundheitspoli bei etwa 1 % bis 5 % aller älteren Menschen eine
tischen und gesamtgesellschaftlichen Diskussion schwere Depression vorliegt [3, 17]. Damit wurde
des Themas Demenz ist neben den zurzeit noch weitgehend übereinstimmend festgestellt, dass die
eingeschränkten Therapiemöglichkeiten und der Häufigkeit von schweren Depressionen mit dem
großen Verbreitung – für das Jahr 2050 wird er Alter nicht ansteigt [17]. In der Berliner Altersstu
wartet, dass über zwei Millionen 65-Jährige und die, die auch Heimbewohnerinnen und -bewoh
Ältere in Deutschland an einer Demenz leiden [50] ner einbezog, zeigte sich innerhalb der Stichprobe
52 Gesundheit und Krankheit im Alter
70-Jähriger und Älterer ebenfalls kein statistisch Altersstudie bei etwa 18 % der 70-Jährigen und Äl
bedeutsamer Zusammenhang von steigendem teren gefunden wurden [20]. Diese Störungen be
Lebensalter und höherer Prävalenz von Depres einträchtigen trotz der geringeren Ausprägung der
sionen (unterschiedliche Schweregrade) [15]. Bei Symptome die Lebensqualität der Betroffenen. Sie
knapp 4 % der Männer und 6 % der Frauen wurde wirken sich auf den Verlauf körperlicher Erkran
eine Majore Depression festgestellt [19, 20]. Dass kungen, auf das Krankheitserleben (insbesondere
die Prävalenzraten für depressive Syndrome bei das Schmerzerleben), die Lebenseinstellung und
Frauen (zum Teil deutlich) höher liegen als bei das persönliche Altersbild aus [20]. Auch andere
Männern wird insbesondere im mittleren Lebens Untersuchungen bestätigen die hohe Prävalenz
alter beobachtet. Es gibt aber mehrere Hinweise leichter Formen und depressiver Symptome ohne
darauf, dass das Überwiegen depressiver Erkran Krankheitswert bei Älteren [17].
kungen bei Frauen im Alter nicht mehr so stark
ausgeprägt ist [17]. Suizidgefahr im Alter
Im Gegensatz zu den oben genannten For Patientinnen und Patienten mit depressiven Er
schungsergebnissen zur Prävalenz von Depres krankungen haben eine deutlich erhöhte Sui
sionen im Alter deuten die Ergebnisse einiger zidrate. Sie liegt bei 500 bis 900 je 100.000 Per
Studien auf ein erhöhtes Vorkommen schwerer sonen. Es wird angenommen, dass bei 40 % bis
Depressionen bei Älteren hin [18]. Bis zu 10 % 60 % aller Personen, die einen Suizid begehen,
Betroffene wurden beispielsweise in einem Nach Depressionen vorliegen [20]. Im Alter könnte
folgeprojekt der Augsburger MONICA-Surveys dieser Anteil sogar noch höher sein [18]. Aber
ermittelt [61, 62]. auch ohne depressive Symptome können lang
Andere Bevölkerungsstudien kamen zu dem anhaltende Belastungen, insbesondere schwere
Ergebnis, dass depressive Erkrankungen mit Erkrankungen oder der Verlust nahestehender
schwerer Ausprägung im Alter eher abnehmen, Menschen das Risiko einer Selbsttötung erhöhen
leichtere Formen dagegen zunehmen [17]. In der [20]. Die Suizidhäufigkeit ist bei älteren Menschen
Berliner Altersstudie lag die Häufigkeit von Dys deutlich höher als im Mittel aller Altersgruppen.
thymien für beide Geschlechter bei 2 % [19, 20]. Insbesondere bei Männern steigt sie ab etwa 75
Die Vielfalt der Forschungsergebnisse be Jahren exponentiell an (70- bis 74-jährige Män
gründet sich u. a. durch die Auswahl der unter ner: 31/100.000 Gestorbene; 90-jährige und ältere
suchten Personen. Werden beispielsweise Heim Männer: 87/100.000 Gestorbene). Männer ster
bewohner nicht einbezogen, kommt es eher zu ben in allen Altersgruppen öfter als Frauen durch
einer Unterschätzung der Prävalenz von Depres Suizid [63]. Die tatsächliche Zahl erfolgreicher
sionen, denn insbesondere bei institutionalisier Suizide bei Älteren liegt vermutlich erheblich hö
ten Personen ist ein erhöhtes Risiko zu beobach her als in der Todesursachenstatistik ausgewiesen.
ten. Depressive Symptome traten nach Studien Nicht erkannte Selbsttötungen können sich bei
angaben bei 40 % bis 50 % der untersuchten spielsweise hinter Verkehrsunfällen und unklaren
Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Todesursachen verbergen [22, 64]. Eine besondere
Pflegeheimen auf (davon 15 % bis 20 % schwere Form der Selbsttötung ist die Selbstaufgabe bei
Depression) [17]. schwerer Erkrankung. Die Nahrungsaufnahme
Die Gefahr der Unterschätzung der Prävalenz wird reduziert oder ganz aufgegeben. Für Ange
besteht auch deshalb – zumindest für leichtere hörige und Pflegende entsteht dabei eine ethische
Formen von Depressionen –, weil einige Kriterien Konfliktsituation.
der Diagnosestellung (Müdigkeit, Energieverlust,
Konzentrationsmangel, Gedanken an den Tod) Präventionspotenziale depressiver Störungen
oftmals bei Älteren als »normal« und nicht als Das Risiko einer depressiven Erkrankung ist vor
klinische Symptomatik erachtet werden. Die Di allem bei Partnerverlust, bei subjektiv erlebter
agnose Depression wird dann unter Umständen Einsamkeit, Mangel an sozialen Kontakten und
gar nicht gestellt [18]. In diesem Zusammenhang sozialer Integration, sowie bei (neu auftretenden)
sind depressive Störungen mit subdiagnostischer körperlichen Erkrankungen und Behinderungen
Symptomatik von Bedeutung, die in der Berliner erhöht [18, 20, 62]. Ein hohes Risiko für das Auf
Gesundheit und Krankheit im Alter 53
treten einer Depression (50 % und höher) zeigte rückgeführt, die die Depression begünstigen, au
sich nach Verlust des Ehepartners bzw. der Ehe ßerdem auf eine ungenügende Erkennung und
partnerin [65]. Alleinleben per se war allerdings in Behandlung der Erkrankung [60]. Die Prävention
verschiedenen Studien nicht mit vermehrten psy von langfristig bestehenden Depressionen bei äl
chischen Erkrankungen verbunden [65]. Auch die teren Menschen ist eine besondere Herausforde
Erfahrung eines beginnenden geistigen Abbaus rung; spezielle Anstrengungen sind nötig, um bei
(vor allem am Beginn einer Demenzerkrankung) diesen Patientinnen und Patienten Präventions
kann depressive Symptome auslösen [18, 65]. potenziale zu erschließen [3].
Die Prävention depressiver Symptome kann Trotz der Zunahme chronischer Erkran
von Seiten der/s Betroffenen durch die Stärkung kungen, Schmerzen, funktioneller Einbußen
von Selbstkonzept und Kontrollüberzeugung, und Verluste zeigte sich in vielen Studien kein
durch die frühzeitige Entwicklung von Bewäl Anstieg der Rate psychisch Erkrankter Älterer im
tigungsstrategien und durch die Erweiterung Vergleich zum mittleren Lebensalter. Auch wenn
individuell wichtiger Aktivitäten (z. B. Hobbys) die vorliegenden Forschungsergebnisse hier nicht
unterstützt werden [3]. Außerdem kann die Mobi vollkommen übereinstimmen, deutet dies laut
lisierung sozialer Kontakte und Hilfe aus dem en Kruse [3] auf eine gut erhaltene psychische Wi
geren Netzwerk der/des Betroffenen sinnvoll sein, derstandfähigkeit älterer Menschen hin. Frauen
um eine bessere soziale Integration und Teilhabe und Männer im dritten und vierten Lebensalter
zu gewährleisten. Hinsichtlich der medizinisch sind vielfach in der Lage, das frühere Anpassungs-
psychologischen Betreuung älterer Menschen und Funktionsniveau auch nach Verlusterlebnis
sind die Linderung von Krankheitssymptomen sen und dem Eintreten von Beeinträchtigungen
sowie die seelische Verarbeitung von Krankheiten wieder zu erreichen.
und belastenden Ereignissen von großer Bedeu
tung. Der Frühbehandlung depressiver Symp
tome durch qualifizierte Psychiaterinnen/Psy 2.1.5 Weitere ausgewählte Gesundheitsprobleme
chiater oder Psychologinnen/Psychologen kommt im Alter
ebenfalls eine wichtige Rolle zu [65].
Die Ausschöpfung der Präventionspotenzi In diesem Abschnitt sollen beispielhaft zwei wei
ale depressiver Störungen ist nicht nur wegen des tere wichtige Gesundheitsprobleme älterer Men
Risikos für Suizid und Suizidversuch bei depres schen herausgegriffen werden, die bisher, im
siv Erkrankten hervorzuheben. Auch die Tatsa Gegensatz zu den in den Abschnitten 2.1.3 und
che, dass eine Therapie ausgeprägter Symptome 2.1.4 behandelten Erkrankungen, relativ wenig
schwierig ist und trotz einer Vielzahl von zur Ver Aufmerksamkeit erhalten. Es handelt sich um das
fügung stehenden antidepressiven Medikamenten Tabuthema Harninkontinenz und um die Mund
etwa 50 % der Betroffenen nicht adäquat auf die gesundheit älterer Menschen.
erste Behandlung ansprechen [62], unterstreicht
ihre Bedeutung. Die Nutzung von Psychothera
pie bei der Behandlung depressiver Störungen im Harninkontinenz
Alter ist zurzeit noch wenig verbreitet, obwohl es
deutliche Hinweise darauf gibt, dass sie ebenso Harninkontinenz ist ein häufiges, jedoch immer
wirksam wie im mittleren Lebensalter ist [18]. noch stark tabuisiertes Problem [66] und zählt
Nur bei einem Teil der depressiv Erkrankten zu den Hauptproblemen in der Geriatrie [67]. Es
wird die auslösende Ursache in einer Häufung handelt sich dabei weniger um eine Krankheit,
von Belastungen im Alter vermutet. Bei anderen sondern eher um ein Symptom mit vielfältigen
Patientinnen und Patienten handelt es sich um möglichen Ursachen [66].
eine »alternde« Erkrankung, d. h. die depressive Von Harninkontinenz wird ganz allgemein
Störung hat bereits eine lange Vorgeschichte [3]. gesprochen, wenn es Betroffenen nicht (immer)
Rezidivierende (wiederholt auftretende) depres möglich ist, Zeit und Ort der Harnausscheidung
sive Störungen sind besonders im Alter häufig. zu kontrollieren [66]. Bei älteren Patientinnen und
Dies wird auf ein Fortbestehen der Faktoren zu Patienten, wie auch bei Pflegebedürftigen, liegt
54 Gesundheit und Krankheit im Alter
am häufigsten eine Dranginkontinenz vor (starkes dass schätzungsweise etwa 30 % der 70-Jährigen
Harndranggefühl im Zusammenhang mit einem und Älteren von Harninkontinenz betroffen sind,
unwillkürlichen Harnverlust) [66]. In Studien bei 15 % bis 20 % liegt eine belastende Inkonti
zeigte sich, dass Dranginkontinenz die stärksten nenz vor [66]. Die Verbreitung steigt mit zuneh
Auswirkungen auf die Lebensqualität hat [66] und mendem Alter deutlich, wobei Frauen in allen Al
für die meisten inkontinenzbezogenen Komplika tersgruppen häufiger als Männer betroffen sind.
tionen verantwortlich ist. Sie führt beispielsweise Der weibliche Körperbau ist mit einem größeren
zu vermehrten Stürzen bei Älteren und zu see Inkontinenzrisiko verbunden. Zusätzlich erhöht
lischen Beeinträchtigungen und Depressionen die körperliche Beanspruchung durch Schwanger
[66, 68, 69]. Vor allem bei Älteren tritt auch die schaft und Entbindung das Inkontinenzrisiko. Im
sogenannte vorübergehende Inkontinenz auf, her sehr hohen Lebensalter nähern sich die Prävalenz
vorgerufen beispielsweise durch eingeschränkte raten von Frauen und Männern allerdings an.
Mobilität, Verwirrtheit, Medikamentenwirkungen Eine Inkontinenz kann durch zahlreiche
oder Harnwegsinfektionen. Durch die Beeinflus Krankheiten, Unfälle, medizinische Eingriffe,
sung der zugrunde liegenden Ursachen kann sie Medikamente sowie Lebensstil- und psychosoziale
oftmals behoben oder gebessert werden. Daneben Faktoren verursacht bzw. gefördert werden. Im Al
gibt es weitere Inkontinenzformen, z. B. die Stress ter gibt es zusätzliche Ursachen bzw. Risiken, wie
inkontinenz oder die Mischinkontinenz. beispielsweise altersbedingte Veränderungen der
Aussagen zur Verbreitung der Harninkon beteiligten Organe (u. a. Nachlassen der Muskel
tinenz variieren zwischen 5 % und über 50 % spannung der Beckenbodenmuskulatur), nachlas
[66]. Vielfältige Erhebungsprobleme bei der em sende Kontrolle des Harntraktes durch das Gehirn
pirischen Erfassung führen zu diesen breit gefä (u. a. durch Erkrankungen wie Schlaganfall), chro
cherten Prävalenzschätzungen [66]. Von den zur nische Harnwegsinfektionen, nicht-urologische
zeit vorliegenden Studien ist insbesondere eine Erkrankungen wie Herzinsuffizienz oder Diabetes
norwegische Untersuchung (EPICONT-Studie), mellitus, (Multi-) Medikation und funktionale Ein
an der 28.000 Frauen teilnahmen, methodisch schränkungen (u. a. Verwirrtheitszustände) [66].
wegweisend [66]. Die Autoren kommen zu dem Aus Studien ist bekannt, dass viele Menschen,
Schluss, dass etwa 7 % der befragten Frauen von die unter Harninkontinenz leiden, keine ärztliche
einer signifikanten Harninkontinenz betroffen Hilfe in Anspruch nehmen. Inkontinenzbetrof
sind, d. h. neben der Inkontinenz auch unter deut fene versuchen oftmals, die Symptome durch
lichen Auswirkungen auf die Lebensqualität lei eingeschränkte Flüssigkeitsaufnahme zu beein
den. Die Häufigkeit stieg mit wachsendem Alter. flussen [66, 70]. Dies birgt aber insbesondere bei
Eine signifikante Inkontinenz wurde beispielswei Älteren die Gefahr einer erhöhten Infektneigung
se von 9 % der 65- bis 70-Jährigen berichtet, bei [3], von Kreislaufproblemen und Verwirrtheit [50].
den über 85-Jährigen waren es bereits 16 %. Das Vorliegen einer Inkontinenz kann zu starken
Gleichermaßen zuverlässige bevölkerungsbe Beeinträchtigungen im alltäglichen Leben mit der
zogene Daten liegen für Deutschland nicht vor. Im Gefahr des sozialen Rückzugs führen [66]. Die
Telefonischen Gesundheitssurvey 2005 gab ein Wahrscheinlichkeit für Krankenhausaufenthalte
Viertel der befragten 60- bis 69-jährigen Frauen und für eine Heimaufnahme ist erhöht [66, 71].
an, von Inkontinenz betroffen zu sein (Männer Dranginkontinenz stellt außerdem einen Risiko
10 %). Im höheren Alter (ab 80 Jahren) betraf das faktor für Stürze und dadurch bedingte Knochen
Problem Harninkontinenz sogar jede dritte Frau brüche bei Älteren dar [66, 69]. Außerdem sind
(Männer 29 %). Über eine schwere Beeinträchti inkontinente Patientinnen und Patienten häufiger
gung – regelmäßiger und mehr als geringfügiger als Gleichaltrige von Depressionen betroffen [66].
Harnverlust mit deutlichen Einbußen an Lebens Insbesondere in stationären Pflegeeinrichtungen
qualität – berichteten 4 % der 80-jährigen und äl ist die Inkontinenz ein wesentlicher Risikofaktor
teren Frauen sowie 3 % der gleichaltrigen Männer für das Entstehen von Wundliegen (Dekubitus)
[66]. [50].
Zusammenfassend kann aus diesen und Für die Therapie der Harninkontinenz stehen
weiteren vorliegenden Studien abgeleitet werden, in der hausärztlichen Praxis gute Behandlungs
Gesundheit und Krankheit im Alter 55
und Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung (z. B. schnitt 14,2 Zähne. Im Vergleich zu 1997 (durch
Beckenbodentraining, Revision der Medikamen schnittlich 17,6 fehlende Zähne) hat sich die Zahl
teneinnahme) [66]. Bei komplizierten Fällen gibt noch vorhandener Zähne deutlich erhöht. Nur 5 %
es zudem zahlreiche spezialärztliche Methoden. der untersuchten Männer und Frauen, die ausge
Hilfreich für einen guten Umgang mit dem Ge prägte Lücken im Gebiss aufwiesen, waren nicht
sundheitsproblem Harninkontinenz wäre weni prothetisch versorgt. Von totaler Zahnlosigkeit
ger Scheu (auch auf ärztlicher Seite), das Problem waren 23 % der Untersuchten betroffen. Alle wa
anzusprechen. Wünschenswert ist ebenfalls eine ren prothetisch versorgt. Bei den Seniorinnen und
wirkungsvollere Förderung der Kontinenz in der Senioren dominierten herausnehmbare Formen
Pflege. von Zahnersatz, wenn einzelne oder alle Zähne
prothetisch ersetzt werden mussten [72]. Etwa ein
Drittel der Älteren hat festsitzende Brücken oder
Mundgesundheit Kronen, nur ein sehr kleiner Anteil hat Zahnim
plantate (3 %).
Die Betroffenheit von Karies (Zahnfäule) ist bei Aus der DMS IV liegen auch Informationen
Seniorinnen und Senioren im Rückgang begrif zum Wohlbefinden hinsichtlich der eigenen
fen. Dies belegt die 4. Deutsche Mundgesund Mundsituation vor (mundgesundheitsbezogene
heitsstudie (DMS IV), bei der mehr als 1.000 Lebensqualität). Ältere Frauen und Männer ga
Männer und Frauen im Alter von 65 bis 74 Jahren ben insgesamt nur sehr selten an, »oft« oder »sehr
untersucht wurden [72]. Trotzdem ist bei Älteren oft« von den aufgelisteten Mundgesundheitsprob
fast durchweg eine hohe Karieslast (viele karies lemen betroffen zu sein [72]. Wenn Probleme
bedingte Schäden) erkennbar, auch wenn die berichtet wurden, dann handelte es sich dabei
Erkrankung bereits viele Jahre oder Jahrzehnte zumeist um »unangenehm, bestimmte Nahrungs
zurückliegt. Sie haben im Mittel an 22 von 28 mittel zu essen« und »Schmerzen« im Mundbe
Zähnen kariesbedingte Schäden (auch versorgte). reich (25 % bis 35 % aller Nennungen).
Im Vergleich zur Erhebung aus dem Jahr 1997 Zur Prävention von Mund- und Zahnerkran
ist insbesondere die Zahl kariesbedingt entfernter kungen gehört in jedem Alter das regelmäßige
Zähne bemerkenswert zurückgegangen, um ca. Zähneputzen mit einer fluoridhaltigen Zahnpas
20 % [72]. Die Wurzelkariesprävalenz ist hingegen ta und Kontrollbesuche bei der Zahnärztin bzw.
deutlich gestiegen, 45 % der 65- bis 74-Jährigen beim Zahnarzt, die mindestens einmal jährlich er
sind betroffen (mindestens eine kariöse oder ge folgen sollten. Auch wenn nur noch wenige eigene
füllte Wurzelfläche) [72]. Es zeigte sich, dass die Zähne im Mund verblieben sind, ist eine Kontrolle
Häufigkeit von Karies, das Vorkommen von Wur der Mundgesundheitssituation wichtig, beispiels
zelkaries und insbesondere die Anzahl der wegen weise hinsichtlich Druckstellen (durch Prothesen)
Karies entfernten Zähne mit der sozialen Lage oder Entzündungen. Das Mundgesundheitsver
in Zusammenhang stehen. Seniorinnen und Se halten der älteren Menschen ist tendenziell positiv
nioren mit hoher Schulbildung haben den nied zu beurteilen: 80 % der Befragten gaben an, dass
rigsten Kariesbefall. Kein Einfluss der sozialen sie sich mindestens zweimal täglich die Zähne
Lage zeigte sich hingegen beim sogenannten Ka putzen und 72 % gehen regelmäßig zur Kontrolle
riessanierungsgrad (Quotient der gefüllten Zähne zum Zahnarzt.
dividiert durch die Summe der gefüllten und (kari
ös) zerstörten Zähne multipliziert mit 100) [72]. Er
ist ein wesentlicher Indikator der Versorgung der 2.1.6 Mehrfacherkrankungen (Multimorbidität)
Bevölkerung mit zahnärztlichen Dienstleistungen
und liegt bei den 65- bis 74-Jährigen mit 95 % auf Das gleichzeitige Auftreten mehrerer Erkran
sehr hohem Niveau. Im Hinblick auf Zahnverlust kungen ist ein Charakteristikum der gesund
wurde festgestellt, dass nur noch ca. 1 % der 65- heitlichen Lage älterer Menschen [2, 23]. Im Al
bis 74-Jährigen auf Zahnersatz verzichten kann, ter vorliegende Krankheiten sind zudem häufig
weil die Zahnreihe komplett ist. Bei den älteren chronisch und irreversibel. Sie bestehen nicht
Patientinnen und Patienten fehlten im Durch unabhängig voneinander; vielmehr greifen Krank
56 Gesundheit und Krankheit im Alter
heitsfolgen, damit verbundene Funktionsein Zielgröße, die bei der Entwicklung der Scores
schränkungen und erforderliche Arzneimittelthe und Indizes gewählt wurde, z. B. Vorhersage der
rapien in komplexer Weise ineinander (weitere Mortalität, Inanspruchnahme von Leistungen des
Charakteristika von Krankheit im Alter siehe Gesundheitssystems oder Lebensqualität, werden
Abschnitt 2.1.1 und 1.1.2). Für die Betroffenen re jeweils unterschiedliche Aspekte von Multimorbi
sultiert hieraus ein hohes Risiko, auftretende Fehl dität erfasst. Die meisten Scores sind nicht varia
funktionen von Organsystemen nicht mehr kom bel in unterschiedlichen Kontexten einsetzbar, da
pensieren zu können. Damit sind Einbußen an sie für eine ausgewählte Studienpopulation mit
unabhängiger Lebensführung, Selbstbestimmung speziellen soziodemografischen und krankheits
und Lebensqualität verbunden, außerdem ergibt spezifischen Charakteristika entwickelt wurden.
sich häufig ein umfassender Behandlungsbedarf. Eine Erfassung bevölkerungsrepräsentativer
Die Versorgung älterer multimorbider Menschen Eckdaten zu Multimorbidität und daraus resultie
stellt in ethischer, medizinischer und sozioöko rendem Versorgungsbedarf wäre von großem Wert
nomischer Hinsicht eine gesamtgesellschaftliche für die Entwicklung innovativer Versorgungs- und
Herausforderung dar [9]. Präventionskonzepte. Ein zurzeit laufendes, vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) gefördertes Forschungsprojekt widmet
Verbreitung von Multimorbidität sich dieser Frage (Forschungsverbund »Autono
mie trotz Multimorbidität im Alter«, AMA). An
Um Aussagen zur Verbreitung von Multimorbi gaben zur Verbreitung von Multimorbidität in
dität in der Bevölkerung zu treffen, ist zunächst Deutschland sind derzeit nur sehr eingeschränkt
eine präzise Begriffsbestimmung notwendig. Im verfügbar. Für die in Privathaushalten lebende Be
Bereich der Medizin gebräuchliche Definitionen völkerung bis 79 Jahre kann der Bundes-Gesund
beziehen sich überwiegend lediglich auf die An heitssurvey 1998 herangezogen werden. Dort
zahl der vorliegenden Erkrankungen, beispiels wurde nach dem Vorkommen von insgesamt 43
weise »zwei«, »mindestens fünf« oder »mehrere« überwiegend chronischen Krankheiten und Ge
[4]. Unterschiede in den Begriffsbestimmungen sundheitsstörungen gefragt, darunter Bluthoch
bestehen außerdem dahingehend, ob eine di druck, Osteoporose und Krebserkrankungen. In
rekte Behandlungsbedürftigkeit vorliegen muss der Gruppe der 60- bis 79-Jährigen waren 87 %
oder nicht, um eine Erkrankung in die Zählung der Männer und 92 % der Frauen in den letzten
aufzunehmen [z. B. 4, 21, 73]. Daraus ergibt sich 12 Monaten vor der Befragung von mindestens
eine große Uneinheitlichkeit bezüglich des Krank einer der Krankheiten betroffen. Im Durchschnitt
heitsgefüges, das jeweils als Multimorbidität be gaben Männer diesen Alters 2,6 und Frauen 3,3
zeichnet wird. Außerdem stellt sich die Frage, Krankheiten an. Gleichzeitig wird aber auch deut
ob Multimorbidität nicht mehr ist als das reine lich, dass die Mehrheit der 60- bis 79-Jährigen
Vorhandensein mehrerer gleichzeitig bestehen nicht unter einer schweren, lebensbedrohlichen
der Erkrankungen. Eine Erweiterung des Begriffs Krankheit leidet [16, 75].
inhaltes Multimorbidität, um Komponenten wie Auch in der Berliner Altersstudie wurde die
beispielsweise Medikation, Krankheitsfolgen oder Zahl der diagnostizierten Erkrankungen zugrun
subjektive Bewertung der Leiden, steht noch aus de gelegt, um das Ausmaß von Multimorbidität in
[4]. der älteren Bevölkerung (auch in Heimen) abzu
Aufgrund der skizzierten methodischen schätzen. Bei fast einem Drittel der 70-Jährigen
Schwierigkeiten und einer sehr eingeschränkten und Älteren und knapp der Hälfte der 85-Jährigen
epidemiologischen Datenlage ist bislang unklar, und Älteren wurden durch die Projektärztin/den
wie häufig Multimorbidität in der Bevölkerung Projektarzt mindestens fünf internistische, neu
auftritt. Um Multimorbidität zu erfassen, wurden rologische, orthopädische und/oder psychische
in verschiedenen Settings Scores und Indizes ent Erkrankungen diagnostiziert, die behandlungsbe
wickelt, beispielsweise Cumulative Illness Rating dürftig sind [16, 23]. Bei Frauen lagen insgesamt
Scale (CIRS), Functional Comorbidity Index (FCI) mehr medizinische Diagnosen vor, was auch zu
und Charlson Comorbidity Index [74]. Je nach einem – im Vergleich zu den gleichaltrigen Män
Gesundheit und Krankheit im Alter 57
nern – höheren Anteil multimorbider Patien hat schließlich rund ein Viertel fünf und mehr
tinnen führte [14]. Im Alter von 70 bis 84 Jahren Erkrankungen (24 %). Die Ergebnisse des Surveys
wurden für 27 % der Frauen und 19 % der Män zeigen auch, dass Mehrfacherkrankungen nicht
ner fünf und mehr Diagnosen gestellt. Unter den allein eine Herausforderung des hohen Alters
85-Jährigen und Älteren waren 54 % der Frauen sind, da bereits viele jüngere Personen darüber
und 41 % der Männer von Multimorbidität betrof berichten [8].
fen [3, 15]. Sowohl zwischen Alter und Multimor Neben dem Einfluss von Alter und Ge
bidität als auch zwischen Geschlecht und Multi schlecht auf das Vorliegen von Multimorbidität
morbidität zeigte sich in der Berliner Altersstudie ergaben sich in Studien auch Hinweise darauf,
ein statistisch bedeutsamer Zusammenhang [3]. dass die Anzahl der chronischen Erkrankungen
Die Ergebnisse des Alterssurvey 2002 (ba mit der sozialen Lage variiert. Angehörige sta
sierend auf Selbstauskünften der Befragten), der tusniedriger Bevölkerungsgruppen sind von vie
auch Personen im mittleren Lebensalter einbezog, len chronischen Krankheiten und Beschwerden
zeigen wiederum einen deutlichen altersbezo häufiger betroffen. Dieser Zusammenhang ist
genen Anstieg beim Auftreten von Multimorbidi vor allem für das mittlere Erwachsenenalter um
tät, hier ebenfalls verstanden als Gleichzeitigkeit fassend untersucht und gut belegt. Vorliegende
mehrerer Erkrankungen. Der Anteil betroffener Untersuchungen zeigen aber, dass sich soziale
Patientinnen und Patienten nimmt ab der Alters und gesundheitliche Aspekte auch im höheren
gruppe 40 bis 54 Jahre von Altersstufe zu Alters Lebensalter beeinflussen. Hinsichtlich der Aus
stufe stark zu [8] (siehe Abbildung 2.1.6.1). Der wirkungen funktioneller Beeinträchtigungen im
Prozentsatz der Befragten, die über fünf oder Alter wurde ebenfalls ein Zusammenhang mit der
mehr gleichzeitig bestehende Erkrankungen be sozialen Lage festgestellt [4, 76]. Im Kapitel 3.2
richten, verdreifacht sich von 4 % in der Gruppe werden diese Fragen ausführlich diskutiert.
der 40- bis 54-Jährigen auf 12 % in der Gruppe der Ein wichtiger Aspekt des Problems Multimor
55- bis 69-Jährigen [5]. Bei den 70- bis 85-Jährigen bidität ist die Tatsache, dass das Vorliegen meh
rerer (körperlicher) Erkrankungen das Risiko für
eine psychische Komorbidität erhöht. Beispiels
weise kann ein langjähriger Diabetes mellitus
Abbildung 2.1.6.1 die Ausbildung einer Depression begünstigen
Anteile der Personen, die von mehreren Erkrankungen [23]. Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 war die
gleichzeitig betroffen sind, nach Alter 2002
Quelle: Replikationsstichprobe des Alterssurveys 2002, Diagnose Diabetes mellitus mit einer erhöhten
gewichtet, eigene Darstellung [5] Wahrscheinlichkeit für Angststörungen assoziiert
(Altersgruppe 18 bis 65 Jahre) [77]. Inwiefern das
Prozent
100 gemeinsame Auftreten von Stoffwechselerkran
kungen (z. B. Diabetes mellitus) und psychischen
80 Störungen (z. B. Angststörungen und Depres
sionen) möglicherweise auf gemeinsame Auslöser
60
zurückgeführt werden kann, ist derzeit Gegen
stand der Forschung [78]. Die dauerhafte über
40
mäßige Aktivierung hormoneller Regulationspro
zesse, beispielsweise durch emotionalen Stress,
wird für beide Erkrankungen als entscheidender
20
Faktor diskutiert [78].
In der Berliner Altersstudie traten Depres
40–54 55–69 70–85 sionen signifikant häufiger bei hilfsbedürftigen,
multimorbiden, immobilen oder multimedika
Altersgruppe
mentös behandelten älteren Menschen auf [23].
5 und mehr Erkrankungen Auch ein Zusammenhang zwischen Einschrän
1 Erkrankung
kungen in den Alltagsaktivitäten, die ihrerseits
2–4 Erkrankungen keine Erkrankung Folgen von Multimorbidität sein können, und dem
58 Gesundheit und Krankheit im Alter
Auftreten einer psychiatrischen Erkrankung ist be [23]. Das vielschichtige Krankheitsgefüge bei äl
legt [23]. Multimorbidität ist im Alter häufig mit teren Patientinnen und Patienten wird – dies ist für
(ausgeprägten) funktionellen Einschränkungen alle präventiven und therapeutischen Maßnahmen
verbunden. Diese können zu einer dauerhaften von Bedeutung – immer durch psychosoziale Fak
Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Alltagsbewäl toren und Funktionseinbußen mitbestimmt [23].
tigung führen und eine anhaltende Pflegebedürf Obwohl Multimorbidität im Alter, insbeson
tigkeit herbeiführen [4]. Unter allen multimorbid dere ab dem vierten Lebensalter (85 Jahre) weit
erkrankten Teilnehmerinnen und Teilnehmern verbreitet ist, sind die Folgen – Multimedikation,
der Berliner Altersstudie war die Mortalität in den funktionelle Einschränkungen, Schmerzen – kein
folgenden 28 Monaten mit 26 % deutlich höher unabwendbares Schicksal. Auch ältere Menschen
als in der Gruppe derer, die weniger als fünf be verfügen über Präventionspotenziale, die genutzt
handlungsbedürftige Diagnosen (9 %) aufwiesen werden sollten. In jedem Alter und abgestimmt
[23]. auf den aktuellen persönlichen Gesundheitszu
stand ist die Vorbeugung von Krankheiten, die
Verhinderung des Fortschreitens von Krankheiten
Präventive und therapeutische Aspekte sowie die Vermeidung von Folgeschäden möglich
und wichtig [8].
Medizinische und therapeutische Angebote für
ältere, chronisch multimorbid erkrankte Men
schen verlangen eine komplexe und ganzheitliche 2.1.7 Resümee
Sichtweise, sowohl in der wissenschaftlichen als
auch in der praktischen Medizin [23]. Unter an Insgesamt, das zeigt der vorliegende Beitrag, ist
derem besteht die Gefahr, dass bei einem kom ein deutlicher Anstieg der Gesundheitsprobleme
plexen Krankheitsgefüge die Therapie wichtiger mit fortschreitendem Alter zu beobachten, sowohl
Krankheiten (z. B. medikamentöse Behandlung) hinsichtlich der Anzahl erkrankter Personen als
vernachlässigt wird. Andererseits nimmt die Häu auch bezüglich der Komplexität der vorliegenden
figkeit von Medikationsfehlern, Nebenwirkungen Beeinträchtigungen. Der beobachtete Anstieg von
und Arzneimittelinteraktionen mit steigender Erkrankungen im höheren Lebensalter ist nicht
Zahl der Wirkstoffe proportional zu. Krankheits umkehrbar, allerdings steht ein großer Teil der bei
symptome sind dann oftmals nur schwer von un älteren Menschen dominierenden Gesundheits
erwünschten Arzneimittelwirkungen oder Inter probleme in engem Zusammenhang mit der per
aktionswirkungen verschiedener Medikamente zu sönlichen Lebensweise. Hier sind beispielsweise
trennen [21, 79]. Es wird empfohlen, nicht mehr die Ernährung, das Bewegungsverhalten und die
als vier Medikamente regelmäßig anzuwenden Gewichtsregulation zu nennen, die nachweisbare
[80, 81]. Insbesondere bei geriatrischen Patien Auswirkungen auf die Prävalenz von Herz-Kreis
tinnen und Patienten ist dies oftmals schwierig lauf-Erkrankungen und Krankheiten des Bewe
und die Arzneimitteltherapie multimorbid er gungsapparates haben. Diese beiden Krankheits
krankter Älterer verlangt viel therapeutische Er gruppen dominieren das Krankheitsspektrum im
fahrung (siehe auch Abschnitt 3.3.5). Alter. Außerdem ist hervorzuheben, dass ältere
Insgesamt ist die Inanspruchnahme ärzt Menschen in hohem Maße zu Anpassungsleis
licher Leistungen bei Multimorbidität erhöht. In tungen in der Lage sind und über Bewältigungs
der stationären Behandlung ist sie mit einer län ressourcen für den Umgang mit schwierigen
geren Verweildauer assoziiert [23, 53]. Ein höherer Lebenssituationen verfügen. Wissenschaftliche
Aufwand, auch in der Pflege multimorbider Kran Studien zur psychischen Gesundheit belegen, dass
kenhauspatientinnen und -patienten, resultiert der überwiegende Teil der älteren Bevölkerung
ebenfalls aus den behandlungsbedürftigen Neben trotz gesundheitlicher Einschränkungen und Ver
diagnosen, die meist zahlreich sind und interagie lusterlebnissen keine psychischen Auffälligkeiten
ren [23]. Das Risiko einer Heimeinweisung steigt zeigt. Frauen und Männer im höheren Alter stellen
bei Multimorbidität, speziell wenn gleichzeitig sich in der Regel darauf ein, dass ihre Gesundheit
psychische und physische Erkrankungen vorliegen schlechter wird. Für chronische Erkrankungen
Gesundheit und Krankheit im Alter 59
konnte beispielsweise gezeigt werden, dass diese Aktuelles auf einen Blick: Gesundheit und Gesund
heitsversorgung. Pressetexte der Bundesregierung
am Anfang deutlich belastender wahrgenommen
www.bmfsfj.de (Stand: 13.11.2008)
wird als im weiteren Verlauf. Hierdurch verschie 6. Statistisches Bundesamt (2006) Leben in Deutsch
ben sich die persönlichen Kriterien für Gesund land. Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Tabellenan
heit, so dass Ältere oftmals nicht die Abwesenheit hang zur Pressebroschüre. Statistisches Bundesamt,
Wiesbaden
von Krankheiten oder Behinderung als Kriterium
7. Wurm S, Tesch-Römer C (2006) Gesundheit, Hilfebe
für »gute Gesundheit« ansehen, sondern die Ab darf und Versorgung. In: Tesch-Römer C, Engstler H,
wesenheit von lang andauernden und quälenden Wurm S (Hrsg), Altwerden in Deutschland. Sozialer
Beschwerden, beispielsweise Schmerzen, ein Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten
Lebenshälfte. VS Verlag für Sozialwissenschaften,
Maßstab für gute Gesundheit wird. Dies deutet
Wiesbaden, S 329 – 383
bereits darauf hin, dass neben den klinisch ob 8. Wurm S, Tesch-Römer C (2006) Gesundheit in der
jektivierbaren Sachverhalten das subjektive Er zweiten Lebenshälfte. Public Health Forum 14, H. 50
leben – die subjektive Gesundheit – eine große 9. Walter U, Schneider N, Bisson S (2006) Krankheitslast
und Gesundheit im Alter. Herausforderungen für die
Rolle für die Gesundheit des Einzelnen spielt. Im
Prävention und gesundheitliche Versorgung. Bundes
vorliegenden Kapitel wurden zunächst die phy gesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheits
sischen und psychischen Aspekte der Gesundheit schutz 49: 537 – 546
im Alter betrachtet. Neben der bereits erwähnten 10. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in
der Bundesrepublik Deutschland (2008) Häufigste
subjektiven Sicht auf die gesundheitliche Lage ist
Diagnosen in Prozent der Behandlungsfälle in Arzt
insbesondere bei älteren und alten Menschen die praxen in Nordrhein 2007 nach Geschlecht, ICD-10,
Funktionsfähigkeit von großer Bedeutung (funk Arztgruppe
tionale Gesundheit). Das folgende Kapitel (2.2) www.gbe-bund.de (Stand: 13.11.2008)
11. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung
widmet sich diesem Thema. Auf die subjektiven
in der Bundesrepublik Deutschland (2005) ZI-Panel
Aspekte der Gesundheit wird im Kapitel 2.3 ver zur Morbiditätsanalyse: Basisstatistik. Nach dem ICD
tiefend eingegangen. Ein »Zusammendenken« 10-GM-Schlüssel codierte Diagnosen von Ärzten aus
dieser vier Bereiche von Gesundheit ist wichtig, dem ADT-Panel des Zentralinstituts in der Kassenärzt
lichen Vereinigung Nordrhein, 1. Quartal 2005. Zen
denn körperliche, seelische und funktionale Be
tralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der
einträchtigungen stehen in enger Beziehung und Bundesrepublik Deutschland, Berlin
wirken sich auf die gesundheitsbezogene Lebens 12. Statistisches Bundesamt (2007) Todesursachensta
qualität aus, die ihren Ausdruck in der subjektiven tistik 2006. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden
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62 Gesundheit und Krankheit im Alter
Nach der Definition der WHO ist eine Person schränkungen als Männer. Die Gründe dafür sind
funktional gesund, wenn – vor dem Hintergrund vielschichtig. Einerseits häufen sich bei Frauen
ihrer Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, persön spezifische Risiken im Lebensverlauf an. Sie erle
liche Faktoren) – ben mehr physiologische Transitionssituationen
▶ ihre körperlichen Funktionen (einschließ (Umbruchsituationen), wie Schwangerschaften,
lich des mentalen Bereichs) und Körper Geburten oder die Menopause. Zu diesen physio
strukturen denen eines gesunden Menschen logischen Besonderheiten kommen bestimmte
entsprechen (Konzept der Körperfunktionen soziale Risiken, wie z. B. ein im Vergleich zu den
und -strukturen) älteren Männern geringeres Bildungs- und Ein
▶ sie nach Art und Umfang das tut oder tun kommensniveau und Lebensstilfaktoren, wie eine
kann, was von einem Menschen ohne Ge geringere körperliche Aktivität im Alter. Zu grö
sundheitsproblem erwartet wird (Konzept der ßeren funktionalen Einschränkungen trägt auch
Aktivitäten) die im Vergleich zu Männern höhere Prävalenz
▶ sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, (Häufigkeit) von nichtletalen (nicht zum Tode
die ihr wichtig sind, in der Weise (Art und führenden) Krankheiten und Störungen bei, die
Umfang) entfalten kann, wie es von einem die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Dazu
Menschen ohne gesundheitsbedingte Beein gehören z. B. orthopädische Probleme wie Frak
trächtigungen der Körperfunktionen oder turen, Osteoporose, Rückenschmerzen, Gelenk
-strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird erkrankungen, aber auch psychische Störungen
(Konzept der Partizipation) [1, 2, 3]. wie Depressionen [4] (vgl. Kapitel 2.1). Verbrugge
stellte bereits 1982 fest, dass Männer oftmals die
tödlicheren Krankheiten und damit eine höhere
2.2.2 Funktionale Beeinträchtigungen Mortalität (Sterblichkeit) haben, Frauen dagegen
eher Krankheiten, die die funktionale Gesundheit
Die funktionale Gesundheit ist in allen Lebens einschränken [5]. Unter diesen Prämissen mag es
altern von Belang. Da funktionale Beeinträchti
gungen aber mit dem Alter zunehmen, sind vor
allem in dieser Phase des Lebens Lebensqualität
und funktionale Gesundheit eng miteinander Abbildung 2.2.2.1
verbunden. Funktionale Beeinträchtigungen sind Aktivitätsbeschränkungen (GALI) nach Alter
und Geschlecht 2004
Aktivitätseinschränkungen bzw. Schwierigkeiten Quelle: SHARE 2004, Daten für Deutschland, gewichtet,
beim Ausführen bestimmter Aktivitäten aufgrund eigene Berechnungen
körperlicher oder mentaler Schädigungen bzw.
Störungen. Ihre Entwicklung über die Altersgrup Prozent
pen hinweg zeigt Abbildung 2.2.2.1. Abgebildet 100
ist der Indikator GALI (Global Activity Limitation
Indicator), der misst, ob die Befragten innerhalb 80
eines bestimmten Zeitraums (hier: im letzten hal
ben Jahr) durch gesundheitliche Probleme an der 60
Ausübung ihrer üblichen Aktivitäten gehindert
waren. 40
Deutlich wird, dass sowohl Männer als auch
Frauen mit zunehmendem Alter wesentlich 20
häufiger solche Aktivitätsbeschränkungen ange
ben. Während von 50- bis 59-jährigen deutschen
Befragten nur etwa ein Drittel in ihrem Alltag 50–59 60–69 70–79 80+
Einschränkungen aufgrund gesundheitlicher
Altersgruppe
Probleme hatten, traf das auf über 80 % der 80-Jäh
Frauen
rigen und Älteren zu. Frauen zeigten dabei mit
Ausnahme der ältesten Altersgruppe häufiger Ein Männer
64 Gesundheit und Krankheit im Alter
verwundern, dass in der ältesten Altersgruppe der die Farbwahrnehmung und die Lichtsensitivität,
Anteil der in ihren Alltagsaktivitäten beeinträch nimmt mit dem Alter ab. Eine wesentliche alters
tigten Frauen und Männern in etwa gleich hoch bezogene Veränderung in der Sehfähigkeit, die
ist. Erklären lässt sich dieser Fakt dadurch, dass Altersweitsichtigkeit, stellt sich schon im mitt
für diese Untersuchung die Bevölkerung in Pri leren Erwachsenenalter ein und betrifft nahezu
vathaushalten befragt wurde. Ältere Frauen mit die gesamte Bevölkerung der entsprechenden
einer sehr schlechten funktionalen Gesundheit Altersgruppen. Ein Teil des Funktionsverlustes
und großen funktionalen Einschränkungen le der Augen kann durch Sehhilfen, Operationen
ben aber (eher als Männer in dieser Situation) zu und ähnliche Interventionen kompensiert wer
einem größeren Anteil in Pflegeeinrichtungen. den. Trotzdem ist, gerade im höheren Alter, der
Sie fehlen also überproportional häufig in den Be Anteil von Menschen mit Sehbeeinträchtigungen
fragungspopulationen in Privathaushalten. vergleichsweise hoch. Das zeigt auch Abbildung
Wurde im vorhergehenden Abschnitt gezeigt, 2.2.2.2, die den Anteil von Sehbeeinträchtigten
wie sich der Anteil funktionaler Beeinträchti nach Altersgruppen mit Daten des Alterssurveys
gungen ganz allgemein im Vergleich der Alters abbildet. Dabei wurden Alltagssituationen (Zei
gruppen verändert, so sollen im nachfolgenden tung lesen, Treffen auf der Straße) erfasst. Der An
Abschnitt einige konkrete Formen solcher Beein teil derjenigen, die Schwierigkeiten beim Lesen ei
trächtigungen näher betrachtet werden. ner Zeitung haben, steigt bei den über 75-Jährigen
auf fast ein Drittel. Beim Erkennen von Personen
auf der Straße sind es in dieser Altersgruppe 17 %,
Sensorische Beeinträchtigungen – die Probleme angeben.
Sehen und Hören Hörverluste gehören ebenfalls zu den häu
figsten chronischen Störungen des Alters. Im
Funktionale Einschränkungen des Sehens und Bundesgesundheitssurvey 1998 bezeichneten
Hörens betreffen einen großen Teil der älteren sich 17 % der 70- bis 79-jährigen Frauen und 31 %
Menschen. Das Alter stellt den größten Risikofak der gleichaltrigen Männer als schwerhörig. Auch
tor für alle Formen sensorischer Einschränkungen Befragte, die über ein Hörgerät verfügten, geben
dar. Schätzungen aus britischen Studien zufolge an schwer zu hören. Von Hörbeeinträchtigungen
leidet etwa ein Fünftel der über 75-Jährigen an Betroffene klagen häufig nicht über den Hörver
hochgradigen Sehbeeinträchtigungen mit einer lust an sich, sondern darüber, dass sie Kommuni
Sehschärfe unter 6/12, der Untergrenze für die kationsprobleme haben, also Gesprochenes nicht
Fahrtauglichkeit in Großbritannien. Ein Viertel oder falsch verstehen. Diese Schwierigkeiten
dieser Altersgruppe ist hörbeeinträchtigt nach können zu sozialem Rückzugsverhalten und psy
den Kriterien des Flüstertests, mit dem Schwerhö chischen Problemen führen und somit auch eine
rigkeit diagnostiziert wird [6]. Einschränkungen selbstständige Lebensführung gefährden [6]. Die
im Hör- und Sehvermögen wirken nicht nur un Daten des Alterssurveys zeigen deutliche Unter
mittelbar auf die Lebensqualität der Betroffenen, schiede zwischen den Altersgruppen bei Hörbe
sondern sind darüber hinaus Risikofaktoren für hinderungen in Alltagssituationen. Ein Fünftel
Unfälle und weitere Krankheiten, wie z. B. für bzw. ein Viertel der über 75-jährigen Befragten
Gleichgewichtsstörungen, Hüftfrakturen und gaben Schwierigkeiten an beim Hören während
Depressionen [7]. Auch künftig werden Hör- und des Telefonierens bzw. während eines Gruppen
Sehbeeinträchtigungen weltweit ein zentrales Ge treffens (siehe Abbildung 2.2.2.2).
sundheitsproblem darstellen. Einer aktuellen Stu
die von Mathers und Loncar [8] zufolge werden im
Jahr 2030 in Ländern mit hohem und mittlerem Beeinträchtigungen der Mobilität
Durchschnittseinkommen altersbezogene Hör-
und Sehbeeinträchtigungen zu den Hauptgrün Mobilitätseinschränkungen oder gar der Verlust
den für verlorene gesunde Lebensjahre zählen. der Mobilität gehören zu den wichtigsten Risi
Zum Sehen: Die Leistungsfähigkeit des Au kofaktoren für Hilfebedürftigkeit im Alter. Sie
ges, wie z. B. das Wahrnehmen von Kontrasten, werden vor allem im sehr hohen Alter zu einem
Gesundheit und Krankheit im Alter 65
Abbildung 2.2.2.2
Anteil von Befragten mit sensorische Beeinträchtigungen (Hören, Sehen)* nach Alter 2002
Quelle: Alterssurvey 2002, Replikationsstichprobe, gewichtet
Prozent
30
20
40–54 Jahre
55–64 Jahre
65–74 Jahre
10 75–84 Jahre
* (Sehen: Zeitung lesen) Haben Sie aufgrund von Sehproblemen Schwierigkeiten beim Lesen der Zeitung (gegebenenfalls auch dann, wenn Sie
eine Sehhilfe benutzen)?
(Sehen: Straße) Haben Sie aufgrund von Sehproblemen Schwierigkeiten, Ihnen bekannte Personen auf der Straße zu erkennen (gegebenenfalls
auch dann, wenn Sie eine Sehhilfe benutzen)?
(Hören: Telefonat) Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Hören, wenn Sie telefonieren (gegebenenfalls auch dann, wenn Sie ein Hörgerät
benutzen)?
(Hören: Gruppe) Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Hören bei einem Gruppentreffen mit mehr als vier Personen (gegebenenfalls auch dann,
wenn Sie ein Hörgerät benutzen)?
Abbildung 2.2.2.3
Anteil von Befragten mit Beeinträchtigungen der Mobilität* nach Alter 2002
Quelle: Alterssurvey 2002, Replikationsstichprobe, gewichtet
Prozent
30
20
40–54 Jahre
55–64 Jahre
65–74 Jahre
10 75–84 Jahre
* Frage: Sind Sie durch Ihren derzeitigen Gesundheitszustand bei diesen Tätigkeiten stark eingeschränkt, etwas eingeschränkt oder überhaupt
nicht eingeschränkt? (Anteil »stark eingeschränkt«)
2.2.3 Aktivitätseinschränkungen im Alltag – ADL (Activities of Daily Living) bzw. IADL (In
ADL und IADL strumental Activities of Daily Living). Die ADL
messen die Fähigkeit, bestimmte Basisaktivitäten
Die physische Funktionsfähigkeit bzw. Behin der Pflege und Versorgung der eigenen Person zu
derung älterer Menschen wird in Studien häu leisten: Essen, Trinken, Baden/Duschen, An- und
fig gemessen mit Indikatoren selbstberichteter Ausziehen, ins Bett gelangen/aus dem Bett auf
Schwierigkeiten bzw. der Unfähigkeit, bestimmte stehen. Die IADL sind dagegen komplexere Tätig
Aufgaben des täglichen Lebens zu erfüllen. Die keiten. Sie erfassen, ob sich die betreffende Person
Kategorie der Aktivitätseinschränkungen im All innerhalb und außerhalb ihres Haushalts versor
tag baut auf jener der funktionalen Beeinträchti gen kann: so z. B. Wäsche waschen, die Wohnung
gungen auf, steht aber stärker in einem sozialen reinigen, Mahlzeiten zubereiten, einkaufen, aber
Kontext. Aus dieser Konstruktion folgt, dass es auch die finanziellen Angelegenheiten regeln.
mehr ältere Menschen gibt, die funktionale Beein Einschränkungen in den ADL lassen auf ei
trächtigungen in einer Befragung angeben als Ak nen relativ weit fortgeschrittenen Grad der Hilfe
tivitätseinschränkungen, da nicht jede funktionale bedürftigkeit schließen. Dementsprechend nied
Beeinträchtigung behindernd auf die Ausübung rig sind Angaben in dieser Kategorie bei älteren
von Alltagsaktivitäten wirken muss. Menschen, die in Privathaushalten leben (und
Gemessen werden Aktivitätseinschrän an einer Befragung teilnehmen). Eine Auswer
kungen in Surveys häufig mit den Indikatoren tung der SOEP-Daten für unterschiedliche Jahre
Gesundheit und Krankheit im Alter 67
zeigt, dass der Anteil der Haushaltsmitglieder stärkerem Maß als die ADL nicht nur gesundheit
von Befragten, die eine oder mehrere Beeinträch liche Einschränkungen wider, sondern auch sozi
tigungen in der Körperpflege aufweisen, bis zum al definierte Rollen, Bedingungen der physischen
80. Lebensjahr noch relativ gering ist und erst und sozialen Umwelt und kulturelle Faktoren. Da
danach die 10-Prozent-Marke übersteigt. Noch neben sind diese Indikatoren auch ein Ausdruck
geringer ist der Prozentsatz derjenigen, die nicht für die Entwicklung von Hilfsmitteln und ihren
ohne Hilfe ins Bett bzw. aus dem Bett gelangen Verbreitungsgrad in der betroffenen Population.
können. Über den Zeitraum zwischen 1992 und Die in Abbildung 2.2.3.1 und 2.2.3.2 darge
2005 sind die Daten für die Einschränkungen bei stellten Zeitverläufe zeigen eine nahezu stabile
ADL-Aktivitäten relativ konstant geblieben (siehe bzw. rückläufige Entwicklung der Hilfebedürftig
Abbildung 2.2.3.1). Da die SOEP-Daten in privaten keit bei ausgewählten ADL- bzw. IADL-Aktivitäten.
Haushalten erhoben werden, könnten sich aller Die Abnahme der Hilfebedürftigkeit fällt für die
dings Veränderungen in den Haushaltsstrukturen IADL-Aktivitäten deutlich stärker aus als für die
in diesen Ergebnissen niederschlagen, z. B. wenn ADL-Aktivitäten, bei denen die Entwicklung eher
stark ADL-eingeschränkte Familienmitglieder stagniert. Bei den IADL-Aktivitäten wiederum
häufiger in Pflegeeinrichtungen leben würden. konnten die über 80-Jährigen von den Verbesse
Die IADL (Instrumental Activities of Daily rungen am stärksten profitieren. Das entspricht
Living) erweitern das Spektrum der untersuchten dem Entwicklungstrend in den westlichen Län
Aktivitäten um diejenigen Tätigkeiten, die not dern insgesamt: Bei den IADL ist eine langfristige
wendig sind, um ein selbstständiges Leben in Tendenz zur Verringerung der Einschränkungen
einem Privathaushalt zu führen (z. B. Einkaufen, auszumachen, die nicht in gleichem Maß für die
Mahlzeiten zubereiten, Haushaltsreinigung, Wä ADL festzustellen ist. So wurden in den USA in
sche waschen). Demnach spiegeln die IADL in Bezug auf solche Aktivitäten wie Einkaufen, Mahl-
Abbildung 2.2.3.1
Hilfebedürftigkeit bei ADL-Aktivitäten (Anteil an allen Haushaltsmitgliedern in %) nach Alter 1985, 1998 und 2005
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel, Wellen 1985, 1998 und 2005, eigene Berechnungen
Prozent
25
15
10
60–69 Jahre
70–79 Jahre
5
80 Jahre und älter
* Körperpflege: Haushaltsmitglieder, die Hilfe benötigen bei einfacheren Pflegetätigkeiten, z. B. Hilfe beim An- und Auskleiden, Waschen,
Kämmen und Rasieren
** Aufstehen/Hinlegen (Bett): Haushaltsmitglieder, die Hilfe benötigen bei schwierigeren Pflegetätigkeiten, z. B. Hilfe beim Umbetten, Stuhl
gang usw.
68 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 2.2.3.2
Hilfebedürftigkeit bei IADL-Aktivitäten (Anteil an allen Haushaltsmitgliedern in %) nach Alter 1985, 1998 und 2005
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel, Wellen 1985, 1998 und 2005, eigene Berechnungen
Prozent
25
Einkäufe* Hausarbeit**
20
15
10
60–69 Jahre
70–79 Jahre
5
80 Jahre und älter
* Einkäufe: Haushaltsmitglieder, die Hilfe benötigen bei Besorgungen und Erledigungen außer Haus
** Hausarbeit: Haushaltsmitglieder, die Hilfe benötigen bei Haushaltsführung, Versorgung mit Mahlzeiten und Getränken
der Bevölkerung dieses Alters. Im Jahr 2005 ist vergeben, die täglich rund um die Uhr und auch
der Anteil auf 11 % gesunken, jedoch sind mit ins nachts Hilfe benötigen.
gesamt 1,75 Millionen mehr Personen betroffen, Von den Pflegeleistungsempfängerinnen und
weil die Zahl dieser Bevölkerungsgruppe ange -empfängern ab 65 Jahren wurden 64 % im Jahr
wachsen ist [11, 12]. 2005 zu Hause versorgt, davon zwei Drittel aus
Die individuelle Bedürftigkeit wird nach An schließlich durch Angehörige, das andere Drittel
tragstellung und anschließender Begutachtung auch durch ambulante Pflegedienste (vgl. auch
durch den Medizinischen Dienst der Kranken [13]). Von den ausschließlich durch Angehörige
kassen (MDK) in Form von Pflegestufen amtlich Versorgten ist der Anteil mit Pflegestufe I am
anerkannt (siehe Kapitel 3.3). Pflegestufe I wird höchsten, im stationären Versorgungsbereich ist
vergeben für Personen, die bei der Körperpflege, dieser nur noch halb so groß. Hier ist jeder Vierte
der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens in die höchste Pflegestufe eingruppiert (siehe
zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Abbildung 2.2.4.1). Dennoch werden 60 % der
Bereichen mindestens einmal täglich Hilfe und schwerstpflegebedürftigen Personen (Stufe III)
zusätzlich mehrmals in der Woche Hilfe bei im Alter ab 65 Jahren außerhalb von Heimen im
hauswirtschaftlichen Verrichtungen benötigen. häuslichen Umfeld betreut. Das deutet darauf hin,
Pflegestufe II ist angemessen, wenn die tägliche dass Pflegebedürftige möglichst lange in ihrem
Hilfe mindestens dreimal und zu verschiedenen häuslichen Umfeld verbleiben, woraus sich hohe
Tageszeiten erforderlich ist (ansonsten wie Stu Ansprüche an den ambulanten Versorgungsbe
fe I). Stufe III wird für Schwerstpflegebedürftige reich ableiten.
Abbildung 2.2.4.1
Pflegebedürftige ab 65 Jahren nach Versorgungsart und Pflegestufe, Deutschland 2005
Quelle: Pflegestatistik 2005 [12]
Prozent
70
ambulante Versorgung stationäre Versorgung
60
50
40
Pflegestufe I
30 Pflegestufe II
Pflegestufe III
20
10
Mit dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit eine Empfehlung für einen reformierten Begriff
für Pflegebedürftigkeit, weil sich hier gesund aussprechen.
heitliche Einschränkungen durch sich abschwä Sozialwissenschaftliche Analysen, wie z. B.
chende individuelle Ressourcen verstärken kön die vom Bundesministerium für Familie, Seni
nen. Schneekloth und Wahl verweisen darauf, oren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten
dass Hilfe- und Pflegebedarf jedoch nicht primär Studien zum Hilfe- und Pflegebedarf in Privat
ein Zustand in Folge von Alter und Hochaltrigkeit haushalten (MuG III, 2002) und in Alteneinrich
oder Erkrankung ist, sondern sich prozesshaft in tungen (MuG IV, 2005) Deutschlands, erfassen
Wechselwirkung von eingetretenen gesundheit auf der Basis der Einstufung nach SGB XI auch
lichen Verlusten mit vielfältigen individuellen die Selbst- und Fremdeinschätzung der gesund
Ressourcen und Ressourcenbegrenzungen ent heitlichen Situation [14, 15, 16]. Sie schließen jene
wickelt [14]. In den vorangegangenen Abschnitten Personen ein, die einen Hilfebedarf artikulieren,
dieses Kapitels wurde bereits belegt, dass Pflege jedoch keine Leistung der Pflegeversicherung be
bedarf in der Regel erst jenseits des 80. Lebens anspruchen. Mit der Studie MuG III werden für
jahres in relevantem Ausmaß auftritt. Von den das Jahr 2003 neben den 1,4 Millionen zu Hau
80- bis 85-jährigen Frauen ist zunächst etwa jede se versorgten Personen mit Pflegestufe weitere
Vierte betroffen, von den Männern jeder Sechste. 3 Millionen in privaten Haushalten lebende Hilfe
In der Bevölkerungsgruppe der 85- bis 90-Jäh bedürftige geschätzt. Die Differenz zur Zahl der
rigen leben von jeweils 10 Personen vier Frauen tatsächlichen Pflegeleistungsempfänger wird da
bzw. drei Männer mit einer Pflegestufe. Frauen mit erklärt, dass es sich hier zum Teil um haus
sind wegen ihrer oftmals stärker pflegerelevanten wirtschaftlichen Hilfebedarf handelt, der unter
Erkrankungen stärker betroffen als Männer. Zu halb der Kriterien des SGB XI liegt. Ein weiterer
gleich dauert die in pflegebedürftigem Zustand Teil der Personen, die sich als hilfebedürftig an
verbrachte Lebensphase für sie länger, da sie sehen, stellt in Erwartung eines abschlägigen Be
länger leben. Weitere Informationen dazu finden scheids erst gar keinen Antrag auf Anerkennung
sich im Kapitel 3.3. einer Pflegestufe.
Die Daten der hier ausgewerteten Pflegesta Die Studie MuG III liefert Aussagen zu Be
tistik lassen keine Rückschlüsse auf Pflegebiogra einträchtigungsprofilen in privaten Haushalten
fien (Alter bei Zuerkennung einer Pflegestufe, lebender Pflegebedürftiger, differenziert nach de
Verweildauern, Übergänge zwischen den Stufen) ren Pflegestufen. Die Daten zeigen sehr deutlich
und auf differenzierte Beeinträchtigungsprofile den Zusammenhang zwischen den Funktionsein
zu. Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich schränkungen und der Pflegestufe. Auffällig ist,
diese Daten ausschließlich am sozialrechtlich ge dass Hilfebedürftige ohne Pflegestufe vor allem
prägten Begriff der Pflegebedürftigkeit nach § 15 in den nichtkörperbezogenen, etwas komplexeren
SGB XI orientieren. Dieser stark an somatische Bereichen Aktivitätseinbußen und akuten Un
Einschränkungen und an funktionale Verrich terstützungsbedarf benennen (siehe Abbildung
tungen geknüpfte Begriff wird von den in der 2.2.4.2).
Pflegewissenschaft, Gerontologie, Medizin und Bezüglich kognitiver Beeinträchtigungen er
Pflegepraxis Tätigen kritisiert, da er geronto gab die Studie, dass 48 % der in Privathaushalten
psychiatrische Risiken wie z. B. demenzielle Er lebenden Pflegebedürftigen mit anerkannter Pfle-
krankungen und entsprechende Pflegebedarfe gestufe und 24 % der sonstigen Hilfebedürftigen
in der Begutachtungspraxis bisher zu wenig be in unterschiedlichen Schweregraden davon betrof
rücksichtigt, ebenso wie multiple Funktionsein fen sind [15].
schränkungen und Versorgungsbedarfe infolge Standen bisher die Einschränkungen bei
chronischer Krankheiten. Die von der Bundesre den ADL und IADL von älteren Menschen in
gierung im Jahr 2006 angestoßene Reform des Privathaushalten im Mittelpunkt, so soll im Fol
Pflegebedürftigkeitsbegriffes greift diese Kritik genden das Augenmerk auf die Bewohnerinnen
auf. Ende 2008 wird der vom Bundesministe und Bewohner in Pflegeeinrichtungen gelegt
rium für Gesundheit einberufene »Beirat zur werden. In welchem Umfang ist dieser Bevölke
Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes« rungsgruppe aufgrund ihrer gesundheitlichen
Gesundheit und Krankheit im Alter 71
Abbildung 2.2.4.2
Ausgewählte Einschränkungen bei körperbezogenen alltäglichen Verrichtungen – Leistungsbezieher der Pflegeversicherung
und sonstige Hilfebedürftige in Privathaushalten zum Jahresende 2002
Quelle: TNS Infratest Repräsentativerhebung 2002 [15]
sich duschen/waschen
An-/Ausziehen
Toilette benutzen
Einkaufen
Sonstige Hilfebedürftige
Saubermachen Stufe 1
Stufe 2
Mahlzeiten zubereiten
Stufe 3
Finanzen regeln
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Prozent
Abbildung 2.2.4.3
Bewohnerinnen und Bewohner von Alteneinrichtungen in Deutschland nach Einschränkungen bei typischen
alltäglichen Verrichtungen 2005
Quelle: TNS Infratest-Heimerhebung 2005 [16]
Duschen/Waschen
An-/Ausziehen
Wasser/Stuhl halten
Zimmer umhergehen
Essen/Trinken
Einschätzungen des
Betreuungspersonals:
Öffentl. Verkehrsmittel nutzen
Einkaufen
Telefonieren
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Prozent
dem) Verlauf, wie z. B. leichten Schlaganfällen. kus, bei der akuter Hilfebedarf allmählich und im
Bei diesen Menschen ist der, zumeist durch ei unterschwelligen Leistungsbereich von SGB XI
nen konkreten Anlass verursachte Hilfebedarf entsteht.
vergleichsweise niedrig und bleibt im zeitlichen Analysen des Mikrozensus im Jahr 2003 be
Verlauf relativ konstant. Die zweite Gruppe wird legen, dass etwa eine Million Personen sich selbst
von Pflegebedürftigen mit stark progredienten als hilfebedürftig einstufen, jedoch (noch) keine
Krankheitsverläufen, allmählich einsetzendem Leistungen der Pflegeversicherung beziehen. Das
und entsprechend steigendem Hilfebedarf gebil sind weit weniger als sie MuG III (allerdings mit
det, z. B. bei vaskulären Demenzen und Morbus einer anderen Methodik) ausweist. Von dieser sich
Parkinson [17]. selbst als hilfebedürftig bezeichnende Gruppe
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass je haben 37 % keine Pflegestufe. Die anderen 63 %
nach Art und Grad gesundheitlicher Einbußen werden mit Leistungen der Pflegeversicherung
Pflegekarrieren recht unterschiedlicher Art ver versorgt. Im Vergleich zu 1999 ist die Gruppe
ursacht werden. Bestimmte Krankheiten können hilfebedürftiger Personen ohne Leistungsbezug
recht plötzlich den Pflegebedarf auslösen, in an um mehr als 13 % angewachsen. Zwei Drittel
deren Fällen kündigt sich dieser Zustand eher der Gruppe sind Frauen. Im Vergleich zu den
langfristig und schleichend an. Stabile Verläufe Leistungsbeziehern nach SGB XI sind diese Per
sind möglich, ebenso wie progrediente in unter sonen jedoch deutlich jünger. Nur etwa ein Drit
schiedlichen Intensitäten. tel der Hilfebedürftigen ohne Leistungsbezug ist
In Anbetracht dieser Vielfalt und den nicht 80 Jahre oder älter. Das deutet darauf hin, dass
zu übersehenden Unterschieden zwischen sub es sich hier um Personen mit gesundheitlichen
jektiv empfundener und amtlich anerkannter Einschränkungen handelt, die sich möglicherwei
Pflegebedürftigkeit rückt jene Gruppe in den Fo se in einer Einstiegsphase zu einer Pflegekarriere
Gesundheit und Krankheit im Alter 73
Abbildung 2.2.5.1
Prävalenz von Krankheiten/Störungen und Pflegebedarf bei in Haushalten lebenden 75-Jährigen und Älteren, USA 1998
Quelle: AHEAD-Studie 1998 [21]
Hüftfraktur
Hirnleist.-störung
Herzinfarkt
Herzinsuffizienz
Angina pectoris
Lungenkrankheit
Schlaganfall
Psych. Störungen
Diabetes
Krebs
Inkontinenz
Schmerz
Sturzfolgen
Arthritis
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90
Anteil in Prozent
Prävalenz Anteil der Befragten, die aufgrund dieser Krankheit Hilfe/Pflege benötigen
eine auch künftig steigende Lebenserwartung rungen im sozio-ökonomischen Status (in erster
einhergeht mit einer Reduzierung der Morbidi Linie verbesserte Bildung) oder eine Verminde
tät, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im hohen Al rung anderer Krankheitsauslöser, z. B. bessere
ter, dann müsste die demografische Alterung der Arbeitsbedingungen, Zurückdrängung der Infek
Bevölkerung nicht zwangsläufig zu einer nicht tionskrankheiten. Zum anderen ist der Rückgang
tragbaren Kostensteigerung im Gesundheits- und der Aktivitätsbeeinträchtigungen jedoch nicht
Pflegebereich führen. nur als Verbesserung des Gesundheitszustandes
Wie hat sich die funktionale Gesundheit Äl zu interpretieren. Bestehende funktionale Ein
terer in der jüngeren Vergangenheit entwickelt? schränkungen führen weniger häufig zu Aktivi
Zunächst: Es gibt deutliche Hinweise auf einen tätsbeeinträchtigungen und Hilfebedürftigkeit,
Rückgang funktionaler Beeinträchtigungen inner da Hilfsmittel häufiger eingesetzt werden und
halb der älteren Bevölkerung in den vergangenen technisch hochwertig sind. Dieser verstärkte und
Jahrzehnten [22, 23, 24]. Diese Entwicklung wird erfolgreiche Hilfsmitteleinsatz konnte beispiels
auf unterschiedliche Gründe zurückgeführt [20, weise für die ältesten Alten in den USA nachge
23, 25, 26]. Zum einen sind es Faktoren, die mittel wiesen werden. Zudem haben sich personelle
bar oder unmittelbar auf den Gesundheitszustand Hilfe- und Pflegestrukturen verändert. Informelle
Älterer wirken wie die Verbesserung der medizi Hilfeangebote werden zunehmend durch profes
nischen Behandlung (z. B. bei Bluthochdruck, sionelle Hilfe und Pflege ergänzt bzw. ersetzt, mit
Diabetes, erhöhtem Cholesterinspiegel und ko entsprechenden Konsequenzen für die Förderung
ronarer Herzerkrankung, aber auch Fortschritte der Eigenaktivität der Betroffenen. Zudem gibt es
beim Gelenkersatz), ein verändertes Gesundheits Hinweise darauf, dass sich die Selbstdefinition
verhalten (z. B. Rückgang des Rauchens), Verände von Behinderung in den vergangenen Jahren
Gesundheit und Krankheit im Alter 75
Abbildung 2.2.6.1
Anteil Befragter mit starker Behinderung im Alltag durch Gesundheitszustand* nach Alter 1984, 1992 und 2001
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel, Wellen 1984, 1992 und 2001, nur westdeutsche Befragte, eigene Berechnungen
Prozent
50
40
30
60-69 Jahre
20
70-79 Jahre
80 Jahre und älter
10
* Frage: Von kurzen Erkrankungen einmal abgesehen. Behindert Sie Ihr Gesundheitszustand bei der Erfüllung alltäglicher Aufgaben,
z. B. Haushalt, Beruf oder Ausbildung? (Antwortkategorien: überhaupt nicht, ein wenig, stark (1984: erheblich))
tät [32]. Die häufigsten Krankheiten des höheren mehr als der Unterschied an Lebenserwar
Lebensalters, wie Osteoarthritis, Depressionen, tung in beiden Gruppen [38]. Entscheidend
Alzheimer-Demenz, aber auch Bedingungen wie für weitere Erfolge bei der Verbesserung der
soziale Isolation haben geringe Auswirkungen auf funktionalen Gesundheit wird daher sein,
die Mortalität, aber starke auf die Morbidität. Ein inwieweit es gelingt, ältere Menschen über
Hinauszögern dieser Krankheiten und Lebensum gesundheitsförderliches Verhalten zu infor
stände bzw. eine Verbesserung ihrer Behandlung mieren und sie zu Veränderungen im Ge
könnte die Morbidität deutlich senken, auch ohne sundheitsverhalten zu motivieren.
nennenswerten Einfluss auf die Mortalität.
Insgesamt spricht aus der gegenwärtigen
Datenlage allerdings wenig für massive Verände Literatur
rungen der Morbidität älterer Menschen in der
nächsten Zukunft [33]. Die Verbesserungen in 1. WHO (2001) ICF – Introduction. Genf
2. WHO (2002) Towards a Common Language for Func
der Morbidität und der funktionalen Gesundheit tioning, Disability and Health – ICF. Genf
sind ein eher schrittweiser Prozess mit z.T. wider 3. Schuntermann MF (2006) Die Internationale Klas
sprüchlichen Verläufen. sifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Zwei wesentliche Tendenzen, die bereits ge Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation
(WHO). Kurzeinführung. Deutsche Rentenversiche
genwärtig zu beobachten sind, werden die Ent rung Bund, Berlin
wicklung der funktionalen Gesundheit auch künf 4. Murtagh KN, Hubert HB (2004) Gender Differences
tig prägen: in Physical Disability Among an Elderly Cohort. Am J
▶ Von den Verbesserungen der funktionalen Public Health 94 (8): 1406 – 1411
5. Verbrugge LM (1982) Sex differentials in health. Public
Gesundheit werden nicht alle Bevölkerungs Health Rep 97 (5): 417 – 437
schichten in gleichem Maße profitieren. Ein 6. Margrain TH, Boulton M (2005) Sensory Impairment.
Teil der älteren Bevölkerung hat ein größeres In: Johnson ML, Bengtson VL, Coleman PG et al.
Potenzial, Fortschritte in der Sterblichkeit (Hrsg) The Cambridge Handbook of Age and Ageing.
Cambridge University Press, Cambridge
und in der funktionalen Gesundheit zu re 7. Campbell VA, Crews JE, Moriarty DG et al. (1999)
alisieren als andere. Auf den Geschlechter Surveillance for Sensory Impairment, Activity Limita
unterschied in der funktionalen Gesundheit tion, and Health-Related Quality of Life Among Older
wurde bereits hingewiesen. Demzufolge stel Adults – United States, 1993-1997. Morbidity and Mor
tality Weekly Report 48 (SS-8): 131 – 156
len ältere Frauen eine besondere Zielgruppe 8. Mathers CD, Loncar D (2006) Projections of Global
gesundheitspolitischer Interventionen dar: Mortality and Burden of Disease from 2002 to 2030.
In den meisten westlichen Ländern haben PLoS Medicine 3 (11): e442
Frauen zwar eine höhere Lebenserwartung 9. Robert Koch-Institut (Hrsg) (2002) Gesundheit im Al
ter. Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 10.
als Männer, aber eine geringere Lebenser Robert Koch-Institut, Berlin
wartung in uneingeschränkter Gesundheit. 10. Freedman VA, Martin LG, Schoeni RF (2004) Dis
Ähnliche Differenzen sind auch für andere ability in America Population Bulletin. Population
Sozialindikatoren wie Bildung, Einkommen Reference Bureau, Washington, Vol. 3, S 32
11. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2001) Kurzbericht:
und Ethnizität bereits beschrieben worden Pflegestatistik 1999 – Deutschlandergebnisse. Bonn
[24, 28, 34, 35, 36, 37]. 12. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2007) Pflegestatistik
▶ Die Reduzierung gesundheitlicher Risikofak 2005 – Deutschlandergebnisse. Wiesbaden
toren ist der erfolgversprechendste Weg zur 13. Weick S (2006) Starke Einbußen des subjektiven
Wohlbefindens bei Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit.
weiteren Kompression der Morbidität. Längs Informationsdienst Soziale Indikatoren (35): 12 – 15
schnittstudien aus den USA zeigen beispiels 14. Schneekloth U, Wahl HW (2006) Selbständigkeit und
weise, dass Personen mit einem geringen Hilfebedarf bei älteren Menschen in Privathaushalten.
Ausmaß an Gesundheitsrisiken ein deutlich Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart
15. Schneekloth U, Wahl HW (2005) Möglichkeiten und
geringeres Maß an Hilfebedürftigkeit aufwei Grenzen selbständiger Lebensführung in privaten
sen als Personen mit mehreren Gesundheits Haushalten (MuG III). Repräsentativbefunde und Ver
risiken. Der Beginn der Hilfebedürftigkeit tiefungsstudien zu häuslichen Pflegearrangements,
lässt sich in der Niedrig-Risiko-Gruppe um Demenz und professionellen Versorgungsangeboten.
Integrierter Abschlussbericht im Auftrag des Bundes
7 bis 12 Jahre hinauszögern. Das ist deutlich
78 Gesundheit und Krankheit im Alter
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju recent trends in old-age disability. Journal of Geronto
gend, München logy: Social Sciences 56B (4): S206 – S218
16. Schneekloth U (2006) Hilfe- und Pflegebedürftige in 27. Wolf DA, Hunt K, Knickman J (2005) Perspectives on
Alteneinrichtungen 2005. Schnellbericht zur Reprä the Recent Decline in Disability at Older Ages. Milbank
sentativerhebung im Forschungsprojekt »Möglich Quarterly 83 (3): 365 – 395
keiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in 28. Perenboom R, Herten Lv, Boshuizen H et al. (2005)
Einrichtungen« (MuG IV) im Auftrag des Bundesmi Life Expectancy without Chronic Morbidity: Trends in
nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gender and Socioeconomic Disparities. Public Health
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Gesundheit und Krankheit im Alter 79
dien wurden die objektive und subjektive Gesund gischer) Weise als auch in indirekter Weise (z. B.
heit sowie weitere Informationen von Personen vermittelt über das Gesundheitsverhalten oder die
(wie beispielsweise Alter, sozioökonomischer funktionelle Gesundheit) Einfluss auf die Sterb
Status, Gesundheitsverhalten) untersucht, um zu lichkeit hat. So könnten im Falle optimistischer
prüfen inwieweit diese Informationen die Lebens Einschätzungen die positiven Gefühle als solche
dauer einer Person vorhersagen können. Bemer bereits eine protektive (schützende) Wirkung ha
kenswert an diesen Studien ist die Feststellung, ben (direkter Effekt). Negative Einschätzungen
dass das subjektive Gesundheitserleben die nach wiederum könnten zu Depressionen oder ande
folgende Langlebigkeit bzw. Sterblichkeit besser ren emotionalen Belastungen wie chronischem
vorhersagen kann, als der objektive Gesundheits Stress führen, dadurch das Gesundheitsverhalten
zustand (für eine Übersicht über entsprechende negativ beeinflussen (z. B. erhöhter Tabak- oder
Studien [vgl. 2, 3, 4]). Subjektive und objektive Alkoholkonsum) und auf diese Weise zu vorzei
Gesundheit unterscheiden sich demzufolge nicht tiger Sterblichkeit beitragen (indirekter Effekt).
nur voneinander; vielmehr kommt der subjektiven
Gesundheit eine spezifische Bedeutung im Hin
blick auf die Langlebigkeit zu. Subjektive Gesundheit und ihr Zusammenhang
Die Frage nach dem Grund, weshalb die sub mit anderen Gesundheitsindikatoren
jektive Gesundheit das Mortalitätsrisiko besser
vorhersagen kann als viele objektive Gesundheits Um besser zu verstehen, in welcher Weise sub
maße, wird unterschiedlich beantwortet. Hierbei jektive Gesundheit einen Einfluss auf Langlebig
lassen sich grob zwei Erklärungsansätze unter keit und Sterblichkeit hat, wurde in einer Reihe
scheiden: von Studien untersucht, inwieweit die subjektive
Zum einen handelt es sich um Erklärungen, Gesundheit die körperliche, mentale und funk
die auf die Grenzen medizinischer Messbarkeit tionale Gesundheit beeinflusst. Die Bedeutung
von Erkrankungen hinweisen: Es ist denkbar, dass subjektiver Gesundheit für die Aufrechterhaltung
subtile biologische und physiologische Verände funktionaler Fähigkeiten und die Entwicklung von
rungen mittels objektiver, medizinischer Gesund Beeinträchtigungen und Behinderungen ist hier
heitsmessungen nicht ausreichend erfasst werden bei empirisch am besten belegt.
können, in der subjektiven Einschätzung aber Funktionale Fähigkeiten (vgl. Kapitel 2.2)
durchaus enthalten sind. Personen berücksichti sind ein Maß für die Konsequenzen von Erkran
gen möglicherweise ihr biografisches Wissen über kungen und Beschwerden im Hinblick auf die
zurückliegende Erkrankungen und verschiedene Selbständigkeit und Lebensqualität älterer Men
Aspekte ihres Gesundheitsverhaltens, während schen. Idler und Kasl konnten beispielsweise im
dieses Wissen dem diagnostizierenden Arzt nicht Rahmen einer Längsschnittstudie einen bedeut
oder nur unvollständig bekannt ist [5]. Zudem samen Zusammenhang zwischen subjektiver
besteht bei älteren Personen häufiger die Gefahr, Gesundheit zu Studienbeginn und der Entwick
dass Erkrankungen und Risikofaktoren wie Dia lung funktionaler Fähigkeiten in den Folgejahren
betes und Bluthochdruck medizinisch undiagnos nachweisen [9]. Ältere Befragte, die im Jahr 1982
tiziert bleiben [6] – unter anderem deshalb, weil eine schlechte Gesundheit berichteten, wiesen
ältere Personen eher dazu neigen, Beschwerden sechs Jahre später zweieinhalb mal so oft einen
als »altersgemäß« zu interpretieren und deshalb Rückgang ihrer funktionalen Fähigkeiten auf wie
darauf verzichten, wegen dieser Beschwerden ei Befragte, die sich 1982 eine exzellente Gesundheit
nen Arzt aufzusuchen. attestierten. Diese Beziehung bestand auch unter
Ein anderer Erklärungsansatz geht davon statistischer Kontrolle anderer demografischer
aus, dass die subjektive Gesundheit neben dem und Gesundheitsindikatoren. Daneben zeigte
körperlichen Gesundheitszustand wichtige psy sich, dass ein solcher Zusammenhang eher bei
chosoziale Ressourcen widerspiegelt [7, 8]. Dabei den jüngeren Alten nachzuweisen war, insbeson
wird unter anderem diskutiert, dass die Tendenz dere bei denjenigen, die noch keine Behinderung
zur Über- oder Unterschätzung des eigenen Ge hatten, sich selbst aber eine schlechte Gesundheit
sundheitszustandes sowohl in direkter (physiolo zuschrieben. Auch die Richtung des statistischen
Gesundheit und Krankheit im Alter 81
Zusammenhangs ist bemerkenswert: Eine als Personen mit einer schlechten subjektiven
schlechte subjektive Gesundheit konnte für den Gesundheitseinschätzung [11].
Untersuchungszeitraum funktionale Einbußen Schließlich verweisen mehrere Längsschnitt
vorhersagen. Hingegen war kein Zusammenhang studien darauf, dass Personen, die ihre Gesund
zwischen einer guten subjektiven Gesundheit und heit als schlecht bewerten, auch häufiger zum Arzt
der Erholung von bereits vorhandenen funktio gehen und mit höherer Wahrscheinlichkeit einen
nalen Defiziten zu erkennen. Krankenhausaufenthalt haben als Personen mit
Im Rahmen einer klinischen Studie baten guter Gesundheitseinschätzung [15, 16]. Auch in
Wilcox und Kollegen [10] Personen, die eine ein diesen Studien wurden die Analysen hinsichtlich
schneidende Krankheit (z. B. Schlaganfall, Herz der körperlichen und funktionalen Gesundheit
infarkt, Hüftfraktur) erlebt hatten, sechs Wochen statistisch kontrolliert, so dass die Vorhersage
sowie sechs Monate nach diesem Ereignis ihre des Inanspruchnahmeverhaltens nicht auf Unter
Gesundheit zu bewerten. Patienten, die sechs schiede in der objektiven Gesundheit zurückge
Wochen nach dem Krankheitsereignis ihre sub führt werden kann.
jektive Gesundheit eher schlecht bewerteten,
hatten sechs Monate später größere funktionale
Beeinträchtigungen als Personen mit einer gu 2.3.2 Veränderung des Stellenwerts von
ten subjektiven Gesundheitseinschätzung – und Gesundheit mit steigendem Alter
zwar unabhängig von ihrem Gesundheitszustand
und dem Ausmaß ihrer körperlichen Einschrän Während in der ersten Lebenshälfte gute Gesund
kungen sechs Wochen nach dem Krankheitsereig heit oftmals selbstverständlich ist und Erkran
nis. Die Autoren folgern aus diesen Ergebnissen, kungen überwiegend temporären Charakter ha
dass der subjektiven Gesundheit auch bezüglich ben (z. B. Infektionskrankheiten), verändert sich
der Krankheitsverarbeitung eine wichtige Rolle das Krankheitsgeschehen mit zunehmendem
zukommt. Weitere Längsschnittstudien, die teils Alter. Die Dauer und Schwere von Erkrankungen
auf allgemeinen Bevölkerungsstichproben, teils nimmt zu und es steigt die Wahrscheinlichkeit,
auf klinischen Studien beruhten, kommen zum dass Personen eine oder mehrere, oftmals chro
selben Ergebnis: Eine schlechte subjektive Ge nische Erkrankungen haben. Körperliche Be
sundheit kann den Verlust von funktionalen Fä schwerden sowie regelmäßige Arztbesuche und
higkeiten und damit die Entwicklung funktionaler Medikamenteneinnahme machen den Betrof
Einschränkungen vorhersagen [11, 12, 13]. fenen nachdrücklich deutlich, dass eine gute Ge
Aber auch im Hinblick auf die psychische sundheit weit weniger selbstverständlich ist als in
und kognitive Gesundheit ist die subjektive Ge jüngeren Lebensjahren. Dies führt dazu, dass sich
sundheit von großer Bedeutung. Eine Studie von die Bedeutung der Gesundheit mit steigendem Al
Jang et al. an älteren bis hochaltrigen Personen ter verändert. Hierzu zählt zum einen, dass ältere
(60- bis über 100-jährigen Personen) verweist Menschen oftmals andere Kriterien zur Einschät
darauf, dass die subjektive Gesundheit eine ver zung ihrer Gesundheit heranziehen, zum ande
mittelnde Rolle dabei spielt, ob Krankheiten mit ren, dass die Gesundheit mit steigendem Alter an
Depressionen einher gehen oder nicht [14]. Ob Wichtigkeit gewinnt.
also Personen, die von Krankheiten oder kör
perlichen Einschränkungen betroffen sind, eine
Depression entwickeln, hängt demzufolge mit Kriterien zur Einschätzung des eigenen
von ihrer subjektiven Gesundheitseinschätzung Gesundheitszustandes
ab. Im Rahmen einer 10-jährigen Längsschnitt
studie konnte zudem gezeigt werden, dass In einigen Studien wurden ältere und jüngere Per
eine hohe subjektive Gesundheit mit besserer sonen danach befragt, woran sie denken, wenn
kognitiver Gesundheit einhergeht. Folglich ent sie ihren eigenen Gesundheitszustand einschät
wickelten ältere Personen, die ihre Gesundheit zen. Dabei zeigte sich, dass jüngere und ältere
subjektiv gut bewerteten, mit geringerer Wahr Personen häufig unterschiedliche Kriterien zur
scheinlichkeit eine kognitive Beeinträchtigung Einschätzung ihrer Gesundheit heranziehen. Be
82 Gesundheit und Krankheit im Alter
sonders für Jugendliche, aber auch Personen im Hintergrund von Ergebnissen, die im Rahmen
jungen oder mittleren Erwachsenenalter spielt des Alterssurveys gewonnen wurden. Für insge
das eigene Gesundheitsverhalten bei der Beur samt 21 Themenbereiche sollten die Befragten
teilung des Gesundheitszustandes eine zentrale angeben, in welchem Ausmaß diese Themen ihr
Rolle. Ältere Menschen hingegen beurteilen ihre tägliches Denken und Handeln bestimmen. In Ta
Gesundheit vor allem mit Blick auf vorliegende belle 2.3.2.1 sind die vier am häufigsten genannten
Erkrankungen und körperliche Einschränkungen Themenbereiche getrennt für vier Altersgruppen
[17]. Im höheren Lebensalter kommen teilweise aufgelistet.
zwei zusätzliche Kriterien für eine positive Ge Anhand von Tabelle 2.3.2.1 wird deutlich,
sundheitseinschätzung hinzu: die Abwesenheit dass die Gesundheit im Altersgruppenvergleich
von quälenden Beschwerden sowie die Einschät an Wichtigkeit gewinnt. Während die Gesundheit
zung, dass der eigene Gesundheitszustand besser in der Gruppe der 40- bis 54-Jährigen noch auf
ist als jener von Gleichaltrigen [18, 19]. Es gibt Rang 9 liegt und deshalb nicht in der Tabelle dar
jedoch Hinweise darauf, dass diese unterschied gestellt ist, ist sie in der Altersgruppe der 55- bis
lichen Kriterien, die zur Beurteilung der eigenen 64-Jährigen bereits auf Rang 4 von insgesamt 21
Gesundheit herangezogen werden, weniger vom untersuchten Themenbereichen vorgerückt. Die
Alter als vielmehr vom Gesundheitszustand ab Gruppe der 65- bis 74-Jährigen nennt Gesundheit
hängen: Haben Personen keine wesentlichen Er als zweitwichtigstes Thema und in der Alters
krankungen oder Einschränkungen, so erklären gruppe der 75- bis 84-Jährigen wird Gesundheit
sie ihr Befinden tendenziell unter Verweis auf ihr als wichtigstes Thema bewertet. Vergleicht man
Gesundheitsverhalten. Die Gesundheitseinschät innerhalb jeder der vier Altersgruppen die Rang
zung von Personen mit Erkrankungen oder Behin folge der Themenbereiche für Frauen und Män
derungen orientiert sich hingegen eher an vorlie ner miteinander, wird deutlich, dass sich nur in
genden Symptomen, Beschwerden oder auch an der jüngsten Altersgruppe (40 bis 54 Jahre) Ge
notwendiger Medikamenteneinnahme [20]. schlechtsunterschiede zeigen. Männer dieser Al
tersgruppe bewerten den Gesundheitszustand als
weniger wichtig im Vergleich zu Frauen, während
Wichtigkeit von Gesundheit sich in den anderen Altersgruppen Männer und
Frauen nicht wesentlich unterscheiden.
Die mit dem Lebensalter steigende Vulnerabilität
(Anfälligkeit) für Erkrankungen führt nicht nur
dazu, dass sich die Kriterien zur Gesundheitsein 2.3.3 Subjektives Gesundheitserleben im Alter
schätzung verändern. Vielfach gewinnt auch der
eigene Gesundheitszustand im täglichen Leben Die über die Altersgruppen hinweg steigende Be
an Wichtigkeit. Anschaulich wird dies vor dem deutung von Gesundheit korrespondiert mit einer
Tabelle 2.3.2.1
Rangfolge der vier wichtigsten Themenbereiche nach Alter 2002
Quelle: Alterssurvey, Basisstichprobe 2002, eigene Berechnungen
In Abbildung 2.3.4.1 ist der Anteil von Per somit seltener über mangelnde Vitalität klagen als
sonen dargestellt, die während der letzten vier gleichaltrige Frauen, ist bei den 75-Jährigen und
Wochen vor der Befragung ziemlich stark oder Älteren hingegen kein Geschlechtsunterschied
sehr stark durch Schmerzen eingeschränkt wa mehr festzustellen: 65 % der Frauen und Männer
ren. Deutlich werden hierbei sowohl Alters- als dieser Altersgruppe berichten über eine mangeln
auch Geschlechtsunterschiede. Während in der de Vitalität.
Altersgruppe der 40- bis 54-jährigen Personen Obwohl mit steigendem Alter oftmals die
noch 28 % der Frauen und 21 % der Männer da körperliche Gesundheit schlechter wird, vermehrt
rüber berichten, dass sie durch starke Schmerzen Schmerzen auftreten und die Vitalität abnimmt,
eingeschränkt waren, liegt diese Zahl bei den berichten ältere Personen insgesamt über ein
75- bis 84-jährigen Personen bei 47 % (Frauen) gutes psychisches Wohlbefinden. In Abbildung
bzw. 32 % (Männer). Im höheren Lebensalter sind 2.3.4.2 ist dargestellt, wie viele Personen ihr psy
somit mehr Frauen und Männer aufgrund von chisches Wohlbefinden als ziemlich oder sehr
starken Schmerzen beeinträchtigt. Frauen berich stark beeinträchtigt erleben. Über alle betrachte
ten in allen Altersgruppen häufiger von starken ten Altersgruppen hinweg zeigt sich hierbei, dass
Schmerzen, wobei sich im höheren Alter größere sich weniger als ein Viertel der Personen in ih
Unterschiede zwischen Frauen und Männern zei rem Wohlbefinden beeinträchtigt erleben. Hierbei
gen als noch im Alter von 40 bis 54 Jahren. handelt es sich um etwa jede vierte Frau und jeden
Über die Altersgruppen hinweg nimmt zu fünften Mann der betrachteten Altersgruppen. Im
dem die Vitalität ab – Ältere fühlen sich häufiger Altersgang ist hierbei kein Anstieg festzustellen.
erschöpft und müde, wie die Ergebnisse des Te Ähnlich zeigt sich dies auch für die soziale
lefonischen Gesundheitssurveys zeigen. In der Funktionsfähigkeit. Soziale Funktionsfähigkeit
Altersgruppe der 40-bis 54-Jährigen klagen 44 % meint das Ausmaß, in dem die körperliche Ge
der Männer und 50 % der Frauen über mangelnde sundheit oder emotionale Probleme normale
Vitalität. Während in dieser Altersgruppe Männer soziale Aktivitäten beeinträchtigen. Starke Be
einträchtigungen hinsichtlich der sozialen Funk
tionsfähigkeit sind für 16 % der Frauen und 13 %
Abbildung 2.3.4.1 der Männer in der Altersgruppe der 40- bis 54-Jäh
Anteil der Frauen und Männer verschiedener Alters rigen festzustellen. In der Altersgruppe der 75- bis
gruppen, die aufgrund von ziemlich starken oder sehr
starken Schmerzen eingeschränkt sind 2003
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003, eigene
Berechnungen Abbildung 2.3.4.2
Anteil der Frauen und Männer verschiedener Altersgruppen,
Prozent die über ziemlich starke oder sehr starke Einschränkungen
in ihrem psychischen Wohlbefinden berichten 2003
60
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003, eigene
Berechnungen
50
Prozent
40 40
30 30
20 20
10 10
84-jährigen Personen ist der Anteil nahezu der zugleich ableiten, dass sich mit steigendem Al
gleiche (17 % der Frauen, 13 % der Männer), und ter die subjektive Gesundheit einer Person ver
auch in den mittleren Altersgruppen der 55- bis schlechtert?
64-Jährigen sowie 65- bis 74-Jährigen finden sich Dies kann, muss aber nicht unbedingt der
vergleichbare Werte. Dies weist darauf hin, dass Fall sein. Denn Altersgruppenvergleiche im Quer
Einschränkungen der sozialen Funktionsfähigkeit schnitt können zwar bestehende Unterschiede
nicht mit dem Alter ansteigen. aufzeigen, nicht aber unmittelbar belegen, dass
Die Betrachtung verschiedenen Komponen sich die subjektive Gesundheit mit steigendem
ten gesundheitsbezogener Lebensqualität ver Alter tatsächlich verschlechtert. Dies liegt daran,
anschaulicht, dass sich die Lebensqualität nicht dass die besagten Altersgruppenunterschiede
generell über die Altersgruppen hinweg ver nicht allein auf individuelle Entwicklungen zu
schlechtert. Zwar verschlechtern sich Aspekte der rückzuführen sein müssen. Sie können auch
körperlichen Lebensqualität z. B. durch die Zu auf Kohortenunterschiede oder Periodeneffekte
nahme von Schmerzen, die psychische Lebens zurückzuführen sein [24]. Nachfolgend werden
qualität bleibt jedoch über die Altersgruppen hin diese insgesamt drei Erklärungsmöglichkeiten
weg weitgehend stabil. Die dargestellten Befunde beschrieben und damit der Frage nachgegangen,
weisen darauf hin, dass ältere Menschen oftmals wie Altersgruppenunterschiede im Querschnitt
trotz gesundheitlicher Probleme in der Lage sind, interpretiert werden können.
ein gutes psychisches Wohlbefinden und soziale
Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Erklärung 1 – Kohortenunterschiede
eignis (wie z. B. dem Reaktorunglück von Tscher Unterschiede in Querschnittdaten lassen sich
nobyl 1986) das subjektive Gesundheitserleben deshalb oftmals nicht eindeutig interpretieren. Im
in der Bevölkerung besonders gut oder schlecht Altersgang zu erkennende Entwicklungen (z. B.
ist. Neben Ereignissen zählen auch Prozesse zu eine über die Altersgruppen hinweg abnehmende
Periodeneffekten, z. B. die breite gesellschaftliche subjektive Gesundheit) können individuelle Ent
Einführung von Computern oder die Änderung wicklungen, die mit dem Älterwerden einherge
von gesetzlichen Regelungen. Zwischen Kohor hen, sowohl unter- als auch überschätzen. Es ist
ten- und Periodeneffekten ist nur ein schmaler deshalb wichtig, näher zu betrachten, inwieweit
Grat: Periodeneffekte sind ein Produkt individu Altersgruppenunterschiede auf Kohortenun
eller Veränderungen, bedingt durch ein Ereignis terschiede, Periodeneffekte oder eine mit dem
oder einen Prozess; bei Kohorteneffekten steht Älterwerden schlechter werdende subjektive Ge
hingegen die Stabilität im Vordergrund, beispiels sundheit zurückzuführen sind. Denn nur so lässt
weise die nachhaltige Prägung durch die Zeit der sich besser verstehen, worauf Veränderungen der
Studentenbewegung. subjektiven Gesundheit im Altersgang zurückzu
führen sind. Dies wird im Folgenden anhand von
Ergebnissen des Sozio-oekonomischen Panels
Erklärung 3 – Individuelle Entwicklung und des Alterssurveys beschrieben.
Die zeitliche Entwicklung der subjektiven
Schließlich können bestehende Altersgruppenun Gesundheit kann mit Daten des Sozio-oekono
terschiede natürlich auch – ganz im Sinne der wei mischen Panels (SOEP) für die Jahre 1994 bis
ter oben beschriebenen Deutung – ein Hinweis 2006 nachgezeichnet werden (siehe Abbildung
darauf sein, dass sich mit steigendem Alter die 2.3.5.1). Hierbei wird deutlich, wie beispielswei
subjektive Gesundheit verschlechtert. Meist wer se Personen, die im Jahr 1994 im Alter zwischen
den Altersgruppenunterschiede in dieser Weise 40 und 54 Jahren alt waren, ihre Gesundheit ein
interpretiert. Die beiden zuvor diskutierten Punkte schätzten und wie demgegenüber die Gesund
machen darauf aufmerksam, dass dies aber nicht heitseinschätzung jener Personen ausfällt, die
immer die richtige und vor allem nicht unbedingt erst im Jahr 2006 dieses Alter erreichten. Anhand
die einzige Interpretation sein muss: Die mit dieser Darstellung zeigt sich, dass sich der Anteil
dem Älterwerden einhergehende Veränderung der Männer und Frauen mit sehr guter oder guter
der subjektiven Gesundheit kann beispielsweise allgemeiner Gesundheit in der Altersgruppe der
eine andere sein als jene die sich über Kohorten 40- bis 54-Jährigen kaum verändert hat. Hinge
hinweg vollzieht. In der historischen Entwicklung gen lässt sich für die 55- bis 64-Jährigen und die
können nachfolgende Geburtsjahrgänge eine bes 65- bis 74-Jährigen vor allem in den letzten Jahren
sere subjektive Gesundheit haben. Auf der Ebene eine Verbesserung der Gesundheitseinschätzung
der individuellen Entwicklung kann die subjektive feststellen. Besonders deutlich zeichnet sich dies
Gesundheitseinschätzung über die Zeit trotzdem bei Frauen im Alter von 55 bis 64 Jahren ab: Im
negativer werden, weil Personen die Erfahrung Jahr 1994 gaben 27 % der Frauen diesen Alters
machen, dass sich ihr Gesundheitszustand mit an, einen sehr guten oder guten Gesundheitszu
steigendem Alter verschlechtert. Sofern beide stand zu haben, im Jahr 2006 waren es 36 %. In
Entwicklungen gleichzeitig eine Rolle spielen, der Gruppe der 75- bis 84-jährigen Männer sind
überschätzt die in Abbildung 2.3.3.1 dargestellte wiederum keine bedeutsamen Veränderungen
Verschlechterung der subjektiven Gesundheit festzustellen, bei den Frauen gleichen Alters hat
im Altersgang die tatsächliche individuelle Ver der Anteil mit sehr guter oder guter selbsteinge
schlechterung – denn in diesem Fall bliebe auf schätzter Gesundheit sogar abgenommen und
der Grundlage eines Querschnittvergleiches un zwar von 19 % auf 14 %.
berücksichtigt, dass Personen, die heute 70 oder Diese Ergebnisse für altersgleiche Personen
80 Jahre alt sind, bereits im mittleren Erwachse unterschiedlicher Geburtskohorten weisen darauf
nenalter eine weniger gute Gesundheitseinschät hin, dass es bei nachfolgenden Geburtsjahrgän
zung hatten als jene Personen, die gegenwärtig im gen keinen allgemeinen Trend hin zu einer bes
mittleren Erwachsenenalter sind. seren subjektiven Gesundheit gibt im Vergleich
Gesundheit und Krankheit im Alter 87
Abbildung 2.3.5.1
Anteil der Männer und Frauen verschiedener Altersgruppen mit sehr guter oder guter Selbsteinschätzung
des allgemeinen Gesundheitszustandes 1994 bis 2006
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel 1994 bis 2006, eigene Berechnungen
Prozent
60
Frauen Männer
50
40 40–54 Jahre
55–64 Jahre
30
65–74 Jahre
20 75–84 Jahre
10
1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006
Jahr
zu früher geborenen Jahrgängen. In diesem Fall folgenden beiden Darstellungen eine getrennte
wäre zu erwarten, dass die Effekte nicht nur für Betrachtung von unterschiedlichen Geburtsjahr
die 55- bis 74-Jährigen festzustellen sind, sondern gängen (siehe Abbildung 2.3.5.2) und individu
sich mindestens auch für die 40- bis 54-Jährigen ellen Entwicklungen der subjektiven Gesundheit
zeigen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Anhand (siehe Abbildung 2.3.5.3).
von Abbildung 2.3.5.1 lässt sich die zeitliche Im Rahmen des Alterssurveys wurden im
Entwicklung über 13 Untersuchungsjahre nach Jahr 1996 Personen befragt, die im Alter zwi
zeichnen, was eindeutigere Rückschlüsse auf Ent schen 40 und 85 Jahren waren (Basisstichprobe
wicklungen zulässt als Abbildung 2.3.3.1, in der 1996). Sechs Jahre später, also im Jahr 2002, wur
Altersgruppenunterschiede im Querschnitt dar den erneut 40- bis 85-jährige Personen befragt
gestellt sind. (Basisstichprobe 2002). Durch diese Befragung
Die Darstellung in Abbildung 2.3.5.1 bildet von gleichaltrigen Personen zu unterschiedlichen
jedoch nicht nur ausschließlich einen Kohorten Zeitpunkten lassen sich Personen, die 1996 bei
vergleich ab, sondern enthält zugleich eine indi spielsweise 65 Jahre alt waren (Geburtsjahrgang
viduelle Entwicklungsperspektive. Grund hierfür 1931) mit jenen vergleichen, die sechs Jahre später
ist, dass eine Person, die 1994 beispielsweise 70 das gleiche Alter erreicht haben (Geburtsjahrgang
Jahre alt war, auch an den Wiederholungsbefra 1937). Da es sich in diesem Fall um zwei getrennte
gungen (z. B. der Jahre 1996, 1998, 2000) teil Basisstichproben handelt, enthält die nachfol
nahm und bei diesen Befragungen entsprechend gende Abbildung 2.3.5.2 keine individuellen Ent
älter (d. h. im Alter von 72, 74, 76 Jahren) war. Die wicklungen von Personen im Zeitverlauf. Viel
Abbildung enthält damit zugleich die individuelle mehr werden hier verschiedene Geburtskohorten
Entwicklung von wiederholt befragten Personen miteinander verglichen, wenn sie das gleiche Alter
und nicht ausschließlich Unterschiede zwischen erreicht haben.
verschiedenen Geburtsjahrgängen (bzw. Geburts Vergleicht man anhand von Abbildung 2.3.5.2
kohorten). Ergänzend erfolgt deshalb in den nach- die Angaben gleichaltriger Personen verschie
88 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 2.3.5.2
Bewertung der eigenen Gesundheit: Vergleich verschiedener Geburtskohorten im gleichen Alter 1996 und 2002
Quelle: Alterssurvey, Basisstichproben 1996, 2002, eigene Berechnungen
Mittelwert
4,5
4,0
3,5
3,0
2,5
2,0
0,5
dener Geburtsjahrgänge, wird deutlich, dass sich Geburtskohorten festzustellen sind, verweist da
drei der insgesamt sieben dargestellten Geburts rauf, dass hierbei vielmehr ein Periodeneffekt eine
kohorten statistisch bedeutsam unterscheiden. Rolle spielen könnte (vgl. Erklärung 2). Ein Ver
Diese Kohorten umfassen die Altersgruppen der gleich der Erwerbsbeteiligung dieser Altersgrup
52- bis 57-Jährigen, 58- bis 63-Jährigen und 64 pen in den Jahren 1996 und 2002 zeigt, dass im
bis 69-Jährigen; sie sind grafisch jeweils durch Jahr 2002 mehr Personen dieser Altersgruppen
eine Umrandung hervorgehoben. Bei diesen Al erwerbstätig oder im Ruhestand waren, während
tersgruppen zeigt sich, dass die nachfolgenden hingegen weniger Personen nicht-erwerbstätig
Geburtsjahrgänge tatsächlich eine (statistisch sig (insbesondere arbeitslos) waren als noch 1996
nifikant) bessere subjektive Gesundheit haben als [25]. Es ist bekannt, dass Nicht-Erwerbstätigkeit
jene die sechs Jahre vor ihnen geboren wurden. – vor allem aufgrund eines Arbeitsplatzverlustes
Erkennbar ist aber auch, dass diese Unterschiede – mit schlechterer körperlicher, psychischer und
weder für jüngere Altersgruppen (40 bis 51 Jahre) subjektiver Gesundheit einhergeht, beruflicher
noch für ältere Altersgruppen (70 bis 81 Jahre) be Wiedereinstieg hingegen mit besserer Gesund
stehen. Dies entspricht den Befunden des Sozio heit [26, 27]. Möglicherweise sind die aufgezeigten
oekonomischen Panels (siehe Abbildung 2.3.5.1). Unterschiede also auf einen Rückgang des Anteils
Beide Abbildungen stützen somit nicht die These, nicht-erwerbstätiger Personen zurückzuführen.
dass nachfolgende Kohorten mit einer besseren Vor dem Hintergrund geänderter gesetzlicher
subjektiven Gesundheit ins Alter kommen als vor Regelungen wie der Anhebung der Ruhestands
ihnen geborene Geburtskohorten. Der Befund, grenze und der Erhöhung von Rentenabschlägen
dass nur für Altersgruppen rund um das Ruhe bei vorzeitigem Übergang in den Ruhestand, ist
standsalter Unterschiede zwischen verschiedenen offen, ob sich diese Tendenz einer besseren Ge
Gesundheit und Krankheit im Alter 89
Abbildung 2.3.5.3
Bewertung der eigenen Gesundheit: Individuelle Veränderungen der subjektiven Gesundheit
im Sechs-Jahresvergleich 1996 bis 2002
Quelle: Alterssurvey, Längsschnittstichprobe 1996/2002, eigene Berechnungen
Mittelwert
5,0
4,5
4,0
3,5
3,0
2,5
2,0
1,5
1,0
40–45 46–51 52–57 58–63 64–69 70–75 76–81
Alter in Jahren
90 Gesundheit und Krankheit im Alter
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92 Gesundheit und Krankheit im Alter
zum Berechnungszeitpunkt geltenden Sterbe ten Tafeln, sind jene zu unterscheiden, die von der
raten konstant erhalten bleiben. Da dies jedoch Versicherungswirtschaft mit einer Ausrichtung
real nicht der Fall ist, kann dieser Wert nur eine auf konkrete Versicherungszwecke berechnet
Schätzung der tatsächlich zu lebenden Zeit sein. werden, und nicht primär der Beschreibung von
Häufigste Verwendung findet die zum Zeitpunkt Sterblichkeitsverhältnissen dienen.
der Geburt berechnete Lebensdauer (Lebenser
wartung Neugeborener). Wird für spätere Lebens
alter die noch verbleibende Lebenszeit geschätzt, Lebenserwartung in Deutschland
spricht man von der ferneren Lebenserwartung
im Alter x [2]. Die Daten werden aus sogenann Seit der ersten Aufzeichnung von Sterbetafeln
ten Sterbetafeln abgeleitet. Diese basieren auf wird eine kontinuierliche Zunahme der Lebenser
der Schätzung von Überlebens- bzw. Sterbewahr wartung verzeichnet. Im Vergleich der Sterbetafel
scheinlichkeiten und zeigen in tabellarischer 1871/1881 bis heute ist für weibliche Neugeborene
Form die »Absterbeordnung« eines Bevölke ein Zugewinn von 44 Lebensjahren, für männ
rungsbestandes. Dafür werden unterschiedliche liche Neugeborene von 41 Jahren zu verbuchen.
Methoden eingesetzt [3, 4, 5]. Prinzipiell werden 65-jährige Frauen leben im Durchschnitt 10 Jah
Sterbetafeln für Frauen und Männer getrennt re länger, gleichaltrige Männer 7 Jahre. Für die
berechnet, da biologische und soziale Faktoren 85-Jährigen stieg die Lebenserwartung um drei
hinsichtlich der Sterbewahrscheinlichkeit eine Jahre bei Frauen und um zwei Jahre bei Männern
bedeutende Geschlechtsspezifik aufweisen (siehe (siehe Tabelle 2.4.1.1).
hierzu weiter unten). Tabelle 2.4.1.2 veranschaulicht die Entwick
Daten zur Lebenserwartung wurden in lung der Lebenserwartung als relativen Verlauf.
Deutschland erstmalig im Jahr 1871 auf der Für drei verschiedene Lebensalter wird der re
Grundlage der ersten allgemeinen Sterbetafel lative Anstieg in unterschiedlichen Zeitphasen
ausgewiesen. Allgemeine Sterbetafeln werden in ausgewiesen. Die Daten belegen, dass das heutige
der Regel nach Volkszählungen erstellt. Zwischen Niveau der Lebenserwartung im historischen Zeit
den Volkszählungen werden in Deutschland seit verlauf keineswegs gleichmäßig erreicht wurde.
1957 jährlich so genannte abgekürzte Sterbetafeln Und es wird deutlich, dass die ausgewählten Le
für Dreijahreszeiträume berechnet. Sie sind die bensalter ungleichmäßig stark an dieser Entwick
Grundlage für die folgenden Analysen. Von die lung partizipieren. Diese Tatsache reflektieren
sen, seitens des Statistischen Bundesamtes erstell- auch die Verläufe der altersspezifischen Sterbe-
Tabelle 2.4.1.1
Lebenserwartung bei Geburt sowie im Alter von 65 und 85 Jahren nach Geschlecht,
Deutschland für den Zeitraum 1871/1881 bis 2004/2006* (Angabe in Jahren)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Allgemeine Sterbetafeln in abgekürzter Form [6]
Tabelle 2.4.1.2
Veränderung der Lebenserwartung bei Geburt sowie im Alter von 65 und 85 Jahren nach Geschlecht, Deutschland*
im Zeitvergleich 1871/1881 bis 2004/2006 (Anstieg in %)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Allgemeine Sterbetafeln in abgekürzter Form, eigene Berechnungen [6]
Abbildung 2.4.1.1
Entwicklung der Sterbewahrscheinlichkeiten in Deutschland* seit 1871/1881 bis 2004/2006 nach Geschlecht
Quelle: Statistisches Bundesamt, Periodensterbetafeln [6]
Frauen
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
1,00000 Alter
0,10000
1871/81
0,01000 1901/10
1949/51
0,00100 2004/06
0,00010
0,00001
log. Maßstab
Männer
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
1,00000 Alter
0,10000
1871/81
0,01000 1901/10
1949/51
0,00100 2004/06
0,00010
0,00001
log. Maßstab
* 1871/1881 und 1901/1910 Deutsches Reich, jeweiliger Gebietsstand, 1949/1951 Früheres Bundesgebiet, 2004/2006 Deutschland
96 Gesundheit und Krankheit im Alter
Frauen leben länger als Männer – das ist ein bis in das letzte Drittel des vergangenen Jahrhun
seit langem bekanntes Phänomen. Schon neuge derts an. Seit Ende des 20. Jahrhunderts nimmt
borene Mädchen haben eine um 5,5 Jahre höhere jedoch die Lebenserwartung der Männer wieder
Lebenserwartung als männliche Neugeborene. schneller zu, der Überschuss an Lebensjahren von
Diese Unterschiede setzen sich in allen höheren Frauen gegenüber Männern wird kleiner.
Lebensjahren fort, auch wenn die Differenzbe Diese Entwicklungsdynamik ist auch hin
träge mit zunehmendem Alter sinken. Der Vor sichtlich der Lebenserwartung Älterer zu beobach
sprung an Lebenserwartung gegenüber den Män ten: Hatten um die Wende zum 20. Jahrhundert
nern beträgt heutzutage bei 65-jährigen Frauen 60-jährige Frauen noch etwa ein Jahr mehr an Le
3,4 Jahre, bei 85-jährigen Frauen noch 0,8 Jahre. benserwartung vor sich als gleichaltrige Männer,
Dass Frauen ein längeres Leben haben als so waren es Mitte der 1970er-Jahre bereits über
Männer ist nicht immer so gewesen: Bis zum 19. vier Jahre Differenz (siehe Abbildung 2.4.1.2). In
Jahrhundert wiesen Frauen eine höhere Gesamt den dann folgenden Jahrzehnten begann sich die
sterblichkeit auf als Männer, vor allem aufgrund se Differenz jedoch zu verringern, zunächst in den
der hohen Müttersterblichkeit. Diese Situation angelsächsischen und nordeuropäischen Ländern,
wurde zudem durch die im Vergleich zu heute be später in Frankreich und den Mittelmeerländern.
trächtlich höheren Geburtenzahlen verschärft. Im Als Ursachen für die längere Lebenserwar
Verlauf des 19. Jahrhunderts begannen sich diese tung der Frauen bzw. für die höhere Sterblichkeit
Verhältnisse umzukehren [9]. Bei den Frauen stieg der Männer werden heute sowohl biologische als
die Lebenserwartung dann über lange Zeiträume auch verhaltens- und umweltabhängige Gründe
schneller an als bei den Männern. Dieser Prozess angesehen. Frauen haben einen biologischen
war international zu beobachten und dauerte etwa Überlebensvorteil aufgrund ihrer genetischen und
Abbildung 2.4.1.2
Differenz der Lebenserwartung im Alter von 60 Jahren zwischen Frauen und Männern in Deutschland 1961/1963 bis
2004/2006* (positiver Saldo der Frauen in Jahren)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Allgemeine Sterbetafeln in abgekürzter Form, eigene Berechnungen [6]
2004/06
2003/05
2002/04
2001/03
1996/98
1991/93
1985/87
1980/82
1975/77
1971/73
1965/67
1961/63
0 1 2 3 4 5
Differenz in Jahren
hormonellen Disposition, der schwierig zu quanti große Unterschiede in Abhängigkeit vom So
fizieren ist, nach Schätzungen aber nicht mehr als zialstatus der Personen zu konstatieren (vgl. auch
1 bis 2 Jahre Lebenserwartung im jungen Erwach Kapitel 3.2). Die Komplexität der ursächlichen
senenalter ausmacht [9]. Der weitaus größere Zusammenhänge von Bildung, Einkommen,
Teil des Unterschieds in der Lebenserwartung ist Berufsstand, Arbeitsbedingungen, Wohnumfeld
offenbar durch verhaltens- bzw. umweltbedingte und dergleichen mit Gesundheit und Lebens
Geschlechterunterschiede verursacht. Män erwartung ist jedoch bei weitem noch nicht er
ner verhalten sich weniger gesundheitsbewusst forscht. Bisherige empirische Befunde analysie
(Rauchverhalten, Alkoholkonsum u.ä.) und sind ren zumeist die Wirkung nur eines der sozialen
mehr umweltspezifischen Risiken ausgesetzt als Faktoren auf die Lebenserwartung. So verweisen
Frauen (soziale und berufliche Stressbelastung, aktuelle Analysen zu Einkommensunterschieden
Langzeitwirkungen der Weltkriege) [9]. beispielsweise auf die Tendenz, dass die Aussicht
Welche Erklärung gibt es für die Verringe auf ein langes und gesundes Leben umso eher
rung der Geschlechterdifferenzen in der Sterb besteht, je höher das Einkommen ist [11]. In Ab
lichkeit in den letzten Jahren? Dieser Trend ist zu hängigkeit vom Sozialstatus wird ein soziales Ge
großen Teilen darauf zurückzuführen, dass beide fälle der Sterblichkeit konstatiert, welches über ein
Geschlechter in unterschiedlicher Weise von den spezifisches Gesundheits- und Sozialverhalten der
Sterblichkeitsrückgängen bei degenerativen Er Menschen vermittelt ist, wobei weitere persönlich
krankungen profitierten. Das trifft vor allem auf keitsbezogene Faktoren wie die Sozialisation im
die Herz-Kreislauf-Mortalität zu, die einen großen Elternhaus, soziale Kompetenzen oder genetische
Teil der Todesfälle verursacht. Die Sterblichkeit an Veranlagungen ebenso Berücksichtigung finden
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sank bei Männern müssen [12, 13, 14].
schneller als bei Frauen, auch aufgrund eines sich Welchen Einfluss unterschiedliche gesell
langsam verändernden Gesundheitsverhaltens schaftliche Systeme mit spezifischen wirtschaft
der Männer [10]. lichen, kulturellen und sozialen Rahmenbe
Neben diesen geschlechtsspezifischen Diffe dingungen auf Mortalitätsrisiken und auf das
renzierungen der Lebenserwartung sind weitere Sterbegeschehen ihrer Bevölkerung haben, belegt
Abbildung 2.4.1.3
Lebenserwartung bei der Geburt in Ost- und Westdeutschland nach Geschlecht 1956 bis 2005
Quelle: Rostocker Zentrum für Demografischen Wandel [17]
Lebenserwartung in Jahren
85
80
Westdeutschland
Frauen
Ostdeutschland
75 Frauen
Westdeutschland
Männer
Ostdeutschland
70
Männer
65
1956 1961 1966 1971 1976 1981 1986 1991 1996 2001 2005
Jahr
98 Gesundheit und Krankheit im Alter
der Vergleich der Lebenserwartung im geteilten parallel zu den »Rekordländern« (siehe Abbildung
Deutschland. Abbildung 2.4.1.3 zeigt am Verlauf 2.4.1.4). Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass
der Lebenserwartung bei Geburt, wie intensiv sich sich diese Entwicklung einem Endpunkt nähert
systemimmanente Unterschiede z. B. hinsichtlich oder abflacht.
der Lebensqualität, der verfügbaren medizin Demografen verweisen auf den scheinbar
technischen Standards, der Umweltrisiken, der widersprüchlichen Tatbestand, dass der Evolu
Arbeitswelt mit spezifischen Modernisierungs tionstheorie entsprechend der Alterungsprozess
graden auf den Prozess der Lebensverlängerung jedes Menschen nach seiner Fortpflanzungsphase
ausgewirkt haben. Im Gebiet der früheren Bun einsetzt und bis zum Tod unausweichlich anhält,
desrepublik ist er nahezu kontinuierlich voran andererseits jedoch soziale und kulturelle Ein
geschritten, bei der männlichen Bevölkerung der flüsse insbesondere auch im höchsten Lebens
DDR hingegen sind erhebliche Schwankungen zu alter lebensverlängernde Wirkungen haben [19].
verzeichnen. Für die Frauen zeigt der Zugewinn Es wird gefolgert, dass Menschen immer älter
an Lebenszeit im Ost-/Westvergleich in allen Al werden können und eine natürliche Obergrenze
tersklassen einen ähnlichen Verlauf. Allerdings nicht in Sicht ist. Kulturellen Determinanten wird
unterscheidet sich die Höhe des Zugewinns be dabei die zentrale Rolle zugeschrieben. Es ist ein
trächtlich, teilweise ist er im früheren Bundesge komplexes Zusammenspiel von wirtschaftlichen
biet um das Dreifache höher [15]. In der Zeit nach Entwicklungen, sozialen Errungenschaften und
der Wiedervereinigung nähert sich das Niveau medizinischen Fortschritten, in dem der entschei
der Lebenserwartung in den neuen Bundeslän dende Schlüssel künftiger Entwicklungen liegen
dern kontinuierlich dem westdeutschen Niveau wird. Die genaue Analyse des Wirkungsmecha
an. Bei dieser Entwicklung profitiert vor allem nismus und des Zusammenspiels biologischer
auch die ältere Bevölkerung durch Fortschritte bei und kultureller Faktoren steht jedoch noch aus.
Prävention, Diagnostik und Therapie spezifischer Prognosen basieren auf Schätzungen vor dem
Altersleiden. In Folge dessen weist die Alterssterb Hintergrund heutigen Wissens. Zu vorsichtige
lichkeit in den alten und neuen Bundesländern bei Annahmen implizieren Unterschätzungen der
Frauen kaum noch und bei Männern rückläufige künftigen Altersverschiebungen. Das hat Folgen
Niveauunterschiede auf [8, 16]. für gesundheits-, renten-, pflege- und altenpoli
Der Blick auf Abbildung 2.4.1.3 provoziert ge tische Planungen. Da der Fokus weiterer Lebens
radezu die Frage: Wohin führt dieser steigende verlängerung wesentlich auf der Verringerung der
Trend? Wie alt können Menschen werden? Dazu Alterssterblichkeit liegt, werden bei zu vorsich
wird eine lebhafte Diskussion geführt und die tigen Prognosen vor allem die Anteile sehr alter
Meinungen der beteiligten Professionen wie z. B. und hochbetagter Menschen unterschätzt [8]. Das
die der Entwicklungsbiologen, der Demografen, hat auch Implikationen für die Lebensqualität im
der Mediziner, der Epidemiologen ergänzen sich höchsten Lebensalter. Es gewinnen jene Alterslei
keineswegs plausibel, sondern widersprechen sich den an Bedeutung, die nicht unmittelbar den Tod
teilweise. Im Fokus der Diskussion steht die Frage verursachen, die Lebensqualität aber erheblich
nach dem Einfluss biologischer und kultureller einschränken können.
Faktoren, sowie die nach einer biologischen Ober
grenze für menschliches Leben. Die tatsächlich
ablaufende Entwicklung widerlegt immer wieder Lebenserwartung im internationalen Kontext
aufs Neue jene Auffassungen, die ein Ende pro
gnostizieren. Mortalitätsstatistiken zeigen [7, 8], Die stetige Zunahme der Lebenserwartung ist ein
dass in den Ländern mit der höchsten Lebenser zivilisatorischer Fortschritt, der zumindest in den
wartung diese bei den Frauen in den letzten 160 letzten 50 Jahren weltweit messbar war. In weni
Jahren stetig – fast sogar linear – um fast drei ger entwickelten Ländern verläuft dieser Prozess
zusätzliche Lebensmonate pro Jahr gestiegen ist. etwas beschleunigter, allerdings auf einem nied
Seit den 1950er-Jahren verläuft der Anstieg der rigeren Niveau als in den hochindustrialisierten
Lebenserwartung der Frauen in Deutschland auf Regionen. Abbildung 2.4.1.5 verdeutlicht diese
einem etwas niedrigeren Niveau, jedoch nahezu Unterschiede für die OECD-Mitgliedsstaaten. Ein
Gesundheit und Krankheit im Alter 99
Abbildung 2.4.1.4
Trend der Rekordlebenserwartung weltweit und der Lebenserwartung in Deutschland, Frauen 1840 bis 2006
Quelle: Rostocker Zentrum für Demografischen Wandel mit Aktualisierungen durch J. Oeppen und R. Scholz [18]
Lebenserwartung in Jahren
90
85
80
75
70 Schweden
Island
65 Niederlande
Norwegen
Lebenserwartung
60 in Deutschland Neuseeland
Japan
55 Australien
50
45
1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020
Jahr
Lebenserwartung von Frauen in Deutschland: 1900 bis 1955 Berechnungen R. Scholz, ab 1956 Human Mortality Database
ähnlich niedriges Niveau wie bei den letzten vier für 2004 im mittleren Feld und damit auf dem
Ländern in der Abbildung ist auch in den meis Niveau des OECD-Durchschnitts.
ten afrikanischen Ländern, mit Ausnahme der
nordafrikanischen, zu finden. Nach UN-Angaben
liegt die fernere Lebenserwartung für 60-Jährige Gesunde Lebenserwartung
dort etwa fünf bis acht Jahre unter der in Süd- und
Westeuropa. Epidemien wie auch mangelnde Le Im Zuge der Modernisierung von Gesellschaften
bensqualität (vor allem Hygiene) sind die Ursache ermöglichte neben allgemein verbesserten Lebens
dafür. Auffallend ist zudem das niedrige Niveau bedingungen auch der medizinische Fortschritt
vieler osteuropäischer Länder. Verantwortlich da präventive, diagnostische und therapeutische In
für ist der gravierende Rückgang um rund fünf terventionen, durch die der Gesundheitszustand
Jahre seit Ende des 20. Jahrhunderts infolge der der Bevölkerung deutlich verbessert werden
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrü konnte. Epidemien und eine Vielzahl tödlicher
che [20]. Deutschland liegt hier mit den Werten Krankheitsfolgen konnten verdrängt werden, aber
100 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 2.4.1.5
Fernere Lebenserwartung von Frauen und Männern im Alter von 65 Jahren, OECD-Länder 2004*
Quelle: OECD Gesundheitsdaten [21]
Japan
Frankreich
Australien
Schweiz
Kanada
Italien
Spanien
Schweden
Island
Österreich
Neuseeland
Norwegen
Niederlande
Vereinigte Staaten von Amerika
Belgien
Finnland
Frauen
Deutschland
OECD-30 Männer
Vereinigtes Königsreich
Korea
Luxemburg
Griechenland
Irland
Portugal
Dänemark
Mexiko
Polen
Tschechische Republik
Ungarn
Slowakei
Türkei
0 5 10 15 20 25
* 2003 für Kanada, Tschechische Republik, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Irland, Korea, Luxemburg, Norwegen, Portugal,
Slowakische Republik, Schweiz, Vereinigte Staaten. 2002 für Belgien, Finnland, Frankreich, Spanien, Vereinigtes Königreich.
2001 für Italien
auch Verläufe chronischer Krankheiten wurden gebedürftigkeit. Zur Abgrenzung der gesunden
verbessert. Der Sterbezeitpunkt wurde und wird Lebenszeit von der allgemein zu erwartenden,
immer weiter hinaus geschoben, die Menschen führte die WHO das Konzept der »gesunden Le
leben länger, jedoch nicht zwangsläufig bei bester benserwartung« ein [2, 22]. Dieses kurz mit HALE
Gesundheit. Für die Lebensqualität im Alter wie (Health-Adjusted Life Expectancy) benannte Maß
auch für Gesundheitsversorgungssysteme ist da gibt Auskunft darüber, wie viel Lebenszeit eine
her von Interesse, welche Lebenszeit Menschen Person bei guter Gesundheit verbringen kann
in guter Gesundheit verbringen und welche Zeit (weitere Ausführungen dazu im Kapitel 2.5).
beeinträchtigt ist durch Erkrankungen und Pfle- HALE spiegelt im Unterschied zur allgemeinen
Gesundheit und Krankheit im Alter 101
Lebenserwartung nicht nur die Sterbeverhältnisse Ausmaß der Todesfälle im Verhältnis zur Gesamt
sondern auch die gesundheitliche Gesamtrealität bevölkerung (Sterberaten). Diese werden in Ster
der Bevölkerung. Dafür werden unterschiedliche betafeln weiter spezifiziert und dienen als Grund
Gesundheitsangaben herangezogen. Häufig sind lagen zur Berechnung der Lebenserwartung. Ein
das Fragen der Selbsteinschätzung des Gesund weiterer wichtiger Aspekt ist die Todesursache,
heitszustandes oder objektiv messbare Kriterien also die auf dem Totenschein anzugebenden
funktionaler Einschränkungen von Aktivitäten Krankheiten, Leiden oder Verletzungen, die den
im Alltag aus standardisierten Querschnittsunter Tod zur Folge hatten oder zum Tode beitrugen,
suchungen (vgl. Abschnitt 2.2.2). Aber auch der bzw. die Umstände des Unfalls oder der Gewalt
Tatbestand einer zuerkannten Pflegestufe kann einwirkung, die diese Verletzungen hervorriefen.
in die Berechnung einfließen. Da bisher noch kei Bereits seit dem Jahr 1872 werden meldepflichti
ne Standards eingeführt sind und die Datenlage ge Krankheiten für eine analytische Betrachtung
teilweise recht unzureichend ist, sind Ergebnisse der Todesursachen erfasst. Heutzutage gibt die
verschiedener Quellen nur bedingt vergleichbar. Todesursachenstatistik in Anlehnung an die In
Insgesamt zielen sie jedoch darauf ab, die zwei mit ternationale Statistische Klassifikation der Krank
der Lebensverlängerung verknüpften gegensätz heiten und verwandter Gesundheitsprobleme der
lichen Thesen der Kompression und der Expan WHO (ICD, 10. Revision – ICD-10) Auskunft über
sion der Morbidität zu validieren (vgl. Kapitel 2.5). das Grundleiden, das für den Tod ursächlich ver
Ein internationaler Vergleich zwischen der antwortlich ist. Es handelt sich um eine Voller
allgemeinen und der gesunden Lebenserwartung hebung, da für jeden Sterbefall ein Totenschein
kann nur eine grobe Schätzung sein. Zu jenen ausgefüllt werden muss. Die Erkenntnisse aus der
Ländern, deren Bevölkerung ab dem 60. Lebens Todesursachenstatistik geben wichtige Hinweise
jahr mindestens vier Fünftel ihrer verbleibenden auf präventive und medizinisch-kurative Potenzi
Lebenszeit gesund verbringen wird, gehören ne ale zur weiteren Erhöhung der Lebenserwartung,
ben Japan nahezu alle westeuropäischen Länder aber auch zur Verbesserung der Lebensqualität in
sowie die nordeuropäischen Länder Schweden der hinzugewonnen Lebenszeit. Allerdings hängt
und Finnland, darüber hinaus auch Spanien. In die Validität der Todesursachenstatistik in erster
der Tendenz verzeichnen also jene Länder mit ei Linie von der Richtigkeit der Erfassung aller vor
ner sehr hohen Lebenserwartung auch die größe handenen Erkrankungen der verstorbenen Person
ren Anteile an gesunden Lebensjahren. ab. Hier sind die Ärzte gefragt, genaue Informa
Da die Frauen eine höhere Lebenserwartung tionen über die Vorerkrankungen einzuholen und
haben, sind sie von Risiken gesundheitlicher Be sie zu dokumentieren. Zudem beschränkt sich
einträchtigungen im hohen und sehr hohen Alter die Darstellung der Todesursachen momentan
auch stärker betroffen. Demzufolge ist für sie die nur auf das Grundleiden. Die für das Alter so ty
bei Gesundheit zu erwartende Lebenszeit in der pische Multimorbidität spiegelt sich nicht in der
Regel anteilig, also bezogen auf die Gesamtlebens Todesursachenstatistik. Das wird sich ab dem Be
erwartung, etwas geringer als bei den Männern. richtsjahr 2008 ändern, da den Daten erhebenden
Nennenswerte Ausnahmen bilden Russland und Statistischen Landesämtern nunmehr ein System
Norwegen [21]. zur multikausalen Todesursachenkodierung zur
Verfügung steht.
2.4.2 Sterbegeschehen
Das Ausmaß der Sterblichkeit in Deutschland
Das Sterbegeschehen einer Bevölkerung ist ein de
mografischer Grundprozess, der gemeinsam mit Aussagen über Sterbeverhältnisse eines Landes
dem Geburtengeschehen die Entwicklung dieser sind neben den Daten der Lebenserwartung an
Bevölkerung hinsichtlich ihres Umfanges, ihrer hand von Sterberaten möglich. Beide Maße re
Alters- und Geschlechtsstruktur prägt. Statistisch flektieren die gleichen Zustände, so dass bei der
ausgewiesen wird es in der Regel mit der Zahl der Analyse der Sterberaten die gleichen historischen
Sterbefälle für einen bestimmten Zeitraum bzw. als Trends zu finden sind, wie sie unter 2.4.1 anhand
102 Gesundheit und Krankheit im Alter
Tabelle 2.4.2.1
Altersstandardisierte Sterbefälle je 100.000 Einwohner nach Alter und Geschlecht Deutschland 1980 und 2006
Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik 2007
Tabelle 2.4.2.2
Häufigste Todesursachen nach Alter und Geschlecht in Deutschland 2006
(in Klammern: Anteil der Todesursache an allen Sterbefällen der Altersgruppe)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik 2007 und [2]
Abbildung 2.5.2.1
Überlebensraten als Basis zusammenfassender Maßzahlen der Gesundheit von Populationen (fiktives Beispiel)
Quelle: nach [11]
Prozent
100
90
80
B C
70
60
50 verlorene Lebensjahre
30 A beschwerdefreie Lebensjahre
20
10
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
Alter
sunden Lebenszeit, sondern bezeichnet auch eine läre Herzerkrankung, Krebs, Diabetes, Hyperto
Untergruppe spezifischer Indikatoren. In der Stra nie, Nierenerkrankung, Arthritis, oder Asthma.
tegie Healthy People 2010 bezeichnet die »healthy Die Berechnung erfolgt anhand der sog. Sullivan
life excpectancy« die mittlere Anzahl von Jahren, Methode. Sie verwendet altersspezifische Präva
die bei guter oder besserer selbstberichteter Ge lenzen der Ereignisse und Mortalitätsraten, wobei
sundheit verbracht werden [12]. Sie wird auf Basis die Prävalenzen nicht anhand nationaler Register,
der Frage nach dem eigenen Gesundheitszustand sondern über den NHIS (Nation Health Interview
operationalisiert, die Antwortmöglichkeiten sind Survey) gewonnen werden.
»excellent«, »very good«, »good«, »fair« und
»poor« (siehe Abbildung 2.5.2.2). Aktive bzw. behinderungsfreie Lebenserwartung
Als »gesunde Lebenserwartung« werden Maße der aktiven und behinderungsfreien Le
auch Maßzahlen der krankheitsfreien Lebens benserwartung operationalisieren Gesundheit
zeit bezeichnet. Sie werden sowohl für einzelne über die Fähigkeit bestimmte Handlungen ohne
Krankheiten (Diabetesfreie Lebenserwartung, Hilfe Dritter durchzuführen. Sie bewerten einen
Alzheimerfreie Lebenserwartung etc.), als auch Menschen als »gesund«, solange er in der Gesell
für ganze Gruppen von Krankheiten (Lebenser schaft ohne Einschränkungen handlungsfähig ist.
wartung ohne chronische Krankheiten) berech Die wahrgenommene Handlungsfähigkeit hängt
net. Es wird zumeist nur unterschieden, ob und damit nicht nur von den individuellen Fähigkeiten
in welchem Alter eine Krankheit diagnostiziert und Ressourcen, sondern auch von den Anforde
wurde. Der Schweregrad wird nicht berücksich rungen und Unterstützungsangeboten des so
tigt. In Healthy People 2010 wird die Lebenser zialen Umfeldes ab.
wartung ohne chronische Krankheiten (»Expected Wird der Begriff behinderungsfreie Lebens
years free of chronic disease«) anhand des Vor erwartung verwendet, kennzeichnet dies eine De
liegens einer Auswahl von chronischen Erkran fizit-Orientierung. Es wird beschrieben, wie lange
kungen operationalisiert [13]. Das Maß beschreibt sich Männer und Frauen durch den eigenen Ge
die mittlere Anzahl von Jahren, in denen keines sundheitszustand nicht in ihrer Handlungsfähig
der folgenden Ereignisse eintritt: Kardiovasku- keit beeinträchtigt fühlen. Mit dem Begriff aktive
Abbildung 2.5.2.2
Berechnung der gesunden Lebenserwartung nach CDC Definition
Quelle: nach [12]
Mortalitäts
daten
altersspezifische
Sterblichheit
Bevölkerungs
daten
selbsteingeschätzte Lebens
Gesundheit Sterbetafeln erwartung
(mittel oder schlecht)
in Gesundheit
Gesundheits
daten
selbsteingeschätzte
Gesundheit
(gut oder besser)
Gesundheit und Krankheit im Alter 109
Lebenserwartung wird eine verstärkte Kompetenz viele Befunde für einen Anstieg der gesunden Le
orientierung ausgedrückt. Es wird untersucht, wie benszeit in den 1980er- und 1990er-Jahren [16].
lange die Menschen die Fähigkeit besitzen, den In Deutschland hat sich der Anteil von älteren
eigenen Alltag (ohne Hilfe) zu bewältigen. Durch Menschen mit einem guten oder sehr guten Ge
die unterschiedliche Konnotierung der beiden sundheitszustand in den letzen zehn Jahren deut
Herangehensweisen können sich systematische lich erhöht (siehe Abbildung 2.5.3.1). So stieg der
Abweichungen ergeben. Anteil zwischen 1996 und 2006 bei Männern und
Frauen um jeweils 11 Prozentpunkte.
Zur Entwicklung der gesunden Lebenser
2.5.3 Empirische Ergebnisse zur gesunden wartung liegen Studien auf Basis verschiedener
Lebenserwartung Datensätze vor. Sie ziehen größtenteils das Sozio
oekonomische Panel (SOEP) des Deutschen Ins
Die Entwicklung chronischer Morbidität wird erst tituts für Wirtschaftsforschung heran, beziehen
seit Ende der 1970er-Jahre kontinuierlich erfasst. auch den Mikrozensus des Statistischen Bundes
Die ersten Daten sprachen dafür, dass der Anstieg amtes oder den Lebenserwartungssurvey (LES)
der ferneren Lebenserwartung ab 65 Jahren im des Bundesinstituts für Bevölkerungswissen
Vergleich der 1970er- und 1980er-Jahre nicht mit schaften (BIB) mit ein. Wichtig ist zu bemerken,
einem entsprechenden Anstieg der gesunden Le dass in vielen der hier verwendeten Datenquellen
benszeit einherging [15]. Somit deutete Anfang der Personen in institutionalisierten Einrichtungen
1980er-Jahre vieles auf eine Expansion der chro (bspw. Pflegeheimen) nicht enthalten sind. Dies
nischen Morbidität hin. Mit der Verfügbarkeit ist eine mögliche Quelle für die Überschätzung
längerer Zeitreihen wurden die Prognosen zur der gesunden Lebenserwartung, weil die Bevölke
Entwicklung der gesunden Lebenserwartung aber rung in Pflegeheimen den eigenen Gesundheits
zunehmend optimistischer. Mittlerweile sprechen zustand vergleichsweise schlecht einschätzt oder
Abbildung 2.5.3.1
Anteil der Personen mit einem guten oder sehr guten Gesundheitszustand im Alter von 60 bis 69 Jahren
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel 1996 bis 2006
Prozent
40
Frauen Männer
35
30
25
20
15
10
1996 1998 2000 2002 2004 2006 1996 1998 2000 2002 2004 2006
Jahr
110 Gesundheit und Krankheit im Alter
per Definition gesundheitlich eingeschränkt (ak In neueren Analysen auf Basis des Sozio-oeko
tive und behinderungsfreie Lebenserwartung) ist. nomischen Panels (SOEP) wurde versucht, die Be
Der Anteil von Personen in Pflegeeinrichtungen funde aus dem Mikrozensus zur Ausweitung der
ist in Deutschland vor einem Alter von 80 Jah gesunden Lebensspanne im Kohortenvergleich zu
ren vergleichsweise gering, steigt im höheren Al bestätigen [18, 19, 20]. Das SOEP ermöglicht, im
ter aber exponentiell an. Der Anteil beträgt nach Unterschied zum Mikrozensus, längsschnittliche
Angaben der Pflegestatistik 2005 bei den 75- bis Analysen auf der Individualebene. Eine erste Ar
79-Jährigen lediglich 2,7 %, unter den 80- bis beit für den Zeitraum 1984 bis 1999 verwendet
84-Jährigen aber bereits 7,1 % [14]. Die Prävalenz eine Frage zu funktionellen Beeinträchtigungen
von Einschränkungen sollte sich anhand von Sur (»Behindert Sie Ihr Gesundheitszustand bei der
veys bis zu einem Alter von 79 Jahren relativ gut Verrichtung alltäglicher Aufgaben, z. B. Körper
abbilden lassen. pflege, Anziehen oder Aufräumen?« – Antwortvor
Eine der ersten Studien zur Entwicklung der gaben »stark« vs. »ein wenig« und »gar nicht«) als
gesunden Lebenserwartung in Deutschland ver Indikator für chronische Morbidität. Im Vergleich
wendete einen zusammengefassten Datensatz aus der Geburtskohorten 1917, 1922 und 1927 zeigen
Mikrozensus und Kohortensterbetafeln [17]. Dazu sich eine deutliche Verbesserung der Gesundheit
wurden verschiedene Wellen des Mikrozensus und eine Verringerung des Anteils der gesund
zwischen 1978 und 1995 zusammengefasst. Auf heitlich eingeschränkten Lebensjahre (siehe Ta
Basis dieses Datensatzes wurde die Entwicklung belle 2.5.3.2). Analog zu den Ergebnissen des Mi
der altersspezifischen Prävalenz gesundheitlicher krozensus sprechen die Ergebnisse ebenfalls für
Einschränkungen für drei Geburtskohorten (1907, eine absolute Kompression von Morbidität im Ko
1913, 1919) ermittelt. Als Morbiditätsindikator hortenvergleich. Die Methode der Mehrzustands
wurde die Frage »Waren sie in den letzten vier sterbetafeln zeigt zudem, dass der Rückgang auf
Wochen krank oder unfallverletzt?« herangezo eine Verringerung der alterspezifischen Inzidenz
gen. Die Prävalenzen wurden anhand der Sullivan gesundheitlicher Einschränkungen, nicht aber auf
Methode mit Kohortensterbetafeln zusammenge eine veränderte Gesundungschance gesundheit
führt. lich eingeschränkter Personen zurückgeht. Dieser
Im Vergleich der drei Geburtskohorten zeigt Befund bestätigte sich auch in späteren Analysen
sich, dass der Anteil der gesunden Lebensjahre für die Kohorten 1921, 1927 und 1933 [20]. Im
kontinuierlich angestiegen ist (siehe Tabelle Vergleich verschiedener Morbiditätsindikatoren
2.5.3.1). Die gesunde Lebenserwartung ist schnel ist die vorgefundene Verringerung umso stärker,
ler als die allgemeine Lebenserwartung gestiegen, je enger gesundheitliche Einschränkungen defi
dadurch verringerte sich die Zahl der gesund niert werden. Dies entspricht dem Szenario des
heitlich eingeschränkten Lebensjahre in den jün dynamischen Gleichgewichts von Manton, dass
geren Kohorten. Die Ergebnisse sprechen damit von einer zeitlichen Fixierung der Dauer schwerer
für eine absolute Kompression von Morbidität im gesundheitlicher Einschränkungen vor dem Tod
Vergleich der betrachteten Geburtskohorten [17]. ausgeht. Eine Studie, die chronische Morbidität
Tabelle 2.5.3.1
Entwicklung des Anteils der krankheitsfreien Lebensjahre im Vergleich der Kohorten 1907 bis 1919
Quelle: eigene Berechnungen nach [17], Ergebnisse des Mikrozensus für den Zeitraum 1978 bis 1995
Tabelle 2.5.3.2
Entwicklung des Anteils Lebensjahre mit funktionellen Einschränkungen im Vergleich der Kohorten 1917 bis 1927
Quelle: [18], Ergebnisse des SOEP für den Zeitraum 1984 bis 1999
Tabelle 2.5.3.3
Entwicklung der Lebensjahre bei guter Gesundheit und ohne gesundheitliche Beschwerden
im Vergleich der Perioden 1984 bis 1986 und 1998
Quelle: eigene Darstellung nach [22], Ergebnisse des LES 1984 bis 1998
Frauen Männer
LE HLE Anteil DFLE Anteil LE HLE Anteil DFLE Anteil
1984/1986
45 – 49 Jahre 34,9 29,5 84,5 % 18,7 63,4 % 29,3 25,4 86,7 % 17,0 66,9 %
50 – 54 Jahre 30,3 25,4 83,8 % 16,8 66,1 % 25,0 21,5 86,0 % 14,7 68,4 %
55 – 59 Jahre 25,8 21,8 84,5 % 15,0 68,8 % 20,9 17,8 85,2 % 12,5 70,2 %
60 – 64 Jahre 21,5 18,5 86,0 % 13,2 71,4 % 17,1 14,9 87,1 % 10,5 70,5 %
65 – 69 Jahre 17,4 15,4 88,5 % 11,4 74,0 % 13,7 12,2 89,1 % 9,0 73,8 %
1998
45 – 49 Jahre 36,9 30,9 83,7 % 22,3 72,2 % 31,8 27,4 86,2 % 20,5 74,8 %
50 – 54 Jahre 32,3 26,7 82,7 % 19,3 72,3 % 27,4 23,2 84,7 % 17,5 75,4 %
55 – 59 Jahre 27,8 22,5 80,9 % 16,6 73,8 % 23,1 19,4 84,0 % 14,9 76,8 %
60 – 64 Jahre 23,4 19,7 84,2 % 14,3 72,6 % 19,1 15,8 82,7 % 12,3 77,8 %
65 – 69 Jahre 19,1 15,1 79,1 % 11,8 78,1 % 15,5 12,6 81,3 % 10,1 80,2 %
Ergebnisse unterstützen aber kein Entwicklungs 9. Fries JF (2003) Measuring and Monitoring Success
in Compressing Morbidity. Ann Intern Med 139 (5_
szenario vollständig. Für den Morbiditätsindikator
Part_2): 455
»guter Gesundheitszustand« zeigt sich eine leich 10. Fries JF (2005) Frailty, Heart Disease, and Stroke: The
te (relative) Expansion, für den Indikator »keine Compression of Morbidity Paradigm. Am J Prev Med
Beschwerden« dagegen eine relative Kompression 29 (5, Supplement 1): 164
11. Murray CJ, Salomon JA, Mathers C (2000) A criti
gesundheitlicher Einschränkungen.
cal examination of summary measures of population
Zusammenfassend ist festzustellen, dass health. Bull World Health Organ 78 (8): 981 – 994
die vorliegenden Ergebnisse auf einen Anstieg 12. Molla MT, Madans JH, Wagener DK et al. (2003) Sum
der gesunden Lebenserwartung seit Ende der mary measures of population health: Report of find
ings on methodologic and data issues. National Center
1980er-Jahre hindeuten (für eine ausführliche
for Health Services, Hyattsville, Maryland
Darstellung vgl. [23]). Es kam im Zuge der anstei 13. U.S. Department of Health and Human Services
genden Lebenserwartung zu einer relativen Kom (2007) Part A: General Data Issues Tracking Healthy
pression chronischer Morbidität. Die Befundlage People 2010 (revised Edition). Government Printing
Office: Washington, DC
zur Entwicklung der gesunden Lebenserwartung
14. Destatis (2007b) Pflegestatistik 2005 – Pflege im Rah
in Deutschland stimmt mit den internationalen men der Pflegeversicherung Deutschlandergebnisse.
Ergebnissen überein. Ein Anstieg zeigt sich an Statistisches Bundesamt, Wiesbaden
hand unterschiedlicher Datenquellen und auf 15. Colvez A, Blanchet M (1981) Disability trends in the
United States population 1966 – 76: analysis of re
Basis verschiedener Gesundheitsindikatoren. Im
ported causes. Am J Public Health 71 (5): 464
Kohortenvergleich haben sich der Anteil und das 16. Robine JM, Romieu I, Michel JP (2003b) Trends in
Ausmaß der gesundheitlich beeinträchtigten Le Health Expectancies. In: Robine JM, Jagger C, Mathers
benszeit bei Männern und Frauen insbesondere C et al. (Hrsg) Determining health expectancies. J.
Wiley: Chichester, Hoboken, NJ, S 75 – 101
für starke gesundheitliche Beeinträchtigungen
17. Dinkel RH (1999) Entwicklung und Gesund
verringert. Damit deutet sich insgesamt eine Ent heitszustand. Eine empirische Kalkulation der Healthy
wicklung in Richtung der Kompressionsthese an. Life Expectancy für die Bundesrepublik auf der Basis
von Kohortensterbetafeln. In: Häfner H (Hrsg) Ge
sundheit – unser höchstes Gut? Springer, Heidelberg,
New York, S 61 – 84
Literatur 18. Klein T, Unger R (2002) Aktive Lebenserwartung in
Deutschland und in den USA. Z Gerontol Geriatr 35
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2. Olshansky SJ, Ault AB (1986) The fourth stage of the Lebenserwartung im internationalen Vergleich. Deut
epidemiologic transition: the age of delayed degenera scher Universitäts-Verlag, Wiesbaden
tive diseases. Milbank Q 64 (3): 355 – 391 20. Unger R (2006) Trends in active life expectancy in Ger
3. Olshansky SJ, Rudberg MA, Carnes BA et al. (1991) many between 1984 and 2003 – a cohort analysis with
Trading Off Longer Life for Worsening Health: The different health indicators. Journal of Public Health 14
Expansion of Morbidity Hypothesis. J Aging Health 3 (3): 155
(2): 194 21. Ziegler U, Doblhammer G (2007) Cohort Changes in
4. Kramer M (1980) The rising pandemic of mental dis the Incidence of Care Need in West Germany Between
orders and associated chronic diseases and disabilities. 1986 and 2005. European Journal of Population/Re
Acta Psychiatr Scand 62 (s285): 382 vue européenne de Démographie online first
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and older persons. Milbank Mem Fund Q Health Soc Lebensstile, Lebensphasen, Lebensqualität Interdis
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7. Fries JF (1983) The compression of morbidity. Milbank 23. Kroll LE, Lampert T, Lange C, Ziese T (2008) Ent
Mem Fund Q Health Soc 61 (3): 397 – 419 wicklung und Einflussgrößen der gesunden Lebens
8. Fries JF (1988) Aging, illness, and health policy: impli erwartung in Deutschland. WZB Discussion Paper
cations of the compression of morbidity. Perspect Biol SP I 2008-306
Med 31 (3): 407 – 428
Gesundheit und Krankheit im Alter 113
teren ist, wie sie heute und in Zukunft wohnen waren es sogar rund 95 %, die eine Rente bezogen,
werden, wie gut ältere Menschen familiär und die niedriger als die »Eckrente« war [4].
außerfamiliär sozial eingebettet sind, in welcher Betrachtet man nur die unteren Einkom
Form sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen mensgruppen, so zeigt sich, dass ältere Menschen
und wie hoch das subjektive Wohlbefinden ist. Da in Deutschland gegenwärtig unterdurchschnitt
bei wird die Frage gestellt, wie die Situation älterer lich von (relativer) Armut betroffen sind. Die Ar
Menschen insgesamt einzuschätzen ist und wie mutsrisikoquoten machen deutlich, dass ältere
stark die Unterschiede innerhalb der Gruppe älter Menschen aktuell weniger von Armut betroffen
werdender und alter Menschen sind (für ausführ sind als jüngere Menschen (siehe Tabelle 3.1.1.1;
liche Darstellungen wird auf die Berichte zur Lage [6]). Während das Armutsrisiko insgesamt in den
der älteren Generation in der Bundesrepublik Jahren zwischen 1998 und 2003 gestiegen ist,
Deutschland verwiesen, insbesondere [2, 3, 4]). ist es bei älteren Menschen (65 Jahre und älter)
gesunken. Allerdings ist dabei zu beachten, dass
Armut in jüngeren Lebensabschnitten nicht sel
3.1.1 Einkommen älterer Menschen ten ein vorübergehender Zustand ist, z. B. bedingt
durch vorübergehende Arbeitslosigkeit; im Alter
Wie sieht es mit der materiellen Ausstattung äl ist Armut hingegen kaum mehr veränderbar.
terer Menschen jetzt und in Zukunft aus? Das ak Wird die aktuelle materielle Lage älterer Men
tuelle Durchschnittseinkommen älter werdender schen im Durchschnitt betrachtet, stellt sich diese
und alter Menschen liegt gegenwärtig nahe am insgesamt als recht gut dar, wobei sich das Aus
Durchschnittseinkommen der Gesamtbevölke maß sozialer Ungleichheiten bis in das hohe Alter
rung (im Folgenden wird das sogenannte Äquiva nicht verringert. Hinter der durchschnittlich guten
lenzeinkommen herangezogen). Das Einkommen Einkommenslage alter Menschen verbergen sich
der 40- bis 85-Jährigen in der Bundesrepublik liegt jedoch erhebliche Unterschiede im Einkommen.
nach Berechnungen des Alterssurveys im Jahr
2002 bei rund 1.530 Euro (Westdeutschland: 1.610
Euro, Ostdeutschland: 1.230 Euro) und damit um Tabelle 3.1.1.1
170 Euro über dem vom Sozio-oekonomischen Pa Armutsrisikoquoten* für verschiedene Bevölkerungs
gruppen 1998 und 2003
nel (SOEP) ausgewiesenen Wert für die Gesamtbe Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998,
völkerung der Bundesrepublik (1.360 Euro). Das 2003, Tabelle entnommen aus [6]
Einkommen im Westen Deutschlands ist höher
als im Osten Deutschlands und das Einkommen 1998 2003
der Männer höher als das der Frauen [5]. Differenzierung nach Alter
Das Durchschnittseinkommen älterer Men bis 15 Jahre 13,8 15,0
schen setzt sich aus den Zahlungen der gesetz 16 – 24 Jahre 14,9 19,1
lichen Rentenversicherung, aus Vermögensein
25 – 49 Jahre 11,5 13,5
künften und aus sonstigen bedarfsorientierten
50 – 64 Jahre 9,7 11,5
und bedürftigkeitsgeprüften Transferzahlungen
(z. B. Hilfe zum Lebensunterhalt, Wohnzuschüs 65 Jahre und älter 13,3 11,4
se) zusammen. Insbesondere bei den Rentenzah Differenzierung nach Erwerbsstatus
lungen verbirgt sich eine beträchtliche Streuung: Selbstständige(r) 11,2 9,3
So erhielten im Jahr 2006 etwa 50 % der west- wie Arbeitnehmer(in) 5,7 7,1
ostdeutschen Männer eine Rente von weniger als Arbeitslose(r) 33,1 40,9
rund 1.000 Euro monatlich – und damit weniger
Rentner(in)/Pensionär(in) 12,2 11,8
als die sogenannte »Eckrente« (hypothetischer
Rentenfall, basierend auf 45 Versicherungsjah Armutsrisikoquote gesamt 12,1 13,5
ren bei durchschnittlichem Bruttoarbeitsentgelt; * Anteil der Personen in Haushalten, deren bedarfsgewichtetes
im Vergleichszeitraum betrug die »Eckrente« Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Mittelwertes
(Median) aller Personen beträgt (nach neuer OECD-Richtlinie).
in Westdeutschland 1.060 Euro/Monat, in Ost Im Jahr 2003 beträgt die so errechnete Armutsrisikogrenze
deutschland 930 Euro/Monat). Bei den Frauen 938 Euro.
Gesundheit und Krankheit im Alter 115
Insbesondere im Westen Deutschlands zeigen werden, dass älter werdende und alte Menschen
sich große Unterschiede im Renteneinkommen. auch in Zukunft vor allem im eigenen Haushalt
Zudem haben bestimmte Gruppen von alten Men leben werden, wobei dies noch stärker als heute
schen ein erhöhtes Armutsrisiko, insbesondere Einpersonenhaushalte sein werden. Gegenwärtig
betroffen sind sehr alte Frauen mit vielen Kindern. liegt der Anteil der Einpersonenhaushalte bei etwa
Wie wird sich die Einkommenssituation einem Drittel aller Haushalte. Die Entwicklung
älterer Menschen in Zukunft gestalten? Im Ver seit 1991 zeigt eindrücklich, dass der Anteil der
gleich zur allgemeinen Einkommensentwicklung Einpersonenhaushalte zugenommen und die
in Deutschland haben die Älteren in der Zeit zwi Haushaltsgröße abgenommen hat (siehe Abbil
schen 1996 und 2002 relative Einkommensver dung 3.1.2.1; zur historischen Entwicklung siehe
luste hinnehmen müssen. Dies bedeutet nicht, [8]).
dass es zu absoluten Einkommenseinbußen ge Während gegenwärtig der größte Teil der 70-
kommen ist, sondern vielmehr, dass Ältere zwi bis 75-Jährigen mit dem (Ehe-)Partner bzw. der
schen 1996 und 2002 Einkommenszuwächse (Ehe-)Partnerin in Ein-Generationen-Haushalten
hatten, die unter den Zuwächsen im gesamtge lebt (im Jahr 2005 waren dies etwa 60 %), ver
sellschaftlichen Durchschnitt liegen. Hier ergeben schiebt sich dies in den höheren Altersgruppen:
sich erste Anzeichen dafür, dass die Einkommens Die über 80-jährigen in Privathaushalten leben
entwicklung der Älteren von der durchschnitt den Menschen wohnen vorwiegend in Einperso
lichen Einkommensentwicklung abgekoppelt nenhaushalten (siehe Tabelle 3.1.2.1). Der Anteil
werden könnte. Blickt man schließlich weiter in der Zwei-Generationen-Haushalte liegt bei den
die Zukunft, so lassen sich vor dem Hintergrund 70- bis unter 90-Jährigen zum Teil deutlich un
der bislang durchgeführten Rentenreformmaß ter 10 % und steigt erst bei den über 90-Jährigen
nahmen zwei Aussagen treffen: Es ist zu erwarten, auf knapp 14 %. Der Anteil alter Menschen, die in
dass in Zukunft die Einkommensverteilung im Drei-Generationen-Haushalten wohnen, ist noch
Alter deutlich ungleicher wird (Einkommensun niedriger: Er liegt in den Altersgruppen der 70- bis
terschiede werden sich erheblich verstärken). Zu unter 90-Jähringen unter 3 % und steigt erst bei
dem wird es in Zukunft zunehmend mehr nied den über 90-Jährigen auf etwa 4 %.
rige Einkommen geben. Dies wird es notwendig Die Formen der Lebenspartnerschaft haben
machen, vermehrt bedarfsorientierte und bedürf sich in den vergangenen Dekaden tief greifend
tigkeitsgeprüfte Leistungen bereit zu stellen, um verändert und werden dies voraussichtlich auch
Einkommensarmut im Alter zu vermeiden bzw. in Zukunft tun. Dabei unterscheidet sich die Le
zu bekämpfen. benssituation zwischen Männern und Frauen
erheblich, während regionale Unterschiede zwi
schen Ost- und Westdeutschland – bis auf die ver
3.1.2 Wohnsituation und Haushalte gleichsweise häufiger geschiedenen ostdeutschen
älterer Menschen Frauen – nicht sehr groß sind [9]. Die Mehrzahl
der älteren Männer ist gegenwärtig verheiratet
Der demografische Wandel berührt in direkter und zwar auch in der höchsten Altersgruppe der
Weise die soziale Einbettung älter werdender über 80-Jährigen (in diesem Alter sind etwa zwei
und alter Menschen, insbesondere innerhalb der Drittel aller Männer verheiratet). Der Anteil von
Familie. Generationenbeziehungen Älterer wer ledigen und geschiedenen Männern ist relativ
den heute vor allem im »multilokalen Familien klein. Die Situation für Frauen stellt sich grund
verbund« gelebt: Die Angehörigen einer Familie legend anders dar: Mit dem Alter steigt der An
wohnen nicht unbedingt im selben Haushalt, aber teil der verwitweten Frauen erheblich an (bei den
sie halten miteinander Kontakt und unterstützen über 80-jährigen Frauen sind fast drei Viertel aller
sich regelmäßig [7]. Dabei ist zu berücksichtigen, Frauen verwitwet). Der Anteil von ledigen und ge
dass die meisten Deutschen heute in Konstella schiedenen Frauen ist – im Vergleich zu den Män
tionen von drei Generationen leben, auch wenn nern – etwas höher. Bisweilen wird die Erwartung
diese in der Regel nicht zusammen wohnen. Hin geäußert, dass die wachsende Lebenserwartung
sichtlich der Wohnsituation kann angenommen zu einer Verlängerung von Partnerschaften führen
116 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 3.1.2.1
Veränderung des Anteils der Einpersonenhaushalte (in Prozent) sowie der Haushaltsgröße zwischen 1991 und 2006
Quelle: Mikrozensus, GeroStat 2008 – Deutsches Zentrum für Altersfragen
39
2,25
38 Anteil
Einpersonenhaushalte
37 2,20
36
2,15
35
Haushaltsgröße
34 2,10
33
2,05
32
31 2,00
1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005
1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006
Jahr
Tabelle 3.1.2.1
Bevölkerung in Haushalten nach Generationenfolge* 2005
Quelle: GeroStat – Deutsches Zentrum für Altersfragen und Mikrozensus
Anmerkung: Mit dem Begriff der »Generationenfolge« ist das direkte, geradlinige Abstammungsverhältnis der Haushaltsmitglieder gemeint.
3-Generationenhaushalte sind z. B. Haushalte, in denen drei in direkter Linie miteinander verwandte Personengruppen leben, wie z. B. Groß
eltern, Eltern und Kinder. Haushalte, die nur aus Ehepaaren bestehen, werden als 1-Generationenhaushalte bezeichnet. Zusätzlich können noch
andere verwandte und verschwägerte Personen außerhalb der direkten Generationenfolge oder familienfremde Personen in diesem Haushalt
leben.
Gesundheit und Krankheit im Alter 117
könnte. Allerdings wird auch darauf hingewiesen, Zukunft an die Stelle der Familie treten werden,
dass die Tendenz zu Scheidung und zu lebens ist gegenwärtig offen (vgl. Kapitel 4.2).
langem Alleinleben möglicherweise zu einem
sinkenden Anteil von Männern und von Frauen
führen könnte, die mit einem Partner zusammen 3.1.4 Bürgerschaftliches Engagement und
leben [9]. Doch selbst wenn Paare bis ins neunte gesellschaftliche Partizipation
Lebensjahrzehnt oder darüber hinaus zusammen älterer Menschen
leben, wird die partnerschaftliche Unterstützung
mit wachsendem Lebensalter fragiler. Die gesellschaftliche Partizipation älterer Men
schen und die damit verbundene Produktivität,
etwa im Bereich des bürgerschaftlichen Engage
3.1.3 Familienbeziehungen und soziale ments oder der ehrenamtlichen Tätigkeiten, sind
Integration älterer Menschen beträchtlich. Das freiwillige Engagement älterer
Menschen deckt dabei ein weites Spektrum ab,
Der allergrößte Teil der 40- bis 85-Jährigen Men das von Unterstützungsleistungen in der Familie
schen in Deutschland hat Kinder (und dieser An und der Nachbarschaft über freiwillige Aktivitäten
teil ist zwischen 1996 und 2002 stabil geblieben). in Sportvereinen, Kirchengemeinden und Politik
Allerdings ist die durchschnittliche Kinderzahl bis zum traditionellen Ehrenamt reicht. Zudem
pro Frau in den nachwachsenden Geburtsjahr gibt es Unterschiede mit Blick auf die Merkmale
gängen gesunken [7]. Im Jahr 2002 hatte die jener Personen, die gesellschaftlich aktiv sind und
älteste Altersgruppe im Alterssurvey (70 bis 85 jenen, die dies nicht sind. Insbesondere eine gute
Jahre) durchschnittlich 2,09 Kinder, die mittlere Bildung zeichnet jene Gruppe der älteren Men
Altersgruppe (55 bis 69 Jahre) 1,99 Kinder und schen aus, die sich ehrenamtlich engagieren. Dies
die jüngste Altersgruppe (40 bis 54 Jahre) 1,64 bedeutet aber auch, dass mit den nachwachsen
Kinder. Diese Veränderungen werden in Zukunft den Geburtsjahrgängen das Potenzial gesellschaft
gravierende Folgen haben, deren Auswirkungen licher Partizipation wachsen könnte, da sie im
durch die erhöhte Mobilität der Kindergeneration Durchschnitt über eine bessere Bildung verfügen.
noch steigen werden. Bislang ist die »multilokale In der Tat zeigt sich seit Mitte der 1980er
Mehrgenerationenfamilie« recht intakt. Der aller Jahre eine Zunahme des Engagements bei den
größte Teil der Eltern (über 90 %) gibt an, dass das über 60-Jährigen. Aufgrund unterschiedlicher
nächstwohnende Kind in einem Radius von zwei Definitionen der Begriffe »gesellschaftliche Parti
Stunden Entfernung oder näher vom elterlichen zipation«, »bürgerschaftliches Engagement« oder
Haushalt lebt. Vergleicht man anhand der Daten »ehrenamtliche Tätigkeiten« kommen die vorlie
des Alterssurveys die Entwicklung zwischen 1996 genden Studien zu unterschiedlichen Ergebnis
und 2002, so zeigt sich, dass zwischen 1996 und sen, was den prozentualen Anteil ehrenamtlicher
2002 in den jüngeren Altersgruppen die Entfer Tätigkeit betrifft. Die vorhandenen Studien weisen
nung zwischen alten Eltern und erwachsenen Kin aber einheitlich daraufhin, dass das Engagement
dern etwas größer geworden ist – in der ältesten zugenommen hat: Sowohl der Freiwilligensurvey
Altersgruppe dagegen ist sie kleiner geworden. Die als auch der Alterssurvey weisen einen Anstieg
Kontakthäufigkeit ist ebenfalls hoch: Auch hier der Engagementquoten zwischen ihrer ersten und
nennt der allergrößte Teil der befragten Personen zweiten Befragung aus (siehe Tabelle 3.1.4.1).
(über 85 %), mit mindestens einem Kind ein- oder Interessant sind schließlich auch geschlechts
mehrmals wöchentlich Kontakt zu haben. Diese spezifische Unterschiede des bürgerschaftlichen
Daten zeigen, dass Familien, auch wenn sie nicht Engagements. Bei den Frauen haben sich vor
unter einem Dach zusammenleben, häufig recht allem in der mittleren Altersgruppe die Enga
nah beieinander leben und regen Kontakt und gementquoten stark erhöht: im Freiwilligensur
Austausch pflegen. Dennoch ist für die Zukunft vey von 29 % auf 37 % (Altersgruppe der 55- bis
von einem schwächer werdenden familialen Hilfe- 64-Jährigen), im Alterssurvey von 9 % auf 18 %
und Unterstützungsnetz auszugehen. Ob andere (Altersgruppe der 55- bis 69-Jährigen). Dagegen
private Netze – etwa Freunde oder Nachbarn – in sind, je nach Studie, in den beiden benachbarten
118 Gesundheit und Krankheit im Alter
Tabelle 3.1.4.1
Beteiligung am bürgerschaftlichen Engagement in verschiedenen Studien
Quelle: [4]
65 – 74 Jahre 22 % 31 % 27 %
75 Jahre und älter – – 17 %
Freiwilligensurvey 2004
45 – 54 Jahre 36 % 44 % 40 % freiwilliges [10]
Engagement
55 – 64 Jahre 37 % 42 % 40 %
65 – 74 Jahre 27 % 39 % 32 %
75 Jahre und älter – – 19 %
Alterssurvey 1996
40 – 54 Jahre 18 % 25 % 22 % ehrenamtliche [11]
Tätigkeiten in Vereinen
55 – 69 Jahre 9% 18 % 13 %
und Verbänden
70 – 85 Jahre 6% 9% 7%
Alterssurvey 2002
40 – 54 Jahre 23 % 22 % 23 % ehrenamtliche [12]
Tätigkeiten in Vereinen
55 – 69 Jahre 18 % 23 % 21 %
und Verbänden
70 – 85 Jahre 5% 15 % 9%
Zeitbudgeterhebung 1991/1992
60 – 69 Jahre 20 % 25 % 22 % Ausübung [13]
eines Ehrenamtes
70 Jahre und älter (14 %) (21 %) 16 %
Zeitbudgeterhebung 2001/2002
40 – 59 Jahre 18 % 24 % 21 % Ausübung [14]
eines Ehrenamtes
60 – 64 Jahre 20 % 22 % 21 %
65 – 74 Jahre 16 % 19 % 17 %
75 Jahre und älter 11 % 13 % 12 %
weiblichen Altersgruppen mittlere bis gar keine insbesondere in den Kommunen, zunehmend be
Anstiege zu verzeichnen. Etwas anders liegt die deutsamer werden, gesellschaftliche Partizipation
Situation bei den Männern: Hier liegen die höchs durch geeignete Maßnahmen zu erhöhen.
ten Zuwächse in der Altersgruppe der 65- bis
74-Jährigen mit einem Anstieg von 31 % auf 39 %
im Freiwilligensurvey bzw. von 9 % auf 15 % im 3.1.5 Subjektives Wohlbefinden
Alterssurvey (70 bis 85 Jahre). Dennoch ist zu kons
tatieren, dass insgesamt eher eine Minderheit der Nicht allein die objektiven Lebensbedingungen
Älteren im Bereich des bürgerschaftlichen Enga sind relevant für die Beschreibung der Lebenssi
gements aktiv ist [12]. In Zukunft wird es deshalb, tuation älter werdender und alter Menschen. Das
Gesundheit und Krankheit im Alter 119
subjektive Erleben der eigenen Lebenssituation Die hier dargestellten Befunde des Alterssur
bestimmt das individuelle Wohlbefinden und ist veys belegen, dass das subjektive Wohlbefinden,
damit ein zentraler Bestandteil eines »guten« Le insbesondere die Zufriedenheit mit der eigenen
bens im Alter. Menschen in der zweiten Lebens Lebenssituation, bis ins fortgeschrittene Alter
hälfte äußern im Durchschnitt hohe Zufrieden hoch bleibt. Dies ist eine positive und optimis
heit. Die Lebenszufriedenheit bleibt bis ins hohe tische Botschaft. Zugleich sollte hierbei nicht
Alter stabil [15]. Vergleicht man die Befragungser übersehen werden, dass die weitgehende Stabilität
gebnisse des Alterssurveys aus den Jahren 1996 der Lebenszufriedenheit in der zweiten Lebens
und 2002, so kann man feststellen, dass sich hälfte nicht für alle Lebensbereiche gilt. Während
über die Zeit eine Annäherung zwischen Ost- die Beziehung zur eigenen Familie bis ins höhere
und Westdeutschland mit Blick auf das subjektive Lebensalter als gut bewertet wird, sinkt die Be
Wohlbefinden vollzogen hat. Die Zufriedenheit wertung der Freizeitgestaltung und besonders die
von Menschen, die in den neuen Bundesländern Bewertung der eigenen Gesundheit ab (siehe Ab
leben, erhöhte sich zwischen 1996 und 2002 stär bildung 3.1.5.1).
ker als bei Menschen, die in den alten Bundeslän Äußern Personen bis ins höhere Lebensal
dern leben, wenngleich auch im Jahr 2002 noch ter eine hohe Lebenszufriedenheit, sollte folglich
Ost-West-Unterschiede bestanden. Eine Betrach nicht übersehen werden, dass einzelne Lebens
tung des Wohlbefindens in unterschiedlichen so bereiche zunehmend schlechter bewertet werden
zialen Schichten macht deutlich, dass sich soziale und die mit dem Altern häufiger werdenden Ver
Ungleichheit im Wohlbefinden widerspiegelt: luste widerspiegeln. Der an sich positiv zu bewer
Personen niedriger sozialer Schichten haben eine tende Befund einer hohen Lebenszufriedenheit
geringere Lebenszufriedenheit als Personen hö auch im höheren Erwachsenenalter sollte deshalb
heren sozialer Schichten – ein Befund, der auch nicht dazu führen, dass ältere Menschen aus dem
aus anderen Studien bekannt ist [16]. Blickfeld sozialpolitischer Wachsamkeit geraten.
Abbildung 3.1.5.1
Bewertung einzelner Lebensbereiche im Altersgruppenvergleich
Quelle: Alterssurvey 2002
4,2
4,0
3,8
3,6
3,4 Gesundheit
3,2 Familie
3,0 Freizeit
2,8
2,6
40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80–85
Altersgruppe
120 Gesundheit und Krankheit im Alter
erster Linie als Resultat endogener Alternspro Age-as-a-Leveler-These, die altersbedingte Abnah
zesse gesehen, in deren Folge sich die organischen me bestimmter, vor allem mit der Erwerbsarbeit
Kapizitätsreserven vermindern und die Vulnera verbundener Gesundheitsgefahren, sowie Pro
bilität und Krankheitsanfälligkeit des mensch zesse des selektiven Überlebens. Die dritte Hypo
lichen Organismus zunimmt. Altersspezifische these unterstellt, dass sich das sozial differenzielle
physiologische Veränderungen und pathologische Krankheits- und Sterbegeschehen im Alternsver
Prozesse können zwar interindividuell unter lauf umkehrt und im hohen Alter die Angehörigen
schiedlich ausgeprägt sein und verlaufen, im sehr statusniedriger Bevölkerungsgruppen einem ge
hohen Alter – so die Annahme – verringert sich ringeren Krankheits- bzw. Sterberisiko unterliegen
die Variationsbreite aber zusehends. Mit Blick auf als die Angehörigen besser gestellter Gruppen.
das Krankheits- und Sterbegeschehen im hohen Dies ließe sich als starker Hinweis auf Prozesse
Alter wird darauf verwiesen, dass extreme Lang des selektiven Überlebens interpretieren. Die
lebigkeit bestimmte genetische Dispostionen vierte Hypothese bezieht sich auf die Möglichkeit,
voraussetzt [38], die unabhängig von sozioöko dass der Einfluss sozialer Ungleichheit auf die
nomischen Merkmalen verteilt sind. Aufgrund Gesundheit konstant bleibt, entweder weil die im
dessen wird angenommen, dass sozioökonomi mittleren Lebensalter wirksamen Mechanismen
sche Unterschiede im Krankheits- und Sterbege und Prozesse sich als stabil erweisen bzw. sich
schehen von Hochbetagten allenfalls sehr schwach nachhaltig auswirken oder weil die zuvor genann
zutage treten. ten, gegenläufigen Prozesse sich ausgleichen.
Die Erwartung einer Angleichung des Ster
begeschehens im hohen Alter wird bisweilen
auch mit Prozessen des selektiven Überlebens 3.2.4 Krankheiten und Beschwerden
(»selective survival«) begründet [39, 40]. Da die
vorzeitige Sterblichkeit in benachteiligten Be Im höheren Lebensalter treten viele Krankheiten
völkerungsgruppen stärker ausgeprägt ist und und Beschwerden vermehrt auf (vgl. hierzu Ka
vermutlich vor allem vulnerable und kranke Per pitel 2.1). Aussagen über die Bedeutung von so
sonen betrifft, könnten die sozial Benachteiligten zialen Unterschieden im Krankheitsgeschehen
im fortgeschrittenen Alter eine in Bezug auf Ge lassen sich anhand von Daten der Gmünder Er
sundheit und fernere Lebenserwartung stärker satzkasse (GEK) treffen. Dazu kann unter ande
positiv selektierte Gruppe darstellen. Für möglich rem zwischen den Pflichtversicherten und den
gehalten wird sogar, dass die Angehörigen der ökonomisch deutlich besser gestellten freiwillig
sozial benachteiligten Gruppen infolge dieses Versicherten unterschieden werden – die Beitrags
Selektionsprozesses im sehr hohen Alter einem bemessungsgrenze, die über den Versichertensta
geringeren Mortalitätsrisiko unterliegen als dieje tus in der GKV entscheidet, lag im Jahr 2003 bei
nigen aus den sozial besser gestellten Gruppen, es 41.400 Euro. Der verfügbare Datensatz erlaubt al
also zu einer Umkehr der Ungleichheit im Krank lerdings nur eine Betrachtung der 40- bis 69-jäh
heits- und Sterbegeschehen kommt (»mortality rigen Hauptversicherten. Im Auftreten eines
crossover«; [41]). Herzinfarktes zeigen sich, gemessen an der ku
Aufgrund der vorangestellten Überlegungen mulierten Morbiditätsrate im Zeitraum 1990 bis
werden vier Hypothesen zur Veränderung sozio 2003, in der Altersgruppe der 40- bis 49-Jährigen
ökonomischer Mortalitätsdifferenzen im Alterns keine signifikanten Unterschiede, bei den 50- bis
verlauf formuliert. Die erste Hypothese besagt, 59-Jährigen zeichnen sie sich nur relativ schwach
dass sich der Einfluss des sozioökonomischen ab, während sie bei den 60- bis 69-Jährigen einen
Status auf die Morbidität und Mortalität im fort deutlichen Niederschlag finden (siehe Abbildung
geschrittenen Alter verstärkt. Diese Annahme 3.2.4.1). Bei Männern ist die Morbiditätsrate der
wird vor allem durch die Kumulations- und die Pflichtversicherten am Ende des Beobachtungs
Double-Jeopardy-These unterstützt. Gemäß der zeitraums in der betrachteten Altersspanne um
zweiten Hypothese ist von einer Verringerung etwa den Faktor 1,3 erhöht, bei Frauen, die in die
der gesundheitlichen Ungleichheit im höheren sem Alter insgesamt seltener als Männer einen
Lebensalter auszugehen. Hierfür sprechen die Herzinfarkt erleiden, sogar um den Faktor 3.
Gesundheit und Krankheit im Alter 125
Abbildung 3.2.4.1
Kumulierte Morbiditätsrate für Herzinfarkt bei 60- bis 69-jährigen GEK-Mitgliedern
des Jahres 1990 nach Versicherungsstatus und Geschlecht
Quelle: Gmünder Ersatzkassen 1990 bis 2003 [42]
Morbiditätsrate
0,012
0,010
0,008
0,006
0,004
0,002
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Beobachtungsjahre seit 1990
Bei Männern lassen sich außerdem Unter pflichtversicherten im Vergleich zu den freiwillig
schiede im Auftreten von Lungenkrebs beobach versicherten Männern etwa um den Faktor 2 er
ten. Die Unterschiede zwischen den Pflicht- und höht.
freiwillig Versicherten zeichnen sich bereits in Soziale Unterschiede im Vorkommen von
den Altersgruppen der 40- bis 49-Jährigen und körperlichen Beschwerden lassen sich mit Daten
50- bis 59-Jährigen ab, treten aber bei den 60- bis der Gesundheitssurveys des Robert Koch-Ins
69-Jährigen am deutlichsten hervor. Für Frauen titutes untersuchen. Im telefonischen Gesund
lassen sich im Hinblick auf Lungenkrebs und an heitssurvey 2003 wurde u. a. danach gefragt, ob
dere relativ selten vorkommende Krankheiten kei in den vorausgegangen vier Wochen Schmerzen
ne vergleichende Aussagen treffen, da die Fallzahl aufgetreten sind und wie stark diese waren. Bei
für die freiwillig Versicherten zu gering sind – die Männern im Alter von 50 bis 59 Jahren zeigten
GEK hat weitaus mehr männliche als weibliche sich keine Unterschiede nach dem sozialen Sta
Mitglieder und der Anteil der freiwillig Versicher tus, der über Angaben zum Bildungsniveau, zur
ten beläuft sich bei Frauen auf lediglich 8 %. beruflichen Stellung und zum Haushaltsnettoein
Auch in Bezug auf das Auftreten einer Le kommen gemessen wurde [43, 44]. In der Grup
berzirrhose lässt sich mit den GEK-Daten nur für pe der 60- bis 69-Jährigen waren Männer aus
Männer eine vergleichende Betrachtung anstellen. der niedrigsten Statusgruppe hingegen zweimal
Ähnlich wie bei Lungenkrebs zeigen sich die Un häufiger von starken bis sehr starken Schmerzen
terschiede nach dem Versicherungsstatus in allen betroffen als Männer aus der höchsten Statusgrup
drei betrachteten Altersgruppen, bei den 60- bis pe. Bei 70-jährigen und älteren Männern betrug
69-Jährigen sind sie aber am stärksten ausgeprägt. dieses Verhältnis sogar 3:1. Bei Frauen zeigte sich
Am Ende des dreizehnjährigen Beobachtungszeit sehr starke statusspezifische Unterschiede in den
raumes ist die kumulierte Morbiditätsrate bei den Gruppen der 50- bis 59- und 60- bis 69-Jährigen.
126 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 3.2.4.2
Auftreten starker oder sehr starker Schmerzen in den letzten vier Wochen nach sozialem Status, Alter und Geschlecht
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003
Prozent
25
Frauen Männer
20
15
Sozialstatus
niedrig
10
mittel
5 hoch
Altersgruppe
Im höheren Alter hingegen variierte das Schmerz der 70-Jährigen und Älteren sind Erfahrungen
vorkommen nicht mit dem sozialen Status (siehe mit Schwindel allerdings in der niedrigen Status
Abbildung 3.2.4.2). gruppe verbreiteter als in der hohen Statusgruppe
Separat lässt sich das Auftreten von chro (41,1 % gegenüber 31,1 %). Bei Frauen zeigt sich
nischen Rückenschmerzen und Schwindelgefüh sowohl in der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen
len betrachten. Dass sie schon einmal drei Monate als auch der 70-Jährigen und Älteren in der nied
oder länger Rückenschmerzen hatten, wurde von rigen Statusgruppe eine höhere Betroffenheit als
38,7 % der 50- bis 59-jährigen Männer aus der in der hohen Statusgruppe (36,9 % gegenüber
niedrigen und 25,3 % der gleichaltrigen Männer 29,2 % bzw. 50,5 % gegenüber 39,4 %).
aus der hohen Statusgruppe angegeben. In der
Gruppe der 70-Jährigen und Älteren traf dies mit
26,3 % im Vergleich zu 34,1 % auf etwas weniger 3.2.5 Gesundheitsverhalten und Risikofaktoren
Männer der niedrigen als der hohen Statusgrup
pe zu. Bei Frauen stellen sich die Altersvaria Viele der Krankheiten und Beschwerden, die im
tionen anders dar: Unter den 50- bis 59-Jährigen höheren Lebensalter vermehrt auftreten, stehen
liegt die Lebenszeitprävalenz von chronischen Rü im Zusammenhang mit verhaltenskorrelierten Ri
ckenschmerzen in der niedrigen Statusgruppe mit sikofaktoren. Eine besondere Bedeutung kommt
47,6 % gegenüber 27,7 % deutlich höher als in der dabei dem Rauchen, Bewegungsmangel und
hohen Statusgruppe. Unter den 70-jährigen und starkem Übergewicht (Adipositas) zu. Dass diese
älteren Frauen fällt dieser Unterschiede mit 45,6 % Risikofaktoren einem statusspezifischen Vertei
gegenüber 27,9 % annähernd gleich groß aus. lungsmuster folgen, lässt sich erneut mit Daten
Von mäßig starkem oder starkem Schwin des telefonischen Gesundheitssurveys 2003 zei
del waren 19,4 % der 50- bis 59-jährigen Männer gen.
mit niedrigem Sozialstatus jemals betroffen. Von Im Allgemeinen gilt: Je niedriger der soziale
den gleichaltrigen Männern aus der hohen Sta Status, desto höher ist die Risikoexposition (sie
tusgruppe trifft dies auf 18,0 % und damit auf he Tabelle 3.2.5.1). Bei Männern zeichnet sich
einen ähnlich hohen Anteil zu. In der Gruppe ein kontinuierliches Statusgefälle allerdings nur
Gesundheit und Krankheit im Alter 127
Tabelle 3.2.5.1
Aktuelles Rauchen, sportliche Inaktivität und Adipositas nach sozialem Status, Alter und Geschlecht
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003
in der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen ab. 3.2.6 Subjektive Gesundheit und
Unter den 60- bis 69-Jährigen ist eine stärkere gesundheitsbezogene Lebensqualität
Verbreitung des Rauchens und der körperlichen
Inaktivität in der niedrigen im Vergleich zur ho Die soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen
hen Statusgruppe zu beobachten. In der Gruppe könnte sich in der subjektiven Gesundheit und
der 70-Jährigen und Älteren fällt vor allem der gesundheitsbezogenen Lebensqualität in beson
höhere Anteil an Rauchern in der niedrigen Sta derem Maße widerspiegeln, da diese auch von
tusgruppe auf. Für das Rauchen sind demnach im individuellen Einstellungen, Wahrnehmungen
Altersgang relativ stabile Ungleichheitsrelationen und Bewertungen abhängen und angenommen
festzustellen, während sich insbesondere bei der werden kann, dass sozial benachteiligte Bevölke
sportlichen Inaktivität eine Verringerung der sozi rungsgruppen nicht nur stärker von Krankheiten
alen Unterschiede im höheren Alter zeigt. und Beschwerden betroffen sind, sondern auch
Auch für Frauen sind statusspezifische Un über geringere personale und soziale Ressourcen
terschiede der Exposition gegenüber den betrach verfügen, um diese zu bewältigen ([2]; vgl. auch
teten Risikofaktoren festzustellen, die sogar noch Kapitel 2.3).
stärker als bei Männern ausgeprägt sind. Dies gilt Mit Daten des telefonischen Gesundheits
insbesondere für die Verbreitung von Adipositas. surveys 2003 lässt sich zeigen, dass Männer und
Beim Rauchen fällt auf, dass die sozialen Unter Frauen mit niedrigem sozialem Status zu einem
schiede im höheren Lebensalter zunehmen, was deutlich geringeren Anteil ihren allgemeinen Ge
allerdings vor dem Hintergrund des insgesamt sundheitszustand als sehr gut oder gut bewerten.
relativ geringen Tabakkonsum in diesem Alter zu Besonders groß ist der Abstand zu den Angehöri
sehen ist. Dass Frauen mit niedrigem sozialem gen der hohen Statusgruppe. Da sich aber auch ge
Status seltener Sport treiben als Frauen mit ho genüber der mittleren Statusgruppe signifikante
hem sozialem Status, zeigt sich in allen betrachte Unterschiede feststellen lassen, kann von einem
ten Altersgruppen in ähnlicher Weise. Statusgradienten gesprochen werden. Sehr stark
128 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 3.2.6.1
Sehr guter oder guter allgemeiner Gesundheitszustand nach sozialem Status, Alter und Geschlecht
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003
Prozent
90
Frauen Männer
80
70
60
50
40 Sozialstatus
niedrig
30
mittel
20 hoch
10
ist dieser bei den 50- bis 59-Jährigen und auch den einträchtigungen des psychischen Wohlbefindens
60- bis 69-Jährigen ausgeprägt. Bei den 70-Jäh beziehen sich auf seelische Probleme, z. B. Angst,
rigen und Älteren fällt er schwächer aus, zumin Niedergeschlagenheit oder Reizbarkeit. Die emoti
dest der Unterschied zwischen der niedrigen und onale Rollenfunktion wird als beeinträchtigt ange
hohen Statusgruppe bleibt aber bedeutsam (siehe sehen, wenn persönliche oder seelische Probleme
Abbildung 3.2.6.1). die Ausübung normaler alltäglicher Tätigkeiten
Um Aussagen zur gesundheitsbezogenen erschweren.
Lebensqualität treffen zu können, wurde im te Bei Betrachtung von Beeinträchtigungen, die
lefonischen Gesundheitssurvey 2003 der SF-8 von den Befragten selbst als ziemlich stark oder
(Short Form Questionnaire) eingesetzt. Dieses stark bewertet werden, zeigt sich in der Tendenz,
Instrument misst mit Bezug auf die letzten vier dass die Angehörigen der niedrigen Statusgruppe
Wochen vor der Befragung Beeinträchtigungen stärker betroffen sind als diejenigen der hohen
in acht Dimensionen der gesundheitsbezogenen Statusgruppe (siehe Tabelle 3.2.6.1). Sowohl bei
Lebensqualität, unter anderem der körperlichen Männern als auch bei Frauen findet sich jedoch
Funktionsfähigkeit, des psychischen Wohlbefin kein klares Muster in Bezug auf die Veränderung
dens und der emotionalen Rollenfunktion [45, im höheren Alter.
46]. Von einer Beeinträchtigung der körperlichen
Funktionsfähigkeit wird ausgegangen, wenn Pro
bleme mit der körperlichen Gesundheit zu einer
Einschränkung bei normalen Tätigkeiten, wie z. B.
zu Fuß gehen oder Treppensteigen, führen. Be
Gesundheit und Krankheit im Alter 129
Tabelle 3.2.6.1
Beeinträchtigungen der gesundheitsbezogene Lebensqualität (»stark« oder »ziemlich stark«)
in den letzten 4 Wochen nach sozialem Status, Alter und Geschlecht
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003
Abbildung 3.2.7.1
Vorzeitige Sterblichkeit von Männern und Frauen vor einem Alter von 65 Jahren nach Einkommen
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel und Periodensterbetafel 1995 bis 2005 [47]
Prozent
35
Frauen Männer
30
25
20
15
10
0–60% 60–80% 80–100% 100–150% >150% 0–60% 60–80% 80–100% 100–150% >150%
Einkommen
und bei Frauen 8,4 Jahre aus. Männer und Frauen, mensunterschiede einen deutlichen Niederschlag.
die das 65. Lebensjahr erreicht haben, konnten Von Geburt an lässt sich der Abstand zwischen der
damit rechnen, 15,7 bzw. 19,3 weitere Jahre zu le höchsten und der niedrigsten Einkommensgrup
ben. Im Vergleich zwischen dem oberen und dem pe bei Männern mit 14,3 und bei Frauen mit 13,3
unteren Ende der Einkommensverteilung ergibt Jahre beziffern. Die Einkommensunterschiede in
sich bei Männern eine Differenz von 7,4 und bei der gesunden Lebenserwartung ab dem Alter von
Frauen eine Differenz von 6,3 Jahren. Auch in der 65 Jahren betragen 5,9 Jahren bei Männern und
gesunden Lebenserwartung finden die Einkom- 5,0 Jahren bei Frauen.
Tabelle 3.2.7.1
Lebenserwartung von Männern bei Geburt und ab einem Alter von 65 Jahren
nach Einkommen (Angaben in Jahren)
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel und Periodensterbetafeln 1995 bis 2005 [47]
Tabelle 3.2.7.2
Lebenserwartung von Frauen bei Geburt und ab einem Alter von 65 Jahren
nach Einkommen (Angaben in Jahren)
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel und Periodensterbetafeln 1995 bis 2005 [47]
3.2.8 Diskussion des Lebensstils bei Frauen weniger deutlich als bei
Männern in den Gesundheitschancen und Krank
Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass auch in heitsrisiken widerspiegelt (hierzu z. B. [1]).
der älteren Bevölkerung ein enger Zusammen Bei der Einordnung der Ergebnisse ist aller
hang zwischen der sozialen und gesundheitlichen dings zu berücksichtigen, dass sich der Alters
Lage besteht. Dies lässt sich sowohl im Hinblick gruppenvergleich nur bis zu den 70-Jährigen
auf Krankheiten, Beschwerden und Risikofak und Älteren erstreckte und die Hochbetagten in
toren als auch in Bezug auf die subjektive Ge dieser Gruppe unterrepräsentiert sind. Eine An
sundheit, gesundheitsbezogene Lebensqualität gleichung, Nivellierung oder gar Umkehrung
und fernere Lebenserwartung feststellen. Dabei der sozialen Unterschiede im Krankheits- und
finden sich nur wenige Anhaltspunkte dafür, dass Sterbegeschehen wird wahrscheinlich erst am
die gesundheitliche Ungleichheit in der älteren Übergang vom dritten zum vierten Lebensalter,
Bevölkerung wesentlich schwächer ausgeprägt ist also etwa ab dem 85. Lebensjahr sichtbar. Dies
als in der Bevölkerung im mittleren Lebensalter. dürfte zumindest für die im Todesursachenspek
Zwar ist in einigen Bereichen im fortgeschrittenen trum vorherrschenden Krankheiten und diesen
Alter eine Verringerung der sozialen Unterschiede zugrunde liegende Risikofaktoren gelten, da die
festzustellen, so z. B. bei der Selbsteinschätzung se den Prozess des selektiven Überlebens steu
des allgemeinen Gesundheitszustandes, in an ern. Auch die internationalen Befunde sprechen
deren Bereichen wie der Verbreitung von chro dafür, dass die gesundheitliche Ungleichheit in
nischen Krankheiten und verhaltenskorrelierten den ersten Jahren nach dem Übergang in den
Risikofaktoren erweisen sich die Unterschiede Ruhestand erhalten bleibt und sich erst bei den
aber als relativ stabil oder sie nehmen sogar Hochbetagten nicht mehr beobachten lässt. Mit
noch zu. Auch die sozialen Unterschiede in der den in Deutschland vorhandenen Daten ist eine
ferneren Lebenserwartung sind stark ausgeprägt Analyse des sozial differenziellen Krankheits- und
und fallen proportional noch größer aus als die Sterbegeschehens in der Gruppe der sehr alten
sozialen Unterschiede in der Lebenserwartung Menschen nicht möglich. Die vorgestellten Er
bei Geburt. Darüber hinaus ist bemerkenswert, gebnisse zeigen somit, dass die gesundheitliche
dass die gesundheitliche Ungleichheit bei Frauen Ungleichheit bis ins Alter relativ stabil bleibt, sie
ähnlich stark zutage tritt wie bei Männern. Dies lassen aber keine Aussagen über Veränderungen
steht im Widerspruch zu der in der Sozialepide im weiteren Alternsverlauf zu.
miologie vorherrschenden Auffassung, das sich Ebenso ist bei der Ergebnisinterpretation die
die soziale Ungleichheit der Lebensumstände und Möglichkeit von Kohorten- und Periodeneffekten
132 Gesundheit und Krankheit im Alter
zu berücksichtigen. Die heutigen Alten haben z. B. tributory causes. Journal of Epidemiology and Com
munity Health 52: 214 – 218
zu einem großen Teil noch den 2. Weltkrieg und
6. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale
die Nachkriegsjahre erlebt, die sich in mannig Sicherung (BMGS) (2005) Lebensverhältnisse in
faltiger Weise auf den weiteren Lebenslauf aus Deutschland. 2. Armuts- und Reichtumsbericht der
gewirkt haben. Auch in anderer Hinsicht haben Bundesregierung. BMGS, Berlin
7. Mielck A, Bloomfield K (Hrsg) (2001) Sozialepidemio
sie historische Erfahrungen gemacht, die später
logie. Eine Einführung in Grundlagen, Ergebnisse und
geborene Kohorten nicht oder in einem früheren Umsetzungsmöglichkeiten. Juventa Verlag, Weinheim
Lebensalter teilen. Die kohorten- und perioden München
spezifischen Erfahrungen spiegeln sich in der ge 8. Lampert T, Maas I (2002) Sozial selektives Überleben
ins und im Alter. In: Backes GM, Clemens W (Hrsg)
sellschaftlichen Entwicklung und dem Wandel der
Zukunft der Soziologie des Alter(n)s. Leske + Budrich,
sozialen Ungleichheit wider. Künftige Altengene Opladen, S 219 – 249
rationen werden unter anderen gesellschaftlichen 9. Knesebeck O vd (2005) Soziale Einflüsse auf die Ge
Voraussetzungen gelebt haben und andere Mög sundheit alter Menschen. Eine deutsch-amerikanische
Vergleichsstudie. Hans Huber, Bern
lichkeiten gehabt haben, individuelle Interessen
10. Baltes PB, Baltes MM (1994) Gerontologie: Begriff,
und auch Gesundheitschancen zu verwirklichen. Herausforderung und Brennpunkte. In: Baltes PB,
Vieles spricht dafür, dass sich der Gesundheits Mittelstraß J, Staudinger UM (Hrsg) Alter und Altern:
zustand der Bevölkerung weiter verbessern und Ein interdisziplinärer Studientext. de Gruyter, Berlin,
S 1 – 34
die Lebenserwartung weiter steigen wird. Wenn
11. Lundberg O (1991) Causal explanations for class
immer mehr Menschen alt und sehr alt werden, inequality in health – an empirical analysis. Social
die bislang aufgrund nachteiliger Lebensbedin Science & Medicine 32: 385 – 393
gungen und hohen Belastungen vorzeitig gestor 12. Adler NE, Boyce T, Chesney MA et al. (1994) Socioeco
nomic status and health: The challange of the gradient.
ben sind, dann verliert der Prozess des selektiven
American Psychologist 49: 15 – 24
Überlebens ins Alter an Bedeutung. Dies könnte 13. Geyer S (1997) Ansätze zur Erklärung sozial unglei
dazu führen, dass sich die soziale Ungleichheit cher Verteilung von Krankheiten und Mortalitäten.
im Krankheits- und Sterbegeschehen zunehmend Gesundheitswesen 59: 36 – 40
14. Oppolzer A (1994) Die Arbeitswelt als Ursache ge
vom mittleren ins höhere Lebensalter verlagert,
sundheitlicher Ungleichheit. In: Mielck A (Hrsg)
was das gesamte Erscheinungsbild des Alter(n)s Krankheit und soziale Ungleichheit. Leske + Budrich,
nachhaltig verändern würde. Schon aus diesem Opladen, S 125 – 165
Grund sollten alte und sehr alte Menschen stär 15. Herlyn U (1997) Stadt- und Regionalsoziologie. In:
Korte H, Schäfers B (Hrsg) Einführung in die Pra
ker als bisher in der sozialepidemiologischen For
xisfelder der Soziologie. Leske + Budrich, Opladen
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134 Gesundheit und Krankheit im Alter
3.3 Inanspruchnahmeverhalten
Anke-Christine Saß, Susanne Wurm, Thomas Ziese
großen Zahl älterer Männer und Frauen in An Altersgruppen eine zentrale Stellung für die Nut
spruch genommen. Auf sie entfällt ein Großteil zung des gesamten Gesundheitssystems ein, denn
der erbrachten Versorgungsleistungen und ein ausgehend von einem Arztkontakt werden oftmals
erheblicher Teil der verfügbaren Ressourcen [1]. weitere medizinische Leistungen in Anspruch
Das vorliegende Kapitel gibt einen Überblick genommen. Dem Arzt bzw. der Ärztin kommt
über das Inanspruchnahmeverhalten der 65-Jäh hierbei eine Steuerungsfunktion zu [2, 3, 4]. Ärzte
rigen und Älteren in Deutschland. Verschiedene und Ärztinnen leiten diagnostische und therapeu
Bereiche der gesundheitlichen Versorgung wer tische Maßnahmen ein, verordnen Arzneimittel,
den beleuchtet – Prävention, ambulante und sta überweisen zum Spezialisten, veranlassen eine
tionäre Versorgung, Rehabilitation und Pflege so Krankenhauseinweisung oder empfehlen eine
wie die Versorgung mit Arzneimitteln. Anliegen Rehabilitationsmaßnahme. Im Folgenden wird
ist es, für jeden einzelnen Bereich aktuelle, reprä das Inanspruchnahmegeschehen hinsichtlich der
sentative Zahlen zum Inanspruchnahmegesche Arztkontakte insgesamt sowie der Hausarzt- und
hen zusammenzustellen, die auch einen Vergleich Facharztkontakte dargestellt.
mit entsprechenden Angaben für das mittlere Er
wachsenenalter erlauben. Analysiert wird auch,
ob es zwischen den einzelnen Altersgruppen Arztkontakte
oberhalb von 65 Jahren Unterschiede in der Inan
spruchnahme medizinischer Leistungen gibt und Im Jahr 2003 wurden im Rahmen des bundesweit
inwieweit sich hierbei Männer und Frauen unter repräsentativen telefonischen Gesundheitssurvey
scheiden. Eine weitere wichtige Frage zielt auf den Männer und Frauen in Deutschland danach ge
Beitrag des Alters zum Inanspruchnahmegesche fragt, ob sie innerhalb eines Quartals (»in den letz
hen. Ist bei der Inanspruchnahme medizinischer ten drei Monaten«) bei einem Arzt waren. Bezogen
Leistungen ein eigenständiger Einfluss des Alters auf die gesamte Stichprobe der 18-jährigen und
nachweisbar? Oder lassen sich scheinbar alters älteren Wohnbevölkerung waren innerhalb dieses
spezifische Inanspruchnahmemuster durch eine Zeitraums fast zwei Drittel beim Arzt gewesen [3].
schlechtere gesundheitliche Lage erklären? Frauen suchen deutlich häufiger als Männer einen
Daten zum Inanspruchnahmegeschehen ste Arzt auf. Unter den 65- bis 84-Jährigen bejahten
hen aus der amtlichen Statistik zur Verfügung, 79 % die Frage. Die Inanspruchnahmerate der
bevölkerungsbezogene Surveys werden ebenfalls Männer liegt in dieser Altersgruppe etwas über
herangezogen. Eine Beschreibung der verwen der Rate der Frauen (81 % vs. 78 %). Im Vergleich
deten Datenquellen mit Hinweisen auf Restrik zum jüngeren und mittleren Erwachsenenalter
tionen findet sich am Ende des Buches. Aufgrund ist ein deutlicher Anstieg der Wahrscheinlichkeit
unterschiedlicher Erhebungs- und Auswertungs eines Arztkontaktes zu beobachten: Von den un
modi der einbezogenen Daten lassen sich Abwei ter 50-Jährigen gingen lediglich 50 % mindestens
chungen hinsichtlich der verwendeten Altersgrup einmal innerhalb von drei Monaten zum Arzt bzw.
pen (auch für den Vergleich mit dem mittleren zu einer Ärztin.
Lebensalter) in den folgenden Ausführungen Bergmann et al. konnten zeigen, dass ein hö
nicht immer vermeiden. heres Lebensalter einen eigenständigen Einfluss
auf die Wahrscheinlichkeit eines Arztbesuches
in den letzten drei Monaten hatte [3]. Außerdem
3.3.1 Inanspruchnahme ambulanter erhöhten beispielsweise das Vorliegen einer der
Versorgungsangebote erfragten chronischen Erkrankungen, ein hö
herer Sozialstatus und ein städtischer Wohnort
Ambulante Angebote spielen hinsichtlich der me die Arztinanspruchnahme. Ein guter selbst ein
dizinischen Versorgung, aber auch bei sozialem geschätzter Gesundheitszustand und eine höhere
oder pflegerischem Unterstützungsbedarf, eine psychische und körperliche Lebensqualität wirk
große Rolle [2]. Ein wesentlicher Bereich der In ten hingegen »protektiv«, d. h. die Wahrschein
anspruchnahme ambulanter medizinischer An lichkeit der Inanspruchnahme war geringer.
gebote sind Arztkontakte. Sie nehmen in allen Zahlreiche weitere potenzielle Einflussfaktoren
136 Gesundheit und Krankheit im Alter
wurden in ein logistisches Regressionsmodell auf Bergmann et al. konnten zeigen, dass ein
genommen, unter anderem der Alkoholkonsum u-förmiger Zusammenhang zwischen dem Alter
und die Art der Krankenversicherung. Sie erwie und der Anzahl der Hausarztbesuche besteht,
sen sich im Gegensatz zu den oben genannten d. h. im mittleren Erwachsenenalter ist die Zahl
Faktoren allerdings nicht als signifikant [3]. der Hausarztkontakte am geringsten. Sie identi
fizierten weitere Faktoren, die zu einer erhöhten
Hausarztfrequenz führen, wie z. B. ein niedriger
Hausarztversorgung und Hausarztkontakte sozialer Statuts, ein hoher Body-Mass-Index, das
Vorliegen von chronischen Krankheiten und von
Etwa 35 % der Patientinnen und Patienten in haus Beeinträchtigungen der subjektiven Gesundheit.
ärztlichen Praxen sind 60 Jahre und älter; über Insgesamt 15 potenzielle Einflussfaktoren waren
die Hälfte der gesamten Leistungen (Punktwerte) im Modell enthalten, neben den genannten wa
von Allgemeinmedizinern und praktischen Ärzten ren dies auch Faktoren, die sich nicht als signifi
entfallen auf diese Altersgruppe. Diese Ergebnisse kant erwiesen, unter anderem regionale Variablen
aus dem Abrechnungsdatenträger-Panel (ADT- (Ost/West, Stadt/Land) und Migrationserfahrung.
Panel) des Zentralinstituts für die kassenärztliche Für Frauen stellte sich allerdings heraus, dass das
Versorgung aus dem 1. Quartal 2005 belegen die Alter bei Einbeziehung aller potenziellen Einfluss
Präsenz älterer Menschen im System der haus faktoren keinen eigenständigen Einfluss auf die
ärztlichen Versorgung [5, 6]. Häufigkeit der Hausarztbesuche hat, sondern dass
Im telefonischen Gesundheitssurvey 2003 vor allem die Zahl der chronischen Krankheiten
wurde auch die hausärztliche Versorgung erhoben. und die selbst eingeschätzte Gesundheit für die
Von den 65- bis 84-Jährigen geben 96 % an, einen Inanspruchnahme von Bedeutung sind [3].
Hausarzt zu haben, zu dem sie normalerweise bei Die altersspezifischen Besonderheiten von
gesundheitlichen Problemen gehen. Zwischen Erkrankungen und Gesundheitsstörungen bei
Männern und Frauen gibt es keine Unterschiede. älteren und hochaltrigen Patientinnen bzw. Pati
Aber nicht nur unter den Älteren ist der Hausarzt enten stellen besondere Anforderungen an die Be
für die meisten Befragten der erste Ansprechpart treuung in der Hausarztpraxis. Je höher das Alter
ner bei Gesundheitsproblemen. Insgesamt haben der Patientinnen und Patienten ist, desto mehr
fast 92 % aller Erwachsenen einen Hausarzt. Mit
dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, bei einem
Hausarzt in Behandlung zu sein [3]. Tabelle 3.3.1.1
Ist ein Hausarzt vorhanden, wird er von den Durchschnittliche Anzahl der Hausarztkontakte in den
letzten 12 Monaten nach Alter und Geschlecht 2003
65- bis 84-Jährigen durchschnittlich etwas mehr
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003,
als sechsmal im Jahr aufgesucht, also ungefähr eigene Berechnungen
einmal alle zwei Monate. Ältere Männer sind in
nerhalb eines Jahres etwas seltener beim Hausarzt Altersgruppe Hausarztkontakte
als Frauen. Mit steigendem Alter nimmt die Häu Mittel Stand.ab Mini Maxi
figkeit der Hausarztbesuche zu: Von knapp sechs wert weichung mum mum
Kontakten pro Jahr bei den 65- bis 69-Jährigen auf
65 – 74 Jahre 6,05 7,36 0 92
knapp neun Kontakte bei den 80- bis 84-Jährigen
65 – 69 Jahre 5,78 7,76 0 92
(siehe Tabelle 3.3.1.1). Als Durchschnittswert für
die gesamte 18-jährige und ältere Bevölkerung 70 – 74 Jahre 6,31 6,95 0 56
wurde etwa ein Hausarztbesuch pro Quartal er 75 – 84 Jahre 7,24 9,19 0 90
mittelt (4,16 pro Jahr). Wichtig ist bei der Interpre 75 – 79 Jahre 6,54 7,66 0 90
tation dieser Werte, dass die Streuung der Anzahl 80 – 84 Jahre 8,77 11,77 0 55
der Arztbesuche recht hoch ist [3]. Selbst unter den Frauen 6,80 8,13 0 58
65- bis 84-Jährigen gehen nur wenige Befragte
Männer 5,91 7,76 0 92
sehr häufig zum Hausarzt. Über die Hälfte der
älteren Männer und Frauen sind im letzten Jahr Gesamt 6,41 7,98 0 92
(65 Jahre und älter)
nicht öfter als einmal pro Quartal dort gewesen.
Gesundheit und Krankheit im Alter 137
dominieren chronische Krankheiten. Viele von Anteil der Personen, die mindestens einmal jähr
ihnen leiden gleichzeitig unter mehreren chro lich eine Arztpraxis für innere Medizin aufsuchen;
nischen Erkrankungen [7]. Das Vorliegen mehre die Nutzung bleibt aber deutlich unter der Inan
rer (körperlicher) Erkrankungen erhöht wiederum spruchnahme einer allgemeinmedizinischen oder
das Risiko für eine psychische Komorbidität (vgl. augenärztlichen Praxis.
Kapitel 2.1). Beispielsweise kann ein langjähriger In Hinblick auf die Nutzung von Zahnarzt
Diabetes mellitus die Ausbildung einer Depres praxen gibt es einen deutlichen, gegenläufigen
sion begünstigen [8]. Die Qualität der hausärzt Alterstrend: Geht die große Mehrheit der 45- bis
lichen Versorgung älterer und alter Patientinnen 64-Jährigen mindestens einmal jährlich zu Zahn
und Patienten wird kontrovers diskutiert [vgl. 2]. ärzten (86 %), suchen nur noch rund drei Viertel
Insbesondere wird dabei auf Lücken bei der Diag (78 %) aller 65- bis 74-Jährigen jährlich eine zahn
nostik und Therapie psychischer Erkrankungen medizinische Praxis auf. In der Altersgruppe der
im Alter verwiesen [9]. Mit dem Ziel, die Versor 75- bis 84-Jährigen sinkt dieser Anteil weiter – nur
gung chronisch kranker Menschen zu verbessern, noch knapp zwei Drittel aller Personen (65 %) die
wurden in den letzten Jahren strukturierte Be ser Altersgruppe lassen sich wenigstens einmal
handlungsprogramme, so genannte Disease Ma jährlich zahnmedizinisch untersuchen. Weitere
nagement Programme (DMPs), entwickelt. Zur Angaben zu Zahnpflege, Zahnerkrankungen und
zeit bieten verschiedene Krankenkassen DMPs Zahnersatz finden sich in der aktuellen Mundge
für Patientinnen und Patienten mit Diabetes sundheitsstudie (DMS IV; [10]), allerdings wurden
mellitus Typ 1 und Typ 2, Brustkrebs, koronarer in diese Studie nur Personen bis zum Alter von 74
Herzkrankheit, Asthma bronchiale und chronisch Jahren einbezogen (vgl. Abschnitt 2.1.5).
obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) an. Auch Ein zweiter gegenläufiger Alterstrend ist im
ältere chronisch kranke Menschen können von Hinblick auf die Inanspruchnahme von gynäko
der Einschreibung in ein DMP profitieren, denn logischen Arztpraxen festzustellen. Ein Vergleich
die Verbesserung der Behandlungskoordination mit Frauen im mittleren Erwachsenenalter macht
und der Therapiequalität sind inhaltliche Schwer deutlich, dass ältere Frauen teilweise nicht mehr
punkte der Programme. regelmäßig zu einer Frauenärztin oder einem
Frauenarzt gehen: In der Gruppe der 45- bis
54-Jährigen besuchen 84 % mindestens einmal
Fachärztliche Versorgung jährlich eine gynäkologische Arztpraxis – dieser
Anteil sinkt auf 38 % bei den 75- bis 84-jährigen
Im Alterssurvey 2002 wurden die Teilneh Frauen. Sowohl die Nutzungsdaten zur Zahnme
merinnen und Teilnehmer danach gefragt, welche dizin als auch Gynäkologie machen deutlich, dass
Fachärzte sie in den letzten 12 Monaten aufgesucht mit steigendem Alter wichtige Präventionspoten
haben. Die Inanspruchnahme von 12 verschie ziale unzureichend genutzt werden – möglicher
denen Facharztgruppen wurde erfasst. Abbildung weise weil die Bedeutung der Gesundheitsvorsor
3.3.1.1 stellt für sechs häufig genutzte Facharzt ge im Alter unterschätzt wird.
gruppen dar, inwieweit sich die Inanspruchnahme Urologische Praxen werden von Männern
zwischen dem mittleren und höheren Erwachse hingegen mit steigendem Alter häufiger in An
nenalter unterscheidet. Es wird deutlich, dass die spruch genommen. Dennoch ist der Anteil der
große Mehrheit der älteren Personen mindestens Männer, der eine urologische Praxis aufsucht,
einmal jährlich eine allgemeinmedizinische Arzt selbst in der höchsten Altersgruppe der 75- bis
praxis aufsucht. Dabei steigt der Anteil von 83 % 84-Jährigen (37 %) nicht höher als der Anteil
bei den 45- bis 54-Jährigen auf 93 % bei den 75- gleichaltriger Frauen, die (mindestens) einmal
bis 84-Jährigen. Über die Altersgruppen hinweg jährlich eine gynäkologische Praxis aufsuchen
steigt auch der Anteil von Personen, der mindes (38 %).
tens einmal jährlich eine Augenarztpraxis auf Die Frage, ob das Alter ein eigenständiger
sucht – dies ist ab der Altersgruppe der 55- bis Einflussfaktor für die Inanspruchnahme von
64-Jährigen über die Hälfte der älteren Personen. Fachärzten ist, wurde auf der Basis der Daten des
Ebenso steigt über die Altersgruppen hinweg der Bundes-Gesundheitssurveys 1998 für die unter
138 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 3.3.1.1
Inanspruchnahme von Fachärzten in den letzten 12 Monaten (mind. einmal) nach Alter 2002
Quelle: Alterssurvey 2002, eigene Berechnungen
Gynäkologie(nur Frauen)
Zahnmedizin
55–64 Jahre
Augenheilkunde 65–74 Jahre
75–84 Jahre
Allgemeinmedizin
0 20 40 60 80 100
Prozent
80-jährige Bevölkerung untersucht [4]. Bezüglich 3.3.2 Nutzung der stationären Versorgung
der Anzahl der kontaktierten Fachgruppen und
der Anzahl der Kontakte bei Internisten in den Ältere Menschen ab 65 Jahren nutzen stationäre
letzten zwölf Monaten zeigte sich hierbei, dass die Angebote der Gesundheitsversorgung überdurch
wichtigsten Einflussgrößen so genannte »Need- schnittlich häufig [2]. Aus dem Mikrozensus 2005
Faktoren« sind (beispielsweise Morbidität und Le geht hervor, dass gut 3 % aller 65-Jährigen und
bensqualität), die die Inanspruchnahme als Bedarf Älteren (mit Angaben zur Gesundheit) inner
im weiteren Sinne direkt beeinflussen. Daneben halb von vier Wochen vor der Befragung in sta
ist das Alter eine bedeutsame Größe. Der Einfluss tionärer Behandlung waren, ältere Männer etwas
des Alters bleibt auch dann bestehen, wenn ande häufiger als ältere Frauen (Selbstangaben) [11].
re Variablen einbezogen werden. Neben den oben Von den Personen zwischen 40 und 64 Jahren
genannten sind das beispielsweise der Gesund wurden nur 1,5 % stationär aufgenommen. In der
heitszustand, Risikofaktoren und Versorgungs Berliner Alterstudie, die Anfang der 1990er-Jahre
strukturen. Bei der Zahl der kontaktierten Fach durchgeführt wurde und neben Personen in Pri
gruppen besteht zudem eine Wechselwirkung von vathaushalten auch ältere Menschen einbezog, die
Alter und Geschlecht. Die Wahrscheinlichkeit, in Heimen lebten, wurde ermittelt, dass 21 % aller
eine Internistin bzw. einen Internisten zu kon 70- bis 90-Jährigen mindestens einmal jährlich
taktieren, nimmt sowohl bei Frauen als auch bei im Krankenhaus behandelt werden. Die Einwei
Männern mit dem Alter stetig zu. Bezüglich der sungsrate nimmt mit dem Lebensalter und stei
Zahl der kontaktierten Fachgruppen zeigte sich, gender Krankheitszahl zu [1, 12].
dass Frauen mit zunehmendem Alter eine gerin Detaillierte Angaben zur Inanspruchnahme
gere Zahl verschiedener Fachgruppen aufsuchen, stationärer Leistungen lassen sich aus der amt
während ältere Männer mehr Fachgruppen kon lichen Statistik entnehmen. Auch dort ist ein
sultieren [4]. deutlicher Altersgradient erkennbar. In der Kran
Gesundheit und Krankheit im Alter 139
kenhausdiagnosestatistik ist ausgewiesen, dass im der Männer durchgängig höher liegt als die der
Jahr 2006 in der Altersgruppe der 65-Jährigen und Frauen.
Älteren über 7 Millionen Fälle stationär versorgt Von den rund 7 Millionen Krankenhausfällen
wurden. Dies entspricht einer Rate von 43.722 bei Personen ab 65 Jahren wurde im Jahr 2006
Fällen je 100.000 Personen [13]. Zu beachten ist, ein Viertel durch Krankheiten des Herz-Kreislauf-
dass die Zahl der im Krankenhaus behandelten Systems verursacht (24 %). Mit zunehmendem Al
Personen und die Zahl der Krankenhausfälle nicht ter erhöht sich die Inanspruchnahmerate wegen
voll übereinstimmen. Eine Person, die innerhalb dieser Hauptdiagnose deutlich. In Tabelle 3.3.2.1
eines Jahres mehrmals im Krankenhaus war, wird sind die Inanspruchnahmeraten je 100.000 Ein
in der Statistik als »mehrere Fälle« ausgewiesen. wohner für sechs verschiedene Hauptdiagnosen
Im Alter zwischen 45 und 64 Jahren gab es zusammengestellt, die in der Gruppe der älteren
weniger als halb so viel stationäre Behandlungs Menschen besonders häufig auftreten. Krebser
fälle (19.319 Fälle je 100.000) wie bei den Älteren. krankungen stehen an zweiter Stelle (13 %). Hier
Betrachtet man das Inanspruchnahmegesche unterscheiden sich die Ergebnisse für die 65-Jähri
hen innerhalb der Gruppe der älteren Menschen gen und Älteren nicht von den Trends, die für alle
noch etwas differenzierter, wird deutlich, dass stationären Patientinnen und Patienten auf der
die Inanspruchnahmeraten bis zum Alter von Basis der Krankenhausdiagnosestatistik ermittelt
84 Jahren kontinuierlich ansteigen (siehe Abbil wurden [13]. Geschlechtsspezifisch zeigt sich al
dung 3.3.2.1). Erst ab einem Alter von 90 Jahren lerdings, dass bei Frauen ab 65 Jahren an zwei
sinken die Raten wieder. In Abbildung 3.3.2.1 ist ter Stelle der häufigsten Hauptdiagnosen Verlet
außerdem ersichtlich, dass die Inanspruchnahme zungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer
Abbildung 3.3.2.1
Altersstruktur der Krankenhauspatientinnen und -patienten (einschl. Sterbe- und Stundenfälle) –
altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach Geschlecht 2006
Quelle: Krankenhausdiagnosestatistik 2006 [13]
70.000
60.000
50.000
40.000
Frauen
30.000 Männer
20.000
10.000
Tabelle 3.3.2.1
Hauptdiagnosen der Krankenhauspatientinnen und -patienten (einschl. Sterbe- und Stundenfälle) –
altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Krankenhausdiagnosestatistik 2006 [13]
65 – 69 70 – 74 75 – 79 80 – 84 85 – 89 90 Jahre
Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre und älter
Frauen
Krebserkrankungen (C00 – D48) 4.555 4.984 5.012 4.562 3.975 2.778
Krankheiten des Kreislaufsystems (I00 – 99) 5.302 7.855 10.814 13.792 15.884 14.947
Krankheiten des Verdauungssystems (K00 – 93) 2.953 3.604 4.561 5.671 6.617 6.734
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems 4.222 5.102 5.135 4.154 3.105 1.779
und des Bindegewebes (M00 – 99)
Krankheiten des Urogenitalsystems (N00 – 99) 1.572 1.810 2.019 2.235 2.546 2.616
Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen 2.536 3.462 4.951 7.116 9.209 11.304
äußerer Ursachen (S00 – T98)
Männer
Krebserkrankungen (C00 – D48) 6.823 8.271 8.820 8.190 7.434 4.555
Krankheiten des Kreislaufsystems (I00 – 99) 8.982 12.256 15.321 17.216 18.087 14.322
Krankheiten des Verdauungssystems (K00 – 93) 3.850 4.682 5.679 6.628 7.365 6.301
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems 3.026 3.472 3.560 3.021 2.447 1.338
und des Bindegewebes (M00 – 99)
Krankheiten des Urogenitalsystems (N00 – 99) 2.109 2.714 3.313 3.802 4.198 3.810
Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen 2.240 2.620 3.399 4.494 5.970 6.788
äußerer Ursachen (S00 – T98)
Ursachen stehen. Erst an dritter Stelle folgen die Hinzu kommen für die Frauen im jüngeren und
Neubildungen. In der Altersgruppe ab 85 Jahren mittleren Erwachsenenalter die Gynäkologie und
sind insgesamt knapp 15 % der stationären Auf Geburtshilfe. Sehr wenige ältere Menschen (ab 65
enthalte Folge von Verletzungen, Vergiftungen Jahre) werden in psychiatrischen Fachabteilungen
und anderen äußeren Ursachen (Männer 10 %, versorgt (unter 2 %). In jüngerem Alter haben
Frauen 17 %). diese Abteilungen größere Bedeutung. Bis zu 11 %
Die Abteilung, in der die Patientinnen und der stationären Patientinnen und Patienten wer
Patienten den größten Teil ihres Krankenhausauf den dort behandelt (Altersgruppe 40 bis 44 Jahre).
enthaltes verbringen, wird in der Krankenhaus Psychische Erkrankungen bei Älteren werden von
diagnosestatistik ebenfalls erfasst. Gut die Hälfte Hausärzten möglicherweise häufiger übersehen
der stationären Fälle in der Altersgruppe ab 65 und nicht adäquat behandelt [9], gegebenenfalls
Jahre wurde in der Inneren Medizin behandelt spielt dies hier ebenfalls eine Rolle.
(52 %) und ein Fünftel in einer chirurgischen Die durchschnittliche Verweildauer der
Fachabteilung (21 %). Mit zunehmendem Alter Krankenhauspatientinnen und -patienten im
steigt die Zahl der Patientinnen und Patienten, Jahr 2006 schwankt stark in Abhängigkeit vom
die auf der Inneren Station liegen, deutlich an bis Alter. Die Verweildauer beträgt im Mittel 8,4 Tage
auf 64 % bei den 90- bis 95-Jährigen. Für Männer und ist damit im Vergleich zum Vorjahr leicht ge
und Frauen zeigen sich die gleichen Trends. Die sunken (um 2 %) [13]. In der Gruppe der älteren
Fachabteilungen Innere Medizin und Chirurgie Patientinnen und Patienten liegen die Verweil
haben auch bei den jüngeren Krankenhauspa dauern z.T. deutlich höher. Bei den 65- bis 74-Jäh
tientinnen und -patienten die größte Bedeutung. rigen dauerte ein Krankenhausaufenthalt im Mit
Gesundheit und Krankheit im Alter 141
tel 9,4 Tage, bei den 75-Jährigen und Älteren 10,6 spezielle geriatrische Einrichtungen heute noch
Tage. Die Verweildauer der Frauen liegt durch nicht allen alten Menschen zugänglich. Laut Kran
gängig etwas höher als die der Männer. Die längs kenhausdiagnosestatistik wurden im Jahr 2006
ten Krankenhausaufenthalte wurden für 80- bis nur gut 2 % der Behandlungsfälle bei 65-Jährigen
85-jährige Frauen ermittelt. Sie bleiben bei jedem und Älteren in der klinischen Geriatrie (als Teil
Krankenhausaufenthalt durchschnittlich 11,2 Tage der Inneren Medizin) versorgt [13]. Der Ausbau
in stationärer Behandlung [13]. entsprechender Einrichtungen erfolgte regional
Die vorgestellten Daten belegen, dass die sehr unterschiedlich. In den letzten Jahren ist das
Krankenhäuser in Deutschland zunehmend Angebot an solchen spezialisierten Versorgungs
mehr ältere Menschen behandeln. Dies folgt aus angeboten aber bereits deutlich gewachsen [2].
dem steigenden Anteil älterer Menschen an der
Bevölkerung und aus den höheren Inanspruch
nahmeraten im Alter bedingt durch alterskorre 3.3.3 Teilnahme an Rehabilitationsmaßnahmen
lierte Erkrankungen. Über 40 % aller Kranken
hauspatientinnen und -patienten im Jahr 2006 Im Anschluss an die stationäre Behandlung kann
waren 65 Jahre und älter [13]. Ein Merkmal von eine Rehabilitationsmaßnahme in jedem Alter
Krankheit im Alter ist, dass der Zeitraum für die dazu beitragen, den Therapieerfolg zu sichern. Sie
Rekonvaleszenz verlängert ist [7]. Außerdem sind dient der Rehabilitation nach Krankheit, Unfall
ältere Patientinnen und Patienten häufig von oder Operation, kann aber auch bei chronischen
mehreren chronischen Erkrankungen betroffen. Leiden oder psychischer Belastung hilfreich sein.
Daraus resultiert die im Vergleich zur mittleren Bei der Rehabilitation handelt es sich um eine
Krankenhausverweildauer deutlich längere Lie umfassende Maßnahme, die ärztliche Behand
gezeit Älterer im Krankenhaus. Die besonders lung und unterschiedliche Therapieformen, zum
langen Liegezeiten, die bei älteren Frauen beo Beispiel Physiotherapie, Ergotherapie oder Psy
bachtet wurden, könnten auch mit den zumeist chotherapie umfasst. Außerdem sind Beratungs
geringeren familiären Ressourcen (alleinlebend) angebote integriert, beispielsweise Ernährungs
dieser Gruppe zusammenhängen. Bezüglich der beratung. Alle Maßnahmen sollen individuell am
Diagnosen, die zur Krankenhauseinweisung füh Bedarf der Patientinnen und Patienten ausgerich
ren, ergeben sich Übereinstimmungen zwischen tet werden. Rehabilitation bei älteren und hochbe
den insgesamt am häufigsten stationär behandel tagten Menschen erfordert eine Erweiterung des
ten Krankheitsbildern und den Krankheitsbildern hergebrachten Konzepts der Rehabilitation [14],
älterer Patientinnen und Patienten ab 65 Jahren. das vor allem auf die Sicherung der Berufstätigkeit
Es dominieren die Krankheiten des Herz-Kreis bzw. die Rückkehr in den Arbeitsprozess ausge
lauf-Systems und Krebserkrankungen. Für die richtet ist. Geriatrische Rehabilitation dient dem
Gruppe der Hochaltrigen wurde allerdings fest gegenüber der Sicherung von Alltagskompetenz.
gestellt, dass sie bei einigen Erkrankungen (z. B. Der Rehabilitation im Alter kommt jedoch, auch
Krebserkrankungen) relativ seltener stationär im Hinblick auf eine bedarfsgerechte Versorgung,
behandelt werden als jüngere Menschen [1, 2, eine große Bedeutung zu, weil die Mehrzahl der
13]. Die stationäre Versorgung älterer Menschen im Alter auftretenden Beeinträchtigungen durch
findet heute überwiegend in Krankenhäusern der geeignete Rehabilitationsmaßnahmen erheblich
Regelversorgung statt. Erfahrungen in der statio abgemildert oder aufgefangen werden können [2].
nären Gesundheitsversorgung zeigen allerdings, In der Geriatrie wird zwischen präventiver, allge
dass insbesondere geriatrische Fachabteilungen meiner und gezielter Rehabilitation unterschie
für eine effektive Behandlung von Gesundheits den [14, 15]. Während die ersten beiden Formen
störungen bei Älteren geeignet sind [1]. Die in die Hinauszögerung des Altersabbaus bzw. die
terdisziplinäre Zusammenarbeit medizinischer Erhaltung des Status quo bei chronisch kranken
Fachexperten, die zudem umfassendes Wissen Patientinnen und Patienten zum Ziel haben, ist
und Erfahrungen bezüglich der physischen und die dritte Form der Rehabilitation krankheits
psychischen Besonderheiten des Alters haben, ist bezogen ausgerichtet. Es geht darum, verloren
der Vorteil dieser Versorgungsform. Leider sind gegangene Fähigkeiten durch gezieltes Training
142 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 3.3.3.1
Altersstruktur der Patientinnen und Patienten in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen –
altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 2006 [16]
je 100.000 Einwohner
4.500
4.000
3.500
3.000
2.500
2.000 Frauen
1.500 Männer
1.000
500
40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+
Altersgruppe
wiederzuerlangen. Bei den im Folgenden darge Nach einem Abfall der Teilnahmequoten ist in der
stellten Zahlen zur Inanspruchnahme handelt Altersgruppe 75 bis 79 Jahre zunächst wiederum
es sich schwerpunktmäßig um Maßnahmen der ein Anstieg bis auf ca. 4.100 Rehabilitationen je
gezielten Rehabilitation, die in spezialisierten 100.000 Einwohner zu erkennen. In der höchs
Fachabteilungen, beispielsweise der Orthopädie, ten Altersgruppe nimmt die Inanspruchnahme
durchgeführt werden. Aspekte der präventiven erneut ab. Die Inanspruchnahmeraten der Män
und allgemeinen Rehabilitation fließen in die Be ner liegen in fast allen Altersgruppen über denen
handlung ein, jedoch ist der überwiegende Teil der Frauen.
der von Älteren aufgesuchten Rehabilitationsein Über ein Drittel der Patientinnen und Pa
richtungen nicht speziell geriatrisch ausgerichtet. tienten im Alter ab 65 Jahren, die 2006 an einer
In der Statistik der Diagnosedaten der Pa stationären Rehabilitation teilnahmen, waren
tientinnen und Patienten in Vorsorge- und Reha wegen Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
bilitationseinrichtungen wurden im Jahr 2006 in einer Reha-Klinik (35 %). Der größte Teil von
in der Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren ihnen, insgesamt ein Viertel aller Rehabilita
insgesamt 558.608 Fälle vollstationärer Reha tionsfälle der Altersgruppe, hatte die Maßnahme
bilitation erfasst [16]. Etwas mehr als die Hälfte wegen Arthrose (ICD-10: M15 – 19) verordnet be
der Teilnehmer waren weiblich (57 %). Die In kommen. Arthrosen des Hüft- und Kniegelenks
anspruchnahmeraten je 100.000 lassen einen waren auch mit Blick auf alle Reha-Fälle im Jahr
deutlichen Altersgradienten erkennen (siehe Ab 2006 die häufigsten Hauptdiagnosen (alle Alters
bildung 3.3.3.1). Die Inanspruchnahme steigt im gruppen insgesamt).
mittleren Erwachsenenalter an und erreicht zwi Ein weiteres Viertel der älteren Teilneh
schen 55 und 59 Jahren einen Höchststand mit merinnen und Teilnehmer nahm eine Reha-Maß
über 3.400 Rehabilitanden pro 100.000 Personen. nahme wegen Krankheiten des Kreislaufsystems
Gesundheit und Krankheit im Alter 143
Tabelle 3.3.3.1
Hauptdiagnosen der Patientinnen und Patienten in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen (einschl. Sterbe- und
Stundenfälle) – altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 2006 [16]
65 – 69 70 – 74 75 – 79 80 – 84 85 – 89 90 Jahre
Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre und älter
Frauen
Krebserkrankungen (C00 – D48) 537 504 421 311 179 48
Krankheiten des Kreislaufsystems (I00 – 99) 453 653 791 730 513 161
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems 1.310 1.834 1.829 1.219 632 149
und des Bindegewebes (M00 – 99)
darunter:
Arthrose (M15 – 19) 906 1.394 1.391 905 439 83
Männer
Krebserkrankungen (C00 – D48) 749 733 517 314 200 60
Krankheiten des Kreislaufsystems (I00 – 99) 964 1.222 1.321 1.156 835 247
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems 848 1.082 1.146 917 606 172
und des Bindegewebes (M00 – 99)
darunter:
Arthrose (M15 – 19) 568 786 827 614 385 89
in Anspruch (23 %). Krebserkrankungen spielen und Männern zum Reha-Aufenthalt führt, werden
ebenfalls eine relativ große Rolle; 15 % der Pa verschiedene Fachabteilungen belegt. 43 % der äl
tientinnen und Patienten kamen deshalb in die teren Männer werden in einer Inneren Abteilung
Reha-Klinik. Bei Männern und Frauen bestehen behandelt, aber nur 31 % der Frauen. In die Or
unterschiedliche Schwerpunkte bezüglich der Di thopädie wird demgegenüber über die Hälfte aller
agnosen, die zu einer Rehabilitationsmaßnahme Frauen ab 65 Jahren aufgenommen (52 %), aber
führen (siehe Tabelle 3.3.3.1). Die Inanspruch nur ein Drittel der Männer. Mit zunehmendem
nahmerate der älteren Männer (ab 65 Jahren) Alter zeigt sich ein deutlicher Anstieg des An
ist bei den Kreislaufkrankheiten mehr als dop teils der Patientinnen und Patienten, die in einer
pelt so hoch wie die der Frauen (1.099 vs. 453 je Inneren Abteilung behandelt werden, und eine
100.000). Ischämische Herzkrankheiten (ICD-10: deutlich geringere Nutzung orthopädischer Abtei
I20 – 25) waren für Männer ab 65 Jahren der häu lungen. Sehr wenige ältere Menschen werden in
figste Grund für eine Rehabilitationsmaßnahme. Fachabteilungen für Psychiatrie und Psychothera
Frauen waren deutlich häufiger wegen Arthrose pie versorgt (unter 1 %). In jüngerem Alter haben
in einer Reha-Klinik (1.032 vs. 661 je 100.000). diese Abteilungen größere Bedeutung. Nach der
Die Fachabteilung, in der die Patientinnen höchsten Inanspruchnahme im jungen Erwach
und Patienten den größten Teil ihrer stationären senenalter (20 bis 24 Jahre: 24 %) werden in der
Rehabilitationsmaßnahme absolvierten, wird in Altersgruppe 40 bis 44 Jahre immer noch 18 %
der amtlichen Statistik erfasst. In der Altersgrup aller Reha-Patientinnen und -Patienten in psy
pe der 65-Jährigen und Älteren (wie auch für alle chiatrischen Fachabteilungen behandelt. Dies
Reha-Patientinnen und -Patienten insgesamt) korrespondiert mit der größeren Häufigkeit von
haben die Fachabteilungen Innere Medizin und Krankenhausaufenthalten aufgrund von psy
Orthopädie die größte Bedeutung [16]. Entspre chischen Erkrankungen bei jüngeren Menschen,
chend dem geschlechtsspezifisch unterschied die aus der Krankenhausdiagnosestatistik ermit
lichen Diagnosespektrum, das bei älteren Frauen telt werden kann [16].
144 Gesundheit und Krankheit im Alter
Ein Blick auf die durchschnittliche Verweil merinnen und Teilnehmer von Rehabilitations
dauer der Patientinnen und Patienten in Vorsor maßnahmen wird auf einer klinisch geriatrischen
ge- und Rehabilitationseinrichtungen zeigt, dass Station behandelt. Die Inanspruchnahmeraten
sie für Männer und Frauen innerhalb des betrach schwanken stark in Abhängigkeit vom Alter. In
teten Altersspektrums ab 65 Jahren bei etwa 23 der Gruppe der 65-Jährigen und Älteren werden
Tagen liegt [16]. Vergleicht man dies mit jüngeren gut 3 % der Patientinnen und Patienten dort be
Altersgruppen, so ist tendenziell eine Verkürzung treut, Frauen etwas häufiger als Männer. Der
der durchschnittlichen Reha-Dauer zu beobachten höchste Wert wird für 90-jährige und ältere Män
(Altersgruppe 20 bis 25 Jahre: 34 Tage; 40 bis 45 ner und Frauen ermittelt: Etwa jede dritte Rehabi
Jahre: 29 Tage). Die Analyse der Verweildauern litationsmaßnahme (31 %) wurde in einer geria
ergab, dass diese stark vom Krankheitsbild abhän trischen Fachabteilung durchgeführt, wenngleich
gen. Beispielsweise verbrachten Patientinnen und die Reha-Teilnehmerzahlen in diesem hohen Alter
Patienten aller Altersgruppen mit psychischen insgesamt sehr gering sind. In den letzten Jahren
oder Verhaltensstörungen durch Alkohol durch ist erfreulicherweise eine Verbesserung des An
schnittlich 81 Tage in Vorsorge- und Rehabilita gebots im Bereich der geriatrisch-rehabilitativen
tionseinrichtungen, bei einer ischämischen Herz Versorgung zu verzeichnen. Der Ausbau der Kapa
krankheit dauerte der Aufenthalt durchschnittlich zitäten erfolgte allerdings regional begrenzt. Die
nur 22 Tage [16]. Der Anteil der Patientinnen und Bedeutung ambulanter rehabilitativer Angebote
Patienten mit Diagnosen, die eine längere Ver als Fortführung der geriatrischen Rehabilitation
weildauer nach sich ziehen, ist im höheren Alter in der Klinik wird in diesem Zusammenhang be
offenbar etwas geringer, weshalb sich im Alterns tont [2].
verlauf eine Abnahme der durchschnittlichen Ver Zu beachten ist, dass die Daten der amtlichen
weildauer zeigt. Statistik lediglich über stationäre Reha-Maßnah
Zusammenfassend zeigen die vorliegenden men Auskunft geben (und lediglich Vorsorge- und
Daten zur Inanspruchnahme von Rehabilita Rehabilitationseinrichtungen mit mehr als 100
tionsmaßnahmen durch ältere Menschen, dass Betten einbezogen werden), während zum Teil
diese nach einem deutlichen Rückgang der Teil auch eine ambulant-wohnortnahe oder kombi
nahmeraten, der in etwa zum Zeitpunkt des nierte Durchführung möglich ist, beispielweise in
Rentenbeginns festzustellen ist, im Alter wieder Tageskliniken. Im Telefonischen Gesundheitssur
verstärkt in Anspruch genommen werden, von vey 2003 wurde ermittelt, dass 80 % der älteren
Männern etwas mehr als von Frauen. Der insge Reha-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer (65 bis
samt höchste Stand der Rehabilitationsfälle pro 84 Jahre) die letzte in Anspruch genommene Re
100.000 Einwohner ist in der Altersgruppe 75 habilitation stationär absolvierten, jede/jeder 10.
bis 79 Jahre zu verzeichnen. Mit zunehmendem hatte eine ambulante Reha-Maßnahme, ebenfalls
Alter ist zudem tendenziell eine Verkürzung der ca. 10 % eine kombinierte Maßnahme (Selbstan
durchschnittlichen Reha-Dauer zu beobachten. gaben; unabhängig vom Alter zum Zeitpunkt der
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems sind Reha-Maßnahme).
bei den älteren Menschen ab 65 Jahren die häu Insbesondere bei älteren Patientinnen und
figste Ursache für eine stationäre Rehabilitation. Patienten werden Probleme bei der Kontinuität
Daraus leitet sich die Bedeutung der orthopä der Versorgung diskutiert. Der Wechsel von einem
dischen Fachabteilungen für Reha-Maßnahmen Versorgungssegment, beispielsweise der akutsta
bei dieser Altersgruppe ab. Abteilungen für Inne tionären Behandlung, in ein anderes gelingt nicht
re Medizin folgen an zweiter Stelle, insbesondere immer reibungslos. Sowohl die Überleitung in die
deshalb, weil Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei häusliche Umgebung als auch die professionelle
älteren Männern die häufigste Hauptdiagnose für Weiterbehandlung, zum Beispiel in Einrichtungen
eine Inanspruchnahme von Rehabilitation darstel der ambulanten oder stationären Rehabilitation,
len. sind betroffen. Ein Fehlen adäquater Angebote der
Unter dem Oberbegriff Innere Medizin wer weiterführenden Therapie oder Unterstützung im
den auch geriatrische Fachabteilungen erfasst, Alltag kann zum »Drehtüreffekt«, einer Wieder
aber lediglich ein kleiner Teil der älteren Teilneh einweisung ins Krankenhaus, führen [1].
Gesundheit und Krankheit im Alter 145
3.3.4 Pflegerische Versorgung älterer Menschen doch nur einem Anteil von 41 %. Diese Angaben
machen deutlich, dass die durchschnittliche Zahl
Unter der Maßgabe, die Strukturen der pflege der Krankenhauspflegetage bei älteren Personen
rischen Versorgung in Deutschland zukunftsfähig größer als in jüngeren Altersgruppen ist. In Ab
zu machen, wurde am 26. Mai 1994 das Gesetz schnitt 3.3.2 wird darauf näher eingegangen.
zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflege Im Jahr 2005 waren 2,13 Millionen Versicher
bedürftigkeit beschlossen (Pflege-Versicherungs te der sozialen und privaten Pflegeversicherung
gesetz, PflegeVG). Damit konnte eine Lücke im als pflegebedürftig anerkannt. Als pflegebedürftig
sozialen Sicherungssystem der Bundesrepublik werden nach § 14 PflegeVG jene Personen bezeich
geschlossen werden: Pflegebedürftigkeit, die eine net, »die wegen einer körperlichen, geistigen oder
Langzeitpflege notwendig macht, wird nun durch seelischen Krankheit oder Behinderung für die
die soziale und private Pflegeversicherung abgesi gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden
chert. Im folgenden Abschnitt zur pflegerischen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens
Versorgung älterer Menschen geht es schwer auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs
punktmäßig um die Langzeitpflege. In welchem Monate, in erheblichem oder höherem Maße
Umfang erhalten ältere Menschen Leistungen aus (§ 15 PflegeVG) der Hilfe bedürfen.« Betroffene
der Pflegeversicherung? Welche Leistungsformen reichen einen Antrag auf Leistungen der Pflege
dominieren? Wie stellt sich der Anteil Älterer, die versicherung ein und die Pflegekasse fällt auf der
langzeitpflegebedürftig sind, im Vergleich zu an Grundlage der Empfehlungen des Medizinischen
deren Altersgruppen dar? Welche geschlechtsspe Dienstes der Krankenversicherung (MDK) die
zifischen Unterschiede sind zu beobachten? Entscheidung darüber, ob und in welchem Um
Neben der längerfristigen Pflegebedürftig fang ein Pflegebedarf besteht. Am 01.07.2008 ist
keit werden auch im akuten Krankheitsfall pfle- das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PflWG) in
gerische Leistungen benötigt. Leistungsträger ist Kraft getreten, das die Pflegeversicherung besser
in diesem Fall die gesetzliche Krankenversiche auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und ih
rung (GKV). Zur Pflege bei Krankheit gehören die rer Angehörigen ausrichten soll [19]. Das Gesetz
häusliche Krankenpflege im ambulanten Bereich sieht unter anderem die Schaffung von Pflege
sowie die Krankenhauspflege im stationären Be stützpunkten und die Einführung einer Pflege
reich. Im Jahr 2006 entfielen laut Krankheits zeit vor. Die ambulante Versorgung soll gestärkt
kostenrechnung des Statistischen Bundesamtes werden. Das Gesetz beinhaltet auch Leistungser
insgesamt 7,4 Milliarden Euro auf Einrichtungen höhungen, insbesondere für Demenzkranke.
der ambulanten Pflege [17]. Analysen zeigen, dass Insgesamt 2,6 % der Menschen in Deutsch
Frauen häusliche Krankenpflege deutlich häufiger land waren im Jahr 2005 als pflegebedürftig
als Männer in Anspruch nehmen [18]. Dies wird anerkannt [20]. Dabei bestehen ausgeprägte Al
darauf zurückgeführt, dass Frauen im Schnitt äl ters- und Geschlechtsunterschiede (siehe Tabel
ter werden als Männer und im hohen Alter häu le 3.3.4.1). In der Gruppe der unter 60-Jährigen
figer allein leben. Altersdifferenzierte Angaben liegt der Anteil der Pflegebedürftigen bei Frauen
zur Inanspruchnahme von häuslicher Kranken wie Männern unter 1 %. Mit zunehmendem Al
pflege liegen derzeit nicht vor. ter nimmt die Pflegebedürftigkeit stark zu (ex
Die stationäre Pflege im Krankenhaus ist Teil ponentieller Anstieg). Während bei den 70- bis
der Krankenhausbehandlung. Quantitative Aussa 74-Jährigen »nur« jede/jeder Zwanzigste pflege
gen zur Inanspruchnahme können aus den Kran bedürftig ist, haben 90- bis 94-Jährige die höchste
kenhauspflegetagen abgeleitet werden, die in der Pflegequote: Der Anteil der Pflegebedürftigen an
Krankenhausdiagnosestatistik ausgewiesen sind. allen Menschen dieser Altersgruppe betrug 61 %.
145 Millionen Pflegetage wurden im Jahr 2006 Insgesamt waren 82 % aller Pflegebedürftigen 65
durch die Krankenhäuser erbracht, davon entfiel Jahre und älter; 33 % 85 Jahre und älter. Auffallend
knapp die Hälfte (71 Millionen) auf Menschen ab ist, dass Frauen ab ca. dem 80. Lebensjahr eine
dem Alter von 65 Jahren. Bezogen auf alle im Jahr deutlich höhere Pflegequote aufweisen – also eher
2006 im Krankenhaus behandelten Patientinnen pflegebedürftig sind als Männer dieser Altersgrup
und Patienten entspricht diese Altersgruppe je pe. So beträgt z. B. die Pflegequote bei den 90- bis
146 Gesundheit und Krankheit im Alter
Tabelle 3.3.4.2
Art der Betreuung der Pflegebedürftigen nach Alter und Geschlecht 2005, Anteile an allen Pflegebedürftigen
der entsprechenden Altersgruppe in %
Quelle: Pflegestatistik 2005, eigene Berechnungen [20]
den Leistungen eines ambulanten Pflegedienstes gebedürftiger. Mit zunehmendem Alter steigt der
(Sachleistung) und dem Pflegegeld (Pflege durch Anteil der Empfängerinnen und Empfänger von
Angehörige) wählen. Das Pflegegeld ist nach wie Leistungen für die stationäre Pflege. Dementspre
vor die dominante Leistungsform der Pflegever chend sinkt im Alter der Anteil der Pflegebedürf
sicherung: 46 % aller Leistungsempfänger wähl tigen, die ausschließlich Pflegegeld in Anspruch
ten im Jahr 2005 diese Form der Unterstützung nehmen, ebenso die Zahl der Personen, die Kom
bei Pflegebedürftigkeit. In den letzten Jahren binationsleistungen erhalten. Bei Frauen werden
ist allerdings eine leichte Trendverschiebung in ab dem Alter von 80 Jahren Leistungen zur statio
Richtung professioneller und stationärer Pflege nären Pflege häufiger in Anspruch genommen als
zu beobachten [18, 20]. Dies hängt zum einen mit Pflegegeld und kombinierte Leistungen, bei Män
den hohen Anforderungen zusammen, die eine nern etwa zehn Jahre später (siehe Tabelle 3.3.4.2).
Pflege zu Hause an die Pflegepersonen stellt. Welche Erkrankungen sind es hauptsächlich,
Außerdem finden sich hierin Veränderungen in die bei älteren und sehr alten Menschen zu ei
den Familien- und Haushaltsstrukturen. Die Ana ner Langzeitpflegebedürftigkeit führen? Bei den
lysen zur Inanspruchnahme der verschiedenen 65- bis 79-Jährigen sind Krankheiten des Herz-
Leistungsformen der Pflegeversicherung durch Kreislauf-Systems, psychische und Verhaltensstö
Ältere ergeben ein ganz ähnliches Bild wie die be rungen (zu dieser Kategorie zählen auch demen
reits präsentierten Daten zur Unterbringung Pfle- zielle Erkrankungen), Krankheiten des Skeletts,
148 Gesundheit und Krankheit im Alter
der Muskeln und des Bindegewebes sowie Neubil dürftigen (über 80 Jahre) die Pflegebedürftigkeit
dungen die Hauptursachen für die Anerkennung im Zusammenhang mit einer demenziellen Er
einer Pflegebedürftigkeit (Daten: Pflegebericht krankung steht [18].
erstattung der Medizinischen Dienste 2002 in Die Frage, wie sich die Inanspruchnahme
[18]). Bei beiden Geschlechtern stehen in diesem von Leistungen zur Pflege in den kommenden
Alter Herz-Kreislauf-Erkrankungen erster Stel Jahren entwickeln wird, ist Gegenstand verschie
le, bei Frauen folgen psychische Erkrankungen, dener Modellrechnungen. Klar ist, dass die demo
bei Männern Neubildungen. In der Altersgrup grafische Entwicklung in Deutschland zu einer
pe 80 Jahre und älter wurde am häufigsten die deutlichen Zunahme älterer und sehr alter Men
ICD-10 Hauptgruppe »Symptome und abnorme schen führen wird. Daraus kann ganz allgemein
klinische Befunde« als pflegebegründende Dia geschlussfolgert werden, dass die Zahl derjenigen,
gnose angegeben, unabhängig vom Geschlecht. die auf pflegerische Leistungen angewiesen sind,
In der Pflegeberichterstattung der Medizinischen zunehmen wird. Wenn die Zahl der Pflegebedürf
Dienste stellt »Senilität« die häufigste Einzeldi tigen geschätzt werden soll, die im Jahr 2030 oder
agnose in dieser Hauptgruppe dar [18]. Die Ver 2040 Leistungen aus der Pflegeversicherung in
wendung des Begriffes »Senilität« wird allerdings Anspruch nehmen, müssen neben den Informa
kritisch diskutiert, zumeist wird damit eine im tionen zur demografischen Entwicklung auch
Alter auftretende Schwäche oder Gebrechlichkeit Annahmen über Pflegewahrscheinlichkeiten (Prä
bezeichnet, die insbesondere auch die geistige valenzen) herangezogen werden. Es bestehen un
Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Nimmt man terschiedliche Auffassungen darüber, wie sich der
die psychiatrischen Krankheitsbilder, die unspe Gesundheitszustand der älteren und sehr alten
zifischen Symptome und die bei den Krankheiten Bevölkerung in der Zukunft entwickeln wird (vgl.
des Nervensystems erfasste Alzheimer-Krankheit Kapitel 2.5). Ob Krankheiten, die zur Pflegebe
zusammen, so stellen demenzielle Erkrankungen dürftigkeit führen, genau so häufig auftreten wie
die häufigste Ursache von Pflegebedürftigkeit dar. heute oder möglicherweise später bzw. seltener
Ihr Anteil steigt mit zunehmendem Alter deut sind, ist Gegenstand verschiedener Hypothesen.
lich an. In der Altersgruppe der über 80-Jährigen Viele Prognosen stimmen jedoch darin überein,
wird Pflegebedürftigkeit in mehr als 35 % der Fäl dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahre
le durch eine demenzielle Erkrankung begründet 2040 zunehmen wird und mit einer steigenden
[18]. Der Zusammenhang zwischen funktionaler Inanspruchnahme von Leistungen aus der Pfle-
Gesundheit und Pflegebedürftigkeit wird in Kapi geversicherung zu rechnen ist [18].
tel 2.2 erläutert.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die
vorhandenen Daten zur Inanspruchnahme von 3.3.5 Arzneiverbrauch im Alter
Leistungen zur Pflege auf ausgeprägte Alters- und
Geschlechtsunterschiede bei den Leistungsemp Im Jahr 2006 wurden 39,6 Milliarden Euro für
fängern hinweisen. Mehr als vier Fünftel der Pfle- Arzneimittel ausgegeben. Das sind ca. 16 % der
gebedürftigen im Jahr 2005 waren 65 Jahre und gesamten Ausgaben für Gesundheit [23]. Die Aus
älter. Der Anteil der Pflegebedürftigen steigt da gaben für Arzneimittel betrugen je Einwohner
bei von Altersgruppe zu Altergruppe. Für Frauen 480 Euro (eigene Berechnungen nach [23]). Durch
ergibt sich ab etwa dem achtzigsten Lebensjahr die mit dem Alter ansteigende Menge ärztlich ver
eine deutlich höhere Pflegequote als für Männer. ordneter Medikamente stellt der Arzneimittelver
Mit zunehmendem Alter steigt der Anteil der brauch insbesondere in der Gruppe der älteren
Leistungsempfänger, die stationäre Pflege in An und sehr alten Menschen einen bedeutenden
spruch nehmen. Ältere Frauen sind aufgrund der Kostenfaktor dar. Im folgenden Abschnitt wird
höheren Lebenserwartung verbunden mit einem die Häufigkeit von Arzneimittelanwendungen im
schlechteren Gesundheitszustand und geringeren Alter, auch im Vergleich zu jüngeren Altersgrup
familiären Ressourcen (allein lebend) häufiger in pen dargestellt. Das Spektrum der Medikamente,
Pflegeheimen untergebracht. Hervorzuheben ist, die von älteren Menschen eingenommen werden,
dass bei über einem Drittel der ältesten Pflegebe wird beschrieben und es wird der Frage nachge
Gesundheit und Krankheit im Alter 149
net bekommen, Frauen aber deutlich öfter einen und weitere Stoffe zusammengefasst. Keine an
Arzt aufsuchen [28]. Darüber hinaus betreiben dere Arzneimittelgruppe wird so häufig für die
Frauen vermutlich in größerem Umfang Selbst Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
medikation. eingesetzt. Insgesamt dient der überwiegende Teil
Die nachfolgende Abbildung 3.3.5.1 verdeut der in Abbildung 3.3.5.1 enthaltenen Arzneimittel
licht, welche Arzneimittelgruppen den GKV-Pa gruppen mit den höchsten DDD pro Patientin/
tientinnen und -Patienten im Alter am häufigsten Patient zur Therapie von Herz-Kreislauf-Erkran
verordnet werden. Statt der traditionellen Indi kungen, zum Beispiel Betarezeptorenblocker, Di
kationsgruppen der Roten Liste werden in der uretika und Lipidsenker. Antidiabetika sind eben
Grafik Arzneimittelgruppen auf der Basis des falls unter den sieben Arzneimittelgruppen, die
anatomisch-therapeutisch-chemischen Systems älteren und sehr alten Patientinnen bzw. Patienten
(ATC-Systems) der Weltgesundheitsorganisation besonders oft verordnet werden. Außerdem haben
(WHO) dargestellt [28]. Nach dieser Klassifikation Medikamente zur Behandlung rheumatischer Er
stehen Angiotensinhemmstoffe an der Spitze der krankungen und gegen Schmerzen in der Alters
verordnungshäufigsten Arzneimittelgruppen, so gruppe der 65-Jährigen und Älteren große Bedeu
wohl bei den älteren Patientinnen und Patienten tung [26]. Aus Abbildung 3.3.5.1 geht auch hervor,
ab 65 Jahren sowie auch bei allen GKV-Versicher dass der Arzneiverbrauch im Alter in Bezug auf
ten mit Arzneiverordnungen im Jahr 2007. Als einzelne Medikamentengruppen nicht gleichmä
Angiotensinhemmstoffe werden ACE-Hemmer ßig zunimmt. Für Diuretika und Herztherapeuti-
Abbildung 3.3.5.1
Verordnung von Fertigarzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nach Alter 2007
(definierte Tagesdosen (DDD) je GKV-Versicherten, Arzneimittelgruppen 2. ATC-Ebene)
Quelle: Arzneimittelindex des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) 2007 [29]
350
300
250
200
150
100
50
ka steigt er beispielsweise an. Die Verordnungen oftmals nur Probanden im jungen oder mittle
von Antidiabetika gehen dagegen mit steigendem ren Erwachsenenalter teil [26, 30]. Im Gegensatz
Alter zurück. Für andere Medikamentengruppen dazu bekommen ältere und sehr alte Männer und
ist nach einem Anstieg ein Rückgang in den höchs Frauen deutlich häufiger und mehr verschiedene
ten Altersgruppen (ab 80 Jahren) zu beobachten, Arzneimittel verordnet als junge Menschen.
beispielsweise Angiotensinhemmstoffen und Li Die Häufigkeit von Medikationsfehlern, un
pidsenker. erwünschten Arzneimittelwirkungen und Arznei
Geschlechtsspezifische Arzneiverordnungen mittelinteraktionen nimmt mit steigender Zahl
betreffen bei älteren und sehr alten Männern Uro der Wirkstoffe proportional zu. Für geriatrische
logika (Prostataerkrankungen) und Medikamente Patientinnen und Patienten wird empfohlen, nicht
gegen Gicht, sowie bei Frauen Sexualhormone mehr als vier Medikamente regelmäßig anzuwen
und Schilddrüsentherapeutika (GEK-Versicherte den [26, 30]. Die Auswertung der Verordnung von
2004 [26]). Die Verordnung von Antidepressiva Arzneimitteln für ältere und sehr alte Versicherte
im Alter soll an dieser Stelle noch kurz erwähnt der GEK ergab, dass insbesondere in der Gruppe
werden, denn Antidepressiva sind eine Arznei der sehr alten Frauen von dieser Empfehlung oft
mittelgruppe, deren Bedeutung in der Versor mals abgewichen wird: 40 % der weiblichen Versi
gung in den letzten Jahren stark gewachsen ist. cherten im Alter von 85 bis 90 Jahren erhielten im
Die Wirksamkeit der Wirkstoffe ist allerdings Jahr 2005 mehr als acht Wirkstoffe [26].
heftig umstritten [27]. Der Anteil der Versicher Unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei äl
ten mit Antidepressivaverordnung im Jahre 2007 teren und sehr alten Männern und Frauen wurden
ist bei Frauen nahezu doppelt so hoch wie bei von einer Arbeitsgruppe in den USA systematisch
Männern. Bei 65- bis 70-jährigen Frauen beträgt ausgewertet. Die Arbeitsgruppe veröffentlichte
er etwa 12 %, bei gleichaltrigen Männern etwa eine Liste mit Arzneimitteln, deren Anwendung
5 % (GEK-Versicherte [27]). Der Anteil steigt bei bei älteren Patientinnen und Patienten als proble
beiden Geschlechtern mit dem Alter deutlich an matisch erachtet wird [26]. Für die GEK wurde mit
(90- bis 95-jährige Frauen ca. 19 %, Männer ca. Verordnungsdaten aus dem Jahr 2005 ermittelt,
11 %). Antidepressiva werden allerdings sowohl dass 20 % aller versicherten Männer und Frauen
zur Behandlung von Depressionen und weiteren ab 65 Jahren, das entspricht 22 % aller Arzneimit
psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt als auch telpatientinnen und -patienten, mindestens einen
zur Therapie chronischer Schmerzen. Ausgehend Wirkstoff erhielten, der auf dieser Liste steht. In
von Erkenntnissen darüber, welche Antidepres der betroffenen Gruppe erhielten 20 % der Frauen
siva wegen unerwünschter Wirkungen als prob und über 15 % der Männer sogar mehr als einen
lematisch für ältere Menschen gelten, wurde Wirkstoff von der Liste [26]. Die GEK leitet aus
ermittelt, dass bei GEK-versicherten Frauen ab 65 diesen Ergebnissen zur Arzneimittelverordnung
Jahren 33 % der verordneten Packungen auf Prä bei 65-Jährigen und Älteren einen dringenden
parate entfielen, die für diese Altersgruppe nicht Handlungsbedarf ab [26].
empfehlenswert sind [27]. Dies unterstreicht die Wichtige neue Erkenntnisse zu diesem The
ärztliche Verantwortung bei der Entscheidung für ma, speziell für den deutschen Markt werden in
eine Verordnung von Psychopharmaka. nächster Zeit erwartet, denn das Bundesministe
Die Arzneimitteltherapie älterer und sehr rium für Bildung und Forschung fördert seit 2007
alter Menschen verlangt viel therapeutische Er mehrere Verbundprojekte, die sich unter anderem
fahrung, denn ältere Patientinnen und Patienten speziell mit den Grundlagen für eine Optimierung
weisen auf der einen Seite zahlreiche altersspezi der Arzneimitteltherapie im höheren Lebensalter
fische Besonderheiten auf, die für die Therapie befassen [27].
von Bedeutung sind, beispielsweise eine nach Die bisherigen Ausführungen zur Inan
lassende Nieren- und Leberfunktion, feinmoto spruchnahme von Arzneimitteln durch ältere
rische Schwierigkeiten und Einschränkungen Menschen basieren auf Daten, die das Verord
beim Erinnerungsvermögen. Andererseits neh nungsgeschehen widerspiegeln. Sie geben Aus
men an klinischen Studien zu Wirkungen (und kunft über Medikamente, die von niedergelas
unerwünschten Wirkungen) der Medikamente senen Ärztinnen und Ärzten verschrieben und
152 Gesundheit und Krankheit im Alter
in den Apotheken zu Lasten der GKV bzw. der als bei den Männern, ab der Altersgruppe 60 bis
GEK abgegeben wurden. Nicht verschreibungs 69 Jahre wird dieser Unterschied aber geringer.
pflichtige Arzneimittel dürfen ohne Rezept in Auch bezüglich der Anzahl eingenommener Arz
Apotheken verkauft werden. Seit 2004 (GKV- neimittel zeigte sich eine deutliche Zunahme mit
Modernisierungsgesetz) können sie bis auf we steigendem Alter. Dieser Trend beginnt wiederum
nige Ausnahmen nicht mehr ärztlich verordnet im Vorrentenalter (50 bis 59 Jahre) und setzt sich
werden, das heißt die Patientinnen und Patienten bis zur höchsten Altergruppe fort. Frauen kon
müssen selbst zahlen. Dadurch werden nicht ver sumieren in allen Altergruppen mehr Präparate
schreibungspflichtige Arzneimittel in den Abrech als Männer. Multimedikation, hier definiert als
nungsdaten der Krankenkassen nicht erfasst. Sie gleichzeitige Anwendung von zwei und mehr
machen aber einen großen Teil der in Apotheken Arzneimitteln, wird mit steigendem Alter er
abgegeben Packungen aus. Nach Angaben des wartungsgemäß häufiger, geschlechtsspezifische
Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller ent Unterschiede verringern sich. Im Arzneimittel
fielen im Jahr 2007 nur 48 % der abgegebenen survey wurde auch erfasst, welche der eingenom
Arzneimittelpackungen auf ärztlich verordne menen Medikamente ärztlich verordnet waren
te Präparate, für die Rezeptpflicht besteht, 10 %
der Packungseinheiten waren verordnete, nicht
rezeptpflichtige Medikamente und 43 % dienten
der Selbstmedikation. Tabelle 3.3.5.3
Außerdem ist von Bedeutung, dass Angaben Arzneimittelanwendung in den letzten sieben Tagen nach
Alter und Geschlecht 1998
zur Abgabe von Arzneimitteln nicht den tatsäch Quelle: Bundes-Gesundheitssurvey 1998, eigene Berech
lichen Verbrauch widerspiegeln. Bei chronischen nungen [35]
Krankheiten wird eher als bei akuten Erkran
kungen davon ausgegangen, dass die verordne Altersgruppe Frauen Männer
ten Medikamente eingenommen werden [31, 32]. Arzneimittelanwender
Studien zur Compliance zeigten allerdings, dass
60 – 69 Jahre 89,2 % 82,3 %
selbst bei chronischen Krankheiten, wie beispiels
70 – 79 Jahre 92,9 % 87,4 %
weise Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen,
Diabetes, Rheuma oder Osteoporose die Medi durchschnittliche Anzahl eingenommener
Arzneimittel pro Arzneimittelanwender
kamenteneinnahme von einem großen Teil der
Patientinnen und Patienten (zwischen 20 % und 60 – 69 Jahre 4,3 3,6
70 %) selbstständig beendet wird [33, 34]. Niedrige 70 – 79 Jahre 4,8 4,3
Non-Compliance-Raten wurden dagegen für Kon Multimedikation (2 und mehr Arzneimittel)
trazeptiva gefunden [33]. bei Arzneimittelanwendern
Aussagen zum tatsächlichen Arzneimittel 60 – 69 Jahre 86,0 % 80,7 %
konsum der älteren Bevölkerung, einschließlich 70 – 79 Jahre 85,1 % 89,1 %
der Selbstmedikation lassen sich aus Arzneimit
Arzneimittelanwender mit ausschließlich
telsurveys ableiten. 1998 wurde in Deutschland ärztlich verordneten Medikamenten
ein solcher Survey als Teil des Bundes-Gesund
60 – 69 Jahre 53,3 % 64,7 %
heitssurvey durchgeführt, der Personen bis 79
Jahre einbezog. Es zeigte sich, dass über alle Al 70 – 79 Jahre 64,9 % 69,2 %
tersgruppen hinweg insgesamt 70 % aller Män Arzneimittelanwender mit ausschließlich
ner und Frauen mindestens einmal innerhalb der selbst verordneten Medikamenten
letzten 7 Tage Arzneimittel angewendet hatten. 60 – 69 Jahre 6,5 % 12,2 %
Im letzten Jahr nahmen nur 9 % gar keine Me 70 – 79 Jahre 3,0 % 3,8 %
dikamente ein [35]. Mit steigendem Alter erhöht Arzneimittelanwender mit sowohl ärztlich
sich der Anteil der Personen, die in den letzten sie als auch selbst verordneten Medikamenten
ben Tagen Arzneimittel benötigten (siehe Tabel 60 – 69 Jahre 40,2 % 23,1 %
le 3.3.5.3). Der Arzneimittelgebrauch der Frauen
70 – 79 Jahre 32,2 % 27,0 %
erreicht in allen Alterstufen ein höheres Niveau
Gesundheit und Krankheit im Alter 153
und welche keinen unmittelbaren Bezug zur Ver wegserkrankungen und Osteoporose aber auch
ordnung hatten (Selbstmedikation). Von allen Arz die Eindämmung infektiöser Erkrankungen und
neimittelanwenderinnen und -anwendern nahm die Verhinderung von Stürzen sind Ansatzpunkte
knapp die Hälfte selbst verordnete Arzneimittel für die Prävention im Alter (vgl. Kapitel 2.1). Die
ein. Bei den Älteren wird der Anteil derer, die nur se kann in Form von primären, sekundären oder
selbst verordnete Medikamente einnehmen, ge tertiären Präventionsmaßnahmen erfolgen. Die
ringer. Vielzahl von Ansätzen und Handlungsfeldern,
Aus den vorliegenden Daten zum Medika die für Gesundheitsförderung und Krankheitsver
mentenkonsum älterer Menschen ist zusam hütung bei älteren Menschen bestehen, werden
menfassend erkennbar, dass sowohl die Zahl bislang in der Öffentlichkeit, in den ärztlichen
der Verordnungen als auch die tatsächliche Me und pflegerischen Berufen wie auch in der Politik
dikamenteneinnahme mit dem Älterwerden zu unterschätzt [2, 6, 38]. In Deutschland liegen prä
nimmt. Das wird zum einen am Anteil der Per ventive und gesundheitsförderliche Angebote für
sonen deutlich, die Medikamente einnehmen, und Senioren nur vereinzelt vor [38]. Gesetzlich veran
zum anderen an der Anzahl der eingenommenen kert sind einige diagnostische Untersuchungen,
Präparate pro Person. Die Zahl der definierten die der Krankheitsfrüherkennung dienen. Seit
Tagesdosen liegt bei älteren und sehr alten Men dem 1. April 2005 gibt es zudem das hausärztlich
schen deutlich höher als im jüngeren und mitt geriatrische Basisassessment [6].
leren Erwachsenenalter. Wenn man jedoch den Im folgenden Abschnitt wird die Inanspruch
Einfluss verschiedener Faktoren auf die Medika nahme von Präventionsmaßnahmen beschrieben,
menteneinnahme prüft, so ergeben sich Hinweise die im Fünften Sozialgesetzbuch Gesetzliche
darauf, dass nicht das Alter sondern die Morbidi Krankenversicherung (SGB V) verankert sind.
tät den stärksten Einfluss hat. Aus den Daten des Dies sind zum einen Impfungen (§ 23 SGB V), hier
Arzneimittelsurvey kann geschlussfolgert werden, die Grippeschutzimpfung – eine primärpräventiv
dass zunächst die Anzahl der Krankheiten und das ausgerichtete Maßnahme – sowie zwei Angebote
Geschlecht ausschlaggebend dafür sind, ob in den der sekundären Prävention: die Gesundheitsun
letzten sieben Tagen Arzneimittel eingenommen tersuchung »Check-up« (§ 25 Abs. 1 SGB V) und
wurden [35, 36]. die Krebsfrüherkennung (§ 25 Abs. 2 SGB V).
Obwohl ältere und sehr alte Menschen – ver Diese Präventionsmaßnahmen wurden ausge
mutlich krankheitsbedingt – mehr Medikamente wählt, weil sie für die betrachtete Altersgruppe re
als Jüngere einnehmen, steigen die Arzneimittel levant sind und weil Daten zur Inanspruchnahme
kosten im Alter nicht im erwarteten Umfang, denn zur Verfügung stehen. Es wurde ausgewertet, in
die Kosten pro DDD sinken mit zunehmendem welchem Umfang 65-Jährige und Ältere an den
Alter [28]. Die Arzneimittel für 65-jährige und genannten Vorsorgemaßnahmen teilnehmen und
ältere Männer und Frauen, die in der GKV versi ob es geschlechtsspezifische Unterschiede gibt.
chert sind, kosten in Abhängigkeit von Alter und Dabei erfolgte auch ein Vergleich mit den Teilnah
Geschlecht um 0,7 Euro je DDD (höchster Wert: meraten von jüngeren anspruchsberechtigten Per
1,91 Euro bei 25- bis 29-jährigen Männern, Jahr sonen, um Besonderheiten der Inanspruchnahme
2006). Die Arzneitherapie für Männer ist insge durch Ältere herauszuarbeiten.
samt deutlich teurer als für Frauen, die Unter Einen Schutz vor schweren Infektionskrank
schiede nähern sich aber im Altersverlauf an. heiten, wie zum Beispiel der echten Grippe (Influ
enza; in Abgrenzung zu »grippalen Infekten«, d. h.
Erkältungskrankheiten), bieten Impfungen. Sie
3.3.6 Wahrnehmung präventiver Angebote zählen zu den effektivsten und kostengünstigsten
Präventionsmaßnahmen. Für ältere und sehr
Nahezu alle epidemiologisch wichtigen Erkran alte Menschen ist insbesondere von Bedeutung,
kungen im Alter weisen präventive Potenziale dass Impfungen Krankheitskomplikationen und
auf [37]. Die Verhütung weit verbreiteter chro schwere Krankheitsverläufe bei Risikopatienten
nischer Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel verhindern. Für viele Seniorinnen und Senioren
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Atem ist durch chronische Erkrankungen oder ein ho
154 Gesundheit und Krankheit im Alter
hes Lebensalter die Wahrscheinlichkeit, sich zu in einem Alter von 75 Jahren sinkt die Inanspruch
fizieren bzw. besonders schwer zu erkranken, er nahmequote bei beiden Geschlechtern wieder
höht. Die Ständige Impfkommission (STIKO) am (Untersuchungsintervall beträgt zwei Jahre; Ta
Robert Koch-Institut gibt regelmäßig aktualisierte belle 3.3.6.1).
Empfehlungen zu Impfungen heraus. Die jähr Das Krebsfrüherkennungsprogramm der
liche Grippeschutzimpfung wird von der STIKO gesetzlichen Krankenversicherung zielt auf be
für alle über 60-Jährigen empfohlen. Die meis stimmte Krebsarten, die im Vor- oder Frühstadi
ten gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die um durch diagnostische Maßnahmen zuverlässig
Kosten. Eine Impfpflicht besteht in Deutschland erfasst und auch mit Blick auf die finanziellen und
jedoch nicht [39]. strukturellen Ressourcen wirksam behandelt wer
Im Mikrozensus 2003 wurde letztmalig die den können. Gesetzlich versicherte Frauen haben
Beteiligung an der Grippeschutzimpfung erfragt. jährlich Anspruch auf Vorsorgeuntersuchungen
In der Grippesaison 2002/2003 waren demnach für Krebserkrankungen der Genitalorgane, Brust,
42 % der 65-Jährigen und Älteren geimpft, Män Haut, Rektum (Enddarm) und Dickdarm. Ab 55
ner ebenso häufig wie Frauen. Im Vergleich zum Jahren kann im Rahmen der Darmkrebsfrüher
mittleren Lebensalter ist ein Anstieg der Inan kennung auch eine Darmspiegelung erfolgen. Sie
spruchnahmezahlen festzustellen. Nur knapp wird zweimal im Abstand von zehn Jahren ange
ein Fünftel der 40- bis 64-jährigen Männer und boten. Die 50- bis 69-jährigen Frauen können
Frauen nahm in der Grippesaison 2002/2003 zudem zweijährlich am Mammografie-Screening
an der Schutzimpfung teil (Männer 18 %, Frauen (Früherkennung von Brustkrebs) teilnehmen.
20 % [40]). Die höchsten Inanspruchnahmeraten Männern werden jährliche Früherkennungsunter
wurden für Männer und Frauen ab 75 Jahren er suchungen von Prostata, äußeren Genitalorganen,
mittelt (Männer 47 %, Frauen 43 %). Haut, Rektum und Dickdarm (auch Darmspiege
Gesundheitsuntersuchungen (»Check-up«) lung) angeboten [39].
dienen insbesondere der Früherkennung von Knapp die Hälfte aller anspruchsberech
Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes mellitus und Nie tigten Frauen (48 %) und deutlich weniger Män
renkrankheiten. Auch die für diese Erkrankungen ner (21 %) nahmen im Jahr 2006 an Krebsfrüh
maßgeblichen Risikofaktoren, wie beispielsweise erkennungsuntersuchungen (KFU) teil [42]. Die
Zigarettenkonsum, Bluthochdruck und Überge Teilnahme an der Krebsfrüherkennung ist stark
wicht, sollen bei der Untersuchung festgestellt altersabhängig. Die höchsten Teilnahmeraten
werden. Der Check-up umfasst die Erhebung werden bei jüngeren Frauen zwischen 25 und
der Krankengeschichte (Anamnese), körperliche
Untersuchungen und Laboruntersuchungen von
Blut und Urin. Im Anschluss an die Untersu
chung können ggf. weitergehende diagnostische Tabelle 3.3.6.1
und therapeutische Schritte eingeleitet werden. Inanspruchnahme der Gesundheitsuntersuchung
(Check-up) nach Alter und Geschlecht
Das Ergebnisgespräch mit der Patientin bzw. dem (auf Vorjahresteilnahme adjustiert) 2006
Patienten sollte Anstoß zum Abbau lebensstilbe Quelle: Teilnahmeschätzung 2006 auf der Basis von
zogener Gesundheitsrisiken geben [41]. Abrechnungsdaten verschiedener Kassenärztlicher
Die Check-up-Untersuchungen wurden (un Vereinigungen [42]
ter Berücksichtigung der geschätzten vorjährigen
Altersgruppe Frauen Männer
Teilnehmerzahlen) im Jahr 2006 von 23 % aller
50 – 54 Jahre 26,6 % 22,6 %
weiblichen und 26 % aller männlichen Versicher
ten in Anspruch genommen [42]. Damit hat sich 55 – 59 Jahre 30,7 % 27,0 %
die Teilnahmerate langfristig deutlich erhöht [39, 60 – 64 Jahre 27,9 % 25,5 %
43]. Die Teilnahme im Jahr 2006 zeigt einen deut 65 – 69 Jahre 32,2 % 30,9 %
lichen Altersgradienten. Während in den jüngeren 70 – 74 Jahre 32,8 % 32,6 %
Altersgruppen die Beteiligung an der Check-up-
75 – 79 Jahre 27,2 % 29,0 %
Untersuchung zunächst gering ausfällt, nimmt
80 Jahre und älter 19,8 % 24,6 %
sie mit dem Alter bei beiden Geschlechtern zu. Ab
Gesundheit und Krankheit im Alter 155
Abbildung 3.3.6.1
Teilnahme an der Krebsfrüherkennung nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Teilnahmeschätzung 2006 auf der Basis von Abrechnungsdaten verschiedener Kassenärztlicher Vereinigungen [42]
Prozent
60
50
40
30
Frauen
20 Männer
10
Abbildung 3.3.6.2
Teilnahme an der Darmkrebsfrüherkennung (Darmspiegelungen) nach Alter und Geschlecht 2003 bis 2006
Quelle: Teilnahmeschätzung 2003 bis 2006 auf der Basis von Abrechnungsdaten verschiedener
Kassenärztlicher Vereinigungen [42]
Prozent
18
16
14
12
10
8 Frauen
6 Männer
die Akzeptanz des Früherkennungsangebots un insgesamt zwei Gesprächen über Ziel und Zweck
ter den Frauen stärker ausgeprägt als unter den der Früherkennung von Krebserkrankungen des
Männern. So haben in der Altersgruppe der 55- bis Darms informiert werden [45]. Dabei geht es auch
59-jährigen Versicherten 10 % der Frauen und nur um Fragen der Effektivität der Untersuchung, um
7 % der Männer eine solche Untersuchung in den daraus erwachsende Belastungen und Risiken so
vergangenen vier Jahren in Anspruch genommen. wie um das Vorgehen bei positivem Befund.
In den höheren Altersgruppen kehrt sich der ge Die Prävention verbreiteter chronischer Er
schlechtsspezifische Unterschied hinsichtlich der krankungen wird im Alter als der zentrale Ansatz
jemaligen Teilnahme am Koloskopie-Screening punkt für die zukünftige Gesundheit, Unabhän
zugunsten der Männer um. gigkeit und Mobilität gesehen [38]. Die in diesem
Zum Teil ist die mangelhafte Inanspruch Abschnitt dargestellten, im SGB V verankerten
nahme vermutlich darauf zurückzuführen, dass Maßnahmen der Primärprävention und Früher
es die Vorsorge-Darmspiegelung im Rahmen der kennung werden von älteren Menschen ab 65 Jah
Krebsfrüherkennung der GKV erst seit wenigen ren stärker genutzt als von jüngeren Versicherten.
Jahren gibt und nicht alle Versicherten ausrei Lediglich die Teilnahmeraten der Krebsfrüherken
chend darüber informiert sind. In den Quali nung sinken mit zunehmendem Alter. Auffällig
tätsanforderungen für die Krebsfrüherkennung ist, dass die Beteiligung der Männer an den ver
(»Krebsfrüherkennungs-Richtlinien« des Bundes schiedenen Präventionsangeboten im Alter erst
ausschusses der Ärzte und Krankenkassen) wurde mals über denen der Frauen liegt. Insgesamt ist
dies aufgegriffen: Ab dem Alter von 50 Jahren sol allerdings festzustellen, dass die Teilnahmeraten
len gesetzlich versicherte Frauen und Männer in noch nicht zufrieden stellend sind. Dies gilt ins
Gesundheit und Krankheit im Alter 157
besondere für die Krebsfrüherkennung vor dem Interessante Perspektiven für zukünftige For
Hintergrund, dass zahlreiche Krebsarten verstärkt schungsprojekte ergeben sich u. a. aus der Frage,
bei älteren Männern und Frauen auftreten. ob allein der Gesundheitszustand die Inanspruch
nahme gesundheitlicher, medizinischer und pfle
gerischer Dienstleistungen beeinflusst oder ob
3.3.7 Ausblick sich das Alter zusätzlich auswirkt. Wenn man
argumentiert, dass mit dem Alter der Gesund
Die Realisierung der Gesundheitspotenziale äl heitszustand schlechter wird, dann erhöht sich
terer Menschen ist erst dann umfassend möglich, mit zunehmendem Alter die Inanspruchnahme
wenn neben der Verhütung von Krankheiten und zunächst indirekt. Für einige Aspekte des Inan
gesundheitlichen Einschränkungen der gesamte spruchnahmegeschehens, u. a. die ambulanten
Prozess des Älterwerdens mit drohenden oder Arztkontakte, zeigte sich allerdings in Studien
bereits vorliegenden körperlichen und mentalen bei bestimmten Personengruppen ein eigenstän
Einschränkungen berücksichtigt wird [6, 37]. Vor diger Einfluss des Alters. Für andere Sektoren der
handene Präventionsangebote müssen an den Gesundheitsversorgung stehen solche Analysen
spezifischen Bedürfnissen Älterer ausgerichtet noch aus.
werden [2]. Eine Erweiterung des bestehenden Eine andere wichtige Frage ist, ob sich das
Angebots um spezielle Präventionsmaßnahmen Inanspruchnahmeverhalten von Männern und
für ältere und sehr alte Menschen wird ebenfalls Frauen unterscheidet. Während geschlechtsspe
empfohlen [6]. zifische Analysen bereits für viele Bereiche des
Für die Konzeption von Präventionsangebo Versorgungsgeschehens vorliegen, ist eine Zuspit
ten ist die Kenntnis der Versorgungsstrukturen, zung der Fragestellung von besonderem Interes
die ältere Menschen nutzen, von großem Wert, se: Werden – bei gleichem Gesundheitszustand
beispielsweise wenn es um die Frage geht, ob der – Männer oder Frauen durch die Inanspruchnah
Zugang über einen bestimmten Facharzt für die me von Dienstleistungen benachteiligt? In diesem
Vermittlung einer Präventionsbotschaft der beste Kontext ergibt sich auch die Frage, ob das Inan
ist. Angaben zur Inanspruchnahme ambulanter spruchnahmeverhalten älter werdender und alter
und stationärer Angebote, die Teilnahme an Re Männer und Frauen »adäquat« ist. Suchen sie mit
habilitationsmaßnahmen und die Beantragung ihren Beschwerden den richtigen Ansprechpart
von Leistungen aus der Pflegeversicherung durch ner innerhalb des medizinischen Versorgungs
Ältere können außerdem als Begründung für systems auf, und werden sie adäquat überwiesen
die Notwendigkeit einer Präventionsmaßnahme oder weiterbehandelt?
herangezogen werden oder als Instrument der Der Zusammenhang zwischen sozialer Lage
Erfolgskontrolle dienen. Die im vorliegenden Ka und Nutzung des Gesundheitssystems durch äl
pitel zusammengetragenen Informationen zum tere Menschen verdient in Zukunft ebenfalls stär
Inanspruchnahmeverhalten der 65-Jährigen und kere Berücksichtigung. In Forschungsprojekten
Älteren in Deutschland können eine Basis dafür zu sozialer Ungleichheit in der medizinischen
darstellen. und gesundheitsbezogenen Versorgung werden
Die Verfügbarkeit aussagekräftiger Daten kaum Unterschiede entlang des sozialen Status
ist eine Voraussetzung für die realitätsnahe Ab gefunden (Überblick bei [46]). Kaum eine Studie
bildung des Inanspruchnahmegeschehens. Die bezieht allerdings schwerpunktmäßig ältere und
Daten sollten deutschlandweit repräsentativ für sehr alte Menschen ein.
die ältere Bevölkerung sein und es ermöglichen, Vor dem Hindergrund der Veränderungen
das Inanspruchnahmeverhalten in Beziehung zu im Altersspektrum der Bevölkerung und der ak
wichtigen Einflussfaktoren, wie Alter, Geschlecht, tuellen Modifikation im System der Gesundheits
gesundheitliche und soziale Lage, zu setzen. Sta versorgung bleibt der Bereich der Inanspruchnah
tistiken und darauf basierende wissenschaftliche me von Gesundheitsleistungen durch Ältere ein
Analysen, die diesen hohen Anforderungen genü spannendes Gebiet. Es ist eine interessante und
gen, liegen zurzeit noch nicht für alle Bereiche des wichtige Aufgabe, die diesbezüglichen Entwick
Versorgungsgeschehens vor. lungen, speziell in ihren Auswirkungen auf das
158 Gesundheit und Krankheit im Alter
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Gesundheit in Deutschland. Kap. 3 Was leistet das Ge Wiesbaden, S 141 – 155
160 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 3.4.1.1
Faktoren in der Entstehung von Krankheit im Alter
Quelle: modifiziert nach [5]; eigene Darstellung
z.B.
Genetische Prädisposition
Konstante Faktoren
Krankheit im
Alter
z.B. z.B.
Verringerung schädliche Umwelteinflüsse
Herzschlagvolumen erworbene Krankheiten
hormonelle Veränderungen Rauchen
abnehmende Muskelkraft Inaktivität
abnehmende Knochendichte unausgewogene Ernährung
Veränderung Blut-Hirn-Schranke psychische Belastungen
kann das Risiko von Erkrankungen deutlich an spielsweise regelmäßige körperliche Aktivität in
steigen (z. B. kardiovaskuläre Akuterkrankungen allen Altersgruppen empfohlen, entgegen oft ge
wie Herzinfarkt). hörter Meinungen sogar bei sehr alten und ge
Diese Interaktionen zeigen zugleich auf, wie brechlichen Menschen, wenn die individuellen
und an welchen Stellen durch Veränderungen der Möglichkeiten berücksichtigt werden [7].
Faktoren Einfluss auf die Entstehung von Krank
heiten genommen werden kann. Zwar lassen sich
konstante Faktoren wie genetische Prädisposi 3.4.2 Ziele und Inhalte von Prävention im Alter
tionen nicht grundsätzlich verändern. Und auch
altersphysiologische Veränderungen des Körpers Bei der Zielgruppe alter Menschen wird deutlich,
lassen sich nicht vollständig vermeiden, sondern dass hier die Ziele von Prävention weiter als ledig
bestenfalls verlangsamen. Immerhin aber lassen lich die Vorbeugung von Krankheit gefasst werden
sich die variablen Einflussgrößen modifizieren – müssen. Die oft gebräuchliche Unterteilung von
vor allem dann, wenn es sich um verhaltensbezo Prävention in Primär-, Sekundär- und Tertiärprä
gene Risikofaktoren handelt. vention stößt (nicht nur) in dieser Zielgruppe an
Gesundheitlich relevante Verhaltensweisen ihre Grenzen. In der Altersgruppe von 70 bis 85
wie Rauchen, Alkoholkonsum, mangelnde kör Jahren leiden die meisten Personen an einer oder
perliche Aktivität, unausgewogene Ernährung mehreren Erkrankungen, mehr als ein Viertel
und unregelmäßige Einnahme von Medikamen dieser Altersgruppe haben sogar fünf und mehr
ten haben sich in verschiedenen Studien als die Erkrankungen gleichzeitig [8] (vgl. Kapitel 2.1).
wichtigsten veränderbaren Einflussgrößen für Dies unterstreicht, dass das Ziel einer generellen
gesundes Altern herausgestellt [6]. So wird bei Krankheitsvermeidung in dieser Gruppe schwer
162 Gesundheit und Krankheit im Alter
zu realisieren ist [9]. Andererseits ist bis ins hohe Allerdings müssen Maßnahmen, die auf
Alter Primärprävention im Sinne von Krankheits die Änderung solcher verhaltensbezogenen Ri
vermeidung möglich, wenn es um die Vermei sikofaktoren abzielen, altersphysiologische Ver
dung von spezifischen Krankheiten geht. änderungen mit einbeziehen. So ist es beispiels
Die Ziele von Prävention im Alter umfassen weise wichtig, bei Ernährungsumstellungen zur
deshalb sowohl (1.) die Vorbeugung bzw. Verzö Gewichtsreduktion darauf zu achten, dass aus
gerung spezifisch altersbedingter Veränderungen reichend Mineralien zur Vorbeugung von Kno
und altersspezifischer Erkrankungen (z. B. vasku chenschwund zugeführt werden [17]. Außerdem
läre Demenz) als auch (2.) die Vorbeugung von müssen für die konkrete inhaltliche Ausgestaltung
nicht unbedingt altersbedingten Erkrankungen, von Maßnahmen die besonderen Bedürfnisse der
die aber im Alter mit höherer Wahrscheinlichkeit betreffenden älteren Zielgruppe berücksichtigt
auftreten (wie z. B. Gelenkserkrankungen, Dia werden, zum Beispiel in Bezug auf Schriftgröße
betes, Krebserkrankungen oder kardiovaskulärer bei Druckpublikationen, optische Gestaltung von
Erkrankungen). Außerdem geht es (3.) um die Plakaten und Filmen und besonders auf das Alter
Verringerung krankheitsbedingter Probleme und von Rollenmodellen [18]. Ein Beispiel für die syste
(4.) die Vorbeugung von Verschlechterungen des matische Entwicklung einer präventiven Maßnah
Allgemeinzustands. me im Alter findet sich in Tabelle 3.4.3.1.
Diese Präventionsziele können, wie oben an
geführt, am besten über die Änderung verhaltens
bezogener Risikofaktoren erreicht werden. Die 3.4.3 Konzeption und Entwicklung präventiver
Änderung verhaltensbezogener Risikofaktoren Maßnahmen: Ein protokollbasierter Ansatz
ist allerdings bei allen Altersgruppen zu empfeh (Intervention Mapping)
len und nicht nur im Alter eine vielversprechende
Präventionsstrategie [10]. Im Alter gehören dazu Präventive Maßnahmen müssen systematisch
neben körperlicher Aktivität, einer ausgewogenen entwickelt werden, um möglichst viele Personen
Ernährung, dem Einstellen des Rauchens, höchs der anvisierten Zielgruppe möglichst effektiv zu
tens moderatem Alkoholkonsum und der regel erreichen. Generell gilt für alle präventiven Maß
mäßigen Einnahme von Medikamenten auch der nahmen, dass sie sich nur sinnvoll konzipieren,
Besuch von Therapie- und Vorsorgemaßnahmen durchführen und im Sinne von Wirksamkeitsprü
wie beispielsweise Physiotherapie oder Krebsvor fung, Qualitätssicherung und Qualitätsverbesse
sorgeuntersuchungen [6, 11]. rung evaluieren lassen, wenn ihnen ein klar um
Eine ausgewogene Ernährung mit ange rissenes Wirkmodell zugrunde liegt [19, 20]. Ein
messener Kalorienzufuhr kann ebenfalls dazu solches Wirkmodell umfasst alle Schritte der Kon
beitragen, das Risiko für verschiedene Krebser zeption, Entwicklung, Durchführung und Evalua
krankungen [12] oder das Risiko von kardiovas tion von präventiven Maßnahmen und ist z. B. im
kulären Erkrankungen [13] bei älteren Menschen Intervention Mapping – Ansatz als nachvollzieh
zu senken. Körperliche Aktivität im Alter kann bares Protokoll realisiert und anwendungsorien
dazu beitragen, Folgen von Krebserkrankungen tiert dargestellt [20].
wie das Fatigue-Syndrom zu mindern [14] oder Dieses Protokoll läuft in sechs Schritten ab
der Gebrechlichkeit auch noch im hohen Alter (siehe Tabelle 3.4.3.1).
vorzubeugen [15]. Der erste Schritt ist eine Bedarfsanalyse, in
Viele dieser allgemeinen gesundheitsförder der geklärt wird, welche Ziele die präventive Maß
lichen Verhaltensweisen wirken auch auf alters nahme eigentlich erreichen soll. Dabei gilt: Je kla
spezifische Erkrankungen. Die Vermeidung von rer die Ziele umrissen sind (z. B. Reduktion der
Fettleibigkeit (BMI ≥ 30) beugt beispielsweise Inzidenz von kardiovaskulären Erkrankungen um
nicht nur kardiovaskulären Erkrankungen und 30 %), desto besser können die entsprechenden
Diabetes vor, sondern ist auch mit geringerem Maßnahmen geplant werden. Die Zielgruppe von
Risiko für das Auftreten einer vaskulären Demenz präventiven Maßnahmen muss in diesem Schritt
oder der Alzheimerschen Erkrankung assozi sowohl in Bezug auf die Personen (z. B. In welcher
iert [16]. Altersgruppe ist das Risiko für kardiovaskuläre Er
Gesundheit und Krankheit im Alter 163
Tabelle 3.4.3.1
Beispiel für das Vorgehen bei der Entwicklung einer präventiven Maßnahme für die Senkung der Inzidenz
kardiovaskulärer Erkrankungen bei älteren Menschen
Quelle: Intervention Mapping nach [20]
krankungen am höchsten?) als auch das Setting 30 Minuten moderate körperliche Aktivität, weil
(z. B. Hausarztpraxis? Ambulante Pflegedienste? das die Inzidenz von kardiovaskulären Erkran
Freizeitangebote?) identifiziert werden. kungen bei älteren Menschen senkt).
Im zweiten Schritt können mithilfe epide Im dritten Schritt werden für diese Einfluss
miologischer Daten klare Einflussgrößen für die größen aus der wissenschaftlichen Literatur – am
Präventionsziele in dieser Zielgruppe definiert Besten aus systematischen Überblicksarbeiten
werden (z. B. Verhalten: dreimal wöchentlich für (systematic reviews) – evidenzbasierte Einfluss
164 Gesundheit und Krankheit im Alter
größen abgeleitet (z. B. soziale Unterstützung, dass bereits bestehende Programme für andere
Selbstwirksamkeit), deren Zusammenwirken in Zielgruppen, z. B. jüngere Erwachsene nicht
einem theoretischen Modell spezifiziert und da ohne weiteres (und vor allem nicht ohne Untersu
durch überprüfbar wird. chungen zur Wirksamkeit) auf ältere Erwachsene
Für die spezifischen Charakteristika einer äl übertragen werden können.
teren Zielgruppe können dann in einem vierten Leider gibt es bislang nur wenige kontrol
Schritt evidenzbasierte Maßnahmen zur gezielten lierte Studien und daher auch wenige systema
positiven Beeinflussung dieser Faktoren entwi tische Überblicksarbeiten, die sich gezielt mit den
ckelt werden. In diesem Schritt ist die Fundierung Faktoren beschäftigen, die gesundheitsförderliche
der Maßnahmen in wissenschaftlicher Evidenz Verhaltensweisen bei älteren Menschen stärken.
und Theorie unverzichtbar, weil sonst keine in Hier besteht noch erhebliches Forschungspoten
haltlichen Wirksamkeitsanalysen möglich sind. zial.
Gleichzeitig müssen, um die präventive Maß
nahme evaluieren zu können, valide und reliable
Maße sowohl für die Verhaltenskriterien als auch 3.4.4 Geriatrische Rehabilitation und aktivierende
für die evidenzbasierten Einflussgrößen gefunden Pflege
und kontinuierlich miterhoben werden. Ohne die
Messung dieser Bestandteile kann später nicht Die geriatrische Rehabilitation und aktivierende
genau untersucht werden, ob und aus welchen Pflege stellen spezifische Maßnahmen dar, die
Gründen eine präventive Maßnahme gewirkt hat auch vor dem Hintergrund eines systematischen
[20]. Wirkmodells am besten eingesetzt werden kön
Im fünften Schritt werden die Multiplikatoren nen, weil so die Zielgruppen identifiziert werden
identifiziert, die in dem beabsichtigten Setting die können, bei denen diese Maßnahmen am meisten
Maßnahme tatsächlich durchführen. Damit dieser Erfolg versprechen.
Schritt erfolgreich verläuft, muss, ähnlich wie im Die interdisziplinäre geriatrische Rehabilita
zweiten und dritten Schritt durch systematisches tion [29] zielt auf möglichst weit gehende Wie
Sichten von Theorie und empirischer Evidenz be derherstellung von Selbstständigkeit (im Falle
stimmt werden, welche Faktoren das Verhalten der Schlaganfallrehabilitation beispielsweise der
der Multiplikatoren im Hinblick auf die Durch Wiederherstellung von Kommunikation, Mobilität
führung der Maßnahme günstig beeinflussen und basalen Aktivitäten des täglichen Lebens wie
können. Beispielsweise muss in diesem Schritt selbstpflegerische Tätigkeiten), führt aber auch
überlegt werden, welche Form und welche Inhalte präventive Maßnahmen wie die Anleitung zu adä
entsprechende Instruktionen für Hausärzte oder quatem Gesundheitsverhalten durch.
Pflegepersonal haben müssen, damit diese die Bei Personen, die aufgrund von körperlichen
Maßnahme tatsächlich wie geplant durchführen. oder kognitiven Einschränkungen auf Pflege und
Schlussendlich sollte im sechsten Schritt kontinuierliche Unterstützung angewiesen sind,
ein Evaluationsplan für die gesamte Maßnahme werden eher Familienangehörige, Pflegeperso
erstellt werden, der z. B. spezifiziert, zu welchen nal oder andere Personen, die Verantwortung für
Zeitpunkten welche Teile der Maßnahme evalu die Gesundheit Pflegebedürftiger übernommen
iert werden (Prozessevaluation) und wann die ge haben, Zielgruppe präventiver Maßnahmen. Die
samte Maßnahme im Sinne einer Ergebnisevalua se Maßnahmen zielen dann darauf ab, diesen
tion nach welchen Kriterien bewertet werden soll. Helfern Wissen darüber zu vermitteln, welche
Durch eine kontinuierliche Evaluation kann bei präventiven Maßnahmen bei hilfe- und pflege
spielsweise untersucht werden, wie viele Personen bedürftigen Personen sinnvoll und angebracht
aus der anvisierten Zielgruppe das Programm tat sind. Studien zeigen beispielsweise, dass die Be
sächlich erreicht hat, oder ob die Maßnahmen vor wohner von Pflegeeinrichtungen im Hinblick auf
Ort so wie geplant durchgeführt worden sind. die Erhaltung von geistiger und körperlicher Ge
Das Beispiel für das protokollbasierte Vorge sundheit von Präventionsmaßnahmen in Grup
hen für das Entwickeln einer präventiven Maß penveranstaltungen profitieren können, wenn die
nahme für Ältere in Tabelle 3.4.3.1 zeigt auch auf, kognitiven Ressourcen dafür noch gegeben sind
Gesundheit und Krankheit im Alter 165
[30]. Bei Personen mit starken Einschränkungen 8. Wurm S, Tesch-Römer C (2006) Gesundheit, Hilfebe
darf und Versorgung. In: Tesch-Römer C, Engstler H,
kann aktivierende Pflege, die neben versorgenden
Wurm S (Hrsg) Altwerden in Deutschland: Sozialer
auch präventive und rehabilitative Maßnahmen Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten
umfasst, dabei helfen, verbleibende Selbständig Lebenshälfte. VS Verlag für Sozialwissenschaften,
keit zu stabilisieren, Mobilität zu verbessern und Wiesbaden, S 329 – 384
9. Wurm S, Tesch-Römer C (2009) Prävention im Alter.
Stürzen vorzubeugen [31].
In: Bengel J, Jerusalem M (Hrsg) Handbuch der Ge
sundheitspsychologie und Medizinischen Psycholo
gie. Hogrefe, Göttingen, S 317 – 327
3.4.5 Fazit 10. Khaw KT, Wareham N, Bingham S et al. (2008) Com
bined impact of health behaviours and mortality in
men and women: the EPIC-Norfolk prospective popu
Angesichts der beeindruckenden Zunahme der lation study. PLoS Medicine 5 (1): e12
Lebenserwartung stellt sich die Frage, ob diese zu 11. Aldwin CM, Spiro A III, Park CL et al. (2006) Health,
sätzlichen Jahre längere Krankheit am Ende des Behavior, and Optimal Aging: A Life Span Develop
mental Perspective. Handbook of the psychology of
Lebens oder einen Zugewinn an aktiven Jahren mit
aging (6th ed). Elsevier, Amsterdam, Netherlands, S
hoher Lebensqualität bedeuten. Verschiedene Stu 85 – 104
dien legen nahe, dass auch noch im hohen Alter 12. Rivlin RS (2007) Keeping the young-elderly healthy:
durchgeführte Präventionsmaßnahmen Krank is it too late to improve our health through nutrition?
The American Journal of Clinical Nutrition 86 (5):
heiten vermeiden und einen Zugewinn an aktiver
1572S – 1576S
Lebenserwartung bedeuten können. Dies macht 13. Andrawes WF, Bussy C, Belmin J (2005) Prevention of
die Potentiale für Prävention im Alter deutlich: cardiovascular events in elderly people. Drugs & Aging
Durch gesundheitsförderliche Verhaltensweisen, 22 (10): 859 – 876
14. Luctkar-Flude MF, Groll DL, Tranmer JE et al. (2007)
die in gut konzipierten Präventionsmaßnahmen
Fatigue and physical activity in older adults with can
gezielt gefördert werden, kann die Zunahme der cer: a systematic review of the literature. Cancer Nur
Lebenserwartung auch wirklich ein Zugewinn an sing 30 (5): E35 – E45
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Gesundheit und Krankheit im Alter 167
bedingungen dieser Unterteilung folgen und es pen zu entnehmen. Diese Daten belegen zwar
der übrigen Gliederung des vorliegenden Buches für den Zeitraum 2000 bis 2007 einen leichten
entspricht, werden im Weiteren die ambulanten Anstieg der Zahl ambulant tätiger Ärztinnen
medizinischen und pflegerischen Angebote für und Ärzte insgesamt sowie in allen dargestellten
ab 65-Jährige getrennt von den stationären dar Fachgebieten außer der Neurologie. Einerseits
gestellt. variiert die Arztdichte regional jedoch beträcht
lich, andererseits ist die Alterstruktur der derzeit
niedergelassenen Hausärztinnen und -ärzte re
4.1.1 Ambulante Versorgung lativ ungünstig und der fachärztliche Zuwachs
übersteigt den hausärztlichen. Der Zuzug aus
Vertragsärztliche Versorgung ländischer Ärztinnen und Ärzte wirkt (vor allem
allerdings im stationären Bereich) teilweise kom
Über 65-Jährige konsultieren außer ihren Haus pensierend. Besonders in ländlichen Bezirken
ärztinnen und -ärzten am häufigsten Ärztinnen Ost- und Norddeutschlands nimmt die Hausarzt
und Ärzte für Augen-, Zahn- und Frauenheilkun dichte ab. Betroffen sind in erster Linie Gegenden
de sowie Urologie und (fachärztliche) Internis mit schwacher Infrastruktur und einem eher
tinnen und Internisten (vgl. Kapitel 3.3). Während überdurchschnittlichen Anteil älterer Personen.
die Rate der Zahnarzt- und Gynäkologenkontakte Außer mit sinkenden Hausarztzahlen wird auch
mit zunehmendem Alter sinkt, steigt sie bei den mit rückläufigen Zahlen bei den Ärztinnen und
übrigen Arztgruppen. Wie vielfach beschrieben
gibt es eine Unterversorgung alter Menschen mit
psychischen und neurologischen Krankheitsbil
Tabelle 4.1.1.1
dern, bei der schmerztherapeutischen und pallia Zahl ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte ausgewählter
tiven Betreuung sowie hinsichtlich aufsuchender Fachgebiete bzw. Zusatzqualifikationen 2000 und 2007
ärztlicher Betreuung (Hausbesuche) [1, 2]. Zudem Quelle: Ärztestatistik der Bundesärztekammer [8]
wird ein erheblicher Nachholbedarf in der geria
2000 2007
trischen Weiter- und Fortbildung gesehen [3].
Wichtig sind außer der theoretischen Ver Gesamt 128.488 137.538
fügbarkeit einer qualifizierten Ärztin bzw. eines Augenheilkunde 5.375 5.575
Arztes die tatsächlichen Zugangsbedingungen: Frauenheilkunde und Geburtshilfe 10.074 10.647
Erkennen des fachärztlichen Versorgungsbedarfes Innere Medizin und Allgemeinmedizin 51.030 58.186
(z. B. durch den Hausarzt bzw. die Hausärztin), (Haus- und Fachärzte)*
Entfernung und Verkehrsanbindung der Praxis, davon:
Organisation von Transport und Begleitung, Be
Innere mit Schwerpunkt Geriatrie 0 1
reitschaft zu Hausbesuchen, regionale Struktur
Nervenheilkunde bzw. Neurologie 3.598 3.511
der Heil- und Hilfsmittelversorgung, etc. Es gibt
Hinweise darauf, dass die Zahl der von niederge Urologie 2.625 2.842
lassenen (Haus-)Ärztinnen und Ärzten durchge ohne Gebiet 19.432 14.373
führten Hausbesuche in den letzten Jahren deut Ärztinnen und Ärzte mit Zusatz-Bezeichnung
lich rückläufig ist [4, 5]. Vor allem die ärztliche Schmerztherapie 482 1.464
Versorgung von (Pflege-)Heimbewohnerinnen
Palliativmedizin 0 808
und -bewohnern ist häufig unbefriedigend. So ge
Zahnärztinnen und -ärzte** 60.366 63.100
nannte Heimärztinnen und -ärzte sollen zukünf
tig dabei helfen, die Qualität der medizinischen * Da im zeitlichen Verlauf die Klassifikation der ärztlichen Subdiszi
Betreuung in stationären Pflegeeinrichtungen plinen in diesem Bereich mehrfach geändert wurde, steht für den
Vergleich nur die Gesamtzahl aller Ärztinnen und Ärzte mit inter
zu verbessern (§ 119b SGB V, mit dem Gesetz zur nistischer bzw. allgemeinärztlicher Qualifikation zur Verfügung. Die
strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversi Angabe schließt daher neben den Hausärztinnen und -ärzten auch
die fachärztlich tätigen Internistinnen und Internisten ein, wobei
cherung 2008 eingeführt). deren Zugang den der hausärztlich tätigen Medizinerinnen und
Tabelle 4.1.1.1 ist die Entwicklung der für die Mediziner übersteigt.
** alle in Praxen tätigen Zahnärztinnen und -zahnärzte (niedergelas
Betreuung älterer Personen wichtigsten Arztgrup sene plus angestellte)
Gesundheit und Krankheit im Alter 169
Ärzten für Augenheilkunde, Gynäkologie, Neuro [3]. Danach verfügten in 2007 rund 2.000 Ärz
logie und Dermatologie gerechnet [6, 7]. tinnen und Ärzte über eine entsprechende for
Sowohl die Altersverteilung der Hausärz male Qualifikation (siehe Tabelle 4.1.1.2). Von die
tinnen und -ärzte als auch allgemeine Trends der sen sollen jedoch lediglich 377 ambulant tätig sein.
ärztlichen Berufsausübung (u. a. steigende Zahl Während die Mehrzahl der Geriaterinnen und Ge
patientenfern oder im Ausland tätiger Ärztinnen riater also an Kliniken arbeitet, verteilen sich die
und Ärzte, größeres Interesse an geregelten Ar schmerztherapeutisch oder palliativmedizinisch
beitszeiten) lassen für die nächsten Jahre eher eine ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte relativ gleich
Verschlechterung der Situation erwarten. Darüber mäßig auf den stationären und den ambulanten
hinaus entsteht durch die demografische und ge Versorgungsbereich. Die regionale Verteilung der
sellschaftliche Entwicklung ein zusätzlicher Be geriatrisch qualifizierten Medizinerinnen und Me
darf an hausärztlicher Versorgung. Beide Effekte diziner nach Bundesländern erweist sich als sehr
werden vermutlich zu einem Mehrbedarf an Haus inhomogen (siehe Tabelle 4.1.1.2).
ärztinnen und -ärzten führen, soll der gegenwär Angaben dazu, wie viele Psychiaterinnen und
tige Versorgungsstand aufrechterhalten werden. Psychiater bzw. Psychotherapeutinnen und -thera
Mit der Einführung flexiblerer berufsrechtlicher peuten schwerpunktmäßig gerontopsychiatrisch
Rahmenbedingungen (z. B. Teilzeitniederlas tätig bzw. qualifiziert sind, liegen nicht vor. In die
sungen, Dependancen), neuen Versorgungsmo Betreuung psychisch kranker alter Menschen sind
dellen (z. B. Medizinische Versorgungszentren), in regional unterschiedlichem Ausmaß auch die
Optimierung der Aus-, Weiter- und Fortbildung Sozialpsychiatrischen Dienste eingebunden. Die
sowie finanziellen Anreizen soll versucht werden, von diesen kommunal getragenen Einrichtungen
der sich abzeichnenden Entwicklung entgegen zu betreuten Personen leiden zumeist an Demenz,
steuern [9]. Alkoholabhängigkeit und/oder Psychosen [1]. Am
Bei alten Menschen bestehen häufig mehre bulante Psychotherapien bei Versicherten ab 65
re Erkrankungen gleichzeitig (Multimorbidität), Jahren sind selten (z. B. 0,1 % der 75 bis 79 Jah
viele von ihnen leiden an chronischen Schmer re alten GEK-versicherten Männer und 0,3 % der
zen oder Lebenszeit begrenzenden Krankheiten, gleichaltrigen Frauen) [11].
zudem weisen 13 % der 80- bis 84-Jährigen und Die Zahl der in Praxen ambulant tätigen
24 % der 85- bis 89-Jährigen eine Demenz auf [10]. Zahnärztinnen und -ärzte ist in den letzten Jahren
Daher sind für sie außer den bereits genannten kontinuierlich leicht angestiegen auf ca. 63.000
Haus- bzw. Fachärztinnen und -ärzten besonders im Jahr 2007 [12]. Die vierte Mundgesundheits
geriatrisch, schmerztherapeutisch und palliativ studie belegt, dass 65- bis 74-Jährige bis zum
medizinisch qualifizierte Ärztinnen und Ärzte Untersuchungszeitpunkt 2006 weniger Zähne
wichtig. Fachärztinnen und -ärzte unterschied verloren hatten als gleichaltrige Teilnehmerinnen
licher Gebiete können sich in diesen drei Be und Teilnehmer der 1997 durchgeführten Studie
reichen qualifizieren (Ausnahme: in Brandenburg (14,2 versus 17,6 fehlende Zähne) [13]. Die Raten
und Sachsen-Anhalt gibt es auch die Facharztbe an Wurzelkaries und mittelschwerer bis schwerer
zeichnung »Innere Medizin mit Schwerpunkt Ge Parodontitis (entzündlich bedingte Zerstörung
riatrie«) (siehe Tabelle 4.1.1.2). des Zahnhalteapparates) sind dagegen gestiegen
Die Zahl der geriatrisch qualifizierten Medizi (von 15,5 % auf 45,0 % bzw. von 64,1 % auf 87,8 %).
nerinnen und Mediziner ist der Ärztestatistik der Entsprechend hohe Behandlungsbedarfe ergeben
Bundesärztekammer nicht zu entnehmen, da frü sich, die sich auch in die Altersgruppe der über
her auch die fakultative Weiterbildung »Klinische 74-Jährigen erstrecken. Deren jährliche Zahnarzt
Geriatrie« erworben werden konnte. Diese ist wei kontaktraten sind jedoch niedriger als die jüngerer
ter verbreitet als die neuere Zusatzbezeichnung Personen (vgl. Abbildung 3.3.1.1 in Kapitel 3.3).
»Geriatrie«, sie wurde jedoch nicht zentral erfasst.
Lübke et al. führten daher im Sommer 2007 eine
Abfrage bei allen Landes- bzw. Bezirksärztekam
mern durch, um die Gesamtzahl aller geriatrisch
weitergebildeten Ärztinnen und Ärzte zu erheben
170 Gesundheit und Krankheit im Alter
Tabelle 4.1.1.2
Anzahl der geriatrisch weitergebildeten Ärztinnen und Ärzte nach Bundesland (alle Tätigkeitsbereiche, Stand: Sommer 2007)
Quelle: [3]
Tabelle 4.1.1.3
Zahl der in Deutschland tätigen Personen mit Bezug zur Heil- und Hilfsmittelerbringung 2000 und 2006
Quelle: [14]
u. a. Patholinguistinnen und -linguisten, Sprech geben sich unter Alltagsbedingungen nicht sel
wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie ten Termin- und Koordinationsprobleme bei der
Atem-, Sprech- und Stimmlehrerinnen und -leh Heilmittelerbringung, insbesondere wenn diese
rer. Akademische Ausbildungswege existieren relativ hochfrequent erfolgen muss oder mehrere
neben fachschulischen. Es bestehen sowohl hin Berufsgruppen beteiligt werden sollen.
sichtlich der Verteilung der verschieden Qualifi Die Bedeutung der nicht-ärztlichen bzw.
kationen als auch der Versorgungsdichte relativ nicht-psychotherapeutischen oder pflegerischen
große regionale Unterschiede, die mit den vor Ort Berufe für ältere Menschen lässt sich indirekt
angebotenen Ausbildungsmöglichkeiten korres zum Teil über altersspezifizierte Daten zur Ver
pondieren. Die dreijährige staatlich anerkannte ordnung von Hilfs- und Heilmitteln erschließen.
Physiotherapieausbildung gemäß Masseur- und Während Hilfsmittelverordnungen (z. B. Seh-,
Physiotherapeutengesetz kann nach einem ein Hör- und Gehhilfen, Bandagen, Inkontinenz
heitlichen Curriculum an ca. 250 Schulen in materialien) mit dem Alter deutlich zunehmen,
Deutschland durchlaufen werden. Im Jahr 2007 bleibt der Anteil an Versicherten mit Heilmittel
schlossen rund 7.000 Personen eine solche Aus verordnungen (z. B. physiotherapeutische, logo
bildung erfolgreich ab [15]. pädische und podologische Leistungen) ab der Al
Informationen darüber, wie viele Heil- und tersgruppe der 50- bis 60-Jährigen recht konstant
Hilfsmittelerbringer geriatrisch qualifiziert bzw. bei knapp einem Viertel der Versicherten (siehe
auf den speziellen Versorgungsbedarf älterer und Abbildungen 4.1.1.1 und 4.1.1.2). Hinter letztge
alter Menschen eingerichtet sind und wie viele ge nannter empirischer Beobachtung, die auch im
gebenenfalls ihre Leistungen im Wohnumfeld der DZA-Alterssurvey 2002 gemacht wurde (vgl. Ka
Betroffenen erbringen (können), liegen nicht vor. pitel 3.3), verbergen sich vermutlich ungenutzte
Ältere Personen können die Angebote dieser Be Rehabilitationspotenziale alter Menschen [16].
rufsgruppen aufgrund ihrer Beeinträchtigungen Auswertungen von Verordnungsdaten der AOK
(z. B. eingeschränkte Mobilität oder Demenz) weisen in die gleiche Richtung [15].
teilweise nur eingeschränkt nutzen. Zudem er
172 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 4.1.1.1
Erwachsene GEK-Versicherte (ab 50 Jahre) mit mindestens einer Heil-, Hilfs- oder Pflegehilfsmittelverordnung
im Jahr 2006*
Quelle: GEK Heil- und Hilfsmitteldaten [17]
Prozent
100
Frauen Männer
90
80
70
60
50
40
Pflegehilfsmittel
30 Hilfsmittel
20 Heilmittel
10
50–59 60–69 70–79 80–89 90+ 50–59 60–69 70–79 80–89 90+
Altersgruppe
* Leistungsverordnungen bezogen auf die Anzahl der Versicherten der jeweiligen Altersklasse in Prozent; bezogen auf einen Versicherten sind
Verordnungen aus allen drei Leistungsbereichen möglich. Neben den zu Lasten der GKV verordnungsfähigen Heil- und Hilfsmitteln können
so genannte Pflegehilfsmittel (z. B. Einmalhandschuhe, Notrufsysteme, Lagerungsrollen) zu Lasten der gesetzlichen Pflegeversicherung
verschrieben werden.
Abbildung 4.1.1.2
Erwachsene GEK-Versicherte (ab 50 Jahre) mit mindestens einer Heilmittelverordnung für Physiotherapie, Logopädie,
Ergotherapie oder Podologie* im Jahr 2006
Quelle: GEK Heil- und Hilfsmitteldaten [17]
Prozent
35
Frauen Männer
30
25
20 Podologie
Ergotherapie
15
Logopädie
10 Physiotherapie
50–59 60–69 70–79 80–89 90+ 50–59 60–69 70–79 80–89 90+
Altersgruppe
* Leistungsverordnungen bezogen auf die Anzahl der Versicherten der jeweiligen Altersklasse in Prozent; bezogen auf einen Versicherten sind
Verordnungen aus allen drei Leistungsbereichen möglich.
verschiedener Professionen in den Behandlungs rung von Beschwerden. Kernelemente des geria
prozess. So bildet – unabhängig vom Ort oder der trischen Behandlungskonzeptes stellen spezielle
sozialrechtlichen Zuordnung der Leistungserbrin Assessments (Testverfahren) und individuell er
gung – das therapeutische Team das Herzstück stellte Behandlungspläne dar [19, 20].
der geriatrischen Versorgung. Diesem sollten Mittels standardisierter Erhebungsinstru
neben geriatrisch qualifizierten Ärztinnen und mente werden Leistungseinbußen und Beschwer
Ärzten sowie Pflegekräften auch Personen mit den bzw. Fähigkeiten und (Reha-)Potenziale in
physio- und ergotherapeutischer, logopädischer den Bereichen Sinneswahrnehmung, Bewegung,
und neuropsychologischer Ausbildung angehö Kontinenz, Ernährung, Kognition, emotionales
ren. Außerdem müssen u. a. Diät- und Sozialbe Befinden, soziale Unterstützung und Aktivitäten
ratung zur Verfügung stehen. Die verschiedenen des täglichen Lebens erfasst. Zu diesem so ge
Leistungen sollten koordiniert und ständig an den nannten geriatrischen Basisassessment gehö
wechselnden individuellen Bedarf der Betroffenen ren die Durchführung bzw. Bestimmung des
angepasst werden. Barthel- und FIM (Functional Independence
Die Geriatrie ist geprägt von einer ganzheit Measure)-Index, des IADL-Fragebogens (Instru
lichen, an den vorhandenen Fähigkeiten und mental Activities of Daily Living nach Lawton
Potenzialen alter Menschen orientierten Betrach und Brody), des Gedächtnistests nach Folstein
tungs- und Handlungsweise. Ihre Zielkategorien (Mini-Mental-State-Examination, MMSE), der Ge
sind weniger Heilung und Lebensverlängerung riatrischen Depressionsskala (GDS), eines Sozial
denn Selbständigkeit, Lebensqualität und Linde fragebogens, des Mobilitätstests nach Tinetti, des
174 Gesundheit und Krankheit im Alter
»Timed-Up-and-Go«-Tests sowie der Uhr-Ergän geriatrische Rehabilitation [26]) bislang keine Ver
zungstest und die Messung der Handkraft. Bei sorgungsverträge zwischen Kostenträgern und
Bedarf kommen weitere Assessments hinzu (z. B. Leistungserbringern abgeschlossen wurden. Die
zur sprachlichen Kommunikationsfähigkeit). Der zur Leistungserbringung nötige Infrastruktur ist
Zeitbedarf für die (teilweise an geschultes nicht faktisch noch nicht verfügbar. Uhlig gibt für das
ärztliches Personal delegierbare) Durchführung Jahr 2000 die Zahl ambulanter geriatrischer Reha
des Basisassessments liegt bei mindestens 45 bilitationseinrichtungen bundesweit mit lediglich
bis 60 Minuten. Die Ergebnisse der Tests lie 12 und die mobiler ambulanter geriatrischer Diens
fern nicht nur wichtige Informationen für die te mit 10 an [27]. Die Versorgung geriatrischer
Behandlungsplanung, sondern werden z. T. auch Patienten erfolgt daher bislang vor allem (teil-)
zur Verlaufskontrolle und Ergebnismessung ver stationär (vgl. Abschnitt 4.1.2) oder beschränkt
wendet. Eine Übersicht über die gebräuchlichen sich (häufig ohne Hinzuziehung geriatrisch qua
geriatrischen Assessment-Instrumente hat z. B. lifizierter Expertinnen oder Experten und/oder
das Kompetenz-Centrum Geriatrie beim Medi ohne standardisiertes geriatrisches Assessment)
zinischen Dienst der Krankenversicherung Nord auf die Verordnung von Einzelleistungen aus dem
bereit gestellt [21]. Heil- und Hilfsmittelbereich (siehe Abbildungen
Dem Bedarf an abgestuften und vernetzten 4.1.1.1 und 4.1.1.2). Den verschiedenen Versor
Angeboten für die geriatrisch ausgerichtete am gungsformen können unterschiedliche Grade an
bulante (und teilstationäre) Versorgung wird Einschränkungen der Selbständigkeit (aufgrund
zunehmend von Gesetzgeber, Kostenträgern der bestehenden Beeinträchtigungen bzw. ver
und Leistungserbringern Rechnung getragen. stärkt durch die Art der Versorgung) und der Nähe
Die Rahmenempfehlungen zur ambulanten ge zum gewohnten Lebensumfeld zugeordnet wer
riatrischen Rehabilitation der Spitzenverbände den (siehe Abbildung 4.1.1.3).
der Krankenkassen enthalten genaue Vorgaben Von der Geriatrie abzugrenzen ist die Ge
zur inhaltlichen und strukturellen Gestaltung rontologie als Wissenschaft vom Altern des Men
der Maßnahmen [22]. Im Sommer 2007 wurde schen. Viele Absolventinnen und Absolventen
darüber hinaus die mobile (zugehende) geria der erst vor einigen Jahren in Deutschland einge
trische Rehabilitation neu als GKV-Regelleistung führten Studiengänge arbeiten in Aufgabengebie
gesetzlich verankert (§ 40 Absatz 1 SGB V) [23]. ten mit Bezug zu dieser Bevölkerungsgruppe (z. B.
Multiprofessionelle geriatrisch geleitete Teams kommunale Verwaltung, Wohlfahrtsverbände, Al
versorgen dabei Betroffene in ihrem gewohnten tenhilfe, Pflegeeinrichtungen und Sozialdienste).
Lebensumfeld [24]. Im Gegensatz zu diesem zu Angeboten werden sowohl grundständige als
gehenden Angebot setzt die vereinzelt etablierte auch postgraduierte Ausbildungswege an derzeit
konventionelle ambulante geriatrische Rehabilita 13 Universitäten und Fachhochschulen. Wie viele
tion voraus, dass die Patientinnen und Patienten Gerontologinnen und Gerontologen mittlerweile
das Rehabilitationszentrum besuchen können. in Deutschland tätig sind und welche praktische
Seitens der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Bedeutung sie für die Versorgung alter Menschen
wurde zudem auf der Grundlage des § 73c SGB V haben, ist nicht statistisch erfasst.
für den ambulanten Bereich ein Konzept für eine Die gesetzlich verankerten Grundsätze »Reha
so genannte ambulante geriatrische Komplexbe vor Pflege« und »Reha in der Pflege« werden zwar
handlung entwickelt. Dabei sollen Hausärztin zunehmend in der Versorgung berücksichtigt. So
bzw. -arzt der Betroffenen eng mit einem geria empfahl beispielsweise der Medizinische Dienst
trisch qualifizierten multiprofessionellen Team der Krankenkassen (MDK) in Bayern im 1. Halb
zusammenarbeiten. Allerdings müssen die äl jahr 2007 in 26 % der Pflegebegutachtungen (Ein
teren Menschen auch zur Wahrnehmung eines zel-)Leistungen mit rehabilitativen Zielsetzungen
solchen Angebotes in der Lage sein, die Behand (vorwiegend Physiotherapie, z. T. als Fortführung
lungsräume des Teams aufzusuchen [25]. bereits verordneter Maßnahmen) [28]. Allerdings
Die meisten beschriebenen ambulanten Ver werden solche Empfehlungen in der ambulanten
sorgungsangebote sind so neu, dass außerhalb Versorgung oft nicht umgesetzt. Auch erfolgen
von Modellprojekten (siehe z. B. für die ambulante die verschiedenen Leistungen immer noch unko
Gesundheit und Krankheit im Alter 175
Abbildung 4.1.1.3
Abgestufte rehabilitative geriatrische Versorgung
Quelle: eigene Darstellung
dauerhafte Unter
bringung in Pflegeheim
geriatrische Früh-Reha
hoch
in Akut-Krankenhaus
stationäre
Verlust an Selbständigkeit
geriatrische Reha
mobile (zugehende)
geriatrische Reha
mittel
hausärztliches geriatrisches
Basisassessment
ordiniert und das Rehabilitationspotenzial älterer rekt auf die Bedeutung ambulanter Rehabilitation
Menschen wird nicht ausgeschöpft [29]. für ab 65-Jährige geschlossen werden. Die Aus
Kostenträger von Rehabilitationsmaßnah gaben der Gesetzlichen Krankenversicherung für
men sind die Gesetzliche Rentenversicherung so rehabilitative und Vorsorgeleistungen sind dem
wie für über 65-jährige bzw. berentete Personen nach seit 1991 von ca. 1,5 Milliarden Euro auf 2,55
in erster Linie die Gesetzliche Krankenversiche Milliarden Euro im Jahr 2007 gestiegen. Davon
rung. Rehabilitation als Pflichtleistung der GKV entfielen rund 2 Milliarden Euro auf stationäre
wurde erst 2007 mit dem GKV-Wettbewerbsstär Reha-Leistungen (überwiegend Anschlussheilbe
kungsgesetz eingeführt (§ 11 Absatz 2 SGB V). handlungen bzw. -rehabilitationen nach einem
Bundesweite Statistiken zur Anzahl und Ausrich Akutereignis, z. B. einer Hüftgelenksoperation
tung ambulanter Reha-Einrichtungen sind nicht oder einem Herzinfarkt) und nur ca. 111 Millionen
verfügbar. Es gibt lediglich Listen mit Vertrags Euro auf die ambulante Rehabilitation. Deren Aus
partnern einzelner Kostenträger bzw. inoffizielle gabenanteil ist in den vergangenen Jahren kaum
Verzeichnisse von Leistungsanbietern [30]. Ein gestiegen (siehe Abbildung 4.1.1.4). Die Gesamt
allgemeines (sektorenübergreifendes) Verzeich aufwendungen der GKV für Vorsorge und Rehabi
nis von geriatrischen Einrichtungen findet sich litation liegen weiterhin deutlich unter denen der
unter www.kcgeriatrie.de/kliniken.htm [31]. Die Rentenversicherung (2,55 versus 3,59 Milliarden
amtlichen Statistiken erfassen die (teil-)statio Euro im Jahr 2007) [34, 35].
nären Reha-Einrichtungen [32, 33] (vgl. Abschnitt
4.1.2). Aussagen zur Verteilung der ambulanten
Reha-Leistungen nach Alter, Geschlecht, Dauer Disease Management Programme
oder Indikation sind daher kaum möglich.
Anhand der Ausgaben-Statistik des für Ältere Um die Versorgung chronisch kranker Men
relevanten Kostenträgers GKV kann lediglich indi- schen zu verbessern, wurden am 1. Januar 2002
176 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 4.1.1.4
Ausgaben der GKV für Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen nach Leistungsbereichen 1996 bis 2007
Quelle: [34]
2.500
2.000 AHB/AR
Ambulante Vorsorge
1.500
stationäre Vors./Reha
Vors./Reha f. Mütter/Väter
1.000
Ambulante Reha
1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
Jahr
mit dem »Gesetz zur Reform des Risikostruktur Nach Angaben des Bundesversicherungs
ausgleichs in der gesetzlichen Krankenversiche amtes waren bis September 2007 insgesamt
rung« die strukturierten Behandlungsprogramme 14.000 Verträge zu Disease Management Pro
für Menschen mit bestimmten chronischen grammen zugelassen oder wieder zugelassen
Erkrankungen – so genannte Disease Manage worden. In mindestens eines dieser Programme
ment Programme (DMP) – eingeführt. DMP hatten sich im Jahr 2006 ca. 2,4 der 70 Millionen
dienen der Koordination der Behandlung und GKV-Versicherten eingeschrieben (siehe Tabelle
Betreuung bei chronischer Erkrankung über die 4.1.1.4). Informationen zur Zahl der Ärztinnen
Grenzen der einzelnen Leistungssektoren hin und Ärzte sowie der anderen Leistungserbringe
weg. Dies geschieht auf der Grundlage von me rinnen und -erbringer (z. B. Kliniken), die an den
dizinischer Evidenz, um insgesamt gesehen die DMP mitwirken, stehen nicht zur Verfügung.
Behandlung der Erkrankung zu verbessern sowie Zwei Drittel der DMP-Teilnehmerinnen und
Beeinträchtigungen und Folgeerkrankungen zu -Teilnehmer waren 65 Jahre oder älter. Während
vermeiden bzw. zu reduzieren. Als weitere Ziele im Durchschnitt lediglich ca. 3,4 % der GKV-
der DMP sind die Sicherstellung einer bedarfs Versicherten in ein DMP eingeschrieben waren,
gerechten und wirtschaftlichen Versorgung sowie traf dies auf bis zu 13 % der 72 bis 78 Jahre alten
der Abbau von Über-, Unter- und Fehlversorgung Personen zu. Unter den noch älteren Versicher
im Gesundheitssystem zu nennen [36]. Derzeit ten sank die Teilnahmerate allerdings rasch (siehe
existieren DMP für Diabetes mellitus Typ 1 und Abbildung 4.1.1.5). Erste Ergebnisse der gesetzlich
2, Brustkrebs, Koronare Herzkrankheit, Asthma vorgeschriebenen Programmevaluationen weisen
und Chronisch obstruktive Lungenerkrankungen. auf eine Verbesserung bestimmter Zielparameter
Aufgrund der großen Zahl älterer und alter Men bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern hin
schen, die an diesen Erkrankungen leiden, haben [37]. Aus methodischen Gründen sind solche erst
Disease Management Programme das Potenzial nach Einführung der Programme durchgeführten
die (ambulante) Versorgung dieser Bevölkerungs Untersuchungen allerdings umstritten.
gruppe zu verbessern.
Gesundheit und Krankheit im Alter 177
Tabelle 4.1.1.4
Anzahl zugelassener DMP nach Indikation und Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer*
Quelle: [36, 38]
Abbildung 4.1.1.5
Altersverteilung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an mindestens einem Disease Management Programm
in Prozent von allen GKV-Versicherten der jeweiligen Altersgruppe 2006
Quelle: Daten des Bundesversicherungsamtes (BVA) [38]
Prozent
14
12
10
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90
Alter in Jahren
Tabelle 4.1.1.5
Entwicklung der ambulanten Pflegedienste nach Träger und Anzahl
der versorgten pflegebedürftigen Frauen und Männer 1999 und 2005
Quelle: Pflegestatistik [39]
allem Hilfen im Haushalt, bei den Mahlzeiten werden z. B. hinsichtlich der Vorbeugung von
und anderen Alltagsverrichtungen. Für pflege Druckgeschwüren (Mängel bei 42 % der unter
rische Tätigkeiten im engeren Sinne wird dage suchten Pflegebedürftigen), der angemessenen
gen hauptsächlich auf Familienangehörige bzw. Ernährung und Flüssigkeitsversorgung (Defizite
professionelle Dienstleisterinnen und Dienstleis bei 30 %), der Inkontinenzversorgung (unzu
ter, die über die Leistungen der Pflegeversiche reichende Versorgung in 22 % der Fälle) und
rung abgedeckt werden, zurückgegriffen. Das bei der Betreuung von Personen mit geronto
Spektrum der individuell getroffenen Pflegear psychiatrischen Beeinträchtigungen (26 %) ge
rangements erweist sich dabei als sehr groß und sehen. Auffällige Schwächen zeigen sich darüber
schließt vielfach befreundete oder in der Nach hinaus bei der Implementierung von Maßnah
barschaft lebende Menschen sowie ehrenamt men der Struktur- und Prozessqualität. So sind
liche Helferinnen und Helfer ein [41]. Daneben nur 59 % der Beschäftigten die innerhalb ihrer
hat sich jedoch ein grauer Markt für den privaten Einrichtung entwickelten Pflegekonzepte bekannt
Zukauf von Pflegeleistungen etabliert, der u. a. die und in knapp einem Drittel der Einrichtungen
Beschäftigung ausländischer Hilfskräfte mit oder werden Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter mit
ohne pflegerische Ausbildung einschließt. Insge Aufgaben betraut, für die sie nicht hinreichend
samt werden Dienstleistungen und Produkte, die qualifiziert sind.
auf den Bedarf der älteren und alten Bevölkerung
abgestimmt sind, als Wachstumsbranchen be
schrieben [42, 43]. 4.1.2 Stationäre Versorgung
Prognosen gehen bis 2030 von einem Anstieg
der Zahl der Pflegebedürftigen um ca. 60 % aus. Die stationäre Versorgung greift in dem Moment,
Unter ihnen wird der Anteil der 85-jährigen oder in dem eine ambulante Versorgung nicht mehr
älteren Personen von 33 % im Jahr 2005 auf 48 % ausreicht oder gewährleistet werden kann. Beide
im Jahr 2030 zunehmen [44]. Daraus resultiert Sektoren sind nicht als völlig getrennte Bereiche
eine deutlich steigende Nachfrage nach Pflege anzusehen, sondern vielmehr als sich ergänzende
dienstleistungen, sowohl im ambulanten als auch Versorgungsformen zwischen denen es zumin
(in vermutlich noch größerem Ausmaß) im statio dest im Idealfall Übergänge gibt, die dem indivi
nären Pflegesektor. Die Angebote müssen entspre duellen Bedarf gerecht werden. Die Darstellung
chend weiterentwickelt und dem Bedarf, beispiels des stationären Angebots wird im Folgenden in
weise hinsichtlich der speziellen Anforderungen die Bereiche Akut-Krankenhäuser, Vorsorge- und
bei der Pflege Demenzkranker oder dem Wunsch Rehabilitationseinrichtungen, Geriatrie und Pfle-
nach Flexibilisierung der Leistungen, angepasst geeinrichtungen gegliedert.
werden (vgl. Kapitel 2.2 und 3.3).
Die Qualität der professionellen ambulanten
Pflege wird vom Medizinischen Dienst der Kran Akut-Krankenhäuser
kenversicherung bzw. von Sachverständigen der
Pflegekassen geprüft und die Ergebnisse werden Krankenhäuser sind nicht nur für Personen ab
zusammenfassend veröffentlicht [45]. Mit dem 65 Jahren da, doch diese stellen die größte Nut
Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wurde neu ein zergruppe: rund 7 Millionen der ca. 17 Millionen
geführt, dass zukünftig alle Einrichtungen ihre Behandlungsfälle des Jahres 2006 (41 %) betraf
Prüfergebnisse in standardisierter Form veröffent diese Altersgruppe (zum Vergleich: ca. 20 % der
lichen (§ 115 Abs. 1a SGB XI). Dies soll zu mehr Allgemeinbevölkerung ist 65 Jahre oder älter). Ihr
Transparenz für die Pflegebedürftigen und ihre Anteil an den Krankenhausfällen lag im Jahr 2000
Angehörigen und zur Verbesserung der Pflege noch bei 35 %. In bestimmten Fachabteilungen
qualität führen. Die bislang vorliegenden Da wird der Durchschnittswert für die ältere Bevölke
ten weisen zwar auf positive Entwicklungen im rung über- bzw. unterschritten. Die zahlenmäßig
Vergleich der Erhebungszeiträume 2003 versus meisten (ca. 3,6 Millionen) stationären Behand
2006 hin. Insgesamt lässt die Versorgungsqua lungsfälle, welche die Altersgruppe ab 65 Jahre
lität jedoch zu wünschen übrig. Große Defizite betreffen, werden in internistischen Fachabtei
Gesundheit und Krankheit im Alter 181
lungen versorgt. Dies ist im wesentlich auf das für Knapp 50 % aller abgerechneten Aufenthalts
ältere Personen typische Erkrankungsspektrum tage entfallen auf die ältere Bevölkerung. Ihr über
zurückzuführen, bei dem Herz-Kreislauf-, Krebs-, proportionaler Anteil an den Behandlungstagen
Stoffwechsel- und Atemwegserkrankungen domi erklärt sich aus ihrer im Vergleich zu jüngeren
nieren (vgl. Kapitel 3.3). Daneben führen akute und Personen längeren durchschnittlichen Verweil
chronische Krankheiten des Bewegungsapparates dauer. Während diese bezogen auf alle stationär
(z. B. sturzbedingte Verletzungen und Arthrose) behandelten Patientinnen und Patienten 2006
viele ältere und alte Menschen ins Krankenhaus. bei 8,5 Tagen lag, verbrachten solche, die 65 Jahre
Dort werden sie häufig in (unfall-)chirurgischen oder älter waren, im Mittel 10 Tage im Kranken
oder orthopädischen Fachabteilungen versorgt. haus. Etwa ein Fünftel aller Deutschen zwischen
In chirurgischen Subdisziplinen wie der Herz- 70 und 90 Jahren wird mindestens einmal im
oder Gefäßchirurgie überwiegen Personen ab 65 Jahr stationär behandelt (vgl. Kapitel 3.3). Von den
Jahren. Gleiches gilt für die Bereiche Augenheil 389.339 Menschen, die 2006 im Krankenhaus
kunde und Urologie (siehe Tabelle 4.1.2.1) [46]. verstarben, waren 81 % 65 Jahre oder älter. Damit
Intensiv- und palliativmedizinische Betten sowie sind Kliniken für fast die Hälfte aller Deutschen
Spezialeinheiten für die Behandlung von Schlag dieser Altersgruppe der Ort, wo sie sterben. Sieht
anfallpatienten (Stroke Units) werden zu jeweils man also von einigen Ausnahmen wie Kinderheil
über 60 % von ab 65 Jahre alten Patientinnen und kunde, Geburtshilfe/Gynäkologie und Psychiatrie
Patienten belegt [47]. ab, ist der Alltag in Akutkrankenhäusern geprägt
von der Versorgung und dem Sterben vor allem
älterer und alter Menschen.
Tabelle 4.1.2.1
Die schrittweise Einführung der so genann
Anteil der 65 Jahre und älteren Patientinnen und Patienten
im Akut-Krankenhaus nach Abteilungen 2006* ten Diagnose bezogenen Fallpauschalen (Diag
Quelle: Krankenhausstatistik [46] nosis Related Groups, DRG) als Abrechnungs
grundlage der Akutkliniken hat einen starken
Fachabteilungen Anzahl Behandlungsfälle Anteil ab Einfluss auf die Entwicklung der stationären
65 Jahre
Gesamt ab 65 Jahre Krankenversorgung in Deutschland. Seit 2004
Gesamt 17.142.476 7.043.287 41,1 % rechnen die Krankenhäuser nicht mehr nach
Innere Med. gesamt 5.940.090 3.643.088 61,3 % tagesgleichen Pflegesätzen ab, sondern auf der
davon:
Basis von Fallgruppen, die jährlich anhand der
Daten einer Kalkulationsstichprobe für ökono
Kardiologie 841.729 520.572 61,8 %
misch ähnlich gelagerte Fälle festgelegt werden.
Neprologie 82.424 48.539 58,9 % Ziel ist es, die früher zwischen Krankenhausträ
Chirurgie gesamt 3.590.366 1.510.209 42,1 % gern und Kassen ausgehandelten Budgets mit
davon: den daraus resultierenden Tagessätzen durch
Unfallchirurgie 692.084 277.043 40,0 % ein wettbewerbsorientierteres System abzulösen,
Gefäßchirurgie 170.399 93.874 55,1 %
bei dem die Kliniken gleiche Preise für gleiche
Leistungen erzielen. Dadurch stehen viele Kran
Orthopädie 657.060 278.442 42,4 %
kenhäuser unter enormem finanziellem Druck
Herzchirurgie 58.244 37.554 64,5 % und müssen teilweise weitgehende Umstruktu
Augenheilkunde 331.542 223.951 67,5 % rierungen vornehmen, um wirtschaftlicher zu
Neurologie 621.105 289.666 46,6 % arbeiten. Einige der Folgen sind z. B. die Schlie
Urologie 658.411 352.028 53,5 % ßung unrentabler Abteilungen oder gar ganzer
Psychiatrie und 725.843 132.627 18,3 % Kliniken, Wechsel der Träger bzw. der Rechts
Psychotherapie form, Bildung von Kooperationen, Auslagerung
von Leistungen, Betten- und Personalabbau, Aus
* Gezählt wird im Rahmen der Krankenhausdiagnosestatistik die
weitung des Leistungsangebotes sowie interne
Fachabteilung mit der längsten Aufenthaltsdauer. Da Patientinnen
und Patienten teilweise mehrere Abteilungen durchlaufen (z. B. Umstrukturierungen und Änderungen der Ab
kurzer Aufenthalt in der Chirurgie, dann längerer in der Inneren)
kann die tatsächliche Altersstruktur einzelner Fachabteilungen von
lauforganisation.
dieser Darstellung abweichen.
182 Gesundheit und Krankheit im Alter
Diese Veränderungsprozesse sind im Hin der sein als die früher übliche Vorgehensweise.
blick auf die Versorgung älterer Personen in Zudem sind die Ärztinnen und Ärzte sowie das
mehrfacher Hinsicht relevant: Vor allem rechnet Pflegepersonal durch die eingetretene Arbeitsver
es sich für die Krankenhäuser nicht mehr, Patien dichtung (Verweildauerverkürzung plus Fallzahl
tinnen und Patienten länger als unbedingt nötig steigerung) und die Zunahme (patientenferner)
zu behalten, da die ab einem definierten Aufent administrativer Tätigkeiten belastet. Es besteht
haltstag gezahlten Zuschläge in aller Regel nicht die Gefahr, dass sie den Bedürfnissen älterer Pa
die entstehenden Mehrkosten ausgleichen. Für tientinnen und Patienten weniger gerecht werden
die Leistungserbringer ist es ökonomisch sinn können. Diese möglichen Auswirkungen wurden
voll, die Verweildauer an der durchschnittlichen bereits im Vorfeld bzw. bei Einführung der DRG
Verweildauer der jeweils zutreffenden Fallpau intensiv diskutiert [48, 49]. Allerdings ist bei der
schale auszurichten. Die Kliniken haben also ein Bewertung beispielsweise der Verweildauerver
Interesse daran, die Patientinnen und Patienten kürzungen (siehe Abbildung 4.1.2.1) zu berück
möglichst rasch zu entlassen. Je älter Menschen sichtigen, dass kaum jemand gerne länger als nö
jedoch sind, desto länger liegen sie meist im tig im Krankenhaus liegt und viele Menschen froh
Krankenhaus, weil ihre Versorgung komplexer ist sind, wenn sie so schnell wie möglich wieder in
und sie mehr Zeit zur Erholung benötigen. Unter ihrer gewohnten Umgebung sein können.
Umständen bestehen noch Einschränkungen der Die im Folgenden dargestellte Entwick
Selbstversorgungsfähigkeit, die dann bei rascher lung des stationären Versorgungsangebotes in
Entlassung ambulant oder z. B. in Übergangs Deutschland ist vor dem Hintergrund der hier
pflegeeinrichtungen abgefangen werden müssen. nur ansatzweise beschriebenen Wirkungen der
Außerdem kann die Straffung innerbetrieblicher pauschalierten Vergütung zu betrachten. Einen
Abläufe (z. B. mehrere Untersuchungen an einem guten Überblick über verschiedene Aspekte der
Tag oder Aufnahme unmittelbar am geplanten Veränderungen geben beispielsweise die vom
Operationstag) für ältere Personen belasten- wissenschaftlichen Institut der AOK herausge-
Abbildung 4.1.2.1
Entwicklung wichtiger Kennzahlen der stationären Krankenhausversorgung 1991 bis 2006
Quelle: Krankenhausstatistik [51]
Prozent
120
110 Krankenhausfälle
Berechnungs-/
Belegungstage
100
Durchschnittliche
Verweildauer
90 Durchschnittliche
Bettenauslastung
80 Krankenhäuser
70 Aufgestellte Betten
60
1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006
1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005
Jahr
Gesundheit und Krankheit im Alter 183
gebenen Krankenhaus-Reporte [48, 49]. Details Klinik von 276 auf 243. Krankenhäuser in öffent
zum deutschen DRG-System finden sich auf der licher Trägerschaft sind durchschnittlich größer
Homepage des für die Kalkulation der Fallpau (364 Betten) als freigemeinnützige (224 Betten)
schalen zuständigen Instituts für das Entgelt oder private Einrichtungen (119 Betten). Knapp
system im Krankenhaus [50]. die Hälfte der Betten (51 %) befindet sich somit in
Die wichtigsten Kennzahlen zum Kranken öffentlicher Trägerschaft. Die Zahl der 500 oder
hausbereich (Zahl der Krankenhäuser, Fallzahl, mehr Betten führenden Krankenhäuser ist mit
Berechnungs- und Belegungstage, durchschnitt 248 von 2.104 zwar relativ klein, dennoch halten
liche Verweildauer, aufgestellte Betten, durch sie insgesamt knapp 40 % der in Deutschland auf
schnittliche Bettenauslastung) und ihre relative gestellten Betten vor.
Entwicklung zwischen 1991 und 2006 sind in Entgegengesetzt zur Entwicklung der üb
Abbildung 4.1.2.1 gemeinsam dargestellt, da zwi rigen in Abbildung 4.1.2.1 dargestellten Kenn
schen ihnen Wechselbeziehungen bestehen. zahlen stieg die Zahl der Behandlungsfälle von
Im Jahr 2006 gab es insgesamt 2.104 Kran 1991 zunächst bis 2002 deutlich an. Seit 2003 ist
kenhäuser in Deutschland. Gegenüber 1991 ging sie leicht rückläufig bzw. in den Jahren 2004 bis
deren Zahl um 13 % zurück. Nicht in jedem Fall 2006 nahezu konstant (2006: ca. 17 Millionen
wurde jedoch eine Einrichtung tatsächlich ganz Fälle). Der leichte Fallzahlrückgang seit 2002 ist
geschlossen: Im Zuge der durch die Einführung einerseits z. T. durch Änderungen der Falldefini
der Fallpauschalen ausgelösten Umstrukturie tion aufgrund der Einführung des DRG-Systems
rungen handelt es sich zum Teil auch um Rück zu erklären: So werden z. B. Wiederaufnahmen
gänge aufgrund von Fusionen. Eine zuverlässige innerhalb bestimmter Zeiträume mit ähnlichem
Aussage darüber, wie viele Kliniken wirklich kom Behandlungsanlass abrechnungstechnisch zu
plett geschlossen wurden, wäre nur auf der Basis sammengeführt und als ein Fall gezählt. Anderer
von Einzelrecherchen möglich [52]. Die Umstruk seits erfolgen in zunehmendem Umfang früher
turierungen spiegeln sich auch in der veränderten stationär durchgeführte Maßnahmen ambulant
Verteilung der Krankenhausträger [53]: Während (z. B. kleinere operative Eingriffe). Die durch
1991 noch 1.110 Kliniken in öffentlicher Träger schnittliche Verweildauer sank zwischen 1991
schaft geführt wurden, traf dies 15 Jahre später und 2006 von 14 auf 8,5 Tage (39 %). Aufgrund
nur noch auf 717 Krankenhäuser (34 %) zu. Bei der gegenläufigen Entwicklung der Fallzahlen
den in öffentlicher Trägerschaft verbliebenen Ein verringerte sich im selben Zeitraum die Zahl der
richtungen erfolgte zudem häufig ein Wechsel der Belegungs- bzw. Berechnungstage lediglich um
Rechtsform. Gut die Hälfte der öffentlichen Häu ca. 30 % (von 204,2 Millionen auf 142,3 Millio
ser war 2006 privat-rechtlich organisiert, von den nen). Trotz der bereits erfolgten Bettenreduzie
in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft verbliebenen rungen nahm die Bettenauslastung von 84 auf
Kliniken war ein Teil rechtlich selbstständig. Auch 76 % ab.
die Zahl der freigemeinnützigen Krankenhäuser Wenngleich durch die fallpauschalierte Ver
nahm ab: von 943 auf 803. Dagegen stieg zwi gütung ein Anreiz zur Verkürzung der Verweil
schen 1991 und 2006 die Anzahl der privat getra dauer gegeben ist, setzte der Rückgang der durch
genen akutstationären Einrichtungen von 358 auf schnittlichen Aufenthaltsdauer bereits deutlich
584 Krankenhäuser. vor Einführung der DRG ein. Dies entspricht
Im selben Zeitraum wurde die Bettenzahl dem internationalen Trend und spiegelt nicht zu
um 23 % auf 510.767 reduziert. Dies entspricht letzt auch den medizinischen Fortschritt wider.
einer Bettendichte (Anzahl aufgestellter Kran Effektivere, zeitsparende und schonendere diag
kenhausbetten pro 100.000 Einwohner) von 620 nostische und therapeutische Verfahren sowie
(1991: 832). Im internationalen Vergleich gehört Qualitätsverbesserungen durch die Optimierung
Deutschland damit immer noch zu den Ländern organisatorischer Abläufe tragen ebenso dazu bei,
mit der höchsten Dichte akutstationärer Betten dass die Verweildauer sinkt, wie ökonomische
[54]. Da die Zahl der aufgestellten Betten stärker Anreize. Eine Verschlechterung der stationären
sank als die der Krankenhäuser, fiel im betrachte Versorgung ist daher aus den Veränderungen der
ten Zeitraum die durchschnittliche Bettenzahl pro Kennzahlen allein nicht abzuleiten.
184 Gesundheit und Krankheit im Alter
Die regionale Verteilung des stationären Ver vor allem wenn jüngere Familienmitglieder fort
sorgungsangebotes erweist sich als relativ inho gezogen, der öffentliche Nahverkehr ausgedünnt
mogen, wobei die Varianz der Krankenhausdichte und die ambulanten Versorgungsmöglichkeiten
pro 100.000 Einwohner tendenziell größer ist als begrenzt sind. Die niedrigste Bettendichte weisen
die der Bettendichte. Letztere hat sich (vor dem jedoch Niedersachsen, Schleswig-Holstein und
Hintergrund der oben beschriebenen allgemeinen Baden-Württemberg auf, deren Krankenhäuser
Trends) im Verlauf der letzten Jahre zunehmend im Durchschnitt kleiner sind als die in den neu
angeglichen (siehe Abbildung 4.1.2.2). en Bundesländern. Bei der Bewertung der Bet
Vor allem im Osten Deutschlands domi tendichte ist zu berücksichtigen, dass vor allem
nieren eher größere Einrichtungen bei einer die stationären Einrichtungen der Stadtstaaten in
ähnlichen Bettendichte wie in vielen westlichen nicht unerheblichem Umfang eine Versorgungs
Bundesländern. Dadurch kann in (dünnbesiedel funktion für das Umland übernehmen.
ten) ostdeutschen Flächenländern wie Branden Die amtliche Statistik enthält einige Informa
burg und Sachsen-Anhalt die Entfernung zum tionen über die Zahl der an Akutkrankenhäusern
nächstgelegenen Krankenhaus relativ groß sein. verfügbaren medizinischen Großgeräte wie z. B.
Dies belastet besonders die ältere Bevölkerung, Computer- und Kernspintomografen, Bestrah-
Abbildung 4.1.2.2
Anzahl der akutstationären Krankenhausbetten pro 100.000 Einwohner (Bettendichte) im regionalen Vergleich 2006
Quelle: Krankenhausstatistik [51]
< 600
– 650
– 700
> 700
Gesundheit und Krankheit im Alter 185
Abbildung 4.1.2.3
Struktur der geriatrischen Versorgungskapazitäten nach Bundesländern 2006
(Betten bzw. Plätze pro 10.000 Einwohner ab 65 Jahren)
Quelle: [21]
Deutschland
Sachsen
Niedersachsen
Baden-Württemberg
Rheinland-Pfalz
Mecklenburg-Vorpommern
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Schleswig-Holstein
Bayern Krankenhausbetten
Hessen
Nordrhein-Westfalen Behandlungsplätze TK
Brandenburg Reha-Betten
Saarland
Berlin ambulante Reha-Plätze
Bremen
Hamburg
0 5 10 15 20 25 30
Betten/Plätze pro 10.000 Einwohner ab 65 Jahre
Abbildung 4.1.2.4
Akutstationäre Behandlungsfälle mit geriatrisch-frührehabilitativer, Stroke Unit, neurologisch-frührehabilitativer
oder palliativmedizinischer Intervention (OPS 8.550, 8-981, 8-552 bzw. 8-982) nach Alter 2006
Quelle: Krankenhausstatistik [47]
2.500
2.000
1.500
geri. Frühreha
Stroke Unit
1.000
neuro. Frühreha
Komplexbehandlungen deutlich mit dem Alter Statistik berichtet lediglich über 497 klinische Ge
an. Andere spezialisierte Behandlungsformen riater in Akutkrankenhäusern sowie über weitere
werden jedoch zumindest ab dem 85. Lebensjahr 154 in Vorsorge und Reha-Einrichtungen.
seltener erbracht. Eine teilstationäre geriatrische Die früher häufiger beklagte Diskrepanz zwi
Rehabilitation wurde 2006 lediglich in 55 Fällen schen der amtlichen Statistik und den Daten aus
abgerechnet. anderen Quellen (z. B. Erhebungen der Sozialmi
Angaben zur Zahl der gerontopsychiatrischen nisterien der Länder, Datensammlung des VdAK-
Einrichtungen oder Betten liegen nicht vor. Dies AEV), welche auf eine Untererfassung vor allem
gilt auch für Daten zu spezialisierten Angeboten der geriatrischren Angebote im Reha-Bereich
zur frühzeitigen Demenzdiagnostik (Memory- schließen ließen [19, 55], findet sich so heute le
Kliniken, spezialisierte Institutsambulanzen, diglich noch für den ambulanten Bereich (ohne ta
etc.). Lediglich für den Rehabilitationssektor ist ges/teilstationäre Angebote). Aufgrund mehrfach
ausgewiesen, dass im Jahr 2006 insgesamt 100 geänderter Klassifikations- und Darstellungsver
Betten für klinische Geriatrie Rehabilitationsein fahren ist allerdings eine Beschreibung der zeit
richtungen für Psychiatrie und Psychotherapie lichen Entwicklung des stationären geriatrischen
angegliedert sind [32]. Versorgungsangebotes im Akut- und Reha-Sektor
Die Untererfassung von Ärztinnen und kaum möglich. Im Jahr 2006 wurde von 117 Kran
Ärzten mit geriatrischer Zusatzqualifikation wur kenhäusern mindestens eine Fachabteilung kli
de bereits unter 4.1.1 diskutiert. Leider differen nische Geriatrie gemeldet. Definitionsgemäß wer
zieren die von Lübcke et al. erhobenen aktuellen den diese von geriatrisch qualifizierten Ärztinnen
Daten nicht nach Tätigkeitsgebiet, so dass zum oder Ärzten geleitet, die nicht notwendigerweise
stationären Sektor keine zuverlässigen Aussagen den Status einer Chefärztin oder eines Chefarztes
hinsichtlich der Zahl geriatrisch qualifizierter inne haben müssen. Allerdings existiert bislang
Ärzte getroffen werden können [3]. Die amtliche keine eindeutige Definition für eine Fachabtei
190 Gesundheit und Krankheit im Alter
lung Geriatrie. Dies soll durch Anpassung der Schnitt betreute ein Pflegeheim 65 Pflegebedürf
Fragebogen zur Krankenhausstatistik künftig be tige. Private Träger betreiben eher kleinere Ein
hoben werden. richtungen (durchschnittlich 53 Pflegebedürftige),
Die scheinbare Zunahme der geriatrischen die freigemeinnützig (71 Pflegebedürftige) oder öf
Versorgungskapazitäten im Verlauf der letzten fentlich getragenen Heime (80 Pflegebedürftige)
Jahre wird von Meinck et al. vor allem auf den sind hingegen größer.
schrittweisen Abbau der zuvor bestehenden Un Die meisten Heime (ca. 9.400) erbrachten
tererfassung zurückgeführt [55]. Die von diesen vollstationäre Dauerpflege. Das Angebot der
Autoren bzw. dem Kompetenzzentrum Geriatrie anderen Einrichtungen setzt sich entweder aus
zusammengetragenen Daten zeigen – bezogen Kurzzeitpflege und/oder Tages- sowie Nachtpflege
auf die Bevölkerung ab 65 Jahre des jeweiligen zusammen. Mit nur 19.044 bzw. 327 Plätzen stellt
Bezugsjahres, d. h. unter Berücksichtigung der die reine Tages- bzw. Nachtpflege einen unter
demografischen Entwicklung – keine Ausweitung geordneten Bereich dar. Die Auslastung der
des geriatrischen Angebotes, trotz einer Zunahme vollstationären Pflegeplätze lag im Jahr 2005 bei
der absoluten Kapazitätszahlen. Die geriatrische 88,7 %.
Versorgungsquote betrug demnach 2003 12,3 Plät Pflegeheime sind nicht nur das Lebensum
ze pro 10.000 Einwohner und sank auf 11,3 im feld der dort versorgten überwiegend alten Men
Jahr 2006. schen, sondern auch Arbeitsplatz von fast 550.000
Personen. Dies entspricht einem Anstieg des in
stationären Pflegeeinrichtungen beschäftigten
Stationäre Pflegeeinrichtungen Personals um 7 % gegenüber 2003. Vollzeit
beschäftigt sind rund 38,1 %, ca. 30 % arbeiten
Die nachfolgende Darstellung des stationären Teilzeit mit mindestens 50 %. Die übrigen Ar
Pflegeangebotes ergänzt die Ausführungen in beitnehmerinnen und -nehmer sind mit weniger
den Kapiteln 2.2 zu Pflegebedürftigkeit und 3.3 als 50 % der regulären Arbeitszeit (14,4 %) oder
zur Inanspruchnahme von Pflegeleistungen und geringfügig beschäftigt (10,1 %), Praktikanten/
ist im Zusammenhang mit den dort getroffenen Schüler/Auszubildende (5,8 %), Helferinnen und
Aussagen zu betrachten. Rund ein Drittel der Pfle- Helfer im freiwilligen sozialen Jahr (0,7 %) oder
gebedürftigen (677.000) wurde im Jahr 2005 in Zivildienstleistende (1,2 %). Die Mehrzahl der Be
Heimen versorgt. Unter den Pflegeheimbewoh schäftigten (rund 394.000) sind für Pflege und
nerinnen und -bewohnern finden sich anteilig (soziale) Betreuung zuständig, während die übri
mehr Schwer- und Schwerstpflegefälle als unter gen in den Bereichen Hauswirtschaft, Haustech
ambulant gepflegten Personen, da sie eher schwie nik und Verwaltung tätig sind. Einen Überblick
rig und nur mit hohem personellen wie organi über ausgewählte Merkmale der Pflegestatistik
satorischen Aufwand ambulant betreut werden gibt Tabelle 4.1.2.4.
können [38]. Mit der Einführung der Pflegeversicherung
Im Jahr 2005 wurden 10.424 Pflegeheime als soziale Pflichtversicherung im Jahr 1995 wur
mit insgesamt 757.186 Plätzen statistisch erfasst, den nicht nur die aus Pflegebedürftigkeit resultie
die voll- bzw. teilstationäre Leistungen anboten. renden finanziellen Belastungen der Betroffenen
Bei der vorherigen Zählung im Jahr 2003 waren und ihrer Familien abgefedert. Die Pflegeversiche
es noch 7 % weniger Einrichtungen bzw. 6,2 % rung hat auch dazu beigetragen, die Struktur der
weniger Plätze gewesen. Der überwiegende Teil pflegerischen Versorgung weiter zu entwickeln
der Pflegeheime befindet sich in freigemeinnüt und dem steigenden Bedarf anzupassen. Gesetz
ziger Trägerschaft (55,1 %); privat getragen werden lich geregelt sind zudem externe Qualitätskontrol
38,1 % der Einrichtungen, während die übrigen len der Einrichtungen durch die Medizinischen
bislang in öffentlicher Trägerschaft verblieben Dienste der Krankenversicherungen bzw. durch
sind. Die Anzahl der öffentlich getragenen Pfle- von den Pflegekassen beauftragte Sachverstän
geheime sank zwischen 2003 und 2005 um 3,6 % dige. In ca. 50 % der MDK-Prüfungen ist auch
auf insgesamt 702 Einrichtungen. Vor allem der die amtliche Heimaufsicht involviert, die darü
Anteil privat geführter Häuser stieg dagegen. Im ber hinaus eigenständige Prüfungen vornimmt.
Gesundheit und Krankheit im Alter 191
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42. DIW (2007) Auswirkungen des demografischen Wan geriatrischer Versorgungsstrukturen in Deutsch
dels auf die private Nachfrage nach Gütern und Dienst land? Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 39:
leistungen in Deutschland bis 2050. Berlin 443 – 450
43. Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend (BMFSFJ) (2005) Fünfter Bericht zur
194 Gesundheit und Krankheit im Alter
reich Pflege dargestellt. Danach werden die Belas Von den zu Hause lebenden pflegebedürf
tungen familialer und ehrenamtlicher Pflegeper tigen Menschen wurden etwa 696.000 Personen
sonen beschrieben sowie die Angebote vorgestellt, (ausschließlich Pflegegeldempfänger) von der Fa
die für pflegende Angehörige und weitere Helfe milie und dem privatem Netzwerk versorgt und
rinnen und Helfer existieren. Bereits an dieser weitere etwa 427.000 Personen von ambulanten
Stelle muss betont werden, dass die empirische Pflegediensten betreut, wobei auch hier die Un
Befundlage zu pflegenden Angehörigen besser ist terstützung von familialen und weiteren privaten
als die der zu Pflegenden aus dem Bereich des Netzwerken hoch ist [4, 5]. Zusätzlich zu den pfle-
weiteren privaten Netzes und aus dem Bereich gebedürftigen Menschen, die in Privathaushalten
des Ehrenamtes. Abschließend werden einige leben und Leistungen nach SGB XI erhalten, be
Maßnahmen zur Unterstützung familiärer und nötigten im Jahr 2002 weitere etwa 3 Millionen
privater Netzwerke im Bereich Pflege diskutiert. Menschen hauswirtschaftliche Unterstützung,
ohne selbst Pflegebedarf zu haben und Leistungen
aus der Pflegeversicherung zu erhalten [6]. Es sind
4.2.1 Leistungen familialer und privater auch hier die näheren Angehörigen, die Unter
Netzwerke im Bereich Pflege stützung leisten. 85 % der hilfebedürftigen Men
schen werden in der Regel von Familienangehöri
Grundlegende Informationen gen unterstützt [6].
Die Bedeutung der Familie für die Pflege im
Die Bedeutung von Familie und weiteren privaten Verlauf der Zeit nimmt tendenziell ab. In Abbil
Netzen für die Unterstützung pflegebedürftiger dung 4.2.1.2 ist für die Jahre zwischen 1996 und
Menschen, hier im Sinne des Leistungsbezugs 2005 die Entwicklung der Betreuung durch pri
nach SGB XI, ist unbestritten. Ende 2005 lebten vate Netzwerke, ambulante Dienste und stationäre
1,12 Millionen Menschen (64 %) der 1,75 Millio Einrichtungen für alle Altersgruppen dargestellt.
nen Pflegebedürftigen im Alter von 65 Jahren und Während im Jahr 1996 (kurz nach Einführung der
älter im eigenen Haushalt und wurden von Fa Pflegeversicherung) etwa 60,4 % aller Leistungs
milienangehörigen und anderen Mitgliedern des empfangenden in der sozialen Pflegeversicherung
privaten Netzes vollständig oder zum Teil versorgt Pflegegeld erhielten, waren es im Jahr 2005 noch
(siehe Abbildung 4.2.1.1). 47,9 %. Der Anteil aller durch ambulante Diens-
Abbildung 4.2.1.1
Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung 2005
Quelle: Abbildung in Anlehnung an [5], ergänzt um [3] und Pflegestatistik – Ambulante und stationäre
Pflegeeinrichtungen (Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2005) in www.gbe-bund.de vom 12.02.2007
Abbildung 4.2.1.2
Leistungsempfangende der sozialen Pflegeversicherung im Jahresdurchschnitt nach Leistungsarten 1996 bis 2005
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit
Prozent
70
60
50
40
Pflegegeld
30 Vollstationäre Versorgung
(auch Behindertenhilfe)
20 Ambulante Versorgung
(Pflegesachleistung, Kombi-Leistung)
andere Leistungen: Urlaubspflege,
10
Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege
1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
Jahr
te versorgten Menschen stieg von 15,4 % im Jahr Hinzu kommen weitere 9 %, die neben der pri
1996 auf 18,7 % im Jahr 2005 (hier wurden Be vat getragenen Hilfe und Pflege zusätzlich selbst
ziehende kombinierter Geld- und Sachleistungen finanzierte, jedoch nicht im engeren Sinne pfle-
zusammengefasst). Dies bedeutet, dass der Anteil gerische Hilfen in Anspruch nehmen. Etwa 28 %
der Pflegebedürftigen, die vollständig oder teil der Pflegebedürftigen erhalten sowohl private als
weise von familialen und ehrenamtlichen Pflege auch professionelle pflegerische Hilfen und 8 %
personen versorgt werden, von 75,8 % (1996) auf erhalten ausschließlich professionelle Pflege.
66,6 % (2005) sank. Demgegenüber stieg der An Insgesamt werden 92 % der in Privathaus
teil der vollstationär versorgten Pflegebedürftigen halten lebenden pflegebedürftigen Menschen von
von 23,1 % im Jahr 1996 auf 31,2 % im Jahr 2005. eigenen Angehörigen und Mitgliedern des pri
vaten Netzwerks versorgt. Bei verheirateten Pfle-
gebedürftigen ist in der Regel die Ehepartnerin
Häusliche Hilfe- und Pflegearrangements bzw. der Ehepartner die Hauptpflegeperson, bei
verwitweten Personen sind es die eigenen Kinder
Beschreibt man häusliche Hilfe- und Pflegear und bei jüngeren Pflegebedürftigen ein Elternteil,
rangements nach der Art des jeweils gewählten das die Verantwortung für die Versorgung trägt
»Pflegemixes« aus privater und professioneller [3]. Im Vergleich zwischen 1991 und 2002 haben
Unterstützung, zeigt sich nach Ergebnissen einer sich zum Teil erhebliche Verschiebungen in der
Infratest-Repräsentativerhebung Folgendes: Etwa Struktur der Hauptpflegepersonen ergeben, die
zwei Drittel (64 %) aller Pflegehaushalte bauen Verantwortung für pflegebedürftige Menschen
auf rein private Arrangements und etwa ein Drit tragen (siehe Tabelle 4.2.1.1). Im Jahr 2002 waren
tel nehmen professionelle Pflege in Anspruch [3]. es vor allem (Ehe-)Partnerinnen und Partner (ins
Etwa 55 % aller Pflegebedürftigen, die zu Hause gesamt 28 %) sowie Kinder und Schwiegerkinder
versorgt werden, erhalten ausschließlich private (insgesamt 42 %), die als Hauptpflegeperson von
Hilfeleistungen aus Familie oder Bekanntschaft. pflegebedürftigen Menschen zur Verfügung stan
Gesundheit und Krankheit im Alter 197
Verfügbarkeit und Bereitschaft zur Übernahme deren Netzwerkmitgliedern zur häuslichen Hilfe,
von Pflegeverantwortung andererseits die normativen und motivationalen
Grundlagen zur Übernahme einer häuslichen
Um abzuschätzen, welche Rolle familiale und pri Pflegearbeit. Die Verfügbarkeit familialer Unter
vate Netzwerke zukünftig im Bereich Pflege spie stützungspotenziale in der Zukunft wird häufig
len werden, sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: angezweifelt. Als Begründung dafür werden der
Einerseits die Verfügbarkeit von Familien- und an- drohende Zerfall traditioneller Familienstruk
198 Gesundheit und Krankheit im Alter
turen, die abnehmenden Geburten- und Kinder zu wohnen, waren dies im Jahr 2002 nur noch
zahlen, der damit einhergehende Verlust familia etwa 65 %. Demgegenüber stieg dieser Anteil bei
ler Unterstützungsoptionen sowie das Nachlassen der ältesten Gruppe der 70- bis 85-Jährigen leicht
der Bereitschaft von Frauen benannt, in die Hel an (1996: 67 %, 2002: 70 %). Zudem muss beach
ferinnenrolle zu wechseln und dafür berufliche tet werden, dass die geografische Distanz von der
Perspektiven zu beschneiden [7]. Allerdings gilt sozialen Schicht abhängt: Je höher die Bildungs
es hier zu differenzieren, wie anhand des Unter schicht, desto größer ist die Entfernung zwischen
stützungspotenzials der intergenerationalen Be alten Eltern und erwachsenen Kindern.
ziehungen mithilfe empirischer Befunde gezeigt Bedarfsprognosen über die Zusammenset
werden kann. zung zukünftiger pflegebedürftiger Bevölkerungs
Im Vergleich mit anderen EU-Ländern zählt gruppen im Rahmen des EU-Projekts FELICIE
Deutschland zu den Ländern mit der geringsten (Future Elderly Living Conditions in Europe) zei
durchschnittlichen Haushaltsgröße [8]. Ältere gen, dass im Prognosezeitraum 2000 bis 2030
und jüngere Menschen in Deutschland leben vor allem die Zahl derjenigen pflegebedürftigen
aber in Form »multilokaler Mehrgenerationenfa Frauen steigen wird, die am wenigsten anfällig
milien« im intergenerationalen Familienverbund. für institutionelle Pflege sind: Frauen mit Part
Dies bedeutet, dass die Generationen innerhalb ner und Kind. Projiziert wird ferner, dass sich der
von Familien in der Regel zwar nicht in einem Anteil pflegebedürftiger Frauen ohne Partner und
Haushalt zusammen leben, aber eine hohe räum ohne Kind halbieren wird. Die Autorinnen und
liche Nähe zwischen den Haushalten der Genera Autoren der FELICIE-Prognose schlussfolgern,
tionen besteht und ein reger Austausch zwischen dass voraussichtlich auch in Zukunft die Familie
den Generationen gepflegt wird. Im Rahmen des die primäre »Pflegekraft« bleiben wird [10]. Al
Alterssurveys wurde die Struktur der »multiloka lerdings sollte darauf hingewiesen werden, dass
len Mehrgenerationenfamilien« empirisch unter die Bedeutung außerfamilialer Unterstützung in
sucht (siehe Tabelle 4.2.1.2). In der Regel wohnt den letzten Jahren zugenommen hat: Unter den
mindestens ein erwachsenes Kind nicht weit von Hauptpflegepersonen im Jahr 1991 gehörten etwa
dem älter gewordenen Elternteil entfernt. Auch 4 % zu der Gruppe der außerfamilialen Unterstüt
die Kontakthäufigkeit zwischen alten Eltern und zungsleistern (Freunde, Nachbarn und Bekannte),
erwachsenen Kindern ist hoch. Allerdings deu im Jahr 2002 waren es 8 % (siehe Tabelle 4.2.1.1).
ten die Daten des Alterssurveys aus den Jahren Es ist offen, ob und in welchem Umfang das wei
1996 und 2002 hier Veränderungen an. Während tere private Netzwerk weitere Aufgaben in der
im Jahr 1996 etwa 73 % der 55- bis 69-jährigen Pflege alter Menschen übernehmen wird.
Deutschen angaben, im gleichen Ort oder näher Hier stellt sich nun die Frage nach der Be
zu mindestens einem ihrer Kinder ab 16 Jahren reitschaft für die Übernahme von Pflege. Die Be-
Tabelle 4.2.1.2
Wohnentfernung zum nächstwohnenden Kind ab 16 Jahren nach Altersgruppen, 1996 und 2002
Quelle: Alterssurvey [9]
4.2.2 Belastung familialer und ehrenamtlicher Die Gesundheit der Pflegenden wird durch
Pflegepersonen die mit der Pflegesituation verbundenen körper
lichen und seelischen Anstrengungen in hohem
Die Unterstützung und Versorgung eines pflege Maß beeinflusst. Im Verhältnis zur Gesamtbe
bedürftigen Menschen ist eine sehr zeitintensive, völkerung haben pflegende Angehörige auffällig
physisch wie psychisch fordernde Aufgabe. Der mehr oder ausgeprägtere körperliche Beschwer
Zeitaufwand variiert nach Pflegestufe und dem den [12]. Der Medikamentenkonsum pflegender
Vorliegen einer kognitiven Beeinträchtigung der Angehöriger erhöht sich mit Beginn der Pflegesi
zu pflegenden Person. Während für kognitiv un tuation [24]. Dazu zählen vorwiegend Schlafmittel
beeinträchtigte Pflegebedürftige durchschnittlich (28 %), Beruhigungsmittel (40 %) und Schmerz
28, 40 bzw. 47 Stunden pro Woche für Pflege und mittel (30 %). Zwei Drittel aller pflegenden Frauen
Betreuung aufgewendet werden (Stufe 1, 2 und nehmen somatotrope (den Körper beeinflussende)
3), so beläuft sich dieser Zeitaufwand bei kognitiv Medikamente; zudem greifen Frauen häufiger zu
beeinträchtigten Personen auf 31, 44 bzw. 62 Stun Psychopharmaka als Männer [12]. Auch für die
den pro Woche [3]. Über 80 % der Hauptpflegeper Berufstätigkeit pflegender Angehöriger hat die
sonen geben an, die Betreuung und Versorgung Übernahme von Pflegetätigkeiten bedeutsame
der ihnen anvertrauten Personen sei »eher stark« Konsequenzen. Der Anteil der Erwerbstätigen ist
oder »sehr stark« belastend [3]. Die Belastungs bei pflegenden Frauen und Männern im Vergleich
faktoren und das Belastungserleben pflegender zur Gesamtbevölkerung niedriger: In der Gruppe
Angehöriger sind in einer Reihe von Studien aus der 30- bis 64-jährigen Pflegepersonen sind etwa
führlich beschrieben worden [20, 21, 22]. 34 % der Frauen erwerbstätig (Gesamtbevölke
Der Grad der Belastungen durch die Über rung 62 %) und 52 % der Männer (Gesamtbevöl
nahme häuslicher Pflege ist hoch. Pflegende kerung 85 %) [12].
Angehörige leiden in stärkerem Maß an Erschöp Welche Konsequenzen haben nun lang an
fung und Beschwerden als die Bevölkerung ins dauernde Belastungen durch Pflege und Betreu
gesamt [23]. Hauptpflegepersonen nennen als ung? Nach einer weit verbreiteten These nimmt
Belastungen am häufigsten ständiges Angebun die Wahrscheinlichkeit der Gewalt gegen Pfle-
densein, Einschränkungen in anderen Lebens gebedürftige mit der von Pflegenden erlebten
bereichen, eigene gesundheitliche Belastungen, Belastung zu [26]. Demgegenüber gibt es auch
negative Auswirkungen auf das übrige Familien Argumente dafür, dass in spezifischer Weise
leben, unausweichliche Konfrontation mit dem problematische oder deviante Pflegepersonen,
Alter und finanzielle Belastungen [24]. Insbeson die zudem oftmals von dem zu pflegenden alten
dere problematisches Verhalten einer (demenziell Menschen finanziell oder in sonstiger Weise ab
veränderten) pflegebedürftigen Person wirkt sich hängig sind, weitgehend unabhängig von erlebter
negativ auf die Befindlichkeit pflegender Ange pflegerischer Belastung bereits bestehende ag
höriger aus [21]. Pflegende Ehepartner sind dabei gressive Handlungstendenzen in der Pflegebe
einem höheren Ausmaß an Belastungen ausge ziehung ausagieren [27]. Beide Thesen schließen
setzt als Familienmitglieder in der intergenera sich nicht aus. Wahrgenommene Pflegebelastung
tiven Pflege, vor allem in Bezug auf depressive wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst,
Störungen, Erschöpfungszustände und Glieder insbesondere durch die Beziehung zum Pflegebe
schmerzen [12]. Frauen fühlen sich stärker belas dürftigen; aktuelle Pflegebeziehungen sind aber
tet als Männer. Ausdruck dafür sind ein höherer wesentlich durch die Qualität der Beziehung vor
Grad an körperlicher Erschöpfung, ausgeprägtere Eintritt der Pflegebedürftigkeit bestimmt. Dies
Rollenkonflikte und ein verändertes Selbstemp bedeutet, dass Belastung durch Pflege vor allem
finden [12]. Werden allerdings die Merkmale der dann zu einer Gefährdung des privaten Pflege
konkreten Pflegesituation berücksichtigt, wie etwa arrangements führen kann, wenn die Beziehung
Verhalten der Pflegeperson, Umfang der Pflege zwischen Pflegendem und Gepflegten schon vor
tätigkeit sowie soziale Unterstützung, reduzieren Eintritt der Pflegesituation problematisch war.
sich die Geschlechtsunterschiede durch die Pfle- Allerdings leiden pflegende Angehörige nicht
gebelastung [25]. allein unter Belastungen, sondern können auch
Gesundheit und Krankheit im Alter 201
Befriedigung, Erfüllung und Sinnerleben durch bei einer männlichen Hauptpflegeperson fast dop
ihre Unterstützungsleistungen und die Bezie pelt so hoch wie bei weiblichen [31].
hung zu der gepflegten Person erfahren. In eini Insgesamt haben an allen Hilfen, die Pfle-
gen empirischen Studien wurden neben den Be gebedürftige erhalten, professionell geleistete
lastungen durch die Übernahme von Pflege und Arbeiten nur einen geringen Anteil. Von Pflege
Betreuung auch mögliche positive Konsequenzen kräften werden 10 % der Hilfen erbracht, von an
der Pflegesituation für pflegende Angehörige un deren beruflichen Helferinnen und Helfern 3 %,
tersucht. Demnach hängen paradoxerweise das vor allem hauswirtschaftliche Hilfen [31]. Wer
von Pflegenden selbst wahrgenommene Persön eine hohe Chance hat, informelle Hilfe zu akti
lichkeitswachstum mit negativen Aspekten der vieren, wird eher dazu tendieren, Geldleistungen
Pflegesituation zusammen, wie etwa lange Pfle- zu wählen, und weniger geneigt sein, sich für
gedauer, mangelnde soziale Anerkennung und Sachleistungen zu entscheiden [31]. Mit Blick auf
großer Umfang an praktischen Pflegeaufgaben diese Ergebnisse muss resümiert werden, dass ein
[28]. Dieses Ergebnis zeigt allerdings auch, dass großer Teil aller informellen Pflegearrangements
Pflegende die von ihnen erlebten Belastungen erst einzig an zwei Punkten mit dem formellen Pflege
nach dem Einsatz von Bewältigungsverhalten po system in Berührung kommt: in Begutachtungs
sitiv interpretieren können. Wem es nicht gelingt, situationen durch die Medizinischen Dienste der
Pflegetätigkeiten mit dem eigenen Persönlich Krankenkassen und der privaten Pflegekassen
keitswachstum in Verbindung zu bringen, wird sowie bei Pflegepflichteinsätzen (§ 37 Abs. 3 SGB
unter den negativen Aspekten von Pflege leiden. XI). Bei Inanspruchnahme von Pflegegeld durch
die Pflegekasse werden sogenannte Pflegepflicht
einsätze nötig, die als Instrument der Kontrolle
4.2.3 Unterstützungsangebote für familiale und und Qualitätssicherung bei der häuslichen Pflege
ehrenamtliche Pflegepersonen sowie zur Beratung und Hilfestellung der häus
lich Pflegenden durchgeführt werden (bei Pfle-
Inanspruchnahme von Unterstützungs gestufe I und II sind diese Einsätze halbjährlich
angeboten vorgeschrieben, bei Pflegestufe III vierteljährlich).
Leider ist über Qualität (und Defizite) privat er
Die Unterstützung professioneller Dienste für brachter Pflege nur wenig bekannt.
pflegende Familien könnte in einer Vielzahl von
Bereichen stattfinden: Körperbezogene Pflege,
Wissensvermittlung, Beratung sowie Unterstüt Maßnahmen zur Unterstützung familialer
zung bei problematischen Beziehungskonstellati Netzwerke und bürgerschaftlichen Engagements
onen. Tatsächlich ist professionelle Unterstützung im Bereich Pflege
in der Regel auf folgende Tätigkeiten beschränkt:
Körper waschen, Baden, Mahlzeiten zubereiten Angesichts der vielfältigen Leistungen älterer
sowie An- und Ausziehen [29]. Den Pflegenden Menschen in Familie und privaten Netzwerken
fällt es im Allgemeinen leichter, Pflegedienste für werden im Folgenden Maßnahmen diskutiert,
Aufgaben zu engagieren, die eher medizinisch die die Potenziale familialer und privater Netz
pflegerische Kompetenz erfordern, wie z. B. Ver werke im Bereich Pflege stärken könnten. Im
bände wechseln [30]. Angebote professioneller Mittelpunkt stehen zum einen Maßnahmen, die
Pflegedienste werden insbesondere von Haushal Pflegebereitschaft und Pflegefähigkeit älter wer
ten mit höherer Pflegestufe bzw. intensivem medi dender und alter Angehöriger stützen können,
zinischen Behandlungs- und Versorgungsbedarf und zum anderen Voraussetzungen, die nachbar
und Haushalten allein lebender Pflegebedürftiger schaftliches Engagement insbesondere älter wer
ohne ständige Hauptpflegeperson in Anspruch dender und alter Menschen bei der Betreuung von
genommen. Zusätzlich ist der Umfang der Inan hilfe- und pflegebedürftigen Menschen erhöhen
spruchnahme professioneller Hilfe auch abhängig können.
vom Geschlecht der Pflegepersonen. Bei gleichem Beratung von Pflegepersonen: Die lebens
Pflegeaufwand ist die professionell erbrachte Hilfe praktische Beratung von Betroffenen und Angehö
202 Gesundheit und Krankheit im Alter
rigen sowie die Koordinierung von Angebots- und Erprobung neuer Formen der Unterstützung:
Nachfrageprozessen gewinnen zunehmend an Neben verbesserten Formen von Beratung und
Bedeutung. Die Vielzahl unterschiedlicher Bera Begleitung könnten auch neue Formen der Unter
tungs- und Betreuungsangebote macht es für alle stützung die Bereitschaft familialer und weiterer
Beteiligten schwierig, das jeweils adäquate Versor privater Pflegepersonen stärken. Hierbei könnten
gungsangebot zu ermitteln. In einer »Integrierten sich vor allem flexible Formen der Inanspruchnah
Beratung« könnte allen Beratungsbedürfnissen me von Leistungen förderlich auswirken. Zudem
nachgekommen und die zuständigen Spezialisten können weitergehende Strukturen, die Pflegeper
einbezogen werden [32]. Zu den Aufgaben solcher sonen begleitend unterstützen, zum Erhalt von
Beratungs- und Koordinationsstellen gehören, Potenzialen älterer Menschen beitragen. Hierzu
ältere und behinderte Menschen und deren An gehört beispielsweise das Case Management, das
gehörige neutral, verlässlich und qualifiziert im in der gezielten Organisation und Koordination
Büro und beim Hausbesuch zur selbstständigen von Pflege- und Unterstützungsleistungen für
Lebensführung bei Hilfe- oder Pflegebedürftig pflegebedürftige und behinderte ältere Menschen,
keit und bei der Wohnraumanpassung, bei der für Angehörige und für Helferinnen und Helfer
Vermittlung von Kurzzeitpflege oder Tagespflege aus privaten Netzwerken durch eine unabhängige
sowie bei der Aufnahme in ein Pflegeheim zu be und geschulte Fachkraft besteht [35].
raten und zu unterstützen. Förderung ehrenamtlichen Engagements:
Qualitätssicherung in privaten Pflegearrange Insbesondere zur Unterstützung der Betreuung
ments: Wird die Versorgung eines Pflegebedürf von demenziell erkrankten Pflegebedürftigen
tigen von Angehörigen durchgeführt, so gelten wäre es sinnvoll, die verschiedenen Formen von
auch für diese die Vorgaben des allgemein aner ehrenamtlich getragenem Engagement noch stär
kannten Standes der medizinisch-pflegerischen ker als bisher zu fördern. Nach den Ergebnissen
Erkenntnisse. Die Beurteilung der Pflegequalität der Erhebung von Infratest Sozialforschung neh
im Rahmen der familialen Pflege erfolgt durch men nur ca. 11 % der Pflegehaushalte freiwillig
professionelle Pflegedienste. Dies erscheint erbrachte Betreuungsleistungen, z. B. in Form von
durchaus gerechtfertigt. Nur ungefähr jede zehnte Besuchsdiensten in Anspruch [3]. Es liegt auf der
Hauptpflegeperson hat einen Pflegekurs besucht Hand, dass sich dieser Anteil noch deutlich stei
[33]. Daher sind die vom Gesetzgeber vorgeschrie gern ließe, wenn entsprechende Angebote von den
benen Pflegeberatungseinsätze von Bedeutung, Leistungserbringern der Pflege bzw. im Bereich
durch die der Qualitätsstand der familialen Pflege der offenen Altenhilfe in Zukunft noch stärker als
durch professionelle Pflegefachkräfte kontrolliert bisher verfügbar gemacht würden. Dies bedeutet
wird. aber auch, dass innerhalb von professionellen
Niedrigschwellige Angebote: Darüber hinaus Leistungserbringern Raum für Angebote bürger
erscheint es im Sinne der gewünschten Stabili schaftlichen Engagements zu schaffen sind.
sierung des familialen und netzwerkgestützten Örtliche Koordinationsstellen: Häufig ist die
Pflegepotenzials in Zukunft unbedingt geboten, Bereitschaft für Engagement vorhanden, aber es
zielgerichtet niedrigschwellige Beratungs-, Qua fehlt an Informationen, wo ein Engagement mög
lifizierungs- und Unterstützungsangebote für lich ist. Diese Aufgabe könnten örtliche Koordina
pflegende Angehörige, Nachbarn und Freunde tionsstellen erfüllen. Zu den Funktionen dieser
weiter auszubauen. Solche Angebote, wie Entlas örtlichen Koordinationsstellen, die auch Aufgaben
tungsdienste, Tagesbetreuung in Kleingruppen der Beratung von hilfe- und pflegebedürftigen
oder Einzelbetreuung durch anerkannte Helfe Menschen übernehmen könnten, gehören die
rinnen oder Helfer, Versorgung mit Mahlzeiten, Koordination zwischen unterschiedlichen Diens
Fahrdienste aber auch Freizeit-, Bewegungs- und ten und Angeboten, die angemessene Schulung
ganzheitliche Aktivierungsangebote verbessern und Fortbildung ehrenamtlicher Betreuungskräf
das Allgemeinbefinden der Betroffenen, entlasten te für das jeweilige Betreuungsangebot und die
Angehörige und Nachbarn und tragen zur Ent Organisation und Information über soziale und
spannung der Pflegesituation bei, wovon auch die kulturelle Angebote, die Mitarbeit an der Wei
Pflegedienste profitieren würden [34]. terentwicklung der Altenarbeit in der jeweiligen
Gesundheit und Krankheit im Alter 203
Kommune und die Förderung der Kooperation der realisiert werden könnten. Allerdings setzt die
Dienstleistungsanbieter [36]. Integration medizinischer Leistungen (präventive,
kurative, rehabilitative oder sonstige medizinische
Hilfs- und Unterstützungsangebote) in individu
Zukünftige Entwicklung der häuslichen Pflege: elle Versorgungspläne erhebliche Kompetenzen
Perspektiven des Pflegeweiterentwicklungs aufseiten der Pflegeberater/innen voraus sowie
gesetzes umfassende Absprachen mit medizinischen und
rehabilitativen Leistungserbringern. Pflegebera
Im Jahr 2008 trat das Pflege-Weiterentwicklungs tung kann dabei in Pflegestützpunkten stattfin-
gesetz (PfWG) in Kraft, das die Situation pflege den, wenn diese innerhalb eines Bundeslandes
bedürftiger Menschen erheblich verändern wird. eingerichtet werden.
Viele der oben genannten Maßnahmen zu Ver Die Pflegezeit gestattet Arbeitnehmer/innen,
besserung der häuslichen Pflege wurden in dem für eine begrenzte Zeitdauer eine Auszeit zu neh
Gesetz berücksichtigt. Auf drei Maßnahmen soll men oder in Teilzeit zu arbeiten, um Angehörige
an dieser Stelle eingegangen werden, da sie von zu pflegen, ohne dadurch den Arbeitsplatz zu ge
besonderer Bedeutung sowohl für pflegebedürf fährden. Pflegende Angehörige haben Anspruch
tige als auch für pflegende Menschen sind: Trans auf eine Pflegezeit von bis zu sechs Monaten, in
parenz der Pflegequalität, Pflegeberatung sowie der sie kein Gehalt erhalten, aber sozialversichert
Pflegezeit. bleiben. Wird ein Angehöriger unerwartet pflege
Mit der Pflegereform, die im Juli 2008 in bedürftig, gibt es die Möglichkeit der kurzfristigen
Kraft getreten ist, ist eine Veröffentlichung der Freistellung für bis zu zehn Tage. Ähnlich der El
Qualitätsberichte von Pflegeeinrichtungen be ternzeit für die Kindererziehung erlaubt es die
schlossen worden. Insbesondere der Medizi Pflegezeit, Zeit für familienbezogene Tätigkeiten
nische Dienst der Krankenkassen (MDK) soll in zu nehmen, und dabei durch einen Rechtsan
Zukunft regelmäßig die Qualität aller ambulanten spruch auf Wiedereinstellung den Arbeitsplatz zu
und stationären Pflegeeinrichtungen überprüfen. wahren. Zu bedenken ist allerdings, dass die Pfle-
Die Ergebnisse dieser Qualitätsprüfungen wer gezeit insbesondere von Frauen in Anspruch ge
den in Zukunft in verständlicher Weise veröffent nommen werden könnte und damit das bisherige
licht. Damit erhalten die Pflegebedürftigen und Muster der Übernahme von Pflegeverantwortung
ihre Angehörigen mehr Informationen über die stabilisieren könnte. Die zeitliche Begrenzung soll
Qualität von Pflegeheimen und ambulanten Pfle- jedoch sicherstellen, dass die Betreuung durch Fa
gediensten. Gerade, wenn es darum geht, eine milienangehörige die Betreuung durch professi
geeignete Pflegeeinrichtung zu finden, wird dies onell Pflegende oder Pflegeheime nicht ersetzt,
in die Entscheidung von betroffenen Menschen sondern dem akuten Pflege- oder Krankheitsfall
einfließen. Offen sind zum gegenwärtigen Zeit oder auch der Sterbebegleitung vorbehalten bleibt.
punkt (2008) noch verschiedene Fragen, etwa
die nach der tatsächlichen Inanspruchnahme der
veröffentlichten Informationen sowie nach den 4.2.4 Resümee
(erhofften) Auswirkungen auf die Pflegequalität
durch erhöhten Wettbewerb. Der Wandel von Verwandtschaftsstrukturen und
Eine wichtige Neuerung der Pflegereform Intergenerationenbeziehungen wird in der gesell
ist der Anspruch auf Pflegeberatung. Pflegebe schaftlichen Debatte zum Teil mit großer Sorge
ratung besteht in der Hilfestellung für Personen betrachtet. Es wird vermutet, dass die Bindungs-
mit Pflegebedarf und in der Erstellung eines Ver und Solidaritätsfähigkeit der grundlegenden
sorgungsplans, der die erforderlichen Sozialleis gesellschaftlichen Institution »Familie« sinken
tungen sowie alle relevante Hilfs- und Unterstüt könnte [37]. Häufig wird darauf hingewiesen,
zungsangebote umfasst. Dabei ist das Ergebnis dass – auf Grund geringerer Kinderzahlen und
der Begutachtung des Medizinischen Dienstes der höherer Mobilität der jüngeren Generation – die
Krankenkassen zu berücksichtigen. Dies bedeu Unterstützung älterer Menschen durch die Fami
tet, dass Elemente einer integrierten Versorgung lie in Zukunft weniger sicher sein wird. Das vor
204 Gesundheit und Krankheit im Alter
liegende Kapitel hat eindrücklich gezeigt, welche so dürften sozialpolitische Dienstleistungen nur
Leistungen familiale und private Netze bei der dort angeboten werden, wo ein familiales Netz
Pflege und Betreuung von alten und sehr alten nicht vorhanden oder zu schwach ist, um notwen
Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf erbringen. dige Leistungen zu erbringen. Allerdings ist die
Nach wie vor ist es so, dass Familien in Deutsch Substitutionshypothese keineswegs unumstritten.
land den größten »Pflegedienst” bilden [38]. Zu Vielmehr zeigen empirische Studien, dass eine
dem zeigen empirische Untersuchungen, dass starke sozialstaatliche Infrastruktur das Potenzial
im europäischen Vergleich die Bereitschaft zur von Familien für bestimmte Unterstützungsleis
intergenerationalen Unterstützung in Deutsch tungen ermöglichen kann (»Anregungsthese«)
land sehr hoch ist [39]. Allerdings muss bedacht [40, 41]. Folgt man der Anregungsthese, so sollten
werden, dass der Anteil alter und sehr alter Frauen adäquate Angebote sozialer Dienstleistungen die
und Männer, die in einer Partnerschaft leben, in Potenziale von Familien zur Unterstützung stär
Zukunft sinken wird, und dass der Anteil der Men ken. Mit geeigneten Unterstützungsmaßnahmen
schen ohne Kinder in Zukunft zunehmen wird. sollten die vorhandenen Potenziale des Alters in
Dies bedeutet, dass eine optimistische Bewertung Familie und privaten Netzwerken erhalten und
der zukünftigen Bedeutung von Familie als wich neue Potenziale in diesen Bereichen geweckt und
tiger Akteur in der Pflege alter Menschen ergänzt gestärkt werden.
werden muss um Antworten auf die Frage, wie
Potenziale privater Netze, bürgerschaftlichen En
gagements und ambulanter Dienste gebündelt Literatur
werden können, um die wahrscheinlich wach
sende Zahl von Personen ohne starke familiale 1. Hoff A, Tesch-Römer C (2007) Family relations and
aging – substantial changes since the middle of the last
Eingebundenheit im Falle von Hilfe- und Pflege century? In: Wahl HW, Tesch-Römer C, Hoff A (Hrsg)
bedürftigkeit zu unterstützen. New Dynamics in Old Age: Individual, Environmental
Gerade mit Blick auf Unterstützungsleis and Societal Perspectives. Baywood Amityville, New
tungen im Bereich von Pflege und Betreuung York, S 65 – 83
2. Kohli M, Künemund H, Motel A et al. (2000) Ge
werden älter werdende und alte Menschen häu nerationenbeziehungen. In: Kohli M, Künemund
fig als Hilfeempfangende dargestellt. Dabei wird H (Hrsg) Die zweite Lebenshälfte Gesellschaftliche
übersehen, dass es vor allem älter werdende und Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey.
alte Menschen sind, die Leistungen im Bereich Leske+Budrich, Opladen, S 176 – 211
3. Schneekloth U (2006) Entwicklungstrends beim Hil
Pflege und Betreuung alter und sehr alter Men fe- und Pflegebedarf in Privathaushalten – Ergebnisse
schen erbringen (vgl. Abschnitt 5.4.4). Aus sozial der Infratest-Repräsentativerhebung. In: Schneekloth
politischer Perspektive bilden Familien bereits U, Wahl HW (Hrsg) Selbständigkeit und Hilfebedarf
jetzt das primäre Solidaritätsnetz einer Gesell bei älteren Menschen in Privathaushalten. Kohlham
mer, Stuttgart, S 57 – 102
schaft und bleiben es voraussichtlich auch künf 4. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2007) Kurzbericht:
tig. Sozialstaatliche Leistungen sind – zumindest Pflegestatistik 2005 – Pflege im Rahmen der Pflege
in Deutschland – den familialen Hilfeleistungen versicherung – Deutschlandergebnisse. Statistisches
nachgeordnet und ergänzen sie. Das Subsidiari Bundesamt, Bonn
5. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2007) Pflegestatistik
tätsprinzip, das für viele Bereiche der Sozialpolitik 2005 – Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung,
in Deutschland grundlegend ist, hat in der Vergan Deutschlandergebnisse. Statistisches Bundesamt,
genheit dazu geführt, dass Familien eine Vielzahl Wiesbaden
von Aufgaben erfüllen, die etwa in skandinavischen 6. Schneekloth U, Leven I, Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend et al. (2003)
Ländern Institutionen, wie ambulanten Pflege Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten in
und Hauswirtschaftsdiensten (öffentlicher, frei Deutschland 2002. Schnellbericht Erste Ergebnisse
gemeinnütziger oder privater Natur), übertragen der Repräsentativerhebung im Rahmen des For
wurden. In der sozialpolitischen Diskussion wird schungsprojekts »Möglichkeiten und Grenzen einer
selbständigen Lebensführung hilfe- und pflegebedürf
häufig angenommen, dass Angebote sozialstaatli tiger Menschen in privaten Haushalten« (MuG 3). In
cher Dienstleistungen das Potenzial von Familien fratest Sozialforschung, München
zu Unterstützungsleistungen schwächen könne 7. Rosenkranz D, Schneider NF (1997) Familialer Wan
(»Substitutionsthese«). Folgt man dieser These, del und Pflege älterer Menschen. Auswirkungen der
Gesundheit und Krankheit im Alter 205
Ergebnisse der Erhebung zur Nachsorgesituation in 39. Daatland SO, Herlofson K (2003) »Lost solidarity« or
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38. Ferber Cv (1993) Pflege und Pflegebedürftigkeit – eine europäischen Vergleich. Expertise für den 7. Familien-
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ge im Dienst der Gesundheit. Deutsche Zentrale für Evidence for mixed responsibility from comparative
Volksgesundheit, Frankfurt/Main, S 9 – 21 analyses. Ageing & Society 25: 863 – 882
Gesundheit und Krankheit im Alter 207
internen Netzwerken, beispielsweise in Form von und Erfahrungen etwa über verbesserte Überlei
vernetzten Beratungsangeboten für Bürgerinnen tungsprozesse sowie mehr Transparenz von Hil
und Bürger (z. B. Wohnberatung, Prävention, Pfle- feangeboten werden aber in den Projektberichten
geberatung etc.), durch Netzwerke bürgerschaft laufender und abgeschlossener Modellvorhaben
lichen Engagements und der Selbsthilfe (z. B. benannt. Beispielhaft zu nennen sind das Projekt
Seniorenorganisationen) sowie durch informelle »VerKet« – Praxisorientierte regionale Versor
wie auch strukturierte Netzwerke der Akteurinnen gungsketten [8], »Altenhilfestrukturen der Zu
und Akteure, Berufsgruppen und Institutionen, kunft« [2], »Sektorenübergreifende Kooperation
mit ganz unterschiedlichen Fokussierungen (z. B. und Vernetzung« [11], »Synopse innovativer An
Sterbebegleitung, ärztliche Versorgung von Pfle- sätze zur vernetzten Versorgung älterer Menschen
geheimen, häusliche Versorgung Schwerkranker). in Deutschland – ProNETZ« [6] sowie die Modell
Die Vernetzung kann z. B. durch ein gemeinsames vorhaben zur Weiterentwicklung der Pflegeversi
Prozessmanagement festgelegt werden, etwa mit cherung der Spitzenverbände der Pflegekassen
hilfe von standardisierten Organisationsabläufen, (§ 8 SGB XI).
Versorgungspfaden und Verfahrensanweisungen. Um Aufgaben, Effekte sowie Hindernisse
Durch die Koordination und Kooperation der ver von Vernetzung exemplarisch darzustellen, wird
schiedenen Versorgungssektoren und Berufs im Folgenden auf drei Modellprojekte etwas ge
gruppen soll eine Verbesserung des Angebots an nauer eingegangen. Betont sei, dass es sich hier
Hilfeleistungen und der effiziente Einsatz vorhan um Beispiele handelt, die spezifische regionale
dener Angebote auf der Ebene des Versorgungs Voraussetzungen haben. Näher betrachtet wird
systems erzielt werden [2, 4, 6]. die »Koordinierungsstelle Ambulanter Angebote«
(»KAA – Pflege- und Wohnberatung«) in Ahlen,
die Teil des Modellprogramms der Spitzenverbän
Vernetzung auf der Individualebene de der Pflegekassen zur Weiterentwicklung der
Pflegeversicherung gem. § 8 Abs. 3 SGB XI (2004
Bei der Vernetzung auf der Individualebene, dem bis 2007) war, das Modellvorhaben »Sektoren
Fallmanagement oder auch Case Management, übergreifende Kooperation und Vernetzung« in
geht es um die Steuerung des Hilfeprozesses und den Regionen Bobingen und Friedberg (2000 bis
die Koordinierung, der am personenbezogenen 2006), sowie das Projekt »Home Care Nürnberg«,
Hilfeprozess beteiligten Akteurinnen, Akteure das im Rahmen des Modellprogramms »Altenhil
und Institutionen. Im Einzelfall soll der Case Ma festrukturen der Zukunft« (2000 bis 2004) geför
nager bzw. die Case Managerin eine beratende dert wurde. In diesem Modellvorhaben, initiiert
Lotsenfunktion und die systematische Hilfepro vom Bundesministerium für Familie, Senioren,
zesssteuerung übernehmen [9]. Dazu gehört Frauen und Jugend, gab es neun Projekte, die
auch, die Grenzen zwischen den Versorgungssek sich mit dem Aufbau von Netzwerkstrukturen be
toren und den unterschiedlichen Berufsgruppen schäftigten. Insgesamt umfasste es 20 Einzelpro
zu überwinden, Schnittstellenprobleme zu redu jekte, die sich, neben der Erprobung von Vernet
zieren und formelle Hilfen mit den personalen zungskonzepten, mit der engeren Verknüpfung
Ressourcen im Lebensumfeld des Betroffenen zu von Altenpflege und geriatrischer Rehabilitation,
verknüpfen. Ziel ist die am Bedarf des Einzelnen der Erprobung neuer stationärer Wohn-, Pflege-
orientierte und effiziente Zusammenstellung und und Betreuungsformen, der Verbesserung des
Koordinierung von Hilfeangeboten [9, 10]. Verbraucherschutzes in der Altenhilfe, dem stär
keren Einbezug von freiwilligen Helferinnen und
Helfern sowie der Verbesserung der häuslichen
4.3.3 Welche Erfahrungen mit Vernetzung Betreuung und Versorgung beschäftigten. Dieses
liegen vor? umfassende Modellvorhaben hatte eine impuls
gebende Wirkung auf viele Veränderungen in der
Gegenwärtig liegen in Deutschland keine gesi Altenhilfe und -pflege bis heute. Die drei hier vor
cherten wissenschaftlichen Daten zu den Effek gestellten Beispiele von Vernetzungsstrukturen
ten von Vernetzungsinitiativen vor. Erkenntnisse wurden nach Beendigung der Modellphase wei
210 Gesundheit und Krankheit im Alter
tergefördert und existieren mit teilweise abgewan gestufe 1 und 2 blieben, als die nichtberatende
delter Zielsetzung weiter. Kontrollgruppe. Allerdings sind diese Ergebnisse
nur mit Vorbehalt zu interpretieren, da nicht alle
anderen Faktoren, die neben der Beratung eine
»KAA – Pflege- und Wohnberatung« Rolle spielten, in der Untersuchung zu berück
sichtigen waren. Trotzdem gehen die Autorinnen
Bei dem Modellprojekt »KAA – Pflege- und Wohn und Autoren des Abschlussberichts von Kosten
beratung« in Ahlen ging es darum, die Beratung einsparungen und einer Refinanzierung der KAA
von älteren pflegebedürftigen Menschen sowie Wohn- und Beratungsstelle aus [12].
die Zusammenarbeit mit anderen Diensten effek
tiver und effizienter zu gestalten, insbesondere
mit dem übergeordneten Ziel, den Nutzerinnen »Sektorenübergreifende Kooperation und
und Nutzern den Verbleib in der eigenen Häus Vernetzung«
lichkeit zu ermöglichen. Die Beratungsstelle,
die seit 1993 existiert, intensivierte in der Pro Das Modellvorhaben »Sektorenübergreifende
jektlaufzeit den Kontakt mit folgenden Koope Kooperation und Vernetzung« hatte in den zwei
rationspartnerinnen und Kooperationspartnern Regionen Bobingen und Friedberg das Ziel, das
im Versorgungssystem: Pflegedienste, stationäre einrichtungs- und berufsgruppenübergreifende
Pflegeeinrichtungen, Tages- und Kurzzeitpflege, Überleitungsmanagement zu verbessern, um die
komplementäre Dienste (z. B. Hausnotdienst, Es Versorgungskontinuität und -qualität der pflege
sen auf Rädern oder Freiwilligenagenturen), Haus bedürftigen Patientinnen und Patienten zu ver
meisterdienste, Krankenhäuser, Hausärztinnen bessern [11]. Diese neuen Kooperationen sollten
und Hausärzte, Kranken- und Pflegekassen, Medi verbindlichen Charakter haben, langfristig ange
zinischer Dienst sowie Selbsthilfegruppen. Neben legt sowie auf andere Einrichtungen der Regio
der Beratung in den Bereichen Pflege und/oder nen ausdehnbar sein. In den Regionen wurden
Wohnen, wurde bei komplexeren Bedarfslagen zu diesem Zweck lokale Bündnisse eingerichtet.
auch ein weitergehendes Case Management ange Mitglieder dieses Zusammenschlusses waren
boten. Auf der Systemebene moderierte die KAA regionale Krankenhäuser, ambulante und (teil-)
auch Arbeitskreise mit Ahlener Pflegediensten stationäre Pflegeeinrichtungen, therapeutische
oder Kooperationstreffen zwischen Krankenhäu Praxen, Vertreterinnen und Vertreter der regio
sern, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, nalen Altenhilfeplanung sowie Selbsthilfegrup
Pflegediensten oder den örtlichen Pflegekassen pen. Begonnen wurde die Arbeit mit einer Be
und Sozialhilfeträgern, um eine standardisierte standsaufnahme und der gemeinsamen Analyse
Kooperation und eine verbesserte Überleitung zu der bestehenden Schnittstellen- und Versorgungs
erreichen. Besonders der Einsatz einer bedarfsge probleme in der Region. Ein Steuerungsgremium
rechten Kommunikationssoftware, die verstärk wurde eingesetzt, das die Themenschwerpunkte
te Einbeziehung der Verwaltungskraft in den und Vorgehensweisen festlegte. Weiter wurden
Beratungsprozess (Vereinbarung von Terminen, themenspezifische Arbeitsgruppen gegründet,
Angebotseinholung oder Nachverfolgung) sowie die beispielsweise Kommunikationsformulare
die Entwicklung eines Assessmentinstrumentes für die Überleitung von Patientinnen und Patien
führten zu einer Steigerung der Beratungszahlen ten oder verbindliche Überleitungsstandards
von 25 % bei gleichem Ressourceneinsatz [12]. So entwickelten. Alle Netzwerkmitglieder zeichne
wohl für die Beratungstätigkeit als auch für die ten einen Kooperationsvertrag, der die folgenden
Zusammenarbeit mit Kooperationspartnerinnen Bausteine enthielt: Einigung auf die Verbunds
und Kooperationspartnern wurden gemeinsam struktur, gemeinsame Ziele, Standards der Zu
Qualitätsstandards entwickelt, die die Arbeit über sammenarbeit und Qualitätsrichtlinien. Weiter
prüfbar machten [12]. Die Begleitforschung des wurden Behandlungs- und Versorgungspfade
Instituts für Medizinische Soziologie der Univer entwickelt. In Bobingen wurde die Behandlung
sitätsmedizin Berlin ergab, dass die Nutzerinnen und Versorgung von Patientinnen und Patienten
und Nutzer der Beratungsstelle länger in der Pfle- mit der Diagnose Schlaganfall aufeinander ab
Gesundheit und Krankheit im Alter 211
gestimmt. In Friedberg entschied man sich für und pflegerischen Bereich mit einbezogen. Der
einen Versorgungspfad für Patientinnen und Pa weitere Behandlungsprozess wird von der Koor
tienten mit Oberschenkelhalsfrakturen. Seit 2003 dinierungsstelle bei Bedarf und auf Wunsch der
arbeiten die beschriebenen Verbünde unabhängig Patientinnen und Patienten weiter begleitet. Da
von der Beratungsfirma, die mit der Initiierung neben wurde auf der regionalen Ebene ein Quali
des Modellvorhabens und dem anfänglichen tätsverbund gegründet, der eine optimale Abstim
Netzwerkmanagement betraut war. Außerdem mung der bestehenden Pflege-, Betreuungs- und
wurden die entwickelten Strukturen und Pro Beratungsangebote zum Ziel hatte. Ähnlich wie
dukte, wie beispielsweise der Überleitungsbogen, die Projekte in Friedberg und Bobingen wurden
auf zwei weitere Regionen übertragen. Bei einer Kooperationsvereinbarungen, Netzwerkkonfe
abschließenden Befragung hoben die Verbund renzen und Arbeitsgruppen als Instrumente an
partnerinnen und Verbundpartner folgende po gewendet. Hervorzuheben ist die Weiterentwick
sitive Aspekte der Vernetzung hervor: effizientere lung eines Datenbanksystems (Hilfelotse online),
Arbeitsweise, Steigerung der Qualität der Versor das alle Angebote aus der Region bündelte und
gung und Vermeidung von Versorgungslücken Professionellen und anderen Hilfesuchenden zur
[11]. Als schwierig wurde die Zusammenarbeit Verfügung gestellt wurde. Nicht realisiert wurde
mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sowie in der Projektlaufzeit die angestrebte Einführung
Therapeutinnen und Therapeuten bezeichnet [11]. von bildgestützten Kommunikationssystemen
Insgesamt dürfen diese Ergebnisse nicht zu posi (TeleCare, TeleService), dies scheiterte sowohl an
tiv bewerten werden, da bei der Abschlussbefra technischen und institutionellen Problemen als
gung von insgesamt 23 befragten Akteuren, fünf auch an Akzeptanzproblemen [2, 4]. Nach Ende
Befragte angaben, dass es keine Veränderungen der Projektlaufzeit entschied sich das »Praxisnetz
durch die Kooperation gegeben hätte und zehn Nürnberg Nord – medizinische Qualitätsgemein
Befragte sagten, dass sie dies nicht beurteilen schaft e.V.« die Koordinierungsstelle weiterzufi
könnten [11]. nanzieren, sie existiert bis heute, aber mit redu
zierter personeller Besetzung [13] und berät weiter
Hausarztpatientinnen und Hausarztpatienten auf
»Home Care Nürnberg« der Grundlage der Integrierten Versorgung nach
dem fünften Sozialgesetzbuch (§ 140 ff. SGB V).
Das Projekt »Home Care Nürnberg« hatte das Bisherige Erfahrungen aus den Modellpro
Ziel, eine Koordinierungsstelle für ein netzinter jekten zeigen, wie oben bereits angedeutet, einige
nes Case Management zu implementieren und positive Effekte durch Vernetzung im Bereich der
darüber hinaus den Aufbau eines Qualitätsver Altenhilfe und Gesundheitsversorgung. Benannt
bundes mit allen relevanten Dienstleistern zu wird das verbesserte subjektive Wohlbefinden von
gründen [12]. Die Besonderheit dieses Projektes Nutzerinnen und Nutzern [14, 15], aber auch die
ist die Trägerschaft durch das »Praxisnetz Nürn erhöhte Zufriedenheit von Mitarbeiterinnen und
berg Nord – medizinische Qualitätsgemeinschaft Mitarbeitern aus den vernetzten Institutionen [12].
e.V.« (PNN), einem fachübergreifenden Ver Weiterhin beschrieben werden die Reduzierung
bund von 170 niedergelassenen Ärztinnen und von so genannten Drehtür-Effekten (kurzfristige
Ärzten. Der Hausarzt bzw. die Hausärztin wirkt Wiedereinweisung ins Krankenhaus), die Vermin
in diesem Verbund als »Gesundheitslotse« auf der derung von Versorgungslücken und die verbes
Grundlage einer mit allen Vertragspartnerinnen serte Überleitung der Patientinnen und Patienten
und Vertragspartnern abgestimmten Verfahrens durch Informationsmanagement. Außerdem be
weise »Case Management«. Bei komplizierteren nannt werden eine verbesserte Transparenz der
Bedarfslagen schaltet der »Gesundheitslotse« Hilfeangebote, ein verbesserter Zugang zu den
die Koordinierungsstelle ein, welche ein Assess Hilfeangeboten und eine Bündelung von notwen
ment durchführt und je nach Bedarfslage einen digen Dienstleistungen. Die beteiligten Instituti
individuellen Hilfeplan anbietet. Es werden ne onen würden durch eine verbesserte Wettbewerbs
ben Hausärztinnen und Hausärzten, Expertinnen fähigkeit und einen Imagegewinn profitieren,
und Experten aus dem therapeutischen, sozialen wenn sie in regionalen Netzwerken mitarbeiten
212 Gesundheit und Krankheit im Alter
würden [4, 11]. Ökonomische Effekte wie die Erhö 4.3.4 Wie wird Vernetzung gesetzlich gesteuert?
hung von Wirtschaftlichkeit durch Synergieeffekte
und gezielten Ressourceneinsatz werden überall Gesetzliche Grundlagen für die Förderung von
in den Fachpublikationen zum Thema benannt, Vernetzung finden sich in verschiedenen Sozial
wurden aber bisher noch nicht wissenschaftlich gesetzbüchern, so z. B. dem SGB XI (Pflegeversi
abgesichert nachgewiesen [2, 4, 6]. cherung) und dem SGB V (Krankenversicherung).
Die vorangegangenen Beschreibungen von Außerdem müssen, im Rahmen der umfassenden
Erfahrungen und Effekten von Vernetzung ba Zuständigkeit für die Angelegenheiten der ört
sieren zum großen Teil auf Projektberichten. Sie lichen Gemeinschaft (Art. 28 Abs. 2 Grundge
geben wenig Auskunft über Hemmnisse und setz), die Kommunen dafür Sorge tragen, dass die
Probleme bei der koordinierten Zusammenarbeit im Verlauf des Alternsprozesses erforderlichen
von verschiedenen Berufsgruppen und Leistungs Hilfen, Dienste und Einrichtungen auf der kom
angeboten. Dies könnte zum einem an einer munalen Ebene verfügbar oder von der örtlichen
mangelnden Reflexion und Analyse der Probleme Ebene aus erreichbar sind [16].
liegen. Zum anderem könnten die erwarteten Im SGB XI wird für die Bereitstellung ei
Nachteile (wie z. B. keine Anschlussfinanzierung) ner pflegerischen Infrastruktur die gesamtge
eine Rolle spielen, wenn interne Probleme in die sellschaftliche Verantwortung herausgestellt (§ 8
Öffentlichkeit getragen oder den Geldgeberinnen Abs. 1 SGB XI). Länder, Kommunen, Pflegeein
und Geldgebern präsentiert werden [6]. Dennoch richtungen, Pflegekassen und der Medizinische
lassen sich einige Hindernisse aufzeigen. Auf der Dienst der Krankenkassen haben auf die Gewäh
institutionellen Ebene werden zum Beispiel man rung einer (...) aufeinander abgestimmten ambu
gelnde Verstetigung der entwickelten Strukturen lanten und stationären pflegerischen Versorgung
benannt, wenn keine kontinuierlichen Impulse der Bevölkerung hinzuwirken. Die Länder sind
gegeben werden und starke Konkurrenz zwischen nach § 9 Satz 1 SGB XI verantwortlich für die
regionalen Anbietern existiert. Auf der Interakti Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig
onsebene sind häufiger ein fehlendes Problembe ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen
wusstsein und mangelnde Motivation zu finden Versorgungsstruktur. Die Zuständigkeiten der
sowie die Angst vor Transparenz und Kontrolle [6]. Pflegekassen sind in § 12 SGB XI beschrieben:
Die Kommunikation zwischen einzelnen Berufs Die Pflegekassen sollen mit den Trägern der am
gruppen gestaltet sich häufig schwierig, weil nach bulanten und stationären gesundheitlichen und
unterschiedlichen disziplinären Grundannahmen sozialen Versorgung zur Koordinierung, der für
gearbeitet wird. Zwei Beispiele hierfür wären der den Pflegebedürftigen zur Verfügung stehenden
rehabilitative Bereich und die Akutmedizin. Wäh Hilfen, zusammen wirken und sicher stellen, dass
rend der rehabilitative Bereich auf die Aktivie im Einzelfall ärztliche Behandlung, Behandlungs
rung und Wiedergewinnung von Fähigkeiten und pflege, rehabilitative Maßnahmen, Grundpflege,
Funktionen abzielt, ist die Akutmedizin häufig hauswirtschaftliche Versorgung, spezialisierte
eher am Symptom orientiert [2]. Die Zusammen Palliativpflege sowie Leistungen zur Prävention
arbeit mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und zur Teilhabe nahtlos und störungsfrei in
wird häufiger als schwierig beschrieben, obwohl einander greifen. Im Rahmen des SGB XI (§ § 8,
sie für die erfolgreiche Vernetzung eine sehr wich 45c) wird seit einigen Jahren nach innovativen
tige Rolle spielt [2, 11]. Abschließend, auf der Ebe Lösungsansätzen in der Versorgung von älteren,
ne der gesetzlichen Rahmenbedingungen, werden chronisch kranken und/oder unterstützungsbe
als hindernde Faktoren mangelnde finanzielle An dürftigen Menschen sowie ihrer pflegenden An
reize und Unterstützung durch Kommunen und gehörigen gesucht, u. a. spielen Modellprojekte
Kassen genannt, die häufig eine dauerhafte Ver mit Vernetzungsansätzen eine große Rolle. Die
netzung verhinderten [6]. im vorangegangenen Abschnitt beschriebene
»Koordinierungsstelle Ambulanter Angebote«
(KAA – Pflege- und Wohnberatung) in Ahlen ist
ein Beispiel für das Modellprogramms der Spit
zenverbände der Pflegekassen zur Weiterentwick
Gesundheit und Krankheit im Alter 213
lung der Pflegeversicherung gem. § 8 Abs. 3 SGB Entlassungssituationen aus dem Krankenhaus
XI. gebracht (§ 11 SGB V). Durch ein verpflichtendes
Die individuelle Hilfeprozesssteuerung, das Entlassungsmanagement sollen die Krankenhäu
Case oder Fallmanagement war im bisherigen ser den nahtlosen Übergang von der Kranken
für die Pflege relevanten Recht nur ansatzweise hausbehandlung in die ambulante Versorgung,
geregelt. Case Management Ansätze im Bereich zur Rehabilitation oder Pflege gewährleisten [17].
Pflege und Behinderung (SGB XI) werden al Auf der Grundlagen des SGB V bilden sich
lerdings an verschiedenen Stellen im Sozialleis derzeit im Rahmen von Modellverträgen (§§ 63 – 65
tungsrecht erwähnt oder vorausgesetzt. Im Rah SGB V), Strukturverträgen (§ 73 a SGB V) und der
men des SGB XI, der Experimentierklausel gem. Integrierten Versorgung (140 a – h SGB V und
§ 8 Abs. 3 SGB XI zur Weiterentwicklung der Pfle- § 92 b SGB XI) unterschiedliche regionale und
geversicherung, werden Case Management Ansät kommunale Netzwerke bzw. Verbünde (für un
ze erprobt. Im § 45 a ff. SGB XI können bestimmte terschiedliche Zielgruppen, z. B. chronisch Kran
Pflegebedürftigengruppen (wie demenzerkrankte ke, Pflegebedürftige, Patientinnen und Patienten
Menschen) zusätzliche Betreuungsleistungen er mit bestimmten Erkrankungen). Ein Beispiel für
halten. Außerdem müssen durch dieses Gesetz eine Vernetzungsinitiative auf der Basis der Inte
Personal- und Sachkosten bereitgestellt werden, grierten Versorgung ist das oben skizzierte Projekt
um die Betreuung zu koordinieren, zu organisie »Home Care Nürnberg«.
ren und das Personal zu schulen, auch hier könnte Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbe
dazu Case Management eingesetzt werden. Dies werbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung
betrifft aber nur Personen, die bereits als pflegebe (GKV-WSG), § 140 a ff. SGB V von 2007 – können
dürftig eingestuft worden sind sowie Versicherte Versorgungs- und Kooperationsverträge nicht nur
mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf. wie bisher zwischen Krankenhäusern und nieder
Aktuell bekommt die »Vernetzungsidee« in gelassenen Ärztinnen und Ärzten ausgehandelt
der Pflegereform 2008 einen zentralen Stellen werden, sondern auch unter Einbeziehung von
wert in der (sozialrechtlichen) Gestaltung der Pfle- Pflegediensten oder professionellen Pflegekräf
gelandschaft [17]. Über von den Ländern initiierte ten. Damit wird ein Ansatz vorgenommen, bis
Pflegestützpunkte (§ 92 c SGB XI) soll die Mög her getrennte Leistungsbereiche miteinander zu
lichkeit geschaffen werden, etwa die Leistungs verzahnen.
ansprüche an die Pflegeversicherung und an die Diese noch unvollständige Auflistung zeigt,
gesetzliche Krankenversicherung besser als bisher dass die Verantwortlichkeiten für die Umsetzung
zu verwirklichen und darüber hinaus eine umfas von Vernetzung bisweilen weitestgehend unscharf
sende und aufeinander abgestimmte Beratung, geregelt ist, so dass die Initiierung und Umset
Unterstützung und Begleitung anzubieten. Die zung von Vernetzung derzeit vor allem abhängig
Pflegestützpunkte sollen an bereits bestehende von der Initiative einzelner Akteurinnen und Ak
Strukturen anknüpfen. Dort angesiedelte Pflege teure des regionalen/lokalen Versorgungssystems
beraterinnen und -berater (§ 7 SGB XI) sollen die ist.
Aufgabe haben, im Sinne eines umfassenden
individuellen Fallmanagements, den Hilfebedarf
von Menschen, die bereits eine Pflegestufe haben, 4.3.5 Welche Zukunft hat Vernetzung?
systematisch zu erfassen und zu analysieren sowie
die Umsetzung des Hilfeprozesses zu begleiten Die demografischen und gesellschaftlichen Ver
[17]. Der Abbau von Schnittstellenproblemen wird änderungen beschreiben zentrale Herausforde
vom Gesetzgeber auch durch eine verbesserte rungen für zukünftige Versorgungsstrukturen im
Kooperation von stationären Pflegeeinrichtungen Bereich der Altenhilfe: Die Verknüpfung vorhan
mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte ange dener Potenziale und Ressourcen professioneller
strebt. Künftig können Pflegeheime eine Heim und informeller Hilfeangebote wird künftig noch
ärztin bzw. einen Heimarzt beschäftigen (§ 119 mehr als bisher an Bedeutung gewinnen, um
SGB V). Ebenso hat die Pflegereform 2008 Ver eine individuell bedarfsgerechte Versorgung zu
besserungen für Patientinnen und Patienten bei ermöglichen und die Mittel effizient einzusetzen.
214 Gesundheit und Krankheit im Alter
geboten (Integrierter Abschlussbericht). München, erung in der Sozialen Arbeit. Wolters Kluwer Deutsch
S 171 – 202 land GmbH, München, S 185 – 200
14. Schmidt M, Schu M (2006) Forschung zu Case 16. Klie T, Guerra V (2003) Expertise zu den rechtlichen
Management: Stand und Perspektiven. In: Wendt und finanziellen Rahmenbedingungen der Pflege – Im
WR, Löcherbach P (Hrsg) Case Management in der Auftrag der Enquete- Kommission »Situationen und
Entwicklung – Stand und Perspektiven in der Praxis. Zukunft der Pflege in NRW« des Landtages Nordrhein-
Economica Verlag, München, S 285 – 298 Westfalen. Freiburg
15. Wissert M (2005) Case Management mit alten pflege 17. Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages (2008)
bedürftigen Menschen – Lehren aus einem Modellver Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pfle-
such. In: Löcherbach P, Klug W, Rummel-Faßbender R geversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz).
et al. (Hrsg) Case Management – Fall- und Systemsteu Bundesrat: Drucksache 210/08 vom 04.04.2008
216 Gesundheit und Krankheit im Alter
Die Nachfrage nach Gesundheitsgütern und sundheit (BMG) haben binnen eines Jahres seit
-leistungen wird weiter steigen, nicht nur weil die dem Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstär
Menschen älter werden und viele Krankheiten und kungsgesetzes rund 115.000 Versicherte wieder
gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine mit einen Krankenversicherungsschutz in der GKV
dem Alter höhere Wahrscheinlichkeit von Chro gefunden [1]. Ehemals Privatversicherte, die ihren
nifizierung und Multimorbidität aufweisen. Sie Schutz verloren haben, weil sie die Beiträge nicht
wird auch steigen, weil sich durch den Fortschritt mehr bezahlen konnten, können ab dem 1. Juli
im Gesundheitswesen die diagnostischen und 2007 in den modifizierten Standardtarif ihrer letz
therapeutischen Möglichkeiten erweitern. Zudem ten Privatversicherung zurückkehren. Diese sind
scheint mit einem höheren Gesundheitsbewusst verpflichtet, sie wieder aufzunehmen [2]. Wohlha
sein die Bereitschaft zu steigen, sich über die Ab benden, die bisher freiwillig auf eine Versicherung
sicherung im Rahmen der Krankenversicherung verzichtet haben, bleibt es überlassen, in welchem
hinaus, mit Gesundheitsgütern und -leistungen Umfang sie sich versichern.
zu versorgen. Mit den Bedarfsänderungen sind Das Solidaritätsprinzip bestimmt als tra
vor allem für das Gesundheitswesen vielfältige gendes Prinzip die Funktionsweise der GKV. Ihre
Herausforderungen verbunden, von denen hier Mitglieder sollen füreinander einstehen: Junge
vor allem die ökonomischen interessieren. Die Be Menschen für Alte, Reiche für Arme, Gesunde für
darfsänderungen eröffnen aber auch Chancen für Kranke und Kinderlose für Familien. Jedes Mit
diesen wichtigen Wirtschaftszweig. glied soll dabei soviel von der Versichertengemein
schaft erhalten, wie es benötigt (Bedarfsprinzip),
und soviel beitragen, wie seine wirtschaftliche
5.1.1 Grundprinzipien des Solidarsystems Leistungsfähigkeit zulässt (Leistungsfähigkeits
in der Krankenversicherung prinzip). Allen gesetzlich Krankenversicherten
steht, mit Ausnahme des Krankengeldes, unab
Prägend für die Entwicklung des Gesundheits hängig von der Höhe ihrer Beitragszahlungen
systems in Deutschland war die Einführung der ein gleiches Leistungsangebot zu. Der Versi
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch cherungsschutz kann durch den Abschluss pri
die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung im Jahr vater Zusatzversicherungen individuell erweitert
1883. Noch heute wird die GKV als das Herzstück werden. Damit leistet die GKV einen wichtigen
des deutschen Sozialstaates bezeichnet. In ihr Ausgleich zwischen den gesetzlich krankenver
waren nach den Ergebnissen des Mikrozensus sicherten Personengruppen. Die Solidargemein
aufgrund eigener Angaben im Jahr 2007 knapp schaft ist allerdings unvollständig. Bevölkerungs
88 % der Bevölkerung versichert, in der privaten gruppen mit einem Jahresarbeitsentgelt über der
Krankenversicherung (PKV) knapp 11 %. Nicht Versicherungspflichtgrenze, Selbständige sowie
krankenversichert und ohne sonstigen Anspruch Beamtinnen und Beamte können sich dem so
auf Krankenversorgung waren nach eigenen An lidarischen Ausgleich beispielsweise durch eine
gaben im Jahr 2007 rund 196.000 Menschen in private Krankenversicherung entziehen. Die Bei
Deutschland, gut 0,2 % der Bevölkerung. Der Rest tragsbemessungsgrenze befreit Einkommen, die
gab an, ausschließlich einen sonstigen Anspruch darüber liegen, von der Solidarität, weil für diese
auf Krankenversorgung zu haben (0,5 %; hierzu Teile des Einkommens keine Beiträge zu zahlen
können beispielsweise Beamtinnen und Beamte sind. Auch die Zuzahlungen weichen vom Soli
zählen) beziehungsweise machte keine Angaben darprinzip ab, weil sie einseitig bis zu bestimmten
zum Vorhandensein einer Krankenversicherung. Belastungsgrenzen von den Patientinnen und Pa
Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des tienten geleistet werden müssen. Die Mehrheit
Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenver der Bundesbürgerinnen und -bürger befürwortet
sicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz) das Solidarprinzip dennoch und will es beibehal
am 1. April 2007 besteht für zuletzt gesetzlich ten. Jüngere unterscheiden sich in ihrer Haltung
Versicherte und für prinzipiell der GKV zuzu dabei nur geringfügig von Älteren [3]. Mit dem
ordnende Menschen eine Versicherungspflicht. Einstieg in eine Teilfinanzierung von gesamtge
Nach Angaben des Bundesministeriums für Ge sellschaftlichen Aufgaben der GKV aus dem Bun
218 Gesundheit und Krankheit im Alter
als Prozentsatz, der dem Beitragssatz von ihrem überdurchschnittliche Aufwendungen u. a. für die
Erwerbseinkommen entspricht. Die einbezahlten stationäre Versorgung oder Arzneimittelversor
Beiträge werden unmittelbar für die Finanzierung gung ausgeglichen. Der Risikostrukturausgleich
der erbrachten Leistungen heranzogen. Im Um basiert damit auf indirekten Morbiditätsmerkma
lageverfahren wird insofern davon ausgegangen, len. Da er nicht zwischen gesund und krank un
dass sich Einnahmen und Ausgaben analog ent terscheidet und damit den Gesundheitszustand
wickeln. Diese Finanzierungsform führt jedoch und den Versorgungsbedarf der Versicherten nur
bei schwachem Wirtschaftswachstum, hoher Ar unzureichend berücksichtigt, wird eine Risiko
beitslosigkeit und sich wandelnden Arbeitsver selektion nur unzureichend verhindert. Ab dem
hältnissen zwangsläufig zu Einnahmeausfällen. Jahr 2009 sollen daher entsprechend der Rege
Zusätzlich geht die Lohnquote, die den Anteil der lungen im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz
Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit am überdurchschnittliche Leistungsausgaben für
Volkseinkommen definiert, in Deutschland insge 50 bis 80 schwerwiegende und kosteninten
samt zurück. Demgegenüber gewinnt der Anteil sive chronische Krankheiten über Zuschläge zu
der Einkommen u. a. aus Zins- und Kapitalein der aus dem Gesundheitsfonds resultierenden
künften, der nicht zur Finanzierung der GKV he Grundpauschale berücksichtigt werden [8]. Auch
rangezogen wird, in einer alternden Gesellschaft dann werden grundsätzliche Unterschiede zu
an Bedeutung. Für den Beitragszahler macht dem in der PKV praktizierten Äquivalenzprinzip
sich die Einkommensabhängigkeit der GKV- bestehen, das den Grundsatz des Gleichgewichts
Beiträge bei rückläufigen Einkommen, z. B. im von Versicherungsleistung und Beiträgen im
Alter, positiv bemerkbar. Die GKV stellt dies vor Rahmen des übernommenen Risikos verfolgt.
zunehmende Finanzierungsprobleme, die umso Die Beitragshöhe in der PKV wird neben dem
schwerer wiegen, als die GKV keinen Kapitalstock Leistungsumfang durch individuelle Risikomerk
aufbauen darf, um die demografisch bedingt stei male wie Alter, Geschlecht und Gesundheitszu
genden Ausgaben und die demografisch bedingt stand bestimmt.
zurückgehenden Einnahmen abzufedern. Die Einführung des Wettbewerbs ist bei den
Durch das im Jahr 1996 eingeführte Recht Kassen nicht ohne Wirkung geblieben. Die Zahl
für alle gesetzlich Versicherten, ihre Krankenkas der Krankenkassen war in den letzten Jahren ins
se innerhalb der GKV frei zu wählen, konkurrie besondere bei den Allgemeinen Ortskrankenkas
ren die Kassen um Mitglieder und Marktanteile. sen deutlich rückläufig. Von 1.209 Krankenkassen
Voraussetzung für die Ausweitung des Kassen in Deutschland Anfang des Jahres 1991 waren im
wahlrechts war, dem grundsätzlichen wirtschaft April 2008 noch 218 Kassen am Versicherungs
lichen Anreiz für die Kassen, Risiken zu selek markt tätig [9]. Durch das GKV-Wettbewerbsstär
tieren und insbesondere gut verdienende, junge kungsgesetz wurden weitere Wettbewerbsimpulse
und gesunde Versicherte anzuwerben, entgegen gesetzt. So soll u. a. der Wettbewerb der Leistungs
zuwirken. Bereits Anfang 1994 wurde daher der erbringerinnen und Leistungserbringer durch
Risikostrukturausgleich in der GKV eingeführt. größere Vertragsfreiheiten der Krankenkassen
Über den Risikostrukturausgleich sollen die fi verstärkt werden und die Kassen erweiterte Ver
nanziellen Auswirkungen der von den Kranken tragsmöglichkeiten für besondere Versorgungsan
kassen nicht beeinflussbaren Unterschiede ausge gebote oder weitgehende Gestaltungsfreiheit bei
glichen werden. Als Maßstab dienen die Höhe der den Tarifen erhalten [10].
beitragspflichtigen Einnahmen, die Zahl der bei
tragsfrei mitversicherten Familienangehörigen,
Geschlecht und Alter der Versicherten sowie der 5.1.2 Versicherungsschutz alter Menschen
Bezug einer Erwerbsminderungsrente. Seit dem
Jahr 2001 werden Krankenkassen, die ihren Ver Der Versicherungsschutz alter Menschen gegen
sicherten strukturierte Behandlungsprogramme finanzielle Risiken im Krankheitsfall ist grund
(so genannte Disease Managament Programme – sätzlich mit dem junger Menschen vergleichbar.
DMP) anbieten, über den Risikostrukturausgleich Der größte Teil der ab 65-jährigen deutschen
gefördert. Seit dem Jahr 2002 werden über ihn Wohnbevölkerung ist umfassend gegen finan
220 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 5.1.2.1
Bevölkerung im Jahr 2007 nach Krankenversicherungsschutz und Alter
Quelle: Mikrozensus 2007
Bevölkerung
82,3 Mio.
87 % 11 % 2% 91 % 8% 1%
zielle Risiken im Krankheitsfall in einer gesetz spiegelt den demografischen Wandel der Bevöl
lichen, privaten oder sonstigen Krankenversiche kerung in Deutschland wider. Grund für die deut
rung abgesichert. licheren Veränderungen der Versichertenzahlen
Die verschiedenen Versicherungszweige und 2002 gegenüber 2001 war die Erleichterung der
Kassenarten sind für alte und junge Menschen Zugangsbedingungen zur KVdR-Pflichtversiche
jedoch unterschiedlich bedeutsam. Die GKV ist rung. Durch sie wurden die meisten bislang frei
für ältere Menschen der bei weitem wichtigste Si willig versicherten Rentner ab dem 1. April 2002
cherungszweig. In ihr waren im Jahr 2007 rund Pflichtmitglieder in der meist preisgünstigeren
91 % der ab 65-Jährigen versichert (siehe Abbil KVdR.
dung 5.1.2.1). Auch die große Mehrheit der unter Die Rentenbezieherinnen und Rentenbe
65-Jährigen war GKV-versichert, mit 87 % jedoch zieher sind in der KVdR entweder pflicht- oder
nicht ganz so ausgeprägt wie die alten Menschen. freiwillig krankenversichert. Familienversicherte
Die veränderte Erwerbsbeteiligung der Frauen bleiben unter bestimmten Voraussetzungen auch
und der Wandel in den privaten Lebensformen als Rentnerinnen und Rentner beitragsfrei kran
haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Damit kenversichert. Pflichtversichert in der KVdR ist,
dürfte die GKV für die Absicherung finanzieller wer eine Rente der gesetzlichen Rentenversiche
Risiken im Krankheitsfall alter Menschen künftig rung erhält beziehungsweise beantragt hat und
eine geringere Bedeutung haben als gegenwärtig. bestimmte Vorversicherungszeiten in der GKV
Mit 14 Millionen Versicherten gehörte die erfüllt. Erhält eine Rentnerin oder ein Rentner
Mehrheit der 15 Millionen GKV-Versicherten im mehrere Renten (beispielsweise eine Altersrente
Alter ab 65 Jahren (Stichtag: 1. Juli 2007) der und daneben noch eine Witwen- oder Witwerren
Krankenversicherung der Rentner (KVdR) an. te) werden Beiträge zur Krankenversicherung aus
Die KVdR gewährleistet den gesetzlichen Kran jeder Rente erhoben. Auch Versorgungsbezüge
kenversicherungsschutz für die Rentenbeziehe (z. B. Betriebsrenten) und Arbeitseinkommen sind
rinnen und Rentenbezieher und wird von den beitragspflichtig für die KVdR. Der Beitragssatz in
gesetzlichen Krankenkassen durchgeführt. Die der KVdR orientiert sich am allgemeinen Beitrags
Versichertenzahl der KVdR ist in den Jahren 1993 satz der jeweiligen Krankenkasse. Während sich
bis 2007 um 14 % (+2 Millionen Personen) ange der Rentenversicherungsträger an der Hälfte des
stiegen, während die Versichertenzahl in der all Krankenversicherungsbeitrags beteiligt, tragen
gemeinen Krankenversicherung im gleichen Zeit die Rentnerinnen und Rentner den Krankenver
raum um 7 % (-4 Millionen Personen) gesunken sicherungsbeitrag auf ihre Versorgungsbezüge
ist (siehe Abbildung 5.1.2.2). Diese Entwicklung und den zusätzlichen Beitrag zur Krankenversi
Gesundheit und Krankheit im Alter 221
Abbildung 5.1.2.2
Entwicklung der Versichertenzahlen in der gesetzlichen Krankenversicherung 1994 bis 2007
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit, GKV-Statistik KM1
Angabe in Mio.
60
50
40
Allgemeine
30
Krankenversicherung
Krankenversicherung
20 der Rentner
10
1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
Jahr
cherung in Höhe von 0,9 % allein. Die Beitragsbe oder Geistliche, Bezieherinnen und Bezieher
messungsgrenze der Krankenversicherung betrug eines Ruhegehalts (Pension), Versicherte, die
im Jahr 2007 3.562,50 Euro monatlich [11]. wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienst
Freiwillig versicherte Rentnerinnen und grenze der GKV krankenversicherungsfrei sind,
Rentner bezahlen Beiträge aus allen Einkünften oder auch Versicherte, die hauptsächlich selbstän
(Rente, Versorgungsbezüge, Arbeitseinkommen, dig erwerbstätig sind [11].
Mieten, Pacht, private Lebensversicherungen, Eine Krankheitskostenvollversicherung in der
Kapitelerträge). Für sie gilt der allgemeine Bei PKV hatten im Jahr 2006 insgesamt über 8 Mil
tragssatz der Krankenkasse, jedoch höchstens lionen Menschen in Deutschland abgeschlossen.
bis zur Beitragsbemessungsgrenze [11]. Seit April Die Zahl der privaten Zusatzversicherungen lag
2002 werden freiwillig gesetzlich Krankenversi bei rund 18 Millionen. Dabei ist es möglich, dass
cherte, die in Rente gehen, in der Regel wieder darunter Personen mit mehreren Zusatzversiche
als pflichtversichert eingestuft, nachdem das Bun rungen sind [13]. Alte Menschen sind seltener pri
desverfassungsgericht die seit 1993 geltende Zu vat krankenversichert als Junge. Bei den ab 65-Jäh
gangsregelung zur KVdR beanstandet hatte [12]. rigen waren es nach Angaben des Mikrozensus
Möglichkeiten des Kassenwechsels zur Wahl der im Jahr 2007 rund 8 %, bei den unter 65-Jährigen
jeweils günstigsten Krankenkasse bestehen auch 12 %.
für die Rentnerinnen und Rentner. Dabei spielt Durch die risiko- und altersabhängigen Bei
in der GKV im Gegensatz zur PKV das individu träge wird der Wechsel in eine PKV für ältere Men
elle Gesundheitsrisiko wie z. B. Vorerkrankungen schen zunehmend unattraktiv. Zudem gilt der
(noch) keine Rolle. Grundsatz der individuellen Versicherung. Für
Von der KVdR ausgeschlossen sind die Beam jede Person ist ein eigener Versicherungsvertrag
tinnen und Beamte und andere versicherungsfreie mit eigenem Beitrag und der Möglichkeit eines
Personen wie beispielsweise Richterinnen und individuell bestimmten Versicherungsschutzes
Richter, Berufssoldatinnen und Berufssoldaten abzuschließen.
222 Gesundheit und Krankheit im Alter
Jüngere Generationen tragen in der PKV sundheitszustand geleistet. Für Kinder und nicht
prinzipiell auch nicht zur Finanzierung der Ver erwerbstätige Ehepartnerinnen und Ehepartner
sorgungsleistungen älterer Versicherter bei. Da werden keine Beiträge erhoben. Die Beiträge wer
alte Menschen häufiger auf ärztliche Hilfe ange den grundsätzlich paritätisch finanziert – Arbeit
wiesen sind, sind die privaten Krankenversicherer nehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeit
verpflichtet, aus eigens kalkulierten Prämienbe geberinnen und Arbeitgeber bzw. Trägerinnen
standteilen Altersrückstellungen zu bilden. Dafür und Träger der Lohnersatzleistungen (Rente, Ar
werden in jüngeren Jahren höhere Beitragssätze beitslosengeld) teilen sich die Beitragszahlungen
erhoben, als es den altersbedingten Gesundheits zu gleichen Teilen. Im Jahr 2007 lag der durch
ausgaben entspricht. Diese Beitragsteile werden schnittliche monatliche Beitragssatz zur GKV bei
angelegt, um damit Beitragserhöhungen im Alter 13,9 %, im Jahr 1990 hatte er noch 12,6 % betra
zu begrenzen. Die Zeit zum Sparen ist umso ge gen. Ursachen des Beitragssatzanstieges sind auch
ringer, je älter die Menschen in eine PKV eintreten in den Einnahmeausfällen der GKV durch die
und wird durch entsprechend höhere Beiträge aus steigende Arbeitslosigkeit, stagnierende Renten,
geglichen. Als weitere Maßnahme zur Entlastung eine rückläufige Lohnquote und der Mittelentzug
der Beiträge im Alter müssen die Versicherer seit zugunsten anderer Sozialversicherungszweige
dem Jahr 2000 eine weitere Sicherheitsreserve zu suchen [15]. Durch die Erhöhung von Zuzah
anlegen. Alle Neukundinnen und Neukunden im lungen, Budgetierung der Ausgaben und Strei
Alter ab dem 22. Lebensjahr und bis zum 61. Le chung von Zuschüssen konnte das Wachstum des
bensjahr müssen dafür einen Zuschlag von 10 % Beitragssatzes gebremst werden. Am 1. Juli 2005
auf ihren Beitrag zahlen [13]. Neben dem Alters mussten die Kassen ihre Beitragssätze um 0,9
faktor wirken sich auch die medizinischen und Prozentpunkte senken, damit Unternehmen und
technischen Fortschritte auf die Gesundheitsaus Rentenkassen entlastet werden. Die Versicherten
gaben der Krankenversicherer aus. Die Versiche wurden in gleicher Größenordnung belastet. Sie
rungsgesellschaften legen auch damit verbundene beteiligen sich außerdem durch Zuzahlungen zu
Kostensteigerungen auf ihre Kunden um. Kuren, Medikamenten oder auch Zahnersatz an
Wer seine Beiträge beispielsweise im Alter den Kosten der medizinischen Versorgung. Seit
nicht mehr bezahlen kann, hat die Möglichkeit, in 1. Januar 2004 wird zudem eine Praxisgebühr von
den Standardtarif der PKV zu wechseln. Älteren zehn Euro beim ersten Besuch einer Arzt- oder
Kunden werden in diesem Tarif die Leistungen Zahnarztpraxis pro Quartal erhoben. Vorsorgeun
der GKV garantiert. Die Beitragshöhe ist abhän tersuchungen wie die Untersuchungen zur Früh
gig von der Vorversicherungszeit und dem Alter erkennung von Krebs, Schwangerenvorsorge, der
der bzw. des Versicherten, darf aber für Einzel Gesundheits-Check-up, die Untersuchungen zur
personen den durchschnittlichen Höchstbeitrag Zahnvorsorge und Schutzimpfungen sind von
gesetzlicher Kassen nicht übersteigen [14]. der Praxisgebühr befreit. Mit den in den letzten
Jahren gestiegenen Ausgaben, die gesetzlich Kran
kenversicherte für ihre Gesundheit selbst tragen
5.1.3 Generationensolidarität müssen, soll die Eigenverantwortung der bzw. des
Einzelnen für ihre bzw. seine Gesundheit gestärkt
Die Ausgaben im Gesundheitswesen werden zum werden. Mehr Eigenverantwortung soll nach den
überwiegenden Teil durch Beitragseinnahmen fi Vorstellungen des Gesetzgebers eine Verhaltens
nanziert. Sie speisen sich in der GKV durch So änderung der Versicherten bei der Inanspruch
zialabgaben, in der PKV durch Prämieneinnah nahme von Gesundheitsleistungen bewirken.
men. Die genaue Höhe der Beiträge richtet sich Zuzahlungen und Praxisgebühr tragen darüber
bei der GKV nach dem Beitragssatz der jeweiligen hinaus vor allem auch zur Konsolidierung der
Krankenkasse. GKV-Finanzen bei. Insgesamt müssen die GKV-
Nach dem Solidarprinzip werden Beitrags Versicherten für Zuzahlungen maximal 2 % ihres
zahlungen zur GKV nach der wirtschaftlichen Jahresbruttoeinkommens aufwenden, chronisch
Leistungsfähigkeit der Mitglieder unabhängig Kranke maximal 1 % [16]. Durch die am 1. Januar
vom Alter, Geschlecht oder individuellen Ge 2008 in Kraft getretene neue Chroniker-Richt
Gesundheit und Krankheit im Alter 223
nahmen und Leistungsausgaben beeinflusst, stellt einem Betrag von rund 25 % des Bruttoinlands
ein umlagefinanziertes Sozialversicherungssys produkts (BIP) bei künftigen Generationen im
tem wie die GKV, in dem mehr als jede bzw. plizit verschuldet [22]. Die Berechnungen zeigen
jeder vierte Versicherte als Familienangehörige auch, dass selbst der Übergang von der derzei
bzw. Familienangehöriger beitragsfrei versichert tigen Lohnbeitragsfinanzierung zu kapitalge
ist, vor große Herausforderungen. Die Anzahl deckten Prämien bei gleichem angenommenen
älterer Versicherter, die durch ein höheres Er Leistungsniveau die Schuld, die eine Generation
krankungsrisiko im Durchschnitt ein ungüns der anderen hinterlässt nur teilweise abgebaut
tigeres Verhältnis von Beitragseinnahmen und werden kann [22].
Leistungsausgaben aufweisen als jüngere, steigt Mit einer generationengerechten Gesund
an, während die Anzahl jüngerer Versicherter mit heitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren
einem im Durchschnitt günstigeren Verhältnis Lebens beschäftigt sich auch der Sachverstän
von Beitragseinnahmen und Leistungsausgaben digenrat für die Begutachtung der Entwicklung
zurückgeht. Hinzu kommt, dass auch die Zahl der im Gesundheitswesen. Bis zum Frühjahr 2009
besser zahlenden freiwilligen GKV-Versicherten soll er auf Bitte des BMG konkrete Empfehlungen
in den letzten Jahren deutlich rückläufig war, zum Umbau des Gesundheitswesens in einer äl
während die Zahl der GKV-Pflichtmitglieder ohne ter werdenden Gesellschaft geben und dabei die
Rentnerinnen und Rentner leicht angestiegen ist. besonderen Bedürfnisse junger Menschen be
Der demografische Wandel wirkt damit zugleich rücksichtigen [23]. Dabei wird auch abzuwägen
auf die Einnahmenseite und die Ausgabenseite sein, welche Leistungen solidarisch und welche
der GKV. Expertinnen und Experten gehen von ei eigenverantwortlich finanziert werden sollen und
ner Schwächung der Einnahmebasis der GKV im anhand welcher Parameter die Effizienz der Ver
demografischen Wandel durch die Kopplung der sorgung und die Qualität der Leistungserbringung
Beiträge an die Entwicklung der Beschäftigungs-, im Gesundheitswesen gemessen und verglichen
Lohn- und Rentenentwicklung aus [21]. Auch werden sollen.
das Ausgabenvolumen wird ihrer Meinung nach
weiter steigen, da ein verbesserter Gesundheits
zustand bzw. ein Hinausschieben bestimmter 5.1.4 Finanzbedarf und Finanzkraft
Erkrankungen in spätere Lebensjahre den er
höhten Bedarf einer steigenden Zahl alter Men Die sich ungünstiger gestaltenden Finanzierungs
schen nicht zu kompensieren vermag [21]. Diese bedingungen im Gesundheitswesen haben zu ei
Einnahmen-Ausgaben-Problematik wird auch als ner stärker gesundheitsökonomischen Sichtweise
Demografiefalle des Gesundheitssystems bezeich beigetragen [7]. Zusätzliche Impulse gehen vom
net. Die sich öffnende Schere zwischen Ausgaben öffentlichen Interesse aus, die eingesetzten Mittel
und Einnahmen stellt das eigentliche Problem im Verhältnis zur erzielten Leistungs- und Ergeb
der GKV dar, dem verschiedene Regierungen mit nisqualität transparent zu machen. Die gesund
einer Reihe von Reformen seit Ende der 1970er heitsökonomische Sichtweise dürfte daher künftig
Jahre entgegengewirkt haben. Die gesundheitspo weiter an Bedeutung gewinnen, zumal die Diskus
litischen Eingriffe konnten die Aufwärtsdynamik sion um die Finanzierung des Gesundheitswesens
der Gesundheitsausgaben jedoch nur zeitweise auch nach der Verabschiedung des GKV-Wettbe
unterbrechen. Der Beschäftigungsrückgang und werbstärkungsgesetzes 2007 weitergeht [20].
die hohe Arbeitslosigkeit infolge des schwachen Analysen zum Finanzbedarf und Finanz
Wirtschaftswachstums der letzten Jahre sorgten kraft stellen die Finanzierungsbedingungen des
für zusätzliche Einnahmeausfälle in der GKV. Gesundheitswesens in einen umfassenderen
Nach Berechnungen von Felder und Fetzer Kontext der Volkswirtschaft. Unter dem Finanz
zur Entlastungswirkung der Gesundheitsreform bedarf werden ganz allgemein die finanziellen
2007 für zukünftige Generationen wird die Mittel verstanden, die zur Sicherstellung der Ge
Schuld, die lebende Generationen künftigen Ge sundheitsversorgung der Bevölkerung benötigt
nerationen aufbürden, auch durch diese Reform werden. Der Finanzbedarf gemessen an der Aus
nicht reduziert. Lebende Generationen sind mit gabenquote setzt die Gesundheitsausgaben zur
Gesundheit und Krankheit im Alter 225
Die Finanzierung aus Bundesmitteln nimmt aller Institut für Mikrodaten-Analyse Band 11. Schmidt &
Klauning, Kiel
dings stetig zu. Der Anteil der Arbeitgeberinnen
6. Forsa (2006) Transparenz im Gesundheitswesen – Re
und Arbeitgeber hat sich im gleichen Zeitraum präsentative Befragung von GKV-Versicherten, Ergeb
von 40 % auf 35 % reduziert. Rund 45 Milliarden nisbericht
mehr gaben dagegen die privaten Haushalte/pri www.gesundheit-transparenz.de/fileadmin/user_
upload/infothek/Forsa_Patienten.pdf (Stand: 15.01.
vate Organisationen ohne Erwerbszweck im Jahr
2009)
2006 im Vergleich zum Jahr 1995 aus. Damit 7. Stuppardt R (2007) Innovationen und ihre Perspek
ist ihr Anteil an der Finanzierung der gesamten tiven im Spannungsfeld zwischen Finanzierung
Gesundheitsausgaben von 42 % im Jahr 1995 auf und Versorgungsfortschritt im Gesundheitswesen.
In: Ulrich V, Ried W (Hrsg) Effizienz, Qualität und
48 % im Jahr 2006 gestiegen.
Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen – Theorie und
Einem höheren Finanzbedarf im Gesund Politik öffentlichen Handelns, insbesondere in der
heitswesen, wie er durch die demografische Al Krankenversicherung. Nomos Verlagsgesellschaft,
terung erwartet wird, sollte nach Auffassung von Baden-Baden, S 839 – 854
8. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Risiko
Fachleuten vor allem mit einer Erhöhung der
strukturausgleich
Produktivität im Gesundheitswesen beispielswei www.die-gesundheitsreform.de/glossar/risikostruktur
se durch Innovationen bei diagnostischen und ausgleich.html (Stand: 05.03. 2008)
pharmazeutischen Leistungen, einer Senkung 9. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Gesetz
liche Krankenversicherung – Mitglieder, mitversi
der Prävalenz kostenintensiver Erkrankungen
cherte Angehörige, Beitragssätze und Krankenstand,
und einer Stärkung der Finanzkraft begegnet Monatswerte Januar – Dezember 2008 (Ergebnisse
werden [25]. Nach Schätzungen des damaligen der GKV-Statistik KM1)
Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion www.bmg.bund.de/cln_110/nn_1193098/SharedDocs/
Downloads/DE/Statistiken/Gesetzliche-Krankenver
im Gesundheitswesen lassen sich rund 25 % bis
sicherung/Mitglieder-und-Versicherte/KM1-Oktober
30 % der Gesundheitsausgaben in Deutschland 08,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/
durch langfristige Prävention vermeiden [26]. Die KM1-Oktober-08.pdf (Stand: 08.01.2009)
Bundesregierung hat deshalb im Koalitionsvertrag 10. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Wettbe
werb im Gesundheitswesen
vereinbart, dass die Prävention zu einer eigenstän
www.die-gesundheitsreform.de/glossar/wettbewerb_
digen Säule der gesundheitlichen Versorgung ne im_gesundheitswesen.html (Stand: 06.03.2008)
ben Akutbehandlung, Rehabilitation und Pflege 11. Deutsche Rentenversicherung Bund (2007) Rentner
ausgebaut werden soll. und ihre Krankenversicherung. 2. Auflage. Berlin
12. AOK Bundesverband, Bundesverband der Betriebs
krankenkassen, IKK-Bundesverband et al. (2007)
Krankenversicherung und Pflegeversicherung der
Literatur Rentner zum 1. April 2007
www.aok-business.de/rundschreiben/pdf/rds_2007
1. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Immer 0223-KVdR.pdf (Stand: 15.01.2009)
mehr Rückkehrer in die gesetzliche Krankenversiche 13. Verband der privaten Krankenversicherung e.V. (2007)
rung und eine bessere Versorgung – Ein Jahr Gesund Zahlenbericht der privaten Krankenversicherung
heitsreform. Gesundheitspolitische Informationen 08 2006/2007. Köln
(02): 4 14. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Die neue
2. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Die Ge Gesundheitsversicherung: Der modifizierte Standard
sundheitsreform – da ist viel drin tarif der privaten Krankenversicherung. Informations
www.die-gesundheitsreform.de/gesundheitsreform/ blatt
index.html? param=reform2006 (Stand: 06.02.2007) www.die-gesundheitsreform.de (Stand: 04.12.2008)
3. Böcken J, Braun B, Schnee M (2002) Gesundheits 15. Zimmer U (2007) Reformbedarf im Gesundheitswe
monitor 2002 – Die ambulante Versorgung aus Sicht sen primär auf der Einnahmenseite. Das Krankenhaus
von Bevölkerung und Ärzteschaft. Verlag Bertelsmann 2007 (9): 828 – 832
Stiftung, Gütersloh 16. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Infor
4. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Eckpunkte mationen zur Gesetzlichen Krankenversicherung
zu einer Gesundheitsreform 2006 – Solidargemein www. bmg.bund.de/cln_041/nn_605038/DE/Themen
schaft schwerpunkte/Gesundheit/Gesetzliche-Krankenver
www.die-gesundheitsreform.de/glossar/solidargemein sicherung/gesetzliche-krankenversicherung-node,
schaft.html (Stand: 24.05.2006) param=Links.html__nnn=true# doc616820bodyText4
5. Drabinski T, Schröder C (2007) Zur Wahrnehmung (Stand: 28.03.2008)
von Kosten im Gesundheitswesen. Schriftenreihe
Gesundheit und Krankheit im Alter 227
17. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Was än 21. Kruse A, Knappe E, Schulz-Nieswandt F et al. (2003)
dert sich zum 1. Januar 2008. Pressemitteilung vom Kostenentwicklung im Gesundheitswesen: Verursa
7. Dezember 2007 chen ältere Menschen höhere Gesundheitskosten?
18. Bundesministerium für Gesundheit (2008) KJ1 Statis AOK Baden-Württemberg, Heidelberg
tik – Übersicht endgültiger Rechnungsergebnisse der 22. Felder S, Fetzer S (2007) Die Gesundheitsreform –
GKV 2006 (k)ein Weg zur Entlastung zukünftiger Generationen?
www.bmg.bund.de/cln_040/nn_600110/SharedDocs/ Gesundheits- und Sozialpolitik 2007 (7/8): 39 – 45
Download/DE/Datenbanken-Statistiken/Statistiken 23. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Generati
Gesundheit/Gesetzliche-Krankenversicherung/Finanz onsgerechte Gesundheitsversorgung in einer Gesell
ergebnisse/kj12006,templateId=raw,=property=pub schaft des längeren Lebens – Ulla Schmidt beauftragt
licationFile.pdf/kj12006.pdf (Stand: 28.03.2008) Sachverständigenrat mit neuem Gutachten. Presse
19. Knappe E, Weissberger D (2007) Auch der Sozialaus mitteilung Nr. 87 vom 12. Oktober 2007
gleich in der Gesetzlichen Krankenversicherung ist 24. Schneider M (2006) Nachhaltige Finanzierung des
reformbedürftig. In: Ulrich V, Ried W (Hrsg) Effizienz, Gesundheitswesens. BASYS, Augsburg
Qualität und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen – 25. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Finanz
Theorie und Politik öffentlichen Handelns, insbeson entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung
dere in der Krankenversicherung. Nomos Verlagsge 2007 – Krankenkassen erzielen Überschuss von rund
sellschaft, Baden-Baden, S 881 – 890 1,8 Milliarden Euro. Pressemitteilung vom 4. März
20. Pfaff AB, Pfaff M (2007) Finanzierungsziele und -ins 2008
trumente des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes 26. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im
2007 – Eine kritische Betrachtung. In: Ulrich V, Wil Gesundheitswesen (2000) Bedarfsgerechtigkeit und
le E (Hrsg) Effizienz, Qualität und Nachhaltigkeit im Wirtschaftlichkeit, Band I Zielbildung, Prävention,
Gesundheitswesen – Theorie und Politik öffentlichen Nutzerorientierung und Partizipation, Band II Qua
Handelns, insbesondere in der Krankenversicherung. litätsentwicklung in Medizin und Pflege. Gutachten
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, S 923 – 952 2000/2001 Kurzfassung
228 Gesundheit und Krankheit im Alter
5.2.1 Verteilung der Krankheitskosten auf die – die 15 % der Gesamtbevölkerung stellten – nur
Bevölkerung: Alt gleich teuer? 6 % der Krankheitskosten. Der Bevölkerungsan
teil übertraf damit den Krankheitskostenanteil in
Die Krankheitskosten im Alter sind beachtlich. Im diesem Alter um das 2,4-fache. Umgekehrt war
Jahr 2004 entstanden bei den über 64-Jährigen es bei den alten Menschen: Die im Vergleich ho
in Deutschland 102,1 Milliarden Euro bzw. 45 % hen Krankheitskosten der über 64-Jährigen (45 %)
der gesamten Krankheitskosten (224,9 Milliarden konzentrierten sich auf eine verhältnismäßig klei
Euro). Wie ist diese Summe einzuordnen und in ne Bevölkerungsgruppe (18 %). Hier überschritt
welchem Verhältnis steht sie zu den Krankheits der Kostenanteil den Bevölkerungsanteil um das
kosten anderer Altersgruppen, etwa der Bevölke 2,5-fache. Bemerkenswert ist weiterhin, dass der
rung im erwerbsfähigen Alter oder der Kinder und Kostenanteil der alten Menschen (45 %) nur leicht
Jugendlichen? unter dem vergleichbaren Kostenanteil der Bevöl
Antwort gibt darauf zunächst eine Gegen kerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64
überstellung der Bevölkerung und der Krankheits Jahren lag (49 %). Die jeweiligen Anteile dieser
kosten nach Alter. Aus Abbildung 5.2.1.1 gehen Altersgruppen an der Bevölkerung fallen mit 18 %
die altersspezifischen Anteile der Gesamtbevölke bzw. 67 % dagegen deutlich auseinander. Mit an
rung sowie der Krankheitskosten in Deutschland deren Worten: Obwohl sich die Krankheitskosten
in den Jahren 2002 und 2004 hervor (siehe dazu im Alter auf erheblich weniger »Köpfe« verteilten,
auch Tabelle 5.2.1.1). Demzufolge verteilten sich reichte ihr Volumen fast an das der Bevölkerung
die vergleichsweise geringen Krankheitskosten im im erwerbsfähigen Alter heran. Diese Aussagen
Kindes- und Jugendalter auf eine im Verhältnis treffen im Wesentlichen auf beide Berichtsjahre
dazu große Bevölkerungsgruppe: Im Jahr 2004 2002 und 2004 zu.
beispielsweise entfielen auf die unter 15-Jährigen
Abbildung 5.2.1.1
Bevölkerung und Krankheitskosten nach Alter 2002 und 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung
Prozent
100
90
80
70
60
50
30 15–64 Jahre
20 unter 15 Jahre
10
Tabelle 5.2.1.1
Bevölkerung und Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht 2002 und 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung
Die durchschnittlichen Krankheitskosten pro Alter bei der Entstehung der Krankheitskosten
Kopf messen, wie hoch der Ressourcenverbrauch zuzumessen ist. Einerseits legen die vorgestell
im Durchschnitt je Einwohner einer bestimmten ten Daten eine (kausale) Altersabhängigkeit der
Alters- und Geschlechtergruppe ist. Abbildung Krankheitskosten nahe, andererseits erscheint –
5.2.1.2 zeigt, dass die Pro-Kopf-Krankheitskosten wie verschiedene weitere Studien zeigen – eine
mit fortschreitendem Alter überproportional an Gleichsetzung von »alt« mit »teuer« zu kurz
steigen, d. h. die Kostenintensität je Einwohner gegriffen. Es stellt sich vielmehr die Frage, wel
nimmt mit dem Alter zu: Den geringsten Wert che anderen altersabhängigen Faktoren mit den
wiesen im Jahr 2004 die unter 15-jährigen Kin Krankheitskosten in Beziehung stehen könnten.
der und Jugendlichen auf (1.110 Euro). Auch bei So belegen die Ergebnisse des Alterssurveys,
den folgenden Altersgruppen lagen die Pro-Kopf- dass Schweregrad und Häufigkeit von Einzel-
Kosten noch durchgängig unter dem Durchschnitt wie Mehrfacherkrankungen mit dem Lebensalter
der Gesamtbevölkerung (2.730 Euro), überschrit ansteigen [1]. Auch das Risiko einer chronischen
ten ihn ab dem 45. Lebensjahr und stiegen mit Krankheit, hirnorganischen Störung (z. B. De
zunehmendem Alter rasch und steil an. Bei den menz) oder Behinderung wächst mit dem Alter
65- bis 84-Jährigen waren sie bereits 2,2-mal so (vgl. Abschnitt 5.2.3). Solche Erkrankungen füh
hoch wie der Durchschnitt, bei den über 84-Jäh ren ihrerseits zu einer verstärkten Pflegebedürf
rigen sogar 5,4-mal so hoch: Hier summierten sie tigkeit, deren Versorgungskosten, wie die Daten
sich auf 14.750 Euro pro Kopf. im Abschnitt 5.2.4 bestätigen, gerade im hohen
Entscheidend für eine Einordnung dieser Alter ein beträchtliches Ausmaß erreichen kön
Ergebnisse ist letztendlich, welche Rolle dem nen. Schneider verweist u. a. auf Ergebnisse der
Gesundheit und Krankheit im Alter 231
Abbildung 5.2.1.2
Krankheitskosten nach Alter 2002 und 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung
Euro je Einwohner
16.000
14.000
12.000
10.000
8.000
6.000
2002
4.000 2004
2.000
Berliner Altersstudie, die einen erhöhten medi kationen« u. a. als Versuch der produzierenden
kamentösen Bedarf und Arzt-Patienten-Kontakt Pharmaunternehmen, ihre Absatzmärkte auszu
im Alter feststellt und schließt: »Sofern man die weiten [7].
se Daten verallgemeinern darf, bedeutet »sich Auf große Resonanz stößt in der Fachdis
gesund zu verhalten« für die ältere Bevölkerung kussion auch die so genannte Sterbekostenthese.
daher vor allem die Nutzung medizinischer und Danach ist von einer altersunabhängigen »Kon
pharmazeutischer Angebote [2] – die natürlich zentration der Gesundheitskosten kurz vor dem
ebenfalls Kosten nach sich zieht. Dennoch, hier ist Tod« [8] auszugehen. Demzufolge sei das Sterben
es wichtig zu differenzieren: »Zwar werden alten und weniger das Altern teuer geworden [9]. Die
Menschen die meisten Medikamente verschrie Altersabhängigkeit der Krankheitskosten lässt
ben, nicht aber die teuersten« [3]. sich dann durch die mit dem Alter steigenden
Diskutiert wird in diesem Zusammenhang Sterberaten erklären (vgl. auch Kapitel 5.4).
auch ein ökonomisches Interesse der Arzneimit Zusammenfassend gibt es eine Reihe zu
telindustrie an physiologischen Alternsprozessen: verlässiger Belege dafür, dass weniger die Alters
In dem Grenzwerte bei alterstypischen Diagno struktur per se, als vielmehr ein Bündel verschie
sen wie beispielsweise Bluthochdruck oder Fett dener Faktoren Einfluss auf die Krankheitskosten
stoffwechselstörungen definitorisch abgesenkt ausübt, die teils selbst mit dem Alter in Zusam
werden, steigt der Anteil der Menschen, die als menhang stehen, teilweise aber auch altersun
behandlungsbedürftig gelten [4, 5, 6]. Der Sach abhängig sind (vgl. hierzu Kapitel 5.3). Welchem
verständigenrat zur Begutachtung der Entwick Faktor dabei im Einzelnen welcher Stellenwert zu
lung im Gesundheitswesen deutet eine solche kommt, ist auf der gegenwärtigen Datenbasis und
»Ausweitung von Krankheitsbegriffen oder Indi in Anbetracht der Komplexität des Themas nur
232 Gesundheit und Krankheit im Alter
schwer zu quantifizieren. Auch die – angesichts 5.2.2 Verteilung der Krankheitskosten auf das
der demografischen Alterung – naheliegende Geschlecht: Gibt es eine Feminisierung
Frage nach der zukünftigen Entwicklung der Ge der Krankheitskosten?
sundheitsausgaben, kann auf Grundlage einer
isolierten Betrachtung altersspezifischer Krank »Das Alter ist weiblich«, so titelte im Frühjahr
heitskosten nicht befriedigend beantwortet wer 2006 ein Zeitschriftenbeitrag zur Demografie,
den: Von einer (statistischen) Altersabhängigkeit in dem auf den höheren Frauenanteil unter der
der Krankheitskosten prospektiv auf eine »Kosten älteren Bevölkerung hingewiesen wird [11]. In
explosion« im Gesundheitswesen zu schließen, der Tat waren im Jahr 2004 knapp drei Fünftel
würde die hier komplex wirkenden Mechanismen (59 %) der über 64-jährigen Menschen weiblich,
und Zusammenhänge deutlich verkennen [10]. von den über 84-Jährigen waren es sogar mehr als
Hinzu kommt, dass dafür auf theoretischer Ebe drei Viertel (76 %). Wie wirkt sich diese »Femini
ne ein Perspektivwechsel – von der Querschnitts- sierung des Alters« [12] auf den Ressourcenver
zur Längsschnittbetrachtung mit all seinen Impli brauch im Gesundheitswesen aus? Die folgende
kationen – erforderlich wäre. Höpflinger macht Betrachtung der Krankheitskosten fördert bemer
darauf aufmerksam, dass die ȟberproportionale kenswerte Unterschiede zwischen den Geschlech
Kostenbelastung des Gesundheitssystems durch tern, insbesondere im Alter, zutage [13].
ältere Menschen (...) höchstens die absolute Höhe Im Jahr 2004 entstanden 58 % der Krank
der Gesundheitsausgaben in einer gegebenen heitskosten bei Frauen, ihr Anteil an der Bevöl
Rechnungsperiode, nicht aber deren Wachstum kerung lag gleichzeitig bei 51 % (siehe auch Ab
im Zeitverlauf« [9] erklärt. Die Bedeutung des de bildung 5.2.2.1). Während sich die Bevölkerung
mografischen Alterungsprozesses für die künftige also nahezu paritätisch aufteilte, entfiel ein we
Gesundheitsausgabenentwicklung verdient u. a. sentlich höherer Anteil der Krankheitskosten auf
aus diesen Gründen eine gründlichere Betrach die Frauen; absolut handelte es sich um einen Dif
tung und wird Gegenstand des Kapitels 5.3 sein. ferenzbetrag von rund 37,5 Milliarden Euro.
Aus Abbildung 5.2.2.1 geht außerdem hervor,
dass sich ein erheblicher Teil des krankheitsbe
dingten Ressourcenverbrauchs bei den Frauen ab
65 Jahren konzentrierte: Obwohl sie lediglich 11 %
der Gesamtbevölkerung im Jahr 2004 stellten, fie-
Abbildung 5.2.2.1
Bevölkerung und Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung
Prozent
60
50
30 15–64 Jahre
20 unter 15 Jahre
10
len für sie 29 % der Kosten an. Der vergleichbare geschlechtsspezifischen Leistungsstrukturen der
Kostenanteil ihrer männlichen Altersgenossen lag versichernden Krankenkassen [16]. Mit Abstand
mit 17 %, bei einem Bevölkerungsanteil von 7 %, einer der wichtigsten Faktoren dürfte jedoch der
deutlich darunter. Die Krankheitskostenprofile der bereits erwähnte höhere Frauenanteil unter der
Männer und Frauen in Abbildung 5.2.2.2 demons älteren Bevölkerung sein [13]: Von den in Deutsch
trieren zugleich: Die höheren Kosten der Frauen land im Jahr 2004 lebenden rund 15,1 Millionen
sind offensichtlich nicht nur eine Folge des hö alten Menschen waren 9,0 Millionen Frauen,
heren Frauenanteils im Alter. Denn die Pro-Kopf- aber nur 6,1 Millionen Männer [17]. Dieses auch
Kosten steigen zwar bei beiden Geschlechtern mit als »Feminisierung des Alters« [12] bezeichnete
fortschreitendem Alter an, liegen bei den Frauen Phänomen beeinflusst die geschlechtsspezifische
aber in allen Altersgruppen – mit Ausnahme der Kostenverteilung – wie die folgenden Ausfüh
unter 15-Jährigen – über denen der Männer. Be rungen zeigen werden – offensichtlich ganz er
sonders markant war die Abweichung im hohen heblich, da die Pro-Kopf-Krankheitskosten gerade
Alter ab 85 Jahren: Dort betrug sie durchschnitt im (hohen) Alter beträchtlich ansteigen (vgl. dazu
lich rund 3.840 Euro. Abschnitt 5.2.1).
Die Gründe für die ungleiche Verteilung Ein Vorgehen, ähnlich dem einer Altersstan
der Krankheitskosten auf Männer und Frauen in dardisierung, stellt einen unmittelbaren Bezug
Deutschland sind unterschiedlich. Sie reichen von zu den Krankheitskosten der Männer her und de
geschlechtsspezifischen Erkrankungen, Schwan monstriert dies eindrucksvoll: Danach werden die
gerschaft und Geburt, geschlechtsspezifischem altersspezifischen Pro-Kopf-Kosten der Frauen auf
Risiko- und Gesundheitsverhalten [14] über ge die Altersstruktur der männlichen Bevölkerung
netische und hormonelle Faktoren [15] bis hin zu angelegt. Das Ergebnis schätzt die Krankheitskos-
Abbildung 5.2.2.2
Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung
Euro je Einwohner
16.000
14.000
12.000
10.000
8.000
6.000
Frauen
4.000 Männer
2.000
ten, die bei den Frauen zu erwarten wären, wenn tenunterschieds zwischen Frauen und Männern
ihre Bevölkerungsstruktur mit der der Männer können im Rahmen der obigen Rechnung durch
identisch wäre. Unter dieser Voraussetzung ver den höheren Frauenanteil im Alter erklärt werden.
ringern sich die Krankheitskosten der Frauen er Auf der anderen Seite liegen auch die Erwar
heblich: Sie liegen in diesem hypothetischen Fall tungswerte der Frauen noch rund 12,1 Milliarden
im Jahr 2004 nur noch bei insgesamt 105,8 Mil Euro über den tatsächlichen Krankheitskosten der
liarden Euro statt bei tatsächlichen 131,2 Milliar Männer. Und, abgesehen von einer Ausnahme,
den Euro. Die Differenz zwischen den erwarteten übertreffen die alterspezifischen Pro-Kopf-Kosten
und tatsächlichen Krankheitskosten der Frauen der Frauen die der Männer; besonders deutlich
(25,4 Milliarden Euro) entspricht gut zwei Drit wird das bei den Hochbetagten. Neben anderen
teln (68 %) des gesamten geschlechtsspezifischen Gründen könnte sich hier erneut das Alter auf die
Kostenunterschieds (37,5 Milliarden Euro). Theo Kostenverteilung auswirken, und zwar unabhän
retisch spiegelt sie ausschließlich den Einfluss der gig von Unterschieden in der »Kopfzahl«: Eine
abweichenden Altersstruktur der männlichen und mögliche Erklärung – in Anlehnung an Tews
weiblichen Bevölkerung wider. Abbildung 5.2.2.3 These auch als »Feminisierung der Pflegebedürf
verdeutlicht, dass der Löwenanteil der Kostendif tigkeit« [18] bezeichnet – wird in diesem Zusam
ferenz in den beiden höchsten Altersgruppen ent menhang durch die einrichtungsbezogene Analy
steht und welche Größenordnung er im Einzelnen se der Krankheitskosten gestützt. So entsteht ein
einnimmt. enormer Anteil der Krankheitskosten im Alter
Natürlich sind diese Angaben das Resultat in ambulanten oder (teil-)stationären Pflegeein
eines hypothetischen Rechenbeispiels. Trotzdem richtungen. Die Analyse zeigt weiter, dass dieser
zeigen sie, dass die geschlechtsspezifische Kosten Anteil bei Frauen, besonders im hohen Alter, aus
differenz, wenn auch nicht vollständig, so doch in verschiedenen Gründen bedeutend höher ist als
beträchtlichem Umfang als Altersstruktureffekt bei Männern (vgl. Abschnitt 5.2.4). Zusammen
gedeutet werden kann: Rund zwei Drittel des Kos- genommen lässt sich festhalten: Auch wenn die
Abbildung 5.2.2.3
Tatsächliche und erwartete Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung
Mrd. Euro
60
50
40
Männer
30
Erwartungswert Frauen*
20 Frauen
10
* Erwartungswert Frauen: Zu erwartende Krankheitskosten der Frauen, errechnet auf Grundlage der Alterstruktur der männlichen Bevölkerung
des Jahres 2004 (Jahresdurchschnitt).
Gesundheit und Krankheit im Alter 235
Abbildung 5.2.3.1
Die fünf Diagnosen mit den höchsten Krankheitskosten nach Alter 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankheitskostenrechnung
bis 64 Jahre
Krankheiten des Verdauungssystems
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
Psychische und Verhaltensstörungen
Krankheiten des Kreislaufsystems
Neubildungen
Abbildung 5.2.3.2
Krankheitskosten ausgewählter chronischer Erkrankungen* nach Alter 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankheitskostenrechnung
Prozent
30
25
20
15
10
Anteil über 64-Jähriger an den Krankheitskosten bericht) gibt als mittleres Erkrankungsalter für das
45 %. Dieser Anteil variiert zum Teil erheblich Jahr 2002, unabhängig vom Geschlecht, etwa 69
mit der Diagnose: Deutlich geringer war er zum Jahre an. Gleichzeitig zählten Krebserkrankungen
Beispiel bei angeborenen Fehlbildungen und De nach den Krankheiten der Kreislaufsystems zur
formitäten (15 %) oder bestimmten infektiösen zweithäufigsten Todesursache in Deutschland mit
und parasitären Krankheiten (27 %). Bei Krank einem mittleren Sterbealter der Männer von 71
heiten der Haut und Unterhaut (30 %) oder Uro und der Frauen von 76 Jahren [32].
genitalerkrankungen (38 %) lag er ebenfalls unter Beispiel Diabetes mellitus: Die Altersvertei
dem Durchschnitt, wenn auch nicht so markant. lung der Kosten durch Diabetes mellitus in Höhe
Überdurchschnittlich war er dagegen bei Arthro von insgesamt 5,1 Milliarden Euro war ähnlich
sen (68 %) oder Verletzungen der Hüfte und des wie bei den bösartigen Neubildungen: 60 % der
Oberschenkels (83 %) und, wie aus Abbildung Kosten dieser Diagnose – das entsprach 3,1 Milli
5.2.3.3 hervorgeht, bei allen vier beispielhaft aus arden Euro – entfielen auf alte Menschen. Dieser
gewählten chronischen Erkrankungen. Anteil lag ebenfalls rund 1,3-mal über dem Durch
Beispiel bösartige Neubildungen: Insgesamt schnitt. Schätzungen zufolge ist in Deutschland
rund 15,0 Milliarden Euro Krankheitskosten wur zurzeit mindestens jede zwanzigste Person an Di
den im Jahr 2004 durch bösartige Neubildungen abetes mellitus erkrankt. 80 % bis 90 % von ihnen
verursacht. Im Vergleich zu den anderen ausge leiden am so genannten Typ-2-Diabetes, der sich
wählten Erkrankungen war der Kostenanteil alter mit steigendem Lebensalter häuft und dessen Ent
Menschen bei bösartigen Neubildungen zwar am stehung u. a. durch einen ungesunden Lebensstil,
geringsten (59 %). Trotzdem lag er 1,3-mal über wie z. B. Übergewicht und Bewegungsmangel,
dem durchschnittlichen Anteil alter Menschen an begünstigt wird [33].
den Krankheitskosten insgesamt und summierte Beispiel ischämische Herzkrankheiten: Die
sich, aufgrund der hohen Gesamtkosten dieser Kosten dieser Krankheit beliefen sich bei alten
Erkrankungen, auf einen Betrag von rund 8,9 Menschen im Jahr 2004 auf 4,1 Milliarden Euro.
Milliarden Euro. Der Bericht der Krebsregister Das waren 66 % der gesamten Krankheitskosten
über Krebserkrankungen in Deutschland (Krebs für ischämische Herzkrankheiten. Der Kosten
238 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 5.2.3.3
Krankheitskosten ausgewählter Krankheiten nach Alter 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankheitskostenrechnung
gesamt
darunter ausgewählte
chronische Erkrankungen:
bösartige Neubildungen
Diabetes mellitus
bis 64 Jahre
ischämische Herzkrankheiten
65 Jahre und älter
Demenz
0 20 40 60 80 100
Prozent
anteil alter Menschen lag damit gut 1,4-mal über kostenrechnung wider: Über drei Viertel (77 %)
dem Durchschnitt. Auch die Häufigkeit koronarer der Kosten von Demenz entfielen im Jahr 2004
Herzkrankheiten nimmt mit dem Alter stark zu auf alte Menschen in ambulanten oder (teil-)sta
[34]: Es handelt sich dabei um eine chronische tionären Pflegeeinrichtungen.
Erkrankung der Herzkranzgefäße (Koronararte Der Ressourcenverbrauch durch chronische
rien), die infolge einer Verengung oder eines Ver Krankheiten ist zum einen von Interesse, weil
schlusses zu einer Ischämie (Mangeldurchblu er im Alter beachtliche Dimensionen erreicht:
tung) des Herzens führt; der akute Myokardinfarkt Zusammen waren im Jahr 2004 bei den über
(Herzinfarkt) ist darunter eine der bekanntesten 64-Jährigen rund 22,0 Milliarden Euro auf die
Komplikationen. Ein Fünftel (20 %) der Sterbefäl vier exemplarisch ausgewählten Diagnosen zu
le war bei den über 64-Jährigen im Jahr 2004 auf rückzuführen. Zum anderen sind chronische
ischämische Herzkrankheiten zurückzuführen. Krankheiten eng mit dem Lebensstil verknüpft
Beispiel Demenz: Rund 2,2-mal so hoch wie und verfügen üblicherweise über ein hohes Prä
der Durchschnitt und im Vergleich am höchsten ventionspotenzial [31, 36]. Überlegungen zur künf
war mit 98 % der Kostenanteil alter Menschen bei tigen Entwicklung der Morbidität – und der Krank
Demenzerkrankungen. Damit entstanden nahezu heitskosten – sollten daher vor dem Hintergrund
sämtliche Krankheitsosten von insgesamt 6,1 Mil des individuellen Gesundheits- und Risikoverhal
liarden Euro für Demenz im Alter; im Jahr 2004 tens bzw. der sich daraus ergebenden Anknüp
waren das knapp 6,0 Milliarden Euro. Demenz fungspunkte für präventive Maßnahmen, auch im
zählt in Deutschland mit rund einer Million Be Alter, gesehen werden (vgl. Kapitel 3.4 und Kapitel
troffenen zu den häufigsten und folgenreichsten 4.1). Das setzt weiterführend auf der einen Seite
psychiatrischen Erkrankungen im Alter [35]: Be voraus, nicht nur das Diagnosespektrum, sondern
reits in den frühen Stadien weisen die Erkrankten auch die soziale Lage in die Analyse mit einzu
aufgrund kognitiver Einbußen, die sich zusätzlich beziehen – also konkret sozio-ökonomische Fak
auf die emotionale Kontrolle, das Sozialverhal toren wie Bildung, berufliche Stellung, Einkom
ten und die Motivation auswirken können, Ein men usw. sowie deren Einfluss auf den Lebensstil
schränkungen der autonomen Lebensführung auf und damit einhergehend die Entstehung und Be
– vielfach mit dem Ergebnis einer umfassenden günstigung chronischer Krankheiten. Auf der an
Hilfebedürftigkeit. Fast die Hälfte der Pflegebe deren Seite muss eine wirkungsvolle Prävention
dürftigen in privaten Haushalten und über 60 % chronischer Erkrankungen, so wünschenswert sie
der Heimbewohner sind dement [35]. Auch das für die Bevölkerung ist, nicht notgedrungen mit
spiegelt sich in den Ergebnissen der Krankheits einer Reduktion der Krankheitskosten verbunden
Gesundheit und Krankheit im Alter 239
sein: An ihre Stelle könnten z. B. durch andere, Alter überproportional ansteigt: Während er in
womöglich kostenintensivere Erkrankungen oder den Altersgruppen bis 64 Jahren durchgängig un
mit den gewonnen Lebensjahren (infolge erfolg ter dem Durchschnitt von 11 % lag, überschritt er
reicher Prävention) weitere Kosten treten. Auch ihn im Alter, besonders im hohen Alter, deutlich:
die Entwicklung, Verbreitung und Anwendung Bei den 65- bis 84-Jährigen fielen bereits knapp
präventiver Maßnahmen ist nur selten ohne zu 15 % der 81,6 Milliarden Euro Krankheitskosten in
sätzliche finanzielle Mittel zu leisten. Pflegeeinrichtungen an. Weit überdurchschnitt
lich war dieser Anteil bei den Hochbetagten: Über
die Hälfte (51 %) der 20,5 Milliarden Euro Krank
5.2.4 Verteilung der Krankheitskosten auf die heitskosten waren hier in Pflegeeinrichtungen
Einrichtungen des Gesundheitswesens: entstanden. Der Blick auf die sektorale Verteilung
Welchen Anteil haben Pflegeeinrichtungen? der Kosten zeigt: In den beiden höchsten Alters
gruppen lag der Kostenschwerpunkt im (teil-)sta
»Pflegekosten sind Gesundheitskosten« – Kruse tionären Pflegebereich. Bei den 65- bis 84-Jäh
et al. heben die Bedeutung der Pflegekosten für rigen fielen allein 10 % der Krankheitskosten in
das Gesundheitswesen, gerade im Rahmen einer (teil-)stationären gegenüber 4 % in ambulanten
altersspezifischen Betrachtung, hervor [37]. Die Pflegeeinrichtungen an. Bei den Hochbetagten
Krankheitskosten für Leistungen, die in Pflege waren sogar knapp 40 % der Kosten in (teil-)sta
einrichtungen erbracht werden, können durch tionären Pflegeeinrichtungen entstanden, in am
eine einrichtungsbezogene Analyse nachgewiesen bulanten waren es nur 11 %.
werden. Insgesamt unterscheidet die Klassifika Der Kostenanteil in Pflegeeinrichtungen
tion der Einrichtungen im Gesundheitswesen 15 variiert im Alter auch deutlich zwischen den Ge
Leistungserbringer wie z. B. Krankenhäuser, Apo schlechtern; das gilt insbesondere für das hohe
theken oder Arztpraxen; darunter fallen auch am Alter: Mit 54 % entstand mehr als die Hälfte der
bulante und (teil-)stationäre Pflegeeinrichtungen, Krankheitskosten über 84-jähriger Frauen in Pfle-
die die Basis der folgenden Angaben bilden. geeinrichtungen (8,9 Milliarden Euro). Bei hoch
Im Jahr 2004 fielen in solchen Einrich betagten Männern waren es im Vergleich dazu
tungen mit rund 24,5 Milliarden Euro 11 % der anteilig und absolut deutlich weniger – nämlich
gesamten Krankheitskosten an (siehe Tabelle 38 % (1,5 Milliarden Euro).
5.2.4.1). In diesen Betrag fließen ausschließ Die einrichtungsbezogene Analyse zeigt,
lich die pflegerischen Leistungen sowie die pri dass ein erheblicher Teil der Krankheitskosten im
vat getragenen Aufwendungen für Unterkunft Alter, speziell im hohen Alter, in Pflegeeinrich
und Verpflegung ein, die in ambulanten und tungen anfällt. Dieses Ergebnis korrespondiert
(teil-)stationären Pflegeeinrichtungen erbracht im Wesentlichen mit der altersspezifischen Ver
wurden (ohne z. B. Arzneimittel oder ärztliche teilung der Pflegequote – also des Anteils der Pfle-
Leistungen). In der Altersgruppe der über 64-Jäh gebedürftigen an der gleichaltrigen Bevölkerung:
rigen war dieser Anteil bereits doppelt so hoch Nach Angaben der amtlichen Pflegestatistik lag
(22 %). Auffällig waren dabei die Geschlechter die Pflegequote im Jahr 2005 vor dem 65. Lebens
unterschiede: Bei über 64-jährigen Männern jahr bei nur 0,6 %, während sie bei den 65- bis
entstanden 13 % der Krankheitskosten in Pflege 84-Jährigen auf 7 % und ab dem 85. Lebensjahr
einrichtungen, bei den gleichaltrigen Frauen wa schließlich sprunghaft auf 46 % anstieg. Für die
ren es dagegen 27 %. Zusätzlich zu diesen Kosten vergleichsweise hohen Kosten in Pflegeeinrich
entstanden in den privaten Haushalten Ausgaben tungen sind jedoch weder ausschließlich das Alter
für Pflegegeldleistungen, die der Vollständigkeit noch der Gesundheitszustand oder die Art der in
halber erwähnt, im Folgenden aber nicht weiter Anspruch genommenen Pflege verantwortlich zu
berücksichtigt werden sollen. Eine Sonderauswer machen. Neben diesen individuellen Merkmalen
tung ergab, dass sie sich im Jahr 2004 zusätzlich der Pflegebedürftigen spielen die kontextuellen
auf rund 4,3 Milliarden Euro addierten. Bedingungen hinein. Dazu zählt z. B. der recht
Tabelle 5.2.4.1 zeigt, dass der Anteil der lich-institutionelle Rahmen wie er in der aktuellen
Krankheitskosten in Pflegeeinrichtungen mit dem Pflegegesetzgebung zum Ausdruck kommt oder
240 Gesundheit und Krankheit im Alter
Tabelle 5.2.4.1
Krankheitskosten in ambulanten und (teil-)stationären Pflegeeinrichtungen nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankheitskostenrechnung
das jeweils vor Ort realisierte Pflegearrangement, zit auf den Pflegebereich und spricht in diesem
das seinerseits vom häuslichen Pflegepotenzial Zusammenhang von der erwähnten Feminisie
und dem verfügbaren (professionellen) Pflegean- rung der Pflegebedürftigkeit. Tatsächlich sind die
gebot determiniert wird [38, 39]. geschlechtsspezifischen Diskrepanzen in der Pfle-
Die deutlichen Geschlechterunterschiede gequote im hohen Alter besonders markant; im
der Krankheitskosten in Pflegeeinrichtungen Jahr 2005 beispielsweise betrug die Pflegequote
können auf Tews These der Feminisierung des der über 84-jährigen Frauen 51 % gegenüber 32 %
Alters zurückgeführt werden (vgl. dazu auch der gleichaltrigen Männer. Nicht berücksichtigt
Abschnitt 5.2.2). Danach wird das Geschlechter- werden dabei unbezahlte Pflegeleistungen durch
verhältnis im Alter, vor allem dank der höheren Angehörige, Bekannte oder Freunde, die Quoten
Lebenserwartung, durch den höheren Frauenan- geben ausschließlich den Anteil Pflegebedürftiger
teil dominiert [12]. Höpflinger bezieht dies expli- wieder, die Leistungen der Pflegekassen im Rah
Gesundheit und Krankheit im Alter 241
men des SGB XI in Anspruch genommen haben. konsequente Ergänzung dieser »Momentaufnah
Neben der höheren Lebenserwartung der Frauen men« kann durch einen Blick auf den zeitlichen
tragen weitere Faktoren zu dem ungleichen Ge Verlauf vorgenommen werden. Kernfrage ist dann
schlechterverhältnis bei: Darunter fallen noch die nicht mehr, welchen Einfluss die Altersstruktur
starken Verluste der männlichen Bevölkerung einer Gesellschaft auf die Verteilung der Krank
infolge der Weltkriege und das durchschnittlich heitskosten hat. Kernfrage ist in diesem Fall, wel
niedrigere Heiratsalter der Frauen. Das wiederum chen Einfluss die Alterung einer Gesellschaft auf
wirkt sich auf die Lebensform bzw. Haushalts den Verlauf der Krankheitskosten hat. Theoretisch
zusammensetzung alter Menschen aus: Im Jahr wird dadurch das Alter als der »rote Faden« der
2004 etwa lebten 72 % der 85-jährigen Frauen, vorliegenden Publikation um die Längsschnittper
aber nur 29 % der gleichaltrigen Männer allein spektive erweitert. Dafür können auf Grundlage
in einem Einpersonenhaushalt [19]. Die Lebens der noch jungen Krankheitskostenrechnung die
form begrenzt und begünstigt ihrerseits die Ge Berichtsjahre 2002 und 2004 herangezogen wer
staltungsspielräume für häusliche Pflegearrange den. Der Blick »zurück« bereitet auch den Boden
ments und damit auch die Inanspruchnahme des für den Blick nach »vorn«, dem sich u. a. das Ka
(verhältnismäßig kostenträchtigen) »professio pitel 5.3 widmet.
nellen« Pflegeangebots [40]. Verstärkt wird dieser
Zusammenhang zusätzlich durch die, selbst bei
hoher Pflegebedürftigkeit, längere residuale (ver Tatsächliche Entwicklung 2002 bis 2004 –
bleibende) Lebenserwartung der Frauen [18]. trotz nahezu gleichbleibender Einwohnerzahl
Die Aussagen zu den Pflegebedürftigen sind steigen die Krankheitskosten
auch vor dem Hintergrund der Pflegenden zu
sehen. Denn ältere Menschen und Frauen zäh Die Krankheitskosten sind in Deutschland von
len gerade zu den beiden Personenkreisen, die 2002 bis 2004 um rund 6,1 Milliarden Euro ge
– zumindest in privaten Haushalten – besonders stiegen (+ 2,8 %). Das Bevölkerungsniveau blieb
intensiv an der Erbringung von Pflegeleistungen währenddessen mit einem Zuwachs von rund
beteiligt sind. Zum Jahresende 2002 waren 60 % 19.000 Personen nahezu konstant (+ 0,02 %). Da
der privaten Hauptpflegepersonen von Pflegebe sich dadurch höhere Kosten auf fast die gleiche
dürftigen bereits über 54 Jahre alt, immerhin 33 % Einwohnerzahl konzentrierten, erhöhten sich
zählten zu den über 64-Jährigen. Gleichzeitig wa auch die durchschnittlichen Pro-Kopf-Krankheits
ren etwa 73 % der privaten Hauptpflegepersonen kosten (+ 80 Euro). Angesichts dieser Ergebnisse
weiblich [41]. »Da Frauen meist Männer ehelichen, stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Anstieg
die älter sind als sie selbst, sind es häufig Frauen, der Krankheitskosten mit der demografischen
die sich um einen pflegebedürftigen Partner zu Entwicklung zusammenhängen könnte oder
kümmern haben« [42]. So betrachtet, kennzeich in diesem Fall wohl zutreffender: mit Verschie
nen Alter und Geschlecht offensichtlich nicht bungen in der Altersstruktur.
nur die (kostenwirksame) Inanspruchnahme von Aus Abbildung 5.2.5.1 gehen die prozen
Pflegeleistungen, sondern umgekehrt auch deren tualen Veränderungen der Bevölkerungszahl und
(zumeist unentgeltliche) Realisierung. der Krankheitskosten im Zeitraum 2002 bis 2004
nach Alter hervor. In der jeweils dritten Säule der
Abbildung, den Pro-Kopf-Krankheitskosten, wer
5.2.5 Entwicklung der Krankheitskosten: den diese beiden Werte aufeinander bezogen; das
Welchen Einfluss hat die Demografie? Resultat gibt die Veränderung der durchschnitt
lichen Kostenintensität je Einwohner wider.
Die bisherigen Ausführungen rückten – im Bei der Interpretation der Abbildung ist zu
Rahmen einer Querschnittsbetrachtung – die berücksichtigen, dass sich die Bevölkerung in dem
Struktur der Krankheitskosten alter Menschen kurzen Beobachtungszeitraum nicht eindeutig in
ins Zentrum der Analyse, sei es unter dem Ge Richtung »demografische Alterung« entwickelt
sichtspunkt des Geschlechts, der Diagnosen oder hat. Zumindest nicht in dem Sinne, dass in den äl
der Einrichtungen des Gesundheitswesens. Eine teren Altersklassen durchgängig ein Zuwachs der
242 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 5.2.5.1
Entwicklung der Bevölkerung und der Krankheitskosten nach Alter 2002/2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung
Prozent
12
10
6
Bevölkerung
4 Krankheitskosten gesamt
2 Pro-Kopf-Krankheitskosten
–2
–4
–6
–8
unter 15 15–29 30–44 45–64 65–84 85+
Altersgruppe
Einwohnerzahl zulasten der jüngeren und mitt entwickelten. Kurz, die Kosten müssten propor
leren Altersgruppen zu beobachten sei. Vielmehr tional zur »Kopfzahl« ansteigen oder zurückge
ist die Entwicklung in den einzelnen Altersklassen hen. In diesem Fall wäre ferner zu erwarten, dass
hinsichtlich Richtung und Stärke uneinheitlich. die Pro-Kopf-Krankheitskosten unverändert auf
Bei den 65- bis 84-Jährigen beispielsweise stieg dem Ausgangsniveau des Jahres 2002 verblieben.
die Einwohnerzahl deutlich, da in diese Alters Eine solche idealtypische Entwicklung lag beim
gruppe Geburtsjahrgänge aus der Zeit zwischen Zeitvergleich 2002 mit 2004 sogar in einer Al
den beiden Weltkriegen mit (wieder) steigenden tersgruppe, bei den 15- bis 29-Jährigen, vor. Für
Geburtenraten fallen. Bei den über 84-Jährigen einen Zusammenhang mit der demografischen
mit einer rückläufigen Bevölkerung wirken sich Entwicklung spricht auch, dass sich Bevölkerung
dagegen noch die Folgen des ersten Weltkriegs mit und Krankheitskosten in fast allen Altersklassen
einem durch hohe Sterblichkeit und Geburten einheitlich in gleicher Richtung bewegten. Einzige
rückgängen stark dezimierten Bestand aus. Ausnahme war die Altersgruppe der unter 15-jäh
Dennoch gestattet der Vergleich von Bevölke rigen Kinder und Jugendlichen: Hier wurde der
rungs- und Krankheitskostenentwicklung eine An Anstieg der Krankheitskosten (+ 2,5 %) von einem
näherung an den demografisch bedingten Effekt: Rückgang der Bevölkerung begleitet (– 3,8 %).
Für eine direkte, monokausale Altersabhängigkeit Konsequenz dieser gegenläufigen Entwicklung
der Krankheitskosten und in der Folge einen rein war ein in diesem Alter relativ kräftiges Wachstum
demografisch bedingten Effekt spräche, wenn der Pro-Kopf-Kosten (+ 6,7 %).
sich Bevölkerung und Kosten in den jeweiligen Mit Blick auf die alten Menschen zeigt Ab
Altersklassen übereinstimmend in eine Richtung bildung 5.2.5.1: In den beiden höchsten Alters
Gesundheit und Krankheit im Alter 243
gruppen erhöhten sich im Zeitvergleich die Pro profitieren können. Für ein umfassendes Ver
Kopf-Krankheitskosten, bei den über 84-Jährigen ständnis des Kostengeschehens im Gesundheits
doppelt so stark wie bei den 65- bis 84-Jährigen wesen sollten insofern weitere Erklärungsfaktoren
(+ 4,2 % bzw. + 2,1 %). Dahinter standen allerdings – zusätzlich zur demografischen Entwicklung – in
unterschiedliche Entwicklungen: Während bei Betracht gezogen werden.
den 65- bis 84-Jährigen sowohl Kosten als auch
Einwohnerzahl anstiegen, waren sie bei den über
84-Jährigen beide rückläufig. Dass dabei die Kos Erwartete Entwicklung 2002 bis 2004 –
ten im Verhältnis zu den Einwohnern jeweils Tatsächlicher Anstieg der Krankheitskosten
überwogen, hatte jedoch in beiden Altersgruppen fällt höher aus als erwartet
übereinstimmend einen Anstieg der Pro-Kopf-
Kosten zur Folge. In einem zweiten Schritt lässt sich das hypothe
Welche Schlussfolgerungen können auf tische Rechenbeispiel der erwarteten Krankheits
Grundlage dieser Daten gezogen werden? Zu kosten der Frauen aus Abschnitt 5.2.2 auch auf
nächst einmal haben die Pro-Kopf-Krankheits die zeitliche Entwicklung der Krankheitskosten
kosten der ganz Jungen und der alten Menschen übertragen. Ausgangspunkt ist dann die Frage:
zugenommen, während sie in den drei verblei Wie hoch wäre der Ressourcenverbrauch im Jahr
benden mittleren Altersklassen stagnierten oder 2004, wenn allein Veränderungen in der Bevöl
leicht zurückgingen. Die Veränderungen in den kerungsstruktur für den Anstieg der Krankheits
Pro-Kopf-Kosten lassen sich durch Entwicklungen kosten verantwortlich wären?
in der Einwohnerzahl allein nicht erklären und Zu ihrer Beantwortung werden die altersspe
deuten darauf hin, dass hier andere bzw. zusätz zifischen Pro-Kopf-Krankheitskosten des Jahres
liche Faktoren wirken. Das trifft insbesondere auf 2002 auf die Bevölkerungsstruktur des Jahres
die unter 15-jährigen Kinder und Jugendlichen zu. 2004 angelegt (siehe Abbildung 5.2.5.2). Das Er
Weiterhin war der prozentuale Anstieg der Pro gebnis schätzt die Krankheitskosten, die unter der
Kopf-Krankheitskosten bei den 65- bis 84-Jäh Annahme zu erwarten wären, dass der Kostenent
rigen im Vergleich zu den anderen beiden Alters wicklung ein rein demografisch bedingter Effekt
gruppen mit einem Anstieg der Pro-Kopf-Kosten zugrunde läge. Die Pro-Kopf-Krankheitskosten
zwar am schwächsten ausgeprägt, addierte sich werden in dieser Berechnung konstant gehalten,
absolut aber auf einen Betrag von rund 7,3 Milli so dass andere Erklärungsfaktoren, z. B. der tech
arden Euro; altersbezogen war das bei weitem der nische Fortschritt oder die allgemeine Teuerung
höchste Anstieg. im Gesundheitswesen, theoretisch ausgeschlos
Zusammengenommen sind die Ergebnisse sen sind (vgl. Kapitel 5.3). Der Anstieg wäre in
letztlich aber uneindeutig. Rechnerisch – und diesem Fall ausschließlich auf Entwicklungen in
unter Berücksichtigung des knappen Beobach der Einwohnerzahl von 2002 bis 2004 zurück
tungszeitraums – stützen sie einen demografisch zuführen. Unter dieser Annahme ist auch ein
bedingten Effekt eher, als dass sie ihm widerspre Wachstum der Krankheitskosten zu erwarten, und
chen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwar auf 222,3 Milliarden Euro. Das Plus von 3,5
die Krankheitskostenrechnung als eine Ergän Milliarden Euro (+ 1,6 %) fällt allerdings deutlich
zung zu anderen Datenquellen zu verstehen. Sie geringer aus als der tatsächliche Zuwachs von 6,1
liefert wertvolle Informationen zur Inanspruch Milliarden Euro (+ 2,8 %). Das bedeutet mit an
nahme des Gesundheitswesens durch die Bevöl deren Worten: Über die Hälfte des tatsächlichen
kerung. Man darf den Ressourcenverbrauch im Kostenanstiegs kann auf Grundlage dieser hypo
Gesundheitssektor aber nicht allein als Indikator thetischen Rechnung durch die demografische
für den Bedarf an gesundheitsbezogenen Gütern Entwicklung erklärt werden.
und Leistungen betrachten. Er ist gleichzeitig Aus Prinzipiell lagen dabei die tatsächlichen Kos
druck eines vielschichtigen Prozesses, der Maß ten in etwa gleichauf oder über den Erwartungs
nahmen und Interventionen des Gesetzgebers werten (siehe Abbildung 5.2.5.2), lediglich bei den
einschließt und von dem verschiedenste Akteure 30- bis 44-Jährigen war der tatsächliche Rückgang
und Interessengruppen im Gesundheitswesen (– 3,8 %) deutlich markanter, als angenommen
244 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 5.2.5.2
Tatsächliche und erwartete Entwicklung der Krankheitskosten nach Alter 2002/2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung
Prozent
12
10
4 erwartete Entwicklung*
2 tatsächliche Entwicklung
–2
–4
–6
–8
unter 15 15–29 30–44 45–64 65–84 85+
Altersgruppe
* Erwartete Entwicklung: Erwartungswerte für das Jahr 2004, errechnet auf Grundlage der Pro-Kopf-Kosten des Jahres 2002
und der Bevölkerung 2004.
(– 2,5 %). Interessant sind unabhängig davon auch Krankheitskostenrechnung und werden im An
die Altersgruppen, in denen die Kosten, trotz rück schluss diskutiert.
läufiger Erwartungswerte, ansteigen – in diesem
Fall also im Alter von unter 15 und 45 bis 64 Jah
ren. Literatur
Dass die demografische Entwicklung für den
Gesamtanstieg der Krankheitskosten weder als 1. Deutsches Zentrum für Altersfragen (2005) Gesund
heit und Gesundheitsversorgung. Pressetext zur Pres
einziger noch als der primär ausschlaggebende sekonferenz am 03. August 2005
Faktor anzusehen ist, sondern Bestandteil eines 2. Schneider HD (2003) Psychosoziale und körperliche
komplexen Wirkzusammenhangs sein dürfte, da Gesundheit im hohen Alter. In: Pro Senectute Schweiz
für wurden im Rahmen der bisherigen Ausfüh (Hrsg) Hochaltrigkeit – Eine Herausforderung für In
dividuum und Gesellschaft. Zürich, S 23 – 38
rungen diverse Belege zusammengetragen. Von 3. Kuhlmey A (2006) Rechnung mit vielen Unbe
weiterführendem Interesse ist die Analyse von kannten. Gesundheit und Gesellschaft. Spezial 9 (7/8):
Faktoren, die über die personenbezogenen, rein 4–6
demografischen Merkmale Alter und Geschlecht 4. Schneider N, Schwartz FW (2006) Auswirkungen
der soziodemografischen Entwicklung auf das Krank
hinaus die Gesundheitsausgaben beeinflussen. heitsgeschehen. Die BKK. Zeitschrift der Betrieblichen
Sie ergänzen die vorgestellten Ergebnisse der Krankenversicherung 94 (11): 530 – 546
Gesundheit und Krankheit im Alter 245
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Gesundheit und Krankheit im Alter 247
und -leistungen meist nicht zusammen. Versi kungen auf das Ausgabengeschehen (u. a. unmit
cherungen und Institutionen der Selbstverwal telbar über das Inanspruchnahmeverhalten,
tung sind als so genannte »Mittler« dazwischen mittelbar über die Bildung) dar. Aufgrund der
geschaltet [2]. Das deutsche Gesundheitswesen Vielzahl der Einflussfaktoren auf die Gesundheits
beruht drittens im Unterschied zu anderen Wirt ausgaben und ihren zum Teil komplexen und
schaftszweigen auf einer Vielzahl von Vereinba wechselseitigen Wirkungen muss die folgende
rungen unterschiedlicher Organisationen (»kor Darstellung auf eine Auswahl beschränkt bleiben.
porative Elemente«), die partikulare Interessen Ausschlaggebend für die Nachfrage nach Ge
vertreten und zugleich hoheitliche Aufgaben sundheitsgütern und -leistungen sind zum einen
ausüben sollen, wie z. B. kassenärztlichen Verei individuelle Merkmale wie der Gesundheitszu
nigungen [3]. Im Unterschied zu den beispielhaft stand, das subjektive Gesundheitsempfinden und
aufgeführten Wirtschaftszweigen ist das Gesund das (gesundheitsförderliche oder -gefährdende)
heitswesen viertens in viel stärkerem Maße mit Gesundheitsverhalten der einzelnen Personen.
ethisch-moralischen Fragen konfrontiert. Das Ge Zusammengenommen bewirken die daraus re
sundheitswesen sollte daher nicht ausschließlich sultierenden individuellen Inanspruchnahme
unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Effizienz verhalten kollektive Inanspruchnahmemuster
betrachtet werden [4]. von Gesundheitsgütern und -leistungen. Gesund
heitszustand, -empfinden und -verhalten stehen
wiederum im Zusammenhang mit der sozialen
Schichtzugehörigkeit (Bildung, Einkommen und
Gesundheitsgüter und -(dienst)leistungen Erwerbsstatus) sowie dem Alter und dem Ge
Das Gesundheitswesen ist primär ein schlecht der Personen (vgl. Teil 3). Zum anderen
Dienstleistungssektor. Gesundheitliche beeinflussen auch gesundheitsbezogene Konsum
Dienstleistungen zählen zu den persön trends die Nachfrage nach Gesundheitsgütern
lichen Dienstleistungen, für die das »uno und -leistungen und über diese das Ausgabenni
actu-Prinzip« gilt, d. h. Produktion und veau und die Ausgabenentwicklung im Gesund
Konsum (z. B. bei einer Reanimation) erfol heitswesen.
gen gleichzeitig und sind zeitlich oft nicht Angebotsseitig schreibt die Gesundheitsöko
aufschiebbar. Aus diesen Gründen sind nomie die ausgabensteigernde Wirkung primär
Gesundheits(dienst)leistungen sehr perso dem medizinisch-technischen Fortschritt zu.
nalintensiv und in geringerem Maße als an Gefördert und unterstützt wird dieser Fortschritt
dere berufliche Tätigkeiten rationalisierbar. einerseits u. a. durch den Wissensstand und die
Unter Gesundheitsgütern (synonym Waren) zunehmende Spezialisierung der Fachkräfte im
werden im Folgenden gesundheitsbezogene Gesundheitswesen sowie deren Verfügbarkeit
Sachgüter verstanden. Hierzu zählen etwa (z. B. Ärztedichte) und durch das über den GKV-
Arzneimittel und Hilfsmittel (wie Seh- und Leistungskatalog (GKV – gesetzliche Krankenver
Hörhilfen, orthopädische Hilfsmittel) sowie sicherung) definierte Leistungsspektrum für die
Zahnersatz und sonstiger medizinischer Versicherten und das Zulassungssystem für die
Bedarf. Ärztinnen und Ärzte andererseits. Aber auch die
moralische Verpflichtung der Akteurinnen und
Akteure im Gesundheitswesen, die bestehende
medizinische Wissensbasis bestmöglich zu nut
Abbildung 5.3.1.1 zeigt ausgewählte nachfrage zen, wirkt auf das Angebot an Gesundheitsgütern
seitige, angebotsseitige und systemimmanente und -leistungen ein.
Einflussfaktoren auf das Ausgabengeschehen im Gesundheitsangebot und -nachfrage beein
Gesundheitswesen. Weitere mögliche Unterschei flussen sich dabei gegenseitig, wenn das Angebot
dungskriterien stellen die Art der nachfrageseiti an Gesundheitsgütern und -leistungen Nachfra
gen Einflussnahme (u. a. individuell in Bezug auf ge hervorruft, was beispielweise im Falle neuer
das Gesundheitsverhalten, gesellschaftlich in Be Arzneimittel und Diagnoseverfahren geschehen
zug auf Konsumtrends) oder die Art der Wir kann, oder wenn die entsprechende Nachfrage
Gesundheit und Krankheit im Alter 249
Abbildung 5.3.1.1
Ausgewählte nachfrageseitige, angebotsseitige und systemimmanente Einflussfaktoren auf das Ausgabengeschehen
im Gesundheitswesen
Quelle: eigene Darstellung
Gesundheitswesen:
Gesetzliche Rahmenbedingungen
Finanzierung, Bereitstellung, Vergütung,
Kostentransparenz und Kostenbewusstsein,
negativer Preisstruktureffekt,
Preise, Wettbewerb
system
immanent
Wissensstand /
Alter, Geschlecht
Medizinischer Imperativ
Inanspruch Medizinisch
technischer
nahmeverhalten
Fortschritt
ein Angebot auslöst, wie z. B. bei den Internetapo persönlichen Dienstleistungen die menschliche
theken. Der erste Fall wird als angebotsinduzierte Arbeitskraft seltener durch Kapital oder Auto
Nachfrage, der zweite als nachfrageinduziertes matisierungsprozesse ersetzt werden kann [6].
Angebot bezeichnet. Preisbildung findet hier in eingeschränktem Aus
Systemseitig können die eingangs erwähnten maß sowohl unter Wettbewerbsbedingungen, als
Besonderheiten des deutschen Gesundheitswe auch unter staatlicher Regulierung (z. B. auf dem
sens zu einem unterentwickelten Kostenbewusst Arzneimittelmarkt durch das Arzneimittelverord
sein der Anbieter und Nachfrager beitragen, weil nungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz) statt.
durch die besondere Form der Bereitstellung,
Finanzierung und Vergütung der Gesundheits
güter und -leistungen die verursachten Kosten 5.3.2 Entwicklung der Gesundheitsausgaben
wenig transparent werden. Dem Gesundheits in der Vergangenheit
system immanent sind auch die überdurch
schnittlich steigenden Verbraucherpreise im Ver Im Jahr 2006 wurden in Deutschland insgesamt
gleich zu anderen Wirtschaftszweigen [5]. Dieser 245 Milliarden Euro für Gesundheit ausgegeben,
so genannte negative Preisstruktureffekt tritt be das waren 87 Milliarden mehr als im Jahr 1992.
sonders in dienstleistungsintensiven Wirtschaft- Zur Beurteilung, ob die Ausgabenentwicklung im
bereichen auf, weil hier durch die erforderlichen Gesundheitswesen im Vergleich mit der allgemei
250 Gesundheit und Krankheit im Alter
nen Wirtschaftsentwicklung angemessen ist, wird Über- und Fehlernährung, mangelnde körperliche
üblicherweise der Anteil der Gesundheitsausga Aktivität mit der Folge von Bluthochdruck und
ben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) herangezogen Fettstoffwechselstörungen etc. [11]. Ausgabenstei
[1]. Der entsprechende Anteil stieg im Zeitraum gernde Wirkungen sind auch auf die daraus resul
1992 bis 2006 in Deutschland von 9,6 % auf tierenden Versorgungsbedürfnisse der Bevölke
10,6 % an [7]. Dies ist auf ein in diesem Zeitraum rung mit Gesundheitsgütern und -leistungen
mit 56 % überdurchschnittliches Wachstum der zurückzuführen.
Gesundheitsausgaben zurückzuführen. Zum Ver Die Ausgabenanstiege wurden dabei durch
gleich: Das BIP wuchs in selben Zeitraum nomi zahlreiche Maßnahmen des Gesetzgebers wieder
nal um 41 %. holt begrenzt. Die Gesetzgebung reagierte auf das
überproportionale Wachstum der Gesundheits
ausgaben u. a. mit dem Beitragsentlastungsgesetz
1997 und mit dem Gesetz zur Modernisierung
Gesundheitsausgaben und GKV-Ausgaben – der gesetzlichen Krankenversicherung 2004. Die
eine wichtige Unterscheidung se Schritte zielten insbesondere darauf ab, den
Unter den Gesundheitsausgaben werden GKV-Beitragssatz nicht oder nur in begrenztem
die Ausgaben für das Gesundheitswesen Umfang ansteigen zu lassen. Ohne die Gesund
aller Ausgabenträger verstanden. Zu den heitsreformen und entsprechenden gesetzlichen
Ausgabenträgern zählen die öffentlichen Regelungen wäre der Anstieg der Gesundheitsaus
Haushalte, die gesetzliche und die private gaben in Deutschland in den vergangenen Jahren
Krankenversicherung, die soziale Pflege aller Wahrscheinlichkeit nach höher ausgefallen.
versicherung, die gesetzliche Renten- und Die Maßnahmen des Gesetzgebers sind auch in
Unfallversicherung, die Arbeitgeber sowie der Abbildung 5.3.2.1 erkennbar. Die Abbildung
die privaten Haushalte und die Organisa zeigt die prozentualen Veränderungen der Ge
tionen ohne Erwerbszweck. Die gesetzliche sundheitsausgaben und des BIP in Deutschland
Krankenversicherung ist mit 57 % Ausga gegenüber dem Vorjahr im Zeitraum von 1993
benanteil zwar der bedeutsamste, aber nur bis 2006.
ein Ausgabenträger unter mehreren [7]. Ingesamt zeigt sich: Die Einflussfaktoren auf
das Ausgabengeschehen im Gesundheitswesen
sind vielfältig und in ihrer Wirkung komplex. Die
Entwicklung der vergangenen 15 Jahre war geprägt
Für das Anwachsen der Gesundheitsausgaben von Ausgabenzuwächsen, die durch intensive Ge
sind Veränderungen des Volumens, der Preise setzgebung unterbrochen wurde. In der öffent
und der Qualität der Güter und Dienstleitungen lichen Wahrnehmung wird die Ausgabenentwick
im Gesundheitswesen verantwortlich zu machen lung im Gesundheitswesen – vermutlich auch
[8]. Die Einführung der Pflegeversicherung hat aufgrund der wiederholt gestiegenen Beitragssät
beispielsweise den Leistungsumfang im Gesund ze und der Zuzahlungen – häufig als überpropor
heitswesen deutlich erweitert [5], überdurch tional hoch eingeschätzt. Zieht man den Anteil
schnittliche Preisanstiege wurden z. B. für Arznei- der Gesundheitsausgaben am BIP als Indikator
und Hilfsmittel beobachtet [9]. Der durch den für die Ausgabenentwicklung heran, wird jedoch
medizinisch-technischen Fortschritt ausgelöste deutlich, dass es die in der öffentlichen Diskus
»Technologieschub« hat die Behandlungsmög sion mitunter bemühte Kostenexplosion im Ge
lichkeiten in der Diagnostik und Therapie erweitert sundheitswesen nicht gegeben hat.
und verbessert [10]. Die Ausgabensteigerungen Eine wichtige Größe stellt in diesem Zu
werden aber auch auf fehlende Wirtschaftlich sammenhang auch die Entwicklung der zur Fi
keitsanreize in verschiedenen Leistungsbereichen nanzierung der Gesundheitsausgaben erzielten
des Gesundheitswesens zurückgeführt [8]. Da Einnahmen dar. Die zeitweiligen Finanzierungs
rüber hinaus haben chronische und psychische defizite der GKV in Milliardenhöhe sind nicht
Erkrankungen an Bedeutung zugenommen [8], primär durch Ausgabensteigerungen im Gesund
ebenso wie lebensstilrelevante Risikofaktoren wie heitswesen erklärbar. Die Ursachen werden auch
Gesundheit und Krankheit im Alter 251
Abbildung 5.3.2.1
Entwicklung der Gesundheitsausgaben und des BIP gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Quelle: Statistisches Bundesamt, Gesundheitsausgabenrechnung, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen,
eigene Berechnungen [7, 12]
Prozent
8
–1
1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Jahr
auf die im Vergleich zum Vorjahr schrumpfenden medizinisch-technischen Fortschritts als ange
(2003) bzw. stagnierenden (2004) beitragspflich botsseitigen Faktor im Gesundheitswesen.
tigen Einnahmen der GKV [13] gesehen, ausgelöst
u. a. durch die im Vergleich zum BIP nur mäßige
Steigerung der Löhne und Gehälter als Finanzie Nachfrageseitige Faktoren
rungsbasis für die GKV, hohe Erwerbslosenquoten am Beispiel der Morbiditätsentwicklung
sowie zunehmende Teilzeit- und geringfügige Be
schäftigung [1]. Für eine Projektion von Gesundheitsausgaben ist
die Frage entscheidend, wie sich die Morbidität
der Bevölkerung vor dem Hintergrund der de
5.3.3 Entwicklung der Gesundheitsausgaben mografischen Alterung, speziell der steigenden
in der Zukunft Lebenserwartung, entwickeln wird. Je nachdem,
welche Annahmen über den Gesundheitszustand,
Um die Bedeutung der demografischen Alte mit dem die gewonnenen Lebensjahre verbracht
rung für die künftige Ausgabenentwicklung im werden, getroffen werden, kann eine unterschied
Gesundheitswesen einzuordnen, wird zunächst lich starke Altersabhängigkeit der künftigen Ge
ausgeführt, welche alterungsabhängigen und sundheitsausgaben aufgezeigt werden. Drei in
-unabhängigen Faktoren nachfrage- und ange Fachkreisen viel diskutierte Thesen zur künftigen
botsseitig sowie systembedingt auf die künftige Morbiditätsentwicklung stehen im Vordergrund
Ausgabenentwicklung einwirken können. Dies der folgenden Ausführungen (siehe Abbildung
erfolgt am Beispiel der Morbiditätsentwicklung 5.3.3.1): Die Morbiditätsthesen, die Sterbekosten
als nachfrageseitigen Faktor und am Beispiel des these und die Sisyphusthese. Die Kenntnis der
252 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 5.3.3.1
Zentrale Thesen zum Einfluss der demografischen Alterung auf die Entwicklung der Gesundheitsausgaben
Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von [14, 15, 16]
Ausgabenprofile steigen
Prävalenz der (Multi -) mit zunehmendem Alter,
ion
ans Morbidität steigt
Morbiditäts Krank verbrachte Exp Gesundheitsausgaben
zusätzliche steigen insgesamt
thesen
Lebensjahre Kom
pre
ssio Prävalenz der (Multi -) Konstante, aber zeitlich
n
Morbidität sinkt/ verzögerte Ausgaben
verzögert sich (Rechtsverschiebung der
Ausgabenkurve)
Thesen ist für das Verständnis der nachfolgenden heitsleistungen nicht nur länger, sondern auch
Ausgabenprojektion von Bedeutung, weshalb sie in größerem Ausmaß in Anspruch genommen
an dieser Stelle kurz umrissen werden. werden, wodurch die Gesundheitsausgaben je
Versicherten für ältere Versicherte stärker steigen
Morbiditätsthesen würden als für jüngere. Diese Annahme korres
Zentraler Ausgangspunkt der Morbiditätsthesen pondiert auch mit den gegenwärtig im Quer
ist die Frage: Wie verändert sich der durchschnitt schnitt beobachtbaren höheren Ausgaben für
liche Gesundheitszustand älterer Menschen, Gesundheitsgüter und -leistungen bei älteren
insbesondere in der Zeitspanne des Zugewinns Menschen im Vergleich zu jüngeren Menschen,
an Lebenserwartung? Hierbei konkurrieren im was auch als Versteilerung der Ausgabeprofile be
Wesentlichen die Expansions-, die Kompressions- zeichnet wird [19].
und die Status-Quo-These (vgl. Kapitel 2.5). Die Die originär auf Fries [20, 21] zurückgehende
Expansionsthese (synonym »Medikalisierungsthe Kompressionsthese geht davon aus, dass dank
se«) stützt sich auf die vielfach zu beobachtende medizinisch-technischem Fortschritt, verbes
Multimorbidität Älterer. Sie basiert auf der An serten Arbeitsbedingungen und sich positiv ver
nahme, dass die Mortalität zwar abnimmt, aber änderndem Gesundheitsverhalten Krankheiten
das verlängerte Leben in Krankheit verbracht wird, und gesundheitliche Beeinträchtigungen immer
also die Morbidität und damit die Inanspruchnah später im Leben auftreten. Dadurch wird der An
me von Gesundheitsgütern und -leistungen mit teil der gesundheitlich beeinträchtigten Lebens
dem Alter zunehmen [17, 18]. Für die Entwicklung zeit komprimiert. Im Unterschied zur Expansi
der Gesundheitsausgaben resultiert daraus: Mit onsthese würde eine Kompression der Morbidität
steigender Lebenserwartung könnten Gesund die Versteilerung der Ausgabenprofile dämpfen,
Gesundheit und Krankheit im Alter 253
insbesondere wenn sich auch die Länge der ge ab, dass sowohl Morbidität als auch Mortalität ins
sundheitlich beeinträchtigten Lebenszeit verrin hohe Alter »verdrängt« werden [23]. Demzufolge
gern sollte (absolute Kompression, vgl. Kapitel bleiben die Gesundheitsausgaben trotz demogra
2.5) [19]. fischer Alterung prinzipiell gleich hoch, treten
Vereinfachende Annahmen liegen der Status aber zeitlich verzögert auf und bewirken damit
Quo-Hypothese [22] zugrunde, die davon ausgeht, eine »Rechtsverschiebung« der Ausgabenkurve
dass bei einer Zunahme der Lebenserwartung die im Zeitverlauf.
relative altersspezifische Inanspruchnahme von In Querschnittsanalysen konnte die Ster
Gesundheitsleistungen nach Maßgabe der al bekostenthese mehrfach nachgewiesen werden.
tersspezifischen Ausgabenprofile zunimmt [23]. Schon frühe Untersuchungen bei amerikanischen
Zur Übersetzung der Hypothese in ein Ausga Medicare-Versicherten zeigen, dass auf diejeni
benszenarium, das auch als »rein demografisch« gen, die im letzten Lebensjahr standen (5 % der
bezeichnet wird, genügt es, feste Ausgabenprofile Versicherten), 27 % der Gesamtausgaben entfie
eines beliebigen Basisjahres auf prognostizierte len. Gleichzeitig waren deren Pro-Kopf-Ausgaben
Altersstrukturen der Bevölkerung zu projizieren. siebenmal höher als die das betreffende Jahr über
Künftige Morbiditätsentwicklungen (und andere lebenden gleichaltrigen Versicherten [26, 27]. Für
Einflussfaktoren) bleiben dabei zunächst unbe die Schweiz zeigte sich, dass die Ausgabenrelation
rücksichtigt. Die Morbiditätsentwicklung zurück von Versicherten, die während eines Jahres star
liegender Jahre ist für verschiedene Krankheits ben, zu den gleichaltrigen Versicherten 5,6 zu 1
bilder und Bevölkerungsgruppen uneinheitlich betrug [28]. Mittels alternativer ökonometrischer
[8]. Hinsichtlich der Konsequenzen der – in wel Methoden konnten diese Ergebnisse in jüngeren
cher Richtung auch immer verlaufenden – Morbi Studien gestützt werden [23, 29, 30].
dität für die Ausgabenentwicklung ist Folgendes Nach dem Alter der Versterbenden differen
zu bedenken: Eine Kompression oder Expansion ziert zeigen Berechnungen auf der Grundlage
für den Bereich des Gesundheitszustandes und eines Stichprobenpanels der Gmünder Ersatzkas
der Lebensqualität sind grundsätzlich von einer se für die Jahre 1989 bis 1995 in Deutschland, dass
monetären Kompression oder Expansion der Aus die stationäre Behandlungsdauer in Krankenhäu
gaben zu unterscheiden [14]. Morbiditätsszenari sern im letzten Lebensjahr bis zum Alter von 45
en sind nicht »eins zu eins« in Ausgabeszenarien Jahren das 30-fache, bei 60-Jährigen das 20-fache
zu übersetzen, weil auch angebotsseitige und sys und bei 80-Jährigen das sechsfache gegenüber
tembedingte Aspekte in hohem Maße ausgaben gleichaltrigen Nicht-Versterbenden beträgt. Auch
relevant sind. Bei sonst gleichen Umständen hätte die durchschnittlichen Krankenhaustage Verster
eine allgemeine Kompression von Morbidität im bender sinken mit höherem Alter deutlich ab [31].
höheren Alter aber einen geringeren Ausgabenan Ähnliches zeigt sich für die Schweiz, nämlich dass
stieg zur Folge als eine Entwicklung in Richtung die Gesundheitsausgaben in den letzten zwei Jah
der Medikalisierungs- oder Status-Quo-Hypothese ren vor dem Tod bei über 65-Jährigen mit zuneh
[6]. mendem Alter zurückgehen [28]. Demnach neh
men ältere Versterbende weniger intensive und/
Sterbekostenthese oder weniger teure Behandlungen in Anspruch als
Dieser These zufolge ist nicht die demografische Jüngere [31, 32]. Hinter diesen Befunden werden
Alterung für die steigenden Ausgaben in der u. a. ein Wandel in der Einstellung, das medizi
Gesundheitsversorgung ausschlaggebend (»Ka nisch Machbare auch immer auszuschöpfen und
lendereffekt«). Der Ausgabenanstieg wird dem ein Wandel in der Vorstellung, die Leistungsin
nach vielmehr durch höhere Kosten vor allem im tensität der medizinischen Versorgung ließe sich
letzten Lebensjahr verursacht (»Restlebenszeit beliebig steigern, vermutet [8].
effekt«) [24]. Auch die Sterbekostenthese (syno Wenn einerseits die Gesundheitsausgaben
nym »Todesfallvermeidungskosten«) fließt oft zur Vermeidung des Todes ein Vielfaches von den
in Ausgabeprojektionen ein. Sie wird häufig in sonst anfallenden Ausgaben betragen und ande
einem Atemzug mit der Kompressionsthese ins rerseits die gleichen Ausgaben mit höherem Al
Feld geführt [23, 25]. Beide Thesen zielen darauf ter sinken, hat das nach Henke/Reimers für die
254 Gesundheit und Krankheit im Alter
gen zur Vorteilhaftigkeit bestimmter Verfah sern seit Jahren kontinuierlich erhöht hat, wie Ta
ren getroffen werden können [32, 36, 37, 38, belle 5.3.3.1 verdeutlicht. Am 31. Dezember 2006
39]. wurden in deutschen Krankenhäusern und Vor
sorge- oder Rehabilitationseinrichtungen insge
Fortschritt kann im Wesentlichen in Produkt- und samt 9.416 medizinisch-technische Großgeräte
Prozessinnovationen unterschieden werden. Zu gezählt. Im Vergleich zum Jahr 2003 stieg der Be
den Produktinnovationen zählen: stand um 1.077 Geräte (+ 13 %) an. Ins Gewicht fal
▶ der pharmakologische Fortschritt: z. B. Anti len dabei besonders die Großgeräte im Kranken
biotika, Antidepressiva, Kontrastmittel, hausbereich, deren Anteil an allen Großgeräten
▶ der medizinische Fortschritt: z. B. Transplan im stationären Bereich bei über 98 % liegt. Doch
tationen, minimalinvasive Chirurgie und auch der Bestand an medizinisch-technischen
▶ der medizinisch-technische Fortschritt: z. B. Geräten in den Vorsorge- oder Rehabilitationsein
künstliche Organe, Stents, Kernspintomo richtungen ist um 16 % im Zeitraum 2003 bis
grafie; wobei der Begriff »medizinisch-tech 2006 gestiegen. Besonders hohe Zuwachsraten
nischer Fortschritt« in der Literatur sowohl von rund 25 % innerhalb von drei Jahren sind bei
als Oberbegriff für alle Fortschrittsarten in den digitalen Subtraktionsangiografiegeräten (zur
nerhalb des Gesundheitswesens, als auch als Untersuchung von Blutgefäßen) und Kernspinto
spezifische Fortschrittsart innerhalb der Pro mografen (ebenfalls ein bildgebendes Verfahren)
duktinnovationen verwendet wird. zu beobachten (siehe Tabelle 5.3.3.1).
Verglichen mit anderen OECD-Ländern hat
Den Prozessinnovationen zuzuordnen sind z. B. Deutschland eine deutlich über dem Durchschnitt
verbesserte Automatisierungsprozesse, wie Analy liegende Pro-Kopf-Dichte aufgestellter MRT- und
seautomaten zur schnellen Auswertung von Blut CT-Geräte [47]. Dem Einsatz von Medizintechnik
parametern [40, 41], aber auch organisatorische im Krankenhaus wird auch künftig eine stetig
Innovationen, wie etwa Modelle integrierter Ver steigende Nachfrage prognostiziert [47]. Diese
sorgung oder die Umstellung von einer Papier Entwicklung hängt mit den Besonderheiten des
dokumentation auf eine elektronische Verwal deutschen Gesundheitswesens zusammen und
tung prozessrelevanter Daten [25]. Bezogen auf kann über angebots- und nachfrageseitige Deter
ihre jeweilige Ausgabenrelevanz führen Prozess minanten erklärt werden. Beide Determinanten
innovationen tendenziell zu einem geringeren werden von systembedingten Faktoren überlagert.
Ressourceneinsatz sowie erhöhter Produktivität Die folgenden Beispiele, die nur eine Auswahl
und tragen meist zu einer merklichen Ausgaben sein können, sollen dies verdeutlichen:
senkung bei. Produktinnovationen, wie neue Di Angebotsseitig treibt der Wettbewerb um
agnose- und Behandlungsmethoden, werden häu Marktanteile auf den Herstellermärkten entspre
fig ergänzend und nicht alternativ zu bisherigen chender Geräte zusammen mit der Aussicht auf
Verfahren angewendet (»Add-on-Technologien«) Erzielung von Einnahmen die Produktinnova
[42]. Sie wirken daher eher ausgabensteigernd. Im tionen an, was sich beispielsweise bei MRT- und
Medizinbereich wird davon ausgegangen, dass die CT-Geräten »in Halbwertzeiten von fünf Jahren
Mehrzahl der Innovationen Produktinnovationen für diese Geräte widerspiegelt« [47]. Neue Pro
darstellen [2, 41]. dukte bieten wiederum Anreize für die Leistungs
Exemplarisch für eine kostensteigernde Pro anbieterinnen und Leistungsanbieter im Gesund
duktinnovation steht der Einsatz bildgebender Di heitswesen, das eigene Untersuchungs- oder
agnostik im Krankenhaus. Die Magnetresonanz Behandlungsrepertoire dem neuesten Stand an
tomografie (MRT) und die Computertomografie zupassen bzw. zu erweitern, um dem Wettbewerb
(CT), beides bildgebende Verfahren, haben den um die Patientinnen und Patienten untereinander
Komfort und die Aussagekraft entsprechender stand zu halten und die eigenen Verdienstmög
Untersuchungen verbessert, nicht aber die Rönt lichkeiten zu sichern. Speziell der Wettbewerb der
gendiagnostik abgelöst. Die Verfahren werden Krankenhäuser und niedergelassenen Ärztinnen
meist kombiniert eingesetzt, wodurch sich die und Ärzte trägt zur Steigerung von Angebot und
Anzahl der aufgestellten Geräte in Krankenhäu Nachfrage bei, unterliegt doch die Wirtschaft
256 Gesundheit und Krankheit im Alter
Tabelle 5.3.3.1
Bestand an medizinisch-technischen Großgeräten in Krankenhäusern und Vorsorge-
oder Rehabilitationseinrichtungen 2003 bis 2006
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankenhausstatistik [43, 44, 45, 46]
lichkeit eines Krankenhauses oder einer Arzt Therapiemöglichkeiten einer Erkrankung ist. Die
praxis der maximalen Ausnutzung vorgehaltener Patientinnen oder Patienten haben vor allem be
Ressourcen, insbesondere der kostenintensiven grenzten Einfluss auf die konsumierte Menge. Da
Funktionsdiagnostik und Großgeräte [48]. Für sie unter dem Schutz der Krankenversicherung
den Einsatz diagnostischer oder therapeutischer nicht die vollen Kosten für die in Anspruch ge
Verfahren gibt es zwar einen relativ großen Er nommenen medizinischen Güter und Leistungen
messensspielraum, allerdings wird der Einsatz zu tragen haben, kann es zu einer Übernutzung
hochtechnisierter Gesundheitsleistungen von kommen. In der Versicherungswissenschaft und
Patientinnen und Patienten vielfach mit guter in der ökonomischen Literatur wird dies als öko
Behandlung gleichgesetzt [23]. Auch ein neu zu nomisch rationales Verhalten aus Sicht des Indi
gelassenes Medikament wird von Ärztinnen und viduums beschrieben (»Moral Hazard«) [53]. Die
Ärzten sowie Verbraucherinnen und Verbrau Patientin oder der Patient wählt demnach die für
chern häufig als ein Qualitätsnachweis und folg sich optimale Menge an Behandlung, sofern die
lich als ein Bedarfsnachweis wahrgenommen [49]. Versorgungsangebote des Gesundheitswesens das
Neben den gesellschaftlichen Normen, zulassen. Die Mengenanpassung der Behandelten
Krankheiten soweit wie möglich zu bekämpfen wirkt zusammen mit der Art des Vergütungssys
(medizinischer Imperativ), tendieren Ärztinnen tems (z. B. Kostenerstattung, Einzelleistungsver
und Ärzte zusätzlich dazu, sich gegen Fehler und gütung) auf die Entscheidung der Ärztin oder des
deren Folgen abzusichern, in dem sie eher zu viele Arztes ein, innovative, aber ggf. teure Diagnose-
als zu wenige Maßnahmen durchführen [50]. Ka oder Therapieverfahren einzusetzen, das Einkom
pitalintensive Heil- und Behandlungsmethoden men durch Leistungsausweitung zu erhöhen oder
werden vorrangig bereits in der medizinischen aber auch den unerwünschten Einsatz neuester
Ausbildung vermittelt [51]. Auch die Verbreitung Medizintechnik zu begrenzen [52, 54] mit entspre
von Informationen beispielsweise über ärztliche chenden Wirkungen auf das Ausgabengeschehen
Netzwerke gilt als wichtiger Einflussfaktor auf die im Gesundheitswesen.
Entscheidung zur Übernahme neuer Techniken Das Zulassungssystem im deutschen Gesund
[52]. heitswesen und der umfängliche Leistungskatalog
Grundlage für oder gegen ein therapeutisches der GKV wurden in der Vergangenheit ebenfalls
Verfahren ist meist die Beratung der jeweiligen als Faktoren diskutiert, die die Anwendung neuer
Ärztin oder des jeweiligen Arztes, der gegenüber Techniken begünstigen können: Das Zulassungs
der Patientin oder dem Patienten in der Regel im system, weil es in der Regel nicht die bereits auf
Informationsvorteil in Bezug auf Diagnose- und dem Markt befindlichen Produkte einbezieht und
Gesundheit und Krankheit im Alter 257
zugleich die Kostenübernahme durch die GKV Produktinnovationen – die Heilungs- und Über
impliziert, der umfängliche Leistungskatalog lebenschancen sowie die Lebensqualität vieler
der GKV, weil er die Patientinnen und Patienten Menschen verbessern, individuelles Leid mindern
selten mit Rationierungen konfrontiert [49]. Das und dazu beitragen kann, dass kranke und behin
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im derte Menschen am gesellschaftlichen Leben teil
Gesundheitswesen trägt seit 2004 dazu bei, im haben. Einzelne Prozess-, aber auch zahlreiche
Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses Produktinnovationen können bei konsequenter
und des Bundesministeriums für Gesundheit, die Anwendung zu deutlichen Einsparungen führen.
im Rahmen der GKV erbrachten Leistungen, wie Fortschritt kann folglich dann ausgabensenkend
Operations- und Diagnoseverfahren, Arzneimit wirken, wenn er effizientere Behandlungen er
tel sowie Behandlungsleitlinien evidenzbasiert zu möglicht oder der Gesundheitszustand vieler
bewerten, um so die medizinische Versorgung Menschen sich durch fortschrittsbedingte Maß
hinsichtlich ihrer Qualität und Wirtschaftlichkeit nahmen derart verbessert, dass sich künftige Ver
zu verbessern [55]. sorgungsbedarfe verringern.
Der medizinische Fortschritt lässt sich vom Fortschritt kann aber auch die Gesamtaus
Altersbezug nur sehr schwer isolieren. Wird fort gaben erhöhen, indem neue Behandlungen für
schrittsbedingt das Ziel eines gesunden und lan mehr Personen zugänglich werden oder indem
gen Lebens erreicht, sinkt die altersspezifische der künftige Versorgungsbedarf steigt, weil sich
Mortalität und bestimmte Altersklassen sind die Überlebenswahrscheinlichkeit von chronisch
infolge der steigenden Lebenserwartung stärker erkrankten oder multimorbiden Patientinnen
besetzt. Das Überleben einer Krankheit und der und Patienten erhöht. Hinsichtlich seiner künf
nachfolgende Gesundheitszustand selbst haben tigen Ausgabenwirksamkeit besteht auch des
wiederum Einfluss auf die erwarteten Gesund halb große Unsicherheit, weil der Fortschritt
heitsausgaben späterer Lebensperioden [2, 56]. die Behandlungsmöglichkeiten radikal ändern
Dieser Effekt der sich gegenseitig verstärkenden kann [59]. Auch wenn Berechnungen künftiger
Wirkung von Fortschritt und Alterung – nach Ausgabeneffekte des medizinisch-technischen
Zweifel auch Sisyphus-Syndrom genannt [16, Fortschritts zu unterschiedlichen Ergebnissen
57] – fasst Krämer mit »Die moderne Medizin führen, wird von Fachleuten darauf hingewiesen,
als das Opfer ihres eigenen Erfolges« zusammen dass eine Beibehaltung der Anwendungs- und
[58]. Die Sisyphus-These ist im Hinblick auf die Verbreitungsbedingungen von Innovationen das
Ausgabenentwicklung zwar theoretisch relevant, Gesundheitswesen künftig vor erhebliche Finan
für ihre Gültigkeit gibt es aber bisher keine em zierungsprobleme stellen würde [60]. Genährt
pirische Evidenz, u. a. weil es schwierig ist, ge wird dieser Effekt insbesondere über die wechsel
eignete Indikatoren und Daten aufzutun, um seitige Verstärkung von Angebot und Nachfrage.
Fortschritt als solchen isoliert zu messen [15, 16,
56]. Jedoch haben sich viele therapeutische In
novationen der letzten Jahre auf höhere bis hohe Ausgewählte Ausgabeszenarien
Altersgruppen bezogen [15]. Auch der Zugewinn
an Lebenserwartung der letzten 20 Jahre ist vor Um der Tatsache gerecht zu werden, dass die
allem den Fortschritten bei der Behandlung von Morbiditätsentwicklung ein die Ausgabenent
Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verdanken [32]. wicklung beeinflussender Faktor unter mehreren
Folglich blenden rein demografische Ausgaben ist, stützt sich die Modellrechnung der General
szenarien (feste Ausgabenprofile bei veränderten direktion Wirtschaft und Finanzen der Europäi
Altersstrukturen) den Fortschritt nicht notwendi sche Kommission (DG ECFIN) auf verschiedene
gerweise aus. Fortschritt wird dennoch als ausga Annahmen, aus der im Folgenden ausgewählte
bentreibender Faktor in vielen Modellrechnungen Ergebnisse für Deutschland vorgestellt werden.
modelliert (vgl. Abschnitt »Ausgewählte Ausga Zur Methodik im Einzelnen wird auf die Original
beszenarien«). quellen verwiesen [59, 61, 62, 63].
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass der me Die Ausgabenprojektion der DG ECFIN
dizinisch-technische Fortschritt – insbesondere verbindet Ansätze der Vorausberechnung der
258 Gesundheit und Krankheit im Alter
öffentlichen Gesundheitsausgaben für den Zeit nario I Basis (s. u.) – die Gesundheitsausgaben in
raum 2004 bis 2010, 2030 und 2050 mit einem Deutschland bis 2050 nach den Berechnungen
Ergebnisvergleich für die 25 Mitgliedsstaaten der der DG ECFIN auf 7,3 % des Bruttoinlandspro
Europäischen Union, getrennt nach Ausgaben für duktes anwachsen (siehe Tabelle 5.3.3.2). Aus
Akut- und Langzeitversorgung (health care und Gründen der internationalen Vergleichbarkeit
long-term care). sind in diesen Angaben anders als in Abbildung
5.3.2.1 die Ausgaben für Langzeitpflege (long
term care) nicht enthalten. Für den Bereich der
Akutversorgung variiert der Anstieg bei den be
Öffentliche Gesundheitsausgaben für die trachteten Mitgliedsstaaten zwischen 0,7 Prozent
Akutversorgung und Langzeitpflege punkten (z. B. Litauen) und 2,3 Prozentpunkten
Im Unterschied zur Gesundheitsausgaben- (Vereinigtes Königreich). Für vier Länder wird
rechnung des Statistischen Bundesamtes ein Anstieg von jeweils mindestens 2,0 Prozent
fließen in die Ausgabenprojektion der Eu punkten projiziert (Spanien, Irland, Vereinigtes
ropäischen Kommission nur öffentliche Königreich und Malta). Auch wenn das auf den
Gesundheitsausgaben ein, d. h. die Aus ersten Blick über diesen langen Zeitraum nicht
gabenträger Private Krankenversicherung viel erscheinen mag, so wird sich bis 2050 die
(PKV) und private Haushalte/private Orga sem Szenario zufolge der Anteil der öffentlichen
nisationen ohne Erwerbszweck sind nicht Gesundheitsausgaben für die Akutversorgung
inbegriffen. Die Europäische Kommission am BIP im Durchschnitt um rund ein Viertel er
grenzt ferner die beiden Ausgabenbereiche höhen.
»health care spending« und »long-term care« Abbildung 5.3.3.2 zeigt die von der DG EC
voneinander ab. Long-term care umfasst die FIN projizierte Entwicklung der öffentlichen Ge
öffentlichen Gesundheitsausgaben für die sundheitsausgabenquote für die Akutversorgung
häusliche, ambulante oder institutionelle von 2004 bis 2010, 2030 und 2050 am Beispiel
Pflege (außerhalb von Krankenhäusern) Deutschland. Je nach Szenario können die Aus
pflegebedürftiger oder älterer Personen [63]. gaben auf 6,7 % bis 7,6 % des BIP im Jahr 2050
Innerhalb der Mitgliedsländer besteht keine anwachsen. Bei der Interpretation der Ergebnisse
einheitliche Abgrenzung der Langzeitpflege. ist der im Vergleich deutlich kürzere Prognose
Die deutschen Ausgaben für Langzeitpflege zeitraum 2004 bis 2010 von sechs Jahren zu be
umfassen beispielsweise die Ausgaben für achten.
(instrumentelle) Aktivitäten des täglichen Das Szenario I Basis (Pure ageing) versucht,
Lebens (ADL und IADL). Aus diesem Grund den »reinen« Demografieeffekt einer alternden
können Abweichungen in den Ausgabenan Bevölkerung auf die Gesundheitsausgaben zu iso
teilen methodisch bedingt sein, wodurch die lieren. Unterstellt werden gleich bleibende alters
Vergleichbarkeit erheblich eingeschränkt ist spezifische Pro-Kopf-Ausgaben des Basisjahres.
[64, 65]. Zugewinne an Lebenserwartung bis 2050 werden
– so die Annahme in Anlehnung an die Expan
sionsthese – in schlechter Gesundheit verbracht,
während die gesund verbrachten Lebensjahre kon
Die Projektionsergebnisse können – so die Auto stant bleiben. Im Ergebnis dieses Szenarios wird
rinnen und Autoren – bestenfalls als »Schnapp der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben
schuss« [66] interpretiert werden. Ausgewählte für die Akutversorgung am BIP in Deutschland im
Ergebnisse für Deutschland stellen sich wie folgt Zeitraum 2004 bis 2050 von 6,0 % auf 7,3 % stei
dar (siehe Tabelle 5.3.3.2) [59, 66]. gen. Dieser Anstieg ist auf den demografischen
Ausgehend von einem im Vergleich zum Effekt der alternden Bevölkerung zurückzufüh
EU25-Durchschnitt um 0,4 Prozentpunkte nied ren. Er liegt damit unter dem projizierten Aus
rigeren Ausgabenniveau für die Akutversorgung gabenanstieg im europäischen Mittel (+ 1,7 Pro
in Deutschland (6,0 % des Bruttoinlandspro zentpunkte für EU25). Die Bevölkerungsprognose
duktes im Jahr 2004), werden – nach dem Sze orientiert sich für die einzelnen Mitgliedsländer in
Gesundheit und Krankheit im Alter 259
Tabelle 5.3.3.2
Entwicklung des Anteils öffentlicher Gesundheitsausgaben am BIP im Bereich Akutversorgung
in ausgewählten EU-Mitgliedsländern, Szenario I Basis (Pure ageing)
Quelle: [59]
Abbildung 5.3.3.2
Prognoseszenarien 2004 bis 2050 der öffentlichen Gesundheitsausgaben für die Akutversorgung für Deutschland
(Anteil in Prozent am BIP)
Quelle: eigene Darstellung auf Basis von [59] in Anlehnung an [67]
Prozent
8,0
7,5
7,0
IV: Einkommenselastizität > 1
I: Basis-Szenario
6,5
V: Referenz-Szenario
III: Sterbekosten
6,0 II: Kompression
5,5
2004 2010 2030 2050
Jahr
260 Gesundheit und Krankheit im Alter
allen Szenarien an der Prognose des europäischen Zeitraum 2004 bis 2050 um 1,6 Prozentpunkte
statistischen Amtes EUROSTAT des Basisjahres an.
2004 (EUROPOP2004). Das Szenario V Referenz (Working Group
Im Szenario II Kompression (Constant health) on Ageing Populations) ist im Wesentlichen eine
wird deutlich, dass ein guter Gesundheitszustand Kombination aus Szenario I und II, geht aber da
der Bevölkerung den BIP-Anteil der öffentlichen von aus, dass sich der Gesundheitszustand nur
Gesundheitsausgaben für die Akutversorgung am halb so stark verbessert, wie in Szenario II ange
wenigsten stark ansteigen lässt. Der Anstieg des nommen [59, 67]. Der Anteil öffentlicher Gesund
Ausgabenanteils (+ 0,7 Prozentpunkte) halbiert heitsausgaben für die Akutversorgung am BIP
sich im betrachteten Zeitraum etwa im Vergleich steigt in diesem Szenario in Deutschland vom Jahr
zum Basis-Szenario in Deutschland (+ 1,3 Prozent 2004 bis 2050 um 1,2 Prozentpunkte an.
punkte), wie auch EU-weit, wenn sich die gesund Aufgrund der Vielfalt der europäischen Ge
verbrachten Lebensjahre im Einklang mit der Le sundheitssysteme und der in den vorliegenden
benserwartung entwickeln. Im Unterschied zum Ausgabeszenarien getroffenen Annahmen sind
Basis-Szenario wird also unterstellt, dass alle Zu selbst verallgemeinernde Fazits schwierig. Wie
gewinne an Lebenserwartung in guter Gesundheit genau sich die demografische Alterung auf die Ge
verbracht werden. sundheit und damit auf die individuelle Leistungs
Das Szenario III berücksichtigt die Sterbe inanspruchnahme auswirken wird ist ungewiss.
kosten (Death related costs) und unterscheidet Die Szenarien zeigen jedoch übereinstimmend
nach Kosten für Krankheiten mit und ohne töd für die verschiedenen Länder: Je gesünder die zu
lichen Ausgang, lässt aber weitere Morbiditätsent künftigen Lebenserwartungsgewinne verbracht
wicklungen außer Acht. Infolgedessen wachsen werden, desto weniger steil verlaufen die Ausga
die öffentlichen Ausgaben für die Akutversorgung benanstiege im Bereich Akutversorgung. Aller
weniger stark (+ 1,0 Prozentpunkte für Deutsch dings können die künftigen Morbiditäts- und Mor
land) als im Basis-Szenario, reduzieren sich aber talitätsraten einer alternden Gesellschaft von der
auch nicht ganz so rapide wie im Kompressions- bisherigen Entwicklung abweichen und sich im
Szenario. Allerdings geben die Autorinnen und Zeitverlauf ändern. Die Projektionen zeigen, dass
Autoren zu bedenken, dass auch die Szenarien auch nicht-demografische Faktoren beträchtlichen
I und II die Sterbekosten implizit enthalten, die Einfluss haben können, beispielsweise steigende
wenigen Angaben hierüber aber nicht zuverlässig Einkommen der Bevölkerung oder steigende Löh
genug sind, um sie in das Basisszenario explizit ne im Gesundheitswesen.
einzubeziehen [59]. Im Bereich Langzeitpflege ist der Einfluss
Das Szenario IV Einkommenselastizität einer alternden Bevölkerung auf das Ausgaben
(Income elasticity of demand) zeigt, dass Ände wachstum wesentlich ausgeprägter als in der
rungen im Pro-Kopf-Einkommen deutliche Aus Akutversorgung. Pflegebedürftigkeit betrifft pri
wirkungen auf den Anteil der öffentlichen Ge mär sehr alte Menschen, die zugleich das am
sundheitsausgaben für die Akutversorgung am schnellsten wachsende Bevölkerungssegment der
BIP haben. Es ist identisch mit Szenario I, geht nächsten Jahrzehnte sein werden. Zudem ist die
aber von einer Einkommenselastizität der Nach Ausgabenentwicklung im Pflegebereich nicht nur
frage nach Gesundheitsgütern und -leistungen sehr stark vom künftigen Grad der Pflegebedürf
größer 1 im Basisjahr aus (bis 2050 linear auf 1 tigkeit älterer Menschen abhängig, sondern auch
fallend). Das bedeutet, dass steigende Pro-Kopf- von der jeweiligen Mischung der Inanspruchnah
Einkommen erheblichen Einfluss auf die Ge me formaler und informeller bzw. institutioneller
sundheitsausgabenentwicklung haben, insbeson und häuslicher Pflegeleistungen sowie der Höhe
dere wenn Gesundheit als »Luxusgut« angesehen der Pflegeleistung je Pflegestufe [68].
wird, also die Ausgaben für Gesundheit mit stei Basierend auf den jeweiligen nationalen Ver
gendem Einkommen überproportional zuneh sorgungsgegebenheiten wird von der DG ECFIN
men. Der Anteil der öffentlichen Gesundheits bei unterstelltem Szenario I Basis (pure ageing)
ausgaben für die Akutversorgung steigt unter den für den Anteil der Gesundheitsausgaben im Be
Bedingungen dieses Szenarios in Deutschland im reich Langzeitversorgung im Zeitraum 2004 bis
Gesundheit und Krankheit im Alter 261
2050 in den meisten Ländern ein Anstieg von 0,7 schätzten Beitragssatzhöhen von 15 % bis 34 % für
bis 1,4 Prozentpunkten am BIP projiziert. Länder das Jahr 2040 [18, 41, 69, 70, 71] und von 16 % bis
mit traditionell hohem Anteil an professionell er 39 % für das Jahr 2050 [23, 25, 69, 70, 72]. Sofern
brachter Pflegeleistung und hoher Frauenerwerbs der medizinisch-technische Fortschritt als ausga
quote (z. B. Finnland, Schweden) verzeichnen eine bensteigernder Faktor in den Modellrechnungen
überdurchschnittliche Ausgabensteigerung von modelliert wird, wird in der Regel ein um 0,5 bis
über 2 Prozentpunkten, vor allem verglichen mit 1,5 Prozentpunkte höheres Ausgabenwachstum
den Ländern, in denen informelle Pflege tradierter angenommen [69, 71, 73]. Für die GKV-Pro-Kopf-
ist (Polen, Spanien) [59]. Ausgaben schätzt Felder für die Jahre 2002 bis
In Deutschland werden nach den Projektio 2060, dass der Einfluss der demografischen Al
nen der DG ECFIN ausgehend von einem im Ver terung auf die Gesundheitsausgaben »weit hinter
gleich zum EU25-Durchschnitt ähnlichen Ausga jenem des als moderat unterstellten technischen
benniveau von 1,0 % (EU25: 0,9 %) des BIP im Fortschritts der Medizin zurück bleibt« [32].
Jahr 2004 die Ausgaben für Langzeitpflege auf Aus der Fülle der Ergebnisse lässt sich
2,3 % des BIP im Jahr 2050 anwachsen. Damit schlussfolgern, dass der Gesundheitsausgabenan
liegt Deutschland mit einem Ausgabenanstieg von stieg der vergangenen Jahrzehnte weniger stark
projizierten 1,3 Prozentpunkten über dem EU25 demografisch beeinflusst war, sondern neben
Durchschnitt von 0,8 % [59]. Bei internationalen politischen Entscheidungen, wie Zugangs- und
Vergleichen ist zu berücksichtigen, dass bei der Angebotsausweitungen, insbesondere durch qua
Abgrenzung für Ausgaben der Langzeitpflege litative Verbesserungen infolge des medizinisch
(long-term care) z. T. erhebliche Unterschiede be technischen Fortschritts ausgelöst wurde. Sowohl
stehen. Bei allen Unterschieden in der Methodik in retrospektiven Ausgabenanalysen [22] als auch
zeigt sich dennoch, dass die Ausgabenanstiege für in prospektiven Modellrechnungen [72] wird dem
Langzeitpflege in engem Zusammenhang mit der medizinisch-technischen Fortschritt wesentlich
demografischen Alterung stehen, weil die Nach mehr Bedeutung beigemessen, als der demogra
frage nach Pflegeleistungen mit höherem Alter fischen Alterung.
deutlich ansteigt. Einfluss auf die Ausgaben im Gesundheits
Neben der Ausgabenprojektion der Europäi wesen hat ganz wesentlich die wirtschaftliche
schen Kommission gibt es eine Reihe von Unter Entwicklung eines Landes, u. a. die Einkommens
suchungen, die sich speziell mit der Ausgaben- entwicklung der Beschäftigten und die Kapital
und Beitragssatzentwicklung innerhalb der GKV investitionen im Gesundheitswesen im Vergleich
beschäftigen: Die Berechnungen des Deutschen zur Gesamtwirtschaft. Je nach gewähltem Sze
Instituts für Wirtschaftsforschung berücksichti nario fällt dieser Einfluss unterschiedlich aus.
gen in einer Projektion der GKV-Ausgaben bei Die Gesundheitsausgaben werden zudem vom
spielsweise zusätzlich die Nachfrageentwicklung Lebensstandard eines Landes beeinflusst und
innerhalb einzelner Leistungsbereiche [69]. Ver damit von der Bereitschaft der Bevölkerung, bei
änderungen der Altersstruktur in den einzelnen steigendem Einkommen einen größeren Teil in
Leistungsbereichen betreffen besonders den Kran Gesundheit zu investieren [59].
kenhausbereich. Demzufolge wird bis 2050 der Die Ausgabenszenarien der Europäischen
Anteil der Leistungsausgaben für die ambulante Kommission führen den weniger steilen Verlauf
ärztliche und zahnärztliche Behandlung sinken, bei einer Kompression der Morbidität vor Au
der Anteil des Krankenhausbereichs und der Heil- gen. Da viele chronische Krankheiten in engem
und Hilfsmittel hingegen zunehmen [69]. Zusammenhang mit der Lebensweise stehen,
Die projizierten GKV-Beitragssatzentwick können nach Einschätzung der Weltgesundheits
lungen zeigen ausnahmslos eine Tendenz nach organisation bei Beseitigung der lebensstilrele
oben, jedoch in höchst unterschiedlichem Aus vanten Risikofaktoren 80 % der Herzkrankheiten,
maß. Weil den Berechnungen unterschiedliche Schlaganfälle und Diabeteserkrankungen vom
Startbeitragssätze sowie verschiedene Bevöl Typ 2 sowie 40 % der Krebserkrankungen ver
kerungsvorausberechnungen, Methodiken und hindert werden [74]. Das Bundesministerium für
Annahmen zu Grunde liegen, reichen die ge Gesundheit will daher die Gesundheitsförderung
262 Gesundheit und Krankheit im Alter
Im internationalen Vergleich werden mit Blick Weltweit stehen die Gesundheitssysteme der in
auf ihre Ausgaberelevanz auch Faktoren disku dustrialisierten Länder vor ähnlichen Problemen
tiert, die mit der grundsätzlichen Ausgestaltung wie in Deutschland, nämlich einer steigenden
des Gesundheitswesens sowie gesundheitspoli Lebenserwartung und einem sich ändernden
tischen Regelungen im Zusammenhang stehen. Krankheitsspektrum. In Verbindung mit den
Sie sind beim Thema »medizinisch-technischer medizinisch-technischen Fortschritten trägt dies
Fortschritt« bereits angeklungen. Mit Blick auf zu einem Anstieg der Ausgaben bei [79]. Diesen
Deutschland wird dabei u. a. auf folgende system Herausforderungen begegnet jedes Land mit je
bedingte Besonderheiten hingewiesen: eigenen Reformansätzen. Weil Deutschland im
▶ Bezieher höherer Einkommen haben in europäischen Vergleich hohe Gesundheitsausga
Deutschland, im Unterschied zu beispiels ben aufweist, werden auch Reformideen aus ande
weise Frankreich und Österreich, eine Aus ren Ländern hinsichtlich ihres Vorbildcharakters
stiegsoption aus der GKV. Auch hauptberuf für das deutsche Gesundheitswesen diskutiert.
lich Selbständige, Beamtinnen und Beamte, Allerdings lassen sich nationale Lösungsansätze
Berufssoldatinnen und Berufssoldaten und des einen Gesundheitssystems selbst innerhalb
weitere Berufsgruppen sind in Deutschland vergleichbarer Finanzierungs- und Vergütungs
nicht in die GKV integriert [76]. Die Konse systeme nicht ohne weiteres auf ein anderes Land
quenzen für die Einnahme- und Ausgabeent übertragen [79]. Die Frage, was an anderen Syste
wicklung werden unterschiedlich beurteilt. men »gut« und daher übertragenswert wäre, kann
Einerseits gilt die PKV als unsolidarisch, weil in dieser Publikation nicht beantwortet werden.
sie potenziell jüngere, gesündere und ein Vielmehr ging es darum aufzuzeigen, welche Kon
kommensstärkere Mitglieder hat, die sich der sequenzen die Herausforderung »demografische
Solidargemeinschaft entziehen können oder Alterung« für die Ausgabenentwicklung im Ge
müssen [76]. Andererseits wird hervorgeho sundheitswesen haben und ob es daneben auch
ben, dass gerade die höheren Finanzierungs alterungsunabhängige und systemimmanente
beiträge der PKV dazu beitragen, den Kosten Einflussfaktoren gibt, die in den Diskussionen
druck in der GKV zu kompensieren [77]. leicht aus dem Blickfeld geraten.
▶ Eine Beitragsfinanzierung nach dem Umla
geverfahren wie in der GKV gilt als besonders
»demografieanfällig«, jedoch sind auch steu 5.3.4 Wird die Bedeutung der demografischen
erfinanzierte Systeme direkt abhängig von Alterung für die Ausgabenentwicklung
der volkswirtschaftlichen Entwicklung und überschätzt?
der politischen Prioritätensetzung [78].
▶ Durch die relativ starke sektorale Gliederung Welche Bedeutung hat nun alles in allem die Alte
beispielsweise zwischen stationärer und am rung für die Ausgabenentwicklung innerhalb des
bulanter Versorgung, aber auch zwischen Gesundheitswesens? Grundsätzlich gilt: Die Zu
Gesundheit und Krankheit im Alter 263
kunft ist offen. Je größer der in Modellrechnungen kungen an. Die Ausgaben für Gesundheit hängen
anvisierte Zeithorizont ist, desto unkalkulierbarer im Wesentlichen von dem – wie auch immer gear
wird er [80]. Die vielen Versuche, die Gesundheits teten – Ressourceneinsatz für die gesundheitliche
ausgabenentwicklung der nächsten Jahrzehnte zu Versorgung ab, der wiederum von nachfrageseiti
schätzen, werden dem Bedürfnis zugeschrieben, gen, angebotsseitigen und systembedingten Fak
die künftige Ausgabenentwicklung durch gegen toren beeinflusst wird.
wärtiges Handeln weitestgehend steuern zu wol Der Wirkungsmechanismus auf das Aus
len [22]. Analysen zum Ausgabengeschehen im gabengeschehen im Gesundheitswesen bleibt
Gesundheitswesen sind dabei – wie andere Aus insgesamt vielschichtig und komplex. Die ökono
wertungen auch – grundsätzlich durch das verfüg mischen Überlegungen eher relativierend, liegt in
bare Datenmaterial begrenzt. der Verknüpfung von Alter und Gesundheit mög
Angaben zum Alter und Geschlecht der licherweise der individuelle wie gesellschaftliche
untersuchten Bevölkerungsgruppe stellen ver Wunsch begründet, bei guter Gesundheit zu al
breitete demografische Merkmale in gesund tern. Das Thema »Gesundheit und Alter(n)« rückt
heitsbezogenen Datenquellen dar. Entsprechend daher vermehrt in den Blickpunkt der Öffentlich
häufig – auch in Ermangelung alternativer oder keit. »Aktiv leben – gesund alt werden« war be
ergänzender Merkmale – werden Ausgaben- oder reits Motto des Weltgesundheitstags 1999. Seither
Kostenentwicklungen alters- und geschlechtsspe ist gesundes Altern ein Arbeitsschwerpunkt der
zifisch ausgewertet und schließlich zur Erklärung Gesundheitsförderung, z. B. der Bundesvereini
bestimmter Entwicklungen im Gesundheitswe gung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.
sen herangezogen. Die Altersstruktur wird dann oder des Deutschen Forums Prävention und Ge
zu einem oder »dem« erklärenden Merkmal sundheitsförderung [82] (vgl. Kapitel 3.4). Auch
der Höhe der Gesundheitsausgaben, die demo die Europäische Kommission hat das Altern bei
grafische Alterung zum zentralen Einfluss auf guter Gesundheit als ein Kernthema für ihre um
die Gesundheitsausgabenentwicklung im Zeit fassende Gesundheitsstrategie gewählt [83].
verlauf. Eine andere Variante, die Ursachen der
Ausgabenentwicklung zu deuten, liefern Beiträge,
die ausgehend von Ausgabenentwicklungen auf Literatur
Morbiditätsentwicklungen schließen. So interpre
tierte beispielsweise das Bundesministerium für 1. Simon M (2005) Das Gesundheitssystem in Deutsch
land – Eine Einführung in Struktur und Funktionswei
Gesundheit den im Vergleich zu den Vorjahren se. Verlag Hans Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle
nur moderaten Ausgabenanstieg der sozialen Pfle- 2. Meidenbauer T (2005) Das Wachstum der Gesund
geversicherung als ersten Beleg für die These des heitsausgaben – Determinanten und theoretische
»immer gesünderen Alterns« in Bezug auf Pfle- Ansätze. Wirtschaftswissenschaftliche Diskussions
papiere Nr. 07-05, Universität Bayreuth
gebedürftigkeit [81], schloss also von einem Aus 3. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwick
gabenrückgang auf einen Morbiditätsrückgang. lung im Gesundheitswesen (2007)
Zielsetzung dieses Kapitels war es unter Vermei www.svr-gesundheit.de/Startseite/Startseite.htm
dung monokausaler Deutungen herauszuarbei (Stand: 26.10.2007)
4. Schimany P (2003) Die Alterung der Gesellschaft –
ten, dass Ausgabenentwicklungen zwar von der Ursachen und Folgen des demografischen Umbruchs.
gesundheitlichen und demografischen Entwick Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main
lung nicht gänzlich entkoppelt, aber auch nicht 5. Statistisches Bundesamt (2008) Preise, Verbraucher
ausschließlich damit erklärt werden können, wie preisindizes für Deutschland – Eilbericht – April 2008
– Fachserie 14, Reihe 7. Wiesbaden
die systematische Darstellung des zunächst un 6. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im
übersichtlichen Bündels verschiedener Einfluss Gesundheitswesen (2003) Finanzierung, Nutzerori
faktoren zeigen konnte. Abschließend sei daher entierung und Qualität, Band I Finanzierung und Nut
nochmals betont: Das Alter an sich muss keine zerorientierung, Band II Qualität und Versorgungs
strukturen. Gutachten 2003 Kurzfassung
größere gesundheitliche Belastung und Pflegebe 7. Statistisches Bundesamt (2008) Gesundheitsausga
dürftigkeit bedeuten (vgl. Kapitel 2). Nicht kausal benrechnung, Gesundheitsausgaben in Deutschland
durch das hohe Alter, sondern entwicklungsbezo als Anteil am BIP
gen im hohen Alter steigt das Risiko für Erkran
264 Gesundheit und Krankheit im Alter
37. Schöffski O, Esslinger AS (2004) Was kostet das Al Universität Berlin Fakultät VIII Wirtschaft & Manage
tern? (abstract). Zukunft Alter – Gerontologica. Euro ment Fachgebiet Finanzwissenschaft und Gesund
pean Journal of Geriatrics Abstractband 6 (1): 20 heitsökonomie
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266 Gesundheit und Krankheit im Alter
Tabelle 5.4.1.1
Gesundheitswesen und Gesundheitswirtschaft: Zwei Blickrichtungen
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an [2, 3, 4, 5]
Gesundheitswesen Gesundheitswirtschaft
Blickrichtung sozialpolitisch, marktwirtschaftlich,
wohlfahrtsstaatlich volkswirtschaftlich
Gesundheitsgüter … »konsumiert« und vom Sozial … »produziert« und tragen zum Wirt
und -leistungen staat zur Verfügung gestellt schafts- und Beschäftigungswachstum
werden … (konsumtiver Wohlfahrtssektor) bei (produktiver Wirtschaftszweig)
im Fokus der … steht die Ausgabenentwick … stehen branchenspezifische Entwick
Analysen … lung einzelner Ausgabenträger lungen in der Gesundheitswirtschaft
verschiedener im weiteren Sinn gesundheitsbe ohne die Vermittlung der GKV und PKV erfolgen,
zogener Zweige. Sie wird mit Blick auf die demo also zu den direkten Käufen der Konsumentinnen
grafische Alterung und die damit verbundenen und Konsumenten zählen.
Bedarfe älterer Menschen nach gesundheitsbe Nach den Ergebnissen der Gesundheitsaus-
zogenen Gütern und Leistungen auch Senioren gabenrechnung zahlten die privaten Haushalte
wirtschaft genannt [7]. Wesentlich ist, dass vielen und privaten Organisationen ohne Erwerbszweck,
Abgrenzungen zufolge der Gesundheitswirtschaft die öffentlichen Haushalte sowie die öffentlichen
ergänzend jene Bereiche zugeordnet werden, die und privaten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
Abbildung 5.4.2.1
Senioren- und Gesundheitswirtschaft
Quelle: [7]
Freizeitindustrie
Bildung
Medizin- und
Sport Gerontotechnologie
Bio
techno Gesundheits- und
logie Sozialverwaltung Ge
sunde
Gesund Ernäh
Stationäre und heits rung
Gesund Handel
ambulante hand
heits- mit Ge Selbst
Gesundheits Apo werke
Touris sund hilfe
versorgung theken
mus heits
Altenhilfe
produk
ten
Prävention und
Kultur
Rehabilitation Beratung wirt
Pharmazeutische schaft
Well Industrie
ness
Service-Wohnen/
Betreutes Wohnen
Gesundheit und Krankheit im Alter 269
im Jahr 2006 insgesamt fast 76 Milliarden Euro rigen und 22 % der 66-Jährigen und Älteren [9].
direkt für den Kauf von Gesundheitsgütern und Auch scheint die subjektive Gesundheitseinschät
-leistungen. Davon entfielen rund 35 Milliarden zung keinen entscheidenden Einfluss auf das
Euro (46 %) auf die privaten Haushalte und pri Angebot oder die Inanspruchnahme von IGeL zu
vaten Organisationen ohne Erwerbszweck. Die haben. Vielmehr zeigt sich, dass Bildung, Einkom
Gesundheitsausgabenrechnung lässt jedoch kei men und Erwerbsstatus der Versicherten von grö
ne Rückschlüsse auf den konkreten Umfang der ßerer Bedeutung sind, als die Höhe des Alters und
Zuzahlungen und direkten Käufe insbesondere der selbst eingeschätzte Gesundheitszustand. So
der älteren Menschen zu. Im Folgenden wird da steigt auf Basis der Versichertenauskünfte das An
her zunächst die wirtschaftliche Bedeutung aus gebot und die Inanspruchnahme von privat zu zah
gewählter Gesundheitszweige beleuchtet, die sich lenden Gesundheitsleistungen mit zunehmender
auch oder in besonderer Weise an die Zielgruppe Schulbildung und Haushaltsnettoeinkommen
der Älteren richtet. Im zweiten Schritt werden die kontinuierlich an [9]. Ähnliche Zusammenhänge
Struktur und Entwicklung der Konsumausgaben zeigen die Ergebnisse des GKV-Arzneimittelindex
von Seniorenhaushalten im Bereich Gesundheits in Kombination mit einer Repräsentativ-Umfrage
pflege in den Blick genommen. unter 3.000 GKV-Versicherten im Jahr 2005 im
Bereich der Arzneimittelverordnungen und der
direkten Käufe von Arzneimitteln (Selbstmedika
Ausgewählte Zweige des Gesundheitsmarkts tion) (siehe Tabelle 5.4.2.1).
Je höher das Haushaltsnettoeinkommen und
Ein Beispiel für einen bedeutsamer werdenden die Schulbildung der Versicherten sind, desto
Zweig des Gesundheitsmarkts stellen die indivi mehr frei verkäufliche Arzneimittel werden hin
duellen Gesundheitsleistungen (IGeL) dar. Sie zugekauft. Anders als bei den IGeL weisen Arznei
umfassen Leistungsangebote, die durch die GKV mittelverordnungen und Selbstmedikation einen
nicht abgedeckt werden, weil sie nicht zum GKV- starken Alterszusammenhang auf [11]. Gesetzlich
Leistungskatalog gehören. IGeL müssen somit Krankenversicherten im Alter von 60 Jahren und
von den Versicherten privat finanziert werden. älter wurden im Jahr 2004 im Schnitt 16 Arznei
Hierzu zählen individuelle Beratungen und be mittel verordnet. Hinzu kamen im Mittel 7 privat
stimmte Impfungen sowie Leistungen, die in gekaufte Präparate durch Selbstmedikation. Äl
ihrer Notwendigkeit umstritten sind, z. B. ergän teren Menschen werden damit durchschnittlich
zende Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, nicht nur in stärkerem Umfang Arzneimittel
Augeninnendruckmessungen oder alternative verordnet, sie erwerben selbst auch häufiger zu
Heilverfahren wie Akupunktur [9]. sätzliche Arzneimittel [11]. Abbildung 5.4.2.2 zeigt
Während die wirtschaftliche Bedeutung von die GKV-Arzneimittelverordnungen in definierten
IGeL bei Haus- und Fachärzten sowie die durch Tagesdosen nach Alter der Versicherten.
schnittlichen IGeL-Umsätze der Praxen dokumen Im Schnitt entfielen im Jahr 2006 auf jeden
tiert sind [10], können Informationen darüber, wie Versicherten 8 Arzneimittel mit 419 definierten
viel davon auf den Konsum älterer Menschen zu Tagesdosen (DDD). Differenziert nach Alters
rückzuführen ist, nur indirekt über die Nachfrage gruppen wird sichtbar, dass die Medikation der
abgeleitet werden. Nach Ergebnissen einer Pa höheren Altersgruppen die der jüngeren um ein
tientenbefragung, der »IGeL-Studie« des Wissen Vielfaches übertrifft. Auf die 75 bis 79-Jährigen
schaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen aus entfiel ein Maximum an 1.270 Tagesdosen je GKV-
dem Jahr 2005, wird deutlich, dass älteren Men Versicherten, etwa viermal so viel, wie bei den
schen etwas seltener als Jüngeren IGeL angeboten Versicherten insgesamt. Auf die Versicherten im
werden bzw. sie diese etwas seltener in Anspruch Alter von 60 Jahren und älter entfielen demnach
nehmen. Die Frage, ob im Laufe der letzten 12 55 % der gesamten GKV-Fertigarzneimittelverord
Monate in einer Arztpraxis ärztliche Leistungen nungen. Das entspricht in etwa dem Doppelten
als Privatleistungen angeboten oder in Rechnung ihres Bevölkerungsanteils (27 %) [12]. Obwohl die
gestellt worden sind, bejahten 27 % der 40 bis Anzahl der Arzneimittelverordnungen für ältere
49-jährigen Versicherten, 26 % der 50 bis 65-Jäh Menschen mit der im Alter häufig stattfindenden
270 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 5.4.2.2
Definierte Tagesdosen je GKV-Versicherten 2006 nach Altersgruppen*
Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK, GKV-Arzneimittelindex
1.400
1.200
1.000
800
600
400
200
5–9 15–19 25–29 35–39 45–49 55–59 65–69 75–79 85–89 gesamt
unter 5 10–14 20–24 30–34 40–44 50–54 60–64 70–74 80–84 90+
Altersgruppe
* Arzneimittel, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet wurden
Gesundheit und Krankheit im Alter 271
Neben dem Arzneimittel- und dem IGeL- aller privaten Haushalte. Der Anteil der Senioren
Markt gilt auch die Medizintechnik als ein pros haushalte an allen hochgerechneten Haushalten
perierender Zweig innerhalb der Gesundheits innerhalb der EVS betrug 27 %. Pro Kopf verfügte
wirtschaft. Ihr Produktionsspektrum reicht von ein Seniorenhaushalt im Jahr 2003 über eine
Computer-Tomografen über Hörgeräte bis hin zu durchschnittliche Kaufkraft von ca. 18.000 Euro.
künstlichen Hüftgelenken und Rollstühlen. Me Das waren – auch aufgrund der geringeren Haus
dizintechnik richtet sich also in besonderer Weise haltsgröße – über 1.000 Euro mehr Kaufkraft pro
auch an die Zielgruppe der Älteren. Deutschland Jahr und Kopf als bei der Altersgruppe mit den
ist weltweit der drittgrößte Markt für Medizinpro höchsten durchschnittlichen ausgabefähigen Ein
dukte und dominiert den Markt innerhalb der Eu kommen, den 45- bis 54-Jährigen [20].
ropäischen Union, gemessen an Wertschöpfung Die Pro-Kopf-Kaufkraft errechnet sich aus
und Beschäftigung [17]. den ausgabefähigen Einkommen der jeweiligen
Vom Gesundheitsmarkt insgesamt gehen Haushalte dividiert durch die durchschnittliche
darüber hinaus wichtige Impulse auf andere Personenzahl je Haushalt. Zu berücksichtigen
Wirtschaftszweige aus, die anhand von Input ist erstens, dass in den Haushalten der 45- bis
Output-Verflechtungen, die Gegenstand der 54-Jährigen Haupteinkommensbezieherinnen
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) und Haupteinkommensbezieher im Schnitt eine
sind, nachvollzogen werden können. Die größten Person mehr lebt (rund 2,5 Personen je Haushalt)
Impulse wirken auf die Bereiche Groß- und Ein als in Seniorenhaushalten (rund 1,5 Personen).
zelhandel, Transportleistungen, Bildungswesen, Zweitens werden nicht zwangsläufig »reine«
Nahrungsmittel sowie Grundstücks- und Woh Seniorenhaushalte in der EVS erfasst, sondern
nungswesen [18]. Haushalte, deren Haupteinkommensbeziehe
rinnen und -bezieher 65 Jahre und älter sind.
Weitere Haushaltsmitglieder mit geringeren aus
Konsumausgaben für die Gesundheitspflege gabefähigen Einkommen können folglich älter
(das entspräche reinen Seniorenhaushalten) oder
Der quantitative Beitrag alter Menschen zum jünger sein. Nach Ergebnissen des Mikrozensus
Wachstum der Gesundheitswirtschaft kann auch aus dem Jahr 2003, dem Erhebungsjahr der EVS,
an Kenngrößen wie Konsumausgaben und -quo zählten 8,6 Millionen Haushalte zu den »reinen«
ten sowie Kaufkraft gemessen werden [3, 19]. Die Seniorenhaushalten – das sind 22 % aller privaten
nachfolgenden Ergebnisse fußen auf der Ein Haushalte. In 7 % aller Haushalte (2,7 Millionen)
kommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), eine lebten ältere mit jüngeren Menschen zusammen.
amtliche Statistik, die fünfjährlich (zuletzt 2003) Damit war in 29 % der privaten Haushalte min
über die Lebensverhältnisse privater Haushalte destens eine Person im Seniorenalter [21]. Etwa
in Deutschland informiert. Erfasst werden u. a. 82 % ihres ausgabefähigen Einkommens verwen
die Konsumausgaben privater Haushalte, deren deten Seniorenhaushalte für den privaten Kon
Ausstattung mit Gebrauchsgütern sowie die Ein sum (Konsumquote). Im Bundesdurchschnitt
kommens-, Vermögens- und Schuldensituation. aller Haushalte lag die Konsumquote bei 76 %
Private Haushalte mit einem monatlichen Haus und bei Haushalten mit Haupteinkommensbe
haltsnettoeinkommen von 18.000 Euro und mehr zieherinnen und -beziehern unter 65 Jahren bei
sowie Personen in Anstalten und Gemeinschafts 74 %. In Seniorenhaushalten ist aufgrund der im
unterkünften sind nicht berücksichtigt. Zur Ein Schnitt niedrigeren Haushaltseinkommen und
kommenssituation älterer Menschen vgl. Kapitel Einnahmen die Konsumquote höher (siehe Ab
3.1. bildung 5.4.2.3).
Die Gruppe der Haushalte mit Haupteinkom Altersspezifische Unterschiede im Konsum
mensbezieherinnen und -beziehern im Alter von verhalten zeigen sich besonders im Bereich Ge
65 Jahren und älter (im Folgenden: Seniorenhaus sundheitspflege. Die entsprechenden Ausgaben
halte) verfügte im Jahr 2003 über eine monatliche weisen eine Spanne von monatlich 20 Euro bei
Kaufkraft von rund 23 Milliarden Euro, das waren Haushalten mit unter 25-jährigen Haupteinkom
21 % der Gesamtkaufkraft (108 Milliarden Euro) mensbezieherinnen und -beziehern bis zu 125
272 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 5.4.2.3
Ausgabefähige Einkommen und Einnahmen, Konsumausgaben und Konsumquoten privater Haushalte
nach Alter der Haupteinkommensbezieherin/des Haupteinkommensbeziehers 2003
Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003, Sonderauswertung
3.000
2.500
2.000
1.500
ausgabenfähige
1.000 73,7% 82,0% 75,5%
Einkommen/Einnahmen
500 Konsumausgaben
Altersgruppe
Euro bei Haushalten mit 65- bis unter 70-jährigen sundheitspflege. Gebrauchsgüter umfassen z. B.
Haupteinkommensbezieherinnen und -beziehern Hörgeräte, Heizkissen, Brillengläser, Zahnersatz
auf. Gesundheitspflege zählt zu den Bereichen, und Blutdruckmessgeräte. Zu den Verbrauchs
in denen Seniorenhaushalte überdurchschnittlich gütern zählen u. a. Medikamente (einschließ
viel zum Konsum beitragen. Mit 116 Euro monat lich Eigenanteile und Rezeptgebühren), Salben,
lich gaben die Seniorenhaushalte einen weit über Spritzen, Wärmflaschen und Verbandsstoffe.
dem Durchschnitt jüngerer Haushalte (73 Euro) Ärztliche und zahnärztliche Leistungen inklusi
liegenden Betrag für Gesundheitspflege aus. Beim ve Praxisgebühren, Leistungen von Laboratorien,
Vergleich aller Konsumausgabenbereiche privater Physiotherapeuten oder Heilpraktikern sowie Kur
Haushalte zeigt sich folgendes Bild: Während die aufenthalte sind Dienstleistungen der Gesund
jüngeren privaten Haushalte mit Haupteinkom heitspflege.
mensbezieherinnen und -beziehern unter 65 Die Ausgaben im Bereich der Gebrauchsgü
Jahren in allen Ausgabenbereichen des privaten ter für Gesundheitspflege lagen im Jahr 2003 bei
Konsums mit Ausnahme des Bereichs Gesund den Seniorenhaushalten im Schnitt um 6 Euro
heitspflege über dem Durchschnitt liegende Aus höher als beim Durchschnittshaushalt (23 statt 17
gaben aufweisen, verhält es sich bei den Senio Euro monatlich). Hinter den Durchschnittsanga
renhaushalten genau umgekehrt (siehe Abbildung ben verbirgt sich eine erhebliche Ausgabenspan
5.4.2.4). Jüngere Haushalte gaben monatlich 11 ne. Besonders deutlich wird das beim Zahnersatz:
Euro weniger für Gesundheitspflege aus, Senio Diejenigen Seniorenhaushalte, die im Jahr 2003
renhaushalte 32 Euro mehr als ein Durchschnitts tatsächliche Ausgaben für Materialkosten beim
haushalt. Gesundheitspflege ist damit der einzige Zahnersatz (einschl. Eigenanteil) hatten, lagen bei
Konsumausgabenbereich, bei dem Seniorenhaus mittleren 117 Euro pro Monat. Das ist ca. 15-mal
halte mehr als der Durchschnitt ausgeben. mehr im Vergleich zum Durchschnittshaushalt,
Die EVS unterscheidet zwischen Ge- und Ver der dafür weniger als 8 Euro monatlich ausgab.
brauchsgütern sowie Dienstleistungen in der Ge Für orthopädische Schuhe gab ein privater Haus
Gesundheit und Krankheit im Alter 273
Abbildung 5.4.2.4
Monatliche Differenz der Konsumausgaben privater Haushalte 2003 nach Konsumbereichen und Alter
der Haupteinkommensbezieherin/des Haupteinkommensbeziehers im Vergleich zu den Haushalten insgesamt
Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003, Sonderauswertung
Differenz in Euro
60
40
20
–60
–80
–100
–120
–140
Innenausstattungen,
Haushaltsgeräte und -gegenstände
Nahrungsmittel, Getränke und
Tabakwaren
Gesundheitspflege
Verkehr
Nachrichtenübermittlung
Bildungswesen
Beherbergungs- und
Gaststättendienstleistungen
halt im Mittel 47 Cent aus, ein Seniorenhaushalt Verbrauchsgüter der Gesundheitspflege ausgab.
70 Cent und Seniorenhaushalte, die tatsächlich Die Ausgaben der Haushalte mit 80-jährigen und
orthopädische Schuhe kauften, gaben dafür 34 älteren Haupteinkommensbezieherinnen und
Euro im Monatsmittel aus. Das übersteigt den -beziehern lagen in einzelnen Bereichen zum Teil
Bundesdurchschnitt um den Faktor 72. Auch bei mehr als doppelt so hoch wie beim Durchschnitt.
den Reparaturen therapeutischer Geräte und Aus Ähnliches gilt auch für die Dienstleistungen im
rüstungen lag der Faktor bei 32. Bereich Gesundheitspflege. Während die Haus
Für Verbrauchsgüter der Gesundheitspflege halte insgesamt im Mittel 40 Euro für Dienst
gaben Seniorenhaushalte im Jahr 2003 durch leistungen im Bereich Gesundheitspflege auf
schnittlich 41 Euro im Monat aus. Zum Ver brachten, hatten die Seniorenhaushalte Ausgaben
gleich: Das ist das 1,5-fache der Ausgaben eines von 52 Euro monatlich, die Haushalte mit 65- bis
Durchschnittshaushalts, der rund 27 Euro für 69-jährigen Haupteinkommensbezieherinnen
274 Gesundheit und Krankheit im Alter
Abbildung 5.4.2.5
Konsumausgaben privater Haushalte im Bereich Gesundheitspflege nach Alter
der Haupteinkommensbezieherin/des Haupteinkommensbeziehers 2003
Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003, Sonderauswertung
60
50
Gebrauchsgüter
40
Verbrauchsgüter
30
Dienstleistungen
20
10
und -beziehern lagen bei 59 Euro monatlich (siehe Bemerkenswert ist schließlich ein im Zeit
Abbildung 5.4.2.5). raum 1993 bis 2003 um 12 Prozentpunkte ge
Über einen 10-Jahreszeitraum zeigt die Struk stiegener Ausgabenanteil der Gebrauchsgüter für
tur der Konsumausgaben privater Haushalte in Gesundheitspflege bei Haushalten mit Hauptein
allen Altersklassen steigende Ausgabenanteile für kommensbezieherinnen und -beziehern im Alter
Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung von 70 Jahren und älter (Verbrauchsgüter + 4 Pro
sowie sinkende Ausgabenanteile für Nahrungs zentpunkte). Entsprechend ist der Ausgabenanteil
mittel, Genusswaren und Tabakwaren. Aus Grün der Dienstleistungen für die Gesundheitspflege
den der Vergleichbarkeit mit früheren EVS-Daten im betrachteten Zeitraum erheblich gesunken
werden im Folgenden nicht die privaten Haus (– 16 Prozentpunkte) (siehe Abbildung 5.4.2.6).
halte mit Haupteinkommensbezieherinnen und Diese Tendenz ist auch bei den Haushalten ins
-beziehern von 65 Jahren und älter, sondern 70 gesamt zu beobachten. Die steigenden Ausga
Jahren und älter ausgewiesen. Eine sukzessive benanteile können zum Teil auf Teuerungen im
Verschiebung zu Gunsten der Ausgabenanteile Bereich der Ge- und Verbrauchsgüter, auf die ver
für Gesundheitspflege ist vor allem bei den pri mehrte Eigenbeteiligung bei pharmazeutischen
vaten Haushalten mit Haupteinkommensbezie Erzeugnissen, Rezeptkosten und -gebühren sowie
herinnen und Haupteinkommensbeziehern von beim Zahnersatz zurückgeführt werden. Trotz des
70 Jahren und älter zu beobachten. Hier ist der relativ sinkenden Anteils (– 16 Prozentpunkte in
Anteil der Ausgaben für Gesundheitspflege von Seniorenhaushalten) sind in diesem Zeitraum
5 % im Jahr 1993 (60 Euro) auf über 6 % im Jahr die absoluten Ausgaben für Dienstleistungen der
2003 (111 Euro) gestiegen. Im selben Zeitraum hat Gesundheitspflege geringfügig angestiegen. Sie
sich der Anteil der Konsumausgaben für Gesund werden sich durch die Einführung der Praxis
heitspflege bei den Haushalten insgesamt von 3 % gebühr zum 1. Januar 2004 in den nachfolgenden
(57 Euro) auf knapp 4 % (84 Euro) erhöht (siehe Jahren möglicherweise weiter erhöht haben. Ak
Abbildung 5.4.2.6). tuelle Zahlen hierzu werden von der EVS 2008
erwartet.
Gesundheit und Krankheit im Alter 275
Abbildung 5.4.2.6
Struktur der Konsumausgaben privater Haushalte mit Haupteinkommensbezieherinnen und Haupteinkommensbeziehern
im Alter von 70 Jahren und älter für den Bereich Gesundheitspflege 1993, 1998 und 2003
Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, Sonderauswertung
Jahr/(Gesundheitspflege gesamt)
Gebrauchsgüter
Dienstleistungen
0 20 40 60 80 100
Prozent
* 1993 und 1998: Umrechnung von DM in Euro.
führten zu einem Zuwachs im Gesundheitswe des Outsourcings nicht mehr dem Gesundheits
sen um gut 198.000 Beschäftigte beziehungswei wesen zugeordnet und damit nicht mehr in der
se 4,8 % im Zeitraum von 1997 bis 2006. Dieser Gesundheitspersonalrechnung erfasst wird. Das
Beschäftigungszuwachs liegt leicht über dem der Beschäftigungswachstum im Gesundheitswesen
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. wird dadurch deutlich gebremst.
Aufgrund seiner personalintensiven Leis Da im Gesundheitsbereich vielfach und ver
tungserstellung kommt vor allem dem Gesund mehrt Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte tätig
heitsbereich im engeren Sinne eine große Be sind, darunter meist Frauen, ist der Beschäfti
deutung als Beschäftigungsfaktor zu. Er umfasst gungszuwachs in Beschäftigungsfällen weitaus
die Einrichtungen, deren gesundheitsbezogene höher als bei einer Umrechnung auf volle tarif
Güter und Dienstleistungen den Nachfragenden liche Arbeitszeiten. In so genannten Vollzeitäqui
unmittelbar zugute kommen, wie z. B. ambulante valenten betrachtet zeigt das Beschäftigungsvolu
und (teil-)stationäre Einrichtungen oder Rettungs men zwischen 1997 und 2006 keinen Zuwachs,
dienste. Mit gut 4 Millionen Personen waren hier sondern einen leichten Rückgang von 31.000
93 % des Gesundheitspersonals beschäftigt. Vollzeitäquivalenten (siehe Abbildung 5.4.3.1). Zu
Zum Gesundheitsbereich im weiteren Sinne Lasten der Vollzeitbeschäftigung (– 9 %) ist im
zählen die Vorleistungsindustrien des Gesund Zeitraum 1997 und 2006 die Anzahl der Teilzeit
heitswesens, unter anderen die medizintech beschäftigten um insgesamt 259.000 Personen
nische beziehungsweise die augenoptische In (+ 26 %) gestiegen (darunter 217.000 Frauen).
dustrie. In diesem Bereich gingen im Jahr 2006 Auch die Anzahl der geringfügig Beschäftigten
fast 303.000 Personen einer Beschäftigung nach. verdoppelte sich nahezu und stieg in diesen neun
Besonders hohe Beschäftigungszuwächse wa Jahren von 280.000 auf 470.000 Beschäftigte an
ren in den Einrichtungen der (teil-)stationären (+ 68 %).
Pflege zu verzeichnen (+ 47 % beziehungsweise Nur wenige Berufsgruppen zeigen auch in
+ 179.000 Beschäftigte von 1997 bis 2006). Darin Vollzeitäquivalenten einen Beschäftigungszu
kommt die Anpassung des Gesundheitswesens an wachs im Zeitraum 1997 bis 2006. Hierzu zählen
den Bedarf der Bevölkerung nach pflegerischen an erster Stelle die Beschäftigten in der Altenpfle
Leistungen zum Ausdruck. Im Krankenhaussek ge (+ 73.000 Vollzeitäquivalente), die Physiothe
tor dagegen ging die Zahl der Beschäftigten u. a. rapeutinnen und -therapeuten (+ 26.000 Vollzeit
infolge von Schließungen, Fusionen und wech äquivalente) sowie die (Zahn-)Ärztinnen und Ärzte
selnden Trägerschaften von Einrichtungen zurück und Apothekerinnen und Apotheker (zusammen
(– 5 % bzw. – 61.000 Beschäftigte). + 25.000 Vollzeitäquivalente). Bei der Zahl der Be
Mehr als die Hälfte aller Beschäftigten im schäftigten in der Altenpflege ist zu berücksichti
Gesundheitswesen (53 %) arbeitet in Gesund gen, dass nur ein Teil in der Gesundheitspersonal
heitsdienstberufen. Hierzu zählt zum Beispiel rechnung erfasst wird. So fließt aus Gründen der
ärztliches und pflegerisches Personal. Die Zahl Abgrenzung des Gesundheitswesens zwar das Al
der Beschäftigten in Gesundheitsdienstberufen ist tenpflegepersonal der Altenpflegeheime mit ein,
stetig gestiegen (+ 10 % zwischen 1997 bis 2006). nicht aber das der Altenwohnheime [27].
Von dem Stellenzuwachs haben vor allem Frauen Hinsichtlich der künftigen Beschäftigungs
profitiert: Auf sie entfielen 86 % (184.000) der ins entwicklung im Gesundheitsbereich gibt es un
gesamt 214.000 zusätzlichen Stellen in diesem terschiedliche Einschätzungen. Bei günstigen
Zeitraum. Deutlich zurückgegangen ist dagegen Rahmenbedingungen können nach Schätzungen
die Zahl der Beschäftigten in den anderen Beru von Fachleuten bis zum Jahr 2020 rund 200.000
fen des Gesundheitswesens. Sie sank im betrach neue Arbeitsplätze im Gesundheitswesen entste
teten Zeitraum kontinuierlich um 139.000 Per hen [28] und bis zum Jahr 2050 bis zu einer hal
sonen. Ein Teil dieses Beschäftigungsrückgangs ben Millionen [18]. Mehrere Faktoren sprechen
ist auf die Auslagerung von Unternehmensein für das Gesundheitswesen als »Jobmaschine«:
heiten oder Leistungsprozessen zurückzuführen Zum einen das Zusammenspiel aus Alterung der
(Outsourcing) [27]. Das betrifft insbesondere das Gesellschaft, medizinisch-technischem Fortschritt
Reinigungs- und Küchenpersonal, das im Falle und wachsender Bereitschaft der Menschen, für
Gesundheit und Krankheit im Alter 277
Abbildung 5.4.3.1
Beschäftigungsverhältnisse und Vollzeitäquivalente im Gesundheitswesen 1997 bis 2006
Quelle: Statistisches Bundesamt, Gesundheitspersonalrechnung
in 1.000
4.400
4.200
4.000
3.800
Beschäftigte in
Vollzeitäquivalenten
3.600
Beschäftigungs
verhältnisse
3.400
3.200
3.000
1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Jahr
die Gesundheit im Alter mehr Geld auszugeben. heitsdienstberufen gesehen, insbesondere in den
Zum anderen die sich im Gesundheitswesen Pflegeberufen und primär im stationären Pfle-
bietenden Anwendungsfelder für High-Tech- gebereich [18, 30]. Welches tatsächliche Ausmaß
Produkte, durch die das Interesse weiterer Wirt der quantitative Beschäftigungsausbau erreichen
schaftszweige an der Gesundheitswirtschaft stei wird, ist zunächst spekulativ und wird auch davon
gen dürfte. Zu diesem Zweck setzen verschiedene abhängen:
Regionen in Deutschland gezielt auf die Gesund ▶ welche Konsequenzen die demografische
heitswirtschaft und bilden Kompetenzzentren, Alterung auf die Nachfrage nach Gesund
um nicht nur die gesundheitliche Lebensqualität heitsdiensten, insbesondere pflegerischen
der Bevölkerung, sondern auch Wachstum und Leistungen haben wird (vgl. Kapitel 2.5),
Beschäftigung im Gesundheitswesen zu steigern ▶ wie sich die Inanspruchnahmemuster von
[29]. häuslicher, ambulanter und (teil-)stationärer
Der Beschäftigungsentwicklung im Gesund Pflege verändern werden [4, 18, 31],
heitssektor sind jedoch auch Grenzen gesetzt. Im ▶ wie sich Arbeitsmarkt- und Gesundheitsre
Krankenhaussektor und Pharmabereich könnte formen auf die Beschäftigungsentwicklung
trotz Umsatzwachstums und ausgelöst durch auswirken [3],
Konkurrenzdruck und Effizienzsteigerung Per ▶ wie viele Ressourcen die Gesellschaft zur
sonal abgebaut werden [28]. Insbesondere die Verfügung stellen will und kann, auch in
öffentlichen Haushalte im Bereich der Sozialver Anbetracht der Tatsache, dass nicht nur die
sicherungszweige und des Gesundheitswesens Nachfragenden nach Gesundheitsdiensten
stehen aufgrund fiskalischer Erschöpfung unter altern, sondern auch die Anbietenden (»dou
einem erheblichen Sparzwang. Auch der im Prin ble aging«) [32].
zip gewünschte Bürokratieabbau innerhalb der
öffentlichen Verwaltungen kann negative Beschäf Je nach Ausmaß der zusätzlichen Nachfrage nach
tigungseffekte nach sich ziehen [2]. Gesundheitsgütern und -leistungen wird eine
Das größte Beschäftigungspotenzial wird Bedarfsdeckung künftig nur über zusätzliches
einhellig in den personalintensiven Gesund- Gesundheitspersonal möglich werden. Der Effekt
278 Gesundheit und Krankheit im Alter
zusätzlicher Nachfrage auf die Beschäftigung im menzieller Erkrankungen direkt zur Steigerung
Gesundheitswesen ist dabei insgesamt höher ein des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und damit zum
zuschätzen als in anderen Branchen. Denn im Ge Wirtschaftswachstum beiträgt, wird die (unbezahl
sundheitswesen ist die menschliche Arbeitskraft te) häusliche Pflege eines an Demenz erkrankten
unverzichtbar. Eine älter werdende Gesellschaft Familienmitglieds im BIP nicht direkt sichtbar.
erfordert aber künftig nicht nur einen quantita Dieses Beispiel illustriert unser Verständnis von
tiven Beschäftigungsausbau, sondern lässt auch Arbeit und wirtschaftlichem Tätigsein, wie es
die qualitativen Anforderungen an das Gesund Grundlage und internationaler Konsens der VGR
heitspersonal steigen. Aus arbeits- und sozialme ist. Worin besteht aus volkswirtschaftlicher Sicht
dizinischer Sicht wird beispielsweise künftig mehr der Unterschied zwischen Arzneimittelherstel
systemisches und dafür weniger spezialisiertes lung und Angehörigenpflege – um bei dem Bei
Wissen notwendiger werden [33]. Relevant für spiel zu bleiben?
die künftige Beschäftigungsentwicklung dürfte Der traditionelle Produktionsbegriff in den
auch die Attraktivität gesundheitsbezogener Be VGR berücksichtigt überwiegend Produktions
rufsfelder sein. Das Arbeitskräfteangebot im Ge aktivitäten wie Waren und Dienstleistungen, die
sundheitswesen wird maßgeblich auch durch die für andere ökonomische Einheiten erstellt werden.
Arbeitsbedingungen und erzielbaren Einkommen Im BIP inbegriffen – und damit als wirtschaftliche
sowie ebenfalls durch die demografische Entwick Leistung des Gesundheitswesens und der Ge
lung geprägt. Das Gesundheitswesen erfüllt damit sundheitswirtschaft berechenbar – sind all jene
zwei wesentliche Bedürfnisse der Menschen: Ge Gesundheitsleistungen unserer Volkswirtschaft,
sundheit und Erwerbsarbeitsplatzangebote rund die einen messbaren Produktionswert haben und
um Gesundheit, auch in vor-, nach- und neben damit unmittelbar bruttowertschöpfungsrelevant
gelagerten Wirtschaftszweigen. Es gehört damit sind. Die Herstellung von Arzneimitteln zählt
ins Zentrum nicht nur der gesundheits-, sondern zum Wirtschaftsbereich »Produzierendes Gewer
auch der arbeitsmarktpolitischen Aufmerksam be«, ist also im BIP sichtbar. Die unentgeltlich
keit [34]. erbrachten Leistungen der privaten Haushalte,
also auch die Angehörigenpflege, werden in den
VGR nicht berücksichtigt, da sie nicht am Markt
5.4.4 Jenseits von Wirtschaft und »sichtbar« werden. Wenn die häusliche Pflege in
Wertschöpfung? Gesundheitsleistungen Form von (bezahlter) Erwerbstätigkeit erfolgt, also
am Beispiel häuslicher Pflegearbeit im Rahmen professioneller Pflege, ist sie ebenso
wie die Arzneimittelherstellung wertschöpfungs
Wenn die Konsequenzen der demografischen Al relevant und im BIP inbegriffen. Das eine ist –
terung aus der Perspektive der Wirtschafts- und volkswirtschaftlich gesehen – bezahlte Erwerbs
Beschäftigungsentwicklung diskutiert werden, arbeit, das andere unbezahlte Arbeit, auf der
steht üblicherweise die bezahlte Arbeit, also der Outputebene auch Haushaltsproduktion genannt
Erwerbsarbeitsmarkt im Blickpunkt. Gesundheits (vgl. z. B. [35, 36]).
leistungen werden jedoch nicht nur marktförmig Vor dem Hintergrund der durch die demogra
und im Rahmen von Erwerbsarbeit erbracht, son fische Alterung gefährdeten Tragfähigkeit unserer
dern auch – und zwar in nicht unerheblichem sozialen Sicherungssysteme, speziell der Kranken-
Ausmaß – unbezahlt und zu einem Großteil auch und Pflegeversicherung, gewinnt die Diskussion
von älteren Menschen in privaten Haushalten. um die Einbeziehung der Haushaltsproduktion in
Am Beispiel häuslicher Pflegearbeit werden im das BIP erneut an Aktualität.
Folgenden die privat erbrachten Gesundheitsleis
tungen in ihrer ökonomischen und zeitlichen Be
deutung beleuchtet.
Der Unterschied zwischen unentgeltlichen
und so genannten Marktleistungen soll an einem
Beispiel verdeutlicht werden: Während die Her
stellung von Arzneimitteln zur Behandlung de
Gesundheit und Krankheit im Alter 279
Die ökonomische Bedeutung der Prinzip des Satellitensystems ist es, mithilfe des
unbezahlten Arbeit Jahresvolumens für unbezahlte Arbeit auf der
Basis der Zeitbudgeterhebung von 2001/2002
Haushaltsproduktion umfasst im Unterschied zur (zuvor 1991/1992) die Größenordnung der Haus
Marktproduktion die unbezahlte Produktion von haltsproduktion in einer mit der Marktproduktion
Dienstleistungen für eigene Zwecke, sofern die vergleichbaren Weise zu errechnen. Es verknüpft
Dienstleistungen von Dritten gegen Bezahlung, die Inlandsproduktberechnung mit der Haus
also über den Markt, erbracht werden könnten haltsproduktion, ohne das Prinzip der internatio
(Dritt-Personen-Kriterium) [37]. Sie beinhaltet nal abgestimmten BIP-Berechnung zu durchbre
neben der häuslichen Alten- und Krankenpflege chen, indem es, einem Satelliten gleich, die VGR
beispielsweise auch die Kinderbetreuung oder ergänzt [35].
die Ausübung von Ehrenämtern. Seit Mitte der Aus der Zeitbudgeterhebung 2001/2002,
1980er-Jahre wird verstärkt diskutiert, die Haus einer repräsentativen Erhebung zur Zeitverwen
haltsproduktion und damit insbesondere den dung privater Haushalte in Deutschland, lässt sich
Beitrag der Frauen – aber auch der Rentnerinnen das Jahresvolumen unbezahlter Arbeit für die Be
und Rentner – an der gesamten Produktion öko völkerung ab 10 Jahren ermitteln. Die Messung
nomisch sichtbar zu machen [35, 38]. der ausgeübten Tätigkeiten erfolgte dabei nach
Eine Antwort auf diese Forderung stellt das folgendem Muster: Der Tag wurde in 10-Minu
Haushalts-Satellitensystem zu den VGR dar. Das ten-Intervalle eingeteilt und die Befragten gaben
für jedes Intervall per Tagebuchaufzeichnung an,
welche Tätigkeit sie jeweils ausübten. Im Ergebnis
Abbildung 5.4.4.1 zeigt sich, dass unbezahlte Arbeit von wesentlich
Bevölkerung und Jahresvolumen der Haushaltsproduktion
größerer zeitlicher Bedeutung ist als Erwerbsar
nach Alter 2001
Quelle: Statistisches Bundesamt, Zeitbudgeterhebung beit. Im Schnitt verwendeten die Befragten das
2001/2002, Schätzung im Rahmen des Satellitensystems 1,7-fache an Zeit (rund 96 Milliarden Stunden)
Haushaltsproduktion und Bevölkerungsfortschreibung für unbezahlte Arbeit im Vergleich zu bezahlter
Arbeit (56 Milliarden Stunden ohne Wegezeiten).
Prozent
Das Verhältnis von bezahlter und unbezahl
90
ter Arbeit, gemessen in wöchentlicher Arbeitszeit,
63 Mrd. Stunden betrug nach Ergebnissen der Zeitbudgeterhebung
80
2001/2002 bei Frauen etwa 1 zu 2,6 (12 Stunden
70 bezahlt, 31 Stunden unbezahlt pro Woche) und hält
sich bei Männern in etwa die Waage (22,5 Stunden
60 bezahlt, 19,5 Stunden unbezahlt pro Woche) [39].
Wie aus Abbildung 5.4.4.1 ersichtlich entfiel auf
50 die 60-Jährigen und Älteren, deren Anteil an der
33 Mrd. Stunden Gesamtbevölkerung 24 % betrug, ein Anteil von
40
34 % am Jahresvolumen unbezahlter Arbeit. Das
30 entsprach einem Jahresvolumen von rund 33 Mil
liarden Stunden.
20 Nach Altersklassen betrachtet lag die durch
schnittliche Zeitverwendung für unbezahlte Arbeit
10 in der Altersgruppe der 60-Jährigen und Älteren
bei wöchentlich 33 Stunden. Die 20- bis 59-Jäh
bis 59 60+ rigen leisteten im Schnitt 8 Stunden weniger un
bezahlte Arbeit pro Woche, nämlich rund 25 Stun
Altersgruppe
den. Nach Geschlechtern differenziert arbeiteten
Bevölkerungsanteil 60-jährige und ältere Frauen knapp 36,5 Stunden
Anteil der Haushaltsproduktion und gleichaltrige Männer über 28,5 Stunden un
am Jahresvolumen bezahlt in der Woche. In der Altersklasse der 20-
280 Gesundheit und Krankheit im Alter
bis 59-Jährigen kamen auf die Frauen 32 Stunden ein verlässliches Jahresvolumen der Pflegear
unbezahlte Arbeit und auf die Männer etwa 18 beitszeit vorliegt (Mengenbaustein), das zweitens
Stunden wöchentlich. Die zeitliche Bedeutung monetär adäquat bewertet werden müsste (Wert
unbezahlter Arbeit ist demnach empirisch gut baustein) [35]. Die praktische Umsetzung eines
belegt und zeigt im Unterschied zur Inlandspro solchen Vorhabens ist im Rahmen dieser Publika
duktberechnung eher langfristige Trends auf [35]. tion weder leistbar, noch vor dem Hintergrund der
Betrachtet man die Verteilung der unbezahlten Ar gegenwärtigen Datenlage realisierbar. Während
beit auf die Bevölkerung, so zeigt sich neben einer sich das Jahresvolumen der Haushaltsproduk
ungleichen Verteilung der unbezahlten Arbeit auf tion der Bevölkerung insgesamt auf der Basis der
die Geschlechter auch eine ungleiche Verteilung Zeitbudgeterhebung gut quantifizieren lässt, ist
auf die Generationen, jeweils auch als Konsequenz dies bei dem zeitlichen Umfang für pflegerische
der unterschiedlichen Erwerbsbeteiligung. Leistungen im privaten Haushalt weitaus schwie
Die Berechnung des ökonomischen Werts riger, u. a. weil die Fallzahlen Ausübender von
unbezahlter Arbeit ist weitaus schwieriger und Pflegearbeit, insbesondere in den höheren Alters
erfordert eine monetäre – und damit auch nor gruppen, teilweise sehr niedrig sind. Aussagen zur
mative – Bewertung. Im Rahmen des Satelliten monetären Relevanz auf der Grundlage von Jah
systems wird das Gesamtvolumen unbezahlter resvolumenberechnungen wären folglich mit ho
Jahresarbeit mit dem Nettostundenlohn von 7 her Unsicherheit versehen und nur eingeschränkt
Euro (Untergrenze) bewertet. Dabei errechnet sich interpretierbar. Um den zeitlichen und monetären
eine Summe von 684 Milliarden Euro für die Ar Beitrag zur Pflegearbeit in Privathaushalten den
beitsleistung bzw. von 820 Milliarden Euro für die noch sichtbar zu machen, werden im Folgenden
Bruttowertschöpfung der privaten Haushalte (in zwei unterschiedliche Zugänge gewählt: Eine
klusive Abschreibung und sonstiger Wertschöp rein zeitliche Betrachtung, ohne anschließende
fungskomponenten). Somit wies die unbezahlte monetäre Bewertung, erfolgt anhand der Zeitver
Arbeit in Privathaushalten eine Größenordnung wendung für Pflegearbeit in privaten Haushalten
von rund 40 % des BIP (2001) auf. Das entspricht auf Basis verschiedener Datenquellen. Eine nähe
in etwa der Bruttowertschöpfung der deutschen rungsweise monetäre Abschätzung pflegerischer
Industrie und zusätzlich der Bereiche Handel, Leistungen resultiert aus der Höhe der Pflegegeld
Gastgewerbe und Verkehr [39]. Unterstellt man, leistungen im Rahmen der Leistungsausgaben der
dass Menschen im Alter von 60 Jahren und älter sozialen Pflegeversicherung.
daran einen Anteil von 34 % haben (das entspricht Zur Zeitverwendung für häusliche Pflegear
ihrem zeitlichen Anteil am Jahresvolumen unbe beit durch Angehörige in privaten Haushalten:
zahlter Arbeit), entspräche dies einer Bruttowert Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ab 10 Jahren
schöpfung von fast 280 Milliarden Euro. Welche variiert der durchschnittliche Zeitumfang für ein
zeitliche und monetäre Bedeutung haben unbe zelne Aktivitätsbereiche und für die Haushaltspro
zahlte Pflegeleistungen und wie hoch liegt dabei duktion insgesamt erheblich. Tabelle 5.4.4.1 zeigt
der Anteil der Älteren? die durchschnittliche wöchentliche Zeitverwen
dung für Haushaltsproduktion insgesamt sowie
die Aktivitätsbereiche Unterstützung, Pflege und
Monetärer und zeitlicher Beitrag der privaten Betreuung erwachsener Haushaltsmitglieder, Al
Haushalte zur häuslichen Pflegearbeit ten- und Krankenpflege für haushaltsexterne Per
sonen sowie informelle Hilfen für haushaltsex
Zur Darstellung der gesundheitsbezogenen Haus terne Personen, in der Tabelle zusammengefasst
haltsproduktion älterer Menschen am Beispiel als »Pflege- und Betreuungsarbeit plus informelle
häuslicher Pflegearbeit läge es in Anlehnung an Hilfen«. Die Zeitverwendung aller genannten
das Satellitensystem zur Haushaltsproduktion Aktivitäten nimmt mit zunehmendem Alter zu.
nahe, den zeitlichen Beitrag der älteren Menschen Mit Ausnahme der 60-Jährigen und Älteren ver
jenseits des Erwerbslebens zu erfassen und mone wenden Frauen bei den aufgeführten unbezahlten
tär zu bewerten. Eine Bewertung der unbezahlten Aktivitäten in allen Altersklassen mehr Zeit als
Pflegearbeit setzt allerdings voraus, dass erstens Männer. Der zeitliche Mehrumfang bei Männern
Gesundheit und Krankheit im Alter 281
Tabelle 5.4.4.1
Durchschnittliche wöchentliche Zeitverwendung ausgewählter Aktivitäten nach Alter und Geschlecht
in Stunden:Minuten 2001/2002
Quelle: Statistisches Bundesamt, Zeitbudgeterhebung 2001/2002,
Sonderauswertung im Rahmen des Satellitensystems Haushaltsproduktion
höheren Alters ist vor allem auf die informellen Zeitverwendung für einzelne Aktivitätsbereiche
Hilfen für haushaltsexterne Personen zurückzu im Rahmen unbezahlter Arbeit, zeigt sich auch
führen, nicht auf die Pflege- und Betreuungsar für die Ausübungsgrade häuslicher Pflege, dass
beiten im engeren Sinne. Ältere häufiger als Jüngere und Frauen häufiger
In diesen Durchschnittszahlen kommt nicht als Männer Zeit für häusliche Pflege und infor
zum Ausdruck, dass pflegerische und informelle melle Hilfen aufwenden (siehe Tabelle 5.4.4.2).
Leistungen nur von einem kleinen Teil der Bevöl Wird die Betrachtung des täglichen Zeitauf
kerung erbracht werden. An einem durchschnitt wands auf die Personen beschränkt, die tatsächlich
lichen Tag leisteten rund 1 % der 60-Jährigen und selbst pflegen, ergibt sich ein alltagsnäheres Bild
Älteren Unterstützungs-, Pflege- und Betreu der zeitlichen Belastung. Bei den aktiv Pflegenden
ungsarbeit für erwachsene Haushaltsmitglieder. und Betreuenden der 60-Jährigen und Älteren be
Bei den Jüngeren (beide Geschlechter insgesamt) trug der durchschnittliche, tägliche Zeitumfang
waren es 0,3 % bis 0,6 %. Während 11,6 % der Äl für Alten- und Krankenpflege haushaltsexterner
teren informelle Hilfe für Personen außerhalb des Personen eine gute Dreiviertelstunde und der täg
eigenen Haushalts erbrachten, lag der Ausübungs liche Zeitumfang für die Unterstützung, Pflege
grad bei den Jüngeren bei 6 % bis 8 %. Ähnlich und Betreuung erwachsener Haushaltsmitglieder
wie bei den Ergebnissen zur durchschnittlichen gut eine Stunde.
Tabelle 5.4.4.2
Ausübungsgrad ausgewählter Aktivitäten nach Alter und Geschlecht 2001/2002
Quelle: Statistisches Bundesamt, Zeitbudgeterhebung 2001/2002, Sonderauswertung
im Rahmen des Satellitensystems Haushaltsproduktion
Zu berücksichtigen ist, dass auch die Tage- (siehe hierzu Kurzübersicht der Tabelle 5.4.4.3)
buchaufzeichnungen das zeitliche Ausmaß für sowie der Rekrutierungsmethodik der Befragten
pflegerische Leistungen im Privathaushalt unter- und in der Formulierung der Fragestellungen
schätzen, auch im Vergleich zu Ergebnissen der zum zeitlichen Umfang. Beispielsweise wurden
Zeitbudgeterhebung, die auf zeitlicher Selbstein- im EU-finanzierten Forschungsprojekt »EURO
schätzung (Personen- und Haushaltsfragebogen) FAMCARE« zur Situation pflegender Angehöri
der Bevölkerung beruhen. Die Ergebnisse sind da- ger in Europa ausschließlich Angehörige befragt,
her sowohl methodisch, als auch konzeptionell als die mindestens vier Stunden pro Woche ihre hil-
Untergrenze zu verstehen, denn häusliche Pflege fe- oder pflegebedürftigen Angehörigen im Alter
kann je nach Situation die permanente Verfügbar- von 65 Jahren und älter pflegten [41]. Im Unter
keit der Pflegeperson erfordern, also auch nachts schied dazu gingen in die Studie »Möglichkeiten
und an Wochenenden. Der gesamte Umfang der und Grenzen selbstständiger Lebensführung in
häuslichen Pflegearbeit würde erst deutlich, wenn Privathaushalten (MuG III)« Personen in die Be
zusätzlich die Zeitbindung in Form von »Bereit- fragung ein, die nach eigener Einschätzung am
schaftszeiten« mitbedacht würde [40]. besten über die häusliche Situation Auskunft ge-
Tabelle 5.4.4.3 stellt Ergebnisse unterschied- ben können (Fremd- und Selbstauskunft). Maß
licher Datenquellen der wöchentlichen Zeitver- geblich dabei war jeweils der zeitliche Umfang
wendung für häusliche Pflege dar. Allen Quel- der Hauptpflegeperson [42], während beim Sozio
len gemeinsam ist, dass die zeitlichen Angaben oekonomischen Panel (SOEP) grundsätzlich jede
auf der Selbsteinschätzung der Pflegepersonen, versorgende und betreuende Person ab 17 Jahren
meist Haushaltsmitglieder, beruhen und sich die in die Erhebung einfließt [43]. Bei MuG III und
Zeitpunkte der Befragung je nach Quelle auf den EUROFAMCARE kann daher von einer Selektion
Zeitraum zwischen 2001 bis 2005 beziehen. Für zu Gunsten hoch belasteter Pflegepersonen ausge
detaillierte Informationen zur Methodik muss auf gangen werden [42].
die jeweiligen Quellen verwiesen werden. Wesent- Die zeitlichen Umfänge auf Basis der Zeit
lich für die Einordnung der zeitlichen Angaben an budgeterhebung (ZBE) hingegen müssen schon
dieser Stelle ist, dass sie auf höchst unterschied- deshalb deutlich niedriger liegen, weil jeweils
lichen Untersuchungsdesigns fußen, sowohl nur Hilfen »für Personen außerhalb des eigenen
konzeptionell hinsichtlich der Abgrenzung der Haushalts« (Personenfragebogen) bzw. »von Pri-
Pflegetätigkeit und der Pflegeperson, als auch in vatpersonen außerhalb des Haushalts« für Alten-
der Definition von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit und Krankenpflege (Haushaltsfragebogen) ein-
Tabelle 5.4.4.3
Zeitverwendung für Pflege, Selbstauskunft auf Basis verschiedener Datenquellen
Quellen: EUROFAMCARE [47], MuG III [42, 48, 49], SOEP [43], ZBE 2001/2002, Sonderauswertung im Rahmen
des Satellitensystems Haushaltsproduktion (Angaben sind ungewichtet; geklammert = Fallzahl unter 100)
fließen [44, 45]. Zu berücksichtigen ist in jedem variiert dabei erheblich. Bei aller Verschiedenheit
Fall, dass der Kreis der Pflegebedürftigen in allen zeigen die Quellen jedoch übereinstimmend, dass
genannten Quellen nicht nur Personen mit an häusliche Pflegearbeit – da wo sie anfällt – keine
erkannter Pflegestufe nach SGB XI umfasst. Die marginale Leistung darstellt. Auf Basis der Zeit
Begriffe Pflege, Betreuung oder Hilfebedürftigkeit budgeterhebung wird außerdem deutlich, dass Äl
können dabei sehr viel weiter gefasst sein, als im tere häufiger als Jüngere ihre Angehörige pflegen
Pflegeversicherungsgesetz des SGB XI [46]. und im Schnitt mehr Zeit für häusliche Pflege und
Wie ersichtlich wird gibt es erhebliche Ni informelle Hilfen aufwenden als Jüngere [50, 51].
veauunterschiede bei der Zeitverwendung für Zur monetären Einschätzung der Pflegegeld
Pflege im Privathaushalt und zwar nicht nur in leistungen im Rahmen der Leistungsausgaben
Abhängigkeit von der jeweiligen Untersuchungs der sozialen Pflegeversicherung: Pflegebedürf
methodik, sondern auch bei ähnlicher Methodik in tige mit einer Pflegestufe, die ihre Pflege durch
Abhängigkeit vom individuellen Hilfe- und Pflege Angehörige, Freunde oder Bekannte ausreichend
bedarf. Ergänzend zur durchschnittlichen Schät sicherstellen, haben Anspruch auf monatliche
zung des wöchentlichen Stundenumfangs sind in Geldleistungen, das so genannte Pflegegeld. Die
der entsprechenden Spalte auch die durchschnitt monatlichen Leistungen aus der Pflegeversiche
lichen Zeitspannen (darunter in Klammern) auf rung betragen zum 1. Juli 2008 maximal 215 Euro
geführt. Die größte Spanne weisen die Daten von in der Pflegestufe I, 420 Euro in der Pflegestu
EUROFAMCARE aus. Sie liegen bei 11 Stunden fe II und 675 Euro in der Pflegestufe III. Diese
(zusätzlicher Pflegeaufwand von Angehörigen Leistungen werden als Konsequenz der Pflege
bei vollstationärer Pflege des Pflegebedürftigen) reform bis 2012 schrittweise um etwa 20 Euro je
bis 81 Stunden wöchentlich (Pflegestufe III) [41]. Pflegestufe angehoben [52].
Der durchschnittliche Zeitaufwand für geleistete Rund 1,8 Millionen Pflegebedürftige im Alter
Pflege durch die Hauptbetreuungsperson betrug von 65 Jahren und älter erhielten im Jahr 2005
rund 37 (MuG III) [42] bzw. 39 Stunden pro Wo Leistungen der sozialen und privaten Pflegeversi
che (EUROFAMCARE) [41], entspricht also in der cherung, darunter waren 1,1 Millionen Menschen,
Selbsteinschätzung der Befragten in etwa der Dau die zu Hause versorgt werden, wovon wiederum
er einer Vollzeitbeschäftigung. Der Pflegeaufwand rund 696.000, also etwa zwei Drittel, ausschließ
nach Angaben des SOEP und der Zeitbudgeterhe lich Pflegegeldleistungen erhielten (siehe Tabelle
bung bezieht sich nicht nur auf Hauptpflegeper 5.4.4.4) (vgl. Kapitel 4.2).
son, sondern auf alle pflegenden oder ausübenden Weder aus der Pflegestatistik noch aus der
Personen. Aus diesem und weiteren Gründen liegt Geschäftsstatistik der Pflegekassen geht hervor,
die durchschnittliche Zeitverwendung weit unter welchen Alters oder Geschlechts die nicht profes
den Ergebnissen der anderen Quellen. Mithilfe sionellen Pflegepersonen sind. Wie das Durch
der aufgeführten Ergebnisse wird zusammenfas schnittsalter der Hautpflegepersonen zeigt, ist
send ersichtlich, dass ältere Menschen nicht nur aber davon auszugehen, dass ein Großteil der
häufiger pflegebedürftig sind, sondern auch häu informellen Pflegepersonen bereits selbst an der
figer diejenigen sind, die ihre Angehörigen pfle- Schwelle des Alters steht (vgl. Kapitel 4.2). Das
gen. Der Zeitaufwand für häusliche Pflegearbeit durchschnittliche Alter variiert je nach Quelle
Tabelle 5.4.4.4
Angehörigenpflege: Empfängerinnen und Empfänger von Pflegegeldleistungen
im Alter von 65 Jahren und älter nach Pflegestufen 2005
Quelle: Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik [52]
Empfängerinnen und Empfänger von … Pflegestufen gesamt Pflegestufe I Pflegestufe II Pflegestufe III
Pflegegeldleistungen gesamt 893.493 540.792 283.405 69.296
ausschließlich Pflegegeld 696.384 452.903 203.056 40.425
Kombination von Geld- und Sachleistung 197.109 87.889 80.349 28.871
284 Gesundheit und Krankheit im Alter
und liegt bei 54 (EUROFAMCARE) [41] bzw. bei bezahlte Arbeit handeln – sondern es ist als fi
59 Jahren (MuG III) [53]. Untermauert wird dies nanzielle Anerkennung gedacht und wird daher
bei einer Betrachtung der rentenrechtlich rele im § 19 SGB XI explizit als nicht erwerbsmäßige
vanten Pflegezeiten im Rahmen der gesetzlichen Pflege eines Pflegebedürftigen in häuslicher Um
Rentenversicherung. Untersucht man die Biogra gebung definiert. Rechnet man dennoch das Pfle-
fien von Personen, die im erwerbsfähigen Alter gegeld auf fiktive Stundenlöhne um, ergäbe das
ehrenamtlich gepflegt haben und im Jahr 2004 einen Stundenlohn von 3,57 in Pflegestufe I bei
in Rente gingen, zeigt sich, dass die Pflegephasen einer wöchentlichen Pflegearbeit von 14 Stunden.
gegen Ende der Versicherungsbiografie, also kurz Das entspricht dem zeitlichen Mindestumfang,
vor dem Renteneintrittsalter, zunehmen [54]. damit von der Pflegekasse eine Beitragszahlung
Im Jahr 2006 betrugen die Pflegegeldleis zur Rentenversicherung übernommen wird [54].
tungen im Rahmen der Leistungsausgaben der Der fiktive Stundenlohn bei Pflegestufe III und
sozialen Pflegeversicherung rund 4 Milliar einer täglichen Pflege von fünf Stunden läge bei
den Euro [55]. Damit entspricht die Höhe der 4,50 Euro [46]. Im Satellitensystem Haushaltspro
Leistungsausgaben der Pflegeversicherung in duktion wurde für die unbezahlte Arbeit im Jahr
etwa dem 150.000-fachen eines durchschnitt 2001 ein Nettostundenlohn von 7 Euro angesetzt.
lichen jährlichen Arbeitnehmerbruttolohns im Das Bundesministerium für Gesundheit hat
Jahr 2006 [25]. Die Pflegegeldleistungen hätten eine Faustformel veröffentlicht. Demnach fallen
ferner einen Anteil von rund 0,2 % am Bruttoin pro Jahr für 10.000 Leistungsbeziehende nach
landsprodukt [25], wenn sie dort sichtbar würden. SGB XI etwa 62 Millionen Euro im ambulanten
Weil es sich jedoch hierbei – im Unterschied zu Bereich an und 147 Millionen Euro im stationären
einer Markttransaktion wie z. B. die stationäre Bereich (ohne Behinderte) [52]. Aus der Perspekti
Pflegeleistung – im Rahmen der VGR um eine ve der entgangenen Leistungsausgaben durch das
monetäre Sozialleistung im Sektor Staat handelt, Engagement pflegender Angehöriger ließe sich
hat das zur Folge, dass die Pflegegeldleistungen daraus folgende Überschlagsrechnung ableiten:
innerhalb dieses Sektors nicht konsum- und folg Wenn im Jahr 2005 alle Empfängerinnen und
lich auch nicht BIP-wirksam sind. Empfänger von Pflegegeld im Alter von 65 Jahren
Zur Erlangung der Pflegestufe I muss der Hil und älter – das waren rund 696.000 Personen –
febedarf der pflegebedürftigen Person im Tages stationär statt durch Angehörige versorgt worden
durchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wären, wären Leistungsausgaben in Höhe von
wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten rund 10 Milliarden Euro statt 4 Milliarden Euro
entfallen müssen [46]. Folglich berücksichtigen für diese Altersgruppe angefallen.
die Leistungsausgaben der Pflegeversicherung im Dennoch: Die von der gesetzlichen Pflege
Unterschied zu den tatsächlich erbrachten häus versicherung gewährten Geldleistungen an die
lichen Pflegeleistungen nur solche, die oberhalb privaten Haushalte (Pflegegeld) wirken sich in
von 45 Minuten pro Tag liegen. Aus diesem Grund den VGR zunächst nicht auf die Wertschöpfung
führt das Heranziehen von Pflegegeldleistungen aus. Das Pflegegeld stellt in den VGR eine mo
als monetäres Maß für pflegerische Leistungen im netäre Sozialleistung dar und geht daher nicht in
Privathaushalt zu einer Unterschätzung und Un das Produktionskonto, sondern in das Konto der
terbewertung von Pflegearbeit, sowohl hinsicht sekundären Einkommensumverteilung ein. Die
lich der Anzahl der Pflegebedürftigen und Pfle- Pflegegeldleistungen werden erst dann produkti
gepersonen, als auch bezogen auf den zeitlichen onswirksam, wenn die Pflegeperson das Pflege
Aufwand für Pflege. geld ausgibt, also wieder dem Wirtschaftskreis
Das Heranziehen der Leistungsausgaben lauf in Form einer Konsumausgabe zuführt. Eine
nach SGB XI als Ausgangsgröße zur monetären Wertschöpfung im Bereich Gesundheit findet al
Bewertung häuslicher Pflegeleistungen hält auch lerdings nur dann statt, wenn der private Haushalt
konzeptionell nicht einer Bewertung im Sinne von dem Pflegegeld (zufällig) Gesundheitsgüter
des Satellitensystems Haushaltsproduktion stand. (z. B. Heil- oder Hilfsmittel) oder Leistungen (z. B.
Zum einen stellt das Pflegegeld keine Entlohnung professionelle Pflegedienste, Krankengymnastik)
dar – andernfalls würde es sich schließlich um erwirbt.
Gesundheit und Krankheit im Alter 285
26. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Ihre Zu 38. Schäfer D (2004) Unbezahlte Arbeit und Bruttoin
kunft im Gesundheitsberuf: Ulla Schmidt und Annette landsproduktion 1992 und 2001 – Neuberechnung des
Schavan diskutieren mit Studierenden und Auszubil Haushalts-Satellitensystems. Wirtschaft und Statistik
denden. Pressemitteilung vom 9. Mai 2008 9/2004: S 960 – 978
27. Statistisches Bundesamt (2006) Gesundheit. Ausga 39. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
ben, Krankheitskosten und Personal 2004. Wiesbaden und Jugend, Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2003)
28. Stanowsky J, Schmax S, Sandvoß R (2004) Gesund Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölke
heitsmarkt – ein Wachstumsmotor? Working Paper Nr. rung in Deutschland 2001/02
17 Economic Research Allianz Group Dresdner Bank www.destatis.de/presse/deutsch/pk/2003/wbdz.pdf
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schine? Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß 40. Meyer I (2001) Zeitstrukturen und soziale Zeitbin
gesetzt! In: Wegweiser GmbH Berlin (Hrsg) Jahrbuch dung in Privathaushalten – Abbildung und Erfassung
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Gesundheit und Krankheit im Alter 289
Die Finanzierbarkeit der Gesundheitsversor nigte Königreich versuchen ebenfalls durch einen
gung hatte in Deutschland bereits in den Gesund Mix von verschiedenen Maßnahmen den Anstieg
heitsreformen seit Ende der 1970er-Jahre Priori der öffentlichen Gesundheitsausgaben zu be
tät. Unter finanzierbar wurden dabei vor allem grenzen [7].
möglichst niedrige Kassenbeiträge verstanden, Auch die Tatsache, dass Gesundheit das Ergeb
um die Lohnnebenkosten der Arbeitgeberinnen nis einer Vielzahl von Einflussfaktoren ist, soll stär
und Arbeitgeber zu begrenzen [3]. Auch in der lau kere Berücksichtigung bei politischen Entschei
fenden Legislaturperiode hat sich die Politik die dungen finden. Das Bundeskabinett hat im April
Aufgabe einer hochwertigen und finanzierbaren 2005 beschlossen, das koordinierte und übergrei
Gesundheitsversorgung gestellt. Neben die gerin fende Handeln im Bereich der gesundheitlichen
gere Belastung des Faktors Arbeit durch Senkung Prävention zu stärken [8]. Da viele Krankheiten im
der Lohnnebenkosten ist dabei die Zielsetzung Alter mitalternde Krankheiten sind, werden gera
einer größeren Finanzierungsgerechtigkeit zwi de von der Prävention neben einer verbesserten
schen Bevölkerungsgruppen und Generationen Lebensqualität, gewonnenen gesunden Lebens
getreten [4]. Grundlegende Veränderungen in jahren, erhöhter Leistungsfähigkeit und Produk
den Finanzierungsmechanismen wurden dabei tivität auch deutliche finanzielle Einsparpotentiale
mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs erwartet, die die entsprechenden Aufwendungen
in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) der Krankenversicherung mehr als kompensieren
eingeleitet, das am 1. April 2007 in Kraft getreten sollen [9]. Der Sachverständigenrat für die Konzer
ist. Im finanziellen Mittelpunkt des Gesetzes ste tierte Aktion im Gesundheitswesen (seit Anfang
hen der neue Gesundheitsfonds und der morbidi 2004: Sachverständigenrat zur Begutachtung
tätsorientierte Risikostrukturausgleich. Vom 1. der Entwicklung im Gesundheitswesen) hat im
Januar 2009 an werden die Krankenkassen ihre Jahr 2000 davon gesprochen, dass sich durch
Finanzmittel aus dem Gesundheitsfonds in Form langfristige Prävention rund 25 % bis 30 % der
von Pauschalen, die nach Alter und Geschlecht Gesundheitsausgaben theoretisch vermeiden
sowie erstmals nach bestimmten Krankheiten lassen [10]. Im Jahr 2006 wurden in Deutsch
differenziert sind, für jede und jeden ihrer Ver land rund 9 Milliarden Euro für Prävention und
sicherten erhalten. Damit sollen unterschiedliche Gesundheitsschutz ausgegeben, das entsprach
Ausgaberisiken einer Krankenkasse ausgeglichen 4 % der laufenden Gesundheitsausgaben. Große
werden, die nicht von ihr zu verantworten sind, unausgeschöpfte Präventionspotentiale werden
weil sie aus unterschiedlichen Risikostrukturen auch bei älteren Menschen gesehen. Ziel eines
der Versichertengemeinschaft resultieren. Der ressortübergreifenden Ansatzes ist es hier bei
Fonds wird sich aus Beiträgen der Arbeitneh spielsweise, Krankheiten und Pflegebedürftigkeit
merinnen und Arbeitnehmer, Arbeitgeberinnen bei noch nicht pflegebedürftigen über 70-jährigen
und Arbeitgeber sowie aus Steuergeldern speisen Menschen zu verhindern [11]. Den Krankenkas
[5]. Der morbiditätsorientierte Risikostrukturaus sen wurde bereits im GKV-Modernisierungsgesetz
gleich in der GKV soll seit 1. Januar 2009 zusätz 2004 die Möglichkeit eröffnet, in ihren Satzungen
lich dafür sorgen, dass eine Krankenkasse für Ver Anreize für gesundheitsbewusstes Verhalten zu
sicherte mit bestimmten schweren Erkrankungen schaffen. Versicherten, die regelmäßig Leistungen
höhere Pauschalen aus dem Gesundheitsfonds er zur Früherkennung von Krankheiten oder zur
hält, weil die Behandlung teurer und aufwändiger primären Prävention in Anspruch nehmen, kann
ist. Welche Erkrankungen dies sein werden, soll bis ein Bonus gewährt werden, wenn dieser aus Ein
Juli 2008 festgelegt werden [6]. Mit dem Gesund sparungen und Effizienzsteigerungen entspre
heitsfonds ist auch ein Einstieg in die schrittweise chender Maßnahmen finanziert wird [11]. Im
Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Gesund
wie die beitragsfreie Mitfinanzierung von Kindern heitsförderung und gesundheitlichen Prävention
durch Steuern verbunden. Die Steuerfinanzie ist vorgesehen, Gesundheitsförderung und Prä
rung der GKV soll nach 2009 weiter ausgebaut vention zu einer eigenständigen Säule im Gesund
werden [5]. Andere Länder wie Frankreich, Däne heitswesen auszubauen [12].
mark, die Niederlande, die Schweiz und das Verei
Gesundheit und Krankheit im Alter 291
Präventive Leistungen setzen dabei an den Gesundheit wird den Versicherten bereits in § 1
Krankheitsrisiken an und resultieren – wenn sie Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) aufer
erfolgreich sind – in einem sinkenden Behand legt. Sie sollen durch eine gesundheitsbewusste
lungsbedarf. Folglich werden weniger Gesund Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung
heitsleistungen nachgefragt, was – gemessen an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen so
daran und bei unveränderter Beschäftigung im wie durch die aktive Mitwirkung an Kranken
Gesundheitswesen – den Produktionswert des behandlung und Rehabilitation dazu beitragen,
Gesundheitssystems sinken lässt. Dagegen haben den Eintritt von Krankheit und Behinderung
kurative Leistungen zum Ziel, Patientinnen und zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden.
Patienten zu behandeln und die Konsequenzen Diese Verpflichtung geht in der Diskussion um
von Krankheiten zu verringern. Sie lassen den die Rechte der Versicherten häufig unter [15].
Produktionswert im Gesundheitssystem entspre Allerdings müssen die Menschen ihren Bedürf
chend steigen. In der Abwägung von Prävention nissen entsprechend auch zum Produzenten von
und Kuration ist ohne Frage eine Verbesserung Gesundheit [16] befähigt bzw. angeleitet werden
der Gesundheit der Bevölkerung wünschenswert. [11], denn ohne wesentlichen Leistungsbeitrag der
Zudem können präventive Maßnahmen in Ab Patientin oder des Patienten können Gesundheits
hängigkeit vom Aufwand die Finanzierungslast leistungen nur eingeschränkt wirken. Es muss
im Gesundheitswesen reduzieren [7]. jedoch davon ausgegangen werden, dass Eigen
Auch von europäischer Seite sind alle Politik verantwortung, Prophylaxe und eine gesundheits
bereiche gefordert, ihre Entscheidungen auf Ge bewusste Lebensführung für unterschiedliche In
sundheitsverträglichkeit zu überprüfen und auf dividuen mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden
mehr Gesundheit auszurichten [13, 14]. Bereits im verbunden sein können [2].
Jahr 2006 wurde deshalb durch die damalige fin- Eine indirekte Sensibilisierung für einen
nische EU-Ratspräsidentschaft mit »Health in all bewussten Umgang mit den gesundheitsbezo
Policies« ein Konzept in die europäische Debatte genen Ressourcen hat über die Regelungen im
eingebracht, das unter besonderer Berücksichti Zuge des GKV-Modernisierungsgesetzes 2004
gung eben jener gesundheitswirksamen Faktoren stattgefunden. Seit 1. Januar 2004 müssen Pa
eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik ver tientinnen und Patienten grundsätzlich zu allen
folgt [13]. Sie ist auch für die Finanzierung des Ge Leistungen Zuzahlungen von 10 % der Kosten
sundheitswesens in einer älter werdenden Gesell erbringen, höchstens aber 10 Euro und mindes
schaft bedeutsam. Fachleute sehen deshalb auch tens 5 Euro. Vorsorgeuntersuchungen bleiben
eine Erhöhung der Beschäftigung im erwerbsfä von Zuzahlungen befreit. Die finanziellen Ei
higen Alter und eine Steigerung der Produktivität genleistungen der Bevölkerung für Gesundheit
im Gesundheitswesen als Voraussetzung für eine (ohne Beiträge zur Krankenversicherung) be
nachhaltige Finanzierung eines wachsenden Ge liefen sich im Jahr 2005 (neuere Angaben lie
sundheitswesens in einer wachsenden Wirtschaft gen nicht vor) in Deutschland auf 34 Milliarden
an [7]. Euro, ein Plus von rund 8 Milliarden Euro im Ver
In der Stärkung des gesellschaftlichen und gleich zum Jahr 2000. Der Anteil der Eigenleis
individuellen Bewusstseins für die eigene Ge tungen an den laufenden Gesundheitsausgaben
sundheit und gesundheitswirksame Faktoren lag im Jahr 2005 bei 15 %, ein Wert der etwa dem
innerhalb und außerhalb des Gesundheitswe europäischen Durchschnitt der Eigenleistungen
sens dürfte ein Schlüssel für die Gesundheit der für Gesundheit entspricht [17]. Empirische Un
Bevölkerung auch im Hinblick auf ihre künftige tersuchungen deuten darauf hin, dass die Pra
Finanzierbarkeit liegen. Denn vor allem von der xisgebühr dazu beigetragen hat, die Zahl nicht
Gesundheit hängt der finanzielle Bedarf für die notwendiger Arztbesuche oder Mehrfachuntersu
Gesundheitsversorgung ab. Die Förderung und chungen zu verringern [18]. Die finanzielle Sen
der Erhalt der Gesundheit erfordert dabei in der sibilisierung für einen bewussten Umgang mit
Regel geringe finanzielle Mittel, vergleichsweise den gesundheitsbezogenen Ressourcen hat aber
teuer ist dagegen der Versuch, Gesundheit wie auch ihre Grenzen. Sie sind dann erreicht, wenn
derherzustellen. Eine Mitverantwortung für ihre z. B. Geringverdiener oder chronisch Kranke an
292 Gesundheit und Krankheit im Alter
rechtzeitiger Therapie sparen. Dies kann die Ge (u. a. Personal, Know-how, Finanzmittel) stehen
sellschaft später viel teurer kommen. alternativen Verwendungszwecken nicht mehr
Anhaltspunkte über die Angemessenheit der zur Verfügung. Die Gesundheit konkurriert in
für Gesundheit verausgabten Mittel werden natio der Ressourcenfrage daher unmittelbar mit ande
nal wie international vorrangig aus Kennziffern ren Zweigen der Sozialen Sicherung und anderen
abgeleitet, die ökonomisch motiviert sind. Dies Bereichen der Volkswirtschaft wie beispielsweise
trifft auf den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bildung oder Verkehr. Da sich Gesundheitschan
Bruttoinlandsprodukt (BIP) ebenso zu wie auf die cen ohnehin nicht nur über die Mittel und Instru
Höhe der Beitragsätze zur GKV. Mit der Annähe mente der Gesundheitspolitik eröffnen – der Me
rung dieser Größen an bestimmte Schwellenwerte dizin werden maximal ein Drittel am Zugewinn an
nimmt in der Regel auch der Handlungsdruck Lebenserwartung und -qualität zugeschrieben, der
auf die politischen Akteure zu, Möglichkeiten der Rest wird durch verbesserte Lebensverhältnisse,
Ausgabenbegrenzung im Gesundheitswesen zu bessere Bildung, gewachsene Handlungsspiel
ergreifen. Mit Hilfe ökonomischer Kennziffern räume und gesundheitsfreundlicheres Verhalten
kann aber auch die Bedeutung des Gesundheits erklärt [20] – sind die Wirkungen der Entschei
wesens für eine Volkswirtschaft deutlich gemacht dungen über die Verteilung von Gesundheitschan
werden, wie sie beispielsweise über den Anteil der cen u. a. in der Bildungspolitik umso bedeutsamer.
Beschäftigten im Gesundheitswesen an allen Be Eine Förderung des Gesundheitswesens um jeden
schäftigten zum Ausdruck kommt. Damit geht ein Preis wäre ohnehin mit den sozialpolitischen Prin
entscheidender Wandel in der Perspektive einher: zipien Qualität, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit
Der lange Zeit vorherrschende, fast ausschließ der Versorgung nicht vereinbar [21], dennoch gilt
liche Blick auf die Ausgabenseite des Gesundheits auch im Gesundheitswesen der generelle Zusam
wesens wird auf Wachstum und Beschäftigung im menhang, dass die Ausgaben von Individuen und
Gesundheitswesen gelenkt, was auch für ein po Versicherungen gleichermaßen Einnahmen für
sitives Verständnis der erwarteten Wirkungen des Individuen und Institutionen bedeuten. Wie der
demografischen Wandels auf das Gesundheitswe gesamtwirtschaftliche Effekt bei demografischer
sen wichtig erscheint. Dies trifft insbesondere auf Alterung ausfällt, hängt auch von der Entwicklung
den Bereich zu, der über die klassische Erhaltung des Wirtschaftsvolumens insgesamt und von dem
und Wiederherstellung der Gesundheit im Rah Anteil ab, der von diesem Wirtschaftsvolumen für
men der gesetzlich vorgeschriebenen Regelver das Gesundheitswesen abgezweigt wird [22]. Al
sorgung hinaus geht. Für ihn wird erwartet, dass lerdings stoßen die Mechanismen des Marktes im
sich die individuellen Wünsche und Bedürfnisse Gesundheitswesen an Grenzen, wo Akteure im
der Bürgerinnen und Bürger u. a. in Bezug auf die öffentlichen Auftrag der Daseinsvorsorge stehen.
Steigerung der individuellen Lebensqualität stär Aus den Ausführungen der vorausgehenden
ker als bisher durchsetzen werden [19]. Von vielen Kapitel des Teils 5 lassen sich folgende Zusam
Ökonomen wird das Gesundheitswesen deshalb menhänge in Bezug auf die Gesundheitsausga
auch als eine der wenigen gesamtwirtschaftlich ben ableiten: Durch das alleinige Abstellen auf
relevanten Wachstumsbranchen angesehen [19]. die deutlich höheren Gesundheitsausgaben für
Mit der Entscheidung über die Höhe des Res ältere Menschen pro Kopf im Vergleich zu den
sourceneinsatzes für das Gesundheitswesen wird jüngeren können die möglichen Folgen des Al
insofern auch über die Bedeutung entschieden, terungsprozesses auf das Ausgabengeschehen
die dem Gesundheitswesen als Teilbereich der im Gesundheitswesen nur unzureichend erklärt
Volkswirtschaft im Hinblick auf Wachstum und werden. Wie die Ausführungen zeigen, unter
Beschäftigung zukommt. liegt die Höhe der finanziellen Aufwendungen für
Der Entscheidungsspielraum der Verantwort das Gesundheitswesen neben dem Alter weiteren
lichen in Politik und Gesellschaft in Bezug auf die vielfältigen Einflüssen: Soziale Faktoren und per
Ressourcen für die Gesundheitsversorgung der sönliche Verhaltensweisen spielen dabei ebenso
Bevölkerung unterliegt gleichwohl gewissen Re eine Rolle wie Versorgungsangebote, Behand
striktionen. Die dem Erhalt und der Wiederher lungsmöglichkeiten, Organisationsstrukturen
stellung von Gesundheit zugeführten Ressourcen oder Finanzierungssysteme. Die individuelle Ge
Gesundheit und Krankheit im Alter 293
sundheit selbst ist wiederum maßgeblich dafür, Insgesamt können die ökonomischen Chancen
inwieweit Einkommen und Vermögen in eigenes und Herausforderungen jedoch nicht in der Wei
Wohlergehen umgewandelt werden können [23]. se bilanziert werden, die ein klares Bild über die
Gesundheitsgüter und -leistungen werden bei wei künftige Entwicklung des Ausgabengeschehens
tem auch nicht von der gesamten Bevölkerung in im Gesundheitswesen ergeben würde. Dazu sind
Anspruch genommen. Darunter sind die Gesun die Einflussmöglichkeiten zu vielfältig sowie in
den, die keinen gesundheitlichen Versorgungsbe ihren Abhängigkeiten und Wechselwirkungen nur
darf haben und Menschen mit gesundheitlichen schwer berechenbar bzw. unzureichend absehbar.
Beeinträchtigungen, die diese u. a. durch familiäre Auch gewinnt der eigentliche Versorgungsbe
oder ehrenamtliche Selbsthilfe bewältigen. Darun darf der Bevölkerung in der Diskussion über ein
ter sind aber auch Menschen, die aufgrund der er mögliches Zuviel oder Zuwenig an Geldern im
forderlichen Zuzahlungen die Inanspruchnahme Gesundheitswesen erst in jüngerer Zeit an Bedeu
ärztlicher Leistungen vermeiden. Darüber hinaus tung. Dazu beigetragen haben Disziplinen wie die
werden Gesundheitsleistungen nicht nur von den Versorgungsforschung, die sich u. a. mit den Zu
Beschäftigten im Gesundheitswesen erbracht, sammenhängen zwischen Zugang, Qualität und
sondern auch von den privaten Haushalten, wie Kosten der Gesundheitsversorgung befasst [27].
am Beispiel häuslicher Pflegeleistungen deutlich Nur aus den Ergebnissen übergreifender Analy
gemacht werden konnte. Auch ein sich wandeln sen können Indikatoren abgeleitet werden, die die
des Krankheitsspektrum und Gesundheitsver Qualität der gesundheitlichen Versorgung bzw.
halten tragen gerade in einer älter werdenden den gesundheitlichen Outcome, d. h. die Gesund
Gesellschaft zum Ausgabengeschehen bei. Der heitsverbesserung durch eine Maßnahme, belast
Anstieg der Gesundheitsausgaben pro Kopf mit bar messen. Die Gewinnung der dafür benötigten
dem Lebensalter ist zudem durch einen höheren u. a. längsschnittlichen Daten erweist sich noch
Anteil an bald Versterbenden bedingt [9], deren als unbefriedigend. Entsprechend steht auch die
Gesundheitsausgaben deutlich höher liegen als Erprobung der Indikatoren derzeit noch aus [27].
die der gleichaltrigen Überlebenden. Die Altersab Die Kriterien für die Finanzierung der Ge
hängigkeit der künftigen Gesundheitsausgaben sundheitsversorgung werden als ein Produkt
ist je nach Annahme über den Gesundheitszu sozialer Auseinandersetzungen verstanden [28].
stand, mit dem die alternde Gesellschaft ihre Dennoch spielt der gesellschaftliche Aushand
gewonnenen Lebensjahre verbringt, unterschied lungsprozess über die Finanzierung des Gesund
lich stark ausgeprägt. Demografie und Fortschritt heitswesens in der öffentlichen Diskussion über
werden die Gesundheitspolitik deshalb über die die Gesundheitsausgaben in Deutschland eine
bisherigen Reformen hinaus auch künftig mit eher untergeordnete Rolle. Durch diesen wer
Herausforderungen konfrontieren, die Weichen den aber sowohl die Beiträge zur Krankenver
stellungen für neue Finanzierungsmechanismen sicherung als auch die Höhe der Steuergelder für
verlangen [4]. Hierfür gibt es eine Reihe von Kon das Gesundheitswesen und damit ein Großteil der
zepten und Diskussionsbeiträgen. Sie schließen Mittel festgelegt, die letztlich für die Gesundheits
auch die Frage nach der Höhe des Krankenversi versorgung der Bevölkerung zur Verfügung ste
cherungsbeitrags auf Alterseinkünfte gesetzlicher, hen. Dabei werden die Anforderungen an die Bür
betrieblicher und privater Art ein [24]. Als ein Vor gerinnen und Bürger zum verantwortungsvollen
schlag zur stärkeren Beteiligung u. a. der älteren Umgang mit ihrer Gesundheit immer größer.
Generation an den Folgen des demografischen Über Zuzahlungen und Praxisgebühren werden
Wandels wird beispielsweise eine verbreiterte sie an den Kosten für ihre Behandlung beteiligt.
Bemessungsgrundlage für die Beiträge zur GKV Als Alternative zum Sachleistungsprinzip können
diskutiert [25]. Dadurch sollen alle Einkommens sie sich für die Kostenerstattung entscheiden oder
arten, also auch Gewinneinkünfte wie Zinsen und einen Selbstbehalt wählen [29]. Risiken infolge
Dividenden oder Mieten und Pachten in die Be einer Erkrankung müssen sie vermehrt eigenver
messungsgrundlage einbezogen werden, die ins antwortlich tragen, wenn sie beispielsweise nicht
besondere bei Haushalten älterer Menschen einen regelmäßig an Früherkennungsuntersuchungen
relevanten Teil des Einkommens ausmachen [26]. teilnehmen [30].
294 Gesundheit und Krankheit im Alter
Damit halten die ökonomischen Grundsätze Von den Gesunden wird der Wert der Gesundheit
im medizinischen Kernbereich des Gesundheits im normalen Alltag womöglich eher gering ge
wesens Einzug in den Alltag. Für die Angebote schätzt. Hinzu kommt, dass Nutzen und Kosten
des so genannten zweiten Gesundheitsmarkts au von Gesundheitsleistungen bei den Konsument
ßerhalb der versicherten Regelversorgung gelten scheidungen stärker auseinander fallen als im
sie von Anfang an. In ihm bildet sich als Reaktion normalen Wirtschaftsleben [32]. Aus volkswirt
auf die alternde Bevölkerung bereits ein Senioren schaftlicher Sicht gibt es auch keine praktikable
markt heraus. Insgesamt stellt sich die Frage, wie wissenschaftlich ableitbare optimale Gesund
diese Entwicklung den Gesundheitsbegriff in der heitsquote weder für die Ausgaben- noch für die
Gesellschaft verändern wird. War früher eher die Einnahmenseite [33]. Ökonomische Kennziffern
Meinung verbreitet »Alles was gesund ist, macht wie der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP
keinen Spaß«, gilt Gesundheit heute als Ausdruck (ausgabenseitig) oder die Höhe des Beitragssatzes
und Teil der modernen Lebensqualität und des (einnahmenseitig) bieten Anhaltspunkte für die
Wohlbefindens. Nun geht es darum, Gesundheit monetäre Größenordnung des Gesundheitswe
als positive Lebensressource in den Lebensalltag sens, einen entscheidenden Beitrag zur Konsens
zu integrieren und dort zu verankern [31]. In eine findung über den Wert der Gesundheit können sie
positive Ressource lohnt es sich zu investieren, aber nicht leisten. Gleiches gilt für den Vergleich
da sie individuellen Nutzen (z. B. Wohlbefinden, von Ausgabenpotentialen, beispielsweise des An
Lebensqualität) und gesamtgesellschaftlichen teils der Gesundheitsausgaben am BIP im Ver
Nutzen (z. B. Lebenserwartung, Arbeitskraft) gleich zum Anteil spezifischer Konsumausgaben
bringt. An den Beispielen nährwert- und gesund am BIP. Die Konsumausgaben der privaten Haus
heitsbezogene Angaben zu Lebensmitteln sowie halte für alkoholische Getränke, Tabakwaren, Frei
Bekämpfung des Rauchens wird deutlich, dass es zeit, Unterhaltung, Kultur sowie Beherbergungs-
der Gesellschaft ernst mit der Verankerung von und Gaststättendienstleistungen beliefen sich im
Gesundheit im Alltag ist. Dadurch ändert sich Jahr 2006 zusammen auf 10 % des BIP, der Anteil
nicht nur der Blick auf die Gesundheit, sondern der Gesundheitsausgaben lag bei 11 %. Ruggeri,
auch auf die Krankheit und das Alter. Der Gegen der entsprechende Vergleiche für das kanadische
satz zwischen gesund und krank sowie jung und Gesundheitssystem vorgeschlagen hat, hinterfragt
alt wird auf positive Weise verwischt [31]. Die Aus damit die Diskussionen über die angebliche Nicht-
bildung eines positiven Ressourcenverständnisses Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems [34].
setzt aber auch eine Diskussion der kritischen Über die gesellschaftliche Bereitschaft hi
Punkte im Verständnis von Gesundheit vor allem naus, Mittel für die Gesundheitsversorgung zur
als Produkt voraus. Dies betrifft beispielsweise die Verfügung zu stellen, hängt die Finanzierbar
als Medikalisierung des Lebens bezeichnete Beo keit der Gesundheitsversorgung in einem Sozi
bachtung, wonach immer mehr Probleme einer alversicherungssystem entscheidend auch vom
medizinischen Lösung zugeführt werden, oder die verantwortungsvollen Umgang der Akteure im
mit Perfektionierung des Körpers zu umschrei Gesundheitssystem mit diesen Mitteln ab. Die
bende Beobachtung, dass immer neue Verbesse Verantwortung der politischen Akteure liegt
rungen des menschlichen Körpers angeboten und dabei u. a. in einer Ausgestaltung der institu
auch angestrebt werden [31]. tionellen Rahmenbedingungen für das Gesund
Der Wert der Gesundheit hängt entscheidend heitswesen, die einem zeitgemäßen und von der
von den verschiedenen individuellen und gesell Gesellschaft getragenen Verständnis von Gesund
schaftlichen Faktoren und Zielvorstellungen ab. heitsversorgung entspricht. Insgesamt soll der
Die einzelne Bürgerin und der einzelne Bürger Staat die Gesundheit schützen und fördern und
werden im Falle einer Erkrankung bereit sein, Gesundheitsrisiken verringern. Die Krankenkas
alle verfügbaren Ressourcen für die Heilung zu sen verantworten eine das Wirtschaftlichkeits
mobilisieren. Für ihn stehen die individuellen gebot beachtende Bereitstellung der benötigten
Ansprüche an die medizinische Versorgung und Leistungen. In der Verantwortung der Leistungs
die Übernahme der Kosten durch die Krankenver erbringerinnen und -erbringer liegt eine bedarfs
sicherung oder die Gesellschaft im Vordergrund. gerechte, qualitätsgesicherte und wirtschaftliche
Gesundheit und Krankheit im Alter 295
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Frauen und Jugend
www.bmfsfj.de/RedaktionBMFS FJ/Abteilung3/PdF
Anlagen/fuenfter-altenbericht,property=pdf,bereich=,
rwb=true.pdf (Stand: 21.07.2006)
Gesundheit und Krankheit im Alter 297
Verwendete Datengrundlagen
Datenhalter: Zentralinstitut für die kassenärztliche Datenhalter: Wissenschaftliches Institut der Orts
Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland krankenkassen (WIdO)
Das Panel ist eine geschichtete Zufallsstich Der Arzneiverordnungsreport basiert auf den
probe von 450 elektronisch abrechnenden Pra Leistungsdaten der Gesetzlichen Krankenversiche
xen niedergelassener Ärztinnen und Ärzte aus 14 rung (GKV). Ausgewiesen werden alle Arzneimit
Arztgruppen. Beteiligt sind die Kassenärztlichen tel, die in öffentlichen Apotheken zu Lasten der
Vereinigungen Nordrhein und Brandenburg, die GKV abgegeben wurden.
pro Quartal Daten von jeweils ca. 600.000 Pa Link: http://wido.de/arzneiverordungs-rep.html
tientinnen und Patienten zur Verfügung stellen. In
die im Kapitel 2.1 verwendete Auswertung gingen
die Abrechnungsdaten von den rund 60 hausärzt Begutachtungsstatistik nach Begutachtungs
lichen Praxen ein (ca. 75.000 Patientinnen und anlässen (Pflegeversicherung)
Patienten).
Link: http://www.zi-berlin.de/ Datenhalter: Medizinischer Dienst der Spitzenver
bände der Krankenkassen e.V. (MDS)
Grundlage der Statistik sind die vom Medizi
Arzneimittelmarkt in Deutschland in Zahlen nischen Dienst der Krankenversicherung (MDK)
durchgeführten Erstbegutachtungen und Begut
Datenhalter: Bundesverband der Arzneimittel- achtungsempfehlungen aller Pflegebedürftigen im
Hersteller e.V. (BAH) Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes, die ambu
In der Erhebung werden alle marktrelevanten lant oder stationär gepflegt werden. Es handelt sich
Entwicklungen in allen Segmenten des Arzneimit um eine vierteljährliche Vollerhebung seit 1998
telmarktes hinsichtlich der Umsatz- und Absatz auf der Grundlage von Pflegegutachten.
zahlen sowie Marktstrukturen erfasst. Im Unter Link: http://www.mds-ev.de
schied zum GKV-Arzneimittelindex sind hier auch
rezeptfreie Arzneimittel (Selbstmedikation) inbe
griffen. Die Daten werden jährlich (teilweise Voll Berliner Altersstudie (BASE)
erhebung, sonst repräsentativ für Deutschland)
vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller Datenhalter: Interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Al
und dem Institut für Medizinische Statistik erho tern und gesellschaftliche Entwicklung« (AGE) der
ben. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen
Link: http://www.bah-bonn.de schaften sowie weitere Berliner Institutionen
Die Berliner Altersstudie ist eine multidiszi
plinäre Untersuchung alter Menschen im Alter
Arzneimittelsurvey 1998 von 70 bis über 100 Jahren, die im ehemaligen
Westteil Berlins leben. In der Hauptstudie (1990
Datenhalter: Robert Koch-Institut (RKI) bis 1993) wurden 516 Personen in 14 Sitzungen
Der Arzneimittelsurvey 1998 fand im Rah hinsichtlich ihrer geistigen und körperlichen Ge
men des Bundes-Gesundheitssurvey 1998 statt. Er sundheit, ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit
liefert als Querschnittsstudie repräsentative Daten und psychischen Befindlichkeit untersucht sowie
zum Arzneimittelgebrauch der 18- bis 79-jährigen nach ihrer sozialen und ökonomischen Situation
Wohnbevölkerung in Deutschland (n=7.099). Die befragt. Seitdem ist die Studie als Längsschnitt
Datenerhebung erfolgte mit Hilfe ärztlicher Inter studie weitergeführt worden, indem überlebende
views. Teilnehmer sechsmal nachuntersucht wurden.
Link: http://www.rki.de Link: http://www.base-berlin.mpg.de
298 Gesundheit und Krankheit im Alter
merinnen und Teilnehmer der Ersterhebung, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS)
bereit und in der Lage waren, an einer zweiten
Befragung teilzunehmen, erneut aufgesucht. An Datenhalter: Statistisches Bundesamt
dieser Zweiterhebung (Panelstichprobe) nahmen Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
1.524 Personen im Alter von nunmehr 46 bis 91 ist eine repräsentative Quotenstichprobe privater
Jahren teil. Ergänzend wurden im Jahr 2002 er Haushalte mit freiwilliger Auskunftserteilung.
neut Personen im Alter von 40 bis 85 Jahren be Zentrales Instrumentarium der Erhebung sind
fragt (n=3.084 Personen). Im Jahr 2002 wurden Interviews und von den Haushalten detailliert zu
erstmals auch 584 ausländische Personen mit führende Haushaltsbücher u.a. über ihre Einnah
Wohnsitz in Deutschland befragt. Die wiederholte mequellen und Ausgaben für den privaten Kon
Befragung macht es möglich, individuelle Verän sum, ihre Ausstattung mit langlebigen Gebrauchs
derungen und Kohortenvergleiche zu analysieren. gütern, die Vermögensformen und -bestände sowie
Link: http://www.dza.de die Schuldenarten. Die Stichprobe ist u.a. Daten
grundlage der Armuts- und Reichtumsberichter
stattung und Basis für die Berechnungsgrundlage
4. Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV) (Wegungsschema) des Verbraucherpreisindex. Die
Erhebung wird seit 1962/1963 (ab 1993 auch neue
Datenhalter: Institut der Deutschen Zahnärzte Länder und Berlin-Ost) in der Regel alle fünf Jahre
(IDZ) durchgeführt und umfasst etwa 0,2% der privaten
Die 4. Deutsche Mundgesundheitsstudie ist Haushalte, d.h. jeden fünfhundertsten Haushalt.
eine bevölkerungsrepräsentative Querschnitts Link: http://www.destatis.de
studie zu Aspekten der Mundgesundheit und des
Mundgesundheitsverhaltens in vier ausgewählten
Alterskohorten. Sie gliedert sich in einen klinisch GEK-Daten
zahnmedizinischen Befundungsteil und einen
sozialwissenschaftlichen Befragungsteil. Insge Datenhalter: Gmünder Ersatzkasse (GEK)
samt nahmen 4.631 Personen an der im Jahr 2005 Die Gmünder Ersatzkasse (GEK) stellt auf der
durchgeführten Studie teil (Seniorenkohorte: 65 – Basis von Kooperationsvereinbarungen Daten für
74 Jahre, n=1.040). wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung. Der vom
Link: http://www.idz-koeln.de/ Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) in Bremen ge
pflegte Datensatz erstreckt sich gegenwärtig über
den Zeitraum 1990 bis 2004 und beinhaltet Infor
DRV Statistik Rentenbestand mationen zu insgesamt 2,8 Millionen Versicherten
oder mitversicherten Familienangehörigen. Für
Datenhalter: Deutsche Rentenversicherung Bund wissenschaftliche Auswertungen sind in erster Li
Die Statistik liefert Faustdaten zur Rentenver nie Informationen zu vorliegenden Krankheiten
sicherung und Informationen zu den Bereichen und in Anspruch genommenen medizinischen
Versicherte, Rentenzugang, Rentenbestand und Leistungen, z.B. stationäre Behandlungen, Arznei
Rehabilitation. Grundlage der »DRV Statistik mittelverordnungen oder Leistungen der Pflege
Rentenbestand« sind die Verwaltungsvorgänge zu versicherung, interessant. Darüber hinaus stehen
den laufenden Renten bei allen 19 Rentenversi Informationen zu Arbeitsunfähigkeitszeiten und
cherungsträgern (17 Regionalträger der Deutschen Sterbedaten zur Verfügung.
Rentenversicherung Bund und der Deutschen Link: http://www.zes.uni-bremen.de
Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See).
Links: http://www.deutsche-rentenversicherung-bund.de
300 Gesundheit und Krankheit im Alter
Mikrozensus Pflegestatistik
(MEA). In der hier verwendeten ersten Welle aus (n=8.318). Die Datenerhebung erfolgte mit Hilfe
dem Jahr 2004 wurden über 22.000 Personen computerassistierter Telefoninterviews.
befragt. Link: http://www.rki.de
Link: www.share-project.org
Todesursachenstatistik
Sozio-oekonomische Panel (SOEP)
Datenhalter: Statistisches Bundesamt
Datenhalter: Deutsches Institut für Wirtschaftsfor Die Todesursachenstatistik ist die elementare
schung (DIW) Berlin Grundlage zur Ermittlung wichtiger Gesundheits
Das SOEP ist eine repräsentative Befragung indikatoren wie Sterbeziffern, verlorene Lebens
privater Haushalte in Deutschland, die seit 1984 jahre und vermeidbare Sterbefälle. Datengrundla
im jährlichen Rhythmus im Paneldesign durch ge sind die Todesbescheinigungen, die im Rahmen
geführt wird. Die Befragung wird durch das Deut der Leichenschau ausgestellt werden. Es handelt
schen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sich um eine Sekundärstatistik. Ausgewertet wer
Berlin realisiert. Themenschwerpunkte sind unter den die für die amtliche Statistik vorgesehenen
anderem Haushaltszusammensetzung, Erwerbs Teile der Todesbescheinigungen. Die Todesursa
und Familienbiographie, Erwerbsbeteiligung chenstatistik ist eine jährliche Vollerhebung; Daten
und berufliche Mobilität, Einkommensverläufe, liegen seit 1950 in schriftlicher und seit 1980 in
Gesundheit und Lebenszufriedenheit. Das SOEP elektronischer Form vor.
zeichnet sich durch eine hohe Stabilität aus. 1984 Links: http://www.destatis.de, http://www.gbe-bund.de
beteiligten sich im SOEP-West 5.921 Haushalte mit
12.290 erfolgreich befragten Personen an der Erhe
bung; nach 23 Wellen im Jahre 2006 sind es noch Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)
3.476 Haushalte mit 6.203 Personen. Im SOEP-
Ost wurden 1990 2.179 Haushalte mit 4.453 Per Datenhalter: Statistisches Bundesamt
sonen befragt; 2006 gaben 3.476 Personen in 1.717 Die amtlichen volkswirtschaftlichen Ge
Haushalten Auskunft über ihre Lebenssituation. samtrechnungen geben ein umfassendes, tief
Die Stärken des SOEP bestehen vor allem in gegliedertes, quantitatives Gesamtbild des wirt
seinen besonderen Analysemöglichkeiten durch: schaftlichen Geschehens. Einbezogen sind alle
das Längsschnittdesign (Panelcharakter), den Wirtschaftseinheiten (Personen, Institutionen)
Haushaltskontext (Befragung aller erwachsenen und ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten, differen
Haushaltsmitglieder); der Möglichkeit innerdeut ziert nach Wirtschaftsbereichen und Sektoren.
scher Vergleiche und tiefgegliederter geografischer Die Inlandsproduktberechnung als Teil der VGR
Klassifikationen; einer überproportionalen Auslän ermittelt Daten, die für die laufende Wirtschaftsbe
derstichprobe; der Erhebung von Zuwanderung obachtung und -analyse notwendig sind (z.B. das
sowie der überproportionalen Berücksichtigung Bruttoinlandsprodukt). Die Ergebnisse werden in
einkommensstarker Haushalte (seit 2002). der gesamten Europäischen Union in gleicher Wei
Link: http://www.diw.de/deutsch/sop/index.html se berechnet.
Link: http://www.destatis.de
Glossar
Disease Manage strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen; sie sollen die Qualität der
ment Programme medizinischen Versorgung nachhaltig verbessern (wissenschaftlich geprüfte Behandlungsmetho
(DMP) den) und Behandlungsabläufe besser aufeinander abstimmen
Disposition, Veranlagung
genetische
Dorsopathie Erkrankungen des Rückens, Rückenbeschwerden
drittes Lebensalter innerhalb der Phase des Alters (65 Jahre und älter) werden zwei Altersphasen unterschieden, näm
lich das »dritte Lebensalter« (65 Jahre bis 84 Jahre) und das »vierte Lebensalter« (85 Jahre und älter)
Eigenleistungen, Zuzahlungen der Patientin bzw. des Patienten zu einer von der Krankenversicherung zur Verfügung
finanzielle gestellten Leistung oder selbst getätigte direkte Käufe von Gesundheitsgütern und -dienstleistungen
Entwicklungs Teilgebiet der Psychologie, das sich mit der Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung
psychologie menschlichen Erlebens und Verhaltens unter dem Aspekt der Veränderung über die gesamte Lebens
spanne beschäftigt
epidemiologischer Wandel der Bedeutung von Infektionskrankheiten und chronisch-degenerativen Erkrankungen für
Übergang das Sterbegeschehen im 20. Jahrhundert; so nahm in vielen Ländern der Anteil von Infektionskrank
heiten an den Todesursachen ab, während der Anteil der chronischen Erkrankungen angestiegen ist
Ersatzniveau Kinderzahl, die im Durchschnitt je Frau in einer Bevölkerung geboren werden müsste, um unter
gegebenen Sterbeverhältnissen den Ersatz der Elterngeneration zu gewährleisten und somit die Be
völkerungsgröße stabil zu halten: in industrialisierten Gesellschaften durchschnittlich 210 Kinder je
100 Frauen
Evidenz vorliegen wissenschaftlicher Belege, wissenschaftliche Absicherung
Familienzyklus idealtypische Entwicklung einer Familie durch verschiedene Phasen, die durch unterschiedliche Funk
tionen und Auseinandersetzung mit Aufgaben geprägt sind, etwa Partnersuche und Heirat, Familie
mit Kindern, Familie ohne Kinder und Familie im Alter (nicht alle Familien durchlaufen diesen Zyklus)
Geriatrie Altersmedizin
geriatrische rehabilitative Leistungen speziell für ältere Menschen mit dem Ziel, möglichen Behinderungen oder
Rehabilitation Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, sie zu beseitigen oder Verschlimmerungen zu verhüten; seit 2007
besteht ein Rechtsanspruch auf geriatrische Rehabilitation
gesellschaftliche Teilhabe von Individuen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und Aktivitäten
Partizipation
gesunde misst die Zahl der Lebensjahre, die eine Person wahrscheinlich ohne gesundheitliche Beeinträch
Lebenserwartung tigung zu leben hat (auch als behinderungsfreie oder aktive Lebenserwartung bezeichnet); sie
wird zumeist ab der Geburt berichtet und auf Basis verschiedener Methoden berechnet (vgl. HALE,
Healthy Life Years)
gesundheitlicher resultierende Wirkung medizinischer Leistungen, gemessen z. B. als Anzahl geheilter Patientinnen
Outcome und Patienten, Komplikationsraten, Verhaltensänderungen
Gesundheitsfonds Konzept zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland ab 2009: Arbeit
nehmerinnen/Arbeitnehmer, Arbeitgeberinnen/Arbeitgeber sowie der Bund zahlen in den Fonds,
die Krankenkassen erhalten aus dem Fonds pro Versicherte/Versicherten eine pauschale Zuweisung
sowie ergänzende Zu- und Abschläge je nach Alter, Geschlecht und Krankheit ihrer Versicherten
Gonarthrose am Kniegelenk auftretende Arthrose
HALE (Health- verbreitetes Maß für die gesunde Lebenserwartung, das im World Health Report der Weltgesund
Adjusted Life heitsorganisation Anwendung findet; es wird auf Basis von Aggregatdaten zu altersspezifischen Prä
Expectancy) valenzen ausgewählter Erkrankungen und Sterbetafeln berechnet
Harninkontinenz vollkommene oder teilweise Unmöglichkeit Zeit und Ort der Harnausscheidung zu kontrollieren
Hauptpflege Person, die über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr den überwiegenden Teil der Betreuung
personen und Pflege eines pflegebedürftigen Menschen erbringt
Haushalts umfasst im Unterschied zum Produktionsbegriff in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen
produktion auch die Produktion von Waren und Dienstleistungen für eigene Zwecke, soweit diese von Dritten
erbracht werden könnten (Dritt-Personen-Kriterium)
Healthy Life Years Maß für die gesunde Lebenserwartung und EU-Strukturindikator zur Gesundheit; Anzahl der Le
(HLY) bensjahre ohne funktionale Beeinträchtigungen durch den eigenen Gesundheitszustand; sie wird
anhand der Sullivan-Methode auf Basis der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebens
bedingungen und nationaler Sterbetafeln berechnet
Gesundheit und Krankheit im Alter 307
Herzinfarkt, akuter Verschluss einer Herzkranzarterie; klinische Ausprägungsform der koronaren Herzkrankheit
Herzinsuffizienz Herzmuskelschwäche; klinische Ausprägungsform der koronaren Herzkrankheit
Hilfebedarf Notwendigkeit der Unterstützung bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrich
tungen im Ablauf des täglichen Lebens, im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen
Versorgung
Hyperlipidämie Fettstoffwechselstörung
Hypertonie, arterielle Bluthochdruck
ICD-10 Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, sie
enthält 21 Klassen
instrumentelle Aktivitäten, die Voraussetzung für selbstständiges Leben sind, z. B. Einkaufen, Telefonieren
Aktivitäten
integrierte Möglichkeit, Verträge zwischen Krankenkassen, Haus- und Fachärzten, ärztlichen und nichtärzt
Versorgung lichen Leistungserbringern, ambulanten und stationären Versorgungsbereichen sowie Apotheken
abzuschließen, um eine aufeinander abgestimmte, koordinierte Versorgung anzubieten; die Inte
grierte Versorgung ist im Jahr 2000 in § 140a ff. Fünftes Sozialgesetzbuch eingeführt worden
Inzidenz Häufigkeit neu auftretender Krankheitsfälle innerhalb eines Zeitabschnittes (i. d. R. in einem Jahr)
ischämische Erkrankung der Herzkranzarterien, durch Arteriosklerose kommt es zu Sauerstoffmangel im Herz
Herzkrankheit muskelgewebe
Kaufkraft das verfügbare Einkommen (Einkommen ohne Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, inkl. emp
fangener Transferleistungen) der Bevölkerung; identisch mit dem ausgabefähigen Einkommen
Konsumausgaben umfassen bei privaten Haushalten den Kauf von Gütern und Dienstleistungen sowie unterstellte
Käufe (z. B. selbstgenutztes Wohneigentum); nicht zu den Konsumausgaben zählen z. B. Einkom
menssteuern oder Kredittilgungen
Konsumquote Anteil der Konsumausgaben am ausgabefähigen Einkommen in Prozent
Letalität Sterblichkeit bei einer bestimmten Erkrankung; Verhältnis der Todesfälle zur Zahl der Erkrankten
maligner Tumor bösartige Gewebsneubildung, z. B. Krebs
Medianalter Alter einer Bevölkerung, in dem sich diese in zwei gleich große Teile gliedert – 50 Prozent sind jünger
und 50 Prozent sind älter
Medizinischer medizinischer, zahnmedizinischer und pflegerischer Beratungs- und Begutachtungsdienst der ge
Dienst der Kranken setzlichen Kranken- und Pflegeversicherung in einem Bundesland
versicherung (MDK)
Mehrzustands Methode zur Berechnung der gesunden Lebenserwartung auf Basis von Sterbetafeln und Inzidenzen
sterbetafel für gesundheitliche Beeinträchtigungen, die sehr hohe Anforderungen an die vorhandenen Daten
grundlagen stellt
Metaanalyse wissenschaftliche Forschungsmethode, Zusammenführung zahlreicher wissenschaftlicher Studien
Migrations eine im Mikrozensus aus mehreren personenbezogenen Eigenschaften abgeleitete Variable, die für
hintergrund folgende Personen zutrifft: alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
Zugewanderten, alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche
Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen El
ternteil
Morbidität Krankheitslast, Krankheitshäufigkeit bezogen auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe
morbiditätsorien Finanztransfer zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, um finanzielle Risiken, die durch unter
tierter Risikostruk schiedliche Versichertenstrukturen entstehen, auszugleichen; bisher wurden dabei nur demogra
turausgleich fische Merkmale berücksichtigt, beim Morbi-RSA wird seit 2009 der Gesundheitszustand direkt
(Morbi-RSA) berücksichtigt
Mortalität Sterblichkeit wird von biologischen, medizinischen und sozioökonomischen Determinanten sowie
von der individuellen Lebensweise beeinflusst; als Maß für die Mortalität wird unter anderem die
Sterberate verwendet
multilokaler Familie, die aus mehreren Generationen besteht und deren Mitglieder in verschiedenen, räumlich
Familienverband getrennten Haushalten leben
Multimorbidität gleichzeitiges Bestehen von mehreren Krankheiten, die sich zudem gegenseitig beeinflussen; Kenn
zeichen von Krankheit im Alter
308 Gesundheit und Krankheit im Alter
Müttersterblichkeit ein Müttersterbefall ist nach Definition der Weltgesundheitsorganisation ein Sterbefall einer Frau
während oder bis zu sechs Wochen nach Beendigung der Schwangerschaft (außer Tod durch
Ereignisse, die nicht mit der Schwangerschaft in Verbindung standen); Bezugsgröße ist die Zahl der
Lebendgeborenen
nosokomiale im Krankenhaus erworbene Infektionen
Infektionen
Osteoporose Skeletterkrankung, Knochenschwund
Pflegebedarf mit Pflegebedarf wird im Sozialgesetzbuch XI (Pflegeversicherung) die Summe der Tätigkeiten in
Minuten pro Tag beschrieben, bei denen eine teilweise oder vollständige Unterstützung einer Per
son durch Dritte erforderlich ist, und zwar bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden
Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaft
lichen Versorgung
Pflegegeld Sozialleistung für pflegebedürftige Personen, die bei Vorliegen einer Pflegebedürftigkeit im Rahmen
des Sozialgesetzbuch XI (Pflegeversicherung) gezahlt wird
Pflegekasse Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung sind automatisch Mitglied der Pflegekasse ihrer
Krankenversicherung, die aus ihren Beitragseinnahmen die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit über
nimmt; privat Krankenversicherte müssen eine Pflegeversicherung mit ihrer Krankenkasse abschlie
ßen
Pflegepflichteinsätze im Sozialgesetzbuch XI (Pflegeversicherung) festgelegter regelmäßiger Besuch durch Pflegefachkräf
te bei Empfängerinnen und Empfängern von Pflegegeld
Polyarthritis gleichzeitig an fünf oder mehr Gelenken auftretende Arthritis
Prävalenz Krankheitsverbreitung; Häufigkeit von Krankheitsfällen zu einem bestimmten Zeitpunkt
Psychopharmaka Arzneistoff, der auf die Psyche des Menschen einwirkt und der Behandlung psychischer Störungen
und neurologischer Krankheiten dient
Raumordnungs des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR); Abschätzung von Eckwerten zukünftiger
prognose räumlicher Entwicklung der Demografie (Bevölkerung, private Haushalte), des Arbeitsmarktes (Er
werbspersonen) und des Wohnungsmarktes; erfolgt regelmäßig in mehrjährigen Abständen (aktuell
für den Zeitraum 2002 bis 2020, teilweise bis 2050)
Rekonvaleszenzzeit Genesungszeit
rezidivierend wiederholt auftretend
Sachverständigenrat interdisziplinär besetztes beratendes Gremium (sieben Mitglieder); erstellt zweijährlich Gutachten
zur Begutachtung über die Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung mit ihren medizinischen und wirtschaftlichen
der Entwicklung im Auswirkungen
Gesundheitswesen
Screeningmethode Testverfahren für Reihenuntersuchung
Selbstbehalt Finanzierungsprinzip; Kosten der Inanspruchnahme einer Leistung werden von den versicherten
Personen bis zu einem festgesetzten Betrag selbst bezahlt, oberhalb der Grenze beginnt die Erstat
tungspflicht der Krankenkasse, im Gegenzug gibt es Beitragsermäßigungen
Selbstwirksamkeit Selbstwirksamkeit oder Selbstwirksamkeitserwartung beschreibt die Überzeugung, aufgrund eigener
Kompetenzen und Fähigkeiten zukünftige Handlungen erfolgreich ausführen zu können
somatische körperliche Gesundheit
Gesundheit
Sterberaten Sterblichkeitsmaß; man unterscheidet zwischen rohen und standardisierten Sterberaten; die rohe
(allgemeine) Sterblichkeit errechnet sich aus der Anzahl der Gestorbenen dividiert durch die mittlere
Bevölkerung und wird i. d. R. noch mit 100.000 multipliziert, so dass sich als Maßeinheit »Gestor
bene pro 100.000 der Bevölkerung« ergibt
Sterbetafeln komplexes Zahlensystem von Sterblichkeitsmaßen und Lebensdauermaßen, das die Sterblichkeits
verhältnisse aller Altersgruppen einer Bevölkerung in einem bestimmten Zeitraum (Periodensterbe
tafel) oder die eines Geburtsjahrganges (Kohorte) für die Kohortenlebensjahre (Kohortensterbetafel)
abbildet; Grundlage sind die alters- und geschlechtsspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten; diese
werden aus den Sterberaten empirisch ermittelt und anhand von theoretischen Modellrechnungen
korrigiert, um statistische Schwankungen zu kompensieren
Sterbeziffer Anzahl der innerhalb eines bestimmten Zeitraumes Verstorbenen je 1.000 Personen der Bevölkerung
Gesundheit und Krankheit im Alter 309
Sterblichkeit Mortalität
Strukturverträge organisatorische Versorgungs- und Kooperationsformen zwischen Krankenkassen sowie Ärztinnen
und Ärzten gemäß § 73 a SGB V, z. B. Arztnetzwerke, vernetzte Praxen; besondere Vergütungsformen
sind möglich, z. B. Vergütungspauschalen, finanzielle Anreizregelungen
subdiagnostische gering ausgeprägte Krankheitszeichen, die diagnostisch nicht erfasst werden, Betroffene aber be
Symptomatik einträchtigen
subjektives individuelle Komponente von Wohlfahrt und Lebensqualität, die durch kognitive Aspekte (Lebens
Wohlbefinden zufriedenheit) und emotionale Aspekte (Glück, Niedergeschlagenheit) definiert wird
Sullivan-Methode Methode zur Berechnung der gesunden Lebenserwartung auf Basis von Sterbetafeln und Präva
lenzen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die geringe Anforderungen an die vorhandenen
Datengrundlagen stellt
Transition, demografischer Übergang
demografische
Varikosis Erkrankung der Blutgefäße: Krampfadern
vaskuläre Demenz Demenz, die auf Durchblutungsstörungen des Gehirns beruht; es kann zu plötzlichen Verschlechte
rungen der Hirnleistung und zur schlaganfallartigen Symptomatik kommen
viertes Lebensalter innerhalb der Phase des Alters (65 Jahre und älter) werden zwei Altersphasen unterschieden, näm
lich das »dritte Lebensalter« (65 Jahre bis 84 Jahre) und das »vierte Lebensalter« (85 Jahre und älter)
Volkseinkommen Summe aller Erwerbs- und Vermögenseinkommen, die Inländerinnen und Inländern zugeflossen
sind; umfasst Arbeitnehmerentgelt sowie die Unternehmens- und Vermögenseinkommen
Volkswirtschaftliche zahlenmäßige Zusammenfassung des wirtschaftlichen Geschehens in einem Zeitraum; wichtigste
Gesamtrechnungen Kennziffern der VGR sind das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die Bruttowertschöpfung (BWS)
(VGR)
vollstationäre auf Dauer angelegte, räumlich-organisatorische Zusammenfassung von Pflegefachkräften und Sach
Pflegeeinrichtung mitteln, die umfassende Pflege und Versorgung von hilfe- und pflegebedürftigen Bewohnerinnen
und Bewohnern gewährleistet
Vollzeitäquivalente Anzahl der Beschäftigten, wenn alle Beschäftigten die volle tarifliche Arbeitszeit leisten würden (Re
chengröße); ein Vollzeitäquivalent entspricht einer/einem Vollzeitbeschäftigten
Zerebralarterioskle Arteriosklerose im Gehirn
rose
310 Gesundheit und Krankheit im Alter
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Herausgeber
Karin Böhm
Prof. Dr. Clemens Tesch-Römer
Dr. Thomas Ziese
Redaktion
Dr. Christine Hagen
unter Mitarbeit von
Franziska Bading, Kerstin Möllerke
Gesundheitsberichterstattung
Robert Koch-Institut
Autoren
Karin Böhm, Dr. Silke Mardorf
Manuela Nöthen, Torsten Schelhase
Statistisches Bundesamt
© Rob
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ISBN9
78-
3-89606
-196
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