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Deutschland ist eine Gesellschaft des langen Lebens.

Bereits heute leben in Deutschland mehr 65-jährige und


ältere Menschen als 15-jährige und jüngere. Und die
Altersstruktur wird sich weiter zugunsten der älteren
Menschen verschieben. Gesundheit im Alter ist heute
und zukünftig ein Thema von hoher individueller und
gesellschaftlicher Bedeutung. Mit fortschreitendem Alter
ist ein deutlicher Anstieg von Gesundheitsproblemen zu
beobachten. Auch die Komplexität der vorliegenden
Beeinträchtigungen wächst mit dem Alter. Ein großer Teil
der Gesundheitsprobleme älterer Menschen kann durch
primär-, sekundär- oder tertiärpräventive Maßnahmen Beiträge zur
günstig beeinflusst werden. Zudem gibt es mit Blick auf Gesundheitsberichterstattung
den Wandel der Gesundheit in den letzten Jahrzehnten
positive Nachrichten.
des Bundes
Im vorliegenden Buch geht es um die Gesundheit und
Krankheit von Menschen, die 65 Jahre und älter sind.
Es werden somatische und psychische Gesundheit, Gesundheit und Krankheit im Alter
funktionale Gesundheit und Pflegebedürftigkeit sowie
subjektive Gesundheit behandelt. Die Einflüsse von
Lebenslagen und Lebensstilen auf die Gesundheit von Eine gemeinsame Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes,
älter werdenden und alten Menschen wird analysiert. des Deutschen Zentrums für Altersfragen
Anhand der Angebote, die professionelle, familiäre und des Robert Koch-Instituts
und ehrenamtliche Seite bereitstellen, wird die gesund-
heitliche und pflegerische Versorgung alter Menschen
untersucht. Vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels werden schließlich die ökonomischen Chancen
und Herausforderungen des Alterns für das Gesund-
heitswesen analysiert. Hier werden wichtige Erklärungs-
ansätze für das Kostengeschehen geliefert, und es wird
die Bedeutung des Gesundheitswesen als Wirtschafts-
zweig dargestellt

© Robert Koch-Institut

SBN 978-3-89606-193-5
Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Beiträge zur
Gesundheitsberichterstattung
des Bundes

Gesundheit und Krankheit im Alter

Herausgeber

Karin Böhm, Statistisches Bundesamt


Clemens Tesch-Römer, Deutsches Zentrum für Altersfragen
Thomas Ziese, Robert Koch-Institut

Robert Koch-Institut, Berlin 2009


More than one quarter of children and adolescents under the age
of 18 in Germany come from a migrational background. In many
cases, these children and young people have not experienced
migration themselves, but live in Germany as part of the second
or third generation of an immigrant family. Nevertheless,
migration still influences their way of life in specific ways,
irrespective of whether they immigrated themselves or were born
into subsequent generations. Up to now comparatively little has
been known about how this affects migrant children’s chances of
leading a healthy life. The German Health Interview and Examina-
tion Survey for Children and Adolescents (KiGGS), conducted by
the Robert Koch Institute on behalf of the Federal Ministry of
Health, provides for the first time comprehensive data on this
group’s health status. This report looks at various aspects of
health and health-related behaviour and shows that, although the
majority of children and adolescents with a migrational back-
ground grow up in a socially disadvantaged environment, their
health situation is not generally precarious. For example, health
resources seem to exist in the form of culture-specific healthy
lifestyle patterns, reflected in better breast-feeding behaviour by
mothers and less consumption of tobacco and alcohol by
adolescents with a migrational background. Since life in the host
country involves a change of lifestyle which may also lead to a
deterioration of lifestyle patterns, it is important to preserve such
resources. Areas in which disadvantages manifest themselves,
include overweight, subjective health, nutrition, oral health and
the use of screening tests. The results also show that migrants
are a very heterogeneous group and that health within the
migrant population varies according to the country of origin, sex,
age, social status and duration of residence – or the generation to
which the children/adolescents belong.
Gesundheit und Krankheit im Alter 3

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ........................................................................................................ 5

1 Wer sind die Alten? Theoretische Positionen


zum Alter und Altern ....................................................................... 7
1.1 Theoretische Positionen zu Gesundheit und Alter......................... 7
Clemens Tesch-Römer, Susanne Wurm
1.2 Demografische Perspektiven zum Altern und zum Alter ............... 21
Elke Hoffmann, Sonja Menning, Torsten Schelhase

2 Alter = Krankheit? Gesundheitszustand


und Gesundheitsentwicklung ......................................................... 31
2.1 Somatische und psychische Gesundheit........................................ 31
Anke-Christine Saß, Susanne Wurm, Thomas Ziese
2.2 Funktionale Gesundheit und Pflegebedürftigkeit ........................... 62
Sonja Menning, Elke Hoffmann
2.3 Subjektive Gesundheit ..................................................................... 79
Susanne Wurm, Thomas Lampert, Sonja Menning
2.4 Lebenserwartung und Sterbegeschehen ......................................... 92
Elke Hoffmann, Torsten Schelhase, Sonja Menning
2.5 Kompression oder Expansion der Morbidität?............................... 105
Lars Eric Kroll, Thomas Ziese

3 Gesundheit im Alter bedingt durch Schicksal,


Schichtzugehörigkeit oder Verhalten? Gesundheitsrelevante
Lebenslagen und Lebensstile .......................................................... 113
3.1 Lebenssituationen älter werdender und alter Menschen
in Deutschland................................................................................. 113
Clemens Tesch-Römer, Susanne Wurm
3.2 Soziale Ungleichheit und Gesundheit im höheren Lebensalter..... 121
Thomas Lampert
3.3 Inanspruchnahmeverhalten ............................................................ 134
Anke-Christine Saß, Susanne Wurm, Thomas Ziese
3.4 Wie wichtig ist Prävention? ............................................................. 160
Benjamin Schüz, Susanne Wurm

4 Systeme mit Altersschwäche? Angebote gesundheitlicher


und pflegerischer Versorgung für alte Menschen .......................... 167
4.1 Angebote der ambulanten und stationären Versorgung................ 167
Sabine Maria List, Livia Ryl, Torsten Schelhase
4.2 Familiale und ehrenamtliche pflegerische Versorgung .................. 194
Clemens Tesch-Römer, Silke Mardorf
4.3 Vernetzung in der gesundheitlichen und pflegerischen
Versorgung: Wem nützt sie? ........................................................... 207
Anna Hokema, Daniela Sulmann
4 Gesundheit und Krankheit im Alter

5 Wie teuer wird das Altern? Ökonomische Chancen und


Herausforderungen einer alternden Gesellschaft .......................... 216
5.1 Finanzierung der Gesundheitsversorgung ..................................... 216
Karin Böhm, Silke Mardorf
5.2 Krankheitskosten in Deutschland: Welchen Preis hat die
Gesundheit im Alter?....................................................................... 228
Manuela Nöthen, Karin Böhm
5.3 Bedeutung der demografischen Alterung für das
Ausgabengeschehen im Gesundheitswesen .................................. 247
Silke Mardorf, Karin Böhm
5.4 Ältere Menschen als Kundinnen und Kunden der
Gesundheitswirtschaft und als Anbietende von
Gesundheitsleistungen.................................................................... 267
Silke Mardorf, Karin Böhm
5.5 Demografie und Fortschritt: Bleibt Gesundheit bezahlbar? .......... 289
Karin Böhm, Silke Mardorf

Verwendete Datengrundlagen .................................................................... 297

Glossar ......................................................................................................... 305

Tabellenverzeichnis ..................................................................................... 310

Abbildungsverzeichnis ................................................................................ 313


Gesundheit und Krankheit im Alter 5

Vorwort

Gesundheit und Krankheit im Alter, der kompakte Diskussionen im Autorinnen- und Autorenteam
Titel des vorliegenden Buches, spannt einen Bogen steht der interessierten Öffentlichkeit nun in Form
über eine facettenreiche Thematik, von der Junge dieses Buches zur Verfügung.
wie Alte und Gesunde wie Kranke betroffen sind. Inhaltlicher Ausgangspunkt des Buches sind
Die alten und hochaltrigen Menschen stehen dabei theoretische Positionen zum Alter und Altern,
im Mittelpunkt der Betrachtung. Auch wenn wir auf die im ersten Teil eingegangen wird. Die
betonen können, dass alt an Jahren nicht gleichbe­ Ausführungen des zweiten Teils »Gesundheits­
deutend mit Kranksein ist, nimmt die Wahrschein­ zustand und Gesundheitsentwicklung« münden
lichkeit, an Krankheiten zu leiden, mit dem Alter in der Frage, ob der demografische Wandel zu ei­
doch zu. Da aber das Altern bekanntlich auch die ner Kompression oder Expansion der Morbidität
Jungen nicht ausnimmt, hoffen die Autorinnen führen wird. Die Beiträge zu den gesundheitsre­
und Autoren mit ihren Beiträgen auf das Interesse levanten Lebenslagen und Lebensstilen im drit­
einer großen Leserschaft zu stoßen. ten Teil schließen mit einer Erörterung der Frage
Gemessen an der Anzahl der Veröffentli­ »Wie wichtig ist Prävention?«. Die Vernetzung
chungen ist die Aufmerksamkeit für Gesundheit als Option rundet den vierten Teil zu den Ange­
und Alter in den vergangenen Jahren gestiegen. boten gesundheitlicher und pflegerischer Versor­
Die Herausforderungen einer alternden Gesell­ gung für alte Menschen ab. Die Beiträge zu den
schaft nehmen dabei häufig eine herausgehobene ökonomischen Chancen und Herausforderungen
Stellung gegenüber den damit verbundenen Chan­ einer alternden Gesellschaft im fünften Teil des
cen und Potentialen ein. Im vorliegenden Buch Buches führen zu der Frage, ob Gesundheit unter
werden gerade auch die positiven Gesundheits­ den Bedingungen von Demografie und Fortschritt
aspekte in Bezug auf alte und hochaltrige Men­ bezahlbar bleibt.
schen angemessen heraus gearbeitet. Gelingen Die umfangreiche Palette möglicher Themen
konnte dies aber nur in den Fällen, in denen die zu Gesundheit und Krankheit im Alter bietet An­
verfügbaren gesundheitsbezogenen Angaben ent­ knüpfungspunkte für weitere Analysen. Aus der
sprechende Aussagen und Schlussfolgerungen Resonanz auf dieses Buch werden wir Motivation
ermöglichen. für die Fortsetzung unserer Arbeiten schöpfen.
Das Buch ist arbeitsteilig entstanden. Am An­ Redaktionsschluss für das Buch war der 30.
fang stand die Idee dreier Institutionen – des Sta­ Juni 2008. Veröffentlichungen von statistischen
tistischen Bundesamts, des Deutschen Zentrums Ergebnissen und Ereignisse mit thematischem Be­
für Altersfragen und des Robert Koch-Instituts – im zug zum Buch nach dem Redaktionsschluss sind
Bereich Gesundheit und Alter enger zu kooperie­ daher nicht berücksichtigt.
ren und das entsprechende interdisziplinäre Fach­
wissen der Kolleginnen und Kollegen in geeigneter Karin Böhm, Clemens Tesch-Römer,
Weise zusammenzuführen. Das Kondensat der Thomas Ziese
themenbezogenen Analysen und inspirierenden
More than one quarter of children and adolescents under the age
of 18 in Germany come from a migrational background. In many
cases, these children and young people have not experienced
migration themselves, but live in Germany as part of the second
or third generation of an immigrant family. Nevertheless,
migration still influences their way of life in specific ways,
irrespective of whether they immigrated themselves or were born
into subsequent generations. Up to now comparatively little has
been known about how this affects migrant children’s chances of
leading a healthy life. The German Health Interview and Examina-
tion Survey for Children and Adolescents (KiGGS), conducted by
the Robert Koch Institute on behalf of the Federal Ministry of
Health, provides for the first time comprehensive data on this
group’s health status. This report looks at various aspects of
health and health-related behaviour and shows that, although the
majority of children and adolescents with a migrational back-
ground grow up in a socially disadvantaged environment, their
health situation is not generally precarious. For example, health
resources seem to exist in the form of culture-specific healthy
lifestyle patterns, reflected in better breast-feeding behaviour by
mothers and less consumption of tobacco and alcohol by
adolescents with a migrational background. Since life in the host
country involves a change of lifestyle which may also lead to a
deterioration of lifestyle patterns, it is important to preserve such
resources. Areas in which disadvantages manifest themselves,
include overweight, subjective health, nutrition, oral health and
the use of screening tests. The results also show that migrants
are a very heterogeneous group and that health within the
migrant population varies according to the country of origin, sex,
age, social status and duration of residence – or the generation to
which the children/adolescents belong.
Gesundheit und Krankheit im Alter 7

1 Wer sind die Alten?


Theoretische Positionen zum Alter und Altern

1.1 Theoretische Positionen zu Gesundheit und Alter


Clemens Tesch-Römer, Susanne Wurm

Kernaussagen Die Grundlagen für ein gesundes Altern werden


früh im Lebensverlauf gelegt, dennoch kann je­
1. Altern als Prozess wird vom Lebensabschnitt der Einzelne in allen Phasen des Lebens zu seiner
Alter unterschieden. Altern bezieht sich auf Gesunderhaltung beitragen. Körperliche Aktivität,
individuelle Veränderungsprozesse über ausgewogene Ernährung und weitgehender Ver­
die Lebensspanne, während Alter einen Ab­ zicht auf Nikotin und Alkohol spielen dabei eine
schnitt im Lebenslauf meint. entscheidende Rolle. Der Erhalt guter Gesundheit
2. Der Prozess des Alterns wird innerhalb ver­ im Alter hat darüber hinaus Konsequenzen für die
schiedener wissenschaftlicher Fächer, etwa individuellen und gesellschaftlichen Ausgaben:
Biologie, Psychologie und Soziologie, unter­ Eine bessere Gesundheit älter werdender Men­
schiedlich konzipiert. Allerdings erfordert Al­ schen könnte auch eine geringere Inanspruchnah­
ternsforschung (Gerontologie) eine multidis­ me von (kostenträchtigen) Krankenbehandlungen
ziplinäre – und im Idealfall interdisziplinäre mit sich bringen. Für Deutschland, das im Ver­
– Perspektive auf das Altern. gleich mit anderen Ländern nicht nur viel Geld
3. Im vorliegenden Buch geht es um die Ge­ für Gesundheit ausgibt, sondern auch von der
sundheit von Menschen, die 65 Jahre und demografischen Alterung besonders betroffen ist,
älter sind. Dabei werden zwei Altersgruppen sollte die Gesundheit im Alter daher ein Schwer­
unterschieden, nämlich die Gruppe der »jun­ punktthema werden. Welche Bedingungen er­
gen Alten« (65 Jahre bis unter 85 Jahre) und möglichen nun aber ein Älterwerden in guter Ge­
die Gruppe der »alten Alten« (85 Jahre und sundheit? Welche Rolle spielen gesundheitliche,
älter). medizinische und pflegerische Angebote für die
4. Drei Aspekte von Gesundheit werden in die­ Gesundheit älter werdender und alter Menschen,
sem Buch behandelt: Somatische und psy­ und wird die Gesundheit immer teurer, wenn die
chische Gesundheit, funktionale Gesundheit Gesellschaft insgesamt immer älter wird? Ver­
und subjektive Gesundheit. stärkt sich die Bedeutung sozialer Ungleichheit
5. Verschiedene Faktoren beeinflussen Gesund­ für die Gesundheit im Alter – oder schwächt sich
heit im Verlauf des Alterns: Lebensstil und ihre Bedeutung ab?
Gesundheitsverhalten, Lebenssituation und Das vorliegende Buch versucht Antworten auf
soziale Ungleichheit, medizinische und pfle- diese Fragen zu geben. Die Analysen stützen sich
gerische Versorgung sowie gesellschaftliche dabei auf Daten der deutschen und europäischen
Rahmenbedingungen. Statistik sowie der Gesundheits- und Altersbericht­
erstattung. In diesem Einführungskapitel geht es
Ein hohes Alter in guter Gesundheit zu erreichen zunächst um die Begriffe »Alter« und »Altern«.
ist ein hohes individuelles und gesellschaftliches Im Anschluss daran werden die verschiedenen
Ziel. In Gesundheit lassen sich die Alltagskompe­ Dimensionen von Gesundheit dargestellt, um im
tenzen aufrechterhalten, die ein selbstständiges Hauptteil des Einführungskapitels verschiedene
und selbstverantwortliches Leben mit eigenen Faktoren zu diskutieren, die für Gesundheit und
Zielen ermöglichen. Entsprechend steigt die indi­ Krankheit im Alter von Bedeutung sind.
viduelle Wertschätzung wie die gesellschaftliche
Bedeutung guter Gesundheit mit dem Alter an.
8 Gesundheit und Krankheit im Alter

1.1.1 Altern und Alter der Alternsbiologie konstatieren dagegen, dass


mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit
Der Prozess des Alterns muss zunächst vom Le­ zu erkranken (Morbidität) und zu sterben (Mor­
bensabschnitt Alter unterschieden werden. Altern talität) exponentiell zunimmt. Aus biologischer
bezieht sich auf individuelle Veränderungspro­ Sicht sind Beeinträchtigungen der Gesundheit im
zesse über die Lebensspanne, während Alter ei­ Alternsprozess zwar wahrscheinlich, hängen aber
nen Abschnitt im Lebenslauf meint [1]. »Wenn der nicht allein von biologischen Faktoren ab.
Begriff Alter verwendet wird, stehen die älteren Im Gegensatz zu der verlustbetonten biolo­
Menschen und das Resultat des Altwerdens im gischen Definition des Alterns zeichnet die Psy­
Vordergrund, das Alter als Lebensperiode und die chologie ein multidimensionales Bild der Verän­
Alten als Bestandteil der Gesellschaft. Wenn dage­ derungsprozesse im höheren Erwachsenenalter.
gen von Altern gesprochen wird, liegt der Schwer­ Altern ist aus Sicht der Entwicklungspsychologie
punkt auf der Untersuchung von Prozessen und nicht allein durch Verluste, sondern auch durch
Mechanismen, die zum Alter führen und die dem Gewinne gekennzeichnet. Ein Beispiel hierfür ist
Altwerden zugrunde liegen« [2]. die Intelligenzentwicklung über die Lebensspanne
[4], bei der zwischen »Mechanik der Intelligenz«
und »Pragmatik der Intelligenz« unterschieden
Altern als Prozess wird (siehe Abbildung 1.1.1.1).
Die Mechanik der Intelligenz umfasst Pro­
Der Begriff des Alterns oder Altwerdens verweist zesse der Wahrnehmung und Denkfähigkeit, die
auf Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit in­ stark von neuronalen Prozessen abhängen und
nerhalb der Biografie eines Menschen vollziehen. mit zunehmendem Alter einem biologischen
Dabei gibt es innerhalb verschiedener Wissen­ Abbau unterliegen. Dagegen werden unter der
schaftsdisziplinen unterschiedliche Auffassungen Pragmatik der Intelligenz Erfahrungs- und Wis­
über den Charakter alternsbezogener Prozesse. sensbestände verstanden, die im Verlauf des
Biologie, Psychologie und Soziologie unterschei­ Alterns weitgehend stabil bleiben und möglicher­
den sich sehr deutlich darin, was unter Altern ver­ weise sogar zunehmen (»Weisheit«). Auch wenn
standen wird. die empirischen Belege dieses Modells insbe­
In der Biologie werden als Alternsprozesse sondere für das hohe Erwachsenenalter gemischt
jene Veränderungen definiert, die mit der Re­ sind [5], zeigt sich doch eine gegenüber »Defizitde­
produktionsphase einsetzen und eine Abnahme finitionen« des Alterns differenzierte Auffassung
der Anpassungsfähigkeit des Organismus nach von Alternsprozessen. Zudem werden Alterns­
sich ziehen. »Biologisches Altern kann definiert prozesse als möglicherweise beeinflussbar und
werden als ein Prozess intrinsischen, fortschrei­ reversibel aufgefasst. Abbauprozesse, die im Alter
tenden und generellen körperlichen Abbaus, der häufig auftreten, werden also nicht als zwangs­
ungefähr mit dem Alter der Geschlechtsreife be­ läufige Veränderungen gesehen, sondern es wird
ginnt« [3]. Obwohl nicht alle Organismen altern angenommen, dass Alternsprozesse beeinflussbar
(eine Ausnahme sind etwa Prokaryoten, also Orga­ sind, im Bereich der Gesundheit etwa durch Ge­
nismen ohne Zellkern, wie beispielsweise Bakteri­ sundheitsförderung und Prävention. Aus der Sicht
en und Blaualgen), kann man bei den allermeisten der Psychologie reicht es aber nicht aus, Entwick­
Tierarten Alternsprozesse beobachten. Trotz die­ lungsprozesse im Erwachsenenalter allein aus in­
ser Universalität stellt sich der Prozess des Alterns dividueller Perspektive zu betrachten. Vielmehr
individuell früher oder später und in seinen Aus­ ist lebenslange Entwicklung eingebettet in sozi­
wirkungen unterschiedlich ein: Manche Individu­ ale, gesellschaftliche und historische Kontexte.
en altern biologisch schneller als andere. Einige Dies bedeutet etwa, dass darauf geachtet werden
Vertreter der biologischen Alternsforschung ma­ muss, ob und inwiefern Rahmenbedingungen für
chen deutlich, dass Altern zwar eine erhöhte »Vul­ Alternsveränderungen (mit-)verantwortlich sind.
nerabilität« (Anfälligkeit, Verletzlichkeit) des Or­ Schließlich richtet die Psychologie den Blick auf
ganismus mit sich bringt, dass aber Altern nicht Unterschiede zwischen Personen. Denn auch
mit Krankheit gleichzusetzen ist. Andere Vertreter wenn viele Alternsprozesse durch allgemeine Fak­
Gesundheit und Krankheit im Alter 9

Abbildung 1.1.1.1
Zwei-Prozess-Modell der Intelligenzentwicklung über die Lebensspanne
Quelle: Eigene Darstellung nach [4]

Pragmatik der Intelligenz

Mec
Leistung

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Alter

toren und Mechanismen beeinflusst werden (die lung des älter werdenden Individuums. Die so­
für alle Menschen gelten), gibt es zugleich große ziologischen Interpretationen dieser gesellschaft­
Unterschiede zwischen Personen im Verlauf und lichen Position älter werdender Menschen reichen
in der Regulation des Alterungsprozesses. vom Ausrufen der »späten Freiheit« [7] bis hin
In der Soziologie wird das Altwerden als Teil zu Warnungen vor der »sozialen Schwäche des
von Lebensläufen betrachtet. »Lebensläufe zu ver­ Alters« [8]. Bei der Analyse von Lebensläufen geht
stehen, bedeutet, individuelle und kollektive Er­ es schließlich auch um die Frage, wie historische
fahrungen, Zustände und Übergänge über lange Ereignisse und sozialer Wandel die Lebenslagen
Zeiträume zu beschreiben und die Ursachen sowie und Biografien älter werdender Menschen beein­
Konsequenzen von Entwicklungsmustern zu ana­ flussen und inwieweit sich – als Folge davon – va­
lysieren« [6]. Aus soziologischer Sicht sind indi­ riierende Alternsprozesse in unterschiedlichen
viduelle Alternsveränderungen somit eingebettet Geburtskohorten beobachten lassen.
in lebenslange Sozialisationsprozesse. Mit dieser Alternsforschung (Gerontologie) erfordert
biografischen Betrachtung des Alterns stellt sich multidisziplinäres – und im Idealfall interdiszi­
die Frage, ob und wie Alternsprozesse durch frü­ plinäres – Arbeiten. Um die Prozesse des Alterns
here Lebenserfahrungen beeinflusst werden. Eine richtig zu verstehen, ist es notwendig, dass meh­
wichtige Annahme bezieht sich auf die Kumula­ rere Disziplinen miteinander arbeiten und ihre
tion (Anhäufung, Sammlung) sozialer Ungleich­ Ergebnisse austauschen (Multidisziplinarität).
heit im Lebenslauf. Alternsverläufe werden dabei Neben den hier genannten Fächern Biologie,
vor den gesamten Erfahrungen des Lebenslaufs Psychologie und Soziologie sind dies unter an­
betrachtet. Insbesondere die Bedeutung kumulier­ derem Medizin (Geriatrie, Gerontopsychiatrie),
ter Risiken (beginnend mit geringer Bildung und Pflegewissenschaft, Gesundheitswissenschaft
fortgesetzt durch belastende Arbeitsbedingungen) und Politikwissenschaft. Allerdings erfordern
ist für die Gesundheit im Alter hoch. Der Über­ alternwissenschaftliche Fragestellungen häufig
gang in den Ruhestand stellt den soziologischen eine interdisziplinäre Kooperation, die sich da­
Marker des »Alters« dar. Die damit beginnende durch auszeichnet, dass verschiedene Disziplinen
Lebensphase »Alter« ist damit durch geringere gemeinsame Fragestellungen formulieren und
Vergesellschaftungsprozesse, also Einbindungen ihre disziplinspezifischen Methoden aufeinander
in gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, beziehen (Interdisziplinarität). In den folgenden
charakterisiert als frühere Lebensabschnitte – und Kapiteln dieses Buches wird in der Regel eine mul­
es verändert sich auch die gesellschaftliche Stel­ tidisziplinäre Perspektive eingenommen.
10 Gesundheit und Krankheit im Alter

Alter als Lebensabschnitt ter« und ein »viertes Lebensalter« unterschieden.


In einer disziplinenübergreifenden Sicht sind hier
Wann beginnt nun die Phase des Alters? Die nur vor allem die Ergebnisse der Berliner Altersstudie
auf den ersten Blick einfache Definition der Bio­ anzuführen, die unterstreichen, dass in jenen Sub­
logie – Alter als postreproduktive Phase – ist als gruppen von Älteren, in denen massive Verluste in
Grundlage individueller und gesellschaftlicher Al­ körperlichen, kognitiven und psychischen Berei­
tersdefinitionen wenig brauchbar. In der Lebens­ chen auftreten, Hochaltrige (85+) überrepräsen­
laufsoziologie wird der Lebenslauf häufig in drei tiert sind [9]. Aus medizinischer Sicht wird häu­
Lebensabschnitte eingeteilt, die sich an der Betei­ fig betont, dass sowohl im physischen als auch,
ligung am Arbeitsleben orientieren: Bildungspha­ wenngleich weniger ausgeprägt, im psychischen
se, Erwerbstätigkeits- und Familienphase sowie Bereich (z. B. dementielle Erkrankungen) die Prä­
Ruhestand. Der Übergang zwischen Lebensaltern valenzraten von vielen Krankheiten, welche die
wird durch Statuspassagen markiert, z. B. durch Lebensqualität beeinträchtigen, jenseits von etwa
den Übergang von der Erwerbsarbeit in den Ru­ 80 bis 85 Jahren einen deutlichen Anstieg zeigen.
hestand. In den vergangenen 50 Jahren hat sich in In der Praxis von Forschung und Sozialbericht­
den modernen Industriegesellschaften ein Trend erstattung wird der Beginn des vierten Lebens­
zum frühen Ruhestand gezeigt, der mit der gleich­ abschnitts mit 80 bis 85 Jahren angegeben [10].
zeitigen Verlängerung der durchschnittlichen Die Demografie bezieht sich auf Mortalitäts­
Lebensdauer das Alter zu einer eigenständigen, prozesse, um eine Unterscheidung von Alters­
längeren Lebensphase werden ließ. Angesichts gruppen zu definieren (vgl. Kapitel 1.2). Der Be­
der hohen Variabilität beim Übertritt in den Ru­ ginn der Hochaltrigkeit wird als das Lebensalter
hestand ist eine feste chronologische Altersangabe definiert, zu dem 50 % der Angehörigen eines
für den Beginn der Lebensphase »Alter« eigent­ Geburtsjahrgangs verstorben sind. Der Sterbe­
lich gar nicht möglich. Dennoch wird in der Ge­ tafel 2005/2007 des Statistischen Bundesamtes
rontologie der Beginn des Alters nicht selten mit zufolge kann statistisch jeder zweite Mann in
einer chronologischen Altersgrenze von 60 oder Deutschland wenigstens 79 Jahre alt werden, jede
65 Jahren angesetzt. zweite Frau kann sogar mindestens ihren 85. Ge­
Diese Festlegung der Altersphase ist aber zu burtstag erleben [11]. Sollte sich auch in Zukunft
differenzieren. So muss darauf hingewiesen wer­ die Lebenserwartung dynamisch verändern, wür­
den, dass bestimmte Alternsprozesse bereits vor de sich auch eine demografisch verankerte Diffe­
Beginn jener Phase wirksam werden, die im Le­ renzierung von Altersgruppen wandeln müssen:
benslauf mit dem Übergang in den Ruhestand be­ In Zukunft könnte ein höheres Lebensalter den
ginnt. Physiologische Alternserscheinungen, etwa Übergang vom dritten in das vierte Lebensalter
im Bereich der Sinneswahrnehmung oder der angeben. Gegen eine Unterscheidung zwischen
gesundheitlichen Belastungen, lassen sich schon »drittem« und »viertem« Lebensalter ist aus so­
früher im Leben nachweisen. Und auch die so­ ziologischer Perspektive geltend gemacht worden,
ziale Etikettierung als »alt« oder »älter werdend« dass es keine eindeutig definierbare Statuspassage
wird bereits im späten Erwerbsleben bedeutsam. gibt, die den Übergang zwischen diesen Alters­
Mit Blick auf das hohe Alter erscheint es zudem phasen markiert. Zugleich sollte auch berücksich­
aus verschiedenen Gründen sinnvoll, die Phase tigt werden, dass die großen Unterschiede zwi­
des Alters weiter zu unterteilen. Ein wesentlicher schen älter werdenden Menschen chronologische
Ausgangspunkt dieser Differenzierung ist die Tat­ Altersgrenzen fragwürdig machen: Es handelt
sache, dass in den vergangenen Jahrzehnten die sich hierbei keineswegs um eine Altersgrenze,
Lebenserwartung kontinuierlich angestiegen ist. ab der bestimmte Entwicklungen mit Gewissheit
Die gestiegene Lebenserwartung führt dazu, dass stattfinden. Dennoch ist derzeit festzustellen, dass
die Lebensphase Alter mittlerweile oftmals meh­ die Wahrscheinlichkeit für Gesundheitsprobleme
rere Jahrzehnte umfasst. – wie etwa Multimorbidität, Pflegebedürftigkeit
In der Gerontologie wird nicht selten inner­ und Demenz – jenseits des 80. bis 85. Lebensjahrs
halb der Lebensphase Alter ein »drittes Lebensal­ deutlich ansteigt.
Gesundheit und Krankheit im Alter 11

Drittes und Viertes Lebensalter Krankheitsprozesse oder eine mit dem Älterwer­
den sich verschlechternde Gesundheit eine Folge
Altern als Prozess und Alter als Lebensabschnitt von Alternsprozessen ist, berührt die wissenschaft­
sind unterschiedliche Konzepte. Wenngleich Pro­ liche Erklärung von Gesundheitsveränderungen
zesse des Älterwerdens schon früher im Lebenslauf im Alter ebenso wie die Legitimation von Inter­
von Bedeutung sind, sollen in dem vorliegenden ventionen. Sind alterskorrelierte Krankheitspro­
Buch gesundheitsrelevante Alternsprozesse in der zesse beeinflussbar, sollten entsprechende Inter­
Phase des Alters betrachtet werden. Dabei sollen ventionen besonders auf Prävention ausgerichtet
biologische, psychosoziale und gesellschaftliche sein (etwa auf die Veränderung eines ungünstigen
Dimensionen des Alterns Berücksichtigung fin- Gesundheitsverhaltens). Sind hingegen alterskor­
den. Angesichts der Dauer der Lebensphase Al­ relierte Gesundheitseinbußen unvermeidlich und
ter erscheint es sinnvoll, zwei Abschnitte dieser unveränderbar, sollten Interventionen stärker auf
Lebensphase Alter zu differenzieren: Das »dritte den alltagspraktischen Umgang mit diesen Einbu­
Lebensalter« und das »vierte Lebensalter«. Im vor­ ßen sowie ihre psychische Bewältigung ausgerich­
liegenden Buch werden innerhalb der Gruppe der tet sein, auch um mögliche Krankheitsfolgen und
alten Menschen (65 Jahre und älter) zwei Unter­ Ko-Morbidität zu vermeiden.
gruppen unterschieden, nämlich die Gruppe der Warum ist es so schwierig, zwischen Krank­
»jungen Alten« (65 Jahre bis unter 85 Jahre) und heit und Alter zu unterscheiden? Ein wesentlicher
die Gruppe der »alten Alten« (85 Jahre und älter). Grund hierfür ist, dass der altersabhängige An­
Dabei werden die Begriffe »sehr alte Menschen«, stieg von Erkrankungen und Funktionsverlusten
»alte Alte«, »Hochaltrige« und »Hochbetagte« sy­ nicht allein bedingt ist durch altersphysiologi­
nonym verwendet (siehe Tabelle 1.1.1.1). sche Veränderungen von Organen und Organ­
systemen [12]. Hinzu kommt die lange Latenzzeit
mancher Krankheiten, die dazu führt, dass diese
Tabelle 1.1.1.1 Krankheiten erst im mittleren und höheren Er­
Drittes und Viertes Lebensalter wachsenenalter gehäuft auftreten. Hierzu zählen
Quelle: Eigene Darstellung
beispielsweise verschiedene Formen von Krebser­
Alters- Alter Bezeichnung
krankungen, bei denen zugleich die mit dem Alter
abschnitt (synonyme Verwendung) abnehmende Immunresponsivität (Fähigkeit des
Organismus, auf Krankheitserreger zu reagieren)
Alter 65 Jahre alte Menschen,
und älter ältere Menschen eine Rolle spielt. Ein weiterer Faktor für den alters­
korrelierten Anstieg von Erkrankungen ist oftmals
drittes 65 bis junge Alte
Lebensalter unter 85 Jahre auch die jahre- oder jahrzehntelange Exposition
verschiedener Risikofaktoren (Umfeldfaktoren,
viertes 85 Jahre sehr alte Menschen, alte Alte,
Lebensalter und älter Hochaltrige, Hochbetagte
z. B. Lärm, Gifte; Gesundheitsverhalten, z. B. Rau­
chen). Diese führt zur sukzessiven Schädigung
von Organen bis hin zu chronischen Erkrankun­
gen (z. B. chronische Bronchitis) oder dauerhaften
Funktionsverlusten (z. B. Verluste der Hörfähig­
1.1.2 Gesundheit und Krankheit im Alter keit). Schließlich ist zu berücksichtigen, dass nicht
alle Krankheiten erst im mittleren und höheren
Alter(n) und Krankheit Erwachsenenalter auftreten, sondern lediglich
»mitaltern«, d. h. seit dem Auftreten in jüngeren
Ein schwieriges konzeptuelles Problem besteht in Lebensjahren fortbestehen [13]. Einige dieser Er­
der Unterscheidung zwischen alternsbezogenen krankungen können durch die lange Dauer ihres
Veränderungen und pathologischen Prozes­ Bestehens zu Folgekrankheiten führen. Dies ist
sen, oder einfacher gesagt, zwischen Altern und beispielweise für Diabetes bekannt, der Arterio­
Krankheit. Diese Unterscheidung hat erhebliche sklerose begünstigt und dadurch unter anderem
theoretische, aber auch praktische Bedeutung. Ob die Wahrscheinlichkeit für Herzinfarkt, Nieren­
der Gesundheitsstatus im Alter bedingt ist durch versagen und Erblindung erhöht.
12 Gesundheit und Krankheit im Alter

Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvoll­ Gesundheit, funktionale Gesundheit und subjek­
ziehen, dass ältere Menschen oftmals Schwie­ tive Gesundheit.
rigkeiten haben, zwischen alter(n)sbedingten
Beschwerden und behandlungsbedürftigen Somatische und psychische Gesundheit
Erkrankungen zu unterscheiden. Diese Unter­ Die Begriffe »Gesundheit« und »Krankheit« wer­
scheidung ist jedoch keineswegs trivial, denn den oftmals in erster Linie mit medizinischen
verschiedene Studien haben darauf hingewiesen, Klassifikationssystemen (wie der International
dass ältere Menschen, die gesundheitliche Be­ Classification of Diseases and Related Health
schwerden ihrem Alter zuschreiben, ein schlech­ Problems) in Verbindung gebracht. Stellt ein Arzt
teres Gesundheitsverhalten haben und seltener oder eine Ärztin eine medizinische Diagnose, so
zum Arzt gehen als jene, die ihre Beschwerden gilt eine Person als krank, andernfalls gilt sie als
als krankheitsbedingt erachten [14, 15]. Auch in gesund. Diese Auffassung spiegelt sich auch in
der medizinischen Versorgung ist festzustellen, der sozialrechtlichen Definition von Krankheit.
dass Erkrankungen und Risikofaktoren (z. B. Diese beschreibt Krankheit als ein »von einem
Bluthochdruck) bei Älteren häufiger übersehen Experten festgestellter Zustand, der es einem
werden. Körperliche wie psychische Beschwerden Menschen ermöglicht, Ansprüche gegenüber
werden als normale Begleiterscheinung des Al­ der Gemeinschaft der Versicherten geltend zu
terns angesehen. Dies birgt nicht nur die Gefahr, machen und sich vorübergehend aus dem Er­
dass behandlungsbedürftige Krankheiten nicht werbsleben zu lösen« [16], wobei sich der letzte
erkannt werden, sondern auch, dass einer (z. B. Teil dieser Definition auf Menschen im mittleren
medikamentösen) Dauerversorgung, die auf den Erwachsenenalter (»zweites Lebensalter«) bezieht,
Umgang mit Beschwerden ausgerichtet ist, der die einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Im voran­
Vorrang gegeben wird gegenüber therapeutischen gegangenen Abschnitt wurde bereits dargestellt,
Maßnahmen. dass körperliche Erkrankungen mit dem Alter zu­
nehmen und die Ursachen hierfür nicht allein in
altersphysiologischen Veränderungen begründet
Dimensionen von Gesundheit und Krankheit sind, sondern auch im gesamten Lebenslauf lie­
gen. Damit gehen zwei Entwicklungen einher, die
Gesundheit ist nicht allein die Abwesenheit (oder besonders häufig bei älteren Personen anzutreffen
Nicht-Diagnose) von Krankheiten. Dies spiegelt sind: chronische Erkrankungen und Mehrfach­
sich in der Gründungspräambel der Weltge­ erkrankungen (Multimorbidität).
sundheitsorganisation (WHO) von 1946 wider, Chronischen Erkrankungen, wie beispiels­
die Gesundheit definiert als »einen Zustand voll­ weise kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs oder
kommenen körperlichen, geistigen und sozialen Diabetes kann zwar in gewissem Ausmaß über
Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von den Lebensstil vorgebeugt werden; treten sie je­
Krankheit und Gebrechen«. Diese Definition doch auf, sind sie oftmals unheilbar. Auf längere
legt Wert auf die Subjektivität von Gesundheit Sicht konzentrieren sich die Behandlungen des­
als einem individuellen Erleben. Entsprechend halb stärker auf den Umgang mit der jeweiligen
enthalten neuere Gesundheitsmodelle neben Krankheit und der Verhinderung von Folgeprob­
krankheitsbezogenen Kriterien auch die Aspekte lemen wie funktionalen Einschränkungen. Die
subjektives Gesundheitserleben, Lebenszufrie­ oftmals mit dem Altern einhergehende Zunahme
denheit, Gesundheitsverhalten und soziale Akti­ chronischer Erkrankungen ist sowohl auf die Ku­
vität. Das vorliegende Buch greift klassisch-medi­ mulation (sukzessive Summierung) von Risiken
zinische wie subjektive Gesundheitsaspekte auf. über den Lebensverlauf als auch auf altersphy­
Auch wenn mit steigendem Alter die Gesundheit siologische Veränderungen zurückzuführen. Ein
zunehmend fragiler wird, muss dies nicht für Beispiel hierfür ist Osteoporose: Der normale
alle Dimensionen der Gesundheit gelten. Im Fol­ Alterungsprozess geht mit einer Abnahme der
genden werden drei Dimensionen von Gesund­ Mineralstoffe im Knochen einher, die Knochen
heit vorgestellt in Hinblick auf ihre spezifische werden dadurch »poröser« und die Gefahr von
Bedeutung im Alter: somatische und psychische Knochenbrüchen steigt. Zugleich ist die Erkran­
Gesundheit und Krankheit im Alter 13

kung an einer Osteoporose oftmals mitbedingt qualität der Betroffenen in einer adäquaten medi­
durch Rauchen, ungünstiges Ernährungsverhal­ zinischen Versorgung) spiegelt sich ebenfalls in
ten sowie mangelnde körperliche Aktivität. dem seit den 1970er-Jahren von der WHO entwi­
Da chronische Erkrankungen in der Regel ckelten Klassifikationssystem von Krankheitsaus­
persistent (nachhaltig, dauerhaft) sind und teilwei­ wirkungen wider. Dieses Klassifikationssystem,
se zu Folgeerkrankungen führen, wie dies bereits die International Classification of Impairments,
beispielhaft für Diabetes dargestellt wurde, steigt Disabilities and Handicaps (ICIDH) betrachtet
mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit, dass eine den Gesundheitszustand als interaktiven, multi­
Person von mehreren chronischen Erkrankungen perspektivischen Prozess, der sich auf drei Ebenen
gleichzeitig betroffen ist. In diesem Fall wird auch von Erkrankung und Erkrankungsfolgen bewegt
von Multimorbidität gesprochen. Multimorbid (siehe Abbildung 1.1.2.1): Strukturelle und funk­
erkrankte Personen benötigen oftmals nicht nur tionelle Schädigung (Impairment), Fähigkeits­
ein besonderes Maß an ambulanter (und teilwei­ störung (Einschränkung im Alltag, Disability)
se stationärer) Versorgung. Ist eine Person von und Partizipationsstörung (soziale/ökonomische
mehreren Erkrankungen betroffen, besteht auch Krankheitsfolgen, Handicap).
die Gefahr einer zusätzlichen psychischen Ko­ Aus einer Schädigung resultieren individuelle
morbidität sowie der Einschränkung körperlicher Einschränkungen von Fähigkeiten, die wiederum
Funktionsfähigkeit und Selbstständigkeit. Neben zu einer Beeinträchtigung der Erfüllung sozialer
chronischen Erkrankungen und Multimorbidität Rollen führen können: Die Schlaganfallpatientin
treten auch manche psychischen Erkrankungen mit Hemiparese (Halbseitenlähmung), Fazialispa­
mit steigendem Alter häufiger auf. Eine der be­ rese (Gesichtslähmung) und Dysarthrie (Sprech­
deutsamsten psychischen Erkrankungen des ho­ störung) braucht durch diese krankheitsbedingten
hen Erwachsenenalters ist die Alzheimer-Demenz. Schädigungen (Impairment) seither Unterstüt­
zung beim Waschen, Anziehen und Essen und
Funktionale Gesundheit kann nur mit einem Rollator als Hilfsmittel laufen
Chronische Erkrankungen und Multimorbidität (Disability). Weil sie durch ihre Dysarthrie in ih­
können besonders im höheren Alter die Alltags­ rer Sprechverständlichkeit eingeschränkt ist und
kompetenz und Selbstständigkeit gefährden. Da­ sich ihres hängenden Mundwinkels schämt, be­
bei bezieht sich funktionale Gesundheit auf die sucht sie nicht mehr wie früher die regelmäßigen
Fähigkeit, selbstständig eigenen Grundbedürf­ Treffen mit ihren Freundinnen und singt nicht
nissen wie Essen, Körperpflege oder Anziehen mehr im Kirchenchor, was ihre Kontakte stark ein­
nachzukommen sowie weitere alltägliche Auf­ schränkt (Handicap). Mit dem Ansatz der ICIDH
gaben wie Einkaufen, Mahlzeiten zubereiten oder werden nicht allein Diagnosen erstellt, sondern
Wohnungsreinigung ausführen zu können. Es deren Folgen unter dem Aspekt ihrer körper­
zeichnet sich die Tendenz ab, dass medizinische lichen, individuellen und gesellschaftlichen Di­
Versorgung, die sich auf Diagnostik und Behand­ mension beurteilt. Im Jahr 2001 verabschiedete
lung von Krankheitssymptomen beschränkt, ohne die WHO die zweite behinderungsspezifische
deren Auswirkungen im Alltag des Erkrankten mit Klassifikation, die International Classification of
einzubeziehen abgelöst wird von einer Medizin, Functioning, Disability and Health (ICF), die im
die diese in die Behandlung integriert. In diesem Gegensatz zur ICIDH nicht den Entstehungspro­
neuen Rahmen wird heute nicht mehr nur von zess von Behinderung, sondern die dynamische
Krankheit und Krankheitsprozessen gesprochen, und komplexe Wechselwirkung zwischen ver­
sondern auch von Behinderung und Behinde­ schiedenen Gesundheitskomponenten und Kon­
rungsprozessen [17]. Dies wird auch als »Paradig­ textfaktoren beschreibt.
menwechsel in der Medizin« bezeichnet – weg
von einem biomedizinischen Krankheitsbild hin Subjektive Gesundheit
zu einem biopsychosozialen Krankheitsbild. Eine dritte Dimension der Gesundheit, die mit
Die Notwendigkeit des Managements von Be­ steigendem Alter an Stellenwert gewinnt, ist die
hinderungen und der Akzentuierung chronischer subjektive Gesundheit. Subjektive Gesundheit
Krankheiten (auch unter dem Aspekt der Lebens­ bezieht sich auf die Bewertung des eigenen Ge­
14 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 1.1.2.1
Ebenen von Gesundheit und Folgen von Gesundheitseinbußen
Quelle: Eigene Darstellung nach ICIDH

Risiko- und Belastungen, Rehabilitation,


Schutzfaktoren Behandlung, Coping
Lebensstil Soziales Kapital

Ebenen der
Gesundheit Illness Disability Handicap

Gesundheits­ Gesundheit Funktionale Beein-


indikatoren (somat-psych) Gesundheit trächtigung

Subjektive Gesundheit

sundheitszustandes durch die ältere Person selbst. se darauf, dass sich die Vorstellung von Gesund­
Die subjektive Gesundheit ist aus zwei Gründen heit verändert und im höheren Erwachsenenalter
besonders bedeutsam im Alter: Zum einen haben weniger als Abwesenheit von Krankheit, sondern
verschiedene Studien gezeigt, dass zwischen dem als Abwesenheit von quälenden Beschwerden und
objektiven, medizinisch messbaren Gesundheits­ funktionellen Einschränkungen angesehen wird.
zustand und einer subjektiven Gesundheitsein­ Hinzu kommt, dass ältere Personen leichte, dau­
schätzung lediglich ein moderater Zusammen­ erhafte Symptome eher dem Alterungsprozess
hang besteht, d. h., die subjektive Gesundheit als einer Krankheit zuschreiben, wodurch die Ge­
reflektiert nicht einfach den objektiven Zustand. sundheitseinschätzung trotz objektiver Symptome
Zudem hat sich die subjektive Gesundheit im hö­ positiv ausfallen kann. Die positiven Wirkungen
heren Lebensalter als ein sensitiverer Indikator eines gesundheitsbezogenen Optimismus können
für das Mortalitätsrisiko erwiesen als der objektive sich allerdings dann umkehren, wenn im Fall von
Gesundheitszustand. Zum Zweiten stimmen sub­ behandlungsbedürftigen Erkrankungen kein Arzt
jektive Gesundheitseinschätzung und objektiver aufgesucht wird. Schließlich kann auch der soziale
Gesundheitsstatus im höheren und hohen Alter Vergleich mit anderen Gleichaltrigen (insbeson­
im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen am ge­ dere jenen, denen es vergleichsweise schlechter
ringsten überein. Während sich der medizinisch geht) statt eines selbstbezogenen, temporalen
diagnostizierte Zustand mit steigendem Alter Vergleiches zu einer positiven Gesundheitsein­
oftmals deutlich verschlechtert, gilt dies nicht in schätzung beitragen. Für die vergleichsweise gute
gleichem Ausmaß für subjektive Gesundheit, ein Mortalitätsprognose spielt wahrscheinlich noch
Befund, der teilweise auch als »Altersinvarianz- ein weiterer Faktor eine Rolle. In der subjekti­
Paradox« bezeichnet wird. ven Gesundheitseinschätzung spiegeln sich auch
Welche möglichen Erklärungen gibt es für verschiedene Personen- und Umweltmerkmale
diese beiden Befunde? Eine Erklärung ist, dass die wider, wie Lebenszufriedenheit sowie psychische
subjektive Gesundheit über die Lebensspanne ei­ und soziale Ressourcen. So kann beispielsweise
nen Bedeutungswandel vollzieht. Es gibt Hinwei­ eine positive Sicht auf das eigene, vergangene wie
Gesundheit und Krankheit im Alter 15

zukünftige, Leben einen günstigen Einfluss auf stellt den wichtigsten, modifizierbaren Risiko­
Gesundheit und Langlebigkeit haben. faktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und
Krebserkrankungen, insbesondere Lungenkrebs,
dar. Während der Risikofaktor »Rauchen« im hö­
1.1.3 Determinanten für Gesundheit und heren Alter vergleichsweise weniger verbreitet ist
Krankheit im Alter als im jungen und mittleren Erwachsenenalter, ist
in älteren Altersgruppen der Anteil von Personen
Führt man sich die verschiedenen Ebenen von mit Übergewicht oder sogar schwerem Überge­
Gesundheit vor Augen – somatische, funktionale wicht (Adipositas) größer. Auch Übergewicht trägt
und subjektive Aspekte –, so stellt sich die Frage, wesentlich zu Entstehung sowie Art des Verlaufes
welche Faktoren Gesundheit im Verlauf des Al­ von Erkrankungen bei; hierzu zählen z. B. Diabe­
terns beeinflussen. Bisherige Schätzungen gehen tes mellitus Typ 2 oder Osteoarthrose.
davon aus, dass genetische Faktoren weniger als Im Gegensatz zu diesen Risikofaktoren trägt
die Hälfte der Varianz in Krankheiten und Mor­ körperliche Aktivität wesentlich zu gesundem
talität erklären können [18]. Es stellt sich deshalb Altern bei. Körperliche Aktivität hat eine zentrale
die Frage, welche weiteren Faktoren dazu beitra­ präventive Funktion, die über den gesamten Le­
gen, mit welch guter oder schlechter Gesundheit bensverlauf wichtig ist und im Alter zudem im
Personen ins höhere Lebensalter kommen. Wel­ Kontext der Krankheitsbehandlung und Reha­
che Rolle spielen die objektiven Lebensumstände bilitation an Bedeutung gewinnt. Ausreichende
und die soziale Ungleichheit? Wie bedeutsam sind Bewegung schützt vor chronischen Krankheiten
schließlich die individuellen Entscheidungen ei­ wie Osteoporose, Diabetes, Bluthochdruck und
ner Person und ihr Lebensstil für Gesundheit im kardiovaskulären Erkrankungen und trägt zur Ver­
Alter? Das Ziel dieses Abschnitts ist, eine Reihe meidung von funktionellen Einschränkungen bei.
von Einflussfaktoren auf Gesundheit im Alter zu Körperliche Aktivität wirkt außerdem biologischen
diskutieren, wobei verschiedene Disziplinen Be­ Alterungsprozessen entgegen, indem altersabhän­
rücksichtigung finden. gige Verluste an Muskelkraft, Knochenmasse und
Lungenkapazität ausgeglichen werden. Positive Ef­
fekte zeigen sich schließlich auch für das Immun­
Lebensstil und Gesundheitsverhalten system und die seelische Gesundheit, insbeson­
dere bei Depressivität. Dennoch ist festzustellen,
Das Verhalten einer Person hat hohe Bedeutung dass ältere Menschen, obwohl ihr Gesundheits­
für ihre Gesundheit – und dies gilt auch für die zustand meist eine zumindest gemäßigte Bewe­
Lebensphasen des höheren und sehr hohen Al­ gungsform zulassen würde, deutlich häufiger kör­
ters [19]. Individueller Lebensstil und Gesund­ perlich inaktiv sind als jüngere Menschen.
heitsverhalten haben einen großen Einfluss auf Schließlich ist ein weiterer wichtiger Aspekt
die Beschleunigung oder Verlangsamung von des Gesundheitsverhaltens die Inanspruchnahme
Alterungsprozessen sowie die Entstehung und von Gesundheitsdienstleistungen. Hierzu zählt
Bewältigung von Krankheiten. Lebensstil und die Gesundheitsvorsorge zur Früherkennung von
Gesundheitsverhalten tragen entscheidend zur Krankheiten, regelmäßige Kontrolluntersuchun­
Länge und Qualität des Lebens bei. Eine zentrale gen im Fall von bestehenden Erkrankungen (z. B.
Rolle nehmen hierbei Rauchen, Übergewicht und bei medikamentösen Therapien) sowie schließ­
Ernährung sowie körperliche Aktivität ein und lich die Nutzung von Heilhilfsbehandlungen
damit Verhaltensweisen und verhaltensbezogene wie Krankengymnastik oder Rehabilitation. Auch
Risikofaktoren, die eine Vielzahl von Organfunk­ hier ist festzustellen, dass ältere Menschen die
tionen und -systemen beeinflussen. präventiven Potenziale der Gesundheitsversor­
Der lebenslange, gesundheitsschädigende gung oftmals nicht ausreichend nutzen. Dies
Einfluss des Rauchens ist gut belegt. Rauchen ist teilweise darauf zurückzuführen, dass ältere
beschleunigt eine Vielzahl von biologischen Al­ Menschen selbst, aber auch ihre behandelnden
terungsprozessen, unter anderem die Abnahme Ärzte, Schwierigkeiten haben, zwischen alterns­
der Lungenkapazität sowie Knochenverlust und bedingten, irreversiblen Verlusten sowie behan­
16 Gesundheit und Krankheit im Alter

delbaren und behandlungsbedürftigen Erkran­ länger leben, unabhängig von ihrer subjektiven
kungen oder körperlichen Einschränkungen zu Gesundheitseinschätzung. Noch ist wenig über
unterscheiden. die Gründe dieser Wirkung bekannt, aber wie
beim Optimismus wird auch bei einer positiven
Sicht auf das Älterwerden angenommen, dass sie
Psychosoziale Faktoren sowohl das Gesundheitsverhalten als auch ein ge­
ringes Stresserleben begünstigt.
Auch psychische und soziale Faktoren spielen eine Selbstwirksamkeitserwartungen stellen
bedeutsame Rolle für die Gesundheit im Alter. Ne­ schließlich eine dritte, bis ins hohe Alter bedeutsa­
gative Emotionen wie Feindseligkeit, Angst und me psychische Ressource dar. Diese Erwartungen
Stress tragen zur Entstehung von Krankheiten wie umfassen die Überzeugung, neue oder schwieri­
beispielsweise kardiovaskulären Erkrankungen ge Anforderungen aufgrund eigener Kompetenz
und Krebserkrankungen bei – teilweise indirekt bewältigen zu können. Eine solche Anforderung
durch ein erhöhtes Risikoverhalten, teilweise kann beispielsweise die Veränderung eines un­
direkt über eine Immunsuppression (Unterdrü­ günstigen Lebensstils darstellen, indem eine
ckung des Immunsystems). ältere Person das Rauchen aufgibt oder beginnt,
Zu psychischen Ressourcen, die bis ins Al­ körperlich aktiv zu werden. Es kann sich bei ei­
ter einen protektiven Einfluss auf die Gesundheit ner solchen Anforderung jedoch auch um die Be­
ausüben, zählen unter anderem Optimismus, wältigung einer Krankheit oder den Umgang mit
Selbstwirksamkeit sowie eine positive Sicht auf chronischen Schmerzen handeln. Zahlreichen
das Älterwerden. Unter Optimismus wird meist empirischen Studien zufolge können Personen,
ein zuversichtlicher Blick in die Zukunft verstan­ die eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung ha­
den. Diese Zuversicht erweist sich als günstig ben, mit beiden Formen von Herausforderungen
für die gesundheitliche Entwicklung; so konnte besser umgehen. Sie haben ein besseres Gesund­
bei Patienten, die trotz ihrer Erkrankung (z. B. heitsverhalten und sie haben auch in Interven­
Krebserkrankung) optimistisch in die Zukunft tionsprogrammen zur Veränderung des Gesund­
sehen, eine schnellere und umfassende Rekonva­ heitsverhaltens größere Erfolge; ebenso können
leszenz festgestellt werden als bei vergleichsweise sie mit krankheitsbedingtem Stress und chroni­
pessimistischen Patienten. Von einer optimisti­ schen Schmerzen besser umgehen als Personen
schen Sicht auf die Zukunft wird der so genannte mit geringen Selbstwirksamkeitserwartungen.
»optimistische Interpretationsstil« unterschieden, Neben psychischen Ressourcen hat auch die
der sich darauf bezieht, wie Menschen vergangene Einbindung in ein soziales Netzwerk, die Mög­
Ereignisse interpretieren. Personen mit einem op­ lichkeit, in sozialen Rollen aktiv zu sein sowie die
timistischen Interpretationsstil schreiben negative soziale Unterstützung durch andere Menschen
Ereignisse konkreten, äußeren und zeitlich be­ in der Regel einen positiven Einfluss auf den Ge­
grenzten Ursachen zu. Analog zum Optimismus sundheitsstatus älter werdender Menschen [22].
hat auch ein optimistischer Interpretationsstil ei­ Positive Wirkungen sozialer Beziehungen sind
nen günstigen Einfluss auf die objektive Gesund­ sowohl hinsichtlich Mortalität als auch hinsicht­
heit und geht mit einem widerstandsfähigeren lich Morbidität nachgewiesen worden [23]. Zudem
Immunsystem einher. Ältere Menschen neigen konnte gezeigt werden, dass soziale Integration
allerdings eher dazu, negative Ereignisse gemäß mit geringerer Inanspruchnahme medizinischer
eines pessimistischen Interpretationsstils zu er­ Dienste sowie geringeren Gesundheitskosten
klären, indem sie die Ursachen solcher Ereignisse einhergeht [24]. Zwei mögliche Wirkweisen der
häufiger sich selbst, das heißt z. B. ihrem eigenen sozialen Integration auf Gesundheit sind zu unter­
Älterwerden, zuschreiben. scheiden: direkte und indirekte Effekte. Postuliert
Ähnlich wie Optimismus hat sich auch eine man direkte Beziehungen, so kann man anneh­
positive Sicht auf das Älterwerden für die Gesund­ men, dass das Vorhandensein von Personen im
heit und Langlebigkeit von älteren Personen als sozialen Netzwerk sowie soziale Unterstützung zu
günstig erwiesen [20, 21]. Dabei zeigte sich, dass erhöhtem Wohlbefinden und geringer Einsamkeit
Personen, die ihr Älterwerden positiv bewerten, führt und dadurch in direkter Weise die Gesund­
Gesundheit und Krankheit im Alter 17

heit beeinflusst. Indirekte Effekte können darin (z. B. sind Arbeitsplatz, Wohnung und Wohnum­
bestehen, dass Angehörige des sozialen Netzes feld von Personen aus niedrigen sozialen Schich­
dafür sorgen, dass ältere Menschen ein besseres ten häufiger mit Belastungen verbunden als dies
Gesundheitsverhalten sowie präventive Inan­ bei Personen aus höheren sozialen Schichten der
spruchnahme medizinischer Dienste zeigen, was Fall ist), sondern auch mit der Verfügbarkeit von
sich auf den Gesundheitsstatus älterer Menschen personalen wie sozialen Bewältigungsressour­
positiv auswirkt. cen. Neben diesen Differenzen in den Lebens­
verhältnissen sind aber auch Unterschiede im
gesundheitsrelevanten Verhalten zu beachten: So
Soziale Ungleichheit zeigen Personen mit niedrigem sozialen Status
beispielsweise im Hinblick auf Essgewohnheiten,
Gesundheit im Alter wird auch durch die soziale Alkohol- und Nikotinkonsum sowie der Befolgung
Lage einer Person mitbestimmt. Mittlerweile ist ärztlicher Empfehlungen häufiger ein weniger ge­
in vielen Studien nachgewiesen worden, dass sich sundheitszuträgliches Verhalten als Personen mit
Unterschiede in der Lebenslage in der Morbidität höherem sozialen Status. Schließlich muss auch
und Mortalität im Erwachsenenalter widerspie­ auf Unterschiede in der Inanspruchnahme der ge­
geln [25, 26]. Bedeutsame Merkmale des sozialen sundheitlichen Versorgung hingewiesen werden:
Status sind Bildung, beruflicher Status sowie Ein­ Personen aus niedrigen sozialen Schichten sind
kommen und Vermögen. Aber auch Geschlecht, etwa in der Kommunikation mit Ärzten im Ver­
Herkunftsregion und Migrationshintergrund gleich zu Personen aus höheren sozialen Schich­
sind Kategorien sozialer Ungleichheit. Empirisch ten benachteiligt.
konnte gezeigt werden, dass Personen mit gerin­ Von besonderer Bedeutung in diesem Zu­
ger Bildung, geringem beruflichem Status oder sammenhang ist die Frage, ob sich der Zusam­
geringem Einkommen durchschnittlich eine nied­ menhang zwischen sozialer Ungleichheit und
rigere Lebenserwartung haben als Personen mit Gesundheit im Alter verändert. Betrachtet man
hoher Bildung, hohem Berufsstatus oder hohem die Entwicklung des Zusammenhangs zwischen
Einkommen. Die Unterschiede in der Lebenser­ sozialer Lage und Gesundheit im hohen Erwach­
wartung zwischen Angehörigen der höchsten und senenalter, so sind verschiedene Annahmen
niedrigsten sozialen Schicht ist beträchtlich (für möglich [27]. Zum einen könnte es sein, dass sich
Männer beträgt der Unterschied etwa 3 Jahre, für soziale Unterschiede in Bezug auf den Gesund­
Frauen etwa 4 Jahre) [25]. Für die Morbidität konn­ heitsstatus im Alter vergrößern, da der Prozess
te beispielsweise gezeigt werden, dass Erwachsene des Alterns mit vielen Belastungen einhergeht, die
aus niedrigen sozialen Schichten häufiger einen Personen mit geringer Ressourcenausstattung in
Herzinfarkt erleiden, häufiger unter psychischen besonderem Maß beeinträchtigen (»age as dou­
Störungen leiden und eine geringere subjektive ble jeopardy«). Außerdem dürfte die Kumulation
Einschätzung der eigenen Gesundheit angeben von gesundheitlichen Belastungen und Risiken
als Erwachsene aus höheren sozialen Schichten im Lebenslauf bei ihnen besonders zum Tragen
(vgl. Kapitel 3.1). kommen. Zum anderen ist es aber auch möglich,
Der Zusammenhang zwischen sozialen Fak­ dass sich soziale Unterschiede in der Gesundheit
toren und Gesundheit kann über die Wirkung ge­ mit dem Alter abschwächen, da biologische Pro­
sundheitlicher Risiko- und Schutzfaktoren erklärt zesse für Angehörige aller sozialer Schichten mit
werden, die mit spezifischen Lebenslagen ver­ fortschreitendem Alter an Bedeutung zunehmen
knüpft sind. In Bezug auf den Vermittlungsme­ (»age as leveler«). Die wenigen Studien zu dieser
chanismus zwischen sozialer Lage und Gesund­ Frage kommen allerdings nicht zu einheitlichen
heit wird angenommen, dass Ressourcen (etwa Ergebnissen [22, 28]. Dabei ist zu bedenken, dass
Wissen, Macht, Geld, Prestige) in verschiedenen sozial benachteiligte Gruppen ein höheres Risiko
sozialen Schichten unterschiedlich verfügbar vorzeitiger Sterblichkeit haben, was zu Selektivi­
sind. Diese Unterschiede in der Verfügbarkeit tätseffekten bei Vergleichen zwischen alten und
von Ressourcen korrelieren nicht allein mit einem sehr alten Menschen unterschiedlicher Schichten
anderen Ausmaß gesundheitlicher Belastungen führt.
18 Gesundheit und Krankheit im Alter

Medizinische und pflegerische Faktoren Bedingungen der Heime, in denen sie leben, von
hoher Bedeutung. Moderne Pflegekonzepte, die
Mit zunehmendem Alter gewinnen medizinische auf Prävention und Aktivierung ausgerichtet sind,
und pflegerische Interventionen an Bedeutung für haben für die Aufrechterhaltung und Steigerung
die Gesundheit einer Person. Im Verlauf des Le­ der funktionalen Gesundheit alter Menschen eine
bens verändern sich allerdings die Bedingungen hohe Bedeutung. Demgegenüber kann Pflege, die
und Auswirkungen von medizinischer und pfle­ ausschließliche »Grundpflege- und Bewahrfunk­
gerischer Intervention erheblich. tionen« ausübt, die Selbstständigkeit und Kompe­
Im Unterschied zur Medizin früherer Le­ tenz alter Menschen beeinträchtigen.
bensabschnitte ist in der Geriatrie (Altersmedizin)
nicht immer die Heilung das Ziel des therapeuti­
schen Bemühens (»restitutio ad integrum«). Viel­ Altern und Gesundheit
mehr geht es häufig darum, Funktionen wieder im gesellschaftlichen Kontext
herzustellen mit dem Ziel, Selbstständigkeit und
Lebensqualität der betagten Patienten möglichst Der Blick auf die gesundheitliche Versorgung alter
sicherzustellen (»restitutio ad optimum«). Zudem Menschen macht deutlich, dass Gesundheit im Al­
verändern sich die Möglichkeiten für Diagnostik ter durch verschiedene soziale Sicherungssysteme
erheblich. Erkrankungen, die im mittleren Le­ (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) ent­
bensalter typische Beschwerden hervorrufen, ver­ scheidend beeinflusst wird. Allerdings ist es kei­
laufen im Alter oft atypisch. So kann bei einem neswegs einfach, diesen Einfluss empirisch nach­
Herzinfarkt der im mittleren Lebensalter häufig zuweisen. Grundsätzlich sind dabei zwei Wege
geschilderte Brustschmerz fehlen; stattdessen denkbar: die Analyse von Gesellschaften mit un­
findet sich aufgrund der verminderten Gehirn­ terschiedlicher Struktur (komparative, kultur- und
durchblutung eine neu auftretende Verwirrtheit. gesellschaftsvergleichende Forschung) und die
Mit dem Alter nehmen auch die Krankheitsdauer Analyse der historischen Entwicklung von Gesell­
und die Länge der Rekonvaleszenz zu. Darüber schaften, insbesondere nach sozial- und gesund­
hinaus leiden älter werdende und alte Menschen heitspolitischen Veränderungen.
in der Regel an mehreren, häufig chronisch pro­ Um den Einfluss dieser gesellschafts- und
gredienten Krankheiten (Multimorbidität). Dies sozialpolitischen Strukturen deutlich zu machen,
bedeutet, dass bei medizinischen Interventionen kann ein Vergleich zwischen Gesellschaften mit
die Auswirkungen auf andere Erkrankungen unterschiedlichen Sicherungssystemen sinnvoll
sowie die Wechselwirkungen mit anderen Maß­ sein [29]. So könnte man zeigen, ob verschiedene
nahmen (etwa Medikamenten) zu prüfen sind. Typen von Gesundheitssystemen mit unterschied­
Insbesondere die Arzneimitteltherapie im Alter lichen Prävalenzen von Gesundheitsindikatoren
hat veränderte Bedingungen zu berücksichtigen, verknüpft sind. Da sich Gesellschaften allerdings
vornehmlich mit Blick auf unerwünschte Arznei­ in der Regel nicht allein im Hinblick auf sozial­
mittelwirkungen. Zudem sind viele Medikamente politische Strukturen und Systeme unterscheiden,
an jüngeren Populationen getestet worden, sodass sondern in einer Vielzahl weiterer Aspekte (z. B.
die Wirkungen bei älteren Personen möglicher­ gesellschaftlicher Wohlstand, Kultur), sind ver­
weise nicht ausreichend bekannt sind. Schließlich gleichende Analysen in der Regel aufwändig (und
ist auch zu berücksichtigen, dass medizinisches nicht immer eindeutig interpretierbar).
Personal, etwa niedergelassene Haus- und Fach­ Gesellschaften wandeln sich im Verlauf der
ärzte, nicht immer spezifisch geriatrische Kennt­ historischen Zeit [30]. Es verändern sich gesell­
nisse besitzt. schaftliche Institutionen und gesellschaftlicher
Neben medizinischen Interventionen gewin­ Wohlstand, aber auch individuelle Erwartungen
nen Pflegeprofessionen und -institutionen für Ge­ und Verhaltensweisen. Sozialer Wandel wird aber
sundheit und Lebensqualität im Alter zunehmend auch durch den Wechsel von Kohorten vorange­
an Gewicht. Insbesondere für Bewohnerinnen trieben. Mit dem sozialen Wandel ist insofern
und Bewohner von stationären Pflegeeinrichtun­ eine Veränderung individueller Alternsverläufe
gen sind die ökologischen und professionellen verbunden. Individuelle Lebensläufe sind in den
Gesundheit und Krankheit im Alter 19

gesellschaftlichen Wandel eingebettet und werden stil (Einflüsse durch individuelles Verhalten und
von diesem beeinflusst (beispielsweise wirken Ressourcen) und Lebenslagen (Einflüsse sozialer
sich gesellschaftlich-historische Ereignisse je nach Ungleichheit). Schließlich geht es auch darum,
Lebensalter einer Person unterschiedlich aus). In den Einfluss gesellschaftlicher Systeme auf die
den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat Gesundheit im Alter und ökonomische Aspekte
sich unter anderem die Gesundheit nachfolgen­ der Gesundheit im Alter zu untersuchen.
der Generationen alter Menschen verändert. In Diesen Überlegungen folgt die Gliederung
der Regel war diese Veränderung positiv (bessere des vorliegenden Buches. Im ersten Teil führen
Gesundheit in nachfolgenden Geburtskohorten), zwei Kapitel in die Thematik dieses Buches ein.
aber es gab auch eine – nur auf den ersten Blick Im zweiten Teil des Buches geht es um die Be­
– paradoxe Entwicklung im vierten Lebensalter. schreibung des Gesundheitszustandes und der
Die Zahl dementiell veränderter und erkrankter Gesundheitsentwicklung älterer Menschen in
Menschen ist in den letzten Jahrzehnten abso­ Deutschland. Dabei werden die Ergebnisse, so­
lut gewachsen – Grund hierfür ist die gestiegene weit es die Datenlage zulässt, nach den Katego­
durchschnittliche Lebenserwartung. rien Alter (65- bis unter 85-Jährige, 85-Jährige
Mit Blick auf die Gesundheit im Alter wird und Ältere), Geschlecht (Frauen und Männer),
diskutiert, ob es zu einer Kompression oder einer Region (West- und Ostdeutschland, Nord- und
Expansion der Morbidität im Alter kommt. Mor­ Süddeutschland), Bildung (geringe, mittlere und
biditätskompression entsteht, wenn die Lebens­ hohe Bildung) sowie Migrationshintergrund (Her­
erwartung insgesamt langsamer wächst als die kunft, Nationalität) dargestellt.
Lebenserwartung in Gesundheit [31], Morbiditäts­ Im dritten Teil des Buches werden Ein­
expansion entsteht dann, wenn die Lebenserwar­ flussfaktoren auf die Gesundheit im Alter genauer
tung insgesamt schneller wächst als die Lebenser­ analysiert. Dabei stehen Lebenslagen und soziale
wartung in Gesundheit (vgl. Kapitel 2.5). Zunächst Ungleichheit, Lebensstile und Gesundheitsverhal­
ist die Frage zu beantworten, ob die gesellschaft­ ten sowie die Inanspruchnahme gesundheitlicher
liche Entwicklung der letzten Jahrzehnte eher und medizinischer Angebote im Mittelpunkt. Im
durch Morbiditätskompression oder durch Mor­ vierten Teil des Buches wechselt die Perspektive
biditätsexpansion gekennzeichnet ist. In einem vom Individuum zum Gesundheitssystem: Hier
weiteren Schritt ist schließlich zu fragen, welche geht es um Angebote der Gesundheitsförderung
gesellschaftlichen Faktoren für die gesundheit­ und Prävention, um ambulante und stationäre
liche Entwicklung im Alter verantwortlich sind, Versorgung sowie um die Rolle der Familie bei
damit dieses Wissen für gezielte Interventionen der Versorgung alter hilfe- und pflegebedürftiger
nutzbar gemacht werden kann. Menschen.
Im fünften Teil des Buches werden schließ­
lich gesundheitsökonomische Chancen und
1.1.4 Gliederung des vorliegenden Buches Herausforderungen einer alternden Gesellschaft
vorgestellt. Dabei geht es u. a. um die Analyse der
Im vorangegangenen Abschnitt wurde deutlich, Kosten nach altersrelevanten Krankheitsgruppen,
dass Gesundheit im Alter von einer Vielzahl von um den Einfluss gesellschaftlichen Alterns auf das
Faktoren beeinflusst wird. Biologische, verhal­ Ausgabengeschehen und die Frage, ob Gesund­
tensbezogene, psychische, soziale, medizinische, heit in Zukunft bezahlbar bleiben wird.
pflegerische und gesamtgesellschaftliche Faktoren
müssen dabei berücksichtigt werden. Angesichts
dieser Vielzahl möglicher Determinanten sind Literatur
Fragen zur Gesundheit im Alter auf verschie­
denen Ebenen zu behandeln. Hierzu zählt eine 1. Wahl HW, Heyl V (2004) Gerontologie – Einführung
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20 Gesundheit und Krankheit im Alter

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und Geriatrie 34 (1): I/30 – I/35
Gesundheit und Krankheit im Alter 21

1.2 Demografische Perspektiven zum Altern und zum Alter


Elke Hoffmann, Sonja Menning, Torsten Schelhase

Kernaussagen 6. Die Ehe ist für die Männer im Dritten und


Vierten Lebensalter die zentrale Lebensform.
1. Anhaltend niedrige Geburtenraten und ein Auch ein großer Teil der gleichaltrigen Frauen
weiterer Anstieg der Lebenserwartung, der lebt in einer Ehe. Mit zunehmendem Alter
heute und zukünftig überwiegend auf der überwiegt bei ihnen jedoch das Alleinleben
verringerten Sterblichkeit im Alter gründet, aufgrund von Verwitwung.
sorgen auch in den nächsten Jahrzehnten für
eine Verschiebung der Altersstruktur zuguns­ Um die Frage des 1. Kapitels »Wer sind die Alten?«
ten des Anteils der älteren Bevölkerung. Dieser zu beantworten, wurde bisher einleitend der Be­
Prozess der Alterung von Bevölkerungen ist griff des Alterns unter Bezug auf die Biografie der
ein mit regionalen Variationen versehenes glo­ Menschen als ein Prozess beschrieben und das
bales Ereignis des 20. und 21. Jahrhunderts. Alter als ein spezifischer Lebensabschnitt umris­
2. Geringe Geburtenraten unterhalb des demo­ sen. Dieser begrifflichen Unterscheidung folgt die
grafischen Ersatzniveaus, eine höhere Zahl demografische Analyse. Sie betrachtet das Phä­
an Sterbefällen als an Geborenen sowie räum­ nomen des Alterns von Bevölkerungen als einen
lich sehr differenzierte Wanderungsströme Prozess der Verschiebung der Altersstruktur ei­
kennzeichnen die Bevölkerungsdynamik in ner Gesellschaft zugunsten des Anteils der älteren
Deutschland und werden den Bevölkerungs­ Menschen. Darüber hinaus charakterisiert sie die
bestand mit seiner Altersstruktur in den nächs­ Bevölkerungsgruppe in der dritten und vierten
ten Jahrzehnten nachhaltig verändern. Lebensphase anhand spezifisch demografischer
3. Durch das Nachrücken relativ gut besetzter Merkmale wie räumliche Verteilungen, weitere Al­
Geburtsjahrgänge in das Dritte und Vierte tersdifferenzierungen, Geschlecht sowie familiale
Lebensalter und durch die kontinuierlich sin­ Lebensformen.
kende Alterssterblichkeit wird der Anteil der
Älteren in den nächsten 35 Jahren auf ein Drit­
tel der Gesamtbevölkerung anwachsen. 1.2.1 Das Altern der Bevölkerung
4. Der momentan noch in den Altersgruppen
ab 65 Jahren vorhandene hohe Frauenüber­ Schaut man etwa fünfzig Jahre zurück, hatte
schuss wird sich weiter abschwächen und in in Deutschland jede zehnte Bürgerin und jeder
den nächsten 30 Jahren allmählich normali­ zehnte Bürger das 65. Lebensjahr erreicht oder
sieren. Zukünftig wird es insbesondere durch überschritten. Heutzutage trifft das bereits auf
das sinkende Sterberisiko ab dem mittleren jede vierte bis fünfte Bürgerin und auf jeden
Lebensalter einen ausgeglicheneren Proporz sechsten Bürger zu. Damit nimmt Deutschland
zwischen Frauen und Männern geben. Al­ im heutigen Europa zusammen mit Italien und
lerdings werden die Frauen in den obersten Griechenland einen Spitzenplatz ein. In weiteren
Altersgruppen bedingt durch ihre höhere Le­ fünfzig Jahren sollen nach aktuellen Prognosen
benserwartung nach wie vor in der Überzahl fast jede dritte Bürgerin und jeder vierte Bürger
sein. zur Bevölkerungsgruppe der Älteren zählen. Die
5. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrations­ Zahl der hochaltrigen Menschen (85 Jahre und äl­
hintergrund im Seniorenalter wird steigen. ter) ist zwar momentan mit einem Anteil von 3 %
Aus der Besonderheit ihrer Lebenssituation bei der weiblichen und 1 % bei der männlichen
werden spezifische Ansprüche an die gesund­ Gesamtbevölkerung noch relativ gering, jedoch
heitliche und pflegerische Versorgung im Alter ist mit einer überproportionalen Zunahme die­
erwachsen. ser Bevölkerungsgruppe zu rechnen, wozu ins­
besondere die Frauen beitragen. Für die Frauen
22 Gesundheit und Krankheit im Alter

prognostiziert das Statistische Bundesamt einen derzeit in China, wo seit Ende der 1970er-Jahre
Anstieg auf 10 % und für die Männer auf 7 % im eine rigorose Ein-Kind-Politik praktiziert wird [5].
Jahr 2050 [1]. Das heißt auch, dass in Deutschland Offensive bevölkerungs- und gesundheitspoliti­
zunehmend mehr 100-Jährige leben. Aus diesem sche Maßnahmen beeinflussen im Kontext mit
Grund versendet der Bundespräsident beispiels­ wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmen­
weise seit 1996 seine jährlichen Gratulations­ bedingungen die regionale Bevölkerungsdyna­
schreiben nicht mehr ab dem 100., sondern erst mik. Da die Geburtenrückgänge in weniger ent­
ab dem 105. Geburtstag [2]. Zählte man in West­ wickelten Ländern nicht den historischen Vorlauf
deutschland Anfang der 1960er-Jahre noch we­ wie in den industrialisierten Regionen haben,
niger als zwei Hundertjährige je einer Millionen werden sie die Alterungsprozesse vergleichsweise
Einwohner, waren es im Deutschland des Jahres intensiver und zeitlich geraffter durchlaufen. Al­
2000 bereits über 82 Personen [3]. terungsprozesse setzten später ein, so dass nach­
Diese Anteilsverschiebungen zwischen Jung holende Effekte zu verzeichnen sind [6]. Forciert
und Alt charakterisieren den demografischen werden diese durch massive Maßnahmen zur
Wandel in Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhun­ Geburtenkontrolle sowie durch den Rückgriff auf
derts. Es ist ein globaler, langfristig verlaufender moderne medizin-technische Möglichkeiten mit
Prozess, wie Abbildung 1.2.1.1 zeigt. Das Durch­ lebensverlängernden Effekten. Nach neuesten
schnittsalter für Deutschland liegt zu den gezeig­ UN-Prognosen wird das heutige Medianalter bis
ten Eckzeitpunkten bei 35 – 41 – 50 Jahren [4]. 2050 in Industrieländern um etwa 15 %, in Ent­
Auch wenn die Alterung von Bevölkerungen wicklungsländern um etwa 42 % und in den am
ein globaler Prozess ist, sind es regionale Beson­ wenigsten entwickelten Ländern der Welt um etwa
derheiten, die sein Tempo und seine Intensität 50 % ansteigen [5].
prägen. Da die meisten Länder der Welt einen Ge­ Eine sensible Kennziffer zur Messung von
burtenrückgang verzeichnen, altert die Weltbevöl­ Alterung ist das Billetermaß. Es bezieht alle Al­
kerung insgesamt. Am intensivsten geschieht das tersgruppen einer Bevölkerung wie folgt in die

Abbildung 1.2.1.1
Durchschnittliches Alter der Bevölkerung in Weltregionen (in Jahren)
Quelle: Vereinte Nationen (nach Globus Infografik, 17.04.2003)

Nordamerika Europa Asien


1950 2000 2050* 1950 2000 2050* 1950 2000 2050*
40,2 47,7 38,7
35,4
37,7
26,1
29,8 29,2 22,0

Welt
1950 2000 2050*
36,8

26,4
23,6

Lateinamerika und Karibik Afrika Australien und Ozeanien


1950 2000 2050* 1950 2000 2050* 1950 2000 2050*
39,8 39,9
27,5

24,2 30,7
20,1
19,0 18,3 27,8
* Prognose
Gesundheit und Krankheit im Alter 23

Berechnung ein: Vom Umfang der Kindergene­ und die Niederlande bilden mit einer sich verjün­
ration (noch nicht reproduktiv) wird der Umfang genden Bevölkerung die Ausnahme. Die ältesten
der Großelterngeneration (nicht mehr reproduk­ Bevölkerungen leben gegenwärtig in Nordspa­
tiv) abgezogen. Die Differenz wird ins Verhältnis nien, Norditalien, Ostdeutschland und in Nord­
gesetzt zur Größe der Elterngeneration als dem griechenland. Unter Bezug auf siedlungsstruk­
reproduktiven Teil der Bevölkerung. Es ist ein turelle Merkmale weisen städtische Regionen im
Indikator dafür, wie jung oder alt eine Bevölke­ Kontext mit ihrem verdichteten Umland günsti­
rung im Zeitverlauf, in regionalen oder anderen gere Altersstrukturen auf, während Regionen mit
vergleichenden Betrachtungen ist. Je kleiner das sehr intensiver Alterung zumeist im ländlichen
Billetermaß, desto älter ist im demografischen Raum verortet sind [9]. Insgesamt ist zu konsta­
Sinne die Bevölkerung, weil sich das zahlenmä­ tieren, dass die Bevölkerungsdynamik unter dem
ßige Verhältnis der drei Generationen zueinander regionalen Aspekt zunehmend heterogener wird
zuungunsten der jüngeren verschiebt. Negative und dadurch regionale Disparitäten von Bevölke­
Werte entstehen, wenn der Anteil der älteren grö­ rungsstrukturen anwachsen.
ßer ist als der Anteil der jungen Bevölkerung [7].
Abbildung 1.2.1.2 zeichnet den kontinuierli­
chen Alterungsprozess in Europa anhand dieses Exkurs: Räumliche Muster der demografischen
Maßes in einigen ausgewählten Ländern. Irland Alterung in Deutschland
und Frankreich sind Beispiele für Länder mit
einer in Europa vergleichsweise jüngeren Bevöl­ Unter Rückgriff auf die Raumordnungsprognose
kerung, Deutschland und Italien stehen für die des Bundesamtes für Bauwesen und Raumord­
ältesten Bevölkerungen. nung (BBR) sind folgende ausgewählte regionale
Dem Alterungstrend folgen nahezu alle eu­ Muster und Verläufe hier von Interesse:
ropäischen Länder. Am stärksten war er in einem Der demografische Alterungsprozess findet
Betrachtungszeitraum seit 1990 in Griechenland, in allen Regionen Deutschlands statt. Auffal­
Bulgarien, Spanien, in den baltischen Staaten und lend ist der Ost-West-Unterschied. Mit Ausnah­
in Ostdeutschland. Norwegen, die Südschweiz me großer Teile von Mecklenburg-Vorpommern

Abbildung 1.2.1.2
Billetermaß in ausgewählten Ländern Europas 1956 bis 2025*
Quelle: [8], EUROSTAT – Databases NewCronos, eigene Berechnungen

1956 1966 1976 1986 1996 2006 2016 2025


20

0 Jahr

–20

–40
Irland

Frankreich
–60
Deutschland

–80 Italien

–100

* Ab 2006 nationale Prognosen. Im Jahr 2010 haben Deutschland und Italien die gleichen Prognosewerte.
24 Gesundheit und Krankheit im Alter

sind die östlichen Bundesländer bis hin zum Bevölkerung dort noch immer jünger als im Sü­
östlichen Niedersachsen überdurchschnittlich den [10].
alt (siehe Abbildung 1.2.1.3). Das betrifft auch die Hinsichtlich des Tempos der Alterung ist der
alten Industrieregionen des Westens sowie viele Osten schneller, insbesondere in Regionen mit ge­
Kernstädte mit Wanderungsverlusten durch jun­ ringer Siedlungsdichte (siehe Abbildung 1.2.1.4).
ge Familien und landschaftlich attraktive Regio­ Dieser Zusammenhang gilt auf einem deutlich
nen an der Küste und am Alpenrand mit Wande­ niedrigeren Niveau auch für einige westliche Re­
rungsgewinnen durch ältere Menschen. Jünger gionen, für kreisfreie Städte und für Umlandregio­
sind städtische Umlandregionen, in die vor allem nen großer Städte, deren Besiedlung durch eine
junge Familien ziehen sowie einige Regionen mit relativ homogene Bevölkerung (junge Familien
vergleichsweise höheren Geburtenraten. Obwohl mit Kindern) im Wesentlichen abgeschlossen ist.
Mecklenburg-Vorpommern zu den Regionen mit Die Zahl der Regionen mit rückläufigen Be­
überdurchschnittlich hoher Alterung zählt, ist die völkerungsbeständen wird immer größer. Am

Abbildung 1.2.1.3
Regionale Altersstrukturen, Deutschland 2002
Quelle: Raumordnungsprognose der BBR [10]

Kiel

Hamburg Schwerin

Szczecin
Bremen

Berlin
Hannover
Amsterdam Potsdam
Magdeburg

Düsseldorf
Dresden
Erfurt

Liège
Praha
Wiesbaden
Mainz
Luxembourg

Saarbrücken

Stuttgart
Strasbourg

Altersstruktur im Vergleich
München
zum Bundesdurchschnitt

jünger
100 km Zürich Innsbruck älter
Gesundheit und Krankheit im Alter 25

Abbildung 1.2.1.4
Tempo der regionalen Alterung, Deutschland 2002 bis 2020
Quelle: Raumordnungsprognose der BBR [10]

Kiel

Hamburg Schwerin

Szczecin
Bremen

Berlin
Hannover
Amsterdam Potsdam
Magdeburg

Düsseldorf
Dresden
Erfurt

Liège
Wiesbaden Praha

Mainz
Luxembourg

Saarbrücken

Stuttgart
Strasbourg
Alterung 2002 bis 2020
München
durchschnittlich

unterdurchschnittlich
100 km
Zürich Innsbruck überdurchschnittlich

intensivsten ist der Bevölkerungsrückgang im Die Alterung von Bevölkerungen ist im


Norden und Süden der neuen Bundesländer so- Zusammenspiel der demografischen Prozesse
wie im mitteldeutschen Raum, mit Ausnahme des Fertilität (Geburtengeschehen), Mortalität (Ster-
Brandenburger Umlandes von Berlin. Suburbane begeschehen) und Migration (Wanderungsgesche-
Räume werden noch bis zum Jahr 2020 über eine hen) begründet. Gegenwärtig prägen rückläufige
positive Bevölkerungsbilanz verfügen. Geburtenzahlen in Kombination mit sinkender
Tendenziell steht einer größer werdenden Alterssterblichkeit und selektiven Wanderungs-
Gruppe zumeist ländlich oder kleinstädtisch ge- strömen (Abwanderung aus wirtschaftlich unat­
prägter Regionen (zunehmend auch Randlagen traktiven Gebieten) das Bild Europas [9].
von Verdichtungsräumen) mit Schrumpfungs- Sinkende Geburtenraten seit Beginn des
und überdurchschnittlichen Alterungsprozessen 20. Jahrhunderts und das heutige Einpegeln auf
eine kleiner werdende Gruppe wachsender und niedrigem Niveau um 130 Geburten je 100 Frauen
weniger alternder Regionen gegenüber [11]. führen dazu, dass die bestehende Bevölkerung
26 Gesundheit und Krankheit im Alter

nur noch zu etwa 70 % ersetzt wird (europäischer heute 70-Jähriger wird in einiger Zeit vergleichs­
Durchschnitt). Für die nächsten Jahrzehnte wird weise jünger erscheinen als gegenwärtig. Damit
dieses Niveau – zumindest für Deutschland – als wird das Alter als jene spezifische, mit dem Tod
relativ stabil bewertet. Dieser Trend wird häufig – endende Lebensphase, auch aus demografischer
mit Blick auf die »Alterspyramide« – als »Alterung Perspektive ständig neu zu definieren sein.
von unten« bzw. als fertilitätsgeleitete Alterung
bezeichnet, da er den Anteil der Kinder- und Ju­
gendgeneration an der Bevölkerung reduziert. 1.2.2 Die Gruppe der Alten im Dritten und
Das Sterbegeschehen ist seit Mitte des 20. Vierten Lebensalter
Jahrhunderts geprägt von einer anhaltenden Ver­
schiebung des Sterberisikos in immer höhere Die im vorangehenden Abschnitt beschriebene
Lebensalter. Die Menschen leben länger, was – Alterung wird in Deutschland seit Anfang dieses
isoliert betrachtet – eine Zunahme des Anteiles Jahrhunderts begleitet von einer Abnahme der
der Älteren an der Bevölkerung bewirkt. Dieser Bevölkerungszahl. In Deutschland leben derzeit
Effekt wird entsprechend als »Alterung von oben« 82,3 Millionen Menschen. Für den Zeitraum bis
bzw. als mortalitätsgeleitete Alterung bezeichnet. 2050 prognostiziert das Statistische Bundesamt
Experten sprechen bei diesem Phänomen von sin­ eine weitere Abnahme um 10 % bis 17 % auf ei­
kender Alterssterblichkeit. Sie dominiert das jet­ nen Bestand von ca. 69 bis 74 Millionen [1]. Die
zige Sterbegeschehen und ist in der historischen anhaltend geringe Geburtenrate unterhalb des Er­
Perspektive das Ergebnis einer langfristigen Trans­ satzniveaus und die momentan starke Besetzung
formation [12]. Diese ist zunächst gezeichnet von der Generation im mittleren Lebensalter bewir­
dem rapiden Rückgang der Sterbeziffern zwischen ken, dass dieser Trend die Altersgruppen in recht
1870 und 1950 von etwa 30 auf 12 Gestorbene je unterschiedlichem Maße trifft.
1.000 der Bevölkerung, der zu großen Teilen auf
dem Zurückdrängen der Säuglingssterblichkeit
basierte. So stieg die Lebenserwartung für Säug­ Bevölkerung nach Altersgruppen
linge in dieser Zeit um 80 %, was für Neugebore­
ne einen Zugewinn an 30 Lebensjahren bedeutete. Gegenwärtig sind die Bevölkerungsanteile der
Für Personen ab dem 65. Lebensjahr stieg sie um jüngsten (unter 20 Jahre) und der ältesten Gene­
vergleichsweise geringe 27 %, das waren etwa 3,5 ration (65 Jahre und älter) mit 20 % noch gleich
Lebensjahre mehr (Werte für Deutschland). Seit groß. Im Jahr 2050 wird der Anteil der Älteren
Ende des 20. Jahrhunderts, vor allem nach 1970, doppelt so groß sein wie jener der Jüngsten. Der
ist der Anstieg der Lebenserwartung zunehmend Anteil der Kinder- und Jugendgeneration (unter
auf verbesserte Überlebensraten älterer und sehr 20-Jährige) wird um etwa fünf Prozentpunkte auf
alter Menschen zurückzuführen. 1950 hatten 15 % 15 % sinken. Der Anteil der Generation im Er­
der Frauen und 11 % der Männer eine Chance, das werbsalter wird sich um ca. zehn Prozentpunkte
85. Lebensjahr zu erleben, heute sind es 48 % der auf etwa 52 % verringern, wobei die Bevölkerung
Frauen und 30 % der Männer. Neuere demografi­ zwischen dem 20. und dem 49. Lebensjahr rasch
sche Forschungen führen zu der Annahme, dass abnehmen wird, während der Anteil der 50- bis
im 21. Jahrhundert Geborene zu über 50 % die 64-Jährigen deutlich ansteigt. Dieser wird dann
Chance haben, ihren 100. Geburtstag zu feiern reichlich ein Drittel der Bevölkerung im Erwerbs­
[13]. Vaupel prognostiziert für Länder mit hoher alter ausmachen. Durch das Nachrücken relativ
Lebenserwartung einen weiteren, fast linearen gut besetzter Geburtsjahrgänge in das Senioren­
Anstieg von mehr als zwei zusätzlichen Jahren alter und durch die steigende Lebenserwartung
pro Jahrzehnt [14] (vgl. Kapitel 2.4). wird der Anteil der Älteren kontinuierlich auf ein
Hinsichtlich des Zusammenspiels der demo­ Drittel der Gesamtbevölkerung anwachsen.
grafischen Ursachen der Alterung von Bevölke­ Die Alterung ist ein dynamischer Prozess,
rungen ist die Mortalität momentan der dynami­ der keinesfalls linear abläuft. Er ist untersetzt von
schere Aspekt und relativiert immer aufs Neue die wellenförmigen Veränderungen und temporären
Antwort auf die Frage »Wer sind die Alten?«. Ein Schwankungen. Die Ursache dafür liegt in der
Gesundheit und Krankheit im Alter 27

Nachhaltigkeit demografischer Prozesse, einem ration im Dritten Lebensalter (65 bis 84 Jahre)
Phänomen, das auch gern als »demografisches prognostiziert.
Gedächtnis« bezeichnet wird. Die jährlich nach­
wachsenden Geburtsjahrgänge schaffen die Basis
für die Bevölkerungsentwicklung der folgenden Bevölkerung nach Geschlecht
Jahrzehnte und Jahrhunderte.
Heute relativ stark besetzte Altersgruppen Die Geschlechterproportion im Altersverlauf wird
um das 65. Lebensjahr erhöhen in den nächsten sowohl durch biologische wie auch durch soziale
Jahren temporär den Anteil der Bevölkerung im Faktoren geprägt. Zunächst werden auf Grund der
Vierten Lebensalter. Da dieser Trend ergänzt wird genetischen Konstitution der Menschen mehr Jun­
von der voranschreitenden Lebensverlängerung gen gezeugt und auf 100 Mädchen etwa 106 Jun­
insbesondere für sehr alte Menschen, wird sich gen geboren. Da das höhere Sterberisiko männ­
der temporäre Effekt als ein recht langfristiger licher Neugeborener heutzutage weitestgehend
konstituieren. Abbildung 1.2.2.1 zeigt, wie sich der zurückgedrängt ist, bleibt dieser Proporz solange
Anteil der Generation ab dem 65. Lebensjahr an erhalten, bis lebensphasenspezifische soziale Ri­
der Bevölkerung insgesamt im Zeitraum von 100 siken für Männer ein höheres Sterberisiko verur­
Jahren von zehn auf prognostizierte 33 % konti­ sachen. Das ist zu beobachten in der Lebensphase
nuierlich erhöht (mittlere Linie). Die untere Linie der Motorisierung zwischen dem 20. und 25. Le­
weist nach, dass diese Entwicklung vor allem auf bensjahr sowie ab dem 50. Lebensjahr durch die
die Zunahme der Bevölkerung im Vierten Lebens­ Akkumulation spezifischer Lebens- und Arbeits­
alter zurückzuführen ist. Sie bildet den wachsen­ risiken. Der ursprüngliche Männerüberschuss
den Anteil dieser Gruppe an der Bevölkerung ab verkehrt sich etwa in der Lebensmitte in einen
dem 65. Lebensjahr ab, während die obere Linie leichten Frauenüberschuss, der sich mit zuneh­
ein anhaltendes Absinken des Anteils der Gene- mendem Lebensalter vergrößert. Hierfür sind vor

Abbildung 1.2.2.1
Entwicklung des Anteils der älteren Bevölkerung in Deutschland 1952 bis 2050
Quelle: Bevölkerungsfortschreibung des Statistischen Bundesamtes und Statistische Jahrbücher der DDR 1952 bis 1990,
ab 2006 Daten der 11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Var. 1-W1 [1], eigene Berechnungen

Prozent
100

90

80

70

60

50 65–84 Jahre an Bevölkerung 65+

40 65+ an Bevölkerung insgesamt

30 85+ an Bevölkerung 65+

20

10

1952 1962 1972 1982 1992 2002 2012 2022 2032 2042 2050
Jahr
28 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 1.2.2.1 nen mit Migrationshintergrund sein wird, kann


Geschlechterverteilung der Bevölkerung Deutschlands
angenommen werden, dass ihr Anteil an der Be­
1950, 2006 und 2050
Quelle: Bevölkerungsfortschreibung des Statistischen völkerung im Seniorenalter steigt. Bei den heuti­
Bundesamtes, Daten der 11. Koordinierten Bevölkerungs­ gen älteren Menschen mit Migrationshintergrund
vorausberechnung, Var. 1-W1 [1], eigene Berechnungen handelt es sich insbesondere um Arbeitsmigran­
tinnen und -migranten der ersten Generation
im im Alter von ... entfallen auf 100 Männer ... Frauen (Zuwanderung in den 1970er-Jahren). Aus den
Jahr
65 Jahren 75 Jahren 85 Jahren 89 Jahren Besonderheiten ihrer Lebenssituation erwach­
1950 129 123 153 160 sen bereits heute spezifische Ansprüche an die
2006 106 131 262 314 gesundheitliche und pflegerische Versorgung im
2050 103 113 136 157
Alter. Diese Situation wird jedoch nicht nur wegen
des wachsenden Anteils migrationserfahrener Äl­
terer zu einer gesundheits- und altenpolitischen
Herausforderung, sondern auch auf Grund ihrer
allem die längere Lebenserwartung der Frauen wie spezifischen sozialen und kulturellen Merkmale.
auch Dezimierungen männlicher Geburtsjahrgän­ So verweisen neuere Daten des Mikrozensus da­
ge durch Kriege und Kriegsfolgen verantwortlich. rauf, dass diese Bevölkerung geringer qualifiziert
Gegenwärtig beträgt das Verhältnis der ist, häufiger erwerbslos und sozialhilfeabhängig
männlichen zur weiblichen Bevölkerung im Alter ist, Erwerbstätige zumeist als Arbeiter oder Arbei­
von 65 Jahren noch etwa 1:1, im Alter von 80 Jah­ terin beschäftigt sind [15]. Auffallend ist der hohe
ren etwa 1:2, ab 86 Jahren bereits 1:3 (siehe Tabelle Anteil nichterwerbstätiger Frauen, der sich Fami­
1.2.2.1). Die Daten für das Jahr 2006 zeigen den lienaufgaben widmet und dem Arbeitsmarkt gar
sehr hohen Frauenüberschuss bei den sehr Alten, nicht zur Verfügung steht.
also hier bei den kriegsbedingt dezimierten Ge­
burtsjahrgängen 1920 und 1916. Dieser wird sich
weiter abschwächen und in den nächsten 30 Jah­ Familiale Lebensformen
ren allmählich normalisieren. Auch das sinkende
Sterberisiko für Männer ab dem mittleren Lebens­ Nicht nur die Alters- und die Geschlechtsstruktur
alter wird infolge medizintechnischer Fortschritte der Bevölkerung sind im Wandel. Der folgende
wie auch durch Angleichungen von männlichen Abschnitt beschreibt, welche Spuren die demogra­
und weiblichen Lebensstilen künftig zu einem fische Alterung in den Lebensformen der Älteren
ausgeglicheneren Proporz beitragen. Allerdings hinterlässt.
werden die Frauen in den obersten Altersgruppen Einen ersten Indikator für familiale Lebens­
bedingt durch ihre höhere Lebenserwartung nach formen stellt der Familienstand dar. Mit zuneh­
wie vor in der Überzahl sein. mendem Alter nimmt der Anteil der Verheirate­
ten ab und der Anteil der Verwitweten steigt. Die
Familienstände von Männern und Frauen unter­
Der Aspekt des Migrationshintergrundes scheiden sich. Männer sind bis ins hohe Alter
hinein überwiegend verheiratet. Selbst die über
In Deutschland leben im Jahr 2005 rund 15,3 80-jährigen Männer sind zu knapp 60 % verhei­
Millionen Menschen mit einem Migrationshin­ ratet und nur zu etwa zu einem Drittel verwitwet
tergrund, das sind 18,5 %, also fast ein Fünftel der (Angaben für 2006). Ganz anders bei den Frauen:
Bevölkerung [15]. Da diese Bevölkerungsgruppe Mehr als die Hälfte (52 %) der Frauen über 70 war
mit 34 Jahren im Durchschnitt zehn Jahre jün­ im Jahr 2006 verwitwet. Die Familienstandsstruk­
ger ist als die Bevölkerung ohne Migrationshin­ tur älterer Frauen ist in den letzten Jahren ausge­
tergrund, ist der Anteil der Älteren (65 Jahre und wogener geworden, da ein großer Teil der Kriegs­
älter) mit 8 % noch entsprechend klein. Bei der witwen seit den 1990er-Jahren verstorben ist. 1991
übrigen Bevölkerung beträgt dieser Anteil 22,5 %. waren immerhin noch fast zwei Drittel (65 %) der
Auch wenn nicht wirklich abzusehen ist, wie über 70-jährigen Frauen verwitwet. Die rückläufi­
groß die Rückwanderungsrate bei älteren Perso­ ge Alterssterblichkeit der Männer verstärkt diesen
Gesundheit und Krankheit im Alter 29

Trend, so dass auch ältere Frauen zunehmend län­ Hälfte allein in einem Haushalt, weitere 43 % mit
ger in Partnerschaften leben können. ihrem Ehepartner.
Daten zum Familienstand sind für die gesam­ Familiale Lebensformen können jedoch im
te Bevölkerung verfügbar. Der Familienstand ist reinen Haushaltskontext nur unzureichend be­
für die konkreten Lebensformen der Älteren aber schrieben werden. Familialer Zusammenhalt, Un­
nur ein sehr grober Indikator. Der Mikrozensus terstützung und Solidarität finden über die Gren­
liefert auch Daten zu den konkreten Lebensfor­ zen der Wohn- und Wirtschaftseinheit »Haushalt«
men im Haushaltskontext, das heißt, beschränkt statt. Im Begriff der »Familie« sind mehrere Ge­
auf den Personenkreis, der in Privathaushalten nerationen miteinander verbunden, anders als
lebt. Informationen zu Heimbewohnerinnen und im Haushalt, in dem in der Regel heutzutage nur
Heimbewohnern fehlen diesbezüglich. Mit dieser eine oder zwei Generationen zusammenleben.
Einschränkung lässt sich folgendes Bild für das Die Verwandtschaftsbeziehungen von nicht im
Zusammenleben der älteren Menschen zeichnen gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen
(siehe Abbildung 1.2.2.2): Sofern ältere Menschen werden auch mit dem Begriff der »Mehrgenera­
in Partnerschaften leben, tun sie dies nach wie tionenfamilie« bezeichnet. Das Bild der Familie
vor in der Regel in einer ehelichen Gemeinschaft. in diesem erweiterten Sinn hat sich gewandelt. Es
Alternative Lebensformen wie nichteheliche Le­ vollzieht sich ein Wechsel von eher horizontalen
bensgemeinschaften haben sich bei den Älteren zu eher vertikalen Familienstrukturen. Das heißt
bisher nicht als verbreitete Lebensform etabliert. einerseits, es gibt heute mehr Generationen, die
Daraus kann geschlossen werden, dass die Ehe vor gemeinsam zu einem Familienverband gehören.
allem bei den Männern noch immer die zentrale Andererseits sind diese Generationen aber mit
Lebensform des Alters ist. Von den Frauen ab dem weniger Personen besetzt. Es existieren weniger
65. Lebensjahr lebt und wirtschaftet dagegen die horizontale Verzweigungen in der Familie, es gibt
also z. B. weniger Geschwister und entsprechend
weniger Seitenverwandte wie Onkel, Tanten usw.
Abbildung 1.2.2.2 Diese Form der vorrangig vertikalen Familien­
Lebensformen der 65-Jährigen und Älteren in Privathaushal­ struktur hat den anschaulichen Begriff der »Boh­
ten nach Geschlecht 2006
Quelle: Mikrozensus 2006, eigene Berechnungen nenstangenfamilie« erhalten. Bedingt ist diese
Entwicklung durch die zunehmende Langlebig­
Prozent keit der älteren Generationen und die abnehmen­
100 de durchschnittliche Kinderzahl in den jüngeren
Generationen. Die Generationen, die eine lange
80 Lebenszeit miteinander verbringen, übernehmen
die Funktion eines generationenübergreifenden
60 Unterstützungsnetzwerkes und können dadurch
Lücken ausfüllen, die durch die abnehmende
40 innergenerationale Breite der Familie unter Um­
ständen entstehen.
20 Empirische Daten zu diesen Familienbezie­
hungen sind im Deutschen Alterssurvey 2002 zu
finden. Demzufolge verweisen die Deutschen in
Frauen Männer der zweiten Lebenshälfte (im Alter von 40 bis 85
Jahren) mehrheitlich auf Familienkonstellationen
allein lebend mit drei Generationen. Bei den 40- bis 54-Jährigen
traf das auf 61 %, bei den 55- bis 69-Jährigen auf
nur mit Ehepartner/Ehepartnerin
50 % und bei den 70- bis 85-Jährigen auf 53 % zu.
nur mit Lebenspartner/Lebenspartnerin Ein erheblicher Teil der älteren Erwachsenen er­
mit Partner/Partnerin und Kind lebt aber auch den Kontext einer 4-Generationen-
Familie, also die gleichzeitige Existenz von Ur­
nur mit Kind
großeltern, Großeltern, Eltern und (Ur-) Enkeln.
30 Gesundheit und Krankheit im Alter

In einer solchen Generationenkonstellation lebte 5. Schulz R, Swiaczny F (2005) Bericht 2005 zur Ent­
wicklung der Weltbevölkerung. Zeitschrift für Bevöl­
2002 knapp ein Viertel (23 %) all jener Befragten,
kerungswissenschaft 4 (30): 409 – 453
die das 55. Lebensjahr überschritten hatten. Mit 6. Menning S (2008) Ältere Menschen in einer alternden
zunehmendem Alter steigt aber auch der Anteil Welt – Globale Aspekte der demografischen Alterung.
derjenigen, die nur noch Verwandte der eigenen GeroStat Report Altersdaten 01/2008 Deutsches Zen­
trum für Altersfragen (Hrsg), Berlin
Generation im Familienverbund haben; bei den
7. Dinkel R (1989) Demografie. Band 1: Bevölkerungs­
70- bis 85-Jährigen betraf das 13 % [16]. dynamik. Vahlen, München
Mit dieser Auswahl demografischer Perspek­ 8. Europäische Kommission (2006) Bevölkerungssta­
tiven soll das einleitende Kapitel beendet werden. tistik. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Euro­
päischen Gemeinschaften. Themenkreis: Bevölkerung
Es wurden theoretische Grundpositionen zum
und soziale Bedingungen. Luxemburg
Altern und zum Alter erörtert, die das Altern als 9. Bucher H, Mai R (2006) Bevölkerungsschrumpfung
Prozess und das Alter als Lebensabschnitt be­ in den Regionen Europas. Zeitschrift für Bevölke­
schreiben. Dimensionen von Gesundheit wurden rungswissenschaft 3/4 (31): 311 – 343
10. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg)
im Hinblick auf ihre spezifische Bedeutung für
(2006) Raumordnungsprognose 2020/2050. Berichte
das Alter vorgestellt und es wurde eine Reihe von Band 23. Selbstverlag des BBR, Bonn
Einflussfaktoren auf Gesundheit mit einem inter­ 11. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg)
disziplinären Blick diskutiert. Es folgte die demo­ (2005) Raumordnungsbericht 2005. Berichte Band 21.
Selbstverlag des BBR, Bonn
grafische Analyse, die das Phänomen des Alterns
12. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung beim Sta­
von Bevölkerungen als einen Prozess der Ver­ tistischen Bundesamt (Hrsg) (2004) Bevölkerung.
schiebung der Altersstruktur einer Gesellschaft Fakten – Trends – Ursachen – Erwartungen – Die
zugunsten des Anteils der älteren Menschen be­ wichtigsten Fragen. Sonderheft der Schriftenreihe des
BIB, Wiesbaden
trachtete und demografische Merkmale des Alters
13. Vaupel J (2006) Steigende Lebenserwartung: Kein
als einem spezifischen Lebensabschnitt spiegelte. Ende in Sicht. Zentrum für demografischen Wandel
www.zdwa.de/zdwa/experten/001_vaupel_jW3Dna
vidW261.php (Stand: 19.11.2008)
14. Zentrum für demografischen Wandel. Weitere Infor­
Literatur
mationen unter dem Stichwort: Alter/Lebenserwar­
tung www.zdwa.de (Stand: 19.11.2008)
1. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2006) Bevölkerung 15. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2007) Bevölkerung
Deutschlands bis 2050. Übersicht der Ergebnisse der mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozen­
11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung – sus 2005. – Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden
Varianten und zusätzliche Modellrechnungen, Wies­ 16. Hoff A (2006) Intergenerationale Familienbezie­
baden hungen im Wandel. In: Tesch-Römer C, Engstler H,
2. Scholz R, Maier H (2005) Forschung an der Spitze der Wurm S (Hrsg) Alt werden in Deutschland. Sozialer
Bevölkerungspyramide. Demografische Forschung Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten
aus erster Hand 2 (4): 1 – 2 Lebenshälfte. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesba­
3. Zentrum für demografischen Wandel (2007) Zahlen den, S 231 – 287
und Fakten www.zdwa.de (Stand: 19.11.2008)
4. Mai R (2005) Demografische Alterung in Deutsch­
land. Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 1 (30):
43 – 80
Gesundheit und Krankheit im Alter 31

2 Alter = Krankheit?
Gesundheitszustand und Gesundheitsentwicklung

2.1 Somatische und psychische Gesundheit


Anke-Christine Saß, Susanne Wurm, Thomas Ziese

Kernaussagen Im folgenden Kapitel wird ein Überblick über die


körperliche und seelische Gesundheit der älteren
1. Mit fortschreitendem Alter ist ein deutlicher Generation gegeben. Im ersten Abschnitt wird die
Anstieg der Gesundheitsprobleme zu be­ Krankheitslast im Alter kurz umrissen, alterspezi­
obachten, sowohl hinsichtlich der Anzahl fische Besonderheiten des Gesundheitszustandes,
erkrankter Personen als auch bezüglich der des Krankheitsspektrums und des Krankheitsver­
Komplexität der vorliegenden Beeinträchti­ laufs sowie deren Ursachen werden diskutiert.
gungen. Laut Mikrozensus 2005 war mehr Danach geht es zunächst um die somatischen
als jede/r Vierte 75-Jährige und Ältere zum Er­ (körperlichen) und dann um die psychischen Er­
hebungszeitpunkt krank oder unfallverletzt. krankungen, die für die ältere Bevölkerung die
2. Das somatische Krankheitsspektrum im Al­ größte Bedeutung haben. Ausgewählt wurden
ter wird insbesondere von Herz-Kreislauf- Herz-Kreislauf-Erkrankungen, muskuloskelettale
Erkrankungen und Krankheiten des Bewe­ Erkrankungen und Krebserkrankungen sowie
gungsapparates dominiert. Herzinsuffizienz, aus dem Spektrum der psychischen Störungen
Angina pectoris und Hirninfarkt waren im Demenzen und Depressionen. Neben der Darstel­
Jahr 2006 die häufigsten Diagnosen bei lung der Prävalenzen (Häufigkeit) wird auch auf
Krankenhausaufenthalten von Menschen ab Präventionspotenziale eingegangen.
65 Jahren. Ein Schwerpunkt liegt auf speziellen Ge­
3. Von allen neu diagnostizierten Krebserkran­ sundheitsproblemen, wie zum Beispiel Stürze
kungen entfallen knapp zwei Drittel auf und sturzbedingte Verletzungen (siehe Abschnitt
die 65-Jährigen und Älteren (Schätzung für »Muskuloskelettale Erkrankungen und Stürze«),
2004). Tumoren des Darmes und der Lunge dem Tabuthema Harninkontinenz und der Mund­
sind in dieser Altersgruppe von besonderer gesundheit älterer Menschen.
Bedeutung. An die Darstellung der einzelnen relevanten
4. Schätzungsweise ein Viertel der 65-Jährigen Krankheitsbilder schließt sich ein Abschnitt zur
und Älteren leidet unter einer psychischen Multimorbidität an, denn im Alter stellt oftmals
Störung irgendeiner Art, der Anteil entspricht insbesondere das gleichzeitige Auftreten verschie­
in etwa der Prävalenz im mittleren Lebensal­ dener chronischer Erkrankungen eine Heraus­
ter. Von besonderer Bedeutung sind demen­ forderung für eine verlässliche Diagnostik und
zielle Erkrankungen und Depressionen. erfolgreiche therapeutische Interventionen dar.
5. Der beobachtete Anstieg von Erkrankungen Aufgrund der Vielfalt der im Folgenden betrachte­
mit dem Alter ist nicht umkehrbar, allerdings ten Aspekte somatischer und psychischer Gesund­
sind ältere Menschen in hohem Maße zu An­ heit im Alter werden zahlreiche Datenquellen ein­
passungsleistungen in der Lage und verfügen bezogen. Dies führt dazu, dass nicht immer auf
über Bewältigungsressourcen für den Um­ einheitliche Alterklassifikationen zurückgegriffen
gang mit schwierigen Lebenssituationen. werden kann.
Ein großer Teil der bei älteren Menschen
dominierenden Gesundheitsprobleme kann
durch primär-, sekundär- oder tertiärpräven­
tive Maßnahmen günstig beeinflusst werden.
32 Gesundheit und Krankheit im Alter

2.1.1 Einführung: Gesundheit und Erkrankten/Verletzten ist allerdings gering (siehe


Krankheit im Alter Abbildung 2.1.1.1). Da im Mikrozensus lediglich
Personen in Privathaushalten befragt werden,
Während die ersten Jahre nach dem Eintritt in dürfte die tatsächliche Zahl der Erkrankten in die­
den Ruhestand überwiegend in recht guter Ge­ ser Altergruppe noch höher liegen, beispielsweise
sundheit verbracht werden (»junges« Alter), steigt unter den Bewohnerinnen und Bewohnern von
die Prävalenz von Krankheiten und funktionellen Pflegeheimen [6].
Einschränkungen im höheren und höchsten Al­ Neben der größeren Häufigkeit von Krank­
ter deutlich an [1]. Die altersabhängige Zunahme heiten sind die veränderte, oft unspezifische Sym­
führt auch zu einem Anstieg des Anteils älterer ptomatik, der längere Krankheitsverlauf und die
Menschen, die an mehreren Krankheiten gleich­ verzögerte Genesung wichtige Merkmale von Er­
zeitig leiden [2, 3, 4]. Die im Alter vorliegenden krankungen im Alter [2, 3]. Auch eine veränderte
Erkrankungen sind häufig chronisch und irrever­ Reaktion auf Medikamente wird beobachtet.
sibel [5]. Bei älteren und insbesondere bei hochaltrigen
Der altersabhängige Anstieg der Krankheits­ Menschen bestehen oftmals komplexe Krankheits­
prävalenz lässt sich anhand der Daten des Mi­ probleme [1], die selten auf körperliche Beschwer­
krozensus nachzeichnen. Insgesamt 13 % aller den beschränkt sind, sondern beispielsweise auch
Befragten (alle Altersgruppen) gaben im Mikro­ funktionelle und soziale Auswirkungen haben.
zensus 2005 an, zum Erhebungszeitpunkt bzw. Neben den funktionellen Einbußen, die als Fol­
in den letzten 4 Wochen davor krank oder unfall­ ge bestimmter Erkrankungen auftreten, sind hier
verletzt gewesen zu sein (alle Erkrankungen und auch Funktionseinbußen einzelner Organe zu
Verletzungen). In der Altersgruppe 65 bis 69 Jahre nennen, die per se noch keine Krankheit darstel­
betraf dies 17 %, bei den 70- bis 74-Jährigen mehr len (z. B. Nachlassen der Sehkraft bei fortschrei­
als ein Fünftel (22 %) und unter den 75-Jährigen tender Linsentrübung). Aus der Komplexität der
und Älteren jede(n) Vierte(n) (28 %). In den meis­ gesundheitlichen Beeinträchtigungen resultiert
ten Altersgruppen sind Frauen etwas häufiger als die Gefahr psychosozialer Symptome sowie des
Männer betroffen, der Unterschied im Anteil der Mobilitätsverlusts und in der Folge ein erhöhtes

Abbildung 2.1.1.1
Erkrankte/Unfallverletzte in den letzten 4 Wochen nach Alter und Geschlecht 2005
Quelle: Mikrozensus 2005 [6]

Prozent
30

25

20

15
Frauen

10 Männer

40−44 45−49 50−54 55−59 60−64 65−69 70−74 75+


Altersgruppe
Gesundheit und Krankheit im Alter 33

Risiko für die Aufrechterhaltung der selbststän­ übereinstimmend, dass das somatische Krank­
digen Lebensführung [5]. heitsspektrum im Alter insbesondere von Herz­
Als Ursachen für die genannten Spezifika Kreislauf-Erkrankungen und Krankheiten des Be­
von Gesundheit und Krankheit im Alter sind zu­ wegungsapparates dominiert wird. Einbezogen
nächst altersphysiologische Veränderungen von wurden hier sowohl Selbstangaben der älteren
Organen und Organsystemen zu nennen, die sich Menschen (z. B. Alterssurvey 2002) als auch Stu­
unter anderem in einer verminderten Belastbar­ dien, die ärztliche Untersuchungen beinhalten
keit und Anpassungsfähigkeit äußern [1]. Die ab­ (z. B. Berliner Altersstudie), Abrechnungsdaten
nehmende Immunresponsivität des Organismus (z. B. Abrechnungsdatenträger-Panel (ADT-Panel)
– die Fähigkeit, auf Krankheitserreger zu reagie­ für die ambulanten Versorgung) und die amtliche
ren – spielt ebenfalls eine Rolle. Zum typischen Statistik (z. B. Krankenhausdiagnosenstatistik).
Krankheitsspektrum im Alter trägt auch die lange Im Detail zeigen sich jedoch in den verwendeten
Latenzzeit (symptomlose Zeit) mancher Krank­ Datenquellen Unterschiede hinsichtlich der Rang­
heiten bei, zum Beispiel bei Krebserkrankungen. folge einzelner Diagnosen. Dies ist unter anderem
Andere Gesundheitsprobleme altern lediglich auf Spezifika der Datenerhebung zurückzuführen
»mit«, sie bestanden bereits im jüngeren Alter. (Art der Erhebung, Kontext) sowie auf die jeweils
Dies trifft häufig auf Arthrosen (Gelenkverschleiß) ausgewählten Altergruppen. Auf spezielle Ergeb­
zu. Im Alterssurvey zeigte sich, dass bereits ein nisse soll deshalb kurz eingegangen werden.
nennenswerter Anteil der 40- bis 54-Jährigen von Im Alterssurvey 2002 gaben die Befragten in
Erkrankungen betroffen ist: Etwa die Hälfte der allen Altersgruppen am häufigsten Erkrankungen
Befragten in dieser Altersgruppe berichtete über des Bewegungsapparates an (Gelenk-, Bandschei­
eine Knochen- oder Gelenkerkrankung [7]. Mital­ ben-, Knochen und Rückenleiden) [8, 9]. Herz­
ternde Krankheiten können durch die lange Dauer Kreislauf-Erkrankungen folgten an zweiter Stelle,
ihres Bestehens zu Folgekrankheiten führen [8]. wobei mit steigendem Alter eine deutliche Zu­
Eine weitere Ursache für die erhöhte Prävalenz nahme zu verzeichnen war [9]. Durchblutungs­
bestimmter Erkrankungen im Alter ist in der jah­ störungen wurden allerdings bei Datenanalyse
re- oder jahrzehntelangen schädigenden Wirkung nicht unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen gefasst.
von Risikofaktoren zu sehen. Hier sind sowohl In allen anderen Datenquellen, die für die vorlie­
Umfeldfaktoren (z. B. Lärm, Gifte) als auch das gende Zusammenstellung ausgewertet wurden,
Gesundheitsverhalten (z. B. körperliche Aktivität, nahmen die Herz-Kreislauf-Erkrankungen den
Rauchen) zu nennen. ersten Platz ein, unter anderem auch in der Ber­
Der Prozess des Alterns vollzieht sich bei je­ liner Altersstudie. Die meisten der dort erfassten
dem Einzelnen in individueller Weise und auch Krankheiten mit besonders hohen Prävalenzen
im Auftreten von Krankheiten und funktionellen (45 % bis 76 %) waren den Herz-Kreislauf-Erkran­
Einschränkungen bestehen große Differenzen. kungen zuzuordnen, beispielsweise Hyperlipidä­
Es wurden eine Reihe von Faktoren identifiziert, mie (Fettstoffwechselstörung), Varikosis (Krampf­
die Einfluss auf die gesundheitliche Lage im Alter adern), Zerebralarteriosklerose (Verkalkung der
haben, unter anderem das Geschlecht, die sozio­ Gefäße im Gehirn), Herzinsuffizienz (Herzschwä­
ökonomische Lage und das Gesundheitsverhal­ che) und arterielle Hypertonie (Bluthochdruck).
ten. Im Abschnitt 1.1.3 wird ausführlich auf die Lediglich zwei Diagnosen aus dem Bereich der
Determinanten für Gesundheit und Krankheit im Muskel- und Skeletterkrankungen waren ähnlich
Alter eingegangen. Vertiefende Informationen zu weit verbreitet: Arthrose (Gelenkverschleiß) und
den Spezifika von Krankheit im Alter und deren Dorsopathie (Rückenbeschwerden). Weitere Diag­
Ursachen sind ebenfalls im Kapitel 1 nachzulesen. nosen, die von den Teilnehmerinnen und Teil­
nehmern ab 70 Jahren häufig angegeben wurden,
waren arterielle Verschlusskrankheit (36 %) und
2.1.2 Überblick: Erkrankungsspektrum im Alter koronare Herzkrankheit (23 %) sowie obstruktive
Lungenerkrankung (25 %) und Diabetes mellitus
Die Auswertung zahlreicher Datenquellen zur Typ 2 (Zuckerkrankheit; 19 %). Auch gemäß dem
Krankheitslast älterer Frauen und Männer ergab ADT-Panel sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen am
34 Gesundheit und Krankheit im Alter

weitesten verbreitet. An zweiter Stelle folgen wie­ sich hier um Diagnosen handelt, die im Rahmen
derum Erkrankungen des Bewegungsapparates. von Abrechnungsprozessen gestellt wurden. Bei
Die häufigsten Einzeldiagnosen in der ambu­ einem älteren Patienten mit chronischer Bronchi­
lanten Versorgung (Praxen von Allgemeinmedizi­ tis steht unter Umständen die Grunderkrankung
nerinnen und -medizinern sowie von praktischen im Vordergrund und wird als Abrechnungsdiag­
Ärztinnen und Ärzten) waren im Jahr 2007 die nose erfasst, selbst wenn beim aktuellen Praxis­
(primäre) Hypertonie (31 % aller Behandlungs­ besuch zusätzlich ein akuter Infekt vorlag.
fälle), Fettstoffwechselstörungen (23 %), Rücken­ Fokussiert man die Analysen zum Krank­
schmerzen (14 %) [10]. Diese Diagnosen waren heitsspektrum älterer und alter Menschen auf die
auch bei den älteren Patientinnen und Patienten Erkrankungsfälle, die eine Krankenhauseinwei­
(ab 60 Jahren) am häufigsten, wie sich in einer sung nach sich ziehen, stehen wiederum die Herz­
nach Altersgruppen aufgeschlüsselten Auswer­ Kreislauf-Erkrankungen im Vordergrund. Im
tung des ADT-Panels vom 1. Quartal 2005 zeigte Jahr 2006 waren Herzinsuffizienz, Angina pec­
[9, 11]. Bei Patientinnen und Patienten ab 80 toris und Hirninfarkt die häufigsten Diagnosen
Jahren nahm die Bedeutung der chronisch ischä­ bei Krankenhausaufenthalten älterer Menschen.
mischen Herzerkrankung, Herzinsuffizienz, Gon­ Aufgegliedert nach Geschlecht sind die Diagno­
arthrose (Gelenkverschleiß am Knie), Osteoporose sen Herzinsuffizienz, Angina pectoris und chro­
(Knochenschwund) und Demenz (krankhafte Ab­ nisch ischämische Herzkrankheit die häufigsten
nahme der geistigen Leistung) deutlich zu. Dass Behandlungsanlässe für die 3,1 Millionen männ­
im Alter chronische Erkrankungen dominieren lichen Patienten im Alter von 65 Jahren und älter
und die Bedeutung akuter Erkrankungen relativ gewesen (siehe Abbildung 2.1.2.1). Bei den 3,9 Mil­
zurückgeht, lässt sich ebenfalls mit den Daten des lionen weiblichen Patienten dieser Altersgruppe
Panels belegen: Akute Infekte (Erkältungskrank­ waren demgegenüber die Diagnosen Herzinsuf­
heiten, Magen-Darm-Entzündungen u. a.) wur­ fizienz, Fraktur des Femurs (Oberschenkelkno­
den bei 86 % aller Patientinnen und Patienten chenbruch) und Hirninfarkt die häufigsten Grün­
zwischen 20 und 29 Jahren diagnostiziert, aber de für eine stationäre Krankenhausbehandlung.
nur bei 13 % der 80-Jährigen und Älteren [9]. Da­ Die Bedeutung der Herz-Kreislauf-Diagnosen
bei muss allerdings berücksichtigt werden, dass es für das Krankheitsgeschehen im Alter wird auch

Abbildung 2.1.2.1
Häufigste Diagnosen der aus dem Krankenhaus entlassenen vollstationären Patienten im Alter von 65 Jahren und älter
(einschl. Sterbe- und Stundenfälle) in 1.000 nach Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Krankenhausdiagnosen 2006 [13]

weibliche Patienten
Herzinsuffizienz (I50)
Fraktur des Femurs (S72)
Hirninfarkt (I63)
Gonarthrose [Arthrose des Kniegelenkes] (M17)
Angina pectoris (I20)

männliche Patienten
Herzinsuffizienz (I50)
Angina pectoris (I20)
chronische ischämische Herzkrankheit (I25)
bösartige Neubildung der Bronchien und der Lunge (C34)
akuter Myokardinfarkt (I21)
0 20 40 60 80 100 120 140 160 180
Fälle in 1.000
Gesundheit und Krankheit im Alter 35

dadurch unterstrichen, dass laut Todesursachen­ sich die Bedeutung der Geschlechtsspezifik für
statistik im Jahr 2006 fast jeder fünfte Sterbefall die Lebenssituation mit steigendem Alter wesent­
bei Personen ab 65 Jahren auf ischämische Herz­ lich verändert [15].
krankheiten (19 %), darunter Herzinfarkt (8 % Im folgenden Abschnitt 2.1.3 wird auf aus­
aller Todesfälle) zurückgeführt werden kann [12]. gewählte somatische Erkrankungen im Alter
Im Kapitel 2.4 folgen detaillierte Ausführungen zu vertiefend eingegangen, wobei auch geschlechts­
den wichtigen Todesursachen. spezifische Aspekte der Prävalenz, Inzidenz,
Nicht nur die Statistik der Krankenhausdiag­ Diagnostik und Therapie dargestellt werden. Im
nosen, sondern auch alle anderen einbezogenen Abschnitt 2.1.4 folgen detaillierte Ausführungen
Datenquellen belegen Unterschiede zwischen zu den beiden psychischen Erkrankungen, die
Frauen und Männern im Krankheitsspektrum bei älteren Männern und Frauen im Vordergrund
und bei den Prävalenzen einzelner Erkrankungen. stehen: Demenzen und Depressionen [16]. Psy­
Nach Angaben der Berliner Altersstudie werden chische Störungen bei 65-Jährigen und Älteren
für Frauen insgesamt mehr medizinische Diag­ weisen – insgesamt betrachtet – allerdings zu­
nosen als für Männer gestellt. Fünf und mehr nächst die gleiche Vielfalt, dieselben Ursachen
Diagnosen stellten die Projektärzte bei 27 % der und Erscheinungsbilder wie bei Erwachsenen im
Frauen und 19 % der Männer von 70 bis 84 Jah­ mittleren Lebensalter auf [17]. Sie gehen allerdings
ren (85-Jährige und Ältere: 54 % vs. 41 %). Auch häufiger mit körperlichen Erkrankungen einher
das Diagnosenspektrum zeigt geschlechtsspezi­ und verlaufen öfter chronisch. Der Anteil psy­
fische Differenzen [3]. Allerdings ist die lange Zeit chisch Kranker insgesamt scheint aber durchaus
verbreitete Ansicht, dass der Herzinfarkt eine ty­ vergleichbar mit dem mittleren Lebensalter zu
pische Männerkrankheit ist, inzwischen widerlegt sein [17]. Verschiedene Studien ergaben überein­
[14]. Herzinfarkte bei Frauen äußern sich oftmals stimmend, dass etwa ein Viertel der 65-jährigen
durch andere Symptome als bei Männern, was und älteren Bevölkerung unter einer psychischen
dazu führen kann, dass notfallmedizinische Hilfe Störung irgendeiner Art leidet [17]. Es gibt jedoch
zu spät gerufen wird [14]. auch Hinweise darauf, dass im sehr hohen Le­
Hinweise auf ein spezifisches Diagnosespek­ bensalter ein Anstieg psychischer Erkrankungen
trum bei Frauen und Männern ergeben sich auch zu beobachten ist. Dieser Anstieg ist hauptsäch­
aus dem Alterssurvey. Hier waren insbesondere lich bedingt durch die Zunahme der Demenzen
Frauen von Einschränkungen des Bewegungsap­ [17]. Kruse und Schmitt [15] vermuten, dass trotz
parates betroffen [8] und mussten in größerem des häufigeren Auftretens psychischer Symptome
Umfang Mobilitätsverluste hinnehmen [5]. Daten bei Älteren seltener eine eindeutige Diagnose ge­
aus den Vereinigten Staaten belegen ebenfalls, stellt wird.
dass Frauen von fast allen chronischen Beein­ In der Berliner Altersstudie zeigte fast die
trächtigungen häufiger betroffen sind als Männer Hälfte der 70-Jährigen und Älteren keinerlei
[3]. Zum einen ist dies auf die höhere Lebens­ psychische Symptome, knapp ein Viertel war
erwartung von Frauen zurückzuführen. Zum eindeutig psychisch krank [15]. Frauen klagten
anderen bestehen unterschiedliche Rahmenbe­ häufiger über psychische Störungen, wobei der
dingungen des Alterns bei Frauen und Männern, Geschlechtsunterschied auf depressive Erkran­
aus denen sich unterschiedliche Möglichkeiten kungen zurückzuführen ist, die auch in anderen
ergeben, den eigenen Alternsprozess zu gestalten Altersgruppen bei Frauen häufiger auftreten [18,
[15]. Als sozialstrukturelle Ungleichheiten sind 19]. In der Berliner Altersstudie wurden bezüg­
zu nennen: Ältere Frauen sind häufiger verwit­ lich einzelner psychischer Erkrankungen folgende
wet, sie hatten deutlich schlechtere Chancen auf Häufigkeiten ermittelt: 14 % der Untersuchten lit­
einen höheren Bildungsabschluss, ihre Einkom­ ten an einer Demenz, 9 % an einer depressiven
mens- und Wohnsituation ist meist ungünstiger. Störung und knapp 2 % an einer Angststörung
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der ge­ [20]. Ebenfalls knapp 2 % waren von anderen Stö­
sundheitsbezogenen und allgemeinen Lebens­ rungen, z. B. wahnhafte Störungen oder Persön­
situation werden über die gesamte Lebensspanne lichkeitsstörungen, betroffen. Speziell bezüglich
beobachtet. Es ist Gegenstand der Diskussion, ob der depressiven Störungen aber auch im Hinblick
36 Gesundheit und Krankheit im Alter

auf andere Formen psychischer Erkrankungen Krankheitslast und Sterblichkeit durch


wird diskutiert, wie hoch der Anteil älterer Men­ Herz-Kreislauf-Erkrankungen
schen ist, bei denen psychische Beeinträchti­ Aktuell dominieren Krankheiten des Kreislauf­
gungen mit subdiagnostischer Symptomatik vor­ systems mit 44 % aller Sterbefälle das Todesur­
liegen, d. h. Einschränkungen der Lebensqualität, sachenspektrum in Deutschland (Jahr 2006). Ab
die auch zu einer erhöhten Inanspruchnahme dem 80. Lebensjahr ist mindestens die Hälfte aller
führen, allerdings nicht die Diagnosekriterien der Sterbefälle auf Krankheiten des Kreislaufsystems
derzeit verwendeten Klassifikationssysteme erfül­ zurückzuführen [12]. Die Rangfolge der Todesur­
len [20]. sachen wird angeführt von der chronisch ischä­
mischen Herzkrankheit (ICD-10: I25), die für fast
jeden zehnten Sterbefall verantwortlich war. An
2.1.3 Somatische Erkrankungen zweiter Stelle steht der akute Myokardinfarkt (ICD­
10: I21). Die Sterblichkeit an ischämischen Herz­
Herz-Kreislauf-Erkrankungen krankheiten insgesamt steigt mit zunehmendem
Alter exponentiell an, bei Frauen etwas später als
Als Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird eine große bei Männern (siehe Abbildung 2.1.3.1). Aus der
Gruppe unterschiedlicher Krankheiten zusam­ Abbildung wird auch deutlich, dass sich die Sterb­
mengefasst, unter anderem die ischämischen lichkeit bei Frauen und Männern im Zeitraum von
Herzkrankheiten (ICD-10: I20 – 25), die die größ­ 1990 bis 2006 zum Teil deutlich verringerte. In
te Bedeutung haben, sowie Schlaganfälle. Zu den den höheren Altersgruppen ist die Zahl der Ster­
ischämischen Herzkrankheiten zählen Angina befälle je 100.000 allerdings nicht in diesem Maße
pectoris (Brustenge, Schmerzen), Herzinsuffi­ zurückgegangen. Dies ist zu erwarten, denn am
zienz (Herzmuskelschwäche) und akuter Herz­ Ende des Lebens steht immer eine Todesursache.
infarkt (Verschluss einer Herzkranzarterie) [14]. Auf einen akuten Herzinfarkt waren im Jahr
Herz-Kreislauf-Erkrankungen entstehen durch 2006 etwa 6 % der Todesfälle bei Frauen und gut
Einschränkungen bei der Durchblutung des Her­ 8 % der Fälle bei Männern zurückzuführen [12].
zens, des Gehirns und/oder der Gliedmaßen. Das durchschnittliche Sterbealter bei Herzinfarkt
Durch Kalkablagerungen wird der Blutfluss in betrug bei den Frauen 81 Jahre und bei den Män­
den Gefäßen behindert. Die Erkrankung wird als nern 72 Jahre.
Arteriosklerose bezeichnet und stellt neben Oste­ Die Häufigkeit von Herzinfarkten in der
oporose (Knochenschwund) und Arthrose eine der älteren Bevölkerung kann auf der Basis eines
drei bedeutendsten Erkrankungen im Alter dar Herzinfarktregisters in der Region Augsburg
[3, 21]. Die dadurch entstehende Mangeldurchblu­ geschätzt werden. Aus Tabelle 2.1.3.1 ist erkenn­
tung kann gravierende Folgeschäden hervorrufen, bar, dass die Erkrankungswahrscheinlichkeit an
beispielsweise einen Herzinfarkt. Herzinfarkt bei Männern deutlich höher ist als
Als Risikofaktoren für Arteriosklerose und bei Frauen [14]. Allerdings reduziert sich dieser
die in der Folge auftretenden Erkrankungen gel­ Geschlechtsunterschied von etwa Faktor 5 im jün­
ten Zigarettenkonsum, Übergewicht und Bewe­ geren Lebensalter auf das 2,4-fache bei den 70- bis
gungsmangel sowie Bluthochdruck, Störungen 74-Jährigen. Auch der Prozentanteil tödlich ver­
des Fettstoffwechsels und Diabetes mellitus [22]. laufender Herzinfarkte (Letalität) ist bei Männern
Viele dieser Risikofaktoren lassen sich auf die per­ höher als bei Frauen, im jüngeren Alter (< 40
sönliche Lebensweise zurückführen und besitzen Jahre) und ab dem 65. Lebensjahr ist er bei den
ein hohes Präventionspotenzial (siehe Abschnitt untersuchten Männern besonders hoch. Ab dem
»Ansätze für die Prävention«). Arteriosklerotische 70. Lebensjahr verlaufen bei beiden Geschlech­
Gefäßveränderungen entstehen, begünstigt durch tern über die Hälfte der Herzinfarktereignisse
die genannten Risikofaktoren, meist über viele tödlich. Die ersten Minuten und Stunden nach
Jahre und nur von wenigen Symptomen begleitet dem Gefäßverschluss sind mit dem höchsten Ster­
[2]. Die langfristigen Wirkungen dieser Verände­ berisiko verbunden; etwa 25 % aller Betroffenen
rungen zeigen sich dann oftmals erst beim älteren (alle Altersgruppen) überleben die erste Stunde
Menschen. nicht [14]. In den frühen Vormittagsstunden er­
Gesundheit und Krankheit im Alter 37

Abbildung 2.1.3.1
Sterblichkeit an ischämischen Herzkrankheiten (ICD-10: I20 – 25) je 100.000 Einwohner
nach Alter und Geschlecht 1990 und 2006
Quelle: Todesursachenstatistik 1990, 2006 [12, 14]

Sterbefälle je 100.000 Einwohner


6.000
Frauen Männer
5.000

4.000

3.000
1990

2.000 2006

1.000

65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+ 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+
Altersgruppe

eignen sich anteilig mehr Herzinfarkte als zu den als auch für Männer seit Mitte der 1980er-Jahre
anderen Stunden des Tages. Ältere Menschen, [14]. Dies entspricht dem Ergebnis einer Analyse
die den Infarkt nicht überleben, sind zumeist zu der Todesursachenstatistik von 1990 und 2006.
Hause und häufig allein [14]. Die Augsburger Re- Dabei wurde, bezogen auf alle Formen der ischä­
gisterdaten belegen positive Veränderungen der mischen Herzkrankheit insgesamt, ebenfalls ein
Sterblichkeit bei Herzinfarkt, sowohl für Frauen positiver Trend deutlich (siehe Abbildung 2.1.3.1).

Tabelle 2.1.3.1
Herzinfarktraten je 100.000 Einwohner und Letalität (in Prozent) nach Alter und Geschlecht in der Region Augsburg und
altersstandardisierte Raten (Standard: Alte Europabevölkerung)
Quelle: Tabelle entnommen aus [14], MONICA/KORA-Herzinfarktregister Augsburg 2001–2003

Altersgruppe Frauen Männer


Morbidität* Mortalität** Letalität*** Morbidität* Mortalität** Letalität***
40 – 44 Jahre 22,8 6,7 29,4 % 120,7 26,7 22,1 %
45 – 49 Jahre 39,5 7,9 20,0 % 202,2 51,3 25,4 %
50 – 54 Jahre 95,1 25,5 26,8 % 392,0 102,8 26,2 %
55 – 59 Jahre 143,2 54,2 37,8 % 527,9 149,7 28,4 %
60 – 64 Jahre 201,3 59,1 29,4 % 741,0 312,7 42,2 %
65 – 69 Jahre 349,8 135,6 38,8 % 987,9 444,4 45,0 %
70 – 74 Jahre 669,6 363,8 54,3 % 1.637,8 889,3 54,3 %
altersst. Rate 109 43 39,4 % 356 141 39,6 %
* alle Herzinfarktereignisse
** tödlich verlaufene Herzinfarktereignisse
*** Verhältnis der Rate der tödlich verlaufenen Herzinfarktereignisse (Mortalität) durch die Rate aller Herzinfarktereignisse (Morbidität) x 100
38 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.1.3.2
Sterblichkeit an zerebrovaskulären Krankheiten nach Alter und Geschlecht 1990 und 2006
Quelle: Todesursachenstatistik 1990 ICD-9: 430 – 438, 2006 ICD-10: I60 – 69 [12, 22]

Sterbefälle je 100.000 Einwohner


4.500
Frauen Männer
4.000

3.500

3.000

2.500

2.000 1990

1.500 2006

1.000

500

65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+ 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+
Altersgruppe

Wenn arteriosklerotische Gefäßverände­ 1984, 1988 und 1998 zeigte beispielsweise für
rungen nicht im Bereich des Herzens sondern im Westdeutschland einen Anstieg des Anteils von
Gehirn auftreten, können sie einen Schlaganfall Personen mit Bluthochdruck [24]. Auch im in­
zur Folge haben. Unter dem Begriff Schlaganfall ternationalen Vergleich werden für Deutschland
werden verschiedene Krankheitsbilder zusam­ und weitere europäischen Staaten hohe Hyper­
mengefasst, die man auch als zerebrovaskuläre tonieprävalenzen ermittelt (unbehandelte und
(die Blutgefäße im Gehirn betreffende) Erkran­ unzureichend behandelte Hypertonie). Deutlich
kungen bezeichnet [22]. Durch die plötzlich auf­ günstiger sieht es in den USA aus [25, 26].
tretende Durchblutungsstörung kommt es zu Zerebrovaskuläre Erkrankungen haben je­
schlagartigen Lähmungen sowie Störungen der doch nicht nur hinsichtlich ihrer Mortalität große
Sinne, der Sprache und des Bewusstseins [22]. Der Bedeutung sondern auch bezüglich der Morbidi­
Schlaganfall war im Jahr 2006 bei Frauen die viert­ tät (Krankheitslast). Innerhalb der Herz-Kreislauf-
häufigste Todesursache, bei den Männern stand Leiden stehen sie an dritter Stelle der häufigsten
der Schlaganfall an siebenter Stelle [12]. Auch Gründe für einen Krankenhausaufenthalt [26].
hier ist die Sterblichkeit seit Anfang der 1990er­ Der Hirninfarkt (ICD-10: I63) rangierte im Jahr
Jahre deutlich zurückgegangen (siehe Abbildung 2006 in der Rangfolge der häufigsten Gründe für
2.1.3.2). Dies wird unter anderem auf bessere Un­ einen Krankenhausaufenthalt auf dem 10. Platz
tersuchungs- und Behandlungsmethoden [22] und [13]. Die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls
auf eine verbesserte Kontrolle der Risikofaktoren nimmt mit steigendem Alter deutlich zu. Dies
[23], insbesondere des Bluthochdrucks, zurückge­ spiegelt sich in der Zahl der Krankenhausauf­
führt. Es liegen allerdings auch Analyseergebnisse enthalte wegen zerebrovaskulärer Erkrankungen
vor, die darauf hindeuten, dass die Bemühungen wider (siehe Abbildung 2.1.3.3). Fast 85 % aller
um die Beeinflussung kardiovaskulärer Risikofak­ Schlaganfälle treten jenseits des 60. Lebensjahres
toren in der deutschen Allgemeinbevölkerung in auf. In verschiedenen europäischen Studien
den 1980er- und 1990er-Jahren wenig erfolgreich wurde ein Anstieg der Lebenszeitprävalenz von
waren. Der Vergleich repräsentativer Surveys von Schlaganfall (mindestens einmal im bisherigen
Gesundheit und Krankheit im Alter 39

Abbildung 2.1.3.3
Anzahl der aus dem Krankenhaus entlassenen vollstationären Patienten mit zerebrovaskulären Krankheiten
(ICD-10: I60 – 69) nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Krankenhausdiagnosen 2006 [13]

Anzahl
40.000

35.000

30.000

25.000

20.000
Frauen
15.000
Männer
10.000

5.000

40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+
Altersgruppe

Leben einen Schlaganfall erlitten) mit dem Alter Patientinnen und Patienten, die einen Schlag­
gefunden, von unter 1 % bei den unter 60-Jährigen anfall überleben, haben in der Zeit direkt danach
bis knapp 10 % bei den über 85-Jährigen [23, 27]. größtenteils Schwierigkeiten bei den Aktivitäten
Direkte Schätzungen zur Inzidenz (Zahl der des täglichen Lebens. Bleibende neurologische
neu auftretenden Erkrankungen) sind anhand Schäden finden sich bei rund 60 % der Betrof­
des Erlanger Schlaganfallregisters möglich. Da­ fenen [22]. Etwa 25 % der Schlaganfallpatien­
nach fand sich im Zeitraum von 1994 bis 1996 tinnen und -patienten bleiben voll pflegebedürftig
eine jährliche altersstandardisierte Schlaganfall- [2]. Schlaganfall ist einer der Hauptgründe für
Inzidenz von 182 Erkrankungsfällen pro 100.000 Pflegebedürftigkeit im Erwachsenenalter [22].
Einwohner [28]. Männer sind häufiger betroffen Die meisten Schlaganfallpatientinnen und -pa­
als Frauen. Die Inzidenz steigt dabei deutlich von tienten sind ältere und alte Menschen. Durch die
4 pro 100.000 in der Altersgruppe der 25- bis im Alter verminderte Anpassungsfähigkeit des
34-Jährigen auf 2.117 pro 100.000 bei den 85-Jäh­ Organismus und die verlängerte Rekonvaleszenz­
rigen und Älteren. Ein besonders steiler Anstieg zeit (Genesungszeit), durch das Vorliegen weiterer
der Inzidenz ist für die Altersgruppe 75 bis 84 chronischer Erkrankungen und Funktionsein­
Jahre zu beobachten. Hier wurden deutlich über schränkungen treffen die Folgen eines Schlagan­
1.000 Betroffene pro 100.000 Einwohner regis­ falls ältere Menschen häufig besonders hart.
triert. In der Gruppe der 75-Jährigen und Älteren
traten insgesamt mehr als 50 % aller im Erlan­ Ansätze für die Prävention
ger Register zwischen 1994 und 1996 erfassten Die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Schlaganfälle auf [28]. zielt insbesondere auf die Modifikation lebensstil­
Nach Daten des Erlanger Registers waren bedingter Gesundheitsrisiken. Nicht allein das
19 % aller Patientinnen und Patienten mit Schlag­ kalendarische Alter bestimmt die kardiovasku­
anfall innerhalb eines Monats verstorben, knapp läre Leistungsfähigkeit, sondern insbesondere
29 % innerhalb von drei Monaten und 37 % nach die Lebensweise, die körperliche Fitness sowie
12 Monaten (Zeitraum 1994 bis 1996) [28]. eine eventuelle Multimorbidität [9]. Präventions­
40 Gesundheit und Krankheit im Alter

potenziale werden vor allem in einer Steigerung Ein körperlich aktiver Lebensstil und eine
der körperlichen Aktivität, der Regulierung des ausgewogene Ernährung können zur Regulie­
Körpergewichts und dem Nichtrauchen gesehen. rung des Blutdrucks beitragen, denn Bluthoch­
Nach Daten des Telefonischen Gesundheitssur­ druck ist einer der wichtigsten Risikofaktoren
vey 2003 raucht etwa jeder zehnte Mann ab 65 für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Risiko
Jahren täglich (12 %), bei den Frauen trifft dies steigt mit zunehmenden Blutdruckwerten linear
nur auf 5 % zu [22]. Die Raucherquote nimmt mit an [22]. In der Berliner Altersstudie wurde der
zunehmendem Alter deutlich ab. Dies erklärt sich Blutdruck bei einer ärztlichen Untersuchung ge­
auch durch die erhöhten Erkrankungsraten bei messen. Davon ausgehend wurde geschätzt, dass
ausgeprägtem Tabakkonsum, die im Alter zum deutschlandweit insgesamt 46 % der 70-Jährigen
Rauchverzicht führen können, sowie durch eine und Älteren unter Bluthochdruck leiden [21]. Der
erhöhte Sterblichkeit von Raucherinnen und Rau­ Anteil liegt bei den Frauen durchgängig höher
chern [22, 23]. als bei den Männern. Im Alter ab 85 Jahren sind
Neben dem Rauchverzicht würde ein Großteil vermutlich sogar 57 % der Frauen von Bluthoch­
der älteren Menschen von einer Umstellung des druck betroffen. Die Prävalenz der Hypertonie in
Ernährungsverhaltens profitieren, denn Überge­ einer Bevölkerungsgruppe hängt immer auch von
wicht ist unter Älteren, speziell unter den »jun­ den gewählten Grenzwerten ab. Während man
gen« Alten weit verbreitet. Laut Telefonischem vor einigen Jahren noch von einem Erfordernis­
Gesundheitssurvey 2003 waren 85 % der Männer hochdruck sprach und der Hypertoniegrenzwert
und 79 % der Frauen im Alter von 60 bis 69 Jah­ mit 100 mm Hg plus Lebensalter definiert wur­
ren übergewichtig oder sogar adipös mit einem de, gelten heute für Erwachsene jeden Alters die
Body-Mass-Index (BMI) von 25 und mehr (Quo­ Grenzwerte von 140/90 mm Hg [29, 30]. Auch für
tient aus Körpergroße in m und dem Gewicht die über 60-Jährigen wurden die Hypertonie als
(quadriert) in kg). Bei den 70-Jährigen und Älteren Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen
betraf dies immerhin noch 81 % der Männer und und der Nutzen einer antihypertensiven Therapie
78 % der Frauen [22]. Obwohl der BMI im 8. und inzwischen eindeutig nachgewiesen [29, 31, 32].
9. Lebensjahrzehnt deutlich abnimmt, bleibt die­ Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 wurde der
ser Risikofaktor, insbesondere bei Frauen, selbst Blutdruck (wie in der Berliner Altersstudie) im
im 9. Lebensjahrzehnt noch bedeutsam [23]. Rahmen einer ärztlichen Untersuchung gemes­
Auch durch eine Steigerung der körperlich­ sen. Die Hypertoniegrenzwerte von 140/90 mm
sportlichen Aktivität könnten viele ältere Men­ Hg werden in dieser Studie von über 80 % der
schen ihr Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen über 65-jährigen Männer und Frauen überschrit­
reduzieren. In der Berliner Altersstudie wurde er­ ten (60- bis 69-Jährige: 79 % der Männer, 81 % der
mittelt, dass insgesamt 55 % der Teilnehmerinnen Frauen; 70- bis 79-Jährige: 88 % der Männer, 86 %
und Teilnehmer ab 70 Jahren unter Bewegungs­ der Frauen) [29]. Dabei wurden auch die Personen
mangel leiden [21]. Geht man von den aktuellen als hyperton eingestuft, die einen Blutdruckmess­
Empfehlungen zur körperlichen Aktivität aus – wert im Normbereich aufwiesen, dies aber nur
mindestens an drei, besser jedoch an allen Tagen durch Medikamenteneinnahme erreichten.
der Woche eine halbe Stunde körperlich aktiv zu Auch bezüglich Fettstoffwechselstörungen,
sein, so dass man leicht ins Schwitzen gerät – er­ die ebenfalls an der Entstehung von Herz-Kreis­
reichen dies sehr wenige ältere Menschen [22]. lauf-Leiden beteiligt sind, wird das bestehende
Körperliche Aktivität in diesem Umfang zielt in Präventionspotenzial von vielen Betroffenen nicht
erster Linie nicht auf Muskelaufbau oder Steige­ ausgeschöpft. Wiederum sind es Lebensstilfak­
rung der sportlichen Leistungsfähigkeit, sondern toren – die Beteiligung genetischer Faktoren wird
auf die allgemeine Förderung von Gesundheit diskutiert – die das im Alter weit verbreitete »hohe
und Wohlbefinden. Trotzdem bewegen sich laut Cholesterin« mitverursachen [22]. Im Bundes-
Bundes-Gesundheitssurvey 1998 nur 6 % bis 12 % Gesundheitssurvey 1998 zeigte sich, dass Choles­
der 70- bis 79-jährigen Männer (alte bzw. neue terinwerte von ≥ 250 mg/100 ml am häufigsten
Bundesländer) und 2 % bis 6 % der gleichaltrigen bei Frauen im Alter zwischen 60 und 69 Jahren
Frauen entsprechend der Empfehlung. auftraten (64 %) [22]. Bei den Männern nimmt der
Gesundheit und Krankheit im Alter 41

Anteil von Personen mit erhöhten Cholesterin­ Schmerzen und Einschränkungen der Funk­
werten bis zum 80. Lebensjahr zu. Für das höhere tionsfähigkeit. Große Bedeutung kommt dieser
Alter (ab 85 Jahre) wurde in der Berliner Alters­ Erkrankungsgruppe aber auch deshalb zu, weil
studie bezogen auf verschiedene relevante Labor­ einige MSK-Erkrankungen, insbesondere bei äl­
werte ein Rückgang des Anteils der Personen mit teren Patienten, tödlich endende Komplikationen
Fettstoffwechselstörungen ermittelt [21]. nach sich ziehen können. Beim osteoporotischen
Die sogenannte Zuckerkrankheit, Diabetes Schenkelhalsbruch beispielsweise beträgt die
mellitus Typ 2, erhöht die Gefahr einer Arterien­ Sterblichkeit während des stationären Aufent­
verkalkung. Auch für Diabetes gilt, dass sowohl haltes (perioperative Sterblichkeit) bereits 6 %
die Entstehung als auch der Krankheitsverlauf [34]. Man geht davon aus, dass 12 Monate nach
durch das Gesundheitsverhalten beeinflusst wer­ dem Bruch bis zu ein Drittel der Betroffenen ver­
den können. Eine erhöhte Diabetesprävalenz, storben ist [20], zumeist an Erkrankungen des
so bestätigen es die Daten des Bundes-Gesund­ Herzens, der Gefäße oder der Lunge. Auch bei
heitssurvey 1998, ist vor allem ein Problem der chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten
60-Jährigen und Älteren [22, 33]. Die Prävalenzen aufgrund von MSK kommt es durch die einge­
des diagnostizierten Diabetes lagen in den neuen nommenen Medikamente häufig zu Komplika­
Bundesländern deutlich höher als in den alten und tionen. Die im Magen-Darm-Bereich auftreten­
nahmen mit dem Alter (bis 79 Jahre) bei Männern den Nebenwirkungen können durch Blutungen
leicht und bei Frauen deutlich zu. Die höchste zum Tode führen [34].
Diabetesprävalenz von 25 % wurde für Frauen Aus Abbildung 2.1.3.4 wird deutlich, dass
von 70 bis 79 Jahren in den neuen Bundesländern sich die Wahrscheinlichkeit eines Krankenhaus­
ermittelt. Die Ergebnisse der Berliner Altersstudie aufenthaltes aufgrund muskuloskelettaler Erkran­
deuten darauf hin, dass es ab dem 85. Lebensjahr kungen mit dem Alter erhöht. Insbesondere bei
bei Frauen zu einem Rückgang der Diabeteshäu­ den Verletzungen ist ein exponentieller Anstieg
figkeit kommt, bei Männern wurde hingegen ein zu beobachten. Im höheren Lebensalter sind
Anstieg beobachtet [21]. Frauen bei Weitem häufiger betroffen. Mehr als
Problematisch ist vor allem das gleichzeitige jeder fünfte Krankenhausaufenthalt (22 %) ist bei
Auftreten mehrerer Risikofaktoren, da sie unterei­ den 65-jährigen und älteren Frauen durch dieses
nander in Wechselwirkung stehen und sich in ih­ Diagnosespektrum bedingt (Verletzungen ohne
ren Wirkungen nicht addieren sondern potenzie­ MSK: 12 %) [26].
ren [2]. Mehr als die Hälfte der 70- bis 84-jährigen
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Berliner Prävalenz ausgewählter muskuloskelettaler
Altersstudie wiesen mindestens vier kardiovasku­ Erkrankungen und Stürze
läre Risikofaktoren auf [21]. Die Anzahl der Risi­ Osteoporose, eine Skeletterkrankung, die sich
kofaktoren ist unter den 85-Jährigen und Älteren in einer verminderten Bruchfestigkeit des Kno­
geringer, da ein Teil der Personen mit zahlreichen chens äußert, ist vor allem wegen des Risikos
Risikofaktoren vermutlich schon verstorben ist. von Knochenbrüchen bei geringer oder fehlender
äußerer Einwirkung von Bedeutung (Fragilitäts­
frakturen). Das Auftreten einer solchen Fraktur
Muskuloskelettale Erkrankungen und Stürze signalisiert ein fortgeschrittenes Krankheitssta­
dium [34]. Osteoporose tritt vorwiegend jenseits
Neben den Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird das des 60. Lebensjahres auf und bedeutet für die
Krankheitsspektrum im Alter vor allem durch Be­ Betroffenen in der Regel chronische Schmerzen
einträchtigungen des Bewegungsapparates domi­ und wiederholte Krankenhausaufenthalte wegen
niert. Hier sind zum Beispiel Osteoporose (Kno­ Knochenbrüchen [2]. Weil geeignete Screening­
chenschwund), Coxarthrose (Gelenkverschleiß methoden (Testverfahren für Reihenuntersu­
an der Hüfte), Gonarthrose (Gelenkverschleiß chung) zur Frühdiagnose der Osteoporose fehlen,
am Knie) und Rückenschmerzen zu nennen. diagnostische Beschränkungen bestehen und es
Muskuloskelettale Erkrankungen (MSK) führen derzeit keine repräsentativen Stichprobenuntersu­
zum einen zu Einbußen der Lebensqualität durch chungen gibt, ist die Einschätzung der Häufigkeit
42 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.1.3.4
Krankenhausbehandlungen aufgrund von muskuloskelettaler Erkrankungen (MSK; M00 – 99) und Verletzungen (S00 – T98)
nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Krankenhausdiagnose 2006 [13]

Fälle je 100.000 Einwohner


12.000
MSK Verletzungen
10.000

8.000

6.000
Frauen

4.000 Männer

2.000

65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+ 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+
Altersgruppe

von Osteoporose in der Bevölkerung schwierig osteoporotische Wirbelveränderungen in der Al­


[34]. Es wird vermutet, dass etwa 20 % bis 30 % tersgruppe 50 bis 79 Jahre bei beiden Geschlech­
der über 60-jährigen Frauen an einer manifesten tern den häufigsten Frakturtyp darstellen, gefolgt
Osteoporose leiden [2]. Frauen sind demnach die von der Unterarmfraktur bei Frauen. Die Zahl der
Hauptbetroffenen, schätzungsweise 80 % aller neu aufgetretenen osteoporotischen Wirbelverän­
an Osteoporose Erkrankten sind weiblich [3]. In derungen nimmt mit zunehmendem Lebensalter
der querschnittlichen Europäischen Studie zur exponentiell zu. Jenseits des 60. Lebensjahres
Vertebralen Osteoporose (EVOS) wiesen in den treten beide Frakturtypen bei Frauen doppelt so
deutschen Studienzentren insgesamt knapp 8 % häufig auf wie bei Männern [34]. Oberschenkel­
der Frauen und 5 % der Männer im Alter von 50 halsfrakturen spielen in diesen Altersgruppen
bis 79 Jahren mindestens einen durch Osteopo­ noch eine geringe Rolle. Bei Frauen und Männern
rose bedingten Wirbeleinbruch auf. Der Anteil jenseits des 75. Lebensjahres tritt die Oberschen­
von Personen mit Knochendichtemesswerten kelhalsfraktur als Osteoporose-typische Komplika­
unterhalb des empfohlenen Grenzwertes betrug tion hinzu. Die Auftretenshäufigkeit dieser Frak­
in dieser Gruppe 90 % bei Frauen und 87 % bei tur, auch ohne diagnostizierte Osteoporose, steigt
Männern [34, 35, 36]. Die Ergebnisse sind jedoch ab dem Alter von 75 Jahren exponentiell an und
nicht repräsentativ für die »Osteoporoselast« in beträgt in der höchsten Altersgruppe für Frauen
der deutschen Wohnbevölkerung, weil es sich um etwa 3.000 Frakturen je 100.000 Personen der
eine selektive Teilnehmergruppe handelt und zu­ entsprechenden Altersgruppe (innerhalb von fünf
dem die 80-Jährigen und Älteren ausgeklammert Jahren) [13]. Andere Schätzungen gehen davon
wurden [34]. Die Teilnehmerinnen und Teilneh­ aus, dass jährlich etwa 1 % der 65-Jährigen und
mer der EVOS-Studie wurden nach der Untersu­ Älteren einen Oberschenkelhalsbruch erleiden
chung im Studienzentrum insgesamt drei Jahre [23]. Insgesamt ergeben sich, hochgerechnet für
weiter beobachtet (Europäische Prospektive Osteo- Deutschland, ca. 135.000 Fälle pro Jahr [23]. Hoch­
porose-Studie, EPOS). Neu auftretende Wirbelver­ rechnungen, die auf Routinedaten von Kranken­
änderungen wurden erfasst. Es zeigte sich, dass kassen basieren, gehen von 101.037 (GEK-Daten)
Gesundheit und Krankheit im Alter 43

bzw. 135.800 (BKK-Daten) hüftgelenksnahen schränkter körperlicher Aktivität, wodurch es zum


Oberschenkelhalsbrüchen jährlich aus [37, 38]. Verlust an Selbstvertrauen kommen kann und die
Es wird geschätzt, dass 72 % dieser Frakturen auf Gefahr einer sozialen Isolation entsteht [3].
Frauen entfallen, zum Teil auch wegen der län­ Neben der Osteoporose und dem damit ver­
geren Lebenserwartung [14, 39]. bundenen Verletzungsrisiko bei Stürzen spielen
Neben der im Alter häufigeren Diagnose Os­ weitere Erkrankungen aus dem Bereich der mus­
teoporose führt vor allem hilfloses Stürzen auf die kuloskelettalen Krankheiten eine wichtige Rolle
Seite als Folge von Multimorbidität und altersbe­ für das Morbiditätsgeschehen im Alter: Arthrose
dingten Funktionseinschränkungen zu den hohen und Rückenschmerzen. Arthrose ist die häufigste
Fallzahlen für Oberschenkelhalsfrakturen [34, 40]. Erkrankung der Gelenke, eine schmerzhafte und
Das Sturzrisiko ist im Alter deutlich erhöht: chronische, durch Abnutzung und Verschleiß
Fast ein Drittel der 65-Jährigen und Älteren sowie bedingte Schädigung. Neben den Schmerzen
die Hälfte der 80-Jährigen und Älteren stürzen ist die Lebensqualität der Betroffenen vor allem
jährlich mindestens einmal [20]. Ausgehend von durch Funktionsstörungen beeinträchtigt. Diese
der derzeitigen Bevölkerungsstruktur ergeben betreffen insbesondere Aktivitäten im Bereich
sich schätzungsweise mindestens 5 Millionen der Körperpflege (Waschen, Ankleiden) und der
Stürze älterer Menschen pro Jahr (eigene Berech­ Fortbewegung (Einschränkung der Gehstrecke
nung auf der Basis von Bevölkerung ab 65 Jah­ und der Benutzung von Pkw sowie öffentlichen
ren im Jahresdurchschnitt 2006, www.gerostat. Verkehrsmitteln) [34]. In einer Reihe von Studien
de). Jeder fünfte bis zehnte Sturz führt zu Ver­ zeigte sich konsistent, dass die Auftretenswahr­
letzungen, ca. 5 % zu Frakturen, ca. 1 % bis 2 % scheinlichkeit von Arthrose mit dem Alter stark
zu einer hüftnahen Oberschenkelhalsfraktur [20]. ansteigt [23, 42]. Repräsentative Bevölkerungsun­
Davon ausgehend, dass ca. 5 % aller stationären tersuchungen zur Häufigkeit der Arthrose, bei
Krankenhauseinweisungen sturzbedingt sind denen die Diagnose durch Röntgenaufnahmen
[41], waren vermutlich über 350.000 Kranken­ gesichert wurde, existieren für Deutschland nicht
hausaufenthalte von 65-Jährigen und Älteren im [14]. In den Niederlanden wurde eine solche Stu­
Jahr 2006 auf Stürze zurückzuführen [eigene Be­ die durchgeführt. Danach lag bei einem Fünftel
rechnungen nach 13]. Schätzungen besagen, dass der Männer (21 %) und einem Viertel der Frauen
es sich beim allergrößten Teil der Unfälle (80 %), (26 %) zwischen 65 und 74 Jahre eine Arthrose
bei denen ältere Menschen folgenschwere Verlet­ des Kniegelenks vor [13]. Das Hüftgelenk war bei
zungen erleiden, um Stürze handelt [41]. etwa jeder/m zehnten Untersuchten betroffen
Bis zu 50 % jener Menschen im hohen Le­ (Männer 9 %, Frauen 13 %). Arthrosen der Hand-
bensalter, die wegen eines Sturzes stationär be­ und Fingergelenke traten sogar noch etwas häu­
handelt werden müssen, und bis zu ein Drittel figer auf. Schätzungen der Arthroseprävalenz für
der Patienten nach einer hüftnahen Oberschen­ Deutschland besagen, dass sich bei etwa 10 % bis
kelhalsfraktur sterben innerhalb eines Jahres (in 20 % der Bevölkerung im sechsten Lebensjahr­
verschiedenen Studien: 14 % bis 34 %) [20]. Da­ zehnt im Röntgenbild Zeichen einer Hüft- oder
rüber hinaus ist festzustellen, dass nur ca. 33 % bis Kniegelenksarthrose finden lassen und etwa die
40 % der Patientinnen und Patienten nach einer Hälfte von ihnen unter Schmerzen leidet [14]. Im
hüftnahen Oberschenkelhalsfraktur ihre bisherige Bundes-Gesundheitssurvey 1998 wurde in ärzt­
Kompetenz in den basalen (grundlegenden) Akti­ lichen Interviews ermittelt, dass etwa jede/r zwei­
vitäten des täglichen Lebens, wie z. B. Essen und te 60-Jährige und Ältere an mindestens einem
Körperpflege, wieder erreichen. Nur 14 % bis 21 % Gelenk eine ärztliche diagnostizierte Arthrose
erlangen die frühere Kompetenz in instrumen­ aufweist [42]. Bei den unter 30-Jährigen traf dies
tellen Aktivitäten zurück (Voraussetzungen für nur auf eine von zwanzig Personen zu. Die im
selbstständiges Leben, z. B. Einkaufen, Telefonie­ Bundes-Gesundheitssurvey wie auch in anderen
ren) [20]. Als Ursache für diese Kompetenzeinbu­ Surveys beobachtete Abnahme der Arthroseprä­
ßen ist auch die Fallangst zu nennen: Knapp ein valenz im höheren Alter (70 Jahre und älter) wird
Drittel aller Gestürzten äußern Angst vor weiteren vermutlich durch einen Selektionseffekt hervor­
Stürzen [20]. Dies führt nicht selten zu einge­ gerufen. Der chronisch fortschreitende Verlauf
44 Gesundheit und Krankheit im Alter

der Erkrankung, die häufigen Begleitdiagnosen drei Monate hintereinander auf. Bei den Männern
und Folgeerkrankungen wirken sich negativ auf ab 60 Jahren berichteten bis zu 59 % von Rücken­
die Befragungsbereitschaft aus. Die erhöhte Mor­ schmerzen im letzten Jahr, bei 20 % bis 23 %
talität von Arthrosepatientinnen und -patienten waren die Rückenschmerzen chronisch. Unter
dürfte ebenfalls eine Rolle spielen [42]. Menschen mit spezifischen Knochen- und Ge­
Über alle Altersgruppen betrachtet, sind Män­ lenkerkrankungen, wie zum Beispiel Arthrose,
ner und Frauen etwa gleich häufig von Arthrose findet sich erwartungsgemäß ein hoher Anteil
betroffen [14]. Differenziert nach Alter zeigte sich von Personen mit Rückenbeschwerden. In den
im Bundes-Gesundheitssurvey, dass bei den unter meisten Fällen lassen sich Rückenschmerzen je­
60-Jährigen die Männer ein höheres Arthroserisi­ doch nicht auf eine spezielle Krankheit zurück­
ko aufweisen, bei den Älteren verschiebt sich das führen; man spricht von »unspezifischen Rü­
Risiko zu Lasten der Frauen [42]. Arthrose ist ein ckenschmerzen« [14]. Wie sie entstehen und sich
ausgesprochen häufiger Behandlungsgrund in der zu chronischen Leiden entwickeln, bleibt weit­
stationären wie ambulanten Versorgung. Nach gehend unklar. Bei Rückenschmerzen und auch
Daten des Zentralinstituts für die kassenärztliche bei anderen muskuloskelettalen Erkrankungen
Versorgung zählen sowohl die Kniegelenks- als kommen vielfach Schmerzmittel zum Einsatz.
auch die Hüftgelenksarthrose zu den zehn häu­ Bestimmte Schmerzmittel können sich negativ
figsten Einzeldiagnosen in orthopädischen Pra­ auf den Magen-Darm-Trakt und die Nieren aus­
xen [14]. Zur Krankenhausbehandlung kommt es wirken (z. B. nicht steroidale Antirheumatika).
bei einer Arthrose deutlich seltener, nämlich vor Bekannte Nebenwirkungen sind beispielweise
allem dann, wenn ein künstliches Gelenk einge­ Magenblutungen. Mit zunehmendem Alter treten
setzt werden soll. Trotzdem gehören sowohl die unerwünschten Arzneimittelwirkungen häufiger
Hüft- als auch die Kniegelenksarthrose zu den 30 auf [23].
häufigsten Einzeldiagnosen bei stationären Auf­
enthalten [14]. Die Rate der stationären Behand­ Ansätze für die Prävention
lungsfälle steigt bei Männern und Frauen mit zu­ Den dargestellten Erkrankungen des Bewegungs­
nehmendem Alter deutlich an. Der höchste Wert systems liegen verschiedene Ursachen zugrunde,
wurde für Frauen ab 75 Jahre ermittelt: ca. 1.500 beispielsweise spezielle Belastungen im Berufs­
Fälle je 100.000 Personen (alte Bundesländer; leben, Lebensstilfaktoren, hormonelle Ursachen
Jahr 2002) [14]. und eine genetische Disposition (Veranlagung).
Nach Daten des Bundes-Gesundheitssurvey Oftmals wirken mehrere Faktoren zusammen,
1998 sind Rückenschmerzen bei Frauen und Män­ und nicht für alle Erkrankungen sind die Entste­
nern aller Altersgruppen die häufigste Schmerzart hungsmechanismen im Einzelnen geklärt. Einige
und rangieren noch vor Kopf-, Nacken- und Schul­ der genannten Risikofaktoren können durch prä­
terschmerzen [14]. Rückenschmerzen nehmen ventive Maßnahmen beeinflusst werden, um den
mit steigendem Lebensalter zu und erreichen ty­ Ausbruch der Erkrankung bzw. ihr Fortschreiten
pischerweise ihre maximale Häufigkeit im fünften zu verhindern oder zu verzögern.
und sechsten Lebensjahrzehnt [14]. Gleichwohl Der verstärkten Knochenbrüchigkeit als
sind sie auch in höheren Altersgruppen ein be­ Symptom einer Osteoporose kann beispielsweise
deutsames Problem. Frauen geben durchgängig durch eine ausreichende Versorgung mit Kalzium
mehr Rückenschmerzen an als Männer, zudem und Vitamin D vorgebeugt werden [14]. Eine aktu­
ist bei Frauen die Intensität der Schmerzen im elle Metaanalyse (Zusammenführung zahlreicher
Schnitt größer und ihre Dauer länger. Im Tele­ wissenschaftlicher Studien) zum Nutzen der Nah­
fonischen Gesundheitssurvey 2003 berichteten rungsergänzung durch Kalzium und Vitamin D
bis zu zwei Drittel der Frauen ab 60 Jahren über ergab, dass sowohl die isolierte Einnahme von Kal­
Rückenschmerzen im letzten Jahr (je nach Alters­ zium als auch die Kombination mit Vitamin D der
gruppe) [14]. Bis zu 29 % der befragten älteren Entstehung von Osteoporose bei Personen ab 50
Frauen hatten während des letzten Jahres chro­ Jahren vorbeugt (63.897 Studienteilnehmerinnen
nische Rückenschmerzen, das heißt die Schmer­ und -teilnehmer). Der beste therapeutische Effekt
zen traten täglich oder fast täglich und mindestens wurde bei einer kombinierten täglichen Einnah­
Gesundheit und Krankheit im Alter 45

me von 1.200 mg Kalzium und 800 IE Vitamin D Vorteil sein [3]. Diese Maßnahme zur Verhinde­
erreicht [43]. rung von Oberschenkelhalsbrüchen ist allerdings
Bei Osteoporose wird ebenfalls die präven­ nicht unumstritten [44]. Ergebnisse von rando­
tive Bedeutung körperlicher Aktivität besonders misierten und kontrollierten Studien variieren
betont [14]. Ein verantwortungsvoller Umgang mit erheblich nach Art der untersuchten Personen-
Alkohol und der Verzicht auf das Rauchen kön­ und Vergleichsgruppen sowie methodischen Ge­
nen auch zu einer Senkung des Osteoporoserisi­ sichtspunkten [34, 45]. Eine aktuelle Metaanalyse
kos beitragen [3]. Insbesondere für Hochbetagte verschiedener Studien kam gar zu dem Schluss,
gilt, dass dem Erzielen und der Aufrechterhaltung dass Hüftprotektoren für ältere Menschen, die zu
eines im Normbereich liegenden Körpergewichts Hause leben, keinen präventiven Nutzen haben
große Bedeutung zukommt, denn in Studien [46]. Bei Personen in Pflegeheimen werden die
zeigte sich ein Zusammenhang zwischen BMI Effekte als »unsicher« eingestuft.
und Frakturrisiko [34]. Das Risiko stieg, wenn die Die Prävention schmerzhafter Gelenkverän­
Patientinnen und Patienten ein für ihre Größe zu derung bei Hüft- oder Kniegelenksarthrose zielt
geringes Körpergewicht hatten. auf mehrere Risikofaktoren, deren Zusammen­
Das Frakturrisiko ist auf der einen Seite wirken und Bedeutung noch nicht im Einzelnen
durch die mit dem Alter abnehmende Knochen­ geklärt ist [34]. In Studien zeigte sich, dass Über­
festigkeit (bis hin zur manifesten Osteoporose) gewicht und erhöhte Cholesterinwerte häufig
erhöht. Auf der anderen Seite spielt die steigende zusammen mit einer Kniegelenksarthrose auftre­
Prävalenz von Stürzen bei Älteren eine wichtige ten, während sich erhöhte Harnsäurespiegel und
Rolle. Sie werden meist durch mehrere Faktoren frühkindliche Gelenkerkrankungen häufiger bei
verursacht. Die Sturzgefahr steigt mit der Zahl Hüftgelenksarthrosen feststellen lassen [34]. Ne­
der Risikofaktoren. Dazu zählen kardiovaskuläre ben diesen, zum großen Teil lebensstilbedingten
Erkrankungen, Herzrhythmusstörungen mit ver­ Faktoren, wozu ebenfalls bestimmte berufliche
minderter Hirndurchblutung, Erkrankungen mit und sportliche Aktivitäten (bei Männern) zählen,
Störungen der neuromuskulären Koordination werden eine genetische Veranlagung sowie hor­
(Zusammenspiel von Nerven und Muskeln) und monelle Veränderungen (Menopause) bei Frauen
des Gleichgewichts, Sehstörungen, die Einnahme als Verursacher von Arthrose diskutiert [34]. Als
bestimmter Medikamente (z. B. Beruhigungsmit­ vorbeugende Maßnahmen, die das erstmalige Auf­
tel, Medikamente gegen Depressionen) [23] sowie treten bzw. die Verschlimmerung der Beschwer­
Faktoren der räumlichen Umwelt (glatter Fußbo­ den günstig beeinflussen, werden indiviualisierte
den, schlechte Beleuchtung, Schnee und Glatteis) Bewegungsprogramme, gegebenenfalls kombi­
[20]. Stürze im Alter sind kein »Schicksal«. In niert mit physikalischen Maßnahmen und Kran­
verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, kengymnastik empfohlen [3].
dass präventive Maßnahmen, die auf eine Verrin­ Auch beim Gesundheitsproblem Rücken­
gerung von Barrieren in der Umwelt sowie auf schmerzen sind viele Fragen der Vorbeugung
eine Verbesserung der Mobilität und der allge­ sowie der Entstehung, Chronifizierung und Be­
meinen Fitness zielen, Stürze und sturzbedingte handlung noch ungelöst [34]. Langjährige und
Verletzungen reduzieren können [3]. Dazu gehö­ sehr schwere körperliche Arbeit ist als Risikofak­
ren beispielsweise körperlich-sportliche Übungs­ tor auch gesetzlich anerkannt [34]. In unserer Ge­
programme, die auf Kraftzuwachs und eine Ver­ sellschaft ist jedoch die soziale Lage der stärkste
besserung des Gleichgewichts ausgerichtet sind bekannte Risikofaktor. Personen mit niedrigem
[3] sowie Hausbesuche von Ergotherapeutinnen sozioökonomischem Status (Bildung, Beruf, Ein­
bzw. -therapeuten mit dem Ziel, Gefahrenquellen kommen) berichten sehr viel häufiger von Rü­
für Stürze in der Wohnumgebung zu beseitigen. ckenschmerzen [34]. Hinsichtlich des Verlaufs
Für Patientinnen und Patienten mit starker Sturz­ einmal aufgetretener Rückenschmerzen spielen
neigung und in stationären Einrichtungen könnte psychische Faktoren offenbar eine besondere
das Tragen von sogenannten Hüftprotektoren (in Rolle. Ungünstige Vorstellungen, Einstellungen,
die Unterkleidung eingearbeitete Hüftpolster Befürchtungen und Verhaltensweisen sowie De­
zur Dämpfung eines Aufpralls auf die Seite) von pressivität werden neben anderen Risikofaktoren
46 Gesundheit und Krankheit im Alter

diskutiert [34]. Anders verhält es sich bei Rücken­ unter Berücksichtigung etwaiger Registrierungs­
schmerzen infolge bestimmter Erkrankungen. Ihr fehler eine Hochrechnung für Deutschland er­
Verlauf ist durch den Verlauf der Grundkrankheit stellt.
geprägt (beispielsweise Tumorleiden). Aber auch Von den geschätzten 436.500 Neuerkran­
hier können sich Persönlichkeitsmerkmale und kungen an Krebs im Jahr 2004 sind Männer und
(mit psychologischer Unterstützung erlernbare) Frauen je etwa zur Hälfte betroffen (53 % vs. 47 %)
Bewältigungsstile günstig auswirken [34]. [47]. Auf die 65-Jährigen und Älteren entfallen bei
den Frauen ca. 61 % und bei den Männern sogar
ca. 64 % der Neudiagnosen [eigene Berechnungen
Krebserkrankungen nach 48]. In der Altersgruppe ab 75 Jahren wur­
den immerhin gut ein Drittel der bei Frauen di­
Krebserkrankungen sind durch das Vorliegen agnostizierten bösartigen Neubildungen (35 %)
eines malignen (bösartigen) Tumors gekenn­ und ein Viertel der bei Männern neu entdeckten
zeichnet, der entsteht, wenn Körperzellen un­ Krebserkrankungen (26 %) gefunden. Prognosen
kontrolliert wachsen, sich teilen und gesundes zur absoluten Häufigkeit von Krebserkrankungen
Gewebe verdrängen und zerstören. Prinzipiell in den nächsten Jahren gehen davon aus, dass sich
kann jedes Organ des menschlichen Körpers von die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen bei den
Krebs befallen werden, es gibt jedoch erhebliche über 65-jährigen Männern bis zum Jahr 2020 auf­
Häufigkeitsunterschiede nach Alter, Geschlecht, grund der Bevölkerungsentwicklung um mindes­
geografischer Region, Ernährungs- und Lebens­ tens 50 % erhöhen wird [22]. Bei über 65-jährigen
gewohnheiten. In Deutschland treten Krebser­ Frauen wird ein Anstieg um mindestens 25 %
krankungen gehäuft in Organen wie Brustdrüse prognostiziert.
(Frauen), Prostata (Vorsteherdrüse; Männer), Lun­ Das mittlere Erkrankungsalter für alle Krebs­
ge und Dickdarm auf [47]. Die Entstehung einer arten liegt aktuell für Männer und Frauen bei etwa
Krebskrankheit beruht in der Regel nicht auf ei­ 69 Jahren [47]. Abbildung 2.1.3.5 enthält Schätz­
ner einzigen Ursache, sondern auf einem Geflecht werte zur alterspezifischen Neuerkrankungsrate
verschiedener Faktoren. Der bisherige Wissens­ pro 100.000 Personen für Krebs insgesamt im
stand erlaubt nur bei einem Teil der häufigeren Jahr 2004. Die höchsten Raten werden mit 1.852
Tumorarten eine Prävention oder Früherkennung je 100.000 bei den 85-jährigen und älteren Frauen
[47]. und mit 2.913 je 100.000 bei den 80- bis 84-jäh­
rigen Männern erreicht (alle Altersgruppen: 331
Morbidität und Mortalität durch vs. 445 je 100.000, altersstandardisiert). Neben
Krebserkrankungen dem altersbezogenen Anstieg sind auch die ab
Aussagen über die Häufigkeit von Krebserkran­ dem 60. Lebensjahr geschlechtsspezifisch erhöh­
kungen im höheren Lebensalter sind anhand der ten Erkrankungsraten von Männern erkennbar.
Inzidenzschätzungen der Dachdokumentation Dies könnte mit dem Risikofaktor (Zigaretten-)
Krebs am Robert Koch-Institut (RKI) möglich, Rauchen in Zusammenhang stehen, der für ein
die in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft der Viertel bis ein Drittel aller Krebstodesfälle verant­
epidemiologischen Krebsregister in Deutschland wortlich gemacht wird [49].
e.V. (GEKID) vorgenommen werden. Als jährliche Hinsichtlich der einzelnen Krebslokalisatio­
Inzidenz oder Erkrankungshäufigkeit bezeichnet nen sind für die 65-Jährigen und Älteren beiderlei
man die Zahl aller im Laufe eines Jahres neu auf­ Geschlechts insbesondere Krebserkrankungen
getretenen Erkrankungen in einer definierten des Darmes und der Lunge von Bedeutung [ei­
Bevölkerung. Während einige Bundesländer seit gene Berechnungen nach 48] (siehe Abbildung
vielen Jahren oder Jahrzehnten eine gut funktio­ 2.1.3.6). 17 % der Neudiagnosen bei Männern
nierende Registrierung neu auftretender Krebs­ dieser Altersgruppe und sogar fast ein Viertel der
fälle etabliert haben, sind die Register in anderen Neudiagnosen bei gleichaltrigen Frauen (22 %)
Ländern noch im Aufbau begriffen. Auf der Basis entfielen auf Darmkrebs. Bösartige Neubildungen
der bei allen Registern gemeldeten Neuerkran­ der Lunge werden bei 14 % aller an Krebs erkrank­
kungen für sämtliche Krebslokalisationen wird ten 65-jährigen und älteren Männern festgestellt
Gesundheit und Krankheit im Alter 47

Abbildung 2.1.3.5
Schätzung der Krebsinzidenz, Neuerkrankungen pro 100.000 nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Grafik entnommen aus [47], Schätzung der Dachdokumentation Krebs am RKI für Deutschland

3.500

3.000

2.500

2.000

Frauen
1.500
Männer
1.000

500

40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80–84 85+
Altersgruppe

und bei 6 % aller gleichaltrigen Frauen. An erster 65 Jahren an Krebs (Männer 52 %, Frauen 48 %).
Stelle bezüglich der Auftretenshäufigkeit steht Damit entfielen auf diese Altersgruppe 82 % aller
bei den Männern allerdings eine geschlechtsspe­ krebsbedingten Sterbefälle bei Männern und 84 %
zifische Krebslokalisation: 28 % aller Neudiagno­ der Fälle bei Frauen. Das mittlere Sterbealter an
sen im Alter von 65 und mehr Jahren entfallen Krebs lag für Männer im Jahr 2004 bei 71 Jahren
auf Prostatakrebs. Bei den Frauen ab 65 Jahren und für Frauen bei 75 Jahren [47].
folgen geschlechtsspezifische Neubildungen, hier Aus den aktuellen Daten der Krankenhaus­
der Brustdrüse, mit 20 % an zweiter Stelle nach diagnosestatistik geht hervor, dass Krebserkran­
Darmkrebs. Betrachtet man nur die älteste Al­ kungen für einen erheblichen Teil der stationären
tersgruppe, die ab 75-Jährigen, verschiebt sich die Aufenthalte bei älteren Menschen verantwortlich
Reihenfolge der häufigsten Krebslokalisationen sind. Nur Krankheiten des Kreislaufsystems wa­
bei den Frauen: An erster Stelle steht in dieser ren 2006 bei den 65-Jährigen und Älteren noch
Altersgruppe Darmkrebs, gefolgt von Krebs der häufiger Grund für einen Krankenhausaufent­
Brustdrüse und Magenkrebs. Bei den Männern ab halt (eigene Berechnungen nach [26]). Jeder 6.
75 Jahren gibt es keine Veränderung in der Reihen­ männliche Krankenhauspatient zwischen 65 und
folge der häufigsten Lokalisationen im Vergleich 74 Jahren wurde wegen einer bösartigen Neu­
zur Gruppe der 65-Jährigen und Älteren. bildung stationär aufgenommen (17 %). Unter
Auch mit Blick auf die Krebssterbefälle im den im Krankenhaus behandelten Frauen dieser
Jahr 2004 sind die genannten Lokalisationen be­ Altergruppe betraf dies immerhin 13 %. Bei den
sonders häufig vertreten, allerdings in etwas ver­ 75-Jährigen und Älteren geht der Anteil der wegen
änderter Reihenfolge. 25 % aller Krebssterbefälle Krebs behandelten Patientinnen und Patienten et­
bei Männern ab 65 Jahren wurden durch Lungen­ was zurück (Männer 12 %, Frauen 7 %).
krebs verursacht, bei den gleichaltrigen Frauen
waren es 10 % [eigene Berechungen nach 48]. Prävention und Früherkennung
Bei ihnen standen mit jeweils etwa 16 % Krebs­ von Krebserkrankungen
erkrankungen der Brustdrüse und des Darmes an Unter den vermeidbaren Risikofaktoren von
erster Stelle der Todesursachen. Insgesamt star­ Krebserkrankungen hat das (Zigaretten-)Rauchen,
ben im Jahr 2004 174.699 Personen im Alter ab das zwischen einem Viertel und einem Drittel aller
48 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.1.3.6
Prozentualer Anteil ausgewählter Tumorlokalisationen an allen Krebsneuerkrankungen ohne nicht-melanotischen Hautkrebs
für 65-Jährige und Ältere, 10 wichtigste Diagnosen 2004
Quelle: Schätzung der Dachdokumentation Krebs am RKI für Deutschland, eigene Berechnungen [48]

Frauen Männer
Darm Prostata
Brustdrüse Darm
Lunge Lunge
Gebärmutterkörper Harnblase
Magen Magen
Harnblase Niere
Eierstöcke Bauchspeicheldrüse
Bauchspeicheldrüse Non-Hodgkin-Lymphome
Niere Malignes Melanom der Haut
Non-Hodgkin-Lymphome Leukämien
30 25 20 15 10 5 0 0 5 10 15 20 25 30
Prozent Prozent

Krebstodesfälle verursacht, überragende Bedeu­ Allerdings gibt es derzeit nur für einen Teil der
tung [49]. Ein weniger genau abschätzbarer, aber häufigeren Tumorarten Früherkennungsuntersu­
vielleicht noch etwas höherer Anteil aller Kreb­ chungen mit wissenschaftlich belegtem Nutzen.
stodesfälle dürfte auf ungünstige Ernährungs­ Zur Verbesserung der Früherkennung der bei
muster, wie allgemeine Überernährung, einen zu Frauen häufigsten Krebslokalisation – Brustkrebs
hohen Anteil von (tierischen) Fetten und einen zu – wird derzeit ein strukturiertes und qualitätsge­
geringen Anteil an Obst und Gemüse zurückzu­ sichertes Mammographie-Screening-Programm
führen sein [49]. Weitere Risikofaktoren für die für Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren flächen­
Entwicklung bestimmter Krebskrankheiten sind deckend aufgebaut [47]. Träger sind die gemein­
chronische Infektionen (z. B. Helicobacter pylori same Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkas­
für Magenkrebs), ein hoher Alkoholkonsum, spe­ sen in Kooperation mit den Ländern. Parallel dazu
zielle Belastungen am Arbeitsplatz und Einflüsse bleiben die ärztliche Tastuntersuchung der Brust
aus der Umwelt. Dazu zählen neben den ultra­ sowie die Anleitung zur Selbstuntersuchung im
violetten Anteilen des Sonnenlichts und Feinstaub gesetzlichen Früherkennungsangebot. Sowohl bei
auch bestimmte chemische Substanzen, die in Brustkrebs als auch bei der für Männer häufigsten
Auto- und Industrieabgasen enthalten sind, sowie Krebslokalisation – bösartige Neubildungen der
Radon (ein radioaktives chemisches Element) und Prostata – ist seit Jahren ein Anstieg der Neuer­
Passivrauchen in Innenräumen. An der Entste­ krankungsraten zu beobachten [47]. Bei den Män­
hung einer Krebskrankheit sind in der Regel meh­ nern wird die Zunahme auf den Einsatz neuer
rere Faktoren beteiligt, die im Laufe des Lebens in Methoden in der Diagnostik (Bestimmung des
vielfältiger Weise zusammenwirken. Nicht für alle prostataspezifischen Antigens, PSA) zurückge­
Krebserkrankungen sind die wichtigen Risikofak­ führt. Studienergebnisse legen nahe, dass bei den
toren heute schon umfassend erforscht. 70-jährigen und älteren Männern, insbesondere
Hat sich ein bösartiger Tumor gebildet, kann bei den über 80-jährigen Männern, oftmals unent­
eine Früherkennungsuntersuchung die indivi­ deckte Prostatakarzinome vorliegen, die keine Be­
duelle Prognose der Betroffenen erheblich ver­ schwerden verursachen und keinen Einfluss auf
bessern. Durch die frühzeitige Einleitung einer die Lebenserwartung und die Lebensqualität der
Therapie wird versucht, die Lebensqualität und Betroffenen haben [47]. Für den PSA-Test laufen
die Lebenserwartung der Patienten zu erhöhen. derzeit zwei große wissenschaftliche Studien, die
Gesundheit und Krankheit im Alter 49

zeigen sollen, ob ein Überlebensvorteil durch eine Älteren auf über 30 % an [50]. Nicht sicher be­
Teilnahme am Test besteht [47]. Die Ergebnisse antwortet ist bislang, ob sich der Anstieg der De­
dieser Studien werden bis 2010 erwartet. menzprävalenz bei den über 95-jährigen Personen
Ältere Menschen nehmen die verschiedenen fortsetzt oder abschwächt [50, 51].
Früherkennungsuntersuchungen, die aktuell von Schätzungen zur Zahl der Neuerkrankungen
der Gesetzlichen Krankenversicherung angeboten pro Jahr besagen, dass zwischen 1,4 % und 3,2 %
werden, eher unterdurchschnittlich in Anspruch der 65-Jährigen und Älteren im Laufe eines Jahres
(vgl. Abschnitt 3.3.6). Sie sollten, insbesondere we­ erstmals an einer Demenz erkranken [50]. Daraus
gen des deutlich ansteigenden Krebsrisikos im Al­ ergeben sich nahezu 200.000 neue Fälle von De­
ter, noch stärker zur Teilnahme motiviert werden. menz pro Jahr. Aufgrund ihrer höheren Lebens­
erwartung treten Neuerkrankungen bei Frauen
wesentlich häufiger auf als bei Männern, über
2.1.4 Psychische Erkrankungen 70 % entfallen auf Frauen [50, 52] (siehe Abbil­
dung 2.1.4.1).
Demenzen Legt man die oben genannten Werte für den
Anteil Demenzkranker in der Allgemeinbevölke­
Der normale Alternsprozess geht mit einer Verän­ rung zugrunde, so sind, bezogen auf die 65-Jäh­
derung der kognitiven Leistungsfähigkeit (geistige rigen und Älteren, in Deutschland etwa eine
Fähigkeiten, Denken) einher, und es ist häufig Million Menschen von einer mittelschweren oder
nicht einfach, altersübliche Veränderungen der schweren Demenz betroffen und in der Regel
kognitiven Leistungen von frühen Demenzsta­ nicht mehr zur selbstständigen Lebensführung in
dien zu unterscheiden [50]. Demenzielle Erkran­ der Lage [50]. Die geschätzten altersspezifischen
kungen sind durch fortschreitenden Gedächt­ Raten für Demenzerkrankungen in Deutschland
nisverlust und den Abbau kognitiver Fähigkeiten enthält Abbildung 2.1.4.2.
gekennzeichnet. In den diagnostischen Leitlinien Etwa 60 % der Demenzkranken leben in Pri­
zur Demenz wird in der ICD-10 außerdem das vathaushalten [50]. Vor allem die zusätzlich zu
Vorliegen erheblicher Beeinträchtigungen der Ak­ den kognitiven Störungen auftretenden Verhal­
tivitäten des täglichen Lebens erwähnt. Etwa zwei tensprobleme erhöhen die Belastung pflegender
Drittel aller Demenzerkrankungen entfallen auf Angehöriger erheblich und führen häufig zu ei­
die Alzheimerkrankheit, 15 % bis 20 % auf vasku­ ner Heimaufnahme. Demenzen sind der wich­
läre Demenzen (beruhen auf Durchblutungsstö­ tigste Grund für den Eintritt in ein Heim und sehr
rungen des Gehirns), der Rest auf Mischformen häufig unter Heimbewohnern: Etwa zwei Drittel
und andere seltene Demenzerkrankungen [50]. der Bewohner von Altenpflegeheimen leiden an
Von den Demenzen abzugrenzen sind kurzzei­ einer Demenz [50]. Insbesondere bei Personen
tige Verwirrtheitszustände, die z. B. durch hohe mit fortgeschrittener Demenz treten oftmals wei­
psychische Belastungen oder Medikamente her­ tere medizinisch relevante Veränderungen auf,
vorgerufen werden können. Sie dauern wenige beispielsweise Gebrechlichkeit mit der Folge ge­
Stunden bis wenige Tage. Durch die konkreten häufter Stürze [50, 53]. Es gibt Hinweise darauf,
Ursachen bestehen meist gute Chancen für eine dass Demenzkranke, u. a. wegen der häufigen
erfolgreiche Therapie [3]. Begleitdiagnosen und unabhängig von ihrem Al­
ter, eine Hochrisikogruppe für nosokomiale (im
Prävalenz und Inzidenz von Demenzen Krankenhaus erworbene) Infektionen sind [54].
in der älteren Bevölkerung Dies könnte ein Erklärungsansatz für die zum Teil
Als übereinstimmendes Ergebnis aller bislang deutlich erhöhten Mortalitätsraten Demenzkran­
durchgeführten Bevölkerungsstudien zeigte sich, ker sein. Ein anderer Grund für die wesentlich
dass die Häufigkeit von Demenzen bei Männern niedrigere Lebenserwartung bei Demenz resul­
und Frauen mit dem Alter deutlich zunimmt. Sie tiert aus der mangelnden Fähigkeit der Betrof­
liegt bei den 65- bis 69-Jährigen bei etwa 1,5 %, fenen, ernst zu nehmende somatische Symptome
verdoppelt sich im Abstand von jeweils etwa fünf wahrzunehmen bzw. adäquat darauf zu reagieren
Altersjahren und steigt bei den 90-Jährigen und (z. B. Blinddarmentzündung) [50].
50 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.1.4.1
Schätzung der jährlichen Anzahl von Neuerkrankungen an Demenz nach Alter und Geschlecht
Quelle: Grafik entnommen aus [50]
Neuerkrankungen in 1.000
40

35

30

25

20 Frauen

15 Männer

10

65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+


Altersgruppe

Abbildung 2.1.4.2
Schätzung der Anzahl Demenzkranker in Deutschland zum Ende des Jahres 2002 nach Alter und Geschlecht
Quelle: Grafik entnommen aus [50]

Prävalenz in 1.000
180

160

140

120

100 Frauen

80 Männer

60

40

20

65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+


Altersgruppe
Gesundheit und Krankheit im Alter 51

Präventive und therapeutische Ansätze – auch die Tatsache, dass die Demenz zu den teu­
bei demenziellen Erkrankungen ersten Krankheitsgruppen im Alter gehört. Eine
Präventionspotenziale in Bezug auf die Alzhei­ Schätzung der direkten und indirekten Kosten für
mer Demenz sind begrenzt. Ein günstiger Ein­ Alzheimerdemenz in Deutschland stammt von
fluss wird einer ausgewogenen Ernährung sowie Hallauer und Kollegen. Sie ermittelten pro Pati­
der Kontrolle von Blutdruck und Fettstoffwechsel ent und Jahr durchschnittlich Kosten von 43.767
zugeschrieben [50, 55, 56]. Vaskulären Demenzen Euro, wobei zwei Drittel auf die Familie entfallen
kann durch eine Beeinflussung der Risikofaktoren (68 %) und knapp ein Drittel auf die gesetzliche
vorgebeugt werden, die zum großen Teil ebenfalls Pflegeversicherung (30 %) [59].
für Schlaganfälle und andere arterielle Verschluss­
krankheiten verantwortlich sind. Neben den ge­
nannten Faktoren sind dies u. a. Zigarettenrau­ Depressionen
chen und Alkoholmissbrauch [50].
Trotz der insgesamt begrenzten Therapie­ Depressionen sind Störungen der Gemütslage, die
möglichkeiten bei demenziellen Erkrankungen ist mit Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Interes­
festzuhalten, dass das Wissen auf diesem Gebiet senverlust sowie Energie- und Antriebslosigkeit
in den letzten Jahren stark zugenommen hat [14]. einhergehen. Behandlungsbedürftig ist diese Er­
Es stehen heute eine Reihe nicht medikamentöser krankung, wenn die Symptome mindestens zwei
Behandlungsformen und neu entwickelter Arz­ Wochen anhalten [22]. Wichtige Diagnosen, die
neimittel zur Verfügung, die das Fortschreiten zu den depressiven Syndromen gezählt werden,
kognitiver Störungen verzögern und dem Verlust sind insbesondere Majore Depressionen (nach Di­
an Alltagskompetenz entgegenwirken. Für die agnostic and Statistical Manual of Mental Disor­
medikamentöse Behandlung mit Cholinesterase­ ders; DSM-IV) und Dysthymien [60]. Bei den Ma­
hemmern zeigte sich allerdings in Metaanalysen, joren Depressionen werden leichte, mittelgradige
in denen die Ergebnisse großer wissenschaftlicher und schwere Episoden unterschieden. Je nach
Studien zusammengeführt wurden, dass es nur Ausprägungsgrad entstehen Leidensdruck und
schwache Evidenz (wissenschaftliche Belege) Beschwernis im Alltag bis hin zur vollständigen
für die Wirksamkeit dieser Präparate bei Alzhei­ Aufgabe von Alltagsaktivitäten und dem Auftreten
merdemenz gibt [57]. Für vaskuläre Demenzen von Suizidgedanken [60]. Majore Depressionen
wurden ebenfalls nur geringe und unsichere Ef­ dauern mindestens zwei Wochen an. Dysthymien
fekte gemessen [58]. Es wird aber vermutet, dass sind durch eine schwächer ausgeprägte Sympto­
Subgruppen von Patientinnen und Patienten von matik gekennzeichnet, die allerdings oftmals
der Therapie mit Cholinesterasehemmern stärker chronifiziert und lange anhält, mindestens zwei
profitieren [58]. Jahre [60]. Die Entstehungsmechanismen von
Im nichtmedikamentösen Bereich werden Depressionen sind nicht vollständig geklärt. Man
vor allem psychologische Therapiemethoden ein­ geht vom Zusammenwirken verschiedener Fak­
gesetzt (z. B. Training zum Erhalt von Alltagskom­ toren aus, bedeutsam sind unter anderem eine
petenzen), außerdem ökologische (die Lebens­ genetische Veranlagung und kritische Lebenser­
umwelt betreffende) und soziale Maßnahmen eignisse [60].
(z. B. die Orientierung unterstützende Raumge­
staltung). Ein großer medizinischer Durchbruch Prävalenz von Depressionen
bei der Demenzbehandlung ist bislang noch nicht bei älteren Menschen
gelungen. Verschiedene Bevölkerungsstudien zeigen, dass
Ein wichtiger Punkt in der gesundheitspoli­ bei etwa 1 % bis 5 % aller älteren Menschen eine
tischen und gesamtgesellschaftlichen Diskussion schwere Depression vorliegt [3, 17]. Damit wurde
des Themas Demenz ist neben den zurzeit noch weitgehend übereinstimmend festgestellt, dass die
eingeschränkten Therapiemöglichkeiten und der Häufigkeit von schweren Depressionen mit dem
großen Verbreitung – für das Jahr 2050 wird er­ Alter nicht ansteigt [17]. In der Berliner Altersstu­
wartet, dass über zwei Millionen 65-Jährige und die, die auch Heimbewohnerinnen und -bewoh­
Ältere in Deutschland an einer Demenz leiden [50] ner einbezog, zeigte sich innerhalb der Stichprobe
52 Gesundheit und Krankheit im Alter

70-Jähriger und Älterer ebenfalls kein statistisch Altersstudie bei etwa 18 % der 70-Jährigen und Äl­
bedeutsamer Zusammenhang von steigendem teren gefunden wurden [20]. Diese Störungen be­
Lebensalter und höherer Prävalenz von Depres­ einträchtigen trotz der geringeren Ausprägung der
sionen (unterschiedliche Schweregrade) [15]. Bei Symptome die Lebensqualität der Betroffenen. Sie
knapp 4 % der Männer und 6 % der Frauen wurde wirken sich auf den Verlauf körperlicher Erkran­
eine Majore Depression festgestellt [19, 20]. Dass kungen, auf das Krankheitserleben (insbesondere
die Prävalenzraten für depressive Syndrome bei das Schmerzerleben), die Lebenseinstellung und
Frauen (zum Teil deutlich) höher liegen als bei das persönliche Altersbild aus [20]. Auch andere
Männern wird insbesondere im mittleren Lebens­ Untersuchungen bestätigen die hohe Prävalenz
alter beobachtet. Es gibt aber mehrere Hinweise leichter Formen und depressiver Symptome ohne
darauf, dass das Überwiegen depressiver Erkran­ Krankheitswert bei Älteren [17].
kungen bei Frauen im Alter nicht mehr so stark
ausgeprägt ist [17]. Suizidgefahr im Alter
Im Gegensatz zu den oben genannten For­ Patientinnen und Patienten mit depressiven Er­
schungsergebnissen zur Prävalenz von Depres­ krankungen haben eine deutlich erhöhte Sui­
sionen im Alter deuten die Ergebnisse einiger zidrate. Sie liegt bei 500 bis 900 je 100.000 Per­
Studien auf ein erhöhtes Vorkommen schwerer sonen. Es wird angenommen, dass bei 40 % bis
Depressionen bei Älteren hin [18]. Bis zu 10 % 60 % aller Personen, die einen Suizid begehen,
Betroffene wurden beispielsweise in einem Nach­ Depressionen vorliegen [20]. Im Alter könnte
folgeprojekt der Augsburger MONICA-Surveys dieser Anteil sogar noch höher sein [18]. Aber
ermittelt [61, 62]. auch ohne depressive Symptome können lang
Andere Bevölkerungsstudien kamen zu dem anhaltende Belastungen, insbesondere schwere
Ergebnis, dass depressive Erkrankungen mit Erkrankungen oder der Verlust nahestehender
schwerer Ausprägung im Alter eher abnehmen, Menschen das Risiko einer Selbsttötung erhöhen
leichtere Formen dagegen zunehmen [17]. In der [20]. Die Suizidhäufigkeit ist bei älteren Menschen
Berliner Altersstudie lag die Häufigkeit von Dys­ deutlich höher als im Mittel aller Altersgruppen.
thymien für beide Geschlechter bei 2 % [19, 20]. Insbesondere bei Männern steigt sie ab etwa 75
Die Vielfalt der Forschungsergebnisse be­ Jahren exponentiell an (70- bis 74-jährige Män­
gründet sich u. a. durch die Auswahl der unter­ ner: 31/100.000 Gestorbene; 90-jährige und ältere
suchten Personen. Werden beispielsweise Heim­ Männer: 87/100.000 Gestorbene). Männer ster­
bewohner nicht einbezogen, kommt es eher zu ben in allen Altersgruppen öfter als Frauen durch
einer Unterschätzung der Prävalenz von Depres­ Suizid [63]. Die tatsächliche Zahl erfolgreicher
sionen, denn insbesondere bei institutionalisier­ Suizide bei Älteren liegt vermutlich erheblich hö­
ten Personen ist ein erhöhtes Risiko zu beobach­ her als in der Todesursachenstatistik ausgewiesen.
ten. Depressive Symptome traten nach Studien­ Nicht erkannte Selbsttötungen können sich bei­
angaben bei 40 % bis 50 % der untersuchten spielsweise hinter Verkehrsunfällen und unklaren
Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Todesursachen verbergen [22, 64]. Eine besondere
Pflegeheimen auf (davon 15 % bis 20 % schwere Form der Selbsttötung ist die Selbstaufgabe bei
Depression) [17]. schwerer Erkrankung. Die Nahrungsaufnahme
Die Gefahr der Unterschätzung der Prävalenz wird reduziert oder ganz aufgegeben. Für Ange­
besteht auch deshalb – zumindest für leichtere hörige und Pflegende entsteht dabei eine ethische
Formen von Depressionen –, weil einige Kriterien Konfliktsituation.
der Diagnosestellung (Müdigkeit, Energieverlust,
Konzentrationsmangel, Gedanken an den Tod) Präventionspotenziale depressiver Störungen
oftmals bei Älteren als »normal« und nicht als Das Risiko einer depressiven Erkrankung ist vor
klinische Symptomatik erachtet werden. Die Di­ allem bei Partnerverlust, bei subjektiv erlebter
agnose Depression wird dann unter Umständen Einsamkeit, Mangel an sozialen Kontakten und
gar nicht gestellt [18]. In diesem Zusammenhang sozialer Integration, sowie bei (neu auftretenden)
sind depressive Störungen mit subdiagnostischer körperlichen Erkrankungen und Behinderungen
Symptomatik von Bedeutung, die in der Berliner erhöht [18, 20, 62]. Ein hohes Risiko für das Auf­
Gesundheit und Krankheit im Alter 53

treten einer Depression (50 % und höher) zeigte rückgeführt, die die Depression begünstigen, au­
sich nach Verlust des Ehepartners bzw. der Ehe­ ßerdem auf eine ungenügende Erkennung und
partnerin [65]. Alleinleben per se war allerdings in Behandlung der Erkrankung [60]. Die Prävention
verschiedenen Studien nicht mit vermehrten psy­ von langfristig bestehenden Depressionen bei äl­
chischen Erkrankungen verbunden [65]. Auch die teren Menschen ist eine besondere Herausforde­
Erfahrung eines beginnenden geistigen Abbaus rung; spezielle Anstrengungen sind nötig, um bei
(vor allem am Beginn einer Demenzerkrankung) diesen Patientinnen und Patienten Präventions­
kann depressive Symptome auslösen [18, 65]. potenziale zu erschließen [3].
Die Prävention depressiver Symptome kann Trotz der Zunahme chronischer Erkran­
von Seiten der/s Betroffenen durch die Stärkung kungen, Schmerzen, funktioneller Einbußen
von Selbstkonzept und Kontrollüberzeugung, und Verluste zeigte sich in vielen Studien kein
durch die frühzeitige Entwicklung von Bewäl­ Anstieg der Rate psychisch Erkrankter Älterer im
tigungsstrategien und durch die Erweiterung Vergleich zum mittleren Lebensalter. Auch wenn
individuell wichtiger Aktivitäten (z. B. Hobbys) die vorliegenden Forschungsergebnisse hier nicht
unterstützt werden [3]. Außerdem kann die Mobi­ vollkommen übereinstimmen, deutet dies laut
lisierung sozialer Kontakte und Hilfe aus dem en­ Kruse [3] auf eine gut erhaltene psychische Wi­
geren Netzwerk der/des Betroffenen sinnvoll sein, derstandfähigkeit älterer Menschen hin. Frauen
um eine bessere soziale Integration und Teilhabe und Männer im dritten und vierten Lebensalter
zu gewährleisten. Hinsichtlich der medizinisch­ sind vielfach in der Lage, das frühere Anpassungs-
psychologischen Betreuung älterer Menschen und Funktionsniveau auch nach Verlusterlebnis­
sind die Linderung von Krankheitssymptomen sen und dem Eintreten von Beeinträchtigungen
sowie die seelische Verarbeitung von Krankheiten wieder zu erreichen.
und belastenden Ereignissen von großer Bedeu­
tung. Der Frühbehandlung depressiver Symp­
tome durch qualifizierte Psychiaterinnen/Psy­ 2.1.5 Weitere ausgewählte Gesundheitsprobleme
chiater oder Psychologinnen/Psychologen kommt im Alter
ebenfalls eine wichtige Rolle zu [65].
Die Ausschöpfung der Präventionspotenzi­ In diesem Abschnitt sollen beispielhaft zwei wei­
ale depressiver Störungen ist nicht nur wegen des tere wichtige Gesundheitsprobleme älterer Men­
Risikos für Suizid und Suizidversuch bei depres­ schen herausgegriffen werden, die bisher, im
siv Erkrankten hervorzuheben. Auch die Tatsa­ Gegensatz zu den in den Abschnitten 2.1.3 und
che, dass eine Therapie ausgeprägter Symptome 2.1.4 behandelten Erkrankungen, relativ wenig
schwierig ist und trotz einer Vielzahl von zur Ver­ Aufmerksamkeit erhalten. Es handelt sich um das
fügung stehenden antidepressiven Medikamenten Tabuthema Harninkontinenz und um die Mund­
etwa 50 % der Betroffenen nicht adäquat auf die gesundheit älterer Menschen.
erste Behandlung ansprechen [62], unterstreicht
ihre Bedeutung. Die Nutzung von Psychothera­
pie bei der Behandlung depressiver Störungen im Harninkontinenz
Alter ist zurzeit noch wenig verbreitet, obwohl es
deutliche Hinweise darauf gibt, dass sie ebenso Harninkontinenz ist ein häufiges, jedoch immer
wirksam wie im mittleren Lebensalter ist [18]. noch stark tabuisiertes Problem [66] und zählt
Nur bei einem Teil der depressiv Erkrankten zu den Hauptproblemen in der Geriatrie [67]. Es
wird die auslösende Ursache in einer Häufung handelt sich dabei weniger um eine Krankheit,
von Belastungen im Alter vermutet. Bei anderen sondern eher um ein Symptom mit vielfältigen
Patientinnen und Patienten handelt es sich um möglichen Ursachen [66].
eine »alternde« Erkrankung, d. h. die depressive Von Harninkontinenz wird ganz allgemein
Störung hat bereits eine lange Vorgeschichte [3]. gesprochen, wenn es Betroffenen nicht (immer)
Rezidivierende (wiederholt auftretende) depres­ möglich ist, Zeit und Ort der Harnausscheidung
sive Störungen sind besonders im Alter häufig. zu kontrollieren [66]. Bei älteren Patientinnen und
Dies wird auf ein Fortbestehen der Faktoren zu­ Patienten, wie auch bei Pflegebedürftigen, liegt
54 Gesundheit und Krankheit im Alter

am häufigsten eine Dranginkontinenz vor (starkes dass schätzungsweise etwa 30 % der 70-Jährigen
Harndranggefühl im Zusammenhang mit einem und Älteren von Harninkontinenz betroffen sind,
unwillkürlichen Harnverlust) [66]. In Studien bei 15 % bis 20 % liegt eine belastende Inkonti­
zeigte sich, dass Dranginkontinenz die stärksten nenz vor [66]. Die Verbreitung steigt mit zuneh­
Auswirkungen auf die Lebensqualität hat [66] und mendem Alter deutlich, wobei Frauen in allen Al­
für die meisten inkontinenzbezogenen Komplika­ tersgruppen häufiger als Männer betroffen sind.
tionen verantwortlich ist. Sie führt beispielsweise Der weibliche Körperbau ist mit einem größeren
zu vermehrten Stürzen bei Älteren und zu see­ Inkontinenzrisiko verbunden. Zusätzlich erhöht
lischen Beeinträchtigungen und Depressionen die körperliche Beanspruchung durch Schwanger­
[66, 68, 69]. Vor allem bei Älteren tritt auch die schaft und Entbindung das Inkontinenzrisiko. Im
sogenannte vorübergehende Inkontinenz auf, her­ sehr hohen Lebensalter nähern sich die Prävalenz­
vorgerufen beispielsweise durch eingeschränkte raten von Frauen und Männern allerdings an.
Mobilität, Verwirrtheit, Medikamentenwirkungen Eine Inkontinenz kann durch zahlreiche
oder Harnwegsinfektionen. Durch die Beeinflus­ Krankheiten, Unfälle, medizinische Eingriffe,
sung der zugrunde liegenden Ursachen kann sie Medikamente sowie Lebensstil- und psychosoziale
oftmals behoben oder gebessert werden. Daneben Faktoren verursacht bzw. gefördert werden. Im Al­
gibt es weitere Inkontinenzformen, z. B. die Stress­ ter gibt es zusätzliche Ursachen bzw. Risiken, wie
inkontinenz oder die Mischinkontinenz. beispielsweise altersbedingte Veränderungen der
Aussagen zur Verbreitung der Harninkon­ beteiligten Organe (u. a. Nachlassen der Muskel­
tinenz variieren zwischen 5 % und über 50 % spannung der Beckenbodenmuskulatur), nachlas­
[66]. Vielfältige Erhebungsprobleme bei der em­ sende Kontrolle des Harntraktes durch das Gehirn
pirischen Erfassung führen zu diesen breit gefä­ (u. a. durch Erkrankungen wie Schlaganfall), chro­
cherten Prävalenzschätzungen [66]. Von den zur­ nische Harnwegsinfektionen, nicht-urologische
zeit vorliegenden Studien ist insbesondere eine Erkrankungen wie Herzinsuffizienz oder Diabetes
norwegische Untersuchung (EPICONT-Studie), mellitus, (Multi-) Medikation und funktionale Ein­
an der 28.000 Frauen teilnahmen, methodisch schränkungen (u. a. Verwirrtheitszustände) [66].
wegweisend [66]. Die Autoren kommen zu dem Aus Studien ist bekannt, dass viele Menschen,
Schluss, dass etwa 7 % der befragten Frauen von die unter Harninkontinenz leiden, keine ärztliche
einer signifikanten Harninkontinenz betroffen Hilfe in Anspruch nehmen. Inkontinenzbetrof­
sind, d. h. neben der Inkontinenz auch unter deut­ fene versuchen oftmals, die Symptome durch
lichen Auswirkungen auf die Lebensqualität lei­ eingeschränkte Flüssigkeitsaufnahme zu beein­
den. Die Häufigkeit stieg mit wachsendem Alter. flussen [66, 70]. Dies birgt aber insbesondere bei
Eine signifikante Inkontinenz wurde beispielswei­ Älteren die Gefahr einer erhöhten Infektneigung
se von 9 % der 65- bis 70-Jährigen berichtet, bei [3], von Kreislaufproblemen und Verwirrtheit [50].
den über 85-Jährigen waren es bereits 16 %. Das Vorliegen einer Inkontinenz kann zu starken
Gleichermaßen zuverlässige bevölkerungsbe­ Beeinträchtigungen im alltäglichen Leben mit der
zogene Daten liegen für Deutschland nicht vor. Im Gefahr des sozialen Rückzugs führen [66]. Die
Telefonischen Gesundheitssurvey 2005 gab ein Wahrscheinlichkeit für Krankenhausaufenthalte
Viertel der befragten 60- bis 69-jährigen Frauen und für eine Heimaufnahme ist erhöht [66, 71].
an, von Inkontinenz betroffen zu sein (Männer Dranginkontinenz stellt außerdem einen Risiko­
10 %). Im höheren Alter (ab 80 Jahren) betraf das faktor für Stürze und dadurch bedingte Knochen­
Problem Harninkontinenz sogar jede dritte Frau brüche bei Älteren dar [66, 69]. Außerdem sind
(Männer 29 %). Über eine schwere Beeinträchti­ inkontinente Patientinnen und Patienten häufiger
gung – regelmäßiger und mehr als geringfügiger als Gleichaltrige von Depressionen betroffen [66].
Harnverlust mit deutlichen Einbußen an Lebens­ Insbesondere in stationären Pflegeeinrichtungen
qualität – berichteten 4 % der 80-jährigen und äl­ ist die Inkontinenz ein wesentlicher Risikofaktor
teren Frauen sowie 3 % der gleichaltrigen Männer für das Entstehen von Wundliegen (Dekubitus)
[66]. [50].
Zusammenfassend kann aus diesen und Für die Therapie der Harninkontinenz stehen
weiteren vorliegenden Studien abgeleitet werden, in der hausärztlichen Praxis gute Behandlungs­
Gesundheit und Krankheit im Alter 55

und Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung (z. B. schnitt 14,2 Zähne. Im Vergleich zu 1997 (durch­
Beckenbodentraining, Revision der Medikamen­ schnittlich 17,6 fehlende Zähne) hat sich die Zahl
teneinnahme) [66]. Bei komplizierten Fällen gibt noch vorhandener Zähne deutlich erhöht. Nur 5 %
es zudem zahlreiche spezialärztliche Methoden. der untersuchten Männer und Frauen, die ausge­
Hilfreich für einen guten Umgang mit dem Ge­ prägte Lücken im Gebiss aufwiesen, waren nicht
sundheitsproblem Harninkontinenz wäre weni­ prothetisch versorgt. Von totaler Zahnlosigkeit
ger Scheu (auch auf ärztlicher Seite), das Problem waren 23 % der Untersuchten betroffen. Alle wa­
anzusprechen. Wünschenswert ist ebenfalls eine ren prothetisch versorgt. Bei den Seniorinnen und
wirkungsvollere Förderung der Kontinenz in der Senioren dominierten herausnehmbare Formen
Pflege. von Zahnersatz, wenn einzelne oder alle Zähne
prothetisch ersetzt werden mussten [72]. Etwa ein
Drittel der Älteren hat festsitzende Brücken oder
Mundgesundheit Kronen, nur ein sehr kleiner Anteil hat Zahnim­
plantate (3 %).
Die Betroffenheit von Karies (Zahnfäule) ist bei Aus der DMS IV liegen auch Informationen
Seniorinnen und Senioren im Rückgang begrif­ zum Wohlbefinden hinsichtlich der eigenen
fen. Dies belegt die 4. Deutsche Mundgesund­ Mundsituation vor (mundgesundheitsbezogene
heitsstudie (DMS IV), bei der mehr als 1.000 Lebensqualität). Ältere Frauen und Männer ga­
Männer und Frauen im Alter von 65 bis 74 Jahren ben insgesamt nur sehr selten an, »oft« oder »sehr
untersucht wurden [72]. Trotzdem ist bei Älteren oft« von den aufgelisteten Mundgesundheitsprob­
fast durchweg eine hohe Karieslast (viele karies­ lemen betroffen zu sein [72]. Wenn Probleme
bedingte Schäden) erkennbar, auch wenn die berichtet wurden, dann handelte es sich dabei
Erkrankung bereits viele Jahre oder Jahrzehnte zumeist um »unangenehm, bestimmte Nahrungs­
zurückliegt. Sie haben im Mittel an 22 von 28 mittel zu essen« und »Schmerzen« im Mundbe­
Zähnen kariesbedingte Schäden (auch versorgte). reich (25 % bis 35 % aller Nennungen).
Im Vergleich zur Erhebung aus dem Jahr 1997 Zur Prävention von Mund- und Zahnerkran­
ist insbesondere die Zahl kariesbedingt entfernter kungen gehört in jedem Alter das regelmäßige
Zähne bemerkenswert zurückgegangen, um ca. Zähneputzen mit einer fluoridhaltigen Zahnpas­
20 % [72]. Die Wurzelkariesprävalenz ist hingegen ta und Kontrollbesuche bei der Zahnärztin bzw.
deutlich gestiegen, 45 % der 65- bis 74-Jährigen beim Zahnarzt, die mindestens einmal jährlich er­
sind betroffen (mindestens eine kariöse oder ge­ folgen sollten. Auch wenn nur noch wenige eigene
füllte Wurzelfläche) [72]. Es zeigte sich, dass die Zähne im Mund verblieben sind, ist eine Kontrolle
Häufigkeit von Karies, das Vorkommen von Wur­ der Mundgesundheitssituation wichtig, beispiels­
zelkaries und insbesondere die Anzahl der wegen weise hinsichtlich Druckstellen (durch Prothesen)
Karies entfernten Zähne mit der sozialen Lage oder Entzündungen. Das Mundgesundheitsver­
in Zusammenhang stehen. Seniorinnen und Se­ halten der älteren Menschen ist tendenziell positiv
nioren mit hoher Schulbildung haben den nied­ zu beurteilen: 80 % der Befragten gaben an, dass
rigsten Kariesbefall. Kein Einfluss der sozialen sie sich mindestens zweimal täglich die Zähne
Lage zeigte sich hingegen beim sogenannten Ka­ putzen und 72 % gehen regelmäßig zur Kontrolle
riessanierungsgrad (Quotient der gefüllten Zähne zum Zahnarzt.
dividiert durch die Summe der gefüllten und (kari­
ös) zerstörten Zähne multipliziert mit 100) [72]. Er
ist ein wesentlicher Indikator der Versorgung der 2.1.6 Mehrfacherkrankungen (Multimorbidität)
Bevölkerung mit zahnärztlichen Dienstleistungen
und liegt bei den 65- bis 74-Jährigen mit 95 % auf Das gleichzeitige Auftreten mehrerer Erkran­
sehr hohem Niveau. Im Hinblick auf Zahnverlust kungen ist ein Charakteristikum der gesund­
wurde festgestellt, dass nur noch ca. 1 % der 65- heitlichen Lage älterer Menschen [2, 23]. Im Al­
bis 74-Jährigen auf Zahnersatz verzichten kann, ter vorliegende Krankheiten sind zudem häufig
weil die Zahnreihe komplett ist. Bei den älteren chronisch und irreversibel. Sie bestehen nicht
Patientinnen und Patienten fehlten im Durch­ unabhängig voneinander; vielmehr greifen Krank­
56 Gesundheit und Krankheit im Alter

heitsfolgen, damit verbundene Funktionsein­ Zielgröße, die bei der Entwicklung der Scores
schränkungen und erforderliche Arzneimittelthe­ und Indizes gewählt wurde, z. B. Vorhersage der
rapien in komplexer Weise ineinander (weitere Mortalität, Inanspruchnahme von Leistungen des
Charakteristika von Krankheit im Alter siehe Gesundheitssystems oder Lebensqualität, werden
Abschnitt 2.1.1 und 1.1.2). Für die Betroffenen re­ jeweils unterschiedliche Aspekte von Multimorbi­
sultiert hieraus ein hohes Risiko, auftretende Fehl­ dität erfasst. Die meisten Scores sind nicht varia­
funktionen von Organsystemen nicht mehr kom­ bel in unterschiedlichen Kontexten einsetzbar, da
pensieren zu können. Damit sind Einbußen an sie für eine ausgewählte Studienpopulation mit
unabhängiger Lebensführung, Selbstbestimmung speziellen soziodemografischen und krankheits­
und Lebensqualität verbunden, außerdem ergibt spezifischen Charakteristika entwickelt wurden.
sich häufig ein umfassender Behandlungsbedarf. Eine Erfassung bevölkerungsrepräsentativer
Die Versorgung älterer multimorbider Menschen Eckdaten zu Multimorbidität und daraus resultie­
stellt in ethischer, medizinischer und sozioöko­ rendem Versorgungsbedarf wäre von großem Wert
nomischer Hinsicht eine gesamtgesellschaftliche für die Entwicklung innovativer Versorgungs- und
Herausforderung dar [9]. Präventionskonzepte. Ein zurzeit laufendes, vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) gefördertes Forschungsprojekt widmet
Verbreitung von Multimorbidität sich dieser Frage (Forschungsverbund »Autono­
mie trotz Multimorbidität im Alter«, AMA). An­
Um Aussagen zur Verbreitung von Multimorbi­ gaben zur Verbreitung von Multimorbidität in
dität in der Bevölkerung zu treffen, ist zunächst Deutschland sind derzeit nur sehr eingeschränkt
eine präzise Begriffsbestimmung notwendig. Im verfügbar. Für die in Privathaushalten lebende Be­
Bereich der Medizin gebräuchliche Definitionen völkerung bis 79 Jahre kann der Bundes-Gesund­
beziehen sich überwiegend lediglich auf die An­ heitssurvey 1998 herangezogen werden. Dort
zahl der vorliegenden Erkrankungen, beispiels­ wurde nach dem Vorkommen von insgesamt 43
weise »zwei«, »mindestens fünf« oder »mehrere« überwiegend chronischen Krankheiten und Ge­
[4]. Unterschiede in den Begriffsbestimmungen sundheitsstörungen gefragt, darunter Bluthoch­
bestehen außerdem dahingehend, ob eine di­ druck, Osteoporose und Krebserkrankungen. In
rekte Behandlungsbedürftigkeit vorliegen muss der Gruppe der 60- bis 79-Jährigen waren 87 %
oder nicht, um eine Erkrankung in die Zählung der Männer und 92 % der Frauen in den letzten
aufzunehmen [z. B. 4, 21, 73]. Daraus ergibt sich 12 Monaten vor der Befragung von mindestens
eine große Uneinheitlichkeit bezüglich des Krank­ einer der Krankheiten betroffen. Im Durchschnitt
heitsgefüges, das jeweils als Multimorbidität be­ gaben Männer diesen Alters 2,6 und Frauen 3,3
zeichnet wird. Außerdem stellt sich die Frage, Krankheiten an. Gleichzeitig wird aber auch deut­
ob Multimorbidität nicht mehr ist als das reine lich, dass die Mehrheit der 60- bis 79-Jährigen
Vorhandensein mehrerer gleichzeitig bestehen­ nicht unter einer schweren, lebensbedrohlichen
der Erkrankungen. Eine Erweiterung des Begriffs­ Krankheit leidet [16, 75].
inhaltes Multimorbidität, um Komponenten wie Auch in der Berliner Altersstudie wurde die
beispielsweise Medikation, Krankheitsfolgen oder Zahl der diagnostizierten Erkrankungen zugrun­
subjektive Bewertung der Leiden, steht noch aus de gelegt, um das Ausmaß von Multimorbidität in
[4]. der älteren Bevölkerung (auch in Heimen) abzu­
Aufgrund der skizzierten methodischen schätzen. Bei fast einem Drittel der 70-Jährigen
Schwierigkeiten und einer sehr eingeschränkten und Älteren und knapp der Hälfte der 85-Jährigen
epidemiologischen Datenlage ist bislang unklar, und Älteren wurden durch die Projektärztin/den
wie häufig Multimorbidität in der Bevölkerung Projektarzt mindestens fünf internistische, neu­
auftritt. Um Multimorbidität zu erfassen, wurden rologische, orthopädische und/oder psychische
in verschiedenen Settings Scores und Indizes ent­ Erkrankungen diagnostiziert, die behandlungsbe­
wickelt, beispielsweise Cumulative Illness Rating dürftig sind [16, 23]. Bei Frauen lagen insgesamt
Scale (CIRS), Functional Comorbidity Index (FCI) mehr medizinische Diagnosen vor, was auch zu
und Charlson Comorbidity Index [74]. Je nach einem – im Vergleich zu den gleichaltrigen Män­
Gesundheit und Krankheit im Alter 57

nern – höheren Anteil multimorbider Patien­ hat schließlich rund ein Viertel fünf und mehr
tinnen führte [14]. Im Alter von 70 bis 84 Jahren Erkrankungen (24 %). Die Ergebnisse des Surveys
wurden für 27 % der Frauen und 19 % der Män­ zeigen auch, dass Mehrfacherkrankungen nicht
ner fünf und mehr Diagnosen gestellt. Unter den allein eine Herausforderung des hohen Alters
85-Jährigen und Älteren waren 54 % der Frauen sind, da bereits viele jüngere Personen darüber
und 41 % der Männer von Multimorbidität betrof­ berichten [8].
fen [3, 15]. Sowohl zwischen Alter und Multimor­ Neben dem Einfluss von Alter und Ge­
bidität als auch zwischen Geschlecht und Multi­ schlecht auf das Vorliegen von Multimorbidität
morbidität zeigte sich in der Berliner Altersstudie ergaben sich in Studien auch Hinweise darauf,
ein statistisch bedeutsamer Zusammenhang [3]. dass die Anzahl der chronischen Erkrankungen
Die Ergebnisse des Alterssurvey 2002 (ba­ mit der sozialen Lage variiert. Angehörige sta­
sierend auf Selbstauskünften der Befragten), der tusniedriger Bevölkerungsgruppen sind von vie­
auch Personen im mittleren Lebensalter einbezog, len chronischen Krankheiten und Beschwerden
zeigen wiederum einen deutlichen altersbezo­ häufiger betroffen. Dieser Zusammenhang ist
genen Anstieg beim Auftreten von Multimorbidi­ vor allem für das mittlere Erwachsenenalter um­
tät, hier ebenfalls verstanden als Gleichzeitigkeit fassend untersucht und gut belegt. Vorliegende
mehrerer Erkrankungen. Der Anteil betroffener Untersuchungen zeigen aber, dass sich soziale
Patientinnen und Patienten nimmt ab der Alters­ und gesundheitliche Aspekte auch im höheren
gruppe 40 bis 54 Jahre von Altersstufe zu Alters­ Lebensalter beeinflussen. Hinsichtlich der Aus­
stufe stark zu [8] (siehe Abbildung 2.1.6.1). Der wirkungen funktioneller Beeinträchtigungen im
Prozentsatz der Befragten, die über fünf oder Alter wurde ebenfalls ein Zusammenhang mit der
mehr gleichzeitig bestehende Erkrankungen be­ sozialen Lage festgestellt [4, 76]. Im Kapitel 3.2
richten, verdreifacht sich von 4 % in der Gruppe werden diese Fragen ausführlich diskutiert.
der 40- bis 54-Jährigen auf 12 % in der Gruppe der Ein wichtiger Aspekt des Problems Multimor­
55- bis 69-Jährigen [5]. Bei den 70- bis 85-Jährigen bidität ist die Tatsache, dass das Vorliegen meh­
rerer (körperlicher) Erkrankungen das Risiko für
eine psychische Komorbidität erhöht. Beispiels­
weise kann ein langjähriger Diabetes mellitus
Abbildung 2.1.6.1 die Ausbildung einer Depression begünstigen
Anteile der Personen, die von mehreren Erkrankungen [23]. Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 war die
gleichzeitig betroffen sind, nach Alter 2002
Quelle: Replikationsstichprobe des Alterssurveys 2002, Diagnose Diabetes mellitus mit einer erhöhten
gewichtet, eigene Darstellung [5] Wahrscheinlichkeit für Angststörungen assoziiert
(Altersgruppe 18 bis 65 Jahre) [77]. Inwiefern das
Prozent
100 gemeinsame Auftreten von Stoffwechselerkran­
kungen (z. B. Diabetes mellitus) und psychischen
80 Störungen (z. B. Angststörungen und Depres­
sionen) möglicherweise auf gemeinsame Auslöser
60
zurückgeführt werden kann, ist derzeit Gegen­
stand der Forschung [78]. Die dauerhafte über­
40
mäßige Aktivierung hormoneller Regulationspro­
zesse, beispielsweise durch emotionalen Stress,
wird für beide Erkrankungen als entscheidender
20
Faktor diskutiert [78].
In der Berliner Altersstudie traten Depres­
40–54 55–69 70–85 sionen signifikant häufiger bei hilfsbedürftigen,
multimorbiden, immobilen oder multimedika­
Altersgruppe
mentös behandelten älteren Menschen auf [23].
5 und mehr Erkrankungen Auch ein Zusammenhang zwischen Einschrän­
1 Erkrankung
kungen in den Alltagsaktivitäten, die ihrerseits
2–4 Erkrankungen keine Erkrankung Folgen von Multimorbidität sein können, und dem
58 Gesundheit und Krankheit im Alter

Auftreten einer psychiatrischen Erkrankung ist be­ [23]. Das vielschichtige Krankheitsgefüge bei äl­
legt [23]. Multimorbidität ist im Alter häufig mit teren Patientinnen und Patienten wird – dies ist für
(ausgeprägten) funktionellen Einschränkungen alle präventiven und therapeutischen Maßnahmen
verbunden. Diese können zu einer dauerhaften von Bedeutung – immer durch psychosoziale Fak­
Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Alltagsbewäl­ toren und Funktionseinbußen mitbestimmt [23].
tigung führen und eine anhaltende Pflegebedürf­ Obwohl Multimorbidität im Alter, insbeson­
tigkeit herbeiführen [4]. Unter allen multimorbid dere ab dem vierten Lebensalter (85 Jahre) weit
erkrankten Teilnehmerinnen und Teilnehmern verbreitet ist, sind die Folgen – Multimedikation,
der Berliner Altersstudie war die Mortalität in den funktionelle Einschränkungen, Schmerzen – kein
folgenden 28 Monaten mit 26 % deutlich höher unabwendbares Schicksal. Auch ältere Menschen
als in der Gruppe derer, die weniger als fünf be­ verfügen über Präventionspotenziale, die genutzt
handlungsbedürftige Diagnosen (9 %) aufwiesen werden sollten. In jedem Alter und abgestimmt
[23]. auf den aktuellen persönlichen Gesundheitszu­
stand ist die Vorbeugung von Krankheiten, die
Verhinderung des Fortschreitens von Krankheiten
Präventive und therapeutische Aspekte sowie die Vermeidung von Folgeschäden möglich
und wichtig [8].
Medizinische und therapeutische Angebote für
ältere, chronisch multimorbid erkrankte Men­
schen verlangen eine komplexe und ganzheitliche 2.1.7 Resümee
Sichtweise, sowohl in der wissenschaftlichen als
auch in der praktischen Medizin [23]. Unter an­ Insgesamt, das zeigt der vorliegende Beitrag, ist
derem besteht die Gefahr, dass bei einem kom­ ein deutlicher Anstieg der Gesundheitsprobleme
plexen Krankheitsgefüge die Therapie wichtiger mit fortschreitendem Alter zu beobachten, sowohl
Krankheiten (z. B. medikamentöse Behandlung) hinsichtlich der Anzahl erkrankter Personen als
vernachlässigt wird. Andererseits nimmt die Häu­ auch bezüglich der Komplexität der vorliegenden
figkeit von Medikationsfehlern, Nebenwirkungen Beeinträchtigungen. Der beobachtete Anstieg von
und Arzneimittelinteraktionen mit steigender Erkrankungen im höheren Lebensalter ist nicht
Zahl der Wirkstoffe proportional zu. Krankheits­ umkehrbar, allerdings steht ein großer Teil der bei
symptome sind dann oftmals nur schwer von un­ älteren Menschen dominierenden Gesundheits­
erwünschten Arzneimittelwirkungen oder Inter­ probleme in engem Zusammenhang mit der per­
aktionswirkungen verschiedener Medikamente zu sönlichen Lebensweise. Hier sind beispielsweise
trennen [21, 79]. Es wird empfohlen, nicht mehr die Ernährung, das Bewegungsverhalten und die
als vier Medikamente regelmäßig anzuwenden Gewichtsregulation zu nennen, die nachweisbare
[80, 81]. Insbesondere bei geriatrischen Patien­ Auswirkungen auf die Prävalenz von Herz-Kreis­
tinnen und Patienten ist dies oftmals schwierig lauf-Erkrankungen und Krankheiten des Bewe­
und die Arzneimitteltherapie multimorbid er­ gungsapparates haben. Diese beiden Krankheits­
krankter Älterer verlangt viel therapeutische Er­ gruppen dominieren das Krankheitsspektrum im
fahrung (siehe auch Abschnitt 3.3.5). Alter. Außerdem ist hervorzuheben, dass ältere
Insgesamt ist die Inanspruchnahme ärzt­ Menschen in hohem Maße zu Anpassungsleis­
licher Leistungen bei Multimorbidität erhöht. In tungen in der Lage sind und über Bewältigungs­
der stationären Behandlung ist sie mit einer län­ ressourcen für den Umgang mit schwierigen
geren Verweildauer assoziiert [23, 53]. Ein höherer Lebenssituationen verfügen. Wissenschaftliche
Aufwand, auch in der Pflege multimorbider Kran­ Studien zur psychischen Gesundheit belegen, dass
kenhauspatientinnen und -patienten, resultiert der überwiegende Teil der älteren Bevölkerung
ebenfalls aus den behandlungsbedürftigen Neben­ trotz gesundheitlicher Einschränkungen und Ver­
diagnosen, die meist zahlreich sind und interagie­ lusterlebnissen keine psychischen Auffälligkeiten
ren [23]. Das Risiko einer Heimeinweisung steigt zeigt. Frauen und Männer im höheren Alter stellen
bei Multimorbidität, speziell wenn gleichzeitig sich in der Regel darauf ein, dass ihre Gesundheit
psychische und physische Erkrankungen vorliegen schlechter wird. Für chronische Erkrankungen
Gesundheit und Krankheit im Alter 59

konnte beispielsweise gezeigt werden, dass diese Aktuelles auf einen Blick: Gesundheit und Gesund­
heitsversorgung. Pressetexte der Bundesregierung
am Anfang deutlich belastender wahrgenommen
www.bmfsfj.de (Stand: 13.11.2008)
wird als im weiteren Verlauf. Hierdurch verschie­ 6. Statistisches Bundesamt (2006) Leben in Deutsch­
ben sich die persönlichen Kriterien für Gesund­ land. Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Tabellenan­
heit, so dass Ältere oftmals nicht die Abwesenheit hang zur Pressebroschüre. Statistisches Bundesamt,
Wiesbaden
von Krankheiten oder Behinderung als Kriterium
7. Wurm S, Tesch-Römer C (2006) Gesundheit, Hilfebe­
für »gute Gesundheit« ansehen, sondern die Ab­ darf und Versorgung. In: Tesch-Römer C, Engstler H,
wesenheit von lang andauernden und quälenden Wurm S (Hrsg), Altwerden in Deutschland. Sozialer
Beschwerden, beispielsweise Schmerzen, ein Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten
Lebenshälfte. VS Verlag für Sozialwissenschaften,
Maßstab für gute Gesundheit wird. Dies deutet
Wiesbaden, S 329 – 383
bereits darauf hin, dass neben den klinisch ob­ 8. Wurm S, Tesch-Römer C (2006) Gesundheit in der
jektivierbaren Sachverhalten das subjektive Er­ zweiten Lebenshälfte. Public Health Forum 14, H. 50
leben – die subjektive Gesundheit – eine große 9. Walter U, Schneider N, Bisson S (2006) Krankheitslast
und Gesundheit im Alter. Herausforderungen für die
Rolle für die Gesundheit des Einzelnen spielt. Im
Prävention und gesundheitliche Versorgung. Bundes­
vorliegenden Kapitel wurden zunächst die phy­ gesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheits­
sischen und psychischen Aspekte der Gesundheit schutz 49: 537 – 546
im Alter betrachtet. Neben der bereits erwähnten 10. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in
der Bundesrepublik Deutschland (2008) Häufigste
subjektiven Sicht auf die gesundheitliche Lage ist
Diagnosen in Prozent der Behandlungsfälle in Arzt­
insbesondere bei älteren und alten Menschen die praxen in Nordrhein 2007 nach Geschlecht, ICD-10,
Funktionsfähigkeit von großer Bedeutung (funk­ Arztgruppe
tionale Gesundheit). Das folgende Kapitel (2.2) www.gbe-bund.de (Stand: 13.11.2008)
11. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung
widmet sich diesem Thema. Auf die subjektiven
in der Bundesrepublik Deutschland (2005) ZI-Panel
Aspekte der Gesundheit wird im Kapitel 2.3 ver­ zur Morbiditätsanalyse: Basisstatistik. Nach dem ICD­
tiefend eingegangen. Ein »Zusammendenken« 10-GM-Schlüssel codierte Diagnosen von Ärzten aus
dieser vier Bereiche von Gesundheit ist wichtig, dem ADT-Panel des Zentralinstituts in der Kassenärzt­
lichen Vereinigung Nordrhein, 1. Quartal 2005. Zen­
denn körperliche, seelische und funktionale Be­
tralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der
einträchtigungen stehen in enger Beziehung und Bundesrepublik Deutschland, Berlin
wirken sich auf die gesundheitsbezogene Lebens­ 12. Statistisches Bundesamt (2007) Todesursachensta­
qualität aus, die ihren Ausdruck in der subjektiven tistik 2006. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden
13. Statistisches Bundesamt (2008) Diagnosedaten der
Gesundheitseinschätzung findet.
Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern (ein­
schl. Sterbe- und Stundenfälle) 2006. Statistisches
Bundesamt, Wiesbaden
Literatur 14. Robert Koch-Institut (Hrsg) (2006) Koronare Herz­
krankheit und akuter Myokardinfarkt. Gesundheits­
berichterstattung des Bundes Heft 33. Robert Koch-
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Gesundheit und Krankheit im Alter 61

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62 Gesundheit und Krankheit im Alter

2.2 Funktionale Gesundheit und Pflegebedürftigkeit


Sonja Menning, Elke Hoffmann

Kernaussagen Im vorhergehenden Kapitel 2.1 wurde das Augen­


merk auf die Verbreitung somatischer und psy­
1. Der Begriff der funktionalen Gesundheit be­ chischer Krankheiten im Alter gelegt. Das Kapitel
schreibt, wie Menschen aufgrund ihrer ge­ 2.2 beleuchtet nun näher Einschränkungen der
sundheitlichen Voraussetzungen in der Lage funktionalen Gesundheit unter älteren Menschen
sind, Alltagsanforderungen zu erfüllen und und das daraus resultierende Ausmaß der Hilfe-
am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. und Pflegebedürftigkeit. Nach einer Erläuterung
Eine gute funktionale Gesundheit ist we­ des Begriffs der funktionalen Gesundheit werden
sentlich für Autonomie und selbstständige einzelne Aspekte ihrer Beeinträchtigung im Alter
Lebensführung im Alter. vorgestellt. Ein weiterer Abschnitt widmet sich
2. Funktionale Einschränkungen und Aktivi­ der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit von Personen
tätsbeschränkungen im Alltag aufgrund ge­ in Privathaushalten und Pflegeeinrichtungen. Die
sundheitlicher Probleme nehmen mit dem Abschnitte 2.2.5 und 2.2.6 rücken zwei Fragestel­
Alter zu. Frauen zeigten dabei häufiger Ein­ lungen in den Mittelpunkt: Welche Krankheiten
schränkungen als Männer. sind es, die die funktionale Gesundheit im Alter
3. Hauptauslöser für funktionale Beeinträch­ negativ beeinflussen? In welcher Beziehung steht
tigungen und Hilfebedürftigkeit sind im eine steigende Lebenserwartung zur Entwicklung
höheren Lebensalter die chronischen Krank­ der funktionalen Gesundheit im Alter? Ein Aus­
heiten. Hilfe- und Pflegebedürftigkeit wird in blick auf mögliche künftige Entwicklungen der
erster Linie verursacht durch Krankheitsfol­ funktionalen Gesundheit Älterer schließt das Ka­
gen, die die Mobilität älterer Menschen beein­ pitel ab.
trächtigen oder kognitive Einschränkungen
nach sich ziehen.
4. Pflegebedarf entsteht in der Regel erst jen­ 2.2.1 Einleitung – Was ist funktionale
seits des 80. Lebensjahres in relevantem Gesundheit?
Ausmaß. Frauen sind wegen ihrer oftmals
schlechteren körperlichen Verfassung stär­ Mit dem steigenden Anteil Älterer an der Bevölke­
ker betroffen als Männer. Für sie dauert die rung wird es zunehmend wichtig, nicht nur Infor­
in pflegebedürftigen Zustand verbrachte Le­ mationen über die Verbreitung von Krankheiten
bensphase länger, da sie im Mittel früher pfle- unter Älteren zu haben, sondern auch über ihren
gebedürftig werden und zudem auch länger funktionalen gesundheitlichen Zustand. Die funk­
leben. tionale Gesundheit beschreibt, wie Menschen auf­
5. Es ist noch nicht endgültig zu beantworten, grund ihrer gesundheitlichen Voraussetzungen in
ob die Verlängerung der Lebenszeit im Al­ der Lage sind, Alltagsanforderungen zu erfüllen
ter auch mit einer Zunahme der Lebensjahre und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
ohne substanzielle funktionale Einschrän­ Eine gute funktionale Gesundheit ist wesentlich
kungen einhergeht. Es überwiegen allerdings für Autonomie und selbstständige Lebensfüh­
die Studien, die Verbesserungen in der funk­ rung im Alter. Oder umgekehrt: Funktionale
tionalen Gesundheit Älterer in den letzten Einschränkungen im Alter können dazu führen,
Jahren nachweisen. dass gewohnte Tätigkeiten nicht mehr ausgeübt
werden können, Aktionsspielräume eingeengt
werden und die betreffende Person hilfe- oder
pflegebedürftig wird.
Gesundheit und Krankheit im Alter 63

Nach der Definition der WHO ist eine Person schränkungen als Männer. Die Gründe dafür sind
funktional gesund, wenn – vor dem Hintergrund vielschichtig. Einerseits häufen sich bei Frauen
ihrer Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, persön­ spezifische Risiken im Lebensverlauf an. Sie erle­
liche Faktoren) – ben mehr physiologische Transitionssituationen
▶ ihre körperlichen Funktionen (einschließ­ (Umbruchsituationen), wie Schwangerschaften,
lich des mentalen Bereichs) und Körper­ Geburten oder die Menopause. Zu diesen physio­
strukturen denen eines gesunden Menschen logischen Besonderheiten kommen bestimmte
entsprechen (Konzept der Körperfunktionen soziale Risiken, wie z. B. ein im Vergleich zu den
und -strukturen) älteren Männern geringeres Bildungs- und Ein­
▶ sie nach Art und Umfang das tut oder tun kommensniveau und Lebensstilfaktoren, wie eine
kann, was von einem Menschen ohne Ge­ geringere körperliche Aktivität im Alter. Zu grö­
sundheitsproblem erwartet wird (Konzept der ßeren funktionalen Einschränkungen trägt auch
Aktivitäten) die im Vergleich zu Männern höhere Prävalenz
▶ sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, (Häufigkeit) von nichtletalen (nicht zum Tode
die ihr wichtig sind, in der Weise (Art und führenden) Krankheiten und Störungen bei, die
Umfang) entfalten kann, wie es von einem die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Dazu
Menschen ohne gesundheitsbedingte Beein­ gehören z. B. orthopädische Probleme wie Frak­
trächtigungen der Körperfunktionen oder turen, Osteoporose, Rückenschmerzen, Gelenk­
-strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird erkrankungen, aber auch psychische Störungen
(Konzept der Partizipation) [1, 2, 3]. wie Depressionen [4] (vgl. Kapitel 2.1). Verbrugge
stellte bereits 1982 fest, dass Männer oftmals die
tödlicheren Krankheiten und damit eine höhere
2.2.2 Funktionale Beeinträchtigungen Mortalität (Sterblichkeit) haben, Frauen dagegen
eher Krankheiten, die die funktionale Gesundheit
Die funktionale Gesundheit ist in allen Lebens­ einschränken [5]. Unter diesen Prämissen mag es
altern von Belang. Da funktionale Beeinträchti­
gungen aber mit dem Alter zunehmen, sind vor
allem in dieser Phase des Lebens Lebensqualität
und funktionale Gesundheit eng miteinander Abbildung 2.2.2.1
verbunden. Funktionale Beeinträchtigungen sind Aktivitätsbeschränkungen (GALI) nach Alter
und Geschlecht 2004
Aktivitätseinschränkungen bzw. Schwierigkeiten Quelle: SHARE 2004, Daten für Deutschland, gewichtet,
beim Ausführen bestimmter Aktivitäten aufgrund eigene Berechnungen
körperlicher oder mentaler Schädigungen bzw.
Störungen. Ihre Entwicklung über die Altersgrup­ Prozent
pen hinweg zeigt Abbildung 2.2.2.1. Abgebildet 100
ist der Indikator GALI (Global Activity Limitation
Indicator), der misst, ob die Befragten innerhalb 80
eines bestimmten Zeitraums (hier: im letzten hal­
ben Jahr) durch gesundheitliche Probleme an der 60
Ausübung ihrer üblichen Aktivitäten gehindert
waren. 40
Deutlich wird, dass sowohl Männer als auch
Frauen mit zunehmendem Alter wesentlich 20
häufiger solche Aktivitätsbeschränkungen ange­
ben. Während von 50- bis 59-jährigen deutschen
Befragten nur etwa ein Drittel in ihrem Alltag 50–59 60–69 70–79 80+
Einschränkungen aufgrund gesundheitlicher
Altersgruppe
Probleme hatten, traf das auf über 80 % der 80-Jäh­
Frauen
rigen und Älteren zu. Frauen zeigten dabei mit
Ausnahme der ältesten Altersgruppe häufiger Ein­ Männer
64 Gesundheit und Krankheit im Alter

verwundern, dass in der ältesten Altersgruppe der die Farbwahrnehmung und die Lichtsensitivität,
Anteil der in ihren Alltagsaktivitäten beeinträch­ nimmt mit dem Alter ab. Eine wesentliche alters­
tigten Frauen und Männern in etwa gleich hoch bezogene Veränderung in der Sehfähigkeit, die
ist. Erklären lässt sich dieser Fakt dadurch, dass Altersweitsichtigkeit, stellt sich schon im mitt­
für diese Untersuchung die Bevölkerung in Pri­ leren Erwachsenenalter ein und betrifft nahezu
vathaushalten befragt wurde. Ältere Frauen mit die gesamte Bevölkerung der entsprechenden
einer sehr schlechten funktionalen Gesundheit Altersgruppen. Ein Teil des Funktionsverlustes
und großen funktionalen Einschränkungen le­ der Augen kann durch Sehhilfen, Operationen
ben aber (eher als Männer in dieser Situation) zu und ähnliche Interventionen kompensiert wer­
einem größeren Anteil in Pflegeeinrichtungen. den. Trotzdem ist, gerade im höheren Alter, der
Sie fehlen also überproportional häufig in den Be­ Anteil von Menschen mit Sehbeeinträchtigungen
fragungspopulationen in Privathaushalten. vergleichsweise hoch. Das zeigt auch Abbildung
Wurde im vorhergehenden Abschnitt gezeigt, 2.2.2.2, die den Anteil von Sehbeeinträchtigten
wie sich der Anteil funktionaler Beeinträchti­ nach Altersgruppen mit Daten des Alterssurveys
gungen ganz allgemein im Vergleich der Alters­ abbildet. Dabei wurden Alltagssituationen (Zei­
gruppen verändert, so sollen im nachfolgenden tung lesen, Treffen auf der Straße) erfasst. Der An­
Abschnitt einige konkrete Formen solcher Beein­ teil derjenigen, die Schwierigkeiten beim Lesen ei­
trächtigungen näher betrachtet werden. ner Zeitung haben, steigt bei den über 75-Jährigen
auf fast ein Drittel. Beim Erkennen von Personen
auf der Straße sind es in dieser Altersgruppe 17 %,
Sensorische Beeinträchtigungen – die Probleme angeben.
Sehen und Hören Hörverluste gehören ebenfalls zu den häu­
figsten chronischen Störungen des Alters. Im
Funktionale Einschränkungen des Sehens und Bundesgesundheitssurvey 1998 bezeichneten
Hörens betreffen einen großen Teil der älteren sich 17 % der 70- bis 79-jährigen Frauen und 31 %
Menschen. Das Alter stellt den größten Risikofak­ der gleichaltrigen Männer als schwerhörig. Auch
tor für alle Formen sensorischer Einschränkungen Befragte, die über ein Hörgerät verfügten, geben
dar. Schätzungen aus britischen Studien zufolge an schwer zu hören. Von Hörbeeinträchtigungen
leidet etwa ein Fünftel der über 75-Jährigen an Betroffene klagen häufig nicht über den Hörver­
hochgradigen Sehbeeinträchtigungen mit einer lust an sich, sondern darüber, dass sie Kommuni­
Sehschärfe unter 6/12, der Untergrenze für die kationsprobleme haben, also Gesprochenes nicht
Fahrtauglichkeit in Großbritannien. Ein Viertel oder falsch verstehen. Diese Schwierigkeiten
dieser Altersgruppe ist hörbeeinträchtigt nach können zu sozialem Rückzugsverhalten und psy­
den Kriterien des Flüstertests, mit dem Schwerhö­ chischen Problemen führen und somit auch eine
rigkeit diagnostiziert wird [6]. Einschränkungen selbstständige Lebensführung gefährden [6]. Die
im Hör- und Sehvermögen wirken nicht nur un­ Daten des Alterssurveys zeigen deutliche Unter­
mittelbar auf die Lebensqualität der Betroffenen, schiede zwischen den Altersgruppen bei Hörbe­
sondern sind darüber hinaus Risikofaktoren für hinderungen in Alltagssituationen. Ein Fünftel
Unfälle und weitere Krankheiten, wie z. B. für bzw. ein Viertel der über 75-jährigen Befragten
Gleichgewichtsstörungen, Hüftfrakturen und gaben Schwierigkeiten an beim Hören während
Depressionen [7]. Auch künftig werden Hör- und des Telefonierens bzw. während eines Gruppen­
Sehbeeinträchtigungen weltweit ein zentrales Ge­ treffens (siehe Abbildung 2.2.2.2).
sundheitsproblem darstellen. Einer aktuellen Stu­
die von Mathers und Loncar [8] zufolge werden im
Jahr 2030 in Ländern mit hohem und mittlerem Beeinträchtigungen der Mobilität
Durchschnittseinkommen altersbezogene Hör-
und Sehbeeinträchtigungen zu den Hauptgrün­ Mobilitätseinschränkungen oder gar der Verlust
den für verlorene gesunde Lebensjahre zählen. der Mobilität gehören zu den wichtigsten Risi­
Zum Sehen: Die Leistungsfähigkeit des Au­ kofaktoren für Hilfebedürftigkeit im Alter. Sie
ges, wie z. B. das Wahrnehmen von Kontrasten, werden vor allem im sehr hohen Alter zu einem
Gesundheit und Krankheit im Alter 65

Abbildung 2.2.2.2
Anteil von Befragten mit sensorische Beeinträchtigungen (Hören, Sehen)* nach Alter 2002
Quelle: Alterssurvey 2002, Replikationsstichprobe, gewichtet

Prozent
30

20
40–54 Jahre

55–64 Jahre

65–74 Jahre

10 75–84 Jahre

Sehen: Sehen: Hören: Hören:


Zeitung lesen Straße Telefonat Gruppe

* (Sehen: Zeitung lesen) Haben Sie aufgrund von Sehproblemen Schwierigkeiten beim Lesen der Zeitung (gegebenenfalls auch dann, wenn Sie
eine Sehhilfe benutzen)?
(Sehen: Straße) Haben Sie aufgrund von Sehproblemen Schwierigkeiten, Ihnen bekannte Personen auf der Straße zu erkennen (gegebenenfalls
auch dann, wenn Sie eine Sehhilfe benutzen)?
(Hören: Telefonat) Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Hören, wenn Sie telefonieren (gegebenenfalls auch dann, wenn Sie ein Hörgerät
benutzen)?
(Hören: Gruppe) Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Hören bei einem Gruppentreffen mit mehr als vier Personen (gegebenenfalls auch dann,
wenn Sie ein Hörgerät benutzen)?

Problem für die selbstständige Lebensführung. zu hüftnahen Oberschenkelhalsfrakturen. Bis zu


Ältere Frauen sind stärker als Männer von Ein­ 50 % aller Menschen im hohen Lebensalter, die
bußen ihrer Mobilität betroffen. Sie müssen da­ wegen eines Sturzes stationär behandelt werden
mit rechnen, mehr Lebensjahre als Männer mit müssen und 14 % bis 34 % der Patienten und
derartigen funktionalen Einschränkungen zu Patientinnen nach einer hüftnahen Oberschen­
leben und dadurch eine Verschlechterung ihrer kelhalsfraktur sterben innerhalb eines Jahres [9].
Lebensqualität zu erfahren. Eine langsame Geh­ Aus Abbildung 2.2.2.3 kann anhand der Daten des
geschwindigkeit und ein unsicherer Gang können Alterssurveys abgeleitet werden, dass vor allem
zu einer Ursache für Unfälle und Stürze werden, die ältesten Befragten zwischen 75 und 84 Jahren
die weitere Funktions- und Autonomieverluste einen Bedarf an Maßnahmen zur Verbesserung
nach sich ziehen. Nach Angaben einer Publikation ihrer Mobilität haben. Sie weisen in dieser Hin­
des Robert Koch-Instituts stürzen fast ein Drittel sicht erhebliche Probleme auf: Etwa jeder Vierte
der 65-Jährigen und Älteren und die Hälfte der gab an, stark eingeschränkt zu sein beim Steigen
80-Jährigen und Älteren mindestens einmal jähr­ mehrerer Treppenabsätze, beim Zurücklegen ei­
lich. 10 % bis 20 % dieser Stürze führen zu Ver­ ner Strecke von einem Kilometer bzw. von meh­
letzungen, ca. 5 % zu Frakturen, ca. 1 % bis 2 % reren Straßenkreuzungen.
66 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.2.2.3
Anteil von Befragten mit Beeinträchtigungen der Mobilität* nach Alter 2002
Quelle: Alterssurvey 2002, Replikationsstichprobe, gewichtet

Prozent
30

20
40–54 Jahre

55–64 Jahre

65–74 Jahre

10 75–84 Jahre

mehrere einen Treppenabsatz mehr als 1 Kilometer mehrere


Treppenabsätze steigen zu Fuß gehen Straßenkreuzungen
steigen weit zu Fuß gehen

* Frage: Sind Sie durch Ihren derzeitigen Gesundheitszustand bei diesen Tätigkeiten stark eingeschränkt, etwas eingeschränkt oder überhaupt
nicht eingeschränkt? (Anteil »stark eingeschränkt«)

2.2.3 Aktivitätseinschränkungen im Alltag – ADL (Activities of Daily Living) bzw. IADL (In­
ADL und IADL strumental Activities of Daily Living). Die ADL
messen die Fähigkeit, bestimmte Basisaktivitäten
Die physische Funktionsfähigkeit bzw. Behin­ der Pflege und Versorgung der eigenen Person zu
derung älterer Menschen wird in Studien häu­ leisten: Essen, Trinken, Baden/Duschen, An- und
fig gemessen mit Indikatoren selbstberichteter Ausziehen, ins Bett gelangen/aus dem Bett auf­
Schwierigkeiten bzw. der Unfähigkeit, bestimmte stehen. Die IADL sind dagegen komplexere Tätig­
Aufgaben des täglichen Lebens zu erfüllen. Die keiten. Sie erfassen, ob sich die betreffende Person
Kategorie der Aktivitätseinschränkungen im All­ innerhalb und außerhalb ihres Haushalts versor­
tag baut auf jener der funktionalen Beeinträchti­ gen kann: so z. B. Wäsche waschen, die Wohnung
gungen auf, steht aber stärker in einem sozialen reinigen, Mahlzeiten zubereiten, einkaufen, aber
Kontext. Aus dieser Konstruktion folgt, dass es auch die finanziellen Angelegenheiten regeln.
mehr ältere Menschen gibt, die funktionale Beein­ Einschränkungen in den ADL lassen auf ei­
trächtigungen in einer Befragung angeben als Ak­ nen relativ weit fortgeschrittenen Grad der Hilfe­
tivitätseinschränkungen, da nicht jede funktionale bedürftigkeit schließen. Dementsprechend nied­
Beeinträchtigung behindernd auf die Ausübung rig sind Angaben in dieser Kategorie bei älteren
von Alltagsaktivitäten wirken muss. Menschen, die in Privathaushalten leben (und
Gemessen werden Aktivitätseinschrän­ an einer Befragung teilnehmen). Eine Auswer­
kungen in Surveys häufig mit den Indikatoren tung der SOEP-Daten für unterschiedliche Jahre
Gesundheit und Krankheit im Alter 67

zeigt, dass der Anteil der Haushaltsmitglieder stärkerem Maß als die ADL nicht nur gesundheit­
von Befragten, die eine oder mehrere Beeinträch­ liche Einschränkungen wider, sondern auch sozi­
tigungen in der Körperpflege aufweisen, bis zum al definierte Rollen, Bedingungen der physischen
80. Lebensjahr noch relativ gering ist und erst und sozialen Umwelt und kulturelle Faktoren. Da­
danach die 10-Prozent-Marke übersteigt. Noch neben sind diese Indikatoren auch ein Ausdruck
geringer ist der Prozentsatz derjenigen, die nicht für die Entwicklung von Hilfsmitteln und ihren
ohne Hilfe ins Bett bzw. aus dem Bett gelangen Verbreitungsgrad in der betroffenen Population.
können. Über den Zeitraum zwischen 1992 und Die in Abbildung 2.2.3.1 und 2.2.3.2 darge­
2005 sind die Daten für die Einschränkungen bei stellten Zeitverläufe zeigen eine nahezu stabile
ADL-Aktivitäten relativ konstant geblieben (siehe bzw. rückläufige Entwicklung der Hilfebedürftig­
Abbildung 2.2.3.1). Da die SOEP-Daten in privaten keit bei ausgewählten ADL- bzw. IADL-Aktivitäten.
Haushalten erhoben werden, könnten sich aller­ Die Abnahme der Hilfebedürftigkeit fällt für die
dings Veränderungen in den Haushaltsstrukturen IADL-Aktivitäten deutlich stärker aus als für die
in diesen Ergebnissen niederschlagen, z. B. wenn ADL-Aktivitäten, bei denen die Entwicklung eher
stark ADL-eingeschränkte Familienmitglieder stagniert. Bei den IADL-Aktivitäten wiederum
häufiger in Pflegeeinrichtungen leben würden. konnten die über 80-Jährigen von den Verbesse­
Die IADL (Instrumental Activities of Daily rungen am stärksten profitieren. Das entspricht
Living) erweitern das Spektrum der untersuchten dem Entwicklungstrend in den westlichen Län­
Aktivitäten um diejenigen Tätigkeiten, die not­ dern insgesamt: Bei den IADL ist eine langfristige
wendig sind, um ein selbstständiges Leben in Tendenz zur Verringerung der Einschränkungen
einem Privathaushalt zu führen (z. B. Einkaufen, auszumachen, die nicht in gleichem Maß für die
Mahlzeiten zubereiten, Haushaltsreinigung, Wä­ ADL festzustellen ist. So wurden in den USA in
sche waschen). Demnach spiegeln die IADL in Bezug auf solche Aktivitäten wie Einkaufen, Mahl-

Abbildung 2.2.3.1
Hilfebedürftigkeit bei ADL-Aktivitäten (Anteil an allen Haushaltsmitgliedern in %) nach Alter 1985, 1998 und 2005
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel, Wellen 1985, 1998 und 2005, eigene Berechnungen

Prozent
25

Körperpflege* Aufstehen/Hinlegen (Bett)**


20

15

10
60–69 Jahre

70–79 Jahre
5
80 Jahre und älter

1992 1998 2005 1992 1998 2005


Jahr

* Körperpflege: Haushaltsmitglieder, die Hilfe benötigen bei einfacheren Pflegetätigkeiten, z. B. Hilfe beim An- und Auskleiden, Waschen,
Kämmen und Rasieren
** Aufstehen/Hinlegen (Bett): Haushaltsmitglieder, die Hilfe benötigen bei schwierigeren Pflegetätigkeiten, z. B. Hilfe beim Umbetten, Stuhl­
gang usw.
68 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.2.3.2
Hilfebedürftigkeit bei IADL-Aktivitäten (Anteil an allen Haushaltsmitgliedern in %) nach Alter 1985, 1998 und 2005
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel, Wellen 1985, 1998 und 2005, eigene Berechnungen

Prozent
25

Einkäufe* Hausarbeit**
20

15

10
60–69 Jahre

70–79 Jahre
5
80 Jahre und älter

1992 1998 2005 1992 1998 2005


Jahr

* Einkäufe: Haushaltsmitglieder, die Hilfe benötigen bei Besorgungen und Erledigungen außer Haus
** Hausarbeit: Haushaltsmitglieder, die Hilfe benötigen bei Haushaltsführung, Versorgung mit Mahlzeiten und Getränken

zeitenzubereitung und Geldverwaltung deutliche näheren Umfeld oder hauswirtschaftliche Erledi­


Rückgänge der Hilfebedürftigkeit während der gungen. Einschränkungen des Bewegungsappa­
1990er-Jahre beobachtet. Erklärt werden diese rates, körperlich-organische Erkrankungen sowie
Verbesserungen zum einen mit einer verbesserten kognitive und psychische Beeinträchtigungen
Gesundheit älterer Menschen, zum anderen aber können die Ursache dafür sein, dass ein Moment
auch mit einem erhöhten Gebrauch von Hilfsmit­ erreicht ist, in dem das Leben nicht mehr ohne
teln, die den Alltag erleichtern. So muss man nicht fremde Hilfe zu bewältigen ist. Zur sozialen Ab­
mehr unbedingt das Haus verlassen, um Einkäufe federung dieses Risikos der Pflegebedürftigkeit
zu tätigen oder Bankgeschäfte zu erledigen und können Bedürftige in Deutschland seit der stufen­
kann sich die Mahlzeitenzubereitung mit einer weisen Einführung der Pflegeversicherung 1994
Mikrowelle erleichtern [10]. Leistungen nach SGB XI, Pflegeversicherungsge­
setz beantragen. Als pflegebedürftig werden nach
§ 14 jene Personen bezeichnet, »die wegen einer
2.2.4 Hilfe- und Pflegebedürftigkeit körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit
oder Behinderung für die gewöhnlichen und re­
Ein Hilfe- und Pflegebedarf entsteht dann, wenn gelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ab­
ein solches Ausmaß an gesundheitlichen Ein­ lauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussicht­
schränkungen erreicht ist, dass im individuellen lich für mindestens sechs Monate, in erheblichem
Lebenskontext alltägliche Verrichtungen allein oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.«
nur noch begrenzt, später auch gänzlich unmög­ Im Jahr 1999 beanspruchten 1,61 Millionen
lich sind. Dazu gehören die persönliche Hygiene, Menschen, die 65 Jahre alt und älter waren, pfle-
die Nahrungsaufnahme, die Beweglichkeit im gerische Versorgungsleistungen. Das waren 12 %
Gesundheit und Krankheit im Alter 69

der Bevölkerung dieses Alters. Im Jahr 2005 ist vergeben, die täglich rund um die Uhr und auch
der Anteil auf 11 % gesunken, jedoch sind mit ins­ nachts Hilfe benötigen.
gesamt 1,75 Millionen mehr Personen betroffen, Von den Pflegeleistungsempfängerinnen und
weil die Zahl dieser Bevölkerungsgruppe ange­ -empfängern ab 65 Jahren wurden 64 % im Jahr
wachsen ist [11, 12]. 2005 zu Hause versorgt, davon zwei Drittel aus­
Die individuelle Bedürftigkeit wird nach An­ schließlich durch Angehörige, das andere Drittel
tragstellung und anschließender Begutachtung auch durch ambulante Pflegedienste (vgl. auch
durch den Medizinischen Dienst der Kranken­ [13]). Von den ausschließlich durch Angehörige
kassen (MDK) in Form von Pflegestufen amtlich Versorgten ist der Anteil mit Pflegestufe I am
anerkannt (siehe Kapitel 3.3). Pflegestufe I wird höchsten, im stationären Versorgungsbereich ist
vergeben für Personen, die bei der Körperpflege, dieser nur noch halb so groß. Hier ist jeder Vierte
der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens in die höchste Pflegestufe eingruppiert (siehe
zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Abbildung 2.2.4.1). Dennoch werden 60 % der
Bereichen mindestens einmal täglich Hilfe und schwerstpflegebedürftigen Personen (Stufe III)
zusätzlich mehrmals in der Woche Hilfe bei im Alter ab 65 Jahren außerhalb von Heimen im
hauswirtschaftlichen Verrichtungen benötigen. häuslichen Umfeld betreut. Das deutet darauf hin,
Pflegestufe II ist angemessen, wenn die tägliche dass Pflegebedürftige möglichst lange in ihrem
Hilfe mindestens dreimal und zu verschiedenen häuslichen Umfeld verbleiben, woraus sich hohe
Tageszeiten erforderlich ist (ansonsten wie Stu­ Ansprüche an den ambulanten Versorgungsbe­
fe I). Stufe III wird für Schwerstpflegebedürftige reich ableiten.

Abbildung 2.2.4.1
Pflegebedürftige ab 65 Jahren nach Versorgungsart und Pflegestufe, Deutschland 2005
Quelle: Pflegestatistik 2005 [12]

Prozent
70
ambulante Versorgung stationäre Versorgung
60

50

40
Pflegestufe I

30 Pflegestufe II

Pflegestufe III
20

10

ausschließlich durch durch Pflegedienste in Heimen Versorgte*


Angehörige Versorgte Versorgte

* Differenz zu 100 % durch 1,5 % mit unbestimmter Pflegestufe


70 Gesundheit und Krankheit im Alter

Mit dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit eine Empfehlung für einen reformierten Begriff
für Pflegebedürftigkeit, weil sich hier gesund­ aussprechen.
heitliche Einschränkungen durch sich abschwä­ Sozialwissenschaftliche Analysen, wie z. B.
chende individuelle Ressourcen verstärken kön­ die vom Bundesministerium für Familie, Seni­
nen. Schneekloth und Wahl verweisen darauf, oren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten
dass Hilfe- und Pflegebedarf jedoch nicht primär Studien zum Hilfe- und Pflegebedarf in Privat­
ein Zustand in Folge von Alter und Hochaltrigkeit haushalten (MuG III, 2002) und in Alteneinrich­
oder Erkrankung ist, sondern sich prozesshaft in tungen (MuG IV, 2005) Deutschlands, erfassen
Wechselwirkung von eingetretenen gesundheit­ auf der Basis der Einstufung nach SGB XI auch
lichen Verlusten mit vielfältigen individuellen die Selbst- und Fremdeinschätzung der gesund­
Ressourcen und Ressourcenbegrenzungen ent­ heitlichen Situation [14, 15, 16]. Sie schließen jene
wickelt [14]. In den vorangegangenen Abschnitten Personen ein, die einen Hilfebedarf artikulieren,
dieses Kapitels wurde bereits belegt, dass Pflege­ jedoch keine Leistung der Pflegeversicherung be­
bedarf in der Regel erst jenseits des 80. Lebens­ anspruchen. Mit der Studie MuG III werden für
jahres in relevantem Ausmaß auftritt. Von den das Jahr 2003 neben den 1,4 Millionen zu Hau­
80- bis 85-jährigen Frauen ist zunächst etwa jede se versorgten Personen mit Pflegestufe weitere
Vierte betroffen, von den Männern jeder Sechste. 3 Millionen in privaten Haushalten lebende Hilfe­
In der Bevölkerungsgruppe der 85- bis 90-Jäh­ bedürftige geschätzt. Die Differenz zur Zahl der
rigen leben von jeweils 10 Personen vier Frauen tatsächlichen Pflegeleistungsempfänger wird da­
bzw. drei Männer mit einer Pflegestufe. Frauen mit erklärt, dass es sich hier zum Teil um haus­
sind wegen ihrer oftmals stärker pflegerelevanten wirtschaftlichen Hilfebedarf handelt, der unter­
Erkrankungen stärker betroffen als Männer. Zu­ halb der Kriterien des SGB XI liegt. Ein weiterer
gleich dauert die in pflegebedürftigem Zustand Teil der Personen, die sich als hilfebedürftig an­
verbrachte Lebensphase für sie länger, da sie sehen, stellt in Erwartung eines abschlägigen Be­
länger leben. Weitere Informationen dazu finden scheids erst gar keinen Antrag auf Anerkennung
sich im Kapitel 3.3. einer Pflegestufe.
Die Daten der hier ausgewerteten Pflegesta­ Die Studie MuG III liefert Aussagen zu Be­
tistik lassen keine Rückschlüsse auf Pflegebiogra­ einträchtigungsprofilen in privaten Haushalten
fien (Alter bei Zuerkennung einer Pflegestufe, lebender Pflegebedürftiger, differenziert nach de­
Verweildauern, Übergänge zwischen den Stufen) ren Pflegestufen. Die Daten zeigen sehr deutlich
und auf differenzierte Beeinträchtigungsprofile den Zusammenhang zwischen den Funktionsein­
zu. Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich schränkungen und der Pflegestufe. Auffällig ist,
diese Daten ausschließlich am sozialrechtlich ge­ dass Hilfebedürftige ohne Pflegestufe vor allem
prägten Begriff der Pflegebedürftigkeit nach § 15 in den nichtkörperbezogenen, etwas komplexeren
SGB XI orientieren. Dieser stark an somatische Bereichen Aktivitätseinbußen und akuten Un­
Einschränkungen und an funktionale Verrich­ terstützungsbedarf benennen (siehe Abbildung
tungen geknüpfte Begriff wird von den in der 2.2.4.2).
Pflegewissenschaft, Gerontologie, Medizin und Bezüglich kognitiver Beeinträchtigungen er­
Pflegepraxis Tätigen kritisiert, da er geronto­ gab die Studie, dass 48 % der in Privathaushalten
psychiatrische Risiken wie z. B. demenzielle Er­ lebenden Pflegebedürftigen mit anerkannter Pfle-
krankungen und entsprechende Pflegebedarfe gestufe und 24 % der sonstigen Hilfebedürftigen
in der Begutachtungspraxis bisher zu wenig be­ in unterschiedlichen Schweregraden davon betrof­
rücksichtigt, ebenso wie multiple Funktionsein­ fen sind [15].
schränkungen und Versorgungsbedarfe infolge Standen bisher die Einschränkungen bei
chronischer Krankheiten. Die von der Bundesre­ den ADL und IADL von älteren Menschen in
gierung im Jahr 2006 angestoßene Reform des Privathaushalten im Mittelpunkt, so soll im Fol­
Pflegebedürftigkeitsbegriffes greift diese Kritik genden das Augenmerk auf die Bewohnerinnen
auf. Ende 2008 wird der vom Bundesministe­ und Bewohner in Pflegeeinrichtungen gelegt
rium für Gesundheit einberufene »Beirat zur werden. In welchem Umfang ist dieser Bevölke­
Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes« rungsgruppe aufgrund ihrer gesundheitlichen
Gesundheit und Krankheit im Alter 71

Abbildung 2.2.4.2
Ausgewählte Einschränkungen bei körperbezogenen alltäglichen Verrichtungen – Leistungsbezieher der Pflegeversicherung
und sonstige Hilfebedürftige in Privathaushalten zum Jahresende 2002
Quelle: TNS Infratest Repräsentativerhebung 2002 [15]

sich duschen/waschen

An-/Ausziehen

Toilette benutzen

Nahrung zu sich nehmen

Einkaufen
Sonstige Hilfebedürftige

Saubermachen Stufe 1

Stufe 2
Mahlzeiten zubereiten
Stufe 3

Finanzen regeln

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Prozent

Voraussetzungen eine selbstständige Lebensfüh­ bzw. psychischen Beeinträchtigungen kombiniert.


rung möglich? Die im Jahr 2005 durchgeführte Aus einer Liste solcher Beeinträchtigungen (wie
Untersuchung mit dem Titel »Möglichkeiten z. B. die Unfähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen,
und Grenzen selbstständiger Lebensführung in wie Antriebsarmut, wie die Unfähigkeit, Grund­
Einrichtungen – (MuG IV)« hat diese Fragestel­ bedürfnisse wahrzunehmen, wie räumliche Des­
lung in den Fokus genommen [16]. Aus dieser orientierung) trat bei 62 % der Heimbewohne­
Untersuchung von Heimbewohnerinnen und rinnen und Heimbewohner häufig mindestens
-bewohnern wurde deutlich, dass diese in allen eine auf. Nach Einschätzungen des Pflegeperso­
Bereichen der täglichen Versorgung ein hohes nals sind diese in jedem zweiten Fall auf demen­
Maß an Hilfe und Unterstützung benötigen zielle Erkrankungen zurückzuführen. Der Autor
(siehe Abbildung 2.2.4.3). Fast 90 % der unter­ dieser Studie konstatiert, dass der Hilfebedarf
suchten Gruppe können sich nach diesen Daten unter Heimbewohnerinnen und -bewohnern
nicht oder nur mit Schwierigkeiten allein duschen trotzdem differenziert ist und dass auch stationär
oder waschen, etwa drei Viertel nicht oder kaum untergebrachte Pflegebedürftige über nicht uner­
an- und ausziehen. Noch stärker beeinträchtigt hebliche Alltagskompetenzen verfügen, die mobi­
sind Heimbewohnerinnen und -bewohner in den lisiert und ausgebaut werden können.
hauswirtschaftlich orientierten Verrichtungen. Weitere Informationen zu gesundheitlichen
91 % von ihnen können allein keine öffentlichen Einbußen, die einen Pflegebedarf nach sich zie­
Verkehrsmittel nutzen, 89 % nicht oder nur mit hen, liefert der Medizinische Dienst der Kranken­
Schwierigkeiten allein einkaufen, 85 % ihre finan­ kassen (MDK). Analysen zu Bedürftigen mit Pfle-
ziellen Dinge nicht oder kaum regeln. Das hohe gestufe I legen nahe, hier zwischen zwei Gruppen
Maß an Einschränkungen bei den täglichen Ver­ zu unterscheiden: Menschen mit Krankheiten
richtungen ist in der Regel mit starken kognitiven mit nicht-progredientem (nicht voranschreiten­
72 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.2.4.3
Bewohnerinnen und Bewohner von Alteneinrichtungen in Deutschland nach Einschränkungen bei typischen
alltäglichen Verrichtungen 2005
Quelle: TNS Infratest-Heimerhebung 2005 [16]

Duschen/Waschen

An-/Ausziehen

Wasser/Stuhl halten

Allein Toilette nutzen

Zimmer umhergehen

Essen/Trinken
Einschätzungen des
Betreuungspersonals:
Öffentl. Verkehrsmittel nutzen

Einkaufen

Finanzielle Dinge regeln


allein unmöglich
Besuche machen
nur mit Schwierigkeiten
Draußen zurechtfinden

Telefonieren
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Prozent

dem) Verlauf, wie z. B. leichten Schlaganfällen. kus, bei der akuter Hilfebedarf allmählich und im
Bei diesen Menschen ist der, zumeist durch ei­ unterschwelligen Leistungsbereich von SGB XI
nen konkreten Anlass verursachte Hilfebedarf entsteht.
vergleichsweise niedrig und bleibt im zeitlichen Analysen des Mikrozensus im Jahr 2003 be­
Verlauf relativ konstant. Die zweite Gruppe wird legen, dass etwa eine Million Personen sich selbst
von Pflegebedürftigen mit stark progredienten als hilfebedürftig einstufen, jedoch (noch) keine
Krankheitsverläufen, allmählich einsetzendem Leistungen der Pflegeversicherung beziehen. Das
und entsprechend steigendem Hilfebedarf gebil­ sind weit weniger als sie MuG III (allerdings mit
det, z. B. bei vaskulären Demenzen und Morbus einer anderen Methodik) ausweist. Von dieser sich
Parkinson [17]. selbst als hilfebedürftig bezeichnende Gruppe
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass je haben 37 % keine Pflegestufe. Die anderen 63 %
nach Art und Grad gesundheitlicher Einbußen werden mit Leistungen der Pflegeversicherung
Pflegekarrieren recht unterschiedlicher Art ver­ versorgt. Im Vergleich zu 1999 ist die Gruppe
ursacht werden. Bestimmte Krankheiten können hilfebedürftiger Personen ohne Leistungsbezug
recht plötzlich den Pflegebedarf auslösen, in an­ um mehr als 13 % angewachsen. Zwei Drittel
deren Fällen kündigt sich dieser Zustand eher der Gruppe sind Frauen. Im Vergleich zu den
langfristig und schleichend an. Stabile Verläufe Leistungsbeziehern nach SGB XI sind diese Per­
sind möglich, ebenso wie progrediente in unter­ sonen jedoch deutlich jünger. Nur etwa ein Drit­
schiedlichen Intensitäten. tel der Hilfebedürftigen ohne Leistungsbezug ist
In Anbetracht dieser Vielfalt und den nicht 80 Jahre oder älter. Das deutet darauf hin, dass
zu übersehenden Unterschieden zwischen sub­ es sich hier um Personen mit gesundheitlichen
jektiv empfundener und amtlich anerkannter Einschränkungen handelt, die sich möglicherwei­
Pflegebedürftigkeit rückt jene Gruppe in den Fo­ se in einer Einstiegsphase zu einer Pflegekarriere
Gesundheit und Krankheit im Alter 73

befinden. Bedarfsgerechte Versorgungsangebote wiesen Hüftfrakturen, verschiedene Formen von


könnten ihnen helfen, Alltagskompetenzen für Herzerkrankungen (Herzinfarkte, Herzinsuffizi­
ein selbstbestimmtes, aktives Leben möglichst enzen, Angina pectoris), aber auch Schlaganfälle
lange zu erhalten und den Übergang in inten­ auf (siehe Abbildung 2.2.5.1 und [21]).
sivere Pflegebedarfslagen hinauszuzögern. Zu den Hauptverursachern einer einge­
Im stationären Bereich werden nach Ergeb­ schränkten funktionalen Gesundheit im Alter ge­
nissen von MuG IV ca. 8 % der nach Selbstein­ hört demnach eine Reihe von Erkrankungen, die
stufung Hilfebedürftigen mit Hilfe- und Pflege­ der Prävention und Rehabilitation (im Sinne der
leistungen außerhalb SGB XI versorgt [16]. Sekundärprävention) gut zugänglich sind. Das be­
Abschließend sei darauf verwiesen, dass Da­ trifft beispielsweise Schlaganfälle, Herz-Kreislauf-
ten des Sozio-oekonomischen Panels negative Ef­ Erkrankungen, Diabetes mellitus, aber auch die
fekte von bestehender Pflegebedürftigkeit auf das Gruppe der orthopädischen Erkrankungen. Wenn
subjektive Wohlbefinden und auf die Lebenszu­ in der jüngeren Vergangenheit gerade die älteren
friedenheit der Betroffenen nachweisen: Je höher Menschen stärker in das Blickfeld der Präven­
der Grad der Hilfebedürftigkeit ist, umso stärker tions- und Rehabilitationswissenschaft gerieten,
sinkt die Gesundheits- und Lebenszufriedenheit. ist das im Hinblick auf die langfristige Entwick­
Effekte der Gewöhnung bei lang andauernder Be­ lung der funktionalen Gesundheit der älter wer­
dürftigkeit mit entsprechender Verbesserung des denden Bevölkerung zu begrüßen.
Wohlbefindens können nicht nachgewiesen wer­
den [13, vertiefend siehe auch 18].
2.2.6 Längeres Leben – längere
Hilfebedürftigkeit?
2.2.5 Funktionale Gesundheit und
Krankheitsfolgen Die Lebenserwartung Älterer hat sich in den ver­
gangenen Jahrzehnten beträchtlich erhöht (sie­
Chronische Krankheiten sind im höheren Lebens­ he Kapitel 2.4). Damit ist allerdings noch keine
alter Hauptauslöser für funktionale Beeinträchti­ Aussage darüber getroffen, mit welchen gesund­
gungen und Hilfebedürftigkeit. Die Identifikation heitlichen Konsequenzen diese Lebensverlänge­
der wichtigsten Krankheitsrisiken für die funktio­ rung einhergeht. Zur Beziehung zwischen der
nale Gesundheit ist ein wesentlicher Faktor für die verlängerten Lebenserwartung im Alter und der
schwerpunktmäßige Ausrichtung von Prävention, Morbidität bzw. funktionalen Gesundheit werden
therapeutischer Intervention und Rehabilitation unterschiedliche Positionen diskutiert, die sich
älterer Menschen. Hilfe- und Pflegebedürftigkeit stark vereinfacht in der Frage zusammenfassen
wird in erster Linie verursacht durch Krankheits­ lassen: Sind die gewonnenen Lebensjahre im
folgen, die die Mobilität älterer Menschen be­ Alter in Wirklichkeit verlorene Jahre, da sie mit
einträchtigen oder kognitive Einschränkungen eingeschränkter funktionaler Gesundheit, mit
nach sich ziehen. Zu diesen Krankheiten zählen Hilfe- und Pflegebedürftigkeit verbunden sind?
Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Erkrankungen An anderer Stelle im Buch wird die Theorie der
des Muskel-Skelett-Systems (Arthritis, Frakturen, Kompression der Morbidität vorgestellt (siehe
Rückenprobleme), Asthma, Diabetes und De­ Kapitel 2.5). Danach ist aufgrund des verzögerten
menz [15, 19, 20]. Die Beziehungen zwischen der Einsetzens chronischer Morbidität im Alter der
Prävalenz der Krankheit und dem entstehenden Zuwachs an gesunden Lebensjahren größer als
Pflegebedarf sind durchaus differenziert. Einer der Zuwachs an Lebenserwartung insgesamt. Für
US-amerikanischen Studie zufolge litten bei­ die funktionale Gesundheit würde das bedeuten,
spielsweise nur etwa 4 % der in Privathaushalten dass die durch funktionale Defizite sowie Hilfe-
lebenden Befragten an Hirnleistungsschwächen, und Pflegebedürftigkeit beeinträchtigte Lebens­
aber 87 % der davon Betroffenen waren hilfe­ zeit im Lebensverlauf eine immer kleinere Spanne
bzw. pflegebedürftig. Ein ähnliches Verhältnis einnimmt. Die Bestätigung dieser Theorie hätte
von relativ geringen Prävalenzen der Krankheit, bedeutsame Implikationen für die Abschätzung
aber daraus resultierendem hohem Pflegebedarf der Folgen des demografischen Wandels. Wenn
74 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.2.5.1
Prävalenz von Krankheiten/Störungen und Pflegebedarf bei in Haushalten lebenden 75-Jährigen und Älteren, USA 1998
Quelle: AHEAD-Studie 1998 [21]

Hüftfraktur
Hirnleist.-störung
Herzinfarkt
Herzinsuffizienz
Angina pectoris
Lungenkrankheit
Schlaganfall
Psych. Störungen
Diabetes
Krebs
Inkontinenz
Schmerz
Sturzfolgen
Arthritis
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90
Anteil in Prozent

Prävalenz Anteil der Befragten, die aufgrund dieser Krankheit Hilfe/Pflege benötigen

eine auch künftig steigende Lebenserwartung rungen im sozio-ökonomischen Status (in erster
einhergeht mit einer Reduzierung der Morbidi­ Linie verbesserte Bildung) oder eine Verminde­
tät, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im hohen Al­ rung anderer Krankheitsauslöser, z. B. bessere
ter, dann müsste die demografische Alterung der Arbeitsbedingungen, Zurückdrängung der Infek­
Bevölkerung nicht zwangsläufig zu einer nicht tionskrankheiten. Zum anderen ist der Rückgang
tragbaren Kostensteigerung im Gesundheits- und der Aktivitätsbeeinträchtigungen jedoch nicht
Pflegebereich führen. nur als Verbesserung des Gesundheitszustandes
Wie hat sich die funktionale Gesundheit Äl­ zu interpretieren. Bestehende funktionale Ein­
terer in der jüngeren Vergangenheit entwickelt? schränkungen führen weniger häufig zu Aktivi­
Zunächst: Es gibt deutliche Hinweise auf einen tätsbeeinträchtigungen und Hilfebedürftigkeit,
Rückgang funktionaler Beeinträchtigungen inner­ da Hilfsmittel häufiger eingesetzt werden und
halb der älteren Bevölkerung in den vergangenen technisch hochwertig sind. Dieser verstärkte und
Jahrzehnten [22, 23, 24]. Diese Entwicklung wird erfolgreiche Hilfsmitteleinsatz konnte beispiels­
auf unterschiedliche Gründe zurückgeführt [20, weise für die ältesten Alten in den USA nachge­
23, 25, 26]. Zum einen sind es Faktoren, die mittel­ wiesen werden. Zudem haben sich personelle
bar oder unmittelbar auf den Gesundheitszustand Hilfe- und Pflegestrukturen verändert. Informelle
Älterer wirken wie die Verbesserung der medizi­ Hilfeangebote werden zunehmend durch profes­
nischen Behandlung (z. B. bei Bluthochdruck, sionelle Hilfe und Pflege ergänzt bzw. ersetzt, mit
Diabetes, erhöhtem Cholesterinspiegel und ko­ entsprechenden Konsequenzen für die Förderung
ronarer Herzerkrankung, aber auch Fortschritte der Eigenaktivität der Betroffenen. Zudem gibt es
beim Gelenkersatz), ein verändertes Gesundheits­ Hinweise darauf, dass sich die Selbstdefinition
verhalten (z. B. Rückgang des Rauchens), Verände­ von Behinderung in den vergangenen Jahren
Gesundheit und Krankheit im Alter 75

verändert hat, u. a. durch gesellschaftliche Bestre­ keine Alltagsbehinderungen angaben, wurden in


bungen, die eine barrierefreie Teilnahme Behin­ den beiden älteren Altersgruppen die Rückgänge
derter am öffentlichen Leben zum Ziel haben. der starken Alltagsbehinderungen durch Zunah­
Eine veränderte Selbstwahrnehmung, bessere Par­ men der moderaten Behinderungen kompensiert
tizipationschancen und Erwartungen an Eigenak­ (ohne Abbildung). Die Daten des SOEP geben also
tivität von außen können dazu führen, dass die be­ einen ersten Hinweis darauf, dass im Verlauf der
treffenden Personen sich selbst nicht als behindert 1980er- und 1990er-Jahre funktionale Defizite bei
wahrnehmen. So konnten Iezzoni et al., anhand den Älteren das Alltagsleben weniger häufig bzw.
der Daten eines Gesundheitssurveys feststellen, weniger stark einschränkten.
dass 30 % der Befragten mit schweren Mobilitäts­ Was ist künftig für die funktionale Gesundheit
problemen und sogar 20 % der Befragten, die ei­ Älterer zu erwarten? Die Theorie der Kompres­
nen manuellen Rollstuhl benutzten, sich nicht als sion der Morbidität setzt voraus, dass die Zahl der
behindert einstuften [siehe dazu 27]. Allerdings Lebensjahre ohne chronische Erkrankungen und
wurden auch gegenläufige Trends der Entwick­ funktionale Einschränkungen schneller wächst als
lung funktionaler Einschränkungen beobachtet die gesamte Lebenserwartung als Summe gesun­
[28, 29]. Die behinderungsfreie Lebenserwartung der und funktional eingeschränkter Lebensjahre.
war einigen Studien zufolge rückläufig, allerdings In den letzten Abschnitten konnten Hinweise da­
vorrangig durch die Zunahme leichterer Behinde­ für aufgezeigt werden, dass in den vergangenen
rungen, während mittlere oder schwere Behinde­ Jahrzehnten eine solche Kompression der Morbi­
rungen stagnierten bzw. zurückgingen. dität international und auch in Deutschland statt­
Welche der hier dargestellten Trends die gefunden hat. Wird sich dieser Prozess auch künf­
gegenwärtige Entwicklung der funktionalen tig fortsetzen? Mit den Aussichten der weiteren
Gesundheit am besten widerspiegeln, ist noch Entwicklung der funktionalen Gesundheit haben
nicht endgültig zu beantworten. Es überwiegen sich u. a. Robine und Michel befasst [30]. Ihre
allerdings die Studien, die in unterschiedlichen zentrale Fragestellung ist, in welcher Beziehung
Indikatoren Verbesserungen in der funktionalen Langlebigkeit und Lebenserwartung einerseits so­
Gesundheit Älterer nachweisen. Ein Review zu wie Veränderungen der Mortalität, Morbidität und
dieser Thematik [22] konnte dies für die ältere der funktionalen Gesundheit andererseits stehen.
US-amerikanische Bevölkerung in den 1990er­ Sie begründen voneinander abweichende Befunde
Jahren feststellen, zumindest was funktionale der Entwicklung der funktionalen Gesundheit in
Beeinträchtigungen und instrumentelle Alltags­ unterschiedlichen Ländern mit der These einer
aktivitäten (IADL) anbelangt. demografisch-epidemiologischen Transition, die
Wie hat sich die funktionale Gesundheit Äl­ in Phasen verläuft. Um die gegenwärtige Entwick­
terer in den vergangenen Jahren in Deutschland lung der funktionalen Gesundheit zu verstehen
verändert? Die folgenden Aussagen zu Trends der und künftige Trends abschätzen zu können, ist
zeitlichen Entwicklung basieren auf Daten des ein solcher Blick auf die vergangene Entwicklung
Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Das SOEP im internationalen Maßstab hilfreich.
erhob in einigen Wellen einen Indikator zur Be­ Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Mor­
hinderung im Alltag durch den Gesundheitszu­ talität älterer Menschen durch eine Verbesserung
stand. Abbildung 2.2.6.1 macht deutlich, dass die der Lebensbedingungen in den Industrieländern
Anteile der westdeutschen Befragten, die starke zurück. Dieser Mortalitätsrückgang traf auf eine
gesundheitliche Behinderungen in ihren Alltags­ gesundheitlich nicht gut verfasste Population, die
tätigkeiten angaben, zwischen 1984 und 2001 in einen schlechteren Gesundheitszustand aufwies
allen Altersgruppen rückläufig waren. Am stärks­ als Ältere heute. Der Rückgang der Mortalität
ten profitierten die »jungen Alten« zwischen 60 vor allem der kranken Älteren verursachte daher
und 69 Jahren von dieser Entwicklung, weniger zunächst eine höhere Prävalenz der chronischen
stark ausgeprägt zeigte sich die rückläufige Ten­ Krankheiten und der funktionalen Einschrän­
denz starker Behinderungen bei den über 80-Jäh­ kungen und somit eine Expansion der Morbidität
rigen. Während bei den 60- bis 69-Jährigen vor (z. B. in den USA der 1960er- und 1970er-Jahren).
allem der Anteil derjenigen stieg, die überhaupt Der medizinische Fortschritt, vor allem bei den
76 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.2.6.1
Anteil Befragter mit starker Behinderung im Alltag durch Gesundheitszustand* nach Alter 1984, 1992 und 2001
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel, Wellen 1984, 1992 und 2001, nur westdeutsche Befragte, eigene Berechnungen

Prozent
50

40

30

60-69 Jahre
20
70-79 Jahre
80 Jahre und älter
10

1984 1992 2001


Jahr

* Frage: Von kurzen Erkrankungen einmal abgesehen. Behindert Sie Ihr Gesundheitszustand bei der Erfüllung alltäglicher Aufgaben,
z. B. Haushalt, Beruf oder Ausbildung? (Antwortkategorien: überhaupt nicht, ein wenig, stark (1984: erheblich))

Herz-Kreislauf-Erkrankungen, führte später (in die gesundheitliche Anfälligkeit der Hochaltrigen.


den USA um 1980) zu einem Ausgleich zwischen Im Alltag äußert sich diese Erscheinung durch
der Entwicklung der Mortalität und der Morbidi­ Gewichtsverlust, verminderte Handkraft, eine
tät bzw. funktionalen Gesundheit. Die heutigen verlangsamte Ganggeschwindigkeit, eine rasche
Älteren sind gesünder. Sie hatten im Laufe ihres Ermüdbarkeit sowie verminderte körperliche Ak­
Lebens bereits eine bessere Gesundheit, verfügen tivität [31]. Diskutiert wird, ob in der Kombination
über eine bessere Bildung und häufig über einen aus der zunehmenden Zahl Hochaltriger und dem
gesünderen Lebensstil. Das trägt dazu bei, dass besonders hohen Risiko für schwere gesundheit­
diejenigen, die ein hohes Alter erreichen, dieses liche Beeinträchtigungen durch das Frailty-Syn­
Alter oft bei stabiler Gesundheit erleben können drom in dieser Lebensphase eine neue Expansion
– ein Merkmal einer Kompression der Morbidität. der Morbidität entsteht.
Gleichzeitig aber entsteht durch die demo­ Studien belegen andererseits, dass Verän­
grafische Alterung erstmals in der Geschichte derungen im Gesundheitsverhalten (gesunde
eine quantitativ bedeutende Gruppe Hochaltriger Ernährung, Rauchverzicht, körperliche Aktivität)
in der Bevölkerung. Im sehr hohen Alter ist eher die Morbidität senken als die Langlebigkeit
neben der Morbidität und den entsprechenden erhöhen. Bei einem Blick in die Zukunft scheinen
funktionalen Einschränkungen der Faktor einer einige Tendenzen der gegenwärtigen Entwicklung
verminderten Belastungsfähigkeit (auch: Frailty- also für eine Kompression der funktionalen Ein­
Syndrom) bedeutsam. Kennzeichnend für dieses schränkungen (engl.: compression of disability) zu
Phänomen sind verminderte physiologische Re­ sprechen [30]. Eine Begründung dafür liegt nach
serven und nachlassende Resistenz gegenüber Fries in der Annahme, dass das Hinauszögern
äußeren Stressoren. Unabhängig von Morbidität vorzeitiger Morbidität einfacher zu bewerkstelli­
und funktionaler Gesundheit erhöht sich damit gen ist als das Hinauszögern vorzeitiger Mortali­
Gesundheit und Krankheit im Alter 77

tät [32]. Die häufigsten Krankheiten des höheren mehr als der Unterschied an Lebenserwar­
Lebensalters, wie Osteoarthritis, Depressionen, tung in beiden Gruppen [38]. Entscheidend
Alzheimer-Demenz, aber auch Bedingungen wie für weitere Erfolge bei der Verbesserung der
soziale Isolation haben geringe Auswirkungen auf funktionalen Gesundheit wird daher sein,
die Mortalität, aber starke auf die Morbidität. Ein inwieweit es gelingt, ältere Menschen über
Hinauszögern dieser Krankheiten und Lebensum­ gesundheitsförderliches Verhalten zu infor­
stände bzw. eine Verbesserung ihrer Behandlung mieren und sie zu Veränderungen im Ge­
könnte die Morbidität deutlich senken, auch ohne sundheitsverhalten zu motivieren.
nennenswerten Einfluss auf die Mortalität.
Insgesamt spricht aus der gegenwärtigen
Datenlage allerdings wenig für massive Verände­ Literatur
rungen der Morbidität älterer Menschen in der
nächsten Zukunft [33]. Die Verbesserungen in 1. WHO (2001) ICF – Introduction. Genf
2. WHO (2002) Towards a Common Language for Func­
der Morbidität und der funktionalen Gesundheit tioning, Disability and Health – ICF. Genf
sind ein eher schrittweiser Prozess mit z.T. wider­ 3. Schuntermann MF (2006) Die Internationale Klas­
sprüchlichen Verläufen. sifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Zwei wesentliche Tendenzen, die bereits ge­ Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation
(WHO). Kurzeinführung. Deutsche Rentenversiche­
genwärtig zu beobachten sind, werden die Ent­ rung Bund, Berlin
wicklung der funktionalen Gesundheit auch künf­ 4. Murtagh KN, Hubert HB (2004) Gender Differences
tig prägen: in Physical Disability Among an Elderly Cohort. Am J
▶ Von den Verbesserungen der funktionalen Public Health 94 (8): 1406 – 1411
5. Verbrugge LM (1982) Sex differentials in health. Public
Gesundheit werden nicht alle Bevölkerungs­ Health Rep 97 (5): 417 – 437
schichten in gleichem Maße profitieren. Ein 6. Margrain TH, Boulton M (2005) Sensory Impairment.
Teil der älteren Bevölkerung hat ein größeres In: Johnson ML, Bengtson VL, Coleman PG et al.
Potenzial, Fortschritte in der Sterblichkeit (Hrsg) The Cambridge Handbook of Age and Ageing.
Cambridge University Press, Cambridge
und in der funktionalen Gesundheit zu re­ 7. Campbell VA, Crews JE, Moriarty DG et al. (1999)
alisieren als andere. Auf den Geschlechter­ Surveillance for Sensory Impairment, Activity Limita­
unterschied in der funktionalen Gesundheit tion, and Health-Related Quality of Life Among Older
wurde bereits hingewiesen. Demzufolge stel­ Adults – United States, 1993-1997. Morbidity and Mor­
tality Weekly Report 48 (SS-8): 131 – 156
len ältere Frauen eine besondere Zielgruppe 8. Mathers CD, Loncar D (2006) Projections of Global
gesundheitspolitischer Interventionen dar: Mortality and Burden of Disease from 2002 to 2030.
In den meisten westlichen Ländern haben PLoS Medicine 3 (11): e442
Frauen zwar eine höhere Lebenserwartung 9. Robert Koch-Institut (Hrsg) (2002) Gesundheit im Al­
ter. Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 10.
als Männer, aber eine geringere Lebenser­ Robert Koch-Institut, Berlin
wartung in uneingeschränkter Gesundheit. 10. Freedman VA, Martin LG, Schoeni RF (2004) Dis­
Ähnliche Differenzen sind auch für andere ability in America Population Bulletin. Population
Sozialindikatoren wie Bildung, Einkommen Reference Bureau, Washington, Vol. 3, S 32
11. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2001) Kurzbericht:
und Ethnizität bereits beschrieben worden Pflegestatistik 1999 – Deutschlandergebnisse. Bonn
[24, 28, 34, 35, 36, 37]. 12. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2007) Pflegestatistik
▶ Die Reduzierung gesundheitlicher Risikofak­ 2005 – Deutschlandergebnisse. Wiesbaden
toren ist der erfolgversprechendste Weg zur 13. Weick S (2006) Starke Einbußen des subjektiven
Wohlbefindens bei Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit.
weiteren Kompression der Morbidität. Längs­ Informationsdienst Soziale Indikatoren (35): 12 – 15
schnittstudien aus den USA zeigen beispiels­ 14. Schneekloth U, Wahl HW (2006) Selbständigkeit und
weise, dass Personen mit einem geringen Hilfebedarf bei älteren Menschen in Privathaushalten.
Ausmaß an Gesundheitsrisiken ein deutlich Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart
15. Schneekloth U, Wahl HW (2005) Möglichkeiten und
geringeres Maß an Hilfebedürftigkeit aufwei­ Grenzen selbständiger Lebensführung in privaten
sen als Personen mit mehreren Gesundheits­ Haushalten (MuG III). Repräsentativbefunde und Ver­
risiken. Der Beginn der Hilfebedürftigkeit tiefungsstudien zu häuslichen Pflegearrangements,
lässt sich in der Niedrig-Risiko-Gruppe um Demenz und professionellen Versorgungsangeboten.
Integrierter Abschlussbericht im Auftrag des Bundes­
7 bis 12 Jahre hinauszögern. Das ist deutlich
78 Gesundheit und Krankheit im Alter

ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju­ recent trends in old-age disability. Journal of Geronto­
gend, München logy: Social Sciences 56B (4): S206 – S218
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Alteneinrichtungen 2005. Schnellbericht zur Reprä­ the Recent Decline in Disability at Older Ages. Milbank
sentativerhebung im Forschungsprojekt »Möglich­ Quarterly 83 (3): 365 – 395
keiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in 28. Perenboom R, Herten Lv, Boshuizen H et al. (2005)
Einrichtungen« (MuG IV) im Auftrag des Bundesmi­ Life Expectancy without Chronic Morbidity: Trends in
nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gender and Socioeconomic Disparities. Public Health
München Reports 120: 46 – 54
17. Wagner A, Brucker U (2007) Pflegebericht des Medi­ 29. Crimmins E (2004) Trends in the health of the elderly.
zinischen Dienstes 2005 Annual review of public health 25: 79 – 98
www.mds-ev.org/media/pdf/Pflegebericht_2005.pdf 30. Robine JM, Michel JP (2004) Looking Forward to a
(Stand: 21.11.2008) General Theory on Population Aging. J Gerontol A Biol
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trum für Altersfragen (Hrsg), Berlin in Older Adults: Evidence for a Phenotype. Journal of
19. Kraus L, Stoddard S, Gilmartin D (1996) Chartbook Gerontology: Medical Sciences 56A (3): M146 – M156
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21. Hertz RP, Baker CL (2002) Elders in the Community University Press, Cambridge, S 95 – 105
Pfizer Facts. Population Studies. Outcomes Research. 34. Hoffmann R (2005) Do socioeconomic mortality dif­
Pfizers Pharmaceuticals Group ferences decrease with rising age? Demographic Re­
22. Freedman VA, Martin LG, Schoeni RF (2002) Recent search 13 (2): 35 – 62
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Adults in the United States: A Systematic Review. Ungleichheit und Gesundheit. Expertise des Robert
JAMA 288 (24): 3137 – 3146 Koch-Instituts zum 2. Armuts- und Reichtumsbericht
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nonblack population above age 65 from 1982 to 1999. Socioeconomic factors associated with the onset of
PNAS 98 (11): 6354 – 6359 disability in older age: a longitudinal study of people
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functional limitations among older Americans. Journal (7): 1567 – 1575
of Public Health 88 (10): 1457 – 1462 38. Fries JF (2003) Measuring and Monitoring Success in
26. Schoeni R, Freedman V, Wallace R (2001) Persistent, Compressing Morbidity. Annals of Internal Medicine
consistent, widespread, and robust? Another look at 139 (5_Part_2): 455 – 459
Gesundheit und Krankheit im Alter 79

2.3 Subjektive Gesundheit


Susanne Wurm, Thomas Lampert, Sonja Menning

Kernaussagen In Studien, die das subjektive Gesundheits­


erleben untersuchen, werden Personen danach
1. Als »subjektive Gesundheit« wird das indi­ gefragt, wie sie ihren Gesundheitszustand ein­
viduelle Gesundheitserleben von Personen schätzen. Subjektive Gesundheit ist damit jener
bezeichnet. Gesundheitszustand, den eine Person individuell
2. Im Vergleich zu medizinisch diagnostizierter erlebt, während mit »objektiver Gesundheit« der
Gesundheit ist das subjektive Gesundheits­ medizinisch diagnostizierte Gesundheitszustand
erleben bedeutsamer für die Langlebigkeit bezeichnet wird.
bzw. vorzeitige Sterblichkeit. Warum ist eine Unterscheidung zwischen
3. Die subjektive Gesundheit verschlechtert sich objektiver und subjektiver Gesundheit wichtig?
im Altersgang – allerdings weniger als der Dies liegt daran, dass die subjektive Gesundheit
objektive Gesundheitszustand. Dadurch ist nicht einfach den objektiven Gesundheitszustand
im höheren Lebensalter das subjektive Ge­ widerspiegelt. Personen, die der medizinischen
sundheitserleben besser als es der objektive Diagnose zufolge gesund sind, also eine gute ob­
Gesundheitszustand erwarten lassen würde. jektive Gesundheit haben, fühlen sich teilweise
4. Im Altersgang nimmt die gesundheitsbezo­ dennoch krank. Umgekehrt haben Personen, die
gene Lebensqualität ab. Dies betrifft vor allem nach medizinischer Diagnose eine oder mehrere
Aspekte der körperlichen Lebensqualität wie Erkrankungen haben, oftmals durchaus eine gute
das häufigere Erleben von Schmerzen. Das subjektive Gesundheit. Metaanalysen zahlreicher
psychische Wohlbefinden verändert sich hin­ Studien weisen darauf hin, dass die Überein­
gegen kaum. stimmung zwischen objektiver und subjektiver
5. Altersgruppenunterschiede in der subjek­ Gesundheit nur zwischen 5 % und 30 % liegt
tiven Gesundheit sind nicht immer als al­ [1]. Demnach beeinflusst zwar die objektive Ge­
tersabhängige Entwicklungen interpretierbar. sundheit die subjektive Gesundheit, sie ist aber
Denn neben individuellen Veränderungen nicht mit ihr gleichzusetzen. Dies gilt besonders
über die Zeit gibt es zwei alternative Erklä­ im höheren Lebensalter: Mag sich auch mit stei­
rungen: Altersgruppenunterschiede können gendem Alter die objektive Gesundheit oft merk­
auch auf Kohorten- oder Periodeneffekte zu­ lich verschlechtern, nimmt demgegenüber das
rückzuführen sein. subjektive Gesundheitserleben nicht unbedingt
im selben Maße ab. Dies bedeutet, dass sich der
objektive und der subjektive Gesundheitszustand
2.3.1 Einleitung – Die Bedeutung subjektiver mit steigendem Alter stärker voneinander unter­
Gesundheit scheiden als in jüngeren Lebensjahren. Deshalb
wird gerade im höheren Lebensalter die subjektive
Die vorangegangenen Kapitel zu somatischer und Gesundheit als wichtige ergänzende Gesundheits­
psychischer Gesundheit (Kapitel 2.1) sowie zu information angesehen, der ein eigenständiger Er­
funktionaler Gesundheit und Pflegebedürftigkeit klärungswert zukommt.
(Kapitel 2.2) machten deutlich, dass Erkrankungen
und körperliche Einschränkungen mit steigendem
Alter wahrscheinlicher werden. Was bedeutet dies Subjektive Gesundheit und Sterblichkeit
für ältere Personen? Wie erleben sie ihre Gesund­
heit und wie gut ist ihre gesundheitsbezogene Le­ Die Bedeutung des subjektiven Gesundheitserle­
bensqualität angesichts zunehmender gesundheit­ bens wird besonders in Studien deutlich, die sich
licher Probleme? Mit diesen und ähnlichen Fragen mit der Vorhersage von Langlebigkeit und Mortali­
beschäftigt sich das vorliegende Kapitel. tät (Sterblichkeit) beschäftigt haben. In diesen Stu­
80 Gesundheit und Krankheit im Alter

dien wurden die objektive und subjektive Gesund­ gischer) Weise als auch in indirekter Weise (z. B.
heit sowie weitere Informationen von Personen vermittelt über das Gesundheitsverhalten oder die
(wie beispielsweise Alter, sozioökonomischer funktionelle Gesundheit) Einfluss auf die Sterb­
Status, Gesundheitsverhalten) untersucht, um zu lichkeit hat. So könnten im Falle optimistischer
prüfen inwieweit diese Informationen die Lebens­ Einschätzungen die positiven Gefühle als solche
dauer einer Person vorhersagen können. Bemer­ bereits eine protektive (schützende) Wirkung ha­
kenswert an diesen Studien ist die Feststellung, ben (direkter Effekt). Negative Einschätzungen
dass das subjektive Gesundheitserleben die nach­ wiederum könnten zu Depressionen oder ande­
folgende Langlebigkeit bzw. Sterblichkeit besser ren emotionalen Belastungen wie chronischem
vorhersagen kann, als der objektive Gesundheits­ Stress führen, dadurch das Gesundheitsverhalten
zustand (für eine Übersicht über entsprechende negativ beeinflussen (z. B. erhöhter Tabak- oder
Studien [vgl. 2, 3, 4]). Subjektive und objektive Alkoholkonsum) und auf diese Weise zu vorzei­
Gesundheit unterscheiden sich demzufolge nicht tiger Sterblichkeit beitragen (indirekter Effekt).
nur voneinander; vielmehr kommt der subjektiven
Gesundheit eine spezifische Bedeutung im Hin­
blick auf die Langlebigkeit zu. Subjektive Gesundheit und ihr Zusammenhang
Die Frage nach dem Grund, weshalb die sub­ mit anderen Gesundheitsindikatoren
jektive Gesundheit das Mortalitätsrisiko besser
vorhersagen kann als viele objektive Gesundheits­ Um besser zu verstehen, in welcher Weise sub­
maße, wird unterschiedlich beantwortet. Hierbei jektive Gesundheit einen Einfluss auf Langlebig­
lassen sich grob zwei Erklärungsansätze unter­ keit und Sterblichkeit hat, wurde in einer Reihe
scheiden: von Studien untersucht, inwieweit die subjektive
Zum einen handelt es sich um Erklärungen, Gesundheit die körperliche, mentale und funk­
die auf die Grenzen medizinischer Messbarkeit tionale Gesundheit beeinflusst. Die Bedeutung
von Erkrankungen hinweisen: Es ist denkbar, dass subjektiver Gesundheit für die Aufrechterhaltung
subtile biologische und physiologische Verände­ funktionaler Fähigkeiten und die Entwicklung von
rungen mittels objektiver, medizinischer Gesund­ Beeinträchtigungen und Behinderungen ist hier­
heitsmessungen nicht ausreichend erfasst werden bei empirisch am besten belegt.
können, in der subjektiven Einschätzung aber Funktionale Fähigkeiten (vgl. Kapitel 2.2)
durchaus enthalten sind. Personen berücksichti­ sind ein Maß für die Konsequenzen von Erkran­
gen möglicherweise ihr biografisches Wissen über kungen und Beschwerden im Hinblick auf die
zurückliegende Erkrankungen und verschiedene Selbständigkeit und Lebensqualität älterer Men­
Aspekte ihres Gesundheitsverhaltens, während schen. Idler und Kasl konnten beispielsweise im
dieses Wissen dem diagnostizierenden Arzt nicht Rahmen einer Längsschnittstudie einen bedeut­
oder nur unvollständig bekannt ist [5]. Zudem samen Zusammenhang zwischen subjektiver
besteht bei älteren Personen häufiger die Gefahr, Gesundheit zu Studienbeginn und der Entwick­
dass Erkrankungen und Risikofaktoren wie Dia­ lung funktionaler Fähigkeiten in den Folgejahren
betes und Bluthochdruck medizinisch undiagnos­ nachweisen [9]. Ältere Befragte, die im Jahr 1982
tiziert bleiben [6] – unter anderem deshalb, weil eine schlechte Gesundheit berichteten, wiesen
ältere Personen eher dazu neigen, Beschwerden sechs Jahre später zweieinhalb mal so oft einen
als »altersgemäß« zu interpretieren und deshalb Rückgang ihrer funktionalen Fähigkeiten auf wie
darauf verzichten, wegen dieser Beschwerden ei­ Befragte, die sich 1982 eine exzellente Gesundheit
nen Arzt aufzusuchen. attestierten. Diese Beziehung bestand auch unter
Ein anderer Erklärungsansatz geht davon statistischer Kontrolle anderer demografischer
aus, dass die subjektive Gesundheit neben dem und Gesundheitsindikatoren. Daneben zeigte
körperlichen Gesundheitszustand wichtige psy­ sich, dass ein solcher Zusammenhang eher bei
chosoziale Ressourcen widerspiegelt [7, 8]. Dabei den jüngeren Alten nachzuweisen war, insbeson­
wird unter anderem diskutiert, dass die Tendenz dere bei denjenigen, die noch keine Behinderung
zur Über- oder Unterschätzung des eigenen Ge­ hatten, sich selbst aber eine schlechte Gesundheit
sundheitszustandes sowohl in direkter (physiolo­ zuschrieben. Auch die Richtung des statistischen
Gesundheit und Krankheit im Alter 81

Zusammenhangs ist bemerkenswert: Eine als Personen mit einer schlechten subjektiven
schlechte subjektive Gesundheit konnte für den Gesundheitseinschätzung [11].
Untersuchungszeitraum funktionale Einbußen Schließlich verweisen mehrere Längsschnitt­
vorhersagen. Hingegen war kein Zusammenhang studien darauf, dass Personen, die ihre Gesund­
zwischen einer guten subjektiven Gesundheit und heit als schlecht bewerten, auch häufiger zum Arzt
der Erholung von bereits vorhandenen funktio­ gehen und mit höherer Wahrscheinlichkeit einen
nalen Defiziten zu erkennen. Krankenhausaufenthalt haben als Personen mit
Im Rahmen einer klinischen Studie baten guter Gesundheitseinschätzung [15, 16]. Auch in
Wilcox und Kollegen [10] Personen, die eine ein­ diesen Studien wurden die Analysen hinsichtlich
schneidende Krankheit (z. B. Schlaganfall, Herz­ der körperlichen und funktionalen Gesundheit
infarkt, Hüftfraktur) erlebt hatten, sechs Wochen statistisch kontrolliert, so dass die Vorhersage
sowie sechs Monate nach diesem Ereignis ihre des Inanspruchnahmeverhaltens nicht auf Unter­
Gesundheit zu bewerten. Patienten, die sechs schiede in der objektiven Gesundheit zurückge­
Wochen nach dem Krankheitsereignis ihre sub­ führt werden kann.
jektive Gesundheit eher schlecht bewerteten,
hatten sechs Monate später größere funktionale
Beeinträchtigungen als Personen mit einer gu­ 2.3.2 Veränderung des Stellenwerts von
ten subjektiven Gesundheitseinschätzung – und Gesundheit mit steigendem Alter
zwar unabhängig von ihrem Gesundheitszustand
und dem Ausmaß ihrer körperlichen Einschrän­ Während in der ersten Lebenshälfte gute Gesund­
kungen sechs Wochen nach dem Krankheitsereig­ heit oftmals selbstverständlich ist und Erkran­
nis. Die Autoren folgern aus diesen Ergebnissen, kungen überwiegend temporären Charakter ha­
dass der subjektiven Gesundheit auch bezüglich ben (z. B. Infektionskrankheiten), verändert sich
der Krankheitsverarbeitung eine wichtige Rolle das Krankheitsgeschehen mit zunehmendem
zukommt. Weitere Längsschnittstudien, die teils Alter. Die Dauer und Schwere von Erkrankungen
auf allgemeinen Bevölkerungsstichproben, teils nimmt zu und es steigt die Wahrscheinlichkeit,
auf klinischen Studien beruhten, kommen zum dass Personen eine oder mehrere, oftmals chro­
selben Ergebnis: Eine schlechte subjektive Ge­ nische Erkrankungen haben. Körperliche Be­
sundheit kann den Verlust von funktionalen Fä­ schwerden sowie regelmäßige Arztbesuche und
higkeiten und damit die Entwicklung funktionaler Medikamenteneinnahme machen den Betrof­
Einschränkungen vorhersagen [11, 12, 13]. fenen nachdrücklich deutlich, dass eine gute Ge­
Aber auch im Hinblick auf die psychische sundheit weit weniger selbstverständlich ist als in
und kognitive Gesundheit ist die subjektive Ge­ jüngeren Lebensjahren. Dies führt dazu, dass sich
sundheit von großer Bedeutung. Eine Studie von die Bedeutung der Gesundheit mit steigendem Al­
Jang et al. an älteren bis hochaltrigen Personen ter verändert. Hierzu zählt zum einen, dass ältere
(60- bis über 100-jährigen Personen) verweist Menschen oftmals andere Kriterien zur Einschät­
darauf, dass die subjektive Gesundheit eine ver­ zung ihrer Gesundheit heranziehen, zum ande­
mittelnde Rolle dabei spielt, ob Krankheiten mit ren, dass die Gesundheit mit steigendem Alter an
Depressionen einher gehen oder nicht [14]. Ob Wichtigkeit gewinnt.
also Personen, die von Krankheiten oder kör­
perlichen Einschränkungen betroffen sind, eine
Depression entwickeln, hängt demzufolge mit Kriterien zur Einschätzung des eigenen
von ihrer subjektiven Gesundheitseinschätzung Gesundheitszustandes
ab. Im Rahmen einer 10-jährigen Längsschnitt­
studie konnte zudem gezeigt werden, dass In einigen Studien wurden ältere und jüngere Per­
eine hohe subjektive Gesundheit mit besserer sonen danach befragt, woran sie denken, wenn
kognitiver Gesundheit einhergeht. Folglich ent­ sie ihren eigenen Gesundheitszustand einschät­
wickelten ältere Personen, die ihre Gesundheit zen. Dabei zeigte sich, dass jüngere und ältere
subjektiv gut bewerteten, mit geringerer Wahr­ Personen häufig unterschiedliche Kriterien zur
scheinlichkeit eine kognitive Beeinträchtigung Einschätzung ihrer Gesundheit heranziehen. Be­
82 Gesundheit und Krankheit im Alter

sonders für Jugendliche, aber auch Personen im Hintergrund von Ergebnissen, die im Rahmen
jungen oder mittleren Erwachsenenalter spielt des Alterssurveys gewonnen wurden. Für insge­
das eigene Gesundheitsverhalten bei der Beur­ samt 21 Themenbereiche sollten die Befragten
teilung des Gesundheitszustandes eine zentrale angeben, in welchem Ausmaß diese Themen ihr
Rolle. Ältere Menschen hingegen beurteilen ihre tägliches Denken und Handeln bestimmen. In Ta­
Gesundheit vor allem mit Blick auf vorliegende belle 2.3.2.1 sind die vier am häufigsten genannten
Erkrankungen und körperliche Einschränkungen Themenbereiche getrennt für vier Altersgruppen
[17]. Im höheren Lebensalter kommen teilweise aufgelistet.
zwei zusätzliche Kriterien für eine positive Ge­ Anhand von Tabelle 2.3.2.1 wird deutlich,
sundheitseinschätzung hinzu: die Abwesenheit dass die Gesundheit im Altersgruppenvergleich
von quälenden Beschwerden sowie die Einschät­ an Wichtigkeit gewinnt. Während die Gesundheit
zung, dass der eigene Gesundheitszustand besser in der Gruppe der 40- bis 54-Jährigen noch auf
ist als jener von Gleichaltrigen [18, 19]. Es gibt Rang 9 liegt und deshalb nicht in der Tabelle dar­
jedoch Hinweise darauf, dass diese unterschied­ gestellt ist, ist sie in der Altersgruppe der 55- bis
lichen Kriterien, die zur Beurteilung der eigenen 64-Jährigen bereits auf Rang 4 von insgesamt 21
Gesundheit herangezogen werden, weniger vom untersuchten Themenbereichen vorgerückt. Die
Alter als vielmehr vom Gesundheitszustand ab­ Gruppe der 65- bis 74-Jährigen nennt Gesundheit
hängen: Haben Personen keine wesentlichen Er­ als zweitwichtigstes Thema und in der Alters­
krankungen oder Einschränkungen, so erklären gruppe der 75- bis 84-Jährigen wird Gesundheit
sie ihr Befinden tendenziell unter Verweis auf ihr als wichtigstes Thema bewertet. Vergleicht man
Gesundheitsverhalten. Die Gesundheitseinschät­ innerhalb jeder der vier Altersgruppen die Rang­
zung von Personen mit Erkrankungen oder Behin­ folge der Themenbereiche für Frauen und Män­
derungen orientiert sich hingegen eher an vorlie­ ner miteinander, wird deutlich, dass sich nur in
genden Symptomen, Beschwerden oder auch an der jüngsten Altersgruppe (40 bis 54 Jahre) Ge­
notwendiger Medikamenteneinnahme [20]. schlechtsunterschiede zeigen. Männer dieser Al­
tersgruppe bewerten den Gesundheitszustand als
weniger wichtig im Vergleich zu Frauen, während
Wichtigkeit von Gesundheit sich in den anderen Altersgruppen Männer und
Frauen nicht wesentlich unterscheiden.
Die mit dem Lebensalter steigende Vulnerabilität
(Anfälligkeit) für Erkrankungen führt nicht nur
dazu, dass sich die Kriterien zur Gesundheitsein­ 2.3.3 Subjektives Gesundheitserleben im Alter
schätzung verändern. Vielfach gewinnt auch der
eigene Gesundheitszustand im täglichen Leben Die über die Altersgruppen hinweg steigende Be­
an Wichtigkeit. Anschaulich wird dies vor dem deutung von Gesundheit korrespondiert mit einer

Tabelle 2.3.2.1
Rangfolge der vier wichtigsten Themenbereiche nach Alter 2002
Quelle: Alterssurvey, Basisstichprobe 2002, eigene Berechnungen

40 – 54 Jahre 55 – 64 Jahre 65 – 74 Jahre 75 – 84 Jahre


1. Sicherheit der Familie, 1. Sicherheit der Familie, 1. Sicherheit der Familie, 1. Gesundheit
Sorge um die Angehörigen Sorge um die Angehörigen Sorge um die Angehörigen
2. harmonische 2. geistige 2. Gesundheit 2. Sicherheit der Familie,
Partnerschaft Leistungsfähigkeit Sorge um die Angehörigen
3. geistige 3. harmonische 3. geistige 3. geistige
Leistungsfähigkeit Partnerschaft Leistungsfähigkeit Leistungsfähigkeit
4. berufliche Tüchtigkeit, 4. Gesundheit 4. Einfühlungsvermögen, 4. Einfühlungsvermögen,
beruflicher Erfolg mitfühlendes Verständnis mitfühlendes Verständnis
Gesundheit und Krankheit im Alter 83

schlechteren Bewertung des allgemeinen Gesund­ Gesundheitsversorgung mit steigendem Alter an


heitszustandes. In der Altersgruppe der 40- bis Bedeutung gewinnt. Grund hierfür ist, dass das
54-Jährigen beurteilen noch drei Viertel aller Män­ medizinische Ziel der Wiederherstellung von
ner und Frauen ihren allgemeinen Gesundheits­ Gesundheit (restitutio ad integrum) im höheren
zustand als sehr gut oder gut. Im Altersgang ver­ Lebensalter oftmals nicht erreicht werden kann,
ringert sich dieser Anteil sukzessive bis auf etwa da viele Personen eine oder mehrere chronische
41 % in der Gruppe der 75- bis 84-jährigen Frauen Erkrankungen haben. Oftmals steht deshalb das
und 46 % der gleichaltrigen Männer (vgl. Abbil­ Ziel im Vordergrund, eine möglichst gute Gesund­
dung 2.3.3.1). Eine schlechte oder sehr schlechte heit trotz chronischer Erkrankungen aufrechtzu­
Gesundheitseinschätzung nimmt hingegen mit erhalten oder wiederherzustellen (restitutio ad
dem Alter zu. optimum). Entscheidend ist dabei, dass Personen
trotz bestehender Erkrankungen oder körper­
licher Einschränkungen eine möglichst gute Le­
Abbildung 2.3.3.1
Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes bensqualität haben.
nach Alter und Geschlecht (sehr gute oder gute Gesundheit) Lebensqualität, insbesondere gesundheitsbe­
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003, eigene zogene Lebensqualität, und subjektive Gesund­
Berechnungen
heit weisen eine hohe Ähnlichkeit auf. Aus diesem
Prozent Grund werden diese beiden Begriffe teilweise sy­
80 nonym verwendet. Gleichwohl sind sie nicht de­
ckungsgleich: Werden Personen nach ihrem sub­
60 jektiven Gesundheitserleben gefragt, bezieht sich
ihre Antwort vor allem auf ihren körperlichen Ge­
40 sundheitszustand. Fragt man sie hingegen nach
ihrer Lebensqualität, so werden – neben der kör­
20 perlichen Gesundheit – oft auch psychische Ge­
sundheit und Wohlbefinden sowie gesundheits­
bedingte Auswirkungen auf die Alltagsgestaltung
40–54 55–64 65–74 75–84
mit berücksichtigt [21]. Es erscheint deshalb sinn­
Altersgruppe
voll, die Unterscheidung zwischen subjektiver Ge­
Frauen Männer sundheit und gesundheitsbezogener Lebensquali­
tät aufrechtzuerhalten.
Im Rahmen des telefonischen Gesundheits­
Die im Altersgang festzustellende Verschlech­ survey 2003 wurden Personen darum gebeten,
terung der subjektiven Gesundheit ist für Männer mittels eines etablierten, krankheitsübergrei­
wie Frauen zu finden. Bei älteren Frauen fällt hier­ fenden Messinstruments (SF-8, Kurzform des
bei die subjektive Gesundheitseinschätzung etwas SF-36 Fragebogens) ihre gesundheitsbezogene
negativer aus als bei den gleichaltrigen Männern. Lebensqualität einzuschätzen. Hierbei wird die
Zugleich macht der Anteil der Personen, die ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität über acht Di­
Gesundheit als schlecht oder sehr schlecht beur­ mensionen gemessen: Allgemeine Gesundheits­
teilen, selbst bei den 75- bis 84-jährigen Männern wahrnehmung, körperliche Funktionsfähigkeit,
und Frauen nur etwa 18 % aus, während der Groß­ körperliche Rollenfunktion, Schmerzen, Vitalität,
teil der älteren Menschen über eine im mindesten emotionale Rollenfunktion, psychisches Wohlbe­
mittelmäßige allgemeine Gesundheit berichtet. finden und soziale Funktionsfähigkeit [22, 23]. Die
Skala berücksichtigt damit sowohl körperliche als
auch psychische Komponenten gesundheitsbezo­
2.3.4 Gesundheitsbezogene Lebensqualität gener Lebensqualität. Im Folgenden werden Er­
im Alter gebnisse zu vier ausgewählten Dimensionen des
SF-8 dargestellt: Schmerzen, Vitalität, psychisches
Neben der subjektiven Gesundheit ist auch die Wohlbefinden und soziale Funktionsfähigkeit
Lebensqualität ein Kriterium, das im Bereich der (vgl. Kapitel 2.2).
84 Gesundheit und Krankheit im Alter

In Abbildung 2.3.4.1 ist der Anteil von Per­ somit seltener über mangelnde Vitalität klagen als
sonen dargestellt, die während der letzten vier gleichaltrige Frauen, ist bei den 75-Jährigen und
Wochen vor der Befragung ziemlich stark oder Älteren hingegen kein Geschlechtsunterschied
sehr stark durch Schmerzen eingeschränkt wa­ mehr festzustellen: 65 % der Frauen und Männer
ren. Deutlich werden hierbei sowohl Alters- als dieser Altersgruppe berichten über eine mangeln­
auch Geschlechtsunterschiede. Während in der de Vitalität.
Altersgruppe der 40- bis 54-jährigen Personen Obwohl mit steigendem Alter oftmals die
noch 28 % der Frauen und 21 % der Männer da­ körperliche Gesundheit schlechter wird, vermehrt
rüber berichten, dass sie durch starke Schmerzen Schmerzen auftreten und die Vitalität abnimmt,
eingeschränkt waren, liegt diese Zahl bei den berichten ältere Personen insgesamt über ein
75- bis 84-jährigen Personen bei 47 % (Frauen) gutes psychisches Wohlbefinden. In Abbildung
bzw. 32 % (Männer). Im höheren Lebensalter sind 2.3.4.2 ist dargestellt, wie viele Personen ihr psy­
somit mehr Frauen und Männer aufgrund von chisches Wohlbefinden als ziemlich oder sehr
starken Schmerzen beeinträchtigt. Frauen berich­ stark beeinträchtigt erleben. Über alle betrachte­
ten in allen Altersgruppen häufiger von starken ten Altersgruppen hinweg zeigt sich hierbei, dass
Schmerzen, wobei sich im höheren Alter größere sich weniger als ein Viertel der Personen in ih­
Unterschiede zwischen Frauen und Männern zei­ rem Wohlbefinden beeinträchtigt erleben. Hierbei
gen als noch im Alter von 40 bis 54 Jahren. handelt es sich um etwa jede vierte Frau und jeden
Über die Altersgruppen hinweg nimmt zu­ fünften Mann der betrachteten Altersgruppen. Im
dem die Vitalität ab – Ältere fühlen sich häufiger Altersgang ist hierbei kein Anstieg festzustellen.
erschöpft und müde, wie die Ergebnisse des Te­ Ähnlich zeigt sich dies auch für die soziale
lefonischen Gesundheitssurveys zeigen. In der Funktionsfähigkeit. Soziale Funktionsfähigkeit
Altersgruppe der 40-bis 54-Jährigen klagen 44 % meint das Ausmaß, in dem die körperliche Ge­
der Männer und 50 % der Frauen über mangelnde sundheit oder emotionale Probleme normale
Vitalität. Während in dieser Altersgruppe Männer soziale Aktivitäten beeinträchtigen. Starke Be­
einträchtigungen hinsichtlich der sozialen Funk­
tionsfähigkeit sind für 16 % der Frauen und 13 %
Abbildung 2.3.4.1 der Männer in der Altersgruppe der 40- bis 54-Jäh­
Anteil der Frauen und Männer verschiedener Alters­ rigen festzustellen. In der Altersgruppe der 75- bis
gruppen, die aufgrund von ziemlich starken oder sehr
starken Schmerzen eingeschränkt sind 2003
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003, eigene
Berechnungen Abbildung 2.3.4.2
Anteil der Frauen und Männer verschiedener Altersgruppen,
Prozent die über ziemlich starke oder sehr starke Einschränkungen
in ihrem psychischen Wohlbefinden berichten 2003
60
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003, eigene
Berechnungen
50
Prozent
40 40

30 30

20 20

10 10

40–54 55–64 65–74 75–84 40–54 55–64 65–74 75–84


Altersgruppe Altersgruppe
Frauen Männer Frauen Männer
Gesundheit und Krankheit im Alter 85

84-jährigen Personen ist der Anteil nahezu der zugleich ableiten, dass sich mit steigendem Al­
gleiche (17 % der Frauen, 13 % der Männer), und ter die subjektive Gesundheit einer Person ver­
auch in den mittleren Altersgruppen der 55- bis schlechtert?
64-Jährigen sowie 65- bis 74-Jährigen finden sich Dies kann, muss aber nicht unbedingt der
vergleichbare Werte. Dies weist darauf hin, dass Fall sein. Denn Altersgruppenvergleiche im Quer­
Einschränkungen der sozialen Funktionsfähigkeit schnitt können zwar bestehende Unterschiede
nicht mit dem Alter ansteigen. aufzeigen, nicht aber unmittelbar belegen, dass
Die Betrachtung verschiedenen Komponen­ sich die subjektive Gesundheit mit steigendem
ten gesundheitsbezogener Lebensqualität ver­ Alter tatsächlich verschlechtert. Dies liegt daran,
anschaulicht, dass sich die Lebensqualität nicht dass die besagten Altersgruppenunterschiede
generell über die Altersgruppen hinweg ver­ nicht allein auf individuelle Entwicklungen zu­
schlechtert. Zwar verschlechtern sich Aspekte der rückzuführen sein müssen. Sie können auch
körperlichen Lebensqualität z. B. durch die Zu­ auf Kohortenunterschiede oder Periodeneffekte
nahme von Schmerzen, die psychische Lebens­ zurückzuführen sein [24]. Nachfolgend werden
qualität bleibt jedoch über die Altersgruppen hin­ diese insgesamt drei Erklärungsmöglichkeiten
weg weitgehend stabil. Die dargestellten Befunde beschrieben und damit der Frage nachgegangen,
weisen darauf hin, dass ältere Menschen oftmals wie Altersgruppenunterschiede im Querschnitt
trotz gesundheitlicher Probleme in der Lage sind, interpretiert werden können.
ein gutes psychisches Wohlbefinden und soziale
Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Erklärung 1 – Kohortenunterschiede

2.3.5 Altersgruppenunterschiede in der Mit dieser Erklärungsmöglichkeit ist der Umstand


subjektiven Gesundheit: Alters-, angesprochen, dass Personen aus verschiedenen
Kohorten- oder Periodeneffekte? Generationen (bzw. Geburtskohorten) unter ver­
schiedenen Bedingungen aufwachsen und älter
In den Abbildungen des vorliegenden Kapitels werden. Unterschiede bestehen etwa hinsichtlich
wurden wiederholt Altersgruppen miteinander der jeweiligen Ausbildungsmöglichkeiten, dem
verglichen. Solche Altersgruppenvergleiche finden jeweils aktuellen medizinischen Wissens- und
sich auch in zahlreichen anderen Abbildungen Versorgungsstand oder auch dem Gesundheits­
und Tabellen des vorliegenden Bandes. Alters­ bewusstsein. Somit ist eine Person, die während
gruppenvergleiche legen oftmals nahe, die darge­ des Ersten Weltkriegs geboren wurde, von einem
stellten Ergebnisse als einen Entwicklungsverlauf anderen Kontext geprägt als ein Angehöriger der
zu interpretieren und somit davon auszugehen, deutschen Studentenbewegung der 1960er-Jahre.
dass sich etwas altersabhängig verändert (d. h. Was nun die objektive (medizinisch gemessene)
altersbedingt besser oder schlechter wird). Am Gesundheit anbelangt, so verweisen zahlreiche
Beispiel der subjektiven Gesundheit wird im Fol­ Studien darauf, dass die gegenwärtig ins Alter
genden dargestellt, warum Altersgruppenunter­ kommenden Geburtsjahrgänge eine bessere Ge­
schiede nicht immer als altersbedingte Verände­ sundheit haben als noch vorangegangene Gene­
rungen interpretiert werden können und welche rationen Älterer. Eine entsprechende Entwicklung
alternativen Erklärungsmöglichkeiten berücksich­ könnte sich möglicherweise auch mit Blick auf die
tigt werden sollten, bevor eine solche Schlussfol­ subjektive Gesundheit abzeichnen.
gerung gezogen wird.
In Abbildung 2.3.3.1 wurde für vier Alters­
gruppen die subjektive Gesundheit dargestellt. Erklärung 2 – Periodeneffekte
Beim Vergleich der Altersgruppen wird deutlich,
dass die subjektive Gesundheit von Männern und Eine zweite Erklärung von Altersgruppenunter­
Frauen im mittleren Erwachsenenalter (40 bis schieden sind so genannte Perioden- oder Jahres­
54 Jahre) am besten ist und sich über die Alters­ effekte. So ist es beispielsweise möglich, dass nach
gruppen hinweg verschlechtert. Lässt sich daraus einem besonderen positiven oder negativen Er­
86 Gesundheit und Krankheit im Alter

eignis (wie z. B. dem Reaktorunglück von Tscher­ Unterschiede in Querschnittdaten lassen sich
nobyl 1986) das subjektive Gesundheitserleben deshalb oftmals nicht eindeutig interpretieren. Im
in der Bevölkerung besonders gut oder schlecht Altersgang zu erkennende Entwicklungen (z. B.
ist. Neben Ereignissen zählen auch Prozesse zu eine über die Altersgruppen hinweg abnehmende
Periodeneffekten, z. B. die breite gesellschaftliche subjektive Gesundheit) können individuelle Ent­
Einführung von Computern oder die Änderung wicklungen, die mit dem Älterwerden einherge­
von gesetzlichen Regelungen. Zwischen Kohor­ hen, sowohl unter- als auch überschätzen. Es ist
ten- und Periodeneffekten ist nur ein schmaler deshalb wichtig, näher zu betrachten, inwieweit
Grat: Periodeneffekte sind ein Produkt individu­ Altersgruppenunterschiede auf Kohortenun­
eller Veränderungen, bedingt durch ein Ereignis terschiede, Periodeneffekte oder eine mit dem
oder einen Prozess; bei Kohorteneffekten steht Älterwerden schlechter werdende subjektive Ge­
hingegen die Stabilität im Vordergrund, beispiels­ sundheit zurückzuführen sind. Denn nur so lässt
weise die nachhaltige Prägung durch die Zeit der sich besser verstehen, worauf Veränderungen der
Studentenbewegung. subjektiven Gesundheit im Altersgang zurückzu­
führen sind. Dies wird im Folgenden anhand von
Ergebnissen des Sozio-oekonomischen Panels
Erklärung 3 – Individuelle Entwicklung und des Alterssurveys beschrieben.
Die zeitliche Entwicklung der subjektiven
Schließlich können bestehende Altersgruppenun­ Gesundheit kann mit Daten des Sozio-oekono­
terschiede natürlich auch – ganz im Sinne der wei­ mischen Panels (SOEP) für die Jahre 1994 bis
ter oben beschriebenen Deutung – ein Hinweis 2006 nachgezeichnet werden (siehe Abbildung
darauf sein, dass sich mit steigendem Alter die 2.3.5.1). Hierbei wird deutlich, wie beispielswei­
subjektive Gesundheit verschlechtert. Meist wer­ se Personen, die im Jahr 1994 im Alter zwischen
den Altersgruppenunterschiede in dieser Weise 40 und 54 Jahren alt waren, ihre Gesundheit ein­
interpretiert. Die beiden zuvor diskutierten Punkte schätzten und wie demgegenüber die Gesund­
machen darauf aufmerksam, dass dies aber nicht heitseinschätzung jener Personen ausfällt, die
immer die richtige und vor allem nicht unbedingt erst im Jahr 2006 dieses Alter erreichten. Anhand
die einzige Interpretation sein muss: Die mit dieser Darstellung zeigt sich, dass sich der Anteil
dem Älterwerden einhergehende Veränderung der Männer und Frauen mit sehr guter oder guter
der subjektiven Gesundheit kann beispielsweise allgemeiner Gesundheit in der Altersgruppe der
eine andere sein als jene die sich über Kohorten 40- bis 54-Jährigen kaum verändert hat. Hinge­
hinweg vollzieht. In der historischen Entwicklung gen lässt sich für die 55- bis 64-Jährigen und die
können nachfolgende Geburtsjahrgänge eine bes­ 65- bis 74-Jährigen vor allem in den letzten Jahren
sere subjektive Gesundheit haben. Auf der Ebene eine Verbesserung der Gesundheitseinschätzung
der individuellen Entwicklung kann die subjektive feststellen. Besonders deutlich zeichnet sich dies
Gesundheitseinschätzung über die Zeit trotzdem bei Frauen im Alter von 55 bis 64 Jahren ab: Im
negativer werden, weil Personen die Erfahrung Jahr 1994 gaben 27 % der Frauen diesen Alters
machen, dass sich ihr Gesundheitszustand mit an, einen sehr guten oder guten Gesundheitszu­
steigendem Alter verschlechtert. Sofern beide stand zu haben, im Jahr 2006 waren es 36 %. In
Entwicklungen gleichzeitig eine Rolle spielen, der Gruppe der 75- bis 84-jährigen Männer sind
überschätzt die in Abbildung 2.3.3.1 dargestellte wiederum keine bedeutsamen Veränderungen
Verschlechterung der subjektiven Gesundheit festzustellen, bei den Frauen gleichen Alters hat
im Altersgang die tatsächliche individuelle Ver­ der Anteil mit sehr guter oder guter selbsteinge­
schlechterung – denn in diesem Fall bliebe auf schätzter Gesundheit sogar abgenommen und
der Grundlage eines Querschnittvergleiches un­ zwar von 19 % auf 14 %.
berücksichtigt, dass Personen, die heute 70 oder Diese Ergebnisse für altersgleiche Personen
80 Jahre alt sind, bereits im mittleren Erwachse­ unterschiedlicher Geburtskohorten weisen darauf
nenalter eine weniger gute Gesundheitseinschät­ hin, dass es bei nachfolgenden Geburtsjahrgän­
zung hatten als jene Personen, die gegenwärtig im gen keinen allgemeinen Trend hin zu einer bes­
mittleren Erwachsenenalter sind. seren subjektiven Gesundheit gibt im Vergleich
Gesundheit und Krankheit im Alter 87

Abbildung 2.3.5.1
Anteil der Männer und Frauen verschiedener Altersgruppen mit sehr guter oder guter Selbsteinschätzung
des allgemeinen Gesundheitszustandes 1994 bis 2006
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel 1994 bis 2006, eigene Berechnungen

Prozent
60

Frauen Männer
50

40 40–54 Jahre

55–64 Jahre
30
65–74 Jahre

20 75–84 Jahre

10

1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006
Jahr

zu früher geborenen Jahrgängen. In diesem Fall folgenden beiden Darstellungen eine getrennte
wäre zu erwarten, dass die Effekte nicht nur für Betrachtung von unterschiedlichen Geburtsjahr­
die 55- bis 74-Jährigen festzustellen sind, sondern gängen (siehe Abbildung 2.3.5.2) und individu­
sich mindestens auch für die 40- bis 54-Jährigen ellen Entwicklungen der subjektiven Gesundheit
zeigen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Anhand (siehe Abbildung 2.3.5.3).
von Abbildung 2.3.5.1 lässt sich die zeitliche Im Rahmen des Alterssurveys wurden im
Entwicklung über 13 Untersuchungsjahre nach­ Jahr 1996 Personen befragt, die im Alter zwi­
zeichnen, was eindeutigere Rückschlüsse auf Ent­ schen 40 und 85 Jahren waren (Basisstichprobe
wicklungen zulässt als Abbildung 2.3.3.1, in der 1996). Sechs Jahre später, also im Jahr 2002, wur­
Altersgruppenunterschiede im Querschnitt dar­ den erneut 40- bis 85-jährige Personen befragt
gestellt sind. (Basisstichprobe 2002). Durch diese Befragung
Die Darstellung in Abbildung 2.3.5.1 bildet von gleichaltrigen Personen zu unterschiedlichen
jedoch nicht nur ausschließlich einen Kohorten­ Zeitpunkten lassen sich Personen, die 1996 bei­
vergleich ab, sondern enthält zugleich eine indi­ spielsweise 65 Jahre alt waren (Geburtsjahrgang
viduelle Entwicklungsperspektive. Grund hierfür 1931) mit jenen vergleichen, die sechs Jahre später
ist, dass eine Person, die 1994 beispielsweise 70 das gleiche Alter erreicht haben (Geburtsjahrgang
Jahre alt war, auch an den Wiederholungsbefra­ 1937). Da es sich in diesem Fall um zwei getrennte
gungen (z. B. der Jahre 1996, 1998, 2000) teil­ Basisstichproben handelt, enthält die nachfol­
nahm und bei diesen Befragungen entsprechend gende Abbildung 2.3.5.2 keine individuellen Ent­
älter (d. h. im Alter von 72, 74, 76 Jahren) war. Die wicklungen von Personen im Zeitverlauf. Viel­
Abbildung enthält damit zugleich die individuelle mehr werden hier verschiedene Geburtskohorten
Entwicklung von wiederholt befragten Personen miteinander verglichen, wenn sie das gleiche Alter
und nicht ausschließlich Unterschiede zwischen erreicht haben.
verschiedenen Geburtsjahrgängen (bzw. Geburts­ Vergleicht man anhand von Abbildung 2.3.5.2
kohorten). Ergänzend erfolgt deshalb in den nach- die Angaben gleichaltriger Personen verschie­
88 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.3.5.2
Bewertung der eigenen Gesundheit: Vergleich verschiedener Geburtskohorten im gleichen Alter 1996 und 2002
Quelle: Alterssurvey, Basisstichproben 1996, 2002, eigene Berechnungen

Mittelwert
4,5

4,0

3,5

3,0

2,5

2,0

1,5 Alterssurvey 1996

1,0 Alterssurvey 2002

0,5

40–45 46–51 52–57 58–63 64–69 70–75 76–81


Alter in Jahren

dener Geburtsjahrgänge, wird deutlich, dass sich Geburtskohorten festzustellen sind, verweist da­
drei der insgesamt sieben dargestellten Geburts­ rauf, dass hierbei vielmehr ein Periodeneffekt eine
kohorten statistisch bedeutsam unterscheiden. Rolle spielen könnte (vgl. Erklärung 2). Ein Ver­
Diese Kohorten umfassen die Altersgruppen der gleich der Erwerbsbeteiligung dieser Altersgrup­
52- bis 57-Jährigen, 58- bis 63-Jährigen und 64­ pen in den Jahren 1996 und 2002 zeigt, dass im
bis 69-Jährigen; sie sind grafisch jeweils durch Jahr 2002 mehr Personen dieser Altersgruppen
eine Umrandung hervorgehoben. Bei diesen Al­ erwerbstätig oder im Ruhestand waren, während
tersgruppen zeigt sich, dass die nachfolgenden hingegen weniger Personen nicht-erwerbstätig
Geburtsjahrgänge tatsächlich eine (statistisch sig­ (insbesondere arbeitslos) waren als noch 1996
nifikant) bessere subjektive Gesundheit haben als [25]. Es ist bekannt, dass Nicht-Erwerbstätigkeit
jene die sechs Jahre vor ihnen geboren wurden. – vor allem aufgrund eines Arbeitsplatzverlustes
Erkennbar ist aber auch, dass diese Unterschiede – mit schlechterer körperlicher, psychischer und
weder für jüngere Altersgruppen (40 bis 51 Jahre) subjektiver Gesundheit einhergeht, beruflicher
noch für ältere Altersgruppen (70 bis 81 Jahre) be­ Wiedereinstieg hingegen mit besserer Gesund­
stehen. Dies entspricht den Befunden des Sozio­ heit [26, 27]. Möglicherweise sind die aufgezeigten
oekonomischen Panels (siehe Abbildung 2.3.5.1). Unterschiede also auf einen Rückgang des Anteils
Beide Abbildungen stützen somit nicht die These, nicht-erwerbstätiger Personen zurückzuführen.
dass nachfolgende Kohorten mit einer besseren Vor dem Hintergrund geänderter gesetzlicher
subjektiven Gesundheit ins Alter kommen als vor Regelungen wie der Anhebung der Ruhestands­
ihnen geborene Geburtskohorten. Der Befund, grenze und der Erhöhung von Rentenabschlägen
dass nur für Altersgruppen rund um das Ruhe­ bei vorzeitigem Übergang in den Ruhestand, ist
standsalter Unterschiede zwischen verschiedenen offen, ob sich diese Tendenz einer besseren Ge­
Gesundheit und Krankheit im Alter 89

sundheitseinschätzung nachfolgender Geburtsko­ 64- bis 69-Jährigen überhaupt nicht verschlech­


horten rund um das Ruhestandsalter in Zukunft tert. Bei allen anderen, d. h. jüngeren wie älteren
fortsetzen, verstärken oder abschwächen wird. Altersgruppen kam es zu einer deutlichen Ver­
Abschließend lassen sich individuelle Entwick­ schlechterung der subjektiven Gesundheit über
lungen der subjektiven Gesundheit über die Zeit die Zeit. Die Befunde zur individuellen Entwick­
betrachten. Im Rahmen des Alterssurveys wurde lung im Zeitverlauf entsprechen damit den aufge­
ein Teil der Personen, die bereits im Jahr 1996 zeigten Unterschieden zwischen verschiedenen
an der Befragung teilgenommen haben, 2002 Geburtskohorten.
ein zweites Mal befragt. Für diese Personen kann Die gleichzeitige Berücksichtigung von (1)
untersucht werden, wie sich ihre subjektive Ge­ Kohortenunterschieden, (2) Periodeneffekten
sundheit über die Zeit verändert hat (siehe Abbil­ und (3) individueller Entwicklung macht somit
dung 2.3.5.3). folgendes deutlich: Auch wenn zahlreiche Stu­
Die Betrachtung der individuellen Entwick­ dien darauf verweisen, dass heutzutage Personen
lung im Sechs-Jahreszeitraum macht deutlich, mit besserer Gesundheit ins Alter kommen als
dass für einige, aber nicht für alle Altersgrup­ frühere Kohorten Älterer [28], spiegelt sich diese
pen die subjektive Gesundheit über die Zeit ver­ Entwicklung nicht systematisch in einer besseren
schlechtert hat. Von einer Verschlechterung der subjektiven Gesundheit nachfolgender Geburts­
Gesundheit über die Zeit sind hier die mittleren kohorten wider. Zwar finden sich Unterschiede
Altersgruppen (erneut durch eine Umrandung zwischen verschiedenen Geburtskohorten rund
hervorgehoben) am wenigsten betroffen. Bei den um das Ruhestandsalter, doch diese sind vermut­
52- bis 57-Jährigen hat sich die subjektive Ge­ lich eher auf aktuelle Veränderungen (Periodenef­
sundheit über die Zeit geringfügig (gestrichelte fekte) zurückzuführen und weniger auf Prozesse
Umrandung) und bei den 58- bis 63-Jährigen und des sozialen Wandels.

Abbildung 2.3.5.3
Bewertung der eigenen Gesundheit: Individuelle Veränderungen der subjektiven Gesundheit
im Sechs-Jahresvergleich 1996 bis 2002
Quelle: Alterssurvey, Längsschnittstichprobe 1996/2002, eigene Berechnungen

Mittelwert
5,0

4,5

4,0

3,5

3,0

2,5

2,0

1,5

1,0
40–45 46–51 52–57 58–63 64–69 70–75 76–81
Alter in Jahren
90 Gesundheit und Krankheit im Alter

Die Befunde zu individuellen Entwicklungen 6. Ebrahim S (1996) Principles of Epidemiology in Old


Age. In: Ebrahim S, Kalache A (Hrsg) Epidemiology in
der subjektiven Gesundheit machten deutlich,
Old Age. BMJ, London, S 12 – 21
dass sich die subjektive Gesundheit mit stei­ 7. Benyamini Y, Idler EL, Leventhal H et al. (2000) Po­
gendem Alter verschlechtert. Damit stehen die sitive affect and function as influences on self-assess­
Ergebnisse zur individuellen Entwicklung (Längs­ ments of health: expanding our view beyond illness
and disability. Journal of Gerontology: Psychological
schnitt) im Einklang mit den Befunden zur Verän­
Sciences 55B (2): 107 – 116
derung der subjektiven Gesundheit im Altersgang 8. Quinn ME, Johnson MA, Poon LW et al. (1999) Psy­
(Querschnitt, siehe Abbildung 2.3.3.1) – jedoch nur chosocial correlates of subjective health in sexagene­
zum Teil. Denn die Querschnittdaten verdeckten rians, octogenerians, and centenarians. Issues in Men­
tal Health Nursing 20: 151 – 171
eine Besonderheit, die erst bei der näheren Be­
9. Idler EL, Kasl SV (1995) Self-Ratings of Health: Do They
trachtung der individuellen Entwicklungen (siehe Also Predict Change in Functional Ability? Journal of
Abbildung 2.3.5.3) deutlich wurde: Bei Personen Gerontology: Social Sciences 50B (6): S 344 – S 353
rund um das Ruhestandsalter verschlechterte sich 10. Wilcox VL, Kasl SV, Idler EL (1996) Self-rated health
and physical disability in elderly survivors of a major
die subjektive Gesundheit im Durchschnitt nicht.
medical event. Journal of Gerontology: Social Sciences
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Ver­ 51B (2): S 96 – S104
schlechterung der subjektiven Gesundheit keiner 11. Bond J, Dickinson HO, Matthews F et al. (2006) Self­
altersinhärenten Gesetzmäßigkeit folgt. Vielmehr rated health status as a predictor of death, functional
and cognitive impairment: A longitudinal cohort study.
tragen vielfältige individuelle und gesellschaft­
European Journal of Ageing 3: 193 – 206
liche Bedingungen dazu bei, ob und in welchem 12. Lyness JM, King DA, Conwell Y et al. (2004) Self-rated
Ausmaß sich die subjektive Gesundheit mit stei­ health, depression, and one-year health outcomes in
gendem Alter verschlechtert. Zu Beginn des Ka­ older primary care patients. American Journal of Ge­
riatric Psychiatry 12 (1): 110 – 113
pitels wurde dargestellt, welche Bedeutung der
13. Idler EL, Russel LB, Davis D (2000) Survival, functio­
subjektiven Gesundheit für die körperliche Funk­ nal limitations, and self-rated health in the NHANES
tionsfähigkeit, Gesundheit und Langlebigkeit I epidemiologic follow-up study, 1992. American Jour­
zukommt. Die vorliegenden Befunde verweisen nal of Epidemiology 152 (9): 874 – 883
14. Jang Y, Poon LW, Martin P (2004) Individual diffe­
darauf, dass das subjektive Gesundheitserleben
rences in the effects of disease and disability on depres­
verändert werden kann und somit individuelle sive symptoms: The role of age and subjective health.
wie gesellschaftliche Interventionspotenziale be­ International Journal of Aging and Human Develop­
stehen. Dies ist eine Chance, die es gerade ange­ ment 59 (2): 125 – 137
15. Menec VH, Chipperfield JG (2001) A prospective
sichts des demografischen Wandels im Einzelnen
analysis of the relation between self-rated health and
zu entwickeln und zu nutzen gilt. health care use among elderly Canadians. Canadian
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mortality: A review of twenty-seven community stu­ Psychology 29 (3): 539 – 548
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nal of Public Health 72 (8): 800 – 808
Gesundheit und Krankheit im Alter 91

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25. Engstler H (2006) Erwerbsbeteiligung und Übergang The Gerontologist 47 (2): 150 – 158
in den Ruhestand. In: Tesch-Römer C, Engstler H,
92 Gesundheit und Krankheit im Alter

2.4 Lebenserwartung und Sterbegeschehen


Elke Hoffmann, Torsten Schelhase, Sonja Menning

Kernaussagen Die Frage nach dem Alter von Menschen ist


im demografischen Sinne vor allem eine Frage
1. Die Lebenserwartung ist seit der ersten Auf­ nach ihrer Lebensdauer bzw. Lebenserwartung.
zeichnung von Sterbedaten im 19. Jahrhun­ Darin spiegelt sich das Gesundheits- und Krank­
dert kontinuierlich gestiegen. Dieser Trend heitsgeschehen jener Zeit, in der Menschen le­
ist nach heutigem Erkenntnisstand auch für ben. Evolutionsbiologische Faktoren wie auch
die Zukunft zu erwarten. kulturelle und soziale Einflüsse prägen dieses
2. Seit Ende des 20. Jahrhunderts gewinnt die Geschehen. Große Bedeutung kommt dabei den
Lebenszeitverlängerung in den oberen Al­ medizinischen Versorgungsmöglichkeiten, dem
tersgruppen an Gewicht. Das wird als Phäno­ materiellen Wohlstand einer Gesellschaft, der Bil­
men der Reduzierung der Alterssterblichkeit dung wie auch kulturellen Lebensgewohnheiten
bezeichnet. Die Wahrscheinlichkeit eines der Menschen zu. Im Kontext mit Daten zum
80-Jährigen, 100 Jahre alt zu werden, ist seit Sterbegeschehen, wie z. B. Sterberaten und Todes­
1950 beispielsweise um das 20-fache gestie­ ursachen, ist die Lebenserwartung ein wichtiger
gen. Indikator für die Messung und Einschätzung des
3. Frauen leben länger als Männer. Das ist zum Gesundheitszustandes und des Lebensstandards
weitaus größten Teil durch verhaltens- bzw. einer Gesellschaft [1]. Gesellschaftspolitische Re­
umweltbedingte Geschlechterunterschiede levanz besitzt dieser Indikator auch, weil er im
zu erklären. Zusammenspiel mit dem Geburten- und Wan­
4. In Abhängigkeit vom Sozialstatus wird ein derungsgeschehen demografische Strukturen –
soziales Gefälle der Sterblichkeit konstatiert. wie Alters- und Geschlechtsstrukturen, regionale
Die Komplexität der ursächlichen Zusam­ Verteilungen – von Bevölkerungen konstituiert.
menhänge von Sozialstatus und Gesundheit Wie im Kapitel 1.2 bereits ausgeführt wurde, wird
bzw. Lebenserwartung ist jedoch bei weitem der gegenwärtige demografische Wandel mit
noch nicht erforscht. seinem typischen Bild alternder Bevölkerungen
5. Eine empirisch noch ungeklärte Forschungs­ neben den anhaltend niedrigen Geburtenzahlen
frage ist, inwiefern der Zugewinn an Lebens­ wesentlich durch die steigende Lebenserwartung
jahren ein längeres Leben bei guter Gesund­ geprägt. Welche Relevanz hat das für den Gesund­
heit impliziert. In der Tendenz verzeichnen heitszustand und für die Gesundheitsversorgung
die Länder mit einer sehr hohen Lebenser­ im Alter? Vor dem Hintergrund dieser Frage sol­
wartung auch die größeren Anteile an gesun­ len in diesem Kapitel Informationen zur Lebens­
den Lebensjahren. erwartung und zum Sterbegeschehen vermittelt
6. Der Tod wird nach einem durchschnittlich werden.
langen Leben hauptsächlich von Herz-/Kreis­
lauferkrankungen verursacht. Bei Sterbefällen
von jungen Alten spielen Krebserkrankungen 2.4.1 Lebenserwartung
verschiedener Organe eine große Rolle.
Definition und Berechnungsmethodik
Die vorangegangenen Kapitel haben sich mit der
somatischen und psychischen, mit der funktio­ Die Lebenserwartung ist ein Maß zur Standardi­
nalen und mit der subjektiven Gesundheit be­ sierung des Sterbegeschehens innerhalb von Be­
schäftigt, um die Frage zu diskutieren, ob Altsein völkerungen einer ausgewählten Region in einem
ein Kranksein impliziert. Doch wie alt wird der bestimmten Zeitraum. Sie gibt an, wie viele Jahre
Mensch bzw. wie alt kann er werden? Was verur­ eine Person in einem bestimmten Alter (noch)
sacht seinen Tod? zu leben hätte. Dabei wird unterstellt, dass die
Gesundheit und Krankheit im Alter 93

zum Berechnungszeitpunkt geltenden Sterbe­ ten Tafeln, sind jene zu unterscheiden, die von der
raten konstant erhalten bleiben. Da dies jedoch Versicherungswirtschaft mit einer Ausrichtung
real nicht der Fall ist, kann dieser Wert nur eine auf konkrete Versicherungszwecke berechnet
Schätzung der tatsächlich zu lebenden Zeit sein. werden, und nicht primär der Beschreibung von
Häufigste Verwendung findet die zum Zeitpunkt Sterblichkeitsverhältnissen dienen.
der Geburt berechnete Lebensdauer (Lebenser­
wartung Neugeborener). Wird für spätere Lebens­
alter die noch verbleibende Lebenszeit geschätzt, Lebenserwartung in Deutschland
spricht man von der ferneren Lebenserwartung
im Alter x [2]. Die Daten werden aus sogenann­ Seit der ersten Aufzeichnung von Sterbetafeln
ten Sterbetafeln abgeleitet. Diese basieren auf wird eine kontinuierliche Zunahme der Lebenser­
der Schätzung von Überlebens- bzw. Sterbewahr­ wartung verzeichnet. Im Vergleich der Sterbetafel
scheinlichkeiten und zeigen in tabellarischer 1871/1881 bis heute ist für weibliche Neugeborene
Form die »Absterbeordnung« eines Bevölke­ ein Zugewinn von 44 Lebensjahren, für männ­
rungsbestandes. Dafür werden unterschiedliche liche Neugeborene von 41 Jahren zu verbuchen.
Methoden eingesetzt [3, 4, 5]. Prinzipiell werden 65-jährige Frauen leben im Durchschnitt 10 Jah­
Sterbetafeln für Frauen und Männer getrennt re länger, gleichaltrige Männer 7 Jahre. Für die
berechnet, da biologische und soziale Faktoren 85-Jährigen stieg die Lebenserwartung um drei
hinsichtlich der Sterbewahrscheinlichkeit eine Jahre bei Frauen und um zwei Jahre bei Männern
bedeutende Geschlechtsspezifik aufweisen (siehe (siehe Tabelle 2.4.1.1).
hierzu weiter unten). Tabelle 2.4.1.2 veranschaulicht die Entwick­
Daten zur Lebenserwartung wurden in lung der Lebenserwartung als relativen Verlauf.
Deutschland erstmalig im Jahr 1871 auf der Für drei verschiedene Lebensalter wird der re­
Grundlage der ersten allgemeinen Sterbetafel lative Anstieg in unterschiedlichen Zeitphasen
ausgewiesen. Allgemeine Sterbetafeln werden in ausgewiesen. Die Daten belegen, dass das heutige
der Regel nach Volkszählungen erstellt. Zwischen Niveau der Lebenserwartung im historischen Zeit­
den Volkszählungen werden in Deutschland seit verlauf keineswegs gleichmäßig erreicht wurde.
1957 jährlich so genannte abgekürzte Sterbetafeln Und es wird deutlich, dass die ausgewählten Le­
für Dreijahreszeiträume berechnet. Sie sind die bensalter ungleichmäßig stark an dieser Entwick­
Grundlage für die folgenden Analysen. Von die­ lung partizipieren. Diese Tatsache reflektieren
sen, seitens des Statistischen Bundesamtes erstell- auch die Verläufe der altersspezifischen Sterbe-

Tabelle 2.4.1.1
Lebenserwartung bei Geburt sowie im Alter von 65 und 85 Jahren nach Geschlecht,
Deutschland für den Zeitraum 1871/1881 bis 2004/2006* (Angabe in Jahren)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Allgemeine Sterbetafeln in abgekürzter Form [6]

Zeitraum Lebenserwartung Lebenserwartung im Lebenserwartung im


bei Geburt Alter von 65 Jahren Alter von 85 Jahren
Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer
1871/1881 38,5 35,6 10,0 9,6 3,1 3,1
1901/1910 48,3 44,8 11,1 10,4 3,4 3,2
1932/1934 62,8 59,9 12,6 11,9 3,7 3,5
1957/1958** 71,4 66,3 14,1 12,3 3,9 3,6
1991/1993 79,0 72,5 18,0 14,3 5,4 4,5
2004/2006 82,1 76,6 20,2 16,8 6,2 5,4

* bis 1932/1934 Deutsches Reich, jeweiliger Gebietsstand; ab 1991/1993 Deutschland


** 1957/1958 Früheres Bundesgebiet; die vergleichbaren Werte der Sterbetafel 1956/1957
für die DDR unterscheiden sich unwesentlich
94 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 2.4.1.2
Veränderung der Lebenserwartung bei Geburt sowie im Alter von 65 und 85 Jahren nach Geschlecht, Deutschland*
im Zeitvergleich 1871/1881 bis 2004/2006 (Anstieg in %)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Allgemeine Sterbetafeln in abgekürzter Form, eigene Berechnungen [6]

Entwicklung in den Lebenserwartung Lebenserwartung im Lebenserwartung im


Jahren von ... bis ... bei Geburt Alter von 65 Jahren Alter von 85 Jahren
Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer
1871/1881 – 1901/1910 + 25,5 % + 25,8 % + 11,0 % + 8,3 % + 9,7 % + 3,2 %
1901/1910 – 1932/1934 + 30,0 % + 33,7 % + 13,5 % + 14,4 % + 8,8 % + 9,4 %
1932/1934 – 1957/1958** + 13,7 % + 10,7 % + 11,9 % + 3,4 % + 5,4 % + 2,9 %
1957/1958** – 1991/1993 + 10,6 % + 9,4 % + 27,7 % + 16,3 % + 38,5 % + 25,0 %
1991/1993 – 2004/2006 + 3,9 % + 5,7 % + 12,2 % + 17,5 % + 14,8 % + 20,0 %
1871/1881 – 2004/2006 + 113,2 % + 115,2 % + 102,0 % + 75,0 % + 100,0 % + 74,2 %
* bis 1932/1934 Deutsches Reich, jeweiliger Gebietsstand; ab 1991/1993 Deutschland
** 1957/1958 Früheres Bundesgebiet; die vergleichbaren Werte der Sterbetafel 1956/1957
für die DDR unterscheiden sich unwesentlich

wahrscheinlichkeiten für ausgewählte Jahre in in den oberen Altersgruppen an Gewicht. Der


Abbildung 2.4.1.1 recht eindrucksvoll. seit 1871/1881, also für insgesamt 134 Jahre ge­
Die Verbesserung der Sterbeverhältnisse messene Anstieg der Lebenserwartung der älteren
basierte im Deutschland des 19. und Anfang des weiblichen Bevölkerung hat zu einem Viertel al­
20. Jahrhunderts überwiegend auf der Zurück­ lein in den letzten 13 Jahren stattgefunden, bei den
drängung der Säuglingssterblichkeit. Mittlerweile Männern zu einem Drittel. Die Wahrscheinlich­
konnte ein so niedriges Sterberisiko für Neuge­ keit eines 80-Jährigen, 100 Jahre alt zu werden,
borene erreicht werden (im Jahr 2006 starben ist in Deutschland beispielsweise seit 1950 um das
bezogen auf 1.000 Lebendgeborene 3,8 Säuglinge 20-fache gestiegen [8]. Lebensverlängernde Maß­
in ihrem ersten Lebensjahr), dass dieser Aspekt nahmen in unterschiedlichsten Lebensbereichen
gegenüber der Entwicklung der Sterblichkeit im hatten und haben offenbar einen besonders po­
mittleren und höheren Lebensalter an Bedeutung sitiven Effekt hinsichtlich des Sterberisikos alter
verloren hat. und sehr alter Menschen.
Etwa ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Insgesamt ist zu konstatieren, dass der an­
große Fortschritte bei der Verbesserung des alters­ haltende Anstieg der Lebenserwartung gegenwär­
spezifischen Sterberisikos im Erwachsenenalter tig und zukünftig vor allem der Reduzierung der
erreicht. Sie waren wesentlich getragen von einem Alterssterblichkeit zuzuschreiben ist. Der Faktor
Kanon wirtschaftlicher, medizinischer, kultureller Alterssterblichkeit wird für den weiteren Anstieg
und sozialer Faktoren wie einem steigenden Le­ der Lebenserwartung als 2- bis 3-mal wichtiger be­
bensstandard, gesunder Ernährung, moderneren wertet als alle anderen Faktoren [8].
Arbeitsbedingungen mit einem zunehmend Deutlich zu erkennen ist in den Tabellen und
geringeren Anteil körperlich anstrengender Ar­ Grafiken auch die Geschlechtsspezifik der Ent­
beiten, verbesserten hygienischen Bedingungen, wicklung. Die Lebenserwartung Neugeborener
neuen Standards medizinischer Versorgung wie weist für Mädchen und Jungen einen etwa gleich
auch dem Ausbau einer Infrastruktur für soziale großen Zugewinn auf. Das deutet auch darauf
Fürsorge [7, 8]. Besonders bedeutsam waren die hin, dass die Differenz zwischen weiblicher und
medizinischen Fortschritte hinsichtlich der Zu­ männlicher Lebenserwartung im historischen
rückdrängung von Infektionskrankheiten und Verlauf Bestand hat. Anders hingegen verlief die
Epidemien. Entwicklung der Lebenserwartung älterer Frauen
Seit Ende des 20. Jahrhunderts, vor allem und Männer, die in den nächsten Abschnitten be­
nach 1970, gewann die Lebenszeitverlängerung schrieben wird.
Gesundheit und Krankheit im Alter 95

Abbildung 2.4.1.1
Entwicklung der Sterbewahrscheinlichkeiten in Deutschland* seit 1871/1881 bis 2004/2006 nach Geschlecht
Quelle: Statistisches Bundesamt, Periodensterbetafeln [6]

Frauen
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
1,00000 Alter

0,10000

1871/81

0,01000 1901/10

1949/51

0,00100 2004/06

0,00010

0,00001
log. Maßstab

Männer
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
1,00000 Alter

0,10000

1871/81

0,01000 1901/10

1949/51

0,00100 2004/06

0,00010

0,00001
log. Maßstab

* 1871/1881 und 1901/1910 Deutsches Reich, jeweiliger Gebietsstand, 1949/1951 Früheres Bundesgebiet, 2004/2006 Deutschland
96 Gesundheit und Krankheit im Alter

Frauen leben länger als Männer – das ist ein bis in das letzte Drittel des vergangenen Jahrhun­
seit langem bekanntes Phänomen. Schon neuge­ derts an. Seit Ende des 20. Jahrhunderts nimmt
borene Mädchen haben eine um 5,5 Jahre höhere jedoch die Lebenserwartung der Männer wieder
Lebenserwartung als männliche Neugeborene. schneller zu, der Überschuss an Lebensjahren von
Diese Unterschiede setzen sich in allen höheren Frauen gegenüber Männern wird kleiner.
Lebensjahren fort, auch wenn die Differenzbe­ Diese Entwicklungsdynamik ist auch hin­
träge mit zunehmendem Alter sinken. Der Vor­ sichtlich der Lebenserwartung Älterer zu beobach­
sprung an Lebenserwartung gegenüber den Män­ ten: Hatten um die Wende zum 20. Jahrhundert
nern beträgt heutzutage bei 65-jährigen Frauen 60-jährige Frauen noch etwa ein Jahr mehr an Le­
3,4 Jahre, bei 85-jährigen Frauen noch 0,8 Jahre. benserwartung vor sich als gleichaltrige Männer,
Dass Frauen ein längeres Leben haben als so waren es Mitte der 1970er-Jahre bereits über
Männer ist nicht immer so gewesen: Bis zum 19. vier Jahre Differenz (siehe Abbildung 2.4.1.2). In
Jahrhundert wiesen Frauen eine höhere Gesamt­ den dann folgenden Jahrzehnten begann sich die­
sterblichkeit auf als Männer, vor allem aufgrund se Differenz jedoch zu verringern, zunächst in den
der hohen Müttersterblichkeit. Diese Situation angelsächsischen und nordeuropäischen Ländern,
wurde zudem durch die im Vergleich zu heute be­ später in Frankreich und den Mittelmeerländern.
trächtlich höheren Geburtenzahlen verschärft. Im Als Ursachen für die längere Lebenserwar­
Verlauf des 19. Jahrhunderts begannen sich diese tung der Frauen bzw. für die höhere Sterblichkeit
Verhältnisse umzukehren [9]. Bei den Frauen stieg der Männer werden heute sowohl biologische als
die Lebenserwartung dann über lange Zeiträume auch verhaltens- und umweltabhängige Gründe
schneller an als bei den Männern. Dieser Prozess angesehen. Frauen haben einen biologischen
war international zu beobachten und dauerte etwa Überlebensvorteil aufgrund ihrer genetischen und

Abbildung 2.4.1.2
Differenz der Lebenserwartung im Alter von 60 Jahren zwischen Frauen und Männern in Deutschland 1961/1963 bis
2004/2006* (positiver Saldo der Frauen in Jahren)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Allgemeine Sterbetafeln in abgekürzter Form, eigene Berechnungen [6]

2004/06

2003/05

2002/04

2001/03

1996/98

1991/93

1985/87

1980/82

1975/77

1971/73

1965/67

1961/63
0 1 2 3 4 5

Differenz in Jahren

* 1961/63 bis 1985/87 Früheres Bundesgebiet, ab 1991/1993 Deutschland


Gesundheit und Krankheit im Alter 97

hormonellen Disposition, der schwierig zu quanti­ große Unterschiede in Abhängigkeit vom So­
fizieren ist, nach Schätzungen aber nicht mehr als zialstatus der Personen zu konstatieren (vgl. auch
1 bis 2 Jahre Lebenserwartung im jungen Erwach­ Kapitel 3.2). Die Komplexität der ursächlichen
senenalter ausmacht [9]. Der weitaus größere Zusammenhänge von Bildung, Einkommen,
Teil des Unterschieds in der Lebenserwartung ist Berufsstand, Arbeitsbedingungen, Wohnumfeld
offenbar durch verhaltens- bzw. umweltbedingte und dergleichen mit Gesundheit und Lebens­
Geschlechterunterschiede verursacht. Män­ erwartung ist jedoch bei weitem noch nicht er­
ner verhalten sich weniger gesundheitsbewusst forscht. Bisherige empirische Befunde analysie­
(Rauchverhalten, Alkoholkonsum u.ä.) und sind ren zumeist die Wirkung nur eines der sozialen
mehr umweltspezifischen Risiken ausgesetzt als Faktoren auf die Lebenserwartung. So verweisen
Frauen (soziale und berufliche Stressbelastung, aktuelle Analysen zu Einkommensunterschieden
Langzeitwirkungen der Weltkriege) [9]. beispielsweise auf die Tendenz, dass die Aussicht
Welche Erklärung gibt es für die Verringe­ auf ein langes und gesundes Leben umso eher
rung der Geschlechterdifferenzen in der Sterb­ besteht, je höher das Einkommen ist [11]. In Ab­
lichkeit in den letzten Jahren? Dieser Trend ist zu hängigkeit vom Sozialstatus wird ein soziales Ge­
großen Teilen darauf zurückzuführen, dass beide fälle der Sterblichkeit konstatiert, welches über ein
Geschlechter in unterschiedlicher Weise von den spezifisches Gesundheits- und Sozialverhalten der
Sterblichkeitsrückgängen bei degenerativen Er­ Menschen vermittelt ist, wobei weitere persönlich­
krankungen profitierten. Das trifft vor allem auf keitsbezogene Faktoren wie die Sozialisation im
die Herz-Kreislauf-Mortalität zu, die einen großen Elternhaus, soziale Kompetenzen oder genetische
Teil der Todesfälle verursacht. Die Sterblichkeit an Veranlagungen ebenso Berücksichtigung finden
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sank bei Männern müssen [12, 13, 14].
schneller als bei Frauen, auch aufgrund eines sich Welchen Einfluss unterschiedliche gesell­
langsam verändernden Gesundheitsverhaltens schaftliche Systeme mit spezifischen wirtschaft­
der Männer [10]. lichen, kulturellen und sozialen Rahmenbe­
Neben diesen geschlechtsspezifischen Diffe­ dingungen auf Mortalitätsrisiken und auf das
renzierungen der Lebenserwartung sind weitere Sterbegeschehen ihrer Bevölkerung haben, belegt

Abbildung 2.4.1.3
Lebenserwartung bei der Geburt in Ost- und Westdeutschland nach Geschlecht 1956 bis 2005
Quelle: Rostocker Zentrum für Demografischen Wandel [17]
Lebenserwartung in Jahren
85

80
Westdeutschland
Frauen
Ostdeutschland
75 Frauen
Westdeutschland
Männer
Ostdeutschland
70
Männer

65
1956 1961 1966 1971 1976 1981 1986 1991 1996 2001 2005
Jahr
98 Gesundheit und Krankheit im Alter

der Vergleich der Lebenserwartung im geteilten parallel zu den »Rekordländern« (siehe Abbildung
Deutschland. Abbildung 2.4.1.3 zeigt am Verlauf 2.4.1.4). Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass
der Lebenserwartung bei Geburt, wie intensiv sich sich diese Entwicklung einem Endpunkt nähert
systemimmanente Unterschiede z. B. hinsichtlich oder abflacht.
der Lebensqualität, der verfügbaren medizin­ Demografen verweisen auf den scheinbar
technischen Standards, der Umweltrisiken, der widersprüchlichen Tatbestand, dass der Evolu­
Arbeitswelt mit spezifischen Modernisierungs­ tionstheorie entsprechend der Alterungsprozess
graden auf den Prozess der Lebensverlängerung jedes Menschen nach seiner Fortpflanzungsphase
ausgewirkt haben. Im Gebiet der früheren Bun­ einsetzt und bis zum Tod unausweichlich anhält,
desrepublik ist er nahezu kontinuierlich voran­ andererseits jedoch soziale und kulturelle Ein­
geschritten, bei der männlichen Bevölkerung der flüsse insbesondere auch im höchsten Lebens­
DDR hingegen sind erhebliche Schwankungen zu alter lebensverlängernde Wirkungen haben [19].
verzeichnen. Für die Frauen zeigt der Zugewinn Es wird gefolgert, dass Menschen immer älter
an Lebenszeit im Ost-/Westvergleich in allen Al­ werden können und eine natürliche Obergrenze
tersklassen einen ähnlichen Verlauf. Allerdings nicht in Sicht ist. Kulturellen Determinanten wird
unterscheidet sich die Höhe des Zugewinns be­ dabei die zentrale Rolle zugeschrieben. Es ist ein
trächtlich, teilweise ist er im früheren Bundesge­ komplexes Zusammenspiel von wirtschaftlichen
biet um das Dreifache höher [15]. In der Zeit nach Entwicklungen, sozialen Errungenschaften und
der Wiedervereinigung nähert sich das Niveau medizinischen Fortschritten, in dem der entschei­
der Lebenserwartung in den neuen Bundeslän­ dende Schlüssel künftiger Entwicklungen liegen
dern kontinuierlich dem westdeutschen Niveau wird. Die genaue Analyse des Wirkungsmecha­
an. Bei dieser Entwicklung profitiert vor allem nismus und des Zusammenspiels biologischer
auch die ältere Bevölkerung durch Fortschritte bei und kultureller Faktoren steht jedoch noch aus.
Prävention, Diagnostik und Therapie spezifischer Prognosen basieren auf Schätzungen vor dem
Altersleiden. In Folge dessen weist die Alterssterb­ Hintergrund heutigen Wissens. Zu vorsichtige
lichkeit in den alten und neuen Bundesländern bei Annahmen implizieren Unterschätzungen der
Frauen kaum noch und bei Männern rückläufige künftigen Altersverschiebungen. Das hat Folgen
Niveauunterschiede auf [8, 16]. für gesundheits-, renten-, pflege- und altenpoli­
Der Blick auf Abbildung 2.4.1.3 provoziert ge­ tische Planungen. Da der Fokus weiterer Lebens­
radezu die Frage: Wohin führt dieser steigende verlängerung wesentlich auf der Verringerung der
Trend? Wie alt können Menschen werden? Dazu Alterssterblichkeit liegt, werden bei zu vorsich­
wird eine lebhafte Diskussion geführt und die tigen Prognosen vor allem die Anteile sehr alter
Meinungen der beteiligten Professionen wie z. B. und hochbetagter Menschen unterschätzt [8]. Das
die der Entwicklungsbiologen, der Demografen, hat auch Implikationen für die Lebensqualität im
der Mediziner, der Epidemiologen ergänzen sich höchsten Lebensalter. Es gewinnen jene Alterslei­
keineswegs plausibel, sondern widersprechen sich den an Bedeutung, die nicht unmittelbar den Tod
teilweise. Im Fokus der Diskussion steht die Frage verursachen, die Lebensqualität aber erheblich
nach dem Einfluss biologischer und kultureller einschränken können.
Faktoren, sowie die nach einer biologischen Ober­
grenze für menschliches Leben. Die tatsächlich
ablaufende Entwicklung widerlegt immer wieder Lebenserwartung im internationalen Kontext
aufs Neue jene Auffassungen, die ein Ende pro­
gnostizieren. Mortalitätsstatistiken zeigen [7, 8], Die stetige Zunahme der Lebenserwartung ist ein
dass in den Ländern mit der höchsten Lebenser­ zivilisatorischer Fortschritt, der zumindest in den
wartung diese bei den Frauen in den letzten 160 letzten 50 Jahren weltweit messbar war. In weni­
Jahren stetig – fast sogar linear – um fast drei ger entwickelten Ländern verläuft dieser Prozess
zusätzliche Lebensmonate pro Jahr gestiegen ist. etwas beschleunigter, allerdings auf einem nied­
Seit den 1950er-Jahren verläuft der Anstieg der rigeren Niveau als in den hochindustrialisierten
Lebenserwartung der Frauen in Deutschland auf Regionen. Abbildung 2.4.1.5 verdeutlicht diese
einem etwas niedrigeren Niveau, jedoch nahezu Unterschiede für die OECD-Mitgliedsstaaten. Ein
Gesundheit und Krankheit im Alter 99

Abbildung 2.4.1.4
Trend der Rekordlebenserwartung weltweit und der Lebenserwartung in Deutschland, Frauen 1840 bis 2006
Quelle: Rostocker Zentrum für Demografischen Wandel mit Aktualisierungen durch J. Oeppen und R. Scholz [18]

Lebenserwartung in Jahren
90

85

80

75

70 Schweden

Island

65 Niederlande

Norwegen
Lebenserwartung
60 in Deutschland Neuseeland
Japan

55 Australien

50

45
1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020

Jahr

Lebenserwartung von Frauen in Deutschland: 1900 bis 1955 Berechnungen R. Scholz, ab 1956 Human Mortality Database

ähnlich niedriges Niveau wie bei den letzten vier für 2004 im mittleren Feld und damit auf dem
Ländern in der Abbildung ist auch in den meis­ Niveau des OECD-Durchschnitts.
ten afrikanischen Ländern, mit Ausnahme der
nordafrikanischen, zu finden. Nach UN-Angaben
liegt die fernere Lebenserwartung für 60-Jährige Gesunde Lebenserwartung
dort etwa fünf bis acht Jahre unter der in Süd- und
Westeuropa. Epidemien wie auch mangelnde Le­ Im Zuge der Modernisierung von Gesellschaften
bensqualität (vor allem Hygiene) sind die Ursache ermöglichte neben allgemein verbesserten Lebens­
dafür. Auffallend ist zudem das niedrige Niveau bedingungen auch der medizinische Fortschritt
vieler osteuropäischer Länder. Verantwortlich da­ präventive, diagnostische und therapeutische In­
für ist der gravierende Rückgang um rund fünf terventionen, durch die der Gesundheitszustand
Jahre seit Ende des 20. Jahrhunderts infolge der der Bevölkerung deutlich verbessert werden
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrü­ konnte. Epidemien und eine Vielzahl tödlicher
che [20]. Deutschland liegt hier mit den Werten Krankheitsfolgen konnten verdrängt werden, aber
100 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.4.1.5
Fernere Lebenserwartung von Frauen und Männern im Alter von 65 Jahren, OECD-Länder 2004*
Quelle: OECD Gesundheitsdaten [21]

Japan
Frankreich
Australien
Schweiz
Kanada
Italien
Spanien
Schweden
Island
Österreich
Neuseeland
Norwegen
Niederlande
Vereinigte Staaten von Amerika
Belgien
Finnland
Frauen
Deutschland
OECD-30 Männer
Vereinigtes Königsreich
Korea
Luxemburg
Griechenland
Irland
Portugal
Dänemark
Mexiko
Polen
Tschechische Republik
Ungarn
Slowakei
Türkei
0 5 10 15 20 25

* 2003 für Kanada, Tschechische Republik, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Irland, Korea, Luxemburg, Norwegen, Portugal,
Slowakische Republik, Schweiz, Vereinigte Staaten. 2002 für Belgien, Finnland, Frankreich, Spanien, Vereinigtes Königreich.
2001 für Italien

auch Verläufe chronischer Krankheiten wurden gebedürftigkeit. Zur Abgrenzung der gesunden
verbessert. Der Sterbezeitpunkt wurde und wird Lebenszeit von der allgemein zu erwartenden,
immer weiter hinaus geschoben, die Menschen führte die WHO das Konzept der »gesunden Le­
leben länger, jedoch nicht zwangsläufig bei bester benserwartung« ein [2, 22]. Dieses kurz mit HALE
Gesundheit. Für die Lebensqualität im Alter wie (Health-Adjusted Life Expectancy) benannte Maß
auch für Gesundheitsversorgungssysteme ist da­ gibt Auskunft darüber, wie viel Lebenszeit eine
her von Interesse, welche Lebenszeit Menschen Person bei guter Gesundheit verbringen kann
in guter Gesundheit verbringen und welche Zeit (weitere Ausführungen dazu im Kapitel 2.5).
beeinträchtigt ist durch Erkrankungen und Pfle- HALE spiegelt im Unterschied zur allgemeinen
Gesundheit und Krankheit im Alter 101

Lebenserwartung nicht nur die Sterbeverhältnisse Ausmaß der Todesfälle im Verhältnis zur Gesamt­
sondern auch die gesundheitliche Gesamtrealität bevölkerung (Sterberaten). Diese werden in Ster­
der Bevölkerung. Dafür werden unterschiedliche betafeln weiter spezifiziert und dienen als Grund­
Gesundheitsangaben herangezogen. Häufig sind lagen zur Berechnung der Lebenserwartung. Ein
das Fragen der Selbsteinschätzung des Gesund­ weiterer wichtiger Aspekt ist die Todesursache,
heitszustandes oder objektiv messbare Kriterien also die auf dem Totenschein anzugebenden
funktionaler Einschränkungen von Aktivitäten Krankheiten, Leiden oder Verletzungen, die den
im Alltag aus standardisierten Querschnittsunter­ Tod zur Folge hatten oder zum Tode beitrugen,
suchungen (vgl. Abschnitt 2.2.2). Aber auch der bzw. die Umstände des Unfalls oder der Gewalt­
Tatbestand einer zuerkannten Pflegestufe kann einwirkung, die diese Verletzungen hervorriefen.
in die Berechnung einfließen. Da bisher noch kei­ Bereits seit dem Jahr 1872 werden meldepflichti­
ne Standards eingeführt sind und die Datenlage ge Krankheiten für eine analytische Betrachtung
teilweise recht unzureichend ist, sind Ergebnisse der Todesursachen erfasst. Heutzutage gibt die
verschiedener Quellen nur bedingt vergleichbar. Todesursachenstatistik in Anlehnung an die In­
Insgesamt zielen sie jedoch darauf ab, die zwei mit ternationale Statistische Klassifikation der Krank­
der Lebensverlängerung verknüpften gegensätz­ heiten und verwandter Gesundheitsprobleme der
lichen Thesen der Kompression und der Expan­ WHO (ICD, 10. Revision – ICD-10) Auskunft über
sion der Morbidität zu validieren (vgl. Kapitel 2.5). das Grundleiden, das für den Tod ursächlich ver­
Ein internationaler Vergleich zwischen der antwortlich ist. Es handelt sich um eine Voller­
allgemeinen und der gesunden Lebenserwartung hebung, da für jeden Sterbefall ein Totenschein
kann nur eine grobe Schätzung sein. Zu jenen ausgefüllt werden muss. Die Erkenntnisse aus der
Ländern, deren Bevölkerung ab dem 60. Lebens­ Todesursachenstatistik geben wichtige Hinweise
jahr mindestens vier Fünftel ihrer verbleibenden auf präventive und medizinisch-kurative Potenzi­
Lebenszeit gesund verbringen wird, gehören ne­ ale zur weiteren Erhöhung der Lebenserwartung,
ben Japan nahezu alle westeuropäischen Länder aber auch zur Verbesserung der Lebensqualität in
sowie die nordeuropäischen Länder Schweden der hinzugewonnen Lebenszeit. Allerdings hängt
und Finnland, darüber hinaus auch Spanien. In die Validität der Todesursachenstatistik in erster
der Tendenz verzeichnen also jene Länder mit ei­ Linie von der Richtigkeit der Erfassung aller vor­
ner sehr hohen Lebenserwartung auch die größe­ handenen Erkrankungen der verstorbenen Person
ren Anteile an gesunden Lebensjahren. ab. Hier sind die Ärzte gefragt, genaue Informa­
Da die Frauen eine höhere Lebenserwartung tionen über die Vorerkrankungen einzuholen und
haben, sind sie von Risiken gesundheitlicher Be­ sie zu dokumentieren. Zudem beschränkt sich
einträchtigungen im hohen und sehr hohen Alter die Darstellung der Todesursachen momentan
auch stärker betroffen. Demzufolge ist für sie die nur auf das Grundleiden. Die für das Alter so ty­
bei Gesundheit zu erwartende Lebenszeit in der pische Multimorbidität spiegelt sich nicht in der
Regel anteilig, also bezogen auf die Gesamtlebens­ Todesursachenstatistik. Das wird sich ab dem Be­
erwartung, etwas geringer als bei den Männern. richtsjahr 2008 ändern, da den Daten erhebenden
Nennenswerte Ausnahmen bilden Russland und Statistischen Landesämtern nunmehr ein System
Norwegen [21]. zur multikausalen Todesursachenkodierung zur
Verfügung steht.

2.4.2 Sterbegeschehen
Das Ausmaß der Sterblichkeit in Deutschland
Das Sterbegeschehen einer Bevölkerung ist ein de­
mografischer Grundprozess, der gemeinsam mit Aussagen über Sterbeverhältnisse eines Landes
dem Geburtengeschehen die Entwicklung dieser sind neben den Daten der Lebenserwartung an­
Bevölkerung hinsichtlich ihres Umfanges, ihrer hand von Sterberaten möglich. Beide Maße re­
Alters- und Geschlechtsstruktur prägt. Statistisch flektieren die gleichen Zustände, so dass bei der
ausgewiesen wird es in der Regel mit der Zahl der Analyse der Sterberaten die gleichen historischen
Sterbefälle für einen bestimmten Zeitraum bzw. als Trends zu finden sind, wie sie unter 2.4.1 anhand
102 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 2.4.2.1
Altersstandardisierte Sterbefälle je 100.000 Einwohner nach Alter und Geschlecht Deutschland 1980 und 2006
Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik 2007

Altersgruppe Frauen Männer


1980 2006 1980 – 2006 1980 2006 1980 – 2006
zusammen 1.388,9 795,7 - 42,7 % 1.283,7 716,8 - 44,2 %
unter 65-Jährige 247,9 140,5 - 43,3 % 447,9 246,5 - 45,0 %
65-Jährige und Ältere 6.227,9 3.603,2 - 42,1 % 8.371,4 4.705,7 - 43,8 %

der Lebenserwartung beschrieben wurden. Ta­ Todesursachen im Alter


belle 2.4.2.1 zeigt ergänzend dazu die Verände­
rung der Sterberaten in den letzten 25 Jahren. Die Die Frage nach den Todesursachen ist immer
Basis sind altersstandardisierte Sterberaten, um auch eine Frage nach dem Potenzial, um mög­
Einflüsse einer sich verändernden Altersstruktur lichst in Gesundheit zu altern. Im Prozess des
im Zeitverlauf auszuschließen. Dafür reicht die Rückganges der Sterblichkeit und des Anstieges
Darstellung der rohen Sterberate nicht aus. Für der Lebenserwartung hat sich das Spektrum der
eine Altersstandardisierung werden die Sterbe­ Todesursachen deutlich gewandelt. Noch zu Be­
fälle einer Region und eines Zeitraumes auf eine ginn des 20. Jahrhunderts spielten infektiöse und
Standardbevölkerung bezogen (in der Regel auf parasitäre Krankheiten eine wesentliche Rolle, zu
die Daten der letzten Volkszählung, für Deutsch­ denen z. B. Lungenentzündungen, Influenza, Tu­
land die Bevölkerung von 1987). Standardisierte berkulose und Gastritis/Enteritis gehörten. Das
Raten werden als gewogenes arithmetisches Mit­ Auftreten dieser ansteckenden Krankheiten war
tel berechnet, wobei als Gewichte die Anteile der schließlich auch der Grund für die breite statis­
Altersgruppen der Standardbevölkerung Verwen­ tische Erfassung der Todesursachen. Heutzutage
dung finden. Damit sind Aussagen zur Entwick­ dominieren Krankheiten des Kreislaufsystems mit
lung der Sterblichkeit möglich. Bei der Interpre­ 44 % aller Sterbefälle (2006) und Neubildungen
tation altersstandardisierter Mortalitätsraten ist (Krebserkrankungen) mit 26 % das Todesursa­
zu beachten, dass sie nicht den realen, empirisch chenspektrum. Ab dem 80. Lebensjahr war im
beobachteten Zustand messen. Sie beschreiben Jahr 2006 mindestens die Hälfte aller Sterbefälle
vielmehr, wie die Mortalitätsraten wären, wenn die auf Krankheiten des Kreislaufsystems zurückzu­
Bezugsbevölkerung der Standardbevölkerung ent­ führen. Die Reihenfolge der Todesursachen hat
spräche, wenn also altersstrukturbedingte Effekte sich seit 1950 zwar kaum verändert, jedoch wa­
der Mortalitätsentwicklung ausgeschlossen sind. ren die beiden Hauptursachen damals noch nicht
Die Daten zeigen, dass sich das Sterblichkeits­ so dominant wie heute [23]. Diese Dominanz ist
niveau der Bevölkerung ab 65 Jahren seit 1980 untersetzt mit erheblichen altersspezifischen Un­
um etwa 40 % reduziert hat. Es bedeutet, dass terschieden im Todesursachenspektrum. Dieser
das Sterberisiko in ein immer höheres Lebensal­ Zusammenhang zwischen Sterbealter und Todes­
ter verschoben wird, Menschen im Lebensverlauf ursache veranschaulicht Tabelle 2.4.2.2.
immer später sterben. Die hohe Veränderungsrate Die Daten belegen die mit dem Alter zuneh­
unterstreicht die große Bedeutung der Alterssterb­ mende Dominanz ischämischer Herzkrankheiten
lichkeit innerhalb der Mortalitätsveränderungen wie z. B. Angina pectoris und Herzinfarkte als To­
seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts [23]. desursache. Auffällig ist außerdem der hohe Anteil
Gesundheit und Krankheit im Alter 103

Tabelle 2.4.2.2
Häufigste Todesursachen nach Alter und Geschlecht in Deutschland 2006
(in Klammern: Anteil der Todesursache an allen Sterbefällen der Altersgruppe)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik 2007 und [2]

Alters­ Frauen Männer


gruppe
Rang 1 Rang 2 Rang 3 Rang 1 Rang 2 Rang 3
60 – 64 bösartige Neu- bösartige bösartige Neu­ ischämische bösartige Neu­ bösartige Neu­
Jahre bildungen der Neubildungen bildungen der Herzkrankheiten bildungen der bildungen der
Verdauungsor­ der Brustdrüse Atmungsorgane (15,7 %) Atmungsorgane Verdauungsor­
gane (13,3 %) (11,4 %) (9,8 %) (13,5 %) gane (13,4 %)
65 – 69 bösartige Neu- ischämische bösartige ischämische bösartige Neu­ bösartige Neu­
Jahre bildungen der Herzkrankheiten Neubildungen Herzkrankheiten bildungen der bildungen der
Verdauungsor­ (11,0 %) der Brustdrüse (17,2 %) Verdauungsor­ Atmungsorgane
gane (13,0 %) (9,3 %) gane (13,4 %) (12,0 %)
70 – 74 ischämische bösartige Neu­ sonstige ischämische bösartige Neu­ bösartige Neu­
Jahre Herzkrankheiten bildungen der Herzkrankheiten Herzkrankheiten bildungen der bildungen der
(14,2 %) Verdauungsor­ (7,4 %) (18,8 %) Verdauungsor­ Atmungsorgane
gane (11,8 %) gane (11,7 %) (10,2 %)
75 – 79 ischämische sonstige bösartige Neu­ ischämische bösartige Neu­ sonstige
Jahre Herzkrankheiten Herzkrankheiten bildungen der Herzkrankheiten bildungen der Herzkrankheiten
(16,6 %) (9,9 %) Verdauungsor­ (20,1 %) Verdauungsor­ (8,0 %)
gane (9,8 %) gane (9,5 %)
80 – 84 ischämische sonstige zerebrovasku­ ischämische sonstige zerebrovasku­
Jahre Herzkrankheiten Herzkrankheiten läre Krankheiten Herzkrankheiten Herzkrankheiten läre Krankheiten
(18,5 %) (12,7 %) (10,9 %) (21,1 %) (10,0 %) (8,7 %)
85 – 89 ischämische sonstige zerebrovasku­ ischämische sonstige zerebrovasku­
Jahre Herzkrankheiten Herzkrankheiten läre Krankheiten Herzkrankheiten Herzkrankheiten läre Krankheiten
(21,0 %) (14,9 %) (11,5 %) (21,8 %) (12,0 %) (8,9 %)
90 Jahre ischämische sonstige zerebrovasku­ ischämische sonstige zerebrovasku­
und älter Herzkrankheiten Herzkrankheiten läre Krankheiten Herzkrankheiten Herzkrankheiten läre Krankheiten
(20,8 %) (19,2 %) (10,9 %) (21,7 %) (17,0 %) (9,0 %)

bösartiger Neubildungen, also von Krebserkran­ Literatur


kungen verschiedener Organe bei Sterbefällen in
dem noch relativ jungen Alter von 60 bis etwa 75 1. Bomsdorf E (2004) Der demografische Wandel und
seine Folgen für die sozialen Sicherungssysteme. Eine
Jahren. Ab dem 80. Lebensjahr gewinnen neben Betrachtung aus der Sicht von Wissenschaft und Poli­
den Herzerkrankungen auch zerebrovaskuläre tik. In: Scholz R, Flöthmann J (Hrsg) Lebenserwartung
Krankheiten wie z. B. Schlaganfälle und Hirn­ und Mortalität. Materialien zur Bevölkerungswissen­
infarkte an Bedeutung. schaft, Wiesbaden, S 9 – 21
2. Menning S (2006) Lebenserwartung, Mortalität und
Das Potenzial für weitere Verbesserungen Morbidität im Alter. GeroStat Report Altersdaten
der Alterssterblichkeit liegt demzufolge offen­ 01/2006. Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg),
sichtlich in der Prävention von Herz-Kreislaufer­ Berlin
krankungen sowie von Krebserkrankungen der 3. Brinner K (2004) Auswirkungen von Erhebungsun­
genauigkeiten auf die Mortalitätsmessung. Metho­
Lunge bzw. der Bronchien und des Dickdarmes. denwahl und Genauigkeit der Mortalitätsmessung. In:
Aufklärung, Vorsorgeuntersuchungen, gesunde Scholz R, Flöthmann J (Hrsg) Lebenserwartung und
Ernährung und gesundheitsbewusstes Verhalten Mortalität. Materialien zur Bevölkerungswissenschaft,
insgesamt dürften die Liste präventiver Maßnah­ Wiesbaden, S 23 – 40
men anführen.
104 Gesundheit und Krankheit im Alter

4. Eisenmenger M (2005) Sterbetafel 2001/2003. Wirt­ www.zdwa.de/zdwa/artikel/20060823_78458732W3


schaft und Statistik 05: 463 – 478 DnavidW2627.php (Stand: 07.01.09)
5. Gehrmann R, Roycroft M (1990) Quellen und Metho­ 15. Robert Koch-Institut (Hrsg) (2001) Der Lebensverlän­
den der Mortalitätsberechnungen. In: Imhof A (Hrsg) gerungsprozess in Deutschland. Stand – Entwicklung
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Jahrhundert. Acta Humaniora, Weinheim des Bundes. Robert Koch-Institut, Berlin
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betafeln für Deutschland. Allgemeine und abgekürzte lichkeit unter besonderer Berücksichtigung des Ein­
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tancy. Science 296: 1029 – 1031 phasen, Lebensqualität. Interdisziplinäre Analysen
8. Vaupel J, von Kistowski K (2005) Der bemerkenswerte von Gesundheit und Sterblichkeit aus dem Lebenser­
Anstieg der Lebenserwartung und sein Einfluss auf die wartungssurvey des BIB. VS Verlag für Sozialwissen­
Medizin. Bundesgesundheitsblatt 5: 586 – 592 schaften, Wiesbaden, S 333 – 364
9. Luy M (2002) Die geschlechtsspezifischen Sterblich­ 17. Scholz R, Maier H (2004) Langes Leben: Es ist nie zu
keitsunterschiede – Zeit für eine Zwischenbilanz. Zeit­ spät. Demografische Forschung Aus Erster Hand 3: 1
schrift für Gerontologie und Geriatrie 35 (5): 412 – 429 18. Schnabel S, Kistowski K, Vaupel J (2005) Immer neue
10. Meslé F (2004) Life expectancy: a female advantage Rekorde und kein Ende in Sicht. Demografische For­
under threat? Population & Societies (402) schung Aus Erster Hand 2
11. Lampert T, Kroll L, Dunkelberg A (2007) Soziale Un­ 19. Maier H, Vaupel J (2003) Age Differences in Cultural
gleichheit der Lebenserwartung in Deutschland. Aus Efficiency: Secular Trends in Longevity. In: Staudin­
Politik und Zeitgeschichte 42: 11 – 18 ger U, Lindenberger U (Hrsg) Understanding Human
12. Mueller U, Heinzel-Gutenbrunner M (2005) Soziale Development. Kluwer Academic Publishers, S 59 – 78
Lage, Gesundheitslebensstile und Gesundheitsverhal­ 20. Shkolnikov V (2005) Towards the understanding of
ten. In: Gärtner K, Grünheid E, Luy M (Hrsg) Lebens­ mortality divergences and reversals. In: XXV Interna­
stile, Lebensphasen, Lebensqualität. Interdisziplinäre tional Population Conference
Analysen von Gesundheit und Sterblichkeit aus dem www.iussp.org/Awards/Shkolnikov2005.pdf (Stand:
Lebenserwartungssurvey des BIB. VS Verlag für So­ 07.01.09)
zialwissenschaften, Wiesbaden, S 127 – 153 21. OECD (Hrsg) (2007) Gesellschaft auf einen Blick.
13. Grünheid E (2005) Einflüsse der Einkommenslage auf OECD-Sozialindikatoren, OECD-Publishing Paris
Gesundheit und Gesundheitsverhalten. In: Gärtner K, 22. Gärtner K, Scholz R (2005) Lebenserwartung in Ge­
Grünheid E, Luy M (Hrsg) Lebensstile, Lebenspha­ sundheit. In: Gärtner K, Grünheid E, Luy M (Hrsg)
sen, Lebensqualität. Interdisziplinäre Analysen von Lebensstile, Lebensphasen, Lebensqualität. Interdis­
Gesundheit und Sterblichkeit aus dem Lebenserwar­ ziplinäre Analysen von Gesundheit und Sterblichkeit
tungssurvey des BIB. VS Verlag für Sozialwissen­ aus dem Lebenserwartungssurvey des BIB. VS Verlag
schaften, Wiesbaden, S 155 – 187 für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 311 – 331
14. Shkolnikov V, Scholz R, von Gaudecker H et al. (2006) 23. Luy M (2004) Verschiedene Aspekte der Sterblich­
Daten der Deutschen Rentenstatistik zeigen soziale keitsentwicklung in Deutschland von 1950 bis 2000.
Unterschiede in der Lebenserwartung. Zentrum für Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 1 (29): 3 – 62
Demografischen Wandel, S 2
Gesundheit und Krankheit im Alter 105

2.5 Kompression oder Expansion der Morbidität?


Lars Eric Kroll, Thomas Ziese

Kernaussage bidity«). In seiner im Jahr 1977 präsentierten Stu­


die, untersuchte er die Folgen der verbesserten
Auch wenn in Deutschland nur wenige Daten­ medizinischen Möglichkeiten bei der Behandlung
quellen zur Entwicklung der gesunden Lebens­ häufiger chronischer Krankheiten [1]. Der erste
erwartung zur Verfügung stehen, deuten die Erfolg wurde bei der Lungenentzündung erzielt.
vorliegenden Ergebnisse auf eine Zunahme der Durch die Verwendung von Sulfonamiden (1935)
Lebenserwartung in Gesundheit hin. und Penicillin (1941) sank die Sterblichkeit infol­
ge von Lungenentzündungen in den USA zwi­
schen 1930 und 1945 von 65 auf 20 Personen pro
2.5.1 Szenarien zur Entwicklung der gesunden 100.000. Dank der neuen Therapien überlebten
Lebenserwartung insbesondere Personen mit chronischen Krank­
heiten und Behinderungen. Dadurch stieg die
Seit Ende der 1970er-Jahre weisen verschiedene Prävalenz chronischer Erkrankungen deutlich an
Autoren auf die möglichen Folgen der demogra­ (u. a. Senilität, Arteriosklerose, Hypertonie, Schi­
fischen Alterung für die Gesundheitssysteme zophrenie und Diabetes). Gruenberg prognosti­
hin. In der Diskussion bezüglich des Zusammen­ zierte, dass eine steigende Lebenserwartung auch
hangs zwischen Mortalität und Morbidität wird weiterhin mit einer gleichbleibenden Inzidenz
sich hauptsächlich auf die Frage konzentriert, bei chronischen Krankheiten einhergehen würde.
wie Lebenserwartungssteigerungen zustande So müsste das Gesundheitssystem immer mehr
kommen und in welchem Gesundheitszustand chronisch kranke Menschen versorgen und die
die gewonnen Lebensjahre verbracht werden. Im Menschen immer mehr Lebensjahre bei schlech­
Zentrum stehen die so genannte Kompressions­ ter Gesundheit verbringen.
these (»Compression of Morbidity«) mit ihrem Die These wurde von mehreren Autoren wei­
Begründer James Fries (1980) und die Expan­ terentwickelt. So diagnostizierte Jay Olshansky
sions- bzw. Medikalisierungsthese (»Expansion einen vierten epidemiologischen Übergang zum
of Morbidity«), die auf Ernest Gruenberg (1977) »age of delayed degenerative diseases« [2, 3]. In
zurückgeht. dieser Phase würde, durch die Herauszögerung
der Mortalität bei chronisch-degenerativen Er­
krankungen, ein rapider Anstieg der Lebenserwar­
Expansion of Morbidity tung erreicht, ohne dass damit eine Verringerung
der Morbidität einherginge. Im Zuge dieser Ent­
Das Szenario Expansion of Morbidity beschreibt wicklung würden sich die Begriffe von Krankheit,
eine zunehmende Ausweitung gesundheitlich Behinderung, Alterung und Gesundheit wandeln.
beeinträchtigter oder kranker Lebensphasen im Eine Expansion der Morbidität wurde auch für
Lebensverlauf [1]. Im Kern der Argumentation psychische Störungen und Beschwerden befürch­
steht eine als »failures of success« der modernen tet [4]. Im höheren Alter ist die Inzidenz vieler
Medizin bezeichnete Entwicklung. Demnach hat psychischer Erkrankungen besonders hoch, so­
sich im Zuge des Anstiegs der Lebenserwartung dass die Zahl von Personen mit psychischen Stö­
nur die Dauer der gesundheitlich eingeschränkten rungen bei einem Anwachsen der älteren Bevöl­
Lebensphase, nicht aber die Länge der gesunden kerung besonders stark zunimmt. Einige Autoren
Lebenszeit verlängert. führten den Anstieg der Prävalenzen chronischer
Der amerikanische Arzt Ernest Gruenberg Krankheiten in Teilen auch auf die gestiegene Sen­
sah bereits früh die Gefahr, dass sich im Zuge des sibilität gegenüber den Symptomen chronischer
Anstiegs der Lebenserwartung nur die chronisch Erkrankungen und eine verbesserte medizinische
kranke Lebenszeit verlängert (»expansion of mor­ Diagnostik zurück [5].
106 Gesundheit und Krankheit im Alter

Compression of Morbidity lute Kompression der kranken Lebenszeit wird


erreicht, sofern die gesunde Lebenserwartung
Forscher wie James F. Fries prognostizieren, dass schneller als die allgemeine Lebenserwartung an­
sich in Zukunft die Länge der chronisch kranken steigt. Fries geht davon aus, dass dieser Zustand
Lebenszeit verringern wird [6, 7, 8, 9]. Ausgangs­ erst ab dem Ende des Anstiegs der mittleren Le­
punkt dieser Argumentation sind Annahmen über benserwartung erreicht wird [9].
eine Begrenzung der menschlichen Lebensspanne
und zukünftige Erfolge der Prävention. Fries geht
davon aus, dass der Anstieg der Lebenserwartung 2.5.2 Maßzahlen der gesunden Lebenserwartung
stagniert, während chronische Krankheiten in ein
immer höheres Alter zurückgedrängt werden. Aufgrund der massiven Auswirkungen, die Ver­
Fries beschreibt, dass der menschlichen Le­ änderungen in der Altersabhängigkeit von Mor­
bensspanne enge biologische Grenzen gesetzt bidität und Mortalität für die sozialstaatlichen
sind. Auf zellularer Ebene gäbe es Befunde die Institutionen haben können, gab es in den letzten
zeigen, dass sich menschliche Zellen nicht be­ Jahrzehnten ein zunehmendes Interesse an Maß­
liebig oft teilen und erneuern können. Auch die zahlen der gesunden Lebenszeit. Die allgemeine
Lebensdauer der menschlichen Organe sei be­ Lebenserwartung wird nicht mehr als hinrei­
grenzt. So nehme deren Leistungsfähigkeit be­ chender Indikator angesehen, um die Gesundheit
reits ab einem Alter von 30 Jahren kontinuierlich von Bevölkerungen oder Bevölkerungsgruppen
ab. Damit könne die Zahl der Hochaltrigen und abzubilden.
die mittlere Lebenserwartung nicht grenzenlos
zunehmen. Es komme lediglich zu einer Verrin­
gerung der vorzeitigen Mortalität. Die maximal Konstruktion zusammenfassender Maßzahlen
erreichbare mittlere Lebensdauer liege bei etwa
85 Jahren. Diese Entwicklung wird von Fries auch Zusammenfassende Maßzahlen werden konstru­
als Rektangularisierung der Überlebensraten iert, indem altersspezifische Mortalitätsrisiken mit
bezeichnet (»Increasingly Rectangular Survival altersspezifischen Prävalenzen gesundheitlicher
Curve«). Er sieht eine erhöhte Prävalenz chro­ Einschränkungen kombiniert werden. Gesund­
nischer Krankheiten nicht als zwingende Folge heitliche Einschränkungen können dabei anhand
der sinkenden vorzeitigen Sterblichkeit an. Fries verschiedener Indikatoren operationalisiert wer­
verweist darauf, dass sich chronische Krankheiten den. Benötigt werden Daten zu Überlebensraten,
ausgehend von der Kindheit zumeist progedient sowie zu Inzidenzen und Prävalenzen auf Bevöl­
im Lebensverlauf entwickeln. Ihr Fortschreiten kerungsebene oder für einzelne Bevölkerungsteile
könne durch Maßnahmen der primären und (etwa zur Analyse sozialer Unterschiede).
sekundären Prävention verhindert oder zumin­ Altersspezifische Überlebens- und Morbidi­
dest immer weiter herausgezögert werden. Lang­ tätsraten bilden die Grundlage für die Berechnung
fristig sei es dadurch möglich, die Manifestation der zusammenfassenden Maßzahlen (siehe Abbil­
chronischer Erkrankung bis zum Eintreten des dung 2.5.2.1). Zur Berechnung der Raten werden
biologisch determinierten Todes aufzuhalten. drei Populationen unterschieden: Verstorbene (C)
Unter dem Eindruck des fortgesetzten An­ und Überlebende, die sich in die Gruppen der Ge­
stiegs der Lebenserwartung hat Fries seine Argu­ sunden (A) und der Kranken (B) unterteilen. Es
mentation in späteren Arbeiten leicht modifiziert lassen sich zwei Arten von zusammenfassenden
[7, 9, 10]. Er unterschied zwei mögliche Formen Maßzahlen für die Gesundheit von Bevölke­
der »Compression of Morbidity«. Die schwächere rungen unterscheiden, die sogenannten »Health
Variante ist eine relative Kompression der chro­ Expectancies« und die »Health Gaps« [11].
nisch kranken Lebenszeit. Um sie zu erreichen, Maße der gesunden Lebenserwartung
muss die gesunde Lebenserwartung schneller als (»Health Expectancies«) beschreiben die zu er­
die gesundheitlich beeinträchtigte Lebenszeit stei­ wartenden gesunden Jahre. Berechnet wird dazu
gen. Dadurch würde sich der Anteil der kranken die Differenz zwischen der allgemeinen Lebenser­
Lebensjahre immer weiter verringern. Eine abso­ wartung einer Population und der durch gesund­
Gesundheit und Krankheit im Alter 107

Abbildung 2.5.2.1
Überlebensraten als Basis zusammenfassender Maßzahlen der Gesundheit von Populationen (fiktives Beispiel)
Quelle: nach [11]
Prozent
100

90

80
B C
70

60

50 verlorene Lebensjahre

40 Lebensjahre mit Beschwerden

30 A beschwerdefreie Lebensjahre
20

10

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
Alter

heitliche Beeinträchtigungen (Behinderungen, angenommene maximale Lebenserwartung sind,


Krankheiten) »verlorenen« Lebensjahre. Diese desto größer wird ihr Wert. Zu besonders häufig
Maßzahlen haben den Vorteil, dass sie auch für angewendeten Differenzmaßen gehören DALYs
Laien verständlich sind. Formal beschreiben sie (»disability adjusted life years«) und QALYs (»qua­
das Integral der Überlebensfunktion der gesun­ lity adjusted life years«).
den Bevölkerung (Fläche A in Abbildung 2.5.2.1).
Je enger das zugrunde liegende Konzept von ge­
sundheitlicher Beeinträchtigung ist, desto größer Häufig verwendete Maßzahlen
ist die gesunde Lebenserwartung (der Anteil der
Fläche B an der Gesamtfläche A+B sinkt). Bei den Es gibt verschiedene Maße der gesunden Lebens­
Maßen gibt es damit einen Ermessensspielraum erwartung, die sich vorrangig hinsichtlich der he­
in der Definition von Gesundheit und Krankheit, rangezogenen Morbiditätsindikatoren unterschei­
sodass sie als normativ angesehen werden müs­ den. Wird Morbidität über den selbstberichteten
sen. Wichtige Kenngrößen der gesunden Lebens­ Gesundheitszustand oder das Vorhandensein von
erwartungen sind die DFLE (»disability-free life chronischen oder akuten Krankheiten definiert,
expectancy«), DALE (»disability-adjusted life ex­ werden häufig die Begriffe gesunde (»Healthy
pectancy«) oder die HALE (»health-adjusted life Life Expectancy«) oder krankheitsfreie (»disease
expectancy«). free life expectancy«) Lebenserwartung verwendet.
Differenzmaße (»Health Gaps«) beschreiben Baut ein Indikator auf dem Vorhandensein von
den Abstand zwischen der derzeitigen Gesundheit Beeinträchtigungen bei alltäglichen Aufgaben auf,
einer Population und einer vorab definierten Ziel­ werden die Begriffe behinderungsfreie (»Disabili­
größe. Sie sind weniger anschaulich als die Maße ty-free life expectancy«) oder aktive Lebenserwar­
der gesunden Lebenserwartung. Der Wert der Dif­ tung (»Active Life Expectancy«) benutzt.
ferenzmaße wird durch das Ausmaß der vorzei­
tigen Sterblichkeit und das Ausmaß von Personen Gesunde bzw. krankheitsfreie Lebenserwartung
mit Einschränkungen (Fläche B+C) bestimmt (A). Der Begriff gesunde Lebenserwartung ist nicht
Je größer die Morbiditätsraten und je höher die nur ein Oberbegriff für die Maßzahlen der ge­
108 Gesundheit und Krankheit im Alter

sunden Lebenszeit, sondern bezeichnet auch eine läre Herzerkrankung, Krebs, Diabetes, Hyperto­
Untergruppe spezifischer Indikatoren. In der Stra­ nie, Nierenerkrankung, Arthritis, oder Asthma.
tegie Healthy People 2010 bezeichnet die »healthy Die Berechnung erfolgt anhand der sog. Sullivan
life excpectancy« die mittlere Anzahl von Jahren, Methode. Sie verwendet altersspezifische Präva­
die bei guter oder besserer selbstberichteter Ge­ lenzen der Ereignisse und Mortalitätsraten, wobei
sundheit verbracht werden [12]. Sie wird auf Basis die Prävalenzen nicht anhand nationaler Register,
der Frage nach dem eigenen Gesundheitszustand sondern über den NHIS (Nation Health Interview
operationalisiert, die Antwortmöglichkeiten sind Survey) gewonnen werden.
»excellent«, »very good«, »good«, »fair« und
»poor« (siehe Abbildung 2.5.2.2). Aktive bzw. behinderungsfreie Lebenserwartung
Als »gesunde Lebenserwartung« werden Maße der aktiven und behinderungsfreien Le­
auch Maßzahlen der krankheitsfreien Lebens­ benserwartung operationalisieren Gesundheit
zeit bezeichnet. Sie werden sowohl für einzelne über die Fähigkeit bestimmte Handlungen ohne
Krankheiten (Diabetesfreie Lebenserwartung, Hilfe Dritter durchzuführen. Sie bewerten einen
Alzheimerfreie Lebenserwartung etc.), als auch Menschen als »gesund«, solange er in der Gesell­
für ganze Gruppen von Krankheiten (Lebenser­ schaft ohne Einschränkungen handlungsfähig ist.
wartung ohne chronische Krankheiten) berech­ Die wahrgenommene Handlungsfähigkeit hängt
net. Es wird zumeist nur unterschieden, ob und damit nicht nur von den individuellen Fähigkeiten
in welchem Alter eine Krankheit diagnostiziert und Ressourcen, sondern auch von den Anforde­
wurde. Der Schweregrad wird nicht berücksich­ rungen und Unterstützungsangeboten des so­
tigt. In Healthy People 2010 wird die Lebenser­ zialen Umfeldes ab.
wartung ohne chronische Krankheiten (»Expected Wird der Begriff behinderungsfreie Lebens­
years free of chronic disease«) anhand des Vor­ erwartung verwendet, kennzeichnet dies eine De­
liegens einer Auswahl von chronischen Erkran­ fizit-Orientierung. Es wird beschrieben, wie lange
kungen operationalisiert [13]. Das Maß beschreibt sich Männer und Frauen durch den eigenen Ge­
die mittlere Anzahl von Jahren, in denen keines sundheitszustand nicht in ihrer Handlungsfähig­
der folgenden Ereignisse eintritt: Kardiovasku- keit beeinträchtigt fühlen. Mit dem Begriff aktive

Abbildung 2.5.2.2
Berechnung der gesunden Lebenserwartung nach CDC Definition
Quelle: nach [12]

Daten Berechnung Index

Mortalitäts­
daten
altersspezifische
Sterblichheit

Bevölkerungs­
daten
selbsteingeschätzte Lebens­
Gesundheit Sterbetafeln erwartung
(mittel oder schlecht)
in Gesundheit
Gesundheits­
daten
selbsteingeschätzte
Gesundheit
(gut oder besser)
Gesundheit und Krankheit im Alter 109

Lebenserwartung wird eine verstärkte Kompetenz­ viele Befunde für einen Anstieg der gesunden Le­
orientierung ausgedrückt. Es wird untersucht, wie benszeit in den 1980er- und 1990er-Jahren [16].
lange die Menschen die Fähigkeit besitzen, den In Deutschland hat sich der Anteil von älteren
eigenen Alltag (ohne Hilfe) zu bewältigen. Durch Menschen mit einem guten oder sehr guten Ge­
die unterschiedliche Konnotierung der beiden sundheitszustand in den letzen zehn Jahren deut­
Herangehensweisen können sich systematische lich erhöht (siehe Abbildung 2.5.3.1). So stieg der
Abweichungen ergeben. Anteil zwischen 1996 und 2006 bei Männern und
Frauen um jeweils 11 Prozentpunkte.
Zur Entwicklung der gesunden Lebenser­
2.5.3 Empirische Ergebnisse zur gesunden wartung liegen Studien auf Basis verschiedener
Lebenserwartung Datensätze vor. Sie ziehen größtenteils das Sozio­
oekonomische Panel (SOEP) des Deutschen Ins­
Die Entwicklung chronischer Morbidität wird erst tituts für Wirtschaftsforschung heran, beziehen
seit Ende der 1970er-Jahre kontinuierlich erfasst. auch den Mikrozensus des Statistischen Bundes­
Die ersten Daten sprachen dafür, dass der Anstieg amtes oder den Lebenserwartungssurvey (LES)
der ferneren Lebenserwartung ab 65 Jahren im des Bundesinstituts für Bevölkerungswissen­
Vergleich der 1970er- und 1980er-Jahre nicht mit schaften (BIB) mit ein. Wichtig ist zu bemerken,
einem entsprechenden Anstieg der gesunden Le­ dass in vielen der hier verwendeten Datenquellen
benszeit einherging [15]. Somit deutete Anfang der Personen in institutionalisierten Einrichtungen
1980er-Jahre vieles auf eine Expansion der chro­ (bspw. Pflegeheimen) nicht enthalten sind. Dies
nischen Morbidität hin. Mit der Verfügbarkeit ist eine mögliche Quelle für die Überschätzung
längerer Zeitreihen wurden die Prognosen zur der gesunden Lebenserwartung, weil die Bevölke­
Entwicklung der gesunden Lebenserwartung aber rung in Pflegeheimen den eigenen Gesundheits­
zunehmend optimistischer. Mittlerweile sprechen zustand vergleichsweise schlecht einschätzt oder

Abbildung 2.5.3.1
Anteil der Personen mit einem guten oder sehr guten Gesundheitszustand im Alter von 60 bis 69 Jahren
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel 1996 bis 2006

Prozent
40

Frauen Männer
35

30

25

20

15

10

1996 1998 2000 2002 2004 2006 1996 1998 2000 2002 2004 2006
Jahr
110 Gesundheit und Krankheit im Alter

per Definition gesundheitlich eingeschränkt (ak­ In neueren Analysen auf Basis des Sozio-oeko­
tive und behinderungsfreie Lebenserwartung) ist. nomischen Panels (SOEP) wurde versucht, die Be­
Der Anteil von Personen in Pflegeeinrichtungen funde aus dem Mikrozensus zur Ausweitung der
ist in Deutschland vor einem Alter von 80 Jah­ gesunden Lebensspanne im Kohortenvergleich zu
ren vergleichsweise gering, steigt im höheren Al­ bestätigen [18, 19, 20]. Das SOEP ermöglicht, im
ter aber exponentiell an. Der Anteil beträgt nach Unterschied zum Mikrozensus, längsschnittliche
Angaben der Pflegestatistik 2005 bei den 75- bis Analysen auf der Individualebene. Eine erste Ar­
79-Jährigen lediglich 2,7 %, unter den 80- bis beit für den Zeitraum 1984 bis 1999 verwendet
84-Jährigen aber bereits 7,1 % [14]. Die Prävalenz eine Frage zu funktionellen Beeinträchtigungen
von Einschränkungen sollte sich anhand von Sur­ (»Behindert Sie Ihr Gesundheitszustand bei der
veys bis zu einem Alter von 79 Jahren relativ gut Verrichtung alltäglicher Aufgaben, z. B. Körper­
abbilden lassen. pflege, Anziehen oder Aufräumen?« – Antwortvor­
Eine der ersten Studien zur Entwicklung der gaben »stark« vs. »ein wenig« und »gar nicht«) als
gesunden Lebenserwartung in Deutschland ver­ Indikator für chronische Morbidität. Im Vergleich
wendete einen zusammengefassten Datensatz aus der Geburtskohorten 1917, 1922 und 1927 zeigen
Mikrozensus und Kohortensterbetafeln [17]. Dazu sich eine deutliche Verbesserung der Gesundheit
wurden verschiedene Wellen des Mikrozensus und eine Verringerung des Anteils der gesund­
zwischen 1978 und 1995 zusammengefasst. Auf heitlich eingeschränkten Lebensjahre (siehe Ta­
Basis dieses Datensatzes wurde die Entwicklung belle 2.5.3.2). Analog zu den Ergebnissen des Mi­
der altersspezifischen Prävalenz gesundheitlicher krozensus sprechen die Ergebnisse ebenfalls für
Einschränkungen für drei Geburtskohorten (1907, eine absolute Kompression von Morbidität im Ko­
1913, 1919) ermittelt. Als Morbiditätsindikator hortenvergleich. Die Methode der Mehrzustands­
wurde die Frage »Waren sie in den letzten vier sterbetafeln zeigt zudem, dass der Rückgang auf
Wochen krank oder unfallverletzt?« herangezo­ eine Verringerung der alterspezifischen Inzidenz
gen. Die Prävalenzen wurden anhand der Sullivan gesundheitlicher Einschränkungen, nicht aber auf
Methode mit Kohortensterbetafeln zusammenge­ eine veränderte Gesundungschance gesundheit­
führt. lich eingeschränkter Personen zurückgeht. Dieser
Im Vergleich der drei Geburtskohorten zeigt Befund bestätigte sich auch in späteren Analysen
sich, dass der Anteil der gesunden Lebensjahre für die Kohorten 1921, 1927 und 1933 [20]. Im
kontinuierlich angestiegen ist (siehe Tabelle Vergleich verschiedener Morbiditätsindikatoren
2.5.3.1). Die gesunde Lebenserwartung ist schnel­ ist die vorgefundene Verringerung umso stärker,
ler als die allgemeine Lebenserwartung gestiegen, je enger gesundheitliche Einschränkungen defi­
dadurch verringerte sich die Zahl der gesund­ niert werden. Dies entspricht dem Szenario des
heitlich eingeschränkten Lebensjahre in den jün­ dynamischen Gleichgewichts von Manton, dass
geren Kohorten. Die Ergebnisse sprechen damit von einer zeitlichen Fixierung der Dauer schwerer
für eine absolute Kompression von Morbidität im gesundheitlicher Einschränkungen vor dem Tod
Vergleich der betrachteten Geburtskohorten [17]. ausgeht. Eine Studie, die chronische Morbidität

Tabelle 2.5.3.1
Entwicklung des Anteils der krankheitsfreien Lebensjahre im Vergleich der Kohorten 1907 bis 1919
Quelle: eigene Berechnungen nach [17], Ergebnisse des Mikrozensus für den Zeitraum 1978 bis 1995

Kohorte Frauen Männer


59 – 64 65 – 70 71 – 76 77 – 82 83 – 88 59 – 64 65 – 70 71 – 76 77 – 82 83 – 88
Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre
1907 71,6 % 68,0 % 64,9 % 65,2 % 68,0 % 73,3 % 71,3 % 69,5 % 69,4 % 70,1 %
1913 74,2 % 71,2 % 70,4 % 71,4 % 75,1 % 73,3 % 72,6 % 73,3 %
1919 77,1 % 75,6 % 75,8 % 76,8 % 76,0 % 76,7 %
Gesundheit und Krankheit im Alter 111

Tabelle 2.5.3.2
Entwicklung des Anteils Lebensjahre mit funktionellen Einschränkungen im Vergleich der Kohorten 1917 bis 1927
Quelle: [18], Ergebnisse des SOEP für den Zeitraum 1984 bis 1999

Kohorte Frauen Männer


67 – 70 Jahre 71 – 75 Jahre 76 – 80 Jahre 67 – 70 Jahre 71 – 75 Jahre 76 – 80 Jahre
1917 27,6 % 30,6 % 34,9 % 28,1 % 28,8 % 29,4 %
1922 25,4 % 28,8 % 24,8 % 26,1 %
1927 23,2 % 21,4 %

Tabelle 2.5.3.3
Entwicklung der Lebensjahre bei guter Gesundheit und ohne gesundheitliche Beschwerden
im Vergleich der Perioden 1984 bis 1986 und 1998
Quelle: eigene Darstellung nach [22], Ergebnisse des LES 1984 bis 1998

Frauen Männer
LE HLE Anteil DFLE Anteil LE HLE Anteil DFLE Anteil
1984/1986
45 – 49 Jahre 34,9 29,5 84,5 % 18,7 63,4 % 29,3 25,4 86,7 % 17,0 66,9 %
50 – 54 Jahre 30,3 25,4 83,8 % 16,8 66,1 % 25,0 21,5 86,0 % 14,7 68,4 %
55 – 59 Jahre 25,8 21,8 84,5 % 15,0 68,8 % 20,9 17,8 85,2 % 12,5 70,2 %
60 – 64 Jahre 21,5 18,5 86,0 % 13,2 71,4 % 17,1 14,9 87,1 % 10,5 70,5 %
65 – 69 Jahre 17,4 15,4 88,5 % 11,4 74,0 % 13,7 12,2 89,1 % 9,0 73,8 %
1998
45 – 49 Jahre 36,9 30,9 83,7 % 22,3 72,2 % 31,8 27,4 86,2 % 20,5 74,8 %
50 – 54 Jahre 32,3 26,7 82,7 % 19,3 72,3 % 27,4 23,2 84,7 % 17,5 75,4 %
55 – 59 Jahre 27,8 22,5 80,9 % 16,6 73,8 % 23,1 19,4 84,0 % 14,9 76,8 %
60 – 64 Jahre 23,4 19,7 84,2 % 14,3 72,6 % 19,1 15,8 82,7 % 12,3 77,8 %
65 – 69 Jahre 19,1 15,1 79,1 % 11,8 78,1 % 15,5 12,6 81,3 % 10,1 80,2 %

LE: fernere Lebenserwartung


HLE: fernere Lebenserwartung bei guter selbsteingeschätzter Gesundheit
DFLE: fernere Lebenserwartung ohne gesundheitliche Beschwerden

haushaltsbezogen operationalisierte, konnte in weisen einen durchschnittlichen Anstieg der all­


den alten Bundesländern ebenfalls einen kohor­ gemeinen Lebenserwartung zwischen 1984 und
tenbezogenen Anstieg der gesunden Lebenszeit 1998 von etwa 2,2 bzw. 1,9 Jahren bei Männern
nachzeichnen [21]. und Frauen aus. Die gesunde Lebenserwartung
Anhand des Lebenserwartungssurvey (LES), ist anhand des Indikators »guter Gesundheitszu­
der vom Bundesinstitut für Bevölkerungsfor­ stand« um 1,3 bzw. 0,9 Jahre bei Männern und
schung (BIB) verantwortet wurde, liegen für den Frauen gestiegen. Für den Indikator »keine ge­
Zeitraum 1984/1986 bis 1998 Ergebnisse zur Ent­ sundheitlichen Beschwerden« zeigt sich ein mitt­
wicklung der gesunden Lebenserwartung in West­ lerer Anstieg von 2,3 bzw. 1,8 Jahren. Insgesamt
deutschland vor [22]. Untersucht wurden Männer deuten die Ergebnisse auf Basis des Lebenserwar­
und Frauen aus den alten Bundesländern im Al­ tungssurveys damit auch auf ein Ansteigen der ge­
ter zwischen 45 und 69 Jahren. Die Ergebnisse sunden Lebenserwartung in Deutschland hin. Die
112 Gesundheit und Krankheit im Alter

Ergebnisse unterstützen aber kein Entwicklungs­ 9. Fries JF (2003) Measuring and Monitoring Success
in Compressing Morbidity. Ann Intern Med 139 (5_
szenario vollständig. Für den Morbiditätsindikator
Part_2): 455
»guter Gesundheitszustand« zeigt sich eine leich­ 10. Fries JF (2005) Frailty, Heart Disease, and Stroke: The
te (relative) Expansion, für den Indikator »keine Compression of Morbidity Paradigm. Am J Prev Med
Beschwerden« dagegen eine relative Kompression 29 (5, Supplement 1): 164
11. Murray CJ, Salomon JA, Mathers C (2000) A criti­
gesundheitlicher Einschränkungen.
cal examination of summary measures of population
Zusammenfassend ist festzustellen, dass health. Bull World Health Organ 78 (8): 981 – 994
die vorliegenden Ergebnisse auf einen Anstieg 12. Molla MT, Madans JH, Wagener DK et al. (2003) Sum­
der gesunden Lebenserwartung seit Ende der mary measures of population health: Report of find­
ings on methodologic and data issues. National Center
1980er-Jahre hindeuten (für eine ausführliche
for Health Services, Hyattsville, Maryland
Darstellung vgl. [23]). Es kam im Zuge der anstei­ 13. U.S. Department of Health and Human Services
genden Lebenserwartung zu einer relativen Kom­ (2007) Part A: General Data Issues Tracking Healthy
pression chronischer Morbidität. Die Befundlage People 2010 (revised Edition). Government Printing
Office: Washington, DC
zur Entwicklung der gesunden Lebenserwartung
14. Destatis (2007b) Pflegestatistik 2005 – Pflege im Rah­
in Deutschland stimmt mit den internationalen men der Pflegeversicherung Deutschlandergebnisse.
Ergebnissen überein. Ein Anstieg zeigt sich an­ Statistisches Bundesamt, Wiesbaden
hand unterschiedlicher Datenquellen und auf 15. Colvez A, Blanchet M (1981) Disability trends in the
United States population 1966 – 76: analysis of re­
Basis verschiedener Gesundheitsindikatoren. Im
ported causes. Am J Public Health 71 (5): 464
Kohortenvergleich haben sich der Anteil und das 16. Robine JM, Romieu I, Michel JP (2003b) Trends in
Ausmaß der gesundheitlich beeinträchtigten Le­ Health Expectancies. In: Robine JM, Jagger C, Mathers
benszeit bei Männern und Frauen insbesondere C et al. (Hrsg) Determining health expectancies. J.
Wiley: Chichester, Hoboken, NJ, S 75 – 101
für starke gesundheitliche Beeinträchtigungen
17. Dinkel RH (1999) Entwicklung und Gesund­
verringert. Damit deutet sich insgesamt eine Ent­ heitszustand. Eine empirische Kalkulation der Healthy
wicklung in Richtung der Kompressionsthese an. Life Expectancy für die Bundesrepublik auf der Basis
von Kohortensterbetafeln. In: Häfner H (Hrsg) Ge­
sundheit – unser höchstes Gut? Springer, Heidelberg,
New York, S 61 – 84
Literatur 18. Klein T, Unger R (2002) Aktive Lebenserwartung in
Deutschland und in den USA. Z Gerontol Geriatr 35
1. Gruenberg EM (1977) The failures of success. Milbank (6): 528
Mem Fund Q Health Soc 55 (1): 3 – 24 19. Unger R (2003) Soziale Differenzierung der aktiven
2. Olshansky SJ, Ault AB (1986) The fourth stage of the Lebenserwartung im internationalen Vergleich. Deut­
epidemiologic transition: the age of delayed degenera­ scher Universitäts-Verlag, Wiesbaden
tive diseases. Milbank Q 64 (3): 355 – 391 20. Unger R (2006) Trends in active life expectancy in Ger­
3. Olshansky SJ, Rudberg MA, Carnes BA et al. (1991) many between 1984 and 2003 – a cohort analysis with
Trading Off Longer Life for Worsening Health: The different health indicators. Journal of Public Health 14
Expansion of Morbidity Hypothesis. J Aging Health 3 (3): 155
(2): 194 21. Ziegler U, Doblhammer G (2007) Cohort Changes in
4. Kramer M (1980) The rising pandemic of mental dis­ the Incidence of Care Need in West Germany Between
orders and associated chronic diseases and disabilities. 1986 and 2005. European Journal of Population/Re­
Acta Psychiatr Scand 62 (s285): 382 vue européenne de Démographie online first
5. Verbrugge LM (1984) Longer life but worsening 22. Gärtner K, Scholz RD (2005) Lebenserwartung in Ge­
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62 (3): 475 – 519 ziplinäre Analysen von Gesundheit und Sterblichkeit
6. Fries JF (1980) Aging, natural death, and the compres­ aus dem Lebenserwartungssurvey des BIB. VS Verlag
sion of morbidity. N Engl J Med 303 (3): 130 – 135 für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 311 – 331
7. Fries JF (1983) The compression of morbidity. Milbank 23. Kroll LE, Lampert T, Lange C, Ziese T (2008) Ent­
Mem Fund Q Health Soc 61 (3): 397 – 419 wicklung und Einflussgrößen der gesunden Lebens­
8. Fries JF (1988) Aging, illness, and health policy: impli­ erwartung in Deutschland. WZB Discussion Paper
cations of the compression of morbidity. Perspect Biol SP I 2008-306
Med 31 (3): 407 – 428
Gesundheit und Krankheit im Alter 113

3 Gesundheit im Alter bedingt durch Schicksal,


Schichtzugehörigkeit oder Verhalten?
Gesundheitsrelevante Lebenslagen und Lebensstile

3.1 Lebenssituationen älter werdender und alter Menschen in Deutschland


Clemens Tesch-Römer, Susanne Wurm

Kernaussagen benssituation unterscheiden. Zum Ersten die Le­


benslage einer Person. Diese beinhaltet die soziale
1. Gesundheit im Alter wird durch Lebenslage Stellung einer Person innerhalb der Gesellschaft.
und Lebensstil beeinflusst. Die Lebenslage Häufig werden zur Beschreibung der Lebenslage
wird insbesondere durch die soziale Schicht­ Merkmale der sozialen Schichtzugehörigkeit he­
zugehörigkeit bestimmt, also durch Bildung, rangezogen, also insbesondere Bildung, Einkom­
Einkommen und Vermögen sowie Merkmale men und Vermögen sowie Merkmale der aktuellen
der aktuellen bzw. früheren Berufstätigkeit. bzw. früheren Berufstätigkeit. Da Personen in Ab­
Der Lebensstil betrifft jene Aspekte der Le­ hängigkeit von ihrer Lebenslage unterschiedliche
bensführung, die durch alltägliche Entschei­ Voraussetzungen haben, wird in diesem Zusam­
dungen beeinflusst werden, also zum Bei­ menhang von sozialen Unterschieden und soziale
spiel sportliche Aktivität oder Benutzung von Ungleichheiten gesprochen. Soziale Ungleichheit
Genussmitteln. hat hohe Bedeutung für die Gesundheit: Angehö­
2. Das Einkommen älterer und alter Menschen rige unterer sozialer Schichten haben schlechtere
in Deutschland liegt gegenwärtig nahe am Gesundheitschancen als Angehörige oberer so­
Durchschnittseinkommen der Gesamtbevöl­ zialer Schichten [1]. Eine der im Folgenden zu dis­
kerung. Ältere Menschen sind im Vergleich kutierenden Fragen lautet: Bleibt die Bedeutung
mit anderen Altersgruppen gegenwärtig un­ sozialer Ungleichheit im Verlauf des Altwerdens
terdurchschnittlich von (relativer) Armut be­ gleich, schwächt sie sich ab oder verstärkt sie sich?
troffen. Ein zweiter wichtiger Aspekt der Lebenssituation
3. Auch wenn ältere Menschen nur selten ge­ ist der individuelle Lebensstil. Hiermit ist die all­
meinsam mit ihren Kindern in einem Haus­ tägliche Daseinsgestaltung gemeint, die von kultu­
halt leben, halten die Angehörigen einer Fa­ rellen Eigenarten sowie individuellen Werten und
milie miteinander Kontakt und unterstützen Entscheidungen beeinflusst ist. Mit dem Begriff
sich regelmäßig. des Lebensstils werden stärker die Entscheidungs-
4. Die gesellschaftliche Partizipation älterer und Wahlelemente einer individuellen Lebensfüh­
Menschen ist beträchtlich und deckt ein rung betont: Es liegt (auch) in den Händen der
weites Spektrum an Tätigkeiten ab, etwa im betroffenen Person, wie sie sich ernährt, ob sie
Bereich des bürgerschaftlichen Engagements raucht und ob sie Sport treibt.
oder der ehrenamtlichen Tätigkeiten. In den nächsten Kapiteln werden die Einflüs­
5. Menschen in der zweiten Lebenshälfte äu­ se von Lebenslage und Lebensstil auf die Gesund­
ßern im Durchschnitt hohe Zufriedenheit. heit älter werdender und alter Menschen im Ein­
Die Lebenszufriedenheit bleibt bis ins hohe zelnen dargestellt. Zuvor aber soll an dieser Stelle
Alter stabil. ein kurzer Überblick über die Lebenssituationen
älter werdender und alter Menschen gegeben wer­
Wie gesund ältere Menschen ins Alter kommen den, wobei auch ein Blick auf mögliche zukünftige
und wie gut ihre Gesundheit im Alter ist, wird Entwicklungen geworfen wird. Im Folgenden geht
maßgeblich durch ihre Lebenssituation mitbeein­ es darum, einen Eindruck darüber zu vermitteln,
flusst. Dabei lassen sich grob zwei Aspekte der Le­ wie das Einkommen der heute und zukünftig Äl­
114 Gesundheit und Krankheit im Alter

teren ist, wie sie heute und in Zukunft wohnen waren es sogar rund 95 %, die eine Rente bezogen,
werden, wie gut ältere Menschen familiär und die niedriger als die »Eckrente« war [4].
außerfamiliär sozial eingebettet sind, in welcher Betrachtet man nur die unteren Einkom­
Form sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen mensgruppen, so zeigt sich, dass ältere Menschen
und wie hoch das subjektive Wohlbefinden ist. Da­ in Deutschland gegenwärtig unterdurchschnitt­
bei wird die Frage gestellt, wie die Situation älterer lich von (relativer) Armut betroffen sind. Die Ar­
Menschen insgesamt einzuschätzen ist und wie mutsrisikoquoten machen deutlich, dass ältere
stark die Unterschiede innerhalb der Gruppe älter Menschen aktuell weniger von Armut betroffen
werdender und alter Menschen sind (für ausführ­ sind als jüngere Menschen (siehe Tabelle 3.1.1.1;
liche Darstellungen wird auf die Berichte zur Lage [6]). Während das Armutsrisiko insgesamt in den
der älteren Generation in der Bundesrepublik Jahren zwischen 1998 und 2003 gestiegen ist,
Deutschland verwiesen, insbesondere [2, 3, 4]). ist es bei älteren Menschen (65 Jahre und älter)
gesunken. Allerdings ist dabei zu beachten, dass
Armut in jüngeren Lebensabschnitten nicht sel­
3.1.1 Einkommen älterer Menschen ten ein vorübergehender Zustand ist, z. B. bedingt
durch vorübergehende Arbeitslosigkeit; im Alter
Wie sieht es mit der materiellen Ausstattung äl­ ist Armut hingegen kaum mehr veränderbar.
terer Menschen jetzt und in Zukunft aus? Das ak­ Wird die aktuelle materielle Lage älterer Men­
tuelle Durchschnittseinkommen älter werdender schen im Durchschnitt betrachtet, stellt sich diese
und alter Menschen liegt gegenwärtig nahe am insgesamt als recht gut dar, wobei sich das Aus­
Durchschnittseinkommen der Gesamtbevölke­ maß sozialer Ungleichheiten bis in das hohe Alter
rung (im Folgenden wird das sogenannte Äquiva­ nicht verringert. Hinter der durchschnittlich guten
lenzeinkommen herangezogen). Das Einkommen Einkommenslage alter Menschen verbergen sich
der 40- bis 85-Jährigen in der Bundesrepublik liegt jedoch erhebliche Unterschiede im Einkommen.
nach Berechnungen des Alterssurveys im Jahr
2002 bei rund 1.530 Euro (Westdeutschland: 1.610
Euro, Ostdeutschland: 1.230 Euro) und damit um Tabelle 3.1.1.1
170 Euro über dem vom Sozio-oekonomischen Pa­ Armutsrisikoquoten* für verschiedene Bevölkerungs­
gruppen 1998 und 2003
nel (SOEP) ausgewiesenen Wert für die Gesamtbe­ Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998,
völkerung der Bundesrepublik (1.360 Euro). Das 2003, Tabelle entnommen aus [6]
Einkommen im Westen Deutschlands ist höher
als im Osten Deutschlands und das Einkommen 1998 2003
der Männer höher als das der Frauen [5]. Differenzierung nach Alter
Das Durchschnittseinkommen älterer Men­ bis 15 Jahre 13,8 15,0
schen setzt sich aus den Zahlungen der gesetz­ 16 – 24 Jahre 14,9 19,1
lichen Rentenversicherung, aus Vermögensein­
25 – 49 Jahre 11,5 13,5
künften und aus sonstigen bedarfsorientierten
50 – 64 Jahre 9,7 11,5
und bedürftigkeitsgeprüften Transferzahlungen
(z. B. Hilfe zum Lebensunterhalt, Wohnzuschüs­ 65 Jahre und älter 13,3 11,4
se) zusammen. Insbesondere bei den Rentenzah­ Differenzierung nach Erwerbsstatus
lungen verbirgt sich eine beträchtliche Streuung: Selbstständige(r) 11,2 9,3
So erhielten im Jahr 2006 etwa 50 % der west- wie Arbeitnehmer(in) 5,7 7,1
ostdeutschen Männer eine Rente von weniger als Arbeitslose(r) 33,1 40,9
rund 1.000 Euro monatlich – und damit weniger
Rentner(in)/Pensionär(in) 12,2 11,8
als die sogenannte »Eckrente« (hypothetischer
Rentenfall, basierend auf 45 Versicherungsjah­ Armutsrisikoquote gesamt 12,1 13,5
ren bei durchschnittlichem Bruttoarbeitsentgelt; * Anteil der Personen in Haushalten, deren bedarfsgewichtetes
im Vergleichszeitraum betrug die »Eckrente« Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Mittelwertes
(Median) aller Personen beträgt (nach neuer OECD-Richtlinie).
in Westdeutschland 1.060 Euro/Monat, in Ost­ Im Jahr 2003 beträgt die so errechnete Armutsrisikogrenze
deutschland 930 Euro/Monat). Bei den Frauen 938 Euro.
Gesundheit und Krankheit im Alter 115

Insbesondere im Westen Deutschlands zeigen werden, dass älter werdende und alte Menschen
sich große Unterschiede im Renteneinkommen. auch in Zukunft vor allem im eigenen Haushalt
Zudem haben bestimmte Gruppen von alten Men­ leben werden, wobei dies noch stärker als heute
schen ein erhöhtes Armutsrisiko, insbesondere Einpersonenhaushalte sein werden. Gegenwärtig
betroffen sind sehr alte Frauen mit vielen Kindern. liegt der Anteil der Einpersonenhaushalte bei etwa
Wie wird sich die Einkommenssituation einem Drittel aller Haushalte. Die Entwicklung
älterer Menschen in Zukunft gestalten? Im Ver­ seit 1991 zeigt eindrücklich, dass der Anteil der
gleich zur allgemeinen Einkommensentwicklung Einpersonenhaushalte zugenommen und die
in Deutschland haben die Älteren in der Zeit zwi­ Haushaltsgröße abgenommen hat (siehe Abbil­
schen 1996 und 2002 relative Einkommensver­ dung 3.1.2.1; zur historischen Entwicklung siehe
luste hinnehmen müssen. Dies bedeutet nicht, [8]).
dass es zu absoluten Einkommenseinbußen ge­ Während gegenwärtig der größte Teil der 70-
kommen ist, sondern vielmehr, dass Ältere zwi­ bis 75-Jährigen mit dem (Ehe-)Partner bzw. der
schen 1996 und 2002 Einkommenszuwächse (Ehe-)Partnerin in Ein-Generationen-Haushalten
hatten, die unter den Zuwächsen im gesamtge­ lebt (im Jahr 2005 waren dies etwa 60 %), ver­
sellschaftlichen Durchschnitt liegen. Hier ergeben schiebt sich dies in den höheren Altersgruppen:
sich erste Anzeichen dafür, dass die Einkommens­ Die über 80-jährigen in Privathaushalten leben­
entwicklung der Älteren von der durchschnitt­ den Menschen wohnen vorwiegend in Einperso­
lichen Einkommensentwicklung abgekoppelt nenhaushalten (siehe Tabelle 3.1.2.1). Der Anteil
werden könnte. Blickt man schließlich weiter in der Zwei-Generationen-Haushalte liegt bei den
die Zukunft, so lassen sich vor dem Hintergrund 70- bis unter 90-Jährigen zum Teil deutlich un­
der bislang durchgeführten Rentenreformmaß­ ter 10 % und steigt erst bei den über 90-Jährigen
nahmen zwei Aussagen treffen: Es ist zu erwarten, auf knapp 14 %. Der Anteil alter Menschen, die in
dass in Zukunft die Einkommensverteilung im Drei-Generationen-Haushalten wohnen, ist noch
Alter deutlich ungleicher wird (Einkommensun­ niedriger: Er liegt in den Altersgruppen der 70- bis
terschiede werden sich erheblich verstärken). Zu­ unter 90-Jähringen unter 3 % und steigt erst bei
dem wird es in Zukunft zunehmend mehr nied­ den über 90-Jährigen auf etwa 4 %.
rige Einkommen geben. Dies wird es notwendig Die Formen der Lebenspartnerschaft haben
machen, vermehrt bedarfsorientierte und bedürf­ sich in den vergangenen Dekaden tief greifend
tigkeitsgeprüfte Leistungen bereit zu stellen, um verändert und werden dies voraussichtlich auch
Einkommensarmut im Alter zu vermeiden bzw. in Zukunft tun. Dabei unterscheidet sich die Le­
zu bekämpfen. benssituation zwischen Männern und Frauen
erheblich, während regionale Unterschiede zwi­
schen Ost- und Westdeutschland – bis auf die ver­
3.1.2 Wohnsituation und Haushalte gleichsweise häufiger geschiedenen ostdeutschen
älterer Menschen Frauen – nicht sehr groß sind [9]. Die Mehrzahl
der älteren Männer ist gegenwärtig verheiratet
Der demografische Wandel berührt in direkter und zwar auch in der höchsten Altersgruppe der
Weise die soziale Einbettung älter werdender über 80-Jährigen (in diesem Alter sind etwa zwei
und alter Menschen, insbesondere innerhalb der Drittel aller Männer verheiratet). Der Anteil von
Familie. Generationenbeziehungen Älterer wer­ ledigen und geschiedenen Männern ist relativ
den heute vor allem im »multilokalen Familien­ klein. Die Situation für Frauen stellt sich grund­
verbund« gelebt: Die Angehörigen einer Familie legend anders dar: Mit dem Alter steigt der An­
wohnen nicht unbedingt im selben Haushalt, aber teil der verwitweten Frauen erheblich an (bei den
sie halten miteinander Kontakt und unterstützen über 80-jährigen Frauen sind fast drei Viertel aller
sich regelmäßig [7]. Dabei ist zu berücksichtigen, Frauen verwitwet). Der Anteil von ledigen und ge­
dass die meisten Deutschen heute in Konstella­ schiedenen Frauen ist – im Vergleich zu den Män­
tionen von drei Generationen leben, auch wenn nern – etwas höher. Bisweilen wird die Erwartung
diese in der Regel nicht zusammen wohnen. Hin­ geäußert, dass die wachsende Lebenserwartung
sichtlich der Wohnsituation kann angenommen zu einer Verlängerung von Partnerschaften führen
116 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 3.1.2.1
Veränderung des Anteils der Einpersonenhaushalte (in Prozent) sowie der Haushaltsgröße zwischen 1991 und 2006
Quelle: Mikrozensus, GeroStat 2008 – Deutsches Zentrum für Altersfragen

Einpersonenhaushalte in Prozent durchschnittliche Haushaltsgröße (Personen)


40 2,30

39
2,25
38 Anteil
Einpersonenhaushalte
37 2,20

36
2,15
35
Haushaltsgröße
34 2,10

33
2,05
32

31 2,00
1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005
1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006
Jahr

Tabelle 3.1.2.1
Bevölkerung in Haushalten nach Generationenfolge* 2005
Quelle: GeroStat – Deutsches Zentrum für Altersfragen und Mikrozensus

70 – 74 Jahre 75 – 79 Jahre 80 – 84 Jahre 85 – 89 Jahre 90 Jahre und älter


Bevölkerung in Haushalten mit 60,6 % 51,3 % 35,8 % 23,5 % 13,8 %
1 Generation (vor allem Ehepaare)
Bevölkerung in Haushalten 8,1 % 6,6 % 6,7 % 8,0 % 13,8 %
mit 2 Generationen
Bevölkerung in Haushalten 1,0 % 1,6 % 2,1 % 2,8 % 4,2 %
mit 3 und mehr Generationen
Bevölkerung in 27,4 % 38,3 % 53,4 % 63,7 % 66,4 %
Einpersonenhaushalten
Bevölkerung in 2,9 % 2,2 % 2,0 % 2,0 % 1,8 %
sonstigen Haushalten
Bevölkerung in privaten 100,0 % 100,0 % 100,0 % 100,0 % 100,0 %
Haushalten gesamt

Anmerkung: Mit dem Begriff der »Generationenfolge« ist das direkte, geradlinige Abstammungsverhältnis der Haushaltsmitglieder gemeint.
3-Generationenhaushalte sind z. B. Haushalte, in denen drei in direkter Linie miteinander verwandte Personengruppen leben, wie z. B. Groß­
eltern, Eltern und Kinder. Haushalte, die nur aus Ehepaaren bestehen, werden als 1-Generationenhaushalte bezeichnet. Zusätzlich können noch
andere verwandte und verschwägerte Personen außerhalb der direkten Generationenfolge oder familienfremde Personen in diesem Haushalt
leben.
Gesundheit und Krankheit im Alter 117

könnte. Allerdings wird auch darauf hingewiesen, Zukunft an die Stelle der Familie treten werden,
dass die Tendenz zu Scheidung und zu lebens­ ist gegenwärtig offen (vgl. Kapitel 4.2).
langem Alleinleben möglicherweise zu einem
sinkenden Anteil von Männern und von Frauen
führen könnte, die mit einem Partner zusammen­ 3.1.4 Bürgerschaftliches Engagement und
leben [9]. Doch selbst wenn Paare bis ins neunte gesellschaftliche Partizipation
Lebensjahrzehnt oder darüber hinaus zusammen­ älterer Menschen
leben, wird die partnerschaftliche Unterstützung
mit wachsendem Lebensalter fragiler. Die gesellschaftliche Partizipation älterer Men­
schen und die damit verbundene Produktivität,
etwa im Bereich des bürgerschaftlichen Engage­
3.1.3 Familienbeziehungen und soziale ments oder der ehrenamtlichen Tätigkeiten, sind
Integration älterer Menschen beträchtlich. Das freiwillige Engagement älterer
Menschen deckt dabei ein weites Spektrum ab,
Der allergrößte Teil der 40- bis 85-Jährigen Men­ das von Unterstützungsleistungen in der Familie
schen in Deutschland hat Kinder (und dieser An­ und der Nachbarschaft über freiwillige Aktivitäten
teil ist zwischen 1996 und 2002 stabil geblieben). in Sportvereinen, Kirchengemeinden und Politik
Allerdings ist die durchschnittliche Kinderzahl bis zum traditionellen Ehrenamt reicht. Zudem
pro Frau in den nachwachsenden Geburtsjahr­ gibt es Unterschiede mit Blick auf die Merkmale
gängen gesunken [7]. Im Jahr 2002 hatte die jener Personen, die gesellschaftlich aktiv sind und
älteste Altersgruppe im Alterssurvey (70 bis 85 jenen, die dies nicht sind. Insbesondere eine gute
Jahre) durchschnittlich 2,09 Kinder, die mittlere Bildung zeichnet jene Gruppe der älteren Men­
Altersgruppe (55 bis 69 Jahre) 1,99 Kinder und schen aus, die sich ehrenamtlich engagieren. Dies
die jüngste Altersgruppe (40 bis 54 Jahre) 1,64 bedeutet aber auch, dass mit den nachwachsen­
Kinder. Diese Veränderungen werden in Zukunft den Geburtsjahrgängen das Potenzial gesellschaft­
gravierende Folgen haben, deren Auswirkungen licher Partizipation wachsen könnte, da sie im
durch die erhöhte Mobilität der Kindergeneration Durchschnitt über eine bessere Bildung verfügen.
noch steigen werden. Bislang ist die »multilokale In der Tat zeigt sich seit Mitte der 1980er­
Mehrgenerationenfamilie« recht intakt. Der aller­ Jahre eine Zunahme des Engagements bei den
größte Teil der Eltern (über 90 %) gibt an, dass das über 60-Jährigen. Aufgrund unterschiedlicher
nächstwohnende Kind in einem Radius von zwei Definitionen der Begriffe »gesellschaftliche Parti­
Stunden Entfernung oder näher vom elterlichen zipation«, »bürgerschaftliches Engagement« oder
Haushalt lebt. Vergleicht man anhand der Daten »ehrenamtliche Tätigkeiten« kommen die vorlie­
des Alterssurveys die Entwicklung zwischen 1996 genden Studien zu unterschiedlichen Ergebnis­
und 2002, so zeigt sich, dass zwischen 1996 und sen, was den prozentualen Anteil ehrenamtlicher
2002 in den jüngeren Altersgruppen die Entfer­ Tätigkeit betrifft. Die vorhandenen Studien weisen
nung zwischen alten Eltern und erwachsenen Kin­ aber einheitlich daraufhin, dass das Engagement
dern etwas größer geworden ist – in der ältesten zugenommen hat: Sowohl der Freiwilligensurvey
Altersgruppe dagegen ist sie kleiner geworden. Die als auch der Alterssurvey weisen einen Anstieg
Kontakthäufigkeit ist ebenfalls hoch: Auch hier der Engagementquoten zwischen ihrer ersten und
nennt der allergrößte Teil der befragten Personen zweiten Befragung aus (siehe Tabelle 3.1.4.1).
(über 85 %), mit mindestens einem Kind ein- oder Interessant sind schließlich auch geschlechts­
mehrmals wöchentlich Kontakt zu haben. Diese spezifische Unterschiede des bürgerschaftlichen
Daten zeigen, dass Familien, auch wenn sie nicht Engagements. Bei den Frauen haben sich vor
unter einem Dach zusammenleben, häufig recht allem in der mittleren Altersgruppe die Enga­
nah beieinander leben und regen Kontakt und gementquoten stark erhöht: im Freiwilligensur­
Austausch pflegen. Dennoch ist für die Zukunft vey von 29 % auf 37 % (Altersgruppe der 55- bis
von einem schwächer werdenden familialen Hilfe- 64-Jährigen), im Alterssurvey von 9 % auf 18 %
und Unterstützungsnetz auszugehen. Ob andere (Altersgruppe der 55- bis 69-Jährigen). Dagegen
private Netze – etwa Freunde oder Nachbarn – in sind, je nach Studie, in den beiden benachbarten
118 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 3.1.4.1
Beteiligung am bürgerschaftlichen Engagement in verschiedenen Studien
Quelle: [4]

Altersgruppe Beteiligungsquoten Bezugsgröße Quelle


Frauen Männer Gesamt
Freiwilligensurvey 1999
45 – 54 Jahre 36 % 45 % 40 % freiwilliges [10]
55 – 64 Jahre 29 % 41 % 35 % Engagement

65 – 74 Jahre 22 % 31 % 27 %
75 Jahre und älter – – 17 %
Freiwilligensurvey 2004
45 – 54 Jahre 36 % 44 % 40 % freiwilliges [10]
Engagement
55 – 64 Jahre 37 % 42 % 40 %
65 – 74 Jahre 27 % 39 % 32 %
75 Jahre und älter – – 19 %
Alterssurvey 1996
40 – 54 Jahre 18 % 25 % 22 % ehrenamtliche [11]
Tätigkeiten in Vereinen
55 – 69 Jahre 9% 18 % 13 %
und Verbänden
70 – 85 Jahre 6% 9% 7%
Alterssurvey 2002
40 – 54 Jahre 23 % 22 % 23 % ehrenamtliche [12]
Tätigkeiten in Vereinen
55 – 69 Jahre 18 % 23 % 21 %
und Verbänden
70 – 85 Jahre 5% 15 % 9%
Zeitbudgeterhebung 1991/1992
60 – 69 Jahre 20 % 25 % 22 % Ausübung [13]
eines Ehrenamtes
70 Jahre und älter (14 %) (21 %) 16 %
Zeitbudgeterhebung 2001/2002
40 – 59 Jahre 18 % 24 % 21 % Ausübung [14]
eines Ehrenamtes
60 – 64 Jahre 20 % 22 % 21 %
65 – 74 Jahre 16 % 19 % 17 %
75 Jahre und älter 11 % 13 % 12 %

Werte in Klammern: unsicherer Zahlenwert, da Fallzahl sehr gering

weiblichen Altersgruppen mittlere bis gar keine insbesondere in den Kommunen, zunehmend be­
Anstiege zu verzeichnen. Etwas anders liegt die deutsamer werden, gesellschaftliche Partizipation
Situation bei den Männern: Hier liegen die höchs­ durch geeignete Maßnahmen zu erhöhen.
ten Zuwächse in der Altersgruppe der 65- bis
74-Jährigen mit einem Anstieg von 31 % auf 39 %
im Freiwilligensurvey bzw. von 9 % auf 15 % im 3.1.5 Subjektives Wohlbefinden
Alterssurvey (70 bis 85 Jahre). Dennoch ist zu kons­
tatieren, dass insgesamt eher eine Minderheit der Nicht allein die objektiven Lebensbedingungen
Älteren im Bereich des bürgerschaftlichen Enga­ sind relevant für die Beschreibung der Lebenssi­
gements aktiv ist [12]. In Zukunft wird es deshalb, tuation älter werdender und alter Menschen. Das
Gesundheit und Krankheit im Alter 119

subjektive Erleben der eigenen Lebenssituation Die hier dargestellten Befunde des Alterssur­
bestimmt das individuelle Wohlbefinden und ist veys belegen, dass das subjektive Wohlbefinden,
damit ein zentraler Bestandteil eines »guten« Le­ insbesondere die Zufriedenheit mit der eigenen
bens im Alter. Menschen in der zweiten Lebens­ Lebenssituation, bis ins fortgeschrittene Alter
hälfte äußern im Durchschnitt hohe Zufrieden­ hoch bleibt. Dies ist eine positive und optimis­
heit. Die Lebenszufriedenheit bleibt bis ins hohe tische Botschaft. Zugleich sollte hierbei nicht
Alter stabil [15]. Vergleicht man die Befragungser­ übersehen werden, dass die weitgehende Stabilität
gebnisse des Alterssurveys aus den Jahren 1996 der Lebenszufriedenheit in der zweiten Lebens­
und 2002, so kann man feststellen, dass sich hälfte nicht für alle Lebensbereiche gilt. Während
über die Zeit eine Annäherung zwischen Ost- die Beziehung zur eigenen Familie bis ins höhere
und Westdeutschland mit Blick auf das subjektive Lebensalter als gut bewertet wird, sinkt die Be­
Wohlbefinden vollzogen hat. Die Zufriedenheit wertung der Freizeitgestaltung und besonders die
von Menschen, die in den neuen Bundesländern Bewertung der eigenen Gesundheit ab (siehe Ab­
leben, erhöhte sich zwischen 1996 und 2002 stär­ bildung 3.1.5.1).
ker als bei Menschen, die in den alten Bundeslän­ Äußern Personen bis ins höhere Lebensal­
dern leben, wenngleich auch im Jahr 2002 noch ter eine hohe Lebenszufriedenheit, sollte folglich
Ost-West-Unterschiede bestanden. Eine Betrach­ nicht übersehen werden, dass einzelne Lebens­
tung des Wohlbefindens in unterschiedlichen so­ bereiche zunehmend schlechter bewertet werden
zialen Schichten macht deutlich, dass sich soziale und die mit dem Altern häufiger werdenden Ver­
Ungleichheit im Wohlbefinden widerspiegelt: luste widerspiegeln. Der an sich positiv zu bewer­
Personen niedriger sozialer Schichten haben eine tende Befund einer hohen Lebenszufriedenheit
geringere Lebenszufriedenheit als Personen hö­ auch im höheren Erwachsenenalter sollte deshalb
heren sozialer Schichten – ein Befund, der auch nicht dazu führen, dass ältere Menschen aus dem
aus anderen Studien bekannt ist [16]. Blickfeld sozialpolitischer Wachsamkeit geraten.

Abbildung 3.1.5.1
Bewertung einzelner Lebensbereiche im Altersgruppenvergleich
Quelle: Alterssurvey 2002

Lebensbewertungen (Mittelwert, Skala 1–5)


4,4

4,2

4,0

3,8

3,6

3,4 Gesundheit

3,2 Familie

3,0 Freizeit

2,8

2,6
40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80–85
Altersgruppe
120 Gesundheit und Krankheit im Alter

3.1.6 Resümee 7. Hoff A (2006) Intergenerationale Familienbezie­


hungen im Wandel. In: Tesch-Römer C, Engstler H,
Wurm S (Hrsg) Altwerden in Deutschland: Sozialer
Insgesamt kann man konstatieren, dass die Le­ Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten
benssituation älterer Menschen in Deutschland Lebenshälfte. VS Verlag, Wiesbaden, S 231 – 287
im Durchschnitt recht gut ist bzw. nahe am 8. Glatzer W (2001) Neue Wohnformen für Junge und
Alte. Haushaltstechnisierung in der Generationenpers­
Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegt. Den­
pektive. In: Schader-Stiftung (Hrsg) wohn: wandel.
noch wird deutlich, dass es auch im hohen Le­ Szenarien, Prognosen, Optionen zur Zukunft des
bensalter soziale Ungleichheit gibt. Zugleich sollte Wohnens. Schader-Stiftung, Darmstadt, S 216 – 227
aber nicht übersehen werden, dass Ältere heute 9. Mai R, Roloff J (2006) Zukunft von Potenzialen in
Paarbeziehungen älterer Menschen – Perspektive von
wie in Zukunft über Kompetenzen verfügen, die
Männern und Frauen. In: Deutsches Zentrum für
für die Gesellschaft wichtig sind. Dies zeigt sich Altersfragen (Hrsg) Gesellschaftliches und familiäres
besonders am Beispiel des bürgerschaftlichen Engagement älterer Menschen als Potenzial. LIT Ver­
Engagements und der gesellschaftlichen Partizi­ lag, Berlin, S 147 – 281
10. Gensicke T (2004) Freiwilliges Engagement in
pation. Bereits heute muss es darum gehen, die­
Deutschland 1999 bis 2004. Ergebnisse der repräsen­
se Potenziale, Fähigkeiten und Interessen älterer tativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenar­
Menschen stärker als bisher gesellschaftlich ein­ beit und bürgerschaftlichem Engagement. TNS Infra­
zubinden. test Sozialforschung (Hrsg), München
11. Kohli M, Künemund H (2001) Partizipation und En­
gagement älterer Menschen. Bestandsaufnahme und
Zukunftsperspektiven. In: Deutsches Zentrum für
Literatur Altersfragen (Hrsg) Expertisen zum Dritten Altenbe­
richt der Bundesregierung. Leske + Budrich, Opladen,
1. Mielck A (2003) Sozial bedingte Ungleichheit von Ge­ S 117 – 234
sundheitschancen. Zeitschrift für Sozialreform 49 (3): 12. Künemund H (2006) Partizipation und Engagement
370 – 375 älterer Menschen. In: Deutsches Zentrum für Alters­
2. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen fragen (Hrsg) Gesellschaftliches und familiäres Enga­
und Jugend (BMFSFJ) (2001) Alter und Gesellschaft. gement älterer Menschen als Potenzial. LIT Verlag,
Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Berlin, S 284 – 431
Bundesrepublik Deutschland. BMFSFJ (zugleich Bun­ 13. Schwarz N (1996) Ehrenamtliche Tätigkeiten und
destagsdrucksache 14/5130), Bonn soziale Hilfeleistungen. In: Bundesministerium für
3. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
und Jugend (BMFSFJ) (2002) Vierter Bericht zur (Hrsg) Zeit im Blickfeld Ergebnisse einer repräsen­
Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik tativen Zeitbudgeterhebung. Kohlhammer, Stuttgart,
Deutschland: Risiken, Lebensqualität und Versorgung S 169 – 178
Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung de­ 14. Menning S (2004) Die Zeitverwendung älterer Men­
mentieller Erkrankungen. BMFSFJ (zugleich Bundes­ schen und die Nutzung von Zeitpotenzialen für
tagsdrucksache 14/8822), Bonn informelle Hilfeleistungen und bürgerschaftliches
4. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen Engagement. Expertise im Auftrag der Sachverstän­
und Jugend (BMFSFJ) (2006) Fünfter Bericht zur digenkommission »5 Altenbericht der Bundesregie­
Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik rung«, Berlin
Deutschland: Potenziale des Alters in Wirtschaft und 15. Tesch-Römer C, Wurm S (2006) Veränderung des sub­
Gesellschaft – Der Beitrag älterer Menschen zum Zu­ jektiven Wohlbefindens in der zweiten Lebenshälfte.
sammenhalt der Generationen. BMFSFJ (zugleich In: Tesch-Roemer C, Engstler H, Wurm S (Hrsg) Alt­
Bundestagsdrucksache 16/2190), Bonn werden in Deutschland Sozialer Wandel und indivi­
5. Motel-Klingebiel A (2006) Materielle Lagen älterer duelle Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte. VS
Menschen – Verteilungen und Dynamiken in der Verlag, Wiesbaden, S 385 – 446
zweiten Lebenshälfte. In: Tesch-Römer C, Engstler H, 16. Bulmahn T (2002) Globalmaße des subjektiven Wohl­
Wurm S (Hrsg) Altwerden in Deutschland: Sozialer befindens. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg) Daten­
Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten report 2002 Zahlen und Fakten über die Bundesre­
Lebenshälfte. VS Verlag, Wiesbaden, S 155 – 230 publik Deutschland. Bundeszentrale für politische
6. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Si­ Bildung, Bonn, S 423 – 631
cherung (BMGS) (2005) Zweiter Armuts- und Reich­
tumsbericht. BMGS, Berlin
Gesundheit und Krankheit im Alter 121

3.2 Soziale Ungleichheit und Gesundheit im höheren Lebensalter


Thomas Lampert

Kernaussagen zugenommen haben, trotz steigender Lebenser­


wartung und besserem Gesundheitszustand der
1. Die Aussicht auf ein langes und gesundes Bevölkerung [4, 5]. In Deutschland fehlt es zwar
Leben ist nach Merkmalen wie Einkommen, an Daten, um zeitliche Entwicklungslinien nach­
Bildung oder Berufsstatus ungleich verteilt. zuzeichnen, angesichts der zu beobachtenden
2. Noch im höheren Lebensalter lässt sich ein Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse,
Zusammenhang zwischen der sozialen und die sich unter anderem an der Einkommens- und
gesundheitlichen Lage feststellen. Vermögensverteilung sowie an der Bildungsbe­
3. Das Ausmaß und Erscheinungsbild der ge­ teiligung festmachen lässt [6], ist aber eher von
sundheitlichen Ungleichheit im höheren Le­ einer Ausweitung als von einer Verringerung der
bensalter stellt sich bei Männern und Frauen sozialen Ungleichheit im Krankheits- und Sterbe­
ähnlich dar. geschehen auszugehen.
4. Neben unterschiedlichen materiellen Le­ In den letzten Jahren wird der Forschung zur
bensbedingungen und psychosozialen Belas­ gesundheitlichen Ungleichheit ein zunehmend
tungen dürften vor allem Unterschiede im höherer Stellenwert eingeräumt. Mit der Sozial­
Gesundheitsverhalten für die beobachtete epidemiologie hat sich inzwischen eine eigene
gesundheitliche Ungleichheit verantwortlich Fachrichtung etabliert, die sich schwerpunktmä­
sein. ßig mit dieser Thematik befasst [7]. Trotzdem
5. Im Zuge der demografischen Alterung und ist über das Ausmaß und Erscheinungsbild der
der Verbesserung des Gesundheitszustandes gesundheitlichen Ungleichheit bei älteren Men­
der Bevölkerung könnten sich die sozialen schen nur wenig bekannt [vgl. 8, 9]. Die Mehr­
Unterschiede im Krankheits- und Sterbege­ zahl der Studien konzentriert sich nach wie vor
schehen noch stärker vom mittleren ins hö­ auf die Bevölkerung im Erwerbsalter. Während
here Lebensalter verlagern. Kinder und Jugendliche seit einigen Jahren häu­
figer berücksichtigt werden, finden sich kaum
Untersuchungen, die ältere Menschen in den
3.2.1 Einleitung Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Ein Grund
hierfür dürfte sein, dass von den meisten So­
Obwohl Deutschland zu den reichsten Ländern zialepidemiologen die Arbeitswelt als zentraler
der Welt gehört und über sehr gut ausgebaute sozi­ Entstehungsort gesundheitlicher Ungleichheit
ale Sicherungssysteme verfügt, lässt sich ein enger erachtet wird und ältere Menschen in der Regel
Zusammenhang zwischen der sozialen und der nicht mehr erwerbstätig sind. Außerdem wird
gesundheitlichen Lage der Menschen feststellen. häufig davon ausgegangen, dass Krankheit und
Die Angehörigen statusniedriger Bevölkerungs­ Tod im höheren Lebensalter Alter primär biolo­
gruppen sind häufiger von chronischen Krank­ gische Ursachen haben und die Bedeutung sozi­
heiten und Beschwerden, Unfallverletzungen aler Faktoren nur gering ist. Die gerontologische
und Behinderungen betroffen. Sie beurteilen ihre Forschung belegt hingegen, dass der Prozess des
Gesundheit und ihr Wohlbefinden schlechter und Alterns interindividuell sehr unterschiedlich ver­
unterliegen einer höheren vorzeitigen Sterblich­ läuft und die Verfügung über sozioökonomische
keit als die Angehörigen vergleichsweise besser Ressourcen dabei eine wichtige Rolle spielt [10].
gestellter Gruppen [1, 2, 3]. Für Großbritannien Vor dem Hintergrund der demografischen Alte­
und die Vereinigten Staaten wird berichtet, dass rung bedeutet die Vernachlässigung der Älteren,
diese Unterschiede, die auch mit dem Begriff dass ein immer größerer Anteil der Bevölkerung
der gesundheitlichen Ungleichheit umschrie­ aus dem Blickfeld der sozialepidemiologischen
ben werden, in den letzten Jahrzehnten noch Forschung gerät und die erzielten Befunde zur
122 Gesundheit und Krankheit im Alter

gesundheitlichen Ungleichheit an Allgemeingül­ Gruppen leben zudem häufiger in kleinen und


tigkeit verlieren. schlecht ausgestatten Wohnungen. In ihrer Wohn­
Nachfolgend werden Ergebnisse von Ana­ umgebung sind sie stärkeren Luftverschmut­
lysen zur gesundheitlichen Ungleichheit in der zungen und Lärmbelastungen ausgesetzt [15]. In
älteren Bevölkerung vorgestellt, die auf Basis von Großbritannien und den Vereinigten Staaten wird
bundesweit repräsentativen Daten der Gesund­ auch auf die defizitäre medizinische Versorgung
heitssurveys des Robert Koch-Instituts und des benachteiligter Bevölkerungsgruppen hinge­
Sozio-oekonomischen Panels des Deutschen Ins­ wiesen. Aufgrund des hohen Standards des Ge­
tituts für Wirtschaftsforschung durchgeführt sundheitswesens und der auf dem Solidarprinzip
wurden. Außerdem wird auf Routinedaten der basierenden gesetzlichen Krankenversicherung
Gmünder Ersatzkasse zurückgegriffen, die zwar wird Unterschieden in der Verfügbarkeit medizi­
keine bevölkerungsbezogene Repräsentativität nischer Leistungen und Angebote in Deutschland
beanspruchen können, da die Mitgliederstruk­ eine geringere Bedeutung beigemessen [16, 17].
tur selektiv ist, dafür aber im Gegensatz zu den Mit wachsendem Interesse werden die mög­
meisten anderen Datengrundlagen eine Betrach­ lichen Langzeitfolgen materieller Benachteiligung
tung spezifischer Krankheitsbilder ermöglichen. in der Kindheit diskutiert. Schlechte Wohnbe­
Die Analysen richteten sich an der Fragestellung dingungen und hygienische Verhältnisse, schä­
aus, wie stark die gesundheitliche Ungleichheit digende Umgebungseinflüsse und eine man­
im höheren Lebensalter ausgeprägt ist und ob gelhafte Ernährung können die körperliche und
sich diesbezüglich Veränderungen im Altersgang geistige Entwicklung von Kindern nachhaltig be­
beobachten lassen. Außerdem wurde danach ge­ einflussen. Vermittelt über die Ernährungsweise
fragt, ob in dieser Hinsicht geschlechtsspezifische und das Rauchverhalten der Mutter während der
Unterschiede festzustellen sind. Vorab werden Schwangerschaft kann sich eine benachteiligte Le­
forschungsleitende Hypothesen formuliert und benslage bereits auf das Wachstum des Fötus aus­
dazu von den vorhandenen Erkenntnissen zu den wirken. In Großbritannien durchgeführte Studien
Ursachen der gesundheitlichen Ungleichheit und sprechen dafür, dass Armut in der Kindheit die
deren Veränderung im Alternsverlauf ausgegan­ Auftretenswahrscheinlichkeit von z. B. kardiovas­
gen. kulären und Atemwegserkrankungen im Erwach­
senenalter begünstigt [18, 19, 20]. In jedem Fall
bedeuten Armutsbedingungen einen schlechten
3.2.2 Erkenntnisse über die Ursachen der Start ins Leben und vermindern die Gesundheits­
gesundheitlichen Ungleichheit chancen im weiteren Lebensverlauf [21].
Psychosoziale Belastungen werden in der
Sozioökonomische Unterschiede in der Morbidi­ Sozialepidemiologie zumeist im Zusammenhang
tät und Mortalität werden vor allem auf ungleiche mit kritischen Lebensereignissen oder mit dauer­
materielle Lebensbedingungen, psychosoziale haft erschwerten Lebensumständen untersucht.
Belastungen, gesundheitsbezogene Einstellungen Kritische Lebensereignisse wie der Verlust der
und Verhaltensmuster sowie personale und so­ Arbeitsplatzes oder der Tod des Ehepartners ma­
ziale Ressourcen zurückgeführt [11, 12, 13]. Im chen die Anpassung an eine veränderte Lebenssi­
Zusammenhang mit den materiellen Lebensbe­ tuation erforderlich und können physiologische
dingungen wird neben Auswirkungen von Ar­ Stressreaktionen auslösen, die die Auftretens­
mut unter anderem die Situation am Arbeitsplatz wahrscheinlichkeit von kardiovaskulären und
diskutiert. Eine niedrige berufliche Stellung geht infektiösen Erkrankungen erhöhen [22, 23]. Dau­
mit stärkeren arbeitsbezogenen Gesundheitsge­ erhafte Belastungen infolge von z. B. beruflichen
fährdungen einher, die z. B. durch schwere kör­ Gratifikationskrisen, finanziellen Engpässen oder
perliche Arbeit, Nacht- und Schichtarbeit, mo­ familiären Konflikten werden oftmals von langan­
notone Arbeitsabläufe, Unfallgefahren oder den haltenden Stressreaktionen begleitet, die ebenfalls
Umgang mit toxischen und karziogenen Stoffen die Entwicklung von Herz-Kreislauf- und Infek­
und Substanzen hervorgerufen werden [14]. Die tionskrankheiten sowie von Krankheiten der Ver­
Angehörigen sozioökonomisch benachteiligter dauungsorgane unterstützen [24, 25].
Gesundheit und Krankheit im Alter 123

Sozioökonomische Unterschiede im gesund­ Sterbegeschehen im fortgeschrittenen Alter zu­


heitsrelevanten Verhalten lassen sich für den kommt. Anknüpfungspunkte bieten hier einzel­
Tabak- und Alkoholkonsum empirisch belegen ne in der Gerontologie und Lebenslaufsforschung
[26, 27, 28]. Daneben dürften Unterschiede in der diskutierte Annahmen über das Zusammenspiel
Ernährungsweise und in der körperlichen Akti­ von physiologischen, sozialen und verhaltensbe­
vität zu den beobachteten sozioökonomischen zogenen Veränderungen im Alternsverlauf.
Unterschieden in der Morbidität und Mortalität Aus der Lebenslaufsperspektive lässt sich die
beitragen [29, 30]. Das Gesundheitsverhalten ist Annahme vertreten, dass die Auswirkungen von
in engem Zusammenhang mit gesundheitsbezo­ Gesundheitsrisiken und -ressourcen umso stär­
genen Einstellungen zu sehen. Die Angehörigen ker sind, je länger sie wirksam waren (»Kumu­
statusniedriger Gruppen weisen seltener eine lations-These«). Mit zunehmendem Alter nimmt
langfristige Gesundheitsorientierung auf und die mögliche Expositions- und Wirkungsdauer
messen der Gesundheit einen niedrigeren Stel­ zu und gesundheitsrelevante Einflüsse kumu­
lenwert bei als die Angehörigen besser gestellter lieren [20, 35]. Beim Rauchen kann sogar davon
Gruppen, was sich auch in einer geringeren Inan­ ausgegangen werden, dass die Auftretenswahr­
spruchnahme von Angeboten und Leistungen des scheinlichkeit von Herz-Kreislauf- und Atem­
Gesundheitswesens niederschlägt [2]. wegserkrankungen mit der Dauer der Exposition
Schließlich könnte die ungleiche Verteilung exponentiell ansteigt. Einige Mechanismen sind
von personalen und sozialen Ressourcen dazu bei­ allerdings an bestimmte Lebensphasen geknüpft.
tragen, dass die Angehörigen sozioökonomisch Zu denken ist beispielsweise an gesundheitsge­
benachteiligter Bevölkerungsgruppen einer hö­ fährdende Arbeitsbedingungen, denen man nach
heren Mortalität unterliegen. Zu den persona­ dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht
len Ressourcen, die dabei von Bedeutung sein länger ausgesetzt ist. Auch wenn langfristige und
dürften, zählen gesundheitsbezogene Kontroll­ zeitversetzte Auswirkungen möglich sind, dürfte
überzeugungen, das Selbstwertgefühl und der sich mit dem zeitlichen Abstand zur Exposition
Kohärenzsinn [31]. Dass soziale Ressourcen, wie der Einfluss auf die Gesundheit vermindern. In
z. B. die Integration in vertrauensbasierte soziale Bezug auf die Gesundheitschancen und Krank­
Netzwerke und die Unterstützung durch naheste­ heitsrisiken der sozioökonomischen Gruppen
hende Personen, einen gesundheitsschützenden legt die »Kumulations-These« nichtsdestotrotz
Einfluss haben, wird inzwischen durch zahlreiche eine mit der Dauer der Lebenszeit zunehmende
Studien belegt [32, 33]. Soziale und personale Res­ Ungleichheit nahe.
sourcen vermindern nicht nur die Exposition Die so genannte »Double-Jeopardy-These«
gegenüber stressauslösenden Ereignissen und [36, 37] geht davon aus, dass mit dem Altern einher­
Situationen, sie beeinflussen auch die Stresswahr­ gehende Verluste und Einbußen die Angehörigen
nehmung und Stressbewältigung. Daneben kann sozioökonomisch benachteiligter Bevölkerungs­
von positiven Einflüssen auf das Gesundheitsver­ gruppen stärker oder zumindest früher betreffen.
halten, das psychosoziale Wohlbefinden und den Bezug genommen wird unter anderem auf den
Umgang mit Krankheiten ausgegangen werden Verlust sozialer Rollen, den Tod nahestehender
[33, 34]. Personen oder das verstärkte Auftreten von chro­
nischen Krankheiten und Beschwerden. Zudem
wird vorausgesetzt, dass die sozial Benachteiligten
3.2.3 Hypothesen zur Veränderung der gesund­ über geringere personale und soziale Ressourcen
heitlichen Ungleichheit im Alternsverlauf verfügen, um daraus erwachsende Probleme und
Nachteile zu bewältigen oder zu kompensieren.
Mit Blick auf alte und sehr alte Menschen ist da­ Auch vor diesem Hintergrund wäre also eine Zu­
nach zu fragen, welche Bedeutung der ungleichen nahme der gesundheitlichen Ungleichheit im ho­
Verteilung von materiellen Lebensbedingungen, hen Alter zu erwarten.
psychosozialen Belastungen, gesundheitsrele­ Eine genau entgegengesetzte Schlussfolge­
vanten Verhaltensweisen sowie personalen und rung wird durch die »Age-as-a-Leveler-These«
sozialen Ressourcen für das Krankheits- und nahegelegt [36]. Die Gesundheit im Alter wird in
124 Gesundheit und Krankheit im Alter

erster Linie als Resultat endogener Alternspro­ Age-as-a-Leveler-These, die altersbedingte Abnah­
zesse gesehen, in deren Folge sich die organischen me bestimmter, vor allem mit der Erwerbsarbeit
Kapizitätsreserven vermindern und die Vulnera­ verbundener Gesundheitsgefahren, sowie Pro­
bilität und Krankheitsanfälligkeit des mensch­ zesse des selektiven Überlebens. Die dritte Hypo­
lichen Organismus zunimmt. Altersspezifische these unterstellt, dass sich das sozial differenzielle
physiologische Veränderungen und pathologische Krankheits- und Sterbegeschehen im Alternsver­
Prozesse können zwar interindividuell unter­ lauf umkehrt und im hohen Alter die Angehörigen
schiedlich ausgeprägt sein und verlaufen, im sehr statusniedriger Bevölkerungsgruppen einem ge­
hohen Alter – so die Annahme – verringert sich ringeren Krankheits- bzw. Sterberisiko unterliegen
die Variationsbreite aber zusehends. Mit Blick auf als die Angehörigen besser gestellter Gruppen.
das Krankheits- und Sterbegeschehen im hohen Dies ließe sich als starker Hinweis auf Prozesse
Alter wird darauf verwiesen, dass extreme Lang­ des selektiven Überlebens interpretieren. Die
lebigkeit bestimmte genetische Dispostionen vierte Hypothese bezieht sich auf die Möglichkeit,
voraussetzt [38], die unabhängig von sozioöko­ dass der Einfluss sozialer Ungleichheit auf die
nomischen Merkmalen verteilt sind. Aufgrund Gesundheit konstant bleibt, entweder weil die im
dessen wird angenommen, dass sozioökonomi­ mittleren Lebensalter wirksamen Mechanismen
sche Unterschiede im Krankheits- und Sterbege­ und Prozesse sich als stabil erweisen bzw. sich
schehen von Hochbetagten allenfalls sehr schwach nachhaltig auswirken oder weil die zuvor genann­
zutage treten. ten, gegenläufigen Prozesse sich ausgleichen.
Die Erwartung einer Angleichung des Ster­
begeschehens im hohen Alter wird bisweilen
auch mit Prozessen des selektiven Überlebens 3.2.4 Krankheiten und Beschwerden
(»selective survival«) begründet [39, 40]. Da die
vorzeitige Sterblichkeit in benachteiligten Be­ Im höheren Lebensalter treten viele Krankheiten
völkerungsgruppen stärker ausgeprägt ist und und Beschwerden vermehrt auf (vgl. hierzu Ka­
vermutlich vor allem vulnerable und kranke Per­ pitel 2.1). Aussagen über die Bedeutung von so­
sonen betrifft, könnten die sozial Benachteiligten zialen Unterschieden im Krankheitsgeschehen
im fortgeschrittenen Alter eine in Bezug auf Ge­ lassen sich anhand von Daten der Gmünder Er­
sundheit und fernere Lebenserwartung stärker satzkasse (GEK) treffen. Dazu kann unter ande­
positiv selektierte Gruppe darstellen. Für möglich rem zwischen den Pflichtversicherten und den
gehalten wird sogar, dass die Angehörigen der ökonomisch deutlich besser gestellten freiwillig
sozial benachteiligten Gruppen infolge dieses Versicherten unterschieden werden – die Beitrags­
Selektionsprozesses im sehr hohen Alter einem bemessungsgrenze, die über den Versichertensta­
geringeren Mortalitätsrisiko unterliegen als dieje­ tus in der GKV entscheidet, lag im Jahr 2003 bei
nigen aus den sozial besser gestellten Gruppen, es 41.400 Euro. Der verfügbare Datensatz erlaubt al­
also zu einer Umkehr der Ungleichheit im Krank­ lerdings nur eine Betrachtung der 40- bis 69-jäh­
heits- und Sterbegeschehen kommt (»mortality rigen Hauptversicherten. Im Auftreten eines
crossover«; [41]). Herzinfarktes zeigen sich, gemessen an der ku­
Aufgrund der vorangestellten Überlegungen mulierten Morbiditätsrate im Zeitraum 1990 bis
werden vier Hypothesen zur Veränderung sozio­ 2003, in der Altersgruppe der 40- bis 49-Jährigen
ökonomischer Mortalitätsdifferenzen im Alterns­ keine signifikanten Unterschiede, bei den 50- bis
verlauf formuliert. Die erste Hypothese besagt, 59-Jährigen zeichnen sie sich nur relativ schwach
dass sich der Einfluss des sozioökonomischen ab, während sie bei den 60- bis 69-Jährigen einen
Status auf die Morbidität und Mortalität im fort­ deutlichen Niederschlag finden (siehe Abbildung
geschrittenen Alter verstärkt. Diese Annahme 3.2.4.1). Bei Männern ist die Morbiditätsrate der
wird vor allem durch die Kumulations- und die Pflichtversicherten am Ende des Beobachtungs­
Double-Jeopardy-These unterstützt. Gemäß der zeitraums in der betrachteten Altersspanne um
zweiten Hypothese ist von einer Verringerung etwa den Faktor 1,3 erhöht, bei Frauen, die in die­
der gesundheitlichen Ungleichheit im höheren sem Alter insgesamt seltener als Männer einen
Lebensalter auszugehen. Hierfür sprechen die Herzinfarkt erleiden, sogar um den Faktor 3.
Gesundheit und Krankheit im Alter 125

Abbildung 3.2.4.1
Kumulierte Morbiditätsrate für Herzinfarkt bei 60- bis 69-jährigen GEK-Mitgliedern
des Jahres 1990 nach Versicherungsstatus und Geschlecht
Quelle: Gmünder Ersatzkassen 1990 bis 2003 [42]
Morbiditätsrate
0,012

0,010

0,008

0,006

0,004

0,002

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Beobachtungsjahre seit 1990

Freiwillig versicherte Frauen Freiwillig versicherte Männer


Pflichtversicherte Frauen Pflichtversicherte Männer

Bei Männern lassen sich außerdem Unter­ pflichtversicherten im Vergleich zu den freiwillig
schiede im Auftreten von Lungenkrebs beobach­ versicherten Männern etwa um den Faktor 2 er­
ten. Die Unterschiede zwischen den Pflicht- und höht.
freiwillig Versicherten zeichnen sich bereits in Soziale Unterschiede im Vorkommen von
den Altersgruppen der 40- bis 49-Jährigen und körperlichen Beschwerden lassen sich mit Daten
50- bis 59-Jährigen ab, treten aber bei den 60- bis der Gesundheitssurveys des Robert Koch-Ins­
69-Jährigen am deutlichsten hervor. Für Frauen titutes untersuchen. Im telefonischen Gesund­
lassen sich im Hinblick auf Lungenkrebs und an­ heitssurvey 2003 wurde u. a. danach gefragt, ob
dere relativ selten vorkommende Krankheiten kei­ in den vorausgegangen vier Wochen Schmerzen
ne vergleichende Aussagen treffen, da die Fallzahl aufgetreten sind und wie stark diese waren. Bei
für die freiwillig Versicherten zu gering sind – die Männern im Alter von 50 bis 59 Jahren zeigten
GEK hat weitaus mehr männliche als weibliche sich keine Unterschiede nach dem sozialen Sta­
Mitglieder und der Anteil der freiwillig Versicher­ tus, der über Angaben zum Bildungsniveau, zur
ten beläuft sich bei Frauen auf lediglich 8 %. beruflichen Stellung und zum Haushaltsnettoein­
Auch in Bezug auf das Auftreten einer Le­ kommen gemessen wurde [43, 44]. In der Grup­
berzirrhose lässt sich mit den GEK-Daten nur für pe der 60- bis 69-Jährigen waren Männer aus
Männer eine vergleichende Betrachtung anstellen. der niedrigsten Statusgruppe hingegen zweimal
Ähnlich wie bei Lungenkrebs zeigen sich die Un­ häufiger von starken bis sehr starken Schmerzen
terschiede nach dem Versicherungsstatus in allen betroffen als Männer aus der höchsten Statusgrup­
drei betrachteten Altersgruppen, bei den 60- bis pe. Bei 70-jährigen und älteren Männern betrug
69-Jährigen sind sie aber am stärksten ausgeprägt. dieses Verhältnis sogar 3:1. Bei Frauen zeigte sich
Am Ende des dreizehnjährigen Beobachtungszeit­ sehr starke statusspezifische Unterschiede in den
raumes ist die kumulierte Morbiditätsrate bei den Gruppen der 50- bis 59- und 60- bis 69-Jährigen.
126 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 3.2.4.2
Auftreten starker oder sehr starker Schmerzen in den letzten vier Wochen nach sozialem Status, Alter und Geschlecht
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003
Prozent
25
Frauen Männer
20

15
Sozialstatus

niedrig
10
mittel

5 hoch

50–59 60–69 70+ 50–59 60–69 70+

Altersgruppe

Im höheren Alter hingegen variierte das Schmerz­ der 70-Jährigen und Älteren sind Erfahrungen
vorkommen nicht mit dem sozialen Status (siehe mit Schwindel allerdings in der niedrigen Status­
Abbildung 3.2.4.2). gruppe verbreiteter als in der hohen Statusgruppe
Separat lässt sich das Auftreten von chro­ (41,1 % gegenüber 31,1 %). Bei Frauen zeigt sich
nischen Rückenschmerzen und Schwindelgefüh­ sowohl in der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen
len betrachten. Dass sie schon einmal drei Monate als auch der 70-Jährigen und Älteren in der nied­
oder länger Rückenschmerzen hatten, wurde von rigen Statusgruppe eine höhere Betroffenheit als
38,7 % der 50- bis 59-jährigen Männer aus der in der hohen Statusgruppe (36,9 % gegenüber
niedrigen und 25,3 % der gleichaltrigen Männer 29,2 % bzw. 50,5 % gegenüber 39,4 %).
aus der hohen Statusgruppe angegeben. In der
Gruppe der 70-Jährigen und Älteren traf dies mit
26,3 % im Vergleich zu 34,1 % auf etwas weniger 3.2.5 Gesundheitsverhalten und Risikofaktoren
Männer der niedrigen als der hohen Statusgrup­
pe zu. Bei Frauen stellen sich die Altersvaria­ Viele der Krankheiten und Beschwerden, die im
tionen anders dar: Unter den 50- bis 59-Jährigen höheren Lebensalter vermehrt auftreten, stehen
liegt die Lebenszeitprävalenz von chronischen Rü­ im Zusammenhang mit verhaltenskorrelierten Ri­
ckenschmerzen in der niedrigen Statusgruppe mit sikofaktoren. Eine besondere Bedeutung kommt
47,6 % gegenüber 27,7 % deutlich höher als in der dabei dem Rauchen, Bewegungsmangel und
hohen Statusgruppe. Unter den 70-jährigen und starkem Übergewicht (Adipositas) zu. Dass diese
älteren Frauen fällt dieser Unterschiede mit 45,6 % Risikofaktoren einem statusspezifischen Vertei­
gegenüber 27,9 % annähernd gleich groß aus. lungsmuster folgen, lässt sich erneut mit Daten
Von mäßig starkem oder starkem Schwin­ des telefonischen Gesundheitssurveys 2003 zei­
del waren 19,4 % der 50- bis 59-jährigen Männer gen.
mit niedrigem Sozialstatus jemals betroffen. Von Im Allgemeinen gilt: Je niedriger der soziale
den gleichaltrigen Männern aus der hohen Sta­ Status, desto höher ist die Risikoexposition (sie­
tusgruppe trifft dies auf 18,0 % und damit auf he Tabelle 3.2.5.1). Bei Männern zeichnet sich
einen ähnlich hohen Anteil zu. In der Gruppe ein kontinuierliches Statusgefälle allerdings nur
Gesundheit und Krankheit im Alter 127

Tabelle 3.2.5.1
Aktuelles Rauchen, sportliche Inaktivität und Adipositas nach sozialem Status, Alter und Geschlecht
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003

Rauchen sportliche Inaktivität Adipositas


(aktuell) (< 1-mal pro Woche) (BMI > 30)
Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer
50 – 59 Jahre
niedriger Sozialstatus 35,4 % 43,5 % 50,8 % 54,0 % 45,9 % 36,1 %
mittlerer Sozialstatus 29,4 % 34,8 % 35,8 % 43,4 % 29,2 % 27,9 %
hoher Sozialstatus 25,2 % 24,5 % 28,6 % 28,7 % 13,6 % 20,0 %
60 – 69 Jahre
niedriger Sozialstatus 14,9 % 34,8 % 43,4 % 65,2 % 48,1 % 30,6 %
mittlerer Sozialstatus 16,4 % 19,3 % 34,4 % 42,5 % 30,7 % 22,3 %
hoher Sozialstatus 11,3 % 16,4 % 27,7 % 36,9 % 19,1 % 20,4 %
70 Jahre und älter
niedriger Sozialstatus 6,9 % 26,8 % 63,6 % 58,9 % 42,6 % 21,8 %
mittlerer Sozialstatus 8,7 % 14,7 % 53,7 % 52,9 % 30,4 % 28,5 %
hoher Sozialstatus 1,5 % 11,1 % 43,8 % 52,7 % 16,4 % 16,0 %

in der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen ab. 3.2.6 Subjektive Gesundheit und
Unter den 60- bis 69-Jährigen ist eine stärkere gesundheitsbezogene Lebensqualität
Verbreitung des Rauchens und der körperlichen
Inaktivität in der niedrigen im Vergleich zur ho­ Die soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen
hen Statusgruppe zu beobachten. In der Gruppe könnte sich in der subjektiven Gesundheit und
der 70-Jährigen und Älteren fällt vor allem der gesundheitsbezogenen Lebensqualität in beson­
höhere Anteil an Rauchern in der niedrigen Sta­ derem Maße widerspiegeln, da diese auch von
tusgruppe auf. Für das Rauchen sind demnach im individuellen Einstellungen, Wahrnehmungen
Altersgang relativ stabile Ungleichheitsrelationen und Bewertungen abhängen und angenommen
festzustellen, während sich insbesondere bei der werden kann, dass sozial benachteiligte Bevölke­
sportlichen Inaktivität eine Verringerung der sozi­ rungsgruppen nicht nur stärker von Krankheiten
alen Unterschiede im höheren Alter zeigt. und Beschwerden betroffen sind, sondern auch
Auch für Frauen sind statusspezifische Un­ über geringere personale und soziale Ressourcen
terschiede der Exposition gegenüber den betrach­ verfügen, um diese zu bewältigen ([2]; vgl. auch
teten Risikofaktoren festzustellen, die sogar noch Kapitel 2.3).
stärker als bei Männern ausgeprägt sind. Dies gilt Mit Daten des telefonischen Gesundheits­
insbesondere für die Verbreitung von Adipositas. surveys 2003 lässt sich zeigen, dass Männer und
Beim Rauchen fällt auf, dass die sozialen Unter­ Frauen mit niedrigem sozialem Status zu einem
schiede im höheren Lebensalter zunehmen, was deutlich geringeren Anteil ihren allgemeinen Ge­
allerdings vor dem Hintergrund des insgesamt sundheitszustand als sehr gut oder gut bewerten.
relativ geringen Tabakkonsum in diesem Alter zu Besonders groß ist der Abstand zu den Angehöri­
sehen ist. Dass Frauen mit niedrigem sozialem gen der hohen Statusgruppe. Da sich aber auch ge­
Status seltener Sport treiben als Frauen mit ho­ genüber der mittleren Statusgruppe signifikante
hem sozialem Status, zeigt sich in allen betrachte­ Unterschiede feststellen lassen, kann von einem
ten Altersgruppen in ähnlicher Weise. Statusgradienten gesprochen werden. Sehr stark
128 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 3.2.6.1
Sehr guter oder guter allgemeiner Gesundheitszustand nach sozialem Status, Alter und Geschlecht
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003

Prozent
90
Frauen Männer
80

70

60

50

40 Sozialstatus

niedrig
30
mittel
20 hoch

10

50–59 60–69 70+ 50–59 60–69 70+


Altersgruppe

ist dieser bei den 50- bis 59-Jährigen und auch den einträchtigungen des psychischen Wohlbefindens
60- bis 69-Jährigen ausgeprägt. Bei den 70-Jäh­ beziehen sich auf seelische Probleme, z. B. Angst,
rigen und Älteren fällt er schwächer aus, zumin­ Niedergeschlagenheit oder Reizbarkeit. Die emoti­
dest der Unterschied zwischen der niedrigen und onale Rollenfunktion wird als beeinträchtigt ange­
hohen Statusgruppe bleibt aber bedeutsam (siehe sehen, wenn persönliche oder seelische Probleme
Abbildung 3.2.6.1). die Ausübung normaler alltäglicher Tätigkeiten
Um Aussagen zur gesundheitsbezogenen erschweren.
Lebensqualität treffen zu können, wurde im te­ Bei Betrachtung von Beeinträchtigungen, die
lefonischen Gesundheitssurvey 2003 der SF-8 von den Befragten selbst als ziemlich stark oder
(Short Form Questionnaire) eingesetzt. Dieses stark bewertet werden, zeigt sich in der Tendenz,
Instrument misst mit Bezug auf die letzten vier dass die Angehörigen der niedrigen Statusgruppe
Wochen vor der Befragung Beeinträchtigungen stärker betroffen sind als diejenigen der hohen
in acht Dimensionen der gesundheitsbezogenen Statusgruppe (siehe Tabelle 3.2.6.1). Sowohl bei
Lebensqualität, unter anderem der körperlichen Männern als auch bei Frauen findet sich jedoch
Funktionsfähigkeit, des psychischen Wohlbefin­ kein klares Muster in Bezug auf die Veränderung
dens und der emotionalen Rollenfunktion [45, im höheren Alter.
46]. Von einer Beeinträchtigung der körperlichen
Funktionsfähigkeit wird ausgegangen, wenn Pro­
bleme mit der körperlichen Gesundheit zu einer
Einschränkung bei normalen Tätigkeiten, wie z. B.
zu Fuß gehen oder Treppensteigen, führen. Be­
Gesundheit und Krankheit im Alter 129

Tabelle 3.2.6.1
Beeinträchtigungen der gesundheitsbezogene Lebensqualität (»stark« oder »ziemlich stark«)
in den letzten 4 Wochen nach sozialem Status, Alter und Geschlecht
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003

körperliche psychisches emotionale


Funktionsfähigkeit Wohlbefinden Rollenfunktion
Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer
50 – 59 Jahre
niedriger Sozialstatus 13,8 % 8,1 % 15,2 % 11,3 % 7,7 % 11,5 %
mittlerer Sozialstatus 8,3 % 8,2 % 11,9 % 7,5 % 5,8 % 7,5 %
hoher Sozialstatus 6,4 % 7,3 % 7,9 % 8,2 % 4,0 % 2,4 %
60 – 69 Jahre
niedriger Sozialstatus 11,4 % 12,2 % 10,7 % 8,9 % 6,1 % 3,4 %
mittlerer Sozialstatus 8,2 % 8,5 % 9,3 % 4,6 % 3,4 % 2,6 %
hoher Sozialstatus 7,1 % 7,7 % 6,1 % 1,9 % 4,3 % 3,9 %
70 Jahre und älter
niedriger Sozialstatus 14,4 % 12,5 % 16,5 % 3,6 % 5,8 % 5,4 %
mittlerer Sozialstatus 17,3 % 8,1 % 10,1 % 3,6 % 6,0 % 4,5 %
hoher Sozialstatus 6,7 % 5,9 % 2,9 % 2,2 % 2,2 % 3,9 %

3.2.7 Lebenserwartung 150 % und mehr des mittleren Netto-Äqui­


valenzeinkommens.
Das häufigere Auftreten von Krankheiten, Be­ Für den Beobachtungszeitraum lässt sich
schwerden und Risikofaktoren in den unteren zeigen, dass Männer und Frauen, die einem Ar­
Statusgruppen korrespondiert mit einer ge­ mutsrisiko unterliegen, ein im Verhältnis zur
ringeren Lebenserwartung. Aufschluss hierüber höchsten Einkommensgruppe um das 2,7- bzw.
gibt eine Studie zu Einkommensunterschieden 2,4-fache erhöhte Mortalitätsrisiko haben. In der
in der Lebenserwartung, die auf Daten des Sozio­ Folge erreichen 31,0 % der Männer und 16,0 % der
oekonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren Frauen aus der Armutsrisikogruppe gar nicht erst
1995 bis 2005 basiert [47]. Als Einkommens­ das 65. Lebensjahr. Bei Männern und Frauen aus
indikator wurde das sogenannte Netto-Äqui­ der höchsten Einkommensgruppe liegt der Anteil
valenzeinkommen betrachtet, das die Größe und der vorzeitig Verstorbenen mit 13,0 % bzw. 7,0 %
Zusammensetzung des Haushaltes und damit deutlich niedriger (siehe Abbildung 3.2.7.1).
Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften Die Einkommensunterschiede kommen auch
in einem Mehrpersonenhaushalt berücksich­ in der Lebenserwartung zum Ausdruck, wobei ne­
tigt. Als arm oder armutsgefährdet gelten gemäß ben der allgemeinen auch die gesunde Lebenser­
einer auf EU-Ebene erzielten Vereinbarung Per­ wartung betrachtet wurde (siehe Tabellen 3.2.7.1
sonen in Haushalten, deren Netto-Äquivalenz­ und 3.2.7.2). Als gesund wurden die Lebensjahre
einkommen weniger als 60 % des Mittelwertes erachtet, die bei sehr gutem oder gutem selbst
(Median) aller Personen beträgt. Für die Analy­ eingeschätzten allgemeinen Gesundheitszustand
sen wurden vier weitere Einkommensgruppen verbracht werden. Im Zeitraum 1995 bis 2005 be­
gebildet, um auch Unterschiede in der Lebens­ trug die mittlere Lebenserwartung bei Geburt für
erwartung oberhalb dieser Armutsrisikogrenze Männer 75,3 und für Frauen 81,3 Jahre. Die Diffe­
erfassen zu können: 60 % bis unter 80 %, 80 % renz zwischen der höchsten und niedrigsten Ein­
bis unter 100 %, 100 % bis unter 150 % sowie kommensgruppe machte bei Männern 10,8 Jahre
130 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 3.2.7.1
Vorzeitige Sterblichkeit von Männern und Frauen vor einem Alter von 65 Jahren nach Einkommen
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel und Periodensterbetafel 1995 bis 2005 [47]

Prozent
35
Frauen Männer
30

25

20

15

10

0–60% 60–80% 80–100% 100–150% >150% 0–60% 60–80% 80–100% 100–150% >150%
Einkommen

und bei Frauen 8,4 Jahre aus. Männer und Frauen, mensunterschiede einen deutlichen Niederschlag.
die das 65. Lebensjahr erreicht haben, konnten Von Geburt an lässt sich der Abstand zwischen der
damit rechnen, 15,7 bzw. 19,3 weitere Jahre zu le­ höchsten und der niedrigsten Einkommensgrup­
ben. Im Vergleich zwischen dem oberen und dem pe bei Männern mit 14,3 und bei Frauen mit 13,3
unteren Ende der Einkommensverteilung ergibt Jahre beziffern. Die Einkommensunterschiede in
sich bei Männern eine Differenz von 7,4 und bei der gesunden Lebenserwartung ab dem Alter von
Frauen eine Differenz von 6,3 Jahren. Auch in der 65 Jahren betragen 5,9 Jahren bei Männern und
gesunden Lebenserwartung finden die Einkom- 5,0 Jahren bei Frauen.

Tabelle 3.2.7.1
Lebenserwartung von Männern bei Geburt und ab einem Alter von 65 Jahren
nach Einkommen (Angaben in Jahren)
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel und Periodensterbetafeln 1995 bis 2005 [47]

Lebenserwartung gesunde Lebenserwartung


bei Geburt ab 65 Jahre bei Geburt ab 65 Jahre
Einkommensgruppen
< 60 % 70,1 12,3 56,8 10,5
60 – 80 % 73,4 14,4 61,2 12,5
80 – 100 % 75,2 15,6 64,5 13,7
100 – 150 % 77,2 17,0 66,8 14,8
> 150 % 80,9 19,7 71,1 16,4
Gesamt 75,3 15,7 64,8 13,6
Gesundheit und Krankheit im Alter 131

Tabelle 3.2.7.2
Lebenserwartung von Frauen bei Geburt und ab einem Alter von 65 Jahren
nach Einkommen (Angaben in Jahren)
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel und Periodensterbetafeln 1995 bis 2005 [47]

Lebenserwartung gesunde Lebenserwartung


bei Geburt ab 65 Jahre bei Geburt ab 65 Jahre
Einkommensgruppen
< 60 % 76,9 16,2 60,5 13,4
60 – 80 % 81,9 19,8 66,2 16,6
80 – 100 % 82,0 19,9 68,7 17,0
100 – 150 % 84,4 21,8 71,4 18,4
> 150 % 85,3 22,5 73,8 18,4
Gesamt 81,3 19,3 68,5 16,4

3.2.8 Diskussion des Lebensstils bei Frauen weniger deutlich als bei
Männern in den Gesundheitschancen und Krank­
Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass auch in heitsrisiken widerspiegelt (hierzu z. B. [1]).
der älteren Bevölkerung ein enger Zusammen­ Bei der Einordnung der Ergebnisse ist aller­
hang zwischen der sozialen und gesundheitlichen dings zu berücksichtigen, dass sich der Alters­
Lage besteht. Dies lässt sich sowohl im Hinblick gruppenvergleich nur bis zu den 70-Jährigen
auf Krankheiten, Beschwerden und Risikofak­ und Älteren erstreckte und die Hochbetagten in
toren als auch in Bezug auf die subjektive Ge­ dieser Gruppe unterrepräsentiert sind. Eine An­
sundheit, gesundheitsbezogene Lebensqualität gleichung, Nivellierung oder gar Umkehrung
und fernere Lebenserwartung feststellen. Dabei der sozialen Unterschiede im Krankheits- und
finden sich nur wenige Anhaltspunkte dafür, dass Sterbegeschehen wird wahrscheinlich erst am
die gesundheitliche Ungleichheit in der älteren Übergang vom dritten zum vierten Lebensalter,
Bevölkerung wesentlich schwächer ausgeprägt ist also etwa ab dem 85. Lebensjahr sichtbar. Dies
als in der Bevölkerung im mittleren Lebensalter. dürfte zumindest für die im Todesursachenspek­
Zwar ist in einigen Bereichen im fortgeschrittenen trum vorherrschenden Krankheiten und diesen
Alter eine Verringerung der sozialen Unterschiede zugrunde liegende Risikofaktoren gelten, da die­
festzustellen, so z. B. bei der Selbsteinschätzung se den Prozess des selektiven Überlebens steu­
des allgemeinen Gesundheitszustandes, in an­ ern. Auch die internationalen Befunde sprechen
deren Bereichen wie der Verbreitung von chro­ dafür, dass die gesundheitliche Ungleichheit in
nischen Krankheiten und verhaltenskorrelierten den ersten Jahren nach dem Übergang in den
Risikofaktoren erweisen sich die Unterschiede Ruhestand erhalten bleibt und sich erst bei den
aber als relativ stabil oder sie nehmen sogar Hochbetagten nicht mehr beobachten lässt. Mit
noch zu. Auch die sozialen Unterschiede in der den in Deutschland vorhandenen Daten ist eine
ferneren Lebenserwartung sind stark ausgeprägt Analyse des sozial differenziellen Krankheits- und
und fallen proportional noch größer aus als die Sterbegeschehens in der Gruppe der sehr alten
sozialen Unterschiede in der Lebenserwartung Menschen nicht möglich. Die vorgestellten Er­
bei Geburt. Darüber hinaus ist bemerkenswert, gebnisse zeigen somit, dass die gesundheitliche
dass die gesundheitliche Ungleichheit bei Frauen Ungleichheit bis ins Alter relativ stabil bleibt, sie
ähnlich stark zutage tritt wie bei Männern. Dies lassen aber keine Aussagen über Veränderungen
steht im Widerspruch zu der in der Sozialepide­ im weiteren Alternsverlauf zu.
miologie vorherrschenden Auffassung, das sich Ebenso ist bei der Ergebnisinterpretation die
die soziale Ungleichheit der Lebensumstände und Möglichkeit von Kohorten- und Periodeneffekten
132 Gesundheit und Krankheit im Alter

zu berücksichtigen. Die heutigen Alten haben z. B. tributory causes. Journal of Epidemiology and Com­
munity Health 52: 214 – 218
zu einem großen Teil noch den 2. Weltkrieg und
6. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale
die Nachkriegsjahre erlebt, die sich in mannig­ Sicherung (BMGS) (2005) Lebensverhältnisse in
faltiger Weise auf den weiteren Lebenslauf aus­ Deutschland. 2. Armuts- und Reichtumsbericht der
gewirkt haben. Auch in anderer Hinsicht haben Bundesregierung. BMGS, Berlin
7. Mielck A, Bloomfield K (Hrsg) (2001) Sozialepidemio­
sie historische Erfahrungen gemacht, die später
logie. Eine Einführung in Grundlagen, Ergebnisse und
geborene Kohorten nicht oder in einem früheren Umsetzungsmöglichkeiten. Juventa Verlag, Weinheim
Lebensalter teilen. Die kohorten- und perioden­ München
spezifischen Erfahrungen spiegeln sich in der ge­ 8. Lampert T, Maas I (2002) Sozial selektives Überleben
ins und im Alter. In: Backes GM, Clemens W (Hrsg)
sellschaftlichen Entwicklung und dem Wandel der
Zukunft der Soziologie des Alter(n)s. Leske + Budrich,
sozialen Ungleichheit wider. Künftige Altengene­ Opladen, S 219 – 249
rationen werden unter anderen gesellschaftlichen 9. Knesebeck O vd (2005) Soziale Einflüsse auf die Ge­
Voraussetzungen gelebt haben und andere Mög­ sundheit alter Menschen. Eine deutsch-amerikanische
Vergleichsstudie. Hans Huber, Bern
lichkeiten gehabt haben, individuelle Interessen
10. Baltes PB, Baltes MM (1994) Gerontologie: Begriff,
und auch Gesundheitschancen zu verwirklichen. Herausforderung und Brennpunkte. In: Baltes PB,
Vieles spricht dafür, dass sich der Gesundheits­ Mittelstraß J, Staudinger UM (Hrsg) Alter und Altern:
zustand der Bevölkerung weiter verbessern und Ein interdisziplinärer Studientext. de Gruyter, Berlin,
S 1 – 34
die Lebenserwartung weiter steigen wird. Wenn
11. Lundberg O (1991) Causal explanations for class
immer mehr Menschen alt und sehr alt werden, inequality in health – an empirical analysis. Social
die bislang aufgrund nachteiliger Lebensbedin­ Science & Medicine 32: 385 – 393
gungen und hohen Belastungen vorzeitig gestor­ 12. Adler NE, Boyce T, Chesney MA et al. (1994) Socioeco­
nomic status and health: The challange of the gradient.
ben sind, dann verliert der Prozess des selektiven
American Psychologist 49: 15 – 24
Überlebens ins Alter an Bedeutung. Dies könnte 13. Geyer S (1997) Ansätze zur Erklärung sozial unglei­
dazu führen, dass sich die soziale Ungleichheit cher Verteilung von Krankheiten und Mortalitäten.
im Krankheits- und Sterbegeschehen zunehmend Gesundheitswesen 59: 36 – 40
14. Oppolzer A (1994) Die Arbeitswelt als Ursache ge­
vom mittleren ins höhere Lebensalter verlagert,
sundheitlicher Ungleichheit. In: Mielck A (Hrsg)
was das gesamte Erscheinungsbild des Alter(n)s Krankheit und soziale Ungleichheit. Leske + Budrich,
nachhaltig verändern würde. Schon aus diesem Opladen, S 125 – 165
Grund sollten alte und sehr alte Menschen stär­ 15. Herlyn U (1997) Stadt- und Regionalsoziologie. In:
Korte H, Schäfers B (Hrsg) Einführung in die Pra­
ker als bisher in der sozialepidemiologischen For­
xisfelder der Soziologie. Leske + Budrich, Opladen
schung berücksichtigt werden. S 243 – 262
16. Siegrist J (1989) Steps towards explaining social dif­
ferentials in morbidity: the case of West Germany. In:
Fox JA (Hrsg) Health Inequalities in European Coun­
Literatur
tries. Alderslot Gower, S 353 – 371
17. Janßen C, Grosse Frie K, Ommen O (2006) Der Ein­
1. Mielck A (2000) Soziale Ungleichheit und Gesund­ fluss von sozialer Ungleichheit auf die medizinische
heit. Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Inter­ und gesundheitsbezogene Versorgung in Deutsch­
ventionsmöglichkeiten. Hans Huber, Bern Göttingen land. In: Richter M, Hurrelmann K (2006) Gesund­
Toronto Seattle heitliche Ungleichheit – Grundlagen, Probleme, Kon­
2. Lampert T, Saß AC, Häfelinger M et al. (2005) Armut, zepte. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden,
soziale Ungleichheit und Gesundheit. Expertise zum S 141 – 155
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Ungleichheit – Grundlagen, Probleme, Konzepte. VS 19. Barker DJP (Hrsg) (1992) The foetal and infant origins
Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden of adult disease. British Medical Journal Publications,
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Gesundheit und Krankheit im Alter 133

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134 Gesundheit und Krankheit im Alter

3.3 Inanspruchnahmeverhalten
Anke-Christine Saß, Susanne Wurm, Thomas Ziese

Kernaussagen Anteil der Leistungsempfänger, die stationäre


Pflege in Anspruch nehmen.
1. Die Inanspruchnahme ambulanter ärzt­ 5. Arzneimittel wurden im Laufe des Jahres
licher Versorgungsangebote nimmt mit stei­ 2007 fast jeder bzw. jedem Versicherten ab
gendem Alter zu. Dabei zeigte sich, dass ein 65 Jahren mindestens einmal verordnet. Der
höheres Lebensalter einen eigenständigen überwiegende Teil der Medikamente, die äl­
Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines teren Menschen verordnet werden, dient der
Arztbesuches hat. Ein Anstieg ist vor allem Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
hinsichtlich der Nutzung von allgemeinmedi­ Mit dem Alter steigt sowohl die Zahl der Ver­
zinischen Praxen, Praxen für Innere Medizin ordnungen als auch die tatsächliche Medika­
und augenärztlichen Praxen zu verzeichnen. menteneinnahme (inkl. Selbstmedikation).
Die Inanspruchnahme von Gynäkologie und Es gibt aber Hinweise darauf, dass nicht das
Zahnmedizin geht hingegen zurück. Al­ Alter sondern die Morbidität den stärksten
tersspezifische Besonderheiten von Erkran­ Einfluss auf die Medikamenteneinnahme
kungen und Gesundheitsstörungen stellen hat. Die Arzneimitteltherapie älterer und
besondere Anforderungen an die Betreuung sehr alter Menschen verlangt viel therapeu­
in der (Haus-)Arztpraxis. tische Erfahrung.
2. Über 40 % aller stationär aufgenommenen 6. Die im SGB V verankerten Maßnahmen der
Patientinnen und -patienten im Jahr 2006 Primärprävention (Grippeschutzimpfung)
waren 65 Jahre und älter. Sie haben eine im und Früherkennung (Gesundheitsunter­
Vergleich zur mittleren Krankenhausverweil­ suchung Check-up, Krebsfrüherkennung)
dauer deutlich längere durchschnittliche Lie­ werden von älteren Menschen ab 65 Jahren
gezeit. Bei Menschen ab 65 Jahren dominie­ zumeist stärker genutzt als von jüngeren
ren Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems Versicherten. Lediglich die Teilnahmeraten
und Krebserkrankungen als Einweisungs­ der Krebsfrüherkennung sinken mit zuneh­
gründe. Verletzungen spielen in den höchs­ mendem Alter. Die Beteiligung der Männer
ten Altersgruppen eine zunehmende Rolle. an den verschiedenen Präventionsangeboten
3. Stationäre Rehabillitationsmaßnahmen wer­ liegt im Alter erstmals über der der Frauen.
den nach einem deutlichen Rückgang der
Teilnahmeraten in etwa zum Zeitpunkt des Günstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Rentenbeginns im Alter wieder verstärkt in und der medizinisch-technische Fortschritt füh­
Anspruch genommen. Krankheiten des Mus­ ren dazu, dass die Anzahl der Menschen, die ein
kel-Skelett-Systems sind bei Menschen ab 65 hohes Lebensalter erreichen, seit Jahren zunimmt.
Jahren die häufigste Ursache für eine statio­ Aber auch die Älteren, die aktiv und fit sind, brau­
näre Rehabilitation. Lediglich ein kleiner Teil chen oftmals mehr ärztliche Hilfe als jüngere
der Reha-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer Menschen. Altersphysiologische Veränderungen
wird auf einer klinisch geriatrischen Station münden nicht notwendiger Weise in Krankheiten
behandelt. und Gesundheitsstörungen; vielmehr moderieren
4. Mehr als vier Fünftel der Pflegebedürftigen Lebensstil, Gesundheitsverhalten, psychosoziale
im Jahr 2005 waren 65 Jahre und älter. Der und sozioökonomische Faktoren den Einfluss
Anteil der Pflegebedürftigen steigt dabei von des Alters auf die Gesundheit (vgl. Kapitel 2.1).
Altersgruppe zu Altersgruppe. Für Frauen Trotzdem treten zahlreiche Krankheiten und Ge­
ergibt sich ab etwa dem achtzigsten Lebens­ sundheitsstörungen im Alter häufiger auf und ein
jahr eine deutlich höhere Pflegequote als für Blick ins Wartezimmer des Hausarztes bestätigt:
Männer. Mit zunehmendem Alter steigt der Das deutsche Gesundheitswesen wird von einer
Gesundheit und Krankheit im Alter 135

großen Zahl älterer Männer und Frauen in An­ Altersgruppen eine zentrale Stellung für die Nut­
spruch genommen. Auf sie entfällt ein Großteil zung des gesamten Gesundheitssystems ein, denn
der erbrachten Versorgungsleistungen und ein ausgehend von einem Arztkontakt werden oftmals
erheblicher Teil der verfügbaren Ressourcen [1]. weitere medizinische Leistungen in Anspruch
Das vorliegende Kapitel gibt einen Überblick genommen. Dem Arzt bzw. der Ärztin kommt
über das Inanspruchnahmeverhalten der 65-Jäh­ hierbei eine Steuerungsfunktion zu [2, 3, 4]. Ärzte
rigen und Älteren in Deutschland. Verschiedene und Ärztinnen leiten diagnostische und therapeu­
Bereiche der gesundheitlichen Versorgung wer­ tische Maßnahmen ein, verordnen Arzneimittel,
den beleuchtet – Prävention, ambulante und sta­ überweisen zum Spezialisten, veranlassen eine
tionäre Versorgung, Rehabilitation und Pflege so­ Krankenhauseinweisung oder empfehlen eine
wie die Versorgung mit Arzneimitteln. Anliegen Rehabilitationsmaßnahme. Im Folgenden wird
ist es, für jeden einzelnen Bereich aktuelle, reprä­ das Inanspruchnahmegeschehen hinsichtlich der
sentative Zahlen zum Inanspruchnahmegesche­ Arztkontakte insgesamt sowie der Hausarzt- und
hen zusammenzustellen, die auch einen Vergleich Facharztkontakte dargestellt.
mit entsprechenden Angaben für das mittlere Er­
wachsenenalter erlauben. Analysiert wird auch,
ob es zwischen den einzelnen Altersgruppen Arztkontakte
oberhalb von 65 Jahren Unterschiede in der Inan­
spruchnahme medizinischer Leistungen gibt und Im Jahr 2003 wurden im Rahmen des bundesweit
inwieweit sich hierbei Männer und Frauen unter­ repräsentativen telefonischen Gesundheitssurvey
scheiden. Eine weitere wichtige Frage zielt auf den Männer und Frauen in Deutschland danach ge­
Beitrag des Alters zum Inanspruchnahmegesche­ fragt, ob sie innerhalb eines Quartals (»in den letz­
hen. Ist bei der Inanspruchnahme medizinischer ten drei Monaten«) bei einem Arzt waren. Bezogen
Leistungen ein eigenständiger Einfluss des Alters auf die gesamte Stichprobe der 18-jährigen und
nachweisbar? Oder lassen sich scheinbar alters­ älteren Wohnbevölkerung waren innerhalb dieses
spezifische Inanspruchnahmemuster durch eine Zeitraums fast zwei Drittel beim Arzt gewesen [3].
schlechtere gesundheitliche Lage erklären? Frauen suchen deutlich häufiger als Männer einen
Daten zum Inanspruchnahmegeschehen ste­ Arzt auf. Unter den 65- bis 84-Jährigen bejahten
hen aus der amtlichen Statistik zur Verfügung, 79 % die Frage. Die Inanspruchnahmerate der
bevölkerungsbezogene Surveys werden ebenfalls Männer liegt in dieser Altersgruppe etwas über
herangezogen. Eine Beschreibung der verwen­ der Rate der Frauen (81 % vs. 78 %). Im Vergleich
deten Datenquellen mit Hinweisen auf Restrik­ zum jüngeren und mittleren Erwachsenenalter
tionen findet sich am Ende des Buches. Aufgrund ist ein deutlicher Anstieg der Wahrscheinlichkeit
unterschiedlicher Erhebungs- und Auswertungs­ eines Arztkontaktes zu beobachten: Von den un­
modi der einbezogenen Daten lassen sich Abwei­ ter 50-Jährigen gingen lediglich 50 % mindestens
chungen hinsichtlich der verwendeten Altersgrup­ einmal innerhalb von drei Monaten zum Arzt bzw.
pen (auch für den Vergleich mit dem mittleren zu einer Ärztin.
Lebensalter) in den folgenden Ausführungen Bergmann et al. konnten zeigen, dass ein hö­
nicht immer vermeiden. heres Lebensalter einen eigenständigen Einfluss
auf die Wahrscheinlichkeit eines Arztbesuches
in den letzten drei Monaten hatte [3]. Außerdem
3.3.1 Inanspruchnahme ambulanter erhöhten beispielsweise das Vorliegen einer der
Versorgungsangebote erfragten chronischen Erkrankungen, ein hö­
herer Sozialstatus und ein städtischer Wohnort
Ambulante Angebote spielen hinsichtlich der me­ die Arztinanspruchnahme. Ein guter selbst ein­
dizinischen Versorgung, aber auch bei sozialem geschätzter Gesundheitszustand und eine höhere
oder pflegerischem Unterstützungsbedarf, eine psychische und körperliche Lebensqualität wirk­
große Rolle [2]. Ein wesentlicher Bereich der In­ ten hingegen »protektiv«, d. h. die Wahrschein­
anspruchnahme ambulanter medizinischer An­ lichkeit der Inanspruchnahme war geringer.
gebote sind Arztkontakte. Sie nehmen in allen Zahlreiche weitere potenzielle Einflussfaktoren
136 Gesundheit und Krankheit im Alter

wurden in ein logistisches Regressionsmodell auf­ Bergmann et al. konnten zeigen, dass ein
genommen, unter anderem der Alkoholkonsum u-förmiger Zusammenhang zwischen dem Alter
und die Art der Krankenversicherung. Sie erwie­ und der Anzahl der Hausarztbesuche besteht,
sen sich im Gegensatz zu den oben genannten d. h. im mittleren Erwachsenenalter ist die Zahl
Faktoren allerdings nicht als signifikant [3]. der Hausarztkontakte am geringsten. Sie identi­
fizierten weitere Faktoren, die zu einer erhöhten
Hausarztfrequenz führen, wie z. B. ein niedriger
Hausarztversorgung und Hausarztkontakte sozialer Statuts, ein hoher Body-Mass-Index, das
Vorliegen von chronischen Krankheiten und von
Etwa 35 % der Patientinnen und Patienten in haus­ Beeinträchtigungen der subjektiven Gesundheit.
ärztlichen Praxen sind 60 Jahre und älter; über Insgesamt 15 potenzielle Einflussfaktoren waren
die Hälfte der gesamten Leistungen (Punktwerte) im Modell enthalten, neben den genannten wa­
von Allgemeinmedizinern und praktischen Ärzten ren dies auch Faktoren, die sich nicht als signifi­
entfallen auf diese Altersgruppe. Diese Ergebnisse kant erwiesen, unter anderem regionale Variablen
aus dem Abrechnungsdatenträger-Panel (ADT- (Ost/West, Stadt/Land) und Migrationserfahrung.
Panel) des Zentralinstituts für die kassenärztliche Für Frauen stellte sich allerdings heraus, dass das
Versorgung aus dem 1. Quartal 2005 belegen die Alter bei Einbeziehung aller potenziellen Einfluss­
Präsenz älterer Menschen im System der haus­ faktoren keinen eigenständigen Einfluss auf die
ärztlichen Versorgung [5, 6]. Häufigkeit der Hausarztbesuche hat, sondern dass
Im telefonischen Gesundheitssurvey 2003 vor allem die Zahl der chronischen Krankheiten
wurde auch die hausärztliche Versorgung erhoben. und die selbst eingeschätzte Gesundheit für die
Von den 65- bis 84-Jährigen geben 96 % an, einen Inanspruchnahme von Bedeutung sind [3].
Hausarzt zu haben, zu dem sie normalerweise bei Die altersspezifischen Besonderheiten von
gesundheitlichen Problemen gehen. Zwischen Erkrankungen und Gesundheitsstörungen bei
Männern und Frauen gibt es keine Unterschiede. älteren und hochaltrigen Patientinnen bzw. Pati­
Aber nicht nur unter den Älteren ist der Hausarzt enten stellen besondere Anforderungen an die Be­
für die meisten Befragten der erste Ansprechpart­ treuung in der Hausarztpraxis. Je höher das Alter
ner bei Gesundheitsproblemen. Insgesamt haben der Patientinnen und Patienten ist, desto mehr
fast 92 % aller Erwachsenen einen Hausarzt. Mit
dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, bei einem
Hausarzt in Behandlung zu sein [3]. Tabelle 3.3.1.1
Ist ein Hausarzt vorhanden, wird er von den Durchschnittliche Anzahl der Hausarztkontakte in den
letzten 12 Monaten nach Alter und Geschlecht 2003
65- bis 84-Jährigen durchschnittlich etwas mehr
Quelle: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003,
als sechsmal im Jahr aufgesucht, also ungefähr eigene Berechnungen
einmal alle zwei Monate. Ältere Männer sind in­
nerhalb eines Jahres etwas seltener beim Hausarzt Altersgruppe Hausarztkontakte
als Frauen. Mit steigendem Alter nimmt die Häu­ Mittel­ Stand.ab­ Mini­ Maxi­
figkeit der Hausarztbesuche zu: Von knapp sechs wert weichung mum mum
Kontakten pro Jahr bei den 65- bis 69-Jährigen auf
65 – 74 Jahre 6,05 7,36 0 92
knapp neun Kontakte bei den 80- bis 84-Jährigen
65 – 69 Jahre 5,78 7,76 0 92
(siehe Tabelle 3.3.1.1). Als Durchschnittswert für
die gesamte 18-jährige und ältere Bevölkerung 70 – 74 Jahre 6,31 6,95 0 56
wurde etwa ein Hausarztbesuch pro Quartal er­ 75 – 84 Jahre 7,24 9,19 0 90
mittelt (4,16 pro Jahr). Wichtig ist bei der Interpre­ 75 – 79 Jahre 6,54 7,66 0 90
tation dieser Werte, dass die Streuung der Anzahl 80 – 84 Jahre 8,77 11,77 0 55
der Arztbesuche recht hoch ist [3]. Selbst unter den Frauen 6,80 8,13 0 58
65- bis 84-Jährigen gehen nur wenige Befragte
Männer 5,91 7,76 0 92
sehr häufig zum Hausarzt. Über die Hälfte der
älteren Männer und Frauen sind im letzten Jahr Gesamt 6,41 7,98 0 92
(65 Jahre und älter)
nicht öfter als einmal pro Quartal dort gewesen.
Gesundheit und Krankheit im Alter 137

dominieren chronische Krankheiten. Viele von Anteil der Personen, die mindestens einmal jähr­
ihnen leiden gleichzeitig unter mehreren chro­ lich eine Arztpraxis für innere Medizin aufsuchen;
nischen Erkrankungen [7]. Das Vorliegen mehre­ die Nutzung bleibt aber deutlich unter der Inan­
rer (körperlicher) Erkrankungen erhöht wiederum spruchnahme einer allgemeinmedizinischen oder
das Risiko für eine psychische Komorbidität (vgl. augenärztlichen Praxis.
Kapitel 2.1). Beispielsweise kann ein langjähriger In Hinblick auf die Nutzung von Zahnarzt­
Diabetes mellitus die Ausbildung einer Depres­ praxen gibt es einen deutlichen, gegenläufigen
sion begünstigen [8]. Die Qualität der hausärzt­ Alterstrend: Geht die große Mehrheit der 45- bis
lichen Versorgung älterer und alter Patientinnen 64-Jährigen mindestens einmal jährlich zu Zahn­
und Patienten wird kontrovers diskutiert [vgl. 2]. ärzten (86 %), suchen nur noch rund drei Viertel
Insbesondere wird dabei auf Lücken bei der Diag­ (78 %) aller 65- bis 74-Jährigen jährlich eine zahn­
nostik und Therapie psychischer Erkrankungen medizinische Praxis auf. In der Altersgruppe der
im Alter verwiesen [9]. Mit dem Ziel, die Versor­ 75- bis 84-Jährigen sinkt dieser Anteil weiter – nur
gung chronisch kranker Menschen zu verbessern, noch knapp zwei Drittel aller Personen (65 %) die­
wurden in den letzten Jahren strukturierte Be­ ser Altersgruppe lassen sich wenigstens einmal
handlungsprogramme, so genannte Disease Ma­ jährlich zahnmedizinisch untersuchen. Weitere
nagement Programme (DMPs), entwickelt. Zur­ Angaben zu Zahnpflege, Zahnerkrankungen und
zeit bieten verschiedene Krankenkassen DMPs Zahnersatz finden sich in der aktuellen Mundge­
für Patientinnen und Patienten mit Diabetes sundheitsstudie (DMS IV; [10]), allerdings wurden
mellitus Typ 1 und Typ 2, Brustkrebs, koronarer in diese Studie nur Personen bis zum Alter von 74
Herzkrankheit, Asthma bronchiale und chronisch Jahren einbezogen (vgl. Abschnitt 2.1.5).
obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) an. Auch Ein zweiter gegenläufiger Alterstrend ist im
ältere chronisch kranke Menschen können von Hinblick auf die Inanspruchnahme von gynäko­
der Einschreibung in ein DMP profitieren, denn logischen Arztpraxen festzustellen. Ein Vergleich
die Verbesserung der Behandlungskoordination mit Frauen im mittleren Erwachsenenalter macht
und der Therapiequalität sind inhaltliche Schwer­ deutlich, dass ältere Frauen teilweise nicht mehr
punkte der Programme. regelmäßig zu einer Frauenärztin oder einem
Frauenarzt gehen: In der Gruppe der 45- bis
54-Jährigen besuchen 84 % mindestens einmal
Fachärztliche Versorgung jährlich eine gynäkologische Arztpraxis – dieser
Anteil sinkt auf 38 % bei den 75- bis 84-jährigen
Im Alterssurvey 2002 wurden die Teilneh­ Frauen. Sowohl die Nutzungsdaten zur Zahnme­
merinnen und Teilnehmer danach gefragt, welche dizin als auch Gynäkologie machen deutlich, dass
Fachärzte sie in den letzten 12 Monaten aufgesucht mit steigendem Alter wichtige Präventionspoten­
haben. Die Inanspruchnahme von 12 verschie­ ziale unzureichend genutzt werden – möglicher­
denen Facharztgruppen wurde erfasst. Abbildung weise weil die Bedeutung der Gesundheitsvorsor­
3.3.1.1 stellt für sechs häufig genutzte Facharzt­ ge im Alter unterschätzt wird.
gruppen dar, inwieweit sich die Inanspruchnahme Urologische Praxen werden von Männern
zwischen dem mittleren und höheren Erwachse­ hingegen mit steigendem Alter häufiger in An­
nenalter unterscheidet. Es wird deutlich, dass die spruch genommen. Dennoch ist der Anteil der
große Mehrheit der älteren Personen mindestens Männer, der eine urologische Praxis aufsucht,
einmal jährlich eine allgemeinmedizinische Arzt­ selbst in der höchsten Altersgruppe der 75- bis
praxis aufsucht. Dabei steigt der Anteil von 83 % 84-Jährigen (37 %) nicht höher als der Anteil
bei den 45- bis 54-Jährigen auf 93 % bei den 75- gleichaltriger Frauen, die (mindestens) einmal
bis 84-Jährigen. Über die Altersgruppen hinweg jährlich eine gynäkologische Praxis aufsuchen
steigt auch der Anteil von Personen, der mindes­ (38 %).
tens einmal jährlich eine Augenarztpraxis auf­ Die Frage, ob das Alter ein eigenständiger
sucht – dies ist ab der Altersgruppe der 55- bis Einflussfaktor für die Inanspruchnahme von
64-Jährigen über die Hälfte der älteren Personen. Fachärzten ist, wurde auf der Basis der Daten des
Ebenso steigt über die Altersgruppen hinweg der Bundes-Gesundheitssurveys 1998 für die unter
138 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 3.3.1.1
Inanspruchnahme von Fachärzten in den letzten 12 Monaten (mind. einmal) nach Alter 2002
Quelle: Alterssurvey 2002, eigene Berechnungen

Urologie (nur Männer)

Gynäkologie(nur Frauen)

Zahnmedizin

Innere Medizin 45–54 Jahre

55–64 Jahre
Augenheilkunde 65–74 Jahre

75–84 Jahre
Allgemeinmedizin

0 20 40 60 80 100
Prozent

80-jährige Bevölkerung untersucht [4]. Bezüglich 3.3.2 Nutzung der stationären Versorgung
der Anzahl der kontaktierten Fachgruppen und
der Anzahl der Kontakte bei Internisten in den Ältere Menschen ab 65 Jahren nutzen stationäre
letzten zwölf Monaten zeigte sich hierbei, dass die Angebote der Gesundheitsversorgung überdurch­
wichtigsten Einflussgrößen so genannte »Need- schnittlich häufig [2]. Aus dem Mikrozensus 2005
Faktoren« sind (beispielsweise Morbidität und Le­ geht hervor, dass gut 3 % aller 65-Jährigen und
bensqualität), die die Inanspruchnahme als Bedarf Älteren (mit Angaben zur Gesundheit) inner­
im weiteren Sinne direkt beeinflussen. Daneben halb von vier Wochen vor der Befragung in sta­
ist das Alter eine bedeutsame Größe. Der Einfluss tionärer Behandlung waren, ältere Männer etwas
des Alters bleibt auch dann bestehen, wenn ande­ häufiger als ältere Frauen (Selbstangaben) [11].
re Variablen einbezogen werden. Neben den oben Von den Personen zwischen 40 und 64 Jahren
genannten sind das beispielsweise der Gesund­ wurden nur 1,5 % stationär aufgenommen. In der
heitszustand, Risikofaktoren und Versorgungs­ Berliner Alterstudie, die Anfang der 1990er-Jahre
strukturen. Bei der Zahl der kontaktierten Fach­ durchgeführt wurde und neben Personen in Pri­
gruppen besteht zudem eine Wechselwirkung von vathaushalten auch ältere Menschen einbezog, die
Alter und Geschlecht. Die Wahrscheinlichkeit, in Heimen lebten, wurde ermittelt, dass 21 % aller
eine Internistin bzw. einen Internisten zu kon­ 70- bis 90-Jährigen mindestens einmal jährlich
taktieren, nimmt sowohl bei Frauen als auch bei im Krankenhaus behandelt werden. Die Einwei­
Männern mit dem Alter stetig zu. Bezüglich der sungsrate nimmt mit dem Lebensalter und stei­
Zahl der kontaktierten Fachgruppen zeigte sich, gender Krankheitszahl zu [1, 12].
dass Frauen mit zunehmendem Alter eine gerin­ Detaillierte Angaben zur Inanspruchnahme
gere Zahl verschiedener Fachgruppen aufsuchen, stationärer Leistungen lassen sich aus der amt­
während ältere Männer mehr Fachgruppen kon­ lichen Statistik entnehmen. Auch dort ist ein
sultieren [4]. deutlicher Altersgradient erkennbar. In der Kran­
Gesundheit und Krankheit im Alter 139

kenhausdiagnosestatistik ist ausgewiesen, dass im der Männer durchgängig höher liegt als die der
Jahr 2006 in der Altersgruppe der 65-Jährigen und Frauen.
Älteren über 7 Millionen Fälle stationär versorgt Von den rund 7 Millionen Krankenhausfällen
wurden. Dies entspricht einer Rate von 43.722 bei Personen ab 65 Jahren wurde im Jahr 2006
Fällen je 100.000 Personen [13]. Zu beachten ist, ein Viertel durch Krankheiten des Herz-Kreislauf-
dass die Zahl der im Krankenhaus behandelten Systems verursacht (24 %). Mit zunehmendem Al­
Personen und die Zahl der Krankenhausfälle nicht ter erhöht sich die Inanspruchnahmerate wegen
voll übereinstimmen. Eine Person, die innerhalb dieser Hauptdiagnose deutlich. In Tabelle 3.3.2.1
eines Jahres mehrmals im Krankenhaus war, wird sind die Inanspruchnahmeraten je 100.000 Ein­
in der Statistik als »mehrere Fälle« ausgewiesen. wohner für sechs verschiedene Hauptdiagnosen
Im Alter zwischen 45 und 64 Jahren gab es zusammengestellt, die in der Gruppe der älteren
weniger als halb so viel stationäre Behandlungs­ Menschen besonders häufig auftreten. Krebser­
fälle (19.319 Fälle je 100.000) wie bei den Älteren. krankungen stehen an zweiter Stelle (13 %). Hier
Betrachtet man das Inanspruchnahmegesche­ unterscheiden sich die Ergebnisse für die 65-Jähri­
hen innerhalb der Gruppe der älteren Menschen gen und Älteren nicht von den Trends, die für alle
noch etwas differenzierter, wird deutlich, dass stationären Patientinnen und Patienten auf der
die Inanspruchnahmeraten bis zum Alter von Basis der Krankenhausdiagnosestatistik ermittelt
84 Jahren kontinuierlich ansteigen (siehe Abbil­ wurden [13]. Geschlechtsspezifisch zeigt sich al­
dung 3.3.2.1). Erst ab einem Alter von 90 Jahren lerdings, dass bei Frauen ab 65 Jahren an zwei­
sinken die Raten wieder. In Abbildung 3.3.2.1 ist ter Stelle der häufigsten Hauptdiagnosen Verlet­
außerdem ersichtlich, dass die Inanspruchnahme zungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer

Abbildung 3.3.2.1
Altersstruktur der Krankenhauspatientinnen und -patienten (einschl. Sterbe- und Stundenfälle) –
altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach Geschlecht 2006
Quelle: Krankenhausdiagnosestatistik 2006 [13]

Fälle je 100.000 Einwohner


80.000

70.000

60.000

50.000

40.000
Frauen

30.000 Männer

20.000

10.000

65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+


Altersgruppe
140 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 3.3.2.1
Hauptdiagnosen der Krankenhauspatientinnen und -patienten (einschl. Sterbe- und Stundenfälle) –
altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Krankenhausdiagnosestatistik 2006 [13]

65 – 69 70 – 74 75 – 79 80 – 84 85 – 89 90 Jahre
Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre und älter
Frauen
Krebserkrankungen (C00 – D48) 4.555 4.984 5.012 4.562 3.975 2.778
Krankheiten des Kreislaufsystems (I00 – 99) 5.302 7.855 10.814 13.792 15.884 14.947
Krankheiten des Verdauungssystems (K00 – 93) 2.953 3.604 4.561 5.671 6.617 6.734
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems 4.222 5.102 5.135 4.154 3.105 1.779
und des Bindegewebes (M00 – 99)
Krankheiten des Urogenitalsystems (N00 – 99) 1.572 1.810 2.019 2.235 2.546 2.616
Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen 2.536 3.462 4.951 7.116 9.209 11.304
äußerer Ursachen (S00 – T98)
Männer
Krebserkrankungen (C00 – D48) 6.823 8.271 8.820 8.190 7.434 4.555
Krankheiten des Kreislaufsystems (I00 – 99) 8.982 12.256 15.321 17.216 18.087 14.322
Krankheiten des Verdauungssystems (K00 – 93) 3.850 4.682 5.679 6.628 7.365 6.301
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems 3.026 3.472 3.560 3.021 2.447 1.338
und des Bindegewebes (M00 – 99)
Krankheiten des Urogenitalsystems (N00 – 99) 2.109 2.714 3.313 3.802 4.198 3.810
Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen 2.240 2.620 3.399 4.494 5.970 6.788
äußerer Ursachen (S00 – T98)

Ursachen stehen. Erst an dritter Stelle folgen die Hinzu kommen für die Frauen im jüngeren und
Neubildungen. In der Altersgruppe ab 85 Jahren mittleren Erwachsenenalter die Gynäkologie und
sind insgesamt knapp 15 % der stationären Auf­ Geburtshilfe. Sehr wenige ältere Menschen (ab 65
enthalte Folge von Verletzungen, Vergiftungen Jahre) werden in psychiatrischen Fachabteilungen
und anderen äußeren Ursachen (Männer 10 %, versorgt (unter 2 %). In jüngerem Alter haben
Frauen 17 %). diese Abteilungen größere Bedeutung. Bis zu 11 %
Die Abteilung, in der die Patientinnen und der stationären Patientinnen und Patienten wer­
Patienten den größten Teil ihres Krankenhausauf­ den dort behandelt (Altersgruppe 40 bis 44 Jahre).
enthaltes verbringen, wird in der Krankenhaus­ Psychische Erkrankungen bei Älteren werden von
diagnosestatistik ebenfalls erfasst. Gut die Hälfte Hausärzten möglicherweise häufiger übersehen
der stationären Fälle in der Altersgruppe ab 65 und nicht adäquat behandelt [9], gegebenenfalls
Jahre wurde in der Inneren Medizin behandelt spielt dies hier ebenfalls eine Rolle.
(52 %) und ein Fünftel in einer chirurgischen Die durchschnittliche Verweildauer der
Fachabteilung (21 %). Mit zunehmendem Alter Krankenhauspatientinnen und -patienten im
steigt die Zahl der Patientinnen und Patienten, Jahr 2006 schwankt stark in Abhängigkeit vom
die auf der Inneren Station liegen, deutlich an bis Alter. Die Verweildauer beträgt im Mittel 8,4 Tage
auf 64 % bei den 90- bis 95-Jährigen. Für Männer und ist damit im Vergleich zum Vorjahr leicht ge­
und Frauen zeigen sich die gleichen Trends. Die sunken (um 2 %) [13]. In der Gruppe der älteren
Fachabteilungen Innere Medizin und Chirurgie Patientinnen und Patienten liegen die Verweil­
haben auch bei den jüngeren Krankenhauspa­ dauern z.T. deutlich höher. Bei den 65- bis 74-Jäh­
tientinnen und -patienten die größte Bedeutung. rigen dauerte ein Krankenhausaufenthalt im Mit­
Gesundheit und Krankheit im Alter 141

tel 9,4 Tage, bei den 75-Jährigen und Älteren 10,6 spezielle geriatrische Einrichtungen heute noch
Tage. Die Verweildauer der Frauen liegt durch­ nicht allen alten Menschen zugänglich. Laut Kran­
gängig etwas höher als die der Männer. Die längs­ kenhausdiagnosestatistik wurden im Jahr 2006
ten Krankenhausaufenthalte wurden für 80- bis nur gut 2 % der Behandlungsfälle bei 65-Jährigen
85-jährige Frauen ermittelt. Sie bleiben bei jedem und Älteren in der klinischen Geriatrie (als Teil
Krankenhausaufenthalt durchschnittlich 11,2 Tage der Inneren Medizin) versorgt [13]. Der Ausbau
in stationärer Behandlung [13]. entsprechender Einrichtungen erfolgte regional
Die vorgestellten Daten belegen, dass die sehr unterschiedlich. In den letzten Jahren ist das
Krankenhäuser in Deutschland zunehmend Angebot an solchen spezialisierten Versorgungs­
mehr ältere Menschen behandeln. Dies folgt aus angeboten aber bereits deutlich gewachsen [2].
dem steigenden Anteil älterer Menschen an der
Bevölkerung und aus den höheren Inanspruch­
nahmeraten im Alter bedingt durch alterskorre­ 3.3.3 Teilnahme an Rehabilitationsmaßnahmen
lierte Erkrankungen. Über 40 % aller Kranken­
hauspatientinnen und -patienten im Jahr 2006 Im Anschluss an die stationäre Behandlung kann
waren 65 Jahre und älter [13]. Ein Merkmal von eine Rehabilitationsmaßnahme in jedem Alter
Krankheit im Alter ist, dass der Zeitraum für die dazu beitragen, den Therapieerfolg zu sichern. Sie
Rekonvaleszenz verlängert ist [7]. Außerdem sind dient der Rehabilitation nach Krankheit, Unfall
ältere Patientinnen und Patienten häufig von oder Operation, kann aber auch bei chronischen
mehreren chronischen Erkrankungen betroffen. Leiden oder psychischer Belastung hilfreich sein.
Daraus resultiert die im Vergleich zur mittleren Bei der Rehabilitation handelt es sich um eine
Krankenhausverweildauer deutlich längere Lie­ umfassende Maßnahme, die ärztliche Behand­
gezeit Älterer im Krankenhaus. Die besonders lung und unterschiedliche Therapieformen, zum
langen Liegezeiten, die bei älteren Frauen beo­ Beispiel Physiotherapie, Ergotherapie oder Psy­
bachtet wurden, könnten auch mit den zumeist chotherapie umfasst. Außerdem sind Beratungs­
geringeren familiären Ressourcen (alleinlebend) angebote integriert, beispielsweise Ernährungs­
dieser Gruppe zusammenhängen. Bezüglich der beratung. Alle Maßnahmen sollen individuell am
Diagnosen, die zur Krankenhauseinweisung füh­ Bedarf der Patientinnen und Patienten ausgerich­
ren, ergeben sich Übereinstimmungen zwischen tet werden. Rehabilitation bei älteren und hochbe­
den insgesamt am häufigsten stationär behandel­ tagten Menschen erfordert eine Erweiterung des
ten Krankheitsbildern und den Krankheitsbildern hergebrachten Konzepts der Rehabilitation [14],
älterer Patientinnen und Patienten ab 65 Jahren. das vor allem auf die Sicherung der Berufstätigkeit
Es dominieren die Krankheiten des Herz-Kreis­ bzw. die Rückkehr in den Arbeitsprozess ausge­
lauf-Systems und Krebserkrankungen. Für die richtet ist. Geriatrische Rehabilitation dient dem­
Gruppe der Hochaltrigen wurde allerdings fest­ gegenüber der Sicherung von Alltagskompetenz.
gestellt, dass sie bei einigen Erkrankungen (z. B. Der Rehabilitation im Alter kommt jedoch, auch
Krebserkrankungen) relativ seltener stationär im Hinblick auf eine bedarfsgerechte Versorgung,
behandelt werden als jüngere Menschen [1, 2, eine große Bedeutung zu, weil die Mehrzahl der
13]. Die stationäre Versorgung älterer Menschen im Alter auftretenden Beeinträchtigungen durch
findet heute überwiegend in Krankenhäusern der geeignete Rehabilitationsmaßnahmen erheblich
Regelversorgung statt. Erfahrungen in der statio­ abgemildert oder aufgefangen werden können [2].
nären Gesundheitsversorgung zeigen allerdings, In der Geriatrie wird zwischen präventiver, allge­
dass insbesondere geriatrische Fachabteilungen meiner und gezielter Rehabilitation unterschie­
für eine effektive Behandlung von Gesundheits­ den [14, 15]. Während die ersten beiden Formen
störungen bei Älteren geeignet sind [1]. Die in­ die Hinauszögerung des Altersabbaus bzw. die
terdisziplinäre Zusammenarbeit medizinischer Erhaltung des Status quo bei chronisch kranken
Fachexperten, die zudem umfassendes Wissen Patientinnen und Patienten zum Ziel haben, ist
und Erfahrungen bezüglich der physischen und die dritte Form der Rehabilitation krankheits­
psychischen Besonderheiten des Alters haben, ist bezogen ausgerichtet. Es geht darum, verloren
der Vorteil dieser Versorgungsform. Leider sind gegangene Fähigkeiten durch gezieltes Training
142 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 3.3.3.1
Altersstruktur der Patientinnen und Patienten in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen –
altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 2006 [16]

je 100.000 Einwohner
4.500

4.000

3.500

3.000

2.500

2.000 Frauen

1.500 Männer

1.000

500

40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+

Altersgruppe

wiederzuerlangen. Bei den im Folgenden darge­ Nach einem Abfall der Teilnahmequoten ist in der
stellten Zahlen zur Inanspruchnahme handelt Altersgruppe 75 bis 79 Jahre zunächst wiederum
es sich schwerpunktmäßig um Maßnahmen der ein Anstieg bis auf ca. 4.100 Rehabilitationen je
gezielten Rehabilitation, die in spezialisierten 100.000 Einwohner zu erkennen. In der höchs­
Fachabteilungen, beispielsweise der Orthopädie, ten Altersgruppe nimmt die Inanspruchnahme
durchgeführt werden. Aspekte der präventiven erneut ab. Die Inanspruchnahmeraten der Män­
und allgemeinen Rehabilitation fließen in die Be­ ner liegen in fast allen Altersgruppen über denen
handlung ein, jedoch ist der überwiegende Teil der Frauen.
der von Älteren aufgesuchten Rehabilitationsein­ Über ein Drittel der Patientinnen und Pa­
richtungen nicht speziell geriatrisch ausgerichtet. tienten im Alter ab 65 Jahren, die 2006 an einer
In der Statistik der Diagnosedaten der Pa­ stationären Rehabilitation teilnahmen, waren
tientinnen und Patienten in Vorsorge- und Reha­ wegen Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
bilitationseinrichtungen wurden im Jahr 2006 in einer Reha-Klinik (35 %). Der größte Teil von
in der Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren ihnen, insgesamt ein Viertel aller Rehabilita­
insgesamt 558.608 Fälle vollstationärer Reha­ tionsfälle der Altersgruppe, hatte die Maßnahme
bilitation erfasst [16]. Etwas mehr als die Hälfte wegen Arthrose (ICD-10: M15 – 19) verordnet be­
der Teilnehmer waren weiblich (57 %). Die In­ kommen. Arthrosen des Hüft- und Kniegelenks
anspruchnahmeraten je 100.000 lassen einen waren auch mit Blick auf alle Reha-Fälle im Jahr
deutlichen Altersgradienten erkennen (siehe Ab­ 2006 die häufigsten Hauptdiagnosen (alle Alters­
bildung 3.3.3.1). Die Inanspruchnahme steigt im gruppen insgesamt).
mittleren Erwachsenenalter an und erreicht zwi­ Ein weiteres Viertel der älteren Teilneh­
schen 55 und 59 Jahren einen Höchststand mit merinnen und Teilnehmer nahm eine Reha-Maß­
über 3.400 Rehabilitanden pro 100.000 Personen. nahme wegen Krankheiten des Kreislaufsystems
Gesundheit und Krankheit im Alter 143

Tabelle 3.3.3.1
Hauptdiagnosen der Patientinnen und Patienten in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen (einschl. Sterbe- und
Stundenfälle) – altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Statistik der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 2006 [16]

65 – 69 70 – 74 75 – 79 80 – 84 85 – 89 90 Jahre
Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre und älter
Frauen
Krebserkrankungen (C00 – D48) 537 504 421 311 179 48
Krankheiten des Kreislaufsystems (I00 – 99) 453 653 791 730 513 161
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems 1.310 1.834 1.829 1.219 632 149
und des Bindegewebes (M00 – 99)
darunter:
Arthrose (M15 – 19) 906 1.394 1.391 905 439 83
Männer
Krebserkrankungen (C00 – D48) 749 733 517 314 200 60
Krankheiten des Kreislaufsystems (I00 – 99) 964 1.222 1.321 1.156 835 247
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems 848 1.082 1.146 917 606 172
und des Bindegewebes (M00 – 99)
darunter:
Arthrose (M15 – 19) 568 786 827 614 385 89

in Anspruch (23 %). Krebserkrankungen spielen und Männern zum Reha-Aufenthalt führt, werden
ebenfalls eine relativ große Rolle; 15 % der Pa­ verschiedene Fachabteilungen belegt. 43 % der äl­
tientinnen und Patienten kamen deshalb in die teren Männer werden in einer Inneren Abteilung
Reha-Klinik. Bei Männern und Frauen bestehen behandelt, aber nur 31 % der Frauen. In die Or­
unterschiedliche Schwerpunkte bezüglich der Di­ thopädie wird demgegenüber über die Hälfte aller
agnosen, die zu einer Rehabilitationsmaßnahme Frauen ab 65 Jahren aufgenommen (52 %), aber
führen (siehe Tabelle 3.3.3.1). Die Inanspruch­ nur ein Drittel der Männer. Mit zunehmendem
nahmerate der älteren Männer (ab 65 Jahren) Alter zeigt sich ein deutlicher Anstieg des An­
ist bei den Kreislaufkrankheiten mehr als dop­ teils der Patientinnen und Patienten, die in einer
pelt so hoch wie die der Frauen (1.099 vs. 453 je Inneren Abteilung behandelt werden, und eine
100.000). Ischämische Herzkrankheiten (ICD-10: deutlich geringere Nutzung orthopädischer Abtei­
I20 – 25) waren für Männer ab 65 Jahren der häu­ lungen. Sehr wenige ältere Menschen werden in
figste Grund für eine Rehabilitationsmaßnahme. Fachabteilungen für Psychiatrie und Psychothera­
Frauen waren deutlich häufiger wegen Arthrose pie versorgt (unter 1 %). In jüngerem Alter haben
in einer Reha-Klinik (1.032 vs. 661 je 100.000). diese Abteilungen größere Bedeutung. Nach der
Die Fachabteilung, in der die Patientinnen höchsten Inanspruchnahme im jungen Erwach­
und Patienten den größten Teil ihrer stationären senenalter (20 bis 24 Jahre: 24 %) werden in der
Rehabilitationsmaßnahme absolvierten, wird in Altersgruppe 40 bis 44 Jahre immer noch 18 %
der amtlichen Statistik erfasst. In der Altersgrup­ aller Reha-Patientinnen und -Patienten in psy­
pe der 65-Jährigen und Älteren (wie auch für alle chiatrischen Fachabteilungen behandelt. Dies
Reha-Patientinnen und -Patienten insgesamt) korrespondiert mit der größeren Häufigkeit von
haben die Fachabteilungen Innere Medizin und Krankenhausaufenthalten aufgrund von psy­
Orthopädie die größte Bedeutung [16]. Entspre­ chischen Erkrankungen bei jüngeren Menschen,
chend dem geschlechtsspezifisch unterschied­ die aus der Krankenhausdiagnosestatistik ermit­
lichen Diagnosespektrum, das bei älteren Frauen telt werden kann [16].
144 Gesundheit und Krankheit im Alter

Ein Blick auf die durchschnittliche Verweil­ merinnen und Teilnehmer von Rehabilitations­
dauer der Patientinnen und Patienten in Vorsor­ maßnahmen wird auf einer klinisch geriatrischen
ge- und Rehabilitationseinrichtungen zeigt, dass Station behandelt. Die Inanspruchnahmeraten
sie für Männer und Frauen innerhalb des betrach­ schwanken stark in Abhängigkeit vom Alter. In
teten Altersspektrums ab 65 Jahren bei etwa 23 der Gruppe der 65-Jährigen und Älteren werden
Tagen liegt [16]. Vergleicht man dies mit jüngeren gut 3 % der Patientinnen und Patienten dort be­
Altersgruppen, so ist tendenziell eine Verkürzung treut, Frauen etwas häufiger als Männer. Der
der durchschnittlichen Reha-Dauer zu beobachten höchste Wert wird für 90-jährige und ältere Män­
(Altersgruppe 20 bis 25 Jahre: 34 Tage; 40 bis 45 ner und Frauen ermittelt: Etwa jede dritte Rehabi­
Jahre: 29 Tage). Die Analyse der Verweildauern litationsmaßnahme (31 %) wurde in einer geria­
ergab, dass diese stark vom Krankheitsbild abhän­ trischen Fachabteilung durchgeführt, wenngleich
gen. Beispielsweise verbrachten Patientinnen und die Reha-Teilnehmerzahlen in diesem hohen Alter
Patienten aller Altersgruppen mit psychischen insgesamt sehr gering sind. In den letzten Jahren
oder Verhaltensstörungen durch Alkohol durch­ ist erfreulicherweise eine Verbesserung des An­
schnittlich 81 Tage in Vorsorge- und Rehabilita­ gebots im Bereich der geriatrisch-rehabilitativen
tionseinrichtungen, bei einer ischämischen Herz­ Versorgung zu verzeichnen. Der Ausbau der Kapa­
krankheit dauerte der Aufenthalt durchschnittlich zitäten erfolgte allerdings regional begrenzt. Die
nur 22 Tage [16]. Der Anteil der Patientinnen und Bedeutung ambulanter rehabilitativer Angebote
Patienten mit Diagnosen, die eine längere Ver­ als Fortführung der geriatrischen Rehabilitation
weildauer nach sich ziehen, ist im höheren Alter in der Klinik wird in diesem Zusammenhang be­
offenbar etwas geringer, weshalb sich im Alterns­ tont [2].
verlauf eine Abnahme der durchschnittlichen Ver­ Zu beachten ist, dass die Daten der amtlichen
weildauer zeigt. Statistik lediglich über stationäre Reha-Maßnah­
Zusammenfassend zeigen die vorliegenden men Auskunft geben (und lediglich Vorsorge- und
Daten zur Inanspruchnahme von Rehabilita­ Rehabilitationseinrichtungen mit mehr als 100
tionsmaßnahmen durch ältere Menschen, dass Betten einbezogen werden), während zum Teil
diese nach einem deutlichen Rückgang der Teil­ auch eine ambulant-wohnortnahe oder kombi­
nahmeraten, der in etwa zum Zeitpunkt des nierte Durchführung möglich ist, beispielweise in
Rentenbeginns festzustellen ist, im Alter wieder Tageskliniken. Im Telefonischen Gesundheitssur­
verstärkt in Anspruch genommen werden, von vey 2003 wurde ermittelt, dass 80 % der älteren
Männern etwas mehr als von Frauen. Der insge­ Reha-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer (65 bis
samt höchste Stand der Rehabilitationsfälle pro 84 Jahre) die letzte in Anspruch genommene Re­
100.000 Einwohner ist in der Altersgruppe 75 habilitation stationär absolvierten, jede/jeder 10.
bis 79 Jahre zu verzeichnen. Mit zunehmendem hatte eine ambulante Reha-Maßnahme, ebenfalls
Alter ist zudem tendenziell eine Verkürzung der ca. 10 % eine kombinierte Maßnahme (Selbstan­
durchschnittlichen Reha-Dauer zu beobachten. gaben; unabhängig vom Alter zum Zeitpunkt der
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems sind Reha-Maßnahme).
bei den älteren Menschen ab 65 Jahren die häu­ Insbesondere bei älteren Patientinnen und
figste Ursache für eine stationäre Rehabilitation. Patienten werden Probleme bei der Kontinuität
Daraus leitet sich die Bedeutung der orthopä­ der Versorgung diskutiert. Der Wechsel von einem
dischen Fachabteilungen für Reha-Maßnahmen Versorgungssegment, beispielsweise der akutsta­
bei dieser Altersgruppe ab. Abteilungen für Inne­ tionären Behandlung, in ein anderes gelingt nicht
re Medizin folgen an zweiter Stelle, insbesondere immer reibungslos. Sowohl die Überleitung in die
deshalb, weil Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei häusliche Umgebung als auch die professionelle
älteren Männern die häufigste Hauptdiagnose für Weiterbehandlung, zum Beispiel in Einrichtungen
eine Inanspruchnahme von Rehabilitation darstel­ der ambulanten oder stationären Rehabilitation,
len. sind betroffen. Ein Fehlen adäquater Angebote der
Unter dem Oberbegriff Innere Medizin wer­ weiterführenden Therapie oder Unterstützung im
den auch geriatrische Fachabteilungen erfasst, Alltag kann zum »Drehtüreffekt«, einer Wieder­
aber lediglich ein kleiner Teil der älteren Teilneh­ einweisung ins Krankenhaus, führen [1].
Gesundheit und Krankheit im Alter 145

3.3.4 Pflegerische Versorgung älterer Menschen doch nur einem Anteil von 41 %. Diese Angaben
machen deutlich, dass die durchschnittliche Zahl
Unter der Maßgabe, die Strukturen der pflege­ der Krankenhauspflegetage bei älteren Personen
rischen Versorgung in Deutschland zukunftsfähig größer als in jüngeren Altersgruppen ist. In Ab­
zu machen, wurde am 26. Mai 1994 das Gesetz schnitt 3.3.2 wird darauf näher eingegangen.
zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflege­ Im Jahr 2005 waren 2,13 Millionen Versicher­
bedürftigkeit beschlossen (Pflege-Versicherungs­ te der sozialen und privaten Pflegeversicherung
gesetz, PflegeVG). Damit konnte eine Lücke im als pflegebedürftig anerkannt. Als pflegebedürftig
sozialen Sicherungssystem der Bundesrepublik werden nach § 14 PflegeVG jene Personen bezeich­
geschlossen werden: Pflegebedürftigkeit, die eine net, »die wegen einer körperlichen, geistigen oder
Langzeitpflege notwendig macht, wird nun durch seelischen Krankheit oder Behinderung für die
die soziale und private Pflegeversicherung abgesi­ gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden
chert. Im folgenden Abschnitt zur pflegerischen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens
Versorgung älterer Menschen geht es schwer­ auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs
punktmäßig um die Langzeitpflege. In welchem Monate, in erheblichem oder höherem Maße
Umfang erhalten ältere Menschen Leistungen aus (§ 15 PflegeVG) der Hilfe bedürfen.« Betroffene
der Pflegeversicherung? Welche Leistungsformen reichen einen Antrag auf Leistungen der Pflege­
dominieren? Wie stellt sich der Anteil Älterer, die versicherung ein und die Pflegekasse fällt auf der
langzeitpflegebedürftig sind, im Vergleich zu an­ Grundlage der Empfehlungen des Medizinischen
deren Altersgruppen dar? Welche geschlechtsspe­ Dienstes der Krankenversicherung (MDK) die
zifischen Unterschiede sind zu beobachten? Entscheidung darüber, ob und in welchem Um­
Neben der längerfristigen Pflegebedürftig­ fang ein Pflegebedarf besteht. Am 01.07.2008 ist
keit werden auch im akuten Krankheitsfall pfle- das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PflWG) in
gerische Leistungen benötigt. Leistungsträger ist Kraft getreten, das die Pflegeversicherung besser
in diesem Fall die gesetzliche Krankenversiche­ auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und ih­
rung (GKV). Zur Pflege bei Krankheit gehören die rer Angehörigen ausrichten soll [19]. Das Gesetz
häusliche Krankenpflege im ambulanten Bereich sieht unter anderem die Schaffung von Pflege­
sowie die Krankenhauspflege im stationären Be­ stützpunkten und die Einführung einer Pflege­
reich. Im Jahr 2006 entfielen laut Krankheits­ zeit vor. Die ambulante Versorgung soll gestärkt
kostenrechnung des Statistischen Bundesamtes werden. Das Gesetz beinhaltet auch Leistungser­
insgesamt 7,4 Milliarden Euro auf Einrichtungen höhungen, insbesondere für Demenzkranke.
der ambulanten Pflege [17]. Analysen zeigen, dass Insgesamt 2,6 % der Menschen in Deutsch­
Frauen häusliche Krankenpflege deutlich häufiger land waren im Jahr 2005 als pflegebedürftig
als Männer in Anspruch nehmen [18]. Dies wird anerkannt [20]. Dabei bestehen ausgeprägte Al­
darauf zurückgeführt, dass Frauen im Schnitt äl­ ters- und Geschlechtsunterschiede (siehe Tabel­
ter werden als Männer und im hohen Alter häu­ le 3.3.4.1). In der Gruppe der unter 60-Jährigen
figer allein leben. Altersdifferenzierte Angaben liegt der Anteil der Pflegebedürftigen bei Frauen
zur Inanspruchnahme von häuslicher Kranken­ wie Männern unter 1 %. Mit zunehmendem Al­
pflege liegen derzeit nicht vor. ter nimmt die Pflegebedürftigkeit stark zu (ex­
Die stationäre Pflege im Krankenhaus ist Teil ponentieller Anstieg). Während bei den 70- bis
der Krankenhausbehandlung. Quantitative Aussa­ 74-Jährigen »nur« jede/jeder Zwanzigste pflege­
gen zur Inanspruchnahme können aus den Kran­ bedürftig ist, haben 90- bis 94-Jährige die höchste
kenhauspflegetagen abgeleitet werden, die in der Pflegequote: Der Anteil der Pflegebedürftigen an
Krankenhausdiagnosestatistik ausgewiesen sind. allen Menschen dieser Altersgruppe betrug 61 %.
145 Millionen Pflegetage wurden im Jahr 2006 Insgesamt waren 82 % aller Pflegebedürftigen 65
durch die Krankenhäuser erbracht, davon entfiel Jahre und älter; 33 % 85 Jahre und älter. Auffallend
knapp die Hälfte (71 Millionen) auf Menschen ab ist, dass Frauen ab ca. dem 80. Lebensjahr eine
dem Alter von 65 Jahren. Bezogen auf alle im Jahr deutlich höhere Pflegequote aufweisen – also eher
2006 im Krankenhaus behandelten Patientinnen pflegebedürftig sind als Männer dieser Altersgrup­
und Patienten entspricht diese Altersgruppe je­ pe. So beträgt z. B. die Pflegequote bei den 90- bis
146 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 3.3.4.1 gegeld. Sie wurden in der Regel zu Hause allein


Pflegebedürftige in der jeweiligen Altersgruppe nach durch Angehörige gepflegt. Informationen zu
Geschlecht 2005
Quelle: Pflegestatistik 2005 [20]
pflegenden Angehörigen finden sich im Kapitel
4.2. Weitere 472.000 Pflegebedürftige lebten
Altergruppe Frauen Männer Gesamt ebenfalls in Privathaushalten. Bei ihnen erfolgte
unter 15 Jahre 0,5 % 0,6 % 0,5 % die Pflege jedoch zum Teil oder vollständig durch
15 – 59 Jahre 0,5 % 0,5 % 0,5 %
ambulante Pflegedienste. 32 % (677.000) wurden
in Pflegeheimen betreut [20]. Von den zu Hause
60 – 64 Jahre 1,5 % 1,7 % 1,6 %
versorgten Pflegebedürftigen, die ausschließlich
65 – 69 Jahre 2,4 % 2,8 % 2,6 % von Angehörigen betreut wurden, waren im De­
70 – 74 Jahre 4,9 % 4,9 % 4,9 % zember 2005 60 % Frauen (Empfängerinnen von
75 – 79 Jahre 10,3 % 8,5 % 9,6 % ausschließlich Pflegegeld). Der Frauenanteil in
80 – 84 Jahre 22,3 % 15,8 % 20,3 % Pflegeheimen war mit 77 % deutlich höher.
85 – 89 Jahre 39,7 % 26,9 % 36,3 % Auch von der Schwere der Pflegebedürftig­
keit hängt ab, wo pflegebedürftige Personen leben
90 – 94 Jahre 65,6 % 43,6 % 60,8 %
und wer sie versorgt. Das PflegeVG unterschei­
95 Jahre und älter 69,3 % 29,0 % 58,5 %
det je nach vorliegendem Hilfebedarf drei Stufen
Gesamt 3,4 % 1,7 % 2,6 % der Pflegebedürftigkeit: Pflegestufe I (erhebliche
Pflegebedürftigkeit), Pflegestufe II (Schwerpflege­
bedürftigkeit) und Pflegestufe III (Schwerstpflege­
bedürftigkeit). Schwerstpflegebedürftige werden
94-jährigen Frauen 66 %, bei den Männern glei­ eher im Heim versorgt: Der Anteil Pflegebedürf­
chen Alters hingegen »nur« 44 %. Auch bezogen tiger mit höchster Pflegestufe (Stufe 3) beträgt im
auf alle Altersgruppen ist die deutlich stärkere Heim 21 %, bei den zu Hause Versorgten 10 %.
Betroffenheit der Frauen von Pflegebedürftig­ Mit dem Alter nimmt der Anteil Schwerstpflege­
keit feststellbar: 68 % der Pflegebedürftigen sind bedürftiger zu: Während unter den 65- bis 70-jäh­
Frauen [20]. Aus der Altersforschung ist bekannt, rigen Pflegebedürftigen (Männer und Frauen) nur
dass Frauen oftmals länger leben als Männer, aber etwa jede/jeder neunte der Pflegestufe 3 zugeord­
von vielen mit dem Alter einhergehenden Erkran­ net wurde (12 %), betrifft dies bei den 95-Jährigen
kungen und Funktionseinbußen stärker betrof­ und Älteren jede/jeden fünfte.
fen sind als Männer [18, 21] (vgl. Kapitel 2.2). Dies Betrachtet man die Angaben aus der amt­
dürfte nicht nur an der längeren Lebenszeit liegen lichen Statistik speziell für pflegebedürftige
sondern auch an sozialen Faktoren wie dem Fa­ 65-jährige und ältere Männer und Frauen, zeigen
milienstand und der Haushaltsform. Ein Großteil sich ebenfalls die bereits genannten Trends (sie­
der Frauen ist im Alter allein stehend und war he Tabelle 3.3.4.2). Von den älteren pflegebedürf­
oftmals zuvor erheblichen Belastungen durch tigen Frauen zwischen 65 und 69 Jahren wird ein
die Pflege des Partners ausgesetzt. Zudem spielt Viertel im Pflegeheim versorgt und von den hoch­
die geschlechtsdifferenzierte Ausprägung von Er­ altrigen Frauen ab 95 Jahre über die Hälfte (55 %).
krankungen eine Rolle: Während ältere Männer Von den hochaltrigen Männern mit Pflegebedarf
häufiger von Erkrankungen betroffen sind, die in dieser Altersgruppe ist dagegen nur gut ein
mit einer Frühsterblichkeit einhergehen, leiden Drittel in einem Heim untergebracht (38 %), alle
Frauen öfter unter Erkrankungen, die zwar zu anderen werden zu Hause von Angehörigen und/
körperlichen Einschränkungen, nicht aber zu vor­ oder Pflegediensten versorgt [20].
zeitigem Tod führen [22]. Erreichen ältere Män­ Die Art der Versorgung von Personen, die ge­
ner ein hohes Alter, haben sie deshalb häufiger als mäß PflegeVG anerkannt pflegebedürftig sind, be­
gleichaltrige Frauen eine relativ gute Gesundheit. gründet den Anspruch auf bestimmte Leistungen
Mehr als zwei Drittel (68 % bzw. 1,45 Millio­ aus der Pflegeversicherung. Versicherte, die in
nen) der Pflegebedürftigen wurden im Jahr 2005 einem Pflegeheim leben, haben Anspruch auf
ambulant, das heißt zu Hause versorgt. 980.000 vollstationäre Leistungen. Pflegebedürftige, die
Pflegebedürftige erhielten ausschließlich Pfle- zu Hause gepflegt werden, können zwischen
Gesundheit und Krankheit im Alter 147

Tabelle 3.3.4.2
Art der Betreuung der Pflegebedürftigen nach Alter und Geschlecht 2005, Anteile an allen Pflegebedürftigen
der entsprechenden Altersgruppe in %
Quelle: Pflegestatistik 2005, eigene Berechnungen [20]

Altersgruppe Pflegebedürftige Pflegebedürftige, zu Hause von Pflegebedürftige, zu Hause


in Pflegeheimen ambulanten Pflegediensten betreut nur von Angehörigen betreut
Frauen
alle Altersgruppen 36,2 % 22,9 % 40,9 %
(0 bis über 95 Jahre)
65 – 69 Jahre 25,0 % 21,0 % 54,0 %
70 – 74 Jahre 26,8 % 23,8 % 49,4 %
75 – 79 Jahre 31,6 % 25,5 % 42,9 %
80 – 84 Jahre 37,9 % 25,8 % 36,3 %
85 – 89 Jahre 42,8 % 24,8 % 32,5 %
90 – 95 Jahre 48,9 % 22,6 % 28,5 %
95 Jahre und älter 54,8 % 20,9 % 24,2 %
Männer
alle Altersgruppen 22,6 % 20,6 % 56,8 %
(0 bis über 95 Jahre)
65 – 69 Jahre 25,0 % 17,0 % 58,0 %
70 – 74 Jahre 23,1 % 20,0 % 57,0 %
75 – 79 Jahre 23,1 % 24,3 % 52,6 %
80 – 84 Jahre 26,0 % 28,4 % 45,6 %
85 – 89 Jahre 29,7 % 30,1 % 40,2 %
90 – 95 Jahre 35,3 % 30,0 % 34,6 %
95 Jahre und älter 37,9 % 29,4 % 32,6 %

den Leistungen eines ambulanten Pflegedienstes gebedürftiger. Mit zunehmendem Alter steigt der
(Sachleistung) und dem Pflegegeld (Pflege durch Anteil der Empfängerinnen und Empfänger von
Angehörige) wählen. Das Pflegegeld ist nach wie Leistungen für die stationäre Pflege. Dementspre­
vor die dominante Leistungsform der Pflegever­ chend sinkt im Alter der Anteil der Pflegebedürf­
sicherung: 46 % aller Leistungsempfänger wähl­ tigen, die ausschließlich Pflegegeld in Anspruch
ten im Jahr 2005 diese Form der Unterstützung nehmen, ebenso die Zahl der Personen, die Kom­
bei Pflegebedürftigkeit. In den letzten Jahren binationsleistungen erhalten. Bei Frauen werden
ist allerdings eine leichte Trendverschiebung in ab dem Alter von 80 Jahren Leistungen zur statio­
Richtung professioneller und stationärer Pflege nären Pflege häufiger in Anspruch genommen als
zu beobachten [18, 20]. Dies hängt zum einen mit Pflegegeld und kombinierte Leistungen, bei Män­
den hohen Anforderungen zusammen, die eine nern etwa zehn Jahre später (siehe Tabelle 3.3.4.2).
Pflege zu Hause an die Pflegepersonen stellt. Welche Erkrankungen sind es hauptsächlich,
Außerdem finden sich hierin Veränderungen in die bei älteren und sehr alten Menschen zu ei­
den Familien- und Haushaltsstrukturen. Die Ana­ ner Langzeitpflegebedürftigkeit führen? Bei den
lysen zur Inanspruchnahme der verschiedenen 65- bis 79-Jährigen sind Krankheiten des Herz-
Leistungsformen der Pflegeversicherung durch Kreislauf-Systems, psychische und Verhaltensstö­
Ältere ergeben ein ganz ähnliches Bild wie die be­ rungen (zu dieser Kategorie zählen auch demen­
reits präsentierten Daten zur Unterbringung Pfle- zielle Erkrankungen), Krankheiten des Skeletts,
148 Gesundheit und Krankheit im Alter

der Muskeln und des Bindegewebes sowie Neubil­ dürftigen (über 80 Jahre) die Pflegebedürftigkeit
dungen die Hauptursachen für die Anerkennung im Zusammenhang mit einer demenziellen Er­
einer Pflegebedürftigkeit (Daten: Pflegebericht­ krankung steht [18].
erstattung der Medizinischen Dienste 2002 in Die Frage, wie sich die Inanspruchnahme
[18]). Bei beiden Geschlechtern stehen in diesem von Leistungen zur Pflege in den kommenden
Alter Herz-Kreislauf-Erkrankungen erster Stel­ Jahren entwickeln wird, ist Gegenstand verschie­
le, bei Frauen folgen psychische Erkrankungen, dener Modellrechnungen. Klar ist, dass die demo­
bei Männern Neubildungen. In der Altersgrup­ grafische Entwicklung in Deutschland zu einer
pe 80 Jahre und älter wurde am häufigsten die deutlichen Zunahme älterer und sehr alter Men­
ICD-10 Hauptgruppe »Symptome und abnorme schen führen wird. Daraus kann ganz allgemein
klinische Befunde« als pflegebegründende Dia­ geschlussfolgert werden, dass die Zahl derjenigen,
gnose angegeben, unabhängig vom Geschlecht. die auf pflegerische Leistungen angewiesen sind,
In der Pflegeberichterstattung der Medizinischen zunehmen wird. Wenn die Zahl der Pflegebedürf­
Dienste stellt »Senilität« die häufigste Einzeldi­ tigen geschätzt werden soll, die im Jahr 2030 oder
agnose in dieser Hauptgruppe dar [18]. Die Ver­ 2040 Leistungen aus der Pflegeversicherung in
wendung des Begriffes »Senilität« wird allerdings Anspruch nehmen, müssen neben den Informa­
kritisch diskutiert, zumeist wird damit eine im tionen zur demografischen Entwicklung auch
Alter auftretende Schwäche oder Gebrechlichkeit Annahmen über Pflegewahrscheinlichkeiten (Prä­
bezeichnet, die insbesondere auch die geistige valenzen) herangezogen werden. Es bestehen un­
Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Nimmt man terschiedliche Auffassungen darüber, wie sich der
die psychiatrischen Krankheitsbilder, die unspe­ Gesundheitszustand der älteren und sehr alten
zifischen Symptome und die bei den Krankheiten Bevölkerung in der Zukunft entwickeln wird (vgl.
des Nervensystems erfasste Alzheimer-Krankheit Kapitel 2.5). Ob Krankheiten, die zur Pflegebe­
zusammen, so stellen demenzielle Erkrankungen dürftigkeit führen, genau so häufig auftreten wie
die häufigste Ursache von Pflegebedürftigkeit dar. heute oder möglicherweise später bzw. seltener
Ihr Anteil steigt mit zunehmendem Alter deut­ sind, ist Gegenstand verschiedener Hypothesen.
lich an. In der Altersgruppe der über 80-Jährigen Viele Prognosen stimmen jedoch darin überein,
wird Pflegebedürftigkeit in mehr als 35 % der Fäl­ dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahre
le durch eine demenzielle Erkrankung begründet 2040 zunehmen wird und mit einer steigenden
[18]. Der Zusammenhang zwischen funktionaler Inanspruchnahme von Leistungen aus der Pfle-
Gesundheit und Pflegebedürftigkeit wird in Kapi­ geversicherung zu rechnen ist [18].
tel 2.2 erläutert.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die
vorhandenen Daten zur Inanspruchnahme von 3.3.5 Arzneiverbrauch im Alter
Leistungen zur Pflege auf ausgeprägte Alters- und
Geschlechtsunterschiede bei den Leistungsemp­ Im Jahr 2006 wurden 39,6 Milliarden Euro für
fängern hinweisen. Mehr als vier Fünftel der Pfle- Arzneimittel ausgegeben. Das sind ca. 16 % der
gebedürftigen im Jahr 2005 waren 65 Jahre und gesamten Ausgaben für Gesundheit [23]. Die Aus­
älter. Der Anteil der Pflegebedürftigen steigt da­ gaben für Arzneimittel betrugen je Einwohner
bei von Altersgruppe zu Altergruppe. Für Frauen 480 Euro (eigene Berechnungen nach [23]). Durch
ergibt sich ab etwa dem achtzigsten Lebensjahr die mit dem Alter ansteigende Menge ärztlich ver­
eine deutlich höhere Pflegequote als für Männer. ordneter Medikamente stellt der Arzneimittelver­
Mit zunehmendem Alter steigt der Anteil der brauch insbesondere in der Gruppe der älteren
Leistungsempfänger, die stationäre Pflege in An­ und sehr alten Menschen einen bedeutenden
spruch nehmen. Ältere Frauen sind aufgrund der Kostenfaktor dar. Im folgenden Abschnitt wird
höheren Lebenserwartung verbunden mit einem die Häufigkeit von Arzneimittelanwendungen im
schlechteren Gesundheitszustand und geringeren Alter, auch im Vergleich zu jüngeren Altersgrup­
familiären Ressourcen (allein lebend) häufiger in pen dargestellt. Das Spektrum der Medikamente,
Pflegeheimen untergebracht. Hervorzuheben ist, die von älteren Menschen eingenommen werden,
dass bei über einem Drittel der ältesten Pflegebe­ wird beschrieben und es wird der Frage nachge­
Gesundheit und Krankheit im Alter 149

gangen, ob es geschlechtsspezifische Muster des Tabelle 3.3.5.1


Arzneiverbrauchs gibt. Der Beitrag des Alters und Versicherte der Gmünder ErsatzKasse mit Arzneiverord­
nungen nach Alter und Geschlecht 2007
der Beitrag der Morbidität zum erhöhten Arznei­ Quelle: Routinedaten der GEK 2007 [27]
mittelkonsum älterer Männer und Frauen werden
diskutiert. Altersgruppe Frauen Männer
Im ersten Teil der Ausführungen steht das 60 – 69 Jahre 89,6 % 84,9 %
Verordnungsgeschehen im Mittelpunkt. Für den 70 – 79 Jahre 93,9 % 92,0 %
Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung 80 – 89 Jahre 96,3 % 95,5 %
(GKV) gibt der jährlich erscheinende Arznei­
90 – 99 Jahre 95,7 % 94,7 %
verordnungsreport hierüber Auskunft [24, 25].
Spezielle Auswertungen zum Arzneimittelkon­ 100 Jahre und älter 100,0 % 100,0 %
sum Älterer enthält der Arzneimittel-Report der Gesamt 78,4 % 69,4 %
Gmünder ErsatzKasse (GEK-Arzneimittel-Report) (0 – 99 Jahre)
[26, 27]. Er wurde für das vorliegende Kapitel
ebenfalls herangezogen, obwohl hier nur die Ver­
sichertenpopulation der GEK einbezogen ist. Nach
den Ausführungen zu Verschreibungen geht es im Alter: Die Zahl der DDD liegt bei älteren und sehr
zweiten Teil des Abschnittes um die tatsächliche alten Menschen deutlich höher als im jüngeren
Medikamenteneinnahme und um Angaben zur und mittleren Erwachsenenalter. Die niedrigsten
Selbstmedikation, die auf Selbstangaben in Sur­ Werte weisen die 20- bis 24-jährigen Männer und
veys beruhen. Frauen auf: 58 Tagesdosen wurden jährlich ver­
Die Verordnung einer Arzneimitteltherapie ordnet (Mittelwert). Der höchste Wert wird im Al­
ist stark alters- und geschlechtsabhängig [27]. So ter von 80 bis 84 Jahren erreicht: durchschnittlich
bekamen insgesamt knapp 74 % aller GEK-Ver­ 1.278 DDD (siehe Tabelle 3.3.5.2). Unter Einbezie­
sicherten im Jahr 2007 Arzneimittel verordnet, hung der gesamten Versichertenpopulation der
bei den Frauen lag der Anteil bei 78 %, bei den GKV wurden mit Blick auf die definierten Tages­
Männern bei 69 %. Die Verordnungsrate steigt dosen nahezu durchgängig geschlechtsspezifische
mit zunehmendem Alter deutlich an. Fast jede Unterschiede gefunden. In fast jeder Altersgruppe
bzw. jeder Versicherte ab 65 Jahren (92 %) bekam werden Frauen mehr Arzneimittel verordnet als
im Laufe des Jahres 2007 mindestens einmal eine Männern (gemessen in DDD). Als Ursache hier­
Arzneimittelverordnung (Männer 90 %, Frauen für wird angeführt, dass Männer und Frauen zwar
94 %) (siehe Tabelle 3.3.5.1). Geschlechtsspezi­ pro Arztbesuch gleich häufig Arzneimittel verord-
fische Unterschiede in der Inanspruchnahme gibt
es im Alter kaum noch, die Raten gleichen sich
an. Im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter
Tabelle 3.3.5.2
bekommen dagegen durchgängig deutlich mehr
Arzneiverordnung je Versicherter der GKV nach Alter
weibliche als männliche GEK-Versicherte Arznei­ (definierte Tagesdosen, DDD) 2006
mittel verordnet. Quelle. Arzneimittelindex des Wissenschaftlichen Instituts
Detaillierter lässt sich der Arzneimittelge­ der Ortskrankenkassen (WIdO) 2006 [28]
brauch der älteren und sehr alten Menschen
Altersgruppe definierte Tagesdosen (DDD)
über die Abgabemengen (definierte Tagesdosen
– DDD) und die Arzneimittelgruppen der verord­ 65 – 69 Jahre 890
neten Medikamente beschreiben. Durchschnitt­ 70 – 74 Jahre 1.115
lich wurden im Jahr 2006 jedem und jeder Ver­ 75 – 79 Jahre 1.270
sicherten der GKV 419 definierte Tagesdosen 80 – 84 Jahre 1.278
verordnet [28]. Eine definierte Tagesdosis ist
85 – 89 Jahre 1.133
eine angenommene mittlere tägliche Dosis eines
90 Jahre und älter 1.013
Medikamentes; berücksichtigt wird hierbei also
nicht die tatsächlich verordnete Arzneimitteldosis. Gesamt 419
(0 – 90 Jahre und älter)
Der Umfang der Verordnungen variiert mit dem
150 Gesundheit und Krankheit im Alter

net bekommen, Frauen aber deutlich öfter einen und weitere Stoffe zusammengefasst. Keine an­
Arzt aufsuchen [28]. Darüber hinaus betreiben dere Arzneimittelgruppe wird so häufig für die
Frauen vermutlich in größerem Umfang Selbst­ Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
medikation. eingesetzt. Insgesamt dient der überwiegende Teil
Die nachfolgende Abbildung 3.3.5.1 verdeut­ der in Abbildung 3.3.5.1 enthaltenen Arzneimittel­
licht, welche Arzneimittelgruppen den GKV-Pa­ gruppen mit den höchsten DDD pro Patientin/
tientinnen und -Patienten im Alter am häufigsten Patient zur Therapie von Herz-Kreislauf-Erkran­
verordnet werden. Statt der traditionellen Indi­ kungen, zum Beispiel Betarezeptorenblocker, Di­
kationsgruppen der Roten Liste werden in der uretika und Lipidsenker. Antidiabetika sind eben­
Grafik Arzneimittelgruppen auf der Basis des falls unter den sieben Arzneimittelgruppen, die
anatomisch-therapeutisch-chemischen Systems älteren und sehr alten Patientinnen bzw. Patienten
(ATC-Systems) der Weltgesundheitsorganisation besonders oft verordnet werden. Außerdem haben
(WHO) dargestellt [28]. Nach dieser Klassifikation Medikamente zur Behandlung rheumatischer Er­
stehen Angiotensinhemmstoffe an der Spitze der krankungen und gegen Schmerzen in der Alters­
verordnungshäufigsten Arzneimittelgruppen, so­ gruppe der 65-Jährigen und Älteren große Bedeu­
wohl bei den älteren Patientinnen und Patienten tung [26]. Aus Abbildung 3.3.5.1 geht auch hervor,
ab 65 Jahren sowie auch bei allen GKV-Versicher­ dass der Arzneiverbrauch im Alter in Bezug auf
ten mit Arzneiverordnungen im Jahr 2007. Als einzelne Medikamentengruppen nicht gleichmä­
Angiotensinhemmstoffe werden ACE-Hemmer ßig zunimmt. Für Diuretika und Herztherapeuti-

Abbildung 3.3.5.1
Verordnung von Fertigarzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nach Alter 2007
(definierte Tagesdosen (DDD) je GKV-Versicherten, Arzneimittelgruppen 2. ATC-Ebene)
Quelle: Arzneimittelindex des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) 2007 [29]

definierte Tagesdosen (DDD)


400

350

300

250

200

150

100

50

Alle 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+


Altersgruppen
Altersgruppe

Angiotensinhemmstoffe (C09) Diuretika (C03) Herztherapeutika (C01)


Lipidsenker (C10) Antidiabetika (A10)
Betarezeptorenblocker (C07) Calciumantagonisten (C08)
Gesundheit und Krankheit im Alter 151

ka steigt er beispielsweise an. Die Verordnungen oftmals nur Probanden im jungen oder mittle­
von Antidiabetika gehen dagegen mit steigendem ren Erwachsenenalter teil [26, 30]. Im Gegensatz
Alter zurück. Für andere Medikamentengruppen dazu bekommen ältere und sehr alte Männer und
ist nach einem Anstieg ein Rückgang in den höchs­ Frauen deutlich häufiger und mehr verschiedene
ten Altersgruppen (ab 80 Jahren) zu beobachten, Arzneimittel verordnet als junge Menschen.
beispielsweise Angiotensinhemmstoffen und Li­ Die Häufigkeit von Medikationsfehlern, un­
pidsenker. erwünschten Arzneimittelwirkungen und Arznei­
Geschlechtsspezifische Arzneiverordnungen mittelinteraktionen nimmt mit steigender Zahl
betreffen bei älteren und sehr alten Männern Uro­ der Wirkstoffe proportional zu. Für geriatrische
logika (Prostataerkrankungen) und Medikamente Patientinnen und Patienten wird empfohlen, nicht
gegen Gicht, sowie bei Frauen Sexualhormone mehr als vier Medikamente regelmäßig anzuwen­
und Schilddrüsentherapeutika (GEK-Versicherte den [26, 30]. Die Auswertung der Verordnung von
2004 [26]). Die Verordnung von Antidepressiva Arzneimitteln für ältere und sehr alte Versicherte
im Alter soll an dieser Stelle noch kurz erwähnt der GEK ergab, dass insbesondere in der Gruppe
werden, denn Antidepressiva sind eine Arznei­ der sehr alten Frauen von dieser Empfehlung oft­
mittelgruppe, deren Bedeutung in der Versor­ mals abgewichen wird: 40 % der weiblichen Versi­
gung in den letzten Jahren stark gewachsen ist. cherten im Alter von 85 bis 90 Jahren erhielten im
Die Wirksamkeit der Wirkstoffe ist allerdings Jahr 2005 mehr als acht Wirkstoffe [26].
heftig umstritten [27]. Der Anteil der Versicher­ Unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei äl­
ten mit Antidepressivaverordnung im Jahre 2007 teren und sehr alten Männern und Frauen wurden
ist bei Frauen nahezu doppelt so hoch wie bei von einer Arbeitsgruppe in den USA systematisch
Männern. Bei 65- bis 70-jährigen Frauen beträgt ausgewertet. Die Arbeitsgruppe veröffentlichte
er etwa 12 %, bei gleichaltrigen Männern etwa eine Liste mit Arzneimitteln, deren Anwendung
5 % (GEK-Versicherte [27]). Der Anteil steigt bei bei älteren Patientinnen und Patienten als proble­
beiden Geschlechtern mit dem Alter deutlich an matisch erachtet wird [26]. Für die GEK wurde mit
(90- bis 95-jährige Frauen ca. 19 %, Männer ca. Verordnungsdaten aus dem Jahr 2005 ermittelt,
11 %). Antidepressiva werden allerdings sowohl dass 20 % aller versicherten Männer und Frauen
zur Behandlung von Depressionen und weiteren ab 65 Jahren, das entspricht 22 % aller Arzneimit­
psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt als auch telpatientinnen und -patienten, mindestens einen
zur Therapie chronischer Schmerzen. Ausgehend Wirkstoff erhielten, der auf dieser Liste steht. In
von Erkenntnissen darüber, welche Antidepres­ der betroffenen Gruppe erhielten 20 % der Frauen
siva wegen unerwünschter Wirkungen als prob­ und über 15 % der Männer sogar mehr als einen
lematisch für ältere Menschen gelten, wurde Wirkstoff von der Liste [26]. Die GEK leitet aus
ermittelt, dass bei GEK-versicherten Frauen ab 65 diesen Ergebnissen zur Arzneimittelverordnung
Jahren 33 % der verordneten Packungen auf Prä­ bei 65-Jährigen und Älteren einen dringenden
parate entfielen, die für diese Altersgruppe nicht Handlungsbedarf ab [26].
empfehlenswert sind [27]. Dies unterstreicht die Wichtige neue Erkenntnisse zu diesem The­
ärztliche Verantwortung bei der Entscheidung für ma, speziell für den deutschen Markt werden in
eine Verordnung von Psychopharmaka. nächster Zeit erwartet, denn das Bundesministe­
Die Arzneimitteltherapie älterer und sehr rium für Bildung und Forschung fördert seit 2007
alter Menschen verlangt viel therapeutische Er­ mehrere Verbundprojekte, die sich unter anderem
fahrung, denn ältere Patientinnen und Patienten speziell mit den Grundlagen für eine Optimierung
weisen auf der einen Seite zahlreiche altersspezi­ der Arzneimitteltherapie im höheren Lebensalter
fische Besonderheiten auf, die für die Therapie befassen [27].
von Bedeutung sind, beispielsweise eine nach­ Die bisherigen Ausführungen zur Inan­
lassende Nieren- und Leberfunktion, feinmoto­ spruchnahme von Arzneimitteln durch ältere
rische Schwierigkeiten und Einschränkungen Menschen basieren auf Daten, die das Verord­
beim Erinnerungsvermögen. Andererseits neh­ nungsgeschehen widerspiegeln. Sie geben Aus­
men an klinischen Studien zu Wirkungen (und kunft über Medikamente, die von niedergelas­
unerwünschten Wirkungen) der Medikamente senen Ärztinnen und Ärzten verschrieben und
152 Gesundheit und Krankheit im Alter

in den Apotheken zu Lasten der GKV bzw. der als bei den Männern, ab der Altersgruppe 60 bis
GEK abgegeben wurden. Nicht verschreibungs­ 69 Jahre wird dieser Unterschied aber geringer.
pflichtige Arzneimittel dürfen ohne Rezept in Auch bezüglich der Anzahl eingenommener Arz­
Apotheken verkauft werden. Seit 2004 (GKV- neimittel zeigte sich eine deutliche Zunahme mit
Modernisierungsgesetz) können sie bis auf we­ steigendem Alter. Dieser Trend beginnt wiederum
nige Ausnahmen nicht mehr ärztlich verordnet im Vorrentenalter (50 bis 59 Jahre) und setzt sich
werden, das heißt die Patientinnen und Patienten bis zur höchsten Altergruppe fort. Frauen kon­
müssen selbst zahlen. Dadurch werden nicht ver­ sumieren in allen Altergruppen mehr Präparate
schreibungspflichtige Arzneimittel in den Abrech­ als Männer. Multimedikation, hier definiert als
nungsdaten der Krankenkassen nicht erfasst. Sie gleichzeitige Anwendung von zwei und mehr
machen aber einen großen Teil der in Apotheken Arzneimitteln, wird mit steigendem Alter er­
abgegeben Packungen aus. Nach Angaben des wartungsgemäß häufiger, geschlechtsspezifische
Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller ent­ Unterschiede verringern sich. Im Arzneimittel­
fielen im Jahr 2007 nur 48 % der abgegebenen survey wurde auch erfasst, welche der eingenom­
Arzneimittelpackungen auf ärztlich verordne­ menen Medikamente ärztlich verordnet waren
te Präparate, für die Rezeptpflicht besteht, 10 %
der Packungseinheiten waren verordnete, nicht
rezeptpflichtige Medikamente und 43 % dienten
der Selbstmedikation. Tabelle 3.3.5.3
Außerdem ist von Bedeutung, dass Angaben Arzneimittelanwendung in den letzten sieben Tagen nach
Alter und Geschlecht 1998
zur Abgabe von Arzneimitteln nicht den tatsäch­ Quelle: Bundes-Gesundheitssurvey 1998, eigene Berech­
lichen Verbrauch widerspiegeln. Bei chronischen nungen [35]
Krankheiten wird eher als bei akuten Erkran­
kungen davon ausgegangen, dass die verordne­ Altersgruppe Frauen Männer
ten Medikamente eingenommen werden [31, 32]. Arzneimittelanwender
Studien zur Compliance zeigten allerdings, dass
60 – 69 Jahre 89,2 % 82,3 %
selbst bei chronischen Krankheiten, wie beispiels­
70 – 79 Jahre 92,9 % 87,4 %
weise Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen,
Diabetes, Rheuma oder Osteoporose die Medi­ durchschnittliche Anzahl eingenommener
Arzneimittel pro Arzneimittelanwender
kamenteneinnahme von einem großen Teil der
Patientinnen und Patienten (zwischen 20 % und 60 – 69 Jahre 4,3 3,6
70 %) selbstständig beendet wird [33, 34]. Niedrige 70 – 79 Jahre 4,8 4,3
Non-Compliance-Raten wurden dagegen für Kon­ Multimedikation (2 und mehr Arzneimittel)
trazeptiva gefunden [33]. bei Arzneimittelanwendern
Aussagen zum tatsächlichen Arzneimittel­ 60 – 69 Jahre 86,0 % 80,7 %
konsum der älteren Bevölkerung, einschließlich 70 – 79 Jahre 85,1 % 89,1 %
der Selbstmedikation lassen sich aus Arzneimit­
Arzneimittelanwender mit ausschließlich
telsurveys ableiten. 1998 wurde in Deutschland ärztlich verordneten Medikamenten
ein solcher Survey als Teil des Bundes-Gesund­
60 – 69 Jahre 53,3 % 64,7 %
heitssurvey durchgeführt, der Personen bis 79
Jahre einbezog. Es zeigte sich, dass über alle Al­ 70 – 79 Jahre 64,9 % 69,2 %
tersgruppen hinweg insgesamt 70 % aller Män­ Arzneimittelanwender mit ausschließlich
ner und Frauen mindestens einmal innerhalb der selbst verordneten Medikamenten
letzten 7 Tage Arzneimittel angewendet hatten. 60 – 69 Jahre 6,5 % 12,2 %
Im letzten Jahr nahmen nur 9 % gar keine Me­ 70 – 79 Jahre 3,0 % 3,8 %
dikamente ein [35]. Mit steigendem Alter erhöht Arzneimittelanwender mit sowohl ärztlich
sich der Anteil der Personen, die in den letzten sie­ als auch selbst verordneten Medikamenten
ben Tagen Arzneimittel benötigten (siehe Tabel­ 60 – 69 Jahre 40,2 % 23,1 %
le 3.3.5.3). Der Arzneimittelgebrauch der Frauen
70 – 79 Jahre 32,2 % 27,0 %
erreicht in allen Alterstufen ein höheres Niveau
Gesundheit und Krankheit im Alter 153

und welche keinen unmittelbaren Bezug zur Ver­ wegserkrankungen und Osteoporose aber auch
ordnung hatten (Selbstmedikation). Von allen Arz­ die Eindämmung infektiöser Erkrankungen und
neimittelanwenderinnen und -anwendern nahm die Verhinderung von Stürzen sind Ansatzpunkte
knapp die Hälfte selbst verordnete Arzneimittel für die Prävention im Alter (vgl. Kapitel 2.1). Die­
ein. Bei den Älteren wird der Anteil derer, die nur se kann in Form von primären, sekundären oder
selbst verordnete Medikamente einnehmen, ge­ tertiären Präventionsmaßnahmen erfolgen. Die
ringer. Vielzahl von Ansätzen und Handlungsfeldern,
Aus den vorliegenden Daten zum Medika­ die für Gesundheitsförderung und Krankheitsver­
mentenkonsum älterer Menschen ist zusam­ hütung bei älteren Menschen bestehen, werden
menfassend erkennbar, dass sowohl die Zahl bislang in der Öffentlichkeit, in den ärztlichen
der Verordnungen als auch die tatsächliche Me­ und pflegerischen Berufen wie auch in der Politik
dikamenteneinnahme mit dem Älterwerden zu­ unterschätzt [2, 6, 38]. In Deutschland liegen prä­
nimmt. Das wird zum einen am Anteil der Per­ ventive und gesundheitsförderliche Angebote für
sonen deutlich, die Medikamente einnehmen, und Senioren nur vereinzelt vor [38]. Gesetzlich veran­
zum anderen an der Anzahl der eingenommenen kert sind einige diagnostische Untersuchungen,
Präparate pro Person. Die Zahl der definierten die der Krankheitsfrüherkennung dienen. Seit
Tagesdosen liegt bei älteren und sehr alten Men­ dem 1. April 2005 gibt es zudem das hausärztlich­
schen deutlich höher als im jüngeren und mitt­ geriatrische Basisassessment [6].
leren Erwachsenenalter. Wenn man jedoch den Im folgenden Abschnitt wird die Inanspruch­
Einfluss verschiedener Faktoren auf die Medika­ nahme von Präventionsmaßnahmen beschrieben,
menteneinnahme prüft, so ergeben sich Hinweise die im Fünften Sozialgesetzbuch Gesetzliche
darauf, dass nicht das Alter sondern die Morbidi­ Krankenversicherung (SGB V) verankert sind.
tät den stärksten Einfluss hat. Aus den Daten des Dies sind zum einen Impfungen (§ 23 SGB V), hier
Arzneimittelsurvey kann geschlussfolgert werden, die Grippeschutzimpfung – eine primärpräventiv
dass zunächst die Anzahl der Krankheiten und das ausgerichtete Maßnahme – sowie zwei Angebote
Geschlecht ausschlaggebend dafür sind, ob in den der sekundären Prävention: die Gesundheitsun­
letzten sieben Tagen Arzneimittel eingenommen tersuchung »Check-up« (§ 25 Abs. 1 SGB V) und
wurden [35, 36]. die Krebsfrüherkennung (§ 25 Abs. 2 SGB V).
Obwohl ältere und sehr alte Menschen – ver­ Diese Präventionsmaßnahmen wurden ausge­
mutlich krankheitsbedingt – mehr Medikamente wählt, weil sie für die betrachtete Altersgruppe re­
als Jüngere einnehmen, steigen die Arzneimittel­ levant sind und weil Daten zur Inanspruchnahme
kosten im Alter nicht im erwarteten Umfang, denn zur Verfügung stehen. Es wurde ausgewertet, in
die Kosten pro DDD sinken mit zunehmendem welchem Umfang 65-Jährige und Ältere an den
Alter [28]. Die Arzneimittel für 65-jährige und genannten Vorsorgemaßnahmen teilnehmen und
ältere Männer und Frauen, die in der GKV versi­ ob es geschlechtsspezifische Unterschiede gibt.
chert sind, kosten in Abhängigkeit von Alter und Dabei erfolgte auch ein Vergleich mit den Teilnah­
Geschlecht um 0,7 Euro je DDD (höchster Wert: meraten von jüngeren anspruchsberechtigten Per­
1,91 Euro bei 25- bis 29-jährigen Männern, Jahr sonen, um Besonderheiten der Inanspruchnahme
2006). Die Arzneitherapie für Männer ist insge­ durch Ältere herauszuarbeiten.
samt deutlich teurer als für Frauen, die Unter­ Einen Schutz vor schweren Infektionskrank­
schiede nähern sich aber im Altersverlauf an. heiten, wie zum Beispiel der echten Grippe (Influ­
enza; in Abgrenzung zu »grippalen Infekten«, d. h.
Erkältungskrankheiten), bieten Impfungen. Sie
3.3.6 Wahrnehmung präventiver Angebote zählen zu den effektivsten und kostengünstigsten
Präventionsmaßnahmen. Für ältere und sehr
Nahezu alle epidemiologisch wichtigen Erkran­ alte Menschen ist insbesondere von Bedeutung,
kungen im Alter weisen präventive Potenziale dass Impfungen Krankheitskomplikationen und
auf [37]. Die Verhütung weit verbreiteter chro­ schwere Krankheitsverläufe bei Risikopatienten
nischer Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel verhindern. Für viele Seniorinnen und Senioren
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Atem­ ist durch chronische Erkrankungen oder ein ho­
154 Gesundheit und Krankheit im Alter

hes Lebensalter die Wahrscheinlichkeit, sich zu in­ einem Alter von 75 Jahren sinkt die Inanspruch­
fizieren bzw. besonders schwer zu erkranken, er­ nahmequote bei beiden Geschlechtern wieder
höht. Die Ständige Impfkommission (STIKO) am (Untersuchungsintervall beträgt zwei Jahre; Ta­
Robert Koch-Institut gibt regelmäßig aktualisierte belle 3.3.6.1).
Empfehlungen zu Impfungen heraus. Die jähr­ Das Krebsfrüherkennungsprogramm der
liche Grippeschutzimpfung wird von der STIKO gesetzlichen Krankenversicherung zielt auf be­
für alle über 60-Jährigen empfohlen. Die meis­ stimmte Krebsarten, die im Vor- oder Frühstadi­
ten gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die um durch diagnostische Maßnahmen zuverlässig
Kosten. Eine Impfpflicht besteht in Deutschland erfasst und auch mit Blick auf die finanziellen und
jedoch nicht [39]. strukturellen Ressourcen wirksam behandelt wer­
Im Mikrozensus 2003 wurde letztmalig die den können. Gesetzlich versicherte Frauen haben
Beteiligung an der Grippeschutzimpfung erfragt. jährlich Anspruch auf Vorsorgeuntersuchungen
In der Grippesaison 2002/2003 waren demnach für Krebserkrankungen der Genitalorgane, Brust,
42 % der 65-Jährigen und Älteren geimpft, Män­ Haut, Rektum (Enddarm) und Dickdarm. Ab 55
ner ebenso häufig wie Frauen. Im Vergleich zum Jahren kann im Rahmen der Darmkrebsfrüher­
mittleren Lebensalter ist ein Anstieg der Inan­ kennung auch eine Darmspiegelung erfolgen. Sie
spruchnahmezahlen festzustellen. Nur knapp wird zweimal im Abstand von zehn Jahren ange­
ein Fünftel der 40- bis 64-jährigen Männer und boten. Die 50- bis 69-jährigen Frauen können
Frauen nahm in der Grippesaison 2002/2003 zudem zweijährlich am Mammografie-Screening
an der Schutzimpfung teil (Männer 18 %, Frauen (Früherkennung von Brustkrebs) teilnehmen.
20 % [40]). Die höchsten Inanspruchnahmeraten Männern werden jährliche Früherkennungsunter­
wurden für Männer und Frauen ab 75 Jahren er­ suchungen von Prostata, äußeren Genitalorganen,
mittelt (Männer 47 %, Frauen 43 %). Haut, Rektum und Dickdarm (auch Darmspiege­
Gesundheitsuntersuchungen (»Check-up«) lung) angeboten [39].
dienen insbesondere der Früherkennung von Knapp die Hälfte aller anspruchsberech­
Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes mellitus und Nie­ tigten Frauen (48 %) und deutlich weniger Män­
renkrankheiten. Auch die für diese Erkrankungen ner (21 %) nahmen im Jahr 2006 an Krebsfrüh­
maßgeblichen Risikofaktoren, wie beispielsweise erkennungsuntersuchungen (KFU) teil [42]. Die
Zigarettenkonsum, Bluthochdruck und Überge­ Teilnahme an der Krebsfrüherkennung ist stark
wicht, sollen bei der Untersuchung festgestellt altersabhängig. Die höchsten Teilnahmeraten
werden. Der Check-up umfasst die Erhebung werden bei jüngeren Frauen zwischen 25 und
der Krankengeschichte (Anamnese), körperliche
Untersuchungen und Laboruntersuchungen von
Blut und Urin. Im Anschluss an die Untersu­
chung können ggf. weitergehende diagnostische Tabelle 3.3.6.1
und therapeutische Schritte eingeleitet werden. Inanspruchnahme der Gesundheitsuntersuchung
(Check-up) nach Alter und Geschlecht
Das Ergebnisgespräch mit der Patientin bzw. dem (auf Vorjahresteilnahme adjustiert) 2006
Patienten sollte Anstoß zum Abbau lebensstilbe­ Quelle: Teilnahmeschätzung 2006 auf der Basis von
zogener Gesundheitsrisiken geben [41]. Abrechnungsdaten verschiedener Kassenärztlicher
Die Check-up-Untersuchungen wurden (un­ Vereinigungen [42]
ter Berücksichtigung der geschätzten vorjährigen
Altersgruppe Frauen Männer
Teilnehmerzahlen) im Jahr 2006 von 23 % aller
50 – 54 Jahre 26,6 % 22,6 %
weiblichen und 26 % aller männlichen Versicher­
ten in Anspruch genommen [42]. Damit hat sich 55 – 59 Jahre 30,7 % 27,0 %
die Teilnahmerate langfristig deutlich erhöht [39, 60 – 64 Jahre 27,9 % 25,5 %
43]. Die Teilnahme im Jahr 2006 zeigt einen deut­ 65 – 69 Jahre 32,2 % 30,9 %
lichen Altersgradienten. Während in den jüngeren 70 – 74 Jahre 32,8 % 32,6 %
Altersgruppen die Beteiligung an der Check-up-
75 – 79 Jahre 27,2 % 29,0 %
Untersuchung zunächst gering ausfällt, nimmt
80 Jahre und älter 19,8 % 24,6 %
sie mit dem Alter bei beiden Geschlechtern zu. Ab
Gesundheit und Krankheit im Alter 155

Abbildung 3.3.6.1
Teilnahme an der Krebsfrüherkennung nach Alter und Geschlecht 2006
Quelle: Teilnahmeschätzung 2006 auf der Basis von Abrechnungsdaten verschiedener Kassenärztlicher Vereinigungen [42]

Prozent
60

50

40

30
Frauen

20 Männer

10

50–54 55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80+


Altersgruppe

29 Jahren festgestellt. Mit zunehmendem Alter krebsfrüherkennung beispielhaft herausgegriffen.


sinkt die Beteiligung, vor allem jenseits des 60. Darmkrebs ist eine Krankheit des alten Menschen
Lebensjahres. In der Altersgruppe 65 bis 69 Jahre – Männer erkranken im Mittel mit 69 Jahren,
nimmt bereits weniger als die Hälfte der Frauen Frauen mit 75 Jahren. Der Anteil dieser Lokali­
an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen teil sation an allen Krebstodesfällen ist hoch: Im Jahr
(44 %), von den Frauen ab 80 Jahren nur jede 2004 war Darmkrebs die zweithäufigste Ursa­
Zehnte (siehe Abbildung 3.3.6.1). Die regelmä­ che für einen Krebstod bei Männern und Frauen
ßige Inanspruchnahme einer Gynäkologin/eines (12 % der Todesfälle bei Männern, 14 % bei Frauen
Gynäkologen im jungen und mittleren Erwachse­ [44]). Ab dem 50. Lebensjahr können gesetzlich
nenalter könnte eine Ursache dafür sein, dass bei Versicherte jährlich einen Test auf verstecktes
jüngeren Frauen jährlich Krebsfrüherkennungs­ Blut im Stuhl, einen sogenannten Okkultbluttest,
untersuchungen durchgeführt wurden. Im Alter durchführen lassen. Das Krebsfrüherkennungs­
stehen andere Facharztgruppen im Vordergrund programm der gesetzlichen Krankenversicherung
des ambulanten Inanspruchnahmegeschehens für Darmkrebs wurde im Jahr 2002 erweitert, neu
(vgl. Abschnitt 3.3.1). Die Akzeptanz der KFU bei ist das Angebot zur Darmspiegelung für Männer
Männern ist in jüngeren Berechtigungsjahren und Frauen ab 55 Jahren. Nach zehn Jahren kann
zunächst gering, unter den 50- bis 54-jährigen eine zweite Früherkennungs-Koloskopie durchge­
Männer beispielsweise nur 15 %. Sie nimmt je­ führt werden. Von diesem Angebot machten bis­
doch mit dem Alter zu (70- bis 74-jährige Männer her nur wenige anspruchsberechtigte Personen
30 %), um jenseits von 75 Jahren wieder zu sinken. Gebrauch. Die höchste Inanspruchnahmerate
In der Altersgruppe 75 bis 79 Jahre ist der Anteil wurde mit knapp 16 % im Zeitraum 2003 bis
der Männer, die an der Krebsfrüherkennung teil­ 2006 bei Frauen im Alter von 60 bis 64 Jahren
nehmen, erstmals höher als der Anteil der Frauen. ermittelt (siehe Abbildung 3.3.6.2). Mit zuneh­
Aus dem Spektrum der Früherkennungs­ mendem Alter sinkt die Rate deutlich, bei 80-jäh­
untersuchungen, die auf einzelne Krebslokalisa­ rigen und älteren Frauen beispielsweise auf 3 %.
tionen abzielen, wird im Folgenden die Darm­ In den unteren Altersgruppen (bis 65 Jahre) ist
156 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 3.3.6.2
Teilnahme an der Darmkrebsfrüherkennung (Darmspiegelungen) nach Alter und Geschlecht 2003 bis 2006
Quelle: Teilnahmeschätzung 2003 bis 2006 auf der Basis von Abrechnungsdaten verschiedener
Kassenärztlicher Vereinigungen [42]

Prozent
18

16

14

12

10

8 Frauen

6 Männer

55–59 60–64 65–69 70–74 75–79 80+


Altersgruppe

die Akzeptanz des Früherkennungsangebots un­ insgesamt zwei Gesprächen über Ziel und Zweck
ter den Frauen stärker ausgeprägt als unter den der Früherkennung von Krebserkrankungen des
Männern. So haben in der Altersgruppe der 55- bis Darms informiert werden [45]. Dabei geht es auch
59-jährigen Versicherten 10 % der Frauen und nur um Fragen der Effektivität der Untersuchung, um
7 % der Männer eine solche Untersuchung in den daraus erwachsende Belastungen und Risiken so­
vergangenen vier Jahren in Anspruch genommen. wie um das Vorgehen bei positivem Befund.
In den höheren Altersgruppen kehrt sich der ge­ Die Prävention verbreiteter chronischer Er­
schlechtsspezifische Unterschied hinsichtlich der krankungen wird im Alter als der zentrale Ansatz­
jemaligen Teilnahme am Koloskopie-Screening punkt für die zukünftige Gesundheit, Unabhän­
zugunsten der Männer um. gigkeit und Mobilität gesehen [38]. Die in diesem
Zum Teil ist die mangelhafte Inanspruch­ Abschnitt dargestellten, im SGB V verankerten
nahme vermutlich darauf zurückzuführen, dass Maßnahmen der Primärprävention und Früher­
es die Vorsorge-Darmspiegelung im Rahmen der kennung werden von älteren Menschen ab 65 Jah­
Krebsfrüherkennung der GKV erst seit wenigen ren stärker genutzt als von jüngeren Versicherten.
Jahren gibt und nicht alle Versicherten ausrei­ Lediglich die Teilnahmeraten der Krebsfrüherken­
chend darüber informiert sind. In den Quali­ nung sinken mit zunehmendem Alter. Auffällig
tätsanforderungen für die Krebsfrüherkennung ist, dass die Beteiligung der Männer an den ver­
(»Krebsfrüherkennungs-Richtlinien« des Bundes­ schiedenen Präventionsangeboten im Alter erst­
ausschusses der Ärzte und Krankenkassen) wurde mals über denen der Frauen liegt. Insgesamt ist
dies aufgegriffen: Ab dem Alter von 50 Jahren sol­ allerdings festzustellen, dass die Teilnahmeraten
len gesetzlich versicherte Frauen und Männer in noch nicht zufrieden stellend sind. Dies gilt ins­
Gesundheit und Krankheit im Alter 157

besondere für die Krebsfrüherkennung vor dem Interessante Perspektiven für zukünftige For­
Hintergrund, dass zahlreiche Krebsarten verstärkt schungsprojekte ergeben sich u. a. aus der Frage,
bei älteren Männern und Frauen auftreten. ob allein der Gesundheitszustand die Inanspruch­
nahme gesundheitlicher, medizinischer und pfle­
gerischer Dienstleistungen beeinflusst oder ob
3.3.7 Ausblick sich das Alter zusätzlich auswirkt. Wenn man
argumentiert, dass mit dem Alter der Gesund­
Die Realisierung der Gesundheitspotenziale äl­ heitszustand schlechter wird, dann erhöht sich
terer Menschen ist erst dann umfassend möglich, mit zunehmendem Alter die Inanspruchnahme
wenn neben der Verhütung von Krankheiten und zunächst indirekt. Für einige Aspekte des Inan­
gesundheitlichen Einschränkungen der gesamte spruchnahmegeschehens, u. a. die ambulanten
Prozess des Älterwerdens mit drohenden oder Arztkontakte, zeigte sich allerdings in Studien
bereits vorliegenden körperlichen und mentalen bei bestimmten Personengruppen ein eigenstän­
Einschränkungen berücksichtigt wird [6, 37]. Vor­ diger Einfluss des Alters. Für andere Sektoren der
handene Präventionsangebote müssen an den Gesundheitsversorgung stehen solche Analysen
spezifischen Bedürfnissen Älterer ausgerichtet noch aus.
werden [2]. Eine Erweiterung des bestehenden Eine andere wichtige Frage ist, ob sich das
Angebots um spezielle Präventionsmaßnahmen Inanspruchnahmeverhalten von Männern und
für ältere und sehr alte Menschen wird ebenfalls Frauen unterscheidet. Während geschlechtsspe­
empfohlen [6]. zifische Analysen bereits für viele Bereiche des
Für die Konzeption von Präventionsangebo­ Versorgungsgeschehens vorliegen, ist eine Zuspit­
ten ist die Kenntnis der Versorgungsstrukturen, zung der Fragestellung von besonderem Interes­
die ältere Menschen nutzen, von großem Wert, se: Werden – bei gleichem Gesundheitszustand
beispielsweise wenn es um die Frage geht, ob der – Männer oder Frauen durch die Inanspruchnah­
Zugang über einen bestimmten Facharzt für die me von Dienstleistungen benachteiligt? In diesem
Vermittlung einer Präventionsbotschaft der beste Kontext ergibt sich auch die Frage, ob das Inan­
ist. Angaben zur Inanspruchnahme ambulanter spruchnahmeverhalten älter werdender und alter
und stationärer Angebote, die Teilnahme an Re­ Männer und Frauen »adäquat« ist. Suchen sie mit
habilitationsmaßnahmen und die Beantragung ihren Beschwerden den richtigen Ansprechpart­
von Leistungen aus der Pflegeversicherung durch ner innerhalb des medizinischen Versorgungs­
Ältere können außerdem als Begründung für systems auf, und werden sie adäquat überwiesen
die Notwendigkeit einer Präventionsmaßnahme oder weiterbehandelt?
herangezogen werden oder als Instrument der Der Zusammenhang zwischen sozialer Lage
Erfolgskontrolle dienen. Die im vorliegenden Ka­ und Nutzung des Gesundheitssystems durch äl­
pitel zusammengetragenen Informationen zum tere Menschen verdient in Zukunft ebenfalls stär­
Inanspruchnahmeverhalten der 65-Jährigen und kere Berücksichtigung. In Forschungsprojekten
Älteren in Deutschland können eine Basis dafür zu sozialer Ungleichheit in der medizinischen
darstellen. und gesundheitsbezogenen Versorgung werden
Die Verfügbarkeit aussagekräftiger Daten kaum Unterschiede entlang des sozialen Status
ist eine Voraussetzung für die realitätsnahe Ab­ gefunden (Überblick bei [46]). Kaum eine Studie
bildung des Inanspruchnahmegeschehens. Die bezieht allerdings schwerpunktmäßig ältere und
Daten sollten deutschlandweit repräsentativ für sehr alte Menschen ein.
die ältere Bevölkerung sein und es ermöglichen, Vor dem Hindergrund der Veränderungen
das Inanspruchnahmeverhalten in Beziehung zu im Altersspektrum der Bevölkerung und der ak­
wichtigen Einflussfaktoren, wie Alter, Geschlecht, tuellen Modifikation im System der Gesundheits­
gesundheitliche und soziale Lage, zu setzen. Sta­ versorgung bleibt der Bereich der Inanspruchnah­
tistiken und darauf basierende wissenschaftliche me von Gesundheitsleistungen durch Ältere ein
Analysen, die diesen hohen Anforderungen genü­ spannendes Gebiet. Es ist eine interessante und
gen, liegen zurzeit noch nicht für alle Bereiche des wichtige Aufgabe, die diesbezüglichen Entwick­
Versorgungsgeschehens vor. lungen, speziell in ihren Auswirkungen auf das
158 Gesundheit und Krankheit im Alter

Inanspruchnahmeverhalten älterer Menschen in 11. Statistisches Bundesamt (2006) Mikrozensus 2005 –


Fragen zur Gesundheit
Deutschland zu beobachten und mit wissenschaft­
www.destatis.de (Stand: 17.11.2008)
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Berliner Altersstudie, 1. Aufl. Akademie Verlag, Berlin,
und älter werdende Menschen in unserer Gesell­
S 475 – 495
schaft einen großen Bedeutungszuwachs erhalten 13. Statistisches Bundesamt (2008) Diagnosedaten der
werden. Ausführungen dazu finden sich im an­ Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern (ein­
schließenden Kapitel 3.4. schl. Sterbe- und Stundenfälle) 2006. Statistisches
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14. Steinhagen-Thiessen E, Gerok W, Borchelt M (1994)
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593 – 598
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Gesundheit und Krankheit im Alter 159

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Gesundheit in Deutschland. Kap. 3 Was leistet das Ge­ Wiesbaden, S 141 – 155
160 Gesundheit und Krankheit im Alter

3.4 Wie wichtig ist Prävention?


Benjamin Schüz, Susanne Wurm

Kernaussagen 3.4.1 Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit


im Alter
1. Prävention umfasst neben der Vermeidung
von (Folge-)Erkrankungen auch die Vorbeu­ Um Ansatzpunkte für präventive Maßnahmen
gung von Verschlechterungen der Gesund­ zu finden, müssen zunächst die Einflussgrößen
heit und die Vermeidung von Beeinträchti­ für Gesundheit und die Entstehung von Krank­
gungen und Behinderungen. heiten im Alter identifiziert werden. Dabei ist zu
2. Diese Formen von Prävention sind auch bei beachten, dass Gesundheit bei älteren Menschen
alten und hochbetagten Menschen möglich einen anderen Stellenwert hat als in jüngeren
und wichtig. Im Mittelpunkt stehen hierbei Altersgruppen [2]. Zudem verändert sich die in­
besonders jene Einflussgrößen, die für die haltliche Bedeutung von Gesundheit: Während
Gesundheit im Alter zentral sind und durch bei jüngeren Menschen Gesundheit hauptsäch­
eine Veränderung zugänglich sind. lich die Abwesenheit von Erkrankungen bedeutet,
3. Solche Maßnahmen müssen systematisch stehen mit zunehmendem Alter eher Beschwer­
geplant, durchgeführt und evaluiert werden, defreiheit und die Abwesenheit von körperlichen
um den unterschiedlichen Alternsverläufen Einschränkungen im Vordergrund [3]. Dement­
und Lebensumständen im Alter gerecht zu sprechend unterscheiden sich auch die Dimensi­
werden. onen und Einflussgrößen für Gesundheit im Alter
von denen jüngerer Menschen [4] (vgl. Kapitel 2.3)
Die Weltgesundheitsorganisation weist der Prä­ Für die Prävention von Erkrankungen heißt das,
vention im Alter im Rahmen ihres Grundlagen­ dass zusätzliche Faktoren berücksichtigt werden
papiers »Gesundheit im 21. Jahrhundert« zen­ müssen. Bei der Entstehung von Krankheiten im
trale Bedeutung zu und formuliert darin den Alter sind nämlich neben konstanten, unverän­
Anspruch, älteren Menschen Gesundheit, Selbst­ derlichen (z. B. genetische Disposition) und va­
wertgefühl, Unabhängigkeit und aktive Beiträge riablen Faktoren (z. B. Umwelteinflüsse und ver­
zum Gesellschaftsleben zu ermöglichen [1]. So haltensbedingte Risikofaktoren) auch allgemeine
wird deutlich, dass Prävention auch im höheren altersphysiologische Veränderungen des Körpers
und höchsten Alter noch möglich und wichtig wichtige Einflussgrößen, die mit den anderen
ist. Allerdings sollte bei dieser Zielgruppe der Faktoren während der Krankheitsentstehung und
Präventionsbegriff so weit gefasst werden, dass Genesung interagieren [5].
er außer der Vorbeugung von Erkrankungen vor Diese Interaktionen können sich auf die Ent­
allem die Vorbeugung von Verschlechterungen wicklung von Krankheiten auswirken. Zum Bei­
des Gesundheitszustandes umfasst. Dann sind spiel können Personen mit Laktoseunverträglich­
auch noch bei Personen mit erheblichen körper­ keit (genetische Prädisposition, also ein konstanter
lichen und kognitiven Beeinträchtigungen durch Faktor) nur wenig Milch und Milchprodukte zu
geeignete Maßnahmen wie der geriatrischen Re­ sich nehmen und leiden deshalb möglicherweise
habilitation und aktivierenden Pflege durchaus be­ unter Kalziummangel. Dies kann dann mit der
eindruckende präventive gesundheitliche Effekte Abnahme der mineralischen Knochendichte im
möglich. Alter (Osteoporose; altersphysiologische Verände­
In diesem Kapitel werden Ansatzpunkte für rung) interagieren und so das Risiko für Knochen­
Prävention im Alter entwickelt, mögliche Ziele brüche erhöhen. Aber auch beim Zusammentref­
und Inhalte von präventiven Maßnahmen disku­ fen von altersphysiologischen Veränderungen
tiert und aufgezeigt, welche Schritte in der Ent­ (z. B. Verringerung des Herzvolumens und der
wicklung von präventiven Maßnahmen für alte Arterienelastizität) mit variablen Faktoren (z. B.
Menschen berücksichtigt werden sollten. Rauchen als verhaltensbezogener Risikofaktor)
Gesundheit und Krankheit im Alter 161

Abbildung 3.4.1.1
Faktoren in der Entstehung von Krankheit im Alter
Quelle: modifiziert nach [5]; eigene Darstellung

z.B.
Genetische Prädisposition

Konstante Faktoren

Krankheit im
Alter

Altersphysiologische Variable Faktoren


Veränderungen

z.B. z.B.
Verringerung schädliche Umwelteinflüsse
Herzschlagvolumen erworbene Krankheiten
hormonelle Veränderungen Rauchen
abnehmende Muskelkraft Inaktivität
abnehmende Knochendichte unausgewogene Ernährung
Veränderung Blut-Hirn-Schranke psychische Belastungen

kann das Risiko von Erkrankungen deutlich an­ spielsweise regelmäßige körperliche Aktivität in
steigen (z. B. kardiovaskuläre Akuterkrankungen allen Altersgruppen empfohlen, entgegen oft ge­
wie Herzinfarkt). hörter Meinungen sogar bei sehr alten und ge­
Diese Interaktionen zeigen zugleich auf, wie brechlichen Menschen, wenn die individuellen
und an welchen Stellen durch Veränderungen der Möglichkeiten berücksichtigt werden [7].
Faktoren Einfluss auf die Entstehung von Krank­
heiten genommen werden kann. Zwar lassen sich
konstante Faktoren wie genetische Prädisposi­ 3.4.2 Ziele und Inhalte von Prävention im Alter
tionen nicht grundsätzlich verändern. Und auch
altersphysiologische Veränderungen des Körpers Bei der Zielgruppe alter Menschen wird deutlich,
lassen sich nicht vollständig vermeiden, sondern dass hier die Ziele von Prävention weiter als ledig­
bestenfalls verlangsamen. Immerhin aber lassen lich die Vorbeugung von Krankheit gefasst werden
sich die variablen Einflussgrößen modifizieren – müssen. Die oft gebräuchliche Unterteilung von
vor allem dann, wenn es sich um verhaltensbezo­ Prävention in Primär-, Sekundär- und Tertiärprä­
gene Risikofaktoren handelt. vention stößt (nicht nur) in dieser Zielgruppe an
Gesundheitlich relevante Verhaltensweisen ihre Grenzen. In der Altersgruppe von 70 bis 85
wie Rauchen, Alkoholkonsum, mangelnde kör­ Jahren leiden die meisten Personen an einer oder
perliche Aktivität, unausgewogene Ernährung mehreren Erkrankungen, mehr als ein Viertel
und unregelmäßige Einnahme von Medikamen­ dieser Altersgruppe haben sogar fünf und mehr
ten haben sich in verschiedenen Studien als die Erkrankungen gleichzeitig [8] (vgl. Kapitel 2.1).
wichtigsten veränderbaren Einflussgrößen für Dies unterstreicht, dass das Ziel einer generellen
gesundes Altern herausgestellt [6]. So wird bei­ Krankheitsvermeidung in dieser Gruppe schwer
162 Gesundheit und Krankheit im Alter

zu realisieren ist [9]. Andererseits ist bis ins hohe Allerdings müssen Maßnahmen, die auf
Alter Primärprävention im Sinne von Krankheits­ die Änderung solcher verhaltensbezogenen Ri­
vermeidung möglich, wenn es um die Vermei­ sikofaktoren abzielen, altersphysiologische Ver­
dung von spezifischen Krankheiten geht. änderungen mit einbeziehen. So ist es beispiels­
Die Ziele von Prävention im Alter umfassen weise wichtig, bei Ernährungsumstellungen zur
deshalb sowohl (1.) die Vorbeugung bzw. Verzö­ Gewichtsreduktion darauf zu achten, dass aus­
gerung spezifisch altersbedingter Veränderungen reichend Mineralien zur Vorbeugung von Kno­
und altersspezifischer Erkrankungen (z. B. vasku­ chenschwund zugeführt werden [17]. Außerdem
läre Demenz) als auch (2.) die Vorbeugung von müssen für die konkrete inhaltliche Ausgestaltung
nicht unbedingt altersbedingten Erkrankungen, von Maßnahmen die besonderen Bedürfnisse der
die aber im Alter mit höherer Wahrscheinlichkeit betreffenden älteren Zielgruppe berücksichtigt
auftreten (wie z. B. Gelenkserkrankungen, Dia­ werden, zum Beispiel in Bezug auf Schriftgröße
betes, Krebserkrankungen oder kardiovaskulärer bei Druckpublikationen, optische Gestaltung von
Erkrankungen). Außerdem geht es (3.) um die Plakaten und Filmen und besonders auf das Alter
Verringerung krankheitsbedingter Probleme und von Rollenmodellen [18]. Ein Beispiel für die syste­
(4.) die Vorbeugung von Verschlechterungen des matische Entwicklung einer präventiven Maßnah­
Allgemeinzustands. me im Alter findet sich in Tabelle 3.4.3.1.
Diese Präventionsziele können, wie oben an­
geführt, am besten über die Änderung verhaltens­
bezogener Risikofaktoren erreicht werden. Die 3.4.3 Konzeption und Entwicklung präventiver
Änderung verhaltensbezogener Risikofaktoren Maßnahmen: Ein protokollbasierter Ansatz
ist allerdings bei allen Altersgruppen zu empfeh­ (Intervention Mapping)
len und nicht nur im Alter eine vielversprechende
Präventionsstrategie [10]. Im Alter gehören dazu Präventive Maßnahmen müssen systematisch
neben körperlicher Aktivität, einer ausgewogenen entwickelt werden, um möglichst viele Personen
Ernährung, dem Einstellen des Rauchens, höchs­ der anvisierten Zielgruppe möglichst effektiv zu
tens moderatem Alkoholkonsum und der regel­ erreichen. Generell gilt für alle präventiven Maß­
mäßigen Einnahme von Medikamenten auch der nahmen, dass sie sich nur sinnvoll konzipieren,
Besuch von Therapie- und Vorsorgemaßnahmen durchführen und im Sinne von Wirksamkeitsprü­
wie beispielsweise Physiotherapie oder Krebsvor­ fung, Qualitätssicherung und Qualitätsverbesse­
sorgeuntersuchungen [6, 11]. rung evaluieren lassen, wenn ihnen ein klar um­
Eine ausgewogene Ernährung mit ange­ rissenes Wirkmodell zugrunde liegt [19, 20]. Ein
messener Kalorienzufuhr kann ebenfalls dazu solches Wirkmodell umfasst alle Schritte der Kon­
beitragen, das Risiko für verschiedene Krebser­ zeption, Entwicklung, Durchführung und Evalua­
krankungen [12] oder das Risiko von kardiovas­ tion von präventiven Maßnahmen und ist z. B. im
kulären Erkrankungen [13] bei älteren Menschen Intervention Mapping – Ansatz als nachvollzieh­
zu senken. Körperliche Aktivität im Alter kann bares Protokoll realisiert und anwendungsorien­
dazu beitragen, Folgen von Krebserkrankungen tiert dargestellt [20].
wie das Fatigue-Syndrom zu mindern [14] oder Dieses Protokoll läuft in sechs Schritten ab
der Gebrechlichkeit auch noch im hohen Alter (siehe Tabelle 3.4.3.1).
vorzubeugen [15]. Der erste Schritt ist eine Bedarfsanalyse, in
Viele dieser allgemeinen gesundheitsförder­ der geklärt wird, welche Ziele die präventive Maß­
lichen Verhaltensweisen wirken auch auf alters­ nahme eigentlich erreichen soll. Dabei gilt: Je kla­
spezifische Erkrankungen. Die Vermeidung von rer die Ziele umrissen sind (z. B. Reduktion der
Fettleibigkeit (BMI ≥ 30) beugt beispielsweise Inzidenz von kardiovaskulären Erkrankungen um
nicht nur kardiovaskulären Erkrankungen und 30 %), desto besser können die entsprechenden
Diabetes vor, sondern ist auch mit geringerem Maßnahmen geplant werden. Die Zielgruppe von
Risiko für das Auftreten einer vaskulären Demenz präventiven Maßnahmen muss in diesem Schritt
oder der Alzheimerschen Erkrankung assozi­ sowohl in Bezug auf die Personen (z. B. In welcher
iert [16]. Altersgruppe ist das Risiko für kardiovaskuläre Er­
Gesundheit und Krankheit im Alter 163

Tabelle 3.4.3.1
Beispiel für das Vorgehen bei der Entwicklung einer präventiven Maßnahme für die Senkung der Inzidenz
kardiovaskulärer Erkrankungen bei älteren Menschen
Quelle: Intervention Mapping nach [20]

Schritt Inhalte Quellen


1 Bedarfsanalyse kardiovaskuläre Erkrankungen sind eine der Haupt­ Mortalitäts- und Morbi­
todesursachen bei Menschen über 65 Jahren ditätsdaten, z. B. [21]
Zielgruppe Menschen über 65 Jahren
definieren
Setting bestimmen Wohn- und Interventionssituation, z. B.
▶ eigene Wohnung
▶ Hausarztpraxis
▶ stationäre Pflege
2 Einflussgrößen für Gesundheitsverhaltensweisen, z. B. systematische Über­
Präventionsziele ▶ moderate körperliche Aktivität blicksarbeiten, z. B.
identifizieren (z. B. 3-mal wöchentlich 30 Minuten) [13, 22]
▶ regelmäßige Einnahme von angebrachten
Medikamenten

kontinuierliche Evaluation der Teilschritte


3 Einflussgrößen für Einflussgrößen auf körperliche Aktivität bei systematische Über­
Verhalten in Ziel­ älteren Menschen: blicksarbeiten, z. B. [23]
gruppe identifizieren ▶ psychische/individuelle Faktoren (z. B. Selbst­
wirksamkeit, Erfahrung mit körperlicher Aktivität)
▶ programmbezogene Faktoren (z. B. Struktur,
Kosten für Teilnehmer, sozialer Austausch)
▶ Umweltfaktoren (z. B. soziale Unterstützung)
Maße für Einfluss­ valide und reliable Messinstrumente, systematische Über­
größen und Verhal­ z. B. körperliche Aktivität: blicksarbeiten, z. B. [24]
ten finden ▶ Schrittzähler
▶ Selbstauskunft
4 Maßnahmen zur Stärkung von persönlichen Ressourcen, systematische Über­
Veränderung dieser z. B. Selbstwirksamkeit: blicksarbeiten, empi­
Einflussgrößen ent­ ▶ Übung rische Evidenz, z. B.
wickeln ▶ gezielte Erfolgserlebnisse durch [25], theoriebasiertes
niedrigschwellige Angebote Vorgehen, z. B. [26]
5 Plan zur Implemen­ ▶ Identifikation von Multiplikatoren für Maßnahme, systematische Über­
tierung der Maß­ z.B. Hausärzte blicksarbeiten, empi­
nahme ▶ Einflussgrößen auf Akzeptanz der Maßnahme rische Evidenz, z. B.
durch Multiplikatoren identifizieren, [27], Protokolle, z. B.
z. B. Überzeugungen über die Wirksamkeit [28]
der Maßnahme bei den Ärzten
6 Evaluationsplan ent­ Festlegen, zu welchen Zeitpunkten welche Teile des
wickeln Programmes evaluiert werden. Fragen festlegen, z. B.
▶ Wie viele Personen aus der Zielgruppe hat die
Maßnahme erreicht?

krankungen am höchsten?) als auch das Setting 30 Minuten moderate körperliche Aktivität, weil
(z. B. Hausarztpraxis? Ambulante Pflegedienste? das die Inzidenz von kardiovaskulären Erkran­
Freizeitangebote?) identifiziert werden. kungen bei älteren Menschen senkt).
Im zweiten Schritt können mithilfe epide­ Im dritten Schritt werden für diese Einfluss­
miologischer Daten klare Einflussgrößen für die größen aus der wissenschaftlichen Literatur – am
Präventionsziele in dieser Zielgruppe definiert Besten aus systematischen Überblicksarbeiten
werden (z. B. Verhalten: dreimal wöchentlich für (systematic reviews) – evidenzbasierte Einfluss­
164 Gesundheit und Krankheit im Alter

größen abgeleitet (z. B. soziale Unterstützung, dass bereits bestehende Programme für andere
Selbstwirksamkeit), deren Zusammenwirken in Zielgruppen, z. B. jüngere Erwachsene nicht
einem theoretischen Modell spezifiziert und da­ ohne weiteres (und vor allem nicht ohne Untersu­
durch überprüfbar wird. chungen zur Wirksamkeit) auf ältere Erwachsene
Für die spezifischen Charakteristika einer äl­ übertragen werden können.
teren Zielgruppe können dann in einem vierten Leider gibt es bislang nur wenige kontrol­
Schritt evidenzbasierte Maßnahmen zur gezielten lierte Studien und daher auch wenige systema­
positiven Beeinflussung dieser Faktoren entwi­ tische Überblicksarbeiten, die sich gezielt mit den
ckelt werden. In diesem Schritt ist die Fundierung Faktoren beschäftigen, die gesundheitsförderliche
der Maßnahmen in wissenschaftlicher Evidenz Verhaltensweisen bei älteren Menschen stärken.
und Theorie unverzichtbar, weil sonst keine in­ Hier besteht noch erhebliches Forschungspoten­
haltlichen Wirksamkeitsanalysen möglich sind. zial.
Gleichzeitig müssen, um die präventive Maß­
nahme evaluieren zu können, valide und reliable
Maße sowohl für die Verhaltenskriterien als auch 3.4.4 Geriatrische Rehabilitation und aktivierende
für die evidenzbasierten Einflussgrößen gefunden Pflege
und kontinuierlich miterhoben werden. Ohne die
Messung dieser Bestandteile kann später nicht Die geriatrische Rehabilitation und aktivierende
genau untersucht werden, ob und aus welchen Pflege stellen spezifische Maßnahmen dar, die
Gründen eine präventive Maßnahme gewirkt hat auch vor dem Hintergrund eines systematischen
[20]. Wirkmodells am besten eingesetzt werden kön­
Im fünften Schritt werden die Multiplikatoren nen, weil so die Zielgruppen identifiziert werden
identifiziert, die in dem beabsichtigten Setting die können, bei denen diese Maßnahmen am meisten
Maßnahme tatsächlich durchführen. Damit dieser Erfolg versprechen.
Schritt erfolgreich verläuft, muss, ähnlich wie im Die interdisziplinäre geriatrische Rehabilita­
zweiten und dritten Schritt durch systematisches tion [29] zielt auf möglichst weit gehende Wie­
Sichten von Theorie und empirischer Evidenz be­ derherstellung von Selbstständigkeit (im Falle
stimmt werden, welche Faktoren das Verhalten der Schlaganfallrehabilitation beispielsweise der
der Multiplikatoren im Hinblick auf die Durch­ Wiederherstellung von Kommunikation, Mobilität
führung der Maßnahme günstig beeinflussen und basalen Aktivitäten des täglichen Lebens wie
können. Beispielsweise muss in diesem Schritt selbstpflegerische Tätigkeiten), führt aber auch
überlegt werden, welche Form und welche Inhalte präventive Maßnahmen wie die Anleitung zu adä­
entsprechende Instruktionen für Hausärzte oder quatem Gesundheitsverhalten durch.
Pflegepersonal haben müssen, damit diese die Bei Personen, die aufgrund von körperlichen
Maßnahme tatsächlich wie geplant durchführen. oder kognitiven Einschränkungen auf Pflege und
Schlussendlich sollte im sechsten Schritt kontinuierliche Unterstützung angewiesen sind,
ein Evaluationsplan für die gesamte Maßnahme werden eher Familienangehörige, Pflegeperso­
erstellt werden, der z. B. spezifiziert, zu welchen nal oder andere Personen, die Verantwortung für
Zeitpunkten welche Teile der Maßnahme evalu­ die Gesundheit Pflegebedürftiger übernommen
iert werden (Prozessevaluation) und wann die ge­ haben, Zielgruppe präventiver Maßnahmen. Die­
samte Maßnahme im Sinne einer Ergebnisevalua­ se Maßnahmen zielen dann darauf ab, diesen
tion nach welchen Kriterien bewertet werden soll. Helfern Wissen darüber zu vermitteln, welche
Durch eine kontinuierliche Evaluation kann bei­ präventiven Maßnahmen bei hilfe- und pflege­
spielsweise untersucht werden, wie viele Personen bedürftigen Personen sinnvoll und angebracht
aus der anvisierten Zielgruppe das Programm tat­ sind. Studien zeigen beispielsweise, dass die Be­
sächlich erreicht hat, oder ob die Maßnahmen vor wohner von Pflegeeinrichtungen im Hinblick auf
Ort so wie geplant durchgeführt worden sind. die Erhaltung von geistiger und körperlicher Ge­
Das Beispiel für das protokollbasierte Vorge­ sundheit von Präventionsmaßnahmen in Grup­
hen für das Entwickeln einer präventiven Maß­ penveranstaltungen profitieren können, wenn die
nahme für Ältere in Tabelle 3.4.3.1 zeigt auch auf, kognitiven Ressourcen dafür noch gegeben sind
Gesundheit und Krankheit im Alter 165

[30]. Bei Personen mit starken Einschränkungen 8. Wurm S, Tesch-Römer C (2006) Gesundheit, Hilfebe­
darf und Versorgung. In: Tesch-Römer C, Engstler H,
kann aktivierende Pflege, die neben versorgenden
Wurm S (Hrsg) Altwerden in Deutschland: Sozialer
auch präventive und rehabilitative Maßnahmen Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten
umfasst, dabei helfen, verbleibende Selbständig­ Lebenshälfte. VS Verlag für Sozialwissenschaften,
keit zu stabilisieren, Mobilität zu verbessern und Wiesbaden, S 329 – 384
9. Wurm S, Tesch-Römer C (2009) Prävention im Alter.
Stürzen vorzubeugen [31].
In: Bengel J, Jerusalem M (Hrsg) Handbuch der Ge­
sundheitspsychologie und Medizinischen Psycholo­
gie. Hogrefe, Göttingen, S 317 – 327
3.4.5 Fazit 10. Khaw KT, Wareham N, Bingham S et al. (2008) Com­
bined impact of health behaviours and mortality in
men and women: the EPIC-Norfolk prospective popu­
Angesichts der beeindruckenden Zunahme der lation study. PLoS Medicine 5 (1): e12
Lebenserwartung stellt sich die Frage, ob diese zu­ 11. Aldwin CM, Spiro A III, Park CL et al. (2006) Health,
sätzlichen Jahre längere Krankheit am Ende des Behavior, and Optimal Aging: A Life Span Develop­
mental Perspective. Handbook of the psychology of
Lebens oder einen Zugewinn an aktiven Jahren mit
aging (6th ed). Elsevier, Amsterdam, Netherlands, S
hoher Lebensqualität bedeuten. Verschiedene Stu­ 85 – 104
dien legen nahe, dass auch noch im hohen Alter 12. Rivlin RS (2007) Keeping the young-elderly healthy:
durchgeführte Präventionsmaßnahmen Krank­ is it too late to improve our health through nutrition?
The American Journal of Clinical Nutrition 86 (5):
heiten vermeiden und einen Zugewinn an aktiver
1572S – 1576S
Lebenserwartung bedeuten können. Dies macht 13. Andrawes WF, Bussy C, Belmin J (2005) Prevention of
die Potentiale für Prävention im Alter deutlich: cardiovascular events in elderly people. Drugs & Aging
Durch gesundheitsförderliche Verhaltensweisen, 22 (10): 859 – 876
14. Luctkar-Flude MF, Groll DL, Tranmer JE et al. (2007)
die in gut konzipierten Präventionsmaßnahmen
Fatigue and physical activity in older adults with can­
gezielt gefördert werden, kann die Zunahme der cer: a systematic review of the literature. Cancer Nur­
Lebenserwartung auch wirklich ein Zugewinn an sing 30 (5): E35 – E45
guten und gesunden Jahren sein. 15. Fiatarone MA, O’Neill EF, Ryan ND et al. (1994) Exer­
cise training and nutritional supplementation for phy­
sical frailty in very elderly people. The New England
Journal of Medicine 330 (25): 1769 – 1775
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166 Gesundheit und Krankheit im Alter

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Psychology 6 (4): 347 – 360
Gesundheit und Krankheit im Alter 167

4 Systeme mit Altersschwäche? Angebote gesundheitlicher


und pflegerischer Versorgung für alte Menschen

4.1 Angebote der ambulanten und stationären Versorgung


Sabine Maria List, Livia Ryl, Torsten Schelhase

Kernaussagen rehabilitativen und pflegerischen Versorgung


notwendig.
1. Hausärztinnen und -ärzte sind vor allem 4. Die Rehabilitationspotenziale älterer und
für ältere Menschen wichtige Ansprechpart­ alter Menschen werden nicht ausreichend
ner für gesundheitliche Fragen. Durch die genutzt. Vor allem ambulante, wohnortna­
Konzentration von Ärztinnen und Ärzten he oder zugehende Angebote stehen nur in
in Ballungsgebieten und das relativ hohe geringem Umfang zur Verfügung. Die Ver­
Durchschnittsalter der niedergelassenen sorgung multimorbider Personen mit alters­
Medizinerinnen und Mediziner kann es zu­ bedingt eingeschränkten Ressourcen erfor­
künftig in ländlichen Regionen der neuen dert eine geriatrische Basiskompetenz aller
Bundesländer sowie Nordwest-Deutschland beteiligten Therapeutinnen und Therapeuten
zu einer Unterversorgung insbesondere mit sowie abgestufte geriatrische Angebote mit
Hausärztinnen und -ärzten kommen. multiprofessionellen Behandlungsteams.
2. Die Struktur der professionellen ambulanten Die geriatrischen Versorgungsstrukturen
und stationären Pflegeangebote spiegelt zah­ unterscheiden sich sehr stark zwischen den
lenmäßig den steigenden Bedarf vor allem Bundesländern.
an stationärer Betreuung älterer Personen
wider. Die Mehrzahl der in diesem Bereich Betrachtet man das Angebot der medizinischen
Beschäftigten hat eine Altenpflegeausbildung und pflegerischen Versorgung wird schnell deut­
absolviert. Deutliche Defizite bestehen aller­ lich, dass nur wenige gesundheitsbezogene An­
dings noch in Bezug auf einige Aspekte der gebote direkt und explizit für ältere und alte Men­
Versorgungsqualität. schen konzipiert sind. Eine Ausnahme bildet hier
3. Personen ab 65 Jahren stellen in vielen Be­ lediglich die geriatrische Versorgung, die defini­
reichen die größte Nutzergruppe der akut­ tionsgemäß auf diese Bevölkerungsgruppe ausge­
stationären Versorgung dar. Die Zahl der richtet ist. In einigen Bereichen, vor allem in der
Krankenhausbetten ist im internationalen Pflege, ist jedoch die Mehrzahl oder zumindest
Vergleich in allen Bundesländern hoch. Die ein großer Teil der Klientinnen und Klienten 65
regional unterschiedliche Struktur der Kran­ Jahre oder älter (vgl. Kapitel 3.3). Im Idealfall ori­
kenhausversorgung (z. B. in den neuen Bun­ entiert sich die medizinisch-geriatrische und pfle-
desländern relativ wenige Kliniken mit vielen gerische Versorgung älterer Menschen nicht an
Betten) bedingt teilweise lange Anfahrtswege den Sektoren des Gesundheitssystems, sondern
für die Patientinnen und Patienten. Die Ver­ am konkreten Hilfebedarf der Betroffenen und hat
weildauerverkürzungen und andere struktu­ den Erhalt bzw. die Wiedererlangung der Selbstän­
relle Veränderungen im stationären Sektor digkeit zum Ziel. Wenngleich es Beispiele für sol­
machen in Hinblick auf die optimale Versor­ che integrativen Versorgungsangebote gibt, lässt
gung der älteren Bevölkerung sowohl einen sich die Mehrzahl entweder dem ambulanten oder
vermehrten Einsatz (früh-)rehabilitativer dem stationären Bereich zuordnen. Da auch die
Maßnahmen als auch einen integrativen Aus­ zur Verfügung stehenden Daten sowie die recht­
bau der poststationären ambulant-ärztlichen, lichen und abrechnungstechnischen Rahmen­
168 Gesundheit und Krankheit im Alter

bedingungen dieser Unterteilung folgen und es pen zu entnehmen. Diese Daten belegen zwar
der übrigen Gliederung des vorliegenden Buches für den Zeitraum 2000 bis 2007 einen leichten
entspricht, werden im Weiteren die ambulanten Anstieg der Zahl ambulant tätiger Ärztinnen
medizinischen und pflegerischen Angebote für und Ärzte insgesamt sowie in allen dargestellten
ab 65-Jährige getrennt von den stationären dar­ Fachgebieten außer der Neurologie. Einerseits
gestellt. variiert die Arztdichte regional jedoch beträcht­
lich, andererseits ist die Alterstruktur der derzeit
niedergelassenen Hausärztinnen und -ärzte re­
4.1.1 Ambulante Versorgung lativ ungünstig und der fachärztliche Zuwachs
übersteigt den hausärztlichen. Der Zuzug aus­
Vertragsärztliche Versorgung ländischer Ärztinnen und Ärzte wirkt (vor allem
allerdings im stationären Bereich) teilweise kom­
Über 65-Jährige konsultieren außer ihren Haus­ pensierend. Besonders in ländlichen Bezirken
ärztinnen und -ärzten am häufigsten Ärztinnen Ost- und Norddeutschlands nimmt die Hausarzt­
und Ärzte für Augen-, Zahn- und Frauenheilkun­ dichte ab. Betroffen sind in erster Linie Gegenden
de sowie Urologie und (fachärztliche) Internis­ mit schwacher Infrastruktur und einem eher
tinnen und Internisten (vgl. Kapitel 3.3). Während überdurchschnittlichen Anteil älterer Personen.
die Rate der Zahnarzt- und Gynäkologenkontakte Außer mit sinkenden Hausarztzahlen wird auch
mit zunehmendem Alter sinkt, steigt sie bei den mit rückläufigen Zahlen bei den Ärztinnen und
übrigen Arztgruppen. Wie vielfach beschrieben
gibt es eine Unterversorgung alter Menschen mit
psychischen und neurologischen Krankheitsbil­
Tabelle 4.1.1.1
dern, bei der schmerztherapeutischen und pallia­ Zahl ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte ausgewählter
tiven Betreuung sowie hinsichtlich aufsuchender Fachgebiete bzw. Zusatzqualifikationen 2000 und 2007
ärztlicher Betreuung (Hausbesuche) [1, 2]. Zudem Quelle: Ärztestatistik der Bundesärztekammer [8]
wird ein erheblicher Nachholbedarf in der geria­
2000 2007
trischen Weiter- und Fortbildung gesehen [3].
Wichtig sind außer der theoretischen Ver­ Gesamt 128.488 137.538
fügbarkeit einer qualifizierten Ärztin bzw. eines Augenheilkunde 5.375 5.575
Arztes die tatsächlichen Zugangsbedingungen: Frauenheilkunde und Geburtshilfe 10.074 10.647
Erkennen des fachärztlichen Versorgungsbedarfes Innere Medizin und Allgemeinmedizin 51.030 58.186
(z. B. durch den Hausarzt bzw. die Hausärztin), (Haus- und Fachärzte)*
Entfernung und Verkehrsanbindung der Praxis, davon:
Organisation von Transport und Begleitung, Be­
Innere mit Schwerpunkt Geriatrie 0 1
reitschaft zu Hausbesuchen, regionale Struktur
Nervenheilkunde bzw. Neurologie 3.598 3.511
der Heil- und Hilfsmittelversorgung, etc. Es gibt
Hinweise darauf, dass die Zahl der von niederge­ Urologie 2.625 2.842
lassenen (Haus-)Ärztinnen und Ärzten durchge­ ohne Gebiet 19.432 14.373
führten Hausbesuche in den letzten Jahren deut­ Ärztinnen und Ärzte mit Zusatz-Bezeichnung
lich rückläufig ist [4, 5]. Vor allem die ärztliche Schmerztherapie 482 1.464
Versorgung von (Pflege-)Heimbewohnerinnen
Palliativmedizin 0 808
und -bewohnern ist häufig unbefriedigend. So ge­
Zahnärztinnen und -ärzte** 60.366 63.100
nannte Heimärztinnen und -ärzte sollen zukünf­
tig dabei helfen, die Qualität der medizinischen * Da im zeitlichen Verlauf die Klassifikation der ärztlichen Subdiszi­
Betreuung in stationären Pflegeeinrichtungen plinen in diesem Bereich mehrfach geändert wurde, steht für den
Vergleich nur die Gesamtzahl aller Ärztinnen und Ärzte mit inter­
zu verbessern (§ 119b SGB V, mit dem Gesetz zur nistischer bzw. allgemeinärztlicher Qualifikation zur Verfügung. Die
strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversi­ Angabe schließt daher neben den Hausärztinnen und -ärzten auch
die fachärztlich tätigen Internistinnen und Internisten ein, wobei
cherung 2008 eingeführt). deren Zugang den der hausärztlich tätigen Medizinerinnen und
Tabelle 4.1.1.1 ist die Entwicklung der für die Mediziner übersteigt.
** alle in Praxen tätigen Zahnärztinnen und -zahnärzte (niedergelas­
Betreuung älterer Personen wichtigsten Arztgrup­ sene plus angestellte)
Gesundheit und Krankheit im Alter 169

Ärzten für Augenheilkunde, Gynäkologie, Neuro­ [3]. Danach verfügten in 2007 rund 2.000 Ärz­
logie und Dermatologie gerechnet [6, 7]. tinnen und Ärzte über eine entsprechende for­
Sowohl die Altersverteilung der Hausärz­ male Qualifikation (siehe Tabelle 4.1.1.2). Von die­
tinnen und -ärzte als auch allgemeine Trends der sen sollen jedoch lediglich 377 ambulant tätig sein.
ärztlichen Berufsausübung (u. a. steigende Zahl Während die Mehrzahl der Geriaterinnen und Ge­
patientenfern oder im Ausland tätiger Ärztinnen riater also an Kliniken arbeitet, verteilen sich die
und Ärzte, größeres Interesse an geregelten Ar­ schmerztherapeutisch oder palliativmedizinisch
beitszeiten) lassen für die nächsten Jahre eher eine ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte relativ gleich­
Verschlechterung der Situation erwarten. Darüber mäßig auf den stationären und den ambulanten
hinaus entsteht durch die demografische und ge­ Versorgungsbereich. Die regionale Verteilung der
sellschaftliche Entwicklung ein zusätzlicher Be­ geriatrisch qualifizierten Medizinerinnen und Me­
darf an hausärztlicher Versorgung. Beide Effekte diziner nach Bundesländern erweist sich als sehr
werden vermutlich zu einem Mehrbedarf an Haus­ inhomogen (siehe Tabelle 4.1.1.2).
ärztinnen und -ärzten führen, soll der gegenwär­ Angaben dazu, wie viele Psychiaterinnen und
tige Versorgungsstand aufrechterhalten werden. Psychiater bzw. Psychotherapeutinnen und -thera­
Mit der Einführung flexiblerer berufsrechtlicher peuten schwerpunktmäßig gerontopsychiatrisch
Rahmenbedingungen (z. B. Teilzeitniederlas­ tätig bzw. qualifiziert sind, liegen nicht vor. In die
sungen, Dependancen), neuen Versorgungsmo­ Betreuung psychisch kranker alter Menschen sind
dellen (z. B. Medizinische Versorgungszentren), in regional unterschiedlichem Ausmaß auch die
Optimierung der Aus-, Weiter- und Fortbildung Sozialpsychiatrischen Dienste eingebunden. Die
sowie finanziellen Anreizen soll versucht werden, von diesen kommunal getragenen Einrichtungen
der sich abzeichnenden Entwicklung entgegen zu betreuten Personen leiden zumeist an Demenz,
steuern [9]. Alkoholabhängigkeit und/oder Psychosen [1]. Am­
Bei alten Menschen bestehen häufig mehre­ bulante Psychotherapien bei Versicherten ab 65
re Erkrankungen gleichzeitig (Multimorbidität), Jahren sind selten (z. B. 0,1 % der 75 bis 79 Jah­
viele von ihnen leiden an chronischen Schmer­ re alten GEK-versicherten Männer und 0,3 % der
zen oder Lebenszeit begrenzenden Krankheiten, gleichaltrigen Frauen) [11].
zudem weisen 13 % der 80- bis 84-Jährigen und Die Zahl der in Praxen ambulant tätigen
24 % der 85- bis 89-Jährigen eine Demenz auf [10]. Zahnärztinnen und -ärzte ist in den letzten Jahren
Daher sind für sie außer den bereits genannten kontinuierlich leicht angestiegen auf ca. 63.000
Haus- bzw. Fachärztinnen und -ärzten besonders im Jahr 2007 [12]. Die vierte Mundgesundheits­
geriatrisch, schmerztherapeutisch und palliativ­ studie belegt, dass 65- bis 74-Jährige bis zum
medizinisch qualifizierte Ärztinnen und Ärzte Untersuchungszeitpunkt 2006 weniger Zähne
wichtig. Fachärztinnen und -ärzte unterschied­ verloren hatten als gleichaltrige Teilnehmerinnen
licher Gebiete können sich in diesen drei Be­ und Teilnehmer der 1997 durchgeführten Studie
reichen qualifizieren (Ausnahme: in Brandenburg (14,2 versus 17,6 fehlende Zähne) [13]. Die Raten
und Sachsen-Anhalt gibt es auch die Facharztbe­ an Wurzelkaries und mittelschwerer bis schwerer
zeichnung »Innere Medizin mit Schwerpunkt Ge­ Parodontitis (entzündlich bedingte Zerstörung
riatrie«) (siehe Tabelle 4.1.1.2). des Zahnhalteapparates) sind dagegen gestiegen
Die Zahl der geriatrisch qualifizierten Medizi­ (von 15,5 % auf 45,0 % bzw. von 64,1 % auf 87,8 %).
nerinnen und Mediziner ist der Ärztestatistik der Entsprechend hohe Behandlungsbedarfe ergeben
Bundesärztekammer nicht zu entnehmen, da frü­ sich, die sich auch in die Altersgruppe der über
her auch die fakultative Weiterbildung »Klinische 74-Jährigen erstrecken. Deren jährliche Zahnarzt­
Geriatrie« erworben werden konnte. Diese ist wei­ kontaktraten sind jedoch niedriger als die jüngerer
ter verbreitet als die neuere Zusatzbezeichnung Personen (vgl. Abbildung 3.3.1.1 in Kapitel 3.3).
»Geriatrie«, sie wurde jedoch nicht zentral erfasst.
Lübke et al. führten daher im Sommer 2007 eine
Abfrage bei allen Landes- bzw. Bezirksärztekam­
mern durch, um die Gesamtzahl aller geriatrisch
weitergebildeten Ärztinnen und Ärzte zu erheben
170 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 4.1.1.2
Anzahl der geriatrisch weitergebildeten Ärztinnen und Ärzte nach Bundesland (alle Tätigkeitsbereiche, Stand: Sommer 2007)
Quelle: [3]

Bundesland fakultative Zusatz­ Schwerpunkt geriatrische geriatrische geriatrische


Weiterbildung weiterbildung Geriatrie/ Weiterbildung Weiterbildung Weiterbildung je
klinische Geriatrie Innere insgesamt je 100.000 100.000 Einwohner
Geriatrie Medizin (absolut) Einwohner ab 65 Jahre
Baden-Württemberg 416 5 0 421 3,9 20,9
Bayern 224 14 2 240 1,9 10,2
Berlin 97 1 0 98 2,9 16,1
Brandenburg 4 4 18 26 1,0 4,9
Bremen 11 1 0 12 1,8 8,7
Hamburg 46 3 0 49 2,8 15,0
Hessen* k. A. k. A. k. A. 247 4,1 21,0
Mecklenburg- 34 4 0 38 2,2 10,9
Vorpommern
Niedersachen* k. A. k. A. k. A. 89 1,1 5,6
Nordrhein-Westfalen 434 103 25 562 3,1 15,8
Rheinland-Pfalz** 53 6 4 73 1,8 9,0
Saarland 15 4 0 19 1,8 8,4
Sachsen 69 7 0 76 1,8 7,7
Sachsen-Anhalt 39 4 10 53 2,1 9,6
Schleswig-Holstein 51 12 0 63 2,2 10,9
Thüringen 14 6 0 20 0,8 4,0
Deutschland gesamt 1.507 *** 174 *** 59 *** 2.086 2,5 13,0
* nur Gesamtzahl der geriatrisch weitergebildeten Ärztinnen und Ärzte verfügbar
** aus Kammerbezirk Trier nur Gesamtzahl der geriatrisch weitergebildeten Ärztinnen und Ärzte verfügbar
*** ohne Hessen, Niedersachsen und KV-Kammerbezirk Trier

Heil- und Hilfsmittelversorgung dinnen und Logopäden sowie Ergotherapeutinnen


und -therapeuten, deren Leistungen u. a. häufig bei
Besondere Bedeutung für ältere Personen hat Schlaganfallpatienten und -patientinnen indiziert
aufgrund alterstypischer Beschwerdebilder die sind. In Deutschland sollen derzeit ca. 35.000 Er­
Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln. Die Zahl gotherapeutinnen und -therapeuten tätig sein [15].
der mit der Heilmittelerbringung befassten The­ Diese wurden überwiegend an Berufsfachschulen
rapeutinnen und Therapeuten (z. B. Physiothe­ ausgebildet; nur wenige Hundert haben bislang
rapeutinnen und -therapeuten) und der Gesund­ einen der neu eingeführten Bachelor-Studiengän­
heitshandwerkerinnen und -handwerker (z. B. ge für Ergotherapie abgeschlossen. Rund 13.000
Optikerinnen und Optiker, Orthopädiemechani­ Personen sollen als Sprachheiltherapeutinnen
kerinnen und -mechaniker), die für die Versor­ und -therapeuten behandelnd tätig sein; hinzu­
gung mit Hilfsmitteln wichtig sind, lässt sich zum kommen ca. 4.000 Sprachheillehrer und -lehre­
Teil der Gesundheitspersonalrechnung des Statis­ rinnen, die in erster Linie im Ausbildungsbereich
tischen Bundesamtes entnehmen (siehe Tabelle arbeiten. Das Spektrum der sprachheilkundlichen
4.1.1.3). Ausbildungswege und Berufsbezeichnungen ist
Viele Berufsgruppen werden jedoch nicht recht groß. Neben der zahlenmäßig größten
gesondert ausgewiesen. Dies betrifft z. B. Logopä­ Gruppe der Logopädinnen und Logopäden gibt es
Gesundheit und Krankheit im Alter 171

Tabelle 4.1.1.3
Zahl der in Deutschland tätigen Personen mit Bezug zur Heil- und Hilfsmittelerbringung 2000 und 2006
Quelle: [14]

Beschäftigte in 1.000 Gesundheitswesen gesamt ambulante Pflege stationäre Pflege


2000 2006 2000 2006 2000 2006
Berufe im Gesundheitswesen gesamt 4.087 4.306 187 215 468 561
Gesundheitsdienstberufe 2.134 2.299 89 105 85 99
Physiotherapeuten/innen, Masseure/ 116 144 2 2 2 3
Masseurinnen, med. Bademeister/innen
davon:
Physiotherapeuten/innen 61 85 1 1 1 2
therapeutische Berufe a. n. g. 51 77 1 1 4 6
Gesundheitshandwerker/innen 137 134 – – – –
davon:
Augenoptiker/innen 40 40 – – – –
Orthopädiemechaniker/innen 11 12 – – – –
Zahntechniker/innen 69 66 – – – –
sonstige Gesundheitshandwerker/innen 16 16 – – – –

u. a. Patholinguistinnen und -linguisten, Sprech­ geben sich unter Alltagsbedingungen nicht sel­
wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie ten Termin- und Koordinationsprobleme bei der
Atem-, Sprech- und Stimmlehrerinnen und -leh­ Heilmittelerbringung, insbesondere wenn diese
rer. Akademische Ausbildungswege existieren relativ hochfrequent erfolgen muss oder mehrere
neben fachschulischen. Es bestehen sowohl hin­ Berufsgruppen beteiligt werden sollen.
sichtlich der Verteilung der verschieden Qualifi­ Die Bedeutung der nicht-ärztlichen bzw.
kationen als auch der Versorgungsdichte relativ nicht-psychotherapeutischen oder pflegerischen
große regionale Unterschiede, die mit den vor Ort Berufe für ältere Menschen lässt sich indirekt
angebotenen Ausbildungsmöglichkeiten korres­ zum Teil über altersspezifizierte Daten zur Ver­
pondieren. Die dreijährige staatlich anerkannte ordnung von Hilfs- und Heilmitteln erschließen.
Physiotherapieausbildung gemäß Masseur- und Während Hilfsmittelverordnungen (z. B. Seh-,
Physiotherapeutengesetz kann nach einem ein­ Hör- und Gehhilfen, Bandagen, Inkontinenz­
heitlichen Curriculum an ca. 250 Schulen in materialien) mit dem Alter deutlich zunehmen,
Deutschland durchlaufen werden. Im Jahr 2007 bleibt der Anteil an Versicherten mit Heilmittel­
schlossen rund 7.000 Personen eine solche Aus­ verordnungen (z. B. physiotherapeutische, logo­
bildung erfolgreich ab [15]. pädische und podologische Leistungen) ab der Al­
Informationen darüber, wie viele Heil- und tersgruppe der 50- bis 60-Jährigen recht konstant
Hilfsmittelerbringer geriatrisch qualifiziert bzw. bei knapp einem Viertel der Versicherten (siehe
auf den speziellen Versorgungsbedarf älterer und Abbildungen 4.1.1.1 und 4.1.1.2). Hinter letztge­
alter Menschen eingerichtet sind und wie viele ge­ nannter empirischer Beobachtung, die auch im
gebenenfalls ihre Leistungen im Wohnumfeld der DZA-Alterssurvey 2002 gemacht wurde (vgl. Ka­
Betroffenen erbringen (können), liegen nicht vor. pitel 3.3), verbergen sich vermutlich ungenutzte
Ältere Personen können die Angebote dieser Be­ Rehabilitationspotenziale alter Menschen [16].
rufsgruppen aufgrund ihrer Beeinträchtigungen Auswertungen von Verordnungsdaten der AOK
(z. B. eingeschränkte Mobilität oder Demenz) weisen in die gleiche Richtung [15].
teilweise nur eingeschränkt nutzen. Zudem er­
172 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 4.1.1.1
Erwachsene GEK-Versicherte (ab 50 Jahre) mit mindestens einer Heil-, Hilfs- oder Pflegehilfsmittelverordnung
im Jahr 2006*
Quelle: GEK Heil- und Hilfsmitteldaten [17]

Prozent
100
Frauen Männer
90

80

70

60

50

40
Pflegehilfsmittel

30 Hilfsmittel

20 Heilmittel

10

50–59 60–69 70–79 80–89 90+ 50–59 60–69 70–79 80–89 90+
Altersgruppe

* Leistungsverordnungen bezogen auf die Anzahl der Versicherten der jeweiligen Altersklasse in Prozent; bezogen auf einen Versicherten sind
Verordnungen aus allen drei Leistungsbereichen möglich. Neben den zu Lasten der GKV verordnungsfähigen Heil- und Hilfsmitteln können
so genannte Pflegehilfsmittel (z. B. Einmalhandschuhe, Notrufsysteme, Lagerungsrollen) zu Lasten der gesetzlichen Pflegeversicherung
verschrieben werden.

Geriatrische und rehabilitative Versorgung spezifisch adaptiertes therapeutisch-pflegerisches


Vorgehen notwendig. Beispielsweise verändern
In der medizinischen Versorgung alter Menschen physiologische Alterungsprozesse die Verstoff­
sind geriatrische und rehabilitative Konzepte und wechslung und Wirkung von Medikamenten,
Angebote eng verknüpft. Sie zielen darauf ab, die Erkrankungen können untypisch bzw. mit un­
körperlichen, geistigen und sozialen Fähigkeiten charakteristischen Symptomen verlaufen und für
zu bewahren oder wieder zu erlangen, die für jüngere Menschen triviale Krankheitsereignisse
ein selbstständiges Leben notwendig sind. Nach führen oft zum Verlust der Fähigkeit zur selbstän­
Steinhagen-Thiessen et al. ist Geriatrie zwar nicht digen Versorgung. Allerdings bedürfen längst
mit Rehabilitation gleichzusetzen, »aber es gibt nicht alle Menschen ab dem 65. Lebensjahr au­
keine Geriatrie ohne Rehabilitation« [18]. Daher tomatisch spezieller geriatrischer Behandlung.
werden in diesem Abschnitt die ambulante geriat­ Mehr als das kalendarische Alter kennzeichnen
rische und die rehabilitative Versorgung gemein­ Multimorbidität und eingeschränkte Ressourcen
sam dargestellt. Tages- bzw. teilstationäre Ange­ die Situation und den Therapiebedarf geriatrischer
bote werden im Abschnitt 4.1.2 besprochen. Patientinnen und Patienten. Diese komplexen
Die körperlichen und psychischen Beson­ Zusammenhänge erfordern auf der Basis eines
derheiten alter Menschen machen häufig ein breiten medizinischen Wissens die Einbeziehung
Gesundheit und Krankheit im Alter 173

Abbildung 4.1.1.2
Erwachsene GEK-Versicherte (ab 50 Jahre) mit mindestens einer Heilmittelverordnung für Physiotherapie, Logopädie,
Ergotherapie oder Podologie* im Jahr 2006
Quelle: GEK Heil- und Hilfsmitteldaten [17]

Prozent
35
Frauen Männer
30

25

20 Podologie

Ergotherapie
15
Logopädie

10 Physiotherapie

50–59 60–69 70–79 80–89 90+ 50–59 60–69 70–79 80–89 90+
Altersgruppe

* Leistungsverordnungen bezogen auf die Anzahl der Versicherten der jeweiligen Altersklasse in Prozent; bezogen auf einen Versicherten sind
Verordnungen aus allen drei Leistungsbereichen möglich.

verschiedener Professionen in den Behandlungs­ rung von Beschwerden. Kernelemente des geria­
prozess. So bildet – unabhängig vom Ort oder der trischen Behandlungskonzeptes stellen spezielle
sozialrechtlichen Zuordnung der Leistungserbrin­ Assessments (Testverfahren) und individuell er­
gung – das therapeutische Team das Herzstück stellte Behandlungspläne dar [19, 20].
der geriatrischen Versorgung. Diesem sollten Mittels standardisierter Erhebungsinstru­
neben geriatrisch qualifizierten Ärztinnen und mente werden Leistungseinbußen und Beschwer­
Ärzten sowie Pflegekräften auch Personen mit den bzw. Fähigkeiten und (Reha-)Potenziale in
physio- und ergotherapeutischer, logopädischer den Bereichen Sinneswahrnehmung, Bewegung,
und neuropsychologischer Ausbildung angehö­ Kontinenz, Ernährung, Kognition, emotionales
ren. Außerdem müssen u. a. Diät- und Sozialbe­ Befinden, soziale Unterstützung und Aktivitäten
ratung zur Verfügung stehen. Die verschiedenen des täglichen Lebens erfasst. Zu diesem so ge­
Leistungen sollten koordiniert und ständig an den nannten geriatrischen Basisassessment gehö­
wechselnden individuellen Bedarf der Betroffenen ren die Durchführung bzw. Bestimmung des
angepasst werden. Barthel- und FIM (Functional Independence­
Die Geriatrie ist geprägt von einer ganzheit­ Measure)-Index, des IADL-Fragebogens (Instru­
lichen, an den vorhandenen Fähigkeiten und mental Activities of Daily Living nach Lawton
Potenzialen alter Menschen orientierten Betrach­ und Brody), des Gedächtnistests nach Folstein
tungs- und Handlungsweise. Ihre Zielkategorien (Mini-Mental-State-Examination, MMSE), der Ge­
sind weniger Heilung und Lebensverlängerung riatrischen Depressionsskala (GDS), eines Sozial­
denn Selbständigkeit, Lebensqualität und Linde­ fragebogens, des Mobilitätstests nach Tinetti, des
174 Gesundheit und Krankheit im Alter

»Timed-Up-and-Go«-Tests sowie der Uhr-Ergän­ geriatrische Rehabilitation [26]) bislang keine Ver­
zungstest und die Messung der Handkraft. Bei sorgungsverträge zwischen Kostenträgern und
Bedarf kommen weitere Assessments hinzu (z. B. Leistungserbringern abgeschlossen wurden. Die
zur sprachlichen Kommunikationsfähigkeit). Der zur Leistungserbringung nötige Infrastruktur ist
Zeitbedarf für die (teilweise an geschultes nicht­ faktisch noch nicht verfügbar. Uhlig gibt für das
ärztliches Personal delegierbare) Durchführung Jahr 2000 die Zahl ambulanter geriatrischer Reha­
des Basisassessments liegt bei mindestens 45 bilitationseinrichtungen bundesweit mit lediglich
bis 60 Minuten. Die Ergebnisse der Tests lie­ 12 und die mobiler ambulanter geriatrischer Diens­
fern nicht nur wichtige Informationen für die te mit 10 an [27]. Die Versorgung geriatrischer
Behandlungsplanung, sondern werden z. T. auch Patienten erfolgt daher bislang vor allem (teil-)
zur Verlaufskontrolle und Ergebnismessung ver­ stationär (vgl. Abschnitt 4.1.2) oder beschränkt
wendet. Eine Übersicht über die gebräuchlichen sich (häufig ohne Hinzuziehung geriatrisch qua­
geriatrischen Assessment-Instrumente hat z. B. lifizierter Expertinnen oder Experten und/oder
das Kompetenz-Centrum Geriatrie beim Medi­ ohne standardisiertes geriatrisches Assessment)
zinischen Dienst der Krankenversicherung Nord auf die Verordnung von Einzelleistungen aus dem
bereit gestellt [21]. Heil- und Hilfsmittelbereich (siehe Abbildungen
Dem Bedarf an abgestuften und vernetzten 4.1.1.1 und 4.1.1.2). Den verschiedenen Versor­
Angeboten für die geriatrisch ausgerichtete am­ gungsformen können unterschiedliche Grade an
bulante (und teilstationäre) Versorgung wird Einschränkungen der Selbständigkeit (aufgrund
zunehmend von Gesetzgeber, Kostenträgern der bestehenden Beeinträchtigungen bzw. ver­
und Leistungserbringern Rechnung getragen. stärkt durch die Art der Versorgung) und der Nähe
Die Rahmenempfehlungen zur ambulanten ge­ zum gewohnten Lebensumfeld zugeordnet wer­
riatrischen Rehabilitation der Spitzenverbände den (siehe Abbildung 4.1.1.3).
der Krankenkassen enthalten genaue Vorgaben Von der Geriatrie abzugrenzen ist die Ge­
zur inhaltlichen und strukturellen Gestaltung rontologie als Wissenschaft vom Altern des Men­
der Maßnahmen [22]. Im Sommer 2007 wurde schen. Viele Absolventinnen und Absolventen
darüber hinaus die mobile (zugehende) geria­ der erst vor einigen Jahren in Deutschland einge­
trische Rehabilitation neu als GKV-Regelleistung führten Studiengänge arbeiten in Aufgabengebie­
gesetzlich verankert (§ 40 Absatz 1 SGB V) [23]. ten mit Bezug zu dieser Bevölkerungsgruppe (z. B.
Multiprofessionelle geriatrisch geleitete Teams kommunale Verwaltung, Wohlfahrtsverbände, Al­
versorgen dabei Betroffene in ihrem gewohnten tenhilfe, Pflegeeinrichtungen und Sozialdienste).
Lebensumfeld [24]. Im Gegensatz zu diesem zu­ Angeboten werden sowohl grundständige als
gehenden Angebot setzt die vereinzelt etablierte auch postgraduierte Ausbildungswege an derzeit
konventionelle ambulante geriatrische Rehabilita­ 13 Universitäten und Fachhochschulen. Wie viele
tion voraus, dass die Patientinnen und Patienten Gerontologinnen und Gerontologen mittlerweile
das Rehabilitationszentrum besuchen können. in Deutschland tätig sind und welche praktische
Seitens der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Bedeutung sie für die Versorgung alter Menschen
wurde zudem auf der Grundlage des § 73c SGB V haben, ist nicht statistisch erfasst.
für den ambulanten Bereich ein Konzept für eine Die gesetzlich verankerten Grundsätze »Reha
so genannte ambulante geriatrische Komplexbe­ vor Pflege« und »Reha in der Pflege« werden zwar
handlung entwickelt. Dabei sollen Hausärztin zunehmend in der Versorgung berücksichtigt. So
bzw. -arzt der Betroffenen eng mit einem geria­ empfahl beispielsweise der Medizinische Dienst
trisch qualifizierten multiprofessionellen Team der Krankenkassen (MDK) in Bayern im 1. Halb­
zusammenarbeiten. Allerdings müssen die äl­ jahr 2007 in 26 % der Pflegebegutachtungen (Ein­
teren Menschen auch zur Wahrnehmung eines zel-)Leistungen mit rehabilitativen Zielsetzungen
solchen Angebotes in der Lage sein, die Behand­ (vorwiegend Physiotherapie, z. T. als Fortführung
lungsräume des Teams aufzusuchen [25]. bereits verordneter Maßnahmen) [28]. Allerdings
Die meisten beschriebenen ambulanten Ver­ werden solche Empfehlungen in der ambulanten
sorgungsangebote sind so neu, dass außerhalb Versorgung oft nicht umgesetzt. Auch erfolgen
von Modellprojekten (siehe z. B. für die ambulante die verschiedenen Leistungen immer noch unko­
Gesundheit und Krankheit im Alter 175

Abbildung 4.1.1.3
Abgestufte rehabilitative geriatrische Versorgung
Quelle: eigene Darstellung

dauerhafte Unter­
bringung in Pflegeheim

geriatrische Früh-Reha
hoch

in Akut-Krankenhaus
stationäre
Verlust an Selbständigkeit

geriatrische Reha
mobile (zugehende)
geriatrische Reha
mittel

ambulante (bzw. teil/tages­


stationäre) geriatrische Reha
gering

hausärztliches geriatrisches
Basisassessment

Verbleib im gewohnten Institutionalisierung


Wohn/Lebensumfeld

ordiniert und das Rehabilitationspotenzial älterer rekt auf die Bedeutung ambulanter Rehabilitation
Menschen wird nicht ausgeschöpft [29]. für ab 65-Jährige geschlossen werden. Die Aus­
Kostenträger von Rehabilitationsmaßnah­ gaben der Gesetzlichen Krankenversicherung für
men sind die Gesetzliche Rentenversicherung so­ rehabilitative und Vorsorgeleistungen sind dem­
wie für über 65-jährige bzw. berentete Personen nach seit 1991 von ca. 1,5 Milliarden Euro auf 2,55
in erster Linie die Gesetzliche Krankenversiche­ Milliarden Euro im Jahr 2007 gestiegen. Davon
rung. Rehabilitation als Pflichtleistung der GKV entfielen rund 2 Milliarden Euro auf stationäre
wurde erst 2007 mit dem GKV-Wettbewerbsstär­ Reha-Leistungen (überwiegend Anschlussheilbe­
kungsgesetz eingeführt (§ 11 Absatz 2 SGB V). handlungen bzw. -rehabilitationen nach einem
Bundesweite Statistiken zur Anzahl und Ausrich­ Akutereignis, z. B. einer Hüftgelenksoperation
tung ambulanter Reha-Einrichtungen sind nicht oder einem Herzinfarkt) und nur ca. 111 Millionen
verfügbar. Es gibt lediglich Listen mit Vertrags­ Euro auf die ambulante Rehabilitation. Deren Aus­
partnern einzelner Kostenträger bzw. inoffizielle gabenanteil ist in den vergangenen Jahren kaum
Verzeichnisse von Leistungsanbietern [30]. Ein gestiegen (siehe Abbildung 4.1.1.4). Die Gesamt­
allgemeines (sektorenübergreifendes) Verzeich­ aufwendungen der GKV für Vorsorge und Rehabi­
nis von geriatrischen Einrichtungen findet sich litation liegen weiterhin deutlich unter denen der
unter www.kcgeriatrie.de/kliniken.htm [31]. Die Rentenversicherung (2,55 versus 3,59 Milliarden
amtlichen Statistiken erfassen die (teil-)statio­ Euro im Jahr 2007) [34, 35].
nären Reha-Einrichtungen [32, 33] (vgl. Abschnitt
4.1.2). Aussagen zur Verteilung der ambulanten
Reha-Leistungen nach Alter, Geschlecht, Dauer Disease Management Programme
oder Indikation sind daher kaum möglich.
Anhand der Ausgaben-Statistik des für Ältere Um die Versorgung chronisch kranker Men­
relevanten Kostenträgers GKV kann lediglich indi- schen zu verbessern, wurden am 1. Januar 2002
176 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 4.1.1.4
Ausgaben der GKV für Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen nach Leistungsbereichen 1996 bis 2007
Quelle: [34]

Angabe in Mio. Euro


3.000

2.500

2.000 AHB/AR

Ambulante Vorsorge
1.500
stationäre Vors./Reha

Vors./Reha f. Mütter/Väter
1.000
Ambulante Reha

500 Vors./Reha gesamt

1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
Jahr

mit dem »Gesetz zur Reform des Risikostruktur­ Nach Angaben des Bundesversicherungs­
ausgleichs in der gesetzlichen Krankenversiche­ amtes waren bis September 2007 insgesamt
rung« die strukturierten Behandlungsprogramme 14.000 Verträge zu Disease Management Pro­
für Menschen mit bestimmten chronischen grammen zugelassen oder wieder zugelassen
Erkrankungen – so genannte Disease Manage­ worden. In mindestens eines dieser Programme
ment Programme (DMP) – eingeführt. DMP hatten sich im Jahr 2006 ca. 2,4 der 70 Millionen
dienen der Koordination der Behandlung und GKV-Versicherten eingeschrieben (siehe Tabelle
Betreuung bei chronischer Erkrankung über die 4.1.1.4). Informationen zur Zahl der Ärztinnen
Grenzen der einzelnen Leistungssektoren hin­ und Ärzte sowie der anderen Leistungserbringe­
weg. Dies geschieht auf der Grundlage von me­ rinnen und -erbringer (z. B. Kliniken), die an den
dizinischer Evidenz, um insgesamt gesehen die DMP mitwirken, stehen nicht zur Verfügung.
Behandlung der Erkrankung zu verbessern sowie Zwei Drittel der DMP-Teilnehmerinnen und
Beeinträchtigungen und Folgeerkrankungen zu -Teilnehmer waren 65 Jahre oder älter. Während
vermeiden bzw. zu reduzieren. Als weitere Ziele im Durchschnitt lediglich ca. 3,4 % der GKV-
der DMP sind die Sicherstellung einer bedarfs­ Versicherten in ein DMP eingeschrieben waren,
gerechten und wirtschaftlichen Versorgung sowie traf dies auf bis zu 13 % der 72 bis 78 Jahre alten
der Abbau von Über-, Unter- und Fehlversorgung Personen zu. Unter den noch älteren Versicher­
im Gesundheitssystem zu nennen [36]. Derzeit ten sank die Teilnahmerate allerdings rasch (siehe
existieren DMP für Diabetes mellitus Typ 1 und Abbildung 4.1.1.5). Erste Ergebnisse der gesetzlich
2, Brustkrebs, Koronare Herzkrankheit, Asthma vorgeschriebenen Programmevaluationen weisen
und Chronisch obstruktive Lungenerkrankungen. auf eine Verbesserung bestimmter Zielparameter
Aufgrund der großen Zahl älterer und alter Men­ bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern hin
schen, die an diesen Erkrankungen leiden, haben [37]. Aus methodischen Gründen sind solche erst
Disease Management Programme das Potenzial nach Einführung der Programme durchgeführten
die (ambulante) Versorgung dieser Bevölkerungs­ Untersuchungen allerdings umstritten.
gruppe zu verbessern.
Gesundheit und Krankheit im Alter 177

Tabelle 4.1.1.4
Anzahl zugelassener DMP nach Indikation und Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer*
Quelle: [36, 38]

Indikation DMP möglich seit Zulassungen Anzahl der Teilnehmerinnen


Stand 9/2007 und Teilnehmer 2006
Diabetes mellitus Typ 2 Juli 2002 3.325 1,73 Mio.
Brustkrebs Juli 2002 2.846 54.500
koronare Herzkrankheit Mai 2003 3.016 536.000
Diabetes mellitus Typ 1 März 2003 1.952 23.000
Asthma Januar 2005 1.428 10.000**
chronisch obstruktive Lungenerkrankung Januar 2005 1.416 8.000**
* Die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wird vom Bundesversicherungsamt anhand der gemeldeten Einschreibungstage ermittelt.
Nach dieser Zählweise kann also »ein Teilnehmer« mehreren Teilnehmerinnen oder Teilnehmern entsprechen, die jeweils nur für einen
begrenzten Zeitraum innerhalb eines Jahres in das entsprechende DMP eingeschrieben waren.
** wegen ihres späten Beginns wurden diese DMP noch nicht im Risikostrukturausgleich der Gesetzlichen Krankenversicherung für das Jahr
2006 berücksichtigt

Abbildung 4.1.1.5
Altersverteilung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an mindestens einem Disease Management Programm
in Prozent von allen GKV-Versicherten der jeweiligen Altersgruppe 2006
Quelle: Daten des Bundesversicherungsamtes (BVA) [38]

Prozent
14

12

10

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90
Alter in Jahren

Detaillierte Informationen über die teilneh­ Bundesverbandes betrug beispielsweise das


menden Versicherten liegen bislang auf Bundes­ durchschnittliche Alter der Versicherten bei
ebene nicht vor. Verfügbar sind lediglich Aus­ Einschreibung in ein Disease Management Pro­
wertungen einzelner Krankenkassen(verbände) gramm für Diabetes mellitus Typ 2 im Zeitraum
entsprechend der gesetzlichen Verpflichtung 2003 bis 2006 67 Jahre. Der Frauenanteil lag bei
zur Evaluation der DMP. Nach Daten des AOK­ 55 % [37].
178 Gesundheit und Krankheit im Alter

Professionelle ambulante Pflege gezählt (2007: 12.028). Im zeitlichen Verlauf seit


1997 ist die Zahl ambulanter Pflegedienste mit
Da sich zwei umfangreiche Abschnitte des vor­ Ausnahme eines leichten Anstiegs in den Jahren
liegenden Buches ausführlich mit den Themen­ 2000 bis 2003 nahezu konstant geblieben [40].
bereichen Pflegebedürftigkeit (vgl. Kapitel 2.2) Die Mehrzahl der Pflegedienste befindet sich mitt­
und Inanspruchnahme von Pflegeleistungen (vgl. lerweile in privater Trägerschaft (58 %). Der Anteil
Kapitel 3.3) befassen, konzentrieren sich die Dar­ der freigemeinnützigen Träger wie Diakonie oder
stellungen an dieser Stelle auf die Beschreibung Caritas belief sich 2005 auf 41 %. Insgesamt wer­
der Angebotsstrukturen. den 55 % der Pflegebedürftigen durch die freige­
Von den derzeit rund 2,1 Millionen Men­ meinnützigen Pflegedienste versorgt, 43 % durch
schen, die Leistungen der sozialen oder privaten private Pflegedienste. Pro Einrichtung betreuen
Pflegeversicherung erhalten, werden etwa 1,4 die freigemeinnützigen Dienste durchschnittlich
Millionen ambulant versorgt. Die zwischen Ende mehr Klientinnen und Klienten als die privat ge­
2003 und Ende 2006 zu verzeichnende Zunahme tragenen. Öffentliche Träger spielen in diesem
ambulanter Pflegefälle um 2,2 % bleibt deutlich Marktsegment weder hinsichtlich der Anzahl an
hinter der Entwicklung der stationären Pflegebe­ Diensten noch der versorgten Personen eine nen­
dürftigkeit zurück, die im selben Zeitraum um nenswerte Rolle. Im zeitlichen Verlauf seit 1999
7,3 % stieg. Der Großteil (59 %) der ambulant Pfle- nahm die Zahl der privaten Anbieter und der
gebedürftigen in der sozialen Pflegeversicherung von ihnen versorgten pflegebedürftigen Frauen
wurde Ende 2006 der Pflegestufe I zugeordnet. und Männer zu. Der Anstieg bei den Leistungs­
Leistungen gemäß Pflegestufe II bzw. III erhielten empfängerinnen und -empfängern wurde durch
32 % bzw. 9 % [39]. eine Kapazitätsausweitung der einzelnen Dienste
In der Pflegestatistik des Statistischen Bun­ aufgefangen: Während 1999 ein Pflegedienst im
desamtes werden ambulante Pflegedienste er­ Mittel 38 Menschen betreute, waren es sechs Jahre
fasst, die durch einen Versorgungsvertrag nach später 43 (siehe Tabelle 4.1.1.5).
§ 72 SGB XI (Gesetzliche Pflegeversicherung) Fast alle ambulanten Pflegedienste bieten so­
zur Pflege zugelassen sind oder Bestandsschutz wohl Leistungen nach SGB XI (Pflegeleistungen
nach § 73 Abs. 3 und 4 SGB XI genießen [39]. der Pflegeversicherung) als auch häusliche Kran­
Nach dieser Statistik waren zum 15. Dezember kenpflege nach SGB V (Pflegeleistungen der
2005 in Deutschland insgesamt rund 11.000 Gesetzlichen Krankenversicherung) an. Einige
ambulante Pflegedienste zugelassen. Vom VdAK wenige Einrichtungen sind organisatorisch an
veröffentlichte Daten weichen hiervon etwas ab: Wohneinrichtungen (9 %) oder Pflegeheime (6 %)
Mit Stichtag jeweils zum 1. Januar eines Jahres angeschlossen.
wurden für 2005 11.643 ambulante Pflegedienste

Tabelle 4.1.1.5
Entwicklung der ambulanten Pflegedienste nach Träger und Anzahl
der versorgten pflegebedürftigen Frauen und Männer 1999 und 2005
Quelle: Pflegestatistik [39]

Pflegedienste Pflegebedürftige Pflegebedürftige


pro Pflegedienst
1999 2005 1999 2005 1999 2005
Gesamt 10.820 10.977 415.289 471.543 38 43
nach Trägern
privat 5.504 6.327 147.804 203.142 27 32
frei­ 5.103 4.457 259.648 259.703 51 58
gemeinnützig
öffentlich 213 193 7.837 8.698 37 45
Gesundheit und Krankheit im Alter 179

Für ambulante Pflegedienste, die Leistungen Tabelle 4.1.1.6


zu Lasten der Pflegeversicherungen abrechnen Berufsabschlüsse der bei ambulanten Pflegediensten
beschäftigten Personen 1999 und 2005
können, arbeiten ca. 214.000 Menschen. Davon
Quelle: Pflegestatistik [39]
sind die Mehrzahl Frauen (88 %). Meist handelt es
sich um Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse (71 %), 1999 2005
nur jede vierte Beschäftigte bzw. jeder vierter Be­ Berufsabschlüsse gesamt 183.782 214.307
schäftigte (26 %) arbeitet in Vollzeit. Neben die­ staatlich anerkannte/r Altenpfleger/in 25.456 36.484
sen Personen werden im Bereich der ambulanten staatlich anerkannte/r 3.869 5.010
Pflege rund 1 % Zivildienstleistende sowie Auszu­ Altenpflegehelfer/in
bildende, Praktikantinnen und Praktikanten oder Krankenschwester, Krankenpfleger 58.144 71.425
Helferinnen und Helfer im freiwilligen sozialen
Krankenpflegehelfer/in 10.243 8.698
Jahr (insgesamt 2 %) beschäftigt. Informationen
zu Berufsabschlüssen der Beschäftigen in den Kinderkrankenschwester, 4.384 6.309
Kinderkrankenpfleger
ambulanten Pflegediensten lassen sich ebenfalls
der Pflegestatistik entnehmen: Kranken- und Al­ Heilerziehungspfleger/in, 436 729
Heilerzieher/in
tenpflegekräfte sind dabei die am stärksten vertre­
tenen Berufsgruppen. Knapp 80 % des Zuwachses Heilerziehungspflegehelfer/in 168 190
an Beschäftigten zwischen 1999 und 2005 rekru­ Heilpädagogin, Heilpädagoge 93 97
tierte sich aus diesen Berufsgruppen (siehe Tabel­ Ergotherapeut/in 132 229
le 4.1.1.6). sonstiger Abschluss im Bereich 2.805 3.071
Zwei Drittel des Personals (147.973 Personen) der nichtärztlichen Heilberufe
werden hauptsächlich in der Grundpflege einge­ sozialpädagogischer/ 1.539 1.485
setzt, 29.853 Beschäftigte arbeiten in der haus­ sozialarbeiterischer Berufsabschluss
wirtschaftlichen Versorgung. Tätigkeiten in der
Familienpfleger/in 1.866 1.819
Verwaltung und Geschäftsführung üben 11.666 mit staatlichem Abschluss
Personen aus (siehe Abbildung 4.1.1.6). Der An­
Dorfhelfer/in 179 130
stieg der Mitarbeiterzahlen im Vergleich der Jahre mit staatlichem Abschluss
1999 und 2005 entfiel vor allem auf den Bereich
Abschluss pflegewissenschaftliche 420 658
der Grundpflege (plus 28.585 Beschäftigte). Ausbildung an Fachhochschule
Zur Frage, in welchem Umfang ambulante oder Universität
Pflegeleistungen privat finanziert und von wem sonstiger pflegerischer Beruf 15.823 18.925
Fachhauswirtschafter/in 1.114 872
für ältere Menschen
Abbildung 4.1.1.6 sonstiger hauswirtschaftlicher 4.102 4.435
Tätigkeitsbereich der Beschäftigten in der ambulanten Berufsabschluss
Versorgung (Angaben in Prozent aller Beschäftigten)
Quelle: Pflegestatistik [39] sonstiger Berufsabschluss 32.164 36.394
ohne Berufsabschluss/ 20.845 17.347
5,4% noch in Ausbildung
5,2%
Verwaltung,
sonstiger Bereich
Geschäftsführung
6,4%
Pflegedienstleitung
sie erbracht werden, stehen nur eingeschränkt In­
13,9% formationen zur Verfügung. Laut einer im Auftrag
hauswirtschaftliche des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Versorgung Frauen und Jugend (BMFSFJ) durchgeführten
repräsentativen Studie zu Pflegearrangements
in Privathaushalten nehmen 23 % der Haushalte
69,0% privat finanzierte Dienstleistungen mehrfach wö­
Grundpflege chentlich in Anspruch. Dies betrifft jedoch vor
180 Gesundheit und Krankheit im Alter

allem Hilfen im Haushalt, bei den Mahlzeiten werden z. B. hinsichtlich der Vorbeugung von
und anderen Alltagsverrichtungen. Für pflege­ Druckgeschwüren (Mängel bei 42 % der unter­
rische Tätigkeiten im engeren Sinne wird dage­ suchten Pflegebedürftigen), der angemessenen
gen hauptsächlich auf Familienangehörige bzw. Ernährung und Flüssigkeitsversorgung (Defizite
professionelle Dienstleisterinnen und Dienstleis­ bei 30 %), der Inkontinenzversorgung (unzu­
ter, die über die Leistungen der Pflegeversiche­ reichende Versorgung in 22 % der Fälle) und
rung abgedeckt werden, zurückgegriffen. Das bei der Betreuung von Personen mit geronto­
Spektrum der individuell getroffenen Pflegear­ psychiatrischen Beeinträchtigungen (26 %) ge­
rangements erweist sich dabei als sehr groß und sehen. Auffällige Schwächen zeigen sich darüber
schließt vielfach befreundete oder in der Nach­ hinaus bei der Implementierung von Maßnah­
barschaft lebende Menschen sowie ehrenamt­ men der Struktur- und Prozessqualität. So sind
liche Helferinnen und Helfer ein [41]. Daneben nur 59 % der Beschäftigten die innerhalb ihrer
hat sich jedoch ein grauer Markt für den privaten Einrichtung entwickelten Pflegekonzepte bekannt
Zukauf von Pflegeleistungen etabliert, der u. a. die und in knapp einem Drittel der Einrichtungen
Beschäftigung ausländischer Hilfskräfte mit oder werden Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter mit
ohne pflegerische Ausbildung einschließt. Insge­ Aufgaben betraut, für die sie nicht hinreichend
samt werden Dienstleistungen und Produkte, die qualifiziert sind.
auf den Bedarf der älteren und alten Bevölkerung
abgestimmt sind, als Wachstumsbranchen be­
schrieben [42, 43]. 4.1.2 Stationäre Versorgung
Prognosen gehen bis 2030 von einem Anstieg
der Zahl der Pflegebedürftigen um ca. 60 % aus. Die stationäre Versorgung greift in dem Moment,
Unter ihnen wird der Anteil der 85-jährigen oder in dem eine ambulante Versorgung nicht mehr
älteren Personen von 33 % im Jahr 2005 auf 48 % ausreicht oder gewährleistet werden kann. Beide
im Jahr 2030 zunehmen [44]. Daraus resultiert Sektoren sind nicht als völlig getrennte Bereiche
eine deutlich steigende Nachfrage nach Pflege­ anzusehen, sondern vielmehr als sich ergänzende
dienstleistungen, sowohl im ambulanten als auch Versorgungsformen zwischen denen es zumin­
(in vermutlich noch größerem Ausmaß) im statio­ dest im Idealfall Übergänge gibt, die dem indivi­
nären Pflegesektor. Die Angebote müssen entspre­ duellen Bedarf gerecht werden. Die Darstellung
chend weiterentwickelt und dem Bedarf, beispiels­ des stationären Angebots wird im Folgenden in
weise hinsichtlich der speziellen Anforderungen die Bereiche Akut-Krankenhäuser, Vorsorge- und
bei der Pflege Demenzkranker oder dem Wunsch Rehabilitationseinrichtungen, Geriatrie und Pfle-
nach Flexibilisierung der Leistungen, angepasst geeinrichtungen gegliedert.
werden (vgl. Kapitel 2.2 und 3.3).
Die Qualität der professionellen ambulanten
Pflege wird vom Medizinischen Dienst der Kran­ Akut-Krankenhäuser
kenversicherung bzw. von Sachverständigen der
Pflegekassen geprüft und die Ergebnisse werden Krankenhäuser sind nicht nur für Personen ab
zusammenfassend veröffentlicht [45]. Mit dem 65 Jahren da, doch diese stellen die größte Nut­
Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wurde neu ein­ zergruppe: rund 7 Millionen der ca. 17 Millionen
geführt, dass zukünftig alle Einrichtungen ihre Behandlungsfälle des Jahres 2006 (41 %) betraf
Prüfergebnisse in standardisierter Form veröffent­ diese Altersgruppe (zum Vergleich: ca. 20 % der
lichen (§ 115 Abs. 1a SGB XI). Dies soll zu mehr Allgemeinbevölkerung ist 65 Jahre oder älter). Ihr
Transparenz für die Pflegebedürftigen und ihre Anteil an den Krankenhausfällen lag im Jahr 2000
Angehörigen und zur Verbesserung der Pflege­ noch bei 35 %. In bestimmten Fachabteilungen
qualität führen. Die bislang vorliegenden Da­ wird der Durchschnittswert für die ältere Bevölke­
ten weisen zwar auf positive Entwicklungen im rung über- bzw. unterschritten. Die zahlenmäßig
Vergleich der Erhebungszeiträume 2003 versus meisten (ca. 3,6 Millionen) stationären Behand­
2006 hin. Insgesamt lässt die Versorgungsqua­ lungsfälle, welche die Altersgruppe ab 65 Jahre
lität jedoch zu wünschen übrig. Große Defizite betreffen, werden in internistischen Fachabtei­
Gesundheit und Krankheit im Alter 181

lungen versorgt. Dies ist im wesentlich auf das für Knapp 50 % aller abgerechneten Aufenthalts­
ältere Personen typische Erkrankungsspektrum tage entfallen auf die ältere Bevölkerung. Ihr über­
zurückzuführen, bei dem Herz-Kreislauf-, Krebs-, proportionaler Anteil an den Behandlungstagen
Stoffwechsel- und Atemwegserkrankungen domi­ erklärt sich aus ihrer im Vergleich zu jüngeren
nieren (vgl. Kapitel 3.3). Daneben führen akute und Personen längeren durchschnittlichen Verweil­
chronische Krankheiten des Bewegungsapparates dauer. Während diese bezogen auf alle stationär
(z. B. sturzbedingte Verletzungen und Arthrose) behandelten Patientinnen und Patienten 2006
viele ältere und alte Menschen ins Krankenhaus. bei 8,5 Tagen lag, verbrachten solche, die 65 Jahre
Dort werden sie häufig in (unfall-)chirurgischen oder älter waren, im Mittel 10 Tage im Kranken­
oder orthopädischen Fachabteilungen versorgt. haus. Etwa ein Fünftel aller Deutschen zwischen
In chirurgischen Subdisziplinen wie der Herz- 70 und 90 Jahren wird mindestens einmal im
oder Gefäßchirurgie überwiegen Personen ab 65 Jahr stationär behandelt (vgl. Kapitel 3.3). Von den
Jahren. Gleiches gilt für die Bereiche Augenheil­ 389.339 Menschen, die 2006 im Krankenhaus
kunde und Urologie (siehe Tabelle 4.1.2.1) [46]. verstarben, waren 81 % 65 Jahre oder älter. Damit
Intensiv- und palliativmedizinische Betten sowie sind Kliniken für fast die Hälfte aller Deutschen
Spezialeinheiten für die Behandlung von Schlag­ dieser Altersgruppe der Ort, wo sie sterben. Sieht
anfallpatienten (Stroke Units) werden zu jeweils man also von einigen Ausnahmen wie Kinderheil­
über 60 % von ab 65 Jahre alten Patientinnen und kunde, Geburtshilfe/Gynäkologie und Psychiatrie
Patienten belegt [47]. ab, ist der Alltag in Akutkrankenhäusern geprägt
von der Versorgung und dem Sterben vor allem
älterer und alter Menschen.
Tabelle 4.1.2.1
Die schrittweise Einführung der so genann­
Anteil der 65 Jahre und älteren Patientinnen und Patienten
im Akut-Krankenhaus nach Abteilungen 2006* ten Diagnose bezogenen Fallpauschalen (Diag­
Quelle: Krankenhausstatistik [46] nosis Related Groups, DRG) als Abrechnungs­
grundlage der Akutkliniken hat einen starken
Fachabteilungen Anzahl Behandlungsfälle Anteil ab Einfluss auf die Entwicklung der stationären
65 Jahre
Gesamt ab 65 Jahre Krankenversorgung in Deutschland. Seit 2004
Gesamt 17.142.476 7.043.287 41,1 % rechnen die Krankenhäuser nicht mehr nach
Innere Med. gesamt 5.940.090 3.643.088 61,3 % tagesgleichen Pflegesätzen ab, sondern auf der
davon:
Basis von Fallgruppen, die jährlich anhand der
Daten einer Kalkulationsstichprobe für ökono­
Kardiologie 841.729 520.572 61,8 %
misch ähnlich gelagerte Fälle festgelegt werden.
Neprologie 82.424 48.539 58,9 % Ziel ist es, die früher zwischen Krankenhausträ­
Chirurgie gesamt 3.590.366 1.510.209 42,1 % gern und Kassen ausgehandelten Budgets mit
davon: den daraus resultierenden Tagessätzen durch
Unfallchirurgie 692.084 277.043 40,0 % ein wettbewerbsorientierteres System abzulösen,
Gefäßchirurgie 170.399 93.874 55,1 %
bei dem die Kliniken gleiche Preise für gleiche
Leistungen erzielen. Dadurch stehen viele Kran­
Orthopädie 657.060 278.442 42,4 %
kenhäuser unter enormem finanziellem Druck
Herzchirurgie 58.244 37.554 64,5 % und müssen teilweise weitgehende Umstruktu­
Augenheilkunde 331.542 223.951 67,5 % rierungen vornehmen, um wirtschaftlicher zu
Neurologie 621.105 289.666 46,6 % arbeiten. Einige der Folgen sind z. B. die Schlie­
Urologie 658.411 352.028 53,5 % ßung unrentabler Abteilungen oder gar ganzer
Psychiatrie und 725.843 132.627 18,3 % Kliniken, Wechsel der Träger bzw. der Rechts­
Psychotherapie form, Bildung von Kooperationen, Auslagerung
von Leistungen, Betten- und Personalabbau, Aus­
* Gezählt wird im Rahmen der Krankenhausdiagnosestatistik die
weitung des Leistungsangebotes sowie interne
Fachabteilung mit der längsten Aufenthaltsdauer. Da Patientinnen
und Patienten teilweise mehrere Abteilungen durchlaufen (z. B. Umstrukturierungen und Änderungen der Ab­
kurzer Aufenthalt in der Chirurgie, dann längerer in der Inneren)
kann die tatsächliche Altersstruktur einzelner Fachabteilungen von
lauforganisation.
dieser Darstellung abweichen.
182 Gesundheit und Krankheit im Alter

Diese Veränderungsprozesse sind im Hin­ der sein als die früher übliche Vorgehensweise.
blick auf die Versorgung älterer Personen in Zudem sind die Ärztinnen und Ärzte sowie das
mehrfacher Hinsicht relevant: Vor allem rechnet Pflegepersonal durch die eingetretene Arbeitsver­
es sich für die Krankenhäuser nicht mehr, Patien­ dichtung (Verweildauerverkürzung plus Fallzahl­
tinnen und Patienten länger als unbedingt nötig steigerung) und die Zunahme (patientenferner)
zu behalten, da die ab einem definierten Aufent­ administrativer Tätigkeiten belastet. Es besteht
haltstag gezahlten Zuschläge in aller Regel nicht die Gefahr, dass sie den Bedürfnissen älterer Pa­
die entstehenden Mehrkosten ausgleichen. Für tientinnen und Patienten weniger gerecht werden
die Leistungserbringer ist es ökonomisch sinn­ können. Diese möglichen Auswirkungen wurden
voll, die Verweildauer an der durchschnittlichen bereits im Vorfeld bzw. bei Einführung der DRG
Verweildauer der jeweils zutreffenden Fallpau­ intensiv diskutiert [48, 49]. Allerdings ist bei der
schale auszurichten. Die Kliniken haben also ein Bewertung beispielsweise der Verweildauerver­
Interesse daran, die Patientinnen und Patienten kürzungen (siehe Abbildung 4.1.2.1) zu berück­
möglichst rasch zu entlassen. Je älter Menschen sichtigen, dass kaum jemand gerne länger als nö­
jedoch sind, desto länger liegen sie meist im tig im Krankenhaus liegt und viele Menschen froh
Krankenhaus, weil ihre Versorgung komplexer ist sind, wenn sie so schnell wie möglich wieder in
und sie mehr Zeit zur Erholung benötigen. Unter ihrer gewohnten Umgebung sein können.
Umständen bestehen noch Einschränkungen der Die im Folgenden dargestellte Entwick­
Selbstversorgungsfähigkeit, die dann bei rascher lung des stationären Versorgungsangebotes in
Entlassung ambulant oder z. B. in Übergangs­ Deutschland ist vor dem Hintergrund der hier
pflegeeinrichtungen abgefangen werden müssen. nur ansatzweise beschriebenen Wirkungen der
Außerdem kann die Straffung innerbetrieblicher pauschalierten Vergütung zu betrachten. Einen
Abläufe (z. B. mehrere Untersuchungen an einem guten Überblick über verschiedene Aspekte der
Tag oder Aufnahme unmittelbar am geplanten Veränderungen geben beispielsweise die vom
Operationstag) für ältere Personen belasten- wissenschaftlichen Institut der AOK herausge-

Abbildung 4.1.2.1
Entwicklung wichtiger Kennzahlen der stationären Krankenhausversorgung 1991 bis 2006
Quelle: Krankenhausstatistik [51]

Prozent
120

110 Krankenhausfälle
Berechnungs-/
Belegungstage
100
Durchschnittliche
Verweildauer
90 Durchschnittliche
Bettenauslastung

80 Krankenhäuser

70 Aufgestellte Betten

60
1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006
1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005
Jahr
Gesundheit und Krankheit im Alter 183

gebenen Krankenhaus-Reporte [48, 49]. Details Klinik von 276 auf 243. Krankenhäuser in öffent­
zum deutschen DRG-System finden sich auf der licher Trägerschaft sind durchschnittlich größer
Homepage des für die Kalkulation der Fallpau­ (364 Betten) als freigemeinnützige (224 Betten)
schalen zuständigen Instituts für das Entgelt­ oder private Einrichtungen (119 Betten). Knapp
system im Krankenhaus [50]. die Hälfte der Betten (51 %) befindet sich somit in
Die wichtigsten Kennzahlen zum Kranken­ öffentlicher Trägerschaft. Die Zahl der 500 oder
hausbereich (Zahl der Krankenhäuser, Fallzahl, mehr Betten führenden Krankenhäuser ist mit
Berechnungs- und Belegungstage, durchschnitt­ 248 von 2.104 zwar relativ klein, dennoch halten
liche Verweildauer, aufgestellte Betten, durch­ sie insgesamt knapp 40 % der in Deutschland auf­
schnittliche Bettenauslastung) und ihre relative gestellten Betten vor.
Entwicklung zwischen 1991 und 2006 sind in Entgegengesetzt zur Entwicklung der üb­
Abbildung 4.1.2.1 gemeinsam dargestellt, da zwi­ rigen in Abbildung 4.1.2.1 dargestellten Kenn­
schen ihnen Wechselbeziehungen bestehen. zahlen stieg die Zahl der Behandlungsfälle von
Im Jahr 2006 gab es insgesamt 2.104 Kran­ 1991 zunächst bis 2002 deutlich an. Seit 2003 ist
kenhäuser in Deutschland. Gegenüber 1991 ging sie leicht rückläufig bzw. in den Jahren 2004 bis
deren Zahl um 13 % zurück. Nicht in jedem Fall 2006 nahezu konstant (2006: ca. 17 Millionen
wurde jedoch eine Einrichtung tatsächlich ganz Fälle). Der leichte Fallzahlrückgang seit 2002 ist
geschlossen: Im Zuge der durch die Einführung einerseits z. T. durch Änderungen der Falldefini­
der Fallpauschalen ausgelösten Umstrukturie­ tion aufgrund der Einführung des DRG-Systems
rungen handelt es sich zum Teil auch um Rück­ zu erklären: So werden z. B. Wiederaufnahmen
gänge aufgrund von Fusionen. Eine zuverlässige innerhalb bestimmter Zeiträume mit ähnlichem
Aussage darüber, wie viele Kliniken wirklich kom­ Behandlungsanlass abrechnungstechnisch zu­
plett geschlossen wurden, wäre nur auf der Basis sammengeführt und als ein Fall gezählt. Anderer­
von Einzelrecherchen möglich [52]. Die Umstruk­ seits erfolgen in zunehmendem Umfang früher
turierungen spiegeln sich auch in der veränderten stationär durchgeführte Maßnahmen ambulant
Verteilung der Krankenhausträger [53]: Während (z. B. kleinere operative Eingriffe). Die durch­
1991 noch 1.110 Kliniken in öffentlicher Träger­ schnittliche Verweildauer sank zwischen 1991
schaft geführt wurden, traf dies 15 Jahre später und 2006 von 14 auf 8,5 Tage (39 %). Aufgrund
nur noch auf 717 Krankenhäuser (34 %) zu. Bei der gegenläufigen Entwicklung der Fallzahlen
den in öffentlicher Trägerschaft verbliebenen Ein­ verringerte sich im selben Zeitraum die Zahl der
richtungen erfolgte zudem häufig ein Wechsel der Belegungs- bzw. Berechnungstage lediglich um
Rechtsform. Gut die Hälfte der öffentlichen Häu­ ca. 30 % (von 204,2 Millionen auf 142,3 Millio­
ser war 2006 privat-rechtlich organisiert, von den nen). Trotz der bereits erfolgten Bettenreduzie­
in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft verbliebenen rungen nahm die Bettenauslastung von 84 auf
Kliniken war ein Teil rechtlich selbstständig. Auch 76 % ab.
die Zahl der freigemeinnützigen Krankenhäuser Wenngleich durch die fallpauschalierte Ver­
nahm ab: von 943 auf 803. Dagegen stieg zwi­ gütung ein Anreiz zur Verkürzung der Verweil­
schen 1991 und 2006 die Anzahl der privat getra­ dauer gegeben ist, setzte der Rückgang der durch­
genen akutstationären Einrichtungen von 358 auf schnittlichen Aufenthaltsdauer bereits deutlich
584 Krankenhäuser. vor Einführung der DRG ein. Dies entspricht
Im selben Zeitraum wurde die Bettenzahl dem internationalen Trend und spiegelt nicht zu­
um 23 % auf 510.767 reduziert. Dies entspricht letzt auch den medizinischen Fortschritt wider.
einer Bettendichte (Anzahl aufgestellter Kran­ Effektivere, zeitsparende und schonendere diag­
kenhausbetten pro 100.000 Einwohner) von 620 nostische und therapeutische Verfahren sowie
(1991: 832). Im internationalen Vergleich gehört Qualitätsverbesserungen durch die Optimierung
Deutschland damit immer noch zu den Ländern organisatorischer Abläufe tragen ebenso dazu bei,
mit der höchsten Dichte akutstationärer Betten dass die Verweildauer sinkt, wie ökonomische
[54]. Da die Zahl der aufgestellten Betten stärker Anreize. Eine Verschlechterung der stationären
sank als die der Krankenhäuser, fiel im betrachte­ Versorgung ist daher aus den Veränderungen der
ten Zeitraum die durchschnittliche Bettenzahl pro Kennzahlen allein nicht abzuleiten.
184 Gesundheit und Krankheit im Alter

Die regionale Verteilung des stationären Ver­ vor allem wenn jüngere Familienmitglieder fort­
sorgungsangebotes erweist sich als relativ inho­ gezogen, der öffentliche Nahverkehr ausgedünnt
mogen, wobei die Varianz der Krankenhausdichte und die ambulanten Versorgungsmöglichkeiten
pro 100.000 Einwohner tendenziell größer ist als begrenzt sind. Die niedrigste Bettendichte weisen
die der Bettendichte. Letztere hat sich (vor dem jedoch Niedersachsen, Schleswig-Holstein und
Hintergrund der oben beschriebenen allgemeinen Baden-Württemberg auf, deren Krankenhäuser
Trends) im Verlauf der letzten Jahre zunehmend im Durchschnitt kleiner sind als die in den neu­
angeglichen (siehe Abbildung 4.1.2.2). en Bundesländern. Bei der Bewertung der Bet­
Vor allem im Osten Deutschlands domi­ tendichte ist zu berücksichtigen, dass vor allem
nieren eher größere Einrichtungen bei einer die stationären Einrichtungen der Stadtstaaten in
ähnlichen Bettendichte wie in vielen westlichen nicht unerheblichem Umfang eine Versorgungs­
Bundesländern. Dadurch kann in (dünnbesiedel­ funktion für das Umland übernehmen.
ten) ostdeutschen Flächenländern wie Branden­ Die amtliche Statistik enthält einige Informa­
burg und Sachsen-Anhalt die Entfernung zum tionen über die Zahl der an Akutkrankenhäusern
nächstgelegenen Krankenhaus relativ groß sein. verfügbaren medizinischen Großgeräte wie z. B.
Dies belastet besonders die ältere Bevölkerung, Computer- und Kernspintomografen, Bestrah-

Abbildung 4.1.2.2
Anzahl der akutstationären Krankenhausbetten pro 100.000 Einwohner (Bettendichte) im regionalen Vergleich 2006
Quelle: Krankenhausstatistik [51]

< 600
– 650
– 700

> 700
Gesundheit und Krankheit im Alter 185

lungsgeräte, Herzkatherplätze oder Herz-Lungen- Tabelle 4.1.2.2


Maschinen [51]. So zeigt sich beispielsweise, dass Personal in Krankenhäusern nach Funktion 2006
Quelle: Krankenhausstatistik [51]
die Ausstattung mit einem Computertomografen
zumindest in Krankenhäusern ab ca. 300 Betten Anzahl
nahezu zum Standard geworden ist. Außerdem Personal gesamt 791.914
ist die technische Ausstattung umso aufwändiger
ärztliches Personal gesamt 123.715
je größer die Klinik ist und hängt von den vor­
gehaltenen Fachabteilungen ab. Mit dem Wegfall nichtärztliches Personal gesamt 668.200
der so genannten Großgeräteplanung, einem sin­ davon:
kenden Anteil der Länder an der Finanzierung Pflegedienst 299.328
der Krankenhäuser, der größeren Freiheit vieler medizinisch-technischer Dienst 122.620
Krankenhäuser hinsichtlich der Verwendung der Funktionsdienst 84.964
ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und neuer
Wirtschafts- und Versorgungsdienst 51.088
technischer Möglichkeiten (z. B. Fernbefundung
digitalisierter Computertomografien) sowie einer übrige 110.200
Vielfalt von ambulant-stationären Kooperations­
formen (z. B. radiologische, strahlentherapeu­
tische oder kardiologische Praxen in Kliniken, nisse sind im nichtärztlichen Bereich wesentlich
welche den Krankenhäusern ihre Geräte zur Ver­ häufiger (43 %, davon über 90 % Frauen) als im
fügung stellen bzw. bestimmte Leistungen für die ärztlichen (25 %, davon 75 % Frauen). Eine abge­
Kliniken erbringen) sagen diese Daten wenig über schlossene Weiterbildung hatten knapp 72.000
die tatsächliche Versorgung der Bevölkerung aus. der an Krankenhäusern angestellten Ärztinnen
Die Krankenhäuser meldeten 2006 insge­ und Ärzte (ca. 46 %). Darunter bildeten Inter­
samt fast 792.000 Beschäftigte (Vollkräfte im nistinnen und Internisten mit 21 % die größte
Jahresdurchschnitt, Teilzeitkräfte bzw. geringfü­ Gruppe, gefolgt von anästhesiologisch (18 %)
gig Beschäftigte werden entsprechend ihrer Ar­ oder chirurgisch (17 %) qualifizierten Ärztinnen
beitszeit auf volle Stellen umgerechnet). Davon und Ärzten. Eine Weiterbildung in Klinischer
gehörten 124.000 Vollkräfte dem ärztlichen Per­ Geriatrie wird in der amtlichen Krankenhaus­
sonal und 299.328 dem Pflegedienst an. Rund statistik nur für Internistinnen und Internisten
370.000 Beschäftigte verteilten sich auf andere ausgewiesen (497 von 15.385), was gemäß den
Gruppen (siehe Tabelle 4.1.2.2). Hinzukommen Ausführungen unter 4.1.1 einer Untererfassung
knapp 100.000 Auszubildende in verschiedenen entsprechen dürfte.
Berufen. Der Ärztestatistik der Bundesärztekammer
Zwischen 1991 und 2006 wurden in den sind Daten zur Entwicklung der Arztzahlen im
Krankenhäusern über 112.000 Vollkräfte-Äquiva­ stationären Sektor zu entnehmen (siehe Tabel­
lente im nichtärztlichen Bereich abgebaut. Gut le 4.1.2.3, eine Differenzierung nach Akut- oder
26.000 Vollzeitstellen entfielen davon auf den Reha-Kliniken erfolgt nicht) [8]. Während die gro­
Pflegedienst, der medizinisch-technische Dienst ßen Fächer Innere Medizin und Chirurgie deutlich
war dagegen nicht betroffen (plus ca. 600 Vollkräf­ zulegten, blieben die Zahlen der übrigen Fach­
te). Das heißt, der Personalabbau im Krankenhaus ärztinnen und -ärzte im Wesentlichen konstant.
ging vor allem zu Lasten von Haus-, Wirtschafts- Deutlich gestiegen ist zwischen 2000 und 2007
und Versorgungs- sowie technischem Dienst. die Anzahl der schmerztherapeutisch oder pal­
Trotz des gestiegenen Verwaltungsaufwands blieb liativmedizinisch qualifizierten Medizinerinnen
die Zahl der Verwaltungsangestellten nahezu und Mediziner. Die amtlichen Kennzahlen zur Ar­
konstant bei ca. 70.000 Vollkräften. Im selben beitsbelastung (von einer Vollkraft zu versorgende
Zeitraum wurden ca. 25.000 ärztliche Vollzeitstel­ Betten bzw. Fälle) sowohl des ärztlichen als auch
len neu geschaffen. Während im ärztlichen Dienst des nicht-ärztlichen Personals weisen tendenzi­
mehrheitlich Männer arbeiten (ca. 61 %), sind im ell auf günstigere Personalschlüssel in größeren
nichtärztlichen Bereich überwiegend Frauen be­ Krankenhäusern bzw. in öffentlich getragenen
schäftigt (80 %). Teilzeitbeschäftigungsverhält- Einrichtungen hin.
186 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 4.1.2.3 tionseinrichtungen (708) traditionell in privater


Zahl der stationär tätigen Ärztinnen und Ärzte Trägerschaft. Der Nutzungsgrad der Betten ist
nach Qualifikation 2000 und 2007
Quelle: [8] ähnlich dem der Krankenhausbetten, er lag 2006
bei knapp 75 % (1991: 87 %). Die durchschnittliche
2000 2007 Verweildauer sank (vor allem aufgrund geänderter
Gesamt 139.477 150.644 Richtwerte) von 31 Tagen im Jahr 1991 auf 25,6
Augenheilkunde 807 830 Tage im Jahr 2006 [32].
Frauenheilkunde und Geburtshilfe 4.333 4.702
Anders als in Akutkrankenhäusern wurde in
den Reha-Einrichtungen kein Personal abgebaut.
Innere Medizin und Allgemeinmedizin 16.833 19.830
(Haus- und Fachärzte)*
Im Gegenteil stieg seit 1991 die Zahl der Vollkräfte
um 12.415 auf 78.074 im Jahr 2006. Dies betraf
davon:
sowohl den ärztlichen als auch den nichtärztlichen
Innere mit Schwerpunkt Geriatrie 0 4 Dienst. Die Steigerungsrate lag bei den Ärztinnen
Chirurgie 29.469 36.701 und Ärzten bei 27 % und beim nichtärztlichen
davon: Dienst insgesamt bei 12 % (Pflegedienst: plus
Orthopädie und Unfallchirurgie 8.632 11.583 37 %). Der Personalzuwachs erklärt sich teilwei­
se aus der erhöhten Bettenzahl. Darüber hinaus
Nervenheilkunde bzw. Neurologie 3.243 3.803
ist ein Einfluss der sehr detaillierten Vorgaben
Urologie 1.639 1.959
der Reha-Kostenträger zur Personalstruktur in
ohne Gebiet 68.262 67.554 Vertragshäusern denkbar. Gut zwei Drittel der
Ärztinnen und Ärzte mit Zusatz-Bezeichnung ca. 9.000 in Vorsorge- und Reha-Einrichtungen
Schmerztherapie 739 1.869 tätigen Medizinerinnen und Mediziner verfügen
Palliativmedizin 0 848 über eine abgeschlossene Facharztausbildung.
Unter ihnen bilden die internistisch (29 %) wei­
* Da im zeitlichen Verlauf die Klassifikation der ärztlichen Subdiszi­
plinen in diesem Bereich mehrfach geändert wurde, steht für den
tergebildeten Ärztinnen und Ärzte die größte
Vergleich nur die Gesamtzahl aller Ärztinnen und Ärzte mit inter­ Gruppe, gefolgt von den orthopädisch (16 %),
nistischer bzw. allgemeinärztlicher Qualifikation zur Verfügung.
Die Angabe schließt daher neben den Hausärztinnen und -ärzten allgemeinmedizinisch (15 %), chirurgisch (13 %)
auch die fachärztlich tätigen Internistinnen und Internisten ein, oder psychiatrisch-psychotherapeutisch (11,8 %)
wobei deren Zugang den der hausärztlich tätigen Medizinerinnen
und Mediziner übersteigt. Qualifizierten. Geriatrisch hatten sich 154 Medizi­
nerinnen und Mediziner (2,5 %) weitergebildet, in
physikalischer und rehabilitativer Medizin 5,8 %.
Damit unterscheidet sich das Qualifikationsspek­
Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen trum der im Reha-Bereich tätigen Ärztinnen und
Ärzten relativ deutlich von ihren akut-stationären
Im Jahr 2006 wurden insgesamt fast 173.000 Kolleginnen und Kollegen.
Betten in 1.255 Vorsorge- und Rehabilitationsein­ Die amtliche Statistik weist für 2006 insge­
richtungen vorgehalten. 46 % der Häuser ver­ samt rund 1,8 Millionen in Vorsorge- und Reha­
fügten über maximal 99 Betten. Seit 1991 hat bilitationseinrichtungen behandelte Fälle aus [33].
die Zahl der Reha-Kliniken lediglich um 74 zu­ Dies entspricht einer Steigerung um ca. 20 % ge­
genommen (+6,3 %), die Bettenzahl ist dagegen genüber 1991. Im Jahr 2006 waren ca. 560.000
um 28.545 (+19,8 %) gestiegen. Dies erklärt sich (31 %) der Reha-Patientinnen und -patienten 65
durch eine Zunahme der durchschnittlichen Ein­ Jahre oder älter (zu Aspekten wie Alters- und
richtungsgröße. Inwieweit dazu kleinere Häuser Geschlechtsverteilung vgl. Kapitel 3.3). Rund ein
(bis 100 Betten) geschlossen und größere Reha- Drittel aller Aufnahmen zur Rehabilitation erfolgt
Einrichtungen neu eröffnet wurden oder ob es direkt aus einem Akutkrankenhaus (in der Regel
sich vorwiegend um Erweiterungen der Bettenka­ Anschlussheilbehandlungen bzw. -rehabilita­
pazitäten bestehender Einrichtungen handelt, ist tionen). Das Muster der Diagnosen (bzw. Reha-
den vorliegenden Daten nicht zu entnehmen. Im Indikationen) und die Zuordnung zu den medi­
Unterschied zum akutstationären Sektor befindet zinischen Fachabteilungen ähneln der Verteilung
sich die Mehrzahl der Vorsorge- und Rehabilita­ im akutstationären Sektor. Allerdings rangieren
Gesundheit und Krankheit im Alter 187

im Reha-Bereich Erkrankungen des Bewegungs­ Geriatrie im Regelfall vorab Genehmigung


apparates inklusive Verletzungen noch vor den durch Kostenträger notwendig, dieser kann
Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen (vgl. Ka­ formal auch die Einrichtung bestimmen);
pitel 3.3). Entsprechend wird über ein Drittel der ▶ der traditionell unterschiedlichen regionalen
stationären Reha-Maßnahmen in orthopädisch Verteilung von Akut- und Reha-Kliniken.
ausgerichteten Abteilungen durchgeführt. Zur
Entwicklung der GKV-Ausgaben für stationäre Es gibt Bundesländer, in denen die geriatrische
Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen siehe Versorgung überwiegend oder sogar zu 100 %
Abbildung 4.1.1.4. akutstationär verankert ist (z. B. neben den Stadt­
staaten Hamburg, Berlin und Bremen vor allem
Hessen, Schleswig-Holstein und Thüringen),
Geriatrie solche mit »gemischter« Versorgung und einem
ausgeglichenen Verhältnis geriatrischer Kapazi­
Wie bereits unter Abschnitt 4.1.1 aufgezeigt, stellt täten im Akut- und Reha-Sektor (Saarland) sowie
die Geriatrie einen wichtigen Zweig der ambu­ andere mit stark oder nahezu vollständig im Re­
lanten wie stationären Versorgung alter Menschen ha-Bereich angesiedelter geriatrischer Versorgung
dar. Allerdings konzentrieren sich die spezifisch (z. B. Bayern, Mecklenburg-Vorpommern) (siehe
geriatrischen Versorgungsstrukturen bisher fast Abbildung 4.1.2.3). Im Laufe der letzten Jahre
ganz auf den stationären Sektor (Akut-Kranken­ hat es zudem »Umwidmungen« existierender
haus- und/oder Rehabilitationsbereich). Aufgrund Einrichtungen gegeben. Dabei wurden (z. B. in
unterschiedlicher gesundheitspolitischer Kon­ Rheinland-Pfalz und Bayern) die rechtliche Zu­
zepte variieren die Versorgungsstrukturen zwi­ ordnung vorhandener geriatrischer Behandlungs­
schen den einzelnen Bundesländern erheblich. einheiten zum Akut- bzw. Reha-Sektor geändert
Dies gilt insbesondere in Hinblick auf die Zuord­ oder Überkapazitäten in Allgemeinkrankenhäu­
nung geriatrischer Versorgungseinheiten zum sern in geriatrische Rehabilitationseinrichtungen
Akut- oder/und Reha-Bereich, was Konsequenzen umgewandelt [21]. Angesichts dieser inhaltlich
sowohl für die betroffenen Leistungserbringer als schwer zu rechtfertigen Situation werden die sta­
auch für die Patientinnen und Patienten hat [19, tionären geriatrischen Angebote nicht getrennt,
21, 55]. Diese resultieren u. a. aus: sondern in diesem gesonderten Kapitel gemein­
▶ unterschiedlichen Finanzierungsmodellen sam dargestellt [19].
(relativ einheitliche Fallpauschalen im Akut­ Für die stationäre geriatrische Versorgung
sektor versus klinikindividuell auszuhan­ standen im Jahr 2006 10.561 Betten in 193 Akut­
delnde Tagessätze bzw. Pauschalen im Reha- krankenhäusern zur Verfügung. Die 5.977 geria­
Bereich); trischen Betten in Reha-Kliniken verteilten sich
▶ unterschiedlichen Erlösen für vergleichbare, auf 98 Fachabteilungen für Klinische Geriatrie
fachbedingt komplexe Leistungen; innerhalb der Inneren Medizin, 18 innerhalb
▶ rechtlich-formalen Unterschieden der Zu­ der Neurologie und 2 innerhalb der Psychiatrie/
lassung bzw. der Grundlagen für Versor­ Psychotherpaie. Dies entspricht einer Versor­
gungsverträge (u. a. § 109 SGB V für Akut- gungsquote von 6,5 »akut-geriatrischen« bzw. 3,7
Krankenhäuser und § 111 SGB V für Reha- »reha-geriatrischen« Betten pro 10.000 Personen
Einrichtungen); ab 65 Jahren. An 110 Akutkliniken mit 1.569 Plät­
▶ durchschnittlich längeren Verweildauern im zen war eine tagesstationäre bzw. an 116 eine teil­
Reha-Bereich; stationäre Versorgung möglich (teilweise werden
▶ hohen, jedoch nicht deckungsgleichen Anfor­ beide Formen von derselben Einrichtung angebo­
derungen an die Qualität der Strukturen und ten). Für eine ambulante (nicht zugehende) geria­
Prozesse sowie der Dokumentation; trische Rehabilitation gab es 474 Plätze. Daraus
▶ unterschiedlichen Aufnahme- bzw. Zuwei­ ergeben sich Quoten von 1,0 für die teil/tagessta­
sungsverfahren (in Akut-Geriatrie Einwei­ tionäre und 0,3 Plätzen pro 10.000 Einwohner ab
sung, Verlegung etc. wie in andere Akut­ 65 Jahren für die ambulante rehabilitative Versor­
kliniken möglich; für Aufnahme in Reha- gung [21, 32]. Insgesamt waren somit pro 10.000
188 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 4.1.2.3
Struktur der geriatrischen Versorgungskapazitäten nach Bundesländern 2006
(Betten bzw. Plätze pro 10.000 Einwohner ab 65 Jahren)
Quelle: [21]

Deutschland

Sachsen
Niedersachsen
Baden-Württemberg
Rheinland-Pfalz
Mecklenburg-Vorpommern
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Schleswig-Holstein
Bayern Krankenhausbetten
Hessen
Nordrhein-Westfalen Behandlungsplätze TK
Brandenburg Reha-Betten
Saarland
Berlin ambulante Reha-Plätze
Bremen
Hamburg
0 5 10 15 20 25 30
Betten/Plätze pro 10.000 Einwohner ab 65 Jahre

Einwohner ab 65 Jahren 11,3 stationäre, teil/ hausprozeduren abgebildet. Diese Behandlungs­


tagesstationäre oder ambulante Behandlungsplät­ form enthält auch frührehabilitative Elemente und
ze verfügbar. ist aufgrund der Häufigkeit des Schlaganfalls in
Zusätzliche Informationen über die geria­ der älteren Bevölkerung versorgungsrelevant.
trische Versorgung im akutstationären Bereich Nach Angaben des Statistischen Bundes­
lassen sich Auswertungen der Operationen- und amtes wurde die »Geriatrische frührehabilitative
Prozedurenschlüssel (OPS) entnehmen, die im Komplexbehandlung« (OPS 8-550) im Jahr 2006
Rahmen der Abrechnung nach Fallpauschalen in 122.829 akutstationären Behandlungsfällen do­
dokumentiert werden. Der Prozedurenkatalog kumentiert [47]. Dies entspricht einer Steigerung
definiert detailliert inhaltliche und strukturelle gegenüber dem Vorjahr um 10,8 %. Sie ist die mit
Aspekte komplexer Versorgungsleistungen. Zur Abstand am häufigsten abgerechnete stationäre
geriatrischen Frührehabilitation werden beispiels­ Komplexleistung mit frührehabilitativen Charak­
weise Vorgaben zu den durchzuführenden Assess­ ter bei Erwachsensen. Ebenfalls von großer Bedeu­
ments, der Zusammensetzung des geriatrischen tung für ältere Personen ist aufgrund der mit dem
Teams und der Interventionsintensität gemacht. Alter steigenden Häufigkeit von Schlaganfällen
Grundsätzlich muss bei der Frührehabilitation im die Versorgung in einer auf die Frühbehandlung
Krankenhaus bei den Patienten gleichzeitig akut­ dieser Erkrankung spezialisierten Behandlungs­
stationärer und rehabilitativer Versorgungsbedarf einheit (Stroke Unit; entsprechender OPS: 8-981).
bestehen. Neben verschiedenen rehabilitativen Diese Behandlung wurde im Jahr 2006 in 108.287
Komplexen wird u. a. auch die Vorsorgung von Behandlungsfällen dokumentiert. Die Altersver­
Schlaganfallpatienten in spezialisierten Behand­ teilung der jeweiligen Interventionen ist Abbil­
lungseinheiten (Stroke Units) mit umfangreichen dung 4.1.2.4 zu entnehmen. Erwartungsgemäß
Anforderungsprofilen im Katalog der Kranken­ steigt die Rate der durchgeführten geriatrischen
Gesundheit und Krankheit im Alter 189

Abbildung 4.1.2.4
Akutstationäre Behandlungsfälle mit geriatrisch-frührehabilitativer, Stroke Unit, neurologisch-frührehabilitativer
oder palliativmedizinischer Intervention (OPS 8.550, 8-981, 8-552 bzw. 8-982) nach Alter 2006
Quelle: Krankenhausstatistik [47]

Fälle pro 100.000 Einwohner


3.000

2.500

2.000

1.500
geri. Frühreha

Stroke Unit
1.000
neuro. Frühreha

500 palliativmed. Komplexbehandl.

65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90+


Altersgruppe

Komplexbehandlungen deutlich mit dem Alter Statistik berichtet lediglich über 497 klinische Ge­
an. Andere spezialisierte Behandlungsformen riater in Akutkrankenhäusern sowie über weitere
werden jedoch zumindest ab dem 85. Lebensjahr 154 in Vorsorge und Reha-Einrichtungen.
seltener erbracht. Eine teilstationäre geriatrische Die früher häufiger beklagte Diskrepanz zwi­
Rehabilitation wurde 2006 lediglich in 55 Fällen schen der amtlichen Statistik und den Daten aus
abgerechnet. anderen Quellen (z. B. Erhebungen der Sozialmi­
Angaben zur Zahl der gerontopsychiatrischen nisterien der Länder, Datensammlung des VdAK-
Einrichtungen oder Betten liegen nicht vor. Dies AEV), welche auf eine Untererfassung vor allem
gilt auch für Daten zu spezialisierten Angeboten der geriatrischren Angebote im Reha-Bereich
zur frühzeitigen Demenzdiagnostik (Memory- schließen ließen [19, 55], findet sich so heute le­
Kliniken, spezialisierte Institutsambulanzen, diglich noch für den ambulanten Bereich (ohne ta­
etc.). Lediglich für den Rehabilitationssektor ist ges/teilstationäre Angebote). Aufgrund mehrfach
ausgewiesen, dass im Jahr 2006 insgesamt 100 geänderter Klassifikations- und Darstellungsver­
Betten für klinische Geriatrie Rehabilitationsein­ fahren ist allerdings eine Beschreibung der zeit­
richtungen für Psychiatrie und Psychotherapie lichen Entwicklung des stationären geriatrischen
angegliedert sind [32]. Versorgungsangebotes im Akut- und Reha-Sektor
Die Untererfassung von Ärztinnen und kaum möglich. Im Jahr 2006 wurde von 117 Kran­
Ärzten mit geriatrischer Zusatzqualifikation wur­ kenhäusern mindestens eine Fachabteilung kli­
de bereits unter 4.1.1 diskutiert. Leider differen­ nische Geriatrie gemeldet. Definitionsgemäß wer­
zieren die von Lübcke et al. erhobenen aktuellen den diese von geriatrisch qualifizierten Ärztinnen
Daten nicht nach Tätigkeitsgebiet, so dass zum oder Ärzten geleitet, die nicht notwendigerweise
stationären Sektor keine zuverlässigen Aussagen den Status einer Chefärztin oder eines Chefarztes
hinsichtlich der Zahl geriatrisch qualifizierter inne haben müssen. Allerdings existiert bislang
Ärzte getroffen werden können [3]. Die amtliche keine eindeutige Definition für eine Fachabtei­
190 Gesundheit und Krankheit im Alter

lung Geriatrie. Dies soll durch Anpassung der Schnitt betreute ein Pflegeheim 65 Pflegebedürf­
Fragebogen zur Krankenhausstatistik künftig be­ tige. Private Träger betreiben eher kleinere Ein­
hoben werden. richtungen (durchschnittlich 53 Pflegebedürftige),
Die scheinbare Zunahme der geriatrischen die freigemeinnützig (71 Pflegebedürftige) oder öf­
Versorgungskapazitäten im Verlauf der letzten fentlich getragenen Heime (80 Pflegebedürftige)
Jahre wird von Meinck et al. vor allem auf den sind hingegen größer.
schrittweisen Abbau der zuvor bestehenden Un­ Die meisten Heime (ca. 9.400) erbrachten
tererfassung zurückgeführt [55]. Die von diesen vollstationäre Dauerpflege. Das Angebot der
Autoren bzw. dem Kompetenzzentrum Geriatrie anderen Einrichtungen setzt sich entweder aus
zusammengetragenen Daten zeigen – bezogen Kurzzeitpflege und/oder Tages- sowie Nachtpflege
auf die Bevölkerung ab 65 Jahre des jeweiligen zusammen. Mit nur 19.044 bzw. 327 Plätzen stellt
Bezugsjahres, d. h. unter Berücksichtigung der die reine Tages- bzw. Nachtpflege einen unter­
demografischen Entwicklung – keine Ausweitung geordneten Bereich dar. Die Auslastung der
des geriatrischen Angebotes, trotz einer Zunahme vollstationären Pflegeplätze lag im Jahr 2005 bei
der absoluten Kapazitätszahlen. Die geriatrische 88,7 %.
Versorgungsquote betrug demnach 2003 12,3 Plät­ Pflegeheime sind nicht nur das Lebensum­
ze pro 10.000 Einwohner und sank auf 11,3 im feld der dort versorgten überwiegend alten Men­
Jahr 2006. schen, sondern auch Arbeitsplatz von fast 550.000
Personen. Dies entspricht einem Anstieg des in
stationären Pflegeeinrichtungen beschäftigten
Stationäre Pflegeeinrichtungen Personals um 7 % gegenüber 2003. Vollzeit­
beschäftigt sind rund 38,1 %, ca. 30 % arbeiten
Die nachfolgende Darstellung des stationären Teilzeit mit mindestens 50 %. Die übrigen Ar­
Pflegeangebotes ergänzt die Ausführungen in beitnehmerinnen und -nehmer sind mit weniger
den Kapiteln 2.2 zu Pflegebedürftigkeit und 3.3 als 50 % der regulären Arbeitszeit (14,4 %) oder
zur Inanspruchnahme von Pflegeleistungen und geringfügig beschäftigt (10,1 %), Praktikanten/
ist im Zusammenhang mit den dort getroffenen Schüler/Auszubildende (5,8 %), Helferinnen und
Aussagen zu betrachten. Rund ein Drittel der Pfle- Helfer im freiwilligen sozialen Jahr (0,7 %) oder
gebedürftigen (677.000) wurde im Jahr 2005 in Zivildienstleistende (1,2 %). Die Mehrzahl der Be­
Heimen versorgt. Unter den Pflegeheimbewoh­ schäftigten (rund 394.000) sind für Pflege und
nerinnen und -bewohnern finden sich anteilig (soziale) Betreuung zuständig, während die übri­
mehr Schwer- und Schwerstpflegefälle als unter gen in den Bereichen Hauswirtschaft, Haustech­
ambulant gepflegten Personen, da sie eher schwie­ nik und Verwaltung tätig sind. Einen Überblick
rig und nur mit hohem personellen wie organi­ über ausgewählte Merkmale der Pflegestatistik
satorischen Aufwand ambulant betreut werden gibt Tabelle 4.1.2.4.
können [38]. Mit der Einführung der Pflegeversicherung
Im Jahr 2005 wurden 10.424 Pflegeheime als soziale Pflichtversicherung im Jahr 1995 wur­
mit insgesamt 757.186 Plätzen statistisch erfasst, den nicht nur die aus Pflegebedürftigkeit resultie­
die voll- bzw. teilstationäre Leistungen anboten. renden finanziellen Belastungen der Betroffenen
Bei der vorherigen Zählung im Jahr 2003 waren und ihrer Familien abgefedert. Die Pflegeversiche­
es noch 7 % weniger Einrichtungen bzw. 6,2 % rung hat auch dazu beigetragen, die Struktur der
weniger Plätze gewesen. Der überwiegende Teil pflegerischen Versorgung weiter zu entwickeln
der Pflegeheime befindet sich in freigemeinnüt­ und dem steigenden Bedarf anzupassen. Gesetz­
ziger Trägerschaft (55,1 %); privat getragen werden lich geregelt sind zudem externe Qualitätskontrol­
38,1 % der Einrichtungen, während die übrigen len der Einrichtungen durch die Medizinischen
bislang in öffentlicher Trägerschaft verblieben Dienste der Krankenversicherungen bzw. durch
sind. Die Anzahl der öffentlich getragenen Pfle- von den Pflegekassen beauftragte Sachverstän­
geheime sank zwischen 2003 und 2005 um 3,6 % dige. In ca. 50 % der MDK-Prüfungen ist auch
auf insgesamt 702 Einrichtungen. Vor allem der die amtliche Heimaufsicht involviert, die darü­
Anteil privat geführter Häuser stieg dagegen. Im ber hinaus eigenständige Prüfungen vornimmt.
Gesundheit und Krankheit im Alter 191

Tabelle 4.1.2.4 Pflegeeinrichtungen zeigen zwar in vielen Punk­


Ausgewählte Merkmale der Pflegestatistiken ten Verbesserungen zwischen den Erhebungs­
der Jahre 2003 und 2005
Quelle: Pflegestatistik [39]
zeiträumen 2003 und 2006 (z. B. angemessener
Pflegezustand bei 82,6 % bzw. 90 % der unter­
2003 2005 suchten Pflegebedürftigen). Deutliche Defizite
Pflegeheime gesamt 9.743 10.424 bestehen jedoch nach wie vor insbesondere hin­
darunter:
sichtlich der Qualitätsmerkmale »Vorbeugung
vor Druckgeschwüren (Dekubitusprophylaxe)«
mit vollstationärer Dauerpflege 8.775 9.414
(Versorgungsmängel in 35,5 % der Fälle), »ange­
verfügbare Plätze 713.195 757.186 messene Ernährung und Flüssigkeitsversorgung«
darunter: (Defizite ebenfalls bei rund einem Drittel der un­
mit vollstationärer Dauerpflege 683.941 726.448 tersuchten Heimbewohnerinnen und -bewohner),
Personal gesamt 510.857 546.397 »angemessene Versorgung bei Inkontinenz«
davon: (Mängel in 15,5 % der Fälle) und bei der Betreu­
ung von Personen mit gerontopsychiatrischen
vollzeitbeschäftigt 216.510 208.201
Beeinträchtigungen (ca. 30 % der Betroffenen).
teilzeitbeschäftigt
Hinsichtlich dieser Kriterien schneiden die sta­
über 50 % 140.488 162.385 tionären Einrichtungen tendenziell sogar noch
50 % und weniger, aber nicht 71.066 78.485 schlechter ab als die ambulanten (vgl. Abschnitt
geringfügig beschäftigt 4.1.1). Probleme werden außerdem beim Umgang
geringfügig beschäftigt 49.179 55.238 mit freiheitseinschränkenden Maßnahmen und
Praktikant/in, Schüler/in, 22.031 31.623 Medikamenten gesehen. Insgesamt besteht also
Auszubildende/r – positiv formuliert – ein großes Optimierungs­
Helfer/in im freiwilligen sozialen Jahr 3.373 4.003 potenzial [45].
Zivildienstleistender 8.210 6.462
berufliche Qualifikation
Literatur
staatlich anerkannte/r Altenpfleger/in 110.208 122.333
Krankenschwester, Krankenpfleger 55.348 61.238 1. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
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Kinderkrankenschwester, 3.587 3.764
zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik
Kinderkrankenpfleger
Deutschland: Risiken, Lebensqualität und Versorgung
darunter: Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung de­
menzieller Erkrankungen
überwiegender Tätigkeitsbereich 345.255 374.116
www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/Kategorien/For
Pflege und Betreuung
schungsnetz/forschungsberichte,did=18370.html
(Stand: 08.08.2008)
2. Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Ge­
sundheitswesen (2002) Gutachten 2000/2001 Bedarfs­
gerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit Band III: Über-,
Die Ergebnisse dieser (und anderer) Prüfungen Unter- und Fehlversorgung. Nomos, Baden-Baden
sollen zukünftig nicht nur in aggregierter Form www.dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/068/1406871.
veröffentlicht werden, wie dies bislang geschah pdf (Stand: 08.08.2008)
[45], sondern gemäß der Vorgaben des Pflege-Wei­ 3. Lübke N, Ziegert S, Meinck M (2008) Geriatrie – Er­
heblicher Nachholbedarf in der Weiter- und Fortbil­
terentwicklungsgesetz (§ 115 Abs. 1a SGB XI) für dung. Dtsch Ärztebl 105 (21): A1120 – A122
jede Einrichtung auch in standardisierter, laien­ 4. Romberg H (2005) Hausbesuch – er ist viel besser als
verständlicher Form. Dies soll zu mehr Transpa­ sein Ruf! Der Hausarzt 15: 42 – 47
renz über die Qualität der professionellen Pflege 5. Snijder EA, Kersting M, Theile G et al. (2007) Haus­
besuche: Versorgungsforschung mit hausärztlichen
führen und die Rechte sowie die Entscheidungs­ Routinedaten von 158.000 Patienten. Gesundheitswe­
kompetenz der Pflegebedürftigen und ihrer Ange­ sen 69: 679 – 685
hörigen stärken. 6. Kassenärztliche Bundesvereinigung (2002) Am­
Die vorliegenden bundesweiten Auswer­ bulante Versorgung: Großer Bedarf an Hausärzten.
Dtsch Ärztebl: 446
tungen der Qualitätsprüfungen in stationären
192 Gesundheit und Krankheit im Alter

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Gesundheit und Krankheit im Alter 193

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194 Gesundheit und Krankheit im Alter

4.2 Familiale und ehrenamtliche pflegerische Versorgung


Clemens Tesch-Römer, Silke Mardorf

Kernaussagen hat [1]. Dabei ist zu bedenken, dass familiale Un­


terstützung durch Reziprozität gekennzeichnet
1. Die Bedeutung von Familie und weiteren pri­ ist: Viele Angehörige der Großelterngeneration
vaten Netzen für die Unterstützung hilfe- und unterstützen ihre (erwachsenen) Kinder und En­
pflegebedürftiger Menschen ist groß. kelkinder durch finanzielle Transfers am Ende des
2. Seit Einführung der Pflegeversicherung im Familienzyklus und übernehmen Verantwortung
Jahr 1996 nimmt die Bedeutung der Familie in der Betreuung ihrer Enkelkinder [2]. Private
für die Pflege allmählich ab, während die der Netzwerke bilden den Rahmen, in den Familien
ambulanten Dienste bei der Unterstützung eingebettet sind. Freundschaften werden nicht
pflegebedürftiger Menschen in Privathaus­ selten über Jahrzehnte gepflegt, können aber
halten zugenommen hat. auch im höheren Alter neu entstehen. Bezie­
3. Es sind vor allem alte und älter werdende hungen zu Menschen in der Nachbarschaft
Menschen, die Verantwortung für alte und stellen ebenfalls eine Quelle von Kontaktmög­
sehr alte Menschen tragen. lichkeiten und Unterstützungspotenzialen dar.
4. Die Bereitschaft im Falle der Pflegebedürftig­ Freundschaften und Bekanntschaften sind aber
keit für Familienangehörige einzustehen ist eher durch gemeinsame Aktivitäten als durch die
hoch und wird häufig als Selbstverständlich­ Übernahme bindender Unterstützungsleistungen
keit verstanden. charakterisiert.
5. Die Unterstützung und Versorgung eines Familien übernehmen in besonderem Maß
pflegebedürftigen Menschen ist eine zeit­ bedeutsame Aufgaben bei der Unterstützung und
intensive, physisch wie psychisch fordern­ Betreuung hilfebedürftiger und pflegebedürftiger
de Aufgabe, die aber auch sinnerfüllend und Menschen. Aber auch Freunde und Nachbarn
positiv wahrgenommen werden kann. leisten nicht selten Hilfe in der Betreuung und
6. Die Unterstützung professioneller Dienste Pflege alter Menschen, deren Bedeutung sich in
für pflegende Familien könnte in einer Viel­ der Zukunft auf Grund der Veränderungen von
zahl von Bereichen stattfinden. Bislang wer­ Familienstrukturen, etwa der zunehmenden Kin­
den professionelle Hilfen aber nicht im vollen derlosigkeit älter werdender Menschen, noch ver­
Umfang wahrgenommen. stärken könnte. Die Rolle von Angehörigen und
7. In Zukunft sollten verstärkt Maßnahmen Nachbarn wird dabei im Sozialrecht besonders
entwickelt werden, die pflegende Angehöri­ betont. So heißt es in der Pflegeversicherung (§ 3
ge besser unterstützen und die die Voraus­ SGB XI): »Die Pflegeversicherung soll mit ihren
setzungen für außerfamiliales Engagement Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die
fördern helfen. Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn
unterstützen«. Weiter heißt es unter Verweis auf
Familie hat eine zentrale gesellschaftliche Be­ die gemeinsame, gesamtgesellschaftliche Ver­
deutung. Nach wie vor ist die Familie eine fun­ antwortung: »Die Länder, die Kommunen, die
damentale Institution innerhalb sich wandelnder Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen (...)
Gesellschaften. Allerdings ist die Familie, auch unterstützen und fördern (...) die Bereitschaft zu
am Ende des Familienzyklus, in den letzten Jahr­ einer humanen Pflege und Betreuung (...) durch
zehnten facettenreicher und pluralistischer gewor­ Angehörige, Nachbarn und Selbsthilfegruppen
den. Die zahlenmäßige Zunahme älterer Eltern und wirken so auf eine neue Kultur des Helfens
und Großeltern in unserer Gesellschaft hat dazu und der mitmenschlichen Zuwendung hin« (§ 8
geführt, dass die Familie im Zuge sich verlängern­ SGB XI, [2]).
der Lebenszeit neue Aufgaben in Pflege und Be­ Im Folgenden werden zunächst die Leis­
treuung alter Familienmitglieder übernommen tungen familialer und privater Netzwerke im Be­
Gesundheit und Krankheit im Alter 195

reich Pflege dargestellt. Danach werden die Belas­ Von den zu Hause lebenden pflegebedürf­
tungen familialer und ehrenamtlicher Pflegeper­ tigen Menschen wurden etwa 696.000 Personen
sonen beschrieben sowie die Angebote vorgestellt, (ausschließlich Pflegegeldempfänger) von der Fa­
die für pflegende Angehörige und weitere Helfe­ milie und dem privatem Netzwerk versorgt und
rinnen und Helfer existieren. Bereits an dieser weitere etwa 427.000 Personen von ambulanten
Stelle muss betont werden, dass die empirische Pflegediensten betreut, wobei auch hier die Un­
Befundlage zu pflegenden Angehörigen besser ist terstützung von familialen und weiteren privaten
als die der zu Pflegenden aus dem Bereich des Netzwerken hoch ist [4, 5]. Zusätzlich zu den pfle-
weiteren privaten Netzes und aus dem Bereich gebedürftigen Menschen, die in Privathaushalten
des Ehrenamtes. Abschließend werden einige leben und Leistungen nach SGB XI erhalten, be­
Maßnahmen zur Unterstützung familiärer und nötigten im Jahr 2002 weitere etwa 3 Millionen
privater Netzwerke im Bereich Pflege diskutiert. Menschen hauswirtschaftliche Unterstützung,
ohne selbst Pflegebedarf zu haben und Leistungen
aus der Pflegeversicherung zu erhalten [6]. Es sind
4.2.1 Leistungen familialer und privater auch hier die näheren Angehörigen, die Unter­
Netzwerke im Bereich Pflege stützung leisten. 85 % der hilfebedürftigen Men­
schen werden in der Regel von Familienangehöri­
Grundlegende Informationen gen unterstützt [6].
Die Bedeutung der Familie für die Pflege im
Die Bedeutung von Familie und weiteren privaten Verlauf der Zeit nimmt tendenziell ab. In Abbil­
Netzen für die Unterstützung pflegebedürftiger dung 4.2.1.2 ist für die Jahre zwischen 1996 und
Menschen, hier im Sinne des Leistungsbezugs 2005 die Entwicklung der Betreuung durch pri­
nach SGB XI, ist unbestritten. Ende 2005 lebten vate Netzwerke, ambulante Dienste und stationäre
1,12 Millionen Menschen (64 %) der 1,75 Millio­ Einrichtungen für alle Altersgruppen dargestellt.
nen Pflegebedürftigen im Alter von 65 Jahren und Während im Jahr 1996 (kurz nach Einführung der
älter im eigenen Haushalt und wurden von Fa­ Pflegeversicherung) etwa 60,4 % aller Leistungs­
milienangehörigen und anderen Mitgliedern des empfangenden in der sozialen Pflegeversicherung
privaten Netzes vollständig oder zum Teil versorgt Pflegegeld erhielten, waren es im Jahr 2005 noch
(siehe Abbildung 4.2.1.1). 47,9 %. Der Anteil aller durch ambulante Diens-

Abbildung 4.2.1.1
Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung 2005
Quelle: Abbildung in Anlehnung an [5], ergänzt um [3] und Pflegestatistik – Ambulante und stationäre
Pflegeeinrichtungen (Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2005) in www.gbe-bund.de vom 12.02.2007

1,75 Millionen Pflegebedürftige im Alter von 65 Jahren und älter

zu Hause versorgt: in Heimen versorgt:


1,12 Mio. (64 %) Pflegebedürftige 628.000 (36 %)
Pflegebedürftige
Angehörige/Netzwerk: Pflegedienste:
696.000 427.000
Pflegebedürftige Pflegebedürftige
in
10.400 Pflegeheimen
durch über 1 Mio. durch
Privatpersonen 11.000 Pflegedienste
▶ (Ehe-)Partner mit mit
▶ (Schwieger-)Kinder, Enkel 214.000 Beschäftigten 546.000 Beschäftigten
▶ sontige Verwandte
▶ Bekannte/Nachbarn
196 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 4.2.1.2
Leistungsempfangende der sozialen Pflegeversicherung im Jahresdurchschnitt nach Leistungsarten 1996 bis 2005
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit

Prozent
70

60

50

40
Pflegegeld
30 Vollstationäre Versorgung
(auch Behindertenhilfe)
20 Ambulante Versorgung
(Pflegesachleistung, Kombi-Leistung)
andere Leistungen: Urlaubspflege,
10
Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege

1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
Jahr

te versorgten Menschen stieg von 15,4 % im Jahr Hinzu kommen weitere 9 %, die neben der pri­
1996 auf 18,7 % im Jahr 2005 (hier wurden Be­ vat getragenen Hilfe und Pflege zusätzlich selbst
ziehende kombinierter Geld- und Sachleistungen finanzierte, jedoch nicht im engeren Sinne pfle-
zusammengefasst). Dies bedeutet, dass der Anteil gerische Hilfen in Anspruch nehmen. Etwa 28 %
der Pflegebedürftigen, die vollständig oder teil­ der Pflegebedürftigen erhalten sowohl private als
weise von familialen und ehrenamtlichen Pflege­ auch professionelle pflegerische Hilfen und 8 %
personen versorgt werden, von 75,8 % (1996) auf erhalten ausschließlich professionelle Pflege.
66,6 % (2005) sank. Demgegenüber stieg der An­ Insgesamt werden 92 % der in Privathaus­
teil der vollstationär versorgten Pflegebedürftigen halten lebenden pflegebedürftigen Menschen von
von 23,1 % im Jahr 1996 auf 31,2 % im Jahr 2005. eigenen Angehörigen und Mitgliedern des pri­
vaten Netzwerks versorgt. Bei verheirateten Pfle-
gebedürftigen ist in der Regel die Ehepartnerin
Häusliche Hilfe- und Pflegearrangements bzw. der Ehepartner die Hauptpflegeperson, bei
verwitweten Personen sind es die eigenen Kinder
Beschreibt man häusliche Hilfe- und Pflegear­ und bei jüngeren Pflegebedürftigen ein Elternteil,
rangements nach der Art des jeweils gewählten das die Verantwortung für die Versorgung trägt
»Pflegemixes« aus privater und professioneller [3]. Im Vergleich zwischen 1991 und 2002 haben
Unterstützung, zeigt sich nach Ergebnissen einer sich zum Teil erhebliche Verschiebungen in der
Infratest-Repräsentativerhebung Folgendes: Etwa Struktur der Hauptpflegepersonen ergeben, die
zwei Drittel (64 %) aller Pflegehaushalte bauen Verantwortung für pflegebedürftige Menschen
auf rein private Arrangements und etwa ein Drit­ tragen (siehe Tabelle 4.2.1.1). Im Jahr 2002 waren
tel nehmen professionelle Pflege in Anspruch [3]. es vor allem (Ehe-)Partnerinnen und Partner (ins­
Etwa 55 % aller Pflegebedürftigen, die zu Hause gesamt 28 %) sowie Kinder und Schwiegerkinder
versorgt werden, erhalten ausschließlich private (insgesamt 42 %), die als Hauptpflegeperson von
Hilfeleistungen aus Familie oder Bekanntschaft. pflegebedürftigen Menschen zur Verfügung stan­
Gesundheit und Krankheit im Alter 197

den. Bei der Kindergeneration sind es vor allem Tabelle 4.2.1.1


Töchter und Schwiegertöchter, die Verantwortung Merkmale von privaten Hauptpflegepersonen hilfe- und
pflegebedürftiger Menschen in Privathaushalten,
in der Pflege übernehmen. Im Vergleich zum Jahr Jahresende 1991 und 2002
1991 ist damit der Anteil der (Ehe-)Partnerinnen Quelle: TNS Infratest Repräsentativerhebung 2002 [3]
und Partner um 9 Prozentpunkte zurückgegangen
und der Anteil der Kinder und Schwiegerkinder verantwortlich für
um 4 Prozentpunkte gestiegen. Ebenfalls deutlich Pflegebedürftige Hilfebedürftige
verändert hat sich der Anteil der Geschlechter bei 1991 2002 1991 2002
den Hauptpflegepersonen. Obwohl Frauen nach
Beziehung
wie vor die überwiegende Mehrzahl der Haupt­
(Ehe-)Partner/innen 37 % 28 % 43 % 36 %
pflegepersonen stellen, ist ihr Anteil zwischen
1991 (83 %) und 2002 (73 %) deutlich gesunken Mutter 14 % 12 % 4% 7%
und der Anteil der Männer entsprechend gestie­ Vater 0% 1% 0% 1%
gen (1991: 17 %, 2002: 27 %). Insgesamt sind es Tochter 26 % 26 % 23 % 20 %
vor allem enge Angehörige, die Verantwortung Schwiegertochter 9% 6% 6% 5%
für pflegebedürftige Menschen übernehmen, aber Sohn 3% 10 % 6% 8%
der Anteil von Hauptpflegepersonen aus dem wei­
Enkelkinder 1% 2% 2% 2%
teren familialen und privaten Netzwerk (sonstige
Verwandte sowie Freunde, Bekannte und Nach­ sonstige/r 6% 7% 7% 8%
Verwandte/r
barn) hat sich zwischen 1991 und 2002 von 10 %
auf 15 % erhöht. Freunde, Nachbarn, 4% 8% 7% 12 %
Bekannte
Bemerkenswert dabei ist, dass über 60 % der
Personen, die als Hauptpflegepersonen Betreu­ keine Angabe 0% 0% 0% 1%
ung in häuslichen Pflegearrangements überneh­ Geschlecht
men, 55 Jahre und älter sind [6]. Es sind also vor Frauen 83 % 73 % 70 % 70 %
allem älter werdende und alte Menschen, die Ver­ Männer 17 % 27 % 30 % 30 %
antwortung für alte und sehr alte Menschen tra­
Alter
gen – und dies ist zwischen 1991 und 2002 noch
unter 45 Jahren 19 % 16 % 20 % 21 %
deutlicher geworden. Während im Jahr 1991 etwa
55 % aller Hauptpflegepersonen 55 Jahre und älter 45 – 54 Jahre 26 % 21 % 23 % 18 %
waren, waren dies im Jahr 2002 etwa 63 %. Dem­ 55 – 64 Jahre 26 % 27 % 25 % 23 %
entsprechend hat sich in diesem Zeitraum auch 65 – 79 Jahre 25 % 26 % 25 % 28 %
das Durchschnittsalter der Hauptpflegepersonen 80 Jahre und älter 3% 7% 5% 4%
um 2 Jahre erhöht (von 57 auf 59 Jahre). Ähnliche
keine Angabe 1% 3% 2% 6%
Entwicklungen haben sich bei der Unterstützung
Durchschnitt 57 59 56 57
von Menschen mit Hilfebedarf ergeben, die keine (in Jahren)
Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten.
Allerdings ist der Anteil an männlichen Haupt­ Dargestellt sind Angaben für Pflegebedürftige (Leistungsbeziehende
der Sozialen Pflegeversicherung und der Privaten Pflegeversicherung)
verantwortlichen hier größer als bei Pflegebedürf­ sowie für Hilfebedürftige (Personen mit Einschränkungen bei alltäg­
tigen (und hat sich zwischen 1991 und 2002 auch lichen Verrichtungen ohne Pflegebedarf im Sinne des SGB XI).
nicht verändert).

Verfügbarkeit und Bereitschaft zur Übernahme deren Netzwerkmitgliedern zur häuslichen Hilfe,
von Pflegeverantwortung andererseits die normativen und motivationalen
Grundlagen zur Übernahme einer häuslichen
Um abzuschätzen, welche Rolle familiale und pri­ Pflegearbeit. Die Verfügbarkeit familialer Unter­
vate Netzwerke zukünftig im Bereich Pflege spie­ stützungspotenziale in der Zukunft wird häufig
len werden, sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: angezweifelt. Als Begründung dafür werden der
Einerseits die Verfügbarkeit von Familien- und an- drohende Zerfall traditioneller Familienstruk­
198 Gesundheit und Krankheit im Alter

turen, die abnehmenden Geburten- und Kinder­ zu wohnen, waren dies im Jahr 2002 nur noch
zahlen, der damit einhergehende Verlust familia­ etwa 65 %. Demgegenüber stieg dieser Anteil bei
ler Unterstützungsoptionen sowie das Nachlassen der ältesten Gruppe der 70- bis 85-Jährigen leicht
der Bereitschaft von Frauen benannt, in die Hel­ an (1996: 67 %, 2002: 70 %). Zudem muss beach­
ferinnenrolle zu wechseln und dafür berufliche tet werden, dass die geografische Distanz von der
Perspektiven zu beschneiden [7]. Allerdings gilt sozialen Schicht abhängt: Je höher die Bildungs­
es hier zu differenzieren, wie anhand des Unter­ schicht, desto größer ist die Entfernung zwischen
stützungspotenzials der intergenerationalen Be­ alten Eltern und erwachsenen Kindern.
ziehungen mithilfe empirischer Befunde gezeigt Bedarfsprognosen über die Zusammenset­
werden kann. zung zukünftiger pflegebedürftiger Bevölkerungs­
Im Vergleich mit anderen EU-Ländern zählt gruppen im Rahmen des EU-Projekts FELICIE
Deutschland zu den Ländern mit der geringsten (Future Elderly Living Conditions in Europe) zei­
durchschnittlichen Haushaltsgröße [8]. Ältere gen, dass im Prognosezeitraum 2000 bis 2030
und jüngere Menschen in Deutschland leben vor allem die Zahl derjenigen pflegebedürftigen
aber in Form »multilokaler Mehrgenerationenfa­ Frauen steigen wird, die am wenigsten anfällig
milien« im intergenerationalen Familienverbund. für institutionelle Pflege sind: Frauen mit Part­
Dies bedeutet, dass die Generationen innerhalb ner und Kind. Projiziert wird ferner, dass sich der
von Familien in der Regel zwar nicht in einem Anteil pflegebedürftiger Frauen ohne Partner und
Haushalt zusammen leben, aber eine hohe räum­ ohne Kind halbieren wird. Die Autorinnen und
liche Nähe zwischen den Haushalten der Genera­ Autoren der FELICIE-Prognose schlussfolgern,
tionen besteht und ein reger Austausch zwischen dass voraussichtlich auch in Zukunft die Familie
den Generationen gepflegt wird. Im Rahmen des die primäre »Pflegekraft« bleiben wird [10]. Al­
Alterssurveys wurde die Struktur der »multiloka­ lerdings sollte darauf hingewiesen werden, dass
len Mehrgenerationenfamilien« empirisch unter­ die Bedeutung außerfamilialer Unterstützung in
sucht (siehe Tabelle 4.2.1.2). In der Regel wohnt den letzten Jahren zugenommen hat: Unter den
mindestens ein erwachsenes Kind nicht weit von Hauptpflegepersonen im Jahr 1991 gehörten etwa
dem älter gewordenen Elternteil entfernt. Auch 4 % zu der Gruppe der außerfamilialen Unterstüt­
die Kontakthäufigkeit zwischen alten Eltern und zungsleistern (Freunde, Nachbarn und Bekannte),
erwachsenen Kindern ist hoch. Allerdings deu­ im Jahr 2002 waren es 8 % (siehe Tabelle 4.2.1.1).
ten die Daten des Alterssurveys aus den Jahren Es ist offen, ob und in welchem Umfang das wei­
1996 und 2002 hier Veränderungen an. Während tere private Netzwerk weitere Aufgaben in der
im Jahr 1996 etwa 73 % der 55- bis 69-jährigen Pflege alter Menschen übernehmen wird.
Deutschen angaben, im gleichen Ort oder näher Hier stellt sich nun die Frage nach der Be­
zu mindestens einem ihrer Kinder ab 16 Jahren reitschaft für die Übernahme von Pflege. Die Be-

Tabelle 4.2.1.2
Wohnentfernung zum nächstwohnenden Kind ab 16 Jahren nach Altersgruppen, 1996 und 2002
Quelle: Alterssurvey [9]

40 – 54 Jahre 55 – 69 Jahre 70 – 85 Jahre 40 – 85 Jahre


1996 2002 1996 2002 1996 2002 1996 2002
im selben Haus 69,9 % 67,4 % 34,3 % 27,3 % 25,9 % 22,2 % 47,0 % 39,7 %
in der Nachbarschaft 6,2 % 4,8 % 14,7 % 14,3 % 17,6 % 19,0 % 11,8 % 12,2 %
im gleichen Ort 8,9 % 9,4 % 24,4 % 23,8 % 23,9 % 28,8 % 18,1 % 20,1 %
in max. 2 Std. erreichbar 11,3 % 13,2 % 19,6 % 26,1 % 23,4 % 22,3 % 17,0 % 20,8 %
weiter entfernt 3,7 % 5,2 % 7,1 % 8,6 % 9,1 % 7,7 % 6,1 % 7,2 %
Fallzahl 1.219 691 1.532 903 1.137 870 3.888 2.464
Gesundheit und Krankheit im Alter 199

reitschaft, im Falle der Pflegebedürftigkeit für den Pflege durch Migrantinnen


(Ehe-)Partner einzustehen, ist hoch und wird häu­
fig als nicht zu hinterfragende Selbstverständlich­ Entscheiden sich private Haushalte für den Ein­
keit verstanden [11]. Die Motivation entsteht aus satz professioneller Unterstützung bei Pflege­
einem Gefühl der Familiensolidarität und der Ver­ bedürftigkeit, so ist eine 24-Stunden-Betreuung
pflichtung zum Austausch. Weibliche und männ­ durch einen ambulanten Pflegedienst mit den
liche Pflegepersonen unterscheiden sich nicht in Leistungen der Pflegeversicherung nicht mög­
den Motiven, den (Ehe-)Partner zu pflegen. Fast lich. Die dabei entstehenden Kosten sind hoch
die Hälfte nennt Zuneigung, ein Zehntel fühlt sich und für viele Haushalte nicht finanzierbar [18].
dazu verpflichtet und ein Drittel gibt eine Kom­ Daher wird die informelle Pflegearbeit nicht al­
bination von Gründen an [12]. Die Pflegebereit­ lein in Deutschland, sondern in vielen anderen
schaft der Töchter wird in Deutschland ebenfalls europäischen Wohlfahrtsstaaten (vor allem des
als hoch beschrieben [13]. Aber auch Söhne äußern Mittelmeerraums) durch ein neues Phänomen
in überraschend hoher Zahl Aufgeschlossenheit geprägt: die Pflege durch Migrantinnen aus meist
gegenüber einer Pflegeübernahme, wobei der osteuropäischen Staaten in Privathaushalten. Die­
Anteil pflegender Männer geringer ist als der von se Entwicklung ist in den letzten Jahren besonders
Frauen, in den letzten Jahren allerdings deutlich argwöhnisch von privaten und gemeinnützigen
gestiegen ist [14]. In empirischen Studien wird als Trägern in der professionellen Altenhilfe beobach­
häufigster Grund für die Bereitschaft zur Pflege­ tet worden. Von ihnen stammen auch die publi­
übernahme auf die »Selbstverständlichkeit« die­ zierten Daten über den geschätzten Umfang der
ser familialen Leistung hingewiesen [15]. Hinter irregulären Pflege, d. h. der Pflege, die ohne offizi­
dieser unfraglichen Solidarleistung von Familien elle Arbeitserlaubnis und damit ohne Sozialabga­
kann sich aber ein Bündel von Motivationen ver­ ben, Arbeitsschutz und Urlaubsanspruch geleistet
bergen: Gesellschaftliche Normen und Pflichtge­ wird. Die heute offiziös verwendete Zahl solcher
fühl, rollenimmanentes Verhalten (bei Töchtern), Migrantinnen in der Pflege beträgt in Deutschland
Reziprozität, ethisch-religiöse Motive, Sinnge­ ca. 70.000 bis 100.000 Personen [19]. Allerdings
bung. Finanzielle Gründe als Motiv zur Pflege­ gibt es bislang zwar einen medialen Diskurs zu
übernahme werden heute kontrovers diskutiert. So diesem Thema, aber nur recht wenig Forschungs­
wird zwar manchmal gemutmaßt, dass der große arbeiten. Die Vorteile für die privaten Haushalte
Anteil der Geldleistungen im Rahmen der Pfle- (geringere Kosten, Verfügbarkeit der Pflegekräf­
geversicherung auf finanziellen Missbrauch hin­ te rund um die Uhr) überdecken die Probleme
weisen könnte [16]. In empirischen Befragungen keineswegs (Unterstützung ohne oder mit gerin­
zur Pflegemotivation zeigt sich jedoch, dass finan­ gem pflegefachlichen Hintergrund, Kommuni­
zielle Motive nur eine untergeordnete Rolle bei kationsprobleme). Darüber hinaus gehen illegale
der Übernahme familialer Pflegeverpflichtungen Beschäftigungssituationen mit der Gefahr der
spielen [12]. Diese empirischen Befunde zeigen, Ausbeutung und starken Abhängigkeiten der ost­
dass die Bereitschaft für die Übernahme von europäischen Pflegerinnen einher. Zudem sind
Pflege in Deutschland recht hoch ist. Allerdings der Beschäftigung von Migrantinnen angesichts
sollte gerade mit Blick auf intergenerationale Pfle- des raschen demografischen Wandels in den ost­
gebeziehungen nicht vergessen werden, dass die europäischen Staaten sowie der Angleichung des
Beziehungen zwischen alten Eltern und ihren er­ Lebensstandards deutliche Grenzen gesetzt. Den­
wachsenen – häufig selbst schon im höheren Le­ noch zeigt diese Diskussion, dass es einen Bedarf
bensalter stehenden – Kindern nicht allein durch an außerfamilialer Pflege gibt, der durch profes­
intergenerationale Solidarität und filiale Verant­ sionelle Dienste bislang nicht gedeckt werden
wortung, sondern auch durch intergenerationale kann.
Ambivalenz gekennzeichnet sein können. Diese
lebensgeschichtlich begründeten Ambivalenzen
können unter besonderen Belastungen auch zu
problematischen und möglicherweise gewalttä­
tigen Interaktionen führen [17].
200 Gesundheit und Krankheit im Alter

4.2.2 Belastung familialer und ehrenamtlicher Die Gesundheit der Pflegenden wird durch
Pflegepersonen die mit der Pflegesituation verbundenen körper­
lichen und seelischen Anstrengungen in hohem
Die Unterstützung und Versorgung eines pflege­ Maß beeinflusst. Im Verhältnis zur Gesamtbe­
bedürftigen Menschen ist eine sehr zeitintensive, völkerung haben pflegende Angehörige auffällig
physisch wie psychisch fordernde Aufgabe. Der mehr oder ausgeprägtere körperliche Beschwer­
Zeitaufwand variiert nach Pflegestufe und dem den [12]. Der Medikamentenkonsum pflegender
Vorliegen einer kognitiven Beeinträchtigung der Angehöriger erhöht sich mit Beginn der Pflegesi­
zu pflegenden Person. Während für kognitiv un­ tuation [24]. Dazu zählen vorwiegend Schlafmittel
beeinträchtigte Pflegebedürftige durchschnittlich (28 %), Beruhigungsmittel (40 %) und Schmerz­
28, 40 bzw. 47 Stunden pro Woche für Pflege und mittel (30 %). Zwei Drittel aller pflegenden Frauen
Betreuung aufgewendet werden (Stufe 1, 2 und nehmen somatotrope (den Körper beeinflussende)
3), so beläuft sich dieser Zeitaufwand bei kognitiv Medikamente; zudem greifen Frauen häufiger zu
beeinträchtigten Personen auf 31, 44 bzw. 62 Stun­ Psychopharmaka als Männer [12]. Auch für die
den pro Woche [3]. Über 80 % der Hauptpflegeper­ Berufstätigkeit pflegender Angehöriger hat die
sonen geben an, die Betreuung und Versorgung Übernahme von Pflegetätigkeiten bedeutsame
der ihnen anvertrauten Personen sei »eher stark« Konsequenzen. Der Anteil der Erwerbstätigen ist
oder »sehr stark« belastend [3]. Die Belastungs­ bei pflegenden Frauen und Männern im Vergleich
faktoren und das Belastungserleben pflegender zur Gesamtbevölkerung niedriger: In der Gruppe
Angehöriger sind in einer Reihe von Studien aus­ der 30- bis 64-jährigen Pflegepersonen sind etwa
führlich beschrieben worden [20, 21, 22]. 34 % der Frauen erwerbstätig (Gesamtbevölke­
Der Grad der Belastungen durch die Über­ rung 62 %) und 52 % der Männer (Gesamtbevöl­
nahme häuslicher Pflege ist hoch. Pflegende kerung 85 %) [12].
Angehörige leiden in stärkerem Maß an Erschöp­ Welche Konsequenzen haben nun lang an­
fung und Beschwerden als die Bevölkerung ins­ dauernde Belastungen durch Pflege und Betreu­
gesamt [23]. Hauptpflegepersonen nennen als ung? Nach einer weit verbreiteten These nimmt
Belastungen am häufigsten ständiges Angebun­ die Wahrscheinlichkeit der Gewalt gegen Pfle-
densein, Einschränkungen in anderen Lebens­ gebedürftige mit der von Pflegenden erlebten
bereichen, eigene gesundheitliche Belastungen, Belastung zu [26]. Demgegenüber gibt es auch
negative Auswirkungen auf das übrige Familien­ Argumente dafür, dass in spezifischer Weise
leben, unausweichliche Konfrontation mit dem problematische oder deviante Pflegepersonen,
Alter und finanzielle Belastungen [24]. Insbeson­ die zudem oftmals von dem zu pflegenden alten
dere problematisches Verhalten einer (demenziell Menschen finanziell oder in sonstiger Weise ab­
veränderten) pflegebedürftigen Person wirkt sich hängig sind, weitgehend unabhängig von erlebter
negativ auf die Befindlichkeit pflegender Ange­ pflegerischer Belastung bereits bestehende ag­
höriger aus [21]. Pflegende Ehepartner sind dabei gressive Handlungstendenzen in der Pflegebe­
einem höheren Ausmaß an Belastungen ausge­ ziehung ausagieren [27]. Beide Thesen schließen
setzt als Familienmitglieder in der intergenera­ sich nicht aus. Wahrgenommene Pflegebelastung
tiven Pflege, vor allem in Bezug auf depressive wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst,
Störungen, Erschöpfungszustände und Glieder­ insbesondere durch die Beziehung zum Pflegebe­
schmerzen [12]. Frauen fühlen sich stärker belas­ dürftigen; aktuelle Pflegebeziehungen sind aber
tet als Männer. Ausdruck dafür sind ein höherer wesentlich durch die Qualität der Beziehung vor
Grad an körperlicher Erschöpfung, ausgeprägtere Eintritt der Pflegebedürftigkeit bestimmt. Dies
Rollenkonflikte und ein verändertes Selbstemp­ bedeutet, dass Belastung durch Pflege vor allem
finden [12]. Werden allerdings die Merkmale der dann zu einer Gefährdung des privaten Pflege­
konkreten Pflegesituation berücksichtigt, wie etwa arrangements führen kann, wenn die Beziehung
Verhalten der Pflegeperson, Umfang der Pflege­ zwischen Pflegendem und Gepflegten schon vor
tätigkeit sowie soziale Unterstützung, reduzieren Eintritt der Pflegesituation problematisch war.
sich die Geschlechtsunterschiede durch die Pfle- Allerdings leiden pflegende Angehörige nicht
gebelastung [25]. allein unter Belastungen, sondern können auch
Gesundheit und Krankheit im Alter 201

Befriedigung, Erfüllung und Sinnerleben durch bei einer männlichen Hauptpflegeperson fast dop­
ihre Unterstützungsleistungen und die Bezie­ pelt so hoch wie bei weiblichen [31].
hung zu der gepflegten Person erfahren. In eini­ Insgesamt haben an allen Hilfen, die Pfle-
gen empirischen Studien wurden neben den Be­ gebedürftige erhalten, professionell geleistete
lastungen durch die Übernahme von Pflege und Arbeiten nur einen geringen Anteil. Von Pflege­
Betreuung auch mögliche positive Konsequenzen kräften werden 10 % der Hilfen erbracht, von an­
der Pflegesituation für pflegende Angehörige un­ deren beruflichen Helferinnen und Helfern 3 %,
tersucht. Demnach hängen paradoxerweise das vor allem hauswirtschaftliche Hilfen [31]. Wer
von Pflegenden selbst wahrgenommene Persön­ eine hohe Chance hat, informelle Hilfe zu akti­
lichkeitswachstum mit negativen Aspekten der vieren, wird eher dazu tendieren, Geldleistungen
Pflegesituation zusammen, wie etwa lange Pfle- zu wählen, und weniger geneigt sein, sich für
gedauer, mangelnde soziale Anerkennung und Sachleistungen zu entscheiden [31]. Mit Blick auf
großer Umfang an praktischen Pflegeaufgaben diese Ergebnisse muss resümiert werden, dass ein
[28]. Dieses Ergebnis zeigt allerdings auch, dass großer Teil aller informellen Pflegearrangements
Pflegende die von ihnen erlebten Belastungen erst einzig an zwei Punkten mit dem formellen Pflege­
nach dem Einsatz von Bewältigungsverhalten po­ system in Berührung kommt: in Begutachtungs­
sitiv interpretieren können. Wem es nicht gelingt, situationen durch die Medizinischen Dienste der
Pflegetätigkeiten mit dem eigenen Persönlich­ Krankenkassen und der privaten Pflegekassen
keitswachstum in Verbindung zu bringen, wird sowie bei Pflegepflichteinsätzen (§ 37 Abs. 3 SGB
unter den negativen Aspekten von Pflege leiden. XI). Bei Inanspruchnahme von Pflegegeld durch
die Pflegekasse werden sogenannte Pflegepflicht­
einsätze nötig, die als Instrument der Kontrolle
4.2.3 Unterstützungsangebote für familiale und und Qualitätssicherung bei der häuslichen Pflege
ehrenamtliche Pflegepersonen sowie zur Beratung und Hilfestellung der häus­
lich Pflegenden durchgeführt werden (bei Pfle-
Inanspruchnahme von Unterstützungs­ gestufe I und II sind diese Einsätze halbjährlich
angeboten vorgeschrieben, bei Pflegestufe III vierteljährlich).
Leider ist über Qualität (und Defizite) privat er­
Die Unterstützung professioneller Dienste für brachter Pflege nur wenig bekannt.
pflegende Familien könnte in einer Vielzahl von
Bereichen stattfinden: Körperbezogene Pflege,
Wissensvermittlung, Beratung sowie Unterstüt­ Maßnahmen zur Unterstützung familialer
zung bei problematischen Beziehungskonstellati­ Netzwerke und bürgerschaftlichen Engagements
onen. Tatsächlich ist professionelle Unterstützung im Bereich Pflege
in der Regel auf folgende Tätigkeiten beschränkt:
Körper waschen, Baden, Mahlzeiten zubereiten Angesichts der vielfältigen Leistungen älterer
sowie An- und Ausziehen [29]. Den Pflegenden Menschen in Familie und privaten Netzwerken
fällt es im Allgemeinen leichter, Pflegedienste für werden im Folgenden Maßnahmen diskutiert,
Aufgaben zu engagieren, die eher medizinisch­ die die Potenziale familialer und privater Netz­
pflegerische Kompetenz erfordern, wie z. B. Ver­ werke im Bereich Pflege stärken könnten. Im
bände wechseln [30]. Angebote professioneller Mittelpunkt stehen zum einen Maßnahmen, die
Pflegedienste werden insbesondere von Haushal­ Pflegebereitschaft und Pflegefähigkeit älter wer­
ten mit höherer Pflegestufe bzw. intensivem medi­ dender und alter Angehöriger stützen können,
zinischen Behandlungs- und Versorgungsbedarf und zum anderen Voraussetzungen, die nachbar­
und Haushalten allein lebender Pflegebedürftiger schaftliches Engagement insbesondere älter wer­
ohne ständige Hauptpflegeperson in Anspruch dender und alter Menschen bei der Betreuung von
genommen. Zusätzlich ist der Umfang der Inan­ hilfe- und pflegebedürftigen Menschen erhöhen
spruchnahme professioneller Hilfe auch abhängig können.
vom Geschlecht der Pflegepersonen. Bei gleichem Beratung von Pflegepersonen: Die lebens­
Pflegeaufwand ist die professionell erbrachte Hilfe praktische Beratung von Betroffenen und Angehö­
202 Gesundheit und Krankheit im Alter

rigen sowie die Koordinierung von Angebots- und Erprobung neuer Formen der Unterstützung:
Nachfrageprozessen gewinnen zunehmend an Neben verbesserten Formen von Beratung und
Bedeutung. Die Vielzahl unterschiedlicher Bera­ Begleitung könnten auch neue Formen der Unter­
tungs- und Betreuungsangebote macht es für alle stützung die Bereitschaft familialer und weiterer
Beteiligten schwierig, das jeweils adäquate Versor­ privater Pflegepersonen stärken. Hierbei könnten
gungsangebot zu ermitteln. In einer »Integrierten sich vor allem flexible Formen der Inanspruchnah­
Beratung« könnte allen Beratungsbedürfnissen me von Leistungen förderlich auswirken. Zudem
nachgekommen und die zuständigen Spezialisten können weitergehende Strukturen, die Pflegeper­
einbezogen werden [32]. Zu den Aufgaben solcher sonen begleitend unterstützen, zum Erhalt von
Beratungs- und Koordinationsstellen gehören, Potenzialen älterer Menschen beitragen. Hierzu
ältere und behinderte Menschen und deren An­ gehört beispielsweise das Case Management, das
gehörige neutral, verlässlich und qualifiziert im in der gezielten Organisation und Koordination
Büro und beim Hausbesuch zur selbstständigen von Pflege- und Unterstützungsleistungen für
Lebensführung bei Hilfe- oder Pflegebedürftig­ pflegebedürftige und behinderte ältere Menschen,
keit und bei der Wohnraumanpassung, bei der für Angehörige und für Helferinnen und Helfer
Vermittlung von Kurzzeitpflege oder Tagespflege aus privaten Netzwerken durch eine unabhängige
sowie bei der Aufnahme in ein Pflegeheim zu be­ und geschulte Fachkraft besteht [35].
raten und zu unterstützen. Förderung ehrenamtlichen Engagements:
Qualitätssicherung in privaten Pflegearrange­ Insbesondere zur Unterstützung der Betreuung
ments: Wird die Versorgung eines Pflegebedürf­ von demenziell erkrankten Pflegebedürftigen
tigen von Angehörigen durchgeführt, so gelten wäre es sinnvoll, die verschiedenen Formen von
auch für diese die Vorgaben des allgemein aner­ ehrenamtlich getragenem Engagement noch stär­
kannten Standes der medizinisch-pflegerischen ker als bisher zu fördern. Nach den Ergebnissen
Erkenntnisse. Die Beurteilung der Pflegequalität der Erhebung von Infratest Sozialforschung neh­
im Rahmen der familialen Pflege erfolgt durch men nur ca. 11 % der Pflegehaushalte freiwillig
professionelle Pflegedienste. Dies erscheint erbrachte Betreuungsleistungen, z. B. in Form von
durchaus gerechtfertigt. Nur ungefähr jede zehnte Besuchsdiensten in Anspruch [3]. Es liegt auf der
Hauptpflegeperson hat einen Pflegekurs besucht Hand, dass sich dieser Anteil noch deutlich stei­
[33]. Daher sind die vom Gesetzgeber vorgeschrie­ gern ließe, wenn entsprechende Angebote von den
benen Pflegeberatungseinsätze von Bedeutung, Leistungserbringern der Pflege bzw. im Bereich
durch die der Qualitätsstand der familialen Pflege der offenen Altenhilfe in Zukunft noch stärker als
durch professionelle Pflegefachkräfte kontrolliert bisher verfügbar gemacht würden. Dies bedeutet
wird. aber auch, dass innerhalb von professionellen
Niedrigschwellige Angebote: Darüber hinaus Leistungserbringern Raum für Angebote bürger­
erscheint es im Sinne der gewünschten Stabili­ schaftlichen Engagements zu schaffen sind.
sierung des familialen und netzwerkgestützten Örtliche Koordinationsstellen: Häufig ist die
Pflegepotenzials in Zukunft unbedingt geboten, Bereitschaft für Engagement vorhanden, aber es
zielgerichtet niedrigschwellige Beratungs-, Qua­ fehlt an Informationen, wo ein Engagement mög­
lifizierungs- und Unterstützungsangebote für lich ist. Diese Aufgabe könnten örtliche Koordina­
pflegende Angehörige, Nachbarn und Freunde tionsstellen erfüllen. Zu den Funktionen dieser
weiter auszubauen. Solche Angebote, wie Entlas­ örtlichen Koordinationsstellen, die auch Aufgaben
tungsdienste, Tagesbetreuung in Kleingruppen der Beratung von hilfe- und pflegebedürftigen
oder Einzelbetreuung durch anerkannte Helfe­ Menschen übernehmen könnten, gehören die
rinnen oder Helfer, Versorgung mit Mahlzeiten, Koordination zwischen unterschiedlichen Diens­
Fahrdienste aber auch Freizeit-, Bewegungs- und ten und Angeboten, die angemessene Schulung
ganzheitliche Aktivierungsangebote verbessern und Fortbildung ehrenamtlicher Betreuungskräf­
das Allgemeinbefinden der Betroffenen, entlasten te für das jeweilige Betreuungsangebot und die
Angehörige und Nachbarn und tragen zur Ent­ Organisation und Information über soziale und
spannung der Pflegesituation bei, wovon auch die kulturelle Angebote, die Mitarbeit an der Wei­
Pflegedienste profitieren würden [34]. terentwicklung der Altenarbeit in der jeweiligen
Gesundheit und Krankheit im Alter 203

Kommune und die Förderung der Kooperation der realisiert werden könnten. Allerdings setzt die
Dienstleistungsanbieter [36]. Integration medizinischer Leistungen (präventive,
kurative, rehabilitative oder sonstige medizinische
Hilfs- und Unterstützungsangebote) in individu­
Zukünftige Entwicklung der häuslichen Pflege: elle Versorgungspläne erhebliche Kompetenzen
Perspektiven des Pflegeweiterentwicklungs­ aufseiten der Pflegeberater/innen voraus sowie
gesetzes umfassende Absprachen mit medizinischen und
rehabilitativen Leistungserbringern. Pflegebera­
Im Jahr 2008 trat das Pflege-Weiterentwicklungs­ tung kann dabei in Pflegestützpunkten stattfin-
gesetz (PfWG) in Kraft, das die Situation pflege­ den, wenn diese innerhalb eines Bundeslandes
bedürftiger Menschen erheblich verändern wird. eingerichtet werden.
Viele der oben genannten Maßnahmen zu Ver­ Die Pflegezeit gestattet Arbeitnehmer/innen,
besserung der häuslichen Pflege wurden in dem für eine begrenzte Zeitdauer eine Auszeit zu neh­
Gesetz berücksichtigt. Auf drei Maßnahmen soll men oder in Teilzeit zu arbeiten, um Angehörige
an dieser Stelle eingegangen werden, da sie von zu pflegen, ohne dadurch den Arbeitsplatz zu ge­
besonderer Bedeutung sowohl für pflegebedürf­ fährden. Pflegende Angehörige haben Anspruch
tige als auch für pflegende Menschen sind: Trans­ auf eine Pflegezeit von bis zu sechs Monaten, in
parenz der Pflegequalität, Pflegeberatung sowie der sie kein Gehalt erhalten, aber sozialversichert
Pflegezeit. bleiben. Wird ein Angehöriger unerwartet pflege­
Mit der Pflegereform, die im Juli 2008 in bedürftig, gibt es die Möglichkeit der kurzfristigen
Kraft getreten ist, ist eine Veröffentlichung der Freistellung für bis zu zehn Tage. Ähnlich der El­
Qualitätsberichte von Pflegeeinrichtungen be­ ternzeit für die Kindererziehung erlaubt es die
schlossen worden. Insbesondere der Medizi­ Pflegezeit, Zeit für familienbezogene Tätigkeiten
nische Dienst der Krankenkassen (MDK) soll in zu nehmen, und dabei durch einen Rechtsan­
Zukunft regelmäßig die Qualität aller ambulanten spruch auf Wiedereinstellung den Arbeitsplatz zu
und stationären Pflegeeinrichtungen überprüfen. wahren. Zu bedenken ist allerdings, dass die Pfle-
Die Ergebnisse dieser Qualitätsprüfungen wer­ gezeit insbesondere von Frauen in Anspruch ge­
den in Zukunft in verständlicher Weise veröffent­ nommen werden könnte und damit das bisherige
licht. Damit erhalten die Pflegebedürftigen und Muster der Übernahme von Pflegeverantwortung
ihre Angehörigen mehr Informationen über die stabilisieren könnte. Die zeitliche Begrenzung soll
Qualität von Pflegeheimen und ambulanten Pfle- jedoch sicherstellen, dass die Betreuung durch Fa­
gediensten. Gerade, wenn es darum geht, eine milienangehörige die Betreuung durch professi­
geeignete Pflegeeinrichtung zu finden, wird dies onell Pflegende oder Pflegeheime nicht ersetzt,
in die Entscheidung von betroffenen Menschen sondern dem akuten Pflege- oder Krankheitsfall
einfließen. Offen sind zum gegenwärtigen Zeit­ oder auch der Sterbebegleitung vorbehalten bleibt.
punkt (2008) noch verschiedene Fragen, etwa
die nach der tatsächlichen Inanspruchnahme der
veröffentlichten Informationen sowie nach den 4.2.4 Resümee
(erhofften) Auswirkungen auf die Pflegequalität
durch erhöhten Wettbewerb. Der Wandel von Verwandtschaftsstrukturen und
Eine wichtige Neuerung der Pflegereform Intergenerationenbeziehungen wird in der gesell­
ist der Anspruch auf Pflegeberatung. Pflegebe­ schaftlichen Debatte zum Teil mit großer Sorge
ratung besteht in der Hilfestellung für Personen betrachtet. Es wird vermutet, dass die Bindungs-
mit Pflegebedarf und in der Erstellung eines Ver­ und Solidaritätsfähigkeit der grundlegenden
sorgungsplans, der die erforderlichen Sozialleis­ gesellschaftlichen Institution »Familie« sinken
tungen sowie alle relevante Hilfs- und Unterstüt­ könnte [37]. Häufig wird darauf hingewiesen,
zungsangebote umfasst. Dabei ist das Ergebnis dass – auf Grund geringerer Kinderzahlen und
der Begutachtung des Medizinischen Dienstes der höherer Mobilität der jüngeren Generation – die
Krankenkassen zu berücksichtigen. Dies bedeu­ Unterstützung älterer Menschen durch die Fami­
tet, dass Elemente einer integrierten Versorgung lie in Zukunft weniger sicher sein wird. Das vor­
204 Gesundheit und Krankheit im Alter

liegende Kapitel hat eindrücklich gezeigt, welche so dürften sozialpolitische Dienstleistungen nur
Leistungen familiale und private Netze bei der dort angeboten werden, wo ein familiales Netz
Pflege und Betreuung von alten und sehr alten nicht vorhanden oder zu schwach ist, um notwen­
Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf erbringen. dige Leistungen zu erbringen. Allerdings ist die
Nach wie vor ist es so, dass Familien in Deutsch­ Substitutionshypothese keineswegs unumstritten.
land den größten »Pflegedienst” bilden [38]. Zu­ Vielmehr zeigen empirische Studien, dass eine
dem zeigen empirische Untersuchungen, dass starke sozialstaatliche Infrastruktur das Potenzial
im europäischen Vergleich die Bereitschaft zur von Familien für bestimmte Unterstützungsleis­
intergenerationalen Unterstützung in Deutsch­ tungen ermöglichen kann (»Anregungsthese«)
land sehr hoch ist [39]. Allerdings muss bedacht [40, 41]. Folgt man der Anregungsthese, so sollten
werden, dass der Anteil alter und sehr alter Frauen adäquate Angebote sozialer Dienstleistungen die
und Männer, die in einer Partnerschaft leben, in Potenziale von Familien zur Unterstützung stär­
Zukunft sinken wird, und dass der Anteil der Men­ ken. Mit geeigneten Unterstützungsmaßnahmen
schen ohne Kinder in Zukunft zunehmen wird. sollten die vorhandenen Potenziale des Alters in
Dies bedeutet, dass eine optimistische Bewertung Familie und privaten Netzwerken erhalten und
der zukünftigen Bedeutung von Familie als wich­ neue Potenziale in diesen Bereichen geweckt und
tiger Akteur in der Pflege alter Menschen ergänzt gestärkt werden.
werden muss um Antworten auf die Frage, wie
Potenziale privater Netze, bürgerschaftlichen En­
gagements und ambulanter Dienste gebündelt Literatur
werden können, um die wahrscheinlich wach­
sende Zahl von Personen ohne starke familiale 1. Hoff A, Tesch-Römer C (2007) Family relations and
aging – substantial changes since the middle of the last
Eingebundenheit im Falle von Hilfe- und Pflege­ century? In: Wahl HW, Tesch-Römer C, Hoff A (Hrsg)
bedürftigkeit zu unterstützen. New Dynamics in Old Age: Individual, Environmental
Gerade mit Blick auf Unterstützungsleis­ and Societal Perspectives. Baywood Amityville, New
tungen im Bereich von Pflege und Betreuung York, S 65 – 83
2. Kohli M, Künemund H, Motel A et al. (2000) Ge­
werden älter werdende und alte Menschen häu­ nerationenbeziehungen. In: Kohli M, Künemund
fig als Hilfeempfangende dargestellt. Dabei wird H (Hrsg) Die zweite Lebenshälfte Gesellschaftliche
übersehen, dass es vor allem älter werdende und Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey.
alte Menschen sind, die Leistungen im Bereich Leske+Budrich, Opladen, S 176 – 211
3. Schneekloth U (2006) Entwicklungstrends beim Hil­
Pflege und Betreuung alter und sehr alter Men­ fe- und Pflegebedarf in Privathaushalten – Ergebnisse
schen erbringen (vgl. Abschnitt 5.4.4). Aus sozial­ der Infratest-Repräsentativerhebung. In: Schneekloth
politischer Perspektive bilden Familien bereits U, Wahl HW (Hrsg) Selbständigkeit und Hilfebedarf
jetzt das primäre Solidaritätsnetz einer Gesell­ bei älteren Menschen in Privathaushalten. Kohlham­
mer, Stuttgart, S 57 – 102
schaft und bleiben es voraussichtlich auch künf­ 4. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2007) Kurzbericht:
tig. Sozialstaatliche Leistungen sind – zumindest Pflegestatistik 2005 – Pflege im Rahmen der Pflege­
in Deutschland – den familialen Hilfeleistungen versicherung – Deutschlandergebnisse. Statistisches
nachgeordnet und ergänzen sie. Das Subsidiari­ Bundesamt, Bonn
5. Statistisches Bundesamt (Hrsg) (2007) Pflegestatistik
tätsprinzip, das für viele Bereiche der Sozialpolitik 2005 – Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung,
in Deutschland grundlegend ist, hat in der Vergan­ Deutschlandergebnisse. Statistisches Bundesamt,
genheit dazu geführt, dass Familien eine Vielzahl Wiesbaden
von Aufgaben erfüllen, die etwa in skandinavischen 6. Schneekloth U, Leven I, Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend et al. (2003)
Ländern Institutionen, wie ambulanten Pflege­ Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten in
und Hauswirtschaftsdiensten (öffentlicher, frei­ Deutschland 2002. Schnellbericht Erste Ergebnisse
gemeinnütziger oder privater Natur), übertragen der Repräsentativerhebung im Rahmen des For­
wurden. In der sozialpolitischen Diskussion wird schungsprojekts »Möglichkeiten und Grenzen einer
selbständigen Lebensführung hilfe- und pflegebedürf­
häufig angenommen, dass Angebote sozialstaatli­ tiger Menschen in privaten Haushalten« (MuG 3). In­
cher Dienstleistungen das Potenzial von Familien fratest Sozialforschung, München
zu Unterstützungsleistungen schwächen könne 7. Rosenkranz D, Schneider NF (1997) Familialer Wan­
(»Substitutionsthese«). Folgt man dieser These, del und Pflege älterer Menschen. Auswirkungen der
Gesundheit und Krankheit im Alter 205

Generationendynamik. Sozialer Fortschritt 46 (6/7): chiatrische und geriatrische Tagesstätten. Zeitschrift


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206 Gesundheit und Krankheit im Alter

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Volksgesundheit, Frankfurt/Main, S 9 – 21 analyses. Ageing & Society 25: 863 – 882
Gesundheit und Krankheit im Alter 207

4.3 Vernetzung in der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung:


Wem nützt sie?
Anna Hokema, Daniela Sulmann

Kernaussagen nicht (mehr) vollständig erbringen, sind meist


verschiedene Hilfeleistungen aus den Bereichen
1. Je komplexer der Hilfe- und Pflegebedarf ei­ Medizin, Pflege, Rehabilitation oder Hauswirt­
ner Person ist, umso erforderlicher ist eine schaft erforderlich. Insbesondere bei chronisch
zielgeführte koordinierte Abstimmung der mehrfacherkrankten älteren Menschen beste­
unterschiedlichen Hilfeleistungen, um mög­ hen in der Regel komplexe, berufsgruppen- und
liche belastende Folgen von Schnittstellen­ institutionsübergreifende Hilfebedarfe [2, 3, 4].
problemen zu reduzieren. Der überwiegende Teil der Bevölkerung möchte
2. In den deutschen Altenhilfestrukturen findet auch bei vielfältigen Funktionseinschränkungen
Vernetzung auf verschiedenen Ebenen und in so selbstbestimmt und selbständig wie möglich
unterschiedlicher Form statt. Hieraus lassen – zumeist im eigenen Zuhause – leben [1]. Diese
sich zwei hauptsächliche allgemeine Zielset­ Möglichkeit steht in engem Zusammenhang mit
zungen ableiten: Die Ausgestaltung eines der Unterstützung durch das soziale Netz und
individuell bedarfsgerechten Hilfeprozesses durch professionelle Hilfen [1].
und der wirtschaftliche Einsatz von Mitteln Je mehr Akteurinnen und Akteure an Hilfe­
im Versorgungssystem. leistungen für eine Person beteiligt sind, umso
3. Es liegen eine Reihe von Erfahrungen aus mehr Schnittstellen gibt es im Versorgungspro­
Vernetzungsprojekten in Deutschland vor, zess. Beispielsweise können an der Unterstützung
die auf Verbesserungen der Versorgungsqua­ einer im eigenen Haushalt lebenden Person mit
lität in einzelnen Bereichen verweisen. Es einer Halbseitenlähmung nach einem Schlag­
fehlt aber an gesicherten wissenschaftlichen anfall Angehörige, Pflegende, Ärztinnen und
Daten zu den Effekten von Vernetzungsini­ Ärzte, Physiotherapeutinnen und -therapeuten,
tiativen, insbesondere können derzeit keine Logopädinnen und Logopäden, Hauspflegekräfte,
belastbaren Aussagen über die Wirkungen Kranken- und Pflegekassen beteiligt sein. Darüber
auf die Lebensqualität der Menschen und die hinaus können Wohnberaterinnen und Wohnbe­
wirtschaftlichen Effekte gemacht werden. rater sowie Ehrenamtliche am Hilfeprozess mit­
4. Wichtige Voraussetzungen zur nachhaltigen wirken. Folgt nun jeder Sektor und jede einzelne
Umsetzung von Vernetzungsinitiativen sind Akteurin bzw. jeder Akteur abgegrenzt voneinan­
Handlungs- und Kommunikationsbereit­ der der jeweiligen Funktion, obwohl es einen sach­
schaft der beteiligten Akteurinnen, Akteure lichen Zusammenhang und fließende Übergänge
und Institutionen, die Festlegung konkreter zwischen den Leistungen gibt, mangelt es an ge­
Zielsetzungen und Verantwortlichkeiten, ge­ genseitiger Information, Absprache und zeitlicher
setzlich verankerte Anreize sowie die Defini­ Abstimmung und gerät die komplexe Problem­
tion von Erfolgskriterien und deren Messung. lage und Zielstellung der betroffenen Person au­
ßer Acht, können Lücken und Versäumnisse im
Hilfeprozess verursacht werden [5].
4.3.1 Warum Vernetzung? Für den betroffenen Menschen könnten be­
lastende Folgen entstehen: Unnötige Doppelun­
Die meisten Menschen mit Hilfe- und Pflegebe­ tersuchungen und -befragungen, Wartezeiten z. B.
darf in Deutschland werden von ihrem sozialen zwischen Diagnostik, Behandlungen und Thera­
Netzwerk, das heißt Angehörigen, Freundinnen, pien, ein häufiger Wechsel der behandelnden und
Freunden und der Nachbarschaft, unterstützt [1]. betreuenden Personen und letztlich Versäum­
Steigt die Komplexität des Hilfebedarfs und kann nisse präventiver, rehabilitativer, medizinischer
das soziale Netzwerk die erforderlichen Hilfen oder pflegerischer Hilfeleistungen [5]. Dies kann
208 Gesundheit und Krankheit im Alter

wiederum zu den sogenannten Drehtür-Effekten Pflegeeinrichtungen, Beratungsstellen, Kostenträ­


führen, d. h. es kommt nach einer Entlassung aus ger und in diesen Bereichen tätige Berufsgruppen,
einem Krankenhaus zu einer raschen Wiederauf­ soziale und bürgerschaftliche Initiativen sowie in­
nahme, weil der gesundheitliche Zustand der Per­ formelle Unterstützungssysteme wie Familie und
son sich verschlechtert hat. Oder die Einweisung Nachbarschaft.
in eine stationäre Pflegeeinrichtung wird veran­ Bei den Zielsetzungen von Vernetzungs­
lasst, weil eine angemessene Versorgung im ei­ initiativen lassen sich allgemein zwei Perspekti­
genen Zuhause nicht sichergestellt ist [5, 6]. Über ven herausstellen: Zum Einen zielt Vernetzung
die individuellen Belastungen hinaus können so auf die Verbesserung der Versorgungsqualität
Kosten bei den Institutionen und letztlich dem bezogen auf die Lebenssituation des einzelnen
Versorgungssystem entstehen, die – so kann ver­ Menschen ab. Zum Anderen geht es um die Ver­
mutet werden – mit abgestimmter, koordinierter sorgungsstrukturen, die bedarfsgerecht und ef­
Zielführung des Hilfeprozesses vermeidbar wä­ fizient sein sollen [2, 4, 6, 8]. Kurz: Es geht um
ren. Qualitätsverbesserungen und Wirtschaftlichkeit.
Vor diesem skizzierten Hintergrund und auch Die einzelnen Initiativen von Vernetzung haben
mit Blick auf zukünftige gesellschaftliche Ent­ meist in diesem Rahmen spezifische Ziele (wie
wicklungen (Zunahme des Anteils hochaltriger die in diesem Kapitel skizzierten Beispiele von
Menschen mit umfangreichem Hilfebedarf, Vernetzungsprojekten zeigen werden), so z. B.
Abnahme des Anteils familialer Hilfen) kommt den Ausbau einer bedarfsgerechten regionalen
koordinierten und abgestimmten Hilfe- bzw. Ver­ Beratungsstruktur, die Unterstützung des Lebens
sorgungsprozessen im Sinne einer Vernetzung im eigenen Zuhause auch bei Hilfe- und Pflegebe­
eine wichtige Bedeutung zu. Expertinnen und darf, die Verbesserung des Übergangs von einem
Experten aus Pflege, Medizin und Rehabilitation, Krankenhaus nach Hause, in die ambulante oder
Interessengruppen von Verbraucherinnen und stationäre Pflege, die Förderung einer individu­
Verbrauchern und Angehörigen, Politik, Kranken- ellen Sterbebegleitung oder die Sicherung eines
und Pflegekassen fordern bereits seit Jahren die festgelegten Qualitätsniveaus durch festgelegte
Weiterentwicklung von Vernetzungsstrukturen Versorgungsabläufe für bestimmte Problemkons­
im Bereich Pflege, Medizin und Rehabilitation [7]. tellationen oder Krankheiten.
Vernetzung findet auf verschiedenen Ebenen
und in unterschiedlicher Form zwischen den oder
4.3.2 Welche Ziele hat Vernetzung und innerhalb der Berufsgruppen, Institutionen und
welche Formen gibt es? anderer Unterstützungssysteme statt. Im We­
sentlichen wird zwischen zwei Ebenen von Ver­
Oftmals bleibt die Forderung nach Vernetzung netzung unterschieden, der Strukturebene, wobei
allerdings unkonkret – denn unklar ist häufig, es um Vernetzung der Akteurinnen, Akteure und
was, wer und wie vernetzt werden soll, und un­ Institutionen auf der Ebene des Versorgungs­
ter welchen Bedingungen Vernetzung welche systems (Care Management) geht und der In­
Ergebnisse erzielen soll. Auch finden sich keine dividualebene, hier geht es um Vernetzung der
weithin akzeptierten Definitionen darüber, was personenbezogenen Hilfeangebote, das Fallma­
genau mit dem Begriff Vernetzung gemeint ist. nagement (Case Management).
Die Ausführungen dieses Kapitels basieren auf
einem Verständnis von Vernetzung, das in vielen
Fachpublikationen und Berichten über Modellpro­ Vernetzung auf der Strukturebene
jekte vorzufinden ist: Hier wird Vernetzung als
auf Dauer angelegte Kooperation definiert, die ko­ Vernetzung auf der Strukturebene, d. h. auf der
ordinierte und strukturbezogene Abstimmungs­ Ebene des Versorgungssystems, in der Fachlitera­
prozesse einschließt [2, 6]. Zu den beteiligten Ak­ tur oft als Care Management bezeichnet, zielt auf
teurinnen und Akteuren von Vernetzung gehören die aufeinander abgestimmte Organisation von
Arztpraxen, Krankenhäuser, rehabilitative Praxen Versorgungsleistungen durch den Aufbau und
und Einrichtungen, ambulante und stationäre die Etablierung von regionalen und organisations­
Gesundheit und Krankheit im Alter 209

internen Netzwerken, beispielsweise in Form von und Erfahrungen etwa über verbesserte Überlei­
vernetzten Beratungsangeboten für Bürgerinnen tungsprozesse sowie mehr Transparenz von Hil­
und Bürger (z. B. Wohnberatung, Prävention, Pfle- feangeboten werden aber in den Projektberichten
geberatung etc.), durch Netzwerke bürgerschaft­ laufender und abgeschlossener Modellvorhaben
lichen Engagements und der Selbsthilfe (z. B. benannt. Beispielhaft zu nennen sind das Projekt
Seniorenorganisationen) sowie durch informelle »VerKet« – Praxisorientierte regionale Versor­
wie auch strukturierte Netzwerke der Akteurinnen gungsketten [8], »Altenhilfestrukturen der Zu­
und Akteure, Berufsgruppen und Institutionen, kunft« [2], »Sektorenübergreifende Kooperation
mit ganz unterschiedlichen Fokussierungen (z. B. und Vernetzung« [11], »Synopse innovativer An­
Sterbebegleitung, ärztliche Versorgung von Pfle- sätze zur vernetzten Versorgung älterer Menschen
geheimen, häusliche Versorgung Schwerkranker). in Deutschland – ProNETZ« [6] sowie die Modell­
Die Vernetzung kann z. B. durch ein gemeinsames vorhaben zur Weiterentwicklung der Pflegeversi­
Prozessmanagement festgelegt werden, etwa mit­ cherung der Spitzenverbände der Pflegekassen
hilfe von standardisierten Organisationsabläufen, (§ 8 SGB XI).
Versorgungspfaden und Verfahrensanweisungen. Um Aufgaben, Effekte sowie Hindernisse
Durch die Koordination und Kooperation der ver­ von Vernetzung exemplarisch darzustellen, wird
schiedenen Versorgungssektoren und Berufs­ im Folgenden auf drei Modellprojekte etwas ge­
gruppen soll eine Verbesserung des Angebots an nauer eingegangen. Betont sei, dass es sich hier
Hilfeleistungen und der effiziente Einsatz vorhan­ um Beispiele handelt, die spezifische regionale
dener Angebote auf der Ebene des Versorgungs­ Voraussetzungen haben. Näher betrachtet wird
systems erzielt werden [2, 4, 6]. die »Koordinierungsstelle Ambulanter Angebote«
(»KAA – Pflege- und Wohnberatung«) in Ahlen,
die Teil des Modellprogramms der Spitzenverbän­
Vernetzung auf der Individualebene de der Pflegekassen zur Weiterentwicklung der
Pflegeversicherung gem. § 8 Abs. 3 SGB XI (2004
Bei der Vernetzung auf der Individualebene, dem bis 2007) war, das Modellvorhaben »Sektoren­
Fallmanagement oder auch Case Management, übergreifende Kooperation und Vernetzung« in
geht es um die Steuerung des Hilfeprozesses und den Regionen Bobingen und Friedberg (2000 bis
die Koordinierung, der am personenbezogenen 2006), sowie das Projekt »Home Care Nürnberg«,
Hilfeprozess beteiligten Akteurinnen, Akteure das im Rahmen des Modellprogramms »Altenhil­
und Institutionen. Im Einzelfall soll der Case Ma­ festrukturen der Zukunft« (2000 bis 2004) geför­
nager bzw. die Case Managerin eine beratende dert wurde. In diesem Modellvorhaben, initiiert
Lotsenfunktion und die systematische Hilfepro­ vom Bundesministerium für Familie, Senioren,
zesssteuerung übernehmen [9]. Dazu gehört Frauen und Jugend, gab es neun Projekte, die
auch, die Grenzen zwischen den Versorgungssek­ sich mit dem Aufbau von Netzwerkstrukturen be­
toren und den unterschiedlichen Berufsgruppen schäftigten. Insgesamt umfasste es 20 Einzelpro­
zu überwinden, Schnittstellenprobleme zu redu­ jekte, die sich, neben der Erprobung von Vernet­
zieren und formelle Hilfen mit den personalen zungskonzepten, mit der engeren Verknüpfung
Ressourcen im Lebensumfeld des Betroffenen zu von Altenpflege und geriatrischer Rehabilitation,
verknüpfen. Ziel ist die am Bedarf des Einzelnen der Erprobung neuer stationärer Wohn-, Pflege-
orientierte und effiziente Zusammenstellung und und Betreuungsformen, der Verbesserung des
Koordinierung von Hilfeangeboten [9, 10]. Verbraucherschutzes in der Altenhilfe, dem stär­
keren Einbezug von freiwilligen Helferinnen und
Helfern sowie der Verbesserung der häuslichen
4.3.3 Welche Erfahrungen mit Vernetzung Betreuung und Versorgung beschäftigten. Dieses
liegen vor? umfassende Modellvorhaben hatte eine impuls­
gebende Wirkung auf viele Veränderungen in der
Gegenwärtig liegen in Deutschland keine gesi­ Altenhilfe und -pflege bis heute. Die drei hier vor­
cherten wissenschaftlichen Daten zu den Effek­ gestellten Beispiele von Vernetzungsstrukturen
ten von Vernetzungsinitiativen vor. Erkenntnisse wurden nach Beendigung der Modellphase wei­
210 Gesundheit und Krankheit im Alter

tergefördert und existieren mit teilweise abgewan­ gestufe 1 und 2 blieben, als die nichtberatende
delter Zielsetzung weiter. Kontrollgruppe. Allerdings sind diese Ergebnisse
nur mit Vorbehalt zu interpretieren, da nicht alle
anderen Faktoren, die neben der Beratung eine
»KAA – Pflege- und Wohnberatung« Rolle spielten, in der Untersuchung zu berück­
sichtigen waren. Trotzdem gehen die Autorinnen
Bei dem Modellprojekt »KAA – Pflege- und Wohn­ und Autoren des Abschlussberichts von Kosten­
beratung« in Ahlen ging es darum, die Beratung einsparungen und einer Refinanzierung der KAA
von älteren pflegebedürftigen Menschen sowie Wohn- und Beratungsstelle aus [12].
die Zusammenarbeit mit anderen Diensten effek­
tiver und effizienter zu gestalten, insbesondere
mit dem übergeordneten Ziel, den Nutzerinnen »Sektorenübergreifende Kooperation und
und Nutzern den Verbleib in der eigenen Häus­ Vernetzung«
lichkeit zu ermöglichen. Die Beratungsstelle,
die seit 1993 existiert, intensivierte in der Pro­ Das Modellvorhaben »Sektorenübergreifende
jektlaufzeit den Kontakt mit folgenden Koope­ Kooperation und Vernetzung« hatte in den zwei
rationspartnerinnen und Kooperationspartnern Regionen Bobingen und Friedberg das Ziel, das
im Versorgungssystem: Pflegedienste, stationäre einrichtungs- und berufsgruppenübergreifende
Pflegeeinrichtungen, Tages- und Kurzzeitpflege, Überleitungsmanagement zu verbessern, um die
komplementäre Dienste (z. B. Hausnotdienst, Es­ Versorgungskontinuität und -qualität der pflege­
sen auf Rädern oder Freiwilligenagenturen), Haus­ bedürftigen Patientinnen und Patienten zu ver­
meisterdienste, Krankenhäuser, Hausärztinnen bessern [11]. Diese neuen Kooperationen sollten
und Hausärzte, Kranken- und Pflegekassen, Medi­ verbindlichen Charakter haben, langfristig ange­
zinischer Dienst sowie Selbsthilfegruppen. Neben legt sowie auf andere Einrichtungen der Regio­
der Beratung in den Bereichen Pflege und/oder nen ausdehnbar sein. In den Regionen wurden
Wohnen, wurde bei komplexeren Bedarfslagen zu diesem Zweck lokale Bündnisse eingerichtet.
auch ein weitergehendes Case Management ange­ Mitglieder dieses Zusammenschlusses waren
boten. Auf der Systemebene moderierte die KAA regionale Krankenhäuser, ambulante und (teil-)
auch Arbeitskreise mit Ahlener Pflegediensten stationäre Pflegeeinrichtungen, therapeutische
oder Kooperationstreffen zwischen Krankenhäu­ Praxen, Vertreterinnen und Vertreter der regio­
sern, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, nalen Altenhilfeplanung sowie Selbsthilfegrup­
Pflegediensten oder den örtlichen Pflegekassen pen. Begonnen wurde die Arbeit mit einer Be­
und Sozialhilfeträgern, um eine standardisierte standsaufnahme und der gemeinsamen Analyse
Kooperation und eine verbesserte Überleitung zu der bestehenden Schnittstellen- und Versorgungs­
erreichen. Besonders der Einsatz einer bedarfsge­ probleme in der Region. Ein Steuerungsgremium
rechten Kommunikationssoftware, die verstärk­ wurde eingesetzt, das die Themenschwerpunkte
te Einbeziehung der Verwaltungskraft in den und Vorgehensweisen festlegte. Weiter wurden
Beratungsprozess (Vereinbarung von Terminen, themenspezifische Arbeitsgruppen gegründet,
Angebotseinholung oder Nachverfolgung) sowie die beispielsweise Kommunikationsformulare
die Entwicklung eines Assessmentinstrumentes für die Überleitung von Patientinnen und Patien­
führten zu einer Steigerung der Beratungszahlen ten oder verbindliche Überleitungsstandards
von 25 % bei gleichem Ressourceneinsatz [12]. So­ entwickelten. Alle Netzwerkmitglieder zeichne­
wohl für die Beratungstätigkeit als auch für die ten einen Kooperationsvertrag, der die folgenden
Zusammenarbeit mit Kooperationspartnerinnen Bausteine enthielt: Einigung auf die Verbunds­
und Kooperationspartnern wurden gemeinsam struktur, gemeinsame Ziele, Standards der Zu­
Qualitätsstandards entwickelt, die die Arbeit über­ sammenarbeit und Qualitätsrichtlinien. Weiter
prüfbar machten [12]. Die Begleitforschung des wurden Behandlungs- und Versorgungspfade
Instituts für Medizinische Soziologie der Univer­ entwickelt. In Bobingen wurde die Behandlung
sitätsmedizin Berlin ergab, dass die Nutzerinnen und Versorgung von Patientinnen und Patienten
und Nutzer der Beratungsstelle länger in der Pfle- mit der Diagnose Schlaganfall aufeinander ab­
Gesundheit und Krankheit im Alter 211

gestimmt. In Friedberg entschied man sich für und pflegerischen Bereich mit einbezogen. Der
einen Versorgungspfad für Patientinnen und Pa­ weitere Behandlungsprozess wird von der Koor­
tienten mit Oberschenkelhalsfrakturen. Seit 2003 dinierungsstelle bei Bedarf und auf Wunsch der
arbeiten die beschriebenen Verbünde unabhängig Patientinnen und Patienten weiter begleitet. Da­
von der Beratungsfirma, die mit der Initiierung neben wurde auf der regionalen Ebene ein Quali­
des Modellvorhabens und dem anfänglichen tätsverbund gegründet, der eine optimale Abstim­
Netzwerkmanagement betraut war. Außerdem mung der bestehenden Pflege-, Betreuungs- und
wurden die entwickelten Strukturen und Pro­ Beratungsangebote zum Ziel hatte. Ähnlich wie
dukte, wie beispielsweise der Überleitungsbogen, die Projekte in Friedberg und Bobingen wurden
auf zwei weitere Regionen übertragen. Bei einer Kooperationsvereinbarungen, Netzwerkkonfe­
abschließenden Befragung hoben die Verbund­ renzen und Arbeitsgruppen als Instrumente an­
partnerinnen und Verbundpartner folgende po­ gewendet. Hervorzuheben ist die Weiterentwick­
sitive Aspekte der Vernetzung hervor: effizientere lung eines Datenbanksystems (Hilfelotse online),
Arbeitsweise, Steigerung der Qualität der Versor­ das alle Angebote aus der Region bündelte und
gung und Vermeidung von Versorgungslücken Professionellen und anderen Hilfesuchenden zur
[11]. Als schwierig wurde die Zusammenarbeit Verfügung gestellt wurde. Nicht realisiert wurde
mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sowie in der Projektlaufzeit die angestrebte Einführung
Therapeutinnen und Therapeuten bezeichnet [11]. von bildgestützten Kommunikationssystemen
Insgesamt dürfen diese Ergebnisse nicht zu posi­ (TeleCare, TeleService), dies scheiterte sowohl an
tiv bewerten werden, da bei der Abschlussbefra­ technischen und institutionellen Problemen als
gung von insgesamt 23 befragten Akteuren, fünf auch an Akzeptanzproblemen [2, 4]. Nach Ende
Befragte angaben, dass es keine Veränderungen der Projektlaufzeit entschied sich das »Praxisnetz
durch die Kooperation gegeben hätte und zehn Nürnberg Nord – medizinische Qualitätsgemein­
Befragte sagten, dass sie dies nicht beurteilen schaft e.V.« die Koordinierungsstelle weiterzufi­
könnten [11]. nanzieren, sie existiert bis heute, aber mit redu­
zierter personeller Besetzung [13] und berät weiter
Hausarztpatientinnen und Hausarztpatienten auf
»Home Care Nürnberg« der Grundlage der Integrierten Versorgung nach
dem fünften Sozialgesetzbuch (§ 140 ff. SGB V).
Das Projekt »Home Care Nürnberg« hatte das Bisherige Erfahrungen aus den Modellpro­
Ziel, eine Koordinierungsstelle für ein netzinter­ jekten zeigen, wie oben bereits angedeutet, einige
nes Case Management zu implementieren und positive Effekte durch Vernetzung im Bereich der
darüber hinaus den Aufbau eines Qualitätsver­ Altenhilfe und Gesundheitsversorgung. Benannt
bundes mit allen relevanten Dienstleistern zu wird das verbesserte subjektive Wohlbefinden von
gründen [12]. Die Besonderheit dieses Projektes Nutzerinnen und Nutzern [14, 15], aber auch die
ist die Trägerschaft durch das »Praxisnetz Nürn­ erhöhte Zufriedenheit von Mitarbeiterinnen und
berg Nord – medizinische Qualitätsgemeinschaft Mitarbeitern aus den vernetzten Institutionen [12].
e.V.« (PNN), einem fachübergreifenden Ver­ Weiterhin beschrieben werden die Reduzierung
bund von 170 niedergelassenen Ärztinnen und von so genannten Drehtür-Effekten (kurzfristige
Ärzten. Der Hausarzt bzw. die Hausärztin wirkt Wiedereinweisung ins Krankenhaus), die Vermin­
in diesem Verbund als »Gesundheitslotse« auf der derung von Versorgungslücken und die verbes­
Grundlage einer mit allen Vertragspartnerinnen serte Überleitung der Patientinnen und Patienten
und Vertragspartnern abgestimmten Verfahrens­ durch Informationsmanagement. Außerdem be­
weise »Case Management«. Bei komplizierteren nannt werden eine verbesserte Transparenz der
Bedarfslagen schaltet der »Gesundheitslotse« Hilfeangebote, ein verbesserter Zugang zu den
die Koordinierungsstelle ein, welche ein Assess­ Hilfeangeboten und eine Bündelung von notwen­
ment durchführt und je nach Bedarfslage einen digen Dienstleistungen. Die beteiligten Instituti­
individuellen Hilfeplan anbietet. Es werden ne­ onen würden durch eine verbesserte Wettbewerbs­
ben Hausärztinnen und Hausärzten, Expertinnen fähigkeit und einen Imagegewinn profitieren,
und Experten aus dem therapeutischen, sozialen wenn sie in regionalen Netzwerken mitarbeiten
212 Gesundheit und Krankheit im Alter

würden [4, 11]. Ökonomische Effekte wie die Erhö­ 4.3.4 Wie wird Vernetzung gesetzlich gesteuert?
hung von Wirtschaftlichkeit durch Synergieeffekte
und gezielten Ressourceneinsatz werden überall Gesetzliche Grundlagen für die Förderung von
in den Fachpublikationen zum Thema benannt, Vernetzung finden sich in verschiedenen Sozial­
wurden aber bisher noch nicht wissenschaftlich gesetzbüchern, so z. B. dem SGB XI (Pflegeversi­
abgesichert nachgewiesen [2, 4, 6]. cherung) und dem SGB V (Krankenversicherung).
Die vorangegangenen Beschreibungen von Außerdem müssen, im Rahmen der umfassenden
Erfahrungen und Effekten von Vernetzung ba­ Zuständigkeit für die Angelegenheiten der ört­
sieren zum großen Teil auf Projektberichten. Sie lichen Gemeinschaft (Art. 28 Abs. 2 Grundge­
geben wenig Auskunft über Hemmnisse und setz), die Kommunen dafür Sorge tragen, dass die
Probleme bei der koordinierten Zusammenarbeit im Verlauf des Alternsprozesses erforderlichen
von verschiedenen Berufsgruppen und Leistungs­ Hilfen, Dienste und Einrichtungen auf der kom­
angeboten. Dies könnte zum einem an einer munalen Ebene verfügbar oder von der örtlichen
mangelnden Reflexion und Analyse der Probleme Ebene aus erreichbar sind [16].
liegen. Zum anderem könnten die erwarteten Im SGB XI wird für die Bereitstellung ei­
Nachteile (wie z. B. keine Anschlussfinanzierung) ner pflegerischen Infrastruktur die gesamtge­
eine Rolle spielen, wenn interne Probleme in die sellschaftliche Verantwortung herausgestellt (§ 8
Öffentlichkeit getragen oder den Geldgeberinnen Abs. 1 SGB XI). Länder, Kommunen, Pflegeein­
und Geldgebern präsentiert werden [6]. Dennoch richtungen, Pflegekassen und der Medizinische
lassen sich einige Hindernisse aufzeigen. Auf der Dienst der Krankenkassen haben auf die Gewäh­
institutionellen Ebene werden zum Beispiel man­ rung einer (...) aufeinander abgestimmten ambu­
gelnde Verstetigung der entwickelten Strukturen lanten und stationären pflegerischen Versorgung
benannt, wenn keine kontinuierlichen Impulse der Bevölkerung hinzuwirken. Die Länder sind
gegeben werden und starke Konkurrenz zwischen nach § 9 Satz 1 SGB XI verantwortlich für die
regionalen Anbietern existiert. Auf der Interakti­ Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig
onsebene sind häufiger ein fehlendes Problembe­ ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen
wusstsein und mangelnde Motivation zu finden Versorgungsstruktur. Die Zuständigkeiten der
sowie die Angst vor Transparenz und Kontrolle [6]. Pflegekassen sind in § 12 SGB XI beschrieben:
Die Kommunikation zwischen einzelnen Berufs­ Die Pflegekassen sollen mit den Trägern der am­
gruppen gestaltet sich häufig schwierig, weil nach bulanten und stationären gesundheitlichen und
unterschiedlichen disziplinären Grundannahmen sozialen Versorgung zur Koordinierung, der für
gearbeitet wird. Zwei Beispiele hierfür wären der den Pflegebedürftigen zur Verfügung stehenden
rehabilitative Bereich und die Akutmedizin. Wäh­ Hilfen, zusammen wirken und sicher stellen, dass
rend der rehabilitative Bereich auf die Aktivie­ im Einzelfall ärztliche Behandlung, Behandlungs­
rung und Wiedergewinnung von Fähigkeiten und pflege, rehabilitative Maßnahmen, Grundpflege,
Funktionen abzielt, ist die Akutmedizin häufig hauswirtschaftliche Versorgung, spezialisierte
eher am Symptom orientiert [2]. Die Zusammen­ Palliativpflege sowie Leistungen zur Prävention
arbeit mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und zur Teilhabe nahtlos und störungsfrei in­
wird häufiger als schwierig beschrieben, obwohl einander greifen. Im Rahmen des SGB XI (§ § 8,
sie für die erfolgreiche Vernetzung eine sehr wich­ 45c) wird seit einigen Jahren nach innovativen
tige Rolle spielt [2, 11]. Abschließend, auf der Ebe­ Lösungsansätzen in der Versorgung von älteren,
ne der gesetzlichen Rahmenbedingungen, werden chronisch kranken und/oder unterstützungsbe­
als hindernde Faktoren mangelnde finanzielle An­ dürftigen Menschen sowie ihrer pflegenden An­
reize und Unterstützung durch Kommunen und gehörigen gesucht, u. a. spielen Modellprojekte
Kassen genannt, die häufig eine dauerhafte Ver­ mit Vernetzungsansätzen eine große Rolle. Die
netzung verhinderten [6]. im vorangegangenen Abschnitt beschriebene
»Koordinierungsstelle Ambulanter Angebote«
(KAA – Pflege- und Wohnberatung) in Ahlen ist
ein Beispiel für das Modellprogramms der Spit­
zenverbände der Pflegekassen zur Weiterentwick­
Gesundheit und Krankheit im Alter 213

lung der Pflegeversicherung gem. § 8 Abs. 3 SGB Entlassungssituationen aus dem Krankenhaus
XI. gebracht (§ 11 SGB V). Durch ein verpflichtendes
Die individuelle Hilfeprozesssteuerung, das Entlassungsmanagement sollen die Krankenhäu­
Case oder Fallmanagement war im bisherigen ser den nahtlosen Übergang von der Kranken­
für die Pflege relevanten Recht nur ansatzweise hausbehandlung in die ambulante Versorgung,
geregelt. Case Management Ansätze im Bereich zur Rehabilitation oder Pflege gewährleisten [17].
Pflege und Behinderung (SGB XI) werden al­ Auf der Grundlagen des SGB V bilden sich
lerdings an verschiedenen Stellen im Sozialleis­ derzeit im Rahmen von Modellverträgen (§§ 63 – 65
tungsrecht erwähnt oder vorausgesetzt. Im Rah­ SGB V), Strukturverträgen (§ 73 a SGB V) und der
men des SGB XI, der Experimentierklausel gem. Integrierten Versorgung (140 a – h SGB V und
§ 8 Abs. 3 SGB XI zur Weiterentwicklung der Pfle- § 92 b SGB XI) unterschiedliche regionale und
geversicherung, werden Case Management Ansät­ kommunale Netzwerke bzw. Verbünde (für un­
ze erprobt. Im § 45 a ff. SGB XI können bestimmte terschiedliche Zielgruppen, z. B. chronisch Kran­
Pflegebedürftigengruppen (wie demenzerkrankte ke, Pflegebedürftige, Patientinnen und Patienten
Menschen) zusätzliche Betreuungsleistungen er­ mit bestimmten Erkrankungen). Ein Beispiel für
halten. Außerdem müssen durch dieses Gesetz eine Vernetzungsinitiative auf der Basis der Inte­
Personal- und Sachkosten bereitgestellt werden, grierten Versorgung ist das oben skizzierte Projekt
um die Betreuung zu koordinieren, zu organisie­ »Home Care Nürnberg«.
ren und das Personal zu schulen, auch hier könnte Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbe­
dazu Case Management eingesetzt werden. Dies werbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung
betrifft aber nur Personen, die bereits als pflegebe­ (GKV-WSG), § 140 a ff. SGB V von 2007 – können
dürftig eingestuft worden sind sowie Versicherte Versorgungs- und Kooperationsverträge nicht nur
mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf. wie bisher zwischen Krankenhäusern und nieder­
Aktuell bekommt die »Vernetzungsidee« in gelassenen Ärztinnen und Ärzten ausgehandelt
der Pflegereform 2008 einen zentralen Stellen­ werden, sondern auch unter Einbeziehung von
wert in der (sozialrechtlichen) Gestaltung der Pfle- Pflegediensten oder professionellen Pflegekräf­
gelandschaft [17]. Über von den Ländern initiierte ten. Damit wird ein Ansatz vorgenommen, bis­
Pflegestützpunkte (§ 92 c SGB XI) soll die Mög­ her getrennte Leistungsbereiche miteinander zu
lichkeit geschaffen werden, etwa die Leistungs­ verzahnen.
ansprüche an die Pflegeversicherung und an die Diese noch unvollständige Auflistung zeigt,
gesetzliche Krankenversicherung besser als bisher dass die Verantwortlichkeiten für die Umsetzung
zu verwirklichen und darüber hinaus eine umfas­ von Vernetzung bisweilen weitestgehend unscharf
sende und aufeinander abgestimmte Beratung, geregelt ist, so dass die Initiierung und Umset­
Unterstützung und Begleitung anzubieten. Die zung von Vernetzung derzeit vor allem abhängig
Pflegestützpunkte sollen an bereits bestehende von der Initiative einzelner Akteurinnen und Ak­
Strukturen anknüpfen. Dort angesiedelte Pflege­ teure des regionalen/lokalen Versorgungssystems
beraterinnen und -berater (§ 7 SGB XI) sollen die ist.
Aufgabe haben, im Sinne eines umfassenden
individuellen Fallmanagements, den Hilfebedarf
von Menschen, die bereits eine Pflegestufe haben, 4.3.5 Welche Zukunft hat Vernetzung?
systematisch zu erfassen und zu analysieren sowie
die Umsetzung des Hilfeprozesses zu begleiten Die demografischen und gesellschaftlichen Ver­
[17]. Der Abbau von Schnittstellenproblemen wird änderungen beschreiben zentrale Herausforde­
vom Gesetzgeber auch durch eine verbesserte rungen für zukünftige Versorgungsstrukturen im
Kooperation von stationären Pflegeeinrichtungen Bereich der Altenhilfe: Die Verknüpfung vorhan­
mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte ange­ dener Potenziale und Ressourcen professioneller
strebt. Künftig können Pflegeheime eine Heim­ und informeller Hilfeangebote wird künftig noch
ärztin bzw. einen Heimarzt beschäftigen (§ 119 mehr als bisher an Bedeutung gewinnen, um
SGB V). Ebenso hat die Pflegereform 2008 Ver­ eine individuell bedarfsgerechte Versorgung zu
besserungen für Patientinnen und Patienten bei ermöglichen und die Mittel effizient einzusetzen.
214 Gesundheit und Krankheit im Alter

Sowohl bei Expertinnen und Experten aus dem Literatur


Gesundheits- und Pflegebereich als auch bei dem
Gesetzgeber herrscht überwiegend die Ansicht 1. Schneekloth U, Wahl HW (Hrsg) (2006) Selbständig­
keit und Hilfebedarf bei älteren Menschen in Privat­
vor, dass ein Lösungsweg in der Vernetzung von haushalten. Pflegearrangements, Demenz, Versor­
Hilfeangeboten liegt. gungsangebote. Kohlhammer, Stuttgart
Mittlerweile liegen in Deutschland auf ver­ 2. Klaes L, Raven U, Reiche R et al. (2004) »Altenhilfe­
schiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen strukturen der Zukunft« – Abschlussbericht der wis­
senschaftlichen Begleitforschung zum Bundesmodell­
Schwerpunkten eine beachtliche Reihe an Erfah­ programm. Bundesministerium für Familie, Senioren,
rungen aus Vernetzungsprojekten vor: Insbeson­ Frauen und Jugend, Berlin
dere betrifft dies einige Effekte (z. B. Reduzierung 3. Klie T, Buhl A, Entzian H et al. (Hrsg) (2003) Ent­
von Krankenhaus-Wiedereinweisungen, längerer wicklungslinien im Gesundheits- und Pflegewesen.
Mabuse-Verlag, Frankfurt/M
Verbleib in der eigenen Häuslichkeit) sowie be­ 4. Thörne I (2002) Netzwerke in der Altenhilfe – Chan­
günstigende Voraussetzung für die Umsetzung cen und Möglichkeiten. Forum Altenhilfe 2
und Verstetigung von Vernetzungsinitiativen (z. B. 5. Höhmann U (2005) Gelingende Netzwerke an der
Durchführung eines Netzwerkmanagements, Schnittstelle von Sozial- und Gesundheitssektor. In:
Sozialdezernat Wiesbaden (Hrsg) Tagungsdokumen­
konkrete Zielsetzung, Benennung von Verant­ tation. Netzwerkkongress GeReNet, Wiesbaden
wortlichkeiten). 6. Döhner H, Dahl K, Kofahl C (2002) Projekt »Synopse
Allerdings – so haben die Ausführungen innovativer Ansätze zur vernetzten Versorgung älterer
dieses Kapitels gezeigt – gibt es zu vielen Aspekten Menschen in Deutschland« – ProNETZ. Hamburg
www.uke.uni-hamburg.de/institute/medizin-sozio
von Vernetzung im Bereich der gesundheitlichen logie/index_10412.php (Stand: 19.03.2008)
Versorgung und Pflege sowie der gesamten Al­ 7. Runder Tisch Pflege (Arbeitsgruppe I) (2005) Empfeh­
tenhilfestrukturen noch keine gesicherten wissen­ lungen und Forderungen zur Verbesserung der Qua­
schaftlichen Ergebnisse. Dies ist zum Einen darin lität und der Versorgungsstrukturen in der häuslichen
Betreuung und Pflege
begründet, dass es schwierig ist, die Wirksamkeit www.dza.de/download/ErgebnisseRunderTischArbeits
und die Effekte von Vernetzung zu messen. Zum gruppe%20I.pdf (Stand: 04.04.2007)
Anderen ist auch hinsichtlich der bisherigen Er­ 8. Dieffenbach S (Hrsg) (2002) Kooperation in der Ge­
fahrungen aus Modellprojekten nicht von einer sundheitsversorgung: Das Projekt »VerKet«. Luchter­
hand, Neuwied
durchweg objektiven Berichterstattung auszuge­ 9. Schmidt R (2006) Care Management in der gesund­
hen, da die Modellprojekte in der Regel an einer heitlichen und pflegerischen Versorgung (Vorle­
weiteren Förderung interessiert sind und daher sungsskript)
eher positive Effekte in den Mittelpunkt der Be­ www.erato.fherfurt.de/so/homepages/schmidt/Lehre/
Skript %20Care %20Management.pdf (Stand: 19.03.
richterstattung stellen. Neben der Gewinnung 2008)
von validen Kenntnissen zur Effektivität und Ef­ 10. Wendt WR, Löcherbach P (Hrsg) (2006) Case Manage­
fizienz von »koordinierter Kooperation« wären ment in der Entwicklung – Stand und Perspektiven in
daher künftig Erkenntnisse über die unmittelbare der Praxis. Economica Verlag, München
11. Salzmann-Zöbeley R, Pfänder S, Vallon A et al. (2006)
Wirkung auf die Versorgung Betroffener anzustre­ Sektorenübergreifende Kooperation und Vernetzung
ben. Letzteres sollte die Frage nach der Verbes­ – Ein kooperatives Modellvorhaben zur Überwindung
serung der Lebensqualität der Menschen, denen von Schnittstellenproblemen in der geriatrischen Ver­
Vernetzung in erster Linie zugute kommen soll, sorgung. Abschlussbericht. Augsburg
www.stmas.bayern.de/pflege/modell-sektoruebergr.
einschließen. Dabei wäre auch zu berücksichti­ pdf (Stand: 19.03.2008)
gen, ob vernetzte Leistungsangebote und perso­ 12. Thörne I (2004) Konzepte zu Strukturentwicklung,
nenbezogenes Fallmanagement Einfluss auf die Vernetzung und Case Management in der Altenhilfe.
Wahlfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend (Hrsg) Altenhilfestrukturen der Zukunft
Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf haben. (Abschlusstagungsbericht). Berlin, S 46 – 69
13. Engels D, Pfeuffer F (2005) Analyse der pflegerischen
Versorgungsstrukturen in ausgewählten Regionen.
In: Schneekloth U, Wahl HW (Hrsg) Möglichkeiten
und Grenzen selbständiger Lebensführung in pri­
vaten Haushalten (MuG III) – Repräsentativbefunde
und Vertiefungsstudien zu häuslichen Pflegearrange­
ments, Demenz und professionellen Versorgungsan­
Gesundheit und Krankheit im Alter 215

geboten (Integrierter Abschlussbericht). München, erung in der Sozialen Arbeit. Wolters Kluwer Deutsch­
S 171 – 202 land GmbH, München, S 185 – 200
14. Schmidt M, Schu M (2006) Forschung zu Case 16. Klie T, Guerra V (2003) Expertise zu den rechtlichen
Management: Stand und Perspektiven. In: Wendt und finanziellen Rahmenbedingungen der Pflege – Im
WR, Löcherbach P (Hrsg) Case Management in der Auftrag der Enquete- Kommission »Situationen und
Entwicklung – Stand und Perspektiven in der Praxis. Zukunft der Pflege in NRW« des Landtages Nordrhein-
Economica Verlag, München, S 285 – 298 Westfalen. Freiburg
15. Wissert M (2005) Case Management mit alten pflege­ 17. Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages (2008)
bedürftigen Menschen – Lehren aus einem Modellver­ Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pfle-
such. In: Löcherbach P, Klug W, Rummel-Faßbender R geversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz).
et al. (Hrsg) Case Management – Fall- und Systemsteu­ Bundesrat: Drucksache 210/08 vom 04.04.2008
216 Gesundheit und Krankheit im Alter

5 Wie teuer wird das Altern? Ökonomische Chancen


und Herausforderungen einer alternden Gesellschaft

5.1 Finanzierung der Gesundheitsversorgung


Karin Böhm, Silke Mardorf

Kernaussagen 6. Die sich aufgrund der demografischen Alte­


rung öffnende Schere zwischen Ausgaben
1. Bedeutender Ausgabenfaktor und wichtiger und Einnahmen stellt das eigentliche Prob­
Wirtschaftszweig: Im Jahr 2006 beliefen sich lem der gesetzlichen Krankenversicherung
die Gesundheitsausgaben in Deutschland dar.
auf insgesamt rund 245 Milliarden Euro. Mit 7. Die Gesundheitsausgaben stellen eine volks­
über 4 Millionen Menschen war etwa jeder wirtschaftliche Wertschöpfung dar und be­
neunte Beschäftigte im Gesundheitswesen deuten Einkommen und Beschäftigung für
tätig. viele Erwerbstätige.
2. Das als Solidaritätsprinzip bezeichnete »für­ 8. Seit 1995 hat sich die Struktur der Finanzie­
einander Einstehen« beispielsweise der rung im Gesundheitswesen zugunsten der
jungen für die alten Menschen und der Ge­ öffentlichen Haushalte sowie der öffentlichen
sunden für die Kranken bestimmt die Funk­ und privaten Arbeitgeberinnen und Arbeits­
tionsweise der gesetzlichen Krankenversiche­ geber und zu Lasten der privaten Haushalte/
rung. privaten Organisationen ohne Erwerbszweck
3. Die Bevölkerung unter 65 Jahren ist weni­ verschoben.
ger häufig in der gesetzlichen Krankenver­
sicherung versichert als die 65-Jährigen und Im Jahr 2006 beliefen sich die Gesundheitsaus­
Älteren. Die veränderte Erwerbsbeteiligung gaben in Deutschland auf insgesamt rund 245
der Frauen und der Wandel in den privaten Milliarden Euro. Mit über 4 Millionen Menschen
Lebensformen haben zu dieser Entwicklung war etwa jeder neunte Beschäftigte im Gesund­
beigetragen. heitswesen tätig. Zum Gesundheitswesen zählen
4. Mehr Eigenverantwortung soll nach den dabei sämtliche Institutionen und Personen des
Vorstellungen des Gesetzgebers eine Verhal­ Gesundheitsschutzes, der Gesundheitsförderung
tensänderung der Versicherten bei der Inan­ und der Gesundheitsversorgung. Die von ihnen
spruchnahme von Gesundheitsleistungen erbrachten Leistungsarten reichen von ärztlichen,
bewirken. Zuzahlungen und Praxisgebühr pflegerischen und therapeutischen Leistungen so­
tragen darüber hinaus vor allem auch zur wie Leistungen der Prävention und des Gesund­
Konsolidierung der Finanzen der gesetz­ heitsschutzes über Waren (u. a. Arznei-, Heil- und
lichen Krankenversicherung bei. Hilfsmittel, Zahnersatz), Unterkunft und Verpfle­
5. Die Höhe der Beiträge alter Menschen zur gung bis zu Verwaltungsleistungen, Transporten
gesetzlichen Krankenversicherung bemisst und Investitionen. Die Gesundheitsausgaben
sich – wie bei den jungen Menschen auch – werden neben gesetzlicher und privater Kranken­
am finanziellen Leistungsvermögen in Form versicherung von privaten Haushalten/privaten
ihrer beitragspflichtigen Einnahmen. Durch Organisationen ohne Erwerbszweck, öffentlichen
die niedrigeren einkommensabhängigen Bei­ Haushalten, sozialer Pflegeversicherung, gesetz­
träge und die höheren Gesundheitsausgaben licher Renten- und Unfallversicherung sowie öf­
im Alter reichen die Beitragseinnahmen al­ fentlichen und privaten Arbeitgeberinnen und
ter Menschen nicht zur Finanzierung ihrer Arbeitgebern getragen.
Leistungsausgaben aus.
Gesundheit und Krankheit im Alter 217

Die Nachfrage nach Gesundheitsgütern und sundheit (BMG) haben binnen eines Jahres seit
-leistungen wird weiter steigen, nicht nur weil die dem Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstär­
Menschen älter werden und viele Krankheiten und kungsgesetzes rund 115.000 Versicherte wieder
gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine mit einen Krankenversicherungsschutz in der GKV
dem Alter höhere Wahrscheinlichkeit von Chro­ gefunden [1]. Ehemals Privatversicherte, die ihren
nifizierung und Multimorbidität aufweisen. Sie Schutz verloren haben, weil sie die Beiträge nicht
wird auch steigen, weil sich durch den Fortschritt mehr bezahlen konnten, können ab dem 1. Juli
im Gesundheitswesen die diagnostischen und 2007 in den modifizierten Standardtarif ihrer letz­
therapeutischen Möglichkeiten erweitern. Zudem ten Privatversicherung zurückkehren. Diese sind
scheint mit einem höheren Gesundheitsbewusst­ verpflichtet, sie wieder aufzunehmen [2]. Wohlha­
sein die Bereitschaft zu steigen, sich über die Ab­ benden, die bisher freiwillig auf eine Versicherung
sicherung im Rahmen der Krankenversicherung verzichtet haben, bleibt es überlassen, in welchem
hinaus, mit Gesundheitsgütern und -leistungen Umfang sie sich versichern.
zu versorgen. Mit den Bedarfsänderungen sind Das Solidaritätsprinzip bestimmt als tra­
vor allem für das Gesundheitswesen vielfältige gendes Prinzip die Funktionsweise der GKV. Ihre
Herausforderungen verbunden, von denen hier Mitglieder sollen füreinander einstehen: Junge
vor allem die ökonomischen interessieren. Die Be­ Menschen für Alte, Reiche für Arme, Gesunde für
darfsänderungen eröffnen aber auch Chancen für Kranke und Kinderlose für Familien. Jedes Mit­
diesen wichtigen Wirtschaftszweig. glied soll dabei soviel von der Versichertengemein­
schaft erhalten, wie es benötigt (Bedarfsprinzip),
und soviel beitragen, wie seine wirtschaftliche
5.1.1 Grundprinzipien des Solidarsystems Leistungsfähigkeit zulässt (Leistungsfähigkeits­
in der Krankenversicherung prinzip). Allen gesetzlich Krankenversicherten
steht, mit Ausnahme des Krankengeldes, unab­
Prägend für die Entwicklung des Gesundheits­ hängig von der Höhe ihrer Beitragszahlungen
systems in Deutschland war die Einführung der ein gleiches Leistungsangebot zu. Der Versi­
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch cherungsschutz kann durch den Abschluss pri­
die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung im Jahr vater Zusatzversicherungen individuell erweitert
1883. Noch heute wird die GKV als das Herzstück werden. Damit leistet die GKV einen wichtigen
des deutschen Sozialstaates bezeichnet. In ihr Ausgleich zwischen den gesetzlich krankenver­
waren nach den Ergebnissen des Mikrozensus sicherten Personengruppen. Die Solidargemein­
aufgrund eigener Angaben im Jahr 2007 knapp schaft ist allerdings unvollständig. Bevölkerungs­
88 % der Bevölkerung versichert, in der privaten gruppen mit einem Jahresarbeitsentgelt über der
Krankenversicherung (PKV) knapp 11 %. Nicht Versicherungspflichtgrenze, Selbständige sowie
krankenversichert und ohne sonstigen Anspruch Beamtinnen und Beamte können sich dem so­
auf Krankenversorgung waren nach eigenen An­ lidarischen Ausgleich beispielsweise durch eine
gaben im Jahr 2007 rund 196.000 Menschen in private Krankenversicherung entziehen. Die Bei­
Deutschland, gut 0,2 % der Bevölkerung. Der Rest tragsbemessungsgrenze befreit Einkommen, die
gab an, ausschließlich einen sonstigen Anspruch darüber liegen, von der Solidarität, weil für diese
auf Krankenversorgung zu haben (0,5 %; hierzu Teile des Einkommens keine Beiträge zu zahlen
können beispielsweise Beamtinnen und Beamte sind. Auch die Zuzahlungen weichen vom Soli­
zählen) beziehungsweise machte keine Angaben darprinzip ab, weil sie einseitig bis zu bestimmten
zum Vorhandensein einer Krankenversicherung. Belastungsgrenzen von den Patientinnen und Pa­
Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des tienten geleistet werden müssen. Die Mehrheit
Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenver­ der Bundesbürgerinnen und -bürger befürwortet
sicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz) das Solidarprinzip dennoch und will es beibehal­
am 1. April 2007 besteht für zuletzt gesetzlich ten. Jüngere unterscheiden sich in ihrer Haltung
Versicherte und für prinzipiell der GKV zuzu­ dabei nur geringfügig von Älteren [3]. Mit dem
ordnende Menschen eine Versicherungspflicht. Einstieg in eine Teilfinanzierung von gesamtge­
Nach Angaben des Bundesministeriums für Ge­ sellschaftlichen Aufgaben der GKV aus dem Bun­
218 Gesundheit und Krankheit im Alter

deshaushalt im Rahmen der Gesundheitsreform Bismarcks Zeiten, als die im produzierenden


2007 bleibt der solidarische Gedanke innerhalb Gewerbe und sozial schlechter gestellten Be­
der GKV wirksam [4]. Die Diskussion der inter­ schäftigten gegen Existenz bedrohende Krank­
generativen Lastenverteilung im demografischen heiten geschützt werden sollten, eine erhebliche
Wandel bleibt allerdings auf Kinder beschränkt, Ausweitung erfahren. Durch das Sachleistungs­
deren Gesundheitsausgaben im Zuge des allmäh­ prinzip besteht für die Versicherten allerdings
lichen Einstiegs in eine Steuerfinanzierung von keine Transparenz hinsichtlich der Kosten ihrer
versicherungsfremden Leistungen durch Steuer­ gesundheitlichen Versorgung. Dies kann dazu
mittel abgedeckt werden. führen, dass diese versuchen, für den bezahlten
Das Subsidiaritätsprinzip stellt die Eigenver­ Versicherungsbeitrag ein möglichst hohes Maß an
antwortung der Mitglieder einer Krankenversiche­ Leistungen in Anspruch zu nehmen. Umgekehrt
rung in den Vordergrund. Der Staat darf nur ein­ ist es aber auch möglich, dass die Patientinnen
greifen, wenn die Versichertengemeinschaft die und Patienten die Kosten einzelner, in Anspruch
Gesundheit nicht mehr selbst sicherstellen kann. genommener Leistungen überschätzen. Ihnen
Dem Selbstverwaltungsprinzip entsprechend trägt erscheint dann das individuelle Kosten-Nutzen-
der Staat die Verantwortung für die notwendigen Verhältnis schlechter, als es eigentlich ist, was
Ordnungs- und Leistungsbedingungen, während Unzufriedenheit mit dem Gesundheitswesen
die Krankenkassen sowie Leistungserbringe­ hervorrufen kann [5]. Der Gesetzgeber hat hier
rinnen und Leistungserbringer (zum Beispiel Kas­ Abhilfe geschaffen: Seit Inkrafttreten des Gesund­
senärztliche Vereinigungen oder Krankenhaus­ heitsstrukturgesetzes 1992 können die Versicher­
gesellschaften) diesen Rahmen in gemeinsamer ten von ihren Krankenkassen Auskunft über in
Verantwortung nach Kriterien der Wirtschaftlich­ Anspruch genommene Leistungen und damit ver­
keit und Qualität ausfüllen. bundene Kosten verlangen. Das Gesundheitsmo­
Unabdingbare Voraussetzung für das Funk­ dernisierungsgesetz 2004 führte eine so genannte
tionieren des sozialen Ausgleichs innerhalb der Patientenquittung ein, durch die die Versicherten
GKV-Versichertengemeinschaft ist das Prinzip der praktikabler und mit geringerem Aufwand für die
Pflichtversicherung, wonach bis zu bestimmten Praxen informiert werden sollen. Sie wird aller­
Jahresarbeitsentgeltgrenzen eine Pflichtmitglied­ dings nur von wenigen Versicherten in Anspruch
schaft für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genommen [6].
und einige weitere Personengruppen (in der Regel Das Wirtschaftlichkeitsgebot schreibt vor,
Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose, Landwir­ dass die GKV-Leistungen ausreichend, zweckmä­
tinnen und Landwirte, Künstlerinnen und Künst­ ßig und wirtschaftlich sein müssen. Sie dürfen
ler, Studierende) in der GKV besteht. Der Status das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
der freiwilligen GKV-Mitgliedschaft bildet eine Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben
Ausnahme. Sie ist im Wesentlichen nur im Rah­ nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot dem allgemein
men einer Weiterversicherung für bereits zuvor anerkannten Stand der medizinischen Erkennt­
GKV-Versicherte möglich, deren Versicherungs­ nisse zu entsprechen und den medizinischen
pflicht erlischt. Fortschritt zu berücksichtigen. Dadurch sollen
Versicherte Versorgungsleistungen werden in minderwertige Leistungen verhindert und gleich­
der GKV vorrangig nach dem Sachleistungsprin­ zeitig ausufernde Kosten vermieden werden. Die­
zip gewährt. Sie basieren auf Verträgen zwischen se Begriffe sind jedoch unterschiedlich auslegbar,
Krankenkassen und Leistungserbringerinnen solange sie nicht im Kontext des konkreten Leis­
bzw. Leistungserbringern. Die GKV-Leistungen tungskataloges näher definiert werden [7]. An das
umfassen insbesondere Früherkennung, Verhü­ Wirtschaftlichkeitsgebot sind Versicherte, Kran­
tung und Vorbeugung von Krankheiten, Behand­ kenkassen sowie Leistungserbringerinnen und
lung von Krankheiten, häusliche Krankenpflege, Leistungserbringer gleichermaßen gebunden.
medizinische Vorsorge und Rehabilitation, Arz­ Die Finanzierung der GKV ist nach dem so
neimittel, Heil- und Hilfsmittel, Fahrtkosten, genannten Umlageverfahren organisiert. Die
Krankengeld sowie Leistungen bei Schwanger­ erwarteten Krankenkassenleistungen werden
schaft und Mutterschaft. Sie haben gegenüber danach auf die Versicherten umgelegt und zwar
Gesundheit und Krankheit im Alter 219

als Prozentsatz, der dem Beitragssatz von ihrem überdurchschnittliche Aufwendungen u. a. für die
Erwerbseinkommen entspricht. Die einbezahlten stationäre Versorgung oder Arzneimittelversor­
Beiträge werden unmittelbar für die Finanzierung gung ausgeglichen. Der Risikostrukturausgleich
der erbrachten Leistungen heranzogen. Im Um­ basiert damit auf indirekten Morbiditätsmerkma­
lageverfahren wird insofern davon ausgegangen, len. Da er nicht zwischen gesund und krank un­
dass sich Einnahmen und Ausgaben analog ent­ terscheidet und damit den Gesundheitszustand
wickeln. Diese Finanzierungsform führt jedoch und den Versorgungsbedarf der Versicherten nur
bei schwachem Wirtschaftswachstum, hoher Ar­ unzureichend berücksichtigt, wird eine Risiko­
beitslosigkeit und sich wandelnden Arbeitsver­ selektion nur unzureichend verhindert. Ab dem
hältnissen zwangsläufig zu Einnahmeausfällen. Jahr 2009 sollen daher entsprechend der Rege­
Zusätzlich geht die Lohnquote, die den Anteil der lungen im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz
Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit am überdurchschnittliche Leistungsausgaben für
Volkseinkommen definiert, in Deutschland insge­ 50 bis 80 schwerwiegende und kosteninten­
samt zurück. Demgegenüber gewinnt der Anteil sive chronische Krankheiten über Zuschläge zu
der Einkommen u. a. aus Zins- und Kapitalein­ der aus dem Gesundheitsfonds resultierenden
künften, der nicht zur Finanzierung der GKV he­ Grundpauschale berücksichtigt werden [8]. Auch
rangezogen wird, in einer alternden Gesellschaft dann werden grundsätzliche Unterschiede zu
an Bedeutung. Für den Beitragszahler macht dem in der PKV praktizierten Äquivalenzprinzip
sich die Einkommensabhängigkeit der GKV- bestehen, das den Grundsatz des Gleichgewichts
Beiträge bei rückläufigen Einkommen, z. B. im von Versicherungsleistung und Beiträgen im
Alter, positiv bemerkbar. Die GKV stellt dies vor Rahmen des übernommenen Risikos verfolgt.
zunehmende Finanzierungsprobleme, die umso Die Beitragshöhe in der PKV wird neben dem
schwerer wiegen, als die GKV keinen Kapitalstock Leistungsumfang durch individuelle Risikomerk­
aufbauen darf, um die demografisch bedingt stei­ male wie Alter, Geschlecht und Gesundheitszu­
genden Ausgaben und die demografisch bedingt stand bestimmt.
zurückgehenden Einnahmen abzufedern. Die Einführung des Wettbewerbs ist bei den
Durch das im Jahr 1996 eingeführte Recht Kassen nicht ohne Wirkung geblieben. Die Zahl
für alle gesetzlich Versicherten, ihre Krankenkas­ der Krankenkassen war in den letzten Jahren ins­
se innerhalb der GKV frei zu wählen, konkurrie­ besondere bei den Allgemeinen Ortskrankenkas­
ren die Kassen um Mitglieder und Marktanteile. sen deutlich rückläufig. Von 1.209 Krankenkassen
Voraussetzung für die Ausweitung des Kassen­ in Deutschland Anfang des Jahres 1991 waren im
wahlrechts war, dem grundsätzlichen wirtschaft­ April 2008 noch 218 Kassen am Versicherungs­
lichen Anreiz für die Kassen, Risiken zu selek­ markt tätig [9]. Durch das GKV-Wettbewerbsstär­
tieren und insbesondere gut verdienende, junge kungsgesetz wurden weitere Wettbewerbsimpulse
und gesunde Versicherte anzuwerben, entgegen­ gesetzt. So soll u. a. der Wettbewerb der Leistungs­
zuwirken. Bereits Anfang 1994 wurde daher der erbringerinnen und Leistungserbringer durch
Risikostrukturausgleich in der GKV eingeführt. größere Vertragsfreiheiten der Krankenkassen
Über den Risikostrukturausgleich sollen die fi­ verstärkt werden und die Kassen erweiterte Ver­
nanziellen Auswirkungen der von den Kranken­ tragsmöglichkeiten für besondere Versorgungsan­
kassen nicht beeinflussbaren Unterschiede ausge­ gebote oder weitgehende Gestaltungsfreiheit bei
glichen werden. Als Maßstab dienen die Höhe der den Tarifen erhalten [10].
beitragspflichtigen Einnahmen, die Zahl der bei­
tragsfrei mitversicherten Familienangehörigen,
Geschlecht und Alter der Versicherten sowie der 5.1.2 Versicherungsschutz alter Menschen
Bezug einer Erwerbsminderungsrente. Seit dem
Jahr 2001 werden Krankenkassen, die ihren Ver­ Der Versicherungsschutz alter Menschen gegen
sicherten strukturierte Behandlungsprogramme finanzielle Risiken im Krankheitsfall ist grund­
(so genannte Disease Managament Programme – sätzlich mit dem junger Menschen vergleichbar.
DMP) anbieten, über den Risikostrukturausgleich Der größte Teil der ab 65-jährigen deutschen
gefördert. Seit dem Jahr 2002 werden über ihn Wohnbevölkerung ist umfassend gegen finan­
220 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 5.1.2.1
Bevölkerung im Jahr 2007 nach Krankenversicherungsschutz und Alter
Quelle: Mikrozensus 2007

Bevölkerung
82,3 Mio.

unter 65 Jahre 65 Jahre und älter


65,6 Mio. 16,7 Mio.

Versicherungsschutz 2007 Versicherungsschutz 2007

GKV PKV sonstiger/ohne GKV PKV sonstiger/ohne


57,2 Mio. 7,3 Mio. 1,1 Mio. 15,1 Mio. 1,4 Mio. 0,2 Mio.

87 % 11 % 2% 91 % 8% 1%

zielle Risiken im Krankheitsfall in einer gesetz­ spiegelt den demografischen Wandel der Bevöl­
lichen, privaten oder sonstigen Krankenversiche­ kerung in Deutschland wider. Grund für die deut­
rung abgesichert. licheren Veränderungen der Versichertenzahlen
Die verschiedenen Versicherungszweige und 2002 gegenüber 2001 war die Erleichterung der
Kassenarten sind für alte und junge Menschen Zugangsbedingungen zur KVdR-Pflichtversiche­
jedoch unterschiedlich bedeutsam. Die GKV ist rung. Durch sie wurden die meisten bislang frei­
für ältere Menschen der bei weitem wichtigste Si­ willig versicherten Rentner ab dem 1. April 2002
cherungszweig. In ihr waren im Jahr 2007 rund Pflichtmitglieder in der meist preisgünstigeren
91 % der ab 65-Jährigen versichert (siehe Abbil­ KVdR.
dung 5.1.2.1). Auch die große Mehrheit der unter Die Rentenbezieherinnen und Rentenbe­
65-Jährigen war GKV-versichert, mit 87 % jedoch zieher sind in der KVdR entweder pflicht- oder
nicht ganz so ausgeprägt wie die alten Menschen. freiwillig krankenversichert. Familienversicherte
Die veränderte Erwerbsbeteiligung der Frauen bleiben unter bestimmten Voraussetzungen auch
und der Wandel in den privaten Lebensformen als Rentnerinnen und Rentner beitragsfrei kran­
haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Damit kenversichert. Pflichtversichert in der KVdR ist,
dürfte die GKV für die Absicherung finanzieller wer eine Rente der gesetzlichen Rentenversiche­
Risiken im Krankheitsfall alter Menschen künftig rung erhält beziehungsweise beantragt hat und
eine geringere Bedeutung haben als gegenwärtig. bestimmte Vorversicherungszeiten in der GKV
Mit 14 Millionen Versicherten gehörte die erfüllt. Erhält eine Rentnerin oder ein Rentner
Mehrheit der 15 Millionen GKV-Versicherten im mehrere Renten (beispielsweise eine Altersrente
Alter ab 65 Jahren (Stichtag: 1. Juli 2007) der und daneben noch eine Witwen- oder Witwerren­
Krankenversicherung der Rentner (KVdR) an. te) werden Beiträge zur Krankenversicherung aus
Die KVdR gewährleistet den gesetzlichen Kran­ jeder Rente erhoben. Auch Versorgungsbezüge
kenversicherungsschutz für die Rentenbeziehe­ (z. B. Betriebsrenten) und Arbeitseinkommen sind
rinnen und Rentenbezieher und wird von den beitragspflichtig für die KVdR. Der Beitragssatz in
gesetzlichen Krankenkassen durchgeführt. Die der KVdR orientiert sich am allgemeinen Beitrags­
Versichertenzahl der KVdR ist in den Jahren 1993 satz der jeweiligen Krankenkasse. Während sich
bis 2007 um 14 % (+2 Millionen Personen) ange­ der Rentenversicherungsträger an der Hälfte des
stiegen, während die Versichertenzahl in der all­ Krankenversicherungsbeitrags beteiligt, tragen
gemeinen Krankenversicherung im gleichen Zeit­ die Rentnerinnen und Rentner den Krankenver­
raum um 7 % (-4 Millionen Personen) gesunken sicherungsbeitrag auf ihre Versorgungsbezüge
ist (siehe Abbildung 5.1.2.2). Diese Entwicklung und den zusätzlichen Beitrag zur Krankenversi­
Gesundheit und Krankheit im Alter 221

Abbildung 5.1.2.2
Entwicklung der Versichertenzahlen in der gesetzlichen Krankenversicherung 1994 bis 2007
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit, GKV-Statistik KM1

Angabe in Mio.
60

50

40

Allgemeine
30
Krankenversicherung
Krankenversicherung
20 der Rentner

10

1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
Jahr

cherung in Höhe von 0,9 % allein. Die Beitragsbe­ oder Geistliche, Bezieherinnen und Bezieher
messungsgrenze der Krankenversicherung betrug eines Ruhegehalts (Pension), Versicherte, die
im Jahr 2007 3.562,50 Euro monatlich [11]. wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienst­
Freiwillig versicherte Rentnerinnen und grenze der GKV krankenversicherungsfrei sind,
Rentner bezahlen Beiträge aus allen Einkünften oder auch Versicherte, die hauptsächlich selbstän­
(Rente, Versorgungsbezüge, Arbeitseinkommen, dig erwerbstätig sind [11].
Mieten, Pacht, private Lebensversicherungen, Eine Krankheitskostenvollversicherung in der
Kapitelerträge). Für sie gilt der allgemeine Bei­ PKV hatten im Jahr 2006 insgesamt über 8 Mil­
tragssatz der Krankenkasse, jedoch höchstens lionen Menschen in Deutschland abgeschlossen.
bis zur Beitragsbemessungsgrenze [11]. Seit April Die Zahl der privaten Zusatzversicherungen lag
2002 werden freiwillig gesetzlich Krankenversi­ bei rund 18 Millionen. Dabei ist es möglich, dass
cherte, die in Rente gehen, in der Regel wieder darunter Personen mit mehreren Zusatzversiche­
als pflichtversichert eingestuft, nachdem das Bun­ rungen sind [13]. Alte Menschen sind seltener pri­
desverfassungsgericht die seit 1993 geltende Zu­ vat krankenversichert als Junge. Bei den ab 65-Jäh­
gangsregelung zur KVdR beanstandet hatte [12]. rigen waren es nach Angaben des Mikrozensus
Möglichkeiten des Kassenwechsels zur Wahl der im Jahr 2007 rund 8 %, bei den unter 65-Jährigen
jeweils günstigsten Krankenkasse bestehen auch 12 %.
für die Rentnerinnen und Rentner. Dabei spielt Durch die risiko- und altersabhängigen Bei­
in der GKV im Gegensatz zur PKV das individu­ träge wird der Wechsel in eine PKV für ältere Men­
elle Gesundheitsrisiko wie z. B. Vorerkrankungen schen zunehmend unattraktiv. Zudem gilt der
(noch) keine Rolle. Grundsatz der individuellen Versicherung. Für
Von der KVdR ausgeschlossen sind die Beam­ jede Person ist ein eigener Versicherungsvertrag
tinnen und Beamte und andere versicherungsfreie mit eigenem Beitrag und der Möglichkeit eines
Personen wie beispielsweise Richterinnen und individuell bestimmten Versicherungsschutzes
Richter, Berufssoldatinnen und Berufssoldaten abzuschließen.
222 Gesundheit und Krankheit im Alter

Jüngere Generationen tragen in der PKV sundheitszustand geleistet. Für Kinder und nicht­
prinzipiell auch nicht zur Finanzierung der Ver­ erwerbstätige Ehepartnerinnen und Ehepartner
sorgungsleistungen älterer Versicherter bei. Da werden keine Beiträge erhoben. Die Beiträge wer­
alte Menschen häufiger auf ärztliche Hilfe ange­ den grundsätzlich paritätisch finanziert – Arbeit­
wiesen sind, sind die privaten Krankenversicherer nehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeit­
verpflichtet, aus eigens kalkulierten Prämienbe­ geberinnen und Arbeitgeber bzw. Trägerinnen
standteilen Altersrückstellungen zu bilden. Dafür und Träger der Lohnersatzleistungen (Rente, Ar­
werden in jüngeren Jahren höhere Beitragssätze beitslosengeld) teilen sich die Beitragszahlungen
erhoben, als es den altersbedingten Gesundheits­ zu gleichen Teilen. Im Jahr 2007 lag der durch­
ausgaben entspricht. Diese Beitragsteile werden schnittliche monatliche Beitragssatz zur GKV bei
angelegt, um damit Beitragserhöhungen im Alter 13,9 %, im Jahr 1990 hatte er noch 12,6 % betra­
zu begrenzen. Die Zeit zum Sparen ist umso ge­ gen. Ursachen des Beitragssatzanstieges sind auch
ringer, je älter die Menschen in eine PKV eintreten in den Einnahmeausfällen der GKV durch die
und wird durch entsprechend höhere Beiträge aus­ steigende Arbeitslosigkeit, stagnierende Renten,
geglichen. Als weitere Maßnahme zur Entlastung eine rückläufige Lohnquote und der Mittelentzug
der Beiträge im Alter müssen die Versicherer seit zugunsten anderer Sozialversicherungszweige
dem Jahr 2000 eine weitere Sicherheitsreserve zu suchen [15]. Durch die Erhöhung von Zuzah­
anlegen. Alle Neukundinnen und Neukunden im lungen, Budgetierung der Ausgaben und Strei­
Alter ab dem 22. Lebensjahr und bis zum 61. Le­ chung von Zuschüssen konnte das Wachstum des
bensjahr müssen dafür einen Zuschlag von 10 % Beitragssatzes gebremst werden. Am 1. Juli 2005
auf ihren Beitrag zahlen [13]. Neben dem Alters­ mussten die Kassen ihre Beitragssätze um 0,9
faktor wirken sich auch die medizinischen und Prozentpunkte senken, damit Unternehmen und
technischen Fortschritte auf die Gesundheitsaus­ Rentenkassen entlastet werden. Die Versicherten
gaben der Krankenversicherer aus. Die Versiche­ wurden in gleicher Größenordnung belastet. Sie
rungsgesellschaften legen auch damit verbundene beteiligen sich außerdem durch Zuzahlungen zu
Kostensteigerungen auf ihre Kunden um. Kuren, Medikamenten oder auch Zahnersatz an
Wer seine Beiträge beispielsweise im Alter den Kosten der medizinischen Versorgung. Seit
nicht mehr bezahlen kann, hat die Möglichkeit, in 1. Januar 2004 wird zudem eine Praxisgebühr von
den Standardtarif der PKV zu wechseln. Älteren zehn Euro beim ersten Besuch einer Arzt- oder
Kunden werden in diesem Tarif die Leistungen Zahnarztpraxis pro Quartal erhoben. Vorsorgeun­
der GKV garantiert. Die Beitragshöhe ist abhän­ tersuchungen wie die Untersuchungen zur Früh­
gig von der Vorversicherungszeit und dem Alter erkennung von Krebs, Schwangerenvorsorge, der
der bzw. des Versicherten, darf aber für Einzel­ Gesundheits-Check-up, die Untersuchungen zur
personen den durchschnittlichen Höchstbeitrag Zahnvorsorge und Schutzimpfungen sind von
gesetzlicher Kassen nicht übersteigen [14]. der Praxisgebühr befreit. Mit den in den letzten
Jahren gestiegenen Ausgaben, die gesetzlich Kran­
kenversicherte für ihre Gesundheit selbst tragen
5.1.3 Generationensolidarität müssen, soll die Eigenverantwortung der bzw. des
Einzelnen für ihre bzw. seine Gesundheit gestärkt
Die Ausgaben im Gesundheitswesen werden zum werden. Mehr Eigenverantwortung soll nach den
überwiegenden Teil durch Beitragseinnahmen fi­ Vorstellungen des Gesetzgebers eine Verhaltens­
nanziert. Sie speisen sich in der GKV durch So­ änderung der Versicherten bei der Inanspruch­
zialabgaben, in der PKV durch Prämieneinnah­ nahme von Gesundheitsleistungen bewirken.
men. Die genaue Höhe der Beiträge richtet sich Zuzahlungen und Praxisgebühr tragen darüber
bei der GKV nach dem Beitragssatz der jeweiligen hinaus vor allem auch zur Konsolidierung der
Krankenkasse. GKV-Finanzen bei. Insgesamt müssen die GKV-
Nach dem Solidarprinzip werden Beitrags­ Versicherten für Zuzahlungen maximal 2 % ihres
zahlungen zur GKV nach der wirtschaftlichen Jahresbruttoeinkommens aufwenden, chronisch
Leistungsfähigkeit der Mitglieder unabhängig Kranke maximal 1 % [16]. Durch die am 1. Januar
vom Alter, Geschlecht oder individuellen Ge­ 2008 in Kraft getretene neue Chroniker-Richt­
Gesundheit und Krankheit im Alter 223

linie müssen chronisch Erkrankte, die nach dem Abbildung 5.1.3.1


1. April 1987 (Frauen) bzw. nach dem 1. April 1962 Generationensolidarität in der gesetzlichen Kranken­
versicherung 2006
(Männer) geboren sind, nachweisen, dass sie sich Quelle: Bundesministerium für Gesundheit,
vor der Erkrankung über die relevanten Vorsorge­ GKV-Statistik KJ1
untersuchungen haben beraten lassen, wenn sie
Versicherte
von der halbierten Belastungsgrenze profitieren
wollen [17]. 26%
Krankenversicherung
Die Höhe der Beiträge älterer Menschen der Rentner
zur Absicherung gegen finanzielle Risiken im
Krankheitsfall bemisst sich in der GKV – wie bei
jüngeren Menschen auch – am finanziellen Leis­
tungsvermögen in Form ihrer beitragspflichtigen
Einnahmen. Für die Beitragsberechung werden
die verschiedenen Einkommen in folgender ge­ 74%
setzlich festgelegter Reihenfolge herangezogen: Allgemeine
Rente, Versorgungsbezüge, Arbeitseinkommen Krankenversicherung
aus selbständiger Tätigkeit [11]. Die Beiträge je Mit­
glied fallen bei den Rentnerinnen und Rentnern
dadurch im Durchschnitt niedriger aus als bei den Beitragseinnahmen
übrigen GKV-Mitgliedern. Im Jahr 2006 beliefen 23,2%
sich die durchschnittlichen GKV-Beiträge der Krankenversicherung
Rentnerinnen und Rentner auf 1.920 Euro je Mit­ der Rentner
glied, die der übrigen GKV-Mitglieder auf 3.204
Euro je Mitglied [18]. Bei den Leistungsausgaben
verhielt es sich umgekehrt: Die durchschnitt­
lichen Leistungsausgaben je Mitglied betrugen
im Jahr 2006 in der KVdR 3.768 Euro, in der All­
gemeinen Krankenversicherung 1.335 Euro. Durch 76,8%
die niedrigeren einkommensabhängigen Beiträge Allgemeine
und die höheren Gesundheitsausgaben im Alter Krankenversicherung
reichen die Beitragseinnahmen älterer Menschen
nicht zur Finanzierung ihrer Leistungsausgaben
aus (siehe auch Abbildung 5.1.3.1). In der KVdR Leistungsausgaben
lag der Deckungsgrad der Leistungsausgaben 49,9%
durch Beiträge im Jahr 2006 bei 47 %. Er ist im Krankenversicherung
Zeitraum 1994 bis 2006 um rund vier Prozent­ der Rentner
punkte (1994: 43 %) gestiegen, da die Beiträge
zur KVdR (+58 %) im betrachteten Zeitraum
stärker gestiegen sind als die Leistungsausgaben
(+44 %). Das entstehende Defizit wird im Rahmen
der Generationensolidarität von der GKV-Versi­
chertengemeinschaft als eine Art Finanzausgleich 50,1%
Allgemeine
zwischen »Alt und Jung« getragen. Die Älteren
Krankenversicherung
werden dadurch in der Höhe ihrer überdurch­
schnittlichen Ausgabenrisiken und in Form ihrer
unterdurchschnittlichen Beiträge unterstützt [19].
Die ausgeprägte Umverteilung zugunsten von äl­ mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007
teren Versicherten bleibt wie die beitragsfreie Mit­ unverändert [20].
versicherung von Ehefrauen und -männern ohne Die demografische Entwicklung in Deutsch­
mehr als ein geringfügiges eigenes Einkommen land, die u. a. das Verhältnis zwischen Beitragsein­
224 Gesundheit und Krankheit im Alter

nahmen und Leistungsausgaben beeinflusst, stellt einem Betrag von rund 25 % des Bruttoinlands­
ein umlagefinanziertes Sozialversicherungssys­ produkts (BIP) bei künftigen Generationen im­
tem wie die GKV, in dem mehr als jede bzw. plizit verschuldet [22]. Die Berechnungen zeigen
jeder vierte Versicherte als Familienangehörige auch, dass selbst der Übergang von der derzei­
bzw. Familienangehöriger beitragsfrei versichert tigen Lohnbeitragsfinanzierung zu kapitalge­
ist, vor große Herausforderungen. Die Anzahl deckten Prämien bei gleichem angenommenen
älterer Versicherter, die durch ein höheres Er­ Leistungsniveau die Schuld, die eine Generation
krankungsrisiko im Durchschnitt ein ungüns­ der anderen hinterlässt nur teilweise abgebaut
tigeres Verhältnis von Beitragseinnahmen und werden kann [22].
Leistungsausgaben aufweisen als jüngere, steigt Mit einer generationengerechten Gesund­
an, während die Anzahl jüngerer Versicherter mit heitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren
einem im Durchschnitt günstigeren Verhältnis Lebens beschäftigt sich auch der Sachverstän­
von Beitragseinnahmen und Leistungsausgaben digenrat für die Begutachtung der Entwicklung
zurückgeht. Hinzu kommt, dass auch die Zahl der im Gesundheitswesen. Bis zum Frühjahr 2009
besser zahlenden freiwilligen GKV-Versicherten soll er auf Bitte des BMG konkrete Empfehlungen
in den letzten Jahren deutlich rückläufig war, zum Umbau des Gesundheitswesens in einer äl­
während die Zahl der GKV-Pflichtmitglieder ohne ter werdenden Gesellschaft geben und dabei die
Rentnerinnen und Rentner leicht angestiegen ist. besonderen Bedürfnisse junger Menschen be­
Der demografische Wandel wirkt damit zugleich rücksichtigen [23]. Dabei wird auch abzuwägen
auf die Einnahmenseite und die Ausgabenseite sein, welche Leistungen solidarisch und welche
der GKV. Expertinnen und Experten gehen von ei­ eigenverantwortlich finanziert werden sollen und
ner Schwächung der Einnahmebasis der GKV im anhand welcher Parameter die Effizienz der Ver­
demografischen Wandel durch die Kopplung der sorgung und die Qualität der Leistungserbringung
Beiträge an die Entwicklung der Beschäftigungs-, im Gesundheitswesen gemessen und verglichen
Lohn- und Rentenentwicklung aus [21]. Auch werden sollen.
das Ausgabenvolumen wird ihrer Meinung nach
weiter steigen, da ein verbesserter Gesundheits­
zustand bzw. ein Hinausschieben bestimmter 5.1.4 Finanzbedarf und Finanzkraft
Erkrankungen in spätere Lebensjahre den er­
höhten Bedarf einer steigenden Zahl alter Men­ Die sich ungünstiger gestaltenden Finanzierungs­
schen nicht zu kompensieren vermag [21]. Diese bedingungen im Gesundheitswesen haben zu ei­
Einnahmen-Ausgaben-Problematik wird auch als ner stärker gesundheitsökonomischen Sichtweise
Demografiefalle des Gesundheitssystems bezeich­ beigetragen [7]. Zusätzliche Impulse gehen vom
net. Die sich öffnende Schere zwischen Ausgaben öffentlichen Interesse aus, die eingesetzten Mittel
und Einnahmen stellt das eigentliche Problem im Verhältnis zur erzielten Leistungs- und Ergeb­
der GKV dar, dem verschiedene Regierungen mit nisqualität transparent zu machen. Die gesund­
einer Reihe von Reformen seit Ende der 1970er­ heitsökonomische Sichtweise dürfte daher künftig
Jahre entgegengewirkt haben. Die gesundheitspo­ weiter an Bedeutung gewinnen, zumal die Diskus­
litischen Eingriffe konnten die Aufwärtsdynamik sion um die Finanzierung des Gesundheitswesens
der Gesundheitsausgaben jedoch nur zeitweise auch nach der Verabschiedung des GKV-Wettbe­
unterbrechen. Der Beschäftigungsrückgang und werbstärkungsgesetzes 2007 weitergeht [20].
die hohe Arbeitslosigkeit infolge des schwachen Analysen zum Finanzbedarf und Finanz­
Wirtschaftswachstums der letzten Jahre sorgten kraft stellen die Finanzierungsbedingungen des
für zusätzliche Einnahmeausfälle in der GKV. Gesundheitswesens in einen umfassenderen
Nach Berechnungen von Felder und Fetzer Kontext der Volkswirtschaft. Unter dem Finanz­
zur Entlastungswirkung der Gesundheitsreform bedarf werden ganz allgemein die finanziellen
2007 für zukünftige Generationen wird die Mittel verstanden, die zur Sicherstellung der Ge­
Schuld, die lebende Generationen künftigen Ge­ sundheitsversorgung der Bevölkerung benötigt
nerationen aufbürden, auch durch diese Reform werden. Der Finanzbedarf gemessen an der Aus­
nicht reduziert. Lebende Generationen sind mit gabenquote setzt die Gesundheitsausgaben zur
Gesundheit und Krankheit im Alter 225

gesamtwirtschaftlichen Leistung in Beziehung. bereits positiv ausgewirkt. Im Januar 2008 waren


Der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP be­ rund 581.000 mehr beitragszahlende Personen in
lief sich in Deutschland im Jahr 2006 auf 10,6 %: der GKV registriert als im Januar 2007 [25]. Der
Dies bedeutet, dass die im Gesundheitswesen in entsprechende Zuwachs der beitragspflichtigen
Anspruch genommenen Güter und Dienstleis­ GKV-Einnahmen hat nach vorläufigen Ergebnis­
tungen wertmäßig mehr als ein Zehntel aller im sen zu einem Überschuss der Einnahmen über
Inland erstellten Produkte und Leistungen aus­ die Ausgaben in der GKV im Jahr 2007 von rund
machen, ein im internationalen Vergleich über­ 1,8 Milliarden Euro beigetragen [26].
durchschnittlich hoher Wert. Die Gesundheits­ Für differenziertere Analysen des Finanzbe­
ausgabenquote hat sich in Deutschland nach den darfs und der Finanzkraft, die beispielsweise In­
Gesundheitsreformen 1997 und 2004 jeweils um formationen über die Morbidität der Bevölkerung
0,2 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahreswert und die Produktivität im Gesundheitswesen mit
verringert. Im Jahr 2006 lag die Quote auf dem einbeziehen, stehen bislang keine ausreichenden
Niveau von 2004. Das grundsätzliche Niveau der Datengrundlagen zur Verfügung. Bei aggregierter
Gesundheitsausgaben in Deutschland wird zum Betrachtung steht in Deutschland ein an der Ge­
einen von der Breite und Qualität des Leistungs­ sundheitsausgabenquote gemessener steigender
angebotes – u. a. in den Bereichen der (fach-) Finanzbedarf für die Gesundheitsversorgung
ärztlichen Versorgung und der Versorgung mit einer am BIP pro Kopf gemessenen steigenden
Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln sowie den kaum Finanzkraft der Volkswirtschaft gegenüber.
vorhandenen Wartezeiten – und zum anderen von Grundsätzlich scheint damit die Finanzkraft für
der umfangreichen Nachfrage nach Gesundheits­ die Gesundheitsversorgung in Deutschland ge­
gütern und -leistungen maßgeblich bestimmt (vgl. geben. Da diese Aussage in ihrer Allgemeinheit
Kapitel 5.3). auch für jeden anderen Bereich Gültigkeit hat,
Die Finanzkraft ist ein Indikator für die fi­ mit dem das Gesundheitswesen um beschränkte
nanzielle Leistungsfähigkeit und damit den Ressourcen konkurriert (z. B. Bildung, Sicherheit,
finanziellen Spielraum des Gesundheitsver­ Verkehr), kommt es auf den politischen wie ge­
sorgungssystems. Sie speist sich aus den Ein­ sellschaftlichen Aushandlungsprozess an, wie
nahmen des Gesundheitssystems in Form von viel Ressourcen für die Gesundheitsversorgung
Pflicht- und freiwilligen Beiträgen zur Kranken­ der Bevölkerung zur Verfügung gestellt werden
versicherung, allgemeinen Steuereinnahmen sollen. Selbst wenn dies zulasten anderer Bereiche
sowie Selbstzahlungen der Patientinnen und gehen muss, stellen Gesundheitsausgaben immer
Patienten und hängt damit wesentlich von den auch eine volkswirtschaftliche Wertschöpfung dar
herrschenden ökonomischen Bedingungen eines und bedeuten Einkommen und Beschäftigung für
Landes ab. Entscheidend für die finanzielle Ba­ viele Erwerbstätige.
sis des Gesundheitswesens ist damit der Anteil Die Mittel für die Finanzierung des Gesund­
der gesamtwirtschaftlichen Leistung, der für die heitswesens werden von drei gesellschaftlichen
Gesundheitsversorgung grundsätzlich zur Verfü­ Akteuren, den privaten Haushalten/privaten
gung steht. Dieser hängt ebenso von der Finan­ Organisationen ohne Erwerbszweck, den öffent­
zierungsstruktur des Gesundheitswesens wie von lichen Haushalten sowie den öffentlichen und
der grundsätzlichen Zahlungsbereitschaft der privaten Arbeitgeberinnen und Arbeitsgebern
Gesellschaft für die Gesundheitsversorgung ab. aufgebracht. Seit 1995 hat sich die Struktur der
Bei einem Sozialversicherungssystem mit einem Finanzierung im Gesundheitswesen zugunsten
hohen einkommensabhängigen Finanzierungs­ der öffentlichen Haushalte sowie der öffentlichen
anteil (über 80 % der Gesundheitsausgaben in und privaten Arbeitgeberinnen und Arbeitsgeber
Deutschland), ist die Finanzkraft umso höher, je und zu Lasten der privaten Haushalte/privaten
mehr Menschen erwerbstätig und desto höher Organisationen ohne Erwerbszweck verschoben.
deren Einkommen bis zur Beitragsbemessungs­ Nachdem die öffentlichen Haushalte Mitte der
grenze sind [24]. Die steigende Anzahl der sozial­ 1990er-Jahre noch rund 18 % der gesamten Ge­
versicherungspflichtig Beschäftigten hat sich in sundheitsausgaben getragen haben, ist dieser An­
den Finanzergebnissen der GKV für das Jahr 2007 teil bis zum Jahr 2006 auf 17 % zurückgegangen.
226 Gesundheit und Krankheit im Alter

Die Finanzierung aus Bundesmitteln nimmt aller­ Institut für Mikrodaten-Analyse Band 11. Schmidt &
Klauning, Kiel
dings stetig zu. Der Anteil der Arbeitgeberinnen
6. Forsa (2006) Transparenz im Gesundheitswesen – Re­
und Arbeitgeber hat sich im gleichen Zeitraum präsentative Befragung von GKV-Versicherten, Ergeb­
von 40 % auf 35 % reduziert. Rund 45 Milliarden nisbericht
mehr gaben dagegen die privaten Haushalte/pri­ www.gesundheit-transparenz.de/fileadmin/user_
upload/infothek/Forsa_Patienten.pdf (Stand: 15.01.
vate Organisationen ohne Erwerbszweck im Jahr
2009)
2006 im Vergleich zum Jahr 1995 aus. Damit 7. Stuppardt R (2007) Innovationen und ihre Perspek­
ist ihr Anteil an der Finanzierung der gesamten tiven im Spannungsfeld zwischen Finanzierung
Gesundheitsausgaben von 42 % im Jahr 1995 auf und Versorgungsfortschritt im Gesundheitswesen.
In: Ulrich V, Ried W (Hrsg) Effizienz, Qualität und
48 % im Jahr 2006 gestiegen.
Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen – Theorie und
Einem höheren Finanzbedarf im Gesund­ Politik öffentlichen Handelns, insbesondere in der
heitswesen, wie er durch die demografische Al­ Krankenversicherung. Nomos Verlagsgesellschaft,
terung erwartet wird, sollte nach Auffassung von Baden-Baden, S 839 – 854
8. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Risiko­
Fachleuten vor allem mit einer Erhöhung der
strukturausgleich
Produktivität im Gesundheitswesen beispielswei­ www.die-gesundheitsreform.de/glossar/risikostruktur
se durch Innovationen bei diagnostischen und ausgleich.html (Stand: 05.03. 2008)
pharmazeutischen Leistungen, einer Senkung 9. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Gesetz­
liche Krankenversicherung – Mitglieder, mitversi­
der Prävalenz kostenintensiver Erkrankungen
cherte Angehörige, Beitragssätze und Krankenstand,
und einer Stärkung der Finanzkraft begegnet Monatswerte Januar – Dezember 2008 (Ergebnisse
werden [25]. Nach Schätzungen des damaligen der GKV-Statistik KM1)
Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion www.bmg.bund.de/cln_110/nn_1193098/SharedDocs/
Downloads/DE/Statistiken/Gesetzliche-Krankenver
im Gesundheitswesen lassen sich rund 25 % bis
sicherung/Mitglieder-und-Versicherte/KM1-Oktober­
30 % der Gesundheitsausgaben in Deutschland 08,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/
durch langfristige Prävention vermeiden [26]. Die KM1-Oktober-08.pdf (Stand: 08.01.2009)
Bundesregierung hat deshalb im Koalitionsvertrag 10. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Wettbe­
werb im Gesundheitswesen
vereinbart, dass die Prävention zu einer eigenstän­
www.die-gesundheitsreform.de/glossar/wettbewerb_
digen Säule der gesundheitlichen Versorgung ne­ im_gesundheitswesen.html (Stand: 06.03.2008)
ben Akutbehandlung, Rehabilitation und Pflege 11. Deutsche Rentenversicherung Bund (2007) Rentner
ausgebaut werden soll. und ihre Krankenversicherung. 2. Auflage. Berlin
12. AOK Bundesverband, Bundesverband der Betriebs­
krankenkassen, IKK-Bundesverband et al. (2007)
Krankenversicherung und Pflegeversicherung der
Literatur Rentner zum 1. April 2007
www.aok-business.de/rundschreiben/pdf/rds_2007
1. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Immer 0223-KVdR.pdf (Stand: 15.01.2009)
mehr Rückkehrer in die gesetzliche Krankenversiche­ 13. Verband der privaten Krankenversicherung e.V. (2007)
rung und eine bessere Versorgung – Ein Jahr Gesund­ Zahlenbericht der privaten Krankenversicherung
heitsreform. Gesundheitspolitische Informationen 08 2006/2007. Köln
(02): 4 14. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Die neue
2. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Die Ge­ Gesundheitsversicherung: Der modifizierte Standard­
sundheitsreform – da ist viel drin tarif der privaten Krankenversicherung. Informations­
www.die-gesundheitsreform.de/gesundheitsreform/ blatt
index.html? param=reform2006 (Stand: 06.02.2007) www.die-gesundheitsreform.de (Stand: 04.12.2008)
3. Böcken J, Braun B, Schnee M (2002) Gesundheits­ 15. Zimmer U (2007) Reformbedarf im Gesundheitswe­
monitor 2002 – Die ambulante Versorgung aus Sicht sen primär auf der Einnahmenseite. Das Krankenhaus
von Bevölkerung und Ärzteschaft. Verlag Bertelsmann 2007 (9): 828 – 832
Stiftung, Gütersloh 16. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Infor­
4. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Eckpunkte mationen zur Gesetzlichen Krankenversicherung
zu einer Gesundheitsreform 2006 – Solidargemein­ www. bmg.bund.de/cln_041/nn_605038/DE/Themen
schaft schwerpunkte/Gesundheit/Gesetzliche-Krankenver
www.die-gesundheitsreform.de/glossar/solidargemein sicherung/gesetzliche-krankenversicherung-node,
schaft.html (Stand: 24.05.2006) param=Links.html__nnn=true# doc616820bodyText4
5. Drabinski T, Schröder C (2007) Zur Wahrnehmung (Stand: 28.03.2008)
von Kosten im Gesundheitswesen. Schriftenreihe
Gesundheit und Krankheit im Alter 227

17. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Was än­ 21. Kruse A, Knappe E, Schulz-Nieswandt F et al. (2003)
dert sich zum 1. Januar 2008. Pressemitteilung vom Kostenentwicklung im Gesundheitswesen: Verursa­
7. Dezember 2007 chen ältere Menschen höhere Gesundheitskosten?
18. Bundesministerium für Gesundheit (2008) KJ1 Statis­ AOK Baden-Württemberg, Heidelberg
tik – Übersicht endgültiger Rechnungsergebnisse der 22. Felder S, Fetzer S (2007) Die Gesundheitsreform –
GKV 2006 (k)ein Weg zur Entlastung zukünftiger Generationen?
www.bmg.bund.de/cln_040/nn_600110/SharedDocs/ Gesundheits- und Sozialpolitik 2007 (7/8): 39 – 45
Download/DE/Datenbanken-Statistiken/Statistiken­ 23. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Generati­
Gesundheit/Gesetzliche-Krankenversicherung/Finanz onsgerechte Gesundheitsversorgung in einer Gesell­
ergebnisse/kj12006,templateId=raw,=property=pub schaft des längeren Lebens – Ulla Schmidt beauftragt
licationFile.pdf/kj12006.pdf (Stand: 28.03.2008) Sachverständigenrat mit neuem Gutachten. Presse­
19. Knappe E, Weissberger D (2007) Auch der Sozialaus­ mitteilung Nr. 87 vom 12. Oktober 2007
gleich in der Gesetzlichen Krankenversicherung ist 24. Schneider M (2006) Nachhaltige Finanzierung des
reformbedürftig. In: Ulrich V, Ried W (Hrsg) Effizienz, Gesundheitswesens. BASYS, Augsburg
Qualität und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen – 25. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Finanz­
Theorie und Politik öffentlichen Handelns, insbeson­ entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung
dere in der Krankenversicherung. Nomos Verlagsge­ 2007 – Krankenkassen erzielen Überschuss von rund
sellschaft, Baden-Baden, S 881 – 890 1,8 Milliarden Euro. Pressemitteilung vom 4. März
20. Pfaff AB, Pfaff M (2007) Finanzierungsziele und -ins­ 2008
trumente des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes 26. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im
2007 – Eine kritische Betrachtung. In: Ulrich V, Wil­ Gesundheitswesen (2000) Bedarfsgerechtigkeit und
le E (Hrsg) Effizienz, Qualität und Nachhaltigkeit im Wirtschaftlichkeit, Band I Zielbildung, Prävention,
Gesundheitswesen – Theorie und Politik öffentlichen Nutzerorientierung und Partizipation, Band II Qua­
Handelns, insbesondere in der Krankenversicherung. litätsentwicklung in Medizin und Pflege. Gutachten
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, S 923 – 952 2000/2001 Kurzfassung
228 Gesundheit und Krankheit im Alter

5.2 Krankheitskosten in Deutschland:


Welchen Preis hat die Gesundheit im Alter?
Manuela Nöthen, Karin Böhm

Kernaussagen Euro. Knapp zwei Drittel dieser Kosten verteilten


sich auf Frauen, wobei ein beachtlicher Anteil
1. Obwohl ein beträchtlicher Teil der Krank­ in ambulanten und (teil-)stationären Pflegeein­
heitskosten bei älteren Menschen entsteht, richtungen anfiel. Als besonders kostenintensiv
kann das Alter per se nicht dafür verantwort­ kristallisierten sich die Krankheiten des Kreis­
lich gemacht werden: Weitere, teils altersab­ laufsystems heraus: Darauf war fast ein Viertel
hängige, teils altersunabhängige Faktoren der Krankheitskosten im Alter zurückzuführen.
müssen bei der Interpretation der Daten be­ Dahinter folgten mit jeweils rund einem Zehntel
rücksichtigt werden. der Kosten: Muskel-Skelett-Erkrankungen, psy­
2. Im Alter liegen die Krankheitskosten der chische und Verhaltensstörungen sowie Krebs­
Frauen deutlich über denen der Männer. Das erkrankungen.
Ungleichgewicht zwischen den Geschlech­ Im Zentrum des folgenden Beitrags steht
tern kann unter anderem als Ergebnis einer die Frage: Welche Krankheit verursacht bei wem
»Feminisierung des Alters«, auch dank der und in welcher Einrichtung des Gesundheits­
höheren Lebenserwartung der Frauen, ge­ wesens welche Kosten? Die Ausführungen dazu
deutet werden. konzentrieren sich auf die ältere Bevölkerung ab
3. Viele Erkrankungen gewinnen mit zuneh­ 65 Jahren. Datengrundlage sind die Ergebnisse
mendem Lebensalter nicht nur epidemio­ der Krankheitskostenrechnung des Statistischen
logisch, sondern auch ökonomisch an Bundesamtes für die Jahre 2002 und 2004. Die
Bedeutung. Beispiele sind dafür – neben Krankheitskostenrechnung ist ein gesundheits­
chronischen Krankheiten – Kreislauf- und bezogenes Rechensystem, das die ökonomischen
Muskel-Skelett-Erkrankungen. Konsequenzen von Krankheiten und Unfällen
4. Ein beachtlicher Anteil der Krankheits­ für die deutsche Volkswirtschaft bemisst. Sie gibt
kosten alter Menschen fällt in ambulanten einen mehrdimensionalen Überblick über das
und (teil-)stationären Pflegeeinrichtungen krankheitsbedingte Kostengeschehen in Deutsch­
an. Das trifft besonders auf Hochaltrige zu: land nach Diagnosen, Alter und Geschlecht der
Vor allem Frauen »überleben« ihren (Ehe-) Bevölkerung für die jeweiligen Einrichtungen des
Partner häufiger und sind daher verstärkt auf Gesundheitswesens. Damit zeichnet sie nicht nur
außerfamiliale und oft kostenträchtigere Pfle- ein Bild des Ressourcenverbrauchs, sondern auch
geangebote angewiesen. der Ressourcenverteilung aus epidemiologischer,
5. Die Bedeutung der demografischen Entwick­ demografischer und sektoraler Perspektive. Bis
lung für den Verlauf der Krankheitskosten ist auf die Investitionen fließen alle Gesundheits­
schwer zu bestimmen. Die Ergebnisse spre­ ausgaben in das Rechensystem ein, die unmit­
chen dafür, dass die »demografische Alte­ telbar mit einer medizinischen Heilbehandlung,
rung« für den bisherigen Anstieg der Krank­ einer Präventions-, Rehabilitations- oder Pflege­
heitskosten von Belang sein dürfte, ihn allein maßnahme verbunden sind. Inhaltlich richtet
aber nicht erklären kann. die Krankheitskostenrechnung den Blick auf das
Individuum bzw. dessen Inanspruchnahme von
Im Jahr 2004 entstanden bei den alten Menschen Gesundheitsgütern und -leistungen. Dazu ist sie
für die Prävention, Behandlung, Rehabilita­ weniger, wie Kosten-Nutzen- oder Kosten-Effekti­
tion und Pflege von Erkrankungen und Un­ vitäts-Analysen, auf den unmittelbaren Vergleich
fällen durchschnittliche Krankheitskosten von einzelner Maßnahmen angelegt, als vielmehr auf
rund 6.760 Euro pro Kopf – in der Summe ent­ eine umfassende Einschätzung des Ressourcen­
sprach das einem Betrag von 102,1 Milliarden verbrauchs und seiner strukturellen Verteilung.
Gesundheit und Krankheit im Alter 229

5.2.1 Verteilung der Krankheitskosten auf die – die 15 % der Gesamtbevölkerung stellten – nur
Bevölkerung: Alt gleich teuer? 6 % der Krankheitskosten. Der Bevölkerungsan­
teil übertraf damit den Krankheitskostenanteil in
Die Krankheitskosten im Alter sind beachtlich. Im diesem Alter um das 2,4-fache. Umgekehrt war
Jahr 2004 entstanden bei den über 64-Jährigen es bei den alten Menschen: Die im Vergleich ho­
in Deutschland 102,1 Milliarden Euro bzw. 45 % hen Krankheitskosten der über 64-Jährigen (45 %)
der gesamten Krankheitskosten (224,9 Milliarden konzentrierten sich auf eine verhältnismäßig klei­
Euro). Wie ist diese Summe einzuordnen und in ne Bevölkerungsgruppe (18 %). Hier überschritt
welchem Verhältnis steht sie zu den Krankheits­ der Kostenanteil den Bevölkerungsanteil um das
kosten anderer Altersgruppen, etwa der Bevölke­ 2,5-fache. Bemerkenswert ist weiterhin, dass der
rung im erwerbsfähigen Alter oder der Kinder und Kostenanteil der alten Menschen (45 %) nur leicht
Jugendlichen? unter dem vergleichbaren Kostenanteil der Bevöl­
Antwort gibt darauf zunächst eine Gegen­ kerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64
überstellung der Bevölkerung und der Krankheits­ Jahren lag (49 %). Die jeweiligen Anteile dieser
kosten nach Alter. Aus Abbildung 5.2.1.1 gehen Altersgruppen an der Bevölkerung fallen mit 18 %
die altersspezifischen Anteile der Gesamtbevölke­ bzw. 67 % dagegen deutlich auseinander. Mit an­
rung sowie der Krankheitskosten in Deutschland deren Worten: Obwohl sich die Krankheitskosten
in den Jahren 2002 und 2004 hervor (siehe dazu im Alter auf erheblich weniger »Köpfe« verteilten,
auch Tabelle 5.2.1.1). Demzufolge verteilten sich reichte ihr Volumen fast an das der Bevölkerung
die vergleichsweise geringen Krankheitskosten im im erwerbsfähigen Alter heran. Diese Aussagen
Kindes- und Jugendalter auf eine im Verhältnis treffen im Wesentlichen auf beide Berichtsjahre
dazu große Bevölkerungsgruppe: Im Jahr 2004 2002 und 2004 zu.
beispielsweise entfielen auf die unter 15-Jährigen

Abbildung 5.2.1.1
Bevölkerung und Krankheitskosten nach Alter 2002 und 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung

Prozent
100

90

80

70

60

50

40 65 Jahre und älter

30 15–64 Jahre

20 unter 15 Jahre

10

Bevölkerung Krankheitskosten Bevölkerung Krankheitskosten


2002 2004
230 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 5.2.1.1
Bevölkerung und Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht 2002 und 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung

Altersgruppe Bevölkerung Krankheitskosten


Frauen Männer Gesamt Frauen Männer Gesamt Frauen Männer Gesamt
1.000 Mrd. Euro Euro je Einwohner
2002
unter 15 Jahre 6.093 6.425 12.517 6,1 7,0 13,1 1.000 1.090 1.040
15 – 29 Jahre 6.936 7.234 14.170 10,2 6,3 16,5 1.470 870 1.160
30 – 44 Jahre 9.820 10.361 20.180 18,5 13,0 31,4 1.880 1.250 1.560
45 – 64 Jahre 10.699 10.668 21.367 32,9 29,5 62,3 3.070 2.760 2.920
65 – 84 Jahre 7.487 5.265 12.752 44,5 29,8 74,3 5.940 5.660 5.830
85 Jahre und älter 1.137 358 1.495 17,0 4,1 21,2 14.960 11.580 14.150
Gesamt 42.172 40.310 82.482 129,1 89,7 218,8 3.060 2.220 2.650
2004
unter 15 Jahre 5.864 6.177 12.042 6,0 7,4 13,4 1.020 1.210 1.110
15 – 29 Jahre 7.049 7.325 14.373 10,1 6,6 16,7 1.440 900 1.160
30 – 44 Jahre 9.536 10.012 19.548 17,6 12,7 30,2 1.840 1.270 1.550
45 – 64 Jahre 10.722 10.708 21.430 32,8 29,6 62,5 3.060 2.770 2.910
65 – 84 Jahre 7.926 5.790 13.716 48,2 33,4 81,6 6.080 5.770 5.950
85 Jahre und älter 1.055 338 1.393 16,5 4,0 20,5 15.680 11.840 14.750
Gesamt 42.151 40.350 82.501 131,2 93,7 224,9 3.110 2.320 2.730

Die durchschnittlichen Krankheitskosten pro Alter bei der Entstehung der Krankheitskosten
Kopf messen, wie hoch der Ressourcenverbrauch zuzumessen ist. Einerseits legen die vorgestell­
im Durchschnitt je Einwohner einer bestimmten ten Daten eine (kausale) Altersabhängigkeit der
Alters- und Geschlechtergruppe ist. Abbildung Krankheitskosten nahe, andererseits erscheint –
5.2.1.2 zeigt, dass die Pro-Kopf-Krankheitskosten wie verschiedene weitere Studien zeigen – eine
mit fortschreitendem Alter überproportional an­ Gleichsetzung von »alt« mit »teuer« zu kurz
steigen, d. h. die Kostenintensität je Einwohner gegriffen. Es stellt sich vielmehr die Frage, wel­
nimmt mit dem Alter zu: Den geringsten Wert che anderen altersabhängigen Faktoren mit den
wiesen im Jahr 2004 die unter 15-jährigen Kin­ Krankheitskosten in Beziehung stehen könnten.
der und Jugendlichen auf (1.110 Euro). Auch bei So belegen die Ergebnisse des Alterssurveys,
den folgenden Altersgruppen lagen die Pro-Kopf- dass Schweregrad und Häufigkeit von Einzel-
Kosten noch durchgängig unter dem Durchschnitt wie Mehrfacherkrankungen mit dem Lebensalter
der Gesamtbevölkerung (2.730 Euro), überschrit­ ansteigen [1]. Auch das Risiko einer chronischen
ten ihn ab dem 45. Lebensjahr und stiegen mit Krankheit, hirnorganischen Störung (z. B. De­
zunehmendem Alter rasch und steil an. Bei den menz) oder Behinderung wächst mit dem Alter
65- bis 84-Jährigen waren sie bereits 2,2-mal so (vgl. Abschnitt 5.2.3). Solche Erkrankungen füh­
hoch wie der Durchschnitt, bei den über 84-Jäh­ ren ihrerseits zu einer verstärkten Pflegebedürf­
rigen sogar 5,4-mal so hoch: Hier summierten sie tigkeit, deren Versorgungskosten, wie die Daten
sich auf 14.750 Euro pro Kopf. im Abschnitt 5.2.4 bestätigen, gerade im hohen
Entscheidend für eine Einordnung dieser Alter ein beträchtliches Ausmaß erreichen kön­
Ergebnisse ist letztendlich, welche Rolle dem nen. Schneider verweist u. a. auf Ergebnisse der
Gesundheit und Krankheit im Alter 231

Abbildung 5.2.1.2
Krankheitskosten nach Alter 2002 und 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung

Euro je Einwohner
16.000

14.000

12.000

10.000

8.000

6.000
2002

4.000 2004

2.000

unter 15 15–29 30–44 45–64 65–84 85+ gesamt


Altersgruppe

Berliner Altersstudie, die einen erhöhten medi­ kationen« u. a. als Versuch der produzierenden
kamentösen Bedarf und Arzt-Patienten-Kontakt Pharmaunternehmen, ihre Absatzmärkte auszu­
im Alter feststellt und schließt: »Sofern man die­ weiten [7].
se Daten verallgemeinern darf, bedeutet »sich Auf große Resonanz stößt in der Fachdis­
gesund zu verhalten« für die ältere Bevölkerung kussion auch die so genannte Sterbekostenthese.
daher vor allem die Nutzung medizinischer und Danach ist von einer altersunabhängigen »Kon­
pharmazeutischer Angebote [2] – die natürlich zentration der Gesundheitskosten kurz vor dem
ebenfalls Kosten nach sich zieht. Dennoch, hier ist Tod« [8] auszugehen. Demzufolge sei das Sterben
es wichtig zu differenzieren: »Zwar werden alten und weniger das Altern teuer geworden [9]. Die
Menschen die meisten Medikamente verschrie­ Altersabhängigkeit der Krankheitskosten lässt
ben, nicht aber die teuersten« [3]. sich dann durch die mit dem Alter steigenden
Diskutiert wird in diesem Zusammenhang Sterberaten erklären (vgl. auch Kapitel 5.4).
auch ein ökonomisches Interesse der Arzneimit­ Zusammenfassend gibt es eine Reihe zu­
telindustrie an physiologischen Alternsprozessen: verlässiger Belege dafür, dass weniger die Alters­
In dem Grenzwerte bei alterstypischen Diagno­ struktur per se, als vielmehr ein Bündel verschie­
sen wie beispielsweise Bluthochdruck oder Fett­ dener Faktoren Einfluss auf die Krankheitskosten
stoffwechselstörungen definitorisch abgesenkt ausübt, die teils selbst mit dem Alter in Zusam­
werden, steigt der Anteil der Menschen, die als menhang stehen, teilweise aber auch altersun­
behandlungsbedürftig gelten [4, 5, 6]. Der Sach­ abhängig sind (vgl. hierzu Kapitel 5.3). Welchem
verständigenrat zur Begutachtung der Entwick­ Faktor dabei im Einzelnen welcher Stellenwert zu­
lung im Gesundheitswesen deutet eine solche kommt, ist auf der gegenwärtigen Datenbasis und
»Ausweitung von Krankheitsbegriffen oder Indi­ in Anbetracht der Komplexität des Themas nur
232 Gesundheit und Krankheit im Alter

schwer zu quantifizieren. Auch die – angesichts 5.2.2 Verteilung der Krankheitskosten auf das
der demografischen Alterung – naheliegende Geschlecht: Gibt es eine Feminisierung
Frage nach der zukünftigen Entwicklung der Ge­ der Krankheitskosten?
sundheitsausgaben, kann auf Grundlage einer
isolierten Betrachtung altersspezifischer Krank­ »Das Alter ist weiblich«, so titelte im Frühjahr
heitskosten nicht befriedigend beantwortet wer­ 2006 ein Zeitschriftenbeitrag zur Demografie,
den: Von einer (statistischen) Altersabhängigkeit in dem auf den höheren Frauenanteil unter der
der Krankheitskosten prospektiv auf eine »Kosten­ älteren Bevölkerung hingewiesen wird [11]. In
explosion« im Gesundheitswesen zu schließen, der Tat waren im Jahr 2004 knapp drei Fünftel
würde die hier komplex wirkenden Mechanismen (59 %) der über 64-jährigen Menschen weiblich,
und Zusammenhänge deutlich verkennen [10]. von den über 84-Jährigen waren es sogar mehr als
Hinzu kommt, dass dafür auf theoretischer Ebe­ drei Viertel (76 %). Wie wirkt sich diese »Femini­
ne ein Perspektivwechsel – von der Querschnitts- sierung des Alters« [12] auf den Ressourcenver­
zur Längsschnittbetrachtung mit all seinen Impli­ brauch im Gesundheitswesen aus? Die folgende
kationen – erforderlich wäre. Höpflinger macht Betrachtung der Krankheitskosten fördert bemer­
darauf aufmerksam, dass die »überproportionale kenswerte Unterschiede zwischen den Geschlech­
Kostenbelastung des Gesundheitssystems durch tern, insbesondere im Alter, zutage [13].
ältere Menschen (...) höchstens die absolute Höhe Im Jahr 2004 entstanden 58 % der Krank­
der Gesundheitsausgaben in einer gegebenen heitskosten bei Frauen, ihr Anteil an der Bevöl­
Rechnungsperiode, nicht aber deren Wachstum kerung lag gleichzeitig bei 51 % (siehe auch Ab­
im Zeitverlauf« [9] erklärt. Die Bedeutung des de­ bildung 5.2.2.1). Während sich die Bevölkerung
mografischen Alterungsprozesses für die künftige also nahezu paritätisch aufteilte, entfiel ein we­
Gesundheitsausgabenentwicklung verdient u. a. sentlich höherer Anteil der Krankheitskosten auf
aus diesen Gründen eine gründlichere Betrach­ die Frauen; absolut handelte es sich um einen Dif­
tung und wird Gegenstand des Kapitels 5.3 sein. ferenzbetrag von rund 37,5 Milliarden Euro.
Aus Abbildung 5.2.2.1 geht außerdem hervor,
dass sich ein erheblicher Teil des krankheitsbe­
dingten Ressourcenverbrauchs bei den Frauen ab
65 Jahren konzentrierte: Obwohl sie lediglich 11 %
der Gesamtbevölkerung im Jahr 2004 stellten, fie-

Abbildung 5.2.2.1
Bevölkerung und Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung

Prozent
60

50

40 65 Jahre und älter

30 15–64 Jahre

20 unter 15 Jahre

10

Bevölkerung Krankheitskosten Bevölkerung Krankheitskosten


Frauen Männer
Gesundheit und Krankheit im Alter 233

len für sie 29 % der Kosten an. Der vergleichbare geschlechtsspezifischen Leistungsstrukturen der
Kostenanteil ihrer männlichen Altersgenossen lag versichernden Krankenkassen [16]. Mit Abstand
mit 17 %, bei einem Bevölkerungsanteil von 7 %, einer der wichtigsten Faktoren dürfte jedoch der
deutlich darunter. Die Krankheitskostenprofile der bereits erwähnte höhere Frauenanteil unter der
Männer und Frauen in Abbildung 5.2.2.2 demons­ älteren Bevölkerung sein [13]: Von den in Deutsch­
trieren zugleich: Die höheren Kosten der Frauen land im Jahr 2004 lebenden rund 15,1 Millionen
sind offensichtlich nicht nur eine Folge des hö­ alten Menschen waren 9,0 Millionen Frauen,
heren Frauenanteils im Alter. Denn die Pro-Kopf- aber nur 6,1 Millionen Männer [17]. Dieses auch
Kosten steigen zwar bei beiden Geschlechtern mit als »Feminisierung des Alters« [12] bezeichnete
fortschreitendem Alter an, liegen bei den Frauen Phänomen beeinflusst die geschlechtsspezifische
aber in allen Altersgruppen – mit Ausnahme der Kostenverteilung – wie die folgenden Ausfüh­
unter 15-Jährigen – über denen der Männer. Be­ rungen zeigen werden – offensichtlich ganz er­
sonders markant war die Abweichung im hohen heblich, da die Pro-Kopf-Krankheitskosten gerade
Alter ab 85 Jahren: Dort betrug sie durchschnitt­ im (hohen) Alter beträchtlich ansteigen (vgl. dazu
lich rund 3.840 Euro. Abschnitt 5.2.1).
Die Gründe für die ungleiche Verteilung Ein Vorgehen, ähnlich dem einer Altersstan­
der Krankheitskosten auf Männer und Frauen in dardisierung, stellt einen unmittelbaren Bezug
Deutschland sind unterschiedlich. Sie reichen von zu den Krankheitskosten der Männer her und de­
geschlechtsspezifischen Erkrankungen, Schwan­ monstriert dies eindrucksvoll: Danach werden die
gerschaft und Geburt, geschlechtsspezifischem altersspezifischen Pro-Kopf-Kosten der Frauen auf
Risiko- und Gesundheitsverhalten [14] über ge­ die Altersstruktur der männlichen Bevölkerung
netische und hormonelle Faktoren [15] bis hin zu angelegt. Das Ergebnis schätzt die Krankheitskos-

Abbildung 5.2.2.2
Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung

Euro je Einwohner
16.000

14.000

12.000

10.000

8.000

6.000
Frauen

4.000 Männer

2.000

unter 15 15–29 30–44 45–64 65–84 85+ gesamt


Altersgruppe
234 Gesundheit und Krankheit im Alter

ten, die bei den Frauen zu erwarten wären, wenn tenunterschieds zwischen Frauen und Männern
ihre Bevölkerungsstruktur mit der der Männer können im Rahmen der obigen Rechnung durch
identisch wäre. Unter dieser Voraussetzung ver­ den höheren Frauenanteil im Alter erklärt werden.
ringern sich die Krankheitskosten der Frauen er­ Auf der anderen Seite liegen auch die Erwar­
heblich: Sie liegen in diesem hypothetischen Fall tungswerte der Frauen noch rund 12,1 Milliarden
im Jahr 2004 nur noch bei insgesamt 105,8 Mil­ Euro über den tatsächlichen Krankheitskosten der
liarden Euro statt bei tatsächlichen 131,2 Milliar­ Männer. Und, abgesehen von einer Ausnahme,
den Euro. Die Differenz zwischen den erwarteten übertreffen die alterspezifischen Pro-Kopf-Kosten
und tatsächlichen Krankheitskosten der Frauen der Frauen die der Männer; besonders deutlich
(25,4 Milliarden Euro) entspricht gut zwei Drit­ wird das bei den Hochbetagten. Neben anderen
teln (68 %) des gesamten geschlechtsspezifischen Gründen könnte sich hier erneut das Alter auf die
Kostenunterschieds (37,5 Milliarden Euro). Theo­ Kostenverteilung auswirken, und zwar unabhän­
retisch spiegelt sie ausschließlich den Einfluss der gig von Unterschieden in der »Kopfzahl«: Eine
abweichenden Altersstruktur der männlichen und mögliche Erklärung – in Anlehnung an Tews
weiblichen Bevölkerung wider. Abbildung 5.2.2.3 These auch als »Feminisierung der Pflegebedürf­
verdeutlicht, dass der Löwenanteil der Kostendif­ tigkeit« [18] bezeichnet – wird in diesem Zusam­
ferenz in den beiden höchsten Altersgruppen ent­ menhang durch die einrichtungsbezogene Analy­
steht und welche Größenordnung er im Einzelnen se der Krankheitskosten gestützt. So entsteht ein
einnimmt. enormer Anteil der Krankheitskosten im Alter
Natürlich sind diese Angaben das Resultat in ambulanten oder (teil-)stationären Pflegeein­
eines hypothetischen Rechenbeispiels. Trotzdem richtungen. Die Analyse zeigt weiter, dass dieser
zeigen sie, dass die geschlechtsspezifische Kosten­ Anteil bei Frauen, besonders im hohen Alter, aus
differenz, wenn auch nicht vollständig, so doch in verschiedenen Gründen bedeutend höher ist als
beträchtlichem Umfang als Altersstruktureffekt bei Männern (vgl. Abschnitt 5.2.4). Zusammen­
gedeutet werden kann: Rund zwei Drittel des Kos- genommen lässt sich festhalten: Auch wenn die

Abbildung 5.2.2.3
Tatsächliche und erwartete Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung

Mrd. Euro
60

50

40
Männer
30
Erwartungswert Frauen*

20 Frauen

10

unter 15 15–29 30–44 45–64 65–84 85+


Altersgruppe

* Erwartungswert Frauen: Zu erwartende Krankheitskosten der Frauen, errechnet auf Grundlage der Alterstruktur der männlichen Bevölkerung
des Jahres 2004 (Jahresdurchschnitt).
Gesundheit und Krankheit im Alter 235

geschlechtsspezifische Verteilung der Krankheits­ Betrachtung des Diagnosespektrums –


kosten nicht ausschließlich im Sinne einer Femi­ Krankheiten des Kreislauf- und des Muskel-
nisierung der Krankheitskosten (d. h. als eine Fol­ Skelett-Systems verursachen im Alter die
ge der Feminisierung des Alters) gedeutet werden höchsten Kosten
kann, so ist sie dafür offenbar doch von zentraler
Bedeutung. Hinsichtlich der Diagnosen – darauf verweisen
verschiedene Autoren – stehen im Alter die Krank­
heiten des Kreislauf- und des Muskel-Skelett-Sys­
5.2.3 Verteilung der Krankheitskosten tems im Vordergrund [25, 27]. Die Analyse zeigt,
auf die Diagnosen: Wirkt sich die wie sich die epidemiologische Bedeutung dieser
epidemiologische Bedeutung der Krankheiten offensichtlich auch auf den Ressour­
Krankheiten auf die Kosten aus? cenverbrauch im Gesundheitswesen auswirkt.
Abbildung 5.2.3.1 gibt die Rangfolge der fünf
Das Zusammenspiel von Alter, Krankheit und den Diagnosen mit den höchsten Krankheitskosten
damit verbundenen Kosten lässt sich durch unter­ alter Menschen wieder. Fast ein Viertel (24 %) der
schiedliche Befunde charakterisieren. Allem vo­ Kosten war danach im Jahr 2004 auf Krankheiten
ran ist zu berücksichtigen, dass »gesundheitliche des Kreislaufsystems zurückzuführen – der Diag­
Prozesse im Alter nicht linear (verlaufen), und die nose mit den höchsten Krankheitskosten im Al­
Vorstellung eines unwiderruflichen Abbaus der ter. Krankheiten des Kreislaufsystems zählten zu
Gesundheit mit steigendem Alter (...) falsch« ist diesem Zeitpunkt bei den alten Menschen nicht
[20]. Angeführt wird in diesem Zusammenhang nur zur häufigsten Hauptdiagnose im Kranken­
von verschiedenen Seiten die breite inter- und haus, sie führten auch die Liste der häufigsten
intraindividuelle Variabilität des biologischen Al­ Todesursachen an. Mit beträchtlichem Abstand
ternsprozesses, der von biographischen und so­ und jeweils rund einem Zehntel der Krankheits­
zialen Faktoren ganz entscheidend mitbestimmt kosten alter Menschen folgten hinter den Krank­
wird [z. B. 7, 21, 22]. Auch wenn die an dieser Er­ heiten des Kreislaufsystems: Krankheiten des
kenntnis anknüpfende Unterscheidung zwischen Muskel-Skelett-Systems (11 %), psychische und
»normalem«, »pathologischem« und gelegentlich Verhaltensstörungen (10 %), Neubildungen (10 %)
auch »optimalem« Altern empirisch nur schwer und Krankheiten des Verdauungssystems (9 %).
handhabbar ist, so unterstreicht sie doch: Krank­ Durch diese fünf Krankheiten wurden fast zwei
heits- und Alternsprozesse müssen nicht zwangs­ Drittel (63 %) der Krankheitskosten alter Men­
läufig miteinander identifiziert werden [z. B. 23, schen verursacht, das entsprach einem Betrag von
24]. rund 64,8 Milliarden Euro.
Dennoch gilt – im Durchschnitt – eine Zunah­ In Abbildung 5.2.3.1 sind zum Vergleich auch
me behandlungswürdiger Krankheiten mit dem die fünf Diagnosen mit den höchsten Krankheits­
Alter als gesichert [25]. So wurden im Rahmen kosten der unter 65-Jährigen aufgeführt. Hier
der Berliner Altersstudie bei rund 96 % der über entfielen auf die ersten fünf Diagnosen mit 68,7
69-Jährigen eine oder mehrere Erkrankungen di­ Milliarden Euro 56 % der Kosten. Unterschiede zu
agnostiziert, deren Auswirkungen bei einem Drit­ den Älteren bestanden vor allem bei den Krank­
tel (33 %) akut oder mittelfristig lebensbedrohend heiten des Verdauungssystems, die bei den unter
waren [26]. Dieselbe Studie betont in Einklang 65-Jährigen die höchsten Kosten verursachten
mit anderen Untersuchungen die Bedeutung von (19 %), und bei den Krankheiten des Kreislaufsys­
Multimorbiditäten (Mehrfacherkrankungen) im tems, die bei den unter 65-Jährigen im Vergleich
Alter, wobei sich die auftretenden Krankheiten in weitaus weniger bedeutend (9 %) für das Kosten­
ihren Konsequenzen oftmals nicht einfach addie­ geschehen waren.
ren, sondern auf vielschichtige Weise wechselsei­
tig verstärken [4].
236 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 5.2.3.1
Die fünf Diagnosen mit den höchsten Krankheitskosten nach Alter 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankheitskostenrechnung

bis 64 Jahre
Krankheiten des Verdauungssystems
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
Psychische und Verhaltensstörungen
Krankheiten des Kreislaufsystems
Neubildungen

65 Jahre und älter


Krankheiten des Kreislaufsystems
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
Psychische und Verhaltensstörungen
Neubildungen
Krankheiten des Verdauungssystems
0 5 10 15 20 25
Prozent

Betrachtung ausgewählter Diagnosen – kostenträchtigen) Pflegebedürftigkeit (vgl. Kapi­


Mit dem Alter steigen die Kosten tel 2.2). Daher liegt die Frage nahe: Schlägt sich
chronischer Erkrankungen die epidemiologische Bedeutung chronischer Er­
krankungen auch in den Krankheitskosten alter
Epidemiologisch kommt chronischen Erkran­ Menschen nieder?
kungen ein besonderer Stellenwert zu [25, 28, Eine allgemeingültige Definition und Ab­
29]. Dabei herrscht Einigkeit darüber, dass sich grenzung chronischer Krankheiten für die Be­
viele der meist irreversiblen chronischen Erkran­ antwortung dieser Frage zu finden, ist schwierig
kungen im Alter häufen und in ihren Folgen [31]. Aber bereits für eine exemplarische Auswahl
meist nur noch gemildert werden können [27, 30]: zeigt sich, dass ihre ökonomische Bedeutung mit
Dank der allgemeinen Lebensverlängerung ist dem Alter zunimmt. Im Folgenden sollen daher
der Organismus verschiedensten Risikofaktoren beispielhaft die Kosten von vier epidemiologisch
längerfristig ausgesetzt, während seine Anpas­ besonders wichtigen, in der Regel chronisch ver­
sungs- und Widerstandsfähigkeit nachlässt. Da­ laufenden Erkrankungen herausgegriffen wer­
durch kommen viele chronische, vormals latente den: Bösartige Neubildungen, Diabetes mellitus,
Erkrankungen, wie z. B. Krebs oder Diabetes mel­ ischämische Herzkrankheiten und Demenz. Ih­
litus, im mittleren und höheren Alter überhaupt ren gemeinsamen Anteil an den Krankheitskosten
erstmals zum Vorschein und manifestieren sich des Jahres 2004 gibt Abbildung 5.2.3.2 wieder:
[31]. Einer Studie der Berliner Charité auf Grund­ Während er bei den unter 15-jährigen Kindern
lage einer Versichertenstichprobe des Jahres 2005 und Jugendlichen mit 2 % vergleichsweise gering
zufolge waren 89 % aller erkrankten alten Men­ war, stieg er mit dem Alter kontinuierlich an. Bei
schen chronisch krank [29]. Diese Krankheiten den Hochbetagten schließlich war ein Viertel der
gelten als langwierig und erfordern größtenteils Krankheitskosten (25 %) ausschließlich auf diese
einen hohen und kontinuierlichen Behandlungs­ vier Krankheiten zurückzuführen.
bedarf. Eine Vielzahl chronischer Erkrankungen Ein weiterer Befund deutet auf die Relevanz
wird darüber hinaus von einem erhöhten Risiko des Alters für die Kosten chronischer Erkran­
funktioneller Einschränkungen begleitet und kungen hin: Im Durchschnitt, d. h. über das
mündet nicht selten in einer dauerhaften (und komplette Diagnosespektrum hinweg, betrug der
Gesundheit und Krankheit im Alter 237

Abbildung 5.2.3.2
Krankheitskosten ausgewählter chronischer Erkrankungen* nach Alter 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankheitskostenrechnung

Prozent
30

25

20

15

10

unter 15 15–29 30–44 45–64 65–84 85+


Altersgruppe
* Bösartige Neubildungen, Diabetes mellitus, ischämische Herzkrankheiten, Demenz

Anteil über 64-Jähriger an den Krankheitskosten bericht) gibt als mittleres Erkrankungsalter für das
45 %. Dieser Anteil variiert zum Teil erheblich Jahr 2002, unabhängig vom Geschlecht, etwa 69
mit der Diagnose: Deutlich geringer war er zum Jahre an. Gleichzeitig zählten Krebserkrankungen
Beispiel bei angeborenen Fehlbildungen und De­ nach den Krankheiten der Kreislaufsystems zur
formitäten (15 %) oder bestimmten infektiösen zweithäufigsten Todesursache in Deutschland mit
und parasitären Krankheiten (27 %). Bei Krank­ einem mittleren Sterbealter der Männer von 71
heiten der Haut und Unterhaut (30 %) oder Uro­ und der Frauen von 76 Jahren [32].
genitalerkrankungen (38 %) lag er ebenfalls unter Beispiel Diabetes mellitus: Die Altersvertei­
dem Durchschnitt, wenn auch nicht so markant. lung der Kosten durch Diabetes mellitus in Höhe
Überdurchschnittlich war er dagegen bei Arthro­ von insgesamt 5,1 Milliarden Euro war ähnlich
sen (68 %) oder Verletzungen der Hüfte und des wie bei den bösartigen Neubildungen: 60 % der
Oberschenkels (83 %) und, wie aus Abbildung Kosten dieser Diagnose – das entsprach 3,1 Milli­
5.2.3.3 hervorgeht, bei allen vier beispielhaft aus­ arden Euro – entfielen auf alte Menschen. Dieser
gewählten chronischen Erkrankungen. Anteil lag ebenfalls rund 1,3-mal über dem Durch­
Beispiel bösartige Neubildungen: Insgesamt schnitt. Schätzungen zufolge ist in Deutschland
rund 15,0 Milliarden Euro Krankheitskosten wur­ zurzeit mindestens jede zwanzigste Person an Di­
den im Jahr 2004 durch bösartige Neubildungen abetes mellitus erkrankt. 80 % bis 90 % von ihnen
verursacht. Im Vergleich zu den anderen ausge­ leiden am so genannten Typ-2-Diabetes, der sich
wählten Erkrankungen war der Kostenanteil alter mit steigendem Lebensalter häuft und dessen Ent­
Menschen bei bösartigen Neubildungen zwar am stehung u. a. durch einen ungesunden Lebensstil,
geringsten (59 %). Trotzdem lag er 1,3-mal über wie z. B. Übergewicht und Bewegungsmangel,
dem durchschnittlichen Anteil alter Menschen an begünstigt wird [33].
den Krankheitskosten insgesamt und summierte Beispiel ischämische Herzkrankheiten: Die
sich, aufgrund der hohen Gesamtkosten dieser Kosten dieser Krankheit beliefen sich bei alten
Erkrankungen, auf einen Betrag von rund 8,9 Menschen im Jahr 2004 auf 4,1 Milliarden Euro.
Milliarden Euro. Der Bericht der Krebsregister Das waren 66 % der gesamten Krankheitskosten
über Krebserkrankungen in Deutschland (Krebs­ für ischämische Herzkrankheiten. Der Kosten­
238 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 5.2.3.3
Krankheitskosten ausgewählter Krankheiten nach Alter 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankheitskostenrechnung

gesamt
darunter ausgewählte
chronische Erkrankungen:
bösartige Neubildungen

Diabetes mellitus
bis 64 Jahre
ischämische Herzkrankheiten
65 Jahre und älter
Demenz
0 20 40 60 80 100
Prozent

anteil alter Menschen lag damit gut 1,4-mal über kostenrechnung wider: Über drei Viertel (77 %)
dem Durchschnitt. Auch die Häufigkeit koronarer der Kosten von Demenz entfielen im Jahr 2004
Herzkrankheiten nimmt mit dem Alter stark zu auf alte Menschen in ambulanten oder (teil-)sta­
[34]: Es handelt sich dabei um eine chronische tionären Pflegeeinrichtungen.
Erkrankung der Herzkranzgefäße (Koronararte­ Der Ressourcenverbrauch durch chronische
rien), die infolge einer Verengung oder eines Ver­ Krankheiten ist zum einen von Interesse, weil
schlusses zu einer Ischämie (Mangeldurchblu­ er im Alter beachtliche Dimensionen erreicht:
tung) des Herzens führt; der akute Myokardinfarkt Zusammen waren im Jahr 2004 bei den über
(Herzinfarkt) ist darunter eine der bekanntesten 64-Jährigen rund 22,0 Milliarden Euro auf die
Komplikationen. Ein Fünftel (20 %) der Sterbefäl­ vier exemplarisch ausgewählten Diagnosen zu­
le war bei den über 64-Jährigen im Jahr 2004 auf rückzuführen. Zum anderen sind chronische
ischämische Herzkrankheiten zurückzuführen. Krankheiten eng mit dem Lebensstil verknüpft
Beispiel Demenz: Rund 2,2-mal so hoch wie und verfügen üblicherweise über ein hohes Prä­
der Durchschnitt und im Vergleich am höchsten ventionspotenzial [31, 36]. Überlegungen zur künf­
war mit 98 % der Kostenanteil alter Menschen bei tigen Entwicklung der Morbidität – und der Krank­
Demenzerkrankungen. Damit entstanden nahezu heitskosten – sollten daher vor dem Hintergrund
sämtliche Krankheitsosten von insgesamt 6,1 Mil­ des individuellen Gesundheits- und Risikoverhal­
liarden Euro für Demenz im Alter; im Jahr 2004 tens bzw. der sich daraus ergebenden Anknüp­
waren das knapp 6,0 Milliarden Euro. Demenz fungspunkte für präventive Maßnahmen, auch im
zählt in Deutschland mit rund einer Million Be­ Alter, gesehen werden (vgl. Kapitel 3.4 und Kapitel
troffenen zu den häufigsten und folgenreichsten 4.1). Das setzt weiterführend auf der einen Seite
psychiatrischen Erkrankungen im Alter [35]: Be­ voraus, nicht nur das Diagnosespektrum, sondern
reits in den frühen Stadien weisen die Erkrankten auch die soziale Lage in die Analyse mit einzu­
aufgrund kognitiver Einbußen, die sich zusätzlich beziehen – also konkret sozio-ökonomische Fak­
auf die emotionale Kontrolle, das Sozialverhal­ toren wie Bildung, berufliche Stellung, Einkom­
ten und die Motivation auswirken können, Ein­ men usw. sowie deren Einfluss auf den Lebensstil
schränkungen der autonomen Lebensführung auf und damit einhergehend die Entstehung und Be­
– vielfach mit dem Ergebnis einer umfassenden günstigung chronischer Krankheiten. Auf der an­
Hilfebedürftigkeit. Fast die Hälfte der Pflegebe­ deren Seite muss eine wirkungsvolle Prävention
dürftigen in privaten Haushalten und über 60 % chronischer Erkrankungen, so wünschenswert sie
der Heimbewohner sind dement [35]. Auch das für die Bevölkerung ist, nicht notgedrungen mit
spiegelt sich in den Ergebnissen der Krankheits­ einer Reduktion der Krankheitskosten verbunden
Gesundheit und Krankheit im Alter 239

sein: An ihre Stelle könnten z. B. durch andere, Alter überproportional ansteigt: Während er in
womöglich kostenintensivere Erkrankungen oder den Altersgruppen bis 64 Jahren durchgängig un­
mit den gewonnen Lebensjahren (infolge erfolg­ ter dem Durchschnitt von 11 % lag, überschritt er
reicher Prävention) weitere Kosten treten. Auch ihn im Alter, besonders im hohen Alter, deutlich:
die Entwicklung, Verbreitung und Anwendung Bei den 65- bis 84-Jährigen fielen bereits knapp
präventiver Maßnahmen ist nur selten ohne zu­ 15 % der 81,6 Milliarden Euro Krankheitskosten in
sätzliche finanzielle Mittel zu leisten. Pflegeeinrichtungen an. Weit überdurchschnitt­
lich war dieser Anteil bei den Hochbetagten: Über
die Hälfte (51 %) der 20,5 Milliarden Euro Krank­
5.2.4 Verteilung der Krankheitskosten auf die heitskosten waren hier in Pflegeeinrichtungen
Einrichtungen des Gesundheitswesens: entstanden. Der Blick auf die sektorale Verteilung
Welchen Anteil haben Pflegeeinrichtungen? der Kosten zeigt: In den beiden höchsten Alters­
gruppen lag der Kostenschwerpunkt im (teil-)sta­
»Pflegekosten sind Gesundheitskosten« – Kruse tionären Pflegebereich. Bei den 65- bis 84-Jäh­
et al. heben die Bedeutung der Pflegekosten für rigen fielen allein 10 % der Krankheitskosten in
das Gesundheitswesen, gerade im Rahmen einer (teil-)stationären gegenüber 4 % in ambulanten
altersspezifischen Betrachtung, hervor [37]. Die Pflegeeinrichtungen an. Bei den Hochbetagten
Krankheitskosten für Leistungen, die in Pflege­ waren sogar knapp 40 % der Kosten in (teil-)sta­
einrichtungen erbracht werden, können durch tionären Pflegeeinrichtungen entstanden, in am­
eine einrichtungsbezogene Analyse nachgewiesen bulanten waren es nur 11 %.
werden. Insgesamt unterscheidet die Klassifika­ Der Kostenanteil in Pflegeeinrichtungen
tion der Einrichtungen im Gesundheitswesen 15 variiert im Alter auch deutlich zwischen den Ge­
Leistungserbringer wie z. B. Krankenhäuser, Apo­ schlechtern; das gilt insbesondere für das hohe
theken oder Arztpraxen; darunter fallen auch am­ Alter: Mit 54 % entstand mehr als die Hälfte der
bulante und (teil-)stationäre Pflegeeinrichtungen, Krankheitskosten über 84-jähriger Frauen in Pfle-
die die Basis der folgenden Angaben bilden. geeinrichtungen (8,9 Milliarden Euro). Bei hoch­
Im Jahr 2004 fielen in solchen Einrich­ betagten Männern waren es im Vergleich dazu
tungen mit rund 24,5 Milliarden Euro 11 % der anteilig und absolut deutlich weniger – nämlich
gesamten Krankheitskosten an (siehe Tabelle 38 % (1,5 Milliarden Euro).
5.2.4.1). In diesen Betrag fließen ausschließ­ Die einrichtungsbezogene Analyse zeigt,
lich die pflegerischen Leistungen sowie die pri­ dass ein erheblicher Teil der Krankheitskosten im
vat getragenen Aufwendungen für Unterkunft Alter, speziell im hohen Alter, in Pflegeeinrich­
und Verpflegung ein, die in ambulanten und tungen anfällt. Dieses Ergebnis korrespondiert
(teil-)stationären Pflegeeinrichtungen erbracht im Wesentlichen mit der altersspezifischen Ver­
wurden (ohne z. B. Arzneimittel oder ärztliche teilung der Pflegequote – also des Anteils der Pfle-
Leistungen). In der Altersgruppe der über 64-Jäh­ gebedürftigen an der gleichaltrigen Bevölkerung:
rigen war dieser Anteil bereits doppelt so hoch Nach Angaben der amtlichen Pflegestatistik lag
(22 %). Auffällig waren dabei die Geschlechter­ die Pflegequote im Jahr 2005 vor dem 65. Lebens­
unterschiede: Bei über 64-jährigen Männern jahr bei nur 0,6 %, während sie bei den 65- bis
entstanden 13 % der Krankheitskosten in Pflege­ 84-Jährigen auf 7 % und ab dem 85. Lebensjahr
einrichtungen, bei den gleichaltrigen Frauen wa­ schließlich sprunghaft auf 46 % anstieg. Für die
ren es dagegen 27 %. Zusätzlich zu diesen Kosten vergleichsweise hohen Kosten in Pflegeeinrich­
entstanden in den privaten Haushalten Ausgaben tungen sind jedoch weder ausschließlich das Alter
für Pflegegeldleistungen, die der Vollständigkeit noch der Gesundheitszustand oder die Art der in
halber erwähnt, im Folgenden aber nicht weiter Anspruch genommenen Pflege verantwortlich zu
berücksichtigt werden sollen. Eine Sonderauswer­ machen. Neben diesen individuellen Merkmalen
tung ergab, dass sie sich im Jahr 2004 zusätzlich der Pflegebedürftigen spielen die kontextuellen
auf rund 4,3 Milliarden Euro addierten. Bedingungen hinein. Dazu zählt z. B. der recht­
Tabelle 5.2.4.1 zeigt, dass der Anteil der lich-institutionelle Rahmen wie er in der aktuellen
Krankheitskosten in Pflegeeinrichtungen mit dem Pflegegesetzgebung zum Ausdruck kommt oder
240 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 5.2.4.1
Krankheitskosten in ambulanten und (teil-)stationären Pflegeeinrichtungen nach Alter und Geschlecht 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankheitskostenrechnung

Altersgruppe Gesamt darunter: in Pflegeeinrichtungen Gesamt darunter: in Pflegeeinrichtungen


zusammen davon zusammen davon
ambulante (teil-)stationäre ambulante (teil-)stationäre
Frauen Mio. Euro Prozent
unter 15 Jahre 5.954 44 41 4 100,0 % 0,7 % 0,7 % 0,1 %
15 – 29 Jahre 10.130 56 39 17 100,0 % 0,6 % 0,4 % 0,2 %
30 – 44 Jahre 17.573 146 69 77 100,0 % 0,8 % 0,4 % 0,4 %
45 – 64 Jahre 32.822 759 284 475 100,0 % 2,3 % 0,9 % 1,4 %
65 – 84 Jahre 48.204 8.369 2.290 6.080 100,0 % 17,4 % 4,8 % 12,6 %
85 Jahre und älter 16.535 8.916 1.791 7.124 100,0 % 53,9 % 10,8 % 43,1 %
Gesamt 131.218 18.291 4.514 13.777 100,0 % 13,9 % 3,4 % 10,5 %
Männer
unter 15 Jahre 7.447 58 53 5 100,0 % 0,8 % 0,7 % 0,1 %
15 – 29 Jahre 6.572 81 55 27 100,0 % 1,2 % 0,8 % 0,4 %
30 – 44 Jahre 12.674 186 78 108 100,0 % 1,5 % 0,6 % 0,9 %
45 – 64 Jahre 29.637 921 289 632 100,0 % 3,1 % 1,0 % 2,1 %
65 – 84 Jahre 33.390 3.481 1.340 2.141 100,0 % 10,4 % 4,0 % 6,4 %
85 Jahre und älter 4.003 1.526 528 998 100,0 % 38,1 % 13,2 % 24,9 %
Gesamt 93.723 6.252 2.343 3.909 100,0 % 6,7 % 2,5 % 4,2 %
Gesamt
unter 15 Jahre 13.401 102 94 9 100,0 % 0,8 % 0,7 % 0,1 %
15 – 29 Jahre 16.702 138 94 44 100,0 % 0,8 % 0,6 % 0,3 %
30 – 44 Jahre 30.246 332 147 185 100,0 % 1,1 % 0,5 % 0,6 %
45 – 64 Jahre 62.459 1.680 573 1.107 100,0 % 2,7 % 0,9 % 1,8 %
65 – 84 Jahre 81.594 11.850 3.630 8.220 100,0 % 14,5 % 4,4 % 10,1 %
85 Jahre und älter 20.538 10.441 2.319 8.122 100,0 % 50,8 % 11,3 % 39,5 %
Gesamt 224.941 24.543 6.857 17.686 100,0 % 10,9 % 3,0 % 7,9 %

das jeweils vor Ort realisierte Pflegearrangement, zit auf den Pflegebereich und spricht in diesem
das seinerseits vom häuslichen Pflegepotenzial Zusammenhang von der erwähnten Feminisie­
und dem verfügbaren (professionellen) Pflegean- rung der Pflegebedürftigkeit. Tatsächlich sind die
gebot determiniert wird [38, 39]. geschlechtsspezifischen Diskrepanzen in der Pfle-
Die deutlichen Geschlechterunterschiede gequote im hohen Alter besonders markant; im
der Krankheitskosten in Pflegeeinrichtungen Jahr 2005 beispielsweise betrug die Pflegequote
können auf Tews These der Feminisierung des der über 84-jährigen Frauen 51 % gegenüber 32 %
Alters zurückgeführt werden (vgl. dazu auch der gleichaltrigen Männer. Nicht berücksichtigt
Abschnitt 5.2.2). Danach wird das Geschlechter- werden dabei unbezahlte Pflegeleistungen durch
verhältnis im Alter, vor allem dank der höheren Angehörige, Bekannte oder Freunde, die Quoten
Lebenserwartung, durch den höheren Frauenan- geben ausschließlich den Anteil Pflegebedürftiger
teil dominiert [12]. Höpflinger bezieht dies expli- wieder, die Leistungen der Pflegekassen im Rah­
Gesundheit und Krankheit im Alter 241

men des SGB XI in Anspruch genommen haben. konsequente Ergänzung dieser »Momentaufnah­
Neben der höheren Lebenserwartung der Frauen men« kann durch einen Blick auf den zeitlichen
tragen weitere Faktoren zu dem ungleichen Ge­ Verlauf vorgenommen werden. Kernfrage ist dann
schlechterverhältnis bei: Darunter fallen noch die nicht mehr, welchen Einfluss die Altersstruktur
starken Verluste der männlichen Bevölkerung einer Gesellschaft auf die Verteilung der Krank­
infolge der Weltkriege und das durchschnittlich heitskosten hat. Kernfrage ist in diesem Fall, wel­
niedrigere Heiratsalter der Frauen. Das wiederum chen Einfluss die Alterung einer Gesellschaft auf
wirkt sich auf die Lebensform bzw. Haushalts­ den Verlauf der Krankheitskosten hat. Theoretisch
zusammensetzung alter Menschen aus: Im Jahr wird dadurch das Alter als der »rote Faden« der
2004 etwa lebten 72 % der 85-jährigen Frauen, vorliegenden Publikation um die Längsschnittper­
aber nur 29 % der gleichaltrigen Männer allein spektive erweitert. Dafür können auf Grundlage
in einem Einpersonenhaushalt [19]. Die Lebens­ der noch jungen Krankheitskostenrechnung die
form begrenzt und begünstigt ihrerseits die Ge­ Berichtsjahre 2002 und 2004 herangezogen wer­
staltungsspielräume für häusliche Pflegearrange­ den. Der Blick »zurück« bereitet auch den Boden
ments und damit auch die Inanspruchnahme des für den Blick nach »vorn«, dem sich u. a. das Ka­
(verhältnismäßig kostenträchtigen) »professio­ pitel 5.3 widmet.
nellen« Pflegeangebots [40]. Verstärkt wird dieser
Zusammenhang zusätzlich durch die, selbst bei
hoher Pflegebedürftigkeit, längere residuale (ver­ Tatsächliche Entwicklung 2002 bis 2004 –
bleibende) Lebenserwartung der Frauen [18]. trotz nahezu gleichbleibender Einwohnerzahl
Die Aussagen zu den Pflegebedürftigen sind steigen die Krankheitskosten
auch vor dem Hintergrund der Pflegenden zu
sehen. Denn ältere Menschen und Frauen zäh­ Die Krankheitskosten sind in Deutschland von
len gerade zu den beiden Personenkreisen, die 2002 bis 2004 um rund 6,1 Milliarden Euro ge­
– zumindest in privaten Haushalten – besonders stiegen (+ 2,8 %). Das Bevölkerungsniveau blieb
intensiv an der Erbringung von Pflegeleistungen währenddessen mit einem Zuwachs von rund
beteiligt sind. Zum Jahresende 2002 waren 60 % 19.000 Personen nahezu konstant (+ 0,02 %). Da
der privaten Hauptpflegepersonen von Pflegebe­ sich dadurch höhere Kosten auf fast die gleiche
dürftigen bereits über 54 Jahre alt, immerhin 33 % Einwohnerzahl konzentrierten, erhöhten sich
zählten zu den über 64-Jährigen. Gleichzeitig wa­ auch die durchschnittlichen Pro-Kopf-Krankheits­
ren etwa 73 % der privaten Hauptpflegepersonen kosten (+ 80 Euro). Angesichts dieser Ergebnisse
weiblich [41]. »Da Frauen meist Männer ehelichen, stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Anstieg
die älter sind als sie selbst, sind es häufig Frauen, der Krankheitskosten mit der demografischen
die sich um einen pflegebedürftigen Partner zu Entwicklung zusammenhängen könnte oder
kümmern haben« [42]. So betrachtet, kennzeich­ in diesem Fall wohl zutreffender: mit Verschie­
nen Alter und Geschlecht offensichtlich nicht bungen in der Altersstruktur.
nur die (kostenwirksame) Inanspruchnahme von Aus Abbildung 5.2.5.1 gehen die prozen­
Pflegeleistungen, sondern umgekehrt auch deren tualen Veränderungen der Bevölkerungszahl und
(zumeist unentgeltliche) Realisierung. der Krankheitskosten im Zeitraum 2002 bis 2004
nach Alter hervor. In der jeweils dritten Säule der
Abbildung, den Pro-Kopf-Krankheitskosten, wer­
5.2.5 Entwicklung der Krankheitskosten: den diese beiden Werte aufeinander bezogen; das
Welchen Einfluss hat die Demografie? Resultat gibt die Veränderung der durchschnitt­
lichen Kostenintensität je Einwohner wider.
Die bisherigen Ausführungen rückten – im Bei der Interpretation der Abbildung ist zu
Rahmen einer Querschnittsbetrachtung – die berücksichtigen, dass sich die Bevölkerung in dem
Struktur der Krankheitskosten alter Menschen kurzen Beobachtungszeitraum nicht eindeutig in
ins Zentrum der Analyse, sei es unter dem Ge­ Richtung »demografische Alterung« entwickelt
sichtspunkt des Geschlechts, der Diagnosen oder hat. Zumindest nicht in dem Sinne, dass in den äl­
der Einrichtungen des Gesundheitswesens. Eine teren Altersklassen durchgängig ein Zuwachs der
242 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 5.2.5.1
Entwicklung der Bevölkerung und der Krankheitskosten nach Alter 2002/2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung

Prozent
12

10

6
Bevölkerung

4 Krankheitskosten gesamt

2 Pro-Kopf-Krankheitskosten

–2

–4

–6

–8
unter 15 15–29 30–44 45–64 65–84 85+
Altersgruppe

Einwohnerzahl zulasten der jüngeren und mitt­ entwickelten. Kurz, die Kosten müssten propor­
leren Altersgruppen zu beobachten sei. Vielmehr tional zur »Kopfzahl« ansteigen oder zurückge­
ist die Entwicklung in den einzelnen Altersklassen hen. In diesem Fall wäre ferner zu erwarten, dass
hinsichtlich Richtung und Stärke uneinheitlich. die Pro-Kopf-Krankheitskosten unverändert auf
Bei den 65- bis 84-Jährigen beispielsweise stieg dem Ausgangsniveau des Jahres 2002 verblieben.
die Einwohnerzahl deutlich, da in diese Alters­ Eine solche idealtypische Entwicklung lag beim
gruppe Geburtsjahrgänge aus der Zeit zwischen Zeitvergleich 2002 mit 2004 sogar in einer Al­
den beiden Weltkriegen mit (wieder) steigenden tersgruppe, bei den 15- bis 29-Jährigen, vor. Für
Geburtenraten fallen. Bei den über 84-Jährigen einen Zusammenhang mit der demografischen
mit einer rückläufigen Bevölkerung wirken sich Entwicklung spricht auch, dass sich Bevölkerung
dagegen noch die Folgen des ersten Weltkriegs mit und Krankheitskosten in fast allen Altersklassen
einem durch hohe Sterblichkeit und Geburten­ einheitlich in gleicher Richtung bewegten. Einzige
rückgängen stark dezimierten Bestand aus. Ausnahme war die Altersgruppe der unter 15-jäh­
Dennoch gestattet der Vergleich von Bevölke­ rigen Kinder und Jugendlichen: Hier wurde der
rungs- und Krankheitskostenentwicklung eine An­ Anstieg der Krankheitskosten (+ 2,5 %) von einem
näherung an den demografisch bedingten Effekt: Rückgang der Bevölkerung begleitet (– 3,8 %).
Für eine direkte, monokausale Altersabhängigkeit Konsequenz dieser gegenläufigen Entwicklung
der Krankheitskosten und in der Folge einen rein war ein in diesem Alter relativ kräftiges Wachstum
demografisch bedingten Effekt spräche, wenn der Pro-Kopf-Kosten (+ 6,7 %).
sich Bevölkerung und Kosten in den jeweiligen Mit Blick auf die alten Menschen zeigt Ab­
Altersklassen übereinstimmend in eine Richtung bildung 5.2.5.1: In den beiden höchsten Alters­
Gesundheit und Krankheit im Alter 243

gruppen erhöhten sich im Zeitvergleich die Pro­ profitieren können. Für ein umfassendes Ver­
Kopf-Krankheitskosten, bei den über 84-Jährigen ständnis des Kostengeschehens im Gesundheits­
doppelt so stark wie bei den 65- bis 84-Jährigen wesen sollten insofern weitere Erklärungsfaktoren
(+ 4,2 % bzw. + 2,1 %). Dahinter standen allerdings – zusätzlich zur demografischen Entwicklung – in
unterschiedliche Entwicklungen: Während bei Betracht gezogen werden.
den 65- bis 84-Jährigen sowohl Kosten als auch
Einwohnerzahl anstiegen, waren sie bei den über
84-Jährigen beide rückläufig. Dass dabei die Kos­ Erwartete Entwicklung 2002 bis 2004 –
ten im Verhältnis zu den Einwohnern jeweils Tatsächlicher Anstieg der Krankheitskosten
überwogen, hatte jedoch in beiden Altersgruppen fällt höher aus als erwartet
übereinstimmend einen Anstieg der Pro-Kopf-
Kosten zur Folge. In einem zweiten Schritt lässt sich das hypothe­
Welche Schlussfolgerungen können auf tische Rechenbeispiel der erwarteten Krankheits­
Grundlage dieser Daten gezogen werden? Zu­ kosten der Frauen aus Abschnitt 5.2.2 auch auf
nächst einmal haben die Pro-Kopf-Krankheits­ die zeitliche Entwicklung der Krankheitskosten
kosten der ganz Jungen und der alten Menschen übertragen. Ausgangspunkt ist dann die Frage:
zugenommen, während sie in den drei verblei­ Wie hoch wäre der Ressourcenverbrauch im Jahr
benden mittleren Altersklassen stagnierten oder 2004, wenn allein Veränderungen in der Bevöl­
leicht zurückgingen. Die Veränderungen in den kerungsstruktur für den Anstieg der Krankheits­
Pro-Kopf-Kosten lassen sich durch Entwicklungen kosten verantwortlich wären?
in der Einwohnerzahl allein nicht erklären und Zu ihrer Beantwortung werden die altersspe­
deuten darauf hin, dass hier andere bzw. zusätz­ zifischen Pro-Kopf-Krankheitskosten des Jahres
liche Faktoren wirken. Das trifft insbesondere auf 2002 auf die Bevölkerungsstruktur des Jahres
die unter 15-jährigen Kinder und Jugendlichen zu. 2004 angelegt (siehe Abbildung 5.2.5.2). Das Er­
Weiterhin war der prozentuale Anstieg der Pro­ gebnis schätzt die Krankheitskosten, die unter der
Kopf-Krankheitskosten bei den 65- bis 84-Jäh­ Annahme zu erwarten wären, dass der Kostenent­
rigen im Vergleich zu den anderen beiden Alters­ wicklung ein rein demografisch bedingter Effekt
gruppen mit einem Anstieg der Pro-Kopf-Kosten zugrunde läge. Die Pro-Kopf-Krankheitskosten
zwar am schwächsten ausgeprägt, addierte sich werden in dieser Berechnung konstant gehalten,
absolut aber auf einen Betrag von rund 7,3 Milli­ so dass andere Erklärungsfaktoren, z. B. der tech­
arden Euro; altersbezogen war das bei weitem der nische Fortschritt oder die allgemeine Teuerung
höchste Anstieg. im Gesundheitswesen, theoretisch ausgeschlos­
Zusammengenommen sind die Ergebnisse sen sind (vgl. Kapitel 5.3). Der Anstieg wäre in
letztlich aber uneindeutig. Rechnerisch – und diesem Fall ausschließlich auf Entwicklungen in
unter Berücksichtigung des knappen Beobach­ der Einwohnerzahl von 2002 bis 2004 zurück­
tungszeitraums – stützen sie einen demografisch zuführen. Unter dieser Annahme ist auch ein
bedingten Effekt eher, als dass sie ihm widerspre­ Wachstum der Krankheitskosten zu erwarten, und
chen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwar auf 222,3 Milliarden Euro. Das Plus von 3,5
die Krankheitskostenrechnung als eine Ergän­ Milliarden Euro (+ 1,6 %) fällt allerdings deutlich
zung zu anderen Datenquellen zu verstehen. Sie geringer aus als der tatsächliche Zuwachs von 6,1
liefert wertvolle Informationen zur Inanspruch­ Milliarden Euro (+ 2,8 %). Das bedeutet mit an­
nahme des Gesundheitswesens durch die Bevöl­ deren Worten: Über die Hälfte des tatsächlichen
kerung. Man darf den Ressourcenverbrauch im Kostenanstiegs kann auf Grundlage dieser hypo­
Gesundheitssektor aber nicht allein als Indikator thetischen Rechnung durch die demografische
für den Bedarf an gesundheitsbezogenen Gütern Entwicklung erklärt werden.
und Leistungen betrachten. Er ist gleichzeitig Aus­ Prinzipiell lagen dabei die tatsächlichen Kos­
druck eines vielschichtigen Prozesses, der Maß­ ten in etwa gleichauf oder über den Erwartungs­
nahmen und Interventionen des Gesetzgebers werten (siehe Abbildung 5.2.5.2), lediglich bei den
einschließt und von dem verschiedenste Akteure 30- bis 44-Jährigen war der tatsächliche Rückgang
und Interessengruppen im Gesundheitswesen (– 3,8 %) deutlich markanter, als angenommen
244 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 5.2.5.2
Tatsächliche und erwartete Entwicklung der Krankheitskosten nach Alter 2002/2004
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt) und Krankheitskostenrechnung

Prozent
12

10

4 erwartete Entwicklung*

2 tatsächliche Entwicklung

–2

–4

–6

–8
unter 15 15–29 30–44 45–64 65–84 85+
Altersgruppe

* Erwartete Entwicklung: Erwartungswerte für das Jahr 2004, errechnet auf Grundlage der Pro-Kopf-Kosten des Jahres 2002
und der Bevölkerung 2004.

(– 2,5 %). Interessant sind unabhängig davon auch Krankheitskostenrechnung und werden im An­
die Altersgruppen, in denen die Kosten, trotz rück­ schluss diskutiert.
läufiger Erwartungswerte, ansteigen – in diesem
Fall also im Alter von unter 15 und 45 bis 64 Jah­
ren. Literatur
Dass die demografische Entwicklung für den
Gesamtanstieg der Krankheitskosten weder als 1. Deutsches Zentrum für Altersfragen (2005) Gesund­
heit und Gesundheitsversorgung. Pressetext zur Pres­
einziger noch als der primär ausschlaggebende sekonferenz am 03. August 2005
Faktor anzusehen ist, sondern Bestandteil eines 2. Schneider HD (2003) Psychosoziale und körperliche
komplexen Wirkzusammenhangs sein dürfte, da­ Gesundheit im hohen Alter. In: Pro Senectute Schweiz
für wurden im Rahmen der bisherigen Ausfüh­ (Hrsg) Hochaltrigkeit – Eine Herausforderung für In­
dividuum und Gesellschaft. Zürich, S 23 – 38
rungen diverse Belege zusammengetragen. Von 3. Kuhlmey A (2006) Rechnung mit vielen Unbe­
weiterführendem Interesse ist die Analyse von kannten. Gesundheit und Gesellschaft. Spezial 9 (7/8):
Faktoren, die über die personenbezogenen, rein 4–6
demografischen Merkmale Alter und Geschlecht 4. Schneider N, Schwartz FW (2006) Auswirkungen
der soziodemografischen Entwicklung auf das Krank­
hinaus die Gesundheitsausgaben beeinflussen. heitsgeschehen. Die BKK. Zeitschrift der Betrieblichen
Sie ergänzen die vorgestellten Ergebnisse der Krankenversicherung 94 (11): 530 – 546
Gesundheit und Krankheit im Alter 245

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246 Gesundheit und Krankheit im Alter

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Gesundheit und Krankheit im Alter 247

5.3 Bedeutung der demografischen Alterung


für das Ausgabengeschehen im Gesundheitswesen
Silke Mardorf, Karin Böhm

Kernaussagen und damit im Hinblick auf die zu finanzierenden


Gesundheitsgüter und -leistungen auch «teurer«
1. Die demografische Alterung wirkt primär werdenden Gesellschaft ist.
über die Nachfrage nach Gesundheitsgütern In diesem Kapitel wird der Frage nachge­
und -dienstleistungen auf das Ausgabenge­ gangen, welche Bedeutung der demografischen
schehen im Gesundheitswesen ein. Daneben Alterung für das Ausgabengeschehen im Ge­
haben angebotsseitige und systemimma­ sundheitswesen tatsächlich beizumessen ist.
nente Faktoren Einfluss auf die Ausgaben­ Dies geschieht zunächst ganz allgemein mit
entwicklung. Blick auf die wichtigsten Einflussfaktoren auf das
2. Der Gesundheitsausgabenanstieg der ver­ Ausgabengeschehen im Gesundheitswesen. Was
gangenen Jahrzehnte war weniger demogra­ verursachte die Ausgabenanstiege in der Vergan­
fisch beeinflusst, sondern neben den Folgen genheit und wodurch konnten Ausgabenanstiege
der Wiedervereinigung durch Zugangs- und abgebremst werden? Zum besseren Verständnis
Angebotsausweitungen ausgelöst. der von der Europäischen Kommission bis ins
3. Viele Studien zeigen übereinstimmend, dass Jahr 2050 projizierten Ausgabeszenarien werden
dem medizinisch-technischen Fortschritt zentrale Thesen und Annahmen erläutert, die den
als Ausgabenfaktor mehr Bedeutung beizu­ Szenarien zugrunde liegen, jeweils differenziert
messen ist, als der demografischen Alterung. nach nachfrage- und angebotsseitigen Faktoren.
Allerdings wird ein sich gegenseitig verstär­ Auch die Organisation, Struktur und Steuerung
kender, ausgabensteigernder Effekt zwischen unseres Gesundheitswesens, also Einflüsse, die
medizinisch-technischem Fortschritt und Al­ durch das Gesundheitssystem selbst hervorgeru­
terung diskutiert. fen werden, weil sie dem System immanent sind,
4. Ein großer Anteil der Gesundheitsausgaben wirken auf die Ausgabenentwicklung. Bei der
konzentriert sich unabhängig vom Alter auf anschließenden Einschätzung der verschiedenen
die letzte Lebensphase eines Menschen (Ster­ Szenarien richtet sich das Augenmerk daher auch
bekostenthese), wobei die Differenz zwischen auf systemimmanente Faktoren, die aufgrund ih­
den Ausgaben für Überlebende und Verster­ rer komplexen Wirkungen in Modellrechnungen
bende mit zunehmendem Alter eher geringer nicht berücksichtigt werden (können).
wird.
5. Die Altersabhängigkeit der künftigen Ge­
sundheitsausgaben ist unterschiedlich stark, 5.3.1 Wichtige Einflussfaktoren auf die
je nachdem, welche Annahmen über den Ge­ Gesundheitsausgaben im Überblick
sundheitszustand (Kompression oder Expan­
sion), mit dem die gewonnenen Lebensjahre Für das Verständnis der verschiedenen Einfluss­
verbracht werden, getroffen werden. faktoren auf das Ausgabengeschehen im Ge­
sundheitswesen kann es hilfreich sein, sich die
Die Gesundheitsökonomie beschäftigt sich vor Besonderheiten des Gesundheitswesens im Ver­
dem Hintergrund der demografischen Alterung gleich zu einem Wirtschaftszweig wie z. B. dem
zunehmend mit der Frage: Wie werden sich die Fahrzeugbau oder dem Baugewerbe vor Augen
Ausgaben im Gesundheitswesen in einer älter zu führen. Zu den Besonderheiten zählt erstens,
werdenden Gesellschaft künftig entwickeln? In dass der Staat die konkrete Ausgestaltung der
vielen Modellrechungen wird dabei als eine Hy­ Gesundheitsversorgung reguliert [1]. Zweitens
pothese unterstellt, dass eine älter werdende Ge­ fallen Nachfrage und Finanzierung sowie An­
sellschaft gleichbedeutend mit einer »kränkeren« gebot und Vergütung von Gesundheitsgütern
248 Gesundheit und Krankheit im Alter

und -leistungen meist nicht zusammen. Versi­ kungen auf das Ausgabengeschehen (u. a. unmit­
cherungen und Institutionen der Selbstverwal­ telbar über das Inanspruchnahmeverhalten,
tung sind als so genannte »Mittler« dazwischen mittelbar über die Bildung) dar. Aufgrund der
geschaltet [2]. Das deutsche Gesundheitswesen Vielzahl der Einflussfaktoren auf die Gesundheits­
beruht drittens im Unterschied zu anderen Wirt­ ausgaben und ihren zum Teil komplexen und
schaftszweigen auf einer Vielzahl von Vereinba­ wechselseitigen Wirkungen muss die folgende
rungen unterschiedlicher Organisationen (»kor­ Darstellung auf eine Auswahl beschränkt bleiben.
porative Elemente«), die partikulare Interessen Ausschlaggebend für die Nachfrage nach Ge­
vertreten und zugleich hoheitliche Aufgaben sundheitsgütern und -leistungen sind zum einen
ausüben sollen, wie z. B. kassenärztlichen Verei­ individuelle Merkmale wie der Gesundheitszu­
nigungen [3]. Im Unterschied zu den beispielhaft stand, das subjektive Gesundheitsempfinden und
aufgeführten Wirtschaftszweigen ist das Gesund­ das (gesundheitsförderliche oder -gefährdende)
heitswesen viertens in viel stärkerem Maße mit Gesundheitsverhalten der einzelnen Personen.
ethisch-moralischen Fragen konfrontiert. Das Ge­ Zusammengenommen bewirken die daraus re­
sundheitswesen sollte daher nicht ausschließlich sultierenden individuellen Inanspruchnahme­
unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Effizienz verhalten kollektive Inanspruchnahmemuster
betrachtet werden [4]. von Gesundheitsgütern und -leistungen. Gesund­
heitszustand, -empfinden und -verhalten stehen
wiederum im Zusammenhang mit der sozialen
Schichtzugehörigkeit (Bildung, Einkommen und
Gesundheitsgüter und -(dienst)leistungen Erwerbsstatus) sowie dem Alter und dem Ge­
Das Gesundheitswesen ist primär ein schlecht der Personen (vgl. Teil 3). Zum anderen
Dienstleistungssektor. Gesundheitliche beeinflussen auch gesundheitsbezogene Konsum­
Dienstleistungen zählen zu den persön­ trends die Nachfrage nach Gesundheitsgütern
lichen Dienstleistungen, für die das »uno­ und -leistungen und über diese das Ausgabenni­
actu-Prinzip« gilt, d. h. Produktion und veau und die Ausgabenentwicklung im Gesund­
Konsum (z. B. bei einer Reanimation) erfol­ heitswesen.
gen gleichzeitig und sind zeitlich oft nicht Angebotsseitig schreibt die Gesundheitsöko­
aufschiebbar. Aus diesen Gründen sind nomie die ausgabensteigernde Wirkung primär
Gesundheits(dienst)leistungen sehr perso­ dem medizinisch-technischen Fortschritt zu.
nalintensiv und in geringerem Maße als an­ Gefördert und unterstützt wird dieser Fortschritt
dere berufliche Tätigkeiten rationalisierbar. einerseits u. a. durch den Wissensstand und die
Unter Gesundheitsgütern (synonym Waren) zunehmende Spezialisierung der Fachkräfte im
werden im Folgenden gesundheitsbezogene Gesundheitswesen sowie deren Verfügbarkeit
Sachgüter verstanden. Hierzu zählen etwa (z. B. Ärztedichte) und durch das über den GKV-
Arzneimittel und Hilfsmittel (wie Seh- und Leistungskatalog (GKV – gesetzliche Krankenver­
Hörhilfen, orthopädische Hilfsmittel) sowie sicherung) definierte Leistungsspektrum für die
Zahnersatz und sonstiger medizinischer Versicherten und das Zulassungssystem für die
Bedarf. Ärztinnen und Ärzte andererseits. Aber auch die
moralische Verpflichtung der Akteurinnen und
Akteure im Gesundheitswesen, die bestehende
medizinische Wissensbasis bestmöglich zu nut­
Abbildung 5.3.1.1 zeigt ausgewählte nachfrage­ zen, wirkt auf das Angebot an Gesundheitsgütern
seitige, angebotsseitige und systemimmanente und -leistungen ein.
Einflussfaktoren auf das Ausgabengeschehen im Gesundheitsangebot und -nachfrage beein­
Gesundheitswesen. Weitere mögliche Unterschei­ flussen sich dabei gegenseitig, wenn das Angebot
dungskriterien stellen die Art der nachfrageseiti­ an Gesundheitsgütern und -leistungen Nachfra­
gen Einflussnahme (u. a. individuell in Bezug auf ge hervorruft, was beispielweise im Falle neuer
das Gesundheitsverhalten, gesellschaftlich in Be­ Arzneimittel und Diagnoseverfahren geschehen
zug auf Konsumtrends) oder die Art der Wir­ kann, oder wenn die entsprechende Nachfrage
Gesundheit und Krankheit im Alter 249

Abbildung 5.3.1.1
Ausgewählte nachfrageseitige, angebotsseitige und systemimmanente Einflussfaktoren auf das Ausgabengeschehen
im Gesundheitswesen
Quelle: eigene Darstellung

Gesundheitswesen:
Gesetzliche Rahmenbedingungen
Finanzierung, Bereitstellung, Vergütung,
Kostentransparenz und Kostenbewusstsein,
negativer Preisstruktureffekt,
Preise, Wettbewerb
system­
immanent

Wissensstand /
Alter, Geschlecht
Medizinischer Imperativ

Konsumtrends, Bildung, Ärztedichte /


Einkommen Nachfrageinduziertes
Life -Style Spezialisierung
Angebot
Zulassungs­
nachfrageseitig angebotsseitig
system
Gesundheitszustand, Angebotsinduzierte
Nachfrage Leistungs­
-empfinden und -verhalten
katalog

Inanspruch­ Medizinisch­
technischer
nahmeverhalten
Fortschritt

ein Angebot auslöst, wie z. B. bei den Internetapo­ persönlichen Dienstleistungen die menschliche
theken. Der erste Fall wird als angebotsinduzierte Arbeitskraft seltener durch Kapital oder Auto­
Nachfrage, der zweite als nachfrageinduziertes matisierungsprozesse ersetzt werden kann [6].
Angebot bezeichnet. Preisbildung findet hier in eingeschränktem Aus­
Systemseitig können die eingangs erwähnten maß sowohl unter Wettbewerbsbedingungen, als
Besonderheiten des deutschen Gesundheitswe­ auch unter staatlicher Regulierung (z. B. auf dem
sens zu einem unterentwickelten Kostenbewusst­ Arzneimittelmarkt durch das Arzneimittelverord­
sein der Anbieter und Nachfrager beitragen, weil nungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz) statt.
durch die besondere Form der Bereitstellung,
Finanzierung und Vergütung der Gesundheits­
güter und -leistungen die verursachten Kosten 5.3.2 Entwicklung der Gesundheitsausgaben
wenig transparent werden. Dem Gesundheits­ in der Vergangenheit
system immanent sind auch die überdurch­
schnittlich steigenden Verbraucherpreise im Ver­ Im Jahr 2006 wurden in Deutschland insgesamt
gleich zu anderen Wirtschaftszweigen [5]. Dieser 245 Milliarden Euro für Gesundheit ausgegeben,
so genannte negative Preisstruktureffekt tritt be­ das waren 87 Milliarden mehr als im Jahr 1992.
sonders in dienstleistungsintensiven Wirtschaft- Zur Beurteilung, ob die Ausgabenentwicklung im
bereichen auf, weil hier durch die erforderlichen Gesundheitswesen im Vergleich mit der allgemei­
250 Gesundheit und Krankheit im Alter

nen Wirtschaftsentwicklung angemessen ist, wird Über- und Fehlernährung, mangelnde körperliche
üblicherweise der Anteil der Gesundheitsausga­ Aktivität mit der Folge von Bluthochdruck und
ben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) herangezogen Fettstoffwechselstörungen etc. [11]. Ausgabenstei­
[1]. Der entsprechende Anteil stieg im Zeitraum gernde Wirkungen sind auch auf die daraus resul­
1992 bis 2006 in Deutschland von 9,6 % auf tierenden Versorgungsbedürfnisse der Bevölke­
10,6 % an [7]. Dies ist auf ein in diesem Zeitraum rung mit Gesundheitsgütern und -leistungen
mit 56 % überdurchschnittliches Wachstum der zurückzuführen.
Gesundheitsausgaben zurückzuführen. Zum Ver­ Die Ausgabenanstiege wurden dabei durch
gleich: Das BIP wuchs in selben Zeitraum nomi­ zahlreiche Maßnahmen des Gesetzgebers wieder­
nal um 41 %. holt begrenzt. Die Gesetzgebung reagierte auf das
überproportionale Wachstum der Gesundheits­
ausgaben u. a. mit dem Beitragsentlastungsgesetz
1997 und mit dem Gesetz zur Modernisierung
Gesundheitsausgaben und GKV-Ausgaben – der gesetzlichen Krankenversicherung 2004. Die­
eine wichtige Unterscheidung se Schritte zielten insbesondere darauf ab, den
Unter den Gesundheitsausgaben werden GKV-Beitragssatz nicht oder nur in begrenztem
die Ausgaben für das Gesundheitswesen Umfang ansteigen zu lassen. Ohne die Gesund­
aller Ausgabenträger verstanden. Zu den heitsreformen und entsprechenden gesetzlichen
Ausgabenträgern zählen die öffentlichen Regelungen wäre der Anstieg der Gesundheitsaus­
Haushalte, die gesetzliche und die private gaben in Deutschland in den vergangenen Jahren
Krankenversicherung, die soziale Pflege­ aller Wahrscheinlichkeit nach höher ausgefallen.
versicherung, die gesetzliche Renten- und Die Maßnahmen des Gesetzgebers sind auch in
Unfallversicherung, die Arbeitgeber sowie der Abbildung 5.3.2.1 erkennbar. Die Abbildung
die privaten Haushalte und die Organisa­ zeigt die prozentualen Veränderungen der Ge­
tionen ohne Erwerbszweck. Die gesetzliche sundheitsausgaben und des BIP in Deutschland
Krankenversicherung ist mit 57 % Ausga­ gegenüber dem Vorjahr im Zeitraum von 1993
benanteil zwar der bedeutsamste, aber nur bis 2006.
ein Ausgabenträger unter mehreren [7]. Ingesamt zeigt sich: Die Einflussfaktoren auf
das Ausgabengeschehen im Gesundheitswesen
sind vielfältig und in ihrer Wirkung komplex. Die
Entwicklung der vergangenen 15 Jahre war geprägt
Für das Anwachsen der Gesundheitsausgaben von Ausgabenzuwächsen, die durch intensive Ge­
sind Veränderungen des Volumens, der Preise setzgebung unterbrochen wurde. In der öffent­
und der Qualität der Güter und Dienstleitungen lichen Wahrnehmung wird die Ausgabenentwick­
im Gesundheitswesen verantwortlich zu machen lung im Gesundheitswesen – vermutlich auch
[8]. Die Einführung der Pflegeversicherung hat aufgrund der wiederholt gestiegenen Beitragssät­
beispielsweise den Leistungsumfang im Gesund­ ze und der Zuzahlungen – häufig als überpropor­
heitswesen deutlich erweitert [5], überdurch­ tional hoch eingeschätzt. Zieht man den Anteil
schnittliche Preisanstiege wurden z. B. für Arznei- der Gesundheitsausgaben am BIP als Indikator
und Hilfsmittel beobachtet [9]. Der durch den für die Ausgabenentwicklung heran, wird jedoch
medizinisch-technischen Fortschritt ausgelöste deutlich, dass es die in der öffentlichen Diskus­
»Technologieschub« hat die Behandlungsmög­ sion mitunter bemühte Kostenexplosion im Ge­
lichkeiten in der Diagnostik und Therapie erweitert sundheitswesen nicht gegeben hat.
und verbessert [10]. Die Ausgabensteigerungen Eine wichtige Größe stellt in diesem Zu­
werden aber auch auf fehlende Wirtschaftlich­ sammenhang auch die Entwicklung der zur Fi­
keitsanreize in verschiedenen Leistungsbereichen nanzierung der Gesundheitsausgaben erzielten
des Gesundheitswesens zurückgeführt [8]. Da­ Einnahmen dar. Die zeitweiligen Finanzierungs­
rüber hinaus haben chronische und psychische defizite der GKV in Milliardenhöhe sind nicht
Erkrankungen an Bedeutung zugenommen [8], primär durch Ausgabensteigerungen im Gesund­
ebenso wie lebensstilrelevante Risikofaktoren wie heitswesen erklärbar. Die Ursachen werden auch
Gesundheit und Krankheit im Alter 251

Abbildung 5.3.2.1
Entwicklung der Gesundheitsausgaben und des BIP gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Quelle: Statistisches Bundesamt, Gesundheitsausgabenrechnung, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen,
eigene Berechnungen [7, 12]
Prozent
8

–1
1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Jahr

Veränderung Gesundheitsausgaben Veränderung BIP

auf die im Vergleich zum Vorjahr schrumpfenden medizinisch-technischen Fortschritts als ange­
(2003) bzw. stagnierenden (2004) beitragspflich­ botsseitigen Faktor im Gesundheitswesen.
tigen Einnahmen der GKV [13] gesehen, ausgelöst
u. a. durch die im Vergleich zum BIP nur mäßige
Steigerung der Löhne und Gehälter als Finanzie­ Nachfrageseitige Faktoren
rungsbasis für die GKV, hohe Erwerbslosenquoten am Beispiel der Morbiditätsentwicklung
sowie zunehmende Teilzeit- und geringfügige Be­
schäftigung [1]. Für eine Projektion von Gesundheitsausgaben ist
die Frage entscheidend, wie sich die Morbidität
der Bevölkerung vor dem Hintergrund der de­
5.3.3 Entwicklung der Gesundheitsausgaben mografischen Alterung, speziell der steigenden
in der Zukunft Lebenserwartung, entwickeln wird. Je nachdem,
welche Annahmen über den Gesundheitszustand,
Um die Bedeutung der demografischen Alte­ mit dem die gewonnenen Lebensjahre verbracht
rung für die künftige Ausgabenentwicklung im werden, getroffen werden, kann eine unterschied­
Gesundheitswesen einzuordnen, wird zunächst lich starke Altersabhängigkeit der künftigen Ge­
ausgeführt, welche alterungsabhängigen und sundheitsausgaben aufgezeigt werden. Drei in
-unabhängigen Faktoren nachfrage- und ange­ Fachkreisen viel diskutierte Thesen zur künftigen
botsseitig sowie systembedingt auf die künftige Morbiditätsentwicklung stehen im Vordergrund
Ausgabenentwicklung einwirken können. Dies der folgenden Ausführungen (siehe Abbildung
erfolgt am Beispiel der Morbiditätsentwicklung 5.3.3.1): Die Morbiditätsthesen, die Sterbekosten­
als nachfrageseitigen Faktor und am Beispiel des these und die Sisyphusthese. Die Kenntnis der
252 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 5.3.3.1
Zentrale Thesen zum Einfluss der demografischen Alterung auf die Entwicklung der Gesundheitsausgaben
Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von [14, 15, 16]
Ausgabenprofile steigen
Prävalenz der (Multi -) mit zunehmendem Alter,
ion
ans Morbidität steigt
Morbiditäts­ Krank verbrachte Exp Gesundheitsausgaben
zusätzliche steigen insgesamt
thesen
Lebensjahre Kom
pre
ssio Prävalenz der (Multi -) Konstante, aber zeitlich
n
Morbidität sinkt/ verzögerte Ausgaben
verzögert sich (Rechtsverschiebung der
Ausgabenkurve)

Höhere Kosten Demografisch bedingte


ts
Sterbekosten­
im letzten
i n e rsei Mortalitätszunahme
Lebensjahr, e Sterbekostenbedingter
these (»Baby -Boomer« sterben)
»Todesfall- and statt
Vermeidungskosten« ere alterungsbedingter
rse
its Ausgabenanstieg
Sterbekosten sinken mit
sehr hohem Lebensalter

Steigende Nachfrage nach Zusätzliche


Sisyphus­ Gesundheitsleistungen Gesundheitsausgaben
these
Reduzierte Mortalität,
erhöhte Restlebenserwartung

Thesen ist für das Verständnis der nachfolgenden heitsleistungen nicht nur länger, sondern auch
Ausgabenprojektion von Bedeutung, weshalb sie in größerem Ausmaß in Anspruch genommen
an dieser Stelle kurz umrissen werden. werden, wodurch die Gesundheitsausgaben je
Versicherten für ältere Versicherte stärker steigen
Morbiditätsthesen würden als für jüngere. Diese Annahme korres­
Zentraler Ausgangspunkt der Morbiditätsthesen pondiert auch mit den gegenwärtig im Quer­
ist die Frage: Wie verändert sich der durchschnitt­ schnitt beobachtbaren höheren Ausgaben für
liche Gesundheitszustand älterer Menschen, Gesundheitsgüter und -leistungen bei älteren
insbesondere in der Zeitspanne des Zugewinns Menschen im Vergleich zu jüngeren Menschen,
an Lebenserwartung? Hierbei konkurrieren im was auch als Versteilerung der Ausgabeprofile be­
Wesentlichen die Expansions-, die Kompressions- zeichnet wird [19].
und die Status-Quo-These (vgl. Kapitel 2.5). Die Die originär auf Fries [20, 21] zurückgehende
Expansionsthese (synonym »Medikalisierungsthe­ Kompressionsthese geht davon aus, dass dank
se«) stützt sich auf die vielfach zu beobachtende medizinisch-technischem Fortschritt, verbes­
Multimorbidität Älterer. Sie basiert auf der An­ serten Arbeitsbedingungen und sich positiv ver­
nahme, dass die Mortalität zwar abnimmt, aber änderndem Gesundheitsverhalten Krankheiten
das verlängerte Leben in Krankheit verbracht wird, und gesundheitliche Beeinträchtigungen immer
also die Morbidität und damit die Inanspruchnah­ später im Leben auftreten. Dadurch wird der An­
me von Gesundheitsgütern und -leistungen mit teil der gesundheitlich beeinträchtigten Lebens­
dem Alter zunehmen [17, 18]. Für die Entwicklung zeit komprimiert. Im Unterschied zur Expansi­
der Gesundheitsausgaben resultiert daraus: Mit onsthese würde eine Kompression der Morbidität
steigender Lebenserwartung könnten Gesund­ die Versteilerung der Ausgabenprofile dämpfen,
Gesundheit und Krankheit im Alter 253

insbesondere wenn sich auch die Länge der ge­ ab, dass sowohl Morbidität als auch Mortalität ins
sundheitlich beeinträchtigten Lebenszeit verrin­ hohe Alter »verdrängt« werden [23]. Demzufolge
gern sollte (absolute Kompression, vgl. Kapitel bleiben die Gesundheitsausgaben trotz demogra­
2.5) [19]. fischer Alterung prinzipiell gleich hoch, treten
Vereinfachende Annahmen liegen der Status­ aber zeitlich verzögert auf und bewirken damit
Quo-Hypothese [22] zugrunde, die davon ausgeht, eine »Rechtsverschiebung« der Ausgabenkurve
dass bei einer Zunahme der Lebenserwartung die im Zeitverlauf.
relative altersspezifische Inanspruchnahme von In Querschnittsanalysen konnte die Ster­
Gesundheitsleistungen nach Maßgabe der al­ bekostenthese mehrfach nachgewiesen werden.
tersspezifischen Ausgabenprofile zunimmt [23]. Schon frühe Untersuchungen bei amerikanischen
Zur Übersetzung der Hypothese in ein Ausga­ Medicare-Versicherten zeigen, dass auf diejeni­
benszenarium, das auch als »rein demografisch« gen, die im letzten Lebensjahr standen (5 % der
bezeichnet wird, genügt es, feste Ausgabenprofile Versicherten), 27 % der Gesamtausgaben entfie­
eines beliebigen Basisjahres auf prognostizierte len. Gleichzeitig waren deren Pro-Kopf-Ausgaben
Altersstrukturen der Bevölkerung zu projizieren. siebenmal höher als die das betreffende Jahr über­
Künftige Morbiditätsentwicklungen (und andere lebenden gleichaltrigen Versicherten [26, 27]. Für
Einflussfaktoren) bleiben dabei zunächst unbe­ die Schweiz zeigte sich, dass die Ausgabenrelation
rücksichtigt. Die Morbiditätsentwicklung zurück­ von Versicherten, die während eines Jahres star­
liegender Jahre ist für verschiedene Krankheits­ ben, zu den gleichaltrigen Versicherten 5,6 zu 1
bilder und Bevölkerungsgruppen uneinheitlich betrug [28]. Mittels alternativer ökonometrischer
[8]. Hinsichtlich der Konsequenzen der – in wel­ Methoden konnten diese Ergebnisse in jüngeren
cher Richtung auch immer verlaufenden – Morbi­ Studien gestützt werden [23, 29, 30].
dität für die Ausgabenentwicklung ist Folgendes Nach dem Alter der Versterbenden differen­
zu bedenken: Eine Kompression oder Expansion ziert zeigen Berechnungen auf der Grundlage
für den Bereich des Gesundheitszustandes und eines Stichprobenpanels der Gmünder Ersatzkas­
der Lebensqualität sind grundsätzlich von einer se für die Jahre 1989 bis 1995 in Deutschland, dass
monetären Kompression oder Expansion der Aus­ die stationäre Behandlungsdauer in Krankenhäu­
gaben zu unterscheiden [14]. Morbiditätsszenari­ sern im letzten Lebensjahr bis zum Alter von 45
en sind nicht »eins zu eins« in Ausgabeszenarien Jahren das 30-fache, bei 60-Jährigen das 20-fache
zu übersetzen, weil auch angebotsseitige und sys­ und bei 80-Jährigen das sechsfache gegenüber
tembedingte Aspekte in hohem Maße ausgaben­ gleichaltrigen Nicht-Versterbenden beträgt. Auch
relevant sind. Bei sonst gleichen Umständen hätte die durchschnittlichen Krankenhaustage Verster­
eine allgemeine Kompression von Morbidität im bender sinken mit höherem Alter deutlich ab [31].
höheren Alter aber einen geringeren Ausgabenan­ Ähnliches zeigt sich für die Schweiz, nämlich dass
stieg zur Folge als eine Entwicklung in Richtung die Gesundheitsausgaben in den letzten zwei Jah­
der Medikalisierungs- oder Status-Quo-Hypothese ren vor dem Tod bei über 65-Jährigen mit zuneh­
[6]. mendem Alter zurückgehen [28]. Demnach neh­
men ältere Versterbende weniger intensive und/
Sterbekostenthese oder weniger teure Behandlungen in Anspruch als
Dieser These zufolge ist nicht die demografische Jüngere [31, 32]. Hinter diesen Befunden werden
Alterung für die steigenden Ausgaben in der u. a. ein Wandel in der Einstellung, das medizi­
Gesundheitsversorgung ausschlaggebend (»Ka­ nisch Machbare auch immer auszuschöpfen und
lendereffekt«). Der Ausgabenanstieg wird dem­ ein Wandel in der Vorstellung, die Leistungsin­
nach vielmehr durch höhere Kosten vor allem im tensität der medizinischen Versorgung ließe sich
letzten Lebensjahr verursacht (»Restlebenszeit­ beliebig steigern, vermutet [8].
effekt«) [24]. Auch die Sterbekostenthese (syno­ Wenn einerseits die Gesundheitsausgaben
nym »Todesfallvermeidungskosten«) fließt oft zur Vermeidung des Todes ein Vielfaches von den
in Ausgabeprojektionen ein. Sie wird häufig in sonst anfallenden Ausgaben betragen und ande­
einem Atemzug mit der Kompressionsthese ins rerseits die gleichen Ausgaben mit höherem Al­
Feld geführt [23, 25]. Beide Thesen zielen darauf ter sinken, hat das nach Henke/Reimers für die
254 Gesundheit und Krankheit im Alter

Entwicklung der Gesundheitsausgaben dreierlei Angebotsseitige Faktoren am Beispiel


Konsequenzen [25]: des medizinisch-technischen Fortschritts
▶ Erstens nimmt die absolute Zahl jung Ster­
bender künftig ab. Unter den angebotsseitigen Faktoren gilt der me­
▶ Zweitens nimmt die Zahl alt Sterbender künf­ dizinisch-technische Fortschritt (im Folgenden:
tig zu. Fortschritt) als ein wichtiger – wenn nicht als
▶ Dadurch relativiert sich drittens der Effekt der entscheidende – Einflussfaktor für die Aus­
der geringeren Sterbekosten in höherem Al­ gabenentwicklung im Gesundheitswesen [22, 35].
ter und die gleichen Gesundheitsausgaben Fortschritt im Sinne von Weiterentwicklung des
entstehen zeitverzögert mit dem angenom­ Gesundheitswesens wird unabhängig davon pri­
menen Anstieg der Lebenserwartung [25]. mär positiv bewertet. Neue Diagnose- und Ope­
rationsverfahren sowie Medikamente und Thera­
Festzuhalten bleibt, dass mit zunehmendem Al­ pien haben die Heilungs- und Überlebenschancen
ter die Sterbewahrscheinlichkeit zwar deutlich vieler Menschen erheblich verbessert. An Parkin­
ansteigt, aber die Nähe zum Tod einen stärkeren son Erkrankte z. B. haben durch Fortschritte in der
Einfluss auf die Höhe der Gesundheitsausga­ Diagnostik und Behandlung eine deutlich höhere
ben zu haben scheint als das Lebensalter [33]. Lebenserwartung bei mehr Lebensqualität als vor
Der Zusammenhang zwischen der durch den 50 Jahren. Künstliche Gelenke, als Beispiel für
medizinisch-technischen Fortschritt gestiegenen Innovationen im Bereich der Implantatmedizin,
Lebenserwartung und den damit im Zusammen­ ermöglichen vielen Arthrosepatientinnen und
hang stehenden Gesundheitsausgaben ist dabei -patienten schmerzfreie Beweglichkeit. Mit der
evident. Allerdings gilt Fortschritt auch unabhän­ Transplantations- und Reproduktionsmedizin so­
gig vom Lebensalter und der Nähe zum Tod als wie genetischen Diagnostik gingen weitere wich­
einflussreicher Ausgabenfaktor (vgl. Abschnitt tige Fortschritte für die Medizin einher.
»Angebotsseitige Faktoren am Beispiel des medi­ Die Liste der zweifellos erwünschten Wir­
zinisch-technischen Fortschritts«). kungen des Fortschritts ist beliebig verlängerbar.
Aus der das vorliegende Kapitel leitenden ökono­
Sisyphusthese mischen Sicht interessieren die Folgen des Fort­
Vertreterinnen und Vertreter dieser These gehen schritts für die Gesundheitsausgabenentwicklung.
davon aus, dass sich infolge zusätzlicher Gesund­ Welche direkten und indirekten Ausgabeneffekte
heitsausgaben die Mortalität reduzieren und die hat das Angebot an Gesundheitsgütern und
Restlebenserwartung der Bevölkerung erhöhen -leistungen als Folge des Fortschritts?
wird, wodurch wiederum mehr Leistungen nach­ Die folgende Betrachtung der fortschrittsbe­
gefragt und steigende Gesundheitsausgaben die dingten Ausgabeneffekte im Gesundheitswesen
Folge sein könnten. Damit beginnt der Zyklus – erfolgt dabei unabhängig davon,
in Analogie des Schicksals von Sisyphus aus der ▶ wie die wissenschaftlichen, ethischen, recht­
griechischen Mythologie – von vorne und könnte lichen und gesellschaftlichen Konsequenzen
zur »explosiven Spirale« für die Gesundheitsaus­ des Fortschritts eingeschätzt werden und ob
gaben werden [34]. Diese These wird bevorzugt Fortschritt im Einzelfall den Gesundheitszu­
unter dem Aspekt des Zusammenspiels von me­ stand und die Lebensqualität der Menschen
dizinisch-technischem Fortschritt und steigender tatsächlich und nachhaltig erhöht oder auch
Lebenserwartung diskutiert und daher unter den – als nicht intendierte »Nebenwirkung« –
angebotsseitigen Faktoren im folgenden Kapitel senkt,
aufgegriffen. ▶ wie alte und neue Technologien (Prozeduren,
Produkte etc.) im Gesundheitswesen hin­
sichtlich ihrer Wirksamkeit und möglichen
Behandlungsgrenze zu bewerten sind und
▶ welche – basierend auf z. B. Kosten-Nutzen-
Analysen – wohlfahrtsökonomischen Aussa­
Gesundheit und Krankheit im Alter 255

gen zur Vorteilhaftigkeit bestimmter Verfah­ sern seit Jahren kontinuierlich erhöht hat, wie Ta­
ren getroffen werden können [32, 36, 37, 38, belle 5.3.3.1 verdeutlicht. Am 31. Dezember 2006
39]. wurden in deutschen Krankenhäusern und Vor­
sorge- oder Rehabilitationseinrichtungen insge­
Fortschritt kann im Wesentlichen in Produkt- und samt 9.416 medizinisch-technische Großgeräte
Prozessinnovationen unterschieden werden. Zu gezählt. Im Vergleich zum Jahr 2003 stieg der Be­
den Produktinnovationen zählen: stand um 1.077 Geräte (+ 13 %) an. Ins Gewicht fal­
▶ der pharmakologische Fortschritt: z. B. Anti­ len dabei besonders die Großgeräte im Kranken­
biotika, Antidepressiva, Kontrastmittel, hausbereich, deren Anteil an allen Großgeräten
▶ der medizinische Fortschritt: z. B. Transplan­ im stationären Bereich bei über 98 % liegt. Doch
tationen, minimalinvasive Chirurgie und auch der Bestand an medizinisch-technischen
▶ der medizinisch-technische Fortschritt: z. B. Geräten in den Vorsorge- oder Rehabilitationsein­
künstliche Organe, Stents, Kernspintomo­ richtungen ist um 16 % im Zeitraum 2003 bis
grafie; wobei der Begriff »medizinisch-tech­ 2006 gestiegen. Besonders hohe Zuwachsraten
nischer Fortschritt« in der Literatur sowohl von rund 25 % innerhalb von drei Jahren sind bei
als Oberbegriff für alle Fortschrittsarten in­ den digitalen Subtraktionsangiografiegeräten (zur
nerhalb des Gesundheitswesens, als auch als Untersuchung von Blutgefäßen) und Kernspinto­
spezifische Fortschrittsart innerhalb der Pro­ mografen (ebenfalls ein bildgebendes Verfahren)
duktinnovationen verwendet wird. zu beobachten (siehe Tabelle 5.3.3.1).
Verglichen mit anderen OECD-Ländern hat
Den Prozessinnovationen zuzuordnen sind z. B. Deutschland eine deutlich über dem Durchschnitt
verbesserte Automatisierungsprozesse, wie Analy­ liegende Pro-Kopf-Dichte aufgestellter MRT- und
seautomaten zur schnellen Auswertung von Blut­ CT-Geräte [47]. Dem Einsatz von Medizintechnik
parametern [40, 41], aber auch organisatorische im Krankenhaus wird auch künftig eine stetig
Innovationen, wie etwa Modelle integrierter Ver­ steigende Nachfrage prognostiziert [47]. Diese
sorgung oder die Umstellung von einer Papier­ Entwicklung hängt mit den Besonderheiten des
dokumentation auf eine elektronische Verwal­ deutschen Gesundheitswesens zusammen und
tung prozessrelevanter Daten [25]. Bezogen auf kann über angebots- und nachfrageseitige Deter­
ihre jeweilige Ausgabenrelevanz führen Prozess­ minanten erklärt werden. Beide Determinanten
innovationen tendenziell zu einem geringeren werden von systembedingten Faktoren überlagert.
Ressourceneinsatz sowie erhöhter Produktivität Die folgenden Beispiele, die nur eine Auswahl
und tragen meist zu einer merklichen Ausgaben­ sein können, sollen dies verdeutlichen:
senkung bei. Produktinnovationen, wie neue Di­ Angebotsseitig treibt der Wettbewerb um
agnose- und Behandlungsmethoden, werden häu­ Marktanteile auf den Herstellermärkten entspre­
fig ergänzend und nicht alternativ zu bisherigen chender Geräte zusammen mit der Aussicht auf
Verfahren angewendet (»Add-on-Technologien«) Erzielung von Einnahmen die Produktinnova­
[42]. Sie wirken daher eher ausgabensteigernd. Im tionen an, was sich beispielsweise bei MRT- und
Medizinbereich wird davon ausgegangen, dass die CT-Geräten »in Halbwertzeiten von fünf Jahren
Mehrzahl der Innovationen Produktinnovationen für diese Geräte widerspiegelt« [47]. Neue Pro­
darstellen [2, 41]. dukte bieten wiederum Anreize für die Leistungs­
Exemplarisch für eine kostensteigernde Pro­ anbieterinnen und Leistungsanbieter im Gesund­
duktinnovation steht der Einsatz bildgebender Di­ heitswesen, das eigene Untersuchungs- oder
agnostik im Krankenhaus. Die Magnetresonanz­ Behandlungsrepertoire dem neuesten Stand an­
tomografie (MRT) und die Computertomografie zupassen bzw. zu erweitern, um dem Wettbewerb
(CT), beides bildgebende Verfahren, haben den um die Patientinnen und Patienten untereinander
Komfort und die Aussagekraft entsprechender stand zu halten und die eigenen Verdienstmög­
Untersuchungen verbessert, nicht aber die Rönt­ lichkeiten zu sichern. Speziell der Wettbewerb der
gendiagnostik abgelöst. Die Verfahren werden Krankenhäuser und niedergelassenen Ärztinnen
meist kombiniert eingesetzt, wodurch sich die und Ärzte trägt zur Steigerung von Angebot und
Anzahl der aufgestellten Geräte in Krankenhäu­ Nachfrage bei, unterliegt doch die Wirtschaft­
256 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 5.3.3.1
Bestand an medizinisch-technischen Großgeräten in Krankenhäusern und Vorsorge-
oder Rehabilitationseinrichtungen 2003 bis 2006
Quelle: Statistisches Bundesamt, Krankenhausstatistik [43, 44, 45, 46]

2003 2004 2005 2006 Veränderung 2003 zu 2006


Anzahl Anteil
Großgeräte gesamt 8.339 8.710 9.123 9.416 1.077 12,9 %
Krankenhäuser 8.211 8.562 8.967 9.268 1.057 12,9 %
darunter:
digitale Subtraktionsangiografiegeräte 499 549 583 624 125 25,1 %
Computer-Tomografen 1.137 1.179 1.241 1.273 136 12,0 %
Kernspin-Tomografen 502 533 555 622 120 23,9 %
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen 128 148 156 148 20 15,6 %

lichkeit eines Krankenhauses oder einer Arzt­ Therapiemöglichkeiten einer Erkrankung ist. Die
praxis der maximalen Ausnutzung vorgehaltener Patientinnen oder Patienten haben vor allem be­
Ressourcen, insbesondere der kostenintensiven grenzten Einfluss auf die konsumierte Menge. Da
Funktionsdiagnostik und Großgeräte [48]. Für sie unter dem Schutz der Krankenversicherung
den Einsatz diagnostischer oder therapeutischer nicht die vollen Kosten für die in Anspruch ge­
Verfahren gibt es zwar einen relativ großen Er­ nommenen medizinischen Güter und Leistungen
messensspielraum, allerdings wird der Einsatz zu tragen haben, kann es zu einer Übernutzung
hochtechnisierter Gesundheitsleistungen von kommen. In der Versicherungswissenschaft und
Patientinnen und Patienten vielfach mit guter in der ökonomischen Literatur wird dies als öko­
Behandlung gleichgesetzt [23]. Auch ein neu zu­ nomisch rationales Verhalten aus Sicht des Indi­
gelassenes Medikament wird von Ärztinnen und viduums beschrieben (»Moral Hazard«) [53]. Die
Ärzten sowie Verbraucherinnen und Verbrau­ Patientin oder der Patient wählt demnach die für
chern häufig als ein Qualitätsnachweis und folg­ sich optimale Menge an Behandlung, sofern die
lich als ein Bedarfsnachweis wahrgenommen [49]. Versorgungsangebote des Gesundheitswesens das
Neben den gesellschaftlichen Normen, zulassen. Die Mengenanpassung der Behandelten
Krankheiten soweit wie möglich zu bekämpfen wirkt zusammen mit der Art des Vergütungssys­
(medizinischer Imperativ), tendieren Ärztinnen tems (z. B. Kostenerstattung, Einzelleistungsver­
und Ärzte zusätzlich dazu, sich gegen Fehler und gütung) auf die Entscheidung der Ärztin oder des
deren Folgen abzusichern, in dem sie eher zu viele Arztes ein, innovative, aber ggf. teure Diagnose-
als zu wenige Maßnahmen durchführen [50]. Ka­ oder Therapieverfahren einzusetzen, das Einkom­
pitalintensive Heil- und Behandlungsmethoden men durch Leistungsausweitung zu erhöhen oder
werden vorrangig bereits in der medizinischen aber auch den unerwünschten Einsatz neuester
Ausbildung vermittelt [51]. Auch die Verbreitung Medizintechnik zu begrenzen [52, 54] mit entspre­
von Informationen beispielsweise über ärztliche chenden Wirkungen auf das Ausgabengeschehen
Netzwerke gilt als wichtiger Einflussfaktor auf die im Gesundheitswesen.
Entscheidung zur Übernahme neuer Techniken Das Zulassungssystem im deutschen Gesund­
[52]. heitswesen und der umfängliche Leistungskatalog
Grundlage für oder gegen ein therapeutisches der GKV wurden in der Vergangenheit ebenfalls
Verfahren ist meist die Beratung der jeweiligen als Faktoren diskutiert, die die Anwendung neuer
Ärztin oder des jeweiligen Arztes, der gegenüber Techniken begünstigen können: Das Zulassungs­
der Patientin oder dem Patienten in der Regel im system, weil es in der Regel nicht die bereits auf
Informationsvorteil in Bezug auf Diagnose- und dem Markt befindlichen Produkte einbezieht und
Gesundheit und Krankheit im Alter 257

zugleich die Kostenübernahme durch die GKV Produktinnovationen – die Heilungs- und Über­
impliziert, der umfängliche Leistungskatalog lebenschancen sowie die Lebensqualität vieler
der GKV, weil er die Patientinnen und Patienten Menschen verbessern, individuelles Leid mindern
selten mit Rationierungen konfrontiert [49]. Das und dazu beitragen kann, dass kranke und behin­
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im derte Menschen am gesellschaftlichen Leben teil­
Gesundheitswesen trägt seit 2004 dazu bei, im haben. Einzelne Prozess-, aber auch zahlreiche
Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses Produktinnovationen können bei konsequenter
und des Bundesministeriums für Gesundheit, die Anwendung zu deutlichen Einsparungen führen.
im Rahmen der GKV erbrachten Leistungen, wie Fortschritt kann folglich dann ausgabensenkend
Operations- und Diagnoseverfahren, Arzneimit­ wirken, wenn er effizientere Behandlungen er­
tel sowie Behandlungsleitlinien evidenzbasiert zu möglicht oder der Gesundheitszustand vieler
bewerten, um so die medizinische Versorgung Menschen sich durch fortschrittsbedingte Maß­
hinsichtlich ihrer Qualität und Wirtschaftlichkeit nahmen derart verbessert, dass sich künftige Ver­
zu verbessern [55]. sorgungsbedarfe verringern.
Der medizinische Fortschritt lässt sich vom Fortschritt kann aber auch die Gesamtaus­
Altersbezug nur sehr schwer isolieren. Wird fort­ gaben erhöhen, indem neue Behandlungen für
schrittsbedingt das Ziel eines gesunden und lan­ mehr Personen zugänglich werden oder indem
gen Lebens erreicht, sinkt die altersspezifische der künftige Versorgungsbedarf steigt, weil sich
Mortalität und bestimmte Altersklassen sind die Überlebenswahrscheinlichkeit von chronisch
infolge der steigenden Lebenserwartung stärker erkrankten oder multimorbiden Patientinnen
besetzt. Das Überleben einer Krankheit und der und Patienten erhöht. Hinsichtlich seiner künf­
nachfolgende Gesundheitszustand selbst haben tigen Ausgabenwirksamkeit besteht auch des­
wiederum Einfluss auf die erwarteten Gesund­ halb große Unsicherheit, weil der Fortschritt
heitsausgaben späterer Lebensperioden [2, 56]. die Behandlungsmöglichkeiten radikal ändern
Dieser Effekt der sich gegenseitig verstärkenden kann [59]. Auch wenn Berechnungen künftiger
Wirkung von Fortschritt und Alterung – nach Ausgabeneffekte des medizinisch-technischen
Zweifel auch Sisyphus-Syndrom genannt [16, Fortschritts zu unterschiedlichen Ergebnissen
57] – fasst Krämer mit »Die moderne Medizin führen, wird von Fachleuten darauf hingewiesen,
als das Opfer ihres eigenen Erfolges« zusammen dass eine Beibehaltung der Anwendungs- und
[58]. Die Sisyphus-These ist im Hinblick auf die Verbreitungsbedingungen von Innovationen das
Ausgabenentwicklung zwar theoretisch relevant, Gesundheitswesen künftig vor erhebliche Finan­
für ihre Gültigkeit gibt es aber bisher keine em­ zierungsprobleme stellen würde [60]. Genährt
pirische Evidenz, u. a. weil es schwierig ist, ge­ wird dieser Effekt insbesondere über die wechsel­
eignete Indikatoren und Daten aufzutun, um seitige Verstärkung von Angebot und Nachfrage.
Fortschritt als solchen isoliert zu messen [15, 16,
56]. Jedoch haben sich viele therapeutische In­
novationen der letzten Jahre auf höhere bis hohe Ausgewählte Ausgabeszenarien
Altersgruppen bezogen [15]. Auch der Zugewinn
an Lebenserwartung der letzten 20 Jahre ist vor Um der Tatsache gerecht zu werden, dass die
allem den Fortschritten bei der Behandlung von Morbiditätsentwicklung ein die Ausgabenent­
Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verdanken [32]. wicklung beeinflussender Faktor unter mehreren
Folglich blenden rein demografische Ausgaben­ ist, stützt sich die Modellrechnung der General­
szenarien (feste Ausgabenprofile bei veränderten direktion Wirtschaft und Finanzen der Europäi­
Altersstrukturen) den Fortschritt nicht notwendi­ sche Kommission (DG ECFIN) auf verschiedene
gerweise aus. Fortschritt wird dennoch als ausga­ Annahmen, aus der im Folgenden ausgewählte
bentreibender Faktor in vielen Modellrechnungen Ergebnisse für Deutschland vorgestellt werden.
modelliert (vgl. Abschnitt »Ausgewählte Ausga­ Zur Methodik im Einzelnen wird auf die Original­
beszenarien«). quellen verwiesen [59, 61, 62, 63].
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass der me­ Die Ausgabenprojektion der DG ECFIN
dizinisch-technische Fortschritt – insbesondere verbindet Ansätze der Vorausberechnung der
258 Gesundheit und Krankheit im Alter

öffentlichen Gesundheitsausgaben für den Zeit­ nario I Basis (s. u.) – die Gesundheitsausgaben in
raum 2004 bis 2010, 2030 und 2050 mit einem Deutschland bis 2050 nach den Berechnungen
Ergebnisvergleich für die 25 Mitgliedsstaaten der der DG ECFIN auf 7,3 % des Bruttoinlandspro­
Europäischen Union, getrennt nach Ausgaben für duktes anwachsen (siehe Tabelle 5.3.3.2). Aus
Akut- und Langzeitversorgung (health care und Gründen der internationalen Vergleichbarkeit
long-term care). sind in diesen Angaben anders als in Abbildung
5.3.2.1 die Ausgaben für Langzeitpflege (long­
term care) nicht enthalten. Für den Bereich der
Akutversorgung variiert der Anstieg bei den be­
Öffentliche Gesundheitsausgaben für die trachteten Mitgliedsstaaten zwischen 0,7 Prozent­
Akutversorgung und Langzeitpflege punkten (z. B. Litauen) und 2,3 Prozentpunkten
Im Unterschied zur Gesundheitsausgaben- (Vereinigtes Königreich). Für vier Länder wird
rechnung des Statistischen Bundesamtes ein Anstieg von jeweils mindestens 2,0 Prozent­
fließen in die Ausgabenprojektion der Eu­ punkten projiziert (Spanien, Irland, Vereinigtes
ropäischen Kommission nur öffentliche Königreich und Malta). Auch wenn das auf den
Gesundheitsausgaben ein, d. h. die Aus­ ersten Blick über diesen langen Zeitraum nicht
gabenträger Private Krankenversicherung viel erscheinen mag, so wird sich bis 2050 die­
(PKV) und private Haushalte/private Orga­ sem Szenario zufolge der Anteil der öffentlichen
nisationen ohne Erwerbszweck sind nicht Gesundheitsausgaben für die Akutversorgung
inbegriffen. Die Europäische Kommission am BIP im Durchschnitt um rund ein Viertel er­
grenzt ferner die beiden Ausgabenbereiche höhen.
»health care spending« und »long-term care« Abbildung 5.3.3.2 zeigt die von der DG EC­
voneinander ab. Long-term care umfasst die FIN projizierte Entwicklung der öffentlichen Ge­
öffentlichen Gesundheitsausgaben für die sundheitsausgabenquote für die Akutversorgung
häusliche, ambulante oder institutionelle von 2004 bis 2010, 2030 und 2050 am Beispiel
Pflege (außerhalb von Krankenhäusern) Deutschland. Je nach Szenario können die Aus­
pflegebedürftiger oder älterer Personen [63]. gaben auf 6,7 % bis 7,6 % des BIP im Jahr 2050
Innerhalb der Mitgliedsländer besteht keine anwachsen. Bei der Interpretation der Ergebnisse
einheitliche Abgrenzung der Langzeitpflege. ist der im Vergleich deutlich kürzere Prognose­
Die deutschen Ausgaben für Langzeitpflege zeitraum 2004 bis 2010 von sechs Jahren zu be­
umfassen beispielsweise die Ausgaben für achten.
(instrumentelle) Aktivitäten des täglichen Das Szenario I Basis (Pure ageing) versucht,
Lebens (ADL und IADL). Aus diesem Grund den »reinen« Demografieeffekt einer alternden
können Abweichungen in den Ausgabenan­ Bevölkerung auf die Gesundheitsausgaben zu iso­
teilen methodisch bedingt sein, wodurch die lieren. Unterstellt werden gleich bleibende alters­
Vergleichbarkeit erheblich eingeschränkt ist spezifische Pro-Kopf-Ausgaben des Basisjahres.
[64, 65]. Zugewinne an Lebenserwartung bis 2050 werden
– so die Annahme in Anlehnung an die Expan­
sionsthese – in schlechter Gesundheit verbracht,
während die gesund verbrachten Lebensjahre kon­
Die Projektionsergebnisse können – so die Auto­ stant bleiben. Im Ergebnis dieses Szenarios wird
rinnen und Autoren – bestenfalls als »Schnapp­ der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben
schuss« [66] interpretiert werden. Ausgewählte für die Akutversorgung am BIP in Deutschland im
Ergebnisse für Deutschland stellen sich wie folgt Zeitraum 2004 bis 2050 von 6,0 % auf 7,3 % stei­
dar (siehe Tabelle 5.3.3.2) [59, 66]. gen. Dieser Anstieg ist auf den demografischen
Ausgehend von einem im Vergleich zum Effekt der alternden Bevölkerung zurückzufüh­
EU25-Durchschnitt um 0,4 Prozentpunkte nied­ ren. Er liegt damit unter dem projizierten Aus­
rigeren Ausgabenniveau für die Akutversorgung gabenanstieg im europäischen Mittel (+ 1,7 Pro­
in Deutschland (6,0 % des Bruttoinlandspro­ zentpunkte für EU25). Die Bevölkerungsprognose
duktes im Jahr 2004), werden – nach dem Sze­ orientiert sich für die einzelnen Mitgliedsländer in
Gesundheit und Krankheit im Alter 259

Tabelle 5.3.3.2
Entwicklung des Anteils öffentlicher Gesundheitsausgaben am BIP im Bereich Akutversorgung
in ausgewählten EU-Mitgliedsländern, Szenario I Basis (Pure ageing)
Quelle: [59]

2004 2010 2030 2050 Veränderungen


2004 – 2050 in Prozentpunkten
Deutschland 6,0 % 6,3 % 7,0 % 7,3 % 1,3 %
Griechenland 5,1 % 5,3 % 5,9 % 6,9 % 1,8 %
Spanien 6,1 % 6,3 % 7,3 % 8,3 % 2,2 %
Frankreich 7,7 % 8,0 % 9,0 % 9,5 % 1,8 %
Irland 5,3 % 5,5 % 6,4 % 7,3 % 2,0 %
Italien 5,8 % 6,0 % 6,7 % 7,2 % 1,4 %
Niederlande 6,1 % 6,3 % 7,1 % 7,4 % 1,3 %
Österreich 5,3 % 5,5 % 6,3 % 6,9 % 1,7 %
Portugal 6,7 % 6,8 % 6,7 % 7,3 % 0,6 %
Schweden 6,7 % 6,8 % 7,5 % 7,8 % 1,0 %
Vereinigtes Königreich 7,0 % 7,2 % 8,3 % 9,3 % 2,3 %
Litauen 3,7 % 3,8 % 4,1 % 4,4 % 0,7 %
Malta 4,2 % 4,5 % 5,6 % 6,2 % 2,0 %
Polen 4,1 % 4,3 % 5,0 % 5,4 % 1,3 %
EU 25 6,4 % 6,6 % 7,4 % 8,1 % 1,7 %

Abbildung 5.3.3.2
Prognoseszenarien 2004 bis 2050 der öffentlichen Gesundheitsausgaben für die Akutversorgung für Deutschland
(Anteil in Prozent am BIP)
Quelle: eigene Darstellung auf Basis von [59] in Anlehnung an [67]

Prozent
8,0

7,5

7,0
IV: Einkommenselastizität > 1

I: Basis-Szenario
6,5
V: Referenz-Szenario

III: Sterbekosten
6,0 II: Kompression

5,5
2004 2010 2030 2050
Jahr
260 Gesundheit und Krankheit im Alter

allen Szenarien an der Prognose des europäischen Zeitraum 2004 bis 2050 um 1,6 Prozentpunkte
statistischen Amtes EUROSTAT des Basisjahres an.
2004 (EUROPOP2004). Das Szenario V Referenz (Working Group
Im Szenario II Kompression (Constant health) on Ageing Populations) ist im Wesentlichen eine
wird deutlich, dass ein guter Gesundheitszustand Kombination aus Szenario I und II, geht aber da­
der Bevölkerung den BIP-Anteil der öffentlichen von aus, dass sich der Gesundheitszustand nur
Gesundheitsausgaben für die Akutversorgung am halb so stark verbessert, wie in Szenario II ange­
wenigsten stark ansteigen lässt. Der Anstieg des nommen [59, 67]. Der Anteil öffentlicher Gesund­
Ausgabenanteils (+ 0,7 Prozentpunkte) halbiert heitsausgaben für die Akutversorgung am BIP
sich im betrachteten Zeitraum etwa im Vergleich steigt in diesem Szenario in Deutschland vom Jahr
zum Basis-Szenario in Deutschland (+ 1,3 Prozent­ 2004 bis 2050 um 1,2 Prozentpunkte an.
punkte), wie auch EU-weit, wenn sich die gesund Aufgrund der Vielfalt der europäischen Ge­
verbrachten Lebensjahre im Einklang mit der Le­ sundheitssysteme und der in den vorliegenden
benserwartung entwickeln. Im Unterschied zum Ausgabeszenarien getroffenen Annahmen sind
Basis-Szenario wird also unterstellt, dass alle Zu­ selbst verallgemeinernde Fazits schwierig. Wie
gewinne an Lebenserwartung in guter Gesundheit genau sich die demografische Alterung auf die Ge­
verbracht werden. sundheit und damit auf die individuelle Leistungs­
Das Szenario III berücksichtigt die Sterbe­ inanspruchnahme auswirken wird ist ungewiss.
kosten (Death related costs) und unterscheidet Die Szenarien zeigen jedoch übereinstimmend
nach Kosten für Krankheiten mit und ohne töd­ für die verschiedenen Länder: Je gesünder die zu­
lichen Ausgang, lässt aber weitere Morbiditätsent­ künftigen Lebenserwartungsgewinne verbracht
wicklungen außer Acht. Infolgedessen wachsen werden, desto weniger steil verlaufen die Ausga­
die öffentlichen Ausgaben für die Akutversorgung benanstiege im Bereich Akutversorgung. Aller­
weniger stark (+ 1,0 Prozentpunkte für Deutsch­ dings können die künftigen Morbiditäts- und Mor­
land) als im Basis-Szenario, reduzieren sich aber talitätsraten einer alternden Gesellschaft von der
auch nicht ganz so rapide wie im Kompressions- bisherigen Entwicklung abweichen und sich im
Szenario. Allerdings geben die Autorinnen und Zeitverlauf ändern. Die Projektionen zeigen, dass
Autoren zu bedenken, dass auch die Szenarien auch nicht-demografische Faktoren beträchtlichen
I und II die Sterbekosten implizit enthalten, die Einfluss haben können, beispielsweise steigende
wenigen Angaben hierüber aber nicht zuverlässig Einkommen der Bevölkerung oder steigende Löh­
genug sind, um sie in das Basisszenario explizit ne im Gesundheitswesen.
einzubeziehen [59]. Im Bereich Langzeitpflege ist der Einfluss
Das Szenario IV Einkommenselastizität einer alternden Bevölkerung auf das Ausgaben­
(Income elasticity of demand) zeigt, dass Ände­ wachstum wesentlich ausgeprägter als in der
rungen im Pro-Kopf-Einkommen deutliche Aus­ Akutversorgung. Pflegebedürftigkeit betrifft pri­
wirkungen auf den Anteil der öffentlichen Ge­ mär sehr alte Menschen, die zugleich das am
sundheitsausgaben für die Akutversorgung am schnellsten wachsende Bevölkerungssegment der
BIP haben. Es ist identisch mit Szenario I, geht nächsten Jahrzehnte sein werden. Zudem ist die
aber von einer Einkommenselastizität der Nach­ Ausgabenentwicklung im Pflegebereich nicht nur
frage nach Gesundheitsgütern und -leistungen sehr stark vom künftigen Grad der Pflegebedürf­
größer 1 im Basisjahr aus (bis 2050 linear auf 1 tigkeit älterer Menschen abhängig, sondern auch
fallend). Das bedeutet, dass steigende Pro-Kopf- von der jeweiligen Mischung der Inanspruchnah­
Einkommen erheblichen Einfluss auf die Ge­ me formaler und informeller bzw. institutioneller
sundheitsausgabenentwicklung haben, insbeson­ und häuslicher Pflegeleistungen sowie der Höhe
dere wenn Gesundheit als »Luxusgut« angesehen der Pflegeleistung je Pflegestufe [68].
wird, also die Ausgaben für Gesundheit mit stei­ Basierend auf den jeweiligen nationalen Ver­
gendem Einkommen überproportional zuneh­ sorgungsgegebenheiten wird von der DG ECFIN
men. Der Anteil der öffentlichen Gesundheits­ bei unterstelltem Szenario I Basis (pure ageing)
ausgaben für die Akutversorgung steigt unter den für den Anteil der Gesundheitsausgaben im Be­
Bedingungen dieses Szenarios in Deutschland im reich Langzeitversorgung im Zeitraum 2004 bis
Gesundheit und Krankheit im Alter 261

2050 in den meisten Ländern ein Anstieg von 0,7 schätzten Beitragssatzhöhen von 15 % bis 34 % für
bis 1,4 Prozentpunkten am BIP projiziert. Länder das Jahr 2040 [18, 41, 69, 70, 71] und von 16 % bis
mit traditionell hohem Anteil an professionell er­ 39 % für das Jahr 2050 [23, 25, 69, 70, 72]. Sofern
brachter Pflegeleistung und hoher Frauenerwerbs­ der medizinisch-technische Fortschritt als ausga­
quote (z. B. Finnland, Schweden) verzeichnen eine bensteigernder Faktor in den Modellrechnungen
überdurchschnittliche Ausgabensteigerung von modelliert wird, wird in der Regel ein um 0,5 bis
über 2 Prozentpunkten, vor allem verglichen mit 1,5 Prozentpunkte höheres Ausgabenwachstum
den Ländern, in denen informelle Pflege tradierter angenommen [69, 71, 73]. Für die GKV-Pro-Kopf-
ist (Polen, Spanien) [59]. Ausgaben schätzt Felder für die Jahre 2002 bis
In Deutschland werden nach den Projektio­ 2060, dass der Einfluss der demografischen Al­
nen der DG ECFIN ausgehend von einem im Ver­ terung auf die Gesundheitsausgaben »weit hinter
gleich zum EU25-Durchschnitt ähnlichen Ausga­ jenem des als moderat unterstellten technischen
benniveau von 1,0 % (EU25: 0,9 %) des BIP im Fortschritts der Medizin zurück bleibt« [32].
Jahr 2004 die Ausgaben für Langzeitpflege auf Aus der Fülle der Ergebnisse lässt sich
2,3 % des BIP im Jahr 2050 anwachsen. Damit schlussfolgern, dass der Gesundheitsausgabenan­
liegt Deutschland mit einem Ausgabenanstieg von stieg der vergangenen Jahrzehnte weniger stark
projizierten 1,3 Prozentpunkten über dem EU25­ demografisch beeinflusst war, sondern neben
Durchschnitt von 0,8 % [59]. Bei internationalen politischen Entscheidungen, wie Zugangs- und
Vergleichen ist zu berücksichtigen, dass bei der Angebotsausweitungen, insbesondere durch qua­
Abgrenzung für Ausgaben der Langzeitpflege litative Verbesserungen infolge des medizinisch­
(long-term care) z. T. erhebliche Unterschiede be­ technischen Fortschritts ausgelöst wurde. Sowohl
stehen. Bei allen Unterschieden in der Methodik in retrospektiven Ausgabenanalysen [22] als auch
zeigt sich dennoch, dass die Ausgabenanstiege für in prospektiven Modellrechnungen [72] wird dem
Langzeitpflege in engem Zusammenhang mit der medizinisch-technischen Fortschritt wesentlich
demografischen Alterung stehen, weil die Nach­ mehr Bedeutung beigemessen, als der demogra­
frage nach Pflegeleistungen mit höherem Alter fischen Alterung.
deutlich ansteigt. Einfluss auf die Ausgaben im Gesundheits­
Neben der Ausgabenprojektion der Europäi­ wesen hat ganz wesentlich die wirtschaftliche
schen Kommission gibt es eine Reihe von Unter­ Entwicklung eines Landes, u. a. die Einkommens­
suchungen, die sich speziell mit der Ausgaben- entwicklung der Beschäftigten und die Kapital­
und Beitragssatzentwicklung innerhalb der GKV investitionen im Gesundheitswesen im Vergleich
beschäftigen: Die Berechnungen des Deutschen zur Gesamtwirtschaft. Je nach gewähltem Sze­
Instituts für Wirtschaftsforschung berücksichti­ nario fällt dieser Einfluss unterschiedlich aus.
gen in einer Projektion der GKV-Ausgaben bei­ Die Gesundheitsausgaben werden zudem vom
spielsweise zusätzlich die Nachfrageentwicklung Lebensstandard eines Landes beeinflusst und
innerhalb einzelner Leistungsbereiche [69]. Ver­ damit von der Bereitschaft der Bevölkerung, bei
änderungen der Altersstruktur in den einzelnen steigendem Einkommen einen größeren Teil in
Leistungsbereichen betreffen besonders den Kran­ Gesundheit zu investieren [59].
kenhausbereich. Demzufolge wird bis 2050 der Die Ausgabenszenarien der Europäischen
Anteil der Leistungsausgaben für die ambulante Kommission führen den weniger steilen Verlauf
ärztliche und zahnärztliche Behandlung sinken, bei einer Kompression der Morbidität vor Au­
der Anteil des Krankenhausbereichs und der Heil- gen. Da viele chronische Krankheiten in engem
und Hilfsmittel hingegen zunehmen [69]. Zusammenhang mit der Lebensweise stehen,
Die projizierten GKV-Beitragssatzentwick­ können nach Einschätzung der Weltgesundheits­
lungen zeigen ausnahmslos eine Tendenz nach organisation bei Beseitigung der lebensstilrele­
oben, jedoch in höchst unterschiedlichem Aus­ vanten Risikofaktoren 80 % der Herzkrankheiten,
maß. Weil den Berechnungen unterschiedliche Schlaganfälle und Diabeteserkrankungen vom
Startbeitragssätze sowie verschiedene Bevöl­ Typ 2 sowie 40 % der Krebserkrankungen ver­
kerungsvorausberechnungen, Methodiken und hindert werden [74]. Das Bundesministerium für
Annahmen zu Grunde liegen, reichen die ge­ Gesundheit will daher die Gesundheitsförderung
262 Gesundheit und Krankheit im Alter

und Krankheitsprävention zu einer eigenstän­ Kranken- und Pflegeversicherung oder Ren­


digen Säule im Gesundheitswesen ausbauen [75]. tenversicherung, entstehen hohe Übergangs­
Aus ökonomischer Sicht bzw. unter Wohlfahrts­ kosten an den Schnittstellen, z. B. in Form
gesichtspunkten gibt es keinen Grund, nicht so­ von Verwaltungskosten oder Mehrfachunter­
gar einen noch größeren Anteil der Ressourcen suchungen [76].
in die Gesundheit zu investieren, insbesondere ▶ Infolge des Sachleistungsprinzips der GKV
dann nicht, wenn Investitionen in Form von Qua­ ist der Zusammenhang zwischen der Leis­
litätsverbesserungen und/oder Produktivitätsstei­ tungsinanspruchnahme und der Gesamt­
gerungen kompensiert werden [59]. ausgabenentwicklung für die Versicherten
und für die Leistungserbringer gleicherma­
ßen »unfühlbar« [9]. Infolgedessen kann ein
Systembedingte Faktoren: »Verantwortungsvakuum« der Beteiligten
Was Modellrechnungen nicht berücksichtigen nicht ausgeschlossen werden [9].

Im internationalen Vergleich werden mit Blick Weltweit stehen die Gesundheitssysteme der in­
auf ihre Ausgaberelevanz auch Faktoren disku­ dustrialisierten Länder vor ähnlichen Problemen
tiert, die mit der grundsätzlichen Ausgestaltung wie in Deutschland, nämlich einer steigenden
des Gesundheitswesens sowie gesundheitspoli­ Lebenserwartung und einem sich ändernden
tischen Regelungen im Zusammenhang stehen. Krankheitsspektrum. In Verbindung mit den
Sie sind beim Thema »medizinisch-technischer medizinisch-technischen Fortschritten trägt dies
Fortschritt« bereits angeklungen. Mit Blick auf zu einem Anstieg der Ausgaben bei [79]. Diesen
Deutschland wird dabei u. a. auf folgende system­ Herausforderungen begegnet jedes Land mit je
bedingte Besonderheiten hingewiesen: eigenen Reformansätzen. Weil Deutschland im
▶ Bezieher höherer Einkommen haben in europäischen Vergleich hohe Gesundheitsausga­
Deutschland, im Unterschied zu beispiels­ ben aufweist, werden auch Reformideen aus ande­
weise Frankreich und Österreich, eine Aus­ ren Ländern hinsichtlich ihres Vorbildcharakters
stiegsoption aus der GKV. Auch hauptberuf­ für das deutsche Gesundheitswesen diskutiert.
lich Selbständige, Beamtinnen und Beamte, Allerdings lassen sich nationale Lösungsansätze
Berufssoldatinnen und Berufssoldaten und des einen Gesundheitssystems selbst innerhalb
weitere Berufsgruppen sind in Deutschland vergleichbarer Finanzierungs- und Vergütungs­
nicht in die GKV integriert [76]. Die Konse­ systeme nicht ohne weiteres auf ein anderes Land
quenzen für die Einnahme- und Ausgabeent­ übertragen [79]. Die Frage, was an anderen Syste­
wicklung werden unterschiedlich beurteilt. men »gut« und daher übertragenswert wäre, kann
Einerseits gilt die PKV als unsolidarisch, weil in dieser Publikation nicht beantwortet werden.
sie potenziell jüngere, gesündere und ein­ Vielmehr ging es darum aufzuzeigen, welche Kon­
kommensstärkere Mitglieder hat, die sich der sequenzen die Herausforderung »demografische
Solidargemeinschaft entziehen können oder Alterung« für die Ausgabenentwicklung im Ge­
müssen [76]. Andererseits wird hervorgeho­ sundheitswesen haben und ob es daneben auch
ben, dass gerade die höheren Finanzierungs­ alterungsunabhängige und systemimmanente
beiträge der PKV dazu beitragen, den Kosten­ Einflussfaktoren gibt, die in den Diskussionen
druck in der GKV zu kompensieren [77]. leicht aus dem Blickfeld geraten.
▶ Eine Beitragsfinanzierung nach dem Umla­
geverfahren wie in der GKV gilt als besonders
»demografieanfällig«, jedoch sind auch steu­ 5.3.4 Wird die Bedeutung der demografischen
erfinanzierte Systeme direkt abhängig von Alterung für die Ausgabenentwicklung
der volkswirtschaftlichen Entwicklung und überschätzt?
der politischen Prioritätensetzung [78].
▶ Durch die relativ starke sektorale Gliederung Welche Bedeutung hat nun alles in allem die Alte­
beispielsweise zwischen stationärer und am­ rung für die Ausgabenentwicklung innerhalb des
bulanter Versorgung, aber auch zwischen Gesundheitswesens? Grundsätzlich gilt: Die Zu­
Gesundheit und Krankheit im Alter 263

kunft ist offen. Je größer der in Modellrechnungen kungen an. Die Ausgaben für Gesundheit hängen
anvisierte Zeithorizont ist, desto unkalkulierbarer im Wesentlichen von dem – wie auch immer gear­
wird er [80]. Die vielen Versuche, die Gesundheits­ teten – Ressourceneinsatz für die gesundheitliche
ausgabenentwicklung der nächsten Jahrzehnte zu Versorgung ab, der wiederum von nachfrageseiti­
schätzen, werden dem Bedürfnis zugeschrieben, gen, angebotsseitigen und systembedingten Fak­
die künftige Ausgabenentwicklung durch gegen­ toren beeinflusst wird.
wärtiges Handeln weitestgehend steuern zu wol­ Der Wirkungsmechanismus auf das Aus­
len [22]. Analysen zum Ausgabengeschehen im gabengeschehen im Gesundheitswesen bleibt
Gesundheitswesen sind dabei – wie andere Aus­ insgesamt vielschichtig und komplex. Die ökono­
wertungen auch – grundsätzlich durch das verfüg­ mischen Überlegungen eher relativierend, liegt in
bare Datenmaterial begrenzt. der Verknüpfung von Alter und Gesundheit mög­
Angaben zum Alter und Geschlecht der licherweise der individuelle wie gesellschaftliche
untersuchten Bevölkerungsgruppe stellen ver­ Wunsch begründet, bei guter Gesundheit zu al­
breitete demografische Merkmale in gesund­ tern. Das Thema »Gesundheit und Alter(n)« rückt
heitsbezogenen Datenquellen dar. Entsprechend daher vermehrt in den Blickpunkt der Öffentlich­
häufig – auch in Ermangelung alternativer oder keit. »Aktiv leben – gesund alt werden« war be­
ergänzender Merkmale – werden Ausgaben- oder reits Motto des Weltgesundheitstags 1999. Seither
Kostenentwicklungen alters- und geschlechtsspe­ ist gesundes Altern ein Arbeitsschwerpunkt der
zifisch ausgewertet und schließlich zur Erklärung Gesundheitsförderung, z. B. der Bundesvereini­
bestimmter Entwicklungen im Gesundheitswe­ gung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.
sen herangezogen. Die Altersstruktur wird dann oder des Deutschen Forums Prävention und Ge­
zu einem oder »dem« erklärenden Merkmal sundheitsförderung [82] (vgl. Kapitel 3.4). Auch
der Höhe der Gesundheitsausgaben, die demo­ die Europäische Kommission hat das Altern bei
grafische Alterung zum zentralen Einfluss auf guter Gesundheit als ein Kernthema für ihre um­
die Gesundheitsausgabenentwicklung im Zeit­ fassende Gesundheitsstrategie gewählt [83].
verlauf. Eine andere Variante, die Ursachen der
Ausgabenentwicklung zu deuten, liefern Beiträge,
die ausgehend von Ausgabenentwicklungen auf Literatur
Morbiditätsentwicklungen schließen. So interpre­
tierte beispielsweise das Bundesministerium für 1. Simon M (2005) Das Gesundheitssystem in Deutsch­
land – Eine Einführung in Struktur und Funktionswei­
Gesundheit den im Vergleich zu den Vorjahren se. Verlag Hans Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle
nur moderaten Ausgabenanstieg der sozialen Pfle- 2. Meidenbauer T (2005) Das Wachstum der Gesund­
geversicherung als ersten Beleg für die These des heitsausgaben – Determinanten und theoretische
»immer gesünderen Alterns« in Bezug auf Pfle- Ansätze. Wirtschaftswissenschaftliche Diskussions­
papiere Nr. 07-05, Universität Bayreuth
gebedürftigkeit [81], schloss also von einem Aus­ 3. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwick­
gabenrückgang auf einen Morbiditätsrückgang. lung im Gesundheitswesen (2007)
Zielsetzung dieses Kapitels war es unter Vermei­ www.svr-gesundheit.de/Startseite/Startseite.htm
dung monokausaler Deutungen herauszuarbei­ (Stand: 26.10.2007)
4. Schimany P (2003) Die Alterung der Gesellschaft –
ten, dass Ausgabenentwicklungen zwar von der Ursachen und Folgen des demografischen Umbruchs.
gesundheitlichen und demografischen Entwick­ Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main
lung nicht gänzlich entkoppelt, aber auch nicht 5. Statistisches Bundesamt (2008) Preise, Verbraucher­
ausschließlich damit erklärt werden können, wie preisindizes für Deutschland – Eilbericht – April 2008
– Fachserie 14, Reihe 7. Wiesbaden
die systematische Darstellung des zunächst un­ 6. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im
übersichtlichen Bündels verschiedener Einfluss­ Gesundheitswesen (2003) Finanzierung, Nutzerori­
faktoren zeigen konnte. Abschließend sei daher entierung und Qualität, Band I Finanzierung und Nut­
nochmals betont: Das Alter an sich muss keine zerorientierung, Band II Qualität und Versorgungs­
strukturen. Gutachten 2003 Kurzfassung
größere gesundheitliche Belastung und Pflegebe­ 7. Statistisches Bundesamt (2008) Gesundheitsausga­
dürftigkeit bedeuten (vgl. Kapitel 2). Nicht kausal benrechnung, Gesundheitsausgaben in Deutschland
durch das hohe Alter, sondern entwicklungsbezo­ als Anteil am BIP
gen im hohen Alter steigt das Risiko für Erkran­
264 Gesundheit und Krankheit im Alter

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Bundes. Robert Koch-Institut, Berlin Diskussionspapier Nr. 5, Universität Magdeburg
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266 Gesundheit und Krankheit im Alter

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3.09.2007)
Gesundheit und Krankheit im Alter 267

5.4 Ältere Menschen als Kundinnen und Kunden der Gesundheitswirtschaft


und als Anbietende von Gesundheitsleistungen
Silke Mardorf, Karin Böhm

Kernaussagen steigende Nachfrage nach Gesundheitsgütern


und -dienstleistungen auf die Beitragssätze in
1. Seit einigen Jahren richtet sich das Augen­ der GKV (Gesetzliche Krankenversicherung)
merk von Wirtschaft, Wissenschaft und bzw. die Prämien in der PKV (Private Kranken­
Politik vermehrt auf Nachfrage- und Be­ versicherung) auswirken? Seit Mitte der 1990er­
schäftigungseffekte einer älter werdenden Jahre richtet sich das Augenmerk von Wirtschaft,
Gesellschaft für das Gesundheitswesen. Wissenschaft und Politik vermehrt auch auf die
2. Im Zeitraum von 1993 bis 2003 stieg in den Wachstums- und Beschäftigungseffekte einer älter
Privathaushalten neben den Ausgabenbe­ werdenden Gesellschaft für die Gesundheitswirt­
reichen Wohnen und Energie nur der Anteil schaft [1]. Damit ist ein entscheidender Perspek­
der Konsumausgaben im Bereich Gesund­ tivenwechsel für die Gesundheit verbunden, der
heitspflege an. auch dieses Kapitel leitet. Entsprechend stehen im
3. Die Konsumausgaben für Gesundheitspfle­ Folgenden weniger die Konsequenzen einer älter
ge steigen mit dem Alter der Haupteinkom­ werdenden Gesellschaft für das Ausgaben- und
mensbezieherinnen und -bezieher an und Finanzierungsgeschehen im Gesundheitswesen
liegen in älteren Haushalten weit über den im Mittelpunkt, sondern die Nachfrage- und Be­
entsprechenden Ausgaben jüngerer Haus­ schäftigungsentwicklung auf dem Gesundheits­
halte. markt als produktiven und wertschöpfenden Teil
4. Verglichen mit anderen Wirtschaftsbereichen der Volkswirtschaft [2, 3, 4]. Zur Unterscheidung
des tertiären Sektors weist das Gesundheits­ der Begrifflichkeiten »Gesundheitswesen« und
wesen einen leicht über dem Durchschnitt »Gesundheitswirtschaft« siehe Tabelle 5.4.1.1.
liegenden Beschäftigungszuwachs auf, um­
gerechnet in volle tarifliche Arbeitszeiten
(Vollzeitäquivalente) zeigt sich jedoch ein 5.4.2 Der Beitrag alter Menschen zur
leichter Rückgang. Gesundheitswirtschaft
5. Ältere Menschen verwenden häufiger und
insgesamt mehr Zeit für häusliche Pflege Je nach begrifflicher Abgrenzung und in Abhän­
und informelle Hilfen als jüngere. Ältere sind gigkeit von den Fragestellungen und Datengrund­
demnach nicht nur Konsumierende, sondern lagen werden der Gesundheitswirtschaft unter­
auch Anbietende von Gesundheitsleistungen, schiedliche Branchen zugeordnet [2, 6, 7, 8]. Viele
z. B. im Bereich der Angehörigenpflege. Abgrenzungsvorschläge sind im Kern auf eine
Darstellung des Instituts für Arbeit und Technik
zur Senioren- und Gesundheitswirtschaft zurück­
5.4.1 Milliardenschwerer Ausgabenposten zuführen, in der die zugeordneten Branchen in
und produktiver Wirtschaftszweig: konzentrischen Schichten um den Kernbereich
Die zwei Seiten der Gesundheit der (teil-)stationären und ambulanten Gesund­
heitsversorgung liegen (vgl. Abbildung 5.4.2.1).
Das Thema Gesundheitsversorgung bei demogra­ Die Branchen reichen von den Apotheken über
fischer Alterung wurde von der Fachöffentlich­ das Gesundheitshandwerk (innere Schichten) bis
keit lange Zeit vor allem unter dem Aspekt der zu Nachbarzweigen des Gesundheitswesens, wie
(künftigen) Finanzierbarkeit der sozialen Siche­ Freizeit- und Wellnessangeboten, Gesundheits­
rungssysteme diskutiert. Im Fokus stand dabei tourismus und Wohnen im Alter (äußere Schich­
die Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen, ten). Die Gesundheitswirtschaft ist demnach keine
speziell die Frage: Wie wird sich eine potenziell fest umrissene Branche, sondern ein Konglomerat
268 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 5.4.1.1
Gesundheitswesen und Gesundheitswirtschaft: Zwei Blickrichtungen
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an [2, 3, 4, 5]

Gesundheitswesen Gesundheitswirtschaft
Blickrichtung sozialpolitisch, marktwirtschaftlich,
wohlfahrtsstaatlich volkswirtschaftlich
Gesundheitsgüter … »konsumiert« und vom Sozial­ … »produziert« und tragen zum Wirt­
und -leistungen staat zur Verfügung gestellt schafts- und Beschäftigungswachstum
werden … (konsumtiver Wohlfahrtssektor) bei (produktiver Wirtschaftszweig)
im Fokus der … steht die Ausgabenentwick­ … stehen branchenspezifische Entwick­
Analysen … lung einzelner Ausgabenträger lungen in der Gesundheitswirtschaft

verschiedener im weiteren Sinn gesundheitsbe­ ohne die Vermittlung der GKV und PKV erfolgen,
zogener Zweige. Sie wird mit Blick auf die demo­ also zu den direkten Käufen der Konsumentinnen
grafische Alterung und die damit verbundenen und Konsumenten zählen.
Bedarfe älterer Menschen nach gesundheitsbe­ Nach den Ergebnissen der Gesundheitsaus-
zogenen Gütern und Leistungen auch Senioren­ gabenrechnung zahlten die privaten Haushalte
wirtschaft genannt [7]. Wesentlich ist, dass vielen und privaten Organisationen ohne Erwerbszweck,
Abgrenzungen zufolge der Gesundheitswirtschaft die öffentlichen Haushalte sowie die öffentlichen
ergänzend jene Bereiche zugeordnet werden, die und privaten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber

Abbildung 5.4.2.1
Senioren- und Gesundheitswirtschaft
Quelle: [7]

Freizeitindustrie

Bildung
Medizin- und
Sport Gerontotechnologie
Bio­
techno­ Gesundheits- und
logie Sozialverwaltung Ge­
sunde
Gesund­ Ernäh­
Stationäre und heits­ rung
Gesund­ Handel
ambulante hand­
heits- mit Ge­ Selbst­
Gesundheits­ Apo­ werke
Touris­ sund­ hilfe
versorgung theken
mus heits­
Altenhilfe
produk­
ten
Prävention und
Kultur­
Rehabilitation Beratung wirt­
Pharmazeutische schaft
Well­ Industrie
ness

Service-Wohnen/
Betreutes Wohnen
Gesundheit und Krankheit im Alter 269

im Jahr 2006 insgesamt fast 76 Milliarden Euro rigen und 22 % der 66-Jährigen und Älteren [9].
direkt für den Kauf von Gesundheitsgütern und Auch scheint die subjektive Gesundheitseinschät­
-leistungen. Davon entfielen rund 35 Milliarden zung keinen entscheidenden Einfluss auf das
Euro (46 %) auf die privaten Haushalte und pri­ Angebot oder die Inanspruchnahme von IGeL zu
vaten Organisationen ohne Erwerbszweck. Die haben. Vielmehr zeigt sich, dass Bildung, Einkom­
Gesundheitsausgabenrechnung lässt jedoch kei­ men und Erwerbsstatus der Versicherten von grö­
ne Rückschlüsse auf den konkreten Umfang der ßerer Bedeutung sind, als die Höhe des Alters und
Zuzahlungen und direkten Käufe insbesondere der selbst eingeschätzte Gesundheitszustand. So
der älteren Menschen zu. Im Folgenden wird da­ steigt auf Basis der Versichertenauskünfte das An­
her zunächst die wirtschaftliche Bedeutung aus­ gebot und die Inanspruchnahme von privat zu zah­
gewählter Gesundheitszweige beleuchtet, die sich lenden Gesundheitsleistungen mit zunehmender
auch oder in besonderer Weise an die Zielgruppe Schulbildung und Haushaltsnettoeinkommen
der Älteren richtet. Im zweiten Schritt werden die kontinuierlich an [9]. Ähnliche Zusammenhänge
Struktur und Entwicklung der Konsumausgaben zeigen die Ergebnisse des GKV-Arzneimittelindex
von Seniorenhaushalten im Bereich Gesundheits­ in Kombination mit einer Repräsentativ-Umfrage
pflege in den Blick genommen. unter 3.000 GKV-Versicherten im Jahr 2005 im
Bereich der Arzneimittelverordnungen und der
direkten Käufe von Arzneimitteln (Selbstmedika­
Ausgewählte Zweige des Gesundheitsmarkts tion) (siehe Tabelle 5.4.2.1).
Je höher das Haushaltsnettoeinkommen und
Ein Beispiel für einen bedeutsamer werdenden die Schulbildung der Versicherten sind, desto
Zweig des Gesundheitsmarkts stellen die indivi­ mehr frei verkäufliche Arzneimittel werden hin­
duellen Gesundheitsleistungen (IGeL) dar. Sie zugekauft. Anders als bei den IGeL weisen Arznei­
umfassen Leistungsangebote, die durch die GKV mittelverordnungen und Selbstmedikation einen
nicht abgedeckt werden, weil sie nicht zum GKV- starken Alterszusammenhang auf [11]. Gesetzlich
Leistungskatalog gehören. IGeL müssen somit Krankenversicherten im Alter von 60 Jahren und
von den Versicherten privat finanziert werden. älter wurden im Jahr 2004 im Schnitt 16 Arznei­
Hierzu zählen individuelle Beratungen und be­ mittel verordnet. Hinzu kamen im Mittel 7 privat
stimmte Impfungen sowie Leistungen, die in gekaufte Präparate durch Selbstmedikation. Äl­
ihrer Notwendigkeit umstritten sind, z. B. ergän­ teren Menschen werden damit durchschnittlich
zende Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, nicht nur in stärkerem Umfang Arzneimittel
Augeninnendruckmessungen oder alternative verordnet, sie erwerben selbst auch häufiger zu­
Heilverfahren wie Akupunktur [9]. sätzliche Arzneimittel [11]. Abbildung 5.4.2.2 zeigt
Während die wirtschaftliche Bedeutung von die GKV-Arzneimittelverordnungen in definierten
IGeL bei Haus- und Fachärzten sowie die durch­ Tagesdosen nach Alter der Versicherten.
schnittlichen IGeL-Umsätze der Praxen dokumen­ Im Schnitt entfielen im Jahr 2006 auf jeden
tiert sind [10], können Informationen darüber, wie Versicherten 8 Arzneimittel mit 419 definierten
viel davon auf den Konsum älterer Menschen zu­ Tagesdosen (DDD). Differenziert nach Alters­
rückzuführen ist, nur indirekt über die Nachfrage gruppen wird sichtbar, dass die Medikation der
abgeleitet werden. Nach Ergebnissen einer Pa­ höheren Altersgruppen die der jüngeren um ein
tientenbefragung, der »IGeL-Studie« des Wissen­ Vielfaches übertrifft. Auf die 75 bis 79-Jährigen
schaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen aus entfiel ein Maximum an 1.270 Tagesdosen je GKV-
dem Jahr 2005, wird deutlich, dass älteren Men­ Versicherten, etwa viermal so viel, wie bei den
schen etwas seltener als Jüngeren IGeL angeboten Versicherten insgesamt. Auf die Versicherten im
werden bzw. sie diese etwas seltener in Anspruch Alter von 60 Jahren und älter entfielen demnach
nehmen. Die Frage, ob im Laufe der letzten 12 55 % der gesamten GKV-Fertigarzneimittelverord­
Monate in einer Arztpraxis ärztliche Leistungen nungen. Das entspricht in etwa dem Doppelten
als Privatleistungen angeboten oder in Rechnung ihres Bevölkerungsanteils (27 %) [12]. Obwohl die
gestellt worden sind, bejahten 27 % der 40 bis Anzahl der Arzneimittelverordnungen für ältere
49-jährigen Versicherten, 26 % der 50 bis 65-Jäh­ Menschen mit der im Alter häufig stattfindenden
270 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 5.4.2.1 ein Marktvolumen von 37,6 Milliarden Euro (End­


Arzneiverordnungen 2004 und Selbstmedikation 2005 preise) erwirtschaftet [14]. Deutschland ist damit
je GKV-Versicherten nach Altersgruppen (Schätzung)
Quelle: [11]
im internationalen Vergleich der drittgrößte Markt
für Arzneimittel [14]. Besonders hohe Umsätze
Altersgruppe Verordnungen Selbstmedikation und Umsatzzuwächse waren in den Jahren 2001
2004* 2005** bis 2006 bei den rezeptpflichtigen Arzneimit­
15 – 29 Jahre 2,9 5,2 teln zu beobachten (+ 5,8 Milliarden Euro). Aber
30 – 39 Jahre 3,4 6,0
auch die Umsätze im Bereich der Selbstmedi­
kation – hierbei handelt es sich häufig um nicht
40 – 49 Jahre 4,9 6,4
erstattungsfähige, aber ärztlich empfohlene
50 – 59 Jahre 9,3 4,8 Medikamente – stiegen bis zum Jahr 2005 an
60 Jahre und älter 15,9 7,2 (+ 0,5 Milliarden Euro), bevor sie im Jahr 2006
Gesamt 8,1 6,0 einen Umsatzrückgang von über 0,2 Milliarden
* nach Angaben des GKV-Arzneimittelindex Juli 2005 Euro infolge des Gesetzes zur Verbesserung der
** Modellrechnung: hochgerechnet auf der Basis des IV. Quartals 2005 Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung
aufwiesen [15, 16]. Nach Angaben des Verbands
Forschender Arzneimittelhersteller e.V. wurden
Mehrfachmedikation aufgrund von Multimorbi­ Umsatzsteigerungen bis zum Jahr 2005 im GKV-
dität zusammenhängt, wird in der Literatur auch Arzneimittelmarkt insbesondere durch einen
auf eine ökonomisch motivierte Medikalisierung erhöhten Verbrauch (Zunahme der verordneten
älterer Menschen hingewiesen [13]. Tagesdosen) und Innovationen erzielt. Die An­
»Die wirtschaftliche Basis der Pharma-In­ wendungsgebiete neuer Wirkstoffe liegen in den
dustrie ist ... gut«, so der Verband Forschender Bereichen Infektionen, Krebs und Herz-Kreislauf
Arzneimittelhersteller e.V. [14]. Aus Sicht des [14]. Als wichtigste Ursache für krankheitsbezo­
Verbandes gilt die pharmazeutische Industrie als gene Umsatzsteigerungen werden Krebserkran­
eine der wichtigsten Zukunftsbranchen, auch im kungen, rheumatoide Arthritis und Neuroleptika/
Hinblick auf die demografische Alterung. Im Jahr Antipsychotika genannt [14].
2006 haben die pharmazeutischen Unternehmen

Abbildung 5.4.2.2
Definierte Tagesdosen je GKV-Versicherten 2006 nach Altersgruppen*
Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK, GKV-Arzneimittelindex

1.400

1.200

1.000

800

600

400

200

5–9 15–19 25–29 35–39 45–49 55–59 65–69 75–79 85–89 gesamt
unter 5 10–14 20–24 30–34 40–44 50–54 60–64 70–74 80–84 90+
Altersgruppe
* Arzneimittel, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet wurden
Gesundheit und Krankheit im Alter 271

Neben dem Arzneimittel- und dem IGeL- aller privaten Haushalte. Der Anteil der Senioren­
Markt gilt auch die Medizintechnik als ein pros­ haushalte an allen hochgerechneten Haushalten
perierender Zweig innerhalb der Gesundheits­ innerhalb der EVS betrug 27 %. Pro Kopf verfügte
wirtschaft. Ihr Produktionsspektrum reicht von ein Seniorenhaushalt im Jahr 2003 über eine
Computer-Tomografen über Hörgeräte bis hin zu durchschnittliche Kaufkraft von ca. 18.000 Euro.
künstlichen Hüftgelenken und Rollstühlen. Me­ Das waren – auch aufgrund der geringeren Haus­
dizintechnik richtet sich also in besonderer Weise haltsgröße – über 1.000 Euro mehr Kaufkraft pro
auch an die Zielgruppe der Älteren. Deutschland Jahr und Kopf als bei der Altersgruppe mit den
ist weltweit der drittgrößte Markt für Medizinpro­ höchsten durchschnittlichen ausgabefähigen Ein­
dukte und dominiert den Markt innerhalb der Eu­ kommen, den 45- bis 54-Jährigen [20].
ropäischen Union, gemessen an Wertschöpfung Die Pro-Kopf-Kaufkraft errechnet sich aus
und Beschäftigung [17]. den ausgabefähigen Einkommen der jeweiligen
Vom Gesundheitsmarkt insgesamt gehen Haushalte dividiert durch die durchschnittliche
darüber hinaus wichtige Impulse auf andere Personenzahl je Haushalt. Zu berücksichtigen
Wirtschaftszweige aus, die anhand von Input­ ist erstens, dass in den Haushalten der 45- bis
Output-Verflechtungen, die Gegenstand der 54-Jährigen Haupteinkommensbezieherinnen
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) und Haupteinkommensbezieher im Schnitt eine
sind, nachvollzogen werden können. Die größten Person mehr lebt (rund 2,5 Personen je Haushalt)
Impulse wirken auf die Bereiche Groß- und Ein­ als in Seniorenhaushalten (rund 1,5 Personen).
zelhandel, Transportleistungen, Bildungswesen, Zweitens werden nicht zwangsläufig »reine«
Nahrungsmittel sowie Grundstücks- und Woh­ Seniorenhaushalte in der EVS erfasst, sondern
nungswesen [18]. Haushalte, deren Haupteinkommensbeziehe­
rinnen und -bezieher 65 Jahre und älter sind.
Weitere Haushaltsmitglieder mit geringeren aus­
Konsumausgaben für die Gesundheitspflege gabefähigen Einkommen können folglich älter
(das entspräche reinen Seniorenhaushalten) oder
Der quantitative Beitrag alter Menschen zum jünger sein. Nach Ergebnissen des Mikrozensus
Wachstum der Gesundheitswirtschaft kann auch aus dem Jahr 2003, dem Erhebungsjahr der EVS,
an Kenngrößen wie Konsumausgaben und -quo­ zählten 8,6 Millionen Haushalte zu den »reinen«
ten sowie Kaufkraft gemessen werden [3, 19]. Die Seniorenhaushalten – das sind 22 % aller privaten
nachfolgenden Ergebnisse fußen auf der Ein­ Haushalte. In 7 % aller Haushalte (2,7 Millionen)
kommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), eine lebten ältere mit jüngeren Menschen zusammen.
amtliche Statistik, die fünfjährlich (zuletzt 2003) Damit war in 29 % der privaten Haushalte min­
über die Lebensverhältnisse privater Haushalte destens eine Person im Seniorenalter [21]. Etwa
in Deutschland informiert. Erfasst werden u. a. 82 % ihres ausgabefähigen Einkommens verwen­
die Konsumausgaben privater Haushalte, deren deten Seniorenhaushalte für den privaten Kon­
Ausstattung mit Gebrauchsgütern sowie die Ein­ sum (Konsumquote). Im Bundesdurchschnitt
kommens-, Vermögens- und Schuldensituation. aller Haushalte lag die Konsumquote bei 76 %
Private Haushalte mit einem monatlichen Haus­ und bei Haushalten mit Haupteinkommensbe­
haltsnettoeinkommen von 18.000 Euro und mehr zieherinnen und -beziehern unter 65 Jahren bei
sowie Personen in Anstalten und Gemeinschafts­ 74 %. In Seniorenhaushalten ist aufgrund der im
unterkünften sind nicht berücksichtigt. Zur Ein­ Schnitt niedrigeren Haushaltseinkommen und
kommenssituation älterer Menschen vgl. Kapitel Einnahmen die Konsumquote höher (siehe Ab­
3.1. bildung 5.4.2.3).
Die Gruppe der Haushalte mit Haupteinkom­ Altersspezifische Unterschiede im Konsum­
mensbezieherinnen und -beziehern im Alter von verhalten zeigen sich besonders im Bereich Ge­
65 Jahren und älter (im Folgenden: Seniorenhaus­ sundheitspflege. Die entsprechenden Ausgaben
halte) verfügte im Jahr 2003 über eine monatliche weisen eine Spanne von monatlich 20 Euro bei
Kaufkraft von rund 23 Milliarden Euro, das waren Haushalten mit unter 25-jährigen Haupteinkom­
21 % der Gesamtkaufkraft (108 Milliarden Euro) mensbezieherinnen und -beziehern bis zu 125
272 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 5.4.2.3
Ausgabefähige Einkommen und Einnahmen, Konsumausgaben und Konsumquoten privater Haushalte
nach Alter der Haupteinkommensbezieherin/des Haupteinkommensbeziehers 2003
Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003, Sonderauswertung

je Haushalt und Monat in Euro


3.500

3.000

2.500

2.000

1.500

ausgabenfähige
1.000 73,7% 82,0% 75,5%
Einkommen/Einnahmen

500 Konsumausgaben

unter 65 65+ gesamt

Altersgruppe

Euro bei Haushalten mit 65- bis unter 70-jährigen sundheitspflege. Gebrauchsgüter umfassen z. B.
Haupteinkommensbezieherinnen und -beziehern Hörgeräte, Heizkissen, Brillengläser, Zahnersatz
auf. Gesundheitspflege zählt zu den Bereichen, und Blutdruckmessgeräte. Zu den Verbrauchs­
in denen Seniorenhaushalte überdurchschnittlich gütern zählen u. a. Medikamente (einschließ­
viel zum Konsum beitragen. Mit 116 Euro monat­ lich Eigenanteile und Rezeptgebühren), Salben,
lich gaben die Seniorenhaushalte einen weit über Spritzen, Wärmflaschen und Verbandsstoffe.
dem Durchschnitt jüngerer Haushalte (73 Euro) Ärztliche und zahnärztliche Leistungen inklusi­
liegenden Betrag für Gesundheitspflege aus. Beim ve Praxisgebühren, Leistungen von Laboratorien,
Vergleich aller Konsumausgabenbereiche privater Physiotherapeuten oder Heilpraktikern sowie Kur­
Haushalte zeigt sich folgendes Bild: Während die aufenthalte sind Dienstleistungen der Gesund­
jüngeren privaten Haushalte mit Haupteinkom­ heitspflege.
mensbezieherinnen und -beziehern unter 65 Die Ausgaben im Bereich der Gebrauchsgü­
Jahren in allen Ausgabenbereichen des privaten ter für Gesundheitspflege lagen im Jahr 2003 bei
Konsums mit Ausnahme des Bereichs Gesund­ den Seniorenhaushalten im Schnitt um 6 Euro
heitspflege über dem Durchschnitt liegende Aus­ höher als beim Durchschnittshaushalt (23 statt 17
gaben aufweisen, verhält es sich bei den Senio­ Euro monatlich). Hinter den Durchschnittsanga­
renhaushalten genau umgekehrt (siehe Abbildung ben verbirgt sich eine erhebliche Ausgabenspan­
5.4.2.4). Jüngere Haushalte gaben monatlich 11 ne. Besonders deutlich wird das beim Zahnersatz:
Euro weniger für Gesundheitspflege aus, Senio­ Diejenigen Seniorenhaushalte, die im Jahr 2003
renhaushalte 32 Euro mehr als ein Durchschnitts­ tatsächliche Ausgaben für Materialkosten beim
haushalt. Gesundheitspflege ist damit der einzige Zahnersatz (einschl. Eigenanteil) hatten, lagen bei
Konsumausgabenbereich, bei dem Seniorenhaus­ mittleren 117 Euro pro Monat. Das ist ca. 15-mal
halte mehr als der Durchschnitt ausgeben. mehr im Vergleich zum Durchschnittshaushalt,
Die EVS unterscheidet zwischen Ge- und Ver­ der dafür weniger als 8 Euro monatlich ausgab.
brauchsgütern sowie Dienstleistungen in der Ge­ Für orthopädische Schuhe gab ein privater Haus­
Gesundheit und Krankheit im Alter 273

Abbildung 5.4.2.4
Monatliche Differenz der Konsumausgaben privater Haushalte 2003 nach Konsumbereichen und Alter
der Haupteinkommensbezieherin/des Haupteinkommensbeziehers im Vergleich zu den Haushalten insgesamt
Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003, Sonderauswertung

Differenz in Euro
60

40

20

–20 unter 65 Jahre

–40 65 Jahre und älter

–60

–80

–100

–120

–140
Innenausstattungen,
Haushaltsgeräte und -gegenstände
Nahrungsmittel, Getränke und
Tabakwaren

Bekleidung und Schuhe

Wohnen, Energie und


Wohnungsinstandhaltung

Gesundheitspflege

Verkehr

Nachrichtenübermittlung

Freizeit, Unterhaltung und Kultur

Bildungswesen

Beherbergungs- und
Gaststättendienstleistungen

andere Waren und


Dienstleistungen

halt im Mittel 47 Cent aus, ein Seniorenhaushalt Verbrauchsgüter der Gesundheitspflege ausgab.
70 Cent und Seniorenhaushalte, die tatsächlich Die Ausgaben der Haushalte mit 80-jährigen und
orthopädische Schuhe kauften, gaben dafür 34 älteren Haupteinkommensbezieherinnen und
Euro im Monatsmittel aus. Das übersteigt den -beziehern lagen in einzelnen Bereichen zum Teil
Bundesdurchschnitt um den Faktor 72. Auch bei mehr als doppelt so hoch wie beim Durchschnitt.
den Reparaturen therapeutischer Geräte und Aus­ Ähnliches gilt auch für die Dienstleistungen im
rüstungen lag der Faktor bei 32. Bereich Gesundheitspflege. Während die Haus­
Für Verbrauchsgüter der Gesundheitspflege halte insgesamt im Mittel 40 Euro für Dienst­
gaben Seniorenhaushalte im Jahr 2003 durch­ leistungen im Bereich Gesundheitspflege auf­
schnittlich 41 Euro im Monat aus. Zum Ver­ brachten, hatten die Seniorenhaushalte Ausgaben
gleich: Das ist das 1,5-fache der Ausgaben eines von 52 Euro monatlich, die Haushalte mit 65- bis
Durchschnittshaushalts, der rund 27 Euro für 69-jährigen Haupteinkommensbezieherinnen
274 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 5.4.2.5
Konsumausgaben privater Haushalte im Bereich Gesundheitspflege nach Alter
der Haupteinkommensbezieherin/des Haupteinkommensbeziehers 2003
Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003, Sonderauswertung

je Haushalt und Monat in Euro


70

60

50

Gebrauchsgüter
40
Verbrauchsgüter
30
Dienstleistungen
20

10

unter 25 25–34 35–44 45–54 55–64 65–69 70–79 80+ gesamt


Altersgruppe

und -beziehern lagen bei 59 Euro monatlich (siehe Bemerkenswert ist schließlich ein im Zeit­
Abbildung 5.4.2.5). raum 1993 bis 2003 um 12 Prozentpunkte ge­
Über einen 10-Jahreszeitraum zeigt die Struk­ stiegener Ausgabenanteil der Gebrauchsgüter für
tur der Konsumausgaben privater Haushalte in Gesundheitspflege bei Haushalten mit Hauptein­
allen Altersklassen steigende Ausgabenanteile für kommensbezieherinnen und -beziehern im Alter
Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung von 70 Jahren und älter (Verbrauchsgüter + 4 Pro­
sowie sinkende Ausgabenanteile für Nahrungs­ zentpunkte). Entsprechend ist der Ausgabenanteil
mittel, Genusswaren und Tabakwaren. Aus Grün­ der Dienstleistungen für die Gesundheitspflege
den der Vergleichbarkeit mit früheren EVS-Daten im betrachteten Zeitraum erheblich gesunken
werden im Folgenden nicht die privaten Haus­ (– 16 Prozentpunkte) (siehe Abbildung 5.4.2.6).
halte mit Haupteinkommensbezieherinnen und Diese Tendenz ist auch bei den Haushalten ins­
-beziehern von 65 Jahren und älter, sondern 70 gesamt zu beobachten. Die steigenden Ausga­
Jahren und älter ausgewiesen. Eine sukzessive benanteile können zum Teil auf Teuerungen im
Verschiebung zu Gunsten der Ausgabenanteile Bereich der Ge- und Verbrauchsgüter, auf die ver­
für Gesundheitspflege ist vor allem bei den pri­ mehrte Eigenbeteiligung bei pharmazeutischen
vaten Haushalten mit Haupteinkommensbezie­ Erzeugnissen, Rezeptkosten und -gebühren sowie
herinnen und Haupteinkommensbeziehern von beim Zahnersatz zurückgeführt werden. Trotz des
70 Jahren und älter zu beobachten. Hier ist der relativ sinkenden Anteils (– 16 Prozentpunkte in
Anteil der Ausgaben für Gesundheitspflege von Seniorenhaushalten) sind in diesem Zeitraum
5 % im Jahr 1993 (60 Euro) auf über 6 % im Jahr die absoluten Ausgaben für Dienstleistungen der
2003 (111 Euro) gestiegen. Im selben Zeitraum hat Gesundheitspflege geringfügig angestiegen. Sie
sich der Anteil der Konsumausgaben für Gesund­ werden sich durch die Einführung der Praxis­
heitspflege bei den Haushalten insgesamt von 3 % gebühr zum 1. Januar 2004 in den nachfolgenden
(57 Euro) auf knapp 4 % (84 Euro) erhöht (siehe Jahren möglicherweise weiter erhöht haben. Ak­
Abbildung 5.4.2.6). tuelle Zahlen hierzu werden von der EVS 2008
erwartet.
Gesundheit und Krankheit im Alter 275

Abbildung 5.4.2.6
Struktur der Konsumausgaben privater Haushalte mit Haupteinkommensbezieherinnen und Haupteinkommensbeziehern
im Alter von 70 Jahren und älter für den Bereich Gesundheitspflege 1993, 1998 und 2003
Quelle: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, Sonderauswertung

Jahr/(Gesundheitspflege gesamt)

2003 (111 Euro)

Gebrauchsgüter

1998* (91 Euro) Verbrauchsgüter

Dienstleistungen

1993* (60 Euro)

0 20 40 60 80 100
Prozent
* 1993 und 1998: Umrechnung von DM in Euro.

5.4.3 Demografische Alterung als früheren Bundesgebiet nach Abgrenzungen der


Beschäftigungsmotor für die VGR in dem nicht weiter ausdifferenzierten Wirt­
Gesundheitswirtschaft? schaftsbereich »Gesundheits-, Veterinär- und
Sozialwesen« von rund 985.000 (3,7 % aller Er­
So bedeutend die demografische Alterung für die werbstätigen) auf über zwei Million Erwerbstätige
Einnahme- und Finanzierungsseite des Gesund­ (7,4 %) gestiegen [24, 25].
heitswesens ist, so sehr ist sie auch Hoffnungs­ Für die Entwicklung seit 1997 liefert die
träger der Gesundheitswirtschaft. Insbesondere Gesundheitspersonalrechnung des Statistischen
strukturschwache Regionen hoffen auf die stei­ Bundesamts jährlich Informationen zur beschäf­
gende Nachfrage nach »Gesundheit« und damit tigungspolitischen Relevanz des Gesundheitswe­
auf eine positive Beschäftigungsentwicklung. Dies sens. Die Gesundheitspersonalrechnung weist
zeigt sich unter anderem in jüngeren Studien und Beschäftigungsfälle nach und folgt dem Stich­
regionalen Schätzungen zur künftigen Entwick­ tagsprinzip zum Jahresende. Demnach waren
lung der Bruttowertschöpfung und der Erwerbs­ Ende 2006 rund 4,3 Millionen Personen in etwa
tätigenzahlen in der Gesundheitswirtschaft [2, 8, 800 Berufen im Gesundheitswesen tätig. Das
22]. sind etwa 10,6 % aller Beschäftigten in Deutsch­
Ist diese Hoffnung begründet? Zur Beant­ land und damit weitaus mehr als Beschäftigte in
wortung soll zunächst ein Blick auf die zurück­ der Automobilbranche oder der Elektroindustrie
liegende Beschäftigungsentwicklung im Ge­ [26]. Das Gesundheitswesen ist damit gemessen
sundheitswesen geworfen werden. Verglichen an der Beschäftigtenzahl die größte Wirtschafts­
mit anderen Wirtschaftsbereichen des tertiären branche in Deutschland. Seit dem Jahr 2000 stieg
Sektors weist das Gesundheitswesen durchaus die Beschäftigtenzahl im Gesundheitswesen um
ein überdurchschnittliches Beschäftigungswachs­ rund 219.000 Beschäftigte (+ 5 %) an. Von 1997
tum auf [23]. Allerdings ist das Beschäftigungs­ bis 2000 war dagegen ein leichter, aber konti­
wachstum im Vergleich zur Gesamtwirtschaft als nuierlicher Rückgang des Gesundheitspersonals
nahezu durchschnittlich zu bezeichnen. Im Zeit­ um 20.000 Beschäftigte beziehungsweise 0,5 %
raum 1970 bis 1996 sind die Erwerbstätigen im zu beobachten. Beide Entwicklungen zusammen
276 Gesundheit und Krankheit im Alter

führten zu einem Zuwachs im Gesundheitswe­ des Outsourcings nicht mehr dem Gesundheits­
sen um gut 198.000 Beschäftigte beziehungswei­ wesen zugeordnet und damit nicht mehr in der
se 4,8 % im Zeitraum von 1997 bis 2006. Dieser Gesundheitspersonalrechnung erfasst wird. Das
Beschäftigungszuwachs liegt leicht über dem der Beschäftigungswachstum im Gesundheitswesen
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. wird dadurch deutlich gebremst.
Aufgrund seiner personalintensiven Leis­ Da im Gesundheitsbereich vielfach und ver­
tungserstellung kommt vor allem dem Gesund­ mehrt Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte tätig
heitsbereich im engeren Sinne eine große Be­ sind, darunter meist Frauen, ist der Beschäfti­
deutung als Beschäftigungsfaktor zu. Er umfasst gungszuwachs in Beschäftigungsfällen weitaus
die Einrichtungen, deren gesundheitsbezogene höher als bei einer Umrechnung auf volle tarif­
Güter und Dienstleistungen den Nachfragenden liche Arbeitszeiten. In so genannten Vollzeitäqui­
unmittelbar zugute kommen, wie z. B. ambulante valenten betrachtet zeigt das Beschäftigungsvolu­
und (teil-)stationäre Einrichtungen oder Rettungs­ men zwischen 1997 und 2006 keinen Zuwachs,
dienste. Mit gut 4 Millionen Personen waren hier sondern einen leichten Rückgang von 31.000
93 % des Gesundheitspersonals beschäftigt. Vollzeitäquivalenten (siehe Abbildung 5.4.3.1). Zu
Zum Gesundheitsbereich im weiteren Sinne Lasten der Vollzeitbeschäftigung (– 9 %) ist im
zählen die Vorleistungsindustrien des Gesund­ Zeitraum 1997 und 2006 die Anzahl der Teilzeit­
heitswesens, unter anderen die medizintech­ beschäftigten um insgesamt 259.000 Personen
nische beziehungsweise die augenoptische In­ (+ 26 %) gestiegen (darunter 217.000 Frauen).
dustrie. In diesem Bereich gingen im Jahr 2006 Auch die Anzahl der geringfügig Beschäftigten
fast 303.000 Personen einer Beschäftigung nach. verdoppelte sich nahezu und stieg in diesen neun
Besonders hohe Beschäftigungszuwächse wa­ Jahren von 280.000 auf 470.000 Beschäftigte an
ren in den Einrichtungen der (teil-)stationären (+ 68 %).
Pflege zu verzeichnen (+ 47 % beziehungsweise Nur wenige Berufsgruppen zeigen auch in
+ 179.000 Beschäftigte von 1997 bis 2006). Darin Vollzeitäquivalenten einen Beschäftigungszu­
kommt die Anpassung des Gesundheitswesens an wachs im Zeitraum 1997 bis 2006. Hierzu zählen
den Bedarf der Bevölkerung nach pflegerischen an erster Stelle die Beschäftigten in der Altenpfle­
Leistungen zum Ausdruck. Im Krankenhaussek­ ge (+ 73.000 Vollzeitäquivalente), die Physiothe­
tor dagegen ging die Zahl der Beschäftigten u. a. rapeutinnen und -therapeuten (+ 26.000 Vollzeit­
infolge von Schließungen, Fusionen und wech­ äquivalente) sowie die (Zahn-)Ärztinnen und Ärzte
selnden Trägerschaften von Einrichtungen zurück und Apothekerinnen und Apotheker (zusammen
(– 5 % bzw. – 61.000 Beschäftigte). + 25.000 Vollzeitäquivalente). Bei der Zahl der Be­
Mehr als die Hälfte aller Beschäftigten im schäftigten in der Altenpflege ist zu berücksichti­
Gesundheitswesen (53 %) arbeitet in Gesund­ gen, dass nur ein Teil in der Gesundheitspersonal­
heitsdienstberufen. Hierzu zählt zum Beispiel rechnung erfasst wird. So fließt aus Gründen der
ärztliches und pflegerisches Personal. Die Zahl Abgrenzung des Gesundheitswesens zwar das Al­
der Beschäftigten in Gesundheitsdienstberufen ist tenpflegepersonal der Altenpflegeheime mit ein,
stetig gestiegen (+ 10 % zwischen 1997 bis 2006). nicht aber das der Altenwohnheime [27].
Von dem Stellenzuwachs haben vor allem Frauen Hinsichtlich der künftigen Beschäftigungs­
profitiert: Auf sie entfielen 86 % (184.000) der ins­ entwicklung im Gesundheitsbereich gibt es un­
gesamt 214.000 zusätzlichen Stellen in diesem terschiedliche Einschätzungen. Bei günstigen
Zeitraum. Deutlich zurückgegangen ist dagegen Rahmenbedingungen können nach Schätzungen
die Zahl der Beschäftigten in den anderen Beru­ von Fachleuten bis zum Jahr 2020 rund 200.000
fen des Gesundheitswesens. Sie sank im betrach­ neue Arbeitsplätze im Gesundheitswesen entste­
teten Zeitraum kontinuierlich um 139.000 Per­ hen [28] und bis zum Jahr 2050 bis zu einer hal­
sonen. Ein Teil dieses Beschäftigungsrückgangs ben Millionen [18]. Mehrere Faktoren sprechen
ist auf die Auslagerung von Unternehmensein­ für das Gesundheitswesen als »Jobmaschine«:
heiten oder Leistungsprozessen zurückzuführen Zum einen das Zusammenspiel aus Alterung der
(Outsourcing) [27]. Das betrifft insbesondere das Gesellschaft, medizinisch-technischem Fortschritt
Reinigungs- und Küchenpersonal, das im Falle und wachsender Bereitschaft der Menschen, für
Gesundheit und Krankheit im Alter 277

Abbildung 5.4.3.1
Beschäftigungsverhältnisse und Vollzeitäquivalente im Gesundheitswesen 1997 bis 2006
Quelle: Statistisches Bundesamt, Gesundheitspersonalrechnung

in 1.000
4.400

4.200

4.000

3.800
Beschäftigte in
Vollzeitäquivalenten
3.600
Beschäftigungs­
verhältnisse
3.400

3.200

3.000
1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Jahr

die Gesundheit im Alter mehr Geld auszugeben. heitsdienstberufen gesehen, insbesondere in den
Zum anderen die sich im Gesundheitswesen Pflegeberufen und primär im stationären Pfle-
bietenden Anwendungsfelder für High-Tech- gebereich [18, 30]. Welches tatsächliche Ausmaß
Produkte, durch die das Interesse weiterer Wirt­ der quantitative Beschäftigungsausbau erreichen
schaftszweige an der Gesundheitswirtschaft stei­ wird, ist zunächst spekulativ und wird auch davon
gen dürfte. Zu diesem Zweck setzen verschiedene abhängen:
Regionen in Deutschland gezielt auf die Gesund­ ▶ welche Konsequenzen die demografische
heitswirtschaft und bilden Kompetenzzentren, Alterung auf die Nachfrage nach Gesund­
um nicht nur die gesundheitliche Lebensqualität heitsdiensten, insbesondere pflegerischen
der Bevölkerung, sondern auch Wachstum und Leistungen haben wird (vgl. Kapitel 2.5),
Beschäftigung im Gesundheitswesen zu steigern ▶ wie sich die Inanspruchnahmemuster von
[29]. häuslicher, ambulanter und (teil-)stationärer
Der Beschäftigungsentwicklung im Gesund­ Pflege verändern werden [4, 18, 31],
heitssektor sind jedoch auch Grenzen gesetzt. Im ▶ wie sich Arbeitsmarkt- und Gesundheitsre­
Krankenhaussektor und Pharmabereich könnte formen auf die Beschäftigungsentwicklung
trotz Umsatzwachstums und ausgelöst durch auswirken [3],
Konkurrenzdruck und Effizienzsteigerung Per­ ▶ wie viele Ressourcen die Gesellschaft zur
sonal abgebaut werden [28]. Insbesondere die Verfügung stellen will und kann, auch in
öffentlichen Haushalte im Bereich der Sozialver­ Anbetracht der Tatsache, dass nicht nur die
sicherungszweige und des Gesundheitswesens Nachfragenden nach Gesundheitsdiensten
stehen aufgrund fiskalischer Erschöpfung unter altern, sondern auch die Anbietenden (»dou­
einem erheblichen Sparzwang. Auch der im Prin­ ble aging«) [32].
zip gewünschte Bürokratieabbau innerhalb der
öffentlichen Verwaltungen kann negative Beschäf­ Je nach Ausmaß der zusätzlichen Nachfrage nach
tigungseffekte nach sich ziehen [2]. Gesundheitsgütern und -leistungen wird eine
Das größte Beschäftigungspotenzial wird Bedarfsdeckung künftig nur über zusätzliches
einhellig in den personalintensiven Gesund- Gesundheitspersonal möglich werden. Der Effekt
278 Gesundheit und Krankheit im Alter

zusätzlicher Nachfrage auf die Beschäftigung im menzieller Erkrankungen direkt zur Steigerung
Gesundheitswesen ist dabei insgesamt höher ein­ des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und damit zum
zuschätzen als in anderen Branchen. Denn im Ge­ Wirtschaftswachstum beiträgt, wird die (unbezahl­
sundheitswesen ist die menschliche Arbeitskraft te) häusliche Pflege eines an Demenz erkrankten
unverzichtbar. Eine älter werdende Gesellschaft Familienmitglieds im BIP nicht direkt sichtbar.
erfordert aber künftig nicht nur einen quantita­ Dieses Beispiel illustriert unser Verständnis von
tiven Beschäftigungsausbau, sondern lässt auch Arbeit und wirtschaftlichem Tätigsein, wie es
die qualitativen Anforderungen an das Gesund­ Grundlage und internationaler Konsens der VGR
heitspersonal steigen. Aus arbeits- und sozialme­ ist. Worin besteht aus volkswirtschaftlicher Sicht
dizinischer Sicht wird beispielsweise künftig mehr der Unterschied zwischen Arzneimittelherstel­
systemisches und dafür weniger spezialisiertes lung und Angehörigenpflege – um bei dem Bei­
Wissen notwendiger werden [33]. Relevant für spiel zu bleiben?
die künftige Beschäftigungsentwicklung dürfte Der traditionelle Produktionsbegriff in den
auch die Attraktivität gesundheitsbezogener Be­ VGR berücksichtigt überwiegend Produktions­
rufsfelder sein. Das Arbeitskräfteangebot im Ge­ aktivitäten wie Waren und Dienstleistungen, die
sundheitswesen wird maßgeblich auch durch die für andere ökonomische Einheiten erstellt werden.
Arbeitsbedingungen und erzielbaren Einkommen Im BIP inbegriffen – und damit als wirtschaftliche
sowie ebenfalls durch die demografische Entwick­ Leistung des Gesundheitswesens und der Ge­
lung geprägt. Das Gesundheitswesen erfüllt damit sundheitswirtschaft berechenbar – sind all jene
zwei wesentliche Bedürfnisse der Menschen: Ge­ Gesundheitsleistungen unserer Volkswirtschaft,
sundheit und Erwerbsarbeitsplatzangebote rund die einen messbaren Produktionswert haben und
um Gesundheit, auch in vor-, nach- und neben­ damit unmittelbar bruttowertschöpfungsrelevant
gelagerten Wirtschaftszweigen. Es gehört damit sind. Die Herstellung von Arzneimitteln zählt
ins Zentrum nicht nur der gesundheits-, sondern zum Wirtschaftsbereich »Produzierendes Gewer­
auch der arbeitsmarktpolitischen Aufmerksam­ be«, ist also im BIP sichtbar. Die unentgeltlich
keit [34]. erbrachten Leistungen der privaten Haushalte,
also auch die Angehörigenpflege, werden in den
VGR nicht berücksichtigt, da sie nicht am Markt
5.4.4 Jenseits von Wirtschaft und »sichtbar« werden. Wenn die häusliche Pflege in
Wertschöpfung? Gesundheitsleistungen Form von (bezahlter) Erwerbstätigkeit erfolgt, also
am Beispiel häuslicher Pflegearbeit im Rahmen professioneller Pflege, ist sie ebenso
wie die Arzneimittelherstellung wertschöpfungs­
Wenn die Konsequenzen der demografischen Al­ relevant und im BIP inbegriffen. Das eine ist –
terung aus der Perspektive der Wirtschafts- und volkswirtschaftlich gesehen – bezahlte Erwerbs­
Beschäftigungsentwicklung diskutiert werden, arbeit, das andere unbezahlte Arbeit, auf der
steht üblicherweise die bezahlte Arbeit, also der Outputebene auch Haushaltsproduktion genannt
Erwerbsarbeitsmarkt im Blickpunkt. Gesundheits­ (vgl. z. B. [35, 36]).
leistungen werden jedoch nicht nur marktförmig Vor dem Hintergrund der durch die demogra­
und im Rahmen von Erwerbsarbeit erbracht, son­ fische Alterung gefährdeten Tragfähigkeit unserer
dern auch – und zwar in nicht unerheblichem sozialen Sicherungssysteme, speziell der Kranken-
Ausmaß – unbezahlt und zu einem Großteil auch und Pflegeversicherung, gewinnt die Diskussion
von älteren Menschen in privaten Haushalten. um die Einbeziehung der Haushaltsproduktion in
Am Beispiel häuslicher Pflegearbeit werden im das BIP erneut an Aktualität.
Folgenden die privat erbrachten Gesundheitsleis­
tungen in ihrer ökonomischen und zeitlichen Be­
deutung beleuchtet.
Der Unterschied zwischen unentgeltlichen
und so genannten Marktleistungen soll an einem
Beispiel verdeutlicht werden: Während die Her­
stellung von Arzneimitteln zur Behandlung de­
Gesundheit und Krankheit im Alter 279

Die ökonomische Bedeutung der Prinzip des Satellitensystems ist es, mithilfe des
unbezahlten Arbeit Jahresvolumens für unbezahlte Arbeit auf der
Basis der Zeitbudgeterhebung von 2001/2002
Haushaltsproduktion umfasst im Unterschied zur (zuvor 1991/1992) die Größenordnung der Haus­
Marktproduktion die unbezahlte Produktion von haltsproduktion in einer mit der Marktproduktion
Dienstleistungen für eigene Zwecke, sofern die vergleichbaren Weise zu errechnen. Es verknüpft
Dienstleistungen von Dritten gegen Bezahlung, die Inlandsproduktberechnung mit der Haus­
also über den Markt, erbracht werden könnten haltsproduktion, ohne das Prinzip der internatio­
(Dritt-Personen-Kriterium) [37]. Sie beinhaltet nal abgestimmten BIP-Berechnung zu durchbre­
neben der häuslichen Alten- und Krankenpflege chen, indem es, einem Satelliten gleich, die VGR
beispielsweise auch die Kinderbetreuung oder ergänzt [35].
die Ausübung von Ehrenämtern. Seit Mitte der Aus der Zeitbudgeterhebung 2001/2002,
1980er-Jahre wird verstärkt diskutiert, die Haus­ einer repräsentativen Erhebung zur Zeitverwen­
haltsproduktion und damit insbesondere den dung privater Haushalte in Deutschland, lässt sich
Beitrag der Frauen – aber auch der Rentnerinnen das Jahresvolumen unbezahlter Arbeit für die Be­
und Rentner – an der gesamten Produktion öko­ völkerung ab 10 Jahren ermitteln. Die Messung
nomisch sichtbar zu machen [35, 38]. der ausgeübten Tätigkeiten erfolgte dabei nach
Eine Antwort auf diese Forderung stellt das folgendem Muster: Der Tag wurde in 10-Minu­
Haushalts-Satellitensystem zu den VGR dar. Das ten-Intervalle eingeteilt und die Befragten gaben
für jedes Intervall per Tagebuchaufzeichnung an,
welche Tätigkeit sie jeweils ausübten. Im Ergebnis
Abbildung 5.4.4.1 zeigt sich, dass unbezahlte Arbeit von wesentlich
Bevölkerung und Jahresvolumen der Haushaltsproduktion
größerer zeitlicher Bedeutung ist als Erwerbsar­
nach Alter 2001
Quelle: Statistisches Bundesamt, Zeitbudgeterhebung beit. Im Schnitt verwendeten die Befragten das
2001/2002, Schätzung im Rahmen des Satellitensystems 1,7-fache an Zeit (rund 96 Milliarden Stunden)
Haushaltsproduktion und Bevölkerungsfortschreibung für unbezahlte Arbeit im Vergleich zu bezahlter
Arbeit (56 Milliarden Stunden ohne Wegezeiten).
Prozent
Das Verhältnis von bezahlter und unbezahl­
90
ter Arbeit, gemessen in wöchentlicher Arbeitszeit,
63 Mrd. Stunden betrug nach Ergebnissen der Zeitbudgeterhebung
80
2001/2002 bei Frauen etwa 1 zu 2,6 (12 Stunden
70 bezahlt, 31 Stunden unbezahlt pro Woche) und hält
sich bei Männern in etwa die Waage (22,5 Stunden
60 bezahlt, 19,5 Stunden unbezahlt pro Woche) [39].
Wie aus Abbildung 5.4.4.1 ersichtlich entfiel auf
50 die 60-Jährigen und Älteren, deren Anteil an der
33 Mrd. Stunden Gesamtbevölkerung 24 % betrug, ein Anteil von
40
34 % am Jahresvolumen unbezahlter Arbeit. Das
30 entsprach einem Jahresvolumen von rund 33 Mil­
liarden Stunden.
20 Nach Altersklassen betrachtet lag die durch­
schnittliche Zeitverwendung für unbezahlte Arbeit
10 in der Altersgruppe der 60-Jährigen und Älteren
bei wöchentlich 33 Stunden. Die 20- bis 59-Jäh­
bis 59 60+ rigen leisteten im Schnitt 8 Stunden weniger un­
bezahlte Arbeit pro Woche, nämlich rund 25 Stun­
Altersgruppe
den. Nach Geschlechtern differenziert arbeiteten
Bevölkerungsanteil 60-jährige und ältere Frauen knapp 36,5 Stunden
Anteil der Haushaltsproduktion und gleichaltrige Männer über 28,5 Stunden un­
am Jahresvolumen bezahlt in der Woche. In der Altersklasse der 20-
280 Gesundheit und Krankheit im Alter

bis 59-Jährigen kamen auf die Frauen 32 Stunden ein verlässliches Jahresvolumen der Pflegear­
unbezahlte Arbeit und auf die Männer etwa 18 beitszeit vorliegt (Mengenbaustein), das zweitens
Stunden wöchentlich. Die zeitliche Bedeutung monetär adäquat bewertet werden müsste (Wert­
unbezahlter Arbeit ist demnach empirisch gut baustein) [35]. Die praktische Umsetzung eines
belegt und zeigt im Unterschied zur Inlandspro­ solchen Vorhabens ist im Rahmen dieser Publika­
duktberechnung eher langfristige Trends auf [35]. tion weder leistbar, noch vor dem Hintergrund der
Betrachtet man die Verteilung der unbezahlten Ar­ gegenwärtigen Datenlage realisierbar. Während
beit auf die Bevölkerung, so zeigt sich neben einer sich das Jahresvolumen der Haushaltsproduk­
ungleichen Verteilung der unbezahlten Arbeit auf tion der Bevölkerung insgesamt auf der Basis der
die Geschlechter auch eine ungleiche Verteilung Zeitbudgeterhebung gut quantifizieren lässt, ist
auf die Generationen, jeweils auch als Konsequenz dies bei dem zeitlichen Umfang für pflegerische
der unterschiedlichen Erwerbsbeteiligung. Leistungen im privaten Haushalt weitaus schwie­
Die Berechnung des ökonomischen Werts riger, u. a. weil die Fallzahlen Ausübender von
unbezahlter Arbeit ist weitaus schwieriger und Pflegearbeit, insbesondere in den höheren Alters­
erfordert eine monetäre – und damit auch nor­ gruppen, teilweise sehr niedrig sind. Aussagen zur
mative – Bewertung. Im Rahmen des Satelliten­ monetären Relevanz auf der Grundlage von Jah­
systems wird das Gesamtvolumen unbezahlter resvolumenberechnungen wären folglich mit ho­
Jahresarbeit mit dem Nettostundenlohn von 7 her Unsicherheit versehen und nur eingeschränkt
Euro (Untergrenze) bewertet. Dabei errechnet sich interpretierbar. Um den zeitlichen und monetären
eine Summe von 684 Milliarden Euro für die Ar­ Beitrag zur Pflegearbeit in Privathaushalten den­
beitsleistung bzw. von 820 Milliarden Euro für die noch sichtbar zu machen, werden im Folgenden
Bruttowertschöpfung der privaten Haushalte (in­ zwei unterschiedliche Zugänge gewählt: Eine
klusive Abschreibung und sonstiger Wertschöp­ rein zeitliche Betrachtung, ohne anschließende
fungskomponenten). Somit wies die unbezahlte monetäre Bewertung, erfolgt anhand der Zeitver­
Arbeit in Privathaushalten eine Größenordnung wendung für Pflegearbeit in privaten Haushalten
von rund 40 % des BIP (2001) auf. Das entspricht auf Basis verschiedener Datenquellen. Eine nähe­
in etwa der Bruttowertschöpfung der deutschen rungsweise monetäre Abschätzung pflegerischer
Industrie und zusätzlich der Bereiche Handel, Leistungen resultiert aus der Höhe der Pflegegeld­
Gastgewerbe und Verkehr [39]. Unterstellt man, leistungen im Rahmen der Leistungsausgaben der
dass Menschen im Alter von 60 Jahren und älter sozialen Pflegeversicherung.
daran einen Anteil von 34 % haben (das entspricht Zur Zeitverwendung für häusliche Pflegear­
ihrem zeitlichen Anteil am Jahresvolumen unbe­ beit durch Angehörige in privaten Haushalten:
zahlter Arbeit), entspräche dies einer Bruttowert­ Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ab 10 Jahren
schöpfung von fast 280 Milliarden Euro. Welche variiert der durchschnittliche Zeitumfang für ein­
zeitliche und monetäre Bedeutung haben unbe­ zelne Aktivitätsbereiche und für die Haushaltspro­
zahlte Pflegeleistungen und wie hoch liegt dabei duktion insgesamt erheblich. Tabelle 5.4.4.1 zeigt
der Anteil der Älteren? die durchschnittliche wöchentliche Zeitverwen­
dung für Haushaltsproduktion insgesamt sowie
die Aktivitätsbereiche Unterstützung, Pflege und
Monetärer und zeitlicher Beitrag der privaten Betreuung erwachsener Haushaltsmitglieder, Al­
Haushalte zur häuslichen Pflegearbeit ten- und Krankenpflege für haushaltsexterne Per­
sonen sowie informelle Hilfen für haushaltsex­
Zur Darstellung der gesundheitsbezogenen Haus­ terne Personen, in der Tabelle zusammengefasst
haltsproduktion älterer Menschen am Beispiel als »Pflege- und Betreuungsarbeit plus informelle
häuslicher Pflegearbeit läge es in Anlehnung an Hilfen«. Die Zeitverwendung aller genannten
das Satellitensystem zur Haushaltsproduktion Aktivitäten nimmt mit zunehmendem Alter zu.
nahe, den zeitlichen Beitrag der älteren Menschen Mit Ausnahme der 60-Jährigen und Älteren ver­
jenseits des Erwerbslebens zu erfassen und mone­ wenden Frauen bei den aufgeführten unbezahlten
tär zu bewerten. Eine Bewertung der unbezahlten Aktivitäten in allen Altersklassen mehr Zeit als
Pflegearbeit setzt allerdings voraus, dass erstens Männer. Der zeitliche Mehrumfang bei Männern
Gesundheit und Krankheit im Alter 281

Tabelle 5.4.4.1
Durchschnittliche wöchentliche Zeitverwendung ausgewählter Aktivitäten nach Alter und Geschlecht
in Stunden:Minuten 2001/2002
Quelle: Statistisches Bundesamt, Zeitbudgeterhebung 2001/2002,
Sonderauswertung im Rahmen des Satellitensystems Haushaltsproduktion

20 – 39 Jahre 40 – 59 Jahre 60 Jahre und älter


Frauen Männer Gesamt Frauen Männer Gesamt Frauen Männer Gesamt
Haushaltsproduktion gesamt 30:48 16:40 23:36 33:26 19:42 26:31 36:17 28:39 33:01
darunter:
Pflege- und Betreuungs- 00:56 00:53 00:54 01:18 01:02 01:10 01:39 01:48 01:42
arbeit + informelle Hilfen*
* Unterstützung, Pflege, Betreuung Erwachsener im eigenen Haushalt sowie Alten- und Krankenpflege und informelle Hilfen für extern gesamt

höheren Alters ist vor allem auf die informellen Zeitverwendung für einzelne Aktivitätsbereiche
Hilfen für haushaltsexterne Personen zurückzu­ im Rahmen unbezahlter Arbeit, zeigt sich auch
führen, nicht auf die Pflege- und Betreuungsar­ für die Ausübungsgrade häuslicher Pflege, dass
beiten im engeren Sinne. Ältere häufiger als Jüngere und Frauen häufiger
In diesen Durchschnittszahlen kommt nicht als Männer Zeit für häusliche Pflege und infor­
zum Ausdruck, dass pflegerische und informelle melle Hilfen aufwenden (siehe Tabelle 5.4.4.2).
Leistungen nur von einem kleinen Teil der Bevöl­ Wird die Betrachtung des täglichen Zeitauf­
kerung erbracht werden. An einem durchschnitt­ wands auf die Personen beschränkt, die tatsächlich
lichen Tag leisteten rund 1 % der 60-Jährigen und selbst pflegen, ergibt sich ein alltagsnäheres Bild
Älteren Unterstützungs-, Pflege- und Betreu­ der zeitlichen Belastung. Bei den aktiv Pflegenden
ungsarbeit für erwachsene Haushaltsmitglieder. und Betreuenden der 60-Jährigen und Älteren be­
Bei den Jüngeren (beide Geschlechter insgesamt) trug der durchschnittliche, tägliche Zeitumfang
waren es 0,3 % bis 0,6 %. Während 11,6 % der Äl­ für Alten- und Krankenpflege haushaltsexterner
teren informelle Hilfe für Personen außerhalb des Personen eine gute Dreiviertelstunde und der täg­
eigenen Haushalts erbrachten, lag der Ausübungs­ liche Zeitumfang für die Unterstützung, Pflege
grad bei den Jüngeren bei 6 % bis 8 %. Ähnlich und Betreuung erwachsener Haushaltsmitglieder
wie bei den Ergebnissen zur durchschnittlichen gut eine Stunde.

Tabelle 5.4.4.2
Ausübungsgrad ausgewählter Aktivitäten nach Alter und Geschlecht 2001/2002
Quelle: Statistisches Bundesamt, Zeitbudgeterhebung 2001/2002, Sonderauswertung
im Rahmen des Satellitensystems Haushaltsproduktion

20 – 39 Jahre 40 – 59 Jahre 60 Jahre und älter


Frauen Männer Gesamt Frauen Männer Gesamt Frauen Männer Gesamt
Haushaltsproduktion gesamt 95,4 % 85,6 % 90,4 % 98,2 % 91,3 % 94,7 % 98,1 % 95,9 % 97,2 %
darunter:
Unterstützung, Pflege, 0,5 % 0,2 % 0,3 % 1,1 % 0,2 % 0,6 % 1,1 % 0,6 % 0,9 %
Betreuung erwachsener
Haushaltsmitglieder
informelle Hilfe für extern 6,9 % 5,4 % 6,1 % 9,1 % 7,0 % 8,0 % 12,1 % 11,0 % 11,6 %
Lesebeispiel:
An 97,2 von 100 aufgezeichneten Tagebuchtagen übten 60-Jährige und ältere Haushaltsproduktion aus, darunter an 11,6 Tagen informelle
Hilfen für Personen außerhalb des eigenen Haushalts.
282 Gesundheit und Krankheit im Alter

Zu berücksichtigen ist, dass auch die Tage- (siehe hierzu Kurzübersicht der Tabelle 5.4.4.3)
buchaufzeichnungen das zeitliche Ausmaß für sowie der Rekrutierungsmethodik der Befragten
pflegerische Leistungen im Privathaushalt unter- und in der Formulierung der Fragestellungen
schätzen, auch im Vergleich zu Ergebnissen der zum zeitlichen Umfang. Beispielsweise wurden
Zeitbudgeterhebung, die auf zeitlicher Selbstein- im EU-finanzierten Forschungsprojekt »EURO­
schätzung (Personen- und Haushaltsfragebogen) FAMCARE« zur Situation pflegender Angehöri­
der Bevölkerung beruhen. Die Ergebnisse sind da- ger in Europa ausschließlich Angehörige befragt,
her sowohl methodisch, als auch konzeptionell als die mindestens vier Stunden pro Woche ihre hil-
Untergrenze zu verstehen, denn häusliche Pflege fe- oder pflegebedürftigen Angehörigen im Alter
kann je nach Situation die permanente Verfügbar- von 65 Jahren und älter pflegten [41]. Im Unter­
keit der Pflegeperson erfordern, also auch nachts schied dazu gingen in die Studie »Möglichkeiten
und an Wochenenden. Der gesamte Umfang der und Grenzen selbstständiger Lebensführung in
häuslichen Pflegearbeit würde erst deutlich, wenn Privathaushalten (MuG III)« Personen in die Be­
zusätzlich die Zeitbindung in Form von »Bereit- fragung ein, die nach eigener Einschätzung am
schaftszeiten« mitbedacht würde [40]. besten über die häusliche Situation Auskunft ge-
Tabelle 5.4.4.3 stellt Ergebnisse unterschied- ben können (Fremd- und Selbstauskunft). Maß­
licher Datenquellen der wöchentlichen Zeitver- geblich dabei war jeweils der zeitliche Umfang
wendung für häusliche Pflege dar. Allen Quel- der Hauptpflegeperson [42], während beim Sozio­
len gemeinsam ist, dass die zeitlichen Angaben oekonomischen Panel (SOEP) grundsätzlich jede
auf der Selbsteinschätzung der Pflegepersonen, versorgende und betreuende Person ab 17 Jahren
meist Haushaltsmitglieder, beruhen und sich die in die Erhebung einfließt [43]. Bei MuG III und
Zeitpunkte der Befragung je nach Quelle auf den EUROFAMCARE kann daher von einer Selektion
Zeitraum zwischen 2001 bis 2005 beziehen. Für zu Gunsten hoch belasteter Pflegepersonen ausge­
detaillierte Informationen zur Methodik muss auf gangen werden [42].
die jeweiligen Quellen verwiesen werden. Wesent- Die zeitlichen Umfänge auf Basis der Zeit­
lich für die Einordnung der zeitlichen Angaben an budgeterhebung (ZBE) hingegen müssen schon
dieser Stelle ist, dass sie auf höchst unterschied- deshalb deutlich niedriger liegen, weil jeweils
lichen Untersuchungsdesigns fußen, sowohl nur Hilfen »für Personen außerhalb des eigenen
konzeptionell hinsichtlich der Abgrenzung der Haushalts« (Personenfragebogen) bzw. »von Pri-
Pflegetätigkeit und der Pflegeperson, als auch in vatpersonen außerhalb des Haushalts« für Alten-
der Definition von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit und Krankenpflege (Haushaltsfragebogen) ein-

Tabelle 5.4.4.3
Zeitverwendung für Pflege, Selbstauskunft auf Basis verschiedener Datenquellen
Quellen: EUROFAMCARE [47], MuG III [42, 48, 49], SOEP [43], ZBE 2001/2002, Sonderauswertung im Rahmen
des Satellitensystems Haushaltsproduktion (Angaben sind ungewichtet; geklammert = Fallzahl unter 100)

Tätigkeit Pflegeperson Pflegebedürftigkeit Schätzung Std./Woche,


durchschnittl. (Spanne)
EUROFAMCARE Unterstützung + Hauptbetreuung, Hilfs- + Pflegebedürf- 39:00 (11:00 – 81:00)
(2003 – 2005) Betreuung Angehöriger mindestens 4 h/Woche tige 65 Jahre und älter
MUG III (2002) Hilfe + Pflege private Pflegebedürftige 36:42 (28:00 – 62:00)
im Haushalt Hauptpflegeperson Hilfebedürftige 14:42 (13:00 – 19:00)
SOEP (2003) Versorgung + Betreuung alle pflegenden Pflegebedürftige 14:30
nur werktags Personen
ZBE (2001) Alten- + Krankenpflege ausübende Personen außerhalb 5:36
Personenfragebogen von intern für extern des Haushalts
ZBE Alten- + Krankenpflege empfangende im Haushalt (7:42)
Haushaltsfragebogen von extern für intern Haushalte
Gesundheit und Krankheit im Alter 283

fließen [44, 45]. Zu berücksichtigen ist in jedem variiert dabei erheblich. Bei aller Verschiedenheit
Fall, dass der Kreis der Pflegebedürftigen in allen zeigen die Quellen jedoch übereinstimmend, dass
genannten Quellen nicht nur Personen mit an­ häusliche Pflegearbeit – da wo sie anfällt – keine
erkannter Pflegestufe nach SGB XI umfasst. Die marginale Leistung darstellt. Auf Basis der Zeit­
Begriffe Pflege, Betreuung oder Hilfebedürftigkeit budgeterhebung wird außerdem deutlich, dass Äl­
können dabei sehr viel weiter gefasst sein, als im tere häufiger als Jüngere ihre Angehörige pflegen
Pflegeversicherungsgesetz des SGB XI [46]. und im Schnitt mehr Zeit für häusliche Pflege und
Wie ersichtlich wird gibt es erhebliche Ni­ informelle Hilfen aufwenden als Jüngere [50, 51].
veauunterschiede bei der Zeitverwendung für Zur monetären Einschätzung der Pflegegeld­
Pflege im Privathaushalt und zwar nicht nur in leistungen im Rahmen der Leistungsausgaben
Abhängigkeit von der jeweiligen Untersuchungs­ der sozialen Pflegeversicherung: Pflegebedürf­
methodik, sondern auch bei ähnlicher Methodik in tige mit einer Pflegestufe, die ihre Pflege durch
Abhängigkeit vom individuellen Hilfe- und Pflege­ Angehörige, Freunde oder Bekannte ausreichend
bedarf. Ergänzend zur durchschnittlichen Schät­ sicherstellen, haben Anspruch auf monatliche
zung des wöchentlichen Stundenumfangs sind in Geldleistungen, das so genannte Pflegegeld. Die
der entsprechenden Spalte auch die durchschnitt­ monatlichen Leistungen aus der Pflegeversiche­
lichen Zeitspannen (darunter in Klammern) auf­ rung betragen zum 1. Juli 2008 maximal 215 Euro
geführt. Die größte Spanne weisen die Daten von in der Pflegestufe I, 420 Euro in der Pflegestu­
EUROFAMCARE aus. Sie liegen bei 11 Stunden fe II und 675 Euro in der Pflegestufe III. Diese
(zusätzlicher Pflegeaufwand von Angehörigen Leistungen werden als Konsequenz der Pflege­
bei vollstationärer Pflege des Pflegebedürftigen) reform bis 2012 schrittweise um etwa 20 Euro je
bis 81 Stunden wöchentlich (Pflegestufe III) [41]. Pflegestufe angehoben [52].
Der durchschnittliche Zeitaufwand für geleistete Rund 1,8 Millionen Pflegebedürftige im Alter
Pflege durch die Hauptbetreuungsperson betrug von 65 Jahren und älter erhielten im Jahr 2005
rund 37 (MuG III) [42] bzw. 39 Stunden pro Wo­ Leistungen der sozialen und privaten Pflegeversi­
che (EUROFAMCARE) [41], entspricht also in der cherung, darunter waren 1,1 Millionen Menschen,
Selbsteinschätzung der Befragten in etwa der Dau­ die zu Hause versorgt werden, wovon wiederum
er einer Vollzeitbeschäftigung. Der Pflegeaufwand rund 696.000, also etwa zwei Drittel, ausschließ­
nach Angaben des SOEP und der Zeitbudgeterhe­ lich Pflegegeldleistungen erhielten (siehe Tabelle
bung bezieht sich nicht nur auf Hauptpflegeper­ 5.4.4.4) (vgl. Kapitel 4.2).
son, sondern auf alle pflegenden oder ausübenden Weder aus der Pflegestatistik noch aus der
Personen. Aus diesem und weiteren Gründen liegt Geschäftsstatistik der Pflegekassen geht hervor,
die durchschnittliche Zeitverwendung weit unter welchen Alters oder Geschlechts die nicht profes­
den Ergebnissen der anderen Quellen. Mithilfe sionellen Pflegepersonen sind. Wie das Durch­
der aufgeführten Ergebnisse wird zusammenfas­ schnittsalter der Hautpflegepersonen zeigt, ist
send ersichtlich, dass ältere Menschen nicht nur aber davon auszugehen, dass ein Großteil der
häufiger pflegebedürftig sind, sondern auch häu­ informellen Pflegepersonen bereits selbst an der
figer diejenigen sind, die ihre Angehörigen pfle- Schwelle des Alters steht (vgl. Kapitel 4.2). Das
gen. Der Zeitaufwand für häusliche Pflegearbeit durchschnittliche Alter variiert je nach Quelle

Tabelle 5.4.4.4
Angehörigenpflege: Empfängerinnen und Empfänger von Pflegegeldleistungen
im Alter von 65 Jahren und älter nach Pflegestufen 2005
Quelle: Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik [52]

Empfängerinnen und Empfänger von … Pflegestufen gesamt Pflegestufe I Pflegestufe II Pflegestufe III
Pflegegeldleistungen gesamt 893.493 540.792 283.405 69.296
ausschließlich Pflegegeld 696.384 452.903 203.056 40.425
Kombination von Geld- und Sachleistung 197.109 87.889 80.349 28.871
284 Gesundheit und Krankheit im Alter

und liegt bei 54 (EUROFAMCARE) [41] bzw. bei bezahlte Arbeit handeln – sondern es ist als fi­
59 Jahren (MuG III) [53]. Untermauert wird dies nanzielle Anerkennung gedacht und wird daher
bei einer Betrachtung der rentenrechtlich rele­ im § 19 SGB XI explizit als nicht erwerbsmäßige
vanten Pflegezeiten im Rahmen der gesetzlichen Pflege eines Pflegebedürftigen in häuslicher Um­
Rentenversicherung. Untersucht man die Biogra­ gebung definiert. Rechnet man dennoch das Pfle-
fien von Personen, die im erwerbsfähigen Alter gegeld auf fiktive Stundenlöhne um, ergäbe das
ehrenamtlich gepflegt haben und im Jahr 2004 einen Stundenlohn von 3,57 in Pflegestufe I bei
in Rente gingen, zeigt sich, dass die Pflegephasen einer wöchentlichen Pflegearbeit von 14 Stunden.
gegen Ende der Versicherungsbiografie, also kurz Das entspricht dem zeitlichen Mindestumfang,
vor dem Renteneintrittsalter, zunehmen [54]. damit von der Pflegekasse eine Beitragszahlung
Im Jahr 2006 betrugen die Pflegegeldleis­ zur Rentenversicherung übernommen wird [54].
tungen im Rahmen der Leistungsausgaben der Der fiktive Stundenlohn bei Pflegestufe III und
sozialen Pflegeversicherung rund 4 Milliar­ einer täglichen Pflege von fünf Stunden läge bei
den Euro [55]. Damit entspricht die Höhe der 4,50 Euro [46]. Im Satellitensystem Haushaltspro­
Leistungsausgaben der Pflegeversicherung in duktion wurde für die unbezahlte Arbeit im Jahr
etwa dem 150.000-fachen eines durchschnitt­ 2001 ein Nettostundenlohn von 7 Euro angesetzt.
lichen jährlichen Arbeitnehmerbruttolohns im Das Bundesministerium für Gesundheit hat
Jahr 2006 [25]. Die Pflegegeldleistungen hätten eine Faustformel veröffentlicht. Demnach fallen
ferner einen Anteil von rund 0,2 % am Bruttoin­ pro Jahr für 10.000 Leistungsbeziehende nach
landsprodukt [25], wenn sie dort sichtbar würden. SGB XI etwa 62 Millionen Euro im ambulanten
Weil es sich jedoch hierbei – im Unterschied zu Bereich an und 147 Millionen Euro im stationären
einer Markttransaktion wie z. B. die stationäre Bereich (ohne Behinderte) [52]. Aus der Perspekti­
Pflegeleistung – im Rahmen der VGR um eine ve der entgangenen Leistungsausgaben durch das
monetäre Sozialleistung im Sektor Staat handelt, Engagement pflegender Angehöriger ließe sich
hat das zur Folge, dass die Pflegegeldleistungen daraus folgende Überschlagsrechnung ableiten:
innerhalb dieses Sektors nicht konsum- und folg­ Wenn im Jahr 2005 alle Empfängerinnen und
lich auch nicht BIP-wirksam sind. Empfänger von Pflegegeld im Alter von 65 Jahren
Zur Erlangung der Pflegestufe I muss der Hil­ und älter – das waren rund 696.000 Personen –
febedarf der pflegebedürftigen Person im Tages­ stationär statt durch Angehörige versorgt worden
durchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wären, wären Leistungsausgaben in Höhe von
wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten rund 10 Milliarden Euro statt 4 Milliarden Euro
entfallen müssen [46]. Folglich berücksichtigen für diese Altersgruppe angefallen.
die Leistungsausgaben der Pflegeversicherung im Dennoch: Die von der gesetzlichen Pflege­
Unterschied zu den tatsächlich erbrachten häus­ versicherung gewährten Geldleistungen an die
lichen Pflegeleistungen nur solche, die oberhalb privaten Haushalte (Pflegegeld) wirken sich in
von 45 Minuten pro Tag liegen. Aus diesem Grund den VGR zunächst nicht auf die Wertschöpfung
führt das Heranziehen von Pflegegeldleistungen aus. Das Pflegegeld stellt in den VGR eine mo­
als monetäres Maß für pflegerische Leistungen im netäre Sozialleistung dar und geht daher nicht in
Privathaushalt zu einer Unterschätzung und Un­ das Produktionskonto, sondern in das Konto der
terbewertung von Pflegearbeit, sowohl hinsicht­ sekundären Einkommensumverteilung ein. Die
lich der Anzahl der Pflegebedürftigen und Pfle- Pflegegeldleistungen werden erst dann produkti­
gepersonen, als auch bezogen auf den zeitlichen onswirksam, wenn die Pflegeperson das Pflege­
Aufwand für Pflege. geld ausgibt, also wieder dem Wirtschaftskreis­
Das Heranziehen der Leistungsausgaben lauf in Form einer Konsumausgabe zuführt. Eine
nach SGB XI als Ausgangsgröße zur monetären Wertschöpfung im Bereich Gesundheit findet al­
Bewertung häuslicher Pflegeleistungen hält auch lerdings nur dann statt, wenn der private Haushalt
konzeptionell nicht einer Bewertung im Sinne von dem Pflegegeld (zufällig) Gesundheitsgüter
des Satellitensystems Haushaltsproduktion stand. (z. B. Heil- oder Hilfsmittel) oder Leistungen (z. B.
Zum einen stellt das Pflegegeld keine Entlohnung professionelle Pflegedienste, Krankengymnastik)
dar – andernfalls würde es sich schließlich um erwirbt.
Gesundheit und Krankheit im Alter 285

5.4.5 Konsum und Produktion von sumierenden, Leistungsempfangenden und


Gesundheitsleistungen – eine Frage Rentnerinnen und Rentnern auf der anderen
der Perspektive Seite zu hinterfragen und
▶ die monetäre und zeitliche Bedeutung unbe­
Aus der Perspektive unbezahlter Gesundheits­ zahlter Gesundheitsproduktion am Beispiel
und Pflegeleistungen stoßen gängige Arbeits- und der häuslichen Pflegeleistungen darzustel­
Leistungsbegriffe an ihre Grenzen und auch die len.
Modellrechnungen auf der Basis von Gesund­
heitsausgaben und BIP (vgl. Abschnitt 5.3.3) be­ Zusammenfassend zeigt sich, dass einzelne
dürfen der Neuinterpretation. Eine ungleiche Ver­ Zweige der Gesundheitswirtschaft vom Älterwer­
teilung bezahlter und unbezahlter Arbeitsformen den der Gesellschaft profitieren, ohne dass sie
auf die Geschlechter und die Generationen führt zwangsläufig einen Ausgabenfaktor für die GKV
in der Konsequenz zu einer ungleichen Berück­ darstellen (individuelle Gesundheitsleistungen,
sichtigung der Leistungen bestimmter Bevölke­ Selbstmedikation). Der Beitrag alter Menschen
rungsgruppen im BIP. Während die eine Form zum Wachstum der Gesundheitswirtschaft wird
der Arbeit, die der Erwerbstätigen, deutlich sicht­ an Kenngrößen wie Kaufkraft und Konsumquoten
bar wird, bleibt die andere Form der Arbeit im deutlich. Seniorenhaushalte verfügen im Durch­
Dunkeln: Die der nicht (voll-)erwerbstätigen oder schnitt – zumindest gegenwärtig – über eine hohe
älteren Generation. Allerdings birgt eine rein Kaufkraft, ihre Konsumquoten sind überdurch­
ökonomische Bewertung häuslicher Pflegeleis­ schnittlich hoch und steigen speziell im Bereich
tungen auch »Stolpersteine«. Erstens können Gesundheitspflege mit höherem Alter deutlich an.
ökonomische Betrachtungen die emotionale und Ob und inwiefern sich eine florierende Gesund­
Beziehungsebene häuslicher Pflegeleistungen heitswirtschaft auf die künftige Beschäftigungs­
nicht berücksichtigen. Mit Blick auf die demo­ entwicklung auswirken wird, bleibt offen. Für das
grafische Alterung werfen ökonomische Gegen­ vergangene Jahrzehnt konnte zwar ein Anstieg der
rechnungen, wie sie hier vorgenommen wurden, Beschäftigten des Gesundheitswesen beobachtet
zweitens zwangsläufig die Frage nach einem ge­ werden, der höher ausgefallen wäre, wenn dem
sellschaftlichen Leitbild zur Zukunft der Pflege Gesundheitswesen nicht durch die Verlagerung
auf, ohne dass dies ihr originäres Ziel ist. Die Art von früher intern erbrachten Dienstleistungen auf
der pflegerischen Betreuung ist zwar eine durch externe Anbieter zusätzlich Beschäftigte verloren
gesetzliche Rahmenbedingungen beeinflusste, gegangen wären. Umgerechnet in Vollzeitäquiva­
aber letztlich individuell zu treffende Entschei­ lente ist im Gesundheitswesen eine stagnierende
dung, die in der Konsequenz von enormer gesell­ bis leicht abnehmende Beschäftigungsentwick­
schaftlicher und ökonomischer Bedeutung ist. Die lung zu beobachten. Ausgenommen hiervon sind
zeitliche und ökonomische Bedeutung konnte in wenige Berufsgruppen, primär die Beschäftigten
diesem Kapitel näherungsweise abgeschätzt wer­ in der Altenpflege. Mithilfe der Ergebnisse der
den. Ökonomische Aspekte können jedoch nicht Zeitbudgeterhebung und weiterer Quellen wird
alleinige Grundlage einer Leitbildentwicklung ersichtlich, dass Ältere und Frauen häufiger und
sein, sondern müssen Teil einer umfassenderen mehr Zeit als Jüngere und Männer für häusliche
sozialen, gesellschaftlichen oder politischen Dis­ Pflege und informelle Hilfen aufwenden. Diese
kussion werden [38]. und andere unbezahlte Arbeiten werden jedoch in
Zentrale Anliegen dieses Kapitels waren: klassischen Bruttoinlandsproduktberechnungen
▶ den Blick vom Gesundheitswesen als Ausga­ nicht einbezogen. Auf diese Weise bleibt unbe­
benfaktor auf die Gesundheitswirtschaft zu rücksichtigt, dass private Haushalte im Allgemei­
lenken, nen und ältere Menschen im Speziellen nicht nur
▶ die klassische Gegenüberstellung von Pro­ Gesundheitsgüter und -leistungen konsumieren,
duzierenden, Leistungserstellenden und Er­ sondern auch in einem nicht unerheblichen Aus­
werbstätigen auf der einen Seite sowie Kon­ maß produzieren.
286 Gesundheit und Krankheit im Alter

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nachhaltige Gesellschaft. Band 1: Stoffflussanalysen – Pflegearrangements, Demenz, Versorgungsange­
und Nachhaltigkeitsindikatoren. Metropolis Verlag, bote. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart
Marburg
288 Gesundheit und Krankheit im Alter

50. Engstler H, Menning S, Hoffmann E et al. (2004) Die 53. Schneekloth U (2003) Hilfe- und Pflegebedürftige in
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Bundesamt (Hrsg) Alltag in Deutschland. Analysen richt, Erste Ergebnisse der Repräsentativerhebung im
zur Zeitverwendung. (Beiträge zur Ergebniskonferenz Rahmen des Forschungsprojekts »Möglichkeiten und
der Zeitbudgeterhebung 2001/02 am 16./17. Februar Grenzen einer selbständigen Lebensführung hilfe­
2004 in Wiesbaden. Forum der Bundesstatistik) Band und pflegebedürftiger Menschen in privaten Haushal­
43. Wiesbaden, S 216 – 246 ten« (MuG III). Infratest Sozialforschung, München
51. Menning S (2006) Die Zeitverwendung älterer Men­ 54. Stegmann M, Mika T (2007) Ehrenamtliche Pflege
schen und die Nutzung von Zeitpotenzialen für infor­ in den Versicherungsbiografien. In: Deutsche Renten­
melle Hilfeleistungen und bürgerschaftliches Engage­ versicherung Bund (Zeitschrift seit 1929). Deutsche
ment. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg) Rentenversicherung Bund, Berlin, S 771 – 789
Gesellschaftliches und familiäres Engagement älterer 55. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Geschäfts-
Menschen als Potenzial. (Expertisen zum Fünften Al­ und Rechnungsergebnisse der sozialen Pflegever­
tenbericht der Bundesregierung) Band 5. LIT Verlag sicherung
Berlin, S 433 – 525 www.gbe-bund.de (Stand: 28.05.2008)
52. Bundesministerium für Gesundheit (2008) Zahlen
und Fakten zur Pflegeversicherung (05/08)
Gesundheit und Krankheit im Alter 289

5.5 Demografie und Fortschritt: Bleibt Gesundheit bezahlbar?


Karin Böhm, Silke Mardorf

Kernaussagen heitsversorgung zu gewährleisten, unabhängig


davon, wie gesund oder krank die Bevölkerung
1. Das Gesundheitssystem und damit der altert, wie sich Gesundheitsansprüche verändern
Kampf gegen Leiden, Schmerzen und Be­ und welche weiteren Fortschritte in der Medizin
hinderung werden von Natur aus kostspielig stattfinden. Sozialpolitisch geprägte Antworten
bleiben. verweisen auf die begrenzten finanziellen Res­
2. In der Stärkung des gesellschaftlichen und sourcen der Versichertengemeinschaft, die nicht
individuellen Bewusstseins für die eigene Ge­ jede Gesundheitsleistung jederzeit und für alle
sundheit und gesundheitswirksame Faktoren bezahlbar machen.
innerhalb und außerhalb des Gesundheits­ Aus ökonomischer Sicht ist in der Frage der
wesens dürfte ein Schlüssel für die Gesund­ Finanzierbarkeit der Gesundheitsversorgung
heit der Bevölkerung auch im Hinblick auf ein Umdenken zu beobachten: Weniger »Was
ihre künftige Finanzierbarkeit liegen. können wir tun, um uns weiterhin alles leisten
3. Mit der Entscheidung über die Höhe des Res­ zu können?« steht im Mittelpunkt als vielmehr
sourceneinsatzes für das Gesundheitswesen »Welches Gesundheitssystem können und wollen
wird auch über die Bedeutung entschieden, wir uns leisten, und zu welchem Preis?« [1]. Die
die dem Gesundheitswesen als Teilbereich alternde Gesellschaft stellt dabei eine feste Größe
der Volkswirtschaft im Hinblick auf Wachs­ dar, die die Einnahmenseite der Krankenversi­
tum und Beschäftigung zukommt. cherung aufgrund der sinkenden Zahl von Bei­
4. Durch das alleinige Abstellen auf die deut­ tragszahlern begrenzt, durch die aber steigende
lich höheren Gesundheitsausgaben für äl­ Gesundheitsausgaben erwartet werden. Außer
tere Menschen pro Kopf im Vergleich zu den Frage scheint auch zu stehen, dass das Gesund­
jüngeren können die möglichen Folgen des heitssystem und damit der Kampf gegen Leiden,
Alterungsprozesses auf das Ausgabengesche­ Schmerzen und Behinderung von Natur aus kost­
hen im Gesundheitswesen nur unzureichend spielig bleiben werden [2]. Gleichwohl bietet dies
erklärt werden. – rein ökonomisch betrachtet – für das Gesund­
5. Die ökonomischen Chancen und Herausfor­ heitswesen, insbesondere für den so genannten
derungen einer alternden Gesellschaft kön­ zweiten Gesundheitsmarkt der individuellen
nen nicht in der Weise bilanziert werden, die Gesundheitsleistungen, Fitnessprogramme und
ein klares Bild über die künftige Entwicklung Wellness-Angebote etc. außerhalb der versicher­
des Ausgabengeschehens im Gesundheits­ ten Regelversorgung auch Wachstumspotentiale.
wesen ergeben würde. Der gesellschaftliche Aushandlungsprozess über
die grundsätzlichen Ausgestaltungsmöglichkeiten
Auf die Frage nach der künftigen Finanzierbarkeit eines Versorgungssystems, die entsprechenden
der Gesundheitsversorgung sind verschiedene Finanzierungserfordernisse und die gesundheit­
Antworten im Umlauf, je nachdem, ob sie eher lichen wie finanziellen Potentiale einer Gesell­
ethisch, sozialpolitisch oder ökonomisch motiviert schaft wird sich insofern intensivieren müssen.
sind. Unter der Prämisse, dass Gesundheit einen Interessengegensätze der unterschiedlichen Ak­
hohen persönlichen und gesellschaftlichen Wert teure im Gesundheitswesen werden dabei nicht
darstellt und es faktisch keine Lebensbereiche zu verhindern sein. Selbst ein und dieselben Ak­
gibt, auf die sich eine gute Gesundheit nicht po­ teure können grundsätzlich andere gesundheits­
sitiv auswirken würde, ist Gesundheit um nahezu bezogene Ziele haben: Versicherte wünschen sich
jeden Preis zu finanzieren. Dieser eher ethisch einerseits niedrige Beiträge, haben andererseits
geprägten Argumentation zufolge ist es eine ge­ aber auch den Wunsch, als Patientinnen und Pa­
sellschaftliche Pflicht, auch künftig eine Gesund­ tienten optimal versorgt zu werden.
290 Gesundheit und Krankheit im Alter

Die Finanzierbarkeit der Gesundheitsversor­ nigte Königreich versuchen ebenfalls durch einen
gung hatte in Deutschland bereits in den Gesund­ Mix von verschiedenen Maßnahmen den Anstieg
heitsreformen seit Ende der 1970er-Jahre Priori­ der öffentlichen Gesundheitsausgaben zu be­
tät. Unter finanzierbar wurden dabei vor allem grenzen [7].
möglichst niedrige Kassenbeiträge verstanden, Auch die Tatsache, dass Gesundheit das Ergeb­
um die Lohnnebenkosten der Arbeitgeberinnen nis einer Vielzahl von Einflussfaktoren ist, soll stär­
und Arbeitgeber zu begrenzen [3]. Auch in der lau­ kere Berücksichtigung bei politischen Entschei­
fenden Legislaturperiode hat sich die Politik die dungen finden. Das Bundeskabinett hat im April
Aufgabe einer hochwertigen und finanzierbaren 2005 beschlossen, das koordinierte und übergrei­
Gesundheitsversorgung gestellt. Neben die gerin­ fende Handeln im Bereich der gesundheitlichen
gere Belastung des Faktors Arbeit durch Senkung Prävention zu stärken [8]. Da viele Krankheiten im
der Lohnnebenkosten ist dabei die Zielsetzung Alter mitalternde Krankheiten sind, werden gera­
einer größeren Finanzierungsgerechtigkeit zwi­ de von der Prävention neben einer verbesserten
schen Bevölkerungsgruppen und Generationen Lebensqualität, gewonnenen gesunden Lebens­
getreten [4]. Grundlegende Veränderungen in jahren, erhöhter Leistungsfähigkeit und Produk­
den Finanzierungsmechanismen wurden dabei tivität auch deutliche finanzielle Einsparpotentiale
mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs erwartet, die die entsprechenden Aufwendungen
in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) der Krankenversicherung mehr als kompensieren
eingeleitet, das am 1. April 2007 in Kraft getreten sollen [9]. Der Sachverständigenrat für die Konzer­
ist. Im finanziellen Mittelpunkt des Gesetzes ste­ tierte Aktion im Gesundheitswesen (seit Anfang
hen der neue Gesundheitsfonds und der morbidi­ 2004: Sachverständigenrat zur Begutachtung
tätsorientierte Risikostrukturausgleich. Vom 1. der Entwicklung im Gesundheitswesen) hat im
Januar 2009 an werden die Krankenkassen ihre Jahr 2000 davon gesprochen, dass sich durch
Finanzmittel aus dem Gesundheitsfonds in Form langfristige Prävention rund 25 % bis 30 % der
von Pauschalen, die nach Alter und Geschlecht Gesundheitsausgaben theoretisch vermeiden
sowie erstmals nach bestimmten Krankheiten lassen [10]. Im Jahr 2006 wurden in Deutsch­
differenziert sind, für jede und jeden ihrer Ver­ land rund 9 Milliarden Euro für Prävention und
sicherten erhalten. Damit sollen unterschiedliche Gesundheitsschutz ausgegeben, das entsprach
Ausgaberisiken einer Krankenkasse ausgeglichen 4 % der laufenden Gesundheitsausgaben. Große
werden, die nicht von ihr zu verantworten sind, unausgeschöpfte Präventionspotentiale werden
weil sie aus unterschiedlichen Risikostrukturen auch bei älteren Menschen gesehen. Ziel eines
der Versichertengemeinschaft resultieren. Der ressortübergreifenden Ansatzes ist es hier bei­
Fonds wird sich aus Beiträgen der Arbeitneh­ spielsweise, Krankheiten und Pflegebedürftigkeit
merinnen und Arbeitnehmer, Arbeitgeberinnen bei noch nicht pflegebedürftigen über 70-jährigen
und Arbeitgeber sowie aus Steuergeldern speisen Menschen zu verhindern [11]. Den Krankenkas­
[5]. Der morbiditätsorientierte Risikostrukturaus­ sen wurde bereits im GKV-Modernisierungsgesetz
gleich in der GKV soll seit 1. Januar 2009 zusätz­ 2004 die Möglichkeit eröffnet, in ihren Satzungen
lich dafür sorgen, dass eine Krankenkasse für Ver­ Anreize für gesundheitsbewusstes Verhalten zu
sicherte mit bestimmten schweren Erkrankungen schaffen. Versicherten, die regelmäßig Leistungen
höhere Pauschalen aus dem Gesundheitsfonds er­ zur Früherkennung von Krankheiten oder zur
hält, weil die Behandlung teurer und aufwändiger primären Prävention in Anspruch nehmen, kann
ist. Welche Erkrankungen dies sein werden, soll bis ein Bonus gewährt werden, wenn dieser aus Ein­
Juli 2008 festgelegt werden [6]. Mit dem Gesund­ sparungen und Effizienzsteigerungen entspre­
heitsfonds ist auch ein Einstieg in die schrittweise chender Maßnahmen finanziert wird [11]. Im
Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Gesund­
wie die beitragsfreie Mitfinanzierung von Kindern heitsförderung und gesundheitlichen Prävention
durch Steuern verbunden. Die Steuerfinanzie­ ist vorgesehen, Gesundheitsförderung und Prä­
rung der GKV soll nach 2009 weiter ausgebaut vention zu einer eigenständigen Säule im Gesund­
werden [5]. Andere Länder wie Frankreich, Däne­ heitswesen auszubauen [12].
mark, die Niederlande, die Schweiz und das Verei­
Gesundheit und Krankheit im Alter 291

Präventive Leistungen setzen dabei an den Gesundheit wird den Versicherten bereits in § 1
Krankheitsrisiken an und resultieren – wenn sie Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) aufer­
erfolgreich sind – in einem sinkenden Behand­ legt. Sie sollen durch eine gesundheitsbewusste
lungsbedarf. Folglich werden weniger Gesund­ Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung
heitsleistungen nachgefragt, was – gemessen an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen so­
daran und bei unveränderter Beschäftigung im wie durch die aktive Mitwirkung an Kranken­
Gesundheitswesen – den Produktionswert des behandlung und Rehabilitation dazu beitragen,
Gesundheitssystems sinken lässt. Dagegen haben den Eintritt von Krankheit und Behinderung
kurative Leistungen zum Ziel, Patientinnen und zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden.
Patienten zu behandeln und die Konsequenzen Diese Verpflichtung geht in der Diskussion um
von Krankheiten zu verringern. Sie lassen den die Rechte der Versicherten häufig unter [15].
Produktionswert im Gesundheitssystem entspre­ Allerdings müssen die Menschen ihren Bedürf­
chend steigen. In der Abwägung von Prävention nissen entsprechend auch zum Produzenten von
und Kuration ist ohne Frage eine Verbesserung Gesundheit [16] befähigt bzw. angeleitet werden
der Gesundheit der Bevölkerung wünschenswert. [11], denn ohne wesentlichen Leistungsbeitrag der
Zudem können präventive Maßnahmen in Ab­ Patientin oder des Patienten können Gesundheits­
hängigkeit vom Aufwand die Finanzierungslast leistungen nur eingeschränkt wirken. Es muss
im Gesundheitswesen reduzieren [7]. jedoch davon ausgegangen werden, dass Eigen­
Auch von europäischer Seite sind alle Politik­ verantwortung, Prophylaxe und eine gesundheits­
bereiche gefordert, ihre Entscheidungen auf Ge­ bewusste Lebensführung für unterschiedliche In­
sundheitsverträglichkeit zu überprüfen und auf dividuen mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden
mehr Gesundheit auszurichten [13, 14]. Bereits im verbunden sein können [2].
Jahr 2006 wurde deshalb durch die damalige fin- Eine indirekte Sensibilisierung für einen
nische EU-Ratspräsidentschaft mit »Health in all bewussten Umgang mit den gesundheitsbezo­
Policies« ein Konzept in die europäische Debatte genen Ressourcen hat über die Regelungen im
eingebracht, das unter besonderer Berücksichti­ Zuge des GKV-Modernisierungsgesetzes 2004
gung eben jener gesundheitswirksamen Faktoren stattgefunden. Seit 1. Januar 2004 müssen Pa­
eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik ver­ tientinnen und Patienten grundsätzlich zu allen
folgt [13]. Sie ist auch für die Finanzierung des Ge­ Leistungen Zuzahlungen von 10 % der Kosten
sundheitswesens in einer älter werdenden Gesell­ erbringen, höchstens aber 10 Euro und mindes­
schaft bedeutsam. Fachleute sehen deshalb auch tens 5 Euro. Vorsorgeuntersuchungen bleiben
eine Erhöhung der Beschäftigung im erwerbsfä­ von Zuzahlungen befreit. Die finanziellen Ei­
higen Alter und eine Steigerung der Produktivität genleistungen der Bevölkerung für Gesundheit
im Gesundheitswesen als Voraussetzung für eine (ohne Beiträge zur Krankenversicherung) be­
nachhaltige Finanzierung eines wachsenden Ge­ liefen sich im Jahr 2005 (neuere Angaben lie­
sundheitswesens in einer wachsenden Wirtschaft gen nicht vor) in Deutschland auf 34 Milliarden
an [7]. Euro, ein Plus von rund 8 Milliarden Euro im Ver­
In der Stärkung des gesellschaftlichen und gleich zum Jahr 2000. Der Anteil der Eigenleis­
individuellen Bewusstseins für die eigene Ge­ tungen an den laufenden Gesundheitsausgaben
sundheit und gesundheitswirksame Faktoren lag im Jahr 2005 bei 15 %, ein Wert der etwa dem
innerhalb und außerhalb des Gesundheitswe­ europäischen Durchschnitt der Eigenleistungen
sens dürfte ein Schlüssel für die Gesundheit der für Gesundheit entspricht [17]. Empirische Un­
Bevölkerung auch im Hinblick auf ihre künftige tersuchungen deuten darauf hin, dass die Pra­
Finanzierbarkeit liegen. Denn vor allem von der xisgebühr dazu beigetragen hat, die Zahl nicht
Gesundheit hängt der finanzielle Bedarf für die notwendiger Arztbesuche oder Mehrfachuntersu­
Gesundheitsversorgung ab. Die Förderung und chungen zu verringern [18]. Die finanzielle Sen­
der Erhalt der Gesundheit erfordert dabei in der sibilisierung für einen bewussten Umgang mit
Regel geringe finanzielle Mittel, vergleichsweise den gesundheitsbezogenen Ressourcen hat aber
teuer ist dagegen der Versuch, Gesundheit wie­ auch ihre Grenzen. Sie sind dann erreicht, wenn
derherzustellen. Eine Mitverantwortung für ihre z. B. Geringverdiener oder chronisch Kranke an
292 Gesundheit und Krankheit im Alter

rechtzeitiger Therapie sparen. Dies kann die Ge­ (u. a. Personal, Know-how, Finanzmittel) stehen
sellschaft später viel teurer kommen. alternativen Verwendungszwecken nicht mehr
Anhaltspunkte über die Angemessenheit der zur Verfügung. Die Gesundheit konkurriert in
für Gesundheit verausgabten Mittel werden natio­ der Ressourcenfrage daher unmittelbar mit ande­
nal wie international vorrangig aus Kennziffern ren Zweigen der Sozialen Sicherung und anderen
abgeleitet, die ökonomisch motiviert sind. Dies Bereichen der Volkswirtschaft wie beispielsweise
trifft auf den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bildung oder Verkehr. Da sich Gesundheitschan­
Bruttoinlandsprodukt (BIP) ebenso zu wie auf die cen ohnehin nicht nur über die Mittel und Instru­
Höhe der Beitragsätze zur GKV. Mit der Annähe­ mente der Gesundheitspolitik eröffnen – der Me­
rung dieser Größen an bestimmte Schwellenwerte dizin werden maximal ein Drittel am Zugewinn an
nimmt in der Regel auch der Handlungsdruck Lebenserwartung und -qualität zugeschrieben, der
auf die politischen Akteure zu, Möglichkeiten der Rest wird durch verbesserte Lebensverhältnisse,
Ausgabenbegrenzung im Gesundheitswesen zu bessere Bildung, gewachsene Handlungsspiel­
ergreifen. Mit Hilfe ökonomischer Kennziffern räume und gesundheitsfreundlicheres Verhalten
kann aber auch die Bedeutung des Gesundheits­ erklärt [20] – sind die Wirkungen der Entschei­
wesens für eine Volkswirtschaft deutlich gemacht dungen über die Verteilung von Gesundheitschan­
werden, wie sie beispielsweise über den Anteil der cen u. a. in der Bildungspolitik umso bedeutsamer.
Beschäftigten im Gesundheitswesen an allen Be­ Eine Förderung des Gesundheitswesens um jeden
schäftigten zum Ausdruck kommt. Damit geht ein Preis wäre ohnehin mit den sozialpolitischen Prin­
entscheidender Wandel in der Perspektive einher: zipien Qualität, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit
Der lange Zeit vorherrschende, fast ausschließ­ der Versorgung nicht vereinbar [21], dennoch gilt
liche Blick auf die Ausgabenseite des Gesundheits­ auch im Gesundheitswesen der generelle Zusam­
wesens wird auf Wachstum und Beschäftigung im menhang, dass die Ausgaben von Individuen und
Gesundheitswesen gelenkt, was auch für ein po­ Versicherungen gleichermaßen Einnahmen für
sitives Verständnis der erwarteten Wirkungen des Individuen und Institutionen bedeuten. Wie der
demografischen Wandels auf das Gesundheitswe­ gesamtwirtschaftliche Effekt bei demografischer
sen wichtig erscheint. Dies trifft insbesondere auf Alterung ausfällt, hängt auch von der Entwicklung
den Bereich zu, der über die klassische Erhaltung des Wirtschaftsvolumens insgesamt und von dem
und Wiederherstellung der Gesundheit im Rah­ Anteil ab, der von diesem Wirtschaftsvolumen für
men der gesetzlich vorgeschriebenen Regelver­ das Gesundheitswesen abgezweigt wird [22]. Al­
sorgung hinaus geht. Für ihn wird erwartet, dass lerdings stoßen die Mechanismen des Marktes im
sich die individuellen Wünsche und Bedürfnisse Gesundheitswesen an Grenzen, wo Akteure im
der Bürgerinnen und Bürger u. a. in Bezug auf die öffentlichen Auftrag der Daseinsvorsorge stehen.
Steigerung der individuellen Lebensqualität stär­ Aus den Ausführungen der vorausgehenden
ker als bisher durchsetzen werden [19]. Von vielen Kapitel des Teils 5 lassen sich folgende Zusam­
Ökonomen wird das Gesundheitswesen deshalb menhänge in Bezug auf die Gesundheitsausga­
auch als eine der wenigen gesamtwirtschaftlich ben ableiten: Durch das alleinige Abstellen auf
relevanten Wachstumsbranchen angesehen [19]. die deutlich höheren Gesundheitsausgaben für
Mit der Entscheidung über die Höhe des Res­ ältere Menschen pro Kopf im Vergleich zu den
sourceneinsatzes für das Gesundheitswesen wird jüngeren können die möglichen Folgen des Al­
insofern auch über die Bedeutung entschieden, terungsprozesses auf das Ausgabengeschehen
die dem Gesundheitswesen als Teilbereich der im Gesundheitswesen nur unzureichend erklärt
Volkswirtschaft im Hinblick auf Wachstum und werden. Wie die Ausführungen zeigen, unter­
Beschäftigung zukommt. liegt die Höhe der finanziellen Aufwendungen für
Der Entscheidungsspielraum der Verantwort­ das Gesundheitswesen neben dem Alter weiteren
lichen in Politik und Gesellschaft in Bezug auf die vielfältigen Einflüssen: Soziale Faktoren und per­
Ressourcen für die Gesundheitsversorgung der sönliche Verhaltensweisen spielen dabei ebenso
Bevölkerung unterliegt gleichwohl gewissen Re­ eine Rolle wie Versorgungsangebote, Behand­
striktionen. Die dem Erhalt und der Wiederher­ lungsmöglichkeiten, Organisationsstrukturen
stellung von Gesundheit zugeführten Ressourcen oder Finanzierungssysteme. Die individuelle Ge­
Gesundheit und Krankheit im Alter 293

sundheit selbst ist wiederum maßgeblich dafür, Insgesamt können die ökonomischen Chancen
inwieweit Einkommen und Vermögen in eigenes und Herausforderungen jedoch nicht in der Wei­
Wohlergehen umgewandelt werden können [23]. se bilanziert werden, die ein klares Bild über die
Gesundheitsgüter und -leistungen werden bei wei­ künftige Entwicklung des Ausgabengeschehens
tem auch nicht von der gesamten Bevölkerung in im Gesundheitswesen ergeben würde. Dazu sind
Anspruch genommen. Darunter sind die Gesun­ die Einflussmöglichkeiten zu vielfältig sowie in
den, die keinen gesundheitlichen Versorgungsbe­ ihren Abhängigkeiten und Wechselwirkungen nur
darf haben und Menschen mit gesundheitlichen schwer berechenbar bzw. unzureichend absehbar.
Beeinträchtigungen, die diese u. a. durch familiäre Auch gewinnt der eigentliche Versorgungsbe­
oder ehrenamtliche Selbsthilfe bewältigen. Darun­ darf der Bevölkerung in der Diskussion über ein
ter sind aber auch Menschen, die aufgrund der er­ mögliches Zuviel oder Zuwenig an Geldern im
forderlichen Zuzahlungen die Inanspruchnahme Gesundheitswesen erst in jüngerer Zeit an Bedeu­
ärztlicher Leistungen vermeiden. Darüber hinaus tung. Dazu beigetragen haben Disziplinen wie die
werden Gesundheitsleistungen nicht nur von den Versorgungsforschung, die sich u. a. mit den Zu­
Beschäftigten im Gesundheitswesen erbracht, sammenhängen zwischen Zugang, Qualität und
sondern auch von den privaten Haushalten, wie Kosten der Gesundheitsversorgung befasst [27].
am Beispiel häuslicher Pflegeleistungen deutlich Nur aus den Ergebnissen übergreifender Analy­
gemacht werden konnte. Auch ein sich wandeln­ sen können Indikatoren abgeleitet werden, die die
des Krankheitsspektrum und Gesundheitsver­ Qualität der gesundheitlichen Versorgung bzw.
halten tragen gerade in einer älter werdenden den gesundheitlichen Outcome, d. h. die Gesund­
Gesellschaft zum Ausgabengeschehen bei. Der heitsverbesserung durch eine Maßnahme, belast­
Anstieg der Gesundheitsausgaben pro Kopf mit bar messen. Die Gewinnung der dafür benötigten
dem Lebensalter ist zudem durch einen höheren u. a. längsschnittlichen Daten erweist sich noch
Anteil an bald Versterbenden bedingt [9], deren als unbefriedigend. Entsprechend steht auch die
Gesundheitsausgaben deutlich höher liegen als Erprobung der Indikatoren derzeit noch aus [27].
die der gleichaltrigen Überlebenden. Die Altersab­ Die Kriterien für die Finanzierung der Ge­
hängigkeit der künftigen Gesundheitsausgaben sundheitsversorgung werden als ein Produkt
ist je nach Annahme über den Gesundheitszu­ sozialer Auseinandersetzungen verstanden [28].
stand, mit dem die alternde Gesellschaft ihre Dennoch spielt der gesellschaftliche Aushand­
gewonnenen Lebensjahre verbringt, unterschied­ lungsprozess über die Finanzierung des Gesund­
lich stark ausgeprägt. Demografie und Fortschritt heitswesens in der öffentlichen Diskussion über
werden die Gesundheitspolitik deshalb über die die Gesundheitsausgaben in Deutschland eine
bisherigen Reformen hinaus auch künftig mit eher untergeordnete Rolle. Durch diesen wer­
Herausforderungen konfrontieren, die Weichen­ den aber sowohl die Beiträge zur Krankenver­
stellungen für neue Finanzierungsmechanismen sicherung als auch die Höhe der Steuergelder für
verlangen [4]. Hierfür gibt es eine Reihe von Kon­ das Gesundheitswesen und damit ein Großteil der
zepten und Diskussionsbeiträgen. Sie schließen Mittel festgelegt, die letztlich für die Gesundheits­
auch die Frage nach der Höhe des Krankenversi­ versorgung der Bevölkerung zur Verfügung ste­
cherungsbeitrags auf Alterseinkünfte gesetzlicher, hen. Dabei werden die Anforderungen an die Bür­
betrieblicher und privater Art ein [24]. Als ein Vor­ gerinnen und Bürger zum verantwortungsvollen
schlag zur stärkeren Beteiligung u. a. der älteren Umgang mit ihrer Gesundheit immer größer.
Generation an den Folgen des demografischen Über Zuzahlungen und Praxisgebühren werden
Wandels wird beispielsweise eine verbreiterte sie an den Kosten für ihre Behandlung beteiligt.
Bemessungsgrundlage für die Beiträge zur GKV Als Alternative zum Sachleistungsprinzip können
diskutiert [25]. Dadurch sollen alle Einkommens­ sie sich für die Kostenerstattung entscheiden oder
arten, also auch Gewinneinkünfte wie Zinsen und einen Selbstbehalt wählen [29]. Risiken infolge
Dividenden oder Mieten und Pachten in die Be­ einer Erkrankung müssen sie vermehrt eigenver­
messungsgrundlage einbezogen werden, die ins­ antwortlich tragen, wenn sie beispielsweise nicht
besondere bei Haushalten älterer Menschen einen regelmäßig an Früherkennungsuntersuchungen
relevanten Teil des Einkommens ausmachen [26]. teilnehmen [30].
294 Gesundheit und Krankheit im Alter

Damit halten die ökonomischen Grundsätze Von den Gesunden wird der Wert der Gesundheit
im medizinischen Kernbereich des Gesundheits­ im normalen Alltag womöglich eher gering ge­
wesens Einzug in den Alltag. Für die Angebote schätzt. Hinzu kommt, dass Nutzen und Kosten
des so genannten zweiten Gesundheitsmarkts au­ von Gesundheitsleistungen bei den Konsument­
ßerhalb der versicherten Regelversorgung gelten scheidungen stärker auseinander fallen als im
sie von Anfang an. In ihm bildet sich als Reaktion normalen Wirtschaftsleben [32]. Aus volkswirt­
auf die alternde Bevölkerung bereits ein Senioren­ schaftlicher Sicht gibt es auch keine praktikable
markt heraus. Insgesamt stellt sich die Frage, wie wissenschaftlich ableitbare optimale Gesund­
diese Entwicklung den Gesundheitsbegriff in der heitsquote weder für die Ausgaben- noch für die
Gesellschaft verändern wird. War früher eher die Einnahmenseite [33]. Ökonomische Kennziffern
Meinung verbreitet »Alles was gesund ist, macht wie der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP
keinen Spaß«, gilt Gesundheit heute als Ausdruck (ausgabenseitig) oder die Höhe des Beitragssatzes
und Teil der modernen Lebensqualität und des (einnahmenseitig) bieten Anhaltspunkte für die
Wohlbefindens. Nun geht es darum, Gesundheit monetäre Größenordnung des Gesundheitswe­
als positive Lebensressource in den Lebensalltag sens, einen entscheidenden Beitrag zur Konsens­
zu integrieren und dort zu verankern [31]. In eine findung über den Wert der Gesundheit können sie
positive Ressource lohnt es sich zu investieren, aber nicht leisten. Gleiches gilt für den Vergleich
da sie individuellen Nutzen (z. B. Wohlbefinden, von Ausgabenpotentialen, beispielsweise des An­
Lebensqualität) und gesamtgesellschaftlichen teils der Gesundheitsausgaben am BIP im Ver­
Nutzen (z. B. Lebenserwartung, Arbeitskraft) gleich zum Anteil spezifischer Konsumausgaben
bringt. An den Beispielen nährwert- und gesund­ am BIP. Die Konsumausgaben der privaten Haus­
heitsbezogene Angaben zu Lebensmitteln sowie halte für alkoholische Getränke, Tabakwaren, Frei­
Bekämpfung des Rauchens wird deutlich, dass es zeit, Unterhaltung, Kultur sowie Beherbergungs-
der Gesellschaft ernst mit der Verankerung von und Gaststättendienstleistungen beliefen sich im
Gesundheit im Alltag ist. Dadurch ändert sich Jahr 2006 zusammen auf 10 % des BIP, der Anteil
nicht nur der Blick auf die Gesundheit, sondern der Gesundheitsausgaben lag bei 11 %. Ruggeri,
auch auf die Krankheit und das Alter. Der Gegen­ der entsprechende Vergleiche für das kanadische
satz zwischen gesund und krank sowie jung und Gesundheitssystem vorgeschlagen hat, hinterfragt
alt wird auf positive Weise verwischt [31]. Die Aus­ damit die Diskussionen über die angebliche Nicht-
bildung eines positiven Ressourcenverständnisses Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems [34].
setzt aber auch eine Diskussion der kritischen Über die gesellschaftliche Bereitschaft hi­
Punkte im Verständnis von Gesundheit vor allem naus, Mittel für die Gesundheitsversorgung zur
als Produkt voraus. Dies betrifft beispielsweise die Verfügung zu stellen, hängt die Finanzierbar­
als Medikalisierung des Lebens bezeichnete Beo­ keit der Gesundheitsversorgung in einem Sozi­
bachtung, wonach immer mehr Probleme einer alversicherungssystem entscheidend auch vom
medizinischen Lösung zugeführt werden, oder die verantwortungsvollen Umgang der Akteure im
mit Perfektionierung des Körpers zu umschrei­ Gesundheitssystem mit diesen Mitteln ab. Die
bende Beobachtung, dass immer neue Verbesse­ Verantwortung der politischen Akteure liegt
rungen des menschlichen Körpers angeboten und dabei u. a. in einer Ausgestaltung der institu­
auch angestrebt werden [31]. tionellen Rahmenbedingungen für das Gesund­
Der Wert der Gesundheit hängt entscheidend heitswesen, die einem zeitgemäßen und von der
von den verschiedenen individuellen und gesell­ Gesellschaft getragenen Verständnis von Gesund­
schaftlichen Faktoren und Zielvorstellungen ab. heitsversorgung entspricht. Insgesamt soll der
Die einzelne Bürgerin und der einzelne Bürger Staat die Gesundheit schützen und fördern und
werden im Falle einer Erkrankung bereit sein, Gesundheitsrisiken verringern. Die Krankenkas­
alle verfügbaren Ressourcen für die Heilung zu sen verantworten eine das Wirtschaftlichkeits­
mobilisieren. Für ihn stehen die individuellen gebot beachtende Bereitstellung der benötigten
Ansprüche an die medizinische Versorgung und Leistungen. In der Verantwortung der Leistungs­
die Übernahme der Kosten durch die Krankenver­ erbringerinnen und -erbringer liegt eine bedarfs­
sicherung oder die Gesellschaft im Vordergrund. gerechte, qualitätsgesicherte und wirtschaftliche
Gesundheit und Krankheit im Alter 295

Erbringung der gesundheitlichen Versorgungs­ Gesellschaft« bei allen Mitarbeiterinnen und


leistungen, womit sie auch ein angemessenes Mitarbeitern sowie Kolleginnen und Kollegen
Honorar und ein gesichertes Einkommen zu er­ des Statistischen Bundesamtes für die fachlich­
zielen suchen. Die Bürgerinnen und Bürger ver­ inhaltliche und redaktionelle Unterstützung, ins­
antworten einen sorgsamen Umgang mit ihrer besondere bei Frau Meike Kaspari, Frau Dorothee
Gesundheit und den zur Verfügung stehenden Dedenbach und Frau Diana Dinslage für Litera­
Gesundheitsgütern und -leistungen sowie eine turbearbeitung und Datenprüfung.
Reduzierung ihrer gesundheitlichen Risiken.
Durch das Verständnis von Gesundheit als po­
sitive individuelle und gesellschaftliche Ressource Literatur
können Investitionen in Gesundheit, deren Bedarf
sich vor dem Hintergrund der demografischen 1. Groß D (2007) Rationierung im Gesundheitswesen
aus der Sicht der medizinischen Ethik. In: Schumpe­
Veränderungen und der sich wandelnden Krank­ lick V, Vogel B (Hrsg) Was ist uns die Gesundheit wert?
heitsbilder abzeichnet, an Überzeugungskraft ge­ Gerechte Verteilung knapper Ressourcen. Verlag Her­
winnen. Ein positives Verständnis von Gesundheit der, Freiburg im Breisgau, S 335 – 353
kann auch für die Lösung der finanziellen Heraus­ 2. Bergdolt K (2007) Billige Krankheit – Teure Gesund­
heit? In: Schumpelick V, Vogel B (Hrsg) Was ist uns
forderungen in Bezug auf das Gesundheitswesen die Gesundheit wert? Gerechte Verteilung knapper
insgesamt unterstützend wirken. Darüber hinaus Ressourcen. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau,
sollten die Gesundheitsausgaben nicht nur nach S 34 – 48
ihrer gegenwärtigen Höhe als vielmehr unter Be­ 3. AOK Bundesverband (2007) Geschichte der GKV-
Reformen
rücksichtigung ihres langfristigen Nutzens und www.aok-bv.de/politik/reformwerkstatt/reformge
vermiedener Folgekosten bewertet werden, was schichte/index.html (Stand: 24.10.2007)
insbesondere auch im Bereich der medizinisch­ 4. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Nach­
pharmazeutischen Innovationen eine Rolle spie­ haltige Finanzierung der Gesetzlichen Krankenver­
sicherung gewährleisten
len dürfte [35]. Ökonomische Kriterien allein www.bmg.bund.de/cln_041/nn_604238/DE/Themen
reichen deshalb für die Steuerung der Ressour­ schwerpunkte/Gesundheit/gesundheit-node,param=
cenverteilung im Gesundheitswesen als einem der Links.html__nnn=true#doc616706body Text6 (Stand:
elementarsten Bereiche der Daseinsfürsorge nicht 24.10.2007)
5. Bundeszentrale für politische Bildung (2007) Die
aus [36]. Im Empfinden vieler Menschen mögen Finanzierung des Gesundheitswesens
sie sogar eine marginale Rolle spielen. Auch www.bpb.de/themen/WZDR7I,0,Gesundheitspolitik_
bleibt bei aller Wertschätzung des Fortschritts im Lernobjekt.html?lt=AAA530&guid=AAA873 (Stand:
Gesundheitswesen ein Unterton, steigende Ge­ 25.10.2007)
6. Rabbata S (2008) Risikostrukturausgleich: 80 Krank­
sundheitsausgaben seien per se verwerflich und heiten sollen berücksichtigt werden. Dtsch Ärztebl PP
Gewinne im Gesundheitswesen unethisch [32]. 2008 (7): 52
Hingegen wird die historisch eigentlich junge 7. Schneider M (2006) Nachhaltige Finanzierung des
Fürsorgepflicht eines staatlich gelenkten Gesund­ Gesundheitswesens. Augsburg
8. Bundesministerium für Gesundheit (2005) Gesund in
heitssystems von vielen als eine Art Grundrecht die Zukunft – Auf dem Weg zu einem Gesamtkonzept
gewertet [2]. Ein gesellschaftlicher Konsens über zur gesundheitlichen Prävention. Bonn
den Wert der Gesundheit ist daher in Deutschland 9. Kruse A (2006) Alterspolitik und Gesundheit. Bun­
bislang nicht in Sicht [32]. Umso wichtiger wäre es desgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheits­
schutz 49 (6): 513 – 522
für die Konsensfindung auszuloten, ob u. a. das 10. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im
Gesundheitssystem nicht mit Ansprüchen über­ Gesundheitswesen (2000) Bedarfsgerechtigkeit und
fordert wird und ob die Erwartungen aller Akteure Wirtschaftlichkeit, Band I Zielbildung, Prävention,
– so unterschiedlich sie sein mögen – zu hoch sind Nutzerorientierung und Partizipation, Band II Qua­
litätsentwicklung in Medizin und Pflege. Gutachten
bzw. der Staat diesen Erwartungen möglicherwei­ 2000/2001, Kurzfassung
se auch zu weit entgegenkommt [16]. 11. Apitz R, Winter SF (2004) Potenziale und Ansätze der
An dieser Stelle bedanken sich die Ver­ Prävention – aktuelle Entwicklungen in Deutschland.
fasserinnen des Teils 5 »Ökonomische Chan­ Der Internist 45 (2)
cen und Herausforderungen einer alternden
296 Gesundheit und Krankheit im Alter

12. Bundesministerium für Gesundheit (2007) Präven­ 25. Kostorz P, Schnapp FE (2006) Der Bevölkerungswan­
tion del in Deutschland und seine Auswirkungen auf die
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=.html__nnn=true (Stand: 16.12.2008) 26. Hajen L, Paetow H, Schumacher H (2004) 11 Gesund­
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Frauen und Jugend
www.bmfsfj.de/RedaktionBMFS FJ/Abteilung3/PdF­
Anlagen/fuenfter-altenbericht,property=pdf,bereich=,
rwb=true.pdf (Stand: 21.07.2006)
Gesundheit und Krankheit im Alter 297

Verwendete Datengrundlagen

Abrechnungsdatenträger-Panel (ADT-Panel) Arzneiverordnungsreport

Datenhalter: Zentralinstitut für die kassenärztliche Datenhalter: Wissenschaftliches Institut der Orts­
Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland krankenkassen (WIdO)
Das Panel ist eine geschichtete Zufallsstich­ Der Arzneiverordnungsreport basiert auf den
probe von 450 elektronisch abrechnenden Pra­ Leistungsdaten der Gesetzlichen Krankenversiche­
xen niedergelassener Ärztinnen und Ärzte aus 14 rung (GKV). Ausgewiesen werden alle Arzneimit­
Arztgruppen. Beteiligt sind die Kassenärztlichen tel, die in öffentlichen Apotheken zu Lasten der
Vereinigungen Nordrhein und Brandenburg, die GKV abgegeben wurden.
pro Quartal Daten von jeweils ca. 600.000 Pa­ Link: http://wido.de/arzneiverordungs-rep.html
tientinnen und Patienten zur Verfügung stellen. In
die im Kapitel 2.1 verwendete Auswertung gingen
die Abrechnungsdaten von den rund 60 hausärzt­ Begutachtungsstatistik nach Begutachtungs­
lichen Praxen ein (ca. 75.000 Patientinnen und anlässen (Pflegeversicherung)
Patienten).
Link: http://www.zi-berlin.de/ Datenhalter: Medizinischer Dienst der Spitzenver­
bände der Krankenkassen e.V. (MDS)
Grundlage der Statistik sind die vom Medizi­
Arzneimittelmarkt in Deutschland in Zahlen nischen Dienst der Krankenversicherung (MDK)
durchgeführten Erstbegutachtungen und Begut­
Datenhalter: Bundesverband der Arzneimittel- achtungsempfehlungen aller Pflegebedürftigen im
Hersteller e.V. (BAH) Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes, die ambu­
In der Erhebung werden alle marktrelevanten lant oder stationär gepflegt werden. Es handelt sich
Entwicklungen in allen Segmenten des Arzneimit­ um eine vierteljährliche Vollerhebung seit 1998
telmarktes hinsichtlich der Umsatz- und Absatz­ auf der Grundlage von Pflegegutachten.
zahlen sowie Marktstrukturen erfasst. Im Unter­ Link: http://www.mds-ev.de
schied zum GKV-Arzneimittelindex sind hier auch
rezeptfreie Arzneimittel (Selbstmedikation) inbe­
griffen. Die Daten werden jährlich (teilweise Voll­ Berliner Altersstudie (BASE)
erhebung, sonst repräsentativ für Deutschland)
vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller Datenhalter: Interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Al­
und dem Institut für Medizinische Statistik erho­ tern und gesellschaftliche Entwicklung« (AGE) der
ben. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen­
Link: http://www.bah-bonn.de schaften sowie weitere Berliner Institutionen
Die Berliner Altersstudie ist eine multidiszi­
plinäre Untersuchung alter Menschen im Alter
Arzneimittelsurvey 1998 von 70 bis über 100 Jahren, die im ehemaligen
Westteil Berlins leben. In der Hauptstudie (1990
Datenhalter: Robert Koch-Institut (RKI) bis 1993) wurden 516 Personen in 14 Sitzungen
Der Arzneimittelsurvey 1998 fand im Rah­ hinsichtlich ihrer geistigen und körperlichen Ge­
men des Bundes-Gesundheitssurvey 1998 statt. Er sundheit, ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit
liefert als Querschnittsstudie repräsentative Daten und psychischen Befindlichkeit untersucht sowie
zum Arzneimittelgebrauch der 18- bis 79-jährigen nach ihrer sozialen und ökonomischen Situation
Wohnbevölkerung in Deutschland (n=7.099). Die befragt. Seitdem ist die Studie als Längsschnitt­
Datenerhebung erfolgte mit Hilfe ärztlicher Inter­ studie weitergeführt worden, indem überlebende
views. Teilnehmer sechsmal nachuntersucht wurden.
Link: http://www.rki.de Link: http://www.base-berlin.mpg.de
298 Gesundheit und Krankheit im Alter

Beteiligung an den Krebsfrüherkennungs­ erwartung und der Wanderungen. Es werden ver­


maßnahmen und der Gesundheitsuntersuchung schiedene Annahmen zum Verlauf der einzelnen
Check-up Komponenten getroffen, die in der Kombination
mehrere Szenarien der Bevölkerungsvorausbe­
Datenhalter: Zentralinstitut für die kassenärztliche rechnung ergeben. Die Vorausberechnung erfolgt
Versorgung »koordiniert«, weil methodische Fragen, z.B. zur
Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Binnenwanderung, zwischen Statistischem Bun­
Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland desamt und den Statistischen Ämtern der Länder
veröffentlicht Schätzungen zur Beteiligung an abgestimmt werden.
den Krebsfrüherkennungsmaßnahmen und der Link: http://www.destatis.de
Gesundheitsuntersuchung Check-up. Die Schät­
zung basiert auf Daten der Kassenärztlichen
Vereinigungen über alle, von niedergelassenen Bundes-Gesundheitssurvey 1998 (BGS98)
Vertragsärzten in Deutschland abgerechneten
Früherkennungsuntersuchungen. Datenhalter: Robert Koch-Institut (RKI)
Link: http://www.zi-berlin.de Der Bundes-Gesundheitssurvey 1998 liefert
als Querschnittsstudie umfassende, repräsentative
Daten zu Gesundheitsstatus, Gesundheitsverhal­
Bevölkerungsfortschreibung ten und Gesundheitsversorgung der 18- bis 79-jäh­
rigen Wohnbevölkerung in Deutschland (n=7.124).
Datenhalter: Statistisches Bundesamt Die Datenerhebung umfasste neben einem Frage­
Die jährliche Fortschreibung des Bevölke­ bogen auch ein ärztliches Interview, eine körper­
rungsstandes nach Geschlecht, Familienstand liche Untersuchung und Laboruntersuchungen.
sowie Geburts- und Altersjahren erfolgt auf Ge­ Link: http://www.rki.de
meindeebene mit Hilfe der Ergebnisse der Statis­
tik der natürlichen Bevölkerungsbewegung über
die Geburten und Sterbefälle, Eheschließungen Deutscher Alterssurvey
und Ehelösungen sowie der Wanderungsstatistik
über die Zu- und Fortzüge (räumliche Bevölke­ Datenhalter: Deutsches Zentrum für Altersfragen
rungsbewegung). Ferner werden die Ergebnisse (DZA)
des Staatsangehörigkeitswechsels und der festge­ Der Deutsche Alterssurvey (DEAS) ist eine
stellten Bestandsveränderungen berücksichtigt. für Deutschland bundesweit repräsentative Un­
Die Bevölkerungsfortschreibung stellt somit die tersuchung der »zweiten Lebenshälfte«, also des
gemeindeweise Bilanzierung der einzelnen Bevöl­ mittleren und höheren Erwachsenenalters und
kerungsbewegungen dar. wurde bislang in den Jahren 1996 und 2002
Link: http://www.destatis.de durchgeführt. Ziel des Alterssurveys ist es, die
Lebensbedingungen von älter werdenden und al­
ten Menschen in umfassender Weise zu betrach­
Bevölkerungsvorausberechnung ten und ihre Lebensveränderungen im Rahmen
des sich stetig vollziehenden sozialen Wandels zu
Datenhalter: Statistisches Bundesamt verfolgen. Untersucht werden soziale Netzwerke
Die (11. koordinierte) Bevölkerungsvoraus­ und gesellschaftliche Teilhabe, Erwerbstätigkeit
berechnung zeigt, wie sich die Bevölkerungszahl und Ruhestand, materielle Lebensbedingungen,
und der Altersaufbau der Bevölkerung unter Gesundheit und Gesundheitsversorgung, Pfle-
bestimmten Annahmen innerhalb eines festge­ gebedürftigkeit sowie psychische Befindlichkeit.
legten Zeithorizonts (z.B. bis 2050) verändern. Im Jahr 1996 wurden in einer repräsentativen
Die Vorausberechnung geht von der tatsächlichen Auswahl 4.838 in Privathaushalten lebende Deut­
Bevölkerung eines Stichtags aus (Bevölkerungs­ sche im Alter von 40 bis 85 Jahren interviewt. Die
fortschreibung) und basiert auf Annahmen zur Stichprobe war nach Alter, Geschlecht und Region
Entwicklung der Geburtenhäufigkeit, der Lebens­ geschichtet. Im Jahre 2002 wurden alle Teilneh­
Gesundheit und Krankheit im Alter 299

merinnen und Teilnehmer der Ersterhebung, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS)
bereit und in der Lage waren, an einer zweiten
Befragung teilzunehmen, erneut aufgesucht. An Datenhalter: Statistisches Bundesamt
dieser Zweiterhebung (Panelstichprobe) nahmen Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
1.524 Personen im Alter von nunmehr 46 bis 91 ist eine repräsentative Quotenstichprobe privater
Jahren teil. Ergänzend wurden im Jahr 2002 er­ Haushalte mit freiwilliger Auskunftserteilung.
neut Personen im Alter von 40 bis 85 Jahren be­ Zentrales Instrumentarium der Erhebung sind
fragt (n=3.084 Personen). Im Jahr 2002 wurden Interviews und von den Haushalten detailliert zu
erstmals auch 584 ausländische Personen mit führende Haushaltsbücher u.a. über ihre Einnah­
Wohnsitz in Deutschland befragt. Die wiederholte mequellen und Ausgaben für den privaten Kon­
Befragung macht es möglich, individuelle Verän­ sum, ihre Ausstattung mit langlebigen Gebrauchs­
derungen und Kohortenvergleiche zu analysieren. gütern, die Vermögensformen und -bestände sowie
Link: http://www.dza.de die Schuldenarten. Die Stichprobe ist u.a. Daten­
grundlage der Armuts- und Reichtumsberichter­
stattung und Basis für die Berechnungsgrundlage
4. Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV) (Wegungsschema) des Verbraucherpreisindex. Die
Erhebung wird seit 1962/1963 (ab 1993 auch neue
Datenhalter: Institut der Deutschen Zahnärzte Länder und Berlin-Ost) in der Regel alle fünf Jahre
(IDZ) durchgeführt und umfasst etwa 0,2% der privaten
Die 4. Deutsche Mundgesundheitsstudie ist Haushalte, d.h. jeden fünfhundertsten Haushalt.
eine bevölkerungsrepräsentative Querschnitts­ Link: http://www.destatis.de
studie zu Aspekten der Mundgesundheit und des
Mundgesundheitsverhaltens in vier ausgewählten
Alterskohorten. Sie gliedert sich in einen klinisch­ GEK-Daten
zahnmedizinischen Befundungsteil und einen
sozialwissenschaftlichen Befragungsteil. Insge­ Datenhalter: Gmünder Ersatzkasse (GEK)
samt nahmen 4.631 Personen an der im Jahr 2005 Die Gmünder Ersatzkasse (GEK) stellt auf der
durchgeführten Studie teil (Seniorenkohorte: 65 – Basis von Kooperationsvereinbarungen Daten für
74 Jahre, n=1.040). wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung. Der vom
Link: http://www.idz-koeln.de/ Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) in Bremen ge­
pflegte Datensatz erstreckt sich gegenwärtig über
den Zeitraum 1990 bis 2004 und beinhaltet Infor­
DRV Statistik Rentenbestand mationen zu insgesamt 2,8 Millionen Versicherten
oder mitversicherten Familienangehörigen. Für
Datenhalter: Deutsche Rentenversicherung Bund wissenschaftliche Auswertungen sind in erster Li­
Die Statistik liefert Faustdaten zur Rentenver­ nie Informationen zu vorliegenden Krankheiten
sicherung und Informationen zu den Bereichen und in Anspruch genommenen medizinischen
Versicherte, Rentenzugang, Rentenbestand und Leistungen, z.B. stationäre Behandlungen, Arznei­
Rehabilitation. Grundlage der »DRV Statistik mittelverordnungen oder Leistungen der Pflege­
Rentenbestand« sind die Verwaltungsvorgänge zu versicherung, interessant. Darüber hinaus stehen
den laufenden Renten bei allen 19 Rentenversi­ Informationen zu Arbeitsunfähigkeitszeiten und
cherungsträgern (17 Regionalträger der Deutschen Sterbedaten zur Verfügung.
Rentenversicherung Bund und der Deutschen Link: http://www.zes.uni-bremen.de
Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See).
Links: http://www.deutsche-rentenversicherung-bund.de
300 Gesundheit und Krankheit im Alter

GEK-Report nach Leistungen und Leistung erbringenden Ein­


richtungen. Sie ist methodisch und inhaltlich eng
Datenhalter: Gmünder Ersatzkasse (GEK) verzahnt mit der Krankheitskostenrechnung und
Die Gmünder Ersatzkasse veröffentlicht regel­ der Gesundheitspersonalrechnung (gesundheits­
mäßig themenbezogen die Leistungsdaten ihrer bezogene Rechensysteme des Statistischen Bun­
Versicherten. Da sie nur die Versichertenpopula­ desamts).
tion der GEK einbeziehen, sind sie nicht reprä­ Links: http://www.destatis.de, http://www.gbe-bund.de
sentativ. Sie wurden als Quellen dennoch dann
herangezogen, wenn repräsentative Daten zu be­
stimmten Aspekten fehlten. Dies trifft beispiels­ Gesundheitspersonalrechnung (GPR)
weise auf Details des Arzneimittelkonsums älterer
und sehr alter Menschen zu, die im GEK-Arznei- Datenhalter: Statistisches Bundesamt
mittel-Report dargestellt wurden. Daneben wur­ Die Gesundheitspersonalrechnung führt
den Daten zur Versorgung älterer Personen mit systematisch die im Bereich des Gesundheitswe­
Heil- und Hilfsmitteln dem GEK-Heil- und Hilfs- sens verfügbaren Datenquellen zur Ermittlung
mittel-Report sowie mit psychotherapeutischen der Beschäftigten zusammen. Sie stellt detaillierte
Leistungen dem GEK-Report ambulant-ärztliche Informationen über Anzahl und Struktur der
Versorgung entnommen. Beschäftigten im Gesundheitswesen nach Alter,
Link: https://www.gek.de/service/publikationen/gekstu Geschlecht, Beruf, Einrichtung und Art der Be­
dien/index.html schäftigung bereit. Die Daten liegen seit 1997 als
jährliche Zeitreihe vor, jeweils zum Stichtag 31.12.
des jeweiligen Berichtsjahres. Die Gliederung der
Geschäfts- und Rechnungsergebnisse der Einrichtungen des Gesundheitswesens erfolgt ent­
sozialen Pflegeversicherung sprechend der Systematik der Gesundheitsausga­
ben- und Krankheitskostenrechnung.
Datenhalter: Bundesministerium für Gesundheit Links: http://www.destatis.de, http://www.gbe-bund.de
(BMG)
Hierbei handelt es sich um eine seit 1995
jährlich durchgeführte Sekundärerhebung aus GKV-Arzneimittelindex
der Geschäftstätigkeit der Pflegekassen zur Er­
fassung der Einnahmen und Ausgaben(arten) der Datenhalter: Wissenschaftliches Institut der AOK
sozialen Pflegeversicherung. Ziel der Statistik ist (WIdO)
die Gewinnung von Leistungs- und Finanzdaten Datengrundlage sind die Verordnungen zu
der Pflegeversicherung für Planungszecke des Ge­ Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung die
setzgebers. über öffentliche Apotheken in Deutschland abge­
Link: http://www.bmg.bund.de geben werden. Nicht erfasst sind Verordnungen zu
Lasten der privaten Krankenversicherung, Arznei­
mittelabgaben in Krankenhäusern und ohne Re­
Gesundheitsausgabenrechnung (GAR) zept privat erworbene Medikamente (sogenanntes
»over the counter« (OTC)-Geschäft). Ziel des GKV-
Datenhalter: Statistisches Bundesamt Arzneimittelindexes ist es, den deutschen Arz­
Die Gesundheitsausgabenrechnung ist ein neimittelmarkt transparent zu machen und Da­
sekundärstatistisches Rechenwerk, das verfüg­ ten für die Forschung und Politik zur Verfügung
bare Datenquellen im Bereich des Gesundheits­ zu stellen. Es handelt sich um eine monatliche
wesens zur Ermittlung der Gesundheitsausgaben bis quartalsweise Rezeptstichprobenziehung bzw.
zusammenfasst. Erfasst werden die Ausgaben für Vollerhebung seit 1981.
den letzten Verbrauch von Gütern, Dienstleis­ Link: http://www.wido.de
tungen und Investitionen. Die GAR liefert seit
1992 jährlich differenzierte Daten zu den Trägern
der Ausgaben sowie zur Verwendung der Mittel
Gesundheit und Krankheit im Alter 301

KM1-Statistik der gesetzlichen 1993 werden jährlich Daten zu den Krankenhaus­


Krankenversicherung aufenthalten der vollstationären Patientinnen und
Patienten erhoben. Diese Daten umfassen u. a. die
Datenhalter: Bundesministerium für Gesundheit Hauptdiagnose der vollstationär Behandelten, Ge­
(BMG) burtsmonat und -jahr, Geschlecht, Zugangs- und
Die Statistik gibt einen Überblick über die Mo­ Abgangsdatum, Behandlungs- und Wohnort sowie
natswerte zu den Mitgliedern, Beitragssätzen und die Angabe, ob im Zusammenhang mit der Haupt­
Kranken der gesetzlichen Krankenversicherung. diagnose eine Operation durchgeführt wurde. Di­
Link: http://www.bmg.bund.de agnosedaten der Patientinnen und Patienten in
Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen mit
mehr als 100 Betten werden seit dem Berichtsjahr
KJ 1-Statistik der gesetzlichen Kranken­ 2003 erhoben.
versicherung Ab dem Berichtsjahr 2005 stehen basierend
auf Daten, die zu Abrechnungszwecken dokumen­
Datenhalter: Bundesministerium für Gesundheit tiert wurden (so genannte Fallpauschalen bezoge­
(BMG) ne Krankenhausstatistik) Angaben u.a. zu den
Die Statistik gibt einen Überblick über die Operationen und Prozeduren sowie den Haupt-
Einnahmen, Ausgaben und Vermögen der gesetz­ und Nebendiagnosen der Krankenhauspatien­
lichen Krankenkassen nach Region, Einnahmen-, tinnen und -patienten zur Verfügung. In einem
Ausgaben- bzw. Vermögensart, Kassenart sowie für weiteren Themenkomplex dieser Statistik – dem
die Einnahmen und Ausgaben nach Versicherten­ Kostennachweis – werden die Selbstkosten der
gruppe. Akut-Krankenhäuser nach Hauptkostenarten er­
Link: http://www.bmg.bund.de hoben.
Links: http://www.destatis.de, http://www.gbe-bund.de

KM 6-Statistik der gesetzlichen Kranken­


versicherung Krankheitskostenrechnung (KKR)

Datenhalter: Bundesministerium für Gesundheit Datenhalter: Statistisches Bundesamt


(BMG) Die Krankheitskostenrechnung ist ein ge­
Die Statistik erfasst jährlich seit 1993 zu einem sundheitsbezogenes Rechensystem, das die öko­
bestimmten Stichtag alle Mitglieder und mitver­ nomischen Konsequenzen von Krankheit für die
sicherte Familienangehörige der gesetzlichen deutsche Volkswirtschaft bemisst. Sie gibt einen
Krankenversicherung nach Alter, Geschlecht und mehrdimensionalen Überblick über das krank­
Kassenart. heitsbedingte Kostengeschehen in Deutschland
Link: http://www.bmg.bund.de nach Diagnosen, Alter und Geschlecht der Bevöl­
kerung für die jeweilige Einrichtung des Gesund­
heitswesens. Als reine Sekundärstatistik verwer­
Krankenhausstatistik tet die Krankheitskostenrechnung eine Vielzahl
bereits vorhandener Datenquellen, führt diese
Datenhalter: Statistisches Bundesamt nach einer einheitlichen Methodik zusammen
Seit 1991 stehen für alle Bundesländer ver­ und ergänzt sie in ausgewählten Fällen um wei­
gleichbare Daten für die Krankenhäuser und Vor­ tere Schätzungen. Die Krankheitskostenrechnung
sorge- oder Rehabilitationseinrichtungen zur Ver­ wird vom Statistischen Bundesamt seit 2002 im
fügung. Die Grunddaten weisen im Wesentlichen zweijährigen Rhythmus durchgeführt.
die personelle und sachliche Ausstattung der Links: http://www.destatis.de, http://www.gbe-bund.de
Krankenhäuser und Vorsorge- oder Rehabilitati­
onseinrichtungen am 31.12. jeden Jahres sowie die
Patientenbewegungen als Zu- und Abgänge wäh­
rend des Berichtsjahres nach. Ab dem Berichtsjahr
302 Gesundheit und Krankheit im Alter

Mikrozensus Pflegestatistik

Datenhalter: Statistisches Bundesamt Datenhalter: Statistisches Bundesamt


Der Mikrozensus ist die amtliche Repräsenta­ Die Pflegestatistik wird von den Statistischen
tivstatistik über die Bevölkerung und den Arbeits­ Ämtern des Bundes und der Länder seit Dezember
markt in Deutschland. Dazu werden einmal im 1999 im zweijährigen Turnus durchgeführt. Ziel
Jahr rund 830.000 Personen in 390.000 Haus­ der Statistik ist es, Daten zum Angebot und zur
halten befragt; das entspricht etwa 1% der Bevöl­ Nachfrage pflegerischer Leistungen zu gewinnen.
kerung Deutschlands. Der Mikrozensus liefert Dazu setzt sich die Statistik aus zwei Erhebungen
grundlegende Informationen u.a. über die wirt­ zusammen: Zum einen werden die ambulanten
schaftliche und soziale Lage der Bevölkerung, die und stationären Pflegeeinrichtungen befragt, zum
Familien- und Lebensformen, die Haushalte, die anderen liefern die Spitzenverbände der Pflege­
Erwerbstätigkeit, die Pflegeversicherung und im kassen und der Verband der privaten Krankenver­
vierjährigen Rhythmus über die Gesundheit. Er sicherung Informationen über die Empfänger von
wurde im früheren Bundesgebiet erstmalig 1957, Pflegegeldleistungen.
in den neuen Ländern (einschl. Berlin-Ost) 1991 Link: http://www.destatis.de
durchgeführt. Seit 1968 ist das Frageprogramm
der Europäischen Arbeitskräfteerhebung (AKE) in
den Mikrozensus integriert. Schwerbehindertenstatistik
Link: http://www.destatis.de
Datenhalter: Statistisches Bundesamt
Die Statistik basiert auf einer Vollerhebung
Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger aller als schwerbehindert geltenden Personen,
Lebensführung in Privathaushalten (MuG III, 2002) denen von den Versorgungsämtern ein Grad der
und in Einrichtungen (MuG IV, 2005) Behinderung von 50 oder mehr zuerkannt wor­
den ist. Ausgewiesen werden seit 1979 zweijähr­
Datenhalter: Bundesministerium für Familie, Se­ lich schwerbehinderte Menschen u.a. nach Alter,
nioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Wohnort sowie
Die Studie »Möglichkeiten und Grenzen Art, Ursache und Grad der Behinderung.
selbstständiger Lebensführung in Privathaus­ Link: http://www.destatis.de
halten« (MuG III) untersucht die Situation der
häuslichen Pflege vor und nach Einführung der
Pflegeversicherung. Grundlage der vom Bundes­ SHARE-Studie
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend geförderten Studie ist eine Repräsentativ­ Datenhalter: Mannheimer Forschungsinstitut
befragung von 3.622 hilfe- und pflegebedürftigen Ökonomie und Demographischer Wandel (MEA)
Personen durch Infratest Sozialforschung Mün­ SHARE ist ein EU-finanziertes Projekt, das
chen. Weitere Beteiligte im Forschungsverbund einen Survey über Gesundheit (Health), Alterung
sind: Zentralinstitut für seelische Gesundheit (ZI), (Aging) und Pensionierung (Retirement) in Euro­
Heinemann & Partnerinnen (c/o IGF Berlin), ISG pa aufbaut. Es wird ein europaweiter interdiszipli­
Institut für Sozialforschung und Gesellschafts­ närer Paneldatensatz von Personen im Alter von 50
politik sowie JSB GmbH. Die Erhebung MuG IV Jahren und darüber erzeugt. Die erste Welle wurde
befragt Pflegerinnen und Pfleger von insgesamt 2004 als internationales Kooperationsprojekt in 11
4.229 Bewohnerinnen und Bewohnern in 609 Al­ europäischen Ländern erhoben. Eine zweite Befra­
teneinrichtungen Deutschlands. Gegenstand der gungswelle folgte in den Jahren 2006/2007. Die
Studie sind die Lebenssituation sowie der Bedarf dritte Befragungswelle zu retrospektiven Lebens­
an Hilfe und Pflege bei den Personen, die in voll­ geschichten (SCHARELIFE) findet seit Herbst
stationären Einrichtungen der Altenhilfe leben. 2008 in 15 europäischen Ländern statt. SHARE
Link: http://www.bmfsfj.de wird koordiniert vom Mannheimer Forschungs­
institut Ökonomie und Demographischer Wandel
Gesundheit und Krankheit im Alter 303

(MEA). In der hier verwendeten ersten Welle aus (n=8.318). Die Datenerhebung erfolgte mit Hilfe
dem Jahr 2004 wurden über 22.000 Personen computerassistierter Telefoninterviews.
befragt. Link: http://www.rki.de
Link: www.share-project.org

Todesursachenstatistik
Sozio-oekonomische Panel (SOEP)
Datenhalter: Statistisches Bundesamt
Datenhalter: Deutsches Institut für Wirtschaftsfor­ Die Todesursachenstatistik ist die elementare
schung (DIW) Berlin Grundlage zur Ermittlung wichtiger Gesundheits­
Das SOEP ist eine repräsentative Befragung indikatoren wie Sterbeziffern, verlorene Lebens­
privater Haushalte in Deutschland, die seit 1984 jahre und vermeidbare Sterbefälle. Datengrundla­
im jährlichen Rhythmus im Paneldesign durch­ ge sind die Todesbescheinigungen, die im Rahmen
geführt wird. Die Befragung wird durch das Deut­ der Leichenschau ausgestellt werden. Es handelt
schen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sich um eine Sekundärstatistik. Ausgewertet wer­
Berlin realisiert. Themenschwerpunkte sind unter den die für die amtliche Statistik vorgesehenen
anderem Haushaltszusammensetzung, Erwerbs­ Teile der Todesbescheinigungen. Die Todesursa­
und Familienbiographie, Erwerbsbeteiligung chenstatistik ist eine jährliche Vollerhebung; Daten
und berufliche Mobilität, Einkommensverläufe, liegen seit 1950 in schriftlicher und seit 1980 in
Gesundheit und Lebenszufriedenheit. Das SOEP elektronischer Form vor.
zeichnet sich durch eine hohe Stabilität aus. 1984 Links: http://www.destatis.de, http://www.gbe-bund.de
beteiligten sich im SOEP-West 5.921 Haushalte mit
12.290 erfolgreich befragten Personen an der Erhe­
bung; nach 23 Wellen im Jahre 2006 sind es noch Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)
3.476 Haushalte mit 6.203 Personen. Im SOEP-
Ost wurden 1990 2.179 Haushalte mit 4.453 Per­ Datenhalter: Statistisches Bundesamt
sonen befragt; 2006 gaben 3.476 Personen in 1.717 Die amtlichen volkswirtschaftlichen Ge­
Haushalten Auskunft über ihre Lebenssituation. samtrechnungen geben ein umfassendes, tief
Die Stärken des SOEP bestehen vor allem in gegliedertes, quantitatives Gesamtbild des wirt­
seinen besonderen Analysemöglichkeiten durch: schaftlichen Geschehens. Einbezogen sind alle
das Längsschnittdesign (Panelcharakter), den Wirtschaftseinheiten (Personen, Institutionen)
Haushaltskontext (Befragung aller erwachsenen und ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten, differen­
Haushaltsmitglieder); der Möglichkeit innerdeut­ ziert nach Wirtschaftsbereichen und Sektoren.
scher Vergleiche und tiefgegliederter geografischer Die Inlandsproduktberechnung als Teil der VGR
Klassifikationen; einer überproportionalen Auslän­ ermittelt Daten, die für die laufende Wirtschaftsbe­
derstichprobe; der Erhebung von Zuwanderung obachtung und -analyse notwendig sind (z.B. das
sowie der überproportionalen Berücksichtigung Bruttoinlandsprodukt). Die Ergebnisse werden in
einkommensstarker Haushalte (seit 2002). der gesamten Europäischen Union in gleicher Wei­
Link: http://www.diw.de/deutsch/sop/index.html se berechnet.
Link: http://www.destatis.de

Telefonischer Gesundheitssurvey 2003 (GSTel03)


Zahlenbericht
Datenhalter: Robert Koch-Institut (RKI)
Der telefonische Gesundheitssurvey 2003 Datenhalter: Verband der privaten Krankenversi­
(GSTel03) liefert als Querschnittsstudie repräsenta­ cherung e.V. (PKV)
tive Daten zu Gesundheitsstatus, Gesundheitsver­ Der Zahlenbericht dokumentiert die Situation
halten und Gesundheitsversorgung der 18-jährigen und die Entwicklung der privaten Krankenversi­
und älteren Wohnbevölkerung in Deutschland cherung. Er liefert Informationen zum Versiche­
rungsbestand, zu den Beitragseinnahmen und den
304 Gesundheit und Krankheit im Alter

Leistungsausgaben sowie zu anderen Themenge­


bieten. Der Zahlenbericht ist das Resultat mehre­
rer Erhebungen sowie weiterer Quellen.
Link: http://www.pkv.de

Zeitbudgeterhebung (ZBE) 2001/2002

Datenhalter: Statistisches Bundesamt


Die im Jahr 2001/2002 zum zweiten Mal
(erstmals 1991/1992) durchgeführte repräsenta­
tive Erhebung zur Zeitverwendung privater Haus­
halte in Deutschland liefert u.a. Daten über Art
und Umfang unbezahlter Arbeit, ehrenamtliche
Tätigkeiten, Arbeitsteilung im Haushalt und Frei­
zeitaktivitäten. Neben einem Personen- und einem
Haushaltsfragebogen ist der Kern der Erhebung
ein Tagebuch, das alle Haushaltsmitglieder (ab
zehn Jahren) an drei Tagen in Zehn-Minuten-
Schritten führen sollten. Die Quotenstichprobe
umfasst 5.400 Haushalte mit 12.600 Personen,
die 37.700 Tagebücher führten. Auf der Grundla­
ge einer 230 Aktivitäten umfassenden Liste wird
die Zeitverwendung nach Haupt- und Nebentätig­
keiten nachgewiesen. Die Erhebung ist u.a. Grund­
lage des »Satellitensystems Haushaltsproduktion«
der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
Link: http://www.destatis.de
Gesundheit und Krankheit im Alter 305

Glossar

altersspezifisches perioden- oder kohortenspezifische Wahrscheinlichkeit in einem spezifischen Lebensalter zu verster­


Sterberisiko ben; wird auf Basis von Sterbetafeln berechnet
Alters­ Verfahren, bei dem Erkrankungs- oder Todesfallraten auf eine (fiktive) Vergleichsbevölkerung mit
standardisierung definierter Altersstruktur umgerechnet werden. Die Altersstandardisierung eliminiert die Effekte des
gesellschaftlichen Alterungsprozesses, wodurch sich Veränderungen der Erkrankungsraten besser
interpretieren lassen. Altersstandardisierte Daten erlauben auch den Vergleich von Ländern mit un­
terschiedlicher Altersstruktur.
Alterssterblichkeit, Prozess der Verschiebung des Sterbezeitpunktes in ein höheres Lebensalter infolge der zuneh­
sinkende menden Lebenserwartung
Alzheimer Demenz häufigste Form der Demenz; es gehen in bestimmten Bereichen des Gehirns durch Störungen des
Gleichgewichts des Botenstoffs Glutamat Nervenzellen zugrunde (auch neurodegenerative Demenz)
Angina pectoris klinische Ausprägungsform der koronaren Herzkrankheit; Symptome: Brustenge, Schmerzen
Äquivalenz­ Einkommen einer Person, das aus dem Gesamteinkommen des Haushalts sowie der Anzahl und
einkommen dem Alter der von diesem Einkommen lebenden Personen bestimmt wird
Arteriosklerose Erkrankung, bei der Blutfluss in den Gefäßen durch Kalkablagerungen behindert wird, in der Folge
kann ein Herzinfarkt auftreten
Arthritis Gelenkerkrankung, hervorgerufen durch eine Entzündung
Arthrose Gelenkerkrankung, hervorgerufen durch Verschleiß
Assessment Messen, Bewerten und Einschätzen von Situationen, Entwicklungen und Bedarfen mittels Instru­
menten
ausgabefähige Haushaltsnettoeinkommen (Haushaltsbruttoeinkommen abzüglich Einkommens- und Vermögens­
(auch: verfügbare) steuer, Sozialbeiträgen und sonstigen laufenden Transfers) ergänzt um Einnahmen des Haushalts
Einkommen durch monetäre Sozialleistungen und andere laufende Transfers
Bemessungs­ Betrag, auf den der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung angewendet wird; für ver­
grundlage sicherungspflichtige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung;
Höchstgrenze für die Beitragspflicht ist die Beitragsbemessungsgrenze (Jahreswert 2007: 43.200
Euro)
Billetermaß Maß zur Quantifizierung demografischer Alterung; Verhältnis der Differenz zwischen noch nicht
reproduktiver Bevölkerung (Kinder unter 15 Jahren) und nicht mehr reproduktiver Bevölkerung (Per­
sonen ab 50 Jahren) zur Bevölkerung im aktiven generativen Alter (Personen zwischen 15 und 50
Jahren); eine Bevölkerung altert, wenn sich das Maß in negativer Richtung bewegt
Body-Mass-Index häufig verwendetes Maß dafür, ob eine Person unter-, normal- oder übergewichtig ist: Verhältnis von
(BMI) Körpergewicht in Kilogramm zum Quadrat der Körpergröße in Metern
Bruttoinlands­ Produktionsindikator, der in zusammengefasster Form ein Bild der wirtschaftlichen Leistung einer
produkt Volkswirtschaft in einer Periode gibt; misst die Produktion von Waren und Dienstleistungen im In­
land nach Abzug der Vorleistungen (z. B. Rohstoffe)
Bruttowertschöpfung Maß für den Wert der volkswirtschaftlichen Leistung innerhalb eines Landes; BWS im Gesundheits­
(BWS) wesen entspricht der Summe der produzierten Gesundheitsgüter und -dienstleistungen abzüglich
der von anderen Wirtschaftsbereichen bezogenen Vorleistungen (z. B. Rohstoffe)
Cataracta senilis Erkrankung des Auges, Altersstar
Chronifizierung Prozess der Entstehung einer sich langsam entwickelnden oder lang andauernden Erkrankung (chro­
nischen Erkrankung)
Coxarthrose am Hüftgelenk auftretende Arthrose
definierte Tagesdosis angenommene mittlere tägliche Dosis eines Medikamentes; berücksichtigt wird hierbei nicht die
(DDD) tatsächlich verordnete Arzneimitteldosis
Demenz Erkrankung des Nervensystems, krankhafte Abnahme der geistigen Leistung
Diabetes mellitus Stoffwechselkrankheit, Zuckerkrankheit
Typ 2
306 Gesundheit und Krankheit im Alter

Disease Manage­ strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen; sie sollen die Qualität der
ment Programme medizinischen Versorgung nachhaltig verbessern (wissenschaftlich geprüfte Behandlungsmetho­
(DMP) den) und Behandlungsabläufe besser aufeinander abstimmen
Disposition, Veranlagung
genetische
Dorsopathie Erkrankungen des Rückens, Rückenbeschwerden
drittes Lebensalter innerhalb der Phase des Alters (65 Jahre und älter) werden zwei Altersphasen unterschieden, näm­
lich das »dritte Lebensalter« (65 Jahre bis 84 Jahre) und das »vierte Lebensalter« (85 Jahre und älter)
Eigenleistungen, Zuzahlungen der Patientin bzw. des Patienten zu einer von der Krankenversicherung zur Verfügung
finanzielle gestellten Leistung oder selbst getätigte direkte Käufe von Gesundheitsgütern und -dienstleistungen
Entwicklungs­ Teilgebiet der Psychologie, das sich mit der Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung
psychologie menschlichen Erlebens und Verhaltens unter dem Aspekt der Veränderung über die gesamte Lebens­
spanne beschäftigt
epidemiologischer Wandel der Bedeutung von Infektionskrankheiten und chronisch-degenerativen Erkrankungen für
Übergang das Sterbegeschehen im 20. Jahrhundert; so nahm in vielen Ländern der Anteil von Infektionskrank­
heiten an den Todesursachen ab, während der Anteil der chronischen Erkrankungen angestiegen ist
Ersatzniveau Kinderzahl, die im Durchschnitt je Frau in einer Bevölkerung geboren werden müsste, um unter
gegebenen Sterbeverhältnissen den Ersatz der Elterngeneration zu gewährleisten und somit die Be­
völkerungsgröße stabil zu halten: in industrialisierten Gesellschaften durchschnittlich 210 Kinder je
100 Frauen
Evidenz vorliegen wissenschaftlicher Belege, wissenschaftliche Absicherung
Familienzyklus idealtypische Entwicklung einer Familie durch verschiedene Phasen, die durch unterschiedliche Funk­
tionen und Auseinandersetzung mit Aufgaben geprägt sind, etwa Partnersuche und Heirat, Familie
mit Kindern, Familie ohne Kinder und Familie im Alter (nicht alle Familien durchlaufen diesen Zyklus)
Geriatrie Altersmedizin
geriatrische rehabilitative Leistungen speziell für ältere Menschen mit dem Ziel, möglichen Behinderungen oder
Rehabilitation Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, sie zu beseitigen oder Verschlimmerungen zu verhüten; seit 2007
besteht ein Rechtsanspruch auf geriatrische Rehabilitation
gesellschaftliche Teilhabe von Individuen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und Aktivitäten
Partizipation
gesunde misst die Zahl der Lebensjahre, die eine Person wahrscheinlich ohne gesundheitliche Beeinträch­
Lebenserwartung tigung zu leben hat (auch als behinderungsfreie oder aktive Lebenserwartung bezeichnet); sie
wird zumeist ab der Geburt berichtet und auf Basis verschiedener Methoden berechnet (vgl. HALE,
Healthy Life Years)
gesundheitlicher resultierende Wirkung medizinischer Leistungen, gemessen z. B. als Anzahl geheilter Patientinnen
Outcome und Patienten, Komplikationsraten, Verhaltensänderungen
Gesundheitsfonds Konzept zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland ab 2009: Arbeit­
nehmerinnen/Arbeitnehmer, Arbeitgeberinnen/Arbeitgeber sowie der Bund zahlen in den Fonds,
die Krankenkassen erhalten aus dem Fonds pro Versicherte/Versicherten eine pauschale Zuweisung
sowie ergänzende Zu- und Abschläge je nach Alter, Geschlecht und Krankheit ihrer Versicherten
Gonarthrose am Kniegelenk auftretende Arthrose
HALE (Health- verbreitetes Maß für die gesunde Lebenserwartung, das im World Health Report der Weltgesund­
Adjusted Life heitsorganisation Anwendung findet; es wird auf Basis von Aggregatdaten zu altersspezifischen Prä­
Expectancy) valenzen ausgewählter Erkrankungen und Sterbetafeln berechnet
Harninkontinenz vollkommene oder teilweise Unmöglichkeit Zeit und Ort der Harnausscheidung zu kontrollieren
Hauptpflege­ Person, die über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr den überwiegenden Teil der Betreuung
personen und Pflege eines pflegebedürftigen Menschen erbringt
Haushalts­ umfasst im Unterschied zum Produktionsbegriff in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen
produktion auch die Produktion von Waren und Dienstleistungen für eigene Zwecke, soweit diese von Dritten
erbracht werden könnten (Dritt-Personen-Kriterium)
Healthy Life Years Maß für die gesunde Lebenserwartung und EU-Strukturindikator zur Gesundheit; Anzahl der Le­
(HLY) bensjahre ohne funktionale Beeinträchtigungen durch den eigenen Gesundheitszustand; sie wird
anhand der Sullivan-Methode auf Basis der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebens­
bedingungen und nationaler Sterbetafeln berechnet
Gesundheit und Krankheit im Alter 307

Herzinfarkt, akuter Verschluss einer Herzkranzarterie; klinische Ausprägungsform der koronaren Herzkrankheit
Herzinsuffizienz Herzmuskelschwäche; klinische Ausprägungsform der koronaren Herzkrankheit
Hilfebedarf Notwendigkeit der Unterstützung bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrich­
tungen im Ablauf des täglichen Lebens, im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen
Versorgung
Hyperlipidämie Fettstoffwechselstörung
Hypertonie, arterielle Bluthochdruck
ICD-10 Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, sie
enthält 21 Klassen
instrumentelle Aktivitäten, die Voraussetzung für selbstständiges Leben sind, z. B. Einkaufen, Telefonieren
Aktivitäten
integrierte Möglichkeit, Verträge zwischen Krankenkassen, Haus- und Fachärzten, ärztlichen und nichtärzt­
Versorgung lichen Leistungserbringern, ambulanten und stationären Versorgungsbereichen sowie Apotheken
abzuschließen, um eine aufeinander abgestimmte, koordinierte Versorgung anzubieten; die Inte­
grierte Versorgung ist im Jahr 2000 in § 140a ff. Fünftes Sozialgesetzbuch eingeführt worden
Inzidenz Häufigkeit neu auftretender Krankheitsfälle innerhalb eines Zeitabschnittes (i. d. R. in einem Jahr)
ischämische Erkrankung der Herzkranzarterien, durch Arteriosklerose kommt es zu Sauerstoffmangel im Herz­
Herzkrankheit muskelgewebe
Kaufkraft das verfügbare Einkommen (Einkommen ohne Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, inkl. emp­
fangener Transferleistungen) der Bevölkerung; identisch mit dem ausgabefähigen Einkommen
Konsumausgaben umfassen bei privaten Haushalten den Kauf von Gütern und Dienstleistungen sowie unterstellte
Käufe (z. B. selbstgenutztes Wohneigentum); nicht zu den Konsumausgaben zählen z. B. Einkom­
menssteuern oder Kredittilgungen
Konsumquote Anteil der Konsumausgaben am ausgabefähigen Einkommen in Prozent
Letalität Sterblichkeit bei einer bestimmten Erkrankung; Verhältnis der Todesfälle zur Zahl der Erkrankten
maligner Tumor bösartige Gewebsneubildung, z. B. Krebs
Medianalter Alter einer Bevölkerung, in dem sich diese in zwei gleich große Teile gliedert – 50 Prozent sind jünger
und 50 Prozent sind älter
Medizinischer medizinischer, zahnmedizinischer und pflegerischer Beratungs- und Begutachtungsdienst der ge­
Dienst der Kranken­ setzlichen Kranken- und Pflegeversicherung in einem Bundesland
versicherung (MDK)
Mehrzustands­ Methode zur Berechnung der gesunden Lebenserwartung auf Basis von Sterbetafeln und Inzidenzen
sterbetafel für gesundheitliche Beeinträchtigungen, die sehr hohe Anforderungen an die vorhandenen Daten­
grundlagen stellt
Metaanalyse wissenschaftliche Forschungsmethode, Zusammenführung zahlreicher wissenschaftlicher Studien
Migrations­ eine im Mikrozensus aus mehreren personenbezogenen Eigenschaften abgeleitete Variable, die für
hintergrund folgende Personen zutrifft: alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
Zugewanderten, alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche
Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen El­
ternteil
Morbidität Krankheitslast, Krankheitshäufigkeit bezogen auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe
morbiditätsorien­ Finanztransfer zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, um finanzielle Risiken, die durch unter­
tierter Risikostruk­ schiedliche Versichertenstrukturen entstehen, auszugleichen; bisher wurden dabei nur demogra­
turausgleich fische Merkmale berücksichtigt, beim Morbi-RSA wird seit 2009 der Gesundheitszustand direkt
(Morbi-RSA) berücksichtigt
Mortalität Sterblichkeit wird von biologischen, medizinischen und sozioökonomischen Determinanten sowie
von der individuellen Lebensweise beeinflusst; als Maß für die Mortalität wird unter anderem die
Sterberate verwendet
multilokaler Familie, die aus mehreren Generationen besteht und deren Mitglieder in verschiedenen, räumlich
Familienverband getrennten Haushalten leben
Multimorbidität gleichzeitiges Bestehen von mehreren Krankheiten, die sich zudem gegenseitig beeinflussen; Kenn­
zeichen von Krankheit im Alter
308 Gesundheit und Krankheit im Alter

Müttersterblichkeit ein Müttersterbefall ist nach Definition der Weltgesundheitsorganisation ein Sterbefall einer Frau
während oder bis zu sechs Wochen nach Beendigung der Schwangerschaft (außer Tod durch
Ereignisse, die nicht mit der Schwangerschaft in Verbindung standen); Bezugsgröße ist die Zahl der
Lebendgeborenen
nosokomiale im Krankenhaus erworbene Infektionen
Infektionen
Osteoporose Skeletterkrankung, Knochenschwund
Pflegebedarf mit Pflegebedarf wird im Sozialgesetzbuch XI (Pflegeversicherung) die Summe der Tätigkeiten in
Minuten pro Tag beschrieben, bei denen eine teilweise oder vollständige Unterstützung einer Per­
son durch Dritte erforderlich ist, und zwar bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden
Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaft­
lichen Versorgung
Pflegegeld Sozialleistung für pflegebedürftige Personen, die bei Vorliegen einer Pflegebedürftigkeit im Rahmen
des Sozialgesetzbuch XI (Pflegeversicherung) gezahlt wird
Pflegekasse Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung sind automatisch Mitglied der Pflegekasse ihrer
Krankenversicherung, die aus ihren Beitragseinnahmen die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit über­
nimmt; privat Krankenversicherte müssen eine Pflegeversicherung mit ihrer Krankenkasse abschlie­
ßen
Pflegepflichteinsätze im Sozialgesetzbuch XI (Pflegeversicherung) festgelegter regelmäßiger Besuch durch Pflegefachkräf­
te bei Empfängerinnen und Empfängern von Pflegegeld
Polyarthritis gleichzeitig an fünf oder mehr Gelenken auftretende Arthritis
Prävalenz Krankheitsverbreitung; Häufigkeit von Krankheitsfällen zu einem bestimmten Zeitpunkt
Psychopharmaka Arzneistoff, der auf die Psyche des Menschen einwirkt und der Behandlung psychischer Störungen
und neurologischer Krankheiten dient
Raumordnungs­ des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR); Abschätzung von Eckwerten zukünftiger
prognose räumlicher Entwicklung der Demografie (Bevölkerung, private Haushalte), des Arbeitsmarktes (Er­
werbspersonen) und des Wohnungsmarktes; erfolgt regelmäßig in mehrjährigen Abständen (aktuell
für den Zeitraum 2002 bis 2020, teilweise bis 2050)
Rekonvaleszenzzeit Genesungszeit
rezidivierend wiederholt auftretend
Sachverständigenrat interdisziplinär besetztes beratendes Gremium (sieben Mitglieder); erstellt zweijährlich Gutachten
zur Begutachtung über die Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung mit ihren medizinischen und wirtschaftlichen
der Entwicklung im Auswirkungen
Gesundheitswesen
Screeningmethode Testverfahren für Reihenuntersuchung
Selbstbehalt Finanzierungsprinzip; Kosten der Inanspruchnahme einer Leistung werden von den versicherten
Personen bis zu einem festgesetzten Betrag selbst bezahlt, oberhalb der Grenze beginnt die Erstat­
tungspflicht der Krankenkasse, im Gegenzug gibt es Beitragsermäßigungen
Selbstwirksamkeit Selbstwirksamkeit oder Selbstwirksamkeitserwartung beschreibt die Überzeugung, aufgrund eigener
Kompetenzen und Fähigkeiten zukünftige Handlungen erfolgreich ausführen zu können
somatische körperliche Gesundheit
Gesundheit
Sterberaten Sterblichkeitsmaß; man unterscheidet zwischen rohen und standardisierten Sterberaten; die rohe
(allgemeine) Sterblichkeit errechnet sich aus der Anzahl der Gestorbenen dividiert durch die mittlere
Bevölkerung und wird i. d. R. noch mit 100.000 multipliziert, so dass sich als Maßeinheit »Gestor­
bene pro 100.000 der Bevölkerung« ergibt
Sterbetafeln komplexes Zahlensystem von Sterblichkeitsmaßen und Lebensdauermaßen, das die Sterblichkeits­
verhältnisse aller Altersgruppen einer Bevölkerung in einem bestimmten Zeitraum (Periodensterbe­
tafel) oder die eines Geburtsjahrganges (Kohorte) für die Kohortenlebensjahre (Kohortensterbetafel)
abbildet; Grundlage sind die alters- und geschlechtsspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten; diese
werden aus den Sterberaten empirisch ermittelt und anhand von theoretischen Modellrechnungen
korrigiert, um statistische Schwankungen zu kompensieren
Sterbeziffer Anzahl der innerhalb eines bestimmten Zeitraumes Verstorbenen je 1.000 Personen der Bevölkerung
Gesundheit und Krankheit im Alter 309

Sterblichkeit Mortalität
Strukturverträge organisatorische Versorgungs- und Kooperationsformen zwischen Krankenkassen sowie Ärztinnen
und Ärzten gemäß § 73 a SGB V, z. B. Arztnetzwerke, vernetzte Praxen; besondere Vergütungsformen
sind möglich, z. B. Vergütungspauschalen, finanzielle Anreizregelungen
subdiagnostische gering ausgeprägte Krankheitszeichen, die diagnostisch nicht erfasst werden, Betroffene aber be­
Symptomatik einträchtigen
subjektives individuelle Komponente von Wohlfahrt und Lebensqualität, die durch kognitive Aspekte (Lebens­
Wohlbefinden zufriedenheit) und emotionale Aspekte (Glück, Niedergeschlagenheit) definiert wird
Sullivan-Methode Methode zur Berechnung der gesunden Lebenserwartung auf Basis von Sterbetafeln und Präva­
lenzen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die geringe Anforderungen an die vorhandenen
Datengrundlagen stellt
Transition, demografischer Übergang
demografische
Varikosis Erkrankung der Blutgefäße: Krampfadern
vaskuläre Demenz Demenz, die auf Durchblutungsstörungen des Gehirns beruht; es kann zu plötzlichen Verschlechte­
rungen der Hirnleistung und zur schlaganfallartigen Symptomatik kommen
viertes Lebensalter innerhalb der Phase des Alters (65 Jahre und älter) werden zwei Altersphasen unterschieden, näm­
lich das »dritte Lebensalter« (65 Jahre bis 84 Jahre) und das »vierte Lebensalter« (85 Jahre und älter)
Volkseinkommen Summe aller Erwerbs- und Vermögenseinkommen, die Inländerinnen und Inländern zugeflossen
sind; umfasst Arbeitnehmerentgelt sowie die Unternehmens- und Vermögenseinkommen
Volkswirtschaftliche zahlenmäßige Zusammenfassung des wirtschaftlichen Geschehens in einem Zeitraum; wichtigste
Gesamtrechnungen Kennziffern der VGR sind das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die Bruttowertschöpfung (BWS)
(VGR)
vollstationäre auf Dauer angelegte, räumlich-organisatorische Zusammenfassung von Pflegefachkräften und Sach­
Pflegeeinrichtung mitteln, die umfassende Pflege und Versorgung von hilfe- und pflegebedürftigen Bewohnerinnen
und Bewohnern gewährleistet
Vollzeitäquivalente Anzahl der Beschäftigten, wenn alle Beschäftigten die volle tarifliche Arbeitszeit leisten würden (Re­
chengröße); ein Vollzeitäquivalent entspricht einer/einem Vollzeitbeschäftigten
Zerebralarterioskle­ Arteriosklerose im Gehirn
rose
310 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1.1.1.1 Drittes und Viertes Lebensalter........................................ 11


Tabelle 1.2.2.1 Geschlechterverteilung der Bevölkerung Deutschlands
1950, 2006 und 2050 ........................................................ 28
Tabelle 2.1.3.1 Herzinfarktraten je 100.000 Einwohner und Letalität
(in Prozent) nach Alter und Geschlecht in der Region
Augsburg und altersstandardisierte Raten
(Standard: Alte Europabevölkerung) ............................... 37
Tabelle 2.3.2.1 Rangfolge der vier wichtigsten Themenbereiche
nach Alter 2002 ................................................................. 82
Tabelle 2.4.1.1 Lebenserwartung bei Geburt sowie im Alter von
65 und 85 Jahren nach Geschlecht, Deutschland für den
Zeitraum 1871/1881 bis 2004/2006* (Angabe in Jahren) 93
Tabelle 2.4.1.2 Veränderung der Lebenserwartung bei Geburt sowie
im Alter von 65 und 85 Jahren nach Geschlecht,
Deutschland* im Zeitvergleich 1871/1881 bis
2004/2006 (Anstieg in %) ............................................... 94
Tabelle 2.4.2.1 Altersstandardisierte Sterbefälle je 100.000 Einwohner
nach Alter und Geschlecht Deutschland 1980 und 2006 102
Tabelle 2.4.2.2 Häufigste Todesursachen nach Alter und Geschlecht in
Deutschland 2006 (in Klammern: Anteil der
Todesursache an allen Sterbefällen der Altersgruppe) ... 103
Tabelle 2.5.3.1 Entwicklung des Anteils der krankheitsfreien
Lebensjahre im Vergleich der Kohorten 1907 bis 1919 ... 110
Tabelle 2.5.3.2 Entwicklung des Anteils Lebensjahre mit funktionellen
Einschränkungen im Vergleich der Kohorten
1917 bis 1927 .................................................................... 111
Tabelle 2.5.3.3 Entwicklung der Lebensjahre bei guter Gesundheit
und ohne gesundheitliche Beschwerden im Vergleich
der Perioden 1984 bis 1986 und 1998.............................. 111
Tabelle 3.1.1.1 Armutsrisikoquoten* für verschiedene Bevölkerungs­
gruppen 1998 und 2003 ................................................... 114
Tabelle 3.1.2.1 Bevölkerung in Haushalten nach Generationenfolge*
2005................................................................................... 116
Tabelle 3.1.4.1 Beteiligung am bürgerschaftlichen Engagement in
verschiedenen Studien ..................................................... 118
Tabelle 3.2.5.1 Aktuelles Rauchen, sportliche Inaktivität und
Adipositas nach sozialem Status, Alter und Geschlecht 127
Tabelle 3.2.6.1 Beeinträchtigungen der gesundheitsbezogene
Lebensqualität (»stark« oder »ziemlich stark«) in den
letzten 4 Wochen nach sozialem Status, Alter und
Geschlecht ....................................................................... 129
Tabelle 3.2.7.1 Lebenserwartung von Männern bei Geburt und ab
einem Alter von 65 Jahren nach Einkommen
(Angaben in Jahren) ......................................................... 130
Tabelle 3.2.7.2 Lebenserwartung von Frauen bei Geburt und ab
einem Alter von 65 Jahren nach Einkommen
(Angaben in Jahren) ......................................................... 131
Gesundheit und Krankheit im Alter 311

Tabelle 3.3.1.1 Durchschnittliche Anzahl der Hausarztkontakte in den


letzten 12 Monaten nach Alter und Geschlecht 2003 ..... 136
Tabelle 3.3.2.1 Hauptdiagnosen der Krankenhauspatientinnen und
-patienten (einschl. Sterbe- und Stundenfälle) –
altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach Alter
und Geschlecht 2006 ........................................................ 140
Tabelle 3.3.3.1 Hauptdiagnosen der Patientinnen und Patienten in
Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen (einschl.
Sterbe- und Stundenfälle) – altersspezifische Rate
je 100.000 Einwohner nach Alter und Geschlecht 2006 .. 143
Tabelle 3.3.4.1 Pflegebedürftige in der jeweiligen Altersgruppe nach
Geschlecht 2005 ............................................................... 146
Tabelle 3.3.4.2 Art der Betreuung der Pflegebedürftigen nach Alter und
Geschlecht 2005, Anteile an allen Pflegebedürftigen der
entsprechenden Altersgruppe in % ................................. 147
Tabelle 3.3.5.1 Versicherte der Gmünder ErsatzKasse mit
Arzneiverordnungen nach Alter und Geschlecht 2007 ... 149
Tabelle 3.3.5.2 Arzneiverordnung je Versicherter der GKV nach Alter
(definierte Tagesdosen, DDD) 2006 ................................ 149
Tabelle 3.3.5.3 Arzneimittelanwendung in den letzten sieben Tagen
nach Alter und Geschlecht 1998 ...................................... 152
Tabelle 3.3.6.1 Inanspruchnahme der Gesundheitsuntersuchung
(Check-up) nach Alter und Geschlecht
(auf Vorjahresteilnahme adjustiert) 2006 ....................... 154
Tabelle 3.4.3.1 Beispiel für das Vorgehen bei der Entwicklung einer
präventiven Maßnahme für die Senkung der Inzidenz
kardiovaskulärer Erkrankungen bei älteren Menschen ... 163
Tabelle 4.1.1.1 Zahl ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte
ausgewählter Fachgebiete bzw. Zusatzqualifikationen
2000 und 2007 .................................................................. 168
Tabelle 4.1.1.2 Anzahl der geriatrisch weitergebildeten Ärztinnen und
Ärzte nach Bundesland (alle Tätigkeitsbereiche,
Stand: Sommer 2007)....................................................... 170
Tabelle 4.1.1.3 Zahl der in Deutschland tätigen Personen mit Bezug
zur Heil- und Hilfsmittelerbringung 2000 und 2006 ....... 171
Tabelle 4.1.1.4 Anzahl zugelassener DMP nach Indikation und Anzahl
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer* ........................... 177
Tabelle 4.1.1.5 Entwicklung der ambulanten Pfl egedienste nach
Träger und Anzahl der versorgten pflegebedürftigen
Frauen und Männer 1999 und 2005................................. 178
Tabelle 4.1.1.6 Berufsabschlüsse der bei ambulanten Pfl egediensten
beschäftigten Personen 1999 und 2005 ........................... 179
Tabelle 4.1.2.1 Anteil der 65 Jahre und älteren Patientinnen und
Patienten im Akut-Krankenhaus nach
Abteilungen 2006* ............................................................ 181
Tabelle 4.1.2.2 Personal in Krankenhäusern nach Funktion 2006 ........... 185
Tabelle 4.1.2.3 Zahl der stationär tätigen Ärztinnen und Ärzte
nach Qualifikation 2000 und 2007 ................................... 186
Tabelle 4.1.2.4 Ausgewählte Merkmale der Pflegestatistiken der
Jahre 2003 und 2005 ......................................................... 191
312 Gesundheit und Krankheit im Alter

Tabelle 4.2.1.1 Merkmale von privaten Hauptpflegepersonen hilfe-


und pflegebedürftiger Menschen in Privathaushalten,
Jahresende 1991 und 2002 ............................................... 197
Tabelle 4.2.1.2 Wohnentfernung zum nächstwohnenden Kind ab
16 Jahren nach Altersgruppen, 1996 und 2002................ 198
Tabelle 5.2.1.1 Bevölkerung und Krankheitskosten nach Alter und
Geschlecht 2002 und 2004 ............................................... 230
Tabelle 5.2.4.1 Krankheitskosten in ambulanten und (teil-)stationären
Pflegeeinrichtungen nach Alter und Geschlecht 2004 .... 240
Tabelle 5.3.3.1 Bestand an medizinisch-technischen Großgeräten in
Krankenhäusern und Vorsorge- oder Rehabilitations­
einrichtungen 2003 bis 2006 ............................................ 256
Tabelle 5.3.3.2 Entwicklung des Anteils öffentlicher Gesundheits­
ausgaben am BIP im Bereich Akutversorgung in
ausgewählten EU-Mitgliedsländern, Szenario I Basis
(Pure ageing) .................................................................... 259
Tabelle 5.4.1.1 Gesundheitswesen und Gesundheitswirtschaft:
Zwei Blickrichtungen ........................................................ 268
Tabelle 5.4.2.1 Arzneiverordnungen 2004 und Selbstmedikation 2005
je GKV-Versicherten nach Altersgruppen (Schätzung) ... 270
Tabelle 5.4.4.1 Durchschnittliche wöchentliche Zeitverwendung
ausgewählter Aktivitäten nach Alter und Geschlecht
in Stunden:Minuten 2001/2002 ....................................... 281
Tabelle 5.4.4.2 Ausübungsgrad ausgewählter Aktivitäten nach Alter
und Geschlecht 2001/2002 .............................................. 281
Tabelle 5.4.4.3 Zeitverwendung für Pflege. Selbstauskunft auf Basis
verschiedener Datenquellen ............................................. 282
Tabelle 5.4.4.4 Angehörigenpflege: Empfängerinnen und Empfänger
von Pflegegeldleistungen im Alter von 65 Jahren
und älter nach Pflegestufen 2005 ..................................... 283
Gesundheit und Krankheit im Alter 313

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1.1.1.1 Zwei-Prozess-Modell der Intelligenzentwicklung


über die Lebensspanne ............................................... 9
Abbildung 1.1.2.1 Ebenen von Gesundheit und Folgen von
Gesundheitseinbußen ................................................. 14
Abbildung 1.2.1.1 Durchschnittliches Alter der Bevölkerung in
Weltregionen (in Jahren) ............................................. 22
Abbildung 1.2.1.2 Billetermaß in ausgewählten Ländern Europas
1956 bis 2025* ............................................................. 23
Abbildung 1.2.1.3 Regionale Altersstrukturen, Deutschland 2002 .......... 24
Abbildung 1.2.1.4 Tempo der regionalen Alterung, Deutschland
2002 bis 2020 .............................................................. 25
Abbildung 1.2.2.1 Entwicklung des Anteils der älteren Bevölkerung
in Deutschland 1952 bis 2050 ..................................... 27
Abbildung 1.2.2.2 Lebensformen der 65-Jährigen und Älteren in
Privathaushalten nach Geschlecht 2006 ..................... 29
Abbildung 2.1.1.1 Erkrankte/Unfallverletzte in den letzten 4 Wochen
nach Alter und Geschlecht 2005 ................................. 32
Abbildung 2.1.2.1 Häufigste Diagnosen der aus dem Krankenhaus
entlassenen vollstationären Patienten im Alter von
65 Jahren und älter (einschl. Sterbe- und Stundenfälle)
in 1.000 nach Geschlecht 2006 ................................... 34
Abbildung 2.1.3.1 Sterblichkeit an ischämischen Herzkrankheiten
(ICD-10: I20 – 25) je 100.000 Einwohner nach Alter
und Geschlecht 1990 und 2006................................... 37
Abbildung 2.1.3.2 Sterblichkeit an zerebrovaskulären Krankheiten
nach Alter und Geschlecht 1990 und 2006 ................. 38
Abbildung 2.1.3.3 Anzahl der aus dem Krankenhaus entlassenen
vollstationären Patienten mit zerebrovaskulären
Krankheiten (ICD-10: I60 – 69) nach Alter und
Geschlecht 2006 .......................................................... 39
Abbildung 2.1.3.4 Krankenhausbehandlungen aufgrund von
muskuloskelettaler Erkrankungen (MSK; M00 – 99)
und Verletzungen (S00 – T98) nach Alter und
Geschlecht 2006 .......................................................... 42
Abbildung 2.1.3.5 Schätzung der Krebsinzidenz, Neuerkrankungen
pro 100.000 nach Alter und Geschlecht 2004 ............. 47
Abbildung 2.1.3.6 Prozentualer Anteil ausgewählter Tumorlokalisa­
tionen an allen Krebsneuerkrankungen ohne
nicht-melanotischen Hautkrebs für 65-Jährige
und Ältere, 10 wichtigste Diagnosen 2004 ................. 48
Abbildung 2.1.4.1 Schätzung der jährlichen Anzahl von
Neuerkrankungen an Demenz nach Alter und
Geschlecht .................................................................. 50
Abbildung 2.1.4.2 Schätzung der Anzahl Demenzkranker in
Deutschland zum Ende des Jahres 2002 nach Alter
und Geschlecht ........................................................... 50
314 Gesundheit und Krankheit im Alter

Abbildung 2.1.6.1 Anteile der Personen, die von mehreren


Erkrankungen gleichzeitig betroffen sind,
nach Alter 2002 ............................................................ 57
Abbildung 2.2.2.1 Aktivitätsbeschränkungen (GALI) nach Alter und
Geschlecht 2004 .......................................................... 63
Abbildung 2.2.2.2 Anteil von Befragten mit sensorische
Beeinträchtigungen (Hören, Sehen)* nach Alter 2002 65
Abbildung 2.2.2.3 Anteil von Befragten mit Beeinträchtigungen der
Mobilität* nach Alter 2002 .......................................... 66
Abbildung 2.2.3.1 Hilfebedürftigkeit bei ADL-Aktivitäten
(Anteil an allen Haushaltsmitgliedern in %)
nach Alter 1985, 1998 und 2005 .................................. 67
Abbildung 2.2.3.2 Hilfebedürftigkeit bei IADL-Aktivitäten
(Anteil an allen Haushaltsmitgliedern in %)
nach Alter 1985, 1998 und 2005 .................................. 68
Abbildung 2.2.4.1 Pflegebedürftige ab 65 Jahren nach Versorgungsart
und Pflegestufe, Deutschland 2005 ........................... 69
Abbildung 2.2.4.2 Ausgewählte Einschränkungen bei körperbezogenen
alltäglichen Verrichtungen – Leistungsbezieher der
Pflegeversicherung und sonstige Hilfebedürftige
in Privathaushalten zum Jahresende 2002 ................ 71
Abbildung 2.2.4.3 Bewohnerinnen und Bewohner von Alten­
einrichtungen in Deutschland nach Einschränkungen
bei typischen alltäglichen Verrichtungen 2005 ........... 72
Abbildung 2.2.5.1 Prävalenz von Krankheiten/Störungen und
Pflegebedarf bei in Haushalten lebenden 75-Jährigen
und Älteren, USA 1998 ................................................ 74
Abbildung 2.2.6.1 Anteil Befragter mit starker Behinderung im Alltag
durch Gesundheitszustand* nach Alter 1984,
1992 und 2001 ............................................................. 76
Abbildung 2.3.3.1 Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheits­
zustandes nach Alter und Geschlecht (sehr gute
oder gute Gesundheit) ................................................ 83
Abbildung 2.3.4.1 Anteil der Frauen und Männer verschiedener Alters­
gruppen, die aufgrund von ziemlich starken oder
sehr starken Schmerzen eingeschränkt sind 2003 ..... 84
Abbildung 2.3.4.2 Anteil der Frauen und Männer verschiedener Alters­
gruppen, die über ziemlich starke oder sehr starke
Einschränkungen in ihrem psychischen
Wohlbefinden berichten 2003 ..................................... 84
Abbildung 2.3.5.1 Anteil der Männer und Frauen verschiedener
Altersgruppen mit sehr guter oder guter Selbst­
einschätzung des allgemeinen Gesundheits­
zustandes 1994 bis 2006 ............................................. 87
Abbildung 2.3.5.2 Bewertung der eigenen Gesundheit: Vergleich
verschiedener Geburtskohorten im gleichen Alter
1996 und 2002 ............................................................. 88
Abbildung 2.3.5.3 Bewertung der eigenen Gesundheit: Individuelle
Veränderungen der subjektiven Gesundheit im
Sechs-Jahresvergleich 1996 bis 2002 .......................... 89
Gesundheit und Krankheit im Alter 315

Abbildung 2.4.1.1 Entwicklung der Sterbewahrscheinlichkeiten in


Deutschland* seit 1871/1881 bis 2004/2006
nach Geschlecht .......................................................... 95
Abbildung 2.4.1.2 Differenz der Lebenserwartung im Alter von
60 Jahren zwischen Frauen und Männern in
Deutschland 1961/1963 bis 2004/2006*
(positiver Saldo der Frauen in Jahren) ....................... 96
Abbildung 2.4.1.3 Lebenserwartung bei der Geburt in Ost- und West­
deutschland nach Geschlecht 1956 bis 2005.............. 97
Abbildung 2.4.1.4 Trend der Rekordlebenserwartung weltweit und der
Lebenserwartung in Deutschland, Frauen
1840 bis 2006 ............................................................... 99
Abbildung 2.4.1.5 Fernere Lebenserwartung von Frauen und Männern
im Alter von 65 Jahren, OECD-Länder 2004* ............ 100
Abbildung 2.5.2.1 Überlebensraten als Basis zusammenfassender
Maßzahlen der Gesundheit von Populationen
(fiktives Beispiel) ......................................................... 107
Abbildung 2.5.2.2 Berechnung der gesunden Lebenserwartung nach
CDC Definition............................................................. 108
Abbildung 2.5.3.1 Anteil der Personen mit einem guten oder sehr
guten Gesundheitszustand im Alter von
60 bis 69 Jahren ........................................................... 109
Abbildung 3.1.2.1 Veränderung des Anteils der Einpersonenhaushalte
(in Prozent) sowie der Haushaltsgröße zwischen
1991 und 2006 ............................................................. 116
Abbildung 3.1.5.1 Bewertung einzelner Lebensbereiche im Alters­
gruppenvergleich ......................................................... 119
Abbildung 3.2.4.1 Kumulierte Morbiditätsrate für Herzinfarkt bei 60-
bis 69-jährigen GEK-Mitgliedern des Jahres 1990
nach Versicherungsstatus und Geschlecht ................ 125
Abbildung 3.2.4.2 Auftreten starker oder sehr starker Schmerzen in
den letzten vier Wochen nach sozialem Status,
Alter und Geschlecht ................................................... 126
Abbildung 3.2.6.1 Sehr guter oder guter allgemeiner Gesundheits­
zustand nach sozialem Status, Alter und Geschlecht 128
Abbildung 3.2.7.1 Vorzeitige Sterblichkeit von Männern und Frauen
vor einem Alter von 65 Jahren nach Einkommen ....... 130
Abbildung 3.3.1.1 Inanspruchnahme von Fachärzten in den letzten
12 Monaten (mind. einmal) nach Alter 2002 ............. 138
Abbildung 3.3.2.1 Altersstruktur der Krankenhauspatientinnen und
-patienten (einschl. Sterbe- und Stundenfälle) –
altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner
nach Geschlecht 2006 ................................................ 139
Abbildung 3.3.3.1 Altersstruktur der Patientinnen und Patienten in
Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen –
altersspezifische Rate je 100.000 Einwohner nach
Geschlecht 2006 .......................................................... 142
Abbildung 3.3.5.1 Verordnung von Fertigarzneimitteln zu Lasten der
gesetzlichen Krankenversicherung nach Alter 2007
316 Gesundheit und Krankheit im Alter

(definierte Tagesdosen (DDD) je GKV-Versicherten,


Arzneimittelgruppen 2. ATC-Ebene) .......................... 150
Abbildung 3.3.6.1 Teilnahme an der Krebsfrüherkennung nach Alter
und Geschlecht 2006 .................................................. 155
Abbildung 3.3.6.2 Teilnahme an der Darmkrebsfrüherkennung
(Darmspiegelungen) nach Alter und Geschlecht
2003 bis 2006 .............................................................. 156
Abbildung 3.4.1.1 Faktoren in der Entstehung von Krankheit im Alter ... 161
Abbildung 4.1.1.1 Erwachsene GEK-Versicherte (ab 50 Jahre) mit
mindestens einer Heil-, Hilfs- oder Pflegehilfsmittel­
verordnung im Jahr 2006* ........................................... 172
Abbildung 4.1.1.2 Erwachsene GEK-Versicherte (ab 50 Jahre) mit
mindestens einer Heilmittelverordnung für
Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie oder
Podologie* im Jahr 2006 ............................................. 173
Abbildung 4.1.1.3 Abgestufte rehabilitative geriatrische Versorgung ..... 175
Abbildung 4.1.1.4 Ausgaben der GKV für Vorsorge- und
Rehabilitationsmaßnahmen nach Leistungsbereichen
1996 bis 2007 ............................................................... 176
Abbildung 4.1.1.5 Altersverteilung der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer an mindestens einem Disease
Management Programm in Prozent von allen
GKV-Versicherten der jeweiligen Altersgruppe 2006 .. 177
Abbildung 4.1.1.6 Tätigkeitsbereich der Beschäftigten in der
ambulanten Versorgung (Angaben in Prozent
aller Beschäftigten) ...................................................... 179
Abbildung 4.1.2.1 Entwicklung wichtiger Kennzahlen der stationären
Krankenhausversorgung 1991 bis 2006 ...................... 182
Abbildung 4.1.2.2 Anzahl der akutstationären Krankenhausbetten
pro 100.000 Einwohner (Bettendichte) im
regionalen Vergleich 2006 ........................................... 184
Abbildung 4.1.2.3 Struktur der geriatrischen Versorgungskapazitäten
nach Bundesländern 2006 (Betten bzw. Plätze
pro 10.000 Einwohner ab 65 Jahren)........................... 188
Abbildung 4.1.2.4 Akutstationäre Behandlungsfälle mit geriatrisch­
frührehabilitativer, Stroke Unit, neurologisch­
frührehabilitativer oder palliativmedizinischer
Intervention (OPS 8.550, 8-981, 8-552 bzw. 8-982)
nach Alter 2006 ............................................................ 189
Abbildung 4.2.1.1 Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung 2005 ........ 195
Abbildung 4.2.1.2 Leistungsempfangende der sozialen
Pflegeversicherung im Jahresdurchschnitt nach
Leistungsarten 1996 bis 2005 ..................................... 196
Abbildung 5.1.2.1 Bevölkerung im Jahr 2007 nach Kranken­
versicherungsschutz und Alter.................................... 220
Abbildung 5.1.2.2 Entwicklung der Versichertenzahlen in der
gesetzlichen Krankenversicherung 1994 bis 2007 ...... 221
Abbildung 5.1.3.1 Generationensolidarität in der gesetzlichen
Krankenversicherung 2006 .......................................... 223
Gesundheit und Krankheit im Alter 317

Abbildung 5.2.1.1 Bevölkerung und Krankheitskosten nach Alter


2002 und 2004 ............................................................. 229
Abbildung 5.2.1.2 Krankheitskosten nach Alter 2002 und 2004 .............. 231
Abbildung 5.2.2.1 Bevölkerung und Krankheitskosten nach Alter
und Geschlecht 2004 ................................................... 232
Abbildung 5.2.2.2 Krankheitskosten nach Alter und Geschlecht 2004 .... 233
Abbildung 5.2.2.3 Tatsächliche und erwartete Krankheitskosten nach
Alter und Geschlecht 2004 .......................................... 234
Abbildung 5.2.3.1 Die fünf Diagnosen mit den höchsten Krankheits­
kosten nach Alter 2004 ................................................ 236
Abbildung 5.2.3.2 Krankheitskosten ausgewählter chronischer
Erkrankungen* nach Alter 2004 .................................. 237
Abbildung 5.2.3.3 Krankheitskosten ausgewählter Krankheiten
nach Alter 2004 ............................................................ 238
Abbildung 5.2.5.1 Entwicklung der Bevölkerung und der Krankheits­
kosten nach Alter 2002/2004 ...................................... 242
Abbildung 5.2.5.2 Tatsächliche und erwartete Entwicklung der Krank­
heitskosten nach Alter 2002/2004 .............................. 244
Abbildung 5.3.1.1 Ausgewählte nachfrageseitige, angebotsseitige und
systemimmanente Einflussfaktoren auf das
Ausgabengeschehen im Gesundheitswesen .............. 249
Abbildung 5.3.2.1 Entwicklung der Gesundheitsausgaben und des
BIP gegenüber dem Vorjahr in Prozent ...................... 251
Abbildung 5.3.3.1 Zentrale Thesen zum Einfluss der demografischen
Alterung auf die Entwicklung der Gesundheits­
ausgaben ..................................................................... 252
Abbildung 5.3.3.2 Prognoseszenarien 2004 bis 2050 der öff entlichen
Gesundheitsausgaben für die Akutversorgung für
Deutschland (Anteil in Prozent am BIP) .................... 259
Abbildung 5.4.2.1 Senioren- und Gesundheitswirtschaft ........................ 268
Abbildung 5.4.2.2 Definierte Tagesdosen je GKV-Versicherten 2006
nach Altersgruppen* ................................................... 270
Abbildung 5.4.2.3 Ausgabefähige Einkommen und Einnahmen,
Konsumausgaben und Konsumquoten privater
Haushalte nach Alter der Haupteinkommens­
bezieherin/des Haupteinkommensbeziehers 2003 ... 272
Abbildung 5.4.2.4 Monatliche Differenz der Konsumausgaben
privater Haushalte 2003 nach Konsumbereichen
und Alter der Haupteinkommensbezieherin/des
Haupteinkommensbeziehers im Vergleich zu den
Haushalten insgesamt ................................................ 273
Abbildung 5.4.2.5 Konsumausgaben privater Haushalte im Bereich
Gesundheitspflege nach Alter der Haupt­
einkommensbezieherin/des Haupteinkommens­
beziehers 2003 ............................................................. 274
Abbildung 5.4.2.6 Struktur der Konsumausgaben privater Haushalte
mit Haupteinkommensbezieherinnen und Haupt­
318 Gesundheit und Krankheit im Alter

einkommensbeziehern im Alter von 70 Jahren und


älter für den Bereich Gesundheitspflege 1993, 1998
und 2003 ...................................................................... 275
Abbildung 5.4.3.1 Beschäftigungsverhältnisse und Vollzeitäquivalente
im Gesundheitswesen 1997 bis 2006 ......................... 277
Abbildung 5.4.4.1 Bevölkerung und Jahresvolumen der Haushalts­
produktion nach Alter 2001 ......................................... 279
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie.

Herausgeber
Karin Böhm
Prof. Dr. Clemens Tesch-Römer
Dr. Thomas Ziese

Redaktion
Dr. Christine Hagen
unter Mitarbeit von
Franziska Bading, Kerstin Möllerke
Gesundheitsberichterstattung
Robert Koch-Institut

Autoren
Karin Böhm, Dr. Silke Mardorf
Manuela Nöthen, Torsten Schelhase
Statistisches Bundesamt

Dr. Elke Hoffmann, Anna Hokema, Sonja Menning


Dr. Benjamin Schüz, Daniela Sulmann
Prof. Dr. Clemens Tesch-Römer, Dr. Susanne Wurm
Deutsches Zentrum für Altersfragen

Adressen Lars Eric Kroll, Thomas Lampert,


Statistisches Bundesamt, Zweigstelle Bonn Dr. Sabine Maria List
Gruppe VIII A Gesundheit Dr. Livia Ryl, Dr. Anke-Christine Saß,
Graurheindorfer Straße 198 Dr. Thomas Ziese
53117 Bonn Gesundheitsberichterstattung
Tel.: 0228-99/643-8121 Robert Koch-Institut
Fax: 0228-99/643-8996
E-Mail: gbe-bund@destatis.de Redaktionsschluss
www.gbe-bund.de 30. Juni 2008

Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA) Abonnentenservice


Manfred-von-Richthofen-Straße 2 Der Beitrag kann kostenlos bezogen werden.
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13353 Berlin
Tel.: 030-18754-3400 ISBN
Fax: 030-18754-3513 978-3-89606-196-6
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www.rki.de/gbe/ 1437-5478
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