Bernd Kleine-Gunk · Alfred Wolf Hrsg.

Präventionsmedizin
und Anti-Aging-
Medizin
Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin
Bernd Kleine-Gunk • Alfred Wolf
Hrsg.

Präventionsmedizin
und Anti-Aging-
Medizin
Hrsg.
Bernd Kleine-Gunk Alfred Wolf
Gynäkologische Praxis Ulm, Deutschland
Metropol Medical Center
Nürnberg, Deutschland

ISBN 978-3-662-61416-7    ISBN 978-3-662-61417-4 (eBook)

https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4

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 V

Vorwort

Die Anti-Aging-Medizin hat sich in den letzten Jahren entscheidend entwickelt. Als
sich in den 1990er-Jahren die ersten Ärzte mit dem Ziel zusammenschlossen, „das
Altern zu behandeln“, stieß das bei den meisten ihrer Kollegen noch vorwiegend auf
Spott und Ablehnung. Altern galt als ein schicksalhafter Prozess. Alle Versuche, die-
sen Prozess zu beeinflussen, wurden im günstigsten Fall als aussichtslos betrachtet.
Nicht selten wurde auch der Vorwurf der Scharlatanerie erhoben.
Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Zum einen verzeichnen wir im Be-
reich der Grundlagenforschung enorme Fortschritte. Die wesentlichen Faktoren des
Alterungsprozesses sind inzwischen auf einer molekularen Grundlage entschlüsselt.
Mehr und mehr ergeben sich aus diesem Grundlagenwissen auch höchst praktische
Therapieoptionen. Was einmal das Zonenrandgebiet der Medizin war, ist inzwischen
im Zentrum ärztlichen Handelns angekommen. In vielen Bereichen hat die Anti-
Aging-­Medizin bereits eine Vorreiterrolle übernommen.
Dazu trägt auch eine weitere Erkenntnis bei. Die klassische Reparaturmedizin
wird zunehmend durch die Präventionsmedizin ersetzt. Hier lautet das Gebot der
Stunde: Wer Krankheiten vermeiden will, muss bereits Risikofaktoren behandeln.
Die sind für die meisten Zivilisationskrankheiten gut definiert. Je nachdem, worum
es sich handelt – Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose, Demenz und auch
Krebs –, sind diese Risikofaktoren durchaus unterschiedlich. Einen Risikofaktor
haben diese Erkrankungen jedoch alle gemeinsam. Er ist der mit Abstand wichtigste:
die Zunahme des Lebensalters. Wer Krankheiten effektiv vorbeugen will, muss sich
also vor allem auf diesen alles überwiegenden Risikofaktor konzentrieren. Nichts
anderes ist das Ziel von Anti-Aging-Medizin: Altern behandeln, um Gesundheit zu
erhalten.
Wie vieles andere in der Medizin, so ist aucht Altern ein multifaktorielles und
überaus komplexes Geschehen. Einfache Behandlungsansätze, wie sie zum Teil in
populärwissenschaftlichen Ratgebern propagiert werden, mögen einen gewissen
Charme haben. Sie greifen aber definitiv zu kurz. Ein medizinisch-wissenschaftliches
Buch zur Präventions- und Anti-Aging-Medizin muss daher der Komplexität des
Themas gerecht werden. Dies bedeutet: Wer Altern verstehen will, muss sich zu-
nächst einmal mit den molekularbiologischen Grundlagen des Alterungsprozesses
auseinandersetzen. Er sollte die Pathophysiologie der wichtigsten altersassoziierten
Erkrankungen ebenso kennen wie die Ansätze zu deren Prävention. Da wir Altern
nicht nur verstehen, sondern auch messen wollen, braucht es Informationen über die
entscheidenden „Biomarker des Alters“ und die entsprechenden laborchemischen
Untersuchungen. Grundlegende Kenntnisse der Ernährungs-, Sport- und Stress-
medizin sind von Bedeutung, denn Ernährung, Bewegung und Entspannung sind
immer noch die Basis eines gesundheitszentrierten Lebensstils. Selbstverständlich
spielt auch die Endokrinologie weiterhin eine wichtige Rolle, da Hormonersatz-
therapien nach wie vor einen hohen Stellenwert in der Anti-Aging-Medizin haben.
Es versteht sich von selbst, dass ein derartig weites Feld des medizinischen Wis-
sens nicht von ein oder zwei Autoren abgedeckt werden kann. Ein Fachbuch zum
Thema Präventions- und Anti-Aging-Medizin kann daher nichts anderes sein als
ein Viele-Autoren-Buch. Die Herausgeber danken daher allen Mitautoren, die
VI Vorwort

durch ihre Expertise und ihre Beiträge zum Gelingen dieses Werkes beigetragen
haben. Viele der Autoren gehören zu herausragenden Vertretern ihrer jeweiligen
Disziplinen.
Unser Dank gilt nicht zuletzt auch dem Springer-Verlag, namentlich den Lekto-
rinnen Ina Conrad und Sabine Gehrig, die es durch ihre ebenso kompetente wie ge-
duldige Arbeit möglich gemacht haben, dass nun endlich ein Fachbuch zur Präventi-
ons- und Anti-Aging Medizin erscheinen kann. Angesichts der zunehmenden
Bedeutung des Faches war dies in der Tat überfällig. Wir wünschen dem Buch eine
ebenso breite wie interessierte Leserschaft.

Bernd Kleine-Gunk
Alfred Wolf
 VII

Inhaltsverzeichnis

1 Biologisches Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Bernd Kleine-Gunk

2 Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

B. Weber, C. Heddergott, N. Juchem und A. Menzel

3 Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Thomas M. Platzer

4 Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

U. Gröber

5 Kalorienreduktion – ein Jungbrunnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Uwe Gröber

6 Alterung und Bewegung, Sportmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Alexander Rondeck und Felicia Kleimaier

7 Hormone und Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Alexander Römmler

8 Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin . . . . . . . . . . . . 167

Johannes Bitzer

9 Das Altern des Mannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

F. Saad

10 Genetik und Epigenetik des Alterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Alain Menzel und Bernard Weber

11 Stress und Alterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Alfred Wolf

12 Immunseneszenz und Inflammaging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Luca Pangrazzi

13 Chronobiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Jan-Dirk Fauteck

14 Präventive Kardiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Uwe Nixdorff
VIII Inhaltsverzeichnis

15 Osteoporoseprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Reiner Bartl

16  ntstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer

E
Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Pasquale Calabrese

17 Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie . . . . . . . . 357

Uwe Gröber

18 Ophthalmologisches Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

Stephan Billeit

19 Prävention von Mund-, Kiefer- und Zahnerkrankungen im Alter . . . . . . . . 401

Gerd Volland

20 Die Rolle von Stammzellen beim biologischen Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

Jürgen Hescheler

21 Digitalisierung und Anti-Aging Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

Guido Axmann

22  ualitätssicherung in der Präventionsmedizin und

Q
der Anti-Aging-Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
Josefa Schreiner-Hecheltjen

23 Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
Bernd Kleine-Gunk

Serviceteil
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   497
 IX

Autorenverzeichnis

Guido Axmann Medicinisto AG, Berlin, Deutschland

guido@medicinisto.com

Reiner Bartl Osteoporose Zentrum München am Dom, München, Deutschland

reiner.bartl@osteologie-online.de

Stephan Billeit Lübeck, Deutschland

Johannes Bitzer Frauenklinik, Universitätsspital Basel, Basel, Schweiz

johannes.bitzer@usb.ch

Pasquale Calabrese Universität Basel, Basel, Schweiz

pasquale.calabrese@unibas.ch

Jan-Dirk Fauteck Kalletal, Deutschland

fauteck@ea3m.org

Christoph Heddergott Laboratoires Réunis Luxemburg S.A., Junglinster, Luxemburg

Jürgen Hescheler Medizinische Fakultät, Universitätsklinikum Köln AöR, Köln,

Deutschland
j.hescheler@uni-koeln.de

Johannes Huber Wien, Österreich

huber@drhuber.at

Niels Juchem Laboratoires Réunis Luxembourg S.A., Junglinster, Luxemburg

Niels.Juchem@labo.lu

Felicia Kleimaier München, Deutschland

Fkleimeier@zsmed.de

Bernd Kleine-Gunk Gynäkologische Praxis, Metropol Medical Center, Nürnberg,

Deutschland
kleine-gunk@mmc-nuernberg.de

Alain Menzel Laboratoires Réunis Luxemburg S.A., Junglinster, Luxemburg

amenzel@pt.lu

Uwe Nixdorff c/o Medical Center Düsseldorf (GrandArc), European Prevention Center,
Düsseldorf, Deutschland
nixdorff@epccheckup.de
X Autorenverzeichnis

Luca Pangrazzi Center for Mind/Brain Sciences, University of Trento, Roverto, Italien
luca.pangrazzi-1@unitn.it

Thomas M. Platzer Privatpraxis Kosttor, Dott. Thomas M. Platzer, München, Deutschland

thomas_m_platzer@hotmail.com

Alexander Römmler München, Deutschland

Alexander Rondeck ZSMED, München, Deutschland

drarondeck@zsmed.de

Farid Saad Medical Affairs Andrology, Berlin, Deutschland

farid.saad@bayer.com

Josefa Schreiner-Hecheltjen Essen, Deutschland

j.schreiner@hecheltjen.de

Gröber Uwe Akademie für Mikronährstoffmedizin (AMM), Essen, Deutschland

ug@vitaminspur.de

Gerd Volland Praxis Volland, Heilsbronn, Deutschland

info@praxis-volland.de

Bernard Weber Laboratoires Réunis, Junglinster, Luxemburg

Bernard.Weber@labo.lu

Alfred Wolf Ulm, Deutschland

drfredwolf@yourprevention.de
 XI

Herausgeberbiografie

Bernd Kleine-Gunk
ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe mit Zusatz-
bezeichnung Ernährungsmedizin und Osteologie. Seit vielen
Jahre gilt sein besonderes Interesse dem Thema Anti Aging.
Seit 2009 ist er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prä-
ventions- und Anti-Aging Medizin (GSAAM), die mit mehr
als 1000 Mitgliedern europaweit die größte ihrer Art ist. Prof.
Kleine-Gunk hat zu präventivmedizinischen Themen nicht nur
zahlreiche wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, sondern auch
eine ganze Reihe von populärwissenschaftlichen Ratgebern und
Sachbüchern (u. a. „15 Jahre länger Leben“). Mit Vorträgen und
Fortbildungsveranstaltungen ist er weltweit, insbesondere auch
in China und dem gesamten asiatischen Raum unterwegs.

Alfred Wolf
ist Facharzt für Frauenheilkunde, gynäkologische Endokrino-
logie und Laborfachkunde und beschäftigt sich seit ca. 20 Jahren
mit Methoden der Krankheits- und Alterungsprävention, sowie
mit Stressmedizin. Er leitete über viele Jahre den ersten Master-
kurs für Präventionsmedizin an der Dresden International Uni-
versity (DIU), einer Tochter der TU Dresden und hat zu diesen
Themen zahlreiche Publikationen und Vorträge beigetragen.
 1 1

Biologisches Altern
Bernd Kleine-Gunk

Inhaltsverzeichnis

1.1 Alterungstheorien – 2
1.1.1  xidativer Stress – 3
O
1.1.2 Mitochondriale Dysfunktion – 5
1.1.3 Chronisch niederschwellige Entzündungsprozesse – 7
1.1.4 Proteostaseverlust – 9
1.1.5 Genetische und epigenetische Alterationen – 11
1.1.6 Telomerverkürzung – 13

Literatur – 16

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_1
 2 B. Kleine-Gunk
1.1 Alterungstheorien
1 scheidendes über die Grundlagen der
Wer Altern behandeln will, muss Altern
verstehen. Und das möglichst auf einer
molekularen Grundlage. Nur Abläufe,
deren physiologische und pathophysio-
logische Zusammenhänge begriffen wer-
den, können auch gezielt beeinflusst wer-
den. Das gilt für Krankheiten im
Allgemeinen, aber auch für das mit Krank-
heiten einhergehende Altern.
Über dessen Pathophysiologie hatte man
lange Zeit nur wenige Kenntnisse. Nicht zu-
letzt, weil Altern nicht als Krankheit, son-
dern als ein normales bzw. schicksalhaftes
Geschehen angesehen wurde, das somit
auch nicht Gegenstand medizinischer oder
wissenschaftlicher Forschung war. Vor die-
sem Hintergrund kam es durchaus einem
Paradigmenwechsel gleich, als der Biologe
und spätere Nobelpreisträger Sir Peter Me-
dawar im Jahr 1951 seine Antrittsvorlesung
im University College, London, unter den
Titel stellte: „An unsolved problem of bio-
logy“ (Medawar 1952). Das ungelöste Prob-
lem war der biologische Prozess des Alterns.
Die von Medawar in dieser Vorlesung und
späteren Publikation entwickelte „Muta-
tions-Akkumulations-Theorie“, wonach
sich Schädigungen der DNA und anderer
Zellstrukturen im Laufe der Zeit anhäufen
und so zu zunehmenden Funktionseinbußen
führen, bietet auch heute noch die Grund-
lage vieler Alterungstheorien.
Seit Medawars historischer Antrittsvor-
lesung hat die Forschung enorme Fort-
schritte gemacht. Was lange Zeit eher als ein
argwöhnisch beäugtes, teilweise auch iro-
nisch bespötteltes Randgebiet der Medizin
galt, wird zunehmend zu einem zentralen
Forschungszweig. Von der molekularen
Entschlüsselung der biologischen Alterungs-
prozesse profitiert dabei nicht nur die Prä-
ventions- und Anti-Aging-Medizin selbst.
Wer die Pathophysiologie des Alterns ver-
standen hat, der lernt daraus auch Ent-
Karzinogenese, der Entwicklung von De-
menzen oder der Entstehung kardio-
vaskulärer Erkrankungen.
Das neu erwachte Interesse an der
Altersforschung führte dabei zwischenzeit-
lich zu einer geradezu inflationären Zu-
nahme von Beschreibungen möglicher
Alterungsprozesse. So berichtete ein russi-
scher Forscher Ende des 20. Jahrhunderts,
er habe in der Literatur inzwischen mehr als
300 verschiedene Alterungstheorien ge-
funden (Medvedev 1990). Da es sich bei vie-
len dieser Theorien jedoch um die Be-
schreibungen recht ähnlicher Vorgänge mit
lediglich unterschiedlichem Vokabular han-
delte, bestand zweifellos die Notwendigkeit
einer Fokussierung auf die wirklich relevan-
ten und voneinander abgrenzbaren
Mechanismen des Alterungsprozesses.
Diese erfolgte 2013 mit einer Veröffent-
lichung, die mit Recht als ein Meilenstein
auf dem Gebiet der molekularen Alterungs-
forschung benannt werden kann. In dem re-
nommierten Journal „Cell“ publizierte eine
Gruppe weltweit führender Molekularbio-
logen unter dem Titel „The Hallmarks of
Aging“ entscheidende Alterungsprozesse,
die inzwischen auf molekularer Ebene ver-
standen und beschrieben sind. Mehr noch:
All diese Prozesse lassen sich – zumindest in
Ansätzen – auch gezielt beeinflussen. Ver-
bunden ist diese Publikation mit der Auf-
forderung, nun auch pharmakologische
Substanzen zu entwickeln, welche die
menschliche Gesundheit verbessern, indem
sie biologisches Altern behandeln: „With the
final goal of identifying pharmaceutical tar-
gets to improve human health during aging,
with minimal side effects” (Lopez-Odin et al.
2013). Die folgende Darstellung konzent-
riert sich v. a. auf jene Alterungsfaktoren,
aus denen sich heute bereits praktische
Therapieansätze ableiten lassen.
Biologisches Altern
3 1
1.1.1 Oxidativer Stress gegenüber Oxidation. Hier kommt es häufig
zu Lipidradikal-­Kettenreaktionen, sowohl an
Dies betrifft eine der ersten, grundlegenden der Zellmembran selbst als auch an der von
und inzwischen sicherlich auch eine der Zellorganellen. Dies beeinträchtigt die
„populärsten“ Alterungstheorien. Formu- Membranfluidität und -permeabilität, die
liert wurde sie in den 1950er-Jahren durch wiederum zu Störungen der Zellintegrität
Denam Harman unter dem Namen „Freie-­ und der Zellfunktion führen (Kelly 2011).
Radikale-­Theorie“. (Harman 1956) Freie Aber auch Serumlipide wie das Cholesterin
Radikale sind Moleküle, deren Elektronen- sind Angriffspunkte von ROS, wobei das oxi-
hülle ein ungepaartes Elektron aufweist. dierte LDL-Cholesterin bei Einlagerung in
Dies verleiht ihnen eine enorme Reaktions- die Gefäßwand besonders starke in-
fähigkeit. In dem Bestreben, das fehlende flammatorische Reaktionen auslöst.
Elektron aus einer anderen Verbindung an Von großer Bedeutung sind auch die
sich zu ziehen, schädigen freie Radikale durch ROS und RNS verursachten DNA-­
Lipidmembranen, Zellorganellen, die DNA Schäden. Schätzungsweise finden in jeder
und andere Strukturen. Dabei wird die ge- Zelle täglich zwischen 104 und 105 radikal-
schädigte Verbindung häufig ihrerseits in ein induzierte Schädigungen der DNA statt
freies Radikal. Nach Harmans Theorie (Møller et al. 2010). Fast immer werden
führt die Akkumulation dieser Schäden zu diese durch DNA-Reparatursysteme ent-
Funktionseinbußen, welche die Grundlage deckt und beseitigt. Ist dies nicht der Fall,
des biologischen Alterungsprozesses bilden. kann es zu Basenmodifikationen oder auch
Da es sich bei den freien Radikalen im zu Einzel- oder Doppelstrangbrüchen kom-
Wesentlichen um aggressive Sauerstoffver- men, also zu Veränderungen, die nicht zu-
bindungen handelt (reactive oxygen species,
letzt auch für die Entstehung von Krebs-
ROS), bürgerte sich bezüglich der Aus-
erkrankungen verantwortlich sind.
wirkungen der freien Radikale der Begriff
Die Messung von Sauerstoff- und Stick-
„oxidativer Stress“ ein. Allerdings zeigen
stoffradikalen bzw. die Quantifizierung von
neuere Arbeiten, dass auch aus dem Stick-
oxidativem und nitrosativem Stress ist ein me-
stoffmonoxid (NO) Radikale hervorgehen
thodisches Problem. Eine direkte Messung ist
können (reactive nitrogen species, RNS), so-
dass neben dem oxidativen auch ein nitrosa- aufgrund der geringen Größe und der extrem
tiver Stress existiert (Curtin et al. 2002). kurzen Halbwertszeit von Radikalen nicht
Die häufigsten Sauerstoffradikale sind möglich. Für den klinischen Alltag muss also
das Superoxidradikal (O2˙ˉ), das Wasser- der Umweg über Biomarker genommen wer-
stoffperoxid (H2O2) sowie das Hydroxyl- den, die ein Anhalt für die durch freie Radikale
radikal (∙OH). Letzteres ist aufgrund seiner ausgelösten Schäden sind. Sinnvolle Bio-
außerordentlich starken Oxidationskraft die marker für die Lipidoxidation sind dabei Mal-
reaktivste Sauerstoffverbindung. ondialdehyd, Isoprostane und Lipid-Hydro-
Gebildet werden derartige Radikale zum peroxide. Zur Bestimmung oxidativer
einen durch exogene Faktoren wie UV-­ DNA-Schäden eignet sich das 8-oxo-2-Desoxi-
Strahlung, Umweltnoxen, Übergangsmetalle guanosin. Ein guter Marker für die nitrosative
und Toxine. Der überwiegende Anteil jedoch Belastung ist das Nitrotyrosin.
entsteht endogen als „Abfallprodukte“ der Wenn anfangs darauf hingewiesen
mitochondrialen Energiegewinnung (s. wurde, dass es sich bei der Freie-Radikale-­
7 Abschn. 2.2). Angriffspunkte von ROS Theorie um die „populärste“ Anti-Aging-­
sind prinzipiell alle Makromoleküle. Vor Theorie handelt, so auch deshalb, weil sich
allem die Phospholipide sind empfindlich aus diesem ebenso einfachen wie plausiblen
 4 B. Kleine-Gunk
Konzept einfache und plausible Therapien
1 bzw. Präventionsstrategien ableiten lassen.
Wenn oxidativer Stress Schäden an-
richtet, dann lassen sich diese Schäden
durch antioxidative Substanzen verhindern,
so der eigentlich logische Schluss. Antioxi-
danzien stehen in Form der Vitamine A, C
und E preiswert zur Verfügung. Eine hoch-
dosierte Supplementierung mit diesen
„Radikalfängern“ war daher eine der frü-
hesten Therapieansätze der Anti-­ Aging-­
Medizin.
Zahlreiche groß angelegte Interventions-
studien mit antioxidativen Supplementen er-
brachten jedoch durchweg enttäuschende
Resultate. So zeigte bereits in den 1990er-­
Jahren eine als „Finnische Raucher-Studie“
bekannt gewordene Untersuchung, dass der
Einsatz antioxidativer Vitamine zur Ver-
meidung von Bronchialkarzinomen bei
Rauchern keinerlei Risikoreduktion be-
wirkte, sondern – im Gegenteil – einen An-
stieg entsprechender Malignome zur Folge
hatte (The Alpha-Tocopherol, Beta Caro-
tine Cancer Prevention Study Group 1994).
Neuere Meta-Analysen belegen ebenfalls
eine Steigerung der allgemeinen Mortalität
unter der Supplementierung mit hoch-
dosierten antioxidativen Vitaminen (Miller
et al. 2005; Bjelakovic et al. 2007).
Obwohl die Studienlage eindeutig ist,
werden die Untersuchungsergebnisse teil-
weise immer noch kontrovers diskutiert.
Zweifellos richtig ist die Tatsache, dass Anti-
oxidanzien ihre Wirkung im Verbund als
„antioxidatives Netzwerk“ entfalten. Stu-
dien mit Einzelsubstanzen bzw. mit sehr li-
mitierten Kombinationen antioxidativer
Wirkstoffe sind daher wenig geeignet, die
oxidative Belastung nachhaltig zu reduzie-
ren. Wichtiger sind jedoch in diesem Zu-
sammenhang offensichtlich zwei Aspekte,
die erst in den letzten Jahren Beachtung ge-
funden haben.
Zum einen sind ROS nicht nur Auslöser
molekularer Schäden, sondern spielen
durchaus auch eine Rolle bei wichtigen
physiologischen Prozessen. So nutzen
körpereigene Abwehrzellen Radikale so-
wohl zur Bekämpfung eingedrungener Mik-
roben als auch zur Apoptose-Induktion
körpereigener, karzinomatös entarteter Zel-
len. ROS sind darüber hinaus ebenfalls
wichtig für eine Reihe intrazellulärer Signal-
wege, z. B. für das Zellwachstum, die Diffe-
renzierung, die Angiogenese sowie für Pro-
zesse des Energiestoffwechsels (Finkel
2011). Die hochdosierte Zufuhr exogener
Antioxidanzien kann dieses komplexe
Regulationsgeschehen offenbar auch nega-
tiv beeinflussen.
Sehr wesentlich ist darüber hinaus ein
zweiter Faktor. Zum Schutz gegenüber anti-
oxidativem Stress verlässt sich der Organis-
mus nicht nur auf exogen zugeführte Anti-
oxidanzien. Vielmehr besitzt er ein
körpereigenes Arsenal hocheffektiver anti-
oxidativer Enzymsysteme. Dazu gehört die
Superoxyddismutase (SOD), welche die Re-
duktion von O2 zu H2O2 katalysiert. Dieses
wird dann durch Katalasen zu H2O und O2
weiter reduziert. Das wichtigste anti-
oxidative Enzym ist zweifellos die Gluthati-
onperoxidase (GPX), die nicht nur H2O2,
sondern auch Lipidperoxide reduziert.
Zahlreiche Studien belegen, dass eine
hohe Konzentration – v. a. von SOD und
GPX – wahrscheinlich den besten Schutz
gegen oxidativen Stress bietet. Sowohl in
Tier- als auch in Humanstudien korreliert
eine hohe Konzentration antioxidativer
Enzymsysteme positiv mit Langlebigkeit
(Anderson 1998).
Nun werden diese antioxidativen En-
zyme aber hauptsächlich als Antwort auf
einen oxidativen Stressreiz gebildet bzw. ver-
mehrt exprimiert. Dieses Konzept, wonach
milde Stressreize einen positiven Effekt auf
unseren Organismus haben, da sie
Reparaturmechanismen stimulieren, die
dann – überkompensierend – auch vor wei-
teren Belastungen schützen, ist inzwischen
als Hormesis-Prinzip bekannt (Calabrese
und Mattson 2011). Dieses spielt in der
Anti-­Aging-­Medizin eine zunehmend wich-
tige Rolle.
Biologisches Altern
Werden nun durch die konstante Zufuhr
hoher Dosen exogener Antioxidanzien ent-
stehende Radikale umgehend eliminiert, so
unterbleibt offensichtlich auch die „horme-
tische Antwort“ des Organismus. Die über-
aus wichtigen antioxidativen Enzyme wer-
den nur noch unzureichend gebildet, was
den oxidativen Schutz langfristig beein-
trächtigt. Oxidativer Stress ist ohne Zweifel
weiterhin ein bedeutsamer Faktor, den
Alterungsprozess beeinflussend. Allerdings
sehen wir diesen Faktor heute deutlich diffe-
renzierter als zu Beginn der „Freie-­Radikale-­
Theorie“. Eine „oxidative Grundbelastung“
ist für unsere Zellen bzw. für unseren gesam-
ten Organismus offensichtlich sogar von
Vorteil.
1.1.2 Mitochondriale Dysfunktion
Eng mit der „Freie-Radikale-Theorie“ ver-
knüpft ist die Theorie der mitochondrialen
Dysfunktion. Dies ist bereits dadurch be-
dingt, dass die Mitochondrien die Haupt-
quelle der Radikalenproduktion in unserem
Organismus sind. Allerdings sind Mito-
chondrien nicht nur Ursprung, sondern
auch Zielort von Sauerstoffradikalen. Sie
unterliegen somit einem eigenen Alterungs-
prozess. Die hier vorgestellte Theorie be-
stätigt das Altern der Zelle im Wesentlichen
als einen Funktionsverlust der Mito-
chondrien (Miquel et al. 1980).
Unter den Zellorganellen nehmen die
Mitochondrien eine besondere Stellung ein.
Vermutlich waren sie ursprünglich selbst-
ständige Kleinstlebewesen, die zu einem
sehr frühen Zeitpunkt der Evolution zum
Zweck der Energiegewinnung in eukaryote
Zellen inkorporiert wurden (Endo-
symbiontenthese) (Martin und Russel 2003).
Ein deutlicher Beleg für diese These ist das
Vorhandensein einer Doppelmembran,
einer eigenen Proteinsynthese sowie einer
eigenständigen mitochondrialen DNA
(mtDNA). Mitochondrien werden über das
Plasma der Eizelle ausschließlich von der
5 1
Mutter vererbt, was es Genetikern erlaubt,
evolutionär weit zurückreichende Verwandt-
schaftslinien (Matrilinien) zu rekonstruie-
ren.
Hauptaufgabe der Mitochondrien ist die
Energiegewinnung. Diese erfolgt als sog.
oxidative Phosphorylierung im Rahmen
einer Elektronenflusskette nahe der inneren
Mitochondrienmembran. Am Ende dieser
„zellulären Atmungskette“ steht das
Adenosintriphosphat (ATP) als eine Art
Universalwährung für biologische Energie.
Bereits frühzeitig wurde daher für die Mito-
chondrien der Begriff „Kraftwerke der
Zelle“ (Powerhouse of the cell) vor-
geschlagen (Siekevitz 1967).
Diese Metapher ist auch insofern zu-
treffend, als dass mit der Energiegewinnung
in industriellen Kraftwerken häufig ein ge-
wisser Schadstoffausstoß verbunden ist.
Das ist bei den Mitochondrien nicht anders.
In der Elektronenflusskette gibt es immer
wieder „undichte Stellen“, aus denen Elekt-
ronen entweichen (Elektronenleakage). Sie
werden dann auf Sauerstoffmoleküle über-
tragen, was wiederum zur Bildung hoch-
reaktiver Sauerstoffspezies wie Superoxid-
und Hydroxyd-Radikale führt. Bereits bei
normaler Stoffwechselaktivität betrifft dies
etwa 1–3 % aller Elektronen. Ihr Anteil
steigt mit zunehmendem Alter der Mito-
chondrien (Luft und Landau 1995).
Die aus den Mitochondrien freigesetzten
chemischen Radikale bewirken die im
7 Abschn. 1.1 beschriebenen Schädigungen
zellulärer Makromoleküle (Lipid-
membranen, Proteine, DNA). Sie wirken
aber auch auf die Mitochondrien selbst und
ihre Strukturen zurück. Diese weisen sogar
eine besondere Vulnerabilität auf. Zum
einen findet der Elektronenfluss in unmittel-
barer Nähe der inneren Mitochondrien-
membran statt, sodass freigesetzte Elektro-
nen und die aus ihnen entstehenden Radikale
zu einer unmittelbaren Schädigung der
Lipidmembran führen. Zum anderen ist
v. a. die mtDNA gegenüber oxidativem
Stress sehr viel anfälliger als die nukleäre
 6 B. Kleine-Gunk
DNA. Während Letztere in Form der be-
1 kannten Doppelhelix geschützt im Zellkern
liegt, weist die evolutionsbiologisch sehr viel
ältere mtDNA eine Ringstruktur auf. Darü-
ber hinaus fehlen ihr die protektiven His-
tone. Auch die Reparaturmechanismen sind
deutlich weniger effizient.
Vermehrte ROS-Erzeugung mit Rück-
wirkung auf mitochondriale Strukturen
führt somit zu einer positiven Rück-
koppelung und damit zu einem Teufelskreis
mitochondrialer Zerstörung. Dies hat für
die bioenergetische Bilanz der Zelle fatale
Folgen. Schließlich werden die dys-
funktionalen Mitochondrien auch noch zu
einem eigenständigen Problem. Mit zu-
nehmendem Alter können sie durch den
wichtigen Prozess der Autophagie (in die-
sem Fall der Monophagie) nur noch un-
zureichend abgebaut bzw. entsorgt werden.
Dies verstärkt den seneszenten Zustand der
Zelle (Wang et al. 2009).
Um die Seneszenz der Mitochondrien zu
verlangsamen bzw. die mitochondriale
Funktion zu verbessern, gibt es unterschied-
liche Ansätze. Einer besteht in der gezielten
Supplementierung mit Mikronährstoffen
wie
55 NADH: ein Coenzym, das am Anfang
der mitochondrialen Atmungskette
steht,
55 Coenzym Q10 (Ubichinon): ein speziel-
les mitochondriales Antioxidans,
55 L-Carnitin: ein Transportmolekül für
Fettsäuren durch die Mitochondrien-
membran,
55 Alpha-Liponsäure: das Verbindungs-
glied zwischen Glykolyse und Zitronen-
säurezyklus.
Auch wenn diesen Substanzen durchaus
wichtige Aufgaben in den Mitochondrien zu-
kommen, so fehlen bisher überzeugende Stu-
dien, die zeigen, dass eine entsprechende
Supplementierung zu einer signifikanten Bes-
serung der mitochondrialen Funktion führt.
Dafür mehren sich in den letzten Jahren
auch hier die Hinweise, dass es nicht un-
bedingt die Schutzstoffe sind, die über die
Induktion einer hormetischen Antwort zu
einer mitochondrialen Optimierung führen,
sondern eher milde Toxine und Stressreize.
Dieses als Mitohormesis bekannt ge-
wordene Konzept geht davon aus, dass
Stressoren wie Kalorienrestriktion, oxidati-
ver Stress oder niederschwellige Strahlen-
belastungen an den Mitochondrien leichte
Schäden bewirken, die zu einer über-
kompensierenden Reparaturantwort bzw.
zur Bildung völlig neuer Mitochondrien
führen. Derartige mitohormetische Re-
aktionen konnten zunächst für Modell-
organismen der Altersforschung wie den
Fadenwurm C. elegans belegt werden
(Schulz et al. 2007). Sie wurden inzwischen
aber auch für den Menschen nachgewiesen
(Haigis und Yankner 2010).
Mittlerweile belegen zahlreiche Studien,
dass Substanzen, für die in unterschiedlichen
Tiermodellen eine Lebensverlängerung nach-
gewiesen werden konnte, offensichtlich über
derartige hormetische bzw. mitohormetische
Effekte wirken. Zu diesen Substanzen ge-
hören sirtuin-­ aktivierende Pflanzeninhalts-
stoffe wie Resveratrol, Curcumin oder Quer-
cetin. Zu ihnen zählen aber auch
phar­ma­kologische Substanzen wie Metfor-
min oder Rapamycin. Sie alle täuschen der
Zelle jeweils eine durch Nahrungsmangel be-
dingte Stresssituation vor, die über die Akti-
vierung des Enzyms AMPK eine Sirtuinakti-
vierung bewirkt (Hawley et al. 2010).
Derartige CR-Mimetika, die intra-
zellulär die gleiche biochemische Antwort
auslösen wie die Kalorienrestriktion (CR),
stellen somit eine der derzeit vielver-
sprechendsten Ansätze mit potenziell
lebensverlängernder Wirkung dar.
Biologisches Altern
7 1
1.1.3 Chronisch niederschwellige unterschiedlich. Zum einen sind das per-
Entzündungsprozesse sistierende Entzündungen im Körper, die
auch klinisch nachweisbar sind, vorrangig
Entzündliche Reaktionen sind eine Antwort z. B. Entzündungen im Mundbereich. Schon
des Körpers auf eindringende Pathogene seit längerem ist bekannt, dass eine chroni-
bzw. auf Gewebeverletzungen und spielen sche Parodontitis nicht nur Auswirkungen
eine wichtige Rolle für die Gesunderhaltung auf den Zahnhalterapparat hat, sondern
des Organismus. auch die allgemeine Morbidität erhöht.
Immer mehr kristallisiert sich jedoch he- Laut der 5. Deutschen Mundgesundheits-
raus, dass Entzündungen ein durchaus studie (DMS V) steigt durch eine derartige
janusköpfiges Phänomen sind, insbesondere Parodontitis das Risiko für Herz-­Kreislauf-­
dann, wenn sie keine akute Antwort auf Erkrankungen um ca. 40 % (Jordan und Mi-
pathogene Mikroben oder Traumata geben, cheelis 2016). Die Mundgesundheit hat
sondern auf einem niedrigen Niveau per- somit entscheidende Auswirkungen auf die
sistieren. Dann nämlich können Ent- Allgemeingesundheit. Bindeglied ist die
zündungen zu einem eigenständigen Risiko- chronische Inflammation.
faktor werden. Derartige chronisch- Was für die Mundgesundheit gilt, trifft
niederschwellige Entzündungen (silent in- auch für die Darmgesundheit zu. Das „in-
flammation) sind offensichtlich nicht nur die testinale Mikrobiom“, also die Gesamtheit
Grundlage für zahlreiche degenerative Er- der unseren Darm besiedelnden Bakterien,
krankungen, sondern auch ein wichtiger ist in den letzten Jahren zunehmend als ein
Faktor für das biologische Altern an sich. entscheidender Faktor für unser Immun-
Für diesen Zusammenhang wird der Begriff system, unseren Metabolismus und unsere
„Inflammaging“ verwendet (Franceschi Gesamtgesundheit erkannt worden. Auch
et al. 2000). der Darm mit seinem Mikrobiom unterliegt
Anfang der 1990er-Jahre wurden chro- einem Alterungsprozess. Mit fort-
nisch entzündliche Prozesse der Gefäßwand schreitendem Lebensalter durchdringen ver-
erstmals als entscheidender Faktor für die mehrt Mikroben bzw. von diesen sezernierte
Pathogenese der Arteriosklerose beschrieben Substanzen die Darmwand, gelangen in das
(Ross 1993). In den nachfolgenden Jahren umgebende Gewebe und lösen dort chro-
wurden diese Entzündungsprozesse mit vie- nisch entzündliche Prozesse aus (Biagi et al.
len anderen Erkrankungen – vom Typ-II-­ 2011). Gleichzeitig nimmt auch die immuno-
Diabetes über die Osteoporose bis hin zur logische Kompetenz des Darms, die einen
Neurodegeneration – in Verbindung ge- entscheidenden Teil der Gesamtimmunität
bracht (Howcroft et al. 2013). Nicht zuletzt übernimmt, ab. Pathogene, die chronische
sind chronische Inflammationen offensicht- Entzündungen auslösen, wie etwa das Eps-
lich auch ein Ko-Faktor der Karzinogenese. tein-Barr-Virus (EBV) oder das Cyto-
Eine Schätzung ergibt, dass ca. 20 % aller megalie-Virus (CMV), gelangen nun un-
Krebsfälle mit derartigen Entzündungen gehindert in den Körper. Ein derartiges
korrelieren (Balkwill und Coussens 2004). Nachlassen der immunologischen Funktion
Der Nachweis erhöhter pro- mit dem Alter (Immunoseneszenz) wird in-
inflammatorischer Zytokine im Serum gilt zwischen als ein eigenständiger Alterungs-
daher inzwischen als ein starker Prädiktor faktor angesehen (Larbi et al. 2008).
für die übergreifende Zehnjahresmortalität Eine weitere wichtige Quelle chronischer
älterer Erwachsener (Varadhan et al. 2014). Inflammation liefert das Fettgewebe. Längst
Die Quellen, aus denen sich chronische wird dieses nicht mehr lediglich als ein Spei-
Entzündungen speisen, sind dabei durchaus cher für übermäßig zugeführte Kalorien be-
 8 B. Kleine-Gunk
trachtet. Vielmehr ist Fettgewebe ein eigen-
1 ständiges, überaus aktives endokrines
Organ. Vor allem sezerniert Fettgewebe
zahlreiche proinflammatorische Zytokine
wie Interleukin 6 (IL6), Interleukin 2 (IL2)
oder den Tumornekrosefaktor-alpha
­(TNF-­α). Hier ist v. a. das intraperitoneale
Fett zu nennen. Die aus dem Fettgewebe se-
zenierten proinflammatorischen Zytokine
sind nicht nur das Bindeglied zwischen chro-
nischer Inflammation und der Entstehung
eines Typ-2-Diabetes, sie sind auch die Er-
klärung für eine Vielzahl von metabolischen,
degenerativen und altersabhängigen Er-
krankungen, die bei Adipösen deutlich ge-
häufter auftreten als bei Normalgewichtigen
(Grant und Dixit 2013).
Ein zusätzlicher Ursprung für chroni-
sche Inflammation und damit für bio-
logisches Altern sind auch die gealterten
Zellen selbst. Seneszente Zellen sezernieren
proinflammatorische Zytokine, die ihre Um-
gebung verändern und dadurch die Funk-
tion benachbarter normaler Zellen beein-
trächtigen (Baker et al. 2011). Einfacher
ausgedrückt: Gealterte Zellen scheinen an-
steckend zu sein. Zumindest treiben sie den
Alterungsprozess in ihrer Umgebung voran.
Andere Theorien sehen die negativen Ef-
fekte seneszenter Zellen nicht nur auf die
unmittelbare Umgebung begrenzt, sondern
gehen davon aus, dass von solchen Zellen
abgesonderte sekretorische Produkte (sene-
scence associated serotyped products, SASP)
in die Blutbahn gelangen und den all-
gemeinen Alterungsprozess fördern. Ge-
stützt werden derartige Theorien durch sog.
Parabioseexperimente. Verbindet man den
Blutkreislauf einer älteren Maus mit der
einer jungen, so altert die junge Maus vor-
zeitig. Entsprechende Studien erbrachten
allerdings auch eine erfreuliche Nachricht.
Wird der Blutaustausch von einer jüngeren
auf eine ältere Maus vorgenommen, so zeigt
sich letztere deutlich verjüngt (Conboy et al.
2005). Dies führte zu einer intensiven Suche
nach „Verjüngungsfaktoren“ im Blut juve-
niler Versuchstiere, die bereits zu ersten Er-
folgen geführt hat (Loffredo et al. 2013).
Der Prozess der Seneszenz betrifft je-
doch nicht nur die gesunden Zellen, sondern
auch einzelne Zellorganellen. Gealterte, be-
schädigte und abgestorbene Zellorganellen
werden normalerweise durch den Prozess
der Autophagie eliminiert bzw. einem zellu-
lären Recyclingprozess zugeführt. Mit fort-
schreitendem Alter funktionieren auch diese
intrazellulären Aufräum- und Reparatur-
mechanismen weniger effektiv. Es kommt zu
einer zunehmenden Anhäufung von „Zell-
müll“ (accumulation of biological garbage),
der seinerseits die Funktion der Zelle beein-
trächtigt, immunologische Reaktionen
hervorruft und damit chronische Ent-
zündungen aktiviert (Dall’Olio et al. 2013).
Eine besondere Rolle spielen dabei wieder
einmal die Mitochondrien. Aufgrund ihres
bakteriellen Erbes (s. Abschn. 1.1.2) weisen
Mitochondrien Membranstrukturen auf,
die – evolutionär konserviert – eine be-
sonders starke entzündliche Reaktion
hervorrufen. So ist etwa das Cardiolipin ein
Membranlipid, das ausschließlich in Bakte-
rien und Mitochondrien vorkommt und
einen eigenständigen proinflammatorischen
Signalweg aktiviert (Iyer et al. 2013).
So vielfältig die Ursachen chronischer
Inflammation sind, so wirken sie doch im
Wesentlichen über einen gemeinsamen
Transkriptionsfaktor. Der nukleäre Faktor
NF kappa B (NF-kB) gilt als die zentrale
Schaltstelle zur Regulation von Immun-
antwort, Inflammation, Zellprofileration
und Apoptose (Salminen et al. 2008).
Normalerweise liegt NF-kB, gebunden an
inhibitorische Proteine, in inaktiver Form
im Zytoplasma vor. Proinflammatorische
Zytokine spalten diese Verbindungen. Das
aktivierte NF-kB wandert dann in den Zell-
kern, wo es eine entsprechende Signal-
kaskade in Gang setzt. Die zentrale Stellung
von NF-kB in der Regulation der in-
flammatorischen Antwort macht diesen
Faktor zu einem interessanten Ziel thera-
Biologisches Altern
9 1
peutischer Interventionen – von der all- bereits beeindruckende Erfolge erzielt wer-
gemeinen Alters- bis hin zur Krebsprä- den (Baker et al. 2011).
vention (Masoro 2005).
Als allgemeiner Marker für entzündliche
Prozesse hat sich das CRP etabliert, das im 1.1.4 Proteostaseverlust
Falle chronisch niederschwelliger Ent-
zündungen in seiner hochsensitiven Form Proteine haben in unserem Körper viel-
(hs CRP) bestimmt werden sollte. Viele La- fältige Funktionen.
bore bieten inzwischen auch eine direkte 55 Als Strukturproteine sind sie ent-
Bestimmung proinflammatorischer Zyto-
­ scheidend am Aufbau nahezu aller Ge-
kine an. Interleukin 6 (IL6), Interleukin 2 webe beteiligt.
(IL2) und Tumornekrosefaktor alpha 55 Transportproteine sorgen sie dafür, dass
(TNF-α) sind dabei die aussagekräftigsten Sauerstoff, Nährstoffe und Hormone an
Marker. Entzündungen im Mundbereich ihre jeweiligen Zielorte gelangen.
lassen sich inzwischen auch durch einen 55 Als Enzyme übernehmen sie die Funk-
Speicheltest nachweisen. Die Bestimmung tion von Biokatalysatoren.
einer speziellen Matrix-Metalloproteinase
(aMMP8) erlaubt die Detektion in- In der Zellmembran sind die überaus wichti-
flammatorischer Prozesse deutlich vor dem gen Membranrezeptoren zumeist Komplexe,
Auftreten klinischer Manifestationen (Mar- die aus unterschiedlichen Proteinen auf-
tinez et al. 2017). gebaut sind.
Therapeutisch ergibt sich eine Vielzahl Die Gesamtheit aller Proteine im Körper
von Möglichkeiten. Am Beginn sollte bildet das sog. Proteom. Die vielfältigen
zweifellos die Sanierung chronisch entzünd- Mechanismen zur Aufrechterhaltung dieses
licher Prozesse stehen. Hier ist insbesondere Proteoms bezeichnet man als Protein-
der Mund-Magen-Darm-Kanal, aber auch homeostase bzw. Proteostase. Hierzu zählen
der Bereich von Stirn- und Nasenneben- die Proteinsynthese einschließlich der Auf-
höhlen sowie die Prostata zu nennen. Da das rechterhaltung der Proteinintegrität sowie
Fettgewebe ein wichtiger Ort für die Pro- nicht zuletzt auch der Abbau bzw. das Recy-
duktion proinflammatorischer Zytokine ist, cling gealterter und beschädigter Proteine.
hat jede Maßnahme zur Gewichtsreduktion Arbeiten der letzten Jahre haben gezeigt,
gleichzeitig auch einen dass der Alterungsfaktor durch Beein-
anti-­
inflammatorischen Effekt. Ein weiterer prä- trächtigungen der Proteostase offensichtlich
ventiver Ansatz besteht in der pro- verstärkt wird (Powers et al. 2009). Vor
phylaktischen Einnahme allem die Akkumulation bzw. der un-
anti-inflammatorischer Pharmaka (ASS, zureichende Abbau geschädigter Proteine ist
NSAID). Eine Vielzahl von Studien belegt pathogenetisch entscheidend für eine Reihe
inzwischen den präventiven Effekt einer der- degenerativer Erkrankungen. So spielen bei
artigen Medikation. Dies gilt sowohl für die der Entstehung der Alzheimer-Demenz
Vorbeugung kardiovaskulärer und neuro- gleich zwei pathologisch wirkende Protein-
degenerativer als auch die Prävention von aggregate eine Schlüsselrolle. Extrazellulär
Krebserkrankungen (Walther et al. 2009). finden sich sog. Beta-Amyloid-Plaques, An-
Angesichts der zunehmenden Bedeutung häufungen von Proteinfragmenten, die ur-
seneszenter Zellen bzw. Zellorganellen für sprünglich aus einem größeren Vorläufer-
den Alterungsprozess ist derzeit auch eine protein (Amyloid Precurser Protein, APP)
Reihe von „Senolytika“ in der ersten Er- herausgeschnitten wurden. In einem gesun-
probung. In Tierversuchen konnten hiermit den Gehirn mit funktionierender Protease
 10 B. Kleine-Gunk
werden diese Abbauprodukte des Protein-
1 stoffwechsels vollständig abgebaut und ent-
sorgt. Im Gehirn von Alzheimer-Erkrankten
akkumulieren sie dagegen zu unauflöslichen
Plaques.
Intrazellulär finden sich bei Alzheimer-­
Patienten ebenfalls charakteristische
Proteindenaturierungen. Die sogenannten
Tau-Fibrillen bestehen aus geschädigten
Tau-Proteinen, die ursprünglich als Mikro-
tobuli für den Nährstofftransport in der
Zelle zuständig sind. Verantwortlich für
diese Pathologien sind nicht in erster Linie
die Schädigungen selbst, sie sind Teil des
normalen Zellmetabolismus. Pathogenetisch
wirkt sich vielmehr die mit dem Alter nach-
lassende Fähigkeit aus, geschädigte Proteine
abzubauen und zu entsorgen, also ein Ver-
lust an Proteostase (Keck et al. 2011).
Auch beim Morbus Parkinson, einer
weiteren neurodegenerativen Erkrankung,
finden sich krankheitstypische Protein-
ablagerungen. Die sog. Lewy-­Körperchen,
die sich in den dopaminergen Neuronen an-
reichern, bestehen hauptsächlich aus Al-
pha-Synuclein, Ubiquitin und anderen
Proteinfragmenten. Bei der Entstehung die-
ser Lewy-Körperchen handelt es sich eben-
falls im Wesentlichen um ein „Entsorgungs-
problem“, also um eine nachlassende
Proteinaseaktivität (Bosco et al. 2011).
Zur Aufrechterhaltung der Protease die-
nen unterschiedliche Mechanismen. Zum
einen begleiten sogenannte Chaperone
(wörtlich „Anstandsdamen“) die Proteine
ihr Leben lang. Sie überwachen bereits bei
deren Bildung die exakte Faltung und helfen
anschließend, diese zu erhalten. Eine be-
sondere Klasse von Chaperonen bilden die
Hitzeschockproteine (HSP). Da Eiweiße ex-
trem thermolabil sind, entstehen HSP bei
hohen Temperaturen, um einen zusätzlichen
Proteinschutz zu gewährleisten (Hartl et al.
2009). Auch hier begegnet uns wieder das
Prinzip Hormesis, wonach sich Stress und
Belastungen positiv auswirken, weil sie zur
Ausbildung überkompensierender Schutz-
mechanismen führen. Zum anderen sind die
Chaperonbildung im Allgemeinen, aber
auch die Hitzeschockantwort jedoch
Mechanismen, die im Alter nur noch un-
zureichend aufrechterhalten werden (Cal-
derwood et al. 2009).
Für die Proteindegradation stehen im
Wesentlichen zwei molekulare Systeme zur
Verfügung:– das Ubiquitin-­
Proteasomsystem (UPS), ein komplexer
Mechanismus, bei dem gealterte und ge-
schädigte Proteine zunächst durch das Ubi-
quitin erkannt, markiert und anschließend
einer Proteolyse unterzogen werden (Finley
2009),– die Autophagie, ein intrazellulärer
kataboler Prozess, bei dem geschädigte Zell-
organellen und Makromoleküle in den Ly-
sosomen degradiert werden (Nixon 2003).
Während beide Mechanismen einem
altersabhängigen Funktionsverlust unter-
liegen, bietet insbesondere das Autophagie-
system interessante Ansätze zu einer thera-
peutischen Intervention. So wird die
Autophagie durch die Aktivierung von Sir-
tuinen (insb. Sirt-1) gesteigert. Dies ist eines
der klassischen Mechanismen, über den die
Kalorienrestriktion bzw. das inter-
mittierende Fasten seine Wirkung entfaltet
(Rubinsztein et al. 2011). Aufsehen erregten
auch Substanzen, die offensichtlich gezielt
die Autophagie stimulieren. Hier ist an ers-
ter Stelle das Rapamycin zu nennen, das in
Versuchen mit Mäusen spektakuläre Ergeb-
nisse erbrachte. Erstmals gelang es durch die
Gabe von Rapamycin nicht nur, die durch-
schnittliche Lebenszeit von Vertebraten zu
verlängern, sondern auch deren maximale
Lebenserwartung zu erhöhen (Harrison
et al. 2009).
Allerdings weist Rapamycin eine immun-
supprimierende Wirkung auf, welche seinen
Einsatz bei Menschen limitiert. Eine mög-
liche Alternative stellt das Spermidin dar, ein
Polyamid, das zuerst in der Samenflüssigkeit
nachgewiesen wurde. Spermidin findet sich
aber auch als sekundärer Pflanzenstoff in
unterschiedlichen Nahrungsmitteln. Die
Substanz ist offensichtlich ein potenter Auto-
phagieinduktor, der in ersten Tierversuchen
Biologisches Altern
ähnliche lebensverlängernde Wirkungen
zeigte wie das Rapamycin (Eisenberg et al.
2009). Für den wichtigen Alterungsfaktor
der Proteasestabilität zeichnen sich also
unterschiedliche Möglichkeiten ab, sowohl
durch Lebensstilmodifikationen als auch
durch die Einflussnahme pharmakologischer
Substanzen.
Ein wichtiger Prozess, der zur Schädi-
gung von Proteinen beiträgt, ist darüber hi-
naus die Glykierung. Hierbei verbinden sich
Zucker, hauptsächlich Fruktose und Galak-
tose, mit Proteinen. Über mehrere Zwischen-
schritte führt dies zu irreversiblen Ver-
bindungen der Proteine untereinander
(Amadori-Produkte) und damit auch zu
Funktionseinbußen. Die derart geschädigten
Proteine werden als Endprodukte fort-
geschrittener Glykierung (Advanced Glyca-
tion Endproducts, AGE) bezeichnet. Sie
sind die Hauptursache für die Ausbildung
von Gefäß- und Nierenschäden bei Diabeti-
kern (Yan et al. 2007). Zu den Endprodukten
im weiteren Sinne gehören auch glykierte
Lipide, ebenfalls wichtige Kofaktoren in der
Pathogenese altersassoziierter Er-
krankungen (Vistoli et al. 2013). Glykierte
Proteine sind aber nicht nur in ihrer Funk-
tion beeinträchtigt, sie binden auch an einen
eigenen Rezeptor (Receptor for Advanced
Glycation Endproducts , RAGE), der wie-
derum oxidativen Stress und chronische In-
flammationen auslöst (Wells-Knecht et al.
1995). AGE-­ Proteine bewirken auf diese
Weise eine Kaskade von Prozessen, die bio-
logisches Altern beschleunigen.
Messen lässt sich die Glykierung relativ
einfach über die Bestimmung des HbA1c,
einen Marker, der seit Jahrzehnten zur retro-
spektiven Beurteilung der Blutzuckerein-
stellung bei Diabetikern eingesetzt wird.
HbA1c ist selbst ein AGE-Protein, die gly-
kierte Form des Hämoglobins.
Präventiv und therapeutisch steht eine
Einschränkung des Zuckerkonsums an ers-
ter Stelle. Aber auch eine Reihe älterer Anti-
diabetika erfährt zurzeit eine Renaissance,
weil durch sie Glykosilierungsprozesse ge-
11 1
zielt reduziert werden. Neben der
Alpha-Liponsäure ist v. a. das Metformin zu
nennen. So läuft seit dem Frühjahr 2016 in
den USA eine Studie namens TAME (Tar-
geting Aging with Metformin), in der erst-
mals eine pharmakologische Substanz
daraufhin untersucht wird, ob sie eine Anti-­
Aging-­Wirkung besitzt oder nicht (Barzilai
et al. 2016).
Zukunftsperspektiven sind dagegen der-
zeit noch sogenannte „AGE-Breaker“, Subs-
tanzen, die bereits bestehende Glykosilierun-
gen wieder aufbrechen. Entsprechende
Wirkstoffe, wiez.B. dasN-­Phenacylthiazolium
bromide (PTD), werden zwar schon seit län-
gerem untersucht und zeigen in Tierver-
suchen auch vielversprechende Ergebnisse
(Vasan et al. 1996). In Humanstudien fielen
diese Effekte jedoch deutlich geringer aus
bzw. wurden durch eine unverhältnismäßig
hohe Rate an Nebenwirkungen erkauft. Der
Fokus liegt auch in diesem Bereich also
weiterhin in der Prävention.
1.1.5 Genetische und
epigenetische Alterationen
Die Frage, inwieweit Altern genetisch be-
dingt ist und welche Rolle Umwelt und
Lebensstil dabei spielen, wird seit Jahr-
zehnten kontrovers diskutiert. Belastbare
Daten lieferten hierzu in den 1990er-Jahren
Zwillingsstudien, die zeigen konnten, dass
genetische Faktoren lediglich zu 20–30 %
auf die Lebenserwartung Einfluss nehmen
(Herskind et al. 1996). Der Lebensstil ist
also der bei Weitem wichtigere Faktor, wenn
es um das gesunde Altern geht.
Etwa zur gleichen Zeit wurden bei zahl-
reichen Modellorganismen der Alters-
forschung Gene entdeckt, die offensichtlich
einen großen Einfluss auf die Lebens-
erwartung haben. So bewirkt die Aktivie-
rung der Gene daf-2 bzw. daf-16 im Faden-
wurm C. elegans eine Verdoppelung der
Lebenszeit (Kenyon et al. 1993). Die Ent-
deckung derartiger „Langlebigkeitsgene”
 12 B. Kleine-Gunk
nährte die Hoffnung, dass ähnliche Gene
1 auch beim Menschen existieren und sich da-
raus genetische Konzepte einer radikalen
Lebensverlängerung ableiten lassen.
In der Tat gibt es auch beim Menschen
eine Reihe von Genen bzw. Genvarianten,
die Einfluss auf die Lebenserwartung neh-
men. Sie tun dies im Wesentlichen, indem sie
altersabhängige Erkrankungen begünstigen.
Zu diesen gehört z. B. der ApoE4 Poly-
morphismus, der mit einer signifikanten
Risikoerhöhung für neurodegenerative Er-
krankungen verbunden ist.
Darüber hinaus gibt es durchaus auch ein
Äquivalent zu den daf-Genen, das Forkhead-­
Box-O-3 Gen (FOXO3). Ähnlich wie daf-2
ist FOXO3 ein Regulatorgen, das den
Organismus an unterschiedliche Außen-
bedingungen anpasst. So bewirkt es bei
Nahrungsmangel (caloric restriction) die be-
reits beschriebenen Abläufe von Sirtuin-­
Aktivierung, DNA-Reparatur und ver-
besserter Autophagie. Des Weiteren inhibiert
FOXO3 über die Bildung von NF-Kappa-B
die Bildung proinflammatorischer Zytokine,
ein Mechanismus, der ebenfalls bereits als ein
entscheidender Alterungsfaktor beschrieben
wurde (Lin et al. 2004). Mehrere Studien und
Metaanalysen an Zentenarien (gesunde
Hundertjährige) konnten den Nachweis eines
klaren Zusammenhangs von Langlebigkeit
und der Expression von FOXO3 erbringen
(Willcox et al. 2008; Bao et al. 2014).
Dennoch bleibt festzuhalten, dass die
Erhöhung der Lebenserwartung des Men-
schen durch derartige Gene in keiner Weise
vergleichbar ist mit dem, was bei niederen
Organismen durch die Wirkung spezifischer
Langlebigkeitsgene erreicht werden kann.
Die bei diesen Organismen erzielten Effekte
beruhen im Wesentlichen darauf, dass der
Stoffwechsel und der Energieumsatz extrem
herunterreguliert werden. Diese Art von
„Dauerstatus“ ermöglicht es primitiven
Lebewesen, auch bei extremen Umwelt-
bedingungen (z. B. lange anhaltendem
Nahrungsmangel) sozusagen auf Spar-
flamme weiter zu existieren, bis sich die äu-
ßeren Umstände für sie gebessert haben.
Beim Menschen stoßen derartige Strategien
nachvollziehbar an ihre Grenzen.
Nichtsdestotrotz kann man behaupten,
dass die entsprechende genetische Aus-
stattung und die biochemischen Signalwege
bis zum Menschen evolutionär konserviert
wurden und sich durchaus mit gesundheit-
lichem Nutzen aktivieren lassen.
Während die anfängliche Euphorie
bezüglich sogenannter Langlebigkeitsgene
weitgehend gelegt hat – zumindest was deren
Wirkung beim Menschen betrifft –, gewinnt
eine neue Subdisziplin der Genetik zu-
nehmend an Bedeutung: die Epigenetik. Sie
beschäftigt sich mit vererbbaren Mechanis-
men, die nicht auf einer Veränderung der
Basensequenz der DNA beruhen. Die Epi-
genetik kann als ein Bindeglied zwischen
Umwelt und Erbanlagen betrachtet werden,
denn sie erlaubt es, die genetische Expression
kurzfristig an geänderte Außenbedingungen
anzupassen. Zunehmend werden epi-
genetische Veränderungen nicht nur als ent-
scheidender Alterungsfaktor, sondern auch
als wertvoller diagnostischer Biomarker für
Alterungsprozesse erkannt (Horvath 2013).
Im Wesentlichen sind es drei molekulare
Mechanismen, über welche epigenetische
Veränderungen stattfinden:
1. Methylierung von Basen in der DNA-­
Sequenz deaktiviert gezielt Gen-
abschnitte.
2. Modifikation von Histonen, also jenen
Proteinen, die als Bestandteil des Chro-
matins für die „Verpackung“ der DNA
zuständig sind, beeinflusst die Genex-
pression sowohl in Richtung Aktivie-
rung als auch in Richtung Deaktivierung.
Dies geschieht durch Methylierung wie
auch durch Azetylierung.
3. RNA-Interferenz dient ebenfalls der ziel-
gerichteten Abschaltung von Genen bzw.
der Verhinderung der Translation bereits
abgelesener Genabschnitte.
Der wichtigste und bisher am besten unter-
suchte Mechanismus ist jedoch die DNA-Me-
Biologisches Altern
13 1
thylierung. Störungen des Methylierungs- spielen ebenfalls eine Schlüsselrolle für epi-
musters sind ein typisches Zeichen von genetische Veränderungen. So ist z. B. die
biologischem Altern. Interessanterweise fin- Folsäure der wichtigste Methylgruppen-
den sich dabei Störungen in beide Richtun- donator unseres Organismus. Bei einem
gen – Hypo- und Hypermethylierung (Her- Mangel an Folsäure unterbleiben wichtige
nandez et al. 2011). epigenetische Regulationen. Das wirkt sich
Ein klarer Zusammenhang konnte nicht nur in dem frühen „epigenetischen
­inzwischen für die Hypomethylierung von Fenster“ der Schwangerschaft negativ aus,
Tumorsuppressorgenen im Alter und dem es begünstigt auch altersabhängige Er-
Anstieg der Krebsinzidenz gezeigt werden krankungen (Mathers 2006). Darüber hin-
(Esteller 2008). Nicht nur die Akkumulation aus sind viele sekundäre Pflanzenstoffe, ins-
von DNA-Schäden, sondern auch epi- besondere solche mit Polyphenolstruktur,
genetische Veränderungen führen zu einer epigenetisch wirksam. Das Verständnis und
genomischen Instabilität, die ein malignes die gezielte Beeinflussung epigenetischer
Wachstum begünstigt. Eine deutliche Zu- Mechanismen öffnen somit völlig neue Fel-
nahme der Krebsinzidenz in Abhängigkeit der einer präventiven Medizin.
vom biologischen Lebensalter belegt diesen
Zusammenhang.
Paradoxerweise gibt es jedoch auch Gene, 1.1.6 Telomerverkürzung
die im Alter hypermethyliert werden. Hierzu
gehören z. B. einige wichtige Hormon- Unter den vielen unterschiedlichen
rezeptoren wie der Östrogenrezeptor (ER) Alterungsfaktoren sehen manche Forscher
und der Rezeptor für den Insulin-like-­growth- die Verkürzung der Telomere als den heraus-
Faktor 2 (IGF-2) (Issa et al. 1996). ragenden Mechanismus mit denkbar größ-
In einigen Zellen, etwa den T-­tem therapeutischen Potenzial. Bei der über-
Lymphozyten, ist die Hypermethylierung so wiegenden Mehrheit der derzeitigen
eng mit dem Alterungsprozess korreliert, Anti-­ Aging-­Interventionen geht es um die
dass bereits von einer „epigenetischen Uhr“ Prävention. Der Organismus soll auf zellulä-
(Horvath’s clock) gesprochen wird. Darüber rer bzw. molekularer Ebene vor Schäden wie
hinaus ermöglicht diese Art von Hypermet- Oxidation oder Inflammation geschützt wer-
hylierung auch, dass aus einem simplen den. Telomere dagegen sind Strukturen, die
Bluttest das biologische Lebensalter und das als „Biologische Uhren“ direkt den
Risiko für Sterblichkeit an altersabhängigen Alterungsprozess steuern. Ihre Beeinflussung
Erkrankungen ermittelt werden kann. Die macht es möglich, biologisches Altern gezielt
Messung der DNA-Hypermethylierung gilt zu verlangsamen und damit den Schritt von
inzwischen als der genauste Marker für bio- der präventiven zur regenerativen Medizin zu
logisches Lebensalter (Horvath et al. 2012). gehen. Als Beleg hierfür lassen sich Zellen
Da Epigenetik ein spezifischer Mechanis- (Keim- und Stammzellen) anführen, welche
mus ist, der das individuelle Genom an die die Telomerverkürzung ausgleichen können
entsprechende Umwelt anpasst, lassen sich und somit dem Alterungsprozess entgehen.
epigenetische Veränderungen auch durch Biologische Unsterblichkeit existiert also be-
gezielte Modifikationen der Umwelt und des reits, wenn auch zunächst nur auf zellulärer
Lebensstils beeinflussen. Inzwischen weiß Ebene.
man, dass viele gesundheitsfördernde Maß- Der Begriff „Biologische Uhr“ tauchte
nahmen wie Sport und die Kalorien- erstmals in Zusammenhang mit den grund-
restriktion ihre Wirkung vorrangig über epi- legenden Arbeiten von Leonard Hayflick
genetische Mechanismen entfalten (Issa (Hayflick und Moorhead 1961) auf. Der
2002). Spezifische Nahrungsinhaltsstoffe US-amerikanische Bio-Gerontologe machte
 14 B. Kleine-Gunk
Anfang der 1960er-Jahre die Beobachtung,
1 dass Körperzellen nur über eine begrenzte
Teilungskapazität verfügen. Dies stand im
scharfen Gegensatz zur damals vor-
herrschenden, im Wesentlichen auf den
französischen Nobelpreisträger Alexis Car-
rel zurückgehende Meinung, wonach
einzelne Körperzellen grundsätzlich un-
begrenzt teilungsfähig sind. In Hayflicks
Experimenten teilten sich Körperzellen je-
doch höchstens 50- bis 60-mal, danach star-
ben sie ab. Dieser Effekt ist seitdem als das
Hayflick-Limit in die Literatur eingegangen.
Bereits früh schon spekulierte Hayflick über
eine „innere biologische Uhr“, die es in jeder
einzelnen Körperzelle geben müsse, auch
wenn er diese mit den damals zur Verfügung
stehenden Methoden noch nicht nachweisen
konnte.
Die „Biologische Uhr“ wurde dann Jahr-
zehnte später tatsächlich entdeckt. Dies ver-
danken wir v. a. den grundlegenden Arbei-
ten von Elisabeth Blackburn sowie ihrer
Doktorandin Carol Greider, die das Enzym
Telomerase entdeckte, das für die Re-
generation der Telomeren verantwortlich ist
(Greider und Blackburn 1985). Beide wur-
den für ihre Arbeiten 2009 mit dem Nobel-
preis für Medizin ausgezeichnet. Telomere
sind repetitive, nicht kodierende DNA-­
Sequenzen, die an den jeweiligen Enden der
Chromosomen sitzen und eine zentrale
Rolle für die Integrität der Chromosomen
spielen. Bei jeder Zellteilung verkürzen sich
diese Telomere, da die DNA-Polymerase,
welche für die DNA-Replikation ver-
antwortlich ist, am Folgestrang nicht mehr
ansetzen kann. Ist eine kritische Unter-
grenze der Telomerenlänge erreicht, erfolgt
keine weitere Replikation. Die Zelle wird
seneszent oder apoptotisch. Die Telomeren-
länge ist damit eng korreliert mit der noch
verbleibenden Lebenszeit der Zelle (Njajou
et al. 2009).
Die Metapher der „Biologischen Uhr“
ist jedoch nur eine bildhafte Übertragung.
Während mechanische Uhren gleichmäßig
und von der Außenwelt weitgehend unbe-
einflusst ticken, reagieren Telomere auf
Umwelteinflüsse und Lebensstilfaktoren.
Insbesondere chronischer Stress führt dabei
offensichtlich zu einer schnelleren Ver-
kürzung der Telomere. Bei einer Studie an
Frauen zwischen 20 und 50 Jahren zeigten
diejenigen, die höchstem psychologischen
Stress ausgesetzt waren, die kürzesten Telo-
mere und die höchste Rate an Folge-
erkrankungen (Epel et al. 2006). Auch Rau-
chen sowie exogene Einflüsse, die zu einer
dauerhaft erhöhten oxidativen Belastung
des Organismus führen, haben eine signi-
fikante Verkürzung der Telomere zur Folge
(Babizhayev et al. 2010).
Umgekehrt haben gesundheitsfördernde
Maßnahmen, wie z. B. regelmäßige Sport,
das Potenzial, Telomere auch wieder zu ver-
längern. Eine Studie, welche die Telomeren-
länge von Sportlern mit gleichaltrigen Per-
sonen, die sich wenig bewegten, verglich,
zeigte signifikante Unterschiede bezüglich
der Telomerenlänge, die in der Gruppe der
Sportler deutlich ausgeprägter war (Werner
et al. 2009).
Die Rolle der Telomere als „Biologische
Uhr“ der Körperzellen, die gleichwohl durch
Umwelt- und Lebensstilfaktoren beeinflusst
werden kann, legt es nahe, die Telomeren-
länge als Maß für das biologische Lebens-
alter heranzuziehen. In der Tat wird eine
derartige Messung inzwischen von unter-
schiedlichen Laboren angeboten, wobei die
Tatsache, dass die Messung idealerweise an
den Telomeren der T-Lymphozyten durch-
geführt wird, eine einfache Analytik anhand
einer Blutuntersuchung möglich macht.
Ein präziser Marker für das biologische
Lebensalter ist für die Anti-Aging-Medizin
nicht zuletzt auch deshalb von Bedeutung,
weil damit eine Methode zur Verfügung
stünde, interventionelle Maßnahmen zur
Lebensverlängerung auf ihre Wirksamkeit
zu überprüfen, ohne notwendigerweise auf
den „klinischen Endpunkt Tod der unter-
suchten Probanden“ warten zu müssen.
Ob mit der immer noch teuren Messung
der Telomerenlänge allerdings tatsächlich
Biologisches Altern
der ideale Marker entdeckt wurde, wird von
neuen Studien bereits wieder in Zweifel ge-
zogen. Wie im Kap. 1.1.5 beschrieben, gel-
ten derzeit Biomarker, die epigenetische Ver-
änderungen messen (Horvath’s Clock) als
der präziseste Marker für biologisches
Lebensalter (Zhang et al. 2017).
Kontrovers sind die Diskussionen auch,
wenn es um die pharmakologische Beein-
flussung der Telomerenlänge geht. So-
genannte Telomeraseaktivatoren gelten vie-
len Biogerontologen als Schlüsselsubstanz
zur Lebensverlängerung. Eine nachweisbare
Wirkung auf die Telomeren besitzt z. B. der
Phytoextrakt Astragalus membranaceus. In
der traditionellen chinesischen Medizin
(TCM) spielt dieser sekundäre Pflanzenstoff
bereits seit Jahrhunderten eine Schlüssel-
rolle. Nun legen Studien der letzten Jahre
nahe, dass dieser Bestandteil vieler traditio-
neller chinesischer Arzneimittel mit hoher
Wahrscheinlichkeit ein potenter Telomera-
seaktivator ist. In den Vereinigten Staaten
wurde der Wirkstoff – in galenisch modi-
fizierter Form – inzwischen unter dem
Namen TA-65® registriert.
Noch ist die Studienlage zu Astragalus
membranaceus begrenzt. Erste Unter-
suchungen belegen eine Wirkung auf das
Immunsystem sowie auf einige Biomarker
des Alterungsprozesses (Russel Fauce et al.
2008). Eine anfängliche Befürchtung, dass
durch eine pharmakologische Aktivierung
der Telomerase das Krebsrisiko steige,
scheint sich dagegen nicht zu bestätigen.
Während sich Keimzellen unendlich und
Stammzellen sehr häufig teilen können,
unterliegen normale Körperzellen dem be-
schriebenen Hayflick-Limit von 50–60 Zell-
teilungen. Aber auch hier gibt es Aus-
nahmen. Einige Körperzellen haben
ebenfalls die Fähigkeit, sich unendlich oft zu
teilen: Krebszellen. Weltweit bekannt sind
die sogenannten HeLa-Zellen. Henrietta
Lacks (HeLa) starb in den 1930er-Jahren an
Gebärmutterhalskrebs. Die Zellen dieses
Krebses befinden sich inzwischen in allen
großen onkologischen Forschungslaboren
15 1
der Welt. Ein besonderes Charakteristikum
zeichnet sie aus: Sie teilen sich auch nach 80
Jahren ohne Unterlass weiter. Diese Fähig-
keit verdanken sie v. a. der hohen Konzent-
ration an Telomerase, welche diese malignen
Körperzellen biologisch genauso unsterb-
lich macht wie Keimzellen.
Sehr frühzeitig gab es angesichts dieser
Beobachtung Bedenken, dass eine Aktivie-
rung von Telomerase in Körperzellen das
Krebsrisiko steigern könnte. In der Tat ver-
danken Krebszellen ihre unbegrenzte
Teilungsfähigkeit einer Telomeraseaktivie-
rung. Ein neuer Ansatz in der Onkologie be-
steht daher im Einsatz von Telomerasehem-
mern.
Hier zeichnet sich ein fundamentaler
Konflikt ab. Auf der einen Seite verhilft Te-
lomerase Körperzellen zur Langlebigkeit
durch vermehrte Teilungsfähigkeit. Auf der
anderen Seite nutzen Krebszellen genau
diese Eigenschaft für ihre Zwecke. Dennoch
hat sich bei den bisherigen Studien zu Prä-
paraten, welche die Telomeraseaktivität stei-
gern, kein erhöhtes Krebsrisiko nachweisen
lassen. Im Gegenteil: Die Krebsinzidenz
scheint eher erniedrigt (Ma et al. 2011). Eine
Erklärung könnte folgende sein: Telomere
sind nicht nur die biologischen Uhren der
Zelle, sondern auch die Wächter der geno-
mischen Stabilität. Lange Telomere er-
niedrigen daher das Krebsrisiko. Telomera-
seaktivatoren scheinen somit krebspräventiv
zu sein. Krebszellen sind dagegen Körper-
zellen mit bereits deutlich verkürzten Telo-
meren und einer erhöhten genomischen In-
stabilität, welche dann durch eine erhöhte
Telomeraseaktivität ihre Teilungsfähigkeit
erhalten.
Zweifellos ist die Krebsproblematik ein
Thema, das auch weiterhin besondere Auf-
merksamkeit beim Einsatz von Telomerase-
aktivatoren erfordert. Prinzipiell zeichnet
sich hier jedoch ein vielversprechender An-
satz der Anti-Aging-Medizin ab, der nicht
nur Altern verlangsamt, indem er Schäden
minimiert, sondern der Alterungsprozesse
reversibel macht, indem er einen zentralen
 16 B. Kleine-Gunk

Mechanismus der zellulären Seneszenz be- Calderwood SK, Murshid A, Price T (2009) The
1 einflusst. shock of ageing: molecular chaperones and the
heat shock response in longevity and aging. A mi-
Abschließend lässt sich sagen, dass wir in ni-review. Gerontology 55(5):550–558
den letzten 30 Jahren enorme Fortschritte in Campisi J et al (2019) From discoveries in ageing re-
der Grundlagenforschung zum biologischen search to therapeutics for health ageing, Review.
Altern gesehen haben. Mit diesem neuen Nature 571(7764):183–192
Wissen über die molekularen Mechanismen Conboy IM, Conboy MJ, Wagers AJ, Girma ER,
Weissmann IL, Rando TA (2005) Rejuvenation of
den Alterungsprozesse haben wir – wie es in aged progenitor cells by exposure to a young sys-
einer Nature-Publikation aus dem Jahr 2019 temic environment. Nature 433:760–764
heißt – „das solide Fundament gebaut, auf Curtin JF, Donovan M, Cotter TG (2002) Regulation
dem nun mit klinischen Studien begonnen and measurement of oxidative stress in apoptosis.
werden kann, welche den Alterungsprozess J Immunol Methods 265:49–72
Dall’Olio F, Vanhooren V, Chen CC, Slagboom PE,
beeinflussen“ (Campisi et al. 2019). Wuhrer M, Franceschi C (2013) N-glycomic bio-
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 19 2

Altern messen – Biomarker

des Alterungsprozesses
B. Weber, C. Heddergott, N. Juchem und A. Menzel

Inhaltsverzeichnis

2.1  riterien zur Bestimmung eines Biomarkers

K
des Alterns – 21

2.2 Entzündungsbiomarker – 22
2.2.1 I nterleukin-6 (IL-6) – 22
2.2.2 C-reaktives Protein (CRP) und hochsensitives CRP
(hs-CRP) – 22
2.2.3 NT-proBNP – 22
2.2.4 Absolute Leukozytenanzahl – 23
2.2.5 Absolute Anzahl von Monozyten – 23

2.3 Hämatologische Biomarker – 23

2.3.1  ämoglobin – 23
H
2.3.2 Verteilungsbreite roter Blutkörperchen (RDW) – 23
2.3.3 Mittleres Erythrozyteneinzelvolumen (MCV) – 23
2.3.4 Löslicher Transferrinrezep tor – 24

2.4 Diabetes-Biomarker – 24
2.4.1  lykiertes Hämoglobin (HbA1c) – 24
G
2.4.2 Der lösliche Rezeptor für „Advanced Glycation End
Products“ (sRAGE) – 24
2.4.3 Adiponektin – 25
2.4.4 Der insulinähnliche Wachstumsfaktor 1 (IGF1) – 25

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_2
2.5 Biomarker des Lipidstoffwechsels – 25
2.5.1 Gesamtcholesterin – 25

2.6 Endokrine Biomarker – 25

2.6.1 S exualhormon-bindendes Globulin (SHBG) – 25
2.6.2 Dehydro­epiandro­steronsulfat (DHEAS) – 26

2.7 Renale Biomarker – 26

2.7.1  lbumin – 26
A
2.7.2 Serumkreatinin – 26

2.8 Sonstige Marker – 26

2.8.1  arker für oxidativen Stress – 26
M
2.8.2 Bildgebende Verfahren – 27

2.9 Genetische Polymorphismen und Langlebigkeit – 27

2.10 Epigenetische und chromosomale Marker – 29

2.10.1  ikro-RNAs (miRNAs) und Inc-RNAs – 29
M
2.10.2 Telomerlänge und Telomeraseaktivität – 30
2.10.3 DNA-Hydroxymethylierung – 31

2.11 Methylierungsuhren – 32
2.11.1  ethylierungsuhr nach Horvath (Pan-Gewebeuhr) – 34
M
2.11.2 Methylierungsuhr nach Hannum – 35
2.11.3 Die Methylierungsuhren in Anti-Aging-Anwendungen – 35

2.12 Ausblick – 37

Literatur – 43
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
21 2
Zumeist meinen wir mit Alter unser chrono- ganze Reihe sogenannter molekularer
logisches Alter, also die verstrichene Zeit seit Uhren entwickelt. Die wichtigsten Ansätze
der Geburt. Es gibt aber auch ein bio- sind die Bestimmung der Telomerlängen
logisches Alter, welches die Geschwindigkeit und Methylierungsuhren.
misst, mit der Zellen und Gewebe altern. Es gibt nach heutigem Kenntnisstand
Diese beiden Zahlen stimmen meistens nicht nicht den „einen“ Biomarker, anhand dessen
überein. Wir alle kennen Menschen, die für das biologische Alter abgelesen werden kann.
ihr Alter jung aussehen oder die vorzeitig Zumeist sind altersbedingte individuelle Ver-
gealtert zu sein scheinen, und selbst bei änderungen einzelner Laborparameter nicht
einem Individuum können verschiedene größer als inter-individuelle Schwankungen
Körperteile unterschiedlich schnell altern. (Normwerte) in dieser Altersgruppe. Daher
Um zu bestimmen, ob das gemessene bio- gibt es den Ansatz, durch die parallele Be-
logische Alter mit dem Erwarteten laut Be- trachtung mehrerer Parameter insbesondere
völkerungsschnitt übereinstimmt, arbeiten zusammen mit molekularen Markern ein
die Forscher an Modellen, um dieses mög- akkurateres Gesamtbild zu erhalten. Dieses
lichst exakt zu bestimmen. Kapitel beleuchtet den derzeitigen Kenntnis-
Krankheiten sind Faktoren, die das bio- stand hinsichtlich der Strategien, das Altern
logische Altern beschleunigen. Dies führt zu labormedizinisch zu erfassen.
einem schnelleren Funktionsverlust von Ge-
weben und Organen und infolgedessen zu
einer Verkürzung des Lebens eines Individu-
ums selbst. Es verwundert daher nicht, dass 2.1 Kriterien zur Bestimmung
Biomarker, die gehäuft bei altersbedingten eines Biomarkers des Alterns
Erkrankungen vorkommen, zum Teil auch
mit dem Alterungsprozess selbst assoziiert Gängige Laborparameter sind einfach zu
sind. Studien haben in den letzten Jahren ge- handhaben und zu interpretieren, es ist je-
zeigt, dass das biologische Alter häufig ein doch schwierig, mit einzelnen phäno-
verlässlicherer Indikator für die zukünftige typischen Biomarkern den komplexen mole-
Gesundheit ist als das chronologische Alter kularen Prozess zu überwachen, der dem
(Horvath 2013). Die präzise Bestimmung Altern zugrundeliegt. Es ist daher wichtig,
des biologischen Alters könnte also helfen, Kriterien festzulegen, anhand derer das
Krankheiten zu erkennen oder sogar zu ver- Potenzial eines Biomarkers hinsichtlich
hindern. Idealerweise sollten Interventionen einer Bewertung des Alterungsprozesses be-
zur günstigen Beeinflussung von Alters-­ urteilt werden kann (Lara et al. 2015; Xia
Biomarkern auch das Leben verlängern. et al. 2017). Laut der American Federation
Neben Laborparametern, die im Zu- for Aging Research (AFAR, Lara et al.
sammenhang mit altersbedingten Er- 2015) sind dies:
krankungen wie Herz-­
Kreislauf-­ 55 Vorhersage mehrerer mit dem Altern as-
Erkrankungen, Demenz usw. stehen, können soziierter Krankheiten
molekulare Marker zur Bestimmung des 55 Der Biomarker selbst ist Teil alters-
biologischen Alters herangezogen werden. typischer physiologischer Prozesse
Zudem wird das biologische Alter durch ge- 55 Er ist bei Tieren vorhanden, was eine
netische, epigenetische und Umweltfaktoren Testung im Tierversuch ermöglicht
beeinflusst. Dabei scheinen genetische und 55 Seine Funktion ist wissenschaftlich gut
epigenetische Faktoren eine wichtige Rolle belegt
zu spielen. Die DNA-basierenden Marker 55 Wiederholbare, ungefährliche Messung
scheinen besonders akkurat zu sein. Infolge- 55 Einfache und kostengünstige Mess-
dessen wurde im letzten Jahrzehnt eine technik (Blutuntersuchung, Bildgebung)
 22 B. Weber et al.
Biomarker, die möglichst viele dieser Krite-
rien erfüllen, werden in der folgenden Über-
sicht beschrieben.
2 rigeren Vitamin-D-Spiegeln einen höheren
2.2 Entzündungsbiomarker
2.2.1 Interleukin-6 (IL-6)
IL-6 ist ein in erster Linie proinflammatorisches
Zytokin, welches von Immunzellen, Adipozy-
ten und Endothelzellen synthetisiert wird
(Gabay 2006), die Synthese anderer Proteine
in der akuten Entzündungsphase stimuliert
und den Übergang von akuter Entzündung
zu chronischer Entzündung fördern. Die IL-
6-Spiegel sind beim Vorliegen von alters-
bedingten Störungen erhöht. In einer Studie
von van Epps et al. (2016) wiesen die Autoren
nach, dass gebrechliche Personen im Ver-
gleich zu gesunden gleichaltrigen Probanden
einen höheren IL-6-­ Spiegel im Plasma be-
saßen (Van Epps et al. 2016). Darüber hinaus
wurde festgestellt, dass andere altersbedingte
Störungen wie Anämie, langsamere Geh-
geschwindigkeit und verminderte Muskel-
kraft positiv mit höheren IL-6-Spiegeln asso-
ziiert sind (Maggio et al. 2006). Andere
altersbedingte Erkrankungen wie die
rheumatoide Arthritis weisen ebenfalls er-
höhte IL-6-Spiegel auf (Yoshida und Tanaka
2014). Daher kann die Hemmung des IL-6-
Signalweges möglicherweise bei der Be-
handlung von altersbedingten Störungen ein-
gesetzt werden.
2.2.2  -reaktives Protein (CRP)
C (Vergaro et al. 2018). Vergaro et al. (2018),
und hochsensitives CRP
(hs-CRP)
CRP ist ein Entzündungsmediator, der
hauptsächlich in der Leber synthetisiert und
ausgeschieden wird. Studien haben gezeigt,
dass ein enger und positiver Zusammenhang
zwischen höheren CRP-Werten und dem Al-
tern besteht. Boxer et al. zeigten, dass Pro-
banden mit höheren CRP-Werten und nied-
Gebrechlichkeitsindex aufwiesen (Boxer
et al. 2008; Zheng und Xie 2018).
Daneben kann das Vorliegen unter-
schwelliger systemischer Entzündungen
über hs-CRP abgeklärt werden. Bei mehr als
0,5 mg/L CRP kann von einer stillen Ent-
zündung ausgegangen werden, jedoch gehen
bereits chronische Werte ab 0,3 mg/L mit
einem gesteigerten Risiko für Herzkreislauf-
erkrankungen, Diabetes und andere mit
einem beschleunigten Alterungsprozess in
Verbindung stehende Erkrankungen einher.
Zudem führen chronische subklinische Ent-
zündungen zu einer gestörten Immun-
funktion mit gesteigerter Anfälligkeit für
Infektionen sowie Autoimmun- und Tumor-
erkrankungen.
2.2.3 NT-proBNP
Natriuretisches Peptid Typ B (BNP, aktives
Hormon) und N-terminales Hormon (NT)-
pro BNP (NT-proBNP, inaktives pro-­
Hormon) sind zwei Peptidhormone, die im
Herzen produziert werden. Zirkulierendes
NT-proBNP wird im Allgemeinen als diag-
nostischer Marker für Herzinsuffizienz und
andere Probleme im Zusammenhang mit
der Gesundheit des Herzens verwendet (Pan
et al. 2017). Plasmaspiegel von NT-proBNP
verändern sich im Laufe des Alterns und bei
Störungen wie z. B. Nierenerkrankungen
dass die NT-proBNP-Spiegel bei älteren (≥
77 Jahre) und sehr alten Patienten (≥ 85
Jahre) signifikant höher waren. NT-pro
BNP konnte hier als prognostischer Marker
für die Mortalität bei älteren Patienten mit
chronischer systolischer Herzinsuffizienz
verwendet werden (Vergaro et al. 2018).
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
2.2.4 Absolute Leukozytenanzahl
Unter normalen Umständen steigt die Leuko-
zytenzahl nach einer Infektion oder Ent-
zündung im Körper an (Aminzadeh und
Parsa 2011). Es wurde jedoch beobachtet,
dass ihre Anzahl mit dem Alter tendenziell ab-
nimmt. Zum Beispiel hatten 25- bis 34-jährige
Probanden mehr weiße Blutkörperchen als
eine 65- und 74-jährige Vergleichsgruppe. Al-
lerdings können chronische Erkrankungen
den Effekt verfälschen (McArthur et al. 1996).
Eine altersbedingte Veränderung der Neutro-
philen/Lymphozyten-­Ratio (NLR) konnte bei
Frauen nachgewiesen werden (Chen et al.
2016b), nicht jedoch bei Männern. Die ge-
nannten Abhängigkeiten schränken die Eig-
nung von Leukozytenzahl und NLR als prä-
diktive Marker insgesamt stark ein.
2.2.5  bsolute Anzahl von
A sowie die Mortalität älterer Menschen,
Monozyten
Monozyten machen etwa 5–10 % der peri-
pheren Blutleukozyten bei Menschen aus.
Ihre Migration ins Gewebe und die Differen-
zierung zu Makrophagen werden weitgehend
durch ein entzündliches Milieu der Um-
gebung bestimmt (Seidler et al. 2010). Im
Gegensatz zu nicht beeinflussten Leukozyten-
oder Gesamtmonozytenzahlen nahmen un-
konventionelle CD14low/CD16+-Monozyten
mit dem Alter signifikant zu und zeigten eine
verringerte HLA-DR und CX3CR1- Ober-
flächenexpression bei älteren Menschen. Die
klassischen CD14+/CD16-Monozytenzahlen
änderten sich dagegen nicht mit zu-
nehmendem Alter (Valiathan et al. 2016).
2.3 Hämatologische Biomarker
2.3.1 Hämoglobin
Die Messung von Hämoglobin (Hb) hat
aufgrund der gestiegenen Prävalenz von An-
ämien in fortgeschrittenem Alter – wesent-
23 2
licher Faktor für altersbedingte Kranken-
hausaufenthalte und Mortalität – an
Bedeutung zugenommen. Der Hämoglobin-
spiegel folgt im Allgemeinen einer um-
gekehrten Beziehung zum Alter, beispiels-
weise liegt die Prävalenz einer Anämie in der
Altersgruppe der 71- bis 74-Jährigen bei
8,6 %, während sie bei Männern und Frauen
im Alter von 90 Jahren bei 41 % bzw. 21 %
liegt (Goodnough und Schrier 2014).
2.3.2 Verteilungsbreite roter
Blutkörperchen (RDW)
Die Verteilungsbreite der Größe roter Blut-
körperchen (RDW) wird häufig bei der Dia-
gnose von Bluterkrankungen eingesetzt.
Daneben ist die RDW ein wichtiger In-
dikator für Gefäßalterung (degenerativen
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems)
wobei der Zusammenhang unabhängig von
anderen altersbedingten Erkrankungen ist
(Patel et al. 2010). Personen mit einem Alter
von mehr als 60 Jahren wiesen im Vergleich
zu Personen unter 60 Jahren höhere RDW-­
Werte von 11 % auf (Lippi et al. 2014); bei
über 90 versus unter 41-Jährigen betrug der
Unterschied 20 % (Lippi et al. 2014).
2.3.3 Mittleres
Erythrozyteneinzelvolumen
(MCV)
Das MCV (berechnet als Hämatokrit
[Vol%]/100 × Erythrozyten [Mio./ml])
nimmt in der frühen Kindheit tendenziell zu
und erreicht im Erwachsenenalter einen
konstanten Wert. Der MCV indiziert die
verbleibende Lebensspanne von Erythrozy-
ten, wobei jüngere Erythrozyten ein höheres
MCV aufweisen (Gamaldo et al. 2011). Die
Lebenserwartung roter Blutkörperchen
nimmt mit zunehmendem Alter ab, infolge-
dessen ist das MCV bei älteren Menschen
geringer.
 24 B. Weber et al.

2.3.4 Löslicher nehmendem Alter auch bei Nicht-­Diabetikern

Transferrinrezep tor
2 Der sTfR ist ein Indikator für den Eisen-
status im Körper und korreliert reziprok mit
der Eisenkonzentration (Bloomer et al.
2014; Choi et al. 1999). Der Wert ist alters-
und geschlechtsabhängig und nimmt bis
zum 17. Lebensjahr zunächst ab. Geyer
et al. zeigten an über 60-jährigen, dass mit
dem Alter abnehmende Eisenspiegel mit
einem Anstieg der Serum-sTfR-Spiegel ein-
hergingen. Da die sTfR-Werte nicht durch
akute Entzündungen beeinflusst werden,
stellen sie einen verlässlichen Indikator dar
(El Gayar und Deghady 2015).
2.4 Diabetes-Biomarker
an. Menschen mit Typ-2-­Diabetes (HbA1c ≥
6,5) weisen höhere Altersindizes auf als
Nicht-Diabetiker, zudem sind hohe HbA1c-
Spiegel mit Herz-­Kreislauf-­Erkrankungen
signifikant assoziiert (Suvarna et al. 2017).
Allerdings eignete sich HbA1c in einer chine-
sischen Studie nur dann als Marker für das
biologische Alter, wenn sein Ausgangswert
unter 6,5 % lag, ansonsten war der Effekt um-
gekehrt (Ma et al. 2016; . Abb. 2.1).
Darüber hinaus war in der Studie der
HbA1c-Spiegel bei Männern und Frauen im
Alter von 30 bis 59 Jahren geschlechtsspezi-
fisch bei Männern signifikant höher. Diese
Ergebnisse zeigen, dass eine Beziehung von
HbA1c zum Altern zwar vorhanden, aber
vermutlich sehr komplex ist.

2.4.1 Glykiertes Hämoglobin 2.4.2  er lösliche Rezeptor für

(HbA1c)
Beim HbA1c ist Hämoglobin irreversibel gly-
kosyliert (Syed 2011). Es wird bei Diabetikern
häufig als Marker für die durchschnittlichen
Glukosewerte der letzten 2–3 Monate ver-
wendet. Der HbA1c-Spiegel steigt mit zu-
D
„Advanced Glycation End
Products“ (sRAGE)
Der soluble RAGE (sRAGE) ist die sekreto-
rische Fraktion des RAGE-Rezeptors, wel-
cher daneben auch in membrangebundener
Form vorkommt (Koyama et al. 2007). Seine

8.5

7.5

7 HbA1c >6.5%
Hb1Ac

6.5
HbA1c<6.5%
6

5.5

4.5
18-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70-79 >80
Altersgruppe [Jahren]

..      Abb. 2.1 Schematische Darstellung des Verlaufs der HbA1c-Konzentration über das Alter hinweg
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
25 2
Funktion besteht darin, Glykationspro- könnte IGF1 das Altern reduzieren, indem
dukte in der Blutbahn abzufangen. Höhere es die Thermogenese verringert, oxidative
zirkulierende sRAGE-Spiegel verlängern Schäden in Zellen reduziert und die Insulin-
die Lebensdauer signifikant (Forbes et al. sensitivität verbessert (Bartke et al. 2003).
2005). Tierstudien zeigten neben dieser Kor-
relation zudem verringerte Werte bei Vor-
liegen altersbedingter Entzündungen („In- 2.5 Biomarker des
flammaging“, Peng et al. 2019) sowie bei
Lipidstoffwechsels
Entzündungen in Verbindung mit Adiposi-
tas, Bluthochdruck und Diabetes. Aufgrund
2.5.1 Gesamtcholesterin
dieser Daten kann sRAGE als potentes
Anti-Aging-Molekül und Altersbiomarker
Der Serumcholesterinspiegel weist ver-
angesehen werden.
schiedene altersabhängige Veränderungen
auf. Das Gesamtcholesterin nimmt während
des Wachstums ab und steigt im Er-
2.4.3 Adiponektin
wachsenenalter tendenziell an. Diesem
Nettoanstieg liegt eine Zunahme des LDL-­
Adiponektin wird vom Fettgewebe sezer-
Cholesterinspiegels zugrunde, dagegen
niert. Es erhöht die Insulinsensitivität und
nimmt der HDL-Cholesterinanteil sogar ab.
wirkt entzündungshemmend (Zhang et al.
Der Anstieg des Gesamtcholesterinspiegels
2017). Die Sekretion nimmt im Alter zu; sta-
ist geschlechtsabhängig und stabilisiert sich
tistisch kann dies dadurch erklärt werden,
tendenziell bei Männern im Alter von 50–60
dass ältere Menschen ein höheres Maß an
Jahren, bei Frauen zwischen 60 und 70 Jah-
Entzündung haben und daher mehr ent-
ren (Kreisberg und Kasim 1987). Der An-
zündungshemmendes Adiponektin benötigt
stieg hängt mit einem erhöhten Risiko für
wird. Höhere Konzentrationen sind mit
die Entwicklung verschiedener Herz-­
einer höheren Mortalität bei Menschen über
Kreislauf-­Erkrankungen zusammen (Parini
65 assoziiert (Gulcelik et al. 2013; Zhang
et al. 1999). Daher kann die Steuerung des
et al. 2017), jedoch liegt letztere wohl an der
Gesamtcholesterinspiegels zur Vorbeugung
zugrundeliegenden Erkrankung und nicht
altersbedingter kardiovaskulärer Er-
am erhöhten Adiponektin selbst. Im Gegen-
krankungen dienen.
teil, höhere Adiponektinspiegel im Serum
verbessern das gesamte Stoffwechselprofil
eines Menschen, indem entzündliche Zyto-
kine reduziert und das Lipidprofil verbessert 2.6 Endokrine Biomarker
werden. Adiponektin kann daher mög-
licherweise in Anti-Aging-­ Strategien ein- 2.6.1 Sexualhormon-bindendes
gesetzt werden (Arai 2012). Globulin (SHBG)

SHBG dient dem Transport von Sexual-

2.4.4 Der insulinähnliche
Wachstumsfaktor 1 (IGF1)
IGF1 reguliert das Gewebewachstum und
die Zellproliferation (Ashpole et al. 2015)
entsprechend der Verfügbarkeit von Energie-
ressourcen. Die Aktivität von IGF1 und GH
nehmen mit dem Alter ab. Möglicherweise
hormonen im Blutkreislauf. Sein Spiegel
steigt bei Männern mit dem Alter an, wäh-
rend bei Frauen in verschiedenen Studien
widersprüchliche Ergebnisse erzielt wurden
(Maggio et al. 2008). Die altersbedingte Ver-
änderung des SHBG-Spiegels folgt bei
Frauen einem U-förmigen Muster, welches
zudem mit Veränderungen des Insulin-
 26 B. Weber et al.
spiegels und des Body-Mass-Index um-
gekehrt assoziiert ist. Adipositas führt zu
sinkenden Spiegeln, während Altern sie er-
2 höht; jedoch war der Einfluss von Adiposi-
tas größer war als derjenige des Alters (Coo-
per et al. 2015). Insgesamt weisen die
Ergebnisse darauf hin, dass die SHBG-
Spiegel mit dem Altern korrelieren und eine
wichtige Rolle bei verschiedenen physio-
logischen Prozessen spielen, die mit dem Al-
tern verbunden sind (Li et al. 2015).
2.6.2 Dehydro­epiandro­
steronsulfat (DHEAS)
Das Steroidhormon DHEAS ist Vorstufe
anderer Sexualhormone und stimuliert u. a.
Haarwachstum und das Immunsystem (Bar-
rou et al. 1997; Webb et al. 2006). Viele
altersbedingte Körperveränderungen wie
kognitive Beeinträchtigungen, Osteoporose,
Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Immun-
erkrankungen sind auf im Alter abnehmende
DHEAS-Spiegel zurückzuführen. Die Werte
fallen auf 10–20 % des Jugendniveaus
(„Adrenopause“, Samaras et al. 2013). Auf-
grund seines Anti-Aging-Effektes und der
Verfügbarkeit von Hormonpräparaten wird
DHEAS auch als „Jungbrunnen-Hormon“
bezeichnet (Webb et al. 2006).
2.7 Renale Biomarker
2.7.1 Albumin
Albumin macht ca. die Hälfte aller Plasma-
proteine aus. Die Werte sind ab ca. dem 20.
Lebensjahr rückläufig, wobei der Rückgang
geschlechtsspezifisch ist und bei Männern
schneller vonstatten geht (Cabrerizo et al.
2015; Gom et al. 2007; Weaving et al. 2016).
Erhöhte Konzentrationen an entzündungs-
fördernden Zytokinen wie IL-6 und TNF-α
fördern ebenfalls eine Hypoalbuminämie.
Allerdings ist Altern nicht die direkte Ursa-
che für Hypoalbuminämie, vielmehr ist
diese auf andere altersbedingte Er-
krankungen zurückzuführen (Cooper und
Gardner 1989).
2.7.2 Serumkreatinin
Der Kreatininspiegel steigt mit dem Alter
an. Einer Studie zufolge lagen die Serum-­
Kreatinin-­Referenzwerte in der Gruppe der
21- bis 40-Jährigen bei 0,4 bis 1,3 mg/dl und
in der Altersgruppe von 41 bis 60 Jahren bei
0,6 bis 1,3 mg/dl (Verma et al. 2006). Eine
Studie erbrachte einen Zusammenhang zwi-
schen einem leichten Anstieg des Kreatinin-
spiegels im Körper älterer Menschen und
einem erhöhten Risiko für Nierenversagen
sowie eine erhöhte Mortalität (Odden et al.
2009). Zudem stehen die Serumkreatin-
spiegel bei älteren Patienten mit Tri-
glyceriden und dem Risiko für Herz-
Kreislauf-­Erkrankungen in Verbindung
(Vikse et al. 2004).
2.8 Sonstige Marker
2.8.1 Marker für oxidativen Stress
Die Theorie der oxidativen Schädigung be-
sagt, dass die Energieerzeugungsmaschinerie
der Zelle innerhalb der Mitochondrien
zwangsläufig auch freie Radikale (reaktiven
Sauerstoffspezies, ROS) produziert, welche
essentielle Moleküle wie Proteine, DNA und
Lipide beschädigen. Da in den 90er-Jahren
oxidativer Schaden als theoretische Basis
des Alterns galt, wurden Antioxidantien
zum bevorzugten Therapeutikum um
Alterungsprozessen vorzubeugen. Jedoch
gibt es seitdem vermehrt Hinweise darauf,
dass moderater oxidativer Stress Signale zu
erzeugen vermag, die regenerative Prozesse
im Körper anregen. Ein Übermaß an oxida-
tivem Stress gilt dessenungeachtet als schäd-
lich.
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
27 2
Eine übermäßige oxidative Schädigung Systems essentielle Synthese und Re-
der körpereigenen Zellstrukturen geht mit generation aus oxidiertem Glutathion sind
dem Altern einher. Vermieden werden kann mit dem Alter rückläufig (Sekhar et al.
der Schaden durch Minderung des oxidati- 2011).
ven Stresses und der Stärkung der anti- Selen: In Form von Selenocystein essen-
oxidativen Kapazität. Folgende Parameter tielles Element von antioxidativen Seleno-
des oxidativen Stresses sind mit einer er- proteinen (GPX). Sollte im Alter ggf. sup-
höhten Prädisposition für frühzeitiges Al- plementiert werden (Akbaraly et al. 2007;
tern und/oder altersbedingten Er- Tinggi 2008).
krankungen assoziiert:
8-Hydroxydesoxyguanosin (8OHDG):
Marker für oxidativen Schaden an der DNA 2.8.2 Bildgebende Verfahren
und potenzieller Altersbiomarker (Gan
et al. 2018). 2.8.2.1 BrainAge
Methylmalonyl-LDL (MDA-LDL) und Als bildgebende Verfahren zur Altersbe-
oxidiertes LDL: Messung des LDL-­ stimmung wurde BrainAge entwickelt. Die
Oxidationsstatus, Biomarker für Arterio- Methode basiert auf Hirn-MRT-Scans in
sklerose und andere Koronarerkrankungen Verbindung mit einem mittels deep learning
(Kotani et al. 2015). trainierten neuronalen Netzwerks.
Zusätzlich nimmt mit dem fort- . Abb. 2.2 zeigt die grundsätzliche Ver-
schreitenden Alter die Abwehrkapazität fahrensweise, bei der Entwicklung eines
gegen den oxidativen Stress ab, dies wird neuronalen Netzwerks. Mittels des Algorith-
durch folgende Biomarker reflektiert: mus kann einzelnen MRT-Scans ein bio-
Gesamte antioxidative Kapazität (TOC): logisches Alter des Gehirns zugeordnet wer-
Indikator für das Vermögen des Organis- den (Cole und Franke 2017). Die
mus, durch erzeugte Radikale verursachten Abweichung vom chronologischen Alter be-
oxidativen Stress abzupuffern, mit dem trägt für Jugendliche ein Jahr und für Er-
Alter abnehmend (Conley et al. 2000). wachsene maximal fünf Jahre. BrainAge
Superoxiddismutasen (SOD): Von soll die Quantifizierung alters- und krank-
Metallcofaktoren (Cu, Mn, Zn) abhängige heitsbedingter Veränderungen des Gehirns
Enzyme zur Eliminierung des hochreaktiven ermöglichen sowie verbesserte Möglich-
Superoxid-Radikal-Anions. Mit dem Alter keiten für frühzeitige Interventionen bieten
rückläufig (Kitani 2007). (Franke und Gaser 2019). In einer Studie
Zink: Kofaktor antioxidativer Enzyme zur Vorhersage des Sterblichkeitsrisikos war
wie der Kupfer-Zink-Superoxiddismutase eine Abweichung von einem Jahr zwischen
(SOD). Eine Erhöhung der Zinkaufnahme BrainAge und dem chronologischen Alter
reduziert oxidativen Stress (Afshar Ebra- jeweils mit einer 6 % höheren Todeswahr-
himi et al. 2018). Zinkplasmawerte sind mit scheinlichkeit verbunden, jedoch konnten
dem Alter abnehmend (Giacconi et al. weitere Studien keinen solch starken Zu-
2017). sammenhang nachweisen (Cole et al. 2017).
Glutathionperoxidase (GPX): Stärkstes
antioxidatives Enzym des Körpers, Haupt-
biomarker für oxidativen Stress (Lubos 2.9 Genetische Polymorphismen
et al. 2011). Die GPX-Aktivität nimmt mit und Langlebigkeit
dem Alter ab (Espinoza et al. 2008).
Reduziertes Glutathion: Substrat der Zwillingsstudien haben gezeigt, dass der ge-
GPX als Reduktionsmittel zum Abfangen netische Beitrag zur Lebenserwartung etwa
der Radikale. Die für die Funktionalität des 25 % beträgt und ab 85 Jahren stärker aus-
 28 B. Weber et al.
..      Abb. 2.2 Die Entwicklung
eines neuronalen Netzwerks
gliedert sich in unterschiedliche
Schritte. (1) Auf Grundlage eines
2 möglichst großen Datensatzes
mit bekannten Ausgangs- und
Zielwerten wird ein Modell
entwickelt und trainiert. (2) Mit
einer Teilmenge der Ausgangs-
daten oder einem unabhängigen
Datensatz wird das Modell
geprüft. Je nach Anforderung
kann das Modell weiter trainiert
oder verwendet werden. (3) Ein
ausreichend trainiertes Modell
kann anhand eines Datensatzes
den Zielwert bestimmen.
geprägt ist (Hjelmborg et al. 2006). In „ge-
nome wide association studies“ (GWAS)
wurden mit Langlebigkeit assoziierte
Einzelnukleotid-­Polymorphismen (SNPs)
nachgewiesen, wobei einzelne SNPs jeweils
nur einen geringen Einfluss auf die Lebens-
erwartung und/oder altersbedingte Er-
krankungen hatten. Polymorphismen in fol-
genden Genen hängen mit Langlebigkeit
zusammen:
FoxO3A (rs2802292): Transkriptions-
faktor mit starkem Einfluss auf das Altern
und altersbedingte Erkrankungen. Das co-
dierte Protein reguliert u. a. Stressreaktion
und beeinflusst vermutlich auf diese Art die
Lebensdauer. Die Mechanismen, mit denen
FoxO das gesunde Altern beeinflusst, sind in
. Abb. 2.3 dargestellt. Es existiert ein signi-
fikanter Zusammenhang zwischen der
Lebensdauer des Menschen und mehreren
FoxO3-Varianten. Diese spielen eine zent-
rale Rolle, da sie die physikalische Ver-
bindung und Aktivität benachbarter Gene
modulieren, die an der Alterung beteiligt
sind.
Der SNP rs2802292 liegt in einer Enhan-
cer-Region, welche die FoxO3-­ Expression
hochreguliert und die Aktivität der Gene als
Reaktion auf unterschiedlichen Stress modu-
liert. Faktoren, die die Genexpression fördern,
sind protektiv. Potenziell kann dies Unter-
schiede in der FoxO3-Assoziation mit der
Langlebigkeit zwischen den Geschlechtern er-
klären, da sich in der rs2802292-umfassenden
Region Östrogenrezeptor-Response Elemente
befinden (Grossi et al. 2018).
Naturstoffe wie Resveratrol, Curcumin
und Astaxanthin, die u. a. die Expression
von FoxO erhöhen, können dazu beitragen,
die Gesundheit des Organismus zu ver-
bessern und die Lebensdauer zu verlängern
(Sanese et al. 2019).
Klotho Rs9536314: Klotho gilt als
Suppressor-­ Gen des Alterns – bei Über-
expression ist die Lebensdauer verlängert,
bei Suppression verkürzt. Klotho arbeitet
eng mit dem IGF-R1 und FoxO3A Stoff-
wechselweg zusammen. Klotho ist als Typ-I-­
Membranprotein codiert, es existiert zudem
eine lösliche Form. Letztere unterdrückt
oxidativen Stress sowie die Signalkaskade
der Wachstumsfaktoren, der Ionenkanäle
und der Ionentransporter. Eine Über-
expression von Klotho unterdrückt Insulin/
IGF-­1-­Signale, was mit Langlebigkeit asso-
ziiert ist. Für Rs9536314 konnte dies im
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
29 2
Stress
Metabolisch, oxidativ, erniedrigtes Insulin und oder IGF1

Glukoneogenese Proteostase
DNA Reparatur FoxO3
Autophagy
Stop des Zellzyklus Mitophagy

Stammzellhomöostase Lipophagy
Modulation des Immunsystems Neutralisierung der ROS
Zelldifferenzierung Redox Gleichgewicht

Induktion der Apoptose

Schutz vor Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und

neurologischen Erkrankungen

gesundes Altern, erhöhte Lebenserwartung

..      Abb. 2.3 Mechanismen, mit denen FoxO das gesunde Altern beeinflusst. Der Transkriptionsfaktor kontrol-
liert in erster Linie protektive Stoffwechselwege. (Mod. nach Morris et al. 2015)

Mausexperiment nachgewiesen werden frühzeitigem Altern assoziiert (Garatachea

(Wolf et al. 2010). Zudem induziert eine
Kalorienrestriktion in Ratten die Expression
von Klotho (Miyazaki et al. 2010). Serum-
konzentration an Klotho-Protein sind nach
Metformin-Gabe erhöht (Saifi Novashnag
et al. 2016).
Apolipoprotein E (APOE) Subtypen
APOE2 und APOE4: Die APOE Isoformen
APOE2, APOE3 und APOE4 werden durch
die Kombination von zwei SNPs (rs429358
und rs7412) definiert. Wegen seiner Be-
teiligung am Cholesterintransport beein-
flusst ApoE den Lipidstoffwechsel und kann
zu oxidativem Stress führen sowie neuronale
Schädigung und Entzündungen hervor-
rufen. Das APOE2-Allel ist mit Langlebig-
keit assoziiert und kommt gehäuft in
Hundertjährigen vor (Ryu et al. 2016). Da-
gegen ist APOE4 mit einem erhöhten Risiko
für Morbus Alzheimer, Atherosklerose, er-
höhten Gesamtcholesterinwerten sowie
et al. 2015; Sebastiani et al. 2019). Diesem
genetischen Risiko kann durch körperliche
Aktivität entgegenwirkt werden, wobei
APOE4-Träger von sportlicher Aktivität
mehr profitieren als Personen, welche ein
anderes Allel besitzen (Jensen et al. 2019).
2.10 Epigenetische und
chromosomale Marker
2.10.1 Mikro-RNAs (miRNAs)
und Inc-RNAs
Die kurzen und nichtkodierenden miRNAs
regulieren bis zu 60 % aller menschlichen
Transkripte durch Unterdrückung der
Translation oder einen durch sequenzspezi-
fische Bindung ausgelösten Abbau von
mRNA, daneben greifen sie in viele bio-
 30 B. Weber et al.
logische Stoffwechselwege ein (Kinser und
Pincus 2019; Kozomara und Griffiths-Jones
2014). Eine Reihe von Studien hat die Be-
2 deutung von miRNA für verschiedene
altersbedingte Erkrankungen evaluiert, dar-
unter kardiovaskuläre (de Lucia et al. 2017;
Duan et al. 2018; Verjans et al. 2017), neuro-
degenerative (Leggio et al. 2017; Quinlan
et al. 2017; Wang et al. 2019) und Krebs-­
Erkrankungen (Peng und Croce 2016; Ru-
paimoole und Slack 2017). Zusätzlich haben
miRNA einen direkten Einfluss auf die
Lebensspanne (miR-17).
Labormedizinisch interessant sind in
verschiedenen Körperflüssigkeiten (Spei-
chel, Blut, Urin) zirkulierende miRNAs
(Kinser und Pincus 2019; Kumar et al. 2017;
Olivieri et al. 2017; Smith-Vikos und Slack
2012); sie können z. T. nichtinvasiv erhalten
werden. Da bislang keine altersabhängigen
miRNAs hinreichend intensiv untersucht
wurden, existiert momentan kein klarer
„Gold-Standard“ für die Altersbestimmung,
es gibt jedoch bereits erste Kandidaten mit
vielversprechenden analytischen Kenn-
daten. Mitglieder der miR-­ 134-­
Familie
(miR-127, miR-134, miR-370, miR-432)
und andere miRNAs werden durch Estra-
diol im Hypothalamus gehemmt. Bei Frauen
fällt der peak an miR-134 in die Altersklasse
von 46–55 Jahre, also in die Phase, in der Es-
tradiolspiegel ebenfalls abfallen. Wahr-
scheinlich modulieren Sexualhormone die
miRNA-Synthese und/oder -Sekretion
(Sheinerman et al. 2018).
Potenzielle Therapieansätze verwenden
zum einen synthetische Moleküle, die natür-
liche protektive miRNA-Speicher wieder
füllen sollen (miRNA mimics), zum anderen
miRNA-Inhibitoren gegen schädliche miR-
NAs. Klinische Studien hierzu laufen bereits
(Hepatitis C, Diabetes), verschiedenen
Krebsarten (Rupaimoole und Slack 2017),
sind aber weder in der Spätphase noch zu-
gelassen (Hanna et al. 2019).
2.10.2 Telomerlänge und
Telomeraseaktivität
Als Telomere bezeichnet man die aus re-
petitiver DNA und einem Proteinkomplex
bestehenden Enden der Chromosomen. Ihre
Länge ist bei der Geburt maximal und
nimmt mit dem Alter allmählich ab; somit
kann man die Telomerlänge als Biomarker
für das biologische Alter verwenden. Mit
jedem mitotischen Zyklus geht eine be-
stimmte Anzahl von Nukleotiden verloren,
die zur Verkürzung der Telomere und
schließlich zur zellulären Seneszenz oder
Apoptose führt (Zvereva et al. 2010). Nur in
Stamm- und Keimbahnzellen werden Telo-
mere mittels des Enzyms Telomerase auf-
rechterhalten bzw. erneuert (Pavlov et al.
2017). Es gibt genetische Prädispositionen;
so haben Träger des Risikoallels APOE4
kürzere Telomere und ein erhöhtes Risiko,
an Alzheimer zu erkranken (Wikgren et al.
2012).
Die Bedeutung der Telomerlänge für das
Altern kann von einer beschleunigten Ver-
kürzung in Zusammenhang mit oxidativem
Stress, Entzündungen und den daraus resul-
tierenden Erkrankungen abgeleitet werden.
Leukozyten-Telomere dienen als potenzielle
Marker für die kumulative Wirkung des Al-
terns und der Belastung durch oxidativen
Stress (von Zglinicki und Martin-Ruiz
2005). Ein erhöhtes Risiko für Malignome
ist ebenfalls mit Änderungen der Telomer-
länge und der Telomerase-­ Aktivität ver-
bunden (Zvereva et al. 2010).
Unklar ist weiterhin, ob die Verkürzung
der Telomere Ursache oder Folge des Al-
terns ist. Ersteres wird durch eine Studie ge-
stützt, bei der eine vorzeitige Alterung in
Telomerase-defizienten Mäusen rückgängig
gemacht werden konnte, wenn diese wieder
genetisch aktiviert wird (Lopez-Otin et al.
2013; Parks und Stone 2017). Durch das
Verlängern der Telomere eine höhere
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
Lebensspanne im Menschen zu erzielen ist
ein verlockender Ansatz, der jedoch in letz-
ter Konsequenz viele Risiken birgt. So haben
Krebszellen z. B. lange Telomere und eine
aktive Telomerase. Unter diesem Gesichts-
punkt sind auch kommerziell erhältliche
und in ihrer Wirkung bestätigte Telomerase-
aktivatoren in Astragalus-Extrakten (TA65,
Salvador et al. 2016) kritisch zu bewerten.
Im Gegensatz dazu vermindert ein gesunder
Lebens- und Ernährungsstil die Verkürzung
der Telomere und ist daher empfehlenswert
und unbedenklich. So verringern z. B. mehr-
fach ungesättigte Fettsäuren (darunter
Omega-3) und Vitamin D die Geschwindig-
keit, mit der sich Telomere verkürzen (Chen
et al. 2017; Richards et al. 2007; Cassidy
et al. 2010).
2.10.3 DNA-Hydroxymethylierung
Als wichtigste epigenetische Modifikation
reguliert die Methylierung der DNA-Base
Cytosin die gewebsspezifische Aktivität
einer Vielzahl von Genen. Die Entfernung
der Methylgruppe (Demethylierung) er-
fordert eine Reihe von Reaktionen, wobei
die Oxidation zu 5-Hydroxmethylcytosin
..      Abb. 2.4 Beispiel einer Hydroxymethylierungs-
analyse: Verwendet wurde isolierte Leukozyten-DNA,
die Bestimmung der relativen Anteile von
5-­
Methylcytosin und 5-Hydroxymethylcytosin er-
folgte massenspektrometrisch nach chromatischer
Auftrennung. Im vorliegenden Beispiel liegt die Hy-
31 2
den ersten Schritt darstellt (Wu und Zhang
2017). Obwohl zunächst nur als Zwischen-
schritt bei der Entfernung der Methylierung
verkannt, hat die Forschung der letzten
Jahre einen Zusammenhang zwischen dem
Grad der Hydroxymethylierung und dem
Altern entdeckt. Generell geht die globale
Hydroxymethylierung im Laufe des Lebens
um etwa ein Drittel zurück (Buscarlet et al.
2016). Zusätzlich bewirken altersbezogene
Krankheiten, u. a. Typ-II-Diabetes (Wu
et al. 2018), maligne Erkrankungen (Chow-
dhury et al. 2017; Gilat et al. 2017), geneti-
sche Defekte, die mit vorzeitigem Altern in
Verbindung stehen (Ciccarone et al. 2018),
sowie ein ungünstiger Lebenswandel
(z. B. Alkoholkonsum [Tammen et al. 2016],
hohe Blutfettwerte, Eisen- und Vitamin-
mangel [Camarena et al. 2017]) eine ver-
minderte Hydroxymethylierung. Ist diese
dagegen deutlich höher als typisch für eine
bestimmte Altersklasse, so ist das daraus re-
sultierende biologische Alter geringer als
das chronologische (. Abb. 2.4).
Dabei können das Telomer- und Hydro-
xymethylierungs-basierende biologische
Alter voneinander abweichen, da diesen je-
weils unterschiedliche physiologische Zu-
sammenhänge zugrundeliegen. Die Hydro-
droxymethylierung weit über den für das Patienten-
alter beobachteten normalen Werten. Da die
DNA-Hydroxymethylierung mit dem Alter sinkt, ist
das biologisches Alter des Patienten daher geringer als
das chronologische.
 32 B. Weber et al.

xymethylierung bildet den metabolischen 2.11 Methylierungsuhren

Zustand eines Patienten ab und dient als glo-
baler Anzeiger für Prozesse, die im direkten
2 Zusammenhang mit altersbezogenen Krank-
heiten stehen. Ein großer Vorteil der Hydro-
xymethylierung ist, dass solche Prozesse di-
rekt beeinflusst werden können, sei es durch
Änderung des Lebensstils (z. B. Alkoholver-
zicht, Fettreduktion) oder gezielte Be-
handlung (z. B. ­ Supplementierung, Be-
handlung eines Diabetes). . Tab. 2.1 zeigt
mögliche Interventions-­ Maßnahmen und
welche der oben genannten Stoffwechsel-
wege dadurch beeinflusst werden können.
Der Entwicklung epigenetischer Uhren liegt
die Theorie zugrunde, dass die Methylierung
ein permanenter Indikator für Prozesse ist,
die eine Rolle in Entwicklung, Reparatur und
Altern per se spielen. Die epigenetische
Methylierungsuhr verknüpft zielgerichtete
molekulare Prozesse mit nicht vor-
programmierten nachteiligen Folgen im spä-
teren Leben (antagonistische Pleiotropie)
(Horvath 2013). Bei den meisten Wirbeltieren
wird die Pyrimidinbase Cytosin (C) in der
DNA methyliert, vor allem wenn diese direkt

..      Tab. 2.1 Mögliche Interventions-­Maßnahmen, betroffene Stoffwechselwege sowie assoziierte

labormedizinische Untersuchungen

Einflussfaktoren Empfohlene Maßnahmen Empfohlene

labormedizinische
Untersuchungen

Eisenversorgung • Eisensupplementierung (8 mg/Tag Gesamtdosis zzgl. zur • Ferritin

Aufnahme durch die Nahrung)
• Reduktion einer Chelattherapie • Bei erhöhtem
Alkoholkonsum:
Leberwerte (GOT,
GPT, γGT)
• Verzicht auf Alkohol • Vitamin C
• Zur Mobilisierung intrazellulärer Reserven:
 • Vitamin C (90[m]/75[w] mg/Tag)
 • Koffein (max. 400 mg/Tag bei max. 200 mg Einzel-
dosis, abendliche Einnahme kann den Schlaf stören)
 • Forskolin wird aufgrund von toxikologischen
Unwägbarkeiten nicht empfohlen
2-Ketoglutarat • Supplementation: in einer Studie wurde eine Dosis von • Profil organische
(Kofaktor von 12 g AAKG (Arginin alpha-Ketoglutarat) pro Tag über Säuren im Urin
TET) einen Zeitraum von 8 Wochen ohne Nebenwirkungen
toleriert21,22
Blutzucker- • Bei Diabetes: • Blutzuckerwerte
spiegel
 • angepasste Ernährung zur Vermeidung hoher • HbA1c
Blutzuckerwerte
 • Strikte Einhaltung der Plans zur Insulinverabreichung • HOMA-index
 • Gabe von Metformin
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
33 2

..      Tab. 2.1 (Fortsetzung)

Einflussfaktoren Empfohlene Maßnahmen Empfohlene

labormedizinische
Untersuchungen

Fettstoffwechsel • Omega-3 – Index von ≥ 8: • Erythrozytäre

Fettsäuren (beinhaltet
u. a. Omega-3 Index
und Gehalt an
gesättigten Fett-
säuren)
 • Ausgewogene Ernährung: Regelmäßiger Verzehr von • Cholesterin- und
fettem Seefisch und Pflanzenölen Triglyceridwerte
 • Supplementation: ab 0,7 g/Tag EPA+DHA können • ApoE – Genotypi-
Nebenwirkungen auftreten, über 1,5 g/Tag werden nicht sierung
empfohlen23!
• Senkung der Cholesterin- und Triglyceridwerte:
 • Reduktion der Konsumierung von Alkohol, Frucht-
säften, Limonaden und Süßigkeiten
 • Reduktion der Konsumierung fetter Tierprodukte
(außer Seefisch) und gesättigter/gehärteter Pflanzenfette
 • Einhaltung des Normalgewichts
Polyzyklische • Vermeidung von: • Entgiftungs-
aromatische potential: DETOX-
Kohlenwasser- gen
stoffe
 • Offenem Feuer
 • Tabakkonsum
 • Aufenthalt in Gebieten mit starker Luftverschmutzung

neben einem Guanosin-Molekül (G-Mole- menschlichen Genoms enthält (Horvath

kül) liegt (CpG Dinukleotid). Die biologische
Alterung spiegelt sich als ­molekularer Finger-
abdruck im Methylierungsmuster wider. Eine
signifikante Auswirkung des Alters auf den
Grad der DNA-­ Methylierung ist seit den
1960er-Jahren bekannt, und viele Studien
haben seitdem diesen Zusammenhang be-
schrieben (Horvath et al. 2012; Rakyan et al.
2010; Teschendorff et al. 2010).
Das bekannteste Beispiel für eine epi-
genetische Uhr ist die Uhr von Steve Hor-
vath, die 353 epigenetische Marker des
2013, 2015). Andere Versionen sind die
C. Weidner-Uhren, basierend auf der Me-
thylierung von drei CpG-Dinukleotiden
(Weidner et al. 2014), die L. Florat-Uhren
(Florath et al. 2014) oder G. Hannums
komplexe Uhr (Hannum et al. 2013). Das
am meisten in Studien verwendete Material
ist DNA aus Speichel- oder Blutproben
(Bocklandt et al. 2011; Hannum et al. 2013),
die Ergebnisse sind für unterschiedliches
Material jedoch nicht unbedingt vergleich-
bar.
 34 B. Weber et al.
..      Abb. 2.5 Genauigkeit der Methylierungsuhr
(Mittelwert aller getesteten Gewebe): Chrono-
logisches Alter (y-Achse) versus DNAm age
(x-Achse) (Horvath 2013)
2
2.11.1 Methylierungsuhr nach
Horvath (Pan-Gewebeuhr)
Grundlage dieser Methylierungsuhr sind
Daten aus offen zugänglichen Daten wie der
Framingham-Studie, in denen das chrono-
logische Alter der Probanden zugänglich war
und Methylierungsmuster, welche auf einen
aus 450.000 bp bestehenden Methylierungs-
chip im Labor gewonnen werden konnten.
Die Zahl relevanter Marker wurde mittels
eines mathematischen Algorithmus auf ein
Minimum (gegenwärtig 353 Marker) redu-
ziert. Das Hauptinnovationsmerkmal der
epigenetischen Uhr von Horvath ist ihr brei-
tes Anwendungsspektrum. Sie ermöglicht es,
das Alter vorherzusagen, ohne dass gewebs-
spezifische Anpassungen erforderlich wären
(Horvath 2013). Dies ermöglicht, das bio-
logische Alter verschiedener Gewebe inner-
halb desselben Organismus zu vergleichen.
Zudem funktioniert Horvaths Uhr auch in
Schimpansen. Das biologische Alter ist in
embryonalen und induzierten Stammzellen
nahe Null, ansonsten korreliert es mit der
Anzahl der Zellgeneration. Während des
Heranwachsens „tickt“ die Uhr schneller, ab
etwa dem 20. Lebensjahr besteht ein linearer
Zusammenhang. Infolgedessen korrelieren
viele physiologische und mentale Indikatoren
des Alterns mit dieser Uhr (Marioni et al.
2015b). Der durchschnittliche Fehler bei der
Altersbestimmung beträgt 3,6 Jahre und hat
einen hohen Pearson-Korrelationsko-
effizienten mit dem chronologischen Alter
von 96 % (. Abb. 2.5).
Ein Schwachpunkt der Methode ist eine
geringe Präzision in Fibroblasten und damit
bei Zellen, die häufig in Zellkultur verwendet
werden, um den Einfluss von Molekülen auf
das Altern zu untersuchen. Für humane
Fibroblasten, Keratinozyten, bukkale Zellen,
Endothelzellen, lymphoblastoide Zellen,
Haut-, Blut- und Speichelproben wurde die
Uhr daher speziell modifiziert und unter-
sucht 391 CpGs (Horvath et al. 2018).
In einer weiteren Modifikation werden
phänotypische Marker verwendet. Im Ver-
gleich zum chronologischen Alter werden mit
diesem „PhenoAge“ unterschiedliche Lebens-
stile oder Krankheiten mitberücksichtigt.
Mit diesen werden 513 Methylierungsstellen
korreliert (DNAm PhenoAge). Die Innova-
tion liegt in der Vorhersagekraft für be-
stimmte Erkrankungen, z. B. koronare Herz-
krankheit (p = 2,43E-10), der Abnahme der
Wahrscheinlichkeit, krankheitsfrei zu sein
(p = 1.06E-7), Anzahl von koexistierenden
Morbiditäten (p = 4.6E-15) oder Zunahme
der körperlichen Funktionsstörungen
(p-2.1E-13). DNAm PhenoAge korreliert nur
zu 75 % mit dem chronologischen Alter, sagt
jedoch Sterblichkeit und Morbidität weitaus
besser voraus (Levine et al. 2018).
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
35 2
2.11.2 Methylierungsuhr nach Uhren. Zusätzlich konnte gezeigt werden,
Hannum dass sowohl der Verzicht auf Zigaretten als
auch der Verzehr von Omega-3-Präparaten
Die Autoren dieser Uhr haben ein Modell einen positiven Einfluss auf das durch die
zur Quantifizierung des Alterns unter Ver- „GrimAge-Uhr“ bestimmte Alter hatten
wendung von Messungen von mehr als (Lu et al. 2019).
450.000 CpG-Dinukleotiden aus Blutzellen
von Menschen im Alter von 19–101 Jahren
entwickelt. Computeralgorithmen identi- 2.11.3 Die Methylierungsuhren
fizierten 71 Positionen, nach denen das end- in Anti-Aging-
gültige Modell der Altersberechnung erstellt Anwendungen
wurde. Laut den Autoren hängt die epi-
genetische Alterungsrate vom Geschlecht Es ist unwahrscheinlich, dass die in
ab, Frauen sind ca. 1,5 Jahre jünger als Methylierungsuhren verwendeten CpG-
Männer (Hannum et al. 2013). Paare eine direkte Rolle im Alterungsprozess
Die ursprüngliche Arbeit demonstrierte spielen. Eher wird die Gesamtwirkung der
die Funktionalität des Modells für Blut- Systeme widergespiegelt, die für epi-
zellen und andere Gewebe, wobei spätere genetische Veränderungen des Körpers ver-
Veröffentlichungen jedoch die blutspezi- antwortlich sind (Horvath 2013). Welches
fische Anwendung betonten (Armstrong biologische Phänomen genau mit den Uhren
et al. 2017). Hinsichtlich der Genauigkeit gemessen wird, ist dabei unklar, dennoch
werden die epigenetischen Uhren von Hor- sagen sie recht zuverlässig die Gesamt-
vath und Hannum als äquivalent ansehen mortalität bei älteren Menschen voraus
(Jones et al. 2015; Zampieri et al. 2015); in (Chen et al. 2016a; Marioni et al. 2015a).
einer Studie an Hundertjährigen lieferte Das biologische Alter einzelner Gewebe
Hannums Methode sogar genauere Schät- scheint sich in einem veränderten Umfeld,
zungen anhand von Leukozyten-DNA-­ beispielsweise bei Allotransplantationen, zu
Methylierungsdaten (Armstrong et al. erhalten: Zwei Jahre nachdem Patienten mit
2017). akuter myeloischer Leukämie (AML) mit-
Lu und Horvath veröffentlichtem im tels Transplantation allogenische hemato-
Jahr 2019 eine weitere epigenetische Uhr, die poetische Stammzellen von signifikant jün-
als GrimAge bezeichnet wird. Sie kann das geren Spendern erhielten, entsprach das
Alter und den altersbezogenen Gesundheits- biologische Alter des Blutes im Empfänger
zustand vorhersagen. Es wurden, ähnlich dem des Spenders (laut Pan-Gewebeuhr).
wie für Phenoage zunächst CpGs identi- Möglicherweise erlaubt demnach der Ein-
fiziert, die mit einer Reihe von physio- satz von Stammzellen ein „Zurückdrehen“
logischen Parametern (Blutproteine/Rauch- der epigenetischen Uhr (Stolzel et al. 2017).
verhalten) zusammenhängen und nicht mit Letzteres zeigte ein Artikel von Singh et al.:
dem chronologischen Alter direkt (Lu et al. Die Autoren zeigten im Mausexperiment,
2019). dass mit Yamanaka-Faktoren (Oct4, Sox2,
Mithilfe dieser CpGs und einem Klf4 und c-Myc) induzierte pluripotente
Regressionsmodell wurde dann ein Zu- Stammzellen die Pan-Gewebeuhr in vitro
sammenhang zum Alter hergestellt, und das und in vitro komplett zurücksetzen konnte
daraus resultierende Modell ist in der Lage, (Singh und Newman 2018).
verschiedenste altersbezogene Aussagen Zudem scheinen die verschiedenen Ge-
(Zeit bis zum Tod, Zeit bis zu einer Er- webe auf verjüngende Maßnahmen unter-
krankung) genauer zu treffen als ältere schiedlich zu reagieren. Frauen, die eine
 36 B. Weber et al.
Hormonersatztherapie erhielten, wiesen
eine Verjüngung der Mundschleimzellen
laut Pan-Gewebeuhr auf; in Blutzellen war
2 dies nicht nachweisbar. Eine mögliche Er-
klärung besteht darin, dass Mundepithel-
zellen besonders reich an Östrogen-
rezeptoren sind, Blutzellen jedoch nicht
(Levine et al. 2016).
In einer Studie von 2017 wurden
Methylierungsdaten von 4173 postmeno-
pausalen Frauen aus der WHI-Studie sowie
402 Teilnehmern der CHIANTI-Studie
untersucht. Gemessen wurde der Einfluss
von Ernährung sowie sportliche Aktivität
auf eine leicht abgewandelte Hannum-Uhr
sowie auf die Pan-Gewebeuhr nach Hor-
vath. Erhöhte Werte an Insulin und Glu-
kose, CRP, BMI, Triglyceriden, systolischer
Bluthochdruck sowie eine Erniedrigung des
HDL-­ Cholesterins beschleunigten diese
Uhren, wenngleich nur schwach. Dagegen
hatten ein niedriger Konsum an Fisch, Obst
und Gemüse, ein moderater Alkoholkonsum
oder wenig Sport nur einen marginalen Ef-
fekt auf die Hannum Uhr und keinen auf
die Pan-Gewebeuhr (Quach et al. 2017). Ob-
wohl eine gesunde, ausgeglichene Ernährung
und sportliche Aktivität zweifelsohne
gesundheitsfördernd sind, kann man da-
durch das biologische Alter in Bezug auf die
untersuchten Methylierungsuhr nur gering-
fügig verändern. Dagegen konnte in ver-
schiedenen Mausstämmen gezeigt werden,
dass eine Kalorienrestriktion mit einem
Zurücksetzen der biologischen Uhr assozi-
iert war. Die Gabe von Rapamycin hatte in
dieser Publikation keinen statistisch signi-
fikanten Effekt (Thompson et al. 2018).
Die sehr gute Korrelation der
Methylierungsuhren mit dem chrono-
logischen Alter (r = 0,81) steht einer nur
schwachen Korrelation der mittleren
Telomerlänge (r = –0,27) mit diesem gegen-
über. In einer genomweiten Assoziations-
studie (GWAS), in der die Pan-­Gewebeuhr
als Endophänotyp für das Alter als Ver-
gleichsgröße ausgewählt wurde, wurde ein
SNP des TERT-Gens identifiziert. Dieses
Gen codiert für eine Komponente des Telo-
merasekomplexes. Neben diesem Marker
stellten sich auch andere Gene als relevant
heraus, die mit der Aufrechterhaltung der
Telomere in Zusammenhang stehen. Eine
darauffolgende Untersuchung der Telomer-
längen in den Proben führte jedoch zu para-
doxen Resultaten, da Genvarianten in
TERT, die mit einem jüngeren „Telomer-
alter“ assoziiert waren, zugleich mit einem
älteren „Methylierungsalter“ verbunden
waren (Lu et al. 2018). Während die Asso-
ziation unwiderlegbar ist, bleibt deren bio-
logische Interpretation unklar.
Interessanterweise altern Zellen in Kul-
tur, die mit hTERT immortalisiert waren
und folglich sehr lange Telomere aufwiesen,
laut Methylierungsuhr ungeachtet der lan-
gen Telomere weiter (Lowe et al. 2016). Auf-
grund der guten Aussagekraft von
Methylierungsuhren hinsichtlich Morbidi-
tät und altersbezogenen Krankheiten stellt
diese Beobachtung die Eignung der mittle-
ren Telomerlänge als Prädiktor des bio-
logischen Alters generell infrage.
Es gibt eine Vielzahl von epigenetischen
Uhren mit jeweils unterschiedlicher Eignung
bezüglich Aussagen zu biologischem Alter
und/oder Morbidität. Eine Anwendung die-
ser Uhren liegt in der Identifikation von
Substanzen, welche die biologische Alte-
rung verlangsamen können. Sie ersetzen
keine klinischen Standardparameter (Blut-
druck, Lipid-, Glukosespiegel usw.), son-
dern ergänzen diese und führen in Kombi-
nation zu sehr präzisen Aussagen. Bei
möglichen klinischen Anwendungen erlaubt
eine halbjährliche Altersbestimmung, zu
überprüfen, ob eine Behandlung oder ein
eingeleiteter Lebenswandel einen erfolg-
reichen Einfluss ausüben (Quach et al. 2017;
Wilson et al. 2017).
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
2.12 Ausblick
Die Forschung auf dem Gebiet der Geronto-
logie hat sich traditionell auf spätere Sta-
dien des Lebenszyklus konzentriert. Durch
die Anwendung von Methylierungsuhren
zeigt sich jedoch, dass die gesamte Ent-
wicklung eines Individuums einen Einfluss
auf die Rate des altersbedingten funktionel-
len Rückgangs und das Risiko für alters-
bedingte Krankheiten hat. Insbesondere un-
günstige Faktoren des modernen Lebensstils
(westliche Ernährung, Bewegungsmangel
usw.) können die biologische Uhr bereits im
jungen Alter schneller ticken lassen, wobei
sich die Folgen oft erst später als alters-
bedingte Krankheiten manifestieren (Hor-
vath 2013). Aus diesen Überlegungen er-
geben sich zwei wichtige Punkte für die
zukünftige Forschung und praktische An-
wendung. Erstens bieten die praktische An-
wendung und Weiterentwicklung der epi-
genetischen Uhren die Möglichkeit,
Personen zu identifizieren, bei denen ein Ri-
..      Tab. 2.2 Biomarker des Alterns und ihre Beziehung zum Altern
Kategorie des Biomarker
Biomarkers
Entzündung IL-6
CRP
NT-ProBNP
Monozyten
37 2
siko für die Entwicklung eines bestimmten
altersbedingten pathologischen Zustands
bereits im frühen Leben besteht – lange vor
der klinischen Manifestation der Krankheit.
Zweitens: Da Epimutationen im Gegensatz
zu genetischen Mutationen möglicherweise
reversibel sind, können sie durch spezifische
ernährungsbedingte und/oder pharmako-
logische Interventionen korrigiert werden.
Die Implementierung solcher auf Epi-
genome ausgerichteten Interventionen
würde es ermöglichen, die Lebensverlaufs-
dynamik des epigenetischen Alters zu beein-
flussen und die Geschwindigkeit der epi-
genetischen Uhr zu verlangsamen, um
alterungsbedingten Prozessen entgegenzu-
wirken. In Zukunft können die epi-
genetischen Marker über künstliche Intelli-
genz noch besser mit physiologischen
Parametern kombiniert werden, was die Be-
stimmung des biologischen Alters sowie das
Wissen um den Einfluss von Biomolekülen
und korrektive Lebensstiländerungen weiter
präzisiert (. Tab. 2.2 und 2.3).
Funktion in Verbindung mit dem
Altern
Entzündliches Zytokin, das den
Übergang von einer akuten zu einer
chronischen Entzündung charakteri-
siert
Mediator der systemischen
Entzündung im Zusammenhang mit
multiplen Markern von Krankheit
und Altern
Marker für Herzinsuffizienz in
Verbindung mit Herzgesundheit
und Mortalität
Entzündungsmarker für das
Herz-Kreislauf-System und die
Vorhersage des Herz-Kreislauf-­
Risikos
(Fortsetzung)
 38 B. Weber et al.

..      Tab. 2.2 (Fortsetzung)

Kategorie des Biomarker Funktion in Verbindung mit dem

2 Biomarkers Altern

Leukozyten Marker für Infektion und Ent-

zündung, aber auch für Alter,
insbesondere in Kombination mit
Neutrophilen
Blut RDW Marker für Blutkrankheiten wie
Anämie. Es ist stark mit der
Sterblichkeit verbunden
sTfR Indikator für Eisenstatus und der
Erythropoese
MCV MCV nimmt mit zunehmendem
Alter ab und wird durch einen
Anstieg der roten Blutkörperchen
ausgeglichen
Hb Signifikanter Beitrag zur Kranken-
hauseinweisung und altersbedingten
Sterblichkeit
Diabetes HbA1c Zuverlässiger Marker für Plasma-
glukose bei Diabetikern. Steigt mit
zunehmendem Alter auch bei
Nicht-Diabetikern an
sRAGE Erhöht die Lebenserwartung
erheblich und kann daher in der
Anti-Aging-Strategie (zur Ver-
ringerung von Entzündungen) und/
oder Alterungsmarker verwendet
werden.
Adiponektin Niedriggradiger Entzündungs-
marker (negative Korrelation)
IGF1 Seine Sekretion nimmt mit
zunehmendem Alter ab. Es
verbessert die Alterung durch
Modulation der Thermogenese.
Diese Daten stehen jedoch im
Widerspruch zum Vorhandensein
bestimmter Mutationen von IGF1,
die die Lebenserwartung der
Organismen verringern würden
Lipide Gesamt-Cholesterin Herz-Kreislauf-Marker. Nimmt mit
zunehmendem Alter tendenziell zu,
um sich bei Männern zwischen 50
und 60 Jahren und bei Frauen
zwischen 60 und 70 Jahren zu
stabilisieren.
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
39 2

..      Tab. 2.2 (Fortsetzung)

Kategorie des Biomarker Funktion in Verbindung mit dem

Biomarkers Altern

Endokrine Marker SHBG Transport von Sexualhormonen im

Blut. Ihre Raten steigen mit dem
Alter bei Männern, während die
Ergebnisse bei Frauen widersprüch-
lich sind.
DHEAS Steroidhormon, dient als Vorstufe
zu anderen Sexualhormonen. Der
Spiegel nimmt mit dem Alter ab
und die Abnahme korreliert mit ver-
schiedenen altersbedingten
Erkrankungen.
Nieren Albumin Proinflammatorische Zytokine
(IL-6 und TNF-α) fördern die
Hypoalbuminämie. Letztere ist
keine Ursache des Alterns, aber
altersbedingte Erkrankungen
verursachen bei älteren Menschen
eine Hypoalbuminämie.
Kreatinin Kein genauer Indikator für die
glomeruläre Filtrationsrate (GFR),
da die Serumkonzentrationen auch
den Gesamtstoffwechsel und die
Einnahme von Kreatinin wider-
spiegeln. Kreatinin ist jedoch mit
mehreren Alters- und Sterblichkeits-
indikatoren bei älteren Menschen
verbunden.
Cystatine C Inhibitor der Cysteinproteinase. Es
ist ein besserer Marker für de GFR
als Kreatinin, da es unabhängig von
Alter, Geschlecht und Muskelmasse
ist. Im Zusammenhang mit
verschiedenen altersbedingten
Erkrankungen (Herz-Kreislauf-­
Erkrankungen, Osteoporose).
Sonstige Marker BrainAge Ermöglicht die Abschätzung des
Gehirnalters bzw. Anfälligkeit des
Hirns für Krankheiten mittels
MRT-Scans. Der dazugehörige
Algorithmus wurde durch Einsatz
künstlicher Intelligenz und „Deep
learning“ entwickelt.

(Fortsetzung)
 40 B. Weber et al.

..      Tab. 2.2 (Fortsetzung)

Kategorie des Biomarker Funktion in Verbindung mit dem

2 Biomarkers Altern

Epigenetische miRNA Kurze RNA-Moleküle, die

Marker
Telomerlänge/Konzentration der
Telomerase
DNA-Hydroxy-Methylierung
Methylierungsuhren
regulatorische Funktionen haben.
Die Konzentration verschiedener
miRNAs verändert sich altersab-
hängig und erlaubt durch die
Kombination mehrerer miRNAs
eine genaue Altersbestimmung.
Die Länge der Telomere wird durch
Telomerase erhöht, und eine
Erniedrigung der Telomerase-­
Spiegel sowie der Telomerlänge sind
mit dem Altern verbunden.
Eine niedrige globale Hydroxymet-
hylierung ist mit hohem Alter,
Krebs, Diabetes, hohen Lipidwerten
und unvorteilhaftem Lebenswandel
verbunden.
Methylierungsuhren identifizieren
durch breit angelegte Studien
CpG-Stellen die besonders mit dem
Altern, oder altersspezifischen
physiologischen Markern assoziiert
sind. Sie können gewebespezifisch
sein und das biologische Alter in
Bezug auf unterschiedliche Faktoren
mit großer Genauigkeit bestimmen.
..      Tab. 2.3 Biomarker des Alterns, empfohlene Messintervalle, weiterführende Diagnostik und mögliche Interventionen (soweit bekannt)

Marker Messintervall bzw. Verlaufs- Weiterführende Diagnostik Mögliche Interventionen Literatur

kontrolle nach Intervention

IL-6 13 Wochen nach Intervention
CRP, hs-CRP 2 Wochen nach Intervention
NT-proBNP Wenige Wochen bei raschen
Gewichtsveränderungen,
ansonsten ca. 10–12 Monate
Monozytenzahl 2–3 Wochen nach Intervention
Weitere Entzündungsmarker
Weitere Entzündungsmarker,
Dysbiose, anti-LDL AK,
Kynurenin/Tryptophan-Ratio
Weitere Entzündungsmarker
Kardiovaskuläre Marker
Anti-IL-6-Therapeutika;
Anthocyane-haltige Ernährung
Rosuvastatin; ballaststoffreiche
Ernährung, wenig Fett; Sport
und Gewichtskontrolle
Mittelmeerdiät, Gewichts-
normalisierung
(Sido et al. 2017)
(Ridker et al. 2008); (Wegge
et al. 2004); (Rankin und
Turpyn 2007); (Wegge et al.
2004)
(Fito et al. 2014); (Fedele
et al. 2017)
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses

RDW 2–3 Wochen nach Intervention Serum-Ferritin; Hämoglobin Eisenreiche Ernährung,

Eisen-Supplementierung
sTfR 2–3 Wochen nach Intervention Serum-Ferritin; Hämoglobin Eisenreiche Ernährung,
Eisen-Supplementierung
Hämoglobin 3 Monate Blutbild (Anämie) Eisenreiche Ernährung,
Serum-Ferritin Eisen-Supplementierung
HbA1c 3 Monate Diabetes, Herz-Kreislaufstörung Kontrolle der Kohlenhydratauf-
nahme
sRAGE 12 Wochen nach Intervention Chronische Entzündungen, Kalorienreduzierte Diät, (Choi et al. 2012; Hagen et al.
Adipositas, Bluthochdruck, regelmäßiger Sport 2015)
Diabetes
41

(Fortsetzung)
2
 2
42

..      Tab. 2.3 (Fortsetzung)

Marker Messintervall bzw. Verlaufs- Weiterführende Diagnostik Mögliche Interventionen Literatur

kontrolle nach Intervention

Cholesterin Etwa alle 3 Monate Kardiovaskuläre Marker Ballaststoffreiche Ernährung, (Surampudi et al. 2016);
Obst und Gemüse, Kräuter und (Djousse et al. 2004); (Tapsell
B. Weber et al.

Gewürze. Vermeidung von et al. 2006); (Ulven et al.

gesättigten und trans-Fetten, 2016); (Schwingshackl und
oder Lebensmitteln mit hohem Hoffmann 2013); (Te
Zuckeranteil Morenga et al. 2014)
SHBG Insulinspiegel, Diabetes Gewichtskontrolle
DHEAS Osteoporose, Herz-Kreislauf-­ DHEAS-Präparate
Erkrankungen
Albumin Mangelernährung, IL-6; TNF-α
Kreatinin Nierenfunktionsstörung; GFR;
Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Telomere 6–12 Monate Oxidativer Stress, Ent- Omega-3-Fettsäuren und
zündungen, Vitamin D-Supplementierung
Erythrozytäres Fettsäureprofil, bzw. Nahrungsumstellung
Vitamin D Status Astralgus-Extrakt?
Hydroxymethylie- 6–12 Monate Blutzucker, Blutfettwerte, Eisen, Alkoholverzicht, Eisensupple- (Tammen et al. 2016);
rung Vitamin C Status, maligne mentation, Vitamin C, (Camarena et al. 2017); (Wu
Erkrankungen Omega-3-Fettsäuren, ver- et al. 2018)
ringerter Konsum von Zucker
Hannum-Uhr 6–12 Monate Insulin, Glukose, CRP, Kalorienrestriktion
Triglyceride, HDL
Pan-Gewebeuhr 6–12 Monate
GrimAge 6–12 Monate Omega-3-Fettsäuren-­
Supplementation, Verzicht auf
Zigaretten
Altern messen – Biomarker des Alterungsprozesses
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Ernährungsmedizin als
Präventionsmaßnahme
Thomas M. Platzer

Inhaltsverzeichnis

3.1 Einleitung – 51

3.2 Prämissen – 51

3.3  räventionsmedizin unter dem Aspekt

P
der Ernährung – 52
3.3.1  ntergewicht – 52
U
3.3.2 Endokrinologische Komponenten des Untergewichts – 53

3.4 Übergewicht und Adipositas – 53

3.4.1 E ndokrinologische Komponenten des Übergewichts – 53
3.4.2 Insulinotropie – 54
3.4.3 Chrononutrition – 55

3.5 Nährstoffe – 56
3.5.1  ohlenhydrate und Zucker – 56
K
3.5.2 Salz – 56

3.6 Ernährungsmedizinische Strategien – 56

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_3
3.7 Grundlagen sinnvoller Ernährung – 57
3.7.1  akronährstoffe – 57
M
3.7.2 Gemüse – 59
3.7.3 Mediterrane Kost – 60
3.7.4 Obst – 60
3.7.5 Ballaststoffe – 61
3.7.6 Flüssigkeiten, Trinkmenge – 61
3.7.7 Proteine – 61
3.7.8 Fette und Öle – 63
3.7.9 Cholesterine, Triglyzeride – 63
3.7.10 Mikronährstoffe – 64
3.7.11 Vorkommen von Vitaminen, Mikronährstoffen – Sinn von
Supplementen – 64

3.8 Ernährung als Anti-Aging-Strategie – 68

Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
3.1 Einleitung
Die ersten zwei Jahrzehnte des neuen Jahr-
tausends wurden geprägt durch unterschied-
liche Strömungen im Hinblick auf die Er-
nährungsmedizin. Auf vielfältige Weise wurde
Ludwig Feuerbachs Zitat „Du bist, was du
isst“ herausgefordert. Wie schon immer in der
klar dokumentierten Geschichte der Mensch-
heit spielte die Resilienz beim Altwerden eine
entscheidende Rolle. Dies sah man auch bei
den Glücklicheren der Groß-
eltern-Generation, die zwei Weltkriege in
Europa miterlebten. Aus Gesprächen mit
unseren Ahnen wissen wir, dass die Kalo-
rien-Restriktion (CR, für calory restriction)
beim Altwerden eine nachweisliche Rolle
spielt. Befragt nach dem Grund für hohes
Alter, kamen neben harter Arbeit viel Be-
wegung an der frischen Luft, Nikotin-
abstinenz, geringer bis maximal moderater
Alkoholgenuss, positives Denken, gepaart mit
gutem Humor, und „gesunde Ernährung“
zum Tragen.
Das Wirtschaftswunder in der Zeit nach
dem Zweiten Weltkrieg konnte zwei wichtige
Faktoren kombinieren: Fortschritt in der
Medizin und Fortschritte in der Nahrungs-
mittelversorgung. In den 45 Jahren des aus-
gehenden letzten Jahrhunderts war Hunger
plötzlich kein Thema und kein Hinderungs-
grund mehr für gesundes Altern. Viele Äl-
tere kennen aus der eigenen Erfahrung
noch das Gefühl echten Hungers. Die Er-
nährungsmedizin heute findet ganz anders
gelagerte Herausforderungen.
Überfluss, billige Verfügbarkeit energie-
dichter Nährstoffe, gepaart mit maxima-
ler Gewinnoptimierung einiger weniger
„Food-Multies“, Klimairritationen, ge-
steigerte CO2-Emissionen, Dürreperioden
mit der Folge der Auslaugung der Böden
und kommerzieller Ackerbau reduzieren die
wichtige Mikronährstoff-Versorgung.
51 3
„Gesunde Ernährung“ als machbares
und verfügbares wichtiges Agens des „Anti-­
Aging“ für alle verdient eine aktuelle Stand-
ortbestimmung.
3.2 Prämissen
Die Ernährungsmedizin kennt ver-
schiedene Bilder der Dysregulation. Unter-
gewicht spielt (noch) in Industrieländern
der westlichen Hemisphäre einschließlich
der modernen BRIC-Staaten tatsächlich
eine wesentliche Rolle, oft im Kontext mit
medialen Vorgaben. Hormonelle Eingriffe
in die Natur tragen seit dem Ende der
60er-Jahre in der Antikonzeption einen
bedeutsamen Faktor bei. Durch „die
Pille“ wird eine physiologische Insulin-
resistenz unwissend stark gefördert und
die Prädisposition für Übergewicht ge-
schaffen.
Das Metabolische Syndrom im Ein-
klang mit dem „Prädiabetes“, zumeist zehn
Jahre vor dem echten Diabetes mellitus
Typ II, stellt in der heutigen Zeit das häu-
figere Gesundheitsproblem dar. Der Dia-
betes mellitus Typ II (DM II) wird nach
wie vor als Einbahnstraße missverstanden.
Der sogenannte Altersdiabetes rückt auf
der Alters-­Koordinate immer näher an das
Jugendalter.
DM II als Entität ist reversibel. Er stellt
den Einstieg in das Metabolische Syndrom
dar und kann über die Ernährungsmedizin
als Präventionsmaßnahme alleine bereits
angegangen werden.
Über einfache klinische Details ist das
„tödliche Quartett“ bereits seit Jahren er-
mittelbar, wobei der Bauchumfang plus zwei
weitere Diagnosen immer noch als maßgeb-
lich gelten.
Kriterien der Diagnose „Metabolisches
Syndrom“:
 52 T. M. Platzer

Definition
Bauchumfang (BU) gem. WHO: Mann <102 cm, Frau <88 cm.
Neuere Erkenntnisse: WHtR (waist to height ratio = BU <Körpergröße in cm).
HDL-Cholesterin Mann nicht <40 mg/dl, Frau nicht <50 mg/dl.
Triglyzeride Mann nicht >150 mg/dl, Frau nicht >150 mg/dl.
Nüchternblutglukose bei beiden Geschlechtern nicht >110 mg/dl.
3 Blutdruck bei beiden Geschlechtern nicht >130/85 mmHg.

Bislang spielt, ungeachtet diverser Dis-

kussionen, der sogenannte Body-Mass-­
Index eine wesentliche Rolle. Der BMI solle
bei Mann und Frau nicht über 25 kg/m2 er-
rechnet werden, aus Körpergewicht in Kilo-
gramm pro Quadratmeter aktueller Körper-
größe. Gefordert wird gar eine Anhebung
der akzeptablen Werte.
Betrachtet man den modernen HOMA-­
IR-­Index (für Insulinresistenz) als wesent-
lichen Parameter für das oftmalige Erst-
symptom des „diabolischen Quartetts“, so
ergibt sich als Voraussetzung für das Verständ-
nis zweierlei: die Unbekanntheit dieses Indexes
und die Nichtermittlung des HOMA-IR-Inde-
xes wegen der Nichterstattung durch die Ver-
sicherungen bei dann fehlender Analyse des
Laborparameters „Nüchtern-Insulin“ des
noch vermeintlich Stoffwechselgesunden ver-
3.3 Präventionsmedizin unter
hindert eine frühzeitige Diagnose von bereits
existenten Stoffwechselentgleisungen.
55 Aktuelle Erkenntnisse zu den Strate-
gien der Gewichtsreduktion
55 Fakten aus dem Zuckerstoffwechsel,
dass „Kalorien“ nicht alle gleich sind
55 Der Einfluss von Mikronährstoffen
für die zentrale Gesundheit und somit
auch wichtige Weichen des Stoff-
wechsels (­einschließlich der Omega-3-­
Fettsäuren DHA/EPA sowie des Hor-
mons Vitamin D3)
55 Das Mikrobiom als wesentlichem
Stellfaktor für den Stoffwechsel
55 Genetik vor dem Hintergrund „Zu-
kunft braucht Herkunft“
dem Aspekt der Ernährung

Übersicht
Es postulieren sich wichtige Erkenntnisse
als ernährungsmedizinische Prävention:
55 Der „Insulin-Score“ getreu einer aus-
tralische Studie aus 1997 in Bezug auf
unsere tägliche Ernährung
55 Der routinierte Umgang mit dem Be-
griff „Insulinotropie“
55 Das Wissen um den neueren
Forschungszweig der Chronomedizin
(„jedes Ding hat seine Zeit“)
55 Damit die Energiehomöosthase vor
dem Hintergrund der zirkadianen
Rhythmik vor dem Hintergrund des
metabolischen Syndroms
3.3.1 Untergewicht
In einer Welt des Überflusses klingt das
Drama Untergewicht für viele banal. Die
Betroffenen leiden indes. Oftmals werden
Esstörungen aus diesem Formenkreis mit
psychischen Grunderkrankungen korre-
liert. Als Leitmotiv kommen u. a. moderne
Lebenssituationen in den Fokus. „Patch-
work-Familien“, Vorgaben aus den „Social
Media“, Modetrends. Kulinarische Absti-
nenz und provozierte Emesis sind die
­Folgen.
Strukturabbau, Stagnation der Ge-
wichtszunahme, des Muskelaufbaus kom-
men ­allerdings auch aus weiteren Gründen
vor.
Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
3.3.2 Endokrinologische
Komponenten des
Untergewichts
Untergewicht und ein nicht adäquater
Muskelaufbau stellen oft vor ein Problem.
Chronobiologische Ansätze liefern im
endokrinen Sinne eine hilfreiche Stütze.
Keine Zelle des Körpers muss 24 Stunden
an sieben Tagen die Woche zu jeder Zeit
einwandfrei funktionieren. Die Evolution
hat hier vorgesorgt. In jedem messbaren
Zeitraum schalten sich biochemische Vor-
gänge ein und aus. Die Evolution definierte
Überleben auf einfache Weise. Licht und
Dunkel takten das Dasein. Bedarf und
Nichtbedarf koordinieren die Funktionali-
tät. Zufuhr und Entbehrung von Kraft-
stoffen bestimmen die individuelle
Momentan-Physiologie.
Das heute in unserer Hemisphäre seltene,
nicht psychogen ausgelöste Untergewicht
kann mit endokrinologischen Fehl-
funktionen im Zusammenhang stehen. An
übergeordneter Stelle steht hier die Schild-
drüse.
3.3.2.1 Schilddrüse
Probleme der glandula thyreoidea entstehen
zumeist auf kofaktoriellen Grundlagen.
Hormonelle Schwankungen und Engpässe
bei der Mikronährstoffversorgung scheinen
vordergründig. Auch für das Untergewicht
sind sie maßgeblich.
Übersicht
Im Labor stellen sich folgende Schild-
drüsenmarker als empfehlenswert dar:
TSH, fT3, fT4, Anti-TPO, Anti-­
TSHR, Anti-TG.
Nüchtern: Glukose und Insulin (Be-
rechnung HOMA-IR-Index).
Selen und Zink (auch hämatokrit-­
korreliert); 1,25-Vitamin D3, 25-OH-­
Vitamin D3, Quotient hieraus. HS-­
Omega-­3-­Index.
53 3
Thyreoidale Dysfunktionen müssen bei
Untergewicht unter fortlaufender Labor-
wertanalyse „euthyreot“ eingestellt werden.
3.3.2.2 Stoffwechsel
Stoffwechselanomalien
Zonulin („leaky-gut-syndrom“), DAO
(Histaminintoleranz), Transglutaminase-­
IgG/IgA, Gliadin IGA/IgG (Zöliakie/
Glutenunverträglichkeit), Fruktose- und
Laktose-Unverträglichkeiten. Adiponec-
tin kann als endokrinologischer Marker
einen Verlaufsparameter darstellen.
Kontrolliert darf der HOMA-IR Index
durch Aufbaukost mit höherer Insulino-
tropie auch regelmäßig Werte von 2,0 bis
2,5 erreichen. Für Adiponectin sind Ana-
lysen im unteren Grenzbereich zwischen
8,0 und 14,0 μg/ml in diesem Fall
wünschenswert.
Ziel im Aufbau in Struktur und Masse
besteht hier im myozytären Anabolismus bei
guter Hydratation ohne übersteigerte
Hypertrophie der konstitutionellen und in-
dividuellen Adipozyten.
3.4 Übergewicht und Adipositas
Eine zentrale Rolle spielen Übergewicht und
Adipositas. Sie sind in ihrem Entstehen
sichtbare Hinweise des eingeschlagenen
Weges in das Metabolische Syndrom. Man-
gelnde Bewegung wird fälschlich als Haupt-
grund vorgeschoben.
3.4.1 Endokrinologische
Komponenten des
Übergewichts
Hervorzuheben sind zwei Formen des Über-
gewichts: das abdominelle (viszerale) Über-
gewicht, welches über die WHtR objektivier-
 54 T. M. Platzer
bar ist. In Bezug auf KHK ist es das
gefährlichere. Bei jungen Frauen häufiger ist
das femoro-gluteale Übergewicht.
Sie sind endokrin gesteuert, womit sich
auch eine individuelle genetische Kompo-
nente ergibt. Viszerale Adipozyten stellen
3 überdies ein eigenständiges hormonell akti-
ves Organ dar.
Wesentlich ist die Insulinresistenz.
Physiologisch ist sie als Überlebensprinzip
geprägt. Einstmals rare, schnell verfügbare
Glukosebausteine sollten rasch in Geweben
zur Verfügung stehen, wo Energiebereit-
stellung wichtig ist (Erythrozyten, Auge, Re-
produktionsorgane, ZNS und PNS). Wegen
ihrer ursprünglich selteneren Verfügbarkeit
sollten sie zudem eine energetische Ab-
sicherung des Überlebens bilden, und zwar
durch die Einspeicherung in die Fettzellen.
Schon in der ersten Lebensphase spielt die
Insulinresistenz bei Säugetieren eine wich-
tige Rolle, weil ein klein geborener Organis-
mus rasch energetische Eigenständigkeit
aufbauen muss.
Physiologisch sinnvoll war die IR beim
Mädchen in der Pubertät. In dieser Lebens-
phase bereitet sich der Körper auf die dritte
physiologische IR vor, die der Schwanger-
schaft.
3.4.1.1 Genderhormone
Die männlichen und weiblichen Haupt-
hormone bedingen in Pubertät, Schwanger-
schaft und Adoleszenz auch die IR. Die
Voraussetzung liegen hier in der Er-
nährung und der Makronährstoffzufuhr.
Heute grenzenlose Verfügbarkeit energie-
dichter Lebensmittel und der Makronähr-
stoffen-Kombinationen konstituieren mit
der Hyperinsulinämie den einstmals als
Überlebensvorteil geltenden Aufbau des
Speicherfettgewebes. Einmal angelegte Fett-
zellen tendieren stets und lebenslang zu ihrer
Vergrößerung.
3.4.2 Insulinotropie
Defekte im Zuckerstoffwechsel werden über
die erhöhte Nüchtern-Blutglukose auf-
gedeckt.
Selten in der Routine wird das Nüchtern-­
Insulin ermittelt und aus beiden Parametern
der HOMA-IR-Index berechnet.
Ernährungsmedizinisch ist dies ein wich-
tiger Präventionsmarker. Frühzeitig diag-
nostizierter Prädiabetes lässt Folgekrank-
heiten durch ernährungsmedizinische
Maßnahmen noch einfach revidieren.
Regelmäßig hohe Insulinwerte fördern
die pathologische Insulinresistenz und Bah-
nen den Weg in das metabolische Syndrom,
auch über „silent inflammations“, da Insu-
lin auch pro-inflammatorisch wirkt.
„Insulintropie“ verschiedener Makro-
nährstoffkombinationen ist seit dem Ende
der 1960er-Jahre bekannt, das Wissen findet
in der Praxis auch heute kaum Eingang.
Knapp gesagt, zeigt sich (ähnlich dem
OGTT) bereits beim Stoffwechselgesunden,
dass eine definierte Menge an Glukose eine
entsprechende Insulin-Reaktion im Blut
nach sich zieht.
Setzt man bei der Ernährung gezielt und
vermehrt auf resistente Stärke als auf ein-
fach aufzuschließende Zucker, bleibt die In-
sulin-Kurve verzögert und flach.
In Kombination mit Fetten/Ölen steigt
der Glukosespiegel im Blut verlangsamt an.
Dabei zeigt sich auch ein verzögerter und
flacherer Insulin-Kurvenverlauf, niedriger
„insulinotrop“. Aus kalorischer Sicht wird
mehr Energie zugeführt, es entsteht aber
auch ein höherer Sättigungskoeffizient.
Kohlenhydrate (KH) und Proteine ge-
meinsam fordern eine deutlich höhere
Insulinausschüttung, ungleich höher als bei
Einzelgabe der KH und Eiweiße. Eine im
Vergleich deutlich niedrigere Insulinaus-
schüttung im Bezug auf Glukose, oder ge-
Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
meinsam Glukose und Fett, ergibt sich
durch die alleinige Zufuhr von Proteinen.
Dies ist der endokrine Weg der geringsten
Insulinotropie.
3.4.3 Chrononutrition
Das relativ neue Feld der Chronobiologie
und der Chronomedizin beleuchtet auch Er-
kenntnisse der Ernährungsmedizin. Die
Chrononutrition. Eng verknüpft ist die Hi-
bernation einiger Spezies.
Wird eine identische Speise (in Zu-
sammensetzung und Kalorienmenge) zu
einem chronobiologisch nicht opportunen
Zeitpunkt verzehrt (Kontrast Tag/Nacht),
stellt sich schon sehr rasch ein unphysio-
logischer Gewichtszuwachs im Speicherfett
dar. Ähnlich der Rhythmizität (z. B. zirka-
dian, infradian, ultradian) aller Hormone,
zellulärer Funktionsmechanismen unter-
steht die physiologische IR auch tages-
zeitlichen Schwankungen. Unterschied-
liche Chronotypen (Früh-, Spätmenschen,
Mischtypen) reagieren zu diversen Tages-
zeiten. LAN-­Exposition (LAN = light at
night), damit eine reduzierte Melatonin-
produktion, wirkt sich ebenso auf die Ver-
wertung der aufgenommenen Nahrung
aus.
3.4.3.1 Tag/Nacht, Licht/Dunkel
Wahrnehmung der Schwankungen zwischen
Zenit und Nadir der Tagesaußentemperatur
sind evolutionäre Taktgeber mit Einfluss
auf unser Essverhalten, die Mengenbe-
grenzung, das Gefühl von Hunger und Sätti-
gung. Sie begrenzen im Tagesverlauf auch
den optimalen Zeitpunkt der Nahrungsauf-
nahme. Diese sollte maximal aus drei Mahl-
zeiten pro Tag bestehen. Zwischenmahl-
zeiten sind ernährungsphysiologisch nicht
mehr zeitgemäß. Unsere Zeitgeber-Gene
55 3
werden durch jede zusätzliche Nahrungs-
aufnahme gestört.
Die Nichtbefolgung des Tag-Nacht-­
Rhythmus und Unterbrechung der
Energiehomöosthase, der Einfluss von
Lichtimpulsen auf den Nucleus supra-
chiasmaticus beeinflussen die Melatonin-­
Synthese negativ. Andererseits wird
über Tyrosinkinasease-Rezeptoren der
Phosphoinositol-­3-Kinase/Akt-Signalweg
aktiviert. Das cAMP-Response-Element-­
Binding-Protein steuert gemeinsam mit
Glucogensynthase-Kinase 3-beta das „Aus-
lesen“ diverser Clock-genes. Die Folge des
falschen Timings bei der Nahrungsauf-
nahme sind verschiedentliche biologische
Störungen (Synthese von Proteinen und
Hormonen, Fett-Zucker Stoffwechsel, Re-
generation), vorzeitiger Alterungsprozess,
gesteigerte Wahrscheinlichkeit von Neopla-
sien. Auf Ebene der Mitochondrien kommt
es über Blockierungsprozesse infolge eines
Überangebots von ATP paradoxerweise zu
einem NADH-Mangel. Letztere führt zum
sogenannten „Carb-Craving“, also zu einer
unstillbaren Lust auf Kohlenhydrate zu
jedem Zeitpunkt des Tages, wie wir das auch
vom Serotonin-Mangel her kennen.
In den meisten Studien scheint der Vor-
zug des Frühstücks im Vergleich zur
Wichtigkeit des Abendessens gesichert.
Auch zeigen viele wissenschaftliche Arbei-
ten in ihrer Mehrzahl, dass zugeführte Ka-
lorien aus Nahrungsmitteln (Makronähr-
stoffe) nicht unbedingt miteinander
vergleichbar sind. Wesentlich ist die niedrige
Insulinotropie der Mahlzeiten, insbesondere
abends. Diese beeinflusst Schwankungen
des eng umrissenen Zuckerspiegels in der
Nacht und fördert einen guten und erhol-
samen Schlaf. Bewegung und körperliche
Ertüchtigung ergänzen die Ernährung, soll-
ten aber nicht zu später Stunde intensiv ver-
folgt werden.
 56 T. M. Platzer
3.5 Nährstoffe
3.5.1 Kohlenhydrate und Zucker
„Zucker“ spielte in der Evolution stets
3 eine herausragende Rolle als leicht zu ver-
dauender Energieträger für überlebens-
wichtige Organe und Zellarten. Die teilweise
hart verteidigte Linie, er sei kein Dickmacher
und deswegen auch kein Risikofaktor für
Zivilisationskrankheiten, ist falsch. Eine es-
senzielle Steuerung der nahrungsabhängigen
Insulinausschüttung erfolgt im proximalen
Duodenum über das glukoseabhängige In-
sulinotrope Peptid (GIP). Je resistenter die
Stärke, also auch je höher der Ballaststoff-
anteil, desto später erfolgt die Resorption
im Verdauungstrakt. Eine geringere Aus-
schüttung von GIP wird ersetzt von GLP-1
(Glucagonlike Peptide).
Der Stoffwechselweg der Fruktose
hält den Insulinspiegel niedrig. Metabo-
lisiert wird sie in der Leber und ist damit
durch die heutige enorme Zufuhr vieler
Menschen von HFCS (high frucose corn
syrup) in kommerzialisierten Lebensmitteln
(insbesondere Getränke) ein Grund für
die nicht-alkoholische Leberverfettung
(NAFLD).
Auf dem übersteigerten Weg der he-
patischen Fruktose-Toxizität gelangt man
zur steatosis hepatis. Eine verfettete Leber
baut in verringertem Maße zirkulierendes
Insulin aufgrund des nahrungsgetriggerten
GIP-Reizes ab. Es entwickelt sich die
Insulinresistenz. Im Vergleich zu komple-
xen Kohlenhydraten kann auch eine iso-
kalorische Kost mit nur etwa 25 % der Ka-
lorien aus Fruktose bereits diese Effekte
erreichen.
3.5.2 Salz
Salz steigere den Blutdruck und sei den
Bluthochdruck verantwortlich. Bei grober
Betrachtung stimmt das.
Keine der Studien, die auf den linearen
Zusammenhang zwischen hohem Salz-
konsum und Hypertonus hinweisen, hat die
Insulinotropie der gesalzenen Speisen mit-
berücksichtigt. Natriumchlorid ist ein lebens-
wichtiges Mineral. Salz ist für das einwandfrei
funktionieren unsere Zellen verantwortlich.
In Urzeiten war das ebenso wie Natrium posi-
tiv geladene Kalium gegenwärtiger. Steinobst
ist eine hervorragende Kaliumquelle.
Die Nieren sind die Hüter des Salzhaus-
haltes. Stoffe, die selten sind, werden bevor-
zugt bevorratet. Zucker, Cholesterin, Was-
ser und Salz zählen dazu. Auch hier hilft
Insulin durch Insulinrezeptoren an den dis-
talen Nierentubili. Salz wird renal gesteuert
zurückbehalten, ebenso wie Wasser. Über
die Kapillargefäße wird nach dem Volumen-
hochdruck das nunmehr überschüssige
Wasser als Ödem in das Gewebe gespeichert.
Erst in der Kombination mit hohen Insulin-
spiegeln macht Salz über diesen Weg den
systemisch chronischen Bluthochdruck.
Insulin fördert zudem die Ausschüttung
von zentral wie peripher wirkendem Adre-
nalin, welches wiederum für eine erhöhte
Herzfrequenz sorgt. Schmackhaft zu salzen
macht nur bei niedrigen Insulinspiegeln
Sinn. Das gelingt bei Gemüse, aber auch
Fleisch, Fisch, Eiern, sofern die Kombina-
tion aus Eiweiß und Kohlenhydrate wegen
deren Insulinotropie gemieden wird.
3.6 Ernährungsmedizinische
Strategien
Die Erreichbarkeit eines hohen Alters ist
eine Aussicht für immer mehr Menschen.
Zeitgleich leiden insbesondere Ältere an
chronisch-degenerativen Erkrankungen, was
den Genuss des letzten Lebensabschnitts
schmälert. Ein gesundes, unabhängiges
Leben wird von immer mehr hinzu-
kommenden Außenfaktoren bedingt.
Wie also sollte die gesunde Ernährung
aussehen? Unstrittig ist sie eine der tragen-
Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
den Säulen des vitalen Alterns. Machbar-
keiten und moderne wissenschaftliche Er-
kenntnisse müssen sich auch plausibel in
den Alltag eingliedern können.
Diäten sind wie Urlaub, selten für immer.
Ernährungsmedizinische Strategien können
sich am aktuellen Wissensstand orientieren.
Die eingangs erwähnte Kalorienrestriktion
beruht unter anderem auf der Aktivierung
der Sirtuine. Die Voraussetzung für das Wir-
ken dieses Enzyms ist der Kalorienmangel.
Also Hungerstress.
Metabolisch vorteilhaft ist die konse-
quente Verfolgung niedrig-insuliontroper Er-
nährung, wie dies auch über das lange schon
angeratene „Dinner-Cancelling“ oder „inter-
mittierendes Fasten“ erreicht werden kann.
Grundsätzlich gilt die Erkenntnis: Eine
30-prozentige Kalorienrestriktion kann die
Lebenserwartung um 30 % verlängern.
3.7 Grundlagen sinnvoller
Ernährung
Sinnvolle Ernährung setzt sich bekannter-
maßen aus den großen Gruppen der Makro-
nährstoffe Kohlenhydrate, Ballaststoffe,
Proteinen und Fetten zusammen. Über
die prozentuale Zusammensetzung der
Nahrungszufuhr wird nach wie vor heftig
diskutiert. Der Begriff „Lebensführung“
prägte durch das altgriechische Wort Δισίτα
(Diaita) die Art und Weise, wie man sich
zu ernähren hat. Religiös bedingte Diä-
ten fußten in der Verbesserung der Über-
lebenschancen einer Volksgruppe angesichts
mikrobieller Gesundheitsbedrohungen.
Noch in der vorgelagerten Eiszeit gab es
bezüglich der Ernährung keine Restrik-
tionen. Die Vorackerbauzeit war geprägt
davon, das zu essen, was man fand und was
man mit zunehmend verbesserten Techni-
ken jagen konnte. Jäger und Sammler hatten
überdies einen enorm hohen Energiever-
brauch zu decken. Vor 10.000 Jahren wurde
der Mensch durch den Ackerbau sesshaft.
57 3
Erste gesundheitliche Probleme (mit der
ursprünglich überlebenswichtigen Insulin-
resistenz) kamen auf. Die meisten auf-
gekommenen Religionen pflegen daher be-
reits eine Fastenphase.
Die zunehmende Prozessierung der
Lebensmittel schuf einen neuen Markt: Diä-
ten, für die man bezahlt. Waren das anfangs
noch Bücher, wurden es Zeitschriften oder
Stoffwechselprogramme. Eines fällt man-
chen Menschen leichter als anderen: Diszi-
plin, Ausdauer und kluge Einsicht.
3.7.1 Makronährstoffe
3.7.1.1 Kohlenhydrate, Stärke
Wenig verarbeitete Lebensmittel mit natür-
lich eingeschlossener Stärke in unzerstörten
Pflanzenzellwänden und hohem Ballast-
stoffanteil prägten die Kohlenhydrat-
nahrung unserer Vorfahren in der Zeit vor
dem Ackerbau. So wuchs die Evolutionsbio-
logie des Menschen.
Kohlenhydrate (KH) setzen sich, wie Ei-
weiße, aus Kohlenstoff, Wasserstoff und
Sauerstoff zusammen. Gemeinsam ist ihnen
ein Brennwert von 4,1 kcal/g.
Der menschliche Organismus geht natur-
geprägt maßvoll mit diesem Kraftstoff um
und bevorzugt ihn in wichtigen Geweben.
Stammten in Urzeiten die KH vorwiegend
aus Wurzeln, Samen und raren Früchten, so
handelte es sich dabei meist um „komplexe
Stärke“. Nicht alles konnte durch Kauen al-
leine aufgeschlossen werden, entsprechend
verzögert fand im Verdauungstrakt die
Glukosefreisetzung statt. Verlangsamt also
der Anstieg der Glykämie und in der Folge
auch eine verlangsamte, flache Insulinkurve.
>>Bei den Jägern und Sammlern fand in
der Vorgeschichte bereits eine genetische
Selektion statt. Die Fähigkeit des sich be-
wegenden Muskels, Glukose sehr schnell
aufzunehmen und zu verbrennen, be-
dingte, über hohe Insulinausschüttungen
 58 T. M. Platzer
im Falle eines zufälligen „Zuckerglücks“
(Früchte am Baum und am Wegesrand)
mit einer gut funktionierenden Insulin-
ausschüttung bei genetisch bevorzuger
IR, half zum Überleben, auch in Form
von Speicherenergie im Fettgewebe.
3 Unpraktisch im Nutzen, weil kohlenhydrat-
Die hart verteidigte Linie, 60 % der Tages-
energie solle in Form von Kohlenhydraten
zugeführt werden, ist in den letzten zwei
Jahrzehnten verlassen worden. Manche
Fachgesellschaften halten daran fest, dass
eine vollwertige Mischkost mehr als 50 %
der Energie in Kohlenhydratform enthalten
soll. Die Kohlenhydratreduktion ist in aller
Munde. „Low-Carb“, „Very Low-Carb“
und „Ketogen/Paläo“ sind jeweils an-
erkannte Ernährungsstrategien im Versuch,
Übergewicht und Krebs anzugehen.
KH sind ein unentbehrlicher Baustein
der Ernährung. Als Mangelware gesät,
stellte sich die Hardware des menschlichen
Organismus auf eine relativ geringe Zufuhr
ein, was in Zeiten des Überflusses paradox
ist. Die Speicherform von KH selbst ist im
Körper auf knapp ½ kg reduziert, der Rest
wird im Fettgewebe bevorratet.
>>Theoretisch reichen KH-Zufuhrmengen
von 15–20 %. Auch 30–40 % sind gut.
Ursprüngliche und naturbelassene Kohlen-
hydrate haben einen deutlich höheren
Ballaststoffgehalt. Auf diese Weise gelang es
dem Körper stets, auch größere Flüssigkeits-
mengen zu binden und zu halten.
Eines der wichtigsten stärkehaltige
Nahrungsmittel der Welt für Mensch und
Tier fügte sich in Europa erst sehr spät
hinzu: die Kartoffel. Sie ist aus der moder-
nen Ernährung der westlichen Welt kaum
noch wegzudenken, und erst eine Hungers-
not in Pommern im Jahr 1746 führte zu dem
sogenannten „Kartoffelbefehl“ Friedrichs
II. von Preußen.
Selbstredend stellen auch Gemüse und
Obst wichtige Beiträge zur Versorgung mit
Kohlenhydraten dar. Dreimal pro Tag ins-
gesamt fünf Portionen. Insbesondere Ge-
müse stellt eine sehr vorteilhafte Zufuhr von
Kohlenhydraten dar.
Gut, schlecht oder böse? Wie beurteilt
man Kohlenhydrate in der Ernährung?
Es gibt den glykämischen Index (GI).
standardisiert, vergleicht er den Prozentsatz
an gleichen Mengen von Kohlenhydraten
eines Lebensmittels in Form von Glukose
miteinander. Er bezieht sich auf den Blut-
zuckeranstieg nach dem Verzehr von 50 g
KH pro Lebensmittel. Es wird auf diese
Weise eine 1 kg schwere Wassermelone mit
dem Honigaufstrich verglichen.
Aus Gründen der Handhabbarkeit ver-
gleicht die glykämischen Last (GL) Lebens-
mittel untereinander. Rechenfaktor bleibt
der GI, aber man bezieht sich auf eine
vergleichbare Konsummenge des Lebens-
mittels, hier 100 g der Nahrung. Der zusätz-
liche Glukose-Belastungsstress wird deut-
licher vor Augen geführt, damit auch der
Insulinspiegel.
Eine Möglichkeit, tatsächliche physio-
logische Belastung durch Nahrungsmittel
darzustellen, ist der Insulin-Score Index. So
kann deutlich gemacht werden, in welcher
Zubereitungsform die gleiche Kartoffel ein-
mal höhere und einmal niedrigere Insulinaus-
schüttungen nach sich zieht. Hier wird ähn-
lich der Celsius-Skalierung eine Zuckerzufuhr
von 75 g als Eichstandard herangezogen.
Für die Diagnostik des Prädiabetes und
Typ-II-Diabetes eignen sich hervorragend
die beiden Modelle „HOMA-IR-Index“
oder der „quantitative Insulinsensitivität
Check Index“ („QUICKI, auch ISI“).
Kohlenhydrate stellen einen wichtigen
Bestandteil der täglichen Ernährung dar.
Je nach Chrono- und Stoffwechseltyp
sollte die tägliche Zufuhr zumindest zwi-
schen 15 und 20 % betragen. Auch 40 %
sind aus heutiger Sicht noch sinnvoll.
Kohlenhydrate müssen als komplexe
Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
Stärke mit hohen Ballaststoffanteil zu-
geführt werden. Gesunde Fettsäuren als
Anteil der Kohlenhydratnahrung ver-
zögern neben der Komplexität die all-
mähliche Anflutung der Einzelzucker im
Blut und reduzieren auf diese Weise die
Insulinotropie. Unter besonderen Um-
ständen kann die Ernährung auch den
ketogenen Zweig mit nur noch 5 %-Anteil
an KH wählen. Hierbei ist zu beachten,
dass die Tagesgesamt-­Energiebilanz den-
noch auf 100 % kommt. Dies setzt dann
aber einen deutlich höheren Anteil an
Proteinen und Fetten voraus.
Eine nicht ausgeglichene Zufuhr von KH
bei Unterbilanzierung der anderen beiden
großen Makronährstoffen führt auto-
matisch zum Stoffwechselweg der Gluko-
neogenese. Damit einher geht auch ein Ab-
bau der Muskulatur, selbst wenn ein stetiger
Aufbau durch Bewegung und Sport forciert
wird. Ab dem 30. Lebensjahr beginnt der
grundsätzliche Verlust von Muskelmasse.
Pro Dekade sind das ca. 10 % bei den Frauen
und 6 % bei den Männern.
Die Messung des Bauchumfangs mit der
WHtR (waist to height ratio) als Rechen-
wert ist besser zu beurteilen als mithilfe der
Waage: Knapp unterhalb des Bauchnabels
gemessen, sollte der Umfang nicht mehr als
die Hälfte der Körpergröße betragen.
Auf der endokrinologischen Schiene
weist sich noch ein weiterer Zusammenhang
aus. Hohes Serotonin zieht niedriges Ver-
langen nach KH nach sich (carb-craving).
Niedriges Serotonin verquickt sich mit
hohem Verlangen danach. Hohe Glukose-
zufuhr steigert den Insulinspiegel. Dieser
treibt Zucker und Fette in das Speicher-
gewebe. Der transportmolekülgesteuerte
Übergang durch die Blut-Hirn-Schranke
von Tryptophan kann jetzt gefördert wer-
den – ein Faktor für das kurzzeitig empfun-
dene Glücksgefühl. Ein regelmäßiger Ver-
zehr komplexer Stärke bei niedriger
59 3
Insulintropie greift positiv in den Serotonin-
und Melatoninhaushalt ein, verbessert das
Wohlbefinden und erholsamen Schlaf, min-
dert Depressionen.
3.7.2 Gemüse
Die regelmäßige, reichhaltige Zufuhr von
frischem Gemüse stellt im Alltag eine
Herausforderung dar. Aber sie bringt die
Bereitstellung von KH, unerlässliche Vital-
stoffe werden dem Körper zugeführt. An-
geführt von den Vitaminen, Mineralstoffen
und Spurenelementen, stellt ein guter Ge-
müsekonsum sekundäre Pflanzenstoffe und
Antioxidantien bereit.
Gemüse, aber auch Obst wächst orts-
gebunden, Umwelteinflüssen absolut aus-
gesetzt. Alles, was wächst, ist in erster
Linie dem schwankenden Rhythmus von
Tag/Nacht, Wärme/Kälte, wechselnder
UV-Intensität, Trockenheit/Feuchte aus-
gesetzt. Naturbelassen hängt das Überleben
also von Schutzmechanismen ab. Zu viel UV-
Licht schadet ebenso wie nächtliche Feuchte.
Die Abwehrgrundlage pflanzlicher Lebens-
mittel durch deren sekundäre Pflanzenstoffe
spielt auch für den menschlichen Organismus
eine hehre Rolle. Durch den Verzehr dieser
Phytochemicals entfacht deren antioxidative
Wirkung einen hoch zu schätzenden Effekt
im Bezug auf gesundes Altern. Neben dem
Abfangen freier Radikaler (ROS) wird durch
sie wiederum der Sirtuin-Effekt getriggert.
In vielen Fällen können sekundäre
Pflanzenstoffe auch als CR-Mimetika ver-
standen werden. Einige von ihnen entfalten
ihre Wirksamkeit im Körper erst durch die
Aufnahme im erhitzten Zustand. Das trifft
insbesondere auf Licopin aus der Tomate zu.
Ähnlich wie die Kartoffel ist auch die
Tomate bei uns erst seit kurzem heimisch.
Die beiden Nachtschattengewächse ent-
halten Solanin, eine schwach giftige Zucker-
kombination. Ursprünglich importierte
man sie zur Zierde, ob der schönen Blüten-
stände.
 60 T. M. Platzer
Pflanzlicherseits ist Solanin ein Schutz
vor Fäulniserregern. Beim Menschen wirkt
es depolarisierend an der Mitochondrien-
membran, was das hohe Kalzium der „Zell-
kraftwerke“ in das Zytolasma freigibt und
die Apoptose bewirkt.
3 Frisch geerntetes, gewaschenes und
schockgefrorenes Tiefkühlgemüse hat oft-
mals im Vergleich zur Marktware einen hö-
heren Vitamin- und Mikronährstoffgehalt.
Dosengemüse entbehrt hiervon mehr, kann
aber als Alternative zu lappriger „Frische“
(hoher Vitamin-C-Verlust des Blattgemüses
am Markt durch UV-­Exposition) angeraten
werden. Gemüse ist auch in Form von Ein-
töpfen, Grillgemüse, in gutem Öl leicht frit-
tiert oder roh hervorragend.
3.7.3 Mediterrane Kost
Unter dem Oberbegriff der mediterranen
Küche werden oft Langlebigkeit und kulina-
rische Qualität miteinander verbunden. Die
Ernährungsform des Mittelmeerraumes
steht im Einklang mit hohem Gemüse-
verzehr. Heute wird die Mittelmeerkost an-
ders als im Ursprung interpretiert. Über-
schaubar kleine Gänge werden individuell
als komplette Mahlzeit missverstanden.
Pasta, Pizza, Reis, Kartoffeln – sehr kohlen-
hydratlastig. Das „Konzept“ sah anders aus.
An den Stadtmauern der kleinen Orte ver-
fügen die Bewohner oft über kleine Anbau-
flächen für Gemüse. Das Einzelne der saiso-
nalen, kleinen Ernte kommt auf den Tisch.
Mediterran bedeutet vor allem: viel Gemüse.
Ergänzt wird mediterrane Kost durch kleine,
wenn verfügbar, gereichte wertvolle Eiweiße
wie Fisch, Fleisch, Geflügel.
3.7.4 Obst
Reich an sekundären Pflanzenstoffe und Pro-
antocianidinen, waren die Gaben der Natur
immer schon ein wesentlicher nutritiver Fak-
tor. Er wird heute oftmals, im Gegensatz zum
Gemüse, überbewertet. Neben Antioxidan-
zien tragen sie die Einzelzucker Glukose und
Fruktose. Wenn körperliche Arbeit den Tag
prägt, belastet Glukose aus Früchten das In-
sulin-System kaum. Die enthaltene Fruktose
ist vom Insulinprinzip abgekoppelt. Evolu-
tionionär geprägt, bildet sie im hepatischen
Metabolismus eine kurzzeitige Energie-
speicherform durch Fettaufbau. Vergorenes
Obst euphorisiert die Menschheit immer
schon durch die zentrale Wirkung des bio-
chemisch entstehenden Ethanols.
Als HFCS (high fructose corn syrup),
ein Zusatz in vielen „Convenience“-Lebens-
mitteln, oft in Getränken, wird der physio-
logisch vorstellbare Konsum von Obst mas-
siv übersteigert. Fruktose ist ein Hauptgrund
für die „nicht-alkoholische Leberver-
fettung“ (NAFLD). Chronobiologisch Sinn
macht die Empfehlung, Obst morgens und
mittags als Teil des Essens zu verzehren. Ein
abendlicher Verzicht darauf scheint vorteil-
haft.
Obst kennzeichnet ein geringer Fett-
anteil. Früchteverzehr führt zu hohen
Insulinausschüttungen (Bananen sind im GI
und in GL hoch angesiedelt, hohe Insulino-
tropie die Folge). Wenig Fettgehalt fördert
dies, da Glukose so rasch im Blut anflutet.
Obst als Saft ist problematisch, schon
mit einem Glas Orangensaft werden 2–3
Orangen konsumiert. Oft frei von Frucht-
fleisch, Fasern, Ballaststoffen. Der regel-
mäßige Genuss von Obstsaft/Mineralwasser-­
Mischgetränken („Schorle“) in den Pausen
zwischen zwei Mahlzeiten belastet über-
mäßig mit Glukose und Fruktose. Fruktose
erhöht die Fetuin-A-­ Produktion, steigert
dessen Freisetzung in den Kreislauf und
Bindung an Insulinrezeptoren in Myozyten.
Eine IR wird so begünstigt.
Frisch geerntet ist Obst gut lagerbar.
Oxidationsprozesse mindern dennoch die
Attraktivität der Frucht. Ein im Januar in
Deutschland verzehrter, frischer Apfel aus
Südafrika ist in der CO2-Bilanz günstiger als
adäquat gelagerte heimische Äpfel des
Herbstes.
Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
>>Obst war saisonal stets ein wichtiges Ele-
ment der Energiezufuhr. Es wird zu viel
Obst verzehrt, dem Gemüse soll der Vor-
zug gelten. Fruchtsaftkonsum ist einzu-
schränken.
>>Obst überzeugt, verglichen mit Gemüse,
durch Süße. Sofort verzehrbereit, ist es
ein bequemer Weg für die Zufuhr von
Phytochemicals. Wegen des Gehalts an
Glukose sowie Fruktose ist zu einem mo-
deraten, durch den Vitamingehalt indes
regelmäßigen Verzehr am Morgen und
mittags zu raten.
3.7.5 Ballaststoffe
Ballaststoffe durch den Verzehr von idealer-
weise naturbelassenen Kohlenhydraten ver-
mitteln einen guten Sättigungseffekt, beein-
flussen das Darm-Mikrobiom vorteilhaft,
regulieren die Verdauung. Der Verzehr von
15–30 g pro Tag ist sinnvoll. Hafer-, Dinkel-
flocken, Leinsamen sind eine gute Option,
morgens als Brei (wegen der Insulinotropie
mit Früchtetee aufgegossen, nicht mit
Milch). Zwei Esslöffel wertvoller Öle macht
das Porridge lecker. Auch schmecken Flo-
cken auf Salaten gut.
3.7.6 Flüssigkeiten, Trinkmenge
Der Mensch kann drei Tage problemlos
ohne Flüssigkeitszufuhr auskommen. Den-
noch muss an die Zufuhr ausreichender
Trinkmengen erinnert werden. Im Alter/Se-
nium ist dies besonders wichtig. Als Faust-
regel gilt: 35 ml Flüssigkeit/kg Körper-
gewicht. Meiden industrieller Limonaden,
auch zuckerfrei. Austauschzucker wirken
auf das Mikrobiom negativ. So führen auch
sie langfristig zum Übergewicht. Gut sind
„magenwarme“ Getränke. Grüner Tee
zeichnet sich aus durch den hohen Gehalt
an Epigallocatechingallat (EGCG), einem
sekundären Pflanzenstoff, der die Sirtuinak-
61 3
tivität steigert. Ingwerwasser ist eine wohl-
schmeckende Alternative zu Soda-­Pops.
>> Trinken von etwa 35 ml/kg Körpergewicht
nichtgesüßter Getränke, oft normales
Leitungswasser, grüner Tee, Ingwerwasser
(magenwarm) hat nachgewiesene Anti-
Aging-Effekte. Limonaden aller mög-
licher Aufbereitungsformen, Fruchtsaft-
mischgetränke und alkoholische Getränke
sollten gemieden werden.
3.7.7 Proteine
Aus acht essenziellen (lebenswichtigen) und
13 weiteren Aminosäuren (AS) bauen sich
die Proteine (von Πρωτέως, griechisch: „an
erster Stelle stehend“) auf. Im Verdauungs-
trakt werden sie wieder in die kleinen Be-
standteile zerlegt.
Zellen, Organe, Hormone formt der Kör-
per dann, wenn täglich bestimmte Mengen
hochwertiger Eiweißbausteine auf-
genommen werden. Die Bedarfsdeckung
hängt von Isoleucin, Leucin, Lysin, Methio-
nin, Phenylalanin, Threonin, Tryptophan
und Valin ab. Für den Aufbau körpereigener
Proteine sind diese acht AS deshalb in guten
Eiweißlieferanten durch die unterschiedlich
definierte biologische Wertigkeit ent-
scheidend.
Die in einem eiweißreichen Lebensmittel
am geringsten vorkommende AS ist also die
limitierende. Für den körpereigenen Aufbau
ist das entscheidend.
Von der Zusammensetzung der AS ist
tierisches Eiweiß dem des Körpers deutlich
näher als pflanzliches. Referenz ist das
Hühnerei, dessen Dotter alle acht essenziel-
len AS – biologisch gut verwertbar – enthält.
Es hat es die „Wertigkeit von 100“. Auch der
DIAS („digestible indispensable amino acid
score“), ein seit etwa 2013 bekannter, mo-
dernerer Bewertungsfaktor der absorbierten
AS, liegt hier optimal. Pflanzliche Eiweiß-
träger liegen auch unter diesen Statuten
deutlich hinter tierischen.
 62 T. M. Platzer
Gewichtsbezogen haben verschiedene
Lebensmittel (LM) unterschiedliche Eiweiß-
mengen pro 100 g. Fisch, Geflügel, Fleisch
und Eier führen in Tabellen biologischer
Wertigkeit vor LM wie Milch, Milch-
produkte, Gemüse, Nüsse, Getreide, Ge-
3 treideprodukte, Kartoffel und Reis.
Unterschiedliche Kostformprinzipien
(und damit prozentuale AS-Tageszufuhr)
bewerten den Bedarf oft anders. Der Vor-
schlag der Fachgesellschaften liegt bei
15 % Eiweiß der Gesamtmenge täglicher
Nahrungszufuhr. Zwischen „low carb“
(30 % Eiweiß), „very low carb“ (40 % Ei-
weiß) und ketogener Ernährung (20 % Ei-
weiß), wie sie zumindest erfolgreich und
evidenzbasiert in der Epilepsietherapie
eingesetzt wird, liegt also eine weite
Spanne.
Gegenstand aktueller Diskussionen ist
die individuelle Zufuhr pro Tag an Protei-
nen. Allgemein hingenommen werden 0,8–
1,0 g Eiweiß kg/KG. Hier führt der Hinweis
auf eine mögliche Nierenschädigung durch
zu hohe Aminosäurezufuhr. Erwähnenswert
ist, dass renale Pathologien zumeist anderer-
Genese sind, ein Beispiel ist ein hoher
NSAR-Abusus. Die genannte Mindest-
menge kann auch bei der Versorgung be-
tagter Patienten meistens herangezogen wer-
den.
Beim Stoffwechselgesunden, insbeson-
deren Nierengesunden, werden Zufuhr-
mengen von 1,8 bis sogar 2,5 g Eiweiß/kg
KG akzeptiert. Dies ist rein rechnerisch
schon sehr schwer zu erreichen. Der Protein-
gehalt von beispielsweise Geflügel, Fleisch,
Fisch beträgt nur ein Fünftel der Gesamt-
einwaage. Ein 80 kg schwerer Mensch
müsste für die Zufuhr von 2,5 g Eiweiß/kg
KG insgesamt 1 kg Fleisch essen. Wichtig
ist, den Eiweißkonsum durch Gymnastik,
Yoga, Ausdauersport in Muskelerhalt
und -aufbau zu investieren, in jedem Alter,
schon alleine wegen des BDNF, der durch
Bewegung gefördert wird. Lysin ist hier sehr
förderlich.
3.7.7.1  roteine bei vegetarischem
P
und veganem
Ernährungsstil
Die Entscheidung für „vegetarisch“ oder
„vegan“ ist eine persönliche, nicht aus der
evolutionären Herkunft des Homo sapiens
geprägt. Tierliebe steht im Vordergrund,
auch überzeugte Abkehr von unethischer
Massentierhaltung, wie sie zur „Bedarfs-
deckung“ als industriell verkaufte Not-
wendigkeit propagiert wird. In diversen Stu-
dien wird diesem Lebensstil sogar ein
Anti-­Aging-­Effekt nachgewiesen, vor allem
bei KHK-Erkrankungen.
Die erwähnte biologische Wertigkeit von
Eiweißen nicht-tierischen Ursprungs liegt
deutlich unter der anderen. Dennoch ist die
biologische Wertigkeit der Sojabohnen
(76 %) hoch. Auch Haferflocken, Bohnen,
Kartoffeln, Kohlgemüse in größeren Men-
gen sind optional gute Eiweißlieferanten.
Die Gruppe der B-Vitamine kann für das
Nervensystem kaum in ausreichenden Men-
gen geliefert werden. Ein Ausgleich über
Supplementation ist erfolgreich gestaltbar.
Das gilt auch für Eisen, das bei nicht-­
restriktiver Kost über Fisch und Fleisch in
guten Mengen verfügbar ist. Je nach Sympto-
matik und Laboranalyse müssen Karenzen
bei vegetarischem und veganem Ernährungs-
stil ergänzend ausgeglichen werden.
Eiweißbausteine stellen einen wesent-
lichen Beitrag in der menschlichen Er-
nährung dar. Von der biologischen
Wertigkeit her sind tierische den pflanz-
lichen vorzuziehen. Intuitiv war es für das
Überleben wichtig, insbesondere essen-
zielle Aminosäuren über die Nahrung zu
liefern. Abgesehen von B-Vitamin- und
Eisenmangel ist auch die rein pflanzliche
Zufuhr von AS eine gesunde Option. Für
den funktionierenden Organismus schäd-
liche Eiweißmengen können auch bei for-
cierter Fleischeslust im beständigen All-
tag kaum erreicht werden.
Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
63 3
3.7.8 Fette und Öle schen wie Makrele, Sardine, Lachs, Aal,
Thunfisch, Hering.
Die einhellige Meinung war lange: Fett Die laborchemische Beurteilung der
macht fett. Der Kilokaloriengehalt von Fett Fettsäuren (HS-Omega-3-Index) zeigt oft
ist fast der doppelte als jeweils bei Eiweiß ungünstige Verhältnisse gefäßschützender,
und KH. Die in den 1960er-Jahren gab es entzündungshemmender, immunmodu­
eine wahrnehmbare Zunahme des Über- lierender bzw. insulinregulierender Omega-
gewichts sowie steigende KHK-Ereignisse, 3-Fettsäuren zu Omega-­ 6 -Fett­
s äuren und
sie wurden dem hohen Fettkonsum weiteren. Idealerweise liegt der HS-Omega-­
­zugeschrieben. 3-Index bei 8,0 % bis 11 %. Ziel ist die Zu-
„Low-fat“ und „no-fat“ wurde propa- fuhr von täglich 800–1200 mg DHA- und
giert. Fett, Trägersubstanz der fettlöslichen 1600–2400 mg EPA-Omega-3-Fettsäuren.
Vitamine E, D, K, und A, war verpönt. Der Eine Eselsbrücke ist, dass „D“HA das
durchschnittliche statistische Fettverzehr „D“-enken fördert, „E“PA die „E“ntzün-
nahm ab, der Zuwachs steigenden Körper- dung herunterbremst.
gewichts blieb. Fett ist nicht gleich Fett und Für Menschen wichtige, langkettige
Öl nicht gleich Öl. Die richtige und wohl- Omega-3-FS (EPA und DHA) sind vor
dosierte Auswahl zählt. allem in fetten Kaltwasser-Meeresfischen
Fette kommen als Energiedepot in enthalten. Die alpha-Linolensäure (ALA)
Samen von Pflanzen natürlich vor, damit ist enthalten in pflanzlichen Lebensmitteln
das junge Wachstum Energiesicherheit hat. wie Raps-, Hanf-, Soya-, Leinölen und Wal-
So gelangen sie in tierische Nahrung, bieten nüssen sowie einigem grünblättrigen Ge-
organischem Wachstum energetischen müse. Auch sie ist in einer empfohlenen
Schutz – auch über die pyhsiologische IR Menge von täglich 2–9 g essenziell. Bei Sport
gesteuert. steigt der Bedarf.
Es gibt essenzielle Fettsäuren, die der Erhöhte gesättigte und mehrfach un-
Körper nicht selbst herstellen kann. Fette gesättigte Omega-6-Fettsäuren sollten redu-
sind an der Entstehung einer jeden neuen ziert werden, (Sonnenblumen-, Maiskeimöl,
Körperzelle mit beteiligt. Die Konsens-­ Margarine). Tipp: mindestens dreimal, bes-
Empfehlung der täglichen Fettzufuhr der ser auch sieben Mal pro Woche eine Portion
Fachgesellschaften liegt bei 30–35 %. Das fetten Fisch und einen Löffel Lein- oder
deckt sich knapp mit dem Rat bei „low-­ Hanföl pro Tag.
carb“ (35 %), kaum mit „very low carb“
(50 %) und ketogener Kost (75 %).
Den größten Anteil an Fetten machen 3.7.9 Cholesterine, Triglyzeride
gesättigte Fettsäuren tierischen Ursprungs
aus (Fleisch, Wurst, Käse, Butter). Die Cholesterin und Triglyzeride wurden viele
zweite Gruppe bilden die ungesättigten Fett- Jahre als schädlich bezeichnet. Alle wichti-
säuren. Ihr Vorkommen ist hoch in Olivenöl, gen Hormone des Körpers (Cortisol, Gen-
Nüssen und Saaten sowie in Pflanzen wie derhormone, Vitamin D3, Aldosteron,
Avocados. Hinzu kommen mehrfach un- Gallensäuren [auch zur Aufnahme fettlös-
gesättigte Fettsäuren. Einige von ihnen sind licher Vitamine]) basieren aber auf der che-
essenziell und müssen zugeführt werden. Sie mischen Struktur der fettähnlichen, fettlös-
finden sich in pflanzlichen Ölen, wie Lein- lichen Substanz Cholesterin. Die
samen-, Walnuss- und auch Rapsöl. Über Aufnahmefähigkeit des Organismus ist be-
die Vorform pflanzlichen Ursprungs (Algen) grenzt, Cholesterin ist indes wertvoll und
findet man sie besonders intensiv auch in Fi- wird über Leber und Gallensystem recycelt.
 64 T. M. Platzer

>>Riskant bei unzureichender Aufnahme Selenmangelgebiet, durch Trockenheit ver-

von Antioxidantien ist oxidiertes Cho- stärkt sich dies.
lesterin (oxidiertes LDL).
>>Ausgewogene Mischkost ist ein ver-
>>Bei Mangel an B-Vitaminen trägt die nünftiger Beitrag zur Ernährung. Supple-
Anhäufung der AS-Abbauzwischenstufe mentierung über Nahrungsergänzungs-
3 von Methionin zu KHK bei (über das mittel darf nicht übergangen werden. Es
Homocystein). macht Sinn, Mängel gezielt labor-
chemisch festzustellen und auszugleichen.
Es kommt also auf die Zufuhr der richtigen Auch weil häufig verschriebene Medika-
und die Vermeidung unvorteilhafter Fett- mente erwiesene Mikronährstoffräuber
säuren an. sind.
Lipoprotein (a) ist ein schwer, aber den-
noch beeinflussbarer Gefäßrisikofaktor. Die Gehaltsangaben in der folgenden, bei-
Transfatty acids (Transfette) können durch spielhaften Auflistung können sich also auch
Beachtung des Hitzepunktes (deutlich unter nur an bestehende Tabellen vorangegangener
1700 C) als Risikofaktoren in der heimi- Jahre orientieren. Anzunehmen ist, dass in
schen Küche vermieden werden. Statine, vielen Lebensmitteln heute die genannten
als Cholesterinsenker, können zu höheren Inhaltsstoffe nicht mehr vollständig erreicht
Triglyzeriden führen. Ballaststoffreiche werden.
Ernährung, Bewegung und Omega-3-­
Fettsäuren in guter Verfügbarkeit sind an-
erkannte, ideale Triglyzeridsenker. 3.7.11 Vorkommen von
Vitaminen,
Mikronährstoffen – Sinn
3.7.10 Mikronährstoffe
von Supplementen
Neben den Makronährstoffe spielen vor
allem Vitamine, Polyphenole, sekundäre
Vitamin A
Pflanzenstoffe, Proantocianidine als
Vorteilhaft scheinen vor allem gelbe und
Mikronährstoffe eine lebenswichtige Rolle
orangefarbene Gemüsesorten, also allem
in der Ernährung. Alle von ihnen sind
voran Karotten, Süßkartoffeln, gelbe Pa-
wichtig, die wenigsten können wir syntheti-
prika. Das darin enthaltene Beta-­Carotin
sieren (Vitamin D3 durch UV-Strahlen auf
ist eine Vorstufe des Vitamin A, welches
die Haut).
der Körper dann in eine verwertbare
Fachgesellschaften sagen, dass unsere
Form umwandelt. Aber: Große Mengen
gesunde Mischkosternährung für die Be-
müssen zugeführt werden. Lebertran, ab-
darfsdeckung genüge. Basiert wird dies auf
seits vom Gemüse, ist ebenso reich davon.
Nährstofftabellen, die wenig aktuell sind.
55 Rinderleber (20.000 IU/100 g)
Die Praxis und Laborchemie zeigt oft
55 Butter (2000 IE/100 g)
­symptomatische Auswirkungen, die Verfüg-
55 Käse (500–1000 IE/100 g)
barkeit wird oftmals nicht erreicht.
55 Eier (150–500 IU/100 g)
Der Ackerbau wurde gewinnoptimiert
(„immer schneller, immer mehr“). Hitze-
Interaktion: Fördert die Zink-­Resorption.
sommer dörren Böden aus, rauben der Ernte
Bereitstellung von Eisen sinkt bei Vita-
die Mikronährstoffe. Selen ist ein Beispiel:
min-A-Mangel.
Unser Breitengrad war immer schon ein
Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
Vitamin D
Nur wenige Lebensmittel wie fetter Fisch
eignen sich als Vitamin-D-Lieferanten.
Etwa 80 % des Vitamin-D-Bedarfs wer-
den über die Haut produziert, dafür
braucht sie aber UV-B-Strahlen. Bei aus-
reichender Sonnenbestrahlung der Haut
können wir dieses „Vitamin“ selbst syn-
thetisieren;
dies ist in den Wintermonaten oder
bei vorwiegendem Aufenthalt in Ge-
bäuden, Fehlen von Aktivitäten an der
frischen Luft in unseren Breitengraden
jedoch nicht durchgehend und suffizient
möglich.
55 Aal enthält ca. 90 μg/100 g
55 Hering enthält ca. 30 μg/100 g
55 Milch enthält ca. 0,03 μg/100 g
Laborchemisch kontrolliert sollte das
25-OH-D3 Werte von 60 ng/ml er-
reichen. Zusammen mit dem Calci-
triol (1,25-OH2-D3) sollte der Vita-
min-D3-Quotient optimalerweise >1,0
liegen. Supplementierung ist sinnvoll.
Vitamin E
Wichtig ist dieses ebenso fettlösliche Vi-
tamin bei der Lipidoxidation. Bei allen
Membranen des Körpers, also auch in
den intensiv hormonbildenden Drüsen.
Hypophyse, Keimdrüsen, Nebennieren-
rinde (NNR). Aber eben intensiv auch
in den Hautzellen. Bei Mangel drohen
Lipofuscin-­Pigmentierungen (Zellschrott).
Vitamin E beschleunigt die Wundheilung,
verhindert überschießende Narben (Ke-
loid), wirkt gegen Schwangerschafts-
streifen, Bindegewebserkrankungen. Ge-
ringes Vorkommen in
55 Gemüse, Obst, Getreide,
55 Fleisch, Fisch, Eiern und Milch.
65 3
Hohes Vorkommen in langsam
­wachsenden Pflanzen:
55 Kopfsalat, Karotte, Grünkohl,
55 gelbgrünes Gemüse,
55 Oliven-, Sonnenblumen- und Weizen-
keimöl: 49–100 % d. Tagebedarfs.
Vitamin C
Die Resorptionsrate ist höher, je niedriger
die verabreichte Dosis ist. Bei Einzel-
dosen von 1000 mg werden nur ca. 50 %
aufgenommen, bei 12 g nur mehr 15 %.
Der Körper kann keine Reserven anlegen.
Neben
55 Kiwi und
55 Zitrusfrüchten
kommen hier für dieses starke Anti-
oxidans vor allem infrage:
55 Paprika,
55 Brokkoli,
55 Grünkohl.
Vitamin C gilt als sehr hitzeempfindlich.
Ideal ist die Kombination mit Nüssen
und Ölsaaten, die Vitamin E enthalten:
Vitamin E wird nur dann ideal auf-
genommen, wenn Vitamin C zugegen ist.
Der maximale physiologische Sch­
wellenwert liegt bei einer Zufuhr von 80–
100 mg L-Ascorbinsäure.
Zink
Mögliche Folgen eines niedrigen Zink-
wertes sind eine reduzierte Immun-
leistung, latente hormonelle Schwächen,
dermatologische Probleme (z. B. Ekzem,
Akne), weitere unspezifische Symptome
durch Beeinträchtigung der Neurotrans-
mission. Hervorzuheben ist seine Wichtig-
keit für Haare, Haut: Bei fast allen Haut-
 66 T. M. Platzer

erkrankungen hat sich der Einsatz von (SOD, superoxiddismutase) und der
Zink bewährt. Kollagenbildung.
Die Bioverfügbarkeit von Zink aus Reich an Mangan sind
tierischen Produkten ist höher als die aus 55 Innereien (Leber),
pflanzlichen Nahrungsmitteln (hoch z. B. 55 Hülsenfrüchte,
3 in Austern): 55 Vollkornprodukte, Nüsse,
55 Rind-, Kalb-, Geflügel-, aber auch 55 Reis.
Schweinefleisch, 55 Tee.
55 Eier, Milch, Käse.
Der tägliche Bedarf liegt für Erwachene
Eine gute pflanzliche Quelle sind bei 1,0–1,5 mg.
55 getrocknete Kürbiskerne,
55 Weizenkeime (somit also auch im un-
filtrierten Weißbier in Maßen).
Beta-Carotin
Weniger in Weißbrot, Obst, grünem Ge-
Wichtiges Antioxidans, auch im Zu-
müse. Der tägliche Bedarf liegt für Er-
sammenspiel mit Vitamin A. Vorkommen
wachene bei 15–20 g. Die Analyse des hä-
in vielen Pflanzen, die UV-Strahlung aus-
matokrit-korrelierten Wertes ist sinnvoll.
gesetzt sind und Chlorophyll bilden.
Auch in Algen: mexikanische Spirulina,
australische Dunaliella salina.
55 Minze hat ca. 110 mg/kg,
Kupfer
55 Petersilie 80 mg/kg,
Es dient in vielen Enzymsystemen zur
55 Karotten 70 mg/kg,
Entgiftung freier Radikale, der zellulären
55 Spinat (gekocht) 60 mg/kg,
Sauerstoffverwertung, dem Eisenstoff-
55 Rote Beete (gekocht) 50 mg/kg,
wechsel und der Melanin- und Binde-
55 Aprikosen 15 mg/kg.
gewebssynthese. Kupfer ist wichtig bei
Haar- und Pigmentstörungen, ebenso der
Sowohl die Sonnenbrandhäufigkeit als
Vitiligo; bei gestörter Kollagensynthese.
auch die damit verbundene Melanom-
Reich an Kupfer sind
gefahr können durch Supplementation
55 Innereien (Leber), Fisch, Getreide-
um mehr als zwei Drittel gesenkt werden.
produkte,
Zusammen mit Vitamin E und Selen
55 Nüsse, Schalentiere, Schokolade,
senkt es die Katarakt-Inzidenz um bis zu
Kakao, Kaffee, Tee, grünes Gemüse.
40 %, mehr sogar noch zusammen mit Vi-
tamin B! 1 IU = 300 μg
Der tägliche Bedarf liegt für Erwachene
bei 1,0–1,5 mg.

Licopin
Wichtiges Antioxidans, ebenso verwandt
Mangan
zu Epigallokatchinsäure, Humolol, Cur-
Es dient ebenso in vielen Enzymsystemen
cumin, Genistein. Vorkommen in vielen
als Fänger freier Radikale, der Gefäß-
Pflanzen, die UV-Strahlung ausgesetzt
gesundheit und im Fettstoffwechsel.
sind vor allem
Hochwichtig ist es in allen Mitochondrien
55 Tomaten,
Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
55 Karotten,
55 Papayas,
55 Spargel,
55 Schnittlauch.
Als Carotinoid hat es keine Vitamin-­A-­
Eigenschaften, obwohl es ebenso nicht
wasserlöslich ist. Seine antioxidativeAkti-
vität (Quenchingrate) ist doppelt so hoch
wie bei Beta-Carotin und 100-mal so
hoch wie bei Vitamin E. Es gibt der Haut
einen schöneren Teint und schützt diese
vor zu viel UV.
Selen
Selenmangel reduziert die Aktivität selen-
abhängiger Enzyme (Gluthationperoxida-
sen), des Immunsystems, der Schilddrüse,
führt zu einem T3-Mangel (T4 dann
oft erhöht), führt zu Kreatininkinase-­
Aktivitätserhöhung. Selenhaltige Glutha-
tionperoxidase ist ROS-Schutzfaktor.
Die zelluläre/humorale Immun-
leistung (Antikörperproduktion, Phago-
zytoseleistung, Chemotaxis, NK-­ Zell-­
Stimulierung) ist selenabhängig. Folgen
bei Selenmangel sind Immunschwächen
durch Reduktion der Helfer-­ Zellen
(CD4-Zellen). Nennenswert sind Muskel-
schwächen, erhöhtes Krebsrisiko, erhöhte
Empfindlichkeit gegenüber Schwer-
metallen („Metallsyndrom“), Selen ist ein
natürliches Antidot. Die Analyse des hä-
matokrit-korellierten Wertes ist sinnvoll,
ebenso Supplemente.
Täglicher Bedarf: ca. 30–70 μg.
Pflanzliche Quellen spielen bei uns keine
zuführende Rolle!
Besser:
55 Fleisch, Fisch, Eier
55 Linsen, Spargel
55 Kokosraspeln
67 3
L-Cystein
L-Cystein ist eine „nicht essenzielle“
Aminosäure. Hohes Vorkommen in Kera-
tin. Eigensynthese aus Methionin, dessen
Zwischenprodukt ist Homocystein, wel-
ches bei verlangsamtem Abbau die Ge-
fäße schädigt. L-Cystein ist zugleich ein
guter ROS-Fänger. Es erhöht es die Bio-
verfügbarkeit von Biotin. Vorkommen
vor allem in
55 Schweinefleisch, Hühnerbrustfilet,
55 Lachs,
55 Ei,
55 Sonnenblumenkernen, Walnüssen,
Weizen,
55 Mais, Reis, Erbsen.
Biotin
Dieses auch Vitamin H genannte Subs-
tanz ist ein Faktor für die Umwandlung
von ALA in DHA und EPA, reguliert
den Blutzucker, ist am Zitratzyklus mit-
beteiligt. Bei Mangel sind oft starke
Hautschuppung und Haarausfall die
Folgen. Biotin schützt vor brüchigen
Fingernägeln und Ekzemen. Überdies
­
Schutz vor Diabetes als Auslöser vielerlei
Hautprobleme.
Täglicher Bedarf eines Erwachsenen:
ca 100 μg
55 Leber hat 100 μg/100 g,
55 Bierhefe 80 μg/100 g,
55 Soyabohnen 60 μg/100 g,
55 Walnüsse 37 μg/100 g,
55 Hühnerei 20 μg/100 g,
55 Linsen 13 μg/100 g.
Coenzym Q10
Die körpereigene Synthese von Choles-
terin und Q10 weisen große Analogien
 68 T. Platzer
auf, da sie aus gemeinsamen Vorstufen
gebildet werden. Wird die Cholesterin-
synthese beispielsweise durch Statine
unterbunden, nimmt der Coenzym-­
Q10-­ Spiegel ab. Die Behandlung der
3 Hypercholesterinämie geht fast immer
mit Q10-Mangel einher, sollte durch
Q10-Substitution ausgeglichen werden.
LDL-Cholesterin fungiert als
Coenzym-­Q10-Transportmedium. Eine
Hypercholesterinämie ist oft von er-
höhten Coenzym-Q10-Werten begleitet,
ohne Rückschlüsse auf den intra-
zellulären Versorgungsstatus.
Bei vermindertem cholesterin-­korr­
igierten Q10-Wert ist von erniedrigten
Q10-Spiegeln auszugehen, auch bei norm-
wertigem Coenzym Q10 im Serum. Es ist
eine essenzielle Komponente im Energie-
stoffwechsel (mitochondrialen Atmungs-
kette). Zudem kommt dem auch als
Ubichinon 50 bezeichneten Substrat eine
wichtige Bedeutung als Antioxidans zu, es
wirkt nicht zuletzt deshalb stabilisierend
und protektiv auf die Zellstrukturen.
Vitamin B2
Auch Riboflavin genannt, im Meta-
bolismus wegen seines Redox-Potenzials
wichtig, insbesondere in der Gluthation-­
Reduktase, einem wichtigen Schutz-
mechnismus gegen oxidativen Stress.
Auch in der Atmungskette ist es be-
teiligt. Schon ein leichter Mangel geht
mit Lippenveränderungen, Mundwinkel-
rhagaden, seborrhoischer Dermatitis der
Lasolabialfalten und an den Ohren ein-
her. Pruritus im Genitalbereich ebenso.
Bei „parenteraler“ Ernährung auf der
Intensivstation ist eine Supplementation
zwingend erforderlich.
Täglicher Bedarf eines Erwachsenen:
1,4 mg
Beste Quelle:
55 Hefe.
55 Zu 55 % in Käse, Fleisch, Wurst.
55 Zu 30 % in pflanzlichen Lebens-
mitteln.
Hohe Lichtempfindlichkeit des Vitamins.
3.8  rnährung als Anti-Aging-
E
Strategie
Gesundes Altwerden ist heute möglich als
ein Teil eines gesamten Lebenskonzeptes. Die
Ernährung spielt hier eine tragende Rolle.
Zu häufige Mahlzeiten und nächtliches
Essen stören empfindliche Zeit-Geber-­Gene.
Die Kalorienzufuhr richtet sich nach dem
Körpergewicht und dem Physical Activity
Level (PAL). Die Insulinotropie der Speisen
ist ein weiteres Merkmal, wie viel zugeführte
Energie in Speicherfett überführt wird.
Grundsätzlich sollte die Grenze bei drei
Mahlzeiten pro Tag liegen. Es erweist sich
als vorteilhaft für den Stoffwechsel, an
einem bis zwei Tagen pro Woche auf das
Abendessen zu verzichten (Dinner-­
Cancelling) oder es so früh wie möglich ab-
zuhalten. Intermittierendes Fasten ent-
spricht dieser Vorstellung: Variabel kann für
einen ganzen Tag eine Nahrungskarenz er-
folgen, beliebt ist auch 16:8-Fasten mit
einem Essensverzicht von 16 Stunden, wäh-
rend im Zeitfenster von acht Stunden zwei
Mahlzeiten eingenommen werden.
Vitamine, sekundäre Pflanzenstoffe, An-
tioxidanzien müssen ebenso regelmäßig auf-
genommen werden wie DHA und EPA als
wichtige und wertvolle Omega-3-­Fettsäuren.
Frische, saisonale Produkte, schonend
verarbeitet, sind ebenso wichtig wie natur-
belassene Kohlenhydrate (resistente Stärke).
Gemüse stellt einen wichtigen Beitrag zu
einer gesunden Ernährung dar.
Ernährungsmedizin als Präventionsmaßnahme
Prozentuale Zufuhrmengen von Kohlen-
hydraten können zugunsten erlesener Öle
und wertvoller Proteine mehr reduziert wor-
den, als dies landläufig noch propagiert
wird. Dauerhafte Askese ist schwer zu hal-
ten und macht nicht glücklich. Genussvolles
Essen in Gesellschaft, idealerweise selbst zu-
69 3
bereitet, darf bei sonst an das Körper-
gewicht und den Wohlfühlfaktor an-
gepasster Disziplin durchaus auch über die
Stränge schlagen. Qualität steht vor Quanti-
tät. Gutes Essen sollte im Rahmen der indi-
viduellen Darstellbarkeit stets als wertvolles
Luxusgut betrachtet werden.
 71 4

Healthy Aging: Gesundheit

im Alter ist kein Zufall!
U. Gröber

Inhaltsverzeichnis

4.1 Einleitung – 72

4.2 Altern: Pathobiochemische Prozesse – 72

4.2.1  wischen Inflammaging und Immunoseneszenz – 73
Z
4.2.2 Healthy Aging und die Rolle der Ernährung – 74

4.3 Ausgewählte Mikronährstoffe im Healthy Aging – 76

4.3.1  mega-3-Fettsäuren: Der Schlüssel zur Gesundheit in allen
O
Lebensphasen – 76
4.3.2 Vitamin D: Das Healthy-Aging-Hormon – 81
4.3.3 Vitamin K und MK-7 – 89
4.3.4 Homocysteinregulierende B-Vitamine (z. B. B9, B12) – 91
4.3.5 Coenzym Q10: das Anti-Seneszenz-Vitaminoid – 94
4.3.6 Magnesium – 98
4.3.7 Selen: das Healthy-Aging Spurenelement – 100
4.3.8 Zink – 103

Literatur – 105

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_4
 72 U. Gröber
4.1 Einleitung
Eine hohe psychische und physische
Leistungsfähigkeit bis ins fortgeschrittene
Alter steht bei den meisten Menschen ganz
oben auf der persönlichen Wunschliste, um
möglichst lange selbstständig in der ge-
wohnten Umgebung zu leben. In den letzten
4 100 Jahren hat sich die mittlere Lebens-
erwartung der Europäer durch die moderne
medizinische Versorgung und Verbesserung
der Lebensbedingungen nahezu verdoppelt.
Während in Deutschland zu Beginn des letz-
ten Jahrhunderts der Anteil der über 60-Jäh-
rigen noch 5 % betrug, sind es gegenwärtig
bereits nach Angaben des Statistischen
Bundesamtes 26 %, und für das Jahr 2030
wird mit bis zu 36 % der Bevölkerung ge-
rechnet, die das 60. Lebensjahr überschritten
haben. Während früher über zwei Drittel
der Menschen an Infektionen starben, ster-
ben heute etwa 70 % an Alterskrankheiten
(Ben-Haim et al. 2018).
Die WHO rechnet damit, dass sich der
Anteil der über 65-Jährigen weltweit im
Zeitraum zwischen 2010 und 2050 nahezu
verdoppeln wird. Die am schnellsten wach-
sende Bevölkerungsgruppe in Deutschland
bilden die über 80-Jährigen, von denen der-
zeit in unserem Land an die 4,5 Millionen
leben. Demnach werden immer mehr Men-
schen immer älter, und immer weniger Junge
bedienen die Sozialsysteme. Zivilisations-
krankheiten werden dadurch immer teurer,
und Gesundheit wird zunehmend unbezahl-
bar. Neben der Kostensituation im Gesund-
heitswesen wird zukünftig eine zentrale
Frage zunehmend in der Bevölkerung eine
Rolle spielen: Wie können wir im Alter ein
gesundes und vitales Leben führen?
4.2 Altern: Pathobiochemische
Prozesse
Altern ist ein progressiver, biologischer
und zeitabhängiger Prozess, der sich im
Spannungsfeld der Erbanlagen, multipler
Umwelteinflüsse und Lebensstilfaktoren
(z. B. Ernährung, körperliche Aktivität) ent-
wickelt. Die Ergebnisse zahlreicher epidemio-
logischer Studien legen nahe, dass Lang-
lebigkeit wenig beeinflusst wird von unseren
Genen. Gene bestimmen nur zu etwa 30 %
unsere Lebenserwartung. Die restlichen 70 %
bestimmen vor allem drei Faktoren: gesunde
Ernährung ohne Mikronährstoffdefizite,
regelmäßige körperliche Aktivität und soziale
Kontakte. Studien aus dem Bereich der Epi-
genetik zeigen, dass bereits der Stoffwechsel
der Mütter während der Schwangerschaft da-
rüber entscheidet, ob die Kinder später einen
Altersdiabetes entwickeln oder nicht.
Die bisher älteste Person der Welt wurde
122 Jahre alt. Nach der modernen Alters-
forschung kann der Mensch gegenwärtig ein
maximales Alter von etwa 140 Jahren er-
reichen (Ben-Haim et al. 2018). Lebensver-
längerung ist allerdings nicht immer gleich-
bedeutend mit Lebensqualität, aber gerade
Lebensqualität und Vitalität machen das
Alter lebenswert.
Im alternden Organismus kommt es zu
vielfältigen physiologischen Veränderungen
in Geweben und Organen, die mit einer
Abnahme der physischen und psychischen
Leistungsfähigkeit assoziiert sind. Im Zen-
trum stehen dabei auf pathobiochemischer
Ebene die altersbedingte Zunahme von Ent-
zündungsprozessen (Inflammaging), Störun-
gen des Immunsystems (Immunoseneszenz),
Muskelzellverlust (Sarkopenie), Proteing-
lykosilierung (AGE), oxidativer/nitrosati-
ver Stress und/oder mitochondriale Dys-
funktion sowie Abnahme der Telomerlänge
der Leukozyten (TLT) und beschleunigte
Telomerattrition (Übersicht) (Cevenini et al.
2013; Franceschi und Campisi 2014; Fran-
ceschi et al. 2018; Fulop et al. 2018; Bar-
bé-Tuana et al. 2020a; b; Lopez-Otin et al.
2013; Dall'Olio 2018; Yarbro et al. 2020;
Grimble 2001; Minciullo et al. 2016). Zu den
Folgen von oxidativem/nitrosativem Stress
zählen unter anderem eine beschleunigte
Telomerattrition sowie strukturelle Schäden
an Membranen, Mitochondrien, Nuklein-
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
säuren und Proteinen. In Immunzellen för-
dern reaktive Sauerstoffspezies (ROS) und
Stickstoffspezies (NOS) kumulierende Ver-
änderungen, welche die Seneszenz fördern.
Faktoren, die mit pathologischem Al-
tern assoziiert sind
55 Inflammaging bzw. Oxi-Inflamma-
ging (Entzündungsaltern)
55 Immunoseneszenz (Altern des
Immunsystems), Infektanfälligkeit
55 Muskelzellverlust (Risiko der Sarko-
penie)
55 Proteinglykosilierung (AGE-Bela-
stung: Angio-, Neuropathien)
55 Oxidativer/nitrosativer Stress:
Radikalinduzierte Schäden und Ent-
zündungsprozesse (→ Inflammaging:
Anstieg Entzündungsfördernder und
katabol wirkender Zytokine wie IL-6
oder TNFα)
55 Hyperhomocysteinämie
55 Mitochondriale Dysfunktion (mtDys)
55 Beschleunigte Telomerattrition, Ab-
nahme der Telomerlänge der Leuko-
zyten (LTL)
73 4
4.2.1  wischen Inflammaging und
Z
Immunoseneszenz
Inflammaging und ihr Seneszenz-assoziier-
ter sekretorischer Phänotyp (SASP) können
ausgelöst werden durch verschiedene Zell-
stressoren, wie reaktive Sauerstoffspezies
(ROS), DNA-Schäden oder Verlust der Telo-
merase, was in gesteigertem oxidativen Stress,
zunehmender mitochondrialer Dysfunktion,
zelluläre Seneszenz und Apoptose mündet. Wie
zahlreiche Studien belegen, wird der Prozess
des pathologischen Alterns vor allem durch
zwei dynamische, koexistierende Prodrome
getragen, die mit einem zunehmenden Mobili-
täts- und Funktionalitätsverlust assoziiert sind:
eine altersabhängige Verschlechterung des
Immunsystems (Immunoseneszenz) sowie eine
sich langsam entwickelnde, niederschwellige,
aber persisitierende gewebebezogene und sys-
temische Entzündung (Inflammaging oder
Oxi-Inflammaging). Oxi-Inflammaging und
Immunoseneszenz sind somit Ausgangspunkte
für die altersbedingte Abnahme der Vitali-
tät und die meisten chronischen Alterskrank-
heiten (z. B. Infektionen, Krebs) (. Abb. 4.1).
Während die akute Entzündungsreaktion
in der Regel als eine adaptive, feinregulierte

Kognitive Fähigkeiten ¯
Insulinresistenz, NASH mentalen Gesundheit ¯ Muskelzellverlust
& Typ-2-Diabetes & Wohlbefinden ¯ ± Körperzusammensetzung
& Mobilitätsverlust

Inflammageing
Circulus vitiosus aus Dysbiose ®
Darmpermeabilität ® LPS-Leakage
® Aktivierung des Immunsystems
® ROS ® mtDys ® Zellläsionen 

Arteriosklerose & Immunkompetenz ¯

Gefäßerkrankungen Krebserkrankungen & Infektanfälligkeit ¯
(z.B. Kolonkarzinom)

..      Abb. 4.1 Die zentrale Rolle von Entzündung bei Alterungsprozessen

 74 U. Gröber
und zeitlich limitierte Reaktion auf physio-
logische Stressoren (z. B. Infektionen) erfolgt,
ist Inflammaging durch eine persistierende
Zunahme (2- bis 4-fach) von Entzündungs-
mediatoren (z. B. CRP, IL-1β, IL-6, TNFα) im
Blut charakterisiert, ohne eine klinisch manife-
ste Infektion.
Die Bedeutung der niederschwelligen
4 Entzündung für die allgemeine Mortalität
wird durch die Ergebnisse der aktuellen Mo-
li-sani-Studie, einer bevölkerungsbasierten
prospektiven Kohorten-Studie unter-
strichen. Dabei wurde bei 20.337 Frauen
und Männern (Alter: ≥ 35) ohne hämato-
logische und entzündlich geprägte Vor-
erkrankung ein Score für eine nieder-
schwellige Entzündung erstellt. Als
Biomarker wurden erfasst: CRP, Leuko-
zytenwert sowie der Quotient aus Granulo-
zyten- und Lymphozytenwert. Ergebnis: Im
Verlauf von 7,6 Jahren traten 837 Todesfälle
auf. Im Vergleich zum höchsten Quartil des
Entzündungsscores hatte das niedrigste
Quartil eine um 44 % höhere Gesamt-
mortalität. Bei Patienten mit Diabetes melli-
tus Typ II mit höheren Entzündungs-
markern konnte man sogar eine nahezu
Verdreifachung (HR = 2,90) des Mortali-
tätsrisikos nachweisen. Auch bei Patienten
mit Koronarer Herzerkrankung (KHK) war
das Sterberisiko mehr als verdoppelt (HR =
2,48). Niederschwellige Entzündungs-
prozesse erwiesen sich damit als signi-
fikanter unabhängiger Risikofaktor für die
Gesamtmortalität, vor allem bei Risiko-
personen (Franceschi et al. 2018; Bar-
bé-Tuana et al. 2020a, b; Dall'Olio 2018;
Yarbro et al. 2020; Grimble 2001; Minciullo
et al. 2016; Bonaccio et al. 2016).
4.2.2  ealthy Aging und die Rolle
H Weniger Muskelmasse bedeutet, dass der
der Ernährung
Die Ernährung spielt neben regelmäßiger
körperlicher Aktivität (z. B. medizinisches
Krafttraining) eine vielsprechende Maß-
nahme in der Prävention von Inflammaging.
Zum einen – unter quantitativen Aspekten –
im Hinblick auf den Gehalt an Makronähr-
stoffen wie Nahrungsprotein, zum anderen
auch unter qualitativen Aspekten in Bezug
auf die Mikronährstoffdichte. Zahlreiche
epidemiologische und klinische Studien wei-
sen darauf hin, dass durch die Zufuhr von
Makro- und Mikronährstoffen das Immun-
system in seiner Funktion aktiv moduliert
und Alterungsprozessen wie Inflammaging
bzw. deren Progression verringert werden
(Franceschi et al. 2018; Yarbro et al. 2020;
Grimble 2001; Minciullo et al. 2016). Gleich-
zeitig erhöht sich mit zunehmendem Alter
die Wahrscheinlichkeit für chronische
Krankheiten und Multimorbidität. Die er-
höhte Prävalenz von chronischen Krank-
heiten (z. B. Typ-2-Diabetes) im Alter und
der damit verbundene erhöhte Arzneimittel-
bedarf stellen zusätzlich Anforderungen an
die ernährungsmedizinische Betreuung älte-
rer Menschen (. Tab. 4.1) (Gröber et al.
2018; Gröber 2019a, 2020a).
Inflammaging hat zudem gravierende
Auswirkungen auf die Körperzell-
zusammensetzung. Ab dem 30. Lebensjahr
baut der Mensch bekanntlich bis zu 1 % der
Muskulatur pro Jahr ab. Dabei werden die
Muskelzellen nach und nach in Fettgewebe
umgewandelt. Erkrankungen, Operationen
und Traumata mit konsekutiver Im-
mobilisierung können den Prozess des
Muskelabbaus zusätzlich beschleunigen.
Pro-inflammatorische Zytokine wie IL-6
oder TNFα begünstigen diesen Prozess.
Ohne regelmäßige körperliche Aktivität
(z. B. medizinisches Krafttraining) verlieren
die Betroffenen schleichend bis zum 80.
Lebensjahr an die 50 % ihrer Muskelmasse
mit fatalen Folgen (. Tab. 4.2).
gesamte Stoffwechsel und Energieverbrauch
heruntergefahren werden. Daraus resultie-
ren ein verringerter Appetit und eine redu-
zierte Nahrungsaufnahme. Die Betroffenen
werden also noch schwächer, bewegen sich
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
..      Tab. 4.1 Im Alter häufig eingesetzte Arzneimittel, die bei langfristiger Einnahme zu einem erhöhten
Bedarf an Mikronährstoffen beitragen (Auswahl)
Arzneimittelgruppe Arzneistoff (Bsp.)
Antidiabetika, orale Metformin
Protonenpumpenhemmer Omeprazol,
Pantoprazol
Diuretika (Thiazide, Schleifen- Hydrochlorothiazid,
diuretika) HCT
Furosemid
Lipidsenker vom Statin-Typ Rosuvastatin,
Atorvastatin
..      Tab. 4.2 Altersassoziierte Veränderungen der Muskulatur und Folgen
Veränderung
Abnahme der Gesamtmuskelmasse (Muskel-
schwund) um bis zu 40 %
Beeinträchtigung des Muskelaufbaus und der
Muskelzusammensetzung (z. B. Abnahme der
schnellen Muskelfasern vom Typ II)
Abnahme der Mitochondriendichte
weniger, und die Muskelmasse geht noch
weiter zurück (Risiko der Sarkopenie). Die
Gefahr von Stürzen und Knochenbrüchen
nimmt stark zu. Im Vergleich zu jungen
Menschen benötigt der alternde Organis-
mus an die 25 % mehr Protein, um die Struk-
tur und Funktionsfähigkeit der Knochen
(z. B. Knochendichte), Skelettmuskulatur
(z. B. Muskelkraft) und Immunkompetenz
zu erhalten (Minciullo et al. 2016; Livshits
und Kalinkovich 2019; Bauer et al. 2013).
Gesunde ältere Menschen sollten etwa
1,0–1,2 g Protein pro kg Körpergewicht pro
Tag aufnehmen, wie die Ergebnisse der Prot-
75 4
Erhöhter Bedarf an
Folsäure, Vitamin B12, Magnesium,
Vitamin D
Folsäure, Vitamin B12, Magnesium, Kalzium,
Zink, Eisen
Magnesium, Kalium, Folsäure, Vitamin B1,
Zink
Coenzym Q10 (Ubichinon/-ol), Selen,
Menaquinon-7, Vitamin D
Folgen
Abnahme der Muskelkraft, Mobilität und körper-
lichen Leistungsfähigkeit, Risiko der Sarkopenie
Abnahme der Schnellkraft und Koordinationsfähig-
keit, stark erhöhtes Sturz- und Frakturrisiko
Abnahme der Insulinsensitivität (→ Dyslipoprotei-
nämie, Typ-2-Diabetes)
Erhöhte Infektanfälligkeit
Age-Studie unterstreichen. Je nach Ko-
morbidität kann der tägliche Proteinbedarf
allerdings auf bis zu 1,5 g/kg KG steigen.
Damit haben ältere Personen einen täg-
lichen Proteinbedarf ähnlich wie ein
Leistungssportler. Als gut verfügbare und
bekömmliche Proteinquelle haben sich vor
allem Fisch und Molkeproteinisolate be-
währt. Darin ist die verzweigtkettige Amino-
säure L-Leucin die potenteste, welche die
Muskelproteinsynthese anregt (Katsanos
et al. 2005; Pennings et al. 2011; Bauer et al.
2013; Diekmann und Bauer 2014; Jäger
et al. 2017; Colonetti et al. 2017; Xu 2015).
 76 U. Gröber
4.3 Ausgewählte Mikronährstoffe
im Healthy Aging
4.3.1 Omega-3-Fettsäuren: Der
Schlüssel zur Gesundheit
in allen Lebensphasen
4 Subklinische Entzündungsprozesse spie-
len bekanntlich bei der Pathogenese und
Progression von Alterungsprozessen und
zahlreichen altersbedingten Erkrankungen
wie Demenz, Typ-2-Diabetes oder Krebs
eine tragende Rolle. Es verwundert daher
nicht, dass den antientzündlichen und
Antiseneszenz-Eigenschaften der Omega-
3-Fettsäuren einen dominierenden Stellen-
wert in der Prävention und Therapie
entzündlich geprägter altersbedingter
Erkrankungen zukommt. Dabei spielen
Veränderung der Fettsäurenzusammen-
setzung zellulärer Membranen, die sich
funktionell auswirken, die Genexpression
von Signalmolekülen der Entzündung,
Interaktionen mit Membran- und intra-
zellulären Rezeptoren sowie die Synthese
einer Vielzahl biologisch aktiver Metabo-
lite eine Rolle.
Die essenziellen, langkettigen und ma-
ritimen Omega-3-Fettsäuren EPA und
DHA sind lebenswichtige Bausteine jeder
Zellmembran des menschlichen Körpers,
und dementsprechend für die Integrität
und Funktionalität jeder Körperzelle in
jeder Lebensphase wichtig. Eicosapenta-
ensäure (EPA) und Docosahexaensäure
(DHA) können zwar im Körper aus der es-
senziellen pflanzlichen Omega-3-Fettsäure
Alpha-Linolensäure (ALA) gebildet wer-
den, doch ist die Konversionsrate von etwa
0,5–5 % äußerst gering. Daraus resultiert das
gesundheitsfördernde Potenzial der direk-
ten Supplementierung von EPA und DHA
(z. B. Algen-, Fischöl, Kapseln) mit der
Nahrung (Calder 2011; Calder 2012; Calder
2017a, b; Cutuli 2017; Richter et al. 2020).
4.3.1.1 Die antientzündliche
Wirkung von EPA und DHA
Die anti-inflammatorische und ent-
zündungsauflösende Wirkungen der
Omega-3-Fettsäuren EPA und DHA erfolgt
auf verschiedenen, zum Teil miteinander
verlinkten Ebenen. Zum einen in der Phase
der Ausbildung einer Entzündung über
Substrathemmung der Synthese pro-in-
flammatorischer Eicosanoide: Dabei ver-
drängen Eicosapentaensäure (EPA) und Do-
cosahexaensäure (DHA) Arachidonsäure
kompetitiv von den Eicosanoid-bildenden
Enzymen (z. B. COX, LOX). Arachidon-
säure (ARA) ist ein Hauptbestandteil der
Phospholipide von Entzündungszellen wie
Makrophagen. Ein höherer Gehalt an EPA
begünstigt die Synthese von Eicosanoiden
der Serie 3 und 5 (z. B. PGE3, LTB5), die
gegenüber den aus ARA gebildeten Eicosa-
noiden weit geringer ausgeprägte bzw. keine
pro-inflammatorischen Effekte aufweisen
(. Abb. 4.2). Zum anderen sind EPA und
DHA über die Synthese von Endothel-
und Epithel-protektiven Lipidmediatoren
(z. B. Resolvine, engl. to resolve = auflösen)
in der Phase der programmierten Auflösung
bzw. Beendigung von Entzündungen wich-
tig (Heilungsphase) (Bannenberg und Ser-
han 2010; Khanapure et al. 2007; Hong
und Lu 2013; Novak et al. 2003). EPA und
DHA verringern auch die Expression von
pro-inflammatorischen Zytokinen und Ad-
häsionsmolekülen (z. B. VCAM-1), die
bei der Entwicklung und Progression von
inflammatorischen Prozessen eine wich-
tige Rolle spielen. Bemerkenswert ist dabei
vor allem die inhibitorische Wirkung auf
den redoxsensitiven Transkriptionsfaktor
NfkappaB der unter anderem für die Pro-
duktion stark inflammatorischer Zyto-
kine wie TNFα – der Zündkerze im Ent-
zündungsstoffwechsel – verantwortlich ist.
Über Interaktion mit dem Transkriptions-
faktor NfkappaB wird beispielsweise die
Infiltration von neutrophilen Granulozyten
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
Fleisch, Wurst, Distel-/Sonnenblumenöl
LA
C18:2, W-6
Δ-6-Desaturase
ARA
C20:4, W-6
Eicosanoide
Serie 2, 4
Entzündliche, Bronchien- und
Gefäßverengende Wirkung
..      Abb. 4.2 Stoffwechsel der Omega-6- und Omega-3-Fettsäuren
durch den Lipidmediator Resolvin E1 redu-
ziert (Novak et al. 2003).
Inflammasome sind zytosolische Multi-
proteinkomplexe des angeborenen Immun-
system, welche verantwortlich für die Aktivie-
rung von Entzündungsreaktionen sind. Das
NLRP3-Inflammasom ist ein intrazellulärer
Proteinkomplex, der neben NLRP3 (Cryo-
pyrin), die Pro-Caspase-1, das Adapter-
protein ASC und die Serin-Threoninkinase
NEK7 enthält. NLRP3-Inflammasom ge-
hört zum angeborenen Immunsystem und
ist verantwortlich für die Initiation von
Entzündungsreaktionen. Die Aktivierung
des NLRP3-Inflammasoms spielt dement-
sprechend eine wichtige Rolle bei Entwicklung
und Progression entzündlich geprägter
Krankheiten (z. B. Arteriosklerose, Arthrose,
Krebs und Autoimmunerkrankungen wie
MS oder Hashimoto-Thyreoiditis).
Die Aktivierung des NLRP3-Proteinkom-
plexes erfolgt in zwei Schritten. Dabei wird
zunächst die NFkappaB-Signaltransduktion
durch eine PAMP (pathogen-associated mo-
lecular patterns)- oder DAMP (danger-asso-
ciated molecular patterns)-vermittelte Ak-
tivierung des Toll-like-Rezeptors 4 (TLR4)
77 4
Leinsamen Meeresfisch Algen
. Leinöl W-3 Fischöl W-3 Algenöl
W-3 Öl
ALA
C18:3, W-3
Konversionsrate
ALA Æ EPA: 0,5%-5%
EPA DHA
C20:5, W-3 C22:6, W-3
Eicosanoide Resolvin E1-3
Serie 3, 5
Resolvin D1-6 Maresine Protektine
Antientzündliche, Immunmodulierende und
Zellschützende Wirkung
oder des Tumornekrosefaktor-Rezeptors
(TNFR) ausgelöst, was zu einer Erhöhung
der Expression von NLRP3, Pro-IL-1β und
Pro-IL-18 führt. IL-1β ist das Hauptzyto-
kin für inflammatorische Fieber, Immun-
reaktionen und metabolische Erkrankungen.
In einem zweiten Schritt kommt es dann
durch verschiedene Signale zu einer in-
direkten Aktivierung von NLRP3, welche
zu einer Komplexbildung und Aktivie-
rung von Caspase-1 führt. Antagonisten
des NLRP3-Inflammasoms (z. B. Soma-
lix) haben aus diesem Grunde einen hohen
Stellenwert in der Prävention und Therapie
entzündlicher Erkrankungen. Bemerkens-
werterweise beruht die anti-inflammatorische
Wirkung der Omega-3-Fettsäuren neben den
oben diskutierten Prozessen zum Teil auch
auf der Hemmung des NLRP3-Inflamma-
soms, wie man bereits im Jahre 2003 nach-
weisen konnte. Die vermehrte Belastung mit
IL-1β bleibt folglich aus, und damit wird die
Entzündungsreaktion unterbunden (Marti-
non et al. 2002; Martinon und Tschopp 2004;
Yan et al. 2013).
Vor kurzem haben Forscher darüber hi-
naus nachgewiesen, dass EPA und DHA
 78 U. Gröber

OH OH

Eicosapentaenoic Docosahexaenoic
Acid (EPA) Acid (DHA)

4 O H
N
N OH OH
H
O

Eicosapentaenoyl Docosahexaenoyl
ethanolamide (EPA-EA) ethanolamide (DHA-EA)

Cytochrome P450 (CYP)

8,9- 5,6- 10,11- 4,5-

7,8-
O
OH H
N N
H OH
O
O
O
14,15-
11,12- 17,18- 16,17-
13,14- 19,20
EEQ-EA EDP-EA

..      Abb. 4.3 Endocannabinoide aus EPA und DHA

endogen in die Endocannabinoide Doco- hemmender und neuromodulatorischer Boten-

sahexanoyl-Ethanolamid (DHA-EA) und
Eicosapentaenoyl-Ethanolamid (EPA-
EA) umgewandelt werden können. Letz-
tere werden durch enzymatische Oxidation
von Omega-3-Endocannabinoiden durch Cy-
tochrom-P450-Epoxygenasen in die anti-in-
flammatorischen und vasoprotektiven Ep-
oxide Epoxyeicosatetraensäure-Ethanolamid
(EEQ-EA) und Epoxydocosapentaensäure-Et-
hanolamid (EDP-EA) transformiert (z. B.
Gehirn, Peripherie) (. Abb. 4.3). EEQ-EA
und EDP-EA hemmen dosisabhängig Ent-
zündungen, indem sie die Konzentration
entzündungsfördernder Botenstoffe reduzie-
ren sowie die Konzentration entzündungs-
stoffe steigern (→ Endocannabinoid-Signalweg).
Diese Wirkung kann zum Teil durch die Inter-
aktion mit Cannabinoid-2-Rezeptoren im
Immunsystem erklärt werden (McDougle et al.
2017; Das et al. 2019; Watson et al. 2019).
4.3.1.2 EPA, DHA und Sarkopenie
Die Sarkopenie bezeichnet den mit fort-
schreitendem Alter zunehmenden Abbau von
Muskelmasse und Muskelkraft und die damit
assoziierten funktionellen Einschränkungen
des älteren Menschen. Sie geht oft bei älteren
Menschen Hand in Hand mit Malnutrition,
Stürzen und gesteigerter Infektanfälligkeit. In
Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Ko-
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
morbiditäten finden wir bei älteren Menschen
eine Prävalenz von bis zu 50 %.
EPA und DHA hemmen die Belastung
des Stoffwechsels mit pro-inflammatorischen,
kachektisch wirkenden Zytokinen wie TNFα,
indem sie den redoxsensitiven Transkriptions-
faktor NfkappaB hemmen, sie unterstützen
somit auch die Konservierung der Muskel-
proteinmasse und wirken der Sarkopenie ent-
gegen. Das Netzwerk rund um das „mecha-
nistic target of rapamycin“ (mTOR) ist eine
der zentralen Regulationseinheiten jeder Zelle.
TOR ist eine Serin/Threonin-Proteinkinase
und zählt damit zur Familie der Phospho-
inositol-3-Kinase (PI3K), die durch Inter-
aktionen mit mehreren Proteinen zwei spezi-
fische, strukturell unterschiedliche Komplexe
(mTORC1 und mTORC2) bilden kann. Neben
den anti-inflammatorischen Eigenschaften
dürfte die anabole Wirkung der Omega-3-Fett-
säuren auf die Skelettmuskulatur unter an-
derem auf der gesteigerten Phosphorylierung
und Aktivierung von mTOR-C1 und dem
ribosomalen Protein p70 kDa S6 beruhen,
zwei Schlüsselproteine, welche die skelettale
Muskelproteinsynthese regulieren. mTORC1
spielt eine wichtige Rolle im Prozess der Trans-
lation, der sowohl auf die RNA-Translations-
initiation als auch auf die Elongation wirkt.
mTORC1 ist somit ein wichtiger Regulator der
Proteinsynthese, des Zellwachstums, der Lipid-
synthese, der Autophagie sowie der mitochon-
drialen Aktivität und Biogenese. Insbesondere
könnte aufgrund der pathobiochemischen Ra-
tionalen eine Kombination aus Molkeprotein,
L-Leucin, Omega-3-Fettsäuren und Vitamin
D eine erfolgversprechende Intervention dar-
stellen in der Prävention und Therapie der Sar-
kopenie (Papadopoulou 2020; Dupont et al.
2019; McGlory et al. 2019; Tessier und Cheva-
lier 2018; Stella et al. 2018).
4.3.1.3  PA, DHA und die
E
Darmmikrobiota
Die Supplementierung von Omega-3-Fett-
säuren unterstützt eine physiologische Darm-
flora und reduziert die Darmpermeabilität,
79 4
indem EPA und DHA die Biodiversität der
Darmmikrobiota fördern. Die Steigerung der
Biodiversität ist in Interventionsstudien mit
einer Abnahme der Prostaglandin E2 im
Kolon assoziiert, welches pro-inflammatorisch
wirkt. Unter anderem beugen Laktobazillen
und Bifidobakterien einer erhöhten Darm-
permeabilität vor und verringern eine Lipo-
polysaccharid- (LPS) bzw. Endotoxin-ab-
hängige niederschwellige Entzündung. EPA
und DHA sind zudem in der Lage, eine ge-
sunde Firmicutes/Bacteriodetes-Ratio
wiederherzustellen und die Rate an Bakterien,
die zu einer gesteigerten Bildung anti-in-
flammatorisch wirkender kurzkettiger Fett-
säuren (SFCA) (z. B. Butyrat, Propionat) zu
erhöhen. Die Steigerung der Artenvielfalt der
intestinalen Mikrobiota ist in Interventions-
studien mit einer Abnahme des pro-in-
flammatorisch wirkenden Prostaglandin E2
assoziiert. Die anti-inflammatorischen Ef-
fekte von EPA und DHA im Darm werden
zusätzlich gesteigert, indem Omega-3-Fett-
säuren die Verfügbarkeit an N-Carbamylglu-
tamat (NCG) steigern.
Unter strukturellen und funktionellen As-
pekten ähnelt das enteritische Nervensystem
(ENS) stark dem Gehirn. Beide haben den
gleichen embryonalen Ursprung, benutzen das
gleiche neuronale Netzwerk und kommunizie-
ren über Letzteres. Mittels des Nerven vagus
kommuniziert das ENS permanent mit dem
Gehirn (Darm-Hirn-Achse). Auch die Darm-
flora tauscht Informationen mit dem Gehirn
aus. Insofern kann das Darmmikrobiom ent-
weder direkt, über die vom ENS gebildeten
Stoffwechselprodukte (z. B. SCFA), oder in-
direkt, über eine Modifizierung des mikro-
biellen Milieus (z. B. gastrointestinale Motili-
tät, Permeabilität, pH-Wert) beeinflussen.
Diese Regulation wird hauptsächlich ver-
mittelt durch die Sekretion von Acetylcholin
oder Katecholaminen seitens des autonomen
Nervensystems (ANS), was die Kreisläufe des
ENS beeinflusst. Die Freisetzung von Acetyl-
cholin durch den Nervus vagus supprimiert
die Sekretion pro-inflammatorischer Zytokine,
wie zum Beispiel TNFα oder Interleukin 6
 80 U. Gröber
(IL-6). Probiotika und Omega-3-Fettsäuren
verbessern somit die Kommunikationsfähig-
keit der Darm-Hirn-Achse (Zora Djuric et al.
2019; Gröber 2019b; Hutchinson et al. 2020).
4.3.1.4 Omega 3 und BDNF
Der neurotrophe Faktor BDNF (Brain-Deri-
ved Neurotrophic Factor) fördert die synap-
4 tische Plastizität, Differenzierung und
Neuroregeneration von Nervenzellen im zen-
tralen und peripheren Nervensystem. Dieses
Neurotrophin wird im ausgereiften Gehirn
vor allem von Neuronen im Hippocampus
gebildet. Hier spielt der BDNF eine zentrale
Rolle für das Langzeitgedächtnis und das
abstrakte Denken. Der Blutserumspiegel an
BDNF korreliert mit dem Volumen des
Hippocampus, und eine Atrophie manifes-
tiert sich unter anderem in einem Absinken
des Neurotrophins. Eine offene Pilot-Studie
untersuchte den Einfluss der täglichen Sup-
plementierung von 1470 mg DHA und
147 mg EPA auf die BDNF-Serumspiegel
über einen Zeitraum von zwölf Wochen nach
posttraumatischer Belastung. Die Gabe von
DHA/EPA führte zu einem signifikanten An-
stieg der BDNF-Werte, was auf eine Linde-
rung der posttraumatischen Belastungs-
störung hinweist (Zemdeg et al. 2018;
Matsuoka et al. 2011). Die positiven Effekte
der Omega-3-Fettsäuren auf die Verfügbar-
keit des Neurotrophins BDNF unterstreichen
unter anderem auch die Ergebnisse aus zahl-
reichen epidemiologischen und klinischen
Studien an Patienten mit verschiedenen
neuropsychiatrischen Erkrankungen
(z. B. Depression, Schizophrenie) (Pawelczyk
et al. 2019; Reimers und Ljung 2019; Rathod
et al. 2016; Sugasini et al. 2020).
4.3.1.5 Omega-3-Fettsäuren und
Telomere
Telomere sind die Schutzkappen der Chromo-
somen und spielen im Alterungsprozess sowie
bei der Entstehung von Alterskrankheiten
eine zentrale Rolle. Die DNA-Sequenzen fun-
gieren in den Körperzellen als eingebaute
Lebenszeituhr, die jede Zellerneuerung mit-
zählt. Telomere verhindern, ähnlich den
Plastik-Verstärkungen der Schnürsenkel, ein
Ausfransen der DNA. Verändern sich Telo-
mere in ihrer Länge, spiegelt sich das unter
anderem direkt in der Hirnstruktur wider. Da
sich die Leukozyten mit jedem Zellzyklus
schneller erneuern als andere Zellen, werden
auch hier die Telomere rascher verkürzt. Kür-
zere Telomere sind mit einer höheren Mortali-
tätsrate und einem erhöhten Morbiditäts-
risiko für entzündlich geprägte
Alterserkrankungen assoziiert. Die Telomer-
länge der Leukozyten (LTL) ist demnach ein
anerkannter Parameter zur Beurteilung von
Alterungsprozessen und Alterskrankheiten.
Untersuchungen zum Einfluss der Ernährung
zeigen, dass eine mediterrane Ernährung den
Alterungsprozess von Körper und Gehirn
verlangsamen kann (Sugasini et al. 2020;
Puhlmann et al. 2019).
Die Ergebnisse einer dänischen Ko-
hortenstudie zeigen, dass eine hohe Stress-
belastung in der Kindheit sowie hohe Ent-
zündungswerte (z. B. durch oxidativen
Stress) signifikant mit einer Verkürzung des
Telomerlänge assoziiert sind (Osler et al.
2016). Bei Typ-2-Diabetikern ist eine gute
Stoffwechseleinstellung (HbA1c-Wert
< 7 %) gegenüber solchen mit einem HbA1c-
Wert > 7 %mit signifikant längeren Telome-
ren der Leukozyten (LTL) assoziiert. Eine
lineare Regressionsanalyse zeigt, dass
Nahrungsmittel wie Gemüse, Nüsse, Fisch
und Seetang vor eine Verkürzung der LTL
schützen und gesüßte, zuckerhaltige Ge-
tränke das Risiko der Verkürzung be-
günstigen (Zhou et al. 2016).
Eine weitere prospektive Kohortenstudie
untersuchte die Telomerlänge der Leuko-
zyten (LTL) in Assoziation zur Versorgung
mit Omega-3-Fettäuren bei 608 Patienten mit
KHK über einen Zeitraum von über fünf
Jahren. Nach Einteilung der Patienten in
Quartilen entsprechend der EPA- und DHA-
Spiegel im Blut zeigte sich: KHK-Patienten
mit den höchsten Omega-3-Spiegeln hatten
am Ende der Studie eine signifikant geringere
Verkürzung der Telomeren (p < 0,001). Be-
 Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
Absolute change in telomere length
0 HS-Omega-3-Index (> 8–11 %) reduziert im
Absolute Change in Telomere
Length, Mean T/S Units
–0.05
–0.10
–0.15
–0.20
1 2 3 4
Quartile of Marine Omega-3
Fatty Acid Level
..      Abb. 4.4 Telomerlänge in Abhängigkeit der Ver-
sorgung mit EPA und DHA
merkenswert ist dabei nicht nur die Signi-
fikanz, sondern vor allem das Ausmaß der
Verlangsamung der Telomerenverkürzung
der Leukozyten. Während die Gruppe mit
den niedrigsten EPA- und DHA-Spiegeln
eine Verkürzung von etwa –0,13 zeigte, kam
es in der Gruppe mit der besten Versorgung
mit EPA und DHA zu einer absoluten Ver-
kürzung von nur –0,05 (. Abb. 4.4). In an-
deren Worten: Die Alterung – unter dem As-
pekt der Telomerenverkürzung der
Leukozyten – konnte durch EPA und DHA
um etwa 30 % verringert werden (Farza-
neh-Far et al. 2010; Gröber 2021a).
4.3.1.6 Versorgungsstatus
in Deutschland
Die alimentäre Versorgung mit Omega-3-
Fettsäuren kann mithilfe einer differenzier-
ten Fettsäure-Diagnostik und Bestimmung
des prozentualen Gehaltes von EPA und
DHA in der Erythrozytenmembran (= HS-
Omega-3-Index) erfasst werden. Nach
Studienlage sollte dieser im Bereich von
8–11 % liegen. Drei Viertel der deutschen
Bevölkerung ist jedoch anhand dieses Mess-
parameters und laut Ludwigs-Maximilians-
Universität mit EPA und DHA un-
zureichend versorgt und hat nur einen
81 4
HS-Omega-3-Index von 5,5 %. Ein guter
Vergleich zu einem schlechten Wert (z. B.
4 %) deutlich das Risiko für kardiovaskuläre
Erkrankungen (z. B. Herzinfarkt, plötz-
licher Herztod). Auch die gesunde Hirnent-
wicklung, Sehfunktion und kognitive
Leistungsfähigkeit sind von einer guten diä-
tetischen Versorgung mit DHA und EPA
abhängig, was sich in einem HS-Omega-3-
Index zwischen 8 und 11 % widerspiegelt.
Deshalb ist die Ergänzung der Ernährung
mit Omega-3-Fettsäuren in der Schwanger-
schaft und im höheren Lebensalter be-
sonders wichtig (Sugasini et al. 2020; Thup-
pal et al. 2017; Harris 2008)!
Fazit
Epidemiologische und klinische Studien
belegen, dass Omega-3-Fettsäuren zahl-
reiche Parameter und Symptome des
Alterungsprozesses wie Inflammaging
oder die Verkürzung der Telomerlänge
günstig beeinflussen. In Ernährungs-
konzepten bilden EPA und DHA damit
eine tragende Säule neben einer anti-in-
flammatorischen, Arachidonsäure-armen,
naturbelassenen Vollwertkost im Rahmen
des Healthy-Agings. Um Alterungs-
prozessen vorzubeugen oder begleitend zu
therapieren, sollte man täglich mindestens
2–4 g EPA/DHA (z. B. Fisch- oder Alge-
nöl) ergänzen und die alimentäre Ver-
sorgung mit Omega-3-Fettsäuren mithilfe
des Omega-3-Indexes oder des Quotienten
aus ARA zu EPA (Ziel: ARA/EPA ≤ 4) im
Labor objektivieren.
4.3.2  itamin D: Das Healthy-
V
Aging-Hormon
Weltweit sind nach aktuellen Schätzun-
gen etwa 1 Milliarde, insbesondere ältere
Menschen, von einem Vitamin-D-Mangel
[25(OH)D < 20 ng/ml] oder einer Vitamin-
 82 U. Gröber
D-Insuffizienz [25(OH)D: 20–29 ng/ml] be-
troffen (Holick 2007; Gröber et al. 2015a;
Gröber und Holick 2020). Die Prävalenz
eines Vitamin-D-Mangels bei Personen
> 65 Jahren wird geschätzt auf ungefähr
50 % bis 84 %, wobei diese etwas optimisti-
sche Einschätzung im Alter von zahlreichen
Parametern verfälscht werden kann, wie
4 Ernährungs-, Immunstatus, körperliche
Veränderungen, Komorbiditäten, Poly-
medikation sowie finanzielle, mentale, so-
ziale, klinische Einflüsse und/oder Umwelt-
faktoren (McKenna 1992; Gloth et al. 1995;
Wicherts et al. 2007; Shinkov et al. 2016;
Cashman et al. 2016).
Mit fortschreitendem Alter ist eine Ver-
schlechterung der Vitamin-D-Versorgung
zu beobachten. Dementsprechend sind an
die 90 % der älteren Personen im deutsch-
sprachigen Raum unzureichend mit Vitamin
D versorgt. Ursachen sind vor allem die im
Alter verminderte Kapazität der kutanen
Vitamin-D-Synthese. Im Vergleich zu jun-
gen Erwachsenen fällt diese um bis zu 75 %
ab. Oberhalb des 35. Breitengrades ist in
Deutschland von Oktober bis März auch
aufgrund des zu niedrigen UV-Indexes (UVI
< 3) keine kutane Vitamin-D-Synthese über
die Sonne möglich. Lebensmittel sind in der
Regel nur arm an Vitamin D und nicht ge-
eignet, um den Bedarf von 40–60 I.E. Vitamin
D pro kg Körpergewicht pro Tag eines Er-
wachsenen abzudecken. Beispiel: Um den
täglichen Vitamin-D-Bedarf von mindes-
tens 2000 I.E. Vitamin D am Tag mit Shita-
kepilzen oder Champignons abzudecken,
müsste man jeden Tag etwa 2 kg Pilze, 4,2 kg
Butter, 230 g Aal oder 20 g Lebertran ver-
zehren (Holick 2007; Gröber und Holick
2020; Hilger et al. 2014).
Nach aktuellen Studien ist ein Vita-
min-D-Mangel ein wichtiger ätiologischer
Faktor bei der Pathogenese zahlreicher
chronischer Erkrankungen, vor allem
typischer Alterskrankheiten. Dazu ge-
hören nicht nur Erkrankungen des Skelett-
systems wie Arthrose und Osteoporose,
sondern auch Infektionskrankheiten, endo-
krin-metabolisch-vaskuläre Erkrankungen
(z. B. Typ-2-Diabetes), kardiovaskuläre
Erkrankungen (z. B. KHK), entzündliche
Darmerkrankungen (z. B. Morbus Crohn),
Autoimmunerkrankungen (z. B. Multiple
Sklerose), Krebserkrankungen (z. B. Kolon-
karzinom) sowie neurokognitive Er-
krankungen (z. B. Alzheimer, Parkinson)
(Gröber et al. 2015a; Gröber und Holick
2020; McKenna 1992; Holick 2005; Schlereth
et al. 2016; Martens et al. 2020).
4.3.2.1  itamin D: Das
V
Secosteroid(Pro)hormon
Streng genommen ist Vitamin D kein Vit-
amin im eigentlichen Sinne, sondern viel-
mehr ein Hormonvorläufer, ein sogenanntes
Prohormon, da es im Körper des Menschen
mithilfe der Sonne in der Haut aus Choles-
terin gebildet werden kann und in der Folge
in der Leber, den Nieren und zahlreichen
anderen Zellsystemen in mehreren Schrit-
ten in das Secosteroid-hormon 1,25-Di-
hydroxy-Vitamin D [1,25(OH)2D] aktiviert
wird.
In den Zellen und Zielorganen wird das
Steroidhormon 1,25(OH)2D an einen intra-
zellulären Rezeptor, den sogenannten Vi-
tamin-D-Rezeptor (VDR) gebunden. Die
VDR-Rezeptoren besitzen, wie auch andere
Steroidhormonrezeptoren, eine DNA-bin-
dende Domäne. Nach Bindung an die DNA
wird der 1,25(OH)2D-VDR-Komplex in den
Zellkern transloziert und beeinflusst dort
die Transkription verschiedener hormon-
sensitiver Gene. Der Vitamin-D-Rezeptor ist
in fast jeder Körperzelle zu finden. Im huma-
nen Genom finden sich über 2700 Bindungs-
stellen für den VDR, was die besondere
Bedeutung von Vitamin D unterstreicht.
Daraus resultiert auch die ausgeprägte
pleiotrope Wirkung des 1,25(OH)2D. Diese
Gene beeinflussen unter anderem die mito-
chondriale Biogenese, den Hirnstoffwechsel,
den Intermediärstoffwechsel (z. B. Insulin),
die Autoimmunität, die Epithel- und Endo-
thelfunktion, das Darmmikrobiom, den
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
Knochenaufbau, die Muskelproteinsynthese
sowie Entzündungsprozesse und die Stabili-
tät des Immunsystems, um nur einige an
dieser Stelle zu nennen (Holick 2007; Grö-
ber und Holick 2020; Holick 2005; Gonza-
ga-Jauregui 2012).
4.3.2.2 Vitamin D und Mortalität
Epidemiologische Studien sowie Kohorten-
und klinische Studien geben Hinweise dar-
auf, dass der 25(OH)D-Status die Lebens-
zeit und die Mortalität beeinflusst. Zwischen
der allgemeinen Mortalität und dem Vita-
min-D-Status besteht eine inverse Assozia-
tion, wie die Ergebnisse von Meta-Analysen
belegen (Holick 2007; Gröber et al. 2015a;
Gröber und Holick 2020; Nair und Maseeh
2012). So zeigt eine große US-amerikani-
sche Meta-Analyse aus dem Juni 2014, dass
Erwachsene (Alter: < 65 und ≥ 65 Jahre) mit
einem ausgeprägten Vitamin-D-Mangel
[25(OH)D: 0–9 ng/ml] gegenüber solchen
mit einem normalen Vitamin-D-Status
[25(OH)D: > 30 ng/ml] ein signifikant um
90 % erhöhtes Risiko haben, vorzeitig zu
versterben [HR: 1.9; 95 % CI = 1.6, 2.2;
p < 0,001]. Im Rahmen der vorliegenden
Meta-Analyse wurden die Ergebnisse von
insgesamt 32 Studien aus 14 Ländern mit
einer durchschnittlichen Studiendauer von
neun Jahren und über 500.000 Probanden
(Alter: ± 55 Jahre) analysiert. Dabei wurden
Studien von 1966 bis 2013 ausgewertet. Die
Auswertung der Studien ergab, dass bei
einem 25(OH)D-Status von > 30 ng/ml die
Mortalitätsrate etwa halb so hoch war als
bei Personen mit einem ausgeprägten Vita-
min-D-Mangel [25(OH)D: 0–9 ng/ml]
(p < 0,001) (Gröber et al. 2015a; Chowdhury
et al. 2014; Garland et al. 2014) (. Abb. 4.5).
Ähnliche Ergebnisse liegen aus Meta-Ana-
lysen vor, die eine Assoziation zwischen dem
25(OH)D-Status und der Mortalität beim
Kolonkarzinom zeigen. Das kolorektale
Karzinom ist bekanntlich bei Frauen der
zweit- und bei Männern der dritthäufigste
maligne Tumor in den deutschsprachigen
Ländern. Das mittlere Erkrankungsalter
83 4
liegt zwischen 70 und 75 Jahren. Personen
mit genetischer Belastung können schon im
frühen Erwachsenenalter erkranken
(Maalmi et al. 2017; Maalmi et al. 2018; Wu
et al. 2020). Die Meta-Analyse von 18 ran-
domisierten klinischen Interventionsstudien
mit 57.311 Teilnehmern zum Einfluss von
Vitamin D auf die Mortalität zeigt, dass die
regelmäßige Supplementierung von Vitamin
D (täglich 300–2000 IE Vitamin D) über
einen Zeitraum von etwa sechs Jahren signi-
fikant die Gesamtsterblichkeit um 7 % senkt
[RR 0.93; 95 % CI, 0.87–0.99]. Dabei ist vor
allem die regelmäßige und langfristige Sup-
plementierung (> 3 Jahre) entscheidend
(Autier und Gandini 2007; Zheng et al.
2013). In Bezug auf kardiovaskuläre Er-
krankungen und Komorbiditäten (z. B. RR
↑, hs-CRP ↑, PTH ↑, TG ↑) zeigen
Meta-Analysen vergleichbare günstige Er-
gebnisse, geben allerdings einen Hinweis da-
rauf, dass täglich ≥ 4000 IE Vitamin D sup-
plementiert und 25(OH)D-Spiegel von ≥ 86
nmol/l erreicht werden müssen, um kardio-
protektive Effekte zu erzielen (Mirhosseini
et al. 2018; Lotito et al. 2017; Moslehi et al.
2015; Moradi et al. 2020).
4.3.2.3  itamin D, oxidativer Stress
V
und Entzündung
Zahlreiche Studien zeigen eine inverse
Korrelation zwischen dem 25(OH)D-Sta-
tus und Biomarkern für oxidativen Stress
und Entzündung, wie CRP, IL-1 β, IL-6,
TNFα, Cathepsin S, vascular cell adhe-
sion molecule-1 (VCAM-1), Malondial-
dehyd (MDA)-, 3-Nitrotyrosin (3NT)-Be-
lastung, Aktivität der Myeloperoxidase
und Superoxid-Dismutase (SOD). In kon-
trollierten randomisierten Studien an
Typ-2-Diabetikern führte die Supplemen-
tierung von Vitamin D zu einer signi-
fikanten Abnahme der Entzündungspara-
meter CRP, IL-1β, IL-6 und TNFα im
Blutserum (Filgueiras et al. 2018; Neyes-
tani et al. 2012; Tabesh et al. 2014; Tice-
nesi et al. 2016). Die Aktivierung des
VDR in Makrophagen durch 1,25(OH)2D
 84 U. Gröber
Schwellenwert: > 30 ng/ml
..      Abb. 4.5 Allgemeine Sterblichkeit in Abhängigkeit vom 25(OH)D-Status
hemmt den Transkriptionsfaktor Nfkap-
paB und führt zu einer Downregulation
der Expression von TLR2 und TLR4, was
in einer reduzierten Produktion von
TNFα mündet (Cohen-Lahav et al. 2006;
Sadeghi et al. 2006).
4.3.2.4 Vitamin D und Telomere
Vitamin D wirkt der altersbedingt be-
schleunigten Telomerattrition entgegen. Ein
optimaler Vitamin-D-Status [25(OH)D: 40–
60 ng/ml] scheint das Risiko für die Ent-
wicklung altersbedingter Erkrankungen ge-
nerell und Störungen des Immunsystems
vorzubeugen, wie eine Studie aus England
zeigt. Bei 2160 Frauen zwischen 18 und 79
Jahren wurden dafür die 25(OH)D-Werte
im Blutserum gemessen und diese mit der
Telomerlänge ihrer Leukozyten (LTL) ver-
glichen.
25(OH)D, ng/ml
Nach Berücksichtigung verschiedener
Einflussfaktoren wurde in dieser Studie die
Telomerlänge der Leukozyten (LTL) mit
dem jeweiligen Alter der Frauen verglichen:
Frauen mit dem besten Vitamin-D-Status
[25(OH)D: 49,6 ng/ml] hatten dabei signi-
fikant längere Telomere als Frauen mit
einem Vitamin-D-Mangel [25(OH)D:
16,4 ng/ml]. Der Unterschied in der Telomer-
alterung zwischen diesen beiden Gruppen
betrug fünf Jahre. Dieser Unterschied war
besonders ausgeprägt, wenn zusätzlich er-
höhte Entzündungsmarker im Blut nach-
weisbar waren. Ein guter Vitamin-D-Status
war in dieser Studie gegenüber einem Vita-
min-D-Mangel mit einem deutlichen Über-
lebensvorteil, einer geringeren Anfälligkeit
für Infekte und Entzündungen verbunden.
Die Ergebnisse dieser Studie geben Hinweise
darauf, dass ein guter Vitamin-D-Status ge-
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
nerell den Alterungsprozess verlangsamt
und vor altersbedingten Erkrankungen
schützt (Gröber und Holick 2020; Richards
et al. 2007; Van Aart et al. 2018; Sanders
und Newman 2013; Hilger et al. 2014).
4.3.2.5  itamin D und
V lymorphismen mit dem Abbau kognitiver
Hirngesundheit
Neben vielen anderen Wirkungsbereichen
hat Vitamin D auch eine ausgesprochene
Schutzfunktion für die Nervenzellen des
Gehirns. Daher befinden sich besonders in
den Schlüsselbereichen des Gehirns, wie
im Hippocampus, Vitamin-D-Rezeptoren
(VDR), die zu dessen Gesunderhaltung
beitragen. Eine Vielzahl von Studien gibt
Hinweise darauf, dass ein Vitamin-D-Man-
gel die kognitive Leistungsfähigkeit beein-
trächtigt und das Risiko für Depressionen,
Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson und
Schizophrenie erhöht. Man könnte daraus
schließen, dass nicht der Knochen, sondern
das Gehirn das wichtigste Zielorgan für Vi-
tamin D ist. Es fördert die Entwicklung und
Funktionsfähigkeit des Gehirns bis ins hohe
Alter (Gröber und Holick 2020; McCann
et al. 2008; Holick 2015; Littlejohns et al.
2014; Lee et al. 2020).
Der Vitamin-D-Rezeptor (VDR) wird
in verschiedenen Teilen des Gehirns ex-
primiert. Dazu zählen: Basales Vorder-
hirn, Caudate und Putamen, Cerebellum,
Corpus geniculatum laterale, Gyrus cin-
guli, Hypothalamus, präfrontaler Kor-
tex, Substantia nigra und Thalamus. Das
Enzym 25(OH)D-1 alpha Hydroxylase,
welches für die Umwandlung von 25(OH)
D in seine hormonaktive Form 1,25(OH)2D
verantwortlich ist, konnte in vielen Regio-
nen des Gehirns, vor allem im limbischen
System und im Hippocampus, zusammen
mit dem VDR nachgewiesen werden. Als
Ligand des VDR induziert 1,25(OH)2D
die Aktivierung verschiedener neurotopher
Faktoren (z. B. BDNF), welche die Rei-
fung und das Wachstum von Nervenzellen
im Gehirn anregen. Während der fetalen
Entwicklung nimmt die Dichte an VDR
85 4
im Gehirn zu. 1,25(OH)2D kontrolliert als
Ligand des VDR ähnlich wie Vitamin-A
(Retinol)-Gene, welche für die Neuro-
genese und Plastizität wichtig sind. Darü-
ber hinaus konnte gezeigt werden, dass ein
Vitamin-D-Mangel sowie VDR-Genpo-
Fähigkeiten und dem Risiko für neuro-
degenerative Erkrankungen (z. B. Morbus
Alzheimer) assoziiert sind. (. Abb. 4.6)
(Gröber und Holick 2020; Gröber 2020b).
4.3.2.6  itamin D und
V
Altersdiabetes
Ein Vitamin-D-Mangel scheint nach den ak-
tuellen Daten nicht nur die Progression vom
Prädiabetes zum manifesten Typ-2-Diabetes
zu steigern, sondern hat beim Metabolischen
Syndrom auch einen Einfluss auf die
Mortalität: In der LURIC-Studie an 1801
Patienten mit Metabolischem Syndrom war
ein suffizienter Vitamin-D-Status [25(OH)D:
≥ 30 ng/ml] gegenüber einem schweren Vit-
amin-D-Mangel 25(OH)D < 10 ng/ml] mit
einer 66 %-Reduktion der kardiovaskulären
Mortalität und einer 75 %-Reduktion der
Gesamtsterblichkeit assoziiert. Patienten mit
einem suffizienten Vitamin-D-Status hatten
gegenüber denjenigen mit einem schweren
Vitamin-D-Mangel ein um 85 % bzw. 76 %
reduziertes Mortalitätsrisiko durch plötz-
lichen Herztod bzw. Herzinsuffizienz. Selbst
wenn Patienten mit Typ-2-Diabetes aus der
Analyse herausgenommen wurden, wiesen
diejenigen mit einem guten Vitamin-D-Sta-
tus im Vergleich zu denen mit einem schwe-
ren Vitamin-D-Mangel eine um 64 % redu-
zierte Gesamtmortalität auf.
In einer aktuellen randomisierten und
placebokontrollierten Studie wollten Pittas
et al. im N Engl J Med die Frage klären, ob sich
das Erkrankungsrisiko von Menschen mit
hohem Diabetesrisiko durch die Supplementie-
rung von Vitamin D reduzieren lasst. Dazu er-
hielten insgesamt 2422 Patienten, die mindes-
tens zwei von drei diagnostischen Kriterien für
Prädiabetes (Nüchternglukose 100–125 mg/dl,
2-Stunden-Glukose nach OGT 140–199 mg/dl,
 86 U. Gröber
..      Abb. 4.6 Vitamin D und Hirngesundheit
HbA1c 5,7–6,4 %) erfüllten, über einen Zeit-
raum von 24 Monaten entweder täglich 4000
I. E. Vitamin D oder ein Placebo.
Bemerkenswert ist, dass ein Vita-
min-D-Mangel (25(OH)D < 20 ng/ml) nicht
zu den Einschlusskriterien dieser Inter-
ventionsstudie zählte. Die basalen 25(OH)
D-Spiegel wurden zwar gemessen, die Patien-
ten wurden aber unabhängig von ihrem an-
fänglichen Vitamin-D-Spiegel dem Zufall nach
in zwei Gruppen geteilt. Einen Mangel an Vit-
amin D (25(OH)D < 20 ng/ml) hatten bei
Studienbeginn nur 276 (= 22,8 %) von den
1211 Patienten der Verum-Gruppe und 249 (=
20,6 %) von den 1211 Patienten aus der Place-
bo-Gruppe. 77,2 % der Patienten aus der Ve-
rum-Gruppe und 79,4 % aus der Place-
bo-Gruppe hatten gar keinen Mangel, der die
Supplementierung von Vitamin D notwendig
machen wurde. Nach 24 Monaten wurden die
25(OH)D-Spiegel erneut bestimmt und aus-
gewertet, wie viele Patienten Typ-2-Diabetes
nach vollen Diagnosekriterien entwickelt hat-
ten. Dabei zeigte allerdings das Ergebnis kei-
nen signifikanten Vorteil der Supplementie-
rung von Vitamin D im Vergleich zu Placebo
im Hinblick auf das Diabetesrisiko (p = 0,12).
In der Verum-Gruppe war der 25(OH)D-Spie-
gel von durchschnittlich 27,7 ng/ml auf 54,3 ng/
ml signifikant angestiegen, wahrend sich die
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
Spiegel in der Placebo-Gruppe mit 28,2 ng/ml
bei Studienbeginn und 28,8 ng/ml am Studien-
ende nicht signifikant geändert hatten.
Nach einem Follow-up von median 2,5
Jahren traten durch die Supplementierung
von Vitamin D3 jedoch nur geringfügig we-
niger Diabetes-Falle auf: 293 in der Vita-
min-D-Gruppe und 323 in der Place-
bo-Gruppe, d. h. 9,39 versus 10,66 Fälle pro
100 Personenjahre. Die Hazard Ratio (HR)
in der Vitamin-D-Gruppe betrug 0,88 (95 %
CI, 0,75–1,04; p = 0,12). Damit war der
Unterschied statistisch nicht signifikant. In
einer Post-hoc-Analyse von 103 Patienten
mit einem mit einem 25(OH)D-Ausgangwert
< 12 ng/ml betrug die Hazard Ratio (HR) in
der Vitamin-D-Gruppe 0,38 (0,18; 0,80). Bei
Teilnehmern mit anfänglich höheren 25(OH)
D-Spiegeln (n = 2 319 Teilnehmer) lag sie da-
gegen bei 0,92 (0,78; 1,08) (Gröber und Ho-
lick 2020; Gröber und Holick 2019).
4.3.2.7 Vitamin D:
Knochenmineralisierung,
Muskelfunktion und
Sarkopenie
Ein schwerer Vitamin-D-Mangel [25(OH)D
< 10 ng/ml] führt bei Kindern zu Rachitis
und bei Erwachsenen zu einer Osteomalazie.
Klinisch gehört neben einer Mineralisations-
störung eine proximal betonte Myopathie,
die sich in Muskelschwäche und -schmer-
zen äußern kann, zu den Symptomen
eines schweren Vitamin-D-Mangels. Die
Mineralisationsstörung kann zudem zu
Knochenschmerzen und Frakturen führen.
Bei älteren Erwachsenen führt ein Mangel
an Vitamin D zu einem erhöhten Risiko für
Sarkopenie, Stürze und Knochenfrakturen.
In einer Meta-Analyse in der die Daten
von 30.011 Probanden aus elf doppelblinden
und randomisierten Studien gepoolt wurden,
zeigte die Intent-to-Treat-Analyse eine statis-
tisch nicht signifikante Reduktion der Hüft-
frakturen um 10 %. Wenn man jedoch den
Effekt in Abhängigkeit von den tatsächlich
eingenommenen Vitamin-D-Menge unter-
87 4
suchte, dann zeigte sich in der Gruppe mit
der höchsten Dosierung (792 bis 2000 I.E. Vi-
tamin D/Tag; im Median: 800 I.E. Vitamin
D/Tag) eine statistisch signifikante Reduk-
tion der Hüftfrakturen um 30 %, verglichen
mit den Personen der Kontrollgruppe. Bei
jenen Personen, die pro Tag weniger als
792 I.E. Vitamin D supplementierten, war
keine statistisch signifikante Reduktion der
Hüftfrakturen nachweisbar. Eine vergleich-
bare Dosis-Wirkungs-Abhängigkeit war für
alle nicht-vertebralen Frakturen nachweisbar.
Die Subgruppenanalyse zeigte in allen Alters-
gruppen, bei zu Hause lebenden Senioren und
bei Senioren im Pflegeheim mit der höchs-
ten Vitamin-D-Dosierung eine signifikante
Reduktion der Frakturen. Die Ergebnisse
einer Knochenbiopsie-Studie an 675 Patien-
ten geben einen Schwellenwert der 25(OH)
D-Spiegel ≥ 75 nmol/l bzw. ≥ 30 ng/ml als
Grenzwert für einen gesunden Knochenstoff-
wechsel an, ab dem keine Mineralisations-
störungen mehr nachweisbar sind (Papado-
poulou 2020; Tessier und Chevalier 2018;
Gröber und Holick 2020; Bischoff-Ferrari
et al. 2004, 2009, 2019; Priemel et al. 2011).
Neben einer positiven Wirkung auf die
Knochendichte hat Vitamin D einen un-
mittelbaren, stärkenden Effekt auf die Mus-
kulatur, was neben einer Begünstigung des
Kalziumeinstroms in die Muskelzelle mit
einer rezeptorvermittelten Stimulation der
Muskelproteinsynthese erklärt wird.
1,25(OH)2D supprimiert die Expression von
Myostatin, welches das Muskelwachstum
hemmt, und reguliert über VDR myogene
Transkiptionsfaktoren, die eine zentrale
Rolle bei der Proliferation und Differenzie-
rung der Skelettmuskulatur spielen. Darüber
hinaus unterstützt 1,25(OH)2D die Bildung
von Typ-II-A-Muskelfasern. Dieser Muskel-
fasertyp ist wichtig für Schnellkraft und wird
auch als fast twitch bezeichnet. Einer Atro-
phie dieser Muskelfasern wirkt 1,25(OH)2D
entgegen. Eine Meta-Analyse aus dem Jahre
2017 liefert zudem robuste Evidenz, dass der
25(OH)D-Status bei älteren Menschen posi-
tiv korreliert mit ihrer Gehgeschwindigkeit.
 88 U. Gröber
Darüber hinaus supprimiert 1,25(OH)2D
das Parathormon, dem eine muskelkatabole
Wirkung zugeschrieben wird. Möglicherweise
ist dieser Zusatzeffekt für die Fraktur-
reduktion und Prävention der Sarkopenie
unter der Supplementierung von Vitamin D
entscheidend, da Stürze den primären Risiko-
faktor für Frakturen darstellen. Dies unter-
4 mauern auch Studienergebnisse, wonach es
bereits nach 2–3 Monaten der Supplementie-
rung von Vitamin D zu einer signifikanten Re-
duktion des Sturzrisikos kommt, die Musku-
latur also sehr schnell auf die Supplementierung
von Vitamin D reagiert, und dass sich die
Frakturreduktion bereits nach etwa sechs
Monaten bemerkbar macht. In der Reanalyse
einer 2009 publizierten Meta-Analyse von
acht doppelblinden und randomisierten Stu-
dien mit einer hochwertigen Sturzerfassung,
zeigte Vitamin D über alle Studien hinweg
einen Benefit (OR = 0,73 [.62, .87]; p = 0,0004).
Zudem konnte die Relevanz der Vita-
min-D-Dosierung auch bezüglich der Sturz-
reduktion bestätigt werden: In der höheren
Dosis (700–1000 I.E. Vitamin D/Tag) redu-
zierte Vitamin D das Sturzrisiko um 34 %
(OR = 0,66 [0.53, 0.82] p = .0002), während in
der niedrigeren Dosierung keine Sturz-
reduktion auftrat (OR = 1,14 [0.69, 1.87])
(Gröber und Holick 2020; Ceglia et al. 2010;
Beaudart et al. 2014; Annweiler et al. 2017;
Remelli et al. 2019).
4.3.2.8  itamin D und
V Gröber 2021b).
Immunmodulation
Neben den endokrinen Effekten übt Vita-
min-D-Hormon auch auto- und parakrine
Wirkungen aus. Zahlreiche Körperzellen,
darunter immunkompetente Zellen wie
dendritische Zellen, Makrophagen, B- und
T-Lymphozyten, verfügen über VDR und
die enzymatische Ausstattung zur Synthese
von Calcitriol aus seinem Präkursor 25(OH)
D. 1,25(OH)2D ist ein potenter Modulator
der angeborenen und erworbenen Immunität
sowie der Immunbalance zwischen Th1-, Th2-,
Th17 und Treg-Zellen. Lokal oder systemisch
gebildetes Vitamin-D-Hormon inhibiert u. a.
die Reifung der dendritischen Zellen, redu-
ziert die Th1- und Th17-vermittelte Sekretion
proinflammatorischer Zytokine wie TNFα,
steigert die Differenzierung von Monozyten
zu Makrophagen und deren Phagozytoserate
sowie die Aktivität lysosomaler Enzyme in
Makrophagen.
Darüber hinaus steigert Vitamin D die Syn-
these von antiviral wirkenden antimikrobiellen
Peptiden (AMP). Das Vitamin-D-Hormon
1,25(OH)2D beeinflusst den zellulären Stoff-
wechsel über genomische und nicht-genomi-
sche Stoffwechselprozesse. Dabei bindet
1,25(OH)2D überwiegend an den Vita-
min-D-Rezeptor (VDR), und nach der Bil-
dung eines Heterodimers mit dem Retino-
id-Rezeptor (RXR) transloziert dieser in den
Zellkern, wo er an das sogenannte Vitamin D
responsive element (VDRE) in der DNA bin-
det und die Transkription zahlreicher Gene
kontrolliert. Die endogene Produktion anti-
mikrobieller Peptide (AMP) wie Denfensine
und Cathelicidin wirkt antiviral und senkt die
Infektiosität von Erkältungsviren (z. B. Influ-
enza). Dies dürfte derzeit auch bei Covid-19
relevant sein. Auch die Response auf eine In-
fluenza-Impfung wird durch Vitamin D unter-
stützt. Die Ergebnisse von aktuellen Meta-Ana-
lysen belegen, dass die Supplementierung von
Vitamin D bei Erwachsenen das Risiko für
Atemwegsinfektionen signifikant um 20–30 %
reduziert (Gröber und Holick 2020; Charoenn-
gam und Holick 2020; Gröber et al. 2020a;
4.3.2.9 Versorgungstatus
in Deutschland
Bekanntlich sind weltweit nach aktuellen
Schätzungen etwa 1 Milliarde Menschen von
einem Vitamin-D-Mangel [25(OH)D
< 20 ng/ml] oder einer Vitamin-D-Insuffizienz
[25(OH)D: 20–29 ng/ml] betroffen. Auch
viele der Covid-19-Patienten weisen eine un-
zureichende bzw. mangelhafte Vitamin-D-
Versorgung [25(OH)D < 30 ng/ml bzw.
< 20 ng/ml] auf, die beide behandlungs-
bedürftig sind. Als optimaler 25(OH)D-Sta-
tus in Bezug auf die Prävention gilt derzeit in
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
der internationalen Vitamin-D-Forschung
ein 25(OH)D-Wert von 40–60 ng/ml (100–
150 nmol/l). Die Häufigkeit des Vita-
min-D-Mangels [25(OH)D < 20 ng/ml] in der
europäischen Bevölkerung und das damit
verbundene gesundheitliche Gefährdungs-
potenzial werden durch die Daten der aktuell
publizierten ODIN-Studie an der Universität
Graz untermauert. In dieser Studie wurde
der 25(OH)D-Status von 55.844 Europäern
ausgewertet (Gröber und Holick 2020; Ho-
lick 2017).
Die Ergebnisse dieser Studie sind alar-
mierend und stellen die Handlungs-
kompetenz und das Verantwortungs-
bewusstsein der nationalen sowie der
europäischen Gesundheitspolitik in Bezug
auf die gesundheitliche Bedeutung des
Sonnenvitamins infrage:
55 13 % der Untersuchten hatten einen
25(OH)D-Status < 12 ng/ml.
55 40,4 % der Untersuchten hatten einen
25(OH)D-Status < 20 ng/ml.
55 84 % der Untersuchten hatten einen
25(OH)D-Status < 30 ng/ml.
Fazit
Epidemiologische und klinische Studien
belegen, dass Vitamin D zahlreiche Para-
meter und Symptome des Alterungs-
prozesses, wie Inflammaging oder die
Verkürzung der Telomerlänge, günstig
beeinflussen. Für ein stabiles Immun-
system, einen harmonischen Stoffwechsel
(z. B. Insulin) sowie eine gute Lebens-
qualität im Alter sollten Senioren 40–
60 IE Vitamin D pro kg KG pro Tag sup-
plementieren. Die 25(OH)D-Status
orientierte Supplementierung von Vita-
min D ist eine wichtige präventiv-
medizinische Strategie, um die allgemeine
Gesundheit und Knochenintegrität in
allen Alterstufen zu fördern sowie das
Fraktur- und Sturzrisiko bei älteren Men-
schen zu vermindern.
89 4
4.3.3 Vitamin K und MK-7
Vitamin D und Vitamin K spielen in vielen
Bereichen eine synergistische Rolle bei der
Knochenmineralisierung, im kardio-
vaskulären System und im Immunsystem.
Dementsprechend sind sowohl ein Vita-
min-D-Mangel (25(OH)D < 20 ng/ml) bzw.
eine Vitamin-D-Insuffizienz (25(OH)D <
30 ng/ml) und eine suboptimale Versorgung
mit Vitamin K (vor allem als Vitamin K2)
mit Störungen im Knochenstoffwechsel und
vorzeitigen Alterungsprozessen assoziiert.
4.3.3.1 Die K-Vitamere
Die wichtigsten natürlich vorkommenden
K-Vitamere sind das in grünen Pflanzen ent-
haltene Phylloquinon (2-Metyhl-3-phy-
tyl-1,4-naphthoquinon, Phytomenadion),
auch als Vitamin K1 bekannt, sowie das von
Darmbakterien (z. B. Bacteroides) mit unter-
schiedlich langen Seitenketten gebildete Me-
naquinon, auch als Vitamin K2 bezeichnet.
Inflammaging und Immunosenezenz sind
assoziiert mit abnehmenden Vitamin-K-Spie-
geln, was zum einen Störungen begünstigt,
der Carboxylierung Vitamin-K-abhängiger
Proteine wie Gas 6 und GRP, die Einfluss
nehmen auf die Apoptose und pathologische
Kalzifizierung, und zum anderen unabhängig
von seiner Funktion als Cofaktor von
γ-Carboxylasen die Modulation der Ent-
zündung, oxidativem Stress und mitochond-
rialen Dysfunktion bestimmt.
4.3.3.2 Interaktion zwischen
Vitamin K und Vitamin D
Das Zusammenspiel zwischen Vitamin
D und Vitamin K2 (z. B. MK-7) wird
deutlich vor allem in Bezug auf die Syn-
these des Peptidhormons Osteocalcin,
welches essenziell für die Bildung von
Hydroxylapatit-Kristallen im Knocheng-
webe ist. Als Coenzym ist Vitamin K es-
senziell für die γ-Carboxylierung spezi-
fischer Glutaminsäure-(Glu)Reste in
 90 U. Gröber
1,25(OH)2D
Vitamin K-abhängige
Optimaler
25(OH)D-Status Proteine  (Vitamin A-Hormon)
ucOsteocalcin
dp-ucMGP
Aktivierung durch
Carboxylierung
4 Vitamin K2
Optimaler
Vitamin K2-Status
cOsteocalcin  Frakturrisiko ¯
cMGP  Hypermineralisierung ¯
..      Abb. 4.7 Synergismus zwischen Vitamin K und Vitamin-D-Hormon
verschiedenen Vitamin-K-abhängigen
Proteinen (z. B. Osteocalcin, MGP). Die
so gebildeten γ-Carboxyglutaminsäure-
(Gla)Verbindungen (GRP) sind in der
Lage, Kalzium-Ionen komplex zu binden,
was seinerseits zu einer Konformations-
änderung des Proteins führt, die Voraus-
setzung für seine physiologische Funktion
ist. Auf diese Weise entstehen z. B. durch
posttranslationale Modifizierung aus Vor-
stufen die Gerinnungsfaktoren Faktor II
(Prothrombin), Faktor VII, IX und X. Car-
boxyliertes Osteocalcin (cOc) bindet im
Knochengewebe Kalzium, welches mithilfe
der Osteoblasten in das Hydroxylapatit des
Knochens eingebaut wird. 1,25(OH)2D und
Retinsäure steigert die Synthese des uncar-
boxylierten Osteocalcins (ucOc) und des
dephosphorylierten uncarboxylierten Ma-
trix-Gla-Proteins (dp-ucMGP). Während
carboxyliertes Osteocalcin (cOc) den Ein-
bau von Kalzium in die Knochenmatrix
fördert und einer Hypermineralisierung des
Knochens vorbeugt, wirkt das Vitamin-K-
abhängige Matrix-Gla-Protein (cMGP) der
Gefäßkalzifizierung sowie altersbedingten
Verschleißerscheinungen der Arterien ent-
Retinsäure (RA)
Gemeinsame Effekte:
Knochenaufbau/-härte 
Knochenalterung ¯
Entzündung ¯
Gefäßverkalkung ¯
gegen und schützt die Blutgefäße vor einer
Kalziumüberladung (. Abb. 4.7).
Vitamin-K-abhängige Proteine sind nicht
nur an der Blutgerinnung und dem Knochen-
stoffwechsel beteiligt, sondern auch für den
Schutz der Blutgefäße wichtig. Das Vitamin-
K-abhängige Matrix-Gla-Protein (cMGP)
wirkt als starker Inhibitor der vaskulären
Kalzifizierung der Ablagerung von Kalzium
in den Arterienwänden sowie altersbedingten
Verschleißerscheinungen der Blutgefäße ent-
gegen und schützt somit die Arterien vor
einer atherosklerotischen Mikrokalzifizie-
rung. Die Bildung von Hydroxyl-
apatit-Kristallen und damit die Ver-
knöcherung der entsprechenden weichen
Gewebe wird verringert. Dabei ist MK-7
sogar in der Lage, Kalzium aktiv aus be-
stehenden Plaques zu entfernen. Sowohl epi-
demiologische als auch Interventionsstudien
zeigen günstige Effekte von MK-7 auf die
kardiovaskuläre Gesundheit.
In einer doppelblinden, placebo-
kontrollierten Studie aus dem Jahre 2015 an
244 postmenopausalen Frauen mit begin-
nender Koronarsklerose führte die tägliche
Supplementierung von 180 μg MK-7 zu einer
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
signifikanten Reduktion des untercarboxy-
lierten MGP-Spiegels und zeigte – als Zei-
chen für die Abnahme der vaskulären Kalzi-
fizierung – einen geringeren Verhärtungsgrad
der Arteria carotis und arteriellen Gefäß-
steifigkeit. Bei den Frauen, die zu Studien-
beginn einen Stiffness-Index von > 10,8 hat-
ten, fand sich zudem eine positive Korrelation
zwischen der Aufnahme von MK-7 und den
elastischen Eigenschaften der Arteria carotis
(→ Pulswellengeschwindigkeit).
Vitamin K2 übt seine biochemischen
Funktionen allerdings nicht nur durch die
Carboxylierung und Aktivierung Vitamin-
K-abhängiger Proteine aus, sondern ist auch
in der Lage, direkt die Expression von Genen
über die Bindung an Steroidhormon- und
Xenobiotika-Rezeptoren (SXR) zu beein-
flussen. MK-7 inhibiert zudem den redox-
sensitiven Transkriptionsfaktor NfkappaB
und reduziert die Belastung mit pro-in-
flammatorischen Zytokinen. Darüber hinaus
überschneiden sich Vitamin D und Vitamin
K2 im Metabolom auch auf der zellulären
Ebene. Die γ-Caboxylierung wird von einer
zyklischen Transformation geprägt, bei der
oxidierte und reduzierte Formen des Vit-
amin K2 als treibende Faktoren beteiligt
sind. Diese zyklische Umwandlung dient
im antioxidativen Schutzsystem als Quelle
des Elektronentransfers, um gesunde Zellen
gegen oxidativen Stress zu schützen. Wie in
Tierversuchen gezeigt werden konnte, besitzt
auch Vitamin D eine antioxidative Kapazi-
tät. In der Summe kann daraus geschlossen
werden, dass Vitamin D und Vitamin K2 auf
vielen Stoffwechselebenen miteinander inter-
agieren und sich zum Teil in ihrer Wirkungs-
weise synergistisch unterstützen. Dabei fun-
gieren die Vitamin-D-Metaboliten 25(OH)D
und 1,25(OH)2D als eine Art Turmwächter,
welche die intestinale Kalziumaufnahme kon-
trollieren, während Vitamin K2, ähnlich wie
ein Verkehrspolizist, im Blut den Kalzium-
strom in die Knochen und Gefäße reguliert.
Erste Hinweise auf einen Synergismus
beider Vitamine geben Studien, bei denen
91 4
die Kombination von Vitamin K2 mit Vita-
min D die Knochendichte bei postmeno-
pausalen Frauen stärker erhöht als die Gabe
von Vitamin K2 alleine. Zusammenfassend
kann man feststellen, dass die Kombination
von Vitamin D mit Vitamin K sich vor allem
günstig auswirkt auf die Knochendichte von
postmenopausalen Frauen.
4.3.3.3 Versorgungsstatus
Nach aktuellen Untersuchungen der Uni-
versität Maastricht muss davon ausgegangen
werden, dass in Europa sehr viele Menschen
von einem chronischen Mangel an Vitamin
K2 betroffen sind. Problem: Ein Vita-
min-K-Mangel macht sich erst nach Jahren
durch handfeste Zivilisationskrankheiten wie
Osteoporose und Arteriosklerose bemerkbar.
Ein Laborparameter, der möglicherweise
einen Hinweis auf einen funktionellen Mangel
an Vitamin K2 gibt, könnte das untercarboxy-
lierte Osteocalcin (ucO) und das untercarbo-
xylierte Matrix-Gla-Protein (ucMGP) sein.
Fazit
Solange noch keine eindeutigen Empfeh-
lungen für Vitamin K2 vorliegen, könnte
man nach den bisher vorliegenden Daten
unter präventiven Aspekten im Alter eine
tägliche Zufuhr von Vitamin K2 als
MK-7 von etwa 0,5–2 μg pro kg Körper-
gewicht empfehlen. In der Therapie von
Altersassoziierten Erkrankungen wie
Osteoporose oder KHK kann man sich
an täglich 2–5 μg MK-7 pro kg Körper-
gewicht orientieren (Gröber und Holick
2020; Gröber et al. 2015b; Gröber und
Kisters 2016, 2018; Simes et al. 2019).
4.3.4 Homocysteinregulierende
B-Vitamine (z. B. B9, B12)
Im Intermediärstoffwechsel spielen Vitamin-
B12-abhängige Methylierungsreaktionen
eine zentrale Rolle. Vitamin B12 reguliert zu-
sammen mit 5-Methyl-Tetrahydrofolsäure die
 92 U. Gröber
Remethylierung von Homocystein zu L-Me-
thionin und die darauffolgende ATP-ab-
hängige Bildung von S-Adenosylmethionin
(SAM). SAM ist für die meisten biologischen
Methylierungsreaktionen essenziell, u. a. die
Methylierung von Myelin, Neurotransmittern
und Phospholipiden (z. B. Phosphatidylcho-
lin). Ein diätetischer Mangel an Vitamin B12
4 und/oder Folsäure ist einer der häufigsten
Ursachen für eine Hyperhomocysteinämie.
Im Vordergrund der neurologischen
Symptome bei einem Mangel an Vitamin B12
stehen Parästhesien oder Taubheitsgefühl
der Haut, eingeschlafene Hände oder Füße,
Gangunsicherheit und Koordinations-
störungen bis hin zu Lähmungen. Diese
Symptome sind Ausdruck einer funikulären
Myelose (funikuläre Spinalerkrankung,
subakute kombinierte Degeneration [SCD]
des Rückenmarks). Sie entsteht auf dem
Boden einer kombinierten Degeneration der
Seiten- und Hinterstränge des Rückenmarks
durch einen Defekt der Myelinscheiden und
gehört zu den Entmarkungskrankheiten.
Betroffen sind die Hinterstrangbahnen (die
taktile Wahrnehmung und Propriozeption
vermitteln), die Kleinhirnseitenstrang-
bahnen (die ebenfalls der propriozeptiven
Wahrnehmung dienen) und der Pyramiden-
bahn des Rückenmarks (die der Bewegungs-
steuerung dient). Die daraus resultierende
Neuropathie ist symmetrisch und befällt die
Beine stärker als die Arme. Die Neuropathie
ist in der Mehrzahl der Fälle eine senso-
motorische periphere Polyneuropathie, es
sind aber auch Mononeuropathien (optische
oder olfaktorische), autonome Neuropat-
hien (z. B. Impotenz, Inkontinenz) und
kombinierte Formen (z. B. Myelopathie und
Neuropathie) möglich (Calder 2017b; Peng
et al. 2015; Yang et al. 2006; Wang et al.
2007; Saposnik et al. 2009; Huo et al. 2015).
4.3.4.1 Homocystein und
Zellgesundheit
Ein Anstieg des Homocystein-Plasma-
spiegels ist ein Hinweis für eine Störung des
Methylgruppen-Stoffwechsels, der mit
einem erhöhten Risiko für neuronale Schä-
den, Beeinträchtigung der Zellproliferation
und erhöhten Neigung zu Chromosomen-
strangbrüchen einhergeht. Studien zufolge
sind im fortgeschrittenen Lebensalter eine
latente Unterversorgung mit Vitamin B12
sowie ein erhöhter Homocystein-Plasma-
spiegel (≥ 10 μmol/l) mit einer Abnahme der
kognitiven Leistungsfähigkeit assoziiert.
Die Varianz in kognitiven Leistungstests
wird bei älteren Personen, unabhängig vom
Intelligenzquotienten, zu etwa 11 % auf die
Homocysteinwerte zurückgeführt. Auch das
Auftreten von Depressionen, Osteoporose,
Mitochondriopathien, Makuladegeneration
und Schlaganfall ist im Alter mit einem
niedrigen Vitamin-B9- und -B12-Status sowie
erhöhten Homocysteinwerten assoziiert
(. Abb. 4.8).
Eine Hyperhomocysteinämie und die
damit verbundene Hypomethylierung des
ZNS gilt zudem als unabhängiger Risiko-
faktor für eine Demenz von Alzheimer-Typ
(DAT). In der großen Framingham-Studie
war das Risiko für Morbus Alzheimer bei
einem Homocysteinspiegel > 14 μmol/l
nahezu verdoppelt. Erhöhte Homocystein-
spiegel sind bei älteren Personen mit einem
kleineren Hippocampus und einer erhöhten
Atrophierate des medialen Temporallappens
und der weißen Substanz verbunden.
4.3.4.2 Homocystein und
Hirnatrophie
Eine aktuelle prospektive Studie der Uni-
versität Oxford, die an 107 Personen im
Alter zwischen 61 und 87 Jahren durch-
geführt wurde, zeigt eine signifikante Asso-
ziation zwischen dem Vitamin-B12-Status
und der Hirngröße. Neben kognitiven Tests
und Messung der Hirngröße mittels Kern-
spintomographie wurden bei den gesunden
Probanden zu Beginn der Studie und da-
nach jährlich auch die Vitamin-B12-Spiegel
und die holoTranscobalamin-Spiegel (Ho-
loTC-Spiegel) im Plasma erfasst. Nach fünf
Jahren war die altersbedingte Hirnatrophie
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
93 4
Stimulierung von Cysteinsäure Mangel an Vitamin B12
NMDA-Rezeptoren Homocystein
Homo- u./o. Methyl-THF
cysteinsäure

Methionin-
Fe(III)
Synthase Ø
Kalzium-Influx  Sauerstoff-/Stickstoff-Radikale  S-Adenosylmethionin ¯

Endotheliale Oxidativer und Hypomethylierung und

Läsionen Nitrosativer Stress Demyelinisierung des ZNS
Phospholipidsynthese ¯

Endotheliale Dysfunktion,
Neuronale Dysfuntion

Vaskuläre und neuronale Komplikationen (z.B.

Hirnatrophie, Bluthochdruck, Schlaganfall)

..      Abb. 4.8 Homocysteinämie-assoziierte Störungen

bei den Probanden mit den niedrigsten Vit-
amin-B12-Status am stärksten fort-
geschritten. Im Vergleich zu Studienteil-
nehmern mit den höchsten
Vitamin-B12-Ausgangswerten war die nied-
rigste Tertile (Vitamin-B12-Plasmaspiegel <
308 pmol/l, Holo-Transcobolamin-Plasma-
spiegel < 54 pmol/l) mit einem mehr als
6-fach erhöhten Risiko für den Verlust von
Hirnvolumen assoziiert (Odds Ratio 6,17;
95 % CI: 1,25–30,47). Bemerkenswert ist
dabei, dass die Atrophie des Gehirns bereits
bei einem marginalen und nicht nach heuti-
ger Definition manifesten Vita-
min-B12-Mangel auftrat.
In einer aktuellen randomisierten und
doppelblinden Interventionsstudie (VITA-
COG-Studie) an 168 älteren Personen mit
milder kognitiver Beeinträchtigung (Alter:
≥ 70 Jahre) konnte durch die Supplemen-
tierung von Vitamin B12 (500 μg/d, p.o.),
Folsäure (0,8 mg/d, p.o.) und Vitamin B6
(20 mg/d, p.o.) über einen Zeitraum von 24
Monaten gegenüber der Placebogruppe bei
den Probanden mit Homocysteinwerten
> 13 μmol/l das Fortschreiten der Hirn-
atrophie und Abnahme der kognitiven
Leistungsfähigkeit signifikant (um 53,3 %)
verringert bzw. verlangsamt werden.
4.3.4.3 Versorgungsstatus
Die Häufigkeit des Vitamin-B12-Mangels
sowie erhöhter Homocysteinspiegel im Blut
wird in der Praxis unterschätzt. Das beruht
vorrangig auf den immer wiederkehrenden
Aussagen zur ausreichenden Versorgung der
Bevölkerung mit Vitamin B12. Repräsenta-
tive Daten zum aktuellen Stand des Er-
nährungsverhaltens in Deutschland gibt die
Nationale Verzehrsstudie II (2008). In dieser
Studie wurde auch die Vitaminversorgung in
Deutschland mit untersucht. Die Unter-
suchungen ergaben bei einer beachtlichen
Anzahl von Personen von etwa 5–30 %
unterschiedlichen Alters und Geschlechts
eine Unterversorgung mit Vitamin B12. Die
Häufigkeit eines laborchemisch erwiesenen
Mangels an Vitamin B12 wird für jüngere
Personen mit 5–7 % angegeben. Der Vita-
 94 U. Gröber
..      Abb. 4.9 Atherogene Wirkungen des Homocysteins
min-B12-Mangel ist besonders im Alter weit
verbreitet und wurde bei 10–30 % der älte-
ren „gesunden“ Personen über 65 Jahre dia-
gnostiziert (. Abb. 4.9). Dabei kann trotz
Zufuhr von Vitamin B12 oberhalb der
Referenzwerte ein funktioneller B12-Man-
gel bestehen. Aufgrund der Häufigkeit des
Vitamin-B12- und Folsäuremangels im hö-
heren Lebensalter sollte man Senioren min-
destens 1-mal pro Jahr den Vitamin-B12-
und Homocystein-Haushalt im Labor
hinterfragen und entsprechend kompensie-
ren (z. B. durch 500 μg Methyl-Cbl und
400 μg Methyl-THF, p.o.).
Hinweis: Nicht jede Vitaminunterver-
sorgung bedeutet jedoch zugleich auch
Vitaminmangel. Während unter Vitamin-
unterversorgung die mengenmäßige Unter-
schreitung der Referenzwerte für die täg-
liche Vitaminzufuhr zu verstehen ist, setzt
der Vitaminmangel voraus, dass es infolge
einer unzureichenden Vitaminzufuhr zu kli-
nisch relevanten, messbaren Störungen bzw.
charakteristischen Mangelsymptomen
kommt. Ungeachtet dessen ist jedoch jede
Person mit einer Vitaminunterversorgung
auch ein Risikopatient für einen funktionel-
len Vitaminmangel (Calder 2017b; Gröber
et al. 2013; Max Rubner-Institut 2008).
4.3.5  oenzym Q10: das Anti-
C
Seneszenz-Vitaminoid
4.3.5.1 Die mitochondriale
Elektronentransfer
Die von einer Doppelmembran umgebenen
Mitochondrien sind in eukaryotischen Zel-
len in vielerlei Hinsicht von essenzieller und
vitaler Bedeutung. Neben der Einbindung in
die Regulation der zellulären Kalzium-
homöostase und ihrer zentralen Rolle bei
der Apoptose liefern sie auch die nötige
Energie für die Zelle. Für die Umwandlung
in der Nahrung gespeicherten Energie
(z. B. Glukose, Fette) in das für die Zelle
nutzbare Energiesubstrat ATP verfügt das
Mitochondrium über fünf Enzymsysteme
(→ mtKplx I bis mtKplx V), die für die
einzelnen Schritte der ATP-Synthese, aber
auch für die Beseitigung gefährlicher Stoff-
wechselnebenprodukte wichtig sind.
Die Enzyme des Citratzyklus bzw. der
β-Oxidation befinden sich in der mito-
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
chondrialen Matrix und setzen Glukose
bzw. Fettsäuren zu Acetyl-CoA um. Bei
der weiteren Metabolisierung von Ace-
tyl-CoA im Citratzyklus entstehen
NADH und Succinat, die Ausgangs-
substanzen der oxidativen Phosphorylie-
rung (Oxphos) sind. Die oxidative Phos-
phorylierung wird durch die Komplexe I
bis V der mitochondrialen Atmungskette
ermöglicht, die in die innere Mito-
chondrienmembran integriert sind.
NADH und Succinat fungieren in den
Komplexen I und II als Elektronen-
donatoren, die über Coenzym Q10 an den
Komplex III und von dort über Cyto-
chrom c an den Komplex IV weitergeleitet
werden. Im Komplex IV erfolgt schließ-
lich die terminale Reduktion von Sauer-
stoff zu Wasser. Während dieses Prozes-
ses wird die beim Elektronentransfer
freiwerdende Energie in einem elektro-
chemischen Gradient umgesetzt, indem
Protonen von Komplex I, III und IV in
den Raum zwischen äußerer und innerer
Mitochondrienmembran gepumpt wer-
den. Dieser Gradient dient letztlich im
Komplex V als Treibstoff für die
ATP-Synthese. Diese auch als ATP-Syn-
thase bezeichnete Enzym wird von Mag-
nesium reguliert (Smith et al. 2012; Sza-
lardy et al. 2015).
4.3.5.2  oenzym Q10: Elektronen-
C quinolred (QH2). Die beiden Enzyme Lipona-
Transporter und Protonen-
Translokator
Coenzym Q10, auch bekannt als Ubiqui-
non, ist eine lipidlösliche, in nahezu allen
menschlichen Geweben vorkommende Subs-
tanz. Das Vitaminoid spielt eine essenzielle
Rolle bei der zellulären Energieproduktion
in den Mitochondrien, wo es gleichzeitig als
Elektronen-Carrier und Protonen-Trans-
lokator die Zellatmung und ATP-Produk-
tion reguliert. Mehr als 90 % der zellulären
Energie wird auf diese Weise im Rahmen
der Zellatmung mithilfe von Coenzym Q10
gewonnen. Bei der Transformation von
Nahrungsenergie in Zellenergie ist Ubiqui-
95 4
non Schrittmacher in drei von fünf mito-
chondrialen Enzymkomplexen:
Komplex I: NADH: Ubiquinon-Oxi-
do-Reduktase
Komplex II: Succinat: Ubiquinon-Oxi-
do-Reduktase
Komplex III: Ubiquinol: Cytochrom-c-
Reduktase
Organe mit einer hohen Stoffwechsel-
leistung, wie das Pankreas, die Leber, die
Herz- und Skelettmuskulatur, insbesondere
das Zentralnervensystem (ZNS), weisen eine
hohe Dichte an Mitochondrien auf und be-
nötigen dementsprechend viel Coenzym
Q10. Umso erstaunlicher ist die vor kurzem
gemachte Entdeckung, dass in 1 ml huma-
nem Blutplasma bis zu 3,7 Millionen intakte
und frei zirkulierende Mitochondrien nach-
weisbar sind (Gröber, 2021). Eine un-
zureichende Versorgung mit Coenzym Q10
ist mit einer Abnahme der psychischen und
physischen Leistungsfähigkeit verbunden,
was sich unter anderem durch Störungen
der Gefäßreaktivität, des Immunsystems,
des Metaboloms, des Herz-Kreislauf-
Systems, der Skelettmuskulatur sowie er-
höhter Vulnerabilität für Entzündungs-
prozesse äußern kann.
Coenzym Q10 (Ubiquinonox) kann in Ab-
hängigkeit von den jeweiligen Redoxverhält-
nissen in drei verschieden Formen vorliegen:
Ubiquinonox (Q), Semiquinon (•QH) und Ubi-
mid-Dehydrogenase und Glutathion-Reduk-
tase, welche Ubiquinon (Q) zu Ubiquinol
(QH2) reduzieren können, werden durch Zink
stimuliert. Auch das Selen-abhängige Enzym
Thioredoxin-Reduktase spielt bei der extra-
mitochondrialen Reduktion von Ubiquinon
(Q) zu Ubiquinol (QH2) eine zentrale Rolle.
Der synergistische Effekt zwischen Coenzym
Q10 und Selen wird erneut durch eine Studie
aus Schweden bekräftigt. In dieser randomi-
sierten, Plazebokontrollierten Interventions-
studie mit 443 Probanden im Alter von 70–88
Jahren senkte die kombinierte Supplementie-
rung von 200 mg Coenzym Q10 und 200 μg
Selen pro Tag im Vergleich zu Placebo die
 96 U. Gröber
kardiovaskuläre Mortalität um 47 % (Verum
5,9 % versus Placebo 12,6 % nach 5,2 Jahren; p
= 0,015). Die Blutspiegel des Herzinsuffizienz-
markers NTproBNP lagen in der Ve-
rum-Gruppe mit 215 ng/l deutlich niedriger
als in der Placebo-Gruppe mit 304 ng/l
(p = 0,014). Eine Nachauswertung dieser Stu-
die, bei der man die Probanden aufgrund ihres
4 Selenausgangswertes in drei Gruppen ein-
geteilt hatte (Selenserumspiegel: 1. < 65 μg/l, 2.
65–85 μg/l, 3. > 85 μg/l), ergab, dass diejenigen
mit dem niedrigsten Selenserumwert am
stärksten von der Supplementierung der bei-
den mitotropen Mikronährstoffe profitierten.
4.3.5.3  om Pro-oxidanz und
V wandeln, wird aufgrund der abnehmenden
Zellregulator zum
Antioxidanz
Ein Molekül Coenzym Q10 (Ubiquino-
nox) kann schrittweise zwei Elektronen auf-
nehmen. Im ersten Schritt bildet sich durch
die Aufnahme eines Elektrons das Semiqui-
non-Radikal (•QH). Die Aufnahme eines
zweiten Elektrons führt zu Bildung von
Ubiquinolred (QH2), der reduzierten Form
von Coenzym Q10. In Form des Semiqui-
nons (•QH) ist Coenzym Q10 eine Quelle für
die zelluläre und mitochondriale Bildung
von Superoxidanion-Radikalen (-O•2) und
konsekutiv von Wasserstoffperoxid (H2O2).
Diese reaktiven Sauerstoffverbindungen
können als sekundäre Messenger das zel-
luläre Redoxpotenzial, die Expression von
Genen (z. B. Zellproliferation), Proteinen
(z. B. Enzymfunktion, Transportprozesse)
und Hormonen regulieren. Diese pro-oxi-
dative Wirkung ist somit essenziell für mul-
tiple physiologische Funktionen des Me-
taboloms. Gleichzeitig ist Coenzym Q10
als Ubiquinol (QH2) ein potentes lipidlös-
liches Antioxidanz, das Mitochondrien,
Zellmembranen, Zellorganellen und an-
dere Strukturen (z. B. Lipide, DNA) direkt
oder zusammen mit alpha-Tocopherol vor
oxidativer Schädigung schützt und andere
Antioxidanzien (z. B. Vitamin C, Vitamin
E) regeneriert. Darüber hinaus beeinflusst
Coenzym Q10 die Aktivität mehrerer hun-
dert Gene. Beispielswiese wirkt Coenzym
Q10 über die Hemmung der NfkappaB-ab-
hängigen Genaktivierung der Produktion
von Entzündungsfaktoren entgegen, beugt
Zellläsionen und dem Prozess des Inflam-
magings vor.
4.3.5.4 I m Alter nimmt die
Coenzym-Q10-Produktion ab
In Untersuchungen konnte gezeigt werden,
dass der Gehalt vieler Organe (z. B. Pank-
reas. Herzmuskel, ZNS) an Coenzym Q10
(Ubiquinonox) ab dem 20. Lebensjahr ab-
nimmt (. Abb. 4.10). Auch die Möglich-
keit, Ubiquinonox in Ubiquinolred umzu-
Aktivität der Ubiquinon-abhängigen Re-
duktasen beeinträchtigt. Das im mensch-
lichen Blutplasma, im Darm und in der
Leber enthaltene Coenzym Q10
(Gesamt-Coenzym Q10: Ubiquinol-Ubi-
quinon-Pool) liegt zu über 85 % in Form
von Ubiquinolred vor. Nur ein kleiner An-
teil von etwa 5 % besteht aus Ubiquinonox.
Der durchschnittliche Coenzym-Q10-Blut-
spiegel, welcher als Normalwert und Refe-
renz bei Gesunden in der Literatur an-
gegeben wird, liegt zwischen 0,4 und
2,0 μg/ml bzw. 0,8 und 1,2 μg/ml
(Cholesterinkorrigiertes CoQ10: >
0,3 μmol/mmol Cholesterin). Richtwert für
die therapeutische Effektivität ist ein Co-
enzym-Q10-Blutspiegel von > 2,5 μg/ml
(3 pmol/l = 2,7 μg/ml) (z. B. Kardiologie,
Diabetologie, Leistungssport) bis zu >
4 μg/ml (z. B. Morbus Parkinson).
In einer aktuellen randomisierten,
placebokontrollierten Interventionsstudie
an Patienten mit Antiphospholipid-Syn-
drom führte die tägliche Supplementierung
von 200 mg Ubiquinol im Vergleich zu Pla-
cebo zu einer signifikanten Verbesserung der
Endothelfunktion (p < 0,05), Reduktion der
Lipidperoxidation (z. B. oxLDL) (p < 0,05),
des zellulären Glutathion-Status (p < 0,05),
der totalen antioxidativen Kapazität (TAK)
(p < 0,05), der mitochondrialen Biogenese
(z. B. Sirt-1, NRF2) (p < 0,05) sowie zur Re-
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
..      Abb. 4.10 Altersbedingter Abfall an Coenzym Q10
duktion pro-inflammatorischer Zytokine
(z. B. TNFα, IL-6) (p < 0,05) (Max Rub-
ner-Institut 2008; Smith et al. 2012; Szalardy
et al. 2015; Alehagen et al. 2016; Di Lorenzo
et al. 2020; Hernández-Camacho et al. 2018;
Gröber 2018; Pravst et al. 2020; Perez-San-
chez et al. 2017).
4.3.5.5  biquinol hat eine 2- bis
U ist es zudem schwierig, hohe Blutspiegel an
4,3-fach höhere
Bioverfügbarkeit
Die Bioverfügbarkeit von Ubiquinol im Ver-
gleich zu Ubiquinon wurde in verschiedenen
Studien untersucht. Dabei zeigte sich, dass
Ubiquinol aus Supplementen eine 2- bis 4,3-
fach höhere Bioverfügbarkeit aufweist als
Ubiquinon.
Der Coenzym-Q10-Blutpiegel ist bei
entzündlich geprägten Erkrankungen mit
oxidativem Stress und Inflammaging häu-
fig erniedrigt, wobei der Spiegel an Ubi-
quinol stärker abgesenkt ist als der Spiegel
97 4
an Ubiquinon. Das ist darauf zurückzu-
führen, dass oxidativer Stress Ubiquinol
verbraucht und die Reduktion von Ubiqui-
non zu Ubiquinol in den Zellen verringert.
Daher scheint das Verhältnis von Ubiqui-
nol zu Ubiquinon im Blut ein sensibler
Marker für das Ausmaß an oxidativem
Stress im Körper zu sein. Mit Ubiquinon
Coenzym Q10 zu erreichen. Dagegen bleibt
das Dosis-Wirkungs-Verhältnis von Ubi-
quinol bei steigenden Dosierungen nahezu
linear, sodass mit Ubiquinol bei neuro-
logischen Erkrankungen (z. B. Morbus
Parkinson) auch Coenzym-Q10-Blutspiegel
erzielt werden können, die in der Lage sind,
die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden.
Insbesondere lösliche, in einer Phospho-
lipid-Matrix emulgierte Coenzym-Q10-
Formen haben eine gute Bioverfügbarkeit
(Di Lorenzo et al. 2020; Hernández-Cama-
cho et al. 2018).
 98 U. Gröber
4.3.6 Magnesium
Magnesium ist der Manager des mitochon-
drialen Energiestoffwechsels und als Schritt-
macher von über 600 Enzymen an etwa
80 % aller bekannten Stoffwechselprozesse
beteiligt. Das Erdalkalimetall stabilisiert
die DNA, fördert die DNA-Replikation,
4 RNA-Transkription und reduziert die Li-
pidperoxidation. Auch die Telomerase ist
Magnesium-abhängig. Jede Modifikation des
endogenen Magnesiumstatus hat insofern
Veränderungen der Endothelfunktion sowie
des kardiovaskulären, neuromuskulären
und endokrinologischen Systems zur Folge.
Ein Magnesiummangel ist beschleunigt
die zelluläre Seneszenz via Reduktion der
DNA-Stabilität, Proteinsynthese und zu-
nehmende mitochondriale Dysfunktion.
4.3.6.1 Magnesium:
Mitochondrialer
Energiestoffwechsel
Als Bestandteil energiereicher Phosphatver-
bindungen katalysiert Magnesium ins-
besondere ATP-abhängige Enzymsysteme,
wie die ATP-Synthase (Komplex V) in der
mitochondrialen Atmungskette. Magne-
sium ist damit am Energiestoffwechsel jeder
Zelle beteiligt. So ist beispielweise ATP nicht
als freies ATP zur Übertragung der
Phosphatgruppe fähig, sondern nur in der
Form des Mg-ATP-Komplexes.
4.3.6.2 Magnesium: Vaso- und
kardioprotektive Wirkung
Über die Interaktion mit Phosphoplipi-
den wirkt es membranstabilisierend und
reguliert als Cofaktor der Na+/K+-AT-
Pase die Erregungsleitung in Nerven- und
Muskelzellen. Ein Magnesiummangel er-
höht die Permeabilität von Kalium durch
K+-Kanäle, was wiederum Auswirkungen
auf das Herzmuskelaktionspotenzial hat.
Magnesium blockiert den NMDA-Rezep-
torkanal im ungeöffneten Zustand. Seine
antagonistische Wirkung gegenüber Kal-
zium (→ NMDA-Rezeptor-Antagonist)
schützt die Myokardzelle bei ischämischen
Perfusionsstörungen vor einer Kalzium-
überladung. Aufgrund dieser Eigenschaften
ökonomisiert Magnesium die kardiale Bio-
energetik, wirkt antiarrhythmisch und do-
sisabhängig blutdrucksenkend.
4.3.6.3  agnesium: Insulin- und
M
Glucosestoffwechsel
Als Cofaktor von Adenin-Nukleotiden ist
Magnesium ein wichtiger Regulator von vie-
len Enzymen der Glykolyse. Mg-ATP wird
benötigt für die Aktivität der Hexokinase,
Phosphofructokinase-1, Aldolase A, Phos-
phoglycerat-Kinase und Pyruvat-Kinase.
Darüber hinaus unterstützt Magnesium
Parameter der glykämischen Kontrolle
durch seinen Einfluss auf die Tyrosin-
kinase-Aktivität des Insulinrezeptors und
die Signalweiterleitung auf Postrezeptor-
ebene. Dementsprechend ist eine erniedrigte
intrazelluläre Magnesiumkonzentration
eine wesentliche pathophysiologische Ursa-
che für die Insulinresistenz (Gröber et al.
2015c; Gröber und Kisters 2015).
4.3.6.4 Magnesium und
Knochengesundheit
Etwa 50–60 % des Gesamtkörperbestandes
an Magnesium befinden sich im Knochen.
Hier stabilisiert es als Bestandteil der an-
organischen Knochenmatrix amorphe
Kalzium-Phosphat-Verbindungen, ist an der
Knochenmineralisation und damit am
Wachstum und Stabilisierung der Knochen
beteiligt. Eine unzureichende Versorgung mit
Magnesium (Serum: ≤ 0,8 mmol/l) trägt zur
Entwicklung der Osteoporose bei: zum einen
direkt durch seine Rolle bei der Bildung von
Knochenzellen (z. B. Osteoblasten) und
Hydroxylapatit-Kristallen, zum anderen in-
direkt über seinen Einfluss auf die Aktivität
bzw. Sekretion von Parathormon und eine
niederschwellige Entzündung. Ein
Magnesiummangel steigert dementsprechend
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
die Sekretion von pro-inflammatorischen Zy-
tokinen, wie Tumornekrosefaktor (TNF) α,
Interleukin (IL-1ß) und Substanz P, die an
der erhöhten Knochenresorption der Osteo-
klasten beteiligt sind.
Darüber hinaus ist Magnesium essenziell
für die enzymatische Aktivierung des Vita-
min D (Colecalciferol, Ergocalciferol) zum
Steroidhormon Calcitriol (1,25(OH)2D)
und dessen Wirkungen über die Bindung
an Vitamin-D-Rezeptoren (VDR). Dabei
reguliert Magnesium durch drei Enzyme
den Vitamin-D-Haushalt im Körper: Die
25-Hydroxylase (25OHase), die 1-alpha-Hy-
droxylase (1αOHase) und die 24-Hydroxy-
lase (24OHase). Im Tierversuch führt ein
Magnesiummangel zu einer verminderten
Aktivität der 1-alpha-Hydroxylase und
einer erhöhten Aktivität der 24-Hydoxylase
in den Nieren. Ein Mangel an Magnesium
ist infolgedessen mit einer Hypovitaminose
D [25(OH)D < 20 ng/ml] assoziiert. Mag-
nesium ist wichtig für die Bildung des Vita-
min-D-bindenden Proteins (VDBP), welches
Vitamin D und seine stoffwechselaktiven
Formen, z. B. 25(OH)D, 1,25(OH)2D, im
Blut transportiert und im Gewebe verteilt.
Parathormon und 1,25(OH)2D fördern im
Magen-Darm-Trakt die Aufnahme von Ma-
gnesium aus dem Speisebrei (Gröber 2018;
Killilea und Ames 2008; Rowe 2012; Gröber
et al. 2020b; Castiglioni et al. 2013; Kisters
et al. 2019).
4.3.6.5 Magnesium und Telomere
Magnesium spielt eine bedeutende Rolle in
Stoffwechselprozessen, welche die Funktion,
Integrität und Struktur der Telomere be-
stimmen. Ein Magnesiummangel begünstigt
eine beschleunigte Telomerattrition. Zudem
ist die Telomerase Magnesium-abhängig.
Der endogene Magnesiumstatus hat folglich
enorme Auswirkungen auf den Prozess der
Seneszenz (Gröber 2018; Pravst et al. 2020;
Perez-Sanchez et al. 2017; Gröber et al.
99 4
2015c; Maguire et al. 2018; Peeri et al. 2020;
Gröber 2019c; Dimitris Tsoukalas et al.
2019; Shah et al. 2014).
4.3.6.6 Magnesiummangel und
Folgen
Eine Magnesiuminsuffizienz (Serum: ≤
0,8 mmol/l) tritt in den modernen Industrie-
nationen häufig auf und kann trotz norma-
ler Ernährung nicht immer komplett aus-
geglichen werden. Als primären Effekt eines
Magnesiummangels beobachtet man eine
Reduktion von Enzymaktivitäten mit Schritt-
macheraufgaben in den Stoffwechselwegen
der mitochondrialen Energieproduktion. Die
beeinträchtigte Energieproduktion wirkt sich
auf die Membranfunktion, die intrazelluläre
Kalzium-Relokation, Elektrolytgradienten,
die Bildung von sekundären Botenstoffen und
auf Syntheseaufgaben der Zelle aus. In Unter-
suchungen an Hepatozyten der Ratte konnte
bei einem Magnesiummangel eine partielle
Entkopplung der mitochondrialen Atmungs-
kette und oxidativer Phosphorylierung nach-
gewiesen werden. Ein Magnesiummangel hat
Konsequenzen für die Funktion aller Organe
und das Ausmaß der Reaktion des mensch-
lichen Körpers auf äußeren und inneren Stress.
Als Folge einer reduzierten Replikation und
Stabilität der DNA sowie einer mitochondria-
len Dysfunktion scheint eine unzureichende
Versorgung mit Magnesium den Prozess
der zellulären Seneszenz zu beschleunigen.
Eine guter Magnesium-Status (Serum: 0,8–
1,15 mmol/l) ist nach aktuellen Studien mit
einem deutlich reduzierten Risiko für die Ent-
wicklung altersassoziierter Erkrankungen as-
soziiert.
4.3.6.7 Versorgungsstatus
Epidemiologische Studien aus Europa und
Nordamerika zeigen, dass wir mit der heute
üblichen westlichen Diät weniger als 30–50 %
der täglichen Referenzwerte (RDA) für Mag-
nesium aufnehmen. Vergleicht man die
 100 U. Gröber
alimentäre Magnesiumaufnahme vor etwa
100 Jahren mit der aktuellen Situation in den
USA, so hat sich die tägliche Aufnahme von
500 mg Magnesium auf heute etwa 175–
225 mg Magnesium verringert. Zudem haben
von 1914 bis 2018 Lebensmittel wie Kohl,
grüner Salat, Tomaten und Spinat etwa 90 %
ihres Gehaltes an Mineralstoffen wie Magne-
4 sium, Kalzium und Eisen verloren.
Fazit
Generell sollte dem Magnesium in der all-
gemeinen Medizin und Gerontologie eine
größere Aufmerksamkeit geschenkt wer-
den. Der tägliche Bedarf liegt bei einem
Erwachsenen zwischen 350 und 400 mg
Magnesium. Für eine adäquate Versorgung
sollte man auf magnesiumreiche Mineral-
wässer (z. B. 100 mg Magnesium pro Liter)
achten. Auch die regelmäßige Supplemen-
tierung von Magnesium (z. B. 6–10 mg Ma-
gnesium pro kg Körpergewicht) in gut bio-
verfügbarer Form kann empfohlen werden.
Vergleicht man die Ergebnisse von Studien
zur Bioverfügbarkeit der verschiedenen
Magnesiumverbindungen, so ergibt sich
insgesamt ein Bild, dass anorganische
Magnesiumsalze (z. B. Mg-Oxid, -Car-
bonat, -Sulfat; Ausnahme: Magnesium-
chlorid) eine deutlich geringere intestinale
Bioverfügbarkeit aufweisen als organische
Magnesiumsalze (z. B. Mg-citrat, -Gluco-
nat, -Orotat) Wichtig ist, dass man bei der
Supplementierung beachtet, dass Magne-
sium ein Stuhl-Ion ist und etwa 80% des
supplementierten oder über die Ernährung
zugeführten Magnesiums wieder mit dem
Stuhl ausgeschieden werden. (Gröber 2018;
Kisters et al. 2019).
4.3.7  elen: das Healthy-Aging
S zellen im ZNS von zentraler Bedeutung. So
Spurenelement
Das Spurenelement Selen wurde 1817 vom
schwedischen Wissenschaftler Berzelius ent-
deckt, das er nach der Mondgöttin Selene
benannte. Erst in den 1950er-Jahren er-
kannte man, dass Selen auch für den Men-
schen essenziell ist. In der chinesischen Pro-
vinz Keshan, einem Gebiet mit extremem
Selenmangel, traten schwere Herzmuskel-
erkrankungen auf, denen jährlich Tausende
zum Opfer fielen. Erst durch die An-
reicherung der Nahrungsmittel mit Selen
konnte man diese als Keshan-Erkrankung
bezeichnete Selenmangelkrankheit ein-
dämmen. Heute steht Selen wie kein anderes
Spurenelement aufgrund seiner anti-
oxidativen, anti-inflammatorischen und
Anti-Seneszenz-Eigenschaften im Fokus der
Wissenschaft, insbesondere in der Geronto-
logie, Endokrinologie, Kardiologie, Neuro-
logie und Onkologie.
4.3.7.1 Selen und Selenoproteine
Selen ist ein lebenswichtiges Spurenelement
mit einer Vielzahl von Aufgaben im Hirn-
stoffwechsel, Immunsystem, endokrinen
System sowie Zelldifferenzierung, -regula-
tion und -proliferation. Es kommt dement-
sprechend in allen Körperzellen und -flüssig-
keiten vor. Nahezu ein Drittel aller humanen
Selenoproteine sind im endoplasmatischen
Retikulum (ER) lokalisiert. Die höchsten
Konzentrationen an Selen finden sich in Or-
ganen mit hoher Stoffwechselleistung und
Mitochondriendichte, wie Schilddrüse, Nie-
ren, Leber, Milz, Myokard und Prostata.
Selen ist in Form des Selenocysteins als 21.
proteinogene Aminosäure über das
Stopp-Codon UGA in der mRNA und
damit direkt im genetischen Code verankert.
Alle anderen Mineralstoffe sind nur über die
Raumstruktur der Proteine determiniert.
Selen ist funktionsbestimmender Be-
standteil vieler Enzyme, sogenannter Sele-
noproteine. Beispielsweise ist Selen für
Integrität und Funktionalität von Nerven-
konnte man aktuell nachweisen, dass die
selenhaltige Glutathionperoxidase-4 Neuro-
nen vor dem Hydroperoxid-induzierten Ab-
sterben (Ferroptose) schützt, das vor allem
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
101 4

..      Tab. 4.3 Selenoproteine und Funktion (Auswahl)

Selenoproteine Lokalisation Funktion

Dejodasen Ubiquitär (v. a. Homöostase der Schilddrüsenhormone

(DIO1-3) Gehirn, Leber, Aktivierung von T4 zu T3, Inaktivierung von T4 und T3
Hypophyse, Schild- zu T2 bzw. reversem T3
drüse, Niere, Plazenta,
Muskel, braunes
Fettgewebe, Uterus)
Glutathionperoxi- ubiquitär, aber Entgiftung von Lipidperoxiden und H2O2, Hemmung
dasen gewebespezifisch von oxidativem/nitrosativem Stress und Entzündungs-
(GSH-Px1-4, 6) (Leber, GIT, Plasma, prozessen (→ NfkappaB)
Niere, Hoden)
Selenoprotein P ubiquitär, v. a. Selentransport zwischen Leber und Organen, Detoxifi-
Blutplasma kation von Peroxynitrit, Chelatierung von Schwer-
metallen (z. B. Hg), Endothelschutz.
Thioredoxin-Re- ubiquitär, v. a. Leber, Regulation des Redoxstatus via Transkriptionsfaktoren
duktasen Niere, Trx-R2: (z. B. NfkappaB), Zellwachstum/-differenzierung,
(Trx-R1, 2) Mitochondrien DNA-Synthese, -Reparatur, Hemmung von oxidativem/
nitrosativem Stress, Entzündungsprozessen, Re-
generation von L-Glutathion, Coenzym Q10 und
Vitamin C.
Selenoprotein N ubiquitär, v. a. in Regulation von Ryanodine-Rezeptoren (membran-
Skelettmuskel, Gehirn, ständige Kalziumionenkanäle)
Lunge und Plazenta (in
Membranen des ER)

durch die hohe Stoffwechselaktivität im Immun-, Gehirnzellen), die Erbsubstanz

Neurotransmitterhaushalt und bei der
Signaltransmission zwischen postnatalen
Neuronen im Gehirn typisch ist. Im mensch-
lichen Organismus wird derzeit die Anzahl
der Selenoproteine auf über 50 geschätzt
(. Tab. 4.3).
Die Dejodasen (DIO) sind vor allem für
eine reibungslose Stoffwechselarbeit der
Schilddrüse und Verfügbarkeit an Triiodthy-
ronin (T3) erforderlich. Der Zerstörung des
Schilddrüsengewebes durch oxidativen
Stress und Entzündungsprozesse wirkt Selen
entgegen, was vor allem in der Prävention
und Therapie der Autoimmunthyreoiditis
Hashimoto von Bedeutung ist.
Die Glutathion-Peroxidasen machen mit-
hilfe von Selen giftige Peroxide unschädlich
und verhindern, dass Zellen (z. B. Blut-,
(DNA) oder das Endothel und die Gefäße
durch aggressive freie Radikale geschädigt
werden. Über die Entgiftung von freien Ra-
dikalen und die Interaktion mit dem redox-
sensitiven Transkriptionsfaktor NfkappaB
wirkt Selen auch der Entstehung und Aus-
breitung des Oxi-Inflammaging entgegen.
So ist Selen für Integrität und Funktionali-
tät von Nervenzellen im ZNS von zentraler
Bedeutung.
4.3.7.2 Redoxstatus und
Thioredoxin-Reduktasen
Die ubiquitär exprimierten Thioredoxin-Re-
duktasen zählen zur Familie der NADPH-ab-
hängigen, FAD-enthaltenen Pyridin-
nukleotid-Disulfid-Oxidoreduktasen. Als
funktionsbestimmender Bestandteil der zytoso-
 102 U. Gröber
lischen Thioredoxin-Reduktase 1 und mitochon-
drialen Thioredoxin-Reduktase 2 reguliert Selen
vor allem die Zelldifferenzierung und -prolifera-
tion bzw. die intakte Mitochondrienfunktion.
Die Thioredoxin-Reduktase 1 ist an der Reduk-
tion von Dehydroascorbat im Vitamin-C-Meta-
bolismus beteiligt. Darüber hinaus kann dieses
Enzym Ubiquinon in Ubiquinol regenerieren.
4 Die Thioredoxin-Reduktase 2 katalysiert unter an-
derem den Elektronentransfer von NADPH auf
Thioredoxin. In den Mitochondrien entstehen
als Nebenprodukte der Zellatmung permanent
reaktive Sauerstoffspezies (ROS), die vor allem
mithilfe der Thioredoxin-Reduktase 2 durch die
Redoxproteine Thioredoxin-2 und Peroxiredoxin
III entgiftet werden. Die Thioredoxin-Reduktase 2
wird vor allem in der Retina und Sehnervenkopf
exprimiert, wo es vor oxidativen Zellläsionen
schützt.
Organismen müssen permanent ihren
Redoxstatus aufrechterhalten. Der zel-
luläre Redoxstatus ist vor allem für den
Phosphorylierungsgrad und Thiol-Status von
Proteinen von elementarer Bedeutung. Letz-
terer beeinflusst multiple Zellaktivitäten, wie
nukleäre Translokationsprozesse, Ligand-
Rezeptor-Interaktionen und DNA-Bindungs-
aktivitäten von Transkriptionsfaktoren.
An der Aufrechterhaltung des Redoxstatus
einer Zelle sind im Wesentlichen das Thio-
redoxin-System, Glutathion-System und
NADP+/NADPH-System beteiligt. Ein
effektives, antioxidatives Verteidigungs-
system in den Mitochondrien scheint beim
Prozess der Seneszenz eine tragende Rolle
zu spielen. Es verwundert daher nicht, dass
eine Überexpression der mitochondrialen
Thioredoxin-Reduktase 2 im Tierversuch bei
Drosophila melanogaster die Lebensdauer
verlängert.
Wenn eine Zelle beginnt, die Kontrolle
über ihr eigenes Wachstum zu verlieren und
den Weg hin zu einer bösartigen Krebszelle
beschreitet, kann Selen über die Thioredo-
xin-Reduktasen regulierend eingreifen.
Hierbei kann Selen Gene anschalten, die
das Zellwachstum unter Kontrolle bringen,
oder es kann die Apoptose spezifisch in
Tumorzellen einleiten. Darüber hinaus wer-
den das angeborene und erworbenen
Immunsystem auf breiter Ebene durch
Selen gestärkt und die Schlagkraft der
Immunzellen verbessert. Selen fördert dabei
die Bildung von Antikörpern, natürlichen
Killerzellen und Abwehr-Lymphozyten.
Neben der Entgiftung von freien Radikalen
spielt Selen auch bei der Entgiftung von
Umweltgiften (z. B. Cd, Hg, Pb) eine be-
deutende Rolle. Der Neurotoxizität von
Schwermetallen wie Cadmium oder Queck-
silber wirkt Selen entgegen (Schomburg
et al. 2019; Reeves und Hoffmann 2009;
Zoidis et al. 2018; Ingold et al. 2018; Picke-
ring et al. 2017).
Ein guter Selen-Status hat folglich einen
großen Einfluss auf die Seneszenz und
altersbedingte Erkrankungen wie KHK
oder Krebs.
4.3.7.3  elenmangel und zelluläre
S
Seneszenz
Ein Selenmangel (< 100 μg/l) sowie eine
unzureichende Aktivität von selen-
abhängigen Enzymen ist mit einer ge-
steigerten Entzündung assoziiert. Die Ex-
pression treibender Faktoren des
Oxi-Inflammaging wie TNFα, COX-2,
iNOS oder NfkappaB sind bei einer Selen-
mangeldiät erhöht, und die Expression
verschiedener Gene, die für Selenoproteine
codieren, ist signifikant erniedrigt. Die
Tatsache, dass das Gehirn seinen Se-
len-Status auf Kosten der Versorgung an-
derer Organe bei einem nutritiven Selen-
mangel aufrechterhält, zeigt die besondere
Bedeutung des Spurenelementes für die
Integrität der Hirnfunktion. Bemerkens-
wert sind zudem Ergebnisse einer proteo-
mischen Studie, die eine starke Abhängig-
keit (zu 72 %) zwischen dem Selen-Status,
der Aktivität von Selenoproteinen und der
replikativen Seneszenz zeigen.
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
4.3.7.4 Selen und Telomerlänge
Die Antiseneszenz-Eigenschaften des Selens
zeigen sich vor allem bei seinem Einfluss auf
die Telomere. In der amerikanischen NHA-
NES-Studie an 3914 Erwachsenen (Alter: >
45) konnte gezeigt werden, dass eine gute
alimentäre Versorgung mit Selen die Telomer-
länge der Leukozyten (LTL) signifikant ver-
längert, vor allem bei Frauen. Natriumselenit
in nutritiven Dosen verlängert in vitro die
Lebensspanne von Hepatozyten über die Stei-
gerung der zellulären Telomerase-Aktivität
und Stabilisierung der Telomerlänge (Liu et al.
2003; Shu et al. 2020).
4.3.7.5  elen und mitochondriale
S
Funktion
Selen schützt Neuronen vor hypoxischen/
ischämischen Schäden durch die Reduk-
tion von oxidativem Stress, der Normali-
sierung der mitochondrialen Funktion und
Stimulierung der mitochondrialen Bio-
genese (z. B. NRF1). Oxidative stress-
induzierte Störungen der mitochondrialen
Funktion sind an der Entwicklung und
Progression von Schwangerschafts-
komplikationen beteiligt. Der Trophoblast
stellt bekanntlich den epithelialen Überzug
des Zottenbaums der menschlichen Pla-
zenta dar. In Untersuchungen an Tropho-
blasten (z. B. Swan-71) konnte man zeigen,
dass Selen in Trophoblasten die mitochon-
driale Regeneration fördert, die mitochon-
driale Atmung und Mediatoren der mito-
chondrialen Biogenese (z. B. NRF1)
signifikant steigert (Mehta et al. 2012;
Khera et al. 2015).
4.3.7.6 Versorgungsstatus
In verschiedenen Untersuchungen an Euro-
päern lag der mittlere Selenserumspiegel bei
40 bis 80 μg/l (~ Vollblut: 60–100 μg/l). In
Deutschland werden Durchschnittswerte
von 63–86 μg/l im Serum (~ Vollblut: 83–
106 μg/l) gemessen. Setzt man den Selen-
spiegel im Serum in Korrelation mit der
Aktivität der selenabhängigen Enzyme, ist
103 4
ein Großteil der europäischen Bevölkerung
mit Selen unterversorgt.
Aktuell sprechen Wissenschaftler der
ETH Zürich in der renommierten Fachzeit-
schrift PNAS 2017 sogar eine Frühwarnung
aus: Weltweit leiden etwa eine Milliarde
Menschen an Selenmangel. Die Experten
dokumentieren, dass der ohnehin selenarme
Boden in Europa in den nächsten Jahr-
zehnten infolge des Klimawandels sogar
weiter an seiner Mineralstoffkonzentration
verlieren wird. Es wird vermutet, dass vor
allem ein Selenmangel (Selen < 100 μg/l im
Blutserum) die Entstehung von Alters-
krankheiten, Krebs- und Autoimmuner-
krankungen (z. B. Hashimoto) begünstigt.
Selen wurde genauso wie Jod während der
Eiszeit aus den oberen Bodenschichten aus-
gewaschen, sodass es in der Erde oft nicht
mehr ausreichend vorkommt – und damit
auch nicht in unserer Nahrungskette. Selen-
arme Ackerböden, die Übersäuerung der
Ackerböden mit Düngemitteln, saurer
Regen und die zunehmende Belastung unse-
rer Umwelt mit Schwermetallen verschärfen
laut ETH Zürich die Problematik, sodass
sich der Selenmangel nicht nur in Europa,
sondern auch in anderen Ländern zu-
nehmend ausbreitet.
Fazit
Zur Prävention von altersassoziierten Er-
krankungen (z. B. Mitochondriopathien,
Krebs) sollte der Selenspiegel im Blutplasma
bei 130–150 μg/l liegen. Dazu ist mindestens
eine tägliche Supplementierung von 1,5–
2,0 μg Selen pro kg Körpergewicht (als
nicht-akkumulierendes, anorganisches
Natriumselenit) notwendig (Rayman 2012;
Gröber et al. 2016; Jones et al. 2017).
4.3.8 Zink
In über 3000 Enzymen und Proteinen
dient Zink als katalytisches Zentrum oder
strukturgebendes Ion. Zink ist an nahezu
 104 U. Gröber
allen Lebensvorgängen beteiligt. So ist
es z. B. für Wachstum, Entwicklung und
Reparaturprozesse unentbehrlich, da es
auf zellulärer Ebene eine entscheidende
Rolle für Proliferation, Differenzierung
und Apoptose spielt. Körperfunktionen,
für die Zink gebraucht wird, sind unter
anderem die DNA-Reparatur und -Re-
4 produktion, die Immunabwehr, die Sinnes-
funktionen wie Hören, Sehen, Riechen,
Schmecken, das Nervenwachstum und die
Neuromodulation, die Hormonsynthese
und -speicherung (z. B. Testosteron und In-
sulin), der Säure-Basen-Haushalt sowie die
Regulation der Genexpression. In Enzymen
vermag es effektiv Hydroxylierungsprozesse
zu beschleunigen und Konformations-
änderungen zu unterstützen. In Zn-Fin-
ger-Proteinen dient es der Strukturgebung,
um eine sequenzspezifische Bindung an
die DNA zu ermöglichen. In zink-ab-
hängigen Metalloproteasen polarisiert
es Wassermoleküle, um den Angriff auf
das Carbonylatom der Peptidbindung
des Substrats zu ermöglichen. Zink findet
sich unter anderem in folgenden Enzy-
men: Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase,
Laktat-Dehydrogenase, alkalische Phos-
phatase, RNA- und DNA-Polymerasen,
Alkohol-Dehydrogenase, Superoxid-Dis-
mutase (SOD) und Carboanhydrase.
Zink unterstützt den Proteinumsatz und
führt bei Malnutrition (z. B. Alter) zu einem
Anstieg des Körpergewichtes, insbesondere
der Muskelproteinmasse (lean body mass).
Eine ausreichende Proteinsynthese ist
Voraussetzung für alle Zellteilungs- und
Wachstumsprozesse. Von einem Zinkmangel
sind daher vor allem Zellsysteme mit einer
hohen Zellteilungsrate (z. B. Schleimhäute,
Immunsystem) betroffen.
Etwa 95 % des Gesamtkörperbestandes
an Zink befinden sich intrazellulär. Gewebe
mit hohem Zink-Gehalt sind vor allem die
Skelettmuskulatur (63 %) und Knochen
(20 %). Auch Leber, Pankreas, Hoden,
Prostata sowie Iris und Retina des Auges
weisen hohe Zink-Konzentrationen auf.
Muskeln und Knochen bilden jedoch das
Hauptreservoir der Zink-Speicher, in denen
sich über 80 % des Gesamtgehaltes im Kör-
per befinden. Eine Zinkmangeldiät löst im
Tierversuch eine Osteopenie aus (Classen
et al. 2020; Romero Cabrera 2015; Gröber
2013).
4.3.8.1 Zink und Telomere
Zu den Antiseneszenz-Eigenschaften von Zink
zählt neben seiner Funktion als Cofaktor der
SOD und Wechselwirkung mit Metallothio-
nein auch sein Einfluss auf die Telomere. Zink
fördert die Erweiterung der Telomerlänge über
die Induktion der Telomerase-Genexpression
sowie deren Aktivität.
4.3.8.2 Zinkmangel und
Immunoseneszenz
Zinkmangel ist im Alter sehr häufig und
führt zu Veränderungen, die auch bei
Alterungsprozessen eine zentrale Rolle spie-
len: Oxi-Inflammaging und Immuno-
seneszenz. Zwischen den altersbedingten
und den bei Zinkmangel beobachteten Ver-
änderungen des angeborenen und er-
worbenen Immunsystems gibt es demnach
bemerkenswerte Parallelen. Gleichzeitig be-
stätigen viele Studien, dass die durchschnitt-
lichen Zinkspiegel im Alter sinken. Ein
Zinkmangel erhöht die Belastung mit oxida-
tivem Stress und fördert die Produktion
pro-inflammatorischer Zytokine, wie IL-1β,
IL-2, IL-6 und TNFα. Über das Zinkfinger-
protein A-20 und NfkappaB kontrolliert
Zink Prozesse der Inflammation.
Zink unterstützt die angeborene und er-
worbene Immunabwehr, zu denen die drei
Haupt-Verteidigungslinien epitheliale Barrie-
ren, zelluläre Abwehr und Antikörper gehören.
Ein Zinkmangel führt zu einer Überproduktion
von pro-inflammatorischen Mediatoren. Dar-
über hinaus kommt es zu einer Thymus-Atro-
phie, einer Verminderung von naiven B-Zellen,
einer Dysbalance zwischen Th1- und Th2-T-
Helferzellen sowie einer Zunahme von Th17-
Healthy Aging: Gesundheit im Alter ist kein Zufall!
T-Helferzellen. Die Zahl der regulatorischen
T-Zellen nimmt hingegen ab.
In einer Beobachtungsstudie mit ins-
gesamt 578 Altersheim-Bewohnern im
Alter von ≥ 65 Jahren konnte gezeigt wer-
den, dass niedrige Zinkspiegel mit einer
höheren Inzidenz an Pneumonien asso-
ziiert sind als normale. In einer doppel-
blind-randomisierten Studie mit 50 Pro-
banden im Alter über 54 Jahren wurde der
Einfluss einer Substitution mit 45 mg Zink
pro Tag auf die Häufigkeit von Infektionen
untersucht. Nach einem Jahr Studiendauer
zeigte sich in der Verum-Gruppe eine signi-
fikant niedrigere Inzidenz an Infektionen
als in der Placebo-Gruppe. Auch in Zeiten
von Corona sollten vor allem ältere Men-
schen auf eine gute Versorgung mit immun-
kompetenten Mikronährstoffen wie Vita-
min D, Zink und Selen achten (Classen et al.
2020; Gröber 2013; Giacconi et al. 2018; Fa-
rahzadi et al. 2017; Gröber et al. 2020c).
4.3.8.3 Versorgungsstatus
Altersbedingte Darmveränderungen, die
das Zink-Carrier-System im Sinne atrophi-
scher Veränderungen betreffen dürften, er-
klären neben unzureichender Zufuhr mit
der Nahrung die hohe Prävalenz von etwa
30–40 % eines Zink-Mangels bei Senioren.
In der Nationalen Verzehrsstudie II aus dem
Jahre 2008 erreichten in Deutschland 32 %
der Männer und 21 % der Frauen nicht die
empfohlene tägliche Zink-Zufuhr. Am
höchsten war der Anteil der Unterver-
sorgten bei Männern in der Altersgruppe
von 65–80 Jahren (44 %) und bei Frauen in
den Altersgruppen von 14–18 (28 %) und
65–80 Jahren (27 %).
Fazit
Zur Prävention von altersassoziierten Er-
krankungen sowie bei erhöhter Infekt-
anfälligkeit, Mangelernährung oder
Osteoporose sollte im Alter auf eine ad-
äquate Versorgung mit Zink geachtet
105 4
werden. Dazu ist mindestens eine tägliche
Supplementierung von etwa 0,25–0,5 mg
Zink pro kg Körpergewicht notwendig
(z. B. Zinkorotat, -citrat, -gluconat).
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 113 5

Kalorienreduktion – ein
Jungbrunnen?
Uwe Gröber

Inhaltsverzeichnis

5.1 Die Dialektik der Nahrungsmittel – 114

5.2 Zellphysiologische Veränderungen beim Fasten – 114

5.3  ie physiologische Dialektik von

D
Essen und Fasten – 115

5.4 Die Chronobiologie des Fastens – 116

5.5 Restriction of methionin – 117

5.6  ie dialektische Bedeutung des

D
Schwefelwasserstoffes – 118

5.7 Klinische Daten zur Kalorienrestriktion – 118

5.8 Additive Stoffe zur Kalorienreduktion – 119

Literatur – 119

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

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 114 U. Gröber
Oft und berechtigterweise wird bisweilen die
Frage gestellt: Wenn man gesund lebt und
bewusst ißt – warum soll man dann eigent-
lich noch fasten?
Die Antwort ist in der Menschheits-
geschichte zu suchen:
Im Rahmen der Evolution hat Mutter
Natur Überlebensstrategien geschaffen,
ohne die das Menschengeschlecht längst
ausgestorben wäre und die uns helfen,
5 Krisensituationen zu überstehen. Das
Nichtauffinden von Nahrung in der Stein-
zeit und der Nahrungsentzug heute sind der-
artige Krisensituationen, für deren Be-
wältigung der Organismus alle Register zu
ziehen beginnt, die uns nachträglich – nach
der Krise, wenn wieder Nahrung vorhanden
ist – zugute kommen.
Das erklärt in zunächst plakativer Weise,
warum das gelegentliche Fasten und damit
die herbeigeführte kurze Krise gesund sind.
Ähnlich ist es übrigens auch mit der Be-
wegung, der körperlichen Anstrengung und
dem Laufen. Hier scheint unser Organis-
mus noch jene Angst in sich zu haben, die in
der Steinzeit berechtigt war: Körperliche
Anstrengung und Bewegung sind in Krisen-
situationen häufiger, wahrscheinlich auch
wegen des Davonlaufens vor dem Feind, bei
dem das Herz unterstützt, aber auch unser
Gehirn geschärft wurden, um diese Krisen-
situation zu überstehen. Das ist einer von
mehreren Erklärungsversuchen, die uns
verständlich machen, warum Bewegung
und vor allem das passagere Fasten mehr
Vorteile haben ein als kontinuierliches,
selbst in gesunder Weise verabreichtes
Essen.
Betrachtet man allerdings die Jetztzeit
mit zwei Milliarden übergewichtiger Men-
schen – von denen 700 Millionen schwer
übergewichtig sind –, so sind wir von einer
gesunden Esskultur weit entfernt. Die meis-
ten Menschen essen nicht nur dreimal am
Tag, sondern verzehren darüber hinaus
immer wieder Snacks, die verhindern, dass
die biologischen Privilegien des Fastens
auch greifen (Mattson 2019).
5.1  ie Dialektik der
D
Nahrungsmittel
Die Nahrungszufuhr hat zwei verschiedene
Seiten – ähnlich die einer Münze: Einerseits
ermöglicht sie unsere physischen und intel-
lektuellen Leistungen, andererseits kommt
auch dem passageren Entzug der Speisen
Bedeutung zu: für die Regeneration und für
biologische Korrekturen. Kohlenhydrate
und Zucker sind einerseits die Haupt-
nahrungsmittel für das Gehirn; sinken beide
jedoch ab, so erfüllen sie andererseits plötz-
lich eine andere Aufgabe: Durch die Hypo-
glykämie wird in unserem Gehirn das
Wachstumshormon freigesetzt, das – wie
der Name schon sagt – repariert und re-
generiert (Ho et al. 1988).
Bei der zweiten Gruppe der Energiequelle,
den Fetten, ist es ähnlich: Aufgrund ihres
hohen ATP-Gegenwertes sind sie für unsere
Muskelarbeit die nutritive Voraussetzung.
Sinken sie allerdings ab, so verwandeln sich
die noch wenig vorhandenen Fettsäuren in
kleine Moleküle, die bis in das Gehirn ge-
langen und dort Reparaturvorgänge in-
duzieren (Newman und Verdin 2017).
Bei der dritten Nahrungsgruppe, den
Proteinen, ist es auch so: Sie bedienen sich
beim Fehlen des TOR-Mechanismus, der
v. a. im Endoplasmatischen Reticulum die
korrekte Proteinsynthese überwacht (Di
Francesco et al. 2018).
5.2 Zellphysiologische
Veränderungen beim Fasten
Der Mangel an diesen drei Nahrungsgrund-
substanzen führt weiters zur Verschiebung
eines hochinteressanten uralten Moleküls,
nämlich des Nicotinamiddinucleotids, das
dadurch nicht mehr in der NADH, sondern
in einer NAD-Version (Bonkowski und
­Sinclair 2016) vorliegt.
Dieses NAD-Molekül kooperiert mit
den Sirtuinen, die im Zellkern jene Mole-
Kalorienreduktion – ein Jungbrunnen?
küle upregulieren, die für die Regeneration
und Altersprävention notwendig sind:
FOXO, PGC-1 Alpha, NrF2.
Diese Mechanismen haben für den gesam-
ten Organismus einen hohen Benefit: Die
Stressresistenz wird gestärkt, Überlebens-
programme eingeschaltet, der Glukose- und
Fettstoffwechsel kontrolliert, die Mito-
chondrien in ihrer Entstehung und Aktivität
angeregt, vor allem aber die Autophago-
zytose – das Einschmelzen von alten Zellen
und das Recycling in neue Zellbestandteile –
begünstigt. Das sind – plakativ dargestellt –
Mechanismen, über die der Körper sich re-
generiert und dem Alterungsprozess
entgegenwirkt (Speakman und Mitchell 2011).
Ein besonders interessanter Mechanis-
mus beim Fasten ist die Entstehung von Ke-
tonkörpern.
Darunter versteht man kurzkettige
Kohlenwasserstoffverbindungen, vor allem
Acetoacet, Aceton und Beta-­Hydroxybutyrat,
die beim Abbau von Fetten, aus den Fett-
reserven der Adipozyten entnommen, ent-
stehen.
Normalerweise beträgt die Konzentration
dieser Ketonkörper im Blut ca. 3 mg/100ml.
Beim Fasten erfolgt ein stärkerer Zugriff zu
dem gespeicherten Fett, und dadurch steigt
die Konzentration dieser Ketonkörper an
(Cahill 1970; Browning et al. 2012).
Dies hat verschiedenste Auswirkungen,
die für die Altersprävention von großer
Wichtigkeit sind: So werden diese letztlich
aus den Adipozyten gewonnenen Fettsäuren-­
Residuen in der Leber dazu verwendet, den
Fibroblasten growth factor 21 (FGF21) zu
bilden (Fisher und Maratos-Flier 2016), der
multiple Wirkungen hat: Er verbessert in der
normalen Muskulatur die Leistungsfähig-
keit, wirkt aber auch direkt auf Herz und
auf das Gehirn; diese drei Organe – nämlich
Muskelgewebe, Herz und Gehirn – profitie-
ren damit in besonderer Weise vom Fasten.
In umschriebenen Gehirnarealen wird
die synaptische Plastizität verstärkt, die
Neurogenese angeregt und damit die Vigi-
lanz deutlich gehoben (Foster 1967).
115 5
Jener Mediator, der das bewirkt, ist der
BDNF, der durch das Fasten über Keton-
körper verstärkt gebildet wird.
Im Herzen und in der quergestreiften
Muskulatur hat der Fibroblasten growth
factor 21 eine mitochondrale Wirkung: Er
induziert die Neubildung von Mito-
chondrien und verbessert ihre Aktivität;
damit werden die ATP-Produktion und die
Leistungsfähigkeit der Zelle gesteigert.
Gleichzeitig sinkt der mTOR-Stoffwechsel,
was ebenfalls eine günstige Wirkung hat.
(Minard et al. 2016).
Die gleichen Effekte an den drei Orga-
nen hat aber nicht nur der durch die Keton-
körper angeregte FGF21, sondern auch die
Ketonkörper selbst, so vor allem das
Hydroxybutyrat, das ebenfalls am Herzen,
in der glatten Muskulatur und am Gehirn
wirkt (Anson et al. 2003).
Beim Fasten greift der Körper auf die in
den Adipozyten gespeicherten Fettzellen zu-
rück, kann aber auch die mit der Nahrung
noch aufgenommenen Fettanteile – wie
bereits dargestellt – so verändern, dass sie
primär der Ketonkörperbildung zugeführt
werden; dabei haben die intestinalen Darm-
bakterien ihren Anteil, die hier offensicht-
lich die Weichen in Richtung Ketonkörper
anstatt der oxydativen Phosphorylierung
stellen (Newman und Verdin 2017).
5.3  ie physiologische Dialektik
D
von Essen und Fasten
Verständlicherweise ist die Nahrungszufuhr
von vitalem Interesse. Das permanente Fas-
ten würde zweifellos zum Tod führen.
Wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass
offensichtlich auch für die Nahrungszufuhr
das Buch Kohelet die richtige Empfehlung
trifft: „Alles im Leben hat seine Zeit.“ Man
könnte ergänzen, es gibt eine Zeit zum Essen
und eine Zeit zum Fasten: Denn geht der
Nahrungszufuhr eine restriction of calories
voraus, wird die Nahrungsverwertung um
vieles verbessert, d. h., die anabolen Vor-
 116 U. Gröber
gänge der Nahrung werden optimiert.
Kommt es beim Fasten zu einer Abnahme
der Insulinsekretion, so kann bei der darauf-
folgenden Nahrungszufuhr das Insulin nicht
nur ausreichend, sondern effektiver frei-
gesetzt werden.
Bewirkt das Fasten eine Reduktion der
Proteinsynthese, so wird auf der anderen
Seite diese beim darauffolgenden Essakt
verbessert (de Cabo und Mattson 2019).
5 Ähnliches gilt auch für die Autophago-
zytose: Beim Fasten wird sie verstärkt und
recycelt damit altes Gewebe, beim Essen
wird die Autophagozytose downreguliert
und die zugeführte Nahrung für anabole
Vorgänge gezielter genutzt. Unter dem
Strich führt die richtige Balance zwischen
weniger Essen und normal Essen à la longue
zu einer vermehrten Insulinsensitivität, zu
einem verbesserten Lipidmetabolismus, zu
einer Optimierung der Darmbakterien, zu
einer Reduzierung des abdominalen Fettes
und des Blutdruckes und vor allem auch zur
Verhinderung der Silent Inflammation und
damit auch des Alterungsprozesses per se
(Mattson et al. 2018). Dies bestätigt, was die
Weisheit der Menschheit in den großen Reli-
gionen niedergeschrieben hat: dass vor den
Festtagen, die mit einer Nahrungszufuhr
verständlicherweise verbunden sind, Tage
der Nahrungskarenz eingelegt werden soll-
ten, da dann das zugeführte Essen auch bes-
ser wirkt und die Vigilanz stärkt.
5.4  ie Chronobiologie des
D Weg wäre, diese zusätzliche biologische Be-
Fastens
Nahrungskarenz kann in verschiedener
Weise vorgenommen werden; einerseits im
alternierenden Fasten: An einem Tag isst
man normal, am anderen enthält man sich
der Nahrung, im 5:2-intermittierenden Pro-
zedere: d. h. 2 Tage pro Woche (z. B. mitt-
wochs und freitags wird auf das Essen ver-
zichtet) oder daily time restricted, d. h.,
man definiert Stunden (z. B. 16 Stunden/
Tag, in denen man nichts isst, in der übrigen
Zeit kann man Nahrung zu sich nehmen [8
Stunden]).
Die 16/8-Stundenregelung wird mit gro-
ßer Akzeptanz angewandt, wobei eine
immer wieder geführte Diskussion sich um
die Tageszeit der Nahrungskarenz und der
Nahrungszufuhr dreht. Generell soll man
hier eine dogmatische Wahrheitsver-
kündigung ausklammern und wissen, dass
das Weniger-­Kalorien-­Zuführen immer ge-
sünder ist als die orale Hyperphagie.
Andererseits müssen wir zur Kenntnis
nehmen, dass Sonnenbewegung und Erd-
rotation unsere Zellen, unsere Organe und
auch unsere Hormone in Zyklen und Rhyth-
men teilen, so z. B. auch in den Tag/Nacht-
rhythmen, der für die Nahrungsverwertung
einen hohen Impact hat.
Beeindruckend wird die Wichtigkeit des
zirkardianen Rhythmus an der hypo-
physären Aktivität demonstriert – und hier
vor allem an einem Hormon, das für die Re-
generation von besonderer Wichtigkeit ist,
nämlich am Somatotropen Hormon der
Hypophyse.
Dieses für den Organaufbau wichtige
Hormon wird präferentiell um Mitternacht
ausgeschüttet – etwa bis 2 Stunden morgens
und benützt den Schlaf zur Reparatur ver-
schiedener Systeme (Gamble et al. 2014).
Sind der Glukose- und der Insulinspiegel
niedrig, wie das nach einer abendlichen
Nahrungskarenz der Fall ist, so wird mehr
Wachstumshormon gebildet. Das ist auch
der Grund dafür, warum es ein sinnvoller
reicherung zu nutzen.
Dies hieße allerdings, dass man in der
16/8-Regelung die ersten acht Stunden vor
Mitternacht legen muss, d. h., ab 16 Uhr
müsste man jede Nahrungsaufnahme mei-
den. Dadurch hat der Glucose- und Insulin-
spiegel um Mitternacht einen Tiefpunkt er-
reicht und führt zu einer verstärkten
Ausschüttung des Wachstumshormons, das
dann verständlicherweise gar nicht extern
zugeführt werden muss, wie das in manchen
angelsächsischen Ländern per Injektion der
Kalorienreduktion – ein Jungbrunnen?
Fall ist. Interessanterweise gibt es gerade aus
jenen romanischen Ländern, in denen das
Abendessen einen ganz hohen Stellenwert
hat, Publikationen, die die Wirksamkeit der
nächtlichen Nahrungskarenz auf die
Gesundheit demonstrieren.
So zeigt eine Studie aus Spanien (Koge-
vinas et al. 2019), dass es für die Prävention
sowohl des Mammakarzinoms wie auch die
des Prostatakarzinoms sinnvoll ist, wenn
man sich beim Essen an besagten zirkardia-
nen Rhythmus hält und die Nahrungsauf-
nahme am Abend und in der Nacht redu-
ziert. Kann man sich nicht daran halten und
benutzt man die Nacht zur Nahrungsauf-
nahme, so steigt das Risiko eines Mamma-
karzinoms um 1,48 bzw. das eines Prostata-
karzinoms um eine HR von 2,2.
Zu ähnlichen Resultaten kommt die Nu-
triNet-Santé prospektive Kohortenunter-
suchung aus Frankreich (Srour et al. 2018).
Auch sie demonstriert, dass die nächtliche
Nahrungskarenz einen Benefit für das onko-
logische Risiko hat.
Eine weitere Studie (Marinac et al. 2016)
bezeichnet das nächtliche Fasten als eine
nichtpharmakologische Strategie, die die
Wahrscheinlichkeit, an einem Mamma-
karzinom zu erkranken, in effektiver und
einfacher Weise reduziert.
Umgekehrt hat eine andere Studie (Nas
et al. 2017) die Frage zu erörtern versucht,
ob das breakfast skipping, also das Aus-
lassen des Frühstücks, ebenfalls einen Bene-
fit hätte. Dies wird im Rahmen der
16/8-­Stundenregelung ja immer diskutiert –
mit dem Hinweis, dass man am Abend essen
kann und dann das nächste Mal nach 16
Stunden erst am Nachmittag des darauf-
folgenden Tages wieder Nahrung zu sich
nimmt. Dieser Review von Meta-Analysen
und prospektiven Kohortenstudien zeigt al-
lerdings eindeutig, dass die Ignorierung der
morgendlichen Insulinausschüttung, die zir-
kardian fixiert ist, mehr Nachteile als Vor-
teile hat. Der Körper muss dann während
der Nachtstunden Insulin freisetzen, das er
eigentlich für die Morgenstunden program-
117 5
miert hat, und das führt zu einem erhöhten
Risiko, Diabetes zu entwickeln. Man hat da-
durch kontraproduktiv mehr Nachteile statt
Vorteile.
5.5 Restriction of methionin
Kalorienrestriktion wird als Verringerung
der normalen Nahrungsaufnahme um 30–
60% definiert. Neben dieser restriction of
calories gibt es allerdings auch die
Methionin-­Restriction – restriction of me-
thionin –, die erstmals von Orenreich (Gao
et al. 2019) beschrieben wurde. Wird das
Methionin als Teil der konsumierten Pro-
teine reduziert, so beobachtet man eine
deutliche Abnahme der freien Radikale
innerhalb der Mitochondrien. Im Herzen
betrifft dies vor allem den mitochondralen
Komplex I, der sowohl bei der normalen res-
triction of calories wie auch bei der restric-
tion of Methionin weniger freien Radikalen
ausgesetzt ist. In der Leber wird gleichzeitig
bei Verzicht auf Methionin der Komplex I
und III von freien Radikalen weniger be-
lastet, während das normale restriction of
calories nur den Komplex I tangiert (Ables
und Johnson 2017).
Von entscheidender Bedeutung scheint
es jedoch zu sein, dass Methionin in den epi-
genetischen Code eingreift und vermehrt
Methylreste zur Verfügung stellt, was in der
Schwangerschaft von Wichtigkeit ist. Des-
wegen ist in der Schwangerschaft die Ver-
abreichung von Folsäure, Cholin und auch
Methionin wichtig.
Anders scheint es jedoch im Alterungs-
prozess zu sein, der erwiesenermaßen da-
durch ausgezeichnet ist, dass es bei den
nichtcodierenden Regionen der DNA zu
einer Hypomethylierung, in den codieren-
den Abschnitten jedoch zu einer Hypermet-
hylierung und damit zu einer Ruhigstellung
des Genoms kommt. Ein Gen, das durch
Methionin hypermethyliert und damit in
seiner Aktivität reduziert wird, ist der Fibro-
blasten growth faktor 21, von dem man
 118 U. Gröber

weiß, dass er sowohl in der Muskulatur, im kung entfaltet. Denn die altersabhängige
Herzen wie auch im Gehirn positive Effekte Reduktion von Cys-SSH verstärkt die
bewirkt (Ables et al. 2016). Radikalbelastung der Proteinoxidation und
Auch die Verringerung des Colonkarzi- damit die Redox-Dysbalance.
noms bei einer methoninarmen Diät wird In niedriger Konzentration führt
mit dieser epigenetischen Veränderung in Schwefelwasserstoff auch zu einer Ver-
Zusammenhang gebracht. (Waluga et al. langsamung von Stoffwechselvorgängen und
2018). zu einem Absenken der Körpertemperatur
Die Restriktion des diätetischen Methio- (Hibernisation-Effekt). Wahrscheinlich
nins reduziert gleichzeitig einen seiner Meta- ist Schwefelwasserstoff für einen Teil der
5 boliten, das S-Adenosylmethionin, wodurch
die Hypermethylierung und damit die De-
gesundheitsfördernden Wirkung des Knob-
lauchs verantwortlich.
aktivierung von Genen ebenfalls reduziert
wird.
Den höchsten Methioningehalt findet 5.7  linische Daten zur
K
man in Eiern, Sesamkörnern, im Parmesan Kalorienrestriktion
sowie in Fleisch. Die vegane Ernährungs-
form ist mit einer reduzierten Methionin- Obwohl der gesundheitsfördernde Effekt
aufnahme verbunden. des Fastens seit Jahrtausenden bekannt ist,
haben sich erst in den letzten Jahrzehnten
die wissenschaftlichen Arbeiten gemehrt,
5.6 Die dialektische Bedeutung die auch einen klinischen Effekt durch res-
des Schwefelwasserstoffes triction of calories zeigen. So wurde bereits
2009 in einer Arbeit darauf hingewiesen,
Die Restriktion der Schwefelaminosäure dass Kalorienrestriktion in älteren Men-
Methionin erhöht andererseits die Ex- schen das Gedächtnis signifikant verbessert
pression des Transulfurationstoffwechsels, (Menzies et al. 2017).
indem sie das Enzym Cystathionin-Gamma-­ 2016 erschien eine Studie, die nach
Lyase vermehrt, was eine erhöhte Produk- 12-monatiger Kalorienrestriktion eine deut-
tion von Schwefelwasserstoff (H2S) bewirkt. liche Verbesserung des verbalen Gedächt-
Schwefelwasserstoff (H2S) mediiert die Oxi- nisses und der exekutiven Erkenntnis-
dation von Schwefelsäure (Cys-SOH) zu funktionen aufwies (Gyger et al. 1992).
Persulfiden (Cys-SSH), was die lebens- Klinische Arbeiten, die sowohl bei der
prolongierende Wirkung des an sich sonst Neurodegeneration als auch bei Morbus
toxischen Schwefelwasserstoffes erklärt Parkinson und bei Morbus Alzheimer die
(Wang et al. 2019). Kaloriendrosselung auf ihren klinischen Ef-
Schwefelwasserstoff ist ein Gasotrans- fekt untersuchen, laufen derzeit.
mitter, ähnlich wie das Stickmonoxyd (NO), Aber auch im Herz-Kreislauf-System gibt
und hat auch wie dieses eine vasorelixie- es bereits klinische Daten: So verringert das
rende Wirkung, das die Kardioprotektion intermittierende Fasten inflammatorische
miterklärt. Außerdem schützt das H2S das Parameter, die für die Entstehung der
Endoplasmatische Reticulum und damit Arteriosklerose verantwortlich sind (Le-
letzten Endes auch die Proteinsynthese. fevre et al. 2009). Die CALERIE-Studie
Mit Zunahme des Alters kommt es konnte ebenfalls eindeutig beweisen, dass
gleichzeitig zu einer Abnahme von Persulfi- eine 12%-Reduktion der täglichen Nahrung
den, die freie Radikalbelastung wird stärker, zu einer hochsignifikanten Verbesserung der
und dies ist ein weiterer Grund, warum der kardiovaskulären Gesundheit kommt (Ro-
Schwefelwasserstoff eine protektive Wir- chon et al. 2011).
Kalorienreduktion – ein Jungbrunnen?
119 5
Diese tritt bereits 2–4 Wochen nach dem binden, wurde in der Studie simultan auch
Start des alternierenden Fastens auf: Klini- Metformin verabreicht. Sowohl das epi-
sche Arbeiten werden derzeit auch in der genetische Altern, das objektiviert werden
onkologischen Therapie vorgenommen, konnte, wie auch der Alterungsprozess des
beim Prostatakarzinom, beim Mamma- Immunsystems konnten damit verlangsamt
karzinom und beim Glioblastom (Elsakka werden.
et al. 2018). Verringert man seine Mahlzeiten, so
Die bereits jetzt vorliegenden Daten wird gleichzeitig auch die Aktivität des
gehen in die Richtung, dass die klassische NAD und der Sirtuine verstärkt, was viel-
onkologische Therapie in der Effektivität fältige Folgen auf die Zellen hat.
verbessert werden kann, wenn es gleichzeitig Allerdings sinken mit zunehmendem
zu einer täglichen Reduktion der Nahrung Alter auch beide Stoffe ab, sodass eine Zu-
kommt. fuhr überlegt wird. Um das NAD zu heben,
wird diätetisch entweder das Nicotinamid
oder das Nicotinamidribosid zugeführt, aus
5.8 Additive Stoffe zur
dem das NAD gebildet werden kann.
Reduziert man Nahrung bzw. fastet
Kalorienreduktion man, so vereint sich dieses NAD mit Sirtui-
nen – beide haben alterspräventive Re-
Es sind nicht die Jahre, die mit zunehmendem
aktionen zur Folge (Lee et al. 2019)
Alter die Menschen kränker machen, son-
Ein Agonist für die Sirtuine ist das Res-
dern vor allem das Nachlassen des Immun-
veratrol, das deswegen zusammen mit NAD
systems: Damit wird der Körper anfällig für
precursor verabreicht werden kann.
bösartige Erkrankungen, aber auch für Ent-
Sicher wird es in Zukunft noch weitere
zündungen – beides die Haupttodesursachen
Stoffe geben, die in diese Mechanismen as-
in der zweiten Lebenshälfte.
sistierend eingreifen können – Voraus-
Eine sehr interessante Arbeit an Super-
setzung wird aber trotzdem bleiben, dass
centennerians zeigt, dass eine bleibende
man immer mit einem besonderen Partner
Immunkraft die ganz alten, noch lebenden
ins Bett steigen muss – dessen Name „Hun-
Menschen auszeichnet. Dies trifft v. a. auf
ger“ ist. Noch vor gar nicht so langer Zeit
die Lymphozyten und auf die Natural-­
wurde dieses Antiaging-Mittel ironisiert,
killer-­
Zellen zu, also auf das angeborene
heute wird es durch viele Studien gerecht-
und das erworbene Immunsystem.
fertigt; restriction of calories ist nicht nur
Vor kurzem konnte eine weitere Arbeit
ein probates Mittel zur Gewichtsabnahme,
demonstrieren, dass durch eine 3er-­
es ist auch ein Präventivum gegen das Al-
Kombination die Immunsituation deutlich
tern – vor allem aber wird es auch zum
verbessert wurde: mit der gleichzeitige Ap-
Medikament, ohne Nebenwirkungen und
plikation von Somatotropin, von DHEA
ohne Kosten.
und von Metformin (Glossmann und Lutz
2019). Durch das DHEA und durch das so-
matotrope Hormon, das v. a. bei der nächt- Literatur
lichen Kalorienrestriktion vermehrt aus-
geschüttet wird, kommt es zu einem Ables GP, Johnson JE (2017 Aug) Pleiotropic responses
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Alterung und Bewegung,

Sportmedizin
Alexander Rondeck und Felicia Kleimaier

Inhaltsverzeichnis

6.1 Bewegung und Gesundheit – 124

6.2  llgemeine Empfehlung zum Einstieg in Bewegung

A
und Sport – 125

6.3 Einfluss von Bewegung auf das Altern – 125

6.3.1 Bewegung und Herz-Kreislauf-­Erkrankungen – 126

6.4  nd es ist nie zu spät, mit Sport zu beginnen! – ein

U
Patientenbericht – 127
6.4.1  ewegung und Stoffwechselerkrankungen – 127
B
6.4.2 Bewegung und onkologische Erkrankungen – 128
6.4.3 Bewegung und Erkrankungen des Bewegungssystems – 129
6.4.4 Bewegung und psychische Gesundheit – 132
6.4.5 Bewegung und neurologische Erkrankungen – 133
6.4.6 Bewegung und Gene – 136

6.5 Fazit – 136

Literatur – 137

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 124 A. Rondeck und F. Kleimaier
6.1 Bewegung und Gesundheit
»» „Wenn wir jedem Individuum das richtige
Maß an Nahrung und Bewegung zu-
kommen lassen könnten, hätten wir den
sichersten Weg zur Gesundung gefunden.“
(Hippokrates 460–463 v. Chr.)
Bereits Hippokrates war davon überzeugt,
dass das richtige Verhältnis zwischen Er-
nährung und Bewegung den Menschen ge-
sund und fit hält.
An dieser Erkenntnis hat sich bis heute
6 nichts geändert. Bewegung ist von zent-
raler Bedeutung für ein langes, gesundes
Leben. Sie beginnt bei einfachen Alltags-
bewegungen oder körperlicher Aktivität
und geht bis hin zu Sport. Bewegung steht
für Mobilität, Fitness, Gesundheit und
Lebensqualität.
Für uns Menschen ist Bewegung ein
essenzieller Bestandteil, auf den sämtliche
körperlichen Funktionen, physiologischen
Abläufe und neurologischen Vorgänge aus-
gerichtet und abgestimmt sind.
Evolutionsgeschichtlich spielt Bewegung
seit jeher eine übergeordnete Rolle: Unsere
Urväter jagten, flohen oder kämpften um
ihr Leben. Daher waren regelmäßige Be-
wegung und ein hohes Aktivitätslevel von
Natur aus Voraussetzung zum Überleben.
Mit Beginn der Industriellen Revolution,
der Entwicklungen der Mobilität und der
technisierten Zivilisation wurde dem Men-
schen die Fortbewegung zum Großteil ab-
genommen.
Körperliche Bewegung hat für den mo-
dernen Menschen zunehmend an Bedeutung
verloren, sodass wir heute von einer Gesell-
schaft der Bewegungsarmut sprechen.
Denn während unsere Urväter noch 10–
15 Kilometer pro Tag auf der Jagd zurück-
legt haben, kommt der Durchschnitts-
bewohner der Industrienationen auf gerade
mal 2,5 Kilometer (O’Keefe et al. 2011).
Viele der weltweit drastisch zu-
nehmenden Krankheiten wie Übergewicht,
Stoffwechselerkrankungen, Herz-Kreislauf-
Probleme, Erkrankungen des Bewegungs-
apparates, onkologische Erkrankungen,
Gemütsleiden und neurologischen Er-
krankungen können unter anderem auf Be-
wegungsarmut zurückgeführt werden.
Bewegungsarmut beginnt bereits im
Kindesalter und nimmt leider häufig im
Erwachsenenalter weiter zu. Wie hoch das
Aktivitätslevel und die gesundheitliche Lage
von Kindern und Jugendlichen eingeschätzt
werden kann, wird im Rahmen der Lang-
zeitstudie KIGGS („Studie zur Gesundheit
von Kindern und Jugendlichen in Deutsch-
land“) des RKI untersucht. Die erste Basis-
erhebung fand im Zeitraum 2003–2006
statt, danach untersuchte man in „KIGGS
Welle 1“ den Zeitraum 2009–2012 und in
„KIGGS Welle 2“ jenen von 2014–2017. Ab
August 2019 soll „KIGGS Welle 3“ starten.
Die letzte Befragung ergab, dass die Be-
wegungsempfehlung der WHO von 60 Mi-
nuten pro Tag nur von 22,4 % der Mädchen
und 29,4 % der Jungen im Alter von 3–17 er-
reicht wurden. Die Bewegung nimmt sowohl
bei Mädchen und Jungen mit steigendem
Lebensalter sogar kontinuierlich ab. Unter
anderem wurde ein Zusammenhang zwi-
schen abnehmender Bewegung bei Kindern
aus sozial schwächeren Familien festgestellt
(Finger et al. 2018).
Bereits im Kindesalter sollten Kinder
zu regelmäßiger Bewegung motiviert wer-
den: Kinder, die sich während ihrer Schul-
zeit durch Schulsport regelmäßig bewegen,
haben auch in ihrer Freizeit mehr Lust,
aktiv zu sein (Graf et al. 2003). Erfahrungen
zeigen, dass eine frühe Mitgliedschaft in
Turn- und Sportvereinen Kinder häufiger
an ausreichend Bewegung und ein gewisses
Aktivitätslevel gewöhnt.
Durch körperliche Aktivität wird auch
die kognitive Leistungsfähigkeit gesteigert.
Dabei spielt die räumlich enge Verschaltung
der motorischen und kognitiven Zentren
eine entscheidende Rolle. Bewegung akti-
viert die Motoneuronen, dabei werden die
Alterung und Bewegung, Sportmedizin
benachbarten kognitiven Areale ebenso an-
geregt, was eine Steigerung der Konzentrati-
ons- und Gedächtnisfähigkeit zur Folge hat
(Tomporowskie et al. 2008).
6.2  llgemeine Empfehlung zum
A
Einstieg in Bewegung und
Sport
Für einen Einstieg in den Sport und zur
täglichen Durchführung und Steigerung
körperlicher Aktivität im Alltag können fol-
gende sportmedizinische Empfehlungen zu-
sammengefasst werden:
55 Kinder spielend zum Sport motivieren
und den Zugang z. B. zu Sportvereinen
ermöglichen
55 Aufnahme eines Sportprogramms evtl.
nach sportmedizinischer Beratung für
den individuellen Leistungsstand
55 Langsamer Einstieg und moderate Stei-
gerung der Alltagsaktivität mit realisti-
scher Zielsetzung, z. B. mithilfe von
Schrittzählern (Ziel: etwa 10.000 Schritte
pro Tag, das entspricht etwa 8 Kilo-
metern)
55 Beginn mit Sport mehrmals die Woche
mit geringem Umfang (jeweils 20 Min.)
55 Etappenziele festlegen und die Ziele
dabei nicht zu hochstecken
55 Zur Prävention chronischer Er-
krankungen tägliche Aktivität von min-
destens 30 Minuten in moderater Intensi-
tät im Alltag und Freizeit,
z. B. Zurücklegen des Arbeitsweges mit
dem Fahrrad
55 Ausdauertraining zur Steigerung der
körperlichen Fitness, kombiniert mit
Dehnübungen für die Flexibilität der
Muskeln und Faszien, Krafttraining zur
Verbesserung der Muskelkraft
55 Ausdauertraining an mindestens 5 Tagen
pro Woche bei 55–90 % der maximalen
Herzfrequenz, z. B. als Walking oder
Radfahren; Dauer ca. 30–60 Minuten
125 6
55 Krafttraining der großen Muskel-
gruppen sollte 2- bis 3-mal/Woche emp-
fohlen werden; 1–3 Durchgänge mit 8–15
Wiederholungen pro Übung; Dauer 30–
45 Minuten.
6.3  influss von Bewegung auf
E
das Altern
Dass der Mensch altert, ist ein normaler
biologischer Prozess. Die physiologische
Alterung ist irreversibel und unter anderem
durch die individuelle Zusammensetzung
unserer Gene bestimmt.
Neben rein physiologischen Prozessen,
dem sogenannten primären Altern, spielen
diverse Faktoren des Lebensstils eine ent-
scheidende Rolle für das Voranschreiten
des sekundären Alterns. Dazu zählen Er-
nährung, individuelle Stressoren und vor
allem Bewegung. Der Einfluss von regel-
mäßiger körperlicher Aktivität im präventi-
ven als auch im kurativen Sinne ist mittler-
weile hinreichend bekannt.
Sowohl strukturelle als auch funktionelle
Einbußen der physiologischen Systeme und
Organe lassen sich durch körperliche Aktivi-
tät effektiv mindern.
Bewegung wirkt sich positiv auf Herz-,
Kreislauf- sowie Stoffwechsellage aus und
dient außerdem der Verbesserung von kog-
nitiven Prozessen wie Konzentrations- und
Merkfähigkeit. Auch bei Depressionen, De-
menz und Parkinson belegen zahlreiche Stu-
dien den positiven Einfluss von Bewegung.
Untersuchungen zeigen, dass Bewegung die
Neurogenese fördert und degenerativen Pro-
zessen des Gehirns vorbeugen kann.
Aber auch Zusammenhänge zwischen
körperlicher Aktivität und einer reduzier-
ten Mortalität sind wissenschaftlich nach-
gewiesen. Dabei konnte festgestellt werden,
dass sogar eine Aktivitätssteigerung erst im
späteren Alter (> 60 Jahre) mit einem gerin-
 126 A. Rondeck und F. Kleimaier
geren Sterblichkeitsrisiko einhergeht (Hupin
et al. 2015).
Körperliche Aktivität hat im All-
gemeinen weitreichende Auswirkungen auf
viele Bereiche des Lebens (vgl. Banzer 2017,
S. 4):
55 Gesundheitskosten
55 Mortalität
55 Lebenserwartung
55 Morbidität
55 Gesundheitliche Einschränkungen
55 Wohlbefinden
55 Biomedizinisches Risikoprofil und
6 Schutzfaktoren
55 Körperliche Fitness
6.3.1  ewegung und Herz-
B Abhängigkeit von der Trainingsform dar-
Kreislauf-­Erkrankungen
Der individuelle Lebensstil beeinflusst
maßgeblich die Entstehung und Progres-
sion kardiovaskulärer Erkrankungen.
Herz-­Kreislauf-­Erkrankungen stehen seit
Jahren an erster Stelle der sogenannten
Zivilisationskrankheiten. Neben Risiko-
faktoren, wie erhöhte Blutdruckwerte,
LDL-­ Cholesterinspiegel, Rauchen, Über-
gewicht, Alkoholkonsum und dem so-
genannten Disstress, fällt vor allem auch
der zunehmende Bewegungsmangel als Ver-
ursacher ins Gewicht. Aufgrund der weit-
reichenden Konsequenzen und der dadurch
entstehenden Sekundärerkrankungen wird
mittlerweile von „Bewegungsmangelkrank-
heiten“ gesprochen. Demzufolge ist die Be-
wegungstherapie der entscheidende Faktor
in der Prävention vieler kardiovaskulärer
Risikofaktoren (König 1992), weswegen sie
eine wichtige Säule in der Naturheilkunde
darstellt.
Körperliche Aktivität – und damit ist
nicht nur Sport im engeren Sinne gemeint –
wirkt sich direkt auf den Blutdruck aus,
indem die vasodilatativen Mechanismen
verbessert werden. Sie verringert den sympa-
thischen Antrieb und erhöht die parasympa-
tische Aktivität. Zudem kommt es zu einer
Down-Regulation des Angiotensin-­ Renin-­
Systems (Schunkert 2002; Cornelissen und
Smart 2013; Mancia et al. 2013).
In einem aktuellen systemischen Re-
view von Börjesson et al. 2016 wurden hin-
reichende Effekte aus 27 randomisierten,
kontrollierten Studien zu körperlichem
Training und Sport bei Patienten mit arte-
rieller Hypertonie beschrieben. Beim Aus-
dauersport kann regelmäßiges Training bei
mittlerer bis hoher Intensität den Blutdruck
im Durchschnitt systolisch um 11 mmHg
und diastolisch um 5 mmHg reduzieren.
Auch Krafttraining (isometrisches und dy-
namisches Training) senkt den Blutdruck
in ähnlichem Maße. Die Effekte wurden in
gestellt. Das Review zeigte, dass bereits ein
30-minütiges aerobes Training von 3 km 3-
bis 7-mal/Woche sowohl den systolischen
als auch den diastolischen Blutdruck senken
kann. Bei isometrischen Krafttrainingsein-
heiten zeigten sich bereits nach 4-mal 2 min.
3-mal/Woche positive Effekte. Ebenso beim
dynamischen Krafttraining im Umfang von
35–45 min., das dreimal die Woche aus-
geführt wird.
Zhang et al. (2018) konnten in ihrer
Meta-Analyse von insgesamt 38 Artikeln
(2089 Probanden) ebenfalls den blutdruck-
senkenden Effekt von aerobem Training und
Krafttraining festhalten. Weiter konnten sie
feststellen, dass aerobes und kombiniertes
Training einen signifikant positiven Einfluss
auf die Elastizität der zentralen Arterien
und auf die Herzfunktion kardiovaskulär
erkrankter Patienten haben kann. Dabei
existieren eher geeignete und ungeeignete
Sportarten für den Einstieg oder Wiederein-
stieg im Sport (. Tab. 6.1).
Die Empfehlung bezüglich des Umfangs
und der Intensität körperlicher Aktivität
sollte einerseits von der Höhe des Blut-
drucks und andererseits vom individuellen
Risikoprofil eines Patienten abhängig ge-
macht werden.
Alterung und Bewegung, Sportmedizin
..      Tab. 6.1 Geeignete und ungeeignete Sportarten zum Einstieg in den Sport
Geeignete Sportarten
Ausdauersportarten mit geringem bis mittlerem
Krafteinsatz, z. B. Walking, Nordic-Walking,
Laufen, Radfahren, Inline-Skating, Skilanglauf,
Schwimmen etc.
Mannschaftsspiele mit geringer körperlicher
Belastungsintensität aufgrund modifizierter
Durchführung, z. B. Volleyball, Fußball,
Soft-Tennis etc.
6.4  nd es ist nie zu spät, mit
U zurück. Durch die regelmäßige Bewegung
Sport zu beginnen! – ein
Patientenbericht
Beispiel Patientenbericht: Fr. S., 72 Jahre
In meiner Praxis stellte sich eine da-
mals 62-jährige Patientin mit Übergewicht,
wiederkehrenden, wechselnden Rücken-,
Hüft- und Knieschmerzen sowie gedrückter
Stimmung vor. Sie habe bisher keinen Sport
gemacht und würde sich bis auf die gelegent-
liche Gartenarbeit relativ wenig bewegen.
Nach einer ausführlichen orthopädischen
Abklärung, die keine wesentlichen Erkennt-
nisse bzgl. ihrer Schmerzen zeigte, empfahl
ich ihr, sich einen einfachen Schrittzähler
zu kaufen. Mit diesem sollte sie 1- bis 2-mal
pro Woche ca. 15 Minuten an der frischen
Luft zügig gehen und sich die zurückgelegte
Strecke in einer Art Bewegungstagebuch
notieren. Unser Ziel war es, die Frequenz
innerhalb eines Jahres auf täglich 15 Minu-
ten (am besten zur ähnlichen Tageszeit) im
Freien zu steigern. Nach vier Jahren ging die
Patientin beinahe täglich 45 Minuten wal-
ken und erreichte im vierten Jahr nur durch
das zusätzliche Walken eine Gehstrecke
von 1500 km, die sie nach sieben Jahren
und einem 60-minütigen täglichen Training
sogar noch auf 1900 km steigern konnte.
Diese Strecke legt die Patientin bis heute
(Stand 2019) mit ihren inzwischen 70 Jahren
127 6
Ungeeignete Sportarten
Kraft- und Kampfsportarten mit hohen Belastungs-
intensitäten, wie Einzelsportarten und Einzelspiele mit
hoher Belastungsintensität z. B. Leichtathletik,
Badminton, Squash etc.
Mannschaftsspiele mit hohen Belastungsintensitäten
z. B. Eishockey, Basketball etc.
haben sich nicht nur die Gelenkbeschwerden
an Rücken-, Hüften- und Knien, sondern
auch ihre Stimmung dauerhaft deutlich ver-
bessert. Für sie ist die tägliche Bewegung
der Hauptgewinn ihrer Lebensqualität, die
sie nicht mehr missen möchte. Zitat: „Ohne
mein tägliches Laufen ginge es mir körper-
lich und psychisch schlecht!“
6.4.1 Bewegung und
Stoffwechselerkrankungen
Neben der Veränderung der Lebens- und
Essgewohnheiten ist die Aufnahme bzw. Stei-
gerung der körperlichen Aktivität wesent-
licher Bestandteil der therapeutischen Inter-
vention bei Übergewicht, Metabolischem
Syndrom und Stoffwechselerkrankungen
wie Diabetes mellitus Typ 2. Denn das vor-
zeitige Altern wird zu einem großen Anteil
durch die Stoffwechselstörungen verursacht.
Diabetes mellitus Typ 2 ist eine der
häufigsten chronischen internistischen Er-
krankungen. Die Inzidenz steigt mit zu-
nehmendem Alter, während die Prävalenz
mit der demografischen Entwicklung zu-
nimmt. Während aktuell weltweit etwa
425 Millionen Erwachsene an Diabetes er-
krankt sind, wird es schätzungsweise im
Jahr 2045 einen Anstieg auf 629 Millionen
 128 A. Rondeck und F. Kleimaier
Diabetespatienten geben (IDF 2019). Neben
einer Ernährungsmodifikation spielt die
körperliche Bewegung die Hauptrolle in
der nicht-medikamentösen Intervention bei
Diabetes.
Ursachen des Typ-2-Diabetes mellitus
ist eine pathophysiologisch gestörte Insulin-
sensitivität, die häufig in Verbindung mit
einer Reduktion der endogenen Insulin-
produktion des Pankreas auftritt. Haupt-
ursachen hierfür sind mangelnde Bewegung
und hyperkalorische Ernährung. In Studien
wie von Tuomilehto et al. (2001), (Diabetes
6 Prevention Program Research Group 2002)
konnte nachgewiesen werden, dass die In-
zidenz von Diabetes durch die ­Kombination
von Ernährungsumstellung und gesteigerter
körperlicher Aktivität gesenkt werden kann.
Bei bereits bestehendem Typ-2-Diabe-
tes konnten Röhling et al. (2016) anhand
15 RCTs zeigen, dass die Kombination aus
regelmäßigem Ausdauer- und Krafttraining
die größten Effekte auf HbA1c-Werte hat:
absolute Veränderungen des HbA1c im Be-
reich von −22.120,1 % bis −1,1 % (−1,1 bis
−12 mmol/mol) im Krafttraining, −0,2 %
bis −1,6 % (−2,2 bis −17,5 mmol/mol) im
Ausdauertraining und +0,1 % bis −1,5 %
(+1,1 bis −16,4 mmol/mol) im kombinier-
ten Training. Insbesondere waren diese
Effekte unter mäßig intensiven Trainings-
bedingungen mit gleicher Trainingsdauer zu
erkennen.
Postprandialen Blutzucker- und Insulin-
anstieg kann bereits ein nur 15-minütiger
Spaziergang nach jeder Hauptmahlzeit re-
duzieren (van Dijk et al. 2013).
Weiter rät die Deutschen Diabetes Ge-
sellschaft (DDG), sich mindestens 3-mal/
Woche einer muskulären Belastung aus-
zusetzen, um einen dauerhaften positiven
Therapieeffekt zu erzielen. Das bedeutet
eine lebenslange Umstellung zugunsten
eines aktiven Lebensstils mit ausreichender
und regelmäßiger Bewegung.
Aktuell entspricht ein moderates Aus-
dauertraining bei 50–60 % der maximalen
Herzfrequenz im aeroben Trainingsbereich
einer geeigneten Trainingsintensität. Inter-
valltraining mit einem Wechsel unterschied-
licher Belastungsintensitäten zwischen 60
und 80 % der maximalen Herzfrequenz
(Wechsel aus aerober und anaerober
Intensität) kann sogar noch größere Effekte
bewirken (DDG Praxisempfehlung: Esefeld
et al. 2017).
In einer Meta-Analyse von Pattyn et al.
(2013) konnte, basierend auf sieben RCT-­
Studien, bei insgesamt 206 Teilnehmern
festgestellt werden, dass Ausdauertraining
einen signifikanten Effekt auf viele Risiko-
faktoren, die mit dem Metabolischen Syn-
drom einhergehen, zeigt: Gemessen wurde
eine Reduktion des Bauchumfangs bis zu
3,4 cm, eine Senkung des Blutdrucks von
7,1/5,2 mmHg und ein Anstieg des HDL-­
Cholesterins um 2,3 md/dl. Ebenso legten
andere Untersuchungen dar, dass sich auch
Triglyceride und Blutglukose durch körper-
liche Aktivität deutlich positiv verändern
(Gordon et al. 2014).
Aerobes Training steigert dabei einerseits
die mitochondriale Fettsäureoxidation und
senkt andererseits durch die alpha-­adrenerge
Inhibition der Insulinsekretion den Insulin-
spiegel. Der erniedrigte Insulinspiegel er-
möglicht die Lipolyse in der Fettzelle. Ein
weiterer bedeutender Effekt des aeroben
Trainings ist die Steigerung der Trans-
lokation des Transportproteins GLUT-
4. Hierdurch wird sowohl die muskuläre
Glukoseaufnahme verbessert als auch die
Umwandlung von Glukose in Glukogen er-
leichtert.
6.4.2 Bewegung und
onkologische Erkrankungen
Jedes Jahr erkranken etwa 480.000 Men-
schen neu an Krebs (RKI 2017). Sport
und Bewegung nehmen auch bei Krebs-
erkrankungen einen hohen Stellenwert ein,
wenn es um die Prävention onkologischer
Erkrankungen geht. Anhand vieler Studien
konnte bereits gezeigt werden, dass regel-
Alterung und Bewegung, Sportmedizin
mäßige Bewegung das Risiko, an einigen
Krebsarten zu erkranken, senkt. Laut Leitz-
mann et al. (2015) sind rund 9 % aller Brust-
krebsfälle, 10 % aller Darmkrebsfälle und
9–19 % der häufigsten Krebserkrankungen
in Europa auf ein unzureichendes Maß an
Bewegung zurückzuführen. Weniger starke
Zusammenhänge zeigten Krebsarten wie
Lungenkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs,
Eierstockkrebs, Prostatakrebs, Nierenkrebs
und Magenkrebs.
Angenommen wird, dass körperliche
Aktivität unter anderem Einfluss auf
Steroidhormone, den Insulinstoffwechsel,
Wachstumsfaktoren, Adipokine und das
Immunsystem nehmen kann.
Sport wirkt sich zudem positiv auf die Ge-
wichtsbilanz aus. Man weiß, dass Zellen im
Fettgewebe eine entscheidende Rolle bei chro-
nischen Entzündungen spielen (vgl. Ellulu
et al. 2017). Immunvorläuferzellen im Fett-
gewebe werden durch übermäßige Nahrungs-
zufuhr zur Differenzierung spezieller ent-
zündungsfördernder Makrophagen angeregt.
Die daraus entstehende Immunreaktion er-
gibt einen Entzündungsreiz, der sich auf den
ganzen Körper auswirkt und ein zusätzlicher
Risikofaktor für chronische Entzündungen
und die Entstehung von Tumoren ist.
Eine Untersuchung an Mäusen zeigte,
dass Sport auch bereits bei bestehenden
Tumorerkrankungen einen positiv hem-
menden Effekt auf das Tumorwachstum
haben kann. Pedersen et al. (2016) zeigten
an Mäusen, die nach dem Zufallsprinzip
zum freiwilligen Laufen gebracht wurden,
eine Reduktion der Tumorinzidenz und des
Tumorwachstums um über 60 % in fünf ver-
schiedenen Tumormodellen. Durch die Be-
wegung konnte außerdem eine Vielzahl an
natürlichen Killerzellen im Tumorgewebe
bei den Mäusen festgestellt werden.
Die im Tierversuch gewonnenen Er-
kenntnisse konnten Schmid und Leitzmann
(2014) mit ihrem Review und ihrer Meta-­
Analyse belegen. Sie untersuchten den Zu-
129 6
sammenhang zwischen körperlicher Aktivi-
tät und Mortalität bei Brustkrebs- und
Darmkrebsüberlebenden. Dabei senkte eine
sportliche Betätigung während einer Tumor-
erkrankung die krebsspezifische Mortalität
um etwa 20–40 %.
Viele Krebserkrankungen sind auch auf
Lebensstilfaktoren zurückführen. Trotz
überwiegend sitzender Tätigkeit in den
meisten Berufen sollten Ausgleichssport
und Bewegung im Alltag den Gegenpol
dazu bilden. Durch regelmäßige sportliche
Aktivität, etwa 30–60 Minuten moderate
bis intensive körperliche Aktivität pro Tag,
könnte man das Krebsrisiko für Darm-
und Brustkrebsrisiko signifikant reduzieren
(US DHHS 2008).
6.4.3 Bewegung und
Erkrankungen des
Bewegungssystems
Der Alterungsprozess bringt viele Ver-
änderungen mit sich. Die physiologische
Alterung bewirkt eine Abnahme sowohl
der Muskelkraft als auch der Muskelmasse.
Bereits ab dem 20. Lebensjahr beginnt die
Abnahme von Muskelkraft und -fasern und
verläuft kontinuierlich. Zwischen dem 70.
und 80. Lebensjahr ist die Faser- und Quer-
schnittszahl bereits um 50 % reduziert, die
Muskelkraft verringert sich um bis zu 40 %
(vgl. Jacobi et al. 2005, S. 133).
Auch die Knochenstruktur unterliegt
einem altersbedingten Auf- und Abbau und
passt sich ihren einwirkenden Kräften an.
Regelmäßige moderate Bewegung kann
Krankheiten des Bewegungssystems ent-
gegenwirken und zum Muskel- und Gelenk-
erhalt im Alter beitragen.
Typische und häufig auftretende Er-
krankungen des Alters sind unter anderem
unspezifischer Rückenschmerz, Arthrose
und Osteoporose.
 130 A. Rondeck und F. Kleimaier
6.4.3.1 Unspezifischer
Rückenschmerz
Unspezifische Rückenschmerzen treten
nicht nur im Alter auf, sondern treffen alle
Altersabschnitte im Erwachsenenleben.
Laut Robert Koch-Institut sind Rücken-
schmerzen in westlichen Gesellschaften eine
der häufigsten Gesundheitsstörungen (RKI
2017). So berichtet die Techniker Kranken-
kasse (TK) in ihrem Gesundheitsreport von
2019, dass im Jahr 2018 pro 100 Erwerbs-
personen mit Versicherung insgesamt 1549
Arbeitsunfähigkeitstage erfasst wurden,
6 davon 8,3 % aller Fehltage aufgrund von
Rückenbeschwerden (TK 2019).
Rückenschmerzen ohne nachweisbare
Ursachen, wie Infektionen, Frakturen,
Bandscheibenvorfälle etc., können haupt-
sächlich auf anhaltende Fehlbeanspruchung,
Störungen von Stoffwechselprozessen, mini-
male degenerative Veränderungen sowie auf
nozizeptive und neuropathische Schmerzen
zurückgeführt werden (Banzer 2017). Regel-
mäßige körperliche Aktivität kann Rücken-
schmerzen und damit einhergehenden
Muskelverkürzungen und -verspannungen
vorbeugen.
In der Therapie von Rückenschmerzen
zeigen Stretching-, Stabilisations- und
Kräftigungsübungen positiven Einfluss und
haben sich in der Behandlung bei Schmer-
zen bewährt. Eine Übersichtsarbeit von
Kay et al. (2012) bestätigt dies vor allem bei
Nackenschmerzen.
Gesellschaftlich betrachtet ist die seit
den 60er-Jahren überwiegend sitzenden
Tätigkeiten im beruflichen Kontext eine der
Hauptursachen für unspezifische Rücken-
schmerzen. Dabei führt vor allem die Kom-
bination aus täglichem Bewegungsmangel
und Stress zur Daueranspannung der Mus-
kulatur, die eine Minderdurchblutung und
eine konsekutive Nährstoffunterversorgung
der Muskulatur nach sich zieht. Durch
diese Minderversorgung wird die Schmerz-
sensibilität der Muskeln hochreguliert.
Durch regelmäßige Bewegung oder
sportliche Aktivität kann nicht nur die
Durchblutung der Muskulatur wiederher-
gestellt, sondern auch die Ausschüttung von
Serotonin gesteigert werden (Klempin et al.
2013). Dieses Hormon, das auch im Gehirn
aus 5-Hydroxytryptophan gebildet wird, hat
einen direkten Einfluss auf die Schmerz-
empfindlichkeit. Bei einem erniedrigten
Serotonin ist die Schmerzwahrnehmung
insgesamt erhöht. So können Rücken-
schmerzen durch regelmäßige, gezielte Be-
wegung mit einem nachfolgenden Sero-
toninanstieg in ihrer Intensität maßgeblich
reduziert werden.
Sportmedizinische Empfehlung
Nordic Walking, Crosstrainer, Rudern
oder Fahrradfahren mit geringem Wider-
stand und hoher Wiederholungszahl. All-
gemein gilt für alle Empfehlungen: Keine
der genannten Bewegungsempfehlungen
dürfen während oder nach dem Sport Be-
schwerden verstärken oder neu ver-
ursachen.
6.4.3.2 Arthrose
Bis heute konnte nicht abschließende
wissenschaftlich geklärt werden, welchen
Einfluss langjährige hohe körperliche Be-
lastungen durch schwere Arbeit oder Sport
auf die Entstehung degenerativer Gelenk-
erkrankungen haben (Sulsky et al. 2012).
Anzunehmen ist allerdings, dass sowohl
intensive berufsbedingte als auch sport-
liche körperliche Belastungen Gelenk- und
Knorpelschäden verursachen. Dies betrifft
insbesondere gleichförmige Belastungen.
Im Sportbereich sind es meistens inten-
sive und plötzliche Rotations- und Scher-
kraftbelastungen, die zu strukturellen
Schäden führen. Eine große Rolle spielt
dabei auch eine mögliche muskuläre In-
Alterung und Bewegung, Sportmedizin
suffizienz, bedingt durch Übertraining und
unzureichende Regeneration, Verletzungen,
einseitige Belastungen und falsch aus-
geführte Bewegungsausführungen.
Zahlreiche Untersuchungen konnten be-
legen, dass regelmäßige moderate körper-
liche Aktivität Arthrose vorbeugen kann.
Bewegung hat mit moderater Belastung ge-
lenkstabilisierende Aufgaben und bewirkt
zudem eine Zunahme der Knorpelsubstanz,
was an der vermehrten Lubricin-Synthese,
die reduzierte Expression des Zytokins IL-1
(Musumeci et al. 2015), liegt.
Sportmedizinische Empfehlung
Im Sinne der Primärprävention kann
durch regelmäßige körperliche Aktivität
einer Gewichtszunahme vorgebeugt wer-
den, was die Gelenksituation entlastet und
mit einem reduzierten Arthrose-­ Risiko
einhergeht. Auch gezieltes Muskel-
training, gerade der Beinmuskulatur, kann
Hüft- und Kniegelenksarthrose vorbeugen
und ist eine ebenso wichtige Säule in der
Prävention. Sensomotorisches Training,
wie z. B. Propriozeptorentraining, ver-
ringert das Verletzungsrisiko, indem es
zum einen die inter- und intramuskuläre
Koordination mit dem Gleichgewicht ver-
bessert als auch muskuläre Dysbalancen
ausgleicht.
Kontaktsportarten und Belastungsformen
mit hohen Rotations- und Scherkräften
sind mit einem hohen Risiko von Ge-
lenksbinnenverletzungen auf die Gelenke
verbunden. Auch bereits durchgemachte
Sportverletzungen sind im Trainingsplan
zu berücksichtigen, denn sie bedingen eine
eingeschränkte Belastbarkeit, können De-
fizite in der funktionellen Gelenkstabilität
aufweisen und dadurch die Entstehung von
Arthrose begünstigen.
Bei bereits bestehender Arthrose sind
abhängig von den betroffenen Gelenken
Ausdaueraktivitäten wie Nordic Walking,
131 6
Radfahren oder Schwimmen zu empfehlen.
Diese minimieren laut einiger Studien (Keefe
et al. 2004; Lim et al. 2010; Salacinski et al.
2012) Progredienz und Beschwerden.
6.4.3.3 Osteoporose
Laut Bundeshilfeverband für Osteoporose
sind deutschlandweit etwa sechs Millionen
Menschen von Osteoporose betroffen, da-
runter mit ca. 80 % überwiegend Frauen.
Schätzungsweise ist die Dunkelziffer sehr
hoch, da die Krankheit häufig nicht diag-
nostiziert ist und damit unbekannt bleibt
(Bundeshilfeverband für Osteoporose
2019). Osteoporose ist eine typische Alters-
erkrankung, die durch einen Abbau der
Knochenstruktur und einen damit einher-
gehenden Verlust der Knochenstabilität
charakterisiert ist. Diese Veränderung tritt
sowohl bei Frauen nach den Wechseljahren
durch den Abfall der Östrogenproduktion
als auch bei Männern durch die kontinuier-
lich abnehmende Testosteronsynthese auf.
Eine sekundäre Osteoporose kann durch
Verletzungen, Immobilisation, Medika-
mente und Entzündungen verursacht sein.
Sportliche Aktivität ist sowohl präventiv
als auch kurativ bei Osteoporose zu emp-
fehlen. Bekannt ist, dass das menschliche
Skelett ständigen Knochenauf- und -abbau-
prozessen unterliegt und kein starres Ge-
bilde darstellt, was unter anderem auf die
Knochenforschung von Julius Wolff und
Carl Culmann 1871 zurückzuführen ist. Das
menschliche Skelett ist bis ins hohe Alter
anpassungsfähig, deshalb gilt Bewegung
als wichtigste Säule zur Vorbeugung einer
Osteoporose. Fehlende Belastung bzw. Im-
mobilisation kann Knochenmasse in einem
Zeitraum von 27 Tagen (im Mittel) rund
0,9 % pro Woche abbauen (Krølner und Toft
1983). Das zeigt, wie wichtig regelmäßige Be-
wegung vor allem im zunehmenden Alter ist.
Körperliche Aktivität hat bei Osteoporose
positive Auswirkungen auf die Knochendichte,
was die Erlanger Fitness Osteoporose Prä-
ventionsstudie (EFOPS) mit entsprechendem
komplexen 3-jährigen Trainingsprogramm
 132 A. Rondeck und F. Kleimaier
bei Frauen in ihrer frühen Postmenopause
mit leicht erniedrigter Knochendichte
(Osteopenie) belegen konnte (Kemmler
et al. 2015). Im Falle einer eingetretenen
Osteoporose wird je nach Stadium der Er-
krankung und Alter zudem ein spezielles
Balance-, Haltungs- und Gehtraining emp-
fohlen, um Kraft und Knochenstruktur zu
erhalten. Um grundsätzlich einer Abnahme
der Muskelleistung, einer Verschlechterung
der Balance, Stürzen und dem Verlust von
Knochengewebe entgegenzuwirken, emp-
fiehlt sich auch hier die regelmäßige Auf-
6 nahme von Bewegung und körperlicher
Aktivität im Alltag.
Sportmedizinische Empfehlung
Da für die Osteoblasten-Tätigkeit Stütz-
und Stauchbewegungen den größten Reiz
darstellen, bevorzugt man z. B. Nordic
Walking gegenüber Sitzfahrradfahren.
6.4.3.4 Sturzneigung
Eine der bedeutendsten Ursachen für
eine dauerhafte Pflegebedürftigkeit ist die
Häufigkeit von Stürzen im Alter. Daher ist
es umso bedeutender, einen stabilen und
sicheren Gang zu erhalten. Durch regel-
mäßige Bewegung kommt es zu einer Ak-
tivierung der Motoneuronen und somit zu
einem besseren Zusammenspiel von syn-
ergistischen Muskeln. Darunter versteht
man bei Bewegungen wie den Schritt die
koordinierte Abfolge von Muskelgruppen.
Darüber hinaus verbessert sich die Ab-
stimmung von antagonistischen Muskeln,
sodass daraus eine fließende, schnelle und
sichere Bewegung entsteht.
Zur weiteren Stabilisierung des Gang-
bildes ist die Ergänzung mit Propriozepto-
rentraining zur Eigenübung sinnvoll, um
so die reflexartige Ansteuerung der gelenk-
stabiliserenden Muskeln zu trainieren. Ein
kürzlich publiziertes Review umfasst ran-
domisierte Kontrollstudien, in denen das
Gleichgewicht und die körperliche Aktivi-
tät bei gesunden älteren Menschen über 65
Jahre im letzten Jahrzehnt analysiert wurde.
Untersucht wurden die Auswirkungen
von Widerstands-, Aerobic- und Gleich-
gewichtstraining, Balancetrainingsgeräte
wie T-Bow©- und Wobble-Board, Training
mit aeroben Schritten und Stabilitätsbällen
sowie Wii-Fit-Training auf das Gleich-
gewicht. Im Ergebnis zeigte sich, dass all
diese Interventionen das Gleichgewicht der
Älteren im Vergleich zu Kontrollgruppen
ohne Intervention verbessern konnte. Das
Gleichgewicht der Kontrollgruppe hatte sich
sogar verschlechtert (Thomas et al. 2019).
Sportmedizinische Empfehlung
So ist z. B. tägliches Gehen einer be-
stimmten Strecke oder Dauer wesentlicher
Bestandteil der Sturzvermeidung. In
Kombination mit Gleichgewichtstraining
­
(Propriozeptorentraining), z. B. das Balan-
cieren auf einer gedachten, mehrere Meter
langen Linie (dabei rückwärts zählen) oder
auf einem Bein Zähneputzen, führt es zu
mehr Stabilität und Gangsicherheit.
6.4.4  ewegung und psychische
B
Gesundheit
Psychische Erkrankungen zählen zu den
häufigsten chronischen gesundheitlichen
Beeinträchtigungen und Behinderungen
weltweit. Zu den häufigsten psychischen Er-
krankungen zählen die depressiven Störun-
gen. Laut WHO waren 2015 rund 322 Mil-
lionen Menschen betroffen, das sind etwa
4,4 % der Weltbevölkerung und etwa 18 %
mehr als noch vor zehn Jahren (WHO 2017).
In Deutschland erkranken laut Jacobi et al.
(2014) etwa 5,3 Mio. erwachsene Deutsche
im Laufe Ihres Lebens an einer unipolaren
oder anhaltenden depressiven Störung.
Die Behandlungskosten für depressive Er-
krankungen liegen dabei jährlich bei fast
sechs Milliarden Euro (König et al. 2010).
Alterung und Bewegung, Sportmedizin
Was man bisher weiß, ist, dass sich
körperliche Aktivität und alle Arten von Be-
wegung sowohl auf die psychische Gesund-
heit als auch auf das seelische Wohlbefinden
positiv auswirken.
Deshalb sind Bewegungstherapien
mittlerweile auch fester Bestandteil in
der Behandlung psychische Kranker
(z. B. Physiotherapie, Bewegungstherapie,
offene Sportangebote). Zudem ließ sich
in einer Meta-Analyse von Turner et al.
(2008) festhalten, dass körperliche Aktivität,
Training und Sport bei leichten bis mittel-
gradigen Depressionen sogar mit psycho-
therapeutischen und pharmakologischen
Behandlungsansätzen vergleichbar sind.
Zu verstehen, woher der antidepressive
Effekt von körperlicher Aktivität herrührt,
ist seit Jahren das Bestreben vieler Neuro-
wissenschaftler. Zahlreiche Hypothesen, die
stimmungsaufhellende Effekte von körper-
licher Aktivität erklären, werden diskutiert
(Schulz et al. 2012). Zum einen gibt es bei
Depressionen einen erwiesenen Mangel an
Neurotransmittern im synaptischen Spalt.
Durch körperliche Bewegung werden zahl-
reiche Hormone ausgeschüttet, darunter
vor allem das stimmungsaufhellende Sero-
tonin. Aber auch eine Dysbalance zwischen
verschiedenen Immunparametern führt zu
einer verminderten Serotoninproduktion
und geht dadurch mit depressiven Störun-
gen einher. Diese immunologische Dys-
balance wird laut Walsh et al. (2011) durch
die anti-inflammatorische Wirkung einer
moderaten körperlichen Aktivität reguliert.
Körperliche Aktivität kann zudem
Angstzustände lindern. Im Vergleich zu
Gruppen, die keinen Sport machen, und
auch zu anderen anxiolytischen Therapie-
formen (Psychotherapie oder Anxiolytika)
haben die Probanden von Sportgruppen von
einem größeren angstlösenden Effekt profi-
tiert (Effektgröße = −0,19) (Wipfli et al.
2008). Außerdem verbessert körperliche
Aktivität das allgemeine psychische Wohl-
befinden und erhöht die Selbstwirksamkeit
(Netz et al. 2005).
133 6
Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes
Problem ist der zunehmende Stress, dem
unsere moderne Gesellschaft täglich und
in fast allen Lebensbereichen ausgesetzt ist.
Gepaart mit der bestehenden Inaktivität der
überwiegend sitzenden Arbeitnehmer, führt
dieser Stress zu konsekutiven Cortisol- und
Katecholaminausschüttungen. Regelmäßige
sportliche Aktivität hat eine modulierende
Wirkung auf den Hormonstoffwechsel und
kann so ein erhöhtes Katecholaminniveau
regulieren.
Walter Cannon prägte Anfang des 20.
Jahrhunderts den Begriff „Fight-and-­
Flight-Modus“ und definierte so die ra-
sche körperliche und seelische Anpassung
von Lebewesen in Gefahrensituationen.
Evolutionsbiologisch war dieser Mechanis-
mus überlebensnotwendig, beispielsweise
im Kampf mit wilden Tieren. Durch die
sofortige Bereitstellung der Katecholamine
in der Gefahr wird der ganze Körper in
einen Alarmzustand versetzt. So kann eine
erhöhte körperliche und geistige Leistungs-
fähigkeit erzielt werden. Durch die körper-
liche Bewegung werden in der Folge die
Katecholamine wieder in den Normal-
bereich reguliert.
6.4.5 Bewegung und
neurologische
Erkrankungen
Bewegung gilt als physiologischer Stimulus
für das Gehirn, besonders für den Hippo-
campus. In einigen Studien konnte bislang
nachgewiesen werden, dass körperliches
Training kognitive wie nichtkognitive Hirn-
funktionen verbessert und hinsichtlich diver-
ser neurologischer und neuropsychiatrischer
Erkrankungen eine präventive Wirkung
zeigt.
Die Bildung neuer Nervenzellen (Neuro-
genese) kann durch Bewegung stimuliert
werden (Kempermann 2012). Forscher der
Columbia-­Universität konnten zeigen, dass
 134 A. Rondeck und F. Kleimaier
sich bei Sportler nach 3-monatigem Trai-
ning neue Blutgefäße in der Hirnregion um
den Hippocampus gebildet haben (Boldrini
et al. 2018).
Die Neuroplastizitätstheorie geht von
einer lebenslange Nervenzellbildung aus.
Für die funktionellen und strukturellen An-
passungsvorgänge im Gehirn sind Neutrop-
hine, sogenannte Wachstumsfaktoren im
Gehirn, von zentraler Bedeutung. Wichtig
für Neurogenese und Neuroplasizität sind
Schlüsselmoleküle wie der ­ Brain-­derived
neurotrophic factor (BDNF), β-Endorphin
6 und Vascular endothelial growth factor
(VEGF). Wie Pharmakotherapien führt
auch körperliche Aktivität zur Stimulation
dieser neuroplastischen Vorgänge.
Synapsen, Nervenzellen und ganze Hirn-
areale sind demnach veränderungsfähig,
vor allem die Strukturen im Hippocampus.
Kramer et al. (1999) konnten zeigen, dass
die graue Substanz weniger stark abgebaut
wird, wenn regelmäßig Gesundheits-/
Breitensport betrieben wird.
Das Global Council on Brain Health
(GCBH) hat im Juli 2016 ein Konsenus-­
Papier veröffentlicht, das den Einfluss
körperlicher Aktivität auf die Hirngesund-
heit festhält. Sowohl ein körperlich aktiver
Lebensstil (z. B. Gehen, Treppensteigen,
Gartenarbeit) fördert die Hirngesundheit
als auch sportliche Aktivität (z. B. Walking,
Radfahren, Krafttraining usw.). Menschen
können ihre körperliche Aktivität in jedem
Alter aufnehmen. Randomisierte kontrol-
lierte Studien zeigen, dass Sport günstige
Veränderungen der Gehirnstruktur und der
Hirnfunktion zur Folge hat, und belegen,
dass körperlich aktive Menschen ein gerin-
geres Risiko für kognitiven Abbau haben.
Doch obwohl es eine Verbindung zwischen
körperlicher Aktivität und Hirngesundheit
gibt, kann nicht genau gesagt werden, dass
körperliche Aktivität auch das Risiko für
Erkrankungen des Gehirns verringert, wel-
che Demenz auslösen (GCBH 2016).
6.4.5.1 Demenz
Das demenzielle Syndrom ist in Anbetracht
der immer älter werdenden Gesellschaft ein
ernst zu nehmendes gesundheitliches Prob-
lem. Aktuelle Einschätzung legen eine Zahl
von 24,3 Mio. Demenzerkrankten weltweit
nahe und etwa 4,6 Mio. Neuerkrankungen
pro Jahr (Ferri et al. 2005). In Deutschland
kann anhand der Bevölkerungsentwicklung
von einer Verdopplung der Demenzkranken
von 1,1 zu 2,3 Mio. bis 2050 ausgegangen
werden (Bickel 2005).
Einige Reviews legen nahe, dass körper-
liche Aktivität den kognitiven Abbau positiv
beeinflussen oder sogar verlangsamen kann
(Plassman et al. 2010; Ahlskog 2011) und
das Auftreten von Demenz verzögert (Bhe-
rer 2013).
Die aktuelle Leitlinie der WHO zum
Thema Risikominimierung von kogniti-
vem Verfall und Demenz fasst die aktuel-
len Untersuchungen zum Thema körper-
liche Aktivität und Demenz zusammen und
konstatiert, dass Menschen, die regelmäßig
körperlich aktiv sind, im Vergleich zu in-
aktiven Menschen ein geringeres Risiko
haben, an späteren kognitiven Einbußen
und Demenz unterschiedlicher Genese zu
erkranken. Dies stützt sich auf große Be-
obachtungsstudien von Gallaway et al.
(2017), Hamer und Chida (2009), und Ste-
phen et al. (2017) (WHO 2019).
Bei der Alzheimer-Demenz untersuchten
Lourenco et al. (2019) in einer kürzlich ver-
öffentlichten Studie den Zusammenhang
zwischen dem Botenstoff Irsin, der durch
die Spaltung des Transmembranproteins
FNDC5 bei körperlicher Aktivität aus dem
Muskel freigesetzt wird, und dem bei Alz-
heimer-Patienten erniedrigten FNDC5/
Irsin-Spiegel im Hippocampus. Im Tier-
modell zeigt ein Anstieg von FNDC5/Irsin-­
Spiegeln eine Verbesserung der synaptischen
Plastizität. Ob der FNDC5/Irsin-Spiegeln
womöglich der physiologische Link zwi-
schen Muskelaktivität und Gehirn bei Alz-
Alterung und Bewegung, Sportmedizin
heimer darstellt, müssen weitere Studien
untersuchen. Die Sportmedizin positioniert
sich klar zur Empfehlung und Steigerung
der körperlichen Aktivität bei Demenz.
Auch die WHO fasst das in ihren all-
gemeinen Empfehlungen zur körperlichen
Aktivität bei Demenz zusammen (WHO
2019, S. 14):
1. Erwachsene ab 65 Jahren sollten wäh-
rend der Woche mindestens 150 Minu-
ten aerobes körperliches Training mitt-
lerer Intensität oder mindestens 75
Minuten aerobe körperliche Aktivität
mittlerer Intensität oder eine gleich-
wertige Kombination aus moderater
und kräftiger körperlicher Aktivität
durchführen.
2. Aerobes Training sollten in Zeiträumen
von mindestens 10 Minuten durch-
geführt werden.
3. Für zusätzliche Gesundheitsvorteile
sollten Erwachsene ab 65 Jahren ihr ae-
robes Training mit mäßiger Intensität
auf 300 Minuten pro Woche erhöhen
oder 150 Minuten aerobes Training mit
kräftiger Intensität pro Woche oder
eine entsprechende Kombination aus
moderatem körperlichen Training und
Aktivität mit starker Intensität ab-
solvieren.
4. Erwachsene dieser Altersgruppe mit
eingeschränkter Mobilität sollten sich
körperlich betätigen, um das Gleich-
gewicht zu verbessern und Stürze zu
vermeiden.
5. Muskelstärkende Aktivitäten sollten an
zwei oder mehr Tagen pro Woche mit
größeren Muskelgruppen durchgeführt
werden.
6. Wenn Erwachsene dieser Altersgruppe
aus gesundheitlichen Gründen die emp-
fohlene Menge an körperlicher Aktivi-
tät nicht ausführen können, sollten sie
so körperlich aktiv sein, wie es ihre
Fähigkeiten und Bedingungen zulassen.
135 6
6.4.5.2 Parkinson
Bewegung aktiviert den motorischen Kor-
tex, die Steuerzentrale für Bewegungen
und Koordination. Das Parkinson-Syn-
drom ist eine degenerative Erkrankung
des extrapyramidal-­ motorischen Systems
mit der Folge motorischer Syndrome wie
Muskelzittern (Tremor), unrunden und ver-
langsamten Bewegungsabläufen und Hal-
tungsinstabilitäten. Grund hierfür ist das
Absterben der dopaminergen Zellen in der
schwarzen Substanz (substantia nigra) im
Mittelhirn.
Man weiß, dass gerade der Neurotrans-
mitter Dopamin ab dem 20. Lebensjahr rück-
läufig ist und die Dopamin-­Konzentration
ab dann sogar um etwa 10 % pro Lebens-
jahrzehnt weiter abnimmt (Peters 2006).
Durch regelmäßige Bewegung kann diesem
Prozess entgegengewirkt werden. Es konnte
durch mehrere Studien belegt werden, dass
körperliche Aktivität direkten Einfluss auf
die Neurotransmitterkonzentration im
Striatum nimmt.
Bislang gibt es nur wenige klinische
Interventionsstudien zu den Auswirkungen
körperlicher Aktivität und Parkinson, so-
dass bisherigen Erkenntnissen zufolge (Yang
et al. 2015; Chen et al. 2005) körperlich ak-
tive Menschen zwar ein vermindertes Risiko
haben, an Morbus Parkinson zu erkranken,
genaue Dosis-Wirkungs-­ Beziehungen aber
nicht herausgestellt werden können.
Was bisher aber am Mausmodell gezeigt
werden konnte, ist, dass durch Bewegung der
BDNF stimuliert und ausgeschüttet wird
(Oliff et al. 1998). Bei Parkinson-­Patienten
ist die BDNF-Konzentration besonders in
der substantia nigra gering. Zudem soll in-
tensives Training, dazu zählen körperliche
Aktivitäten aller Art, die mit einem erhöhten
Puls und einem erhöhten Sauerstoffbedarf
einhergehen, bei der Behandlung von Par-
kinson eine zentrale Rolle einnehmen (Ahl-
skog et al. 2011). Eine weitere Studie zeigt,
dass dreimal 45 Minuten Bewegung pro
Woche die Parkinson-­Bewegungssymptome
verbessern können, Müdigkeit reduzieren
 136 A. Rondeck und F. Kleimaier
und einen stimmungsaufhellenden Effekt
haben (Uc et al. 2014).
6.4.6 Bewegung und Gene
Inwiefern sportliche Aktivität die Zell-
alterung beeinflussen kann, ist in den letzten
Jahren immer bedeutender für die sport-
wissenschaftliche Praxis und F ­orschung
geworden. Molekulare und zelluläre
Mechanismen für die Telomeraseaktivität
und Telomerlänge gelten als wichtige In-
6 dikatoren für den Alterungsprozess der Zel-
len. Sie beeinflussen die Regenerationsfähig-
keit der Zellen und wirken sich auf einen
gesunden Alterungsprozess aus.
In einer Studie von Werner et al. (2019)
wurde der Einfluss unterschiedlicher
Trainingsmodalitäten wie Ausdauertraining,
Intervalltraining und Krafttraining auf
diese Telomeraseaktivität und die Telomer-
länge untersucht.
Insgesamt 266 Teilnehmer wurden in drei
Interventionsgruppen oder in eine Kontroll-
gruppe (keine Änderung des Lebensstils)
randomisiert: aerobes Ausdauer Training
(Dauerbetrieb), hochintensive Intervall-
training (4 × 4-Methode) oder Krafttraining
(Zirkeltraining auf jeweils 8 Geräten).
Die Trainingseinheiten der Interventions-
gruppen bestanden aus drei 45-minütigen
Trainingseinheiten pro Woche. Im Ergeb-
nis zeigten sich eine zunehmende maximale
Sauerstoffaufnahme (VO2max) und eine
Hochregulation der Telomeraseaktivität in
mononukleären Blutzellen für das klassi-
sche Ausdauer- und das Intervalltraining.
Für das Krafttraining konnte diese erhöhte
Aktivität jedoch nicht nachgewiesen wer-
den. Krafttraining allein könne laut Werner
et al. (2019) demnach als Ergänzung zum
Ausdauertraining, aber nicht als Ersatz ge-
sehen werden. Regelmäßiger Sport kann
also nachweislich den Alterungsprozess
hemmen und hält die Zellen gesund.
Sport kann auch dazu führen, dass
Gene insgesamt wieder besser gelesen wer-
den können. Nicht alle unsere Gene sind in
einem ständigen Aktivitätsmodus, sondern
nur ein kleiner Teil. Durch Sport lassen sich
diese nicht-aktiven Gene „anschalten“, und
ihr Potenzial kann genutzt werden. Bar-
rès et al. (2012) zeigten dies in einer Studie
mit 14 gesunden Frauen und Männern. Die
Studienteilnehmer absolvierten ein Fahrrad-­
Ergometer-­ Training mit 80 % Maximal-
leistung, bis sie 400 Kilokalorien verbrannt
hatten. Je nach Fitnesslevel dauerte das im
Schnitt zwischen 30 und 60 Minuten. Vor
dem Training, direkt im Anschluss und drei
Stunden nach dem Training wurden den
Teilnehmern Zellproben aus dem Ober-
schenkelmuskel entnommen. Die Ergebnisse
der Zellproben liefern Hinweise darauf,
dass durch die sportliche Intervention eine
akute Genaktivierung mit einer dynami-
schen Änderung der DNA-­Methylierung im
Skelettmuskel verbunden ist. Das bedeutet,
dass intensive Bewegung blockierende An-
lagerungen (Kohlenwasserstoffgruppen) an
der DNA der Muskelzellen löst, wodurch
die Gene wieder besser abgelesen werden
können als zuvor. Dieser Effekt hält nicht
dauerhaft an, könnte aber eine Erklärung
sein, warum regelmäßige körperliche Aktivi-
tät das Risiko für Diabetes, Herz-­Kreislauf-­
Erkrankungen und andere Krankheiten
senkt.
6.5 Fazit
Trotz des umfassenden und wissenschaftlich
hinreichend belegten Wissens um die prä-
ventiven und positiven Effekte von körper-
licher Aktivität auf die Gesundheit müsste
das Aktivitätslevel in Deutschland noch
weiter gesteigert werden.
Gerade vor dem Hintergrund der demo-
grafischen Verschiebung hin zu einer immer
älter werdenden Gesellschaft ist das Be-
Alterung und Bewegung, Sportmedizin
streben nach einem möglichst gesunden und
vitalen Lebensabend groß.
Bewegung und körperliche Aktivität
sind in allen Lebensphasen für die Ent-
wicklung und Gesundheit wichtig. Wer be-
reits ab dem Kindesalter körperlich aktiv
ist und bleibt, kann präventiv auf Körper
und Geist einwirken, verbessert Motorik,
Koordination und Fitness. Vor allem dann,
wenn Bewegung regelmäßiger und dauer-
hafter Bestandteil von Freizeit und All-
tag ist. Für Nichtsportler sind bereits 30
Minuten Bewegung am Tag an mindestens
drei Tagen pro Woche ausreichend, um auf
altersbedingte Risikoerkrankungen, dar-
unter kardiovaskuläre, metabolische, ortho-
pädische und neurologische Erkrankungen,
positiv einwirken zu können.
Einfache Alltagsaktivitäten – wie bei-
spielsweise mit dem Fahrrad zur Arbeit zu
fahren – zählen dabei ebenso dazu wie der
regelmäßige Besuch im Fitnessstudio oder
Sportverein.
Der Neu- oder Wiedereinstieg lässt
sich gut mit modernen Fitnessarm-
bändern, Schrittzählern und Gesundheits-
applikationen unterstützen.
Von der Kindheit bis ins Seniorenalter
sind alle Arten von körperlicher Aktivität,
Bewegung und Sport, eine der wichtigsten
Säulen der Anti-Aging-Medizin.
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 141 7

Hormone und Alter

Alexander Römmler

Inhaltsverzeichnis

7.1 Altern endokrinologisch modulieren – 143

7.1.1  ro- und Anti-Aging-­Mechanismen – 143
P
7.1.2 Multiple hormonelle Dysfunktionen im Alter – 144

7.2 Gonadopause und Adrenopause – 144

7.2.1 F ünfziger Lebensjahre – 144
7.2.2 Klimakterium und Lebensqualität: Estrogen
und Progesteron – 145
7.2.3 Fazit – 149
7.2.4 Auch Männer brauchen Estrogene – 149
7.2.5 Fazit – 151

7.3 Adrenopause: Dehydroepiandrosteron (DHEA) – 151

7.3.1 E pidemiologie anaboler Hormone wie DHEA, Testosteron,
Wachstumshormon – 151
7.3.2 Physiologischer Hintergrund – 151
7.3.3 Klinik der Adrenopause – 152
7.3.4 Wann und wie zusätzlich Testosteron im Alter – 155
7.3.5 Fazit – 156

7.4 Wann und wie zusätzlich Wachstumshormon – 157

7.4.1  hysiologischer Hintergrund – 157
P
7.4.2 Somatopause – was kann man tun? – 157

7.5 Pregnenolon – 159

7.5.1  hysiologischer Hintergrund – 159
P
7.5.2 Leitsymptome einer Pregnenolon-Defizienz – 159
7.5.3 Wissenschaftliche Datenlage – 160
7.5.4 Fazit – 161

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_7
7.6 Hormonelles Basiskonzept und Ausblick – 161
7.6.1  ultiple hormonelle Alterssyndrome – 161
M
7.6.2 Konzept einer schrittweisen Hormonsubstitution – 161

Literatur – 162
Hormone und Alter
7.1 Altern endokrinologisch
modulieren
7.1.1  ro- und Anti-
P Hormesis-Prinzip eröffnet überraschende
Aging-­Mechanismen
Als parakrine und systemische Botenstoffe
wirken Hormone über vielfältige Mechanis-
men auf die Lebens- und Alterungsprozesse
ein, sei es genomisch durch Genaktivierung,
epigenetisch durch An- und Abschalten spe-
zieller Gene oder nicht-genomisch. Letzteres
kann wie bei Neurotransmittern über trans-
membrane Schleusen vermittelt werden oder
häufig durch Konfirmationsänderungen
bzw. Modulation von Enzymaktivitäten.
Der Protein-Kinase-Komplex mTOR
(mechanistic Target Of Rapamycin) ist ein
solcher intrazellulärer Angriffspunkt. Er
integriert Signale aus dem Ernährungs-,
Stress- und Energieumfeld, aber auch aus
dem endokrinen Bereich, beispielsweise via
Wachstumshormon (GH; IGF-1 Insulin-­like
Growth-Faktor 1), Leptin und Adiponek-
tin, Fibroblasten-Growth-Faktor (FGF23,
Klotho) und Sexualhormonen (Lamming
2014; Longo et al. 2015; Saxton und Saba-
tini 2017). Durch mTOR werden Metabolis-
mus und Proliferation sowie Überleben,
Apoptose und Reparatur der Zellen auch
hormonell moduliert, was Morbidität und
Langlebigkeit beeinflusst und so auch in
der Endokrinologie von hoher Relevanz ist
(Römmler 2016a).
Aber wie soll interveniert werden? Hierzu
stehen bereits Pharmaka als klinisch potente
mTOR-Inhibitoren zur Verfügung (z. B. Ra-
pamycin), mit denen sich zum Beispiel die
Zellproliferation stark supprimieren lässt.
Das hat sich klinisch bei der Therapie von
Malignomen oder zur Immun-­Suppression
nach Transplantation als hilfreich erwiesen,
ist aber zur Altersprävention nicht ge-
eignet. Ebenso zeigen Tiermodelle, in denen
die hormonelle IGF-1/GH-­ vermittelte
TOR-Aktivität ausgeschaltet wurde, dass
dies paradoxerweise die Langlebigkeit för-
143 7
dern kann, aber beim Menschen so nicht zu
bestätigen ist.
Erst die mTOR-Modulation nach dem
Anti-Aging-Effekte, sei es via Hormone oder
Pharmaka wie Rapamycin und Metformin
(Blagosklonny 2006, 2011). Hiernach zeigen
viele Einflussfaktoren einen U-förmigen,
biphasischen „Dosis-­Wirkungs-­Effekt“:
Milde Reize führen durch Adaption zur Ver-
besserung und Reparatur zellulärer Prozesse
gegenüber dem Ausgangsbefund, wohinge-
gen fehlende bzw. hohe Belastungen zu einer
Verschlechterung beitragen bzw. toxisch sein
können (Calabrese et al. 2016).
Dieses Hormesis-Prinzip wurde für den
Menschen durch Meta-Analysen klinischer
Studien bestätigt. So durch den Einfluss von
Sportbelastungen auf die Mitochondrien-
funktion (Merry und Ristow 2016), von
Wachstumshormon auf die Mortalität
(Burgers et al. 2011) oder experimentell
von Steroidhormonen wie Pregnenolon und
Testosteron auf die Kognition (Flood et al.
1995) sowie zur Verbesserung der Immun-
seneszenz durch mild-dosiertes Rapamycin
(Mannick et al. 2014, 2018).
Tierversuche zur Parabiose erlauben
ebenfalls Schlussfolgerungen zu einer aus-
gewogenen Bilanz von Signalstoffen wie
Hormone. Ein Blutaustausch zwischen
jungen und alten Individuen zeigt, dass
die Angleichung an junge Verhältnisse eine
Regeneration der Organsysteme bewirkt
(Conboy et al. 2005; Castellano 2019), was
durch humanes Nabelschnurblut bestätigt
werden konnte. Auch die Minderung von
Pro-­Aging-­Effekten, wie die Reduktion
eines „alten Milieus“ im Blut bzw. pro-­
inflammatorischer „Giftstoffe“ aus senes-
zenten Zellen durch „Senolytika“, führt zur
Regeneration (Justice et al. 2019; Zhu et al.
2015). Viele Modulatoren mögen zu solchen
Verjüngungungen beitragen, von Proteinen
und Wachstumsfaktoren bis Enzymen und
Hormonen, die Forschung arbeitet an der
Aufklärung.
 144 A. Römmler
Wie von diversen Lebensstilmaßnahmen
bekannt, werden zahlreiche Hormon- und
mTOR-Effekte auch epigenetisch vermittelt.
So erlauben „epigenetische Uhren“ auf
Basis von DNA-Methylierungen bereits bio-
logische Altersbestimmungen und prospek-
tive Aussagen über Morbidität und Lang-
lebigkeit (Grazioli et al. 2017; Maegawa
et al. 2017; Yamada et al. 2018). Vor allem
aber können damit Pro-Aging- und Anti-­
Aging-­ Effekte einzelner Maßnahmen ob-
jektiviert werden, was bereits bei Nahrungs-
mitteln, Sport- und Stressbelastungen bei
Probanden getestet wurde (Lu et al. 2019;
Quach et al. 2017). Entsprechende Hormon-
7 daten sind aber noch spärlich (Davegårdh
et al. 2019; Lu et al. 2019; Roy und Palli
2018). Die Präzision sei bemerkenswert,
wenn die Analytik von mehreren Blut-
faktoren kombiniert werde, was sie von
anderen Methoden wie Messung der Telo-
merenlänge oder des Seneszenz-­vermittelten
Alterns unterscheidet (Horvath et al. 2018;
Kabacik et al. 2018). Das lässt auf hilfreiche
Analysen von Hormoneffekten hoffen.
>>Ein „jugendliches Milieu“ und eine aus-
gewogene Balance zwischen Pro- und
Anti-Aging-Mechanismen sind zur
Gesunderhaltung entscheidend. Das gilt
auch für Hormone bei der praktischen
Anwendung.
7.1.2 Multiple hormonelle
Dysfunktionen im Alter
Als gesunder Erwachsener nimmt man die
Steuerung des Organismus durch physio-
logische Hormone als selbstverständlich
hin, bis Fehlentwicklungen zu Tage treten.
Beim Älterwerden entwickeln sich jedoch
kontinuierlich Dysbalancen durch Störun-
gen der gonadalen, adrenalen und soma-
totropen Achse, indem anabole Hormone
zurückgehen, kaum aber katabole, die in Re-
lation dazu sogar überwiegen (Maggio et al.
2010, 2014). Deutlich ist das an den Blut-
spiegeln zu erkennen, indem Testosteron,
Dehydroepiandrosteron-­Sulfat (DHEA-S),
Wachstumshormon (GH, IGF-1) und Est-
rogene im Alter rückläufig sind, nicht aber
Thyroxin und Cortisol. Für den klinischen
Verlauf sind die parallel erfolgenden Ver-
änderungen bedeutsamer als Abweichungen
bei einem einzelnen Hormon.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit
eines ganzheitlichen und synergistischen
Vorgehens (Sgro et al. 2019). Die nicht-­
hormonellen Aspekte wie Ernährung,
Vitalstoffe, physische Aktivitäten, Noxen
und Pharmaka finden bereits eine große
Akzeptanz und sind weitgehend zeitlos zu
beachten, d. h. auch schon bei jungen Er-
wachsenen und dann weiter im Alter (De
Spiegeleer et al. 2018; Föhr-Keller und
Römmler 2014; Landi et al. 2018; Nasci-
mento et al. 2019).
Den Hormonen ist aber eine Sonderrolle
zuzusprechen. Viele Dysfunktionen und De-
fizienzen entwickeln sich erst im Alter, all-
mählich und genderspezifisch, was schritt-
weise Interventionen adäquat erscheinen
lässt. Erfreulicherweise ist die wissenschaft-
liche Datenlage hierzu bereits recht umfang-
reich, auch sind physiologische Substanzen
in pharmazeutischer Qualität verfügbar,
und es liegen langjährige Erfahrungen zur
Anwendung vor (Maggio et al. 2014;
Römmler 2015). Von den in Aussicht stehen-
den Interventionen mit TOR-­Modulatoren
und Senolytika kann das noch nicht gesagt
werden, deren Einsatz in der Breite dürfte
noch einige Jahre auf sich warten lassen.
Das unterstreicht den hohen Stellenwert
von Hormonanwendungen im Alter, die be-
reits zur Verfügung stehen.
7.2 Gonadopause und
Adrenopause
7.2.1 Fünfziger Lebensjahre
Obwohl sich im Alter multiple und nicht
singuläre hormonelle Veränderungen ent-
Hormone und Alter
wickeln, wird häufig nur an einen gonadalen
Hormonausfall gedacht.
Das hat wenigstens bei Frauen eine ge-
wisse Berechtigung, denn sie erleben in den
fünfziger Lebensjahren die Gonadopause
mit dem Estrogenabfall (Menopause, hyper-
gonadotrop). Der Betreuungsdruck ist groß,
da oft über erhebliche klimakterische Be-
schwerden geklagt wird. Aber beim gesun-
den Mann trifft das in dieser Altersgruppe
nicht zu. Sein gonadaler Testosteronspiegel
fällt im Altersverlauf nur langsam ab und
erreicht erst in höheren Lebensjahren ange-
sichts zunehmend insuffizienter Blutspiegel
die Gonadopause (Andropause, hyper-
gonadotrop).
Gemeinsam ist aber beiden Geschlech-
tern, dass in diesen Lebensjahren stets eine
Adrenopause anzutreffen ist. Sie betrifft die
nachlassende Sekretion des adrenalen De-
hydroepiandrosterons (DHEA) bei unver-
ändertem Cortisol. Das wirkt sich auch auf
die Basissekretion der Geschlechtshormone
aus, die auch hierdurch rückläufig sind.
Aus endokrinologischer Sicht ist es sinn-
voll, die hormonelle Betreuung im Alter
schrittweise zu beginnen, zunächst mit der
Menopause der Frau und dann mit der
Adrenopause bei beiden Geschlechtern.
7.2.2 Klimakterium und
Lebensqualität: Estrogen
und Progesteron
Jede gesunde Frau ist mit rund 50 Jahren in
der Perimenopause. Zunächst sistiert weit-
gehend die ovarielle Sekretion des Proges-
terons, dann fallen im Blut auch Estrogene
und Androgene ab. Die „lokale“ ovarielle
Insuffizienz hat systemische Auswirkungen.
Zum Wegfall der Monatsblutungen tre-
ten psychische und später organische
Veränderungen hinzu: zum einen die so-
genannten „klimakterischen Beschwerden“,
wie Hitzewallungen, Schweißausbrüche,
Stimmungslabilität und Schlafstörungen
145 7
inklusive Unruhe und Gereiztheit. Zum an-
dern körperliche Rückbildungsprozesse, wie
Trockenheit von Haut- und Schleimhäuten,
Haarausfall und Atrophien an Haut und
Organen bis hin zur Arthrose, Osteoporose
und zu arteriosklerotischen Veränderungen.
Auch metabolische und kognitive Beein-
trächtigungen wie Diabetes mellitus und
Altersdemenz nehmen im weiteren Verlauf
zu. Das alles beeinflusst die Lebensqualität
im Altersverlauf erheblich (NAMS 2017;
Römmler 2015).
7.2.2.1 Hormontherapie und
Prävention
Früher wurden klimakterische Beschwerden
lediglich kurzfristig mit Estrogenen „thera-
piert“, heute haben sich zusätzlich Aspekte
der Altersprävention durchgesetzt: Bestehen
hormonelle Defizienzen fort, tragen sie zu
Fehlentwicklungen im Alter bei. Bis zur
klinischen Manifestation verstreicht jeweils
eine gewisse Latenzzeit, die zur hormonellen
Prävention genutzt werden kann (Römmler
2015).
So ist gut belegt, dass klimakterische
Beschwerden durch Hormongaben rasch
zu beseitigen sind. Mittelfristig reduzieren
sie auch Inzidenzen bezüglich Osteoporose,
Frakturen und arthritischer Beschwerden,
Diabetes mellitus, einiger urogenitaler Be-
schwerden, Darmkrebs und Altersmortali-
tät bei rechtzeitigem Beginn; insgesamt
verbessert sich die tägliche Lebensqualität
(„quality of life“). Estrogene können also
einen günstigen therapeutischen und prä-
ventiven Beitrag zu menopausalen Alters-
veränderungen leisten, was auch Inhalt
von aktuellen Leitlinien zahlreicher Fach-
gremien geworden ist (NAMS 2017; NICE
2015).
>>Risikoarmer menopausaler Hor-
moner satz
Bei Hormongaben gilt es, Einiges zu be-
achten, um neben Vorteilen nicht un-
nötige Risiken einzugehen. Die wichtigs-
ten Stichworte sind Substanz, Dosis und
 146 A. Römmler

Perimenopause sind Tagesdosierungen

Darreichung, d. h., Estradiol sollte trans-
dermal und Progesteron oral jeweils in von 200 mg für 12–14 Tage oder länger er-
adäquater Dosis eingesetzt werden. forderlich, später in Gegenwart niedriger
Estrogenspiegel reichen meist 100 mg bei
7.2.2.2 Substanz kontinuierlicher Anwendung aus (Römmler
Bei der menopausalen Substitution sind 2017b; Stute et al. 2016).Zum anderen hat
human-physiologische Hormone zu bevor- sich gezeigt, dass mit solchen D ­ osierungen
zugen, also 17ß-Estradiol und Progeste- auch zahlreiche systemische Effekte er-
ron, die in der Geschlechtsreife risikoarm zielt werden können, die unabhängig von
vorhanden waren. Gleichzeitig werden einem Uterus sind (und somit auch beim
Metabolite des Estrogens (z. B. Estron, Mann beobachtet werden können). Damit
Estriol) und Progesterons (z. B. 5a-, 5ß-­ eröffnen sich weitere therapeutische und
Pregnanolon, Allopregnanolon) günstig alterspräventive Möglichkeiten (Römmler
moduliert, was durch synthetische De- und Römmler 2009; Römmler 2014g). Dazu
rivate und nicht-­humane Hormongemische zählen Beruhigung und Angstlösung, inkl.
7 nicht zu erreichen ist. Auch klinisch und Verbesserung eines gestörten Schlafes, oder
molekularbiologisch haben synthetische auch von Höhenängsten. Auch tragen wohl
Derivate andere Partialwirkungen als deren diuretische und antiproliferative Partial-
physiologische Vorbilder (Römmler 2015). effekte zu weniger Estrogen-­ bedingten
Beim oralen Progesteron kommt die „mi- Nebenwirkungen wie Ödemen und Brust-
kronisierte“ Form zur Anwendung, da die spannen bei. Weiteres ist experimentell gut
kristalline Molekülstruktur intestinal kaum belegt, so zur Neuroprotektion, Stimulation
resorbiert wird. Eine fettbetonte Nahrung der Osteoblasten und zur vaskulären Pro-
bzw. Trägersubstanz (z. B. diverse Öle) be- tektion (antispastisch, antisklerotisch), auch
günstigt die orale Aufnahme, was in Form wenn klinische Daten hierzu noch spärlich
von behördlich zugelassenen Weichkapseln sind.
zur Verfügung steht. Systemisch wirkendes Progesteron hat
eine hohe Bedeutung bei hormonellen Inter-
Estradiol-Dosis ventionen im Alter, unabhängig von einem
Estradiol wird transdermal so dosiert, dass Uterus.
niedrig-physiologische Blutspiegel wie in der
frühen Follikelphase erreicht werden. Das 7.2.2.3 Darreichung – oral,
entspricht einem „Normalbereich“ jüngerer transdermal, vaginal
Frauen, wird nicht mit Nachteilen in Ver- Durch eine hormonelle Substitution sol-
bindung gebracht und ist laut Zulassungs- len physiologische Verhältnisse wieder an-
studien klinisch und wissenschaftlich als geglichen werden. Dazu muss neben der Do-
effektiv und sicher einzustufen (Römmler sierung auch die Darreichung des Hormons
2017a; Stute 2016). Höhere Dosierungen beachtet werden, denn hierdurch werden
sind vermehrt mit systemischen Neben- dessen Metabolisierung und die primären
wirkungen verbunden, weshalb durch Ti- Organbelastungen wesentlich beeinflusst.
tration die niedrigste Estrogendosis mit
Effektivität zu bevorzugen ist. Darreichung Estrogen
Für transdermales Estrogen stehen Gele,
Progesteron-Dosis Sprays und Pflaster zur Verfügung. Im Ver-
Mit der Gabe von Progesteron sind zwei Ziele gleich zur oralen Anwendung wird nur etwa
verbunden. Zum einen ist eine sichere Pro- ein Vierzigstel der freigesetzten Dosis be-
tektion am Endometrium zu gewährleisten, nötigt, um niedrig-effektive Blutspiegel zu
wozu luteale Blutspiegel nötig sind. In der erreichen. Dadurch bleiben primäre Gefäß-
Hormone und Alter
und Leberbelastungen gering, und meta-
bolische oder vaskuläre Zusatzrisiken sind
nicht zu erwarten oder zu beobachten. Da-
gegen sind die Leberbelastungen durch orale
Estrogengaben bedeutsam (hepatischer
First-pass-Effekt). Zahlreiche Surrogat-
marker und Estrogenmetabolite im Blut wer-
den risikorelevant verändert, überwiegend
mit ungünstigen Auswirkungen (siehe Risi-
ken und Nebenwirkungen) (Römmler 2015).
Auch klinisch können sich vaskuläre und
weitere Risikoereignisse signifikant häu-
fen, was durch große Meta-­Analysen und
Aufnahme in Leitlinien als abgesichert gilt
(Marjoribanks et al. 2017; NAMS 2017; Ro-
vinski et al. 2018).
Darreichung Progesteron
Die Darreichung des Progesterons ist
wesentlich von der klinischen Fragestellung
abhängig zu machen.
55 Die vaginale Anwendung ist in der Re-
produktionsmedizin etabliert. Ein „Ute-
rus-first-Pass“-Effekt trägt zur Anrei-
chung im Uterus bei, was Konzeption
und Abortprophylaxe begünstigen soll.
55 Bei der menopausalen Substitution ist
die orale Darreichung angezeigt. Hierbei
gilt eine Protektion des Endometriums
bei adäquater Anwendung als gesichert.
Ferner ist die hepatische Metabolisierung
des Progesterons wünschenswert. So
werden zahlreiche systemische Effekte
vor allem durch diese Metabolite ver-
mittelt (z. B. Allopregnanolon), was
günstige affektive und neuroprotektive
Auswirkungen hat (Römmler und
Römmler 2009; Römmler 2014a, g).
55 Dagegen hat eine transdermale Darrei-
chung keine nennenswerten systemi-
schen Effekte, vor allem nicht am Endo-
metrium und im ZNS, sodass diese
Anwendung eher begleitend bzw. bei
dermatologischer Indikation eine Be-
rechtigung hat (Mueck 2014; Stute et al.
2016).
147 7
7.2.2.4 Bioidentische Hormone
Zu diesem Begriff gibt es zahlreiche Syn-
onyme, sei es körperidentisch, natürlich,
bioäquivalent, naturidentisch, artgerecht
oder eben bioidentisch bzw. „human-­
physiologisch“. Sie verbindet die Vorstellung,
mit den vom Körper selbst hergestellten
Hormonen strukturell und funktionell iden-
tisch zu sein, also 1 : 1-Kopien darzustellen
(Whelan et al. 2011). Das betrifft vor allem
die Sexualhormone Estrogen, Progesteron
und Testosteron, aber auch Dehydroepi-
androsteron (DHEA), Cortisol und Thyr-
oxin. Hierbei ist unerheblich, ob sie von
Stoffen biologischer Herkunft abgeleitet
oder (halb-)synthetisch bzw. industriell her-
gestellt werden, z. B. aus der Yamswurzel
oder Soja. Sie müssen in pharmazeutischer
Qualität und nicht als unzureichend defi-
nierte „Extrakte“ oder „Gemische“ zur Ver-
fügung stehen.
Neben dem Kriterium „humane
Hormonsubstanz“ sollte auch die Be-
wertung „physiologische Wirkspiegel“ unter
Einschluss der wichtigsten Metabolite er-
füllt sein, andernfalls wäre es weiterhin eine
pharmakologische Therapie und funktio-
nell keine bioidente Substitution (Römmler
2017a). So ist eine geeignete Dosierung zu
beachten, die untrennbar mit der Art der
Darreichung verbunden ist.
Kriterien eines „physiologischen“ bzw.
„bioidentischen“ Hormonersatzes
55 Human-physiologische Hormon-
substanz (z. B. Estradiol, Progeste-
ron)
55 Pharmazeutische Qualität
(z. B. ­Reinheit, Sterilität, Pharmako-
kinetik)
55 Physiologisch optimale Wirkspiegel
(Dosis, Darreichung, Meta-
bolisierung)
 148 A. Römmler
Da bioidentische (d. h. physiologische)
Hormone teilweise auch als behördlich
zugelassene Fertig-Arzneimittel zur Ver-
fügung stehen (z. B. zur Menopausether-
apie), wird eine abweichende Herstellung
nach individueller Rezeptur („compounded
hormones“) vor allem bei zwei Indikationen
nachgefragt: bei galenischer Unverträglich-
keit oder bei der Notwendigkeit einer indivi-
duellen Dosierung wegen Nebenwirkungen
herkömmlicher Präparate (NAMS 2017;
Römmler 2017a, b). Risiken menopausaler
Hormone.
Die „herkömmlichen“ Therapien aus
oralen Estrogenen (Estradiol, Estradiolva-
7 lerat, konjugierte equine Estrogene) und
ggf. einem synthetischen Gestagenzusatz
sind risikobehaftet. Das ist schon lange
bekannt und durch neuere Meta-Analysen
auf hohem Evidenzlevel und Aufnahme in
entsprechende Leitlinien belegt (Boardman
et al. 2015; Gartlehner et al. 2017; Marjo-
ribanks et al. 2017; Mohammed et al. 2015;
NAMS 2017; Rovinski et al. 2018). Dagegen
sind bei einer „physiologischen“ Substitu-
tion Risiken kaum zu befürchten und auch in
Beobachtungsstudien sowie Meta-­Analysen
nicht vermehrt angetroffen worden. Place-
bo-kontrollierte, randomisierte Vergleichs-
studien liegen nicht vor und wären allein
schon wegen der bekannten Risikounter-
schiede kaum mehr zu begründen.
Bei den Risiken stehen zwei Aspekte im
Vordergrund:
55 Es ist vorwiegend die orale Darreichung
des Estrogens mit seiner Leber- und
Gefäßbelastung, die vaskuläre Risiken
wie Venenthrombose und Lungen-
embolie sowie Erkrankungen der Gallen-
wege, Harninkontinenz und Schlaganfall
erhöhen. Hinzu kommt, dass Frauen mit
Übergewicht, wenig Bewegung, Rau-
chen, Abweichungen im Gerinnungs-
system, Zuckererkrankung oder einem
Lebensalter über 60 Jahre bei der oralen
Methode noch zusätzlich risikobelastet
sind. Auch Ovarialkarzinome sollen
unter herkömmlichen Hormongaben
vermehrt vorkommen (Beral et al. 2015).
55 Werden (synthetische) Gestagene hinzu-
gefügt, treten erhöhte Brustkrebsrisiken
auf (Beral et al. 2019), nicht aber beim
Progesteron über etwa fünf Jahre An-
wendung (Stute et al. 2018). Gleichzeitig
haben solche Gestagene andere Partial-
wirkungen, wodurch manche der dem
Progesteron zugesprochenen gesundheit-
lichen Effekte im Alter ungenutzt blei-
ben (Römmler 2014g).
7.2.2.5 … und Nebenwirkungen
Auch hier stehen durch orale Estrogene
Auswirkungen der hepatischen Belastung
im Vordergrund, durch synthetische Gesta-
gene deren abweichende Partialwirkungen
(Römmler 2017b, 2014f).
55 Unter „oral“ steigen Bindungsproteine
an, was die Verfügbarkeit freier Hor-
mone wie Thyroxin und Vitamin D min-
dert. Der Altersrückgang beim IGF-1
verstärkt sich, was nachteilig für Mus-
kel-Fett-Relation, Sarkopenie und
Frailty ist. Bei Blutfetten verbessert sich
die Relation HDL-/LDL-Cholesterin,
aber Triglyceride und Lipidremnants
verschlechtern sich. Unter „transder-
mal“ werden solche hepatischen Effekte
umgangen, dafür können bei Über-
dosierung Ödeme und Mastodynien auf-
treten.
Synthetische Gestagene haben nicht
das Wirkprofil von Progesteron. Ferner
sind antiandrogene Partialwirkungen
mancher Gestagene im Alter mit seiner
Hypoandrogenämie nicht relevant und
gesundheitlich meist kontraproduktiv.
55 Progesteron hat eine hohe Affinität zum
Aldosteronrezeptor, was bei oraler Ein-
nahme mit einem flüchtigen Blutdruck-
abfall verbunden sein kann. Auch kann
eine starke Metabolisierung zur ­Müdigkeit
führen. Beides lässt sich im Einzelfall
durch Dosisreduktion beeinflussen.
Hormone und Alter
7.2.3 Fazit
Riskoarme Alternative: Vor Hormongaben
sind stets die üblichen Untersuchungen
zur Früherkennung von Erkrankungen
und Risiken zu absolvieren. Eine „physio-
logische“ Substitution mit Estrogenen
transdermal und Progesteron oral ist kaum
mit einem zusätzlichen, messbaren An-
wendungsrisiko verbunden. In aktuellen
Reviews und Leitlinien zur menopausalen
Hormongabe wird daher bei Risikopatien-
tinnen diese Anwendungsalternative bevor-
zugt empfohlen.
Im Praxisalltag verschieben sich jedoch
die Gewichte: Hier ist eine umfangreiche
Risikoabklärung in jedem Einzelfall kaum
möglich und würde ggf. nur wenige Kandi-
datinnen als „unbelastet“ erscheinen lassen.
Auch ist beim Estrogen die Umgehung der
ersten Leberpassage generell als vorteilhaft
zu bewerten, wohingegen beim Progesteron
zahlreiche physiologische Partialwirkungen
als wünschenswert einzustufen sind. Daher
ist die nebenwirkungs- und risikoarme
Alternativmethode nicht nur bei Risikopa-
tientinnen, sondern generell als erste Wahl
heranzuziehen.
Therapie und Prävention: Durch die
Risikoarmut fällt es leichter, Hormongaben
nicht nur zur Therapie von klimakterischen
Beschwerden, sondern auch als Beitrag zur
Prävention nachteiliger Folgen der Meno-
pause zu nutzen, beispielsweise der Osteo-
porose. Absolute Kontraindikationen sind
bezüglich hormonabhängiger Malignome
und galenischer Unverträglichkeiten zu be-
achten.
Androgene: Auch ein Androgen- und
Anabolikaabfall in der Perimenopause hat
klinische Auswirkungen und trägt zu man-
chen Altersveränderungen bei, wie weiter
unten diskutiert wird.
149 7
7.2.4  uch Männer brauchen
A
Estrogene
7.2.4.1 Epidemiologie
Genetik: Es gibt Männer mit angeborenen
Defekten im Aromatasesystem (CYP19)
oder Mutationen bei den Estrogen-
rezeptoren (ERa), sodass sie aus den andro-
genen Präkursoren kaum Estrogene bilden
können oder diese partiell nicht wirksam
sind (Cooke et al. 2017; Römmler 2014f). Be-
reits als junge Männer sind sie klinisch auf-
fällig, im Vordergrund stehen Osteoporose,
Arteriosklerose und ein Metabolisches
Syndrom. Eine transdermale Substitution
mit Estrogenen kann den Aromatasedefekt
umgehen und innerhalb kurzer Zeit die Kli-
nik verbessern bzw. beheben (Gennari et al.
2004; Chen et al. 2015).
Pharmaka: Auch die Suppression der
Androgene, z. B. bei der Behandlung
eines Prostatakarzinoms, führt zu nied-
rigen Estrogenspiegeln. Dann können
„klimakterische“ Beschwerden wie Hitze-
wallungen, verstärkt Osteoporose und
Fettakkumulation auftreten, was durch
transdermale Estrogengaben (add-back)
günstig zu beeinflussen ist (Russell et al.
2017, 2018).
Alter: Auch offensichtlich gesunde Män-
ner im Alter können hohe oder niedrige
Estrogenspiegel im Blut aufweisen (Leifke
et al. 2000). Ersteres betrifft vor allem
Männer mit viszeraler Adipositas, Letzte-
res solche mit androgenen Defizienzen wie
niedrigem Testosteron und DHEA-­S. Ab-
weichungen beim Estrogen in beide Rich-
tungen sind risikobehaftet, z. B. mit er-
höhter Frakturrate oder kardiovaskulärer
Mortalität prospektiv assoziiert (Jankowska
et al. 2009; Ohlsson und Vandenput 2009;
Römmler 2014f). Die Risikorelation weist
also keinen linearen, sondern einen eher
 150 A. Römmler
U-förmigen Verlauf auf, der einer Hormesis-­
Relation vergleichbar ist.
Fazit: Auch bei Männern haben niedrige
Estrogenspiegel eine hohe gesundheitliche
Bedeutung, unabhängig von der Ursache
einer solchen Defizienz (Clegg 2012; Cooke
et al. 2017).
7.2.4.2 Klinik „niedrige
Estrogenspiegel“
Klimakterium virile. Psychovegetative Sym-
ptome wie nächtliches Schwitzen, Schlaf-
störungen und Depressivität, bei Frauen
als „klimakterische Beschwerden“ be-
kannt, können auch beim Mann speziell
7 in den fünfziger Lebensjahren öfters auf-
treten, meist in Kombination mit niedrigen
Estrogenspiegeln. Ein solches „Klimakte-
rium virile“ ist von anderen Ursachen abzu-
grenzen, zum Beispiel vom Schwitzen unter
Stresseinschuss oder einer stärkeren post-
prandialen Hypoglykämie (Römmler 2006,
2014f).
Ebenso kommt es vor, dass ein niedriger
Estrogenspiegel beim Mann erhoben, aber
nicht von akuten „klimakterischen“ Be-
schwerden begleitet wird, sondern diese sich
erst anamnestisch eruieren lassen (Römmler
2014f, 2016b). Das ähnelt Verläufen von
Frauen in der Postmenopause, bei denen
auch trotz weiterhin niedriger Estrogen-
spiegel die klimakterische Symptomatik ab-
geklungen sein kann.
Andropause-Syndrom. Hält ein aku-
ter Estrogenmangel länger an, dann
kann er zu zahlreichen degenerativen
Altersveränderungen beitragen (Andro-
pause-Syndrom), z. B. zur erektilen Dys-
funktion, Arteriosklerose, zum Meta-
bolischen Syndrom, Myokardinfarkt, zur
Arthrose, Osteoporose und zu Kognitions-
störungen (Clegg 2012; Cooke et al. 2017;
Römmler 2014f). Auch hier ist zu erwarten,
dass bis zur Manifestation solcher Ver-
änderungen in Abhängigkeit vom klini-
schen Endpunkt eine gewisse Latenzzeit ver-
streicht, wie es ähnlich auch bei Frauen in
der Postmenopause zu beobachten ist, und
die präventiv genutzt werden kann.
7.2.4.3 Hormondiagnostik
Niedrige Estron- und Estradiolspiegel im
Blut belegen deren Mitbeteiligung an den
klinischen Befunden. Zur Abgrenzung wird
die Bestimmung deren Präkursoren, also
von DHEA-S (adrenale Mitbeteiligung,
z. B. Adrenopause) und Testosteron (vor-
wiegend testikuläre Mitbeteiligung,
z. B. Gonadopause), herangezogen. Sind
hier die Werte auffällig niedrig, ist zur
Differenzialdiagnostik zwischen Adreno-
pause und NNR-Insuffizienz auch Cortisol
erforderlich, zwischen hypo- versus hyper-
gonadotroper Gonadopause auch LH zu
bestimmen (Römmler 2016b). Aus der La-
boranalyik ergeben sich Folgen für die Be-
handlung (Römmler 2014f):
7.2.4.4 Analytische Konsequenzen
55 Liegt eine Adrenopause vor, kann durch
Substitution von DHEA gleichzeitig
auch der adrenale Anteil am Estrogen
und Testosteron verbessert bzw. norma-
lisiert werden.
55 Eine hypergonadotrope Gonadopause ist
meist als primäre, d. h. testikuläre Alters-
veränderung einzustufen. Der be-
gleitende Abfall beim Testosteron führt
auch zu abfallenden Spiegeln beim Est-
rogen. Ein Testosteronausgleich kann
beide Hormone wieder anheben bzw.
normalisieren.
55 Eine hypogonadotrope Gonadopause ist
im Alter meist hypothalamisch bedingt,
z. B. durch chronischen Stress vermittelt,
was reversibel ist. Bis zu einer Erholung
kann eine adäquate Substitution mit
Testosteron klinisch erforderlich sein.
Auch ist zu beachten, dass ein hoher Es-
trogen- (vorwiegend Estron-) oder DHT-
Spiegel durch Rückkopplung zu einer
Suppression von LH und FSH und
damit auch Testosteron beitragen kann
(negatives Feedback).
Hormone und Alter
7.2.4.5 Besonderheiten
Orales Estrogen obsolet. Auch beim Mann
belasten orale Estrogengaben zahlreiche
Leberfunktionen, was risikobehaftet ist.
Schon früher wurden in diesem Zusammen-
hang ansteigende Triglyceridspiegel be-
obachtet und vermehrt über Pankreatitis,
Thromboembolie und Lungenembolie
(auch tödliche), Bildung von Gallensteinen
und Libidoabfall berichtet (Coronary Drug
Project 1973; Römmler 2006). Auch sind
Spannungen und Zysten im männlichen
Brustdrüsenbereich beobachtet worden.
Solche Risiken und Nebenwirkungen sind
vermeidbar, wenn ein Ausgleich niedriger
Estrogenspiegel durch Substitution der Prä-
kursoren DHEA und/oder Testosteron bzw.
durch eine transdermale Darreichung des
Estradiols erfolgt (Genazzani et al. 2004;
Römmler 2016b).
7.2.5 Fazit
Männer in den fünfziger Lebensjahren und
danach können Estrogendefizienzen auf-
weisen, die anfangs auch mit „klimakteri-
schen“ Beschwerden und im weiteren Ver-
lauf mit zahlreichen Fehlentwicklungen
assoziiert sind. Als Ursache ist ein Abfall
der androgenen Präkursoren zu prüfen:
Regelmäßig ist niedriges DHEA-S als Folge
einer Adrenopause daran beteiligt, gelegent-
lich auch Testosteron. Letzteres kann be-
lastungsbedingt (sekundäre Insuffizienz,
z. B. via Stress) oder im höheren Lebens-
alter zunehmend altersbedingt (primäre In-
suffizienz) sein. Eine androgene Substitution
mit DHEA und gelegentlich Testosteron ist
bei passender Klinik entsprechend hilfreich
und gleicht auch zusätzlich eine Estrogen-
defizienz mit aus. Sollten im Einzelfall
Estrogengaben erforderlich sein, ist eine
transdermale Darreichung zu bevorzugen.
>>Auch Männer benötigen Estrogene, aber
nur selten eine Estrogensubstitution!
151 7
7.3 Adrenopause:
Dehydroepiandrosteron
(DHEA)
7.3.1 Epidemiologie anaboler
Hormone wie DHEA,
Testosteron,
Wachstumshormon
An den klinischen Altersveränderungen
in den fünfziger Lebensjahren und danach
sind verschiedene Hormonsysteme beteiligt.
Hierbei lässt sich der anabole Hormon-
status bei beiden Geschlechtern gut aus
den Blutspiegeln von DHEA-S, Testosteron
und IGF-1 abschätzen. Alle drei Marker
und nicht nur die Defizienz eines einzel-
nen sind zur Einschätzung der kurzfristigen
Morbidität, Hospitalisierung und früh-
zeitigen Mortalität entscheidend (Cappola
et al. 2009; Friedrich et al. 2012; Maggio
et al. 2010, 2014; Yeap et al. 2014). Das
unterstreicht die hohe Bedeutung des ana-
bolen Status bei Mann und Frau (Römmler
2014b).
7.3.2 Physiologischer Hintergrund
7.3.2.1  drenopause – jeder ist
A
betroffen
DHEA-Sulfat hat mit weitem Abstand die
höchsten Konzentrationen der Steroid-
hormone im Blut, was eine hohe physio-
logische Bedeutung erwarten lässt. Bei
beiden Geschlechtern hat sich in den fünf-
ziger Lebensjahren bereits eine „Adreno-
pause“ entwickelt, die sich fortsetzt.
Hierbei handelt es sich um den kontinuier-
lichen Abfall des adrenalen DHEA und
DHEA-Sulfats (DS), der mit den dreißiger
Lebensjahren im Blut beginnt, in den Fünf-
zigern die Werte etwa halbiert hat, um dann
weiter bis auf rund 10% der ursprünglichen
Gipfel-­
Konzentrationen abzufallen. DS-­
Blutspiegel liegen beim jungen erwachsenen
 152 A. Römmler

Mann im Vergleich zur Frau etwa doppelt
so hoch (4–5 versus 2–2,8 ug/ml), was auch
die Z
­ ielbereiche bei einer Substitution defi-
niert (Römmler 2015). Die Cortisolspiegel
bleiben unverändert, was die Adreno-
pause von einer klassischen Insuffizienz der
Nebennierenrinde (NNR) oder einer adre-
nalen Suppression durch pharmakologische
Glukokortikoide unterscheidet.
Anders ist es beim Testosteron im Blut,
das jeweils rund zur Hälfte aus Ovarien
und Nebennieren kommt. Hier kann ora-
les DHEA den „adrenal bedingter“ Alters-
abfall beim Testosteron wieder ausgleichen,
was klinisch z. B. anhand der Libidosympto-
matik oft hilft. Die DHEA-Substitution ist
also eine wichtige Testosteronquelle bei der
Frau im Alter (Römmler 2015).

>>Jeder gesunde Erwachsene ist mit zu- 7.3.2.3  änner: DHEA moduliert
M
nehmendem Alter von einer Adreno- nennenswert Estrogene
pause betroffen!
Bei Männern mit hohen Testosteronwerten
spielt der geringe Anteil daran aus der
DHEA und DS sind eigenständig wirkende
Metabolisierung von DHEA keine große
7 Hormone im Organismus. Die Wirkprofile
Rolle. Ist aber Testosteron niedrig wie bei
bei Mann und Frau sind ähnlich, sei es an
einer Kombination von Gonadopause und
den vaskulären Endothelien, bei zahlreichen
Adrenopause, dann fällt der Anstieg beim
metabolischen Effekten oder als Neuro-
Testosteron durch orales DHEA (z. B.
transmitter. Zusätzlich ist DHEA durch
50 mg täglich), relativ gesehen, deutlich ins
Metabolisierung in Sexualhormone wirk-
Gewicht.
sam, zunächst in Androgene wie Andros-
Ähnlich ist es beim Estron und Estradiol,
tendion und Testosteron, dann weiter in
die durch Aromatisierung aus den Andro-
Estrogene, vor allem Estron und Estradiol.
genen gebildet werden. Bei einer kombinier-
Durch eine Adrenopause lässt somit auch
ten Gonadopause und Adrenopause sind
der adrenale Anteil an den Blutspiegeln die-
durch niedriges Testosteron und DHEA
ser Sexualhormone nach.
fast stets auch die Estrogenspiegel defizient,
Bei einer adäquaten DHEA-­Substitution
was durch eine adäquate Testosteron- und
normalisiert sich DS, was auch seine Meta-
DHEA-Substitution ausgeglichen werden
bolite beeinflusst. Die hieraus resultierenden
kann. Wenn aber nur eine Adrenopause
Androgen- und Estrogenanstiege im Blut
vorliegt, wie meist in den fünfziger Lebens-
sind dosisbedingt bei Männern etwas höher
jahren, dann wird bereits durch adäquates
als bei Frauen. Solche Anstiege haben aber
DHEA auch die partielle Estrogendefizienz
eine unterschiedliche Bedeutung, da sie in
„nebenbei“ voll mit ausgeglichen. DHEA ist
Relation zu den Ausgangswerten zu sehen
für Männer also eine wichtige Quelle für Es-
sind. Das hat klinische Konsequenzen.
trogene (Römmler 2016b).
7.3.2.2  rauen: DHEA moduliert
F
nennenswert Testosteron
Im ovariellen Zyklus mit den hohen 7.3.3 Klinik der Adrenopause
Estrogenwerten spielt die geringe adrenale
7.3.3.1  ie fünfziger Lebensjahre
D
Estrogensekretion kaum eine Rolle. Auch
in der Postmenopause mit gleichzeitiger
und danach
Adrenopause kann eine Substitution mit Schon in den fünfziger Lebensjahren ist bei
10–20 mg DHEA täglich oral zwar niedrige gesunden Männern und Frauen regelmäßig
Estrogenspiegel gering anheben (z. B. von mit einer Adrenopause zu rechnen. Labor-
10 auf 20 pg/ml Estradiol), das aber klinisch analytisch ist der Blutmarker DHEA-Sulfat
nicht reicht. (DS) etwa 30–50 % niedriger als bei Mitt-
Hormone und Alter
zwanzigern. Als klinisches Leitsymptom
steht ein „Vitalitätsmangel“ im Vorder-
grund, d. h., häufig wird über nachlassende
Leistungsfähigkeit und Stressbelastbarkeit
berichtet (ungeduldig, gereizt, schnell auf-
brausend), körperlich wird eine trockene
und schon etwas welke Haut (fettarm, man-
gelnde Seborrhoe) sowie langsameres Wach-
sen von Fingernägeln und Haaren registriert.
Später kommen weitere Hormon-­assoziierte
Veränderungen hinzu, die mehrheitlich einer
Mitbeteiligung von androgenen und ana-
bolen Defizienzen zuzuordnen sind und zu
diversen Alterskrankheiten, Altersschwäche
(Frailty) und vorzeitiger Mortalität bei-
tragen können (Maggio et al. 2014).In die-
sen Lebensjahren bleiben viele Frauen und
Männer bezüglich einer Adrenopause und
DHEA-Defizienz unversorgt, steht doch
beim Frauenarzt die Menopause und deren
Substitution und beim Männerarzt die Prü-
fung des Testosterons im Vordergrund. Hier
ist aber ein anaboler Hormonstatus aus dem
Blut indiziert.
7.3.3.2 Differenzierung durch
anaboles Hormonlabor
Dazu gehören zunächst drei Werte. Zum
einen DHEA-S als Marker der Adreno-
pause, der als Speicherform in der Peri-
pherie gegenüber DHEA gut messbar und
ohne wesentliche Tagesvariationen ist.
Dann Testosteron, vorwiegend als Marker
einer androgenen Gonadopause, wobei eine
direkte Bestimmung des „freien“ Testoste-
rons zu bevorzugen ist. Schließlich IGF-1
als Marker der Somatopause, dessen Be-
stimmung ebenfalls gut reproduzierbar ist.
7.3.3.3 Interpretation
Bei gegebener Androgen-assoziierter Kli-
nik kann bei beiden Geschlechtern der
Hormonstatus wie folgt interpretiert werden
(Römmler 2014b).
55 Liegt DS niedrig im alterstypischen Be-
reich, ist eine Adrenopause belegt. Liegt
der Wert niedriger, ist mit zusätzlichen
153 7
Ursachen wie Suppression durch Korti-
koide oder partielle NNR-­ Insuffizienz
(z. B. Dauerstress) zu rechnen. Eine Ab-
klärung durch Anamnese und Cortisol
wäre erforderlich.
55 Freies Testosteron ist niedrig: Zunächst
wird DS geprüft, da eine Adrenopause
mit einem Testosteronabfall assoziiert
ist. Dann kann eine Gonadopause hinzu-
kommen. Sind LH/FSH hypergonado-
trop, liegt eine Menopause bzw. Andro-
pause vor. Ist aber LH beim Mann bzw.
LH/FSH bei der Frau niedrig, ist eine
sekundäre, hypothalamische Gonado-
pause zu bedenken.
55 Liegt IGF-1 niedrig im Altersbereich
(z. B. unter 200 ng/ml), ist die Mit-
beteiligung einer Somatopause belegt.
Bei stärker abgefallenen Werten sind zu-
sätzliche Ursachen zu prüfen. So senken
orale Estrogene das hepatische IGF-1
ab, ebenso auch chronischer Stress
(z. B. Burn-out-Syndrom), Insomnie und
glykämische Belastungen.
7.3.3.4 DHEA-Substitution
Passen Klinik und Laborwerte zusammen,
ist eine stufenweise Androgen-Substitution
möglich. Nach entsprechender Aufklärung
über Risiken und Bezugsquellen sowie
Voruntersuchungen bezüglich hormon-
abhängiger Malignome inkl. der Prostata
erfolgt zuerst die Substitution mit DHEA.
Zielbereich. Eine orale Dosis wird rasch
resorbiert, sodass nach 3–5 Stunden die
erreichten DS-Gipfelwerte im Blut über-
prüft werden können („postdose-level“),
anschließend fallen sie wieder ab. Der Ziel-
bereich liegt bei den Werten, die gesunde
Frauen und Männer als Mittzwanziger
optimalerweise ganztägig aufweisen wür-
den, also bei 2–2,8 ug/ml bzw. 4–5 ug/ml. Die
kurze Einstellung in den oberen Referenz-
bereich reicht klinisch aus und ist neben-
wirkungs- sowie risikoarm, wie langjährige
Erfahrungen zeigen (Römmler 2014c). Aus
 154 A. Römmler
der Blutprobe mit dem gleichen Intervall
können auch die Estrogen- und Androgen-
spiegel geprüft werden.
Dosis. Die substitutive DHEA-Dosis
hängt vorwiegend vom DS-Ausgangswert
bzw. dem Ausmaß der Adrenopause ab.
Bei leichter versus mäßiger bzw. sehr fort-
geschrittener Adrenopause werden bei
Frauen 5 mg versus 10 mg bzw. 15–20 mg
täglich in Betracht kommen, bei Männern
entsprechend 15 mg versus 25 mg bzw. 50–
75 mg täglich.
Besonderheit beim Mann. DHEA ist
eine wichtige Estrogenquelle beim Mann.
Liegen vorab erhöhte Estrogenspiegel (vor
7 allem Estron) vor, ist zunächst mit einem
weiteren Anstieg zu rechnen. Dann sollte
nur mit der Hälfte der geplanten Anfangs-
dosis begonnen werden. Nach einigen Mo-
naten gehen die erhöhten Estrogenspiegel
unter vermutlich hepatischer „Reparatur“
durch DHEA (z. B. Lipolyse) zurück, so-
dass die DHEA-­Dosis zum Erreichen des
Zielbereichs gesteigert werden kann.
Besonderheit bei der Frau. DHEA ist
eine wichtige Testosteronquelle bei Frauen.
Im Alter ist Testosteron niedrig, kann aber
in Relation zu noch niedrigeren Estrogen-
spiegeln überwiegen. Das würde einer relati-
ven „Hyperandrogenämie“ entsprechen und
sich durch Androgenisierungen bemerkbar
machen. Um so einen Zustand unter einer
DHEA-Gabe zu vermeiden, müssen vorab
die Estrogenspiegel ausgeglichen sein, wie es
in der Peri- und Postmenopause üblich ist.
Wissenschaftliche Daten zum DHEA.
Seit den 1990er-Jahren steht DHEA als
Reinprodukt zur oralen Anwendung und in-
dividuell dosierbar zur Verfügung. Es ist in
Deutschland über Apotheken oder Boten-
dienste per Rezept zu erhalten.
Eine Adrenopause ist mit funktionel-
len und strukturellen Veränderungen im
Organismus verbunden, die vorwiegend
nachteilig sind. Die oben beschriebenen klini-
schen Symptome können durch eine DHEA-­
Substitution günstig (partiell) beeinflusst wer-
den, wie in zahlreichen Reviews belegt und
durch langjährige klinische Anwendungs-
erfahrungen zu bestätigen ist. Wirkmechanis-
men und Details der Studien sind in neueren
Übersichten zusammengetragen (Römmler
2014c, 2015; Sahu et al. 2020).
Bis sich die Veränderungen klinisch
manifestieren, wird für die verschiedenen
Endpunkte eine unterschiedliche Latenzzeit
benötigt. Funktionelle ZNS-Effekte, wie
bessere Stressverarbeitung und verminderte
Depressivität, sind meist schon nach 6–8
Wochen zu registrieren, Verbesserungen an
vaskulären Endothelien und Hautmarkern
nach 12 Wochen, beim Immunsystem nach
16–20 Wochen. Dagegen benötigen träge
Systeme wie die Muskel-Fett-Relation
und Knochendichte etwa 12 Monate Ein-
wirkungszeit.
Risiken und Nebenwirkungen. Gale-
nische Unverträglichkeiten und hormon-
abhängige Malignome (Prostata, Mamma)
sind genauso Kontraindikationen für
DHEA wie für Testosteron. Dass durch
DHEA aber solche Malignome entstehen,
wird zwar gelegentlich behauptet, ist aber
durch keine einzige Studie noch durch Mel-
dungen bei den US-amerikanischen Auf-
sichtsbehörden belegt (Labrie 2010).
Überdosierungen sind zu vermeiden und
zu korrigieren: Bei Frauen wären Andro-
genisierungen (diskrete Akne, Hirsutismus,
androgenetische Alopezie, tiefere Stimm-
lage) und Unruhe zu erwarten, bei Männern
ggf. erhöhte Estrogenspiegel mit Ödemen
und Gewichtszunahme, tiefliegende kno-
tige Akne und erhöhte Werte des Prostata-­
spezifischen Antigens PSA.
Es ist ratsam, bei einer DHEA-Gabe die
genannten Zielbereiche nicht längerfristig
zu überschreiten. Bei unphysiologisch hohen
Blutspiegeln würden pharmakologische As-
pekte mit deren Risikoprofilen und Neben-
wirkungen in den Vordergrund treten.
Fazit. Die fortschreitende Adrenopause
ist eine alterstypische androgene Insuffizienz
der NNR mit relativem Hyperkortizismus,
also keine klassische NNR-Insuffizienz. Als
klinisches Leitsymptom kann ein genereller
Hormone und Alter
155 7
Vitalitätsmangel dienen, der mit niedrigen Dann verbessern sich unter alleiniger
Blutspiegeln von DHEA-S, Estrogenen und DHEA-Gabe oft nicht ausreichend die
ggf. Testosteron assoziiert ist. Unter einer Estrogenspiegel, da nur der adrenale
individuell dosierten, oralen Substitution Präkursor ausgeglichen wurde. Hier
mit DHEA werden Zielbereiche im Blut von kann eine zusätzliche Testosterongabe
2–2,8 (Frauen) bzw. 4–5 ug/ml (Männer) DS dieses Hormon selbst sowie das hieraus
angestrebt, jeweils 3–5 Stunden nach der gebildete Estradiol weiter anheben.
morgendlichen Einnahme (postdose-level).
Wenn Überdosierungen vermieden werden,
ist DHEA nebenwirkungs- und risikoarm 7.3.4.2 Wissenschaftliche
sowie absolut gut verträglich (bioidentische Datenlage zur Substitution
Vorgehensweise). Klinische Wirkungen mit Testosteron
sind nach 2–10 Monaten objektivierbar, je
Frauen. Für Frauen gab es von 2006 bis
nach klinischem Endpunkt. Im Prinzip ist
2012 in Deutschland ein zugelassenes
bei jedem Erwachsenen ab den fünfziger
Testosteronpflaster (Intrinsa®) zur Be-
Lebensjahren eine Adrenopause zu erwarten
handlung beeinträchtigter sexueller Para-
und deren Substitution zu erwägen.
meter. Die placebokontrollierten Zu-
lassungsstudien waren bei Patientinnen
in der Postmenopause und unter oralen
7.3.4 Wann und wie zusätzlich
menopausalen Hormonen, aber ohne
Testosteron im Alter DHEA-Gabe durchgeführt worden. Unter
einheitlich dosiertem Testosteron konnten
7.3.4.1 … wenn DHEA nicht
Verbesserungen der sexuellen Parameter
ausreicht belegt werden, allerdings auch höhere
Unter einer adäquaten oralen DHEA-­ Nebenwirkungsraten, die vor allem Akne
Substitution verbessern sich auch die Blut- und Hirsutismus betrafen (Buster et al.
spiegel von Estradiol und Testosteron, wie 2005; Nachtigall et al. 2011; Shifren et al.
ausgeführt, was aber bei beiden Geschlech- 2006). Letzteres zeigt erneut, dass Einheits-
tern nicht immer ausreicht (Römmler dosierungen in der substitutiven Endokrino-
2014d, e). logie zu vermeiden sind.
55 In einigen Fällen bestehen Hinweise auf Unter der systemischen Testosteron-
einen weiterhin vorhandenen Androgen- gabe blieben bedauerlicherweise nicht-se-
mangel. Das kann klinisch eine xuelle Veränderungen ungeprüft, die aus
hormonell-­assoziierte reduzierte Libido kleineren Einzelstudien bekannt sind und
sowie laboranalytisch niedriges Testoste- im größeren Rahmen hätten bestätigt wer-
ron und Dihydrotestosteron (DHT) sein. den können. So fördert Testosteron in der
Stimmt beides überein, ist probeweise Postmenopause jeweils zusätzlich zum Es-
eine ergänzende Substitution mit Testos- tradiol die Vasodilatation und Knochen-
teron möglich, zunächst transdermal. dichte (kardioprotektiv, osteoprotektiv),
Für Männer gibt es zugelassene Gel-­ kognitive Verbesserungen und schützt vor
Präparate, für Frauen nicht, weshalb einer Sarkopenie bzw. verschlechterten
diese ggf. hilfsweise auf etwa ein Zehntel Körperzusammensetzung (Römmler
der männlichen Tagesdosis zugreifen 2014d, 2015; Tyagi et al. 2017). Die Pflaster-
müssten. zulassung wurde wegen dessen Einstufung
55 In anderen Fällen liegt beim Mann eine als „Life-­ Style“-Präparat zurückgezogen.
fortgeschrittene Adrenopause in Kombi- Zugelassener Ersatz steht nicht zur Ver-
nation mit einer Gonadopause vor. fügung.
 156 A. Römmler
Männer. Für Männer sind
­ estosteronpräparate in verschiedenen Dar-
T („predose-­ level“ versus „postdose-level“),
reichungen erhältlich, vor allem als Tages-
gel oder länger wirkender Ester zur intra-
muskulären Injektion (z. B. quartalsweise).
Neuere Studien zeigen, dass eine Risiko-
reduktion bei Morbidität (z. B. Herzinfarkt,
Schlaganfall) und Mortalität im Alter unter
Substitution mit Testosteron vor allem
dann zu belegen ist, wenn auch wieder eine
Normalisierung der Testosteronspiegel er-
reicht wurde, was nun auch in Guidelines
aufgenommen wurde (Corona et al. 2020;
Morgentaler et al. 2016; Mulhall et al. 2018;
Sharma et al. 2015; Snyder et al. 2018).
7 Hinweise auf höhere Prostata- oder kardio-
vaskuläre Risiken konnten weiterhin nicht
gefunden werden, möglicherweise kommt
es sogar zu einer signifikanten Absenkung
dieser Risiken in Langzeitbeobachtungen
(Saad et al. 2020).
7.3.5 Fazit
Frauen: Die Datenlage zum Testosteronaus-
gleich bei älteren Frauen ist spärlich, vor
allem, was Probandenzahl und klinische
Endpunkte betrifft (Tyagi et al. 2017). Nach
Fachliteratur und eigenen Erfahrungen mit
Hormonanwendungen kann ein stufen-
weises Vorgehen bei androgenen Defizienzen
unterstrichen werden: Vorab wird ein meno-
pausaler Hormonersatz (Estrogene) geprüft,
dann die Substitution der Adrenopause
durch DHEA, was bereits altersassoziierte
Defizienzen beim Testosteron partiell mit
ausgleicht. Dann bleiben klinisch nur noch
Einzelfälle übrig, bei denen ggf. zusätzlich
eine Testosterongabe indiziert wäre (Römm-
ler 2014d).
Männer: Bei älteren Männern ist die
Studienlage zur Testosterongabe umfang-
reicher, dennoch sind viele Fragen zur
Anwendung offen. Üblicherweise bleibt
in solchen Studien das DHEA und des-
sen Substitution völlig unbeachtet. Dazu
werden die Kontrollwerte meist morgens
noch vor der nächsten Tagesdosis geprüft
was die Wirkspiegel und die seiner Metabo-
lite vor allem bei transdermaler Applikation
nicht repräsentiert. Generell wird der Status
der Estrogene und von DHT wenig beachtet,
der auch noch in Abhängigkeit von der
Darreichung sehr variieren und die Regel-
kreise modulieren kann (siehe unten). Somit
ist aus endokrinologischer Sicht die allei-
nige Beachtung von Testosteron im Alter
eine lückenhafte und wenig aussagekräftige
Hormondiagnostik. Für den älteren Mann
lässt sich raten, entsprechend der Klinik zu-
nächst die Adrenopause mittels DHEA und
dann in Einzelfällen ggf. Testosteron und
Estradiol zusätzlich zu modulieren (Römm-
ler 2014e, 2016b).
7.3.5.1 Nebenwirkungen
Bei beiden Geschlechtern erfolgt besonders
bei transdermaler Darreichung des Testoste-
rons eine hohe Metabolisierung zu Estradiol
und DHT. Letzteres wird durch die 5a-Re-
duktase gefördert, die in der Haut wie auch
in der Prostata und im ZNS angereichert ist,
wodurch schnell überphysiologische Blut-
spiegel von DHT entstehen können. Das hat
mehrere Nachteile und Risiken (Römmler
2014e):
55 Durch die hohe biologische Potenz des
DHT werden androgene Wirkungen ver-
stärkt, was zu Androgenisierungen füh-
ren kann.
55 Durch ein negatives Feedback zum LH/
FSH wird die endogene Androgen-
sekretion unterdrückt. Das kann zu klei-
neren Testes sowie zu paradoxen Re-
aktionen führen: Niedrige Spiegel des
Testosterons fallen unter Substitution
weiter ab, deren Ursache dann durch den
Funktionskreis hohes DHT und niedri-
ges LH zu belegen ist.
55 Hohes DHT wird mit nachteiligen Aus-
wirkungen auf einen androgenetischen
Haarausfall und auf die Prostata in Ver-
bindung gebracht. Durch einen
5a-Reduktase-Inhibitor wie Finasterid
Hormone und Alter
oder Dutasterid würde weniger DHT
entstehen. Damit wird jedoch auch die
5a-Metabolisierung des Progesterons be-
einträchtigt, was vor allem im ZNS zu
erheblichen Turbulenzen fast aller
Neurosteroidhormone führt und mit
Krankheitsbegriffen wie Finasterid-/
Postfinasterid-Syndrom bei beiden Ge-
schlechtern beschrieben wird (Kuhl und
Wiegratz 2017; Melcangi et al. 2017).
Bei einer Testosteron-Substitution im
Alter ist eine bioidentische Vorgehensweise
zu bevorzugen, indem physiologische Ziel-
bereiche und die Balance mit Hormonmeta-
boliten beachtet wird.
7.4  ann und wie zusätzlich
W nogene“ und „kardiovaskuläre“ Mortalität
Wachstumshormon
7.4.1 Physiologischer Hintergrund
Dualität. Wachstumshormon (GH, So-
matropin) hat ein duales Wirkprofil, in-
dem es sowohl katabole als auch anabole
Effekte vermittelt. So wirkt es einerseits
als Anti-­Insulin, indem es Fett abbaut und
Glukosespiegel anhebt. Andererseits hat
es Insulin-ähnliche Effekte, indem es den
Proteinturnover, die Proliferation und das
Wachstum von Gewebe fördert (Insulin-like
Growth Faktor) (Römmler und Römmler-­
Zehrer 2014). Die anabolen Wirkungen
von GH sind klinisch kaum von denen der
Androgene zu unterscheiden, und so sind
auch im Alter seine Defizienzen mit ähn-
lichen Folgen, z. B. Verschiebung der Fett-­
Muskel-­Relation, assoziiert.
>>IGF-1 als Vermittler des Wachstums-
hormons gehört zusammen mit Testoste-
ron und DHEA-S zum androgenen bzw.
anabolen Hormonprofil im Alter.
U-förmige Dosis-Effekte. GH und IGF-1
fallen bei älter werdenden Erwachsenen
157 7
ähnlich wie DHEA-S kontinuierlich ab,
was vergleichbar der Adrenopause nun als
Somatopause bezeichnet wird. Bei Morbi-
ditäts- und Mortalitätsinzidenzen zeigen
die IGF-1-Spiegel aber nicht ein lineares,
sondern biphasisch assoziiertes Verhalten.
Hohe Spiegel (z. B. bei Akromegalie, obere
Altersperzentilen) sind ebenso wie nied-
rige (z. B. bei Hypophyseninsuffizienz,
untere Altersperzentilen) vermehrt mit di-
versen Dysfunktionen und Krankheiten
sowie einer etwa verdoppelten Mortalität
gegenüber einem mittleren Bereich asso-
ziiert (Burgers et al. 2011). Ein solches U-­
förmiges Risikoverhalten ist nicht nur bei
hormonell Erkrankten, sondern auch bei
der älteren Allgemeinbevölkerung für di-
verse Subgruppen wie „gesamte“, „karzi-
gezeigt worden. Durch Korrektur solcher
Abweichungen (z. B. Suppression bzw.
Substitution) lassen sich wieder „normale“
Mortalitätsraten erreichen. Daher besteht
ein großes Interesse an ausgewogenen IGF-
1-Spiegeln im Alter (Römmler und Römm-
ler-Zehrer 2014).
7.4.2 Somatopause – was kann
man tun?
Datenlage: Dank industrieller Unter-
stützung liegen umfangreiche und meist
prospektive Datenregister über etwa 20
Jahre zur Betreuung von Jugendlichen
und Erwachsenen mit defizitären GH bzw.
IGF-1 vor. Dabei sind auch sehr unter-
schiedliche Subgruppen von Patienten sowie
„normalen“ Probanden analysiert. Über-
sichten zeigen, dass das klinische Bild bei
Defizienzen unabhängig von deren Ursache
meist sehr ähnlich ist, ebenso die erzielten
Verbesserungen durch eine Substitution
(Römmler und Römmler-Zehrer 2014). Das
scheint auch für die Subgruppe „höheres
Alter“ zu gelten, obwohl hier die publizier-
ten Fallzahlen klein sind.
 158 A. Römmler
Klinische Effekte: Zu den gut belegten
und durch Consensus-Beschlüsse erfassten
GH-Effekten zählen metabolische, soma-
tische und psychische Wirkungen (Allen
et al. 2016; Baker et al. 2012; Jörgensen
et al. 2018; van Bunderen et al. 2014). Da-
nach senkt GH im Blut das LDL-Choleste-
rin und Triglyzeride ab, ebenso glykolisier-
tes Hämoglobin, diverse kardiovaskuläre
Risikofaktoren, dazu den Blutdruck und
die viszerale Fettmasse, insgesamt die
Karzinominzidenz und vorzeitige Mortali-
tät. Auch verbessert GH die Muskelmasse,
Kraft sowie Körperzusammensetzung, die
Knochendichte mit Frakturrate, die re-
7 spiratorische Kapazität, das psychologische
Wohlbefinden und die Lebensqualität mit
längerer Fähigkeit zur Selbstversorgung
und Verzögerung einer „Frailty“, also der
Altersgebrechlichkeit. Die Fülle der be-
obachteten günstigen Einflüsse und das gute
Nutzen-Risiko-Profil misst diesem Hormon
einen hohen Stellenwert für die Altersprä-
vention zu.
Aufwand und Nebenwirkungen: Eine
Substitution mit rekombinanten GH (biosi-
milar) ist seit über 20 Jahren in Gebrauch.
Allerdings erschweren das subkutane Proce-
dere, die meist mehrfache Anwendung pro
Woche, die Kosten und eine mäßige Daten-
lage bei höheren Altersgruppen den Einsatz.
Bei individueller Dosierung und ärzt-
licher Erfahrung ist diese Intervention aber
nebenwirkungs- und risikoarm, sowohl
kurz- als auch langfristig (Allen et al. 2016;
Borrás Pérez et al. 2017; Jörgensen et al.
2018). Ödeme und anfangs leichte Gelenk-
schmerzen sowie ein mögliches Karpal-­
Tunnel-­Syndrom oder die Verschlechterung
einer diabetischen Stoffwechsellage sind do-
sisbedingt und daher bei etwas Erfahrung
vermeidbar bzw. reversibel. Es werden
lediglich Zielbereiche für IGF-1 angestrebt,
die bei gesunden 45- bis 50-jährigen Er-
wachsenen natürlicherweise vorzufinden
sind (Römmler und Römmler-Zehrer 2014).
Als methodische Erleichterung ist mit der
baldigen Zulassung länger wirkender Appli-
kationen zu rechnen.
Vorbehandlungen: In der Präventions-
bzw. Anti-Aging-Sprechstunde sollte zur
Verbesserung der somatotropen Achse im
Alter zunächst die Beseitigung von Stör-
faktoren erfolgen, was meist substitutive
GH-­ Maßnahmen aufschieben oder gar
vermeiden lässt (Römmler und Römmler-­
Zehrer 2014). So senken orale Estrogene bei
Frauen das hepatische IGF-1 ab, was durch
Wechsel auf eine transdermale Darreichung
mühelos geändert werden kann. Auch chro-
nischer Stress (z. B. Burn-out-Syndrom)
supprimiert IGF-1, wozu klinisch und
durch das „Anti-Stress-Hormon“ DHEA
interveniert werden kann, Letzteres stimu-
liert noch zusätzlich das IGF-1. Auch eine
Insomnie (pulsatiles GH wird überwiegend
nachts ausgeschüttet) oder glykämische Be-
lastungen (z. B. zucker- und stärkehaltige
Nahrungsmittel) tragen zu einem Abfall der
IGF-1-Spiegel bei. Ferner sind hormonelle
Kofaktoren wie Testosteron-, Estrogen-,
DHEA-, Cortisol- und Thyroxinspiegel aus-
zugleichen, auch physische bzw. sportliche
Aktivitäten sind hilfreich.
Ausblick:
Passend zu unseren multifaktoriellen
Konzepten wurde kürzlich eine aufhorchende
Proof-of-Concept-Studie publiziert: Zur
Verbesserung einer Immunseneszenz als
wichtige Anti-Aging-Maßnahme bei 51- bis
65-­jährigen Männern wurden ein Jahr lang
GH in Kombination mit DHEA und Met-
formin eingesetzt. Damit konnte eine Ver-
jüngung des biologischen Alters, gemessen an
laboranalytischen und epigenetischen Mar-
kern, risikoarm belegt werden (Fahy et al.
2019). Epigenetische „Uhren“ gelten heute
als relevante Marker des biologischen Alters
sowie prospektiver Aussagen zum Gesund-
heitsstatus und der Lebenserwartung (Lu
et al. 2019).
Fazit: IGF-1 gehört zum androgenen
bzw. anabolen Hormonstatus im Alter
dazu, um den Anteil der einzelnen Para-
Hormone und Alter
meter am Alters- und Beschwerdebild besser
abschätzen zu können. Durch die hormo-
nelle ­Substitution einer Gonadopause und
Adrenopause sowie Korrektur von nach-
teiligen Aspekten der Lebensführung kann
eine ausgeprägte Somatopause bereits ver-
bessert werden. Eine GH-Substitution sollte
dann dem informierten Endokrinologen
vorbehalten bleiben, bis für die allgemeine
Alterssprechstunde größere Studiendaten
für die Altersindikation vorliegen und län-
ger wirkender GH-Präparate das Procedere
erleichtern.
7.5 Pregnenolon
7.5.1 Physiologischer Hintergrund
Pregnenolon ist in der biochemischen Kas-
kade das erste Steroidhormon und Präkur-
sor aller weiteren im Organismus. Es wird
aus Cholesterin in den Mitochondrien
gebildet und im Endoplasmatischen Re-
tikulum dann weiter metabolisiert (Cha-
ralampopoulos et al. 2008). Somit kann
Pregnenolon und sein Sulfat (PS) einerseits
als Marker der Mitochondrienfunktion
dienen, die durch Altern, Stress oder Phar-
maka gestört sein kann (Römmler 2014h).
Zum anderen kommt es als parakrine Basis-
sekretion ubiquitär in vielen Geweben vor,
wo es durch Mitwirkung zahlreicher Meta-
bolite wie Progesteron, DHEA und Cortisol
balancierte Effekte hat. Die hohen Steroid-
spiegel im But sind dagegen nur durch eine
zusätzliche glanduläre Sekretion aus Gona-
den und Nebennierenrinde zu erreichen, was
durch Erkrankungen oder Altern gestört
sein kann.
Im Nervensystem hat Pregnenolon zu-
sätzliche Aufgaben. Es trägt strukturell zur
Neurogenese bei, was sich in der Alters-
medizin nutzen lässt, indem altersreduzierte
Neuroblasten und nachfolgende Strukturen
stimuliert werden. Als Neurotransmitter für
159 7
transmembrane Schleusen moduliert es die
Kognition, hierbei vor allem Gedächtnis
und Affekte, aber auch die Vitalität.
7.5.2 Leitsymptome einer
Pregnenolon-Defizienz
Klinik. Der geschilderte Kontext macht
die vielfältigen klinischen Wirkungen des
Pregnenolons und Ausfälle bei Defizienzen
verständlich, was dann durch Messung von
Pregnenolon-Sulfat im Blut objektiviert
werden kann (Römmler 2014h).
So können Müdigkeit und reduzierte
Leistungsbereitschaft durch eine mitochon-
driale Insuffizienz mit reduzierter Pregneno-
lonsynthese beeinflusst sein. Meist ist dann
auch Coenzym Q10 niedrig. Verminderte
Gedächtnisfunktionen, vor allem das Spei-
chern von gelernten Inhalten, lässt an eine
neuroendokrine Pregnenolon-­Insuffizienz
denken, wie experimentelle und klinische
Daten zeigen. Auch Autoimmunsymptome,
inkl. rheumatischer Arthritis, können durch
pharmakologisch dosiertes Pregnenolon
moduliert werden, was angesichts seiner
Präkursorfunktion für Cortisol und DHEA
verständlich ist. Solche Zusammenhänge
und daraus abgeleitete Behandlungen sind
schon aus der Frühzeit der Entdeckung von
Steroidhormonen in den 1940er-Jahren be-
kannt. Jedoch rückte der Einsatz von Preg-
nenolon damals durch die Bevorzugung syn-
thetischer Glukokortikoide wie Prednisolon
und Dexamethason in den Hintergrund,
die als hochpotente Pharmaka mit anderen
Partialwirkungen zwar schneller, aber auch
risikoreich ihre Effekte entfalten.
Richtwerte (Römmler 2014h). Als
Referenzbereich für Blutwerte von
Pregnenolon-­ Sulfat (PS) bei jungen Er-
wachsenen (20–40 Jahre) kann 70–250 μg/l
(175–625 nmol/l) und als Zielbereich unter
oraler Substitution 150–350 μg/l (375–
800 nmol/l) dienen, Letzteres aus einer Blut-
 160 A. Römmler
probe 3–5 Stunden nach oraler Gabe mor-
gens bestimmt ­(„postdose-­level“).
Von niedrigen Blutspiegeln beim PS sind
vor allem Patienten mit Müdigkeit unter
chronischen Belastungen wie Arbeitsüber-
flutung oder Stress (Burn-out-Syndrom)
und im Alter betroffen, aber auch Patien-
ten mit rheumatischen Symptomen, Kolla-
genosen, Gelenk- und Muskelschmerzen
und bei neurodegenerativen Beschwerden.
Bei der Substitution liegt eine adäquate
Tagesdosis meist zwischen 15 und 60 mg
morgens, bei einer Pharmakotherapie zwi-
schen 60 und 120 bzw. 300 mg, aber dann
nur 6-mal pro Woche. Die Kombination mit
7 anderen neuroaktiven Steroiden wie DHEA
und Sexualhormonen ist – wenn indiziert –
möglich und oft wünschenswert (balancier-
ter Synergismus).
7.5.3 Wissenschaftliche Datenlage 55 Physiologische Blutspiegel. Wird orales
Historie. Wie erwähnt, wurde in der Pionier-
zeit der Steroidhormone auch Pregnenolon
bei verschiedenen Beschwerden erfolgreich
eingesetzt, was damals oft als „sensatio-
nell“ bewertet wurde. Bis heute hat sich das
Basiswissen zu den Neurosteroiden stark
erweitert und dabei auch die älteren Ein-
schätzungen weitgehend bestätigt (Chara-
lampopoulos et al. 2008; Harteneck 2013).
Aktuell. Neuere klinische Daten sind spär-
lich, da bei zahlreichen endokrinologischen
Erkrankungen oder Dysfunktionen vor-
wiegend synthetische Glukokortikoide oder
Hydrocortison eingesetzt werden, die aber
abweichende Partialwirkungen haben. Ein
oft benutztes Humanmodell sind Patien-
ten mit Schizophrenie, wo „kognitive Ein-
schränkungen“ und vermehrt „negative
Stimmungen“ erfolgreich mit Pregnenolon
therapiert wurden, ebenso Patienten mit bi-
polaren Depressionen (Brown et al. 2014;
Cai et al. 2018; Marx et al. 2009, 2014). Die
Blutwerte von PS und seiner Metabolite lie-
ßen bereits prospektiv einen Behandlungs-
erfolg abschätzen.
Dagegen sind laborkontrollierte Er-
fahrungen mit Pregnenolon in der Anti-
Aging-­ Medizin in zahlreichen Arztpraxen
umfangreich bzw. weltweit und langjährig
vorhanden. So haben wir 1995 eine prä-
zise Laboranalytik von Pregnenolonsulfat
in Deutschland initiiert (Flüssigchromato-
graphie – Massenspektrometrie HPLC/
MS), die gut reproduzierbar ist (Synlab
GmbH Stuttgart-Leinfelden). Aus lang-
jähriger Validierung und Erfahrung mit
Patienten resultieren unsere Hinweise zum
substitutiven Vorgehen, den Referenz- und
Zielbereichen und auch möglichen Neben-
wirkungen (Römmler 2014h).
7.5.3.1 Risiken und
Nebenwirkungen
Pregnenolon adäquat dosiert, indem
Referenzbereiche nicht längerfristig
überschritten werden, ist es gut verträg-
lich und praktisch von Nebenwirkungen
frei. Zum ausgewogenen Wirkprofil
scheint die Metabolisierung zu Steroid-
hormonen wie Progesteron und DHEA
beizutragen, was bei synthetischen
Glukokortikoiden nicht der Fall ist.
55 Überdosierungen. Diese können dosisbe-
zogen oder durch Kumulation entstehen,
dann besteht die (seltene) Gefahr einer
Übererregbarkeit wie Zittrigkeit, Wach-
heit, Aggressivität und Insomnie. Auch
können vasomotorische Dysfunktionen
wie Kopfschmerzen, Migräne oder gar
epileptische Anfälle bei prädisponierten
Patienten auftreten. Seine diskreten mi-
neralokortikoiden Partialwirkungen
können selten leichte Ödeme bewirken.
Es ist ratsam, bei einer höher dosierten
Pregnenolontherapie einmal pro Woche
zu pausieren, um Kumulationen zu ver-
meiden.
Hormone und Alter
7.5.4 Fazit
Physiologisches Pregnenolon ist ein wert-
volles und hilfreiches Hormon in der Alters-
sprechstunde, seine adäquate Anwendung
ist sehr risikoarm. Vor allem sind seine af-
fektiven Partialwirkungen und Synergismen
mit anderen Neurosteroiden, besonders am
GABAa-Rezeptor, sehr gefragt: Es macht
wacher, vitaler und aggressiver, was eine
passende Ergänzung zum Progesteron ist,
welches beruhigend und angstlösend wirkt
(via Allopregnanolon); auch wird es durch
DHEA balanciert, wodurch DHEA wohl
einen Teil seiner anti-­aggressiven und stress-
reduzierenden Wirkung entfaltet.
Bei Burn-out-Patienten mit recht nied-
rigen Cortisolspiegeln lässt sich durch
Pregnenolon alleine oft keine ausreichende
Vitalitätssteigerung erreichen, dann ist
Hydrocortison zusätzlich zu erwägen.
Neben solchen neuroaktiven Aspekten
sind auch die anti-inflammatorischen und
immunmodulierenden Partialwirkungen im
Alter, z. B. bei Gelenkschmerzen, therapeu-
tisch sehr gefragt.
7.6 Hormonelles Basiskonzept
und Ausblick
7.6.1 Multiple hormonelle
Alterssyndrome
Systemisch wirkende Hormone spielen
eine große Rolle in der Physiologie und zur
Gesunderhaltung des Menschen. Somit tra-
gen auch altersveränderte Hormonspiegel
synergistisch zu zahlreichen klinischen
„Syndromen“ im Alter bei, sei es einem
Postmenopause-, Adrenopause-, Andro-
pause- oder Somatopause-Syndrom, die je-
weils durch charakteristische Beschwerden
und Befunde beschrieben werden können.
Auch wenn die Blutspiegel solcher Hor-
mone nicht deren Wirkspiegel und Metabo-
lite im Gewebe und in den Zellen repräsen-
161 7
tieren, zeigen dennoch klinische Erfahrung
und Wissenschaft aus mehreren Jahrzehnten
Endokrinologie, dass sie zur Diagnostik und
Therapie relevant sind. Sie haben sich be-
währt, was für die meisten Speichelanalysen
mangels Validierung nicht gesagt werden
kann. Auch angesichts der molekularen und
epigenetischen Signalwege, die bei Alters-
veränderungen als Vermittler diskutiert wer-
den, tritt die Bedeutung der Hormone nicht
zurück, denn sie greifen letztlich in diese
evolutionär etablierten Abläufe ein.
7.6.2  onzept einer schrittweisen
K
Hormonsubstitution
Eine hormonelle Substitution im Alter ist
risikoarm, wenn das Ziel der Angleichung
an physiologische Verhältnisse „junger Er-
wachsener“ beachtet wird. Das ist nicht
selbstverständlich.
So bestand zu Beginn der „Hormon-­
Ära“ die Sorge, altersverändertes Ge-
webe würde auf Gabe von Hormonen un-
günstig reagieren, und der alters-assoziierte
Hormonabfall sei daher eher als Schutz-
funktion anzusehen. Das ist heute überholt.
Vielfältig wurde gezeigt, dass eine hormo-
nelle Dysfunktion unabhängig vom Alter
oder Krankheitsgrund zu biochemisch und
klinisch ähnlichen Veränderungen führt
und dass dann eine entsprechende Substi-
tution dies jeweils verhindern oder mindern
kann.
Eine adäquate Substitution benötigt ei-
nige Voraussetzungen. Dazu gehören eine
objektive Indikation aus Klinik und Labor
statt lediglich die gute Absicht, dann eine
stufenweise Vorgehensweise, die vom Alter
und individuellen Befund vorgegeben wird,
und schließlich eine individuelle Dosierung,
die sich nach den Laborwerten, der Klinik
und nach „physiologischen“ bzw. „bio-
identischen“ Kriterien richtet.
Beachtenswerte Kriterien einer adäqua-
ten Hormonsubstitution
 162 A. Römmler
55 Objektive Indikation durch Klinik und
Labor
55 Schrittweise Vorgehensweise nach Be-
fund und Alter
55 Individuelle Dosierung nach physio-
logischen Kriterien
Älter werdende Erwachsene unterliegen
Veränderungen, die erst schrittweise kli-
nisch manifest und damit relevant werden.
Bis zum vierten Dezenium stehen präventive
Aspekte im Vordergrund, indem individuelle
Risiken aus Biochemie und Lebensführung
erkannt und durch ärztliche Beratung aus-
geglichen werden können (Föhr-Keller und
7 Römmler 2014). Dazu gehören auch die
weit verbreiteten Thyroxin- und die noch zu
wenig beachteten Serotonin-/Tryptophan-­
assoziierten Fehlentwicklungen (Römm-
ler 2014i). In den vierziger und fünfziger
Lebensjahren treten dann durch Meno-
pause und Adrenopause sowie Folgen von
Stressbelastungen (z. B. Midlife-Crisis)
vorwiegend hormonelle Aspekte zusätzlich
in den Vordergrund, was sich dann in den
nachfolgenden Jahren durch Somatopause
sowie Defizienzen bei Pregnenolon und
dann Melatonin (Römmler 2014j) erweitert.
So lässt sich ein Konzept darstellen, das
die zahlreichen möglichen Hormongaben
als stufenweise Interventionen beschreibt,
die sich individuell am Lebensalter und Be-
fund ausrichten:
Mögliche Hormongaben
55 Bis vierziger Jahre: Persönliche Risi-
ken erfassen aus Biochemie (z. B. Fett,
Glukose, Gerinnung), kritischer
Lebensführung (z. B. Stress, Be-
wegung, Ernährung, Polypharmazie)
und Bedarf an Mikronährstoffen
(z. B. Mitochondrien-, Stress-, Arth-
rose-, Gefäßschutz). Thyroxin und
das Tryptophan/Serotonin-­System
sind stets zu beachten.
55 Die 45er- bis 55er-Jahre: Zusätzlich
kommen Progesteron, Estrogen und
DHEA hinzu (Menopause, Adreno-
pause). Beim Mann kann ein sekun-
därer (meist belastungsbedingter)
Hypogonadismus (Testosteron, Es-
tradiol) relevant werden.
55 Die 55er- bis 65er-Jahre: Klinisch
werden zusätzlich Somatopause (So-
matropin, IGF-1) und vermindertes
Melatonin relevant; auch mitochond-
riale Dysfunktionen (Pregnenolon,
Coenzym Q10) und nachlassende Bil-
dung bzw. Resorption von Vitamin D
bzw. B12 sind zu beachten.
55 Ausblick: Ob und wann im Alter zu-
sätzlich Anti-Aging-Drugs, wie die
aktuell diskutierten Metformin, Ra-
pamycin und Senolytika, zum Einsatz
kommen, ist noch experimentell, aber
vielversprechend.
Mit einem solchen hormonellen Basis-
programm kann ein Beitrag zur Präventions-
und Anti-Aging-Medizin geleistet werden,
der im Prinzip schon lange zur Verfügung
steht. Dazu liegen langfristige Anwendungs-
erfahrungen und Auswertungen der wissen-
schaftlichen Literatur vor, die seit nunmehr
20 Jahren in Wort und Schrift und meist
im Rahmen der GSAAM e.V. dargestellt
und fortgeschrieben werden. Sie liefern eine
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 167 8

Alterungsprävention
in der Gendermedizin:
Frauenmedizin
Johannes Bitzer

Inhaltsverzeichnis

8.1 Einleitung – 169

8.1.1  as Konzept der Sexuellen und Reproduktiven Gesundheit
D
und Rechte (sexual and reproductive health and rights)
(WHO Europe 2016; Starrs et al. 2018; European Society
of Contraception and Reproductive Health) – 169
8.1.2 Das Konzept des “Life Course Approach“. Lebensphasen-
orientierte medizinische Versorgung (Bitzer 2014a) – 170

8.2 Die Instrumente der Prävention – 170

8.2.1 E rkennung von Risiken (Bitzer 2005a, 2014a; Bitzer
und Horne 2012) – 170
8.2.2 Interventionen zur Risikominderung und
Gesundheitsförderung – 172

8.3  doleszenz – vom Mädchen zur jungen

A
Erwachsenen – 172
8.3.1  er Schutz vor ungewollten Schwangerschaften – 173
D
8.3.2 Früherkennung von endokrinen Reifungsstörungen
und metabolischen Risikofaktoren, Adipositas – 174
8.3.3 Prävention und Früherkennung von malignen
Erkrankungen – 174
8.3.4 Erkennung von psychischen Entwicklungsstörungen,
Schwierigkeiten mit der Sexualität und Stressreaktionen als
Folge psychosozialer Belastungsfaktoren – 175
8.3.5 Schutz und Förderung der sexuellen Gesundheit – 175

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

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https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_8
8.4 Präkonzeption, Schwangerschaft
und Postpartum – 176
8.4.1 Kardiovaskuläre Krankheiten – 177

8.5 Schwangerschaft und postpartum – 177

8.6 Von der Prämenopause zur Postmenopause – 177

8.6.1  ie altersabhängige Zunahme der Inzidenz und Prävalenz
D
nahezu aller Erkrankungen außer den Infektionen,
genetischen Erkrankungen mit früher Manifestation,
Verletzungen mit Todesfolge etc. – 177
8.6.2 Die Abnahme des Wohlbefindens und der
Lebensqualität – 178
8.6.3 Anti-Aging-Strategien in der Prä-Postmenopause – 178
8.6.4 Prävention durch Minderung von Risikofaktoren, Stärkung
der Resilienz durch Verbesserung der Lebensqualität und
Prävention von Erkrankungen durch pharmakologische
Interventionen (Hormone, Pharmaka) – 178
8.6.5 Basisinterventionen – 178
8.6.6 Ernährung (US Preventive Services Task Force (USPSTF)) – 179
8.6.7 Spezifische Interventionen – 181
8.6.8 Individualisierte Entscheidungsfindung
und Behandlung – 182

Literatur – 185
Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin
8.1 Einleitung
Die Präventivmedizin hat übergreifende ge-
meinsame Ziele (Verhinderung von Krank-
heiten, Verhinderung des Fortschreitens und
der Ausbreitung von Krankheiten, Minde-
rung von Folgeschäden), die für beide Ge-
schlechter gelten.
Daneben gibt es aber aus präventiv-
medizinischer Sicht gesundheitliche Pro-
bleme bei Frauen und damit verbundene
spezifische Strategien und Interventionen,
die sich erheblich von den Problemen, Stra-
tegien und Maßnahmen bei Männern unter-
scheiden. (Alder und Bitzer 2018)
Anders als im englischsprachigen
Schrifttum, in dem es die beiden Kategorien
„Obstetrics and Gynecology“ und „Wo-
men’s Health“ als getrennte Einheiten gibt,
hat im Deutschen die „Frauenheilkunde“
traditionell beide Bereiche umfasst.
Frauenheilkunde hat zwar den Be-
griff des Heilens integriert, war aber sehr
viel klarer ein Bekenntnis zu einer „Gen-
der Medicine“, also einer Medizin, welche
die besonderen gesundheitlichen Bedürf-
nisse der Geschlechter berücksichtigt – und
zwar nicht nur bezüglich der biologischen
Unterschiede, sondern auch bezüglich der
psychosozialen und soziokulturellen Diffe-
renzierungen. Dies gilt besonders auch im
Hinblick auf das Altern (Alder und Bitzer
2018; Rees et al. 2018).
Die spezifischen präventivmedizinischen
Ziele in der Frauenheilkunde umfassen
somit zwei Bereiche:
a) Die beide Geschlechter umfassende pri-
märe, sekundäre und tertiäre Prävention
von Erkrankungen und die allgemeine
Gesundheitsförderung. Diese ist im
Wesentlichen zentriert auf Organe, deren
Erkrankung, die jeweiligen Risiko-
faktoren, die diagnostischen und thera-
peutischen Standards.
b) Die frauenspezifische primäre, sekun-
däre und tertiäre Prävention und
Gesundheitsförderung. (Alder und
Bitzer 2018)
169 8
Die Ziele und Inhalte dieser auf die
gesundheitlichen Bedürfnisse von Frauen
ausgerichtete Medizin lassen sich unter zwei
Konzepten zusammenfassen:
8.1.1  as Konzept der Sexuellen
D
und Reproduktiven
Gesundheit und Rechte
(sexual and reproductive
health and rights) (WHO
Europe 2016; Starrs et al.
2018; European Society
of Contraception
and Reproductive Health)
Die WHO definiert die Sexuelle und Re-
produktive Gesundheit in einer umfassenden
biopsychosozialen Perspektive:
55 Abwesenheit von Krankheit
55 Körperliches und seelisches Wohl-
befinden im Bereich der Sexualität (Se-
xual Wellbeing)
55 Fähigkeit, selbstbestimmt über Re-
produktion und Sexualität zu verfügen
und selbstbestimmte Ziele zu erreichen
»» Within the framework of WHO’s defini-
tion of health as a state of complete phy-
sical, mental and social well-being, and
not merely the absence of disease or infir-
mity, reproductive health addresses the
reproductive processes, functions and sys-
tem at all stages of life.
»» Reproductive health, therefore, implies
that people are able to have a responsible,
satisfying and safe sex life and that they
have the capability to reproduce and the
freedom to decide if, when and how often
to do so. (WHO Europe 2016)
Ausgehend von diesem Konzept ist die
Gesundheit von Frauen ein dynamischer
Zustand, der am besten mit dem beschrieben
wird, was in der Psychosomatik und Sexual-
medizin als „Biopsychosoziales Modell“
beschrieben wird. Damit ist gemeint, dass
 170 J. Bitzer
Gesundheit und Krankheit nicht streng ge-
trennte Einheiten sind, sondern in einem
dynamischen Gleichgewicht stehen, wel-
ches durch biologische, psychologische und
soziale Faktoren determiniert wird. (Bitzer
2005a)
Sexuelle Gesundheit umfasst in dieser
Definition nicht nur den Schutz vor Risiken,
die mit sexueller Aktivität verbunden sind,
sondern sie schließt auch die Zufriedenheit
mit dem sexuellen Erleben ein, welche durch
sexuelle Dysfunktionen beeinträchtigt sein
kann. Diese betreffen
55 den Mangel an sexueller Motivation, der
als Belastung erlebt wird,
55 die Schwierigkeiten mit der sexuellen Er-
regung (mental und körperlich),
55 die Störungen der Orgasmusfähigkeit,
8 55 Schmerzen bei sexueller Aktivität.
Sexuelle Gesundheit stellt eine wichtige
Ressource für das gesunde Altern dar, und
es ist eine präventive Aufgabe, diese zu er-
halten, und den Frauen bei der Lösung se-
xueller Probleme zu helfen. (Reisman et al.
2013)
8.1.2  as Konzept des “Life
D
Course Approach“.
Lebensphasenorientierte
medizinische Versorgung
(Bitzer 2014a)
Dieses Konzept basiert auf dem Prinzip der
richtigen medizinischen Versorgung, zur
richtigen Zeit, am richtigen Ort, durch die
richtige Fachperson.
Dieses an den spezifischen Bedürfnissen
der Frauen in den verschiedenen Lebens-
phasen ausgerichtete Versorgungskonzept
hat folgende Inhalte: (Bitzer und Horne
2012)
55 Fokus auf Gesundheitsförderung und
Prävention von Krankheiten von der
Adoleszenz bis ins hohe Alter
55 Nutzung der lebensphasenspezifischen
Kontrolluntersuchungen zur Erfassung
von Risiken und zur Beratung und
Durchführung von risikomindernden
Maßnahmen (beeinflussbare Riskofak-
toren erkennen und modifizieren)
Jede Lebensphase stellt dabei bestimmte
Herausforderungen an die individuelle Er-
haltung der Gesundheit dar, deren Gelingen
den Gesundheitszustand und die Gesund-
heitskompetenz der nächsten Phase mit-
bestimmt.
Unter diesem Gesichtspunkt beginnt die
Altersprävention im strengen Sinnen bereits
pränatal, durchschreitet Kindheit und Ado-
leszenz, reproduktive Phase sowie Prä- und
Postmenopause.
Gesundheit stellt dabei so etwas wie
ein angeborenes Kapital dar, dessen Um-
fang zwar individuell verschieden ist, des-
sen „Verwaltung“ und „Förderung“ jedoch
beeinflusst werden kann – in den Grenzen,
welche die Umwelt und der Zufall zu ge-
stalten erlaubt.
Dieses Konzept lässt sich in einer Grafik
darstellen (. Abb. 8.1).
8.2  ie Instrumente der
D
Prävention
Altersprävention in diesem umfassenden
Sinn umfasst Techniken und Interventionen,
die aus ganz verschiedenen Spezialgebieten
stammen, wobei diese Instrumente in zwei
Gruppen eingeteilt werden können:
8.2.1  rkennung von Risiken
E
(Bitzer 2005a, 2014a; Bitzer
und Horne 2012)
55 Aus der Genetik kommen die Möglich-
keiten der Erkennung von familiären und
genetischen Risiken.
Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin
171 8
Schwangerschaft Inkontinenz
Peak Bone
Geburt Osteoporose
Mass Frakturen
Postpartum
Komplikationen MI
STI Blutungs- CVI
Endometriose störungen Demenz
Rauchen
Infertilität Arthritis/Arthrose
Essstörungen Cervixca.
Carcinome: Mamma,
Affektive Erkrankungen Endometrium
Ovarien, Colon,
Klimakterisches Syndrom
Metabolisches Syndrom Lunge
Adipositas
Impfungen
Ernährung
Bewegung
Risikoverhalten
Kontrazeption Hormontherapien
Pharmakotherapie

Adoleszenz 20-35 J. 35-50 J. 50-65 J. 65-80 J. >80 J.

..      Abb. 8.1 Präventivmedizin im Lebensphasenkonzept

Bsp: Pränatale Medizin, Brustkrebs, 55 Die Epidemiologie, Labormedizin,

Metabolische Erkrankungen
Die Erforschung des menschlichen
Genoms und insbesondere die fort-
schreitenden Kenntnisse über Poly-
morphismen erweitern das für die
Präventivmedizin wichtige prospektive
Wissen. Gleichzeitig darf nicht vergessen
werden, dass sich damit auch neue ethi-
sche Herausforderungen ergeben (Recht
auf Nicht-Wissen etc.)
55 Aus der Ernährungslehre und Sport-
medizin stammen die Methoden zur Er-
kennung von Risiken, die aus fehler-
hafter Ernährung und Bewegungsmangel
resultieren. Neben dem Wissen über
diese Risikofaktoren können diese bei-
den Disziplinen auf Studien basierende
Empfehlungen zur gesunden Ernährung
(Menge, Zusammensetzung, Mikronähr-
stoffe etc.) und zu den gesundheits-
förderlichen Aktivitäten geben bzw. auch
deren Grenzen aufzeigen.
Radiologie und andere Fachdisziplinen
helfen dabei, die allgemeinen Risiken für
chronische Erkrankungen und Früh-
stadien von Erkrankungen zu erkennen.
Beispiele hierfür sind einerseits Frage-
bögen, wie der Framingham Question-
naire, FRAX und andere, die es auf-
grund epidemiologischer Daten
erlauben, die Risiken für bestimmte Er-
krankungen zu quantifizieren im Sinne
von Wahrscheinlichkeiten des Auftretens
in einem bestimmten Zeitraum.
Beispiele aus der internistischen
Labormedizin sind die Screening-­
Untersuchungen im Hinblick auf
Glukosestoffwechsel, Lipidstoffwechsel,
Tumormarker etc.
Beispiel für die Erkennung von Früh-
stadien von Krankheiten stammen im
Wesentlichen aus der Cytologie,
HPV-Typisierung, Mammographie,
Ultraschall und MRI.
 172 J. Bitzer
8.2.2 Interventionen zur
Risikominderung und
Gesundheitsförderung
55 Aus der Immunologie kommt die
evidenzbasierte Anwendung von Impfun-
gen.
Masern, Polio, Pocken, Influenza, Hepa-
titis, HPV. Diese Maßnahmen zielen da-
rauf ab, das Auftreten von Erkrankungen
zu verhindern (Primäre Prävention).
55 Aus der Endokrinologie stammen die
präventivmedizinischen Kenntnisse über
die Anwendung von Hormonen.
Die wichtigsten Bereiche bei den Hor-
monen, die in einem präventiv-
medizinischen Sinne zur Anwendung
8 kommen, sind die hormonelle Kontra-
zeption und die Menopausale Hormon-
therapie. Beide spielen für die Frauen-
gesundheit im Sinne der Public Health
eine sehr große Rolle, sowohl im Sinne
der Minderung von Mortalität und
Morbidität durch den Schutz vor un-
gewollten Schwangerschaften als auch
im Sinne eines Gewinnes an quality of
life years und einer Prävention von chro-
nischen Krankheiten.
55 Aus der Pharmakologie und Pharmazie
stammt der Einsatz von nicht hormonel-
len Medikamenten.
Dazu gehören einerseits das Eisen, Cal-
cium, Vitamine, Spurenelemente und
andererseits die Medikamente, die vor
allem in der sekundären Prävention ein-
gesetzt werden, wie niedrig dosiertes Aspi-
rin, Lipidsenker, Orale Antidiabetika etc.
55 Die Verhaltensmedizin, Psychologie und
Psychiatrie haben die kommunikativen
und Beratungstechniken entwickelt, wel-
che darauf abzielen, Menschen bei ge-
wünschten Verhaltensänderungen
(z. B. Rauchen, Alkoholkkonsum) zu
helfen oder aber Störungen der seeli-
schen Gesundheit zu erkennen und ge-
gebenenfalls selbst zu helfen oder an eine
Fachperson zu überweisen.
Beispiele für solche Kommunikative
­ ertigkeiten sind: Patientinnenzentrierte
F
Kommunikation, Shared decision ma-
king, Motivational Interviewing, Stresss-
bewältigungstherapie, Lebensberatung
in Krisen
Daraus ist ersichtlich, dass eine moderne
Altersprävention im Rahmen der Frauen-
gesundheit nur im Rahmen einer multi-
disziplinären Zusammenarbeit gelingen
kann und dies insgeamt einen Teil der Public
Health Policy eines Landes darstellt.
Im Folgenden sollen diejenigen lebens-
phasenspezifischen, präventiven Inter-
ventionen dargestellt werden, die eine be-
sondere Bedeutung für die Altersprävention
bei Frauen haben.
8.3  doleszenz – vom Mädchen
A
zur jungen Erwachsenen
Die Adoleszenz ist eine Lebensphase, in
welcher für die Gesundheit einer Frau
lebenslange Grundlagen gelegt werden.
Im Gegenzug können aber auch in dieser
Zeit gesundheitliche Schäden eintreten, die
lebenslange Wirkungen haben und Risiko-
faktoren für das Alter darstellen. (Bitzer
et al. 2014)
Es ist die Zeitspanne, in der die jungen
Frauen die Möglichkeit bekommen sollen,
gesundheitliche Kompetenz zu erhalten.
Damit ist gemeint, dass sie Verantwortung
für ihre Gesundheit übernehmen und Wis-
sen erlangen, wie sie sich vor Schäden schüt-
zen und ihre Gesundheit erhalten können.
Wichtige Bereiche sind:
55 Schutz vor ungeplanter Schwangerschaft
55 Hilfe bei sexuellen Problemen
55 STI: Protektion, Detektion und Be-
handlung
55 Erkennung und Hilfe bei sexueller
­Gewalt
55 Erkennung und Behandlung von endo-
krinen Störungen (PCO)
Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin
55 Erkennung und Behandlung von Ess-
störungen, Adipositas
55 Affektive Störungen
55 Prävention und Früherkennung von ma-
lignen Erkrankungen
55 Chronischer Stress und psychosoziale
Belastungfaktoren
8.3.1  er Schutz vor ungewollten
D pro 10 000) (https://www.ema.europa.eu/
Schwangerschaften
Der Schutz vor ungewollten Schwanger-
schaften in der Adoleszenz ist eine der
wichtigsten präventivmedizinischen Auf-
gaben, um die unmittelbaren gesundheits-
schädigenden Wirkungen zu verhindern,
aber auch möglichen negativen Langzeit-
wirkungen entgegenzuwirken. (Bearinger
et al. 2007)
Die Lebenserwartung bei Frauen, die in
der Adoleszenz ein Kind gebären, ist kürzer
als bei den Frauen, die später schwanger
werden. Schwangerschaften zu einem spä-
teren Zeitpunkt dagegen haben wohl einen
lebensverlängernden Effekt (wahrscheinlich
über Telomeren vermittelt).
Allen effektiven kontrazeptiven Metho-
den gemeinsam ist der wichtigste präven-
tive Effekt: die Vermeidung bzw. der Schutz
vor ungewollten Schwangerschaften mit all
ihren medizinischen und psychosozialen
Folgen. (Brown und Eisenberg 1995)
Hormonelle Verhütungsmethoden,
insbesondere die Oestrogen/Gestagen-­
Kombinationen (Pille, Pflaster, Vaginal-
ring), nehmen aber einen besonderen Platz
im Spektrum der zur Verfügung stehenden
Methoden ein, denn sie haben neben der
kontrazeptiven Effizienz ein für die lang-
fristige Gesundheitsprävention wichtiges
Risiko Nutzen-Profil, welches sich durch
kurzzeitige Risiken und langzeitigen Benefit 10 Jahre nach Absetzen gleichen sich die Ri-
auszeichnet.
173 8
Risiken (Bitzer 2005b; Faculty of Sexual
and Reproductive Healthcare 2015)
Die Venöse Thrombose:
(2- bis 3-fache Risikoerhöhung gegen-
über Nichtanwenderinnen; a­bsolutes Ri-
siko bei nicht schwangeren Nicht-­
Anwenderinnen etwa 2 pro 10 000; unter
kombinierten hormonellen Präparaten 6–9
en/find-medicine/human-medicines/refer-
rals/combined-hormonal-­contraceptives)
Brustkrebs:
Die Collaborative Study fand eine
Risikoerhöhung unter der Anwendung
von 24 %. 5 Jahre nach Absetzen war das
Risiko nicht mehr erhöht (Collaborative
Group on Hormonal Factors in Breast
Cancer 1996)
Andere Studien konnten keine ein-
deutige Risikoerhöhung nachweisen.
(Vessey und Painter 2006; Cibula et al.
2010)
Insbesondere die Studie von March-
banks (Marchbanks et al. 2002) konnte zei-
gen, dass es keine Risikoerhöhung bei post-
menopausalen ehemaligen Anwenderinnen
von kombinierten Kontrazeptiva gefunden
wurde. (Relatives Risiko 1.0)
Cervixcarcinom:
Eine relative Zunahme des Risikos
zwischen 1.1 bei Einnahme über 5 und
mehr Jahre und eine Zunahme von 2.2
(Relatives Risiko) bei Langzeiteinnahme
von 10 und mehr Jahren. Allerdings nur
bei Vorliegen einer HPV-Infektion. Kom-
binierte hormonelle Kontrazeptive könn-
ten eine Co-Faktor beim Vorliegen einer
Infektion mit einem onkogenen HPV-Typ
darstellen.
siken wieder an. Wichtig ist dabei, dass eine
 174 J. Bitzer
Früherkennung der Erkrankung möglich ist,
was die Mortalität deutlich reduziert (Smith
und Green 2003; Moreno et al. 2002)
Benefit
Das Risiko für ein Endometrium und
Ovarialcarcinom wird um 40–50 % ge-
senkt, und dieser Schutz besteht bis zu 20
Jahren nach dem Absetzen (Langzeit-
protektion).
Das Risiko für die Entwicklung eines
Coloncarcinoms wird um 50 % ge-
mindert. (Cibula et al. 2010; Vessey und
Painter 1995; Jensen und Speroff 2000)
Für die aus präventivmedizinischer Sicht
8 wichtige Abwägung von Nutzen und Risi-
ken ist die Studie von Hannaford (Hanna-
ford et al. 2010) hilfreich.
Im großen Kollektiv der Royal College
Cohorte wurden Mortalitätsdaten zwischen
Frauen, die irgendwann einmal hormonelle
Kontrazeptiva eingenommen hatten (ever
users), und Frauen, die niemals hormo-
nelle Verhütungsmittel angewandt hatten
(never users), verglichen. Dabei fanden die
Autoren eine statistisch signifikante niedri-
gere Mortalität sowohl insgesamt als auch
im Hinblick auf die Sterberate bei Krebs-
erkrankungen, Kreislauferkrankungen
und allen anderen Krankheiten. Die in ab-
soluten Zahlen ausgedrückte Reduktion der
Mortalität bei den „ever users“ war 52 pro
100 00
Die präventivmedizinische Intervention
liegt dabei auf der patientinnenzentrierten
kontrazeptiven Beratung. Das Ziel dieser
Beratung ist, zusammen mit der Patientin
die für ihre Bedürfnisse am besten geeignete
Methode zu finden, unter Berücksichtigung
ihres medizinischen und psychosozialen
Profils. Dabei ist wichtig, dass die An-
wenderin die für sie wichtigen Informatio-
nen in einer für sie verständlichen Art und
Weise erhält (z. B. Risikoberatung) und dass
sie in die Entscheidungfindung einbezogen
wird (Bitzer et al. 2017).
8.3.2 Früherkennung von
endokrinen
Reifungsstörungen
und metabolischen
Risikofaktoren, Adipositas
Menarche, Oligomenorrhoe und danach
voller ovulatorischer Zyklus sind das Resul-
tat einer komplexen Interaktion zwischen
Hypothalamus-Hypophyse-Ovar. Dieses
Zusammenspiel oder Zusammenwirken
muss sich in der Pubertät, Adoleszenz ent-
wickeln und ist störanfällig für externe Fak-
toren wie Ernährung, Bewegungsmangel
und Stress.
Ein gewichtiger gesundheits-
gefährdender Faktor ist dabei Adipositas
in der Adoleszenz, die sich negativ auf den
Glukose-­ Stoffwechsel auswirkt, mit einer
Entwicklung zur Hyperinsulinämie und
Insulinresistenz (Genovesi et al. 2019).
Das häufigste endokrine Krankheitsbild
ist dabei das PCO-Syndrom mit durch An-
ovulation bedingten Zyklusstörungen und
hyperandrogenen Haut und Haarsymptome.
Die Erkennung des PCO-Syndroms ist von
besonderer Bedeutung für die Altersprä-
vention, da diese Patientinnen ein erhöhtes
Risiko für die Entwicklung von Insulin-
resistenz, kardiovaskulären Erkrankungen
und Endometriumcarcinom im späteren
Leben haben (Peña et al. 2020).
8.3.3 Prävention und
Früherkennung von
malignen Erkrankungen
Die HPV-Impfung stellt eine wichtige Inter-
vention zum Schutz vor der Entwicklung
eines Cervixcarcinoms dar. Die Früh-
erkennungsmethoden (Zytologie, HPV-­
Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin
Typsierung) machen es möglich, dass die
Erkrankung im Frühstadium behandelt und
damit eine für die Frauengesundheit wesent-
liche Erkrankung, die in allen Lebensphasen
auftreten kann, in ihrer Inzidenz vermindert
oder ganz beseitigt werden kann.
8.3.4  rkennung von psychischen
E
Entwicklungsstörungen,
Schwierigkeiten mit der
Sexualität und
Stressreaktionen als Folge
psychosozialer
Belastungsfaktoren
Für die über die Lebenspanne bis ins
hohe Alter erlebte psychische und sexuelle
Gesundheit und Lebensqualität sind in der
Adoleszenz auftretende psychische Störun-
gen und sexuelle Probleme von erheblicher
Bedeutung. Traumatisierungen (physisch
und psychisch), schlechte Entwicklungs-
bedingungen im Hinblick auf Resilienzent-
wicklung, Schwierigkeiten bei der Identi-
tätsfindung etc. sind wichtige Alarmzeichen,
deren Erkennung und Behandlung (multdis-
ziplinär) einen auf das Alter bezogenen be-
deutenden präventiven Effekt haben. (Khat-
lani et al. 2019)
Zu diesen Störungen gehören auch die
Esstörungen in der milderen und der aus-
geprägten Form von Anorexia Nervosa mit
ihren negativen Langzeitwirkungen auf die
Knochengesundheit und metabolischen
Störungen (Miranda et al. 1998).
8.3.5  chutz und Förderung der
S sich beim Geschlechstverkehr zu in-
sexuellen Gesundheit
Diese betreffen die folgenden Bereiche:
55 Prävention von sexuell übertragbaren
Erkrankungen
55 Erkennung und Beratung bei Risikover-
halten
175 8
55 Erkennung und Diagnose der sexuell
übertragbaren Erkrankungen (STI),
deren Therapie und Verhinderung der
Ausbreitung (Partner Tracing)
55 Erkennung und Betreuung von Opfern
sexueller Gewalt (Rost 2005; Castelo-­
Branco et al. 2014; World Health Orga-
nization 2003; Workowski et al. 2015)
Bezüglich der Altersprävention sind zwei
Bereiche von besonderer Bedeutung, näm-
lich die STI/HIV-Prävention und die Prä-
vention von sexueller Gewalt.
Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist es wich-
tig, dass von den betreuenden Ärztinnen
und Ärzten eine Sexualanamnese erhoben
wird bzw. dass die Sexualanamnese für die
Patientinnen zu einem selbstverständlichen
Teil der Konsultation wird.
Dies erfordert kommunikative Fertig-
keiten. Das Gespräch soll respektvoll ge-
führt werden. Es soll als normaler Teil der
ärztlichen Anamnese eingeführt werden,
wobei die Zustimmung der Patientin ein-
geholt werden kann:
„Sexualität ist ja Teil der Gesundheit.
Deshalb möchte ich noch ein paar Fragen
zur Sexualität stellen. Ist das ok für Sie?“
Empfohlen ist dabei die Erfassung fol-
gender Befunde:
55 Sexualpartner: Haben Sie Sex mit
Frauen, Männern oder mit beiden Ge-
schlechtern?
55 Sexualpraktiken: oral, genital, anal, an-
dere Praktiken
55 Schwangerschaft: geplant, tewünscht,
nicht geplant (Verhütung)
55 Sexuell übertragbare Ekrankungen
(STI): „Wie schätzen Sie Ihr Risiko ein,
fizieren (Kondom, neuer Partner, meh-
rere Partner)
55 STI-Anamnese: „Haben Sie schon eine
sexuell übertragbare Erkrankung durch-
gemacht?“
55 Sexuelle Gewalt: „Sind Sie im Moment
oder waren Sie schon einmal sexuellen
 176 J. Bitzer

Übergriffen oder sogar Gewalt aus- 8.4 Präkonzeption,

gesetzt?“ Schwangerschaft und
Postpartum
Bei diesen Fragen geht es darum, der
(jungen) Frau bewusst zu machen, welche
Die präkonzeptionelle Beratung hat eine
Risiken die Sexualität mit sich bringt und
große Bedeutung, nicht nur für die Gesund-
wie man sich gegen Risiken schützen kann.
heit der Schwangeren, sondern auch für
Gleichzeitig sollte aber auch nach den
die Gesundheit des Kindes. (Bitzer 2014b;
lustvollen Seiten der Sexualität gefragt
Moos et al. 2008; ACOG committee opi-
werden, nach dem sexuellen Wohlbefinden
nion no. 762: prepregnancy counseling
(Bitzer 2015).
2019)
„Wie zufrieden sind Sie mit ihrer Sexuali-
Die internationalen Empfehlungen für
tät? Gibt es Probleme, über die Sie sprechen
die präkonzeptionelle Beratung umfassen:
wollen?“
55 Erkennung und Management von vor-
„Gibt es Probleme mit der Lust auf se-
bestehenden Erkrankungen
xuelle Aktivität oder mit der Erregung?“
55 Diabetes
„Haben Sie Schmerzen bei sexueller
55 Schilddrüse (Hypothyreose)
Aktivität?“
8 Bei allen sexuellen Problemen geht es
55 STD: Screening und Management
55 Adipositas: Kontrolle und Reduktion
darum, zu explorieren ob und in welcher
55 PKU
Weise folgende Faktoren an der jeweiligen
55 Alkohol
Dysfunktion beteiligt sind (Alder und Bitzer
55 Antiepileptika
2005; Kottmel et al. 2011; Bitzer 1999):
55 Rauchen
55 Körperliche Faktoren (Krankheiten,
55 Orale Antikoagulantien
Medikamente, Hormone)
55 Röteln
55 Psychologische Faktoren (Ängste, Ent-
55 HIV/Aids
täuschungen, Traumata etc.)
55 Hepatitis
55 Partnerschaftliche Faktoren (Kommmu-
55 Folsäure
nikationsschwierigkeiten, Konflikte)
55 Soziokulturelle Faktoren (Fehlen der
Dabei werden wichtige Grundlagen für
Sexualerziehung, Unwissen, Normen)
die Gesundheit im Alter gelegt, sowohl für
die Frau als auch für das Kind.
Je nach dem individuellen Störungs-
Ein für die Altersprävention der Frau
muster kann eine Therapieplan erarbeitet
und des Kindes besonders wichtiger Bereich
werden, bei dem immer eine Sexualberatung
ist die Früherkennung von Glukosestoff-
und jeweils individuell
wechselstörungen (Insulinresistenz bzw
55 hormonelle und medikamentöse Inter-
Hyperinsulinämie) Diese Störungen haben
ventionen,
durch den Nahrungsmittelüberfluss epi-
55 Einzel- und Paarberatungen (kognitive
demische Ausmaße angenommen mit einer
oder systemische, seltener tiefenpsycho-
zentralen Bedeutung für die Entwicklung
logische Verfahren),
der von der WHO ins Visier genommenen
55 körperbezogene Übungen (Masters und
sogenannten „non communicable diseases“,
Johnson)
also den Nicht-Infektionskrankheiten, wie
Diabetes, kardiovaskuläre Erkankungen,
zur Anwendung kommen.
Malignome etc. (Bernstein et al. 2000)
Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin
8.4.1 Kardiovaskuläre
Krankheiten
Die Prävention dieser für das Alter ent-
scheidenden Erkrankungen beginnt also
bereits pränatal (für das Kind) und für die
Frau durch die Erkennung dieser Störungen
eventuell bereits vor oder aber während der
Schwangerschaft.
Ein zweiter zentraler für das Alter ent-
scheidender präventivmedizinischer Ansatz
ist die Verhaltensänderung bezüglich Rau-
chen, Alkohol, Drogen. Vor oder spätestens
während einer Schwangerschaft besteht bei
vielen Frauen eine Bereitschaft zur Ver-
haltensänderung (Rauchstopp, kein Alko-
hol oder Drogenkonsum).
Dies stellt also ein „Window of Opportu-
nity“ zur Beratung dar. Besonders hilfreich
dabei ist die Technik des Motivational Inter-
viewing, mit dessen Hilfe die Veränderungs-
bereitschaft geklärt und die Motivation und
Fähigkeit zur Verhaltensänderung unter-
stützt wird. Motivational Interviewing wird
dadurch zu einem wichtigen Instrument der
Prävention, welches immer wieder dann
zum Einsatz kommen sollte, wenn es um
Verhaltensänderungen geht. (Johnson et al.
2006)
177 8
prävention wichtig: (Miller und Rollnick
1991; Buchanan et al. 2010; Ascaso et al.
2003)
55 Erkennung von Glukosestoffwechsel-
störungen bei der Schwangeren und
postpartale Nachverfolgung
55 Erkennung von Risiken für die Ent-
wicklung einer Hypertonie
55 Erkennung und Basisversorgung bei
Frauen mit postpartaler Depression und
familiären bzw partnerschaftlichen An-
passungsstörungen. Dies ist besonders
wichtig im Kontext der Familiengesund-
heit (Family Health) als besondere
gesundheitliche Ressource (Hartling
et al. 2013)
55 Nachbetreuung von Frauen nach glück-
loser Schwangerschaft zur Prävention
einer posstraumatischen Belastungs-
störung mit langfristigen Folgen (O’Hara
und Wisner 2014)
8.6  on der Prämenopause zur
V
Postmenopause
Diese Lebensphase ist gekennzeichnet durch
zwei für die Altersprävention zentrale Be-
reiche. (Vieweg et al. 2006)

8.5 Schwangerschaft und 8.6.1 Die altersabhängige

postpartum Zunahme der Inzidenz und
Prävalenz nahezu aller
Schwangerschaft und postpartum stellen Erkrankungen außer den
keine eigentlichen Lebensphasen dar, son- Infektionen, genetischen
dern sie sind eher Lebensereignisse (Life
events), die gesundheitliche Risiken und
Erkrankungen mit früher
Chancen mit sich bringen. Manifestation, Verletzungen
Für beide Bereiche gibt es zahlreiche mit Todesfolge etc.
präventivmedizinische Aufgaben, die in
Leitlinien zusammengefasst werden, mit 55 Kardiovaskuläre Erkrankungen
dem Ziel, die Gesundheit von Mutter und 55 Maligne Erkrankungen
Kind zu sichern. 55 Oesteoporose
Innerhalb dieser für die Pränatalmedizin, 55 Neuropsychologische und neuro-
Geburtshilfe und Perinatalen Medizin spezi- psychiatrische Erkrankungen
fischen Empfehlungen sind für die Alters- 55 Urogenitale Symptome
 178 J. Bitzer

8.6.2  ie Abnahme des

D recommendations for primary care prac-
Wohlbefindens und der tice 2018)
55 Screening-Fragebögen, zytologische,
Lebensqualität
ultrasonographische, radiologische
Untersuchungen zur Erkennung von
Die wesentlichen Elemente dieser ab-
Frühformen genitaler Carcinome und
nehmenden Lebensqualität sind Belastungen
des Mammamcarcinoms (Goff Jr et al.
durch vasomotorische Symptome, eine Min-
2014; Gross 2014)
derung der körperlichen Leistungsfähigkeit,
eine negative Veränderung des Körper-
bildes, urogenitale Beschwerden, Verluste
und Niederlagen im beruflichen und persön-
8.6.4 Prävention durch
lichen Leben, Zunahme von Lebensängsten Minderung von
etc. (Greendale und Sowers 1997; Bungay Risikofaktoren, Stärkung
et al. 1980) der Resilienz durch
Eine umfassende, ganzheitliche Alters- Verbesserung der
prävention hat zum Ziel, körperliche und Lebensqualität und
seelische Gesundheit möglichst lange zu
Prävention von
8 erhalten, indem das Auftreten von Er-
Erkrankungen durch
krankungen vermindert bzw zeitlich ver-
zögert wird und die Lebensqualität erhalten pharmakologische
bleibt. Alle Menschen müssen sterben. Interventionen (Hormone,
Viele Menschen wünschen sich eine Ver- Pharmaka)
längerung der Lebenszeit bei guter Lebens-
qualität bis zum Lebensende (Compression Diese Strategie setzt sich aus verschiedenen
of morbidity). Elementen zusammen, welche wie eine Py-
ramide aufgebaut sind.
Die Basis dieser Pyramide besteht aus
Interventionen, die für alle Frauen gelten.
8.6.3 Anti-Aging-Strategien in der
Darauf aufbauend kommen individuelle
Prä-Postmenopause Interventionen zum Einsatz, die sich an den
individuellen Risikofaktoren und Ressour-
8.6.3.1 Erkennung von cen der Patientin orientieren.
Risikofaktoren und
Frühformen chronischer
Erkrankungen (Hunter
8.6.5 Basisinterventionen
1992)
Die Erkennung von Risikofaktoren basiert
auf dem Wissen, welches aus epidemio- Übersicht
logischen Studien stammt. Dabei geht es um eine Kombination von
Die Erkennung von Frühformen beruht Ernährungsberatung, Bewegungs-
auf klinischen, laborchemischen und bild- programmen, Gewichtskontrolle und Re-
gebenden Verfahren. duktion von Risikoverhalten (Rauchen,
Beispiele: Alkohol, Sexualverhalten) (Krogsbøll
55 Screening-Fragebögen, Bestimmung von et al. 2012)
Lipiden, Vitaminen, Entzündungs- Dies sind Interventionen, welche das
faktoren zur Risikobestimmung für Verhalten betreffen.
kardiovaskuläre Erkrankungen (USPSTF
Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin
Die Rolle der Ärztinnen und Ärzte
besteht darin, den Frauen praktische
Empfehlungen auf der Grundlage von
evidenzbasiertem Wissen in verständ-
licher Weise zu übermitteln und ihre
Motivation zur Verhaltensänderung zu
­ mit Kohlenhydraten ist ebenfalls ein zentra-
stärken.
zz Wissensvermittung und Empfehlungen
Die Abnahme des Östrogens führt zu einer
Reihe von Veränderungen im Stoffwechsel
mit einer Verschiebung des Körpergewichtes
und der Körperzusammensetzung (ver-
mehrtes Bauchfett).
Diese Veränderung, insbesondere das
hormonell aktive Bauchfett, geht mit einem
Anstieg des Blutdrucks, Veränderungen im
Lipidprofil und einer Insulinresistenz ein-
her, häufig aber nicht immer in Form eines
sogenannten Metabolischen Syndroms.
Mit der Entwicklung einer zentralen Adi-
positas erhöht sich in der Folge das Risiko
für Diabetes Typ 2, Krankheiten des Herz-­
Kreislauf-­Systems und für bestimmte Krebs-
erkrankungen (Brustkrebs und Darmkrebs).
Diese vier Bereiche gehören in einem
präventivmedizinischen Konzept zu-
sammen, da sie sich gegenseitig stark beein-
flussen.
8.6.6 Ernährung (US Preventive
Services Task Force
(USPSTF))
In dieser Lebensphase ist die individuelle
bewusste Gestaltung der Ernährung und des
Essverhaltens ein wichtiger Teil der Alters- 55 Vitamin A (Sehschwäche, Blindheit,
prävention, mehr noch als in Adoleszenz
und mittlerem Erwachsenenalter.
Es geht darum, bewusst zu essen. Was 55 Vitamin D (Rachitis, Minderung der
esse ich, was schmeckt mir, wann bin ich satt?
Es gibt sehr viele Ernährungspläne, deren
Ziel die Gewichtsreduktion, vor allem die 55 Jod (Wachstum und kognitive Ent-
Reduktion des abdominalen Fettes zum Ziel
179 8
haben. Allen gemeinsam ist die Betonung
von Gemüse, Salat und Obst als wesentliche
Bausteine der Ernährung, die ausreichende
Zufuhr von Proteinen, in Form von Milch,
Joghurt, Käse, und eine Portion Fisch,
Fleisch, Geflügel. Der bewusste Umgang
les Thema eines individuellen Ernährungs-
planes. Der Gesundheit eher förderliche
Kohlehydrate sind Vollkornbrot, Vollkorn-
nudeln, Bulgur etc.; der Gesundheit nicht
förderlich oder eher schadende Kohlen-
hydrate sind Weißbrot, gebratene Kartof-
feln, Chips und Süssigkeiten.
Salzarm und arm an einfachen Zuckern
und ungesättigten Fettsäuren, reich an Ba-
laststoffen und Transfetten sind weitere
Orientierungspunkte.
Die Häufigkeit der Nahrungsaufnahme
und die beste Dauer des Fastens zwischen
den Mahlzeiten ist nach wie vor ein um-
strittenes Thema, wobei es Hinweise darauf
gibt, dass Fasten in jeder Form einen für die
Regulation des Stoffwechsels günstige Wir-
kung hat.
Ein umstrittenes Thema ist die Frage
der Ergänzung einer ausgewogenen Nah-
rung durch Nahrungsergänzungsmittel,
insbesondere die zusätzliche Einnahme von
Vitaminen und Mikronährstoffen. In der
Nahrung nur in kleinen Mengen vorhanden
und vom Körper selbst nicht produzierbar,
haben sie doch eine wichtige Rolle bei der
Erhaltung der Gesundheit, wie sich an den
klinischen Bildern des jeweiligen Mangel-
zustandes hauptsächlich bei Kindern er-
kennen lässt.
55 Eisen (Motorische, kognitive Ent-
wicklung, Energie und Sauerstoffver-
sorgung)
Infektanfälligkeit)
55 Vitamin C (Skorbut)
Knochendichte, Verschlechterung der
Immunabwehr, neuromuskuläre Funktion)
wicklung)
 180 J. Bitzer
55 Folsäure Vitamin B9 (Entwicklung des
Neuralrohres, regelrechte Bildung von
Rückenmark und Gehirn)
55 Zink (Immunsystem, Schutz vor Pneu-
monie, Durchfall und Malaria)
55 (CDC micronutrients facts, 7 www.­
cdc.­gv)
Weitere Mikronährstoffe, die in der
Altersprävention eingesetzt werden, sind
Vitamin E, C, A, Selen, Q10-Folsäure
aufgrund ihrer antioxidativen Wirkung,
wobei mögliche negative Effekte nicht aus-
geschlossen werden können, weshalb diese
präventive Strategie noch nicht zu einem
Teil einer evidenzbasierten Altersprävention
geworden ist.
8 8.6.6.1 Bewegung (https://www.
forumernaehrung.at/artikel/
detail/news/detail/News/
eu-­ernaehrungsrichtlinien-­
flexibel-­und-individuell/;
Piercy et al. 2018)
Auch in diesem Bereich ist die individuelle
Gestaltung des Bewegungsverhaltens bzw.
der sportlichen Aktivitäten eine Aufgabe,
der sich die Patientin mithilfe der ärztlichen
Beratung annehmen sollte.
Die allgemeinen Empfehlungen sind 10
000 Schritte pro Tag und 2- bis 3-mal sport-
liche Aktivitäten bzw. 150 Minuten mo-
derate Aktivität pro Woche.
Neben dem Herz-Kreislauf-Training hat
die Erhaltung der Muskelmasse eine große
Bedeutung für die Prävention.
Laut Studien nimmt ab 40 Jahren die
Muskelkraft pro Jahr um ca. 1,5 % ab. Das
heißt, de facto verliert ein gesunder Mensch
zwischen dem 45. und 90. Lebensjahr etwa
die Hälfte seiner Muskelmasse.
Zur Erhaltung der Muskelmasse mit den
positiven Folgen für Herz-Kreislauf- und
Knochengesundheit wird empfohlen, 2- bis
3-mal pro Woche 2–3 Muskelgruppen mit
Gewichten zu trainieren – mit jeweils 8–12
Durchgängen.
Wie bei der Ernährung ist es wichtig,
dass der „Bewegungsplan“ auf Aktivitäten
aufbaut, die dem betreffenden Menschen
neben dem Preis der Anstrengung (den inne-
ren Schweinehund überwinden) auch Lust-
gefühle bereiten. Diese positiven Gefühle
können von der Endorphinausschüttung bei
und nach der Anstrengung ausgehen, dem
Gefühl, etwas geschafft zu haben, für sich
allein zu sein oder aber auch vom Gefühl der
Gemeinsamkeit, des Wettbewerbes in einer
Gruppe beim Mannschaftssport.
Die guten Gefühle können aus der Be-
wegung in der Natur kommen, aber auch
vom Tanzen und der die Bewegung be-
gleitenden Musik.
Auch beim Krafttraining ist es wich-
tig, individuell langsam aufzubauen. Jede
einzelne Übung ist besser als keine Uebung.
Um erfolgreich Gewicht zu verlieren,
müssen in der Regel täglich mindestens 400
Kalorien eingespart werden – mit erheb-
lichen individuellen Unterschieden. Zusätz-
lich sollte die Alltagsaktivität auf 10.000
Schritte pro Tag gesteigert und an 2–3
Tagen in der Woche Sport getrieben wer-
den. Durch die körperliche Aktivität wird
das Sättigungsgefühl bei Mahlzeiten stärker
wahrgenommen, Stress reduziert und der
Appetit-Impuls verringert. Dadurch wird
eine innere endokrine Reorientierung er-
reicht, die wichtig ist für den Langzeiterfolg.
8.6.6.2 Rauchstopp und
Alkoholreduktion
Rauchen und Alkoholkonsum sind sehr
stark mit Stress und dessen Bewältigung
verbunden. Beides sind Drogen, die im Ge-
hirn zu Belohnungsreaktionen führen (Do-
pamin, Noradrenalin etc.).
Wie oben beschrieben, ist die Änderung
eines gewohnheitsmäßigen Verhaltens schwie-
rig. Neben der Methode des Motivational
Interviewings kann eine Klärung der Be-
lastungssituationen, denen die Patientin aus-
gesetzt ist, sowie ihres Umganges damit ein
erster Schritt zur Verhaltensänderung sein.
Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin
Mit diesen Basisinterventionen lassen
sich die Risiken für die meisten chronischen
Erkrankungen mindern. Der Grad der Min-
derung ist ein statistischer Wert der Wahr-
scheinlichkeit und unterliegt Änderungen –
entsprechend neueren epidemiologischen
Studien.
Die Effekte gehen dabei weit über die
Beeinflussung klassischer Risikofaktoren
wie gewichtsassoziierte Parameter, Blut-
druck, Blutzucker und Lipidprofil hinaus.
Nachgewiesen wurden bereits Einflüsse auf
Entzündungsmarker und das Darmmikro-
biom sowie Interaktionen mit Genen und
die Länge der Telomere als ein Marker für
gesundes Altern.
Prävention durch Lebensstiländerungen
(Rauchen, Alkohol, BMI, körperliche
Aktivität) haben sich als wirksam erwiesen,
mit Senkung der Inzidenz und Mortalität
von Krebserkrankungen.
8.6.7 Spezifische Interventionen
8.6.7.1 Hormontherapie
Das Prinzip der Hormontherapie basiert
auf dem Verständnis der hormonellen Ver-
änderungen, welche die menopausale Tran-
sition kennzeichen (Abnahme von Progeste-
ron, Östrogenschwankungen, Abnahme des
Östrogens).
Östrogenschwankungen und Östrogen-
mangel sind häufig begleitet von
55 Verschlechterung der Lebensqualität
und des Wohlbefindens durch vaso-
motorische und zentralnervöse Dys-
regulation,
55 Zunahme von arteriosklerotischen Ver-
änderungen im arteriellen Gefäßsystem,
55 Abnahme der Knochendichte mit Er-
höhung des Osteoporose-Risikos,
55 Veränderungen im urogenitalen Bereich
(Blase, Vagina, Vulva).
Die menopausale Hormontherapie
(MHT) dient dazu, das fehlende Östrogen
zu ersetzen, um
181 8
55 die Lebensqualität zu verbessern,
55 das arteriosklerotische Risiko zu min-
dern,
55 das Risiko für eine Osteoporose zu redu-
zieren,
55 die urogenitalen Symptome zu lindern
bzw. zu beheben.
Es gibt genügend wissenschaftliche Evi-
denz dafür, dass die menopausale Hormon-
therapie diese Effekte erzielt. (https://
www.bundesgesundheitsministerium.de/
service/begriffe-von-a-z/b/bewegungs-
empfehlungen.html; 2016 IMS recommen-
dations on women’s midlife health and
menopause hormone therapy; The NAMS
2017; ACOG practice bulletin no. 141: ma-
nagement of menopausal symptoms 2014)
Gleichzeitig haben Studien gezeigt, dass
die MHT Risiken mit sich bringt.
Diese betreffen im Wesentlichen Ve-
nöse Thrombosen, Brustkrebs, Schlag-
anfall. (https://www.bundesgesundheits-
ministerium.de/service/begriffe-von-a-z/b/
bewegungsempfehlungen.html; 2016 IMS
recommendations on women’s midlife
health and menopause hormone therapy;
The NAMS 2017; ACOG practice bulletin
no. 141: management of menopausal sym-
ptoms 2014)
Die für diese Erkrankungen spezifischen
Risikoerhöhungen scheinen abhängig
a) vom medizinischen Profil der An-
wenderinnen (vorangegangene Erkan-
kungen, genetische Risiken, Hyster-
ektomie etc.) und
b) von der Art der MHT (Beginn, Dauer,
verwendete Substanzen, Dosierungen
etc.).
Zu beiden Bereichen gibt es zahlreichen
Studien mit teilweise widersprüchlichen
Resultaten, und es werden weitere Studien
folgen, mit dem Ziel, noch exakter die beste
Nutzen-Risiko-Relation für die MHT zu
finden.
Im Moment besteht die Aufgabe für die
begleitenden Ärztinnen und Ärzte darin,
 182 J. Bitzer
der Patientin bei der Entscheidungsfindung
bezüglich einer MHT durch eine sorgfältige
und strukturierte Beratung zu helfen (siehe
weiter unten).
8.6.7.2 Pharmakotherapie
Die Prävention von chronischen Alters-
krankheiten durch Medikamente betrifft
vor allem kardiovaskuläre Erkrankungen
und die Osteoporose (Stuenkel et al. 2015)
55 In der kardiovaskulären Prävention
kommen die blutdrucksenkenden
Medikamente, Statine, Plättchen-
inhibitoren, orale Antidiabetika gemäß
Guidelines zum Einsatz.
55 Vitamin D wird von zahlreichen Fach-
gesellschaften als präventive Medikation
nicht nur bezüglich Osteoporose, son-
8 dern auch als Medikament mit zahl-
reichen anderen präventiven Wirkungen
empfohlen. Neuere Studie zeigen aller-
dings keine wesentliche präventive Wir-
kung bezüglich kardiovaskulärer und
onkologischer Erkrankungen. (ESC Po-
cket Guidelines: Prävention von Herz
Kreislauferkrankungen 2016)
55 Die primäre Prävention mit Low-dose-­
Aspirin wird nicht empfohlen. (Stuenkel
et al. 2015)
8.6.8 Individualisierte
Entscheidungsfindung und
Behandlung
In der Altersprävention müssen neben den
oben beschriebenen Basisinterventionen,
welche für alle Frauen günstige Wirkun-
gen haben, gemäß den invididuellen Be-
einträchtigungen der Lebensqualität, den
individuellen Risiken und Ressourcen die-
jenigen Interventionen gemeinsam mit den
Patientinnen gefunden werden, welche das
beste Nutzen-Risiko-Profil aufweisen.
Bei dieser partizipativen Entscheidungs-
findung ist es hilfreich, systematisch fol-
gende Fragen zu klären:
8.6.8.1 Welche durch
Östrogenmangel
bestehenden Beschwerden
liegen vor und wie werden
diese von der Patientin
bewertet?
Die häufigsten Beschwerden sind Hitze-
wallungen, Schlafstörungen, Irritabilität,
Stimmungsschwankungen, Trockenheit der
Vagina, Blaseninfekte, Blasenfunktions-
störungen etc. Jedem dieser Symptome
sollte von der Patientin eine Belastungs-
grad, am besten auf einer Lickert Scale, zu-
geordnet werden (0 = keine Belastung, 10 =
unerträglich).
8.6.8.2  ür welche dieser
F
Beschwerden ist die
Wirksamkeit einer meno-
pausalen Hormontherapie
nachgewiesen? (https://
www.bundesgesundheits-
ministerium.de/service/
begriffe-von-a-z/b/be-
wegungsempfehlungen.
html; 2016 IMS recommen-
dations on women’s midlife
health and menopause
hormone therapy;
The NAMS 2017; ACOG
practice bulletin no. 141:
management of meno-
pausal symptoms 2014)
Hitzewallungen, vasomotorische
Symptome Stimmungsschwankungen,
Schlafstörungen
„Standard-dosis“ von Östrogen allein und
Östrogen plus Gestagen reduzieren signi-
fikant die Häufigkeit und Intensität von
Hitzewallungen am effektivsten, wobei auch
niedrigere Dosierungen für viele Frauen
ausreichend wirksam sind.
Andere Menopause typische Symp-
tome, wie Gelenk- und Muskelschmerzen,
Stimmungsschwankungen Schlafstörungen
Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin
183 8
und sexuelle Dysfunktionen, können sich zz Risikominderung Evidence Level A
ebenfalls verbessern unter einer meno- 55 Colon Karzinom
pausalen Hormontherapie. Evidenz Level A 55 MHT mit Oestrogen und Gestagen min-
North American Menopause Society dern das Risiko für Colon-­Carcinom.
Guidelines, 2012 55 Brust
International menopause Society Guide- 55 Raloxifene mindert das Brustkrebsrisiko.
lines 2013 55 Knochen:
55 Standard-Dosis der MHT mindert
Urogenitales Syndrom der Menopause PMO-Frakturen von Hüfte, Wirbelsäule
Sehr niedrige Dosierungen von vaginalem und nicht vertebrale Frakturen selbst bei
Oestrogen mindern Beschwerden und nor- Frauen ohne Osteoporose. Niedrige Do-
malisieren die vaginale Atrophie. sierungen reichen aus, um die Knochen-
Östrogen vaginal und systemisch redu- masse zu verbessern. Der Benefit bezüg-
zieren die Symptome der überaktiven Blase. lich Knochenmasse und Frakturen
Vaginale Oestrogene mindern die In- verschwindet rasch nach Absetzen der
zidenz von HWIs. Evidenzlevel A Therapie.
55 Estrogen mit und ohne Gestagen ver-
8.6.8.3 Welche gesundheitlichen hindert den frühen postmenopausalen
Risiken hat die Knochendichteverlsut und erhöht die
Patientin ?(Anamnese, Knochenmasse in der späten Menopause
Untersuchungsbefunde, so effektiv wie Biphosphonate.
Screening, Lifestyle- 55 E nd E/P mindern signifikant Hüft-
Faktoren) frakturen und vertebrale Frakturen.
55 Tibolone reduziert signifikant vertebrale
Die häufigsten Risikofaktoren sind:
und nichtvertebrale Frakturen bei über
55 Rauchen
60-jährigen Frauen mit Osteoporose.
55 Alkohol
55 Raloxifene verbessert die Knochendichte
55 Bewegungsmangel
und reduziert die Häufigkeit vertebraler
55 Übergewicht
Frakturen, aber nicht von Hüftfrakturen.
55 Bluthochdruck
55 Hyperlipidämie
zz Risikominderung Evidence Level B
55 Osteopenie, Osteoporose
55 Koloncarcinom
55 Familienanamnese Carcinome
55 Tibolone ist mit einer Reduktion von
Colon-Carcinom assoziiert
8.6.8.4  elche dieser Risiken
W 55 Brust
würden durch eine MHT mit 55 E allein für weniger als 5 Jahre reduziert
möglicherweise das Brustkrebsrisiko bei
welcher Wahrscheinlichkeit
Frauen, welche E viele Jahre nach Ein-
günstig beeinflusst werden,
tritt der Menoapuse einnehmen.
und welche Risiken würden 55 Tibolone reduziert die Inzidenz von neu
durch eine MHT mit welcher auftretenden Manmacarcinomen.
Wahrscheinlichkeit erhöht 55 Endometrium
werden? 55 Sequentielle E plus P Therapie mindert
Die ärztliche Information und Beratung das Risiko für Endometrium-Carcinom
sollte sich auf die evidenzbasierten Guide- im Vergleich zur alleinigen Oestrogen-
lines der Fachgesellschaften stützen, wobei gabe, aber etwas weniger als die
die unterschiedlichen Grade der Evidenz kontinuierliche Einnahme von E plus P.
einbezogen werden sollten.
 184 J. Bitzer

55 Vaginale E in einer Dosierung 7,5 bis 55 Möglicherweise niedriges oder kein Ri-
25 g 2-mal pro Woche führt nicht zu siko mit transdermaler Gabe.
einer Hyperplasie des Endometriums. 55 Endometrium
55 Raloxifene reduziert die Inzidenz des 55 E allein ohne G führt zu einer Erhöhung
Endometrium-Carcinoms. der Inzidenz von Endometrium-­
55 Mortalität Carcinomen.
55 MHT war mit einer 40 % Reduktion der 55 Tibolone führt nicht zur endometrialen
Mortalität assoziiert bei den Frauen, die Hyperplasie oder zum Endometrium-­
bei Behandlungbeginn unter 60 Jahren Carcinom.
waren oder innerhalb von Jahren nach 55 Brust
der Menopause mit der MHT anfingen. 55 E und E/P führen zu einer Zunahme der
55 Metabolismus Brustdichte in der Mammographie.
55 E und EP ist mit einer Minderung des 55 Tibolone erhöht das Risiko für ein Rezi-
Risikos für Diabetes assoziiert. div eines Mammacarcinoms.
55 Beginn einer MHT ist assoziiert mit 55 Gallenblase
einer geringeren Akkumulation von Fett. 55 E und E plus G erhöhen das Risiko für
55 Gelenke Gallensteine und Cholecystitis.
55 E übt einen positiven Effekt auf die
8 Osteoarthritis aus. zz Risikoerhöhung Evidence Level B
55 E reduziert die Rate von arthro- 55 Brustkrebs
plastischen Eingriffen. 55 Östrogene erhöhen das Risiko für Brust-
krebs nach mehr als 5 Jahren An-
Evidence suggests that estrogen therapy wendung, besonders in Frauen kurz
may be cardioprotective if started around nach der Menopause.
the time of menopause and may be harmful 55 Kombinierte E/P-Therapie erhöht das
if started more than 10 years after meno- Risiko für invasives Mammacarcinom
pause (Baber et al. 2016; Manson et al. 2013; nach 3–5 Jahren Anwendung und nimmt
Hodis et al. 2015; Boardman et al. 2015). mit der Dauer der Therapie zu.
55 Das erhöhte Brustkrebsrisiko ver-
zz Die Risikoerhöhung Evidence Level A schwindet 3–5 Jahre nach Ende der The-
55 Venöse Thrombose Embolie rapie und passt sich dem Risiko von
55 Menopausale Hormon Therapie (MHT) Nicht-­Anwenderinnen an.
erhöht das Risiko thromboemoblischer
Ereignisse um den Faktor 2 und wirkt zz Risikoerhöhung Evidence Level C
multiplikativ mit anderen Baseline-­ 55 Gallenblase
Risiken, wie Alter, BMI, Thrombophilie, 55 Geringeres Risiko bei transdermaler The-
Chirurgie und Immobilisation. rapie im Vergleich zur oralen Therapie.
55 Raloxifene erhöht das Risiko für throm- 55 VTE
boemblische Erkrankungen. 55 Transdermale Therapie führt nicht zu
55 Niedriges oder kein Risiko mit transder- einer Risikoerhöhung für VTE.
maler Oestrogengabe. 55 Schlaganfall
55 Schlaganfall 55 Niedrigdosierte Estrogentherapie führt
55 Tibolone erhöht das Risiko für Schlag- nicht zu einer Erhöhung des Schlagan-
anfall bei älteren, aber nicht bei jüngeren fallrisikos.
Frauen. 55 Brust
55 Keine Erhöhung des Schlaganfallrisikos 55 Im linearen Modell zeigt sich ein 3 % er-
bei Raloxifen. höhtes Risiko pro Jahr Therapie bei dün-
Alterungsprävention in der Gendermedizin: Frauenmedizin
185 8
nen Frauen und ein geringeres Risiko bei 55 Das Antihypertensivum Clonidin redu-
adipösen Frauen. ziert vasomotorische Symptome (höhere
55 Neue Studien zeigen, dass möglicher- NW-Quote).
weise Progesteron und vielleicht auch
Dydrogesterone in Kombination mit Prävention chronischer Erkrankungen
Östrogen nicht zu einer Risikoerhöhung (siehe oben)
führt bei einer Einnahmedauer bis zu 55 Statine, Metformin, Aspirin, Calcium,
fünf Jahren. Vitamin D

Sexuelle Funktion und allgemeine

8.6.8.5 Welche Behandlung­ Lebensqualität (Stute et al. o. J.)
salternativen bestehen 55 Tibolon verbessert die sexuelle Funktion
in Bezug auf 55 Physiologische Dosen von transderma-
Symptome und Beschwerden lem Testosteron erhöhen die Zahl selbst
((Manson et al. 2019), (Alder et al. berichteter sexuell befriedigender Erleb-
2006), (Birkhaeuser et al. 2019)) nisse pro Monat und stiegern die Lust,
55 Cognitive behavioral therapy (CBT) Ko- die Erregung, Orgasmus und sexuelle
gnitive Verhaltenstherapie reduziert Responsiveness.
signifikant Hitzewallungen 55 DHEA verbessert die sexuelle Funktion
55 Isoflavone (Phytoöstrogene) Soja-­ nicht.
Isoflavone können Hitzewallungen redu-
zieren. Es werden 50–60 mg Isoflavone/ Durch diese individualisierte Beratung
Tag oder mind. 30 mg Genistein/Tag soll die Patientin darin unterstützt werden,
empfohlen. ein möglichst langes Leben in gutem Gesund-
55 Die Traubensilberkerze (Cimicifuga ra- heitszustand zu erreichen. Es bleibt aber der
cemosa) zählt zu den am häufigsten ver- Patientin überlassen, wie sie für sich selbst
wendeten Phytotherapeutika zur Be- Gesundheit in einem umfassenden Sinn de-
handlung von menopausalen finiert und welchen Weg sie beschreiten will,
Hitzewallungen. Als Wirkmechanismen um gesund zu bleiben.
werden SERM-ähnliche, anti- oxidative, Wir Ärzte haben das Privileg, die sich
anti-inflammatorische und serotonerge uns anvertrauenden Frauen auf diesem Weg
Effekte diskutiert. (Bitzer et al. 2014) über das Leben hinweg zu begleiten.
Zur Wirksamkeit liegen widersprüch-
liche Ergebisse vor. Eine Cochrane-­
Analyse zeigte keinen Unterschied zu Literatur
Placebo, aber mehrere kleine Studien
fanden eine Reduktion von Hitze- ACOG committee opinion no. 762: prepregnancy
counseling (2019) Obstet Gynecol 133:e78
wallungen beim Vergleich zu Placebo. ACOG practice bulletin no. 141: management of
55 SSRI und SNRI reduzieren im Vergleich menopausal symptoms (2014) Obstet Gynecol
zu Placebo signifikant Hitzewallungen. 123:202. Reaffirmed 2018
Dies gilt auch für Frauen mit Brustkrebs. Alder J, Bitzer J (2005) Die Frau mit Problemen rund
(Cave: Paroxetin bei Frauen unter Tamo- um die Sexualität. In: Riecher-Rössler A, Bitzer J
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55 Gabapentin reduziert signifikant Hitze- Alder J, Bitzer J (2018) In: Köhle H, Joraschky K,
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 189 9

Das Altern des Mannes

F. Saad

Inhaltsverzeichnis

9.1 Testosteron: das wichtigste Androgen – 190

9.2 Androgenrückgang beim alternden Mann – 191

9.3 Testosteronmangel – 192

9.3.1  ormwerte und Leitlinien – 192
N
9.3.2 Symptome – 193
9.3.3 Diagnostik – 193
9.3.4 Behandlungsoptionen – 194

9.4 Effekte der Testosterontherapie – 195

9.4.1  ielsetzung – 195
Z
9.4.2 Patienten mit Adipositas – 195
9.4.3 Patienten mit Diabetes – 197
9.4.4 Patienten mit Metabolischem Syndrom – 199
9.4.5 Patienten mit LUTS – 200
9.4.6 Patienten mit erektiler Dysfunktion – 201
9.4.7 Auswirkung auf die Lebensqualität – 202

9.5 Mögliche Risiken einer Testosterontherapie – 202

9.5.1  rostatakarzinom – 202
P
9.5.2 Kardiovaskuläre Erkrankungen – 203

9.6 Die optimale Testosterontherapie – 204

Literatur – 205

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 190 F. Saad
Trailer
Der Alterungsprozess des Mannes be-
inhaltet eine kontinuierliche Verringerung
der Androgenproduktion, die zu einem
Testosteronmangel führen kann. Erniedrigte
Testosteronspiegel treten dabei auffällig oft
assoziiert mit chronischen Krankheiten wie
Adipositas, dem metabolischen Syndrom,
Typ-2-Diabetes und Dyslipidämie auf. Die
kausale Wechselwirkung zwischen Hypo-
gonadismus und altersassoziierten Komor-
biditäten erfordert daher eine komplexe Be-
trachtung.
Eine medizinisch indizierte und ärztlich
begleitete Testosterontherapie stellt eine si-
chere und effektive Behandlungsmethode für
hypogonadale Männer dar. Mit der Rück-
führung des Testosteronspiegels in den Norm-
bereich können die Testosteronwirkungen im
Organismus wieder greifen, sodass es zu einer
9 Wiederherstellung der ursprünglichen bio-
chemischen Gleichgewichte kommt. In einer
Langzeittherapie erfolgt eine kontinuierliche
Verbesserung der anthropometrischen und
metabolischen Parameter, sodass die ent-
sprechend assoziierten chronischen Krank-
heiten deutlich vermindert werden.
Jeder Mensch unterliegt dem Altern als
einem fortschreitenden, nicht umkehrbaren
physiologischen Prozess, der sich durch pro-
gressives Nachlassen bis hin zum Verlust
verschiedener Körperfunktionen bemerkbar
macht. Individuelle Ausprägungen des
Alterungsprozesses finden sich in Abhängig-
keit der genetischen Veranlagung, der jewei-
ligen Umwelteinflüsse, der Lebensgestaltung
und Ernährung.
Altersbedingte Veränderungen fin-
den sich gleichermaßen bei Männern wie
Frauen bezüglich der Sinnesorgane, des
Hormonsystems, Herz-Kreislauf-Systems,
Atemtrakts, Urogenitaltrakts, Immun-
systems, Stütz- und Bewegungsapparats und
des Nervensystems. Geschlechtsspezifische
Unterschiede sind vor allem im Bereich der
Hormonveränderungen zu finden, das heißt
der Abnahme des Östrogenspiegels bei der
Frau bzw. der Abnahme der Androgen-
produktion, hier insbesondere des Testos-
teronspiegels beim Mann. Im Gegensatz zu
dem raschen Abfall des Östrogenspiegels
bei der Frau (Menopause) findet beim
Mann eine kontinuierliche Verringerung
der Androgene statt. Durch diesen allmäh-
lichen Hormonabbau werden daraus resul-
tierende Alterungseffekte vom Mann oft nur
allgemein und diffus als alterungsbedingter
Abbau verstanden. Symptome einer hor-
monellen Umstellung wie Abnahme der
Muskelmasse und Zunahme des Bauch-
fetts, Antriebslosigkeit und Nachlassen der
Libido können so unter Umständen bis zu
einem kritischen Maß und darüber hinaus
missverstanden und als schleichender Pro-
zess unbehandelt bleiben. Meist erst mit
zunehmender Anzahl und Schwere von
Komorbiditäten kommen Männer mit ent-
sprechenden Symptomen in die ärztliche
Praxis. Der potenzielle Hintergrund eines
Hormondefizits sollte aus ärztlicher Sicht
daher stets als Teil einer komplexen Diag-
nose untersucht und berücksichtigt werden.
9.1  estosteron: das wichtigste
T
Androgen
Die männlichen Sexualhormone (Andro-
gene) steuern beim Mann die Ausprägung
und Aufrechterhaltung der primären und
sekundären Geschlechtsmerkmale und die
Spermatogenese. Man unterscheidet zwi-
schen schwach wirksamen Androgenen
(Androstendion, Dehydroepiandrosteron
[DHEA], Dehydroepiandrosteronsulfat
[DHEAS]) und stark wirksamen Andro-
genen (Testosteron, 5α-Dihydrotestosteron
[DHT]). Das qualitativ und quantitativ
wichtigste Androgen für den Mann ist Tes-
tosteron.
Testosteron wird beim Mann über-
wiegend in den Leydig-Zwischenzellen des
Hodens (>95 %) und zum geringen Anteil in
der Nebennierenrinde (5 %) aus dem Grund-
stoff Cholesterin gebildet. Das luteinisie-
Das Altern des Mannes
rende Hormon (LH), das pulsatil aus der
Hypophyse sekretiert wird, stimuliert die
Testosteronsekretion aus den Leydig-Zellen.
Mit zunehmender Konzentration im Plasma
hemmt Testosteron im Sinne einer negativen
Rückkopplung die LH-Sekretion aus der
Hypophyse.
Das Gesamttestosteron im Blut liegt nur
zu etwa 2 % als freies Testosteron vor, wäh-
rend der weitaus größere Teil zu etwa zwei
Dritteln an das sexualhormonbindende
Globulin (SHBG) und etwa einem Drittel
an Albumin gebunden ist.
Die zahlreichen biochemischen Aufgaben
und Wirkungen des Testosterons im Organis-
mus umfassen unter anderem die Blutbildung
(Hämatopoese), den Aufbau der Muskula-
tur, den Fettstoffwechsel und Knochenstoff-
wechsel. Die Funktion des Testosterons bei
der Hämatopoese liegt in der Stimulierung
der Erythropoese. Dieser Einfluss des Testos-
terons nimmt mit steigendem Alter zu, so-
dass altersbedingt niedrige Testosteronwerte
somit einen Risikofaktor für Anämie dar-
stellen können (Coviello et al. 2008; Ferruci
et al. 2006). Über die Stimulierung der
RNA-Systeme im Zellkern steigert Testoste-
ron die für den Muskelaufbau erforderliche
Proteinsynthese. Auch im Fettstoffwechsel
nimmt Testosteron eine Schlüsselstellung ein:
Die Anzahl der Rezeptoren für Adrenalin
und Noradrenalin, die für den Abbau der
Fettzellen verantwortlich sind, ist vom Tes-
tosteronspiegel abhängig. Liegt bei einem
niedrigen Testosteronspiegel nur ein geringer
Gehalt an diesen Rezeptoren vor, kann auch
der Fettzellenabbau nur in geringem Maß er-
folgen. Auf den Knochenstoffwechsel wirkt
Testosteron über die Stimulierung der
knochenaufbauenden Osteoblasten und
Hemmung der knochenabbauenden Osteo-
klasten und ist damit am Aufbau und Erhalt
der Knochendichte beteiligt. Weitere Ein-
flussbereiche des Testosterons betreffen das
Verhalten (Vitalität, Ausdauer, Aggression),
die Kognition und Libido.
191 9
TESTOSTERONWIRKUNGEN IM
ORGANISMUS
Hämatopoese (Erythropoese)
Knochenstoffwechsel (Knochenwach­
stum, Knochendichte)
Fettstoffwechsel (Abbau von Fettzellen)
Proteinsynthese (Muskelaufbau)
Gehirn (Stimmung, Kognition, Libido)
Geschlechtsorgane (Sexualität, Viri­lität)
9.2 Androgenrückgang beim
alternden Mann
Die Androgenproduktion steigt während
der Pubertät steil an und erreicht etwa im
dritten Lebensjahrzehnt ihr Maximum. Ab
der dritten bis vierten Lebensdekade sinkt
der Gesamttestosteronspiegel durchschnitt-
lich um 1–2 % jährlich. Aufgrund der gleich-
zeitigen altersbedingten Zunahme an SHBG
sinkt dabei der Wert an freiem Testosteron
in weit stärkerem Maß um etwa 2,5–3 %
jährlich (Travison et al. 2007; Araujo et al.
2011). Diese Entwicklung verläuft langsam
und individuell stark unterschiedlich und
entspricht einem natürlichen Alterungs-
prozess, kann allerdings bei zu starkem Ab-
sinken des Testosteronspiegels zu einem
Hypogonadismus führen. Im Gegensatz
zum „klassischen“ Hypogonadismus gona-
dalen bzw. hypothalamisch-­ hypophysären
Ursprungs (primärer bzw. sekundärer
Hypogonadismus) spricht man bei den ent-
sprechenden klinischen Symptomen des al-
ternden Mannes von einem funktionellen
Hypogonadismus. Denn der sich im Alter
einstellende Testosteronmangel tritt auf-
fällig oft assoziiert mit chronischen Krank-
heiten wie Adipositas, dem Metabolischen
Syndrom, Typ-2-Diabetes und Dyslipidä-
mie auf.
Die Angaben zur Prävalenz eines alters-
assoziierten Hypogonadismus schwanken je
nach untersuchter Population. In groß an-
 192 F. Saad

gelegten epidemiologischen Studien wie der und erreicht ihr Maximum am Morgen.
European Male Aging Study (EMAS) oder Daher sind die genannten Grenzwerte auf
des Boston Area Community Health die morgendlichen Werte bezogen zu ver-
(BACH) Survey, die auf einer zufälligen, stehen. Allerdings müssen bei der Aus-
nicht auf den Gesundheitszustand aus- wertung auch die Grenzwerte des unter-
gerichteten Population basieren, wurde bei suchenden Labors berücksichtigt werden,
zwischen 5 % und 18 % der über 70-jährigen dessen Normbereiche geringfügig abweichen
Männer ein symptomatischer Hypo- können.
gonadismus festgestellt (Wu et al. 2010;
Araujo et al. 2007). Bei Patienten mit alters-
>>GRENZWERTE TESTOSTERON
assoziierten Komorbiditäten liegen dagegen
weitaus höhere Prävalenzen vor. So tritt bei Gesamttestosteron: 12 nmol/L
über 45-jährigen Patienten mit Typ-­ 2-­ freies Testosteron: 243 pmol/L
Diabetes und/oder Adipositas-Hypo-
gonadismus mit einer Prävalenz von bis zu
60 % auf (Dhindsa et al. 2004; Mulligan
et al. 2006). Mit zunehmendem Body-Mass- In europäischen und amerikanischen Leit-
Index (BMI) steigt zudem die Wahrschein- linien verschiedener Fachrichtungen wird
lichkeit eines Hypogonadismus. In einer der Zusammenhang zwischen Hypo-
Querschnittsstudie konnte der Anstieg der gonadismus und Komorbiditäten betont. So
9 Prävalenz eines Testosteronmangels von 7 % wird beispielsweise in der S3-Leitlinie zur
der Männer mit einem BMI <30 kg/m2 auf Prävention und Therapie der Adipositas der
32 % der Männer mit BMI ≥30 kg/m2 bis Deutschen Adipositas-­ Gesellschaft darauf
hin zu 75 % der Männer mit BMI ≥40 kg/m2 hingewiesen, dass ein erniedrigter Testoste-
gezeigt werden (Luconi et al. 2013). ronspiegel bei Männern mit Übergewicht
Der Zusammenhang zwischen dem bzw. Adipositas assoziiert ist (Deutsche
altersassoziierten Hypogonadismus und Adipositas-­Gesellschaft 2014). In der Clini-
Komorbiditäten, deren Inzidenz natur- cal Practice Guideline der Endocrine So-
gemäß im Alter höher ist, erfordert im klini- ciety wird der funktionelle Hypogonadismus
schen Alltag eine komplexe, interdisziplinäre in kausalem Zusammenhang mit u. a. Adi-
Betrachtung und Behandlung. positas und altersassoziierten Komorbiditä-
ten klassifiziert (Bhasin et al. 2018). Die
Leitlinie Männlicher Hypogonadismus der
9.3 Testosteronmangel European Association of Urology (EAU)
weist darauf hin, dass bei Männern mit
9.3.1 Normwerte und Leitlinien Übergewicht, Typ-­ 2-­
Diabetes und meta-
bolischem Syndrom aufgrund der großen
Die Referenzbereiche für den Testosteron- Wahrscheinlichkeit eines Testosteron-
spiegel wurden aus großen Stichproben aus mangels eine Bestimmung des Testosteron-
der Allgemeinbevölkerung bestimmt und spiegels und gegebenenfalls eine ent-
sind in verschiedenen Richtlinien verankert. sprechende Behandlung erfolgen sollte
Nach allgemeiner Übereinstimmung gelten (Dohle et al. 2018). Die Richtlinien der
als untere Grenzwerte 12 nmol/L für American Association of Clinical Endocri-
Gesamttestosteron und 243 pmol/L für nologists (AACE) and American College of
freies Testosteron (Dohle et al. 2018; Dean Endocrinology (ACE) enthalten die Emp-
et al. 2015). Die Testosteronsekretion folgt fehlung, bei allen Männern mit Adipositas
dem 7 zirkadianen Rhythmus von 7 LH und erhöhtem Bauchumfang und/oder
Das Altern des Mannes
193 9
­ iabetes generell eine Untersuchung auf
D tretens eindeutig im Zusammenhang mit
Testosteronmangel vorzunehmen und ge- niedrigen Testosteronspiegeln. Die sorg-
gebenenfalls eine Testosterontherapie einzu- fältige Erfassung und Bewertung der Symp-
leiten (Garvey et al. 2016). Seit 2018 emp- tome ist daher die Grundlage für einen klini-
fehlen die Richtlinien der American schen Verdacht, der die Voraussetzung für
Diabetes Association die Messung der die Bestimmung des Testosteronwertes
Testosteronwerte bei Männern mit Diabetes ­darstellt.
und der Symptomatik eines Hypo-
gonadismus (ADA 2018).
TESTOSTERONMANGEL – SYMPTOME
9.3.2 Symptome • Muskelabbau • Vitalitätsverlust
• Viszerale • Energie-/
Der Androgenmangel des alternden Man- ­Fettleibigkeit Motivationsverlust
nes macht sich mit klinischen, sexuellen und
• Osteopenie/ • Stimmungs-
kognitiv-psychovegetativen Symptomen be-
Osteoporose schwankungen
merkbar. Zu den spezifischen Symptomen
gehören die Abnahme von Muskelmasse • Libidoverlust • Schlafstörungen
und Muskelkraft bei gleichzeitiger Zunahme • erektile • verminderte kognitive
des viszeralen Fettgewebes (Bauchumfang), ­Dysfunktion Funktion
Osteopenie oder Osteoporose mit ge- • milde Anämie
gebenenfalls osteoporotischer Fraktur- • Metabolisches
historie, eine milde Anämie, Abnahme von Syndrom
Libido und sexueller Aktivität und erektile • Insulinresistenz/
Typ-2-Diabetes
Dysfunktion. Daneben können auch un-
spezifische Symptome auftreten, wie das
Nachlassen der körperlichen und geistigen
Vitalität, Verminderung der Energie und
Motivation, verminderte kognitive Funk- 9.3.3 Diagnostik
tion, Stimmungsschwankungen und Schlaf-
störungen. Als weitere Anzeichen sind das Für die Diagnose eines Testosteronmangels
Vorliegen eines metabolischen Syndroms ist der Patient zunächst auf entsprechende
mit den Komponenten abdominelle Adipo- persistierende Symptome und Anzeichen,
sitas, Hypertonie, Dyslipoproteinämie und die für das Vorliegen eines Hypogonadismus
Insulinresistenz sowie Typ-2-Diabetes auf- sprechen, zu untersuchen. Die Anamnese
zuführen, da diese Komorbiditäten auf- erfolgt als Befragung des Patienten, gefolgt
fallend häufig mit einem Testosteronmangel von einer körperlichen Untersuchung.
assoziiert auftreten. Neben der Begutachtung von Körper-
Die Beeinträchtigungen der körperlichen behaarung, Habitus und äußerem Genital
und geistigen Vitalität wie auch der sexuel- wird auf androgenetische Alopezie und
len Funktionen sind beim alternden Mann Gynäkomastie untersucht, ferner wird eine
oft multifaktorieller Genese. Aufgrund der Größen- und Konsistenzbestimmung der
physiologisch phänotypischen Variation der Hoden und eine rektale Untersuchung der
Symptome und Anzeichen kann sich ein Prostata vorgenommen. Sind eindeutige
stark variables klinisches Bild ergeben. Die Symptome und Anzeichen vorhanden, sollte
Symptome können zudem unspezifisch und der Gesamttestosteronspiegel zweimal im
wie normale Alterserscheinungen wirken. Abstand von mindestens einer Woche labor-
Allerdings steigt die Häufigkeit ihres Auf- technisch bestimmt werden.
 194 F. Saad

Für die Laboruntersuchung muss der zir- heiten des Patienten angestrebt wird. Neben
kadiane Rhythmus der Testosteron- einem erweiterten Gesundheitsbewusstsein
produktion mit resultierendem Peak in den als Unterstützungs- und Präventionsmaß-
Morgenstunden berücksichtigt werden. Die nahme gehören hierzu insbesondere die
morgendlichen Blutproben sollten zwischen Steigerung körperlicher Aktivität und eine
7 und 11 Uhr entnommen werden (Dohle Ernährungsumstellung zur Verringerung
­ estosterons von Übergewicht.
et al. 2018). Der Anteil des freien T
wird in der Regel über den Gehalt an Für eine Testosteronbehandlung stehen
Gesamttestosteron und SHBG berechnet, da unterschiedliche Präparate zur Verfügung.
die direkte Bestimmung des freien Testoste- In Deutschland sind alle Präparate zur ora-
rons im klinischen Alltag sehr aufwändig ist. len, transdermalen und intramuskulären
Resultieren aus der Untersuchung grenz- Anwendung verschreibungspflichtig.
wertige Testosteronspiegel, sollte die Blut- Die orale Darreichungsform bietet als
entnahme nach 2–4 Wochen wiederholt wer- dreimal täglich einzunehmende Kapsel zwar
den, um das Ergebnis zu validieren. eine leichte Handhabung. Aufgrund der
Als untere Grenzwerte für den Testoste- kurzen Halbwertszeit und der raschen Ab-
ronspiegel, bei dessen Unterschreiten von sorption des Wirkstoffes im Gastro-
einem Hypogonadismus ausgegangen wer- intestinaltrakt, aus der die Notwendigkeit
den muss, gibt die EAU-Leitlinie Männ- einer gleichzeitigen Aufnahme fetthaltiger
licher Hypogonadismus 12 nmol/L für Nahrung folgt, kommt es allerdings zu gro-
9 Gesamtserumtestosteron und 243 pmol/L ßen intra- und interindividuellen
für freies Testosteron an (Dohle et al. 2018). Schwankungen der Bioverfügbarkeit, so-
Sind entsprechende persistierende An- dass der klinische Nutzen nicht zufrieden-
zeichen und Symptome für einen Hypo- stellend gegeben ist. Darüber hinaus kann es
gonadismus vorhanden, und weist der Pa- zu einer Belastung der Leber kommen.
tient einen Testosteronspiegel unterhalb des Daher wird diese Darreichungsform nicht
Grenzwertes auf, kann die Indikation für mehr oft eingesetzt.
eine Testosterontherapie gestellt werden. Transdermal wird Testosteron in Form
Voraussetzung ist dabei der Ausschluss von eines Hautpflasters oder Gels einmal täglich
Kontraindikationen wie Prostata- und verabreicht und bietet dem Patienten eben-
Mammakarzinom, unklarer Prostata-­falls eine einfache Anwendungsform. Die
Befund, PSA-Wert >4 ng/ml, Polyzythämie regelmäßige tägliche Anwendung ist eine
und hochgradige, unbehandelte obstruktive Voraussetzung für das Erreichen eines kons-
Schlafapnoe. tanten Testosteronspiegels. Nachteilig ist,
Während der Testosterontherapie sind dass der Wirkstoff versehentlich abgewischt
regelmäßige urologische Kontrollunter- werden kann, ferner können Haut-
suchungen und insbesondere Vorsorgeunter- irritationen am Applikationsort auftreten.
suchungen auf Prostatakrebs durchzu- Zudem besteht die Gefahr von einer Haut-­
führen. zu-­Haut-Übertragung an Dritte.
Die häufigste Anwendungsform ist die
intramuskuläre Injektion als Depotpräparat,
9.3.4 Behandlungsoptionen das je nach Präparat eine unterschiedliche
Depotdauer aufweist. Kurzzeitdepots (Wirk-
Der Testosteronmangel kann mit einer stoff Testosteronenanthat), die alle 10–14 Tage
Testosterontherapie erfolgreich behoben verabreicht werden, führen zu relativ stark
werden. Diese Therapie ist allerdings als Teil schwankenden Testosteronspiegeln. Lange
eines ganzheitlichen Konzepts zu sehen, mit wirksame Depotpräparate (Wirkstoff Testos-
dem eine Umstellung der Lebensgewohn- teronundecanoat) werden dagegen zunächst in
Das Altern des Mannes
einer Aufsättigungsphase im Abstand von
sechs Wochen verabreicht und müssen an-
schließend nur alle drei Monate verabreicht
werden. Auf diese Weise werden stabile Tes-
tosteronspiegel erreicht, sodass diese Ver-
abreichungsform derzeit als ­Goldstandard ge-
sehen wird. Die Verabreichung der
intramuskulären Injektion durch den Arzt
bietet zudem die Sicherstellung einer Compli-
ance, die bei den vom Patienten selbst verab-
reichten oralen und transdermalen Formen
nicht unbedingt gegeben ist.
195 9
chemischen Gleichgewichte, die sich aus der
Rückführung des Testosteronspiegels in den
Normalbereich ergeben, erfordert zunächst
das Erreichen eines konstant stabilen Tes-
tosteronlevels. Positive Auswirkungen der
Therapie auf Komorbiditäten, die sich ja
meist über viele Jahre hinweg manifestiert
haben, zeigen zudem ihre Nachhaltigkeit
erst nach Jahren kontinuierlicher Therapie.
9.4.1 Zielsetzung

Das Ziel einer Testosterontherapie ist zu-

nächst die Wiederherstellung und Aufrecht-
TESTOSTERONTHERAPIE – erhaltung physiologischer Testosteronspie-
ANWENDUNGSFORMEN gel. Das übergeordnete Therapieziel ist
oral Anwendung durch Patient dabei die Wiederherstellung der androgen-
abhängigen Funktionen, eine adäquate Be-
schwankende Bioverfügbar-
keit
handlung der assoziierten Komorbiditäten
und gleichzeitig die Unterstützung der Kor-
Belastung der Leber rektur relevanter Faktoren des Lebensstils,
transdermal Anwendung durch Patient insbesondere einer Gewichtsreduktion und
Hautirritationen
Verstärkung der körperlichen Aktivität.

Gefahr der Übertragung an

Dritte
9.4.2 Patienten mit Adipositas
i. m. Injektion Anwendung unter ärztlicher
Kontrolle Adipositas ist mit einem hohen meta-
hohe Verträglichkeit bolischen und kardiovaskulären Gesund-
Langzeit-Depot: stabiler
heitsrisiko verbunden. Insbesondere ist die
Testosteronspiegel Assoziation mit Störungen des Kohlen-
hydratstoffwechsels, Dyslipoproteinämie,
hohe Compliance
Störungen der Hämostase, kardiovaskulären
Erkrankungen, Nierenerkrankungen, pul-
monalen Komplikationen und gastro-
intestinalen Erkrankungen zu beachten. Die
9.4 Effekte der im Zusammenhang mit Adipositas erhöhte
Testosterontherapie Morbiditäts- und Mortalitätsrate ist also
nicht direkt kausal auf die Adipositas
Die Effekte einer Testosterontherapie bei zurückzuführen, sondern vielmehr auf die
symptomatischem Hypogonadismus sind in mit der Adipositas assoziierten Komorbidi-
der Literatur mit zahlreichen Studien unter- täten. Übergeordnetes Therapieziel ist die
schiedlicher Laufzeit sowie mit Meta-­ Reduktion des Morbiditäts- und Mortali-
Analysen belegt. Die Dauer der Studien ist tätsrisikos, aber auch die Verstärkung einer
für eine aussagekräftige Beurteilung der Ef- Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und
fekte naturgemäß von großer Bedeutung. die Vermeidung von Immobilität und Pflege-
Die gewünschte Einstellung der bio- bedürftigkeit sind Ziele.
 196 F. Saad
Mit zunehmendem Alter nimmt die Prä-
valenz von Übergewicht und Adipositas
merklich zu. Bezogen auf Adipositas bei
Männern ergab ein im Jahr 2003 vom Ro-
bert Koch-­ Institut in Deutschland durch-
geführter Gesundheitssurvey einen Anstieg
von 4 % in der jüngsten Altersgruppe (18–29
Jahre) bis auf 24 % in der Altersgruppe der
45- bis 64-jährigen Männer. Bei den über
65-­jährigen Männern nahm die Prävalenz
nur geringfügig auf 23 % ab, sodass immer
noch fast jeder vierte Mann Adipositas auf-
wies (Kuntz und Lampert 2010). Ursäch-
liche Risikofaktoren für die Entwicklung
der Adipositas können biologischer, psycho-
sozialer und umweltbedingter Natur sein.
Vorrangig anzustrebendes Ziel ist stets
die nachhaltige Reduktion des Über-
gewichts und damit die Verringerung der as-
soziierten Risikofaktoren und Krankheiten.
9 Aus der Praxis ist allerdings bekannt, dass
eine nachhaltige Gewichtsreduktion nur
selten gelingt. Ein möglicher Grund für
den Nichterfolg einer Gewichtsreduktion
kann ein verdeckter Testosteronmangel
sein, denn Adipositas und Testosteron-
mangel sind über eine negative Kausalkette
miteinander verknüpft. Niedrige Testos-
teronspiegel verringern die Fähigkeit zum
Aufbau von Muskelmasse, und es entsteht
stattdessen zunehmend Fettgewebe. Im
viszeralen Fettgewebe als einem endokrin
hochaktiven Organ werden Leptin und pro-
inflammatorische Zytokine gebildet. Eine
erhöhte Produktion dieser Botenstoffe för-
dert eine Insulinresistenz. Leptin ist zudem
für die Regulierung von Fettaufbau und
Fettverteilung verantwortlich. Eine Zu-
nahme an Leptin resultiert in einer Zunahme
der Fettmasse, insbesondere des viszeralen
Fetts. Hohe Leptinspiegel senken zudem die
Testosteronproduktion im Hoden, sodass
mit diesem negativen Kreislauf ein bereits
vorhandener Testosteronmangel weiter ver-
stärkt wird.
Mit einer Testosterontherapie wird
die negative Wechselwirkung zwischen
Testosteronmangel und viszeralem Fett auf-
gehoben. Über die Wiederherstellung eines
physiologischen Testosteronspiegels wird der
Abbau von Fettmasse unter gleichzeitigem
Aufbau von Muskelmasse gefördert. Die
einsetzende Gewichtsreduktion im Zu-
sammenhang mit den psychotropen Effek-
ten des Testosterons erhöht die Vitalität und
Energie und ermöglicht eine Verstärkung
der körperlichen Aktivität, wodurch eine
weitere Gewichtsreduktion unterstützt wird.
Auf diese Weise können die hohe Rezidiv-
neigung von Übergewicht und Adipositas
verhindert und ein nachhaltiger Gewichts-
verlust erreicht werden.
Die Behandlungserfolge von Adiposi-
tas unter einer Testosterontherapie sind in
zahlreichen Studien dokumentiert. Hier
sind insbesondere die Langzeitstudien
von Interesse, in denen die Nachhaltig-
keit der Gewichtsreduktion belegt wird.
So wurden in einer 5-Jahres-Studie mit 40
hypogonadalen, adipösen Männern signi-
fikante Reduktionen von Gewicht, Bauch-
umfang und Body-Mass-Index (BMI) in der
Gruppe der mit Testosteron behandelten
Männer gezeigt, während die Kontroll-
gruppe nur Schwankungen um die Aus-
gangswerte aufwies (Francomano et al.
2014a und b). In zwei Registerstudien uro-
logischer Praxen mit 8-Jahres-Daten von
mehr als 400 hypogonadalen, adipösen
Männern unter Testosterontherapie wur-
den kontinuierliche Gewichtsreduktionen
dokumentiert, und zwar fortlaufend wäh-
rend des gesamten Beobachtungszeitraums
mit statistischer Signifikanz gegenüber dem
jeweiligen Vorjahr (Saad et al. 2016). Mit
zunehmendem Schweregrad der Adipositas
wurde zudem eine verstärkte Reduktion der
anthropometrischen Parameter beobachtet
(. Abb. 9.1).
Die nachhaltige Gewichtsreduktion
ist auf Fettabbau, insbesondere des visze-
ralen Fetts, zurückzuführen. In placebo-
kontrollierten Studien wurde unter
Testosterontherapie bei älteren Männern
(49–80 Jahre) eine Reduktion der Körper-
fettmasse um bis zu 5,7 kg bei gleichzeitigem
Das Altern des Mannes
197 9

150
140

Baseline Jahr 2 Jahr 4 Jahr 6 Jahr 8

Jahr 1 Jahr 3 Jahr 5 Jahr 7
130

*
*#
120
Gewicht (kg)

*#
*

*#
*#

* p=0.0434
110

* p=0.0160
*#
*#

* p=0.0001

*#
*#

* p=0.0115
* p=0.0001

*#
*
100

*#

*#
*#

70 * p=0.0074
*#

*#
90

*#
214
214
213
207
174
161
139

150
150
146
144
126
124
100
86

67
56

47
46
47
45
45
43
34
28
24
80

Adipositas Grad I Adipositas Grad II Adipositas Grad III

* p<0.0001 vs. baseline; # p<0.0001 vs. Vorjahr; alle anderen p-Werte vs. Vorjahr

..      Abb. 9.1 Gewichtsreduktion hypogonadaler Männer unter Testosterontherapie, aufgesplittet nach Adiposi-
tas-Grad zum Baseline-Zeitpunkt (Saad et al. 2016)

Zuwachs an fettfreier Körpermasse, d. h. Nichtdiabetikern signifikant niedrigere

vorwiegend Muskelmasse, um bis zu 4,8 kg
innerhalb eines Jahres dokumentiert (Svart-
berg et al. 2008; Aversa et al. 2010). Die
Rückführung auf physiologische Testoste-
ronspiegel führt hier – trotz altersbedingtem
Abbau an Muskelmasse – deutlich zu
einer positiven Veränderung der Körper-
zusammensetzung.
9.4.3 Patienten mit Diabetes
Typ-2-Diabetes tritt häufig in Kombina-
tion mit Übergewicht bzw. Adipositas
auf, ist allerdings auffallend häufig auch
mit einem Androgenmangel assoziiert. In
Meta-­Analysen konnte gezeigt werden,
dass Typ-­ 2-­
Diabetiker im Vergleich mit
Testosteronwerte aufweisen (Corona et al.
2010). Mit zunehmendem Alter nimmt die
Wahrscheinlichkeit des Auftretens sowohl
von Testosteronmangel wie auch von Dia-
betes zu. So wird für über 45-jährige Typ-
2-­
Diabetiker ein Hypogonadismus mit
einer Prävalenz von bis zu 60 % berichtet
(Dhindsa et al. 2004; Mulligan et al. 2006).
Andererseits fördert ein niedriger Testos-
teronspiegel eine Insulinresistenz, sodass
ein vorliegender Hypogonadismus auch als
Risikofaktor für die Entwicklung von Typ-­
2-­Diabetes gewertet wird.
Für Diabetiker mit Übergewicht bzw.
Adipositas ist die Reduktion des Körper-
gewichts ein vorrangiges Therapieziel. Wie
bereits gezeigt wurde, ist diese Gewichts-
reduktion im Fall eines vorliegenden Hypo-
 198 F. Saad

gonadismus allerdings kaum nachhaltig er-
reichbar. Mit einer Testosterontherapie
wird für den hypogonadalen Mann da-
gegen die Grundlage für die erforderliche
Korrektur der Körperzusammensetzung
(Fettmasse vs. Muskelmasse) geschaffen.
Eine so ermöglichte intensive Gewichts-
reduktion steht in direkter Korrelation mit
einem Rückgang des Diabetes bis hin zur
Remission.
Die Rückführung des Testosteronspie-
gels in den Normbereich zeigt bei Diabeti-
kern eine direkte Auswirkung auf die
Insulinsensitivität. In Langzeitstudien
konnte gezeigt werden, dass bei hypogona-
dalen Männer die Testosterontherapie
neben einer signifikanten Verbesserung der
Insulinsensitivität auch zu einer signi-
fikanten Verbesserung der Blutzuckerwerte
und des Lipidprofils führte (Francomano
et al. 2014b; Saad et al. 2016). Die Normali-
sierung der Laborwerte kann bis zu einer
Remission des Diabetes führen (siehe Kas-
ten mit einer Fallstudie zur Remission des
Diabetes unter Testosterontherapie).
Die häufig auftretende Kombination von
Hypogonadismus und Typ-2-Diabetes ist
zudem mit einem höheren Mortalitätsrisiko
verknüpft. In verschiedenen Studien konnte
gezeigt werden, dass ein unbehandelter
Hypogonadismus bei Diabetikern zu einer
Verdopplung der Mortalitätsrate führt. Im
Vergleich zu nicht behandelten hypogona-
dalen Diabetikern weisen Diabetiker unter
Testosterontherapie bzw. eugonadale Diabe-
tiker dagegen eine signifikant geringere
Mortalität auf (Hackett et al. 2016; Mura-
leedharan et al. 2013).

9 FALLSTUDIE: REMISSION VON DIABETES UNTER TESTOSTERONTHERAPIE (Haider et al. 2019)

Ein 57-jähriger Mann mit benigner Prostatahyperplasie (BPH) und verschiedenen subjektiven
Beschwerden (erektile Dysfunktion, geringe körperliche Fitness, Erschöpfungszustand) wurde
zum Urologen überwiesen.

Anamnese: Übergewicht (BMI 28,4 kg/m2; Bauchumfang 102 cm); Typ-2-­Diabetes; Bluthoch-
druck.
Die aktuelle Medikation umfasste Metformin, Simvastatin, Acetylsalicylsäure und
Ramipril.
Der Patient zeigte unzureichende Stoffwechseleinstellung und deutliche Insulin-
resistenz.
Der Bluttest ergab einen Gesamttestosteronwert unterhalb des Grenzwerts.
Therapieverlauf: Eine Testosterontherapie mit i. m. Depotinjektionen wurde gestartet.
Die Behandlung und Beobachtungszeit betrug 11 Jahre.
Während der ersten 4 Jahre verlor der Patient kontinuierlich an Gewicht (–10 kg)
und Bauchumfang (–8 cm) und nahm in der Folgezeit nicht wieder zu.
Glukoselevel und Lipidprofil normalisierten sich kontinuierlich, und die Insulin-
resistenz wurde deutlich gesenkt. Blutdruckwerte sanken von Hochdruckwerten auf
normale Werte.
Ergebnis: Aufgrund der Normalisierung der Laborwerte und des Blutdrucks konnte im Verlauf
der Testosterontherapie die Medikation mit Metformin, Ramipril und Simvastatin
zunächst reduziert und schließlich komplett eingestellt werden.

Die Rückführung des Testosteronspiegels zu Normalwerten kann zudem die Progression von
einem prädiabetischen Zustand zu Typ-2-Diabetes verhindern. Dies konnte in einer kontrol-
Das Altern des Mannes
199 9

lierten Studie mit hypogonadalen Männern mit Prädiabetes gezeigt werden, in der unter
Testosterontherapie in einem Beobachtungszeitraum von acht Jahren nicht nur keinerlei Ent-
wicklung zu Diabetes erfolgte, sondern eine signifikante Verbesserung der glykämischen Kon-
trolle. Die unbehandelten Patienten in der Kontrollgruppe zeigten dagegen eine signifikante
Verschlechterung der glykämischen Kontrolle, und 40 % der Patienten entwickelten einen
deutlichen Diabetes im Beobachtungszeitraum (Yassin et al. 2019).

9.4.4 Patienten mit Alterung als signifikante Faktoren für die

Metabolischem Syndrom
Das Metabolische Syndrom ist ein patho-
logisches Konglomerat von Hochrisiko-
faktoren für lebensbedrohliche Erkrankungen
wie Herzinfarkt oder Schlaganfall. Die einzel-
nen Risikofaktoren des Konglomerats sind
Diabetes und erhöhte Werte für Nüchtern-
glukose, Adipositas, hohe Cholesterinwerte
und Bluthochdruck. Die International Dia-
betes Federation legte für Männer folgende
Kriterien für das metabolische Syndrom fest:
BMI >30 kg/m2 und/oder Bauchumfang
>94 cm (Maß für europäische Männer),
Triglyzeride ≥150 mg/dl (oder Behandlung
dieser Störung), HDL-­Cholesterin <40 mg/
dl (oder Behandlung dieser Störung), Blut-
druck ≥130/85 mmHg (oder Behandlung die-
ser Störung) und Nüchternglukose ≥100 mg/
dl (oder behandelter Typ-­2-­Diabetes) (Inter-
national Diabetes Federation 2006). Die
Bündelung der einzelnen metabolischen
Abnormalitäten bei einem Individuum be-
deutet ein substantielles Risiko für kardio-
vaskuläre Erkrankungen, das weit höher als
die Summe der Risiken für jede einzelne Ab-
normalität ist.
Das viszerale Bauchfett kann als Teil-
aspekt des metabolischen Syndroms gesehen
werden bzw. als ursächlicher Auslöser und
Verstärker der anderen Bestandteile des
metabolischen Syndroms wie Fettstoff-
wechsel, Glukosetoleranz und Blutdruck.
Neben der viszeralen Adipositas können ge-
netische Voraussetzungen, Insulinresistenz,
fehlende körperliche Aktivität und auch die
Entwicklung eines metabolischen Syndroms
eine Rolle spielen.
METABOLISCHES SYNDROM
Kriterien 1 BMI >30 kg/m2 und/oder
Bauchumfang >94 cm
Triglyzeride ≥150 mg/dL
HDL-Cholesterin <40 mg/dL
Blutdruck ≥130/85 mmHg
Nüchternglukose ≥100 mg/dL
Auslöser Überernährung
viszerale Adipositas
Insulinresistenz
genetische Voraussetzungen
fehlende körperliche Aktivität
Alterungsprozess
1 dieangegebenen Werte beziehen sich
auf Männer
Viszerale Adipositas als zentrale Kompo-
nente des metabolischen Syndroms ist ins-
besondere beim alternden Mann häufig
mit einem Testosteronmangel assoziiert.
Die Koinzidenz von Hypogonadismus und
metabolischem Syndrom wird daher auch
als hypoandrogenes Metabolisches Syn-
drom bezeichnet (Gould et al. 2007).
Liegt ein Hypogonadismus vor, kann
eine Testosterontherapie das geeignete Mit-
 200 F. Saad
tel für eine nachhaltige Gewichtsreduktion
sein. Als Folge sind signifikante Ver-
besserungen von Fettstoffwechsel und Blut-
druckprofil bis hin zu einer Normalisierung
des Metabolismus zu erwarten. Die Ände-
rung der Körperzusammensetzung bezüg-
lich der Verteilung von Fett- und Muskel-
masse, die Verbesserung des
Glukosestoffwechsels und des Lipidprofils
führen zur Reduktion des metabolischen
Syndroms und damit zur Reduktion einer
kardiovaskulär bedingten Mortalität.
Die positiven Effekte einer Testosteron-
therapie bei hypogonadalen Adipositas-­
Patienten mit metabolischem Syndrom wur-
den in zahlreichen Langzeitstudien
dokumentiert (Francomano et al. 2014a,
2014b; Saad et al. 2016). In Beobachtungs-
zeiträumen von bis zu acht Jahren wurde
eine nachhaltige Verbesserung der anthropo-
9 metrischen Parameter erreicht, und die
metabolischen Parameter konnten in Rich-
tung Normbereich zurückgeführt werden.
So konnten die Parameter des metabolischen
Syndroms und damit das Risiko für lebens-
bedrohliche Folgeerkrankungen deutlich
verringert werden.
9.4.5 Patienten mit LUTS
Der Sammelbegriff LUTS (lower urinary
tract symptoms – Symptome des unteren
Harntraktes) beschreibt einen Komplex kli-
nischer Symptome, die auf Störungen der
Blase, Prostata und Harnröhre zurück-
gehen. Die irritative und/oder obstruktive
Symptomatik umfasst Störungen bei der
Harnsammlung und Blasenentleerung sowie
post-miktionale Störungen.
Vornehmlich treten die Symptome bei äl-
teren männlichen Patienten auf, häufig in
Verbindung mit einer benignen Prostata-
hyperplasie (BPH). Für über 40-jährige
Männer wird LUTS mit einer Prävalenz von
15–60 % angegeben (Parsons 2010). Sowohl
LUTS als auch BPH bleiben in der täglichen
Praxis zunächst oft unentdeckt, weisen aber
einen progredienten Krankheitsverlauf auf.
LUTS ist mit erheblichen physischen und
psychischen Belastungen verbunden und be-
einträchtigt in nicht unerheblichem Maß die
Lebensqualität des Patienten.
BPH mit der damit verbundenen Harn-
abflussstörung ist der häufigste Auslöser von
LUTS. Daneben kommen weitere Krank-
heiten der Prostata (Prostatitis, Prostata-
karzinom), der Harnröhre (Urethritis, Strik-
tur, Karzinom) und der Harnblase (Zystitis,
Harnblasentumor- oder -stein) als Ursache
in Frage. Epidemiologische Daten zeigen
deutlich, dass LUTS häufig assoziiert mit
Adipositas, metabolischem Syndrom, Diabe-
tes und erektiler Dysfunktion auftritt (Par-
sons 2010). Alle genannten Krankheitsbilder
sind wiederum häufig mit einem Testosteron-
mangel verknüpft, sodass auch für LUTS ein
funktionaler Hypogonadismus als Teil eines
kausalen Zusammenhangs in Frage kommt.
Tatsächlich ist Testosteron an den Zell-
mechanismen im unteren Harntrakt beteiligt,
unter anderem an Aufbau und Funktion der
glatten Muskulatur. Zudem hat Testosteron
einen Einfluss auf die Zusammensetzung der
Blasenwand. Ein ausgeprägter Testosteron-
mangel kann zu einem bindegewebigen Um-
bau unter Schwächung der glatten Muskula-
tur führen und zur Verringerung der Dicke
des Urothels. Darüber hinaus nimmt die Ex-
primierung der NO-Synthase ab. Der resul-
tierende Mangel an NO senkt die Relaxations-
fähigkeit der Blase, und der Urinfluss wird
gehemmt (Pradidarcheep 2008).
Aufgrund des beschriebenen Zu-
sammenhangs zwischen LUTS und
Testosteronmangel können hypogona-
dale LUTS-­ Patienten erheblich von einer
Testosterontherapie profitieren. Dabei bringt
die Rückführung des Testosteronspiegels in
den Normbereich nicht nur eine signifikante
Linderung der Beschwerden in Zusammen-
hang mit LUTS, sondern verhindert zu-
dem die altersbedingte Entwicklung dieser
Störungen (Kalinchenko et al. 2008; Saad
et al. 2018; Francomano et al. 2014a; Hai-
der et al. 2018). Darüber hinaus erfolgt in
Das Altern des Mannes
der Langzeittherapie eine kontinuierliche
Verbesserung der anthropometrischen und
metabolischen Parameter, sodass die ent-
sprechend assoziierten chronischen Krank-
heiten deutlich vermindert werden.
9.4.6  atienten mit erektiler
P endothelabhängigen Vasodilatation vor, so
Dysfunktion
Erektile Dysfunktion (ED) ist ein chroni-
sches Krankheitsbild, das als permanente
oder wiederkehrende Unfähigkeit definiert
ist, eine für eine befriedigende sexuelle
Aktivität adäquate Erektion zu erreichen
und aufrechtzuhalten. Voraussetzung für
eine penile Erektion sind zunächst sexuelle
Reize und eine ausreichende Freisetzung des
Botenstoffs Stickstoffmonoxid (NO). In der
Folge kommt es zur Hemmung des Enzyms
Phosphodiesterase Typ 5 (PDE5), das die
Konzentration von zyklischem Guanosin-
monophosphat (cGMP) reguliert. Der An-
stieg von cGMP in den glatten Muskelzellen
des Schwellkörpergewebes führt zu einer Re-
laxation der glatten Muskulatur und einem
verstärkten Bluteinstrom.
Mit zunehmendem Alter steigt die Prä-
valenz einer ED und erreicht das Maximum
zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr. Etli-
che epidemiologische Studien zur Prävalenz
liegen in der Literatur vor, die Ergebnisse
der Schätzungen variieren allerdings je nach
Studiendesign. So ergab eine bundes-
deutsche Studie im Großraum Köln an-
steigende Prävalenzen von 10 % in der
Altersgruppe 40–49 Jahre bis zu 53 % in der
Altersgruppe der über 70-Jährigen, während
andere Studien einen Anstieg der Prävalenz
bis zu 76 % bei den über 70-jährigen Män-
nern ergaben (Beutel et al. 2007).
Inzidenz und Prävalenz einer ED haben
nicht nur einen direkten Zusammenhang
mit dem Alter, sondern auch mit dem
Gesundheitsstatus. ED tritt häufig assozi-
iert mit kardiovaskulären und meta-
201 9
bolischen Störungen auf. Als De-
terminanten gelten vor allem Diabetes,
kardiale Erkrankungen, arterielle Hyper-
tonie und Hypercholesterinämie/Hyperlipi-
dämie. Es besteht eine enge Assoziation
zwischen erektiler und endothelialer Dys-
funktion. Liegt eine Störung der normalen
ist auch die normale Erektion gestört.
Ebenso kann eine ED aber auch ein erster
Hinweis auf eine gestörte Endothelfunktion
sein. Daraus ergibt sich die Wichtigkeit, Pa-
tienten mit ED auch insbesondere auf das
Vorhandensein kardiovaskulärer Risiko-
faktoren und Erkrankungen zu unter-
suchen.
Testosteron ist ein Schlüsselfaktor für
den Vorgang der Erektion. Neben der Sti-
mulierung von Neurotransmittern im Ge-
hirn ist Testosteron für die Entwicklung und
Funktion der glatten Muskelzellen im cor-
pus cavernosum verantwortlich, zudem für
die Bildung der NO-Synthase (verantwort-
lich für die Freisetzung von NO) und die
Expression von PDE5 im Penis. Liegt die
ED ursächlich an einem Hypogonadismus,
so ist eine Testosterontherapie in Betracht
zu ziehen.
Die positive Wirkung einer Testosteron-
therapie auf hypogonadale Männern mit
ED wurde in zahlreichen Studien dokumen-
tiert (Hackett et al. 2016b; Permpongkosol
et al. 2016; Giltay et al. 2010). In einer kont-
rollierten Langzeitstudie wurde über einen
12-jährigen Beobachtungszeitraum hinweg
eine signifikante Verbesserung der ED do-
kumentiert, deren Ausprägung sogar für Pa-
tienten mit ursprünglich schwerer ED noch
stärker als für Patienten mit leichter ED war
(Saad et al. 2019). Gleichzeitig zeigten die
unbehandelten Kontrollgruppen eine mit
der zunehmenden Alterung sich ver-
stärkende ED. Die Verknüpfung von erekti-
ler und endothelialer Dysfunktion zeigte
sich in einer Verbesserung der kardiometa-
bolischen Risikofaktoren.
 202 F. Saad
9.4.7  uswirkung auf die
A Von Langzeitstudien einer Testosteron-
Lebensqualität
Ein altersbedingt sinkender Testosteron-
spiegel ist Teil des natürlichen Alterungs-
prozesses und ist als solcher nicht unbedingt
beeinträchtigend. Ein pathologisch niedri-
ger Testosteronspiegel kann jedoch stark ne-
gative Auswirkungen auf die physische und
psychische Verfassung haben. Allgemeine
Leistungsminderung, Kraft- und Antriebs-
losigkeit, Schlafstörungen, Reizbarkeit und
innere Anspannung, depressive Ver-
stimmung, nachlassende Libido und Stö-
rung der Erektionsfähigkeit bedeuten eine
schwerwiegende Beeinträchtigung der
Lebensqualität (Quality of Life – QoL).
Sexualfunktionsstörungen sind die häufigs-
ten Erstsymptome und sollten daher vom
Patienten wie auch dem behandelnden Arzt
9 ernst genommen werden und gegebenenfalls
Anlass zu einer gezielten Untersuchung auf
einen möglichen Hypogonadismus geben.
Liegt ein Hypogonadismus vor, so dient
eine Langzeittherapie mit Testosteron der
deutlichen Verbesserung der Lebensqualität,
da die oben genannten Symptome und
Funktionseinschränkungen mit steigendem
Testosteronspiegel aufgehoben werden. Zur
Messung der Lebensqualität dienen ver-
schiedene Fragebögen als allgemein an-
erkannte Instrumente. Hierzu gehören der
IPSS (International Prostate Symptom Score),
der IIEF (International Index of Erectile
Function) und die AMS-Skala (Aging Males’
Symptoms). Die AMS-Skala ist ein QoL-Fra-
gebogen, der die drei Symptomenbereiche der
körperlichen Beschwerden, der psychischen
Probleme und der sexuellen Dysfunktion um-
fasst. Der IIEF ist ein mehrdimensionaler
Fragebogen zur Evaluierung der männlichen
Sexualfunktion; er wird als primärer End-
punkt für klinische Studien zur erektilen Dys-
funktion sowie zur diagnostischen Beurteilung
des Schweregrads einer ED empfohlen. Der
IPSS enthält Fragen, die sich auf die Symp-
tome einer benignen Prostatahyperplasie und
die Lebensqualität beziehen.
therapie hypogonadaler Männer wurden
signifikante Verbesserungen der Scores der
oben genannten Fragebögen bereits in den
ersten drei Monaten der Testosterontherapie
dokumentiert. Die jeweiligen Scores ver-
besserten sich kontinuierlich weiter während
der gesamten Studiendauer von bis zu acht
Jahren (Almehmadi et al. 2016; Haider et al.
2016; Traish et al. 2017).
9.5  ögliche Risiken einer
M
Testosterontherapie
Im Zusammenhang mit einer Testosteron-
therapie werden in der Literatur häufig
Prostatakrebs und kardiovaskuläre Ereig-
nisse als potenzielle Risiken diskutiert. Auch
wenn die vorliegenden ­Forschungsergebnisse
keinerlei kausale Hinweise für diese Arten
von Erkrankungen geben, soll hier auf diese
Risikothemen näher eingegangen werden.
9.5.1 Prostatakarzinom
Prostatakrebs stellt die häufigste Krebs-
erkrankung bei Männern dar. Die Ätio-
logie ist bis heute relativ unklar, auffällig
ist aber der direkte Zusammenhang mit zu-
nehmendem Alter. Tritt Prostatakrebs vor
dem 50. Lebensjahr noch eher selten auf,
so steigt die Inzidenz deutlich ab dem 70.
Lebensjahr. Bei Männern im Alter von 79
Jahren und älter liegt die Prävalenz bereits
bei 59 % (EAU 2018).
Unter epidemiologischem Aspekt besteht
kein logischer Zusammenhang zwischen der
Testosterontherapie hypogonadaler Männer
und einem daraus möglicherweise resultie-
renden Risiko von Prostatakrebs. Denn die
Inzidenz von Prostatakrebs steigt gerade in
dem fortgeschrittenen Alter, in dem die
Testosteronwerte zunehmend sinken.
Wachstum und Funktion der Prostata-
zellen sind abhängig von Androgenen. Auf
benigne Tumorzellen wirken Androgene
Das Altern des Mannes
vornehmlich als Wachstumsförderer. Ein
diagnostizierter Prostatakrebs stellt daher
eine Kontraindikation für eine Testosteron-
behandlung dar. Wahrscheinlich aus diesem
Zusammenhang heraus wird in der Litera-
tur immer wieder Prostatakrebs als poten-
zielles Risiko einer Testosterontherapie pos-
tuliert, sodass sich eine Reihe von
Untersuchungen ausdrücklich diesem
Thema widmete. Die vorliegenden Ergeb-
nisse liefern allerdings keinerlei Evidenz für
ein solches Risiko.
In einer Reihe von breit gefächerten
Untersuchungsreihen konnte gezeigt wer-
den, dass hypogonadale Männer unter
Testosterontherapie kein erhöhtes Risiko
für Prostatakrebs aufweisen (Haider et al.
2015; Snyder et al. 2016; Debruyne et al.
2016). Dieser Sicherheitsaspekt wurde von
der European Association of Urology in die
Richtlinie für Prostatakrebs aufgenommen
(EAU 2018).
Im Gegensatz zu dem häufig postulier-
ten, jedoch nicht belegten Risiko eines
Prostatakrebs in Verbindung mit einer
Testosterontherapie wurde dagegen in einer
Reihe von Studien gezeigt, dass vielmehr ein
niedriger Testosteronspiegel mit einem er-
höhten Risiko für Prostatakrebs verknüpft
ist (Morgentaler und Rhoden 2006; Schatzl
et al. 2001). Bei diagnostiziertem Prostata-
krebs ist darüber hinaus eine Korrelation
zwischen einem niedrigen Testosteronspie-
gel und einem höheren Gleason-­Score sowie
einer höheren Dichte der Tumorgefäße und
Androgenrezeptoren dokumentiert, sodass
ein Zusammenhang von Testosteronmangel
mit der Aggressivität der Krebserkrankung
diskutiert wird.
9.5.2 Kardiovaskuläre
Erkrankungen
In den letzten Jahren wurde in der Literatur
eine lebhafte Diskussion um ein potenzielles
kardiovaskuläres Risiko im Zusammenhang
mit einer Testosterontherapie geführt. Aus-
203 9
löser waren Veröffentlichungen US-­
amerikanischer Studien, in denen eine Zu-
nahme kardiovaskulärer Ereignisse unter
Testosterontherapie berichtet wurde. Auf-
grund schwerwiegender methodischer Feh-
ler im Design und in der Auswertung der
Studien wurden diese Studienergebnisse
zwar in der Literatur als unseriös und ir-
relevant kritisiert (Morgentaler et al. 2015;
Traish et al. 2014). Dennoch bleibt die Dis-
kussion bis heute bestehen.
Mittlerweile liegt eine Fülle von Belegen
vor, dass vielmehr niedrige Testosteronspie-
gel ursächlich mit der Entstehung und/oder
Progression kardiovaskulärer Erkrankungen
verknüpft sind. Mit einer umfangreichen
Literaturübersicht der Jahre 1980–2008
wurde gezeigt, dass Testosteronmangel ein
kardiovaskulärer Risikofaktor ist (Traish
et al. 2009). Grundlage hierfür ist die Tat-
sache, dass ein Testosteronmangel zu einer
deutlichen Verschlechterung der endothelia-
len Funktion führt. Niedrige Testosteron-
spiegel sind zudem häufig mit dem Vor-
handensein eines metabolischen Syndroms
verknüpft. Für die Patienten bedeutet dies
eine deutliche Erhöhung des kardio-
vaskulären Risikos bis hin zu einer erhöhten
Mortalitätsrate aufgrund von Herzinfarkt
und/oder Schlaganfall.
Auch die Gesundheitsbehörden befassen
sich mit dem Thema des kardiovaskulären
Risikos, kommen allerdings zu sehr unter-
schiedlichen Positionierungen. Die Euro-
pean Medicines Agency (EMA) steht auf
dem Standpunkt, dass die vorliegenden
Daten keine einheitlichen Anhaltspunkte
für ein erhöhtes Risiko für Herzprobleme er-
geben (EMA 2019). Die U.S. Food and
Drug Administration (FDA) verfügte da-
gegen, dass die Fachinformationen von
Testosteronpräparaten auch die Informa-
tion zu einem möglicherweise erhöhten Ri-
siko von Herzinfarkt und Schlaganfall ent-
halten müssen (FDA 2015). Die FDA und
Canada Health forderten zudem die Auf-
nahme einer Warnung zum Risiko einer ve-
nösen Thromboembolie (VTE) in die Fach-
 204 F. Saad
informationen von Testosteronpräparaten
(Martinez et al. 2016).
Das Risiko einer VTE wurde nach-
folgend zu den Warnungen der FDA und
Health Canada in einer Fall-­Kontroll-­Studie
mit mehr als 30.000 Männern untersucht.
Die Datenanalyse ergab, dass aus der
Testosterontherapie kein erhöhtes Risiko
für VTE folgte (Baillargeon et al. 2015). In
einer anderen Fall-Kontroll-Studie mit mehr
als 19.000 Männern wurde ebenfalls das Ri-
siko einer VTE evaluiert (Martinez et al.
2016). Die Daten ergaben einen vorüber-
gehenden Anstieg des Risikos in den ersten
drei Monaten der Testosterontherapie, ge-
folgt von einem graduellen Abfall des Risi-
kos zurück auf den Ausgangswert.
Eine Aktualisierung der Stellungnahmen
von FDA und Health Canada steht aller-
dings noch aus.
9 Die 2019 erstmals erschienenen Leit-
linien der American Urological Association
empfehlen, jeden Patienten mit Hypo-
gonadismus darüber aufzuklären, dass er
ein erhöhtes Risiko für Herzkreislauf-
erkrankungen hat (Mulhall et al. 2018).
>>Testosterontherapie und Risiken:
55 Kein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko
55 Kein erhöhtes Risiko für Prostatakrebs
9.6 Die optimale
Testosterontherapie
Die optimale Testosterontherapie fußt auf
mehreren Säulen, die für den Therapieerfolg
unerlässlich sind. Zunächst ist eine um-
fassende Diagnostik erforderlich. Hierzu ge-
hören die Evaluierung persistierender klini-
scher Anzeichen und Symptome, die für
einen Androgenmangel sprechen, eine
körperliche Untersuchung, die Bestimmung
konsistent niedriger Testosteronspiegel und
der Ausschluss von Kontraindikationen
(Dohle et al. 2018). Bei älteren Männern
muss zudem das Vorhandensein chronischer
Erkrankungen wie Adipositas, Meta-
bolisches Syndrom, Typ-2-Diabetes und
erektile Dysfunktion mit in Betracht ge-
zogen werden, da diese oft als alters-
assoziierte Komorbiditäten kausal mit
einem Testosteronmangel verknüpft sind.
Von den auf dem Markt erhältlichen
Formulierungen bietet die intramuskuläre
Depot-Injektion die meisten Vorteile, da die
Testosterongabe unter ärztlicher Kontrolle
erfolgt und so die Compliance optimal ge-
sichert werden kann. Formulierungen als
Langzeitdepot (Wirkstoff Testosteronunde-
canoat) werden in einem 3-Monats-­Intervall
verabreicht, was für den Patienten bequem
ist und gleichzeitig die ­kontinuierliche Be-
treuung durch den Arzt sicherstellt. Regel-
mäßige Verlaufskontrollen sind während der
Therapie erforderlich, sowohl zur Kontrolle
einer konstanten Einstellung des Testoste-
ronspiegels im Normbereich wie auch als
Vorsichtsmaßnahme zur Erkennung eventu-
eller Nebenwirkungen.
Bei Verwendung der lange wirksamen
intramuskulären Injektion normalisiert sich
der Testosteronwert sehr rasch, üblicher-
weise bereits nach der ersten Injektion.
Während der weiteren Therapie erfolgen
kontinuierlich signifikante und nachhaltige
Gewichtsreduktionen mit klinisch relevan-
ten Verbesserungen der assoziierten Komor-
biditäten. Allerdings ist zu bedenken, dass
unter Testosterontherapie parallel zum Fett-
abbau auch ein Muskelaufbau erfolgt. Dar-
aus folgt, dass es in der ersten Zeit trotz
einer Verbesserung der Körperzusammen-
setzung nicht unbedingt zu einer Gewichts-
abnahme kommt. Hier ist eine Aufklärung
des Patienten durch den Arzt erforderlich
wie auch eine mentale Unterstützung zur
Weiterführung der Therapie, um die Ge-
wichtsreduktion weiter zu ermöglichen.
Unter kontinuierlich weitergeführter
Therapie greift die physiologische Wirkung
des Fettabbaus und Muskelaufbaus mit
einer psychologisch gesteuerten Lebens-
umstellung und sorgt für eine nachhaltige
Gewichtsreduktion, gefolgt von der Ver-
besserung der metabolischen Parameter.
Das Altern des Mannes
Für einen nachhaltigen Therapieerfolg ist
neben der korrekten Dosis daher die Form
einer Langzeittherapie die unabdingbare
Voraussetzung.
GRUNDLAGEN FÜR EINE OPTIMALE
TESTOSTERONTHERAPIE
Umfassende Diagnostik
Ausschluss von Kontraindikationen
i. m.-Injektion mit Langzeitwirkung
(3-Monats-Depots)
Rückführung Testosteronspiegel in Nor­
mbereich
Volle Compliance
Regelmäßige Verlaufskontrollen
Langzeittherapie
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 209 10

Genetik und Epigenetik des

Alterns
Alain Menzel und Bernard Weber

Inhaltsverzeichnis

10.1 Einleitung: Ist Altern eine Krankheit? – 211

10.2 Theorien des Alterns – 212

10.2.1  enetische Theorien – 212
G
10.2.2 Stochastische Theorien – 214
10.2.3 Theorie der antagonistischen Pleiotropie
(Abfallakkumulation + Gentheorie) – 216
10.2.4 Informations-Theorie des Alterns – 216
10.2.5 Kann es ein Alterungsprogramm aus biologischer
Sicht geben? – 218

10.3  arker verschiedener Stoffwechselwege

M
des Alterns – 218
10.3.1  ie GH/IGF-1-Achse, Insulinregulierung
D
und Langlebigkeit – 219
10.3.2 AMPK-Signalweg und Langlebigkeit – 221
10.3.3 NAD+-Signalwege/Sirtuine und DNA-Reparatur – 221
10.3.4 Longevity Gene – 222
10.3.5 Was können wir von monogenetischen Erkrankungen mit
einem Phänotyp des vorzeitigen Alterns lernen? – 223

10.4 Epigenetische Marker des Alterns – 225

10.4.1  ethylierung und Acetylierung – 225
M
10.4.2 Mikro-RNAs und Inc-RNAs – 228

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_10
10.5 Biologische Uhren – 228
10.5.1  orvath‘s clock – 228
H
10.5.2 Telomere – 229

10.6 Präventions- und Therapiemöglichkeiten – 230

10.6.1  orbeugung – 230
V
10.6.2 Yamanaka-Faktoren – 234

10.7 Ausblick: Was bringt uns die Zukunft? – 237

Literatur – 239
Genetik und Epigenetik des Alterns
211 10
Abkürzungen NHANES IV National Health and Nutri-
tion Examination Survey IV
ADP Adenosindiphosphat NMN Nicotinamid Mononukleotid
AGE Advanced glycation end products OCT  Octamer binding transcrip-
ALK5 Activin Receptor-Like Kinase 5 tion factor
AMPK AMP-aktivierte Proteinkinase PARP1 Poly(ADP-Ribose)-Polyme-
APOE4 Apolipoprotein E4 rase 1
ATP Adenosintriphosphat PGC-1-alpha Peroxisome proliferator-acti-
vated receptor gamma coacti-
CAS90 CRISPR-associated 9 vator 1-alpha
cMYC0 Avian Myelocytomatosis cellular RAG Recombination-activating gene
oncogene homolog
RHEB Ras homolog enriched in brain
CRISPR Clustered Regularly Interspa-
ced Short Palindromic Repeats SAMe S-Adenosylmethionin
DHA Docosahexaensäure SASP Senescence-Associated Secre-
tory Phenotype
eNOS Endotheliale Stickstoffmonoxid-
Synthase SOX2 Sex determining region Y-box 2

EPA Eicosapentaensäure TOR Target of rapamycin

FDA Food and Drug Administration TRIM28 Tripartite motif containing 28
(US) TSH Thyreotropin
GH Growth hormone WS Werner-Syndrom
HAT Histonacetyltransferasen
HDAC Histon-Deacetylase
10.1  inleitung: Ist Altern eine
E
HDL High density lipoprotein Krankheit?
HGPS Hutchinson-Gilford-Progerie-Syn-
drom (HGPS) Das Phänomen der Langlebigkeit ist ein dy-
IFN Interferon namischer und komplexer Prozess, der viele
IGF1 Insulin-like growth factor 1 Faktoren beinhaltet, welche die Lebens-
dauer eines biologischen Systems be-
iPSc Induced pluripotent stem cells
stimmen. Seit Jahrzehnten ist eine der am
KLF4 Kruppel-like factor 4 meisten diskutierten Fragen in der Alters-
LINE1  long interspersed nuclear ele- forschung, ob Altern eine Krankheit sei oder
ment1 nicht. Alterung wird traditionell als natür-
miRNA Micro RNA licher Prozess und folglich nicht als Krank-
heit angesehen. Der Grund, der gegen das
mTORC1 Mammalian target of rapamycin
Klassifizieren des Alterns als Krankheit ge-
complex 1
nannt wird, ist, dass es sich um einen natür-
NAD Nicotinamidadenindinukleotid lichen und universellen Prozess handelt,
NADH Nicotinamidadenindinukleotid während Krankheiten als Abweichungen
(reduzierte Form) vom Normalzustand angesehen werden (Ca-
NF-kB Nuclear factor ‚kappa-light-chain- plan 2005). Am Alterungsprozess respektive
enhancer‘ of activated B-cells an der Langlebigkeit sind sowohl genetische
 212 A. Menzel und B. Weber

als auch epigenetische Faktoren beteiligt. erscheinungen des Alterns sind. Natürlich
Die reine genetische Komponente ist sogar kann jede altersbedingte Erkrankung auf-
mit 7 % relativ gering (Ruby et al. 2018). grund genetischer Faktoren und Umwelt-
Fast alle Tierarten, vom Fadenwurm über faktoren auch in jungen Jahren auftreten.
Drosophila und Maus bis hin zum Men- Wichtig ist, dass das Altern ausreicht, um
schen, durchlaufen einen Alterungsprozess. früher oder später alle altersbedingten
Eine Ausnahme stellt der Süßwasser-Polyp Krankheiten zu verursachen (Blagosklonny
Hydra dar, der als unsterblich angesehen 2012).
wird. Obwohl Altern also „normal“ zu sein Altern ist also ein multifaktorieller Pro-
scheint, muss man vor allem in der Human- zess, an dem sowohl genetische als auch
medizin zur Kenntnis nehmen, dass Prob- epigenetische Faktoren beteiligt sind. Diese
leme, wie Sarkopenie, Osteoporose, Athero- Säulen des Alterns wurden 2013 von Lopez-­
sklerose und Demenz, beim Menschen Otin et al. beschrieben (Lopez-Otin et al.
nahezu immer mit dem Alter assoziiert sind. 2013). Es handelt sich hierbei um folgende
Diese Syndrome werden als Krankheiten Faktoren (. Abb. 10.1): 1. Chromosomen-­
klassifiziert, welche medizinische Inter- Instabilität, 2. Verkürzung der Telomere,
ventionen benötigen (Gems 2011). Die Tat- 3. Epigenetische Veränderungen, 4. Ver-
sache, dass das Altern eine „schädliche lust der Proteostase, 5. Deregulierung der
Anomalität der Körperstruktur und -funk- Nährstoffmessung im Stoffwechsel, 6. Mi-
tion“ ist, steht außer Frage. Es wird immer tochondriale Dysfunktion, 7. Zelluläre Se-
deutlicher, dass das Altern auch spezifische neszens, 8. Erschöpfung der Stammzellen,
Ursachen hat, die jeweils auf zellulärer und 9. Gestörte interzelluläre Kommunikation.
10 molekularer Ebene lokalisiert werden kön- Jede einzelne dieser Säulen unterliegt einer
nen, sowie erkennbare Anzeichen und Sym- komplexen Steuerung, die sich aus geneti-
ptome im erwachsenen Phänotyp. Somit schen und epigenetischen Komponenten zu-
tendieren zurzeit immer mehr Wissen- sammensetzt.
schaftler dazu, Altern per se als Krankheit Derzeit sind unsere Behandlungsmöglich-
zu betrachten. (Bulterijs et al. 2015; Caplan keiten für die zugrundeliegenden Alterungs-
2005; Gems 2015; Zhavoronkov und Bhullar prozesse beim Menschen begrenzt, aber das
2015) Verständnis des Alterns wird es in Zukunft er-
Zusammenfassend kann man sagen: Das möglichen, die altersbedingten Erkrankungen
Altern ist die Folge eines normalen Ent- zu reduzieren und so die Lebenspanne, in der
wicklungsprogramms des Organismus, es das Individuum bei guter Gesundheit ist, zu
ist also kein echtes Programm, sondern ein verlängern. Letztlich geht es vorerst darum,
„Pseudo-Programm“ ohne direkten Zweck Strategien zu entwickeln, die einen 100-Jäh-
(Blagosklonny 2006). Es kann allerdings, rigen mit einer Gesundheit eines 20-Jährigen
zurzeit noch, als eine tödliche Krankheit an- ausstatten.
gesehen werden, weil es unweigerlich zum
Tod führt.
Der Alterungsprozess ist mit der Summe 10.2 Theorien des Alterns
aller altersbedingten Erkrankungen wie
neurodegenerative Erkrankungen, Herz-­ 10.2.1 Genetische Theorien
Kreislauf-­ Erkrankungen und Krebs asso-
ziiert. Man benutzt das Auftreten dieser Die verschiedenen genetischen Theorien ba-
Komorbiditäten als Biomarker des Alterns sieren auf der Annahme, dass Langlebigkeit
(Blagosklonny 2009). Infolgedessen sind ausschließlich durch genetische Faktoren be-
Altern und altersbedingte Erkrankungen stimmt wird. Die Lebensdauer jeder Art und
untrennbar, weil diese Krankheiten Begleit- zwischen Individuen derselben Art wird
Genetik und Epigenetik des Alterns
..      Abb. 10.1 Die Säulen des Alterns. (Mod. nach Lopez-Otin et al. 2013)
durch das genetische Erbe definiert. Diese
Theorien besagen, dass Langlebigkeit ein de-
terministisches und nicht zufälliges Phäno-
men ist. Die Lebensdauer einer Zelle ist im
genetischen Material festgeschrieben. Folg-
lich besteht die einzige Möglichkeit zur Ver-
besserung der Langlebigkeit von Zellen in
der Modifikation der genetischen Pro-
gramme. Es gibt eine ganze Reihe dieser
Theorien mit unterschiedlichen, aber sich er-
gänzenden Hypothesen. Aus darwinistischer
Sicht wird die durchschnittliche Lebens-
dauer innerhalb der Arten durch natürliche
Selektion bestimmt. Alle Lebensformen
unterliegen dem Gesetz der natürlichen Aus-
lese. Die Selektion ermöglicht, aufgrund von
zufälligen genetischen Mutationen, die sich
während der Evolution in jeder Art an-
gesammelt haben, eine bessere Anpassung
an die Umwelt und folglich ein verringertes
213 10
oder erhöhtes Überleben. In der Tat können
genetische Mutationen für das Überleben
günstig oder ungünstig sein. Im Sinne einer
evolutionistischen Sicht sind diejenigen
Parameter, die sich auf die physiologische
Komplexität des Nervensystems, die Effi-
zienz der Reparatur- und Schutzprozesse
von DNA- und Proteinrecycling mit Lang-
lebigkeit assoziiert (Rose und Graves Jr.
1989). Vertreter der sogenannten altruisti-
schen Theorie behaupten, dass das Altern
eine sehr wichtige Rolle für das Überleben
der Art spielt und dass die Erneuerung der
Generationen die Anpassungsfähigkeit der
Art an die Umwelt verbessert, um somit die
Existenz der Art sicherzustellen. Da das In-
dividuum nicht wichtiger ist als die Spezies,
sollte die Langlebigkeit nicht aus der Sicht
des Individuums betrachtet werden, sondern
aus Sicht der Spezies als Ganzes. Zum Wohle
 214 A. Menzel und B. Weber
der Art werden die Individuen, die diese Art
bilden, alt und sterben, um eine Bereicherung
der genetischen Vererbung und somit ein
besseres Überleben der Art zu ermöglichen.
Diese Theorie wird so selbst unter Neo-­
Darwinisten nicht mehr akzeptiert, da einige
Parameter, die sich stark auf das Altern be-
ziehen, nicht berücksichtigt werden und von
anderen Gentheorien wie der von Medawar
(1952) als überholt betrachtet werden. Me-
dawars Theorie wird als „Theorie der Akku-
mulation von Mutationen“ bezeichnet. Der
zugrundeliegende Mechanismus beinhaltet
zufällige und schädliche Mutationen, die
ihre Wirkung erst sehr spät in der Ent-
wicklung des Individuums zeigen. Im Gegen-
satz zu den meisten nachteiligen Mutationen
können diese durch natürliche Selektion nur
schwer eliminiert werden (Gavrilov und
Gavrilova 2002). So ist im weitesten Sinne
die Seneszenz die Summe der Auswirkung
schädlicher Gene, die nur bei älteren Men-
10 schen beobachtet wird. Medawars Konzept
besagt, dass der Entwicklungsprozess durch
das Alter beeinflusst wird, in dem sich ein
Organismus vermehren kann. Merkmale, die
einen Organismus vor diesem Alter negativ
beeinflussten, würden seine Fähigkeit zur
Fortpflanzung seiner Merkmale stark ein-
schränken und würden daher durch natür-
liche Selektion „ausgewählt“. Die Merk-
male, die die gleichen Nebenwirkungen
hervorrufen, aber erst im späten Lebensalter
auftreten, hätten einen relativ geringen Ein-
fluss auf die Fitness und könnten daher
durch natürliche Selektion nicht beeinflusst
werden (Kirkwood 2002; Kirkwood und
Holliday 1979). Bernard Hayflick hat in den
frühen 1960er-Jahren das Phänomen der Re-
gulierung der Zellteilung durch Mechanis-
men gezeigt, mit denen diese Aktivität über
die Zeit bestimmt werden kann. Hayflick
konnte zeigen, dass es eine Art biologische
Uhr gibt, die dafür verantwortlich ist, zellu-
läre Phänomene des Alterns und der Lang-
lebigkeit zu regulieren und die Perioden in
Bezug auf diese Phänomene in physio-
logische Signale umzuwandeln. Seine Arbeit
hat gezeigt, dass einige Zellen (Muskel-,
Haut- und Lungenzellen) eine limitierte An-
zahl von Zellteilungen im Bereich von etwa
50 aufweisen. Obwohl diese Zellteilungs-
grenze festgelegt ist, wird sie dennoch durch
mehrere Parameter bestimmt, einschließlich
des Alters der Zellen, das auch als replikative
Seneszenz bezeichnet wird (die älteren Zel-
len teilen sich weniger als die jungen Zellen),
das genetische Material, den Zelltyp, das
Kulturmedium sowie die Ernährung der Zel-
len. Hayflicks Theorie besagt, dass sich eine
junge, gut ernährte Zelle dreimal langsamer
teilen kann als andere Zellen. Die einzige
Möglichkeit, die Lebensdauer einer Zelle zu
verlängern, wäre nach dieser Theorie die
Verlängerung der Dauer zwischen zwei auf-
einanderfolgenden Zellteilungen (Hayflick
1968, 1979).
10.2.2 Stochastische Theorien
Stochastische Theorien sind das Gegenteil
der Evolutionstheorien. Es wurden ver-
schiedene Theorien vorgeschlagen, die alle
davon ausgehen, dass das Altern ein zu-
fälliger Prozess ist, der nicht genetisch de-
terminiert ist. Einige dieser Theorien sind
die hormonelle, die mitochondriale oder die
sogenannte Abfall-Ansammlungstheorien.
Vladimir Dilman ist der Begründer der
Theorie, dass das Altern durch den Rück-
gang der altersbedingten Hormonaus-
schüttung verursacht wird. Dilman geht
davon aus, dass das Altern mit der Abnahme
von hormonellen Faktoren bedingt wird.
Beispielsweise beginnt die Sekretion des
Wachstumshormons bereits im Alter von 30
Jahren zu sinken, was einen progressiven Er-
satz der Muskelmasse durch die Fettmasse
sowie eine Alterung der Haut bewirkt. Ab
der vierten Lebensdekade beginnt auch die
Abnahme der Sekretion der Sexualhormone
in der Frau (Menopause) und etwas später
im Mann (Andropause). Dasselbe gilt für
andere Hormone wie Melatonin, Schild-
drüsenhormone und Dehydroepiandro-
Genetik und Epigenetik des Alterns
steronacetat (DHEA). Die Nebennieren
scheinen eine wichtige Rolle in diesem Pro-
zess zu spielen, da Cortisol im Vergleich zu
anderen Hormonen in einem umgekehrten
Assoziationsprozess ansteigt. Unter diesem
Gesichtspunkt scheint Stress, der Haupt-
faktor bei der Steigerung der Cortisol-
sekretion, ein entscheidender Faktor für die
Beschleunigung des Alterns zu sein (Dilman
1971; Dilman et al. 1986).
Die Theorie des Alterns durch freie Ra-
dikale wurde von Denham Harman (1954)
begründet. Diese Theorie beruht auf der
Schädigung der Zellbestandteile durch re-
aktive Sauerstoffspezies (ROS) und durch
Moleküle mit einer ungeraden Anzahl von
Elektronen. Diese Radikalspezies können
die Eigenschaften von Lipiden und Protei-
nen, die die Zellmembranen bilden, sowie
von Nukleinsäuren verändern. Diese Ver-
änderungen führen zu einer schnelleren
Zellalterung. Den Prozessen der strukturel-
len Veränderung der Zelle wird durch die
Aktivität enzymatischer Antioxidantien ent-
gegengewirkt. Zum einen durch die Enzyme
des Glutathion-Zyklus, die Katalase und
die Superoxiddismutase und zum anderen
durch nicht-enzymatische Antioxidantien,
die aus Nahrungsmitteln aufgenommen
werden, wie Vitamin C und Vitamin E. Ins-
besondere die Reparaturprozesse der DNA
ermöglichen es auch, die schädlichen Aus-
wirkungen von oxidativem Stress zu mi-
nimisieren (Harman 1956; Oliveira et al.
2010). Die im Mitochondrion produzierten
Superoxidanionen gehören zu den gefähr-
lichsten freien Radikalen und verursachen
Schäden an der Mitochondrien-DNA
(mDNA). Mitochondrien besitzen weniger
Schutzmechanismen als andere Organellen
der Zelle, infolgedessen ist die mDNA an-
fälliger für diesen oxidativen Stress, und die
von ihm erzeugten Mutationen tragen zur
Dysfunktion der Mitochondrien und folg-
lich zur Zellalterung bei (Harman 1972;
Miquel et al. 1980; Wei 1998). Andere Meta-
boliten, die für oxidativen Stress und Ent-
zündungen verantwortlich sind, sind Glyka-
215 10
tionsprodukte, die sogenannten „Advanced
Glycation Endproducts“ (AGE). Die nicht-­
enzymatische Glykation oder Glykosy-
lierung ist ein natürliches Phänomen, das
auftritt, wenn Proteine oder andere Makro-
moleküle mit einem hohen Glukosegehalt
oder Pentosen in Kontakt kommen. Es wer-
den Kreuzbrücken zwischen Zucker und
Proteinen gebildet. Die zugrundeliegende
chemische Reaktion wird als Maillard-Re-
aktion bezeichnet. Die Reduktionskraft von
Zucker tritt an der NH-Position der Amino-
säure auf, die die AGEs bildet. Zusätz-
lich zu den proinflammatorischen Eigen-
schaften können AGEs aus der Glykation
von Kollagen, Elastin, DNA, Histonen,
Bestandteilen von Membranen einschließ-
lich Membranaktivierungsrezeptoren ge-
bildet werden. Späte AGEs erschweren die
Wiederverwertung und Eliminierung von
Proteinen und hemmen den interzellulären
Austausch, was zu einer schnelleren Alte-
rung führt (Asif et al. 2000; Monnier 1989).
Zu den giftigen „Abfällen“, die sowohl
durch die Alterung des Gewebes erzeugt
werden als auch auf dieses Gewebe wirken,
zählt Lipofuszin. Die Lipofuszinmoleküle
sind eine Ansammlung von Trümmern, die
aus den gealterten und nicht funktionalen
Lysosomenablagerungen stammen. Diese
Trümmer sammeln sich an und altern die
Zelle. Diese Ablagerungen sind am häufigs-
ten in Neuronen, Leber, Netzhaut, Herz und
Haut nachweisbar; ihre Menge ist proportio-
nal zum Alter der Zelle. Andere giftige „Ab-
fälle“ (AGEs, Amyloide, starres Kollagen
usw.) sammeln sich im Laufe des Lebens-
alters an und sind sowohl Ursache als auch
Folge des Alterns (Hirsch 1978; Zs-Nagy
1978). Die von Dr. Roy Walford vertretene
Theorie der Kalorien-­Restriktion weist auf
die verjüngende Wirkung einer kalorien-
armen Diät hin. Dr. Walfords Arbeit an
Tiermodellen von Mäusen oder Würmern
zeigt, dass die Langlebigkeit umgekehrt pro-
portional zur Menge der aufgenommenen
Nahrung ist, die Ernährungsweise ist hypo-
kalorisch, wobei eventuelle Mangelzustände
 216 A. Menzel und B. Weber
durch Gabe von Nahrungsergänzungsmittel
vermieden werden. Studien über Okinawa-­
Inselbewohner in Japan, deren Population
außergewöhnlich viele 100-Jährige umfasst,
haben ebenfalls gezeigt, dass die Wirkung
der Kalorienreduzierung beim Menschen
lebensverlängernd ist (Heilbronn und Ra-
vussin 2003; Sohal und Weindruch 1996).
10.2.3 Theorie der
antagonistischen
Pleiotropie
(Abfallakkumulation +
Gentheorie)
Mit der Theorie der antagonistischen Pleio-
tropie erweiterte Williams Medawars Theo-
rie. Es ist derzeit die Basis des Verständnisses
von zellulärer Seneszenz. Ein in der Jugend
vorteilhafter Genotyp, insbesondere ein
Genotyp, der die Reproduktionsfähigkeit er-
10 höht, wird durch natürliche Selektion stark
begünstigt, auch wenn er später im Leben
schädliche Auswirkungen hat, beispielsweise
durch Verringerung der Reparaturkapazität
der DNA (Williams 1957). Die Existenz
pleiotroper Gene ist gut belegt. Diese Gene
haben, obwohl sie für dasselbe Protein ko-
dieren, mehrere völlig unterschiedliche
phänotypische Auswirkungen, manchmal
gleichzeitig, manchmal zu unterschiedlichen
Lebenszeiten. Die Pleiotropie kann auch
durch die Einwirkung von Genen auf andere
Gene entstehen. Es wäre sogar überraschend,
wenn ein Gen angesichts der geringen An-
zahl von Genen im Genom nur eine Funk-
tion hätte. Ein Gen wird aufgrund einer Mu-
tation wegen seiner positiven Wirkung aus
darwinistischer Sicht selektiert. Es gibt viele
Alterungsgene, die die Mechanismen des Al-
terns antreiben. Sie sind in allen Tieren zu
finden: Hefen, Würmern, Fliegen, Mäusen.
Einige dieser Gene erhöhen gleichzeitig die
Fruchtbarkeit in der Jugend (Gavrilov und
Gavrilova 2002; Kirkwood 2005).
10.2.4 Informations-Theorie des
Alterns
Die genetischen Schäden in embryonalen
Zellen zu reparieren ist fast allen eukaryoti-
schen Organismen gemeinsam. Der
Reparaturmechanismus, um DNA-­Schäden,
die sich in embryonalen Zellen ansammeln,
zu entfernen, besteht in erster Linie in der
Auswahl von Vorläuferzellen (Gameten) mit
minimaler Fehlerdichte. Dieses wird durch
die Anwesenheit einer großen Anzahl von
Gameten möglich, die durch p53 auf Fehler-
losigkeit überprüft werden. Das Konzept
des Alterns als Abbau genetischer Informa-
tion in seiner allgemeinsten Form, ergänzt
durch den Mechanismus der Reparatur ge-
netischer Schäden in Keimzellen, wird als
Informationstheorie des Alterns bezeichnet
(Karnaukhov et al. 2015). Diese Theorie
stammt an sich aus der mathematischen
Kommunikationstheorie von Claude Sha-
non, einem Elektroingenieur am Massachu-
setts Institute of Technology. In der Tat hat
Shanon in seinem Aufsatz (1948) bereits er-
klärt, wie man Informationen aus elektroni-
scher Sicht in der Funkkommunikation auf-
bewahrt (Shannon 1997). In biologischen
Systemen, z. B. den Zellkernen, werden In-
formationen wie auf einer DVD gespeichert.
In Analogie mit der Funktechnik handelt es
sich hierbei um ein digitales Signal, welches
den Genen entspricht. Wenn es also möglich
ist, die Informationen auf einer alten, be-
schädigten DVD wiederherzustellen, ist es
auf die gleiche Weise möglich, den Anfangs-
zustand einer Zelle wiederherzustellen, da
Mechanismen zum Speichern dieser Infor-
mationen in der Zelle vorhanden sind.
Eine Stammzelle differenziert sich zu
einer spezialisierten Zelle im Körper. Die
fortschreitende Differenzierung der Stamm-
zelle zur spezialisierten Zelle wird durch
epigenetische Informationen reguliert, die
sich um die DNA herum abspielen. Die Epi-
genetik mit ihren Mechanismen, wie Me-
Genetik und Epigenetik des Alterns
thylierung, Acetylierung, um nur einige zu
nennen, ist mit einem analogen Signal in der
Kommunikationstechnik zu vergleichen,
welches ein gewisses Maß an Rauschen in
der Information beinhaltet. Diese Infor-
mation beeinflusst die Expression einer be-
grenzten Menge an DNA-Information.
David Sinclair beschreibt in seinem 2019
erschienenen Buch „Warum wir altern“
(Sinclair 2019a), dass Altern das Ergebnis
der Verschlechterung der epigenetischen
Information einer differenzierten Zelle im
Laufe der Zeit ist, also eine Zunahme des
epigenetischen Rauschens darstellt. Eine
Zelle ist in der Lage, sich kontinuierlich
selbst zu reparieren, aber Reparaturzyklen
werden unvermeidlich Fehler ansammeln.
Diese Fehler spiegeln sich in der Spezialisie-
rung der Zelle wider, die ihre ursprüngliche
Funktion nicht mehr erfüllen kann, so als
hätte die Zelle aufgrund des Informations-
verlusts „vergessen“, wie sie richtig funktio-
niert (Karnaukhov et al. 2015).
David Sinclair schlägt vor, dass es zur
Verlangsamung des Alterns wichtig ist, diese
Reparaturmechanismen zu reaktivieren. Er
beschreibt in seinem Buch, dass Bakterien
(und möglicherweise alle anderen Zelltypen)
auf mindestens zwei Arten arbeiten:
55 In einer ressourcenreichen Umgebung
begünstigt eine Zelle tendenziell ihr
Wachstum.
55 In einem alternativen Kontext, in dem die
Ressourcen knapp sind, friert eine Zelle
ein und aktiviert Reparaturprozesse.
Die Mechanismen der Zellfunktion in die-
sen beiden Modi sind wahrscheinlich sehr
alt, und daher ist ihre Kontrolle wahrschein-
lich allen biologischen Systemen gemeinsam.
Die Dualität von Ruhe und Aktivität ist in
der biologischen Funktion allgegenwärtig.
Nach Sinclair ist es sinnvoll, die Reparatur-
mechanismen zu aktivieren, um das Altern
zu verlangsamen (Sinclair und Oberdoerffer
2009).
217 10
Dieses Phänomen trifft auch auf das
Immunsystem zu. Das Immunsystem kann
als eine Art flüssiges kognitives System be-
schrieben werden. Es ist eine Intelligenz, die
eine dynamische Konnektivität mit ihren
Komponenten aufweist. Eine Ameisen-
kolonie ist auch ein Beispiel für ein flüssiges
kognitives System. Manche nennen es ein
flüssiges Gehirn. Allergien sind ein Beispiel
für eine Überreaktion des Immunsystems
auf das Vorhandensein nichttoxischer Subs-
tanzen. Eine Möglichkeit, Allergien vorzu-
beugen, ist die Einnahme von Mikrodosen
ungiftiger Moleküle. Ziel ist es, das Immun-
system so zu trainieren, dass es diese Subs-
tanzen erkennt und lernt, sie zu ignorieren
(Karnaukhov et al. 2015).
Wenn wir den Körper als Lernsystem be-
trachten, führen negative Störungen dazu,
dass die Körperzellen lernen, diese Störung
zu kompensieren. Zellen, die während dieser
Prozesse leicht beschädigt werden, lernen,
sich selbst zu reparieren. Ohne diese Lern-
momente vergisst eine Zelle ihre Fähigkeiten
und ist letztlich weniger in der Lage, effek-
tive Reparaturen durchzuführen. Es ist wie
eine Art Erinnerung, die in bestimmten Ab-
ständen verstärkt werden muss, um nicht zu
vergessen. Im Gegensatz zum Immunsystem
ist der Zellalterungsmechanismus aber ein
älterer biologischer Mechanismus (Kar-
naukhov et al. 2015; Sinclair und Oberdo-
erffer 2009).
In einem Experiment zur Überprüfung
der Hypothese der Verschlechterung der
epigenetischen Information verwendete
Sinclair die Yamanaka-Faktoren, um das
Epigenom geringfügig zu stören. Yama-
naka-Faktoren wandeln eine differenzierte
Zelle in eine pluripotente Stammzelle um.
Sinclair verwendete nur Oct3/4, Sox2, Klf4,
um den epigenomischen Zustand der Zelle
zu stören. Diese Störung brachte die Zellen
zu einer verjüngten Version der Zelle zu-
rück. Das Sinclair-Experiment wurde auf
ein geschädigtes Mausauge angewendet,
 218 A. Menzel und B. Weber
und es wurde durch diese Studie gezeigt,
dass der Schaden im Auge reversiert wurde
(Sinclair 2019b).
Zu den Mitteln, die diese Reparatur-
prozesse und damit den Erhalt von Zell-
informationen aktivieren zählen: Bewegung,
Kalorienreduzierung sowie extreme Kälte-
und/oder Hitzebelastung. Ziel ist es, den
molekularen Reparaturmechanismus regel-
mäßig zu trainieren, um ihn effizient und
damit robust zu halten. Diese Mittel können
den Alterungsprozess umkehren, indem das
Epigenom auf eine frühere Version zurück-
gesetzt wird.
10.2.5  ann es ein
K Zusammenfassend kann man sagen, dass
Alterungsprogramm aus
biologischer Sicht geben?
Moderne Theorien des Alterns beinhalten
zwei Komponenten:
10 Die planmäßigen Theorien des Alterns,
die auch als adaptive oder aktive Theorien
bezeichnet werden, besagen, dass Organis-
men eine genetisch programmierte be-
grenzte Lebensdauer haben, da das Altern
einem evolutionären Zweck dient. Nach die-
sem Konzept wird das Altern zu einer not-
wendigen biologischen Funktion und kann
wie andere biologische Funktionen durch
ein komplexes System der Regulierung der
­Lebensspanne gesteuert werden, das Hor-
mone, Signalwege, Gene und die Erkennung
von äußeren Bedingungen beinhaltet. Eine
längere Lebensdauer als das mittlere artspe-
zifische Alter ist ein Nachteil und erzeugt
daher einen evolutionären Druck für die
Entwicklung der Alterungsfunktion oder
anderer Mittel zur bewussten Begrenzung
der Lebensdauer (Goldsmith 2013).
Im Gegensatz zu diesem Ansatz besagen
stochastische Theorien des Alterns, die auch
als nicht adaptive oder passive Theorien be-
zeichnet werden, dass das Altern keinen gül-
tigen evolutionären Zweck erfüllt und daher
ein fortgeschrittener Mechanismus sei, des-
sen Hauptzweck darin bestünde, Alterung
zu verursachen oder die Lebensdauer auf
andere Weise zu beschränken. Diese Theo-
rien besagen, dass das Altern eine unver-
meidliche unerwünschte Nebenwirkung ei-
niger nützlicher biologischer Funktionen ist
oder dass sich Organismen nicht dazu ent-
wickeln dürfen, länger als die Lebensdauer
bestimmter Arten zu leben. Es hat sich
weder ein Alterungsprogramm entwickelt
noch sind dem Organismus Wartungs- und
Reparaturmöglichkeiten verloren gegangen,
die für das Überleben erforderlich sind. Eine
längere Lebensdauer als ein die mittlere art-
spezifische Dauer hat wenige Vorteile, ist
aber auch nicht von Nachteil (Austad 2004).
das Altern nicht komplett vorprogrammiert
sein kann. Dieser Hypothese widersprechen
aktuelle Beobachtungen (Blagosklonny
2006; Wang et al. 2018). Aus diesem Grund
hat sich die Pseudoprogrammtheorie heraus-
gebildet, welche das Altern als Spiegel aller
sogenannter Langlebigkeitsprogramme und
der Prozesse, die die Lebensdauer regeln,
ansieht (Blagosklonny 2013a). Die Synthese
aller Programme und aller an Alterung
und Langlebigkeit beteiligten Pfade in Ver-
bindung mit einer Reihe zufälliger und nicht
deterministischer Umweltfaktoren führt zu
einer zeitlichen biologischen Entwicklung,
deren Zustand mit der Zeit abnimmt und
zum Zelltod führt. Diesen Zustand nennen
wir Altern. Man kann daher nicht von pro-
grammiertem Altern sprechen, solange diese
Entwicklung eine starke Zufallskomponente
hat (Blagosklonny 2013a).
10.3 Marker verschiedener
Stoffwechselwege des
Alterns
Beim Altern gibt es drei wichtige Stoff-
wechselwege, deren Funktion darin besteht,
den Energiezustand der Zelle zu überprüfen.
Ist, vereinfacht gesagt, dieser Energiezustand
Genetik und Epigenetik des Alterns
niedrig, muss Nahrung aufgenommen wer-
den, ist er aber hoch, soll die Nahrungsauf-
nahme gestoppt werden. Das Genom unserer
Vorfahren vor Millionen von Jahren war an
Umweltbedingungen angepasst, in der Hun-
gern (man würde heute Kalorienrestriktion
sagen) normal und die Zeit der Nahrungs-
zufuhr selten war. Diejenigen Individuen,
deren Stoffwechsel eher auf Speichern von
Energie eingestellt war, hatten einen klaren
Überlebensvorteil, und aus ihnen ist unsere
Art letztlich hervorgegangen. Heutzutage
leben wir allerdings in Zeiten eines ständigen
Nahrungsangebots, Nahrungsmittelknapp-
heit muss künstlich in allen Kulturen durch
Fastenzeiten herbeigeführt werden. Die
Gene, die uns zur Verfügung stehen, sind al-
lerdings immer noch die auf Speicherung
von Energie programmierten Gene unserer
Vorfahren. Diese sind aber heute in Zeiten
der Supermärkte und Schnellimbisse zu
unserem Nachteil geworden. Die Expression
dieser Gene ist heutzutage mit für
Zivilisationserkrankungen des Menschen
verantwortlich. Diese Stoffwechselwege ste-
hen in direktem Zusammenhang mit dem
Energiestoffwechsel und beeinflussen die
Stoffwechselprozesse der Langlebigkeit maß-
geblich. Dies sind die GH/IGF-1-Achse, der
AMPK- sowie der NAD+-Signalweg. Im
Folgenden werden diese drei H­ auptsignalwege
beschrieben.
10.3.1 Die GH/IGF-1-Achse,
Insulinregulierung und
Langlebigkeit
Wachstumshormon (GH), Insulin-like
Growth Factor-1 (IGF-1) und Insulin sind
drei eng verwandte Hormone, die in einem
komplexen System zusammenwirken, das
viele Funktionen reguliert, einschließlich
Energiestoffwechsel von Kohlenhydraten
und Lipiden, Muskelwachstum, Ent-
zündungen und folglich die Prozesse im Zu-
sammenhang mit der Zellalterung.
219 10
GH wird von der Hypophyse unter
der Wirkung hypothalamischer Neuro-­
Hormone ausgeschieden. Diese Sekretion
hat mehrere Konsequenzen, einschließlich
der Stimulierung der hepatischen Sekre-
tion von IGF-1, der Lipolyse durch Stimu-
lation der hormonsensitiven Lipase, des
Muskelanabolismus durch Stimulierung
der Proteinsynthese und des Transports von
Aminosäuren und Glukose auf muskulä-
rer Ebene. Die hepatische Sekretion von
IGF-1 induziert sowohl eine Feedback-In-
hibition der GH-Sekretion als auch eine
Steigerung des Muskelaufbaus. Die GH/
IGF-1-Achse interagiert mit der Insulin-
sekretion und moduliert die Insulinsensitivi-
tät. Je höher der IGF-1-Spiegel ist, desto
besser ist die Insulinempfindlichkeit. Die-
ser Mechanismus beruht auf der Bindung
von IGF-1 an Insulinrezeptoren mit sehr
niedriger Affinität für den Liganden. Es
wurde nachgewiesen, dass seine Bindung
an IGF-1-­ Rezeptoren eine der Ursachen
für die Verbesserung der Insulinwirkung ist.
Dieses Ergebnis wird durch Experimente
bestätigt, bei Patienten mit Mutationen in
GH-­ Rezeptorpromotoren die mit IGF-1
behandelt wurden. Diese Studien zeigen
immer eine Zunahme der Insulinsensitivität
(Laron 1999). Im Widerspruch hierzu steht
allerdings die Tatsache, dass der Rückgang
und nicht die Steigerung der GH-Spiegel
eine Verbesserung der Insulinsensitivität
ermöglicht (Brooks et al. 2007). Dies wird
durch die hemmende Wirkung von IGF-1
auf GH erklärt, obwohl GH die Sekretion
von IGF-1 stimuliert. Der Einfluss von GH
auf die Langlebigkeit wird in der Literatur
widersprüchlich beschrieben, da einerseits
der GH-Mangel das Auftreten von Krebs
reduziert und den Kohlenhydratstoffwechsel
sowie die Insulinsensitivität verbessert, was
einen positiven Faktor für die Langlebigkeit
darstellt, andererseits reduziert der Mangel
an GH die Lipolyse, was zur Fettleibigkeit
führt. Trotzdem wurde bei Snell-Mäusen,
denen GH, TSH und Prolaktin fehlen,
 220 A. Menzel und B. Weber
eine verlängerte Lebensdauer von 42 % be-
obachtet (Flurkey et al. 2001). Ähnliche Er-
gebnisse wurden ebenfalls bei lit/lit-­Mäusen
beobachtet, die aufgrund einer Mutation
im Ghr-Gen einen GH-Mangel aufweisen
und deren Lebensdauer bei Weibchen und
Männchen um 25 % bzw. 23 % erhöht ist –
im Vergleich mit dem Wildgenotyp (Flur-
key et al. 2001). Der Anstieg von IGF-1 hat
auch wichtige Auswirkungen auf die Lang-
lebigkeit. Tatsächlich führen die anabolen
Wirkungen, die GH modulieren und welche
die Insulinsensitivität verbessern, zu einer
Verjüngung sowohl bei der Maus als auch
beim Menschen.
Die FOXO-Transkriptionsfaktoren
(FOXOs) sind evolutionär konservierte Re-
gulatoren der Langlebigkeit und werden
durch den Insulin/Insulin-like Growth Fac-
tor (IGF)-Signalweg gehemmt (Kenyon
2010). FOXO heften sich im Zellkern an die
Steuerbereiche bestimmter Gene und akti-
10 vieren so deren Transkription der Gene. Bei
diesen Genen handelt es sich zum einen um
protektive Gene, die den oxidativen Stress
..      Abb. 10.2 Der Insulin/IGF1-Stoffwechselweg in
der Regulierung der Langlebigkeit. (Mod. nach Bru-
net et al. 2014) (IGF1 = Insulin like growth factor 1;
vermindern, zum anderen um apoptotische
Gene. Damit FOXO seine protektive Funk-
tion erfüllen kann, darf es nicht durch den
P13K/AKT-Signalweg phosphoryliert wer-
den. Dies ist der Fall, wenn die Insulin-
spiegel niedrig sind (. Abb. 10.2).
Bei Würmern führt ein Mangel an
Insulinrezeptoren zur Aktivierung von
FOXO, wodurch die Lebensdauer mehr als
verdoppelt wird (Webb et al. 2016). Bei Mäu-
sen erhöhen Bedingungen, die FOXO-Fak-
toren aktivieren, wie reduzierte IGF1- oder
Insulinsignale, auch die Lebensdauer um
16–33 % (Webb et al. 2016). In Säugetieren
wurde für FOXO3A die Verlängerung der
Lebensdauer als Reaktion auf eine Kalorien-
restriktion nachgewiesen (Shimokawa et al.
2015). Neue Erkenntnisse haben FOXO auch
mit der Lebensspanne von Menschen in Ver-
bindung gebracht, da Single-­ Nucleotid-
Polymorphismen (SNPs) im FOXO3-Locus
in mehreren unabhängigen Kohorten mit
einer außergewöhnlichen Langlebigkeit in
Verbindung gebracht wurden (Morris et al.
2015).
FOXO = Forkhead-Box-Protein O; P =Phosphorylie-
rung; ROS = reaktive Sauerstoffspezies)
Genetik und Epigenetik des Alterns
221 10
Durch Insulin/IGF1 kommt es zur Phos- rung von AMPK beobachtet werden, um-
phorylierung und somit zur Inaktivierung fassen: antikarzinogene Wirkungen, Schutz
von FOXO (s. . Abb. 10.2). Fehlt Insulin/ vor dem metabolischem Syndrom und der
IGF1, wird FOXO nicht inaktiviert und Entzündung in den Adipocyten, verbesserte
kann protektive Gene (z. B. der Entgiftung) Gewichtskontrolle, Erhalt von Knochen-
in mRNA umschreiben. und Knorpelgewebe sowie Protektion gegen
neurodegenerative Erkrankungen (McCarty
2014).
10.3.2 AMPK-Signalweg und
Langlebigkeit
10.3.3 NAD+-Signalwege/Sirtuine
Die Adenosinmonophosphat-aktivierte und DNA-Reparatur
Proteinkinase (AMPK) ist ein Enzym, des-
sen Funktion darin besteht, die Oxidation Sirtuine sind NAD+-abhängige Lysin-­
von Kohlenhydraten und Lipiden und die Deacetylasen (. Abb. 10.3). Es wurden sie-
Hemmung der Lipogenese zu aktivieren, ben Sirtuine identifiziert, wobei SIRT1 am
wenn die zellulären Energieniveaus ab- häufigsten untersucht wurde. Sirt1, Sirt6 und
nehmen. AMPK kommt bevorzugt in der Sirt7 sind im Zellkern lokalisiert, Sirt3, Sirt4
Leber-, Gehirn- und Skelettmuskulatur vor und Sirt5 kommen in den Mitochondrien
(Hardie 2007). Hohe AMPK-Gehalte er- vor, Sirt2 ist das einzig bekannte zytosolische
höhen den ATP-Spiegel und ermöglichen es Sirtuin. Die Funktion der Sirtuine besteht
der Zelle, zelluläre Reparatur- und Protein- darin, die Aminosäure Lysin in den Histonen
recyclingprozesse zu aktivieren. Infolge- zu deacetylieren. Diese Reaktion erfordert
dessen verlangsamt die Aktivierung des NAD+ als Co-Enzym, das während der De-
AMPK-Signalwegs den Alterungsprozess acetylierungsreaktion in N ­ icotinamid um-
erheblich (McCarty 2014). Tatsächlich spie- gewandelt wird. Die Bedeutung von NAD+
gelt AMPK die in der Zelle (Carling et al. ist bei dieser Reaktion von entscheidender
2011) sofort verfügbaren Energiereserven Bedeutung. Beim Menschen kann NAD+
wider, da es das Verhältnis von AMP zu über drei Wege wiedergewonnen werden:
ADP/ATP (Hawley et al. 2010; Xiao et al. über Tryptophan, Nicotinsäure und Nicotin-
2011) widerspiegelt. AMPK imitiert die amidribosid. Die Aktivität von SIRT1 wird
Wirkung von GH und kalorischer Restrik- zum einen erheblich durch die Verfügbarkeit
tion durch Hemmung der mTORC1-­ von Energiesubstraten aus der Nahrung be-
Aktivität (Shaw 2009). Die Auswirkungen einflusst, und zum anderen spielt die
der AMPK-Aktivierung sind vielfältig und Kalorienrestriktion eine wichtige Rolle bei
erklären die durch diese Aktivierung be- der Aktivierung der Sirtuine. SIRT1 hat ähn-
dingte Erhöhung der Lebensdauer. Unter liche Wirkungen wie die Aktivierung von
diesen Effekten befindet sich der Schutz der AMPK, und zwar letztlich die Aktivierung
Blutgefäße, durch Aktivierung der endothe- der mitochondrialen Biogenese und Oxida-
lialen Stickstoffmonoxid-Synthase (eNOS), tion von Fettsäuren und Kohlenhydraten
die durch Erhöhung von HDL und Adipo- sowie die Hemmung der Cholesterin- und
nektin bedingt wird (Deng et al. 2010; Ki- Triglyceridsynthese (Silva und Wahlestedt
mura et al. 2010). Die vaskuloprotektive 2010). Die Regulation der Glykolyse und
Wirkung wird durch das aus der eNOS kata- Glyconeogenese durch SIRT1 wird über den
lysierten Reaktion erzeugte NO erzielt Transkriptionsfaktor PGC-1-alpha ver-
(Cooke 2004; Massion und Balligand 2007). mittelt. Die Aktivierung von PGC-1-alpha
Andere Effekte, die während der Aktivie- vermehrt die Anzahl der Mitochondrien in
 222 A. Menzel und B. Weber
..      Abb. 10.3 Sirtuine sind NAD+-abhängige En-
zyme. Der Bergungsweg verwendet ATP, um NMN
über die katalytische Aktivität von Nicotinamid-­
Mononukleotid-­ Adenyltransferasen (NMNATs) zu-
rück in NAD+ umzuwandeln. Die Sirtuin-Aktivität
verbraucht Nikotinamid-Adenin-Dinukleotid (NAD+)
und erzeugt Effekte, die an verschiedenen Stoffech-
selwegen beteiligt sind. Produkte der Deacetylase-­
10 der Zelle (Rodgers et al. 2005). SIRT1 regu-
liert das Recycling von NAD+, insbesondere
über den Nicotinamid-­ Weg. Durch die
Hochregulierung können zwei Arten von
NAD+-abhängigen Transferase-­Enzymen
aktiviert werden, die am Energiestoffwechsel
beteiligt sind: zum einen die Mono-ADP-Ri-
bosyltransferasen und zum anderen die Poly-
ADP-­Ribosyltransferasen sowie ein anderes
Enzym, das an der DNA-Reparatur beteiligt
ist, nämlich die Poly-ADP-Ribose-Polyme-
rase (Ha und Snyder 1999). Letzteres wird
nicht nur von SIRT1, sondern auch von
SIRT6 (Mao et al. 2011) aktiviert. In diesem
Sinne scheint NAD+ die Verbindung zwi-
schen der Anti-­Aging-Aktivität von Sirtui-
nen, DNA-­Reparaturprozessen und der mi-
tochondrialen ATP-Produktion zu sein. Das
Verständnis dieser Wechselwirkung zwischen
Energieerzeugung, Reparaturprozess, mito-
chondrialem oxidativem Stress und His-
ton-Deacetylierung ermöglicht, ein besseres
Verständnis von der Komplexität der
Alterungsprozesse zu erhalten.
Reaktion sind angegeben. Nicotinamid (NAM) ist ein
Nebenprodukt der Reaktion und ein nicht kompetitiver
Sirtuin-Inhibitor. Nicotinamidphosphoribosyltrans-
fersae (NAMPT) wandelt NAM in das NAD+-Vor-
läufer-Nicotinamidmonocucleotid (NMN) um. (NR
= Nitotinamid-Ribosid; ADP-Ribose = Adenosin-
diphosphat-Ribose; PTM = posttranslationale Modi-
fikation) (Mod. nach William Giblin 2016)
10.3.4 Longevity Gene
Die außergewöhnliche Langlebigkeit wird
durch viele Faktoren beeinflusst, wobei die
Genetik eine entscheidende Rolle spielt. Es
sind zahlreiche Gene beteiligt, wobei jedes
einzelne Gen nur einen moderaten Einfluss
ausübt. Eine im vorletzten Jahr veröffentliche
Meta-Analyse hat gezeigt, dass fünf Poly-
morphismen ACE (rs4340, APOE ε2/3/4,
FOXO3A rs2802292, KLOTHO KL-VS und
IL6 rs1800795) sowie möglicherweise Gene,
welche einen Einfluss auf die kardiovaskuläre
Gesundheit haben, eine Rolle in der außer-
gewöhnlichen Langlebigkeit spielen.
Klotho ist ein Transmembranprotein, das
als solches oder nach Abspaltung der extra-
zellulären Domäne als sezernierter löslicher
Faktor eine Rolle in einer Vielzahl an Signal-
transduktionwegen spielt. Das Klotho-­Gen
ist in vielen Tiermodellen eines der am besten
erforschten Gene, das mit Langlebigkeit zu-
sammenhängt (Wang und Sun 2009). Mäuse
besitzen eine längere Lebensdauer, wenn das
Genetik und Epigenetik des Alterns
Klotho-Gen überexprimiert wird (Fan und
Sun 2016). Klotho spielt sowohl eine Rolle
bei der Entwicklung von altersbedingten Er-
krankungen als auch beim Altern selbst (Xu
und Sun 2015). Die ­ Überexpression von
Klotho beeinflusst den Prozess der Prolife-
ration, Oxidation, Seneszenz, Autophagie
und die Modulation des Insulin-, TGF-β-
und Wnt-­ Signaltransduktionsweges (Ku-
ro-o 2009). Ein Klotho-Mangel aktiviert die
Wnt-­Expression und trägt zur Alterung und
zum Abbau von Stammzellen bei, was z. B.
eine Gewebeatrophie und -fibrose auslösen
kann (Sun et al. 2015).
Apolipoprotein E (APOE) ist ein
Plasmaprotein, das eine wichtige Rolle im
Lipid- und Lipoproteinstoffwechsel spielt.
Beim Menschen gibt es drei Haupt-APOE-­
Isoformen, die als APOE2, APOE3 und
APOE4 bezeichnet werden. Die drei For-
men werden von drei Allelen des gleichen
Gens codiert. Von diesen drei Isoformen
ist APOE3 am häufigsten, während gezeigt
wurde, dass APOE4 mit altersbedingten Er-
krankungen, einschließlich Herz-Kreislauf-­
Erkrankungen und Alzheimer-Krankheit,
assoziiert ist und daher mit zunehmendem
Alter ein erhöhtes Mortalitätsrisiko auf-
weist. In vielen GWAS (genome wide asso-
ciation study), die über 100-Jährige unter-
suchen, kommt jedesmal APOE als mit
dem Altern assoziiert hervor. Hierbei ist das
APOE4 negativ und das APOE2 positiv mit
der Wahrscheinlichkeit assoziiert, über 100
Jahre alt zu werden (Garatachea et al. 2015)
10.3.5  as können wir von
W
monogenetischen
Erkrankungen mit einem
Phänotyp des vorzeitigen
Alterns lernen?
Es sind einige seltene monogenetische „be-
schleunigte Alterungskrankheiten“ be-
kannt, für die es leider keine Therapie gibt.
223 10
Es handelt sich hierbei vor allem um das
Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom
(HGPS), das Werner-Syndrom (WS) und
das Cockayne-Syndrom (CS). Diese Er-
krankungen treten im frühen Lebensalter
auf, weisen jedoch viele Gemeinsamkeiten
mit der Zellalterung eines „normalen“
80-Jährigen auf, auch treten oft die gleichen
Komorbiditäten auf. Interessanterweise gibt
es für diese Erkrankungen Tiermodelle, an
denen man zum einen ein Verständnis für
altersbedingte Erkrankungen selbst und
zum anderen Therapiemöglichkeiten gegen
diese Erkrankungen entwickeln kann.
10.3.5.1 Hutchinson-Gilford-­
Syndrom (HGPS)
Diese Krankheit, HGPS, wurde 1886 von
Hutchinson entdeckt. Es ist eine extrem sel-
tene autosomale Erkrankung, die auch als
Progeria bezeichnet wird. Für diese Krank-
heit ist es charakteristisch, dass Alterungs-
erscheinungen sehr früh, zwischen dem 18.
und 24. Lebensmonat, auftreten. Die
Lebensdauer der Patienten ist im Durch-
schnittlich auf 15 Jahre reduziert. Der Tod
tritt als Folge von vorzeitigem Altern auf,
jedoch ist weder die Entwicklung des
Nervensystems noch die Geschlechtsreifung
betroffen, und es gibt kein vermehrtes Auf-
treten von Krebs, wie dies beim Altern in der
allgemeinen Bevölkerung der Fall ist. Das
Wachstum des Bewegungsapparates ist be-
troffen, und die Patienten sind im Durch-
schnitt nicht größer als 110 cm, das Körper-
gewicht ist auf ca. 25 kg reduziert. Die
biologischen Mechanismen, welche dieser
Pathologie verursachen, sind nicht voll-
ständig bekannt, aber wir wissen, dass das
HGPS durch die Erschöpfung von Stamm-
zellen verursacht wird. Hierdurch ist die Re-
paratur- und Regenerationsfähigkeit von
Gewebe eingeschränkt. Progerin ist ein
Schlüsselprotein, das am HGPS beteiligt ist.
Man konnte zeigen, dass die Progerin-­
Expression die Differenzierung in mensch-
 224 A. Menzel und B. Weber
lichen mesenchymalen Stammzellen initi-
iert, was zur Erschöpfung der Stammzellen
führt. Eine de-novo-Nukleotid-Mutation im
Exon 11 des LMNA-Gens führt zur Pro-
duktion des defekten Progerin-Proteins und
verursacht 90 % der HGPS-Fälle. Diese
­ eignet, die erste „Säule des Alterns“, die
LMNA-C1824T-Mutation verursacht ei-
nige Symptome, die charakteristisch für die
Erkrankung sind (Hautalterung, Osteolyse
der Schlüsselbeine und Phalangen, kardio-
vaskuläre Erkrankungen einschließlich
Atherosklerose, Alopezie und Erkrankungen
des Bewegungsapparates) (Gordon et al.
2014; Korf 2008).
Das HGPS ist also, vor allem im Tier-
modell, dazu geeignet, die Erschöpfung von
Stammzellen, der achten „Säule des Al-
terns“, zu untersuchen (Halaschek-­Wiener
und Brooks-Wilson 2007)
10.3.5.2 Werner-Syndrom (WS)
Beim Werner-Syndrom (WS) handelt es sich
10 um eine seltene autosomal rezessive Er-
krankung (1 pro 100.000), die dem Krank-
heitsbild der Progeria ähnelt, jedoch wich-
tige Unterschiede aufweist, z. B., dass eher
junge Erwachsene und weniger Kinder
davon betroffen sind. Diese Erbkrankheit
wurde zum ersten Mal 1904 vom deutschen
Augenarzt Otto Werner beschrieben. Das
Syndrom führt ab einem Alter von 10 Jahren
zu Entwicklungsstörungen und vorzeitigem
Altern. Die wichtigsten Anzeichen sind: ein
Doppelkatarakt, eine Verlangsamung der
osteomuskulären und dentalen Ent-
wicklung, ein erhöhtes Krebsrisiko, das Auf-
treten von weißem Haar im Alter von 20
Jahren, Atherosklerose sowie Hypo-
gonadismus. Die Lebensdauer der Patienten
beträgt nicht mehr als 50 Jahre. Das WS
weist meistens mehreren Mutationen im
WRN-­Gen auf, das auf Chromosom 8 loka-
lisiert ist und für das WRNp-Protein ko-
diert, eine Helicase (RecQ), welche an der
Reparatur doppelsträngiger DNA-Brüche
beteiligt ist. WRNp spielt eine wichtige
Rolle bei der Aufrechterhaltung der
DNA-Stabilität und beim Schutz vor oxida-
tivem Stress. Eine Verkürzung der Telomere
ist ebenfalls an der Entstehung der Er-
krankung beteiligt (Ishikawa et al. 2011).
Das WS ist also hervorragend dazu ge-
chromosomale Instabilität und die Ver-
kürzung der Telomere, zu untersuchen.
(Crabbe et al. 2007)
10.3.5.3 Cockayne-Syndrom (CS)
Das Cockayne-Syndrom (CS), auch als
Neill-Dingwall-Syndrom bezeichnet, ist eine
seltene autosomale genetische Erkrankung
des Menschen, die durch fortschreitende
Multisystem-Degeneration und vorzeitige
Alterung gekennzeichnet ist. Das CS-­Protein
der Gruppe B (CSB) ist an der DNA-Repa-
ratur und der Transkription beteiligt. Im
Gegensatz zu Zellen mit normaler Reparatur-
kapazität sind Zellen mit CSB-Mangel nicht
in der Lage, Pyrimidin-­Dimere zu reparieren,
die z. B. durch Einwirkung von ultraviolettem
Licht induziert werden. Dieser Mangel spie-
gelt den Verlust der Fähigkeit zur Durch-
führung des DNA-­ Reparaturprozesses
wider, der als Nukleotid-­Exzisionsreparatur
in Verbindung mit der Transkription be-
kannt ist (van Hoffen et al. 1993).
In einer aktuellen Studie (2019) haben
Crochemore et al. gezeigt, dass der Ver-
lust des CSB- Proteins zu einer gesteigerten
Zellalterung, einer erhöhten Lichtempfind-
lichkeit, fortschreitenden neurologischen
Störungen und geistigen Defiziten bei Pa-
tienten mit der CS-Krankheit führt (Cro-
chemore et al. 2019).
Die Bedeutung dieser Studie besteht
darin, dass die Autoren zeigen konnten,
dass ein Faktor (CSB), dessen Konzen-
tration in normalen Zellen als stabil an-
gesehen wird, angereichert wird, wenn sich
die Zellen vermehren. Beim CS kommt es
zu einer Abnahme der CSB-Konzentration
in den Zellen, welche die Überexpression
einer HTRA3-Protease fördert, was zu mi-
tochondrialen Störungen führt, die ursäch-
Genetik und Epigenetik des Alterns
lich mit den pathologischen Phänotypen
des Cockayne-­Syndroms zusammenhängen.
Der CSB-Promotor wird durch Hypo-
acetylierung des Histons H3 während der
DNA-­Reparatur herunterreguliert. Mecha-
nisch bindet CSB an den p21-Promotor, die
Transkription wird herunterreguliert, und
­ mitochondrialen DNA, unabhängig von der
die replikative Seneszenz wird unabhängig
von p53 blockiert. Eine ausreichende Kon-
zentration dieses Proteins ist wichtig, um
Zellalterung zu vermeiden. Die Studie weist
somit einen wichtigen Zusammenhang
auf zwischen dem beschleunigten (patho-
logischen) Alterungsprozess und dem nor-
malen Altern (Crochemore et al. 2019).
Das Team von Crochemore hat mög-
licherweise einen Weg gefunden, um diese
Alterungsroute zu umgehen. Indem die
Zellen in vitro einer Verbindung namens
MnTBAP ausgesetzt wurden, die freie Radi-
kale entfernt, konnten Crochemore et al. das
Altern für eine begrenzte Zeit verhindern.
Obwohl die Verbindung keinen Einfluss auf
die CSB-­ Spiegel hatte, hat sie möglicher-
weise einen Teil des stromabwärts von CSB
gelegenen Stoffwechselweg der zellulären
Seneszenz blockiert (Crochemore et al.
2019).
Die Fähigkeit des CSB-Proteins, DNA
aktiv zu verpacken und zu entpacken,
könnte der Mechanismus sein, der seiner
Chromatin-Remodellierungs-Aktivität zu-
grundeliegt. Gegenwärtig wird die Einführung
von einer Spannung in die DNA als Schlüssel-
komponente der Chromatin-­Remodellierung
angesehen. Durch Veränderung der Konfor-
mation der DNA-Doppelhelix kann CSB
die Histon-­DNA-­Wechselwirkungen sowie
die Wechselwirkung anderer Proteine mit
der DNA verändern. Es wurde auch gezeigt,
dass CSB zelluläre Prozesse wie die Wieder-
herstellung der Transkription nach einer
DNA-­Schädigung, die Transkription des p53-­
Gens, die Reaktion auf Hypoxie und die Re-
aktion auf den Insulin-ähnlichen Wachstums-
faktor 1 reguliert (IGF-1). Diese molekularen
225 10
Mechanismen sowie die sehr wichtige Rolle
von CSB im Kampf gegen oxidativen Stress
könnten seine anti-­ seneszierende Wirkung
erklären (D’Errico et al. 2013). Dieser Ef-
fekt äußert sich auch in der Eliminierung
von 8-OHdG aus dem Genom sowie aus der
Reparatur der durch OGG1 vermittelten
8-OHdG Eliminierung (Osterod et al. 2002;
Stevnsner et al. 2002).
10.4  pigenetische Marker des
E
Alterns
Die Epigenetik ist ein Mechanismus, durch
den unsere Umwelt unser Genom beein-
flussen kann. Im Gegensatz zu genetischen
Mutationen können epigenetische Ver-
änderungen unter bestimmten Bedingungen
rückgängig gemacht werden, was die Epi-
genetik bei der Suche nach Therapien gegen
das Altern interessant macht. Epigenetische
Veränderungen können an die Nachkommen
vererbt werden und diese schädigen. Epi-
genetische Veränderungen der DNA und
von Histonen werden als die dritte „Säule
des Alterns“ geführt (Lopez-Otin et al.
2013).
10.4.1 Methylierung
und Acetylierung
Epigenetische Veränderungen umfassen Än-
derungen in der DNA-Methylierung sowie
die posttranslationale Modifikation von His-
tonen, die am stetigen Wechsel von euchro-
matischen zu heterochromatischen Bereichen
und umgekehrt beteiligt sind. Eine erhöhte
Histon-H4K16-Acetylierung, eine H4K20-
Trimethylierung oder eine H3K4-Trimethylie-
rung sowie eine verringerte H3K9-Methy-
lierung oder eine H3K27-­ Trimethylierung
z. B. sind typische altersbedingte epigenetische
Markierungen.
 226 A. Menzel und B. Weber

10.4.1.1 Epigenetische gionen von Euchromatin, in denen DNA für

Modifikation von DNA die Transkription zugänglich ist, oder in-
Der epigenetische Mechanismus, der eine di- aktive Heterochromatin-Regionen, in denen
rekte chemische Modifikation der DNA be- DNA kompakter und für die Transkription
inhaltet, die DNA-Methylierung, ist für die weniger zugänglich ist. Die wichtigsten, aber
normale Entwicklung unerlässlich und wird nicht die einzigen Histonmodifizierungen,
mit einer Reihe von Schlüsselprozessen in Ver- die im Folgenden kurz beschrieben werden,
bindung gebracht, darunter genomisches Im- sind die Methylierung und die Actelylierung
printing, X-Chromosomen-­Inaktivierung, (Lawrence et al. 2016).
Unterdrückung transponierbarer Elemente,
Alterung und Karzinogenese. Bei der 10.4.1.3 Methylierung von
DNA-Methylierung wird eine Methylgruppe Histonen
an die C5-Position von Cytosin gekoppelt, um Die Histonmethylierung ist eine Modi-
5-Methylcytosin zu bilden. Die Reaktion wird fikation bestimmter Aminosäuren in einem
von einer Enzymfamilie, den DNA-­ Histonprotein durch Hinzufügen von einer,
Methyltransferasen, katalysiert. Diese En- zwei oder drei Methylgruppen. Sie tritt am
zyme übertragen eine Methylgruppe von häufigsten bei H3- und H4-Histonen auf
S-Adenosylmethionin (SAMe) auf Cytosin. und betrifft vor allem die Aminosäuren
Die Methylierung unterdrückt die Transkrip- Lysin, Arginin und Histidin (Byvoet et al.
tion, indem sie die Anlagerung der RNA-Poly- 1972; Fischle et al. 2008). Im Allgemeinen
merase II an den Promotor vor den Genen ist die Methylierung von Arginin in den His-
verhindert. Umgekehrt steht die DNA-De- tonen an der Aktivierung der Gentranskrip-
10 methylierung mit der Gen-­Aktivierung in Ver- tion beteiligt. Im Gegensatz hierzu hat die
bindung. Die Demethylierung kann auf zwei Methylierung eines Lysinrestes (K) je nach
Arten durchgeführt werden: entweder passiv, spezifischem Lysin und Modifikationsgrad
indem einfach der neue DNA-Strang der Re- (Mono-, Di- oder Trimethylierung eines
plikation nicht methyliert wird, oder aktiv einzelnen Lysins) mehrere Auswirkungen
durch einen von der Replikation unabhängigen auf die Chromatinfunktion. Beispielsweise
Prozess. Durch die Demethylierung wird der sind die Dimethylierung H3-K9 und die Tri-
Promotor zugänglich, und somit können die methylierung H3-K27 weitestgehend mit
Transkriptionsfaktoren daran binden. Alters- einer Deaktivierung der entsprechenden
prädiktoren, die auf DNA-Methylierungs- Gene und der Bildung von Heterochromatin
niveaus von CpG-­Stellen basieren, können das verbunden, während die Methylierung von
chronologische Alter in verschiedenen Spezies, H3-K4, H3-K36 oder H3-K79 mit aktivem
einschließlich des Menschen, sehr genau vor- Euchromatin assoziiert ist. Die Dynamik
hersagen. Diese sogenannten Methy- der Histon-Methylierung spielt eine wich-
lierungs-Uhren sind derzeit die besten Bio- tige Rolle in vielen biologischen Prozessen,
marker für die Vorhersage der Sterblichkeit unter anderem bei der Regulierung des Le-
beim Menschen (Jin et al. 2011; Meer et al. bens des Organismus und der Alterung des
2018; Unnikrishnan et al. 2018). Gewebes. Die Histon-Methylierung regu-
liert und/oder wird durch andere Stoff-
10.4.1.2 Epigenetische wechselwege reguliert, die zur Alterung bei-
Modifikationen der tragen oder ihnen entgegenwirken, von
Histone denen derzeit allerdings nur sehr wenige In-
Posttranslationale Modifikationen an His- formationen verfügbar sind (Greer und Shi
tonen regulieren die Genexpression durch 2012). In verschiedenen Krebsarten sind
Umorganisation des Genoms in aktive Re- vermehrt Histon-Methylierungen nachweis-
Genetik und Epigenetik des Alterns
bar (Albert und Helin 2010; Chi et al. 2010).
Die Manipulation von Methyltransferasen
und Demethylasen kann ein therapeutisches
Ziel gegen Alterung sein.
10.4.1.4 Acetylierung
Bei der Acetylierung wird eine Acetylgruppe
von Acetyl-Coenzym A auf die NH3+-Grup-
pen der Aminosäurereste, meistens Lysin
(K), übertragen. Der Prozess wird durch En-
zyme katalysiert, die als Histonacetyltrans-
ferasen (HAT) bezeichnet werden. Wenn
Lysin deacetyliert ist, katalysieren Faktoren,
die als Histon-Deacetylasen (HDAC) be-
kannt sind, die Entfernung der Acetylgruppe
durch ein H2O-Molekül. Die Acetylierung
von Histonresten unterbricht diese Assozia-
tion von Nukleosomen und steigert somit
die Genexpression. Durch die Deacylierung
der Histonschwänze wird die DNA fester
um die Histonkerne gewickelt, wodurch es
für die Transkriptionsfaktoren schwieriger
wird, an Erkennungssequenzen in der DNA
zu binden. Änderungen der Histonacetylie-
rung während des Alterns sind mit be-
stimmten altersbedingten funktionalen Ab-
nahmen verbunden. Beispielsweise ist eine
veränderte Histon-H4-Lysin-12-Acetylie-
rung (H4K12ac) mit einer altersabhängigen
Gedächtnisstörung bei Mäusen assoziiert
(Peleg et al. 2010).
In einer Studie zeigte der Hippocampus
bei älteren Mäusen eine Abnahme der
H4K12-Acetylierung. Diese Änderung
hängt mit dem Verlust der normalen Tran-
skription von Genen zusammen, die für die
Gedächtnisleistung notwendig sind (Peleg
et al. 2010). Man konnte ebenfalls nach-
weisen, dass der Acetylierungsgrad von
H3K14, H4K8 und H4K12 in Oozyten von
Mäusen während der postovulatorischen
Alterung langsam ansteigt und dass eine
Erhöhung des Acetylierungsniveaus durch
Trichostatin die postovulatorische Alterung
beschleunigen kann (Huang et al. 2007).
Trichostatin ist ein Antibiotikum, das auch
gegen Pilze wirksam ist, es blockiert selektiv
Histon-Deacetylasen (HDAC) der Klassen
227 10
1 und 2, nicht aber die HDAC der Klasse
3 (Sirtuine). Bei Säugetieren gibt es sieben
Sirtuine, SIRT1, SIRT6 und SIRT7, die im
Zellkern lokalisiert sind und die Histone de-
acetylieren. Es gibt eine Reihe an Hinweisen,
dass SIRT1 und SIRT6 dem Alterungs-
prozess entgegenwirken. SIRT1 fördert die
Heterochromatisierung und somit die Re-
pression der Transkription durch Deacety-
lierung von H1K26, H3K9 und H4K16 (Va-
quero et al. 2004).
Die Überexpression von SIRT1 in Mäu-
sen schützt die Tiere vor dem metabolischen
Syndrom sowie damit assoziierten Er-
krankungen während des Alterns (Satoh
et al. 2013). SIRT6 deacetyliert in erster
Linie H3K9 und H3K56, um die Genom-
stabilität und die Telomerfunktion zu er-
halten (Tennen und Chua 2011). Es repri-
miert die NF-kB-abhängige Transkription
über Histon-­H3K9-Deacetylierung und för-
dert so die Langlebigkeit (Kawahara et al.
2009).
Die metabolische Aktivität und der Ace-
tylierungsgrad von mitochondrialen Pro-
teinen werden auch während des Alterns
modifiziert. Diese beiden Merkmale des
Alterns sind dadurch verknüpft, dass die
Histonacetylierung mit dem Alter abnimmt.
Diese altersbedingte Veränderung ist mit
Änderungen in der Konzentration wichtiger
Metaboliten verbunden, wie Acetyl-CoA
und NAD+, wodurch das Chromatin nicht
mehr ordnungsgemäß funktioniert (Das
und Tyler 2013; Peleg et al. 2016). Auch in
diesem Prozess ist speziell SIRT6 wichtig,
es wirkt als ADP-Ribosyltransferase für die
Poly(ADP-Ribose)-Polymerase 1 (PARP1)
unter oxidativem Stress und stimuliert die
PARP1-Aktivität, wodurch die Aktivität
von LINE1-Retrotransposons durch ADP-­
Ribosylierung des Corepressorproteins
TRIM28 (Tripartite motif containing 28)
erhöht wird (Van Meter et al. 2014). Die
Überexpression von SIRT6 in Säugetieren
verlängert die Lebensdauer von männlichen
Mäusen, wodurch die IGF1-Signalgebung
in weißem Fettgewebe verringert wird.
 228 A. Menzel und B. Weber
10.4.2 Mikro-RNAs und Inc-RNAs
10.4.2.1 Mikro-RNAs
MicroRNAs (miRNA) sind kleine, nicht ko-
dierende RNA-Moleküle, die etwa 22 Nuk-
leotide lang sind. MiRNA-Gene werden bis
zu 40 % in Introns oder sogar in den Exons
anderer Gene gefunden. MiRNAs funktio-
nieren durch Basenpaarung mit komple-
mentären Sequenzen in mRNA-­Molekülen.
Als Ergebnis wird die Expression dieser
mRNA-Moleküle durch einen oder mehrere
der im Folgenden beschriebenen Prozesse
unterdrückt.
Durch Spaltung des mRNA-Strangs in
zwei Teile kommt es zur:
55 Destabilisierung von mRNA durch Ver-
kürzung des Poly-A-Schwanzes
55 Ineffizienten Translation von mRNA in
Proteine an den Ribosomen
Aus pathologischer Sicht führen Änderun-
10 gen der zellulären Homöostase zur Modula-
tion der molekularen Funktion der Zellen.
Als Ergebnis wird die miRNA-­Expression
dereguliert. Rezente Studien haben gezeigt,
dass miRNAs potenzielle Indikatoren für
Alterung und altersbedingte Erkrankungen
sind. Tatsächlich wurde die zirkulierende
Rate von miRNAs als potenzieller Bio-
marker zur Bewertung von Alterung und
Alterungsstörungen (Kumar et al. 2017; Vic-
toria et al. 2017) verwendet, z. B. im Falle der
Alzheimer-Krankheit (Reddy et al. 2017).
10.4.2.2 Lange, nicht
kodierende RNA
Lange, nicht kodierende RNA (lncRNA)
sind RNA-Moleküle, die nicht in ein Protein
translatiert werden. Es gibt mehrere Grup-
pen von langen, nicht kodierenden RNAs,
die an vielen zellulären Prozessen beteiligt
sind. Sie dienen auch als Vermittler und als
Ziel der Kalorienreduzierung und ver-
längern somit die Lebensdauer (Abraham
et al. 2017). Eine Grundvoraussetzung für
ein optimales Leben und eine optimale Zell-
form ist die Erhaltung der Genomstabilität,
die die Funktion und die getreue Über-
tragung genetischer Informationen gewähr-
leistet (Munoz-Culla et al. 2017). Die Evolu-
tion der Expression von lncRNAs ändert
sich mit dem chronologischen Alter. Tat-
sächlich liegt im Zeitraum zwischen 47 und
54 Jahren die Periode, in dem die Expression
von lncRNA am stärksten nach oben oder
unten gestört ist.
10.5 Biologische Uhren
Der Begriff der biologischen Uhr oder der
Alterungsuhr ist ein Ansatz, um das chrono-
logische Alter mit dem tatsächlichen bio-
logischen Alter zu vergleichen. Es gibt eine
ganze Reihe von Ansätzen, eine solche Uhr
zu konzipieren. Die heute wichtigsten Uhren
sind zum einen die Methylierungsuhr nach
Horvath und zum anderen die Messung der
Telomerlänge.
10.5.1 Horvath‘s clock
Mithilfe der DNA-Methylierung von CpG-­
Inseln, die vor den Genen lokalisiert sind,
hat der Biostatistiker Steve Horvath einen
Satz von 353 Cytosin-Methylierungsstellen
identifiziert, die am besten mit dem chrono-
logischen Alter des Menschen korreliert
sind. Diese CpG-Stellen vor den Genen wer-
den in bestimmten Lebenssituationen me-
thyliert und in anderen demethyliert. Die
Abweichung zwischen dem biologischen
DNA-Methylierungsalter und dem chrono-
logischen Alter eines Individuums gibt Auf-
schluss über den tatsächlichen Alterungs-
zustand des Individuums. Laut Horvath
sind schnellere epigenetische Uhren negativ
mit Langlebigkeit und positiv mit chroni-
schen Erkrankungen assoziiert (Petkovich
et al. 2017).
Genetik und Epigenetik des Alterns
Auf DNA-Methylierung basierende
Biomarker, die häufig als „epigenetische
­Alterungsmarker“ oder „epigenetische Uhren“
bezeichnet werden, ermöglichen eine extrem
gute Abschätzung für das chronologische
Alter des Individuums (Bocklandt et al. 2011).
Diese Abschätzung ist für die meisten Ge-
webearten valide, einschließlich Vollblut, Ge-
hirn, Brust, Niere, Leber, Lunge, Speichel und
verschiedene Zelltypen, einschließlich CD4- +
T-Zellen, Monozyten, B-Zellen Gliazellen
und Neuronen (Martin-Subero und Oakes
2018), (Chen et al. 2016).
Obwohl diese epigenetische Uhr das
tatsächliche biologische Alter recht exakt
widerspiegelt und sehr gut mit alters-
bedingten Erkrankungen übereinstimmt,
berücksichtigt sie keine Umweltfaktoren,
die ebenfalls einen Einfluss auf das Altern
haben (Horvath 2013).
Externe Faktoren wie Rauchen und Adi-
positas, im Allgemeinen also der Lebensstil,
beeinflussen die epigenetische Uhr ebenfalls.
Um diesen Faktoren Rechnung zu tragen,
hat Horwarth im Jahr 2018 seine ursprüng-
liche Uhr optimiert und eine neue Uhr na-
mens „PhenoAge“ etabliert. Für diese neue
epigenetische Uhr verwendete er Daten aus
einer klinischen Studie, NHANES IV, in
der historische Blutproben aus den 1990er-­
Jahren analysiert wurden, und kombinierte
die Ergebnisse mit Angaben aus Kranken-
hausakten und Sterbeurkunden der Pro-
banden, um nach Methylierungsstellen
zu suchen, die am besten mit den alters-
bedingten Gesundheitsergebnissen korre-
lierten. Das Ergebnis war die phänotypische
Uhr, DNAm PhenoAge. Mit dieser aktuel-
len Uhr werden 513 Methylierungsstellen zur
Vorhersage des biologischen Alterns ana-
lysiert (Levine et al. 2018). Der Anstieg des
DNA-Pheno-Alters ist mit einer erhöhten
Aktivierung pro-inflammatorischer Stoff-
wechselwege wie NFKb verbunden, erhöhter
Interferon-(IFN-)Signalisierung und einer
Erniedrigung der DNA-­Reparaturkapazität.
Viele dieser Stoffwechselwege haben Aus-
229 10
wirkungen auf die Anpassung an exogene
und endogene Stressoren. Faktoren, die mit
Stressresistenz zusammenhängen, sind mit
der Lebenserwartung und Alterung assozi-
iert (Finch 2010; Levine und Crimmins 2016;
Zhou et al. 2011).
Dieses erklärt auch zum Teil ein Ergeb-
nis der Studie, dass die Korrelation von
PhenoAge mit der Sterblichkeit für Raucher
höher war als für Nichtraucher. Unter Um-
ständen kann man PhenoAge für eine an-
geborene erhöhte Anfälligkeit für Alterungs-
stressoren wie Zigarettenrauch verwenden.
10.5.2 Telomere
Als Telomere bezeichnet man die Chromo-
somenenden, die aus repetitiver DNA und
einem Proteinkomplex bestehen. Die
Telomerlänge ist bei der Geburt maximal
und nimmt mit dem Alter allmählich ab,
somit kann man die Telomerlänge als Bio-
marker für das biologische Alter verwenden.
Aufgrund der Aktivität des Enzyms Telome-
rase, das zusammen mit den Telomeren eine
enzymatische Einheit bildet, kann die
Telomerlänge beibehalten respektive ver-
längert werden (Pavlov et al. 2017). Die
Telomerlänge hängt z. B. auch mit dem
Risikoallel APOE4 für die Alzheimer-Er-
krankung zusammen (Wikgren et al. 2012).
APOE4-­ Allelträger besitzen kürzere Telo-
mere und ein erhöhtes Risiko, an Alzheimer
zu erkranken. Es besteht auch eine enge Be-
ziehung zwischen Telomerlänge und psychi-
schem Stress (Mathur et al. 2016).
Ein erhöhtes Risiko für Malignome
und den Alterungsprozess ist ebenfalls mit
Änderungen der Telomerlänge und der
Telomerase-­ Aktivität verbunden (Zvereva
et al. 2010). Mit jedem mitotischen Zyklus
geht eine bestimmte Anzahl von Nukleo-
tiden verloren, die zur Verkürzung der Te-
lomere führt und zelluläre Seneszenz ver-
ursacht. Die Bedeutung der Telomerlänge
in altersbedingten Erkrankungen des Men-
 230 A. Menzel und B. Weber
schen wird daran erkannt, dass in d ­ iesen
Erkrankungen aufgrund des oxidativen
Stresses und einer erhöhten Entzündung
verkürzte Telomere vorkommen. Somit
kann die Länge von Leukozyten-Telomeren
als potenzieller Marker für die kumulative
Wirkung des Alterns und die Belastung
durch oxidativen Stress auf einen Organis-
mus dienen (von Zglinicki und Martin-Ruiz
2005). Obwohl sich die Telomere mit zu-
nehmendem Alter verkürzen, ist diese
Abnahme der Telomerlänge nicht unver-
meidlich und kann durch einen gesunden
Lebensstil verzögert werden. So verhindern
z. B. mehrfach ungesättigte Fettsäuren und
Vitamin D die Geschwindigkeit, mit der sich
Telomere verkürzen (Richards et al. 2007;
Russo 2009).
Höhere Konzentrationen von Omega-­3-­
Fettsäuren (EPA und DHA) verringern so-
wohl die Verkürzung der Telomere als auch
den oxidativen Stress und die Entzündung
10 innerhalb einer Zelle (Cassidy et al. 2010).
Vitamin D spielt eine positive Rolle in alters-
bedingten Erkrankungen und ist mit der Er-
haltung der Telomerlänge assoziiert.
Alterung und die Verkürzung von Telo-
meren sind somit voneinander abhängige
Prozesse. Ob die allmähliche Verkürzung
der Telomere im Laufe der Zeit eine der
Hauptursachen für das Altern ist oder aber
eine Folgereaktion des Alterns und anderer
Umweltfaktoren ist, bleibt umstritten.
Neuere Untersuchungen deuten auch
darauf hin, dass das Altern durch Aktivie-
rung der Telomerase rückgängig gemacht
werden kann. Insbesondere kann die vor-
zeitige Alterung in Telomerase-defizienten
Mäusen revertiert werden, wenn die Telo-
merase in diesen Mäusen wieder genetisch
aktiviert wird (Lopez-Otin et al. 2013; Parks
und Stone 2017). Um durch das Verlängern
der Telomere ebenfalls eine Verlängerung
der Lebensspanne im Menschen zu erzielen,
ist ein verlockender therapeutischer Ansatz,
der jedoch in letzter Konsequenz viele Risi-
ken birgt. Krebszellen, die durch einen Ver-
lust an Differenzierung charakterisiert sind
und somit Stammzellen wieder ähnlicher
werden, haben lange Telomere und eine
aktive Telomerase. Ein gesunder Lebens-
stil verhindert die Verkürzung der Telomere
und ist mit Sicherheit zu empfehlen. Für
eine Gentherapie am Telomerase-Gen ist es
aber noch zu früh. Obwohl Liz Parrish, Lei-
terin der Biotech Firma „Bioviva“, im Jahre
2015 in Asien das Telomerease-Gen bei sich
selbst durch eine Gentherapie manipulie-
ren ließ, sodass die Telomerase wieder aktiv
wurde, ist dies als einzelnes Experiment zu
betrachten, das im Moment noch im Gange
ist. Auf ihrer Homepage werden zwar
immer die jüngsten Daten ihres Gesund-
heitszustandes und der Telomerlänge ver-
öffentlicht. Laut den letzten Angaben haben
sich in drei Jahren die Telomere bei Liz Par-
rish um 15 % verlängert, ohne dass Krebs-
zellen nachgewiesen wurden. Der Zeitraum
von drei Jahren ist aber zu kurz, um eine
Gesamtbeurteilung abzugeben.
10.6 Präventions- und
Therapiemöglichkeiten
10.6.1 Vorbeugung
10.6.1.1 Kalorische Restriktion
Die Auswirkungen der kalorischen Restrik-
tion ohne Mangelzustand an Nährstoffen in
Bezug auf die Langlebigkeit wurde bei unter-
schiedlichen Tieren, von Caenorhabditis ele-
gans über Drosophila melanogaster, Mäusen
und auch in Menschenaffen untersucht.
Unterernährte Tiere haben im Durchschnitt
eine längere Lebensdauer als Tiere, die nach
Belieben gefüttert werden. In Bezug auf die
durchschnittliche Lebensdauer beträgt der
Zugewinn an Lebensdauer bei der Ratte ca.
ein Jahr. Derzeit wird geschätzt, dass eine
nach dem Wachstumsende beginnende
Nahrungsrestriktion die Langlebigkeit dieser
Tiere in der Größenordnung von 30–40 % er-
höht. Die Einschränkung der Nahrung hat
positive Auswirkungen auf die Alterung, da
Genetik und Epigenetik des Alterns
das Auftreten von Krankheiten und Tumo-
ren verzögert wird. Eine Kalorienrestriktion
wirkt sich jedoch nicht nur positiv aus (Bond
et al. 1989). Beispielsweise sind unterernährte
Ratten weniger resistent gegen Kälte als nor-
mal gefütterte (Campbell und Richardson
1988). Trotz dieser wenigen negativen Ergeb-
nisse scheint es so zu sein, dass Ratten und
Mäuse, die unter Kalorienrestriktion ge-
züchtet werden, länger leben, weniger schnell
altern und weniger krank sind, als wenn sie
nach Belieben gefüttert werden. Infolge-
dessen hätte die kalorische Restriktion einen
pleiotropen Effekt, was es derzeit unmöglich
macht, einen einzelnen Mechanismus zu defi-
nieren, der die Verbesserung der Langlebig-
keit erklärt. Kalorienreduzierung kann oxi-
dativen Stress im Körper und nicht-
enzymatische Glykosylierungsphänomene
reduzieren, es können jedoch auch andere
Wirkmechanismen involviert sein. Allein die
Einschränkung des Fettes als Nahrungs-
mittel erhöht beispielsweise die Langlebigkeit
nur mäßig und uneinheitlich. Eine zweite
Hypothese lautet: Da es offensichtlich auf
die Menge an Kalorien ankommt, führt
Kalorienrestriktion ohne Mangel zu einer
geringeren Energieerzeugung als bei Tieren,
die bis zur Sättigung gefüttert werden. Der
Energieaufwand bleibt jedoch für beide Tier-
gruppen gleich (Gjems 2014). Es scheint,
dass der Körper eine konstante Stoffwechsel-
rate aufrechterhält, indem er das Körper-
gewicht an die verfügbare Nahrung anpasst.
Eine dritte Hypothese basiert auf der Theo-
rie der freien Radikale. Unterernährte Tiere
haben geringere Konzentrationen an freien
Radikalen und daher weniger oxidativen
Stress. Während die Auswirkungen der kalo-
rischen Restriktion auf antioxidative En-
zyme unklar sind (Sohal et al. 1994), ist die
entscheidende Rolle der freien Radikale beim
Altern inzwischen bekannt. Die letzte Hypo-
these geht davon aus, dass die kalorische Ein-
schränkung eine Belastung darstellt, auf die
der Körper reagieren muss. Das neuroendo-
krine System und insbesondere die Anti-­
Stress-­Hormone könnten dann die Ursache
231 10
für die schützende Wirkung der Kalorien-
reduktion sein. Tatsächlich zeigten die Rat-
ten einen Anstieg der Corticosteroid-
Hormone im Blut, was wahrscheinlich dazu
führt, dass sie eine gute Immunantwort auf-
rechterhalten und verminderte Entzündungs-
reaktionen aufweisen.
Endokrine Veränderungen im Zu-
sammenhang mit kurzfristiger kalorischer
Deprivation sind in Nagetiermodellen gut
beschrieben (Shimokawa und Higami 2001).
Viele dieser Veränderungen wurden auch
beim Menschen beschrieben und umfassen
eine Abnahme von Trijodthyronin (Shimo-
kawa und Higami 2001), eine Erhöhung
der Cortisolsekretion (Fichter et al. 1986)
und eine Abnahme der Gonadenfunktion.
In einer 48-stündigen Langzeitstudie an
Mäusen zeigten Ahima et al. (Ahima et al.
1996), dass die Reduktion des Leptins,
durch den Hungerzustand bedingt, zu einer
verminderten Aktivität der Gonaden- und
Schilddrüsenfunktion führt, dafür aber die
Aktivität der Nebennierenrinde zunahm. Es
wurde lange angenommen, dass das neuro-
endokrine System einige der Anti-Aging-­
Wirkungen der kalorischen Restriktion
koordiniert und integriert (Everitt 2003;
Everitt et al. 1980), jedoch ist wenig über
die durch chronische kalorische Restriktion
modifizierten neuroendokrinen Signalwege
bekannt (Armario et al. 1987; Herlihy et al.
1990; Sabatino et al. 1991) .
10.6.1.2 Senolytika
Senolytika sind eine Klasse von Medika-
menten, die alternde Zellen selektiv ent-
fernen. In einer Studie von Kirkland und
Tchkonia (Kirkland und Tchkonia 2017)
wurde eine Kombination von Dasatinib und
Quercetin verwendet, um zu untersuchen,
ob diese senolytische Kombination die
durch alternde Zellen verursachte physische
Dysfunktion verlangsamen kann. Dasatinib
wird zur Behandlung einiger Formen der
Leukämie angewendet, während Quercetin
ein Flavonoid ist, das in manchen Früchten
und Gemüsen vorkommt. Eine zweiwöchige
 232 A. Menzel und B. Weber
Behandlung in sehr alten Mäusen mit die-
sem Dasatinib/Quercetin-Gemisch zeigt
eine Steigerung der Langlebigkeit von 36 %.
Derzeit werden mehrere senolytische
Mittel, meistens im Mausmodell, untersucht
(Baumann 2018). Einige Krebsmedikamente
können in niedrigen Dosen das Altern und
altersbedingte Erkrankungen verlangsamen
(Blagosklonny 2013b). Die gezielte Be-
kämpfung von „Targets“ in Krebsstoff-
wechselwegen mit Antikrebsmitteln kann
Auswirkungen auf die Langlebigkeit haben,
diese Arzneimittel vermitteln einen Schutz
vor Stoffwechselerkrankungen während des
Alterns, unabhängig von den Wirkungen auf
die Krebserkrankung. Ein Medikament na-
mens Navitoclax, auch als ABT-263 bekannt,
wurde zunächst als Krebsmedikament unter-
sucht (Shoemaker et al. 2008). Navitoclax
wirkt auch gegen das Altern von hämato-
poetischen Stammzellen (Chang et al. 2016).
10 10.6.1.3 Nahrungsergänzungs-
mittel
Nahrungsergänzungsmittel sind vor allem
dann sinnvoll, wenn es nicht möglich ist, mit
der Ernährung ausreichend schützende
Oligoelemente zuzuführen.
Externe Antioxidantien in Form von Vi-
taminen, vor allem Vitamin C und E, sind
negativ mit dem Altern korreliert (Thomas
2006). B-Vitamine sind vor allem sinnvoll
in der Vorbeugung der Hirnalterung (Sel-
hub et al. 2010). Catechine aus grünem
Tee (Assuncao und Andrade 2015) und
NAD-­Vorläufermoleküle wie Nicotinamid-­
Mononucleotid (NMN) und Ubichinon sind
vor allem für den Schutz der Mitochondrien
zu empfehlen (Hernandez-Camacho et al.
2018; Rajman et al. 2018). Man sollte aber
auch auf eine ausreichende Zufuhr von
Mikronährstoffen, vor allem Zn, Cu, Fe, Mn
achten. Sie spielen eine entscheidende Rolle
sowohl bei der Aufrechterhaltung und Ver-
stärkung der Immun- und Antioxidations-
leistung (Mocchegiani et al. 2012; Parmalee
und Aschner 2016; Prasad 2008).
10.6.1.4 NADH
NADH ist die reduzierte Form von NAD+,
einem wichtigen Cofaktor in mehreren zel-
lulären Prozessen, wie z. B. der Histon-­
Deacetylierung in Zusammenarbeit mit Sir-
tuinen und dem DNA-Reparaturprozess.
Die Supplementierung mit NAD+-Vorläu-
fern wie Nicotinamid-Ribosid oder NADH
scheint den Zustand einiger Patienten mit
altersbedingten Pathologien wie Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen oder Erkrankungen im
Zusammenhang mit der mitochondrialen
Dysfunktion zu verbessern (Martens et al.
2018). Diese Vorläufer haben eine mimeti-
sche Wirkung der durch Kalorien-
reduzierung erzielten Wirkungen (Lin et al.
2000; Mouchiroud et al. 2013). Diese Ergeb-
nisse können durch die Tatsache erklärt wer-
den, dass die Konzentration von NAD+ mit
dem Alter abnimmt und dass diese Ab-
nahme wahrscheinlich eine Abnahme der
Sirtuin-Aktivität und der DNA-Reparatur-
enzyme induziert (Yoshino et al. 2011; Zhu
et al. 2015a).
10.6.1.5 Resveratrol
Resveratrol ist das wohl bekannteste Mimeti-
kum der kalorischen Restriktion. Seine in-
duzierende Wirkung auf die Sirtuine, ins-
besondere auf SIRT1, macht Resveratrol zu
einem Anti-Aging-Mittel, das aus natürlichen
Stoffen wie der roten Weintraube oder aus
Beeren gewonnen wird (Camins et al. 2009; Li
et al. 2017). Resveratrol besitzt unter ande-
rem folgende Eigenschaften: antioxidative
Wirkung, Hemmung der Zellalterung und
Apoptose, Stimulierung der Telomerase-Ak-
tivität sowie die Aktivierung der FOXO3a-Ex-
pression. Es besitzt ebenfalls eine protektive
Wirkung gegen verschiedene altersbedingte
Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen, neurodegenerative Er-
krankungen oder Adipositas. Der Nutzen
seiner Anwendung in der Krebstherapie oder
bei einer nichtalkoholischen Fettleber-
erkrankung ist w ­idersprüchlich respektive
mehrdeutig (Berman et al. 2017).
Genetik und Epigenetik des Alterns
233 10
10.6.1.6 Metformin mTORC2 bezeichnet. Über mTORC2 ist
Metformin ist ein Medikament zur Be- wenig bekannt, dafür ist die Wirkungs-
handlung von Diabetes Typ 2. Die Anti- weise von mTORC1 sehr gut untersucht.
Aging-­ Wirkung von Metformin geht weit mTORC1 wird durch Aminosäuren akti-
über seine antidiabetische Wirkung hinaus. viert (Bar-­Peled und Sabatini 2014). Nach
Tatsächlich aktiviert Metformin AMPK der Aktivierung sendet der mTORC1-Kom-
und inhibiert den mTORC1-Stoffwechsel- plex Signale in den Zellkern, wo spezi-
weg. Es führt ebenfalls zu einer Verringerung fische Gene aktiviert werden. Diese Gene
der Insulinresistenz und folglich zu einer repräsentieren mehrere Gruppen, die für
Verringerung der Insulinsekretion, zur In- die Synthese von Proteinen, Lipiden und
hibierung des Komplexes 1 der mitochond- Lysosomen sowie für Autophagie, den Zell-
rialen Atmungskette, die für die Produktion zyklus, das Wachstum, den Stoffwechsel, die
eines Teils der reaktiven Sauerstoffspezies Stressreaktion und die Funktion der Mito-
verantwortlich ist. Metformin ermöglicht chondrien verantwortlich sind (Laplante
auch eine verbesserte DNA-­Reparatur, ver- und Sabatini 2009).
ringerte Entzündungsreaktionen und ver- Nährstoffe, insbesondere Aminosäuren,
ringerte zelluläre Seneszenz (Camins et al. werden also in die Zelle transportiert und
2009; Garg et al. 2017; Podhorecka et al. aktivieren eine Gruppe von Proteinen, die
2017). als RAGs bezeichnet werden. Diese Pro-
teine sind in den Membranen von Endoso-
10.6.1.7 Rapamicin men und Lysosomen lokalisiert. Zusätzlich
Wissenschaftler der Pharmafirma Wyeth erfasst mTOR auch das Vorhandensein von
entdeckten durch Zufall in einer Boden- Wachstumsfaktoren. Beispielsweise binden
probe, die sie im Jahr 1965 auf den Oster- Insulin und IGF-1 an den Insulinrezeptor
inseln entnahmen, dass die Bodenbakterien und induzieren eine Reihe von Wechsel-
Streptomyces hygroscopicus eine Ver- wirkungen mit verschiedenen Molekülen.
bindung sekretierten, die starke immun- Das Signal wird auf ein Molekül namens
suppressive Eigenschaften aufwies. Nach RHEB übertragen. RHEB aktiviert zu-
dem polynesischen Inselnamen Rapa Nui sammen mit RAG-Proteinen mTORC1
bezeichneten sie die Verbindung als Rapa- (Groenewoud und Zwartkruis 2013). Das
mycin. Es war klar, dass es ein Immunsup- heißt, Aminosäuren sind für die Aktivie-
pressivum war, aber niemand wusste zu Be- rung von mTORC1 und damit für dessen
ginn, wie die Substanz genau wirkt. negative Auswirkungen auf die Alterung ab-
Rapamycin dringt in die Zelle ein, um ein solut notwendig.
bestimmtes Protein zu binden. Das Protein Das Faszinierende ist, dass ebenfalls der
wurde als mTOR (target of rapamycin) be- Energiestatus der Zelle mTORC1 induziert.
zeichnet (Seto 2012). mTORC1 weiß also, wie viel Energie der
Die Funktion von mTOR wurde in vielen Zelle im Moment zur Verfügung steht, es
molekularbiologischen Studien aufgedeckt. wird die Anzahl der ATP-Moleküle erfasst.
Es stellte sich heraus, dass es sich um einen AMPK (AMP-aktivierte Proteinkinase) in-
Schalter handelt, der in der Lage ist, das aktiviert im Falle eines niedrigen Energie-
Zellwachstum ein- bzw. auszuschalten. niveaus, d. h. bei niedrigem ATP-Gehalt,
Das mTOR-Gen codiert für das mTOR-­ mTORC1.
Protein, welches auf zwei verschiedene Oxidativer Stress wirkt ebenfalls als In-
Arten wirken kann, weil es mit anderen duktor von mTORC1 (Heberle et al. 2015).
Molekülen zwei Komplexe ausbilden kann. Oxidativer Stress führt zu schlecht funktio-
Diese Komplexe werden als mTORC1 und nierenden Mitochondrien, die den Riesen-
 234 A. Menzel und B. Weber
anteil der zellulären Energie (ATP) produ-
zieren. Daher wird AMPK aktiv und fährt
mTORC1 herunter. DNA-Schäden ver-
wenden einen anderen Weg, den, als der den
das Tumor-Suppressor-Gen p53 benötigt
und mTORC1 inaktiviert (Hasty et al. 2013).
Dies ist eine Möglichkeit für die Zelle,
eine Pause einzulegen und Prozesse zu redu-
zieren, die viele Ressourcen erfordern, und
sich selbst zu reparieren und zu überleben,
bis der Stress wegfällt.
Zusammenfassend kann man also sagen,
dass mTOR für das Altern äußerst wichtig
ist. Es bildet zwei Komplexe, die sich unter-
schiedlich verhalten. mTORC1 wird durch
verschiedene Faktoren wie Aminosäuren,
Wachstumsfaktoren, Energie und Stress
aktiviert, was für das Altern schlecht ist.
Wachstumsfaktoren aktivieren mTORC2,
eine Tatsache, die ebenfalls für die Lang-
lebigkeit ungünstig ist.
10
10.6.2 Yamanaka-Faktoren
Die Entdeckung dieser Faktoren geht auf die
japanischen Wissenschaftlerin Shynia Yama-
naka aus dem Jahr 2006 zurück, die ihr 2012
den Nobelpreis einbrachte. Yamanaka ver-
mutete, dass jede Stammzelle oder hoch-
differenzierte Zelle wieder zu einer pluri-
potenten Stammzelle werden kann, indem
man das entsprechende Differenzierungs-
programm deaktiviert. Ein Schlüsselexperi-
ment von Yamanaka bestand darin, bereits
differenzierte Zellen durch die Einführung
von nur vier Transkriptionsfaktoren (Oct3/4,
Sox2, Klf4, c-Myc) zu de-differenzieren und
wieder in embryonale Stammzellen zu über-
führen. Somit sind diese bereits differenzier-
ten Zellen wieder pluripotent geworden und
haben dieselben Eigenschaften wie embryo-
nale Stammzellen, insbesondere die Eigen-
schaft der Selbstregeneration (Takahashi und
Yamanaka 2006). Dieser Zelltyp wird jetzt
als induzierte pluripotente Stammzellen be-
zeichnet (iPSc). In den iPSc unterdrücken die
Yamanaka-Transkriptionsfaktoren Gene, die
für die Zelldifferenzierung verantwortlich
sind. Diese Methode wurde in Tiermodellen,
aber auch am Menschen getestet. Tatsächlich
haben Yamanaka und ihr Team (2007) ge-
zeigt, dass es möglich ist, humane Fibro-
blasten in embryonale Stammzellen zu de-dif-
ferenzieren (Takahashi et al. 2007). Die
therapeutischen Anwendungen dieser Me-
thode sind für die Anti-Aging-Medizin revo-
lutionär. In der Tat hat sich bei Labortieren
gezeigt, dass es möglich ist, kranke Zellen zu
de-differenzieren und eine signifikante Ver-
besserung des Zustands des Tieres zu er-
zielen. Unter den mit Yamanaka-­Faktoren
behandelten Pathologien befinden sich:
Sichelzellkrankheit (Nori et al. 2011),
Parkinson-Krankheit (Wernig et al. 2008),
Veränderungen des Rückenmarks (Higgs
2008).
Zurzeit hat diese Methode noch Ein-
schränkungen in der Humanmedizin, von
denen die beiden wichtigsten folgende sind:
55 Die Vektoren, die der Einführung der
vier Faktoren dienen, sind virale Vek-
toren; es ist nicht zu 100 % sicher, dass
diese Vektoren immer nur an der spezi-
fischen Stelle integrieren. Die Integration
an unerwünschten Stellen kann zur Ak-
tivierung oder Deaktivierung von lebens-
notwendigen Genen führen.
55 Zwei Yamanaka-Transkriptionsfakto-
ren sind Onkogene (Klf4 und c-Myc),
und in Zellen, die dieser De-differen-
zierung unterzogen wurden, wurde eine
Zunahme der Expression karzinogener
Gene beobachtet (Gutierrez-Aranda
et al. 2010; Zhang et al. 2012).
. Tab. 10.1 gibt einen Überblick zu Präven-
tions- und Therapiemöglichkeiten in Ab-
hängigkeit von veränderten Laborwerten
bzw. Genvarianten in Bezug auf ApoE.
(Siehe auch hierzu das Kapitel „Altern mes-
sen – Biomarker des Alterungsprozesses“.)
Genetik und Epigenetik des Alterns
235 10

..      Tab. 10.1 Anti-Aging-Biomarker und damit verbundene Empfehlungen

Biomarker Gemessene(r) Empfehlungen bei Werten außerhalb der Referenz

Wert(e) bzw. Norm bzw. Referenzbereich
Genotypen

DHEA erniedrigt Supplementation mit DHEA (Corona et al.

Körperliche Aktivität 2013)
Stress Management (Heaney et al.
Supplementation mit Melatonin 2013)
(McCraty et al.
1998)
(Pawlikowski et al.
2002)
Cortisol erhöht Körperliche Aktivität (Heaney et al.
Stress-Management 2013)
Yoga (McCraty et al.
Qualität des Schlafens 1998)
(Thirthalli et al.
2013)
(Bassett et al.
2015)
Geschlechts- erniedrigt Supplementation mit Testosteron (Decaroli und
hormone Eine Testosteronsupplementation Rochira 2017)
verbessert die Wirksamkeit der Östrogen- (Cappelletti und
therapie bei Frauen Wallen 2016)
Körperliche Aktivität verbessert den (Hawkins et al.
Testosteronspiegel bei Männern 2008)
Körperliche Aktivität bringt die (Ennour-Idrissi
Geschlechtshormone der Frau ins et al. 2015)
Gleichgewicht
TSH erhöht Supplementation mit: (Talaei et al. 2018)
Vitamin D (Andrade et al.
Selen 2018; Ventura
Zink et al. 2017)
Vitamin A (Severo et al.
Omega 3 2019)
(Farhangi et al.
2012)
(Souza et al. 2010)
Oxidativer erhöht Supplementation mit: (Liu et al. 2016)
Stress Ubichinon (Traber und
Vitamin C Stevens 2011)
Vitamin E (Traber und
Selen Stevens 2011)
Glutathion (Wang et al. 2017)
N-Acetyl-Cystein (Richie Jr. et al.
Polyphenolen 2015)
(Kerksick und
Willoughby 2005)
(Beyer et al. 2017;
Speer et al. 2019)
(Fortsetzung)
 236 A. Menzel und B. Weber

..      Tab. 10.1 (Fortsetzung)

Biomarker Gemessene(r) Empfehlungen bei Werten außerhalb der Referenz

Wert(e) bzw. Norm bzw. Referenzbereich
Genotypen

Inflammati- erhöht Supplementation mit: (Tabrizi et al.

ons- Marker Kurkumin 2019)
Omega 3 (Li et al. 2019)
Polyphenolen (Speer et al. 2019)
Körperliche Aktivität (Woods et al.
Entzündungshemmende Diät, reich an 2012)
Obst und Gemüse und Körnern (Tyrovolas et al.
Stress-Management 2018)
(Lavretsky und
Newhouse 2012)
LDLox erhöht Supplementation mit: (Richie Jr. et al.
Glutathion 2015)
Berberin (Ju et al. 2018)
Statine (Cholesterol
Resveratrol Treatment Trialists
Gesteigerter Verzehr von Meeresfrüchten, et al. 2012)
Obst, Gemüse und Samen und Reduktion (Marques et al.
des Fleischverzehrs 2018)
Lebensmittel mit niedrigem Fett- und (Casas et al. 2018)
10 Cholesteringehalt und reich an Omega-3-
und -9-Fettsäuren
(Casas et al. 2018)

APOE E2E2 Statine (Fernandez-Sanz

Genotypisie- E2E3 Berberin et al. 2019)
rung (Zuccaro et al.
2007)
(Ju et al. 2018)
E2E4 Ballaststoffreiche Ernährung (Fernandez-Sanz
Fett- und Cholesterin-arme Ernährung et al. 2019)
E3E3 Ausgewogene mediterrane Ernährung, (Fernandez-Sanz
reich an Meeresfrüchten, Obst und et al. 2019)
Gemüse
E3E4 Hypokalorische Ernährung (Fernandez-Sanz
E4E4 Körperliche Aktivität et al. 2019)
Kein Alkohol und Tabakkonsum (Bos et al. 2019)
Aktivitäten durchführen, die die
kognitiven Funktionen aufrechterhalten
und entwickeln (Musik, manuelle und
soziale Aktivitäten)
Omega 3
Vitamin D
Genetik und Epigenetik des Alterns
10.7  usblick: Was bringt uns die
A Lebensdauer und die Leistungsfähigkeit von
Zukunft?
Das Altern ist ein komplexes und multi-
faktorielles Phänomen. Es gibt kein ein-
ziges biologisches Modell, das alle be-
kannten Mechanismen des Alterns für sich
allein erklären kann. Altern ist ein multi-
kausales Phänomen, das folgende Bestand-
teile enthält: eine partielle genetische Pro-
grammierung, eine physikalische Evolution
biologischer Strukturen und einer Reihe
von nicht deterministischen Zufallsereig-
nissen. Evolutionstheorien zeigen, dass
mehr als 100 Gene an der Entwicklung der
Langlebigkeit beteiligt sind. Parallel dazu
weisen stochastische Theorien den re-
aktiven Sauerstoffspezies eine über-
geordnete Rolle zu, weil sie für Zellver-
änderungen verantwortlich sind, die durch
oxidativen Stress verantwortlich sind, der
das Altern begünstigt. Das Phänomen der
Glykation trägt ebenfalls zum Alterungs-
prozess bei. Alterung tritt also auf allen
molekularen, zellulären und organischen
Ebenen auf. Es gibt noch keine universelle
und einzigartige Theorie des Alterns. Der
theoretische Ansatz, der die komplexe und
multifaktorielle Natur des Alterns berück-
sichtigt, ist letztlich die wahrscheinlichste
und rationalste Theorie. Die Genetik ist die
Wurzel des Alterns, die weitgehend von sto-
chastischen Ereignissen beeinflusst wird,
was zu einer erhöhten Anfälligkeit für
Alterungsprozesse führt.
Zurzeit schon verwendet und in Zukunft
mit Sicherheit weiterentwickelt ist der Ein-
satz folgender Substanzen:
Senolytika: Diese Substanzen entfernen
seneszente Zellen aus dem Organismus und
reduzieren den SASP-Phänotyp. Besonders
effektiv sind Dasatinib und Quercetin.
Diese Wirkstoffkombination verlängerte die
237 10
Mäusen (Zhu et al. 2015b).
Entwicklung von Resveratrol ähnlichen
Substanzen. Resveratrol hat eine positive
Wirkung auf Stress, Herzkreislauf, Gehirn-
funktion und Gelenkentzündungen (Glie-
mann et al. 2013).
Alk5-Kinase-Inhibitoren. In Labor-
tests mit Mäusen zeigte sich, dass diese
Medikamente alternde Muskeln und Hirn-
gewebe wieder verjüngen können (Yousef
et al. 2015).
Rapamycin: In Labortests konnten
Verbesserung des Energiestoffwechsels,
der Verlängerung der Lebensdauer und
der Behandlung von altersbedingten Er-
krankungen nachgewiesen werden (Ehnin-
ger et al. 2014).
Metformin: Dieses Medikament wurde
über Jahrzehnte zur Behandlung von Dia-
betes eingesetzt. Bei Labortieren, die mit
Metformin behandelt wurden, trat eine
angenehme Nebenwirkung auf: Sie lebten
länger als Kontrolltiere (Martin-Montalvo
et al. 2013). Die US-amerikanische FDA
hat Studien mit Metformin genehmigt, um
zu sehen, ob ähnliche Ergebnisse beim Men-
schen wie im Tierversuch erzielt werden kön-
nen. Interessanterweise konnte Berberin, ein
Alkaloid, das z. B. in der Wurzelrinde der
Berberitze vorkommt, die Lebenspanne in
der Fruchtfliege Drosophila melanogaster
ebenfalls verlängern (Navrotskaya et al.
2012).
Man arbeitet zurzeit aber ebenfalls an
komplett neuen Technologien, welche die
Medizin in Zukunft prägen werden:
Ersatz kompletter Organe: Ziel ist es,
ausfallende Organe durch bessere, lang-
lebigere und abweisungsfähigere künst-
liche Organe zu ersetzen. Vielversprechend
sind Experimente, die mit 3D-Druck und
Stammzellen in der regenerativen Medi-
 238 A. Menzel und B. Weber
zin gemacht werden (Jammalamadaka und
Tappa 2018; Jang 2017). Zusammen könn-
ten diese Methoden für den Organersatz
die durchschnittliche Lebenserwartung des
Menschen in den 120er- bis 130er-Jahren er-
höhen, da der Tod durch Organversagen der
Vergangenheit angehören wird.
Die Nanotechnologie ist ein umfassender
Begriff für jede Form von Wissenschaft,
Technik und Technologie, die Materialien in
der Größe von 1 bis 100 Nanometer (kleiner
als eine einzelne menschliche Zelle) misst,
manipuliert oder integriert. Die Verwendung
solcher mikroskopischen Maschinen ist
noch Jahrzehnte von der medizinischen
Anwendung entfernt, aber wenn sie Reali-
tät werden, ­injizieren uns die zukünftigen
Ärzte einfach eine Nadel mit Milliarden
von Nanomaschinen, die dann durch unse-
ren Körper schwimmen und jegliche Form
altersbedingter Schäden reparieren, die sie
finden (Neil 2017).
10 Genom: Sequenzierung und Editieren
von Genen
Das Genom ist die Summe aller DNA-­
Sequenzen. So grundlegend dieses Wissen
auch ist, erst vor kurzem war es uns mög-
lich, darauf zuzugreifen. Die Kosten für die
Sequenzierung von Genomen sind von ca.
100 Millionen US-Dollar im Jahr 2001 (als
das erste menschliche Genom sequenziert
wurde) auf weniger als 1000 US-Dollar im
Jahr 2015 gesunken, viele Prognosen gehen
davon aus, dass bis 2020 die Sequenzierung
des ganzen Genoms nur ein paar Euro kos-
ten wird. Diese niedrigen Kosten werden
ein schnelles Testen der Gene ermöglichen,
seltene genetische Erkrankungen besser
zu diagnostizieren und patientenspezi-
fische Impfstoffe und Behandlungen zu
entwickeln. Es wird aber ebenfalls ermög-
lichen, die Anfälligkeit und Prädisposition
für Krankheiten wie Krebs vorherzusagen,
man könnte diese Krankheiten auf diese Art
und Weise jahrelang oder jahrzehntelang
verhindern, vor allem, wenn es um sicherere,
wirksamere Medikamente, Impfstoffe und
Gesundheitsratschläge geht.
Die mit Abstand wichtigste Neuerung
auf dem Gebiet der Genomik ist aber eine
Gensplicing-Technik namens CRISPR/
Cas9. Die Cas-Gene in bakterieller DNA
(CRISPR-assoziierte Gene) wurden erst-
mals 1987 entdeckt (Ishino et al. 2018) und
gehören zum bakteriellen Immunsystem.
Diese Gene können spezifisches, fremdes
genetisches Material identifizieren und es
aus den bakteriellen Zellen entfernen. Was
jedoch an CRISPR/Cas9 wirklich bedeut-
sam ist, besteht darin, dass wir diese Tech-
nik im Menschen verwenden können, um
vorhandene DNA-Sequenzen zu entfernen
oder neue DNA-Sequenzen hinzufügen.
Diese Methode wird schneller, billiger, ein-
facher und genauer sein alle früher ver-
wendeten Gentherapien (Mollanoori und
Teimourian 2018). Im Jahre 2015 konnte die
Mutation der Duchenne-Muskeldystrophie
mit einer Multiplex CRISPR/Cas9 Methode
rückgängig gemacht werden (Ousterout
et al. 2015). Diese Technik kann dafür ein-
gesetzt werden, Stammzellen zu optimieren
und wieder in den alternden Organismus zu
bringen (Patmanathan et al. 2018). Mehr
aber als die Korrektur von Genmutationen
in der DNA, die negativ mit dem Alterungs-
prozess korrelieren, ist die Änderung von
epigenetischen Markern (Vojta et al. 2016),
z. B. Methlygruppen, Acetylgruppen mit
CRISPR/Cas9 vermutlich eine der vielver-
sprechendsten Methoden in der Anti-­Aging-­
Medizin der Zukunft. Man weiß, dass das
Methylierungsmuster sich mit dem Altern
ändert, das Rücksetzen dieses Musters auf
einen jugendlichen Methylierungszustand
kann das Altern zum Teil rückgängig ma-
chen.
Wir werden so oder so in Zukunft
damit konfrontiert sein, dass wir unsere
letzten Lebensjahre gesunder und akti-
ver verbringen. Unter Umständen ist aber
auch damit zu rechnen, dass die Gesamt-­
Lebenserwartung deutlich ansteigt. Heute,
basierend auf einer Lebenserwartung von
etwa 80 bis 85 Jahren, folgen die meisten
Menschen in etwa folgendem Rhythmus.
Genetik und Epigenetik des Alterns
Sie gehen bis zum Alter von 22–25 Jahren
zur Schule und erlernen einen Beruf, grün-
den mit 30 Jahren eine Familie, erziehen
ihre Kinder und sparen für den Ruhestand,
bis sie 65 Jahre alt sind. Dann treten sie in
den Ruhestand und versuchen, ihre ver-
bleibenden Jahre zu genießen. Dieses wird
in einer alternden, aber gesünderen Ge-
sellschaft nicht mehr möglich sein. Man
wird sicher mehrere Berufe ausüben, länger
arbeiten und das Leben länger genießen.
Letztlich sind also alle gesellschaftlichen
Gruppen – Wissenschaftler, Ethiker, Poli-
tiker, ja der Bürger – gefragt, inwieweit er
diesen gesellschaftlichen Wandel eigentlich
wünscht und mitträgt.
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 247 11

Stress und Alterung

Alfred Wolf

Inhaltsverzeichnis

11.1 Einleitung – 248

11.2 Bedeutung von psychosozialem und physischem

Stress für die Alterung – 248

11.3 Resilienz im Alter – 249

11.3.1 Die biologische Stressantwort – 250

11.4  kuter und chronischer Stress: Formen der

A
langfristigen Stressantwort – 250

11.5  iologische Mechanismen der stressbedingten

B
Zellalterung – 252
11.5.1 Wirkfaktor Stress im klinischen Kontext – 253

Literatur – 257

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_11
 248 A. Wolf
11.1 Einleitung
Der Alterungsprozess wird hochkomplex
durch zahlreiche unterschiedliche bio-
logische Mechanismen gesteuert. Diese
häufig kombiniert ablaufenden biologischen
Reaktionsformen führen vor allem zur Be-
schädigung der DNA. Neben der Verkürzung
der Telomere, was die Zellreplikation limi-
tiert, akkumulieren Mutationen der nukleä-
ren und mitochondrialen DNA. Die Folge
sind Minderung der Energiebildung und
eine veränderte Genexpression mit Fehl-
bildungen von Proteinen und Enzymen, so-
dass das Zellleben zunehmend durch Zufälle
oder versehentliche Ereignisse geprägt wird,
die zum Verlust der molekularen Präzision
führen (von Zgilicki et al. 2001). Die ent-
standene molekulare Unordnung von Struk-
turen und deren Funktionen bestimmen den
Alterungsprozess, der durch die Reparatur-
systeme nicht mehr kompensiert werden
kann (Zaher und Green 2009). Dieser Pro-
zess ist durch thermodynamische Instabili-
tät biologischer Moleküle charakterisiert,
11 deren komplexe dreidimensionale Struktur
nicht mehr erhalten oder reproduziert wer-
den kann und damit zu altersrelevanten bio-
logischen Reaktionen wie Glykosilierung,
Konformationsstörungen, Amyloidbildung,
Änderung von Degradation und Synthese
von Proteinen sowie DNA-Schäden führen
(Rattan 2006).
Jegliche Form von physischem oder
psychosozialen Stress hat für die Zellsysteme
erhebliche Auswirkungen und befördert die
zelluläre Seneszenz (Ben-Porath und Wein-
berg 2004). Dabei spielen der oxidative
Stress als Folge von akuter und chronischer
Inflammation, von Infektionen durch Mi-
kroorgansimen, molekulare Belastungen
und durch neuroendokrine Defizite eine
Hauptrolle, indem zelluläre degenerative
Prozesse provoziert und beschleunigt wer-
den (Franceschi et al. 2000; Kregel und
Zhang 2007).
Alterung ist somit ein weitgehend linearer
kataboler Prozess, welcher die Vulnerabilität
für die Entwicklung altersabhängiger akuter
oder chronischer Erkrankungen befördert
und das erhöhte Risiko für Morbidität und
Mortalität begründet (Hayflick 2007). Die
den physiologischen Alterungsprozess an-
treibenden Kräfte sind Faktoren des Zell-
stresses, vornehmlich silente oder klinische
Inflammation und der oxidative Stress,
welche die molekulare Zellordnung stö-
ren. Aber auch eine bereits vorbestehende
Vulnerabilität der Zellfunktion wird durch
chronischen psychosozialen oder physi-
schen Stress zusätzlich angetrieben und ver-
stärkt. Die Folgen sind Akzeleration des
Alterungsprozesses, Zunahme degenerativer
Erkrankungen, gesteigerte Morbidität und
Mortalität, verbunden mit einem Anstieg
biologischer Altersmarker (Schosserer et al.
2015)
Langlebigkeit wiederum wird durch
spezifische genetische Schutzmechanismen,
zelluläre und psychische Stressresistenz (Re-
silienz) und intakte Reparatursysteme, wie
(z. B. effektive Biotransformation und Deto-
xifikation, Inflammationshemmung durch
effektive Immunaktivität usw.) erzielt
(Schosserer et al. 2015).
11.2 Bedeutung von
psychosozialem und
physischem Stress für
die Alterung
Alterungsrelevante Stressereignisse sind so-
wohl psychosozial als auch physisch be-
dingt. Psychosozialer Stress wird zunächst
kognitiv verarbeitet und nach Überprüfung
und subjektiv empfundener Belastung zur
Generierung der spezifischen biologischen
Stressantwort an die Stressorgane weiter-
geleitet. Als wesentliche psychosoziale Stres-
soren gelten „angeborene Programme“, wie
Bedrohung, Neues/Ungewohntes, Unsicher-
Stress und Alterung
heit, jedoch auch stressauslösende Denk-
muster (z. B. hohe Selbsterwartung,
Perfektionismus, Angst, Überforderung)
und Programme des Stressgedächtnisses
(z. B. Demütigung, Frustration, Dauer-
stress). Negative Lebensereignisse, dauer-
hafte ungünstige Lebensumstände (wie
z. B. Armut und insbesondere Altersarmut,
Einsamkeit, interpersonale Konflikte, Krieg,
Flucht usw.) werden je nach den oben be-
schriebenen Kriterien überprüft, beurteilt
und als positives oder negatives Ereignis
charakterisiert.
Auf diese Weise entsteht eine kumulative
Lebenslast, bestehend aus den an-
gesammelten Stressverletzungen im früh-
kindlichen Leben, der Pubertät und Adoles-
zenz, aus dem persönlichen und beruflichen
Leben sowie den das Altern begleitenden
Belastungen.
Physischer Stress wird durch Schmerz,
Verletzung, Infektion durch Mikroben
sowie molekulare Stressoren (Metalle,
Lösungsmittel, Weichmacher, Biozide,
Kunststoffe und gewisse Pharmaka) aus-
gelöst und ohne kognitive Kontrolle direkt
den Stressorganen vermittelt. Meist wirkt
der physische Stress über die Initiation von
Inflammation (durch Aktivierung des Nuk-
leären Faktor KB = NFkB) und Bildung
von oxidativem und nitrosativem Stress
(. Abb. 11.1).
Unter traumatischem Stress wird der
ein- oder mehrmalige intensive, körperlich
und/oder seelisch verletzende Stress, wie
z. B. durch Unfall, Krieg, Flucht, Miss-
brauch, Vergewaltigung usw., verstanden,
welcher häufig zu Posttraumatischen Be-
lastungsstörungen (PTBS) führen kann.
11.3 Resilienz im Alter
Für die Ausprägung der Stressantwort
haben endogene biologische und psychische
Ressourcen und Resilienz eine große Be-
deutung. Psychosoziale Stressbelastungen
und Grenzsituationen entstehen für ältere
249 11
Vasopressin Oxytocin
CRF, Cortisol DHEAS
NA, AD DA, Ser, GABA
ECB, EOP, EMO, NO,
Sympathicus Parasympathicus
Exzitation Inhibition
..      Abb. 11.1 Verschiedene biologische Moleküle
sind an den beiden antagonisierenden Reaktionen auf
Stress beteiligt: Die Exzitation stimulieren und be-
günstigen Vasopressin, CRF, Cortisol, Noradrenalin
(NA) und Adrenalin (AD) sowie das Sympathische
Netzwerk. Diese Reaktion wird durch inhibitorisch
wirksame Moleküle abgeschwächt: Oxytocin,
DHEAS, Dopamin, Serotonin, GABA, Endo-
cannabinoide (ECB), Endogene Opiate (EOP) und
Endogene Morphine (EMO) sowie den Parasympathi-
cus. Die jeweils korrespondierenden Effektoren sind
gegenübergestellt. Bei Überwiegen einer Gruppen-
wirkung resultiert Exzitation oder Inhibition, Re-
generation und Relaxation
Menschen weniger durch die Alltagslasten
als durch erlebte Lebenseinschnitte, z. B.
durch den Verlust von nahestehenden Perso-
nen, durch Leiden und Lasten von chroni-
schen Erkrankungen, durch Gebrechlich-
keit, Einsamkeit, durch die entstehende
Pflegenotwendigkeit oder durch einen Um-
zug in ein Pflegeheim mit Aufgabe der häus-
lichen Umgebung und der Selbstständigkeit.
Für die Bewältigung dieser Heraus-
forderungen benötigen alte Menschen Be-
wältigungsstrategien, welche sie im Laufe
des Lebens erst erwerben müssen. Diese psy-
chischen Ressourcen sind die jeweilige
Widerstandskraft und Resilienz, welche den
Prozess der Stressantwort abschwächen
kann. Resilienz wird durch zahlreiche
Persönlichkeitsfaktoren gestützt: Dazu zäh-
len eine positive, optimistische Lebensein-
stellung und Zukunftsperspektive, welche
zur Bewältigung des Lebensendes benötigt
wird. Aber auch Offenheit für neue Er-
fahrungen, die Entwicklung von Flexibilität
hinsichtlich neuer Lebensthemen sowie der
aktive Umgang mit Schicksalsschlägen, die
es anzunehmen gilt, um weiterleben zu kön-
 250 A. Wolf
nen (Kruse 2015). Ein weiterer Faktor ist die
Selbstregulation als Grundlage zur Kont-
rolle von Aufmerksamkeit, Erregung, Emo-
tionen und Verhalten (Rutter 2008). Dane-
ben existieren auch biologische Promotoren
der Resilienz wie günstige Genetik, intakte
Mechanismen der Stressadaptation und eine
funktionierende Regeneration.
11.3.1 Die biologische
Stressantwort
Sowohl psychosozialer als auch physischer
Stress aktivieren im Gehirn unterschiedliche
Gehirnsysteme:
55 Ultraschnelle Reaktion durch Aktivie-
rung von Locus coeruleus (LC) und
Sympathicus mit Freisetzung von Nor-
adrenalin.
55 Mittelschnelle Reaktion mit Stimula-
tion der Hypothalamus-Hypophysen-­
Adrenalen-­Achse (HHA-Achse) durch
Aktivierung von Paraventriculärem Nu-
11 cleus (PVN) zur Freisetzung von CRH,
hypophysärem ACTH und Freisetzung
von Cortisol und Dehydroepiandro-
steron (DHEA) in den Adrenales.
55 Simultan werden endogene stressinhi­
bitorische Systeme aktiviert, welche eine
endogenen Stressüberflutung („overshoo-
ting stressresponse“) verhindern sollen:
55 Parasympathicus und die inhibitorisch
wirksamen Neurotransmitter Sero-
tonin und Gamma-Amino-Buttersäure
(GABA) sowie Oxytocin limitieren die
endogene zentralnervöse Stressantwort.
55 Deutlich verzögert werden zur An-
passung bei repetitiver oder chronischer
Stressexposition Endocannabinoide
(ECB), endogene Opiate (EOP), endo-
gene Morphine (EMO), Neuropeptid Y
sowie Stickmonoxid (NO) und Dopamin
freigesetzt. Jedes dieser Substrate
schwächt die Stressantwort im Sinne
einer Stress-Adaptation als endogene
Schutzreaktion gegen die „toxischen“
Auswirkungen der beiden wichtigsten
Stresssubstrate Cortisol und Nor-
adrenalin. Bleibt die Adaptations-­
Reaktion aus, wird die Stressantwort
„maladaptiert“, mit meist deutlichen
kurz- und/oder langfristigen Folgen (s.
. Abb. 11.2).
55 Meist deutlich verspätet werden auch
immunologische Stressreaktionen mit
Aktivierung des innaten in-
flammatorischen Systems angeregt.
Diese Reaktionsform ist evolutionsbio-
logisch durch die interaktive Wirkung
von Neurotransmittern und Cortisol/
DHEA an Immunzellen sowie die stress-
induzierende Wirkung von Zytokinen
(TNF, IL-6, IL-1) an den neuronalen
Stresszentren belegt und hat dem gesam-
ten System die Bezeichnung Psycho-­
Neuro-­E ndokrino-­­I mmun-­S ystem
(PNEI-S) eingebracht.
11.4  kuter und chronischer
A
Stress: Formen der
langfristigen Stressantwort
Bei einmaliger akuter Stresswirksamkeit
werden zunächst die Stressreaktionen akti-
viert und nach Beendigung abgeschaltet
(vgl. . Abb. 11.1).
Dauerhafte Stressexposition (= chroni-
scher Stress) durch immerfort gleichartige
Belastung (= homotypischer Stress) führt
zu einer kontinuierlichen Beanspruchung,
die abhängig von Genetik und individuel-
len Ressourcen durch eine spezifische
Stressreaktion beantwortet wird. Bei Be-
stehen eines aktivierbaren stress-
inhibitorischen Systems, bestehend aus
Endocannabinoiden, endogenen Opiaten,
endogenen Morphinen und /oder NPY
sowie Oxytocin, werden die unterschied-
lichen biologischen Stressreaktionen lang-
sam als Schutz vor dauerhafter Be-
schädigung deaktiviert, im Sinne einer
Stress-Adaptation. Sind diese Systeme
Stress und Alterung
Akuter Stress
Chronischer Stress
Adapta on
..      Abb. 11.2 Unterschiedliche Verläufe der Stress-
antwort bei akutem (einmaligem) sowie bei chroni-
schem (repetitivem, dauerhaftem) Stress. Die Intensi-
täten der Stressantworten sind unterschiedlich
ausgeprägt: Im akuten Stress wird nach der Aktivie-
rung der schnell reagierenden Zentren LC und Sym-
pathikus und HHA-Achse nach Beendigung der
Stressexposition diese Reaktion endogen beendet und
abgeschaltet. Bei chronischem, repetitiv akutem Stress
sind zwei unterschiedliche Reaktionsmuster belegt
(Mc Ewen, 1998): Adaptation (bei ca 60 % einer ge-
überfordert, mangelhaft ausgeprägt oder
ist die stressorische Last dauerhaft und
überstark, was insbesondere bei unter-
schiedlichen, chronisch wirksamen „hetero-
typischen“ Stressoren vorkommt, ist Mal-
adaption die Folge (. Abb. 11.2).
Allostatic Load (McEwen 1998) ist ein
Begriff der funktionalen Stressmedizin, wel-
cher die Folgen und biologischen Kosten
chronischer Stressbelastung auf die somati-
schen Systeme darstellt und als Prädiktor
für stressbedingten Verlust der physischen
und emotionalen Lebensqualität, Vitalität,
Funktion und Mortalität gilt. Maladapta-
tion beschreibt dabei die fehlende oder
251 11
Maladapta on
stressten Population) als Reaktionsmuster mit ab-
fallenden Werten der biologischen Stresssubstrate
Cortisol und verzögert Noradrenalin. Ursache sind
die Schutzreaktionen durch Endocannabinoide
(HHA-Achse), EOP und EMO (Neurotransmitter)
sowie Parasympatrhicus und Oxytocin. Maladapta-
tion (bei ca 30 % der Gestressten) ist charakterisiert
durch das Fehlen der Adaptationsformen mit dauer-
haft gesteigerten Stresswerten von Cortisol und Nor-
adrenalin
mangelhafte Anpassung der Stresssysteme
an dauerhafte Belastungen als physio-
logische Schutzfunktion gegenüber den
Stressubstraten Noradrenalin und Cortisol.
In klinischen Studien waren vor allem
stressassoziierte Parameter wie systolischer
und diastolischer Blutdruck, Urinwerte von
Noradrenalin, Adrenalin und Cortisol sowie
DHEAS im Serum die besten Indikatoren
für die Assoziation von Stress, Alterung und
Mortalität (Seemann et al. 2001). Psychi-
sche Schutzfaktoren und aktive regenerative
Methoden sind in der Lage, diese Ver-
änderungen zu verlangsamen und/oder auf-
zuhalten (Putermann et al. 2010).
 252 A. Wolf

11.5 Biologische Mechanismen Zytokine IL-6 und TNF-α inhibieren die

der stressbedingten Zellreplikation (Kiecolt-Glaser et al.
2003; Graham et al. 2006), allerdings in
Zellalterung
unterschiedlicher Wirkstärke: Während
IL-6 nur schwach wirksam ist, wird die
Chronischer, insbesondere maladaptierter
Telomerase-­ Aktivität durch TNF-α
Stress bedient sich zahlreicher wirksamer
stark vermindert (Liu et al. 2010)
Effektoren, die Wirkung auf die Zellbio-
(. Abb. 11.3).
logie entfalten.
5. Minderung der endokrinen Funktion:
Folgende stressbedingten Wirkstoffe und
Stressbedingte Veränderungen im endo-
Veränderungen sind dabei für den Alterungs-
krinen System betreffen vor allem die
prozess bedeutsam:
anabolen endokrinen Systeme mit Verlust
1. Anstieg von Cortisol und Noradrenalin:
von DHEAS, Wachstumsfaktoren, Tes-
Den beiden wichtigsten Stresssubstraten
tosteron (beim Mann) und Östradiol (bei
kommt im Blick auf die Stressfolgen eine
der Frau), welche zusätzlich die Alterung
große Bedeutung zu. Werden beispiels-
befördern (Hardy und Ganjam 1997;
weise stimulierte T-Zellen mit Cortisol
Dumas et al. 2012; Juster et al. 2010).
in vitro inkubiert, nehmen Telomera-
6. Verlust der Immunkompetenz: Der
se-Aktivität, mRNA und Zell-
altersbedingte Umbau des Immun-
proliferation signifikant ab (Choi et al.
systems mit Zunahme der regulatori-
2008). Auch Noradrenalin führt ge-
schen T-Zellen, Abnahme der naiven T-
meinsam mit Cortisol zur Verkürzung
und B-Zellen, Reduktion der
der Telomere (Epel et al. 2006; Parks
T-Zell-­
Proliferation und Expansion,
et al. 2009).
Minderung der zytotoxischen T-Zellen,
2. Oxidativer Stress: Die Akkumulation
Abnahme der Aktivität von Natürlichen
11 von Sauerstoffradikalen (ROS) oder
Killerzellen (NKZ), Zunahme von Auto-
Stickstoffradikalen (RNS) beschädigt
immunprozessen und Autoimmuner-
den telomeren Anteil der DNA deutlich
krankungen (Steigerung der chronischen
stärker als die übrigen Bereiche eines
Inflammation bzw. Inflammaging) wird
Gens (Von Zglinicki 2002). Die dynami-
durch chronischen Stress deutlich be-
sche Schädigung erfolgt durch Inhibition
schleunigt, im Sinne der „prämaturen
der Telomerase (Händeler et al. 2004).
Immunseneszenz“ (Bauer 2008). Die
Punktmutationen treten ebenfalls ge-
wesentlichen Induktoren dieser Prozesse
häuft auf, ausgelöst durch ROS.
sind der Verfall der mitochondrialen
3. Mitochondriale Dysfunktion: Die zahl-
Leistung mit Minderung von ATP, Ver-
reichen, bereits beschriebenen Mechanis-
änderung des Cortisol-­ /DHEA-­
men schädigen nicht nur die genomische
Quotienten mit Zunahme der TH-­ 2-­
Replikation, sondern auch die mitochon-
Reaktivität und der verminderten
driale DNA (mtDNA), die mitochond-
Gewebesensibilität für Steroide sowie die
rialen Membranen mit Defekten der zur
starke Beanspruchung des Immun-
Atmungskette gehörenden Enzymen und
systems durch den Inflammaging-­
folglichem Verlust der ATP-­Bildung und
Prozess (Magri et al. 2006).
Promotion der zellulären Seneszenz (Pas-
7. Zunahme von Glykolisierungsproteinen:
sos und von Zglinicki 2005).
Bei Menschen mit PTBS werden im Ver-
4. Proinflammatorische Zytokine: Eine
gleich zu denjenigen mit niedrigerer
häufig einhergehende chronische In-
Stress-Belastung höhere Glykosylierungs-
flammation wird von Freisetzung pro-
werte von AGEs (Advanced Glycosilation
entzündlicher Zytokine begleitet. Die
Stress und Alterung
253 11

ROS

Mitochondrium
ROS GSH
Stress Thiole,
RNS CoQ10 NF ΚB Nucleus
B12

NA

NOS
IL-6
Inflammation TNF
IL-1ß

..      Abb. 11.3 Biologische Angriffspunkte von
psychosozialem und physischem Stress an der Zelle:
Zunächst Bildung von Sauerstoff-Radikalen (Radika-
len Oxidativen Spezies = ROS) im Zytoplasma und
den Mitochondrien, bei Präsenz von Stickmonoxid-­
Synthetasen (NOS) auch Stickstoff-Radikale (Radi-
kale Nitrosative Spezies = RNS). Das zellinterne Bio-
transformations-System der Detoxifikation kann bei
ausreichender Präsenz von Glutathion (GSH), Vita-
min B12 und Coenzym Q 10 und weiteren Thiolen
sowie anderen Antioxidantien diese Substrate neutra-
lisieren. Dominieren die Moleküle des oxidativen und
nitrosativen Stress, beschädigen ROS und RNS das
Zellsystem. Zum einen durch Initiation von In-
flammation durch Stimulation des Transkriptions-
faktor NFkB, welcher nukleär die Aktivierung der
proinflammatorischen Zytokine TNF, IL-6 und IL-1ß
auslöst; dadurch entsteht ein inflammatorischer Cir-
culus vitiosus von Inflammation, Bildung von RNS
und Hochregulierung des destruktiven Zellprozesses
(Pall 2007) – zum anderen durch Punktmutation von
nukleärer und mitochondrialer DNA mit Bildung von
Genom-Addukten und Minderung der ATP-­
Biosynthese

End Products) gemessen, als Indikatoren Vulnerabilitäten vorhanden, die durch

gesteigerter und akzelerierter biologischer chronischen Stress zusätzlich gesteigert wer-
Alterung (Moreno-­Milanoeva et al. 2013). den und zahlreiche zelluläre Fehlfunktionen
Die genannten Marker können auch als auslösen.
Biomarker des stressbedingten Alterns be-
trachtet werden.
8. Abnahme der Telomerlänge und Abfall 11.5.1  irkfaktor Stress im
W
der Telomerase: Chronischer psycho- klinischen Kontext
sozialer Stress führt in sämtlichen
Lebensaltern zu einer deutlichen Ver- 11.5.1.1 Psychosozialer Stress
kürzung der Telomere, bei gleichzeitig Massive akute bis chronische mittelgradige,
verminderter Telomerase (Entringer dauerhafte Stressexposition während der
et al. 2011; Damjanovic et al. 2007; EpelKindheit (mehr Vernachlässigung als Miss-
et al. 2004). brauch) und bei Erwachsenen ist mit ver-
kürzten Telomeren im Alter assoziiert. In
Nicht selten sind bereits angeborene (gene- einer Studie an einer ethnisch homogenen
tisch) oder durch Lebensstil und/oder prä- Population von 4441 Frauen im Alter von
existente Erkrankungen erworbene Zell-­ 41–80 Jahren (EPIC-Norfolk Study) wurden
 254 A. Wolf

Infekt-Stress: Molekularer Stress:

Psychosozialer Bakterien Schwermetalle
Stress Viren Lösungsmittel
Pilze Weichmacher
Protozoen Biozide
Kunststoffe
Pharmaka
Chronische
Inflammation
xid
ro iN
pe OS
Su

Oxidativer Stress Nitrosativer Stress

Su

rit -
nit roxy
p
er

Mitochondrien:
ox

Pe
id

Mutaon mtDNA
ATP ↓
Genom:
Telomere-Kürzung
Punktmutaon
Methylierung

..      Abb. 11.4 Darstellung der unterschiedlichen An-
griffspunkte von psychosozialem und physischem
Stress durch Infektionen und molekulare Fremd-
stoffe. Psychosozialer Stress aktiviert einerseits direkt
das Stresssystem, andererseits zellulär die Bildung von
oxidativem Stress und Inflammation. Infektiöse Er-
reger stimulieren weitgehend einseitig das Immun-
system zur Initiation von Inflammation, während mo-
lekularer Stress vorwiegend über oxidativem/
nitrosativem Stress und Inflammation wirken

11 psychischer, aversiver Stress und emotionale exzitatorischem Exzess und Hyper-

Gesundheit mit Fragebogen erhoben und
zur Telomerlänge korreliert: Die zu-
nehmende Anzahl von aversiven Ereignissen
war mit einer signifikant kürzeren Telomer-
länge assoziiert (Surtees et al. 2011).
Dabei werden simultan neben dem
Genom auch andere funktionelle biologische
Steuerungssysteme, wie z. B. Zentralnerven-
systems, Stoffwechsel, Herz-Kreislauf-
System und Immunsystem betroffen (Juster
et al. 2010).
cortisolismus, verbunden mit verstärkter
Produktion von Glykosilierungs-­Produkten
(Gill et al. 2009).
Darüber hinaus führen derartige Ereig-
nisse zur stressbedingten Zunahme der ge-
nomischen Instabilität, zu epigenetischen
Veränderungen, zum Verlust der Protein-
fältelung und Proteinresistenz und zur Min-
derung der mitochondrialen Stabilität (Lo-
pes-Otin et al., 2013; Calvanese et al. 2009;
Morimoto 2006) (. Abb. 11.4).

11.5.1.2 Negative traumatische 11.5.1.3 Chronischer Stress,

Lebensereignisse
Negative, traumatische Lebensereignisse
(Krieg, Flucht, Missbrauch, Vergewaltigung
usw.) führen im Rahmen einer Post-
traumatischen Belastungsstörung (PTBS)
auch zu zellbiologischen Veränderungen
mit chronischer Inflammation, sympatho-­
Vulnerabilität und
neurodegenerative
Erkrankungen
Wiederkehrender, chronischer, malad-
aptierter Stress führt in mehreren Etappen
zu einer zunehmenden zellulären Be-
schädigung sämtlicher Zellsysteme, ins-
Stress und Alterung
besondere der stresssensiblen Zellen des
Hippocampus und der Kerne des extra-
pyramidalen motorischen Systems. Stress
kann in mehreren Etappen, sog. „hits“, zu-
nächst die Vulnerabilität steigern, zu
stressassoziierten, psychischen und schließ-
lich zu neurodegerativen Erkrankungen
führen. Dabei kommen vor allem der Resi-
lienz, der Umwelt und den in mehreren
Etappen wirksamen Stresswirkungen zur
Manifestation der Enderkrankung Be-
deutung zu (Daskalakis et al. 2013) (vgl.
. Abb. 11.5).
Verlaufsformen von chronischem,
alterungsrelevantem Stress
Chronischer Stress kann als linearer, dauer-
haft stressorischer Einfluss bestehen (z. B.
niedriger sozialer Status, niedriger Bildungs-
grad, dauerhafte prekäre Lebenssituation,
schlechte Gesundheit, usw.). Es können je-
doch auch im Lebensverlauf mehrere un-
abhängige kurz- bis mittelfristige Stress-
expositionen stattfinden, die – ausgehend
von der Kindheit – jeweils durch intensiven
oder traumatischen Stress den Grad der
Stressfolgen steigern und in großen Etappen
zunächst die Vulnerabilität steigern. Bei
wiederholtem Stress können klinische Er-
krankungen verursacht werden (z. B. De-
pressionen, Angststörungen, Autoimmuner-
krankungen usw.) und schließlich zu
Enderkrankungen mit Behinderung führen
(z. B. neurodegenerative Erkrankungen,
Sarkopenie, Osteoporose usw.), die das
Mortalitätsrisiko deutlich erhöhen
(. Abb. 11.5).
Chronischer physischer und psycho-
sozialer Stress und seine biologischen Aus-
wirkungen (Stresssubstrate Noradrenalin
und Cortisol) sowie der oxidative Stress be-
schädigen auf zellulärer Ebene den gesam-
ten Zellstoffwechsel, die anabolen Protein-
formationen und die zelluläre Replikation,
mit erkennbaren Folgen (Kregel und Zhang
2007):
255 11
Folgen für den Zellstoffwechsel
55 Mitochondriale Dysfunktion und
Energieverlust (ATP) (Breiter-Hahn
und Jendrach, 2009)
55 Verlust von Proteasen und Pro­
teinfaltung (Kaushik und Cuervo
2015)
55 Veränderte interzelluläre Kommuni-
kation (Trosko und Inoue 1997)
55 Neuroendokrine Erschöpfung der am
Stress beteiligten endokrinen Systeme
(z. B. Nebennierenrinde) (Sapolsky
1999)
Auswirkungen auf das Genom
55 Epigenetische, durch Stress und Glu-
cocorticoide verstärkte Methylierung
von DNA (z. B. Hypermethylierung
der CPG-Inseln). Der Grad der Me-
thylierung steigt stress- und alterungs-
relevant an und kann als Indikator
für die stressbedingten DNA-­
Veränderungen dienen (Horvath
2013; Zannas et al. 2015)
55 Eine weitere stressbedingte Ver-
änderung stellen DNA-Strangbrüche
dar, die mit erhöhter Genom-­
Instabilität assoziiert sind (Burhans
und Weinberger 2007).
55 Durch den replikativ wirksamen
Stress und den entstandenen Genom-­
Pathologien entwickelt sich die zellu-
läre Seneszenz (Burhans und Wein-
berger 2007; Brandl et al. 2011).
55 Die für die Regeneration und Zell-
replikation wichtigen hämato-
poetischen und mesenchymalen
Stammzellen erschöpfen sich, sodass
sich Regeneration und Replikation
mindern (Blasco 2007).
 256 A. Wolf
Kumulationvon
Stressfolgen
1. hit 2. hit
Behinderung
Erhöhte Mortalität
Erkrankung
Gesteigerte
Vulnerabilität
Resilienz
z.B.Neg.Lebens-
Prädisposition
Ereignisse
Gene/
Kindheit/
Epigenetik
Adoleszenz
..      Abb. 11.5 Darstellung der unterschiedlichen Ver-
laufsformen von stressbedingter Akzeleration von
Alterung: Linie: Lineare Zunahme von Alterungs-
erscheinungen bei kontinuierlichem psychosozialem
oder/oder physischem Stress (durchgehende Linie).
Bei Überschreiten einer indiviiduellen Linie steigen
Morbidität und Mortalität an. Darunter: Sequenz
von klinischen Stressfolgen, abhängig von der Anzahl
11 und Intensität von intensiven (evtl. traumatischen)
Stressoren in Form von „hits“. Ausgehend von der
55 Eine wesentliche Stressfolge stellt die
Minderung der Telomerase-­ Konzen­
tration und -Funktion mit nachfol­
gender Kürzung der Telomere dar (Epel
et al. 2004; Mather et al. 2011).
55 Die Zell-Replikation wird stark durch
die Länge der Telomere bestimmt,
welche sich durch chronische Stress-
belastung verkürzen und somit das
Regenerationspotenzial insbesondere
von schnell teilenden Systemen, wie
z. B. von Stammzellen und Epidermis
nachhaltig einschränken, mit meist
sichtbaren Auswirkungen.
Somit tragen zahlreiche unterschiedliche
stressbedingte Promotoren Verantwortung
für die replikative Seneszenz, dem folgen-
3. hit 4hit
Weitere Zusätzliche Lebenszeit
stressorische Faktoren:
Ereignisse Chron. Erkrankung
individuellen Prädisposition führen kumulierende
„hits“ zunächst zur gesteigerten Vulnerabilität, bei
wiederholt auftretenden „hits“ zur klinischen Mani-
festation von Erkrankung (Depression, Angst-
erkrankungen usw.). Bestehen die Stressoren fort
und/oder treten zusätzliche inflammatorische, chroni-
sche Erkrankung auf, können sich Behinderungen,
z. B. als Folge eines Schlaganfalls, oder neuro-
degenerative Erkrankungen manifestieren. (Mod.
nach Daskalakis et al. 2013)
reichsten Faktor der Alterung. Dies be-
deutet den meist nicht umkehrbaren Verlust
der dynamischen Zellteilung, von Repara-
tion und Regeneration.
11.5.1.4 Prävention von
stressbedingten
Alterungserscheinungen
Die meisten der biologischen stress-
bezogenen Alterungserscheinungen können
durch eine vielseitige Stressintervention
bzw. wirksames Stress-Management we-
nigstens zum Teil abgemildert werden. Dazu
gehören mehrere in sich stimmige Maß-
nahmen wie Verhaltensänderung, stress-
reduzierende, meist meditative Relaxations-
verfahren und/oder Achtsamkeitstraining
(z. B. Mindfulness Based Stress Reduction
= MBSR), leichter, aerober Ausdauersport,
gesunde Ernährung und Substrattherapie,
Stress und Alterung
die insbesondere auf die Minderung der
Stresssubstrate Noradrenalin und Cortisol
gerichtet sind (Esch und Stefano 2010).
Damit kann der Stressprozess häufig ab-
geschwächt, a­ ufgehalten, teilweise revertiert
oder präventiv vermieden werden (Carlson
et al. 2015).
>>Chronischer Stress befördert massiv den
Alterungsprozess und verstärkt damit
die Vulnerabilität des Individuums für
altersbezogene Erkrankungen.
Dies ist an den deutlich gesteigerten
Alterungszeichen, verbunden mit erhöhten
Risiken für degenerative Erkrankungen von
Gehirn, Muskulatur und Gelenken, Herz-­
Kreislauf-­Erkrankungen insbesondere bei
gestressten Menschen mit stärkerer Lebens-
belastung ablesbar (Johansson et al. 2010;
Seeman et al. 2001; Juster et al. 2010).
Physischer und psychosozialer Stress ver-
stärken und beschleunigen nicht nur die
physiologischen Alterungsvorgänge, sondern
können darüber hinaus das Risiko für die
Entwicklung nachfolgender Erkrankungen
und Mortalität beträchtlich steigern.
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 259 12

Immunseneszenz und
Inflammaging
Luca Pangrazzi

Inhaltsverzeichnis

12.1 Alterung des Immunsystems – 260

12.1.1  ltersbedingte Veränderungen von B-Lymphozyten – 260
A
12.1.2 Altersbedingte Veränderungen von T-Lymphozyten – 261

12.2  er Einfluss des Cytomegalie-Virus (CMV) auf die

D
Immunseneszenz – 263

12.3  MV und altersbedingte Entzündung

C
(Inflammaging) – 264

12.4  ufrechterhaltung des immunologischen

A
Gedächtnisses im Knochenmark – 266
12.4.1  er Einfluss von Inflammaging, oxidativem Stress und
D
zellulärer Seneszenz auf die Aufrechterhaltung des
immunologischen Gedächtnisses – 267
12.4.2 Auswirkungen von CMV auf die Aufrechterhaltung des
immunologischen Gedächtnisses im BM – 269
12.4.3 Zellalterung und T-Zellen – 270
12.4.4 Zielgerichtete zelluläre Seneszenz zur Verbesserung der
Immunantwort bei älteren Menschen – 271

Literatur – 272

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_12
 260 L. Pangrazzi
Die Anti-Aging-Medizin beschäftigt sich
mit allgemeinen biologischen Alterungs-
faktoren. Sie untersucht aber auch das spezi-
fische Altern einzelner Organsysteme. Das
gilt für das Herz- Kreislauf-System, das
Skelettsystem und das zentrale Nerven-
system. Es gilt nicht zuletzt auch für unser
Immunsystem. Auch hier lassen sich mit zu-
nehmendem Lebensalter Veränderungen
feststellen, die häufig mit einer verminderten
Funktionalität einhergehen.
Welch entscheidende Rolle eine gute
Immunkompetenz für die Aufrechterhaltung
unserer Gesundheit spielt, hat nicht zuletzt
die Corona-Pandemie der Jahre 2020/21 ge-
zeigt.
Da gab es vor allem zwei Risikogruppen,
die an dem Virus schwer erkrankten bzw.
verstarben: Menschen mit einem hohen
Lebensalter und solche mit einem reduzier-
ten Immunsystem. In den meisten Fällen
ging beides Hand in Hand.
Die Behandlung der Immunseneszenz
bzw. die gezielte Stärkung des Immun-
systems sind daher genuin präventiv-
medizinische Aufgaben.
12
12.1 Alterung des Immunsystems
Multipotente hämatopoetische Stammzellen
(HSC) im Knochenmark (BM) unter-
scheiden sich durch zwei unterschiedliche
Populationen von Vorläuferzellen, aus
denen sämtliche Arten reifer Blutzellen er-
zeugt werden. Gemeinsame lymphoide Pro-
genitorzellen (Common Lymphoid Progeni-
tors = CLPs) entwickeln sich zu B- und
T-Lymphozyten sowie natürlichen Killer-
zellen (NK). Gemeinsame myeloische Vor-
läuferzellen (Common Myeloid Progeni-
tors) differenzieren in andere Zelltypen wie
Neutrophile, Basophile, Eosinophile Zellen
sowie Erythrozyten, Thrombozyten und
Monozyten, aus denen sich Makrophagen,
dendritische Zellen (DCs) und Mastzellen
entwickeln. Die myeloische Hämatopoese
wird durch den Alterungsprozess beein-
trächtigt, möglicherweise aufgrund von Ver-
änderungen in der Mikroumgebung der
Marknischen (Wagner et al. 2008). Die
Selbsterneuerung und die Teilungspräzision
der HSC sind ebenfalls betroffen, was im
Alter zu immer weniger und gering funktio-
nierender HSC führt. Darüber hinaus wurde
bei älteren Menschen eine verringerte Pro-
duktion von lymphoiden Zellen und eine er-
höhte Bildung von myeloischen Zelltypen
beobachtet.
12.1.1 Altersbedingte
Veränderungen von
B-Lymphozyten
Die Differenzierung von CLPs zu reifen
B-Zellen durchläuft mehrere Stufen, basie-
rend auf funktionellen Eigenschaften, die
B-Zellen progressiv entwickeln. Nach einer
DNA-Rekombination entstehen Prä-B-­
Zellen aus Pro-B-Zellen, unreifen B-Zellen
und naiven B-Zellen. Nach diesem Prozess
werden reife B-Zellen in den Blutkreislauf
freigesetzt und wandern in lymphoide Or-
gane, wo sie schließlich auf ihre spezifischen
Antigene treffen.
Die Antikörperproduktion nach Erst-
impfungen ist bei älteren Menschen im Ver-
gleich zu jüngeren Personen häufig schwä-
cher. Außerdem fallen die Antikörperspiegel
während der Alterung schneller ab. Die
Schutzwirkung von Impfstoffen gegen Influ-
enza, Hepatitis B, Tetanus und Strepto-
coccus pneumoniae nimmt mit zu-
nehmendem Alter ab (Weinberger et al.
2009). Bei älteren Menschen kann eine ge-
steigerte Häufigkeit von Autoantikörpern
gegen zelluläre Komponenten wie Zellkerne
oder Mitochondrien beobachtet werden.
Trotzdem sind die Autoantikörperniveaus
recht niedrig und tragen selten zu Auto-
immunerkrankungen bei. Der Einfluss des
Alterns auf periphere B-Zellen ist noch
nicht endgültig geklärt. Während in einigen
Immunseneszenz und Inflammaging
261 12
Fällen eine Zunahme von Gedächt- fiziert sind, und für die Beteiligung an der
nis-B-Zellen und Plasmazellen beobachtet Tumorüberwachung.
wurde (Veneri et al. 2009), zeigen andere Be- Das komplexe Spektrum der Ver-
richte eine Abnahme (Caraux et al. 2010). änderungen, die das alternde Immunsystem
Diese kontroversen Ergebnisse spiegeln am charakterisieren, wird als Immunseneszenz
ehesten Unterschiede der in den Studien bezeichnet. Dieser Prozess beeinflusst
enthaltenen Kohorten sowie in den zur Defi- hauptsächlich die adaptive Immunität und
nition der B-Zell-Subpopulationen ver- führt zu einer verminderten Wirksamkeit
wendeten Markern und in den für die Ana- des Immunsystems. Eine der Hauptursachen
lysen verwendeten Techniken wider. für Immunseneszenz und Alterung ist die
Involution des Thymus. Von der Pubertät an
wird der funktionelle Teil des Thymus, der
12.1.2 Altersbedingte aus Kortex und Medulla besteht, durch Fett
Veränderungen von ersetzt (George und Ritter 1996). Mit dem
T-Lymphozyten Alter von 50 Jahren wird die Produktion
neuer naiver T-Zellen fast vollständig ein-
Im Gegensatz zu B-Zellen differenzieren gestellt. Aus diesem Grund ist bei älteren
T-Zellen innerhalb des Knochenmarks nur Menschen die Anzahl der naiven T-Zellen in
zum Teil. Vorläuferzellen, die zu T-Zellen der Peripherie und in lymphoiden Organen
transformiert werden sollen, wandern in den verringert. Aufgrund der verringerten Bil-
Thymus, das zentrale lymphoide Organ, dung von naiven T-Zellen im mittleren Alter
welches für die Entwicklung, Selektion und ist daher die Aufrechterhaltung von Ge-
Produktion reifer naiver T-Zellen ver- dächtniszellen, die nach der Infektion und
antwortlich ist. Im Thymus wird die T-Zell-­ nach Impfungen erzeugt werden, von größ-
Reifung durch positive und negative Selek- ter Bedeutung.
tion gesteuert. Um die Reaktivität Ein weiterer charakteristischer Aspekt
sicherzustellen und nicht funktionierende von T-Zellen während der Alterung stellt die
Zellen zu entfernen, überleben nur die- Verringerung des Repertoires von T-Zell-­
jenigen T-Zellen, die MHC-­ Antigen-­Rezeptoren (TCR) dar. Das bedeutet, dass
Komplexe erkennen. Dieser Vorgang wird die Anzahl von Antigenen, die T-Zellen er-
als positive Selektion bezeichnet. Darüber kennen können, sich mindert. Während ge-
hinaus werden Thymozyten, welche stark an sunde Erwachsene und junge Menschen in
von MHC präsentierten Selbstantigene bin- zirkulierenden T-Zellen ein Repertoire von
den, durch negative Selektion entfernt. Reife mehreren Millionen TCR-β-Sequenzen auf-
T-Zellen werden dann im Kreislauf frei- weisen, nimmt diese Zahl im Alter drama-
gesetzt und zirkulieren frei und kontinuier- tisch ab (Qi et al. 2014). Da effektive
lich zwischen Blut, Lymphe, lymphoiden T-Zell-Antworten nur in Gegenwart einer
Organen und Geweben. Es können zwei ausreichenden Menge bereits vorhandener
Klassen von T-­ Lymphozyten identifiziert T-Zellen auftreten können, die neu auf-
werden: CD4+-Helfer-T-Zellen, die den tretende oder Recall-Antigene erkennen,
Co-Rezeptor CD4 exprimieren, und zyto- führt eine Einschränkung des TCR-­
toxische T-Zellen (CTLs), die CD8 expri- Repertoires bei älteren Menschen zu einer
mieren. Während CD4+T-Zellen die Akti- Beeinträchtigung der Immunantworten.
vierung von Zellen des angeborenen Eine verringerte Vielfalt des TCR-­
Immunsystems, B-­ Lymphozyten sowie Repertoires führt zu einer schlechten
nicht-immunogene Zellen regulieren, sind immunologischen Erholung nach einer
CTLs bedeutsam für die Abtötung von Zel- Transplantation hämatopoetischer Stamm-
len, die mit intrazellulären Pathogenen in- zellen und/oder einer Chemotherapie und ist
 262 L. Pangrazzi
auch mit einer erhöhten Mortalität im Alter
verbunden.
Zusätzlich zur Thymusinvolution ist die
Immunseneszenz durch die Akkumulation
von Effektor-/Gedächtnis-T-Zellen mit
einem stark differenzierten, spät/terminal
differenzierten seneszenzartigen Phänotyp
gekennzeichnet (Lazuardi et al. 2005). Es
wurde ein Zusammenhang zwischen einer
verminderten T-Zell-Produktion aufgrund
einer physiologischen Thymusinvolution
und einer altersabhängigen Akkumulation
hochdifferenzierter T-Zellen festgestellt.
Insbesondere kann eine verringerte Reifung
neuer naiver T-Zellen zu einer erhöhten
homöostatischen T-Zell-Proliferation be-
reits vorhandener naiver T-Zellen führen,
was die Erzeugung spät differenzierter
T-Zellen unterstützt. Alternativ kann eine
wiederholte Exposition gegenüber Anti-
genen (wie z. B. chronischen Virus-
infektionen wie Cytomegalovirus [CMV])
die Akkumulation dieses Zelltyps unter-
stützen. Da hochdifferenzierte T-Zellen sehr
heterogen sind, wurden mehrere Marker zur
Identifizierung dieser Population vor-
geschlagen.
12 Obwohl sowohl CD4+- als auch CD8+T-­
Zellen betroffen sind, sind altersbedingte
Veränderungen im T-Zell-Kompartiment bei
CD8+T-Zellen stärker ausgeprägt. Bei der
TCR-Erkennung von MHC-I-­ gebundenen
Peptiden, die von Antigen-­präsentierenden
Zellen (APC) angeboten werden, wird ein
Aktivierungssignal an CD8+T-Zellen ab-
gegeben. Um ihre vollständige Aktivierung
zu erreichen, benötigen T-Zellen ein zwei-
tes Signal, welches als kostimulatorisches
Signal beschrieben ist. Eines der stärksten
und am besten definierten kostimulierenden
Signale ist die Wechselwirkung zwischen
CD28, das auf der Oberfläche von T-Zellen
exprimiert wird, und seinen Liganden CD80
oder CD86, die auf der Oberfläche von ak-
tiviertem APC vorhanden sind. Aktivierte
naive T-Zellen beginnen sich zu vermehren
und differenzieren sich gleichzeitig in Effek-
tor-T-Zellen (= kurzlebige Zellen, die nach
Ausführung ihrer Effektorfunktionen durch
Apoptose sterben) und Gedächtnis-T-Zellen,
die für Recall-Reaktionen gegen dieselben
Antigene für den Fall einer nachfolgenden
Antigen-­Exposition aufbewahrt werden. Bei
anhaltender Antigenstimulation treten meh-
rere Aktivierungszyklen auf. Bei wieder-
holten Stimulations- und Proliferations-
runden wird die Expression von CD28
auf der Oberfläche von CD8+T-Zellen zu-
nehmend verringert, was zur Akkumulation
von CD28-T-Zellen führt. Die Herunter-
regulierung von CD28 ist in CD8+T-Zel-
len offensichtlicher, obwohl sie unter be-
stimmten Umständen, beispielsweise in
Gegenwart chronisch wirksamer Viren,
auch an CD4+T-Zellen stattfinden kann.
Der Verlust der CD28-­ Expression ist mit
der schnellen Inaktivierung der Telomerase
verbunden, und daher sind CD8+CD28-T-
Zellen im Vergleich zu CD8+CD28+T-Zel-
len durch kürzere Telomere gekennzeichnet
(Monteiro et al. 1996). Zusätzlich zeigen
CD28-T-­Zellen eine verringerte Antigen-in-
duzierte Proliferation und eine erhöhte
Produktion von proinflammatorischen Mo-
lekülen. Es wird vermutet, dass CD28-T-
Zellen aufgrund ihres hohen entzündungs-
fördernden Potenzials zu altersbedingten
Inflammationen (Inflammaging) beitragen,
weshalb ihre Akkumulation bei älteren Men-
schen nachteilig ist. Es wurde auch gezeigt,
dass sich CD28-T-Zellen unter bestimmten
Bedingungen noch vermehren können.
Insbesondere können sich CD8+CD28-T-­
Zellen bei Kostimulation durch Zytokine
wie IL-15 vermehren. CD28-T-Zellen re-
präsentieren die am meisten charakterisierte
Population hochdifferenzierter T-Zellen.
Dennoch ist diese Untergruppe sehr hetero-
gen. Aus diesem Grunde ist es grundsätzlich
wichtig, weitere Marker für diese Gruppe
einzuschließen, um die Population(en)
hochdifferenzierter T-Zellen mit unter-
schiedlichen Eigenschaften zu definieren.
Während ihres Differenzierungsprozesses
können T-Zellen zuerst CD28 verlieren
und in einem zweiten Schritt den Marker
Immunseneszenz und Inflammaging
263 12
der terminalen Differenzierung CD57 ex- 12.2 Der Einfluss des
primieren, wodurch eine Population von Cytomegalie-Virus (CMV) auf
CD28-CD57+T-Zellen mit einem Phänotyp
die Immunseneszenz
erzeugt wird, der klassischen seneszenten
Zellen ähnlich ist. Sowohl die Expression
Das humane Cytomegalie-Virus (CMV)
von proinflammatorischen Molekülen wie
ist ein β-Herpesvirus, das je nach Kohorte
IFN-γ und TNF als auch die Konzentratio-
zwischen 40 und 100% der erwachsenen
nen an üblicherweise mit Seneszenz asso- Bevölkerung infiziert. Bei den meis-
ziierten reaktiven Sauerstoffspezies (ROS) ten immunkompetenten Personen ist die
sind in CD28-­CD57+CD8+T-Zellen höher Primärinfektion klinisch stumm, und das
als in CD28+CD57- und CD28-CD57- Virus führt zu einer chronischen Infek-
CD8+T-­Zellen (Pangrazzi et al. 2019). Im tion, bei der sich Latenzzyklen und sub-
Gegensatz dazu ist die Genexpression für klinische Reaktivierungen abwechseln.
DNA-­ Reparatur und Apoptose sowie die Insbesondere immungeschwächte Wirts-
Proliferationsrate im Vergleich zu den ande- personen (d. h. Empfänger von hämato-
ren Untergruppen verringert. poetischen und Organtransplantaten sowie
Es gibt Hinweise darauf, dass hoch- AIDS-­ Patienten) tragen jedoch das Ri-
differenzierte, seneszenzähnliche T-Zellen siko für die Entwicklung schwerer CMV-­
mit zahlreichen altersbedingten Störungen Erkrankungen. Innerhalb des Wirts kann
assoziiert sind. Eine erhöhte Anzahl von CMV zahlreiche Zellsysteme infizieren, ein-
CD8+CD28-T-Zellen kann in der Mikro- schließlich des Bindegewebes jedes Organs,
umgebung von Tumoren und im peripheren hämatopoetischer Zellen, Epithel- und
Blut (PB) von Krebspatienten gefunden wer- Endothelzellen sowie Fibroblasten und glat-
den, und diese Erhöhung ist mit Malignität ter Muskelzellen. Monozyten dienen offen-
verbunden. Bei älteren Menschen kann eine bar als Wirtszell-Träger für das Virus wäh-
erhöhte Häufigkeit von CD8+CD28-T-­ rend der Latenz.
Zellen sowohl in der Peripherie als auch in Die CMV-Infektion verläuft bei immun-
anderen Bereichen wie dem BM beobachtet kompetenten Personen im Allgemeinen
werden. Die Akkumulation dieser Unter- asymptomatisch und wird hauptsäch-
gruppe von hochdifferenzierten CD8+T-­ lich durch zytotoxische CD8+T-Zellen
Zellen wurde im Alter mit einer verminderten kontrolliert, obwohl auch CD4+T-Zellen
Immunantwort auf Krankheitserreger und eine wichtige Rolle bei den antiviralen Re-
Impfstoffe in Verbindung gebracht. Die aktionen spielen. Ein Großteil des adap-
Akkumulation von CD8+CD28-T-Zellen tiven Immun-­ Kompartiments ist zur Be-
wird auch bei chronischen Virusinfektionen kämpfung des Virus erforderlich. Es wird
wie CMV sowohl im PB als auch im BM be- angenommen, dass gesunde Menschen
obachtet (Pangrazzi et al. 2017b). Es wurde mittleren Alters 10% oder mehr der zirku-
berichtet, dass CD8+CD28-T-Zellen für lierenden CD8+- und CD4+-T-Zellen be-
ältere Menschen schädlich sind, da ihr häu- nötigen, um CMV-­ Antigene zu erkennen
figes Auftreten mit hohem Entzündungs- und die Virusproliferation zu kontrollieren
niveau verbunden ist. Zusammenfassend (Sylwester et al. 2005). Die Auswirkungen
lässt sich sagen, dass zumindest einige Unter- einer CMV-Infektion werden insbesondere
gruppen hochdifferenzierter CD8+T-­Zellen bei immungeschwächten Trägern deutlich,
ein hohes Maß an entzündungsfördernden bei denen das Virus als opportunistischer
Molekülen exprimieren, was häufig mit er- Erreger angesehen wird und seine primäre
höhter Morbidität und Mortalität bei älte- Infektion, Reinfektion und Reaktivierung
ren Menschen verbunden ist. aus der latenten Form zum Auftreten
 264 L. Pangrazzi
a­ltersbedingter Pathologien führen kann.
Auch für gesunde jüngere Menschen ist das
Virus möglicherweise nicht so harmlos wie
ursprünglich angenommen. Beim Kampf
gegen CMV fallen hohe Kosten für Immun-
ressourcen an, um die Virusproliferation
unter Kontrolle zu halten. Dies stellt eine
konstante Belastung für den Körper dar und
führt zu zahlreichen Dysfunktionen sowohl
der adaptiven als auch der angeborenen
Immunität, mit nachfolgender Immun-
seneszenz.
Während einer akuten CMV-Infektion
wird eine hohe Ansammlung von CMV-­
spezifischen Effektor-CD8+-T-Zellen in der
Peripherie und auch in Organen beschrieben
(Karrer et al. 2003). Diese Zahl steigt nach
jedem viralen Reaktivierungszyklus von
CMV weiter an, sodass die meisten der spät
differenzierten vorhandenen CD8+T-Zellen
spezifisch für CMV-Antigene ausgerichtet
sind. Parallel dazu wird in Gegenwart des
Virus die Menge an zirkulierenden naiven
T-Zellen reduziert. Dieser Prozess wurde als
„Gedächtnisinflation“ („memory inflation“)
beschrieben und ist einer der Hauptver-
ursacher der Immunseneszenz. CMV unter-
12 stützt bekanntlich die Akkumulation von
CD8+T-­Zellen, die jedoch keine echten Ge-
dächtniszellen sind, da sie nur geringe Men-
gen an kostimulatorischen Rezeptoren wie
CD28 aufweisen und Marker der späten
Differenzierung wie den Marker der termi-
nalen Differenzierung CD57 exprimieren.
Darüber hinaus zeigen diese Zellen kurze
Telomere und regulieren das Molekül
KLRG-1 (= killer cell lectin-like receptor-1),
einen Marker für kurz lebende Effektor-
zellen (SLEC), aber auch für seneszenzähn-
liche T-Zellen, hoch. Gedächtnisvor-
läufer-Effektorzellen (Memory progenitor
effector cells = MPEC), welche die
CD8+-Effektor-T-Zellen darstellen, die das
immunologische Gedächtnis erzeugen und
einen niedrigeren KLRG-­ 1-­
Spiegel expri-
mieren, sind bei CMV-­seropositiven im Ver-
gleich zu seronegativen Personen reduziert.
Auf diese Weise kann CMV zwar eine
Akkumulation seneszenzartiger virusspezi-
fischer CD8+T-Zellen verursachen, die je-
doch aufgrund ihres terminal differenzierten
Phänotyps nicht mehr gegen die viralen
Antigene reagieren können. Parallel dazu
führt das Vorhandensein des Virus im Kör-
per zu einer verringerten Anzahl von
CD28+CD57-T-Zellen mit „echtem Ge-
dächtnis“. Daher werden in diesem Zustand
Energien vergeudet, um eine Population se-
neszierender Zellen aufrechtzuerhalten,
deren Vorhandensein mehrere weitere
Funktionsstörungen verursachen kann.
12.3  MV und altersbedingte
C
Entzündung (Inflammaging)
Eine CMV-Infektion ist mit Inflammation
assoziiert und kann diese verursachen. Bei
seropositiven CMV-Trägern akkumulieren
hochdifferenzierte, antigen-geprägte CD4+-
und CD8+CD28-T-Zellen mit einem pro-
inflammatorischen Phänotyp (van Leeuwen
et al. 2004). Eine CMV-Infektion geht auch
mit erhöhten Blutspiegeln von C-Reaktivem
Protein (CRP), einem klassischen Ent-
zündungsmarker, einher, der auch bei
Krankheiten mit entzündlicher Kompo-
nente, z. B. Malignome und Herz-Kreislauf-­
Erkrankungen, in Verbindung steht. Meh-
rere Studien untersuchten, ob CMV eine der
Ursachen für das Inflammaging sein kann,
da mit CMV infizierte Zellen eine konsis-
tente Neuprogrammierung der Genex-
pression aufweisen und damit Ursache der
kontinuierlichen chronischen Infektion im
Alter sein kann. So induzierte eine CMV-­
Infektion von Fibroblasten in vitro robust
die proentzündlichen Gene von IL-6, IL-8,
IL-11 und Cyclooxygenase 2 (COX-2) (Wolf
et al. 2012). Darüber hinaus kann eine
lebenslange CMV-Infektion als In-vivo-­
Auslöser für entzündliche Veränderungen
wirken, wie z. B. eine Steigerung der Ent-
zündungsreaktion auf bakterielle Antigene
wie Lipopolysaccharide (LPS). Darüber hi-
naus erkennen Mustererkennungsrezeptoren
Immunseneszenz und Inflammaging
wie Toll-like Rezeptor 2 (TLR2) und CD14
CMV-Virionen und unterstützen nach In-
duktion des Transkriptionsfaktors „Kappa-
Light-Chain-­ Enhancer“ von aktivierten
B-Zellen (NF-κB) die Produktion von pro-
inflammatorischen Molekülen. Wichtig ist
auch, dass eine CMV-Infektion die Bildung
von ROS unmittelbar nach dem Eintritt in
die Wirtszelle induziert. Dieses Ereignis ist
notwendig, um den Viruslebenszyklus zu in-
itiieren, da hohe ROS-Spiegel NF-κB akti-
vieren und zur Transaktivierung des viralen
Sofort-­Früh-­Promotors führen. Darüber
hinaus löst CMV die Produktion einer Viel-
zahl von proinflammatorischen Zytokinen
aus, die wiederum zur viralen Reaktivierung
beitragen. In HeLa-Zellen (= gezüchtete
Zelllinie eines Zervixkarzinoms, benannt
nach der Erkrankten, von der die Gewebe-
proben stammten) induziert CMV eine
schnelle Translokation von NF-κB aus dem
Zytoplasma in den Kern, fördert die Pro-
duktion von TNF, was zu einer weiteren Ak-
tivierung von latentem CMV führt, und sti-
muliert zusätzlich die Entzündungsreaktion.
Zusätzlich induziert CMV eine starke Ver-
ringerung der Telomerlänge sowohl in
CD8+- als auch in CD4+-T-Zellen. Wir
können daher den Schluss ziehen, dass eine
CMV-­ Infektion tatsächlich die alters-
bedingte chronische Inflammation (Inflam-
maging) unterstützen kann.
Viele Studien haben CMV in einen Zu-
sammenhang mit mehreren chronischen Er-
krankungen mit entzündlicher Kompo-
nente wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen in
Verbindung gebracht (Nieto et al. 1996).
Bei seropositiven CMV-Personen kann eine
erhöhte Produktion entzündungsfördernder
Substrate in glatten Gefäßmuskelzellen zur
entzündungsbedingten Gefäßpathologie
beitragen. Zusätzlich können zirkulierende
spät differenzierte T-Zellen diesen entzünd-
lichen Zustand weiter unterstützen. Darü-
ber hinaus wird ein direkter Zusammen-
hang zwischen CMV-Seropositivität, der
Akkumulation seneszenzartiger T-Zellen
265 12
und einem erhöhten Risiko für Herz-
Kreislauf-­Erkrankungen angenommen.
Auch wurden negative Effekte von CMV-­
Antwort auf andere Krankheitserreger und
Impfstoffe berichtet. Bei CMV-­
Seropositivität ist die Antikörper-
produktion nach Influenza-Impfung bei
jungen und älteren Erwachsenen geringer
(Frasca et al. 2015), mit geringer Granzy-
me-B-Aktivität als Reaktion auf eine
Influenza-Exposition. Fünf Jahre nach der
Auffrischimpfung gegen Diphtherie sind
die Konzentrationen von Diphtherie-spezi-
fischen Antikörpern bei CMV-positiven im
Vergleich zu CMV-­ negativen Individuen
niedriger. Auch in Mausmodellen zeigen
alte MCMV-positive Mäuse im Vergleich zu
MCMV-negativen Mäusen begrenzte
T-Zell-Reaktionen auf Influenza-Impf-
stoffe und Infektionen.
Kohorten-Längsstudien an gesunden
schwedischen Octogenariern und Nona-
genariern führten zur Definition eines
Immunrisikoprofils (IRP), als einem nütz-
lichen Marker für die Vorhersage der Zwei-
Jahres-­Mortalität (Ferguson et al. 1995).
Die Höhe des IRP war durch eine hohe
Anzahl von CD8+ und eine niedrige An-
zahl von CD4+T-Zellen gekennzeichnet.
Interessanterweise war das Vorhandensein
von Antikörpern gegen CMV im Serum
auch signifikant mit dem IRP assoziiert.
Hohe CMV-IgG-Titer sind mit einem er-
höhten Risiko einer Gesamtmortalität im
Alter verbunden. Die Wirkung von CMV
auf die Mortalität wurde teilweise durch
TNF und IL-6 vermittelt, jedoch nicht
durch CRP. Andere epidemiologische Stu-
dien haben ebenfalls einen Zusammenhang
zwischen CMV-Infektion und vermindertem
Überleben älterer Menschen festgestellt.
Zusammenfassend lösen CMV-­
Infektionen entzündliche Erkrankungen
aus, insbesondere bei älteren Menschen.
Diese Situation wird hauptsächlich durch
hochdifferenzierte T-Zellen unterstützt, die
sich in Gegenwart des Virus ansammeln.
 266 L. Pangrazzi

12.4 Aufrechterhaltung des poetischen Ursprungs wie Granulozyten,

immunologischen Megakaryozyten und Monozyten produ-
ziert werden. Langlebige Plasmazellen kön-
Gedächtnisses im
nen – obwohl sie nicht proliferieren – über
Knochenmark Jahrzehnte in den Nischen verbleiben und
sind dennoch hochaktiv hinsichtlich der
In den letzten Jahren wurde dem Knochen- Proteinsynthese.
mark (BM) eine Schlüsselrolle beim Ho- Bei Mäusen wandert ein Großteil der
ming und Überleben von Gedächt- CD4+Gedächtnis-T-Helferzellen innerhalb
nis-T-Zellen zugeschrieben. Ruhende von 3–8 Wochen nach ihrer Bildung in das
Gedächtnis-T-­ Zellen, die für systemisch BM und bleibt dort lange Zeit in Über-
wirksame virale oder bakterielle Pathogene lebensnischen erhalten. Gedächtnis-CD4+-
wie Masern, Tetanus, Röteln und Mumps T-­Zellen überleben in Nischen, die von IL-
spezifisch sind, wurden im menschlichen 7+-Stromazellen organisiert werden und
BM gefunden. Nach Entfernung der Anti- die das Gefäßzelladhäsionsmolekül 1 (Va-
gene bleiben einige der kürzlich erzeugten scular Cell Adhesion Molecule = VCAM-
adaptiven Zellen für lange Zeiträume im 1) und Kollagen XI exprimieren. Es wurde
BM erhalten, was hohe Mengen an Über- beschrieben, dass das Cytokin IL-7 den
lebensfaktoren für T- und B-Zellen produ- Übergang von kurzlebigen zu langlebigen
ziert (Tokoyoda et al. 2010). Der Erhalt des CD4+-T-Zellen befördert und den Haupt-
immunologischen Gedächtnisses wird durch überlebensfaktor für CD4+-Memory-­ T-
Cytokin/Chemokin-­produzierende Zellen Zellen darstellt. Sobald Memory-­ CD4+T-
vermittelt, die in der Matrix des BM vor- Zellen ihre endgültige Position in der Nische
handen sind. Es wird angenommen, dass be- erreicht haben, können sie über lange Zeit in
stimmte Nischen-Bereiche, die reich an die- einem proliferativen Ruhezustand gehalten
sen Molekülen sind, die homöostatische werden. Neben IL-7 spielt das Zytokin IL-
Proliferation sowohl von Plasmazellen als 15 eine Schlüsselrolle für das Überleben
12 auch von Antikörper-­ produzierenden B-­ von CD4+-Memory-­T-Zellen (Chen et al.
Zellen (die wiederum naiven B-Zellen im 2014). So wurden Wechselwirkungen zwi-
Lymphknoten entstammen) und von Effek- schen CD4+T-Zellen und IL-15+-Zellen im
tor-/Gedächtnis-­T-­Zellen unterstützen. BM dokumentiert. Die Aufrechterhaltung
Im Tierversuch tragen mehrere Zelltypen von Effektor-/Memory-CD8+T-Zellen wird
zur Organisation der Plasmazellnischen sowohl von IL-7 als auch von IL-15 unter-
z. B. im Maus-BM bei: Plasmablasten, die stützt. Während bei Mäusen eine CD4+-Me-
aus naiven B-Zellen in den Keimzentren ge- mory-T-Zell-Nische beschrieben wurde, ist
bildet werden, wandern in das BM und rei- die Struktur einer Memory-CD8+-T-­ Zell-­
fen zu Plasmazellen, ausgelöst durch Nische weder bei Mäusen noch beim Men-
Wechselwirkung mit dem Chemokin schen bekannt. Das von BM-­Stromazellen
CXCL-­ 12, gebildet von reichlich vor- produzierte IL-7 kann an IL-7Rα binden,
handenen retikulären (CAR) Stromazellen. welches auf CD8+-Memory-­ T-Zellen ex-
Die meisten Plasmazellen liegen meist fest- primiert wird. Myeloide und Stroma-Zellen
sitzend in stabilem Kontakt mit retikulären produzieren und transpräsentieren IL-15
Stromazellen (Fooksman et al. 2010). Das nicht nur in Memory-CD8+-T-Zellen, son-
Überleben von Plasmazellen im BM wird dern auch in Effektor-/hochdifferenzierte
durch zwei Zytokine gefördert, einen CD8+-T-­ Zellen, die große Mengen an
proliferationsinduzierenden Liganden (A IL-2/IL-15Rβ-­Ketten (CD122) und y-Ket-
Proliferation Inducing Ligand = APRIL) ten (CD132) exprimieren (Li et al. 2015).
und IL-6, die beide von Zellen hämato- In ­Speicher-­CD8+-T-Zellen synergieren
Immunseneszenz und Inflammaging
267 12
IL-7 und IL-15. Während IL-15 haupt- ab, während IL-6 im BM zunimmt. Das für
sächlich ein T-Zell-­ Proliferationsfaktor die Rekrutierung von Plasmazellen in den
ist, hängen die Erzeugung und das Über- Nischen bedeutsame Chemokin CXCL-
leben von Gedächtnis-T-Zellen von der 12 bleibt vom Alter unbeeinflusst. Der
IL7Rα-­ Signalübertragung ab. Das Über- Alterungsprozess beeinträchtigt somit das
leben und/oder die Proliferation von Memo- Überlebens adaptiver Immunzellen im BM,
ry-CD8+-T-Zellen ist nur dann wirksam, während jedoch die Migration dieser Zellen
wenn beide Zytokine gebildet werden und in die Nischen bei älteren Menschen nicht
präsent sind. beeinträchtigt wird. Es wurde angenommen,
dass die Akkumulation von IL-15 im BM
von Vorteil sei, da sie die Aktivierung und
12.4.1 Der Einfluss von Proliferation von Effektor-/Memory-CD8+
Inflammaging, oxidativem T-Zellen antreibt. Dennoch muss berück-
Stress und zellulärer sichtigt werden, dass sowohl IL-15 als auch
IL-6 nicht nur am Erhalt adaptiver Immun-
Seneszenz auf die zellen beteiligt sind, sondern auch als pro-
Aufrechterhaltung des entzündliche Zytokine wirken und daher
immunologischen ihre Expression unter Kontrolle gehalten
Gedächtnisses werden muss. Da sowohl IL-15 als auch IL-6
im gealterten BM überexprimiert sind, kann
Mit zunehmendem Alter des Immunsystems angenommen werden, dass Inflammationen
nimmt die Produktion entzündungs- für die altersbedingte Beeinträchtigungen
fördernder Moleküle wie TNF, IL-6 und des immunologischen Gedächtnisses bei älte-
IL-1β in jedem Organ zu, wodurch ein ren Menschen verantwortlich sind oder zu-
niedrig-­gradiger systemischer Entzündungs- mindest dazu beitragen. Im BM nimmt wäh-
prozess (Inflammaging) unterstützt wird, rend des Alterns die Expression von IFNγ
der wiederum im gesamten Körper patho- und TNF nicht nur in BM-Zellen, sondern
physiologische Risiken und Ausbruch von auch in CD8+CD28- und CD8+CD28-
altersbedingten Erkrankungen fördert. CD57+T-Zellen zu (Pangrazzi et al. 2019).
Innerhalb der BM-Nischen beein- Zusätzlich induziert IFNγ die Produktion
trächtigt der Alterungsprozess die Produk- von IL-15 und IL-6 in myeloischen Zell-
tion einiger Überlebensfaktoren für Effek- typen in vitro. Da die Apoptose hoch-
tor-/Memory-­T-­Zellen und langlebige differenzierter CD8+CD28-T-Zellen durch
Plasmazellen. Insbesondere ist im BM älte- IL-15 gehemmt wird, kann spekuliert wer-
rer Menschen die Expression des Zytokins den, dass dieses Zytokin eine grundlegende
IL-7 für die Aufrechterhaltung von Memo- Rolle für das Überleben und die alters-
ry-T-Zellen vermindert. Ex vivo kultivierte, bedingte Akkumulation von CD8+CD28-
von älteren Spendern isolierte BM-­T-Zellen in beiden PB und BM spielt. Daher
Stromazellen bildeten weniger IL-7 im Ver- scheinen BM-Nischen, die am langfristigen
gleich zu jüngeren. IL-15, ein Zytokin, das Überleben von Memory-T-­ Zellen beteiligt
bevorzugt die Aufrechterhaltung hoch- sind, im Alter zunehmend entzündungs-
differenzierter, seneszenzartiger T-Zellen fördernd zu wirken, wobei CD8+CD28-
unterstützt, wird im BM im Alter dagegen T-Zellen und weitere hoch differenzierte
überexprimiert (Herndler-Brandstetter et al. T-Zell-Untergruppen diesen Prozess unter-
2011). stützen. Spät differenzierte CD8+T-Zellen
Darüber hinaus nehmen während des sezernieren nach ihrer Rekrutierung in der
Alterungsprozesses die Konzentrationen BM-Umgebung IFNγ und TNF, welche auf
des Plasmazell-Überlebensfaktors APRIL BM-Zellen wirken und dort die Produktion
 268 L. Pangrazzi
von IL-15 und IL-6 unterstützen, wodurch
die Anziehung neuer hochdifferenzierter
T-Zellen aus der Peripherie befördert wird.
Im alternden BM etabliert sich ein Teufels-
kreis von Entzündungen, der die Aufrecht-
erhaltung des „gesunden“ immunologischen
Gedächtnisses beeinträchtigt.
Zusätzlich zur Entzündung können ROS
(= Radical Oxygen Species) auch das Über-
leben adaptiver Immunzellen im BM beein-
trächtigen. Diese Hypothese wird durch die
Beobachtung gestützt, dass infiltrierende
Leukozyten wie Makrophagen ständig
Sauerstoffradikale produzieren, die eine
wichtige Rolle bei der Abtötung von Krank-
heitserregern spielen, aber schließlich bei zu
hohen Wirkspiegeln auch zu strukturellen
Gewebeschäden führen (Franceschi und
Campisi 2014). Der Alterungsprozess selbst
sowie proinflammatorische Moleküle regu-
lieren die ROS-Werte und tragen somit zum
oxidativen Stress bei, einem typischen Kenn-
zeichen der Alterung. In-vitro-­Stimulation
von mononukleären Zellen des peripheren
Blutes (PBMCs) mit IFNγ führt zu erhöhten
ROS-Spiegeln in myeloischen Zellen (Pang-
razzi et al. 2017a). Parallel zu den erhöhten
12 TNF- und IFNγ-Spiegeln im alternden BM
werden auch höhere ROS-­Spiegel in der pro-
inflammatorischen BM-­ Umgebung älterer
Spender gefunden werden. Zusätzlich unter-
stützt ROS die IFNγ-vermittelte Induktion
von IL-15 und IL-6, da die Überexpression
dieser Zytokine blockiert wurde, wenn
IFNγ-Gegenwart der Antioxidantien
N-Acetylcystein (NAC) und Vitamin C in-
kubiert wurde. Eine Entzündung kann die
ROS-Produktion induzieren und infolge-
dessen das Überleben hochdifferenzierter
T-Zellen im BM unterstützen. Die Be-
deutung von oxidativem Stress für die In-
duktion einer BM-Entzündung und die
Unterstützung der Produktion von IL-15
und IL-6 wurde bei Mäusen beobachtet,
denen die Isoform 1 des antioxidativen En-
zyms Superoxiddismutase 1 (SOD-1 Knock-
out-Mäusen) fehlte, bei denen gleichzeitig
hohe Konzentrationen von IFNγ, TNF, IL-
15 und IL-6 gefunden wurden. Erst kürzlich
wurde von einer negativen Korrelation zwi-
schen den ROS-Spiegeln im BM und den
Diphtherie-Antikörperniveaus in der Peri-
pherie berichtet (Naismith et al. 2019). Diese
Ergebnisse deuten darauf hin, dass ROS die
BM-Umgebung auf noch näher beschreib-
bare Weise beeinflussen und/oder gar be-
schädigen kann, was wiederum die Anti-
körperproduktion von langlebigen
Plasmazellen in den Nischen beeinträchtigt.
Altersbedingte Entzündungen kön-
nen zusätzlich durch zelluläre Seneszenz
unterstützt werden (Campisi und d’Adda
di Fagagna 2007). Es wird angenommen,
dass seneszente Zellen, die sich mit zu-
nehmendem Alter in vielen Geweben an-
sammeln, mit ihrem sekretorischen Phäno-
typ, der allgemein als seneszenz-assoziierter
sekretorischer Phänotyp (SASP) bekannt
ist, sowohl den Alterungsprozess als auch
altersbedingte Erkrankungen antreiben.
Denn seneszente Zellen, wie z. B. seneszente
Fibroblasten, setzen entzündungsfördernde
Zytokine frei, welche die Mikroumgebung
des Gewebes und die Funktion benach-
barter Zellen verändern. Die Eliminierung
seneszenter Zellen in gealterten Mäusen
verhindert mehrere altersbedingte Patho-
logien (Baker et al. 2011), und die Präsenz
seneszenter Zellen in der BM-Umgebung
ist negativ mit peripheren Antikörper-­
Konzentrationen verbunden. Somit kön-
nen die BM-Nischen, die am Überleben
adaptiver Immunzellen beteiligt sind, bei
älteren Menschen selbst seneszent werden,
wodurch die optimale Aufrechterhaltung
des immunologischen Gedächtnisses be-
einträchtigt wird. Alterungsbedingte Ver-
änderungen im BM können auch auf eine
Auseinandersetzung um Raum innerhalb
des BM zurückgeführt werden. Diese
Hypothese folgt der Beobachtung, dass das
Knochenmark im Alter innerhalb der Kno-
chen dramatisch reduziert ist. Tatsächlich
ändert sich der Prozentsatz des von hämato-
poetischen Zellen eingenommenen Mark-
raums von 40–60% bei jungen Erwachsenen
Immunseneszenz und Inflammaging
auf 20–40% bei älteren Menschen. Daher
können im Alter in den BM-Nischen phy-
sische Raumbeschränkungen bestehen,
in denen sich seneszenzähnliche Effek-
tor-T-Zellen ansammeln können, wodurch
das Überleben nützlicher Memoryzellen
verhindert wird. Somit kann die Nischen-
kapazität durch die begrenzte Verfügbarkeit
von Überlebensfaktoren wie APRIL und
IL-7 bestimmt werden, deren Produktion
im gealterten BM verringert ist, wobei ver-
schiedene Zellpopulationen um dieselben
Überlebensfaktoren konkurrieren. Eine im
menschlichen BM durchgeführte Profilie-
rung von Immunzellen zeigte, dass T-Zel-
len mit dem Alter zunahmen, was signi-
fikant mit einer Abnahme der B-Zell- und
Monozytenfrequenz korrelierte. Dies deu-
tet darauf hin, dass diese Zellpopulationen
möglicherweise im Wettbewerb um Mark-
raum stehen. Ähnliche Befunde wurden für
proinflammatorische T-­Zellpopulationen
im BM beschrieben, die negativ mit B-Zel-
len korrelierten. Diese Daten legen nahe,
dass sich proinflammatorische, hoch-
differenzierte T-Zellen im BM ansammeln
und damit möglicherweise weniger Platz für
andere adaptive Immunzellen wie B-Zellen
und langlebige Plasmazellen zur Verfügung
steht.
12.4.2  uswirkungen von CMV
A an und können, soweit sie zirkulieren, auch
auf die Aufrechterhaltung
des immunologischen
Gedächtnisses im BM
Von allen Organen ist bekannt, dass hoch-
differenzierte CD8+T-Zellen im BM von
CMV pos.-Personen akkumulieren (Pang-
razzi et al. 2017b). Bei seropositiven Perso-
nen steigt die Häufigkeit von CMV-spezifi-
schen spätdifferenzierten CD8+T-Zellen mit
reduzierten CD28-­ Spiegeln und exprimie-
rendem Seneszenzmarker KLRG1 im Ver-
gleich zu seronegativen Personen dramatisch
269 12
an. Dies geschieht nicht nur in der Peri-
pherie, sondern auch im BM. Offenkundig
kann sowohl in BM als auch in PB eine
Fraktion von CMV-spezifischen T-Zellen
aufgrund ihres terminal differenzierten
Phänotyps nicht ausreichend auf virale
Antigene reagieren. Hochdifferenzierte
CD8+T-­Zellen benötigen die Anwesenheit
von IL-15, um über lange Zeiträume im BM
gehalten zu werden. In der Tat wurden er-
höhte Spiegel dieses Zytokins im BM von
CMV pos.-Personen beobachtet. Darüber
hinaus wurde über erhöhte Wechsel-
wirkungen zwischen CD8+T-Zellen und IL-
15-­produzierenden Stromazellen in Gegen-
wart von CMV berichtet. Da spät
differenzierte CD8+ T-­ Zellen aufgrund
ihrer hohen Expression von CD122 (IL-2/
IL-15Rβ) und reduzierten IL-7Rα-Spiegeln
bevorzugt auf IL-15 reagieren, können die
erhöhten IL-­15-­Spiegel ihre Akkumulation
in der Bevölkerung unterstützen. Dies nicht
nur während des Alterungsprozesses, son-
dern auch nach einer CMV-Infektion. In
Gegenwart des Virus ist daher die Aufrecht-
erhaltung „gesunder“ IL-7Rα+CD28+-
Speicher-T-­ Zellen beeinträchtigt, da IL-
7RαlowCD28-­CD8+-T-Zellen bevorzugt in
den Nischen enthalten sind. Bei CMV+-Per-
sonen reichern sich im PB hochdifferenzierte,
Antigen-erfahrene CD8+CD28-T-Zellen
mit einem proinflammatorischen Phänotyp
in das BM wandern. Da BM eine wichtige
Rolle bei der Aufrechterhaltung von Ge-
dächtnis-T-Zellen und langlebigen Plasma-
zellen spielt, die den Schutz gegen systemi-
sche Antigene gewährleisten, kann man
daher die Hypothese aufstellen, dass CMV
die BM-Umgebung in irgendeiner Form be-
lasten kann. Tatsächlich kann bei Präsenz
von Virusantigenen eine erhöhte Frequenz
hochdifferenzierter T-Zellen die In-
flammation im BM unterstützen, was zu
einer Beeinträchtigung der Immun-
antworten in der Peripherie führt.
 270 L. Pangrazzi

12.4.3 Zellalterung und T-Zellen zuerst CD28 und in einem zweiten Schritt
CD27 verlieren können, kann dieses Mo-
Wie zuvor beschrieben, können CD8+T-­ dell erklären, warum zumindest einige
Zellen während des Differenzierungs- CD28-CD8+T-­Zellen möglicherweise
prozesses zuerst den kostimulatorischen noch funktionsfähig sind. Anders als bei
Rezeptor CD28 verlieren und als letz- CD8+T-Zellen kann CD27 in CD4+T-­
ten Schritt die Expression des terminalen Zellen vor CD28 herunterreguliert werden.
Differenzierungsmarkers CD57 erhalten (s. In einem anderen wissenschaftlichen
7 Abschn. 12.1.1). Jüngste Daten deuten da- Ansatz wurde die Identifikation des „am
rauf hin, dass CD28-CD57+CD8+T-­Zellen stärksten“ seneszenten T-Zell-Kandida-
Merkmale klassischer seneszierender Zel- ten innerhalb von CD4+T-Zellen über-
len aufweisen können, wie z. B. verringerte prüft (Henson et al. 2014). Man fand, dass
Proliferation und Apoptose, sowie erhöhte CD45RA+CD27-CD4+T-Zellen eine mito-
ROS- und proinflammatorische Molekül- chondriale Dysfunktion zeigten, ein weiteres
spiegel (Pangrazzi et al. 2019). Insbesondere typisches Merkmal der Seneszenz, das nach
sind CD28-CD57+ CD8+T-­ Zellen senes- Blockierung von p38-Mitogen-aktivierten
zenten Zellen mindestens einen Schritt Proteinkinasen (MAPK) umkehrbar war.
näher als die gesamte CD28-­ Population Es ist bekannt, dass seneszierende Zellen
und CD28-CD57-CD8+T-­ Zellen. Zu- ein breites Spektrum von Molekülen wie
sätzlich wurden andere seneszenzartige Proteasen, Wachstumsfaktoren und Zyto-
T-Zell-Untergruppen vorgeschlagen. kinen sezernieren, welche sie von gesun-
Es gibt Hinweise darauf, dass die Ex- den Zellen in unterschiedlichen Geweben
pression von CD27, einem anderen ko- unterscheiden. Diese Faktoren stellen ein
stimulatorischen Rezeptor, eine Popula- typisches Kennzeichen der Seneszenz dar
tion von CD28-CD8+T-Zellen definieren und wurden daher als seneszenzassoziierter
könnte, die der terminalen Differenzierung sekretorischer Phänotyp (SASP) definiert.
und Seneszenz am nächsten kommt (Plun- CD45RA+CD27-CD4+T-Zellen wurden
12 kett et al. 2007). Tatsächlich zeigen CD27- als Zellen mit typischem SASP-Phänotyp
CD28-­CD8+T-Zellen kürzere Telomere als beschrieben, wobei hohe Mengen an Che-
CD27+CD28- und CD27-CD28+CD8+T-­ mokinen, proinflammatorischen Zytoki-
Zellen, eine verringerte Proliferation und nen, Wachstumsfaktoren und Proteasen
Telomeraseaktivität. Dies legt nahe, dass sekretiert werden (Callender et al. 2018).
sich CD28-CD27-CD8+T-Zellen bis zu Die MAPK-Aktivität war notwendig, um
einem Punkt differenziert hatten, an dem diesen Senszenz-Phänotyp SASP zu in-
kostimulierende Signale nicht mehr aus- duzieren, da diese Entwicklung teilweise
reichen, um die Telomeraseaktivität zu durch Hemmung der p38-MAPK-Ak-
induzieren, wie dies bei CD27+CD28- tivität zurückgesetzt werden konnte. Es
und CD27-CD28+CD8+T-Zellen der muss jedoch berücksichtigt werden, dass
Fall ist. Daher wurde ein alternatives CD45RA+CD27-CD4+T-Zellen eine
Differenzierungsmodell für CD8+T-Zel- sehr heterogene Population darstellen, die
len vorgeschlagen, beginnend mit früh CD28+/- und CD57+/-Zellen umfassen.
differenzierten CD28+CD27+ bis zu dif- Trotz dieser Ergebnisse gibt es Hinweise
ferenzierten CD28-­ CD27+ und terminal darauf, dass einige T-Zell-Untergruppen
differenzierten CD28-CD27-CD8+T-Zel- sich seneszent entwickeln können. Es wurde
len. Ähnlich wie bei CD28-T-Zellen rei- keine T-Zell-Population identifiziert, die
chern sich CD27-CD28-T-Lymphozyten sämtliche Seneszenz-Merkmale aufweist,
bei älteren Menschen und bei chronischen einschließlich beispielsweise der Hoch-
Virusinfektionen an. Da CD8+T-Zellen regulation der proinflammatorischen Mo-
Immunseneszenz und Inflammaging
271 12
leküle IL-6 und IL1β sowie aller Proteasen Killerzellen T-Zellen (NKT), γδ-T-Zellen,
und Wachstumsfaktoren, die mit der Senes- Monozyten, dendritische Zellen, aber
zenz bei Fibroblasten verbunden sind. Um auch T- und B-Zellen durch Produkte des
seneszierende T-Zellkandidaten klarer defi- SASP aktiviert werden. Da zumindest ei-
nieren zu können und darüber hinaus zu ver- nige SASP-Moleküle durch Untergruppen
stehen, ob seneszierende T-Zellen gemäß der hochdifferenzierter T-Zellen exprimiert wer-
klassischen Definition echte seneszierende den (Callender et al. 2018; Pangrazzi et al.
Zellen sind, ist eine Kombination mehrerer 2019), kann möglicherweise die Präsenz se-
Zell-Marker wesentlich. Höchstwahrschein- neszierender T-Zellen benachbarte Zellen,
lich sind seneszierende T-Zellen vor allem in wie z. B. des Immunsystems oder anderer
der CD28-­­CD57+CD45RA+CD27-­T-­Zell-­ Gewebe, beeinflussen. Kürzlich wurde be-
Population zu finden. Es müssen jedoch richtet, dass seneszierende dermale Fibro-
für eine sichere Charakterisierung zusätz- blasten das menschliche Leukozytenantigen
liche Seneszenz-­Marker identifiziert werden. E (HLA-E) exprimieren. Die HLA-­E-­Spiegel
Diese Marker können allerdings für CD4+- sind auch bei seneszenten Zellen von alten
und CD8+-T-­Zellen unterschiedlich sein. im Vergleich zu jungen Spendern höher.
HLA-E bindet den inhibitorischen Rezep-
tor NKG2A, der von hochdifferenzierten
12.4.4 Zielgerichtete zelluläre CD8+T-Zellen und NK-­ Zellen exprimiert
wird (Pereira et al. 2019). Der Erwerb von
Seneszenz zur NK-Rezeptoren durch hochdifferenzierte
Verbesserung der T-Zellen kann auf epigenetische Mechanis-
Immunantwort bei älteren men zurückzuführen sein, wie beispielsweise
Menschen die Methylierung bestimmter Gene, wie für
NK-Zellen gefunden worden ist. Die Ex-
Die Akkumulation seneszierender Zellen pression von NKG2A ist auf CD27-CD28-
innerhalb von Geweben und Organen kann höher als auf CD27+CD28- und
zu altersbedingten Erkrankungen und zur CD27+CD28+CD8+T-Zellen. Auf diese
Alterung selbst beitragen (Baker et al. 2016). Weise wird in Gegenwart hochdifferenzierter
Die eintretende Antwort auf DNA-Schäden T-Zellen die Bindung zwischen NKG2A und
(DNA damage response = DDR) kann die HLA-E induziert, was die Eliminierung se-
Aktivierung des angeborenen und adapti- neszenter Zellen durch zytotoxische T-Zel-
ven Immunsystems unterstützen. Darüber len verhindert. Wenn die Wechselwirkung
hinaus kann die Aktivierung des DDR ein zwischen HLA-E und NKG2A blockiert ist,
Seneszenzprogramm innerhalb sämtlicher wird die durch CD8+T-Zellen vermittelte
Zelltypen initiieren. Wird das zelluläre Zytotoxizität gegen seneszente Zellen ver-
Seneszenzprogramm induziert, was für den stärkt. Zusammengenommen legen neuere
Beginn des SASP wichtig ist, bietet sich Studien nahe, dass seneszente T-Zellen eine
die Möglichkeit, angeborene und adaptive wichtige Rolle bei der Akkumulation senes-
Immunzellen über Zytokine und Chemo- zenter Zellen in anderen Geweben spielen
kine anzuziehen und zu aktivieren. Diese können. Obwohl immer noch nicht klar ist,
Moleküle können angeborene Immun- ob einige T-Zell-­ Untergruppen seneszent
antworten über verschiedene Wege unter- sein können, kann die Clearance von spät
stützen, beispielsweise durch die Hoch- differenzierten, seneszenzartigen T-Zellen
regulation von NKG2D-Liganden (Natural eine vielversprechende Strategie zur Be-
Killer Group 2, Mitglied D) und Interferon-­ kämpfung der zellulären Seneszenz in ande-
regulatorischen Faktoren. Somit können ren Zelltypen wie Fibroblasten und Präadi-
natürliche Killerzellen (NKZ), natürliche pozyten darstellen.
 272 L. Pangrazzi
Die Identifizierung von seneszenten
T-Zellen kann Möglichkeiten für neuartige
Therapiestrategien bieten, die zur Ver-
besserung der Immunantworten bei älteren
Menschen und zur Behandlung von alters-
bedingten Störungen führen. Um dieses
Ziel zu erreichen, ist eine enge Zusammen-
arbeit zwischen verschiedenen Bereichen
erforderlich. Daher ist es wichtig, Wissens-
systeme aufzubauen, in denen Fachwissen
aus verschiedenen Bereichen wie Alterungs-
forschung, Immunologie und Onkologie
zusammengeführt wird, um seneszierende
T-Zellen zu definieren und zu beeinflussen.
Ein vielversprechender Ansatz wäre, zu-
nächst Untergruppen von terminal diffe-
renzierten T-Zellen unter Verwendung von
Oberflächenmarkern zu definieren und diese
Subpopulationen in einem zweiten Schritt
auf klassische Seneszenzmarker wie SA-β-
Gal, p16INK4a, p21, mtDNA-­Modifikation
und Telomerverkürzung und Anwesenheit
von SASP zu testen. Dieser Ansatz basiert
auf der Hypothese, dass existierende senes-
zierende T-Zellen innerhalb von Populatio-
nen hochdifferenzierter T-­Zellen zu identi-
fizieren sind. Da viele Oberflächenmoleküle
12 mit spät differenzierten T-Zellen assoziiert
wurden, stellen mehrfarbige Durchfluss-
zytometrietechniken ein leistungsfähiges
Werkzeug für diese Analyse dar. Parallel
dazu kann eine transkriptomische Analyse
wie die Einzelzell-RNA-­Sequenzierung er-
forderlich sein, um Signalwege, die typischer-
weise an der Seneszenz von Zellen beteiligt
sind, in einigen T-Zell-Untergruppen zu
analysieren. Für eine objektive Analyse
kann die Expression klassischer Seneszenz-
marker die Teilmengen hochdifferenzierter
T-Zellen definieren, die zunächst in T-Zel-
len untersucht und anschließend mit T-­
Zelloberflächenmarkern verknüpft werden.
Um die Analyse robuster zu machen, sollten
beide Ansätze parallel durchgeführt werden.
Obwohl spekuliert werden kann, dass zu-
mindest die CD28-­CD57+CD45RA+CD27-
T-Zell-­Untergruppe Merkmale der Senes-
zenz aufweist, müssen zusätzliche Studien
durchgeführt werden, um diese Hypothese
zu beweisen und um schließlich noch wei-
tere Marker vorzuschlagen. Es ist wichtig,
dass seneszierende T-Zellen von erschöpften
T-Zellen unterschieden sind. Diese Zellen
werden typischerweise durch die erhöhte
Expression von Aktivierungsmarkern wie
PD-1 und CTLA-4 definiert und sind im
Zusammenhang mit Malignomen besonders
relevant, da die Tumorumgebung die T-Zell-­
Erschöpfung antreibt und somit die Immun-
antworten hemmt (Seidel et al. 2018). Bisher
wurde die Charakterisierung seneszierender
T-Zell-Teilmengen hauptsächlich im peri-
pheren Blut (PB) durchgeführt. Um den
Phänotyp dieser Zellen besser untersuchen
und verstehen zu können, wie eine zelluläre
Seneszenz abläuft, müssen auch T-Zellen
innerhalb des Gewebes und in lymphoi-
den Organen berücksichtigt werden. Denn
es ist bekannt, dass sich der Phänotyp von
Immunzellen je nach Umgebung, in der
sie sich befinden, erheblich ändert. Außer-
dem können Immunzellen selbst auch ihre
Umgebung beeinflussen. Daher kann eine
Untersuchung, in welcher Art und Weise
Gewebestrukturen Seneszenzmerkmale in
T-Zellen induzieren können, nicht nur zum
Verständnis beitragen, ob wirklich senes-
zierende T-Zellen existieren, sondern auch,
ob dieser Zelltyp bevorzugt in bestimmten
Geweben oder Organen vorkommt bzw. lo-
kalisiert ist.
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 275 13

Chronobiologie
Jan-Dirk Fauteck

Inhaltsverzeichnis

13.1 Historie – 277

13.2 Taktgeber Licht und Dunkelheit – 278

13.2.1  achthormon Melatonin – 278
N
13.2.2 Muntermacher Cortisol – 278

13.3 Einflussfaktor Ernährung – 279

13.4 Zelluläre Mechanismen – 280

13.4.1 I ntelligentes Gensystem – 281
13.4.2 Flexible Uhrgene – 281

13.5 Der Chronotyp – 282

13.5.1  aby- und Kinderalter – 282
B
13.5.2 Unterschied der Geschlechter – 282
13.5.3 Mehr Lerchen im Alter – 283

13.6 Chronodisruption – 283

13.6.1 L icht – 284
13.6.2 Ernährung – 285
13.6.3 Elektromagnetische Felder – 286
13.6.4 Medikamente – 286
13.6.5 Stress – 286

13.7 Chronobiologie im Praxisalltag – 287

13.7.1 S chlafstörungen – 287
13.7.2 Diabetes – 288
13.7.3 Krebserkrankungen – 288
13.7.4 Herz-Kreislauf-­Erkrankungen – 289
13.7.5 Alzheimer – 289

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_13
13.8 Chronotherapie – 290
13.8.1  ombinierte Chronotherapie mit Licht und Melatonin – 291
K
13.8.2 Chronobiologisch korrekte Freisetzung – 291
13.8.3 Chronopharmakologie auch für Vitamine & Co. – 292

13.9 Ausblick – 293

Literatur – 293
Chronobiologie
Gesund leben und gesund altern, dabei
geistig und körperlich fit bleiben. – Ein
viel gehegter Wunsch, dem man mit der
Chronobiologie etwas näherkommen
könnte. Denn diese noch junge Wissen-
schaft untersucht das Zusammenspiel
von Zeit, Rhythmizität und Gesundheit.
Sie erforscht dabei, wie die biologischen
Rhythmen im menschlichen Körper funk-
tionieren und wie diese durch endogene
und exogene Vorgänge beeinflusst wer-
den. Schlafen, Essen, Reproduktion, die
geistige und körperliche Leistungsfähig-
keit, Emotionen: alles physiologische und
biochemische Prozesse im menschlichen
Organismus, die ihre eigenen Rhythmen
haben und verlässlich wie ein Schweizer
Uhrwerk sind – vorausgesetzt, sie werden
nicht durch externe Einflüsse gestört.
13.1 Historie
Ein Leben nach den inneren Uhren, das die
vielen Rhythmen im Organismus berück-
sichtigt, hat große Effekte: auf die mentale
und körperliche Gesundheit, aber auch auf
den Verlauf vieler Krankheiten. − Die-
ses Wissen existiert im Prinzip seit Jahr-
tausenden. Schon Hippokrates (460 bis
370 v. Chr.) beobachtete, dass Fieber einem
24-Stunden-­Zyklus folgt. Auch Galenus von
Pergamon (130 bis 200 n. Chr.) stellte fest,
dass manche Krankheitssymptome, wie sie
etwa beim Fieber der Malaria beobachtet
werden, periodisch auftreten. Noch aber
ging man davon aus, dass diese Rhythmen
nur durch endogene Körperprozesse beein-
flusst werden.
Das änderte sich erst zu Beginn des
18. Jahrhunderts, als der französische As-
tronom Jean Jacques d’Ortous de Mairan
(1678–1771) beobachtete, dass sich die Blät-
ter der Mimose am Tag zur Sonne öffneten,
in der Dämmerung wieder schlossen. Ent-
zog man den Pflanzen das Tageslicht, so
öffneten und schlossen sich die Blüten zwar
noch rhythmisch für einige Tage weiter, aber
277 13
de Mairan hat erstmals zeigen können, dass
auch externe Faktoren, wie z. B. das Licht,
auf die Rhythmizität einwirken.
Einer der wichtigsten Pioniere der
Chronobiologie ist zweifelsfrei der fran-
zösische Arzt, Pharmazeut und Natur-
forscher Julien-­Joseph Virey (1775–1846).
In seiner Dissertation Éphémérides de la
vie humaine (1814) widmete er sich den bio-
logischen Rhythmen und der Frage, wie
diese durch externe Faktoren, wie z. B. den
Tag-Nacht-Wechsel, beeinflusst werden. Er
beobachtete auch, dass die Wirkung von
Medikamenten variiert – je nachdem, wann
sie eingenommen werden (Virey 1814).
Virey beschrieb damit schon vor mehr als
200 Jahren, was heute die Grundzüge der
Chronopharmakologie ausmacht. Für
manche Wissenschaftler gilt die Arbeit von
Virey als „Geburtsstunde der Chronobio-
logie“ (Reinberg et al. 2001), auch wenn es
noch bis in die 1960er-Jahre dauern sollte,
um die Erforschung der Chronobiologie als
eigenständiges, wissenschaftliches Feld zu
etablieren.
Eine wichtige Rolle dabei spielte Franz
Halberg (1919–2013), der als Entdecker des
24-stündigen zirkadianen Rhythmus gilt
(Halberg 1963). Für viele ist Halberg im
Übrigen der Begründer der Chronobiologie,
setzte er sich doch seit den 1950er-Jahren
mit den Gesetzmäßigkeiten dieser Wissen-
schaft intensiv auseinander und beschrieb
den Einfluss, den eine Desynchronisation
der zirkadianen Rhythmik auf die Gesund-
heit haben kann.
Ein weiterer Pionier der Chronobiologie
ist Jürgen Aschoff (1913–1998): In einer
1963 gestarteten Versuchsreihe zeigte er, dass
etwa der Schlaf-Wach-Rhythmus einen ge-
regelten Rhythmus hat, der von der inneren
Uhr geregelt wird. Dafür verbrachten seine
Testpersonen mehrere Wochen in einem völ-
lig von der Außenwelt abgeschirmten Bun-
ker, ohne zu wissen, wann es Tag bzw. Nacht
ist. Das Ergebnis: Ihr zirkadianer Rhythmus
blieb erhalten, wenn auch mit einer Zeit-
spanne von ca. 25 Stunden.
 278 J.-D. Fauteck
All diese wertvollen Erkenntnisse
g­erieten jedoch in Vergessenheit, bis sich
in den 1980er-Jahren die Chronobiologie
endlich als eigenständige, wissenschaftliche
Disziplin durchsetzen konnte. Mit der Ver-
leihung des Nobelpreises für Medizin 2017,
den Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash und
Michael W. Young für ihre Erforschung der
molekularen Grundlagen und Mechanis-
men der inneren Uhren erhielten, bekam
die Chronobiologie endlich den Stellenwert,
den sie seit langer Zeit verdiente.
13.2  aktgeber Licht und
T Maße – und zwar negativ – beeinflussen
Dunkelheit
Der wichtigste Taktgeber im menschlichen
Körper ist der Nucleus suprachiasmaticus
(SCN), der als „master clock“ die Rolle der
Hauptuhr einnimmt. Dieses Kerngebiet
sitzt im Hypothalamus und gibt, beein-
flusst von Licht und Dunkel, also Tag und
Nacht, den zirkadianen Rhythmus vor und
an alle Organe weiter. Diese haben ihre eige-
nen Nebenuhren, „slave clocks“, die sich
ständig mit der Hauptuhr synchronisieren
(s. . Abb. 13.1). Wird dieser regelmäßige
Zyklus bzw. dieses Zusammenspiel gestört,
13 kann dies zu zahlreichen Dysfunktionen
und somit zu unterschiedlichen Krank-
heiten führen.
13.2.1 Nachthormon Melatonin
Eine wesentliche Rolle bei der Taktung
des SCN spielt Melatonin, das Hormon
der Dunkelheit und Mutterhormon der
Chronobiologie (Fauteck 2017), das haupt-
sächlich in der Zirbeldrüse gebildet wird.
Über die Retina gelangen Lichtimpulse an
den SCN, der mit der Zirbeldrüse verbunden
ist, wo Melatonin in der Nacht, und zwar
bei vollkommener Dunkelheit, produziert
wird (. Abb. 13.1). Ab Beginn der Dunkel-
heit steigt der Pegel auf das Achtfache des
Tageswertes. – Dies ist das Signal für den
Organismus, die Ruhezeit für viele Organe
und Körperfunktionen, aber gleichzeitig
auch lebenswichtige Reparaturmechanis-
men einzuleiten. Melatonin wird damit zum
wichtigsten inneren Zeitgeber.
Jeder kleinste Lichtimpuls hingegen stört
diese Produktion, insbesondere das blaue
Licht z. B. des Fernsehers oder des Han-
dys, die leuchtende Anzeige des Weckers,
die Straßenbeleuchtung usw. Diese Alltags-
geräte haben sich als wahre Rhythmuszer-
störer ergeben, die den Melatoninhaushalt
und somit die Chronobiologie in hohem
(Chang et al. 2015).
Melatonin hat noch eine weitere wich-
tige Eigenschaft: Es ist der Star unter den
körpereigenen Antioxidantien. Denn es be-
kämpft und neutralisiert freie Radikale und
schützt die DNA damit vor Schäden in fast
allen Zellen. Darüber hinaus ist Melatonin
in der Lage, viele Zellen dazu zu bewegen,
weitere Radikalfänger zu produzieren, wo-
durch sein antioxidativer Effekt nochmals
gesteigert wird (Reiter et al. 2016).
13.2.2 Muntermacher Cortisol
Einen wichtigen Part bei der Steuerung
des Schlaf-Wach-Rhythmus spielt neben
Melatonin ein weiteres Hormon: Corti-
sol, das in der Nebenniere gebildet wird
und ab 4:00 Uhr in der Früh seine Tätig-
keit aufnimmt, bis es gegen 06:00 Uhr sei-
nen Peak erreicht und damit das Erwachen
und die Aktivität unterstützt. Je weiter der
Tag voranschreitet, umso mehr sinkt der
Cortisolwert, bis er um Mitternacht seinen
Tiefststand erreicht. Cortisol übernimmt
aber noch eine weitere wichtige Rolle im
menschlichen Körper, denn es fördert den
Fettstoffwechsel und reguliert den Kohlen-
hydrathaushalt. Damit übt es einen wesent-
lichen Einfluss auf die Nebenuhren des
Verdauungstraktes aus.
Chronobiologie
279 13

SCN Dunkelheit
slupmit Zirbeldrüse
hciL

Feedback

Melatonin

Koppelung und Direkte Gen-

Synchronisierung aktivierung &
der Oszillatoren -deaktivierung

Peripherer Peripherer Rhythmische

Direkte Effekte

Zeitgeber Zeitgeber Genexpression,

unter (partieller) mit starker die nicht durch
Kontrolle des SCN Autonomie interne Zeitgeber
kontrollier t ist

Rhythmische Hormonsekretion, gekoppelt

oder nichtgekoppelt an den SCN-Rhythmus

..      Abb. 13.1 Schematische Darstellung der komplexen Verknüpfung verschiedener Zeitgeber. (Mod. nach
Hardeland 2013)

13.3 Einflussfaktor Ernährung Schlüssel-Synchronizer für diese peripheren

Uhren (Johnston et al. 2016). Denn auch
Die soeben erwähnten „slave clocks“ wer- jene Hormone, die den Hunger, die Sätti-
den vor allem durch die Ernährung beein- gung oder den Stoffwechsel steuern, folgen
flusst. Das Essverhalten wird somit zu einem einem bestimmten Rhythmus. Die wichtigs-
 280 J.-D. Fauteck
ten unter ihnen sind – neben dem bereits
erwähnten Cortisol – Ghrelin, Leptin und
Insulin.
Das regelmäßige Hungergefühl ver-
antwortet Ghrelin, das tagsüber ca. alle sechs
Stunden aktiviert wird. Nach der Mahlzeit
sinkt es rapide, um dann nach sechs Stun-
den seine Signale erneut auszusenden. Das
Sättigungsgefühl dagegen wird von Leptin
gesteuert, das zwischen Mitternacht und
den frühen Morgenstunden normalerweise
seinen höchsten Wert erreicht und am längs-
ten anhält.
Seinen eigenen Rhythmus kennt auch
Insulin: Seine zyklische Ausschüttung er-
folgt zeitlich zu den drei Hauptmahlzeiten,
wobei das Insulin die aus der Nahrung ge-
wonnenen Kohlenhydrate in die Zellen
transportiert. Wird zu viel Insulin produ-
ziert, was von der Zusammensetzung der
Speisen abhängt, wird jene Energie, die nicht
in den Zellen verbraucht wird, als Speicher-
fettdepot angelegt. Das passiert auch bei
dem schnellen Snack zwischendurch oder
bei einem sehr kohlenhydratreichen Abend-
essen. Die Insulinausschüttung erfolgt beim
zuletzt Genannten zu einer Zeit, in der wich-
tige metabolische Prozesse im Körper bereits
auf nächtlicher Sparflamme laufen, was eine
13 Kettenreaktion auslöst: Ghrelin und Leptin
werden völlig aus ihrem Rhythmus gebracht,
und auch der Schlaf wird nachweislich ne-
gativ beeinflusst. Die ernste Konsequenz:
Der Körper gewöhnt sich durch das stän-
dig präsente Insulin an diesen Zustand, was
zu vermehrter Nahrungszufuhr und seinen
Folgeerkrankungen führen kann.
Neueste Studien haben darüber hinaus
ergeben, dass die Uhren in den Organen
über ein Gedächtnis verfügen. Sie merken
sich den Zeitpunkt der Zwischenmahlzeit
und fordern die Nahrungsaufnahme auch
am nächsten Tag wieder ein (Fauteck und
Platzer 2016).
Entscheidend für die Taktung der in-
neren Uhren ist aber nicht nur, wann
etwas gegessen wird, sondern auch die
Nahrungszusammensetzung wirkt darauf
ein. Empfohlen wird die Reduktion der
abendlichen Kalorienzufuhr, dies hat, so
ein Studienergebnis, sowohl Einfluss auf
die Stimmung und allgemeine Befindlich-
keit als auch auf die Schlaf- und Lebens-
qualität sowie den Gesundheitszustand.
Zudem konnten die Autoren bei den männ-
lichen Studienteilnehmern sogar einen er-
höhten Sexualhormonspiegel durch diese
„Chronodiät“ beobachten (Martin et al.
2016).
13.4 Zelluläre Mechanismen
Die Chronobiologie steuert nicht nur Ak-
tivitäts- oder Ruhephasen, sondern auf
genetischer und molekularer Ebene auch
fast alle Prozesse innerhalb einer jeden
Zelle. Man könnte auch sagen: Jede Zelle
hat ihre eigene Uhr – oftmals synchroni-
siert mit bzw. gesteuert durch den SCN (s.
. Abb. 13.1).
Die Zellen sind aber nicht nur wichtige
Motoren für viele Körperfunktionen, wie
etwa den Stoffwechsel oder die Verdauung.
Darüber hinaus liegt in jeder einzelnen
Zelle mit den Genen auch das gesamte Erb-
gut. Die darin enthaltenen Genfunktionen
werden durch bestimmte Zellaktivitäten
gesteuert oder, vereinfacht ausgedrückt, zu
bestimmten Zeiten ein- und später wieder
ausgeschaltet. Denn nicht alle Gene sind in
permanentem Einsatz, manche sind für be-
sagten Stoffwechsel wichtig, andere wiede-
rum für die Zellteilung. Und wieder andere
sind für den zirkadianen Rhythmus von Be-
deutung. Die wichtigsten bisher bekannten
(Uhr-)Gene sind CLOCK, BMAL-1, CRY
und die drei Period-Gene PER 1, PER 2,
PER 3, deren Zusammenspiel Gegenstand
intensivster Forschung war und immer
noch ist (Julian 2017; Oshima et al. 2015;
Schmalen et al. 2014). Erstmals wurde das
Zusammenspiel dieser Gene im Jahr 1984
bzw. 1994 beschrieben, was bekanntlich
2017 mit dem Nobelpreis für Medizin aus-
gezeichnet wurde.
Chronobiologie
13.4.1 Intelligentes Gensystem
Der menschliche Körper folgt einem überaus
intelligenten „management on demand“. Ein
Exempel: Eine Hautzelle braucht nicht die-
selben Gene wie eine Muskelzelle. Daher wer-
den die nicht gebrauchten Gene methyliert.
Dabei docken kleine Moleküle, sogenannte
Methylgruppen, an bestimmte Abschnitte der
DNA an, dem sogenannten Promotor, der es
ermöglicht, dass das nachgeschaltete Gen ab-
gelesen wird oder eben nicht. Die Methylierung
des Promotors verhindert in aller Regel, dass
das nachfolgende Gen abgelesen wird.
Ein zweites Kontrollsystem zur Ablesung
des genetischen Codes ist die Acetylierung,
bei der Acetylgruppen an die Histone an-
docken, auf die die DNA-Stränge auf-
gewickelt sind. Nur wenn die Histone einen
bestimmten Grad an Acetylierung aufweisen,
kann überhaupt erst die Ablesung der gene-
tischen Information erfolgen. Interessant in
diesem Zusammenhang ist, dass der Zeit-
punkt der Nahrungsaufnahme und die Zu-
sammensetzung der jeweiligen Nahrung den
Grad der Methylierung und Acetylierung be-
einflussen können. Somit erklärt sich, warum
die Nahrungsaufnahme das rhythmische Ab-
lesen bestimmter Gene und dadurch auch be-
stimmte Körperfunktionen beeinflusst.
Ein dritter Mechanismus, durch den
diese rhythmische Genexpression gesteuert
werden kann, sind die bereits erwähnten
Uhrgene. Vereinfacht dargestellt, geschieht
dabei Folgendes: Die Gene für CLOCK und
BMAL-1 werden im Laufe des Tages immer
mehr abgelesen. Ab einer bestimmten Kon-
zentration verbinden sich beide Produkte
und fangen nach und nach an, die Gene
für PER und CRY zu aktivieren. Wenn die
Endprodukte dieser Gene eine bestimmte
Konzentration in der Zelle erlangt haben,
was meistens in der Nacht erreicht wird,
verbinden sich auch diese zu einer Doppel-
struktur und beginnen, die Ablesung von
CLOCK und BMAL-1 zu unterbinden.
Sobald diese Blockade erfolgreich und die
Konzentration von CLOCK bzw. BMAL-1
281 13
abgesunken ist, fehlt der Stimulus zur Ab-
lesung von PER bzw. CRY, und die noch
vorhandenen werden von der Zelle zerstört.
Damit kann die Ablesung von CLOCK und
BMAL-1 erneut beginnen.
Sowohl CLOCK/BMAL-1 als auch
PER/CRY beeinflussen sich jedoch nicht
nur gegenseitig, sondern jeweils auch be-
stimmte andere Gene. Somit überträgt sich
die Rhythmik der Uhrgene auf fast alle
anderen Gene, je nachdem, ob sie eher von
dem einen oder von dem anderen Uhrgen-
produkt angeregt oder unterdrückt werden.
13.4.2 Flexible Uhrgene
Und noch etwas zeichnet die Uhrgene aus:
Sie sind überaus flexibel und reagieren auf
die jeweiligen Anforderungen des Körper-
systems, etwa bei der Körpertemperatur:.
Diese sinkt in der Nacht, kann sich aber fle-
xibel anpassen, wenn es notwendig ist, wie
bei Fieber und Infektionen.
In einem sehr komplexen Vorgang steu-
ern genau diese Gene sogenannte Feedback-
schleifen, die einen 24-Stunden-Zyklus und
damit einen zirkadianen Rhythmus durch-
laufen. Dieser Rhythmus verläuft ­vielleicht
einmal schneller oder langsamer oder mit
zeitlicher Verschiebung – je nach exogenem
oder endogenem Einfluss, aber stets mit
dem identischen Grundprinzip, der Genex-
pression. Wesentlich dabei: Die Gene müssen
zum richtigen Zeitpunkt abgelesen werden,
der von endogenen und exogenen Zeitgebern
beeinflusst wird. – Ein Mechanismus, den die
Organe untereinander koordinieren, indem
sich die Uhrgene und andere Gene immer
wieder synchronisieren. Wie überaus intel-
ligent dieses Zusammenspiel ist, zeigt sich,
wenn ein Rhythmus durch eine Änderung
im Körpersystem nicht mehr so funktioniert,
wie er sollte. Denn alle Rhythmen zeichnen
sich durch eine hohe Plastizität aus und
passen sich endogenen Faktoren an, etwa
im Alterungsprozess. Somit ist zu erklären,
warum der körpereigene Rhythmus je nach
 282 J.-D. Fauteck
Alter verschieden ist bzw. die Menschen einen
unterschiedlichen Chronotyp aufweisen.
13.5 Der Chronotyp
„Erkenne, welcher Rhythmus die Men-
schen beherrscht.“ – Schon Archilochos
von Paros (680 bis 645 v. Chr.) wusste um
die Bedeutung der persönlichen Rhythmik.
Und tatsächlich ist jeder Mensch individu-
ell − auch, was seine inneren Uhren betrifft.
Nach der jeweils optimalen Tagesaktivi-
tätszeit unterscheidet die Wissenschaft im
europäischen Raum zwischen zwei extremen
Chronotypen: Lerche und Nachtigall bzw.
Eule. Diese Anleihen aus der Natur haben
ihren guten Grund: Denn während die Ler-
che noch vor Sonnenaufgang den neuen Tag
begrüßt, fühlen sich die Eulen bei tiefster
dunkler Nacht am wohlsten und aktivsten.
Mischtypen sind üblich bzw. sogar die Regel.
Soziale Faktoren machen vor allem den
Eulen oft das Leben schwer: Denn die Kluft
zwischen ihrem individuellen, späten Rhyth-
mus und dem für sie (zu) frühen Schul- oder
Arbeitsbeginn bringt die innere Uhr dieser
Abendtypen gehörig durcheinander (Meri-
kanto et al. 2015; Keller et al. 2016; Randler
13 et al. 2017). Die Wissenschaft spricht dabei vom
„social jetlag“, der dem Jetlag nach Übersee-
flügen ähnlich ist und ein permanentes Schlaf-
defizit für die jeweilige Person bedeutet, mit
ernstzunehmenden Folgen für ihre Gesundheit.
Der jeweilige Chronotyp ist nur schwer
zu verändern. Zahlreiche Studien belegen,
dass zirkadiane Rhythmen zum großen Teil
genetisch verankert sind (Tsaousis 2010;
Goel 2011). Allerdings ändert sich das Aus-
maß dieser genetischen Programmierung im
Laufe des Lebens – und das gleich mehrmals.
13.5.1 Baby- und Kinderalter
Erst ab dem zweiten Lebensmonat beginnen
Babys, einen eigenen Tag-Nacht-Rhythmus
zu entwickeln. Der Grund: Ihr Organis-
mus beginnt erst jetzt, Melatonin selbst, das
heißt in ausreichender Menge während der
Nacht, zu produzieren und damit eine zirka-
diane Rhythmik herzustellen.
Ganz anders verhält es sich mit Kindern
ab dem dritten Lebensjahr: In diesem Alter
hat die Melatoninproduktion ihr Maximum
erreicht und hält an bis zur Pubertät. Dann
ändert sich diese Situation schlagartig, und
mit einem Mal werden aus den kindlichen
Lerchen nachtaktive Eulen. Verstärkend
kommt hinzu, dass auch die Melatonin-
ausschüttung bei Jugendlichen erst später
am Abend einsetzt. Viele Wissenschaftler
fordern eine Gleitzeit für den Schulbeginn,
dem erste deutsche Schulen bereits nach-
gekommen sind und ihren Schulbeginn fle-
xibler gestalten (Roenneberg und Merrow
2016). In manchen Ländern wie Frankreich,
Spanien oder Italien beginnt die Schule üb-
rigens vielerorts schon jetzt erst um 9:00
Uhr.
13.5.2 Unterschied der
Geschlechter
Eine jüngere Studie hat gezeigt, dass Mäd-
chen ab dem Alter von 15,7 Jahren, Jun-
gen mit 17,2 Jahren wieder zu den Lerchen
tendieren. Dieser markante Unterschied
resultiert vermutlich aus dem deutlich frü-
her einsetzenden Reifeprozess von jungen
Frauen, etwa durch ihre zyklische Monats-
blutung (Randler et al. 2017). Spätestens
mit dem 20. Lebensjahr ist der für die
Pubertät typische Eulen-Rhythmus vorü-
ber, Mischtypen von Eule und Lerche sind
dann in der Mehrheit, natürlich gibt es
aber auch im Erwachsenenalter die beiden
Extremtypen. Frauen tendieren übrigens
eher zum morgendlichen Typ als Männer,
die oft Eulen bleiben (Randler und Rahafar
2017). Dieser Geschlechterunterschied setzt
sich ungefähr bis zum 50. Lebensjahr fort,
dann verschwindet er – wohl auch bedingt
durch die Menopause der Frau (Roenne-
berg et al. 2007).
Chronobiologie
13.5.3 Mehr Lerchen im Alter
Mit zunehmendem Alter gibt es mehr Ler-
chen. Ab dem 50. Lebensjahr gehen die
Menschen durchschnittlich früher zu Bett
und stehen zeitiger auf, auch das individu-
elle Aktivitätshoch verlagert sich um einige
Stunden nach vorne (Adan et al. 2012). Oft
klagen ältere Menschen über Schlafmangel
oder Probleme beim Durchschlafen, was
u. a. mit einer Veränderung dieser zirka-
dianen Rhythmik in Verbindung stehen
kann. Gleichzeitig sind die Konzentration
und Ausschüttung vieler Hormone ab-
hängig vom Alter, darunter auch Melato-
nin, weniger jedoch Cortisol. So beträgt der
Melatoninspiegel im Alter von 70 Jahren oft
nur mehr ein Zehntel jenes Höchstwertes,
den der Mensch im Kinderalter aufweist.
Auch die Dauer der Sekretion reduziert
sich: von sechs bis sieben Stunden in jungen
Jahren auf zwei bis drei Stunden im fort-
geschrittenen Alter.
Die altersbedingte Änderung der zirka-
dianen Rhythmen beschäftigt die Wissen-
schaft schon lange: Denn ein Schlafmangel –
eine oftmals unterschätzte Situation mit
vielen ernsten Folgen – zieht meist auch
kognitive Leistungsbeeinträchtigungen nach
sich. Besonders anfällig für den Alterungs-
prozess scheint der Hypothalamus im Gehirn
zu sein, die Hauptantriebskraft des zirkadia-
nen Rhythmus, da sich genau hier der SCN
befindet (Schmidt et al. 2012). Neuronen in
diesem Gehirnbereich degenerieren schneller
mit fortschreitendem Alter. Verantwortlich
dafür sind bestimmte Gene, wie eine andere
Studie festgestellt hat (Chen et al. 2016),
denn auch sie altern, manche hören sogar
einfach auf zu funktionieren, ohne dass die
Ursachen dafür bisher bekannt sind. Diese
Veränderungen machen sich auch äußerlich
bemerkbar: an den Falten der Haut und der
nachlassenden Spannkraft sowie dem nach-
lassenden Kurzzeitgedächtnis.
Für die Gesundheit ist es enorm wichtig,
auf einen zirkadianen Rhythmus zu ach-
ten und diesen so lange wie möglich, auch
283 13
in den „goldenen Jahren“ des Lebens, auf-
rechtzuerhalten. Äußere Faktoren, aber
auch innere Ursachen können verantwort-
lich sein, dass die inneren Uhren aus dem
Takt oder gar zum Stillstand kommen. Sich
diese bewusst zu machen und zu vermeiden
kann dabei helfen, bis ins hohe Alter gesund
und leistungsfähig zu bleiben.
13.6 Chronodisruption
Der Organismus reagiert auf jede Ver-
änderung, die von außen kommt. Er kommt
damit normalerweise gut zurecht – voraus-
gesetzt, diese Wechsel kehren in einer ge-
wissen Regelmäßigkeit wieder, wie es bei den
Jahreszeiten oder auch beim Tag-Nacht-­
Wechsel der Fall ist. Dann passt sich der
Körper den jeweiligen Umweltbedingungen
fast unbemerkt an. In anderen Situationen,
etwa bei Reisen in andere Zeitzonen oder bei
der Umstellung auf die Sommer-/Winter-
zeit, gelingt dieser Wechsel nicht so mühelos.
So hat eine Studie eine 8-Prozent-Zu-
nahme von Schlaganfällen kurz nach der
Zeitumstellung beobachtet (Sipilä et al.
2016). Der Grund: Der Wechsel von der
Winter- auf die Sommerzeit erfolgt für
viele Menschen zu rasch, ihr Körper be-
nötigt Zeit, sich darauf einzustellen. Schon
eine sehr geringe Verschiebung des Tag-
Nacht-Rhythmus bringt den Organismus
aus seinem gewohnten inneren Takt, was
als „akute Chronodisruption“ bezeichnet
wird. Passieren diese Wechsel immer wie-
der − etwa, weil jemand als Pilot, Flugbe-
gleiterin oder im Krankenhaus im Schicht-
dienst arbeitet −, kann dies schwerwiegende
Folgen für die Gesundheit haben, da diese
Menschen permanent gegen ihre innere Uhr
leben.
Aber nicht nur die zu raschen Wech-
sel von Zeitzonen beeinflussen die inneren
Uhren. Noch viele andere Faktoren kön-
nen dafür verantwortlich sein, dass Körper-
rhythmen ihren gewohnten Takt verlieren
(. Abb. 13.2).
 284 J.-D. Fauteck

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Jetlag

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Melatonin-
rhythmus-
disruption

Eingeschränkte
Unregelmäßige circadiane
Ernährung Circadiane
Genexpression
Rhythmus-
disruption

Gestörte
Veränderte
epigenetische Diverse
Zell-
Modifikationen (z.B. Krankheiten
funktionen
13 Hypermethylierung)

..      Abb. 13.2 Faktoren der Chronodisruption

13.6.1 Licht führt. Für die inneren Uhren wird damit

Licht ist einer der wichtigsten Zeitgeber
für den zirkadianen Rhythmus. Wesentlich
dabei ist ein gesundes Verhältnis zwischen
Licht und Dunkel, dann funktionieren
auch die inneren Uhren exakt nach dem
24-­Stunden-Rhythmus eines Tages.
Hält man sich überwiegend in künst-
lichem Licht auf, wird die Tag-Nacht-
Rhythmik jedoch völlig aus dem Lot ge-
bracht. Die Melatoninproduktion verzögert
sich oder wird unterdrückt, was zum spä-
ten Einschlafen und zu frühem Aufwachen
ein Teufelskreis in Gang gesetzt, da sich der
zirkadiane Rhythmus nicht mehr mit dem
Hell-Dunkel-Zyklus synchronisieren kann.
Ständige Müdigkeit, Schlafstörungen bis hin
zu chronischem Schlafmangel, Stimmungs-
schwankungen mit der Gefahr, an einer
Depression zu erkranken – so die ersten
Konsequenzen einer Chronodisruption, die
zu weiteren ernsten Erkrankungen führen
können, etwa Brustkrebs, Herz-­ Kreislauf-­
Erkrankungen, metabolischen Störungen
und vieles mehr (Touitou et al. 2017). Die
Wissenschaft spricht bei diesem Szenario
Chronobiologie
vom bereits erwähnten „social jetlag“, der
beispielsweise typisch für Schichtarbeit ist.
Tatsächlich hat dieser mit dem bekannten
Jetlag eines gemeinsam: Das Zusammen-
spiel von Melatonin in der Nacht und Sero-
tonin am Tag ist gestört.
Besonders gefährlich für die inneren
Uhren und damit die Gesundheit ist das
blaue Licht von Smartphones, Monito-
ren, TV-Flatscreens oder Tablets und mo-
dernen LEDs. Schon vor einigen Jahren
warnte etwa die AMA, die American Me-
dical Association (Stevens et al. 2013),
ebenso wie die ANSES, die französische
Agence nationale de sécurité sanitaire de
l’alimentation, de l’environnement et du
travail (Hatori et al. 2017), vor den gefähr-
lichen Auswirkungen dieser Lichtquellen
auf den menschlichen Organismus. Mittler-
weile haben auch zahlreiche Studien hier
bereits einen Zusammenhang mit Diabetes,
Fettsucht, Herzerkrankungen und einigen
Tumorerkrankungen hergestellt. Interessant
ist: Während des Tages scheint blaues Licht
keine negative Wirkung auf den Körper zu
haben, denn auch das Tageslicht hat, gerade
um die Mittagszeit, einen hohen blauen An-
teil. In der Nacht wiederum kann es den
Rhythmus sehr wohl negativ beeinflussen.
Rotes Licht, d. h. künstliches Licht
mit einer anderen Wellenlänge, scheint die
Melatoninproduktion hingegen bedeutend
weniger zu stören. Es eignet sich daher auch
als Einschlafhilfe für Kinder.
Ein weiteres Risiko stellt die Straßen-
beleuchtung dar. Vielen ist kaum mehr be-
wusst, dass absolute Dunkelheit in unserer
modernen Welt, vor allem in den Städten,
nahezu unmöglich geworden ist. Eine Studie
hat ergeben, dass 29 % aller US-­Amerikaner,
die in gut beleuchteten Gegenden leben, das
Gefühl haben, nicht genug Schlaf zu be-
kommen (Ohayon und Milesi 2016). Denn
auch wenn man diese äußere Lichtquelle
nicht bewusst wahrnimmt, sie ist dennoch
vorhanden. Vor allem aber reagiert die
Netzhaut darauf und gibt die Information
„Licht“ an den SCN weiter, der wiederum
285 13
der Zirbeldrüse signalisiert, die Melatonin-
produktion zu stoppen. Die Folge: Schlaf-
störungen, zu frühes Erwachen usw.
Eine weitere Studie hat zudem gezeigt,
dass die für den Körper belastende Außen-
beleuchtung das Brustkrebsrisiko erheblich
steigern kann (James et al. 2017). Wird die
Melatoninausschüttung durch das nächt-
liche Licht gehemmt, kann das Hormon
auch nicht seine antioxidative Wirkung ent-
falten, die DNA-Reparatur und damit die
Gesundheit der Zellen unterstützen, was
von großer Wichtigkeit zum Beispiel für die
Tumorprävention ist.
13.6.2 Ernährung
Wie bereits erwähnt, ist neben Licht auch
die Ernährung ein bedeutender Zeitgeber
für alle chronobiologischen Vorgänge im
Körper. Das heißt, dass es nicht nur wichtig
ist, was man isst, sondern auch, wann man
etwas zu sich nimmt. Gerade die peripheren
Uhren in den Organen scheinen besonders
sensibel auf den Zeitpunkt der Nahrungs-
aufnahme zu reagieren (Asher und Sasso-
ne-Corsi 2015).
Eine wesentliche Rolle spielt dabei der
Blutzuckerspiegel. Denn wird am Abend
regelmäßig eine große Portion Kohlen-
hydrate, in Form von Nudeln oder Kartof-
feln, gegessen – und noch dazu zu späterer
Stunde –, bringt dies den Rhythmus des
Blutzuckers aus dem Takt, was im schlimms-
ten Fall langfristig zu Diabetes führen kann.
Wer Schichtarbeit verrichtet, hat ein be-
sonders hohes Risiko, an Diabetes zu er-
kranken (Gan et al. 2015), ebenso wie am
Metabolischen Syndrom oder an Fettsucht
(vgl. z. B. Lowden et al. 2010; Tucker et al.
2012). Eine mögliche Ursache dafür: Der
Stoffwechsel ist aufs Engste mit dem zir-
kadianen Rhythmus verbunden. Kommt es
hier zu einer Verschiebung bzw. einer perma-
nenten Störung der körpereigenen Rhyth-
mik, wie es bei Schichtarbeitern der Fall ist,
deren Tag-Nacht-Rhythmus und somit auch
 286 J.-D. Fauteck
deren Essverhalten nicht den inneren Uhren
folgen, hat dies weitreichende, überwiegend
negative Auswirkungen auf die Gesundheit.
Zurückhaltung beim Abendessen hat da-
rüber hinaus auch positive Effekte z. B. auf
die Hautalterung: Denn auch die Haut mit
ihren Zellen hat ihren eigenen Rhythmus.
Eine ältere Studie konnte in Tierversuchen
zeigen, dass durch unregelmäßige Mahl-
zeiten und zu spätes Essen die Reparatur
von Hautschäden bedeutend länger dauerte
als bei normalen Essenszeiten. Verantwort-
lich dafür ist ein Protein, SIRT 1, das eben-
falls einer zirkadianen Rhythmik, mit nächt-
lichem Anstieg folgt (Bellet et al. 2011). Eine
weitere Studie stellte ebenfalls einen Zu-
sammenhang zwischen nächtlichem Essen
und der Reparatur von Hautschäden her.
Wer spät zum Kühlschrank greift, macht
seine Haut anfälliger für UV-Schäden am
Tage, da das nächtliche SIRT1-Protein
unterdrückt wurde (Wang et al. 2017).
Will man den inneren Uhren und der
Gesundheit etwas Gutes tun, ist eine Er-
nährung nach den Regeln der Chronobio-
logie, kurz der Chronodiät (Fauteck und
Platzer 2016) zu empfehlen, die dabei gleich-
zeitig dem Körpergewicht zugutekommt
und auch den Alterungsprozess möglicher-
13 weise verlangsamen kann.
13.6.3 Elektromagnetische Felder
Zahlreiche Studien untersuchen die Aus-
wirkungen elektromagnetischer Felder auf
die Gesundheit – mit ernstzunehmenden
Ergebnissen. Denn der Handy- oder Tablet-
gebrauch kann erwiesenermaßen das
Krebsrisiko steigern oder Depressionen
auslösen, von einer Störung des Schlaf-
Wach-­Rhythmus ganz zu schweigen (Seif-
panahi-Shabani et al. 2016). Welche Wirk-
mechanismen dafür verantwortlich sind, ist
zurzeit immer noch Gegenstand von Unter-
suchungen. Denkbar wäre eine vermehrte
Lichtbelastung in der Nacht, aber auch
Auswirkungen der elektromagnetischen Fel-
der per se. Was aber bedeuten diese Unter-
suchungsergebnisse für Haushaltsgeräte, wie
die Mikrowelle, den Herd oder den Radio-
wecker? Muss und kann man sich davor
schützen? Experten empfehlen, eine gewisse
Distanz einzuhalten: Wenn die Mikrowelle
in Betrieb ist, ergibt bereits eine Entfernung
von einem halben Meter eine kaum mehr
messbare Feldstärke. Ähnlich verhält es sich
mit dem Radiowecker oder dem Handy auf
dem Nachttisch. Empfohlen wird, dass sich
diese Geräte mehr als eine Armlänge ent-
fernt befinden.
13.6.4 Medikamente
Was die chronobiologische Uhr ebenfalls
durcheinanderbringt, sind viele Medika-
mente, z. B. Blutdruckmittel wie Beta-
blocker. Indem diese den Betarezeptor blo-
ckieren, beeinträchtigen sie die Funktion
der Zirbeldrüse und somit die Melatonin-
produktion. Auch Benzodiazepine, die
schlaffördernd wirken, oder Antidepressiva
sind Störfaktoren für die körpereigene
Rhythmizität. Denn sie können nicht nur
den Melatoninspiegel rapide senken, son-
dern auch den Sekretionszeitpunkt ver-
schieben. Selbst für das beliebte Aspirin
konnte in Untersuchungen gezeigt werden,
dass es die Melatoninfreisetzung teilweise
unterdrücken kann und damit Probleme
beim Ein- bzw. Durchschlafen verursacht.
13.6.5 Stress
Wenn etwa der Druck in der Arbeit zu
groß wird, stehen Schlafstörungen an der
Tagesordnung, begleitet von Erschöpfung
und Energielosigkeit. Auch Herzrasen, Zit-
tern oder Schwindel sind ernste Begleit-
erscheinungen, mit denen der Körper signa-
lisiert: Es reicht!
Einen wichtigen Part nimmt dabei
Cortisol ein, das für den morgendlichen
Energieschub sorgt. Steht man dauerhaft
Chronobiologie
unter Stress, wird dieses Hormon ebenfalls
permanent produziert, was den Körper
und seine Rhythmen völlig aus der Gleich-
mäßigkeit bringt. Die Cortisolwerte bleiben
hoch bzw. steigen weiter, obwohl sie sinken
sollten – und schon entstehen Schwierig-
keiten mit dem Einschlafen. Die ständigen
Energieschübe durch das Cortisol beein-
flussen erwiesenermaßen zirkadiane Gene
in der Leber und in den Zellen der Neben-
niere (Koch et al. 2016). Der Körper verliert
jeden Anhaltspunkt, wie spät es eigentlich
ist, die rhythmische Ausschüttung wichtiger
Hormone, etwa des Wachstumshormons,
wird dadurch gestört, und der Schlaf-Wach-­
Rhythmus kommt aus dem Takt, mit allen
im Folgenden beschriebenen Konsequenzen.
13.7 Chronobiologie im
Praxisalltag
Die Rhythmik der inneren Uhren und damit
die Gesetzmäßigkeiten der Chronobiologie
zu beachten, ist eine Grundvoraussetzung,
um gesund zu leben und zu altern. Nach-
folgend sollen daher die Auswirkungen
der Chronodisruption auf die unter-
schiedlichen Organsysteme und häufigsten
Krankheitsbilder im Alterungsprozess ge-
­ sammenhänge her: Wer länger als zehn Jahre
nauer beleuchtet werden.
13.7.1 Schlafstörungen
Gesunder und ausreichender Schlaf ist
essenziell für das Wohlbefinden und die
Leistungsfähigkeit. Denn der Schlaf erfüllt
viele wichtige Funktionen im Körper: für
das Gehirn, die Organe, den Stoffwechsel
und die mentale Gesundheit. Schlaf stärkt
außerdem das Immunsystem (Westermann
et al. 2015): Menschen, die zu wenig schla-
fen oder zur falschen Zeit schlafen müssen,
erkranken viermal so häufig an einem grip-
palen Infekt, da ihr Immunsystem durch
das Schlafdefizit geschwächt ist (Prather
et al. 2015). Langfristig können Schlaf-
287 13
schwierigkeiten zu ernsthaften gesundheit-
lichen Problemen führen. So erhöhen chro-
nische Schlafstörungen an durchschnittlich
drei von sieben Nächten die Wahrschein-
lichkeit für Magen-Darm-Beschwerden,
Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, Gefäß-
erkrankungen, bis hin zu Krebs um ein Viel-
faches.
Was viele Studien ebenfalls belegt haben:
Wer permanent unter Schlafmangel leidet,
muss mit einer verringerten Gedächtnis-
leistung rechnen (Rasch und Born 2013).
Dies betrifft vor allem Menschen über 60
Jahre, eine Personengruppe, die primär an
Melatoninmangel und somit an Schlaf-
störungen leidet. Auch psychische Er-
krankungen werden nicht selten durch
permanenten Schlafmangel gefördert. Im
günstigeren Fall äußert sich dies durch
ständige Müdigkeit, leichte Reizbar-
keit, Antriebslosigkeit und Stimmungs-
schwankungen. Im schlimmsten Fall kön-
nen Halluzinationen oder Depressionen die
Folge sein.
Menschen, die in ständig wechselnden
Schichten arbeiten, haben es besonders
schwer: Viele Studien beschäftigen sich seit
Jahren mit den Auswirkungen von Schicht-
arbeit und stellen besorgniserregende Zu-
Nachtarbeit verrichtet, riskiert verminderte
Gedächtnisleistung und Denkvermögen,
auch der Alterungsprozess beschleunigt sich
rapide (Marquié et al. 2015). Die WHO, die
Weltgesundheitsorganisation, hat Schicht-
arbeit sogar als karzinogen eingestuft. Ein
Zusammenhang, den auch zahlreiche Stu-
dien bestätigt haben (Benabu et al. 2015).
Es wurde unter anderem festgestellt, dass
sich das Brustkrebsrisiko um bis zu 65 % er-
höhen kann. Ähnliches gilt für Darm- und
Prostatakrebs.
Das Schlafverhalten ist von Mensch zu
Mensch verschieden und abhängig vom je-
weiligen Chronotyp. Doch auch wenn Men-
schen unterschiedlich lange Schlaf brau-
chen, hat sich gezeigt: Als gesund gilt eine
Schlafzeit von ca. 7–8 Stunden. Babys und
 288 J.-D. Fauteck
Kinder brauchen natürlich mehr Schlaf, und
auch einige Erwachsene fühlen sich am bes-
ten ausgeruht, wenn sie neun Stunden schla-
fen. Nur sehr wenige Personen kommen mit
sechs Stunden Schlaf aus.
13.7.2 Diabetes
Prognosen zeigen: Diabetes mellitus wird
zu einem der größten Gesundheitsprobleme
unserer Zeit, das bis 2040 weltweit 640 Millio-
nen Menschen betreffen wird (International
Diabetes Federation 2015). Erkrankten an
dieser gefährlichen Stoffwechselerkrankung
in der Vergangenheit eher ältere Menschen,
sind heute auch Jüngere, sogar Kinder,
davon betroffen. Verantwortlich dafür ist
der Lebensstil mit ungesunder Ernährung
und wenig Bewegung, der in dramatischen
gesundheitlichen Konsequenzen resultieren
kann, darunter Durchblutungsstörungen,
Bluthochdruck, zu hohe Cholesterinwerte,
Augenerkrankungen, Schlaganfälle und an-
dere metabolische Störungen.
Zahlreiche Studien in den vergangenen
Jahren haben gezeigt, dass gerade die Er-
nährung einer der wichtigsten Zeitgeber für
viele metabolische Prozesse ist (Vetter und
13 Scheer 2017). Wie bereits erwähnt, kommt
es nicht nur darauf an, was, sondern vor
allem wann etwas gegessen bzw. wann ge-
fastet wird. Das bestätigte u. a. eine Studie,
bei der die Probanden zunächst eine halbe
Stunde nach dem Erwachen das Frühstück
erhielten, nach fünf Stunden das Mittag-
essen und nach wieder fünf Stunden das
Abendessen. Nach einigen Tagen wurde
dieser Rhythmus geändert, und die Studien-
teilnehmer, gesunde erwachsene Männer,
bekamen ihre erste Mahlzeit erst 5,5 Stun-
den nach dem Aufstehen, insgesamt aßen
sie jedoch die gleiche Kalorierenmenge pro
Tag wie vorher. Das Ergebnis: Ihre Glukose-
rhythmen waren verzögert, die Insulin-
konzentration reduziert, und auch PER 2
wurde verspätet aktiviert, was zeigt: Das
Timing spielt eine große Rolle in der Syn-
chronisation der peripheren Uhren und
Körperrhythmen! – Eine wichtige Erkennt-
nis besonders für jene Menschen, die mit
rhythmischen Störungen zu kämpfen haben,
z. B. Schichtarbeiter (Wehrens et al. 2017).
13.7.3 Krebserkrankungen
Zirkadiane Rhythmusstörungen werden
mit einer Vielzahl von Krebsarten in Zu-
sammenhang gebracht, darunter Brust-
krebs, Darmkrebs, Prostatakrebs und
Hautkrebs. Schichtarbeit, Schlafstörungen,
Licht in der Nacht – all diese Faktoren wer-
den seit Jahren als Risiko für verschiedene
Krebserkrankungen betrachtet. Zahlreiche
Studien haben ergeben, dass dysregulierte
Uhrgene bei der Entwicklung von vielen
Tumorerkrankungen eine Rolle spielen bzw.
das Tumorwachstum beschleunigen.
Für die Behandlung bedeutet das um-
gekehrt: Wird die Rhythmizität der Gene
wiederhergestellt, kann das die Krankheits-
prognose positiv beeinflussen (Savvidis und
Koutsilieris 2012). Eine Forschungsgruppe
untersuchte diesen Zusammenhang und
fand heraus, dass Tumorzellen, sobald sie
wieder einen gesunden zirkadianen Rhyth-
mus entwickeln, weniger wachsen (Kiessling
et al. 2017). Mit anderen Worten: Uhrgene
dazu zu veranlassen, ihren angeborenen
Rhythmus wiederaufzunehmen, kann
eine Möglichkeit darstellen, das Tumor-
wachstum zu verlangsamen oder sogar auf-
zuhalten.
Melatonin könnte dabei eine wichtige
Rolle einnehmen, denn es hat eine wesent-
liche Funktion im Zellzyklus: Es teilt den
Zellen mit, wann sie lebensnotwendige
DNS-Reparaturprozesse durchführen sol-
len – nämlich in der Nacht. Untersuchungen
haben noch einen weiteren Wirkmechanis-
mus von Melatonin bei Krebs nachgewiesen:
Das Hormon hat sich auch bei der Unter-
drückung des sogenannten Warburg-Effekts
als sehr effektiv herausgestellt. Ist dieser Ef-
fekt ausgeschaltet bzw. rückgängig gemacht,
Chronobiologie
ist die Tumorzelle für verschiedene Thera-
peutika sehr sensibel (Mao et al. 2016).
13.7.4 Herz-Kreislauf-­
Erkrankungen
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems
sind die häufigste Todesursache weltweit.
Denn das Herz weist über die Jahre Ab-
nutzungserscheinungen und Defekte auf,
die zu schwerwiegenden Krankheiten füh-
ren können. Neben dem Alter existieren
weitere Risikofaktoren, wie Nikotin, Al-
kohol, Übergewicht und Diabetes mellitus.
Neu in diesem Zusammenhang ist die Tat-
sache, dass sich auch Störungen der norma-
len Chronobiologie, wie z. B. Schichtarbeit,
negativ auf das Herz-Kreislauf-System aus-
wirken.
Eine Beobachtungsstudie fand heraus,
dass Menschen, die regelmäßig in Schich-
ten arbeiten, ein deutlich höheres Risiko
für einen zu hohen Blutdruck haben (Kim
et al. 2016). Was die Forscher in ihrer
Untersuchung außerdem entdeckten: Das
Blut der Probanden wies höhere Werte
des C-­ reaktiven Proteins (CRP) auf, das
als wichtiger Marker für Krankheiten und
Entzündungen gilt – und eben auch für zu-
künftige Herzerkrankungen. Dies könnte
u. a. mit einem Melatonindefizit zusammen-
hängen, ein Mangel, den fast alle Schicht-
arbeiter aufweisen. Um seine antioxidative
Wirkung entfalten zu können, muss es aber
in ausreichender Menge und ausreichend
lange in der Nacht produziert werden.
Wie wichtig ausreichend Schlaf speziell
in der Nacht, also eine gesunde Chronobio-
logie, für die Herz-Kreislauf-Gesundheit
ist, haben etliche Studien bereits betont.
So konnte gezeigt werden, dass weniger als
fünf Stunden Schlaf ein erhöhtes Risiko
von bis zu 40 % für Bluthochdruck bedeuten
(Gangwisch et al. 2006). Andere Studien
stellten fest, dass sich auch zu viel Schlaf
negativ auf den Blutdruck auswirken kann,
vor allem bei Jüngeren (Buxton und Mar-
289 13
celli 2010). – Letztgenannter Effekt konnte
für ältere Menschen jedoch nicht bestätigt
werden (Van den Berg et al. 2007). Die
Mechanismen, die dafür verantwortlich sein
könnten, sind einerseits erhöhte Cortisol-
werte, andererseits sind oftmals auch Dopa-
min, Adrenalin und Noradrelin erhöht. All
diese Stoffe bewirken, dass die Gefäße sich
verengen und der Blutdruck steigt.
13.7.5 Alzheimer
Was die meisten neuropsychiatrischen Er-
krankungen gemeinsam haben, ist ein Tag-
Nacht-Rhythmus, der völlig aus dem Takt
geraten scheint. Die Patienten leiden an gro-
ßer Müdigkeit am Tag und Schlaflosigkeit
in der Nacht. Betroffen sind vor allem ältere
Menschen, deren Melatoninhaushalt z. B. zu
niedrig und/oder verschoben ist. Eine Stu-
die zeigte, dass eine Therapie, die einerseits
den zirkadianen Rhythmus wiederherstellt,
beispielsweise durch mehr Sonnenlicht wäh-
rend des Tages und/oder eine ergänzende
Melatoningabe am Abend, und andererseits
soziale und körperliche Aktivitäten umfasst,
den Menschen hilft, ihre Leiden zu lindern
(Abbott und Zee 2015).
Studien haben außerdem gezeigt, dass
bei Alzheimer-Patienten die zirkadiane
Rhythmizität, messbar am Melatoninwert,
bedeutend niedriger ist als bei gesunden
Menschen. Man nimmt daher an, dass die-
ses Hormon bei der Behandlung eine wich-
tige Rolle spielen könnte (Savaskan et al.
2005). Außerdem haben Untersuchungen
von Alzheimer-Patienten ergeben, dass die
Betroffenen auch geringere Tryptophan-
und Serotoninwerte aufweisen, die für die
Produktion von Melatonin ebenfalls eine
wesentliche Rolle spielen (Rosales-Corral
et al. 2012).
Das sogenannte Sundowning, die Unruhe,
unter der viele Alzheimer- und Demenz-Pa-
tienten leiden und die zumeist in den späten
Nachmittagsstunden auftritt, wird ebenso
mit einer Störung des zirkadianen Rhythmus
 290 J.-D. Fauteck
in Verbindung gebracht: Dabei ist die Schlaf-
Wach-Rhythmik der Alzheimer-Patienten
umgekehrt. Sie sind in der Nacht munter, am
Tag hingegen schläfrig (Klaffke und Staedt
2006). Manche von ihnen werden während
des frühen Abends oder des späten Nach-
mittags sehr aufgeregt, weil sie sich tagsüber
aufgrund ihrer Müdigkeit zu wenig bewegt
haben oder paradoxerweise zu aktiv waren.
Diesen Patienten könnte eine Lichttherapie,
gegebenenfalls kombiniert mit einer Mela-
tonin- und/oder Tryptophan-/5HTP-Substi-
tution, helfen, ihren biologischen Rhythmus
wiederzufinden sowie mehr Lebensqualität
in ihrer Erkrankung zu erlangen (Dowling
et al. 2008).
13.8 Chronotherapie
Welche Substanz wirkt am besten morgens,
welche abends? Welche Stoffe passen zu-
sammen? Welche müssen sogar gemeinsam
vorhanden sein, um zu wirken? Oder wird
eventuell ein Wirkstoff durch einen ande-
ren behindert? – Die Chronotherapie, die
praktische Anwendung der Chronobiologie,
berücksichtigt all diese Fragen und unter-
stützt den Körper ganz individuell gerade
13 dann, wenn er am empfänglichsten für den
jeweiligen Wirkstoff und/oder die jeweilige
Intervention ist.
Jede Krankheit hat ihr eigenes Timing
bzw. Zeitfenster, zu dem sie am besten the-
rapiert werden kann. Daher scheint es nur
angebracht, Medikamente genau dann zu
verabreichen, wenn ihre Wirkung besonders
benötigt wird, d. h. zu einer Zeit, in der
Krankheitsprozesse vermehrt auftreten.
Dies ist bereits heute Gegenstand intensiver
Forschungen, die gezeigt haben: Eine kor-
rekt auf die Tageszeit abgestimmte Therapie
wirkt in sehr vielen Fällen bedeutend effekti-
ver und verringert oft unerwünschte Neben-
wirkungen.
Wie wirksam eine chronobiologisch kor-
rekte Behandlung ist, lässt sich gut am Her-
zen beobachten. Das Herz ist ein Organ, das
massiven Zeitschwankungen unterworfen
ist: Während nachts der Blutdruck und die
Herzfrequenz sinken, steigt der Blutdruck
in der Früh wieder an, und auch die Herz-
frequenz nimmt zu. Läuft dieses System
nicht in seinem Rhythmus, kann das drama-
tische Folgen haben. Daher ist es von größ-
ter Bedeutung, dass Wirkstoffe tageszeitlich
korrekt zugeführt werden, je nachdem, was
gerade erwünscht ist.
Eine chronobiologische Aufteilung in
Morgen- und Abendsubstanzen berück-
sichtigt diese zirkadianen Veränderungen
des Herz-Kreislauf-Systems und sorgt dafür,
dass die Inhaltsstoffe ihre Wirkung auch
zum richtigen Zeitpunkt entfalten. Liegt das
Problem z. B. überwiegend an Bluthoch-
druck am Morgen bzw. untertags, müssen
die Medikamente morgens oder mittags ein-
genommen werden. Weist der Patient hin-
gegen vermehrt Bluthochdruckspitzen in
der Nacht auf, müssen entsprechende Maß-
nahmen zur Nacht hin getroffen werden.
Den zirkadianen Rhythmus der Zell-
teilung macht sich auch die Krebstherapie
zunutze, da Krebsmedikamente eine noch
größere Wirkung erzielen, wenn sie gerade
in dem Moment, in dem die Zellen sich tei-
len, verabreicht werden (Ortiz-Tudela et al.
2013). Einige Tumorerkrankungen können
so überaus positiv beeinflusst werden. Viele
Tumor-Patienten benötigen bei der Chemo-
therapie oftmals sogar eine Kombination
von 2–3 Produkten. Werden diese Produkte
nun jeweils getrennt zur optimalen Tages-
zeit eingesetzt, und nicht, wie meist üb-
lich, zusammen am Morgen, lässt sich der
Therapieerfolg erheblich steigern, teilweise
bis zu über 50 % − und dies lediglich durch
die Darreichung nach chronobiologischen
Prinzipien (Innominato et al. 2014; Du-
long et al. 2015). Und noch einen wichtigen
Aspekt haben Forscher bei diesen Unter-
suchungen herausgefunden: Die starken
Nebenwirkungen einer Chemotherapie kön-
nen verringert werden, wenn die Medika-
mente chronotherapeutisch abgestimmt ver-
abreicht werden, unabhängig davon, ob nur
Chronobiologie
291 13
ein oder mehrere Medikamente verwendet 13.8.2 Chronobiologisch korrekte
werden mussten (Lévi 2006). Freisetzung

13.8.1 Kombinierte Viele Medikamente müssen oftmals über

einen längeren Zeitraum wirken, haben aber
Chronotherapie mit Licht nur eine sehr kurze Halbwertszeit. Andere
und Melatonin wiederum sollten zu einem bestimmten Zeit-
punkt ihre maximale Wirkung entfalten, zu
In der Behandlung vieler Krankheitsbilder dem es aber schwierig ist, sie einzunehmen.
wird neben den krankheitsspezifischen The- Melatonin beispielsweise wird während
rapien zusätzlich eine sogenannte Chrono- eines Zeitraums von 6–7 Stunden in der
therapie im eigentlichen Sinne angewendet, um Nacht benötigt. Leider liegt die Halbwerts-
etwaige Desynchronisierungen zu beheben. zeit aber nur bei ca. 25 Minuten, was dazu
Ein Beispiel dafür ist der Therapiemix von führt, dass die gewünschte Wirkung nach
Licht und Melatonin, so wie er etwa bei Jet- 2–2,5 Stunden nicht mehr vorhanden ist, da
lag oder Depressionen erfolgreich angewendet zu diesem Zeitpunkt der Wirkstoff bereits
wurde: Während Melatonin am Abend das fast komplett abgebaut wurde. Aus diesem
Signal zum Nachtbetrieb an den gesamten Grund haben sich unterschiedliche Herstel-
Organismus abgibt, unterstützt Licht am Mor- ler dieses Problems angenommen und ver-
gen diesen Prozess und hilft beim Aufwachen. schiedene Präparate mit jeweils unterschied-
Diese einfachen Wirkmechanismen können licher Freisetzung des Wirkstoffs entwickelt.
auch dazu genutzt werden, um den zirkadia- Jedes dieser Melatoninprodukte wirkt
nen Rhythmus entweder nach vorne oder anders, je nachdem, was damit erreicht
nach hinten zu verlagern, je nachdem, welche werden soll. Denn die Präparate können
Phasenverschiebung erwünscht ist. das Melatonin langsam oder schnell frei-
Ein Beispiel: setzen, aber auch chronobiologisch wirken.
Diese Arten der Freisetzung gibt es übri-
►►Beispiel gens für viele medizinische Präparate oder
Eine Therapie bei Jetlag oder auch bei Nahrungsergänzungsmittel.
Schichtarbeit hat zum Ziel, die Betroffenen Um beispielsweise mit einer Melatonin-
möglichst rasch an den neuen Tag-Nacht-­ ergänzung einen natürlichen Melatonin-
Rhythmus zu gewöhnen. Eine frühabendliche spiegel zu imitieren, ist es wichtig, dass das
Melatonineinnahme in Kombination mit Hormon so lange im Körper bleibt, wie es
Licht am Morgen hat sich dafür als sehr auch seinem natürlichen Rhythmus in einem
wirksame Methode erwiesen. Zu beachten ist gesunden Organismus entspricht. Als ideal
unbedingt der korrekte Zeitpunkt der hat sich dafür die pulsatile Verabreichung
Melatoningabe: Bei Jetlag liegt dieser optimal herausgestellt. Nach der Einnahme steigt
zwischen 22:00 und 23:00 Uhr in der neuen der Melatoninspiegel rasch an und bleibt
Zeitzone, für Schichtarbeiter ca. eine Stunde dann mehrere Stunden lang auf einem
vor der neuen Ruhephase. Unterstützt wird hohen Niveau, um dann in der Früh wieder
dies, wenn beim Jetlag bereits in den frühes- abzufallen. Für ältere Personen, die kein
ten Morgenstunden – zwischen 6:00 und 7:00 Melatonin mehr produzieren, wird genau
Uhr in der neuen Zeitzone – intensives Licht ein solches Freisetzungsprofil gewünscht.
verabreicht wird. Der Schichtarbeiter be- Einige Studien haben auch schon zeigen
nötigt dieses Licht hingegen direkt nach sei- können, dass gerade diese Art der Darrei-
ner Ruhephase und während der gesamten chung hervorragende Ergebnisse liefert:
Arbeitszeit. ◄ Betroffene konnten damit nicht nur besser
 292 J.-D. Fauteck
ein- und durchschlafen, sondern auch ihre
Schlafqualität in allen Facetten signifikant
verbessern (Stankov et al. 2010; Kolev et al.
2011).
Ganz anders bei einer langsamen oder
schnellen Freisetzung: Eine langsame Frei-
setzung von Melatonin braucht Stunden,
um seine Wirkung zu erzielen. Das Problem
dabei: Oft lässt die Wirkung von Melato-
nin zu langsam nach und führt dann dazu,
dass man am Morgen noch müde ist, da sich
noch zu viel Melatonin im Körper befindet.
Bei anderen Wirkstoffen, für die man hin-
gegen genau diesen Verlauf wünscht, z. B.
für bestimmte Betablocker, ist diese Formu-
lierung die ideale Darreichungsform.
Anders bei einer schnellen Freisetzung,
bei der der Melatoninspiegel zunächst steil
nach oben geht, dann aber nach 1–2 Stunden
wieder rapide sinkt. Diese Verabreichungs-
art macht zwar rasch schläfrig, die meisten
Menschen haben aber dann Schwierig-
keiten mit dem Durchschlafen und wachen
sehr früh, oft zu früh wieder auf. Gleich-
zeitig kann mit dieser Darreichungsform,
wenn früh abends eingenommen, der eigene
Rhythmus nach vorne verlagert werden −
ein Effekt, der bei Jetlag oder bei Schicht-
arbeitern erwünscht ist.
13 Ein komplett anderes Problem: die
Cortisoltherapie. Cortisol wird ab 4:00 Uhr
in der Früh freigesetzt. Muss dieser Anstieg
medikamentös ersetzt bzw. unterstützt wer-
den, könnte entweder gegen 3:30 Uhr die
entsprechende Tablette eingenommen wer-
den, oder man nimmt das Produkt unmittel-
bar nach dem Erwachen ein. In diesem Fall
wird der Cortisolpeak jedoch oftmals zu
spät erreicht, was einer Chronodisruption
gleichkommt und die beschriebenen Neben-
wirkungen hervorrufen kann.
Neuere Entwicklungen haben nun aber
Formulierungen hervorgebracht, die das
Cortisol erst 5–6 Stunden nach der Ein-
nahme freisetzen (Paolino et al. 2017; Straub
und Cutolo 2016; Krasselt und Baerwald
2017). Dabei nimmt der Patient die Tablette
kurz vor dem Schlafengehen ein. Diese Art
der Therapie, die die Chronobiologie be-
rücksichtigt, hat sich nicht nur bei Patienten
mit Nebennierenrinden-Insuffizienz, son-
dern auch bei der rheumatischen Arthritis
sowie beim systemischen Lupus als äußerst
effektiv gezeigt.
13.8.3 Chronopharmakologie auch
für Vitamine & Co.
Auch für Vitamine und Nährstoffe können
wichtige chronobiologische Grundsätze ab-
geleitet werden: All jene Substanzen, die den
Stoffwechsel anregen bzw. eine aufbauende
Wirkung besitzen, sollten idealerweise am
Morgen eingenommen werden. Nutzt man
Vitamine und Mineralien hingegen eher zur
Unterstützung von Regenerationsprozessen,
ist eine abendliche Einnahme zu bevorzugen.
So werden z. B. alle fettlöslichen Vi-
tamine wie Vitamin A, D, E und K besser
am Morgen resorbiert. Da Vitamin E syn-
ergistisch mit Vitamin C agiert, gilt auch
für Vitamin C die morgendliche Einnahme,
ebenso wie für Selen, das gleichermaßen die
Effektivität von Vitamin C und E steigert.
Weitere Spurenelemente, die besser am Mor-
gen aufgenommen werden, sind Molybdän,
Mangan, Jod, Vanadium, Chrom und Ni-
ckel. Calcium wird zum Teil durch die Zu-
fuhr von Phosphor und Vitamin D gefördert
und ist somit ebenfalls am Morgen bevor-
zugt einzunehmen.
Die meisten B-Vitamine, mit Ausnahme
von Vitamin B6, werden hingegen zum
Abend hin benötigt, da sie die nachts statt-
findenden Regenerationsprozesse unter-
stützen. Auch Zink, das unter anderem
die Aufnahme von Calcium behindern
würde, sollte erst zu diesem Zeitpunkt ein-
genommen werden. Magnesium und Kalium
werden ebenfalls eher am Abend benötigt,
da etwa Magnesium für die Muskelent-
spannung während des Schlafs eine wichtige
Rolle übernimmt.
Eine besondere Position nimmt das Eisen
ein: Grundsätzlich gilt, dass Eisen eher dann
Chronobiologie
aufgenommen wird, wenn der Darmtrakt
wenig zu tun hat, also einige Zeit vor den
Mahlzeiten. Gleichzeitig scheint aber die
nachmittägliche Einnahme von Eisensalzen
besser vertragen zu werden. Somit wäre der
ideale Zeitpunkt der Eisenergänzung zwi-
schen dem Mittagessen und dem Abend-
essen, also gegen 16:00 Uhr. Sollte man
diese Einnahme vergessen, könnte man sie
auch 1,5–2 Stunden nach dem Abendessen
nachholen (Fauteck und Kusztrich 2017).
13.9 Ausblick
Auch wenn schon etliche Erkenntnisse zur
Chronobiologie und der damit verbundenen
Chronomedizin vorliegen, werden in abseh-
barer Zeit noch viele weitere hinzukommen.
Bereits heute wird noch intensiver als frü-
her untersucht, welche Krankheitsbilder in
welchem Ausmaß durch die Chronobiologie
beeinflusst werden. Es ist davon auszugehen,
dass die überwiegende Anzahl von Krank-
heitsbildern maßgeblich durch rhythmische
Störungen begünstigt wird, wenn nicht
sogar ihren eigentlichen Ursprung in der
Chronodisruption hat.
Daher ist zu erwarten, dass in weni-
gen Jahren die Messung der biologischen
Rhythmen in der Diagnostik selbstverständ-
lich sein wird. Kein Medikament wird dann
mehr nach altbewährtem Schema verab-
reicht werden, sondern der jeweilige opti-
male, individuelle Zeitpunkt wird im Vorfeld
bestimmt werden. Schafft man es zukünftig,
die individuellen Biorhythmen eines Patien-
ten durch den gezielten Einsatz von externen
Zeitgebern zu synchronisieren, könnte man
hierdurch die Planbarkeit bzw. die Effektivi-
tät bestimmter Maßnahmen steigern.
Die Chronobiologie ist dabei, ein nächs-
ter Quantensprung in sämtlichen Wissen-
schaftsdisziplinen zu werden, nicht nur in
der Medizin. Denn es ist nicht nur wich-
tig, was wir tun oder verabreichen, um be-
stimmte Krankheiten zu heilen, sondern viel
wichtiger scheint, zu welchem Zeitpunkt wir
293 13
etwas dagegen unternehmen. Auch Hippo-
krates stellte schon fest: „Heilung ist eine
Frage der Zeit. Oftmals aber auch eine Frage
der günstigen Gelegenheit.“
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Präventive Kardiologie
Uwe Nixdorff

Inhaltsverzeichnis

14.1 Alterung als Hauptrisiko der Atherosklerose – 298

14.2 „Der Mensch ist so alt wie seine Gefäße“ – 300

14.3 „ Man sieht nur, was man weiß“ – die Bedeutung der
Bildgebung in der Früherkennung – 302

14.4  eversibilität des kardiometabolischen Syndroms und

R
des Inflammagings – 305

Literatur – 311

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 298 U. Nixdorff
14.1  lterung als Hauptrisiko der
A wie arterielle Hypertonie, Dyslipidämie etc.
Atherosklerose
Die Kardiologie ist das erste medizinische
Fachgebiet, das mit Inauguration der be-
kannten Framingham-Studie (Kannel et al.
1961) belegen konnte, dass es Risikofaktoren
gibt, die kausal Krankheit zur Folge haben.
Dies konnte nur durch solch eine longitudi-
nale Kohortenstudie erfolgen. Die Risiko-
faktoren addieren sich nicht nur in Ihrer
prädiktiven Aussage, sondern potenzieren
sich. Um dem klinisch relevant Rechnung
zu tragen, wurden kardiovaskuläre Risi-
ko-Scores entwickelt. Neben dem ursprüng-
lichen Framingham Risk Score (FRS), der
aktuell im griffigen „ASCVD PLUS“ Score
(7 http://tools.­acc.­org/ASCVD-Risk-Esti-
mator-Plus/#!/calculate/estimate/) im Inter-
net kalkuliert werden kann und vergleichs-
weise gute Prädiktion gestattet (Grammer
et al. 2019), folgten der deutsche PRO-
CAM-Score (Assmann et al. 2002) mit dem
Vorteil der Kalibrierung in Deutschland
und dem Kohorten-Nachteil der ursprüng-
lichen Fokussierung nur auf das männliche
Geschlecht. Der ESC HEART SCORE der
europäischen Fachgesellschaft (Piepoli et al.
2016; s. . Abb. 14.1) beruht auf der Zu-
sammenfassung zwölf großer europäischer
Kohorten mit Rekalibrierungsmöglichkeiten
entsprechend der Risikoträchtigkeit der
14 Regionen (Deutschland mit insbesondere
südeuropäischen Ländern rangiert eher im
low risk-Bereich, dagegen insbesondere die
osteuropäischen Länder im high risk-Be-
reich). Wir hatten vor einigen Jahren eine
vergleichende Bewertung der Pros und Cons
der verschiedenen Scores vorgenommen und
auch die Limitationen benannt (Mureddu
et al. 2013). Eine wesentliche Limitation ist
das Alter, da dieses im höheren Bereich – der
aber nota bene bereits > 65 Jahren beginnt –
die anderen traditionellen Risikofaktoren
so massiv superimponiert, dass sich der prä-
diktive Wert der Einzelfaktoren nivelliert.
. Abb. 14.1 zeigt dies deutlich, wie nämlich
durch die von unten nach oben zunehmende
Alterung eine nahezu durchgehend Rot-
färbung der Risikofelder eintritt und das hö-
here Alter für sich den high risk determiniert.
Derzeit wird vom Inaugurator Ian Graham,
Dublin, eine Extrapolierung der Tafeln bis
zum 75. Lebensjahr statistisch kalkuliert
(noch unpubliziert), aber erste Mitteilungen
bleiben pessimistisch dazu. Es zeichnet sich
aus der Sicht der kardiovaskulären Risiko-
stratifikation tatsächlich ab, dass Alterung
eine Krankheit darstellt, wie es seit Jahren
in der Anti-Aging-Medizin postuliert wird.
Auf den Kongressen der europäischen
Kardiologengesellschaft (ESC, European
Society of Cardiology) wird immer wieder
konstatiert, dass Alter wie das Geschlecht
unverrückbare Parameter darstellen. Die-
ser Beitrag will diese mechanistische An-
sicht transzendieren, denn Alter ist im Sinne
der Anti-Aging-Medizin eben variabel.
Das tatsächliche, biologische Alter lässt
sich anhand von vorliegenden alters- und
geschlechtsabhängigen Nomogrammen
bei den verschiedenen bildgebenden und
funktionsdiagnostischen Messungen der
Gefäßwände bestimmen und kann i. V. zum
kalendarischen 10–20 Jahren variieren. Es
kann sogar ein risk age kalkuliert werden,
indem in den Risikotabellen ein jüngerer
Mensch mit mehreren Risikofaktoren und
dem daraus ermittelten Score der „ana-
loge“ ältere Mensch mit selbem Score, aber
mit noch wenigeren Risikofaktoren heraus-
gesucht wird (anschauliche Erklärung in der
. Abb. 14.1b; Piepoli et al. 2016). Kardio-
vaskuläre Risikofaktoren induzieren also
eine Voralterung, umgekehrt entspricht die
Meidung von Risikofaktoren einer Ver-
jüngung.
Präventive Kardiologie
..      Abb. 14.1 a, b a: ESC HEART SCORE Chart
(Piepoli et al. 2016). Es wird das prozentuale 10-Jah-
res-Risiko einer fatalen kardiovaskulären Erkrankung
in Abhängigkeit verschiedener, etablierter Risiko-
faktoren evaluiert (hier kalibriert für ein low risk-
Land, wie z. B. Deutschland). Erkennbar wird die
hohe Bedeutung des Alters, das bereits bei 65 Jahren
für eine nahezu vollständige Rotfärbung, i.e. höchstes
299 14
Risiko sorgt. SCORE = Systematic Coronary Risk
Estimation. b: ESC HEART SCORE Chart (Piepoli
et al. 2016), hier Darstellung der auf ein high risk
europäisches Land fokussierten Kalibrierung. Dar-
stellung der Bestimmung des ungefähren Risikoalters
(„risk age“) anhand der Risikotabelle, i. e. risiko-
bedingten Voralterung. SCORE = Systematic Coro-
nary Risk Estimation
 300 U. Nixdorff
..      Abb. 14.1 (Fortsetzung)
14 14.2 „ Der Mensch ist so alt wie
seine Gefäße“
Bereits Dr. Thomas Sydenham hatte um
1650 festgestellt, dass die biologische De-
terminierung von Altersvorgängen an die
Intaktheit des kardiovaskulären Systems ge-
bunden ist. Diese historische Feststellung
wird heute durch ein umfangreiches Arm-
amentarium an bildgebenden Verfahren ef-
fektiv und auch quantitativ bestätigt, wie es
im Imaging-Artikel des ESC Textbook of
Preventive Cardiology (Nixdorff et al. 2015)
vorgestellt wird (. Abb. 14.2). Eines haben
diese bildgebenden Methoden in der Früh-
erkennung der Atherosklerose gemeinsam,
ganz im Gegensatz zu oft herkömmlichen
Methoden der kurativen Kardiologie (wie
etwas EKG oder Belastungs-EKG), sie de-
tektieren direkt/unmittelbar die Pathologie
des atherosklerotischen Prozesses. Und damit
untersuchen diese auch den Alterungsprozess
der Gefäßwand. Funktionell beginnt dies mit
Verschlechterung der endothelialen Funktion,
die – wenn auch mehr noch im Forschungs-
stadium – mittels flow-­mediated dilatation
(FMD) erfassbar wird (Erbel und Budoff
2012); weiterhin durch arterielle Gefäßwand-
versteifung, die durch die Pulswellenanalyse
(PWA) mittels Erfassung des sogenannten
Augmentationsindex und der Pulswellen-
geschwindigkeit erkannt wird. Eigene Nomo-
gramme aus Reihenuntersuchungen in
Wirtschaftsunternehmen konnten die Alters-
Präventive Kardiologie
301 14

..      Abb. 14.2 Schematische Darstellung der timeline und funktionsdiagnostischen Modalitäten, ab wann
der Atherosklerose nach der pathologischen Stary-­ diese jeweils diagnostisch werden. (Mod. nach Erbel
Klassifikation und die Zuordnung der bildgebenden und Budoff 2012)

abhängigkeit der Gefäßsteifigkeitsparameter erklärt sich (patho)physiologisch durch die

erheben (unpublizierte Daten; . Abb. 14.3);
so wie auch in einer europäischen Multi-
center-Studie (Reference Values for Arterial
Stiffness’ Collaboration 2010) deutlich wurde,
dass die Pulswellengeschwindigkeit eher von
der Alterung sui generis als vom Blutdruck
erhöht wird, was der erhöhten Gefäßsteifig-
keit entspricht. Die neue europäische Hyper-
tonie-Leitlinie (Williams et al. 2018) hat einen
Wert > 10 m/s bereits zum Endorganschaden
definiert, was zwar arbiträr erscheint, aber
die klinisch pathologische Bedeutung dieses
Alterungsprozesses kenntlich macht.
Klinisch einfacher kann die Gefäß-
alterung aber durch einen Parameter erfasst
werden, der beim einfachen peripheren Blut-
druckmessen nach Riva-Rocci mit anfällt,
i. e. der Pulsdruck oder Blutdruckamplitude,
nichts anderes als die Differenz von systoli-
schem und diastolischem Blutdruck. Dies
altersbedingt zunehmende Einschränkung
der Windkesselfunktion. Die proximale
Aorta nimmt beim systolischen Blutaus-
fluss aus dem linken Ventrikel einen nicht
geringen Teil des Blutvolumens durch ihre
elastische Wand auf (Conduitfunktion), um
diesen kurz danach in die Diastole hinein-
reichend weiter in die Periphere freizugeben,
wodurch ein „harmonischere“ Blutverteilung
gelingt. Günstig ist dieser Prozess auch für
die im Wesentlichen in der Diastole erfolgen-
den ­Koronardurchblutung. Wenn nunmehr
die Elastizität des Aortenrohrs zurückgeht,
kommt es zur Erhöhung des systolischen
Blutdrucks (bekannt als essenzieller, iso-
lierter systolischer Blutdruck des Älteren),
gleichzeitig aber zum Abfall des diastoli-
schen Blutdrucks, wodurch sich der o. g.
Pulsdruck erhöht (Kannel et al. 1981). Ass-
mann et al. konnten in ihrer PROCAM-Ko-
 302 U. Nixdorff
.Abb.
.       14.3 Unpublizierte Daten aus einer standardi-
sierten, betrieblichen Reihenuntersuchung mittels Puls-
wellenanalyse (PWA) an asymptomatischen Mitarbeitern
mittelgroßer bis großer Unternehmen des EPC; n = 2,055).
Eine Altersabhängigkeit bereits im Korridor der arbeits-
fähigen Bevölkerung (20 bis Mitte 60 Jahre) ist deutlich zu
horte sehr gut nachweisen, dass ein erhöhter
Pulsdruck sogar in einer noch normoten-
siven Subpopulation mit der erhöhten In-
zidenz von Koronarsyndromen korreliert
ist (Assmann et al. 2005). Klinisch hat sich
in der Präventivkardiologie als brauchbar
14 erwiesen, einen Pulsdruck > 50 mmHg als
relevant zu werten und der Anlass differen-
zierter pharmakotherapeutischer Konzepte
(Wahl der antihypertensiven Medikation)
und Lebensstilmaßnahmen bieten sollte. Die
Augmentierung des systolischen Blutdrucks
ist mehr als die Pulswellengeschwindigkeit er-
freulicherweise reversibel, dies sowohl durch
Lebensstilaspekte wie Fitness und Ernährung
als auch ggf. Medikamente, insbesondere sol-
che, die den Renin-­Angiotensin-­Aldosteron-
Mechanismus inhibieren (Nilsson et al.
2009a). Nilsson, Boutouyrie und Laurent,
3 bekannte Hypertensiologen i. Z. mit der
Gefäßfunktion, hatten dies sehr ansprechend
mit den Akronymen EVA und ADAM unter-
erkennen, sowohl für die Pulswellengeschwindigkeit (PW)
als auch für den Augmentationsindex (AIX); beides Para-
meter der arteriellen Gefäßelastizität bzw. -steifigkeit.
Diese Daten werden durch eine große europäische Ko-
hortenstudie bestätigt (Reference Values for Arterial Stiff-
ness’ Collaboration 2010)
strichen; wobei EVA für „early vascular
aging“ und ADAM für „aggressive decrease
of atherosclerosis modifiers“ steht. Dabei ist
EVA eine Resultante der bis zum Zeitpunkt
der Erfassungen exponierten Risikofaktoren
und damit eine kontinuierliche Größe i. G. zu
einzelnen Risikofaktoren, die in der Lebens-
zeit erheblich undulieren (. Abb. 14.4; (Nils-
son et al. 2009b)).
14.3 „ Man sieht nur, was man
weiß“ – die Bedeutung der
Bildgebung in der
Früherkennung
Es ist bereits seit längerem in der motivations-
psychologischen Forschung belegt, dass
transparente Darlegung von Bildgebungs-
befunden die Compliance verbessert. Es
konnte in prospektiven, randomisierten Stu-
Präventive Kardiologie
..      Abb. 14.4 Arterielle Steifigkeit als kumulativer,
altersabhängiger Effekt verschiedener kardio-
vaskulärer Risikofaktoren. Risikofaktoren können –
gemessen an einem Punkt im Leben – zu Trug-
dien eine prognostisch relevante Bedeutung
der Kenntnis vs. Unkenntnis der Bildgebung
verifiziert werden (Wong et al. 1996). Das
ist insbesondere in der Präventionsmedizin
von Bedeutung, da hier keine „Motivation“
zur Abhilfe eines Leidensdruckes besteht,
sondern Kenntnis früher Veränderungen
wie der subklinischen Atherosklerose im
Zusammenhang der pathophysiologischen
Zusammenhänge hilfreich ist. Alterung
ist nicht nur als unschöner Prozess von
Körperveränderungen wahrzunehmen, son-
dern als Krankheit mit möglichen alters-
bedingten Folgen von Funktionsverlust
bis hin zu Todesfolge zu verstehen. Die
Gefahren einer rupturierenden Plaque mit
Myokardinfarktfolge, deren Existenz im
kardiovaskulären Check-Up detektiert und
transparent gemacht wird, sind erst durch
direkte Visualisierung Basis für einsichtige
Präventionsbemühungen; nicht z. B. ein
eher abstrakter und schwer zu verstehender
pathologischer Cholesterinstatus. Wichtig
ist die ausführliche Erklärung durch den
Präventivmediziner, wobei hierzu Modelle
mit längs oder quer aufgeschnittenen Arte-
rien, die schematisch die Plaque (wie oben
ausgeführt, nicht flusslimitierend) und deren
Ruptur mit Induktion eines thrombotischen
303 14
schlüssen führen, da ihr undulierender Charakter die
Prädiktion nivellieren kann; nicht so der kontinuier-
liche Prozess der Gefäßsteifigkeit (Nilsson et al.
2009a)
Verschlusses darstellen. Ähnliche Schemata
sind auch als Apps und Youtubes vorhanden.
Dieses modellhafte Anschauungsmaterial
wird dem Bildgebungsbefund daneben-
gelegt.
Mit der kardialen Mehrschicht-Computer-
tomographie (MSCT), deren Röntgen-
strahlenexposition in den letzten Jahren
medizintechnisch drastisch in einen Sub-
milli-Sievert-Bereich gefallen ist, können
durch multiplanare Rekonstruktion (MPR),
maximaler Intensitätsprojektion (MIP) und
vor allen Dingen dreidimensionale VR-Bil-
der (VR = volume rendering) prozessiert wer-
den, die dem Laien eindrucksvoll die Ana-
tomie verständlich machen (. Abb. 14.5).
Es hat diesbezüglich ein Paradigmenwandel
aufgrund der technisch verständlich wer-
denden Bilder eingesetzt; die Bildgebung hat
sich aus der arztzentrierten Verwendung in
Richtung Untersuchten emanzipiert, was
auch transparent unterstützt werden sollte
(s. o.). Hilfreich ist hier auch die Bildver-
arbeitung und -archivierung (DICOM =
digital imaging and communication in medi-
cine), wodurch der Austausch der Befunde
über den ärztlichen Fachkreis hinaus flexi-
bel gestaltet werden kann und sollte. Auch
die Plaquecomposition kann durch neue
 304 U. Nixdorff
a b
c d
14 ..      Abb. 14.5 Kardiale Mehrschicht-Computertomo-
graphie (MSCT) eines 56-jährigen asymptomatischen
Individuums mit kalzifizierter, nicht hämodynamisch
relevanter Plaque am Übergang des linkskoronaren
Hauptstamms zum proximalen ramus interventricularis
anterior (RIVA), der sich mit intermediärem Risikoprofil
CCTA-­ Technologie analysiert werden;
so kann das positive Remodelling (frühe
Gefäßaufweitung), (gesprenkelte) Kalzi-
fikation neben weicher Plaqueformation dif-
ferenziert werden, seit kurzem auch der „pe-
rivascular fat attenuation index (FAI)“, der
die koronare Inflammation nachweist, was
auch in der Beurteilung der Plaquestabilität
von Bedeutung sein kann (Antoniades et al.
2020).
im European Prevention Center (EPC) vorstellteA:
Natives koronares Calcium-­Scoring (CACS); B bis D:
Kontrastmittel-­gestützte Koronarangiographie (CCTA);
B: multiplanare Rekonstruktion (MPR); C: maximale
Intensitätsprojektion (MIP); D: VR = Volume Rende-
ring (VR). (Bildarchiv des EPC, Düsseldorf.)
Nota bene haben die in . Abb. 14.2 dar-
gestellten Bildgebungstechnologien früher
Veränderungen entlang des schematischen
Kontinuums der Atherosklerose eines ge-
meinsam: Sie detektieren Atherosklerose
unmittelbar. Andere, üblichere Metho-
den (rechts dargestellt), die von weniger
präventivmedizinisch kompetenten Kollegen
immer noch Einsatz im Check-Up finden,
fokussieren lediglich Surrogatparameter
Präventive Kardiologie
305 14
einer Ischämie (z. B. der Stromkurvenver- Antikörpers gegen Interleukin 1β belegen
lauf im Belastungs-EKG). Ein auffälliger konnte (Ridker et al. 2017). Andererseits ist
Befund ist aber erst bei hämodynamisch re- die Systeminflammation bzw. Inflammaging
levanten Koronarstenosen zu erwarten, so- der Atherosklerose bereits seit > 20 Jahren
dass diese Methoden in der Früherkennung eigentlich bekannt (Libby et al. 2002), wenn
unbrauchbar sind und sogar gefährlich, auch zu wenig beachtet.
da diese nach dem Bayes’schen Theorem Wir hatten vor kurzem eine Übersicht zu
nicht selten falsch-positive Befunde bei kli- Lebensstilfaktoren und hochrisikoträchtiger
nisch weniger auffallenden Menschen der Atherosklerose jenseits traditioneller Risiko-
Primärprävention zeitigen, da diese ledig- faktoren publiziert (Lechner et al. 2019), um
lich eine niedrige Prätestwahrscheinlichkeit das mit Inflammation verbundene residuelle
aufweisen. Dies kann zu nicht rationalen, Risiko genauer zu beleuchten. Die Evidenz
invasiven Folgemaßnahmen führen (wie zur Promotion der Atherosklerose über in-
z. B. Linksherzkatheterisierung), die die flammatorische pathways durch chronische
Betreffenden sogar gefährden können (Nix- Umweltstressoren (insbesondere Luftver-
dorff et al. 2015). schmutzung und Lärm), geringe Nahrungs-
qualität, Bewegungsarmut, Schlafstörungen
und psychosozialer Stress ist belegt. In
präventiver Hinsicht sind entsprechende
14.4 Reversibilität des
Gegenmaßnahmen, insbesondere mittels
kardiometabolischen Lebensstilmodifikation, zur prinzipiellen Re-
Syndroms und des versibilität ebenfalls evident (. Abb. 14.6;
Inflammagings Lechner et al. 2019). Eine wichtige Studie
auf der Basis der Ernährung ist in diesem
Ansatzpunkte der Prävention und Anti-­ Zusammenhang die PREDIMED-­ Studie,
Aging-­Medizin sind gänzlich andere, als es die allein durch mediterrane Ernährung mit
heute die kurative, reparaturorientierte, in- viel Olivenöl und Nüssen über fünf Jahre die
terventionelle Kardiologie vorhält. Zudem Systeminflammation reduzierte und wesent-
konnten in den letzten Jahren mehrere große liche kardiovaskuläre Ereignisse um 30 % zu
prospektive Studien zeigen, dass zumindest reduzieren vermochte (Estruch 2010). Die
die elektive Myokardrevaskularisation, etwa ergänzende Bedeutung der antiatherogenen
mittels koronarer Stent-Implantation, low carb- (Shai et al. 2008) oder heute auch
kaum prognostisch relevante Bedeutung hat in Abhängigkeit der physikalischen Aktivi-
(Maron et al. 2020; Liberale et al. 2020) und tät auch als flexi carb- bezeichnete, kohlen-
im Zusammenhang mit dem Kontinuum der hydratreduzierte Diät ist ausreichend evi-
systemischen Atherosklerose auch punk- dent und vermittelt sich kardiometabolisch
tuell palliativ bleibt. Daher muss der ent- durch das Keton β-Hydroxybutyrat (BHB)
sprechende altersabhängige Prozess mit (Kim et al. 2019). BHB blockiert einen wich-
mehr pathophysiologischem Verständnis an- tigen Immunsensor, das NLRP3-Inflamma-
gegangen werden, insbesondere hinsichtlich some, was wiederum zur Reduktion von
metabolischer Veränderungen, die mit einer Interleukin 1β führt, was einen erheblichen
Atherosklerose induzierenden und promo- kardioprotektiven Effekt zur Folge hat, wie
vierenden Systementzündung verbunden die o. g. klinische CANTOS-Studie (Ridker
sind (Inflammaging, Liberale et al. 2020). et al. 2017) zeigen konnte. BHB reguliert
Die kürzlich vorgestellte, große prospektive, weitere pathways, die mit Langlebigkeit und
randomisierte CANTOS-Studie erzielte in kardiometabolischer Erkrankung und auch
der Kardiologie große Aufmerksamkeit, dem u. g. Mikrobiom zu tun haben, wie
als sie die prognostische Bedeutung eines z. B. Autophagieprozesse und insulin-like
 306 U. Nixdorff
.Abb.
.       14.6 Lebensstil und Atherosklerose. Lebensstil-
faktoren beeinflussen die Plaquekomposition, indem sie
traditionelle und neu erkannte pathways, die mit kardio-
vaskulärem Risiko assoziiert sind, modulieren. Rot unter-
growth factor (IGF) signalling (Han et al.
2018).
Aus Platzgründen werden hier nur zwei
evidente, prognostisch bedeutsame anti-­
inflammatorische, anti-atherosklerotische
Supplemente benannt, ohne auf diese in
extenso einzugehen. Diese sind einmal das
14 Vitamin D und zum anderen Omega-3-­
Fettsäuren (EPA/DHA), wenn sie denn de-
fizitär sind. Es wird auf unsere Übersicht im
European Journal of Preventive Cardiology
(EJPC) verwiesen (Lechner et al. 2019). Nur
in Kürze seien wenige Anmerkungen ge-
tätigt:
Vitamin D-Defizienz (≤ 15 ng/mL im
Serum) war in einer nested case control-­
Studie in der Health Professional FU
Study vergleichsweise zum mindestens an-
gestrebten Serumlevel von ≥ 30 ng/mL mit
einem doppelt so hohen relativen Risiko für
Myokardinfarkt verbunden, während üb-
liche kardiovaskuläre Risikofaktoren kon-
trolliert worden waren (Giovannucci et al.
legte Begriffe indizieren Initiation von Atherosklerose,
grüne unterlegte Begriffe Inhibition von Atherosklerose
(Lechner et al. 2019). FA: fatty acids (Fettsäuren); T2DM:
type 2 diabetes mellitus (Diabetes mellitus Typ II)
2008). Der prognostisch relevante, immun-
modulierende Effekt von Vitamin D ist
evident. Nach Erfahrungen regelmäßiger
Serumanalysen im EPC hat ca. 90 % der
heutigen Menschen eine Defizienz, sodass
hier die Supplementierung evident ist.
Omega-3-Fettsäuren werden direkt
in zelluläre Membranen eingebaut, dies
insbesondere in Plaque-betroffenen Ar-
terien und dem Myokard selbst (anti-­
arrhythmische Effekte), wodurch Inter-
leukin-6, Matrix-­ Metalloproteinasen und
­Lipoprotein-­assoziierter Phospholipase
A2 (Lp-PLA2) reduziert werden und ein
Plaquestabilisierung als auch Verbesserung
der endothelialen Funktion eintritt (Ganda
et al. 2018). Nach zuvor kontroversen Stu-
dien kann dieser Effekt nunmehr als prog-
nostisch relevant durch die große klinische
REDUCE-IT-­ Studie belegt gelten, in der
doppelblind und randomisiert schwere
kardiovaskuläre Ereignisse um 25 % redu-
ziert werden konnten (Bhatt et al. 2018).
Präventive Kardiologie
In den letzten Jahren wurde die Be-
deutung des Mikrobioms für die Intaktheit
der Arterienwände beschrieben ((Liberale
et al. 2020); . Abb. 14.7). Dysbiose kann
zu erhöhter Permeabilität der mukösen
Darmbarriere führen, wodurch es zur Pe-
netration von Bakterien und ihrer Produkte
ins Herz-­ Kreislauf-­System kommt. Dies
führt zu einer systemischen, chronischen in-
flammatorischen Kondition, die atherogen
ist. Eine besondere Bedeutung hat hierbei
ein Mikrobiota-­abhängiger Metabolit: Tri-
methylamin N-oxid (TMAO). Es ist auch
bekannt, dass low risk-Lebensstilfaktoren
einen günstigen Effekt auf das Mikrobiom
im Sinne einer erhöhten bakteriellen Di-
versität haben können, wie systematisches
Fitnesstraining, (intermittierende) Kalorien-
restriktion oder bestimmte Nahrungsmittel
wie etwa Nüsse oder komplexe Ballaststoffe
(Tang et al. 2019). Das o. g. BHB (ketogene
..      Abb. 14.7 Altersabhängige Dysbiose verstärkt In-
flammaging, welches die Atherogenese akzeleriert.
Mit der Alterung werden endogene und exogene Ver-
änderungen mit Resultat weniger gesunder oraler und
307 14
Ernährung) hat möglicherweise hier auch
einen günstigen Effekt.
Physikalische Aktivität evoziert ein
komplexes, systemisches Netzwerk von
endo- und parakrinen Funktionen, die
mit kardiometabolischer Gesundheit zu-
sammenhängen. Insbesondere Krafttraining
promoviert chronisch anti-­inflammatorische
und -atherogene Effekte. Muskulatur und
weißes Fettgewebe steht in einem inner-
organischen cross-talk, vermittelt durch
Adipokine, Myokine und Nitritoxid. Auf-
rechterhaltung des Skelettmuskels zu-
ungunsten viszeralen Fettgewebes bewahrt
Immunoseneszenz und Inflammation (Dug-
gal et al. 2019), dies u. a. durch verbesserte
endotheliale Funktion, Stabilisierung be-
stehender atherosklerotischer Plaques, ver-
besserte autonome Balance, gemessen mit-
tels Herzratenvariabilität (HRV) (Bernardo
et al. 2018).
Darm-Mikrobiotika promoviert, die homöostatische
Symbiose wird gestört, was sich inflammatorisch aus-
wirkt (Liberale et al. 2020)
 308 U. Nixdorff
Wichtig ist in anthropometrischer Hin-
sicht, um die genannten präventiven Be-
mühungen adäquat zu kontrollieren und
zu adjustieren, dass weniger das Körper-
gewicht (meist mittels Body-Mass-Index
[BMI] erfasst) als die Körperkomposition
von prognostisch relevanter Bedeutung ist
(Oikonomou und Antonidades 2019), wes-
wegen Taillenumfang bzw. idealerweise eine
Bioimpedanzanalyse (BIA) erfolgen sollte.
Es muss das Surrogat des atherogenen,
viszeralen Fettgewebes erfasst werden. In
neueren Studien konnte neben bereits be-
kannten pharmakotherapeutischen Effekten
der Statine (Daida et al. 2019) gezeigt wer-
den, dass Ernährung (Shai et al. 2010) und
Fitness (Scholl et al. 2015) mit einer Regres-
sion atherosklerotischer Veränderungen an
den Carotisgefäßen (gemessen mit hochauf-
lösendem Ultraschall) verbunden ist, sodass
die oben dargestellte kardiovaskuläre Bild-
gebung den Anti-Aging-Effekt belegen kann.
Das heute endemisch sich weiter-
entwickelnde (kardio-)metabolische Synd­
rom – man kann es auch als sich kontinuier-
lich verbreitende, nicht-infektiöse Pandemie
beschreiben und zudem auch als „sarkope-
nische Adipositas“ definieren – inkludiert
viele kausale biochemische Signalwege
zur Induktion und Promotion der vulne-
rablen atherosklerotischen Plaque, wie es
anschaulich in einer schematischen Über-
14 sichtsdarstellung zusammengefasst wird
(. Abb. 14.8; (Lechner et al. 2020)). Die
adipöse Körperkomposition mit akku-
muliertem viszeralen Fett, inklusive der
nicht-alkoholischen Steathosis hepatis,
führt über angestoßene Inflammation
und Insulinresistenz (was im Check-­ Up-­
Programm laborchemisch mittels high
sensitive CRP, Interleukinen und dem
HOMA-Index gemessen wird) zu einer
Multiorganinvolution, prognostisch letzt-
lich und insbesondere zum „thin-cap fibroat-
heroma“, also einer vulnerablen Plaque mit
dünner, entzündlicher, fibröser Deckplatte
(neben der Bildgebung komplementär mit-
tels Lipoprotein-assoziierter Phospholipase
A2 [Lp-PLA2] messbar), die durch zusätz-
liche ungünstige Umstände wie Blutdruck-
und Herzfrequenzerhöhungen, wie etwa
durch psychomentale Stressoren induziert,
zu Ruptur mit Myokardinfarktfolge neigt.
Begleitend führen die inflammatorisch-­
metabolischen Faktoren auch zu erhöhter
Thrombogenität und endothelialer Dys-
funktion (Lechner et al. 2020).
Inflammaging (. Abb. 14.9; Maron
et al. 2020) ist deswegen ein erst in den 2000er-­
Jahren eingeführter, neuerer terminus technicus
und pathophysiologischer Tatbestand (France-
schi et al. 2006), da sich erst mit der immer län-
geren Lebenserwartung der molekulare, chro-
nische Prozess einer „sterilen“ Inflammation
entwickelt, der die – wie oben dargelegt –
chronische, systemische Atherosklerose be-
dingt. Noch vor einigen Generationen waren
bei kürzeren Lebenserwartungen die Men-
schen maßgeblich an kommunizierbaren Er-
krankungen gestorben. Erst jetzt stellt der
längere Alterungsprozess den „Nährboden“
der atherosklerotischen Degeneration der ar-
teriellen Gefäße dar. Es ist bekannt geworden,
dass die altersbedingte Inflammation, das In-
flammaging, akkumuliert, indem etliche in-
flammatorische pathways angestoßen werden
(. Abb. 14.9); insbesondere in Abhängigkeit
der lebenslangen Exposition kardiovaskulärer
Risikofaktoren. Proinflammatorische Media-
toren, wie Interleukin-1β, und -6; Tumornekro-
sefaktor (TNF)-α und auch das high sensitive
CRP, sind hochreguliert und messbar. Da hier-
durch die atherosklerotische Plaque vulnerabel
wird und das Risiko von Ruptur und Myo-
kardinfarkt steigt, wird insbesondere kardio-
vaskulär der pathogene Bezug von Alterung
Präventive Kardiologie
309 14

..      Abb. 14.8 Pathophysiologische Verkettungen i. R. des kardiometabolischen Syndroms bei sarkopenischem,

adipösem Phänotyp (Lechner et al. 2019)
 310 U. Nixdorff
14
..      Abb. 14.9 Interaktionen zwischen Alterung, In-
flammaging und altersabhängigen Konditionen/Er-
krankungen. Mit Alterung tragen verschiedene zellu-
läre und molekulare Mechanismen zu einer
chronischen, inadäquaten Aktivierung des in-
flammatorischen Systems (orangene Pfeile) bei. In-
flammaging ist ein pathophysiologischer Mechanis-
mus von Gebrechlichkeit (frailty)/Einschränkungen
(disability) und verschiedener altersabhängiger Er-
krankungen, die wiederum den Alterungsprozess för-
dern und somit einen Teufelskreis (vicious circle) an-
stoßen (rote Pfeile) (Wong et al. 1996)
Präventive Kardiologie
311 14
deutlich (Alterung = Krankheit). Anti-Aging time risk factor exposure. Eur Heart J 33:1201–
durch anti-inflammatorische Maßnahmen 1217
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mab erbracht (Ridker et al. 2017). Auch das triglyceridemia management. J Am Coll Cardiol
anti-­inflammatorische Colchicin zeigte in der 72:330–343
LoDoCo-Studie eine Reduktion von kardio- Giovannucci E, Liu Y, Hollis BW, Rimm EB (2008)
25-hydroxyvitamin D and risk of myocardial in-
vaskulären Ereignissen (Nidorf et al. 2013), farction in men: a prospective study. Arch Intern
was auch kürzlich von der größeren COL- Med 168:1174–1180
COT-Studie bestätigt wurde (Tardif et al. Grammer TB, Dressel A, Gergei I, Kleber ME, Laufs
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 315 15

Osteoporoseprävention
Reiner Bartl

Inhaltsverzeichnis

15.1 Einleitung – 316

15.2  isikofaktoren für die Entstehung

R
der Osteoporose – 316

15.3 Risikofaktoren, die wir nicht beeinflussen können – 317

15.4 Risikofaktoren, die wir beeinflussen können – 317

15.5 Vorsorgeprogramm zur Verhütung

der Osteoporose – 322
15.5.1  unkt 1: Für kalziumreiche Kost sorgen! – 322
P
15.5.2 Punkt 2: Ausreichende Vitaminzufuhr sicherstellen! – 324
15.5.3 Punkt 3: Auf das „Kreuz“ achten! – 325
15.5.4 Punkt 4: Auf regelmäßige Bewegung achten! – 326
15.5.5 Punkt 5: Stürze vermeiden! – 327
15.5.6 Punkt 6: Das Rauchen einstellen! – 328
15.5.7 Punkt 7: Knochenräuber in der Nahrung eliminieren! – 328
15.5.8 Punkt 8: Auf das Ideal-Körpergewicht achten! – 330
15.5.9 Punkt 9: Knochenschädigende Medikamente erkennen! – 330
15.5.10 Punkt 10: Knochenschädigende Krankheiten erkennen! – 331
15.5.11 Punkt 11: Gegen die Widrigkeiten des Alltags ankämpfen und
Fröhlichkeit bewahren! – 332

Literatur – 333

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

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 316 R. Bartl
15.1 Einleitung
Bindegewebige Strukturen wie Haut, Zähne
und Haare sind – im Gegensatz zu unserem
Skelett – gut sichtbar und werden von den
Mitmenschen als Zeichen von Schönheit, Ju-
gend, Dynamik, sogar als Zeichen erotischer
Attraktivität wahrgenommen und inter-
pretiert. Ganze Industriezweige – von der
Kosmetikindustrie über die Pharmaindustrie
bis zur „Schönheitschirurgie“ – versprechen
den Frauen mit teuren Produkten und Me-
thoden schöne, glatte, faltenfreie Haut, straffe
Brüste, jugendliche Figur, volles Haar, lange
Wimpern und weiße Zähne als Ausdruck
immerwährender und perfekter Schönheit.
Unser Skelett dagegen ist unsichtbar in den
Tiefen des Körpers versteckt, und seine Exis-
tenz kann allenfalls ertastet werden. Das klag-
lose Funktionieren der Knochen auch im
Alter ist für uns einfach eine Selbstverständ-
lichkeit. Mit ihrer Pflege kann daher in der
Schönheitsindustrie wenig verdient werden.
Und doch ist von der Gesundheit unseres Ske-
lettes Körpergröße, Gang, Bewegung und vor
allem Körpergestalt abhängig. Denken wir nur
an die Verunstaltung und Behinderung durch
einen Rundrücken, auch „Witwenbuckel“
genannt – Folge multipler Wirbelbrüche im
Bereich der Brustwirbelsäule (. Abb. 15.1)
15
..      Abb. 15.1 Typischer Rundrücken einer älteren
Frau mit Osteoporose
(Bartl 2014; Bartl und Bartl 2019)! Was nützen
uns die manipulierbaren Schönheitssignale
von Haut, Haaren und Zähnen allein, wenn
uns Knochenbrüche und Knochenschmerz
Mobilität und Lebensqualität rauben?! Wir
tun also gut daran, auch an die Gesundheit
unseres Skelettes zu denken und darin zu in-
vestieren. Ein gesunder, stabiler Knochen
dankt es uns mit Mobilität – bis ins hohe Alter!
15.2  isikofaktoren für die
R
Entstehung der Osteoporose
55 Noch vor wenigen Jahren wurde die
Diagnose Osteoporose erst gestellt,
wenn sich der Patient mit einer schmerz-
haften Fraktur vorstellte. Heute leben
wir gesundheitsbewusster und haben er-
kannt, dass das Erkennen und Abstellen
von Risikofaktoren viele chronische Er-
krankungen im Alter verhüten helfen.
So kann heute eine 50-jährige Frau er-
warten, dass bei einem Arztbesuch der
arterielle Blutdruck, der Cholesterin-
wert im Blut und die Zuckeraus-
scheidung im Urin gemessen und eine
Mammographie veranlasst werden.
Studien haben zudem gezeigt, dass die
DXA-­Knochendichtemessung eine spä-
tere Fraktur zuverlässiger vorhersagt
als der Cholesterinwert einen Herz-
infarkt und ein hoher Blutdruck einen
Schlaganfall! Es ist daher sinnvoll und
zu fordern, dass Frauen über 50 Jahre
und Männer über 60 Jahre über ihre
wichtigsten Risikofaktoren informiert
sind und auch die Knochendichte mit-
tels der DXA-Methode messen lassen
(. Abb. 15.2).
55 Wir kennen inzwischen viele genetische
und erworbene Faktoren, die für die Ent-
stehung einer Osteoporose verantwort-
lich sind (Bartl 2015; Bartl und Bartl
2019; Cummings 1996; Kanis et al. 2008;
Taylor et al. 2004).
Osteoporoseprävention
..      Abb. 15.2 Messung der Knochendichte mittels
der DXA-Messmethode
15.3  isikofaktoren, die wir nicht
R faktor für osteoporotische Frakturen.
beeinflussen können
55 Familiäre Belastung. Bisher gibt es noch
keine klinisch anwendbaren genetischen
Tests zur Beurteilung des Osteoporose-
risikos. Die Anamnese einer proximalen
Femurfraktur bei den Eltern gilt aber als
prognostisch verlässlichste Angabe des
genetischen Risikos für osteoporotische
Frakturen.
55 Geschlecht und Alter. Zwischen dem 30.
und 35. Lebensjahr befindet sich der
Knochenumbau etwa im Gleichgewicht.
Danach beginnt der genetisch festgelegte
Knochenschwund, etwas stärker bei der
Frau als beim Mann. Mit der Meno-
pause und dem Abfall der Östrogen-
produktion nimmt bei der Frau die
Osteoporose mit Frakturen deutlich zu.
Beim Mann nimmt das Frakturrisiko be-
sonders nach dem 75. Lebensjahr zu und
beträgt über 30 %. Männer haben bei
einem vergleichbaren Lebensalter und
T-Wert der Knochendichte ein etwa 50 %
niedrigeres Risiko für osteoporotische
Frakturen als Frauen.
55 Bekannte Fraktur nach dem 45. Lebens-
jahr. Auch wenn wir die Ursache noch
nicht kennen, so verdoppelt sich das Ri-
siko für eine weitere Fraktur, wenn eine
vorausgegangene Fraktur bekannt ist.
Es wurde gezeigt, dass eine einzige spon-
317 15
tan aufgetretene Wirbelkörperfraktur
das Risiko weiterer Wirbelkörper-
frakturen um das 5-Fache erhöht und 2
oder mehr Frakturen das Risiko sogar
auf das 12-Fache steigen lassen.
Atraumatische und niedrigtraumatische
Wirbelkörperfrakturen sind neben dem
Lebensalter der stärkste unabhängige
Risikofaktor für zukünftige Knochen-
brüche. Dies gilt prognostisch sowohl für
klinisch manifeste als auch für zufällig
im Röntgenbild nachgewiesene Wirbel-
körperfrakturen. Periphere Frakturen
sind dagegen ein mäßiggradiger Risiko-
15.4  isikofaktoren, die wir
R
beeinflussen können
55 Chronischer Bewegungsmangel. Feh-
lende körperliche Aktivität ist der
wichtigste Risikofaktor für die Ent-
stehung der Osteoporose (Gerdhem
et al. 2003). Dies gilt auch für junge
bettlägerige Patienten, die in wenigen
Monaten bis zu 30‍ % ihrer Knochen-
masse verlieren und häufig Jahre brau-
chen, ihre Ausgangsmasse an Knochen
wieder zu erreichen.
>>Zug und Druck der Muskulatur auf den
Knochen sind die Reize, die zum reflek-
torischen Knochenwachstum führen.
55 Körpergewicht. „Dünne Frauen, dünne
Knochen“: Diesen Zusammenhang
haben alle großen Osteoporose-Risiko-­
Studien belegt. Untergewichtige Frauen
haben ein hohes Risiko für Knochen-
frakturen, wohingegen übergewichtige
Frauen weitgehend vor Osteoporose
geschützt sind. Bei einem Untergewicht
(BMI < 20) ist das relative Risiko für
Frakturen etwa 2-fach erhöht. Das er-
höhte Risiko wird vorwiegend über
eine Erniedrigung der Knochendichte
erklärt.
 318 R. Bartl
>>Die Broca-Formel: Körpergröße in cm
minus 100 = empfohlenes Gewicht in kg.
>>Der Body-Mass-Index (BMI): Aktuelles
Gewicht in kg, dividiert durch das Qua-
drat der Körpergröße in Meter. Der nor-
male BMI beträgt bei der Frau 19–24
und beim Mann 20–25.
55 Neben der höheren Gewichtsbelastung
des Knochens werden adipöse Frauen
durch die höhere Östrogenproduktion
in den Fettzellen vor Osteoporose ge-
schützt. Nach der Menopause werden
bei Frauen weiterhin Nebennieren-
rindenhormone gebildet. Das Andros-
tendion wird im Fettgewebe durch Aro-
matasen in Östrogene umgewandelt.
55 Knochendichte. Die Ausbildung des
Skelettes wird noch vor der Geburt
festgelegt, das Wachstum findet in
der Kindheit und Pubertät statt. In
diesem Alter sind die Bereitstellung
von Baumaterial (Kalzium, Eiweiß
und Vitamin D) und die Belastung
des heranreifenden Knochens durch
körperliche Aktivität als Reiz für die
Knochenproduktion besonders wich-
tig. Mit 18 Jahren ist das Knochen-
wachstum nahezu komplett. Im Alter
zwischen 20 und 30 Jahren erreichen
wir die maximale Knochendichte
(„peak bone mass“) (. Abb. 15.3)
(Bartl 2015; Bartl und Bartl 2019;
Kanis et al. 2008). Spätestens nach
dem 30. Lebensjahr wird die
15 Knochenbilanz (das ist das Verhält-
nis von Knochenanbau zu -abbau)
negativ, durchschnittlich 1 %
Knochenverlust pro Jahr, unabhängig
vom Geschlecht. Dieser Knochen-
schwund ist offensichtlich genetisch
vorprogrammiert. Bei der Frau steigt
nach der Menopause mit einem Ab-
fall des Östrogenspiegels der Verlust
an Knochen rapide bis auf 4 % pro
Jahr. Dies bedeutet, dass die Frau
vom 40. bis zum 70. Lebensjahr im
Durchschnitt etwa 40 % ihrer
Knochenmasse verliert. Der Mann
100
Knochenmasse (%)
Männer
50
Fraktur-
schwelle
Frauen
0
0 20 40 60 80 100
Alter (Jahre)
..      Abb. 15.3 Altersabhängiger Verlauf der
Knochendichte bei Frauen und Männern mit norma-
lem Knochenstatus
verliert im gleichen Zeitraum nur
etwa 12 %.
>>Unser Knochen ist eine „Mimose“ und
vergisst keinen störenden Einfluss! Selbst
kleinste hormonelle Störungen können
über Jahre zu einer negativen Knochen-
bilanz und damit zu Osteoporose führen.
Neben den Hormonen, vor allem Östro-
gen und Testosteron, sind an der Steue-
rung auch andere Organe wie Niere,
Leber und Magen-Darm-Trakt beteiligt.
Das Risiko von Frakturen in Abhängigkeit
von der Knochendichte (DXA-­Methode) ist
in vielen Studien (z. B. Rotterdam-Studie)
untersucht worden. Das 10-Jahres-­
Wirbelkörperfrakturrisiko bei minimalem
T-Score an Wirbelsäule und Gesamtfemur
von −2,5 beträgt im Alter von 70 Jahren für
Frauen etwa 26 %. Es steigt bis zum Alter
von 80 Jahren auf etwa 42 % (. Abb. 15.4).
Vor allem die Kombination der Knochen-
dichte mit anderen unabhängigen Risiko-
faktoren erlaubt heute eine sehr genaue
Fraktur-Risikoeinschätzung.
>>Prävention und Behandlung der Osteo-
porose ist eine Lebensaufgabe von Arzt
und Patient!
55 Depressive Stimmungslage. De-
pression ist inzwischen als ein wichti-
ger Risikofaktor für die Entstehung
der Osteoporose erkannt. Studien
Osteoporoseprävention
Indizienz pro 10000 Personen
500
400
300
200
100
Frauen
Männer
0 ren. Mit dem gleichzeitigen Gebrauch
10 20 30 40 50 60 70
Alter (Jahre)
..      Abb. 15.4 Frakturhäufigkeit bei Frauen und
Männern mit deutlicher Zunahme im Alter
konnten zeigen, dass Frauen mit
schwerer langjähriger Depression
6‍ % weniger Knochenmasse auf-
weisen als vergleichbare Frauen ohne
Depression.
55 Zigaretten rauchen. Rauchen ver-
doppelt das Osteoporoserisiko und
ist daher ein wichtiger Risikofaktor
für vertebrale und periphere Fraktu-
ren (Gerdhem und Obrant 2002).
Man kennt nicht den genauen
Mechanismus, durch den das Rau-
chen den Knochen schwächt. Wahr-
scheinlich müssen viele chemische
Substanzen des Zigarettenrauchs ver-
antwortlich gemacht werden. Nikotin
hemmt die Östrogenproduktion, för-
dert den schnelleren Östrogenabbau
in der Leber und bewirkt ein früheres
Eintreten der Menopause. Es wird
geschätzt, dass Rauchen das Lebens-
risiko für Oberschenkelfrakturen bei
der Frau um 31 % und beim Mann
um 40 % steigert.
55 Alkoholismus. Alkoholismus erhöht
das Osteoporoserisiko erheblich. Ein
entscheidender Grund ist zweifellos,
dass Alkoholiker mangelernährt sind
und an einem Leberschaden leiden.
Junge Alkoholiker zeigen ein be-
sonders hohes Frakturrisiko. Mo-
derater Alkoholkonsum ist dagegen
319 15
sogar mit einer leicht erhöhten
Knochendichte verbunden.
55 Kaffeekonsum. Regelmäßiger starker
Koffeingenuss, also mehr als 4 Tassen
Kaffee täglich, kann zur Entstehung
der Osteoporose beitragen. Für Kaf-
fee findet sich für Frauen > 60 Jahre
ein positiver Zusammenhang mit
dem Risiko proximaler Femurfraktu-
ren, aber nicht für vertebrale Fraktu-
80 >85
von Milch lässt sich dieses Risiko
aber ausgleichen.
55 Fehlernährung . Bei ungenügender
Kalziumaufnahme durch die Nah-
rung wird Kalzium über das Parat-
hormon aus dem Knochenspeicher
mobilisiert, mit der Konsequenz einer
negativen Knochenbilanz. Vor allem
in der Jugend und während der
Schwangerschaft ist es wichtig, den
erhöhten Kalziumbedarf für den
wachsenden Knochen über die Nah-
rung auszugleichen (Heanney 2001).
Hormone. Der Östrogenabfall um die Meno-
pause löst einen dramatischen Knochenver-
lust über einen Zeitraum von 5 Jahren aus.
Der jährliche Knochenverlust kann bis zu
4 % betragen. Erst 5–8 Jahre nach der Meno-
pause geht der jährliche Knochenschwund
auf etwa 1 % zurück. Eine früh einsetzende
Menopause, natürlich oder operativ be-
dingt, ist daher ein wichtiger Risikofaktor
für die Entstehung der postmenopausalen
Osteoporose. Die Daten des Östrogen/Ges-
tagen-Arms der Women’s Health Initiative
Study (WHI 2002) haben den Sinn der HRT
in der Prävention und Therapie der Osteo-
porose neu zur Diskussion gestellt. Diese
Megastudie hat gezeigt, dass die HRT das
Risiko für alle Frakturformen signifikant
senkt. Damit wurde erstmals die Wirksam-
keit der HRT hinsichtlich einer Senkung
des Frakturrisikos belegt. Gleichzeitig aber
hat die Studie zeigen können, dass kardio-
vaskuläre Erkrankungen und Brustkrebs
unter HRT zunehmen. Aus diesen Ergeb-
 320 R. Bartl

nissen folgt, dass HRT nur bei klimakteri- retrovirale Therapie (HAART), Schleifen-
schen Beschwerden einzusetzen ist und auf diuretika, Opioide (z. B. Morphin, Codein)
möglichst wenige Jahre unmittelbar nach und v. a. immunsuppressive Medikamente
der Menopause beschränkt sein sollte. wie Cyclosporin A und Takrolimus.
Schilddrüsenhormone, die im Rahmen
>>Die WHI-Studie (Women’s Health Ini- einer Strumaprophylaxe oder einer Schild-
tiative Group 2002) hat gezeigt, dass drüsenoperation in Dosen von 75–125 μg
HRT nicht mehr zur Prävention chroni- Thyroxin täglich gegeben werden, beein-
scher Erkrankungen eingesetzt werden trächtigen den Knochen wahrscheinlich nicht.
soll. Sie hat aber auch belegt, dass die In der Übersicht sind die wichtigsten
HRT das Frakturrisiko bei Osteoporose Erkrankungen zusammengestellt, die mit
signifikant senkt. Eine HRT ist nach wie einem erhöhten Risiko für Osteoporose ver-
vor sinnvoll zur Behandlung klimakteri- knüpft sind.
scher Beschwerden. „For symptoms
only!“ Die Behandlung sollte möglichst
Erkrankungen mit erhöhtem Risiko für
nicht länger als 4–5 Jahre erfolgen. Vor
eine generalisierte Osteoporose des Er-
Therapiebeginn muss ein Mamma-
wachsenen
karzinom in der Familienanamnese aus-
Hypogonadismus
geschlossen sein.
55 Turner Syndrom
55 Klinefelter Syndrom
Beim Mann verursacht Testosteronmangel
55 Anorexia nervosa
Osteoporose und tritt u. a. bei Alkoholis-
55 Hypothalamische Amenorrhoe
mus oder Anorexia nervosa auf. Bei jungen
55 Hyperprolaktinämie
Männern mit unklarer Osteoporose sollte
55 Andere hypogonadale Zustände
immer der Testosteronspiegel im Blut be-
stimmt werden, um einen Hypogonadismus Endokrine Erkrankungen
frühzeitig zu erkennen. 55 Cushing Syndrom
Medikamente und Krankheiten. Zahlreiche 55 Hyperparathyreoidismus
Medikamente schwächen den Knochen. Zahl- 55 Thyreotoxikose
reiche Medikamente schwächen den Knochen. 55 Diabetes mellitus
Die wichtigste Substanz ist das Kortison und 55 Akromegalie
seine Derivate (Glukokortikoide), die wir bei 55 Nebenniereninsuffizienz
einer großen Zahl von Erkrankungen systemisch
Ernährungstörungen
einsetzen: Asthma bronchiale, Allergien, rheu-
55 Malnutrition
15 matische Erkrankungen, entzündliche Dünn-
55 Parenterale Ernährung
darmerkrankungen und andere Immunkrank-
Gastrointestinale Erkrankungen
heiten. Bei Patienten, die länger als ein Jahr mit
55 Malabsorptionssyndrom
Kortison behandelt werden müssen, entwickelt
55 Morbus Crohn
sich eine Osteoporose mit einem hohen Risiko
55 Colitis ulcerosa
für Knochenbrüche (Van Staa et al. 2002).
55 Primär biliäre Zirrhose
Es gibt noch eine lange Liste von Medika-
55 Hepatitis
menten, die bei chronischer Anwendung den
55 Gastrektomie
Knochen schwächen: Lithium, Isoniazid,
55 Perniziöse Anämie
Carbamazepin und andere Antiepileptika,
Heparin, Marcumar und andere Blutver- Rheumatologische Erkrankungen
dünner, aluminiumhaltige Säureblocker, 55 Rheumatoide Arthritis
Protonenpumpenhemmer, Antidepressiva, 55 Ankylosierende Spondylitis
bestimmte Antidiabetika, hochaktive anti-
Osteoporoseprävention
321 15
und dafür die Oberschenkelhalsfrakturen
Pulmonale Erkrankungen zu.
55 COPD
55 Asthma bronchiale
Kardiologische Erkrankungen Acht Risikofaktoren haben sich für die
55 Herzinsuffizienz Frakturvorhersage als nützlich er-
55 Herztransplantation wiesen und sind im Therapieplan zu
berücksichtigen
Hämatologische Erkrankungen/Mali- 55 Weibliches Geschlecht
gnome 55 Lebensalter
55 Multiples Myelom 55 Wirbelkörperfraktur (atraumatisch)
55 Lymphome und Leukämien 55 Periphere Fraktur
55 Malignome mit PTHrP-Produktion 55 Hüftgelenksnahe Fraktur bei den El-
55 Hämolytische Anämien tern
55 Aplastische Anämie 55 Multiple Stürze
Selektierte angeborene Erkrankungen 55 Nikotin
55 Osteogenesis imperfecta 55 Immobilität
55 Marfan Syndrom
55 Hämochromatose
55 Hypophosphatasie
..      Tab. 15.1 Ursachen für eine erhöhte
55 Glykogenspeicherkrankheiten Sturzneigung bei älteren Menschen
55 Ehlers-Danlos Syndrom
Altersbedingte Beeinträchtigungen
55 Porphyrie
Muskelschwäche Verlängerte Reaktions-
Andere Krankheiten zeiten
55 Immobilisation Haltungsprobleme Aufregung und
55 Schwangerschaft und Stillzeit Ängste
55 Multiple Sklerose
Gangstörungen Sturzangst
55 Sarkoidose
55 Amyloidose Sehschwäche
Spezifische Krankheiten und Medikamente
Zerebrovaskuläre „Blackouts“
55 Fallneigung und „Stolpersteine“ im Um- Erkrankungen
feld: Nahezu ein Drittel der älteren Per-
Morbus Parkinson Harninkontinenz
sonen fällt wenigstens einmal im Jahr
(. Tab. 15.1). Die Anamnese multipler Multiple Sklerose Sedativa
Stürze in der Vorgeschichte erhöht das Arthritis Antihypertensiva
Risiko für periphere Frakturen bei äl-
Katarakt oder Übermäßiger
teren Frauen und Männern besonders Netzhautdegeneration Alkoholkonsum
stark. Es ist leicht einzusehen, dass neben
dem Schweregrad der Osteoporose v. a. Umwelteinflüsse
die Art des Fallens darüber entscheidet, Schlechte Ausleuchtung Rutschige Vorleger
ob eine Fraktur resultiert. Bei alten Men- und Teppiche
schen ist der Schutzreflex mit Abstützen Rutschiger oder Schlechtes Wetter
der Arme reduziert, zudem fehlt energie- unebener Boden
absorbierendes Weichteilgewebe im Fehlende Haltegriffe im Kabel oder Spielzeug
Oberschenkelbereich. Daher nehmen im Bad auf dem Boden
hohen Alter die Unterarmfrakturen ab
 322 R. Bartl

15.5 Vorsorgeprogramm zur ..      Tab. 15.2 Gute Kalziumquellen (Durch-

Verhütung der Osteoporose schnittswerte)

55 Zum Erhalt eines gesunden Knochens Nahrungsmittel Kalzium mg/100 g

und zur Vermeidung osteoporose-
Milchprodukte
bedingter Frakturen auch im hohen
Alter dient das folgende Vorsorge- Vollmilch 111
programm mit 11 Punkten. Damit kann Eiscreme 120
die Osteoporose weitgehend vermieden
Entrahmte Milch 124
werden. Eine Bedingung muss aber der
Patient erfüllen: Er muss den Willen Joghurt 134
haben, sofort damit anzufangen und es Käse 600–1000
konsequent und regelmäßig beizu-
Weitere Kalziumlieferanten
behalten!
Bohnen 65
Nüsse 75
15.5.1  unkt 1: Für kalziumreiche
P Petersilie 100
Kost sorgen!
Brokkoli, gekocht 130

55 Kalzium ist das wichtigste Mineral zur Spinat, gekocht 160

Verhütung und Behandlung der Osteo- Feigen, getrocknet 190
porose. Der Erwachsene hat über 1 kg
Lachs 200
Kalzium im Körper, davon 99‍ % im Ske-
lett (Reid et al. 1995). Sojabohnen 200
55 Kindheit und Jugend. Die Prävention der Grünkohl, gekocht 200
Osteoporose beginnt in der Kindheit mit
Haselnüsse 225
dem Aufbau des Skeletts. Kalziumreiche
Kost liefert das Baumaterial, um bis zum Mandeln 250
25. Lebensjahr das Erwachsenenskelett Nusskuchen 254
mit der maximalen Knochendichte zu
Hagebutten 257
vollenden. Kinder und Jugendliche brau-
chen bis zu 4-mal mehr Kalzium pro kg Ölsardinen 300
Körpergewicht als Erwachsene. Je nach Rhabarber, gekocht 300
Alter sollen 500 – 1500 mg Kalzium pro
15 Tag zugeführt werden. Auch bei ge- Sesamsamen 783

wichtsbewussten Teenagern wird dieses Getränke

Ziel mit kalziumreicher, fettarmer Kost
wie fettarmer Milch, fettarmem Käse,
Joghurt, kalziumangereicherten Säften
und Brotarten durchaus erreicht
(. Tab. 15.2).
55 Schwangerschaft/Stillen. Während der
Schwangerschaft und in der Stillzeit ist
der Bedarf an Kalzium besonders hoch.
55 Menopause. Auch nach der Menopause
ist es noch nicht zu spät, mit einer
kalziumreichen Ernährung zu beginnen,
Mineralwasser 2–60
Orangensaft, angereichert 300
obwohl gerade in dieser Übergangszeit
mit dem Abfall des Östrogenspiegels ein
dramatischer Knochenschwund einsetzt.
Studien haben gezeigt, dass 80‍ % aller
postmenopausaler Frauen mit durch-
schnittlich 800 mg Kalzium pro Tag zu
Osteoporoseprävention
wenig über die Nahrung zuführen.
1500 mg Kalzium sollten täglich in dieser
Phase erhöhten Knochenabbaus an-
gestrebt werden.
15.5.1.1 Knochenfreundliche
Ernährung
55 Eine ausreichende Kalziumversorgung
ist heute über eine „knochenfreundliche“
Ernährung möglich.
55 Milch und Milchprodukte. Besonders
kalziumreich sind fettarme Trinkmilch
und Hartkäse. Je härter der Käse, desto
mehr Kalzium enthält er. Besonders viel
Kalzium ist in Mozzarella zu finden. Die
Laktose in der Milch sorgt zusätzlich für
eine bessere Resorption des Kalziums.
55 Frisches grünes Gemüse, Obst und Ge-
treideprodukte. Diese stellen weitere
wichtige Kalziumlieferanten dar. Eine
Ausnahme stellen Weißbrot und ähnliche
aufbereitete Brotwaren dar. Zu beachten
ist, dass „Knochenräuber“ wie Oxalsäure
in bestimmten Gemüsesorten, Koffein
sowie ein hoher Anteil von Zucker, Salz,
Phosphat, Fett und Eiweiß die Resorp-
tion von Kalzium dramatisch behindern
können. Studien haben gezeigt, dass
regelmäßiger Konsum von Gemüse und
Obst das Risiko für Herzinfarkt, Diabetes
mellitus und Osteoporose um etwa 25 %
senkt. Es wird daher empfohlen, fünfmal
am Tag Obst und Gemüse zu essen.
Die Forderung nach einer knochen-
freundlichen Ernährung erreichen wir
mit 4 Regeln
55 Obst- und Gemüseanteil erhöhen
55 Ballaststoffzufuhr erhöhen
55 Fett- und Zuckerzufuhr reduzieren
55 Reichlich trinken (1,5–2 Liter Ge-
tränke, die wenig Energie liefern!)
Mineralwasser. Sie tragen bei hohem
Kalziumgehalt ebenfalls zu einer positiven
323 15
Kalziumbilanz bei. Die Kalziumwerte kön-
nen im Wasser sehr unterschiedlich sein
und reichen von 10 – 650 mg pro Liter. Der
Kalziumanteil pro Liter ist auf der Flasche
angegeben.
55 Fruchtsäfte. Vor allem bei Patienten mit
Milchallergie bieten sich Fruchtsäfte
an, die mit Kalzium angereichert sind.
Fruchtsäure und Vitamin C in den Säf-
ten steigern die Kalziumresorption zu-
sätzlich auf bis zu 40‍ % gegenüber 30‍ %
bei Milchprodukten. Der Zusatz von Vi-
tamin D erhöht nochmals die Aufnahme
von Kalzium über den Darm.
55 Kalziumtabletten. Eine zusätzliche Zu-
fuhr in Form von Kalziumtabletten soll
nur in Absprache mit dem Arzt erfolgen.
7 Tab. 4.2 zeigt den Kalziumanteil in den
gebräuchlichen Kalziumtabletten. Bei Ver-
wendung von 500 mg Kalziumkarbonat
werden nur 200 mg aufgenommen. Die
beste Resorption wird mit Kalziumzitrat
erzielt, da diese Verbindung keine Magen-
säure benötigt. Zudem schützt es gegen
die Bildung von Nierensteinen und be-
einträchtigt nicht die Eisenresorption.
Folgende Tipps können helfen, Kalzium-
tabletten optimal auszunutzen:
–– Die Einzelmenge sollte 500 mg Kal-
zium nicht überschreiten. Verteilen
Sie die Tagesmenge auf mehrere
Einzeldosen. Eine Dosis vor dem
Schlafen verhindert Knochenverlust
während der Nacht.
–– Die Kalziumgabe sollte mit dem Essen
eingenommen werden. Laktose, Vita-
min C sowie geringe Fett- und Protein-
mengen fördern die Resorption.
–– Vermeiden Sie die gleichzeitige Ein-
nahme von ballastreichen Nähr-
stoffen, da diese die Kalzium-
resorption hemmen.
–– Nehmen Sie kein Kalzium zusammen
mit fettreicher Nahrung ein.
–– Nehmen Sie kein Kalzium gemeinsam
mit Eisen ein. Diese beiden Substan-
zen gehen eine unlösliche Verbindung
ein und gehen dem Körper verloren.
 324 R. Bartl

Magnesium: Etwa zwei Drittel des
Magnesiums im Körper wird in den Kno-
chen eingebaut – wir haben also auch ein
„Magnesium-­Konto“. Es spielt eine Rolle im
Knochenaufbau sowie im Vitamin-D- und
Parathormon-Stoffwechsel. Auch die alkali-
sche Phosphatase, ein wichtiges Enzym beim
Knochenaufbau, wird von Magnesium akti-
viert. Vor allem ältere Personen haben einen
Magnesiummangel und bedürfen einer
Substitution. Chronischer Durchfall, Nie-
ren- und Lebererkrankungen, Diabetes mel-
litus, Schwangerschaft, Alkoholismus und
bestimmte Medikamente können ebenfalls
zu einem schweren Mangel führen. Anderer-
seits sollte eine Überdosierung wegen der
Wechselwirkung mit Kalzium, Phosphat
und Vitamin D vermieden werden. Eine
gleichzeitige Einnahme von Magnesium und
Kalzium kann die Resorption von Kalzium
behindern. Empfohlen werden etwa 400 mg
Magnesium täglich (. Tab. 15.3).
Spurenelemente: Spurenelemente sind
lebensnotwendige Substanzen, die nur in
winzigen Mengen nötig sind. Sie beein-
flussen bestimmte biochemische Prozesse als
Katalysator. Für den Knochenstoffwechsel
sollten folgende Spurenelemente Beachtung
finden: Mangan, Bor, Zink, Silizium und
Kupfer. Die Dosierungen sind in der Tabelle
zusammengefasst.
15.5.2  unkt 2: Ausreichende
P
Vitaminzufuhr
sicherstellen!
55 Vitamin D. Zugabe von Vitamin D er-
höht den Aufbau stabilen Knochens
durch bessere Resorption von Kalzium
und Phosphat aus dem Darm und durch
bessere Reifung und Mineralisation der
Knochengrundsubstanz. 400 – 800 inter-
nationale Einheiten (IE) werden täglich
für einen gesunden Knochen gebraucht
(Bischoff-Ferrari et al. 2005). Ein täg-
liches Sonnenbad von 15 min wäre nötig,
um diese Vitaminmenge selbst zu produ-
zieren. Die heutigen Lebensverhältnisse,
die Verwendung von Sonnenschutz-
cremes sowie die Angst vor Hautkrebs
schließen die Eigenversorgung mit Vita-
min D aus. Hinzu kommt, dass im Alter
die Umsetzung des Sonnenlichts in Vita-
min D gegenüber der Situation in der Ju-
gend um mehr als die Hälfte nachlässt
(. Abb. 15.5). Eine tägliche Zufuhr von

..      Tab. 15.3 Dosisempfehlungen für Magnesium, bestimmte Vitamine und Spurenelemente für
Erwachsene ab 50 Jahre

Substanz Empfohlene Tagesdosis Therapeutische Tagesdosis

15 Mann Frau

Magnesium 420 mg 320 mg 300–600 mg

Vitamin K 80 μg 65 μg 150–500 μg
Vitamin B6 2,9 mg 1,6 mg 10–300 mg
Mangan 2–5 mg 2–5 mg 3–6 mg
Bor 1,5–3 mg 1,5–3 mg 3 mg
Zink 15 mg 12 mg 12–15 mg
Kupfer 1,5–3 mg 1,5–3 mg 1–3 mg
Silizium 20 mg 40 mg unklar
Osteoporoseprävention
Serumkonzentration Von Vitamin D (nmol/L)
100
..      Abb. 15.5 Altersabhängige Abnahme
Vitamin-­ D-­
Produktion in der Haut nach halb-
stündiger Sonnenexposition
>>Vitamin D stärkt nicht nur die Knochen,
sondern auch die Muskeln – und ver-
mindert das Sturzrisiko!
55 Vitamin C. Andere Vitamine sind
ebenso für einen gesunden Knochen
wichtig. Vitamin C wird für die Reifung
des Kollagens benötigt, stimuliert die
knochenaufbauenden Zellen und be-
günstigt die Kalziumresorption. 60 mg
Vitamin C sind die empfohlene tägliche
Mindestmenge, idealerweise sollten
250 – 1000 mg zugeführt werden.
55 Vitamin A. Dieses Vitamin ist fettlös-
lich und beeinflusst die Entwicklung
der Knochenzellen. 5000 IE Vitamin A
täglich werden empfohlen.
55 Vitamin K. Dieses Vitamin ist uns in
seiner Bedeutung bei der Blutgerinnung
bekannt, es spielt jedoch auch eine
wesentliche Rolle in der Synthese
des Osteocalcins, einem Baustein der
Knochengrundsubstanz. Vitamin K
vermittelt das Anheften des Kalziums
325 15
an die Knochenmatrix. Auch bei der
Frakturheilung ist dieses Vitamin nötig
und sollte in einer Menge von rund
60
80 – 200 μg täglich zugeführt werden.
50
Ein hoher Anteil dieses Vitamins findet
junge Personen sich in dunkelgrünen Gemüsesorten.
40 55 Vitamin B6, B12 und Folsäure. Diese
Vitamine sind nicht nur für die Blut-
20 bildung, sondern auch für gesunden
alte Personen
Knochen wichtig. Sie beeinflussen den
0
0 Homozystein-Wert, ein Risikofaktor
Tage für osteoporotische Frakturen. Homo-
zystein interferiert mit der Kollagen-­
der Crosslink-­Bildung und hat auch direkte
Effekte auf die Osteoklastentätigkeit.
Die Konzentration von Homozystein
ist durch Vitamin B12 und Folsäure
800 – 1000 IE Vitamin D als Tablette oder
über die Ernährung gut zu beeinflussen.
Dragee zum Essen ist daher sinnvoll und
auch preiswert. In der vorliegenden Lite-
ratur gibt es keinen Beleg, dass eine
Vitamin-D-­Gabe bei normaler Kalzium- 15.5.3  unkt 3: Auf das „Kreuz“
P
zufuhr das Risiko für Nierensteine er- achten!
höht.
55 Die Lenden- und Brustwirbel mit
dem hohen Spongiosaanteil und der
hohen Belastung sind bei einsetzendem
Knochenschwund besonders früh
frakturgefährdet. Die Osteoporose be-
ginnt in der Regel mit Grund- und Deck-
platteneinbrüchen der Wirbelkörper.
Bei Nachweis einer Osteoporose in der
Knochendichtemessung sollte daher be-
sonders auf ein „kreuzschonendes“ Ver-
halten im Alltag wertgelegt werden:
55 Stehende Tätigkeit. Bequem aufrecht
stehen mit angepasster hoher Arbeits-
fläche.
55 Sitzende Tätigkeit. Die Stuhllehne sollte
den Rücken 15 – 20 cm über der Sitzfläche
stützen. Kein Abkrümmen des Rückens
(Gefahr der Keilwirbelbildung). Nie in
der gleichen Sitzhaltung verweilen, son-
dern immer wieder aufstehen und Streck-
übungen durchführen.
55 Heben und Tragen von Lasten. Nie mit
gebogenem Rücken und gestreckten Bei-
nen nach unten beugen (Schädigung der
 326 R. Bartl
Bandscheiben der Lendenwirbelsäule
und Gefahr der Wirbelkörpereinbrüche).
Vielmehr wie ein Gewichtheber in die
Knie gehen, die Last anheben und mit
geradem Rücken wieder hochgehen.
Dies gilt v. a. für das Anheben von Ge-
tränkekästen.
55 Hausarbeit. Bei den täglichen Haus-
arbeiten sollte die gebückte Haltung ver-
mieden werden. Besser ist es, in die
Hocke zu gehen oder sich hinzuknien.
55 Liegen und Schlafen. Vermeiden Sie
weiche, durchgelegene Matratzen. Zu
empfehlen ist ein harter Brettrost mit
einer weichen Matratze, damit der Kör-
per überall gleichmäßig aufliegt.
Empfehlenswert ist ein kleines, flaches
Kissen zur Unterstützung von Kopf und
Nacken.
15.5.4  unkt 4: Auf regelmäßige
P konnte eine signifikante Verbesserung
Bewegung achten!
55 Bewegung stärkt nicht nur den Knochen,
sondern auch Gelenke und Muskeln.
Wer körperlich fit ist, behält die Sicher-
heit beim Gehen und die Koordination.
Körperliche Aktivität fördert die Durch-
blutung und damit einen stabilen Blut-
druck. Der Patient neigt weniger zu
Schwindelattacken, einer häufigen Ursa-
che von Stürzen. Alle Personen, die
15 regelmäßig körperlich trainieren, haben
auch kürzere Erholungs- und Schmerz-
zeiten im Falle eines Knochenbruchs.
Training muss nicht übertrieben sein,
aber es muss regelmäßig erfolgen. Stu-
dien haben gezeigt, dass Frauen, die täg-
lich 0,5 h gehen, einen deutlich festeren
Knochen haben als Frauen, die nur sit-
zen (vgl. . Abb. 15.4).
55 Für die Muskel- und Knochengesund-
heit sind die Bewegungskomponenten
Balance, Dehnung, Kraft und Leistung
(Kraft × Geschwindigkeit) die ent-
scheidenden Größen.
>>Die besten Übungen für den Knochen
sind solche, die gegen die Schwerkraft
gerichtet sind: Treppen steigen, Nordic
Walking, Tanzen, Laufen, Berg-
wanderungen, Skilanglauf, vorsichtiges
Gewichtheben und Sprungübungen.
55 Sportliche Aktivität verbessert auch
das Lebensgefühl. Eine sportliche Be-
tätigung, die keine Freude bereitet, wird
gar nicht oder nur kurz ausgeführt.
Man sollte Sportarten auswählen,
die möglichst viele Muskelgruppen
aktivieren und keine Beschwerden
oder Schmerzen bereiten. Sportver-
eine bieten heute viele Sportarten an,
die schweißtreibende Tätigkeit auch
mit Vergnügen und gesellschaftlichem
Engagement verbinden. Eine Alters-
grenze gibt es nicht. Es gibt zahlreiche
Studien, die den Einfluss verschiedener
Formen der Bewegungstherapie auf die
Knochendichte überprüft haben. Dabei
der Knochendichte an verschiedenen
Skelettarealen nachgewiesen haben.
Ein gezieltes Krafttraining mit 60–80 %
der Maximalkraft sowie eine Mindest-
intensität von 2 Übungseinheiten pro
Woche sind dazu erforderlich. Neben
dem Krafttraining sind gewichttra-
gende Belastungen mit leichten Stoß-
belastungen als knochenwirksam zu
empfehlen. Insgesamt scheinen Formen
des Trainings, die Zug und Druck auf
den Knochen ausüben, einen osteoana-
bolen Effekt zu haben und zu einem
Anstieg der Knochenmasse zu führen.
Ein ausgewogenes und effektives Trai-
ning besteht aus 4 verschiedenen Kom-
ponenten:
–– Aufwärmen: Das Aufwärmen ist not-
wendig, um den Kreislauf und die
Muskeln auf das Training vorzu-
bereiten.
–– Krafttraining: Durch einseitige Be-
lastungen und Bewegungsmangel im
Alltag kann es zu muskulären Dys-
balancen kommen. Daher braucht
Osteoporoseprävention
man eine Auswahl von Kraftübungen,
um dieses Defizit auszugleichen.
–– Dehnen: Nur wenn man die verkürzten
Muskelgruppen dehnt, kann in Ver-
bindung mit dem Krafttraining eine
Verbesserung von Haltung und Be-
wegung erreichen.
–– Gleichgewichtstraining: Ab dem
30. Lebensjahr baut sich der Gleich-
gewichtssinn langsam, aber stetig ab.
Der Körper kennt aber viele Aus-
gleichsmöglichkeiten, um dieses De-
fizit aufzufangen. Deshalb fällt der
Mangel erst im Alter auf, wenn auch
andere Sinne (Auge und Ohr) nach-
lassen. Stürze mit Knochenbrüchen
sind die Folge.
55 Je nach Schweregrad der Beweglichkeit
bieten sich Übungen im Stehen, im Sit-
zen, in Rückenlage und im Vierfüßler-
stand an. Sprungbelastungen und ext-
reme Beugungen der Wirbelsäule sind
dabei zu vermeiden.
55 Inzwischen werden auch Übungs-
geräte angeboten, die den Muskel-
und Knochenaufbau über Rüttel- bzw.
Vibrationsbewegungen stimulieren.
Ein bekanntes Gerät auf dem Markt
ist die „Juvent Therapie-Plattform“. In
20 min erhält der Körper rund 40 000
Impulse, um die Muskeln und Kno-
chen zu stärken. Es handelt sich um
senkrechte Schwingungen von etwa
50 μm (etwa die Dicke eines Haars)
etwa 34-mal/s.
15.5.5 Punkt 5: Stürze vermeiden!
55 Rund 30 % der älteren Menschen stürzen
mindestens einmal pro Jahr, die Hälfte
davon mehrmals. Bei Personen in Al-
ters- und Pflegeheimen liegt der Prozent-
satz noch höher. In 2–5 % führen solche
327 15
Stürze zum Knochenbruch. Das Fraktur-
risiko ist bei Osteoporose-Patienten auf-
grund der geringen Knochenfestigkeit
besonders hoch. Daher ist gerade bei
Osteoporose-Patienten die Sturzpro-
phylaxe besonders wichtig. Mit einer
gründlichen Anamnese lassen sich die
wesentlichen Risikofaktoren für einen
Sturz erheben:
–– Muskelschwäche und Mobilitäts-
beeinträchtigung,
–– Sturzanamnese,
–– Gang- und Balancedefizite,
–– Hilfsmittelgebrauch,
–– Arthrose,
–– Sehprobleme,
–– Depression,
–– kognitive Defizite,
–– Angst vor dem Fallen.
55 Wesentliche Maßnahmen zur Senkung
des Sturz- bzw. Frakturrisikos sind:
–– Medikamentenanpassung,
–– Verhaltenstraining,
–– Mobilitätsverbesserung,
–– Reaktionstraining,
–– Optimierung des häuslichen Um-
feldes,
–– Optimierung der Hilfsmittelver-
sorgung und
–– Hüftprotektoren.
55 Damit lassen sich proximale Femurfrak-
turen und behandlungspflichtige Folgen
senken. Zahlreiche Studien belegen, dass
Kraft- und Gleichgewichtstraining bei
älteren Menschen das Sturzrisiko um
15–50 % senken kann. Ab einem Lebens-
alter von 70 Jahren wird deshalb eine
jährliche Sturzanamnese empfohlen.
Medikamente, die Stürze begünstigen,
z. B. Sedativa, orthostatisch wirksame
Medikamente oder Antidepressiva, soll-
ten regelmäßig bezüglich Dosis und Not-
wendigkeit überprüft werden. Falls er-
forderlich, sollten Hilfsmittel und
 328 R. Bartl
..      Abb. 15.6 Kunststoffschalen zur Vermeidung
proximaler Femurfrakturen
Hüftprotektoren (. Abb. 15.6) ein-
gesetzt werden.
Guten Schutz bei einem seitlichen Sturz
bieten „Hüftprotektoren“ – hand-
flächengroße Kunststoffschalen, die seit-
lich in die Unterhose eingenäht sind. Sie
verteilen die Aufprallenergie flächig und
schützen so den Oberschenkelhals. Ohne
Sturz gibt es auch keine Oberschenkel-
halsfraktur!
15
15.5.6  unkt 6: Das Rauchen
P terrorist Nummer 1!“ Inzwischen stehen
einstellen!
55 Wir haben es im wahrsten Sinne des Wor-
tes selbst in der Hand, mit dem Rauchen
aufzuhören und damit das Osteoporose-
risiko um die Hälfte zu senken. Frauen,
die täglich eine Schachtel Zigaretten rau-
chen, haben in der Menopause 10‍ % we-
niger Knochenmasse als Nichtraucher.
Studien haben belegt, dass Raucher be-
sonders häufig und früh Wirbelkörper-
frakturen erleiden und eine verzögerte
Frakturheilung haben. Rauchen schä-
digt den Knochen auf vielfache Weise:
–– verminderte Produktion von Östro-
gen bei der Frau,
–– gesteigerter Abbau des Östrogens in
der Leber,
–– verminderte Produktion von Testoste-
ron beim Mann,
–– verminderte Umwandlung der adre-
nalen Androgene in Östrogen,
–– Schädigung des Knochens und der
Knochenzellen durch viele andere to-
xische Substanzen,
–– verminderte Durchblutung des Kno-
chens/Knochenmarksystems sowie
–– Beeinträchtigung der Lungenfunktion
mit verminderter Sauerstoffaufnahme.
55 Experten vermuten, dass der antiöstro-
gene Effekt des Rauchens die gesamte
Wirkung einer Östrogentherapie in der
Menopause aufhebt. So betrachtet ist
eine junge Raucherin aus dem Blick-
winkel des Knochens bereits im Stadium
der Menopause. Beim Mann senkt Rau-
chen den Testosteronspiegel erheblich
und führt wie bei der Frau ebenfalls zum
Knochenschwund. Der Knochenabbau
betrifft v. a. den spongiösen Knochen,
mit Betonung im Bereich der Wirbel-
säule. Bei Rauchern werden im Körper
zusätzlich Substanzen in höherer Kon-
zentration gefunden, die den Knochen
schädigen: Cadmium, Blei und Dutzende
anderer toxischer Substanzen. Kein
Zweifel: „Rauchen ist der „Knochen-
Erfolg versprechende Entwöhnungs-
programme zur Verfügung.
15.5.7  unkt 7: Knochenräuber
P
in der Nahrung eliminieren!
55 Es gibt noch andere Knochendiebe, die
nicht sofort als schädlich erkannt werden
und gerade deshalb in ihrer Gesamtheit
unseren Knochen schwinden lassen:
Osteoporoseprävention
55 Alkohol. Hoher Alkoholkonsum hemmt
die Resorption wichtiger Baustoffe und
schädigt die Leber, ein wichtiges Organ
für die Aktivierung von Vitamin D. Eine
manifeste Leberzirrhose verursacht zu-
sätzlich eine enterale Malabsorption
durch reduzierten Gallenfluss. Alkohol
schädigt auch direkt die Knochenzellen.
Alkoholiker haben ferner Testosteron-
mangel, der zur Osteoporose beiträgt.
Andererseits erhöht Alkohol in geringen
Mengen sogar die Knochendichte.
>>Wie bei vielen anderen Genussmitteln
(z. B. Kaffee, Tee, Coca-Cola) kommt es
bezüglich einer knochenschädigenden
Wirkung immer auf die Menge an!
55 Koffein. Koffein bewirkt eine gesteigerte
Ausscheidung von Kalzium über den
Urin. Vor allem Personen mit niedri-
ger Kalziumaufnahme werden daher
besonders getroffen. Wenn man den
Kaffeekonsum nicht einschränken will,
so empfiehlt sich zum Ausgleich der ne-
gativen Kalziumbilanz, auf jede Tasse
Kaffee eine Tasse Milch zusätzlich zu
trinken. Bei Cola-Getränken ist das
Phosphat das größere Übel (s. u.). Der
hohe Phosphatgehalt bewirkt eine en-
terale Kalziumbindung und damit eine
verminderte Kalziumresorption. Tee
als ebenfalls koffeinhaltiges Getränk
scheint sogar mit einem verminderten
Schenkelhalsfrakturrisiko verknüpft zu
sein – möglicherweise aufgrund seines
Gehalts an östrogenen Flavinoiden.
>>Vor allem die Kombination von Koffein
und Zucker, z. B. im stark gezuckerten
schwarzen Kaffee oder in Softdrinks wie
Coca-Cola, sind wahre „Knochen-
fresser“.
55 Zucker. In den letzten 100 Jahren hat
unser Zuckerkonsum um das 1000-Fache
zugenommen. Ungefähr die Hälfte der
Kohlenhydrataufnahme wird heute mit
Zucker abgedeckt. Zucker ist ein reiner
Kalorienlieferant, liefert also keine wert-
329 15
vollen Nährstoffe oder Vitamine. Im
Gegenteil, die Weiterverarbeitung des
Zuckers in unserem Körper verbraucht
viele wichtige Vitamine und erhöht die
Ausscheidung wertvoller Nährstoffe wie
Kalzium, Magnesium und anderer Mi-
neralien über die Niere. Ferner behindert
Zucker die Kalziumaufnahme im Darm
und stimuliert die Säureproduktion im
Magen, ein weiterer Knochenräuber.
Vor allem die Kombination von Koffein
und Zucker, z. B. im stark gezuckerten
schwarzen Kaffee oder in Softdrinks
wie Coca-­ Cola, sind wahre „Knochen-
fresser“. Es ist daher nicht verwunderlich,
dass gesunde Zähne und stabile Knochen
viel häufiger in Ländern mit niedrigem
Zuckerverbrauch gefunden werden.
55 Salz. Es ist bekannt, dass hoher Salzver-
brauch mit einem höheren Risiko für die
Hochdruckkrankheit verbunden ist. Pa-
tienten mit Hypertonie haben eine höhere
Ausscheidung von Kalzium über den Urin
und leiden daher häufiger auch an Osteo-
porose als Personen mit normalem Blut-
druck. Neue Studien belegen, dass die Ein-
schränkung des Salzkonsums mit einem
geringeren Osteoporoserisiko verknüpft ist.
55 Eiweiß. Beim Eiweißabbau im Stoff-
wechsel entstehen Säuren, die vor ihrer
Ausscheidung über die Nieren erst mit
Kalzium neutralisiert („gepuffert“)
werden müssen. Andernfalls würde
der Körper übersäuert werden. Ist
der Eiweißkonsum sehr hoch und die
Kalziumzufuhr sehr niedrig, so resultiert
eine negative Kalziumbilanz, und das
nötige Kalzium wird aus dem Knochen
mobilisiert. Insofern weisen Vegetarier
mit niedrigem Konsum an tierischem
Eiweiß immer eine positive Kalzium-
bilanz mit stabilerem Knochen auf.
Umgekehrt haben Eskimos mit hoher
Aufnahme an tierischem Eiweiß und
niedriger Kalziumzufuhr eine 20‍ % hö-
here Knochenverlustrate als Europäer.
55 Phosphat. Phosphat bildet zusammen
mit Kalzium eine feste kristalline Ver-
 330 R. Bartl
bindung, die den Zähnen und den Kno-
chen die Festigkeit gibt. Wie beim Eiweiß
kommt es aber auch hier auf das richtige
Gleichgewicht an. Idealerweise sollte ein
Teil Phosphat auf einen Teil Kalzium
kommen. In unserer Nahrung ist aber
weitaus mehr Phosphat enthalten als wir
benötigen. Es kommt zur Ausschüttung
des Parathormons, das zur Neutralisie-
rung des Phosphats Kalzium und Mag-
nesium aus dem Knochen löst. Ein hoher
Anteil von Phosphat findet sich in
Fleisch- und Wurstwaren, in Softdrinks
und als chemischer Zusatz in vielen auf-
bereiteten Nahrungsmitteln.
55 Fette. Bevor Kalzium resorbiert werden
kann, muss es in der Säure des Magens
aufgelöst werden. Danach bildet es mit
dem vorhandenen Fett eine Art Seife,
und erst in dieser aufbereiteten Form
wird Kalzium durch die Darmwand in
das Blut aufgenommen. Zu viel Fettauf-
nahme bewirkt allerdings das Gegenteil:
Kalzium und Magnesium gehen verloren
und bewirken Knochenschwund. Die
knochenschädigende Wirkung der zu
hohen Fettaufnahme sieht man in den
„Niedrig-Fett-Ländern“ des fernen Os-
tens, in denen das Osteoporoserisiko
deutlich niedriger als in den USA liegt.
55 Übersäuerung. Unser Körper wird über-
schwemmt von Säuren, die entweder im
Körper selbst gebildet (Milchsäure,
Kohlensäure) oder über die Nahrung (Ei-
15 weiß, Zucker, Fette) im Übermaß zu-
geführt werden. Unser Knochen be-
herbergt eine große Menge alkalischer
Salze wie Kalzium, Kalium, Natrium und
Magnesium, die sofort mobilisiert wer-
den, um anflutende Säuren im Blut zu
neutralisieren. Der Zusammenhang zwi-
schen einem sauren pH-Wert und Osteo-
porose ist bekannt und wird im Rahmen
einer effektiven Verhütung der Osteo-
porose immer bedeutender. Umso wichti-
ger wird der Konsum von basenreichem
Gemüse und Obst, um neben den Vitami-
nen auch neutralisierende Basen dem
Körper zuzuführen. Neben den kalzium-
reichen Milchprodukten ist daher auch
der Genuss von Gemüse und Obst zur
Neutralisierung der Säure wichtig.
15.5.8  unkt 8: Auf das Ideal-
P
Körpergewicht achten!
55 „Dünne Frauen – dünne Knochen!“ Alle
großen Osteoporosestudien zeigen den
Zusammenhang zwischen Osteoporose
und niedrigem Körpergewicht. Unter-
gewichtige Menschen konsumieren un-
genügend Kalorien, Mineralien und Ei-
weiß und damit ungenügend Baustoffe
für ihre Knochen. Das Risiko proxima-
ler Femurfrakturen und Armfrakturen
ist im Falle einer Gewichtsabnahme von
10 %, ob freiwillig oder nicht, um das
2-Fache erhöht. Eine Gewichtszunahme
erweist sich dagegen als protektiv gegen
Knochenbrüche, hat aber dafür schädi-
gende Wirkung auf Gelenke, vor allem
Hüft-, Knie- und Fußgelenke.
15.5.9 Punkt 9:
Knochenschädigende
Medikamente erkennen!
55 Einige Medikamente verursachen
schwere Osteoporose, wenn sie über län-
gere Zeit in Tablettenform oder als In-
fusion systemisch verabreicht werden:
55 Glukokortikoide. Dazu gehören alle vom
Kortison abgeleiteten Substanzen,
z. B. Prednison und Dexamethason.
Nicht gefährlich für den Knochen ist da-
gegen eine kurze lokale Anwendung der
Kortisonderivate in Form von Salben
oder Sprays. Aber nicht alle Patienten re-
agieren mit dem gleichen Knochenver-
lust. Für das Osteoporoserisiko sind die
Tagesdosis und die Einnahmedauer des
Medikaments entscheidend. Deshalb
sollte die Tagesdosis so niedrig wie mög-
lich gehalten werden.
Osteoporoseprävention
>>Wenn Kortikoidpräparate unentbehrlich
ist, sollte dem Patienten klargemacht
werden: „Stoppen Sie das Rauchen, neh-
men Sie Kalziumtabletten mit Vitamin
D und treiben Sie regelmäßig Sport“.
55 Schilddrüsenhormone. Diese wer-
den zur Verhütung einer Struma oder
zur Behandlung einer Hypothyreose
eingesetzt. Man sollte jedoch eine
Überdosierung vermeiden, die über
einen längeren Zeitraum ebenfalls
eine Osteoporose mit Frakturen ver-
ursachen kann.
55 Antikoagulanzien. Auch Antikoagulan-
zien wie Heparin oder Marcumar kön-
nen bei langjähriger Einnahme schwere
Osteoporosen verursachen. Eine jähr-
liche Kontrolle der Knochendichte ist
zu empfehlen.
55 Protonenpumpeninhibitoren (PPI).
Ein leicht saurer pH-Wert im Magen
und Dünndarm steigert die Resorp-
tion von Kalziumkarbonat und Vit-
amin D. Eine aktuelle Studie konnte
zeigen, dass auch die Protonen-
pumpenhemmer, die die Säurefrei-
setzung im Magen blockieren, den
Knochen bei langjähriger und hoch-
dosierter Einnahme schaden und zu
Knochenbrüchen führen können. Be-
sonders ältere Menschen, die wegen
peptischer Magenbeschwerden mit
Protonenpumpeninhibitoren (PPI)
behandelt werden, haben möglicher-
weise ein erhöhtes Frakturrisiko.
Darauf deuten die Ergebnisse einer
Fall-Kontrollstudie hin, die einen An-
stieg des Risikos mit der Dosis und der
Dauer der Einnahme der PPI zeigen.
Ältere Menschen, die diese Medika-
mente einnehmen, sollten daher auf
eine ausreichende Zufuhr von Kal-
zium, bevorzugt über Milchprodukte,
und Vitamin-D-Substitution achten.
55 Antiepileptika. Ebenso bewirken ver-
schiedene Antiepileptika, z. B. Car-
bamazepin, Knochenverlust und/oder
Mineralisationsstörungen.
331 15
55 Weitere knochenschädigende Medika-
mente. Viele Medikamente schwächen
bei längerer Einnahme den Knochen,
wie Antidepressiva, Lithium, Schleifen-
diuretika, Glitazone, Antibiotika, Iso-
niazid, aluminiumhaltige Antazida,
Protonenpumpenhemmer, Aromatase-
hemmer und Zytostatika.
>>Alle Medikamente eines Patienten müs-
sen daher auf ihre Knochenschädlich-
keit überprüft werden. Ist dies der Fall,
so kann man diagnostische und vorsorg-
liche Schritte einleiten, ohne auf eines
der notwendigen Medikamente ver-
zichten zu müssen.
15.5.10 Punkt 10:
Knochenschädigende
Krankheiten erkennen!
55 Chronische Polyarthritis. Diese Er-
krankung ist wohl der wichtigste Ver-
treter der chronischen Krankheiten, die
bisher über die Jahre immer eine Osteo-
porose mit Frakturen verursacht haben.
Betroffene Patienten müssen oft auch
Kortisonpräparate einnehmen, sind
häufig in der Bewegung eingeschränkt
und untergewichtig. Beim M. Bechte-
rew liegt die paradoxe Situation vor,
dass die Wirbelsäule trotz der typischen
ligamentären Verkalkungen („Bambus-
wirbelsäule“) eine Osteoporose der
Wirbelkörper mit erhöhtem Fraktur-
risiko aufweist. Als Ursache sind die
Immbolisation in diesem Skelettbereich
sowie die entzündlich bedingte Aus-
schüttung von Zytokinen anzunehmen.
55 Chronische Lungenerkrankungen. Unter
diesen Erkrankungen erhöhen ins-
besondere chronische Bronchitis und
Emphysem, verursacht durch Rauchen,
ebenso das Osteoporoserisiko. Hinzu
kommt, dass das Risiko noch durch ei-
nige Medikamente zur Behandlung die-
ser Krankheiten zusätzlich erhöht wird.
 332 R. Bartl
55 Chronische Herzinsuffizienz. Diese
Krankheit führt über Bewegungsein-
schränkung und sekundären Hyperpa-
rathyreoidismus zu erhöhtem Knochen-
abbau. Deshalb sollten bereits im Vorfeld
einer geplanten Herztransplantation mit
vorausgegangener monatelanger Im-
mobilisation und Medikation Bisphos-
phonate zur Stärkung des Knochens ein-
gesetzt werden. Die Gabe von
Betablockern führt erstaunlicherweise zu
einer Erhöhung der Knochendichte und
einer Reduktion des Frakturrisikos: ein
Hinweis für den Einfluss des sympathi-
schen Nervensystems auf den Knochen-
stoffwechsel!
55 Diabetes mellitus. Dieses Leiden stellt
ebenfalls ein erhebliches Osteoporose-
risiko dar. Der Insulinmangel führt zu
einem erhöhten Knochenabbau und
gleichzeitig zu einer verminderten Pro-
duktion von Kollagen. Betroffen werden
v. a. oral eingestellte Diabetes-Patienten.
Zusätzlich stehen bestimmte Antidia-
betika (Glitazone) unter Verdacht,
Osteoporose zu erzeugen.
55 Entzündliche Darmerkrankungen und
Magen-/Darmoperationen. Diese Er-
krankungen/Eingriffe führen zu einer
verminderten Aufnahme von Kalzium
und Vitamin D. Bei betroffenen Patien-
ten sollte besonders auf eine aus-
reichende Ernährung und Vitaminzufuhr
geachtet werden.
15 55 Nierenerkrankungen. Bei einer ein-
geschränkten Nierenfunktion, unter
Dialyse und nach Nierentransplantation
kommt es regelmäßig zu einer komple-
xen Stoffwechselstörung des Knochens,
unter dem Begriff der renalen Osteo-
pathie zusammengefasst. Es gibt davon
verschiedene Unterformen, die mit
unterschiedlichen Ansätzen therapiert
werden.
55 AIDS. Bei dieser weltweit verbreiteten
Infektionskrankheit kommt es einerseits
im Rahmen der Viruserkrankung,
andererseits medikamentös (HAART)
bedingt und als Folge von sekundären
Begleiterkrankungen zu einer viel-
schichtigen Osteopathie (AIDS-Osteo-
pathie) mit Knochenschwund.
>>Mit zunehmend besseren Behandlungs-
möglichkeiten und längeren Über-
lebenszeiten der AIDS-Patienten
wird die Bekämpfung chronischer Be-
gleiterkrankungen, z. B. der AIDS-­
Osteopathie, immer wichtiger!
15.5.11  unkt 11: Gegen die
P
Widrigkeiten des Alltags
ankämpfen und
Fröhlichkeit bewahren!
55 Eine wesentliche Ursache für den Zu-
sammenhang von Osteoporose und De-
pression ist meines Erachtens die be-
kannte Inaktivität und Antriebslosigkeit
depressiver Patienten, das „Sich-­hängen-­
Lassen“. Mit diesem Verhalten ver-
bunden sind eine schlaffe Muskulatur
und damit eine mangelhafte Belastung
des Knochens. Ein weiterer Grund für
Osteoporose bei depressiven Patienten
ist die Erkenntnis, dass viele anti-
depressive und antikonvulsive Medika-
mente den Vitamin-D-Metabolismus
stören, über diesen Weg Muskelkraft
und Koordination mindern und damit
die Knochenfestigkeit reduzieren und die
Sturzneigung steigern. Frohsinn lässt
nicht nur das Leben leichter ertragen,
sondern liefert auch einen wichtigen Bei-
trag zur Knochengesundheit.
>>Fröhlichkeit braucht keinen besonderen
Anlass, sie ist einfach eine Lebensein-
stellung.
55 Ein fröhlicher, aktiver Mensch hat –
statistisch gesehen – auch einen feste-
ren Knochen und eine stärkere Mus-
kulatur als ein depressiver, inaktiver
Mensch. Fröhlichkeit ist Balsam für
Osteoporoseprävention
den Knochen! Die Knochengesund-
heit ist also nicht nur eine Frage der
Bewegung, der Ernährung, des Lebens-
stils und effektiver Medikamente, sie
wird auch vom Gehirn und von unse-
rer Psyche gesteuert – ein neuer An-
satz zur Bekämpfung der Osteoporose.
Auch Psychologen und Psychiater kön-
nen einen wertvollen Beitrag zur Be-
kämpfung der Osteoporose liefern.
Literatur
Bartl R (2014) Klinische Osteologie. Thieme, Stutt-
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 335 16

Entstehung und Prävention

altersassoziierter
neurodegenerativer
Erkrankungen
Pasquale Calabrese

Inhaltsverzeichnis

16.1 Einleitung – 337

16.2 Biologisches Altern – 337

16.2.1  enomische Instabilität – 338
G
16.2.2 Telomerverkürzung – 338
16.2.3 Epigenetische Veränderungen – 339
16.2.4 Verlust der Proteostase – 339
16.2.5 Mitochondriale Dysfunktion – 339
16.2.6 Zelluläre Seneszenz – 340
16.2.7 Deregulierte Nährstoffverwertung – 341
16.2.8 Reduzierte Stammzellproliferation – 341
16.2.9 Veränderte interzelluläre Kommunikation
und Immunregulation – 341

16.3 Demenzsyndrome als Endstrecke verschiedener

neurodegenerativer Prozesse – 342
16.3.1  ie Proteinopathien – 342
D
16.3.2 Prionartiger Ausbreitungsmechanismus der pathologischen
Veränderungen – 344

16.4 Veränderungen der RNA-Homöostase – 345

16.5 Die Rolle nicht-neuronaler Zellen – 346

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_16
16.6 Die Rolle verschiedener Zellorganellen – 346
16.6.1 L ysosomen – 346
16.6.2 Mitochondrien – 347

16.7 Inflammation und Neurodegeneration – 347

16.8  herapie und Prävention altersassoziierter

T
Neurodegeneration – 348

16.9 Präventive Ansätze – 349

16.9.1 E rnährung – 349
16.9.2 Körperliche Aktivität – 352
16.9.3 Kognitive und soziale Stimulation – 352

16.10 Zusammenfassung – 353

Literatur – 354
Entstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer…
16.1 Einleitung
Mit der Veränderung der Altersstruktur der
Bevölkerung in den industrialisierten Län-
dern ist auch eine zunehmende Inzidenz
neurodegenerativer Erkrankungen zu ver-
zeichnen. Die häufigsten altersgebundenen
neurodegenerativen Erkrankungen sind die
Alzheimer-Krankheit (AD) und der Mor-
bus Parkinson (PD) (Bertram und Tanzi
2005). Diese Erkrankungen haben einen
chronischen Verlauf mit einer relativ langen
(teilweise Jahrzehnte dauernden), klinisch
asymptomatischen Vorlaufzeit und sind in
der Regel mit zunehmenden Hirnleistungs-
defiziten vergesellschaftet. Erreichen diese
Defizite ein Ausmaß, welches eine un-
abhängige Lebensführung der Betroffenen
verunmöglicht, spricht man von einer De-
menz. Altern ist der Hauptrisikofaktor für die
meisten neurodegenerativen Erkrankungen
(Wyss-Coray 2016). Jeder zehnte Mensch
im Alter von ≥ 65 Jahren leidet an AD, und
die Prävalenz nimmt mit zunehmendem
Alter weiter zu. Neurodegenerative Er-
krankungen schreiten irreversibel fort und
sind mit hohen sozioökonomischen Kos-
ten und persönlichen Opfern verbunden.
Trotz weitweiter Forschungsbemühungen
(derzeit werden 121 potenziell antidemen-
tive Substanzen in klinischen Studien ge-
prüft [Cummings et al. 2020]) gibt es aktuell
kaum wirksame Behandlungen für alters-
bedingte neurodegenerative Erkrankungen.
In der klinischen Praxis beschränkt sich
das pharmakotherapeutische Repertoire
im Wesentlichen auf die symptomatische
Behandlung mittels Azetylcholinesterase-
hemmern, NMDA-­Rezeptorantagonisten
oder eine Kombination aus beiden Wirk-
stoffen, sowie die Gabe von Gingko-Präpa-
raten (Jones 2013). Für Ginkgo-Präparate
wurde ebenfalls klinische Effekte nach-
gewiesen (Singh et al., 2019). In diesem Bei-
trag wird zunächst auf die Hauptmerkmale
des biologischen Alterns eingegangen, da-
nach die Pathogenese verschiedener neuro-
degenerativer Erkrankungen erörtert und
337 16
auf ihre gemeinsamen ätiopathogenetischen
Merkmale verwiesen. Hierbei werden neuro-
degenerative Erkrankungen als Protein-
entfaltungsstörungen verstanden, welche
infolge verschiedener altersassoziierter intra-
und extraneuronaler Prozesse entstehen und
einem prionartigen Ausbreitungsmechanis-
mus folgen. Schließlich werden vor dem
Hintergrund der zentralen biologischen
Mechanismen des Alterns verschiedene neu-
artige kausalorientierte Therapieverfahren
sowie Präventionsmaßnahmen diskutiert.
16.2 Biologisches Altern
Altern ist sowohl mit körperlichen als auch
mit kognitiven Veränderungen verbunden.
Dabei handelt es sich um einen dynami-
schen Prozess mit fortwährenden Wechsel-
wirkungen zwischen biogenetischen Fakto-
ren, Lebensstil und Umwelteinflüssen,
welche in ihrer Gesamtheit den Alterungs-
prozess individuell beeinflussen und auf
phänomenaler Ebene zu unterschiedlichen
Alternsverläufen führen. Während aus der
gerontologischen Perspektive Altern nicht
notwendigerweise ausschließlich mit Ver-
lusten (Reaktionszeit, Flexibilität), sondern
auch mit Gewinnen (Erfahrungswissen,
kontextuelles Handlungsgeschick) ver-
bunden sein kann (Baltes et al. 1994), wer-
den mit steigendem Alter körper-
lich-funktionale Einschränkungen und
hirnorganische Veränderungen häufiger und
führen zu einem erhöhten Risiko für Krank-
heit und Tod. Alternsprozesse weisen bei
verschiedenen Arten unterschiedliche Dy-
namiken auf, und auch innerhalb einer Art
kommt es in den verschiedenen Geweben zu
deutlichen Variationen. Auf der Grundlage
einer Vielzahl laborbasierter und klinischer
Studien wurden verschiedene Merkmale des
Alterungsprozesses identifiziert, welche
einen großen Einfluss auf die Neuro-
degeneration ausüben (López-Otín et al.
2013). Diese werden in 1. primäre, 2. anta-
gonistische und 3. integrative Merkmale
 338 P. Calabrese
unterteilt. Während die primären Merkmale
diejenigen sind, welche kausal für den
Alterungsprozess verantwortlich gemacht
werden und im Wesentlichen molekularge-
netischen Ursprungs sind, beziehen sich die
antagonistischen Merkmale auf diejenigen
Prozesse, welche als gegenregulatorische Re-
aktion auf diese Vorgänge in Gang gesetzt
werden und die jedoch bei Übersteuerung
selbst pathogen wirksam werden. Schließ-
lich bezeichnen die integrativen Merkmale
die Endstrecke bzw. das Resultat dieser Pro-
zesse, welche dann per se die finalen, klinisch
relevanten Pathomechanismen befördern,
an deren Ende die klinisch sichtbaren Er-
krankungen stehen.
Zu den primären Hauptmerkmalen des
Alterungsprozesses gehören die genomische
Instabilität, die Telomerverkürzung, epi-
genetische Veränderungen und der Verlust
der Proteostase. Die antagonistischen (oder
kompensatorischen) Merkmale sind die mi-
tochondriale Dysfunktion, die zelluläre Se-
neszenz und eine deregulierte Nährstoffver-
wertung. Als integrative Merkmale gelten
die reduzierte Stammzellproliferation und
die veränderte interzelluläre Kommunika-
tion und Immunregulation. Im Folgenden
sollen diese Alternsmerkmale kurz erläutert
werden.
16.2.1 Genomische Instabilität
Mit zunehmendem Alter kommt es durch
eine Zunahme von Kopierfehlern und einer
16 gleichzeitigen Abnahme der Effizienz von
Reparaturmechanismen zu einer genomi-
schen Instabilität. Als Folge treten gehäufte
DNA-Schäden auf (z. B. DNA-­Einzel- und
Doppelstrangbrüche, Insertionen, Deletio-
nen etc.). Zusammen mit durch endogene
reaktive Sauerstoffspezies (ROS) und re-
aktiven Stickstoffspezies (RNS) verursachte
oxidative DNA-Schäden werden neuro-
degenerative, entzündliche sowie kanzero-
gene Prozesse angestoßen und infolge dieser
genomischen Instabilität verschiedene
Signalkaskaden ausgelöst (Thanan et al.
2014). Wichtig erscheint in diesem Zu-
sammenhang die DNA-Schäden-­induzierte
Hochregulierung der Poly(ADP-­ Ribose)-
Polymerase 1 (PARP1), dessen Ribosylie-
rungsschritte wiederum zu einem erhöhten
Abbau von NAD+ führen. Da das NAD+
ein essentieller Cofaktor für Sirtuine,
DNA-Reparatur, Mitophagie und mito-
chondrialem Metabolismus ist, dürfte sich
dessen Mangel Zellseneszenz-fördernd aus-
wirken und die altersbedingte Neuro-
degeneration vorantreiben (Fang et al.
2017).
16.2.2 Telomerverkürzung
Die in Eukaryotenzellen an den Enden der
Chromosomen liegenden, aus einer kurzen
DNA-Sequenz bestehenden Telomere er-
füllen eine wichtige Funktion für die Stabili-
tät und Integrität der Erbinformation. Ihre
Proteinkomplexe bilden molekulare Kappen
an den Chromosomenenden und schützen
dadurch die codierenden Abschnitte vor De-
gradation, Rekombination und Fusion. Der
Mensch verfügt im Durchschnitt über einige
Tausend Repetitionen pro Chromosomen-
ende (Telomerlänge bei der Geburt: ca. 15
bis 20 Kilobasenpaare), wobei dies innerhalb
verschiedener Gewebe und sogar von
Chromosomenarm zu Chromosomenarm
stark variiert (Martens et al. 1998). Seit den
60er-Jahren (Hayflick 1965) ist bekannt, dass
sich diploide Fibroblasten in vitro nur für
eine begrenzte Zeit teilen (60 bis 80
Populationsverdopplungen), bevor sie in
einen irreversiblen Proliferationsarrest mit
Erhalt der metabolischen Funktionen über-
gehen („replikative Seneszenz“). Die Zeit bis
zur Aktivierung des Seneszenz-Programms
(auch als Hayflick-Limit bezeichnet) wird
nicht durch die chronologische Zeit in Zell-
kultur, sondern durch die Anzahl der durch-
laufenen Zellteilungen und der damit ver-
bundenen Erosion der Telomere kontrolliert.
Diese replikative Telomerverkürzung (beim
Entstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer…
339 16
Menschen 50 bis 200 Basenpaare je Zell- fizieren gemeinsam die Chromatin-­
teilung) ist eine Folge der inkompletten semi- Tertiärstruktur und beeinflussen damit die
konservativen Replikation der DNA sowie Chromatinaktivität und -funktion, ein-
enzymatischer Prozesse während der S-Phase schließlich Transkription und Replikation,
im Zellzyklus. Nach einer bestimmten An- und können hierdurch altersassoziierte Pro-
zahl an Zellteilungen wird eine kritische zesse beeinflussen (Bradley-Whitman und
Telomerlänge erreicht, die eine ausreichende Lovell 2013; Hwang et al. 2017). Zugleich
Protektion der Chromosomenenden nicht bietet dieser nicht-genomische Einfluss ein
mehr zulässt. Diese Begrenzung der Fenster für Interventionen bzw. gezielte
Proliferationskapazität durch die replikative Modifikationen, z. B. Nahrungsinhalts-
Telomerverkürzung wird auch als „mitoti- stoffe, welche per se über die genannten
sche Uhr“ bezeichnet (Harley et al. 1990). So Mechanismen epigenetisch wirksam sind
lassen sich aus der Telomerlänge peripherer (vgl. 7 Abschn. 16.9.1).
Blutzellen indirekt die „replikative Lebens-
spanne“ hämatopoetischer Stammzellen
sowie deren Umsatzkinetik und hieraus 16.2.4 Verlust der Proteostase
hämatoonkologisch prognostisch relevante
Informationen ableiten (Drummond et al. Das Gleichgewicht zwischen Protein-
2007). Trotz suffizienter Telomerlänge kann synthese und Abbau erzeugt einen stationä-
es z. B. durch Modifikation der Telomer- ren Zustand, der als Proteostase bekannt ist.
sequenz oder Suppression der stabilisieren- Die Aufrechterhaltung der Proteostase in
den Proteine zu einer Destabilisierung der eukaryotischen Zellen hängt von der richti-
Telomere mit einem konsekutiven Verlust gen Regulation des Proteasoms und des Pro-
der Schutzfunktion und Aktivierung des zesses der Autophagie sowie von der Ubi-
„Seneszenz-­ Programms“ kommen (vgl. quitinierungsmaschinerie und dem
7 Abschn. 16.2.6). lysosomalen System ab (López-Otín et al.
2013). Ubiquitinierte Proteine sind oft zum
Abbau bestimmt. Autophagie ist ein intra-
16.2.3 Epigenetische zelluläres Abbausystem, das den lysosoma-
Veränderungen len Abbau von fehlgefalteten oder un-
gefalteten Proteinen und beschädigten
Neben der klassischen Genetik gewinnen Organellen erleichtert und dadurch die Se-
epigenetische Erkenntnisse für das Ver- kretion entzündlicher Zytokine verringert.
ständnis der neurodegenerativen Er- Bei vielen neurodegenerativen Er-
krankungen eine zunehmende Bedeutung. krankungen besteht eine erhöhte Fehl-
Hierbei beschreibt die Epigenetik eine faltung, Aggregation und Ablagerung von
Weitergabe von Erbinformationen, die ohne Proteinen aufgrund eines dysregulierten
Veränderungen der Basensequenzen erfolgt Proteasoms (Keck et al. 2011).
und die letztlich durch die Aktivierung und
Deaktivierung von Transkriptionsfaktoren
und damit durch eine Erleichterung oder 16.2.5 Mitochondriale
Erschwerung von Gen-Ableseprozessen er- Dysfunktion
möglicht wird.
Epigenetische Modifikationen, ein- Neuronen gehören zu den metabolisch
schließlich Methylierung, Poly(ADP-­ hochaktiven Zellen mit einem hohen
Ribose)-Umsatz (sog. PARylierung) und Energiebedarf und sind dementsprechend
Acetylierung von DNA und Histonen modi- sensibel gegenüber Veränderungen inner-
 340 P. Calabrese
halb der mitochondrialen Atmungskette.
Tatsächlich findet in „gestressten“ Mito-
chondrien (z. B. durch Rauchen, über-
mäßigen Alkoholkonsum, Schlafentzug
etc.) eine erhöhte B ­ ildung reaktiver Sauer-
stoffspezies (ROS) statt, welche den norma-
len Alterungsprozess beschleunigt und an
vielen neurodegenerativen Erkrankungen
beteiligt ist (Johri und Beal 2012). Dement-
sprechend liegt die mitochondriale Dys-
funktion der „Theorie der freien Radikale“
zugrunde. Auch über den „crosstalk“ zwi-
schen DNA und Mitochondrium können
nukleäre DNA-Schäden zu mitochondria-
len Dysfunktionen führen (Haynes und Ron
2010). Dies zeigt sich an der sog. „un-
gefalteten Protein-Antwort“ (UPR, engl.:
Unfolded Protein Response), welche als
Signaltransduktionsweg von den Mito-
chondrien zum Zellkern bei mitochondria-
lem Stress (z. B. bei Ansammlung falsch ge-
falteter Proteine) aktiviert wird und bei
anhaltender Dysregulation zur Neuro-
degeneration führt (Haynes und Ron 2010).
Daneben spielen Mitochondrien auch in an-
deren intra- und interzellulären Stoff-
wechselpfaden eine wichtige Schlüsselrolle,
z. B. bei der Lipidbiosynthese, der Kalzium-
homöostase und der Zellapoptose (Keogh
und Chinnery 2015). Dementsprechend gibt
es verschiedene Qualitätskontrollmechanis-
men, welche die Funktionsfähigkeit der
Mitochondrien sicherstellen. Hierzu ge-
hören der Proteasomabbau, der vesikuläre
Export beschädigter Proteine, die Mito-
chondrienfusion und -spaltung sowie die
16 Entfernung beschädigter Proteine durch
Proteasen und die Mitophagie. Bei Letzte-
​​
ren handelt es sich um einen evolutiv hoch-
konservierten autophagen Prozess, der
durch die Aktivierung mitochondrialer Re-
zeptoren oder durch eine Ubiquitinierung
vermittelt wird und bei Infektionen, In-
flammation und anderen zellulären Stress-
ereignissen zu einer Eliminierung dys-
funktionaler Mitochondrien führt. Dieser
Abbauweg scheint bei neurodegenerativen
Erkrankungen eine besondere Rolle zu spie-
len. So ist beispielsweise bei der Parkinson-­
Erkrankung der PTEN-­induzierte Kinase-
Protein-1(PINK1)-Parkin-­ Weg aktiv, bei
dem sich PINK1 auf der Außenmembran
depolarisierter Mitochondrien ansammelt
und die E3-­Ubiquitin-­Ligase Parkin rekru-
tiert, die Mitochondrien-Proteine ubiquiti-
niert und angreift und den Abbau be-
schädigter Mitochondrien fördert. Diese
Mitochondrien weisen ein verändertes Ver-
hältnis zwischen oxidiertem (NAD+) und
reduziertem NAD (NAD+H+) (NAD = Ni-
cotinamidadenindinukleotid) auf, ein Co-
enzym, das an zahlreichen Redoxreaktionen
mitbeteiligt ist (vgl. 7 Abschn. 16.2.1).
16.2.6 Zelluläre Seneszenz
Als „zelluläre Seneszenz“ kann die Tatsache
verstanden werden, dass menschliche Zellen
nur begrenzt teilungsfähig sind und nach
einer bestimmten Anzahl von Mitosen ihr
Wachstum einstellen. Dieses Phänomen
wurde erstmals in den 60er-Jahren von
Hayflick (1965) in Fibroblastenkulturen be-
obachtet. Mit zunehmendem Alter über-
wiegt ein sog. seneszenzassoziierter sekreto-
rischer Phänotyp (SASP), der als Reaktion
angesehen werden kann, die darauf abzielt,
das Überleben gesunder Zellen unter Stress-
bedingungen aufrechtzuerhalten und be-
schädigte Zellen zu eliminieren (Kultz 2005).
Neben der oben beschriebenen mitochond-
rialen, dysfunktions-assoziierten Seneszenz
kann die onkogen-induzierte Seneszenz
ebenfalls als zellulärer Alarmmechanismus
zur Verhinderung unkontrollierten Wachs-
tums (Tumorsuppression) verstanden wer-
den (Kuliman et al. 2010). Allerdings kann
sich dieser auch zu einem Tumorinitiations-
mechanismus umkehren, wenn die apoptoti-
schen Zellen entzündungsfördernde Eigen-
schaften entwickeln, die beispielsweise das
Entstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer…
341 16
Fortschreiten des Tumors durch die Ex- tochondriale Dysfunktion sowie epi-
pression von Zytokinen (wie IL-6 und IL-1), genetische Einflüsse (vgl. 7 Abschn. 16.2.3).
Wachstumsfaktoren, Chemokinen und Pro-
teasen fördern (Kuliman et al. 2010).
16.2.9 Veränderte interzelluläre
Kommunikation und
16.2.7 Deregulierte Immunregulation
Nährstoffverwertung
Verschiedene Stoffwechselhormone wie
Sowohl in vitro als auch im Tiermodell Leptin, Ghrelin, Insulin, Adiponectin und
konnten die neuroprotektiven und lebens- IGF1 regulieren nicht nur Schlaf- und Ess-
verlängernden Eigenschaften der Reduktion verhalten, sondern sind auch an der neuro-
der nutritiven Energiezufuhr (kalorische nalen Ausdifferenzierung, an neuronalen
Restriktion) bei verschiedenen Arten Reparaturmechanismen und damit auch an
demonstriert werden (Fontana et al. 2010). neurodegenerativen Prozessen beteiligt. Da-
Dies geschieht einerseits durch die Herunter- rüber hinaus wirken sie an der Modulation
regulierung wichtiger „Nährstoffsensoren“ der Immunantwort mit. Diese wiederum er-
wie IGF-1 (Insulin-ähnlicher Wachstums- fährt im Alter eine Deregulation in Rich-
faktor 1) und bestimmter Proteinkinasen, tung einer erhöhten proinflammatorischen
wie beispielsweise das mTOR = mechanistic Aktivität, welche ihrerseits als Promotor für
Target of Rapamycin, die AMP-aktivierte neurodegenerative Prozesse angesehen wird
Proteinkinase (AMPK), andererseits durch (vgl. hierzu Wolf und Calabrese 2020).
die Hochregulierung bestimmter, an Grundsätzlich stellt eine Entzündungs-
Wachstumsprozessen beteiligter Enzyme reaktion einen gesunden Abwehrmechanis-
(z. B. Sirtuine) (López-­Otín et al. 2013). Tat-
mus gegenüber potenzielle Schädigungs-
sächlich werden durch die kalorische Rest- faktoren dar und kann immunaktivierende,
riktion autophage Prozesse über die Akti- positive Auswirkungen haben. Demgegen-
vierung von Sirtuinen angeregt und das über führen chronisch anhaltende, nieder-
Enzym mTOR gehemmt. schwellige Entzündungen zu zytotoxischen
bzw. zytoziden Effekten, wie sie bei alters-
bedingten chronischen neurodegenerativen
16.2.8 Reduzierte Erkrankungen zu beobachten sind (sog.
Stammzellproliferation „Inflammaging“; Franceschi et al. 2000).
Diese zytotoxisch bis zytoziden Effekte ent-
Adulte Stammzellen werden zwar über den stehen durch eine anhaltende Aktivierung
gesamten Lebenszyklus gebildet, sie haben von Mikroglia und konsekutiver Erhöhung
jedoch im Vergleich zu embryonalen Stamm- entzündungsfördernder Mediatoren mit er-
zellen ein geringeres Differenzierungs- höhtem oxidativen und nitrosativen Stress.
potenzial, und deren Proliferationskapazität Aktivierte Mikroglia befördert ROS, Stick-
nimmt über die Lebensdauer eines Organis- oxid sowie entzündungsfördernde Zytokine
mus ab (Oh et al. 2014). Verantwortlich hier- wie IL-1β, IL-6 und Tumornekrosefaktor
für sind eine mit zunehmendem Alter höhere, (TNF) und bewirkt auf diese Art eine all-
altersassoziierte DNA-­Schädigungsfrequenz gemeine Neuroinflammation. Hinzu kom-
mit einer konsekutiven geringeren DNA-­ men ein alterungsbedingt erhöhtes Auf-
Reparaturkapazität und Inaktivierung der kommen von ROS aus dysfunktionellen
Telomerase, Defekte in der Proteostase, mi- Mitochondrien und eine erhöhte NF-κB-
 342 P. Calabrese

Signalübertragung mit erhöhter Freisetzung deutung und der medizinökonomischen Be-

von IL-1β im Gehirn, was die chronische lastung gab es bislang noch keinen spekta-
Entzündungsreaktion aufrechterhält. Auch kulären Durchbruch hinsichtlich der
hier zeigt sich ein bei verschiedenen alters- Etablierung einer wirksamen Therapie für
assoziierten neurodegenerativen Er- neurodegenerative Erkrankungen. Dennoch
krankungen geltendes Prinzip: Sowohl ag- weisen aktuelle Forschungsergebnisse auf
gregierte Aβ-Fibrillen bei der einen ätiopathogenetischen Zusammenhang
Alzheimer-Krankheit (AD) als auch mutier- zwischen verschiedenen neurodegenerativen
tes α-Synuclein beim Morbus Parkinson Erkrankungen hin. Dementsprechend kann
(PD), aber auch mutiertes Huntingtin bei das Verständnis dieser gemeinsamen ätiopa-
der Huntington’schen Erkrankung (HD) thogenetischen Merkmale den Weg für zu-
und das mutierte Superoxiddismutase künftige, krankheitsübergreifende therapeu-
1-­Protein SOD1 bei der familiären Amyo- tische Ansätze ebnen.
trophen Lateralskerose (ALS) führen über
die Aktivierung intrazytoplasmatischer
Proteinkomplexe (das sog. NLRP3-­16.3.1 Die Proteinopathien
Inflammasom) zu einer erhöhten Sezernie-
rung von IL-1β und erhalten damit eine Bei verschiedenen neurodegenerativen Er-
chronische Inflammation aufrecht. Diese krankungen (Morbus Alzheimer [AD], Mor-
wiederum bewirkt i.S. einer positiven Rück- bus Parkinson [PD], Morbus Huntington
koppelungsschleife („autokannibalistischer [HD], Frontotemporale Demenz [FTD], Le-
Prozess“) die erhöhte Aβ-Ablagerung bei wy-Körperchen-Demenz [LBD], Multi-­
AD sowie die α-Synuclein-Aggregation bei System-­Atrophie [MSA] u. a.) handelt es sich
PD und induziert möglicherweise auch die letztlich um sogenannte Proteinopathien.
Proteinaggregation bei HD und ALS. Diese entstehen durch eine Fehlfaltung und
eine sukzessive Akkumulation und Aggrega-
tion bestimmter intra- und/oder extraneuro-
naler Proteine. Hierbei korreliert das Ausmaß
16.3 Demenzsyndrome als
dieser Proteinaggregate in einem unterschied-
Endstrecke verschiedener lichen Maße mit der Schwere der Krankheit,
neurodegenerativer d. h., Lokalisation und Ausprägung der reifen
Prozesse Amyloidaggregate entsprechen nicht not-
wendigerweise der klinischen Beein-
Allgemein sind Demenzsyndrome durch trächtigung. Ausgangspunkt dieser Proteino-
einen wesentlichen Verlust der geistigen pathien sind die im Rahmen der
Leistungsfähigkeit charakterisiert. Die so- Proteinbiosynthese hergestellten und vom
16 ziale Urteilsbildung ist ebenfalls deutlich be- Organismus für funktionelle und strukturelle
einträchtigt. Im Zusammenwirken führen Aufgaben benötigten Eiweiße. Deren für die
diese Leistungseinbußen zu einer erheb- Funktionsintegrität wichtige Primär- und
lichen Einschränkung der Aktivitäten des Tertiärstruktur wird durch Proteinfaltung er-
täglichen Lebens (Bassetti et al. 2011). Die reicht. Dieser Vorgang wiederum wird durch
weitaus häufigste Demenzform ist die Alz- die im endoplasmatischen Retikulum statt-
heimer-Demenz (AD). Sie betrifft ca. 60– findende Proteinqualitätskontrolle über-
80 % der Demenzfälle, kommt bei ungefähr wacht. Hier werden fehlgefaltete Proteine
1–2 % der 65- bis 69-Jährigen vor und er- über das zytosolische Ubiquitin-Protea-
reicht bei den 90-Jährigen eine Prävalenz som-System abgebaut und die intakten Pro-
von über 30 % (Hoffman et al. 1991). Trotz teine ihrem (extra- oder intrazellulären) Be-
der hohen gesundheitspolitischen Be- stimmungsort zugeführt. In diesem Rahmen
Entstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer…
werden ca. ein Drittel aller produzierten
­Polypeptide ausgesondert und aufgrund ihrer
Fehlfaltung durch Proteasomen degradiert.
Hierbei variiert der Anteil an Fehlfaltungen
in Abhängigkeit von der Komplexität der her-
gestellten Proteine erheblich. Neben Gen-
mutationen in Exons können ionisierende
Strahlung sowie Oxidationsprozesse und an-
dere toxische Einflüsse zu Proteinfaltungs-
fehlern führen. Während nur die korrekt ge-
falteten Proteine biologisch aktiv werden,
führen die fehlgefalteten Proteine zu bio-
logischen Alternativstrukturen, die aggregie-
ren können, dabei toxische Effekte entfalten
und letztlich als sog. „Proteinopathien“ in Er-
scheinung treten. Auf zellulärer Ebene be-
wirkt die Aggregation von fehlgefalteten Pro-
teinen im endoplasmatischen Retikulum eine
sog. „unfolded protein response“ (UPR), wel-
che als zellulärer Stress interpretiert werden
kann (vgl. 7 Abschn. 16.2.5). Zu den wich-
tigsten krankheitsassoziierten Proteinen wer-
den das α-Synuclein, das β-Amyloid, das Tau-­
Protein, die mutierte Superoxid Dismutase
(SOD-1) und das Transactivation Response
DNA-binding Protein (TDP-43) gezählt
(Becktepe et al. 2017). Bislang sind die Ent-
stehung und der Ausbreitungsweg dieser
Fehlfaltungen noch nicht vollständig geklärt.
So wird angenommen, dass Proteine wie ​​
a-Synuclein-, Tau- und beta-­Amyloid-­Peptide
eine abnorme Konformation annehmen und
aggregieren können. Werden sie einmal er-
zeugt, können diese abnormen Protein-
konformationen im weiteren Verlauf als Aus-
gangspunkt für deren weitere Ausbreitung
(sog. „Seeding“) wirken. Komplizierend
kommt hinzu, dass ein Protein verschiedene
pathologische Konformationen annehmen
kann, die in unterschiedliche Aggregations-
muster enden, welche mit unterschiedlichen
Pathologien assoziiert sein könnten. Dement-
sprechend kann angenommen werden, dass
hieraus auch unterschiedliche Vermehrungs-
muster mit möglicherweise verschiedenen
Toxizitätspotenzialen resultieren. Das
α-Synuclein ist ein Protein, das durch das
SNCA-Gen codiert wird und unter physio-
343 16
logischen Bedingungen in den prä-
synaptischen Nervenendigungen zu finden
ist, wo es an der Neurotransmission beteiligt
ist. Eine verstärkte Genexpression durch Tri-
plikation oder Duplikation des gesamten
α-Synuclein-­ Gens kann zu einer autoso-
mal-dominant erblichen Form des Morbus
Parkinson (PD) führen (Singleton et al. 2003).
Punktmutationen im SNCA-Gen bewirken
eine verstärkte, gegenüber proteasomaler De-
gradierung und Autophagie resistente
Aggregationsneigung dieses Proteins, sodass
α-Synuclein auch der Hauptbestandteil der
intraneuronalen Lewy-Körperchen und Le-
wy-Neuriten, die sich beim Morbus Parkin-
son und der Lewy-­Körperchen-­Variante der
Alzheimer-Demenz finden, ist. Bei der Multi-
systematrophie ist es in den oligodendroglia-
len Einschlüssen (sog. Papp-Lantos-­
Körperchen) enthalten. Es wird angenommen,
dass sich das α-Synuclein im Gehirn von Zelle
zu Zelle ausbreitet und als Schablone („per-
missive templating“) die Fehlfaltung weite-
rer Moleküle induziert (Hardy 2005). Sowohl
bei der Alzheimer-Erkrankung (AD) als auch
bei der zerebralen Amyloid-Angiopathie
(CAA) kommt es zur Ablagerung von Amy-
loid. Das Amyloid-β (Aβ) entsteht als physio-
logisches Spaltprodukt aus dem trans-
membranösen Amyloid-Precursor-Protein
(APP), wobei die Spaltung durch die α-, ­β-
und γ-Sekretasen erfolgt. Bei den autoso-
mal-dominant vererbten Formen der
Alzheimer-Erkrankung liegen Mutationen im
APP-Gen selbst oder in den Präsenilin-­Genen
1 und 2 vor. Hierdurch enstehen Fehl-
codierungen bei den γ-Sekretasen, und der
APP-Abbau wird infolge in Richtung einer
vermehrten Bildung aggregierender Aβ-
Formen verändert, die letztlich zur Aus-
bildung von Amyloid-Plaques führen. Wie
Prion-Protein kann auch das Amyloid-β in
unterschiedlichen Konformationen vorliegen,
aus welchen unterschiedliche Plaque-­
Morphologien entstehen, welche wiederum
verschiedene klinische M­ anifestationsformen
ausbilden. Das Tau-Protein, welches das am
häufigsten fehlgefaltete Eiweiß bei neuro-
 344 P. Calabrese

degenerativen Erkrankungen ist, liegt weiterer Fehlfaltungen geschieht und mit

normalerweise im Zytoplasma vor und übt der Ausbreitung des Prion-Proteins bei den
eine für das Zytoskelett (Mikrofilamente) sta- Prionerkrankungen vergleichbar ist (Goe-
bilisierende Funktion aus. Im Rahmen von dert 2015; Becktepe et al. 2017). Bei den
neurodegenerativen Erkrankungen wird die- Prionen handelt es sich um infektiöse
ses Protein hyperphosphoryliert und lagert Proteinpartikel, die sich durch induzierte
sich daraufhin intrazellulär in Form von Veränderung benachbarter Moleküle ver-
neurofibrillären Bündeln (engl.: neurofibril- mehren und sich von Zelle zu Zelle oder zwi-
lary tangles, NFTs) ab (Lee et al. 2001). Ge- schen Organismen ausbreiten und dabei
meinsam mit den extrazellulären Amyloid-­ weitere Proteinfehlfaltungen anregen. Prio-
Ablagerungen bilden die NFTs das nerkrankungen können sowohl hereditärer
neuropathologishe Signet der Alzheimer-­ als auch sporadischer oder infektiöser Natur
Erkrankung. Bei anderen sog. „Tauopathien“ sein (als „klassische“ Prionerkrankung beim
(z. B. die kortikobasale Degeneration [CBD] Menschen sei die Creutzfeldt-­ Jakob-­
sowie verschiedene Varianten der frontotem- Erkrankung [CJD] genannt). Das Prion-­
poralen Demenz [FTD]) kommt es im Gegen- Protein (PrPC) ist ein natürliches, in tieri-
satz zur Alzheimer-Erkrankung nicht schen Organismen vorkommendes
regelhaft zu pathologischen Amyloid-β- membranständiges Eiweiß, welches sich ins-
­
Ablagerungen. besondere im Gehirn findet und dort im
physiologischen Zustand eine Schutz-
funktion (zelluläre Abwehr freier Radikale)
übernimmt. Kommt es zu einer
16.3.2 Prionartiger
Konformationsänderung des Prion-Proteins
Ausbreitungsmechanismus (vom PrPC zum PrPSC), wird ein Teil seiner
der pathologischen α-Helix-Struktur in eine pathologische,
Veränderungen β-Faltblatt-reiche Struktur überführt, womit
biophysikalische und biochemische Ver-
Die durch diese Fehlfaltungen bewirkten änderungen seiner Eigenschaften einher-
charakteristischen neurodegenerativen Ver- gehen. Diese pathologische Faltblattstruktur
änderungen treten zunächst in spezifischen induziert dann im Sinne einer als „Seeding“
Hirnregionen auf und breiten sich im weite- bezeichnete Kettenreaktion bei weiteren,
ren Verlauf entlang anatomischer Ver- vormals physiologisch gefalteten Prion-­
bindungen auf weitere subkortikale und Proteinen eine pathologische Fehlfaltung
kortikale Hirnregionen aus (Braak et al. mit nachfolgender Aggregation zu Oligo-
2003). So ist bekannt, dass sich die für die meren und schließlich zu unlöslichen
sporadische Parkinson-Erkrankung (PD) Amyloidfibrillen. Die transzelluläre Aus-
16 spezifischen Veränderungen im Zentral- breitung erfolgt über Exosomen oder über
nervensystem entlang axonaler Projektio- Membrankanäle (sog. „tunnelling nanotu-
nen ausbreiten und das krankheitsaus- bes“) (Aguzzi und Lakkaraju 2016). Es ist
lösende Agens nach Inhalation oder bekannt, dass verschiedene Mutationen im
Aufnahme mit der Nahrung über das olfak- Prion-Protein-Gen (PRNP) die Um-
torische oder enterische Nervensystem in wandlung des physiologischen Proteins in
den Hirnstamm gelangt und dort die kau- seine pathologische Form begünstigen und
do-rostrale Achse entlangwandert. Aktuell verschiedenen autosomal-dominant ver-
wird angenommen, dass die Bildung der erbten Prionerkrankungen zugrundeliegen.
pathologischen Eiweißablagerungen und Daneben kann das fehlgefaltete Prion-­
deren Ausbreitung im Sinne einer Trans- Protein auch sporadisch auftreten und sich
mission von Zelle zu Zelle mit Induktion anschließend durch endogenes „Seeding“
Entstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer…
ausbreiten (Becktepe et al. 2017). Schließ-
lich muss betont werden, dass eine Über-
tragung der hier besprochenen neuro-
degenerativen Erkrankungen über die
herkömmlichen Infektionswege trotz der
ähnlichen, dem Prion-Protein vergleich-
baren Ausbreitungsmechanismen dieser
krankheitsassoziierten Proteine bislang
nicht nachweisbar war.
16.4 Veränderungen
der RNA-Homöostase
Im Rahmen genetischer Studien zur Auf-
klärung neurodegenerativer Erkrankungen
wurde bislang der Schwerpunkt zumeist auf
die Identifizierung von Protein-­kodierenden
Varianten, die zu Veränderungen der
Proteinfunktion führen, gelegt. Mit zu-
nehmender Erkenntnis, dass posttranskrip-
tionale Prozesse wie alternatives Spleißen,
mRNA-Lokalisierung und translationale
Regulation in verschiedenen Zellkomparti-
menten als Schlüsselregulatoren der Gehirn-
funktion fungieren, wird verstärkt auch
nach Variationen jenseits der codierenden
Sequenz, welche beispielsweise die Genex-
pression auf der Ebene der RNA-­Regulation
verändern, gesucht. Hierbei wurde eine ge-
störte RNA-Homöostase mit einer Reihe
von neurodegenerativen Prozessen in Ver-
bindung gebracht. Im Säugerhirn gibt es
einzigartige Systeme zur Regulierung des
RNA-Metabolismus, die durch mehrere
RNA-bindende Proteine (RBPs) vermittelt
werden, die ansonsten in keinem anderen
Zelltyp exprimiert werden (Darnell 2013).
Durch diese Proteine wird die RNA auf
mehreren Ebenen reguliert und codiert für
viele funktionelle Eigenschaften von Neuro-
nen. So hält das differenzielle Spleißen
durch eine Gruppe von neuronenspezi-
fischen RBPs (neuronales Elav-like Protein
[nELAVL]) die Glutamatproduktion auf-
recht und trägt damit zur Kontrolle der Er-
regung und Hemmung im Gehirn bei (In-
ce-Dunn et al. 2012). Durch die Kartierung
345 16
spezifischer Loci der nELAVL-Regulation
konnte gezeigt werden, dass nELAVL an
Transkripte mehrerer Gene gebunden ist,
die an neurodegenerativen Erkrankungen
beteiligt sind. So zeigte nELAVL in post-
mortalem Hirngewebe von Alzheimer-­
Patienten eine erhöhte Bindung an eine
Untergruppe nichtcodierender RNAs, die
als Y-RNAs (hY3-RNAs) bezeichnet und
mit der Stressreaktion in Verbindung ge-
bracht werden (Scheckel et al. 2016). Hin-
sichtlich der Ubiquitin-­ abhängigen Auto-
phagie und des RNA-­Metabolismus weisen
verschiedene neurodegenerative Er-
krankungen, wie die Amyotrophe Lateral-
sklerose (ALS) oder verschiedene Varianten
der fronto-­temporalen Demenz (FTD), kli-
nische, pathologische und genetische Über-
lappungen auf. Zu einem solchen ge-
meinsamen Pathomechanismus gehört die
funktionelle Beeinträchtigung membran-
loser Organellen, einschließlich Nukleolen,
sog. „Stressgranula“ und RNA-­
Transportgranula. Stressgranula sind intra-
zelluläre körnchenartige Strukturen, die aus
Proteinen und Boten-RNAs bestehen und
sich im Zellinnern bilden, wenn die Protein-
produktion gestoppt wird. Wenn der zellu-
läre Stress abnimmt und die Zelle ihre regu-
läre Tätigkeit wieder aufnimmt, werden
diese Stressgranula von der Zelle wieder ab-
gebaut. In einer aktuellen Arbeit konnten
Turakhiya und Mitarbeiter (2018) zeigen,
dass das ZFAND1Protein für die normale
Auflösung der Stressgranula notwendig ist.
Fehlt ZFAND1, können einige Granula
nicht mehr aufgelöst werden. Sie verändern
dann ihre Struktur und werden auf einem
energetisch aufwändigeren Weg durch die
Autophagie entsorgt. In neueren Studien
konnte gezeigt werden, dass membranlose
Organellen durch Phasenübergänge von
RBPs geringer Komplexität zusammen-
gesetzt werden und die Anordnung von Do-
mänen mit geringer Komplexität in einem
hochkonzentrierten flüssigen Zustand einen
weiteren Phasenübergang zu pathologischen
Fibrillen begünstigen (Molliex et al. 2015).
 346 P. Calabrese

Zugleich bietet die Tatsache, dass Phasen- 2016). Somit könnte ein Zusammenhang
übergänge reversibel sind, eine therapeuti- zwischen APOE und TREM2 einerseits und
sche Strategie nahe, die darauf basieren der β-Amyloid-­ Aggregation sowie der
könnte, das Gleichgewicht zugunsten der Neurotoxizität und der damit verbundenen
Dekomposition dieser RPBs zu verschieben. klinischen Alzheimer-Symptomatik
andererseits bestehen. Eine weitere, mög-
liche Rolle nicht-­neuronaler Zellen bei der
16.5  ie Rolle nicht-neuronaler
D Neurodegeneration zeigt sich auch am Bei-
spiel der Amyotrophen Lateralsklerose
Zellen
(ALS), wo Astrozyten von SOD1-­
Zwar werden sowohl das α-Synuclein als Mutationsträgern vermutlich durch die Ak-
auch das β-Amyloid sowie das Tau-Protein tivierung einer Untereinheit des nuclear fac-
in Neuronen exprimiert, jedoch zeigt sich, tor kappa B (NF kB) complex zur
dass auch nicht-neuronale Zellen wie Glia Freisetzung eines toxischen Faktors, der zur
ebenfalls an neurotoxisch-neuroziden Pro- Nekroptosis von Motoneuronen führt, bei-
zessen beteiligt sind. Tatsächlich werden tragen (Re et al. 2014).
neurodegenerative Erkrankungen als das
Produkt multizellulärer Interaktionen so-
wohl neuronaler als auch nicht-­neuronaler 16.6 Die Rolle verschiedener
Zelltypen aufgefasst. Während bislang nur Zellorganellen
das APOE-Gen als wichtiger genetischer
Risikofaktor für die sporadische Form der 16.6.1 Lysosomen
Alzheimer-Krankheit (AD) angesehen
wurde (wobei das e4-Allel das Risiko für die Lysosomen sind Zellorganellen, welche hy-
Alzheimer-Krankheit erhöht und das e2-­ drolisierende Enzyme zum Abbau zell-
Allel das Risiko verringert), wird aktuell an- fremden und zelleigenen Gewebes enthalten.
genommen, dass die Wirkung von APOE In der aktuellen Forschung mehren sich die
auf die Alzheimer-Krankheit auch durch Hinweise, dass sowohl lysosomale Dys-
Modulation der Aggregation und Clearance funktionen als auch Störungen der Auto-
von β-Amyloid mitbestimmt wird. APOE phagie zu einer insuffizienten zellulären
wird hauptsächlich in Gliazellen im Gehirn Clearance und damit zu einer Akkumula-
exprimiert, was auf die Beteiligung nicht-­ tion von neurotoxischen Proteinen führen
neuronaler Zellen an der Alzheimer-­ und dadurch letztlich neurodegenerative
Krankheit deutet. So konnte gezeigt wer- Prozesse befördern. Auch ist bekannt, dass
den, dass seltene Mutationen im genetisch bedingte Störungen der
hauptsächlich von Mikrogliazellen des Ge- Lysosomenfunktion verschiedene seltene
16 hirns exprimierten TREM2-Gen mit einem Multisystemerkrankungen (sog. lysosomale
zwei- bis vierfachen Anstieg des Alzhei- Speicherkrankheiten) verursachen, welche,
mer-Risikos verbunden waren (Guerreiro je nach akkumulierten Metaboliten, auch
et al. 2013; Jonsson et al. 2013). Demnach eine neurologische Komponente aufweisen
weisen Untersuchungen zum TREM2-Gen können bzw. das Risiko für eine neuro-
auf eine mögliche Rolle dieses Rezeptors degenerative Erkrankung erhöhen. Auch
hin, der es Mikrogliazellen ermöglicht, wurde ein lysosomales Gennetzwerk identi-
aggregationsanfällige Proteine ​​wie fiziert, dessen Hauptregulatorgen TFEB die
β-Amyloid zu modulieren, um gesunde Neu- lysosomale Biogenese und Funktion steuert
riten zu erhalten (Ulrich und Holtzman (Sardiello et al. 2012).
Entstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer…
16.6.2 Mitochondrien
Funktionsstörungen in den Mitochondrien
werden ebenfalls mit neurodegenerativen
Erkrankungen in Verbindung gebracht. So
ist seit langem bekannt, dass dopaminerge
Neuronen, die bei der Parkinson-Krankheit
(PD) degenerieren, besonders empfindlich
gegenüber mitochondrialen Dysfunktionen
sind. Die Parkinson-Krankheit (PD, engl.:
Parkinson’s Disease) ist eine altersassoziierte
neurodegenerative Erkrankung, die klinisch
durch Rigor, Tremor Akinese und posturale
Instabilität gekennzeichnet ist. Auch nicht-
motorische Merkmale wie kognitive Störun-
gen, Depression, Schmerzen, Schlaf-
störungen, Verlust der Geruchsfähigkeit
und gastrointestinale Probleme treten ge-
häuft auf. Die motorischen Symptome wer-
den primär durch den fortschreitenden Ver-
lust dopaminerger Neuronen in der
Substantia nigra pars compacta verursacht.
Während ungefähr 10 % der PD-Fälle here-
ditär durch genetische Mutationen in
α-Synuclein, LRRK2, DJ-1, PINK1, Parkin
und mehreren anderen Proteinen bedingt
sind, ist die Mehrzahl der PD-­Erkrankungen
jedoch idiopathisch. Es zeigt sich eine fort-
schreitende Akkumulation unlöslicher Ein-
schlüsse, die als „Lewy-Körperchen“ be-
kannt sind und hauptsächlich aus
α-Synuclein und Membrankomponenten
bestehen. Ätiopathogenetisch scheinen ins-
besondere die Deregulierung der zellulären
Proteostase und die mitochondriale Dys-
funktion relevant. So konnte gezeigt wer-
den, dass bestimmte Neurotoxine, die
Parkinson-­ähnliche Symptome verursachen,
die Aktivität der mitochondrialen Atmungs-
kette blockieren. Darüber hinaus sind meh-
rere Gene, in denen Mutationen für die
Krankheit ursächlich sind, mit der Mito-
chondrienfunktion verbunden. Beispiels-
weise stören PINK1-Mutationen, die mit
der früh einsetzenden Parkinson-Krankheit
assoziiert sind, die Mitochondrienfunktion,
indem sie die Elektronentransportkette und
347 16
das Membranpotenzial der Mitochondrien
deregulieren (Morais et al. 2014). Auch das
bei der Huntington-Krankheit (HD) mu-
tierte (Htt) Protein inhibiert einzelne Fakto-
ren der Atmungskette und führt dadurch zu
einer mitochondrialen Dysfunktion (Turner
et al. 2007), aus welcher verminderte oxida-
tive Kapazität der Skelettmuskulatur resul-
tiert, weswegen eine gestörte mitochondriale
Funktion ein früher Indikator der
HK-Pathogenese ist. Im gesunden Organis-
mus wird die mitochondriale Biogenese
durch die Expression eines zentralen Zell-
stoffwechselregulators „Masterregulators“,
dem peroxisome proliferator-activated recep-
tor gamma coactivator 1-alpha (PGC-1α),
mitreguliert. Es ist bekannt, dass es in be-
stimmten, von der HD früh betroffenen Ge-
hirnregionen zu einer verminderten Ex-
pression von PGC-1α kommt, wodurch die
vom PGC-1α gesteuerte Stoffwechsel-
regulation, wie die Aktivierung von nukleär
kodierten Genen der Atmungskette in den
Mitochondrien und die oxidative Stress-
abwehr, gestört wird (Weydt et al. 2006).
Auch reguliert PGC-1α die Expression von
hormonähnliche Peptiden, die bei Muskel-
kontraktion produziert und ausgeschüttet
werden (sog. Myokinen) mit. Das Myokin
FNDC5 (Irisin) ist unter anderem auch an
der hippocampalen Neurogenese beteiligt,
indem es die Expression des neuro-
protektiven brain derived neurotrophic factor
(BDNF) erhöht (Zügel und Weydt 2015).
16.7 Inflammation und
Neurodegeneration
Eine weitere Rolle in der pathologischen
Kaskade neurodegenerativer Erkrankungen
kommt den entzündlichen Prozessen, in
Form der Neuroinflammation zu. Tatsäch-
lich mehren sich die Belege für eine Mit-
beteiligung des angeborenen I­ mmunsystems
an neurodegenerativen Enkrankungen, wie
z. B. der Parkinson-Krankheit. Die beiden
 348 P. Calabrese
Klassen der Haupthistokompatibilitäts-
komplexe (MHC) ermöglichen es dem
Immunsystem, Selbst- und Fremdpeptide zu
erkennen. MHC-Klasse-I-Moleküle, die
Antigene zur Identifizierung durch zyto-
toxische T-Zellen markieren, werden von
den meisten Zelltypen exprimiert, wobei bis-
lang angenommen wurde, dass sie im Säuger-
hirn nicht exprimiert werden. Jedoch wurde
über die Expression von MHC-­Klasse I in
Nagetier- und menschlichem Gehirngewebe
berichtet, wodurch MHC-­Klasse-­I-
exprimierende Neurone zum selektiven An-
griffsziel durch das Immunsystem werden
könnten. In diesem Zusammenhang wurden
auch MHC-­Klasse-­I-­Moleküle exprimieren-
den katecholaminergen Neuronen der Sub-
stantia nigra identifiziert, deren Expression
durch mikrogliale Aktivität induziert werden
kann. Letztere könnte – wie bei der Parkin-
son Erkrankung – als Folge der Depletion
dopaminerger Neuronen zustandekommen
und ihrerseits die Antigenproduktion hoch-
regulieren (Cebriàn et al. 2014).
16.8  herapie und Prävention
T ren doppelblinden, randomisierten Studie
altersassoziierter
Neurodegeneration
Die Tatsache, dass all diesen neuro-
degenerativen Erkrankungen eine Protein-
konformationsstörung zugrunde liegt,
deren Endstrecke von einer fortschreitenden
neuronalen Fehlfunktion gekennzeichnet
ist, lässt hoffen, dass sich durch die zu-
16 nehmende Entschlüsselung der hieran be-
teiligten genetischen und biochemischen
Mechanismen eine generelle, möglicher-
weise für verschiedene Erkrankungen an-
wendbare Behandlungsstrategie entwickeln
lässt, welche nicht nur symptomatisch,
sondern kausal wirksam ist. Tatsächlich
wurden inzwischen auf der Grundlage die-
ser Erkenntnisse verschiedene klinische
Studien durchgeführt. In einer randomi-
sierten, doppelblinden, Placebo-kontrol-
lierten Studie (Levin et al. 2019) wurde die
Wirksamkeit und Verträglichkeit von der in
Grüntee enthaltenen Substanz Epigalloca-
techingallat (EGCG) bei der Aggregations-
hemmung von α-Synuclein bei insgesamt
92 Patienten mit Multi-System-Atrophie
(MSA) untersucht. Zwar zeigten die klini-
schen Tests nach einer knapp einjährigen
Studiendauer keine signifikanten Unter-
schiede zugunsten der Verum-Gruppe, je-
doch wiesen die begleitenden bildgebenden
MRT-­ Untersuchungen bei den Patienten
der EGCG-Gruppe eine signifikant gerin-
gere Atrophierate in den MSA-spezifischen
Gehirnregionen aus. In einer anderen Studie
wurde bei Patienten mit progressiver supra-
nukleärer Blickparese (PSB) ein mono-
klonaler Anti-Tau-Antikörper zur Hem-
mung der Ausbreitung der Proteinaggregate
untersucht (Boxer et al. 2019). Bei einem
insgesamt tolerablen Nebenwirkungsprofil
konnte ein Absinken der Konzentration des
Tau-Proteins im Nervenwasser der Verum-­
behandelten Patienten nachgewiesen wer-
den. Weitere Ergebnisse einer derzeit hierzu
laufenden Phase-2-Studie werden für 2021
erwartet. Schließlich konnte in einer weite-
mittels intrathekal verabreichter Antisense
Oligonukleotide (ASO) (das sind DNA-­
Bausteine, welche in den Gehirnzellen die
Ablesung der mutierten Genabschnitte stö-
ren und so die Bildung des defekten Pro-
teins verhindern) bei insgesamt 34 Patien-
ten mit einer Huntington-Erkrankung die
pathologische Protein-Konzentration im
Liquor dosisabhängig um bis zu 42 % ge-
senkt werden, während sie bei der Placebo-­
Gruppe um 10 % anstieg, wenngleich im
Rahmen der kurzen Studiendauer keine
klinische Effekte nachgewiesen werden
konnten. Auch wenn diese Studien sowohl
hinsichtlich der Probandenanzahl als auch
der klinischen Prüfstadien noch am An-
fang stehen, sind die Zwischenergebnisse
insgesamt hoffnungserweckend und weisen
auf mögliche Wege einer Kausaltherapie.
Auf der Grundlage dieser obengenannten
Entstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer…
Überlegungen wurde auch die Entwicklung
von Immunisierungs-basierten Therapiean-
sätzen, zunächst im transgenen Mausmodell
der AD vorangetrieben. Nach erfolgreichen
klinischen Studien steht inzwischen mit
dem humanen monoklonalen Antikörper
Aducanumab auch eine auf Antikörpern
basierende Immuntherapie gegen Aβ- Ag-
gregation zur Verfügung bei welcher paren-
chymales Aβ gebunden und lösliches und
unlösliches Aβ dosisabhängig reduziert wer-
den und klinisch mit einer Verlangsamung
der Krankheitsprogression einhergeht (vgl.
hierzu Yang und Sun, 2021).
16.9 Präventive Ansätze
Eine Vielzahl von Studien unterstreicht die
Tatsache, dass die Ursachen für eine neuro-
degenerative Erkrankung multifaktoriell
bedingt sind. Dementsprechend gilt es,
neben der Entwicklung effektiver Kausal-
therapien veränderbare Risikofaktoren zu
identifizieren und diese zielgerichtet in
einem Präventionsprogramm zu integrie-
ren. Dabei hat sich gezeigt, dass ins-
besondere kardiovaskuläre und meta-
bolische Grunderkrankungen gemeinsam
mit lebensstilbezogenen Aspekten und
psychosozialen Randbedingungen eine
wichtige Rolle spielen. Hierbei trägt einer-
seits jeder Einzelfaktor zu einer Erhöhung
des Risikos, eine neurodegenerative Er-
krankung zu entwickeln, bei, andererseits
erhöht sich das Risiko exponentiell, in Ab-
hängigkeit der zusammentreffenden Fakto-
ren. Auf der Grundlage einer Meta-Analyse
aus bevölkerungsbasierten Daten konnten
Norton und Mitarbeiter (Norton et al.
2014) insbesondere die Faktoren körper-
liche Inaktivität, Diabetes, Bluthochdruck,
Übergewicht im mittleren Lebensalter, De-
pression, Rauchen und niedriger Bildungs-
stand als die wichtigsten modifizierbaren
Risikofaktoren für kardiovaskuläre und
altersbedingte, neurodegenerative Er-
krankungen identifizieren. Eine hoch-
349 16
aktuelle, von der Lancet Commission on De-
mentia Prevention, Intervention and Care
(Livingston et al. 2020) erstellte, ebenfalls
auf Meta-Analysen gestützte Zusammen-
fassung ergänzt die bis dahin bekannten
Risikofaktoren um drei weitere: erhöhter
Alkoholkonsum, traumatische Hirnver-
letzungen und Luftverschmutzung. Gerade
zu letzterem häufen sich die Hinweise, dass
Luftverschmutzung und Schadstoffe aus
Feinstaub auch für das Zentralnervensystem
hohe gesundheitliche Risiken bergen. So
konnte im Tiermodell nachgewiesen werden,
dass Partikelschadstoffe die Ablagerung und
Akkumulation toxischer Aβ-Ablagerungen
beschleunigen und damit neurodegenerative
Prozesse befördern (Power et al. 2016).
Populationsbasierte Studien legen nahe,
dass hohe Stickstoffdioxid­
(NO2)-
Konzentrationen sowie Feinstaub aus Ver-
kehrsabgasen mit einer erhöhten Demenz-
inzidenz assoziiert sind (Chen et al. 2017).
Da dieser Bereich zum einen noch in den
Anfängen steckt und hierzu noch eine be-
lastbarere Datenbasis erhoben werden muss
und außerdem politisch-ökologische Rand-
bedingungen zur Entwicklung einer Prä-
ventionsstrategie berücksichtigt werden
müssen, sollen im Folgenden insbesondere
die drei wesentlichen, durch persönliche
Zielsetzungen, nötigenfalls mittels Coa-
ching zu erreichenden Präventionswege Er-
nährung, Bewegung und kognitive Stimula-
tion betrachtet werden.
16.9.1 Ernährung
Die komplexen Wechselwirkungen, über
welche die Ernährung Einfluss auf die
Nervenzellfunktion nimmt, lassen sich auf
drei wesentliche Merkmale reduzieren:
55 atherosklerotisch bedingte Durch-
blutungsstörungen durch die Bildung ar-
terieller Plaques,
55 mitochondriale Dysfunktion infolge
einer Akkumulation reaktiver Sauer-
stoffspezies
 350 P. Calabrese

55 und erhöhte Entzündungsaktivität in- C, E und B12, Folsäure, Flavonoide und Ca-
folge einer veränderten Immuntoleranz. rotine den oxidativen Stress reduzieren
sowie die Entzündungsaktivität herunter-
Wie vorgängig beschrieben, gelten die An- regulieren kann und darüber hinaus mit
häufung von β-Amyloiden und die Bildung einem verringerten Risiko für kognitive
von Neurofibrillen (NFTs), die aus hoch- Leistungsminderung und einem geringeren
phosphorylierten Formen des Mikrotubu- AD-Risiko zusammenhing (Li et al. 2012).
li-assoziierten Proteins Tau bestehen, als In einer systematischen Übersicht zur
histopathologisches Signet der Auswirkung der mediterranen Diät (MD)
Alzheimer-Krankheit (AD). Hierbei wird auf die kognitiven Funktionen bzw. der Ent-
angenommen, dass NFTs den ­intrazellulären wicklung einer Demenz konnten die Auto-
mikrotubulären Transport wichtiger Neuro- ren (Peterson und Philippou 2016), basie-
transmitter, Nährstoffe und Wachstums- rend auf insgesamt 32 hinsichtlich ihrer
faktoren beeinträchtigen. Gleichzeitig er- Qualität eher heterogenen Studien, über-
höhen β-Amyloide die Produktion reaktiver wiegend positive Auswirkungen auf kogni-
Sauerstoffspezies, was wiederum die Bil- tive Funktionen sowie eine Verringerung des
dung von NFTs möglicherweise als Aus- Demenzrisikos dokumentieren. Allerdings
gleichsmechanismus für oxidativen Stress stammen die meisten Ergebnisse dieser Ana-
verstärkt (Yankner et al. 2008). lyse aus epidemiologischen Studien, die
Die mediterrane Diät oder Mittelmeer- lediglich auf korrelative Zusammenhänge
diät (MD) ist gekennzeichnet durch einen verweisen.
hohen Verzehr nicht-raffinierter Getreide, Eine anderer, auf dietätische Maß-
Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten und nahmen beruhender Ansatz ist die sog.
Olivenöl, einen moderaten Verzehr von „DASH-­Diät“ (Appel et al. 1997). Hierbei
Milchprodukten und Alkohol sowie einen steht das Akronym DASH für „Dietary Ap-
geringen Verzehr von Fleisch. Hierdurch proaches to Stop Hypertension“, was mit
wird eine hohe Aufnahme von einfach un- „Diätetischer Ansatz zur Blutdruck-
gesättigten Fettsäuren (MUFAs) und Poly- senkung“ übersetzt werden kann und im
phenolen (aus Olivenöl) und mehrfach un- Wesentlichen durch den Verzehr von Obst
gesättigten Fettsäuren (PUFAs) (aus Fisch) und Gemüse, vollwertigen Getreidesorten,
sowie Antioxidantien (aus Obst, Gemüse Fisch, eiweißreichen Lebensmitteln wie Eier,
und Wein) gefördert. Diese Kombination Bohnen oder Linsen und fettreduzierten
war in verschiedenen Längs- und Quer- Milchprodukten erzielt werden soll.
schnittsstudien unter anderem mit einem ge- Im Gegensatz zur MD legt DASH jedoch
ringeren Krebs- und Demenzrisiko sowie größeren Wert auf fettarme Milchprodukte,
einer höheren Lebenserwartung assoziiert wenig Natrium in der Nahrung und emp-
16 (Schwingshackl und Hoffmann 2014; Scar- fiehlt, gänzlich auf Alkohol zu verzichten. In
meas et al. 2006; Trichopoulou et al. 2003). Beobachtungsstudien an älteren Er-
Auch wurde die Aufnahme von ungesättigten wachsenen wurden höhere DASH-Werte mit
FAs (sowohl MUFAs als auch PUFAs) in einer besseren kognitiven Leistungsfähigkeit
mehreren Langzeitbeobachtungsstudien mit und einem langsameren kognitiven Abbau in
einer verbesserten kognitiven Leistung und Verbindung gebracht, allerdings waren die
einem verringerten Risiko einer alters- Ergebnisse der hierzu durchgeführten Stu-
bedingten kognitiven Leistungsminderung dien nicht konsistent. Aus interventionellen
in Verbindung gebracht (Solfrizzi et al. Studien lassen sich nur begrenzte Wirkef-
2006). Darüber hinaus konnte in Meta-­ fekte von DASH auf die Neurokognition ab-
Analysen gezeigt werden, dass die Auf- leiten. So zeigte sich für die DASH-­Diät bei
nahme von Mikronährstoffen wie Vitamin übergewichtigen, gesunden Erwachsenen
Entstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer…
mit Bluthochdruck eine verbesserte kogni-
tive Gesamtleistung, wohingegen die Ergeb-
nisse aus einer anderen, bei kognitiv beein-
trächtigten Erwachsenen durchgeführten
Studie keinen Hinweis auf einen Nutzen al-
lein aus der DASH-Diät erbrachten, jedoch
eine Verbesserung der Denkleistungen bei
denjenigen nachgewiesen werden konnte, die
DASH in Kombination mit Aerobic-Übun-
gen erhielten (Blumenthal et al. zit. nach
McGrattan et al. 2019).
Insgesamt deuten die verfügbaren Er-
gebnisse auf einen grundsätzlich neuro-
protektiven Effekt der MD und der DASH
hin, wobei die aus den MD-Beobachtungen
gewonnenen Studienergebnisse insgesamt
belastbarer scheinen.
16.9.1.1 Ernährung und
Neuroinflammation
Nährstoffe spielen eine wichtige physio-
logische Rolle für eine normale Gehirn-
funktion und diffundieren über die Blut-
Hirn-Schranke (BHS) oder vom
Transportort des Plexus choroideus über die
Blut-­Liquor-­Schranke durch unterschied-
liche Mechanismen wie erleichterte Diffu-
sion und aktiven Transport ins Gehirn be-
fördert (Spector 2009). Zwar befindet sich
die Forschung hinsichtlich der langfristigen
Auswirkung gezielter diätetischer Maß-
nahmen auf die Neuroinflammation noch in
den Anfängen, jedoch konnten in tier-
experimentellen Studien konsistente Ergeb-
nisse bezüglich der antineuroinflam­
matorischen Wirkung bestimmter
Nährstoffe erzielt werden. Dies betrifft ins-
besondere diejenigen Nahrungsbestandteile,
die typischerweise in hohen Mengen in der
MD und im DASH-Ansatz verzehrt werden.
So wird auf der Basis dieser Ergebnisse an-
genommen, dass die in bestimmten Obst-
und Gemüsesorten enthaltenen Anti-
oxidantien neuroinflammatorische Prozesse
und die neuronale Apoptose unterdrücken,
indem sie freie Radikale und die Zytokin-
produktion in der aktivierten Mikroglia
hemmen (Lau et al. 2007).
351 16
Generell scheinen pflanzliche Flavonoide
ebenfalls eine wichtige anti-­ neuroin­
flammatorische Rolle zu spielen, indem sie die
Aktivität bestimmter Transkriptionsfaktoren
(z. B. NF-kB) beinflussen und damit be-
stimmte proinflammatorische Zellsignalwege
herun­terregulieren (Rendeiro et al. 2015). Im
Humanmodell konnte eine Abschwächung
der Expression entzündungsfördernder Zyto-
kine in Mikroglia und eine damit einher-
gehende Reduktion der proinflammatorischen
Aktivität auch durch den regelmäßigen Fisch-
verzehr (langkettige Omega-3-Fettsäuren)
nachgewiesen werden (Bazinet und Laye
2014). Wenngleich sich insgesamt aus der
Datenlage ein positiver Nutzen für bestimmte
Diäten ableiten lässt, kann für deren Einzel-
bestandteile, möglicherweise aufgrund der
Unterschiede in der Bioverfügbarkeit und im
Stoffwechsel von Nährstoffen, keine klare
Empfehlung ausgesprochen werden. Tatsäch-
lich konnte aus den bisher durchgeführten
Studien bei älteren Erwachsenen keine singu-
läre Wirkung einer bestimmten Nahrungs-
ergänzung (beispielsweise auf die kognitive
Leistungsfähigkeit) nachgewiesen werden
(z. B. Burckhardt et al. 2016). Erhöhte peri-
phere Entzündungsmarker wurden mit
Neurodegeneration in Verbindung gebracht,
wobei davon ausgegangen wird, dass sich die
Neuroinflammation über einen neuro-
hormonellen Weg propagiert (Heneka et al.
2015). Im Humanmodell konnten anti-­
inflammatorische Effekte sowohl für die MD
als auch für die DASH-Diät dokumentiert
werden. In einer Meta-Analyse auf der Basis
von sechs randomisierten klinischen Studien
konnte für die DASH-basierte Diät eine signi-
fikante Reduktion der CRP-­ Serumkon­
zentration (hsCRP) im Vergleich zur
Standarddiät nachgewiesen werden, wobei
dieser Effekt mit zunehmender Beobachtungs-
dauer anwuchs (Soltani et al. 2018). Für die
MD konnte bei kardiovaskulären Hoch-
risiko-Patienten eine Reduktion verschiedener
entzündungsassoziierter Biomarker nach-
gewiesen werden, mit einer Verringerung in-
flammatorischer Zytokine (IL-1, IL-6, IL- 8,
 352 P. Calabrese

IL-12p70, CRP, TNF-α) und Chemokine
(MCP-1) und entzündliche Makrophagen-
proteine ​​(MIP-1β) (Casas et al. 2016). Auch
konnte die MD bei Patienten mit einem Meta-
bolischen Syndrom zu einer signifikanten Re-
duktion von hs-CRP, IL-6, IL-7 und IL-18
führen. Zusammengenommen gibt es in-
zwischen eine belastbare Datenbasis, welche
die systemische Entzündung als inter-
venierende Variable zwischen Ernährung und
kognitivem Leistungsabbau identifiziert.
16.9.2 Körperliche Aktivität
Aktivität auf die Reaktivität der NG2-Glia
genannt. Dieser im Gehirn häufig vor-
kommende gliale Zelltyp exprimiert das
Proteoglykan NG2 und ist auch im er-
wachsenen Gehirn noch teilungsaktiv.
NG2-Zellen besitzen eine Vielzahl von
Ionenkanälen und Transmitter-Rezeptoren
und werden durch glutamaterge und GA-
BAerge Neurone synaptisch innerviert und
haben vermutlich eine besondere Bedeutung
in der räumlichen und zeitlichen Integration
von Nervenimpulsen und damit von Lern-
vorgängen (Steinhäuser und Dietrich 2015).

Neben der Ernährung gehört auch die 16.9.3 Kognitive und soziale
körperliche Aktivität zu den wichtigsten Stimulation
gesundheitserhaltenden, präventiven Maß-
nahmen. Inzwischen gibt es eine stattliche Eine weitere wichtige Säule bei der Prä-
Anzahl von Studien, bei denen gezeigt wer- vention von neurodegenerativen Er-
den konnte, dass regelmäßige körperliche krankungen ist die Aufrechterhaltung kog-
Aktivität nicht nur zur allgemeinen Auf- nitiv stimulierender Aktivitäten. So stellt
rechterhaltung der Gesundheit beiträgt, son- Bildung einen protektiven Faktor gegenüber
dern ganz konkrete neuroplastische Effekte der Entwicklung einer Demenz im späteren
induziert, beispielsweise durch die Förderung Leben dar, da hierdurch eine sog. „kognitive
der Neurogenese im Hippocampus (z. B. Er- Reservekapazität“ aufgebaut wird. So zei-
ickson et al. 2011). Das bereits erwähnte gen Studien, dass Personen mit geringer
Myokin FNDC5, welches an der hippocam- Schulbildung ein deutlich höheres relatives
palen Neurogenese beteiligt ist, wird bei Aus- Demenzrisiko aufweisen als Individuen mit
dauertraining durch hippocampale PGC-1α einem höheren Bildungsabschluss (Livings-
vermehrt exprimiert (Boström et al. 2012). ton et al. 2020). Ähnliches gilt auch für
Dementsprechend könnte eine aktivitäts- Mehrsprachigkeit. Generell lässt sich fest-
induzierte, vermehrte Myokinausschüttung halten, dass nahezu jede regelmäßige kogni-
als protektiver Mechanismus bei neuro- tive Aktivierung (Lesen, Malen), die nicht
degenerativen Erkrankungen fungieren. automatisierte Routinen anspricht
Daneben konnte gezeigt werden, dass (z. B. Kreuzworträtsel), das Risiko für de-
16 eine regelmäßige körperliche Aktivität die menzielle Erkrankungen reduziert (Lee
Synaptogenese und damit die Aufrecht- et al. 2018). Dies gilt insbesondere, wenn sie
erhaltung der neuronalen Netzwerke be- mit einer sozialen Komponente verbunden
fördert. Darüber hinaus fördert aerobes ist (Karten- und Brettspiele, Musizieren,
Training durch die Stimulation von Singen etc.).
Wachstumsfaktoren (z. B. VEGF) auch die Auch die Nutzung technischer Geräte
Angiogenese und trägt damit zur Sicher- und Hilfsmittel (z. B. Computer) kann die
stellung der zerebralen Oxygenierung bei Hirntätigkeit und die Problemlösefähigkeit
(Kempermann 2015). stimulieren und damit das Risiko einer
Schließlich sei auch die strukturell-­ Demenzerkrankung senken. Tatsächlich
neuroplastische Wirkung von körperlicher konnte in einer großen australischen Ko-
Entstehung und Prävention altersassoziierter neurodegenerativer…
hortenstudie, bei welcher die Computer-
nutzung von n = 5506 männliche Teilnehmer
im Alter zwischen 69 und 87 Jahren über
einen mittleren Beobachtungszeitraum von
sechs Jahren aufgezeichnet wurde, signi-
fikante Unterschiede zwischen häufigen und
seltenen Computer-Nutzern festgestellt wer-
den (Almeida et al. 2018).
Auch wurde in verschiedenen Studien
der protektive Wert der sozialen Aktivitäten
hervorgehoben. Tatsächlich scheint ein so-
zial passiver Lebensstil das Risiko einer
Demenzerkrankung zu steigern, während
der Aufbau und die Pflege eines stabilen so-
zialen Netzwerks eine (Demenz-)protektive
Wirkung haben. Auch Partnerschaft wirkt
sich im Alter positiv aus. So ergab eine auf
120 einzelne Studien basierende Meta-­
Analyse mit insgesamt 812.047 Personen
weltweit, dass das Demenzrisiko bei Allein-
stehenden und Verwitweten, verglichen mit
verheirateten Menschen, deutlich erhöht
war (Sommerlad et al. 2018).
Schließlich zeigte sich in einer aktuellen
Meta-Analyse aus insgesamt 51 längs-
schnittlichen Kohortenstudien zur sozialen
Isolation und Kognition (Evans et al. 2019)
bei insgesamt 102.035 Teilnehmern mit
einem Mindestalter von 50 Jahren zum Be-
obachtungsbeginn und einer Beobachtungs-
dauer zwischen 2 und 21 Jahren, dass eine
höhere Frequenz sozialer Kontakte mit
einer besseren kognitiven Leistung im späte-
ren Lebensalter einherging, wobei dies
weder an das Geschlecht noch an die Be-
obachtungsdauer gebunden war.
16.10 Zusammenfassung
Altern ist mit einer Vielzahl von organischen
und psychologischen Veränderungen ver-
bunden. In der Nervenzelle kommt es aufgrund
der zunehmenden Einschränkung zellulärer
Reparatur- und Kompensationsmechanismen
und einer begrenzten Proliferationsfähigkeit zu
353 16
kumulativen Pathomechanismen. Diese führen
in ihrer Gesamtheit zu einer dysfunktionalen
intra- und extrazellulären Signaltransduktion,
die verschiedene Kompartimente betrifft. Es
kommt zu einem veränderten Metabolismus
mit einer erhöhten Produktion toxischer Stoff-
wechselprodukte, einer Akkumulation nicht
weiter degradierbarer, fehlgefalteter Proteine
und einer Veränderung der Immunkompetenz
zugunsten einer proinflammatorischen Immun-
antwort und damit letztlich zur Neuro-
degeneration. Die in eine Neurodegeneration
mündenden Prozesse sind sowohl genomischer
als auch epigenomischer Natur und können
teilweise als das Produkt übersteuerter
Kompensationsmechanismen angesehen wer-
den, welche dann, im Sinne einer Rück-
koppelungsschleife, die einmal aus der Imba-
lance geratene Zellökologie gänzlich in
Richtung Zelltod treiben.
Während in der klinischen Praxis tertiär-
präventive, symptomatische Maßnahmen
vorrangig sind, konnten aus den bisherigen
bevölkerungsbasierten Studien bereits
sekundärpräventive Maßnahmen abgeleitet
werden, welche insbesondere die vermeid-
baren Risikofaktoren (z. B. Rauchen, Über-
gewicht, Bluthochdruck etc.) betreffen und
inzwischen bereits zu messbaren Erfolgen
geführt haben. Tatsächlich ist die alters-
spezifische Inzidenz für Demenzfälle in den
industrialisierten Ländern inzwischen stag-
nierend bis rückläufig und somit als Erfolg
für die konsequente Umsetzung der aus den
epidemiologischen Studien gewonnenen Er-
kenntnisse zu werten (Livingston et al.
2020). Wenngleich verschiedene Teilschritte
der zur Neurodegeneration führenden Pro-
zesse noch nicht vollständig aufgeklärt wer-
den konnten, zeichnet sich ab, dass eine
primärpräventive Maßnahme kein „golden
bullet“ sein kann, sondern multi-
dimensionale, d. h. sowohl genomische, zell-
spezifische als auch lebensstilbezogene und
psychosoziale Interventionskomponenten
beinhalten muss.
 354 P. Calabrese

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 357 17

Mikronährstoffe
in der präventiven
und integrativen Onkologie
Uwe Gröber

Inhaltsverzeichnis

17.1 Einleitung – 359

17.2 Ernährung und Prävention in der Onkologie – 359

17.3 Ernährung und integrative Onkologie – 360

17.4 Malnutrition und Mikronährstoffdefizite – 360

17.5 Kritische Mikronährstoffe bei Krebs – 361

17.6 Antioxidanzien und oxidativer Stress – 364

17.7 Anwendungsbeobachtungen und Studien – 366

17.8 Ergebnisse randomisierter Studien – 367

17.9 MARIE-Studie – 368

17.10 Das Prä-Prohormon Vitamin D – 369

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_17
17.11 Selen als Natriumselenit – 373

17.12  olekulares Jod in der adjuvanten

M
Brustkrebstherapie – 375

17.13 Omega-3-Fettsäuren (EPA/ DHA) – 375

17.14 L-Carnitin und Coenzym Q10 – 377

17.15 Vitamin C, Ascorbat – 378

Literatur – 380
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
17.1 Einleitung
Weltweit erkranken pro Jahr etwa 14 Millio-
nen Menschen an Krebs. Zu den häufigsten
Krebserkrankungen zählen Neoplasien des
Dick- und Enddarms, der Lunge sowie in
Abhängigkeit vom Geschlecht neoplastische
Veränderungen der Brustdrüse und der
Prostata. Bis zum Jahre 2030 ist in Folge der
älter werdenden Bevölkerung mit einer Ver-
dopplung der Krebserkrankungen zu rech-
nen.
17.2  rnährung und Prävention
E höheren Genuss von (grünem) Tee, aber ge-
in der Onkologie
Bekanntlich kann das Risiko für viele mali-
gne Tumoren durch eine Modifikation von
Lebensstilfaktoren günstig beeinflusst wer-
den. Die Chemoprävention stellt somit einen
interessanten Ansatz in der präventiven
Onkologie dar. Zahlreiche epidemiologische
Studien geben Hinweise für die Vermeidbar-
keit von Krebs. So haben weltweit ver-
schiedene Bevölkerungsgruppen ein unter-
schiedliches Risiko, an bestimmten
Krebsformen zu erkranken. Es konnte sta-
tistisch signifikant belegt werden, dass Aus-
wanderer das Krebsrisikoprofil ihrer Ur-
sprungsländer oft innerhalb einer
Generation verlieren und dasjenige ihrer
neuen Heimat annehmen.
Beispielsweise tauschten die nach Kali-
fornien ausgewanderten Japaner die hohe
Inzidenz für das Magenkarzinom in Japan
gegen das hohe Risiko für Brustkrebs und
kolorektale Karzinome im Einwanderungs-
land ein. Das Mammakarzinom wird in
Nordamerika und Nordeuropa am häufigs-
ten, in Südeuropa und Lateinamerika weni-
ger häufig und in Afrika und Asien selten
beobachtet. Asiatisch-amerikanische
Frauen, die in Amerika geboren wurden,
weisen innerhalb von ein bis zwei Generatio-
nen ein bis zu 60 % höheres Risiko für die
Entwicklung eines Mammakarzinoms auf
359 17
als in Asien geborene, andererseits entsteht
innerhalb von einer Generation die für
Nordamerika typische hohe Kolon-
karzinomrate.
Allgemein ist eine kalorien- und fett-
reduzierte Ernährung in asiatischen Regio-
nen häufiger als in westlichen Ländern. Ty-
pisch sind zudem Ernährungsweisen mit
reichlich pflanzlichen Lebensmitteln wie
Gemüse, Getreideprodukten (z. B. Reis,
Hirse), Sojaerzeugnissen und Obst. Außer-
dem werden mehr Seefisch, Meerestiere und
Algenprodukte verzehrt, vor allem in
küstennahen Gebieten (gute Lieferanten für
Vitamin K, Jod). Daneben findet man einen
ringeren Alkoholkonsum.
Auch für eine mediterrane Ernährung ist
ein reichlicher Verzehr von frischem Ge-
müse, Obst, Vollkornprodukten, pflanz-
lichem Öl, Nüssen, aber auch von Seefisch
und Meerestieren charakteristisch. Als
potenziell antikanzerogen wird eine gute
Versorgung mit mehrfach ungesättigten
Fettsäuren, Ballaststoffen und vor allem mit
verschiedenen Phytaminen (z. B. Poly-
phenole, Phytoöstrogene) diskutiert. Wäh-
rend in der asiatischen Ernährung der Ge-
nuss von Tee zur Aufnahme von
Polyphenolen (z. B. Quercetin) beiträgt, sind
es im mediterranen Raum vor allem Wein
und Trauben. Phytöostrogene werden in der
asiatischen Küche durch Sojaprodukte
(→ Isoflavonoide), in der europäischen Er-
nährung durch Vollkornerzeugnisse, Lein-
samen, Kürbiskerne, verschiedene Kohl-
gemüse, Knoblauch und Beerenobst
(→ Lignane) aufgenommen. Hinsichtlich
der Charakteristika einer traditionellen
asiatischen Ernährung ist zu bedenken, dass
ein regelmäßiger und reichlicher Verzehr
von Seefisch, insbesondere von Algen-
produkten – wie beispielsweise bei Be-
wohnern von Küstenregionen in Japan – zu
einer sehr hohen bis exzessiven Zufuhr an
Jod beiträgt. Untersuchungen zur Urinjod-
ausscheidung von Männern und Frauen in
Japan zeigen, dass die Jodaufnahme um den
 360 U. Gröber
Faktor 10–25 und höher ausfallen kann als
beispielsweise in Deutschland. Vor diesem
Hintergrund wird zunehmend eine Assozia-
tion zwischen einem hohen Verzehr mariti-
mer Nahrungsmittel und niedriger Brust-
krebsinzidenz bzw. eines alimentären
Jodmangels und der Begünstigung von
Mamma-Proliferationen bzw. Mamma-
karzinomen diskutiert.
17.3  rnährung und integrative
E durch eine bessere Compliance, verringerte
Onkologie
In der Therapie von Krebserkrankungen
konnten die schulmedizinischen Maß-
nahmen in den letzten Jahren, nach längerer
Stagnation, erstmals deutlich verbesserte
Behandlungsergebnisse und bei manchen
Tumorentitäten auch verlängerte Über-
lebenszeiten erreichen. Dies wurde unter an-
derem durch neue medikamentöse Therapie-
prinzipien aus dem Bereich der molekularen
Therapie, aber auch durch verbesserte diag-
nostische Methoden und optimierte Be-
strahlungstechniken realisiert. Gleichzeitig
wurde die antitumorale Therapie aber auch
intensiver, zum Teil aggressiver und dadurch
nicht selten nebenwirkungsreicher (Bray
et al. 2012; Fidler et al. 2017; American
Cancer Society 2015; Gröber 2009; Ströhle
et al. 2010; Gröber et al. 2016).
Das Bedürfnis des onkologischen Patien-
ten nach sanften Therapieverfahren und
Nutzung komplementärer Maßnahmen hat
in den letzten 20 Jahren stark zugenommen.
Viele Patienten nehmen Vitamine und ande-
ren Mikronährstoffe ein, mit der Absicht,
ihre Standardtherapie zu optimieren oder
17 die therapie- und krankheitsbedingten
Nebenwirkungen zu verringern.
Je nach Tumorentität und Geschlecht
supplementieren 30–90 % der Betroffenen
antioxidative und immunstabilisierende
Mikronährstoffe, häufig ohne das Wissen
des behandelnden Arztes (Gröber et al.
2010). Obwohl berechtigte Bedenken von
onkologischer Seite bestehen, dass
Nahrungsergänzungsmittel die Effektivität
der Chemo- oder Strahlentherapie beein-
trächtigen könnten (Micke et al. 2009;
D’Andrea 2005), geben Studien zunehmend
Hinweise darauf, dass die medikations-
orientierte Supplementierung von aus-
gewählten Antioxidantien, wie Selen und
Mikronährstoffen wie L-Carnitin und Vita-
min D, nicht nur das Ansprechen auf die
antineoplastischen Verfahren (CT, RT)
Rate an Nebenwirkungen und damit auch
an Therapieabbrüchen steigert, sondern
auch die Lebensqualität und die Prognose
der onkologischen Patienten verbessern
kann. Dabei sollte der komplementär-
medizinische Einsatz von Mikronährstoffen
stets so ausgewählt und zeitlich abgestimmt
werden, dass es nicht zu einer Wirkungs-
abschwächung der zytoreduktiven onko-
logischen Therapien kommt (Gröber et al.
2016; Block et al. 2007, 2008).
17.4 Malnutrition und
Mikronährstoffdefizite
Therapieerfolg und Heilungsprozesse wer-
den bei Tumorerkrankungen wesentlich
vom Ernährungsstatus beeinflusst. Dies ist
von hoher klinischer Relevanz, da in Ab-
hängigkeit von der Tumorart, der Tumor-
lokalisation und dem Krankheitsstadium
bei 30–90 % der Patienten eine Mangeler-
nährung vorliegt (Tong et al. 2009; Bozzetti
und SCRINIO Working Group 2009). Die
schwerste Form der Tumor-assoziierten
Mangelernährung mit körperlicher Aus-
zehrung ist die Tumorkachexie. Sie tritt vor
allem bei Bronchial-, Magen-, Pankreas-
und Prostatakarzinomen auf (. Tab. 17.1)
(Gröber et al. 2016).
Mangelernährung beeinträchtigt den
Immunstatus, die Therapietoleranz sowie
verschiedene Organ- und Stoffwechsel-
funktionen. Nicht nur das Ansprechen und
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
361 17
cing-factor (PIF), der Lipid mobilizing Fac-
..      Tab. 17.1 Häufigkeit der Mangeler-
nährung in Abhängigkeit von der Tumor-
tor (LMF) und das zinc α-glycoprotein
lokalisation (Gröber 2018; Bozzetti und (ZAG), verschieben das metabolische
SCRINIO Working Group 2009; Laviano Gleichgewicht in Richtung Muskelprotein-
und Meguid 1996) und Fettabbau (Ströhle et al. 2010; Gröber
et al. 2016; Mücke 2010; Bozzetti und SCRI-
Tumorart Anteil der betroffenen
(Auswahl) Patienten (%)
NIO Working Group 2009; Laviano und
Meguid 1996; Holzhauer et al. 2016; Tisdale
Pankreas- 83 2009; Seelaender et al. 2015; Fedeles et al.
karzinom 2015; Russell und Tisdale 2005).
Magenkarzinom 83 Die verschiedenen Faktoren, die zur
Entwicklung der Malnutrition führen, be-
Oesophagus- 79
karzinom treffen nicht nur die energieliefernden
Makronährstoffe (Kohlenhydrate, Proteine,
Kopf-Hals-Karzi- 72
nome
Fette), sondern auch die biokatalytischen
und immunmodulierenden Mikronähr-
Kolorektales 55–60 stoffe. Da Makronährstoffe die natürlichen
Karzinom
Träger für Mikronährstoffe sind, zählt die
Lungenkarzinom 50–66 Malnutrition zu einer der Hauptursachen
Prostatakarzinom 56 für einen inadäquaten Mikronährstoffstatus
bei Tumorpatienten. Neben der Ernährungs-
Mammakarzinom 10–35
therapie entwickelt sich der labor-
diagnostisch validierte und therapie-
angepasste Einsatz von Vitamin D, Selen als
die Effektivität der tumordestruktiven Maß-
Natriumselenit und anderen Mikronähr-
nahmen (CT, RT) werden vermindert, auch
stoffen zu einem wichtigen Baustein suppor-
die Nebenwirkungsrate und das Risiko für
tiver und komplementäronkologischer
therapieassoziierte Komplikationen werden
Therapiekonzepte (Gröber et al. 2016; Boz-
erhöht. Die Folge ist eine Beeinträchtigung
zetti und SCRINIO Working Group 2009;
der Lebensqualität und der Prognose der be-
Holzhauer et al. 2016; Tisdale 2009; Seela-
troffenen Patienten (Gröber et al. 2016;
Gröber 2018). Mangelernährte Tumor- ender et al. 2015; Fedeles et al. 2015; Russell
patienten weisen ein erhöhtes Morbiditäts- und Tisdale 2005).
und Mortalitätsrisiko auf. Die Mortalität ist
bei Malnutrition um etwa 30 % erhöht (Grö-
ber et al. 2016; Tong et al. 2009). 17.5 Kritische Mikronährstoffe
Die Pathogenese der tumorassoziierten bei Krebs
Malnutrition ist multifaktoriell. Neben dem
direkt konsumierenden Einfluss des Tumors Bei Tumorpatienten ist häufig bereits bei
spielen dabei vor allem anorexogene Media- Diagnosestellung und vor dem Auftreten
toren sowie hormon- und zytokinbedingte klinisch relevanter Veränderungen des Er-
Stoffwechselstörungen eine Rolle nährungsstatus der Status verschiedener Vi-
(. Abb. 17.1). tamine (z. B. Vitamin D, Vitamin C, B-Vita-
Proinflammatorische Zytokine mine) und Mineralstoffe (z. B. Selen, Zink,
(z. B. TNFα, Il-1β und IL-6), katabol wir- Magnesium) im Vergleich zu Gesunden
kende Hormone (z. B. Glukagon, Cortisol) signifikant erniedrigt. Die Versorgungslage
sowie die von Tumoren sezernierten katabol mit immunmodulierend und antioxidativ
wirkenden Proteine, wie Proteolysis-indu- wirkenden Mikronährstoffen (z. B. Vitamin
 362 U. Gröber
..      Abb. 17.1 Ursachen für Makro- und Mikronährstoffdefizite bei Tumorpatienten
D, Selen, L-Carnitin) sowie solchen mit ge-
ringer Speicher- bzw. Reservekapazität
(z. B. Vitamin B1, Vitamin C, Folsäure, Vit-
amin K) ist besonders kritisch. Die un-
17 zureichende Versorgung der Krebs-Patien-
ten mit antioxidativen Mikronährstoffen
spiegeln auch die erhöhten Labormarker für
oxidativen Stress wider. Auch über Zink-
mangel assoziierte Blutungen wird bei
Krebs-Patienten mit schlechtem Er-
nährungsstatus berichtet (Ströhle et al.
2010; Gröber et al. 2016; Tong et al. 2009;
Laviano und Meguid 1996).
Nebenwirkungen der Chemo- und
Strahlentherapie (z. B. Erbrechen, Diarrhö,
Dysgeusie), Entzündungsprozesse sowie In-
appetenz und Nahrungsmittelaversionen in-
folge einer Anorexie (z. B. durch Zytokine)
können zusätzlich den Verbrauch und den
Bedarf an Mikronährstoffen steigern
(. Tab. 17.2). Darüber hinaus kann laut
den ESPEN-Guidelines bei allen Krebs-Pa-
tienten, deren Energieaufnahme länger als
7–10 Tage weniger als 60 % ihres täglichen
Energiebedarfs aufnehmen, von einer de-
fizitären Mikronährstoffversorgung aus-
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
363 17

..      Tab. 17.2 Spezifische Chemotherapiebedingte Störungen im Mikronährstoffhaushalt (Auswahl)

(Gröber et al. 2010, 2016; Gröber 2018, 2019; Fakih 2007; Vickers et al. 2013; Knijn et al. 2011; Chen
et al. 2013; McDonnell et al. 2016; Gröber und Kisters 2012)

Zytostatikum Mikro- Mechanismus Folge

nährstoff

Cetuximab Magne- EGFR-Blockade im Magnesium-Wasting, Magnesiummangel

sium Nephron beeinträchtigt (→ Hypomagnesiämie < 0,76 mmol/l),
aktiven Magnesium-Trans- Risikio für Fatigue
port
Cisplatin L-Carnitin Erhöhte renale Exkretion Cisplatin induzierte Carnitin-In-
von L-Carnitin suffizienz, Erhöhtes Risiko für
Begleitkomplikationen (z. B. Fatigue)
Cisplatin Magne- Erhöhte renale Exkretion Hypomagnesiämie, Hypokaliämie,
sium, von Magnesium und Kalium Fettstoff-wechselstörungen, Glucose-
Kalium toleranzstörungen, erhöhte Nephro-
toxizität
Cyclo- Vitamin D Abbau von 25(OH)D und Vitamin D-Mangel (25(OH)D < 20 ng/
phosphamid 1,25(OH)2D über die ml), Risiko für Störungen des Knochen-
24OHase in inaktive stoffwechsels und Beeinträchtigung der
Metabolite Immunkompetenz
5-Fluorouracil Vitamin Hemmung der Phosphorylie- Risiko für Herzinsuffizienz, Laktat-
B1 rung von Thiamin zum azidose, Neurotoxizität
coenzymatisch aktiven TDP
Ifosfamid L-Carnitin Erhöhte renale Exkretion Ifosfamid induzierte Carnitin-
von L-Carnitin insuffizienz, Erhöhtes Risiko für
Begleitkomplikationen (z. B. Fatigue)
Methotrexat Folsäure Folsäure-Antagonismus Folatmangel, Homocysteinämie,
Mukositis
Paclitaxel Vitamin D Abbau von 25(OH)D und Vitamin D-Mangel (25(OH)D < 20 ng/
1,25-(OH)2D über die ml), Risiko für Störungen des Knochen-
24-OHase in inaktive stoffwechsels und Beeinträchtigung der
Metabolite Immunkompetenz
Panitumumab Magne- EGFR-Blockade im Magnesium-Wasting, Magnesium-
sium Nephron beeinträchtigt mangel (→ Hypomagnesiämie
aktiven Magnesium-Trans- < 0,76 mmol/l), Risikio für Fatigue
port
Pemetrexed Folsäure Folsäure-Antagonismus Mukositis, Durchfall, Thrombozyto-
penie, Neutropenie, Homocysteinämie

gegangen werden (Ströhle et al. 2010; Grö- ten, EGFR-exprimierenden kolorektalen

ber et al. 2016; Tong et al. 2009; Holzhauer
et al. 2016).
Beispielswiese kann der monoklonale
Antikörper Cetuximab stark mit dem
Magnesium-Haushalt interferieren. Cetuxi-
mab wird in der Therapie des metastasier-
Karzinoms mit RAS-Wildtyp in Kombina-
tion mit Irinotecan oder Oxaliplatin ein-
gesetzt. Als First-Line-Therapie kann Cetu-
ximab auch mit FOLFOX (FOLinsäure,
5-Fluorouracil, OXaliplatin) kombiniert
werden. In Verbindung mit Strahlentherapie
 364 U. Gröber
oder einer Platin-basierten Chemotherapie
wird Cetuximab zusätzlich bei Platten-
epithelkarzinomen im Kopf-Hals-Bereich
(SCCHN) eingesetzt. Durch die Blockade
des EGFR in der Niere kommt es zum Ma-
gnesium-Wasting mit Hypomagnesiämie
(< 0,76 mmol/l), teils ist auch Hypokalzämie
sowie Hypokaliämie nachweisbar. In einer
aktuellen Studie wird zudem von einer kür-
zeren Überlebenszeit der Patientengruppe
mit Hypomagnesiämie unter einer Therapie
mit Cetuximab berichtet. Die aktive, trans-
zelluläre Rückresorption von Magnesium in
der Niere erfolgt durch den Ionenkanal
TRPM6. Die Expression von TRPM6 ist
von der Aktivierung der EGFR-Signalkas-
kade abhängig. In der Niere wurde der
EGFR unter anderem entlang des dicken,
aufsteigenden Teils der Henleschleife und
der Pars convoluta im distalen Tubulus
nachgewiesen. Diese beiden renalen Ab-
schnitte sind für die Magnesium-Re-
absorption wichtig. Um eine Hypomagne-
siämie 3. oder 4. Grades zu vermeiden, sind
nach Studien 2- bis 7-mal pro Woche intra-
venöse Gaben von je 4–10 g Magnesium-
sulfat notwendig. Die antineoplastische
Aktivität von Cetuximab wird durch die
Substitution von Magnesium nicht beein-
flusst. Neben dem Magnesium-Haushalt
sollte beim Einsatz monoklonaler Anti-
körper immer auch ein Blick auf den 25(OH)
D-Status geworfen werden (Gröber 2019;
Vickers et al. 2013; Knijn et al. 2011; Chen
et al. 2013; McDonnell et al. 2016; Gröber
und Kisters 2012).
Da ein tumor- und/oder therapie-
bedingtes Mikronährstoffdefizit bei
Krebs-Patienten den Krankheitsverlauf und
17 die Effizienz der tumordestruktiven Maß-
nahmen beeinträchtigt sowie das Risiko für
Begleitkomplikationen (z. B. Beein-
trächtigung der Immunkompetenz, Wund-
heilungsstörungen, Fatigue, Depressionen)
erhöht, sollte neben einer adäquaten Zufuhr
an Energiesubstraten (Proteine, Fette,
Kohlenhydrate) auch auf eine optimale Zu-
fuhr an antientzündlichen und immun-
stabilisierenden Mikronährstoffen, wie
Selen, L-Carnitin, Vitamin C oder dem
Prä-Prohormon Vitamin D, geachtet wer-
den (Gröber et al. 2016; Gröber 2019; Vi-
ckers et al. 2013; Knijn et al. 2011; Chen
et al. 2013; McDonnell et al. 2016; Gröber
und Kisters 2012).
17.6 Antioxidanzien
und oxidativer Stress
Freie Radikale spielen nicht nur bei allen
Stadien der Krebsentwicklung (Initiation,
Promotion und Progression) eine patho-
genetische Rolle, sondern auch bei der
Tumorprogression. Als freie Radikale wer-
den bekanntlich chemisch instabile, kurz-
lebige und hochreaktive Moleküle be-
zeichnet, die ein oder mehrere ungepaarte
Elektronen besitzen. Um ihren instabilen
Zustand auszugleichen, entreißen freie Ra-
dikale anderen Molekülen ein Elektron.
Über Kettenreaktionen können dabei per-
manent weitere zelltoxische Radikale und
reaktive Folgeprodukte entstehen (→
Radikalkettenreaktion). Allein die DNA
einer einzigen menschlichen Zelle ist pro Tag
etwa 10.000 oxidativen Angriffen durch freie
Radikale ausgesetzt.
Freie Radikale und reaktiver Sauerstoff-
spezies (ROS) haben aufgrund verschiedener
Mechanismen kanzerogene Eigenschaften:
55 Oxidative DNA- und Membranschaden
(z. B. Basenschaden, Strangbrüche)
55 Lipidperoxidation: Lipidperoxidations-
produkte (MDA, 4-HNE) wirken zyto-
toxisch und können die DNA modi-
fizieren
55 Prämutagene DNA-Basenprodukte (z. B.
8-Hydroxycytosin, 8-Hydroxyadenin)
55 Aktivierung des redoxsensitiven
Transkriptionsfaktors NFκB und Ge-
naktivierung proinflammatorischer Zy-
tokine (z. B. IL-1, TNF-α)
55 Aktivierung der Protoonkogene c-fos
und c-jun
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
55 Störungen der zellulären Signaltrans-
duktion
55 Störungen der Zell-Zell-Kommunika-
tion (gap-junctions, Connexin)
Die an mehrfach ungesättigten Fettsäuren
(PUFA) reichen Phospholipide der Zell-
membranen sind durch einen Angriff ag-
gressiver Radikale besonders vulnerabel.
Lipidperoxidation und Quervernetzung von
Membranlipiden verursachen ausgeprägte
Membranschäden, wodurch zellulare Kom-
munikations- und Transportsysteme (z. B.
Zell-Zell-Kommunikation über Connexin)
gestört werden. Steigerungen der Membran-
permeabilität fur Kalzium-Ionen sowie Ver-
änderungen in der Bindungskapazität zellu-
larer Rezeptoren und Enzymaktivitäten
können einen frühzeitigen Zelltod auslösen.
Produkte der Lipidperoxidation wie 4-Hy-
droxynonenal (4-HNE) oder Malondialde-
hyd (MDA) wirken stark zytotoxisch und
modifizieren die DNA (Sosa et al. 2013;
Toyokuni 2016).
Der endogene Redoxstatus beeinflusst
auch die Aktivierung von Proto-Onkogenen
wie cfos, des Tumorsuppressorgens p53
sowie des Transkriptionsfaktors Nucle-
ar-Factor-kappaB (NFκB). So aktivieren re-
aktive Sauerstoffspezies wie Wasserstoffper-
oxid (H2O2) den redoxsensitiven
Transkriptionsfaktor NFκB. NFκB ist u. a.
verantwortlich fur die Auslosung der kom-
pletten Entzündungskaskade, die Replika-
tion von Retroviren und die fortlaufende
Produktion von Zytokinen. Uber pro-
inflammatorische und oxidative Reize ge-
langt der normalerweise an einen Inhibitor
(I-κB) gebundene NFκB in den Zellkern und
stimuliert dort die Transkription von Zyto-
kinen wie TNF-α. TNF-α (= Kachektin) bil-
det die Zündkerze im Entzündungsstoff-
wechsel und wird auch als Auslöser der
tumorassoziierten Kachexie für die körper-
liche Auszehrung bei Tumorpatienten ver-
antwortlich gemacht. Bemerkenswert ist,
dass Selenmangel im Tierversuch signifikant
die Bindung von Zellkernproteinen an die
365 17
Regulatorsequenz des NFκB-Gens steigert
(Gröber 2009; Gröber et al. 2016; Sosa et al.
2013; Toyokuni 2016). Neben Selen wird die
Aktivierung des NFκB und Bildung von
TNF-α auch von Vitamin C, Retinoiden, Vi-
tamin D, Vitamin E, Omega-3-Fettsäuren
und α-Liponsäure herunterreguliert.
Die chemotherapieinduzierte Bildung
von freien Radikalen wird auch als Ursache
der Prämutagenität und Organotoxizität ei-
niger Zytostatika, wie z. B. die Kardiotoxizi-
tät der Anthrazykline, diskutiert. Anthrazy-
kline sind tetrazyklische Antibiotika, die
häufig in der Therapie von Mamma-
karzinomen, Sarkomen, Hodgkin’scher
Krankheit und bei akuter Leukämie ein-
gesetzt werden. Die klinisch eingesetzten An-
thrazykline (z. B. Doxorubicin, Epirubicin)
sind redoxzyklierende Anthrachinone, die
durch das Flavocoenzym NADPH-Cytoch-
rom-P450-Reduktase zum Anthrazyklin-Se-
michinon- Radikal reduziert werden. Das
nach Ein-Elektronen-Reduktion entstandene
Semichinon kann ein Elektron, das nach
Zwei-Elektronen-Reduktion entstandene
Dihydrochinon kann zwei Elektronen auf
molekularen Sauerstoff übertragen, sodass
Superoxidanion-Radikale (•O2-) und Wasser-
stoffperoxid (H2O2) entstehen. H2O2 ist be-
sonders gefährlich aufgrund seiner Reaktion
mit Eisen, die zu den hoch genotoxischen
Hydroxyl-Radikalen (•OH) führt (Fen-
ton-Reaktion). Da Anthrazykline hervor-
ragende Chelatoren sind, reagieren sie bevor-
zugt mit Metallen wie Eisen. Ein weiterer
Weg der Radikalgenese erfolgt über die Bil-
dung von Anthrazyklin-Fe3+-Komplexen.
Dies sind starke Oxidanzien mit der Fähig-
keit der direkten Lipidperoxidation, ohne die
Anwesenheit von freien Sauerstoffspezies.
Anthrazyklin-Fe3+-Komplexe haben eine
hohe Affinität zum Phospholipid Cardioli-
pin, das in der inneren Membran des mito-
chondrialen und sarkoplasmatischen Retiku-
lums vorkommt. Die Bindung an Cardiolipin
und die damit verbundenen Störungen der
mitochondrialen Atmungskette
(z. B. Kreatinkinase) scheinen wesentlich zur
 366 U. Gröber
kardiotoxischen Wirkung der Anthrazykline
beizutragen. Hydroxylradikale (HO•) kön-
nen in den Lymphozyten von Krebs-Patien-
ten oxidative Veränderungen der DNA-Base
Guanin unter Bildung des 8-Hydroxyguanins
hervorrufen, mit der Folge von Fehl-
paarungen bei der Zellreplikation (z. B. Tran-
version von GC zu TA). Gegenüber Kontrol-
len ist die Konzentration an 8-Hydroxyguanin
im Urin von Krebs-Patienten erhöht. Pro-
dukte oxidativer DNA-Basenschaden wie
8-Hydroxycytosin und 8-Hydroxyadenin be-
sitzen prämutagene Eigenschaften und
könnten für das Auftreten von therapie-
induzierten Sekundärtumoren verantwort-
lich sein.
17.7 Anwendungsbeobachtungen
und Studien
Studien an Zellkulturen zeigen, dass Anti-
oxidanzien wie Vitamin C, Vitamin E oder
Carotinoide in der Lage sind, den
wachstumshemmenden Effekt verschiedener
Zytostatika (z. B. 5-FU, Doxorubicin, Vin-
cristin) auf bestimmte Krebszellen selektiv
zu verstärken. Die Ergebnisse der wenigen
bisher vorliegenden Anwendungs-
beobachtungen und kleineren Studien an
Tumorpatienten legen nahe, dass die Kom-
bination definierter Antioxidanzien mit der
Chemo- und/oder Strahlentherapie einen
günstigen Einfluss auf die Effektivität der
tumordestruktiven Maßnahmen und die
Lebensqualität der Patienten hat.
In einer Anwendungsbeobachtung er-
hielten 18 nicht randomisierte Patienten
(vier Frauen und 14 Männer) mit klein-
17 zelligem Bronchialkarzinom zusätzlich zur
Chemo- und/oder Strahlentherapie eine
Kombination definierter Antioxidanzien
(Vitamine, Spurenelemente, Fettsäuren, p.
o.). Die mittlere Überlebenszeit war signi-
fikant verlängert, und die Patienten tolerier-
ten die Chemo- und Strahlentherapie besser.
Unter der begleitenden Supplementierung
von Antioxidanzien überlebten 14 Patienten
(77 %) länger als zwölf Monate und sechs
Patienten (33 %) mehr als zwei Jahre. Bei der
überwiegenden Mehrzahl aller Fälle von
Lungenkrebs (ca. 80 %) handelt es sich um
nichtkleinzellige Bronchialkarzinome
(NSCLC). Bei den meisten NSCLC-Patien-
ten ist der Tumor bei Diagnosestellung
wegen des weit fortgeschrittenen lokalen
Wachstums oder infolge einer Metastasie-
rung bereits inoperabel. Von diesen Patien-
ten überleben nur wenige die nächsten fünf
Jahre (Jatoi et al. 2005).
In einer Studie an postmenopausalen Pa-
tientinnen mit Mammakarzinom reduzierte
die adjuvante orale Einnahme von Vitamin
C (500 mg/d) und Vitamin E (400 I. E./d)
gegenüber der Kontrollgruppe signifikant
die durch Tamoxifen-induzierte Hypertrig-
lyceridämie. Zusätzlich führte die Co-Ad-
ministration der beiden Antioxidanzien zu
einem Anstieg des HDL und Reduktion des
Gesamt- sowie des LDL-Cholesterins. Die
Autoren vermuten, dass die Effektivität der
Tamoxifentherapie durch eine definierte
orale Gabe von Antioxidanzien optimiert
werden kann.
In einer Studie an Patientinnen mit
Ovarialkarzinom, die mit Cyclophosphamid
und Cisplatin behandelt wurden, führte die
orale Supplementierung multipler Antioxi-
danzien mit Selen zu einer signifikanten Ver-
besserung des Immunstatus (→ Anzahl der
Neutrophilen) und einer Reduktion der
chemotherapieinduzierten Nebenwirkungs-
rate. Die Patientinnen (n = 31) erhielten
neben der zytostatischen Basistherapie über
einen Zeitraum von drei Monaten täglich
eine Antioxidanzien-Kombination aus
200 μg Selen (Selenhefe), 800 mg Vitamin C,
144 mg Vitamin E, 60 mg Betacarotin,
18 mg Vitamin B2 und 180 mg Vitamin B3,
aufgeteilt in vier Einzelgaben. Im Vergleich
zu den Kontrollen ohne Antioxidanzien
(n = 31) wiesen die Patientinnen der Anti-
oxidanzien-Gruppe nach drei Monaten
signifikant höhere Selenserumspiegel
(130,23 ± 64,30 gegenüber 51,41 ± 18,21 μg/l)
und eine höhere Aktivität der erythrozytä-
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
ren GSH-Peroxidase-Aktivität auf. Auch die
Anzahl der Leukozyten (z. B. neutrophile
Granulozyten) war in der Gruppe, die regel-
mäßig Antioxidanzien eingenommen hatte,
signifikant höher. Gegenüber der Kontroll-
gruppe war in der Antioxidanzien-Gruppe
die Häufigkeit chemotherapieassoziierter
Nebenwirkungen wie Appetitverlust, Übel-
keit, Erbrechen, Stomatitis, Haarausfall,
Flatulenz, abdominelle Schmerzen, Schwä-
che und Unwohlsein signifikant geringer.
Neurotoxische Symptome durch Cisplatin
traten bei einer Frau aus der Antioxidan-
zien-Gruppe und bei zwei Frauen in der
Kontrollgruppe auf.
17.8 Ergebnisse randomisierter
Studien
Ein systematischer Review (Block, Cancer
Treat Rev, 2007) kontrollierter randomisier-
ter Studien zum Einfluss von Antioxidan-
zien auf die Chemotherapie kommt zu dem
Schluss, dass die Supplementierung von An-
tioxidanzien sich nicht nachteilig auf die
Chemotherapie auswirkt, sondern eher
einen günstigen Einfluss auf die Neben-
wirkungsrate und die Tumorresponse hat.
In keiner der hierbei untersuchten Studien
war eine signifikante Beeinträchtigung der
Chemotherapie nachweisbar. Jedoch zeigten
viele Studien, dass die Supplementierung
von Antioxidanzien entweder die Über-
lebenszeit, die Tumorresponse oder beides
erhöhte sowie die Rate an Nebenwirkungen
gegenüber den Vergleichsgruppen ver-
ringerte (Block et al. 2007; Block et al.
2008).
Diese Daten werden durch die Ergeb-
nisse einer weiteren Publikation (Block,
Inter J Cancer, 2008) der gleichen Arbeits-
gruppe im International Journal of Cancer
unterstützt. Dabei erfolgte nach einem stan-
dardisierten Verfahren eine Literatur-
recherche von 1966 bis Oktober 2007 mit-
hilfe folgender Datenbanken: Medline,
367 17
Cochrane, CinAhl, AMED, AltHeal-
thWatch and EMBASE. Eingeschlossen
waren nur randomisierte, kontrollierte klini-
sche Studien, die Angaben zum Einfluss von
Antioxidanzien auf die chemotherapie-
assoziierte Toxizität machten. Nur 33 von
965 untersuchten Artikeln, mit 2446 Pro-
banden, entsprachen den angelegten Krite-
rien. Die Auswertung ergab, dass die Sup-
plementierung von Antioxidanzien während
der Chemotherapie vor allem die dosislimit-
ierende Toxizität der Zytostatika reduziert
und damit eine höhere Dosierung bei gleich-
zeitig besserer Verträglichkeit erlaubt. Die
Arbeitsgruppe fordert dennoch zurecht,
dass weitere sinnvoll strukturierte Studien
mit einer hohen Patientenanzahl und defi-
nierten Antioxidanzien notwendig sind, um
den Vorteil der adjuvanten Supplementie-
rung während der Chemotherapie zu be-
stätigen (Block et al. 2008).
ii Im Hinblick auf eine potenzielle Wechsel-
wirkung mit der Krebstherapie bewertet
das Amerikanische Krebsforschungs-
institut (AICR) die Einnahme von
Vitamin-Mineralstoff-Präparaten wäh-
rend der Chemo- und Strahlentherapie als
sicher, wenn die Präparate Vitamin- und
Mineralstoffmengen enthalten, die in der
Tagesportion im Bereich der normalen
Zufuhrempfehlungen der Ernährungs-
gesellschaften liegen (z. B. Deutsche Ge-
sellschaft für Ernährung). Um potenziell
negative Auswirkungen auf die Krebs-
therapie zu vermeiden, sollten Krebs-Pa-
tienten ohne Rücksprache mit ihrem Arzt
in jedem Fall auf die Einnahme von Vita-
minen und Mineralstoffen während der
Chemo- und Strahlentherapie verzichten,
die pro Tagesportion höhere Dosierungen
an Antioxidanzien (z. B. Vitamin C) ent-
halten als die täglich sichere und maxi-
male Aufnahmenge des entsprechenden
Mikronährstoffs (UL-Wert = Tolerable
Upper Intake level) bezeichnet (Brown
et al. 2003).
 368 U. Gröber
17.9 MARIE-Studie
In der aktuellen, populationsbasierten MA-
RIE-Studie (Mamma Carcinoma Risk Fac-
tor Investigating Study) flossen die Daten
von 2542 postmenopausalen Brust-
krebs-Patientinnen (Mamma Carcinoma
Risk Factor Investigating Study) ein. Die
Patientinnen wurden befragt im Rahmen
des Studieneinschlusses 2002–2005, danach
erneut im Jahr 2009. Eine Differenzierung
der einzelnen antioxidativen wirksamen
Substanzen oder ihrer Dosierung wurde
dabei nicht vorgenommen. Das Follow-up
erstreckte sich bis zum 30.06.2015. Die Ab-
schätzung der Hazard-Ratio (HR) und der
korrespondierenden Konfidenzintervalle er-
folgte mittels Cox-Regressionsanalyse. Das
Ergebnis: Eine Supplementierung erfolgte
vor bzw. nach Diagnose bei 36 % bzw. 45 %
der Frauen. Insgesamt 240 Todesfälle (134
brustkrebsbedingt) sowie 200 Brustkrebs-
rezidive wurden gesehen nach einem media-
nen Follow-up von sechs Jahren (ab Be-
fragungszeitpunkt 2009). In einem
Subgruppenvergleich von 1542 Patientin-
nen, die keine Antioxidanzien während
Chemo- und/oder Strahlentherapie ein-
genommen hatten, vs. 167 Patienten, die
während der Therapie Antioxidanzien ein-
genommen hatten, zeigten sich mehr Ereig-
nisse zuungunsten der parallelen Antioxi-
danzien.
Bezüglich der Gesamtmortalität, brust-
krebsspezifischer Mortalität und rezidiv-
freiem Überleben wurden 170 vs. 24, 94 vs.
16 und 252 vs. 39 Ereignisse gesehen. Nach
Adjustierung multipler Covariaten bzgl.
möglicher beeinflussender Faktoren (tumor-
17 und patientenspezifische Faktoren) zeigte
sich, dass die Einnahme von Antioxidanzien
parallel zu einer Chemotherapie oder
Strahlentherapie mit einer Verschlechterung
der Gesamtmortalität (HR 1,64; p = 0,04)
und der Rezidivfreiheit (HR 1,84; p = 0,002)
assoziiert war. Hinsichtlich der brustkrebs-
spezifischen Mortalität zeigte sich ebenfalls
eine Verschlechterung (HR 1,8; p = 0,06) für
eine parallele Supplementierung mit Anti-
oxidanzien, wenngleich nicht signifikant.
Eine Supplementierung von Brust-
krebs-Patientinnen mit Antioxidanzien
während einer Chemotherapie oder
Strahlentherapie war assoziiert mit einer
verschlechterten Prognose bei postmeno-
pausalen Frauen. Eine Overall-Assoziation
zwischen Supplementierung nach erhaltener
Diagnose und Prognose bei postmeno-
pausalen Brustkrebs-Patientinnen wurde
nicht nachgewiesen. Während einer brust-
krebsspezifischen Therapie sollten Antioxi-
danzien daher potenziell mit Vorsicht ver-
wendet werden (Jung et al. 2019).
Allerdings ist eine kritische Betrachtung
der MARIE-Studie notwendig, die deren
Aussagekraft deutlich relativiert:
1. In der Arbeit werden als Antioxidanzien
verschiedene Substanzen, wie Vitamin A,
Vitamin C, Vitamin E, Selen, Zink, se-
kundäre Pflanzenstoffe, sowie allgemein
Multivitamine zusammengefasst, die sich
chemisch bzw. hinsichtlich der bio-
logischen Wirkungsmechanismen im
Organismus doch erheblich unter-
scheiden. Die oben aufgeführten Subs-
tanzen zusammenzufassen und pauschal
den „Antioxidanzien“ zuzurechnen ist
wissenschaftlich nicht haltbar und teil-
weise auch unrichtig, wie z. B. bei Zink
und Selen. Eine entsprechende Empfeh-
lung kann daher nicht abgeleitet werden.
2. Ein entscheidender Kritikpunkt besteht
vor allem in der nicht den aktuellen
wissenschaftlichen Erkenntnissen ent-
sprechenden Einordnung von Selen bei
den Antioxidanzien. Selen ist ein essen-
zielles Spurenelement und selbst kein rei-
nes Antioxidanz. Neben seiner anti-
oxidativen Kapazität als Co-Faktor der
Glutathion-Peroxidasen, des Selenopro-
tein P und Thioredoxin-Reduktasen kön-
nen Krebsprävention und Zytoprotektion
auch durch eine selektive Aktivierung
von Wildtyp p53 in gesunden Zellen mit
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
konsekutivem Anstieg der DNA-Repara-
tur unterstützt werden. Ebenfalls ist
Selen in der Lage, eine überschießende
Aktivität des inflammatorischen
Transkriptionsfaktors NFκB zu mini-
mieren und damit einer Reduktion der
Produktion und Freisetzung in-
flammatorischer Zytokine im Sinne einer
Zytoprotektion zu bewirken.
3. Darüber hinaus wäre eine Subanalyse
nach Einzelsubstanzen notwendig ge-
wesen, wie es in vergleichbaren Publika-
tionen geschehen ist. Diese konnte je-
doch nicht durchgeführt werden
aufgrund der kleinen Fallzahl, wie die
Autoren selbst konstatieren. Ebenso kri-
tisch ist festzuhalten, dass keinerlei Do-
sierungen, genauen Zeiträume oder Ein-
nahmebesonderheiten angegeben sind.
Letztlich handelt es sich bei der MA-
RIE-Studie nur um eine Beobachtungs-
studie mit allen bezüglich der Methodik in-
härenten Schwächen und Ungenauigkeiten.
Zu fordern bleiben natürlich kontrollierte,
klinische Studien, um höhere Evidenzlevel
erreichen zu können! Richtig ist, dass Anti-
oxidanzien prinzipiell mit onkologischen
Therapien interagieren und kompromittie-
ren können – insbesondere eine Strahlen-
therapie –, wenngleich die Datenlage hierzu
durchaus lückenhaft ist! (Piroth et al. 2019)
17.10 Das Prä-Prohormon
Vitamin D
Nach aktuellen Studien dürfte ein Mangel
an Vitamin D [25(OH)D < 20 ng/ml bzw.
50 nmol/l] nicht nur die allgemeine sowie die
kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität
erhöhen, sondern auch ein wichtiger ätio-
logischer Faktor bei der Pathogenese zahl-
reicher Erkrankungen sein, wie zum Beispiel
Krebs (Bray et al. 2012; Fidler et al. 2017;
American Cancer Society 2015). Krebs-Pa-
tienten haben häufig einen Vitamin-D-Man-
gel, der einen negativen Einfluss auf den
369 17
Krankheitsverlauf und die Therapie hat. In
einer aktuellen Studie an 160 Krebs-Patien-
ten war bei 74 % der Patienten entweder ein
ausgeprägter (25(OH)D < 20 ng/ml) oder
ein moderater Vitamin-D-Mangel bzw. eine
Vitamin-D-Insuffizienz (25(OH)D < 30 ng/
ml) nachweisbar (Gröber 2009). In Studien
korreliert ein Vitamin-D-Mangel mit dem
vermehrten Auftreten von Brust- und Dick-
darmkrebs sowie mit einem ungünstigen
Verlauf von Non-Hodgkin-Lymphomen
(Ströhle et al. 2010; Gröber et al. 2016). Bei
Patienten mit Kolonkarzinom und bei Pa-
tientinnen mit Mammakarzinom hat sich
der Vitamin-D-Status als unabhängiger pro-
gnostischer Faktor für das Überleben er-
wiesen (Gröber et al. 2010; Micke et al.
2009; D’Andrea 2005). Auch bei Schild-
drüsenkrebs sollte auf einen ausgeglichenen
Vitamin-D-Haushalt geachtet werden, wie
aktuelle Studien belegen (Block et al. 2007).
Ein Polymorphismus des Vitamin-D-Re-
zeptor-Gens ist mit einer ungünstigen Prog-
nose beim schwarzen Hautkrebs verbunden.
Studien zeigen, dass ein guter 25(OH)D-Sta-
tus das Melanom-Risiko senkt sowie die
Prognose und Überlebenszeit von Mela-
nom-Patienten verbessert. In einer aktuellen
retrospektiven Kohortenstudie der Uni-
versität Homburg/Saar mit 162 Mela-
nom-Patienten war ein guter 25(OH)D-Sta-
tus (24,4–59,6 ng/ml) gegenüber einem
ausgeprägten Vitamin-D-Mangel (25(OH)
D) D: 4–9,8 ng/ml) mit einer um 115 Mo-
nate (= 9,5 Jahre) längeren Überlebenszeit
verbunden (p = 0,049) (Block et al. 2008).
In einer Studie des deutschen Krebs-
forschungszentrums (DKFZ) an 2759 post-
menopausalen Frauen im Alter von 50 bis 74
Jahren zeigte sich, dass eine gute Vitamin-D-
Versorgung (25(OH)D > 30 ng/ml) gegen-
über einem ausgeprägten Vitamin-D-Man-
gel (25(OH)D < 12 ng/ml) das Risiko für
Brustkrebs um 69 % reduziert (p(trend)
< 0,0001) (Mücke 2010). In einer prospekti-
ven Kohorten-Studie beobachteten kanadi-
sche Wissenschaftler vom Mount Sinai Hos-
pital in Toronto den Krankheitsverlauf von
 370 U. Gröber
512 Frauen mit Brustkrebs etwa zwölf Jahre
lang, von 1997 bis 2008. Das Durchschnitts-
alter der Frauen betrug bei Diagnosestellung
50,4 Jahre. 37,5 % der Patientinnen mit
Brustkrebs hatten bei Diagnosestellung
einen Vitamin-D-Mangel [25(OH)D < 20 ng/
ml bzw. < 50 nmol/l]. Nur 24 % der be-
troffenen Frauen hatten einen fast normalen
Vitamin-D-Status [25(OH)D > 29 ng/ml
bzw. 72 nmol/l]. Ein Vitamin-D-Mangel war
mit dem Auftreten aggressiverer Brustkrebs-
formen verbunden. Nach zwölf Jahren war
bei Frauen mit einem Vitamin-D-Mangel
das Risiko für eine Metastasierung gegen-
über denjenigen mit normalen Vita-
min-D-Status um 94 % erhöht (hazard ratio
[HR] = 1,94; 95 % CI, 1,16 to 3,25). Die
Wahrscheinlichkeit, vorzeitig an der Er-
krankung zu versterben, stieg bei einem Vit-
amin-D-Mangel um 73 % (HR = 1,73; 95 %
CI, 1,05 to 2,86) (Micke et al. 2009). Eine
aktuelle Meta-Analyse mit 4443 Brust-
krebs-Patientinnen, zeigt, dass Patientinnen
mit einem normalen 25(OH)D-Status
(~30 ng/ml) gegenüber Patientinnen mit
einem Vitamin-D-Mangel 25(OH-)D ~17 ng/
ml) nahezu eine doppelt so hohe Wahr-
scheinlichkeit haben, die Krebserkrankung
zu überleben (Gröber 2018).
In einer placebokontrollierten Doppel-
blindstudie an 1179 postmenopausalen
Frauen im Alter von über 55 Jahren wurde
der Einfluss von täglich 1400 mg Calcium,
der Kombination von 1400 mg Calcium und
1100 I. E. Vitamin D oder Placebo auf das
Krebsrisiko über einen Zeitraum von vier
Jahren erfasst. Unter der Kombination von
Calcium und Vitamin D stieg der 25(OH)D-
Spiegel von 28,7 ng/ml auf 38,4 ng/ml an. In
17 den beiden anderen Gruppen blieb der Vita-
min-D-Status unverändert. Nach Ablauf
der vier Jahre war im Vergleich zur Place-
bo-Gruppe das relative Risiko (RR), an
Krebs zu erkranken, in der Calcium+Vita-
min-D-Gruppe um 60 % reduziert (RR:
0,402, CI: 0,20, 0,82; p = 0,013), in der Cal-
cium-Gruppe alleine um 47 % (RR: 0,532,
CI:0,27, 1,03; p = 0,063). Eine erneute Aus-
wertung mithilfe der logistischen Regression
zum krebsfreien Überleben nach zwölf Mo-
naten zeigte, dass das relative Risiko in der
Calcium+Vitamin-D-Gruppe sogar signi-
fikant um 77 % reduziert worden war (RR
0,232, CI: 0,09, 0,60, p < 0,005). Die Daten
in der Calcium-Gruppe alleine blieben aller-
dings nahezu unverändert (RR: 0,587, CI:
0,29, 1,21; p = 0,147) (Tong et al. 2009).
Eine aktuelle Meta-Analyse vom DKFZ
bei der acht prospektive Kohortenstudien
aus Europa und den USA mit über 26.000
Männer und Frauen (Alter: 50–79 Jahre)
ausgewertet wurden, konnte ebenfalls einen
signifikant inversen Zusammenhang zwi-
schen dem 25(OH)D-Spiegel im Serum und
der Krebssterblichkeit zeigen. Danach
haben Krebs-Patienten mit einem aus-
geprägten Vitamin-D-Mangel 25(OH)D
≤ 10 nmol/l) ein 1,7-fach erhöhtes Risiko, an
ihrer Erkrankung zu versterben – im Ver-
gleich zu Krebs-Patienten mit einem guten
25(OH)D-Status ≥ 90 nmol/l (= 36 ng/ml)
(risk ratio: 1,70; 95 % CI 1,00–2,88) (Boz-
zetti und SCRINIO Working Group 2009).
Trotz der eigenen Ergebnisse und der zahl-
reichen internationalen Assoziations-
studien, die auf einen Zusammenhang zwi-
schen dem 25(OH)D-Status und der
allgemeinen sowie der Krebssterblichkeit
hinweisen, empfiehlt das DKFZ bedauer-
licherweise in seiner Pressemitteilung 33
vom 9. Juli 2014 unter der Rubrik Presse-
und Öffentlichkeitsarbeit betroffenen
Krebs-Patienten nicht, Vitamin D3 bei einem
Vitamin-D-Mangel zu supplementieren
(Bray et al. 2012; Laviano und Meguid 1996;
Holzhauer et al. 2016; Tisdale 2009; Seela-
ender et al. 2015; Fedeles et al. 2015; Russell
und Tisdale 2005). Stattdessen sollte man,
bis gesicherte Erkenntnisse zur Vitamin-D-
Einnahme vorliegen, „in der warmen Jahres-
zeit wohldosiert Sonne tanken – am besten in
der Kombination mit Sport und Bewegung im
Freien. So könnte jeder eine ausreichende
Vitamin-D-Versorgung sicherstellen und ein
Depot für den Winter anlegen“ (Bray et al.
2012; Gröber 2019). Es ist unrealistisch, zu
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
glauben, man könnte durch den Aufenthalt
im Freien während des Sommers den
25(OH)D-Status derart erhöhen, dass man
über die gesamte Winterzeit in Deutschland
einen guten 25(OH)D-Status hat. Die Halb-
wertszeit von 25(OH)D beträgt nur etwa 2–3
Wochen, sodass der 25(OH)D-Status bei
den meisten Menschen, die oberhalb des
34°-Breitengrades leben, spätestens 1–2 Mo-
nate nach den Sommermonaten wieder ab-
fällt. Von Oktober bis April ist in der Regel
eine kutane Vitamin-D-Bildung in Deutsch-
land mithilfe der Sonne nicht möglich (Bray
et al. 2012; American Cancer Society 2015;
Gröber 2019; Fakih 2007; Vickers et al.
2013; Knijn et al. 2011).
In einer aktuellen Meta-Analyse aus
dem Jahr 2016 war ein 25(OH)D-Status von
≥ 40 ng/ml gegenüber einem 25(OH)D-Sta-
tus von 20 ng/ml mit einem 70 % reduzierten
Risiko, an Krebs zu erkranken, assoziiert
(Gröber et al. 2013). Krebs-Patienten haben
häufig einen Vitamin-D-Mangel, der einen
negativen Einfluss auf den Krankheitsver-
lauf und die Therapie hat.
Bei Brustkrebs-Patientinnen konnte
unter einer Anthrazyklin- und Taxanhaltigen
Polychemotherapie ein deutlicher Abfall des
25(OH)D-Spiegels beobachtet werden
(Chen et al. 2013). Einige Zytostatika (z. B.
Docetaxel) sind Liganden des Preg-
nan-X-Rezeptors und können unter ande-
rem über die Induktion der 24-Hydroxylase
(24-OHase) den enzymatischen Abbau von
25(OH)D und 1,25(OH)2D fördern (Fink
2011; Prieto-Alhambra et al. 2011). Doceta-
xel ist ein bekannter Auslöser kutaner
Nebenwirkungen und Geschmacks-
störungen. Ein Vitamin-D-Mangel kann
das Auftreten einer chemotherapie-
induzierten Mukositis und Dysgeusie be-
günstigen. In Fallberichten konnten muko-
kutane Nebenwirkungen (z. B. Stomatitis)
und Geschmacksstörungen, die bei
Krebs-Patienten unter einer Polychemo-
therapie mit TCH oder FOLFOX6 auf-
traten, erfolgreich durch die Supplementie-
rung von Vitamin D behandelt werden
371 17
(Khan et al. 2010a; Favus 2010). Auch Arth-
ralgien oder eine abnehmende Knochen-
dichte unter der Therapie mit Aromatase-
hemmern (AI) wie Letrozol konnten durch
die labordiagnostisch validierte Supplemen-
tierung von Vitamin D (z. B. 50.000 I. E. Vi-
tamin D/Woche für 12 Wochen, p. o.) bei
Brustkrebs-Patientinnen mit Vita-
min-D-Mangel deutlich verringert werden
(Carmel et al. 2012).
Ähnliche Ergebnisse liegen zum Einsatz
von Bisphosphonaten vor. Nach einer aktuel-
len Arbeit von Favus ist bei einem Vita-
min-D-Mangel eine Therapie mit Bisphos-
phonaten kontraindiziert (Berruti et al.
2012). Der 25(OH)D-Spiegel sollte vor Be-
ginn einer derartigen Therapie grundsätz-
lich ≥32 ng/ml liegen. Die ossäre Wirksam-
keit der Bisphosphonate kann gemäß den
aktuellen Daten bei einem adäquaten Vita-
min-D-Status (25(OH)D ≥ 32 ng/ml) ver-
bessert sein. Dies könnte damit zusammen-
hängen, dass erst ab einem 25(OH)D- Spiegel
von ≥ 40ng/ml kein starker Anstieg der
Parathormonspiegel mehr nachweisbar ist
(Gröber et al. 2016; Prieto-Alhambra et al.
2011; Bedogni et al. 2012). Ein sekundärer
Hyperparathyreoidismus findet sich häufig
bei Prostatakarzinom-Patienten mit
Knochenmetastasen, der sich unter der Ap-
plikation von potenten Bisphosphonaten
wie Zolendronsäure verschärfen kann. Er-
höhte Parathormon-Spiegel können die
Effektivität der Bisphosphonate im Hin-
blick auf ihre ossäre Wirkung, aber auch
auf die Überlebenszeit der behandelten Pa-
tienten beeinträchtigen. Dies zeigen erneut
die Ergebnisse einer aktuellen prospektiven
Studie an 643 Patienten mit metastasiertem,
hormonrefraktärem Prostatakarzinom, bei
der erhöhte PTH-Spiegel negativ mit der
Überlebenszeit assoziiert waren (HR 1,448;
95 % CI, 1,045–2,006; p < 0,03) (Bergman
et al. 2015). Krebs-Patienten, die eine intra-
venöse Bisphosphonat-Therapie erhalten,
haben ein 2,7- bis 4,2-fach erhöhtes Risiko
für eine Bisphosphonat-induzierte Kiefer-
nekrose (BRONJ) im Vergleich zu Patienten,
 372 U. Gröber
die keine intravenöse Therapie erhalten. Bei
der Pathogenese der Kiefernekrose spielt
eine fehlende Heilung des Mundepithels, die
mit einer gestörten Funktion der Keratino-
zyten einhergeht, eine zentrale Rolle. Letz-
tere brauchen zu ihrer Differenzierung Vita-
min D, welches gleichzeitig ihre
überschießende Proliferation hemmt. Das
Risiko einer Bisphosphonat-bedingten
Osteonekrose der Kieferknochen kann nach
aktuellen Studien durch die Supplementie-
rung von Vitamin D reduziert werden (Dev
et al. 2011). Bei palliativen Krebs-Patienten
kann die Supplementierung von Vitamin D
auch den Bedarf an Opoid-haltigen An-
algetika zu verringern, wie erste Unter-
suchungen zeigen (Bittenbring et al. 2014).
Dabei dürften analgetische und anti-in-
flammatorische Effekte des Sonnenhormons
eine Rolle spielen. Bei Krebs-Patienten mit
fortgeschrittener Erkrankung kann Vitamin
D dazu beitragen, dass das Risiko für Fa-
tigue und Kachexie verringert wird (Bitten-
bring et al. 2014). Bei Tumoranämie sollte in
jedem Fall an Vitamin D gedacht werden,
da es die Hepcidin-Ferroportin-Achse regu-
liert und den Eisenstatus verbessert.
Rituximab ist ein monoklonaler Anti-
körper gegen das Oberflächenantigen
CD20. Dieses Oberflächenantigen wird
hauptsächlich von B-Lymphozyten ex-
primiert. Rituximab wird in der Krebs-
therapie zusätzlich zum CHOP-Schema zur
Behandlung von Non-Hodgkin-Lympho-
men (z. B. diffus-großzelliges B-Zell-Lym-
phom) eingesetzt. Dabei bindet Rituximab
an CD20 und mobilisiert so die körper-
eigene Immunantwort. Zusätzlich be-
sitzt der Antikörper eine abtötende Wir-
17 kung auf die CD20-positive Zelle. Ein
Vitamin-D-Mangel kann die Antikörper-
therapie bei Lymphompatienten unwirksam
machen und die Überlebensrate senken,
wie aktuelle Studien an älteren Patienten
mit diffus-großzelligem B-Zell-Lymphom
(DLBCL) zeigen. Ältere Krebs-Patienten
mit diffus-großzelligem B-Zell-Lymphom,
die eine Therapie mit dem monoklonalen
Antikörper Rituximab erhalten und einen
Vitamin-D-Mangel haben, weisen ein
schlechteres ereignisfreies 3-Jahres-Uber-
leben und Gesamtüberleben als Patienten
mit normalem Vitamin-D-Spiegel auf. Eine
Supplementierung von Vitamin D normali-
sierte bei Kontrollpersonen die verminderte
Rituximabvermittelte zelluläre Zytotoxizi-
tät (Bittenbring et al. 2014; Hohaus et al.
2018; Gröber et al. 2020). Laut den neus-
ten Publikationen des DKFZ aus dem Fe-
bruar 2021 haben mittlerweile über drei
Meta-Analysen klinischer Studien in den
letzten Jahren eindeutig ergeben, dass die
Supplementierung von Vitamin D mit einer
Reduktion der Krebsmortalität um etwa
13% assoziiert ist (Niedermaier et al. 2021).
Diese Ergebnisse haben die Wissenschaftler
nun auch auf die Situation in Deutsch-
land übertragen und dabei errechnet: Bei
einer Vitamin-D-Supplementierung aller
Deutschen über 50 Jahre könnten mög-
licherweise bis zu 30.000 Krebstodesfälle
pro Jahr vermieden und mehr als 300.000
Lebensjahre gewonnen werden – bei gleich-
zeitiger Kostenersparnis! Dabei entnahmen
die Forscher die Kosten für eine Krebs-
behandlung der wissenschaftlichen Litera-
tur und gingen von mittleren zusätzlichen
Behandlungskosten von 40.000 Euro allein
für das letzte Lebensjahr, der an Krebs ge-
storbenen Patienten aus. Eine um 13 % ver-
ringerte Krebssterblichkeit in Deutschland
entsprach im Jahr ca. 30.000 weniger krebs-
bedingten Todesfällen, deren Behandlungs-
kosten sich in der Modellrechnung auf
1,154 Milliarden € beliefen. Verglichen mit
den Kosten für die Vitamin-D-Supplemen-
tierung errechnet sich in diesem Modell
eine Einsparung von jährlich 254 Mio. €. !
iiEmpfehlungen für die onkologische
Praxis
Der Vitamin-D-Status sollte grundsätzlich
bei allen Krebs-Patienten (25(OH)D,
Serum) bei Diagnosestellung kontrolliert
und durch adäquate Supplementierung
kompensiert werden (25(OH)D-Zielwert:
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
40–60 ng/ml bzw. 100–150 nmol). Dies gilt
insbesondere für Krebs-Patienten mit
schlechtem Ernährungsstatus, Therapien
mit Anthrazyklin-, Platin-, Taxan- und
monoklonaler Antikörperhaltigen Chemo-
therapie sowie bei muskulären, muko-
kutanen Störungen, Tumoranämie, Fa-
tigue und Tumorkachexie.
17.11 Selen als Natriumselenit
Selen ist ein für die Gesundheit des Men-
schen essenzielles Spurenelement, seine bio-
logischen Aktivitäten und anti-kanzerogene
Eigenschaften dürften überwiegend resultie-
ren aus dem Einbau in Form der 21. protei-
nogenen Aminosäure Selenocystein in Sele-
noproteine, kodiert von 25 verschiedenen
menschlichen Genen. Selenoproteine, wie
u. a. die Glutathion-Peroxidase, die Thiore-
doxin-Reduktase und Selenoprotein P, sind
für die optimale Funktion der Immunzellen
bei der Regulierung des Redox-Status und
der Kontrolle von oxidativem Zellstress eine
große Rolle. Darüber hinaus ist die Kont-
rolle von Entzündungsreaktionen über den
Transkriptionsfaktor NfkappB dabei von
zentraler Bedeutung (Bellinger et al. 2009).
Pharmakodynamische Befunde legen nahe,
dass Selenit verschiedene, in Krebszellen
zentrale Signaltransduktionswege ansteuert
und die multimodal regulierte Apoptose in-
duziert (Wallenberg et al. 2014a, b).
In anti-inflammatorischer, anti-ödemato-
ser Intention kann Selen ebenfalls erfolgreich
beim operativ und radiotherapeutisch in-
duzierten Lymphödem von Patienten mit
Kopf-Hals-Tumoren und Mammatumoren
eingesetzt werden. Dieses Potenzial wird durch
ca. 50 unterschiedliche Selenoproteine ver-
mittelt, deren Biosynthese durch 25 separate
Gene im Menschen kodiert wird. Für diese
Biosynthese ist eine ausreichende Selenver-
sorgung essenziell. Selen hat in zahlreichen
Studien krebspräventive und zytoprotektive
Wirkungen (Chemo- und Strahlentherapie) so-
wohl experimentell als auch klinisch gezeigt.
373 17
Zwei Cochrane-Reviews aus den Jahren
2011 und 2014 untersuchten zum einen, ob
es eine Beziehung zwischen Selenzufuhr und
Krebsrisiko gibt, zum anderen die Wirksam-
keit der Selensupplemente bei der Krebsvor-
sorge. Die Analyse beinhaltete 49 prospek-
tive nicht interventionelle Studien und sechs
randomisierte klinische Tests. Nach epi-
demiologischen Studien erkranken Perso-
nen mit einer besseren Selenversorgung we-
niger häufig an Krebs (OR: 0,69; 95 % VI:
0,53–0,91) und zeigen eine geringere krebs-
bedingte Sterblichkeit (OR: 0,55; 95 % VI:
0,36–0,83). Die Effekte auf die Krebs-
inzidenz waren deutlicher bei Männern als
bei Frauen (OR: 0,66; 95 % VI: 0,42–1,05
bzw. OR: 0,90; 95 % VI: 0,45–1,77) (Dennert
et al. 2011; Vinceti et al. 2014).
Fünf randomisierte Studien be-
schäftigten sich mit der Frage, ob die toxi-
schen Auswirkungen einer Chemo- oder
Strahlentherapie durch gleichzeitige Gabe
von hochdosiertem Selen abgemildert, die
primären Effekte der onkologischen Be-
handlung dabei aber nicht beeinträchtigt
werden (. Tab. 17.3).
Eine aktuelle Phase-I-Studie (SE-
CAR-Studie) beschäftigt sich mit der Sicher-
heit und Wirksamkeit von intravenös verab-
reichtem Natriumselenit bei Krebs-Patienten
(n = 34; 70 % davon mit Lungenkarzinom)
mit Resistenz gegen Zytostatika. Erst nach
einer intravenösen Gabe von Selen erhielten
die Patienten eine First-line-Chemotherapie,
um das veränderte Ansprechen auf die Zy-
tostatika untersuchen und hinsichtlich mög-
licher günstiger klinischer Effekte eine erste
Bewertung vornehmen zu können. Be-
merkenswerterweise sprachen viele Patien-
ten der Studie nach intravenöser Applika-
tion von Natriumselenit wieder auf ihre
First-line-Chemotherapie an. Diese Ergeb-
nisse bestätigen andere Befunde und weisen
darauf hin, dass Natriumselenit an sich für
eine Untergruppe von Tumorpatienten kli-
nisch hilfreich ist und dass weiterhin dessen
Wirkungen im Zusammenspiel mit einer
nachfolgenden Chemotherapie zu einem po-
 374 U. Gröber
..      Tab. 17.3 Studien zu den Auswirkungen der Gabe von hoch dosiertem Selen während der Chemo-
oder Strahlentherapie (Literatur siehe (Mücke 2010))
Autor Design
Hu et al. Patienten mit verschiedenen soliden
1997 Tumoren, Chemotherapie mit
Cisplatin (n = 41)
Randomisierte Crossover-Studie
Gabe von 4 mg/d Selen (als Selen-kap-
pa-Carrageenan) für 4 Tage vor und
für 4 Tage nach dem ersten und
zweiten Chemotherapiezyklus
Sieja und Patientinnen mit Ovarialkarzinom
Talerczyk und Chemotherapie (Cisplatin,
2004 Cyclophosphamid; n = 31):
Selen 200 μg/d
Kontrollpatientinnen ohne Selen-Sup-
plementierung
Asfour Patienten mit kürzlich diagnostizier-
et al. tem Non-Hodgkin-Lymphom
2006/2007 (n = 50)
Studie randomisiert, offen (open-la-
bel):
Chemotherapie + Natriumselenit
200 μg/kg/d
Chemotherapie gemäß CHOP-Pro-
gramm
Büntzel Patienten mit fortgeschrittenen
et al. 2010 Tumoren im Kopf-Hals-Bereich und
Bestrahlungstherapie (n = 39)
Studie randomisiert, offen:
Gruppe A mit Natriumselenit (500 μg
an den Bestrahlungstagen, 300 μg an
den anderen Tagen; n = 22)
Gruppe B ohne Selen-Supplementie-
rung (n = 17)
Mücke Patientinnen mit Gebärmutter oder
et al. 2010 Gebärmutterhalskrebs (n = 81) in der
Bestrahlungsphase nach der
chirurgischen Entfernung des Tumors
und mit einer Selen-Serum-
17 konzentration < 84 μg/l
Studie randomisiert, offen:
Gruppe A mit Natriumselenit (500 μg
an den Bestrahlungstagen, 300 μg an
den anderen Tagen; n = 39)
Gruppe B ohne Selen-Supplementie-
rung (n = 42)
CHOP: Cyclophosphamid, Doxorubicin, Vincristin, Prednison
Ergebnisse
Mit Selen-Supplementierung: eindeutig höhere
Leukozytenzahl 14 Tage nach Ende der Chemo-
therapie (3,35 ± 2,01 × 109/l vs. 2,31 ± 1,38 × 109
Geringerer Bedarf an Bludtransfusionen (0 vs.
62 ± 38 ml, p < 0,05)
Signifikanter Anstieg des Serum-Selenspiegels,
der Glutathionperoxidase-Aktivität in den
Erythrozyten (nach 2 und 3 Monaten) und in
den Leukozyten (nach 3 Monaten); signifikante
Reduktion der Alopezie, Blähungen, Abdominal-
schmerzen, des Schwächegefühls und des
Appetitverlusts
Signifikanter Rückgang des Tumormarkers
Bcl-2 in der Supplement-Gruppe nach 30 Tagen
(Endwert: 8,6 ± 6,9 ng/ml vs. 36,9 ± 7,9 ng/ml;
p < 0,05 für die Prüfsubstanz vs. Placebo)
Vollständige Ansprechrate: 60 vs. 40 %
Mediane Gesamtüberlebensrate bei Patienten
mit vollständiger Remission: 21,9 ± 1,4 Monate
vs. 19,7 ± 2,0 Monate; p = 0,01
Dysphagie (Schluckbeschwerden): 22,7 vs.
35,3 %; Veränderung des Geschmacks-
empfindens: 22,7 vs. 47,1 %; Mundtrockenheit:
22,7 vs. 23,5 %; Stomatitis: 36,4 vs. 23,5 %
Nur der Rückgang der Schluckbeschwerden in
der letzten Woche der Bestrahlungstherapie war
statistisch signifikant.
Signifikanter Anstieg des Serum-Selenspiegels in
Gruppe A am Ende der Studie
Stahlungsbedingte Diarrhoe (Stufe ≥ 2) am Ende
der Studie: 20,5 vs. 44,5 % (p = 0,04)
Keine Unterschiede hinsichtlich Bluttests, dem
funktionellen Status oder der Lebensqualität
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
sitven Behandlungsresultat beitragen. Die
Erkenntnisse aus diesen Studien legen drei
antikanzerogene Wirkungsmechanismen
des Natriumselenits nahe: Die Substanz hat
einen Anti-Tumor-Effekt per se, sie kehrt
eine Chemoresistenz um und mildert toxi-
sche Nebenwirkungen der Chemotherapie.
In dieser Studie zeigte sich Natriumselenit,
intravenös appliziert bis zu 10,2 mg/m2 nach
geltendem Protokoll, als sicher und gut ver-
träglich (Brodin et al. 2015). Auch die
radiogenbedingten Nebenwirkungen auf die
Speicheldrüsen konnten in einer aktuellen
placebokontrollierten Studie an Patienten
mit Schilddrüsenkarzinom im Rahmen der
Radiojod-Therapie mit dem radioaktiven
Jod-Isotop131 signifikant reduziert werden
(Son et al. 2017). Auch zeigen die ersten kli-
nischen Interventionsstudien, dass Natrium-
selenit während der Strahlentherapie Neben-
wirkungen reduziert (z. B. radiogene
Diarrhö) sowie einen günstigen Einfluss auf
den Krankheitsverlauf und den Therapie-
erfolg hat. Dabei konnte keine Beein-
trächtigung der Strahlentherapie durch
Selen nachgewiesen werden! (Muecke et al.
2013; Puspitasari et al. 2014)
Empfehlungen für die klinische Praxis
Für die klinische Praxis ist wegweisend,
nach entsprechenden Laborunter-
suchungen, wenn immer möglich jeg-
lichen Mangel an Selen auszugleichen.
Die hier vorgestellten Studien zeigen,
dass ein Anheben des Selen-Serum-
spiegels die toxischen Nebenwirkungen
von Chemo- und Bestrahlungstherapien
vermindern, ohne gleichzeitig deren pri-
märe Anti-Tumor-Effekte zu beein-
trächtigen. Dies entspricht auch den Er-
fahrungen aus der Praxis mit
Natriumselenit (z. B. 1000 μg Natrium-
selenit in 100 ml 0,9 % NaCl als Prä-
medikation von einer Chemotherapie).
Ein Selen-Serumspiegel zwischen 130 und
150 μg/l ist anzustreben. In der Onkologie
375 17
ist das Seleniumsalz der ersten Wahl
Natriumselenit. Selenomethionin wird
unspezifisch anstelle von Methionin ein-
gebaut und reichert sich deshalb in Orga-
nen und Geweben an (Gröber et al. 2016;
Mücke 2010).
17.12 Molekulares Jod
in der adjuvanten
Brustkrebstherapie
Molekulares Jod (I2: 5 mg/d, Zeitraum: 170
Tage) verbessert in einer aktuellen Pilot-
studie die Effektivität der Chemotherapie
(FEC/TE), reduziert chemotherapie-
induzierte Nebenwirkungen (z. B. Neutrop-
enie) und steigert das krankheitsfreie Über-
leben (v. a. in fortgeschrittenen Stadien,
z. B. Stadium III). Darüber hinaus induziert
molekulares Jod die Re-Differenzierung der
Tumorzelle und Reaktivierung der Anti-
tumorresponse des Immunsystems. Wenn
diese Ergebnisse durch größere Inter-
ventionsstudien bekräftigt werden, dürfte
molekulares Jod einen festen Stellenwert in
der adjuvanten und supportiven Onkologie
gewinnen (Morena-Vega et al. 2019).
17.13 Omega-3-Fettsäuren
(EPA/ DHA)
Ernährungs- und therapiebedingt kommt es
bei Tumorpatienten häufig zu einer diäteti-
schen Unterversorgung an den essenziellen
langkettigen Omega-3-Fettsauren (Azrad
et al. 2013; Liu und Ma 2014). Eine aktuelle
Meta-Analyse von 21 prospektiven Ko-
hortenstudien mit über 883.585 Frauen
zeigt, dass der regelmäßige Verzehr von Ω-3-
Fettsäuren-reichen Fischarten oder die Sup-
plementierung von EPA/DHA-haltigen
Ölen das Brustkrebsrisiko signifikant senkt.
Die antikanzerogenen Effekte waren dabei
dosisabhängig: Die Aufnahme von 0,1 g
 376 U. Gröber
Ω-3-Fettsäuren pro Tag senkte das Brust-
krebsrisiko um 5 %. EPA wirkte dabei etwas
stärker protektiv als DHA.
In verschiedenen Studien an Patienten
mit Tumorkachexie (z. B. Pankreas-
karzinom) und fortgeschrittener Tumor-
erkrankung konnte ein günstiger Effekt auf
die Gewichtsstabilisierung, die chemo-
therapieassoziierten Nebenwirkungen, die
Chemosensitivität, den Appetit und die
Lebensqualität, zum Teil auch auf die Über-
lebensrate, durch die Supplementierung der
langkettigen, mehrfach ungesättigten
Omega-3-Fettsäure Eicosapentaensäure
(EPA) (z. B. 3 g EPA pro Tag) beobachtet
werden.
Die antikachektisch und antientzündlich
wirkenden Omega-3-Fettsäuren EPA und
DHA inhibieren die TNF-α- und PIF-Sig-
naltransduktionskaskade, wobei dabei der
Hemmung des NFkappaB-Systems eine
Schlüsselstellung zukommt. Die Produktion
von proinflammatorischen und Kache-
xie-fördernden Zytokinen wie IL-1β, IL-6
und TNF-α wird durch EPA und DHA
downreguliert, und die katabolen Wirkun-
gen des Proteolysis Inducing Factor (PIF)
auf das Muskelprotein und der LMF-indu-
zierten Lipolyse werden verringert. Auf-
grund ihrer ausgeprägten antientzündlichen
Eigenschaften wirken EPA und DHA dem
Gewichtsverlust bei Tumorpatienten ent-
gegen und können Chemotherapie-in-
duzierte Nebenwirkungen verringern
(z. B. Neuropathien) (Shen et al. 2018;
Uvgur et al. 2014; Manni et al. 2015; Wan
et al. 2016). In einer randomisierten Studie
konnte durch die Gabe von langkettigen
Omega-3-Fettsauren eine signifikante Ver-
17 längerung der Überlebenszeit sowohl bei
mangelernährten als auch bei gut ernährten
Tumorpatienten mit generalisierten soliden
Tumoren im Vergleich zu Placebo erzielt
werden. Erste Studien geben auch Hinweise
darauf, dass EPA und DHA die krebszell-
toxische Wirkung der Chemo- und Strahlen-
therapie unterstützen können (Nabavi et al.
2015).
Ob Tumorpatienten alimentär aus-
reichend mit EPA und DHA versorgt sind,
kann labordiagnostisch mit der Bestimmung
des Omega-3-Index überprüft werden. Der
Omega-3-Index erfasst den prozentualen
Anteil (%) von EPA/DHA an der Gesamt-
fettsäuremenge in der Membran der Eryth-
rozyten. Ein Omega-3-Index (über 8 % bis
11 %) zeigt eine gute alimentäre Versorgung
mit EPA/DHA an, während ein Wert < 4 %
eine unzureichende Versorgung und er-
höhten Bedarf an Omega-3-Fettsäuren an-
zeigt (Thuppal et al. 2017).
Im Rahmen einer aktuellen Literatur-
recherche wurden relevante klinische Inter-
ventionsstudien ausgewertet, die bis August
2020 durchgeführt wurden. In den 57 Krebs-
studien wurde die Supplementierung von
EPA/DHA vor oder nach der Behandlung,
gleichzeitig mit einer neoadjuvanten
Chemotherapie, Bestrahlung oder Opera-
tion oder palliativ bewertet. Untersucht
wurden dabei Brust-, Kopf- und Hals-, Ma-
gen-Darm-, Magen-, Darm-/Rektal-,
Speiseröhren-, Leukämie/Lymphom-, Lun-
gen-, Bauchspeicheldrüsenkrebs und Mul-
tiples Myelom.
>>Ergebnisse: Über das gesamte Spektrum
der Krebsarten hinweg deuten die Er-
gebnisse darauf hin, dass die Supple-
mentierung von EPA/DHA in der Krebs-
therapie das
55 Körpergewicht bei den Betroffenen
stabilisiert,
55 progressionsfreie Überleben erhöht
und das Gesamtüberleben sowie die
allgemeine Lebensqualität verbessert,
55 Immunparameter bei den betroffenen
Krebspatienten günstig beeinflusst
werden und
55 schwerwiegende unerwünschte
Ereignisse verringert werden.
Ω-6-/Ω-3-Ratio sollte bei Krebspatienten <
2,5 sein. Als Verlaufskontrolle bei der Er-
nährungsumstellung sollte der Ω-6-/Ω-3-
Quotient kontrolliert werden. Bei einem
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
Quotienten von 20:1 sollten 2 Esslöffel
Fischöl pro Tag, bei 15:1 1 Esslöffel pro Tag,
bei 7:1 1 Esslöffel an den fischfreien Tagen
eingenommen werden. Erste Arbeiten geben
auch Hinweise darauf, dass EPA und DHA
die krebszelltoxische Wirkung der Chemo-
und Strahlentherapie verbessern können.
Bei Krebs wird empfohlen, täglich mindes-
tens 3-4 g EPA und DHA zu supplementie-
ren (Gröber, 2021).
Empfehlungen für die onkologische
Praxis
Der Omega-3-Index sollte grundsätzlich bei
allen Krebs-Patienten bei Diagnosestellung
kontrolliert und durch adäquate Supple-
mentierung (z. B. 3–4 g EPA/DHA pro Tag
als Algenöl) kompensiert werden (Zielwert:
8–11 %). Dies gilt insbesondere für
Krebs-Patienten mit schlechtem Er-
nährungsstatus, Fatigue, und Therapien mit
Anthrazyklin-, Platin-, Taxanhaltigen
Chemotherapie sowie bei neurologischen,
muskulären, mukokutanen Störungen,
Tumoranämie, Fatigue und Tumorkachexie.
17.14  -Carnitin und Coenzym
L men einer Chemotherapie durch Arznei-
Q10
Ein Mangel an L-Carnitin wird bei zahl-
reichen chronischen Erkrankungen, ins-
besondere auch bei Tumorerkrankungen,
beschrieben. Der L-Carnitin-Mangel ist
multifaktoriell bedingt, u. a. durch Malnu-
trition, er kann aber auch als Folge von un-
erwünschten Interaktionen mit ver-
schiedenen Zytostatika (z. B. Anthrazykline,
Ciplatin) auftreten. Studien zufolge weisen
bis zu 70 % der Patienten mit fort-
geschrittenen Krebserkrankungen einen
Mangel an L-Carnitin auf, der vom Organis-
mus nicht ausgeglichen werden kann.
Die bisher bekannten Ursachen für einen
L-Carnitin-Mangel bei Krebs-Patienten mit
unterschiedlichen Tumorentitäten sind viel-
fältig:
377 17
55 Nutritive Defizienz bei Mangeler-
nahrung (z. B. zu wenig Eisen, Vitamin
C, L-Methionin)
55 Interaktion von Zytostatika (z. B. An-
thrazyklinen) mit dem Carnitintrans-
porter OCTN2 (Transport von L-Carni-
tin in die Zelle)
55 Storung der L-Carnitinbiosynthese
durch Anthrazykline
55 Steigerung der renalen Carnitinexkretion
durch Cisplatin und Ifosfamid
55 Bildung von unphysiologischen Carnitin-
estern und erhöhte renale Ausscheidung
Für den Einsatz von L-Carnitin im onko-
logischen Nebenwirkungsmanagement
(z. B. Zytoprotektion) sprechen die gute
Verträglichkeit, die immunstabilisierende
Wirkung, die potenzielle zytoprotektive
Wirkung unter zytostatischer Therapie
sowie die fehlende Beeinträchtigung des er-
wünschten zytotoxischen Effekts der anti-
neoplastischen Therapie (Gröber et al. 2013,
2016). Da L-Carnitin zu einer Hemmung
proinflammtorischer Zytokine, einer In-
hibierung der Skelettmuskelapoptose sowie
zu einer vermehrten Energiebereitstellung
aus der β-Oxidation führt und es im Rah-
mittelinteraktionen zu einer Verstärkung
des ohnehin schon häufig nachweisbaren
L-Carnitin-Mangels kommen kann, spielt
L-Carnitin in der supportiven Onkologie
eine wichtige Rolle.
Im Rahmen einer randomisierten,
placebokontrollierten, multizentrischen,
prospektiven, doppeltverblindeten Studie
(CARPAN) wurde bei 72 Patienten mit fort-
geschrittenem Pankreaskarzinom unter-
sucht, ob die Einnahme mit L-Carnitin
(2 × 2000 mg/d, p. o.) einen Einfluss auf den
Krankheitsverlauf und die Fatigue-Sympto-
matik hat. Die Ergebnisse dieser Studie zei-
gen, dass L-Carnitin in pharmakologischer
oraler Dosierung von 4 g/Tag einen signi-
fikant positiven Effekt sowohl auf die unter-
suchte Fatigue-Symptomatik und die
Lebensqualität als auch auf den Er-
 378 U. Gröber
nährungszustand von Patienten mit fort-
geschrittenem Pankreaskarzinom hatte. Da-
rüber hinaus konnte die Studie
überraschenderweise zeigen, dass unter der
Therapie mit L-Carnitin das Gesamtüber-
leben verlängert war und die Krankenhaus-
verweildauer gesenkt werden konnte.
Neuropathien, die als Ausdruck einer
neurotoxischen Schädigung in der Folge
einer medikamentosen Tumortherapie, z. B.
mit Taxanen und Platinsubstanzen, auf-
treten, werden in der gynäkologischen
Onkologie häufig beschrieben und können
zu teilweise lange anhaltenden Funktions-
einschränkungen, Verlust an Lebensqualität
oder auch zu Therapieabbrüchen führen.
Das Spektrum der konventionellen Suppor-
tiva ist hier sehr begrenzt. Aus dem Bereich
der Komplementärmedizin werden neuro-
protektive Effekte für mitotrope Mikro-
nährstoffe wie L-Carnitin und α-Liponsäure
beschrieben. So publizierten im Jahr 2012
Yuanyue et al. im Journal of Clinical Onco-
logy eine vergleichbare Untersuchung zur
Neuroprotektion unter Taxan-haltiger
Chemotherapie, mit der Gabe von 3 g
L-Carnitin. Sie kamen zu einer positiven Be-
urteilung der neuroprotektiven Effekte bei
51 % der Patientinnen. Darüber hinaus
wurde die Fatigue-Symptomatik vermindert
und der Performance-Status verbessert. Zur
Auswertung der Neurotoxizitat wurden in
dieser Untersuchung neben evaluierten
Fragebögen auch neurophysiologische
Untersuchungen eingesetzt.
L-Carnitin stimuliert die Expression des
„nerve growth factor“ (NGF) und vermittelt
dadurch einen Wachstumsreiz für die be-
troffenen Axone. Die dadurch stimulierte
17 Nervenzelle reagiert mit einer Zytokinaus-
schüttung, die wiederum zu einer lokalen
Mastzellstimulation und damit einer weiteren
proinflammatorischen Umgebungsreaktion
führt. Dadurch kann ein über das endogene
Cannabinoid-Rezeptorsystem gesteuertes
neuropathisches Schmerzempfinden ge-
triggert werden. Ein ganz innovativer
Therapieansatz, der noch nicht in klinischen
Studien evaluiert wurde, kombiniert eine
neuroprotektive/restaurative Therapie, wie
z. B. L-Carnitin, mit einer anti-in-
flammatorischen Modulation der Mastzell-
aktivität durch endogene Cannabinoide.
Diese momentan nur zur topischen An-
wendung verfügbaren Substanzen, wie Anan-
damide, Palmitoylethanolamid oder sein
Analogon Adelmidrol, führen in diesem Sys-
tem zu einer Schmerz-Desensiblisierung am
Axon (Gröber et al. 2016; Muecke et al. 2013;
Puspitasari et al. 2014; Azrad et al. 2013).
Empfehlungen für die klinische Praxis
Die Supplementierung (z. B. 3 × 2 g
L-Carnitin/d, p.o.) und/oder parenterale
Applikation von L-Carnitin (z. B. 1–2 g in
100 ml 0,9 % NaCl 20 min. vor der CT) ist
vor allem in Erwägung zu ziehen bei
Krebs-Patienten mit schlechtem Er-
nährungsstatus (in Kombi mit Omega-3-
Fettsäuren), Chemotherapie mit Anthra-
zyklin- (in Kombi mit Coenzym Q10,
z. B. 300 mg Ubiquinol), Cisplatin-, Ifos-
famid- und Taxan-haltigen antineo-
plastischen Substanzen sowie bei CT-in-
duzierter Neuropathie, Fatigue und
Tumorkachexie (in Kombi mit Omega-3-
Fettsäuren).
17.15 Vitamin C, Ascorbat
Eine Fallstudie von Gynäkologen der Uni-
versity of Kansas beschreibt bei zwei Frauen
mit einem fortgeschrittenen epithelialen
Ovarialkarzinom, die über einen Monat
zweimal täglich eine hohe Dosis peroraler
Antioxidanzien in Kombination mit einer
hochdosierten Vitamin-C-Infusion (15 bis
60 g/Infusion) erhielten, ein gutes An-
sprechen auf eine zytotoxische Chemo-
therapie (Carboplatin, Paclitaxel); die Kom-
bination wurde gut vertragen (Drisko et al.
2003a, b).
In einer aktuellen multizentrischen Ko-
hortenstudie, an der 15 in Deutschland re-
Mikronährstoffe in der präventiven und integrativen Onkologie
präsentativ verteilte Gynäkologen und All-
gemeinmediziner teilnahmen, gingen die
Daten von 125 Brustkrebs-Patientinnen in
den UICC-Stadien IIa oder IIb ein. Ins-
gesamt 53 dieser Patientinnen wurden zu-
sätzlich zur Standard-Tumortherapie für
zumindest vier Wochen mit intravenös ver-
abreichtem Vitamin C (7,5 g) behandelt
(Studiengruppe), und 72 erhielten kein Vita-
min C (Kontrollgruppe). Beobachtungs-
parameter war die Wirksamkeit im Hinblick
auf Art und Schwere krankheits- oder
therapiebedingter Klagen während der ad-
juvanten Chemo- und Strahlentherapie
sowie während der Nachsorge. Der Ver-
gleich von Kontroll- und Studiengruppe
machte deutlich, dass eine intravenöse Gabe
von Vitamin C zu signifikant weniger Be-
schwerden führt, vor allem mit Blick auf
Übelkeit und Brechreiz, Appetitverlust, Fa-
tigue, Depression, Schlafstörungen, Schwin-
Fallbeispiel
Eine 74-jährige Patientin wurde in der Klinik
wegen ihrer krebsbedingten Symptome wie
generelle Schwäche und Anorexie vorgestellt.
Nach einer initialen transarteriellen Chemo-
embolisation (TACE) wurde ein lokales Rezi-
div mit multiplen Lungenmetastasen ge-
funden. Die Patientin lehnte eine weitere
konventionelle Therapie mit Sorafenibtosylat
(Nexavar) ab; sie erhielt hohe Dosen von Vit-
amin C (70 g), verabreicht in eine periphere
Vene zweimal wöchentlich über 10 Monate.
Empfehlungen für die klinische Praxis
Ascorbinsäure als hochdosierte In-
fusionstherapie ist eine effektive und si-
chere Behandlungsoption bei Fa-
tigue-Syndrom, z. B. bei Patientinnen mit
Mammakarzinom. Eingesetzt wurden
dazu Dosierungen zwischen 7,5 und 75 g,
1- bis 2-mal pro Woche. Vor der Infusion
ist die einmalige Bestimmung der Gluco-
379 17
del und hämorrhagische Diathese (Voll-
bracht et al. 2011).
Derzeit gibt es keine weiteren Daten aus
kontrollierten Interventionsstudien zum
Einfluss von Vitamin C auf die Wirksam-
keit der Chemotherapie. Erste Ergebnisse
einer Studie mit einer kleinen Zahl von Pa-
tienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, die
eine hochdosierte Vitamin-C-Infusion
(125 g/Infusion) in Kombination mit Gem-
citabin erhielten, weisen auf eine gute Ver-
träglichkeit des Zytostatikums hin wie auch
auf günstige Effekte hinsichtlich des
Krankheitsverlaufs (Welsh et al. 2013;
Monti et al. 2012).
Ein aktuelles Fallbeispiel berichtet von
der Rückbildung multipler Lungen-
metastasen, die von einem Leberzell-
karzinom stammen, nach Behandlung mit
intravenös verabreichtem hochdosierten Vi-
tamin C.
Ergebnis: Die multiplen Lungenmetastasen
hatten sich vollständig rückgebildet. Die Pa-
tienten unterzog sich anschließend einer
TACE, die eine Remission ihres primären
hepatozellulären Karzinoms ermöglichte
(Gröber et al. 2016; Liu und Ma 2014; Shen
et al. 2018; Uvgur et al. 2014; Manni et al.
2015; Wan et al. 2016; Nabavi et al. 2015;
Thuppal et al. 2017; PDQ Cancer Comple-
mentary and Alternative Medicine Editorial
Board 2002–2015).
se-6-Phosphat-Dehydrogenase-Aktivitat
obligat.
Die PDQ Cancer Information Summary
für medizinische Fachkräfte kann dazu bei-
tragen, umfassende, begutachtete, evidenz-
basierte Information zur Verwendung von
hochdosiertem Vitamin C bei der Be-
handlung von Krebs-Patienten an die Hand
zu geben; sie soll Kliniker bei der medizini-
 380 U. Gröber
schen Versorgung von Krebs-Patienten infor-
mieren und ihnen Hilfestellung geben; sie ent-
hält aber keine formalen Richtlinien oder
Empfehlungen hinsichtlich der Entscheidung
therapeutischer Maßnahmen. Diese Sum-
mary wird regelmäßig überprüft und bei Be-
darf aktualisiert durch das PDQ Cancer
Complementary and Alternative Medicine
Editorial Board, das redaktionell unabhängig
ist vom National Cancer Institute (NCI) oder
den National Institutes of Health (NIH).
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 383 18

Ophthalmologisches Altern
Stephan Billeit

Inhaltsverzeichnis

18.1 Grauer Star (Katarakt) – 384

18.2 Grüner Star (Glaukom) – 386

18.2.1  ugeninnendruck – 387
A
18.2.2 Okuläre Perfusion – 387
18.2.3 Neuroprotektion – 390
18.2.4 Oxidativer Stress – 391

18.3 Altersbedingte Makuladegeneration – 392

18.3.1  isikofaktor UV-Licht – 393
R
18.3.2 Die Rolle der Omega-3-Fettsäuren – 395

Literatur – 396

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B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_18
 384 S. Billeit
Spätestens ab der ersten Lesebrille wird
einem das ophthalmologische Altern be-
wusst. Allerdings beginnt das Altern, auch
und besonders im Auge, mit der Geburt.
Die häufigsten in der augenärztlichen
Praxis vorkommenden Krankheitsbilder,
der graue Star, der grüne Star und die Ma-
kuladegeneration, sind im Wesentlichen
altersassoziiert.
18.1 Grauer Star (Katarakt)
Die weitaus häufigste Form des grauen Sta-
res ist der Altersstar (Cataracta senilis).
Etwa 650000-800000 Katarakt-Operationen
werden jährlich in Deutschland durch-
geführt, aufgrund der höheren Lebens-
erwartung mit steigender Tendenz. Diese
Zahlen zeigen deutlich die medizinische,
aber auch ökonomische Bedeutung der
Katarakt.
Die ersten Linsentrübungen zeigen sich
um das 50. Lebensjahr, mit 70 haben etwa
20 % eine Katarakt und mit 90 nahezu jeder
(Auffahrt 2004).
Die Implantation einer Intraokularlinse
ist durch verbesserte Operationstechniken
nahezu risiko-und komplikationsfrei. Der
Eingriff erfolgt zum überwiegenden Teil in
Lokalanästhesie bei einer durchschnitt-
lichen Dauer von etwa 15 Minuten.
Dennoch ist der graue Star mit 41 % die
häufigste Erblindungsursache weltweit
(Thylefors et al. 1995). Der Grund dafür
liegt in einem fehlenden Zugang zu operati-
ven Maßnahmen und dem Mangel an Vita-
minen und Eiweißen in der Dritten Welt.
Die Funktionen der menschlichen Linse
bestehen in der Transparenz, Einstellung
der Brechkraft für die Nähe und Ferne und
18 im Schutz der Macula lutea.
Physiologisch zeichnet sich die Linse
durch einen geringen Wassergehalt von 60 %
und einen hohen Eiweißgehalt von 35 % in
Form kristalliner Proteine in einer drei-
dimensionalen Faltstruktur aus.
Dadurch sind eine hohe Elastizität und
geringe Brechungseffekte möglich.
Die Alterung der Linse beginnt aller-
dings mit der Geburt durch ständiges appo-
sitionelles Wachstum der Linsenfasern, die
die bestehenden Fasern allmählich in das
Zentrum der Linse verdrängen.
Ein zunehmender Verlust der Zellkerne
ist die Folge, eine Neusynthese von Protei-
nen bleibt aus, die Linse altert und verliert
allmähliche ihre akkommodative Funktion
(Presbyopie) sowie ihre Transparenz
(Blendungsempfindlichkeit, nebelartige
Sehverschlechterung, Myopiesierung), die
dreidimensionale Proteinfaltstruktur ver-
ändert sich und verklumpt.
Bestimmte Schutzproteine (alpha A- und
alpha B cristallyn) sorgen dafür, dass diese
Eiweiße, die nur einmal im Leben angelegt
werden, möglichst nicht verklumpen. Fällt
dieser Schutzmechanismus dieser Hitze-
schockproteine aus, zum Beispiel durch
hohe Temperaturen, Hypoxien oder Infek-
tionen, trübt sich die Linse.
Derzeitig wird an diesen Chaperonen,
die die korrekte Faltung der Eiweiß-
strukturen korrigieren, geforscht (Peschek
et al. 2013).
Faktoren für die Kataraktentstehung
sind neben dem Alter Nikotin und Alkohol,
Diabetes, Kortisontherapien und vor allem
die im Laufe des Lebens zunehmende UV-­
Exposition als wichtigster Risikofaktor
(Vinson 2006).
Dass die Vitamin-C-Konzentration der
Linse und des Kammerwassers enorm hoch
ist, ist seit langem bekannt (Huysmann und
Fischer 1942). Dadurch wird der oxidative
Stress in der Ätiologie der nukleären Kata-
rakte signifikant reduziert (Shui et al. 2009).
Dass eine Vitamin-C-reiche Ernährung
bei der Prävention eine bedeutende Rolle
spielt, hat eine Zwillingsstudie des King’s
College London gezeigt. Es wurden 364
weibliche Zwillinge ab dem 60. Lebensjahr
über zehn Jahre anhand ihrer Ernährungs-
gewohnheiten ausgewertet.
Ophthalmologisches Altern
Die Probanden, welche regelmäßig und
viel Obst und Gemüse mit einem hohen
Vitamin-C-Anteil zu sich nahmen, er-
krankten um ein Drittel (!) seltener am
Grauen Star.
Die schon zu Beginn der Studie vor-
handenen Linsentrübungen entwickelten
sich ebenfalls deutlich geringer.
Der Einfluss der Ernährung und der
Umweltfaktoren war mit 65 % deutlich
höher als das der genetischen Veranlagung.
Dieser positive Effekt konnte zumindest
in dieser Studie nur mit der Ernährung und
nicht durch Supplementation mit Nahrungs-
ergänzungsmitteln erreicht werden (Yono-
va-Doing et al. 2016).
Das Vitamin B2 (Riboflavin) wurde frü-
her als „Cataract Preventive Factor“ be-
zeichnet (Day et al. 1937),
ebenso haben Studien über die Stärkung
des antioxidativen Schutzsystemes der Linse
mit Vitamin-E, Beta-Carotin und Vitamin A
eine Senkung der Kataraktentwicklung um
40 % ergeben (Hankinson et al. 1992).
Eine Lutein- und Zeaxanthin-reiche Er-
nährung ergaben eine 23 % geringe Prävalenz
der Cataract, verglichen mit den Probanden
mit einem niedrigen Carotenoid-Spiegel im
Serum (Moeller et al. 2008).
Patienten mit erhöhtem Blutzucker zei-
gen auch höhere Entzündungsmarker im
Kammerwasser und hohe Xanthinoxidase-
werte, die mit der Höhe des HbA1C-Wertes
korrelieren und kataraktogen wirken (Nea-
trour et al. 2019).
Auch der BMI wirkt sich auf die Linsen-
trübung aus. Dabei war der Zusammenhang
zwischen Übergewicht und posteriorer sub-
kapsulärer Katarakt mit 52 % sehr deutlich
(Pan und Lin 2014).
Eine Studie der Universität Örebrö
(Schweden) untersuchte den Zusammen-
hang zwischen Rauchgewohnheiten und
Grauem Star. Raucher mit mindestens 15
oder mehr Zigaretten am Tag mussten sich
den Studienergebnissen zufolge zu 42 %
häufiger einer Kataraktoperation unter-
ziehen als lebenslange Nichtraucher. Ehe-
385 18
malige Raucher hatten ein bis zu 13 % höhe-
res Risiko (Lindblad et al. 2014).
Der Alkoholkonsum wirkt sich auf die
Kataraktentstehung eher moderat aus, aber
auch nur bei moderatem Konsum. Bei einem
alkoholischen Getränk am Tag (150 ml
Wein, 330 ml Bier) betrug das Risiko einer
stärkeren Kataraktentwicklung lediglich um
7 %, stieg aber deutlich mit steigendem
Alkoholverbrauch (Lindblad et al. 2007).
Eine zu hohe Kohlehydratzufuhr kann
das Risiko einer nukleären Katarakt auf das
3-Fache steigern (Chung-Jung et al. 2010),
ähnliche prospektive Studie über Fettzufuhr
und das Risiko einer Cataract-Extraktion
ergaben ähnliche Ergebnisse (Lu et al. 2005a
und b).
Der Graue Star ist im Grunde keine Er-
krankung, sondern eine Erscheinung des
Älterwerdens. Es trifft jeden Menschen im
unterschiedlichen Ausmaß, vorausgesetzt,
man wird alt genug.
Bis zu einem gewissen Grad handelt es
sich sogar um einen sinnvollen physio-
logischen Alterungsprozess. Der foto-
oxidative Abbau des in der Linse vor-
handenen Tryptophans führt zur Bildung
von Kynureninen. Diese führen einerseits zu
einer leicht gelblich-bräunlichen Verfärbung
des Linsenkerns und damit zu einem endo-
genen Blaufilter für die Netzhaut (Linetsky
et al. 2014), andererseits zu advanced glyca-
tion end products (AGEs) und damit zur
Linsenalterung.
Möglichkeiten der Prophylaxe liegen in
der Vermeidung von schädigenden Ein-
flüssen. Diese konzentrieren sich vorwiegend
auf die Stärkung des antioxidativen Schutz-
systems der Linse bzw. der Vermeidung freier
Radikale, insbesondere durch Lichtschutz.
Der natürliche protektive Mechanismus
der verminderten Linsentransparenz durch
Absorption des UV-Lichtes im Bereich von
300–400 nm ist durchaus erwünscht als Bar-
rierefunktion für die höchst lichtempfind-
liche Macula lutea.
Eine Verminderung der Progredienz der
Linsentrübungen ist durch eine gesunde
 386 S. Billeit
vitaminreiche Ernährung, durch Ver-
änderungen des Lifestyles (Nikotinver-
meidung!) und vor allem durch einen ad-
äquaten Lichtschutz durch Lichtschutzgläser
(UV-­400-­
Schutz) und eine entsprechende
Kopfbedeckung möglich.
Der Lichtschutz sollte schon im Klein-
kindalter beginnen. Ein Hinauszögern oder
gar Vermeiden der Katarakt-Extraktion ist
damit möglich.
Eine Linsenregeneration durch Chape-
rone oder durch endogene Stammzellen ist
in Pilotstudien schon erfolgreich durch-
geführt worden, möglicherweise gibt es in
der Zukunft einen Paradigmenwechsel in
der Kataraktchirurgie (Lin et al. 2016).
18.2 Grüner Star (Glaukom)
Das Glaukom ist per definitionem eine
multifaktorielle, chronisch-progressive Op-
tikusneuropathie, die mit strukturellen Um-
bauvorgängen am N. opticus einhergeht und
mit dem Untergang retinaler Ganglien-
zellen, Axonen und Astrozyten zu glaukom-
typischen Gesichtsfelddefekten führt (Kwon
et al. 2009).
Für das Jahr 2020 wird der Anteil von
Glaukompatienten an Erblindungen in
Europa bei 13,9 % sein. Weltweit sind Glau-
kome für 12,3 % aller blinden Menschen
verantwortlich, für das Jahr 2040 rechnet
man mit etwa 112 Millionen Glaukom-
patienten, wobei 11 Millionen daran er-
blindet sein werden. Insgesamt sind derzeit
weltweit 37 Millionen Menschen erblindet.
Das Glaukom die zweithäufigste Ursa-
che für einen irreversible Blindheit.
Die Häufigkeit steigt mit zunehmenden
Lebensalter, so sind in Deutschland 2–4 %
18 aller über 65-Jährigen und 11,4 % aller über
80-Jährigen von einem Glaukom betroffen.
Man unterscheidet grob das Offenwinkel-
glaukom vom Engwinkelglaukom. Die häu-
figste Form stellt das primäre Offenwinkel-
glaukom mit mehr als drei Viertel aller
Glaukomfälle dar (Kapetanakis et al. 2015).
Der erhöhte Augeninnendruck ist ein
wesentlicher Faktor in der Entstehung des
Glaukoms, allerdings weisen etwa die Hälfte
aller Patienten mit einem Offenwinkel-
glaukome keine erhöhten Augeninnen-
druckwerte auf (Heijl 2011). Diese werden
als Normaldruckglaukome bezeichnet.
Auf der anderen Seite gibt es Patienten
mit Werten immer über 21 mmHg, die in
ihrem Leben niemals ein Glaukom ent-
wickeln werden.
Das bedeutet, dass neben dem Augen-
innendruck viele andere Risikofaktoren
existieren.
Eine schwedische Studie, die „Early Ma-
nifest Glaucoma Trial“, zeigt dies deutlich.
Es wurden 129 therapierte 126 un-
therapierten Patienten mit erhöhtem Augen-
innendruck > 20 mmHg gegenübergestellt.
In der unbehandelten Gruppe blieb der
Augendruck nahezu konstant, in der mit Ar-
gonlasertherapie und topischem Betaxolol
behandelten Gruppe sank der Augeninnen-
druck um durchschnittlich 25 %. Im Ergeb-
nis nach sechs Jahren zeigten 53 % aller Pa-
tienten weitere Gesichtsfeldausfälle bzw.
Nervenfaserverluste. Trotz Drucksenkung
wird der Ganglienzelltod nicht vollständig
aufgehalten.
Das Risiko der Glaukomprogression lag
bei unbehandelten Patienten bei 62 %, bei
den behandelten bei 45 %, also lediglich
17 % geringer (Heijl et al. 2002). Ein eher er-
nüchterndes Ergebnis.
Ein erhöhter Augeninnendruck darf
nicht allein mit der Glaukomerkrankung
gleichgesetzt werden.
Bei der Therapieplanung müssen auch
die okuläre Perfusion sowie die Neuro-
protektion berücksichtigt werden.
Bei der Entwicklung des Glaukoms spielt
die Entdeckung des sogenannten präperi-
metrischen Glaukoms eine Rolle. Man
spricht dabei von einem fortschreitenden
Glaukomkontinuum, beginnend mit unent-
deckten und asymptomatischen Störungen
der retinalen Nervenfaserschicht bis hin zu
einem späten Stadium der beschleunigten
Ophthalmologisches Altern
Apoptose, die zu im Gesichtsfeld sichtbaren
Ausfällen führt. Die funktionellen Störun-
gen des Auges treten sehr spät auf, viel
neuronales Gewebe wurde irreversibel zer-
stört.
Beim Glaukom kommt es zu einer De-
generation in allen Bereichen der Sehbahn,
nicht nur der retinale Ganglienzellverlust,
auch im Corpus geniculatum laterale kommt
es zum Abbau der parvo-, magno- und ko-
niozellulären Ganglienzellschicht bis hin zur
Abnahme der grauen Substanz im visuellen
Kortex.
Die Primärprävention beim Glaukom ist
eminent wichtig. Daher spielen die Risiko-
faktoren in der Diagnostik eine wesentliche
Rolle.
Es gibt nicht beeinflussbare Faktoren,
wie das höhere Alter, das weibliche Ge-
schlecht, ethnische und genetische Faktoren
sowie die Myopie und eine dünne Horn-
haut.
Beeinflussbare Risikofaktoren sind der
individuell erhöhte Augendruck, starke
Schwankungen des Augen- und des Blut-
druckes, Systemerkrankungen, immuno-
logische Störungen und der oxidative Stress.
Die Prävention bzw. Behandlung des
Glaukoms ruht auf drei Säulen: die Ein-
stellung des optimalen individuellen Augen-
drucks, die okuläre Perfusion, die Neuro-
protektion und/oder die Reduktion des
oxidativen Stresses.
18.2.1 Augeninnendruck
Bei der Einstellung des Augeninnendruckes
sollte ein Zieldruckkonzept festgelegt wer-
den. Der individuell anzustrebende intra-
okulare Druck sollte die weitere Progression
der glaukomatösen Optikusatrophie auf-
halten. Je höher der vorliegende Schaden
am Optikus, umso niedriger sollte der Druck
eingestellt werden.
Im Rahmen der Glaucoma Intervention
Study (AGIS) ergaben Werte unter 18 mmHg
387 18
langfristig die besten Therapieerfolge (Nou-
ri-Mahdavi et al. 2004).
Wie die beste Druckeinstellung vorzu-
nehmen ist, sollte in Abhängigkeit von der
Akzeptanz der Augentropfen, der Adhärenz
des Patienten und der Nebenwirkungslage
vom behandelnden Augenarzt durchgeführt
werden.
Derzeit stehen sechs topische Substanz-
klassen zur Verfügung, die Parasympatho-
mimetika, die Sympathomimetika, die
Prostaglandinanaloga, Alpha-2-Agonisten,
Betablocker und Carboanhydrasehemmer.
Daneben gibt es bei unzureichenden Druck-
ergebnissen oder Unverträglichkeiten chir-
urgische und laserchirurgische Möglich-
keiten der Drucksenkung.
18.2.2 Okuläre Perfusion
Ein zweiter wichtiger Punkt in der Glaukom-
therapie ist die Verbesserung der okulären
Durchblutung. Die vaskulär häufig vor-
kommenden Risikofaktoren sind der arte-
rielle Hyper-und Hypotonus, vasospastische
Erkrankungen, wie Migräne und Tinnitus
und koronare Herzerkrankungen. Letztend-
lich spielt dabei die endotheliale Dysfunktion
vor allem bei den kurzen hinteren Ziliar-
arterien und am Zinn-Haller-­Gefäßkranz am
Sehnervenkopf eine tragende Rolle.
(Erb 2005).
Bei Glaukompatienten ist die Auto-
regulation gestört, das heißt bei Druck-
schwankungen des intraokularen Druckes,
bei stark schwankenden Blutdruckwerten
und dabei insbesondere den nächtlichen
Blutdruckabfällen kommt es zu einer in-
stabilen Sauerstoffversorgung am Sehnerv
und damit zu Ischämien und Reperfusions-
schäden (Pillunat et al. 1997).
Es hat sich bei Patienten mit einem nor-
malen Blutdruck am Tag gezeigt, das ein
Over-Dipping (> 20 % Blutdruckabfall) bei
Glaukompatienten trotz guter Druckein-
stellung zu deutlichen Gesichtsfeldausfällen
 388 S. Billeit
führt. Ein schwankender Blutdruck führt zu
intermittierenden hypoxischen Zuständen
an Retina und der Papille. Dabei werden
vermehrt proinflammatorische Zytokine,
NFkB und HIF (Hypoxia Inducible Factor)
freigesetzt. Hohe HIF-1-Werte sind ein
Marker für okuläre Perfusionsstörungen am
Auge. Das HIF-1 ist an NFkB gekoppelt,
der wiederum Endothelin-1 aktiviert. Eine
hohe Endothelin-Konzentration im
Kammerwasser bei Glaukompatienten führt
auch zu einer Kontraktion im Trabekelma-
schenwerk und damit über eine Abfluss-
störung zu einem erhöhten Augeninnen-
druck. Somit ist die Drucksteigerung eine
späte, sekundäre Erscheinung beim Glau-
kom. Durch das hochregulierte NFkB wird
verstärkt extrazelluläres Kalzium in die Mi-
kroglia, den immunkompetenten Zellen des
ZNS, aufgenommen (Ramirez et al. 2017).
Eine enge Zusammenarbeit des
Ophthalmologen mit dem Hausarzt oder
Kardiologen bei der Blutdruckeinstellung
ist bei Glaukompatienten dringend erforder-
lich. Eine zu effektive nächtliche Blutdruck-
absenkung kann zu massiven Schäden am
Sehnerven führen. Dies gilt auch für lange
tiefe Vollnarkosen. Bei fortgeschrittenen
Glaukomschäden sollte immer eine
24-Stunden-­Blutdruckmessung durch-
geführt werden.
Besonders bei den Normaldruck-
glaukomen spielt die primäre vaskuläre
Dysregulation, nach dem Erstbeschreiber
auch „Flammer-Syndrom“ genannt, eine
große Rolle. Die Symptome sind kalte
Hände und Füße, eine arterielle Hypotonie,
ein niedriger Body-Mass-Index, ein ver-
mindertes Durstgefühl, erhöhte Empfind-
lichkeiten für Schmerz, Geruch und Medika-
mente, Migräne, Tinnitus und reversible
18 fleckförmige weiße und rote Verfärbungen
der Haut. Betroffen sind meist junge
schlanke Frauen, häufiger aus akademi-
schen Berufen. Es ist nicht nur mit dem
Normaldruckglaukom, sondern auch mit
okulären Gefäßverschlüssen, Retinitis pig-
mentosa und multipler Sklerose assoziiert
(Konieczka und Flammer 2016).
Sollten bei diesen Patienten große Ex-
kavationen des Sehnervenkopfes auffallen,
sind weitere diagnostische Maßnahmen
beim Augenarzt angeraten.
Diesen Patienten wird empfohlen, den
Blutdruck zu erhöhen, was häufig auf Un-
verständnis beim behandelnden Hausarzt
oder Internisten stößt. Der Augenarzt emp-
fiehlt in diesen Fällen eine salzreiche Diät, in
seltenen Fällen Mineralokortikoide. Eine
körperliche Betätigung, Sport und eine er-
höhte Flüssigkeitsaufnahme, trotz des anti-
dipsogenen Zustandes der meisten Patien-
ten, werden ebenfalls angeraten. Eine
Behandlung mit Ergotaminpräparaten ist
aufgrund der vasokonstriktorischen Wir-
kung obsolet.
Vasospastische Patienten können von
einer adjuvanten Therapie mit Calcium-
antagonisten profitieren. Eine Gabe von
2-mal 30 mg Nimodipin per os hat sich als
hilfreich erwiesen. Viele Patienten bemerken
dabei auch eine Verbesserung der Raynaud-­
ähnlichen Symptomatik.
Alternativ kommt Magnesium 3-mal
100 mg in Betracht.
Eine zusätzliche Absenkung des
„normalen“Augendruckes ist trotzdem not-
wendig. Im Ergebnis der Collaborative Nor-
mal Tension Glaucoma Study war eine Sen-
kung um 30 % des Ausgangsdruckes sinnvoll
(Anderson 2003).
Der gegenteilige Phänotyp ist über-
gewichtig, leidet unter Bewegungs-und An-
triebsarmut, ist Hypertoniker und neigt eher
zum Hochdruckglaukom.
Der arterielle Bluthochdruck ist bei
jedem zweiten Glaukompatienten zu finden.
Neben dem geringen positiven Effekt auf
den Augendruck (z. B. Drucksenkung durch
Kalziumkanalblocker und ACE-Hemmer)
überwiegen die negativen Auswirkungen auf
die okuläre Perfusion. Die Arteriosklerose
spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle,
häufiger die endotheliale Dysfunktion mit
Ophthalmologisches Altern
zu geringen oder zu starken Schwankungen
des Blutdruckes während des Tag-Nacht-­
Verlaufes. Auch hier kann es zu Ischämien
und Reperfusionsschäden kommen, die die
glaukomatöse Optikusatrophie be-
schleunigen (Erb und Predel 2014).
Bei zu starkem nächtlichen Blutdruck-
abfall sollte in Zusammenarbeit mit dem be-
handelnden Hausarzt auf ein morgendliches
Retardpräparat umgestellt oder auf eine
abendliche Gabe des Blutdrucksenkers ver-
zichtet werden. Ein zu intensives Ausdauer-
training, wie z. B. bei Marathonläufern, die
Einnahme von Schlafmittelmitteln und Al-
kohol, sind weitere Faktoren für ein
Over-Dipping in der Nacht und sind damit
zu überprüfen.
Fehlt ein nächtliches Dipping, sollte
nach einer Schlafapnoe gefahndet werden,
die die Glaukomprogression verstärken
kann (Mojon et al. 2000). Vasalva-Manöver,
wie bei der Schlafapnoe, aber auch bei Meta-
bolischem Syndrom und bei Musikern mit
Blasinstrumenten, führen zu negativen Aus-
wirkungen auf den pulsatilen okulären Blut-
fluss (Khan et al. 2002).
Viele Glaukompatienten klagen über
Probleme im Bereich der oberen Halswirbel-
säule und/oder Instabilitäten des Genick-
gelenks. Es kommt dabei zu rezidivierenden
Sympathikusaktivierungen über die Rei-
zung des zervikalen Grenzstranges mit
leichter Mydriasis (Blendempfindlichkeit),
Tachykardien, Extrasystolen und Blut-
druckschwankungen (Kuklinski 2015).
Die Sympathikusfasern ziehen entlang
der Aa. vertebrales et basilares und können
bis zu 80 % der Hirndurchblutung mindern.
Ischämien und Reperfusionsschäden wer-
den verursacht, NO wird freigesetzt, und ein
nitrosativer Stress über Peroxinitrit wird
ausgelöst (Erb 2011).
Neben dem Vasospasmus blockiert das
freiwerdende Adrenalin den Pyruvatein-
strom in den Zitratzyklus, es kommt zu einer
weiteren Schädigung des Sehnervenkopfes
(Strempel 2013).
389 18
Eine Kräftigung des hinteren muskulä-
ren Längsbandes durch Sport kann die In-
stabilität verringern, bestimmte Sportarten,
wie Joggen, Reiten, Schwimmen etc. sollten
gemieden werden.
Eine Studie legt nahe, dass bestimmte
Yoga-Übungen bei Glaukompatienten nega-
tive Auswirkungen haben.
Der Augeninnendruck steigt ohnehin bei
allen Menschen bei bestimmten sportlichen
Aktivitäten, wie Gewichtheben, Klimm-
ziehen und Kopfstand.
Starke Anstiege des intraokularen Dru-
ckes waren auch beim „Herabschauenden
Hund“, bei der „stehenden Vorwärtsbeuge“,
beim „Yoga-Pflug“ und bei der „Umkehr-
haltung“ zu verzeichnen.
Beim Glaukom sollten diese Übungen
vermieden werden (Jasien et al. 2015).
Eine Kombination aus Anthocyanen
und Procyaniden ist speziell auf die Bedürf-
nisse von Patienten mit erhöhtem Augen-
druck und verminderte okulärer Perfusion
untersucht worden. Diese per os einzu-
nehmende Substanzgruppe ist in die Gruppe
der zukünftigen Augendrucksenker klassi-
fiziert worden (Beidoe und Monsa 2012).
Die Absenkung des Augendrucks erfolgt
über die Endothelin-Funktion. Endo-
thelin-­1 trägt zur Regulation des Augen-
innendrucks durch Wirkung auf den
Kammerwasserabfluss über das Trabekel-
werk bei. Endotheline führen zu schädlichen
neuronalen, vaskulären und glialen Effekten
im Auge. Procyanide führen zu einer
Endothelin-­ 1-Hemmung mit einem
Endothelin-­1-Abfall i.S. um 17,8 %, senken
damit den Augendruck und haben damit
eine neuroprotektive Wirksamkeit. In die-
sem Fall wurde französiche Pinienrinde
(Pinus pilaster) als Procyanid verwendet
(Liu und Rodenwald 2004).
Neben der endothelialen Dysfunktion ist
die Störung der okulären Dynamik ursäch-
lich bei der Entstehung der Optikusneuro-
pathie (Ehrlich et al. 2009). Nach einer Gabe
von Anthocyanen und Procyaniden über
 390 S. Billeit
3–6 Monaten erhöhten sich die systolischen
und diastolischen arteriellen Strömungs-
geschwindigkeiten signifikant um 20 % und
39 % im Vergleich zum Kontrollarm (Ga-
lassi et al. 2003). Steigerwald konnte eine
Erhöhung der retinalen systolischen Blut-
flussgeschwindigkeit nach acht Wochen um
23,9 % und der diastolischen nach 16 Wo-
chen um 120 % zeigen. Da Anomalien der
Blutflussgeschwindigkeit das Risiko für die
Entwicklung der Optikusatrophie erhöhen,
ist die Anwendung von Anthocyanen und
Procyaniden, hier auch mit Pinus pilaster,
eine alternative Darreichungsform.Die
augendrucksenkende Wirkung ist mit denen
von Prostaglandin-Analoga vergleichbar
(Steigerwalt et al. 2008).
18.2.3 Neuroprotektion
In den letzten Jahren richtet sich der Fokus
der Glaukomforschung auf die Neuro-
protektion, da die traditionelle Augendruck-
senkung allein das Voranschreiten der glau-
komatösen Optikusneuropathie nicht
aufhalten kann.
Die Neurodegeneration betrifft nicht nur
die Augen, sondern auch die Sehbahn, bis
hin zum visuellen Kortex, und teilt damit ei-
nige Charakteristika mit anderen neuro-
degenerativen Erkrankungen, wie Alzhei-
mer und Parkinson. Das Glaukom zerstört
Neuronen durch oxidativen Stress, ver-
ursacht Störungen im axonalen Transport,
Neuroinflammation und Exzitotoxizität
(Gauthier und Liu 2016).
In den letzten Jahren ist das Verständnis
über die Pathophysiologie des retinalen
Ganglienzelltodes gestiegen. Basiernd dar-
auf wurden verschiedene Neuroprotektiva
18 in experimentellen Studien getestet. In glau-
komatösen Augen werden toxische Substan-
zen, wie Glutamat, freie Radikale und Stick-
monoxid (NO), aktiviert, die Mikroglia wird
überaktiviert, es entsteht eine mitochond-
riale Dysfunktion, und die Apoptose wird
eingeleitet (Kolko 2015).
Mögliche neuroproduktive Ansatz-
punkte sind die Exzitotoxizität, die NO-­
Blockade, die Vermeidung einer Mikro-
glia-Überaktivität, die Hemmung des
Apoptose-Weges und der oxidative Stress.
Unter physiologischen Bedingungen ist
Glutamat ein in der Netzhaut vor-
kommender wichtiger exzitatorischer
Neurotransmitter für die visuelle Trans-
duktion. In den Müller-Zellen wird durch
Glutamin-­Synthetase das Glutamat wieder
eliminiert. Beim Glaukom zeigen sich deut-
lich erhöhte neurotoxische Glutamatspiegel
im Auge. Der Anstieg des extrazellulären
Glutamats führt zu einer Überforderung der
Müller-­Zellen, und die Glutamat-­Synthetase
ist nicht mehr in der Lage, den exzessiven
Glutamatanstieg zu kompensieren. Infolge-
dessen werden besonders die NMDA-­
Rezeptoren überstimuliert, ein massiver
Kalziumeinstrom in die Neurone führt als
Konsequenz Absterben der retinalen
Ganglienzellschicht (McDermott et al.
1986).
Studien mit NMDA-Rezeptor-­ Anta­
gonisten (Memantine) ergaben leider im
Vergleich zur Placebo-Gruppe keinen signi-
fikanten Gewinn hinsichtlich der Glaukom-
progression (Greenfield et al. 2005).
Eine weitere neuroprotektive Option
sind Aminoguanidine, die als spezifischer
Inhibitor der NO-2-Synthetase fungieren
und damit den nitrosativen Stress an den re-
tinalen Ganglienzellen hemmen (Neufeld
2004). Aminoguanidine werden auch bei der
Behandlung von Folgeschäden beim Diabe-
tes mellitus zur Hemmung von advanced
glycation endproducts und der Glykolisie-
rung (Di Naso 2010) untersucht. Weitere
Studien müssen zeigen, ob ein klinischer
Einsatz hilfreich ist.
Die Mikroglia agieren als Makrophagen
im Zentralnervensystem. Eine Über-
aktivierung derselben führt zu einer ver-
mehrten Ausschüttung von neurotoxischen
Substanzen, einschließlich des Tumor-
nekrose Faktors Alpha, NO und und freien
Sauerstoffradikalen, mit der Folge des reti-
Ophthalmologisches Altern
nalen Ganglienzelltodes. Eine Hemmung
der Mikrogliaaktivität ist durch Minocyclin,
einem Tetrazyklinderivat, möglich. Im Tier-
modell konnte damit ein Erhalt der retina-
len Ganglienzellschicht erreicht werden
(Levkovitch-Verbin et al. 2006).
Rapamycin (Su et al. 2014) und Tripto-
lide, ein chinesischer Pflanzenextrakt, unter-
drücken ebenfalls
die retinale Mikrogliaaktivität (Yang
et al. 2013).
Citicolinen, auch als CDP-Choline be-
kannt, wird ein positiver Effekt auf die
Mitochondrien im alternden Gehirn zu-
gesprochen. Bei Patienten mit einem gut ein-
gestelltem Offenwinkelglaukom, aber pro-
gredientem Gesichtsfeldverfall wurde unter
500 mg Citicolin-Lösung über vier Monate
eine deutliche Verminderung der Progres-
sion nachgewiesen (Grieb et al. 2016).
Citicolin ist zur topischen Anwendung
als Augentropfen erhältlich und bietet struk-
turellen Schutz vor Schäden an Zell-
membranen beim Glaukom.
18.2.4 Oxidativer Stress
Viele Studien haben gezeigt, dass oxidativer
Stress den Ganglienzelltod beim Glaukom
fördert. Daher ist das Konzept der anti-
oxidativen Therapie in der Neuroprotektion
weitestgehend akzeptiert (Feilchenfeld et al.
2008; Ko et al. 2005; Moreno et al. 2004).
Beim primären Offenwinkelglaukom
liegt eine mitochondriale Dysfunktion vor
(Abu-Amero et al. 2006).
Das Gleichgewicht zwischen Produktion
und Abbau von freien Radikalen verändert
sich im Laufe des Lebens durch Altersver-
änderungen und Umwelteinflüsse zugunsten
der Sauerstoffradikale.
Dadurch und durch einen sekundär er-
höhten Augeninnendruck kommt es zu ver-
mehrtem oxidativen Stress an der Netzhaut,
dem Sehnerven und im Abflussgebiet des
Kammerwassers, dem Trabekelmaschen-
werk (Kamel et al. 2017). Der oxidative
391 18
Stresslevel im Bereich der Lamina cribosa
des Sehnervens ist beim Glaukom deutlich
erhöht, die totale antioxidative Kapazität
dagegen erniedrigt (McElnea et al. 2011).
Das Trabekelmaschenwerk, ein wichtiger
Regulator des intraokularen Druckes, führt
unter zunehmendem oxidativen Stress zu
Strukturveränderungen des Gewebes, die den
trabekulären Abfluss des Kammerwassers
hemmen und damit zu einer allmählichen
Druckerhöhung führen (He et al. 2008).
Bei Annahme einer sekundären mito-
chondrialen Dysfunktion beim Glaukom
wird die Rolle des Coenzyms Q10 (CoQ10)
als mögliche Therapieoption zunehmend
untersucht.
Bei einer primären mitochondrialen
Dysfunktion, der Leber’schen hereditären
Optikusatrophie, hat bereits ein syntheti-
sches Quinon als Arzneimittel die Zulassung
in Deutschland erhalten.
CoQ10 als wichtiger Bestandteil der
Elektronentransportkette der mitochond-
rialen Atmungskette wirkt stark antioxidativ
und membranstabilisierend (Turunen et al.
2004).
Die Konzentration an CoQ10 nimmt im
Alter in der Retina und der Aderhaut um
bis zu 40 % ab (Qu et al. 2009). Im Tier-
modell wurden nach künstlich eingeleiteter
Apoptose der retinalen Ganglienzellschicht
durch Kainate oder UV-Bestrahlung (Lulli
et al. 2012a und b) ein signifikant geringe-
rer Zellverlust nach topischer Q10-Gabe
detektiert. Dabei war die Bioverfügbarkeit
des CoQ10 nach topischer Gabe sehr hoch.
Die Gabe von 15 Tropfen führte zu einer
Zunahme des Q10-Spiegels in Netz- und
Aderhaut von 80 % und erreicht damit
einen therapeutisch ausreichend hohen
Wirkspiegel.
Auch im humanen Glaskörperbereich
konnten unter Q10-Applikationen ent-
sprechende Werte nachgewiesen werden
(Fato et al. 2010).
Weitere Studien haben den neuro-
protektiven, antioxidativen Effekt bei
Glaukomerkrankungen bei topischen
 392 S. Billeit
Q10-Gaben unterstrichen (Nucci et al. 2007;
Parisi et al. 2014; Davis et al. 2017).
Q10-Augentropfen zur ergänzenden Be-
handlung der augendrucksenkenden Thera-
pie sind seit 2018 erhältlich.
Das Vitamin E und Ginkgo biloba ge-
hören zu den häufig untersuchten Antioxi-
danzien, die eine Verzögerung des retinalen
Ganglienzelltodes erreichten. Vitamin E
fungiert in erster Linie als Peroxylradikalen-
fänger. Aktuelle Studien empfehlen eine
Freisetzung von Vitamin E aus weichen
Kontaktlinsen als Prävention vor oxidativen
Glaukomschäden (Hsu et al. 2015).
Ginkgo biloba steigert den retinalen Blut-
fluss, hat die Eigenschaft, ein Radikalen-
fänger zu sein, beeinflusst den Glutamat-­
Signalweg und schützt den mitochondrialen
Stoffwechsel (Cybulska-­Heinrich et al. 2012).
Patienten mit einer positiven Glaukom-
anamnese, einer vom Augenarzt festgestellten
auffälligen Sehnervenexkavation, sollten die
zur Verfügung stehenden präventiven Möglich-
keiten, selbst bei noch nicht erhöhtem Augen-
innendruck nutzen. Beim Glaukom kommt es
zu einem irreversiblen Nervenfaserverlust. Bei
Personen, die an einer Glaukomerkrankung
erblindet sind, vergehen trotz augendrucksen-
kender Therapie im Durchschnitt zwölf Jahre
von der Diagnose bis zur Erblindung.
Natürlich spielen dabei auch Faktoren
wie ein bereits fortgeschrittenes Stadium bei
der Erstdiagnose, hohe Schwankungen der
Druckwerte unter der Behandlung und eine
schlechte Compliance des Patienten wich-
tige Rollen (Januleviciene 2018).
18.3 Altersbedingte
Makuladegeneration
18 Die altersbedingte Makuladegeneration
(AMD) ist die mit Abstand häufigste Er-
blindungsursache in westlichen Ländern.
Durch die zunehmende Lebenserwartung
nimmt die Häufigkeit deutlich zu.
288 Millionen Menschen werden welt-
weit im Jahr 2040 an AMD erkrankt sein
(Wong et al. 2014).
Derzeit sind es schätzungsweise 30–
50 Millionen.
Etwa 26 Millionen Europäer werden bis
2040 von einer frühen oder späten Form der
AMD betroffen sein (Colijn et al. 2017).
Unterschieden wird die trockene, atro-
phische Form von der feuchten, exsudativen
Form mit Neovaskularisationen. Letztere ist
eine Spätform der trockenen AMD. Etwa
10 % aller AMD-Patienten leiden an der
neovaskulären AMD (Yonekawa et al.
2014).
Die AMD ist eine degenerative Netz-
hauterkrankung, die das retinale Pigment-
epithel, die Photorezeptoren, die Bruch’sche
Membran und die Aderhaut betrifft. Die
Makuladegeneration entsteht multi-
faktoriell. Hauptrisikofaktoren sind das
Alter, Nikotinabusus, Fehlernährungen, ge-
netische Aspekte (helle Augen) und in
hohem Maß die Blaulichtbelastung.
Die Altersveränderungen sind an der
Netzhaut am deutlichsten, bereits 3,8 % der
35-bis 44-Jährigen weisen frühe Anzeichen
einer AMD auf (Korb et al. 2014). Mit zu-
nehmendem Alter nehmen die Photo-
rezeptoren der Netzhaut ab. Da nur 30 %
der Netzhautzellen für ein normales Sehen
ausreichen, verläuft diese Alterungsprozess
sehr schleichend. Mit 80 Jahren haben 25–
30 % aller Menschen eine fortgeschrittene
AMD. Zwar sind die Behandlungsmöglich-
keiten der feuchten späten AMD seit Ein-
führung der intravitrealen Gabe von Hem-
mern Vascular Endothelial Growth
Hormon (Anti-VEGF-Therapie) deutlich
verbessert worden. Dennoch wäre es besser,
wenn die späte Form gar nicht erst ent-
stehen würde.
Ophthalmologisches Altern
393 18
18.3.1 Risikofaktor UV-Licht neuert und die Apoptose der Netzhautzellen
eingeleitet (Ham et al. 1976; Zhon und
Dass zu viel Sonnenlicht der Haut schadet, Sparrow 2011). In der Netzhaut ist der
ist allgemein bekannt, am Auge sind die Sauerstoffumsatz höher als in allen anderen
Schäden allerdings vielfach gravierender. Geweben des menschlichen Körpers, mehr
Schädlich für die Netzhaut ist besonders der als im Gehirn und im Herzmuskel. Daher
blauwellige Anteil des UV-Lichtes, es ent- entstehen dort besonders hohe Konzentra-
stehen am Pigmentepithel der Retina foto- tionen an freien Radikalen (Carneiro und
chemische Reaktionen mit Bildung von Andrade 2017).
freien Radikalen. Je kurzwelliger das Licht Die Oxidation der Membranstrukturen
ist, desto energiereicher ist es. Diese High-­ der Außensegmente der Photorezeptoren
Energy-­ Visible-Strahlen sind maßgeblich führt zu einer Störung der notwendigen
für die Alterung der Netzhaut verantwort- Phagozytose der abgestoßenen Zellelemente
lich. Nach der Planck’schen Formel ist die durch die Zellen des retinalen Pigment-
Photonenenergie von Blaulicht mit 2,5– epithels. Die Photorezeptoren altern, ster-
3,0 eV hoch, ab 5,0 eV spricht man von ioni- ben ab und müssen nach unten in Richtung
sierender Strahlung. Aderhaut abtransportiert und recycelt wer-
Kindliche Augen sind durch Sonnen- den. Aus den oxidierten Zellbestandteilen
strahlen besonders gefährdet. In den ersten entsteht das Lipofuszin, welches im retina-
vier Jahren erreichen 90 % der UVA- und len Pigmentepithel kumuliert und die dorti-
über 50 % der UVB-Strahlung die Netzhaut, gen Zellen zum Absterben bringt. Die blau-
zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr immer empfindlichen Photorezeptorzellen sterben
noch 60 bzw. 25 %. Erst mit Erreichen des als erste ab (Strauss 2005). Es entstehen die
18.–20. Lebensjahres ist die Linse in der ersten funduskopisch sichtbaren so-
Lage, die UV-Strahlung nahezu komplett genannten Drusen der Bruch’schen
aufzuhalten. Auf der anderen Seite lässt die ­Membran.
Konzentration des UV-schützenden Maku- Das Lipofuszin lagert sich bereits in der
lapigments wieder nach. Jugend im Pigmentepithel ab, nimmt lang-
Die energiereichen und gefährlichen sam bis zum 60. Lebensjahr zu, um dann ex-
Lichtanteile liegen zwischen 400 und 510 nm ponentiell anzusteigen. Die Fähigkeit, den
und umfassen Violett-, Indigo-und Blau- „Stoffwechselmüll“ vom Pigmentepithel
töne. Natürliche Schutzfunktionen des durch die Bruch-Membran in die Aderhaut
Menschen sind die altersbedingte, oft gelb- zu schleusen, nimmt im Alter deutlich ab
liche und damit blaufilternde Linse sowie (Wing et al. 2013). Das Lipofuszin per-
das Makulapigment, bestehend aus Lutein, sistiert in den Lysosomen der Pigment-
Zeaxanthin und Meso-Zeaxanthin. epithels und behindert den Sehzyklus und
Die photochemische Reaktion bewirkt ist damit ein Wegbereiter der AMD
auf der einen Seite die Umwandlung eines (Schmitz-Valkenberg et al. 2009).
Lichtreizes in ein Rezeptorpotenzial, anderer- A2E (N-retinylidin-N-­retinylethanolamin)
seits das Entstehen freier Radikale, die wiede- ist ein Bestandteil des okulären Lipofuszin,
rum durch Scavenger-­Eigenschaften das Ma- der wie ein Brandbeschleuniger bei Anregung
kulapigments wieder vermindert werden. durch Blaulicht selbst blaues Licht mit einer
Die restlichen freien Radikale wirken to- Wellenlänge von 440 nm emittiert. Es bilden
xisch auf die Zellmembranen und intra- sich durch diese Lipofuszin-Floureszenz wei-
zelluläre Metaboliten, der Netzhautstoff- tere freie Sauerstoffradikale, und die Funk-
wechsel wird verlangsamt, die Außenglieder tion der Lysosomen hinsichtlich der
der Photorezeptoren werden nicht mehr er- Recyclingfähigkeit der Photorezeptoren wird
 394 S. Billeit
weiter ­blockiert. Der massive oxidative Stress
schaukelt sich hoch, und die über dem retina-
len Pigmentepithel liegenden Photorezeptoren
sterben ab (Finnemann et al. 2002).
Die physiologische Gegenstrategie bei
Alterungsprozessen der Netzhaut ist neben
der beginnenden Linsentrübung das gelbe
Makulapigment. Violettblaue Lichtanteile
werden wirksam herausgefiltert.
Das Absorptionsmaximum von Lutein
liegt bei 445 nm und Zeaxanthin bei 450 nm.
Beide Makulapigmente liegen also genau im
Blaubereich und vermindern damit die Li-
pofuszin-Floureszenz und erhöhen das
Kontrastsehen.
Eine niedrige Pigmentdichte gilt als
wesentliche Ursache der altersbedingten
Makuladegeneration (Bone 2001).
Es lag daher nahe, über die Zufuhr von
Lutein und Zeaxanthin und anderen Anti-
oxidanzien Effekte auf den Verlauf der
AMD zu prüfen. Diese beiden Bioflavo-
noide sind wirkungsvolle Antioxidanzien,
können nur über die Nahrung aufgenommen
werden und bilden das Makulapigment.
Epidemiologische Studien zeigen inverse
Assoziationen zwischen dem Risiko einer
fortgeschrittenen AMD und den Lu-
tein/Zeaxanthin-Gehalten in der Ernährung
und im Serum der Studienteilnehmer. Die
US-amerikanische ARED-1-­Studie (ARED
= Age-Realated-Eye-Disease) hatte gezeigt,
dass die tägliche Einnahme von 500 mg Vit-
amin C, 400 IU Vitamin E, 15 mg ß-Carotin,
80 mg Zinkoxid und 2 mg Kupferoxid das
Voranschreiten einer AMD verzögert
(AREDS 1 2001).
Diese Zusammensetzung gilt als sehr
sinnvolle Therapieergänzung bei der AMD.
Später wurden die Ergebnisse der
ARED-2-Studie veröffentlicht. Es wurden
18 1608 Teilnehmer im Alter zwischen 50 und
85 Jahren und einem hohen Progressions-
risiko untersucht. Die Zusammensetzung
enthielt zusätzlich 10 mg Lutein und 2 mg
Zeaxanthin. Auf das ß-Carotin wurde ver-
zichtet, da bei Rauchern oder ehemaligen
Rauchern damit die Rate an Lungenkrebs
erhöht war
(AREDS 2 2013).
Beide Strategien hatten einen signi-
fikanten Einfluss auf den primären End-
punkt der Studien, dem Voranschreiten der
AMD. Zusatzeffekte durch Lutein/
Zeaxanthin-­Zufuhr wurden nachgewiesen.
Andere Studien bestätigten den Effekt
der Luteinzufuhr bei der AMD (Richter et
al. 2004).
Neben der Blaulichtfilterfunktion in der
zentralen Retina und als Antioxidans zeigt
Lutein auch anti-inflammatorische Eigen-
schaften. Im Blut von AMD-Patienten sind
höhere Konzentrationen an Biomarkern des
Komplementsystems zu erkennen. Drusen
in der Retina enthalten Komplement-­
Produkte. Eine starke genetische Assozia-
tion im Zusammenhang mit der AMD
wurde in Genen für ein Protein des Komple-
mentsystems, dem CHF-Gen gefunden.
Bei Patienten mit AMD wurden unter
10 mg Lutein pro Tag eine Reduktion des
Biomarkers Adipsin (Faktor D) um 50 % er-
reicht. Weitere Komponenten der
Komplement-­ Kaskade waren auch redu-
ziert.
Eine angemessene Luteinkonzentration
im Blut spielt auch in der Kontrolle des Ent-
zündungsweges eine Rolle und stellt somit
zusätzlich eine einfache nebenwirkungsfreie
Präventionsmaßnahme bei der AMD dar
(Berendschot et al. 2014).
Neuere Untersuchungen legen nahe,
dass Lutein nicht nur die Blendungs-
empfindlichkeit, das Kontrastsehen und die
Erholungszeit nach Photostress verbessern,
sondern auch die Weiterverarbeitung des
Bildes im Gehirn, das neuronale Processing.
Die Makulapigmentdichte steht mit der Ge-
schwindigkeit der visuellen Verarbeitung im
engen Zusammenhang (Bovier et al. 2014).
Lutein ist auch das dominante Carotinoid
in der Großhirnrinde. Es gibt auch Zu-
sammenhänge zwischen der Makulapigment-
dichte und kognitiven F ­ unktionsstörungen,
Ophthalmologisches Altern
395 18
möglicherweise ein Risiko für neuro- AMD-protektive Wirkung (Souied et al.
degenerative Erkrankungen. Die AMD und 2013).
die Alzheimer-Erkrankung zeigen viele ge- Die Ausschüttung von Eicosanoiden
meinsame pathologische Merkmale, die Ma- durch die Omega-6-Fettsäure Arachidon
kuladegeneration wurde schon als die führt zur Bildung von Leukotrienen, Prosta-
„Alzheimer-Erkrankung des Auges“ be- glandinen und Thromboxanen, die die
zeichnet (Renzi-Hammond et al. 2017). AMD-Progression beschleunigen.
Hingegen wirken Omega-3-Fettsäuren
wie Eicosapentaensäure (EPA) und Docosa-
18.3.2 Die Rolle der Omega-3- hexaensäure (DHA) anti-inflammatorisch
Fettsäuren und makulaprotektiv.
Omega-3-Fettsäuren kommen in Pflan-
Eine mediterrane Kost verzögert die Ent- zen vorwiegend als Alpha-Linolensäure
wicklung der Amyloide und anderer Bio- (ALA) vor, in Fischen sind EPA und DHA
marker beim M. Alzheimer (Berti et al. angereichert (Thunfisch, Lachs, Makrele,
2018). Hering).
Eine Diät mit viel Fisch und Gemüse Eine Studie aus Australien zeigte, dass
verringert die AMD-Progression. Die Rolle alpha-Linolensäure-reiches Pflanzenöl in
der Omega-3-Fettsäuren aus fettem Seefisch Verbindung mit einer Linolsäure-armen Er-
und der Carotinoide aus grünem Gemüse nährung (Omega-6) ähnlich wie eine Sup-
wurde in einer Meta-Analyse von 18 hoch- plementierung mit Omega-3-Fettsäuren aus
qualitativen Studien untersucht. Pflanzen- Fischöl den EPA-Spiegel im Gewebe an-
öle und tierische Fette mit einem hohen steigen lässt (Mantzioris et al. 1994).
Omega-6-Gehalt hingegen verstärken das Der Körper kann austeichend DHA bil-
AMD-Risiko (Chapman et al. 2018). den, wenn ca. 1200 mg und mehr ALA pro
Eine andere Arbeitsgruppe aus Italien Tag aufgenommen wird (Barcel-Coblijn und
kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Im Murphy 2009).
Ergebnis einer Meta-Analyse zeigte sich eine Die Europäische Behörde für Lebens-
signifikante 18 %ige Reduktion bei einem mittelsicherheit (EFSA) und die Deutsche
Fischkonsum von allerdings fünfmal pro Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfeh-
Woche gegenüber einmal pro Woche. Das len täglich die Einnahme von 250 mg EPA
AMD-Risiko durch Alkohol zeigte in der oder DHA (EFSA 2010). Dabei ist aller-
gleichen Studie eine Erhöhung um 20 % dings die Zufuhr von Omega-6 nicht be-
(Dinu et al. 2019). rücksichtigt worden. Um beispielsweise den
Die ARED-2-Studie des US-­ „Flurschaden“ einer Tüte Chips zu be-
amerikanischen National Health Institut, aber reinigen, bedarf es einer Zufuhr von 18,16 g
auch andere Studien belegen keinen Unter- (!) EPA (Hüning 2018).
schied bei der Omega-3-­Supplementation zur Den höchsten Anteil an Omega-3-­
Placebogruppe. Möglicherweise wurde dabei Fettsäuren enthält Leinöl mit einem
der zeitgleiche Verzehr von Omega-6-Fett- Omega-6/Omega-3-Verhältnis von 1 : 3, ge-
säuren nicht mit einbezogen. folgt vom Rapsöl (2 : 1). Einen sehr hohen,
Omega-6 und Omega-3 sind Gegen- ungünstigen Omega-6-Anteil haben
spieler, das heißt, das Verhältnis von z. B. Distelöl, Sojaöl, Maiskeimöl und
Omega-6 und Omega-3 ist entscheidend. Sonnenblumenöl, die den Arachidonsäure-
Laut NAT2-Studie sollte der Omega-3-­ zyklus ankurbeln.
Gehalt aus der Erythrozytenhülle bestimmt Die westliche (deutsche) Kost hat eine
werden. Ein hoher Omega-3-Gehalt hat eine Relation Omega-6 zu Omega-3 von 15 : 1
 396 S. Billeit

und mehr, die DGE-Empfehlungen gehen in Kontrastsehen, aber auch geringere Augen-
Richtung 5 : 1, ideal wäre 4 : 1 (DGE 2003). ermüdung und Kopfschmerz und eine bes-
Auch hier gibt es Analogien in der Epi- sere Schlafqualität.
demiologie der AMD und kardiovaskulärer Eine AMD-Vorsorge sollte bereits ab
Erkrankungen. Bewegungsmangel, erhöhtes dem 40. Lebensjahr einsetzen, da eine frühe
Homocystein und Cholesterin, Rauchen, AMD oft übersehen wird. Seit Einführung
Diabetes, Hypertonus, Adipositas führen zu der optischen Kohärenztomographie (OCT)
erhöhten Entzündungsmarkern. Auch bei sind auch Frühformen sehr gut zu erkennen,
der AMD sind Leukotriene, Thromboxane die erst nach einer Vorlaufzeit von 15–20
und Prostaglandine im Kammerwasser er- Jahren manifest werden.
höht. Leukotriene führen zu einer Kon- Die Flavoprotein-Floureszenz (FPF) er-
version in die neovaskuläre Makuladegene- möglicht eine Messung des mitochondrialen
ration (Mimura et al. 2018). oxidativen Stresses. Sie kann die OCT-­
Ebenfalls gibt es Zusammenhänge mit Information ergänzen, wenn es um die Früh-
dem Auftreten von Drusen der Bruch’schen erkennung retinaler Erkrankungen geht.
Membran mit arteriosklerotischen Plaques Dabei ist die FPF ein sensitiver Marker der
(Pennington und DeAngelis 2016). mitochondrialen Dysfunktion und der frü-
Die AMD ist eine degenerative Netz- hen apoptotischen Veränderungen als Folge
hauterkrankung, die im Alter sukzessive zu- des oxidativen Stresses (Rosen 2019).
nimmt. Die präventiven Möglichkeiten, das
Eine präventive Herangehensweise bei Fortschreiten des Netzhautprozesses zur
der AMD ist gerade bei der zunehmenden AMD aufzuhalten, wie
Altersentwicklung erforderlich. Die der- Rauchstopp, entsprechende Licht-
zeitigen Behandlungsmöglichkeiten mittels schutzgläser, grünes Gemüse, Lutein-
intravitrealer Injektionen von VEGF-­produkte und Omega-3-Fettsäuren, können
Hemmern sind ein großer Durchbruch in den Entzündungsprozess der zentralen
der Therapie der Makuladegeneration. Sie Netzhaut günstig zu beeinflussen. Das gilt
können aber nur eine Defektheilung eines im Besonderen für Menschen mit geneti-
schon fortgeschrittenen Krankheitsbildes scher Vorbelastung, hellen Augen und heller
erreichen. Ziel muss es daher sein, die AMD Haut und Patienten nach Katarakt-
präventiv anzugehen, möglichst vor Ein- operationen.
treten der Visusverschlechterung. Neben
den beeinflussbaren Veränderungen des
Lifestyles (Ernährungsgewohnheiten, Rau- Literatur
chen) spielt die Blaulichtbelastung eine
wesentliche Rolle. Computerbildschirme, Abu-Amero KK, Morales J, Bosley TM (2006) Mito-
Tablets und Smartphones dominieren immer chondrial abnormalities in patients with primary
mehr unseren Alltag. Auch dabei, nicht nur open angle glaucoma. Invest Ophthalmol Vis Sci
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18 sammenhänge zwischen Blaulichtbelastung lichen Akademie Deutschlands(AAD), Düsseldorf
der LED-Hintergrundsbeleuchtung von Barcel-Coblijn G, Murphy EJ (2009) Alpha linolenic
acid and its conversion to longer chain n-3 fatty
Displays und verschiedenen Beschwerden,
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die sich unter der Einnahme von Lutein- 48:355–374
komplex signifikant besserten (Stringham Beidoe G, Monsa A (2012) Current primary open
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 401 19

Prävention von
Mund-, Kiefer- und
Zahnerkrankungen
im Alter
Gerd Volland

Inhaltsverzeichnis

19.1 Craniomandibuläre Dysfunktionen – 402

19.2 Materialien – 403

19.2.1 T oxizität – 403
19.2.2 Unverträglichkeiten, Allergien und proentzündliche
Reaktionen – 405

19.3 Intraossäre Entzündungen dentogener Genese – 409

19.4 Parodontalerkrankungen – 412

19.4.1 Herz-Kreislauf-­Erkrankungen – 415
19.4.2 Pneumologie – 415
19.4.3 Rheumatoide Erkrankungen – 415
19.4.4 Diabetes mellitus – 416
19.4.5 Gynäkologie – 416

19.5 Ergebnis – 417

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_19
 402 G. Volland
Zahnmedizin und Altern wurde bisher
immer unidirektional gesehen.
Im Bewusstsein eines Großteils der Be-
völkerung stand und steht immer noch fest,
dass im Laufe des Lebens Zähne Löcher
kriegen, Zähne gezogen werden und auch
ausfallen können.
„Jedes Kind kostet einen Zahn“ war und
ist eine deutsche Volksweisheit, die auch
heute noch bei vielen Schwangeren in den
Köpfen feststeht.
Diese Unvermeidlichkeit der zu-
nehmenden Zerstörung grenzt fast an
Fatalismus, gleichzeitig berichten schon
Überlieferungen aus vergangenen Jahr-
hunderten, dass schlechte Zähne negative
Auswirkungen auf den ganzen Menschen
haben können. Hierfür steht der Ausspruch
„An jedem Zahn hängt ein ganzer
Mensch“.
Der folgende Beitrag soll wissenschaftlich
belegte die Wechselwirkungen zwischen Stö-
rungen am Kauorgan, deren negative Aus-
wirkungen auf den gesamten Organismus
und ein damit zusammenhängendes schnelle-
res Fortschreiten des Alterns darlegen.
Dabei gliedert er sich in vier Unter-
punkte:
55 Dysfunktionen in Okklusion/Artikula-
tion und ihr Einfluss auf orthopädische
Probleme bis hin zur Psyche
55 Zahnmaterialien: Toxizität, Unverträg-
lichkeiten auf lokaler, regionaler und
systemischer Ebene, Allergien, pro-
entzündliche Reaktionen
55 Intraossäre Entzündungsprozesse
odontogener Genese
55 Parodontale Entzündungen und All-
gemeinerkrankungen
19.1 Craniomandibuläre
Dysfunktionen
19 Es steht fest, dass sich im Laufe des Lebens
durch die tägliche Nahrungsaufnahme und
die Schleifwirkung der Kost die Hart-
substanz unserer Zähne abnutzt und der
Zahnschmelz immer dünner wird. Aber
nicht nur das Kauen, sondern auch die
durch Zuckerstoffe gebildeten Säuren schä-
digen die Zahnoberflächen, sodass sich auch
allmählich ein Höhenverlust einstellt, der
dann zu einer Verkürzung der Schneide-
zähne führt.
In jüngerer Zeit erkannte man, dass dies
über den Zahn hinaus Auswirkungen auf
die Funktion und Integrität des Kiefer-
gelenks haben können.
Der Verschleiß, der Verlust an Höhe,
aber auch nötige Restaurationen wie Kro-
nen, Brücken oder anderen Zahnersatz füh-
ren Störkontakte zu einer Instabilität im
System und wirken sich via Kiefergelenk
und akzessorischer Kaumuskulatur bis hin
zur Wirbelsäule aus.
Neuromuskuläre Störungen des Kau-
organs werden über die desmodontalen Re-
zeptoren der Zähne, Spindelrezeptoren der
Kaumuskultur sowie Kapselrezeptoren des
Kiefergelenkes an das Gehirn weitergeleitet.
Dort führen sie bei den efferenten Bah-
nen zu einer Veränderung der Willkür-
motorik, aber auch der für den Betroffenen
unterschwelligen nicht wahrnehmbaren Ver-
änderung des Muskeltonus.
Dies führt zu einer sukzessiven
Spannungssteigerung im kompletten cranio-
mandibulären System, der über das limbi-
sche System einen erhöhten Psychotonus
provoziert.
Somit beginnt der Circulus vitiosus, aus
dem der „jetzt“ Patient ohne Eingriff von
außen selbst willentlich nur sehr selten ent-
rinnen kann.
Neben okklusalen Interferenzen oder
unversorgten Lücken können psycho-­
emotionale Stressfaktoren in angespannten
Lebenssituationen („Da musst du auf die
Zähne beißen“) oder auch allgemein-
medizinische Faktoren, wie Traumata, zu
einer Hyperaktivität der Muskulatur führen
und Bruxismus oder Pressen auslösen.
Dies kann dann wieder in Schlifffacetten,
Pseudopulpitiden oder Fraktur von
­Hartsubstanz münden.
Prävention von Mund-, Kiefer- und Zahnerkrankungen im Alter
Für den Zahnarzt ist auch immer an pa-
rodontale Überbelastungen, keilförmige
Defekte, Kiefergelenks- oder Ohren-
schmerzen oder Schwindel bis hin zu Tinni-
tus zu denken.
Im Laufe der Zeit manifestieren sich oft
HWS-Probleme und Rückenschmerzen, bis
schließlich die Ursache komplett verschleiert
ist.
Da die Symptome erst spät nach Über-
schreiten der Wahrnehmungsschwelle in
verschiedensten Schmerzsymptomatiken re-
sultieren, ist, so der Betroffene den Weg zum
Arzt findet, die diagnostische Einordnung
oft kompliziert.
Entscheidend für die Befundstellung sind,
wie bei den meisten chronischen Prozessen,
die Anamnese und danach die Inspektion
und Palpation der Muskelansätze der Kau-
muskulatur (M. masseter, pterygoideus late-
ralis, M. temporalis) sowie der myofascialen
Triggerpunkte der craniomandibulären Re-
gion mit akzessorischer Kaumuskulatur des
Nackens und des Mundbodens und speziell
der M. sternocleidomastoideus.
Ferner sollten eine Auskultation der
Kiefergelenke wie auch eine Probe-
mobilisation die Eingangsuntersuchung ab-
schließen. Diese Befunde führt man in dem
CMD-­ Kurzbefund und dem eingehenden
Befundbogen nach Ahlers und Jaksted zu-
sammen, um die kompletten Einstiegs-
probleme vor Durchführung jeglicher Maß-
nahmen zu dokumentieren.
Nur so kann man in dem oft lang-
wierigen Behandlungsverlauf die Fort-
schritte verfolgen.
Erst an zweiter Stelle kommen dann
nach entsprechender Indikationsstellung
bildgebende Verfahren des Kiefers, der Ge-
lenke und der Weichteile wie MRT- und
CT-Diagnostik.
Zur grundlegenden Therapie gehören
immer die Kombination von Detonisation
der Muskulatur und zahnärztlicher
Schienentherapie zur Unterbrechung des
Kreislaufs.
403 19
Um eine Detonisation zu erreichen, be-
dient man sich dreier unterschiedlicher phy-
sikalischer Ansätze:
55 der Thermotherapie durch Kälte oder
Wärme
55 Mechanotherapie (manuelle Therapie,
Osteopathie, Effleurage)
55 Gelenkmobilisation zur Stimulation der
Kapselrezeptoren
Bei den zahnärztlichen Schienen unter-
scheidet man nach Graf:
55 Dekompressionsschienen zur Entlastung
komprimierter Gelenkstrukturen
55 Protrusionsschienen zur Optimierung
der Gelenkposition zur Verschlüsselung
der therapeutischen protrudierten Unter-
kieferposition
55 Vertikalisierungsschienen zur Ein-
stellung der Vertikalposition ins-
besondere vor prothetischer Versorgung
Die Äquilibrierungsschiene nach Kopp dient
zur Findung einer optimierten Unterkiefer-
position bei parallel laufender manueller
Therapie bzw. Osteopathie, um die gesamte
Körperstatik zu optimieren.
19.2 Materialien
Da die Zahnmedizin immer noch zu einem
großen Teil durch notwendige Sanierung von
kariösen Defekten und verlorenen Zähnen be-
steht, werden unterschiedlichste Fremd-
materialien zum Füllen von kariösen Läsio-
nen, zur Überkronung von Zähnen, der
Anfertigung von Zahnersatz bis hin zur Im-
plantation und eventuell nötigem Knochen-
aufbau mit Fremdmaterial verwendet.
19.2.1 Toxizität
Diese müssen schon von Gesetzes wegen auf
Abrieb und Zelltoxizität im Bereich der
Ersatzmaterialien getestet werden, im Be-
 404 G. Volland
reich der chirurgischen Materialien ist die
Untersuchung auf Fremdeiweiß, Reinheit
und Sterilität selbstredend für alle Hersteller
verpflichtend.
Durch den natürlichen Abrieb bei der
Mastikation gelangen kleinste Partikel mit
der Nahrung in den Verdauungstrakt und
können sich dort anlagern oder bei Auf-
nahme durch den Darm in den Körper ge-
langen und sich verteilen.
Die Menge der mitgegessenen Zahn-
materialien ist in Abhängigkeit von den
Speisen (weiche Kost oder gesunde Körner)
sehr unterschiedlich, steigt bei Knirschern
unabhängig davon stark an und ist quantita-
tiv nicht zu erfassen.
Allgemein gilt bezüglich der Abrasivität
ein in absteigender Reihe von der Dental-
keramik, Stahl, harten Dentallegierungen,
Füllungsmaterial aus Hybridkunststoffen,
Amalgam bis hin zum Prothesenkunststoff
als gesichert.
Für den Bereich der Metalle spielt im
feuchten Milieu des elektrolythaltigen Spei-
chels die Korrosion eine große Rolle.
Diese wird bei den Legierungen durch
folgende Faktoren bestimmt:
55 Die Zusammensetzung: Was ist drin?
55 Die Gefügestruktur: Wie homogen ist
das Metallgefüge? Je feinkörniger umso
besser und korrosionsbeständiger. Sie
wird beeinflusst durch die Verarbeitung
im Dentallabor durch Einhaltung der
Herstelleranweisungen.
55 Die Oberfläche: Je besser poliert, umso
kleiner die Oberfläche, desto weniger
Korrosion.
55 ABER AUCH: Die Beschaffenheit des
Speichels mit unterschiedlichem Elektrolyt-
gehalt, aber auch pH- Wert. Hier gilt: Je
saurer, umso mehr Korrosion.
Obwohl immer weniger eingesetzt, in
Deutschland bei Schwangeren und Kindern
19
verboten, steht in der öffentlichen Dis-
kussion das Thema „Amalgam“ im Fokus.
Dentalamalgame bestehen aus Silber,
Kupfer, Indium, Zinn und Zink bei einem
im Vergleich zu anderen Amalgamen relativ
geringen Quecksilberanteil, was dazu führt,
dass nach der Vermengung das Material er-
starrt und je nach Zusammensetzung unter-
schiedliche Materialeigenschaften hat.
Da Quecksilber für Mensch und Tier
giftig ist, sollte man davon möglichst wenig
aufnehmen, sei es mit der Nahrung, man
denke an die Katastrophe durch verseuchten
Fisch aus dem japanischen Meer vor 50 Jah-
ren (Minimata-Krankheit), mit der Umwelt
durch industrielle Prozesse oder auch aus
den sicherlich mittlerweile sehr korrosions-
stabilen non gamma-2 Amalgam Füllun-
gen.
Da der Mensch aufgenommene Schwer-
metalle über das System der GTSM-1 und
GTSM-2 (Gluthation-S-Transferasen) wie-
der aus dem Körper entgiften kann, wird die
toxische Grenze spezifisch für den Einzelnen
nicht gleich erreicht, und es lassen sich die
Symptome nicht verallgemeinern.
Ferner ist zu beobachten, dass speziell in
Industrieländern dieses System nicht mehr
so gut intakt ist wie z. B. in Sibirien, bei
nahezu 100 %, sondern Schätzungen der
Deutschen Gesellschaft für Umweltmedizin
zufolge bei nur noch einem Drittel der
Kapazität liegt.
Damit steigt die Zahl derer, die bei Be-
lastung mit Schwermetallen auch gesund-
heitliche Probleme bekommen können.
Für Dentalmaterialien auf Basis von
Kunststoffen wie Prothesen oder Füllungen
(Komposite) liegen wenige gesicherte Unter-
suchungen über deren Aufnahme und mög-
lichen Abbau in toxische Stoffe wie Alde-
hyde vor. Sie verursachen weniger toxisch
bedingte Symptome als vielmehr allergische
Reaktionen.
Prävention von Mund-, Kiefer- und Zahnerkrankungen im Alter
19.2.2 Unverträglichkeiten,
Allergien und
proentzündliche
Reaktionen
Dies leitet zu der Fragestellung der Allergien
beim Einsatz von Fremdmaterialien in der
Mundhöhle über.
Einerseits unterscheiden wir nach der
Lokalisation der Symptome in:
55 Lokal
55 Regional
55 Systemisch
Zum anderen nach dem Typ der Allergie, ob
es sich um eine
55 Sofortreaktion Typ I
oder eine
55 verspätete Reaktion Typ IV
handelt.
Diese überschießenden Reaktionen des
Immunsystems belasten unsere Gesundheit
und zehren so an unserer Regenerations-
kraft.
Im Gegensatz zu anderen Allergenen der
Umwelt, wie bei Kontaktallergien auf der
Haut oder Nahrungsmittelallergien, können
wir uns den fest eingebrachten Stoffen nicht
entziehen und nehmen sie permanent, wenn
auch in geringsten Mengen, über unser Ver-
dauungssystem auf.
Dabei ist zu beachten, dass die allergische
Reaktion als Teil einer Immunantwort un-
abhängig von der Menge auftritt, während
bei Toxizität die Menge entscheidend ist.
Die Lokalisation bei Unverträglich-
keiten:
55 lokal – Hierzu gehören Schleimhaut-
rötungen, rezidivierende Mykosen, Aph-
then, lichenoide Veränderungen,
Schleimhautrötungen, trockene Schleim-
häute oder Metallgeschmack. Wegen des
Speichelflusses können aber Allergien
vorliegen, auch wenn lokal keine Re-
aktion auf der Mundschleimhaut zu er-
kennen ist.
405 19
55 Regional – Mukosale Entzündungen der
Schleimhäute, chronische Sinusitiden,
Erkrankungen im Bronchialbereich, des
Larynx, Pharynx oder Ösophagus.
55 Systemisch – Chronische Inflammations-
prozesse wie Colitis ulcerosa oder Mor-
bus Crohn oder Psoriasis; Autoimmun-
prozesse wie z. B. Lupus erythomatodes
oder rheumatoide Arthritis.
Die Typ-I-Allergie ist durch eine über-
schießende Reaktion des Immunsystems
innerhalb von Sekunden bis Minuten nach
Allergenkontakt gekennzeichnet. Der Re-
aktion vorausgehend ist ein Erstkontakt mit
dem Allergen, der zur Sensibilisierung führt.
Die T-2-Helferzellen schütten den Boten-
stoff Interleukin-4 aus, das wiederum die
B-Zellen aktiviert, die spezifische IgE-­
Antikörper gegen das Allergen produzieren.
Sie binden an die Mastzellen und an baso-
phile Granulozyten, sodass sie zu zell-
ständigen Antikörpern werden. Der erneute
Kontakt führt dann zu einer Degranulie-
rung der Zelle und setzt massiv Ent-
zündungsmediatoren wie Prostaglandine,
Leukotriene und Histamin frei.
Die wichtigsten Typ-I-Allergien sind der
Heuschnupfen, der mit Rhinitis und Kon-
junktivitis einhergeht, sowie die Hausstaub-
allergie oder Allergien auf bestimmte
Insektengifte, die bis zur Anaphylaxie oder
dem Auftreten eines Histamin-vermittelten
Quincke-Ödems führen können.
Symptome sind Rötung, Schwellung,
Juckreiz und ggf. der Bildung von Quad-
deln, auf den Schleimhäuten zusätzlich
Hypersekretion.
Für den Bereich der Zahnmaterialien
tritt sie hauptsächlich bei Methacrylaten
auf, die sowohl in Füllungsmaterialien wie
Kompositen, Prothesenkunstoffen und -ver-
blendungen, aber auch in Befestigungs-
materialien für Keramikinlays, -kronen
und -veneers enthalten sind.
Wenige Hersteller liefern auch schon
methylmethacrylatfreie Kunststoffe, die bei
bekannter Kunststoffallergie allerdings auch
 406 G. Volland

immer vorher getestet werden müssen, da Labordiagnostik dem Hauttest vorzuziehen

auch andere Bestandteile Reaktionen aus- sind.
lösen können. Einen Sonderfall bei den Metallen stellt
Im Gegensatz zu den humoral ver- Titan, das hauptsächlich für enossalen Im-
mittelten Typ-I-, -II- und -III-Allergien wird plantate, aber auch für Zahnersatz eingesetzt
sie zellulär durch sensibilisierte T-­wird, dar. Titanallergien wurden bisher nur
Lymphozyten vermittelt. selten nachgewiesen, dennoch kommt es
Allergische Kontaktekzeme wie bei Ni- manchmal zu Entzündungen um Zahn-
ckel, Implantatabstoßung oder die implantate, die keiner bakteriellen In-
­Tuberkulinreaktion sind Vertreter der Typ- flammation zugeschrieben werden können,
IV-­Reaktion. Bei Dentalwerkstoffen finden vielmehr durch eine überschießende Re-
wir sie vornehmlich bei Allergien auf Me- aktion der Gewebemakrophagen ausgelöst
talle. Da sowohl Stahllegierungen für Pro- werden.
thesen als auch Dentallegierungen zur An- Hierbei kommt es zu einer vermehrten
fertigung von Kronen und Brücken oder Expression von TNF-α und Interleukin-1
kombiniertem Zahnersatz per definitionem (im Titanstimulationstest), die aber in Ab-
Metalle sind, die durch Verschmelzen meh- hängigkeit von der individuellen Ent-
rerer Metalle entstanden sind, müssen zündungsneigung stark variiert. Sie führt zu
immer alle Bestandteile getestet werden, einer Aktivierung der Osteoklasten, was
und es dürfen auch nur frische Gussplätt- speziell in der Einheilphase die Osseointeg-
chen des Herstellers zur Verwendung kom- ration mit Anlagerung von Knochen-
men und auch nicht mit anderen vermischt substanz behindert und die Kollagenolyse
werden. durch lokale Entzündung erhöht.
Durch das verzögerte Auftreten von In Summation zum Entzündungsgrad
Symptomen sind in der Mundhöhle keine kann dies auch bei osseointegrierten Im-
lokalen Entzündungsreaktionen zu sehen. plantaten deren Verlust fördern.
Sie treten meist systemisch oder durch Hist- Implantat-Patienten, die so reagieren,
aminausschüttung im Darm mit nach- sollten immer intensivierte Prophylaxe be-
folgender Colitis oder M. Crohn auf. treiben und einer optimalen Einstellung prä-
Testverfahren: disponierter Erkrankungen, z. B. Diabetes
In der Allergologie sind Hauttests zur mellitus, entzündungshemmende Medika-
Feststellung von allergischen Reaktionen tion und Raucherentwöhnung, zugeführt
auch heutzutage noch üblich, Epikutantest werden. Für diesen Fall haben wir auch
und Prick-Test stehen für diese Art von Test. schon eine Rückkehr zu Normwerten beim
Da aber jeder Erstkontakt zu einem All- Titanstimulationstest beobachtet.
ergen zu einer Sensibilisierung führen kann, Die Explantation ist nur, sollten sich
sollte man auf Labortestungen vermehrt trotzdem systemische Wirkungen nicht
zurückgreifen, die entsprechend des zurückbilden, zu empfehlen, da bei der Ope-
Allergietyps Typ-I- oder Typ-IV-Allergien ration ein großer Knochendefekt entstehen
abbilden. kann oder bei zu enger Umfräsung des Im-
Diese sind der sogenannte basophile De- plantats viele Partikel ins Gewebe gelangen.
generationstest (BDT) für die Typ-I-­Allergie Daneben treten aber auch Allergien der
und der Lymphozytentransformationstest speziell bei Titan Grade 5 zur Verbesserung
(LTT) für die Typ-IV-Allergie, die im Sinne der Materialeigenschaften der Zahn-
19 eines „nil nocere“ besonders bei bereits be- implantate beigemengten Metalle Alumi-
lasteten Patienten oder Allergikern als nium oder Vanadium auf.
Prävention von Mund-, Kiefer- und Zahnerkrankungen im Alter
Fallbeispiel 1
Eine 74-jährige Patientin mit steggetragener
Implantatversorgung im Unterkiefer zeigte
röntgenologisch periimplantäre Entzündungen
an allen vier Implantaten (. Abb. 19.1). Ein
Implantat hatte einen Knochenabbau bis kurz
vor der Implantatspitze.
Der Allgemeinzustand war reduziert, die Frau
hatte zunehmende Allergieneigung und starke
Gelenkschmerzen. Im Titanstimulationstest
war TNF-α auf 162 pg/ml (Referenzbereich
unter 40), Interleunkin 1-b auf 92,2 pg/ml
(Referenzbereich unter 30 pg/ml) erhöht
(. Abb. 19.2).
Aufgrund ihrer Gesamtsituation und gro-
ßer Bedenken ihrerseits gegenüber den Titan-
..      Abb. 19.1 Einzelzahnfilme der
Unterkieferimplantate vor Periimplanti-
tistherapie und Explantation 42
407 19
implantaten erhielt sie bei Allergie gegen
Lokalanästhetika in ITN vier Keramik-
implantate im Oberkiefer, das Implantat 42
wurde entfernt, eine Periimplantatitistherapie
an den anderen durchgeführt und der alte in-
suffiziente Steg vorerst wieder verschraubt
(. Abb. 19.3).
Vier Monate nach dem Eingriff zeigten
sich im Titanstimulationstest keine erhöhten
Werte (TNF-α 34,3 pg/ml, Interleukin 1-b
11,2 pg/ml), der Allgemeinzustand besserte
sich zusehends (. Abb. 19.4).
Somit zeigt sich, dass die Veränderung des
periimplantär entzündlichen Milieus zu einer
Reduktion der Zytokinreaktion führt.
 408 G. Volland

..      Abb. 19.2 Laborbefund Titanstimulationstest IMD Berlin

..      Abb. 19.3 OPG nach Implantatentfernung regio 42 (Steg noch nicht korrekt verschraubt) und Im-
plantation von vier Zirkonimplantaten im Oberkiefer

..      Abb. 19.4 Laborbefund Titanstimulationstest IMD Berlin nach Ausheilung/Implantatentfernung 42

19
Prävention von Mund-, Kiefer- und Zahnerkrankungen im Alter
19.3 Intraossäre Entzündungen
dentogener Genese
In diesem Abschnitt stehen lokale entzünd-
liche Prozesse im Fokus, die dem gesamten
Organismus schaden können und im all-
gemeinen Sprachgebrauch als Zahnherde
bezeichnet werden. Dieses Thema be-
schäftigt nicht erst in den letzten Jahren Pa-
tienten mit Beschwerden unklarer Genese,
deren Ärzte und Heilpraktiker.
Die Wechselbeziehungen zwischen Ent-
zündungen, die durch marode Zähne, bes-
ser: Entzündungsbelastungen in bestimmten
Kieferbereichen, die einer Zahnregion ent-
sprechen, hervorgerufen werden, fasste erst-
mals Dr. Reinhold Voll in den 1960er-­Jahren
aus den empirischen Beobachtungen in
einer Tabelle zusammen. Dabei unterschied
er zwischen Wirkungen auf den Bewegungs-
apparat und das Skelett, Wirkungen auf in-
nere Organe, hormonelle und auch psychi-
sche Effekte. Während die beschriebene
„Odonton bezogene“ Kausalität immer
schon schulmedizinisch nicht nachvollzieh-
bar war, hat mich die Aussage eines Referen-
ten während meiner Akupunkturaus-
bildung, derVoll persönlich gekannt hatte,
bis heute begleitet.
Dem Sinn nach sagte er: „Jeder entzünd-
liche Prozess im Kiefer kann an jeder Stelle
des Körpers oder Regulationssystems eine
negative Wirkung haben – die sklavische
zahn-/odontonbezogene Wirkung ist nicht
richtig.“
Damit war der Brückenschlag zur heuti-
gen immunologisch darstellbaren Ent-
zündungslehre bereits vor über 50 Jahren
gemacht. Nicht nur die bakterielle Keimver-
schleppung bei apikalen Entzündungen,
sondern schon das Vorhandensein eines
entzündlichen Prozesses kann sich negativ
auf Schwachstellen („locus minorae resis-
tentiae“) auswirken.
Diagnostik:
Bei der Diagnostik von Kieferent-
zündungen denkt jeder sofort an die An-
fertigung von Röntgenbildern und deren Be-
409 19
urteilung, da wir es gewohnt sind, durch
immer genauere bildgebende Verfahren
Ursachenforschung zu betreiben oder
Laboruntersuchungen der Sekrete oder des
Blutes zu analysieren.
Bevor ich auf die unterschiedlichen
Röntgenverfahren und deren Vor- und
Nachteile eingehen will, sollte man sich, wie
im Studium, auf das in den ersten klinischen
Semestern erlernte Vorgehen der klassischen
ärztlichen Anamnese besinnen.
Am Anfang steht die genaue Anamnese,
die über den Anamnesebogen hinausgeht
und im persönlichen Gespräch den Patien-
ten seine Beschwerden berichten lässt sowie
seine Geschichte, also in welcher Reihen-
folge Behandlungen an den Zähnen durch-
geführt wurden, ob Traumata oder auch
Stresssituationen bestehen oder bestanden.
Dann hat man bereits einen Leitfaden,
der durch die Zeitachse der voran-
gegangenen Zahngeschichte vorgegeben ist.
Danach erfolgt die extraorale und intra-
orale Inspektion mit Palpation der Kau-
muskulatur, der akzessorischen Kau-
muskulatur und des Nackens. Hier ist bei
Myogelosen immer daran zu denken, dass
sie nicht nur dysfunktionell, sondern auch
entzündlicher Genese sein können.
Im Anschluss folgt die Inspektion der
Schleimhäute des Vestibulums, der Zähne
und die Vitalitätsproben der Zähne.
Der Weg führt vom Groben zum Feinen,
um durch Detailsuche nicht den Überblick
zu verlieren.
Mit den Vitalitätsproben (am besten
CO2-Schnee) finden nicht nur auf dem Or-
thopantomogramm sichtbar wurzel-
behandelte Zähne, sondern auch nekrotisch
gewordene avitale Zähne.
Somit kommen wir jetzt zu den Möglich-
keiten der radiologischen Diagnostik.
Am Anfang steht heutzutage das OPG
(Orthopantomogramm), das bei um-
laufenden Röntgenstrahler den kompletten
Kiefer mit Zähnen, die Kieferhöhlen und
das Kiefergelenk als Summationsaufnahme
aller im Strahlengang liegenden Objekte in
 410 G. Volland
Graustufen darstellt und eine Übersicht der
Region liefert.
Bisher bewegte sich der Strahler auf nor-
mierten Bahnen, was bei unterschiedlichem
Abstand zu Bereichen besserer oder schlech-
terer Aussagekraft führte. Neueste Geräte
passen den Umlauf mit Sensoren der Ge-
sichtsform an, was die Darstellung wesent-
lich verbessert.
Wie auch die Einzelfilmaufnahme ist das
OPG eine Summationsaufnahme aller im
Strahlengang liegenden Objekte, was dazu
führt, dass eine Veränderung der Grau-
stufen erst bei ca. 30 % Substanzverlust im
Strahlengang erkennbar wird.
Diese Bereiche größerer Strahlendurch-
lässigkeit, Aufhellung genannt, werden als
Entzündungen gedeutet, stellen eigentlich
Gebiete geringerer Dichte des exponierten
Materials im Strahlengang dar, zeigen aber
keine Entzündungen per se. Für die Praxis
bedeutet dies, dass bei geringen Graustufen-
veränderungen weiter geforscht werden muss.
In der Röntgendiagnostik steht die An-
fertigung von dreidimensionalen Aufnahmen
Fallbeispiel 2
Ein 67-jähriger Patient stellte sich mit einem
CRP-Wert von 83,4 mg/ml im August 2017
vor Herzklappenersatz mit Überweisung vom
Kardiologen zur „Fokussuche“ vor.
Das OPG zeigte zwei Zähne mit apikaler
Veränderung und bei Zahn 24 eine reaktive
Schwellung der Schleimhaut am Kieferhöhlen-
19
im Mittelpunkt, seit mit der Einführung der
digitalen Volumentomographie der Patient
nicht mehr zum Radiologen wegen eines
Computertomogramms geschickt werden
muss. Die Vorteile sind unverzerrte Knochen-
darstellung mit hoher Auflösung von bis zu
0,2 mm, die eine exakte Diagnostik in jeder
beliebigen Schicht ermöglicht. Kontrast-
mitteldarstellungen sind im Bereich des Kie-
fers zur Entzündungsdiagnostik unüblich.
Labordiagnostik:
Für diesen Bereich stehen uns drei
Untersuchungsmethoden zur Verfügung.
Als Klassiker ist im Bereich der
Rheumatologie ist die Bestimmung des C-­
reaktiven Proteins, kurz: CRP-Wertes zu
nennen, das zu den Akute-Phase-Proteinen
einer akuten Entzündung zählt. Es zeigt die
Schwere einer Infektion an, der Wert sollte
nicht über 5mg/ml liegen, kann aber auch
auf Entzündungen im Zahn-, Mund- und
Kieferbereich hinweisen.
Auch Kardiologen lassen dies heutzu-
tage standardmäßig vor operativen Ein-
griffen am Herz abklären.
boden links (. Abb. 19.5). Die anderen Rest-
zähne und Implantate waren unauffällig.
Nach Entfernung der beiden Zähne war
der CRP innerhalb von sechs Wochen auf
12,4 mg/ml gesunken, die Veränderung am
Kieferhöhlenboden nicht mehr zu sehen
(. Abb. 19.6).
Prävention von Mund-, Kiefer- und Zahnerkrankungen im Alter
411 19

..      Abb. 19.5 OPG mit „beherdeten“ Zähnen 25 und 34, reaktive Schleimhautschwellung in der Kiefer-
höhle links

..      Abb. 19.6 Nach Extraktion Mitte August: Sinken des Titers auf 12,4 mg/ml Ende September 2017,
Reaktion am Kieferhöhlenboden am Abklingen

Im Mittelpunkt der Labordiagnostik bei hand des Zytokinmusters (TH1-IFN-γ/

wurzelbehandelten Zähnen steht die
Effektorzelltypisierung auf Mercaptane und
Thioether, die eine Immunreaktion auf diese
Substanzen nachweist.
Auch bei noch so perfekter Aufbereitung
von Wurzelkanälen können anaerobe Bak-
terien zur Bildung von Schwefelwasserstoff-
verbindungen wie Methylmercaptane und
Thioetherverbindungen (Dimethylsulfide
und Diethylsulfide) führen, die neben toxi-
schen Effekten auch systemisch zu Ent-
zündungsreaktionen führen können. An-
Treg-IL-10) zeigt die Untersuchung an, ob
zum aktuellen Zeitpunkt eine Immun-
reaktion gegen diese Substanzen stattfindet.
Ein positiver Befund spricht einerseits für
eine Sensibilisierung, macht aber anderer-
seits auch eine akute oder persistierende Be-
lastung wahrscheinlich. Die 2014 publizierte
Studie von Jakobi und Gresser belegt nicht
nur Spezifität des Tests, sie zeigt auch, dass
durch Revision der Zahnwurzel oder durch
Extraktion die Werte signifikant gesenkt
werden können.
 412 G. Volland
Neben den dentogen bedingten Ent-
zündungen können im Bereich der Kiefer-
knochen osteolytische Prozesse auftreten,
ohne dass es sich um eine Osteomyelitis han-
deln muss, die sich aufgrund ungenügender
Ausheilung nach Extraktionen durch Rest-
entzündungen formieren.
Hier wurde der Begriff NICO („Neur-
algie auslösende Kavitationen ver-
ursachende Kieferosteonekrose“, engl.
„Neuralgia Inducing Cavitational Osteone-
crosis“) von Lechner geprägt.
Sie kann neben anderen Entzündungs-
erkrankungen (bakterielle Infektionen, sys-
temische Autoimmunerkrankungen) zu
einem Anstieg von RANTES (= Regulated
And Normal T cell Expressed and Secreted)
im Blut führen. Es handelt sich um ein Che-
mokin mit chemotaktischer Wirkung. Eine
in der Literatur synonym verwendete Be-
zeichnung ist CCL-5. RANTES wird von
zytotoxischen T-Lymphozyten (CD28+/
CD8+) sowie Neutrophilen und Eosinophi-
len Granulozyten produziert und nach Akti-
vierung sezerniert.
Erhöhte RANTES-Werte im Blut sollten
zwar an eine Kieferrestostitis denken lassen
und zu einer entsprechenden Diagnostik
führen, bei diesbezüglich unauffälligem Be-
fund rechtfertigt RANTES aber nicht, dass
man an der Verdachtsdiagnose hartnäckig
festhält.
Andere Erkrankungen des Kiefers wie
Zysten oder Tumore lassen sich in DVT, CT
oder MRT exakt diagnostizieren.
19.4 Parodontalerkrankungen
In den letzten Jahrzehnten beschäftigte sich
die zahnmedizinische Forschung hauptsäch-
lich mit der Therapie von Karies, dem Zahn-
erhalt durch konservierende oder chirurgi-
19 sche Maßnahmen, der Kieferorthopädie
und dem Ersatz verloren gegangener Zähne
durch prothetische Maßnahmen oder die
chirurgische Insertion von Implantaten.
Natürlich versuchte man parallel durch
entsprechende Pflegemaßnahmen, die Vor-
beugung zu intensivieren und das Bewusst-
sein der Bevölkerung zu schärfen. Hier ste-
hen die Entfernung von Plaque und die
Härtung des Zahnschmelzes durch geeignete
Zahncremes mit Fluoriden und die Reini-
gung der Zahnflächen mit Zahnbürsten,
immer mehr auch elektrisch zur Erhöhung
der Putzleistung, fluoridierte Zahnseide oder
Interdentalbürsten im Vordergrund. Diese
Bemühungen schlagen sich in einem, im
Gegensatz zu den frühen 90er-­Jahren, stark
erniedrigten Kariesindex der deutschen Be-
völkerung nieder. Dennoch verlieren in
Deutschland die Menschen innerhalb von 20
Jahren im Schnitt 11,2 Zähne, während dies
in Skandinavien nur 1,4 Zähne sind.
Die Ursachen hierfür lassen sich im Be-
reich der professionellen Prävention, der so-
genannten PZR (Professionelle Zahn-
reinigung) finden. Während diese zusätzliche
Reinigung bei uns noch vor 15 Jahren von
den gesetzlichen Krankenkassen als unnötig
abgelehnt wurde, erarbeiteten die Skandina-
vier auf Basis der in Schweden seit 1974 lau-
fenden Studie von Axelsson und Lindhe ein
Konzept der intensiven Betreuung mit dem
Fokus auf parodontal erkrankten Patienten,
mit dem sie es erreichten, selbst bei fort-
geschrittener Parodontitis, die Zähne mit
wenigen Ausnahmen über die Jahrzehnte zu
erhalten.
Es werden in Abhängigkeit von der
persönlichen Mundhygiene und den paro-
dontalen Verhältnissen von einer bis vier,
wenn nötig, auch sechs Zahnreinigungen
mit Instruktion durchgeführt. Die Erfolge
sprechen für sich und ermutigen, dieses Vor-
gehen als Vorbild für unsere Bemühungen
zu nehmen.
Wo liegt aber die Verbindung zum Thema
dieses Artikels („Zähne und Altern“)?
Prävention von Mund-, Kiefer- und Zahnerkrankungen im Alter
Unsere Zähne sind nicht knöchern mit
dem Kiefer verwachsen, sie sind über einen
fein ausgeklügelten Zahnhalteapparat mit
desmodontalen Fasern verankert und kön-
nen auf diese Weise den Belastungen des
Kauens als ersten Schritt einer gesunden
Verdauung standhalten.
Kollagene Fasern puffern die auftretenden
Kräfte eindrucksvoll ab, bilden aber auch
eine perfekte Barriere, um ein Eindringen von
Keimen in den Knochen zu verhindern. Hier
befindet sich eine große Anzahl von hoch-
potenten Immunzellen, die bakteriell be-
dingte Entzündungen in Zaum halten.
Das gesamte System lebt von der Ba-
lance der oralen Flora, die das übermäßige
Wachstum von Anaerobiern verhindert.
Kommt diese durch initial immer man-
gelnde Hygiene aus dem Gleichgewicht, be-
ginnen bakteriell bedingte Entzündungs-
reaktionen, die dann zu einer Kollagenolyse
führen, was das weitere Eindringen der
pathogenen Keime ermöglicht, bis die Ent-
zündung sich selbst unterhält. Dann kann es
auch zum Eindringen von Bakterien in die
Blutbahn kommen, was dem Gesamt-
organismus schadet.
Auf Basis dieser Erkenntnis tagte bereits
1929 die ARPA (Arbeitsgemeinschaft para-
dentale Erkrankungen) in Bad Tölz und be-
schloss, man müsse die Zusammenhänge
von parodontalen und Allgemein-
erkrankungen weiter erforschen. Dies ist
jetzt 90 Jahre her, und bei 26 zahn-
medizinischen Universitäten gibt es nur zwei
Lehrstühle für ­Parodontologie, in allen an-
deren ist sie ein Teil der Zahnerhaltung.
Fortgeschrittene Parodontopathien sind der
Hauptgrund für Zahnverlust in der zweiten
Lebenshälfte, umfangreiche Sanierungen
sind die Folge.
Viel gravierender ist jedoch der Weg
dorthin. Da das parodontale Entzündungs-
geschehen erst in der Endphase schmerzt,
kann der Patient es erst spät selbst realisie-
ren, meist bei mehr als 50 % Abbau. Aber
schon bei der für die gesetzlichen Kranken-
kassen geltenden Grenze der „Behandlungs-
413 19
notwendigkeit“ von über 3 mm Taschentiefe
sprechen wir über eine Entzündungsfläche
beim Vollbezahnten von knapp 50 Quadrat-
zentimetern.
Bei der Inspektion der Mundhöhle und
des Zahnfleischsaums treten Rötungen erst
bei entsprechender Taschentiefe auf, daher
ist es wichtig, parodontale Indizes wir PSI,
BOP und API regelmäßig zu erheben, da die
Diagnostik ansonsten dem Fortschreiten
weit hinterherhinkt.
Auch regelmäßige Röntgenkontrollen ca.
alle Jahre, wie von der DGZMK gefordert,
sind wichtige Hilfsmittel, ohne die eine früh-
zeitige Erkennung der Erkrankung nicht
möglich ist.
Damit bewegen wir uns aber wieder auf
der Stufe der Therapie. Ferner stellt sich die
Frage, was wir in einem Röntgenbild er-
kennen können?
Wir sehen einen stattgefundenen Abbau-
prozess, der bei aller Mühe und Anstrengung
den verlorenen Knochen- und Attachment-
verlust nicht regeneriert werden kann.
„Bleeding on Probing“ zeigt uns Ent-
zündungen, die schon eine weitreichende
Kollagenolyse verursacht haben. Es handelt
sich bis auf den API, der uns eine Aussage
über den aktuellen Plaquebefall gibt, um
Methoden, die uns sagen, was stattgefunden
hat, nicht, wie derzeit die Situation ist oder
was in Zukunft zu erwarten ist.
PCR-Keimtests ermöglichen uns, das
Keimspektrum nach seiner Pathogenität –
Komplexe verschiedener Pathogenität – ein-
zuschätzen und so wichtige Hinweise zu
Therapie und nötiger Antibiotikawahl zu
geben und den Erfolg der Maßnahmen zu
kontrollieren.
Sinnvoll wäre es, initial einzugreifen, ehe
ein weitreichender Schaden entstanden ist,
also im Rahmen von forcierter Prophylaxe
den Kollagenabbau bereits zu verhindern.
Hierzu muss man betrachten, was zu einer
klinischen Entzündung im Sulkus führt.
Auf der einen Seite steht ist die bakterielle
Komponente mit ihren Enzymen, Toxinen
ihres Stoffwechsels und den Antigenen, die
 414 G. Volland
auf die Wirtszellen treffen. Sie reagieren mit
der Ausschüttung von Entzündungs-
mediatoren wie PGE-2, TNF-α, Interleukin
6 und Interleukin 1-b und NO-Komplexe,
um nur einige aus diesem komplexen System
zu nennen. Und sie führen zur Aktivierung
der Metallmatrixproteinasen und Aktivie-
rung der Osteoklasten, die letztlich für den
Attachmentverlust und die Taschen-
formation bis hin zum Zahnverlust ver-
antwortlich zeichnen.
Speziell die Metallomatrixproteinasen
sind aussagekräftige Biomarker, die, aus
dem Sulkusfluid gewonnen, genaue Aus-
kunft über die Progredienz der Kollagen-
olyse geben können. Man unterscheidet
mittlerweile mehr als 16 MMPs, da das Zu-
sammenspiel sehr erforscht wird. Die
Komplexität wird mehr und mehr bewusst.
Als einer der ersten beschrieb Timo Sorsa
(Universität Helsinki) bereits die aktivierte
Matrix-Metallo-Proteinase 8 und wurde
lange Zeit belächelt, da er an ihr den
Kollagenabbau des Desmodonts festmachte.
Da Matrix-Metallo-Proteinase 8 am
Ende der granulozytären Entzündungs-
kaskade steht, ist sie verantwortlich für den
Gewebeabbau, weil es die Kollagenfasern
des Zahnhalteapparates zerstört. Die
Enzymaktivität von aMMP8 kann quantita-
tiv aus der Zahntasche bestimmt werden.
Dieses wird bei Parodontitis und Periim-
plantitis zur frühen Diagnosestellung eines
Attachmentverlustes und zur Risiko-
evaluierung genutzt.
Sorsa entwickelte seine Testmethode so
weit, dass die Bestimmung der von a-MMP
8 seit Mitte 2017 auch „chairside“ in der
Zahnarztpraxis möglich ist. Dabei steht zur
Risikoevaluierung ein Mundspültest zur
Verfügung, der einen Durchschnitt des in
den Speichel abgegebenen Sulkusfluids aller
Zähne abbildet und bei einem Durchschnitt
über 10 ng/ml eine genauere Kontrolle und
19 Ursachenforschung durch den Zahnarzt be-
gründet.
Da es sich um das Mittel über alle Zähne
handelt, kann bereits eine einzige aktive Ta-
sche den Wert hochtreiben. Dann findet sich
in dieser Tasche oft ein ammP-8-Wert von
weit über 150 ng/ml, der bei abgeschlossener
Behandlung auch schnell wieder in den
Normbereich zurückkehrt.
Genauso ist aber auch eine generalisierte
hygienebedingte Abbaureaktion möglich,
die dann – bei Intensivierung der Mund-
hygiene – zum Stoppen kommt.
Im Rahmen der Hygieneunterweisung
sollten von den Dentalhygienikerinnen oder
zahnmedizinischen Prophylaxehelferinnen
nicht nur die Putztechnik, eventuelle Um-
stellung auf elektrische Bürsten, sondern
auch die passenden Interdentalbürsten für
die individuellen Zahnzwischenräume be-
stimmt und immer die Zungenreinigung
aufgrund der großen Oberfläche demonst-
riert werden.
Selbstverständlich handelt es sich nur
um einen Biomarker, der zur Beschreibung
und Einordnung der Wirtsreaktion heran-
gezogen werden kann, er ist aber der einzige,
der „chairside“ ohne Labor schnell und ver-
lässlich bestimmt werden kann. Für die an-
deren existieren solche Testverfahren noch
nicht.
Mit der positiven Stellungnahme vom
Februar 2017 hat die Deutsche Gesellschaft
für Parodontologie die Bedeutung der Bio-
marker in der Vorbeugung der Parodontitis
bestätigt. Da erstmals ein Entzündungs-
marker zur Verfügung steht, der am Ent-
zündungsherd selbst gemessen werden kann
und an der Gewebsdestruktion beteiligt ist,
hat man jetzt für die Zahnmedizin einen
Marker, der wie CRP, Troponin oder Se-
rumzytokine, eine klare Aussage über das
Fortschreiten der Parodontitis macht.
Daher kann er in dem von Tonetti 2018
publizierten Schema zur Einstufung der ver-
schiedenen Parodontitiden, die zum einen
ein Grading (= Einstufung des Schweregar-
des) und zum anderen die Progredienz (=
Staging) beurteilt, als Maß der Progredienz
herangezogen werden und den Verlauf der
Erkrankung, aber auch das Greifen der
zahnärztlichen Maßnahmen reflektieren.
Prävention von Mund-, Kiefer- und Zahnerkrankungen im Alter
Je höher der ammP-8-Spiegel in der Sul-
kusflüssigkeit ist, umso größer ist der aktu-
elle Kollagenabbau, aktivierte Metall-
proteinasen können in den Blutkreislauf
gelangen, und die Durchlässigkeit des Ge-
webes für Bakterien steigt.
Im Folgenden sollen die durch über 1000
Studien belegten möglichen Wechsel-
wirkungen von Parodontal- und Allgemein-
erkrankungen dargestellt werden.
19.4.1 Herz-Kreislauf-­
Erkrankungen
Am dramatischsten ist für diesen Bereich
sicherlich das Auftreten eines Herzinfarkts,
dessen Entstehung von Klebschull im Jahr
2010 beschrieb.
Bei entzündeten Taschen gelangt Por-
phymonas gingivalis mit Fimbrien in die
Blutbahn und kann sich an der Gefäßwand
einlagern und sich darin reproduzieren, es
kommt zur Endothelaktivierung, die Mono-
zyten anlockt, die wiederum ins Endothel
eindringen und dann dort Makrophagen
unter Aufnahme von oxidierten LDL bei
Anwesenheit von Porphymonas gingivalis
zu Schaumzellen werden. Sie platzen beim
Zelltod und bilden so ein Atherom.
Durch die Aktivierung der mmPs nach
dem Zelltod sowie weiterer Keime der Gat-
tung Porphymonas gingivalis kann es dann
es zur Plaqueruptur kommen, und der
Gefäßverschluss ist vorprogrammiert.
Eine Untersuchung von Tuomainen aus
dem Jahr 2007 zeigt, dass das Risiko, an
einem Herzinfarkt zu versterben, sogar bes-
ser mit der Höhe des aMMP8 in der Zahn-
tasche als mit klinischen Parametern der
Parodontitis korreliert.
19.4.2 Pneumologie
Schlechte Mundhygiene führt zu einem An-
wachsen der pathogenen Keime, die auch
415 19
beim Einatmen bis in feine Bronchiolen ge-
langen können.
Nachdem in den vergangenen Jahren die
Zusammenhänge noch kontrovers diskutiert
wurden, gilt der Zusammenhang zwischen
oraler Plaque und dem Risiko, an einer
Pneumonie zu erkranken, als gesichert.
Beim Review der Studien ergibt sich im
Durchschnitt ein um 4- bis 4,5-fach erhöhtes
Risiko, an einer Pneumonie zu erkranken,
als beim Mundgesunden.
Daher empfehlen Lungenfachärzte der
Deutschen Gesellschaft für Pneumologie
und Beatmungsmedizin (DGP) ihren Pa-
tienten, auf eine gute Mundhygiene zu ach-
ten und dies beim Zahnarzt regelmäßig zu
kontrollieren.
19.4.3 Rheumatoide
Erkrankungen
In Deutschland leiden zwischen 1 und
1,5 Millionen Menschen an rheumatischen
Erkrankungen, davon rund 800.000 an der
rheumatoiden Arthritis und der Rest an
entzündlichen Gelenkerkrankungen.
Frauen sind ca. dreimal so häufig be-
troffen wie Männer, die Altersverteilung ist
homogen.
Wissenschaftliche Studien belegen, dass
zwischen rheumatoider Arthritis und bereits
mittelschwerer Parodontitis Wechsel-
beziehungen bestehen können.
Die beschriebene Erhöhung des Risikos,
an Rheuma zu erkranken, variiert je nach
Untersuchung zwischen dem Faktor 2,6 für
rheumatoide Arthritis bei Parodontal-­
Patienten und 9 für deren Entstehung bei an
Parodontitis leidenden Nichtrauchern.
So lohnt sich die interdisziplinäre Zu-
sammenarbeit auf alle Fälle, da bei an Paro-
dontitis Erkrankten die gleichen gewebszer-
störenden Stoffe IL, TNF, Prostaglandin 2
und Matrixmetalloproteinasen gefunden
wurden wie bei RA-Patienten (in erhöhtem
Maß).
 416 G. Volland
Je früher man den beginnenden Paro-
dontalabbau diagnostiziert, umso besser ist
dieser zu stoppen und die Risikoerhöhung
für diesen Bereich zu minimieren.
19.4.4 Diabetes mellitus
In Deutschland leiden 6–8 Millionen Men-
schen an Diabetes mellitus. Die Weltgesund-
heitsorganisation (WHO) schätzt, dass die
Zahl der Diabetiker in den kommenden 25
Jahren um mehr als 40 % zunehmen wird.
Die Inzidenz der Neuerkrankungen bei Dia-
betes mellitus beträgt in Deutschland zur-
zeit 12 bei 100.000 Einwohnern/Jahr.
Wissenschaftliche Studien belegen, dass
Wechselwirkungen zwischen Parodontitis
und Diabetes bestehen können. Bei
Parodontitis-­Patienten kann ein 6-fach er-
höhtes Risiko für eine Verschlechterung der
der Blutzuckerwerte bestehen.
Sculean und Jepsen veröffentlichten be-
reits 2002, dass sich Diabetes und Parodonti-
tis gegenseitig beeinflussen. Es gibt zahlreiche
Hinweise dafür, dass nicht nur die Parodonti-
tis eine Komplikation des Diabetes mellitus
darstellt, sondern selbst auch die Ausprägung
des Diabetes mellitus verstärkt und dessen
Kontrolle und Einstellung erschwert.
Nach Saremi et al. 2005 erhöht sich die
Todesrate bei Diabetikern von 3,7 von 1000
ohne Parodontitis oder geringer Ausprägung
auf 19,6 bei moderater Parodontitis bis 28,4,
was einem Faktor von 7,7 entspricht.
Shultis et al. berichteten bereits 1996 von
einer Erhöhung der Nephropathien bei Par-
odontitis um einen Faktor von 2,6 und für
Nierenerkrankungen im Endstadium um
einen Faktor von 2,3 bis 4,9.
19.4.5 Gynäkologie
19 Entsprechend einem Statement von Gleiss-
ner, der Präsidentin der Deutschen Gesell-
schaft für geschlechterspezifische Zahn-,
Mund- und Kieferheilkunde haben bereits
20-jährige Frauen einen Zahn weniger als
gleich alte Männer.
Da Metalloproteinasen in jedem
Menstruationszyklus bei der Ablösung der
Schleimhaut maßgeblichen Einfluss haben,
aber auch bei der Geburtseinleitung die ent-
scheidende Rolle spielen, kann ein Anstieg
bei vorhandener Parodontitis die Regel-
mechanismen wesentlich beeinflussen.
Dies kann bei einer Schwangerschaft zu
einer Erhöhung der Frühgeburtsrate führen.
Offenbacher et al. sprechen von einem Fak-
tor von 7 im Gegensatz zu mundgesunden
Schwangeren. Dies liegt bei mehr als dem
Doppelten bei Alkoholkonsum (Faktor 3).
Das Geburtsgewicht liegt bei Frühgeborenen
unter 2500 Gramm.
Parodontitiskeime wurden sowohl in der
Plazenta als auch nicht lebensfähigen Fötus
bei Frühgeborenen gefunden. Analog zum
Parodont hat aMMP-8 auch in der Frucht-
blase die Aufgabe, Kollagenfasern aufzu-
lösen, hier, um den Geburtsvorgang einzu-
leiten. Das Frühgeburtsrisiko steht somit im
Zusammenhang mit der Aktivität der
MMP-8, so Biggio et al. 2005.
Dies bedeutet aber auch für die Kinder-
wunschzentren, dass, ehe aufwendige Ver-
fahren zur künstlichen Befruchtung vor-
genommen werden, ein Staging des
parodontalen Zustands der Frau vor-
genommen und im Falle der Erhöhung der ak-
tivierten Matrixmetalloproteinase eine Paro-
dontalbehandlung und regelmäßige Nachsorge
verpflichtend durchgeführt werden sollte.
Ferner kann bereits eine moderate Paro-
dontitis internationalen Studien zufolge
bakteriellen Vaginosen, Schwangerschafts-
diabetes, Fertilitätsstörungen sowohl bei
Frauen als auch bei Männern, Endometriose
und Präklampsie führen.
Somit ist ein parodontal intaktes Gebiss
gerade in der Gynäkologie entscheidend zur
Vermeidung von Gesundheitsrisiken.
Konzeptionell wäre es wünschenswert,
auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse ein
interdisziplinäres Präventionskonzept zu
etablieren, in dem durch qualitatives Scree-
Prävention von Mund-, Kiefer- und Zahnerkrankungen im Alter
ning in der entsprechenden Facharztpraxis,
sei es Kardiologe, Diabetologe, Endokrino-
loge etc., die parodontalen Risikopatienten
gefiltert und einem auf Prophylaxe und Pa-
rodontologie spezialisierten Zahnarzt zu-
geführt werden, der dann die quantitative
Einordnung und ein individualisiertes Prä-
ventionskonzept mit dem Patienten er-
arbeitet und gemeinsam mit ihm durchführt.
In Absprache mit dem Allgemeinmediziner
erfolgten die Behandlung und die Rück-
meldung, sobald der progrediente Abbau
zum Stillstand gebracht ist.
19.5 Ergebnis
Reifen und Altern sind natürliche Prozesse,
die bei endlicher Regenerationsfähigkeit
unserer Zellen kontinuierlich ab der Geburt
voranschreiten.
Wir wissen aus der Forschung, dass durch
Bereitstellung von bestimmten Nahrungs-
ergänzungen, eine ausgewogene Ernährung,
kontrollierte Bewegung, Sport und Meidung
von exzessiver Lebensweise die Geschwindig-
keit sich verlangsamen lässt.
Ein weiterer Aspekt ist die Vermeidung
von chronischen Entzündungen, durch die
das Regenerationspotenzial unseres Körpers
ständig unterschwellig belastet und in An-
spruch genommen wird, sodass die Be-
troffenen einen Teil ihrer Ressourcen ein-
büßen, ohne es zu merken und sich im Laufe
des Lebens mehr und mehr chronische Be-
schwerden einstellen, ohne dass wir die
Ursachen erfassen können.
417 19
Hier spielen chronische Entzündungen
aus dem Bereich der Mundhöhle eine nicht
zu unterschätzende Rolle. Darum ist es die
Herausforderung der Zukunft, präventiv in-
terdisziplinär und mit dem Patienten zu-
sammenzuarbeiten, um ein sinnvolles Prä-
ventionskonzept für ein gesundes und
beschwerdefreies Altern zu schaffen.
Für die Zahnheilkunde bedeutet dies
einen Richtungswechsel von der Reparatur
hin zu immer mehr Prävention, die alles ent-
scheidend die Vermeidung von Karies schon
im Kindesalter haben muss. Nur so können
wir vermeiden, dass Fremdstoffe in die
Mundhöhle eingebracht werden, die auf-
grund der Abrasion beim Kauen eine Art
Dauermedikation darstellen.
Ohne Fremdstoffe entfällt das Thema
Allergie und systemische Wirkung, ohne
Karies gibt es auch keine Wurzel-
behandlungen und keine apikalen Herde.
So bleibt uns die Zeit, uns auf die paro-
dontale Gesundheit zu konzentrieren und
durch Auswertung von Biomarkern in eine
Sekundärprävention einzusteigen, ehe wir
mit unseren konventionellen bildgebenden
Techniken einen in der Vergangenheit ent-
standenen Schaden diagnostizieren und nie
mehr eine Restitutio ad integrum erreichen
können.
Nur interdisziplinär ist ein gesundes Al-
tern möglich! Aber wir dürfen auch
hoffnungsvoll sein!
Es ist möglich!
Ihr
Gerd Volland
 419 20

Die Rolle von Stammzellen

beim biologischen Altern
Jürgen Hescheler

Inhaltsverzeichnis

20.1  ie Stammzelle als Lebenskonzept: Von der Blastozyste

D
bis zum Tod – 420

20.2  urzer Rückblick – wie sind wir

K
überhaupt entstanden? – 420

20.3  oll man Nabelschnurzellen sammeln

S
und sie verwenden für Anti-Aging-Prozesse? – 422

20.4  arum brauchen wir den Stammzellpool

W
in unserem Körper? – 423

20.5 Aging und Evolution – 424

20.6  ltern unseres Körpers aus der

A
Sicht von Stammzellen – 425

20.7  tammzellen durch Reprogrammieren: Jungbrunnen

S
und Hoffnungsträger gegen das Altern – 426

20.8 Was passiert bei der Reprogrammierung? – 427

20.9 Stammzelltherapie – Hoffnung für das Alter – 427

20.10 Hormesis-Prinzip: Rolle von Stammzellen – 428

20.11 Fazit – 429

Literatur – 429

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_20
 420 J. Hescheler

20.1  ie Stammzelle als

D schaftsgebieten, und die Hoffnung ist auf
Lebenskonzept: Von der ein vernünftiges Maß zurückgekommen. Es
ist klar, dass wir keine Wunder erwarten
Blastozyste bis zum Tod
können, sondern dass der Fortschritt nur
auf vielen, vielen kleinen Schritten und
Die Entdeckung von Stammzellen in unse-
Forschungsergebnissen basiert. Vieles müs-
rem Körper und die biologisch-medizinische
sen wir noch forschungsmäßig verstehen
Forschung an diesen Zellen hat einen wah-
und erfassen – letzten Endes sind sich die
ren Hype in der Forschungswelt ausgelöst –
seriösen Stammzellforscher aber sicher, dass
viele biologische und medizinische Vorgänge
das Ziel erreicht werden wird. Die Stamm-
des Alterns und der pathologischen Ver-
zellen werden für bisher unheilbare Krank-
änderungen kann man jetzt verstehen, und
heiten, die auf degenerativen Prozessen be-
Paradigmen, die die medizinischen Lehr-
ruhen oder die Folge eines Infarktgeschehens
bücher füllten, werden fast täglich gestürzt.
sind, regenerativ eingesetzt werden können.
Gleichzeitig zeichnet sich in der Medizin
Die Revolution in der Medizin wird statt-
eine Revolution ab, und zu den etablierten
finden! Um dies aber alles besser einschätzen
Bereichen der Inneren Medizin und Chirur-
zu können, ist mehr grundsätzliches Wissen
gie gesellt sich ein neuer dritter Bereich
und Fakten vonnöten.
hinzu, die Regenerative Medizin. So ist es
Was also verbirgt sich hinter dem grund-
nicht erstaunlich, dass sich diese Ent-
legenden Prinzip der Stammzelle im
wicklung auch schon in der breiteren
biologisch-­medizinischen Sinn: Bitte Satz
Öffentlichkeit bemerkbar gemacht hat. Die
ändern: Unser Körper besteht auch ca. 10
Bandbreite der von den sensationslüsternen
Billionen Zellen (Nakagawa et al. 2008), das
Medien leider oft nur unvollständig dar-
sind eine 10 mit 13 Nullen. Andererseits wis-
gestellten Fakten reicht von der extrem
sen wir, dass wir alle aus einer einzigen Zelle,
überhöhten Hoffnung, dass schon bald alle
nämlich der befruchteten Eizelle, entstanden
bisher unheilbaren Krankheiten therapiert
sind. Wie ist dieser enorme Anstieg der Zell-
werden können, bis hin zu der Horrorvor-
zahl, aber auch die Entstehung von so vielen
stellung, dass man mit Stammzellen in der
verschiedenen Organen möglich? Wir gehen
Zukunft neue Supermenschen klonieren
heute davon aus, dass unser Körper etwa
werde – beides Unsinn! Es gab heftige Dis-
200 verschiedene organtypische Zelltypen
kussionen zur Bioethik von Stammzellen,
enthält, also etwa Herz, Leber, Niere, Milz,
und nicht nur Ethiker und Theologen, son-
Auge, Ohr etc. – es stellt sich automatisch
dern auch interessierte Bürger und
die Frage, wie all diese verschiedenen Zell-
Leistungsträger unserer Gesellschaft inter-
typen entstanden sind? Und wie verhalten
essieren sich für dieses Thema. Leider gab
sich die Stammzellen im Alter? Was haben
und gibt es aber auch „schwarze Schafe“,
sie mit Alterskrankheiten und dem Tod zu
die Therapien versprechen, die sich als nicht
tun?
haltbar erweisen oder – noch schlimmer –
auf wissenschaftlichem Betrug beruhen.
Trotz dieser vielen Verunsicherungen gibt es
aber zum Glück immer noch eine breite 20.2  urzer Rückblick – wie sind
K
Unterstützung der Stammzellforschung wir überhaupt entstanden?
durch die Öffentlichkeit, und nach der an-
fänglich eher extremen Entwicklung ist das Gehen wir also zurück in unsere früheste
Gebiet jetzt in ruhigeres Fahrwasser ge- Phase der embryonalen Entwicklung. Nach
20 kommen. Die Entwicklung ist nunmehr
vergleichbar mit der in anderen Wissen-
der Befruchtung der Eizelle teilt sich diese.
Die resultierenden zwei Zellen teilen sich
Die Rolle von Stammzellen beim biologischen Altern
wieder, es entstehen vier Zellen, diese teilen
sich dann wieder, und es entstehen acht Zel-
len. Das heißt, die Zellzahl nimmt ex-
ponentiell zu. Doch bevor sich dieses frühe
vorembryonale Gebilde in die Gebärmutter
einnistet, entwickelt sich aus der Morula,
einem etwa wie eine Himbeere aussehenden
Haufen aus etwa 100 Zellen, die sogenannte
Blastozyste. Diese Blastozyste ist eine auf-
geblasene Kugelform, in der sich etwa 100
Zellen, die sogenannte innere Zellmasse, be-
findet. Diese innere Zellmasse ist das Aus-
gangsmaterial unseres Körpers. Wir nennen
diese Zellen pluripotente Stammzellen, da
sie das Potenzial haben, sich in jede beliebige
Körperzelle, also jeder der 200 verschiedenen
organtypischen Zellen zu entwickeln. Pluri-
potente Zellen sind jedoch nicht mehr in der
Lage, sich in einen kompletten Menschen zu
entwickeln. Das ist wichtig aus ethischen
Gründen, und wir unterscheiden von diesen
pluripotenten Zellen die totipotenten Zel-
len, diese finden wir etwa bis zum 16-Zell-
oder 32-Zell-Stadium. Diese Zellhaufen
könnten geteilt werden, und es entstünden
Zwillinge – wir kennen sie als eineiige Zwil-
linge. Wie gesagt, funktioniert dies nicht
mehr mit den pluripotenten Zellen, wir kön-
nen zwar pluripotente Zellen mit der inne-
ren Zellmasse vermischen oder einige sogar
der Blastozyste hinzugeben, und sie nehmen
an der normalen embryonalen Entwicklung
teil, sie sind jedoch nicht in der Lage, einen
ganzen Menschen nachzubilden.
Die Blastozyste nistet sich in die Gebär-
mutter ein und leitet damit einen weiteren
zellbiologischen Prozess auf der Ebene der
pluripotenten Stammzellen ein. Während
bisher alle Zellteilungen symmetrisch waren,
also beide Tochterzellen identisch, kommt es
nach Einnistung der Blastozyste in die Ge-
bärmutter zur asymmetrischen Zellteilung.
Wenn sich die Zellen teilen, bleibt eine
Tochterzelle Stammzelle, die zweite Tochter-
zelle entwickelt sich zur differenzierten Zelle.
Mit der Zeit nehmen so die pluripotenten
Stammzellen ab, und es entwickeln sich über
die drei Keimblätter multipotente Stamm-
421 20
zellen, die sich nicht mehr in alle 200 ver-
schiedene Organe entweichen können, son-
dern darauf spezialisiert sind, sich nur noch
in bestimmte organtypische Zellen zu ent-
wickeln. Diese faszinierende Entwicklung
ist hochkomplex – man geht heute davon
aus, dass zum Teil einige Informationen in
Form von chemischen Signalen von der Ge-
bärmutter kommen, sich der frühe Embryo
jedoch weitgehend selbst organisiert. Kom-
munikation und Informationsaustausch ist
alles!
Kurz nach der Einnistung in die Gebär-
mutter entsteht aus der Blastozyste der so-
genannte Eizylinder, er enthält insgesamt
drei frühe Vorgewebe, das Endoderm, Ekto-
derm und das Mesoderm (Rehman und
Muzio 2019). Das Endoderm kennen wir als
das Gewebe, aus dem unter anderem Leber,
Pankreas und Darm entsteht, das Ektoderm
ist das Gewebe, aus dem sich Haut, Nerven-
zellen, Gehirn, Rückenmark usw. ent-
wickeln, und das Mesoderm ist die Ur-
sprungsgewebe für Herzzellen, Nierenzellen,
Muskelzellen, Lungenzellen, Knochen-
zellen, Blutzellen etc. Ohne zu sehr ins De-
tail zu gehen, wissen wir heute, dass die Dif-
ferenzierung von Zellen damit einhergeht,
dass die Erbinformation, die in der pluri-
potenten Zelle komplett zur Ablesung bereit
steht, nunmehr nur noch an bestimmten
Stellen abgelesen werden kann (Frank et al.
2019), was durch die Epigenetik, also Me-
thylierung von Histonen und DNA, erreicht
wird. Durch diese Geninaktivierung durch
epigenetische Prozesse ist die Entwicklung
von einer pluripotenten Zelle zu einer Ge-
websvorläuferzelle zu verstehen. Diese Ent-
wicklung geschieht in mehreren Zwischen-
stufen, die mit zunehmender epigenetischer
Prägung verbunden sind: Die pluripotente
Stammzelle entwickelt sich zur Keimbahn-
zelle, danach zur multipotenten Stammzelle,
danach Gewebevorläuferzelle und schließ-
lich zur Progenitorzelle, die sich dann über
weitere Schritte bis hin zur ausentwickelten
Organzelle differenziert. Erst in den letzten
Jahren hat man erkannt, dass ­wahrscheinlich
 422 J. Hescheler
bei jeder Organentwicklung schon während
der embryonalen Gewebeentwicklung
immer ein Pool von der früh entwickelten
organtypischen Progenitorzellen bzw. den
multipotenten Stammzellen noch erhalten
bleibt. Wir sprechen hier von dem Stamm-
zellpool zu den entsprechenden Organen.
Dieser Pool dient vermutlich der späteren
Regeneration (siehe unten). Dieser Stamm-
zellpool, der sich organ- und gewebespezi-
fisch entwickelt, ist in unserem Organismus
als adulte Stammzellen an verschiedenen
Stellen vorhanden.
Mit dem Ausdruck „multipotente
Stammzellen“ soll klargestellt werden, dass
diese Zellen nicht mehr das gleiche Potenzial
haben, sich in jede Körperzelle zu ent-
wickeln, wie die pluripotenten Zellen, son-
dern sich nur noch in bestimmte organ-
typische Zellen weiterzuentwickeln.
Typische Beispiele für multipotente Stamm-
zellen sind hämatopoetische Stammzellen,
die das blutbildende System darstellen, mes-
enchymale Stammzellen, die für das Körper-
bindegewebe verantwortlich sind, neurale
Stammzellen, die im Gehirn die Gliazellen,
wahrscheinlich auch einen Teil der neuro-
nalen Stammzellen nachliefern können. Ge-
rade hier kam es zum Paradigmenwechsel:
Während man früher annahm, dass das Ge-
hirn schon direkt nach der Geburt alle
Nervenzellen enthält und sich die Zahl nicht
mehr ändert, geht man heute davon aus,
dass es eine permanente Neubildung von
Nervenzellen gibt, die zum erheblichen Maß
zur physiologischen Regeneration des Ge-
hirns beitragen.
Ist der Weg von der Entwicklung der
Blastozyste über die embryonale Ent-
wicklung zum Fetus erreicht, kommt es zu
einer weiteren Zäsur – zur Geburt: Wir kom-
men als Baby zur Welt – der fetale Organis-
mus hatte in der Gebärmutter optimale Be-
dingungen, und die Regeneration ist noch
sehr groß, was zu einer immer noch hohen
Plastizität führt. Ein gutes Beispiel dazu
20 sind Operationen von embryonalen/fetalen
Entwicklungsstörungen, die in spezialisier-
ten Kliniken „in utero“ durchgeführt wer-
den. Sie verheilen in kürzester Zeit und füh-
ren oft zu einer kompletten Ausheilung des
Defektes. Die Organgewebe sind also noch
umformbar und plastisch – eine Situation,
die wir uns für immer wünschen würden.
Leider ist dies aber von der Natur nicht vor-
gesehen. Die Geburt bringt uns in eine neue
Umgebung, und unser Körper ist samt der
etwa 200 verschiedenen Organtypen jetzt
der „unfreundlichen Umwelt“ ausgesetzt
und muss auf den mitgegebenen Stammzell-
pool zurückgreifen, um zu regenerieren. Lei-
der nimmt aber auch der Stammzellpool mit
zunehmendem Alter ab – eine neue Erkennt-
nis zur Physiologie des Alterns (Hennrich
et al. 2018).
20.3  oll man Nabelschnurzellen
S
sammeln und sie verwenden
für Anti-Aging-Prozesse?
Eine Frage, die immer wieder gestellt wird,
ist, welches Potenzial die Zellen aus der
Nabelschnur haben. Wir wissen heute recht
gut, dass die Zellen des Nabelschnurblutes
sehr frühe Zellen darstellen, die das Poten-
zial einer multipotenten hämaotopoetischen
oder mesenchymalen Stammzelle haben,
nicht jedoch mehr das Potenzial der pluri-
potenten Stammzelle, wie dies oft fälschlich
dargestellt wird. Insgesamt gilt, dass bereits
nach der frühen embryonalen Entwicklung
die pluripotenten Stammzellen komplett
verschwinden. Anders wäre es auch nicht
sinnvoll, da pluripotente Zellen eine sehr
hohe Teilbarkeit haben und das Konzept der
Teilung der Proliferation für unseren er-
wachsenen Körper nicht mehr ausschlag-
gebend ist, sondern das Einstellen der Zell-
teilung und die weitere Ausdifferenzierung
und die Funktionalität der Zellen. Man
kann dies übrigens auch sehr gut sehen,
wenn man sich anschaut, welche funktionel-
len Gene exprimiert werden, dann über-
wiegen in den pluripotenten Zellen die Gene,
Die Rolle von Stammzellen beim biologischen Altern
die der Proliferation und der Weitergabe der
Erbinformation dienen. Bei der differenzier-
ten Zelle werden genau diese Gene ab-
geschaltet, und es überwiegen Gene, die mit
der Differenzierung einhergehen.
Die Nabelschnurblutzellen stellen einen
Pool von hämatopoetischen und mes-
enchymalen Stammzellen dar. Diese sind
bisher klinisch nur zum Einsatz gekommen
zur Behandlung von verschiedenen Formen
von Leukämien, haben jedoch nicht das
große Potenzial, welches man pluripotenten
Zellen bei der Entwicklung von neuen
organtypischen Zellen zuschreibt (Nygren
et al. 2004). Andererseits sind die Nabel-
schnurzellen sicherlich wertvolle Zellen, da
sie noch ein Genom enthalten, das „unver-
braucht“ ist. Mutationen, die täglich bereits
schon direkt nach unserer Geburt statt-
finden, werden in unserem Körper unter an-
derem durch UV-Bestrahlung, durch meta-
bolische Prozesse sowie durch toxikologische
Prozesse und Aufnahme von Chemikalien
verursacht. Es ist sicherlich sinnvoll, eine
Probe unserer frühen Zellen aus der Fetal-
entwicklung zu bewahren, gerade wenn wir
bei späteren regenerativen Therapien mittels
induzierter pluripotenter Zellen auf ein ur-
sprüngliches Genom zurückgreifen wollen,
wie es direkt nach unserer fetalen Ent-
wicklung war.
20.4  arum brauchen wir den
W (Kolossov et al. 2006).
Stammzellpool in unserem
Körper?
Durch intensive Forschung wissen wir
heute, dass wahrscheinlich alle Organe über
eigene multipotente Stammzellen verfügen,
die genau die Zelltypen, die dieses Organ
enthält, wieder neu entwickeln können.
Daneben gibt es über den gesamten Kör-
per verteilt mesenchymale Stammzellen,
die das Binde- und Stützgewebe aufbauen.
Die mesenchymalen Stammzellen (Lv et al.
2014) bauen hierbei vor allem das Fett-
423 20
gewebe, Knochen und Knorpel auf sowie
die Fibroblasten, die praktisch in allen Or-
ganen unseres Körpers zu finden sind und
unter anderem für die Stabilität verantwort-
lich sind sowie die Faszien und sehnigen
Verbindungen aufbauen. Daneben gibt es
aber auch einen großen Pool von multi-
potententen organspezifischen Stammzellen
in unserem Körper, die sozusagen als Re-
likt der embryonalen fetalen Entwicklung
für jedes Organ vorhanden sind. So ist
wissenschaftlich gesichert, dass es hämato-
poietische Stammzellen (Laurenti und Gött-
gens 2018) gibt, die das blutbildende System
aufbauen. Neurale Stammzellen erneuern
unser Gehirn. Epitheliale Stammzellen sind
wichtig für die ständige Erneuerung der
Darmepithelien. Auch in der Leber, Niere
und dem Pankreas wurden organtypische
Stammzellen identifiziert. Und diese Liste
könnte noch erweitert werden.
Andere Organe, die hochspezialisiert
sind, besitzen jedoch offensichtlich nur ein
recht kleines oder ineffizientes Stammzell-
repertoire. Als Beispiel sei hier das Herz auf-
geführt. Die nur geringe endogene Re-
generationsfähigkeit des Herzens zeigt sich
daran, dass die Narbe nach einem Herz-
infarkt leider nicht mehr mit funktionellen
Herzzellen verheilt. Es bleibt eine feste
Narbe von Fibroblasten zurück, welche sich
nicht mehr kontrahieren kann. Daher ver-
suchen wir heute, diese Herzzellen wieder
künstlich in der Zellkultur nachzuzüchten
Von Prof. Blau (Blau et al. 2001) wurde
vorgeschlagen, dass der Pool von Stamm-
zellen nicht nur stationär in den Organen
vorhanden ist, sondern über die Blutbahn
jeweils ausgetauscht werden könnte. Ein sol-
cher zirkulierender Stammzellpool würde
die Organe miteinander verbinden und
das regenerative Potenzial zu den patho-
logisch veränderten Organen tragen. Die-
ses Konzept zeigt sich insbesondere bei den
mesenchymalen Stammzellen, die in allen
Organen vorhanden sind und ähnliche Eigen-
schaften haben. Ob jedoch ­organspezifische
 424 J. Hescheler
Stammzellen das Potenzial haben, sich im
jeweils anderen Organ zu transdifferenzieren
(Merrell und Stanger 2016), ist heute immer
noch wissenschaftlich umstritten. Fest steht
aber, dass unserem gesunden, jungen Körper
ein optimales Reparatur Kit zur Verfügung
steht. Immer dann, wenn Zellen absterben –
z. B. durch eine Wunde in unserer Haut –,
werden sie durch den Pool von Stammzellen
wieder ersetzt. Leider wissen wir aber auch,
dass dieser Pool von Stammzellen nicht
dauerhaft erhalten bleibt. Je älter wir wer-
den, desto weniger können sich die multi-
potenten Stammzellen vermehren und zu
neuen organtypischen Zellen differenzieren
(Hennrich et al. 2018).
20.5 Aging und Evolution
Stammzellen bleiben immer jung. Be-
trachten wir einmal das Altern unter dem
Aspekt von Stammzellen und Evolution. Es
ist ein biologisches Grundgesetz der Evolu-
tion, dass nicht das individuelle Leben von
Bedeutung ist, sondern die Gesamt-
population und die Weitergabe der besten
Erbinformation an die nächste Generation.
Nur so ist der Arterhalt über Millionen
Jahre gesichert. Während wir beim individu-
ellen Leben von ca. 80 Jahren sprechen,
muss die Evolution die Arterhaltung über
hunderte Millionen Jahren garantieren.
Hier ist die Stammzelle ganz entscheidend.
Gehen wir nochmals vom frühesten Sta-
dium unserer Existenz aus, nämlich der be-
fruchteten Eizelle. Wie bereits beschrieben,
entstehen aus dieser über 2-, 4-, 8-, 16-Zeller
die Blastozyste, die sich dann letzten Endes
in die Gebärmutter einnistet. Bisher be-
schrieben wurden die Keimblattzellen, En-
doderm, Ectoderm und Mesoderm. Neben
diesen drei Organ- oder Gewebsgrundtypen
ist aber noch ein vierter Weg zu erwähnen,
nämlich die Keimbahnzellen. Die Keim-
bahnzellen gehen vermutlich direkt aus dem
20 Ectoderm und Mesoderm hervor – aus den
frühesten pluripotenten Stammzellen wer-
den wiederum Vorläuferzellen für die
Geschlechtszellen, nämlich die Eizelle und
die spermatogoniale Stammzelle (Takas-
hima 2018). Diese beiden Zellen tragen nicht
mehr das komplette Genom, sondern sie tei-
len sich zunächst, wie die somatischen Zel-
len. Dann kommt es zu einer meiotischen
Zellteilung, d. h., die Zelle teilt sich und exis-
tiert mit halbem Chromosomensatz weiter.
Unser menschliches Genom trägt ins-
gesamt 46 Chromosomen, jeweils 22 somati-
sche Chromosomen, die doppelt vorliegen,
also 44, und dazu kommt ein X- und ein
Y-Chromosom beim Mann bzw. zwei
X-Chromosomen bei der Frau, insgesamt 46
Chromosomen.
Bei der meiotischen Teilung entstehen
die Eivorläuferzellen bzw. die spermatogo-
nialen Vorläuferzellen mit jeweils 23
Chromosomen, 22 somatischen und ent-
weder ein X-Chromosom oder ein
Y-Chromosom. Bei der Eizelle ein
X-Chromosom, bei der Spermienzelle ent-
weder X- oder Y-Chromosom. Diese Zellen
sind darauf spezialisiert, auf ihrem Weg von
der Blastozyste zur Keimbahnzelle die Erb-
information mit maximal hoher Genauig-
keit zu erhalten. Dies ist anders als in soma-
tischen Zellen, wo die Erbinformation durch
diverse Prozesse, u. a. toxikologische, meta-
bolische oder physikalische, bereits früh ge-
schädigt wird. Bei der nächsten Generation
vereinigen sich Spermienzelle und Eizelle,
und es entsteht wiederum eine Blastozyste.
Es wurde dementsprechend schon von den
Biologen geäußert, dass dieser kurze Weg,
bei dem die Zellen immer jung in ihrer gene-
tischen Information, immer unverändert
bleiben, der eigentliche Lebensprozess ist.
Unser Körper dient sozusagen nur als Hülle,
um die Geschlechtszellen möglichst un-
beschadet von einer Generation zur nächs-
ten weiterzugeben. Wenn dies geschieht, gibt
es von der biologischen Seite aus evolutio-
närer Sicht keinen Grund mehr, unseren
Körper am Leben zu erhalten. Daher wird
auch spekuliert, dass die Alterungsprozesse
von der Evolution her gewünscht sind
Die Rolle von Stammzellen beim biologischen Altern
(Ahuja et al. 2019), da ja in einer Situation,
in der Nahrungsknappheit herrscht, die äl-
teren den jüngeren Tieren zu viel Nahrung
wegnehmen würden und dies nicht im Sinne
der evolutionären Weiterentwicklung wäre.
Bei Menschen sieht es sicherlich anders aus,
aber im Grunde genommen sind wir immer
noch in diesen alten evolutionären bio-
logischen Grundprinzipen gefangen.
20.6  ltern unseres Körpers aus
A T. durch unbekannte zelluläre Mechanis-
der Sicht von Stammzellen
Um die Funktionen der Organe in unserem
Körper von Geburt an optimal aufrechtzu-
erhalten, ist der ständige Wechsel von Zellen
ein biologisches Prinzip. Zellen, die in ihrer
Funktion verändert sind, oder auch ge-
schädigte Zellen werden durch den Prozess
der Apoptose inaktiviert, d. h., sie sterben
durch zelleigene Mechanismen ab. Durch
den Stammzellpool stehen aber Zellen zur
Verfügung, die genau diese abgestorbenen
Zellen wieder ersetzen. Damit könnte unser
Körper theoretisch unendlich alt werden.
Aber leider ist dies von der Natur nicht vor-
gesehen und wäre aus Sicht der Evolution
auch gar nicht sinnvoll. Wir kennen drei ver-
schiedene Prozesse, die dafür sorgen, dass
unser Körper im Alter immer mehr abbaut
(Ahuja et al. 2019). Es handelt sich um Pro-
zesse, die wir im Allgemeinen als Alters-
krankheiten identifizieren, die aber auch als
intrinsische Alterserscheinungen anzusehen
sind:
55 Eine verschlechterte Durchblutung der
Organe, welche u. a. durch primär meta-
bolische Störungen, wie z. B. beim Dia-
betes mellitus, durch eine Schädigung
der Gefäße zustande kommen kann,
kann zum Infarkt führen. Durch das In-
farktgeschehen kommt es zur Minder-
durchblutung der entsprechenden Ge-
webe, die dadurch nicht mehr genügend
Energie haben, um ihren Grunderhal-
tungs- und Funktionsstatus aufrechtzu-
425 20
erhalten, und damit absterben. Beispiele
für ein solches Organsterben sind Herz-
infarkt, Gehirnschlag, Lungeninfarkt,
ischämische Niereninsuffizienz usw. Wir
sprechen hier auch von einem partiellen
Organtod bzw einem partiellen Tod des
Organismus.
55 Degenerative Prozesse spielen ebenfalls
eine wichtige Rolle bei Alterser-
krankungen, die auch häufig zum Tod
führen. Degenerative Prozesse werden z.
men, aber auch durch direkte immuno-
logische Fehlregulationen induziert. Sie
führen zum graduellen Absterben be-
stimmter Zelltypen. Ein gutes Beispiel
hierfür sind die Insulin-produzierenden
pankreatischen ß-Zellen, die beim
Typ-1-Diabetes degenerieren. Ein ande-
res Beispiel stellt die Parkinson-­
Erkrankung dar, bei der auch bestimmte
Zellen, die dopaminergen Neuronen in
der Substantia nigra, zugrundegehen
und damit zu typischen motorischen
Lähmungen und Schüttelerkrankungen
führen, dem Morbus Parkinson. Ähnlich
wie bereits für das Infarktgeschehen dis-
kutiert, führen auch degenerative Er-
krankungen zu einem partiellen Sterben
des Organismus und damit zu Funktions-
beeinträchtigungen, die letzten Endes die
Lebensqualität senken und Alterungs-
prozesse fördern.
Es ist eine Alterungserscheinung, dass der
Pool von Stammzellen immer mehr redu-
ziert wird. Insbesondere bei hämato-
poietischen Systemen, bei den blutbildenden
CD34-positiven Stammzellen im Knochen-
mark, hat man festgestellt, dass dieser Pool
proportional zum Alter immer mehr ab-
nimmt (Hennrich et al. 2018). Damit wird
das regenerative Potenzial der Zellen unse-
res Organismus auch immer niedriger. Und
damit können degenerative Erkrankungen
bzw. Infarktgeschehen im Alter immer
schlechter kompensiert werden. Es gibt zwar
noch keine experimentellen Beweise dafür,
 426 J. Hescheler
aber es deutet sehr vieles darauf hin, dass
genau dieses Gleichgewicht, die Balance
zwischen absterbenden Zellen und wieder-
aufbauenden Zellen, also die degenerativen
und regenerierenden Prozesse, im Alter
immer mehr zugunsten der degenerativen
Prozesse zunimmt und dass dies vermutlich
einer der wichtigsten Prozesse bei der Alte-
rung ist und damit unsere natürliche Lebens-
erwartung angibt. Strategien, um unser
Leben zu verlängern bzw. die Lebensqualität
im Alter zu verbessern, müssen daher ent-
weder darauf abzielen, die degenerativen
Prozesse zu vermindern oder die re-
generativen Prozesse im Körper fördern.
Während erstere Strategie bereits in der An-
wendung ist, stellt die Verbesserung des
Stammzellpools ein komplett neues
Therapiekonzept dar, welches zukünftig
wichtig zur Bekämpfung von Alterser-
krankungen sein könnte. Hierfür gibt es
gegenwärtig auch interessante Ideen in der
Forschung, allerdings sind diese Ideen leider
noch nicht in den klinischen Alltag über-
gegangen.
20.7 Stammzellen durch
Reprogrammieren:
Jungbrunnen und
Hoffnungsträger gegen das
Altern
Es galt noch vor zehn Jahren als ein bio-
logisches Grundgesetz, dass alle Zellen in
unserem Körper permanent altern und dass
dies durch die Länge der Telomere de-
terminiert ist, wie bereits ausführlich be-
schrieben. Zellen von einem differenzierten
alten Zustand zurück in einen un-
differenzierten jungen Zustand zu bringen
galt als völlig unmöglich. Die einzige Quelle
für pluripotente Stammzellen, die in der
Lage sind, jedes Körpergewebe zu differen-
zieren, war die Blastozyste, d. h. der frühe
20 embryonale Präembryo. Dieses Grund-
postulat wurde durch die Arbeiten von Prof.
Shin’ya Yamanaka (Okita et al. 2007; Naka-
gawa et al. 2008) aus Kyoto komplett ge-
kippt. Für seine Entdeckung der Re-
programmierung erhielt Yamanaka im Jahre
2012 den Nobelpreis für Medizin und
Physiologie. Was verbirgt sich hinter diesem
„Jungbrunnen auf zellulärer Ebene“?
Die Arbeiten zum Schaf Dolly von Ian
Wilmut (Bulfield et al. 1998; Wilmut und
Taylor 2018) zeigten bereits, dass beim Klo-
nieren, d. h. das Einbringen von der Erb-
information aus einer somatischen Zelle in
eine entkernte Eizelle, der Zellkern dieser
somatischen Zelle reprogrammiert wird, d.
h. wieder in den ursprünglichen Zustand
zurückgesetzt wurde. Wilmut injizierte den
Zellkern einer Hautzelle eines Schafs in eine
Eizelle, die von ihrem eigenen Zellkern be-
freit wurde. Durch die Umgebung in der Ei-
zelle kam es zu einer Rückentwicklung des
Zellkerns, und die so neugewonnene Eizelle
mit reprogrammiertem Zellkern entwickelte
sich zur Blastozyste und weiter zum
funktionsfähigen Organismus, zum Schaf
Dolly. Diese Prozesse der Reprogrammierung
wurden von Prof. Yamanaka genau ana-
lysiert, und er stellte fest, dass man die Um-
gebung der Eizelle nicht unbedingt benötigt,
um eine somatische Zelle wieder in ihren ur-
sprünglichen Zustand der pluripotenten
Zelle zurückzuführen, sondern dass dies be-
reits durch einige Faktoren möglich ist.
Insgesamt konnte er den Prozess so ver-
einfachen, dass nur vier Transkriptions-
faktoren, oct-4, c-myc, klf-4 und sox2, in
einer somatischen Zelle exprimiert werden
müssen und es dadurch zur Re-
programmierung dieser somatischen Zelle in
den ursprünglichen pluripotenten Zustand
kommt (Belmonte et al. 2009). Diese neuen
Zellen wurden als induziert pluripotente
Zellen oder, kurz, iPS-Zellen bezeichnet.
Somit ist es durch die iPS-Zellen zum ersten
Mal möglich, eine ganz frühe neue Stamm-
zelle, die der embryonalen Stammzelle des
jeweiligen Patienten entspricht, durch den
Prozess der Programmierung zu generieren.
Viele Untersuchungen zeigten, dass die
Die Rolle von Stammzellen beim biologischen Altern
iPS-Zellen praktisch nicht von embryonalen
Stammzellen unterscheidbar sind. Es wurde
auch insbesondere untersucht, wie sich die
Telomerlänge einer iPS-Zelle verhält, und
interessanterweise wurde gefunden, dass
sich die Telomere wieder aufbauen, also
wirklich in den frühen, unentwickelten Zu-
stand einer Zelle wieder zurückkehren.
20.8  as passiert bei der
W den regenerativen biologischen Mechanis-
Reprogrammierung?
Die genauen Prozesse, die zur Re-
programmierung führen, sind heute immer
noch nicht komplett entschlüsselt. Die
Wissenschaftler gehen aber davon aus, dass
es sich bei der Reprogrammierung um eine
Veränderung der epigenetischen De-
terminierung der Zelle handelt. Epigenetik
ist der biologische Mechanismus, der dafür
sorgt, dass die Erbinformation, die DNA,
durch Methylierungsprozesse inaktiviert
und dadurch geprägt wird. Durch diese Or-
ganisation der Erbinformation kommt es bei
Differenzierungsprozessen, insbesondere
auch bei Alterungsprozessen, zu einer zu-
nehmenden Inaktivierung, also Ein-
schränkung der Erbinformation, die für die
Zelle zugängig ist. Von der pluripotenten
Zelle ist bekannt, dass diese eine sehr ge-
ringe epigenetische Determinierung hat, d.
h., die pluripotente Zelle kann sich in jede
Körperzelle entwickeln, da ihr die gesamte
Erbinformation noch zugängig ist. Dies ist
bereits bei der multipotenten Stammzelle
eingeschränkt. Durch Veränderung der Epi-
genetik kann man die Differenzierung einer
Zelle erklären, in umgekehrter Weise aber
auch den Prozess der Reprogrammierung,
also der Rückentwicklung von der differen-
zierten Zelle zur undifferenzierten iPS-Zelle.
Während Differenzierung mit einem Aufbau
der epigenetischen Determinierung ver-
bunden ist, wird bei der Reprogrammierung
die DNA wieder in den ursprünglichen
427 20
nicht-methylierten Zustand zurückgebracht
(Teshigawara et al. 2017).
20.9 Stammzelltherapie –
Hoffnung für das Alter
Unser Körper besteht in einer Balance zwi-
schen abbauenden und aufbauenden Prozes-
sen, den degenerativen Erkrankungen und
men. Im Alter nimmt der regenerative Pool
von Stammzellen immer mehr ab. Eine The-
rapie des Alterns mittels Stammzellen hat
zwei Komponenten:
55 die Erneuerung von organtypischen Zel-
len nach einem pathologischen Unter-
gang von Zellen in einem Organ, z. B.
nach einem Infarktgeschehen
55 eine generelle Erneuerung des Pools von
Stammzellen und damit die Stärkung des
allgemeinen intrinsischen Regenerations-
potenzials des Organismus
Wie funktioniert eine Stammzelltherapie?
Experimentelle Erfahrungen gibt es bisher
hauptsächlich im experimentellen Bereich,
also bei Tierversuchen. Bei der Zellersatz-
therapie werden aus pluripotenten Stamm-
zellen in der Zellkultur organtypische Zellen
gezüchtet (Wobus et al. 1991), z. B. Herz-
zellen, Nervenzellen, Leberzellen etc. Diese
Zellen können beispielsweise bei einem
Herzinfarkt direkt in das Infarktgebiete ein-
gebracht werden und damit die organischen
Schäden durch Zellerneuerung beheben. Es
konnte in Tierversuchen schon gezeigt wer-
den, dass sich diese exogen eingefügten
organtypischen Zellen, die aus Stammzellen
gewonnen wurden, wieder sehr gut in das
Gewebe einordnen und die Funktion auf-
nehmen. Als Ausgangsquelle für die Zeller-
satztherapie favorisieren die Wissenschaftler
die iPS-Zellen, da sie genetisch identisch
und damit auch immunologisch identisch
 428 J. Hescheler

mit den Zellen des Patienten sind. Neben Er- leider wurden diese aber auch noch nicht in
krankungen wie dem Herzinfarkt wurden entsprechenden Versuchen vorab getestet,
iPS-Zell-abgeleitete organtypische Zellen sodass wir hier auch eher in die weitere Zu-
auch bei Krankheiten wie Herzinsuffizienz, kunft blicken müssen, bis eine Alterstherapie
Diabetes, Parkinson, Spinallähmung etc. einmal möglich ist.
eingesetzt. Momentan versuchen die
Stammzellwissenschaftler, die erfolgreichen
Untersuchungen im Kleintierversuch in die 20.10 Hormesis-Prinzip: Rolle
Klinik zu übertragen, einen Prozess, den wir von Stammzellen
Translation nennen. Wichtige nächste
Schritte auf diesem Weg ist die Arbeit in Auch bei der Hormesis spielen Stammzellen
einem Reinraumlabor – die Zellen, die für eine entscheidende Rolle (Cavezzi et al. 2019).
eine klinische Studie gewonnen werden, Dieses Prinzip, welches schon von Paracelsus
müssen unter hochsterilen Bedingungen dif- formuliert wurde, bezeichnet die Hypothese,
ferenziert werden. Auch ist es wichtig, die dass geringe Dosen schädlicher oder giftiger
Zelltherapie auch im Großtierversuch zu Substanzen eine positive Wirkung auf
verifizieren, d. h., diese Therapieform muss Organismen haben können. Gerade für die
auch im Organismus mit einer Morphologie Gesundhaltung unseres Körpers im Alter
und Physiologie ähnlich wie beim Menschen könnte die Anwendung einer „Hormesis-­
funktionieren. Therapie“ interessant sein, da man eine Er-
In der Klinik wurden bisher nur Thera- neuerung bzw. Junghaltung unserer Organe
pien mit adulten, multipotenten Stamm- erwartet. Was aber passiert bei der Hormesis
zellen durchgeführt. Leider waren diese auf Stammzellebene? Obwohl dies noch
Therapieansätze nicht sehr erfolgreich, da nicht experimentell exakt gezeigt wurde,
die multipotenten Zellen, wie oben bereits kann man davon ausgehen, dass es durch ge-
ausgeführt, ein nur sehr begrenztes ringe Dosen schädlicher Einflüsse zu einem
Differenzierungspotenzial haben und nach geringen Zelluntergang kommt. Dieser Zell-
Einbringung in das pathologische Organ untergang bewirkt keine merkbare Schädi-
nicht in funktionelle Zellen differenzieren. gung der entsprechenden Organfunktion,
Zum Beispiel wurden bei Herzinfarkt-­ könnte aber bereits Reparaturmechanismen
Patienten hämatopoetische oder mes- und die Aktivierung des Stammzellpools in
enchymale Stammzellen in das Infarktgebiet Gang setzen. Die in das Organ ein-
eingebracht. Die adulten Stammzellen ent- wandernden Stammzellen könnten dann zu
wickelten sich in dieser für sie untypischen einer Erneuerung des Organs durch neue, aus
Umgebung jedoch nicht in Herzmuskel- den Stammzellen differenzierte organ-
zellen. Multipotente Stammzellen haben typische Zellen führen. Und dies würde dann
nicht das Potenzial, sich in die organtypische die Organfunktion erneuern und verbessern,
Zelle zu differenzieren, wenn sie in die ent- bzw. im Alter aufrechterhalten. Zu bedenken
sprechende Umgebung kommen, wie man ist bei dieser Hypothese jedoch, dass das
zunächst vermutete. So wird es sicherlich Hormesis-­ Prinzip nur dann funktionieren
noch mehrere Jahre bis Jahrzehnte dauern, kann, solange ein aktiver Stammzellpool
bis hier eine wirksame stammzellbasierte vorhanden ist. Wenn aber im Alter der Pool
Therapie möglich ist. adulter multipotenter Stammzellen ab-
Eine andere ganz neue Art der Therapie nimmt, wird das Hormesis-Prinzip auch
unseres Körpers wäre es, die regenerativen nicht mehr funktionieren, was man ja auch
Stammzellpools in unserem Organismus beobachtet. Daher ist die Aufrechterhaltung
20 mittels iPS-Zellen wieder aufzufrischen. eines gesunden Stammzellpools oberste
Hierzu gibt es diverse theoretische Ansätze, Priorität.
Die Rolle von Stammzellen beim biologischen Altern
20.11 Fazit
Stammzellen spielen eine ganz entscheidende
Rolle bei den Alterungsvorgängen in unse-
rem Organismus. Durch die Stammzell-
forschung haben sich Paradigmen, die in der
Biologie festgesetzt waren, geändert, und wir
sehen heute Organe und organische Ver-
änderungen eher als eine Balance zwischen
degenerierenden (abbauenden) und re-
generierenden (aufbauenden) Prozessen an.
Im Alter nimmt der körpereigene endogene
Stammzellpool ab, und die degenerativen
Prozesse überwiegen. Therapien, basierend
auf stammzellabgeleiteten organtypischen
Zellen, die bei Alterskrankheiten eingesetzt
werden, funktionieren bereits in Tierver-
suchen, es bleibt jedoch abzuwarten, bis diese
in eine humane Therapie für die Klinik über-
tragen werden können. Eine direkte lebens-
verlängernde Wirkung könnten aus im Labor
nachgezüchtete adulte Stammzellen haben,
die den im Alter sich abbauenden endogenen
Stammzellpool wieder erneuern könnten.
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tropic responses to adrenergic and cholinergic
agents and Ca2+ channel blockers. Differentiation
48:173–182
 431 21

Digitalisierung und
Anti-Aging Medizin
Guido Axmann

Inhaltsverzeichnis

21.1 Ist diese Geschichte realistisch? – 438

21.2  hese 1: Der Zukunft der Medizin ist digital, präventiv

T
und individualisiert – 438
21.2.1 Keine Sensoren = keine Daten = keine (künstliche)
Intelligenz – 439
21.2.2 Eine Größe passt sicher nicht allen – 439

21.3  hese 2: In der präventiven Zukunftsmedizin

T
entscheiden Daten und künstliche Intelligenzen
(und keine weißen Eminenzen) – 440
21.3.1  ollen wir wichtige Entscheidungen zukünftig den Maschinen
W
überlassen? – 441
21.3.2 Werden wir alle wichtigen Entscheidungen den Maschinen
überlassen (wollen)? – 442
21.3.3 Bringt der „gläserne Patient“ nicht beachtliche Risiken? – 442

21.4  hese 3: Als nächste Evolutionsstufe wachsen

T
Mensch und Maschine zusammen – 443

21.5  as hat diese Ausprägung der Digitalisierung mit

W
Anti-Aging-Medizin und Präventivmedizin zu tun? – 445

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_21
21.6 Wann wird der Mensch zum Cyborg? – 446

21.7 Wird der neue Mensch dann unsterblich? – 447

21.8 Fazit – 448

21.8.1  ersönlich: Was kann die Digitalisierung der (Anti-Aging-)
P
Medizin für mein Leben bedeuten? – 448
21.8.2 Beruflich: Welche Rolle spielt der Arzt in der digitalen
(Anti-Aging-)Medizin? – 449

Literatur – 450
Digitalisierung und Anti-Aging Medizin
Samstag, 27. April 2024. Als der Reco-
very Score nach Abschluss der sechs-
ten REM-Schlafphase und 7,46 Stunden
Nachtruhe die vollen 100 % erreicht hat,
wird Acci an diesem Samstagmorgen kurz
nach Sonnenaufgang um 5:52 Uhr von sei-
nem virtuellen Coach Xia geweckt. Über die
Sensoren seines unauffälligen Fingerringes
erhält Xia kontinuierlich Bewegungsdaten,
Körpertemperatur, Herzschlag, Atem-
frequenz und Herzratenvariabilität. Auf
Basis der aktuellen und der historischen
Gesundheitsdaten, der aktuellen Trainings-
ziele und dem Plan des Folgetages errechnet
Xia die optimale Weckzeit, um Acci die
bestmögliche Erholung für den neuen Tag
zu ermöglichen.
>>Daten sind der Treibstoff der Digitalisie-
rung. Wer Daten nutzt, kann Algorith-
men entwickeln und trainieren, um neue,
wertvolle personalisierte Informationen,
die Auswertung von komplexen Zu-
sammenhängen und individualisierte
Dienstleistungen anzubieten. Deswegen
werden Daten als das „Gold des 21.
Jahrhunderts“ bezeichnet. Zu Recht.
Acci springt aus dem Bett, trinkt – wie jeden
Morgen – zunächst ein großes Glas Wasser,
bevor er um 6:55 Uhr seine morgendliche
Meditationssitzung startet. Xia signalisiert
ihm nach 22 Minuten, dass seine Herzraten-
variabilität, Blutdruck, EKG, Ruhepuls,
Atemtiefe und Körpertemperatur das üb-
liche Entspannungsniveau erkennen lassen.
Acci diktiert Xia zwei Superideen für die
anstehende Finanzierungsrunde eines sei-
ner Portfolio Start-ups, die ihm während der
Meditation in den Sinn gekommen sind. Zu-
dem bittet er Xia, ein Telefonat mit seinen
Eltern in den Tagesablauf einzubauen.
7:21 Uhr. „Was steht heute auf dem
Trainingsplan, Xia?“, fragt Acci, während
er sich die Laufschuhe zuschnürt. Er möchte
in drei Monaten einen Triathlon der olym-
pischen Distanz in unter drei Stunden be-
wältigen und hat deshalb seinen digitalen
433 21
Coach gebeten, ihm einen individuellen Plan
zu erstellen, um dieses ambitionierte Ziel zu
erreichen. „20 Minuten Warmlaufen im Be-
reich von 90 Herzschlägen pro Minute, ge-
folgt von einem Intervalltraining mit sieben
Zyklen von jeweils drei Minuten – gesteuert
durch Deine Herzrate, mit dem Ziel von 135
Schlägen pro Minute. Zum Abschluss läufst
Du bei einer Frequenz von unter 90 Schlä-
gen pro Minute, bis sich Deine Erholung
stabilisiert hat. Die Zeit für das Lauftraining
beträgt heute eine Stunde und 15 Minuten.
Danach habe ich heute noch eine Cross-
fit-Einheit von 25 Minuten für Dich geplant.
Ich schicke Dir drei Vorschläge für die Lauf-
route – wähle eine aus und los geht’s!“, mo-
tiviert ihn Xia.
Xia koordiniert für Acci die ver-
schiedenen Einheiten aus Laufen, Rad-
fahren, Schwimmen, Crossfit-, Kraft- und
Dehnungsübungen und berücksichtigt
dabei seine terminliche Verfügbarkeit, die
Öffnungszeiten des Schwimmbades sowie
die gemessenen Schlaf-, Erholungs- und
Trainingswerte. Denn nur durch dieses indi-
vidualisierte Training, das alle verfügbaren
Vitalparameter einbezieht, ist es möglich,
dieses ehrgeizige Ziel in so kurzer Zeit zu er-
reichen.
Acci fühlt sich an diesem wunderschönen
Frühlingsmorgen bestens ausgeruht und
wählt die schwierigste Laufroute mit den
steilsten Anstiegen. Xia erkundigt sich bei
Acci, ob er während des Lauftrainings das
Lesen seines aktuellen Hörbuchs fortsetzen,
die neueste Folge seines Lieblingspodcasts
hören oder lieber Vokabeln wiederholen
möchte. Seine Antwort: „Podcast bis zum
Intervalltraining. Während der Intervalle
motivierende Sprintmusik und in den Er-
holungspausen zwischen den Sprints jeweils
20 Vokabeln. Beim Auslaufen das Telefonat
mit meinen Eltern.“
Während des dritten Sprintintervalls bei
einer Herzfrequenz von 138, was gut 95 %
Accis maximaler Herzfrequenz entspricht,
registriert Xia in den kontinuierlichen
EKG-Daten seiner Trainingsuhr einige ar-
 434 G. Axmann
rhythmische Sequenzen: „Dein EKG zeigt
21 einige vermutlich harmlose Unregelmäßig-
keiten, sogenannte Extrasystolen. Soll ich
Deinen Kardiologen konsultieren und Dir
ein telemedizinisches Gespräch buchen?“
Acci antwortet: „Suche bitte in historischen
EKG-Daten nach ähnlichen Vorkomm-
nissen und prüfe, ob sich ein Trend erkennen
lässt.“ Wenig später bestätigt Xia: „In Dei-
nen Daten lassen sich weder Trend, Häu-
fung noch Entwicklung erkennen. Es gibt
unregelmäßig ähnliche Ereignisse bei ext-
remer Belastung von mehr als zweieinhalb
Minuten. Was möchtest Du nun tun, Acci?“
„Ich hatte ohnehin einige weitere Fragen an
Deinen menschlichen Kollegen. Bitte orga-
nisiere mir für heute Nachmittag eine tele-
medizinische Konsultation mit Dr. Schulz
und schicke ihm vorab einen aktuellen
Gesundheitsreport. Bitte markiere die auf-
fälligen EKG-Daten“, erwidert Acci. „Alles
klar. Schon erledigt. Termin steht für 13:00,
während Du Dich gerade auf dem Weg zum
Flughafen befinden wirst“, antwortet Xia
und spielt den nächsten Lieblingssong aus
der Playliste „Intensivtraining“, während
Acci das letzte Sprintintervall in Angriff
nimmt.
Xia kommentiert das Lauftempo bis
zur gewünschten Herzrate. Nach drei Mi-
nuten endet die Musik, Acci reduziert die
Geschwindigkeit und startet die aktive Er-
holungsphase. „Acci, Deine Erholungszeit
nach submaximaler Belastung ist noch leicht
verzögert. Das mag noch im Zusammen-
hang mit der Mittelohrentzündung vor
sechs Wochen stehen. Zeichen einer neuen
Infektion kann ich in Deinen Daten bisher
nicht erkennen. Die Körpertemperatur ist in
Deinem persönlichen Normbereich. Sicher-
heitshalber solltest Du Deine Entzündungs-
parameter heute erneut kontrollieren. Darf
ich Dich daran später erinnern?“, fragt Xia
mit leicht besorgter Stimme.
Während der Auslauf- und Erholungs-
phase telefoniert Acci mit seinen Eltern. Die
sozialen Kontakte zu Freunden und Ver-
wandten sind Acci wichtig. Er hat über die
letzten Jahre des intensiven Self-Monitorings
festgestellt, dass sich seine objektiven Vital-
daten signifikant verbessern, wenn er regel-
mäßig seine Beziehungen pflegt. Xia unter-
stützt ihn dabei und registriert, wenn Accis
soziale Aktivitäten über alle Termine, Tele-
fonate und Nachrichten den gewünschten
Social Activity Score unterschreiten oder
wenn die Kontaktintensität zu bestimmten
relevanten Personen unter den definierten
Schwellenwert fällt. Dabei unterscheidet
Xia zwischen oberflächlichen transaktio-
nalen Kurzkontakten und tiefergehenden
persönlich relevanten Interaktionen. Xia
analysiert dies anhand der Muster schrift-
licher Nachrichten und Telefonate. Durch
eine kontinuierliche Analyse der Daten weiß
Xia, welche Kontakte und Begegnungen
Acci mehr inspirieren als andere. Zudem
schlägt Xia jede Woche die Aufnahme zu
neuen oder selten frequentierten Kontakten
aus Accis Netzwerk per Algorithmus vor. In-
dem Acci die empfundene Werthaltigkeit der
Interaktion subjektiv bewertet und Xia an-
hand der getroffenen Folgeaktivitäten diesen
Kontakt objektiv analysiert, trainiert Xia
den eigenen Algorithmus und verbessert so
kontinuierlich die Qualität der Vorschläge.
Als Investor, Unternehmer und Berater
fühlte sich Acci im beruflichen Umfeld in
der Vergangenheit häufig kommunikativ
überfordert und reagierte mit sozialem
Rückzug. Diese kommunikative Absti-
nenz hat regelmäßig zu Herausforderungen
und Anspannungen im Familien- und
Freundeskreis geführt. Seit Xia ihn durch
Digitalisierung und Anti-Aging Medizin
die Analyse bei der Auswahl seiner sozialen
Interaktionen unterstützt, findet Acci eine
bessere Balance, reduziert oder verkürzt
Kontakte, die ihm Energie rauben, und
widmet Begegnungen, die ihm Energie und
Inspiration geben, mehr Zeit. So haben sich
seine Eltern über den unerwarteten früh-
samstäglichen Anruf sehr gefreut.
Omics-Daten
„-omik“ macht als Suffix Teilgebiete der
modernen Biologie kenntlich, die sich
mit der Analyse von Gesamtheiten ähn-
licher Einzelelemente beschäftigen. Die
Proteomik beschäftigt sich mit dem Pro-
teom, der Gesamtheit aller Proteine, die
zu einem definierten Zeitpunkt vor-
liegen. Analog dazu werden folgende
Fachgebiete unter „Omics“ subsumiert:
Genomik, Epigenomik, Metabolomik,
Lipidomik, Transkriptomik, Interakto-
mik, Mikrobiomik, Konnektomik etc.
9:14 Uhr. Zu Hause angekommen nach der
25-minütigen Crossfit- und Dehnungeinheit,
erinnert Xia Acci an den kurzen Blutcheck
seiner Entzündungsparameter. Acci saugt
einen Blutstropfen aus der Fingerkuppe in
das Messgerät. Genau wie seine Schlaf- und
Trainingsdaten landen seine Blutwerte, sämt-
liche Omics-Daten sowie die regelmäßigen
Check-up-, Toxikologie- und Scan-Daten der
verschiedenen bildgebenden Untersuchungen
im Datenpool seiner digitalen Gesundheits-
akte. Seine medizinischen Experten haben
per Einladung jederzeit Zugriff auf diese
Daten, sodass redundante Untersuchungen
vermieden werden und jeder Experte stets
das Gesamtbild auf einen Blick erkennt. Die
Gesundheitsakte registriert jeden Zugriff
namentlich, sodass ein Missbrauch seiner
435 21
Daten leicht geahndet werden kann. Der un-
rechtmäßige Zugriff steht unter Strafe, und
die Zugriffsdaten sind unveränderlich und
fälschungssicher in der Blockchain abgelegt.
Blockchain
Die Blockchain ist eine dezentrale, auf
vielen Computern verteilte Datenbank,
mit
der Aufzeichnungen von Trans-
aktionen hinterlegt werden, die für
jeden Teilnehmer dieser Blockchain ein-
sehbar sind. Die Computer, die an einer
Blockchain teilnehmen, sind über das
Internet vernetzt und bilden damit ein
Blockchain-Netzwerk. In jeden neuen
Datensatz („block“) wird eine krypto-
grafische Prüfsumme (Hashwert) der
bisherigen Kette („chain“) von Daten-
sätzen geschrieben, sodass eine Manipu-
lation der Daten durch einzelne Teil-
nehmer im Prinzip unmöglich ist.
Xia analysiert nicht nur kontinuierlich
Accis individuelle Daten, sondern über-
prüft jede neue Publikation, ob der wissen-
schaftliche Fortschritt weitere Optimierun-
gen empfiehlt, und bewertet gleichzeitig
deren Evidenz, um diese in den Algorith-
mus aufzunehmen. Laut der größten
medizinisch-wissenschaftlichen Literatur-
datenbank Pubmed erscheinen dort täglich
über 3000 neue Publikationen, deren neue
Erkenntnisse Xia fortlaufend analysiert.
Hinzu kommen unzählige und sich von Tag
zu Tag exponentiell vermehrende Erkennt-
nisse aus den Real-World-Daten von Mil-
lionen von Menschen, die ihre persönlichen
Daten wie Acci anonymisiert für den kol-
lektiven Erkenntnisgewinn zur Verfügung
stellen.
 436 G. Axmann
Internet der Dinge
21 Das Internet der Dinge (englisch: Inter-
net of Things, Kurzform: IoT) ist ein
Sammelbegriff für Technologien einer
globalen Infrastruktur der Informations-
gesellschaften, die es ermöglicht, physi-
sche und virtuelle Gegenstände mit-
einander zu vernetzen und sie durch
Informations- und Kommunikations-
techniken zusammenarbeiten zu lassen.
Diese Daten stammen aus Milliarden von Sen-
soren, die schlicht am Finger und Handgelenk
sitzen, als unsichtbares Patch auf der Haut kle-
ben, permanent oder temporär implantiert
sind oder mit der Nahrung oder den Medika-
menten eingenommen werden. Hinzu kommen
all die Daten der Sensoren aus dem so-
genannten Internet der Dinge, wie z. B. das Ge-
wicht und die Körperzusammensetzung aus
der vernetzten Körperanalyse-Waage, die Be-
wegungsmuster aus dem vernetzten Auto sowie
die emotionalen Stimmungsdaten aus Tele-
fonaten und dem eReader, die bei der Lektüre
per Gesichtsmimik- und Iris-Scan gewonnen
werden. Künstliche Intelligenzen analysieren
diese Daten, entdecken Muster und Zu-
sammenhänge und lernen Schlussfolgerungen
anhand von Nutzerbewertungen und Folge-
entscheidungen. Analysen und Empfehlungen
werden so immer genauer und individueller.
Künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz (KI), auch arti-
fizielle Intelligenz (AI), ist ein Teilgebiet der
Informatik, welches sich mit der Auto-
matisierung intelligenten Verhaltens und
dem maschinellen Lernen befasst. Künst-
liche Intelligenz bezeichnet den Versuch,
bestimmte Entscheidungsstrukturen nach-
zubilden, indem ein Algorithmus so pro-
grammiert und trainiert wird, dass er rela-
tiv eigenständig Probleme bearbeiten kann.
Die noch unerreichte „starke KI“ hat das
Ziel, eine Maschine zu konstruieren, die
sich intelligent wie ein Mensch verhält.
10:08 Uhr. Frisch geduscht, freut sich Acci
auf das Frühstück. Im Kühlschrank findet
er seinen personalisierten Nahrungs-
ergänzungsmix, den er mit seinem Basismüsli
und frischem Obst jeden Morgen einnimmt.
Xia bestellt die Nahrungsergänzungsmittel
wöchentlich anhand einer genauen Daten-
und Bedarfsanalyse. Dabei hat Xia einen ge-
wissen Spielraum für Experimente, um Opti-
mierungen auch ohne Accis vorheriges
Wissen durchzuführen. Wenn ein Experiment
eine Verbesserung der Vitaldaten nahelegt,
wird Acci in die Entscheidung für den weite-
ren Umgang einbezogen. So können Xia und
Acci die Ernährung individuell, situations-
gerecht, bedarfsorientiert, hochflexibel, maxi-
mal effektiv und effizient anpassen und stetig
optimieren. Seit Xia eine datengetriebene Er-
nährung empfiehlt und kontinuierlich opti-
miert, muss sich Acci nicht mehr mit den sich
regelmäßig widersprechenden Ernährungs-
mythen beschäftigen, was ihm jede Menge
Zeit spart und die Gewissheit bringt, dass er
schlichtweg die Ernährung nutzt, die ihm in
seiner aktuellen persönlichen und gesundheit-
lichen Situation am besten unterstützt – ohne
die Sorge, eine fundierte wissenschaftliche Er-
kenntnis zu verpassen.
Ein konkretes Beispiel: Als Acci vor drei
Jahren mit dem Biohacking startete, fielen
in seiner ersten Blutanalyse hochtoxische
Quecksiber- und Arsenwerte auf. Mit 9,6
μg/l und 3,8 μg/l lagen sie 800 % und 380
% über den Normwerten. Acci war sicht-
lich irritiert. Er glaubte, sich bis zu diesem
Tag mit einer reduzierten fleischhaltigen
und extra fischreichen Ernährung auf der
Anti-Aging-Überholspur. Pustekuchen. Die
harten Daten seiner Blutanalyse in Kom-
bination mit einer molekulargenetisch be-
stätigten homozygoten Deletion des Glut-
hathion-S-Transferase M1-Gens mit dem
Verlust der entsprechenden Enzymaktivität
konnten ihm kaum klarer aufzeigen, dass
er sich auf dem Weg zur Quecksilber- und
Arsenvergiftung verirrt und damit sicher
nicht den optimalen Pfad für ein langes und
gesundes Leben gewählt hatte.
Digitalisierung und Anti-Aging Medizin
Xia empfahl nach Kenntnis dieser Daten
einen konsequenten Auslassversuch an See-
fisch, welcher nach wenigen Wochen und
einer weiteren Blutanalyse mit normali-
sierten Schwermetallwerten die Richtig-
keit dieser These vollends bestätigte. Die
schlichte Kenntnis, dass Seefisch Schwer-
metalle enthalten könne, widersprach der
Wahrnehmung, dass Seefisch eine wertvolle
Quelle wichtiger Omega-3-Fettsäuren sei.
Erst die eindeutigen individuellen Daten
veranlassten Acci, seine Ernährung ent-
sprechend der Datenlage umzustellen. Seit-
her ist Seefisch von Accis Speisekarte kom-
plett verschwunden.
Biohacking
Biohacking ist der biologische, chemi-
sche oder technische Eingriff in Organis-
men mit dem Ziel der Veränderung und
Verbesserung. Es ist von den Wurzeln
her eine Do-it-yourself-Bewegung. Letzt-
lich geht es darum, neuartige Systeme zu
erzeugen, die sich in ihrer belebten und
unbelebten Umwelt behaupten. Ein Teil-
bereich ist das Bodyhacking, bei dem
man in den menschlichen Körper ein-
dringt, oft im Sinne des „Human Enhan-
cements“ und zuweilen mit der Ideologie
des Transhumanismus. In vielen Fällen
resultiert daraus der pflanzliche, tierische
oder menschliche Cyborg (s. u.).
10:45 Uhr. Acci erledigt seine wichtigs-
ten Aufgaben des Tages zuerst. Er muss
das Jahresbudget des Start-ups prüfen,
aktualisieren und für die anstehenden Ge-
spräche mit potenziellen Investoren auf-
bereiten. Nach 45 Minuten konzentrierter
Arbeit ist die Aufgabe erledigt, und Xia
schlägt ihm eine fünfminütige Atemübung
vor. Anschließend nimmt er die zweit-
wichtigste Arbeit des Tages in Angriff: Es
ist an der Zeit, einen kurzen Insight-Be-
richt für die sozialen Medien zu schreiben,
437 21
damit die digitale Visibilität und die fach-
liche Positionierung des Start-ups vor der
Finanzierungsrunde maximal optimiert
wird. Der Artikel geht schnell von der
Hand, sodass noch 35 Minuten für die Be-
antwortung seiner Nachrichten verbleiben,
bevor ihn das Taxi zum Flughafen abholt.
12:55 Uhr. Im Taxi auf dem Weg zum
Flughafen meldet sich nach fünf Minuten
Accis Tablet, dass die Videoverbindung
zu seinem physischen Health-Coach Dr.
Schulz hergestellt ist: „Hallo Acci, Xia hat
mir die Interpretation Deiner Daten ge-
schickt. Bevor wir uns die gemeinsam an-
schauen: Wie geht es Dir? Konntest Du die
juristische Auseinandersetzung im Projekt
Deiner Frau abwenden? Das hatte Dich in
unserem letzten Termin sehr beschäftigt.“
Acci antwortet: „Vielen Dank, Dok. Alles
gut soweit. Xia hatte mir die Kontakt-
aufnahme zu einem Bekannten empfoh-
len, und der konnte tatsächlich helfen, die
Gegenseite zum Einlenken zu bewegen. Das
hat sich also wieder komplett entspannt.
Aktuell ist meine größte Herausforderung
die schulische Entwicklung meiner jüngsten
Tochter, aber ich bin mir nicht sicher, ob Du
mir dabei helfen kannst?“ „Vielleicht nicht
direkt, doch lass uns kurz darüber spre-
chen, wenn das Dein aktuell größtes Thema
ist. In ihrem Gesundheitsstatus erkenne ich
auf den ersten Blick keine signifikanten
Auffälligkeiten. Bewegung, Ernährung,
Schlaf und soziale Kontakte bewegen sich
in ihrem persönlichen Normbereich. Liegt
also sicher im Bereich Purpose. Was inte-
ressiert Deine jüngste Tochter wirklich?
Wovon redet sie viel? Was bewegt sie?“, er-
kundigt sich Dr. Schulz. In dem folgenden
zehnminütigen Dialog analysieren die bei-
den die Situation und entwickeln einen Plan
für den Umgang mit Accis jüngster Toch-
ter. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass wir
uns nur dort wirklich engagieren, wo eine
intrinsische Motivation die treibende Kraft
bildet. Acci wird daher in den kommenden
 438 G. Axmann
Wochen genauer beobachten, was seine
21 Tochter inspiriert und wann sie aus man-
gelnder Motivation durch Prokrastination
und Kompensation ihren schulischen Auf-
gaben ausweicht.
„Nun, zu Deinen Daten: Im Bereich
Schlaf, Erholung, Stress, Fitness und Er-
nährung bist Du absolut im grünen Be-
reich. Du bist wieder oberhalb des Niveaus
vor der schweren Mittelohrentzündung
im Februar. Die heutigen Unregelmäßig-
keiten Deines Herzschlags sind harmlose
Extrasystolen, die wir weiter beobachten
lassen. Deine Entzündungswerte haben
sich gänzlich normalisiert. In der Wissen-
schaft gibt es neueste Erkenntnisse, dass
eine Deiner genetischen Veranlagungen
mit einem leicht erhöhten Lungenkrebs-
risiko einhergehen könnte, jedoch liegen
noch keine ausreichenden statistisch signi-
fikanten Real-Word-Daten vor. Es gibt je-
doch einen neuen Atemtest, der ein ganzes
zusätzliches Panel an Biomarkern in der
Atemluft detektiert. Der Test ist noch in
der beta-Phase. Doch falls Du möchtest,
bestelle ich Dir ein Test-Kit. Du bekommst
ihn kostenlos, wenn Du dafür Deine Daten
einbringst. Natürlich anonymisiert. Soll
sich Xia darum kümmern?“ „Ja, bitte.
Wie Du weißt, liebe ich Innovationen und
Experimente. Ich habe noch eine weitere
Frage: Mein Vater klang heute etwas trau-
riger und matter als sonst. Ist nur so eine
Intuition. Kannst Du dir seine psychischen
Daten bitte intensiver anschauen und mir
einen kurzen Bericht senden? Insbesondere
seine Stimmungswerte, Aktivitätsdaten und
sozialen Interaktionen. Seine Datenfrei-
gabe hast Du“, erwidert Acci mit zöger-
lichem Unterton. „Soll ich direkt einen
Blick darauf werfen?“ „Nein, nicht nötig.
Ich bin jetzt am Flughafen und muss wei-
ter. Schick mir bitte den Bericht. Ich melde
mich dann gegebenenfalls. Alles Gute und
vielen Dank!“, verabschiedet sich Acci und
betritt den Flughafen.
21.1 I st diese Geschichte
realistisch?
Absolut. Alle beschriebenen Technologien
sind heute bereits erfolgreich im Einsatz.
Die nahtlose Konvergenz der einzelnen Teil-
lösungen hat bis zum perfekten Zusammen-
spiel zum Zeitpunkt der Ausformulierung
noch nicht stattgefunden, doch ist das
Erzähldatum im Jahr 2024 voraussicht-
lich sogar zu großzügig gesetzt. Die aktu-
ellen Trends, die eindeutigen Ambitionen
der größten internationalen Datenkonzerne
(Apple, Google, Facebook, IBM, Microsoft
& Co.) und scheinbar unendliche Risiko-
kapital-Milliarden sprechen eine klare
Sprache: Die weltweite Intelligentia arbei-
tet tagtäglich hart daran, dass Acci mithilfe
von Xia seinen Samstagmorgen zeitnah wie
beschrieben erleben und sein Leben daten-
getrieben kontinuierlich optimieren kann.
Da dies ein agiler und sich stetig wan-
delnder Prozess ist, werden in diesem
Kapitel auf konkrete Firmennamen von
Lösungsanbietern verzichtet. Unternehmen
und Produkte kommen und gehen, werden
aufgekauft und verkauft, doch die Techno-
logien wachsen exponentiell weiter und
verbessern sich iterativ mit jeder neuen
Produktgeneration. Was möchte ich mit die-
ser Geschichte sagen?
21.2  hese 1: Der Zukunft der
T
Medizin ist digital, präventiv
und individualisiert
Sicherlich findet auch eine gewisse Digita-
lisierung der heutigen Anti-Aging-Medizin
statt, doch der viel spannendere Punkt ist:
Die Zukunft der Medizin per se wird digi-
tal und damit präventiv. In anderen Worten:
Durch die Digitalisierung der Medizin wird
diese insgesamt präventiver und präziser (=
individualisierter oder personalisierter).
Digitalisierung und Anti-Aging Medizin
>>Zukunftsmedizin = Medizin PLUS_SPI
Digitalisierung = Prävention PLUS_SPI
Individualisierung
Der bisherige Nebenschauplatz „Präventiv-
medizin“ transformiert in den kommenden
Jahren zur spannendsten medizinischen
Querschnittsdisziplin und Hauptbühne der
Zukunftsmedizin. Weshalb?
21.2.1  eine Sensoren = keine
K Rolle spielen. Alle anderen Kräfte werden
Daten = keine (künstliche)
Intelligenz
Salopp formuliert, mussten wir bisher die
Krankheiten so weit fortschreiten lassen,
bis unsere groben menschlichen Senso-
ren (= Sinne) und weitestgehend analogen
Diagnoseverfahren (= z. B. Hände) den
Tumor sehen und tasten konnten. Dann
haben wir diesen mit einem scharfen Messer
entfernt, die Metastasen mit einem Chemie-
cocktail an Zellgift abzutöten versucht und
das Ganze zur Sicherheit noch mit ordent-
lich ionisierender Strahlung zugedröhnt – in
der Hoffnung, alle Krebszellen erwischt und
den Patienten möglichst nicht umgebracht
zu haben. Unter mächtigen Kollateral-
schäden hat diese Praxis sicher vielen Pa-
tienten sehr geholfen, doch wird dieses me-
dizinische Prozedere spätestens in 20 Jahren
so antiquiert wirken, wie für uns heute die
antike und bis ins 19. Jahrhundert prakti-
zierte Phlebotomie (Aderlass) erscheint.
Durch die Digitalisierung und die
damit verbundene Verfügbarkeit von re-
levanten Daten wird die Medizin präven-
tiv, da Krankheiten entweder durch die
kontinuierliche Ausbalancierung von Un-
gleichgewichten gänzlich vermieden oder
in einem sehr frühen Stadium erkannt und
gebannt werden. Erst durch die Messbarkeit
von Gesundheit, Fitness, Erholung und Re-
generation lassen sich lebensverlängernde
und gesundheitsverstärkende Substanzen,
Services und Strategien entwickeln. Mit rele-
439 21
vanten Daten können Algorithmen trainiert
werden, sodass die künstliche Intelligenz
(KI) in den unvorstellbar enormen Daten-
bergen eigenständig Muster erkennt, die
der rein menschlichen Intelligenz verborgen
bleiben. Das konventionelle Behandeln von
Krankheiten („Sick Care“) wird in Zu-
kunft nur noch bei Unfällen, Vergiftungen,
Selbstschädigung und in nicht digitalisier-
ten Gesellschaften oder dysfunktionalen
Gesundheitssystemen eine wahrnehmbare
sich auf das Verhindern von Krankheiten
(„Health Care“) und das Optimieren unse-
rer menschlichen Möglichkeiten (Human
Enhancement) konzentrieren. Die digitale
Zukunftsmedizin ist präventiv.
21.2.2  ine Größe passt sicher
E
nicht allen
Wenn wir zum einen wenige und schlechte
Daten bekommen und zum anderen mit den
vorhandenen Daten wenig bis gar nichts
anzufangen wissen, werden wir logischer-
weise auf spezifische Fragen nur generische
Antworten liefern können. „Fisch ist besser
als Fleisch“ (siehe Accis Arsen- und Queck-
silberwerte) oder „Medikament X hilft bei
Krankheit Y“. Als Aushilfe flüchtet sich die
heutige Medizin in die Statistik. „Mit einer
Wahrscheinlichkeit von X werden Sie – als
Mann/Frau des Alters Y – Prognose Z er-
leben“ – sofern die Studienlage überhaupt
eine eindeutige Aussage zulässt. Das alles
ist natürlich besser als nichts. Wir durften
über die letzten zwei Jahrhunderte bereits
eine dramatische durchschnittliche Lebens-
zeitverlängerung von mehreren Jahrzehnten
erleben, doch durch die begonnene und
nicht wieder aufzuhaltende Digitalisierung
befindet sich die Medizin gerade am Anfang
eines gigantischen Quantensprungs. Der
Quantensprung heißt Künstliche Intelligenz
oder, verkürzt, einfach „Algorithmus“. Wie
jede exponentielle Kurve ist der anfängliche
 440 G. Axmann
Anstieg sehr gering und kaum spürbar, doch
21 wenn der Hockeyschläger sich krümmt, geht
alles ganz flink. Einfaches Beispiel: Als die
ersten Smartphones auf den Markt kamen,
hat man bei dem damals führenden Mobil-
telefonanbieter ernsthaft geglaubt, dass
die höchste Penetration der Bevölkerung
mit Smartphones bei maximal 2 % des ex-
klusiven Business-Segments liegen wird.
Zudem war man sich absolut sicher, dass
die Tasten zum Tippen unverzichtbar seien
und der „Touchscreen“ nur eine kurze, nicht
nachhaltige Modeerscheinung eines ame-
rikanischen Newcomers im Telefonmarkt
sein würde. Pustekuchen. Die Verbreitung
der Smartphones war eine klassische ex-
ponentielle Wachstumskurve, die dennoch
nahezu alle überrascht hat. Und dieser
Tsunami baut sich gerade in der Medizin
auf. Dank der Konvergenz verschiedener
Technologien (Speicherung, Übertragungs-
kapazitäten, Mobilität, Rechenleistung etc.)
können wir heute mit den vielen Daten tat-
sächlich immer mehr anfangen. So spielt es
selbstverständlich eine riesige Rolle, welche
genetische Ausstattung jemand mitbringt,
welche Nähr- oder Giftstoffe regelmäßig
getankt werden, ob und wann die Medika-
mente tatsächlich eingenommen werden,
welche Stress- und Erholungsmuster vor-
liegen, in welchem sozialen Kontext und mit
welchen Visionen, Ambitionen und Zielen
jemand seinem Alltag tagtäglich begegnet.
Da Menschen zum einen verschieden sind
und zum anderen hypothetisch wirkende
oder sich widersprechende allgemeine prä-
ventive Hinweise nicht zu dem Verhalten
führen, das für das Individuum das Richtige
wäre, können wir erst durch die kontinuier-
liche oder zumindest regelmäßige indivi-
duelle Datenerhebung Konsequenzen von
Lebensstiländerung, Behandlungs- und
Optimierungsstrategien direkt messen, mit
unterschiedlichen Optionen experimen-
tieren und letztlich sehr zielgerichtet den
eigenen Lebensstil optimieren. Erst wenn
toxische Arsen- oder Quecksilberwerte,
Genmutationen oder Blutzuckerwerte die
Sackgasse mit entsprechenden Zukunfts-
szenarien konkret aufzeigen, wird die ent-
sprechende Verhaltenskorrektur begreif-
und umsetzbar.
Die neue Medizin kann das alles in Be-
tracht ziehen, daher wird sie bisweilen
Präzisionsmedizin („Precision Medicine“)
genannt. Nicht die Ärzte allein können das,
doch die Maschinen können ihnen dabei
helfen. Sie können in all diesen Daten Mus-
ter erkennen, neue Empfehlungen ableiten
und einen individualisierten Optimierungs-
pfad auswählen, diesen kontinuierlich über-
prüfen und wiederum durch neue Erkennt-
nisse unaufhaltsam verbessern. Die digitale
Zukunftsmedizin ist somit nicht nur präven-
tiv, sondern wird zudem immer individuali-
sierter, sprich, präziser im Sinne der „Preci-
sion Medicine“.
Präzisionsmedizin
In der individualisierten Medizin
(auch personalisierten Medizin oder
Präzisionsmedizin) soll ein Patient zu-
sätzlich zum speziellen Krankheitsbild
unter weitgehender Einbeziehung der
individuellen physiologischen Kons-
titution, der genetischen Ausstattung
(Genom) und molekularbiologischen
Konstellationen, die mit Biomarkern er-
mittelt werden können, behandelt wer-
den. Zudem unterliegt die Therapie einer
fortlaufenden Anpassung an den Ge-
nesungsfortschritt.
21.3  hese 2: In der präventiven
T
Zukunftsmedizin
entscheiden Daten und
künstliche Intelligenzen (und
keine weißen Eminenzen)
Wie im kurzen Einblick in Accis daten-
getriebenem Samstagmorgen erkennbar,
werden mit der Digitalisierung der Medi-
zin die Sensoren zunehmend kleiner, bes-
Digitalisierung und Anti-Aging Medizin
ser und vor allen Dingen zahlreicher. Sie
sitzen zukünftig in jedem Gerät (Internet
der Dinge, s. o.), schwimmen in sämtlichen
Körperflüssigkeiten und senden kontinuier-
lich relevante Daten, die die KIs analysieren
und immer besser verstehen können. Daten
sind Voraussetzung und Treibstoff der Di-
gitalisierung. KIs nutzen diesen Treibstoff
und werden zur wichtigsten Entscheidungs-
grundlage von Ärzten und Patienten.
Ein einfaches Beispiel: Auf Basis der
kontinuierlichen Messung der Verkehrs-
dichte, der Integration von aktuellen Ver-
kehrsinformationen (Staus, Unfälle, Sper-
rungen, Wetterdaten, Großveranstaltungen
etc.) kann eine State-of-the-Art-Navi-
gations-App alternative Routen mit er-
staunlich genauen Schätzungen von Fahr-
zeiten liefern. Sogar „Hellsehen“ kann die
KI. Durch die Kenntnis der historischen
Verkehrs- und Wetterdaten, gesellschaft-
licher Ereignisse u. a. kann die KI in die
Zukunft schauen und die Fahrzeit an einem
bestimmten zukünftigen Datum und einer
genauen Uhrzeit beängstigend präzise und
mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vorher-
sagen. Und sie kann in Sekundenschnelle
jede weitere potenzielle Einflussgröße, wie z.
B. die Auswirkungen der Regenwahrschein-
lichkeit oder des DAX-Kurses, anhand der
historischen Daten auf Prognoserelevanz
prüfen und ihren Algorithmus eigenständig
entsprechend verbessern.
Spätestens wenn wir mehrfach erlebt
haben, dass diese Routenempfehlungen
einerseits sehr korrekt waren und das
Nicht-Befolgen von Empfehlung anderer-
seits zu deutlichen Verzögerungen geführt
hat, werden wir der KI zukünftig nahezu
blind vertrauen. Was nicht heißen soll, dass
eine Plausibilisierung der Empfehlung jeder-
zeit Sinn macht und größere Enttäuschungen
vermeiden kann. Ich erinnere mich an die
Anreise zu einem Skitrip, die vor einem ver-
schneiten Bergpass endete und eine Um-
fahrung von mehreren Stunden bedeutete,
da das Navigationsgerät im Sommermodus
die winterliche Sperrung des einzigen Berg-
441 21
passes offensichtlich nicht kannte. Blindes
Vertrauen kann teuer werden!
Gleichermaßen werden medizinische KIs,
die ausreichend mit Daten gefüttert und über
die Kenntnis der Folge einer Entscheidung
trainiert werden, immer wichtigere Hand-
lungsempfehlungen unterbreiten können.
Das startet mit relativ simplen Anwendungs-
fällen der Informationsbeschaffung, der
Unterstützung bei Diagnosestellung oder
Therapieauswahl und mündet in kom-
plexe Handlungsanweisungen zu konkreten
persönlichen Lebensstiländerungen und
individuellen Entscheidungsempfehlungen
potenzieller senolytischer, regenerativer und
augmentierender Behandlungsoptionen.
Wie in Accis Kurzgeschichte angerissen,
werden über einen Zeitraum von 10–15
Jahren Möglichkeiten entstehen, die noch
heute ähnlich unglaublich klingen wie allein
die Möglichkeiten durch die Mobilfunk-
technologie vor 10–15 Jahren. Wenn wir uns
zurückerinnern, sah die Welt vor dem Smart-
phone verdammt anders aus, und dennoch
haben wir den Übergang als organisch und
völlig natürlich erlebt. Würden wir sprung-
haft von damals im Heute landen, würden
wir nicht schlecht darüber staunen, dass sich
heute eine Reise von Berlin nach San Fran-
cisco komplett digital und ausschließlich mit
dem Smartphone organisieren und durch-
führen lässt.
>>Empfehlungen von künstlich intelligen-
ten Algorithmen bilden in Zukunft die
wichtigste Grundlage medizinischer Ent-
scheidungen. Die therapeutische Ver-
antwortung behält allein der Arzt.
21.3.1  ollen wir wichtige
W
Entscheidungen zukünftig
den Maschinen
überlassen?
Ja, klar. Dazu noch ein einfaches anschau-
liches Beispiel aus dem bunten Blumen-
strauß der Zukunft jenseits der Medizin:
 442 G. Axmann
Mobilität. In nicht allzu ferner Zukunft
21 werden wir uns mit autonom oder semi-
autonom fahrenden Vehikeln von A nach B
bewegen. Wird es in der Entwicklungsphase
zu Unfällen kommen? Selbstverständlich,
doch die gibt es ja ohnehin. Nur, dass bisher
jeder Unfall in der Regel maximal zu einem
Lerneffekt bei den wenigen involvierten In-
dividuen führen konnte. Oder maximal in
Form regulatorischer Panikreaktionen in
allgemeinen statischen und generischen Vor-
schriften mündete.
Trifft das autonome Fahrzeug eine Fehl-
entscheidung, lernt das gesamte System.
Und selbst wenn alle Menschen aus dem
Fehler „Unfall unter Alkoholeinfluss“ ler-
nen könnten, heißt das bisher noch lange
nicht, dass diese Erkenntnis flächendeckend
umgesetzt wird. Irren ist und bleibt rein
menschlich. Fazit: Genauso wie ein auto-
nomes Fahrzeug zur emotionalen Stabili-
sierung keine Rauschmittel einsetzen muss,
lässt sich weder der chirurgische Roboter
vom Parfüm der attraktiven Anästhesistin
während der OP ablenken, noch wird der
ins Grillen verliebte Ernährungsberater den
digitalen Kollegen hinsichtlich objektiver
Ernährungsempfehlungen übertreffen kön-
nen. Wenn es um rationale Entscheidungen
geht, die eine Menge von Daten als Grund-
lage haben sollten, wird die künstliche In-
telligenz die humane sinnvoll ergänzen und
bereichern.
21.3.2  erden wir alle wichtigen
W nicht. Laut einer veröffentlichten Studie im
Entscheidungen den
Maschinen überlassen
(wollen)?
Selbstverständlich nein. Die Algorithmen
werden uns Routineaufgaben, Datenana-
lyse, Prozessmonitoring und Options-
abwägungen abnehmen. Intuition, Kreativi-
tät und Empathie bleiben aber unsere
humane Kernkompetenz. Analog der Sym-
biose mit unseren Freunden des Mikrobioms
werden Mensch und Maschine gemeinsam
eine noch kraftvollere Wirkung entfalten.
Während wir in den vorangegangenen Jahr-
hunderten an den allwissenden Gott nur ge-
glaubt haben, wurde er im 21. Jahrhundert
tatsächlich programmiert. Mit dem all-
wissenden Internet wurde ein Wissensraum
geschaffen, der nahezu sämtliche irdische
Erkenntnis jederzeit abrufbar und verfüg-
bar hält. Für jeden jederzeit. Kein langes
Beten und Betteln, um an den Kenntnissen
und Weisheiten aller Menschen aller Zeiten
und der schlauesten Maschinen teilhaben zu
können. Diese Entwicklung wird durch die
Konvergenz von so vielen Technologien so
dramatisch beschleunigt, dass wir im Zu-
sammenwachsen von menschlicher und
künstlicher Intelligenz die nächste Stufe der
Evolution erkennen können. Mithilfe der
Maschinen können wir Ärzte uns wieder
wie Dr. Schulz in Accis Geschichte mit den
echten Problemen unserer Mitmenschen be-
schäftigen, indem wir Bürokratie, Statistik,
Datenwälzen und Wissensintegration ganz
entspannt an unsere digitalen Avatare de-
legieren. Wollen wir das nicht?
21.3.3 Bringt der „gläserne
Patient“ nicht beachtliche
Risiken?
Ja, sicher. Doch bei dieser Frage schwingt
immer mit, dass unser jetziges System aus-
gereift und schützenswert wäre. Ist es aber
Britischen Ärzteblatt sterben allein in den
USA jährlich geschätzte 250.000 Menschen
an einer iatrogenen Todesursache (Makary
und Daniel 2016). Damit bekäme „Tod durch
ärztlichen Irrtum“ nach Herzerkrankungen
(611.000) und Krebs (585.000) auf Platz 3 der
häufigsten Todesursachen.
Hinzu kommen unzählige Fehl-
diagnosen, die zum einen in der Regel eine
falsche Therapie mit den entsprechenden
Kollateralschäden bedingen und zum ande-
Digitalisierung und Anti-Aging Medizin
ren die angemessene Therapie entsprechend
verzögern. Das menschliche ärztliche Ge-
hirn kann sich keine 10.000 Krankheits-
bilder mit über 12.000 Symptomen merken
und schon gar nicht regelmäßig aktualisie-
ren. KIs im Bereich Anamnese-Erhebung
und Diagnose-Unterstützung werden in we-
nigen Jahren zum Standard der ärztlichen
Praxis gehören wie heute die Nutzung von
Internet-basierten Suchmaschinen.
In den Fällen einer korrekten Diag-
nose wird bei weitem nicht immer die beste
Therapieoption gewählt, da diese maßgeb-
lich vom Wissensstand des verantwortlichen
Arztes abhängt. Da sowohl Fortschritt,
Wissenszuwachs und Spezialisierung als
auch Zeitdruck in Praxis und Klinik im-
mens zunehmen, befinden sich nahezu alle
Ärzte in dem tagtäglichen Dilemma, wie
sie ihren Patienten die beste Therapie an-
bieten können. Daten und Algorithmen in
Form von digitalen kognitiven Assistenten
wie Xia in Accis Samstagmorgengeschichte
werden Arzt und Patient bei Auswahl, Do-
kumentation, Monitoring und Optimierung
der Therapieoptionen allzeit hilfsbereit und
freundlich zur Seite stehen.
Ohne die beschriebene Digitalisierung
wird schon die moderne personalisierte
Medizin immer mehr zur „Mission Im-
possible“. Von der beschriebenen daten-
getriebenen Präventivmedizin ganz zu
schweigen. In anderen Worten: Der dar-
gestellte Nutzen durch die Unterstützung
von datengetriebenen Algorithmen wird
in den kommenden Jahren so überdeut-
lich spürbar werden, dass die Risiken
eines Datenmissbrauchs und die aktuelle
(nahezu ausschließlich) deutsche Dis-
kussion um den Datenschutz lächerlich
überzogen wirken.
Im Gegenteil: Ohne Daten wird der
Übergang in eine digitalen Zukunftsmedizin
nicht gelingen. Mit vielen unangenehmen
Folgen für Volksgesundheit und Volkswirt-
schaft. Laut dem Digital Health Index der
Bertelsmann Stiftung (Thiel et al. 2019) be-
legt Deutschland innerhalb Europas nur
443 21
Platz 16, knapp vor Polen (Platz 17). Ins-
gesamt liegt Europa in puncto Erfolgsfaktor
Datenverfügbarkeit wiederum Lichtjahre
hinter den USA und Asien (hier besonders
China, Korea und Japan).
Digital-Health-Index
In der Vergleichsstudie #SmartHealth-
Systems wurden die Digitalisierungsfort-
schritte im Gesundheitswesen von 16 Län-
dern sowie von Deutschland analysiert.
Grundlage für den Digital-Health-Index
sind insgesamt 34 Indikatoren aus drei
Themenbereichen: 1) „Policy-Aktivität“,
das politisch strategische Vorgehen, der
gegebene Rechtsrahmen, die institutio-
nelle Verankerung und Zuständigkeiten;
2) „Digital-Health-Readiness“, die tech-
nische Implementierung sowie der di-
gitale Reifegrad und 3) die tatsächliche
Datennutzung und der vernetzte Aus-
tausch von Gesundheitsdaten.
Ohne Daten keine Algorithmen. Ohne Al-
gorithmen keine Investitionen. Ohne In-
vestitionen kein Fortschritt. Ohne Fort-
schritt keine (Volks-)Wirtschaft. Ohne
Wirtschaft keine Steuern. Ohne Steuern
keine Gesundheit. Daher: Für eine gesunde
Gesundheit brauchen wir gute Daten, so
schnell wie möglich. Selbstverständlich
brauchen wir zudem die besten Cyber-
security-Technologien, um die sensiblen
Gesundheitsdaten maximal sicher sammeln,
speichern, verarbeiten und interpretieren zu
können.
21.4  hese 3: Als nächste
T
Evolutionsstufe wachsen
Mensch und Maschine
zusammen
Während der Computer der 1950er noch
eine komplette 2-Zimmer-Wohnung füllte,
schrumpfte der Personal Computer (PC)
 444 G. Axmann

bereits auf die Größe eines Nachtschrankes Brain-Machine-Interface

21 und wurde schließlich als Laptop oder Ein Brain-Machine-Interface (BMI) ist
Notebook immer mobiler. Heute kann eine spezielle Mensch-Maschine-
jedes Smartphone dramatisch mehr als Schnittstelle, die ohne Aktivierung des
die Apollo-11-Rakete inklusive Houstons peripheren Nervensystems, wie z. B. die
Rechenzentrum, die Neil und Edwin auf Nutzung der Extremitäten, eine Ver-
den Mond und zurück zur Erde brachten. bindung zwischen dem Gehirn und
Nach dem Mobiltelefon haben sogenannte einem Computer ermöglicht. Dazu wird
„Wearables“ Handgelenke, Finger und entweder die elektrische Aktivität auf-
diverse andere Körperregionen erobert. gezeichnet (nichtinvasiv meistens mit-
„Digimeds“ schicken Sensorik in den Ma- tels EEG oder invasiv mittels im-
gen-Darm-Trakt. Und „Implantables“ wie plantierter Elektroden) oder die
zunächst schlichte Herzschrittmacher und hämodynamische Aktivität des Gehirns
künstliche Hüftgelenke bekommen immer gemessen (mittels fMRI oder NIRS)
neue Features. So lassen sich mit Chips in und mithilfe von Rechnern analysiert
der Hand Einkäufe bezahlen oder mit inte- (Mustererkennung) und in Steuersignale
grierten Kameras Farben hören oder Infra- umgewandelt.
rotfrequenzen sehen.
Vom Silicon Valley in den USA bis zum
Technologie-Hub Shenzhen in China arbei-
Bis wir das Internet direkt mit unserem Ge-
ten Entrepreneure, Ingenieure, Bioniker,
hirn verbinden können, werden wir uns vir-
Robotiker, Datenwissenschaftler, Neurobio-
tuelle Information direkt in unser Sehfeld
logen, Hirnchirurgen und Programmierer
integrieren. Man spricht von „Augmented
mit Hochdruck an der direkten Verbindung
Reality“ und in der vollvirtuellen Version
von unseren Gehirnen mit den Maschinen,
von „Virtual Reality“. Das hat sehr viele
sogenannten Brain-Machine-Interfaces
Vorteile, wie z. B.: Der Chirurg muss nicht
(BMI). Damit müssten wir Informationen
mehr im örtlichen OP stehen oder kann
nicht mehr vom Monitor per Nervus Opti-
sich relevante Information (Gefäßverläufe,
cus oder durch Lautsprecher via Hörnerv
Tumoraufnahmen, OP-Techniken, Vital-
empfangen, um dann über lange motori-
daten etc.) in sein Sichtfeld einblenden, der
sche Nerven und ungeschickte Finger eine
Patient kann die Koloskopie in einem Aus-
relevante Antwort zu formulieren. Diesen
flug in den eigenen Darm direkt erleben,
mühsamen, umständlichen und damit lang-
oder wir werden auf den Straßen nicht mehr
samen Kommunikationsprozess werden wir
mit den tippenden Smartphone-Zombies
mithilfe von Technologie verkürzen und ver-
zusammenstoßen.
bessern.
Digitalisierung und Anti-Aging Medizin
Virtuelle Realität
Als virtuelle Realität, kurz VR, wird die
Darstellung und gleichzeitige Wahr-
nehmung der Wirklichkeit und ihrer phy-
sikalischen Eigenschaften in einer in Echt-
zeit computergenerierten, interaktiven
virtuellen Umgebung bezeichnet. Eine
Vermischung der virtuellen Realität und
der physischen Realität wird gemischte
Realität (engl. Mixed Reality, auch Aug-
mented Reality) genannt.
Und bevor wir uns perspektivisch die ge-
wünschten Organe und Körperteile aus-
drucken und einbauen lassen können, wer-
den in einem Zwischenschritt sogenannte
„Exoskelette“ unsere physische Leistungs-
fähigkeit verbessern. So können wir schwe-
rere Lasten tragen, länger laufen, weiter
springen oder diverse Werkzeuge gleich-
zeitig bedienen. Krücken, Rollstühle und
Rollatoren werden zunehmend durch Exo-
skelette ersetzt und irgendwann ganz der
Vergangenheit angehören (Elouarzi und
Brahim 2018; Gorgey 2018).
21.5  as hat diese Ausprägung
W Organsysteme ausfallen oder durch neue
der Digitalisierung mit Anti-
Aging-Medizin und
Präventivmedizin zu tun?
Ganz einfach: So wie sich die gesamte Medi-
zin zukünftig durch die bereits beschriebene
Digitalisierung von „Sickcare“ zu „Health-
care“ wandelt und damit präventiv wird (s.
These 1), werden wir dank der Digitalisie-
rung nicht mehr nur einen eingetretenen
Funktionsverlust mithilfe von Technologie
(z. B. Herzschrittmacher, Prothese, Roll-
stuhl etc.) kompensieren, sondern wir wer-
den die Spezies Homo Sapiens konstruktiv
weiterentwickeln und sukzessive upgraden.
Einige Autoren, darunter immer mehr
Transhumanisten, nutzen kontroverse Be-
445 21
griffe wie „Superhumans“ und „Homo Sa-
piens 2.0“.
Superhumans
The term superhuman refers to humans
or human-like lifeforms with enhanced
qualities and abilities that exceed those
naturally found in humans. These qua-
lities may be acquired through natural
ability, self-actualization or technological
aids. The related concept of a super race
refers to an entire category of beings with
the same or varying superhuman charac-
teristics, created from present-day human
beings by deploying various means such
as eugenics, euthenics, genetic enginee-
ring, nanotechnology, and/or brain-com-
puter interfacing to accelerate the process
of human evolution.
In der Cyborgologie geht es schlichtweg
um die Integration von Neuro-Implantaten
zum Erhalt und zur Erweiterung kogni-
tiver Möglichkeiten und den Austausch
biologischer Organe und Systeme durch
leistungsfähigere technische Alternativen.
In anderen Worten: den technologischen
Beitrag zum Thema Anti-Aging. Wenn
leistungsoptimierte Alternativen ersetzt
oder um diese ergänzt werden können, spre-
chen wir perspektivisch vermutlich weni-
ger vom Anti-Aging, sondern beziehen uns
möglicherweise nur noch auf eine Versionie-
rung, wie bei Software oder anderen techni-
schen Geräten (iPhone 11, Golf 7, Windows
10). Im Sinne eines kontinuierlichen agilen
Iterations- und Optimierungsprozesses
werden auch unsere Organe, Zellen, Gene,
Proteine ähnlich den Geräten nicht mehr
„altern“, sondern lediglich in regelmäßigen
Abständen durch eine neue Entwicklungs-
generation aktualisiert. Das durch die Digi-
talisierung ermöglichte Zusammenwachsen
von Mensch und Maschine ist daher ge-
nuin präventiv, regenerativ und vermutlich
 446 G. Axmann
die konsequenteste Weiterentwicklung des
21 Anti-Aging-Ansatzes.
>>In der Vergangenheit war die Evolution
im Wesentlichen mutationsgetrieben und
linear, seit der Digitalisierung verläuft
sie technologiegetrieben und ex-
ponentiell. Mensch und Maschine ver-
schmelzen zukünftig immer stärker mit-
einander und bilden die nächste Iteration
der Evolution.
21.6  ann wird der Mensch zum
W werden.
Cyborg?
Das ist vermutlich lediglich eine Frage der
Gewöhnung. In Deutschland tragen 63,5
% (40,1 Millionen) der Erwachsenen eine
Brille (IfD Allensbach, 2015) und würden
sich damit vermutlich nicht als Cyborg
fühlen. Auch eine Kombination aus Brille,
Hörgerät, Herzschrittmacher, drei Stents,
Insulinpumpe und zwei künstlichen Hüften
betrachten wir ab einem gewissen Alter als
völlig normal für einen geriatrischen Patien-
ten. Hinzu kommt häufig eine komplette
Menükarte an pharmakologischen Inter-
ventionen und regelmäßigen technischen
Unterstützungsleistungen, wie z. B. die
extrakorporale Blutreinigung (Dialyse) und
Stimulierungen des Immunsystems durch
Impfungen. Viele tagtägliche Technologien,
die das Leben der Menschen verbessern (sol-
len).
In anderen Worten: Wir sind schon
sehr lange Cyborgs, nutzen verschiedenste
technische Hilfsmittel am, auf und im
Körper. Diese Hilfsmittel werden jedoch
in Zukunft durch die Digitalisierung und
Vernetzung so intelligent werden, dass
wir zum einen genetische, anatomische,
physiologische, neurologische, kognitive,
immunologische Defizite immer bes-
ser werden kompensieren und zum an-
deren sehr bald gewünschte physische
und mentale Fähigkeiten und Leistungs-
erweiterungen hinzufügen können.
Cyborg
Der Begriff Cyborg bezeichnet ein
Mischwesen aus lebendigem Organis-
mus und Maschine. Zumeist werden
damit Menschen beschrieben, deren
Körper dauerhaft durch künstliche Bau-
teile ergänzt werden. Der Name ist ein
Akronym, abgeleitet vom englischen
„cybernetic organism“ („kybernetischer
Organismus“). Da Cyborgs technisch
veränderte biologische Lebensformen
sind, sollten sie nicht mit Androiden
oder anderen Robotern verwechselt
Wenn künstliche und menschliche Intelli-
genz zusammenfinden, wird das eine sehr
mächtige Kombination. Die direkte Synapse
zum Internet schafft Allwissenheit. Neue
körpereigene Organe aus dem 3-D-Drucker
erfordern keine Immunsuppression. Nano-
robots werden in unseren Blutgefäßen pa-
trouillieren, um das Immunsystem gezielt
zu unterstützen, und Genscheren können
Defekte in der DNA gezielt reparieren. Die
kontinuierliche Analyse von unzähligen Bio-
markern aus sämtlichen Körperflüssigkeiten
und -gasen bilden Feedback-Loops, die Re-
paratur und Leistungssteigerung stetig wei-
ter verbessern.
Wenn wir noch etwas genauer hin-
schauen, so ist das Programm aus vier Basen-
paaren unserer DNA als Grundlage unserer
Physiologie dem Software-Code als Grund-
lage unserer technischen Errungenschaften
frappierend ähnlich. Wir können die DNA
als „Code of Life“ bezeichnen, den wir lesen
und in Zukunft auch immer besser schreiben
bzw. verändern können. Wer Krankheiten
ernsthaft frühzeitig verhindern will, wird
sich sehr aktiv mit dem Thema „Gene Edit-
ing“ auseinandersetzen müssen.
Die Verschachtelungen der vielen bio-
chemischen Gleichgewichte ähneln Regeln
und Befehlen, nach denen unsere Apps funk-
tionieren. Den Lernmechanismus der künst-
lichen Intelligenz haben wir unserer neuro-
Digitalisierung und Anti-Aging Medizin
nalen Vernetzung nachempfunden, und das
iterative Erkennen von Mustern (Machine
Learning) gleicht dem menschlichen Trai-
nings- und Lernprozess. Bereits im Jahr
1997 schlug die künstliche Intelligenz „Deep
Blue“ den Schachweltmeister Gary Ka-
sparov. Gut 20 Jahre später, im Jahr 2016,
schlug der selbsttrainierende Algorithmus
„AlphaGo“ einen der weltbesten Go-Spie-
ler. Kurze Zeit später, im April 2019, schlägt
das Team aus fünf künstlichen Intelligen-
zen „OpenAI 5“ das weltbeste menschliche
Team in dem Computerspiel Dota 2. Und
im Juli 2019 gewinnt der Poker Bot „Plu-
ribus“ erstmals gegen fünf der weltbesten
Pokerspieler (Brown und Sandholm 2019).
Der scheinbare Unterschied, dass die
Maschine noch mit Elektrizität und die
menschlichen Zellen mit Kohlenhydraten
befeuert werden, schmilzt spätestens
dann dahin, wenn das Sonnenlicht als ge-
meinsame Energiequelle identifiziert wird.
Die Maschinen nutzen entweder alte Pflan-
zen in Form von Öl, Benzin, Gas (oder zu-
nehmend direkt in Form der Photovoltaik),
und wir essen frische Pflanzen – direkt oder
indirekt über den Verzehr von tierischen
Pflanzenfressern.
21.7  ird der neue Mensch dann
W darstellen könnte. Aktuell scheinen die recht
unsterblich?
Schwierige Frage – das wäre der ultimative
Anti-Aging-Durchbruch sozusagen. Ver-
mutlich ist es evolutionär noch zu früh, um
diese Frage glaubwürdig zu beantworten.
Während das Thema Unsterblichkeit in
den letzten Jahrhunderten ein rein philo-
sophisches, mystisches oder religiöses
Thema war, widmen sich heute zumindest
mehr und mehr durchaus sehr ernstzu-
nehmende Wissenschaftler, Forscher, Unter-
nehmer und Investoren diesem spannenden
Thema. Tendenz steigend. Aufgrund der
enormen technischen Entwicklungen in
den vielen Laboren weltweit besteht die be-
rechtigte Vermutung, dass das Altern und
447 21
in der finalen Konsequenz der Tod nicht so
selbstverständlich sein müssten, wie wir alle
bisher angenommen haben.
Allein die Tatsache, dass bisher jeder uns
bekannte Mensch irgendwann verstorben
ist, wird unweigerlich als Beweis verstanden,
dass es keinesfalls anders sein könne. Die Phä-
nomene jeder Epoche wirken auf die jeweils
Anwesenden stets recht absolut. So war für
Galileos Zeitgenossen ein heliozentrisches
Weltbild, bei dem sich die Planeten um die
Sonne drehen, absolut unvorstellbar. Auch
Pest und Tuberkulose schienen unbesiegbar
und forderten Millionen von Toten seinerzeit.
Heute sterben bei schlimmsten Epidemien,
wie z.B. Ebola, wenige Zehntausende, und
dies meistens nur, weil die lokale Gesundheits-
versorgung auf dem Stand des letzten Jahr-
hunderts stehengeblieben ist. Abgesehen von
den signifikanten dramatischen gesellschaft-
lichen Folgen der historisch bisher einmaligen
weltweiten politischen Lockdown-Maßnah-
men anläßlich der “Corona-Pandemie” in den
Jahren 2020 und 2021 wird erst die langfristige
Analyse der Übersterblickeitsstatistiken zei-
gen, ob diese Pandemie rein medizinisch-epi-
demiologisch in der langfristigen Perspektive
eine historische Besonderheit darstellen wird
und gegebenenfalls eine Trendwende in der
direkten Letalität von Infektionskrankheiten
stabile Letalitätsrate und die rasante Ent-
wicklung von zum Teil sehr innovativen und
effektiven Impfstoffen, die These der zu-
künftigen Beherrschbarkeit von Infektions-
krankheiten aus medizinischer Perspektive
eher zu stützen. Was natürlich nicht bedeutet,
dass Politik auch zukünftig fatale gesellschaft-
liche Konsequenzen trotz medizinischer Be-
herrschbarkeit aufgrund von gesellschaft-
lichen Güterabwägungen produzieren kann.
Wenn die oben beschriebenen Metho-
den der kontinuierlichen Erneuerung und
Verjüngung nicht greifen, bieten vielleicht
(irgendwann) zwei extreme digitale Visionen
einen Ausweg zur menschlichen Unsterblich-
keit: Im Ansatz der „Virtual Immortaliy“ wird
versucht, einen lebensechten virtuellen Avatar
 448 G. Axmann
einer Person zu Lebzeiten so zu trainieren,
21 dass dieser das Leben seines Originals nach
dessen Tod post mortem virtuell fortsetzen
kann. Beim „Mind Uploading“ wird davon
ausgegangen, dass die menschliche Identität
letztlich nur Information ist, die sich über Ge-
schichten, Inhalte, Erlebnisse, Gedanken und
Gefühle entwickelt hat. Wenn dem so ist, sollte
es eines Tages möglich sein, diese Informa-
tion nicht nur auf der biologischen Festplatte
Gehirn zu speichern, sondern diese von dort
auf verschiedenste andere Speichermedien zu
übertragen. Gelänge dieses Backup, so ließe
sich unsere Identität auf einen neuen bio-
logischen oder technischen Träger überspielen,
ähnlich dem Wechsel von einem Smartphone
zum Gerät der nächsten Generation. Ein-
fach einschalten und alle vorhandenen Daten,
Apps, Einstellungen sind sofort wieder nutz-
bar. Cool?
Wenn unsere Biologie scheinbar nicht
grundsätzlich gegen ein Leben ohne Altern
spricht und wir den genetischen Code of Life
(DNA) neuerdings per Crispr & Co immer
besser verändern können, bleiben nur physio-
logische Ursachen, sprich, technische Gründe,
die uns von einem Leben ohne Altern und letzt-
lich der Unsterblichkeit trennen. Im Gegen-
satz zur linearen evolutionären Entwicklung
per Generationswechseln entwickelt sich der
technische Fortschritt exponentiell, sodass wir
die große Frage nach der Unsterblichkeit in
den kommenden 10–20 Jahren sicher sehr viel
genauer werden beantworten können.
CRISPR/Cas-System
Molekularbiologische Methode, um
DNA gezielt zu schneiden und zu ver-
ändern. Damit können einzelne
DNA-Bausteine eingefügt, entfernt
oder ausgeschaltet werden. Das Ver-
fahren funktioniert grundsätzlich bei
allen Organismen. Es wird auch in der
Tier- und Pflanzenzüchtung und in der
Biotechnologie eingesetzt.
21.8 Fazit
21.8.1 Persönlich: Was kann die
Digitalisierung der (Anti-
Aging-)Medizin für mein
Leben bedeuten?
In drei Worten: Klarheit und Gewissheit.
Wie in Accis Geschichte geschildert, bin
ich über den Dreiklang der Digitalisierung
Sensoren – Daten – Künstliche Intelligenz
endlich in der Lage, meine ganz persön-
liche Präventivstrategie umzusetzen. Ich
muss weder länger mit allgemeinen und
sich häufig widersprechenden Gesundheits-
empfehlungen herumdoktern noch auf ma-
nifeste Krankheiten als Feedbackmechanis-
mus auf einen gesundheitsschädlichen
Lebensstil warten.
Unter Berücksichtigung meiner Omics-
Daten kann ich ganz konkret alle relevan-
ten dynamischen Aspekte von Ernährung,
Supplementierung, Sport, Stimmung, Sex,
Erholung, Schlaf und Meditation auf die
tatsächlichen physischen und psychischen
gesundheitlichen Auswirkungen kontinuier-
lich überprüfen und entsprechend opti-
mieren. Neben dem direkten Effekt einer
systematischen Optimierung der täglichen
gesundheitlichen Entscheidungen schaffe
ich eine Datenbasis, die zum einen größere
Abwägungen versachlicht und zum ande-
ren im kontinuierlichen Abgleich mit dem
immer größer werdenden Pool an Real-
World-Daten meiner Mitmenschen weitere
Gesundheitsrisiken aufdecken und optimie-
ren kann.
Zusammengefasst sorgen die
kontinuierlich gewonnenen und mit-
hilfe von Künstlichen Intelligenzen aus-
gewerteten Gesundheits- und Lebensstil-
daten für Klarheit und Gewissheit in der
persönlichen Führung eines langen und
gesunden Lebens.
Digitalisierung und Anti-Aging Medizin
21.8.2 Beruflich: Welche Rolle
spielt der Arzt in der
digitalen (Anti-Aging-)
Medizin?
Vorab: Sämtliche Verdrängungsphobien
durch medizinische Roboter und Ent-
machtungsängste durch allwissende Künst-
liche Intelligenzen können wir der Einfach-
heit halber komplett vom Tisch fegen – genau
wie die meisten Schwarz-Weiß-Modelle und
Entweder-oder-Muster. Die angestaubte
und häufig undankbare Rolle des Arztes
wird sich sehr sicher sehr signifikant ver-
ändern. Wie eigentlich immer in der gesam-
ten Menschheitsgeschichte wird auch die
medizinische Zukunft besser, schöner und
bunter sein. Das Beispiel von Dr. Schulz in
unserer Eingangsgeschichte mag zeigen, wie
das aussehen könnte. Was nicht heißen soll,
dass es auch sehr ernste Nebenwirkungen,
Kollateralschäden und Risiken geben wird,
um die wir uns intensiv kümmern müssen
und werden!
Nun aber konkret zum Fall des
Anti-Aging-Mediziners: Bisher spielt die
ärztliche Anti-Aging-Medizin meist eine
untergeordnete Rolle. Sie ist in der Regel ein
Anhängsel einer dominierenden Spezialisie-
rung, sei es die Gynäkologie, die Urologie,
die Kardiologie, die ästhetische Dermato-
logie, die Orthopädie oder die Genetik. Es
gibt bisher nahezu keine reinen Präventions-
zentren und Anti-Aging-Kliniken jenseits
des etablierten Check-up- und Vorsorge-
marktes.
Dies liegt zum einen daran, dass die eta-
blierte Medizin bisher wenig bis gar nicht
präventiv aufgestellt ist und entsprechende
ärztliche Leistungen nur im dünnen Selbst-
zahlersegment erfolgreich praktiziert wer-
den können. Zum anderen wurde dieses
ärztliche Vakuum durch einen sehr hetero-
genen Markt an Leistungen von Heil-
praktikern, Ernährungsberatern, Physio-,
Psychotherapeuten, Lebens- und Gesund-
heitscoaches, Sport- und Fitnesstrainern
449 21
übernommen und ausgefüllt. Hinzu kommt
eine Fülle an Wellness- und Anti-Stress-An-
geboten über Massagen, Yoga, Mindfulness
etc.
In dieser stark vereinfachten Ge-
mengelage ergeben sich zwei relevante
Entwicklungen für Ärzte mit einem star-
ken Interesse an der Anti-Aging-Medizin/
Präventivmedizin:
1. Gemäß These 1 wird die Zukunfts-
medizin insgesamt präventiver. Das
heißt, der soeben beschriebene Weg einer
Zusatzspezialisierung neben einem
Primärfachgebiet wird an Fahrt gewin-
nen und über ein breiteres Leistungsan-
gebot die Nachfrage stärken. Dank des
geplanten „Digitalen Gesundheitsver-
sorgungsgesetzes“ unseres aktuellen
Gesundheitsministers Jens Spahn sind
Apps, Wearables, Implantables und
Künstliche Intelligenzen auf dem besten
Weg in die Verschreibungsfähigkeit, so-
dass zukünftig digitale Diagnostik und
Therapie auch im gesetzlichen Massen-
markt möglich sein werden. Digital affine
Ärzte – nahezu jeglicher Spezialisie-
rung – können so präventive Leistungen
anbieten und abrechnen. Dies kombi-
niert mit digitalen Assistenten in der
Anamnese (Beispiel Ada Health,
7 https://ada.com/de/), Auswahl der op-
timalen Therapie und Informations-
beschaffung zu spezifischen innovativen
Therapeutika (Beispiel Xircles, 7 https://
xircles.com/) und die telemedizinischen
Konsultationen der eigenen Patienten
wird die Rolle des präventiv interessier-
ten Arztes aufwerten und die tägliche
Arbeit entschlacken und auffrischen.
2. Die vermutlich noch spannendere
Chance der Digitalisierung liegt jedoch
in der Gewinnung zwei ganz neuer
Kundengruppen:
a. Wenn es der Anti-Aging-Medizin ge-
lingt, die beschriebenen Ansätze des
Biohackings für sich zu erkennen und
den datenbetriebenen und algorith-
musverliebten Konsumenten als
 450 G. Axmann
Kundschaft zu erschließen, beginnen
21 goldene Zeiten. Der sich verstärkende
Trend des Biohackings fasziniert
immer mehr, meist jüngere und (rela-
tiv) gesunde Menschen mit einer ent-
sprechenden Kaufkraft und
Experimentierfreudigkeit, die mit der
konventionellen Präventiv- und
Anti-Aging-Medizin bisher jedoch
nur sehr punktuell in Kontakt ge-
treten sind. Trotz (relativ) intelligenter
Apps und Gadgets braucht diese Ziel-
gruppe die ärztliche Kompetenz, die
verschiedenen Informationen und
Empfehlungen in eine klare Prä-
ventionsstrategie zu integrieren. So
werden die am Markt vertriebenen
Omics- und Vitaldaten-Analysen si-
cher immer besser, doch stellt die sinn-
volle, ganzheitliche Integration und
letztlich persönliche Interpretation
eine wachsende ärztliche Kompetenz-
lücke dar, die geschlossen und be-
friedigt werden will.
b. Neben der attraktiven Zielgruppe der
datenhungrigen und appsverwöhnten
20- bis 40-Jährigen sucht das Segment
der sozioökonomisch unabhängigen
50- bis 70-Jährigen mit neuen poten-
ziellen Anti-Aging-Therapien nach
ärztlicher Kompetenz, um Klarheit
der nächsten Schritte für ein maximal
langes und erfreuliches Leben zu er-
halten. Insbesondere in der globalen
Entwicklung von potenziell relevan-
ten Anti-Aging-Therapieoptionen mit
meist geringer Studienlage ist ärzt-
liche Expertise gefragt, die auf indivi-
dueller Datenbasis der Kunden/Pa-
tienten entsprechende Entscheidungen
trifft. Mittelfristig wird dieses neue
kaufkräftige Kundensegment die the-
rapeutischen Innovationen validieren
und über eine schrittweise Etablierung
in den Routinekatalog einer leistungs-
fähigen Präventivmedizin für den
Massenmarkt skalieren.
>>„Nichts geschieht ohne Risiko, aber
ohne Risiko geschieht nichts.“ (Walter
Scheel, 1974 bis 1979 vierter Bundes-
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org/wiki/Virtuelle_Realit%C3%A4t. Zugegriffen
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 453 22

Qualitätssicherung in der
Präventionsmedizin und
der Anti-Aging-Medizin
Josefa Schreiner-Hecheltjen

Inhaltsverzeichnis

22.1  edeutung und Auftrag der Präventionsmedizin- und

B
der Anti-Aging-Medizin als QM-Projekt – 455

22.2  ualitätsanspruch für die Ziele der Präventionsmedizin

Q
und der Anti-Aging-Medizin – 457

22.3  ualifikationsprofile der Präventionsmedizin und der

Q
Anti-Aging-Medizin – 458
22.3.1  odulares Netzwerk– 458
M
22.3.2 Präventions-Management-Programme PMPs – 459

22.4  rofil des Klienten und Patienten als

P
ärztliches QM-­Projekt – 460
22.4.1 S etting-Hintergrund – Ausgangsbasis für Präventions-QM – 460
22.4.2 Salutogenese aus QM-Sicht – 461
22.4.3 Präventionspass – ein QM-Dokument – 462

22.5  rofil des Arztes in der Präventionsmedizin und der

P
Anti-Aging-Medizin – 462
22.5.1  edizinische Qualität – 462
M
22.5.2 Ärztliche Qualifikation – 463
22.5.3 Qualifikation in Management und
Qualitätswissenschaft – 465
22.5.4 QM-Modell: Präventionsmedizinischer Patientenpfad – 466

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_22
22.6  egriffe und Ziele von Qualitätsmanagement und Quali-
B
tätssicherung aus der Qualitätswissenschaft – 467
22.6.1  ualität – 468
Q
22.6.2 Qualitätsmanagement – 468
22.6.3 Der Prozess im Managementverständnis – 469
22.6.4 Qualitätssicherung – 469
22.6.5 Der PDCA-Zyklus – 470

22.7  esswerkzeuge des Qualitätsmanagements und der

M
Qualitätssicherung – 470
22.7.1  ennzahlen – 470
K
22.7.2 Die „Q 7“ – 471
22.7.3 Das ISHIKAWA-Diagramm – 471
22.7.4 Die FMEA: Fehler-Möglichkeits-Einfluss-Analyse – 471
22.7.5 BSC – Balanced Scorecard-Analyse – 472
22.7.6 SWOT-Analyse – 472
22.7.7 CIRS – Critical Illness Reporting System – 472
22.7.8 Managementreview – 473
22.7.9 Peer Review – 473
22.7.10 Audits und Zertifizierung – 473

22.8 QM-Konzepte für die Präventionsmedizin – 473

22.8.1  M-Konzept KTQ – 474
Q
22.8.2 QM-Konzept TQM – 474
22.8.3 QM-Konzept E.F.Q.M. – European Foundation for Quality
Management – 474
22.8.4 QM-Konzept JCI – JCIA – JCAHO – 474
22.8.5 QM-Konzept EPA – Europäisches Praxisassessment – 475
22.8.6 QM-Konzept DIN EN ISO 9001:2015 – 475

Literatur – 477
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
22.1  edeutung und Auftrag der
B Die Prävention hat dabei das größte Poten-
Präventionsmedizin- und
der Anti-Aging-Medizin als
QM-Projekt
Präventionsmedizin ist individualisierte Me-
dizin.
Präventionsmedizin ist interdisziplinäre
Spitzenmedizin.
Präventionsmedizin hat hohe ärztliche
Fachkompetenz.
Präventionsmedizin hat hohe medizini-
sche Fachkompetenz.
Präventionsmedizin hat große gesund-
heitspolitische Verantwortung.
Präventionsmedizin hat große gesell-
schaftspolitische Bedeutung.
Das Theorem der Präventionsmedizin
und der Anti-Aging-Medizin:
„In Gesundheit älter werden mit akti-
ver Lebensgestaltung“ ist für die globalen
demografischen Entwicklungen eine gesund-
heitspolitische und gesundheitsökonomische
Kern-Aussage. Präventionsmedizinische Kon-
zepte sind in der Charta Ottawa seit 1986
als Empfehlung auf die Erwartungen für die
Gesundheit in der ganzen Welt formuliert
und von der WHO festgelegt (Baltes und Mit-
telsrass 1986; WHO 1986, 1998, 1999; Baltes
1994; Wilmoth 1998; Neofiodow 2002). Die
in jüngerer Zeit eingetretene gesundheits- und
gesellschaftspolitische Wende zur Prävention
bedeutet ein klares Bekenntnis zum Wert der
Ressource „Gesundheit“ im Lebensalltag.
Ein guter biologischer Gesundheitszustand ist
Voraussetzung für eine optimale persönliche
Entwicklung des Einzelnen und das soziale,
kulturelle und volkswirtschaftliche Bestehen
der Gesellschaft.
Die Gesundheitsleistungen unterliegen
innerhalb der Wertschöpfungskette im
Gesundheitswesen (Phase I: Prävention, Phase
II Intervention, Phase III: Rehabilitation
und Phase IV: Palliation) langsam – aber zu-
nehmend – einem Funktionswandel von der
reinen Gesundheitsversorgung zur Gesund-
heitsförderung (Schauder und Koch 2006).
455 22
zial, die Entstehung von Krankheiten zu ver-
hüten und ihre Heilungschancen nachhaltig
zu verbessern.
Das Entwicklungsprofil der Zivilisations-
krankheiten verdeutlicht, demografisch be-
wertet, ambivalent die gesundheitspolitische
Krisensituation für den Wert „Gesund-
heit“. Die aus dem Entwicklungsprofil der
Zivilisationserkrankungen resultierenden Kon-
sequenzen sind Zunahme von Multimorbidität
und Hospitalisierungen, höhere Intensität der
Therapie mit steigenden Kosten, chronische
kostenintensive Rehabilitationen (Grandjour
und Lauterbach 2003; Kaluza 2005).
Die Erfolge von Zivilisation und Medi-
zin liegen in der rasanten Zunahme hoher
Altersklassen mit der aktuellen Prognose
der Verdreifachung der über 80-jährigen
Menschen bis 2050.
Zivilisationskrankheiten und Alter be-
einflussen sich dabei in einem Circulus vi-
tiosus ambivalent negativ. Das Alter erhöht
über degenerative Prozesse die Disposition
für Zivilisationserkrankungen, und diese
beschleunigen wiederum die normalen bio-
logischen Alterungsprozesse. Nach dem
heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis-
stand haben eine Reihe von Zivilisations-
krankheiten und die normalen biologischen
Alterungsprozesse einen gemeinsamen patho-
physiologischen Nenner, das „Aging“, wissen-
schaftlich definiert als die Ablagerung von oxi-
dierten Abbauprodukten des Stoffwechsels,
den advanced glycation endproducts, genannt
„ages“, in Gefäßen und Organgeweben und
einer Fehlsteuerung der zellulären Abbau-
mechanismen, der Autophagie (Nobelpreis
2017) mit zellulärer Seneszenz. Die Namens-
gebung „Anti-Aging-Medizin“ benennt diese
Pathophysiologien. Die wissenschaftlichen
Hypothesen der molekularen Krankheits-
und der molekularen Altersforschung liegen
in einer verwandten Pathophysiologie. Der
Einfluss genetischer und molekularer Fakto-
ren zusammen mit dem Einfluss der Umwelt
und des Lebensstils auf die Entstehung, die
Variabilität und den Verlauf der Zivilisations-
 456 J. Schreiner-Hecheltjen

krankheiten ist kontinuierliche Forschungs- Gesundheitsfördernde Maßnahmen sind ein

thematik (Zglinicki und Saretzki 1995; Mar- ethisches Recht (Hoppe und Kunstmann
tin et al. 1996; Paul 2003; Huber und Klenze 2006). Prävention gilt aktuell und langfristig
22 2005). Die Biodemografen und die Chrono- als eine unabdingbare Investition in die Zu-
biologen erforschen die Biologie des Alters kunft des Gesundheitswesens, obwohl Kosten-
und des Alterns hinsichtlich potenziell zu sen- bilanzen der Prävention noch ambivalent be-
kenden Mortalitätsraten (Fauteck und Ku- wertet werden (Brandes und Walter 2008).
sztrich 2006; Fauteck 2017). Die zukünftige Perspektive des seit 2007 in
Präventionsmedizin und Anti-Aging-­Entwicklung stehenden Bundes-­Präventions-­
Medizin umfassen physiologisch wie patho- Gesetzes ist fortgesetzt ungeklärt (Rothgang
physiologisch ein Doppelziel in der Reduktion 2008).
von Zivilisationskrankheiten und der Ver- Im Rahmen der §§ 20 bis 26 SGBV enga-
langsamung der normalen Alterungsprozesse. gieren sich die Krankenkassen zunehmend
Die Fakten der Zivilisationskrankheiten und auf dem Gebiet der Verhütung und Früh-
die Demografie schreiben die Bedeutung und erkennung von Krankheiten. Das Spektrum
die Ziele für beide Medizin-Disziplinen fest für präventionsmedizinische Leistungen um-
(Pearson et al. 2005; NHI 2008; Huber 2004; fasst bei steigender genereller Kostenspirale
Huber und Buchacher 2005). neben den klassischen Angeboten der GKV
Unser Gesundheitssystem ist medizi- und differenzierten PKV-­ Leistungen zu-
nisch stark fehlgesteuert. Medizin und Poli- nehmend medizinisch definierte individuelle
tik sind gefordert. Die Fehlsteuerung besteht Gesundheitsleistungen (IGel) (Rosenbrock
in der vorwiegenden Programmierung der 1999; Zok und Schuldzinski 2005; Sleeboom
Heilung von Krankheiten und der Repara- 2004; Stuppardt 2005; Spitzenverbände der
tur von Krankheitsfolgen, nicht zuletzt be- Krankenkassen 2008). Auf dem Hinter-
einflusst von der rasanten Entwicklung der grund der realen medizinischen Palette
Medizin-Technologie, statt in der Beseitigung und der heutigen gesundheitspolitischen
von Krankheitsrisiken und der Verhinderung Rahmenbedingungen bedeutet Prävention:
von Krankheiten (Ambler und Dull 1987; 55 Ärztliche Tätigkeit mit hohem ethischen
Badura et al. 1999; Lauterbach und Stock Anspruch
2001; Schrappe 2004a, b; Booz et al. 2005; 55 Zugang präventionsmedizinischer Maß-
Lauterbach und Waller 2006). nahmen für alle Menschen
Der Schlüssel für eine erfolgreiche me- 55 Forderung nach hoher medizinischer
dizinische Reform liegt in der Prävention. Fachkompetenz
Die Präventionsmedizin eröffnet die Per- 55 Ärztliche Tätigkeit mit hohem Leis-
spektive, nicht als Vision, sondern als tungs- und Qualitätsanspruch
realisierbares Ziel, Prävalenz und Inzidenz 55 Mitgestaltung der gesundheits-
der Zivilisationskrankheiten zu reduzieren – politischen Zukunft
mit dem Erfolg, bei einem hohen Maß an 55 Mitgestaltung der gesellschafts-
Gesundheit und Lebensqualität alt zu wer- politischen Zukunft
den. 55 Ärztliche Tätigkeit mit aktuell intensiver
In der Resolution des Deutschen Bundes- öffentlicher Reputation
tages wurden seit 2003 verstärkte An- 55 Ärztliche Tätigkeit unter teilweise er-
strengungen in der Prävention (Hoppe und schwerten Voraussetzungen
Kunstmann 2006; Bundesregierung 2007) de- 55 Ärztliche Tätigkeit mit hoher Effizienz
klariert. Unabhängig von Kostenerwägungen und Effektivität
hat jeder Versicherte auch in der Prävention 55 Ärztliche Tätigkeit mit exzellenten
einen Anspruch auf für ihn ausreichende QM-Konzepten
Maßnahmen zum Erhalt seiner Gesundheit.
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
22.2  ualitätsanspruch für die
Q 12. Entwicklung von Präventionsstandards
Ziele der Präventionsmedizin
und der Anti-Aging-Medizin
Die Präventionsmedizin ist ein medizinisch
begründetes Kulturprogramm der Gesund-
heit und der Alterungsprozesse mit immanen-
ter gesellschaftspolitischer Bedeutung und re-
sultierendem Anspruch auf Spitzenmedizin.
Der QM-Anspruch für die Präventions-
medizin wurde 2004 im CKM (Centrum für
Krankenhaus-Management) von v. Eiff mit
den folgenden Thesen formuliert:
1. Intensivierung der Primär-Prävention
durch forcierte Ausschaltung definierter
Risikofaktoren für die Gesundheit
2. Intensivierung der Sekundär-Prävention
durch risikoarme Früherkennungs-
maßnahmen symptomloser Er-
krankungen und Integration primärer
Prävention
3. Intensivierung der Tertiär-Prävention
durch bedingte Integration primärer
Prävention
4. Wissenschaftliche Stärkung und Er-
weiterung der präventiv-­ medizinischen
Fachkompetenzen
5. Aus- und Weiterbildung hoch quali-
fizierter Präventionsmediziner
6. Entwicklung standardisierter Diagno-
se-Konzepte für die Prävention
7. Entwicklung standardisierter Be-
handlungs-Konzepte für die speziellen
Fach- und Teilbereiche
8. Untermauerung der Behandlungs-
konzepte mit Richtlinien, Leitlinien S1
bis S3 und Empfehlungen
9. Entwicklung interdisziplinärer Netz-
werke unter den Präventionsärzten
10. Einrichtung von Kompetenzzentren mit
universitärer Qualifikation als Mediator
und Katalysator koordinierter, ver-
netzter und qualitätsgesicherter Präven-
tionprogramme
11. Führung aller Präventionsprogramme
nach ökonomisch optimalen rationalen,
aber nicht rationalisierten Gesichts-
punkten
457 22
mit gezielter Ausrichtung für spezielle
Settings der Klienten und Patienten
13. Hohe Transparenz bei allen Präventions-
programmen
14. Gezielte Kommunikation unter den Ak-
teuren der Prävention
15. Gezielte Konzepte zur Erfolgskontrolle
präventionsmedizinischer Maßnahmen
16. Einrichtung einer (anonymen) Critical
Incident-Analyse, einer kreativen Auf-
arbeitung von Misserfolgen, einer
„Fehlerkultur“
17. Prävention als Bildungsthema für die
Gesellschaft – als Public-­Health-­Wert
18. Prävention als Humankapital
19. Darstellung der Vorteile erfolgreicher
Prävention
55 Erhalt von Lebensqualität
55 Reduktion von altersbedingter Ab-
hängigkeit
55 Längerer Erhalt von Erwerbstätig-
keit
55 Reduktion der Pflegebedürftigkeit
55 Beitrag zum Finanzierungserhalt
der Rentensysteme
55 Stärkung der Eigenverantwortung
für die Gesundheit
20. Einführung von Motivations-, Ansporn-
und Belohnungssystemen
in der Prävention
21. Entwicklung nachhaltiger Begeisterung
für die Prävention
22. Implementierung von Forschungs-
programmen in der Prävention
23. Steigerung der Evidence-­based-­Studien
in der Präventionsmedizin
24. Implementierung von soziologischen
und volkswirtschaftlichen
Forschungsprogrammen zur Prävention
25. Weiterführung der Präventionsmedizin
mit Qualitätsprofilen und
gesicherten Qualitätsergebnissen:
55 zur klaren Differenzierung gegen-
über präventionsmedizinischer
Pseudo-Wissenschaft
 458 J. Schreiner-Hecheltjen
55 zur zielführenden überzeugenden
Vorstellung von Präventions-
programmen
22 –– den Kosten-Trägern
–– der Politik
Diese 25 Thesen beschreiben die wachsende
ärztliche Verantwortung und den gesell-
schafts- und gesundheitspolitischen Auftrag
der Präventionsmedizin, ihren Zukunfts-
weg – nur nachhaltig erfolgreich mit hoher
medizinischer, ärztlicher und Qualitäts-
management-Kompetenz.
22.3 Qualifikationsprofile der
Präventionsmedizin und
der Anti-Aging-Medizin
Präventionsmedizin und Anti-Aging-­Medizin
sind gemeinsam eine interdisziplinäre Diszi-
plin, hervorgegangen aus einer großen Reihe
spezifischer medizinischer Einzelgebiete. Me-
dizinische Fach- und Sachgebiete, individueller
Behandlungsauftrag, relevante Einzelziele und
allgemeine Ziele sind vielschichtig mit der ge-
meinsamen Kernherausforderung:
>>Der einzelne, gesund alternde Mensch in
einer stabilen gesunden Gesellschaft.
Dies ist ein individuelles und ein allgemein-
gültiges Ziel im Sinne einer neuen und ganz-
heitlichen Werte-Dimension, wie von Engel-
städter 2007 formuliert. Werte und Ziele der
Präventionsmedizin – ideelle, gesellschafts-
politische und ökonomische – definieren
sich mit hohem Anspruch und hoher Forde-
rung nach Leistungsqualität. Das modulare
Netzwerk der Präventionsmedizin bedeutet
nachhaltige Wertschöpfung in Gesund-
heit, Lebensqualität und Kultur. Das in-
novativ und kreativ angelegte Konzept der
Präventionsmedizin braucht zur Sicherung
seiner Professionalität in allen Ebenen ein
zielführendes, national und international an-
erkanntes starkes Management-Konzept, um
55 Qualität zu schaffen,
55 Qualität zu halten,
55 Qualität nachhaltig weiterzuentwickeln.
22.3.1 Modulares Netzwerk
Mosaikartig setzt sich die interdiszipli-
näre fachübergreifende Disziplin der Prä-
vention im Gesamtkonzept zusammen
aus: Allgemeinmedizin, Innerer Medizin,
Kardiologie, Gastroenterologie, Diabe-
tologie, Endokrinologie, Gynäkologie
und Geburtshilfe, Orthopädie, Sport-
medizin, Physikalische Therapie, Radio-
logie, den Kopfkliniken für Augen, Zähne,
HNO, Dermatologie, Umweltmedizin und
Toxikologie, Orthomolekularmedizin,
Psychosomatik und Psychotherapie, für
die Grenzlebensalter Pädiatrie, Kinder-
und Jugendmedizin und Gerontologie und
zunehmend klinisch tätige Bereiche der
Molekularbiologie und der Forschung in
Genetik und Epigenetik. Die präventions-
medizinische Kompetenz dieses interdis-
ziplinären Netzwerkes erwächst aus dem
Fundus der einzelnen Fachdisziplinen. Sie
stellen gemeinsam mit ihren speziell fach-
gebundenen Kompetenzen die Grundlagen
dar für das Konzept eines großen modula-
ren Netzwerkes der Präventionsmedizin im
Sinne der These 14 nach v. Eiff (2004) mit
einer durch die große Anzahl von Einzel-
experten zusammengeführten Palette
höchster Medizinqualität, einer spitzen-
­
medizinischen Elite aus der Vielfalt für das
Gesundheitsspektrum des ganzen Men-
schen (. Abb. 22.1).
Ein solches visionäres modulares Mosaik
prämedizinischer Spitzenmedizin braucht
juristischen Hintergrund, privatrechtlich
und berufspolitisch, einen berufspolitischen
Fach- und Berufsverband wie die GSAAM
und klinisch-wissenschaftliche Experten-
gremien mit universitärer Verlinkung. Part-
ner für eine PR-Plattform sind die Kranken-
kassen, die Gesellschaft und die Politik.
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
459 22

(c)Grafik: DESIGNBÜRO
Uwe Mankel, Bochum

..      Abb. 22.1 Modulare interdisziplinäre Drehscheibe der Präventionsmedizin

Das große interdisziplinmäre NetzwerkManagement-­Programme „PMPs“ definiert

lässt sich, der Praxis angepasst, herunter-
und mit den verschiedenen speziellen Fach-
brechen in kleinere Modulnetzwerke und gesellschaften erarbeitet werden, ein Zu-
Einzelmodule, speziell regional oder mit kunftsziel, deren Architektur im Gegensatz
spezifisch führenden medizinischen The- zu den DMPs ergänzend die zeitliche und
men. persönliche Zuwendung zum Patienten ein
essentielles Qualitätsmaß der Behandlung
beinhaltet.
22.3.2 Präventions-Management- Optionen für PMPs sind:
Programme PMPs 55 PMP – Adipositas
55 PMP – Demenz
Analog zu den „DMPs“ (Disease-­55 PMP – Osteoporose
Management-­ Programmen) könnten in 55 PMP – Burn-out-Stressmedizin
Anlehnung an die 2004 von v. Eiff formu- 55 PMP – Kardiovaskuläre Krankheits-
lierten Thesen 6, 7 und 12 Präventions-­ bilder
 460 J. Schreiner-Hecheltjen
PMPs sind – in der QM-Nomenklatur als
Prozess – klar und exakt dokumentierbar.
Die Prozess-Dokumentation von PMPs
22 könnte allgemein folgendes Datenprofil um-
fassen:
55 Risikodaten
55 Medizinische Diagnosedaten
55 Daten zum Setting
55 Daten zur Compliance
55 Daten zur Kohärenz
55 Daten zum Lebensstil
55 Daten zu Behandlungsmaßnahmen
55 Daten zu Kontrollmaßnahmen
Strukturiert dokumentierte PMPs würden den
Wunsch und Sinn einer vereinheitlichten all-
gemeinen Dokumentationsstruktur und -kul-
tur für die Präventionsmedizin unterstützen.
Eine allgemein festgelegte Führung und Do-
kumentation von PMPs könnte multizentrisch
zum Gewinn wissenschaftlich auswertbarer
Daten mit klinischer Relevanz führen, eine
wichtige Zielsetzung für die Entwicklung der
Präventionsmedizin.
22.4  rofil des Klienten und
P 55 2. Ebene – Unterstützung und Beein-
Patienten als ärztliches
QM-­Projekt
Der Präventionspatient kommt in der Regel
im Gegensatz zu jenem aus der Reparatur-
medizin ohne Leidensdruck aus Eigen-
initiative oder auf Empfehlung aus seiner
aktuellen Lebenswelt mit vielen Fragen,
kritischer Haltung, Erwartungen, An-
sprüchen und großen Hoffnungen auf Er-
folg. Dabei sind Präventionsziele zum Ab-
bau von gesundheitlichen Risiken aus dem
Lebensalltag ohne Änderungen im persön-
lichen Lebensstil oft nicht zu verwirklichen.
An diesem Punkt seiner Lebensachse holt
der Arzt den Patienten ab. Positive Per-
spektiven bedeuten beiderseits differen-
zierte Arbeitskonzepte auf hoher gegen-
seitiger Vertrauensbasis, eine essentielle
Messlatte für die Qualitätssicherheit ärzt-
licher Präventionsarbeit. Die gemeinsame
Arbeitsplattform werden bestimmt vom
Setting-Hintergrund des Klienten bzw. Pa-
tienten (Ritter 1999) und seinem Zugang
zur Salutogenese im Sinne von Antonovsky
(1957) – im Qualitätsprofil des Klienten/
Patienten-Arzt-Verhältnisses zwei ziel-
führende Ressourcen-Quellen.
22.4.1 Setting-Hintergrund –
Ausgangsbasis für
Präventions-QM
Als Individuum im persönlichen Setting
stellt sich der Klient/Patient vor mit allen
Faktoren, die neben Alter, Geschlecht
und Erbanlagen seine Gesundheit beein-
flussen, in der Komplexität seines familiä-
ren, beruflichen, sozialen, kulturellen und
umweltbezogenen Hintergrundes. White-
head et al. (2001) haben diese Faktoren im
„Regenbogen-­ Modell“ in vier Ebenen zu-
sammengefasst:
55 1. Ebene – Persönliche Verhaltens- und
Lebensweisen
flussung durch soziales Umfeld
55 3. Ebene – Lebens- und Arbeits-
bedingungen
55 4. Ebene – Wirtschaftliche, kulturelle,
physische Umwelt
Das „Regenbogen-Modell“ von White-
head und Dahlgren veranschaulicht, wie
ausgeprägt Präventionsmedizin individu-
elle und personalisierte Medizin bedeutet.
Der Erfolg präventionsmedizinischer und
gesundheitsfördernder Ansätze wird umso
wahrscheinlicher, je mehr der von der WHO
wie von Badura, Ritter und Scherf bereits
1999 formulierte Setting- oder Lebenswelt-­
Ansatz Gegenstand der Interventionen
wird. Beispiele für die Repräsentanten
unterschiedlicher Settings sind Manager,
Lehrer, Transportfahrer, Schüler, berufs-
tätige Mutter, Hausfrauen, Künstler. Bezüg-
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
lich der Setting-Ansätze für Präventions-
und Gesundheitsförderungs-Angebote sind
langsam Unterstützungen der Kranken-
kassen auf der Basis § 20 ff, Absatz 1, SGBV
in Anlehnung an das Modell von Mieleck
und Janßen (2008) zur Klärung gesundheit-
licher Ungleichheit zu verzeichnen.
Der Setting-Hintergrund beeinflusst
neben anderen Individualfaktoren über
die Eigenschaften Compliance, Adhärenz,
Konkordanz und SDM in der Arzt-Klien-
ten-/Patienten- Beziehung als essentielle
Grundlagen die Nachhaltigkeit gesundheits-
fördernder Maßnahmen.
22.4.2 Salutogenese aus QM-Sicht
Antonovsky gibt jeder Seite, dem
Präventions-­Klienten-/Patienten wie dem
Präventionsarzt mit den einzelnen Kom-
ponenten der Kohärenz Aspekte im Sinne
von Qualitätswerkzeugen an die Hand,
unter welchen Voraussetzungen Gesund-
erhaltungsprozesse unterstützt werden kön-
nen.
Das Konzept der Salutogenese von An-
tonovsky beinhaltet eine starke präventions-
medizinische Führungslinie.
Die Pathogenese fragt nach den Gründen
und Ursachen von Krankheiten: „Warum
werden Menschen krank?“
Die Salutogenese fragt nach den Ursa-
chen und Gründen von Gesundheit: „Warum
bleiben Menschen gesund?“ „Warum werden
Menschen wieder gesund?“
Für Antonovsky ist die Gesundheit
kein normaler passiver Gleichgewichts-
zustand, keine Homöostase, sondern ein
labiles aktives und dynamisch sich regu-
lierendes Geschehen, eine Heterostase.
Gesundheit und Krankheit sind ein Teil
eines kontinuierlichen Prozesses mit den
Endpolen absolute Gesundheit und völ-
lige Krankheit. Der Mensch bewegt sich
dynamisch zwischen diesen Extremen mit
seiner persönlichen Ausstattung an Wider-
stands-Ressourcen und Schutzfaktoren,
461 22
aber auch mit der Last seiner persönlichen
gesundheitlichen Risikofaktoren als mess-
bares Potenzial einer Gratwanderung auf
seiner Lebensachse zwischen Gesundheit
und Krankheit. Erfolgversprechende Maß-
nahmen in der Prävention – von ihrer Pri-
mär- bis zur Tertiärphase – bedeutet oft
Änderung oder auch Verabschiedung von
gewohnten Lebensstilen, eine schwere Last
oft für die Betroffenen. Die Ausrichtung
und Umlenkung dieser Probleme des Prä-
ventions-Klienten/-Patienten in Richtung
Gesundheit auf seiner Lebensachse bedarf
neben einer guten Compliance ein gutes
Kohärenzgefühls.
Kohärenz – sense of coherence (SOC) –
bedeutet nach Young (2001) sowie Hommel
und Spranger (2009) mehr als das intellek-
tuelle Verständnis in Form der Compli-
ance. Kohärenz bedeutet die erlebbare und
lebbare Fähigkeit, Zusammenhänge und
Einfluss vorhandener und/oder erstrebens-
werter Kräfte und Ressourcen gesundheits-
nützlich und gesundheitsbringend zu nut-
zen. Diese sind:
1. Verstehbarkeit (sense of comprehensibi-
lity) – die bewusste sinnvolle, nach-
vollziehbare Ordnung der eigenen Bio-
grafie
2. Handhabbarkeit – Machbarkeit (sense of
manageability) – der feste Glaube,
Herausforderungen bewältigen zu kön-
nen
3. Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit (sense
of meaningfullness) – die Bewertung zu
bewältigender Dinge des Lebens als sinn-
voll
Die drei Faktoren der Kohärenz be-
treffen die Motivation, bestimmte, auch
schwierige Maßnahmen in Angriff zu
nehmen. Die Fähigkeit zur Kohärenz
kann für einen Präventions-Klienten/Pa-
tienten bedeuten, seinen Lebensstil wirk-
sam mit der Entdeckung und Akzeptanz
seiner eigenen gesundheitsfördernden
Ressourcen zu ändern: das essentielle
Ziel der Prävention mit der persönlichen
Zielplanung des Klienten und Patienten.
 462 J. Schreiner-Hecheltjen
22.4.3 Präventionspass – ein
QM-Dokument
22 Arzt und Klienten wie Patienten brau-
chen zum Erreichen der formulierten Ziele
Managementwerkzeuge, um
55 Erfolge zu erkennen,
55 positive Werte zu erkennen,
55 Ursachen für Maßnahmen zu erkennen,
55 Misserfolge zu erkennen.
Ein Konzept einer dokumentierten Weg-
begleitung im ärztlich empfohlenen Gesund-
heitsplan für den Klienten respektive Patienten
könnte die Führung eines Präventionspasses
sein – als persönlicher Gesundheits-Kompass
zur Navigation des Lebensstils in gesundheits-
fördernde Bahnen, mit der Eintragung relevan-
ter Daten zur Ausgangssituation, der empfoh-
lenen Maßnahmen und als Motivationsstütze
zeitlich definierter Ziele. Ein solcher Gesund-
heitskompass könnte als Erfolgstreiber den
Klienten/Patienten zum Manager für seine
eigene Gesundheit machen, ein Auftrag und
ein Grundsatzziel der Präventionsmedizin.
Die Variablenliste für einen Gesundheits-­
Kompass – medicolegal als verschlüsseltes
Dokument geführt – sollte im Entwurf fol-
gende Daten enthalten:
55 Basisdaten: Alter, Geschlecht, Gewicht,
Größe, Risikofaktoren, Relevante Labor-
werte
55 Spezielle Daten: Merkmale zum Setting,
Wissen und Verstehen von präventions-
medizinischen Chancen, Bereitschaft zur
Lebensstil-Änderung, mögliche PMPs –
in der QM-Nomenklatur als Prozess klar
und exakt dokumentiert –, Zeiteinsatz/
Woche für die Gesundheit
55 Maßnahmenplan: Labor- und andere
diagnostische Kontrollen, Änderung der
Ernährung, Sport, berufliches Umfeld,
Zeitbudgets
Der Präventionspass kann zum aussage-
relevanten Messinstrument einer prä-
ventionsmedizinischen Behandlung werden.
22.5  rofil des Arztes in der
P
Präventionsmedizin und
der Anti-Aging-Medizin
Für das Qualifikationsprofil des Prä-
ventionsarztes leiten sich an Qualifikationen
ab:
1. Medizinische Qualität
2. Ärztliche Qualität
3. Management-Qualität
22.5.1 Medizinische Qualität
Dem Leistungsprofil der Präventionsmedizin
angepasst, muss der Präventionsmediziner
über eine breit aufgestellte, interdiszipli-
när ausgerichtete, immer aktualisierte, der
kontinuierlichen Abnahme der Halbwerts-
zeiten des Fachwissens angepasste Fach-
kompetenz verfügen. Ein Z ­ ukunftsziel ist
der Facharzt für Präventionsmedizin.
Die medizinische Qualifikation basiert
auf fachspezifischen Richtlinien, Leit-
linien und Empfehlungen mit dem Stellen-
wert wertvoller Werkzeuge zur Qualitäts-
sicherung der ärztlichen Maßnahmen.
Richtlinien sind eine Handlungsvor-
schrift mit bindendem Charakter, festgelegt
von Fachgremien mit Richlinienkompetenz,
für die Medizin die Bundesärztekammer
BÄK.
Leitlinien sind vom Zentrum für
Qualität in der Medizin ÄZQ und der
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft-
lichen medizinischen Fachgesellschaften
AWMF bereits 2001 erarbeitete und
2007 im Leitlinien- Manual der AWMF
festgelegte, systematisch entwickelte,
wissenschaftlich begründete und praxis-
orientierte Entscheidungshilfen für die
Behandlung spezieller gesundheitlicher
Probleme. Leitlinien sind Orientierungs-
hilfen im Sinne von „Handlungs- und
Entscheidungs-­ Korridoren“, von denen
in begründeten Fällen abgewichen werden
kann oder muss.
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
463 22
Nach der AWMF sind aufsteigend drei 2. Grad B: „Sollte“ analog AHCPR II oder
Leitlinien-Stufen definiert, nach erheblichen III
Unterschieden ihrer Qualitätsziele und des 3. Grad C: „Kann“ analog AHCPR IV
notwendigen Entwicklungsaufwandes: 4. Grad „Good Clinical Practice“: ohne
55 S1: Von Expertengruppe im informellen Studien; klinischer Konsensus-­Punkt
Konsens erarbeitet
55 S2 k: Formale Konsensusfindung, for- Leitlinien sind kontinuierlich in fach-
male „Evidence“-Recherche kompetenter kritischer wissenschaftlicher,
55 S2 e: Systematische „Evidence“-Recher- klinischer und medicolegaler Überprüfung
che und Bearbeitung.
55 S3: Leitlinie mit allen Elementen syste- Empfehlungen sind meistens unverbind-
matischer Entwicklung liche Hilfen.
Off label use-Verordnungen sind indivi-
Die in einer Leitlinie bezogene Evidenz wird duell für einen bestimmten Klienten/Patien-
nach einer Klasseneinteilung differenziert. ten begründete Verordnungen eines Arznei-
Leitlinien sind Evidenzklassen zugeordnet, mittels außerhalb seiner behördlichen
wobei ein internationaler oder europäischer Zulassung und abseits des im Zulassungs-
Standard fehlt. bescheid genannten Therapiegebietes (Brog-
Die AHCPR (Agency for Health Care lie und Rasch 2009). Medicolegal müssen
Policy and Research) hat zur wissenschaft- off label- use -Verordnungen, individuell
lichen Absicherung für klinische Leitlinien exakt begründet, mit dem Klienten/Patien-
sechs Kategorien for Quality of Evidence ten abgestimmt und dokumentiert werden.
festgelegt (Field und Lohr 1992). In der Präventionsmedizin kommen häufig
55 Ia – eine Meta-Analyse, mehrere rando- off label use -Verordnungen zum Einsatz.
misierte kontrollierte
Studien
55 Ib – mindestens eine kontrollierte rando- 22.5.2 Ärztliche Qualifikation
misierte Studie
55 IIa – mindestens eine kontrollierte oder Patientensicherheit ist seit Hippokrates das
randomisierte Studie mit erste Gebot ärztlichen Handelns. Patienten-
gutem Studiendesign sicherheit bedeutet ärztliche Ethik. Qualitäts-
55 IIb – mindestens eine quasi-­sicherung im ärztlichen Handeln bedeutet
experimentelle Studie mit gutem ärztliche Ethik. Die Verpflichtung zur Quali-
Design tätssicherung ärztlicher Tätigkeit bedeutet
55 III – eine nicht experimentelle Ver- mehr als die flankierende Einhaltung von
gleichs-, Korrelations- oder Leitlinien und Gesetzen. Für jede ärztliche
Fall-Kontroll-Studie mit gutem Studien- Tätigkeit bedeutet die Kenntnis von Regeln
design des Qualitätsmanagements und der Qualitäts-
55 IV – publizierte Ergebnisse von sicherung und ihre Durchdringung im Praxis-
Konsensuskonferenzen mit alltag eine zwingende Grundlage für den medi-
Experten oder Meinungsträgern zinisch und ärztlich erreichbaren nachhaltigen
Erfolg. Ärztlicher Erfolg verlangt ärztliches
Das Deutsche Cochrane-Zentrum hat 2014 Wissen und Können und ebenso Professiona-
identische Evidenzklassen für klinische lität im Qualitätsmanagement.
Leitlinien mit auf den Evidenzklassen ba- Ärztliche Präventions-Kompetenz be-
sierten Behandlungsempfehlungen formu- deutet:
liert:
1. Grad A: „Soll“ analog AHCPR Ia, Ib 55 Fähigkeit zur Definition klarer Ziele
 464 J. Schreiner-Hecheltjen
55 Hohe Zeitbudgets für Patienten/Klien-
ten
55 Starke gegenseitige Vertrauensbildung
22 zwischen Arzt und Klient/Patient
55 Überzeugende Fähigkeit zur Klienten/
Patienten-Führung
55 Fähigkeit zur Schaffung von Be-
geisterung für die Prävention
55 Überzeugende Fähigkeit zur Schaffung
von Selbstvertrauen für die eigene
Gesundheit
55 Fähigkeit zur Motivation für diese Auf-
gabe
Ärztliche Präventionsqualifikation umfasst
nach ihren Aufgaben ausgerichtete mehr-
schichtige Dimensionen eines Arztes und
erfordert ein hohes Maß an ärztlicher Pro-
fession. In der vorbeugendenstatt in der ku-
rativen Medizin zu arbeiten beinhaltet die
Aufgabe, den ganzen Menschen zu erfassen,
in seinem gesamten Lebensbild zum Thema
Gesundheit, statt nur ein speziell erkranktes
Organ zu „reparieren“. Prävention bedeutet
für den Arzt, gesundheitliches Risiko-
bewusstsein zu vermitteln und Gesundheits-
monitoring zu implementieren. Er muss für
Gesundheit motivieren und begeistern kön-
nen. Diese Voraussetzungen betreffen sowohl
primäre als auch sekundär und tertiär be-
gleitende Präventionsmaßnahmen. Die Prä-
ventionsmedizin ist individualisierte und per-
sonalisierte Medizin und bedeutet „Zeit für
den Klienten/Patienten“. Das erforderliche
Zeitbudget in der Prävention – ein Qualitäts-
maß – ist ein wesentlicher Unterschied zur Re-
paratur-Medizin. Die ärztliche Qualifikation
der Präventionsmedizin umfasst den Arzt
in seinem ärztlich-­menschlichen Profil, sein
ethisches Fundament, seine Fähigkeiten, auf
Menschen zuzugehen, sie zu begleiten und
eine für beide Seiten starke Vertrauensbasis
aufzubauen und zu halten. Die Arzt-Klien-
ten/Patienten-Beziehung kann dabei durch
verschiedene Qualitätsmarker geprägt wer-
den. Diese sind:
a. Compliance bezeichnet nach Scherenberg
(2003) „Folgsamkeit“, die Bereitschaft
eines Klienten/Patienten, ärztliche An-
weisungen – z. B. Medikamenten-­
Einnahme, Diät – konsequent zu be-
folgen. Bei dieser Betrachtungsweise wird
dem Klienten/Patienten die alleinige Ver-
antwortung für den Behandlungserfolg
übertragen.
b. Non-Compliance bedeutet Nichterfüllung
vereinbarter Maßnahmen.
c. Intelligente Non-­Compliance bedeutet die
bewusste Missachtung tatsächlich fal-
scher oder nicht sinnvoller Maßnahmen-
anweisungen, z. B. ausbleibender Erfolg
oder starken Nebenwirkungen.
d. Adhärenz bezeichnet nach Reichelt
(2009) und Schmacke (2009) das Aus-
maß, in dem das Verhalten eines Klien-
ten/Patienten mit den mit dem Arzt
gemeinsam abgestimmten Behandlungs-
wegen und Zielen übereinstimmt. Der
Begriff beinhaltet ein verändertes Rollen-
verständnis, das eine partnerschaftliche
Verständigung über Art und Umfang
der Maßnahmen voraussetzt und dem
Klienten/Patienten eine aktive, eigen-
verantwortliche Rolle im Rahmen der
geplanten Maßnahmen zubilligt. Im
Gegensatz zu der in der Compliance
festgelegten asymmetrischen Klienten/
Patienten-Beziehung bedeutet die Ad-
härenz eine partnerschaftliche sym-
metrische Beziehung.
e. Konkordanz ist nach Härter et al. (2005)
und Burian (2008) eine noch engere
Übereinkunft zwischen Klient/Patient
und Arzt über die Art einer Behandlung,
deren wesentliches Element die aus-
drückliche Zustimmung des Klienten/
Patienten zu den ärztlichen Empfehlun-
gen ist.
f. Shared Decision Marking SDM – dis-
kutiert von Scheibler (2004) und von
Klemperer und Rosenwirth (2005) – ist ein
Modell der partnerschaftlichen Ent-
scheidungsfindung bei Arzt und Klient/
Patient, in einem intensiven Diskurs ge-
meinsamer Verantwortung im gegen-
seitigen Einvernehmen Behandlungswege
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
und Therapieziele zu definieren und ge-
meinsam zu vereinbaren. Im Rahmen der
partnerschaftlichen Entscheidungsfindung
kommt dem Arzt die Rolle eines Experten
für das Wissen zu, das er dem Klienten/Pa-
tienten in verständlicher Form darlegt.
Der Klient/Patient ist gleichwertiger Ex-
perte für die eigenen Präferenzen.
22.5.3 Qualifikation
in Management und
Qualitätswissenschaft
Der Präventionsarzt hat eine Doppel-
berufung: Er ist Arzt und Manager zu-
gleich.
Drucker (1992, 1996, 1998, 1999) und
Malik (2005a, b) formulieren für die ärzt-
liche Management-Kompetenz:
55 Fundierte qualitätswissenschaftliche
Kenntnisse
55 Umgesetztes Verantwortungsbewusst-
sein für Qualität
55 Die Organisation von praxisgerechten
Strukturen und Prozessen mit:
–– optimalen räumlichen Ressourcen
–– optimalen Kommunikationswegen:
Konsiliare, Telemedizin
–– optimalen Zeit-Ressourcen
–– zielgerichteten Informationsquellen
–– zielgerichteten Informationsvorgaben
–– klarem Ökonomieverhalten: Qualität
verursacht Kosten – Qualität spart
Kosten.
Drucker (2007) und Collins (2009) formu-
lieren sieben Prinzipien des Managements –
mit Gültigkeit gerade auch für den Arzt.
Die sieben Prinzipien des Manage-
ments
1. Im Mittelpunkt des Managements ste-
hen immer die Menschen mit ihren
Stärken und Schwächen, die einer ge-
meinsamen Leistung zugeführt werden.
465 22
2. Management-Funktion integriert Men-
schen verschiedenster Fähigkeiten, Ge-
schichte und Kultur in einer ge-
meinsamen Organisation.
3. Die wichtigste Aufgabe des Manage-
ments ist die deutliche Aufgaben-
stellung und klare Festlegung verbind-
licher Ziele und Werte einer
Organisation, bei deren Realisierung
vorbildlich vorzugehen, damit alle Mit-
arbeiter sich zu den gemeinsam fest-
gelegten Zielen bekennen.
4. Jedes Unternehmen muss sowohl eine
Lern- als auch eine Lehr-­Einrichtung
sein, mit der Chance für alle Beteiligten,
sich zu wandeln und zielführend weiter-
zuentwickeln.
5. Elementar ist eine gute
Kommunikationsstruktur nach intern
und extern mit für jeden Mitarbeiter
bekannten und festgelegten Trans-
parenzstufen.
6. Das Management braucht geeignete
Werkzeuge zur Messung aller Leistun-
gen. Nur eine operationale Bewertung
von Leistungen und Ergebnissen macht
eine kontinuierliche Verbesserung mög-
lich.
7. Das wichtigste Ergebnis eines erfolg-
reichen Managements ist ein zufriede-
ner Kunde bei guter Nachfrage und
gutem Output der angebotenen Leis-
tungen.
Die Prinzipien von Drucker formulieren im
Fazit:
>>Erfolgreiches Management führt ver-
schiedene Qualitäten zu einer Einheit zu-
sammen.
Neben hoher medizinischer und ärztlicher
Qualifikation und Management-­ Kompetenz
benötigt der erfolgreiche Präventions-­Arzt als
eine weitere Schlüssel-Qualifikation ein hohes
Maß an sozialer Kompetenz – nach von Eiff
(2000) die wichtigste Qualifikations-Dimension
 466 J. Schreiner-Hecheltjen

als Qualitätsbefähigung im Gesundheitswesen, in der Qualitätswissenschaft und Kom-

von Ruben (1991) und Menzel (1993) mit sie- petenzen für eine wertschöpfende Quali-
ben Dimensionen beschrieben: tätsarbeit in den Struktur- und Prozess-
22 55 Respekt modellen der Präventionsmedizin auf der
55 Interaktion Basis einer überzeugten und überzeugenden
55 Realistische Selbsteinschätzung des Wis- persönlichen Haltung mit hohem Qualitäts-
sens anspruch als Botschafter der Gesundheit:
55 Empathie 55 für das individuelle Gesundheits-
55 Rollenflexibilität programm seines Klienten/Patienten
55 Interaktionsmanagement 55 für das Gesamtprogramm der Prä-
55 Ambiguitätstoleranz ventionsmedizin

Soziale Kompetenz im Sinne von Malik Mit dem Leitbild: „Gemeinsam gestalten
(2001), von Eiff und Stumpf (2000) sowie und gemeinsam gewinnen an Gesundheit und
Kanning (2002) bedeutet: Lebensqualität.“
55 Fähigkeit, Menschen zu führen: Klien- Das umfassende Qualifikationsprofil des
ten, Patienten, Mitarbeiter Präventionsarztes steht dem ebenso brei-
55 Fähigkeit zum innovativen Umgang mit ten Qualitätsprofil seines Klienten/Patien-
Schwierigkeiten ten gegenüber, welches dieser als essentielle
55 Fähigkeit zu kollegialer Zusammen- Grundlage für erfolgreiche Konzepte in
arbeit Diagnostik und Behandlung mitbringt:
55 Fähigkeit zu interdisziplinärer Zu- 55 seinen Setting-Hintergrund
sammenarbeit 55 die Ausprägungen von Compliance, Ad-
55 Fähigkeit zur Arbeit im Team härenz, Konkordanz und SDM
55 Fähigkeit, abzugrenzen und verbinden
zu können
55 Fähigkeit zur Toleranz 22.5.4 QM-Modell:
55 Fähigkeit zur Kommunikation Präventionsmedizinischer
55 Fähigkeit, Prioritäten zu setzen Patientenpfad
55 Fähigkeit, in Reduktion Chancen und
Erfolge zu erkennen Auf der Basis der verschiedenen auf-
gezeichneten beidseitigen Qualitätspara-
Mit Selbstwirksamkeit, Empathie, Toleranz, meter in einer Arzt-Klienten/Patienten-­
Kooperations- und Kommunikationsquali- Beziehung kann in Leitlinienorientierung
tät und der rechten Kritik- und Konflikt- und eingebunden in das modulare Experten-
fähigkeit für einen „gemeinsamen Klienten/ netzwerk der Präventionsmedizin gemeinsam
Patienten“ zeichnen die Autoren den Prä- auf gegenseitiger Vertrauensbasis ein persön-
ventionsarzt mit einer hohen kreativen Inter- licher Gesundheitsleitfaden im Sinne eines
kollegialität aus.t. Er braucht mit Kollegiali- individuellen Präventionspfades erarbeitet
tät Führungskompetenz. Er muss Grenzen werden, der als personalisiertes Behandlungs-
erkennen und akzeptieren, um neue Poten- konzept Erfolg verspricht (. Abb. 22.2).
ziale erschließen zu können. Er muss Auf- Für das Behandlungskonzept eines Klien-
gaben abgeben können und fähig sein für das ten/Patienten im präventionsmedizinischen
kreative Netzwerk der Präventionsmedizin. Netzwerk sollte ein Arzt, meistens der zuerst
Erfolgreiche Arbeit im Gesamtkonzept aufgesuchte, als permanenter Vertrauens-
der Präventionsmedizin erfordert vom Prä- partner in der Primär-­Prävention des Klien-
ventionsarzt neben seiner Management-­ ten wie in der Sekundär- und Tertiär-Prä-
Kompetenz themenspezifische Kenntnisse vention des Patienten bleiben. Für einen
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
Compliance
..      Abb. 22.2 Verschiedene individuelle Präventionspfade in Anlehnung an Konzepte der Entwicklung von
Patientenpfaden. (Mod. nach Halber und Schrappe [2004])
Klienten respektive Patienten können nach
dem zuerst aufgesuchten Arzt und über ihn
im kollegialen Dialog in der Regel 1–2 wei-
tere Fachkollegen notwendig werden. Durch
die heutigen telemedizinischen Möglichkeiten
sind interkollegiale Kommunikationswege
sicher gebahnt. Der individuelle präventions-
medizinische Behandlungsprozess – für einen
Klienten, einen Patienten ohne spezielle
Risikofaktoren oder mit einem speziellen
Risikoprofil – lässt sich erarbeiten zu einem
individuellen Behandlungspfad, einem Prä-
ventionspfad oder einem Patientenpfad aus
den jeweils indizierten Leitlinien-basierten
Organsystem-Modulen, integriert in die in-
dividuelle Ausrichtung von Setting, Com-
pliance, Kohärenz, Adhärenz im Sinne eines
präventionsmedizinischen Management-Pro-
gramms PMP.
Im QM-Spiegel besteht jedes PMP aus
einer Kette von parallel oder in Serie ge-
schalteten Prozessen, Kern- und Unter-
467 22
(c)Grafik DESIGNBÜRO
Uwe Mankel Bochum
stützungsprozessen, deren Güte von der
Qualität der Kommunikationswege abhängt.
Eine gute, mit einer Verfahrensanweisung
(VA) zur Dokumentenlenkung festgelegte
und nachvollziehbare Kommunikation
macht aus Schnittstellen zwischen einzelnen
Prozessen Verbindungsstellen unter ihnen.
Der präventionsmedizinische Behandlungs-
pfad eines Klienten/Patienten auf der Basis
von PMPs mit spezifischer Risiko- und
Organsystem-Ausrichtung und einer ziel-
gerichteten Führung ist eine modular auf-
gebaute regelmäßig überwachte Prozesskette.
22.6  egriffe und Ziele von
B
Qualitätsmanagement und
Qualitätssicherung aus der
Qualitätswissenschaft
Nach der Bewertung einer Reihe Aspekte aus
der präventionsmedizinischen Praxisroutine als
 468 J. Schreiner-Hecheltjen
Marker für Qualitätsarbeit seien im Folgenden
spezifische Begriffe aus der Qualitätswissen-
schaft für den Präventionsarzt vorgestellt.
22
22.6.1 Qualität
Der Begriff „Qualität“ ist in der Norm
definiert, nach Schrappe (2004a, b) auch
für die Medizin stimmig, als Grad, in dem
eine Reihe inhärenter Merkmale als inne-
wohnende ständige und objektiv messbare
Eigenschaften Anforderungen erfüllen.
Qualität ist Übereinstimmung zwischen
festgelegten Eigenschaften und vorher ge-
regelten Forderungen einer Betrachtungsein-
heit. Als eine der einfachsten Definitionen
dieses Begriffes gilt die Regel: Qualität ist
die Übereinstimmung von IST und SOLL,
die Erfüllung von Erfordernissen und Er-
wartungen.
Für die praktische Anwendung des
Qualitätsbegriffes sind verschiedene Defini-
tionen erarbeitet.
Das Qualitätsverständnis nach Garvin
(1984) unterscheidet fünf Sichtweisen:
55 das transzendente Qualitätsverständnis
55 das produktbezogene Qualitätsverständnis
55 das kundenbezogene Qualitätsverständnis
55 das wertorientierte Qualitätsverständnis
55 das fertigungsbezogene Qualitätsver-
ständnis
Der amerikanische Qualitätslehrer Crosby
definierte in umfangreicher Literatur von
1984–2000 vier Eckpfeiler der Qualität:
55 Qualität ist Grad der Übereinstimmung
mit Anforderungen.
55 Grundprinzip der Qualitätsplanung ist
Vorbeugung.
55 Null-Fehler-Prinzip muss zum Standard
werden.
55 Qualitätskosten sind Kosten für Nicht-
erfüllung von Anforderungen.
Das klassische Modell nach Donabedian
(2002, 2005) teilt die Qualität in drei Dimen-
sionen ein:
55 Struktur-Qualität: alle Bedingungen,
unter denen die Leistung erbracht wird:
Organisationsform, Personalstruktur,
Ausbildung, Material, Geräte, Räum-
lichkeiten, Hilfsmittel
55 Prozess-Qualität: exakte Beschreibung
für alle Abläufe und Schritte einer Leis-
tung
55 Ergebnis-Qualität: Dokumentation von
Erfolg und Resultat einer Leistung
Den Definitionen und Begriffen von Quali-
tät nach Corsby (1984–2000) und ­Donabian
(2002, 2005) hat von Eiff (2000) die Di-
mension der Sozialqualität in Anlehnung
an die Definition Sozialer Kompetenz von
Kanning (2002) als wichtigsten Qualitäts-
förderer zur dauerhaften Erreichung von
Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität
hinzugefügt. Nach von Eiff ist die Sozial-
qualität eine tragende Komponente für
Qualitätsziele eines Unternehmens, wie
Effektivität, Effizienz, Wirtschaftlich-
keit, Lernprozesse, Organisations- und
Zusammenarbeitsformen und Weiter-
entwicklung als Monitor, Garantie und
Spiegelbild ihrer Management-Kultur.
Qualität hat keinen statischen und sta-
tistischen Wert, sondern immer einen dyna-
mischen Wert. Ihre definierten Merkmale
müssen messbar und vergleichbar sein und
fortlaufend gesichert werden.
22.6.2 Qualitätsmanagement
Qualitätsmanagement umfasst alle Maß-
nahmen und Voraussetzungen in der Len-
kung einer Organisation, ihre festgelegten
Ziele mit dem jeweils festgelegten Quali-
tätsstand zu erreichen. Dazu gehören feste
Organisationsstrukturen, festgelegte Prozesse
und Ziele, Personen als feste Verantwortungs-
träger, neben menschlichen materielle und
technische Ressourcen, Wissen und Können,
Zieldefinitionen, Ergebnisanalysen, Fehler-
kultur, Weiterentwicklungsstrategien.
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
22.6.3  er Prozess im
D nachträgliche Prüfung der Qualität möglich.
Managementverständnis
Die strukturelle Elementareinheit im Quali-
tätsmanagement ist der Prozess. Drucker
(1984, 2000, 2002) und Seyfarth-Metzger
(2003) definieren den Prozess als Basiswerk-
zeug des Managements. Füermann, Damm-
asch und Binner (2008) postulieren Wege im
kontinuierlichen Verbesserungsprozess eines
Unternehmens über Prozessmanagement.
Ein Prozess ist generell die Abfolge von
einzelnen Arbeitsabschnitten, an deren Ende
ein bestimmtes Prozessergebnis steht.
Malik (2005a, b) definiert den Prozess
mit folgenden Attributen:
55 Prozesse sind beschreibbar, abgrenzbar
mit Anfang und Ende.
55 Prozesse transformieren einen Input in
einen Output.
55 Prozesse müssen einen klaren Ver-
antwortlichen haben.
55 Prozesse sind die Abfolge von Aktivi-
täten.
55 Prozesse sind messbar.
Einzelprozesse, definiert nach Kern- und
Unterstützungsprozessen in einer exakt fest-
gelegten Prozesskommunikationsreihenfolge
mit ebenso festgeschriebenen entscheidungs-
gerichteten Maßnahmen, beschreiben einen
Gesamtprozess. Die „Schnittstellen“ zwi-
schen Einzelprozessen für den Gesamt-
prozess sollen kommunikationsstarke Ver-
bindungsstellen sein. Ein Flussdiagramm, als
„flow process chart“ 1921 erstmals von Frank
Bunker Gilbreth in den USA vorgestellt, ist
die bildliche Darstellung aller Schritte eines
Prozesses und dient wie in der Programmie-
rung von Software der Dokumentation und
Analyse aller Probleme eines Prozessablaufes
(Brüggemann 2012).
22.6.4 Qualitätssicherung
Qualitätssicherung mit der Festschreibung
definierter Qualitätsmaße ist nicht durch eine
469 22
Qualitätssicherung bedeutet zeitgleiches,
fortlaufend aktuelles kontinuierliches Moni-
toring wesentlicher Teilbereiche des Quali-
tätsmanagements, des Leitens und Lenkens
einer Organisation, die Forderung optima-
ler Voraussetzungen, die Qualitätslenkung
mit kontinuierlichen Soll-Ist-­Bilanzen, die
gesamte Qualitätspolitik, alle Maßnahmen,
die Vertrauen schaffen, dass definierte An-
forderungen erfüllt werden. Zu den Grund-
prinzipien der Qualitätssicherung gehört
die zeitgerechte Überprüfung eingeleiteter
Sicherungsmaßnahmen. Für Qualitäts-
management-Konzepte im Gesundheits-
wesen sind Patientensicherheit und Risiko-
management wesentliche Stellgrößen.
Grundsätzlich muss sich jede ärztliche
Tätigkeit in einem System von Qualitäts-
management und Qualitätssicherung ab-
bilden lassen. Qualitätswissenschaftliche
Grundlagen sind für die medizinische Pra-
xis – Einzelpraxis, MVZ und die Klinik – re-
levant und umsetzbar beschrieben und ein-
geführt (Köck 1996, 2004; Kaminske 2003;
Kaminske und Brauer 1999–2008; Pfeiffer
2001; Lauterbach und Schrappe 2004; Zoll-
ondz 2006; Sens 2010; Schreiner-Hecheltjen
2015).
Die Bedeutung von Qualitätssicherung
in der Gesundheitsförderung und Prävention
wurde 2004 von Rosenbrock und 2009 von
Klische bereits intensiv zielorientiert dis-
kutiert. 2006 hat der Sachverständigenrat
zur Entwicklung im Gesundheitswesen zur
Koordination und Qualität im Gesund-
heitswesen ein Gutachten erstellt. Selbmann
(2003, 2004) stellt die Qualitätssicherung in
die verschiedenen Dimensionen der einzel-
nen Partner im Gesundheitswesen und ihrer
Interessenschwerpunkte dar. Die drei Quali-
tätsagenten im Gesundheitswesen sind:
Kunde (Klient, Patient), Leistungserbringer
(Arzt, Pflege) und Manager (Praxisinhaber,
Krankenhausleitung, Kostenerbringer,
Gesundheitspolitiker) mit unterschiedlichen
Qualitätsdimensionen und Qualitätszielen
und unterschiedlichen Beiträgen zum Quali-
 470 J. Schreiner-Hecheltjen
tätsmanagement. Aufgaben, Ansprüche, For-
derungen und Herausforderungen spielen
sich auf einer multimodalen Plattform ab.
22 Ziele von Qualitätssicherung bedeuten:
55 Schaffen von Qualität
55 Halten von Qualität
55 Kontinuierliche Verbesserung der Quali-
tät im Sinne von KAIZEN
Definition
Der Begriff KAIZEN stammt aus dem
Japanischen und heißt (kai = ändern,
ZEN = das Gute)
„Das Gute verbessern – Veränderung
zum Besseren“. KAIZEN ist die Philo-
sophie der ewigen Veränderung zum
Besseren (Imai 1992). Grundlage für das
KAIZEN ist der Deming’sche PDCA-
Zyklus: Plan – Do – Check – Act.
22.6.5 Der PDCA-Zyklus
Der PDCA-Zyklus ist das tragende Konzept
des Qualitätswesens im kontinuierlichen Ver-
besserungsprozess. Das PDCA-Konzept ist
einfach: Planen – Ausführen – Überprüfen –
Anpassen. PLAN-DO-CHECK-­ ACT: leicht
erlernbar und für die Entwicklung von Pro-
dukten und Dienstleistungen mit Anpassung
an spezifische Aufgabenstellungen kreativ und
zielverbessernd anwendbar. William Edward
Deming (1900–1993) war US-­amerikanischer
Physiker, Statistiker und Pionier im Qualitäts-
management. Die Wurzeln des PDCA-Zyklus
liegen über 400 Jahre zurück. Galileo (1610)
und Francis Bacon (1620) beeinflussten mit
der Theorie des induktiven Lernens zwei Ver-
treter des philosophischen Pragmatismus
(Charles Sanders und William James), welche
die Wege des Philosophen Lewis C.J. und des
Begründers der statistischen Prozesslenkung
W.A. Shewhart (1917, 1931, 1939) prägten,
dessen Schüler William Edwards Deming
war. W.E. Deming entwickelte sein Konzept
für die PDCA-Methode, die er in ihren ers-
ten Entwürfen bereits 1950 in Japan vorstellte,
bis zu einer international und weltweit füh-
renden Leitlinie im Qualitäsmanagement in
den Jahren 1967 bis 1982. 1986 stellte er die
PDCA-Methode erstmals mit seinem Buch
„Out of the Crisis“ in Europa vor. 1987 wurde
sie von Gitlow in USA als führendes Konzept
im erfolgreichen Qualitätsmanagement postu-
liert.
22.7 Messwerkzeuge des
Qualitätsmanagements und
der Qualitätssicherung
Qualitätsmanagement zur nachhaltigen Si-
cherung von Qualität und zu ihrer Weiter-
entwicklung kostet Ressourcen. Die Kosten-
effektivität im und durch Qualitäsmanagement
muss nach Stock und Redaelli (2004) zu einer
dauerhaften positiven Gesamtbilanz diffe-
renziert in kontinuierlicher Analyse sein. Jede
medizinische Behandlungseinheit – die Einzel-
praxis wie die Klinik – sind Wirtschafts- und
Management-Unternehmen für die Gesund-
heit, deren In- und Output zu einer dauerhaften
positiven Gesamtbilanz messbar sein muss.
Der Management-Pionier Peter F. Dru-
cker formulierte 1998:
»» If you can’t measure it, you can’t manage it.
Im Gesundheitswesen sind mit dem ver-
stärkten Trend zur Zahlenorientiertheit für
die Praxis zunehmend einsetzbare qualitäts-
wissenschaftliche Werkzeuge der Qualitäts-
sicherung etabliert (Heimerl-Wagner und
Köck 1996; Schreiner-Hecheltjen 2009, 2015)
22.7.1 Kennzahlen
Eine Kennzahl ist eine Maßzahl zur quanti-
fizierbaren reproduzierbaren Messung einer
Größe, eines Vorganges, von der NORM ex-
plizit gefordert.
Definition und Funktion von Kenn-
zahlen sind nach Groll (2003):
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
55 Werte, die messbar sind
55 Wert, die gemessen werden
55 Werte, die Informationen verdichten
55 Werte, die im Verhältnis zueinander ste-
hen
55 Werte, die miteinander zu vergleichen
sind
55 Werte, die mit einem Richtwert ver-
glichen werden
22.7.2 Die „Q 7“
In Analogie zu den sieben Management-
werkzeugen, den „M 7“, sind sieben
Werkzeuge, die „Q 7“, für das Qualitäts-
management für die medizinische Praxis
mit hohem Qualitätsbewusstsein relevant
und einsetzbar. Die M7 sind: Affinitäts- und
Relationen-Diagramme zur Datenanalyse,
Portfolio, Baum- und Matrix-­ Diagramme
zur Lösungsfindung und Netz- und
Problementscheidungsplan zur Lösungs-
umsetzung des definierten Prozesses (Hei-
merl-Wagner und Köck 1996; Malik 2005a,
b; Noak 2006).
Die Q7 sind auf mathematischen
Grundlagen basierende Hilfsmittel, Prob-
leme zu erkennen, darzustellen, zu verstehen
und mit einfachen Methoden zu lösen. Die
„Q7“ sind Wegweiser für ein strukturiertes
und objektivierbares Defizit- und Fehler-­
Management und für eine Leitlinie zu fort-
laufender Sicherung und Verbesserung von
Qualität.
Das Q7-Konzept beinhaltet zwei Phasen:
Phase 1: Fehlererfassung mit den Werk-
zeugen
55 1. Fehlersammelliste (Art, Ort, Häufig-
keit von Fehlern)
55 2. Histogramm (Häufigkeit von Fehlern
grafisch)
55 3. Qualitätsregelkarten (Abweichungen
von Toleranzgrenzen)
Phase 2: Fehleranalyse mit den Werkzeugen:
55 4. Pareto-Diagramm (Bedeutungsana-
lyse von Fehlern)
471 22
55 5. Korrelationsdiagramm (Wechsel-
wirkung von Fehlern)
55 6. Brainstorming (Neue Ideen)
55 7. Ursache-Wirkungs-Diagramm: ISHI-
KAWA-Diagramm
22.7.3 Das ISHIKAWA-Diagramm
Das Ursache-Wirkungs-Diagramm – be-
nannt nach seinem Entwickler, dem Japaner
Kaoru Ishikawa (1982), nach seinem Kons-
trukt Fishbone-Diagramm – ist eine Tech-
nik zur Problemanalyse, bei der Ursache
und Wirkung voneinander getrennt werden.
Mögliche Ursachen und Einflüsse mit einer
bestimmten Wirkung werden in Haupt- und
Nebenursachen entsprechend Ursachen-­
Dimensionen aufgegliedert und grafisch im
Modell mit sechs Ms mit den folgenden In-
tentionen dargestellt:
1. M ensch
2. M aschine
3. M ethode
4. M aterial
5. M ilieu
6. M essung
Das Konzept des ISHIKAWA-­Diagramms
erfasst keine Wechselwirkungen von Ursa-
chen und ist im Gegensatz zur FMEA keine
präventive Maßnahme. Es ist in der Medi-
zin – in großen wie in kleinen Einheiten bis
in die Hand eines zu motivierenden Patien-
ten, z. B. mit Metabolischem Syndrom – ein
zielführendes Messwerkzeug zur Aussage
von Qualität (Kern 2009).
22.7.4  ie FMEA: Fehler-
D
Möglichkeits-Einfluss-
Analyse
Die FMEA ist eine analytische Methode – in
den 60 Jahren für die Raumfahrt im Rahmen
des Apollo-Programms entwickelt – zur Vor-
hersage von potenziellen Fehlern mit ihrem
Risikograd und ihrer Priorität, die 1990 vom
 472 J. Schreiner-Hecheltjen
Deutschen Institut für Normierung DIN
(DIN 1990, 2006) und 2001 von der Deutschen
Gesellschaft für Qualität DGQ (Schubert
22 2001; DGQ 2003a, b) übernommen wurde.
Die grundlegende Zielsetzung der FMEA ist
die vorausschauende Fehlervermeidung, die
Identifikation potenzieller Fehlerursachen be-
reits in ihrer Entwurfsphase. Zu unterscheiden
ist die System-, die Konstruktions- und die
Prozess-FMEA (Anwendungsbeispiel: Blut-
transport zum Labor). Wahrscheinlichkeit
des Auftretens, Bedeutung und Möglich-
keit der Entdeckung eines Fehlers werden
im FMEA-Konzept mit definierten Kenn-
zahlen ausgedrückt, aus deren Werten eine
Risiko-Prioritätszahl RPZ ermittelt wird. Die
FMEA ist in der medizinischen Praxis zur
Entwicklung von Vorsorge- und Vorbeugungs-
maßnahmen ein brauchbares und zielunter-
stützendes Qualitätswerkzeug (Werdich 2011).
22.7.5  SC – Balanced Scorecard-
B 22.7.7
Analyse
Das 1992 von Robert F. Kaplan und David
P. Norton an der Harvard-Universität ent-
wickelte Konzept der BSC ist ein Konzept
zur Dokumentation der Ergebnisse aus ge-
messenen vier Aktivitäts-Perspektiven:
55 Finanzperspektive
55 Kundenperspektive
55 Prozessperspektive
55 Lern-Innovationsperspektive
Die BSC ist ein etabliertes Management-
konzept im Deutschen Gesundheitswesen
(Köninger 2001; Conrad 2004). Zentraler
Handlungsschritt in der Einführung der
BSC ist nach Kaplan und Norton (1992,
1996, 1997) die strategische Ausrichtung
des Unternehmens in Form des PDCA-Zy-
klus: Entwicklung einer Zielsetzung in Form
einer realistischen Vision, Deployment, Ak-
zeptanz und Ausrichtung auf allen seiner
Ebenen zur Innovation und weiteren Ver-
besserung der Vorgehensweisen.
22.7.6 SWOT-Analyse
Die SWOT-Analyse ist eine relativ ein-
fache Möglichkeit, Stärken (Strenghts),
Schwächen (Weakness), Chancen (Op-
portunities) und Risiken (Threats) zu
analysieren und darzustellen, mit dem
Ziel, auf der Basis einer Internen Stär-
ken-Schwächen-Analyse und einer Ex-
ternen Chancen-Risiko-­ Analyse mögliche
Quellen für Wettbewerbsvorteile und in-
ternen Handlungsbedarf zur Verbesserung
zu identifizieren. Jede Analyse sollte nicht
nur eine Priorisierung haben, sondern das
Ziel zu erkennen, ob die aktuelle Strategie
des Unternehmens mit seinen Stärken und
Schwächen ausreichend ist, auf zukünftige
Veränderungen in der Unternehmenswelt
zu reagieren und positiv zu agieren (BMI
2009; Gabler 2014).
 IRS – Critical Illness
C
Reporting System
CIRS ist festgeschriebener Bestandteil für
Qualität in der Medizin, fest verankert in
dem überregionalen, deutschlandweiten
interdisziplinären und fachübergreifenden
Netzwerk für Critical Incident Reporting
Systeme als Berichts- und Lernsysteme
für kritische Ereignisse CIRSmedical, das
2012 vom Ärztlichen Zentrum für Qualität
ÄZQ mit dem Medizin-Management-Preis
ausgezeichnet wurde (Thomaczek 2012).
Allen im Gesundheitswesen eingeführten
QM-Modellen sind zwei Kardinalmerkmale
als Maßstäbe hoher Qualität gemeinsam:
55 Patientensicherheit
55 Risikomanagement
CIRS bedeutet Patientensicherheit, eigene
Sicherheit, Wissensgewinn und Wissens-
management (Reason 1990, 1997; Sta-
ender, 2001; Thomeczek und Ollenschlä-
ger 2006; Hart und Cartes Febrero 2007;
Exner 2011).
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
22.7.8 Managementreview
Im Managementreview wird, in der Regel
1-mal jährlich, für die Organisation intern,
aber für alle Ihre Mitarbeiter transparent,
eine SOLL-IST-Bilanz aller Prozesse und
Leistungen, Ressourcen, personellen Struk-
turen, Ergebnisanalysen mit Bewertung
festgelegter Jahresziele und Entwicklungen,
wenn möglich mit Kennzahlen hinterlegt,
beschrieben – zur Grundlage für die QM-­
Pläne im Folgejahr.
22.7.9 Peer Review
Peer Reviews sind externe Audits durch zwei
fachlich und hierarchisch gleichgestellte
Personen nach für die jeweilige Fachab-
teilung standardisierten Fragenkatalogen,
zu ihrer Leistungsentwicklung, Diagnostik,
Behandlung, Entlassung und ihren Quali-
tätssicherungsmaßnahmen. Die Inhalte des
Audits werden vertraulich diskutiert. Die
Durchführung von Peer Reviews gilt im
Rahmen von Zertifizierungen als ein wert-
voller Qualitätsnachweis (Grol 1994).
22.7.10 Audits und Zertifizierung
Ein Audit ist ein Grundelement im Quali-
tätsmanagement und dient der laufenden
Überwachung von Halten und Entwicklung
von Qualität nach dem jeweils ausgewählten
Qualitätsmanagement-System. Ein Audit
prüft, ob Prozesse, Anforderungen und
Richtlinien nach geforderten Standards
ablaufen. Ein Audit wird von speziell ge-
schulten Auditoren durchgeführt. Ver-
schiedene Audit-Perspektiven sind:
55 Compliance-Audit: Überprüfung mit
einem Regelwerk
55 System-Audit: Prüfung des Management-­
Systems
55 Prozess-Audit: Prüfung einzelner
­Prozesse
473 22
55 Produkt-Audit: Prüfung von Produkten
nach Kundensicht
55 Projekt-Audit: Feststellung zum Fort-
schritt von Projekten
55 Dokumenten-Audit: Prüfung der Doku-
mentation und ihrer Lenkung
Im Internen Audit – mit höchstem Stellenwert
im Sinne des internen QM-­Dialoges – prüft
eine Institution sich selbst nach den Vor-
gaben des gewählten QM-­Systems. Externe
Audits sind Bestandteil einer Zertifizierung
und werden von einem externen medizini-
schen Fachexperten und einem externen QM-­
Experten nach den Vorgaben der DAkkS
(Deutsche Akkreditierungsstelle GmbH)
durchgeführt. Ein Zertifikat ist ein aus eige-
ner Initiative freiwillig bei einer von der TGA
(Trägergemeinschaftschaft für Akkreditie-
rung in Deutschland) zugelassenen Zerti-
fizierungsgesellschaft erworbenes Prädikat
für Qualität, das in der Regel jährlich über-
wacht und 3-jährlich neu erworben werden
muss. Eine Zertifizierung hat keine Gesetzes-
grundlage. Eine Zertifizierung bedeutet eine
individuelle, freiwillige, persönliche Ent-
scheidung eines Unternehmens zu einer
transparenten und nachweisbaren Qualität,
ausgerichtet an spezifischen Normen. Ein
Qualitäts-­Zertifikat bedeutet auf dem heu-
tigen gesundheitspolitschen Forum einen
nachweisbaren Wettbewerbsvorteil (Zink und
Voß 1997; Liebelt und Schrappe 2004).
22.8  M-Konzepte für die
Q
Präventionsmedizin
Eine Entscheidung der Präventionsmedizin,
ausgehend von ihrem Status quo, ihre Ziele
und ihre Entwicklung in die Zukunft mit
einem strukturierten Qualitätsprogramm
zu untermauern setzt das grundsätzliche
Begreifen und Akzeptieren von Qualität in
allen ihren Dimensionen als umfassendes
Denkkonzept voraus, das nicht nur eine
medizinisch-technologische Komponente
 474 J. Schreiner-Hecheltjen
besetzt, sondern von einer grundlegenden
Geisteshaltung zum Begriff Qualität be-
stimmt wird. Grundsätzlich stehen zur Im-
22 plementierung eines festen QM-Profils in
der Präventionsmedizin mit unterschied-
lichen Einheiten von der Einzelpraxis bis
zur Klinik verschiedene Konzepte bereit.
Jedes zeichnet sich neben generell gleichen
Grundpfeilern der Qualitätssteuerung
durch spezielle Anforderungen aus, hat
besondere Nutzen und Chancen, die in
der Entscheidungsfindung für die Erfolgs-
strategie und Entwicklung der jeweiligen
Einheit sorgfältig abgewogen werden müs-
sen. Wichtig ist, sich im Auswahlprozess
mit den einzelnen QM-Konzepten intensiv
auseinanderzusetzen. Voraussetzung dazu
sind qualitätswissenschaftliche Grundlagen-
kenntnisse.
Die derzeit im Gesundheitswesen füh-
renden QM-Konzepte sind:
22.8.1 QM-Konzept KTQ
Das Konzept KTQ (Kommunikation,
Transparenz, Qualität) wurde in den USA
in der Medizin für die Medizin entwickelt,
ist seit 2002 in Deutschland für Kliniken,
seit 2004 für Praxen in der vertragsärztlichen
Versorgung eingeführt. Bewertungskriterien
mit einem hohen Selbstbewertungsgrund-
satz sind: Patientenorientierung, Mit-
arbeiterorientierung, Sicherheit in Praxis
und Klinik, Informationswesen, Führungs-
qualität, Qualitätsmanagement generell
(KTQ-­Manual 2006, 2009)
22.8.2 QM-Konzept TQM
Die Kernphilosophie von TQM mit dem
Endziel des Null-Fehler-Status in einem
alle Bereiche umfassenden Qualitäsma-
nagement wurde von den amerikanischen
Qualitätslehrern Deming (1982b), Juran
­ Der JCI-Standard-Katalog enthält über
(2000) und Scherkenbach (2000) formu-
liert, und zwar auf der Basis von drei
Qualitäts-Cs: Commitment – Culture –
Cost. TQM enthält mit seinem hohen
Qualitätsanspruch Bewertungskriterien für
den European Quality Award EQA (Kob-
joll 2006) oder seit 1950 den Deming Prize
Award (The Swiss Deming Institute).
22.8.3 QM-Konzept E.F.Q.M. –
European Foundation
for Quality Management
Das E.F.Q.M.-Modell für Excellence um-
fasst – abgeleitet von drei fundamentalen
Säulen des TQM – mit der gleichzeitigen
Betrachtung von Menschen, Prozessen und
Ergebnissen neun Hauptkriterien: Führung,
Mitarbeiter, Politik und Strategie, Partner-
schaften und Ressourcen, Prozesse, Kun-
den-, Mitarbeiter-, Gesellschaftsbezogene
Ergebnisse und Ziele, Schlüssel-Leistungs-­
Ergebnisse. Erfolgreiches Qualitäts-
management nach dem E.F.Q.M.-Konzept
kann mit dem sehr hohen internationalen
Qualitätspreis European Excellence Award
EEA ausgezeichnet werden (DGQ 2003a, b;
Binner 2005; Kostka 2008; Lang 2013)
22.8.4  M-Konzept JCI – JCIA –
Q
JCAHO
zz Joint Commission International
Joint Commission International Accredita-
tion
Joint Commission International on Ac-
creditation of Health Care Organizations
Die JCI mit Sitz in Chicago wurde in
der Medizin für die Medizin entwickelt und
ist weltweit die größte Organisation für die
Zertifizierung in Krankenhäusern mit an-
spruchsvollsten Zertifizierungsstandard und
dem höchsten QM-Anspruch. Deutschland
verzeichnet bisher vier JCI-Kliniken von
55 Kliniken weltweit mit einem JCI-Siegel.
350 Standards mit über 1000 „messbaren
Elementen“. Oberstes QM-Ziel der JCI ist
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
die Patientensicherheit in Anlehnung an
die internationalen Ziele der WHO (Bittner
2007; König 2009; Zanin 2010).
22.8.5 QM-Konzept EPA –
Europäisches
Praxisassessment
Das EPA wurde speziell für Arztpraxen
und MVZs als ein edukatives System nach
dem Konzept des PDCA-Zyklus von
E.W. Deming in der Medizin für die Me-
dizin entwickelt und gezielt auf die quali-
tätsrelevanten Eigenschaften einer nieder-
gelassenen Praxis abgestimmt (Szecesenyi
et al. 2002; Grünert 2003; Szecesenyi 2004;
Broge 2008). EPA unterscheidet fünf Do-
mänen der Qualität: Infrastruktur, Men-
schen, Informationen, Finanzen, Qualität
und Sicherheit, aufgeteilt in Dimensionen
mit über 200 qualitätsrelevanten Einzel-
aspekten, den Qualitätsindikatoren (Schnei-
der et al. 2003; Döbler 2009; KBV 2009).
22.8.6  M-Konzept DIN EN
Q CHECK: Überwachen und Messen:
ISO 9001:2015
Die ISO 9000–Normenreihe ist welt-
weit das bekannteste und angesehenste
Regelwerk zur Implementierung von
Qualitätsmanagement-­ Systemen mit inter-
nationalem Entwicklungshintergrund
und internationaler Akzeptanz. Die inter-
nationale Organisation für Normung
(ISO) ist eine weltweite Vereinigung von
nationalen Normungsinstituten. Sollen
­ im Sinne von Drucker (1996, 2000), Malik
ISO-­Normen auf nationaler Ebene etabliert
werden, wird dies festgeschrieben. So ist die
ISO 9001 eine DIN EN ISO 9001 eine inter-
nationale (ISO), europäisch gültige (EN), in
Deutschland (DIN) gültige NORM.
Im Gesundheitswesen ist die ISO
9001:2015 in Überarbeitung der ISO
9001:2008-Norm von 2015 mit inter-
475 22
nationalem QM-Standard ein seit 2017 fest
etabliertes QM-Konzept (Graebig 2016).
Die Kernthemen der Überarbeitung der
zur Fassung der DIN EN ISO 9001:2015
waren differenziertere Prozessdefinitionen
unter den Aspekten Risikomanagement und
Patientensicherheit.
Die DIN EN ISO 9001-2015-Norm um-
fasst zehn Kapitel, die ersten drei zu norma-
tiven Begriffen und Verweisen, die Kapitel
4–10 sind nach dem PDCA-Zyklus (Plan-­
Do-­Check-Act) von W.E. Deming struktu-
riert (. Abb. 22.3):
1. Anwendungsbereich
2. Normative Verweisung
3. Begriffe und Definitionen
PLAN: Festlegen von Zielen und Res-
sourcen
4. Kontext der Organisation
5. Führung
6. Planung des Qualitätsmanagement-
systems
DO: Umsetzung der Pläne
7. Unterstützung
8. Betrieb
Prozesse, Produkte, Dienstleistungen
9. Bewertung der Leistung
ACT: Verbesserung von Prozessen und
Dienstleistungen
10. Verbesserung
Die Präventions- und Anti-Aging-­ Medizin
wird mit ihren fundierten wissenschaftlichen
Aktivitäten und Chancen, mit innovativen
Strategien und mit Management-Qualitäten
(2001), von Eiff (2000) und ausgerichtet
in ihrem Gesamtauftrag im Management
auf eine Corporate Social Resposibility
nach Caroll (1991) als individualisierte und
personalisierte interdisziplinäre Spitzen-
medizin ihrer gesundheits -und gesellschafts-
politischen Verantwortung für die Zukunft
nachhaltig gerecht werden.
 22
476

QM-Philosophie – CSR – Compliance – Q-Politik – Ziele – Kundenerwartungen –

interessierte Parteien – Definition von Prozessen, ihrer Anwendung, Steuerung und
Risiken – Qualitat und Design aller Dokumentationen und Informationen – Benchmark
Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren,
Verbesserungsmaßnahmen planen und einleiten
für:
Persönliche hohe QM-Verpflichtung- Ziel-Definitionen-
Festlegung aller Verantwortlichkeiten, Befugnisse, • Nicht-Konformität von geplanten Leistungen
Ressourcen, Rahmenbedingungen, Leistungsniveau – • Weiterentwicklungen
J. Schreiner-Hecheltjen

Risikobasierte Strategie und Planung: BSC, CIRS –

Kundenorientierung – Ökonomie-Bilanz: SWOT, BSC –
Entwicklung und Bekanntmachung der Q-Politik – PR

Festlegung von Zielen und Ressourcen

(Praxisnetzwerke, Enzyklopädie-Datenbanken:
Präventionsmedizin) – Vorsorge, Planung,
Maßnahmen für Veränderungen und Risiken

Ergebnissanalysen von Prozessen, Produkten und

Dienstleistungen: „Q7", Kennzahlen,
BSC, FMEA, Präventionspass, CIRS – Kunden-
und Mitarbeiter-Zufriedenheitsanalysen,
Interne / Externe Audits – Managementbewertung

Ressourcen zur Verwirklichung der Pläne –

Überwachung und Messung der Prozesse –
Personen (Profil des Präventionsarztes) –
Infrastruktur (Interdisziplinär vernetzte
Praxisteams) – Prozessumgebung (Zeit, Wissen)
– Informations- und Kommunikationswege zum
Prozess, Produkt entsteht: PMPs, Dienstleistung –
Erstellung und Lenkung aller Dokumente: Verwirklichung, Steuerung, Überwachung der Prozesse –
„Dokumentierte Informationen" – Kommunikation mit internen / externen Kunden – Bestimmen
Wissensmanagement: Aus-und Weiterbildung von Kundenanforderungen – Änderungen von Produkten und
Dienstleistungen – Entwicklungen planen, steuern, ändern – (c)Grafik DESIGNBÜRO
Steuerung nicht konformer Prozessergebnisse Uwe Mankel Bochum

..      Abb. 22.3 DIN EN ISO 9001:2015 (im Entwurf im PDCA-Profil) implementiert für die Präventionsmedizin
Qualitätssicherung in der Präventionsmedizin und der Anti-Aging-Medizin
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braucherzentrale NRW, Bonn
Zollondz HD (2006) Grundlagen Qualitäts-
management, Einführung in Geschichte, Begriffe,
System und Konzepte. Oldenbourg, München
 483 23

Zukunftsperspektiven
Radical Life Extension – Human Enhancement – Transhumanis-
mus

Bernd Kleine-Gunk

Inhaltsverzeichnis

23.1 Human Enhancement – 486

23.2 Neuroenhancement – 487

23.3 Genetisches Enhancement – 488

23.4 Transhumanismus – 489

Literatur – 493

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4_23
 484 B. Kleine-Gunk
Die Anti-Aging-Medizin hat in den letzten
Jahren nicht nur einen enormen Aufschwung
erfahren, sie ist auch zu einer immer viel-
schichtigeren Bewegung geworden. Den
meisten Vertretern dieses Faches im deutsch-
sprachigen Raum geht es im Wesentlichen
23 um die Prävention altersassoziierter Er-
krankungen. Auch die Verlängerung des Le-
bens (Lifespan) bei guter Gesundheit (He-
althspan) steht auf der Agenda. Allerdings
wird hier ein Zeitraum von 10–20 Jahren
diskutiert.
Vor allem im angloamerikanischen
Raum gibt es jedoch eine Gruppe von Bio-
gerontologen, die sich damit bei weitem
nicht zufriedengeben. Die Vertreter der
„Radical Life Extension“ streben nicht ein
paar Lebensjahre mehr bei guter Gesund-
heit an. Für sie geht es um die Abschaffung
des Alterns an sich. Eine Lebenserwartung
von 1000 Jahren und mehr erscheint einigen
ihrer Vertreter durchaus möglich. Und sie
geben sich überzeugt: Der erste Mensch, der
dieses Alter erreichen wird, ist bereits ge-
boren.
Zum Wortführer der radikalen Lebens-
verlängerung ist in den letzten Jahren der
Biogerontologe Aubrey de Grey auf-
gestiegen. Der exzentrische Brite hat dazu
ein detailliertes Programm vorgelegt, das er
Strategies for Engineered Negligible Sene-
scence (SENS) nennt. (de Grey 2007)
SENS ist kein medizinisches Präventions-
programm. Vielmehr handelt es sich hierbei
um ein Bündel von Maßnahmen, das im
Wesentlichen dazu dient, Schäden des
Alterungsprozesses, die sich auf molekula-
rer Ebene angehäuft haben, in regelmäßigen
Abständen zu beheben. Vergleichen lässt
sich das in etwa mit einem großen Schiff, das
alle paar Jahre aufs Trockendock muss,
damit dort alle entstandenen Schäden aus-
gebessert werden. Vollständig generalüber-
holt sticht es dann „fast wie neu“ wieder in
See.
Sieben molekulare Mechanismen hat de
Grey dabei als entscheidende Alterungs-
faktoren identifiziert. Und für jeden dieser
Faktoren hat er entsprechende Lösungsvor-
schläge. Diese Vorschläge basieren zum Teil
auf bereits existierenden Verfahren, zum
Teil setzen sie auf Technologien, die erst
noch entwickelt werden müssen. Das ver-
leiht dem gesamten Konzept eine futuristi-
sche Note. Viele Kritiker halten de Greys
Thesen eher für wissenschaftliches Wunsch-
denken.
Unabhängig davon, ob man das SENS-­
Programm für realisierbar hält oder nicht –
festzuhalten bleibt: De Grey ist in den letz-
ten zehn Jahren von einem weitgehend
belächelten Außenseiter des akademischen
Betriebs zu einem durchaus ernst zu nehmen-
den Ideengeber geworden. Auf den regel-
mäßig stattfindenden Treffen und Konfe-
renzen der von ihm gegründeten
SENS-­ Foundation treffen sich inzwischen
hochkarätige Forscher aus den unterschied-
lichsten Fachbereichen. Eines der wichtigs-
ten dieser Treffen, die „Undoing Aging
Conference“, findet inzwischen einmal jähr-
lich in Berlin statt. Wichtiges Grundlagen-
wissen über den biologischen Alterungs-
prozess wird auf diese Weise erarbeitet und
ausgetauscht. Die SENS-­ Foundation ist
somit auf dem besten Wege, sich damit zu
einem „Think Tank“ für die Altersforschung
zu etablieren. Auch an potenten Geldgebern
mangelt es inzwischen nicht. Die Langlebig-
keitsforschung ist seit einiger Zeit eine der
Lieblingsgebiete von Risikokapitalgebern.
Einen etwas pragmatischeren Ansatz zur
radikalen Lebensverlängerung verfolgt der
amerikanische Futurologe Ray Kurzweil.
Zusammen mit dem Anti-Aging-Mediziner
Terry Grossman hat er 2005 in dem populär-
wissenschaftlichen Bestseller „Fantastic
Voyage“ seine Version der radikalen Lebens-
verlängerung beschrieben. (Kurzweil und
Grossman 2004) Der Untertitel des Buches
fasst die Botschaft in einem Satz zusammen:
„Live long enough to live forever“. In der
Tat geht Kurzweil von einer „Langlebig-
keitsdividende“ aus. Bereits jetzt steigt die
Lebenserwartung jedes Jahrzehnt um 2–3
Jahre an. Gleichzeitig machen ­Medizin und
Zukunftsperspektiven
Wissenschaft exponentielle Fortschritte, die
zu einer weiteren Verlängerung der Lebens-
erwartung führen. Schon nach drei Jahr-
zehnten ist danach laut Kurzweil ein Zu-
stand erreicht, der eine permanente
Lebensverlängerung ermöglicht. Die Zeit
bis dahin gelte es entsprechend zu „über-
brücken“.
Drei Brücken schlägt Kurzweil vor: Brücke
eins besteht aus der konsequenten Nutzung
der bereits verfügbaren Anti-­Aging-­Techniken.
Dazu gehören Lifestyle-­Maßnahmen, eine in-
tensive Supplementierung, eine konsequente
Hormonsubstitution sowie die Nutzung aller
diagnostischen und therapeutischen Möglich-
keiten der gegenwärtigen Präventivmedizin.
Nach ca. 15–20 Jahren werde dann Brü-
cke zwei betreten: Dies bedeutet im Wesent-
lichen den Übergang von der präventiven
zur regenerativen Medizin. Stammzellen-
technologien und Techniken der Gewebe-
züchtung werden dann so weit entwickelt
sein, dass mehr oder weniger jedes Organ
regeneriert werden kann. Große Hoffnun-
gen setzen Kurzweil/Grossman dabei auf
die Nanotechnologie. Schon zu einem sehr
frühen Stadium der Entwicklung dieser
„Wissenschaft der kleinsten Dinge“ speku-
lierten führende Vertreter des Faches darü-
ber, dass die „Nanomedizin“ sich zu einer
wichtigen Subdisziplin der Nanotechno-
logie entwickeln würde. Eine mögliche An-
wendung besteht etwa darin, nur wenige
Mikrometer große Roboter, sogenannte
Nanobots, in großen Mengen in unsere
Blutbahn zu infundieren. Diese werden
dann permanent unseren Körper patroul-
lieren und sehr viel präziser als unsere
körpereigenen Abwehrzellen Mikroben,
Krebszellen oder arteriosklerotische
Plaques entdecken und gezielt eliminieren.
(Jain 2017)
Spätestens in diesem Stadium ist dann
Altern zu einer „behandelbaren Er-
krankung“ geworden, die – ähnlich wie ein
Diabetes Typ I oder II – zwar einer perma-
nenten Intervention bedarf, bei richtiger
Einstellung aber weder zum Tode führt noch
485 23
ernsthafte Folgeerkrankungen nach sich
zieht.
Kurzweil schlägt dann noch eine „Dritte
Brücke“ vor, bei der es allerdings nicht mehr
in erster Linie um Lebensverlängerung, son-
dern eher um die Überwindung unserer tra-
ditionellen biologischen Grenzen geht.
Hierzu sei auf den 7 Abschn. 23.4 ver-
wiesen.
Wie sehr die Vertreter der Radical Life
Extension auch von ihrem Technooptimis-
mus geprägt sein mögen, eine Sorge bleibt:
zu sterben, bevor die Errungenschaften der
medizinischen Lebensverlängerung tatsäch-
lich vollständig etabliert sind. Auch für die-
sen Fall wird inzwischen jedoch eine Lösung
angeboten: die Kryokonservierung (Kryo-
nik).
Die Tatsache, dass sich Zellen und Ge-
webe in flüssigem Stickstoff nahezu un-
begrenzt konservieren und anschließend
ohne Schäden wieder auftauen lassen,
macht man sich in den Biowissenschaften
bereits seit Jahrzehnten zunutze. Robert Et-
tinger war 1964 der erste, der eine ent-
sprechende Anwendung auch für den
Humanbereich vorschlug. Die erste Kryo-
konservierung eines Menschen wurde dann
am 12. Januar 1967 an James Bedford durch-
geführt, dessen Körper heute noch bei der
Firma Alcor aufbewahrt wird.
Schnell wurde allerdings klar, dass das
simple Konservieren von komplexen Orga-
nen in flüssigem Stickstoff keine wirkliche
Lösung darstellt. Die bei dem Einfrierungs-
prozess entstehenden Eiskristalle führen zu
weitreichenden Zell- und Gewebe-
schädigungen, die nach heutigem Kenntnis-
stand als irreversibel einzustufen sind.
Um dieses Problem zu lösen, setzt die
Kryonik inzwischen auf die Technik der Vi-
trifizierung, bei der unterschiedliche „bio-
logische Frostschutzmittel“ eingesetzt wer-
den. Von entscheidender Bedeutung ist
jedoch, möglichst unmittelbar nach dem
Ableben des Körpers diesen mit den ent-
sprechenden Vitrifikationslösungen zu per-
fundieren. Eine weitere Herausforderung
 486 B. Kleine-Gunk
stellt das Wiederauftauen dar. Da das Auf-
tauen eines großen Organismus mehrere
Stunden in Anspruch nehmen kann, be-
findet man sich in einem Zeitkonflikt. Einer-
seits dürfen die kritischen Temperaturen
nicht überschritten werden, um eine Eiweiß-
23 denaturierung zu vermeiden, andererseits
muss darauf geachtet werden, dass es wäh-
rend des Auftauprozesses nicht zu Gewebe-
hypoxien kommt, die entsprechende Nekro-
sen nach sich ziehen. Auch dieses Problem
ist derzeit für komplexe Organismen nicht
gelöst.
Gleichwohl verzeichnen die Kryonikan-
bieter eine zunehmende Nachfrage. Welt-
weit sind es vor allem zwei Firmen, die ent-
sprechende Technologien anbieten.
Marktführer ist dabei eindeutig die gemein-
nützige Alcor Life Extension Foundation in
Kalifornien. Diese offeriert wahlweise eine
Kryokonservierung des gesamten Körpers
oder auch nur des Kopfes. In Russland gibt
es seit 2006 den kommerziellen Anbieter
KrioRus. In Deutschland besteht derzeit
keine Möglichkeit einer humanen Kryo-
konservierung. Das bringt für potenziell In-
teressierte die zusätzliche Schwierigkeit mit
sich, nach dem Ableben auch noch einen
langen Transportflug organisieren zu müs-
sen. Allerdings gibt es auch bei uns eine ge-
meinnützige „Deutsche Gesellschaft für an-
gewandte Biostase“, die sich der
wissenschaftlichen Weiterentwicklung der
Methode widmet und dafür jährlich die
„Robert Ettinger Medaille“ für heraus-
ragende Leistungen der Kryonik vergibt.
Viele führende Vertreter der Radical Life
Extension und des Transhumanismus haben
inzwischen öffentlich gemacht, dass sie
einen entsprechenden Vertrag bei Alcor
unterschrieben haben. Zu ihnen gehört auch
der bekannte, in Oxford lehrende schwedi-
sche Philosoph Nick Bostrom. In seinem
viel gelesenen Webblog gibt er dafür fol-
gende Begründung:
»» Auch bei einer nur 5- bis 10-prozentigen
Chance auf Erfolg wäre ein Vertrag mit
Alcor eine rationale Option für Men-
schen, die sich dies leisten können und die
einem kontinuierlichen Weiterleben in Zu-
kunft eine große Bedeutung beimessen.
(Bostrom 2008)
23.1 Human Enhancement
Während es bei der Radical Life Extension
im Wesentlichen um die möglichst un-
begrenzte Ausweitung der Lebensspanne
geht, steht beim Human Enhancement die
Verbesserung menschlicher Fähigkeiten mit
medizinischen Mitteln im Vordergrund.
Auch hier gibt es erbitterte Kritiker, die
in dem Enhancement-Gedanken eine Per-
vertierung der Medizin sehen. (Clarke et al.
2017) Dennoch bleibt festzuhalten: Enhan-
cement-Medizin ist keine Zukunftsvision,
sie existiert bereits seit langem. Die Plasti-
sche Chirurgie widmet sich schon seit Jahr-
zehnten dem Ziel, menschliche Körper
durch operative Eingriffe oder den Einsatz
von Prothesen ästhetisch zu optimieren.
Auch die Sportmedizin – vor allem dort, wo
sie sich dem Leistungssport widmet – steht
unter dem Primat des Enhancements. Das
muss durchaus nicht mit dem Einsatz ver-
botener Dopingmittel verbunden sein.
Sportmedizinische Leistungszentren nutzen
inzwischen medizinisches Know-how, um
durch optimale Trainings- und Ernährungs-
pläne Spitzensportler zu noch besseren Leis-
tungen zu verhelfen.
Im Übrigen ist der Übergang von der
medizinischen Therapie zum Enhancement
in vielen Fällen fließend. Sildenafil (Viagra®)
wurde als ein Mittel auf den Markt ge-
bracht, um die erektile Dysfunktion zu be-
handeln, die medizinisch nach eindeutigen
Kriterien definiert ist. (Haensch et al. 2018)
Dennoch haben rund zwei Drittel aller Sil-
denafilanwender keine erektile Dysfunktion
im medizinischen Sinne, sondern nutzen das
Präparat, um ihre ganz normale sexuelle
Leistungsfähigkeit medikamentös zu
­optimieren.
Zukunftsperspektiven
Eine ähnliche Form des pharmako-
logischen Enhancements hatte es zuvor be-
reits im Zusammenhang mit der Substanz
Fluoxetin gegeben. Diese wurde 1988 in den
USA als Antidepressivum unter dem
Handelsnamen Prozac® zugelassen (deut-
scher Handelsname Fluctin®). Schnell avan-
cierte Prozac® in den Vereinigten Staaten zu
einer Art „Happy Pill“, die millionenfach
von Gesunden zur Stimmungsaufhellung
(Mood Enhancement) eingenommen wurde.
23.2 Neuroenhancement
Neu – und besonders umstritten – sind im
Bereich der Enhancement-Medizin be-
sonders zwei Fälle: das Neuroenhancement
und das genetische Enhancement. Das Ziel
von Neuroenhancement ist die Verbesserung
kognitiver Funktionen durch pharmako-
logische Substanzen, externe Neuro-
stimulation bzw. Brain-Computer-­Interfaces.
Während die letzten beiden Methoden sich
noch in sehr frühen experimentellen Stadien
befinden, werden pharmakologische Enhan-
cement-Strategien bereits eingesetzt.
Eine Form des Neuroenhancements, die
nicht verschreibungspflichtig ist, wird täg-
lich millionenfach praktiziert, ohne dass sie
allgemein als Enhancementstrategie wahr-
genommen wird. Die morgendliche Tasse
Kaffee moduliert das zentrale Nervensystem
im Sinne einer Vigilanzsteigerung auf mehr-
fache Weise. Hauptwirkungsmechanismus
ist dabei die Hemmung der Nukleotidphos-
phodiesterase, welche zu einer Akkumula-
tion von cAMP führt. Dies hat sowohl eine
vermehrte als auch eine länger anhaltende
Adrenalinwirkung zur Folge.
Die Tasse Kaffee erachten viele in-
zwischen allerdings als nicht mehr aus-
reichend, wenn es um die Steigerung von
Vigilanz- und Konzentrationsfähigkeit geht.
Untersuchungen in den USA haben er-
geben, dass der Konsum verschreibungs-
pflichtiger psychoaktiver Substanzen bei
Studierenden vor entsprechenden Examina
487 23
weit verbreitet ist. Die Zahlen schwanken
dabei zwischen 3 % und 35 %, je nach Uni-
versität und Fachbereich. (Ian Ragan et al.
2013) Zur Anwendung kommen dabei ins-
besondere Methylphenidat, das unter dem
Handelsnamen Ritalin® bekannt ist und vor
allem bei Kindern und Jugendlichen mit
einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom
(ADHS) eingesetzt wird. Zunehmende Ver-
wendung findet aber auch das Modafinil,
das klassischerweise zur Behandlung der
Schlafkrankheit (Narkolepsie) verwendet
wird. Zumindest für das Modafinil konnte
tatsächlich in kontrollierten Studien eine
leichte Verbesserung kognitiver Funktionen
bei Gesunden nachgewiesen werden, die ins-
gesamt allerdings eher marginal ausfiel.
(Turner et al. 2003)
Auch wenn die derzeit zur Verfügung ste-
henden pharmakologischen Neuroenhancer
eine eher begrenzte Wirkung bei teilweise
nicht unerheblichen Nebenwirkungen auf-
weisen, so ist doch bereits jetzt klar abseh-
bar: Der Bedarf an derartigen Pharmaka ist
offensichtlich immens. Die derzeit an-
gewandten Substanzen wirken im Wesent-
lichen über den Faktor der Vigilanz-
steigerung. Sollten erste Präparate auf den
Markt kommen, die auch die Merkfähigkeit
gezielt beeinflussen, so wird dies zweifellos
ein neues Kapitel im Bereich des Neuroen-
hancements einleiten. Mehrere große
Pharmafirmen arbeiten derzeit an so-
genannten Anti-­ Dementiva. Auch hierfür
gibt es eine klare medizinische Indikation,
nämlich die Behandlung von Menschen mit
Demenz bzw. Demenzvorstufen (Mild Cog-
nitive Impairment). Sollten diese Substan-
zen jedoch tatsächlich in der Lage sein, Ge-
dächtnisfunktionen zu verbessern, so ist
bereits jetzt absehbar, dass sie nicht nur von
Patienten mit kognitiven Defiziten genutzt
werden. Die weitaus größere Gruppe von
Anwendern wird wahrscheinlich aus völlig
gesunden Personen aus intellektuell an-
spruchsvollen Berufen bestehen, die ihre
geistige Leistungsfähigkeit auf medikamen-
tösem Wege zu optimieren versuchen.
 488 B. Kleine-Gunk
Den großen Bedarf an Substanzen, die
uns besser denken lassen, hat auch Eric
Kandel erkannt. Der 2001 mit dem Nobel-
preis für Medizin ausgezeichnete Neurobio-
loge gilt als einer der führenden Pioniere der
Gedächtnisforschung. Kandel ist Mit-
23 begründer der Firma Memory Pharmaceu-
ticals, die inzwischen von Roche über-
nommen wurde und es sich zum Ziel gesetzt
hat, Medikamente für das Neuroenhance-
ment zu entwickeln. Kandel gibt sich über-
zeugt: Die Pille für das Gedächtnis wird
kommen. (Kandel 2009)
Das wirft nicht zuletzt auch ethische
Fragen auf, etwa die nach der Chanceng-
leichkeit. Werden Studenten, die sich teure
kognitive Enhancer leisten können, in Zu-
kunft bei Prüfungen deutlich besser ab-
schneiden als solche, denen dazu die finan-
ziellen Mittel fehlen? Müssen für bestimmte
Substanzen evtl. Kontrollen eingeführt wer-
den, sodass sich Examenskandidaten – ähn-
lich wie Sportteilnehmer – demnächst einem
Test auf unerlaubtes „Hirndoping“ unter-
ziehen müssen? Welche Nebenwirkungen
sind wir bereit, für ein pharmakologisches
Neuroenhancement zu akzeptieren?
Diese Fragen werden durchaus kontro-
vers diskutiert. Als jedoch führende deut-
sche Neurowissenschaftler gefragt wurden,
ob Neuroenhancer erlaubt werden sollten,
fiel die Antwort erstaunlich eindeutig aus.
In einem 2009 in der Zeitschrift „Gehirn
und Geist“ publizierten Manifest sprachen
sie sich klar für den Gebrauch derartiger
Substanzen aus, vorausgesetzt, die Ein-
nahme gehe nicht mit unvertretbaren
Gesundheitsrisiken einher. (Memorandum
2009)
23.3 Genetisches Enhancement
Nach der vollständigen Entschlüsselung des
menschlichen Genoms Anfang des Mill-
enniums war es voraussehbar, dass nun auch
genetische Therapien eine immer größere
Rolle spielen werden.
Prinzipiell muss man dabei unterscheiden
zwischen somatischen Gentherapien und
Keimbahntherapien. Die somatische Gen-
therapie ist ausgerichtet auf Körperzellen,
bei denen man ein fehlerhaftes Gen aus-
schließlich in dem betroffenen Gewebe aus-
tauscht. Ein Beispiel wäre etwa die Be-
handlung einer zystischen Fibrose im
Lungengewebe. Bei Keimbahntherapien
werden dagegen genetische Eingriffe direkt
in den Keimzellen vorgenommen. Dies be-
deutet, dass sich diese auch auf die weiteren
Generationen auswirken. Als Fallbeispiel
ließe sich hier die Chorea Huntington an-
führen. Diese dominant vererbte und in der
zweiten Lebenshälfte letal verlaufende Er-
krankung wirkt sich vor allem am Gehirn
aus, das für somatische Gentherapien
schwer zugänglich ist. Eine Korrektur des
Gens auf Ebene der Keimbahn könnte den
Betroffenen ein krankheitsfreies Leben er-
möglichen.
Viele Jahre stellten technische Probleme
ein Hindernis für derartige genetische The-
rapien dar. Um die defekten Gene auszu-
tauschen, mussten die entsprechenden ge-
sunden Genfragmente über Vektoren
(z. B. Viren) in die Zellen eingeschleust wer-
den. Der Einbau war dann häufig ungenau
oder führte zu Immunreaktionen. Im Jahr
2015 gelang allerdings diesbezüglich ein
wissenschaftlicher Durchbruch, der den ge-
samten Bereich der Gentherapie revolutio-
nierte. Mit der CRISPR/CAS9-Technik ist
inzwischen ein Genome Editing mit
geradezu chirurgischer Präzision möglich.
(Doudna und Charpentier 2014)
Wie in anderen Bereichen auch, so wird
bei genetischen Therapien zunächst die Be-
handlung klar definierter, schwerer Er-
krankungen im Vordergrund stehen. Gene
sind aber nicht nur für Krankheiten ver-
antwortlich. Sie nehmen auch Einfluss auf
Merkmale wie Körpergröße, Augenfarbe,
Intelligenz oder Musikalität. Damit steigt
auch auf diesem Feld die Nachfrage nach
einer „wunscherfüllenden Medizin“, die we-
niger an der Behandlung von Erkrankungen
Zukunftsperspektiven
als an der Optimierung möglicher Merk-
male und Fähigkeiten interessiert ist. Die
Diskussion um „Designer Babys“ ist damit
neu entbrannt.
Ganz so einfach, wie es sich manche
Technoenthusiasten vorstellen, wird es dann
allerdings wohl doch nicht. Die meisten
Eigenschaften, die auf den Wunschzetteln
der Enhancement-Befürworter weit oben
stehen, sind polygene Merkmale, die nicht
durch ein einzelnes Gen determiniert sind,
sondern durch die Wechselwirkung vieler
Gene untereinander. Dies gilt vor allem für
die Intelligenz. Abgesehen davon, dass der
Begriff Intelligenz immer noch nicht klar
definiert ist (inzwischen spricht man eher
von unterschiedlichen „Intelligenzen“), ge-
hört Intelligenz zu jenen Merkmalen, die
durch äußerst komplexe Interaktionen ganz
unterschiedlicher Gene im Zusammenspiel
mit der Umwelt ausgeprägt werden. Eine
Steigerung der Intelligenz durch eine ein-
fache genetische Manipulation erscheint
somit auf absehbare Zeit wenig realistisch.
Andere Körpermerkmale wie Körpergröße
oder Augenfarbe sind dagegen genetisch
sehr wohl bereits jetzt beeinflussbar.
Mehr noch als beim Neuroenhancement
gibt es bezüglich des genetischen Enhance-
ments äußerst kontroverse ethische Debat-
ten. Das hängt zum einen damit zusammen,
dass vor allem in Deutschland das Thema
genetische Optimierung durch die furcht-
bare Eugenik-Praxis der Nationalsozialisten
nachhaltig diskreditiert ist. Jegliche geneti-
sche Veränderung an den Keimbahnen zieht
dementsprechend schnell den Verdacht von
„Züchtungsexperimenten“ auf sich und hat
ein entsprechendes mediales Echo zur Folge.
Dies musste nicht zuletzt auch der deutsche
Philosoph Peter Sloterdijk erleben, als er
sich 1999 in seiner berühmten Elmauer Rede
„Regeln für den Menschenpark“ mit dem
Thema auseinandersetzte und damit eine
der heftigsten deutschen Nachkriegs-
debatten auslöste. (Sloterdijk 1999)
Gegenwärtig äußern sich auch die meis-
ten in diesem Fach tätigen Wissenschaftler
489 23
zurückhaltend bis ablehnend, wenn es um
genetische Eingriffe an der Keimbahn geht.
Zu viele wissenschaftliche Fragen sind der-
zeit noch offen, zu viele ethische Probleme
ungelöst und zu viele Konsequenzen derzeit
nicht absehbar. Viele Genetiker fordern
daher ein vorläufiges weltweites Morato-
rium für entsprechende Versuche. Allerdings
werden diese Appelle nicht in allen Regio-
nen der Welt geteilt. Vor allem in asiatischen
Ländern steht man Enhancement-­
Technologien – auch im genetischen Be-
reich – mit sehr viel weniger Vorbehalten
gegenüber. Länder wie China oder der
Stadtstaat Singapur sehen die Zurück-
haltung westlicher Staaten auf diesem Ge-
biet als eine Chance, die eigene Forschung
auf einen weltweiten Spitzenplatz zu brin-
gen. Angesichts eines weltweit zunehmenden
Medizintourismus ist es daher absehbar,
dass angehende Eltern in Metropolen flie-
gen, die ihnen bei ihrem Wunsch nach einem
„Designerbaby“ Unterstützung anbieten.
Die Nature-Herausgeberin Heidi Ledford
prophezeite jedenfalls bereits in einem Edi-
torial, es sei nur noch eine Frage der Zeit,
wann das erste „CRISP-Baby“ geboren
werde. (Ledford 2017)
23.4 Transhumanismus
Während es der Radical Life Extension und
dem Human Enhancement im Wesentlichen
um die Weiterentwicklung menschlicher
Merkmale (Lebensspanne, körperliche und
intellektuelle Fähigkeiten) geht, strebt der
Transhumanismus deutlich weiter gehende
Ziele an. Auf der Agenda steht hier die
Überwindung bisheriger menschlicher
Grenzen, die „Befreiung“ der Gattung
Mensch von den Fesseln der Biologie oder
kurz: die Schaffung eines transhumanen
Wesens.
Dieses Konzept hat durchaus geschicht-
liche und philosophische Vorläufer. Als eine
Art Prototranshumanist wird in Deutsch-
land häufig Friedrich Nietzsche angeführt,
 490 B. Kleine-Gunk
der in seinem Werk „Also sprach Zarathus-
tra“ den „Übermenschen“ forderte. (Sorg-
ner 2019) Im angloamerikanischen Raum,
wo der Transhumanismus besonders stark
ist, zeigt man sich über diese geistige Ur-
heberschaft weniger glücklich. Der düstere
23 Ruf Nietzsches als Stichwortgeber für man-
che Aspekte der nationalsozialistischen
Ideologie wirkt hier offensichtlich noch
immer nach. Als geistige Urväter des Trans-
humanismus betrachtet man dort lieber
Denker der Renaissance und der Auf-
klärung, die kritisches Denken und wissen-
schaftliche Methodik zur Grundlage des
menschlichen Fortschritts machten.
Der Begriff Transhumanismus geht
dabei zurück auf den britischen Biologen
Julian Huxley – übrigens ein Bruder des
Schriftstellers Aldous Huxley, der als Ver-
fasser des Zukunftsromans „Brave New
World“ bekannt wurde. In seinem 1957 er-
schienenen Buch „New Bottles for new
Wine“ prägte Huxley nicht nur den Begriff
des Transhumanismus, sondern lieferte auch
eine erste Definition eines transhumanen
Wesens als „Mensch, der Mensch bleibt,
aber sich selbst durch Verwirklichung neuer
Möglichkeiten von seiner und seiner
menschlichen Natur überwindet“ (Huxley
1957).
Die „Verwirklichung neuer Möglich-
keiten“ sehen die Transhumanisten des 21.
Jahrhunderts dabei vor allem in der Nut-
zung moderner Technologien. Als ein Ideal
wird es dabei angesehen, diese Technologien
nicht nur zu nutzen, sondern mit ihnen mög-
lichst sogar zu verschmelzen.
Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der
südafrikanische Sportler Oscar Pistorius. Er
war der erste Sportler, der als Behinderter
nach einer Karriere bei den Paralympics
auch bei regulären Olympischen Spielen an-
trat. Bereits als Kind mussten Pistorius
beide Unterschenkel amputiert werden.
Seither läuft er auf Prothesen. Weil es sich
hierbei um spezielle Carbonprothesen han-
delt, tut er das sehr schnell. Seine Teilnahme
an den Olympischen Spielen 2012 war daher
durchaus umstritten. Kritiker sahen in den
Prothesen keine Behinderung, sondern eher
eine Art „Techno-Doping“, welches Pisto-
rius einen unerlaubten Wettbewerbsvorteil
verschaffen würde. Auch wenn sich diese
Sorge 2012 noch nicht bestätigte, braucht es
keine große Phantasie, um sich auszumalen,
dass der medizinisch-technische Fortschritt
schon bald zu Prothesen führen wird, mit
denen ihre Nutzer tatsächlich schneller lau-
fen werden als jeder Spitzensportler, der dies
mit menschlichen Beinen tut. Der Spitz-
name von Oscar Pistorius lautet im Übrigen
nach einem berühmten Science-­ Fiction-­
Film aus den 1980er-Jahren „Blade Run-
ner“. Auch hier zeigt sich ein Charakteristi-
kum transhumanistischen Denkens. Viele
Inspirationen kommen tatsächlich aus der
Welt der Science Fiction. Nicht ohne Genug-
tuung wird dabei darauf hingewiesen, wie
schnell aus Science Fiction „Science Fact“
wird.
Den Transhumanisten geht es aber
nicht in erster Linie darum, mit Carbon-
prothesen schneller zu laufen. Eine ihrer
Hauptvisionen ist es, mit Neuroprothesen
besser zu denken. Neuroprothesen sind
Brain-­Computer-­Interfaces, welche eine
Informationsübertragung von Computer-
chips auf Nervenzellen und umgekehrt er-
möglichen. In einigen Bereichen gehören sie
bereits zum klinischen Alltag. So ermög-
lichen Cochlea-­ Implantate Tauben und
Schwerhörigen, bei denen ein traditionelles
Hörgerät keine Besserung mehr bringt, ein
weitgehendes normales Hören. Auch
Retinaimplantate befinden sich bereits in
der klinischen Erprobung. Ist das Problem
der Informationsübertragung zwischen
Computerchip und Nervenzelle jedoch erst
einmal gelöst, so sind durchaus auch völlig
andere Formen von Neuroprothesen denk-
bar. „Memory-­Chips“, die unendliche Men-
gen an Informationen speichern, gehören
ebenso dazu wie der „Intrazerebrale Inter-
netanschluss“. Der Futurologe Ray Kurz-
weil, einer der profiliertesten Vertreter des
Transhumanismus, prophezeit bereits für
Zukunftsperspektiven
die nächsten Jahrzehnte ein Zusammen-
wachsen von Neurobiologie, Informatik und
Nanotechnologie. Er sieht den Menschen
der Zukunft als ein Cyborg, der sein Gehirn
mit Mitteln der Computertechnologie ge-
zielt optimiert. (Kurzweil 2005)
Gestützt werden solche Visionen durch
eines der derzeit größten internationalen
Wissenschaftsprojekte, das Human Brain
Project. In Anlehnung an das Human Ge-
nome Project, also der vollständigen Ent-
schlüsselung des genetischen Codes, soll hier
der gesamte neuronale Code dechiffriert
werden. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen
steht der vollständige Nachbau des mensch-
lichen Gehirns im Computermodell. Dazu
müssen nicht nur 85 Milliarden Nerven-
zellen nachgebaut und räumlich richtig an-
geordnet, sondern auch deren zahlreiche sy-
naptische Verknüpfungen (das Konnektom)
vollständig erfasst werden. Mit den heutigen
Computerkapazitäten ist dies auch nicht an-
näherungsweise zu leisten. Das war zu Be-
ginn des Human Genome Projects allerdings
nicht anders. Heute analysiert ein gutes
Labor das vollständige menschliche Genom
an einem Vormittag für weniger als 1000
Dollar. Und die Befürworter des Human
Brain Projects sehen mit zukünftigen Ent-
wicklungen, so z. B. der Etablierung des
Quantencomputers, auch das Kapazitäts-
problem als lösbar an.
In der Tat ist die Weiterentwicklung der
Computertechnologie ein integraler Be-
standteil des Human Brain Projects, wobei
der Fokus nicht nur auf der Entwicklung
von Quantencomputern, sondern auch in
der Schaffung von „neuromorphen Compu-
tern“ liegt, die ihre Leistungsfähigkeit nicht
zuletzt dadurch enorm erweitern, dass in
ihre Konstruktion Erkenntnisse aus den ak-
tuellen Neurowissenschaften einfließen.
Der Transhumanismus sieht hier vor
allem drei Szenarien. Zum einen werden
menschliche Gehirne durch die „Auf-
rüstung“ mit Computertechnologie in
einer Weise leistungsfähiger gemacht, die
jedes derzeit vorstellbare Maß übersteigt.
491 23
Cyborgs, also Mensch-Maschinen-Misch-
wesen, die sich mit Brain Computer Inter-
faces optimieren, werden definitiv eine neue
Stufe der Evolution darstellen, welche die
Grenzen der gegenwärtigen Biologie über-
schreitet.
Szenarium 2 bezieht sich darauf, dass
Menschen nicht nur mithilfe von Maschinen
immer leistungsfähiger und intelligenter
werden, sondern prophezeit, dass auch die
Maschinen selbst – mithilfe des Menschen –
diese Entwicklung durchlaufen. Nach einer
längeren Phase der Stagnation erlebt das
Gebiet der KI-Forschung (KI = Künstliche
Intelligenz) derzeit eine neue Blüte. Innova-
tive Techniken wie „Deep Learning“ lassen
die alte Utopie der selbstlernenden Maschi-
nen Wirklichkeit werden. Während in den
vergangenen Jahrzehnten Industrieroboter
immer mehr manuelle Tätigkeiten über-
nahmen, werden nun auch viele kognitive
menschliche Fähigkeiten durch immer kom-
plexere Algorithmen ersetzt. Auch un-
abhängig von transhumanistischen Ideen
sehen viele Wissenschaftler KI inzwischen
als die Schlüsseltechnologie des 21. Jahr-
hunderts.
Das letzte Szenario gehört wohl zu den
futuristischsten Visionen des Transhumanis-
mus. Geht man davon aus, dass auch das
Gehirn nichts anderes ist als eine sehr kom-
plexe biologische Maschine, und gelingt es
des Weiteren tatsächlich, diese vollständig
im Computermodell zu simulieren, so be-
steht damit theoretisch die Möglichkeit,
menschliches Bewusstsein auf ein anderes
Medium zu übertragen. Denkbar wäre es
dann, eine Art „Sicherheitskopie“ des eige-
nen Gehirns – und damit auch des eigenen
Selbst - auf ein Speichermedium auszu-
lagern (Mind uploading). Sollte unser Kör-
per dann irgendwann aufhören zu existieren,
weil er durch Alter, Krankheit oder Unfall
verstirbt, könnte diese S­ icherheitskopie wie
die Software bei einem Computer wieder
auf ein neues biologisches Medium (die
Transhumanisten sprechen diesbezüglich
tatsächlich von „Meatware“) hochgeladen
 492 B. Kleine-Gunk
werden. Einige Transhumanisten legen aller-
dings auch gar keinen Wert mehr darauf, ihr
digitales Gehirn wieder einem so störan-
fälligen und dem Alterungsprozess unter-
worfenen System wie einem biologischen
Körper anzuvertrauen. Sie phantasieren
23 davon, dass die digitalisierten Bewusstseine
in eine Cloud hochgeladen werden, sich dort
austauschen und weiterentwickeln. Dies
wäre dann endgültig der Übergang von
einem „kohlenstoffbasierten Leben“ hin zu
einer „siliziumbasierten Existenzform“.
Diese wäre dann durch den permanenten
Informationsaustausch nicht nur allwissend,
sondern tatsächlich – befreit von jeder tradi-
tionellen Biologie – auch unsterblich. Der
transhumane Mensch als Homo deus.
Es versteht sich von selbst, dass derartig
radikale Denkansätze zu vehementen
Gegenreaktionen führen. Eine anfängliche
Form von Kritik hört man allerdings nur
noch selten: den Einwand, dass es sich bei
den transhumanistischen Visionen lediglich
um wirklichkeitsfremde Phantastereien eini-
ger Technoenthusiasten handelt. Auch wenn
manche Vorstellungen, wie die radikale
Lebensverlängerung oder das Mind Uploa-
ding, von den meisten Fachleuten noch
immer nicht für realisierbar angesehen wer-
den, so besteht inzwischen doch ein weit-
gehender Konsens darüber, dass der
­exponentiell zunehmende wissen­schaftlich-
technische Fortschritt nicht nur unsere Um-
welt verändern wird. Er wird auch auf uns
selbst Einfluss nehmen und uns damit zwin-
gen, das traditionelle Bild vom Menschen
neu zu überdenken.
Die aktuelle Kritik am Transhumanis-
mus kommt inzwischen vor allem von zwei
Seiten. Religiös geprägte Menschen haben
verständlicherweise große Probleme mit der
Vorstellung, dass der Mensch, der in ihren
Augen ja ein Geschöpf Gottes ist, nun
seinerseits die Schöpfung über seine Fort-
entwicklung selbst in die Hand nehmen will.
Aber auch jenseits religiöser Vorbehalte
sehen „Biokonservative“ ethische Grund-
werte gefährdet. Sie argumentieren, dass
durch genetische Keimbahnmanipulationen
und Cyborgtechnologien Veränderungen
durchgeführt werden, die mit der Natur des
Menschen nicht mehr vereinbar seien. Der
amerikanische Politikwissenschaftler Fran-
cis Fukuyama bezeichnete den Trans-
humanismus in einem viel diskutierten Bei-
trag dementsprechend als „die gefährlichste
Idee der Welt“. (Fukuyama 2004)
Aber nicht nur Biokonservative tun sich
mit dem Transhumanismus schwer, auch
linke Intellektuelle haben ihre Vorbehalte.
Sie sehen in den diversen Enhancement-­
Technologien vor allem die Gefahr einer
neuen Zweiklassengesellschaft. Nicht ohne
Logik argumentieren sie, dass entsprechende
Technologien zumindest in der Anfangs-
phase ohne Zweifel ziemlich kostspielig sein
werden. Dies würde dann dazu führen, dass
Enhancement-Strategien vor allem von
Besserverdienenden, Privilegierten und Mit-
gliedern einer Bildungselite genutzt werden.
Die wiederum würden dann durch die ent-
sprechenden Technologien noch über-
legener, sodass die Gesellschaft sich irgend-
wann in diejenigen aufspalten werde, die
sich dank fortgeschrittener Technik opti-
miert haben, und in solche, die diese
Möglichkeit nicht haben und somit ge-
sellschaftlich immer weiter abgehängt wer-
den. (Jarnes 2004)
Es ist nicht die Aufgabe eines Übersichts-
artikels in einem medizinischen Fachbuch zu
diesen vorwiegend ethisch geprägten Fragen
dezidiert Stellung zu nehmen. Festzuhalten
bleibt jedoch: Technik an sich ist niemals gut
oder schlecht. Technik ist zunächst einmal
völlig wertfrei. Wie wir den technischen Fort-
schritt nutzen, liegt letztlich an uns und muss
gesellschaftlich verhandelt werden. Dazu be-
darf es allerdings grundlegender Kenntnisse
darüber, was an technologischen Möglich-
keiten derzeit besteht bzw. in naher Zukunft
kommen wird. Dieses Wissen ist im deutsch-
sprachigen Raum bisher immer noch weit-
gehend rudimentär. Die meinungsbildenden
Intellektuellen verharren zumeist auch
weiterhin in den gängigen, politisch-ge-
Zukunftsperspektiven
sellschaftlichen Diskursen und verfügen nur
in wenigen Fällen über die naturwissenschaft-
lichen Kenntnisse, um Entwicklungen be-
urteilen zu können, die sich durch den techno-
logischen Fortschritt ergeben. Der erste
Schritt zum „Human Enhancement“ besteht
somit nicht zuletzt auch darin, unser Wissen
über jene Zukunftstechnologien zu erweitern,
die unser Bild vom Menschen in naher Zu-
kunft radikal verändern werden.
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 495

Serviceteil
Stichwortverzeichnis – 497

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022

B. Kleine-Gunk, A. Wolf (Hrsg.), Präventionsmedizin und Anti-Aging-Medizin,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61417-4
 497 A–E

Stichwortverzeichnis

A Brain-Computer-Interfaces 487
Brain-Machine-Interface 444
Adipositas 53, 192, 196
Broca-Formel 318
Adrenopause 144
Brustkrebsrisiko 184
Aging und Evolution 424
B-Vitamine 91, 292
AIDS 332
Aktivitätsphasen 280
Allostatic Load 251
Altersassoziierte Neurodegeneration 348
C
Altersdiabetes 85 Cas-System 448
Altersprävention 170 Chromosomale Marker 29
Alterungstheorien 2 Chronische Herzinsuffizienz 332
Alzheimer 289 Chronische Lungenerkrankungen 331
Anämie 193 Chronische Polyarthritis 331
Andropause-Syndrom 150 Chronischer Stress 257
Antagonistische Pleiotropie 216 Chronische Umweltstressoren 305
Anthrazyklin 371 Chronisch niederschwellige
Anti-Aging-Strategien in der Prä-­ Entzündungsprozesse 7
Postmenopause 178 Chronobiologie 116, 275
Antioxidanzien 4, 364 Chronodisruption 283
Apoptose 390 Chronomedizin 52
Arteriosklerose 149 Chrononutrition 55
Arthrose 130 Chronopharmakologie 292
Ascorbat 378 Chronotherapie 290
Augeninnendruck 387 Chronotyp 282
Augmentationsindex 302 Coenzym Q10 94, 377
Ausdauertraining 136 Compliance 464
Autophagie 455 Cortisol 287
Craniomandibuläre Dysfunktionen 402
CRISPR 448
B CRISPR/CAS9-Technik 488
Cyborg 446
Basisinterventionen 178
Cytomegalie-Virus 7, 263
BDNF 80
Behandlungsalternativen 185
Bewegung 123, 180, 311
Bewegungsmangel 171, 317
D
Bewegungssystem 129 Darmerkrankungen 332
Bewegung und Gesundheit 124 Demenz 134, 342
Biohacking 437 DHEA 151, 190
Bioidentische Hormone 147 DHEA-Substitution 153
Biologisches Altern 337 Diabetes 128, 197, 288, 306, 332, 416
Biologische Stressantwort 250 Diabetes-Biomarker 24
Biologische Uhr 14 Digital-Health-Index 443
Biomarker 19 Digitalisierung 431
Biopsychosoziales Modell 169 Disease-Management-Programme 459
Blastozyste 420 DNA-Methylierung 12
Blockchain 435
Blutzuckerspiegel 285
Body-Mass-Index (BMI) 318 E
BPH 200 Endogene Insulinproduktion 128
BrainAge 27 Endokrine Biomarker 25
498 Stichwortverzeichnis

Energieaufnahme 362 I
Enhancement 486
Enhancement-Medizin 487 Immunantwort 405
Entzündungsbiomarker 22 Immunmodulation 88
Epigenetik 225, 421 Immunologisches Gedächtnis 266
Epigenetische Marker 29 Immunoseneszenz 72, 73
Epigenetische Uhren 144 Immunregulation 341
Epigenetische Veränderungen 12, 339 Immunseneszenz 259
Epstein-Barr-Virus 7 Individualisierte Entscheidungsfindung 182
Erektile Dysfunktion 193, 201 Inflammaging 7, 72, 259, 305, 341
Ernährung 179 Inflammation 347
Ernährungsmedizin 49 Insulinotropie 54
Estradiol 156 Insulinresistenz 54, 193
Estrogenspiegel 150 Integrative Onkologie 360
Intelligentes Gensystem 281
Internet der Dinge 436
F Intraossäre Entzündungen 409
iPS-Zelle 427
Fallneigung 321
Fasten 114
Fettmasse 196 K
Fettreduzierte Ernährung 359
Frakturrisiko 327 Kalorienreduktion 113
Freie Radikale 3, 117, 340, 364 Kalorienrestriktion 13, 307
Kalziumquellen 322
Kalziumreiche Kost 322
G Kardiometabolisches Syndrom 305
Kiefererkrankungen 401
Ganzheitliche Altersprävention 178
Klimakterium 145
Gedächtnisinflation 264
Knochendichte 317
Gefäßalterung 301
Knochendichtemessung 316
Gefäßsteifigkeit 303
Knochenfreundliche Ernährung 323
Genetisches Enhancement 488
Knochenmineralisierung 87
Genomische Instabilität 338
Knochenräuber 328
Gesundheitsprävention 173
Körperliche Aktivität 126
Gläserner Patient 442
Krebserkrankungen 288
Gonadopause 144
Künstliche Intelligenz 436, 491
Grauer Star 384
Kurative Kardiologie 300
Grüner Star 386

H L
L-Carnitin 377
Hämatopoese 191, 260
Lebensqualität 202
Healthy Aging 71
Leptin 196
Herzinfarkt 203
Libido 190
Herz-Kreislauf-Erkrankungen 126, 265, 289, 415
Life Course Approach 170
Hirngesundheit 85
Lipidstoffwechsel 25
Histonen 226
Lutein 394
Hormesis-Prinzip 143, 428
LUTS 200
Hormone 141, 279
Hormonelle Alterssyndrome 161
Hormongaben 149 M
Hormonsubstitution 161
Hormontherapie 145, 181 Magnesium 98, 324
Horvath’s Clock 15 Makronährstoffe 57, 74
Human Enhancement 439, 483 Makuladegeneration 392
Hyperinsulinämie und Insulinresistenz 174 Malnutrition 360
Hypogonadismus 191 Mediterrane Diät 350
 499 E–S
Stichwortverzeichnis

Mediterrane Ernährung 305, 359 Pluripotente Zelle 421

Mehrschicht-Computertomographie 303 Pneumologie 415
Melatonin 278 Polychemotherapie 371
Melatoninprodukte 291 Polymorphismen 27
Menopausale Hormontherapie 181 Posttraumatische Belastungsstörung 254
Metabolisches Syndrom 51, 149, 199, 285 Prädiabetes 199
Metabolismus 184 Präkonzeptionelle Beratung 176
Metformin 11 Präventions-Management-Programme 459
Methionin 117 Präventionspass 462
Methylierungsuhren 32 Präventive Kardiologie 297
Mikronährstoffdefizite 360 Präzisionsmedizin 440
Mikronährstoffe 52, 74, 180, 357 Pregnenolon 159
Mikronährstoffe bei Krebs 361 Pregnenolon-Defizienz 159
Mikronährstoffversorgung 362 Proentzündliche Reaktionen 405
Mitochondriale Dysfunktion 5 Prostata 193
Modulares Netzwerk 458 Prostatakarzinom 202
Molekulare Marker 21 Proteindenaturierungen 10
Molekulares Jod 375 Proteinsynthese 114, 191
Motivational Interviewing 177 Proteostase 339
Multipotente Zelle 422 Proteostaseverlust 9
Munderkrankungen 401 Protonenpumpenhemmer 331
Muskelmasse 180, 190, 196 Psychische Gesundheit 132
Psychosozialer Stress 248
Pulswellengeschwindigkeit 302
N
Nabelschnurzellen 422
Neurodegenerative Erkrankungen 335
Q
Neuroenhancement 487 QM-Konzepte 473
Neuroinflammation 347, 390 Qualitätsanspruch 457
Neurologische Erkrankungen 133 Qualitätssicherung 453
Neuroprotektion 390
Nierenerkrankungen 332
Nucleus suprachiasmaticus 278 R
Radical Life Extension 483
Radikalfänger 278
O Rauchen 177, 328, 396
Oestrogenmangel 182 Rauchstopp 180
Omega-3-Fettsäuren 76, 306, 351, 365, 375, 395 Renale Biomarker 26
Omics-Daten 435 Replikative Seneszenz 214
Onkologische Erkrankungen 128 Reprogrammierung 426, 427
Ophthalmologisches Altern 383 Resilienz 248
Osteoporose 131, 149, 315 Rheumatoide Erkrankungen 415
Osteoporoseprävention 315 Risikoerhöhung 184
Oxidativer Stress 3, 26, 73, 267, 364, 391, 396 Risikominderung 183
RNA-Homöostase 345
Rückenschmerz 130
P Ruhephasen 280
Parkinson-Erkrankung 347
Parkinson-Syndrom 135
Parodontalerkrankungen 412
S
Pathobiochemische Prozesse 72 Salutogenese 461
Patientensicherheit 463 Sauerstoffradikale 3
Patientinnenzentrierte kontrazeptive Beratung 174 Schlafmangel 287
PDCA-Zyklus 470 Schlafstörungen 287
Pharmakotherapie 182 Schlaf-Wach-Rhythmus 286
Physischer Stress 249 Schlaganfall 203
500 Stichwortverzeichnis

Schutz und Förderung der sexuellen Gesundheit 175 Transhumanismus 483

Schutz vor ungewollten Schwangerschaften 173 Traumatischer Stress 249
Schwefelwasserstoff 118 Tumorresponse 367
Sekundäres Altern 125 Typ-2-Diabetes 192
Selen 100, 365
Seneszente Zellen 263
Seneszenz 73 U
Seneszenzmarker 272 Übergewicht 53, 127
Sexualanamnese 175 Uhrgene 281
Sexuelles Wohlbefinden 176 Untergewicht 51, 317
Sirtuine 221 Urogenitales Syndrom der Menopause 183
Somatopause 157 UV-Licht 393
Soziale Kompetenz 466
Sport 126
Sportmedizin 123 V
Spurenelemente 324
Stärkung der Resilienz 178 Virtuelle Realität 445
Stammzellen 260, 341, 420 Viszerale Adipositas 199
Stammzellforschung 420 Vitamin C 365
Stammzellpool 423 Vitamin D 81, 306, 324, 365
Stammzelltherapie 427 Vitamin-D-Insuffizienz 369
Stoffwechselerkrankungen 127 Vitamin-D-Mangel 369
Stress 247, 286 Vitamin-D-Status 372
Stress-Adaptation 250 Vitamine 64, 325
Stressbedingte Zellalterung 252 Vitamin E 365, 392
Sturzneigung 132, 321 Vitamine und Mineralien 292
Sturzneigung, erhöhte 321 Vitamin K 89
Sundowning 289 Vulnerabilität 254
Supercentennerians 119
Superhumans 445
Systeminflammation 305 W
Wachstumshormon 157

T
Tau-Fibrillen 10 Z
Taxan 371 Zahnerkrankungen 401
Telomeraseaktivität 30 Zahnmedizin 403
Telomerattrition 72 Zeaxanthin 394
Telomere 80, 229 Zellalterung 270
Telomerlänge 30, 103, 254, 427 Zellorganellen 346
Telomerverkürzung 13, 338 Zelluläre Seneszenz 267, 340
Testosteron 155, 190 Zell-Zell-Kommunikation 365
Testosteronenanthat 194 Zink 368
Testosteronmangel 320 Zukunftsmedizin 439
Testosterontherapie 196 Zytokine 8, 74, 262, 339
Testosteronundecanoat 194, 204